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Full text of "Sozialpolitisches Centralblatt"

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UNIVERSITY  OF  ILLINOIS 
LIBRARY 


dass  Book 

3305 


Ja  09-80M 


Volupne 

S 


SOZIALPOLITISCHES 


C E N T R A LB  L ATT 


HERAUSGEGEBEN 


Dr.  HEINRICH  BRAUN. 

ZWEITER  BAND 

OKTOBER  1892  — SEPTEMBER  1893. 


BERLIN  1893. 


3s  6.^* 

5,a- 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2015 


https://archive.org/details/sozialpolitische02brau 

Verlags-Archiv  2098. 


Inhalt  des  zweiten  Bandes 

(Oktober  1892  bis  September  1893.) 


Seite 


A. 

Abzahlungsgeschäft  und  Wucher,  Gesetz- 
geberische Maassnahmen  in  Deutsch- 
land betr 53 

Das,  und  der  dem  Reichstage  vor- 
liegende Gesetzentwurf.  Von  Rechts- 
anwalt Wilhelm  Hausmann  . . . 221 

— Der  Gesetzentwurf,  betr.  die  ....  369 

Achtstundenbewegung,  Die,  unter  den  Berg- 
leuten Böhmens 429 

Achtstundengesetz  für  Bergleute  in  England  385 
Achtstundentag,  Zur  Frage  des,  in  den  eng- 
lischen Staatswerkstätten 314 

Achtstündiger  Arbeitstag  im  Londoner  Bau- 
gewerbe   . 83 

— — auf  den  rumänischen  Eisenbahnen  . 230 

Achtundvierzig-Stunden- Woche,  Die  . . 294 

Ackerbauarbeiter  in  Frankreich,  Gesetzvor- 

schlag  auf  Pensionirung  invalid  ge- 
wordener   494 

Aktiengesellschaften , Grossbetrieb  und,  in 

Sachsen  610 

Alkoholverkauf,  Einschränkung  des,  in  Eng- 
land   327 

Alkoholmonopol,  Wirkungen  des,  in  der 
Schweiz.  Von  Rechtsanwalt  E.  Ram- 

sperger 346 

Almosen  und  Wahlrecht 444 

Altenburg,  Schutzvorschriften  für  schul- 
pflichtige Kinder  in 47 

Alter,  das,  der  eheschliessenden  Personen. 

Von  Dr.  H.  Lux 91 

Altersrenten,  Wartezeit  für 84 

— auf  Grund  des  Invaliditäts-  und  Alters- 

Versicherungsgesetzes  207 

Alters-  und  Invalidenrenten  im  Jahre  1892  579 

Altersrentenempfänger,  Die,  von  1891  . . 298 

Altersrentner,  Zahl  der,  in  Schlesien  im 

Verhältniss  zur  Bevölkerung  ....  362 

Altersversicherung  s.  Invaliditäts-  u.  Alters- 
versicherung. 

Altersversorgung,  Zur,  in  der  Schweiz  . 85 

Altonaer  Arbeiter-  und  Lohnstatistik  . . 501 

Analphabeten  in  Preussen 17 

— Die  Zahl  der 177 

--  in  Russland 243 

Anilin-  und  Södafabrik,  Die  Zustände  in 

der  Badischen,  in  Ludwigshafen  a.  Rh.  55 

Anti-Pinkerton-Gesetze 392 

Apotheken,  Städtische 295 


Arbeiteragitationen,  Die  Verfassung  in 

Belgien  und  die.  Von  Dr.  E.  Vinck  371 
Arbeiterausschüsse  in  den  eidgenössischen 
Waffenfabriken  in  Bern  und  Thun.  Von 


Rechtsanwalt  Otto  Lang  . . . . 506 

Arbeiteraussperrung,  Eine,  im  englischen 

Schiffsbau  in  Sicht 130 

— Der  Ausgang  der  grossen,  in  der  Baum- 
wollenindustrie von  Lancashire.  Von 
Prof.  Dr.  W.  Lotz 335 


Seite 


Arbeiterausstände,  Die,  in  Oesterreich  im 

Jahre  1892.  Von  Prof.  E r ns t M is c hier  478 
(S.  a.  Arbeitseinstellung,  Ausstand, 
Strike.) 

Arbeiterbewegung,  Zur,  in  Augsburg  . . 384 

— Der  Ursprung  der,  in  Belgien.  Von  Dr. 

Emile  Vandervelde 275 

— in  der  Schweiz 516 

Arbeiterbildungsschule,  Berliner  ....  288 

Arbeiterbund,  Schweizerischer  ....  334 

Arbeiterbüreau  der  Gewerkschaften  in 

Mainz 611 

Arbeiterfrage,  Zur  ländlichen 574 

Arbeiterinnen-Gewerkvereine  in  England  . 586 

Arbeiterinnenschutz  in  der  Schweiz  . 297.  348 

— in  St.  Gallen 589 

— -Gesetz,  Das,  des  Kantons  Zürich.  Von 

Dr.  Emil  Hofmann 598 

Arbeiterkämpfe,  amerikanische.  Von  C. 

Schneppe 19 

Arbeiterkolonie,  Zur  Statistik  der  Berliner  327 
— en,  Stand  der,  in  Deutschland  ....  285 

Arbeiterkongress,  Der  internationale,  sozia- 
listische   322.  482.  563 

— Der  internationale,  in  Zürich  . . 563.  576 

— Die  Marseiller  21 

Arbeiter-  und  Sozialistenkongresse,  Fran- 
zösische   8 

(S.  a.  Kongress.) 

Arbeiterorganisationen,  Die,  in  den  Ver- 
einigten Staaten 503 

Arbeiterpausen  für  jugendliche  Arbeiter  . . 612 
Arbeiterschutz,  Zur  Reform  des,  in  Oester- 
reich. Von  Dr.  V ict o r A d 1 er  ...  60 

— Einschränkung  des,  der  Arbeiter  in  der 

Edelmetallindustrie 153 

— Kommunaler,  in  London 194 

— bei  den  Staatsarbeiten  in  Dänemark  . 240 

— Zum,  im  englischen  Eisenbahnbetrieb  . 373 

— Zur  Reform  des,  im  belgischen  Bergbau  348 

— auf  See.  Von  Dr.  Max  Quarck  . . 521 

Arbeiterschutzbestimmungen,  Haftpflicht  der 

Unternehmer,  betr.  die 206 

Arbeiterschutzgesetz,  Das  neue  französische  70 

— Das  neue  französische,  und  seil  Ge- 
folge   216 

— Eine  Enquete  über  die  Wirkungen  des 
neuen  deutschen.  Von  Privatdozent  Dr. 

K.  Oldenberg 312 

Arbeiterschutzgesetzgebung,  Neue,  in  Bel- 
gien   229 

— Durchführung  der,  im  Staate  Con- 
necticut   230 


Arbeiter-Speisehallen.  Von  Stadt-  und  Han- 


delskammer-Sekretär R.  Boedicker  254 
Arbeiterstatistik  des  sächsischen  Bergbaues  1 28 

— Zur  Beurtheilung  der  neuen  deutschen. 

Von  Dr.  Heinrich  Br^qitu  t .-  . 185 

— Ergebnisse  der  . . . . . . . 237 

— Kommission  für  . . 16.  237.  248.  491 

— des  Grossherzogthums  Hessen  . . . 466 


Seite 

Arbeiterstatistik  und  Lohnstatistik,  Altonaer  501 

— für  Frankfurt  a.  M 538 

Arbeiter  - Unfallversicherungs  - Anstalt  für 

Nieder  - Oesterreich 37.  84 

— Zur  Statistik  der  österreichischen,  im 

Jahre  1891  454 

(S.  a.  Unfallversicherung.) 

Arbeiterunruhen  in  Bern 504 

Arbeiterverhältnisse,  Aufsicht  über  die,  in 

den  fiskalischen  Gruben  Preussens  . . 48 

— in  Hamburg 57 

- Amtlicher  Bericht  über  die , auf  den 

Staatsbergwerken  in  Preussen  . . . 204 

— und  Gewerbeinspektion  in  Paris.  Von 

Dr.  Max  Quarck 500 

— in  Mecklenburg-Schwerin 515 

Arbeiterversicherung  im  Deutschen  Reiche 

und  Erhöhung  der  ortsüblichen  Tage- 
löhne   17 

— -Gesetzgebung,  Die  deutsche , auf  der 

Weltausstellung  zu  Chicago  . . 36.  278 

— und  Sozialstatistik.  Von  Unterstaats- 
sekretär z.  D.  Dr.  Georg  v.  Mayr  . 99 

— Die  „Belastung“  der  Industrie  durch  die 

staatliche.  Von  J.  Silbermann  . . 106 

— Der  Ausbau  der,  in  Oesterreich  . . 156 

— und  Armenpflege 300 

— und  Armenpflege  in  Berlin  ....  349 

— Zur,  in  Schweden 373 

— Die,  und  der  ärztliche  Stand.  Von  Dr. 

E.  Lange 431 

— Die  Prozesse  im  Gebiete  der  Reichs-  578 

Arbeiterversicherungskosten  und  Unterneh- 
mergewinne in  Oesterreich  . . . . 182 

Arbeiterwanderungen  innerhalb  Deutsch- 
lands   205 

Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen , Central- 
stelle für,  Konferenz  der  . . . 362.  373 

— — — Arbeitsprogramm  für  ....  133 

Arbeiterwohnungen,  Bau  von,  aus  Mitteln 

der  Alters-  und  Invaliditätsversiche- 
rung   121.  567 

— Bau  von , aus  Mitteln  der  Invaliditäts- 
und Altersversorgung  in  Baden  . 11,  519 

— Bau  von , aus  Mitteln  der  Invaliditäts- 
und Altersversorgung  in  Hessen  . . 23 

— Ueber,  in  der  Kasseler  Lokomotivfabrik  457 

Arbeiterwohnungsfrage,  Zur 278 

Arbeiter-  und  Beamtenwohnungen,  Bau  von, 

durch  deutsche  Gemeindeverwaltungen  278 
Arbeitsamt,  Ein  neues,  für  England  . . . 226 

— Ein,  in  Oesterreich 370 

— Die  Arbeitszeitung  (Labour  Gazette)  des 

englischen 419 

— Städtisches,  in  Stuttgart 611 

Arbeitsbörse,  Eine,  in  London  ....  79 

— Kongress  der  französischen  ....  239 

— Der  zweite  Kongress  der  französischen  250 

— Der  Kampf  gegen  die  Pariser  481.  492.  504 

— in  Belgien.  Von  Rechtsanw.  Dr.  E.  Vin  ck  624 

Arbeitsbuch,  Zur  Handhabung  des  . . . 346 


IV 


INHALT  DES  ZWEITEN  BANDES. 


Seite 


Arbeitseinstellung,  Drohende,  der  Kohlen- 
arbeiter Englands 250 

- in  Oesterreich  im  Jahre  1891  . . . 286 

(S.  a.  Ausstand,  Strike,  Arbeiteraus- 

stand  u.  s.  w.) 

Arbeitshygienische  Untersuchungen  in  Eng- 
land   447 

Arbeitslöhne  in  Oesterreich 213 

- und  Lebensmittelpreise  in  Italien  . . 213 

in  der  oberschlesischen  Montanindustrie. 

Von  Prof.  Dr.  Werner  Sombart  . 525 

(S.  a.  Löhne  u.  s.  w.) 

Arbeitslose  in  England 142.  166 

Zur  Beschäftigung  von 176 

Arbeitslosenstatistik  2 1 3.  249.  261.  274.  333.  347 

- Zur  Methode  der.  Von  Dr.  Adolf 

Braun 13 

— Zur  Frage  der 44 

der  Fragebogen  zur  Aufnahme  der,  in 

Hamburg 58 

Ein  Beitrag  zur.  Von  Dr.  Karl  Olden- 

berg 80 

Zur  Diskussion  der  Frage  der.  Von  Dr. 

Adolf  Braun 87 

Die  und  der  Vorwärts.  Von  Dr. 

E.  Lange 115 

Zur,  in  Berlin 128 

Plan  einer,  in  Leipzig 153 

Zur,  in  den  deutschen  Städten  . . . 189 

Die  Ergebnisse  der  Hamburger.  Von 
C.  Legien 197 

— in  Stuttgart 226 

Die,  der  Handlungsgehilfen.  Von  Dr. 

Karl  Oldenberg 262 

Ergebnisse  der 311 

Die,  des  letzten  Winters.  Von  Dr. 

Karl  Oldenberg  377 

Ergebnisse  der,  in  Zürich.  Von  Rechts- 
anwalt Otto  Lang 465 

Arbeitslosenunterstützung  unter  den  öster- 
reichischen Buchdruckern 45 

Arbeitslosenversammlungen,  Berliner  . 213 

Arbeitslosenversicherung  im  Kanton  Basel- 

Stadt  241 

— Zur  Frage  der,  in  der  Schweiz  , . . 301 

der  niederösterreichischen  Buchdrucker  398 

— Zur,  in  Zürich 408 

Arbeitslosigkeit,  Die,  in  der  Hamburger 

Tabakindustrie 17 

— Erhebungen  über,  in  Hamburg  ...  18 

— Zur,  in  Deutschland 83 

— in  England 128 

— in  Mannheim 142 

und  Stadtverordnete  in  Berlin  . . . 1 64  j 

- — Versicherung  gegen,  in  der  Stadt  Bern  207  1 
und  Buchdruckergewerbe.  Von  Dr. 

Karl  Oldenberg 321 

im  Münsterlande.  Von  Dr  Karl  Olden- 
berg   406 

im  Berliner  Braugewerbe.  Von  Dr. 

KarlOldenberg 419 

im  Kanalbau.  Von  Dr.  Karl  Olden- 
berg   427 

Maassnahmen  gegen  die,  in  Zürich  . . 475  | 

— beleuchtet  durch  Nachweise  der  Ar- 

beitsvermittelungsbureaux 502 

— Amtliche  Feststellungen  über  die  . . 537 

und  Arbeitsvermittelung  in  Industrie- 

und  Handelsstädten 546 

Die  Versicherung  gegen,  und  die  evan- 
gelischen Arbeitervereine 591 

Arbeitsmarkt,  Vom  englischen  ....  190 

Arbeitsnachweis,  Gründung  eines  Central- 
ausschusses für,  und  einer  Arbeits- 
nachweisstatistik in  Berlin  ....  201 

Zum,  in  Berlin 285 

— Amtlicher,  und  Armenrecht  ....  327 

— Der  Berliner  Zentralverein  für  . . . 370 

Zur  Statistik  des,  in  Stuttgart  . . . 403 

in  Breslau  500 

— durch  die  Berufsgenossenschaften  . . 524 

Zur  Organisation  des,  in  Preussen  . . 596 

-Aemter,  Oeffentliche,  in  Ohio  . . . 347 

— -Anstalten  in  Berlin 500 

— -Stellen,  Amtliche,  in  Schlesien  . . . 346 

(S.  a.  Arbeitsvermittelung.) 


Arbeitsordnung,  Neue,  für  die  staatlichen 
Kohlengruben  im  Saarrevier  . 

— Zur  Frage  der 

— Die,  der  Mainzer  Möbelindustrie  vor 
dem  Ausschuss  des  Gewerbegerichts  . 

Arbeitstag,  Tagelöhne  und  Länge  des,  im 
Zimmerergewerbe  während  der  Sommer- 
monate. Vom  Zimmerer  A.  Bring- 
mann   

Arbeitsteilung  und  Lehrlingsbeschäftigung, 
Strike  wegen  vorgeschrittener 
Arbeits-  und  Gewerbekammern  in  Holland 
Arbeits-  und  Wohnungsverhältnisse,  Sta- 
tistik über,  im  Bäckergewerbe  Wiens 
Arbeitsverdienst  der  Gefängnissarbeiter 
(S.  a.  Arbeitslöhne,  Löhne  u.  s.  w.) 
Arbeitsverhältnisse  in  den  deutschen  Nah- 
rungsmittelgewerben   

— kaufmännisch  Angestellter  . 

Enquete  über  die,  im  Handelsgewerbe 

von  Frankfurt  a.  M 

der  Eisenbahnbediensteten  der  Gaisberg- 
bahn 

- in  den  preussischen  Staatsbergwerken  . 

- Städtische,  in  Mainz 

- in  der  britisch-indischen  Textilindustrie. 

Von  Dr.  Emil  Loew 

Arbeitsvermittelung,  Eine  Enquete  über 
im  Handwerk 

— durch  die  Post  in  Luxemburg 

- Centralisirung  der,  in  Berlin  .... 

— -Anstalt,  Neue,  in  Darmstadt  .... 

- Die,  in  Wien  und  Brünn 

- Arbeitslosigkeit  und,  in  den  Industrie- 

und  Handelsstädten 

- Städtische.  Von  Dr.  Max  Quarck 

(S.  a.  Arbeitsnachweis  ) 
Arbeitsverpflichtung,  Dauer  der,  ländlicher 

Arbeiter  in  England 

Arbeitszeit  und  Löhne  für  erwachsene  Ar- 
beiter in  der  reichsländischen  Industrie 

in  der  Berliner  Industrie 

Die  englischen  Arbeiter  und  die  Ver- 
kürzung der 

- Einschränkung  der,  für  Handwerks- 
lehrlinge   

— Regelung  der,  von  Eisenbahnbedienste- 
ten in  England 

— im  Kanton  Zürich 

— in  der  deutschen  Steinindustrie  . 

— jugendlicher  Textilarbeiter  in  Preussen 

und  Sachsen  

— in  den  Genfer  Druckereien 

- , Die,  in  den  Spinnereien  .... 
Arbeitszeitregulirung,  Arbeiter  als  Gegner 

der 21. 

Arbeitszeitung,  Die  (Labour  Gazette)  des 

englischen  Arbeitsamts 

Armenhäuser  und  Gefängnisse , Herkunft 
der  Insassen  von,  in  den  Vereinigten 

Staaten  von  Amerika 

Armenpflege,  Arbeiterversicherung  und,  in 
Berlin 

— Eine  Reform  der  englischen  . 

- und  Miethszinszahlung.  Von  Max  May 

— und  Wohlthätigkeit,  Der  Deutsche  Ver- 
ein für 

Aerztliche  Nachweisungen  von  Todesfällen 
durch  Unfall 

— Stand,  Der,  und  die  Arbeiterversiche- 
rung. Von  Dr.  E.  Lange 

Aschersleben,  Schulunterricht  und  Rüben- 
bau in 

Augsburg,  Zur  Arbeiterbewegung  in 
Ausbildung,  Ein  Reformprogramm  für  die 
niedere  gewerbliche.  Von  Dr.  Karl 

v.  Mangoldt 

Auskunftsbureau  für  gewerbliche  Streitig- 
keiten in  Leipzig 

Ausschank  geistiger  Getränke,  Beschrän- 
kung des,  in  England 

Ausstand  der  Baumwollspinner  in  Lanca- 

shire 83.  102.  128. 

Der,  in  Homestead  . 

in  New-Orleans 


Seite 


105 

297 

393 


359 


56 

323 

477 

339 


30. 

69 

101 

144 

226 

407 

550 

55 

118 

143 

248 

248 

310 

546 

582 


573 

5 

7. 

18 

19 

144 

205 

277 

287 

312 

577 


117 


419 


373 

349 

177 

441 

442 

156 

431 

459 

384 


389 

23 

278 

275 

117 

117 


Seite 


Ausstandsbewegung,  Die,  in  Belgien  . . 360 

(S.  a.  Arheiterausstand,  Arbeitseinstellung, 
Strike.) 

Ausstellung,  Zur,  in  Chicago 433 

Ausverkäufe,  Die  Regelung  der,  in  Oester- 
reich   127 

Auswanderer,  Berufsstellung  der  deutschen, 

im  Jahre  1892  261 

Auswanderung,  Die  überseeische  . . . 404 

Die  europäische 451 

Zur  überseeischen,  in  Deutschland  . 44 

Die  deutsche  überseeische,  im  dritten 
Quartal  1892  126 

— Deutsche,  im  Jahre  1892  212 

Die  deutsche  überseeische,  im  Jahre  1892  357 

— Zur  Statistik  der  deutschen  überseoi- 

schen 465 

— Das  Steigen  der,  in  Italien  ....  30 

— Die  italienische 416 

aus  Schweden 223 

Auswa  iderergesetz , Zum  Entwurf  eines 

deutschen.  Von  Dr.  Max  Quarck  . 111 

für  Bremen 499 

Auswanderungsverordnung,  Neue,  des  bre- 
mischen Staates  5 

Auswanderungswesen,  Zur  Regelung  des, 

in  Deutschland 4 

— Ein  Gesetzentwurf  über  das  ....  101 

Gesetz  über  das 596 

Auszahlung  des  Lohnes,  Ortsstatut  über, 

an  Minderjährige 240 

Aussenarbeiter  und  Hausindustrielle  . . 589 

Automaten  und  Sonntagsruhe 182 


B. 


Bäckereiarbeiter,  Die  Lage  der,  im  Lichte 
der  deutschen  Arbeiterstatistik.  Von  Dr. 

Heinrich  Braun 209 

Bäckergewerbe  Wiens,  Statistik  über  Ar- 
beits- und  Wohnungsverhältnisse  im  . 477 

Bäckermeisterstrike,  der  Marseiller  . . . 239 

Bankerotte  in  den  Vereinigten  Staaten  . 223 

Basel -Stadt,  Arbeitslosenversicherung  im 

Kanton 241 

— Zur  Sonntagsruhe  in 277 

Bauer,  russische,  Verbrauch  des  . . . . 573 

Lage  der.  Von  Georg  Ledebour  549 
Bäuerliche  Anerbenrecht,  Einführung  des, 

in  Baden 164 

Erbrecht  in  Baden 1 . 476 

— Güter,  ein  Vorschlag,  betr.  die  Zwangs- 
versteigerung. Von  Dr.  Leo  Arons  . 605 

Bauernauswanderungen,  Die,  aus  Galizien 
und  aus  der  Bukowina.  Von  Prof. 

Dr.  ErnstMischler 160 

Bauernkongress  in  Oesterreich  ....  223 

Bauernpacht,  Die,  in  Russland.  Von  P. 

von  Struve  . 2 

Baugewerks-Berufsgenossenschaften  , Ver- 
bandstag der 590 

Bauordnung  undZoneneintheilung  fürFrank- 

furt  a./M 499 

für  städtische  Innen-  und  Aussenbezirke  410 
Baupolizeiordnung,  Die  neue,  für  die  Vor- 
orte Berlins.  Von  Dr.  E.  Lange  . . 217 

Baustellen,  Zur  Besteuerung  der  Konjunk- 
turengewinne an.  Von  Dr.  L.  Pohle  . 380 


Beamten-  und  Arbeiterwohnungen,  Bau  von, 

durch  deutsche  Gemeindeverwaltungen  278 
Beerdigungskosten , Der  lohnstatistische 
Werth  der  von  den  Berufsgenossen- 
schaften gezahlten.  Von  Dr.  Ernst 


Lange 201 

Befähigungsnachweis  für  Bergarbeiter  in 

PreusSen  i . i 153.  194 

— • Durchführung  des,  im  Handelskammer- 
bezirke Brünn 9 

Bergarbeiter,  Der  Konflikt  zwischen  fran- 
zösischen und  belgischen 35 

— Verhältnisse  der  sächsischen  ....  382 

- -Ausstand,  Der,  im  Saarrevier  und  in 

Rheinland-Westfalen  . . 177.  191.  206 

— -Ausstände,  Zur  Geschichte  der  letzten 

deutschen.  Von  Dr.  Max  Quarck  . 214 

-Bewegung,  Zur,  in  Oesterreich  . . 515 


INHALT  DES  ZWEITEN  BANDES. 


V 


Seite 

Bergarbeiter-Bewegung  in  England  . 528.  539 

- -Konferenz,  Von  der  englischen  . . . 206 

-Kongress,  der  internationale  ....  428 

-Statistik  für  Westfalen 475 

-Verhältnisse  in  der  argentinischen  Re- 
publik   428 

Bcrggcrichte,  Fünf,  für  Preussen  . . . 241 

Berggesetz  und  Lohnfestsetzung  in  Preussen  70 

Berggewerbegericht  für  das  Herzogthum 

Braunschweig 121 

in  Preussen 207.  288 

Bergpolizeiverordnung  über  Errichtung  von 
Waschkauen  für  Bergleute  im  Bezirk 

Dortmund 169 

Berlin,  Lohnverhältnisse  in 6 

Ausdehnung  der  gewerblichen  Sonntags- 
arbeit in  6 

Arbeitszeiten  in  der  B.  Industrie  . 7 

— Obdachlosigkeit  in 18 

— Ein  Verein  B.  Arbeiter  u.  Arbeiterinnei' 

zur  ersten  Hilfe  bei  Unglücksfällen  . 23 

— Zur  Arbeitslosenstatistik  in  ...  128 

— Töpferstrike  in 129 

— Gewerbegericht  in 145 

— Arbeitslosigkeit  und  Stadtverordnete  in  164 

— Die  Wohnungsverhältnisse  der  ärmeren 

Bevölkerung  in 170 

— Zur  kommunalen  Sozialpolitik  in  . . 187 

— Zum  Nothstand  in 190 

— Centralisirung  der  Arbeitsvermittelung 

in 201.  248.  370 

— Lohnverhältnisse  in  der  chemischen  In- 
dustrie der  Stadt 202 

— Arbeitslosenversammlungen  in  . . . 213 

— Schiedsgericht  für  die  Invaliditäts-  und 

Altersversicherung  in 217 

— Regelung  des  Schlafstellenwesens  in  . 218 

— Zur  Sonntagsruhe  in 229 

— Antrag  auf  gleiche  Schulbücher  in  den 

B.  Gemeindeschulen 243 

— Gewerbegerichtswahlen  in 265 

— Zum  Arbeitsnachweis  in 285 

— Arbeiterbildungsschule  in 289 

— Wohnungsstatistik  in 325 

— Zur  Statistik  der  Arbeiterkolonie  in  . 327 

— Arbeiterversicherung  und  Armenpflege 

in 349 

— Regelung  der  Sonntagsarbeit  im  B. 

Friseurgewerbe 361 

— Kindersterblichkeit  in 387 

— Das  Submissionswesen  und  die  Gewerk- 
schaften in 384 

— Verlängerte  Besuchszeit  der  B.  Museen  399 

— Arbeitslosigkeit  im  B.  Baugewerbe  . 419 

— Berufszählung,  die  B.,  von  1890.  Von 

Karl  Thiess 546 

— Die  gewerbliche  Fortentwickelung.  Von 

KarlThiess 560 

- — Fortbildungsschulen  im  Jahre  1892/93  615 

Bern,  Arbeiterunruhen  in 504 

— und  Thun,  Arbeiterausschüsse  in  den 

eidgenössischen  Waffenfabriken  in  . . 506 

Berufsgenossenschaften  (Unfall-),  Kostspie- 
ligkeit der  deutschen  ....  48.  97 

- Rechnungsergebnisse  der  deutschen,  für 

1891 156 

Ausschusssitzung  des  Verbandes  der 
deutschen 230 

Berufsgenossenschaftstag,  Deutscher  . . 482 

Berufsgenossenschaftliche  Schiedsgerichte, 

Zur  Reform  der.  Von  Dr.  E.  Lange  299 
Berufskrankheiten,  Die,  der  Porzellan- 
arbeiter   579 

Berufsstatistik,  Nothwendigkeit  einer  neuen, 

für  das  Deutsche  Reich 204 

- Englische 595 

Berufsvereine,  Zur  gesetzlichen  Stellung 

der,  in  Deutschland 116 

Berufsverhältnisse , Die , der  russischen 

Frauen.  Von  S.  Werblunski  . . . 408 

Berufszählung,  Die  Berliner,  von  1890.  Von 

Karl  Thiess 546 

Besteuerung,  Zur,  der  Konjunkturengewinne 

an  Baustellen.  Von  Dr.  L.  Pohle  . . 380 

Bettler,  bestrafte,  im  Königreich  Sachsen  . 295 

Bevölkerung,  Zunahme  der  städtischen,  in 

F rankreich 15 


Seite 


Bevölkerungsbewegung  in  Frankreich  im 

Jahre  1891  236 

Bier-,  Branntwein-  und  Börsenstcucr,  Er- 
höhung der,  im  Deutschen  Reiche.  Von 

Dr.  J.  Jastrow 123 

Biersteuer,  Eine  Petition  gegen  die  Er- 
höhung der 164 

Bleifarben-  und  Bleizucker -Fabriken,  Die 
Vorschriften  betr.  die  Einrichtung  und 

den  Betrieb  der 493 

Boards  of  guardians , Vertretung  der 

Arbeiter  in  den 242 

Bodenbesitzreformer,  Versammlung  der 

deutschen 79 

Bochum,  Statistik  des  allgemeinen  Knapp- 
schaftsvereins in 398 

Brandenburg  a.  H.,  Wohnungszustände  in  542 
Branntwein-,  Bier-  und  Börsensteuer,  Er- 
höhung der,  im  Deutschen  Reiche.  Von 

Dr.  J.  Jastrow 123 

Brauereibesitzer,  Verband  der  braun- 
schweigischen . . 228 

Brauerverein,  Ein  neuer 193 

Braunschweig,  Vorschriften  über  das  Schlaf- 
gängerwesen in 85.  325 

Die  B.  Gemüsekonservenfabrikanten  und 

die  Sonntagsruhe 337 

Bremen,  Neue  Auswanderungsverordnung 

des  B.  Staates 5 

— Auswanderungsgesetz  in 499 

Breslau,  Durchschnittslöhne  in  den  B.  Ge- 
werben   212 

— Arbeitsnachweis  in 500 

Brödtaxe,  Wiedereinführung  der  offiziellen, 

in  Marseille  548 

Brünn,  Durchführung  des  Befähigungs- 
nachweises im  Handelskammerbezirke  9 

Die  Gewerbegerichte  in 85 

— Die  Arbeitsvermittelung  in  Wien  und  310 

Buchbinderei , Sozialstatistisches  aus  der 

deutschen 7 

Buchdruckerberufsgenossenschaft,  Obligato- 
rische, in  der  Schweiz 262 

Buchdruckereien  Böhmens,  Arbeitsverhält- 
nisse in  den 102 

Buchdrucker-Gehilfen,  Die  Organisation  der, 

in  Kalifornien 59 

— - -Gewerbe,  Die  Situation  im  deutschen. 

Von  Bruno  Klinkhardt  . . . . 31 

Erwiderung.  Von  Dr.  Adolf  Braun  33 

Der  erste  Trust  im 382 

-Hilfskassen  in  Russland 241 

— -Organisationen,  Die  Umgestaltung  der 

deutschen 178 

— -Verband,  Der  italienische 385 


c. 

(S.  a.  K.) 

Carmaux,  Der  Strike  von  36.  45.  59.  68 

Chemische  Industrie,  Statistik  der  Deutschen  143 
Chicago,  Die  deutsche  Arbeiterversiche- 
rungsgesetzgebung auf  der  Weltaus- 
stellung zu 36.  278 

- Internationaler  Kongress  für  Gemein- 
nützigkeit in 399 

— Zur  Ausstellung  in 433 

Centralstelle  für  Wohlfahrtseinrichtungen, 

Arbeitsprogramm 133 

Konferenz 362.  373 

Centralverband  deutscher  Industrieller  und 

Bestrafung  des  Kontraktbruches  . . . 296 

Centralverein  für  Arbeitsnachweis,  Die  Thä- 
tigkeit  des  Berliner,  im  ersten  Quar- 
tale 1892  . 30 

Cholera,  Die  Maassregeln  gegen  ....  444 

Cigarrenarbeiter,  Die  Lage  der  holländischen  68 
Cigarrenläden,  Die,  und  die  Sonntagsruhe 

in  Deutschland 467 

Circular  betreffend  den  Ausschank  geistiger 

Getränke  in  Preussen 177 

D. 

Dampfmaschinen,  Die,  im  Königreich  Sach- 
sen. Von  Dr.  H.  Lux 534 

Darmstadt,  Speisung  armer  Schulkinder  in  5 


Seite 


Darmstadt,  Wohnungsverhältnisse  in  . . 121 

Neue  Arbcitsvermiltclungsanstalt  in  . 248 

Dekorationsmaler-Organisation,  Die  Leistun- 
gen der,  in  den  Vereinigten  Staaten  von 

Amerika 8 

„Demagogenthum  im  wissenschaftlichen  Ge- 
wände." Eine  Entgegnung.  Von  Prof. 

Dr.  Werner  S'O mbar t 25 

Determinismus  und  Strafrecht.  Von  Prof. 

Dr.  Franz  v.  Liszt 1 

Dienstboten,  Versorgung  der,  durch  die 
deutsche  Invaliditäts-  und  Altersver- 
sicherung   37 

in  Baden,  Krankenversicherung  der  . 1 95 

-Frage,  Zur.  Von  J.  Silber  mann  . 401 

- -Gewerkverein  im  Kaplande  ....  322 

Dockarbeiter,  Vom  Ge  werk  verein  der  eng- 
lischen   45 

-Aussta  ld,  Der,  in  Hüll  . 3<]8.  361.  408 

Domanialbauern,  Lage  der,  in  Mecklenburg- 

Schwerin  476 

Dortmund,  Bergpolizeiverordnung  über  Er- 
richtung von  Waschkauen  für  Bergleute 
im  Bezirk 169 

- Nothstandsforderungen  in  . . . . . 248 

Drechsler,  Zur  Lage  der,  in  Dresden  . . 213 

Drechslerarbeiter,  Zur  Lage  der  deutschen. 

Von  Dr.  H.  Lux 511 


E. 


Eigenthumsrecht  und  öffentliche  Gesund- 
heitspflege   494 

Eingeschriebene  Hilfskassen,  Die,  und  die 
§§75  und  75a  des  Krankenversiche- 
rungsgesetzes   170 

Einigungs-  und  Schiedsämter  in  Frankreich. 

Von  Leo  Frankel 108 

Einigungsämter,  Die,  in  Frankreich  . . . 241 

— Englische  Bill  über 469 

Einkommen,  Das,  der  Privatbeamten  in 

Oesterreich 127 

Einkommensteuer,  Gegen  die  progressive 

kommunale 27  1 

Einkommensverhältnisse,  Die,  in  Preussen. 

Von  Dr.  H.  Lux 42 

— Die,  der  Beamten  in  Italien.  Von  Prof. 

Dr.  Ernst  Mischler 139 

— Die,  in  Baden.  Von  Prof.  Dr.  Eugen 

v.  Philippovich 235 

Einkommenvertheilung  im  Grossherzogthum 

Hessen 223 

Einwanderung,  Zum  Verbot  der,  in  die 

Vereinigten  Staaten 286 

Eisenbahnarbeiter,  Erhebungen  über  die 

Lage  der  schweizerischen 261 

— • und  -Angestellten,  Kongress  der  fran- 
zösischen   384 

— Zur  Lage  der,  in  der  Schweiz  . . . 503 

Eisenbahnbedienstete,  Die  Vereinigung 

der,  in  England 35 

— Arbeitsverhältnisse  der,  der  Gaisberg- 

bahn 144 

Eisenbahnwerkstätten  Preussens,  staatliche, 

Lohnreduktionen  in  den 17 

Elberfelder  System  in  Reichenberg  . . . 443 

Erbrecht,  Bäuerliches,  in  Baden  . . . . 476 

Erkrankte  Arbeiter,  Beförderung,  mit  der 

Eisenbahn 541 

Erwerbs-  und  Wirthschaftsgenossenschaften, 

Die  deutschen,  im  Jahre  1892.  Von 
Gerichtsassessor  Dr.  Hans  Crüger  . 608 


Erziehungswesen  in  den  Vereinigten  Staaten  470 
Ethische  Kultur,  Deutsche  Gesellschaft  für. 

Von  Prof.  Dr.  Georg  v.  Gizycki  49.  61 

Evangelische  Arbeitervereine  Deutschlands, 

Die 421.  543 

— — Die  Presse  der 384 

— — Die  Versicherung  gegen  Arbeits- 
losigkeit und  die 591 

Evangelisch-sozialer  Kongress  . . 415. 

— — Erhebung  des,  über  die  Lage  der 

ländlichen  Arbeiter  im  Deutschen  Reiche  273 

Evert , Taschenbuch  des  Gewerbe  und 

Arbeiterrechts 628 


VI 


INHALT  DES  ZWEITEN  BANDES. 


Seite 

F. 

Fabrikarbeiterzählung,  Die  Ergebnisse  der 
neuesten  sächsischen,  für  das  Jahr  1892. 

Von  Dr.  Max  Quarck 417 

Fabrikaufsicht,  Zur,  der^  Berufsgenossen- 
schaften   297 

Fabriken  in  Russland 523 

Fabrikindustrie,  Die,  der  Stadt  New-York  79 
Fabrikinspektor,  Der,  für  Rheinhessen  und 

die  Arbeiter 216 

— Zur  Vermehrung  der,  in/Preussen  . . 287 

— Vermehrung  der,  und  Versuch  mit  Fa- 

brikinspektorinnen  in  England  . . . 230 

Fabrikinspektion,  Die  englische,  im  Jahre 

1890/91.  Von  Max  Neustädter.  . 71 

— in  Frankreich 195 

— und  deutscher  Reichstag 253 

— Jahresbericht  der  badischen,  für  das 

Jahr  1892.  Von  Prof.  Dr.  Heinrich 
Herkner 257 

Fabrikinspektorat,  Abschluss  der  Neurege- 
lung des  preussischen  555 

Fachbildung,  Zur  Frage  der  gewerblichen, 
in  Deutschland.  Von  Dr.  Karl  von 

Mangoldt 353 

Fach  vereine  und  Staatsaufsicht  ....  238 

Fideikommisse,  Statistik  der,  und  der  „toten 

Hand“ 142 

Fleischerei  - Berufsgenossenschaft , Bildung 

einer 591 

Fleischkonsum,  Rückgang  des,  in  Leipzig  27 1 
- — Abnahme  des,  in  Nürnberg  ....  347 

Fleischpreise  in  München 585 

Fortbildung,  Gewerbliche,  in  Preussen  . 303 

Fortbildungsschulen,  ländliche,  in  Preussen  542 

— Berliner,  im  Jahre  1892/93  . . . . 615 

Fortbildungsschulwesen,  Verbesserung  im 

gewerblichen 66 

Frankfurt  a.  M.,  Enquete  über  die  Arbeits- 
verhältnisse im  Handelsgewerbe  von  . 101 

— Wohnungszustände  in 195 

— Thätigkeit  des  Gewerbegerichts  in  . . 231 

— Bauordnung  mit  Zoneneintheilung  . . 499 

— Arbeiterstatistik  für 538 

Frauen,  Nachtarbeit  der,  in  sächsischen 

Appreturanstalten 83 

— in  Frankreich,  Gesetzentwurf,  betr.  den 

Schutz  der  . . . . 118 

— in  Zeitungsdruckereien,  Nachtarbeit  der  385 

— Die  Berufsverhältnisse  der  russischen. 

Von  S.  Werblunski 408 

• — - Zulassung  der,  zu  pharmazeutischen 

Studien 363 

— Zur  Beschränkung  der  Arbeit  jugend- 
licher Arbeiter  und,  in  Oesterreich  . 408 

— und  Kinder,  Ein  französischer  Gesetz- 

entwurf, betreffend  die  in  den  Hand- 
lungshäusern beschäftigten  ....  396 

— Trunksucht  der,  in  England  . . . . 615 

Frauenarbeit  in  deutschen  Gold-  u.  Silber- 

waarenfabriken 36 

— in  den  Vereinigten  Staaten  ....  274 

— im  französischen  Handels-  und  Ver- 
kehrsgewerbe   347 

— im  russischen  Kunstgewerbe.  Von 

S.  Werblunski 597 

— und  Kinderarbeit  in  Belgien,  Schutz  der  46 

— — — Ausdehnung  der,  im  Deutschen 

Reich 323 

— Regelung  der,  in  Frankreich  . 431 

(S.  a.  jugendliche  Arbeiter,  Kinder  u.  s.  w.) 

Frauentag  in  Wiesbaden 409 

Freie  Hilfskassen,  Verband II 

Freizügigkeit,  Bestrebungen  zur  Bekämpfung 

der .141 


G. 


Gaisbergbahn,  Arbeitsverhältnisse  der  Eisen- 
bahnbediensteten der 144 

Galatz,  Lohn-  und  Ausgabenverhältnisse  der 

Mühlenarbeiter  in 8 

Gebäudesteuer,  die  preussische.  Von  Dr. 

J.  Jastrow 137 

Gefahrenklassen,  Gebrochene 456 


Seite 


Gefängnisse  und  Armenhäuser,  Herkunft  der 
Insassen  von,  in  den  Vereinigten  Staaten 

von  Amerika 373 

Geisteskranke  im  Königreich  Sachsen  . . 236 

Geldstrafen  für  die  ausständischen  Berg- 
arbeiter im  Saarrevier 239 

Gemeindegrundbesitz,  Eine  Enquete  über 
die  Wirkungen  des,  auf  die  Gemeinde- 
finanzen. Von  Adolf  Damaschke  . 90 

Gemeinderäthe  Frankreichs,  Kongress  der 

sozialistischen 539 

Gemeindesteuern,  Ueber  indirekte  . . . 272 

Gemüsekonservenfabrikanten,  Die  braun- 
schweigischen, und  die  Sonntagsruhe  . 337 

Genesende,  Die  Fürsorge  für 447 

Genf,  Arbeitszeit  in  den  Druckereien  . . 312 

Genossenschaft,  Eine  ackerbautreibende,  in 

Italien .416 

Erwerbs-  und  Wirthschafts- , die  deut- 
schen, im  Jahre  1892.  Von  Dr.  Hans 

C rüg  e r 608 

Genossenschaftswesen  in  England  . . . 465 

Gent,  Sozialdemokratischer  Kongress  in  . 334 

Gerichts-  und  Verbrecherstatistik  Irlands 

für  das  Jahr  1891 48 

Geschichtsunterricht,  Der  deutsche  Histo- 
rikertag und  der 35 1 

Der,  als  Vorbereitung  zur  Theilnahme 

am  öffentlichen  Leben 339 

Gesetzentwurf,  Ein  deutscher,  gegen  die 

Unsittlichkeit 101 

betreffend  den  Schutz  der  Frauen  in 

Frankreich 118 

— des  Centrums,  betr.  Reform  der  Ge- 
werbeordnung   181 

- betreffend  den  Hausirhandel  . , . . 201 

— Der,  zu  Gunsten  des  Koalitionsrechtes 
vor  dem  französischen  Senate.  Von 

Leo  F rankel 293 

William  Mather’s,  die  Regulirung  der 
Arbeitszeit  durch  die  Trades  Unions 

betreffend 323 

Ein  französischer,  betreffend  die  in  den 
Handlungshäusern  beschäftigten  Frauen 

und  Kinder 396 

betr.  die  Wohnungspflege  in  Hamburg  410 

— Der  belgische,  betr.  die  Verleihung  der 

juristischen  Persönlichkeit  an  die  Ge- 
werkvereine. Von  Dr.  Emil  Vinck  . 509 

— zur  Erleichterung  von  Stadterweiterungen  596 

— Sozialpolitische,  in  Oesterreich  . . . 188 

Gesundheitspflege,  Der  deutsche  Verein  für 

öffentliche 446 

— Oefientliche,  und  Eigenthumsrecht  . . 494 

Gesundheitsverhältnisse  der  Bauarbeiter  . 611 

Gewerbeaufsicht,  Reorganisation  der  preussi- 
schen   194 

Gewerbebetrieb,  Die  Ausdehnung  des  städti- 
schen, in  Preussen 94 

Gewerbe-Enquete,  die  österreichische  vom 
6.  Juni  bis  10.  August.  Von  Engelbert 

Pernerstorfer 619 

Gewerbegericht  als  Einigungsamt  ...  22 

— Die  Zuständigkeit  der 22 

Die,  in  Brünn 85 

— in  Hessen 121 

— in  Berlin 145 

— in  Baselstadt 207 

— Thätigkeit  des,  in  Frankfurt  a./M.  . . 231 

Zur  Statistik  des,  in  Hanau  a./M.  . . 362 

— in  Württemberg 387 

— Vereinigung  der,  Deutschlands  . . . 468 

Zur  Statistik  der  deutschen  ....  494 

— in  Wien 567 

— Die  Thäthigkeit  der  württembergischen, 

im  Jahre  1892  591 

— Zahl  der  in  Deutschland 628 

Gewerbegerichtliches  Verfahren,  Beschleuni- 
gung des 22 

Gewerbegerichtswahlen  in  Berlin  . . . 265 

Gewerbeinspektion,  Zur  Praxis  der  in 

Preussen 11 

Die,  in  Oesterreich 287 

Die  österreichische,  im  Jahre  1892.  Von 

Prot.  Dr.  E.  Mise  hl  er 452 

und  Arbeiterverhältnisse  in  Paris.  Von 
Dr.  Max  Quarck  , , , . . . , 500 


Seite 


Gewerbeinspektion,  Vermehrung  der,  in 

Württemberg 203 

Gewerbeinspektorat,  Eine  Maassregelung  im 

österreichischen 454 

Gewerbekammern  und  Gewerbevereine  . 118 

Die  Frage  der,  vor  dem  Reichstage. 

Von  Dr.  Rudolf  Grätzer  ....  130 

und  Arbeitskammern  in  Holland  . . 323 

Lohnzahlung,  Sonntagsschulen  und,  im 

Grossherzogthum  Hessen 566 

Gewerbekammertag,  Deutscher,  im  Jahre 

1893  597 

Gewerbeordnung,  Gesetzentwurf  des  Cen- 
trums, betr.  Reform  der 181 

Kartellzwang  und  deutsche  ....  577 

Gewerbeordnungsnovelle , Oesterreichische 

parlamentarische  Enquete  über  die  . . 276 

Gewerbeschiedsgerichte  im  Kanton  Zürich  133 
Gewerbeschulmänner,  Der  Verband  deut- 
scher   422 

Gewerbestatistik,  Neue,  für  Baden  . . . 187 

Gewerbesteuer,  Die  neue,  in  Preussen.  Von 

Dr.  J.  Jastrow 149 

Gewerbevereine,  Gewerbekammer  und  . . 118 

— Verbandstag  der  württembergischen  . 597 

Gewerbliche  Fortbildung  in  Hessen.  . . 279 

— Ausbildung,  die  niedere,  ein  Reform- 
programm für  die.  Von  Dr.  Karl 

von  Mangoldt 389 

Fortentwickelung,  Die,  Berlins.  Von 
KarlThiess 560 

Gewerkschaften,  Das  Submissionswesen  und 

die  Berliner 384 

Die  Entwickelung  der  Mannheimer,  seit 
Aufhebung  des  Sozialistengesetzes  . . 250 

Gewerkschaftsbewegung,  Die,  in  Ost-  und 

Westpreussen.  Von  Br.  Poersch  . 440 

— Zur  Entwickelung  der,  in  Oesterreich  . 95 

Gewerkschaftskongress  , Modifikation  des 

französischen 116 

Der  französische 527 

— Internationale  . . . 34.  59.  574.  585 

Gewerkschaftsstatistik,  Englische  ....  407 

Gewerkvereine,  Der  belgische  Gesetzent- 
wurf, betr.  die  Verleihung  der  juristi- 
schen Persönlichkeit  an  die.  Von  Dr. 

Emil  Vinck 509 

Gewerkvereinskassen,  Verband  der  deut- 
schen  84 

Gewinnbetheiligung,  Zur  Frage  der  391.  475 

der  Arbeiter  in  einer  Maschinenfabrik  591 

— -Projekt  in  Algier 447 

Glasarbeiter,  Strike  der,  in  England  . . 192 

Goerres,  Dr.  jur.  K. , Handbuch  der  gesamm- 

ten  Arbeiterschutzgesetzgebung  des  Deut- 
schen Reiches . 255 

Griffelfabrikation,  Ergebnisse  der  staat- 
lichen, in  Meiningen 165 

Grossbetrieb,  Fortschritte  des,  innerhalb  der 

Innungen.  Von  Karl  Thiess  . . . 593 

— und  Aktiengesellschaften  in  Sachsen  . 610 

Grossindustrie,  Die  österreichische  Enquete 

über  die  Organisation  der.  Von  Prof. 

Dr.  Heinrich  Herkner 317 

Grubenarbeiter  in  Grossbritannien,  Normal- 
arbeitstag der 253 

Grundsteuer  und  Besitzüberschuldung  in 

Preussen.  Von  Dr.  J.  Jastrow  . . 305 

Gebäude-  und  Gewerbesteuer  im  Kom- 
munalabgabengesetz". Von  Dr.  J.  Jas- 
trow   245 

— Die  Ueberweisung  der  preussischen,  und 

ihre  sozialpolitische  Seite.  Von  Dr.  J. 
Jastrow 27 

Grütliverein,  Schweizerischer  . . . 35.  84 

H. 

Hafenarbeiter,  rheinische,  Löhne  der  . . 19 

Haftpflicht,  Die,  in  England  288.  386. 

469.  528 

— -Gesetzentwurf  für  Grossbritannien  . . 265 

-Schutzverband  deutscher  Industrieller  324 

Halle  a.  S.,  Kommunale  Beschäftigung  für 

Arbeitslose  in 54 

Hamburg,  Die  Arbeitslosigkeit  in  der  H. 

Tabakindustrie  , 17 


INHALT  DES  ZWEITEN  BANDES. 


VII 


Seite 


I Iamburg,Erhebungen  über  Arbeitslosigkeit  in  1 8 

Kellerwohnungen  in  48 

Arbeitervcrhältnissc  in 55 

— Der  Fragebogen  zur  Aufnahme  der  Ar- 

bcitsloscnstatistik  in 58 

Die  Ergebnisse  der  H.  Arbcitsloscn- 

statistik 197 

Die  Tabakarbeiter-Genossenschaft  in  . 332 

Strike  der  Heizer  und  Trimmer  in  . 336 

— Verein,  Der,  für  Handlungskommis  . 395 

— Gesetzentwurf,  betr.  die  Wohnungs- 
pflege in 410 

Hanau,  Zur  Statistik  des  Gewerbegerichts  in  362 

— Volksschulbäder  in 445 

— Lohnperioden  und  Lohnzahlung  in  . . 524 

Handclsgewerbe,  Enquete  über  die  Arbeits- 
verhältnisse im,  von  Frankfurt  a.  M.  . 101 

Das  Ergebniss  der  amtlichen  Erhebungen 

üher  die  Arbeitsverhältnisse  im  deut- 
schen. Von  Dr.  Max  Quarck  . . 461 

Die  Fortsetzung  der  Reichsenquete 
über  das  Handelsgewerbe.  Von  Dr. 

Max  Quarck 626 

Reichsenquete  über  die  Arbeitsverhält- 
nisse im,  und  Eingabe  des  deutschen 
Verbandes  kaufmännischer  Vereine  . . 492 

Reichsenquete  über  die  Arbeitsverhält- 

nisse  im 513 

Handlungsgehilfen,  Enquete  über  die  Stel- 
lungslosigkeit der 68 

Ausdehnung  der  Krankenversicherung 

auf  die 73.  97.  145.  590 

Gesetzliche  Kündigungsfristen  für  . . 132 

Handlungsgehilfinnen,  Zur  Lage  der.  Von 

Dr.  med.  Agnes  Bluhm 310 

Handlungskommis,  Der  Hamburger  Verein 

für 395 

Handlungshäuser,  Französischer  Gesetzent- 
wurf, betr.  die  in  den,  beschäftigten 

Frauen  und  Kinder 396 

Handwerk  und  Unfallversicherung  im  Deut- 
schen Reich  ...  73.  107.  541.  555 

— Die  Regierungsvorschläge  zur  Organi- 
sation des.  Von  Georg  Ledebour  . 569 

Handwerker,  Zu  den  Bestrebungen  der,  in 

Deutschland 118 

— Kammern  in  Deutschland 346 

— und  Gewerbekammern,  Deutsche  . . 565 

Handwerkslehrlinge,  Einschränkung  der  Ar- 
beitszeit für 19 

Hausbettel,  Zunahme  des 238 

Haushaltsstatistik,  Zur  Methodologie  der. 

Von  Pfarrer  Dr.  E.  Hofmann  . . . 404 

Hausindustrie,  Amtliche  Erhebungen  über 

die  deutsche 610 

Hausindustrielle  Thätigkeit  der  Frauen  in 

Baden 514 

— und  Aussenarbeiter 589 

Hausirhandel,  Gesetzentwurf  betr.  den  . . 201 

• — Zur  Statistik  des 165 

— in  Sachsen 261 

- — Zur  gesetzlichen  Regelung  des  . . . 331 

Hausweberpolitik,  Zur,  in  Schlesien  . . 285 

Hauswirthschaftliche  Ausbildung,  Die,  des 

weiblichen  Geschlechts  in  der  Schweiz. 

Von  Pfarrer  Dr.  E.  Hofmann  . . . 458 

Heidelberg,  Verbesserung  des  Kranken- 
kassenwesens in 432 

Heimstätten  und  ländliche  Gesindevermitte- 
lung im  Deutschen  Landwirthschaftsrath  260 
Historikertag,  Der  deutsche,  und  der  Ge- 
schichtsunterricht   351 

Höfeschluss,  Der,  und  das  Höferecht  in 

Oesterreich.  Von  Heinrich  Adler  . 464 

Holzberufsgenossenschaft,  Statistik  der  nord- 
deutschen   55 

Homestead,  Ausstand  in 8.  117 

Hüll,  Zum  Strike  der  Dockarbeiter  in  348. 

361.  408 

Hygienische  Bestimmungen  für  Cigarren- 
fabriken   „ 493 

I , J- 

Industrie-  und  Arbeitsräthe,  Die  belgischen. 

Von  Dr.  Adolf  Braun 253 

— Dezentralisation  der 511 


S.-itc 


Innung,  Fakultative  oder  Zwangs-?  ...  19 

Die  Statistik  der  deutschen.  Von  Dr. 
Rudolf  Grätzer 46 

— Preisfestsetzungen  durch  .....  59 

im  Grossherzogthum  Hessen  . . . . 478 

Fortschritte  des  Grossbetriebs  innerhalb 

der.  Von  Karl  Thiess 593 

Innungsverbände  und  Unfallversicherung 

des  Handwerks 107 

Invaliden-  und  Altersrente,  Zur  Frage  des 

Anspruchs  einer 277 

Invaliditätsverhältnisse  preussischcr  und 

österreichischer  Bergarbeiter  . . . . 120 

Invaliditäts-  und  Altersversicherung,  Zur 

Durchführung  der 288.  422 

— Zur  Statistik  der  195.  339.  373. 

397.  493.  505.  603 

— — Neue  Aufgaben  der 37 

— — in  Eisass -Lothringen 37 

— - — der  Handweber 107 

— — Ausdehnung  der,  auf  die  Haus- 
gewerbetreibenden der  Textilindustrie  531 

— — Antheil  der  Hausweber  an  der  . . 555 

— — -Anstalten,  Konferenz  der  Vertreter 

der,  und  der  Landesversicherungs- 
Aemter 300.  324 

Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetz, 

Zur  Abänderung  des 531 

— — Das,  in  der  Praxis 531 

— — Zur  Abänderung  des.  Von  Rechts- 
anwalt Dr.  Ludwig  Fuld  ....  540 

— — Rentenansprüche  auf  Grund  des,  in 

der  ersten  Hälfte  des  Jahres  1893.  . 541 

Irische  Pächter,  Zur  Lage  der  ....  295 

Jahreskongress,  Der,  der  amerikanischen 

Ritter  der  Arbeit 117 

Jahresarbeitsverdienst,  Der  durchschnitt- 
liche, erwachsener  land-  und  forstwirth- 
schaftlicher  Arbeiter  in  Deutschland  . 406 

Jastrow,  Privatdozent  Dr.  J.,  Drückt  die 

Militärlast? 411 

Jugendliche  Arbeit,  Ausdehnung  der,  im 

schlesischen  Bergwerksbetrieb  ...  5 

Jugendliche  Arbeiter  auf  deutschen  Walz- 

und  Hammerwerken 69 

— — Unfallstatistik  der,  in  Deutschland  . 156 

— — und  weibliche  Arbeiter,  Statistik 

der,  in  Bayern 403 

— — und  Frauen,  Zur  Beschränkung  der 

Arbeit,  in  Oesterreich 408 

— — im  Steinkohlenbergbau  . . . . 513 

— — • Schutzbestimmungen  für,  in  Spinne- 
reien   528 

— — im  Kohlenbergbau 566 

— — Arbeitspausen  für 612 

(S.  a.  Frauen,  Kinder  u.  s.  w.) 

Jugend-  und  Volksspiele  in  ihrer  sozialen 
Bedeutung.  Von  Prof.  Dr.  E.  v.  Phi- 
lippovich 449 


K. 


Kammerwahlen,  Sozialpolitische  Seite  der 

französischen.  Von  Leo  Frankel  . 607 

Kapland,  Dienstboten-Gewerkverein  im  . 322 

Kartellzwang  und  deutsche  Gewerbeordnung  577 
Kartenspiel , Zur  sozialpolitischen  Betrach- 
tung des 351 

Kasseler  Lokomotivfabrik,  Ueber  Arbeiter- 
wohnungen in  der 457 

Katholikentag,  Sozialpolitische  Beschlüsse 

des,  zu  Würzburg 603 

Katholischer  Kursus,  Der,  über  praktische 

Sozialpolitik 439 

Katholische  Vereinsgründung  zur  Verhinde- 
rung der  Sachsengängerei 332 

Katholisch-soziales  Programm , Entwurf  zu 

einem 543 

Kaufmännisch  Angestellte,  Arbeitsverhält- 
nisse   69 

— Frankreichs,  Landesverband  der. 

Von  Dr.  Max  Quarck 553 

Kellerwohnungen  in  Hamburg  ....  48 

Kellnerinnen,  Zur  Lage  der,  in  München  . 153 

Kellnerinnenwesen  in  Sachsen  ....  144 


Seite 


Kinder  und  junge  Leute,  Regelung  der  Ar- 
beit der  in  den  französischen  Bergwer- 
ken und  sonstigen  Montan-Anlagen  be- 
schäftigten   396 

Kinder,  Schutz  der,  gegen  gewerbliche 

Ausnutzung 105 

Kinderarbeit  und  Schulbehörden  ....  16 

- und  Kinderschutz  in  Italien.  Von  Prof. 

Dr.  Werner  Sombart 413 

Kinderbeschäftigung,  Verbot  der,  an  Thea- 
tern   204 

Kinderschutz  in  der  englischen  Industrie  . 196 

(S.  a.  Jugendl.  Arbeiter,  Frauen  u.  s.  w.) 

Kindersterblichkeit  in  Berlin 387 

Kleinbetriebe,  Koalition  von 415 

Knappschafts  - Berufsgenossenschaft,  Aus 

den  Rechnungsergebnissen  der,  für  1892  338 

Knappschaftskassen,  Arbeitervertretung  bei 

den 107 

— Reform  der  deutschen 566 

Knappschaftsverein , Statistik  des  allge- 
meinen, in  Bochum 398 

Koalitionsrecht,  Der  Gesetzentwurf  zu 
Gunsten  des,  vor  dem  französischen 
Senate.  Von  Leo  Frankel  ....  293 


Kohlenbergbau,  Jugendliche  Arbeiter  im  . 566 

Kohlengräberausstand,  Der  englische  551. 

563.  575.  587.  596.  611 

Kohlenzechenkartell,  Der  Plan  eines  rhei- 
nisch-westfälischen. Von  Dr.  Max 


Quarck 179 

Kohlenkartell,  Rheinisch-westfälisches  . . 228 

— Rheinisch -westfälisches,  und  staatliche 

Verwaltung 286 

Koksöfen,  Verbot  offener 278 

Kokssyndikat,  Westfälisches 296 

Köln  a.  Rh.,  Zonenbauordnung  für  . . . 542 

Kommunalabgaben,  Die,  der  Standesherren 

in  Preussen.  Von  Dr.  J.  Jastrow  . 357 

-Entwurf,  Die  Steuerrelation  im  preussi- 
schen.  Von  Dr.  J.  Jastrow  . . . 425 

— -Gesetz,  Grund-,  Gebäude-  und  Gewerbe- 
steuer im.  Von  Dr.  J.  Jastrow  . . 245 

Kommunale  Beschäftigung  für  Arbeitslose 

in  Halle  a.  S 54 

— - Brotbäckerei  in  Leipzig 54 

Kommunalsteuer-Privilegien,  Gegen  die,  der 

Beamten 286 

- Progressive,  in  Preussen 212 

Kongress  der  österreichischen  Buchdrucker  95 

— Landwirtschaftlicher,  in  England  127.  151 

— der  Former  in  Oesterreich-Ungarn  . . 192 

— Ein,  der  Arbeiter  der  Nahrungsmittel- 
industrie   336 

— der  französischen  Eisenbahnarbeiter  und 

-Angestellten 384 

— Internationaler  für  Gemeinnützigkeit  in 

Chicago 399 

— Evangelisch-sozialer 415.  433 

Schuhmacher-,  Internationaler  . . . 421 

— der  internationalen,  kriminalistischen 

Vereinigung  in  Paris  ....  483.  494 

— der  sozialistischen  Gemeinderäthe  F rank- 

reichs 539 

— der  englischen  Trades  Unions  . . . 588 

(S.  a.  Gewerkschafts-,  Arbeiterkongress  etc.) 

— der  englische  Gewerkvereins-  in  Belfast. 

Von  Georg  Ledebour 623 

der  zweite  der  sozialistischen  Arbeiter- 
partei Italiens.  Von  Prof.  Dr.  Werner 

Sombart . 621 

Konjunkturengewinne,  Zur  Besteuerung 

der,  an  Baustellen.  Von  Dr.  L.  Pohle  380 
Konkursstatistik,  Deutsche  für  1892  . . 475 

Kontraktbruch,  Bestrafung  des,  und  Cen- 
tralverband deutscher  Industrieller  . . 296 

Korbmacherei  und  Straihausarbeit  . . . 572 

Krankenkassen,  Verbände  von  staatlich  or- 

ganisirten,  in  Deutschland 48 

— -Wesen,  Verbesserung  des,  in  Heidel- 
berg   432 

— Die,  österreichischen,  im  Jahre  1891  . 601 

Krankenvereine  auf  Grund  des  deutschen 

Genossenschaftsgesetzes 230 


Krankenversicherung,  Ausdehnung  der,  auf 

die  Handlungsgehilfen.  73.  97.  145.  590 


VIII 


INHALT  DES  /-WEITEN  BANDES. 


Seite 


Krankenversicherung,  staatlicher  Arbeiter, 

Reform  der , in  Bayern 108 

— Ein  Nothgesetz,  betreffend  die  . . . 120 

— der  Dienstboten  in  Baden 195 

— Vorläufige  Statistik  der  deutschen,  im 

Jahre  1891  300 

— Die,  der  deutschen  Arbeiter  im  Jahre 

1891 362 

Krankenversicherungsgesetz  , § 75a  des 

deutschen 155 

Kranken-  und  Unfallversicherung  , Die 
schweizerische.  Von  Rechtsanwalt 
Otto  Lang 581 

Kriminalistische  Vereinigung,  internationale 
Versammlung  der  deutschen  Landes- 
gruppe der 349 

— — internationale,  Kongress  der,  in  Paris 

483.  494 

Kündigungsfristen,  Gesetzliche,  für  Hand- 
lungsgehilfen   132 

Kunst,  Die,  ein  soziales  Problem.  Von  Dr. 

H ei n r.  K rz y zan o w s k i 266 

Kunstbildung,  Die,  des  Volkes  und  der 

Sonntag 303 

Kupferschieferbergbau,  Der  Rückgang  des, 
zu  Mansfeld  und  die  Lohnverhältnisse 
der  Bergleute 574 

Kurtaxe,  Die.  Von  Dr.  J.  Jastrow  . . 301 

— Die  Unzulässigkeit  der  . 370 


L. 

Landarbeiter,  Die  Enquete  des  Vereins  für 


Sozialpolitik  über  die  Verhältnisse  der. 

Von  Dr.  Max  Quarck 39 

— - in  England,  Zur  Lage  der 58 

— • Dauer  der  Arbeitsverpflichtung  der  . 573 

Landarbeiterfrage,  Die,  in  Russland.  Von 

P.  v.  Struve 269 

Landarbeiterverhältnisse  in  Posen  und 

Westpreussen 539 

Landesgewerberath,  Badischer  ....  262 

Landes  -Versicherungsamt,  Geschäftsthätig- 

keit  des  bayrischen  und  sächsischen  . 240 

— Konferenz  der  Vertreter  der,  und  der 

Invaliditäts-  und  Altersversicherungs- 
anstalten   300.  324 

Landesstatistik  und  Reichsstatistik.  Von 

Dr.  Georg  v.  Mayr 368 

Ländliche  Arbeiterverhältnisse  in  Bayern  . 7 

— Unternehmerverband  in  Sachsen,  Nicht- 
genehmigung eines 46 

— Arbeiterverhältnisse  in  der  Provinz 

Brandenburg 153 

— Arbeiter,  Schiedsgerichte  für  ....  207 

— Arbeiter,  die  Erhebungen  (Bd.  II  u.  III) 
und  Verhandlungen  des  Vereins  für 
Sozialpolitik  über  die  Verhältnisse  der. 

Von  Dr.  Max  Quarck 329 

— Gesindevermittelung  und  Heimstätten 

im  deutschen  Landwirthschaftsrath  . . 260 

Landwirthe,  Verband  schlesischer  . . . 103 

Landwirthschaftlicher  Kredit  und  städtische 

Lebensmittelversorgung 114 

— Kongress  in  England  ....  127.  151 

— Maschinen,  Verband  von  Fabrikanten 

von 196 

— Arbeit  in  den  Vereinigten  Staaten  von 

Amerika 404 

Landwirthschaftskammern  in  Preussen  . . 285 

— Die  Errichtung  von 573 

Lehrmittel,  Die  Unentgeltlichkeit  der,  an 

den  schweizerischen  Schulen.  Von 

Rechtsanwalt  Otto  Lang 326 

Lehrwerkstätten  bei  den  preussischen 

Staatsbahnen 45 

Lehrlings  wesen,  Neuregelung  des  . . . 361 

Leipzig,  Auskunftsbureau  für  gewerbliche 

Streitigkeiten  in 23 

— Kommunale  Brotbäckerei  in  ...  54 

— SchJafstellenwesen  in  . . . ...  . 133 

— Plan  einer  Arbeitslosenstatistik  in  . . 153 

— Rückgang  des  Fleischkonsums  in  . . 271 

— Lohnstatistik  der  Ortskrankenkasse  . . 382 

— Die  Wohnqualität  bei  der  L.  Arbeiter- 
bevölkerung . . 469 


Seite 


Lieferfristen  bei  Aufträgen  der  Staatsbe- 
hörden   572 

Lohn-  u.  Ausgabenverhältnisse  der  Mühlen- 
arbeiter in  Galatz  (Rumänien)  ...  8 

Löhne  der  rheinischen  Hafenarbeiter  . . 19 

— (Durchschnitts-)  in  den  Breslauer  Ge- 
werben   212 

— in  Oberbayern  von  1884  bis  1892  . . 370 

Lohnauszahlung,  Ortsstatuten  über  die,  an 

minderjährige  Arbeiter 524 

Lohnberechnung  , Maschinelles  Verfahren 

bei  der,  in  der  Wormser  Lederindustrie  466 
Lohnbewegung  der  Spinner  in  Lancashire  36 

— der  Mailänder  Buchdrucker  . . . . 117 

— der  englischen  Grubenarbeiter  . . . 261 

— im  Kohlenbecken  von  Pas  de  Calais  596.  612 

Lohnfestsetzung  und  Berggesetz  in  Preussen  70 
Lohnfristen  für  preussische  Staatsbahn- 
arbeiter   249 

- — im  städtischen  und  Privatbetrieb  . . 476 

Lohnmodalitäten  im  sächsischen  Vogtlande  333 
Lohnperioden  und  Lohnzahltag  in  Hanau  . 524 

Lohnreduktionen  in  den  staatlichen  Eisen- 
bahnwerkstätten Preussens  ....  17 

Lohnsätze,  Die,  in  den  Baumwollspinnereien 

Ober-Italiens 478 

Lohnstatistik  des  Handelskammerbezirkes 

Minden 7 

— der  Leipziger  Ortskrankenkasse  . . . 382 

— Zur,  in  Oesterreich 440 

- — • und  Unfallversicherung.  Von  Dr.  Ernst 

Lange 132.  182 

— — Von  Dr.  Georg  v.  Mayr  . . . 154 

Lohnstatistische  Versuche,  Neue,  im  König- 
reich Sachsen.  Von  Dr.  Adolf  Braun  224 

Lohnverhältnisse  in  Berlin 6 

— Erhebungen  über,  in  Preussen  . . . 476 

— in  der  chemischen  Industrie  der  Stadt 

Berlin.  Von  E.  Hirschberg  . . . 202 

— in  der  Industrie  der  Feinmechanik  der 
Stadt  Berlin  im  Jahre  1891.  Von  Dr. 

E.  Hirschberg 392 

Lohnzahlung,  Kreisstatut  über,  an  minder- 
jährige Arbeiter 187 

Ortsstatute  über,  an  Minderjährige  468.  524 

Ortsstatute  über  ....  144.  493.  600 

und  Trucksystem  in  den  Vereinigten 

Staaten  von  Amerika 420 

Ortsstatut  zur  Regelung  der,  in  den 
Betrieben  der  Stadt  Mainz  ....  537 

— Sonntagsschulen  und  Gewerbekammern 

im  Grossherzogthum  Hessen  ....  566 

Ueber,  in  Gast-  und  Schankwirthschaften  589 
London,  Eine  Arbeitsbörse  in  ....  79 

Kommunaler  Arbeiterschutz  in  . . . 194 

Früherer  Schluss  der  Geschäfte  in  . . 206 

Todesfälle  durch  Verhungern  in  . . . 223 

Londoner  Grafschaftsrath,  Der,  und  öffent- 
liche Bauten  . . . 115 

Lübeck,  Nothstandsarbeiten  in  ....  79 

Lotmar,  Ph.  Vom  Rechte,  das  mit  uns 

geboren  ist.  (Paul  Barth,  Leipzig.)  . 423 

Ludwigshafen  a.  Rh.,  Die  Zustände  in  der 

Badischen  Anilin-  und  Sodafabrik  in  . 55 

Luxemburg,  Arbeitsvermittelung  durch  die 

Post  in  143 

M. 

Maifeier,  Die 383  394 

in  Oesterreich 205 

Mailand,  Lohnbewegung  der  M.  Buchdrucker  1 17 
Mainz,  Strike  der  Brauereiarbeiter  in  . . 336 

Städtische  Arbeitsverhältnisse  in  . . 407 

Ortsstatut  zur  Regelung  der  Lohnzah- 
lung in  den  Betrieben  der  Stadt  . . 537 

— Arbeiterbureau  der  Gewerkschaften  in  611 

Mannheim,  Arbeitslosigkeit  in 142 


Die  Entwicklung  der  M.  Gewerkschaften 
seit  Aufhebung  des  Sozialistengesetzes  250 
Mansfeld,  Der  Rückgang  des  Kupferschiefer- 
bergbaues zu,  und  die  Lohnverhältnisse 


der  Bergleute 574 

Marseille,  Die  M.  Arbeiterkongresse  . . 21 

Wiedereinführung  der  offiziellen  Brod- 
taxo  in  . 548 


Mayr,  Dr.  H. , Allgemeines  statistisches 

Archiv  . 

Maschinenbauer  Englands,  Die  Union  der 

vereinigten 

Mässigkeitsbestrcbungen,  Preisausschreiben 

betr 

Mässigkeitsvereine  und  Mässigkeitswirth- 

schalten  in  der  Schweiz 

Meliorationsdarlehen,  Zur  Frage  der  grund- 
bücherlichen Priorität  der,  in  Oester- 
reich. Von  Dr.  Moritz  Ertl  . . . 

Zur  Frage  der  grundbücherlichen  Priori- 
tät der.  Von  Dr.  Walter  Schiff  . 
Metallarbeiter-Kongress,  Internationaler 
und  Tischlerverband,  Generalversamm- 
lungen des  deutschen 

Minden,  Lohnstatistik  des  Handelskammer- 
bezirkes   

Minderjährige  Arbeiter,  Kreis-  und  Orts- 
statute über  die  Lohnzahlungen  an  187 

Mindesteinkommen  städtischer  Beamten  und 

Arbeiter  in  Paris 

Minenarbeiter,  Zur  Lage  der,  in  Gross- 
britannien   

Missernten,  Zur  Sozialstatistik  der,  in  Russ- 
land. Von  P.  v.  Struve 

Miethszinszahlung  und  Armenpflege.  Von 

Max  May 

Möbeltischlerei  als  Hausindustrie  in  Ober- 
italien   

Molkerei-Berufsgenossenschaft, Bildung  einer 

Mortalitäts-  und  Invaliditätsverhältnisse  der 
österreichischen  Berg-  und  Hüttenarbeiter 
Mühlenarbeiter  in  Galatz  (Rumänien),  Lohn- 
und  Ausgabenverhältnisse  der 
München,  Zur  Lage  der  Kellnerinnen  in  . 
Fleischpreise  in 

Museen,  Verlängerte  Besuchszeit  derBerliner 

Museum  für  Sozialökonomie  in  Paris  . 


Seite 


471 

275 

447 

278 


488 

537 

515 

336 

7 

468 

524 

153 

347 

320 

441 

573 

603 

386 

8 
153 
585 
399 
542 


N. 


Nachtarbeit  der  Frauen  in  sächsischen 
Appreturanstalten  . 

— der  Frauen  in  Zeitungsdruckereien  . 

— und  Sonntagsarbeit  in  der  Schweiz 
Nagelschmiede,  Die  Lage  der,  in  den 

Dörfern  Arnoldshein  und  Schmitten  im 
Taunus.  Von  Fritz  Bickel 
Nahrungsmittelgewerbe,  Arbeitsverhältnisse 

in  den  deutschen 

Nahrungsmittelindustrie,  Ein  Kongress  der 

Arbeiter  der 

New-Orleans,  Ausstand  in 

New-York,  Die  Fabrikindustrie  der  Stadt  . 
Normalarbeitstag  für  Grubenarbeiter  in 

Grossbritanien 

Normalmiethshäuser  mit  kleinen  Woh- 
nungen   • 

Nothstand,  Zum,  in  Berlin 

Nothstands  - Aktionen  Von  Dr.  Max 

Quarck 

Nothstandsarbeiten  in  Lübeck 

Nothstandsforderungen  in  Dortmund 
Nürnberg,  Abnahme  des  Fleischkonsums  in 


83 

385 

216 


188 

30 

336 

117 

79 

253 

456 

190 

147 

79 

248 

347 


o. 


Obdachlosigkeit  in  Berlin 

Oeft'entliche  Arbeiten,  Vergebung,  an  Ar- 
beitergenossenschaften   

— Bedingungen  bei  der  Vergebung,  in  St. 

Gallen 

Ohio,  Oeffentliche  Arbeitsnachweisämter  in 

Organisation.  Die,  der  Zimmerer  Deutsch- 
lands. Von  August  Bringmann 

— von  Staatsarbeitern 

Ortsstatute  über  Lohnzahlung  1 44.  493. 

— über  Lohnzahlung  an  Minderjährige 

Ortsübliche  Tagelöhne  in  Deutschland  . 

— — Erhöhung  der,  und  Arbeiterversiche- 
rung im  Deutschen  Reiche  , , . 


18 

15 


585 

347 

166 

296 

537. 

600 

468. 

524 

177 

17 


INHALT  DES  ZWEITEN  BANDES. 


rx 


Seite 

p. 

Paris,  Mindesteinkommen  städtischer  Be- 
amten und  Arbeiter  in 153 

— Arbeitsbörse,  der  Kampf  gegen  die  . 481. 

492.  504 

— Kongress  der  internationalen  krimina- 
listischen Vereinigung  in 494 

— Gewerbeinspektion  und  Arbeiterverhält- 
nisse in 500 

— Museum  für  Sozialökonomie  in  . 542 

Parlamentarische  Arbeiterpartei,  Programm 

der,  von  Queensland  (Australien)  . . 286 

Parteitag,  schweizerischer  sozialdemokra- 
tischer   84 

Parteitag,  Der,  der  deutschen  Sozialdemo- 
kratie   96.  1 04 

- sozialdemokratischer  Parteitag  in  Köln  628 
Pas  de  Calais,  Lohnbewegung  im  Kohlen- 

beckee  von s . 596.  612 

Pellagra,  Die,  in  Italien 177 

Pensionirung,  Gesetzvorschlag  auf,  invalid 
gewordener  Ackerbauarbeiter  in  Frank- 
reich   494 

Petroleumkartell,  Zur  Frage  eines,  in 

Oesterreich.  Von  Heinrich  Adler  . 251 

Pfaffe  rot  h,  C. , Belehrung  über  den 

Wucher 433 

Pharmazeutische  Studien,  Zulassung  der 

Frauen  zu 363 

Politische  Gefangene,  Die  Behandlung.  Von 

Georg  Ledebour 289 

Porzellanarbeiter,  Die  Berufskrankheiten 

der 579 

— und  verwandte  Arbeiter,  Der  Verband 

der  deutschen 68 

Postbeamte,  Verhältnisse  der  unteren,  des 

Deutschen  Reiches 284 

Postsparkassen,  Die  italienischen  . . . . 212 

Präsidentenwahl  in  den  Vereinigten 

Staaten 22 

Preisfestsetzunggn  durch  Innungen  ...  59 

Privatverkehrsanstalten,  Zur  Lage  der  Ar- 
beiter in  den 58 

Prohibitivmaassregeln  gegen  europäische 

Einwanderer  nach  Amerika  ....  66 

Prostitution,  Der  Kampf  gegen  die,  in  der 
lex  Heinze.  Von  Dr.  Bruno  Schön- 
lank   365 

Provision  Angestellte,  Gegen,  als  bevor- 
zugte Gläubiger  fallit  gewordener 
Unternehmer 507 


Q. 

Quecksilbervergiftung,  Die  gewerbliche  . 219 

Queensland , Programm  der  parlamentari- 
schen Arbeiterpartei  von 286 

Quittungskarte,  Die,  der  Invaliditäts-  und 
Altersversicherung  als  Zählkarte  einer 
Arbeitslosenstatistik.  Von  Dr.  Adolf 


Braun 67 

R. 

Recht  auf  Arbeit  in  der  Schweiz  . 205.  588 

Reichenbach,  Plan  einer  Weberschule  in  459 
Reichenberg,  Elberfelder  System  in  . . 443 

Reichsenquete  über  die  Arbeitsverhältnisse 
im  Handelsgewerbe  und  Eingabe  des 
deutschen  Verbandes  kaufmännischer 

Vereine 492 

Reichskommission  für  Arbeitsstatistik  . . 177 

— Die,  für  Arbeiterstatistik  in  sozialdemo- 
kratischer Beurtheilun  g 95 

Reichskriegsschatz  und  Sozialreform.  Von 

Dr.  Rudolf  Grätzer 545 

Reichsstatistik  und  Landesstatistik.  Von 

Dr.  Georg  v.  Mayr 368 

Reichs-Versicherungsamt , Geschäftsbericht 

des,  für  das.  Jahr  1892  ......  264 

— Das,  und  die  Elemente  der  Volkswirth- 

schaftslehre 288 

— Die  nichtständigen  Mitglieder  des  . . 300 

- — Vermehrung  der  Zahl  der  nichtständigen 

Mitglieder  des 338 

— Entscheidungen  des 455 


Seite 


Reichs  - Versicherungsamt,  Die  Thätigkcit 

des,  als  Rekurs-  und  Revisionsinstanz  530 

Rentengüter 223 

— in  Preussen 562 

— Agenten  bei  der  Errichtung  von  . . 550 

Renten,  Die  Rückerstattung  gezahlter  135.  437 

Rosen  berg,  Dr.  Wilhelm,  Entwicklung 

und  Stand  der  Arbeiterfrage  in  gemein- 
fasslicher Darstellung 121 

Russischer  Bauer,  Verbrauch  des  . . . 573 

— — Die  Lage  der.  Von  Georg  Lede- 
bour   549 

— Kunstgewerbe,  Frauenarbeit  im  . . . 597 


s. 

Sachsengängerei,  Katholische  Vereinsgrün- 


dung zur  Verhinderung  der  ....  332 

Sanitätsverwaltung,  Mangelhaftigkeit  der, 

in  Preussen 48 

Schall,  Eduard,  Die  Sozialdemokratie.  H.  422 
Schankstätten-Gesetzgebung,  Wirkungen  der 

belgischen 49 

Schiedsämter,  Einigungs-  und,  in  Frank- 
reich. Von  Leo  Frankel  ....  108 

Schiedsgerichte  für  ländliche  Arbeiter  . . 207 

— Berliner,  für  die  Invaliditäts-  u.  Alters- 
versicherung   217 

Schlaf  gängerwesen,  Vorschriften  über  das, 

in  Braunschweig 85 

— Braunschweigische  Verordnung  über 

das 325 

Schlafstellenwesen  in  Leipzig 133 

- — Regelung  des,  in  Berlin 218 

Schluss  der  Geschäfte,  Früherer,  in  London  206 
Schuhfabrikanten,  Kartell  österreichischer  540 
Schuhmacher-Kongress,  Internationaler  . . 421 

Schuhmacherstadt,  Mittheilungen  über  eine 
amerikanische.  Von  John  Graham 

Brooks 15 

Schulbäder,  Ueber.  Von  Dr.  R.  Ehren- 
berg   483 

Schulbücher,  Antrag  auf  gleiche,  in  den 

in  den  Berliner  Gemeindeschulen  . . 243 

Schuldrecht,  Milderung  des 627 

Schulkinder,  Speisung  armer,  in  Darm- 
stadt   5 

— • Aufenthaltsräume  für  pfleglose  ...  30 

Schulpflichtige  Kinder,  Schutzvorschriften 

für,  in  Altenburg 47 

■ — — Zur  Beschäftigung,  bei  öffentlichen 

Vorstellungen 408 

Schulunterricht  und  Rübenbau  in  Aschers- 
leben   459 

Schulverwaltung,  Ueber  Zustände  der,  in 

Preussen 411 

Schulwesen  in  Australien 80 

— und  Schulkinderunterstützung,  Aufwand 

für,  in  der  Schweiz 507 

— Gewerbliches  , im  Grossherzogthum 

Hessen  1892/93  591 

Schutz  der  Kinder  gegen  gewerbliche  Aus- 
nutzung   105 

— der  Arbeiterinnen  in  der  Schweiz  . . 348 

Schutzbestimmungen  für  Ziegeleiarbeiter 

im  Deutschen  Reiche 337 

— für  jugendliche  Arbeiter  in  Spinnereien  528 
Schutzvorschriften  für  schulpflichtige  Kinder 

in  Altenburg 47 

Schweizerische  sozialdemokratische  Partei  36 

Seemannsordnung,  Entwurf  einer  neuen, 

für  das  Deutsche  Reich 276 

Skorbut  und  See-Unfallversicherung.  Von 

Otto  Meldner 601 

Sonntagsarbeit,  Ausdehnung  der  gewerb- 
lichen, in  Berlin 6 

— Regelung  der,  im  Berliner  Friseur- 
gewerbe   361 

Sonntags-  und  Nachtarbeit  in  der  Schweiz  216 

Sonntagsruhe,  Die  Vertagung  der  indu- 
striellen, im  Deutschen  Reich.  Von  Dr. 

MaxQuarck 9 

Die,  im  preussischen  Eisenbahngüter- 
verkehr   22 

Dringlichkeit  des  Inkrafttretens  der  in- 
dustriellen, in  Deutschland  ....  69 

— - im  deutschen  Eisenbahngüterverkehr  . 84 


Seite 


Sonntagsruhe,  in  der  chemischen  In- 
dustrie   105.  166 

Zur,  in  Dänemark 118 

in  Staatsbetrieben 131 

Kaufmännische,  in  der  Weihnachtszeit 

144.  169 

Enquete  der  Wiesbadener  Handels- 
kammer über  die 181 

Ausführungsverordnungen  zur,  in  In- 
dustrie und  Handwerk 181 

Abänderung  der  kaufmännischen  . . 193 

— . auf  den  preussischen  Staatsbahnen  . • . 193 

Zur,  auf  den  preussischen  Eisenbahnen  229 

— Zur,  in  Berlin  „ 229 

- in  den  österreichischen  Tabakstrafiken 

und  Lottokollekturen 229 

- Petition  gegen  die  Einschränkung  der  240 

Zur  Frage  der 240 

Die,  für  das  Handelsgewerbe  im  Reichs- 
tag   252 

— Misslichkeit  der  Ausnahmen  von  der 

kaufmännischen 264 

— Zur,  in  Basel 277 

— für_  Bahnarbeiter  . .......  287 

— Zur,  in  der  deutschen  Industrie  und  im 

Handwerk  . 297 

— Petitionen  zur,  im  Handelsgewerbe  . 297 

— Die,  und  die  braunschweigschen  Ge- 

müsekpnservenfabrikanten 337 

— Zur  Vorbereitung  der  gewerblichen,  im 

Deutschen  Reich 429 

Zur,  im  Handel  431 

— Zur,  in  Industrie  und  Handwerk  . . 452 

— Die,  in  Deutschland  und  die  Cigarren- 
läden   467 

— Zur,  in  Hessen 482 

— Zur  Durchführung  der,  in  Industrie  und 

Handwerk  . . . 516.  554.  588.  600 

— im  Bäckergewerbe 540.  588 

— Zur  Begutachtung  der  Ausnahmebestim- 
mungen über  die 565 

— im  Handelsgewerbe  in  Stuttgart  . . 578 

— Zur,  in  den  Gasfabriken 589 

— und  Staatsbehörden 627 

- zur  Durchführung  in  Industrie  und 

Handwerk 627 

Sonntagsschulen,  Lohnzahlung  upd  Gewerbe- 
kammern im  Grossherzogthum  Hessen  . 566 

Sozialdemokratie,  Die  Lage  der  deutschen. 

Von  Dr.  Heinrich  Braun  ....  75 

Sozialdemokratische  Bewegung,  Zur,  in 

England . 407 

— Partei  Basel,  Programm  der,  für  Gross- 
raths- und  Regierungsrathswahlen  1893  360 

— Kongress  in  Ungarn 227 

— — in  Gent 334 

Sozialenqueten  und  Sozialgesetzgebung.  Von 

Dr.  G.  Schnapper-Arndt.  . . . 77 

Sozialistische  Arbeiterbewegung  Belgiens, 

Der  gegenwärtige  Stand  der.  Von  Dr. 

Emile  Vandervelde 281 

— - Weltkongress 84 

Sozialökonomische  Lehrkurse  des  evange- 
lisch-sozialen Kongresses 507 

Sozialpolitik  und  Staatsschuld.  Von  Dr. 

Rudolf  Grätzer 113 

— Zur  kommunalen,  in  Berlin  . . . . 187 

— Generalversammlung  des  Vereins  für 

243.  £07 

— der  Reichspostverwaltung  von  Dr. 

Heinrich  Braun 617 


Sozialpolitische  Bemerkungen  zu  den  Reichs- 


tagswahlen. Von  Dr.  H ei n ri ch  B rau n 473 

— Fragen  auf  dem  deutschen  Juristentag  524 

— Maassregeln  gegen  die  verbrecherische 

und  verwahrloste  Jugend.  Von  Dr. 
Ernst  Rosenfeld 341 

Sozialreform  und  Reichskriegsschatz.  Von 

Dr.  Rudolf  Grätzer 545 

Sozialreformatorische  Forderungen  der  libe- 
ralen Unionisten  in  England  ....  94 

Sozialstatistik,  Zur,  der  Missernten  in  Russ- 
land. Von  P.  v.  Struve 320 

Sozialstatistische  Erhebungen  in  Baden  . 95 

Sozialstatistisches  aus  Canada 143 

Sparkassen,  Die  preussischen,  im  Rech- 
nungsjahre 1891  bezw.  1891/92  . . 584 


X 


INHALT  DES  ZWEITEN  BANDES. 


Seite 


Speiseanstalten  für  Arbeiter 301 

Staatsarbeiter,  Organisationen  von  . . . 296 

Staatsaufsicht,  Fachvereine  und  ....  238 

Staatsbergwerke,  Arbeitsverhältnisse  in  den 

preussischen 226 

Staatshilfe  oder  Wohlthätigkeit?  Von  Dr. 

Heinrich  Cohn 41.  65 

— für  die  Arbeiter  der  Obersteiner  Schleif- 
industrie   610 

Staatsmonopole  als  Konsequenz  der  Trusts  306 
Staatsschuld  und  Sozialpolitik.  Von  Dr. 

Rudolf  Grätzer 113 

Staatsw'erkstätten,  Bezahlung  der  Arbeiter 

in  englischen 285 

Stadterweiterungen  in  Preussen,  Beförde- 
rung von 97 

— Gesetzentwurf  zur  Erleichterung  von  . 596 

Städtischer  Grundbesitz,  Gesetzgeberische 

Maassnahmen  gegenüber  dem.  Von 

Dr.  Leo  Arons 63 

Standesherren,  Die  Kommunalabgaben  der, 

in  Preussen.  Von  Dr.  J.  Jastrow  . 357 

Statistik  und  Enquete.  Von  Dr.  E.  Hirsch- 
berg   51 

— der  Fideikommisse  und  der  „todten 

Hand" 143 

— Zur,  der  deutschen  chemischen  Industrie  1 42 


— Zur,  der  Invaliditäts-  und  Altersver- 
sicherung . 195.  339.  373.  397. 

493.  505.  603 

— der  weiblichen  und  jugendlichen  Ar- 


beiter im  Königreich  Württemberg  . . 332 

— des  allgemeinen  Knappschaftsvereins  in 

Bochum 398 

— der  jugendlichen  und  weiblichen  Ar- 
beiter in  Bayern 403 

— Zur,  der  österreichischen  Arbeiter-Un- 
fallversicherungsanstalten im  Jahre  1891  454 

— Zur,  der  deutschen  überseeischen  Aus- 
wanderung   , . 465 

— über  Arbeits-  und  Wohnungsverhält- 

nisse  im  Bäckergewerbe  Wiens  . . . 477 

— Zur,  der  deutschen  Gewerbegerichte  . 494 

Sterbekarte,  Die  neue  statistische,  in  der 

Schweiz 157 

Steuern , Direkte,  Zur  Reform  der  , in 

Preussen 126 

Steuerreform,  Der  Abschluss  der  preussi- 
schen. Von  Dr.  J.  J astrow  . . . . 485 

Steuerreformkommission,  Die,  des  preussi- 
schen Abgeordnetenhauses  . . . . 141 

— Aus  der,  des  preussischen  Abgeordneten- 
hauses   201 

— In  der  preussischen 271 

Steuerrelation,  Die,  im  preussischen  Kom- 

munalabgaben-Entwurf.  Von  Dr.  J. 

Jastrow 425 

St.  Gallen,  Bedingungen  bei  der  Vergebung 

öffentlicher  Arbeiten  in 585 

— Arbeiterinnenschutz  in 589 

Stickereiindustrie,  Schweizerische  ...  79 

Strafhausarbeit  in  Bayern 23 

— in  Preussen 363.  495 

— Korbmacherei  und 572 

— bei  öffentlichen  Bauten 584 

Strafrecht,  Determinismus  und.  Von  Prof. 

Franz  von  Liszt I 

— Das,  der  besitzlosen  Klassen.  Von  Dr. 

LudwigFeld 159 

Strike,  Zum,  von  Carmaux  36.  45.  59.  68 

— wegen  vorgeschrittener  Arbeitstheilung  f, 

und  Lehrlingsbeschäftigung  ....  59 

— der  Glasarbeiter  in  England  ....  192 

— der  Baumwollspinner,  Beendigung  des, 

in  S.  O.  Lancashire 322 

— der  Heizer  und  Trimmer  in  Hamburg  . 336 

— der  Brauereiarbeiter  in  Mainz  . . . 336 

— Englische,  und  Lockouts  im  Jahre  1891  337 

— Zum,  der  Dockarbeiter  in  Hüll  . . . 348 

— in  Italien.  Von  Prof.  Dr.W er n e r So m - 

bart 557 

— der  französischen  Grubenarbeiter  . . 628 

Strikebewegung  in  Wien  ....  394.  407 

(S.  a.  Ausstand,  Arbeiterausstand  und  Arbeits- 
einstellung.) 

Studienreise  •„ 447 

Stuttgart,  Arbeitslosenstatistik  in . . . . 226 


Seite 


Stuttgart,  Zur  Statistik  des  Arbeitsnach- 
weises in 403 

— Die  Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe  in  578 

— Städtisches  Arbeitsamt  in  . . . . . 611 

Subhastationsstatistik  , Erhebung  wegen 

Fortsetzung  der  preussischen  ....  54 

Submissionswesen,  Das,  und  die  Berliner 

Gewerkschaften 384 

T. 

Tabakarbeiter-Genossenschaft,  Die,  in  Ham- 
burg   332 

Tabakmonopol,  Die  Reinerträgnisse  des 

österreichischen 223 

Tagelöhne  und  Länge  des  Arbeitstages  im 
Zimmerergewerbe  während  der  Sommer- 
monate. Vom  Zimmerer  A,  Bringmann  359 
(S.  a.  Lohn,  Arbeitslöhne.) 


Taunus,  Die  Lage  der  Nagelschmiede  in  den 


Dörfern  Arnoldshain  und  Schmitten  im.  188 
Textilarbeiter,  Die  Organisation  der,  Italiens  228 
Tischler-  und  Metallarbeiterverband,  Gene- 
ralversammlungen des  deutschen  . . 336 

(Schreiner-)  Gewerbe,  Ergebniss  der 
statistischen  Erhebungen  im,  pro  1891. 

Von  Dr.  H.  Lux 272 

Todesfälle  durch  Verhungern  in  London  . 223 

„Tote  Hand",  Statistik  der  Fideikommisse 

und  der 142 

Töpferstrike,  Der  Berliner 129 

Trades  Unions,  Die  englischen,  und  die 

sozialdemokratischen  Kongresse  . . . 239 

— Gesetzentwurf  Wi  1 1 iam  M a t h er's,  die 
Regulirung  der  Arbeitszeit  durch  die 

T.  U.  betreffend 323 

Kongress  der  englischen 588 

Traub,  Theodor,  Pfarrer,  Kürzere  Arbeitszeit  531 
Truckunfug  auf  den  Wiener  Bauplätzen  . 18 

- im  rheinisch-westfälischen  Bergrevier  . 30 

Truck-  und  Lohnzahlungssystem  in  den 

Vereinigten  Staaten  von  Amerika  . . 420 

Trunksucht,  Die,  als  Todesursache  . . . 145 

— der  Frauen  in  England 615 

Trusts,  Die  Bekämpfung  der,  durch  die 

Zollpolitik  in  den  Vereinigten  Staaten  . 276 

Der  erste,  im  Buchdruckergewerbe  . 382 


u. 

Unfälle  auf  deutschen  Eisenbahnen  . 29.  612 

— - von  englischen  Schiffen 45 

— Die,  beim  Betriebe  der  normalspurigen 
Eisenbahnen  Deutschlands.  Von  Dr. 

H.  Lux 314 

Unfallentschädigungen,  Uebelstände  im  Ver- 
fahren zur  Feststellung  der  ....  529 

— Doppelte.  Von  Dr.  E.  Lange  . . . 625 

Unfallhäufigkeit  an  verschiedenen  Wochen- 
tagen   338.  349 

Unfallmeldestellen  bei  deutschen  Post-  und 

Telegraphenanstalten 133 

Unfallrente,  Maximalhöhe  der 231 

Unfallsachen,  Obergutachten  in  ...  456 

Unfallstatistik  der  jugendlichen  Arbeiter 

in  Deutschland 156 

Unfallverhütung  durch  die  deutschen  Be- 
rufsgenossenschaften   170 

— -Vorschriften  für  das  Baugewerbe  . . 338 

— und  Ueberwachung  der  Betriebe  der 

Ziegelei-Berufsgenossenschaft  ....  505 

Unfallversicherung  der  Handwerker  im 

Deutschen  Reich 73 

— Kostspieligkeit  der  berufsgenossenschaft- 
lichen   48.  97 

— des  Handwerks  und  Innungsverbände  . 107 

— der  österreichischen  Eisenbahnen  . . 119 

— Ausdehnung  der  deutschen  ....  145 

— und  Lohnstatistik.  Von  Dr. Ge  org  v.  M ey  r 154 

Von  Dr.  E.  Lange  . . . 132.  182 

— Kosten  der 240 

— Die  Ausdehnung  der,  in  Oesterreich  . 396 

— Zur  Reform  der  deutschen  ....  482 

— Zur  Ausdehnung  der,  auf  das  Hand- 
werk   541.  555 

— Die,  in  Italien.  Von  Prof,  Dr.  W.  Som- 

bart 497 

— Die,  in  Frankreich.  Von  Leo  Frankel.  516 


Seite 


Unfall-  und  Kranken ve  Sicherung,  Zur,  in 

der  Schweiz 231 

Unfall-  und  Krankenversicherung,  Die 
schweizerische.  Von  Rechtsanwalt 
Otto  Lang 518 

— und  Invaliditätsversicherungsgesetz.  Ge- 
bührenfreiheit für  die  Amtshandlungen, 
die  von  deutschen  Konsularbehörden 

im  Vollzug  des,  ausgeführt  werden  . 145 

Unglücksfälle,  Ein  Verein  Berliner  Arbeiter 

und  Arbeiterinnen  zur  ersten  Hilfe  bei  23 

Unsittlichkeit,  ein  deutscher  Gesetzentwurf 

gegen  die 101 

Unternehmerverbände,  Die,  in  England.  Von 

Dr.  EmilLoew 576 

Unterrichtsverband  der  Arbeitervereine 

Niederösterreichs 279 

Unterstützungswohnsitz,  Novelle  zum  Gesetz, 

betr.  den 152 

Unterstützungswohnsitzgesetz, Ent  wurf,  betr. 

die  Aenderung  des 271 

— Die  Novelle  zum 301 

V. 

Vagabondage,  Ausdehnung  der,  im  Jahre 

1892  205.  226 

Vagabondenfrage,  Zur  .......  226 

Ventilation,  Englische  Verordnung  über  die, 

der  Fabriken 194 

Verband  schlesischer  Landwirthe  . . . 103 

— von  Fabrikanten  landwirtschaftlicher 

Maschinen 193 

Verbrauchsbesteuerung,  Die,  in  den  deut- 
schen Gemeinden.  Von  Dr.  Rudolf 

Grätzer 65 

Verbrecher-  und  Gerichtsstatistik  Irlands 

für  das  Jahr  1891 48 

Verein  Berliner  Arbeiter  und  Arbeiterinnen, 

Ein,  zur  ersten  Hilfe  bei  Unglücksfällen  23 


— für  Sozialpolitik,  Erhebungen  und  Ver- 
handlungen über  die  Lage  der  länd- 
lichen Arbeiter.  Von  Dr.  Max  Quarck  229 

— für  Sozialpolitik, Generalversammlung  des  307 
Vereinskrankenkassen,  Verband  der  öster- 


reichischen   518 

Verfassung  in  Belgien,  Die  Revision  der, 
und  die  Arbeiteragitationen.  Von  Dr. 

E.  Vinck 371 

Verhungern,  Todesfälle  durch,  in  London  223 
Verkehrsanlagen,  Die  Arbeiter  und  die 

grossen,  in  Wien 165 

Vermögensstatistik  des  Kantons  Zürich  . 236 

Vermögenssteuer,  Zur,  in  Preussen  . . . 187 

— und  „fundirtes  Einkommen“.  Von  Dr. 

J.  Jastrow 173 

— oder  Erbschaftssteuer  in  Preussen  . . 200 

— Der  Stand  der,  in  Preussen.  Von  Dr. 

J.  Jastrow 342 

Verviers,  Städtische  Verordnung  gegen 

Wohnungsmissstände  in 121 

Volksbaugesellschaft,  Die  deutsche  . . . 457 

Volksbibliotheken 279 

— Die  Wiener 363 

Volksschulbäder  in  Hanau.  Von  R.  Boe- 

dicker 445 

Volksschuldotations- Gesetz  in  Preussen  , 199 

Volksschulen,  Zur  Lage  der  preussischen  399 
Volksschulgesetzgebung  in  Rumänien  . . 315 

Volksschullehrer,  Zur  materiellen  Lage  der, 

in  Preussen  242 

Volksschulwesen,  Zum,  in  Preussen  . . 363 

Volksschulzustände,  Preussische.  Von  Dr. 

H.  Lux 613 

Volks-  und  Jugendspiele  in  ihrer  sozialen 
Bedeutung.  Von  Prof.  Dr.  E.  v.  Phi- 

lippovich 449 

Volksverein  für  das  katholische  Deutsch- 
land, Praktisch -soziale  Kurse  des  . . 531 

Vorträge,  Populär  - wissenschaftliche,  für 

Arbeiter 387 

w. 

Wahlprogramm  der  aargauischen  Arbeiter  312 

Wahlrecht  und  Almosen 444 

Wahlrechtsbewegung,  Die,  in  Oesterreich. 

Von  Engelbert  P er nerst o r fe r . . 533 


INHALT  DES  ZWEITEN  BANDES. 


XI 


Seite 

Wandernde  Arbeiter  in  der  Provinz  Bran- 
denburg   165 

Wasserkräfte,  Nutzbarmachung  der,  in  den 

Ostprovinzen  Preussens 548 

„Weber",  Gerhard  Hauptmann’s.  Von 

Georg  Simmel 283 

Weberschule,  Plan  einer,  in  Reichenbach  459 
Weberelend,  Zum,  in  Schlesien  ....  562 

Weibliche  Aerzte,  Die  Zahl  der,  in  der 

Schweiz 157 

— und  jugendliche  Arbeiter,  Statistik  der, 

im  Königreich  Württemberg  ....  332 

— — — Beschäftigung  in  Gummifabriken  337 

(S.  a.  Frauen  u,  s.  w.) 

Wien,  Truckunfug  auf  den  Bauplätzen  . 18 

— Wohnungszustände  in 219 

— und  Brünn,  Die  Arbejtsvermittelung  in  310 

— Die  Volksbibliotheken  in 363 

— Strikebewegungen  in  ....  394,  407 

— Statistik  über  Arbeits-  und  Wohnungs- 
verhältnisse im  Bäckergewerbe  in  . . 477 

— - Gewerbegericht  in 567 

Wiesbaden,  Enquete  derW.  Handelskammer 

über  die  Sonntagsruhe 181 

— Frauentag  in 409 

Wind-  und  Wassermotoren,  Erhebungen 

über,  in  Preussen 555 

Wirthschaftsbetriebe,  städtische  ....  306 

Wirthschafts-  und  Erwerbsgenossenschaften, 

Die  deutschen,  im  Jahre  1892.  Von 
Gerichtsassessor  Dr.  Hans  Crüger  . 608 

Wittwen-  und  Waisenversicherung  für 

Seeleute 278 

Woetke,  E.  v.,  Krankenversicherungs- 
gesetz.— Gott schalk,  Eduard,  Das 
neue  Auswanderungsgesetz  ....  207 

Wohlfahrtsverein  der  württembergischen 

Metallwaarenfabrik 37 

Wohlthätigkeit  oder  Staatshülfe?  Von  Dr. 


Heinrich  Cohn 41,  65 


Seite 


Wohlthätigkeit  und  Armenpflege  , Der 

deutsche  Verein  für 442 

Wohnqualität,  Die,  bei  der  Leipziger  Ar- 
beiterbevölkerung   469 

Wohnverhältnisse,  Einfluss  der,  auf  die 
Sterblichkeit  an  tuberkulösen  und  infek- 
tiösen Krankheiten 241 

— der  Arbeiter  in  Oberfranken  ....  326 

Wohnungsenquete,  Städtische 85 

Wohnungsgesetz  für  das  Grossherzogthum 

Hessen 265.  519 

Wohnungskolonien  der  preussischcn  Staats- 
bahnarbeiter   48.  85 

Wohnungsmisständc , Städtische  Verord- 
nung gegen,  in  Verviers 121 

Wohnungspflege,  Gesetzentwurf  betr.  die, 

in  Hamburg 410 

Wohnungsstatistik,  Ein  Beitrag  zur,  in 

Sachsen 109 

— - Berliner 325 

Wohnungsverhältnisse  in  Darmstadt  . . 121 

— Die,  der  ärmeren  Bevölkerung  in  Ber- 
lin. Von  Dr.  Adolf  Braun  . . . 170 

— - und  Arbeitsverhältnisse  im  Bäcker- 
gewerbe Wiens,  Statistik  über  . . . 477 

Wohnungszustände  in  Frankfurt  a.  M.  . . 195 

— in  Wien 219 

— - in  Brandenburg  a.  H 542 

Wollindustrie,  Die,  in  Masschusetts  ...  30 

Wormser  Lederindustrie,  Maschinelles  Ver- 
fahren bei  der  Lohnberechnung  in  der  466 

Wuchergesetz,  Novelle  zum  deutschen.  . 163 

Wuchergesetzentwurf,  Zum  deutschen.  Von 

Dr.  Max  Quarck 233 

Wuchergesetznovelle,  Die  Tragweite  der 

deutschen.  Von  Dr.  Heinrich  Cohn  355 
Württembergische  Gewerbevereine,  Ver- 
bandstag der 597 


Seite 

z. 


Zeitungs-Druckereien,  Nachtarbeit  der 

Frauen  in 385 

Zicgeleiarbeiter,  Schutzbestimmungen  für, 

im  Deutschen  Reiche 337 

Ziegelwaarenfabrikanten,  Verband  deut- 
scher   59 

Zimmerer  Deutschlands,  die  Organisation 

der.  Von  August  Bringmann  . . 166 

Zimmerergewerbe,  Tagelöhne  und  Länge 
des  Arbeitstages  im,  während  der 
Sommermonate.  Von  Zimmerer  A. 

Bringmann 359 

Zonenbauordnung  für  Köln  a.  Rhein  . . 542 

Zonentarif,  Ergebnisse  des  ungarischen  . 55 

Zuckerkartelle,  die  böhmischen,  und  die 

Rübenbauer 229 

Zündhölzer,  Vorschriften  über  die  Einrich- 
tungen in  Betrieben  zur  Anfertigung 
von,  unter  Verwendung  weissen 

Phosphors 600 

Ziindwaarenfabrikanten,  Kartell  österreichi- 
scher   59 

Zürich,  Arbeitszeit  im  Kanton  ....  205 

- Vermögensstatistik  des  Kantons  . . . 236 

- Zur  Arbeitslosen -Versicherung  in  . . 408 

- Ergebnisse  der  Arbeitslosenstatistik  in  465 

- Maassnahmen  gegen  die  Arbeitslosig- 
keit in  475 

- Internationaler  Arbeiterkongress  zu  563,  576 

— Internationale  Gewerkschaftskongresse 

in 574,  585 

— Arbeiterinnenschutzgesetz  des  Kantons  . 598 

Zuschusskasse,  Leistungen  einer  . . . . 217 

Zwangserziehung,  Zur,  verwahrloster  Kin- 
der in  Preussen 404 

Zwangsversteigerungen  bäuerlicher  Güter, 

Ein  Vorschlag  betreffend  die.  Von 
Dr.  Leo  Arons 560 


AUTOREN  -VERZEICHNISS. 


Seite 

Adler,  Fleinrich,  in  Wien  i . . 251.  464 

Adler,  Dr.,  Victor,  in  Wien  ....  61 

Arons,  Privatdozent  Dr.  Leo,  in  Berlin  63.605 
Barth,  Privatdozent  Dr.  Paul  ....  423 

Bickel,  Fritz,  in  Freiburg  i.  B 188 

Bluhm,  Dr.  med.  Agnes,  in  Berlin.  . . 310 

Boedicker,  R.,  Stadt-  und  Handelskam- 
mersekretär in  Hanau  ....  254.  445 

Braun,  Dr.  Adolf,  in  Berlin  . . 13.  33.  67. 

87.  170.  224.  253 

Braun,  Dr.  Heinrich,  in  Berlin  . . 75.  185. 

209.  473.  617 

Bringmann,  August,  Zimmerer  in  Ham- 
burg   -.  . . . 166.  359 

Brooks,  John  Graham  in  Boston  ...  15 

Cohn,  Rechtsanwalt  Dr.  Heinrich,  in  Berlin 

41.  355 

Crüger,  Gerichts- Assessor  Dr.  Hans,  in 

Berlin 608 

Damaschke,  Adolf,  in  Berlin  ....  90 

Ehrenberg,  Dr.  med.  R.,  in  Stettin  . . 483 

Ertl,  Ministerial-Sekretär  Dr.  Moritz,  in 

Wien  . 488 


Frankel,  Leo,  in  Paris.  . 108.  293.  516. 

607 

Fuld,  Rechtsanwalt  Dr.  Ludwig,  in  Mainz 

159.  540 

Gizycki,  Prof.  Dr.  Georg  von,  Berlin  49.  61 

Grätzer,  Dr.  Rudolf,  in  Berlin  46.  65.  113. 

130.  545 

Hausmann,  Rechtsanwalt,  Wilhelm,  in 

Berlin 221 


Seite 

Herkner,  Prof.  Dr.  Heinrich,  in  Karlsruhe 

257.  317 

Hirschberg,  Dr.  E.,  in  Berlin  . . 51.  202. 

392 

Hofmann,  Pfarrer  Dr.  Emil,  in  Stettfurt 

(Schweiz) 404.  458.  598 

Jastrow,  Privatdozent  Dr.  J.,  in  Berlin 
27.  123.  137.  149.  173.  245.  301. 

305.  342.  357.  425.  485 

Klinkhardt,  Bruno,  Vorsitzender  des  deut- 
schen Buchdrucker-Vereins  in  Leipzig  . 31 

K r zy  za  n o w ski , Dr.  Heinrich,  in  Berlin  . 266 

Lang,  Otto,  Rechtsanwalt,  in  Zürich  . . 326. 

465.  506.  581 

Lange,  Dr.  Ernst,  in  Berlin-Friedenau  . . 115. 

132.  182.  201.  217.  299.  431.  625 

Ledebour,  Georg,  in  Berlin-Schöneberg  289. 

549.  569.  623 

Legien,  C.,  Vorsitzender  der  General- 
kommission der  Gewerkschaften  Deutsch- 
lands, in  Hamburg 197 

Liszt,  Prof.  Dr.  Franz  v.,  in  Halle  a.  S.  I 
Loew,  Dr  Emil,  in  Wien  . . . 551.  576 

Lotz,  Prof.  Dr.  W.,  in  München  . . . 335 

Lux,  Dr.  H.,  in  Magdeburg  42.  91. 

272.  314.  511.  534.  613 

Mangoldt,  Dr.  Karl  v.,  in  Dresden  353.  389 

May,  Max,  in  Heidelberg 441 

Mayr,  Unterstaatssekretär  z.  D.  Dr. Georg  v., 

in  Strassburg  i.  E.  . . . 99.  1 54.  368 

Meldner,  Otto,  in  Berlin-I.ichtenberg  . 601 


Mise  hier,  Prof.  Dr.  Ernst,  in 

Prag 

139. 

Seite 

160. 

452. 

478 

Neustädter,  Max,  in  Berlin 

71 

Old  enberg  , Privatdozent  Dr.  Karl,  in 

Ber- 

lin  80.  262.  312.  321.  377.  406.  419.  427 
Pernerstorfer,  Engelbert,  in  Wien  533  619 

Philippovich,  Prof.  Dr.  Eugen  v.,  in 


Freiburg  i.  B 236.  449 

Poersch,  Br.,  in  Königsberg  i.  Pr.  . . 440 


Quarck,  Dr.  Max,  in  Frankfurt  a.  M- 
9.  39.  III.  147.  179.  214.  233. 

329.  417.  461.  500.  521.  553.  582.  626 

Ramsperger,  Rechtsanwalt  E. , in 

Frauenfeld , 346 

Rosenfeld,  Dr.  Ernst,  in  Halle  a.  S.  . 341 

Schiff,  Dr.  Walter,  in  Wien  . . . . 573 

Schnapper-Arndt,  Dr.  G.,  in  Frank- 
furt a.  M 77 

Schneppe,  C.,  in  New-York  ....  19 

Schoenlank,  Dr.  Bruno,  in  Berlin  . . 365 

Silbermann,  J.,  in  Berlin 401 

Simmel,  Georg,  in  Berlin 283 

Sombart,  Prof.  Dr.  Werner,  in  Breslau 

25.  413.  497.  525.  557.  621 

Struve,  P.  v.,  in  St.  Petersburg  2.  269.  320 

Thiess,  Karl,  in  Berlin  . . 546.  560.  593 

Vandervelde,  Rechtsanwalt  Dr.  Emile, 

in  Brüssel 275.  281 

Vinck,  Rechtsanwalt  Dr.  Emil,  in  Brüssel.  509 

624 

Werblunski,  S.,  in  Berlin  . . . 408.  597 


- 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  3.  Oktober  1892. 


Nummer  1. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag;  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  BuchhandlungenjZeitungsspeditcure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 

Straf-  ! Lohn-  und  Aufgaben  Verhältnisse 
Franz  der  Mühlenarbeiter  in  Galatz 


Determinismus  und 
recht.  Von  Frof.  Dr. 
v.  Liszt. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  u. 
W irthscliaftsstatistik : 

Die  Bauernpacht  in  Russland.  Von 
P.  v.  Strnve. 

Zur  Regelung  des  Auswanderungs- 
wesens in  Deutschland. 

Neue  Auswanderungs  Verordnung 

des  bremischen  Staates. 

Speisung  armer  Schulkinder  in 
Darmstadt. 

Arbeiterzustämle : 

Arbeitszeit  und  Lohne  für  er- 
wachsene Arbeiter  in  der  reichs- 
ländischen Industrie. 

Ausdehnung  der  jugendlichen 
Arbeit  im  schlesischen  Berg- 
werksbetrieb. 

Ausdehnung  der  gewerblichen 
Sonntagsarbeit  in  Berlin. 

Lohnverhältnisse  in  Berlin. 

Arbeitszeiten  in  der  Berliner  In- 
dustrie. 

Lohnstatistik  des  Handelskammer- 
bezirkes Minden. 

Sozialstatistisches  aus  der  deut- 
schen Buchbinderei. 

Ländliche  Arbeiterverhältnisse  in 
Bayern. 


Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Kosten  des  Homesteader  Aus- 
standes. 

Die  Leistungen  der  Dekorations- 
maler-Organisation in  den  Ver- 
einigten Staaten. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Französische  Arbeiter  und  Sozia- 
listenkongresse. 

Handwerkerfragen: 

Durchführung  des  Befähigungs- 
nachweises im  Handelskammer- 
bezirke Brünn. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Die  Vertagung  der  industriellen 
Sonntagsruhe  im  Deutschen 
Reich.  Von  Dr.  Max  Quarck. 

Gewerbeinspektion : 

Zur  Praxis  der  Gewerbeinspektion 
in  Preussen. 

Arbeiterversicherung: 

Verband  freier  Hilfskassen. 

Wohnungszustäiide: 

Bau  von  Arbeiterwohnungen  aus 
Mitteln  der  Invaliditäts-  und 
Altersversorgung  in  Baden. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Determinismus  und  Strafrecht. 


Mehr  und  mehr  bricht  sich  selbst  in  den  Kreisen  der 
zünftigen  Kriminalisten  die  deterministische  Auffassung 
des  Verbrechens  Bahn.  Nicht  nur  Aerzte  und  Natur- 
forscher, auch  Rechtslehrer  und  Richter  sprechen  von  dem 
„Phantom  der  Willensfreiheit“;  Praktiker  wie  Bünger, 
Appelius  und  Mittelstadt , Theoretiker  wie  Merkel  und 
Janka  haben  die  Axt  an  den  hölzernen  Grundpfeiler  ge- 
legt, auf  welchen,  wie  die  grosse  Masse  der  Gebildeten  noch 
heute  glaubt  und  lehrt,  das  ganze  Gebäude  unserer  Straf- 
rechtspflege ruht.  Denn  wenn  die  Willensfreiheit  fällt,  wo 
bleibt  dann,  — so  fragen  sie  — , Verantwortlichkeit  und 
Schuld?  und  ohne  Schuld  des  Thäters,  — welche  Berech- 
tigung, welchen  Zweck  hat  die  staatliche  Strafe? 

Ich  will  an  dieser  Stelle  nicht  kritischen  Sinnes  die 
Gedankengänge  verfolgen,  die  Andere  gewandelt  haben. 
Nur  meine  eigene  Auffassung  will  ich  entwickeln. 


So  lange  Staat  und  Gesellschaft  ein  Recht  haben  zu 
bestehen,  ebenso  lange  wird  man  ihnen  das  Recht  nicht 
bestreiten  können,  sich  gegen  Handlungen  zu  schützen, 
die  ihren  Bestand  bedrohen;  diesen  Handlungen  vorzu- 
beugen, so  lange  noch  Zeit  dazu  ist;  ihre  Wiederkehr  zu 
verhüten,  wenn  sie  einmal  begangen  sind.  Dabei  können 
wir  völlig  absehen  von  der  Daseinsberechtigung  unserer 
heutigen  gesellschaftlichen  und  staatlichen  Ordnung; 
selbst  die  Anarchie  müsste  sich  schützen  gegen  die  Wieder- 
kehr der  von  ihr  gestürzten  Ordnung. 

innerhalb  der  Schutzmassregeln  nimmt  die  Strafe 
ihre  eigenartige,  jetzt  näher  zu  bestimmende  Stellung  ein; 
wie  das  Verbrechen  sich  abhebt  von  den  übrigen  das  ge- 
ordnete Zusammenleben  bedrohenden  Handlungen  und 
Ereignissen.  Wir  schützen  uns  auch  gegen  ansteckende 
Krankheiten,  so  gut  wir  es  eben  verstehen;  wir  lassen  auch 
den  gefährlichen  Geisteskranken  nicht  schalten  und  walten, 
wie  es  dem  ihn  beherrschenden  Dämon  beliebt.  Warum 
vermeiden  wir  den  Ausdruck  Strafe,  wenn  wir  den  Cholera- 
kranken oder  den  Tobsüchtigen  aus  seiner  Umgebung 
herausnehmen  und  ihn  abschliessen  von  der  Aussenwelt? 
Was  unterscheidet  die  Isolirbaracke  vom  Gefängnis,  die 
Irrenanstalt  vom  Zuchthaus? 

Man  hat  Verbrechen  und  Wahnsinn,  in  früheren 
Jahrhunderten,  wie  in  unseren  Tagen,  oft  genug  zusammen- 
geworfen, und  damit  den  Unterschied  von  Gefängniss  und 
Irrenhaus  geleugnet.  Gerade  vom  deterministischen  Stand- 
punkt aus  ist  das  ein  schwer  begreiflicher  Irrthum. 

Zugeben  müssen  wir,  dass  durch  die  Entwickelung  der 
Psychiatrie  die  Grenzlinie  zwischen  Verbrechen  und  Wahn- 
sinn allmählich  zu  Gunsten  des  letzteren  verschoben 
worden  ist ; und  hervorheben  möchte  ich,  dass  dem  gemein- 
gefährlichen Geisteskranken  gegenüber  unsere  heutige  Ge- 
setzgebung wenig  Schutz  bietet,  dass  gerade  für  dieUeber- 
gangsformen,  die  weder  ins  Zuchthaus  noch  ins  Gefängniss 
recht  passen  wollen,  besondere  Fürsorge  getroffen  werden 
sollte.  Aber  wenn  wir  von  Uebergangsformen  und  zweifel- 
haften Fällen  absehen  — wo  ist  der  Unterschied  zwischen 
Verbrechen  und  Wahnsinn?  Wo  ihn  die  Mehrheit  der 
Juristen  sucht,  können  wir  ihn  zu  finden  niemals  hoffen: 
das  Kennzeichen  der  Willensfreiheit  haben  wir  dem  geistes- 
gesunden  Verbrecher  ganz  ebenso  abgesprochen  wie  dem 
verbrecherischen  Irren.  Haben  also  die  Gegner  Recht,  die 
jeden  Unterschied  leugnen?  Ist  unser  Strafrecht  nichts 
als  ein  verkümmerter  Nebenzweig  der  Psychiatrie? 

Die  Gegner  übersehen  den  durchgreifenden  Unter- 
schied zwischen  geistiger  Gesundheit  und  geistiger  Krank- 
heit. Die  Strafe  ist  auf  den  normalen  Durchschnitts-' 
menschen  zugeschnitten;  sie  passt  nicht  für  den,  der 


2 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  1. 


anders  als  die  Anderen  denkt,  empfindet,  will.  Die  Straf- 
drohung soll  von  der  Begehung  strafbarer  Handlungen 
abhalten;  der  Strafvollzug  durch  Besserung  oder  Ab- 
schrekung  des  Verbrechers  die  Wiederholung  des  Ver- 
brechens verhindern,  und  zugleich  die  Macht  der  Rechts- 
ordnung dem  Rechtsbrecher  zu  Gemiithe  führen.  Sie 
setzt  Bestimmbarkeit  durch  Vorstellungen,  Motivirbarkeit 
voraus,  und  zwar  normale,  nicht  krankhaft  entartete,  Be- 
stimmbarkeit. Die  Handlungen  des  Geisteskranken  ent- 
ziehen sich  der  Berechnung.  Wie  seine  Wahnvorstellung 
durch  Gegengründe  nicht  beseitigt  werden  kann,  so  spotten 
seine  Empfindungen  und  Wollungen  der  psychischen  Ein- 
wirkung, welche  Strafdrohung  und  Strafvollzug  erreichen 
sollen  und  können.  Gerade  weil  die  Strafe  einen  deter- 
minirbaren  Willen  voraussetzt,  versagt  sie,  wo  die  Reaktion 
des  Individuums  eine  abnorme,  atypische  ist.  Wir  werden 
den  Melancholiker  nicht  vom  Selbstmorde  „abschrecken“ 
können,  und  wir  müssen  darauf  verzichten,  den  Paralylitiker 
durch  Erziehung  zu  regelmässiger  Arbeit  zu  „bessern“. 
Auch  beim  Kranken  spielt  die  psychische  Einwirkung  — 
ich  leugne  es  nicht  — eine  gewisse  Rolle;  aber  sie  tritt 
zurück  hinter  der  Pflege  des  Körpers. 

Nicht  im  letzten  Zwecke  liegt  der  Unterschied  zwi- 
schen der  Einsperrung  des  Verbrechers  und  der  Isolirung 
des  Geisteskranken;  da  wie  dort  soll  die  Gesammtheit  ge- 
schützt werden  vor  dem  Einzelnen  und  dieser  vor  sich 
selbst.  Aber  die  Mittel  zur  Erreichung  des  Zweckes  sind 
in  dem  einen  und  in  dem  andern  Falle  wesentlich  ver- 
schieden; ebenso  verschieden  wie  die  Menschen,  auf  die 
wir  dort  und  da  wirken  wollen. 

Aufgabe  der  Strafe  ist  Sicherung  der  Gesammtheit 
durch  Abschreckung  oder  Besserung  des  Verbrechers. 
Der  Begriff  des  Verbrechens  ist  aber  bedingt  durch  die 
geistige  Gesundheit,  durch  die  normale  Determinirbarkeit 
des  Thäters. 

Ist  das  Gesagte  richtig,  so  liegt  Wesen  und  Aufgabe 
der  Strafe  nicht  in  der  Vergeltung,  nicht  in  der  Sühne 
für  die  begangene  That,  oder  wie  man  das  sonst  ausdriicken 
mag.  Vergolten,  gesühnt  kann  nur  werden,  was  schuld- 
haft verbrochen  wurde.  Vergeltung  und  Sühne  verlieren 
jeden  Sinn,  sobald  der  Richter  nicht  dem  in  freier  Wahl 
zum  Bösen  entschlossenen  Willen,  sondern  einem  mit 
Naturnothwendigkeit  eingetretenen  Ereignisse  gegenüber- 
steht. Wäre  die  Strafe  Vergeltung,  so  hätte  mit  dem 
Siege  der  deterministischen  Anschauung  ihre  letzte  Stunde 
geschlagen.  Aber  die  Strafe  ist  eine,  allerdings  eigenartig 
gestaltete,  Schutzmassregel.  Und  darin,  dass  sie  das 
ist,  liegt  die  Gewähr  ihrer  Zukunft. 

Mit  dieser  Auffassung  fällt  nicht,  wie  man  so  oft  be- 
hauptet hat,  jedes  Werthurtheil  über  die  begangene 
That,  jede  Missbilligung  des  Verbrechens  hinweg.  Der 
Determinist  braucht  dem  Betrüger  nicht  die  Hand  zu 
schütteln  wie  dem  Ehrenmann;  gerade  so  wenig  wie  er 
ihm  die  Verwaltung  seines  Vermögens  anvertrauen  wird. 
Unsere  Schätzung  der  Menschen  ist  unabhängig  von  unserer 
Stellung  zur  Frage  der  Willensfreiheit.  Wem  kommt  es 
in  den  Sinn,  den  Dummen  und  den  Klugen,  den  Hässlichen 
und  den  Wohlgestalteten  für  gleichwerthig  zu  erklären 
oder  gar  als  gleichwerthig  zu  behandeln?  Und  doch  — 
wo  ist  die  Schuld  des  Einen  und  wo  des  Anderen  Ver- 
dienst? Für  ein  Rennpferd  von  edler  Abstammung  werden 
wir  immer  mehr  bezahlen  als  für  einen  alten  Ackergaul. 
Und  kann  dieser  dafür,  dass  er  keine  besseren  Eltern  hatte? 

Der  Verbrecher  wird  nicht  im  Werthe  steigen,  wenn 
wir  es  aufgeben,  von  seiner  „Schuld“  zu  sprechen.  Viel 
näher  liegt  im  Gegentheil  die  Gefahr  einer  übergrossen 
Strenge.  Aber  Eins  ist  freilich  unvereinbar  mit  der  Ueber- 
zeugung,  dass  der  Verbrecher  im  Augenblicke  der  That  so 


handeln  musste,  wie  er  gehandelt  hat:  der  pharisäerhafte 
Tugendstolz,  der  sich  in  die  Brust  wirft  und  Gott  dafür 
dankt,  dass  er  nicht  ist,  wie  diese  da.  Wer  seiner  Schön- 
heit sich  rühmt,  ist  ein  eitler  Geck;  wer  mit  seiner  Klug- 
heit Staat  macht,  beweist,  dass  er  doch  noch  klüger  sein 
könnte:  wer  im  Vollgefühl  seiner  rechtlichen  Gesinnung 
auf  den  Verbrecher  herabblickt,  verräth,  dass  Herz  und 
Verstand  ihm  fehlen.  Das  Bewusstsein  des  eigenen  Werthes 
soll  jeder  rechte  Mann  besitzen;  aber  er  soll  sich  darüber 
klar  sein,  dass  nicht  sein  Verdienst  ihn  zu  dem  gemacht 
hat,  was  er  ist. 

Ich  glaube  also  an  die  Zukunft  der  Rechtsstrafe.  Der 
Determinismus  braucht  sie  nicht  zu  scheuen.  Er  wird  ihr 
neue  Kraft  und  neue  Weihe  geben.  Er  wird  uns  lehren, 
den  Zweckgedanken  in  der  Strafe  zu  entwickeln,  sie  mehr 
als  heute  und  anders  als  heute  zur  Schutzstrafe  zu  ge- 
stalten. Nehmt  der  Göttin,  die  Schwert  und  Wage  trägt, 
die  Binde  von  den  Augen:  und  was  Ihr  selbst  noch  an 
Hass,  Verachtung,  Abscheu  dem  Verbrecher  gegenüber  in 
Euren  Herzen  trägt,  das  wird  dahinschwinden  vor  dem 
tiefen  Ernst,  der  milden  Trauer  in  den  die  Verknüpfung 
der  Ereignisse  überschauenden  Augen  der  Göttin. 

Halle  a.  S.  Franz  v.  Liszt. 


Soziale  Wirtschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Die  Bauernpacht  in  Russland. 

Die  grosse  Reform  vom  Jahre  1861  war  nicht  nur  ein 
epochemachendes  politisches  Ereigniss,  sondern  auch  — und 
zwar  in  noch  höherem  Grade  — bildet  dieselbe  einen 
Wendepunkt  in  der  wirthschaftlichen  Entwickelung  Russ- 
lands. Abgesehen  von  verschiedenen  anderen  Momenten  — 
schon  deshalb,  weil  durch  die  Bauernbefreiung  die  frühere 
Organisation  der  landwirthschaftlichen  Produktion  beseitigt 
wurde.  An  die  Stelle  der  herrschaftlichen  Betriebe  ist  der 
kleine  bäuerliche  Betrieb  als  selbständige  wirthschaftliche 
Einheit  getreten  und  behauptet  derselbe  seitdem  seine 
dominirende  volkswirthschaftliche  Stellung.  Die  rein  tech- 
nischen Momente  der  Produktion  haben  wohl  für  den 
grössten  Theil  des  Landes  keine  einschneidende  Verände- 
rung aufzuweisen;  aber  die  wirthschaftliche  Verfassung  der 
Landwirthschaft  wurde  durch  die,  Bauernemanzipation 
wesentlich  umgestaltet  und  diese  Wandlung  fällt  mit  der 
Revolution  in  den  Austauschverhältnissen,  hervorgerufen 
durch  den  Dampfverkehr,  zusammen. 

Der  Umstand,  dass  die  landwirthschaftliche  Produktion 
in  viel  grösserem  Masse  auf  den  Schultern  der  russischen 
Bauernschaft  ruht,  als  dies  durch  deren  eigenen  Grundbe- 
sitz bedingt  sein  sollte,  findet  seinen  Ausdruck  in  der  für 
Russland  höchst  charakteristischen  Erscheinung , der 
Bauern pacht.  Eine  jüngst  erschienene,  äusserst  fleissige 
statistische  Arbeit  von  Prof.  Ivaryscheff  in  Dorpat1),  giebt 
von  diesem  Phänomen,  soweit  dasselbe  durch  das  Material 
der  landschaftlichen  Statistik  und  die  Grundbesitzenquete 
des  staatlichen  statistischen  Centralkomitees  aufgestellt 
wird,  eine  nahezu  erschöpfende  Darstellung.  Einige  Zahlen 

l)  II.  Band  der  Zusammenfassung  der  Resultate  der  wirth- 
schaftlichen Erforschung  Russlands  durch  die  landschaftliche 
Statistik.  Nikolai  Karvscheff,  Krestjanskija  arendy  wnenadel- 
nych  semel.  Dorpat  1892  (Gedruckt  bei  G.  Lackmann.  Mit  15 
Tabellen,  15  Kartogrammen  und  5 Diagrammen).  Die  Arbeit 
behandelt  zwar  nicht  die  Bauernpacht,  soweit  sich  dieselbe  auf 
bäuerliche  Grundantheile  (nadelv)  erstreckt,  «jiebt  somit  aller- 
dings nicht  ein  Gesammtbild  des  bäuerlichen  Pachtwesens. 
Die~  Fälle,  wo  ein  Bauer  einen  Grundantheil  seines  Ge- 
meinde- resp.  Standesgenossen  pachtet,  sind  aus  den  nach- 
folgenden Betrachtungen  eliminirt. 


No.  1. 


SOZIA1POLITISCHES  CENTRAT, BLA  TT. 


3 


sollen  die  volkswirtschaftliche  Bedeutung  der  Bauernpacht 
illustriren.  In  1 03  Bezirken  (ujesd),  welche  auf  die  Zahl 
j der  Land  pachtenden  Bauernhöfe  untersucht  worden  sind, 
pachteten  42,5  pCt.  fremdes  Land  (über  I Million  Bauern- 
höfe von  den  gesammten  2 '/2  Millionen).  In  126  auf  das 
von  den  Bauern  gepachtete  Areal  untersuchten  Bezirken 
bildet  dasselbe  Vf,  des  bäuerlichen  Grundeigenthums;  wobei 
das  Weideland  nicht  mitgerechnet  ist;  mit  dem  letzteren 
dürfte  sich  diese  Zahl  nach  der  Schätzung  von  Karyscheff 
auf  30  pCt.  erhöhen.  Die  genaue  Kenntniss  des  bäuerlichen 
Pachtwesens  ist  von  einer  ungemein  grossen  Wichtigkeit 
für  das  Verständniss  der  russischen  Volkswirthschaft,  so- 
wohl der  gegenwärtigen  als  auch  der  voraussichtlichen 
Gestaltung  derselben.  Das  erste,  was  bei  der  Be- 
trachtung der  einschlägigen  statistischen  Thatsachen  ins 
Auge  springt,  ist  die  Unfähigkeit  des  grossen  und  mittleren 
Grundbesitzes  zu  einer  führenden  K’olle  in  der  landwirth- 
schaftlichen  Produktion.  Ceteris  paribus  tritt  die  Bauern- 
pacht desto  intensiver  auf,  je  grösser  der  Antheil  des  Gross- 
grundbesitzes an  dem  gesammten  Privatgrundbesitz  des 
betreffenden  Territoriums.  Aber  es  kommen  auch  viele 
Gegenden  vor,  wo  das  grösste  Prozentverhältniss  des  ver- 
pachteten Bodens  zu  der  gesammten  Kulturfläche  auf  den 
mittleren  Grundbesitz  entfällt.  Unzweifelhaft  ist  jedenfalls, 
dass  auch  der  mittlere  Grundbesitz  sich  bis  jetzt  im  Grossen 
und  Ganzen  produktionsunfähig  gezeigt  hat.  Wir  wissen  aber, 
dass  auch  die  durchschnittliche  russische  Bauernwirthschatt 
nichts  weniger  als  geeignet  ist,  die  Bürde  der  Waaren- 
produktion  zu  tragen  (vergl.  Sozialpolitisches  Centralblatt, 
No.  34).  Eben  in  dieser  Thatsache,  dass  Russland,  obwohl 
ein  vorwiegend  ackerbautreibendes  Land,  keinen  wirklich 
produktionsfähigen  Grundbesitz  hat,  liegt  ja  das  Wesen  der 
schweren  Krise,  an  welcher  es  seit  Jahren  leidet. 

Die  im  Jahre  1861  befreite  Bauernschaft  hat  im  Ganzen 
zu  wenig  Land  bekommen,  um  ihre  Produktion  auf  dasselbe 
zu  beschränken;  zu  viel,  um  von  vornherein  auf  wirth- 
schaftliche  Selbständigkeit  zu  verzichten.  Diese  Lage 
musste  nothwendig  die  grosse  Bedeutung  der  Bauernpacht 
schaffen. 

Eine  grosse  Anzahl  der  Forscher  hat  angenommen, 
dass  zwischen  dem  eigenen  Grundbesitze  der  Bauern  und 
der  Anpachtung  von  fremdem  Boden  ein  umgekehrtes  Ver- 
hältniss  bestehe.  Karyscheff  ist  es  gelungen,  auf  Grund  der 
Vergleichung  und  sorgfältiger  Analyse  der  landschafts- 
statistischen Daten  nachzuweisen,  dass  ein  solches  Verhält- 
niss  in  der  \\  irklichkeit  nicht  existirt.  Man  hat  das  wich- 
tige Moment  der  Entfernung  der  für  die  Pacht  zugänglichen 
Ländereien,  der  Entfernung  derselben,  nämlich  von  den 
Gemeindegründen  ausser  Acht  gelassen.  Die  Nähe  der 
Grundstücke  der  Privatbesitzer  und  der  Apanageländereien 
zu  den  Gemeindegründen  der  früheren  Leibeigenen  der 
Privatbesitzer  und  der  Apanagebauern  bringt  es  mit  sich, 
dass  diesen  Bauerngruppen,  welche  in  der  Regel  ärm- 
licher mit  Grund  und  Boden  ausgestattet  wurden,  als  die 
Kronbauern,  ein  grösserer  Antheil  an  der  Bauernpacht  zu- 
kommt als  den  letzteren.  Aber,  wenn  man  die  einzelnen 
Gruppen  betrachtet,  so  ergiebt  sich,  dass  bei  gleicher  Ent- 
fernung der  für  die  Pacht  zugänglichen  Ländereien  auf 
denjenigen  Pächter  mehr  gepachtetes  Land  entfällt,  dessen 
eigener  Grundbesitz  grösser  ist,  oder  anders  oder  allge- 
meiner ausgedrückt:  je  wohlhabender  der  Bauer  ist,  desto 
mehr  Land  nimmt  er  in  Pacht.  Diese  Thatsache  ist  höchst 
wichtig:  sie  kennzeichnet  den  Prozess  der  Di  ff  er  en- 
zirung  der  Bauernmasse!  Die  Möglichkeit,  fremdes  Land 
zu  pachten,  führt  keineswegs  zur  Nivellirung  der  Besitzes- 
unterschiede in  der  Bauernschaft;  im  Gegentheil,  im  Wett- 
bewerbe, welcher  sich  um  die  Benützung  des  Bodens  ent- 
spinnt, siegt  der  stärkere. 

Die  '1  hatsache  der  Dififerenzirung  der  Bauernschaft 
tritt  auch  in  dem  Umstande  hervor,  dass  die  wachsende 
Konkurrenz  der  Pächter  zu  einem  Rückgänge  der  Ge- 
meindepachtungen resp.  deren  Ausartung  führt.  Die  ideelle 
Gemeinde  sollte  durch  die  Pacht  die  Ausgleichung  der 
Besitzesunterschiede  zwischen  den  Gemeindegenossen  be- 
wirken; die  wirkliche  Gemeinde  schliesst  in  der  Mehrzahl 


der  Fälle  die  schwächsten  Mitglieder,  d.  h.  diejenigen 
welchen  am  meisten  eine  Erweiterung  der  Anbaufläche  noth 
thut,  von  der  Benutzung  des  gepachteten  Landes  aus. 
Indem  die  Zahl  der  Theilnehmer  an  der  Gemeindepachtung 
immer  kleiner  wird,  nähert  sich  dieselbe  einer  Genossen- 
schafts-, einer  Artelpachtung,  welche  oft  schon  einen 
ausgesprochen  spekulativen  Charakter  zeigt.  Reiche  Bauern 
schliessen  sich  zusammen,  pachten  ein  viel  begehrtes  Grund- 
stück und  verpachten  dasselbe  ihrerseits  „streifenweise“ 
an  ärmere  Gemeinde-  resp.  Standesgenossen.1) 

Die  Spekulation,  das  Mid  dl  man  wese  n,  spielt  über- 
haupt eine  höchst  wichtige  und  traurige  Rolle  in  den 
russischen  Pachtverhältnissen.  Aber  es  muss  gleich  be- 
merkt werden,  dass  es  nicht  als  eine  Ursache  der  Verarmung 
der  Bauernschaft,  sondern  eher  als  eine  Wirkung  oder 
Symptom  derselben  aufgefasst  werden  soll.  Der  Bauer  mit 
seiner  „Landnoth“  ist  zum  Objekt  einer  förmlichen  Speku- 
lation der  Grundbesitzer  und  noch  mehr  der  berufsmässigen 
Spekulanten  geworden;  je  grösser  die  Noth,  je  ärmer  die 
Bauernschaft,  desto  grösser  die  Ausbeutung.  Der  Gewinn 
der  Zwischenpächter  ist  manchmal  ein  ganz  fabelhafter. 
So  wird  z.  B.  für  den  Bezirk  Bachmut,  Gouvernement 
Jekaterinoslaw,  konstatirt,  dass  reiche  Bauern  dabei  253  pCt. 
des  von  ihnen  an  den  Grundeigentümer  gezahlten  Pacht- 
zinses herausschlagen.  Was  die  Pachttermine  anlangt,  so 
finden  wir,  dass  die  vom  wirtschaftlichen  Standpunkte 
ganz  unhaltbare  Verpachtung  auf  1 Jahr  im  Allgemeinen 
eine  grössere  Verbreitung  hat,  als  die  Verpachtung  auf 
längere  Termine,  „auf  Jahre“,  wie  der  übliche  russische  Aus- 
druck lautet.  Diese  interessante  Thatsache  bekommt  noch 
eine  grössere  Bedeutung,  wenn  wir  erfahren,  dass  die  Ver- 
pachtung auf  1 Jahr  desto  mehr  an  Verbreitung  gewinnt, 
je  mehr  die  „Landnoth“  wächst  und  je  geringer  der  Wohl- 
stand und  speziell  der  Grundbesitz  der  Bauern  ist.  Es 
erhellt  aus  diesen  Thatsachen,  dass  die  Verpachtung  auf 
1 Jahr  sich,  wie  Karyscheff  hervorhebt,  auf  dem  Boden  des 
Niederganges  der  Bauernschaft  entwickelt.  Wenn  man  aber 
erfährt,  dass  in  der  „Zone  der  schwächeren  Verbreitung 
der  Bauernpacht“  der  Pachtzins  bei  der  Verpachtung  auf 
I Jahr  sich  zum  Pachtzinse  bei  der  Verpachtung  auf  längere 
Termine,  durchschnittlich  wie  160  zu  100  verhält,  und  das 
gleiche  Verhältniss  sich  in  der  „Zone  der  stärkeren  Ver- 
breitung der  Bauernpacht“  auf  207  : 100  stellt,  so  wird 
daraus  klar,  dass  die  Verpachtung  auf  1 Jahr  ein  ausser- 
ordentlich bequemes  Mittel  zur  Steigerung  der 
Grundrente  ist.  Bei  einem  solchen  Pachttermine  ist  der 
Grundbesitzer  resp.  der  Bodenspekulant  viel  besser  im 
Stande,  sich  der  Nachfrage  nach  Land  anzupassen,  d.  h. 
ihrem  Wachsthum  entsprechend  den  Pachtzins  zu  erhöhen. 
In  dem  Pachtwesen  tritt  der  Interessengegensatz  zwischen 
den  bäuerlichen  Pächtern  und  den  zumeist  adeligen  Ver- 
pächtern am  schroffsten  hervor.  Dieser  Gegensatz  wird 
durch  das  Middlmanwesen  nur  verdunkelt  und  somit  wird 
auch  die  völlige  Abschaffung  des  letzteren  keineswegs  den 
ersteren  beseitigen.  Im  Gegentheile,  dann  erst  wird  dieser 
Interessengegensatz  ganz  klar  vor  die  Augen  treten. 

Was  die  Pachtzinsbewegung  betrifft,  so  ist  dieselbe 
im  Allgemeinen  eine  seit  den  60  er  Jahren  progressiv 
steigende.  So  werden  z.  B.  für  den  Bezirk  Ssaratow  des 
gleichnamigen  Gouvernements  folgende  Zahlen  angeführt: 


Durchschnittl. 
Pachtzins  für 
1 Dessjätine 
in  Kopeken 


Mitte  60er  Jahre 3,30 

Mitte  70er  Jahre 4,50 

Zur  Zeit  der  landschaftlichen 

Enquete  (1882) 8,00 


Das  Anwachsen 
des  Pachtzinses 
in  pCt. 

37 


142. 


' ) Höchst  charakteristisch  ist  auch  die  Thatsache,  dass  bei 
der  Pachtung  von  grösseren  Grundstücken  resp.  ganzen  Gütern 
der  Pachtschilling  sich  für  Gemeinden  und  Genossenschaften 
in  der  Regel  höher  stellt,  als  für  einzelne  Pächter.  Es  wird  auch 
konstatirt,  dass  in  den  84  pCt.  der  Bezirke,  für  welche  Daten 
vorliegen,  die  bäuerlichen  Pächter  theurer  pachten  als  Pächter 
aus  anderen  Ständen.  Dies  gilt  von  den  Pachtungen  auf  mehr 
als  I Jahr.  Bei  der  Pacht  auf  I Jahr  werden  in  der  Regel  ein- 
zelne Streifen  verpachtet. 


4 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  1. 


Das  progressive  Steigen  des  Pachtzinses  kommt  besonders 
klar  in  den  Zahlen  für  den  Bezirk  Sytschewka,  Gouverne- 
ment Smolensk,  zum  Ausdrucke.  Wenn  wir  den  Pachtzins 
1861  — 1865  = 100  setzen,  so  haben  wrir  für  1866 — 1870  109, 
1871  — 1875  137,7,  1876—1880  169,7,  1881—1885  250,1.  Dieses 
Wachsthum  ist  aber  verhältnissmässig  kein  hohes  zu  nennen. 
Denn  z.  B.  im  Bezirke  Bachmut  ist  seit  dem  Anfänge  der 
60er  Jahre  der  Pachtzins  für  Ackerland  um  500  pCt.,  für 
Weideland  um  1000  pCt.  gestiegen,  das  jährliche  Anwachsen 
beträgt  also  20  resp.  40  pCt.  Diese  steigende  Bewegung 
des  Pachtzinses  ist  hauptsächlich  auf  zwei  Momente  zurück- 
zuführen: 1.  auf  das  natürliche  und  durch  Einwanderung 
i letzteres  gilt  speziell  für  Süd-  und  Südostrussland)  bedingte 
Anwachsen  der  Bevölkerung,  und  2.  auf  den  Einfluss  des 
Dampfverkehrs.  Diesem  letzten  Faktor  gehört  in  der  ganzen 
Entwickelung  der  Pachtverhältnisse  eine  überaus  wichtige 
Rolle.  Schon  die  oben  angeführte  Thatsache,  dass  ceteris 
paribus  der  wohlhabendere  und  speziell  der  mehr  Land 
besitzende  Bauer  auch  mehr  Land  in  Pacht  bekommt,  als 
der  ärmere,  welchem  sein  eigener  Boden  in  der  Regel*  nicht 
einmal  zum  nothdürftigen  Unterhalt  ausreicht,  zeigt,  dass 
es  sich  hier  um  einen  Wettbewerb  handelt,  wo  wenigstens 
die  eine  stärkere  Seite  als  waar en pr oduzir ende  auf- 
tritt.  Dieses  aber  ist  erst  eine  Wirkung  des  Dampfverkehrs. 

Verschiedene  Momente  bringen  es  mit  sich,  dass  die 
Zahlung  des  Pachtzinses  in  natura  eine  noch  ziemlich 
stark  verbreitete,  manchenorts  (Gouvernement  Tschernigow) 
vorherrschende  Erscheinung  ist.  Erstens  „ist  das  Geld“  — 
nach  dem  Ausspruche  eines  russischen  Statistikers  — „ein 
auf  dem  Lande  recht  seltenes  Produkt“.  Zweitens  bietet 
die  Naturalzahlung  für  den  Pächter  ein  viel  kleineres  Ri- 
siko, was  angesichts  der  grossen  Ernteschwankungen  ein 
schwerwiegender  Umstand  ist.  Die  Naturalzahlung  weist 
verschiedene  Formen  und  deren  Kombinationen  auf.  Ent- 
weder giebt  der  Pächter  einen  gewissen  Theil  der  Boden- 
erzeugnisse dem  Eigenthiimer  ab,  oder  er  bezahlt  die 
Grundrente  mit  seiner  Arbeit  oder  beides  wird  kombinirt; 
es  kommen  auch  Kombinationen  von  Natural-  und  Geld- 
zahlungen vor.  Dort,  wo  Naturalzahlung  mit  einem  ge- 
wissen Theile  des  Produktes  üblich  ist,  bildet  die  Kombi- 
nation derselben  mit  einer  Arbeitsleistung  eine  bequeme 
Handhabe  zur  Steigerung  der  Grundrente.  In  der 
Regel  stellt  sich  der  Pachtzins  bei  der  Naturalzahlung 
höher  — und  oft  sehr  bedeutend  höher  — als  bei  der  Geld- 
zahlung. Die  Pachtzinsformen  können  nach  der  Höhe  des 
Zinses  in  folgender  aufsteigender  Reihe  aufgestellt  werden: 
1.  reine  Geldzahlung,  2.  Geldzahlung  kombinirt  mit  Arbeits- 
leistung, 3.  letztere  allein,  4.  Theilpacht,  5.  Kombination 
derselben  mit  Arbeitsleistung.  Obschon  die  Pacht  mit 
Naturalzahlung  jeder  Art  auch  vom  Standpunkte  der  Pro- 
duktion unhaltbar  ist,  da  dabei  immer  sehr  wenig  intensiv, 
einfach  schlecht  gearbeitet  wird,  der  Boden  sozusagen 
misshandelt  wird,  und  dies  sowohl  den  Grundeigenthümern 
als  auch  den  Pächtern  ganz  klar  ist,  und  obschon  bei  der  Na- 
turalzahlung mit  Arbeitsleistung  entweder  die  eigene  Wirth- 
schaft  des  Pächters  oder  die  des  Grundbesitzers  oder  beide 
zugleich  leiden,  so  äussert  diese  rückständige  Form  dennoch 
eine  ziemlich  grosse  Lebenskraft.  Dies  ist  in  erster  Linie 
durch  die  Armuth  der  Bauernmasse  bedingt,  zum  Theil 
aber  auch  dadurch,  dass  in  der  Naturalzahlung  mit  Arbeits- 
leistung der  Grundbesitzer  oft  das  einzige  Mittel  hat,  sich 
Arbeitskräfte  — und  dazu  noch  für  einen  sehr  geringen 
Lohn  — zu  verschaffen.  Dort,  wo  keine  Landarbeiterklasse 
existirt,  wird  nur  durch  eine  solche  Gestaltung  der  Pacht- 
verhältnisse dem  Grundbesitzer  die  Möglichkeit  gegeben,  einen 
selbständigen  Betrieb  zu  unterhalten ').  Die  wirtschaftliche 
Selbständigkeit  des  Bauern,  welcher  einen  solchen  Pacht- 
vertrag eingehen  muss,  erscheint  allerdings  in  einem  eigen- 
tümlichen Lichte.  Wenn  die  wirtschaftlich  schwächeren 

')  Ein  solches  landwirtschaftliches  Unternehmen  kann 
ohne  ein  noch  so  winziges  Betriebkapital  im  Gange  erhalten 
werden.  Das  todte  und  lebende  Inventar  wird  von  den  bäuer- 
lichen Pächtern  geliefert,  das  variable  Kapital  kommt  gar  nicht 
in  Betracht,  denn  es  wird  ja  kein  Arbeitslohn  gezahlt. 


| Vertreter  der  Bauernschaft  unfähig  sein  werden,  auch  als 
quasi  selbständige  Produzenten  aufzutreten,  dann  wird 
die  Stunde  der  Bauernpacht  mit  Naturalzahlung  schlagen. 
Denn  wohlhabende,  kräftige  Bauern  geben  sich  schon  jetzt 
höchst  selten  zu  einem  solchen  Geschäfte  her. 

Es  ist  klar,  dass  die  geschilderte  Entwickelung  der 
Pachtverhältnisse  darauf  hinausläuft,  einem  bedeutenden 
Theil  der  Bauernschaft  die  selbständige  Produktion  immer 
schwieriger  und  schwieriger  zu  gestalten.  Je  mehr  die 
Missernten  die  Produktionsfähigkeit  der  schwachen  Bauern 
untergraben  — man  braucht  in  dieser  Beziehung  nur  an 
die  Dezimirung  des  Viehstandes  in  Folge  der  Missernten 
zu  erinnern  — desto  mehr  wird  das  Kontingent  der  Pächter 
gelichtet.  Wer  wird  diese  Lücke  in  der  nationalen  Pro- 
duktion ausfüllen,  werden  die  Grundeigenthümer  den  Nieder- 
gang der  Bauernschaft  benützen,  um  auf  ihren  Gütern 
echt  kapitalistische  Betriebe  einzurichten  oder  wird  der 
stärkere  Theil  der  Bauernschaft  seine  Produktion  auf  Kosten 
des  schwächeren  erweitern?  Oder  ist  beides  zugleich  zu 
erwarten  und  nur  die  Frage  zu  stellen,  welchem  der  ge- 
nannten Faktoren  der  Löwenantheil  an  dem  Erbe  der 
niedergehenden  Produzentenklasse  zukommen  wird.  Denn 
dass  die  jetzige  russische  kapitallose,  nur  auf  Arbeit  basirte 
Bauernwirthschaft  untergehen  wird  und  untergehen  soll,  da 
sie  der  Waarenproduktion  nicht  gewachsen  ist,  unterliegt 
m.  E.  keinem  Zweifel.  Und  nur  diese  Erkepntniss  wird  ein 
richtiges  Kriterium  dafür  abgeben,  wrelche  sozialpolitischen 
Eingriffe  in  die  russischen  Pachtverhältnisse  als  zweck- 
mässig und  lebensfähig  zu  erachten  sind. 

P.  v.  Struve. 


Zur  Regelung  des  Auswanderungswesens  in  Deutsch- 
land. Eine  Eingabe  der  Handelskammer  zu  Köln  an  den  Bundes- 
rath betreffend  den  Entwurf  eines  Gesetzes  über  das  Aus- 
wanderungswesen  wendet  sich  gegen  zwei  engverknüpfte  Punkte 
des  Entwurfs,  gegen  die  Verpflichtung  der  Auswanderer,  nur 
über  deutsche  Häfen  die  Auswanderung  zu  bewirken,  und  die 
Beschränkung  der  Thätigkeit  der  Agenten  auf  deutsche,  in 
deutschen  Seeplätzen  ansässige  Linien.  Die  Eingabe  entwickelt 
den  folgenden  Gedankengang:  „Wenn  die  Vorschrift,  dass  die 
Auswanderer  nur  über  deutsche  Häfen  fortgehen  müssen,  der 
i Absicht  entspringt,  die  Auswandernden  gegen  Ausbeutung  und 
schlechte  Beförderung  zu  schützen,  so  wird  diese  Absicht  gerade- 
zu vereitelt.  Es  wird  schlechterdings  unmöglich  sein,  zu  ver- 
hindern, dass  die  Auswanderer,  die  nicht  über  deutsche  See- 
häfen gehen  wollen,  diese  Absicht  ausführen,  denn  die  Umgehung 
der  Vorschrift  ist  sehr  leicht.  Wird  sie  aber  umgangen,  so  fehlt 
es  der  Reichsregierung  an  jeder  Handhabe,  den  Schutz,  den  sie 
den  Auswanderern  zugedacht,  zu  verwirklichen  Würde  sie 
dagegen  die  auswärtigen  Linien  zur  Concession  in  Deutschland 
zulassen  und  gleichzeitig  vorschreiben,  dass  die  Auswanderung 
nur  durch  deutsche  bezw*.  in  Deutschland  concessionirie  Linien 
stattfinden  darf,  so  kann  sie  den  auswärtigen  Linien  diejenigen 
Bedingungen  stellen,  die  zum  Schutze  der  Auswanderer  nöthig 
sind.  Zudem  schliesst  die  Beschränkung  auf  die  deutschen  Häfen 
eine  ungerechte  Benachtheiligung  eines  beträchtlichen  Theiles 
der  Auswanderer  in  sich,  da  für  diesen  die  nicht  deutschen 
Häfen  günstiger  liegen  und  desshalb  geringere  Beförderungs- 
kosten bis  zum  Einschiffungshafen  bedingen,  als  die  deutschen 
Häfen.  Insbesondere  würde  ein  grosser  Theil  der  aus  West- 
deutschland kommenden  Auswanderer  grössere  Kosten  aufzu- 
wenden haben,  wenn  sie  über  Bremen  und  Hamburg  anstatt 
über  Antwerpen,  Rotterdam  und  Amsterdam  gehen  müssten.  Im 
Jahre  1891  benutzten  von  den  12  366  Auswanderern  aus  der 
Rheinprovinz,  der  bayrischen  Pfalz,  aus  Baden  und  Elsass-Loth- 
ringen  über  68  Prozent  die  belgischen  und  holländischen  Häfen. 
Im  Ganzen  gingen  1891  von  den  deutschen  Auswanderern 
22  247  über  diese  Häfen,  so  dass  auf  die  oben  genannten  vier 
Gebiete  bereits  38  Prozent  entfallen,  während  sie  zur  Gesammt- 
zahl  der  deutschen  Auswanderer  überhaupt  noch  nicht  1 1 Prozent 
stellten.  Das  Verbot  der  Beförderung  von  deutschen  Auswan- 
derern über  nicht  deutsche  Häfen  gefährdet  endlich  die  Inte- 
ressen der  Auswanderer  auch  insofern,  als  durch  dasselbe  die 
Möglichkeit  freier  Konkurrenz  zwischen  den  deutschen  und  den 
ausländischen  Gesellschaften  in  den  Fahrpreisen  erheblich  ein- 
geschränkt und  den  deutschen  Häfen  eine  Monopolstellung 
eingeräumt  wird,  welche  sie  in  den  Stand  setzt,  eine  einseitige 
Erhöhung  der  Fahrpreise  eintreten  zu  lassen.  Diesen  Bedenken 
würde  man  nur  dadurch  begegnen  können,  dass  sich  die 
R e ich  s regier  ung  ein  Mitbestimmungsrecht  bei  der 
Feststellung  der  Fahrpreise  vorbehält.  Bei  all’ dem  kann 
die  in  Rede  stehende  Massregel  auch  den  deutschen  Rhedereien 


No.  1. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


5 


Nachtheile  zufügen.  Die  deutschen  Schiffe  befördern  bekannt- 
lich einen  sehr  grossen  Theil  der  nichtdeutschen  Auswanderer. 
Gingen  doch  1891  über  deutsche  Häfen  nur  93  145  deutsche,  da- 
gegen 196  080  nichtdeutsche  Auswanderer  fort.  Unter  den  letzteren 
befanden  sich  109  515  Russen,  4809  Schweden  und  Norweger, 
4921  Dänen.  Würden  diese  drei  Staaten  sich  auf  den  gleichen 
Standpunkt  stellen  wie  der  Entwurf  und  die  Auswanderung 
über  deutsche  Häfen  verbieten,  so  gingen  den  deutschen  Schiffen 
schon  1 19  245  Auswanderer  verloren.  Hierfür  würden  sie  besten- 
falls nach  dem  Entwurf  die  22  247  deutschen  Auswanderer  ein- 
tauschen,  die  bisher  belgische  und  holländische  Häfen  benutzten, 
falls  das  Verbot,  nichtdeutsche  Häfen  zu  benutzen,  nicht  um- 
gangen würde.  Dass  das  Ausland  die  Gelegenheit,  Repressalien 
zu  ergreifen,  nicht  benutzen  sollte,  ist  kaum  anzunehmen. 
Aendert  man  den  Entwurf  dementsprechend  um,  so  fällt  auch 
jeder  Grund  fort,  die  Thätigkeit  der  Agenten  auf  deutsche 
Linien  zu  beschränken  Die  Vertretung  der  in  Deutschland' 
konzessionirten  ausländischen  Linien  müsste  ihnen  also  gestattet 
werden.“  Man  kann  dieser  Vorstellung  im  Interesse  der  lirmeren 
Auswanderern  nur  in  allen  Punkten  zustimmen. 

Neue  Auswanderung^ Verordnung  des  bremischen  Staates. 

Nach  amtlichen  Mittheilungen  der  bremischen  Behörden  vollzieht 
sich  der  Auswandererverkehr  nach  den  Vereinigten  Staaten  seit 
einer  Reihe  von  Jahren  in  immer  grösserem  Masse  auf  Grund 
sogenannter  Freikarten  In  den  Vereinigten  Staaten  lebende 
Personen  schicken  an  Verwandte  oder  Bekannte  in  der  alten 
Welt  Fahrkarten,  um  den  letzteren  die  Ueberfahrt  zu  erleichtern. 
Diese  Verhältnisse  sind  indessen  nicht  frei  von  Missständen  ge- 
blieben, die  nach  verschiedenen  Seiten  zu  schweren  Schädi- 
gungen geführt  haben  Die  Personen  nämlich,  die  drüben  Frei- 
karten erstehen,  erhalten  gewöhnlich  sogenannte  Passagean- 
weisungen ausgestellt,  bevor  der  ganze  Preis  für  die  Freikarte 
bezahlt  ist,  und  veranlassen  in  sehr  vielen  Fällen  die  Aus- 
wanderungslustigen in  der  alten  Welt  durch  die  voreilige 
Uebersendung  dieser  Passageanweisung,  sich  nach  den  Aus- 
wanderungshäfen zu  begeben,  wo  sie  dann  die  betrübende 
Nachricht  erhalten,  dass  eine  solche  Anweisung  ihnen  nicht 
eher  ein  Anrecht  auf  Beförderung  gewährt,  als  bis  das  volle 
Fahrgeld  bezahlt  ist.  Ein  anderer  Fall  ist  der,  dass  die  Ueber- 
fahrtgelder  zwar  von  dem  Ersteher  der  Freikarte  bezahlt  sind, 
dass  aber  der  Vermittler  des  Geschäfts  aus  irgend  einem  Grunde 
das  Geld  an  die  betreffenden  Dampfergesellschaften  noch  nicht 
ausgehändigt  hat.  Oder  schliesslich  es  sind  bei  der  Erstehung 
von  Freikarten  Irrthümer  über  die  Zahl  der  Passagiere  unter- 
laufen und  den  Betreffenden  fehlen  bei  ihrer  Ankunft  im 
Einschiffungshafen  die  Mittel,  sich  so  lange  zu  unterhalten,  bis 
der  Irrthum  aufgeklärt  ist.  Allen  diesen  Missständen,  die  nicht 
selten  zur  Folge  haben,  dass  die  bremische  Armenpflege  für  die 
Auswanderer  aufzukommen  hat,  soll  mit  einer  Verordnung  ab- 
geholfen werden,  welche  der  bremische  Senat  bei  der  Bürger- 
schaft beantragt  hat.  Diese  bestimmt  Folgendes:  „Der  Passagier- 
expedient ist  aus  den  von  seinen  Angestellten,  wenn  auch  in 
ihrem  eigenen  Namen  mit  Passagieren  oder  für  solche  mit 
Dritten  eingegangenen  Vertrags  Verhältnissen  persönlich  verant- 
wortlich. Das  Gleiche  gilt  für  Agenten  und  Vermittler,  selbst 
wenn  sie  keine  besondere  Vollmacht  von  dem  Expedienten 
haben,  nachweislich  aber  mit  seiner  Genehmigung  ihm  Passagiere 
zuführen.  Bezüglich  solcher  Vertragsabschlüsse  oder  Vermitt- 
lungen im  überseeischen  Bestimmungslande,  für  die  der 
Expedient  nach  dem  Vorstehenden  verantwortlich  ist,  hat  der- 
selbe die  vom  Senate  etwa  zu  erlassenden  Vorschriften  zu  be- 
folgen.“ Die  bremischen  Auswanderungsexpedienten,  die  sich 
von  überseeischen  Auswanderungsvermittlern  Auswanderer  zu- 
führen lassen,  sind  also  in  Zukunft  für  die  Geschäftsgebahrung 
der  letzteren  mitverantwortlich. 

Speisung  armer  Schulkinder  in  Darmstadt.  Das  für 

diesen  Zweck  gebildete  Komitee  hat  vor  Kurzem  Rechnung 
gelegt  und  nachgewiesen,  dass  im  vorigen  Winter,  in  der 
Zeit  von  Anfang  November  1891  bis  Mitte  April  1892,  durch- 
schnittlich 569  Kinder  an  128  Tagen  mit  dem  Frühstück  be- 
dacht wurden.  Dazu  waren  18  866  Liter  Milch  und  72  791 
Wasserwecke  erforderlich,  wofür  über  5000  M.  aufgewendet 
werdeip  mussten.  Wenn  das  Komitee  nun  auch  im  kommen- 
den Winter  die  Abgabe  des  Frühstücks  wieder  mindestens 
im  gleichen  Umfange  wie  im  vorigen  Winter  vornehmen 
will  (und  es  sei  dazu  wegen  der  notorisch  guten  Wirkungen 
fest  entschlossen),  so  bedürfe  es  dazu  Geld  und  immer 
wieder  Geld.  Zwar  habe  die  Stadtverordnetenversammlung 
auch  im  letzten  Frühjahr  wieder  einen  namhaften  Beitrag 
aus  den  Ueberschüssen  der  Sparkasse  bewilligt,  derselbe 
sei  indessen  zur  Deckung  des  Gesammtaufwandes  nicht 
ausreichend.  Folgt  dann  der  übliche  Appell  an  die  „Mild- 
thätigkeit  guter  Menschen“.  Auch  diese  Mittheilungen 
zeigen  wieder  die  elenden  Verhältnisse  städtischer  Arbeiter- 
familien einerseits  und  die  Mangelhaftigkeit  kommunaler 
Vorkehrungen  für  solche  Zwecke  in  Deutschland  anderer- 
seits. 


Arbeiterzustände. 


Arbeitszeit  und  Löhne  für  erwachsene  Arbeiter  in 
der  reichsländischen  Industrie.  Nach  dem  schon  mehrfach 
erwähnten,  vor  Kurzem  erschienenen  Jahresbericht  des 
reichsländischen  Gewerbeaufsichtsbeamten  für  1891  kommt 
dort  überlange  Arbeitszeit  noch  häutig  vor  in  Mühlen 
und  Sägewerken,  ln  einer  mit  Dampf-  und  Wasserkraft 
versehenen  Mühle  war  z.  B.  die  Schicht  der  Einzelnen  so 
geregelt,  dass  jeder,  selbst  der  Heizer,  je  zwei  Tage  13stün- 
dige  Schichten  und  an  jedem  dritten  Tage  eine  36stündige 
Schicht  hatte.  Andere  Mühlen  lassen  in  12  ständigen 
Schichten  arbeiten.  In  der  Textilindustrie,  welche  seit  dem 
1890er  Ausstand  in  ihren  Hauptgliedern  etwa  1 1 stiindige 
Arbeitszeit  hat,  ist  die  Meinung  über  Werth  oder  Unwerth 
der  früheren  und  jetzigen  Arbeitszeit  in  gewisser  Hinsicht 
noch  getheilt.  Darüber  ist  indessen  nirgends  ein  Zweifel 
geäussert  worden,  dass  die  kürzere  Arbeitszeit 
wesentliche  Vorzüge  vor  der  12-  und  13sttindigen 
Arbeitszeit  hat.  Ein  Unternehmer  gab  an,  dass  trotz  der 
Reduction  der  Arbeitszeit  von  12  bis  12'/2  auf  11  Stunden 
seine  Mindererzeugung  an  Waare  (Spinnerei  wie  Weberei) 
nur  etwa  3 Procent  betrage,  dass  aber  deren  Güte  sehr 
zugenommen  habe.  Andere  sprachen  sich  ähnlich  aus,  und 
ein  Spinnerei-  und  Webereibesitzer  erklärte  dem  Aufsichts- 
beamten, der  Erfolg  der  Arbeitszeitverminderung  sei  so  gut 
gewesen,  dass  er,  sobald  die  Arbeiter  es  wünschten,  seine 
1 1 stündige  Arbeitszeit  um  eine  weitere  Stunde  herabsetzen 
werde;  er  sei  überzeugt,  dass  nicht  blos  die  Arbeiterschaft, 
sondern  auch  er  gut  dabei  fahren  müsse.  Zweifel  bestehen 
zumeist  darüber,  ob  eine  örtliche  Herabsetzung  der  Arbeits- 
zeit, wie  sie  der  Arbeiterausstand  hier  herbeiführte,  grossen 
Werth  habe,  wenn  anderwärts  selbst  die  mit  ganz  neuen 
Maschinen  ausgestatteten  Concurrenten  noch  bei  langer 
Arbeitszeit  verharren  und  damit,  soweit  es  sich  um  Stapel- 
artikel handelt,  bei  denen  Geschmack  und  sorgfältige  Arbeit 
nicht  in  erster  Linie  in  Betracht  kommen,  verminderte 
Generalunkosten  erzielen.  Nach  dieser  Richtung  wurden 
Klagen  über  lange  Arbeitszeit  der  Concurrenten  in  Wiesen- 
thal (Baden),  Hof  (Bayern)  und  in  Sachsen  laut;  sie  er- 
streckten sich  auch  auf  die  sächsische  Kammgarnspinnerei. 
Der  Lohnertrag  ruht  fast  überall,  wo  die  Natur  der  Arbeit 
es  zulässt,  auf  der  Stück-,  Mass-  oder  Gewichtseinheit. 
Auch  Gruppen-Accorde,  in  einzelnen  Fabriken  ein  richtiges 
Subunternehmerthum,  kommen  vor.  Die  Lohnperioden  sind 
meist  14tägige,  viele  auch  4 wöchige,  seltener  die  1 wöchigen. 
Die  Rechnungsperiode  liegt  selten  um  eine  ganze  Woche 
oder  mehr,  gewöhnlich  um  2 — 5 Tage  früher  als  die  Lohn- 
periode; gleich  liegen  beide  fast  nur  bei  Tagelohngedingen. 
Sehr  bezeichnend  für  die  „Humanität“  der  reichsländischen 
Industriellen  ist  folgende  allgemeine  Beobachtung  des  Be- 
amten: „Eine  Verdingung  (d.  h.  Lohnsystem),  bei  welcher 
nicht  blos  die  Arbeitsleistung  nach  Güte  und  Menge,  son- 
dern auch  das  höhere  Lebensalter  und  besonders  das  Dienst- 
alter des  Arbeiters  zum  Ausdruck  käme,  habe  ich  bisher 
nicht  ermittelt.“  Dann  wird  es  wohl  auch  nicht  vor- 
handen sein. 

Ausdehnung  der  jugendlichen  Arbeit  im  schlesischen 
Bergwerksbetrieb.  Schlesischen  Blättern  geht  folgende  Mit- 
theilung aus  den  Kreisen  der  Bergwerksunternehmer  zu:  „Auf 
einer  Anzahl  oberschlesischer  Gruben  ist  seit  einiger  Zeit  eine 
Neuerung  zur  Einführung  gelangt,  die  nach  Lage  der  in  Be- 
tracht kommenden  Verhältnisse  als  dankenswerth  bezeichnet 
werden  muss.  Die  Söhne  der  oberschlesischen  Bergarbeiter, 
die  erfahrungsgemäss  zum  weitaus  grössten  Theile  sich  später 
dem  Berufe  des  Vaters  zuwenden,  entbehrten  bisher  in  der  Zeit 
vom  Austritt  aus  der  Schule  bis  zur  Vollendung  ihres  16.  Lebens- 
jahres fast  ausnahmslos  der  segensreichen  Einwirkung  einer  ge- 
ordneten festen  Thätigkeit.  Die  Gesetzgebung  sowohl  wie  die 
natürlichen  Bedingungen  des  Grubenbetriebes  erschwerten  die 
Beschäftigung  der  jungen  Leute  der  angeführten  Altersklasse 
unter  Tage,  und  diese  Beschäftigung  wird  in  Zukunft  durch  die 
neueste  Gesetzgebung  völlig  unmöglich  gemacht  werden.  Die 
jungen  Burschen  aber  über  Tage  zu  beschäftigen  unterdessen 
die  Grubenverwaltungen  allgemein , weil  die  hier  sich  dar- 
bietende leichtere  Arbeit  in  erster  Linie  den  unter  Tage  nicht 
mehr  verwendbaren  Berginvaliden,  meist  Familienvätern,  Vor- 
behalten werden  muss  und  wohl  auch,  weil  es  ihnen  bequemer 
war,  von  der  Beschäftigung  der  jungen  Leute  unter  16  Jahren 
überhaupt  Abstand  zu  nehmen.  Infolge  dieser  Verhältnisse 
blieb  der  Bergmannssohn  in  den  zwei  aut  seine  Entlassung  aus 
der  Volksschule  folgenden  Jahren  in  der  Regel  mehr  oder 
minder  sich  selbst  und  dem  Zufall  überlassen.  Bald  hatte  er 


6 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  1. 


vorübergehend  Beschäftigung  auf  einem  Bau,  als  Bote,  in  der 
Landwirtschaft  etc.,  bald  aber  keine.  Dass  er  sich  stets  mit 
besonderem  Eifer  der  Aufsuchung  von  Arbeitsgelegenheit  ge- 
widmet hätte,  kann  kaum  behauptet  werden.  Jedenfalls  ver- 
diente er,  obschon  er  dazu  hinlänglich  befähigt  gewesen  wäre, 
nicht  regelmässig  seinen  Lebensunterhalt,  der  nun  von  der 
Familie  bestritten  werden  musste.  Schlimmer  noch  war  der 
Umstand,  dass  der  junge  Mensch,  aus  der  Schulzucht  entlassen, 
der  Zucht  geordneter  Thätigkeit  entbehrte,  also  dem  Müssig- 
gange  verfiel  und  überdies  (es  handelt  sich  hier  fast  durchweg 
um  polnisch  - oberschlesische  Elemente)  nicht  in  der  Uebung 
der  deutschen  Sprache  erhalten  wurde,  die  er  in  der  Schule 
hatte  lernen  und  sprechen  müssen.  Die  Grubenverwaltungen 
übernahmen  in  Folge  dessen  die  jungen  Leute,  sobald  sie  das 
Alter  von  16  Jahren  erreicht  hatten,  in  einem  namentlich 
moralisch  minderwerthigen  Zustande,  und  diese  Thatsache  hat 
nun  endlich  dazu  geführt,  Abhilfe  zu  schaffen,  auch  wenn  damit  für 
die  Verwaltungen  einige  Unbequemlichkeiten  verbunden  sein  soll- 
ten. Eine  Anzahl  von  Verwaltungen,  namentlich  grösserer  Gruben, 
hat  es  sich  nämlich  in  letzter  Zeit  angelegen  sein  lassen,  di  e Berg- 
arbeiterknaben bald  nach  dem  Austritt  aus  der  Schule 
über  Tage  zu  beschäftigen.  Freilich  reicht  die  vorhandene 
Arbeit,  da  man  doch  die  Berginvaliden  nicht  entlassen  kann, 
weitaus  nicht  hin,  um  die  grosse  Zahl  der  zur  Verfügung 
stehenden  Knaben  zu  beschäftigen.  Aber  man  glaubt  mit  Recht, 
dass  es  weniger  auf  die  volle,  als  auf  die  regelmässige  Be- 
schäftigung und  deren  Zuchtwirkung  ankommt,  und  so  ist  man 
dazu  übergegangen,  für  die  in  Rede  stehenden  Arbeitskräfte 
zwei  Halbtagsschichten  einzurichten,  eine  am  Vor-  und 
eine  am  Nachmittag,  mit  einer  Arbeitsdauer  von  je  sechs  Stun- 
den. Die  eine  Hälfte  der  Knaben  wird  also  auf  den  betreffenden 
Gruben  Vormittags  sechs  Stunden  beschäftigt.  Die  Verwal- 
tungen sind  mit  den  Ergebnissen  dieser  neuen  Einrichtung 
durchweg  sehr  zufrieden.  Sie  rühmen  Alle,  dass  dadurch  die 
oben  aufgezählten  üblen  Folgen  des  bisherigen  Zustandes  ver- 
schwinden. Man  kann  daher  nur  wünschen,  dass  die  neue  Ein- 
richtung bald  allgemein  in  Oberschlesien  eingeführt  werden 
möchte.“  Ob  sich  die  ernste  Sozialpolitik  diesem  LTnternehmer- 
wunsche  so  ohne  Weiteres  anschliessen  kann,  möchte  doch  zu 
bezweifeln  sein  Entkleidet  man  obige  Darstellung  ihres  huma- 
nitären Mäntelchens,  so  besagt  sie  weiter  Nichts,  als  dass  sich 
die  schlesischen  Grubenunternehmungen  eine  „billige“  Arbeiter- 
kategorie mehr  geschaffen  haben.  Ausserdem  ist  es  gar  nicht 
richtig,  dass  der  oberschlesische  Bergbau  bis  jetzt  so  ausser- 
ordentlich enthaltsam  in  der  Verwendung  jugendlicher  Kräfte 
gewesen  wäre.  Nach  dem  letzten  amtlichen  Ausweis  des  Ge- 
werbeinspektors  für  den  Bezirk  Oppeln  stieg  die  Zahl  der  dort 
beim  Bergbau,  beim  Hütten-  und  Salinenwesen  beschäftigten 
jugendlichen  Arbeiter  von  844  im  Jahre  1886  auf  2149  im 
Jahre  1891,  sie  verdreifachte  sich  also  in  blossen  5 Jahren! 
Diese  Entwickelung  sollte  nicht  gefördert,  sondern  gehemmt 
werden,  und  zwar  durch  Erweiterung  der  Volksschule.  Denn 
wäre  für  eine  bessere  „Zucht“  der  jungen  Leute  gesorgt,  als 
sie  denselben  auf  den  Kohlengruben  beigebracht  wird. 


Ausdehnung  der  gewerblichen  Sonntagsarbeit  in 
Berlin.  Mit  Hinblick  auf  die  für  den  1.  Oktober  aus- 
gebliebene  Regelung  der  gewerblichen  Sonntagsruhe  dürfte 
das  Ergebniss  einer  Umfrage  über  die  Ausdehnung  der 
Sonntagsarbeit  interessiren,  welche  die  Berliner  Gewerbe- 
deputation anlässlich  ihrer  Lohnermittelungen  im  Sep- 
tember 1891  veranstaltete.  Von  den  385  Betrieben,  von 
denen  die  Fragebogen  beantwortet  vorliegen,  haben  161 
das  Vorkommen  von  Sonntagsarbeit  1 89  von  Nachtarbeit) 
deklarirt.  Regelmässig  ist  Sonntagsarbeit  bei  den  Uhr- 
machern, den  Bäckern,  den  Konditoren  in  Konditoreien, 
den  Schlächtern,  in  vielen  Brauereien,  bei  den  Schneidern 
(Ortskrankenkasse),  den  Schuhmachern  (Ortskrankenkasse), 
den  Friseuren  und  Barbieren,  in  vielen  Zeitungsdruckereien, 
bei  den  Photographen,  bei  der  überwiegenden  Mehrzahl 
der  Hausdiener,  bei  einem  grossen  Theil  der  der  Orts- 
krankenkasse für  den  Gewerbetrieb  der  Kaufleute,  Handels- 
leute und  Apotheker  angehörigen  Personen,  beim  Personal 
der  Omnibus-,  Packetfahrt-,  Pferdebahn-  und  Dampfstrassen- 
bahn-,  oder  richtiger  gesagt  der  öffentlichen  Fuhrwerks- 
betriebe, im  Gastwirths-  und  Hotelgewerbe,  bei  den  Köchen 
und  den  Musikanten,  bei  einem  Theil  der  Nadler  und  Sieb- 
macher (Ortskrankenkasse),  in  einer  Porzellan-  und  Cha- 
mottefabrik,  einer  Dampfmahlmtihle,  einer  Meierei,  einer 
Essigfabrik,  einem  Damenmäntel-Konfektionsgeschäft,  für 
4 Männer  in  der  Königl.  Porzellan-Manufaktur,  die  Männer 
in  einer  chemischen  Fabrik,  einen  Theil  der  Arbeiter  der 
städtischen  und  englischen  Gasanstalten,  Männer  an  einigen 
Apparaten  in  einer  Stearinlichtfabrik,  das  Maschinenpersonal 
in  den  städtischen  Wasserwerken,  männliche  Arbeiter  in 
einer  Putzfeder-  und  Federfabrik,  fast  regelmässig  für  die 
im  Nadler-  und  Siebmachergewerbe  beschäftigten  Arbei- 
terinnen, häufig  bei  Klempnern,  Stuhlarbeitern,  Tischlern 


und  Pianofortearbeitern,  weniger  häufig  oder  selten  je  nach 
dem  Bedarf  in  allen  übrigen  Gewerben.  Namentlich  zu 
Reparaturen  an  Betriebsmaschinen  wird  meist  der  Sonntag 
benutzt.  Sprechen  diese  Feststellungen  nicht  für  die 
Dringlichkeit  der  gesetzlichen  Regelung-  dieses  Gegen- 
standes ? % 

Lohnverhältnisse  in  Berlin.  Nachdem  schon  aus  den 
Jahren  1888  und  89  Lohnermittelungen  veröffentlicht  worden 
waren,  welche  die  städtische  Gewerbedeputation  in  Berlin 
veranstaltete  und  die  durch  das  statistische  Bureau  der 
Stadt  bearbeitet  waren,  liegt  jetzt  die  gleiche  Publikation 
aus  der  gleichen  Quelle  für  den  September  1891  vor 
(Berlin  1892,  P.  Stankiewicz  i.  Soweit  die  hier  verarbeite- 
ten Lohnangaben  von  Innungen  und  Gewerksvereinen 
stammen,  gilt  für  sie  dasjenige,  was  in  No.  29  des  Sozialpoli- 
tischen Centralblatts  zur  Kritik  der  Arbeiterstatistik  der 
Hirsch-Duncker’schen  Gewerkvereine  ausgeführt  worden  ist; 
es  fehlen  Angaben  darüber,  wie  die  Innungen  u.  s.  w.  zu 
den  mitgetheilten  Zahlen  gelangt  sind,  und  die  Möglichkeit 
einer  Prüfung  der  Zuverlässigkeit  ist  damit  ausgeschlossen. 
Die  von  Privatunternehmern  gemachten  Lohnangaben  be- 
zeichnet die  Veröffentlichung  selbst  als  auffällig  hoch.  Es 
bleiben  sonach  hauptsächlich  nur  die  Angaben  der  Orts- 
krankenkassen als  zuverlässig;  von  diesen  Organisationen 
betheiligten  sich  47  an  der  Statistik.  Ihre  Angaben  be- 
ziehen sich  aber  lediglich  auf  Steindrucker,  Graveure, 
Schriftgiesser,  Hausdiener,  Gastwirthsgehilfen,  Komptoir- 
und  Kassenboten,  wobei  die  Hausdiener  bezw.  Steindrucker 
mit  9 bezw.  12  Mk.  Wochenlohn  als  Kategorien  mit  den 
absolut  niedrigsten  Lohnsätzen  Vorkommen.  Da  im  Uebrigen 
die  Lohndaten  aus  den  verschiedenen,  theilweise  nur  be- 
dingt zuverlässigen  Quellen  promiscuezur  Berechnung  von 
Durchschnittslöhnen  verwendet  worden  sind,  so  sind  wohl 
die  speziellen  Ziffern,  welche  die  mühsame  Arbeit  ergab, 
mit  Vorsicht  aufzunehmen,  ohne  dass  dadurch  das  Verdienst 
der  Berliner  Statistik,  welches  in  der  Bearbeitung  dieses 
Gebietes  liegt,  geschmälert  würde  Sehr  wichtig  dürften 
die  lohnstatistischen  Schlüsse  allgemeinerer  Natur  sein, 
zu  denen  die  neue  Arbeit  gelangt.  Es  heisst  in  derselben: 
„Beachtenswerth  ist  die  weite  Kluft  zwischen  den  Mi- 
nimal- und  den  Maximallöhnen  und  ihr  Verhältniss 
zum  Mittellohnsatz.  Nach  der  Einrichtung  des  Fragebogens 
scheint  es  ausgeschlossen,  dass  die  Minimallöhne  auf  jugend- 
liche Personen  Bezug  hätten;  zudem  ist  in  einzelnen  Fällen 
das  Gegentheil  nachweisbar.  Man  darf  also  annehmen, 
dass  die  Minimallöhne  von  erwachsenen  Personen  verdient 
werden.  Leider  ist  die  Zahl  der  Empfänger  dieser 
geringsten  bezw.  der  nächst  geringsten  Löhne 
nicht  bekannt.“  (Ein  wichtiger  Wink  für  künftige  Lohn- 
statistiken! D.  Verf.)  „Dagegen  scheint  es  nicht  ausge- 
schlossen, dass  die  angeführten  Maximallöhne  für  Gesellen, 
Arbeiter,  Arbeiterinnen  vielfach  Vorarbeiter  bezw.  Vor- 
arbeiterinnen mitbetreffen,  deren  Ausscheidung  unterlassen 
ist;  doch  Hesse  sich  die  Höhe  der  Maximallöhne  nur  in 
einem  Theil  der  Fälle  auf  diesen  Umstand  zurückführen; 
gerade  die  höchsten  Lohnsätze  beruhen  auf  anderen  Be- 
dingungen. Wenn  z.  B.  in  einem  Weisswaaren-Konfektions- 
geschäft  als  Maximallohn  einer  Arbeiterin  pro  Woche 
75  Mk.  aufgeführt  wird,  während  der  Maximalwochenlohn 
selbst  einer  Direktrice  in  der  gleichen  Gewerbegruppe  nur 
37  Mk.  beträgt,  so  muss  man  die  Mitwirkung  ganz  beson- 
derer Verhältnisse  bezw.  eine  besondere  Kunstfertigkeit 
voraussetzen.  Die  Löhne  schwanken  nach  den  Ermitte- 
lungen in  den  Privatbetrieben  zwischen  10  und  60  Mk.  pro 
Woche  bei  den  Gesellen,  8 und  41  Mk.  bei  den  Arbeitern, 
3,50  und  27,20  Mk.  (abgesehen  von  den  75  Mk.)  bei  den 
Arbeiterinnen,  1,50  und  15  Mk.  bei  den  jugendlichen  Ar- 
beitern, 2 und  13,50  Mk.  bei  den  jugendlichen  Arbeiterinnen, 
zwischen  20  und  100  Mk.  bei  den  Werkmeistern,  2,50  und 
18  Mk.  bei  den  Lehrlingen,  6 und  18  Mk.  bei  den  Arbeits- 
burschen, 24  und  40  Mk.  bei  den  Direktricen  16  und  30  Mk. 
bei  den  Vorarbeiterinnen.  In  der  königlichen  Porzellan- 
manufaktur schwanken  die  Löhne  (bezw.  das  Kostgeld)  der 
Lehrlinge  zwischen  2,76  und  22,50  Mk.  Bei  diesem  höchsten 
Maximalsatz  für  Lehrlinge  handelt  es  sich  vermuthlich  um 
eine  kunstgewerbliche  Thätigkeit.“  Man  sieht,  wie  unsicher 
die  Ergebnisse  auch  der  sorgsamsten  Lohnstatistik  sind, 
wenn  sich  die  letztere  auf  ein  grosses  Gebiet  und  viele 
Gebiete  gleichzeitig  erstreckt.  Vielleicht  liegt  die  Zukuntt 
einer  unbedingt  zuverlässigen  Lohnstatistik  mehr  in  der 
Richtung  einer  individuelleren  Erforschung  der  Verdienste 
in  einzelnen  Berufen. 


No.  1. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


7 


Arbeitszeiten  in  der  Berliner  Industrie.  Die  aul  der  vorher- 
gehenden Seite  dieses  Blattes  näher  besprochenen  Ermittelungen 
über  die  Lohnverhältnisse  von  Berlin  im  September  1891  haben  auch 
Daten  über  die  Arbeitszeiten  in  der  Reichshauptstadt  ergeben, 
die  im  Nachfolgenden  unter  den  an  jener  Stelle  gemachten  Vor- 
behalten wiedergegeben  werden.  Danach  ist  die  wirkliche 
Arbeitszeit  (ohne  Lausen)  am  geringsten,  6'/a  Stunden  pro  Tag, 
für  die  Photographen,  Graveure,  Kupferstecher,  Lithographen, 
Chemigraphen,  Zeichner  und  Retoucheurinnen  der  Reichs- 
druckerei, nächstdem  6'/i  Stunden  tür  die  Lithographen  in  einem 
lithographischen  Institut.  71  Stunden  beträgt  sie  in  einer 

Blumenfabrik  und  für  die  Steinbildhauer  in  einer  Steinhauerei. 
Grösser  ist  schon  der  Kreis  der  Arbeiter,  für  welche  die  wirk- 
liche Arbeitszeit  8 Stunden  beträgt.  Dazu  gehören  ein  Theil 
des  Personals  der  Königlichen  Porzellan-Manufaktur,  ein  Theil 
der  zur  Schwerdtfeger-Innung  gehörigen  Gesellen,  die  Zahn- 
künstler (Innung),  "ein  Theil  der  Musikinstrumenten-Arbeiter 
(Fachverein),  das  Personal  einiger  Betriebe  der  Textil-  und  Be- 
kleidungs-Industrie, ein  Theil  der  Töpfer  und  Ofensetzer  (Verein) 
und  das  Personal  einiger  Druckereien.  8V2  Stunden  beträgt  die 
wirkliche  Arbeitszeit  in  einer  Telegraphenbau-Anstalt,  für  einen 
Theil  der  Musikinstrumenten-Arbeiter,  in  einem  Tapezier-  und 
Dekorationsgeschäft,  einer  Corset-  und  Tourniirenfabrik,  in  der 
Reichsdruckerei  (abgesehen  von  den  nur  ö1/^  Arbeitsstunden 
Leistenden  . für  einen  Theil  der  Modelleure  und  Gypsbildhauer 
und  für  einige  Holzbildhauer;  8%  Stunden  in  2 Confektions- 
geschäften,  einer  lithographischen  Kunstanstalt  und  für  die 
Drucker  in  einem  lithographischen  Institut.  Für  die  grosse 
Mehrzahl  der  Arbeiter  beträgt  die  Arbeitszeit  9 — 10 
Stunden  und  zwar  in  den  verschiedensten  Abstufungen:  9, 
9'  4,  91/2,  92  3,  974,  9r’/ß,  10  Stunden.  Auf  IO1/?  Stunden  wird  sie 
von  der  Piliale  der  Wirker  des  Central  Verbundes  aller  in  der 
Textilbranche  beschäftigten  Arbeiter  für  die  männlichen  Wir- 
kereiarbeiter, sowie  in  einer  Weisbierbrauerei  und  einer  Essig- 
fabrik angegeben;  auf  li  Stunden  von  dem  Verein  Berliner 
Nagelschmiede,  von  einer  Plüsch-  und  Stoffweberei,  von  der 
Orts-Krankenkasse  der  Tuchmacher  (Tuchmacher-Innung  12  Stun- 
den), von  einer  Wollgarnfärberei,  drei  Appreturanstalten,  von 
der  Örts-Ivrankenkasse  der  Strumpfwirker,  von  der  oben  ge- 
nannten Filiale  des  Centralverbandes  aller  in  der  Textilbranche 
beschäftigten  Arbeiter,  für  die  in  der  Wirkerei  beschäftigten 
Arbeiterinnen,  von  einer  Leder-  und  Saffianfabrik,  einer  Dampf- 
schneidemühle und  Nutzholzhandlung,  einer  Drechslerei  und 
einem  Geschäft  für  Tiefbau-Unternehmungen;  auch  bei  den 
Handschuhmachern  steigt  die  wirkliche  Arbeitszeit  nach  der 
Angabe  der  Orts-Krankenkasse  bis  auf  1 1 Stunden. 

11  Vs  Stunden  beträgt  sie  in  einer  Breslauer  Weizenbier- 
Brauerei;  bis  12  Stunden  dehnt  sie  sich  aus  für  Weber  und 
Wirker  und  verwandte  Gewerbe  nach  der  Angabe  der  Weber- 
und Wirker-Innung,  der  Ortskrankenkasse  der  Weber  und  ver- 
wandten Gewerbe,  der  Zeug-  und  Raschmacher-Innung,  der 
allgemeinen  Stuhlarbeiter-Vereinigung,  des  Orts  Vereins  der  Stuhl- 
arbeiter bei  Hausarbeit),  sowie  mehrerer  Webereien,  für  in 
Holzbearbeitungs-Fabriken  und  auf  Holzplätzen  beschäftigte 
Arbeiter  (Verband),  für  Schneider  nach  Angabe  der  Innung  und 
der  Orts-Krankenkasse,  für  Zuschneider,  Vorrichter  und  Stepper 
(Schuhmacherei  nach  der  Angabe  des  Ortsvereins.  Hinsichtlich 
der  beiden  letzten  Gewerbe  gehen  andere  Angaben  noch  weiter. 
Die  Arbeitszeit  der  Schuhmacher  erreicht  nach  der  Ortskranken- 
kasse eine  dreizehn-,  nach  der  Angabe  der  Innung  selbst 
eine  vierzehnstündige  Dauer,  die  cler  Schneider  nach  An- 
gabe des  Ortsvereins  sogar  eine  fünfzehnstündige.  Eine 
ebenso  lange  Dauer  erreicht  sie  nach  Angabe  der  betreffenden 
Orts-Krankenkasse  bei  Kürschnern,  Mützenmachern  u.  s.  w.,  wo 
bei  12 — 16  Stunden  täglicher  Arbeitszeit  nur  1 Stunde  Pause 
angegeben  wird;  doch  lautet  die  Angabe  der  Kürschner-Innung 
und  aus  einer  Kürschnerei  nur  auf  10  Stunden.  Der  letzte  Theil 
dieser  Angaben  enthüllt  einmal  wieder  Arbeitsverhältnisse  im 
Handwerk,  welche  aller  Beschreibung  spotten.  Wenn  hier  die 
Arbeitszeit  in  der  Reichshauptstadt  so  ausgedehnt  ist,  wie  mag 
sie  dann  erst  in  Kleinstädten  und  auf  dem  Lande  im  Hand- 
werk sein? 

Lolinstatistik  des  Handelskammerbezirkes  Minden.  Der 

sich  durch  reichhaltige  statistische  Nachweisungen  auszeichnende 
Jahresbericht  der  Handelskammer  zu  Minden  für  das  Jahr  1891 
(Minden  i.  W.  1892.  157  S.  8rt.)  enthält  auf  Seite  145  eine 
Uebersicht  über  die  durchschnittliche  Höhe  der  Arbeitslöhne  im 
Jahre  1891.  Obgleich  über  die  Art  der  Gewinnung  der  Zahlen 
nichts  mitgetheilt  wird,  glauben  wir  doch  bei  dem  Mangel  lohn- 
statistischer Daten  aus  Deutschland  diese  Angaben  auszugsweise 
wiedergeben  zu  sollen.  Bemerken  wollen  wir  nur,  dass  die  Ab- 
rundung der  Zahlen  allein  schon  darauf  schliessen  lässt,  dass  es 
sich  lediglich  um  Schätzungen  handelt;  da  diese  von  einer 
Unternehmerkorporation  vorgenommen  wurden,  ist  anzunehmen, 
dass  die  Angaben  eher  die  thatsächlich  gezahlten  Löhne  über- 
stiegen. Der  Handelskammer  gehören  die  Kreise  Minden,  Lüb- 
becke und  Herford  an.  Die  Taglöhne  der  erwachsenen  indu- 
striellen Arbeiter  schwankten  zwischen  1 u.  274  M.,  sie  blieben 
in  3 Aemtern  unter  1,50  M.  (1  M.,  1,20  M.,  1,30  M.),  erreichten  in 
9 Aemtern  beziehungsweise  Städten  1,50  M.  und  überstiegen  in 
5 Aemtern  beziehungsweise  Städten  diesen  Satz  (1,75  M.,  1,80  M.. 
1,80  M.,  2M.,  2,25  M.).  Die  Taglöhne  der  erwachsenen  industriellen 


Arbeiterinnen  schwankte  zwischen  75  Pf.  u.  1,25  M.,  er  blieb  in 
zwei  Aemtern  unter  1 M.  (75  Pf.,  90  Pf.),  erreichtein  je  7 Aemtern 
beziehungsweise  Städten  1 M.  11.  1,20  M.  und  stieg  nur  in  einem 
Amte  und  in  einer  Stadt  auf  1,25  M.  Die  Taglöhne  der  jugend- 
lichen industriellen  Arbeiter  schwankten  zwischen  50  Pf.  und 
1,50  M.,  sie  betrugen  50  Pf.  in  einer  Stadt  und  einem  Amte,  75 
bezw.  80  Pf.  in  einer  Stadt  und  5 Aemtern,  1 M.  in  einer  Stadt 
und  3 Aemtern  und  in  je  einem  Amte  1,20  M.,  1,25  M.  u.  1,50  M. 
Die  Taglöhne  der  jugendlichen  industriellen  Arbeiterinnen 
schwankten  zwischen  40  Pf.  u I M.  Sie  betrugen  40  Pf.  nur  in 
der  Stadt  Minden,  50  Pf.  in  3 Aemtern,  60  Pf.  in  einer  Stadt  und 
3 Aemtern,  70  Pf.  in  einem  Amte,  75  Pf.  in  einer  Stadt  und  2 
Aemtern  und  1 M.  in  3 Aemtern. 

Auch  für  die  landwirtschaftlichen  Arbeiter  finden 
sich  einige  Angaben.  Die  Löhne  der  erwachsenen  landwirt- 
schaftlichen Arbeiter  schwankten  nach  den  Angaben  der 
Handelskammer  zwischen  1,20  M.  und  2 M.,  sie  betrugen  1,20  M. 
in  3 Aemtern,  1,25  M.  in  dem  Amte,  1,30  M.  beziehungsweise 

1,33  M.  in  einer  Stadt  und  6 Aemtern,  1,40  M.  in  einem,  1,50  M. 

in  2 Aemtern,  1,75  M.  in  einer  Stadt,  1,80  M in  zwei  und  2 M. 
in  einem  Amte.  Die  Glaubwürdigkeit  dieser  Zahlen  wird  durch 
den  Umstand  kaum  erhöht,  dass  in  dem  Amte  Hüllhorst,  in  dem 
der  durchschnittliche  Taglohn  landwirthschaftlicher  Arbeiter  2 M. 
beträgt,  der  Taglohn  der  erwachsenen  industriellen  Arbeiter  mit 
1,50  M.  verzeichnet  ist.  Die  Löhne  der  landwirtschaftlichen 
Arbeiterinnen  schwankte  zwischen  80  Pf.  u.  1,20  M.  Es  betrug 
80  Pf.  in  einem  Amte,  90  in  4 Aemtern,  1 M.  in  einer  Stadt  und 

8 Aemtern,  1,20  M.  in  2 Aemtern  und  1,25  M in  einem  Amte. 

Jugendliche  landwirtschaftliche  Arbeiter  wurden  mit  Taglöhnen 
von  50  PL  bis  1,33  M entlohnt.  Der  Lohnsatz  von  50  Pf.  wurde 
einem  Amte  der  von  75  Pf.  in  einer  Stadt  und  3 Aemtern,  der 
von  80  Pf.  in  drei  Aemtern,  der  von  1 M.  in  6 Aemtern,  die  von 
1,20  M.  u.  1,33  M.  in  je  einem  Amte  bezahlt.  Jugendliche  Ar- 
beiterinnen in  der  Landwirtschaft  wurden  mit  50  Pf.  bis  I M. 
pro  Tag  belohnt.  50  Pf.  wurden  in  einer  Stadt  und  2 Aemtern, 
60  Pf.  in  4 Aemtern  667,3  Pf-  in  einer  Stadt,  70  und  75  Pf.  in  je 
einem  Amte,  1 M.  in  4 Aemtern  bezahlt. 

Sozialstatistisches  ans  der  deutschen  Buchbinderei.  Zum 

zehnten  Male  seit  seiner  Gründung  hat  im  Winterhalbjahre 
1891/92  der  Unterstützungsverband  der  deutschen  Buchbinder 
Erhebungen  über  die  Verhältnisse  im  Gewerbe  veranstaltet. 
Wenn  auch  mit  Bedauern  hervorgehoben  werden  muss,  dass  so 
wichtige  Orte  wie  Breslau,  Köln  a.  Rh.,  Offenbach,  Mannheim, 
Darmstadt,  Nürnberg  und  Fürth  sich  an  der  Statistik  nicht  be- 
theiligt haben,  so  muss  doch  in  der  letzten  Erhebung  ein  er- 
heblicher Fortschritt  gegenüber  ihren  Vorgängerinnen  konstatirt 
werden,  denn  an  letzteren  betheiligten  sich  bloss  21 — 47  zum 
Theil  nicht  reichsdeutsche  Orte  (z.  B.  Wien,  Graz,  Klagenfurt  i, 
während  an  dieser  Erhebung  77  reichsdeutsche  Orte  Theil  nahmen. 
Wir  heben  aus  den  Resultaten  der  Erhebung*)  folgende  be- 
merkenswerthe  Punkte  hervor.  Die  Statistik  beleuchtet  die  Zu- 
stände von  1574  Werkstätten  mit  14  745  Lohnarbeitern.  Auf  die 
Werkstätte  kamen  im  Durchschnitte  9,3  Arbeiter.  Die  Gesammt- 
zahl  setzte  sich  zusammen  aus  6 400  Gehilfen  (43,4  pCt.),  913 
männlichen  Hilfsarbeitern  (6,2  pCt.),  6 043  Arbeiterinnen  41 ,0  pCt.) 
und  1389  Lehrlingen  9,4  pCt.)  Es  kamen  demnach,  von  den 
Lehrlingen  abgesehen,  auf  1000  männliche  Arbeiter  826,4  weib- 
liche und  auf  1000  gelernte  männliche  Arbeiter  217  Lehrlinge. 
4728  von  6400  Gehilfen,  demnach  standen  74  pCt.  im  Zeitlohn, 
sie  verdienten  wöchentlich  6—50  Mk  Die  Löhne  unter  10  und 
die  über  20  Mark  kamen,  letztere  von  Werkführern  und  ein- 
zelnen Spezialarbeitern  abgesehen,  nur  ganz  vereinzelt  vor.  Die 
grosse  Mehrzahl  verdiente  pro  Woche  15 — 20  Mark.  Bei  den 
1672  (26  pCt.)  im  Akkord  artreitenden  Gehilfen  schwankte  der 
Lohn  gleichfalls  zwischen  6 und  50  Mk.  Die  grosse  Mehrzahl 
der  Akkordarbeiter  verdiente  über  10  und  unter  25  Mark.  Die 
Löhne  der  Hilfsarbeiter  schwankten  zwischen  3—36  Mk.  Näheres 
ist  hierüber  nicht  zu  entnehmen.  Von  den  6043  Arbeiterinnen 
sind  3053  nach  Zeit  und  2955  im  Akkord  entlohnt.  Der  Lohn 
der  ersteren  schwankt  zwischen  2 und  24,  der  durchschnittliche 
Verdienst  der  letzteren  zwischen  3 und  22  Mk.  An  sieben  Orten 
kommt  es  vor,  dass  manchen  Arbeiterinnen  für  oft  über  70  Arbeits- 
stunden in  der  Woche  nur  4 Mk.  bezahlt  werden,  in  9 Orten 
sogar  nur  3 Mk..  und  in  2 Orten  (Hamburg  und  Pforzheim) 
wurde  konstatirt,  dass  einzelne  Arbeiterinnen  nur  2 Mk.  pro 
Woche  erhalten.  Der  Lohn  von  15  Mk.  und  darüber  wird  in 
Zeit-  wie  Stücklohn  nur  von  Einzelnen  erzielt.  Ebenso  ergiebt 
sich,  dass  die  im  Akkordlohn  beschäftigten  Arbeiterinnen  in 
vielen  Fällen  fast  noch  schlechter  gestellt  sind,  wie  die  im  Zeit- 
lohn arbeitenden. 

Von  den  1389  Lehrlingen  haben  2 eine  Lehrzeit  von  5 Jahren, 
ca.  750  von  4,  30  von  3*/2,  512  von  3,  und  15  von  2 Jahren  durch- 
zumachen 869  erhalten  Kostgeld,  283  sonstige  Entschädigung. 
(Kost  und  Wohnung  beim  Meister.) 

Die  Zahl  der  Hilfsmaschinen  beträgt  8267.  Auf  je  1,7  Per- 
sonen (ganz  gleich  ob  Gehilfe,  Arbeiterin  oder  Lehrling)  entfällt 
somit  durchschnittlich  eine  Maschine,  und  5,2  Maschinen  auf 
jede  Werkstube. 

In  497  Geschäften  findet  Mehrbezahlung  für  Ueberzeit-  und 
Sonntagsarbeit  statt. 

*)  „Buchbinder  Zeitung“  vom  17.  September  1892. 


8 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT 


No.  1. 


Die  gesetzlichen  Feiertage  werden  von  nur  518  ^ 32  7 nCt 
der  gesummten  Geschäftsinhaber  bezahlt.  Wie  viele  der  Arbeiter 
die  r eiertage  bezahlt  erhalten,  ist  aus  der  Statistik  leider  nicht 
ersichtlich.  Die  Dauer  der  täglichen  Arbeitszeit  schwankt 
zwischen  7^/2~  13  Stunden.  Die  erstere  kommt  jedoch  nur  an 
einem  Urt,  wahrscheinlich  auch  nur  in  einer  Werkstätte  vor 
die  letztere  an  2 Orten.  ’ 

Die  am  meisten  gebräuchliche  Arbeitszeit  beträgt  10  bis 
12  Stunden  und  zwar: 


21 

Orten 

10  Stunden, 

15 

>5 

10 1/2  „ 

2 

>> 

10-11  „ 

26 

H 

1 

5) 

HVa  „ 

10 

'2 

2 

>5 

? 

>> 

Selbst  m denjenigen  Städten,  in  welchen  die  Buchbinder 
orgamsirt  sind,  beträgt  die  tägliche  Arbeitszeit  noch: 
in  4 Orten  12  Stunden, 


13 
8 

14 


1 1 

10i/2 

10 


f S.esuilclheltlichen  Anforderungen  entsprechen  in  Bezug 

auf  Ventilation  917  und  in  Bezug  auf  Licht  1013  Betriebe.  Dem- 
nach ist  in  667  Werkstätten  die  Ventilation  und  in  571  das  Licht 
ungenügend. 

. .1985  Gehilten  (31  pCtd  werden  als  verheirathet  bezeichnet, 
thatsachlich  aber  ist  die  Zahl  grösser,  da  die  Leipziger  Buch- 
binder diese  Frage  unbeantwortet  Hessen.  Von  den  Hilfs- 
^4rheHath -taren  292  ^32pCt^’  von  den  Arbeiterinnen  676  (1 1 pCt.) 

i-  . VA°nud-en  111  dfrn  1584  Werkstätten  beschäftigten  7313  männ- 
lichen Arbeitern  gehören  2806  = 38,4  pCt.  einer  Organisation  an. 
Hiervon  sind  2145  Verbandsmitglieder  und  661  Mitglieder  von 
Lokal-  meist  sächsischen')  Vereinen.  Von  den  6043  Arbeiterinnen 
sind  346  _ 5,7  pCt.  orgamsirt.  Davon  sind  252  Mitglieder  von 
V erbandsvereinen. 

Ehe  Statistik  ist  leider  nur  in  ihren  summarischen  Resul- 
taten publizirt  über  die  Vertheilung  der  Arbeiter  nach  Lohn- 
Stuten  und  Arbeitszeitstuten,  sowohl  was  die  Gesammtzahl  als 
die  wichtigeren  Orte  betrifft,  erfährt  man  leider  nichts.  Hoffent- 
lieh  wird  die  liir  den  Mai  1893  geplante  Statistik  sowohl  mehr 
und  in  denselben  mehr  Arbeiter  erfassen,  als  auch,  was 


Orte, 


die  Publikation  der  Resultate  anlangt, 
entsprechen. 


erhöhten  Anforderungen 


Ländliche  Arbeiterve rhältnisse  in  Bayern.  Der  Jahres- 
bericht des  Generalkomitees  der  landwirtschaftlichen  Vereine 
in  Bayern  für  1891  ist  dieser  Tage  erschienen  und  enthält 
folgende  teilen  über  die  Arbeiterverhältnisse  auf  dem  flachen 
Lande  im  Königreich:  „Ob  bezüglich  der  Gewinnung  brauch- 
barer Arbeiter  die  allmählich  zur  besseren  Erkenntniss  ge- 
langende \\  ohlthat  der  neueren  sozialpolitischen  Versicherungs- 
gesetze einen  bessernden  Einfluss  auf  die  Arbeiterverhältnisse 
auszuüben  vermag,  muss  der  Zukunft  überlassen  bleiben.  Vor- 
erst ist  hieran  noch  wenig  bemerkbar,  jedoch  scheint,  insbe- 
sondere hinsichtlich  der  Alters-  und  Invaliditätsversicherung  das 
grosse  V iderstreben,  mit  welchem  die  zu  leistenden  Beiträge 
anfangs  entrichtet  wurden,  allmählich  zu  schwinden,  was  sich 
nn  Laufe  der  Zeit  in  dem  Verhältniss  steigern  dürfte,  als  die 
Zahl  der  auf  Alters-  und  Invaliditätsrentenbezug  Berechtigten 
zunehmen  wird.“  In  den  Einzelberichten  aus  den  Distrikten 
kommen  jedoch  vielfach  Klagen  über  die  Alters-  und  Invalidi- 
tätsversicherung vor  und  man  begegnet  hier  wiederholt  der  Be- 
hauptung, dass  sie  die  Armenlast  nicht  verringere.  Bezüglich 
der  Arbeiterverhältnisse  sagt  der  Bericht,  dass  die  seitherigen 
Klagen  eine  Verminderung  nicht  erfahren  hätten,  wenn  auch 
nicht  zu  verkennen  sei,  dass  sich  in  Folge  geringeren  Ver- 
dienstes in  den  Städten,  sowie  in  Folge  beschränkter  Thätigkeit 
Ul  verschiedenen  Zweigen  des  Fabrikbetriebes  der  Mangel  an 
Arbeitskräften  in  einigen  Gegenden  nicht  mehr  in.  dem  Masse 
bemerklich  macht,  wie  in  den  Vorjahren.  Insbesondere  fühlbar 
sei  der  Mangel  an  brauchbaren,  weiblichen  Dienstboten,  während 
überhaupt  die  für  einen  geordneten  wirthschaftlichen  Betrieb  so 
nothwendigen  sesshaften,  mit  den  verschiedenen  wirthschaft- 
lichen  Arbeiten  vertrauten  und  brauchbaren  Arbeiter  immer 
seltener  würden.  Hier  wird  also  aus  der  Landwirthschaftsver- 
tretung  heraus  die  verschlechterte  Lage  der  Industriebevölke- 
rung zugestanden,  auf  deren  Kosten  die  Agrarier  ihre  Forde- 
^^gen  erfüllt  sehen  wollen.  Damit  ist  zugleich  angedeutet,  wie 
tief  die  ländlichen  Llnternehmer  das  Niveau  der  Lebenshaltung 
für  ihre  Arbeiter  halten  möchten,  und  das  erklärt  den  Mangel 
an  tüchtigen  Arbeitern“  zur  Genüge. 

Lohn-  und  Ausgabenverhälfnisse  der  Mühlenarbeiter/ in 
Kalatz  (Rumänien).  Einer  rumänischen  Korrespondenz  des 
„Vorwärts“  entnehmen  wir  die  folgenden  Angaben:  In  der  Ga- 
latzer  Dampfsäge,  einer  Aktiengesellschaft,  verlangen  die  Ar- 
beiter anstatt  12  Stunden  ununterbrochener  Nachtarbeit  10'/2  Stun- 
den Arbeitszeit  und  P/2  Stunden  Pause,  anstatt  12  Stunden 
Tagarbeit  und  I Stunde  Ruhe  bloss  IP/2  Stunden  Arbeit  und 
1 1/2  Stunden  Ruhe,  ferner  eine  Lohnerhöhung  von  25Centimes,  was 


dann  einen  Durchschnittslohn  von  3 Francs  ergeben  würde,  bei 
cirka  250  Arbeitstagen  des  Jahres,  also  zwei  Francs  pro  Tag. 
Von  2 Francs  sollen  bestritten  werden:  Miethe  für  das  Zimmer 
einer  Lehmhütte,  wo  auch  gekocht  wird,  10  bis  15  Francs  pro 
Monat,  Maismehl  30  Cent,  pro  Kilogramm,  Fleisch  1 Francs 
pro  Kilogramm,  Brot  35  Cent.,  Milch  50  Cent,  pro  Liter 
im  Sommer,  im  Winter  80  Cent.,  Arbeitskleider  aus  blauem 
Drill  etc.  5 — 15  Francs,  Stiefel  40  Francs,  Schuhe  14  bis  20  Francs, 
Steuer  3 Francs  pro  Monat. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Kosten  des  Homesteader  Ausstandes.  Der  „Boston 
Globe“  berechnet  die  Kosten  des  Strikes  von  Homestead 
auf  eine  Million  Dollar.  320  000  kostete  die  Aufpiquet- 
setzung  der  Miliz;  der  Lohnausfall  der  Arbeiter  von  Ho- 
mestead wird  auf  150  000  Dollar  und  der  aus  Sympathie 
strikenden  anderen  Arbeiter  auf  100  000  Dollar  geschätzt. 
Die  Auslagen  für  die  Befestigung  von  Homestead,  das  En- 
gagement der  Pinkertons,  der  Ausfall  durch  verringerten 
Geschäftsgang  während  des  Strikes  in  der  Gegend  von 
Homestead  wird  mit  300  000  Dollar  veranschlagt. 

Die  Leistungen  der  Dekorationsmaler-Organisation  in 
den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika.  1891  gab  es  174, 
1892  schon  264  Sektionen  der  Dekorationsmaler-Organisation 
der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika.  Die  Mitgliederzahl 
betrug  20  000,  zur  Krankenkasse  trugen  14  000  bei.  Die 
stärkste  Sektion  besitzen  Chicago  (ca.  3000  Mitglieder)  und 
Cincinnati  (über  800  Mitglieder).  In  den  verflossenen  fünf 
Jahren  erreichte  die  Organisation  in  zweihundert  Städten 
Verkürzung  der  Arbeitszeit  und  Erhöhung  der  Löhne. 
Ueber  die  Erfolge  bezüglich  die  Arbeitszeit  giebt  folgende 
Aufstellung  Aufschluss.  Die  Arbeitsstunden  pro  Woche 
betrugen : 


1891 

1892 

48 

Stunden 

in  12 

30 

Sektionen 

53 

17 

39 

)} 

54 

)) 

78 

97 

)? 

55 

O 

1 

1 

Sektion 

58 

)) 

10 

31 

Sektionen 

59 

35 

48 

>> 

>> 

60 

5? 

21 

18 

Von  Mitte  1891  bis  Mitte  1892  nahm  die  Organisation 
32  720,59  Dollar  ein  und  verausgabte  21918,87  Dollar,  so 
dass  ein  Kassenbestand  von  10  801,72  Dollar  zur  Verfügung 
blieb.  Für  Kranken  Unterstützung  und  Sterbegelder  wurden 
ausserdem  9725  Dollar  verausgabt. 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Französische  Arbeiter-  und  Sozialistenkongresse. 

Im  eben  abgelaufenen  Monat  tanden  in  Frankreich 
mehrere  Arbeiter-  und  Sozialistenkongresse  statt,  von  deren 
wichtigeren  in  erster  Linie  der  Kongress  der  sozialisti- 
schen Gemeinde  rät  he  zu  nennen  ist.  Die  Gemeinden 
haben  in  der  revolutionären  Geschichte  Frankreichs  stets 
eine  hervorragende  Rolle  gespielt.  Kein  Wunder  darum, 
dass  sie  unter  die  Vormundschaft  der  Präfekturen  gestellt 
sind  und  die  Regierung  eine  gemeinsame  Berathung,  ein 
gemeinsames  Zusammengehen  derselben  stets^  zu  hindern 
sucht.  So  hatte  sie  1889  einen  auf  Antrag  Vaillant’s  ge- 
fassten Beschluss  des  Pariser  Gemeinderaths,  während  der 
Weltausstellung  einen  Kongress  der  Gemeinden  Frank- 
reichs abzuhalten,  umgestossen  und  an  dessen  Stelle  ein 
Bürgermeister-Bankett  gesetzt,  das  eben  nichts  anderes  als 
ein  Bankett  war.  Der  sozialistische  Gemeinderath  von 
Saint-Ouen  (Seine-Departement)  hatte  nun  den  Vaillant- 
schen  Antrag  insofern  zu  den  seinigen  gemacht,  als  er  be- 
schloss, sämmtliche  sozialistische  Gemeindevertretungen 
bezw.  solche,  die  sozialistische  Mitglieder  zählen,  zu  einem 


No.  1. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


9 


Kongress  einzuladen.  Hie  Regierung  hatte  zwar  auch  da 
ihr  Veto  eingelegt,  aber  damit  nur  verhindert,  dass  der 
Kongress  im  Gemeindehaus  tage,  aber  nicht  den  Kongress 
selbst.  Derselbe  fand  nämlich  in  einem  nahe  der  Mairie 
gelegenen  Konzertlokal  statt.  Die  Verhandlungen  des 
Kongresses,  der  am  11.  September  eröffnet  wurde  und  drei 
Tage  währte,  waren  selbstverständlich  politischer  Natur. 
Der  Kongress  sprach  sich  1.  für  Errichtung  von  Greisen-, 
Invalidem  und  Waisenhäusern  und  Beseitigung  der  Wolil- 
thätigkeitsbüreaus  aus,  an  deren  Stelle  eine  direkte  Unter- 
stützung  aller  Bedürftigen  durch  die  Gemeinden  zu  eilolgcn 
habe.  Um  die  nöthigen  Mittel  herbeizuschaffen,  sollen  das 
Kultusbudget,  die  hohen  Gehälter  und  die  Sinekuren  sowie 
die  Erbschaften  zweiten  Grades  abgeschafft  und  eine  hohe 
Progressivsteuer  eingeführt  werden;  2.  für  die  Beseitigung 
der  städtischen  Thorsteuern  und  Ersetzung  der  Einkiintte 
derselben  durch  einen  Zuschlag  zur  Gebäudesteuer,  durch 
eine  Taxe  auf  unvermiethete  Lokale  und  Grundstücke  sowie 
durch  Besteuerung  der  dem  steigenden  Werth  der  Ge- 
meinden geschuldeten  Preissteigerung  der  Privatgrund- 
stücke und  Gebäude;  3.  für  eine  strenge  Kommunal- 
hygiene, zu  welchem  Zwecke  alle  von  zu  ernennenden 
kompetenten  Sanitätskommissionen  als  nothwendig  erach- 
teten Arbeiten  — in  Privatgebäuden  auf  Kosten  der  Eigen- 
tlnimer  — auszuführen  sind,  und  für  eine  ausreichende 
medizinische  und  pharmazeutische  Hilfe  zu  sorgen  ist ; 
4.  dafür,  dass  jede  Gemeinde,  Paris  eingeschlossen, 
Herrin  ihrer  Verwaltung  und  ihrer  Polizei  sei;  5.  für 
Annullirung  aller  Verträge,  durch  die  öffentliches  Eigen- 
thum veräussert  werden,  und  Beseitigung  aller  Privatmono- 
pole von  Kanälen,  Eisenbahnen,  Bergwerken,  Schiefereien, 
Wasser,  Gas  etc.,  welche  in  öffentliche  Dienste  unter  Ver- 
waltung des  Staates  bezw.  des  Departements  oder  der  Ge- 
meinde umzuwandeln  seien ; 6.  für  die  Ausführung  aller 
öffentlichen  Arbeiten  durch  die  betreffenden  Gemeinden 
unter  Anwendung  einer  auf  einem  Minimallohn  und  acht- 
stündigen Arbeitstag  basirten  Lohnliste;  7.  für  die  Grün- 
dung von  Arbeitsbörsen  in  allen  Arbeiterstädten.  Zum 
Schlüsse  wurden  die  Vertreter  der  aneinander  grenzenden 
Gemeinden  von  St.  Ouen  und  St.  Denis  mit  der  Organi- 
sation eines  Bundes  der  sozialistischen  Gemeinderäthe 
Frankreichs  betraut  und  letztere  Gemeinde  als  nächster 
Kongressort  bestimmt.  Erwähnt  sei  noch,  dass  der  Kon- 
gress als  Zeichen  seiner  Sympathie  für  die  Strikenden 
von  Carmaux  den  Vertreter"  dieser  Gemeinde  zum  Präsi- 
denten seiner  Eröffnungssitzung  ernannt,  und  zu  ihren 
Gunsten  auch  eine  öffentliche  Sammlung  veranstaltet  hatte, 
die  ein  ziemliches  Erträgniss  lieferte. 

Wenige  Tage  nach  diesem  Kongress  wurde  in  Mar- 
seille und  zwar  in  der  dortigen  Arbeitsbörse  der  V.  Lan- 
deskongress der  Arbeitersyndikate  eröffnet,  dem 
sich  der  X.  Kongress  der  französischen  Arbeiter- 
partei (Marxisten  anschloss.  Da  nun  die  Verhand- 
lungen dieser  beiden  Kongresse  sich  theils  ergänzen,  theils 
ineinander  laufen,  der  letztere  Kongress  aber  zur  Stunde, 
da  wir  dies  schreiben , noch  nicht  abgeschlossen  ist, 
wollen  wir  über  dieselben  demnächst  berichten.  Nur 
soviel  sei  jetzt  schon  bemerkt , dass  der  Kongress 
der  Arbeiterpartei  sich  eines  grossen  Erfolges  zu  erfreuen 
hat  und  dass  hierzu  nicht  wenig  die  Anwesenheit  des  Ab- 
geordneten Liebknecht  beigetragen  hat,  der  bei  dieser 
Gelegenheit  eine  die  Beziehungen  zwischen  Deutschland 
und  Frankreich  berührende  Rede  hielt,  die  einen  sehr  tiefen 
Eindruck  machte. 

Paris,  28.  September. 


H and  werk  erfragen. 


Durchführung  desBcfähigungsnachweises  im  Hantlels- 
kamnierbezirke  Brünn.  Die  österreichischen  Handwerker 
erklären  die  Nichterlüllung  ihrer  an  die  Einführung  der 
Zwangsgenossenschaft  und  des  Befähigungsnachweises  ge- 
richteten Hoffnungen  mit  den  vielen  beim  Befähigungs- 
nachweise gemachten  Ausnahmen.  Im  letzten  Berichte 
der  Brünner  Handelskammer,  welche  die  industriereichere 
Hälfte  von  Mähren  umfasst,  wird  der  Nachweis  von  der 
Unstichhaltigkeit  dieser  Beschwerden  erbracht.  Im  Durch- 
schnitte der  4 Jahre  1887 — 18c0  wurde  nur  in  142  Fällen 


mit  Erlass  des  Befähigungsnachweises  der  handwerks- 
mässige  Betrieb  des  Gewerbes  angetreten,  was  nur  0,76  pCt. 
der  nandwerksmässigen  Betriebe  des  Handelskammer- 
bezirkes entspricht.  Die  568  in  den  Jahren  1887  1890  ge- 

währten Dispense  vertheilen  sich  auf  40  verschiedene  Ge- 
werbe, somit  auf  jedes  im  Durchschnitte  pro  Jahr  ca.  3'/., 
für  den  ganzen  Handelskammerbezirk.  In  25  von  40  Ge- 
werben bildeten  die  vom  Befähigungsnachweis  Dispen- 
sirten  noch  nicht  1 pCt.  der  im  betreffenden  Gewerbe 
thätigcn,  in  weiteren  1 1 nur  1 -2  pCt.,  so  dass  nur  4 Ge- 
werbe mit  einem  Prozentsatz  von  2 — 5 pCt.  Dispensirter 
übrig  blieben.  Diese  Statistik  beweist,  dass  sich  die  öster- 
reichischen Handwerker  über  ungenügende  Durchführung 
des  Befähigungsnachweises  nicht  zu  beklagen  haben. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Die  Vertagung  der  industriellen  Sonntagsruhe  im 
deutschen  Reich. 

Wenn  diese  Zeilen  erscheinen,  wird  der  1.  Oktober 
ins  Land  gegangen  sein,  aber  die  Sonntagsruhe  für  die 
industriellen  Arbeiter  des  deutschen  Reiches  wird  noch  ge- 
nau so  auf  dem  Papier  stehen,  wie  am  1.  Juni  1891,  da  die 
revidirte  Gewerbeordnung  amtlich  publizirt  wurde.  Be- 
kanntlich sind  die  Bestimmungen  der  letzteren,  welche  die 
Sonntagsruhe  betreffen , allerdings  erst  noch  besonders 
durch  kaiserliche  Verordnung  in  Kraft  zu  setzen.  Aber  da 
während  der  langwierigen  Verhandlungen  über  die  Revision 
des  deutschen  Arbeiterschutzes  in  den  Jahren  1890  und  1891 
von  amtlicher  Stelle  soviel  über  das  Bestreben  der  nunmehr 
massgebenden  Kreise  gesprochen  wurde,  dem  Arbeiter  die 
ihm  allzulange  vorenthaltenen  Wohlthaten  eines  „wirksamen“ 
gesetzlichen  Schutzes  endlich  zu  gewähren,  so  war  es  wohl 
nicht  unbescheiden  von  den  Arbeitern,  zu  hoffen,  dass 
dieser  Schutz  ungefähr  1'/2  Jahre  nach  Publikation  der  be- 
treffenden Bestimmungen,  also  eben  am  1.  Oktober  1892, 
in  seiner  Hauptsache,  eben  der  industriellen  Sonntagsruhe, 
in  Kraft  gesetzt  werde.  Es  ist  anders  gekommen!  Halb- 
amtlich wurde  schon  im  Laufe  der  ersten  Monate  dieses 
Jahres  darüber  geklagt,  welch’  grosse  technischeSchwierig- 
keiten  die  Ausführungsbestimmungen  zur  industriellen  Sonn- 
tagsruhe machten.  Und  neuestens  kam  dann  die  bestimmte 
Verlautbarung:  an  ein  Inkrafttreten  der  industriellen  Sonn- 
tagsruhe für  1.  Oktober  1892  oder  1.  Januar  1893  sei  gar 
nicht  zu  denken;  zu  den  technischen  Schwierigkeiten  hätten 
sich  die  Erfahrungen  gesellt,  die  man  anlässlich  des  Inkraft- 
tretens der  kaufmännischen  Sonntagsruhe  seit  I.  Juli  d.  Js. 
gesammelt.  Dieselben  seien  nicht  so  günstiger  Natur,  dass 
man  an  eine„Ueberstürzung“  bezüglich  der  industriellenSonn- 
tagsruhe  denken  könne.  Es  werde  noch  geraume  Zeit  ver- 
gehen, ehe  die  restirenden  Bestimmungen  der  revidirten 
Gewerbeordnung  ausgeführt  werden  könnten.  Dieser  Ver- 
lauf der  Dinge,  die  Begründung  der  Verzögerung  mit 
„technischen“  Schwierigkeiten  und  die  Berufung  auf  Unzu- 
träglichkeiten  bei  der  kaufmännischen  Sonntagsruhe  fordern 
eine  Kritik  geradezu  heraus.  Man  kann  sich  bei  derselben 
genau  an  die  beiden  halbamtlich  angegebenen  „Gründe“ 
halten. 

Zunächst  die  „ungünstigen  Erfahrungen“  mit  der  kauf- 
männischen Sonntagsruhe!  Der  Zusammenhang  zweier  so 
vielfach  verschiedener  Dinge  ist  schwer  zu  verstehen.  Bei 
der  kaufmännischen  Sonntagsruhe  handelte  es  sich  um  die 
Reform  krasser,  tief  eingefressener  Uebelstände,  um  den 
Kampf  gegen  eine  Kräfteausnutzung,  die  bisher  fast  noch 
von  keiner  anderen  Seite  beschränkt  worden  war.  Denn 
die  Gewerkschaften  der  kaufmännischen  Hilfsarbeiter  waren 
viel  zu  schwach  und  ihre  Presse  viel  zu  unentwickelt,  um 
gegen  die  übermässige  Sonntagsarbeit  reagiren  zu  können. 
Deshalb  hatte  sich  die  kaufmännische  Sonntagsarbeit  in 
ausgedehntestem  Masse  beinahe  als  etwas  völlig  Legitimes 
einnisten  können.  Kein  Wunder,  dass  die  neuen  Sonntags- 


10 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  1. 


ruhe  Vorschriften,  die  doch  so  lax  wie  nur  möglich  waren, 
für  den  Anfang  auf  Widerstand  gewisser  Kreise  stiessen, 
die  sich  bei  der  alten  Ordnung  der  Dinge  sehr  wohl 
befunden  hatten.  Ueber  den  Charakter  und  den  weit 
überschätzten  Umfang  jener  Kreise  wird  sogleich  noch 
zu  sprechen  sein.  Es  kam  hinzu,  dass  die  kaufmännische 
Sonntagsruhe  bis  in  den  letzten  Hökerladen  eingeführt 
werden  musste,  wenn  sie  praktisch  wirksam  sein  sollte.  Es 
kam  ferner  hinzu,  dass  man  durch  die  Erlaubniss,  die  im 
Maximum  gestatteten  fünf  Stunden  Sonntagsarbeit  an  jedem 
Orte  nach  den  besonderen  Bedürfnissen  der  Geschäfts- 
inhaber, womöglich  nach  einzelnen  Branchen  verschieden 
testsetzen  zu  dürfen,  den  alten  Appetit  nach  möglichster 
Ausnutzung  des  Sonntags  ordentlich  weckte,  woran  auch 
eine  etwas  strengere  Ausführungsverordnung  nichts  ändern 
konnte.  Wenn  nun  in  der  verhältnissmässig  kurzen  Zeit 
seit  1.  Juli  d.  Js.  alle  diese  Umstände  durcheinander  ge- 
wirkt haben  und  der  Wirrwarr  ausserdem  für  eine  ge- 
wissenlose, kapitalistische  Parteiagitation  ausgebeutet  und 
übertrieben  wurde  — darf  man  deshalb  bereits  von  „un- 
günstigen Erfahrungen“  sprechen,  die  auf  die  Verwirk- 
lichung der  industriellen  Sonntagsruhe  zurück- 
wirken könnten?  Für  den  ruhigen  Beobachter  kann 
davon  wohl  keine  Rede  sein.  Es  handelt  sich  um  zwei 
ganz  verschiedene,  wirthschaftlich  und  gesetzgeberisch  ganz 
abweichend  vorbereitete  Gebiete.  Bei  der  Industrie  haben 
die  Arbeiterorganisationen  bereits  für  die  Sonntagsruhe 
vorgearbeitet,  und  in  Wirklichkeit  ist  sie  schon  vielfach 
ohne  Gesetz  eingeführt,  sodass  es  sich  nur  darum  handelt, 
eine  vorhandene  Gewohnheit  rechtlich  festzulegen.  Auch 
dreht  es  sich  nur  um  die  Sonntagsruhe  für  die  Arbeiter; 
Komplikationen,  wie  sie  bei  der  Regelung  für  das  Handels- 
gewerbe durch  die  nothwendige  Einbeziehung  aller  Ge- 
schäfte, auch  derjenigen  ohne  Hilfspersonal,  ergeben 
mussten,  fallen  hier  weg.  Die  Technik  der  Produktion  ist 
eine  völlig  andere,  als  diejenige  des  Handels.  Kurz,  prak- 
tisch brauchbare  Vergleichspunkte  bieten  sich  herzlich 
wenig.  Und  dann  noch  Eines!  Trotz  allen  Wirrwarrs,  den 
die  verfehlte  Fassung  der  Bestimmungen  über  die  kauf- 
männische Sonntagsruhe  angerichtet  hat,  bricht  doch  die 
Genugthuung  über  den  kleinen  Fortschritt,  den  man  er- 
reicht hat,  selbst  in  denjenigen  Kreisen  immer  mehr  durch, 
welche  von  einer  gewissenlosen  Agitation  als  die  ärgsten 
Gegner  der  Sonntagsruhe  ausgegeben  werden.  Weil  in 
dieser  Beziehung  die  Tagespresse  wenig  zur  Aufklärung 
beigetragen  hat,  sei  es  gestattet,  hier  kurz  zu  belegen,  dass 
in  der  Fachpresse  der  Kolonialwaarenhändler  Stimmen  für 
die  Sonntagsruhe,  womöglich  für  die  vollständige,  ebenso 
häufig  laut  geworden  sind,  als  gegen  dieselbe.  Man  darf 
die  in  Leipzig  erscheinende  „Kolonialwaaren  Zeitung“  als 
das  publizistische  Centralorgan  dieser  Kreise  betrachten. 
Nur  drei  Aeusserungen  klei n er  Ladeninhaber  aus  kleinen 
Orten,  die  jenes  Blatt  veröffentlichte,  sollen  hier  festgehalten 
werden.  Unter  dem  16.  August  schreibt  ein  Kaufmann  aus 
dem  Regierungsbezirk  Cassel: 

„Nun  lese  ich  zu  meiner  Freude  den  Artikel  in  No.  63, 
aus  Kollegenkreisen,  über  den  § 41a,  und  sehe,  wie  wenigstens 
ein  Kollege  den  Muth  hat,  zu  erklären,  der  sittliche  Zweck  ge- 
nügt allein,  die  Sonntagsruhe  zu  rechtfertigen!  Was  mögen  die 
Juden  denken,  wenn  die  all  das  Geschreibsel  gegen  die  christ- 
liche Sonntagsruhe  lesen?  sie,  die  ihren  Sabbath  und  die  Fest- 
tage aufs  strengste  feiern,  ohne  Rücksicht  auf  materiellen  Ver- 
lust, und  am  Schlüsse  des  Jahres  ebensoweit,  ja  meistens  noch 
viel  weiter  sind  als  wir  Christen.  Nach  den  vielen  Jahrzehnten, 
wo  der  Handel  des  Sonntags  unumschränkt  betrieben  wurde, 
ist  eine  völlige  Sonntagsruhe  vor  der  Hand  nicht  möglich,  aber 
einer  theilweisen  sollte  man  doch  nichts  in  den  Weg  legen.“ 

Unterm  2.  September  fügt  ein  Ladeninhaber  aus 
Lübben  (Nieder-Lausitz)  hierzu  folgende  Sätze: 

„Dass  durch  die  Sonntagsruhe  tausende  von  Existenzen 
zu  Grunde  gehen  sollen,  ist  nicht  zu  fürchten,  oder  es  könnte 
nur  solche  treffen,  die  ihr  Gewerbe  nur  auf  den  Sonntag  be- 
rechnet haben,  und  diese  sind  findig  genug,  wenigstens  die 
meisten  davon,  um  auf  anderen  Erwerb  zu  sinnen  und  auch  zu 
finden.  Von  unserer  Stadt  kann  ich  Ihnen,  im  Sinne  fast  aller 
Handelstreibenden,  mittheilen,  dass  sich  der  Sonntagsgeschäfts- 
verkehr schon  jetzt  vollständig  geregelt  hat.  Die  Einnahmen  an 


den  Sonntagen  sind  ja  geringer  als  früher,  doch  ist  die  Kasse 
am  Sonnabend  um  so  viel  strammer!“ 

Und  aus  Guben  theilt  ein  Kleinhändler  mit: 

„Zunächst  kann  man  annehmen,  dass  8/io  aller  Kaufleute 
und  Gewerbetreibenden  die  Segnungen  der  Sonntagsruhe  dank- 
bar anerkennen  und  dass  Jeder,  im  Hinblick  darauf,  gern  ein 
Opfer  zu  bringen  bereit  ist.  . Gerade  die  Presse,  die  für  die 
Klagen  des  Mittelstandes,  für  mindestens  eben  so  wichtige 
Sachen  im  Handel  und  Gewerbe,  nie  ein  Plätzchen  übrig  hat, 
gerade  die  scheint  es  darauf  abgesehen  zu  haben,  die  ver- 
schwindend geringe  Agitation  gegen  die  Sonntagsruhe  zu  unter- 
stützen, und  den  kaum  zu  Ehren  gebrachten  christlichen  Sonn- 
tag wieder  zu  dem,  was  früher  war,  zu  bringen:  zum  ersten 
Arbeitstag  der  Woche.“ 

Eine  Erläuterung  dieser  Aeusserungen  ist  nicht  noth- 
wendig.  Unverständlich  bleibt  es  aber  jedenfalls,  wie  man 
an  massgebenden  Stellen  bei  dieser  Sachlage  nicht  nur  be- 
reits an  eine  Abschwächung  der  Ausführungsverordnungen 
über  die  kaufmännische  Sonntagsruhe  denken,  sondern 
auch  noch  die  „üblen  Erfahrungen“  auf  dieser  Seite  gegen 
die  industrielle  Sonntagsruhe  ins  Feld  führen  kann. 

Lind  nun  die  „technischen“  Schwierigkeiten!  Sollten 
dieselben  theilweise  dadurch  hervorgerufen  sein,  dass  be- 
reits das  revidirte  Gesetz  in  § 105  c ff.  für  allzuviele  Fälle 
Ausnahmen  von  der  industriellen  Sonntagsruhe  vorgesehen 
hat  und  dass  es  nun  schwer  fällt,  bei  der  Fülle  von  Aus- 
nahmegelüsten, die  man  hierdurch  bei  den  Industriellen  er- 
weckte, berechtigte  Anforderungen  von  unberechtigten  zu 
unterscheiden,  so  würde  die  Schuld  für  diese  Schwierig- 
keiten doch  lediglich  auf  die  Gesetzgebung  zurückfallen 
und  es  wäre  ein  seltsames  Verhängniss,  wenn  die  Arbeiter 
unter  einem  Fehler  leiden  sollten,  dessen  Verhütung  ihren 
Vertretern  im  Reichstage  unmöglich  gemacht  worden  ist. 
Die  Industriellen  freilich  haben  sich  bei  Eingaben,  welche 
schon  im  Voraus  für  Ausnahmen  plädirten,  nicht  die  ge- 
ringste Beschränkung  auferlegt.  So  erfuhr  man  in  den 
ersten  Monaten  dieses  Jahres  von  einer  „umfassenden  Denk- 
schrift“ des  Vereins  deutscher  Eisen-  und  Stahlindustrieller 
von  Eingaben  des  Vereins  zur  Wahrung  der  Interessen  der 
chemischen  Industrie  Deutschlands,  des  Centralvereins  der 
deutschen  Lederindustrie  und  ähnlicher  Unternehmerver- 
einigungen, die  sämmtlich  für  möglichst  viele  Ausnahmen 
von  der  Sonntagsruhe  plädirten.  Verlangten  doch  dabei 
die  chemischen  Industriellen  neben  dem  Erlass  der  von 
ihnen  gewünschten  und  speziell  aufgeführten  Ausnahme- 
bestimmungen für  die  Sonntagsarbeit  in  chemischen  Fa- 
briken „eine  allgemeine  Anordnung  dahin,  dass  bei  der 
Einführung  eines  neuen  chemischen  Verfahrens  (!) 
auf  Antrag  des  Fabrikanten  die  Sonntagsarbeit  vorläufig 
bis  zur  Entscheidung  des  Bundesraths  gestattet  werde, 
sofern  die  untere  Verwaltungsbehörde  ihre  Genehmigung 
dazu  ertheilt  hat.“  Ein  solches  Verlangen  steht  wohl  im 
Kapitel  der  Sonntagsruhebestrebungen  ziemlich  einzig  da. 
Die  Lederindustriellen  behaupteten,  dass  bei  ihnen  „eine 
grosse  Zahl“  von  Arbeiten  vorkomme,  die  ihrer  Natur 
nach  eine  Unterbrechung  oder  einen  Aufschub  nicht  ge- 
statten. Dazu  passt  es  vortrefflich,  dass  die  Aeltesten  der 
Berliner  Kaufmannschaft  zu  derselben  Zeit  auf  eine  An- 
frage des  Polizeipräsidenten,  die  sich  offenbar  ebenfalls  nur 
an  die  Unternehmer  richtete,  eine  „besondere  Regelung“ 
der  Sonntagsruhe,  d.  h.  möglichst  umfangreiche  Ausnahmen 
als  nöthig  erklärten  für  das  Baugewerbe,  die  Wasserwerke, 
die  Fabrikation  von  Mineralwasser,  die  Chokoladenfabrikation 
und  verwandte  Industrien,  die  chemischen  Industrien  und 
andere  (im  Monat  Mai),  die  Fabrikation  von  Thonwaaren, 
die  Gerberei,  die  Wäschefabrikation  (in  je  8 Wochen  vor 
den  grossen  Festen),  die  Gärtnerei,  die  Maschinenfabrikation 
(bei  den  Arbeiten  zur  Instandhaltung  der  eigenen  und 
fremden  Betriebe).  Diese  zufällig  bekannt  gewordenen  Gut- 
achten sind  ausführlicher  mitgetheilt  worden,  weil  sie  die 
übertriebenen  Ansprüche  der  Unternehmer  am  besten  kenn- 
zeichnen. Niemand  wird  leugnen  wollen,  dass  es  gewisse 
Umstände  giebt,  unter  denen  Notharbeiten  am  Sonntag  ge- 
stattet sein  müssen;  obige  Eingaben  wollen  aber  theilweise 
die  Ausnahme  zur  Regel  machen.  Wenn  die  Regierung 
auf  solche  Ansinnen  auch  nur  prüfend  einzugehen  für  nöthig 
befunden  hat,  und  zwar  ohne  auch  nur  einen  einzigen 


No.  1. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


11 


Arbeiter  der  betreffenden  Berufe  zur  Gegenäusserung 
heranzuziehen,  so  mag  sie  wohl  auf  scheinbar  unüberwind- 
liche „technische“  Schwierigkeiten  gestossen  sein.  Nur 
kommt  dabei  wohl  mehr  die  „Technik“  der  massgebenden 
Sozialpolitik,  als  die  Technik  der  Industrie  in  Frage.  Dabei 
sind  bekanntlich  ungeheuer  eingehende  Erhebungen  be- 
züglich der  Durchführbarkeit  der  Sonntagsruhe  in  der  In- 
dustrie bereits  in  den  Jahren  1885/86  durch  den  Reichs- 
kanzler für  das  ganze  Deutsche  Reich,  veranstaltet  worden, 
ln  den  dicken  Bänden,  welche  die  Ergebnisse  dieser  Er- 
hebungen enthalten  und  die  als  Drucksache  No.  140  des 
deutschen  Reichstags  (7.  Legislaturperiode,  I.  Session  1887) 
erschienen,  füllen  die  Mittheilungen  aus  der  Industrie  ca. 
1000  Seiten;  es  scheint  aber,  dass  selbst  diese  Fülle  von 
Material  zur  Beseitigung  der  „technischen“  Schwierigkeiten 
wenig  beitragen  kann.  Vielleicht  ist  man  auf  unlösbare 
Widersprüche  gestossen,  die  sich  z.  B.  zwischen  der  aus- 
nahmefreundlichen Eingabe  der  Lederindustriellen  und  der 
Aeusserung  eines  Lederfabrikanten  in  der  Enquete  von 
1885/86  ergeben,  weil  der  Letztere  schlankweg  erklärte: 
„Jeder  Gerber  kann  mit  Leichtigkeit  seine  Einrichtungen 
so  treffen,  dass  diese  Sonntagsarbeit  völlig  wegfällt;  wo 
dieselbe  besteht,  beruht  es  auf  mangelnder  Ueberlegung 
oder  Bequemlichkeit.“  Wenn  also  sicher  schon  die  Leder - 
fabrikation  für  eine  so  behutsame  Sozialpolitik,  wie  sie  jetzt 
in  Deutschland  wieder  massgebend  ist,  grosse  Schwierig- 
keiten bietet,  so  ist  es  nicht  zu  verwundern,  wenn  Arbeiter- 
blätter beim  Ausbleiben  jeder  energischen  Aktion  von  einer 
„ledernen  Sozialreform“  sprechen.  Schliesslich  müssen  die 
ausführenden  amtlichen  Stellen  wohl  ohne  jede  Fühlung 
mit  Erfahrungen  und  bewährten  Einrichtungen  in  anderen 
Ländern  sein.  Zwar  schrieb  Geh.  Rath  Dr.  Königs  in 
seinem  trefflichen  Buch  über  die  Durchführung  des  schweize- 
rischen Fabrikgesetzes  (Berlin,  1891)  bezw.  die  in  der  Eid- 
genossenschaft bestehenden  Vorschriften:  „Im  Uebrigen 

haben  sich  die  Vorschriften  über  das  Verbot  der  Nacht- 
und  Sonntagsarbeit  als  zweckmässig  erwiesen  und 
werden  auch  durchweg  beachtet.“  Aber  an  eine  praktische 
Verwerthung  dieser  zutreffenden  Beobachtung  für  Zwecke 
der  Einführung  der  industriellen  Sonntagsruhe  in  Deutsch- 
land scheint  man  nicht  zu  denken 

So  gehen  Wochen  und  Monate  während  der  Be- 
rathungen der  Regierung  mit  den  Industriellen  über  die 
Ausführung  einer  so  elementaren  Reform,  wie  derjenigen 
der  industriellen  Sonntagsruhe,  in’s  Land.  Der  Eindruck, 
den  diese  befremdliche  Erscheinung  bei  allen  ernsten  Sozial- 
politikern macht,  darf  wohl  offen  und  ehrlich  dahin  zu- 
sammengefasst  werden:  weder  die  „ungünstigen  Erfah- 
rungen“ mit  der  kaufmännischen  Sonntagsruhe,  noch  die 
„technischen  Schwierigkeiten“  hindern  die  Ausführung, 
sondern  lediglich,  um  es  gelinde  auszudrücken,  Fehler  in 
unserer  sozialpolitischen  Verwaltung. 

Frankfurt  a.  M.  Max  Quarck. 


Gewerbeinspektion. 

Zur  Praxis  der  Gewerbeinspektion  in  Preussen.  Halb- 
amtliche Blätter  bestätigen  jetzt,  und  zwar  ohne  jeden  miss- 
billigenden Zusatz,  die  Richtigkeit  folgenden  Vorfalls  aus  der 
neuesten  Praxis  der  preussischen  Fabrikinspektion.  Die  in  Köln 
erscheinende  sozialdemokratische  „Rheinische  Zeitung“  hatte  im 
Juni  d J.  folgende  Notiz  gebracht:  „Der  hiesige  Gewerbe- 

inspektor theilt  uns  mit,  dass  er  bei  Wünschen  der  Arbeiter  in 
Bezug  auf  Abänderung  von  Arbeitsordnungen,  so  weit  solche 
Wünsche  sich  auf  gesetzlichem  und  allgemein  rechtlichem 
Boden  bewegen,  jederzeit  gern  bereit  sei,  vermittelnd  zwischen 
Arbeitern  und  LTnternehmern  zu  wirken.  Auch  ersucht  er,  ihm 
von  gesundheitsgefährdenden  Einrichtungen  in  einzelnen  Fa- 
briken, wie  auch  von  allen  berechtigten  Klagen  über  Betriebs- 
und Arbeitsverhältnisse  Mittheilung  zu  machen,  damit  er  im 
Stande  sei,  eingreifen  zu  können.  Um  den  Arbeitern  Gelegen- 
heit zur  Anbringung  ihrer  Klagen  zu  geben,  ist  der  Gewerbe - 
inspektor  gern  bereit,  Sonntags  Morgens  eine  Sprechstunde  in 
seinem  Bureau  einzurichten.“  Durch  diese  Mittheilung  sah  sich 


der  Vorstand  des  Vereins  der  Industriellen  im  Regierungsbezirk 
Köln  veranlasst,  an  den  dortigen  königlichen  Regierungspräsi- 
denten unter  dem  18.  Juni  eine  Eingabe  zu  richten,  in  der  es 
heisst:  „Wir  können  es  nicht  unterlassen,  bei  Ew.  Hochwohl- 
geboren  über  ein  solches  Vorgehen  des  Herrn  Gewerbeinspek- 
tors  Beschwerde  zu  führen  und  Ew.  Hochwohlgeboren  zu  bitten, 
geneigtest  dafür  Sorge  tragen  zu  wollen,  dass  derartige  Vor- 
kommnisse in  Zukunft  vermieden  werden.  Zunächst  halten  wir 
es  für  unrichtig,  dass  der  königliche  Gewerbeinspektor  gerade 
ein  sozialdemokratisches  Blatt  zu  einer  für  die  Arbeiter  be- 
stimmten Mittheilung  benutzt.  Es  liegt  hierin  mindestens  eine 
amtliche  Anerkennung  der  sozialdemokratischen  Presse  als 
Organ  der  Arbeiterschaft,  was  wohl  kaum  den  Absichten  der 
königlichen  Regierung  entsprechen  dürfte.  Was  den  Inhalt  der 
Mittheilung  betrifft,  so  werden  Ew.  Hochwohlgeboren  mit  uns 
sich  der  Ansicht  nicht  verschliessen  können,  dass  derselbe  nicht 
nur  geeignet  ist,  dass  Vertrauen  der  Industriellen  zur  könig- 
lichen Regierung  zu  erschüttern,  sondern  auch  das  gute  Ein- 
vernehmen zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitern  untergraben 
muss,  indem  der  Arbeiter  geradezu  zur  Denunziation  seines 
Arbeitgebers  aufgefordert  und  sogar  zum  Richter  über  die  Be- 
triebseinrichtungen und  Arbeitsverhältnisse  gemacht  wird.  Im 
Interesse  der  guten  Ordnung  bitten  wir  Ew.  Hochwohlgeboren 
um  eine  geneigte  Mittheilung  über  Ihre  Stellung  zu  dem  er- 
wähnten Vorgehen  des  Herrn  Gewerbeinspektors,  damit  wir  den 
Industriellen  eine  beruhigende  Erklärung  geben  können.“  Da- 
rauf ist  vom  königlichen  Regierungspräsidenten  nach- 
stehender Bescheid  vom  11.  Juli  ergangen:  „Dem  Verein  theile 
ich  auf  die  gefällige  Zuschrift  vom"  18.  v.  M.  ergebenst  mit,  dass 
der  Artikel  der  „Rheinischen  Zeitung“  vom  1.  v.  M.  d.  d.  Köln, 
den  31.  Mai,  beginnend  mit  den  Worten:  „Der  königliche  Ge- 
werbeinspektor "u.  s.  w.“  weder  auf  meine  Veranlassung  ver- 
öffentlicht ist,  noch  meinerseits  gebilligt  wird,  und  dass 
ich  dem  königlichen  Gewerbeinspektor  Jäger  das  Erforderliche 
eröffnet  habe.“  Dieser  Fall,  in  welchem  ein  Regierungspräsident 
einen  Gewerbeinspektor  desavouirt,  weil  derselbe  völlig  in- 
str uktionsgemäss  Fühlung  mit  den  Arbeitern  gesucht  hat, 
wird  hoffentlich  den  Gegenstand  einer  Interpellation  im  deut- 
schen Reichstage  bilden. 


Arbeiterversicherung. 

Verband  freier  Hilfskassen.  Die  am  19.  und  20.  April  d.  J. 
in  Hamburg  stattgefundene  Konferenz  der  freien  Hilfskassen, 
über  die  wir  auf  S.  218  f.  des  I.  Bandes  des  Sozialpolitischen 
Centralblattes  berichteten,  beschloss,  einen  Krankenkassenver- 
band ins  Leben  zu  rufen  und  zwar  zu  dem  Zweck,  den  Kassen- 
mitgliedern unter  möglichst  günstigen  Bedingungen  freie  ärzt- 
liche Hülfe  und  Medikamente,  sowie  Brillen,  Bruchbänder  und 
ähnliche  Heilmittel  zu  verschaffen,  gegenseitige  Aushilfe  bei 
der  Verwaltung  und  der  Krankenkontrole  sowie  Schlichtung 
von  Streitigkeiten  der  betheiligten  Kassen  etc.  zu  bewirken. 

Die  Konferenz  wählte  zur  Ausarbeitung  des  Statuts  eine 
Kommission,  welche  sich  dieser  Aufgabe  durch  Bekanntgabe 
eines  Statutenentwurfs  entledigte.  Nach  § 5 Abs.  3 des  Statuts 
hat  die  Wahl  des  Verbandsvorstandes  von  denjenigen  drei 
Kassen,  welche  zuerst  ihren  Beitritt  zum  Verband  durch  Ge- 
neralversammlungsbeschluss erklären,  stattzufinden. 

Die  Wahl  ist  nunmehr,  nachdem  sich  eine  Anzahl  von 
Kassen  zum  Beitritt  gemeldet  haben,  erfolgt. 

Schon  jetzt  dürften  dem  Verbände  weit  mehr  als  100  000 
Mitglieder  arigehören.  Demselben  dürften  sich  entsprechend 
den  Beschlüssen  der  Kongresse  der  Mehrzahl  der  freien  Hilfs- 
kassen anschliessen  und  auch  die  hierzu  noch  nicht  entschlosse- 
nen, werden  bei  Bewährung  der  Institution  derselben  beitreten, 
ohne  jede  Rücksicht  auf  eventuelle  politische  Gegensätze  unter 
den  Mitgliedern  verschiedener  Kassen,  wie  das  Beispiel  einer 
Reihe  von  Sanitätsverbänden  beweist. 


W otmungszustände. 

Bau  vou  Arbeiter  wohn  ungen  aus  Mitteln  (1er  In- 
validitäts-  und  Altersversorgung  in  Baden.  In  der  am 

24.  September  .stattgehabten  Sitzung  des  Ausschusses  der 
Versicherungsanstalt  Baden  (Invaliditäts-  und  Altersversor- 
gung) wurde  der  in  No.  38  des  Sozialpolitischen  Central- 
blatts  ausführlich  mitgetheilte  Antrag  des  Vorstandes  hin- 
sichtlich der  Bewilligung  von  Darlehen  zur  Herstellung  von 
Arbeiterwohnungen  mit  allen  gegen  eine  Stimme  unver- 
ändert angeno  m m e n . 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


12 


ANZEIGEN 


No.  1. 


timmen  vom  Rhein. 


Unter  diesem  Namen  g-iebt  der  , Rhein.  Bauernverein“  seit  1.  Nov.  189! 
eine  Zeitschrift  für  land-  und  forstwirtschaftliche , sowie  Christi. -soziale 
Angelegenheiten  des  Bauernstandes  und  Grundbesitzes  heraus,  welche  als 
Ergänzungshefte  des  in  einer  Auflage  von  35  000  Exemplaren  erscheinenden 
„Rhein.  Bauer,1  dienen,  aber  auch  für  sich  ein  abgeschlossenes  Ganzes  bilden. 
Die  „Stimmen  vom  Rhein1'  erscheinen  am  1.  8.,  15  und  22.  jeden  Monats 
in  Stärke  von  mindestens  16  Seiten  8°  und  sind  durch  die  Post  für  50  Pf.  das  Viertel- 
jahr zu  beziehen. 


Probenummern  gratis  und  franco. 

Expedition  der  „Stimmen  vom  Rhein"  und  des  „Rhein  Bauer  ‘ 

Klöckner  & Mausberg,  Kempen  (Rhein). 

Hermann  Walther. 

Walther  & Apolants  Verlagsbuchhandlung,  Berlin  W.,  Kleiststr.  16/17. 


Deutsche  Litteraturzeitung 

Begründet  von  Professor  Dr.  Max  Roediger. 

Herausgegeben 

von 

Dr.  Paul  Hinneberg. 

XIII.  Jahrgang.  Preis  vierteljährlich  7 Mark.  Erscheint  jeden  Sonnabend. 

Zu  beziehen  durch  alle  Buchhandlungen  und  Postanstalten. 


Die  Deutsche  Litteraturzeitung  erblickt  ihren  eigenthümlichen  Beruf  darin, 
vom  Standpunkt  der  deutschen  Wissenschaft  aus  eine  kritische  Uebersicht  über 
das  gesammte  litterarische  Leben  der  Gegenwart  zu  bieten.  Sie  sucht  im 
Unterschied  von  den  Fachzeitschriften  allen  denen  entgegenzukommen,  welchen  es 
Bedürfniss  ist,  nicht  nur  mit  den  Fortschritten  ihres  Faches,  sondern  auch  mit  der 
Entwickelung  der  übrigen  Wissenschaften  und  mit  den  hervorragenden  Leistungen 
der  schönen  Litteratur  vertraut  zu  bleiben. 

In  ihren  Mittheilungen  bringt  die  Deutsche  Litteraturzeitung  eine  Uebersicht 
über  den  Inhalt  in-  und  ausländischer  Zeitschriften,  wie  sie  in  dieser  Reich- 
haltigkeit sonst  nirgends  geboten  wird,  ferner  ständige  Berichte  über  die  Thätigkeit 
gelehrter  Gesellschaften,  Nachrichten  über  wissenschattliche  Entdeckungen  und  litte- 
rarische Lhrternehmungen,  Personalnotizen  und  Vorlesungsverzeichnisse. 

Durch  die  LTnterzeichnung  aller  Besprechungen  mit  dem  vollen  Namen  des 
Referenten  bietet  die  Deutsche  Litteraturzeitung  die  Gewähr  einer  gediegenen  j 
und  würdigen  Kritik. 


Emil  Strauss,  Verlagshandlung  in  Bonn. 


Mit  Januar  1892  begann  ein  neues  Abonnement  auf  den  XI.  Jahrgang  des 

Centralblattes 

für 

allgemeine  Gesundheitspflege. 

Herausgegeben  von 

Di*.  Finkelnburg,  Dr.  Lent,  Dr.  Wolffberg, 

Professor  a.  d.  Universität  Bonn.  Geh.  Sanitätsrath  in  Cöln.  Konigl.  Kreisphysikus  in  Tilsit. 

Jährlich  erscheinen  12  Hälfte  8"  mit  zahlreichen  Abbildungen  und  Tafeln. 

Abonnementspreis  M.  10.—  pro  anno. 

Das  Programm  des  „Centralblattes  für  allgemeine  Gesundheitspflege“  stellt  sich 
im  Wesentlichen  zusammen  aus:  Originalartikeln  über  alle  Zweige  der  Gesundheits- 
pflege, Berichten  aus  den  Krankenhäusern  der  grösseren  Städte,  Sterbliclikeits- 
statistik  mit  Berücksichtigung  der  Todesursachen,  Berichten  über  epidemische 
Vorgänge,  Seuchestatistik,  Uebersichten  der  hygienischen  Bestrebungen  des  In-  und 
Auslandes,  Medizinalgesetzgebnng,  Auszügen  und  Referaten  über  die  neu  erschienene 
Literatur  des  In-  und  Auslandes  etc.  etc. 

Ferner  enthalten  die  Hefte  zahlreiche  „Kleinere  Mittheilungen“  aus  dem 
Gebiete  der  Hygiene,  Literaturberichte,  regelmässige  monatliche  Nachweisungen 
über  Krankenaufnahme  und  Bestand  in  den  Krankenhäusern  von  54  Städten  der 
Provinzen  Westfalen,  Rheinland  und  Hessen-Nassau  etc.  etc. 

Abonnements  auf  den  XI.  Jahrgang  nehmen  alle  Buchhandlungen  und  Post- 
anstalten zum  Abonnementspreise  von  M.  10. — pro  anno  entgegen.  Die  bereits 
erschienenen  Jahrgänge  können  zum  Preise  von  M 10.—  pro  Jahrgang  nachbezogen 
werden. 


Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil : O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck 


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Dladjfolfter  in  Stuttgart. 

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Nürnberg 

etjcljien 

Bernhard  Becker, 

Untfjiillungeu  über  baS  tragifd)e  gebeuöetibe 
Ferdinand  Lassalle’s  mtb  feine  SSejieljttngeu 
31t  Helene  von  Dünniges. 

1693og.  i^reis  eleg.  geh.  9K.2.hrofd)irtÜ)M.aO. 

©a§  Söttd)  enthält  anfljentifdie  Ütiiffliirungeit 
über  bie  ©ragiibie,  bie  ft  di  1864  aut  ©eitferfee  ab= 
gefpielt  [jat,  mtb  über  bic  (Jreigttiffe,  bie  bent  Sobc 
ÖaffnHe’3  Oorau^gegaitgett  finb,  über  bas  SSerljältnife 
8affaHe’§  jur  ©rafiit  '.sjattfelt,  311  & eie  ne  Don 
8jönitige§,  fotuie  nud)  31t  SBismarcf  mtb  nnbcreit 
bertiorrcigenbett  Jtolitifern. 

©ns  Sud)  ift  bon  triebt  31t  unterfdfäläenbem 
arebtbalifrijen  uub  f)  i ft  0 r t f d)  e n SB  erd)  unb 
äußer  ft  lefenStoerd). 

3«  ber§a^tt’fdjenfBMd)l)oniilungut.§(mnoher 

erfdjien  foebett: 

Dr.  ©.  Nienburg 

f oslars  glergta  bis  1552. 

@in  ^Beitrag  pr  26irtl)jdjajt§=  unb  3Ser= 
faffungägefdjidjte  be§  9JtitteIaIter§. 

8°.  brudp  prete  6 Xöark. 


3-  ©uttentag,  fBerlagtSbudiljanbliing  in  SBerltn. 


turnt  15.  Hunt  1888, 

in  herzet ffung  ber9iooetle  hont  lO.Slprtl  18112 


unb  bie  bajjelbe  ergäit^enbeit 
r e i cl)  § r e d)  1 1 i cf)  e n 33  e ft  t m nt  ui  t g c it . 

'Diit  Einleitung  unb  Erläuterungen 

non 

(ß.  tunt  UDDßbtkß, 

Jtnifcvl.  (Sei).  Obcr=SRcgicruitg3ratl),  Dortrag.  Statt)  tut  Dteidjä- 
amt  be*j  Snneru. 

Vierte  gäit.j tid)  umgearbeitete  Ütnftngc. 
gr.  8°.  Lieferung  I. 

Preis  6 Mark  50  pf. 

©ie  Ülbmibme  ber  elften  Slbtljeiliing  berpflidjtct  311t 
Ülbiiabnte  bed  gaii3ett  3Serfe§. 

‘We.tcfiHtitrt  t Sie  jloeite  Sieferimg  luivb 
V)1D  eOCuC^niUg  ♦ ben  !Reit  bcS  Söudjb  ciitfct)!. 
aiovmort,  SnbaltSangabe  mtb  Sacljregtftet  tnnfaffen  mib  »or 
ausfiebttid)  im  Saufe  bes  (jjerbfteä  biefcö  Sabres  cridjeinett. 

i H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  10.  Oktober  1892. 


Nummer  2. 


SOZIALPOLITISCHES 


C E 


N T RA  L B L 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


ATT. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nninmer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung: 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 
Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


Zur  M e t h o d e der  Arbeitslose n- 
statistik.  Von  Dr.  Adolf 
Brau  n. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  11. 
Wirthschaftsstatistik: 

Vergebung  öffentlicher  Arbeiten 
an  Arbeitergenossenschaften. 

Zunahme  der  städtischen  Bevöl- 
kerung in  Frankreich. 
Arbeiterzustände : 

Mittheilungen  über  eine  amerika- 
nische Schuhmacherstadt.  Von 
John  Graham  Brooks  vom 
Departement  of  Labor  der 
Vereinigten  Staaten. 

Deutsche  Reichskommission  für 
Arbeitsstatistik. 

Kinderarbeit  und  Schulbehörden. 

Analphabeten  in  Preussen. 

Lohnreduktion  in  den  staatlichen 
Eisenbahn  Werkstätten  Preussens. 

Erhöhung  der  ortsüblichen  Tage- 
lohne und  Arbeiterversicherung 
im  Deutschen  Reiche. 

Die  Arbeitslosigkeit  in  der  Ham- 
burger Tabakindustrie. 

Erhebungen  über  die  Arbeitslosig- 
keit in  Hamburg. 

Obdachlosigkeit  in  Berlin. 

Löhne  der  rheinischen  Hafen- 
arbeiter. 

Truckunfug  auf  den  Wiener  Bau- 
plätzen. 

Die  englischen  Arbeiter  und  die 
Verkürzung  der  Arbeitszeit. 

F andwerkerfra  gen : 

Fakultative  oder  Zwangsinnung  r 


Einschränkung  der  Arbeitszeit  für 
Handwerkslehrlinge. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Amerikanische  Arbeiterkämpfe.  Von 
C.  Sehne  pp  e. 

Arbeiter  als  Gegner  der  Arbeits- 
zeitregulirung. 

Politische  Arbeiterbewegung 

Die  Marseiller  Arbeiterkongresse. 

Präsidentenwahl  in  den  Vereinig- 
ten Staaten. 

Arbeiterschutzgesetzgebung: 

Die  Sonntagsruhe  im  preussischen 
Eisenbahnverkehr. 

Gewerbegerichte , Einigungs- 
ämter u.  Arbeiterausscüiisse: 

Beschleunigung  des  gewerbege- 
richtlichen Verfahrens. 

Gewerbegerichte  als  Einigungsamt. 

Die  Zuständigkeit  der  Gewerbe- 
gerichte. 

Auskunftsbureau  für  gewerbliche 
Streitigkeiten  in  Leipzig. 

Wohnungszustände  und  Wob 
nungsgesetzgebung: 

Bau  von  Arbeiterweh  nun  gen  aus 
Mitteln  der  Invaliditäts  - und 
Altersversicherung  in  Hessen. 

Soziale  Hygiene: 

Gesundheitswidriges  aus  Dresde- 
ner Bäckereien 

Kriminalität: 

Straf hausarbeit  in  Bayern. 

Vermischtes: 

Ein  Verein  Berliner  Arbeiter  und 
und  Arbeiterinnen  zur  ersten 
Hilfe  bei  Unglücksfällen. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet 
jedocli  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Zur  Methode  der  Arbeitslosenstatistik. 


Wohl  das  schwierigste  Problem  der  Sozialstatistik  ist 
die  auch  nur  annähernde  Nachweisung  der  Arbeitslosigkeit. 
Gleichzeitig  giebt  es  in  der  Sozialstatistik  kein  Ge- 
biet, das  interessanter  und  der  Bearbeitung  bedürftiger 
wäre.  Wohl  tritt  das  Problem  hinter  anderen  zurück  zu 
Zeiten  wirthschaftlicher  Prosperität  mit  ihrer  Ueberzeit- 
arbeit  und  steigenden  Nachfrage  nach  Arbeitskräften,  aber 
zu  Zeiten  ökonomischer  Krisen  und  grosser  Nothstände, 
wie  gegenwärtig  in  Hamburg,  wird  es  Jedermann  klar,  dass 
eine  Kenntniss  der  Stärke  und  Verbreitung  der  Arbeits- 
losigkeit aus  den  mannigfachsten  Gründen  wünschenwerth 
ist  und  zwar  nicht  nur  die  Ermittelung  der  zu  einer  be- 


stimmten Zeit  Arbeitslosen,  sondern  auch  die  Dauer  der 
Arbeitslosigkeit,  des  Alters,  Civilstandes  und  der  Zahl  der 
Kinder  des  Arbeitslosen,  beziehentlich  die  Zahl  der  von 
ihm  zu  unterstützenden  Personen.  Klar  ist , dass  eine 
Armenstatistik  eine  Arbeitslosenstatistik  nicht  ersetzen 
kann,  denn  der  Begriff  des  öffentlich  Unterstützten  und  des 
Arbeitslosen  decken  sich  keineswegs.  Die  Armenunter- 
stützung ward  zum  weitaus  grössten  Theile  Erwerbs- 
unfähigen zu  Theil,  während  eine  Arbeitslosenstatistik  im 
Gegentheile  die  Zahl  und  Verhältnisse  der  arbeitslosen 
Erwerbsfähigen  ermitteln  soll.  Nur  46  742  Personen  oder 
knapp  3 pCt.  der  im  Deutschen  Reiche  im  Jahre  1885  aus 
öffentlichen  Mitteln  Unterstüzten,  wurden  wegen  Arbeits- 
losigkeit oder  „Arbeitsscheu“  unterstüzt.  Diese  Zahlen 
allein  beweisen  schon,  dass  die  Armenstatistik  uns  nicht 
einmal  Anhaltspunkte  für  die  Ausdehnung  der  Arbeits- 
losigkeit gewähren  kann. 

Dass  der  Staat,  sei  es  das  Reich  oder  die  Einzel- 
staaten, systematische  Erhebungen  der  Arbeitslosigkeit  vor- 
nehmen werden,  ist  für  absehbare  Zeit  kaum  zu  hoffen. 
Würden  derartige  Erhebungen  von  staatlicher  Seite  ge- 
pflogen werden,  so  müssten  sie  mit  aller  möglichen  Vor- 
sicht in  Angriff  genommen  werden,  denn  es  wird  nicht 
leicht  sein , die  Befürchtung  bei  den  Arbeitslosen  zu 
zerstreuen  , dass  eine  staatliche  Erhebung  über  die 
Arbeitslosigkeit  den  Zweck  verfolge , sich  von  den 
nicht  an  ihrem  Unterstützungswohnsitz  Ansässigen  zu 
befreien.  Diese  Befürchtung  wird  nur  dann  verscheucht 
werden,  wenn  von  vollständig  unabhängiger,  den  Arbeitern 
Vertrauen  einflössender  Seite  eine  derartige  Erhebung  vor- 
genommen  wird. 

Man  wird  hiergegen  wohl  einwenden,  dass  man  die 
Erhebungen  über  die  Arbeitslosigkeit  nicht  durch  Be- 
fragung  der  Arbeiter,  sondern  etwa  durch  Befragung  sämmt- 
licher Hauswirthe  oder  wie  bei  den  Erhebungen  des  Ber- 
liner Polizeipräsidiums  im  verflossenen  Winter  durch  Be- 
fragung der  Polizeiorgane,  des  Magistrats,  des  Innungs- 
aussc.husses,  der  Armen-,  Waisen-,  Schul-,  Steuer-,  Spar- 
kassen-, Arbeitslosen-,  Asyl-  u.  a.  Verwaltungen  vor- 
nehmen könnte. 

Auf  diesen  Wegen  wird  man  aber  niemals  auch  nur 
zu  annähernd  richtigen  Resultaten  gelangen.  Die  Befra- 
gung der  Hauswirthe  kann  deshalb  zu  keinen  den  That- 
sachen  entsprechenden  Resultaten  führen,  weil  diese  in 
grossen  Städten  über  die  Verhältnisse  ihrer  Miether  zu 
wenig  wissen  und  weil  ferner  die  Arbeitslosen  aus  leicht 
begreiflichen  Gründen  den  Vermiethern  gegenüber  mög- 
lichst verheimlichen  werden,  dass  sie  seit  längerer  Zeit 
arbeitslos  sind. 


14 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  2. 


Die  Art  der  seitens  des  Berliner  Polizeipräsidiums  im 
Winter  1891  versuchten  Erforschung  der  Arbeitslosigkeit 
erscheint  uns  auch  durchaus  verfehlt.  Sicherlich  wird  die 
Armen-  und  Waisenverwaltung,  werden  die  Stätten  für 
unentgeltliches  Obdach,  die  Kranken-  und  Siechenhäuser 
zu  Zeiten  grosser  Arbeitslosigkeit  in  höherem  Grade  in 
Anspruch  genommen  werden,  als  bei  ökonomischer  Pro- 
sperität, die  Eingänge  bei  den  Steuerämtern  und  Spar- 
kassen werden  abnehmen,  wenn  die  Arbeitslosigkeit  zu- 
nimmt. Aber  alle  diese  Erscheinungen  können  uns  nur 
eine  grosse  Ausdehnung  der  Arbeitslosigkeit  wahrschein- 
lich machen , niemals  aber  einen  auch  nur  ungefähren 
Begriff  von  der  thatsächlichen  Ausdehnung  der  Arbeits- 
losigkeit verschaffen.  Wenn  das  Berliner  Polizeipräsidium 
als  die  höchste  im  Winter  1891  erreichte  Ziffer  der  Arbeits- 
losen 20  000  angab,  so  könnte  die  Richtigkeit  dieser  Zahl 
ebensowenig  bewiesen  werden , als  die  Schätzung  von 
60  000  Arbeitslosen  in  Berliner  Versammlungen  während 
des  letzten  Winters. 

Die  Gewerkschaften  der  Arbeiter  haben  mannigfache 
Versuche  gemacht,  die  Arbeitslosigkeit  in  ihren  Gewerben 
zu  erforschen.  Diese  Versuche  waren  aber  begreiflicher- 
weise nur  von  wenig  Glück  begleitet.  Von  allgemeinem 
Interesse  kann  eine  Statistik  blos  der  organisirten  Arbeits- 
losen nicht  sein,  schon  deshalb  weil  die  Organisationen 
nur  einen  kleinen  Bruchtheil  der  in  den  betreffenden  Be- 
rufen Thätigen  umfassen;  in  der  Regel  wird  es  den  Ge- 
werkschaften schon  schwer,  eine  allgemeine  Betheiligung  1 
an  einer  Statistik  durch  die  Mehrzahl  der  Mitglieder  der 
Organisation  zu  erreichen,  um  wie  viel  geringer  ist  die 
Aussicht,  dass  die  Gewerkschaften  sich  über  das  Bestehen 
oder  Aufhören  des  Arbeitsverhältnisses  der  nicht  organi- 
sirten Arbeiter  ihres  Gewerbes  informiren. 

Von  Seite  der  Arbeiter  wurde  der  Versuch  gemacht, 
durch  Demonstrationen,  wie  Aufzüge  und  Versammlungen 
an  Werktagen  zur  Zeit  der  üblichen  Arbeitsstunden  die 
Zahl  der  Arbeitslosen  zu  konstatiren.  Auch  auf  diese 
Weise  kann  kein  annähernd  genaues  Bild  von  dem  Um- 
fange der  Arbeitslosigkeit  beschafft  werden.  Naturgemäss 
werden,  wenn  auch  gegen  den  Willen  der  Arrangeure, 
derartige  Demonstrationen  mit  politischen  Richtungen  in 
Verbindung  gebracht  werden.  Es  werden  sich  dement- 
sprechend nur  Anhänger  der  betreffenden  Parteirichtung 
betheiligen,  auch  diese  aber  keineswegs  vollzählig  oder 
nur  ihrer  Majorität  nach.  Dies  dürfte  gleichfalls  nicht  der 
Weg  sein,  um  zu  einer  Uebersicht  über  die  Zahl  der  Ar- 
beitslosen zu  gelangen. 

Ein  Vorschlag  sei  noch  erwähnt , der  dem  Verfasser 
gegenüber  von  einem  Arbeiter  gemacht  wurde,  welcher 
der  hier  erörterten  Frage  Interesse  und  Verständniss  ent- 
o-ep-enbrinpft.  Derselbe  dachte  sich  die  Erhebung  über  die 
Arbeitslosigkeit  von  Seite  der  vereinigten  Arbeiterorgani- 
sationen einer  Stadt  folgendermassen:  Es  werden  für  die 

Woche,  in  welcher  die  Aufnahme  gemacht  wird,  möglichst 
viele  über  die  Stadt  gleichmässig  vertheilte  Bureaus  er- 
richtet, in  denen  die  Arbeitslosen,  welche  durch  gratis  zu 
vertheilende  Flugblätter  auf  die  Wichtigkeit  der  Erhebung 
und  auf  die  Sitze  der  Bureaus  aufmerksam  gemacht  wor- 
den, erscheinen  und  ihre  Angaben  über  ihre  Arbeitslosig- 
keit deponiren  sollen.  Auch  bei  diesem  Vorschläge  schei- 
nen die  Gründe  gegen  seine  Befürwortung  die  für  die- 
selben zu  übertreffen.  Der  Vorschlag  leidet  u.  a.  an  dem 
grossen  Mangel,  den  Arbeitslosen  zu  viel  zuzumuthen  und 
den  Bearbeitern  der  Statistik  fast  jede  Möglichkeit  zu  ent- 
ziehen, die  Vollständigkeit  und  Richtigkeit  der  Angaben 
zu  beurtheilen. 

Mir  scheint  ein  ganz  anderer  Weg  zum  Ziele  zu 
führen.  Die  Arbeitslosen  müssen  direkt  aufgesucht  und 


von  freiwilligen,  gut  geschulten  Zählern  genau  befragt 
werden.  Nicht  einzelne  Gewerkschaften,  sondern  die  Ge- 
werkschaften in  ihrer  Gesammtheit,  soweit  dies  vereins- 
gesetzlich möglich  ist,  oder  die  politische  Organisation  der 
Arbeiter  einer  Stadt  hätte  die  Sache  in  die  Hand  zu  nehmen, 
durch  Versammlungen  und  allgemeine  Verbreitung  von 
Flugblättern  das  Interesse  der  Arbeiterschaft  für  die  Er- 
hebung zu  erwecken,  freiwillige  Zähler  zu  sammeln  und 
genau  zu  instruiren.  Die  von  Arbeitern  bewohnten  Stadt- 
theile  sind  in  möglichst  kleine  — 1 —3  Häuser  umfassende 
— Bezirke  zu  theilen,  welche  je  einem  Zähler  zu  unter- 
stellen sind.  An  einem  Wochentage  hat  der  Letztere  alle 
Bewohner  des  Hauses  persönlich  zu  befragen  und  die  nicht 
angetroffenen  Sonntags  oder  in’  einer  frühen  Morgen-  oder 
späten  Abendstunde  des  nächsten  Werktages  nochmals  auf- 
zusuchen und  nun,  wenn  möglich,  zu  befragen  und  zwar 
nach  folgendem  Fragenchema: 

Wohnung? 

Vor-  und  Zunahme? 

Alter? 

Ledig  oder  verheirathet? 

Gelernter  Beruf? 

Art  der  letzten  Beschäftigung? 

Seit  wann  arbeitslos? 

Ist  die  Fortdauer  der  Arbeitslosigkeit  durch  Krankheit  ver- 
ursacht? 

Trägt  die  Frau  im  Allgemeinen  durch  ihren  Erwerb  zum 
Unterhalt  der  Familie  bei? 

Hat  sie  auch  jetzt  hierzu  Gelegenheit? 


Name  der 
Kinder ') 

Alter 

Art  der 

Beschäftigung2) 

Jetzt  in 
Thätigkeit 

Andere  zu  unterstützende  Personen? 


Durch  die  vorgeschlagene  Art  der  Aufnahme  scheint 
mir  ein  verhält nissmässig  sehr  grosser  Bruchtheil  der 
Arbeitslosen  erfasst  zu  werden.  Bei  richtiger  Ausfüllung 
der  Fragebogen  wird  man  annähernd  über  den  Umfang  der 
Arbeitslosigkeit,  ihre  Dauer  bis  zu  einem  bestimmten  Zeit- 
punkte, ihre  Vertheilung  nach  dem  Alter  der  Arbeiter, 
nach  ihren  Berufen  und  nach  Stadtbezirken  unterrichtet 
werden,  man  wird  erfahren  können,  wie  viele  andere  Per- 
sonen (Frauen,  Kinder,  in  Versorgung  befindliche  Eltern  etc.) 
durch  die  Arbeitslosigkeit  des  Familienoberhauptes  in  Mit- 
leidenschaft gezogen  werden,  wie  häufig  die  Frau  oder  gar 
die  Kinder  Ernährer  der  Familie  werden.  Ausserdem 
dürften  sich  bei  einer  Erhebung  nach  diesem  Muster  eine 
Reihe  von  Aufschlüssen  über  nichtindustrielle,  der  Ge- 
werbeordnung nicht  unterstellte  Arbeiter  mannigfacher 
Art  (Zeitungs-,  Gebäckausträger,  Botengeher  und  dergl.), 
sehr  jugendliche  Kinder  ergeben. 

Wir  wissen  wohl,  dass  noch  nach  manchem  anderen 
gefragt  werden  könnte,  aber  wir  glauben,  dass  die  Be- 
schränkung auf  wenige  Fragen,  die  möglichst  geringe  Be- 


meidung  des  Eindringens  in  die  Verhältnisse  der  Befragten 
am  meisten  geeignet  ist,  zuverlässige  und  reichhaltige  Ant- 
worten zu  garantiren. 

Das  System  der  Fragekarte  an  Stelle  des  Zählungs- 
i bogens  scheint  mir  schon  aus  dem  Grunde  emptehlenswerth, 
um  die  Bearbeitung  für  jedes  einzelne  Gewerbe  zu  ermög- 
lichen. Die  konsequente  Durchführung  dieses  Prinzipes  — 
besondere  Fragekarten  für  die  Frau  und  jedes  Kind  — 

b Es  sind  sämmtliche  Kinder  anzuführen. 

2)  Bei  denen  ohne  Beschäftigung  ist  ein  Strich  zu  machen. 


Buchhandlu. 


^»bänddeck 

P°titischei 


^schritt 


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1 Callico-Einbaiiddecke  zum  ersten  Band  des 

„Sozialpolitischen  Centralblatts“. 

Preis  1 Mark. 

Ort  und  Datum:  Unterschrift  (gefl  recht  deutlich): 


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Unterzeichneter  bestellt  bei  der  Buchhandlung  von 


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No.  2. 


s< )ZiAi,roi,msc:HKs  < tntkalblatt. 


15 


möchten  wir  liier  vermieden  wissen,  um  die  Arbeit  der 
freiwilligen  Zähler  zu  erleichtern  und  um  die  Verarbeitung 
der  Hauptdaten  in  kürzester  Zeit  möglich  zu  machen. 
Wir  glauben  endlich,  dass  die  Individualkarte  leichter  von 
den  Zählern  verstanden  und  bequemer  ausgefüllt  werden 
dürfte;  sind  dieselben  in  Blocks  zusammengefügt,  so  wird 
sich,  was  besonders  hier  nicht  unwesentlich  ist,  auch  leicht 
darauf  schreiben  lassen.  Die  Fragebogen  jedes  einzelnen 
Hauses  sollen  in  einen  schon  zuvor  mit  der  Adresse, 
Strassen  und  Nummernbezeichnung  desselben  versehenen 
Briefumschlag  verschlossen  und  in  dieser  Weise  den  Be- 
arbeitern überliefert  werden. 

Möglichst  soll  dafür  gesorgt  werden,  dass  die  Frage- 
bogen an  einem  Tage  ausgefüllt  werden,  doch  wäre 
auch  nicht  viel  dagegen  einzuwenden,  wenn  man  von 
Montag  bis  zum  Sonnabend  derselben  Woche  hierzu  Zeit 
liesse. 

Der  nächste  Winter  wird,  wenn  nicht  alle  Anzeichen 
trügen,  eine  Zeit  sehr  verbreiteter  und  lang  andauernder 
Arbeitslosigkeit  werden,  und  wir  dürften  dem  Höhepunkt  der 
Krise  uns  bald  nähern.  Sicherlich  wird  das  Interesse  ein 
grosses  und  sehr  berechtigtes  sein,  über  den  Umfang  der 
Arbeitslosigkeit  annähernd  genaue  Daten  zu  erhalten.  Be- 
sonders von  den  Arbeitern  wird  dies  Bedürfniss  sehr  leb- 
haft empfunden  werden.  Sie  werden  es  vermuthlich  an  vielen 
Orten  und  in  vielen  Gewerben  an  Versuchen,  den  Umfang 
der  Arbeitslosigkeit  zu  ermitteln,  nicht  fehlen  lassen.  Aber 
nicht  nur  für  die  Arbeiter  ist  die  Aufstellung  dieser  Ver- 
hältnisse von  grösstem  Interesse,  giebt  es  doch  niemanden, 
der  durch  die  steigende  Arbeitslosigkeit  der  arbeitenden 
Klasse  nicht  direkt  oder  indirekt  berührt  wird. 

Um  aber  Kraftverschwendung,  verfehlte  zu  keinem 
Resultate  führende  Versuche  zu  verhindern,  dürfte  es  sich 
empfehlen,  die  beste  Form  der  Erhebung  schon  jetzt  zur 
Diskussion  zu  stellen.  Die  hier  gemachten  Vorschläge 
sollen  nur  zur  Anregung  dienen , dass  in  den  Spalten 
dieser  Zeitschrift  die  wichtige  Frage  auch  von  anderer 
Seite  erörtert  werde.  Im  Laufe  der  Debatte  wird  sich 
dann  Gelegenheit  finden,  andere  vorerst  noch  zurückge- 
stellte Fragen,  wie  z.  B.  die  über  den  Zeitpunkt  der  Auf- 
nahme zu  besprechen. 

Berlin.  Adolf  Braun. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 
statistik. 

Vergebung  öffentlicher  Arbeiten  an  Arbeitergenossen- 
schaften. Kürzlich  hat  sich  der  Minister  für  öffentliche  Bauten 
im  Repräsentantenhaus  von  Neuseeland  über  die  Vergebung 
von  Arbeiten  an  solche  Genossenschaften  geäussert.  Da  die 
Rede  in  England  vielfachem  Missverständniss  ausgesetzt  war, 
hat  der  Generalagent  von  Neuseeland  dem  Reuterschen  Bureau 
die  folgenden  Mittheilungen  zukommen  lassen:  „Das  neue  System 
besteht  darin,  bei  Wege-  und  Eisenbahnbauten  die  Kontrakte 
Produktivgenossenschaften  zu  übergeben.  Dabei  erhält  eine 
Anzahl  von  Arbeitern,  gewöhnlich  sechs,  einen  bestimmten  Theil 
oder  eine  gewisse  Bahnstrecke  zum  Bau  zugewiesen.  Einer  der 
Sechs  ist  „ganger“  oder  Vertrauensmann  der  Uebrigen  und  ver- 
kehrt mit  der  Regierung.  Die  Regierungsbaumeister  setzen  den 
Preis  für  die  Arbeit  fest,  und  da  dies  sehr  unparteiisch  ge- 
schieht, so  nehmen  die  Arbeiter  den  Kostenanschlag  fast  stets 
an.  Bisher  ist  das  Ergebniss  meistens  befriedigend  gewesen. 
Alle  14  Tage  wird  eine  Abzahlung  geleistet,  damit  die  Familien 
der  Arbeiter  Brot  haben.  Die  Gesammtzahlung  erfolgt,  sobald 
der  Regierungsbaumeister  die  Arbeit  abgenommen  hat.  Die 
Regierung  von  Neuseeland  beabsichtigt,  kleine  landwirthschaft- 
liche  Stellen,  welche  von  zehn  bis  zwanzig  Arbeitern  bewirth- 
schaftet  werden  können,  zu  gründen,  damit  die  Arbeiter  in  das 
flache  Land  ziehen  und  ein  Gegengewicht  gegen  die  Centrali- 
sationskrait  der  Städte  geschaffen  wird.“ 


Zunahme  der  städtischen  Bevölkerung  in  Frank- 
reich. In  Frankreich,  dem  Lande  mit  ausserordentlich 
schwacher  Bevölkerungszunahme,  ziehen  die  Städte  mehr 
ländliche  Bevölkerungstheile  an,  als  der  Ueberschuss  der 
Geburten  über  die  Todesfälle  diesen  zufuhrt.  41  Departe- 
ments waren  im  Jahre  1886  weniger  dicht  bevölkert  als  im 
Jahre  1846  und  in  der  Zeit  zwischen  den  beiden  letzten 
Volkszählungen  1886  und  1891  haben  55  Departements  Be- 
völkerungsverluste  zu  verzeichnen,  während  nur  in  32  eine 
Bevölkerungszunahme  konstatirt  werden  konnte.  Die  Ent- 
wickelung der  Grossindustrie  und  des  modernen  Verkehrs- 
wesens verursacht,  wie  Levasseur  in  der  Academie  des 
Sciences  morales  et  politiques  ausführte,  diese  ungleiche 
Entwickelung  der  Bevölkerung  in  den  verschiedenen 
Landestheilen. 


Arbeiterzustände. 


Mittheilungen  über  eine  amerikanische 
Schuhmacherstadt. 

Brockton  in  Massachusetts  ist  eine  Stadt  von  ungefähr 
30000  Einwohnern,  die  so  interessante  Verhältnisse  aufweist, 
dass  wir  eine  kurze  Schilderung  derselben  bieten  wollen. 
Die  herrschende  Industrie  ist  dort  das  Schuhgewerbe,  wel- 
ches zum  grossen  Theile  die  vorzüglichsten , kunstvoll 
gearbeitete  Erzeugnisse  liefert.  Etwa  zwei  Drittel  der 
Arbeiter,  der  männlichen  und  weiblichen,  sind  geborene 
Amerikaner.  Auch  die  Iren  sind  stark  vertreten.  Eine 
grosse  und  wachsende  Kolonie  ist  fast  ganz  mit  Schweden 
bevölkert,  die  ausserordentlich  fleissig  sind. 

Nahezu  durchgängig  wird  nach  Stück  gearbeitet. 
Die  Arbeitszeit  beträgt  im  Durchschnitt  ziemlich  9l/2  Stun- 
den, obwohl  Viele,  die  an  Maschinen  thätig  sind,  kürzere 
Zeiten  einhalten.  Ein  grosser  Theil  der  schweren  Arbeit 
wird  durch  feine  und  sehr  theure  Maschinen  verrichtet. 
Innerhalb  30  Jahren  haben  sich  die  Löhne  verdoppelt,  und 
die  Lebenshaltung  hat  unstreitig  mit  dieser  Lohnsteigerung 
Schritt  gehalten.  Der  Löhn  der  männlichen  Arbeiter  be- 
trägt bis  zu  3,75  Dollar  15  Mark)  pro  Tag  bei  den  Ge- 
schicktesten; der  geringere  Arbeiter  mag  es  nicht  höher 
als  auf  1,25  Dollar  (5  M.)  täglich  bringen.  Der  Durchs  chnitts- 
satz  für  Männer  betrug,  soweit  ich  berechnen  konnte, 
1,62 Vs  Dollar  (6,50  M.)  täglich.  Viele  der  besten  Werkstätten 
arbeiten  das  ganze  Jahr  hindurch;  im  Durchschnitt  umfasst 
die  jährliche  Arbeitszeit  eine  Dauer  von  zehn  Monaten. 

Die  Frauen  verrichten  zumeist  die  leichteren  Arbeiten, 
wenn  auch  eine  grosse  Anzahl  den  „Näher“  handhabt,  der 
ebenso  anstrengt,  wie  im  grossen  Ganzen  die  Männerarbeit. 
Mit  diesen  Maschinen  verdienen  einige  der  geschicktesten 
Frauen  3,00  Dollar  (12  M.)  täglich.  Viele  verdienen  2,00  Dollar 
pro  Tag.  Es  war  ungemein  schwierig,  einen  Durchschnitts- 
satz der  weiblichen  Löhne  ausfindig  zu  machen;  indessen 
glaube  ich,  dass  er,  die  Lehrlinge  ausgenommen,  immerhin 
mehr  als  4 M.  täglich  beträgt. 

Von  23  Konsumtionsartikeln  erhält  man  heute  für  einen 
Dollar  25 — 30%  mehr  als  vor  30  Jahren.  Wohnungsmiethe 
wie  Fleisch  und  einige  Gewürze  sind  theurer,  indessen 
muss  man  beachten,  dass  die  Wohnungen  und  Häuser 

')  Mädchen,  die  als  Dienstboten  arbeiten,  verdienen  mit 
Leichtigkeit  48  M.  monatlich,  und  oft  56  M.  Es  besteht  fort- 
während Nachfrage  nach  solchen  Verrichtungen,  dagegen  ist  nie 
ein  entsprechendes  Angebot  dessen  vorhanden,  was  man  ge- 
wandte Dienstleistungen  nennen  könnte.  Die  Dienstboten  haben 
in  der  Regel  eine  Kost,  die  ebenso  gut  und  ebenso  reichlich 
ist,  wie  jene  irgend  eines  Familiengliedes.  Sie  können  jeden 
Sonntag  einen  halben  Tag  für  sich  beanspruchen,  und  ausser- 
dem drei  freie  Abende  in  der  Woche.  Nirgends  tritt  der  Unter- 
schied zwischen  Europa  und  Amerika  in  der  Arbeiterfrage 
stärker  hervor,  als  bei  den  Dienstboten.  Ein  Mädchen,  das  auf 
sich  hält  und  tüchtig  ist,  kann  in  Boston  mit  Leichtigkeit  fort- 
während Stellung  zu  16  M wöchentlich  erhalten.  Sie  kann  sich 
gut  kleiden  und  jedes  Jahr  4 — 500  Mark  zur  Sparkasse  bringen. 


16 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRA1  .BLATT. 


No.  2. 


jetzt  weit  besser  sind  als  früher  und  dass  die  Arbeiter  das 
beste  Fleisch  reichlich  gemessen.  Wohnungen  mit  4 — 5 
oder  6 Zimmern  werden  mit  8 — 14  Dollar  pro  Monat  be- 
zahlt. Viele  dieser  Räume  sind  fast  elegant  ausgestattet. 
Ein  Piano  oder  ein  Badezimmer  gehören  durchaus  nicht 
mehr  zu  den  Seltenheiten. 

Zwei  blühende  Baugenossenschaften  haben  zahlreichen 
Arbeitern  zu  eigenem  Boden  und  zu  einem  eigenen  Hause 
verholfen.  Bei  der  umfassenden  Verpfändung  des  Grund- 
eigenthums ist  es  zwar  unmöglich,  anzugeben,  wie  Vielen 
ihre  Häuser  zu  eigen  gehören,  doch  befinden  sich  un- 
streitig Hunderte  von  Arbeitern  in  völlig  sicherem  Besitz 
ihres  Hauses  und  ihres  Grundstückes.  Abgesehen  von 
allzu  grossen  Familien  mit  unerwachsenen  Kindern  oder 
von  den  Missständen  langer  Krankheit,  kann  meines  Er- 
achtens ein  Arbeiter  von  durchschnittlicher  Geschicklich- 
keit bei  gewöhnlicher  Umsicht  und  Klugheit  ein  hübsches 
Haus  mit  Grundstück  in  fünfzehn  Jahren  erwerben  und  be- 
zahlen, und  das  ohne  sich  und  seiner  Familie  viele  berech- 
tigte Annehmlichkeiten  zu  versagen.  Eine  grosse  öffent- 
liche Bibliothek  mit  1 5 000  gut  gewählten  Bänden  steht 
Jedem  zur  Benutzung  offen,  und  dürfen  die  Bücher  kosten- 
los mit  nach  Hause  genommen  werden.  Ferner  ist  Allen 
ein  grosses  Lesezimmer  mit  Zeitungen  aus  sämmtlichen 
Theilen  des  Landes,  Konversationslexiken,  Nachschlage- 
büchern  und  einer  umfassenden  Auswahl  der  besten  ame- 
rikanischen und  ausländischen  Journale  zugänglich  und 
fortwährend  stark  besucht.  Ein  geräumiges  und  prächtiges 
Theater  verdankt  seine  Existenz  hauptsächlich  den  Ar- 
beitern und  ihren  Familien.  Eine  ganze  Anzahl  Vereine 
beschafft  mehreren  Tausenden  von  Mitgliedern  die 
verschiedenen  Formen  der  Versicherung  sowohl  als 
auch  Vereinsräumlichkeiten  und  gesellschaftliche  Vergnü- 
gungen. 

Ueber  600  Frauen  haben  für  sich  einen  „Arbeiterinnen- 
Bildungsverein“.  Sie  unterhalten  einen  grossen  Saal  mit 
Nebenräumen  für  die  Bibliothek  und  als  Lesezimmer,  und 
benutzen  dies  alles  fortwährend.  Es  werden  Vorträge  ge- 
halten und  regelmässige  Unterrichtsstunden  ertheilt  inTurnen, 
Musik,  Literatur  u.  s.  w.  Von  Interesse  ist  es,  dass  der  Ver- 
kauf von  geistigen  Getränken  und  Wein  für  vier  Jahre  und 
für  die  ganze  Stadt  untersagt  wurde.  Die  Mehrzahl  der 
Arbeiter  war  für  dies  völlige  Verbot.  Allerdings  werden 
diese  Getränke  heimlich  von  Boston  und  anderen  Städten  ein- 
geführt; indessen  glaubt  man,  dass  das  Verbot  immerhin 
besser  sei,  als  der  freie  Verkauf.  Es  werden  lebhafte  An- 
strengungen gemacht,  dem  Gothenburger  System  Eingang 
zu  verschaffen,  durch  welches  jeder  Vortheil  für  Privat- 
personen aus  dem  Verkauf  von  geistigen  Getränken  aus- 
geschlossen wird. 

Man  wird  nun  fragen:  „Hat  dieses  schöne  Bild 

keine  Schattenseite?  Giebt  es  in  einer  so  bedeutenden 
Stadt  kein  Armenviertel , keinen  drückenden  Mangel, 
keine  Arbeitslosen,  keine  Streitigkeiten  zwischen  Kapital 
und  Arbeit?“  Ich  glaube  sagen  zu  können,  dass  es  kein 
Armenviertel  giebt.  Ausnahmsweise  Armuth  ist  vorhanden, 
aber  man  darf  behaupten,  dass  Niemand  deshalb  Noth 
zu  leiden  braucht,  weil  es  etwa  an  Mildthätigkeit  fehle. 
Beschäftigungslose  sind  in  einer  gewissen  Anzahl  vor- 
handen, indessen  in  keiner  grossen;  doch  bringen  die 
wechselnden  Verhältnisse  des  Geschäftes  Zeiten,  in  denen 
10  und  selbst  15  °/o  der  Arbeiter  unthätig  sind. 

Auch  Strikes  haben  stattgefunden,  und  zwar  in  be- 
trächtlichem Umfange.  1885  stellten  nahezu  5000  Männer 
und  Frauen  die  Arbeit  für  mehrere  Wochen  wegen  einer 
Lohnfrage  ein.  Seitdem  ist  ein  umfassender  Strike 
nicht  eingetreten.  Vereinzelte  Strikes,  die  sich  vor- 
wiegend um  Löhne  drehen,  sind  nicht  selten  vorgekommen, 
doch  waren  sie  zu  bedeutungslos,  um  den  allgemeinen 
Geschäftsgang  ernstlich  zu  beeinflussen.  Es  bestehen  ver- 
schiedene Gewerk  vereine,  welche  auch  Frauen  zu  Mit- 
gliedern zählen.  Wahrzunehmen  ist,  dass  sie  sich  mehr 
und  mehr  auf  die  theoretische  Erörterung  sozialer  Fragen 


einlassen,  und  sich  reger  mit  politischen  Dingen  befassen. 
Deutlich  ist  ein  sozialistischer  Zug  zu  verspüren,  — das 
Wort  „sozialistisch“  indess  nur  in  dem  Sinne  einer  immer 
stärkeren  Sympathie  sowohl  mit  der  städtischen  Ver- 
waltung der  Gaswerke,  der  Pferdebahnen,  der  elektrischen 
Beleuchtung  u.  s.  w.  als  auch  mit  der  staatlichen  Verwaltung 
der  Eisenbahnen  und  Telegraphen. 

Wenn  nach  wenigen  Jahren  die  noch  vorhandenen 
öffentlichen  Ländereien  in  Privateigenthum  übergegangen 
sein  werden,  die  Bevölkerung  eine  dichtere  und  der  Kampf 
ums  Dasein  somit  unausbleiblich  intensiver , werden 
dann  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  jene  bedroh- 
lichen Gegensätze  zeigen , welche  die  Grossstädte  und 
die  Minendistrikte  jetzt  bieten?  Selbst  minder  grosse 
Fabrikstädte  als  Brockton,  die  von  Einwanderern  über- 
fluthet  wurden,  wie  Lowell,  Tall  River,  Holyoke,  haben 
dunklere  Seiten  aufzuweisen,  doch  lässt  sich  von  einer 
ganzen  Menge  kleiner  amerikanischer  Städte,  wo  sich  die 
bessere  Arbeiterklasse  einen  hohen  Stand  der  Lebens- 
haltung gewahrt  hat,  ebensoviel  Gutes  sagen,  als  von 
Brockton.  Dagegen  sind  es  die  Industriecentren,  wo  die 
Lebenshaltung  immer  tiefer  herabgedrückt  wird.  Die  weit- 
verbreitete und  rasch  um  sich  greifende  Opposition  gegen 
eine  schrankenlose  Einwanderung,  welche  sich  mehr  und 
mehr  bemerkbar  macht,  zeugt  von  einer  immer  stärkeren 
Erkenntniss  der  Bedeutung  dieser  Thatsache  für  das  ganze 
Land.  Gegen  die  aus  der  Einwanderung  ausländischer 
Arbeiter  entstehenden  Gefahren  dürfte  daher  auch,  mögen 
immerhin  politische  und  praktische  Hindernisse  entgegen- 
stehen, bald  etwas  Ernstliches  geschehen,  um  den  hohen 
Stand  der  Lebensgewohnheiten  zu  erhalten,  den  ausser- 
ordentliche Thatkraft  und  unerschöpfliche  natürliche  Hilfs- 
quellen den  Amerikanern  verliehen  haben. 

John  Graham  Brooks. 


Deutsche  Reichskommission  für  Arbeitsstatistik  Die 

Kommission  für  Arbeitsstatistik  im  deutschen  Reiche  hat  bei 
ihrer  ersten  und  bisher  einzigen  Tagung  im  Juni  d.  J.  be- 
kanntlich die  Fragebogen  für  das  Bäckereigewerbe  und  die 
Handelsgeschäfte  mit  einer  Reihe  von  Abänderungen  ange- 
nommen. Die  ausgesandten  und  beantworteten  Formulare 
werden  jetzt  von  dem  kaiserlichen  statistischen  Amt  bear- 
beitet Es  besteht,  wie  mitgetheilt  wird,  die  sichere  Aus- 
sicht, dass  die  Zusammenstellung  der  Ergebnisse  im  De- 
zember d.  J.  beendet  sein  wird.  Die  Fragebogen  für  das 
Müllereigewerbe  hatte  die  Kommission  dagegen  behufs  Um- 
arbeitung an  den  Reichskanzler  zurückverwiesen.  Es  sollte 
zur  abermaligen  Begutachtung  eine  neue  Tagung  in  der 
zweiten  Hälfte  des  Septembers  einberufen  werden;  durch 
die  Erkrankung  des  Vorsitzenden  der  Kommission,  des 
Staatssekretärs  v.  Rottenburg,  ist  jedoch  diese  Absicht  ver- 
eitelt worden.  Die  Kommission  dürfte  erst  wieder  versam- 
melt werden,  wenn  auch  die  Ergebnisse  der  bisherigen  Er- 
hebungen ihr  zur  Prüfung  vorgelegt  werden  können,  also 
nicht  vor  Dezember  dieses  Jahres.  — Mit  dieser  Vertagung 
hängt  es  wohl  auch  zusammen,  dass  z.  B.  die  Fragebogen 
bezüglich  des  Handelsgewerbes  weder  in  allen  Theilen 
Preussens,  noch  in  irgend  einem  ausserpreussischen  Staate 
vertheilt  bezw.  beantwortet  worden  sind,  eine  Verzögerung, 
die  sonst  nicht  verständlich  wäre. 

Kinderarbeit  und  Schulbehörden.  In  den  amtlichen 
Mittheilungen  aus  den  Jahresberichten  der  mit  der  Auf- 
sicht über  die  Fabriken  betrauten  Beamten  für  das  Jahr 
1891,  die  soeben  erschienen  sind,  erfahren  die  städtischen 
Schulbehörden  des  Aufsichtsbezirks  Berlin-Charlottenburg 
eine  lobende  Beurtheilung.  Die  Zahl  der  12-  bis  14jährigen 
Kinder,  die  in  Fabriken  arbeiten,  ist  in  diesem  Bezirke 
ganz  besonders  klein,  trotzdem  die  Eigenart  der  gross- 
städtischen Industrie  vielfach  die  Versuchung  zur  Benutzung 


No.  2. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


17 


der  billigeren  Kinderarbeit  in  sich  trägt.  Es  wurden  1890 
80,  1891  nur  67  schulpflichtige  Kinder  in  sämmtlichen 
Fabriken  des  Bezirks  beschäftigt.  Der  Aufsichtsbeamte 
bemerkt  dazu,  dass  diese  geringe  Ausdehnung  der  Kinder- 
arbeit „auch  der  strengen  Aufsicht  der  städtischen  Schul- 
behörden zu  danken  sei,  da  die  Kinder  zum  regelmässigen 
Schulbesuch  angehalten  und  Rückfragen  veranlasst  werden, 
sobald  Unregelmässigkeiten  eintreten.“  Anderswo  fehlt 
diese  sozialpolitische  Thätigkeit  der  Schulbehörden  leider 
fast  gänzlich.  Auf  den  soeben  ausgegebenen  Halbjahrs- 
zeugnissen der  Berliner  Gemeindeschulen  sind  die  bis- 
herigen Bestimmungen  der  Gewerbeordnung  über  den 
Schulbesuch  fabrikarbeitender  Kinder  nicht  mehr  abge- 
druckt, trotzdem  sie  noch  theilweise  in  Kraft  sind,  wohl 
der  geringen  Zahl  der  betreffenden  Schüler  wegen.  Dafür 
ist  ein  grosser  Theil  der  schulpflichtigen  Jugend  Berlins 
in  der  Hausindustrie,  als  Boten  etc.  oft  recht  stark  be- 
schäftigt und  viele  Kinder  erleiden  dadurch  eine  starke 
Einbusse  in  Unterricht  und  Erziehung.  Freilich  kann  die 
Schule  im  besten  Falle  erreichen,  dass  die  betreffenden 
Kinder  den  Unterricht  regelmässig  besuchen,  kann  aber 
nicht  verhindern,  dass  sie  am  Morgen  vor  der  Schule  durch 
Austragen  von  Zeitungen  und  Backwaaren  und  nach  der- 
selben durch  ähnliche  Beschäftigungen  vielfach  über  Ge- 
bühr in  Anspruch  genommen  werden.  Dafür  hat  ein  Ge- 
setz zu  sorgen;  immerhin  ist  die  Aufmerksamkeit  der  Schul- 
behörden schon  deshalb  sehr  werthvoll,  weil  sie  die  Miss- 
stände festzustellen  hilft. 

Analphabeten  in  Preussen.  Nach  einer  Uebersicht  über 
die  Zahl  der  bei  dem  Landheere  und  bei  der  Marine  in  dem  Ersatz- 
jahre 1891/92  eingestellten  preussischen  Mannschaften  mit  Bezug 
auf  ihre  Schulbildung  waren,  wie  wir  dem  Reichsanzeiger  vom 
29.  September  entnehmen,  in  der  gesammten  preussischen 
Monarchie  von  111516  eingestellten  Mannschaften  784  oder 
0,70  pCt.  ohne  Schulbildung  (gegen  3,98  pCt.  im  Jahre  1872/73). 
Bei  dem  Landheere  wurden  eingestellt  107413,  davon  ohne  Schul- 
bildung 742  — 0,69  pCt.,  bei  der  "Marine  4103,  davon  ohne  Schul- 
bildung 42  = 1.02  pCt. 

Den  stärksten  Prozentsatz  der  Analphabeten  lieferten  bei 
dem  Landheer  Westpreussen  mit  2,78  pCt , Posen  mit  2,36  pCt.; 
dann  folgen  Ostpreussen  mit  1,43  pCt.,  Schlesien  mit  0,89  pCt., 
Pommern  mit  0,35  pCt.,  Hessen-Nassau  mit  0,22  pCt.,  Branden- 
burg mit  0,16  pCt,  Hannover  mit  0,15  pCt.,  Sachsen  mit  0 06  pCt., 
Schleswig-Holstein  mit  0,05  pCt.,  Westfalen  und  Rheinprovinz 
mit  0,03  pCt. 

Bei  der  Marine  hatte  den  stärksten  Prozentsatz  an  An- 
alphabeten Ostpreussen  mit  4,07  pCt.,  Posen  mit  2,75  pCt.,  West- 
preussen mit  2,38  pCt.,  Brandenburg  mit  0,68  pCt.,  Westfalen  mit 
0,66  pCt.,  Schleswig-Holstein  mit  0,58  pCt.,  Hannover  mit  0,19  pCt  ; 
die  übrigen  Provinzen  lieferten  keine  Analphabeten  zur  Marine. 

Lolmreductionen  in  den  staatlichen  Eisenbahnwerkstätten 
Preussens.  Eine  Versammlung  von  Eisenbahnarbeitern  in  Berlin 
beschäftigte  sich  am  25.  September  mit  den  Lohnreduzirungen 
in  den  Berliner  Eisenbahnwerkstätten.  In  der  Versammlung 
wurden  die  lebhaftesten  Klagen  gegen  das  von  den  Eisenbahn- 
verwaltungen jetzt  eingeführte  Sparsystem  laut.  Besonders 
wurde  darüber  Klage  geführt,  dass  die  Bestimmung  des  Lohnes 
im  Einzelfall  ganz  in  der  Hand  des  Werkführers  liegt,  welcher 
den  Preis  für  die  von  den  Arbeitern  angefertigten  Sachen  nach 
seinem  Gutdünken  auswerfe.  Aus  Furcht  vor  Massregelungen 
wagten  auch  die  Arbeiterausschüsse  in  den  Eisenbahnwerk- 
stätten nicht  gegen  die  Missstände  zu  opponiren.  Deshalb  habe 
auch  schon  die  Mehrzahl  in  den  Berliner  Eisenbahnwerkstätten 
beschlossen,  ihre  Mandate  niederzulegen.  Weiterhin  wurde  mit- 
gethei.lt,  dass  einzelne  Eisenbahndirektionen  angeordnet  haben, 
die  bisherigen  halbmonatlichen  Löhnungen  in  monatliche  Löh- 
nungen umzuändern,  trotz  des  Widerspruchs  der  Arbeiter-Aus- 
schiisse  und  ohne  dass  die  Arbeitsordnungen  dementsprechend 
geändert  worden  sind.  Die  Versammlung  beschloss  dem  Eisen- 
bahnminister eine  Erklärung  zu  übermitteln,  in  welcher  derselbe 
gebeten  wird,  eine  Entscheidung  zu  erlassen,  dass  die  Löhnungen 
alle  8 Tage  und  zwar  am  Freitag  stattzufinden  haben,  damit  die 
Arbeiterfrauen  ihre  Einkäufe  des  Sonnabends  auf  den  Wochen- 
märkten bezw.  für  Berlin  in  den  Markthallen,  in  für  den  Haus- 
halt vortheilhafter  Weise  besorgen  können.  Ferner  bittet  die 
Versanimlung  den  Minister,  den  fortwährenden  Lohn-  und  Akkord  - 
rednzirungen  Einhalt  zu  gebieten. 

Erhöhung  (1er  ortsüblichen  Taglöhne  und  Arbeiter- 
versicherung im  deutschen  Reiche.  Wie  mehrfach  be- 
kannt wurde,  sind  für  die  verschiedensten  deutschen  Ge- 
meinden die  ortsüblichen  Tagelohnsätze  für  das  Jahr  1893 
von  den  Behörden  höher  angesetzt  worden  als  bisher.  Die 
ortsüblichen  Tagelöhne  haben  nun  für  alle  drei  Arbeiter- 
versicherungsarten Bedeutung.  Während  jedoch  Berech- 


nungen nach  denselben  bei  der  Kranken-  wie  Unfallver 
Sicherung  nur  von  den  behördlichen  Verwaltungsstellen 
vorzunehmen  sind,  haben  bei  der  Invaliditäts-  wie  Alters- 
versicherung auch  die  Arbeitgeber  die  Aufgabe,  sich  bei 
bestimmten  Verrichtungen  nach  der  Flöhe  des  ortsüblichen 
Tagelohns  zu  richten.  Hierzu  gehört  in  erster  Reihe  die 
Beitragszahlung  für  die  Versicherten.  Dieselbe  ist  ver- 
schieden, je  nach  der  Lohnklasse,  welcher  der  betreffende 
Versicherte  angehört.  Dieser  Lohnklassen  giebt  es  bekannt- 
lich vier.  Die  erste  reicht  bis  zu  350  Mk.  jährlichen  Ar- 
beitsverdienstes, die  zweite  von  mehr  als  350  bis  550  Mk., 
die  dritte  von  mehr  als  550  bis  850  Mk.  und  die 
vierte  über  850  Mk.  als  Jahresarbeitsverdienst.  Es  wird 
nun,  wenn  wir  von  den  land-  und  forstwirthschaftlichen 
Arbeitern,  den  Seeleuten  und  den  Bergwerksarbeitern 
absehen,  für  die  Mitglieder  von  Krankenkassen  der 
dreihundertfache  Betrag  des  durchschnittlichen  Tage 
lohnes,  für  alle  übrigen  Versicherten  der  dreihundert- 
fache Betrag  des  ortsüblichen  Tagelohnes  angesehen.  Für 
die  Letzteren  kommt  es  also  bei  der  Beitragszahlung  auf 
die  Höhe  des  ortsüblichen  Tagelohnes  an  Nehmen  wir  an, 
dass  in  einem  Orte  bisher  für  den  erwachsenen  männlichen 
Arbeiter  ein  ortsüblicher  Tagelohn  von  1,80  Mk.  festgesetzt 
war,  so  musste  für  ihn,  wenn  er  keiner  Krankenkasse  an- 
gehört, der  Beitrag  nach  der  zweiten  Lohnklasse,  also 
wöchentlich  20  Pf.,  entrichtet  werden.  Ist  der  ortsübliche 
Tagelohn  nunmehr  auf  2 Mk.  festgesetzt,  so  müsste  nach 
dem  1.  Januar  1893  ein  Wochenbeitrag  von  24  Pf.  entrich- 
tet werden.  Die  erwachsenen  männlichen  Arbeiter  werden, 
soweit  sie  nicht  der  Landwirthschaft  angehören,  meist 
Krankenkassenmitglieder  sein,  und  für  diese  kommt  bei  der 
Beitragszahlung,  wie  gesagt,  der  durchschnittliche  Tage- 
lohn zur  Berechnung;  dagegen  steht  ein  grosser  Theil  der 
weiblichen  Versicherten,  namentlich  die  Dienstboten,  ausser- 
halb der  Krankenkassen.  Für  die  Arbeitgeber  dieser  ver- 
sicherten Kategorien  erwächst  demnach  nach  dem  1.  Ja- 
nuar 1893  die  Pflicht,  zu  prüfest,  ob  die  bisherigen  Bei- 
tragszahlungen noch  den  erhöhten  ortsüblichen  Tagelöhnen 
entsprechen.  Es  wäre  übrigens  erwünscht,  dass  die  Ge- 
meindebehörden dort,  wo  eine  Erhöhung  der  Beiträge  für 
die  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  mit  der  Erhöhung 
des  ortsüblichen  Tagelohns  verbunden  ist,  die  Arbeitgeber 
durch  geeignete  Veröffentlichungen  auf  die  Aenderung, 
welche  mit  der  Beitragszahlung  vorgenommen  werden 
muss,  aufmerksam  machen. 

Die  Arbeitslosigkeit  in  der  Hamburger  Tabak- 
industrie. Vom  Vorstand  des  Freundschaftsklubs  der 
Cigarrensortirer  geht  dem  „Vorwärts“  folgende  Mitthei- 
lung zu: 

Bekanntlich  hat  unter  den  Einwirkungen  der  Cholera- 
furcht die  Hamburger  Cigarrenindustrie  in  erheblichem 
Masse  zu  leiden.  Der  Absatz  nach  dem  Inlande  und  nach 
Auswärts  stockt  fast  vollständig.  Nun  war  schon  lange 
vor  Eintreten  der  Epidemie  die  Arbeitslosigkeit  unter  den 
Tabakarbeitern  eine  grosse.  Die  Folgen  der  Cholera  für 
die  Tabakarbeiter  waren  in  vielen  Fällen  abermalige  Ent- 
lassungen oder  Reduzirung  der  Arbeitszeit  auf  wenige 
Stunden. 

Der  Freundschaftsklub  der  Cigarrensortirer,  eine  der 
leistungsfähigsten  Arbeiterorganisationen  Deutschlands,  hat 
seine  arbeitslosen  Mitglieder  seit  jeher  unterstützt.  Infolge 
der  andauernden  Arbeitslosigkeit  war  der  Verein  schon 
längere  Zeit  vor  der  Epidemie  genöthigt,  seine  Unter- 
stützung von  12  Mark  resp.  15  Mark  auf  5—7  Mark  herab- 
zusetzen. 

Im  Jahre  1891  zahlte  der  Klub  an  Arbeitslosenunter- 
stützung (Unterstützung  an  Strikende  ist  hierin  nicht  mit 
einbegriffen)  33  560  M.,  im  Jahre  1892  15  390  M. 

Dass  die  Aufbringung  dieser  Summen  für  die  250 
Mitglieder  der  Organisation  gewaltige  Opfer  erforderte  und 
dass  die  Fonds  zur  Zeit  erschöpft  sind,  braucht  wohl  nicht 
besonders  betont  zu  werden,  es  tritt  jedoch  jetzt  der  Um- 
stand hinzu,  dass  die  arbeitenden  Mitglieder  zur  Zeit  in 
Folge  ihres  geringen  Verdienstes  (10  bis  12  bis  15  M.  pro 
Woche)  nicht  mehr  im  Stande  sind,  die  bisherigen  hohen 
Beiträge  zu  zahlen.  Der  Beitrag  musste  deshalb  seitens 
der  Verwaltung  wesentlich  reduzirt  und  die  Arbeitslosen- 
unterstützung aufgehoben  werden.  Dadurch  werden  37 
Arbeitslose  jeglicher  Hilfe  beraubt.  Lim  ein  Bild  von  der 
andauernden  Arbeitslosigkeit  im  Tabakarbeitergewerbe  zu 
geben,  sei  bemerkt,  dass  diese  37  arbeitslosen  Sortirer  zu- 


18 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  2. 


sammen  713  Wochen,  mithin  der  Einzelne  durchschnittlich 
19  Wochen,  arbeitslos  waren.  Die  Dauer  der  Arbeits- 
losigkeit erhellt  am  besten  aus  folgender  Zusammenstellung. 
Arbeitslos  waren : 


1 I Jahr 

4 über  3/4  Jahr 
7 über  '!•>  Jahr 

4 über  2Ö  Wochen 
6 über  13  Wochen 

2 8 Wochen 


2 7 Wochen 

5 5—6  Wochen 

2 3 Wochen 

3 2 Wochen 

1 1 Woche. 


Dass  zur  Zeit  ausserhalb  des  Vereins  die  gleiche  An- 
zahl Arbeitsloser  vorhanden,  ist  mit  Sicherheit  anzunehmen; 
auf  jeden  arbeitslosen  Sortirer  rechnet  man  im  Tabak- 
arbeitergewerbe 10  arbeitslose  Cigarrenarbeiter.  Das  Fazit 
dieser  ziemlich  zuverlässigen  Berechnung  ergiebt  nahezu 
1000  arbeitslose  Tabakarbeiter  in  Hamburg  und  Umgegend; 
die  übrigen  2—3000  meistens  halbe  Zeit  arbeitend,  bei 
einem  Verdienst  von  durchschnittlich  bestimmt  nicht  mehr 
als  8 — 9 M.,  der  Noth  und  Entbeh  rung  preisgegeben. 


Erhebungen  über  die  Arbeitslosigkeit,  in  Hamburg.  Die 

schwere  Choleraepidemie  hat  natürlicherweise  noch  weit  mehr 
als  den  Hamburgei!  Handel  die  Arbeiterschaft  Hamburgs  schwer 
geschädigt.  War  schon  vor  Ausbruch  der  Seuche  die  Arbeits- 
losigkeit grösser  als  sonst,  so  wurde  sie  in  Folge  der  Cholera- 
epidemie zur  öffentlichen  Kalamität,  unter  der  besonders  die- 
jenigen Arbeiterorganisationen  liiten,  welche  ihre  Arbeitslosen 
unterstützten.  Trotz  der  anerkannten  Leistungsfähigkeit 
der  Hamburger  Gewerkschaften  waren  sie  den  bei  diesen 
ausserordentlichen  Verhältnissen  gestellten  Ansprüchen  ihrer 
Mitglieder  nicht  gewachsen  und  mussten  theils  die  Unter- 
stützungssätze reduziren,  theils  die  Unterstützung  ihrer  arbeits- 
losen Mitglieder  sistiren.  Dies  und  die  mangelhafte  öffentliche 
Unterstützung  der  Nothleidenden  veranlassten  die  Gewerk- 
schaften Erhebungen  über  den  Umfang  der  Arbeitslosigkeit 
vorzunehmen.  Die  geplante  Statistik  soll  dazu  beitragen,  die 
Nothlage  in  ihrem  ganzen  Umfange  aufzudecken  und  den  Staat 
an  seine  dringendsten  Pflichten  erinnern.  Aus  diesen  Gründen 
beschloss  das  Hamburger  Gewerkschaftskartell  in  der  Sitzung 
vom  28.  September  einstimmig,  die  Aufnahme  einer  Arbeits- 
losenstatistik. Die  Organisation  soll  in  der  Weise  erfolgen,  dass 
jede  Gewerkschaft  ein  oder  mehrere  Meldebiireaus  in  der  Stadt 
einrichtet.  In  diesen  werden  Vertrauensleute  der  Gewerk- 
schaften die  Angaben  der  sich  meldenden  Arbeitslosen  in  hier- 
zu angefertigten  Listen  eintragen,  falls  die  Arbeitslosen  diese 
Angaben  auf  den  am  15.  Oktober  d.  J.  auszugebenden  Frage- 
bogen nicht  selbst  machen  sollten.  Diese  Bogen  wird  eine  vom 
Gewerkschaftskartell  eingesetzte  Kommission  nach  einem  ein- 
heitlichen Schema  für  alle  Gewerkschaften  ausarbeiten  und 
anfertigen  lassen.  Die  Vorstände  der  Gewerkschaften  haben 
unverzüglich  die  Lokale,  in  denen  Meldestellen  eingerichtet 
werden  sollen,  dem  Vorsitzenden  der  Kommission  anzumelden. 
Ferner  soll  ein  Flugblatt  unter  die  Bevölkerung  Hamburgs  ver- 
breitet werden,  in  welchem  der  Zweck  und  die  Art  der  Auf- 
nahme der  Statistik  klargelegt  wird.  Das  gesammelte  Material 
wird  in  den  einzelnen  Gewerkschaften  verarbeitet  und  dann  zu 
einem  einheitlichen  Bilde  zusammen  gestellt  werden. 

„Besonders  ist  hervorzuheben“,  schreibt  das  „Hamburger 
Echo“,  „dass  diese  Statistik  sich  nicht  nur  über  die  in  den  ge- 
werkschaftlichen Organisationen  vereinigten  Arbeiter  erstrecken, 
sondern  möglichst  alle  Kreise  der  Arbeiter  umfassen  soll.  Es 
wäre  wünschenswert!),  wenn  die  ausserhalb  der  Gewerkschafts- 
Organisationen  stehenden  Arbeiter  Angesichts  der  gemeinsamen 
Nothlage  ihre  Sonderbestrebungen  fallen  Hessen  und  mit  den 
organisirten  Genossen  zusammen  dafür  sorgen  würden,  dass 
diese  statistische  Aufnahme  vollkommen  wird.  Auch  die  Ar- 
beiter, für  deren  Beruf  keine  Organisation  besteht,  werden  sich 
an  dieser  Aufnahme  betheiligen  können,  da  in  jeder  Meldestelle 
auch  für  sie  entsprechende  Bogen  ausgelegt  werden  sollen.“ 

Dass  gegen  diese  Methode  der  Arbeitslosenstatistik  ein- 
gewandt werden  kann,  dass  sie  nur  einen  verhältnissmässig  ge- 
ringen Bruchtheil  der  Arbeitslosen  erfassen  wird,  haben  wir  an 
anderer  Stelle  ausgeführt.  Die  ausserordentlichen  Verhältnisse 
Hamburgs  im  Allgemeinen  und  jetzt  zur  Cholerazeit,  wo  auch  1 
die  den  Gewerkschaften  Fernerstehenden  sich  einen  praktischen 
Erfolg  von  der  Konstatirung  des  Umfanges  der  Arbeitslosigkeit 
versprechen  dürften,  werden  vielleicht  ein  genaueres  Resultat 
zur  Folge  haben,  als  sonst  zu  erwarten  wäre. 


Obdachlosigkeit  in  Berlin.  Im  städtischen  Asyl  für  Ob- 
dachlose, Abtheilung  für  Familien,  wurden  im  Verwaltungs- 
jahre  1891/92  durchschnittlich  täglich  384  Personen  verpflegt.  Die 
Zahl  der  Verpflegungstage  betrug  bei  einer  Kopfzahl  der  Obdach- 
losen von  10  469  = 139  529.  Im  Vorjahre  betrug  die  Zahl  der 
täglich  Verpflegten  durchschnittlich  177  und  die  Summe  der 
Verpflegungstage  72  942;  für  das  Jahr  1889/90  stellten  sich  diese 
Zahlen  auf  165  bezw.  67  255.  Als  Gründe  für  diese  ganz  be- 
deutende Steigerung  der  Inanspruchnahme  des  Familien- 
obdachs im  Berichtsjahre  führt  die  Verwaltung  des  Obdachs 
folgende  an:  I.  die  zahlreichen  Ueberweisungen  russischer  Aus- 


wanderer, 2.  die  Beschäftigungslosigkeit  im  Winter 
1891/92,  3.  die  Vermehrung  der  Bevölkerung  und  namentlich  der 
Zuzug  ärmerer  Leute  oder  Familien  aus  den  Provinzen.  Wäh- 
rend des  Berichtsjahres  wurden  2201  Familien  mit  7886  Per- 
sonen, einzelne  Personen  2312  aufgenommen:  von  den  auf- 
genommenen Familien  waren  die  Männer  dem  Stande  nach: 
634  Arbeiter,  668  Handwerker,  85  Kaufleute,  6 Gelehrte, 
Beamte  u.  s.  w.  Unter  den  Aufgenommenen  befanden  sich 
776  Säuglinge.  1753  Kinder  von  1—5  Jahren,  1701  Kinder 
von  6— io  Jahren,  1034  Kinder  von  11  — 14  Jahren.  Auch  das 
Greisenalter  war  verhältnissmässig  stark  vertreten;  so  waren 
darunter  Personen  von  61 — 70  Jahren  - 124,  von  71— 80  Jahren  = 
12,  eine  Person  sogar  von  über  80  Jahren.  In  der  Schule  des 
städtischen  Obdachs,  die  unter  Aufsicht  der  städtischen  Schul- 
deputation und  Leitung  eines  städtischen  Lehrers  steht,  wurden 
während  des  Berichtsjahres  1895  Kinder  gegen  865  im  Vorjahre 
unterrichtet.  Die  Abtheilung  für  nächtliche  Obdachlose  des 
städtischen  Obdachs  wurde  während  des  Jahres  1891/92  von 
334  670  Personen  (gegenüber  dem  Vorjahre  mit  275  777  Personen 
und  gegenüber  dem  Jahre  1889/90  mit  nur  203  039  Personen)  be- 
sucht. Die  Steigerung  der  Benutzung  im  Berichtsjahre  gegen 
die  des  Vorjahres  beträgt  also  58  893  Köpfe  oder  21,36  pCt.  und 
gegen  diejenige  des  Jahres  1889/90  131  631  Köpfe  oder  64,83  pCt. 
Auffallend  ist  die  bedeutende  Zunahme  des  Besuches 
des  Obdachs  für  nächtliche  Obdachlose  durch  Kinder.  Wäh- 
rend nämlich  im  Jahre  1890/91  nur  329  Kinder  dort  nächtigten, 
stieg  diese  Zahl  für  1891/92  auf  511,  also  um  182  Köpfe  oder 
um  55,32  pCt  Namentlich  die  Angaben  über  die  Kinderfrequenz 
des  Asyls  machen  einen  erschütternden  Eindruck.  Diesen 
armen  Wesen  wird  man  sicher  keine  Schuld  an  ihrer  Obdach- 
losigkeit nachreden  wollen;  und  doch  müssen  sie  die  demorali- 
sirenden  Wirkungen  derselben  über  sich  ergehen  lassen. 

Löhne  der  rheinischen  Hafenarbeiter.  Authentische 
Angaben  über  die  Höhe  der  Löhne  rheinischer  Hafen- 
arbeiter wurden  in  der  Mainzer  Stadtverordnetensitzung 
vom  29.  September  d.  Js.  gemacht.  Ein  Antrag  auf  Er- 
höhung cler  Taglöhne  der  Hafenarbeiter  um  20  Pf.  wurde 
mit  16  gegen  16  Stimmen,  wobei  der  Vorsitzende  den  Aus- 
schlag gab,  abgelehnt.  Für  die  Ablehnung  wurde  beson- 
ders geltend  gemacht,  dass  die  Hafenarbeiter  in  Gustavs- 
burg bei  1 1 Stunden  Arbeitszeit  nur  2,50  Mk.,  in  Mannheim 
und  Ludwigshafen  bei  1 1 Stunden  Arbeitszeit  nur  2,70  Mk., 
in  Frankfurt  a.  M.  bei  10  Stunden  Arbeitszeit  nur  2,80  Mk., 
und  in  Köln  bei  10  Stunden  Arbeitszeit  nur  2,75  Mk.,  er- 
halten, während  sie  in  Mainz  mit  Ausnahme  von  3 Personen 
bei  9 ständiger  Arbeitszeit  2,80  Mk.  beziehen.  Dagegen  soll 
die  Bürgermeisterei  wegen  Erhöhung  der  Taglöhne  alter 
Arbeiter  Vorlage  machen. 

Truckunfug  auf  <len  Wiener  Bauplätzen.  Dasselbe  dauert, 
trotz  den  anerkennenswerthen  Bemühungen  des  Wiener  Ge- 
werbeinspektors die  Kantinenwirthschaft  der  Poliere  zu  be- 
kämpfen, unvermindert  fort,  wie  neuerliche  Vorgänge  zeigen. 
Die  Bau- Arbeiter  hatten  kürzlich  in  einer  Versammlung  be- 
schlossen, sich  Samstag  den  24.  September  von  den  Arbeitslöhnen 
für  die  Wochenschuld  in  den  Baukantinen  nichts  abziehen  zu 
lassen  und  diese  Schulden  nicht  zu  zahlen.  Die  Sicherheits- 
Behörde  hatte  daher  angeordnet,  dass  sämmtliche  dienstfreien 
Wachorgane  Nachmittags  besonders  in  der  Nähe  von  Bauten  in 
Bereitschaft  seien.  Die  Wachorgane  erhielten  aber  den  Auftrag, 
nur  bei  Exzessen,  Gewaltthätigkeiten.  Ruhestörungen  und  Ueber- 
tretungen  des  Koalitions-Gesetzes  einzuschreiten.  Das  Halten 
der  Kantinen  auf  den  Bauplätzen  seitens  der  Poliere,  sowie  auch 
das  Ausgeben  von  Blechmarken  ist  längst  von  der  Behörde  ver- 
boten. Die  Baupoliere  halten  auch  wohl  auf  ihren  Bauten  selbst 
keine  Kantinen,  jedoch  schliessen  sie  mit  dem  nächsten  Gast- 
wirthe  ein  Uebereinkommen,  Getränke  und  kalte  Esswaaren  auf 
Rechnung  gegen  den  samstägigen  Lohnabzug  zu  liefern.  Die 
Baupoliere  sollen  nach  Angabe  der  meisten  Bau-Arbeiter  Per- 
cente  nach  der  Höhe  der  gelieferten  Getränke  und  Esswaaren 
von  den  Gastwirthen  erhalten,  wodurch  sich  andererseits  die 
Preise  der  Speisen  und  Getränke  beträchtlich  erhöhen.  Es  wird 
also  die  Kantinenwirthschaft  weitergeführt  und  das  Verbot 
umgangen.  Am  24.  September  nun  gelangte  der  erwähnte 
Beschluss  der  Bau-Arbeiter  nur  theihveise  zur  Ausführung. 
Die  Masse  der  Wiener  Bau-Arbeiterschaft  zahlte  bei  den 
Kantinen  die  fällige  Wochenschuld,  ja  ein  grosser  Theil  der 
Arbeiter  (besonders  waren  dies  Czechen)  wusste  gar  nicht, 
dass  ein  Beschluss  vorliege,  nicht  zu  zahlen.  Dessenungeachtet 
waren  die  Kantinen  haltenden  Wirthe  in  grosser  Aufregung, 
und  ein  Theil  derselben  ist  gewillt,  die  Kantinen  auf  den  Bauten 
zu  sperren. 

Hie  englischen  Arbeiter  und  die  Verkürzung  der  Ar- 
beitszeit. Der  Vorsitzende  der  Föderation  der  Bergleute, 
Pickard,  erliess  am  30.  September  ein  Rundschreiben  über 
die  Achtstundenfrage.  Er  erklärt  in  demselben,  dass  Nie- 
mand gezwungen  werden  solle,  acht  Stunden  und  nicht 
weniger  unter  der  Erde  zu  arbeiten.  Der  Zweck  der  Acht- 


No.  2 


SOZI  All’Ol  .[TISCH  ES  CENTRALB1  .ATT. 


19 


stundenbill  sei,  dass  in  keinem  Bergwerk  mehr  als  acht 
Stunden  während  24  Stunden  gearbeitet  werden  dürfe. 
Zechen  in  denen  weniger  gearbeitet  würde,  sollten  in  keiner 
Weise  /.ur  Mehrarbeit  gezwungen  werden.  Pickard  be- 
kämpft die  Ansicht,  dass  das  Parlament  sich  auch  in  die 
Löhne  einmischen  dürfe,  sobald  es  sich  in  die  Arbeitszeit 
einmal  eingemischt  habe,  dagegen  lehnte  der  Ausschuss 
des  Gewerkvereins  der  Eisenarbeiter  und  Eisenbahnbeamten 
mit  42  gegen  15  Stimmen  den  Achtstundentag  ab  und  be- 
schloss, sich  auf  die  Forderung  des  Zehnstundentages  zu 
beschränken,  der  übrigens  für  die  Eisenbahnarbeiter  ein 
mindestens  ebenso  grosser  Fortschritt  wäre  wie  der  Acht- 
stundentag für  die  Bergleute.  Viel  dürften  die  Gewerk- 
schaften übrigens  durch  eigenes  Eingreifen  momentan  kaum 
erreichen,  denn  die  Krise  hat  nun  auch  England  in  hohem 
Masse  ergriffen.  Ueberall  geht  man  mit  Lohnreduktionen 
und  Arbeitseinschränkungen  vor,  so  sollen  die  Löhne  der 
Maschinenbauer  und  Eisengiesser  von  Glasgow  und  West-  i 
Schottland  sowie  der  Schiffszimmerleute  am  Clyde  um  10  pCt. 
gekürzt  werden.  Vom  6.  Oktober  ab  wird  den  schottischen 
Bergleuten  der  Tagesverdienst  um  6 Pence  gekürzt.  Die 
Arbeitszeit  wird  gleichzeitig  in  den  Baumwollfabriken  von 
Lancashire  beschränkt,  in  einzelnen  Fabriken  bis  auf  2/:i 
der  üblichen  Arbeitszeit,  andere  Fabriken  werden  ganz  ge- 
schlossen. 


Handwerkerfragen. 

Fakultative  oder  Zwangsinnung?  Laut  Bekannt- 
machung der  königl.  Regierung  der  Pfalz  ist  denjenigen 
Arbeitgebern  in  Speier,  welche  das  Bäckergewerbe  be- 
treiben und  selbst  zur  Aufnahme  in  die  Bäckerinnung  dort- 
selbst  fähig  sind,  aber  der  Innung  nicht  angehören,  ver- 
boten worden,  vom  I.  November  d.  J.  ab  Lehrlinge  anzu- 
nehmen. Die  Regierung  hat  also  von  der  Befugniss  der  in 
den  §§  lOOe  ff.  der  Gewerbeordnung  enthaltenen  Bestim- 
mungen Gebrauch  gemacht,  und  zwar  ist  eine  solche  Ver- 
fügung in  der  Pfalz  zum  ersten  Mal  erlassen  worden. 
Veranlasst  hierzu  wurde  die  Regierung  durch  einen  Antrag 
der  Bäckerinnung  in  Speier  „nach  Anhörung  der  bethei- 
ligten ausserhalb  der  Innung  stehenden  Bäcker  des  be- 
treffenden Bürgermeisteramtes“.  Auch  die  übrigen  Bestim- 
mungen des  § 100  sind  mit  herangezogen  worden,  so  die 
Verpflichtung  der  Nichtinnungsmitglieder  zum  Kostenbeitrag 
für  diejenigen  Einrichtungen,  „welche  von  der  Innung  zur 
Förderung  der  gewerblichen  und  technischen  Ausbildung 
der  Gesellen  und  Lehrlinge  getroffen  sind“  (Innungs-Fach- 
schule, Gesellenprüfung,  Ein-  und  Ausschreiben  der  Lehr- 
linge, Schiedsgericht).  Die  Mitbenutzung  dieser  Einrich- 
tungen steht  den  zahlenden  Nicht  - Innungsmitgliedern 
(Meistern  und  Gesellen)  gesetzlich  frei.  Es  ist  klar,  dass 
das  Verbot  des  Haltens  von  Lehrlingen  für  den  Betrieb  der 
davon  betroffenen  Bäckereien  von  einschneidender  Wirkung 
ist.  Die  Arbeitgeber,  welche  der  Innung  nicht  angehören, 
gehen  damit  jener  Vortheile  verlustig,  welche  das  Einstellen 
von  Lehrlingen  mit  sich  bringt;  die  Folge  wird  sein,  dass 
die  Nichtinnungsmitglieder  durch  die  Umstände  gezwungen 
werden,  der  Innung  beizutreten.  Kann  da  von  „fakultativen“ 
Innungen  wirklich  noch  die  Rede  sein? 

Einschränkung;  der  Arbeitszeit  für  Handwerkslelir- 
linge.  Die  Nothwendigkeit  dieser  Massregel  wird  jetzt  auch 
von  den  Unternehmern  zugestanden.  Wenigstens  heisst  es 
nach  den  „Amtlichen  Mittheilungen  etc.  für  1891“  im  Jahres- 
bericht des  Fabrikinspektors  für  Mecklenburg:  ,,Im  Gross- 
herzogthum Mecklenburg -Schwerin  ist  der  Besuch  von 
Fortbildungsschulen,  abgesehen  von  den  Bäcker-  und 
Schlächterlehrlingen,  in  den  kleineren  Städten  für  die  Lehr- 
linge meist  obligatorisch.  In  den  grösseren  Städten  ist  dies 
nicht  der  Fall,  weil  man  die  Ueberfüllung  der  Klassen  und 
minderwerthiges  Schülermaterial  fürchtet,  das  die  Leistun- 
gen herabdrücken  könnte.  Vielfach  wurde  der  allgemein 
obligatorische  Besuch  der  Fortbildungsschulen  von  Ge- 
werbetreibenden als  höchst  wünschenswerte  dessen  Er- 
folg aber  wiederum  von  einer  grösseren  Einschrän- 
kung der  Arbeitszeit  auch  für  die  Handwerkslehr- 
linge abhängig  bezeichnet,  da  sonst  namentlich  für  die 
Abendstunden  die  nöthige  Spannkraft  fehle.“ 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Amerikanische  Arbeiterkämpfe. 

Die  diesjährigen  Kämpfe  der  nordamerikanischen  Ge- 
werkschaften gegen  das  konzentrirte  Grosskapital  hatten 
im  Allgemeinen  einen  für  die  Arbeiter  unglücklichen  Aus- 
gang, wenn  man  auch  den  bedeutendsten  unter  denselben, 
den  Ausschluss  in  Homestead,  noch  keineswegs  als  beendet 
ansehen  kann. 

Ausser  diesem  Kampfe,  über  den  diese  Zeitschrift  vor 
Kurzem  (in  No.  34)  einen  ausführlichen  Bericht  brachte, 
waren  es  die  blutigen  Zusammenstösse  in  den  Minen  von 
Coeur  d’Alene,  im  fernen , nordwestlichen  Staate  Idaho, 

welche  ein  me  Tage  nach  dem  Aufstande  in  Homestead 

• — * * — ’ 

ausbrachen,  der  Aufstand  der  Minenarbeiter  in  Tennessee, 
welcher  bereits  im  vergangenen  Jahre  in  jener  Gegend  ein 
Vorspiel  hatte,  und  der  Eisenbahnstrike  in  Buffalo,  bei  dem 
eine  grosse  Anzahl  Frachtwaggons  in  Flammen  aufgingen, 
welche  diesen  Sommer  für  die  amerikanische  Arbeiterbe- 
wegung zu  einem  denkwürdigen  machen. 

Ich  verzichte  darauf,  die  zahlreichen  Kämpfe  ausführ- 
lich zu  berichten.  Einige  kurze  Notizen  scheinen  jedoch 
zum  Verständniss  der  Lage  noth wendig. 

Der  Aufstand  von  Idaho  war  ebenfalls  die  Folge  eines 
Ausschlusses  der  Arbeiter  seitens  der  Minenbesitzer.  Neger 
und  andere  Strikebrecher  wurden  an  Ort  und  Stelle  ge- 
bracht, von  den  Ausgeschlossenen  jedoch,  welche  mit  Ge- 
wehren und  Brandfackeln  in  die  Minen  zogen,  einige  der 
Strikebrecher  erschossen  und  die  Minen  in  Brand  steckten, 
vertrieben.  Idaho  ist  ein  Minenstaat  im  nördlichen  Felsen- 
gebirge, nur  sehr  dünn  bevölkert,  und  die  Bevölkerung 
ist  hier  fast  ganz  vom  Minenbetrieb  abhängig.  Die  zum 
Theil  aus  Minenarbeitern  bestehende  Staatsmiliz  war 
schwach  und  unzuverlässig.  Bundesmilitär  wurde  zu  Hilfe 
gerufen  und  unterdrückte  den  Aufstand  ohne  Schwert- 
streich. Viele  Theilnehmer  an  demselben  wurden  verhaftet 
und  unter  Anklage  des  Mordes,  Aufruhrs,  der  Brand- 
stiftung etc.  gestellt. 

In  Tennessee,  einem  Staat  am  westlichen  Abhang  des 
grossen  Gebirgsystems,  dessen  Mittelpunkt  das  Allegheny- 
gebirge  bildet,  handelte  es  sich  um  einen  blutigen  Auf- 
stand der  einheimischen  Minenarbeiter-Bevölkerung,  welche, 
mit  der  Bauernbevölkerung  noch  eng  verwandt  und  ver- 
wachsen, von  der  letzteren  unterstützt  wurde  gegen  die 
Konkurrenz  der  vom  Staat  an  Privatkompagnien  ver- 
pachteten und  als  Grubenarbeiter  benutzten  Sträflinge. 
Die  letzteren  waren  auf  vier  nicht  weit  von  einander  ge- 
legenen Stationen  des  östlichen  Tennessee,  Tracy  City, 
Inman , Oliver  Springs  und  Coal  Creek  vertheilt.  Be- 
waffnete Minenarbeiter  griffen  nacheinander  zu  Tausenden 
die  Holzumzäunungen  an,  welche  die  Blockhäuser,  in  denen 
die  Gefangenen  gehalten  wurden,  umgaben,  drohten  die- 
selben in  Brand  zu  stecken  und  schüchterten  dadurch  die 
wenig  zahlreichen,  wenn  auch  gut  bewaffneten  Wächter 
der  ersten  drei  Stationen  derart  ein,  dass  sie  sich  bereit 
erklärten,  mit  den  Gefangenen  nach  der  Staatshauptstadt 
Knoxville  abzuziehen.  Bei  der  vierten  Station,  welche  seit 
dem  Aufstande  im  vorigen  Jahre  von  einer  Milizabtheilung 
besetzt  gehalten  wurde,  kam  es  zu  einem  mehrtägigen 
blutigen  Kampfe.  Die  Angriffe  der  Minenarbeiter  auf  die 
Umzäunung  wurden  zurückgeschlagen,  zahlreiche  Todte 
und  Verwundete  zurücklassend.  Der  Gouverneur,  welcher 
aus  demagogischen  Gründen  etwa  eine  Woche  lang  mit 
der  Mobilmachung  der  Staatsmiliz  gezögert  hatte,  brachte 
jetzt  die  ganze  Streitmacht  des  Staats  auf  die  Beine  und 
einige  Abtheilungen  der  letzteren  besetzten,  nach  einigen 
blutigen  Scharmützeln  mit  den  Minenarbeitern,  die  Station. 
Etwa  400  Minenarbeiter  und  Freunde  derselben  wurden  ge- 
fangen genommen  und  etwa  die  Hälfte  von  ihnen  unter 
Anklage  des  Mordes,  Strassenraubes  (sie  hatten  nämlich 
; einen  Trupp  Milizsoldaten  auf  dem  Wege  überrascht  und 
denselben  die  Waffen  abgenonnnen),  Aufruhrs  etc.  unter 
| Anklage  gestellt.  Um  Beweismaterial  zu  erhalten,  schleppte 


20 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT . 


No.  2 


ein  Trupp  Milizsoldaten  bei  Nacht  und  Nebel  einen  der 
gefangenen  angeblichen  Führer  des  Aufstandes  in  einen 
Wald  und  machte  Anstalten,  ihn  einfach  aufzuknüpfen, 
wenn  er  nicht  die  Namen  der  Aufständischen  verrathe.  Er 
muss  ziemlich  viel  geplaudert  haben,  denn  man  Hess  ihn 
am  Leben  und  zahlreiche  neue  Verhaftungen  folgten  der 
Szene.  Die  Sträflinge  wurden  inzwischen  wieder  unter 
dem  Schutz  der  Miliz  in  die  betreffenden  Stationen  zurück- 
geführt. 

Grosse  Sensation  erregte  der  gleichzeitige  Strike  in 
Buffalo,  der  Hauptbahnstation  zwischen  dem  Osten  und 
Nordwesten,  besonders  zwischen  New-York  und  Chikago, 
einer  der  Hauptpunkte  des  gewaltigen,  aus  fünf  grossen 
Bahnsystemen  kürzlich  zusammengeschweissten  Eisenbahn- 
und  Hartkohlenmonopols,  welches  ausserdem  mit  dem 
grossen  Vanderbilt’schen  System  der  New-Yorker  Central- 
bahn in  enger  Verbindung  steht.  Hier  waren  die  Weichen- 
steller fast  sämmtlicher  Bahnhöfe  im  Ausstand  und  der 
Verkehr  mit  dem  Westen,  der  gerade  um  diese  Zeit, 
während  und  nach  der  Ernte,  zu  Wasser  und  zu  Lande 
ein  ganz  kolossaler  ist,  etwa  14  Tage  lang  fast  gänzlich 
unterbrochen.  Sensationell  wurde  dieser  Strike  dadurch, 
dass  in  einer  Nacht  kurz  nach  Ausbruch  desselben  auf 
sieben  Bahnhöfen  der  Stadt  und  Umgegend  fast  gleichzeitig 
eine  grosse  Anzahl  Frachtwaggons,  von  unbekannter  Hand 
angezündet,  in  Brand  geriethen  und  in  Asche  verwandelt 
wurden.  Die  Brandstiftungen  wurden  noch  einen  Tag  und 
eine  Nacht  hindurch  fortgesetzt,  ohne  dass  einer  der  Thäter 
dabei  erwischt  wurde.  Die  verbrannten  Waggons  — es 
sollen  derer  über  100  gewesen  sein  — waren  den  vor- 
liegenden Berichten  zufolge  alte,  ausrangirte  Kästen,  so 
dass  bereits  von  mehreren  Seiten  die  Vermuthung  ausge- 
sprochen wurde,  die  Brände  seien  von  den  Bahnkompagnien 
selbst  arrangirt  worden,  deren  Verluste  bei  Aufständen 
durch  den  Staat  entschädigt  werden  und  welche  ferner  da- 
durch auf  den  Gouverneur  von  New-York  derart  einwirkten, 
dass  derselbe  8000  Mann  von  der  Staatsmiliz  nach  Buffalo 
beorderte.  Die  Ausständigen  setzten  der  Miliz  keinen 
Widerstand  entgegen.  Ihre  Plätze  wurden  zum  Theil 
durch  im  Westen  angeworbene  Weichensteller  ersetzt,  die 
mangelhafte  Organisation  der  Eisenbahnangestellten  ver- 
hinderte, dass  die  Lokomotivführer,  Heizer,  Bremser,  Kon- 
dukteure, Telegraphisten  etc.  den  Weichenstellern  zu  Hilfe 
kamen.  Zwar  legten  auch  die  Weichensteller  des  Vander- 
bilt-Systems  und  einiger  anderer  Bahnen  die  Arbeit  nieder, 
um  die  Versendung  der  Fracht  des  Reading-Systems  über 
diese  Bahnen  zu  verhindern,  doch  hatte  dies  keinen  Erfolg. 
Der  Ausstand  wurde  von  seinen  Führern  aufgegeben  und 
für  beendigt  erklärt. 

Ein  weiterer  Beleg  für  die  Macht  des  R eadingsystei ns 
und  die  relative  Schwäche  der  Eisenbahnarbeiter- Organi- 
sationen ihm  gegenüber  wurde  dieser  Tage  geliefert.  Das 
Monopol  Hess  auf  einem  Theil  seiner  Bahnen  jeden  seiner 
Angestellten,  bei  Strafe  der  Entlassung  im  Weigerungs- 
fälle, einen  sogenannten  Kontrakt  unterschreiben,  in  dem 
der  Angestellte  sich  verpflichtet,  keiner  Arbeiterorgani- 
sation anzugehören.  Dieser  Kontrakt  wurde  in  manchen 
Fällen  nicht  gehalten  und  Entlassung  der  betreffenden  im 
Falle  der  Entdeckung  war  die  regelmässige  Folge.  Die 
Führer  sämmtlicher  grossen,  an  Zahl  der  Mitglieder  sehr 
bedeutenden  Eisenbahnarbeiter-Organisationen  traten  zu- 
sammen, um  hierauf  zu  reagiren.  Einige  Tage  hindurch 
schien  es,  als  würde  ein  allgemeiner  Strike  auf  allen 
Bahnen  des  Systems  die  Folge  sein.  Eine  Konferenz  mit 
dem  Chef  des  Systems  fand  statt.  Letzterer  verpflichtete 
sich  zu  nichts  als  zur  Wiederanstellung  eines  Lokomotiv- 
führers, der  sich  offen  geweigert  hatte,  den  Kontrakt  zu 
unterzeichnen,  und  zu  dem  allgemeinen  Versprechen,  dass 
Leute,  die  dies  Dokument  nicht  mit  ihrer  Namensunter- 
schrift versehen  wollen,  deshalb  nicht  aus  dem  Dienst 
entlassen  werden  sollen.  Dass  bei  Besetzung  von  Vakanzen 
nur  Unterzeichner  dieses  „Kontrakts“  berücksichtigt  wer- 
den, ist  demnach  selbstverständlich. 

New-York  hatte  im  Laufe  des  Sommers  drei  grosse  Aus- 
stände resp.  Ausschlüsse  zu  verzeichnen,  nämlich  den  der 


Möbelarbeiter,  - — welcher  mit  grossem  Heroismus  um  Ver- 
kürzung der  Arbeitszeit  von  neun  auf  acht  Stunden  per 
Tag  14  Wochen  lang  geführt  wurde,  — der  Pflasterstein- 
Arbeiter  und  der  Baugewerke,  beide  gegen  eine  Kom- 
bination von  Unternehmern,  welche  sich,  ebenso  wie  die 
kombinirten  Möbelfabrikanten,  im  längeren  Streite  stärker 
als  die  mit  Hartnäckigkeit  kämpfenden  zahlreichen  Arbeiter- 
organisationen erwiesen. 

Noch  nicht  beendet  ist  der  Kampf  in  Homestead. 
Weit  über  eine  Million  Dollars  hat  derselbe  der  Carnegie- 
schen  Eisen-  und  Stahl-Kompagnie,  wie  die  Beamten  der 
letzteren  freimüthig  zugestehen,  bereits  gekostet,  und  die- 
selbe Kompagnie  erwartet  und  ist  bereit,  eine  weitere 
Million  oder  mehr  daran  zu  setzen,  um  die  Organisation 
der  Arbeiter,  hauptsächlich  der  gelernten  Arbeiter,  zu  bre- 
chen und  dann  eine  Lohnreduktion  im  grossen  Mass- 
stabe  folgen  zu  lassen,  um  das  Verlorene  wieder  einzu- 
bringen. 

Beides  ist  nicht  leicht.  Die  Carnegie’schen  Werke  in 
Homestead  sind  nämlich,  was  Einrichtung,  verbesserte 
Maschinerie  etc.  anbelangt,  einzig  in  ihrer  Art  nicht  allein 
in  diesem  Lande,  sondern  in  der  ganzen  Welt.  Gelernte 
Arbeiter  der  grössten  Werke  Europa’s  brauchen,  wie  von 
einem  durchaus  nicht  zu  Gunsten  der  Arbeiter  beeinflussten 
Gewährsmanne  versichert  wird,  in  manchen  Fächern  Jahre, 
um  sich  an  die  Neuerungen,  welche  in  dieser  Fabrik  zur 
Bewältigung  der  schwierigsten  technischen  Leistungen  sich 
nach  und  nach  herausgebildet  haben,  zu  gewöhnen,  be- 
sonders unter  den  gegenwärtigen  Verhältnissen  wo  die 
Einzigen,  welche  als  Lehrmeister  dienen  könnten,  sich 
ausserhalb  der  Fabrik,  als  erbitterte  Feinde  derselben,  auf- 
halten. „Wenn  nicht  mindestens  die  Hälfte  der  gelernten 
Arbeiter  zur  Arbeit  zurückkehren,  kann  die  Kompagnie 
nicht  daran  denken,  den  Kampf  zu  gewinnen“,  fügte  mein 
Gewährsmann,  welcher  Gelegenheit  und  Veranlassung 
hatte,  die  Lage  gründlich  zu  studiren,  hinzu.  „Die  Frage, 
wer  aus  diesem  Kampfe  als  Sieger  hervorgehen  wird,  ist 
einfach  die:  Wie  lange  wollen  und  können  diese  früheren 
Arbeiter  der  Kompagnie,  welche,  der  Lage  der  Dinge  nach, 
sehr  gut  bezahlt  werden  mussten,  aushalten?  Die  Kom- 
pagnie ist  darauf  gefasst,  dass  dies  Monate  lang  dauern 
wird,  und  weiss,  dass  sie  bis  dahin  Millionen  verlieren 
muss,  erwartet  aber,  den  Verlust  nachher  durch  niedrigere 
Löhne  wieder  einbringen  zu  können.  Wenn  die  Hälfte 
der  gelernten  Arbeiter  zurückkehrt,  kann  die  Kompagnie 
in  einem  Jahre  wieder  im  Betriebe  sein,  als  wäre  Nichts 
geschehen,  aber  Jahre  wird  es  jedenfalls  dauern,  ehe  der 
erlittenen  Verlust  ausgeglichen  ist.“ 

Eine  Ueberraschung,  aber  keine  Wendung  im  Kampfe 
bot  am  Samstag,  den  23.  Juli,  das  Attentat  eines  Anarchisten 
Peuckert’scher  Richtung,  welche  sich  hier  Autonomisten 
nennen,  auf  den  rücksichtslos  hartnäckigen  Geschäftsleiter 
der  Carnegie’schen  Werke,  Henry  C.  Frick.  Der  Atten- 
täter , welcher  sein  Opfer  durch  vier  Pistolenschüsse 
und  einen  Messerstich  leicht  verwundet  hatte,  wurde 
auf  der  Stelle  verhaftet.  Er  ist  ein  wenig  bekannter 
und  wenig  intelligenter  russischer  Jude  Namens  Alexan- 
der Berkmann,  welcher  vor  einigen  Jahren  in  New-York 
ankam,  in  der  Druckerei  der  Most'schen  „Freiheit“  ohne 
Erfolg  das  Setzer-Handwerk  zu  erlernen  versuchte  und 
sich  seither,  nachdem  er  sich  mit  Most  verfeindete,  häufig 
ziel-  und  mittellos  von  Bekannten,  denen  es  kaum  besser 
ging  als  ihm,  ernähren  lassen  musste.  Er  wurde  dieser 
Tage  prozessirt  und  zu  22  Jahren  Strafhaft  bei  schwerer 
Arbeit  verurtheilt,  indem  man  ihn,  nach  einer  selbst  bei 
der  hiesigen  justizpflege  unerhörten  Logik,  dreimal  des 
Eindringens  in  ein  Haus  mit  verbrecherischer  Absicht,  ein- 
mal des  Mordangriffs  auf  Frick,  einmal  desselben  Ver- 
brechens auf  den  Sekretär  des  letzteren,  der  ihn  gefangen 
nahm,  und  einmal  des  Tragens  verbotener  Waffen  schuldig 
fand.  Uebrigens  sind  gegen  Theilnehmer  an  dem  Aufruhr 
vom  6.  Juli  nicht  weniger  als  169  Kriminalklagen  wegen 
Mord,  Aufruhr,  Verschwörung,  Strassenraub  (wegen  Ent- 
waffnung der  Pinkertonianer  nach  dem  Kampf)  etc.  erhoben 
worden.  Die  Ausständigen  haben  zwar  auch  Anklagen 


No.  2. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


21 


gegen  Frick  und  andere  Beamten  der  Kompagnie  wegen 
Aufreizung  zum  Aufruhr  (Engagiren  der  Pinkertonianer) 
erhoben,  doch  ist  nach  den  Gepflogenheiten  der  ameri- 
kanischen Justiz  kaum  anzunehmen,  dass  denselben  Folge 
gegeben  werden  wird. 

Inzwischen  ist  die  Miliz  aus  Homestead  abgezogen 
und  die  bereits  zahlreich  in  den  Werken  anwesenden 
Strikebrecher  haben  zum  Theil,  angeblich  aus  Furcht  vor 
Angriffen  der  Ausgeschlossenen  die  Arbeit  wieder  nieder- 
gelegt. Andere  desertiren  noch  immer  in  grossen  Gruppen. 
Weitere  Unruhen  werden  an  jenem  Ort  nicht  mehr  erwartet. 

Das  ist  also  das  Facit  eines  energischen,  in  ausser- 
ordentlich hohen  Wogen  gehenden  Arbeiterfeldzuges: 
Niederlagen  in  allen  grösseren  Kämpfen,  Dutzende  von 
Todten  auf  beiden  Seiten  (auch  in  Buffalo  wurde  ein  Knabe 
von  17  fahren,  welcher  Steine  auf  einige  Miliz-Soldaten 
warf,  von  den  letzteren  erschossen),  und  Hunderte  von 
Arbeitern  unter  den  schwersten  Kriminalklagen,  welche  das 
Strafrecht  kennt,  — ein  deutliches  Momento  für  die  hiesigen 
Arbeiter,  dass  die  Aufstandstaktik  eine  gründlich  verfehlte 
ist,  selbst  wenn  der  Aufstand,  wie  in  diesem  Jahre,  in  allen 
Theilen  des  Landes  gleichzeitig  aufzuckt  und  zwar  hin 
und  wieder  unter  Verhältnissen,  welche  dieser  Taktik,  wie 
z.  B.  in  den  Bergen  Tennessee’s  mit  einer  den  Aufständi- 
schen sympathisch  gestimmten  und  im  Gebrauch  von 
Waffen  geübten  Bevölkerung,  verhältnissmässig  günstig 
sind.  Dieser  Feldzug  ist  jedoch  ferner  auch  ein  Beweis 
dafür,  dass  im  Kampfe  mit  dem  Eisenbahn-  und  Minen- 
monopol die  Waffe  des  Strikes  für  kleine,  gewerkschaftliche 
Zwecke  stumpf  geworden  ist,  und  dass  selbst  in  weniger 
stark  konzentrirten  Branchen,  sobald  die  Fabrikanten  sich 
vereinigen,  Erfolge  der  Arbeiter  bereits  fast  unmöglich  ge- 
worden sind.  Solche  Vereinigungen  werden  aber  immer 
zahlreicher  und  umfassender.  Im  fernsten  Westen  der 
Vereinigten  Staaten,  von  der  Küste  des  stillen  Meeres  bis 
zum  Felsengebirge,  hat  sich  bereits  eine  Unternehmer- 
Association  ohne  Rücksicht  auf  die  verschiedenen  Geschäfts- 
branchen gebildet  und  hofft,  sich  über  die  ganzen  Ver- 
einigten Staaten  ausdehnen  zu  können.  Die  Fortschritte, 
welche  diese  Organisation  während  des  ersten  Jahres  ihres 
Bestehens  bereits  zu  verzeichnen  hat,  lassen  diese  Hoff- 
nung durchaus  nicht  als  eine  vage  erscheinen.  Die  Taktik 
der  Arbeiter  wird  sich  nach  und  nach  der  veränderten 
Sachlage  anpassen  müssen. 

New- York.  C.  Schneppe. 


Arbeiter  als  Gegner  der  Arbeitszeitregulirung.  Nach 
den  „Amtlichen  Mittheilungen“  aus  den  Jahresberichten  der 
deutschen  Fabrikinspektoren  für  1891  bemerkt  das  Referat 
des  Aufsichtsbeamten  für  S c h w a r z b u r g - S o n d e r s h a u s e n : 
„Ohne  jede  vorgeschriebene  Zeitbestimmung  wird  in  den 
Handschuhfabriken  des  Aufsichtsbezirks  Schwarzburg- 
Sondershausen  gearbeitet.  Die  Einführung  bestimmter 
Arbeitsstunden  scheitert  hier  an  dem  Widerstande  der  Ar- 
beiter, so  dass  die  Fabrikanten  jeden  derartigen  Versuch 
iiir  aussichtslos  erklärten.  Ohne  Innehaltung  bestimmter 
Tagesstunden  wird  mit  der  Arbeit  häutig  erst  am  Dienstag, 
ja  selbst  erst  am  Mittwoch  und  Donnerstag  begonnen.“ 
Dieser  Widerstand  würde  wohl  einzig  in  seiner  Art  da- 
stehen und  verdiente  eine  nähere  Erläuterung  durch  den 
Beamten  sowohl  als  die  Arbeiterorganisationen  der  Gegend. 

o o 


Politische  Arbeiterbewegung. 

Die  Marseiller  Arbeiter  - Kongresse. 

Von  den  beiden  eben  stattgehabten  Kongressen,  die 
sich  in  Marseille  zusammengefunden  hatten,  das  seit  den 
Gemeindewahlen  vom  1.  Mai  eine  sozialistische  Stadtver- 
tretung besitzt,  ist  der  Kongress  der  Arbeiterpartei 
wohl  der  weitaus  hervorragendere.  Von  seinen  Arbeiten 
ist  von  ganz  besonderer  Bedeutung  die  Behandlung  der 


Landarbeiterfrage.  Man  hat  sich  mit  derselben  wohl 
auch  schon  auf  anderen  sozialistischen  Kongressen  be- 
schäftigt, doch  ist  man  dabei  kaum  über  allgemeine  theore- 
tische Anschauungen  hinausgelangt.  Um  die  Agrikultur- 
bevölkerung mit  in  die  sozialistische  Bewegung  hineinzu- 
ziehen, wähnte  man  zumeist,  es  genüge,  statistische  An- 
gaben über  die  steigende  Verschuldung  der  Bauerngüter 
und  deren  Aufsaugung  durch  den  Grossgrundbesitz  zu  ver- 
breiten und  allenfalls  noch  sozialistische  Agitationstouren 
nach  einzelnen  Landgemeinden  zu  unternehmen.  Ganz 
anders  auf  dem  Marseiller  Kongress.  Dort  suchte  man  an 
die  unmittelbaren  Interessen  der  Landbevölkerung  anzu- 
knüpfen und  nicht  ohne  Geschick.  Der  Kongress  hat  den 
Nachweis  versucht,  dass  man  die  Bauernbevölkerung  ganz 
gut  für  die  sozialistische  Bewegung  gewinnen  könne,  wenn 
man,  ähnlich  wie  für  die  Industriebevölkerung,  auch  für 
sie  Reformen  anstrebt,  deren  Durchführung  schon  heute 
möglich  und  ihre  Lage  zu  bessern  geeignet  ist.  Es  wurde 
betont,  dass  es  noch  eine  Unzahl  unkultivirter  ärarischer 
und  Gemeindeländereien  gäbe,  die  sich  recht  wohl  für  den 
Acker-  oder  Weinbau  eignen  würden  und  deren  Verpach- 
tung an  selbstwirthschaftende  Einzelfamilien  oder  an  Acker- 
baugenossenschaften sowohl  diesen  wie  dem  ganzen  Lande 
zu  Gute  käme.  Dem  Abgeordneten  Ferroul  zufolge,  der 
gleichzeitig  Bürgermeister  von  Narbonne  ist,  giebt  es  an 
den  Ufern  des  Mittelländischen  Meeres  von  den  Pyrenäen 
bis  zu  den  Alpen  weite  Strecken,  die  ganz  besonders  für 
den  Weinbau  geeignet  sind,  aber  trotz  aller  Versuche 
von  Bauersleuten  einzelne  Parzellen  zu  erhalten,  entweder 
ganz  unbenutzt  liegen  oder  nur  an  Kapitalisten  oder  Gross- 
grundbesitzer verpachtet  werden.  Auf  viele  andere  Re- 
formen wurde  hingewiesen,  die  leicht  durchführbar  wären 
und  dem  Kleinbauer  wie  dem  Tagelöhner,  dem  Acker- 
knecht wie  dem  Viehhirten  und  allen  sonstigen  landwirth- 
schaftlichen  Arbeitern  wesentliche  Vortheile  brächten  Der 
Kongress  hat  ein  ganzes  Programm  aufgestellt,  das  wohl 
anderen  sozialistischen  Parteien  nun  vielfach  als  Vorbild 
dienen  und  der  französischen  Arbeiterpartei  neue , der 
sozialistischen  Bewegung  bisher  ganz  fremde  Schaaren  zu- 
führen dürfte.  Dieses  Programm  verlangt  im  Wesentlichen: 
I.  Einen  von  den  Agrikulturarbeiter-Syndikaten  und  den 
Gemeinderäthen  festzustellenden  Minimallohn  sowohl  für 
Tagelöhner  wie  für  aufs  Jahr  verdingte  Arbeiter  (Acker- 
knechte und  Mägde,  Viehhirten  etc.);  2.  Bildung  landwirth- 
schaftlicher  Prud’hommesgerichte;  3.  Verbot  Gemeinde- 
boden zu  veräussern,  Verpachtung  der  dem  Staate  ge- 
hörigen maritimen  und  sonstigen  unbebauten  Bodenflächen, 
sowie  Verwendung  der  Gemeindeüberschüsse  zur  Ver- 
grösserung  des  Gemeindeeigenthums;  4.  Ueberlassung  dieser 
Grundstücke  an  landwirthschaftliche  aus  besitzlosen  Fami- 
lien gebildete  Assoziationen  als  einfache  Nutzniesserinnen 
gegen  ein  zu  Gunsten  des  Gemeinde-Unterstützungsbudgets 
zu  erlegendes  Entgelt  und  mit  dem  Verbot,  Lohnarbeiter 
zu  beschäftigen;  5.  Bildung  einer  landwirthschaftlichen  Inva- 
liden- und  Altersversorgungskasse  aus  dem  Erträgnisse  einer 
besonderen  aus  den  Revenuen  des  Grossgrundbesitzes  zu  zie- 
henden Steuer;  6.  Ankauf  landwirthschaftlicher  Maschinen 
durch  die  Gemeinden  und  ihre  Vermiethung  zum  Kostenpreis 
an  Agrikulturarbeiter,  sowie  Gründung  landwirthschaftlicher 
Arbeiterassoziationen  zum  Ankauf  von  Dünger , Samen, 
Pflanzen  etc.  wie  zum  Verkauf  ihrer  Produkte;  7.  Ab- 
schaffung der  Gebühren  bei  Eigenthumswechsel  von  Grund- 
stücken unter  5000  Francs;  8.  Herabsetzung  der  Pachtzinse 
durch  Schiedskommissionen  und  Entschädigung  der  abtre- 
tenden Pächter  für  den  dem  Grundstück  verliehenen  Mehr- 
werth; 9.  Aufhebung  des  Art.  2102  des  bürgerlichen  Ge- 
setzbuches, der  den  Grundbesitzern  gegenüber  den  anderen 
Gläubigern  ein  Vorrecht  auf  die  Ernte  einräumt,  und  Auf- 
hebung der  Pfändung  noch  ausstehender  Ernten,  sowie 
Bestimmung  eines  unpfändbaren  Minimums,  bestehend  aus 
Ackergeräthschaften,  Erntequantum,  Dünger  und  Zugvieh; 
10.  Revision  des  Katasters;  II.  unentgeltliche  landwirth- 
schaftliche Lehrkurse  und  Errichtung  von  Ackerbau-Ver- 
suchsfeldern. 

Gegenüber  der  Landarbeiterfrage  treten  alle  sonstigen 
vom  Kongress  behandelten  Fragen  zurück;  erwähnt  sei 
allenfalls  noch,  dass  er  sich  in  Bezug  auf  den  bevorstehen- 
den parlamentarischen  Wahlkampf  für  Aufstellung  von 
Arbeiter-Kandidaten  in  allen  Wahlbezirken  aussprach,  wo 
die  Partei  Gruppen  zählt,  und  sei  es  auch  nur  aus  Propa- 
gandazwecken, und  dass  er  sich  gegen  den  Beschluss  des 
jüngst  in  Glasgow  abgehaltenen  Trades-Unions-Kongresses 
aussprach,  der  im  Gegensatz  zu  dem  im  nächsten  Jahre  in 


22 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT, 


No.  2. 


Zürich  abzuhaltenden  internationalen  Kongress  einen  solchen 
Kongress  nach  London  einberuft. 

Was  den  Gewerkschaftskongress  anbelangt,  der 
dem  Kongress  der  Arbeiterpartei  vorherging,  so  Hesse  sich 
über  denselben  wohl  vieles,  doch  nichts  Neues  berichten. 
Es  ist  begreiflich,  dass  dort  wo  die  Forderungen  der  Ar- 
beiter, und  seien  sie  noch  so  berechtigt,  auf  taube  Ohren 
stossen,  die  Arbeiter  gezwungen  sind,  dieselben  immer 
zu  wiederholen.  Diesem  Nichthörenwollen  ist  es  wohl 
nur  zuzuschreiben , wenn  dieser  aus  sonst  ökonomisch 
geschulteren  Arbeitern  zusammengesetzte  Kongress  sich 
für  einen  Weitst rike  aussprach;  von  dem  sich  die  er- 
bitterten Arbeiter  die  Beseitigung  all  ihrer  Leiden  ver- 
sprechen, und  den  sie  als  die  „Revolution  der  verschränkten 
Arme“  bezeichnen.  Das  Irrthümliche  dieser  Anschauungen 
nachzuweisen,  ist  hier  nicht  der  Ort  und  würde  wohl  auch 
zu  weit  führen,  aber  von  den  herrschenden  Klassen,  die 
sich  gegen  ernstere  soziale  Reformen  sträuben,  sollte  dieser 
Beschluss  wie  ein  Menetekel  beachtet  werden. 


Präsidentenwahl  in  den  Vereinigten  Staaten.  Die 

Präsidentschaftswahlkampagne  ist  bereits  in  vollem  Gange. 
Die  Hauptschlagworte  der  beiden  alten  Parteien  sind  wie- 
der, wie  vor  vier  Jahren,  Schutzzölle  auf  Seiten  der  Re- 
publikaner, Finanzzölle  seitens  der  Demokraten.  Die  soziali- 
stische Partei  beginnt  ihrerseits  ebenfalls  energisch  in  die 
Kampagne  einzugreifen.  Dieselbe  hat  Simon  Wing  von 
Massachusetts  und  Charles  Matchett  von  Brooklyn  als 
Präsidentschafts-  und  Vicepräsidentschafts-Kandidaten  nomi- 
nirt  und  in  verschiedenen  Staaten  Wahlmänner  aufgestellt. 
In  den  westlichen  und  auch  einigen  östlichen  Staaten  giebt 
die  auf  dem  Namen  „Volkspartei“  getaufte  Bauernpartei 
als  unbekannte  Grösse  den  Politikern  der  alten  Parteien 
viel  zu  rathen  auf.  Sie  fordert  hauptsächlich  uneinge- 
schränkte Silberprägung,  Verstaatlichung  der  Eisenbahnen 
und  Regierungsvorschüsse  auf  in  Regierungsspeichern  ab- 
zuliefernde Getreidevorräthe  zu  billigen  Zinsen,  also  Staats- 
sozialismus zu  Gunsten  der  Agrarier. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Die  Sonntagsruhe  im  preussischen  Eisenbahngüterverkehr. 

Gegen  die  Durchführung  der  Sonntagsruhe  im  preussischen  Eisen- 
bahngüterverkehr werden  jetzt  von  den  Bahnverwaltungen  die  da- 
mit verbundenen  finanziellen  Opfer  ins  Feld  geführt.  Am  3.  Okto- 
ber trat  in  Köln  a.  Rhein  unter  dem  Vorsitze  von  Kommissaren 
des  Eisenbahnministers  eine  Kommission  zusammen  zur  Be- 
rathung  der  Massregeln  zur  Durchführung  der  Sonntagsruhe,  in 
welcher  die  Rückwirkungen  der  letzteren  auf  den  Güterverkehr 
und  die  finanziellen  Folgen  des  Ausfalls  der  Beförderung  von 
Massengütern  am  Sonntag  eingehend  erörtert  werden  sollen. 
Der  Kommission  liegt  eine  vom  Vorstande  des  Essener  Wagen- 
amts aufgestellte  Berechnung  vor,  welche  den  in  Folge  der 
Sonntagsruhe  entstehenden  Mehrbedarf  an  Güterwagen  allein 
für  den  Ruhrbezirk  mit  2500,  was  einem  Anschaffungsbetrage  von 
10  Millionen  Mark  entspricht,  beziffert.  Die  „Kölnische  Ztg.“, 
welche  es  vorläufig  dahingestellt  lässt,  ob  diese  Ziffer  nicht  zu 
niedrig  gegriffen  sei,  stellt  über  den  Gegenstand  folgende 
Betrachtung  an: 

„Der  Ausfall  der  Beförderung  von  Massengütern  an  Sonn- 
tagen ist  zunächst  für  den  Staatssäckel  sehr  kostspielig  und 
wird  bei  vollständiger  Durchführung,  abgesehen  von  den  Aus- 
gaben für  die  nothwendige  Verstärkung  des  Wagenparks  und 
etwa  nöthiger  Vermehrung  der  Wagenaufstellungsgeieise,  erheb- 
liche weitere  Ausgaben  erfordern.  Die  vor  der  Einführung  der 
Sonntagsruhe  den  gegen  Tagelohn  beschäftigten  Bahnhofs- 
arbeitern, Güterbodenarbeitern,  dem  Fahr-  und  Lokomotiv- 
Personal  u.  s.  w.  für  Sonntagsarbeit  gezahlten  Löhne  werden 
nicht  erspart.  Die  gegen  Monatsbesoldung  und  im  Beamten- 
verhältniss  beschäftigten  Arbeiter  erhalten,  abgesehen  von  eini- 
gen mit  dem  Fahrdienst  verknüpften  Nebeneinnahmen,  ihren 
Lohn  weiter,  die  gegen  Tagesbesoldung  beschäftigten  Arbeiter, 
welche,  gewohnt  waren,  auch  an  einem  Theil  der  Sonntage  zu 
arbeiten,  können  eine  Verminderung  ihrer  bisherigen  Einnahmen 
um  fast  ein  Siebentel  nicht  ertragen.  Thatsächlich  wird  diesen 
Arbeitern  deshalb  auch  fast  durchweg  der  Lohn  unter  dem  Titel 
„für  Dienstbereitschaft“  für  die  beschäftigungslosen  Sonntage 
gezahlt.  Für  die  auf  den  Montag  sich  häufende  Arbeit  müssen 
aber  verstärkte  Hilfskräfte  zum  Dienst  gezogen  und  selbstver- 
ständlich auch  bezahlt  werden,  so  dass  zu  der  unvermeidlichen 
bisherigen  Ausgabe  eine  Mehrausgabe  für  aussergewöhnliche 
Hilfskräfte  an  Montagen  kommt,  welche  die  mit  dem  Fahrdienst 


verknüpften  Ersparnisse  an  Nebenausgaben  (Kilometer-,  Ueber- 
nachtungsgelder  etc ) aufwiegen  dürfte.  Die  rollenden  Züge 
müssen,  bevor  sie  zur  Ruhe  gestellt  werden  können,  bis  zur 
nächsten  Station,  und  zwar  bis  zu  der  Station  laufen,  auf  wel- 
cher die  vorhandenen  Geleise  ihnen  Platz  bieten,  ohne  den  auf- 
recht erhaltenen  Verkehr  zu  hindern  und  die  Wiederaufnahme 
des  vollen  Verkehrs  durch  Zustellung  der  Geleiseverbindungen 
zu  erschweren.  Das  führt  mit  Nothwendigkeit  dazu,  dass  ein- 
zelne Stationen  an  den  Sonntagen  jetzt  mit  Wagen  gefüllt  sind, 
und  dass  an  den  Montagen  die  Güterzüge  mit  Hilfe  von  sonst 
nicht  erforderlichen  Vorspannmaschinen  gefahren  werden,  dass 
Lokomotiven  und  Personale  zahlreiche  Leerfahrten  zur  Heimath- 
station  und  nach  beendigter  Sonntagsruhe  zurück  zur  Wagen- 
sammelstation machen  müssen.  Trotz  dieser  Leerfahrten  müssen 
jetzt  an  den  Sonntagen  zahlreiche  Lokomotiven  in  kaltem  Zu- 
stande im  Freien  verbleiben,  weil  es  an  den  zu  ihrer  Unter- 
bringung nöthigen  Schuppen  fehlt.  Sehr  empfindlich  wird  sich 
dieser  Umstand  beim  Eintritt  der  kalten  Jahreszeit  bemerkbar 
machen.  Sollen  die  Maschinen  nicht  durch  den  Frost  leiden, 
so  wird  man  dieselben  dienstfähig,  also  geheizt,  aufstellen  oder 
spazieren  fahren  lassen  müssen,  bis  genügende  Lokomotiv- 
schuppen für  die  Sonntagsmaschinen  gebaut  sein  werden.  Die 
Dienstbereitschaft  der  Lokomotiven  ohne  Arbeitsleistung  und 
die  Erbauung  von  Lokomotivschuppen  wird  aber  erhebliche 
Summen  Geldes  kosten.“ 

Die  Befürchtungen  der  „Kölnischen  Ztg.“  scheinen  weniger 
von  der  Rücksicht  auf  die  Staatsfinanzen  als  von  Kreisen  in- 
spirirt  zu  sein,  die  ein  Interesse  an  dem  ununterbrochenen  Güter- 
verkehr haben,  was  aus  der  zweifellos  übertriebenen  Darstellung 
des  Blattes  hervorgeht.  Wir  können  nicht  annehmen,  dass  die 
Schwierigkeiten  und  Kosten  der  völligen  Durchführung  der 
Sonntagsruhe  im  Eisenbahngüterverkehre  so  ausserordentlich 
sind.  Unserer  Meinung  nach  dürfte  übrigens  eine  so  selbst- 
verständliche sozialpolitische  Massregel  in  Staatsbetrieben,  die 
nach  einem  kaiserlichen  Versprechen  Musterbetriebe  werden 
sollen,  niemals  am  Kostenpunkte  scheitern.  Zu  befürchten  ist 
dies  aber  angesichts  des  Defizits  im  preussischen  Etat  und  der 
voraussichtlichen  ausserordentlichen  Ausgabensteigerung  im 
Reichsetat  freilich  doch. 


Gewerbegerichte,  Einigungsämter  und 
Arbeiterausschüsse. 

Beschleunigung  des  gewerbegericktliclien  Verfahrens. 

Das  Gemeindekollegium  der  Stadt  München  hatte  vor  einiger 
Zeit  einen  Antrag  einstimmig  angenommen,  welcher  bezweckte, 
Arbeitern  die  Vollstreckung  gewerbegerichtlicher  Urtheile  gegen 
ihre  früheren  Dienstherren  dadurch  zu  erleichtern,  dass  der 
Magistrat  die  betreffenden  Gerichte  veranlassen  möchte,  einen 
besonderen  Gerichtsvollzieher  für  die  vorbezeichnete 
Angelegenheit  aufzustellen.  Dieser  Antrag  kam  in  der  Sitzung 
des  münchener  Magistrats  vom  22.  September  d.  Js.  zur  Ver- 
handlung. Der  Referent  meinte,  dass  der  Antrag  an  die  falsche 
Adresse  gerichtet  sei,  da  es  sich  um  reichsgesetzliche  Vor- 
schriften handle;  auch  der  Art.  674  der  Gerichtsvollzieherordnung 
stehe  im  Wege;  die  Aufträge  würden,  besonders'  dringliche 
Fälle  ausgenommen,  in  der  chronologischen  Reihenfolge,  in  der 
sie  ertheilt  worden  seien,  von  den  Gerichtsvollziehern  vollzogen. 
Es  handle  sich  übrigens  wöchentlich  „nur“  um  2 oder  3 Urtheile, 
denen  meistens  Vergleichsabkommen  über  die  Zahlung  oder 
diese  selber  folge.  In  seiner,  des  Referenten,  Praxis  sei  ihm 
bisher  noch  kein  Fall  von  einer  Beschwerde  gegen  Saumselig- 
keit in  der  Vollstreckung  der  gewerbegerichtlichen  Urtheile 
vorgekommen.  Referent  beantragte,  das  Gewerbegericht  anzu- 
weisen, die  betreffenden  Arbeiter  nach  einer  ihnen  günstigen 
Urtheilsfällung  auf  drei  weniger  beschäftigte  Gerichtsvollzieher 
aufmerksam  zu  machen.  Das  Kollegium  nahm  den  Antrag  ohne 
Debatte  an.  Ob  damit  die  praktisch  für  das  gewerbegericht- 
liche Verfahren  sehr  wichtige  Angelegenheit  „erledigt“  ist, 
namentlich  für  die  Arbeiter,  welche  auf  ihren  rückständigen 
Lohn  als  einzigen  Lebensunterhalt  angewiesen  sind,  steht 
wohl  dahin. 

Gewerbegericht  als  Einigungsamt.  Die  Fälle,  in 
denen  die  deutschen  Gewerbegerichte  als  Einigungsämter 
fungiren,  sind  bisher  so  selten,  dass  es  leider  sehr  leicht  ist 
die  einzelnen  Fälle  zu  registriren.  Ende  September  hat 
das  Gewerbegericht  von  Kiel  unter  Vorsitz  des  Ober- 
bürgermeisters als  Einigungsamt  fungirt.  Es  handelte  sich 
um  Differenzen  zwischen  Brauereibesitzern  und  Gehilfen,  die 
auch  friedlich  geschlichtet  werden  konnten.  Nicht  gelang 
dies  mit  Differenzen  zwischen  Hilfsarbeitern  und  Brauerei- 
besitzern. 

Die  Zuständigkeit  der  Gewerbegerichte.  In  München 
wird  Klage  geführt,  dass  die  Gerichtsschreiberei  des  Ge- 


No.  2. 


SOZIALPC )LITJ SCMES  CENTRAI ,BI .ATT. 


2.'5 


werbegerichtes  Taglöhner  a limine  bei  der  Anbringung 
von  Klagen  wegen  angeblicher  Nichtzuständigkeit  des  Ge- 
werbegerichtes  abweist. J 

Aiiskini ftsbiireau  für  gewerbliche  Streitigkeiten  in  Leip- 
zig. Ein  solches  Bureau  besteht  seit  April  1890  in  Leipzig  und 
ist  von  clen  dortigen  Arbeitern,  nicht  etwa  von  der  Stadt,  er- 
richtet. Dasselbe  fungirt  so,  dass  die  Gewerbegerichts-Beisitzer 
aus  den  Gehilfenkreisen  abwechselnd  an  bestimmten  Tages- 
stunden auf  Grund  ihrer  Spruchpraxis  unentgeltlichen  Rath  an 
Arbeiter  ertheilen,  die  das  Gewerbegericht  gegen  ihre  Arbeit- 
geber anrufen  wollen.  Es  sollen  dadurch  namentlich  nutzlose 
und  kostspielige  Prozesse  vermieden  werden.  Seit  seiner  Er- 
richtung im  April  1890  ist  das  Auskunftsbureau  von  3 — 4000,  im 
letzten  Jahre  von  über  1000  Arbeitern  zu  Rathe  gezogen  worden. 
Das  Bureau  hat  in  der  letzten  Zeit  seinen  Wirkungskreis  noch 
insofern  erweitert,  als  es  auch  in  Streitigkeiten  bei  der  Anwen- 
dung des  Kranken-  und  Unfall-Versicherungs-Gesetzes  Rath  er- 
theilt  und  als  es  die  Arbeiter  über  die  Gesetzlichkeit  und  Un- 
gesetzlichkeit der  von  ihren  Arbeitgebern  gefassten  Arbeits- 
Ordnungen,  sowie  über  den  Weg  unterrichtet,  auf  dem  die  Be- 
seitigung ungesetzlicher  Bestimmungen  erfolgen  kann.  Bei  dem 
Rathe  der  Stadt  Leipzig  ist  vom  Gewerbegerichte  auf  Anregung 
der  Gehilfen-Beisitzer  der  Antrag  eingereicht  worden , orts- 
statutarisch die  allwöchentliche  Auszahlung  des  Lohnes  am 
Freitag  anzuordnen.  Jetzt  ist  das  Auskunftsbureau  trotz  seiner 
nützlichen  Thätigkeit  in  einzelnen  Gewerkschaften  mit  solchem 
Erfolge  angegriffen  worden,  dass  jetzt  sogar  die  massigen,  sich 
auf  5 — 600  Mk.  jährlich  belaufenden  Unkosten  nur  mit  Mühe  auf- 
zubringen sind.  Die  zumeist  aus  dem  „Gewerkschafts-Kartell“ 
erfolgenden  Angriffe  stützen  sich  hauptsächlich  darauf,  dass  das 
Bureau  zu  theuer  arbeite  und  dass  es  auch  den  nichtorganisirten 
Arbeitern,  die  zu  den  Kosten  der  Einrichtung  nichts  beitrügen, 
ebenso  unentgeltlichen  Rath  ertheile,  als  den  organisirten,  die 
das  Bureau  unterhielten.  Dem  ersten  Beschwerdepunkte  ist 
nunmehr  durch  Beschaffung  eines  unentgeltlichen  Bureaulokals 
abgeholfen  worden.  Was  den  zweiten  Punkt  anbelangt,  so 
vertraten  die  Gewerbegerichtsbeisitzer  kürzlich  in  einer  Ver- 
sammlung ganz  entschieden  den  Standpunkt,  dass  der  Rechts- 
rath jedem  Arbeiter,  der  ihn  verlangte,  ohne  Rücksicht  auf  seine 
politische  Gesinnung  ertheilt  werden  müsste.  Es  wurde  auch 
beschlossen,  das  Auskunftsbureau  wie  bisher,  auf  allgemeine 
LTnkosten,  weiter  zu  führen,  es  dagegen  zu  halbjährlicher  Be- 
richterstattung über  seine  Thätigkeit  zu  verpflichten.  Der  Antrag, 
statistisch  festzustellen,  wieviel  „unorgan isirte“  Arbeiter  das 
Institut  benützten,  wurde  abgelehnt.  Das  bisherige  Verhältniss 
dieser  zu  den  „organisirten“  Rathsuchern  war  das  von  I : 3. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung 

Bau  von  Arbeiterwohnungen  aus  Mitteln  der  I11- 
validitäts-  und  Altersversorgung  in  Hessen.  Auch  der 
Ausschuss  der  Invaliditäts-  und  Altersversicherungs-Anstalt 
für  das  Grossherzogthum  Hessen  hat  kürzlich  beschlossen, 
dass  zur  Förderung  des  Baues  von  Arbeiterwohnungen  ein 
Theil  des  Anstaltsvermögens  und  zwar  höchstens  ein  Viertel 
desselben  zur  Förderung  des  Baues  von  Arbeiterwohnungen 
verwendet  und  zu  diesem  Zwecke  gegen  hinreichende 
Sicherheit  Darlehen  an  Gemeinden,  Arbeitgeber , milde 
Stiftungen,  sowie  an  gemeinnützige  Baugesellschaften  und 
Bau  - Genossenschaften  etc.  dargeliehen  werden  dürfen. 
Liegenschaften  dürfen  u.  A.  Iris  zu  66'-/:i  pCt.  ihres  Schätzungs- 
werthes  beliehen  werden.  Das  Ministerium  des  Innern  und 
der  Justiz  hat  diese  Beschlüsse  gutgeheissen,  Vorbehalten 
ist  nur,  dass  die  ministerielle  Genehmigung  einzuholen  ist, 
wenn  ein  geringerer  als  der  landesübliche  Zinsfuss  gewährt 
oder  das  Darlehen  gegen  andere  als  mündelsichere  Sicher- 
heit gegeben  werden  soll. 


Soziale  Hygiene. 

Gesundheitswidriges  aus  den  Dresdener  Bäckereien.  In 
einer  Ende  September  abgehaltenen  Bäckerversammlung  wurde 
konstatirt,  dass  die  BäckerTn  den  meist  feuchten,  der  Ventilation 
und  selbst  der  Fenster  entbehrenden,  oft  in  Kellern  gelegenen 
Backstuben  ihre  Mahlzeiten  einnehmen  und  sich  waschen  müssen. 

Die  Schlafstätten  sind  als  Ansteckungsherde  zu  bezeichnen; 
sie  befinden  sich  gleichfalls  meist  im  Keller  oder  unter  dem 


Dach  und  bestehen  dann  in  einem  Bretterverschlag,  dessen  Fugen 
mit  Papier  verklebt  sind,  von  welchem  dir:  Fetzen  herunter 
hängen,  so  dass  es  höchst  feuergefährlich  ist,  wenn  die  Arbeiter 
des  Abends  sich  umkleiden  wollen  und  mangels  einer  Laterne 
mit  dem  Streichholz  oder  irgend  einem  Stückchen  Licht  den 
Raum  beleuchten  müssen.  In  einem  solchen  Raum  liegen  5—6 
Personen  und  noch  mehr  zusammen,  die  Bettstellen  stehen  über- 
einander. Es  kommt  häufig  vor,  dass  2 Personen  in  einem  Bett 
zusammen  schlafen  müssen.  Die  Räume  sind  ebenfalls  voll 
Ungeziefer  und  schmutzig.  Die  Bettwäsche  und  Handtücher 
sind  meist  in  schmutzigem  Zustande;  es  kommt  vor,  dass  es  die 
Woche  über  nur  zwei  Handtücher  giebt,  welche  schon  in  einem 
Tage  durch  Schmutz  so  hart  werden,  dass  es  unmöglich  ist, 
sich  daran  abzutrocknen,  weshalb  die  Arbeiter  ihre  eigene 
Kleidung  oder  die  Mehlsäcke  dazu  benutzen  müssen.  In  einer 
Bäckerei  befinden  sich  die  Wasserausgüsse  in  den  Backräumen 
und  werden  gleichzeitig  als  Pissoirs  benutzt;  die  Röhren  gehen 
durch  die  Schlafräume  der  Arbeiter.  Düngergrube  und  Abort 
befinden  sich  dicht  an  den  Backräumen  oder  Backöfen,  so  dass 
durch  die  Wärme  sich  Dünste  entwickeln,  die  sich  nicht  be- 
schreiben lassen,  und  in  diesem  ekelerregenden  und  gesund- 
heitsschädlichen Dunst  müssen  die  Arbeiter  die  nothwendigsten 
Lebensmittel  herstellen.  Das  von  den  Backtrögen  Abgekratzte 
wird  mit  in  „echt“  Braunschweiger  Pfefferkuchen  verarbeitet. 
In  einer  anderen  Bäckerei  befindet  sich  der  Abort  dicht  neben 
den  Schlafräumen  der  Gesellen,  die  Räume  sind  aus  Holz  ge- 
baut und  es  herrscht  darin  eine  Atmosphäre,  dass  dort  arbeitende 
Gesellen  wiederholt  krank  geworden  sind.  Die  Gesellenschaft 
ist  zur  Abhilfe  dieser  Missstände  allein  zu  ohnmächtig,  weil 
Jeder  die  Massregelung  fürchtet,  welche  bei  der  Innung  an  der 
Tagesordnung  ist,  zumal  Arbeitslosigkeit  von  */ 2 bis  1 Jahr  gar 
nicht  als  Seltenheit  vorkommt. 

Von  seiten  der  Gehilfen  ist  der  Dresdener  Magistrat  im 
Wege  einer  Eingabe  auf  die  in  den  Bäckereien  herrschenden 
Uebelstände  aufmerksam  gemacht  worden.  Nach  10  Wochen 
kam  der  Bescheid,  der  Rath  habe  jetzt  nicht  genügend  Zeit, 
sich  mit  dieser  Eingabe  zu  befassen!  Die  erwähnte  Bäckerver- 
sammlung sprach  darüber  ihr  Bedauern  aus  und  beschloss,  die 
geschilderten  Zustände  dem  Publikum  bekannt  zu  machen.  Mit 
der  Sonntagsruhe  der  Gehilfen  steht  es,  wie  zum  Schluss  be- 
merkt sei,  nicht  besser.  In  vielen  Werkstätten  wird  während 
des  Gottesdienstes  fort  gebacken,  in  vielen  um  1,,29 — 9 Uhr  auf- 
gehört und  um  11  Uhr  wieder  angefangen,  wodurch  dann  die 
Arbeiter  um  den  ganzen  Sonntag  kommen. 


Kriminalität. 


Strafhausarbeit  in  Bayern.  In  den  Strafanstalten  und 
Arbeitshäusern  des  Königreichs  betrug  nach  dem  Stande  vom 
31.  Dezember  1891  die  Gesammtzahl  der  männlichen  Gefangenen 
6262.  Hiervon  waren  unbeschäftigt  241.  Beschäftigt  waren  für 
den  eigenen  Bedarf  der  Anstalten  768,  mit  landwirthschaftlichen 
Arbeiten , gewöhnlichen  Taglohnarbeiten  für  Rechnung  des 
Staats  1979,  für  Anstaltsbeamte  und  Bedienstete  62,  für  Rech- 
nung der  Gewerbetreibenden  2507,  für  Rechnung  der  An- 
stalten zum  Verkauf  an  Gewerbetreibende  328,  für  Rechnung  der 
Anstalten  zum  Verkaufe  überhaupt  und  für  Rechnung  von  Pri- 
vaten 377.  Die  Gesammtzahl  der  weiblichen  Gefangenen  belief 
sich  auf  967.  Hiervon  waren  unbeschäftigt  55.  Beschäftigt 
waren  für  den  eigenen  Bedarf  der  Anstalten  132,  mit  Arbeiten 
für  Rechnung  des  Staates  71,  für  Anstaltsbeamte  und  Be- 
dienstete 5,  für  Rechnung  von  Gewerbetreibenden  539  und  für 
Rechnung  von  Privaten  165. 


Vermischtes. 


Ein  Verein  Berliner  Arbeiter  und  Arbeiterinnen  zur 
ersten  Hilfe  bei  Unglücksfällen  wurde  unlängst  gegründet. 
Wir  konstatiren  dies,  um  die  vielseitigen  Interessen  und 
Bestrebungen  innerhalb  der  Arbeiterschaft  zu  illustriren, 
die  sich  keineswegs  blos  auf  den  politischen  und  gewerk- 
schaftlichen Kampf  beschränkt,  sondern  immer  mehr  Ge- 
biete zu  erfassen  sucht.  Wir  erinnern  noch  an  die  sozia- 
listischen Turn-  und  Gesangvereine,  an  das  Bestehen  der 
„Freien  Volksbühne“  u.  dergl. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin 


24 


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Xo.  2. 


fcerber’iche  ä?erltige.hiiiiMung,  ftreiburg  int  töreiognu. 

Sueben  ift  erfctjienen  unb  burd)  alle  SSncfjfyanblungen  31t  begießen : 

Fr.  21.  ÜJf.,  0.  Pr.,  Sociale  ^ tafle  unö  fpeiale  örbminfl 

ober  $nftttutionen  ber  ©efettfd)aft§lel)re  ‘ Sn  graei  steilen.  (xxvi  n 

1026  ©.)  M.  7;  geb.  in  3 tuet  .^aibfvansbnnben  M.  10.20. 

2)aö  2Ber!  bilbet  jugleicb  ben  IV.  iöanb  (jtueite  2luflage  in  jtuei  Si£)etlen';  uon 
Fr.  SBeiß’  „Styologie  beb  ©htufteutbumä  »tun  Stanbbmtfte  ber  Sitte  unb  (Kultur".  23oü-- 
ftänbig  in  fünf  23änben.  8°.  (XCII  tt.  4836  @.)  M.  34.40;  geb.  in  £>albfran3  M.  46  20. 


Verlag  der  Manz’schen  k.  und  k.  Hof-Verlags-  und  Universitäts-Buchhandlung  in  Wien. 


Die 

• • 

Österreichische  Handelspolitik 

im  neunzehnten  Jahrhunderte. 

Von 

Dr.  -A.d.olf  Beer, 

k.  k.  Mmisterialrath  und  Reichstags- Abgeordneter. 

Gr.  8.  39l/2  Bogen.  Preis  broschirt  12  Mark. 

Zum  ersten  Male  wird  in  diesem  Werke  eine  Darstellung  der  leitenden  Gesichts- 
punkte österreichischer  Handels-  und  Zollpolitik,  ausschliesslich  auf  handschriftlichen 
Quellen  fussend,  gegeben.  Besonders  ausführlich  werden  die  Bestrebungen  Oester- 
reichs zur  Bildung  einer  Zolleinigung  mit  dem  deutschen  Zollvereine  geschildert.  Das 
Werk  liefert  auch  für  die  Würdigung  der  österreichischen  Politik  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten manchen  Beitrag  und  dürfte  auch  in  weiteren  Kreisen  lebhaftes  Interesse  er- 
wecken. 

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Sans  Ülrttolb,  Dr.  Eugen  Sicher,  Ülrthur  Jitger,  Dr.  yuigo  ©oering,  Prof.  Dr. 
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uout  15.  Suui  1883, 

in  berg-afjung  bct'ftobelle  botn  10. 94ml  1892 

1)011 

(£.  Von  IPurMkc, 

Avoiteil.  ©el).  Sbei'iRcgicv  ligövatf),  uortnig.  Jiotl)  im3teid)e- 
amt  beä  Snncrn. 

'Riefte  gantlid)  mniicaibcitetc  xHurtagc. 
Safd)enfornmt  cartonnirt. 

'Prcib  3 ÜKf. 

jfret  Hflnb 

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Sinialrefürm. 

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im  Söeltpoftuerein „ 1,50 

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Btc  (Expßbtitmt 

K.  luTbö,  Stalli’djvpibcrltr.  55. 


Verantwortlich  für  den  Anzeigcutheil:  O.  Sekuchardt  in  Berlin.  — - Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  17.  Oktober  1892. 


Nummer  3. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag-  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


„Demagogen thuni  in  wissen- 
schaftlichem Gewände.“ 
Von  l’rof.  Dr.  Werner  Sombart. 

Soziale  Wirtschaftspolitik  u. 
Wirthsclia  ftsstatistik : 

Die  „Uc  her  Weisung“  der  preussi- 
schen  Grundsteuer  und  ihre  so- 
zialpolitische Seite.  Von  Privat- 
dozent Dr.  J.  Jastrow. 

Unfälle  auf  deutschen  Eisenbahnen 

Aufenthaltsräume  ftir  pfleglose 
Schulkinder. 

Thätigkeit  des  Berliner  Central- 
vereins für  Arbeitsnachweis  im 
1.  Quartal  1892. 

Das  Steigen  der  Auswanderung 
aus  Italien. 

Die  Wollindustrie  in  Massachusetts. 
Arbeite*  zustande: 

Truckunfug  im  rheinisch-westfäli- 
schen Bergrevier. 

Arbeitsverhältnisse  in  den  deut- 
schen Nahrungsmittelgewerben. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Die  Situation  im  deutschen  Buch- 
druckgewerbe. Von  Bruno 
Klinkhardt,  Vorsitzender  des 
des  Deutschen  Buchdrucker- 
Vereins. 

Erwiderung.  Von  Dr.  Adolf 
Braun. 


Internationaler  Gewerkschafts- 
kongress. 

Schweizerischer  Grütliverein. 

Konflikt  zwischen  französischen 
und  belgischen  Bergarbeitern. 

Die  Vereinigung  der  Eisenbahn- 
bediensteten in  England. 

Politische  Arbeiterbewegung : 
Zum  Strike  in  Carmaux. 
Schweizerische  sozialdemokratische 
Partei. 

i 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 
Frauenarbeit  in  deutschen  Gold- 
und  Silberwaarenfabriken. 
Arbeiterversicherun  g : 

Die  deutsche  Arbeiterversicherungs- 
gesetzgebung auf  der  Weltaus- 
stellung in  Chicago. 

Neue  Aufgaben  der  Invaliditäts- 
und Altersversicherung. 
Versorgung  der  Dienstboten  durch 
die  deutsche  Invaliditäts-  und 
Altersversicherung. 

Invaliditäts-  und  Altersversicherung 
in  Elsass-Lothringen. 

Arbeiter -Unfallversicherungsanstalt 
für  Nieder-Oesterreich. 

W ohlfabrtseinrichtungen : 
Wohlfahrtseinrichtungen  der  VVürt- 
tembergischen  Metallwaaren- 
fabrik. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


„Demagogenthum  in  wissenschaftlichem 
Gewände“. 


Eine  Entgegnung1). 

Das  Sozialpolitische  Centralblatt  ist  seit  einigen  Tagen 
in  einer  Reihe  von  Blättern  als  Organ  eines  „Demagogen- 
thums in  wissenschaftlichem  Gewände“  zum  Gegenstand 
gehässiger  Angriffe  gemacht  worden.  Der  Ursprung  dieser 


•)  Nachdem  neben  dem  Sozialpolitischen  Centralblatt  unser 
verehrter  Mitarbeiter,  Herr  Prof.  Dr.  Werner  Sombart,  von  der 
Schlesischen  Zeitung  in  denunziatorisch  gehässiger  Weise  ange- 
griffen worden  ist,  haben  wir  geglaubt,  die  obige  Ausführung 
desselben  zum  Abdruck  bringen  zu  sollen,  obgleich  die  darin 
vertretenen  Ansichten  nicht  durchweg  den  unseren  entsprechen. 


Angriffe  ist  in  einem  Artikel  der  No.  691  der  „Schlesischen 
Zeitung“  zu  suchen.  Darin  hat  man  insbesondere  mir  die  Ehre 
angethan,  mich  als  charakteristischen  Typus  der  Mitarbeiter 
am  Sozialpolitischen  Centralblatt  in  der  gröblichsten  Weise 
zu  verunglimpfen.  Der  Artikel  der  Schlesischen  Zeitung 
schloss  mit  einem  Appell  an  meine  Behörden,  worin  sie 
diesen  mich  als  staatsgefährlich  denunzirt.  Ich  denke  zu 
vornehm  von  unserer  preussischen  Unterrichtsverwaltung, 
um  es  für  nöthig  zu  halten,  in  persönlichem  Interesse  der- 
artigen denunziatorischen  Angriffen  gegenüber  mich  zu 
vertheidigen;  auch  würde  selbstverständlich  zu  diesem  Be- 
hufe  ein  anderer  Weg  zu  beschreiten  sein  als  eine  Ausein- 
andersetzung in  Organen  der  Presse.  So  bin  ich  persönlich 
erfreut,  einem  solchen  Angriff  zum  Opfer  gefallen  zu  sein, 
um  so  mehr  als  ich  in  ehrenvollster  Gesellschaft  — mit 
Adolf  Wagner,  Ziegler-Strassburg  u.  A.  — vor  den  Richter- 
stuhl der  Schlesischen  Zeitung  geschleppt  worden  bin. 
Dass  jener  Angriff  auf  unsere  Personen  mit  den  zweifel- 
haftesten Mitteln  ins  Werk  gesetzt  worden  ist,  versteht  sich 
zu  sehr  von  selbst,  als  dass  es  zu  weiteren  Erörterungen 
Anlass  böte.  Wenn  mir  aus  rein  referirenden  Artikeln 
im  Sozialpolitischen  Centralblatt  (I.  Jahrgang  S.  225,  303J 
trotz  einer  Berichtigung  meinerseits  doch  wieder  vorgeworfen 
wird,  ich  hätte  ganz  allgemein  gesagt,  die  schlesischen  In- 
dustriearbeiter verdienten  z u wenig  — was  mir  niemals  einge- 
fallen ist  — oder  wenn  man  mir  ebenfalls  wiederholt  schuld 
giebt,  ich  hätte  die  neueste  Entwickelung  der  Sozialdemo- 
kratie für  „segensreich“  erklärt,  trotzdem  ich  in  einem 
Vortrage  — NB.  in  einer  geschlossenen  Gesellschaft,  aus 
der  ein  Berliner  Blatt  bereits  eine  „öffentliche  Versamm- 


Das  Sozialpolitische  Centralblatt  hat  sich  eine  vollkommen 
objektive,  aabei  aber  absolut  rücksichtslose  Darlegung  aller 
sozialpolitischen  Verhältnisse  zur  Aufgabe  gestellt.  Ob  die  Er- 
füllung dieser  Aufgabe  die  Sozialdemokratie  beeinträchtigt  oder 
.fördert,  kommt  für  uns  als  Leiter  des  Sozialpolitischen  Central- 
blatts nicht  in  Betracht.  Lassalle  rief  einst,  als  er  es  noch  nicht 
aufgegeben  hatte  in  den  Reihen  der  bürgerlichen  Demokratie  zu 
kämpfen,  der  preussischen  Fortschrittspartei  die  Parole  zu:  „Aus* 
sprechen  das,  was  ist“.  Mit  diesen  Worten  können  wir  am  kürze- 
sten die  Absicht  kennzeichnen,  welche  uns  bei  der  Redaktion  des 
Sozialpolitischen  Centralblatts  leitet.  Durch  die  Behauptung,  dass 
die  Ausführung  dieser  Absicht  ohne  weiteres  einer  bestimmten 
politischen  Partei  zu  Vortheil  gereichen  müsse,  würden  die  Gegner 
einer  solchen  Klarstellung  die  Schwäche  ihrer  eigenen  Position 
einräumen.  W ir  überlassen  es  füglich  der  Schlesischen  Zeitung 
ob  sie  der  Wirksamkeit  des  Sozialpolitischen  Centralblattes, 
dessen  objektive  Haltung  von  einem  grossen  Theil  der  Presse 
der  verschiedensten  Parteirichtungen  anerkannt  wird,  auch 
künftig  die  ihrerseits  beliebte  Deutung  geben  will.  Jedenfalls 
wird  sich  die  Leitung  des  Sozialpolitischen  Centralblattes  durch 
keinerlei  Angriffe,  von  welcher  Seite  sie  auch  kommen  mögen, 
in  ihrer  Haltung  beirren  lassen,  sondern  ihr  Programm  wie 
bisher  auch  fernerhin  auszuführen  versuchen.  D.  Red. 


26 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  3. 


lang“  hat  werden  lassen  — nur  ausgeführt  habe,  dass  ich  | 
in  der  Annahme  des  Marx’schen  theoretischen  Evolutionis- 
mus die  beste  Garantie  gegen  den  Revolutionismus  erblickte, 
die  Existenz  einer  revolutionären  Bewegungspartei  im 
Staate  vorausgesetzt;  kurz  wenn  die  Denunzianten  mit  „Miss- 
verständnissen“ und  Wortverdrehungen  aller  Art  operiren, 
so  muss  man  sich  ins  Unvermeidliche  fügen  und  auf 
das  gesunde  Urtheil  der  anständigen  und  einsichtsvollen 
Leser  vertrauen.  Aber  nicht  persönliche  Angriffe  will  ich 
hier  abwehren , sondern  diejenigen  Anschuldigungen  an's 
Licht  ziehen,  welche  über  mich  hinaus  gegen  das  Sozial- 
politische Centralblatt  und  seine  Tendenz  erhoben  worden 
sind.  Sie  müssen  auf  das  entschiedenste  zurückgewiesen 
werden  — im  Interesse  der  guten  Sache.  Ich  fühle  mich 
verpflichtet,  die  Angriffe  gegen  diese  Zeitschrift  abzuwehren, 
weil  man  mich  als  den  kompromittirlichsten  Mitarbeiter  ge- 
brandmarkt hat. 

Und  was  ist  es,  das  man  uns  vorwirft?  Man  hat  es  in  ein  ! 
Schlagwort  zusammengefasst:  Demagogenthum  in  wissen-  j 
schaftlichem  Gewände.  Und  dieses  wird  zunächst  in  der 
Thatsache  erblickt,  dass  „heutigen  Tages  wissenschaftlich 
gebildete  Naüonalökonomen  Partei  ergreifen  in  dem  Streit 
der  Meinungen  über  Fragen,  deren  Lösung,  wenn  sie  über- 
haupt möglich  ist,  sicher  erst  dem  kommenden  Jahrhundert  (!) 
Vorbehalten  ist  ...  In  die  grosse  Menge  der  sogenannten 
Gebildeten,  geschweige  denn  des  Volkes,  dürfen  die  Ver- 
treter der  Wissenschaft  nur  diejenigen  ihrer  Ueber- 
zeugungen  hineinwerfön,  welche  als  reife  und  über  jeden 
Zweifel  erhabene  Frucht  der  Forschung  angesehen  werden 
müssen.“  Man  zeige  mir  heutigen  'I  ags  eine  solche  wunder- 
same Frucht  unserer  Wissenschaft,  man  zeige  mir  ein  über 
allen  Zweifel  erhabenes  Resultat  auch  nur  der  theoretischen, 
nationalökonomischen  Forschung!  Eine  Wissenschaft  wie 
die  Nationalökonomie  wird  niemals  „fertig“  sein  in  dem 
von  den  Herren  Zeitungsschreibern  verlangten  Sinne.  Und 
gar  erst  Fragen  der  praktischen  Politik!  Wenn  ihre 
Lösung  „fertig“  ist,  sind’S  keine  Fragen  mehr!  So  sollen  denn 
in  dem  Streit  der  Meinungen  über  solche  Fragen  allein  die 
Vertreter  der  Wissenschaft  vom  Wirtschaftsleben  den 
Mund  halten?  Doch  nicht,  sie  dürfen  reden;  aber  — sie 
müssen  ihre  Verhandlungen  bei  geschlossenen  Thüren 
führen!  Utiten  in  den  Niederungen  des  „Volks“  mag  der 
Kampf  der  Meinungeh  toben,  dieweil  oben  auf  lichten 
Höhen  in  vornehmer  Abgeschlossenheit  die  Vertreter  der 
Wissenschaft  ihre  Geheimlehre  treiben.  Und  erst  wenn 
die  „Fragen“  über  allen  Zweifel  erhaben,  d.  Ü.  wenn  sie  ge- 
löst sind,  Sann  dürfen  sie  zum  Volke  sprechen!  Welch’ 
eine  thörichte,  abgeschmackte  Ansicht!  Statt  die  Mei- 
nungen, die  im  Streite  liegen,  aufzuklären,  statt  die  Kon- 
flikte zu  mildem  und  abzukürzen  dadurch,  dass  man  auf 
die  Verknüpfungen  der  Thatsachen  hinweist,  den  Werth 
und  die  Bedeutung  praktischer  Forderungen  an  einem 
höheren  Massstabe  misst,  das  Auge  der  Kämpfenden  auf 
fernere  Ziele  lenkt,  soll  der  Gelehrte  über  den  Wolken 
thronen  und  erst  herab.steigen  von  seinem  Göttersitze, 
wenn  man  seine  Weisheit  nicht  mehr  braucht.  Glücklicher- 
weise ist  diese  Auffassung  von  dem  Berufe  der  Wissen- 
schaft auch  in  Deutschland  im  Schwinden  begriffen  und 
die  Zahl  derjenigen  Vertreter  der  Wissenschaft  wiid  von 
Tag  zu  Tag  grösser,  die  es  nicht  verschmäheh,  in 
„populären“  Organen,  und  wäre  es  selbst  dem  „Yrolke“ 
wegweisend  und  rathend  gegenüberzulreten,  die  es  für 
keine  Schande  ansehen,  die  Goldbarren  ihrer  Erkenntniss 
auch  in  kleine  Münze  umzuprägen  und  unter  die  Menge  zu 
bringen.  Dass  auch  populäre  Essais  von  dem  Geiste 
strenger  Wissenschaftlichkeit  erfüllt  sein  können,  scheint 
dem  Begriffsvermögen  jener  Herren  Kollegen  von  der  Feder 
noch  nicht  fassbar  zu  sein. 


Aber  weiter:  die  Mitarbeiter  des  Sozialpolitischen 

Centralblattes  sollen  „Demagogie“  noch  in  einem  viel  präg- 
nanteren und  gefährlicherem  Sinne  als  dem  vorgedachten 
treiben  und  zwar  deshalb,  weil  das  Blatt  sich  stets  unbe- 
sehens  auf  Seite  der  Arbeiter  stelle.  Jetzt  wird  die  Sache 
schon  erheblich  klarer;  jener  Vorwurf  „unfertige  Erkennt- 
niss in  das  Volk  zu  tragen“  gewinnt  erst  jetzt  seine  volle 
Bedeutung.  Allenfalls  könnte  man  es  mit  ansehen,  wenn 
solche  unfertige  Weisheit  in  Unternehmerorganen  zu  Gunsten 
der  Unternehmer  verkündet  würde.  Aber  zu  Gunsten  der 
Arbeiter,  das  ist  in  derThat  unerhört!  Und  wenn  es  wahr 
wäre,  dass  das  Sozialpolitische  Centralblatt  sich  „unbesehens 
auf  Seite  der  Arbeiter  stellte“,  wäre  es  nicht  ein  Ruhmes- 
titel aller  Betheiligten,  ein  Organ  — die  erste  Wochenschrift 
— geschaffen  zu  haben,  in  dem  von  andern  Klassen,  andern 
Ständen  das  Interesse  der  grossen  Mehrzahl  unseres  Volkes 
doch  sicherlich  ohne  ein  anderes  Motiv  als  das  der  reinsten, 
selbstlosesten  Antheilnahme  an  ihrem  Wohl  und  Wehe  ver- 
treten würde?  Aber  der  Vorwurf  trifft  das  Sozialpolitische 
Centralblatt  gar  nicht.  Wenn  es  solche  arbeiterfreundliche 
Artikel  hie  und  da  gebracht  hat,  so  hat  es  mehr  Aufsätze 
veröffentlicht,  die  vollständig  vorurteilsfrei,  ohne  Vorein- 
genommenheit für  eine  der  streitenden  Parteien,  Fragen 
der  Tagespolitik  erörtert  haben.  Ich  stehe  nicht  an,  grade 
auch  für  meine  im  Sozialpolitischen  Centralblatt  publizirten 
Arbeiten  diese  Vorurtheilslosigkeit  im  vollsten  Umfange  in 
Anspruch  zu  nehmen.  Und  viele  andere  Mitarbeiter  wer- 
den mit  Recht  ein  Gleiches  thun  und  jeder  Unbefangene 
wird  uns  zustimmen  müssen.  Das  ist  es  aber  auch  gar  nicht  am 
letzten  Ende,  was  den  Dunkelmännern  am  Sozialpolitischen 
Ceritralblatt  am  meisten  missfällt.  Ein  anderes  macht  sie 
bange  und  schürt  in  ihrem  Herzen  den  Hass:  dass  wird 
uns  nicht  scheuen,  die  Wahrheit,  die  ganze  Wahrheit 
zu  sagen.  Quieta  non  movere  ist  die  Devise  der  ganzen 
Schaar  unserer  Gegner  und  diesem  Grundsatz  haben 
wir  nicht  gehuldigt,  das  ist  unserVerbrechen.  Die  Schle- 
sische Zeitung  ist  typisch  für  jenen  Standpunkt,  der  im 
Vertuschen  und  Verschweigen  von  Thatsachen  die  einzig 
richtige  staatserhaltende  Politik  erblickt.  Deshalb  ihr  Hass 
gegen  mich,  als  ich  die  Hausweberfrage  der  Kritik  unter- 
warf, daher  ihr  Angriff  auf  mich,  als  „Begünstiger  der 
Sozialdemokratie“,  weil  ich  in  jenem  Vortrage  nichts  that 
als  leidenschaftslos  den  Gedankeninhalt  des  Erfurter  Pro- 
gramms zu  entwickeln,  statt  Ohne  Einsicht  in  der  üblichen 
Art  respektabler  Leute  mit  wüstem  Geschimpfe  mich  zu  be- 
gnügen. Ist  es  aber  schon  Demagogie,  unverblümt  die  Wahr- 
heit zu  sagen  und  wenn  es  auch  in  „halbwissenschaftlichen“ 
Organen  wäre?  ist  es  schon  Demagogie,  eine  bestimmte 
Politik,  wer  sie  auch  immer  vertreten  mag,  zu  kritisiren  ? Ich 
denke  nein;  für  mich  fängt  der  Begriff  der  Demagogie  erst 
da  an,  wo  die  Unzufriedenheit  geschürt  wird,  ohne  Angabe 
der  Mittel  und  Wege,  sie  zu  beseitigen.  Das  Sozialpolitische 
Centralblatt  hat  noch  immer  solche  Mittel  und  Wege 
anzugeben  versucht.  Und  man  darf  sagen,  nach  bestem 
Wissen  und  Gewissen.  Wenn  unsere  Gegner  unsere  Vor- 
schläge für  verfehlt  halten,  — ist  das  schon  Grund,  uns 
der  Demagogie  zu  zeihen? 

Und  wenn  den  Aengstlingen  gar  auch  unsere,  speziell 
meine  Schreibweise  „zu  aufreizend“  erscheint,  so  ist  es 
auch  hier  nichts  anderes  als  die  Scheu,  die  Dinge  beim 
rechten  Namen  zu  nennen.  Wer  Elend  in  süsslichem  Su- 
lonjargon  wahrheitsgetreu  zu  schildern  versteht,  der  mache 
es  mir  erst  vor!  Dass  die  Hand weber  im  Eulengebirge 
hungern,  wird  auch  die  Schlesische  Zeitung  nicht  ableug- 
nen wollen;  aber  es  auszusprechen  — quelle  horreur! 

Ein  anderes  wirft  man  uns  vor:  dass  wir  der  Sozial* 
demokratie  „Konzessionen'1  machen!  Was  heisst  das?  E9 
wird  die  Meinung  der  Dunkelmänn^i  deutlich  aus  dem  Ver- 


No.  3. 


SOZIALPOLITISCHES  < ENTRALBLATT. 


27 


brechen,  das  man  u.  A.  Adolf  Wagner  vorwirft:  er  habe 
einen  Theil  des  Programms  der  Sozialdemokratie  für  „dis- 
kutabel“ erklärt.  Also  das  genügt.  Dass  wir  uns  über- 
haupt in  eine  Diskussion,  sei  es  über  praktische,  sei  es 
über  theoretische  Fragen  mit  Sozialdemokraten  einlassen 
— das  wird  uns  verdacht!  Auch  hier  soll  die  Vogelstrauss- 
politik  getrieben  werden,  auch  hier  sollen  wir  in  blödem 
Stumpfsinn  die  alten  Glaubenssätze  beschwören:  am  ehe- 
sten, meint  man,  wird  man  die  Sozialdemokratie  aus  der 
Welt  schaffen,  wenn  man  sie  todtschweigt.  Aber  gerade 
das  einzige  Mittel,  die  Sozialdemokratie  erfolgreich  zu 
bekämpfen,  wenn  es  ein  solches  giebt , ist  das  von  uns, 
„Jungen“,  wie  man  uns  schimpft,  soweit  wir  Gegner  der 
Sozialdemokratie  sind,  gewählte:  nicht  sie  zu  verdächtigen, 
sie  mit  unverständigem  Hohn  zu  bewerfen,  sondern  wie  es 
unter  anständigen  Gegnern  Brauch  ist,  uns  mit  ihr  in  ehr- 
liche Fehde  einzulassen.  Dazu  erachten  wir  freilich  eins  für 
nöthig:  dass  man  sich  nicht,  wie  es  heute  noch  meist  der 
Fall  ist,  unausgesetzt  vor  dem  Gegner  durch  kindliche  Un- 
wissenheit blamirt,  sondern  zunächst  einmal  die  Lehren 
und  Forderungen  der  Sozialdemokratie  begreifen  lernt. 
Aber  das  soll  ja  gerade  wieder  verhindert  werden.  Die 
Verbreitung  solcher  Einsicht  ist  schon  wieder  „Demagogie“; 
das  Bestreben,  den  Gegner  zu  verstehen  und  ihn  andern 
verständlich  zu  machen,  ist  schon  übel  angebrachtes  „Wohl- 
Avollen“,  das  man  der  Sozialdemokratie  entgegenbringt. 
Nein,  es  soll  die  Wahrheit  auch  hier  thunlichst  verschwie- 
gen werden! 

Das  Sozialpolitische  Centralblatt  aber  als  solches, 
dünkt  mich,  ist  über  jeden  Vorwurf,  einer  einzelnen  Rich- 
tung besonderes  Wohlwollen  entgegen  zu  bringen,  erhaben. 
Gerade  sein  Verdienst  besteht  darin,  Männern  der  ver- 
schiedensten Richtungen  — Anhängern  wie  Gegnern  der 
Sozialdemokratie , — seine  Spalten  zu  öffnen ; freilich  nur 
solchen  Männern,  die  das  Licht  und  die  Wahrheit,  die 
ungeschminkte,  nicht  scheuen. 

Um  uns  — die  Mitarbeiter  am  Sozialpolitischen  Cen- 
tralblatt und  dieses  selbst  — dann  noch  vollends  anzuschwär- 
zen, hat  man  die  gräuliche  Thatsache  ans  Tageslicht  ge- 
zogen, dass  die  Verlagsbuchhandlung  — neben  Dutzen- 
den Von  anderen  Blättern  aller  Parteirichtungen!  — 
einen  Prospekt  des  Sozialpolitischen  Centralblatts  dem 
„Vorwärts“  beigelegt  und  dass  dieser  es  seinen  Lesern 
empfohlen  hat.  Und  worin  liegt  hierbei  das  Dema- 
gogenhafte? In  dem  Versuche  die  Leser  des  „Vorwärts“ 
zu  Lesern  des  Soziälpolitischen  Centralblatts  zu  machen? 
Das  also  ist  Demagogenthum,  wenn  man  versucht,  die  jetzt 
vielfach  unterbrochene  Verbindung  wieder  herzustellen 
zwischen  einer  breiten  Schicht  unserer  Bevölkerung  und 
der  übrigen  Nation?  Wenn  wir  „Jungen“  auf  etwas  stolz 
sind,  so  darauf,  beizuträgen  jene  Kluft  zu  überbrücken, 
die  heut  zu  Tage  die  Theorie  wie  die  Politik  der  National- 
ökonomie in  zwei  Hälften  spaltet?  Wenn  etwas  zur  Milde- 
rung der  Gegensätze  beiträgt,  so  ganz  gewiss  der  Umstand, 
dass  wir  aufgehört  'haben,  vor  der  Sozialdemokratie  als 
dem  schwarzen  Mann  zu  fliehen. 

Gut  denn  — .wir  nehmen  den  Schmähtitel  der  „Jungen“ 
in  diesem  Sinne  als  Ehrentitel  auf.  „Jung“  nicht  nach  der 
Farbe  der  Haare;  sondern  jung,  ob  grau-  ob  schwarz- 
haarig, weil  wir  uns  ein  warmes  Herz  bewahrt 
haben,  das  uns  befähigt,  Theil  zu  nehmen  an  dem 
Elend  breiter  Massen , das  uns  rings  umfluthet;  jung, 
weil  wir  noch  jene  Frische  des  Geistes  besitzen,  die  sich 
vor  der  Enthüllung  der  Wahrheit  nicht  scheut,  weil  wir 
offen  und  ehrlich  die  Dinge  aussprechen,  wie  wir  sie  sehen, 
und  es  verschmähen,  unsere  Position  durch  eine  Verheim- 
lichungspolitik zu  sichern.  So  halten  wir,  die  wir  die  Ehre 


haben,  Mitarbeiter  an  dieser  Zeitschrift  zu  sein  und  ich 
glaube  im  Namen  vieler  sprechen  zu  dürfen  — , dem  Quieta 
non  movere  unserer  Gegner  unsere  Devise  kühn  ent- 
gegen: 

Impavide  progrediamur! 

Breslau.  Werner  Sombart. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Die  „Ueberweisung“  der  preussischen  Grundsteuer 
und  ihre  sozialpolitische  Seite. 

Je  deutlichere  Gestalt  der  Plan  einer  Vermögens- 
steuer für  Preussen  annimmt,  desto  sichtbarer  stellt  sich 
auch  heraus,  dass  weit  wichtiger  als  die  neue  Steuer  die 
mit  ihr  verbundenen  Abänderungen  der  alten  Steuern  sein 
werden.  Schon  bei  der  Berathung  des  neuen  Einkommen- 
steuergesetzes machte  sich  die  Forderung  geltend,  dass  der 
Staat,  wenn  er  sich  neue  Einnahmequellen  eröffne,  einen 
Theil  der  älteren  den  Kommunen  überlassen  müsse.  In 
der  That  ist  in  § 82  des  Einkommensteuergesetzes  die  Be- 
stimmung durchgesetzt  worden,  dass  Ueberschiisse  der 
; Einkommensteuer  zur  Durchführung  der  Beseitigung  der 
Grund-  und  Gebäudesteuer  als  Staatssteuer,  beziehungs- 
weise der  Ueberweisung  derselben  an  kommunale  Ver- 
bände“ verwandt  werden  sollen.  Indess  ist  die  Durch- 
führung der  Bestimmung  von  einem  zukünftigen  Gesetze 
abhängig  gemacht,  bis  zu  dessen  Erlass  nur  gewisse  Ueber- 
gangsbestimmungen  (§  84),  nicht  aber  die  Ueberweisung 
der  Grund-  und  Gebäudesteuer  in  Kraft  treten  würden. 

Diese  Ueberweisung  soli  nun,  Zeitungsnachrichten  zu 
Folge,  gleichzeitig  mit  der  Einführung  der  Vermögens- 
steuer endgültig  ausgesprochen  werden  und  zwar  in  der 
Form,  dass  der  Staat  die  Grund-  und  Gebäudesteuer  zwar 
nach  wie  vor  veranlagt,  aber  nicht  erhebt  und  es  inner- 
halb gewisser  Grenzen  den  Gemeinden  überlässt,  inwieweit 
sie  dieselben  für  ihre  Zwecke  als  Gemeindesteuern  einführen 
wollen. 

Ausserhalb  Preussens  wird  man  sich  schwerlich  auch 
nur  annähernd  eine  Vorstellung  von  der  Bedeutung  einer 
solchen  Massregel  machen  können.  Es  klingt  so  ein- 
leuchtend, dass  eine  Vermögenssteuer  vom  immobilen 
Kapital  doch  nicht  doppelt  erhoben  werden  könne,  einmal 
in  Form  einer  allgemeinen  Vermögenssteuer  und  sodann 
noch  einmal  in  Form  einer  speziellen  Grundsteuer.  Es 
klingt  auch  nicht  minder  einleuchtend,  dass  bei  unserer 
Uebereinanderschachtelung  von  Reich,  Staat  und  Gemeinde 
doch  endlich  eine  Scheidung  der  Steuergebiete  eintreten 
müsse.  Die  Parole  „die  indirekten  Steuern  dem  Reich,  die 
Personalsteuern  den  Staaten,  die  Ertragssteuern  den  Ge- 
meinden!“ hat  etwas  sehr  Bestechendes  und  Ueberzeugendes. 
Allein  man  vergisst,  dass  bei  uns  in  Preussen  die  soge- 
nannte Grundsteuer  weder  eine  Vermögenssteuer,  noch 
eine  Ertragssteuer,  noch  überhaupt  eine  Steuer  ist;  und 
man  übersieht,  dass  es  bei  uns  in  Preussen  durchaus  nicht 
überall  „Gemeinden“  giebt,  denen  die  Grundsteuer  über- 
wiesen werden  könnte. 

Die  preussische  Grundsteuer  ist  historisch  hervorge- 
gangen aus  den  uralten  auf  . dem  Grund  und  Boden  ruhen- 
den Lasten  zu  Gunsten  der  landesherrlichen  Gewalt.  Alle 
Versuche,  diesen  Lasten  ein  Element  der  Vermögens-  oder 
Einkommensteuer  einzuimpfen,  ihre  Höhe  von  dem  wechseln- 
den Ertrage  des  Bodens  abhängig  zu  machen,  sind  fehlge- 
schlagen. Als  die  von  Jahrhundert  zu  Jahrhundert  fortge- 
schleppte Grundabgaben -Verwirrung  endlich  durch  das 
Gesetz  von  1861  beseitigt  wurde,  legte  man  zwar  der  Ver- 
theilung  der  Steuer  den  damaligen  Reinertrag  zu  Grunde, 
bestimmte  aber  gleichzeitig,  dass  das  so  festgestellte 


28 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  3. 


Kataster  unabänderlich  sei.  Hierin  liegt  der  wesentliche 
Unterschied  der  preussischen  Grundsteuer  von  ähnlichen  in 
Süddeutschland  ebenso  benannten  Steuern,  welche  nach 
dem  wechselnden  Ertrage  der  Grundstücke  bemessen 
werden.  Als  in  Preussen  die  Grundsteuer  festgesetzt 
wurde,  sollte  sie  etwa  9 1/3  püt.  des  damaligen  Reinertrages 
ausmachen.  In  den  seit  damals  verflossenen  30—40  Jahren 
(die  Katastrirung  nach  dem  Gesetz  von  1861  musste  viel- 
fach auf  ältere  Anhaltspunkte  zurückgehen)  haben  sich  die 
Erträge  vieler  Grundstücke,  z.  B.  in  der  Nähe  grosser 
Städte,  verdoppelt,  ja  vervielfacht.  Auf  die  Grundsteuer 
hat  dies  keinen  Einfluss  geübt.  Sie  ist  eine  unveränder- 
liche, auf  dem  Boden  ruhende  Last,  welche  mit  einer 
„Steuer“  kaum  mehr  als  den  Namen  gemein  hat.') 

Will  ferner  der  Staat  auf  die  Grundsteuer  zu  Gunsten 
der  Gemeinde  verzichten,  so  hätte  dies  zur  Voraussetzung, 
dass  es  überall  im  Staate  solche  Gemeinden  gebe.  Dies 
ist  aber  in  Preussen  nicht  der  Fall.  Wir  besitzen  hier 
noch  immer  etwa  16 — 17  000  Gutsbezirke,  in  denen  das  Ge- 
meinwesen ganz  ausschliesslich  durch  die  Person  des  Guts- 
besitzers dargestellt  wird.  Der  preussische  Gutsbesitzer 
führt  nicht  einmal  getrennte  Kassen  für  die  Bedürfnisse 
seines  Haushaltes  und  für  die  Bedürfnisse  des  kleinen  Ge- 
meinwesens, welches  er  repräsentirt.  Wenn  also  der 
preussische  Staat  auf  die  Grundsteuer  zu  Gunsten  der 
„Gemeinden“  verzichtet,  so  schlägt  in  den  Gutsbezirken 
dieser  Verzicht  einfach  zu  Gunsten  der  Gutsbesitzer  aus. 

Hiernach  wird  sich  ermessen  lassen,  welche  sozial- 
politische Bedeutung  die  sogenannte  Ueberweisung  der 
Grundsteuer  in  Preussen  haben  würde.  Alle  Steuer- 
theoretiker stimmen  darin  überein,  dass  der  Erlass  einer 
kontingentirten  Grundsteuer,  wie  die  preussische  ist,  ein 
Geschenk  an  die  Grundbesitzer  enthält.  Will  man  dem 
dadurch  entgehen,  dass  man  die  Grundsteuer  formell  nicht 
aufhebt,  sondern  nur  den  Gemeinden  die  Möglichkeit  der 
Kommunalisirung  verschafft,  so  hängt  alles  davon  ab,  wie 
die  Gemeinden  diese  Möglichkeit  ausnützen  können  und 
wollen.  Dann  kann  unter  Umständen  die  sozialpolitische 
Bedeutung  der  Massregel  darauf  hinauslaufen,  dass  die 
Ueberweisung  der  Grundsteuer  im  Wesentlichen  nicht  ein 
Geschenk  für  alle  Grundbesitzer,  aber  ein  desto  werth- 
volleres für  die  Gutsbesitzer  allein  wird. — Dieser  Hervor- 
kehrung der  Gutsbezirke  wird  zwar  gewöhnlich  entgegen- 
gehalten, dass  der  Gutsbesitzer  bei  einer  Ueberweisung 
der  Grundsteuer  (in  welcher  Form  es  immer  sei)  dieselbe 
nicht  als  Gutsbesitzer,  sondern  als  Vertreter  des  Gemeinde- 
körpers zurückerhalte;  ebenso  wie  Städte  und  Dörfer  habe 
auch  der  Gutsbezirk  kommunale  Verpflichtungen  zu  er- 
füllen, für  welche  der  Betrag  der  Grundsteuer  flüssig  werde. 
Dieser  Einwand  hätte  etwas  Richtiges,  wenn  wir  in  Preussen 
Organe  besässen,  die  eine  gewisse  Garantie  dafür  gäben,  dass 
in  der  That  die  Gutsbezirke  ihren  kommunalen  Pflichten  in 
demselben  Masse  nachkommen,  wie  z.  B.  die  Städte.  Allein 
man  vergleiche  nur  kommunale  Leistungen  — wie  z.  B. 
das  Schulwesen  — in  unsern  Städten  und  auf  den  Gütern, 
und  man  wird  sofort  inne  werden,  wie  ungleichmässig  die 
Auffassung  der  kommunalen  Pflichten  ist.  Wenn  die 
Grundsteuer  den  Gutsbezirken  „überwiesen“  wird,  so  fehlt 
jede  Garantie  dafür,  dass  der  Gutsbesitzer  von  jetzt  ab 
soviel  mehr  für  gemeinnützige  Zwecke  verausgaben 
werde , als  vorher.  Er  wird  nach  wie  vor  sich  auf 
das  Mindestmass  beschränken  und  die  „Ueberweisung“  als 
ein  Geschenk  für  die  eigene  Tasche  betrachten.  Die  Art, 
in  welcher  kürzlich  zwei  Grossgrundbesitzer  in  einer  Tages- 
zeitung darüber  gestritten  haben,  ob  die  Einführung  einer 
Vermögenssteuer  bei  Ueberweisung  der  Grundsteuer  einen 
Profit  bedeutet  oder  nicht,  liefert  den  ganz  naiven  Beweis, 

')  Wieso  man  gleichwohl  dazu  gekommen  ist,  die  preussi- 
sche Grundsteuer  als  Steuer  und  sogar  als  „Ertragssteuer“  zu 
bezeichnen,  habe  ich  in  meinem  Aufsatz  über  die  Vermögens- 
steuer (Conrads  Jahrbücher  für  Nationalökonomie  Band  59,  S.  167) 
aasgeführt  — Uebrigens  gilt  das  oben  Gesagte  nur  von  der 
„Grundsteuer  im  engeren  Sinne“.  Ein  ZurückKommen  auf  die 
Gebäudesteuer,  welche  in  Preussen  anders  geregelt  ist,  bleibt 
Vorbehalten. 


dass  in  diesen  Kreisen  die  „Ueberweisung“  gar  nicht  anders 
als  ein  Geschenk  für  die  Gutsbesitzer  aufgefasst  wird. 

Zum  Verständniss  derartiger  Berechnungen  sind  übri- 
gens einige  Erläuterungen  nothwendig.  Da  die  Grundsteuer 
eine  unbewegliche  Last  ist,  so  verändert  sie  sich  auch 
nicht  durch  Schulden,  die  auf  dem  Grund  und  Boden 
haften.  Die  Vermögenssteuer  hingegen  kann  ihrem  Be- 
griffe nach  nur  vom  wirklichen  Aktivvermögen  (nach  Ab- 
zug der  Schulden)  erhoben  werden.  Ein  Grundbesitzer, 
der  auf  seinem  Grundstück  Hypotheken  bis  zur  Höhe  des 
halben  Werthes  zu  stehen  hat,  bietet  also  (und  dies  mit 
vollem  Recht)  dem  Staate  als  Objekt  der  Vermögenssteuer 
nur  die  Hälfte  des  Werthes,  erhält  aber  (und  dies  mit  Un- 
recht) dafür  eine  Abgabe  erlassen,  welche  vom  ganzen 
Werthe  fällig  war.  Wie  sich  dabei  das  Zahlenverhältniss 
stellen  wird,  ist  freilich  nicht  zu  sagen.  Dass  die  Ver- 
mögenssteuer '/•>  pro  Mille  betragen  soll,  scheint  festzustehen. 
Welchen  Procentsatz  aber  die  gegenwärtige  Grundsteuer 
ausmache,  weiss  Niemand  zu  sagen.  Da  seit  der  Mitte  des 
Jahrhunderts  der  Grund  und  Boden  überall  im  Werthe  ge- 
stiegen ist,  so  beträgt  die  Steuer  selbstverständlich  nicht 
mehr,  wie  zur  Zeit  ihrer  Veranlagung  ca.  9l/->  pCt.  des  Er- 
trages, sondern  erheblich  weniger.  Wieviel  sie  aber  im 
Durchschnitt  betragen  mag,  darüber  gehen  die  Ansichten 
der  Sachverständigen  von  2 pCt.  bis  5 pCt.  auseinander, 
manche  schätzen  für  einzelne  Kategorien  auch  tiefer  nach 
unten  (1'/2  pCt.)  oder  höher  nach  oben  (6  pCt.).  Nimmt 
man  als  Beispiel  ein  Gut,  bei  dem  die  Grundsteuer  heute 
3 pCt.  des  Ertrages  ausmacht,  so  würde  dies  (bei  vier- 
procentiger  Rentirung)  — 1,2  pro  Mille  des  Werthes  sein.  Die 
Einführung  der  Vermögenssteuer  mit  gleichzeitiger  Ueber- 
weisung der  Grundsteuer  würde  also  für  diesen  Guts- 
besitzer bedeuten,  dass  ihm  eine  neue  Steuer  von  0,5  pro  Mille 
auferlegt,  dafür  aber  eine  alte  Last  von  1,2  pro  Mille  erlassen 
wird.  Hat  dieser  Gutsbesitzer  aber  Hypotheken  bis  zur 
halben  Höhe  des  Werthes  auf  seinem  Gute,  so  verhält 
sich  der  erlassene  Betrag  zur  neuen  Steuer,  wie  2,4 : 0,5, 
d.  h.  es  wird  ihm  etwa  das  Fünffache  von  dem  erlassen, 
was  ihm  neu  auferlegt  wird. 

Allein  mit  einer  derartigen  Detailberechnung  lässt 
man  sich  auf  den  verkehrten  Gesichtspunkt  schon  mehr 
ein,  als  man  verantworten  kann.  Wenn  eine  allgemeine 
Vermögenssteuer  ausgeschrieben  wird,  so  ist  sie  allgemein 
zu  tragen,  von  den  Gutsbesitzern,  wie  von  jedem  Andern. 
Wenn  einem  Gutsbesitzer  1000  Mk.  Vermögenssteuer  auf- 
erlegt und  5000  M.  Grundsteuer  erlassen  werden,  so  ist 
ganz  gleichgiltig,  wie  sich  die  Differenz  herausrechnet;  die 
vollen  5000  Mk.  stellen  ein  Geschenk  aus  öffentlichen 
Mitteln  dar.  Und  darin  liegt  die  sozialpolitische  Seite  der 
Ueberweisung,  soweit  die  Gutsbezirke  in  Frage  kommen: 
sie  ist  ein  Geschenk  an  die  Gutsbesitzer  auf  Kosten 
der  übrigen  Steuerzahler.  

Nicht  so  einfach,  wie  bei  den  Gutsbezirken,  liegt  die 
Sache  bei  den  Gemeinden.  Es  ist  nicht  ganz  klar,  was  die 
Gemeinden  mit  der  ihnen  überwiesenen  Grundsteuer  an- 
fangen sollen.  Die  bisher  in  die  Oeffentlichkeit  gelangten 
Mittheilungen  lassen  es  unentschieden,  ob  den  Gemeinden 
blos  das  Recht  gegeben  werden  soll,  die  vom  Staat  nicht 
erhobene  Grundsteuer  für  sich  zu  erheben,  oder  das  Recht 
zur  Einführung  einer  neuen  kommunalen  Grundsteuer- 
verfassung. Ist  das  Letztere  der  Fall,  so  könnte  allerdings 
hier  der  Einsatzpunkt  zu  einer  grossartigen  sozialpolitischen 
Reform  der  Grundsteuer  gefunden  werden.  In  unserer  ge- 
sanrmten  Eigenthumsverfassung  giebt  es  wohl  kaum  einen 
Punkt,  über  dessen  Reformbedürftigkeit  die  Besonnenen 
aller  Parteien  so  einig  sind,  wie  die  kolossale  Steigerung 
des  Grundeigenthums  zu  Gunsten  des  augenblicklichen  Be- 
sitzers. Der  Schöneberger  Millionenbauer  ist  das  Schlag- 
wort geworden,  welches  die  Sinnlosigkeit  unserer  heutigen 
Eigenthumsverfassung  Tausenden  zum  Bewusstsein  bringt. 
Völlig  unabhängig  von  sozialistischen  Schwärmereien  besteht 
heute  die  Forderung,  dass  die  Werthsteigerung  des  Grund  und 
Bodens  zu  einem  erheblichen  Theile  der  Gesammtheit  zu 
Gute  kommen  müsse,  durch  deren  Leistungen  sie  herbei- 
geführt wird,  ln  allen  politischen  Parteien  giebt  -es  heute 


No.  3. 


SOZI  APOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


29 


bereits  Männer,  welche  sich  mit  dem  Gedanken  befreundet 
haben,  eine  Reform  der  Grundsteuer  dazu  zu  benutzen, 
die  zukünftige  Steigerung  der  Grundrente  gewissermassen 
zu  konfisziren.  Ist  aber  irgend  eine  Aussicht  vorhanden, 
dass  in  den  kommunalen  Vertretungen  solche  Pläne  zur 
Verwirklichung  gelangen?  In  einigen  grossen  Städten,  wo 
die  kommunalen  Vertretungen  unter  dem  Druck  des  öffent- 
lichen Gewissens  tagen,  mag  vielleicht  eine  solche  Reform 
zu  Stande  kommen.  In  den  kleinen  Städten  aber  und  nun 
gar  auf  den  Dörfern,  wo  nacli  der  preussischen  Gemeinde- 
verfassung (und  noch  mehr  nach  den  preussischen  Ver- 
hältnissen) die  grösseren  und  kleineren  Grundbesitzer  das 
Heft  in  der  Hand  haben,  ist  an  derartige  Beschlüsse  nicht 
zu  denken  Wenn  daher  hier  der  Deckung  der  kommu- 
nalen Bedürfnisse  überhaupt  die  Grundsteuer  zu  Grunde 
gelegt  werden  soll,  so  wird  sie  in  ihrer  gegenwärtigen 
Form  zu  Grunde  gelegt  werden.  In  dieser  Form  aber  ist 
die  Steuer  desto  höher,  je  geringer  die  Ertragssteigerung 
seit  1861  gewesen  ist. 

Ein  derartiger  Einbruch  in  die  Finanzverfassung  eines 
Staates,  Avie  die  Preisgebung  einer  fest  kontingentirten 
Grundsteuer  es  sein  würde,  hat  übrigens  noch  viel  weiter 
reichende  Folgen,  als  sieh  heute  ziffermässig  übersehen 
lässt.  Die  Kontingentirung  der  preussischen  Grundsteuer 
ist  nicht  das  Werk  einer  Augenblicks-Gesetzgebung  gewesen. 
Es  hat  lange  Kämpfe  gekostet,  ehe  man  sich  dazu  ent- 
schloss, ein  für  allemal  auf  jede  Erhöhung  der  Steuer  bei 
Steigerung  des  Ertrages  zu  verzichten  und  dafür  den  gleich- 
mässig  sicheren  Betrag  einzutauschen.  Neben  andern 
Gründen  wurde  damals  auch  geltend  gemacht,  dass  eine 
solche  Grundsteuer  hypothekarischen  Charakter  annehme, 
dass  man  mit  ihr  dem  Staat  eine  erste  Hypothek  an  sämmt- 
lichen  Grundstücken  seines  Gebiets  verschaffe,  ein  sicheres 
Unterpfand  für  Aufnahme  eines  Darlehns,  wenn  einmal  in 
Zeiten  der  Noth  der  preussische  Staatskredit  versagen  sollte. 
Auch  diese  Seite  der  Ueberweisung  hat  ihre  Sozialpolitik  :he 
Bedeutung.  Es  ist  sozialpolitisch  nicht  gleichgültig,  ob  ein 
Staat  seine  Finanz  Verfassung  so  ausbaut,  dass  er  in  Zeiten  der 
Noth  sofort  zu  erbarmungslos  festem  Anziehen  der  Steuer- 
schraube schreiten  muss,  und  ein  Unterpfand,  das  er  noch 
in  Händen  hat,  leichten  Herzens  opfert. 

Für  die  ganze  Art,  wie  heute  Finanzfragen  erörtert 
werden,  liegen  freilich  solche  Gesichtspunkte  sehr  fern. 
Wir  haben  uns  daran  gewöhnt,  mit  aufsteigenden  Ziffern 
zu  rechnen  und  es  als  selbstverständlich  zu  betrachten,  dass 
wir  ein  emporblühen  der  Staat  bleiben.  Gewiss  ist  es  nicht 
wünschenswert!!,  dass  die  Leiter  eines  grosse  Finanzwesens 
durch  unaufhörliche  Befürchtungen  sich  den  Schwung 
lähmen,  dessen  sie  für  ihre  schwierige  Aufgabe  nicht  ent- 
behren können.  Aber  ganz  darf  die  Finanzleitung  die 
Rücksicht  auf  mögliche  schlimme  Zeiten  nicht  ausser  Acht 
lassen. 

So  gut  wie  nichts  würde  an  diesem  Sachverhalt  ge- 
ändert, wenn  etwa  der  Staat  bei  Ueberweisung  der  Grund- 
steuer sich  seine  Rechte  vorbehielte,  wie  er  ja  auch  die 
Veranlagung  in  der  Hand  behalten  will.  Wird  die  Grund- 
steuer vom  Staate  nicht  erhoben,  besteht  nicht  die  Ge- 
wöhnung der  Bevölkerung  an  die  jährliche  Zahlung  in  die 
Staatskasse,  ist  der  Anspruch  des  Staates  auf  Grundsteuer 
nichts  mehr  als  eine  historisch  erweisbare  Thatsache,  — so 
wird  der  Staat  in  einer  Lage,  wie  nach  dem  Frieden  von 
Tilsit,  eine  solche  Grundsteuer  verpfänden  können,  wenn 
dann  entweder  die  Geschichtsforscher  Bankiers  oder  die 
Bankiers  Geschichtsforscher  sind. 

Endlich  noch  eine  Seite  der  Uebcrweisungsfrage,  die 
zwar  nur  von  indirekter  aber  darum  von  nicht  geringerer 
sozialpolitischer  Bedeutung  ist.  Bei  den  Wahlen  zum 
preussischen  Abgecrdnetenhause  wird  bei  der  Abmessung 
des  Wahlrechts  neben  der  staatlichen  Einkommensteuer 
unter  Anderm  auch  die  staatliche  Grundsteuer  zu  Grunde 
gelegt.  Wenn  die  Grundsteuer  als  Staatssteuer  auf  hört,  so 
verlieren  die  Grundbesitzer  den  entsprechenden  Theil  der 
Bevorzugung.  Daher  soll  das  geplante  Gesetz  eine  Be- 


stimmung enthalten,  nach  welcher  die  erlassene  Grund- 
steuer so  gezählt  werden  soll,  als  ob  sie  befahlt  würde. 
Das  heisst:  das  ohnedies  schon  starke  Uebergewicht  der 
reichen  Klassen  über  die  armen  soll  noch  dadurch  verstärkt 
werden,  dass  ihnen  neben  den  gezahlten  Steuern  auch  die 
erlassenen  angerechnet  werden. 

Die  bevorstehende  Besprechung  der  Ueberweisungs- 
pläne  gilt  wie  Alles,  was  über  dieselben  heute  gesagt  wer- 
den kann,  mit  einem  gewissen  Vorbehalt.  Den  darüber  in 
die  Oeffentlichkeit  gelangenden  Nachrichten  kann  man 
nicht  immer  ansehen,  ob  sie  auf  offiziöse  Anregungen  oder 
auf  Indiskretionen  zurückgehen.  In  Blättern,  die  mit  der 
Regierung  in  keinerlei  Fühlung  stehen,  trifft  man  Citate 
aus  dem  zukünftigen  Gesetzentwürfe  oder  aus  seinen 
Motiven,  die  zwischen  Anführungszeichen  gestellt  sind.  In 
Brochüren  von  Personen,  welche  als  dem  Finanzministerium 
nahestehend  gelten,  werden  wichtige  Fragen  noch  offen 
gelassen,  ln  einem  solchen  .Stadium  der  Berathung  hat  es 
etwas  Peinliches,  Kritik  zu  üben.  Allein  solange  solche 
Mittheilungen  in  die  Oeffentlichkeit  gelangen  und  hier  und 
da  Zustimmung  finden,  so  lange  bleibt  nichts  übrig,  als 
auch  rechtzeitig  Widerspruch  zu  erheben.  Denn  wenn  erst 
Wochen  und  Monate  lang  durch  unzählige  Pressnotizen 
eine  falsche  Auffassung  der  Reform  vorbereitet  ist,  so  ist 
es  hinterher  sehr  erschwert,  mit  der  richtigen  Auffassung 
durchzudringen. 

Sollte  wirklich  der  Ueberweisungsplan  in  der  oben 
skizzirten  Form  zur  Ausführung  gelangen,  so  wäre  dies 
ein  Unglück  für  den  preussischen  Staat.  Wenig- 
stens sollte  man  dann  suchen,  dieses  Unglück  durch  kom- 
munale Reformen  auf  ein  möglichst  geringes  Mass  zu  redu- 
ziren.  Den  Gutsbezirken  müsste  eine  kommunale  Vertre- 
tung gegeben,  die  Regierungsaufsicht  über  dieselbe  ver- 
schärft werden.  Die  Grundzüge  einer  kommunalen  Be- 
steuerung des  Grund  und  Bodens  im  Sinne  einer  Heran- 
ziehung der  steigenden  Bodenrente  müssten  nicht  dem 
Eigennutze  der  kommunalen  Vertreter  überlassen,  sondern 
durch  Staatsgesetz  festgelegt  Averden.  Auf  diesem  Wege 
liesse  sich  ein  Theil  des  drohenden  Unheils  abwenden  und 
wenigstens  noch  diese  und  jene  erspriessliche  Reform  ein- 
tauschen. 

Berlin.  J.  Jastrow. 


Unfälle  anf  deutschen  Eisenbahnen.  Nach  der  im  Reichs- 
Eisenbahnamt  aufgestellten  NachAveisung  der  auf  deutschen 
Eisenbahnen  — ausschliesslich  Bayerns  — im  Monat  August  d.  J. 
beim  Eisenbahnbetriebe  (mit  Ausschluss  der  Werkstätten)  vor- 
gekommenen  Unfälle  waren,  Avie  wir  dem  Reichsanzeiger  vom 
12.  Oktober  entnehmen,  im  Ganzen  zu  verzeichnen:  12  Ent- 

gleisungen und  3 Zusammenstösse  auf  freier  Bahn,  14  Ent- 
gleisungen und  6 Zusammenstösse  in  Stationen  und  200  sonstige 
Unfälle  (Ueberfahren  von  Fuhrwerken,  Feuer  im  Zuge,  Kessel- 
explosionen und  andere  Ereignisse  beim  Eisenbahnbetriebe,  so- 
fern bei  letzteren  Personen  getödtet  oder  verletzt  worden  sind). 
Bei  diesen  Unfällen  sind  im  Ganzen,  und  zwar  grösstentheils 
durch  eigenes  Verschulden  (?),  214  Personen  verunglückt,  sowie 
44  Eisenbahnfahrzeuge  erheblich  und  59  unerheblich  beschädigt. 
Von  den  beförderten  Reisenden  wurden  4 getödtet  und  12  ver- 
letzt, und  zwar  entfallen:  je  eine  Tödtung  auf  die  Verwaltungs- 
bezirke der  Königlichen  Eisenbahn-Direktionen  zu  Elberfeld 
und  zu  Köln  (linksrheinische),  zwei  Tödtungen  auf  den  Ver- 
waltungsbezirk der  Königlichen  Eisenbahn-Direktion  zu  Berlin, 
zwei  Verletzungen  auf  den  Verwaltungsbezirk  der  Königlichen 
Eisenbahn-Direktion  zu  Altona,  je  eine  Verletzung  auf  die 
Königlich  württembergischen  Staatseisenbahnen  una  auf  die 
Reichs-Eienbahnen  in  Elsass-Lothringen,  drei  Verletzungen  auf 
den  Verwaltungsbezirk  der  Königlichen  Eisenbahn-Direktion  zu 
Berlin,  je  eine  Verletzung  aut  die  Verwaltungsbezirke  der 
Königlichen  Eisenbahn-Direktion  zu  Breslau,  zu  Erfurt,  zu  Brom- 
berg, zu  Hannover  und  zu  Magdeburg.  Von  Bahnbeamten  und 
und  Arbeitern  im  Dienst  wurden  beim  eigentlichen  Eisenbahn- 
betriebe 26  getödtet  und  144  verletzt,  von  Steuer-  u.  s.  w.  Be- 
amten 1 verletzt,  von  fremden  Personen  (einschliesslich  der 
nicht  im  Dienst  befindlichen  Bahnbeamten  und  Arbeiter)  18  ge- 
tödtet und  9 verletzt.  Ausserdem  wurden  bei  Nebenbeschäf- 
tigungen 2 Beamte  getödtet  und  47  Beamte  verletzt.  Von  den 


30 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  3. 


sämmtlichen  Unfällen  beim  Eisenbahnbetriebe  entfallen  auf: 
A.  Staatsbahnen  und  unter  Staatsverwaltung  stehende  Bahnen 
(bei  zusammen  (34  144,45  km  Betriebslänge  und  994  223  405  ge- 
förderten Achskilometern)  224  Fälle,  davon  sind  verhältniss- 
mässig,  d.  h.  unter  Berücksichtigung  der  geförderten  Achs- 
kilometer und  der  im  Betriebe  gewesenen  Längen,  in  dem  Ver- 
waltungsbezirk der  Königlichen  Eisenbahn-Direktion  zu  Erfurt, 
auf  der  Main-Neckar-Eisenahn  und  in  dem  Verwaltungsbezirk  der 
Königlichen  Eisenbahn-Direktion  zu  Altona  die  meisten  Unfälle 
vorgekommen.  B.  Privatbahnen  (bei  zusammen  2526,2!  km 
Betriebslänge  und  32  171  923  geförderten  Achskilometern)  11  Fälle, 
davon  sind  verhältnissmässig  auf  der  Altdamm-Kolberger  Eisen- 
bahn, auf  der  Hessischen  Ludwigs-Eisenbahn  und^  auf  der 
Lübeck-Buchener  Eisenbahn  die  meisten  Unfälle  vorgekommen. 

Aufenthaltsräume  für  pfleglose  Schulkinder.  In 

Rüdesheim  a.  Rh.  haben  die  städtischen  Behörden  be- 
schlossen, im  Anschluss  an  die  Volksschule  Räume  herzu- 
richten, in  welchen  Schulkinder  sich  des  Tages  über  auf- 
halten und  für  wenig  Geld  auch  beköstigt  werden  können, 
deren  Eltern  durch  ihren  Beruf  von  ihrer  Wohnung  fern- 
gehalten werden.  Solche  Fälle  kommen  auch  am  Rhein  in 
ländlicher  Gegend  besonders  während  der  Weinlese  häufig 
vor,  ferner  bei  Familien,  in  welchen  der  Vater  oder  die 
Mutter  gestorben  ist  und  der  überlebende  Theil  allein  für 
den  Unterhalt  sorgen  muss. 

Thätigkeit  des  Berliner  Centralvereins  für  Arbeitsnach- 
weis im  ersten  Quartale  1892.  In  den  ersten  drei  Monaten  des 
laufenden  Jahres  sind  im  Arbeitsnachweis  für  männliche  Per- 
sonen von  rund  9000  sich  meldenden  arbeitslosen  Personen  rund 
6000  Personen,  662/-(  pCt , in  Arbeit  gebracht  worden.  Gegen  das 
Vorjahr  bedeutet  das  eine  nicht  unerhebliche  Zunahme.  Im 
Arbeitsnachweis  für  weibliche  Personen  sind  von  1417  Mädchen 
und  Frauen  735  (knapp  52  pCt.)  in  Arbeit  gebracht.  Leider 
fehlen  nähere  Angaben  über  die  Dauer  der  verschafften  Arbeit, 
über  die  Dauer  der  Arbeitslosigkeit  und  der  Arbeitsvermitt- 
lung etc.,  so  dass  aus  den  hier  angegebenen  Zahlen  kein  defini- 
tives Urtheil  über  die  Leistungsfähigkeit  des  Centralvereins  für 
Arbeitsnachweis  gewonnen  werden  kann.  — Der  Vorstand  be- 
schloss, für  den  kommenden  Winter  die  Wiedereröffnung  der 
Wärmehallen.  Neben  der  Centralwärmehalle  am  Alexanderplatz, 
die  durch  Beseitigung  der  Abtheilung  für  weibliche  Personen 
erweitert  wird,  soll  noch  eine  zweite  Halle  in  verkehrsreicher 
Gegend  eingerichtet  werden.  Die  städtischen  Behörden  sollen 
um  Subventionirung  des  Unternehmens  ersucht  werden. 

Das  Steigen  der  Auswanderung  aus  Italien.  In 
Italien  ist  mehr  als  in  anderen  Kulturländern  zwischen  der 
definitiven  und  temporären  Auswanderung  zu  unterscheiden, 
beide  nehmen  zu,  die  definitive  aber  mehr  als  die  tempo- 
räre. Im  Jahre  1878  wanderten  für  immer  aus  20  000,  wäh- 
rend im  Jahre  1888  196  000,  demnach  nach  10  Jahren  fast 
die  lOfache  Zahl  das  Vaterland  ohne  Absicht  heimzukehren 
verliessen.  Mit  der  Absicht  im  Auslande  für  einige  Zeit 
Arbeit  zu  finden,  nachher  aber  mit  einigen  Ersparnissen 
zurückzukehren,  Verliesen  im  Jahre  1876  90  000,  im  Jahre 
1889  105  000  Italiener  ihr  Heimath.sland. 

Die  Wollindustrie  in  Massachusetts.  Der  vor  Kurzem 
erschienene  Bericht  des  arbeitsstatistischen  Bureaus  des 
Staates  Massachusetts  theilt  mit,  dass  das  in  der  Baumwoll- 
industrie angelegte  stehende  und  umlaufende  Kapital  sich 
von  114  947  374  Doll,  in  1890,  auf  117933  102  in  1891  erhöht 
hat.  Der  Werth  der  erzeugten  Waaren  stellt  sich  indess 
in  1891  nur  auf  89  857  630  Doll,  gegen  90  063  203  in  1890. 
Die  Verminderung  des  Werthes  ist  auf  den  Preisfall  der  sich 
in  1891  sowohl  für  die  verwandten  Rohstoffe,  wie  für  das 
fertige  Produkt  geltend  machte,  zurückzuführen.  Die  in 
1891  gezahlten  Löhne  betragen  24  738  653  Doll,  gegen 
23  634  881  in  1890.  Der  Betrag  des  erzielten  Nutzens  wie 
der  Ausgaben  für  Fracht,  Versicherung  an  Kommissions- 
gebühren, Lohn  für  die  kaufmännischen  Hilfsarbeiter  und 
andere  ähnlichen  Ausgaben  stellt  sich  auf  12  865  472  Doll, 
in  1891  gegen  14  138  062  Doll,  in  1890.  Der  Betrag  des  in 
der  Wollindustrie  und  in  der  Wollgarnindustrie  angelegten 
Kapitals  hat  sich  in  1891  gegen  1890  vermindert,  in  der 
ersteren  von  28  271  436  Doll,  auf  27  835  204,  in  der  letzteren 
von  10  912  129  auf  10  782  298  Doll.  Das  Gesammtprodukt 
der  Wollindustrie  repräsentirt  einen  Werth  von  33  989  359 
gegen  31  151  139  Doll,  in  1890:  die  betreffenden  Ziffern  für 
die  Wollgarnindustrie  sind  17219318  Doll,  gegen  15350  196 
Doll.  An  Arbeitslohn  wurde  in  der  Wollindustrie  aus- 
gegeben in  1891 : 6 616  442  Doll,  gegen  6 174  770  Doll,  in  1890, 
in  der  Wollgarnindustrie  2 927  448  Doll,  gegen  2 973  680  Doll. 
An  Profit  incl.  der  Ausgaben  ausser  den  Löhnen  für  die 


Arbeiter  wurde  erzielt  in  der  ersteren  Industrie  6 210  544Doll. 
gegen  5 515  30t  Doll.,  in  der  letzteren  2 024  654  Doll,  gegen 
i 974  105  Doll.  Sowohl  die  Wollindustrie,  wie  die  Wollgarn- 
industrie  hatten  in  1891  gute  Beschäftigung  zu  verzeichnen; 
in  der  ersteren  betrugen  durchschnittlich  die  Arbeitstage 
2987?,  in  der  letzteren  30574- 


Arbeiterzustände. 


Truckunfug  im  rheinisch  - westfälischen  Bergrevier. 
Wie  durch  das  Organ  des  deutschen  Bergarbeilerverbandes 
erst  jetzt  öffentlich  bekannt  wird,  hat  die  Verwaltung  der 
Zeche  Dannenbaum  unter  dem  7.  Juli  dieses  Jahres  an  ihre 
Arbeiter  die  folgende  „Aufforderung“  erlassen:  „Nachdem 

wir  dazu  übergegangen  sind,  den  geringen  Gewinn  unserer 
Konsumanstalten  an  unsere  Bergleute  zurückzuzahlen,  hegt 
uns  die  Verpflichtung  auf,  durch  Vergrösserung  des  Lhnsatzes 
die  Verwaltungskosten  möglichst  herabzudrücken,  um  dadurch 
im  Interesse  unserer  Bergarbeiter  einen  höheren  Gewinn  er- 
zielen und  zu  niedrigeren  Preisen  verkaufen  zu  können.  Wir 
richten  deshalb  an  unsere  Bergarbeiter  die  dringende  Aufforde- 
rung, im  eignen  Interesse  ihren  Bedarf  in  unseren  Konsum- 
anstalten  einzukaufen;  wir  müssen  jedoch  an  diejenigen  Berg- 
leute, welche  die  billigen  Wohnungen  unserer  Kolonien  inne 
haben,  das  unbedingte  Verlangen  richten,  nur  in  unseren 
Konsumanstalten  zu  kaufen,  umsomehr,  als  wir  bessere  Waaren 
zu  billigeren  Preisen  liefern.  — Die  bezüglichen  Kontobücher 
sind  bei  unsern  Betriebsführern  in  Empfang  zu  nehmen.“  Das 
i:n  Eingang  namhaft  gemachte  Blatt  bemerkt  hinzu  u.  A..  der 
leitende  Grundsatz  leuchte  auch  hier  unverkennbar  durch,  und 
fährt  dann  fort:  „Werden  die  Bergleute  zwangsweise  von  den 
Konsum-Anstalten  der  Zeche  Dannenbaum  ihre  Waaren  aus- 
schliesslich beziehen  müssen,  so  ist  die  Verwaltung  leicht  in  der 
Lage,  an  der  Hand  der  Einkäufe  den  Haushaltungsetat  der 
Käufer  bis  zu  einem  gewissen  Grade  festzustellen,  und  kann  bei 
billiger  Waarenlieferung  leicht  zu  der  Ueberzeugung  gelangen, 
dass  Lohnkürzungen  nicht  nur  möglich , sondern  sogar 
wünschenswerth  seien.  Darum,  Bergleute,  aufgepasst:  Hütet 

Euch  vor  solchen  Feinden,  die  Euch  beschenken  wollen!“  Der 
Bochumer  Korrespondent  der  „Frankf.  Ztg.“  meint,  es  sei  auf 
das  Schärfste  zu  verurtheilen,  dass  eine  Gesellschaft,  die  wie 
Zeche  Dannenbaum  7ö  pCt.  der  gesammten  Arbeitslöhne,  das 
sind  mehr  als  zwei  Millionen  Mark,  als  Ueberschuss  den 
Aktionären  zur  Ausschüttung  bringt,  ihre  wirthschaftliche  Macht 
dazu  benutzt,  ihren  Arbeitern  den  Bezug  ihrer  täglichen  Waaren 
vorzuschreiben.  Es  ist  durchaus  nicht  ausgemacht,  dass  die 
Konsumanstalten  mit  solcher  Tendenz  billiger  und  besser  liefern, 
als  Privatgeschäfte.  In  Arbeiterkreisen  hört  man  vielfach  das 
Gegentheil  versichern. 

Arbeitsverhältnisse  in  den  deutschen  Nahrungsmittel- 
gewerben. Der  „Reichsanzeiger“  schreibt:  „Es  ist  zur 

Sprache  gebracht  worden,  dass  die  Werkstätten  zur 
Herstellung,  Verpackung  etc.  von  Nahrungs-  und  Genuss- 
mitteln, z.  B.  in  Brot-  und  Kuchenbäckereien,  Konditoreien, 
Wurstfabriken  und  dergleichen,  nicht  selten  als  Schlaf- 
stellen für  Gehilfen  und  Lehrlinge  benutzt  werden.  Dass 
eine  solche  Verwendung  nicht  nur  unappetitlich,  sondern 
auch  für  die  Schläfer  in  jenen  Räumen  sowohl,  wie  unter 
Umständen  für  die  Konsumenten  jener  Artikel  gesundheits- 
gefährdend ist,  leuchtet  ein.  Die  Regierungspräsidenten 
sind  vom  Minister  der  geistlichen,  Unterrichts-  und  Medi- 
zinalangelegenheiten zum  Bericht  über  den  Umfang  dieser 
Unsitte  und  die  nöthigenfalls  gebotenen  Massregeln  da- 
gegen aufgefordert  worden.“  Ob  die  Regierungspräsidenten 
und  die  denselben  untergeordneten  Verwaltungsbehörden 
wohl  die  richtigen  Stellen  für  die  Erkundung  solcher  Miss- 
stände  sind?  Ausserdem  reichen  die  Missstände  viel  weiter 
als  es  die  „Reichsanzeiger“  zugeben  will.  So  richteten 
vorige  Woche  die  Münchener  Bäckergehilfen  an  den 
Magistrat  das  Ersuchen,  dafür  zu  sorgen,  dass  sämmtlichen 
Bäckereiarbeitern  wöchentlich  mindestens  zweimal  frische 
Handtücher  von  den  Bäckerei-Inhabern  verabfolgt  wer- 
den. Das  jetzige  System,  nur  ein  Handtuch  pro  vVoche 
und  Mann  zu  geben,  veranlasse  die  Arbeiter,  den  Schweiss 
an  den  Semmeltüchern  abzutrocknen,  auf  welche  der 
Semmelteig  vor  dem  Backen  zu  liegen  kommt.  Hier  wären 
also  sehr  gründliche  Untersuchungen  am  Platze. 


No.  3. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


31 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Die  Situation  im  deutschen  Buchdruckgewerbe. 

Es  ist  wohl  selbstverständlich , dass  eine  Bewe- 
gung, wie  es  der  im  letzten  Winterhalbjahre  stattgehabte 
grosse  Ausstand  der  Buchdruckergehilfen  war,  nicht  nur 
innerhalb  des  betroffenen  Gewerbes  längere  Zeit  noch 
Gegenstand  regsten  Interesses  bleibt , sondern  dass  sich 
auch,  da  heutzutage  die  Vorgänge  in  einzelnen  Gewerben 
mehr  und  mehr  von  einem  höheren  Standpunkte  kritisch 
betrachtet  und  in  Zusammenhang  mit  allgemeinen  sozial- 
politischen Forderungen  und  Bestrebungen  gesetzt  werden, 
die  gelehrte  Welt  eingehend  mit  ihr  beschäftigt.  Wir 
können  es  deshalb  nur  begrüssen,  dass  auch  das  Sozial- 
politische Centralblatt  dem  Buchdruckerausstand  und  den 
an  ihn  sich  knüpfenden  Vorgängen  eine  Stelle  eingeräumt 
hat.  Herr  Dr.  Adolf  Braun  in  Berlin  hat  in  Nr.  1 dieser 
Zeitschrift  dem  Buchdruckerstrike  eine  längere  Betrachtung 
gewidmet  und  in  Nr.  37  die  gegenwärtige  Lage  im  Buch- 
druckgewerbe einer  Betrachtung  unterzogen. 

So  erfreut  wir  nun  auch  über  diese  Thatsache  an  sich 
sind,  so  wenig  können  wir  uns  mit  der  von  dem  geschätz- 
ten Herrn  Verfasser  in  Nr.  37  eingeschlagenen  Art  der  Be- 
handlung des  Stoffes  befreunden , die  Vorkommnisse  im 
Buchdruckgewerbe  lediglich  nach  Massgabe  des  von  dem 
Gehilfenorgane , dem  „Correspondent  für  Deutschlands 
Buchdrucker  und  Schriftgiesser“  beigebrachten  Materials 
zu  beurtheilen.  Auch  will  es  uns  scheinen,  dass  die  Ar- 
beit des  Herrn  Dr.  Adolf  Braun  nicht  den  richtigen  Zeit- 
punkt getroffen  habe,  um  zu  einem  wissenschaftlich  ob- 
jektiven Urtheil  über  die  Tarifangelegenheit  zu  gelangen; 
denn  diese  geht  ihrem  Abschlüsse  erst  entgegen.  Ein  Ur- 
theil über  eine  unfertige  Sache  aber  hat  nur  geringe  Be- 
deutung und  ist  leicht  geeignet,  der  Sache  selbst  nach- 
theilig  zu  werden. 

Da  nun  einem  unparteiischen  populärwissenschaft- 
lichen Organ,  als  welches  das  Sozialpolitische  Centralblatt 
sich  selbst  bezeichnet,  daran  gelegen  sein  muss,  wirthschaft- 
liche  Angelegenheiten,  welche  es  in  den  Kreis  seiner  Be- 
trachtungen zieht,  unbefangen  und  mit  einer  nach  allen 
Seiten  bethätigten  Unabhängigkeit  und  Rückhaltlosigkeit 
behandelt  zu  sehen,  und  da  den  Buchdruckereibesitzern 
als  Mitangehörigen  des  Buchdruckgewerbes  eine  solche 
unabhängige  Behandlung  der  Angelegenheiten  ihres  eigenen 
Gewerbes  erwünscht  sein  muss,  gestatten  wir  uns  zu  dem  J 
Aufsatz  des  Herrn  Dr.  Adolf  Braun  über  die  gegenwärtige  ! 
Lage  im  deutschen  Buchdruckgewerbe  in  Nr.  37  des  Sozial- 
politischen Centralblattes  einige  Ergänzungen  zu  geben. 

Der  Herr  Verfasser  kommt  im  Eingänge  auf  die  Vor- 
gänge beim  letzten  Strike  zurück  und  sagt:  „die  Prinzipale 
lehnten  diese  Forderung  (nämlich  die  Verkürzung  der  Ar- 
beitszeit von  9'/2  auf  8‘/2  Stunden  netto)  als  unerfüllbar  ab, 
zeigten  aber  betreffend  der  in  zweiter  Linie  erhobenen 
Lohnforderung  Entgegenkommen  und  machten  den  Vor- 
schlag einer  7'/2  prozentigen  Lohnerhöhung,  damit  ge- 
standen sie  die  Reformbedürftigkeit  des  Tarifs  im 
Sinne  der  Gehilfen  zu,  wenn  sie  auch  über  das  Mass  i 
und  die  Art  derselben  nicht  einig  waren.“  Diese  durch  ! 
gesperrten  Druck  hervorgehobene  Ansicht  ist  eine  durch-  j 
aus  irrige.  Die  Prinzipalmitglieder  der  Tarifkommission, 
welche  den  Vorschlag  von  T[/2  Prozent  machten,  gaben  mit 
demselben  nur  einen  Ausdruck  ihrer  friedlichen  Gesinnung, 
sie  wollten  das  ihnen  mögliche  Aeusserste  aufbieten,  um 
den  Frieden  zu  erhalten.  Die  Reformbedürftigkeit  des  1 
Tarifs  im  Sinne  der  Gehilfen  haben  sie  entschieden  be- 
stritten und  können  sie  auch  heute  noch  nicht  zugeben. 
Zu  erörtern,  warum  sie  das  nicht  können,  liegt  nicht  im 
Rahmen  dieses  Aufsatzes  und  ist  an  dieser  Stelle  auch  wohl  , 
nicht  nöthig  denn  ein  jeder,  der  mit  dem  Buchdruck-  1 
gewerbe  zu  thun  hat,  weiss,  dass  dessen  tarifmässige 
Löhne  gute  sind,  und  ein  klar  sehendes  wissenschaftliches 
Auge  erkennt  auch  hier,  dass  die  Höhe  der  Löhne  im  all-  i 


gemeinen  von  mehr  als  der  blossen  Willkür  der  Arbeit- 
geber oder  Arbeiter  abhängt. 

Uober  den  sich  an  die  Ablehnung  des  Prinzipalsent- 
gegenkommens knüpfenden  Strike  und  dessen  Führung  von 
Prinzipalen  und  Gehilfen,  worüber  der  Herr  Verfasser  sich 
in  Nr.  1 des  Sozialpolitischen  Centralblattes  in  lediglich 
gehilfenfreundlichem  Sinne  ausgesprochen,  wollen  wir  uns 
hier  nicht  äussern,  da  beides  nur  noch  in  einem  entfernte- 
ren Bezüge  zur  heutigen  Lage  im  Buchdruckgewerbe  steht. 
Wir  knüpfen  an  das  mit  den  Gehilfen  getroffene  Ab- 
kommen zur  Beendigung  des  Strikes  an,  welches  seitdem 
zum  Ausgangspunkt  erneuter  Streitigkeiten  zwischen  Prin- 
zipalen und  Gehilfen  geworden  ist. 

Der  1891  /92er  Strike  drehte  sich  nicht  nur  um  die  von 
den  Gehilfen  geforderte  Arbeitszeitverkürzung  und  Lohner- 
höhung, sondern  auch  um  die  Erhaltung  der  zwischen  Prin- 
zipalen und  Gehilfen  bestehenden  Tarif gemeinschaft, 
welche  sich  während  ihres  18jährigen  Bestehens  für  beide 
Theile  nützlich  erwiesen  hatte.  Die  Strikeleitung  der  Ge- 
hilfen erklärte  gleich  zu  Beginn  des  Strikes  die  Tarifge- 
meinschaft für  aufgehoben  und  beauftragte  mit  der  künf- 
tigen Vereinbarung  des  Tarifs  mit  den  Prinzipalen  den 
Vorstand  des  Unterstützungsvereins  deutscher  Buchdrucker. 
Der  Vorstand  des  deutschen  Buchdruckervereins  und  die 
von  ihm  eingesetze  Centralleitung  für  Ausstandsangelegen- 
heiten, waren  hingegen,  wie  aus  einer  am  5.  November  1891 
veröffentlichten  Bekanntmachung  dieses  Vorstandes  hervor- 
geht, entschlossen,  die  Tarifgemeinschaft  aufrecht  zu  er- 
halten. Dieser  gegensätzliche  Standpunkt  ist  auch  in  den 
beiderseitigen  Vereinsorganen  wiederholt  zum  Ausdruck 
gekommen. 

Da  der  Ausgang  des  Kampfes  die  Prinzipale  in  die 
Lage  setzte,  den  Frieden  zu  diktiren,  so  gab  die  Central- 
leitung am  13.  Januar  1892  in  einer  Konferenz  mit  Ver- 
tretern der  strikenden  Gehilfen  diesen  als  dritte  Friedens- 
bedingung bekannt:  „Festhalten  an  der  Tarifgemeinschaft, 
deren  Form  besonderer  Besprechung  Vorbehalten  bleibt.“ 
Diese  Bedingung  wurde  am  16.  Januar  1892  zwischen  den 
beiderseitigen  Bevollmächtigten  Herren  Büxenstein  und 
Döblin  in  Berlin  in  folgender  Form  schriftlich  vereinbart: 
„Der  Tarif  vom  1.  Januar  1890  gilt  weiter  und  wird  so  lange 
als  gütig  anerkannt,  bis  eine  andere  V ereinbarung  zwischen 
Prinzipalität  und  Gehilfenschaft  getroffen  ist.“  Dem  Sinne 
nach  waren  beide  Fassungen  gleich;  denn  der  zweite  und 
dritte  Theil  des  1890er  Tarifs  enthalten  die  Form  für  die 
bestehende  Tarifgemeinschaft  und  mit  der  Form  bleibt 
selbstverständlich  auch  deren  Inhalt  erhalten.  Auf  den 
ersten  Theil  des  1890er  Tarifs,  den  eigentlichen  Lohntarif, 
konnte  das  Hauptgewicht  in  der  dritten  Friedensbedingung 
um  so  weniger  gelegt  werden,  als  dessen  Weiterbestehen 
ja  schon  durch  die  zweite  Friedensbedingung:  „Wieder- 

aufnahme der  Arbeit  zu  den  alten  Bedingungen“,  die  von 
keiner  Seite  Widerspruch  begegnete,  gesichert  war.  Dem 
Wortlaut  nach  waren  aber  beide  Bedingungen  verschieden 
und  aus  der  Verschiedenartigkeit  dieses  Wortlautes  nahm 
später  die  Gehilfenschaft  Veranlassung,  sich  bei  der  ver- 
suchten Wiederherstellung  der  Tarif kommission  für  das 
Weiterbestehen  des  1890  er  Lohntarifs  und  gegen  die  Tarif- 
gemeinschaft zu  erklären. 

Die  Prinzipalsleitung  hielt  an  der  dritten  Friedens- 
bedingung beziehentlich  an  der  Tarifgemeinschaft  fest. 
Unter  den  wieder  eingetretenen  friedlichen  Verhältnissen 
konnte  sie  dies  aber  nur  so  lange  als  die  Gehilfenschaft 
gleichfalls  hierzu  bereit  war.  Als  diese  durch  die  Wahlen 
zur  Tarifkommission  klar  und  deutlich  ausgesprochen 
hatte,  dass  sie  von  der  Tarifgemeinschaft  nichts  wissen 
wollte,  dass  sie  nur  zu  dem  Zwecke  gewählt  hatte,  um  den 
Prinzipalen  die  Tarifgemeinschaft  zu  verleiden,  erachtete 
die  Prinzipalsleitung  sich  auch  nicht  mehr  an  die  bisherige 
Tarifgemeinschaft  und  deren  Produkt,  den  1890er  Tarif, 
gebunden,  und  um  einen  Ausweg  aus  den  Tarifwirren  zu 
gewinnen,  stellte  sie  selbst  einen  Tarif entwurf  auf,  welcher 
die  Mitwirkung  der  Gehilfen  an  den  Tarifangelegenheiten 
wieder  in  Aussicht  nahm.  Die  Breslauer  Generalversamm- 
lung des  Deutschen  Buchdruckervereins  beauftragte  den 


32 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  3. 


Vereinsvorstand  und  den  Vereinstarifausschuss,  diesen 
Tarifentwurf  unter  Berücksichtigung  der  beiden  Ge- 
sichtspunkte: keine  Reduktion  der  Grundpositionen  des 

Lohntarifs  vorzunehmen  und  die  spätere  Mitwirkung 
der  Gehilfenschaft  überall  offen  zu  lassen,  endgültig 
festzustellen  und  den  Vereinsmitgliedern  vom  1.  Ok- 
tober 1892  ab  zur  Einführung  zu  empfehlen.  Das  Verhalten 
der  Prinzipalsleitung  hatte  mit  diesem  Beschlüsse  eine  ge- 
wisse Rechtfertigung  erfahren,  so  dass  diese  sich  wegen 
der  auf  sie  gerichtet  gewesenen  Angriffe  beruhigen  konnte. 
Seitdem  haben  nun  die  Prinzipalsvereinigungen  von  Berlin 
und  Stuttgart  gegen  den  Breslauer  Beschluss  den  Einwand 
erhoben,  dass  derselbe  nicht  mit  der  Büxenstein-Döblin- 
schen  Abmachung  vom  16.  Januar  1892  in  Uebereinstimmung 
sei,  und  es  ist  deshalb,  sowie  auch  wegen  der  Cholera- 
gefahr, die  endgültige  Feststellung  des  Tarifentwurfs  wie 
auch  der  Termin  der  Einführung  des  neuen  Tarifs  vertagt 
worden.  Die  Angelegenheit  ist  also  bei  weitem  nicht  ab- 
geschlossen. Es  steht  jedoch  zu  erwarten,  dass  eine  Eini- 
gung der  leitenden  Prinzipalskreise  erfolgt,  und  es  ist  durch- 
aus nicht  ausgeschlossen,  dass  diese  Einigung  auf  berech- 
tigte Forderungen  der  Gehilfenschaft  Rücksicht  nimmt. 
Die  absprechenden  Urtheile  über  das  Verhalten  der  Prin- 
zipalsleitung sind  also  zum  mindesten  sehr  verfrüht. 

Dem  vom  Deutschen  Buchdrucker-Verein  aufgestellten 
Tarif  - Entwurf  (dass  dieser  Tarif  nur  erst  Entwurf  ist, 
glauben  wir  auch  hier  betonen  zu  sollen)  wird  nun  von 
den  Gehilfen  nachgesagt,  dass  er  eine  10— l5prozentige 
Lohnherabsetzung  herbeiführe;  auch  Herr  Dr.  Adolf  Braun 
spricht  von  einer  „Reduzirung  des  Tarifs“,  welche  die  Prin- 
zipale anstrebten.  Betrachtet  man  jedoch  die  vorgeschla- 
genen  Tarifabänderungen  ohne  Voreingenommenheit  und  von 
einem  höheren  gewerblichen  Standpunkte  aus,  so  wird  man 
finden,  das  die  Angaben  des  „Correspondent“  stark  über- 
trieben sind. 

Zunächst  sei  konstatirt,  dass  eine  Herabminderung 
der  Grundpositionen  konform  dem  Beschlüsse  der  Bres- 
lauer Generalversammlung  nicht  vorgenommen  worden  ist, 
und  dass  eine  etwaige  Abänderung  der  Lokalzuschläge  nur 
mit  Zustimmung  der  Gehilfenschaft  Platz  greifen  kann. 

Von  den  vorgeschlagenen  Abänderungen  haben  eigent- 
lich nur  zwei  Bedeutung,  nicht  als  Reduktionen,  sondern 
im  wirtschaftlichen  Sinne.  Es  sind  dies  die  Bestimmun- 
gen, dass  das  Minimum  (20,50  M.)  für  kleinere  Druckorte 
auf  Antrag  und  unter  ganz  bestimmten  Voraussetzungen 
herabgesetzt  werden  kann  und  dass  den  Ausgelernten  im 
ersten  Jahre  nach  der  Lehrzeit  weniger  als  das  Minimum 
bis  zu  15  M.  zu  zahlen  gestattet  ist.  Mit  der  ersteren  Be- 
stimmung ist  nicht  beabsichtigt,  eine  Herabsetzung  des 
Minimums  im  allgemeinen  herbeizuführen,  sondern  im 
Gegenteil  die  Bezahlung  an  Orten,  wo  jetzt  nur  12-15  M. 
gezahlt  werden,  auf  etwa  18  M.  heraufzubringen.  Die 
zweite  Bestimmung  ist  lediglich  im  Interesse  der  Ausge- 
lernten gelegen,  entspricht  einem  von  den  Gehilfen  selbst 
geäusserten  W unsche  und  hat  als  Reduktion  deshalb  nichts 
zu  bedeuten,  weil  ein  jeder  Ausgelernte,  der  das  Minimum 
verdienen  kann,  dieses  auch  erhalten  oder  es  sich  ver- 
schaffen wird.  Beide  Bestimmungen  sind  lediglich  zu  dem 
Zwecke  vorgeschlagen  worden,  eine  grosse  Zahl  von 
Druckereien,  die  sich  heute  an  den  Tarif  nicht  halten 
können,  dessen  Annahme  zu  ermöglichen  und  damit  einer 
grossen  Zahl  von  Gehilfen  bessere  Bezahlung  zu  sichern. 
Sie  haben  also  einen  wohl  nur  zu  billigenden  wirtschaft- 
lichen Zweck. 

D ie  übrigenT arifabände  r ungen  endlich  sind  zum  grössten 
Theile  auf  schiedsgerichtliche  Entscheidungen  basirte  Ver- 
besserungen des  Tarifs  und  als  Reduktionen  ohne  Be- 
deutung. Die  Prinzipalität  ist  auch  gar  nicht  gesonnen,  < 
auf  diese  Abänderungen  besonderes  Gewicht  zu  legen. 

Bei  der  Agitation  gegen  die  Tarifgemeinschaft  und 
den  Tarifentwurf  des  Deutschen  Buchdrucker-Vereins  hat 
sich  die  organisirte  Gehilfenschaft  eines  taktischen 
Kunstgriffs  bedient,  auf  den  hinzuweisen  wir  für  wichtig 
halten.  Es  ist  das  der  Versuch,  durch  eine  künstlich  in- 
scenirte  Rivalität  zwischen  den  Druckstädten  Leipzig  und 


Berlin  ein  Spaltung  in  die  Prinzipalität  zu  bringen,  und 
alles  was  von  seiten  der  Prinzipalsleitung  gesprochen,  als 
im  Interesse  der  Druckstadt  Leipzig  geschehen  und  von 
einzelnen  Leipziger  Persönlichkeiten  ausgehend  hinzu- 
stellen, obwohl  sie  hinsichtlich  des  letzteren  Punktes  vom 
Gegentheil  überzeugt  sein  musste.  Diese  Taktik  ist,  abge- 
sehen von  allem  andern,  eine  selbstmörderische,  denn  sie 
dient  lediglich  den  Interessen  unlauterer  Konkurrenz, 
welche  schliesslich  die  Gehilfen  am  meisten  schädigt,  und 
sie  steht  der  Gehilfenorganisation  um  so  weniger  gut  an, 
als  diese  sich  ja,  wie  der  Herr  Verfasser  richtig  darlegt,  in 
recht  misslichen  Verhältnissen  befindet.  Ein  Sozialpolitiker 
durfte  unseres  Erachtens  dieses  Moment  nicht  unbeachtet 
lassen. 

Im  weitern  bezichtigt  der  Herr  Verfasser  des  Auf- 
satzes im  Sozialpolitischen  Centralblatt  die  Prinzipalität, 
sie  habe  die  Zerstörung  der  Gehilfenorganisation 
angestrebt  und  als  Mittel  hierzu  fasst  er  u.  a.  auf:  die 
Gründung  von  Unterstützungskassen  für  die  Gehilfen  und 
finanzielle  Unterstützung  derselben,  die  Organisation  des 
Arbeitsnachweises  seitens  der  Prinzipale,  die  Bestrebungen 
vieler  Prinzipale,  die  Gehilfen  zum  Austritt  aus  ihrer  Orga- 
nisation zu  zwingen  und  den  s3'stematisch  geführten  Kampf 
gegen  die  Invalidenkasse.  Angesichts  dieser  Bezichtigung 
unterlässt  es  aber  der  Herr  Verfasser  nicht,  darauf  hinzu- 
weisen, dass  die  Gehilfen  ihre  Organisation  durch  Aende- 
rung  ihrer  Statuten  kampffähiger  gestalteten,  sie  nicht  nur 
national,  sondern  auch  international  kräftigten  und  sich  für 
neue  Kämpfe  vorbereiteten. 

Dem  gegenüber  bemerken  wir,  dass  es  der  Leitung 
der  Prinzipale  nicht  eingefallen  ist,  die  Gehilfenorganisa- 
tion zu  „zerstören,“  schon  deshalb  nicht , weil  vernünf- 
tige Menschen  eine  unausführbare  und  zu  dem  noch 
gewerbsschädliche  Aufgabe  gar  nicht  erst  anfassen.  Wir 
verschliessen  uns  dem  Guten,  das  die  Gehilfenorganisation 
geschaffen,  durchaus  nicht,  und  halten  eine  starke  und 
richtig  geleitete  G-ehilfenorganisation  sogar  für  eine  Noth- 
wendigkeit  im  Gewerbe.  Aber  die  Leitung  der  Prinzipale 
durfte  nicht  allein  mit  dem  17  000  Mann  starken  Unter- 
stützungsverein Deutscher  Buchdrucker,  sondern  sie  musste 
mit  der  gesammten  ca.  34  000  Köpfe  umfassenden  Gehilfen- 
schaft rechnen,  und  sie  musste  dies  besonders  von  dem 
Zeitpunkte  ab  thun,  wo  der  Unterstützungsverein  Deutscher 
Buchdrucker  offen  ins  sozialdemokratische  Lager  ab- 
schwenkte, sich  zu  einer  fachvereinlichen  Kampfesorgani- 
sation nach  sozialdemokratischen  Muster  umzuwandeln  an- 
schickte und  damit  vielen  seiner  eigenen  Mitglieder  die 
Zugehörigkeit  zum  Verein  und  seinen  Kassen  "zur  Ge- 
wissenszwangssache machte.  Die  Prinzipalsieitung  hielt 
sich  moralisch  verpflichtet,  ja  sie  wurde  sogar  gehilfenseitig 
veranlasst,  etwas  für  die  ausserhalb  des  Unterstützungs- 
vereins Deutscher  Buchdrucker  stehenden  und  noch  treten- 
den Gehilfen  zu  thun,  und  diesem  Pflichtgefühl  entsprang 
der  Plan  der  Organisation  des  Arbeitsnachweises  und  der 
| Errichtung  von  Unterstüfzungskassen , sowie  die  Wahr- 
J nehmung  der  von  der  Gehilfenstrikeleitung  gefährdeten 
I Rechte  vieler  Unterstützungsvereins-Mitglieder  an  den  Kassen 
dieses  Vereins.  Nebenbei  musste  sie  aber  auch  darauf 
bedacht  sein,  die  ihrer  Ansicht  nach  irregeleitete  Gehilfen- 
organisation auf  dem  Wege  indirekten  Zwanges  wieder  in 
vernünftige  Bahnen  zu  leiten  undden  zu  erwartenden  künftigen 
Ausschreitungen  der  national  und  international  gekräftigten 
Fachvereinsorganisation  vorzubeugen,  und  sie  that  und  thut 
dies  in  ganz  loyaler  Weise.  Ein  jeder  Sozialpolitiker  wird 
dies  auch  nur  billigen,  weil  er  auf  das  Gleichgewicht  der 
Kräfte  in  einem  Gewerbe  Werth  legen  muss. 

In  diesem  ihrem  Bestreben  hat  die  Prinzipalsleitung 
die  gesammten  Prinzipale  hinter  sich,  und  es  ist  ein  arger 
Trugschluss,  aus  der  augenblicklichen  Sonderstellung  Ber- 
lins und  Stuttgarts  in  Tarifangelegenheiten  auf  Zersplitte- 
rung der  Prinzipalität  zu  schliessen.  Auch  die  Gehilfen- 
schaft scheint  zur  Prinzipaisleitung  mehr  Vertrauen  zu 
; haben  als  zur  Leitung  ihres  Fach  Vereins,  wenigstens  lässt 
das  bedeutende  Zusammenschmelzen  der  Mitgliederzahl 
' des  Untersttitzungs Vereins  Deutscher  ßuckdrucker  darauf 


No.  3. 


SOZIA  LPOLITI SCHES  CKNTRA I , HL  ATT. 


33 


schliessen,  das  durchaus  nicht  allein  auf  die  von  den  orga- 
nisirten  Gehilfen  selbst  grossgezogene  Gellogenheit  ein- 
zelner Prinzipale,  die  Kondition  von  der  Nichtzugehörig- 
keit  zu  diesem  Verein  abhängig  zu  machen,  zurück- 
zuführen ist.  Ist  ja  doch  allein  der  Leipziger  Gauverein 
seit  dem  Strike  um  mehr  als  600  Mitglieder  zurückgegangen. 

Wenn  also  der  Herr  Verfasser  des  Aufsatzes  im  So- 
zialpolitischen Centralblatt  am  Schlüsse  seiner  Ausführun- 
gen meint,  der  Gegensatz  zwischen  Gehilfen  und  Unter- 
nehmern sei  im  deutschen  Buchdruckgewerbe  heute  stärker 
als  zur  Zeit  der  Arbeitseinstellung,  so  ist  das  unzutreffend 
und  eben  nur  aus  seiner  einseitigen  Betrachtung  der  Sachlage 
und  aus  der  Annahme  hervorgegangen,  dass  der  Unter- 
stützungsverein Deutscher  Buchdrucker  schlechthin  die 
Buchdruckergehilfenschaft  sei. 

Wir  schliessen  unsere  ergänzenden  Ausführungen  zu 
dem  Aufsatze  des  Herrn  Dr.  Adolf  Braun  mit  einem  freund- 
lichen Danke  für  das  Interesse,  das  er  dem  Buchdruck- 
gewerbe entgegen  bringt,  zugleich  aber  auch  mit  der  Bitte 
um  etwas  mehr  Objektivität.  Der  Numismatiker,  der  eine 
Münze  wissenschaftlich  beurtheilen  will,  darf  sich  auch 
nicht  darauf  beschränken,  nur  die  Seite  zu  betrachten,  die 
ihm  gefällt, 

Leipzig.  Bruno  Ivlinkhardt. 


Erwiderung. 

So  sehr  wir  es  begreifen,  dass  der  Vorsitzende  des 
deutschen  Buchdrucker-Prinzipalvereins  an  unserer  Dar- 
stellung der  Situation  im  deutschen  Buchdruckergewerbe 
wenig  Gefallen  findet,  so  wenig  können  wir  ihm,  der  mehr 
als  irgend  eine  Person  im  Deutschen  Reiche  in  der  be- 
handelten Frage  Partei  ist,  ein  Urtheil  gestatten  über  die 
Objektivität  unserer  Darstellung.  Herr  Klinkhardt  hält 
eine  Besprechung  der  Situation  im  deutschen  Buchdrucker- 
gewerbe in  dieser  Zeitschrift  zur  Zeit  überhaupt  für  in- 
opportun, da  man  jet2t  nicht  zu  einem  wissenschaftlich  ob- 
jektiven Urtheil  über  die  Tarifangelegenheit  gelangen  könne. 
Der  Vorsitzende  des  deutschen  Buchdruckervereins  hätte 
uns  diese  Zurückhaltung  kaum  empfohlen,  wäre  er  sich 
über  die  Verschiedenheit  der  Aufgaben  der  Wirtschafts- 
geschichte und  der  Sozialpolitik  klar  gewesen.  Doch  wir 
wollen,  ohne  uns  auf  die  persönlichen  und  sonstigen  zur 
Sache  nicht  gehörigen  Bemerkungen  des  vorstehenden 
Artikels  einzulassen,  nur  auf  die  sachlichen  Einwendungen 
repliziren;  dabei  müssen  wir  es  als  eine  gewagte  Be- 
hauptung bezeichnen,  wenn  Herr  Klinkhardt  meint,  dass 
wir  unsere  Kenntnis*  der  Buchdruckerverhältnisse  lediglich 
aus  dem  „Correspondent  für  Deutschlands  Buchdrucker“ 
schöpfen;  die  Organe  der  Prinzipale  sind  uns  gleichfalls 
vertraut,  es  hat  uns  auch  nie  an  Informationen  aus  den 
Kreisen  der  Prinzipalität  und  der  Gehilfenschaft  gefehlt. 

Gegenwärtig  wäre  es  nur  ein  Streit  um  Worte,  wollte 
man  erörtern,  ob  der  Vorschlag  einer  7l/2  prozentigen  Lohn- 
erhöhung seitens  der  Prinzipale  vor  Ausbruch  des  Strikes 
ein  prinzipielles  Zugeständniss  oder  ein  Beweis  der 
Friedensliebe  war,  wichtiger  ist  die  Erklärung,  dass  die 
Prinzipale  auch  heute  noch  nicht  die  Reformbedürftigkeit 
des  Tarifes  im  Sinne  der  Gehilfen  zugestehen  können.  Be- 
kanntlich war  die  Forderung  der  Verkürzung  der  Arbeits- 
zeit die  Ursache,  dass  es  zu  der  Arbeitseinstellung  über- 
haupt kam,  betraf  doch  die  Forderung  der  Lohnerhöhung, 
abgesehen  von  einigen  grösseren  Städten,  wo  insbesondere 
die  hohen  Miethen  eine  Lohnerhöhung  unerlässlich  er- 
scheinen liessen,  in  der  Hauptsache  nur  einen  Ausgleich 
für  den  in  Folge  der  Verkürzung  der  Arbeitszeit  resultirenden 
Lohnverlust,  mit  anderen  Worten,  es  wurde  eine  Arbeitszeit- 
verkürzung bei  unveränderten  Löhnen  gefordert.  Begründet 
wurde  diese  Forderung  mit  der  grossen  Zahl  der  Arbeits- 
losen im  Berufe  und  den  sanitätswidrigen  Verhältnissen 
in  demselben. 


Da  aber  die  Prinzipale  die  ausserordentlich  grosse 
Zahl  der  Arbeitslosen  selbst  zugestehen  — Berlin  zählt 
heute  allein  über  1000  konditionslose  Buchdrucker  da 
ferner  der  preussische  Minister  des  Innern  in  seinem  Erlass 
an  die  Unterbehörden  von  anfangs  Juli  die  gesundheits- 
schädlichen Verhältnisse  des  Buchdruckergewerbes  amtlich 
zugestanden  hat,  wird  man  unser  Erstaunen  darüber,  dass 
die  Prinzipale  auch  heute  die  Reformbedürftigkeit  des 
Tarifes  im  Sinne  der  Gehilfen  auch  prinzipiell  nicht  zu- 
geben können,  wohl  begreifen. 

Ohne  alle  Beweiskraft  ist  der  Hinweis  auf  die  Güte 
der  tarifmässigen  Löhne  in  dem  Artikel  des  Herrn  Klink- 
hardt, da  die  Lohnfrage  gar  nicht  das  Streitobjekt  war, 
sondern  es  erst  durch  den  geplanten  Versuch  der  Lohn- 
reduzirung  werden  dürfte.  Uebrigens  bestreitet  Niemand, 
dass  die  Löhne  der  Buchdruckergehilfen,  verglichen  mit 
denen  einer  Anzahl,  aber  keineswegs  aller  anderen  Ar- 
beiter in  Deutschland  relativ  hohe  sind,  aber  ebenso  gut 
wissen  die  Kenner  des  Gewerbes,  an  die  Herr  Klinkhardt 
appellirt,  dass  die  Buchdruckergehilfeu  allwöchentlich  drei 
Mark  ihren  Kassen  zuführen,  und  dass  diese  hohen  Kassenbei- 
träge hauptsächlich  der  Arbeitslosen-  und  Krankenunter- 
stützung zu  Gute  kommen,  die  wegen  der  Lehrlings- 
züchterei und  der  üblen  sanitären  Zustände  der  Werkstätten 
so  grosse  finanzielle  Opfer  fordern.  Dass  aber  an  der 
Lehrlingszüchterei  und  den  gesundheitlichen  Verhältnissen 
der  Arbeitsräume  nicht  die  Gehilfen  sondern  die  Prinzipale 
die  Schuld  haben,  weiss  jeder  Kenner  des  Gewerbes. 

Die  Darstellung  des  Herrn  Klinkhardt  bezüglich  der 
Tarifgemeinschaft  entspricht  nicht  den  Thatsachen.  Die 
Gehilfen  haben  durch  die — wir  gestehen  zu:  erzwungenen 
— Wahlen  zur  Tarifkommission  ausgesprochen,  dass  sie 
den  Bestand  derselben  anerkennen.  Dadurch,  dass  die 
Prinzipale  erklärten,  die  Wiederwahl  der  früheren  Ver- 
treter beweise,  dass  die  Gehilfen  von  der  Taritkom- 
mission  nichts  wissen  wollten  und  ihrerseits  hierauf  die 
Tarif kommission  als  aufgelöst  erklärten,  haben  sie  taktisch 
ebenso  unklug  gehandelt,  als  sie  sich  offenkundig  ins  Un- 
recht setzten.  Damit  war  die  Freiheit  der  Wahl  seitens  der 
Gehilfen  bestritten  und  erklärt,  dass  es  den  Prinzipalen 
nicht  darauf  ankam,  in  der  Tarifkommission  mit  den  Ver- 
tretern der  thatsächlich  in  der  Gehilfenschaft  zum  Ausdruck 
gelangenden  Wünsche  und  Richtungen  verhandeln  zu 
wollen,  sondern  mit  willfährigen  Leuten,  welche  den  An- 
trägen der  Prinzipale  bedingungslos  zustimmen.  Dass  eine 
derartige  Tarif  kommission  ein  Nonsens  wäre,  dass  ihr  auch 
jedes  Mittel  fehlen  würde,  ihren  Beschlüssen  Beachtung  zu 
erzwingen,  dürfte  klar  sein.  Die  Prinzipale  hätten  ferner 
erst  den  Verlauf  der  Verhandlungen  ab  warten  müssen,  bevor 
sie  die  Aussichtslosigkeit  der  Verhandlungen  mit  den  Ge- 
hilfenvertretern konstatirten,  so  aber  kann  ihnen  der  Vor- 
wurf eines  nicht  ganz  ehrlichen  Verhaltens  nicht  erspart 
werden. 

Herr  Klinkhardt  glaubt  vielleicht  im  Hinblick  darauf, 
dass  die  Leser  des  Sozialpolitischen  Centralblatts  nicht 
Sachkenner  der  technischen  Fragen  in  der  Buchdruckerei 
sind  mit  der  Anführung  des  Beschlusses  der  Breslauer  Ge- 
neralversammlung, dass  keine  Reduktion  der  Grundpositionen 
des  Tarifes  vorgenommen  werden  solle,  überzeugend  nach- 
zuweisen,  dass  die  Löhne  und  sonstigen  Tarifbedingungen 
im  allgemeinen  gleich  bleiben  würden.  Dies  ist  aber  nicht 
der  Fall,  wenn  wir  vom  ganz  einfachen  Zeitungssatze  ab- 
sehen.  Fast  bei  allen  Einzelheiten  des  Tarifs,  wie  Um- 
brechen, fremdsprachigem  Satze,  dem  Satze  von  Abkürzungen, 
-Namen,  Tabellen  etc.,  sollen  die  bisherigen  Ansätze  ver- 
billigt werden,  das  Rückwärts-Ausschliessen,  wie  das  Ein- 
und  Ausschiessen  der  Formen  soll  nicht  mehr  bezahlt 
werden,  die  Mittagspause  soll  verkürzt,  die  Zahl  der  Lehr- 
linge vermehrt  werden  können,  das  Minimum  soll  in  kleinen 
Druckstädten  verringert  werden  dürfen,  und  als  besonderer 
Anreiz  zur  Lehrlingszüchterei  soll  Ausgelernten  ein  unter 
dem  Minimum  bleibender  Lohnsatz  bezahlt  werden  dürfen. 
Damit  sind  keineswegs  sämmtliche  Verschlechterungen  des 
zu  octroirenden  Tarifes  angeführt  worden;  erwähnt  sei  aber, 
dass  das  Gehilfenorgan,  unseres  Erachtens  ohne  sich  einer 


34 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  3. 


Uebertreibung  schuldig  zu  machen,  die  am  Tarife  vorge- 
nommenen Verschlechterungen  als  eine  10 — 15  prozentige 
Lohnreduktion  für  die  Gesammtheit  der  Gehilfen  bezeichnet. 
Diese  Lohnreduktion  den  Gehilfen  octroiren  und  eine  An- 
theilnahme  der  Gehilfen  an  der  Tarif festsetzung  für  später 
nur  in  Aussicht  nehmen,  ist  ein  Vorgehen,  dass  jeden  ob- 
jectiven  Beurtheiler  wohl  auf  unsere  Seite  und  nicht  auf  die 
des  Herrn  Klinkhardt  ziehen  wird.  Beweist  doch  auch  die 
Stellung  der  Berliner,  Frankfurter,  Stuttgarter,  anscheinend 
auch  der  Münchner  Prinzipale,  dass  dem  Vorgehen  der  Leip- 
ziger Buchdruckereibesitzer  nicht  zugestimmt  werden  kann. 

Loyaler  Weise  wird  man  auch  anerkennen  müssen, 
dass  man  von  einer  Absicht  der  Gehilfen,  den  Prinzipalen 
die  Tarifgemeinschaft  zu  verleiden,  nicht  reden  darf.  Wohin 
würde  es  führerl,  wenn  in  solchen  Kämpfen,  wie  in  denen 
im  Buchdruckergewerbe , die  gelegentliche  Aeusserung 
eines  Mannes  zu  einem  Vertragsbruch  von  so  tiefein- 
schneidender  Bedeutung  berechtigen  könnte.  Wenn  der 
Gehilfe  Riedel  in  einer  Leipziger  Gehilfenversammlung 
nach  einer  Provokation  gesagt  hat,  dass  er  für  die  Stelle 
in  die  Tarifkommission  selbst  auf  die  Gefahr  hin  kandidire, 
den  Prinzipalen  die  Tarifgemeinschaft  zu  verleiden,  so  be- 
rechtigt das  Wort  doch  nicht  zur  Aufhebung  der  Tarif- 
gemeinschaft seitens  der  Prinzipale. 

Loyal  ist  es  auch  nicht,  wenn  von  Herrn  Klinkhardt 
die  niedrigere  Entlohnung  der  Ausgelernten  als  Wunsch 
der  Gehilfen  bezeichnet  wird.  Welche  Gehilfen  und  wann 
haben  sie  dies  verlangt?  Niemandem  ist  hiervon  etwas  be- 
kannt. 

Es  ist  auch  nicht  in  Ordnung,  zu  verschweigen,  dass 
massenhafte  Massregelungen  der  Gehilfen,  wir  erinnern  blos 
an  Leipzig,  die  Tarifgemeinschaft  den  Gehilfen  ver- 
leidet haben. 

Ebensowenig  sollte  Herr  Klinkhardt  verschweigen, 
dass  der  Tarifvorschlag  der  Leipziger  Prinzipale  selbst  auf 
der  Breslauer  Generalversammlung  zuerst  mit  Stimmen- 
gleichheit abgelehnt  wurde  und  dass  erst,  nachdem  durch 
sanften  Druck  die  Absentirung  eines  Mitgliedes  veranlasst 
werden  konnte,  der  Tarifentwurf  in  einer  folgenden  Sitzung 
mit  einer  Stimme  Majorität  acceptirt  wurde. 

Es  wird  von  Herrn  Klinkhardt  behauptet,  dass  die 
Gehilfen  sich  eines  taktischen  Kunstgriffes  bedienend,  eine 
künstliche  Rivalität  zwischen  den  Druckstädten  Berlin  unh 
Leipzig  insceniren.  Jeder  der  die  Verhältnisse  kennt,  weiss, 
dass  seit  Jahren  zwischen  Buchhandel  und  Buchdruck  Leip- 
zig’s  und  Berlin’s  eine  Rivalität  existirt,  eine  Rivalität,  die 
seitens  der  Prinzipale  erzeugt  urtd  weiter  gepflegt  wurde, 
dagegen  ist  kein  Kenner  der  Verhältnisse  so  naiv  zu  meinen, 
dass  die  Prinzipale  der  beiden  Städte  sich  von  den  armen 
Gehilfen  in  diese  Rivalität  hineintreiben  lassen  könnten. 
Herr  Klinkhardt  weiss  doch,  dass  es  Prinzipale*,  s.  Z.  die 
Hamburger  waren,  welche  zur  Ausgleichung  der  unnatür- 
lichen Konkurrenzverhältnisse  für  Leipzig  den  gleichen 
Lokalzuschlag  25  pCt.  statt  1 7'/2  pCt.  forderten,  wie  für 
Berlin  und  Hamburg. 

Herr  Klinkhardt  sucht  zu  beschönigen,  dass  die  Prin- 
zipale die  Gehilfenorganisationen  zerstören  wollten.  An- 
gesichts der  zahlreichen  Massregelungen  der  Gehilfen,  des 
Verbotes  der  Beitragssammlung  für  die  Gehilfenorganisation 
und  des  Verbotes  der  Verbreitung  der  Gehilfenorgane  in 
den  Werkstätten,  angesichts  der  Gründung  von  Arbeits- 
nachweisen seitens  der  Prinzipale,  in  denen  die  Mitglieder 
der  Prinzipalskassen  bevorzugt  werden  sollen,  angesichts 
der  Kassengründungspläne  des  Herrn  von  Oldenburg  in 
München  wird  Herr  Klinkhardt  wohl  kaum  unternehmen, 
nicht  parteiischen  Kennern  der  Verhältnisse,  seine  im 
Sozialpolitischen  Centralblatte  aufgestellten  Behauptungen 
zu  wiederholen. 

Herr  Klinkhardt  sucht  es  so  hinzustellen,  als  ob  die 
17  000  Mann  zählende  Gehilfenorganisation  die  34  000  Ar- 
beiter im  Gewerbe,  wobei  zum  Mindesten  die  Lehrlinge 
mit  eingerechnet  erscheinen,  nicht  repräsentire,  er  vergisst 
aber  mitzutheilen,  dass  von  5310  Prinzipalen  blos  ca.  1200 
der  Unternehmerorganisation  angehören,  in  deren  Namen 
Herr  Klinkhardt  das  Wort  nimmt,  um  die  Interessen  des 


gesammten  Gewerbes  zu  vertreten.  Er  vergisst,  dass  die 
Buchdrucker,  sehen  wir  von  den  schwachen  Gewerben  der 
Handschuh-  und  Hutmacher  ab,  besser  und  in  grösserer 
Zahl  organisirt  sind,  wie  die  Arbeiter  irgend  eines  anderen 
Gewerbes  im  deutschen  Reiche. 

Herr  Klinkhardt  sagt,  die  Prinzipale  seien  verpflichtet 
gewesen,  mit  der  Gründung  von  Gegenorganisationen  vor- 
zugehen, da  der  Unterstützungsverein  Deutscher  Buch- 
drucker offen  ins  sozialdemokratische  Lager  schwenkte. 
Wer  das  Protokoll  der  VII.  (ausserordentlichen)  General- 
versammlung des  Unterstützungsvereins  Deutscher  Buch- 
drucker,1) die  vom  1. — 3.  Juli  1892  in  Stuttgart  abgehalten 
wurde,  gelesen  hat,  wird  mir  beistimmen,  dass  Herr  Klink- 
hardt sich  hier  in  Widerspruch  mit  den  Thatsachen  setzt. 
Die  Verhandlungen  bewegten  sich  auf  streng  gewerkschaft- 
lichem Boden.  Uebrigens  wäre  ja  nach  der  Handhabung 
des  Vereinsgesetzes  eine  sozialdemokratische  Organisation 
nach  der  Art  des  „Verbandes  der  deutschen  Buchdrucker“ 
unmöglich.  Wir  müssen  annehmen,  dass  Herrn  Klinkhardt 
das  genannte  Protokoll  unbekannt  geblieben  ist,  denn  auch 
die  Debatten  über  die  Tariffrage  hätten  ihn  nicht  das 
gegen  die  Haltung  der  Gehilfen  anführen  lassen,  was  im 
vorstehenden  Artikel  veröffentlicht  wurde.  Uebrigens 
welche  Berechtigung  gäbe  ein  Abschwenken  der  Gehilfen- 
organisation ins  sozialdemokratische  Lager  den  Prinzipalen? 
Diese  müssen  sich  doch  endlich  damit  vertraut  machen, 
dass  „ihre“  Arbeiter  das  gleiche  Recht  haben,  sich  be- 
liebigen politischen  Parteien  anzuschliessen,  wie  sie  selbst. 
Wahr  scheint  übrigens  zu  sein,  dass  in  Folge  des  Vor- 
gehens der  Prinzipale  zwar  nicht  die  Organisation,  wohl 
aber  viele  Gehilfen  von  gemässigten  und  bürgerlichen 
Parteien  zur  radikalen  und  proletarischen  übergegangen 
sind.  Bedauert  dies  Herr  Klinkhardt,  so  weiss  er  auch,  wo 
die  Ursachen  dieser  Schwenkung  liegen.  — 

Wenn  Herr  Klinkhardt  davon  spricht,  dass  das  Gleich- 
gewicht der  Kräfte  im  Buchdruckergewerbe  durch 
Schwächung  der  Gehilfenorganisationen  hergestellt  werden 
müsse,  so  wird  jeder  Sozialpolitiker  über  diese  Aeusserung 
erstaunen,  da  nicht  nur  im  Allgemeinen  das  Uebergewicht 
des  Kapitals  eine  unbestreitbare  Thatsache  ist,  und  dies 
doch  für  das  Buchdruckergewerbe  durch  den  Ausgang  des 
letzten  Strikes  in  einer  für  Herrn  Klinkhardt  nicht  unbe- 
kannten Weise  neuerdings  bestätigt  wurde. 

Wenn  von  dem  Rückgänge  der  Gehilfenorganisation 
seitens  des  Herrn  Klinkhardt  gesprochen  wird,  so  ent- 
spricht dies  wiederum  nicht  den  Thatsachen.  In  Leipzig 
ist  die  Organisation,  wenn  auch  nicht  in  dem  von  Herrn 
Klinkhardt  aufgeführten  Masse,  und  zwar  hauptsächlich 
wegen  Massregelungen  der  organisirten  Gehilfen,  wegen 
zahlreichen  Fortzuges  vom  Orte  und  dergl. , zurück- 
gegangen, sonst  aber  kann  hiervon  nicht  die  Rede  sein. 

Wir  wollen  unsere  Entgegnung  hiermit  sch  Hessen, 
obgleich  noch  so  Manches  in  der  Darstellung  des  Herrn 
Klinkhardt  zu  berichtigen  wäre.  Aber  das  hier  Gesagte 
dürfte  genügen,  um  den  Werth  der  Entgegnung  auf  den 
in  No.  37  des  Sozialpolitischen  Centralblattes  abgedruckten 
Artikel  über  die  Situation  im  deutschen  Buchdrucker- 
gewerbe nach  ihrem  ganzen  Werthe  beurtheilen  zu 
können. 

Berlin.  Adolf  Braun. 


Internationaler  Gewerkschaftskongress.  Der  von  den 
englischen  Trades-Unions  demnächst  auf  Grund  der  Be- 
schlüsse des  Glasgower  Kongresses  einzuberufende  inter- 
nationale Gewerkschaftskongress  wird  aller  Voraussicht 
nach  nicht  zu  Stande  kommen.  Die  Sozialdemokratie 
Deutschlands,  Oesterreichs  und  der  Schweiz  sowie  die 
französischen  Gewerkschaften  und  die  marxistische  Fraktion 
der  französischen  Arbeiterpartei  haben  sich  gegen  die  Be- 
schickung eines  anderen  internationalen  Kongresses,  als 
des  nach  Zürich  für  das  fahr  1893  einberufenen  schon  vor 


')  Stuttgart  1892,  Druck  von  Glaser  & Sulz. 


No.  3. 


SOCIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


35 


Empfang;  einer  Einladung  seitens  der  Trades  Unions  aus- 
gesprochen. Weniger  aus  Billigung  der  von  den  leitenden 
Organen  der  deutschen  Sozialdemokratie  angeführten 
Gründe,  als  mit  Rücksicht  auf  die  Bestimmungen  der  deut- 
schen Vereinsgesetze  spricht  sich  das  Korrespondenzblatt 
der  Generalkommission  der  Gewerkschaften  Deutschlands 
gegen  die  Beschienung  des  von  englischer  Seite  geplanten 
Kongresses  aus. 

Schweizerische!'  Grütliverein.  In  der  am  8.  und 
9.  Oktober  in  Olten  stattgefundenen  Delegirtenversammlung 
wurden  verschiedene  wichtige  Beschlüsse  gefasst.  Nach 
den  von  der  Versammlung  neu  revidirten  Statuten  ist  der 
Grütliverein  nunmehr  ein  schweizerischer  Verein,  der  die 
Entwickelung  des  politischen  und  sozialen  Fortschritts  im 
Schweizerlande  auf  Grundlage  der  Sozialdemokratie 
bezweckt.  Man  kann  diese  Fassung  als  einen  Kompromiss 
zwischen  den  Sozialreformern  und  den  Sozialisten  im  Ver- 
ein bezeichnen.  Die  ersteren  wollten  statt  Sozialdemokratie 
setzen  „soziale  Demokratie“,  die  letzteren  wünschten  An- 
schluss an  die  sozialdemokratische  Partei.  Nach  der  ange- 
nommenen Fassung  stellt  sich  der  Verein  nun  wohl  auf 
den  Boden  der  Sozialdemokratie,  aber  er  bleibt  nach  allen 
Seiten  unabhängig.  Ausländer  dürfen  Passivmitglieder 
werden,  sind  aber  in  die  Vorstände  nicht  wählbar. 

Eine  weitere  Neuerung  ist  die  Einführung  des  Insti- 
tuts der  Vertrauensmänner,  welche  dem  Central -Komitee  für 
Berathung  wichtiger  politischer  Aktionen  beigegeben 
werden.  Die  Zahl  derselben  soll  acht  betragen,  welche 
durch  Urabstimmung  nach  dem  Proportionalwahlsystem  ge- 
wählt werden.  Das  Hilfskassenwesen  soll  durch  besondere 
Schlussnahme  der  Delegirten  eigens  geregelt  werden.  Ferner 
empfiehlt  die  Versammlung  dem  Gesammtverein  die  Unter- 
stützung der  Volksinitiative  für  die  Reform  der  Bundesver- 
waltung und  die  Volkswahl  des  Bundesrathes,  Unter- 
stützung der  Initiative  betreffend  Recht  auf  Arbeit  und 
Unterstützung  einer  allfälligen  Initiativbewegung  für  Sub- 
vention der  Volksschule  durch  den  Bund.  Arbeitersekretär 
Greulich  referirte  über  Einführung  des  staatlichen  Ge- 
treidehandels, sah  aber  von  Anträgen  angesichts  der  be- 
reits erwähnten  Initiativen  ab,  doch  stellt  er  einer  bezüg- 
lichen Initiative  für  später  ein  günstiges  Prognostiken. 

Konflikt  zwischen  französischen  nnö  belgischen  Berg- 
arbeitern Zwischen  französischen  und  belgischen  Berg- 
arbeitern kam  es  im  Kohlengebiet  von  Pas  de  Calais  jüngst 
zu  solchen  Zwistigkeiten  und  selbst  Zusammenstössen,  wie 
sie  sonst  nur  bitterer  Nationalitätenhass  hervorzurufen 
pflegt.  Man  war  darüber  um  so  mehr  erstaunt,  als  erst 
wenige  Wochen  vorher  ein  internationaler  Bergarbeiter- 
Kongress  in  London  tagte,  auf  welchem,  besonders  unter 
den  kontinentalen  Delegirten,  vollste  Harmonie  herrschte. 
Noch  mehr.  Als  bei  dem  Ende  vorigen  Jahres  stattgehabten 
Bergarbeiterstrike  ein  daran  betheiligt  gewesener  Belgier 
ausgewiesen  wurde,  waren  dieselben  Bergleute^  die  jüngst 
„Nieder  mit  den  Belgiern!“  riefen,  die  Ersten,  die  gegen 
seine  Ausweisung  öffentlich  Protest  erhoben.  In  der  Tnat 
war  es  auch  nicht  die  Verschiedenheit  der  Nationalität,  die 
den  Anlass  zur  Entzweiung  gab.  Eine  aus  belgischen  und 
französischen  Bergarbeiter  - Delegirten  zusammengesetzte 
Untersuchungskommission  hat  nämlich  festgestellt,  dass  die 

ganze  feindselige  Bewegung  durch  die  Grubengesellschaften 
ervorgerufen  wurde,  die  durch  ihre  Agenten  in  Belgien, 
wo  die  Arbeitszeit  bekanntlich  eine  längere  und  der  Ar- 
beitslohn ein  niedrigerer  als  in  den  französischen  Gruben 
ist,  zahlreiche  Arbeiter  anwarben,  um  so  die  Errungen- 
schaften des  letzten  grossen  Grubenstrikes  allmälig  zu  nichte 
zu  machen  und  gleichzeitig  der  gewerkschaftlichen  Ver- 
bindung der  Grubenarbeiter,  denen  es  durch  ihre  kräftige 
Organisation  gelungen  ist,  bei  den  letzten  Gemeinderaths- 
wahlen eine  namhafte  Zahl  von  Agenten  Und  Freunden 
der  Grubengesellschaften  aus  den  Gemeindevertretungen 
zu  entfernen,  einen  Schlag  zu  versetzen.  Die  Kommission, 
die  zur  einen  Hälfte  aus  drei  Vertretern  des  Nationalver- 
bandes der  belgischen  Grubenarbeiter,  den  Herren  Calle- 
waert,  Cavrot  und  Maroille,  zur  andern  aus  den  beiden 
Grubenarbeiter- Abgeordneten  Basly  und  Lamendin,  sowie 
dem  Generalsekretär  der  Grubengewerkschaften  von  Pas 
de  Calais,  Evrard,  bestand,  hat  gleich  nach  Feststellung 
der  Ursachen  des  ausgebrochenen  Zwists  ein  Manifest  er- 
lassen, in  welchem  sie,  anknüpfend  än  denselben,  die  bel- 
gischen Bergarbeiter  beschwört,  der  Gewerkschaft  beizu- 
treten und  weder  länger  noch  billiger  als  ihre  französischen 


Kameraden  zu  arbeiten,  sondern  Hand  in  Hand  mit  ihnen 
eine  gemeinsame  Besserstellung  zu  erstreben.  „Es  darf 
weder  Belgier  noch  Franzosen  geben“,  heisst  es  weiter, 
denn  sind  wir  nicht  Alle  Kinder  einer  und  derselben  grossen 
Familie,  der  Menschheit?  Ist  unser  Ziel  nicht,  arbeitend 
das  unseren  Frauen  und  Kindern  nöthige  Brot  und  jenen 
Antheil  am  Wohlstand  zu  erringen,  auf  welchen  wir  ein 
Anrecht  haben?“  Das  Maniiest  schliesst  mit  der  Aufforde- 
rung an  die  französischen  Bergarbeiter,  in  die  ihnen  von 
ihren  belgischen  Kameraden  entgegen  gestreckte  Hand 
einzuschlagen  und  sie  künftighin  nicht  für  eine  Bewegung 
verantwortlich  machen  zu  wollen , die  absichtlich  unter 
ihnen  hervorgerufen  wurde.  Dieses  Manifest  wurde  auch 
in  den  belgischen  Grubenrevieren  affichirt.  Das  Exekutiv- 
komitee der  Ritter  der  Arbeit  von  Charleroi  liess  demselben 
einen  Aufruf  folgen,  in  welchem  es  u.  A.  heisst:  „Die  Ar- 
beiter, welche  auswandern,  um  ihr  Brot  zu  ernten,  dürfen 
nicht  den  Kapitalisten  als  Werkzeug  dienen,  um  den  sozia- 
listischen Arbeitern  der  Länder,  in  die  sie  ziehen,  das  Brot 
zu  entreissen.  Die  Pflicht  eines  jeden  Arbeiter  ist  es,  der 
Arbeitergewerkschaften  jenes  Landes  beizutreten,  in  wel- 
chem er  arbeitet.  Sich  so  als  Bruder  und  wahrer  Sozialist 
betragend  wird  er  von  den  sozialistischen  Arbeitern  überall 
als  Bruder  aufgenommen  werden.  Das  Manifest  der  bel- 
gischen und  französischen  Delegirten  beweist,  dass  die  in- 
ternationale Brüderlichkeit  und  allgemeine  Solidarität  der 
Arbeiter  fortbesteht  und  dass  sie  nur  durch  antisozialistische 
Arbeiter  oder  Emissäre  des  Kapitalismus  gestört  werden 
konnten.  Zwischen  Arbeitern,  die  Verbänden  und  Gewerk- 
schaften angehören,  deren  Prinzipien  und  Statuten  sie  be- 
folgen, giebt  es  keine  Bruderkämpfe.“  Nachdem  man  sich 
so  beiderseits  für  die  Eintracht  ausgesprochen,  herrscht  sie 
denn  auch  wieder  wie  ehemals  im  Kohlengebiet  von  Pas 
de  Calais,  wo  nun  französische  und  belgische  Arbeiter 
I friedlich  mit  einander  zur  Grube  ziehen  und  Schulter  an 
Schulter  für  eine  Verbesserung  ihrer  Lage  kämpfen. 

Die  Vereinigung  der  Eisenbahnbedieusteten  in  Eng- 
land (Amalgameted  society  of  railway  servants)  hielt  vor 
einigen  Tagen  in  London  ihre  jährliche  Generalversamm- 
lung ab.  Die  Vereinigung  hat  Zweiggenossenschaften  in 
allen  Theilen  des  Landes.  Die  Mitgliederzahl  beträgt  gegen- 
wärtig 29820;  das  Totaleinkommen  stellte  sich  im  abge- 
laufenen Geschäftsjahr  auf  34  852  Pfd.  Sterl  Die  Haupt- 
aufgaben der  Vereinigung  bestehen  in  der  Wahrung  der 
Rechte  der  Eisenbahnbediensteten,  in  der  Agitation  für  die 
Herstellung  von  Einrichtungen,  weiche  die  Gefährlichkeit 
der  Thätigkeit  der  Eisenbahnbediensteten  mindern  und  die 
Gewährung  von  Unterstützungen  an  die  Mitglieder  und 
deren  Familien.  In  seinem  Bericht  wies  der  General- 
sekretär der  Vereinigung  auf  die  grosse  Anzahl  von  Un- 
fällen hin,  die  sich  unter  den  Eisenbahnbediensteten  im  Jahre 
1891  ereignet  haben. 

In  Folge  von  Unfällen  wurden  3710  verletzt,  von  diesen 
starben  549.  Der  Präsident  Mr.  W.  Hudson  führte  in  der 
Eröffnungsrede  aus,  dass  die  Furcht  vor  der  Intervention 
des  Staates  die  Eisenbahnmagnaten  zu  manchen  Verbesse- 
rungen, die  den  Arbeitern  zu  Gute  gekommen  seien,  ver- 
anlasst hätte.  Es  sei  aber  noch  mehr  zu  thun.  Der  Prä- 
sident sprach  sich  ferner  dafür  aus,  dass  den  Parlaments- 
mitgliedern Tagesgelder  gezahlt  würden.  Nur  wenn  dies 
geschähe  könnten  Vertreter  der  Arbeiter  in  entsprechen- 
der Anzahl  ins  Parlament  gelangen.  Ein  Antrag,  sich 
für  den  Achtstundentag  auszusprechen,  wurde  nach  langer 
Debatte  von  den  Delegirten  mit  42  gegen  15  Stimmen  ab- 
gelehnt. 

Die  Verhandlungen  bezogen  sich  weiterhin  fäst  aus- 
schliesslich auf  Erörterungen  über  technische  Fragen  (Ein- 
führung von  Vorrichtungen,  welche  die  Eisenbahnbedienste- 
ten während  ihrer  Thätigkeit  vor  Unfällen  zu  schützen  ge- 
eignet sind).  Aus  den  Verhandlungen  ist  ferner  zu  er- 
wähnen, dass  ein  Beschluss  gefasst  wurde,  nach  welchem 
die  Vereinigung  direkt  durch  ihren  Generalsekretär  im 
Parlament  vertreten  werden  solle. 

Die  Beschlussfassung  über  eine  etwaige  Förderation 
der  Vereinigung  mit  anderen  Gewerkvereinert  wurde  an 
den  Kongress  verwiesen. 


36 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  3. 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Zuiu  Strike  von  Carmaux.  Der  Strike  von  Carmaux, 
der  schon  ca.  zwei  Monate  währt,  scheint  nun  eine  ernste 
Wendung  nehmen  zu  wollen.  Der  Präfekt  von  Tarn  hat 
nämlich  eine  Kundmachung  erlassen,  wonach  alle  Ansamm- 
lungen, welche  die  freie  Zirkulation  beeinträchtigen,  ver- 
boten sind,  und  zwar  nicht  nur  in  Carmaux,  sondern  auch 
in  den  angrenzenden  Gmeinden  Blaye,  St.  Benoit  und 
Rosieres,  wo  eine  namhaftere  Zahl  der  Strikenden  wohnen. 
Diese  Kundmachung  wird  allgemein  als  Provokation  auf- 
gefasst.  Die  Bürgermeister  der  betreffenden  Gemeinden 
haben  sich  denn  auch  geweigert,  dieselbe  anschlagen 
zu  lassen  und  eine  öffentliche  Erklärung  abgegeben, 
in  der  sie  gleichzeitig  der  Arbeiterbevölkerung  für  die 
Ruhe,  die  sie  seit  Beginn  des  Strikes  an  den  Tag,  ge- 
legt hat,  ihre  volle  Anerkennung  aussprechen.  In  Folge 
dieser  Weigerung  liess  der  Präfekt  selber  die  Kund- 
machung affichiren,  doch  wurde  sie  überall  gleich  wieder 
herabgerissen.  Um  jeden  Konflikt  zwischen  den  Strikenden 
und  dem  Militär  hintanzuhalten,  werden  sich  nun  mehrere 
sozialistische  und  sonstige  arbeiterfreundliche  Abgeordnete 
nach  Carmaux  begeben.  Es  ist  übrigens  kaum  anzu- 
nehmen, dass  es,  wenigstens  bis  zum  Zusammentritt  der 
Kammern,  zu  einem  ernsten  Konflikt  kommt,  da  die  Stri- 
kenden bei  dem  Vertrauen  auf  ihre  Sache  und  der  Sym- 
pathie, die  ihnen  nicht  nur  seitens  der  Arbeiter,  sondern 
auch  seitens  der  bürgerlichen  Republikaner  entgegen- 
getragen wird,  fest  entschlossen  sind,  sich  ihren  endgültigen, 
Sieg  nicht  durch  unbedachte  Handlungen  verscherzen  zu 
lassen.  Und  nach  Zusammentritt  der  Kammern  kann  es 
leicht  kommen,  dass  der  Strike  von  Carmaux  eine  schiefe 
Wendung  für  das  Ministerium  nimmt.  Einstweilen  hat 
Herr  Dupuy-Dutemps,  Abgeordneter  von  Tarn,  sowohl  den 
Kammer-  wie  den  Ministerpräsidenten  verständigt,  dass  er 
die  Regierung  bezüglich  der  seitens  der  Grubengesell- 
schaft von  Carmaux  verübten  Verletzung  des  allgemeinen 
Stimmrechts  sowie  bezüglich  der  Mittel  interpelliren  wird, 
welche  sie  anzuwenden  gedenkt,  um  eine  Wiederaufnahme 
der  Arbeit  herbeizuführen  und  eine  Wiederholung  ähn- 
licher Vorkommnisse,  wie  die  von  Carmaux,  für  die  Zu- 
kunft zu  verhindern.  Bis  dahin  werden  die  Strikenden 
wohl  ihre  Kaltblütigkeit  bewahren,  und  zwar  umsomehr, 
als  es  ihnen  nicht  an  Mitteln  fehlt,  — viele  Tagesblätter 
haben  eine  Subskription  für  sie  eröffnet  — , ruhig  auszu- 
harren. 

Schweizerische  Sozialdemokratische  Partei.  Der 
IV.  Parteitag  findet  am  5.  und  6.  November  in  Solothurn 
statt.  Als  Verhandlungsgegenstände  sind  u.  A.  vorgesehen: 
Initiative  betreffend  Wahl  des  Bundesrathes  durch  das 
Volk  und  Recht  auf  Arbeit,  Proportionalsystem,  Wohnungs- 
frage , Eisenbahnverstaatlichung , staatlicher  Getreiae- 
handel. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Frauenarbeit  in  deutschen  Gold-  und  Silberwaaren- 
fabriken.  Die  Handelskammern  in  Pforzheim  und  Hanau 
haben  beim  Bundesrath  den  Antrag  gestellt,  „auf  Grund 
des  § 139a  Ziffer  4 der  Reichsgewerbeordnung  zu  be- 
stimmen, dass  in  den  Gold-  und  Silberwaarenfabriken  und 
deren  Hilfsgeschäften  die  tägliche  Arbeitszeit  der  Arbeite- 
rinnen über  16  Jahre  an  Wochentagen  bis  zu  13  Stunden 
und  an  Sonnabenden  und  Vorabenden  der  Festtage  bis  zu 
10  Stunden  ausgedehnt  werden  und  deren  Beschäftigung 
auch  nach  8l/2  Uhr  Abends  an  Wochentagen  und  nach 
51/2  Uhr  an  Sonnabenden  und  Vorabenden  der  Festtage 
stattfinden  darf,  da  die  eigenartigen  Verhältnisse  der  Edel- 
metallindustrie zu  gewissen  Zeiten  eine  vorübergehende 
verstärkte  Heranziehung  einzelner  Arbeitskräfte  dringend 
erfordern,  während  andererseits  gerade  in  den  Gold-  und 
Silberwaarenfabriken  die  jährliche  Arbeitszeit  der  Arbeite- 
rinnen im  Durchschnitt  der  Betriebstage  des  Jahres  das 
gesetzliche  Mass  nicht  nur  nicht  überschreitet,  sondern 
meist  lange  nicht  erreicht.“  Eine  verstärkte  Heranziehung 


von  Arbeitskräften  mag  in  der  genannten  Industrie  zu  ge- 
wissen Zeiten  nöthig  sein;  nur  soll  gerade  diejenige  Be- 
stimmung, welche  die  Unternehmer  für  sich  ausser  Kraft 
gesetzt  sehen  möchten,  verhüten,  dass  diese  erhöhte  Arbeits- 
anstrengung auf  Kosten  der  Gesundheit  einzelner  Arbeite- 
rinnen geschieht,  für  deren  Inanspruchnahme  die  „durch- 
schnittliche Arbeitszeit  im  Jahre“  keinen  richtigen  Mass- 
stab liefert,  ganz  abgesehen  von  der  Lohnfrage.  Die  neue 
Vorschrift  soll  auch  indirekt  der  Arbeitslosigkeit  dadurch 
steuern,  dass  sie  den  Unternehmer  veranlasst,  nöthigenfalls 
Extrakräfte  zu  engagiren,  und  es  ist  deshalb  zu  hoffen, 
dass  sie  der  Bundesrath  aufrecht  erhält. 


Arbeiterversicherung. 


Die  deutsche  Arbeiterversicherungsgesetzgebung  auf  der 
Weltausstellung  zu  Chicago. 

Auf  dem  am  10.  Juni  d.  J.  in  Hamburg  abgehaltenen 
Berufsgenossenschaftstage  wurde  eine  Resolution  ange- 
nommen, die  es  für  wünschenswerth  erklärte,  dass  auf  der 
Weltausstellung  zu  Chicago  die  Einrichtungen,  die  im 
Deutschen  Reiche  auf  dem  Gebiete  der  Krannen-,  Unfall-, 
Invaliditäts-  und  Altersversicherung  durch  die  Gesetz- 
gebung getroffen  sind,  sowie  die  gesammte  Fürsorge,  die 
der  deutschen  Industrie  auf  Grund  der  betreffenden  Reichs- 
gesetze den  arbeitenden  Klassen  gegenüber  auferlegt 
worden  ist,  nebst  den  in  dieser  Beziehung  bisher  erzielten 
Ergebnissen  durch  das  Reichsyersicherungsamt  in  ge- 
eigneter Weise  zur  Darstellung  gebracht  werden.  Die 
Resolution  wurde  vom  Ausschuss  des  Verbandes  der  deut- 
schen Berufsgenossenschaften  dem  Reichsversicherungsamt 
übersandt  und  von  diesem  mit  befürwortendem  Bericht  an 
den  Staatssekretär  des  Innern  weiter  gereicht. 

Wie  nun  die  „Berufsgenossenschaft“  mittheilt,  lehnte 
es  der  Staatssekretär  des  Innern  ab,  dem  geplanten  Unter- 
nehmen von  Reichswegen  näher  zu  treten,  da  eine  solche 
Ausstellung  erhebliche  Vorbereitungen  und  Kosten  erfordere; 
für  erstere  sei  aber  die  Zeit  zu  kurz  bemessen  und  für 
letztere  fehle  es  an  verfügbaren  Mitteln.  Der  Ausschuss 
beruhigte  sich  indess  bei  diesem  Bescheide  nicht,  sondern 
wandte  sich  nun  seinerseits  direkt  an  den  Reichskanzler 
mit  der  Bitte,  die  Ausstellung  zu  veranlassen.  Das  Gesuch 
wird  hauptsächlich  damit  begründet,  dass  die  anfangs  all- 
gemein gehegte  Hoffnung,  die  anderen  Industriestaaten 
würden  dem  Beispiele  Deutschlands  bald  folgen  und  eine 
ähnliche  Gesetzgebung  annehmen,  sich  leider  bisher  nicht 
verwirklicht  habe.  Die  Konkurrenzfähigkeit  der  heimischen 
Industrie  sei  hierdurch  gefährdet.  Erst  wenn  die  aus- 
wärtigen Konkurrenten  die  gleichen  Lasten  trügen  und  so 
ein  Ausgleich  zwischen  den  konkurrirenden  Industriestaaten 
herbeigeführt  sei,  könne  an  eine  weitere  Fortführung  dieser 
Gesetzgebung  gedacht  werden.  Durch  die  geplante  Aus- 
stellung nun  würde  die  Nacheiferung  bei  den  anderen 
Nationen  geweckt  werden  Die  Kosten  könnten  dem  ange- 
strebten Zweck  gegenüber  nicht  ins  Gewicht  fallen. 

Auch  diese  Eingabe  hat  nunmehr  der  Minister  von 
Bötticher  in  Vertretung  des  Reichskanzlers  abschlägig  be- 
antwortet. Die  Gründe  hierfür  sind  die  vorher  bereits  an- 
gegebenen: Mangel  an  Zeit  und  Mangel  an  Geld  und 
ausserdem  auch  noch  Mangel  an  Raum.  Dagegen  giebt  der 
Minister  den  Wünschen  der  Berufsgenossenschaften  in  so 
weit  nach,  als  er  zusagt,  eine  Uebersicht  über  die  Ent- 
wickelung der  sozialpolitischen  Gesetzgebung  in  Form  von 
Wandtafeln  für  die  Ausstellung  vorbereiten  und  an  einem 
hervorragenden  Platz  zur  Darstellung  bringen  zu  lassen. 

Leider  spricht  sich  der  Minister  darüber  nicht  aus,  ob 
er  die  Ansicht  theilt,  dass  ein  tieferer  Einblick  in  die 
deutsche  Arbeiterversicherungsgesetzgebung  — namentlich 
in  die  organisatorische  Ausführung  derselben  — das  Aus- 
land zur  Nachahmung  reizen  würde. 

Wir  fürchten  sehr,  dass  die  Ausstellung  in  der  von 
dem  Berufsgenossenschaf tsverbande  geplanten  Form  eher 
abschreckend  auf  das  Ausland  wirken  würde.  Dass  be- 
sonders ein  Einblick  in  den  Ausführungsapparat  des 
Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetzes  m Amerika 
etwas  anderes  als  ein  allgemeines  Schütteln  des  Kopfes 


No.  3. 


SOZIALPOLITISCHES  CF.NTRAI.BLATT. 


37 


hervorrufen  könnte,  erscheint  uns  in  der  That  sehr  wenig 
wahrscheinlich.  Vielleicht  ist  auch  die  Reichsregierung 
durch  derartige  Ueberlegungen  zu  ihrer  Stellungnahme  mit 
veranlasst  worden. 


Neue  Aufgaben  der  Invalidität»-  und  Altersversicherung. 
Die  deutsche  Arbeiterversicherung  ist  immftr  noch  Stückwerk 
und  entbehrt  der  einheitlichen  Organisation;  sonst  konnte  es 
neuestens  nicht  Vorkommen,  dass  Anstalten  der  Invaliditäts- 
versicherung sich  mit  der  Krankenpflege  solcher  Personen  be- 
fassen, die  sie  als  Kranke  nach  dem  Gesetz  gar  nichts  angehen. 
Der  Zweck  dieser  neuen  Thätigkeit  ist  offenbar,  vorzeitiger  In- 
validisirung  vorzubeugen.  So  wurde  in  den  „Amtlichen  Nach- 
richten der  Invaliditäts-  und  Altersversicherungsanstalt  Han- 
nover“ vor  einiger  Zeit  mitgetheilt,  dass  dieselbe  bereit  sei,  die 
Krankenfürsorge  für  diejenigen  Versicherten  zu  übernehmen, 
welche,  ohne  Anspruch  auf  die  Fürsorge  einer  Krankenkasse 
oder  Berufsgenossenschaft  zu  haben,  in  Gefahr  sind,  in  Folge 
ihrer  Krankheit  erwerbsunfähig  zu  werden.  Nach  der  neuesten 
Nummer  des  genannten  Blattes  sind  nun  bis  jetzt  51  Versicherte 
in  Krankenfürsorge  übernommen,  in  31  Fällen  ist  diese  Für- 
sorge noch  nicht  beendet,  2 Kranke  sind  gestorben,  in  6 Fällen 
ist  die  Fürsorge  ohne  Erfolg  geblieben,  12  Versicherte  aber  von 
den  20  Kranken,  deren  Pflege  beendet  ist  (d.  h.  60  pCt.)  sind 

feheilt  oder  doch  soweit  gebessert,  dass  sie  ihre  Erwerbsthätig- 
eit  haben  wieder  aufnehmen  können.  Die  Kranken  sind  zum 
grösseren  Theil  in  Krankenhäusern,  namentlich  in  den  Univer- 
sitätskliniken zu  Göttingen,  Lungenkranke  durch  Vermittelung 
des  Vereins  zur  Errichtung  von  Heilstätten  für  Lungenkranke 
in  Bad  Rehburg  behandelt,  nur  zu  einem  kleinen  Theile  hat 
sich  die  Behandlung  in  der  eigenen  Behausung  der  Kranken 
als  thunlich  erwiesen.  Die  Beobachtung,  dass  häufig  schon 
durch  bessere  Ernährung  und  längeren  ruhigen  Aulenthalt  in 

fesunder,  staubfreier  Luft  dem  Arbeiter  die  bedrohte  Gesund- 
eit  wieder  gefestigt  werden  kann,  hat  veranlasst,  das  Augen- 
merk namentlich  auch  darauf  zu  richten,  Erholungsstationen  für 
Versicherte  zu  gründen,  in  welchen  den  durch  ihre  ungünstigen 
häuslichen  Wohnungs-  und  Arbeitsverhältnisse  der  Erwerbs- 
unfähigkeit entgegengehenden  Versicherten  und  den  in  der  Ge- 
nesung begriffenen  Kranken  das  zu  ihrer  Genesung  Erforder- 
liche: reichliche  gute  Nahrung,  gesunde  Wohnung  und  gesunde 
Luft,  geboten  wird.  Zur  Zeit  sind  zwei  solcher  Stationen  vor- 
handen, und  zwar  im  Kreise  Stolzenau  in  dem  milden  Klima 
der  Rehburger  Berge  und  im  Kreise  Hameln  in  der  Nähe  von 
Pyrmont.  Diese  Erholungsstationen  sollen  auch  im  Winter,  so- 
weit das  für  die  Kranken  dienlich  ist,  belegt  werden.  An  die 
Verwaltungsbehörden  und  Alle,  welche  bei  der  Ausführung  des 
Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetzes  thätig  sind,  wird 
das  Ersuchen  gerichtet,  das  Bestreben,  durch  Abwehr  der  Er- 
werbsunfähigkeit noch  mehr  zu  nützen  als  durch  Gewähr  von 
Invalidenrenten,  zu  unterstützen.  Gleichzeitig  gestattet  diese 
amtliche  Bekanntmachung  einen  nicht  sehr  erbaulichen  Blick  in 
die  ungünstigen  Wohnungs-  und  Arbeitsverhältnisse  vieler 
Arbeiter. 

Versorgung  der  Dienstboten  durch  die  deutsche  Invalidi- 
täts-und  Altersversicherung.  Eine  amtliche  Aufstellung  dar- 
über, inwieweit  die  Dienstboten  aus  der  Invaliditäts-  und  Alters- 
versorgung Nutzen  ziehen,  ist  zum  ersten  Male  für  Eisass- 
Lothringen  versucht  worden.  Danach  befanden  sich  unter  den 
1511  weiblichen  Personen,  welchen  in  Elsass-Lothringen  bis  jetzt 
von  der  Landesversicherungsanstalt  Altersrenten  (auf  eine  Ge- 
sammtzahl  von  5119)  bewilligt  sind,  447  Dienstboten,  ausserdem 
£86  Tagnerinnen;  von  den  234  bewilligten  Invalidenrenten  ent- 
fallen 34  auf  weibliche  Dienstboten,  9 auf  Tagnerinnen.  Man 
sieht  hieraus,  dass  in  Elsass-Lothringen  die  weiblichen  Dienst- 
boten in  ansehnlicher  Zahl  Rentenberecht.igung  erworben  haben. 

Invaliditäts-  und  Altersversicherung  in  Elsass-Lothringen. 
Bei  der  Landes-Versicherungsanstalt  Elsass-Lothringen  sind  bis 
zum  1.  Oktober  d.J.  im  Ganzen  6486  Anträge  auf  Gewährung  von 
Altersrenten  emgegangen.  Von  diesen  sind  5119  Anträge  be- 
willigt und  1143  abgewiesen  worden;  153  Anträge  wurden  durch 
Zurückziehung  seitens  der  Antragsteller  oder  auf  andere  Weise 
erledigt;  71  Anträge  sind  zur  Zeit  noch  in  der  Bearbeitung  be- 
griffen. Von  diesen  Anträgen  entfallen  369  auf  solche  Per- 
sonen, welche  erst  im  Jahre  1892  ihr  siebzigstes  Lebensjahr 
vollendet  haben.  Davon  sind  296  bewilligt  und  28  abgewiesen 
worden,  3 wurden  in  anderer  Weise  erledigt  und  42  sind  noch 
m Bearbeitung. 

Ferner  sind  bis  zum  1.  Oktober  d.  J.  624  Anträge  auf  Ge- 
währung  von  Invalidenrenten  eingegangen,  von  welchen  234  be- 
willigt und  291  abgewiesen  worden  sind,  während  20  sich  in 
anderer  Weise  erledigt  haben  und  79  noch  unerledigt  sind.  Da 
nach  § 156  des  Gesetzes  vom  22.  Juni  1889  während  der  Ueber- 
gangszeit  sich  die  Wartezeit  nur  für  solche  Personen  ver- 
mi]?dert,  für  welche  während  der  Dauer  eines  Beitragsjahres 
auf  Grund  der  Versicherungspflicht  die  gesetzlichen  Beiträge 
entrichtet  worden  sind,  so  Konnten  nur  solche  Personen  eine 


Invalidenrente  beanspruchen,  welche  erst  nach  Ablauf  eines 
Beitragsjahres  von  47  Beitragswochen  seit  dem  Inkrafttreten  des 
Gesetzes,  d.  h.  nach  dem  16.  November  1891,  dauernd  erwerbs- 
unfähig geworden  waren 

Arbeiter  - Unfallversicherung»  - Anstalt  für  Niederilster- 
reicli.  In  der  Zeit  vom  1 bis  10.  September  1892  wurden  bei 
der  Arbeiter  - Unfallversicherungs  - Anstalt  für  Niederösterreich 
674,  seit  1 fanuard.J.  5272  Unfälle  angemeldet,  welche  sich  auf 
die  einzelnen  Betriebskategorien  wie  folgt  vertheilen:  Land-  und 
forstwirthschaftliche  Betriebe  52,  Mühten  51.  Eisenbahnen  5, 
Hüttenwerke  und  deren  Nebenbetriebe  131,  Verarbeitung  von 
Steinen  und  Erden  223,  Metallverarbeitung  702,  Erzeugung  von 
Maschinen.  Werkzeugen,  Instrumenten  und  Apparaten  1329, 
chemische  Industrie  113,  Erzeugung  von  Heiz- und  Leuchtstoffen 
etc.  209,  Textilindustrie  325,  Erzeugung  von  Papier,  Leder  und 
Gummi  247,  Verarbeitung  von  Holz-  und  Schnitzstoffen  231,  Er- 
zeugung von  Nahrungs-  und  Genussmitteln  342,  Bekleidung  und 
Reinigung  45,  Baugewerbe  1156,  polygraphische  Gewerbe  82  Ein- 
fälle. Die  Unfälle  ereigneten  sich  bei  Motoren  in  20,  bei  Trans- 
missionen in  62,  bei  Arbeitsmaschinen  in  1048,  bei  Fahrstühlen, 
Aufzügen,  Krahnen  und  Hebezeugen  in  93,  bei  Dampfkesseln, 
Dampfleitungen  und Dampfkochappa raten  Explosion  undAnderes) 
in  7,  durch  Explosion  von  Sprengstoffen  (Pulver,  Dynamit  etc.) 
in  16,  durch  feuergefährliche,  giftige,  heisse  und  ätzende  Stoffe 
etc.,  Gase  und  Dämpfe  etc.  in  403,  durch  Zusammenbruch, 
Herab-  und  Umfallen  von  Gegenständen  in  847,  durch  Fall  von 
Leitern,  Gerüsten,  Stiegen,  in"  Vertiefungen  etc.  in  689,  bei  Auf- 
und  Abladen,  Heben  und  Tragen  in  440/  bei  Fahren  und  Reiten, 
Schleppgeleisen,  Werksbahnen  etc.  < Ueberfahren,  Schlag  Biss 
von  Thieren  etc.)  in  267  bei  Gebrauch  von  Handwerkszeugen 
und  einfachen  Geräthen  (Hämmer,  Aexte,  Spaten,  Hacken  etc.) 
in  496,  bei  sonstigen  Arbeitsverrichtungen  in  954  Fällen.  Die 
Verletzungen  betrafen:  Kopf  und  Gesicht  in  267,  Augen  in  255, 
Arme  und  Hände  in  823,  Finger  in  1571,  Beine  una  Füsse  in 
1097,  andere  oder  mehrere  Körpertheile  zusammen  in  789,  inner- 
liche Verletzungen  in  63  Fällen.  Tod  durch  Erstickung  kam 
in  8,  durch  Ertrinken  in  8 und  sonstige  Verletzungen  kamen  in 
391  Fällen  vor 


W ohlfahrtseinrichtungen. 


Wohlfahrtsverein  der  Württembergisehen  Metall- 
warenfabrik Aus  dem  letzten  Jahresbericht  der  württem- 
bergischen  Gewerbeinspektoren  ist  das  Eintreten  der  oben 
genannten  Unternehmung  für  eine  gesetzliche  Regelung 
der  Arbeitszeit  bekannt  geworden.  Interessante  sozialsta- 
tistische Daten  enthält  nun  der  VI. Jahresbericht  dieses  „Wohl- 
fahrtsvereins“, der  über  das  soeben  abgelaufene  Rechnungs- 
jahr 1891/92  veröffentlicht  wird.  Die  Thätigkeit  des  Vereins 
erstreckt  sich  u.  A.  auf  die  Gesundheitspflege,  auf  die  Vor- 
richtungen zur  Unfallverhütung,  die  Arbeits-  und  Lohnver- 
hältnisse. Der  Bericht  theilt  mit,  dass  Bestrebungen  zur  Ab- 
schaffung der  Akkordarbeit  bei  den  Mitarbeitern  der  F abrik 
„keinen  Boden  finden“.  Die  Eigenart  und  vielseitige  Ge- 
staltung des  Betriebs  machten  die  Akkordarbeit  „zur  un- 
entbehrlichen Nothwendigkeit“;  ohne  dieselbe  würde 
die  Fabrik  auf  die  Dauer  nicht  bestehen  können.  Die  Zahl 
der  Arbeitstage  beträgt  297 1/2  und  die  Zahl  der  Ruhetage 
67 '/2  (durchschnittlich  auf  eine  Woche  5,71  Arbeits-  und 
1,29  Ruhetage);  die  durchschnittliche  Arbeitszeit  ist 
9,4  Stunden.  Am  1.  Januar  betrug  die  Gesammtzahl  der 
Arbeiter  1670,  mit  festem  Gehalt  waren  angestellt  103  Per- 
sonen, zu  Hause  sind  150  Arbeiter  beschäftigt  worden.  Die 
Wirksamkeit  umfasste  ferner  Unterstützung  in  Notnfällen, 
Berathung  in  Geldsachen,  Rechtsfragen  etc.,  Lebensmittel- 
anschaffung, Sparkasse  und  Versicherungen,  Wohnungs- 
verhältnisse etc.  Den  jugendlichen  Arbeitern  wird  beson- 
dere Aufmerksamkeit  gewidmet;  es  besteht  ein  Ausschuss 
für  Lehrlinge  und  jugendliche  Arbeiter,  eine  Fortbildungs- 
schule, eine  Jugendsparkasse  u.  a.;  für  Unterhaltung,  Bil- 
dung und  Belehrung  wird  durch  zweckmässige  Einrich- 
tungen und  Veranstaltungen  gesorgt.  Die  Veranstaltungen 
una  die  Erhebungen  des  Wohlfahrtsvereins  bezüglich  Oer 
Arbeiterverhältnisse  dürften  ein  Unikum  in  der  deutschen 
Industrie  sein. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


38 


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Das  Heicfysgefets, 

betreffenb 

Bmn  29.  Juli  1890. 
Tejt'2ln§gabe 

mit  Slnmerfungen  unb  <2ad)tegtftcr 

oon 

Xeo  Jföugfran, 

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jfetoette  ngtmefrrte  gluggabe« 

3fafd)enformat;  cartonnirt.  preie  1 Tßk.  25  pf. 


timmen  vom  Rhein. 

Unter  diesem  Namen  giebt  der  ,. Rhein.  Bauernverein“  seit  1.  Nov.  1891 
eine  Zeitschrift  für  land-  und  forstwirtschaftliche,  sowie  christl.-soziale 
Angelegenheiten  des  Bauernstandes  und  Grundbesitzes  heraus,  welche  als 
Ergänzungshefte  des  in  einer  Auflage  von  35  000  Exemplaren  erscheinenden 
„Rhein.  Bauer,1  dienen,  aber  auch  für  sich  ein  abgeschlossenes  Ganzes  bilden. 
Die  „Stimmen  vom  Rhein“  erscheinen  am  1-,  8-,  15.  und  22.  jeden  Monats 
in  Stärke  von  mindestens  16  Seiten  8°  und  sind  durch  die  Post  für  50  Pf.  das  Viertel- 
jahr zu  beziehen.  

Probenummem  gratis  und  franco. 

Expedition  der  „Stimmen  vom  Rhein“  und  des  „Rhein.  Bauer“ 

Klöckner  & Mausberg,  Kempen  (Rhein). 


SDaä  9teid}$gefe£, 

betreffenb  bie 

Unfattuerftcfyerung  her  bei  bauten 
befdjäfttgteit  ^erfoitett. 

©mit  11.  üuli  1887. 

£ept=91uSgabe  mit  Slmnerfungen  unb  ©adjrcgifler 
oon 

TLza  Rhtgban. 

®afrf)EJtformaf ; rarlonntrl 

i mt.  25  ©f. 


Verantwortlich  ftir  den  Anzeigentheil : O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


II.  Jahrgang 


Berlin,  den  24.  Oktober  1892. 


Nummer  4. 


SOZIALPOLITISCHES 

C E NTRAL  B LATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jede»  Montag  erscheint  eine  Nnmmer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen,Zcitungsspediteure  undPostämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


T.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


Die  Enquete  des  „Vereins  für  | 
S o z i a 1 p o 1 i t i k“  ü l>  e v d i e Ver- 
hältnisse der  Landarbeiter. 
Von  Dr.  Max  Quarck. 

Soziale  Wirtschaftspolitik  n. 
Wirth  Schaftsstatistik : 

Staatshilfe  oder  ' Wohlthätigkeit. 
Von  Dr.  Heinrich  Cohn. 

Die  Einkommensverhältnisse  in 
Preussen.  Von  Dr.  H.  Lux. 

Zur  Frage  der  Arbeitslosenstatistik. 

Zur  überseeischen  Auswanderung 
in  Deutschland. 

Lehrwerkstätten  bei  den  preussi- 
schen  Staatsbahnen. 

Unfälle  von  englischen  Schiffen. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Das  Ende  des  Strikes  von  Carmaux. 
Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Arbeitslosenunterstützung  unter  den 
österreichischen  Buchdruckern. 

Vom  Gewerkverein  der  englischen 
Dockarbeitei . 

Lohnbewegung  der  Spinner  in 
Lancashire. 

Unternehmerverbände : 

Nichtgenehmigung  eines  länd- 
lichen Llnternehmerverbandes  in 
Sachsen. 

Handwerker  fragen : 

Die  Statistik  der  deutschen  Innun- 
gen. Von  Dr.  Rudolf  Grätzer. 


Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Schutz  Vorschriften  für  schulpflich- 
tige Kinder  in  Altenburg. 

Schutz  der  Frauen-  und  Kinder- 
arbeit in  Belgien. 

Gewerbemspektion: 

Aufsicht  über  die  Arbeiterverhält- 
nisse ia  den  fiskalischen  Gruben 
Preussens. 

Arbeiterversicherung : 

Verbände  von  staatlich  organisirten 
Krankenkassen  in  Deutschland. 

Kostspieligkeit  der  deutschen  Un- 
fallberufsgenossenschaften. 

W olinnngszustände : 

Wohnungskolonien  für  preussische 
Staatsbah  narbeiter. 

Kellerwohnungen  in  Hamburg. 
Kriminalität: 

Gerichts-  und  Verbrecherstatistik 
in  Irland  für  das  Jahr  1891. 
Soziale  Hygiene: 

Mangelhaftigkeit  der  Sanitäts- Ver- 
waltung in  Preussen. 

Wirkungen  der  belgischen  Schank- 
stättengesetzgebung. 
Vermischtes: 

Die  deutsche  Gesellschaft  für 
ethische  Kultur.  Von  Prof. 
Dr.  Georg  v.  Gizycki. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Enquete  des  „Vereins  für  Sozialpolitik“ 
über  die  Verhältnisse  der  Landarbeiter. 

(I.  Band.) 

Ein  erster  Band  mit  Ergebnissen  der  Enquete  über 
die  Verhältnisse  der  deutschen  Landarbeiter,  welche  der 
„Verein  für  Sozialpolitik“  * Ende  vorigen  Jahres  in  Angriff 
genommen  hat  und  deren  Methode  in  dieser  Zeitschrift 
zu  Erörterungen  zwischen  Professor  Schmoller  und  dem 
Unterzeichneten  führte  (vgl.  Sozialpolitisches  Centralblatt, 
I.  Jahrgang,  No.  6 u.  8),  liegt  nunmehr  abgeschlossen  vor.1) 

')  „Die  Verhältnisse  der  Landarbeiter  in  Nordwestdeutsch- 
land. Württemberg,  Baden  und  in  den  Reichslanden  Geschil- 
dert auf  Grund  der  vom  Verein  für  Sozialpolitik  veranstalteten 
Erhebungen.  Mit  einem  Anhang:  Zur  Statistik  der  deutschen 
Landarbeiter“.  (Sc.hriften  des  V.  f.  S.  LIII.  1.  Band.)  Leipzig, 
Duncker  & Humblot,  1892.  XXIV  u.  455  Seiten. 


Er  betrifft  die  ländlichen  Arbeiterverhältnisse  in  Nord- 
westdeutschland und  ist  in  diesem  Theile  nach  den  ein- 
gelaufenen Antworten  der  ländlichen  Unternehmer  von 
Dr.  Kaerger  bearbeitet,  sowie  die  Lage  der  Landarbeiter 
in  Württemberg,  Baden  und  den  Reichslanden,  für  welche 
Länder  Dr.  Losch  die  Bearbeitung  und  Zusammenfassung 
der  Llnternehmerauskünfte  übernahm.  Ueberschlagen  wir 
einmal  die  von  Geh.  Rath  Thiel  verfasste  Einleitung  des 
Bandes,  die  sich  mit  der  aus  den  früheren  Erörterungen 
bekannten  Methode  der  Enquete  beschäftigt  und  auf  welche 
am  Schluss  dieser  Betrachtung  zurückzukommen  sein  wird, 
um  uns  sofort  mit  den  materiellen  Ergebnissen  der  Er- 
hebungen zu  beschäftigen. 

Diese  materiellen  Ergebnisse  sind  halbwegs  brauch- 
barer Natur,  soweit  sie  aus  der  äusserlichen  Registrirung 
äusserlicher  Merkmale  der  Landarbeiterbevölkerung  der  in 
Betracht  kommenden  Gegenden  bestehen.  Die  Kenntniss 
selbst  von  diesen  äusserlichen  Verhältnissen  war  ja  bis  jetzt 
in  Deutschland  durch  die  offizielle  Statistik  so  wenig  weit 
gefördert,  dass  es  sogar  an  Angaben  darüber  fehlte,  in 
welche  Kategorien  die  ländliche  Arbeiterbevölkerung  der 
einzelnen  Gegenden  zerfällt,  wie  stark  die  einzelne  Kate- 
gorie hier  und  wie  stark  sie  dort  vertreten  ist,  in  welchem 
Umfange  die  Wanderarbeit  an  den  einzelnen  Orten  aus- 
genutzt ward,  w?ie  sich  die  Berufswahl  der  Landarbeiter- 
kinder gestaltet,  ob  die  Auswanderung  der  ländlichen  Ar- 
beiterbevölkerung zahlreiche  Elemente  entzieht,  ob  neben- 
bei Hausindustrie  betrieben  wird,  ob  die  Landarbeiter  mit 
grösserem  oder  kleinerem  Grundbesitz  ansässig  sind  oder 
nicht  und  Aehnliches.  Man  kann  diese  Punkte  als  die  Vor- 
fragen bezeichnen,  die  eine  Enquete  über  die  Lage  der 
Landarbeiter  zu  erledigen  hat , ehe  sie  zur  Feststellung 
dieser  Lage  selbst  innerhalb  jener  allgemeinen  Verhältnisse 
gelangt.  Und  diese  Vorfragen  können  wohl  auch  von  land- 
wirtschaftlichen Unternehmern , wie  sie  der  Verein  für 
Sozialpolitik  allein  befragt  hat.  in  den  gröbsten  Zügen 
einigermassen  zutreffend  beantwortet  werden,  sintemalen 
hier  der  natürliche  Interessengegensatz  zwischen  Unter- 
nehmer und  Arbeiter  wohl  auch  nicht  ganz  ohne  Einfluss 
aut  die  Art  der  Antwort  namentlich  bezüglich  der  feineren 
Nüancen  (z.  B.  Grad  der  Ausnutzung  der  Wanderarbeit) 
ist,  aber  doch  mehr  in  den  Hintergrund  tritt.  Ausserdem 
korrigiren  sich  die  Auskünfte  der  Unternehmer,  wenn  sie 
aus  einer  und  derselben  Gegend  mehrfach  eingeholt  w'erden, 
wie  es  der  „Verein  für  Sozialpolitik“  that,  gegenseitig, 
da  man  ein  überall  wiederkehrendes  Komplot  der  Unter- 
nehmer behufs  übereinstimmender  Beantwortung  der  all- 
gemeinen Fragen  nicht  annehmen  kann.  Wenn  also  für 
Oldenburg  und  Ostfriesland,  zum  Theil  auch  für  den  Re- 


40 


SOZIALPOLITISCHES  CEN'TRALBLATT. 


No.  4. 


gierungsbezirk  Osnabrück  berichtet  wird,  dass  das  Ge- 
sinde den  „überwiegenden“  Theil  der  vorhandenen 
ländlichen  Arbeiter  bildet,  Heuerlinge  und  Tagelöhner 
dagegen  nicht  wesentlich  in  Betracht  kommen;  dass 
die  Heuerlinge  in  Westfalen  zahlreicher  neben  dem  Ge- 
sinde auftauchen  und  nur  in  den  industriellen  Gegenden 
hinter  die  häufiger  werdenden  freien  Tagelöhner 
zurücktreten,  was  auch  für  die  verkehrsreicheren  Gegenden 
der  Provinz  Hannover  gilt,  während  in  den  verkehrsarmeren 
die  Heuerlinge  wieder  häufiger  Vorkommen;  wenn  mit- 
getheilt  wird,  dass  das  Vorkommen  der  Heuerlinge  meist 
durch  das  Vorhandensein  grösserer  Gutgkomplexe  bedingt 
ist  und  in  Würtemberg.  Baden  und  Elsass-Lothringen  meist 
das  Gesinde  und  freie,  angesessene  Taglöhner  sich  allein 
in  die  ländliche  Arbeit  theilen,  so  bilden  diese  Auskünfte 
mit  ihren  mannigfachen  Schattirungen  für  einzelne  Bezirke 
in  ihrer  Vereinigung  ein  ganz  werthvolles  Nachrichten- 
material, auf  welches  jeder  Forscher  in  ländlichen  Arbeiter- 
fragen wird  zurückgreifen  müssen.  Aehnlich  wird  die 
Sammlung  von  Notizen  über  das  Vorkommen  der  Wander- 
arbeiter und  hausindustrieller  Beschäftigung  allen  späteren 
Spezialforschungen  als  gute  Unterlage  dienen  können. 
Natürlich  fehlt  es  auch  bei  diesen  allgemeinen  Punkten 
nicht  an  sehr  widerspruchsvollen  Auskünften,  die  bei  der 
vom  „Verein  für  Sozialpolitik“  gewählten  Erhebungs- 
methode der  einseitigen  Befragung  der  Unternehmer 
meist  ohne  Aufklärung  bleiben,  da  man  doch  die  oft  mit 
den  Worten  „Es  ist  anzunehmen“  oder  „Vermuthlich“  ein- 
geleiteten Erklärungsversuche  der  beiden  Bearbeiter  nicht 
als  endgiltige  Entscheide  hinnehmen  kann,  zumal  keiner 
derselben  eine  Andeutung  davon  macht,  dass  er  durch  eine 
wenn  auch  nur  ganz  flüchtige  Bereisung  der  betreffenden 
Gebiete  Aufklärung  versucht  habe.  Die  ungeklärten  Wider- 
sprüche der  einzelnen  Enqueteergebnisse,  die  hier,  wie 
gesagt,  noch  nicht  von  entscheidendem  Belang  sind,  be- 
treffen namentlich  die  Frage,  ob  von  einem  „Arbeitermangel“ 
(vgl.  gleich  S.  1 extr.)  gesprochen  werden  könne;  unzu- 
lässige Verallgemeinerungen  aus  einzelnen  Beobachtungen 
signalisirt  Kaerger  selbst  S.  16  bezüglich  der  Abwanderung 
ländlicher  Arbeiterinnen  in  die  Städte  u.  A.  m. 

Wesentlich  anders  muss  nun  freilich  das  Urtheil  aus- 
fallen  über  die  Ergebnisse  der  Ermittelungen,  welche  die 
hinter  den  oben  besprochenen  Aeusserlichkeiten  liegenden 
Verhältnisse  der  ländlichen  Arbeiter  betreffen.  Hierher 
gehören  die  Auskünfte,  welche  die  Erhebungen  des  Vereins 
über  die  Art  der  Eingehung  des  Arbeitsvertrags,  über  seine 
schriftliche  oder  mündliche  oder  auf  stillschweigender 
Uebereinkunft  beruhende  Form,  über  etwaige  Vermittler 
des  Arbeitsvertrags  und  deren  Einfluss,  über  die  Praxis 
und  die  Reformbedürftigkeit  der  Gesindeordnungen,  über 
die  Beschaffenheit  und  Dauer  der  Arbeit,  über  die  Behand- 
lung der  Arbeiter  während  derselben,  über  die  Art  der 
Lohnberechnung  und  Lohnauszahlung,  über  die  Beschaffen- 
heit der  Wohnung,  Kleidung  und  Nahrung,  sowie  endlich 
über  das  Schicksal  und  die  etwaige  Versorgung  ausgedienter 
Arbeiter  enthalten  oder  doch  enthalten  sollten.  Man  darf 
meines  Erachtens  die  Nachrichten  über  jene  Punkte  in  dem 
ersten  Berichtsbande  des  „Vereins  für  Sozialpolitik“  als 
ungewöhnlich  dürftige  und  unzuverlässige  bezeichnen  und 
ruhig  sagen,  dass  nicht  leicht  eine  Arbeiierenquete  durch- 
geführt worden  ist,  die  ihre  Veranstalter  gründlicher  mit 
thatsächlichen  Ergebnissen  über  die  Hauptsache  im  Stiche 
gelassen  hätte,  als  diese.  Ueber  die  Form  der  Arbeits- 
kontrakte und  deren  Inhalt  findet  man  in  demjenigen  Theil 
des  vorliegenden  Bandes,  der  Nordwestdeutschland  betrifft, 
so  gut  wie  keine  Auskunft.  Die  Existenz  von  Gesindeord- 
nungen wird  an  einem  halben  Dutzend  von  Stellen  gestreift; 
es  wird  berichtet,  dass  die  Bestimmungen  der  Gesinde- 


ordnung „für  die  dortige  Bevölkerung  nur  auf  dem 
Papiere  stehe“  oder  „weder  dem  Landwirth  noch 
dem  Arbeiter  bekannt  sei“  (S.  71  und  152);  aus  Westfalen 
wird  lakonisch  mitgetheilt,  „es  haben  sich  theil  weise 
Usancen  herausgebildet,  die  der  Gesindeordnung  nicht  ent- 
sprechen, aber  lediglich  zum  Vortheil  des  Gesindes“  (S.  82) 
und  mit  diesem  Diktum  ist  die  ganze  Angelegenheit  für 
die  Enquete  erledigt;  der  letzte  Theil  der  Aeusserungen 
aber  besteht  aus  beweglichen  Klagen  der  Gutsbesitzer, 
dass  der  Kontraktbruch  der  Arbeiter  auf  Grund  der  beste- 
henden Gesindeordnungen  nicht  scharf  genug  geahndet 
werden  könne  (S.  102,  146,  175).  Losch  stellt  wenigstens 
für  die  drei  süddeutschen  Staaten  und  für  die  dortigen 
Dienstboten  vollständigere  Angaben  über  Dauer  der  Kon- 
trakte und  die  Kündigungsfristen  zusammen,  aber  die  Aus- 
künfte der  Unternehmer  lieferten  ihm  offenbar  ebenfalls 
nur  ganz  sporadisch  (z.  B.  S.  286)  Bemerkungen,  die  auf 
die  soziale  Seite  der  Sache  eingehen.  Vergeblich  sucht 
man  ferner  im  ganzen  Bande  nach  einer  Angabe  über  den 
Markt,  auf  welchem  sich  Angebot  und  Nachfrage  nach 
ländlicher  Arbeit  begegnen  (etwaige  Gesindemärkte,  Treiben 
der  Dienstvermittler  mit  ihren  bekannten  Annoncen  „Ge- 
sinde empfing  und  empfiehlt  X.  X.“).  Die  Beschaffenheit 
der  ländlichen  Arbeit  und  ihre  Rückwirkung  auf  die  Ge- 
sundheitsverhältnisse der  ländlichen  Arbeiter  wird  in  den 
Auskünften  aus  den  süddeutschen  Staaten  so  gut  wie  gar 
nicht,  in  denjenigen  aus  Nordwestdeutschland  mit  auffal- 
lender Regelmässigkeit  und  Geflissentlichkeit  so  geschildert, 
als  ob  von  ungünstigen  Rückwirkungen  auch  auf  Frauen 
und  Kinder  gar  keine  Rede  sein  könne.  Die  einzige 
Stelle  im  ganzen  Bande,  wo  die  Ansicht  eines  Sachver- 
ständigen, eines  Arztes,  mitgetheilt  wird,  lautet  S.  122: 
„Aerzte  beklagen  sich  oft  darüber,  dass  die  Frauen  zu  früh 
nach  der  Entbindung  sich  schweren  Arbeiten  widmen, 
können  sie  aber  von  diesem  Verhalten  schwer  abbringen, 
weil  die  nothwendige  Hilfe  vielfach  fehlt.  Die  Beschäfti- 
gung der  Kinder  in  besorgnisserregendem  Grade  findet 
höchstens  seitens  der  Eltern  statt  . . .“  Diese  Auskunft 
bezieht  sich  auf  die  westfälischen  Kreise  um  Münster;  diese 
Kreise  allein  weisen  nach  der  Erhebung  des  „Vereins  für 
Sozialpolitik“  die  geschilderten  Missstände  auf  — das  übrige 
Nordwestdeutschland  ist  frei,  völlig  frei  von  ihnen!  Im 
westfälischen  Bauernverein  wird  seit  Jahren  gegen  die  „un- 
verständige Schulwuth“  auf  dem  Lande  agitirt,  welche  den 
Bauern  die  nöthigen  Arbeitskräfte  entziehe;  die  Berichte 
des  „Vereins  für  Sozialpolitik“  wissen  fast  ausschliesslich 
uns  zu  berichten,  dass  die  ländliche  Arbeit  der  Kinder,  die 
übrigens  aus  jedem  Bezirk  festgesfellt  wird,  dem  Schulbe- 
such auch  nicht  den  geringsten  Schaden  thut.  Die  Dauer 
der  regelmässigen  täglichen  Arbeitszeit  im  Sommer  wird 
gewöhnlich  mit  12  Stunden,  nur  einmal  mit  17  Stunden  als 
auffallend  hoch  (S.  158),  dafür  einmal  mit  9 — 10  Stunden 
als  auffallend  niedrig  angegeben,  was  selbst  den  Bearbeiter 
des  „vereins  für  Sozialpolitik“  zu  der  Bemerkung  veran- 
lasst: „für  ländliche  Arbeiterverhältnisse  erstaunlich  genug“ 
(S.  67).  Diesen  Zahlenangaben  widersprechen  direkt  die 
mehrfach  vorkommenden  Zusätze:  „von  Sonnenaufgang  bis 
Sonnenuntergang“  oder  „so  lange  die  Sonne  am  Himmel 
steht“,  ein  Zeitabschnitt,  der  bekanntlich  im  Sommer  weit 
mehr  als  12  Stunden  umfasst.  Offenbar  haben  die  Unter- 
nehmer meist  die  vorbereitenden  Arbeiten,  sowie  die  Schluss- 
besorgungen der  ländlichen  Arbeiter  am  Abend  des  Ar- 
beitstages einfach  ausser  Ansatz  gelassen.  Von  der  Goltz 
schildert  den  übermässigen  Arbeitstag  der  ländlichen  Ar- 
beiter S.  31  seiner  „Ländlichen  Arbeiterfrage“  (Danzig, 
1872)  weit  unbefangener.  Danach  mag  man  die  Zuver- 
lässigkeit der  zahlreichen  Unternehmerberechnungen  des 
Bandes  über  die  Höhe  der  Löhne  beurtheilen!  Unglaublich 


No.  4. 


SOCIAI.POI  ,1  TISCH  RS  CENTRALBLATT. 


41 


dürftig  sind  sodann  die  Ergebnisse  der  Erhebungen  des 
„Vereins  für  Sozialpolitik“  bezüglich  der  Wohnungs-,  Nah- 
rungs- und  Kleidungsverhältnisse  ländlicher  Arbeiter  nament- 
lich in  Nordwestdeutschland.  Dass  die  Arbeiterwohnungen 
in  Oldenburg  „bescheiden“  aber  besser  als  früher  genannt 
(S.  42),  in  Lippe- Detmold  als  „den  Anforderungen  der 
Hygiene  entsprechend“  (! ! S.  103)  bezeichnet  werden,  dass 
sie  um  Paderborn  „oftmals  noch  viel  zu  wünschen  übrig 
lassen“  (S.  175),  und  dass  um  Münster  in  den  Wohnungen 
dei  Heuerlinge  „Wände  und  Fussböden  von  Lehm  und  Kalk- 
guss, das  Dach  von  Stroh,  die  Lage  oftmals  dumpf  und 
feucht“  sind,  ist  so  ziemlich  alles  Nähere,  was  man 
aus  dem  ganzen  starken  Bande  über  die  Wohnungsverhält- 
nisse  der  ländlichen  Arbeiter  erfährt!  Diese  Thatsache 
braucht  nicht  weiter  kommentirt  zu  werden  in  einem 
Augenblick,  in  welchem  ein  preussischer  Kreisphysikus, 
Herr  Dr.  Richter  in  Grosswartenberg,  in  der  „Zeitschrift  für 
Medizinalbeamte“  (Berlin,  1892,  Nr.  19,  S.  485  ff.)  eine  er- 
schütternde Schilderung  von  den  „menschenunwürdigen 
Wohnverhältnissen“  der  Landarbeiter  entwirft  Aehnlich 
sind  die  Ansätze  zur  Schilderung  der  Kost  (S.  55,  121,  137, 
151,  165,  166,  172,  407)  und  der  Kleidung  (S.  60  und  138) 
äusserst  sporadisch.  Die  Behandlung  der  Arbeiter  durch 
Unternehmer,  Inspektoren  oder  Aufseher  wird  dadurch 
für  die  Enquete  erledigt , dass  hie  und  da  Klagen 
darüber  wiedergegeben  sind,  die  Unternehmer  wüssten 
den  „Ton,  welchen  das  gesteigerte  Selbstbewusst- 
sein der  Arbeiter  verlange,  nicht  zu  treffen“. 
Dafür  lassen  zahlreiche  Unternehmer,  an  welche  sich  der 
Verein  als  einzige  Auskunftspersonen  wendete,  ihrer  sitt- 
lichen Entrüstung  über  die  „Zuchtlosigkeit“  und  „Genuss- 
sucht“ der  Arbeiter  freien  Lauf.  Es  muss  einer  besonderen 
Darstellung  Vorbehalten  bleiben,  die  charakteristischen 
Aeusserungen  dieser  Art,  zu  denen  die  ausgleichenden 
Gegenaussagen  von  der  Gegenseite  eben  gänzlich  fehlen, 
zusammenzustellen 

Die  beiden  Bearbeiter  des  vorliegenden  Bandes  haben 
in  der  That,  nachdem  sie  einmal  die  Aufgabe  übernommen 
hatten,  einen  recht  schweren  Stand  gehabt  und  man  kann 
den  Fleiss  und  die  erhebliche  Mühe,  die  sie  bei  der  Sich- 
tung und  Zusammenstellung  des  undankbaren  Materials 
aufwenden  mussten,  nur  anerkennen.  Wenn  Kaerger  die 
Darstellung  in  zusammenhängendem  Text,  Losch  in  tabel- 
larischer Form  vorzog,  so  möchten  wir  über  letzteres  nicht 
so  scharf  urtheilen,  wie  esDr.  Kuno  Frankenstein  als  einer 
der  Bearbeiter  der  Enqueteergebnisse  seinen  Kollegen  gegen- 
über in  der  „Leipziger  Zeitung“  vom  15.  Oktober  d J.  thut. 
Dass  sich  bereits  die  Bearbeiter  der  Enquete  öffentlich  unter- 
einander kritisiren,  ist  auch  ein  Anzeichen  für  die  Mängel  des 
Planes,  nach  welchem  die  Enquöte  vorgenommen  und  be- 
arbeitet wurde.  Uebrigens  lässt  Kaerger  S.  216  in  seinem 
Schlusswort  dutchblicken,  dass  ihm  „eine  Kritik  der  Frage- 
stellung des  Fragebogens“  nicht  schwer  fallen  würde,  — 
wenn  sie  „hier  am  Platze“  wäre!  Das  Misslingen  der  Erhebung 
des  „Verein  für  Sozialpolitik“  ist  eben  eine  natürliche  Folge 
des  Umstandes,  dass  es  der  Leitung  des  Vereins  bei  seinen 
neueren  Enqueten  an  einem,  den  wissenschaftlichen  metho- 
dologischen Grundsätzen  gerecht  werdenden  Systeme  fehlt. 
Während  man  bei  der  bekannten  Wucherenquete  des  Ver- 
eins nur  den  wirtschaftlich  schwächeren  Theil,  den  ver- 
mutlich Bewucherten,  befragte  und  zu  Worte  kommen 
liess,  ging  man  für  die  Landarbeiterenquöte  in  das  ent- 
gegengesetzte Extrem  über,  indem  man  nur  den  wirt- 
schaftlich stärkeren  Theil,  den  Unternehmer,  als  Auskunfts- 
person heranzog.  Das  Ergebniss  zeigt  in  beiden  Fällen, 
dass  soziale  Zustände,  auf  welche  entgegengesetzte  Inter- 
essen einwirken,  auch  nur  dadurch  annähernd  wahrheits- 
gemäss  festzustellen  sind,  dass  man  die  Vertreter  der  beiden 


Interessenstandpunkte,  also  hier  Unternehmer-  und  Arbeiter- 
vertreter, gleichzeitig  zu  Worte  kommen  lässt,  sei  es  durch 
Behelfe,  die  sich  dem  mündlichen  kontradiktorischen  Ver- 
fahren wenigstens  nähern,  sei  es  durch  Monographien,  für 
welche  die  Verfasser  ihre  Studien  bei  beiden  Theilen 
machen.  Irgend  einen  dieser  Wege  muss  ein  Verein  für 
Sozialpolitik  finden  können,  wenn  er  sich  an  eine  solche, 
die  Stimmung  weiter  Kreise  beeinflussende  Arbeit  wagt. 
Keinesfalls  darf  er,  wie  es  Geh  Rath  Thiel  für  den  „Verein 
für  Sozialpolitik“  in  der  Einleitung  des  vorliegenden  Ban- 
des thut,  erst  trotz  aller  Warnungen  den  unrichtigen  Weg 
gehen,  auf  diesem  Wege  Berichte  Zusammentragen,  die  im 
Grossen  und  Ganzen  bezüglich  der  sozialen  Verhältnisse 
der  Landarbeiter  wesentlich  die  Zufriedenheit  oder  die 
Jeremiaden  der  — Unternehmer  wiederspiegeln,  und  dann, 
wenn  diese  mangelhafte  Leistung  vorliegt,  für  mildernde 
Umstände  plädiren,  weil  man  „leicht  klüger  sei,  wenn  man 
vom  Rathhaus  kommt,  als  wenn  man  hinaufging“.  Die 
wissenschaftlichen  Regeln  für  soziale  Enqueten  sind  doch 
nicht  so  unbekannt,  dass  sie  der  Leitung  des  „Vereins  für 
Sozialpolitik“  nicht  schon  vor  dem  Gang  aufs  Rathhaus 
zur  Richtschnur  hätten  dienen  können.  Ausserdem  hat 
der  Schreiber  dieser  Zeilen  versucht,  durch  eine  Kritik  der 
Erhebungsmethode  im  I.  Jahrgang,  No.  6 und  8 dieser  Zeit- 
schrift zeitig  eine  Verbesserung  der  Aufnahme  zu  erzielen, 
was  ihm  freilich  seitens  des  Geh.  Rath  Thiel  jetzt  den  Vor- 
wurf zuzieht,  „sich  voreilig  schon  mit  der  Sache  befasst 
zu  haben.“  Da  das  so  ungenügende  Ergebniss  der  Enquete 
jener  Kritik  in  allen  Stücken  Recht  giebt,  so  sollte  doch 
Geh.  Rath  Thiel  die  Feststellung  der  Thatsache,  dass  nicht 
Jeder  erst  vom  Rathhause  kommen  muss,  um  in  land- 
läufigen Dingen  klar  zu  sehen,  nicht  in  so  harte  Worte 
kleiden.  Ob  es  nach  den  Regeln  der  litterarischen  Eti- 
quette  ist,  wenn  Geh.  Rath  Thiel  jene  Kritik  bekämpft, 
aber  sie  nebenbei  nicht  einmal  nach  ihrem  Erscheinungs- 
ort und  ihrem  Verfasser  näher  bezeichnet,  möge  dahin- 
gestellt bleiben  Jedenfalls  ist  der  „Verein  für  Sozial- 
politik“ genug  (sit  venia  verbo)  gestraft  mit  dem  Ergebniss 
einer  Enquete  über  die  Lage  der  ländlichen  Arbeiter,  aus 
welcher  Dr.  Kaerger,  als  Bearbeiter  des  Theils  für  Nordwest- 
deutschland  keinen  anderen  Schluss  zu  ziehen  vermag,  als 
folgenden:  „eine  ländliche  Arbeiterfrage  ist  im  Wesent- 
lichen nur  vom  Standpunkt  des  Arbeitgebers,  nicht  von 
dem  des  Arbeiters  vorhanden  ....  die  ländliche  Arbeiter- 
frage kann  also  nicht  in  der  Frage  bestehen,  durch  welche 
Mittel  die  wirthschaftliche  Lage  der  Arbeiter  gehoben 
werden  kann.“  Und  das  inmitten  einer  sozialen  Gährung, 
welche  auch  die  ländlichen  Arbeiter  mehr  und  mehr 
erfasst ! 

Frankfurt  a.  M.  Max  Quarck. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 


Staatshilfe  oder  Wohlthätigkeit? 

Unsern  ererbten  oder  anerzogenen  Anschauungen  ist 
der  Gedanke  fremd,  dass  öffentliche  Hilfe  an  die  Stelle 
privater  Wohlthätigkeit  treten  soll.  Als  Steuer  der  Reichen 
zu  Gunsten  der  Armen,  als  werkthätige  Uebung  der 
Nächstenliebe  möchten  wir  die  freiwillige  Wohlthätigkeit 
nicht  missen.  Und  auf  der  anderen  Seite  erscheint  es  auch 
nicht  als  Pflicht  des  Staates  — oder,  was  damit  gleich- 
bedeutend wäre,  als  sein  Recht — , Wohlthaten  zu  spenden. 
Diese  herkömmlichen  Anschauungen  halten  aber  vor  einer 
Nachprüfung  nicht  Stand. 


42 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  4. 


Es  ist  zunächst  nicht  richtig,  dass  Wohlthätigkeit 
in  besonders  hervorragendem  Maasse  von  reichen  Leuten 
geübt  wird.  Dass  der  Leierkastenmann  seine  Kunden  in 
der  ärmeren  Bevölkerung  zählt,  liegt  nicht  daran,  dass  er 
als  volksthümliche  Figur  eine  Ausnahmestellung  einnimmt, 
ähnliches  findet  auch  da  statt,  wo  der  Bettler  nicht 
an  den  musikalischen  Sinn,  sondern  an  die  Mildthätig- 
keit  schlechthin  appellirt.  In  der  Wohlthätigkeit  spielt 
„das  Scherflein  der  Wittwe“  eine  grosse  Rolle,  — was 
der  Wittwe  ein  sehr  gutes  und  unseren  Zuständen  ein  sehr 
schlechtes  Zeugniss  ausstellt.  Auch  der  Mittelstand  ist 
verhältnissmässig  wohlthätiger  als  die  reicheren  Klassen. 
Das  ist  natürlich;  Sparsamkeit  ist  eines  der  Mittel,  seinen 
Besitzstand  zu  mehren,  und  in  der  Mehrheit  der  Fälle 
spart  der  Mensch  doch  lieber  Fremden  als  sich  gegen- 
über. — Von  den  reicheren  Leuten  sind  deshalb  immer 
nur  Wenige  hochherzig  genug,  nach  Verhältniss  ihrer 
Mittel  ihren  Nebenmenschen  zu  helfen.  Wohlthätigkeit 
bedeutet  deshalb  nicht  eine  Besteuerung  der  reichen 
Leute,  sondern  der  anständigen.  Sie  ist  geradezu  eine 
Steuer  auf  die  Anständigkeit  der  Gesinnung  — insofern 
also  gewiss  nicht  vernünftig. 

Richtiger  mag  es  schon  sein,  dass  die  Wohlthätigkeit 
den  Armen  zu  Gute  kommt.  Ohne  es  nöthig  zu  haben, 
suchen  immerhin  nur  wenige  um  Unterstützung  nach.  Die 
L’nterstiitzung  kommt  aber  lange  nicht  immer  den  Aermsten 
zu  Gute,  sondern  denen  hauptsächlich,  die  an  die  Wohl- 
thätigkeit ihrer  Nebenmenschen  zu  appelliren  verstehen. 
Nicht  der  Aermste  sondern  der  Dreiste  erhält  das  Meiste. 
Dies  gilt  selbst  dann,  wenn  nicht  einzelne  Personen, 
sondern  in  Noth  befindliche  Gemeinwesen  konkurriren. 
Auch  in  solchen  Fällen  fliessen  die  Spenden  hauptsächlich 
dahin,  wo  am  meisten  geklagt  wird.  Für  die  armen  Thäler 
des  Hochgebirges,  in  denen  die  Ueberschwemmungen  nahe- 
zu alljährlich  stattfinden,  wird  regelmässig  nicht  gesammelt, 
wo  die  Leberschwemmung  ein  Ausnahmefall  ist,  führt  sie 
häufig  zur  Bitte  um  Unterstützung  und  dadurch  zur  Unter- 
stützung selbst.  Und  in  solchen  Fällen  wirkt  dann  der 
blöde  Nachahmungstrieb,  dass  denen  mehr  gegeben  wird, 
die  ohnehin  viel  erhalten  haben.  Der  Mensch,  der  etwas 
von  einem  Herdenthier  ist,  giebt  am  liebsten  für  Zwecke, 
für  die  schon  andere  gegeben  haben. 

Es  ist  klar,  dass  diese  Nachtheile  in  Fortfall  kommen, 
wenn  an  Stelle  planloser  Wohlthätigkeit  die  geordnete 
Fürsorge  der  Gemeinschaft  tritt.  Zum  mindesten  würde 
die  Konzentrirung  eine  Uebersicht  dessen  ermöglichen,  was 
der  Einzelne  erhält  und  damit  zu  einer  gerechteren  Ver- 
keilung führen. 

Ein  Hauptfehler  der  privaten  Wohlthätigkeit  ist  ihre 
Kostspieligkeit.  Die  Absammlung  durch  Kollekteure  dürfte 
an  Kosten  etwra  15  bis  20  pCt.  des  Ertrages  erfordern. 
Bei  Schneeballkollekten  steigen  die  Kosten  manchmal 
bis  zu  50  pCt.,  um  bei  Bazaren  und  ähnlichen  Lust- 
barkeiten häufig  einen  noch  grösseren  Theil  des  Brutto- 
erträgnisses  zu  verschlingen.  Wir  setzen  hierbei  aber  noch 
voraus,  dass  alle  Eingänge  zur  Ablieferung  gelangen, 
was  thatsächlich  nicht  der  Fall  ist.  Denn  die  ungeordneten 
Formen  unserer  Wohlthätigkeit  öffnen  dem  Schwindel  Thür 
und  Thor.  So  meldet  z.  B.  ein  Hamburger  Telegramm 
der  Frankfurter  Zeitung  vom  8.  Oktober,  dass  ein  angeb- 
liches Komitee  mehrere  Tausend  Mark  für  Nothleidende 
gesammelt  und  für  sich  verbraucht  hat. 

Diesen  Nachtheilen  stehen  keine  Vortheile  gegenüber. 
Wir  halten  es  zwar  für  erhebend  und  erziehlich,  dass  der 
Mensch  freiwillig  für  seine  Nebenmenschen  thätig  ist  und 
sorgt.  Aber  gerade  dieses  selbstzufriedene  Gefühl,  wohl 
zu  thun,  muss  die  private  Wohlthätigkeit  verleiden.  Die 
„wohlthätigen  Frauen“  sind  ja  genügend  berüchtigt,  aber 
um  gerecht  zu  sein,  steht  es  mit  den  Männern  nicht  besser, 
ihre  Gaben  haben  in  der  Eitelkeit  vielleicht  ebenso  häufig 
Ihren  Beweggrund  als  in  dem  Drang,  wohl  zu  thun. 

Die  Wohlthätigkeit  soll  nicht  des  Gebers,  sondern 
des  Empfängers  wegen  da  sein.  Und  deshalb  will  uns 
der  ganze  Begriff  der  „Wohlthätigkeit“,  der  von  der 
Laune  des  Gebers  und  nicht  von  dem  Bedürfnisse  des 


Empfängers  ausgeht,  nicht  Zusagen.  Dieser  Begriff  lässt 
die  Wohlthätigkeit  als  einen  Akt  der  Willkür,  eine  Art 
Gnade  für  einzelne  Menschen  oder  Klassen  von  Menschen 
erscheinen,  für  den  diese  dankbar  zu  sein  haben.  Die 
Unterstützungen  die  der  Staat ')  schon  jetzt  häufig  leistet, 
sei  es  durch  ausserordentliche  Beihilfen  für  den  Fall  eines 
Nothstandes,  sei  es  durch  regelmässige  für  die  Armenpflege, 
tragen  das  Gepräge  derartiger  Willkür.  Das  Ideal  des 
Staates  schliesst  aber  die  Willkür  aus,  es  verlangt  nicht 
blos  die  formelle  Gesetzlichkeit,  sondern  die  Gesetzmässig- 
keit. Der  jetzige  Zustand  ist  durchaus  unfolgerichtig  — 
was  der  Staat  darf,  das  muss  er  auch. 

Es  besteht  sonach  die  Pflicht  des  Staates,  seine  Unter- 
thanen  gegen  die  Folgen  eines  Nothstandes  zu  schützen 
— oder  was  dasselbe  is\  — der  Bedürftige  hat  ein  Recht, 
gegen  die  Folgen  eines  Nothstandes  geschützt  zu  werden. 
Da  die  Arbeitslosigkeit  in  den  meisten  Fällen  eine  Folge  all- 
i gemeiner  (wirthschaftlicher)  Nothstände  ist,  begreift  dieses 
Recht  auf  Hilfe  allerdings  im  wesentlichen  ein  Recht  auf 
Arbeit  oder  Existenzminimum.  Trotz  dieses  sozialistischen 
Beigeschmacks  stehen  schon  jetzt  weite  Kreise  der  Idee 
| sympathisch  gegenüber. 

Hamburg,  das  die  Wohlthätigkeit  gegen  den  durch 
die  Cholera  geschaffenen  Nothstand  anrief,  hatte  die 
öffentliche  Meinung  gegen  sich.  Es  war  das  Gefühl  vor- 
handen, dass  die  freiwilligen  Beiträge  nur  einen  kleinen 
Theil  des  Erforderlichen  auf  bringen  könnten,  dass  ein 
so  blühendes  und  reiches  Gemeinwesen  den  Bedarf  am 
Besten  selbst  durch  Steuern  oder  eine  Anleihe  decke. 
Dieses  Gefühl  steigerte  sich,  als  die  — allerdings  nicht 
sicher  verbürgte  — Mittheilung  durch  die  Zeitungen  ging, 
das  Hamburger  Hilfskomitee  habe  der  arbeitslosen  Familie 
eine  Unterstützung  von  täglich  15  Pfennigen  bewilligt. 
Das  wäre  ein  Almosen  an  Stelle  der  Beseitigung  eines 
Nothstandes,  „Wohlthätigkeit“  an  Stelle  der  Hilfe. 

Von  der  Idee  aber,  dass  Hamburg  reich  genug  sei, 
um  den  Bedürftigen  zu  helfen  und  dass  15  Pfennige  zu 
wenig  seien  — bis  zur  Idee  des  Rechts  auf  Hilfe  ist  nur 
ein  Schritt,  oder  richtiger,  es  ist  dieselbe  Idee,  in  dem 
einen  Fall  unter  Beziehung  auf  zufällige  Geschehnisse  des 
Tages,  in  dem  anderen  als  allgemeines  Erforderniss  dar- 
gestellt. 

Dass  der  Staat  mich  gegen  die  wirthschaftlichen 
Folgen  der  Cholera  schützen  soll,  an  der  er  unschuldig  ist, 
nicht  aber  gegen  die  Folgen  der  Wirthschaftspolitik  die  er 
bestimmt,  will  mir  nicht  ganz  logisch  erscheinen.  Da  die 
Arbeitslosigkeit  aber  in  den  meinsten  Fällen  die  Ursache 
der  Bedürftigkeit  ist,  bildet  der  Schutz  vor  ihren  Folgen 
den  Schwerpunkt  einer  richtig  organisirten  Hilfeleistung. 

Berlin.  Heinrich  Cohn. 


Die  Einkommensverhältnisse  in  Preussen. 

So  lange  wir  keine  wirkliche  Einkommenstatistik  haben, 
sind  wir  noch  immer  auf  die  Einkommensteuer-Nachwei- 
sungen angewiesen,  um  auf  das  Einkommen  zurückzu- 
schliessen.  In  Folge  der  Einschätzung  durch  besondere 
Einschätzungskommissionen  liess  jedoch  bisher  die  Klassen- 
steuer und  die  klassifizirte  Einkommensteuer,  besonders  für 
die  höheren  Einkommenstufen,  eine  auch  nur  annähernd 
richtige  Schätzung  der  wirklichen  Einkommensverhältnisse 
nicht  zu,  erst  durch  das  neue  Einkommen  - Steuergesetz 
vom  24.  Juni  1891,  welches  mit  dem  1.  April  1892  in  Kraft 
getreten  ist,  und  in  welchem  die  Selbsteinschätzung  zum 
Prinzip  der  Steuerveranlagung  wurde,  wird  es  möglich,  sich 
ein  zutreffenderes  Bild  von  der  Vertheilung  des  Einkommens 
in  Preussen  zu  machen,  als  es  bisher  möglich  gewesen. 


i)  Ob  die  Beiträge  vom  Staat  oder  der  Stadtgemeinde 
geleistet  werden,  macht  keinen  Unterschied,  ich  gebrauche  den 
Ausdruck  Staat  für  jegliche  Form  des  politischen  Gemeinwesens 
im  Gegensatz  zum  Einzelnen  oder  freiwilligen  Verbänden. 


So.  4. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


43 


Der  Reicheanzeiger  No.  241  vom  12.  10.  1892  veröffent- 
licht nun  die  vorläufigen  Ergebnisse  der  Steuerveranlagung, 
aus  denen  wir  folgende  Daten  über  die  Einkommens- 
verhältnisse in  Preussen  herausheben. 

Steuerpflichtig  für  das  Etatsjahr  1892/93  waren 
2 437  886  Censiten,  davon  sind  2028  juristische  und  2 435  868 
physische  Personen.  Von  den  veranlagten  juristischen  Per- 
sonen waren: 


mit  einem 
Einkommen 
von 
Mark 

Darunter 
waren  in 
Preussen 
steuer- 
pflichtig 

1434: 

Aktien-  und  Aktienkommandit- 
gesellschaft   

292  892  748 

217  685  947 

1%: 

Berggewerkschaften 

36  488  770 

36  092  639 

309: 

eingetragene  Genossenschaften 

2 499183 

2 338  553 

89: 

Konsumvereine 

953  746 

953  726 

Zusammen 

332  834  447 

257  070  865 

Das  veranlagte  Einkommen  der  2 435  868  physischen 
Censiten  dagegen  betrug  5 724  323  767  M. 

Bei  der  Einschätzung  nicht  in  Betracht  gezogen  sind 
alle  diejenigen  Personen,  welche  ein  Einkommen  von  unter 
900  M.  besitzen. 

Die  Nachweisungen  des  Reichsanzeiger.s  enthalten  auch 
keinen  Hinweis  darauf,  wie  gross  die  Zahl  der  Erwerbs- 
tätigen mit  einem  Einkommen  unter  900  M.  ist,  und  wie 
hoch  sich  deren  durchschnittliches  Einkommen  beläuft.  Und 
doch  wären  diese  Angaben  von  grundlegender  Bedeutung 
für  die  Würdigung  der  Einkommensverhältnisse.  Nur  mit  j 
Hülfe  approximativer  Schätzungen  kann  man  dazu  gelan-  j 
gen,  diese  Verhälnisse  zu  ermitteln. 

Die  durchschnittliche  Bevölkerung  Preussens  für  das 
Etatsjahr  1892/93  ist  29  895  224  Köpfe,  davon  sind  steuer- 
frei: 20  945  227  wegen  eines  Einkommens  unter  900  M., 
ferner:  6 832  als  Exterritoriale,  steuerpflichtig  also  sind: 

8 933  165  Personen,  auf  welche  2 436  858  Censiten 
kommen,  entsprechend  27,18  pCt.  der  Bevölkerung  der  ver- 
schiedenen Klassen.  Nimmt  man  an,  dass  bei  den  Personen 
mit  einem  Einkommen  unter  900  M.  das  Verhältniss  der 
Erwerbsthätigen  zur  Gesammtbevölkerung  dieser  Klasse 
ebenfalls  27,18  pCt.  beträgt,  so  ist  die  Zahl  der  Erwerbs- 
thätigen mit  einem  Einkommen  unter  900  M. 

20  945  227  X 0,272  = 5 697  040 
Was  das  Durchschnitts-Einkommen  dieser  anbetrifft , so 
dürfte  eine  Vergleichung  mit  sächsischen  Verhältnissen 
innerhalb  bestimmter  Voraussetzungen  zulässig  sein. 

In  Sachsen  betrug  für  1890  das  Durchschnitts-Ein- 
kommen der  Censiten  dieser  Klasse  ca.  530  M.  (Eine  ge- 
naue Berechnung  ist  nicht  möglich,  weil  in  Sachsen  950  M. 
die  Einkommensgrenze  der  Censiten  dieser  Klasse  ist.)  Für 
Preussen  mit  seiner  überwiegend  ländlichen  Bevölkerung 
sind  530  M.  als  Durchschnitts-Einkommen  unzweifelhaft  zu 
hoch  und  das  Durchschnitts -Einkommen  dürfte  500  M. 
keinesfalls  übersteigen  (Soetbeer  berechnet  das  Einkommen 
der  bedürftigen  Klassen  Preussens  — bis  525  M.  auf  1 7,7  pCt. 
desGesammteinkommens,  und  in  Sachsen  auf  18,1  pCt.,  unsere 
Schätzung  dürfte  also  annähernd  richtig  sein.  *) 

Zur  Vergleichung  können  wir  den  Durchschnittssatz 
von  500  M.  jährlichen  Einkommens  aber  immerhin  heran- 
ziehen. Die  5 697  040  Censiten  würden  also  dann  ein  Ge- 
sammt-Einkommen  von  rund  2848,5  Millionen  Mark  aller- 
höchstens  aufweisen. 

Es  stehen  sich  also  gegenüber: 

5,70  Mül.  Censiten  mit  einem  Einkommen  von  2848,5  Mill.  M. 

und  2,44  ,,  „ ,,  ,,  ,,  „ 5724,3  „ ,,  ] 

Also  weniger  als  ein  Drittel  aller  Censiten  concentrirt  auf 
sich  mehr  als  zwei  Drittel  des  Gesammt-Einkommens.  Das 
Durchschnitts-Einkommen  der  Ersteren  beträgt  ca  500  M., 


das  der  Letzteren  aber  2350,02  M.,  ist  also  bei  den  Letzteren 
etwa  4,6  mal  so  hoch  als  bei  den  Ersteren. 

Noch  krasser  erscheint  die  Ungleichheit  in  der  Ver- 
theilung  des  Einkommens,  wenn  man  die  einzelnen  Steuer- 
stufen gesondert  betrachtet,  wie  sie  sich  in  der  folgenden 
Uebersicht*)  darstellen: 


Ein- 

kommen- 

stufen 

Zahl  der 
Censiten 

°/o 

Ein- 
kommen in 
1000  M. 

% 

Durch- 
schnitts-Ein 
kommen 
in  Mark 

bis  900 

(5  697  040) 

70,3 

(2  848  500) 

33,2 

(500) 

900-  3000 

2 118  969 

26,0 

2911  981 

33,9 

1 374 

bis  3000 

( 7810009 ) 

96,3 

{5760481) 

67,1 

(755) 

3000-6000 

204  714 

2,4 

(788  230) 

9,2 

(3  850, 

6000-14500 

80  797 

1,0 

(667  926) 

7,8 

(8  240, 

14500  - 28500 

19  360 

0,2 

(368  821) 

4,3 

(19000, 

über  28500 

12018 

0,1 

1987  365) 

11,5 

(82  000, 

über  3000 

316809 

.7,7 

2812342 

32,9 

8871 

über  900 

2430858 

29,7 

5724323 

67,8 

2350 

Total 

(8  133  898 

100 

(8  572823) 

100 

(1  055) 

Bei  der  letzten  Einkommenstufe  ist  noch  zu  bemerken, 
dass  sich  in  derselben: 


6507  Censiten  mit  einem  Einkommen 

3731  „ „ „ ,, 

1707 

61  „ ,,  ,,  » 

12  „ 

befinden. 


>n  28  550—  48000  M. 

48  000—  96  000  „ 

, 96  000—  300  000  „ 

, 300  000-1  500  000  „ 

1 500  000  7 000  000  „ 


Aus  der  Tabelle  ist  zu  erkennen,  dass  96,3  pCt.  der 
Censiten  (mit  einem  Durchschnittseinkommen  von  755  M.), 
ein  Einkommen  bis  zu  3000  M.  aufweisen,  also  nur  in 
wenigen  Fällen  in  der  Lage  sind,  sich  und  ihrer  Familie 
eine,  auch  nur  halbwegs  behagliche  Existenz  zu  schaffen, 
während  70,3  pCt.  der  Censiten,  und  demnach  auch  der  ge- 
sammten  Bevölkerung  nicht  einmal  das  v.  Rauchhaupt’sche 
Existenzminimum  von  900  M.  erreichen.  — Dagegen  haben 
nur3,7pCt.  (mit  einem  Durchschnittseinkommen  von  8871  M.) 
ein  Einkommen  von  über  3000  M.,  unter  diesen  aber  ran- 
giren  auch  die  12  018  „oberen  Zehntausend“  mit  einem 
Durchschnittseinkommen  von  82  000  M.  und  die  12  Krösus 
mit  einem  Einkommen  von  1,5 — 7 Millionen  Mark. 

Wenn  wir  bei  3000  M.  Einkommen  eine  Scheidung 
zwischen  Armen  und  Wohlhabenden  bezw.  Reichen  vor- 
nehmen, so  stellt  sich  das  Verhältniss  so,  dass 


7,8  Millionen  Censiten  ein  Einkommen  von  5760,5  Mill.  M. 

0,3  „ „ „ „ „ 2812,3  „ „ haben. 

Das  gesammte  Einkommen  vertheilt  sich  also  in  der 
Weise,  dass  annähernd  je  ein  Drittel  auf  die  Erwerbs- 
thätigen resp.  Censiten  der  Einkommenstufen  1.  bis  900  M.. 
2.  bis  3000  M.,  3.  über  3000  M.  kommen;  aber  diese  machen 
etwa  18/27  bezw.  8/27  bezw.  1/27  aller  Erwerbsthätigen  aus, 
und  das  Durchschnittseinkommen  steigt  von  500  zu  1374 
bis  auf  8871  M.  — Da  auf  die  einzelnen  ungleich  grossen 
Gruppen  von  Erwerbsthätigen  annähernd  die  gleiche  Ge- 
sammtsumme  an  Einkommen  entfällt,  so  kann  man  an- 

schaulich die  Vertheilung  des  Einkommens  auch  so  dar- 
stellen, dass  bei  der  Vertheilung  von  27  M.  unter  drei 
Personen 

der  Arme 1 M. 

der  Wohlhabende  ....  8 „ 

der  Reiche  18  „ erhält. 

Weitere  Schlüsse  von  sozialpolitischer  Bedeutung  sind 
aus  deil  bisher  veröffentlichten  Daten  über  die  Ergebnisse 
der  Einkommensteuerabschätzung  vorerst  noch  nicht  zu 
ziehen,  insbesondere  ist  eine  Vergleichung  mit  den  Ergeb- 
nissen der  Vorjahre  durchaus  unthunlich,  da  hierbei  die 
nichts  weniger  als  zutreffende  Fiktion  gemacht  werden 
müsste,  dass  die  schätzenden  Steuerkommissionen  die  Ein- 


*)  Conrad,  Jahrb.  f.  Nationalökon.  u.  Stat.  N.  F.  Bd.  18 
pag.  419. 


*)  Die  eingeklammerten  Zahlen  sind  nur  approximativ, 
z.  Th.  sind  sie  in  der  oben  angegebenen  Weise,  z.  Th.  aus  den 
Steuerbeträgen  schätzungsweise  berechnet  worden. 


44 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  4. 


kommensverhältnisse  ebenso  genau  zu  überschauen  in  der 
Lage  gewesen  sind,  als  die  Selbsteinschätzer ; dagegen 
lässt  sich  bereits  jetzt  ermitteln,  ob  das  neue  Ein- 
kommensteuergesetz eine  Entlastung  der  kleinen  Ein- 
kommen gegenüber  den  grossen  mit  sich  gebracht  hat;  die 
folgende  Tabelle  kann  zu  diesem  Nachweis  herangezogen 
werden: 


Steuer- 

stufen 

Jahr 

Zahl 

der 

Censiten 

Steuer- 

betrag 

M. 

Durchschn. 

Steuerbetrag 

M. 

900—3000 

1891/92 

1 743  363 

37  701  222 

21,6 

1892/93 

2118  969 

32  835  099 

15,5 

3000-4200 

1891/92 

116316 

11  143  890 

96,1 

1892/93 

126  798 

3 126  124 

71,3 

900—4200 

1891/92 

1859 bl  9 

48845112 

26,3  (16,9  ) 

1892/93 

2245767 

41961223 

18,7 

also  1892/93  weniger 

6883889 

7,6  (41,8) 

über  4200 

1891/92 

137  959 

30  713  715 

229,2 

1882/93 

190  091 

72  824  882 

383,3 

also 

1892/93  mehr 

42  111 167 

154,1 

Insgesammt 

1891/92 

1 997  638 

79  558  827 

39,8 

1892/93 

2 435  858 

114  786  105 

47,1 

aiso  1892/93  mehr 

35  227  276 

7,3 

Juristische  Personen  ....  , . . 10  056  743 

Absoluter  Mehrertrag  der  Einkommen- 
steuer 1892/93 45  284  021 


Die  Steuerstufen  unter  4200  M.  zahlten  also  im  Etats- 
jahr 1892/93  6 883  889  M.  oder  per  Kopf  7,6  M.  weniger 
Einkommensteuer  als  im  Etatsjahre  1891/92,  während  die 
Censiten  mit  einem  Einkommen  über  4200  M.  42  111  167  M., 
oder  per  Kopf  154,1  M.  mehr  Steuern  aufbrachten.  Das 
Gesammtmehrerträgniss  betrug  35  227  278  M.  oder  7,3  M. 
per  Kopf.  Es  würde  also  aus  den  Veranlagungen 
eine  Entlastung  der  minder  begüterten  Censiten  zu  folgern 
sein,  wozu  noch  kommt,  dass  von  den  Censiten  bis  zu 
3000  M.,  für  welche  nach  §18  des  Einkommensteuergesetzes 
für  jedes  Kind  unter  14  Jahren  50  M.  des  steuerpflichtigen 
Einkommens  in  Abzug  zu  bringen  sind,  von  den  hier  in 
Betracht  kommenden  Censiten  154  566  freigestellt  und 
543  308  auf  eine  niedrigere  Stufe  ermässigt  wurden,  wo- 
durch ein  Steuerausfall  von  3 456  138  M.  oder  32,93  pCt.  des 
hier  veranlagten  Steuerbetrages  resultirte.  Aber  nichts- 
destoweniger sind  die  Angaben  des  Reichsanzeigers  durch- 
aus irreführend,  indem  für  1891/92  die  veranlagten,  aber 
nicht  die  wirklich  gezahlten  Steuerbeträge  aufgeführt 
sind.  Nach  dem  früheren  Einkommensteuergesetz  von  1883 
wurden  nämlich  die  Censiten  bis  zu  4200  M.  Einkommen 
für  6 bis  3 Sommermonate  von  der  Einkommensteuer  be- 
freit. Die  Norddeutsche  Allgemeine  Zeitung,  die  zuerst 
dem  Reichsanzeiger  diesen  Fehler  nach  wies,  ermittelt  dem- 
zufolge, dass  die  Steuerklassen  bis  zu  4200  M.  4 045  808  M. 
oder  per  Kopf:  1,8  M.  mehr  aufbringen  müssen,  als  in  dem 
vergangenen  Etatsjahre,  dass  demgemäss  der  durchschnitt- 
liche Steuerbetrag  per  Kopf  der  Censiten  bis  zu  4200  M. 

1891/92:  16,9  M. 

1892/93:  18,7  M.  beträgt. 

Wenn  also  auch  der  bedeutende  finanzpolitische  Er- 
folg der  neuen  Einkommensteuer- Veranlagung  nicht  be- 
stritten werden  kann,  so  blieb  doch  die  vorausgesagte  Erleich- 
terung für  die  minder  bemittelten  Klassen  vollständig  aus. 
Dazu  kommt  noch,  dass  das  Mehrerträgniss  an  Einkommen- 
steuer nicht  aus  den  obersten  Steuerklassen  fliesst,  sondern 
hauptsächlich  aus  den  Steuerklassen  von  4200—28000  M. 
welche  allein  12  Millionen  Mark  mehr  auf  brachten.  — 

Von  den  Angaben  des  Reichsanzeigers  seien  noch 
diejenigen  Daten  hervorgehoben,  welche  einen  Hinweis  auf 
die  Quellen  des  Einkommens  enthalten. 

Das  veranlagte  Einkommen  der  Censiten  aus  den 
Stufen  über  3000  M.  beträgt: 


I.  Aus  Kapitalvermögen 911  721201  M. 

II.  Aus  Grundvermögen 755  361  284  „ 

III.  Aus  Handel,  Gewerbe  und  Bergbau.  . 982  804  091  „ 

IV.  Aus  gewinnbringender  Beschäftigung 593  941  967  ,, 

Zusammen 3 243  828  543  M. 

V.  Abgerechnete  Schuldzinsen,  Lasten  etc.  431486  201  „ 
Rest 2 812  342  342  M. 


Zweifellos  arbeitsloses  Einkommen  sind  also  I und  II 
oder  1 667  082  485  M.,  während  in  den  Gruppen  III  und  IV 
mit  1 576  746  058  M.  zunächst  selbst  ein  gut  Theil  arbeits- 
losen Einkommens  enthalten  ist,  nämlich  alles  durch  Börsen-, 
Differenz-  und  Spekulationsgeschäfte  erzielte,  weiterhin 
hier  aber  eine  Trennung  zwischen  solchem  aus  produk- 
tiver und  unproduktiver  Thätigkeit  erworbenem  Einkommen 
nicht  vorgenommen  werden  kann.  Eine  sozialpolitische 
Würdigung  dieser  Angaben  muss  also  unterbleiben. 

Magdeburg.  H.  Lux. 


Zur  Frage  der  Arbeitslosenstatistik  nimmt  der  „Vor- 
wärts“ in  seiner  Nummer  vom  20.  Oktober  1892  Stellung. 
Nachdem  er  den  von  Dr.  Adolf  Braun  im  „Sozialpolitischen 
Centralblatte“  gemachten  Vorschlag  zum  Abdruck  gebracht 
hat,  bemerkt  er: 

..Die  Diskussion  des  Vorschlages  kann  nichts  schaden. 
Eine  wirklich  brauchbare  Statistik  ist  aber  nicht  auf  privatem 
Wege  zu  schaffen,  dazu  ist  schon  wegen  der  Scheu  vieler  Ar- 
beiter, anderen  Leuten  ihre  Verhältnisse  kund  zu  thun,  die 
Autorität  des  Staates  nöthig.  Die  Angelegenheit  wird  ver- 
muthlich  im  Reichstage  beim  Punkt  Reicnskommission  für 
Arbeitsstatistik  zur  Sprache  gebracht  werden.“ 

Wir  können  diese  Einwände  nicht  als  stichhaltig  an- 
sehen.  Wir  glauben,  dass  freiwilligen  Zählern  aus  der 
Arbeiterklasse  von  den  Arbeitslosen  mehr  Vertrauen  ent- 
gegengebracht  werden  dürfte,  als  uniformirten  Schutz- 
leuten. Die  Arbeitslosen  werden  stets  fürchten,  von  letz- 
teren als  Vagabunden  und  nicht  als  wider  Willen  Arbeits- 
lose betrachtet  zu  werden.  Ferner  würden  die  Arbeits- 
losen bei  einer  Erhebung  ihrer  Verhältnisse  durch  staat- 
liche Organe  irgend  welche  Nebenabsichten  bezw.  unan- 

Senehme  Folgen  für  sich  befürchten,  was  bei  einer  von 
en  Arbeitern  selbst  vorgenommenen  Statistik  nicht  der 
Fall  sein  wird.  Uns  scheint  die  seitens  der  Reichs- 
kommission für  Arbeiterstatistik  eingeschlagene  Art,  Er- 
hebungen vorzunehmen,  nicht  in  dem  Masse  vertrauen- 
erweckend, dass  man  nach  einer  Erhebung  der  Arbeits- 
losigkeit seitens  der  dieser  Kommission  zur  Verfügung 
stehenden  Organe  besondere  Sehnsucht  zu  empfinden 
hätte.  So  sehr  wir  arbeitsstatistische  Erhebungen  seitens 
des  Reiches  in  grossem  Style  unternommen  wünschen,  so 
wenig  erscheint  uns  gerade  die  Arbeitslosigkeit  als  ein  für 
staatliche  Erhebungen  besonders  geeignetes  Gebiet.  Frei- 
lich, Organisationen  der  Arbeiter  werden  ausser  in  Centren 
der  Arbeiterbewegung  nichts  Ganzes  zu  Stande  bringen. 
Aber  ein  Versuch  auf  topographisch  beschränktem 
Gebiete  würde  sich  schon  lohnen  und  auch  bezahlt 
machen. 

Will  man  die  Reichskommission  für  Arbeiterstatistik 
für  die  Frage  interessiren,  so  stelle  man  ihr  die  Aufgabe, 
das  durch  die  Ausführung  der  Arbeiterversicherung,  spe- 
ziell der  Kranken-  und  Invaliditäts-  und  Altersversicherung 
sich  ergebende  Material  über  die  Arbeitslosigkeit  einmal 
gründlich  zu  bearbeiten.  Es  werden  sich  dabei  zwar  keine 
unanfechtbaren,  wohl  aber  durch  ihre  Ausdehnung  auf  die 
gesammte  Arbeiterklasse  trotzdem  nützliche  Daten  ergeben ; 
allein  schon  aus  der  Kombination  des  Verkaufes  der  Ver- 
sicherungsmarken und  der  Inhaber  der  Altersversicherungs- 
karten würden  sich  ganz  beachtenswerthe  Daten  über  die 
Verbreitung  der  Arbeitslosigkeit  nach  Berufen  und  Reichs- 
gebieten ergeben. 

Zur  überseeischen  Auswanderung  in  Deutschland  ist 

im  September  d.  J.  in  Folge  der  Cholera  sehr  gering  ge- 
wesen. Es  wanderten  nach  dem  „Reichsanzeiger“  über 
deutsche  Häfen  nur  3195  deutsche  Reichsangehörige  aus 
gegen  7935  im  September  1891.  Davon  gingen  2822  (1891 
5188)  über  Bremen,  243  (2649)  über  Hamburg  und  130  (98) 
über  Stettin.  Die  Hamburger  Auswanderung  ist  also  auf 
ein  Elftel  zurückgegangen.  Ausser  den  deutschen  Aus- 
wanderern wurden  noch  3675  Auswanderer  fremder  Staaten 
über  deutsche  Häfen  befördert,  davon  2868  über  Bremen, 
791  über  Hamburg  und  16  über  Stettin. 


No.  4. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


45 


Lehrwerkstätten  bei  den  prenssischen  Staatsbahnen. 

Ini  Bereiche  jeder  Direktion  der  preussischen  Staatsbahnen 
sind  jetzt  eine  Anzahl  Lehrwerkstätten  eingerichtet,  im  Bereiche 
des  Eisenbahn-Direktions-Bezirkes  Breslau  z B 5,  und  zwar  je 
eine  solche  in  der  Hauptwerkstatt  Breslau  O -S.,  zur  Zeit  be- 
setzt mit  51  Zöglingen,  m der  Haupswerk statt  Breslau  Oderthor  | 
mit  29  Zöglingen,  in  der  Hauptwerkstatt  Posen  mit  32  Zöglingen, 
in  der  Nebenwerkstatt  Ratibor  mit  7 Zöglingen  und  in  der 
Nebenwerkstatt  Kattowitz  mit  14  Zöglingen.  Die  Lehrzeit  ist 
auf  4 Jahre  festgesetzt  Die  Lehrlinge  erhalten  Ausbildung  im 
Schlosser-  und  Schmiedehandwerk,  sowie  in  der  Handhabung 
der  Werkzeugmaschinen.  Die  Söhne  der  verunglückten  Be- 
amten und  Arbeiter  werden  besonders  bevorzugt  Der  Auf- 
zunehmende  muss  älter  als  14  Jahre  und  jünger  als  16  Jahre 
sein  und  die  Elementarschule  vollständig  absolvirt  haben.  Die 
tägliche  Beschäftigung  des  Lehrlings  dauert  einschliesslich  der 
Frühstücks-  und  Vesperpausen  10  Stunden;  Sonntags-  und 
Nachtarbeit  sowie  Ueberstunden  sind  unstatthaft.  Der  für  daß 
erste  Lehrjahr  auf  60  Pf.  festgesetzte  Tagelohn  wird  ent- 
sprechend den  Leistungen  des  Lehrlings  von  Zeit  zu  Zeit  er- 
höht und  steigt  während  der  Lehrzeit  bis  zu  1,50  M.  Von  diesem 
Lohne  wird  der  zehnte  Theil  als  Spargroschen  einbehalten. 
Die  Spargelder  werden  bei  geeigneten  Sparkassen  zinsbar  an- 
gelegt und  nach  Beendigung  der  Lehrzeit  ausgezahlt. 

Unfälle  von  englischen  Schiffen.  Nach  den  vom 
„Board  of  Trade“  veröffentlichten  Aufstellungen  über  die 
Unfälle,  die  englischen  Schiffen  in  der  Zeit  vom  1 . Juli 
1890  bis  30.  Juni  1891  begegnet  sind,  beträgt  die  Gesammt- 
zahl  der  Unfälle  6222,  d.  i.  623  unter  dem  Durchschnitte 
der  letzten  3 Jahre.  Die  Abnahme  fällt  auf  die  geringeren 
Unfälle  und  ist  in  der  Hauptsache  dem  Umstande  zuzu- 
schreiben, dass  die  den  Fischerbooten  zustossenden  Unfälle 
nicht  mehr  mitgerechnet  werden  An  schweren  Unfällen, 
die  den  gänzlichen  Verlust  des  Schiffes  mit  sich  brachten, 
werden  2469  verzeichnet,  d.  i.  3 weniger  als  im  Vorjahre 
und  1 1 weniger  als  im  Durchschnitt  der  letzten  3 Jahre. 
Bei  den  Schiffsunfällen  verloren  2081  Personen  das  Leben 
und  zwar  1491  Seeleute  und  590  Passagiere.  Bei  dem 
Untergange  der  „Utopia“  kamen  allein  555  der  letzteren 
ums  Leben.  Die  Zahl  der  in  den  letzten  15  Jahren  gänz- 
lich untergegangenen  Schiffe  stellt  sich  auf  9834,  der 
Durchschnittsverlust  also  auf  656.  Im  Ganzen  geht  aus 
der  in  Rede  stehenden  Uebersicht  hervor,  dass  die  Unfälle 
die  Tendenz  haben  abzunehmen.  Bemerkenswerth  ist  das 
Wachsen  der  Anzahl  der  gänzlich  verschwundenen  Segel- 
schiffe, welche  von  46  in  1888—89  und  26  in  1889—90  auf 
64  in  1890 — 91  stieg. 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Ende  des  Strike  von  Carmaux.  Die  von  Dupuy-Du- 
temps  eingebrachte  Interpellation,  deren  Inhalt  unseren 
Lesern  aus  der  vorigen  Nummer  dieser  Zeitschrift  bekannt 
ist,  hatte  — warum  sollte  das  Wort  nicht  gebraucht  wer- 
den? — die  Kapitulation  der  Grubengesellschaft  zur  Folge. 
Baron  Reille,  das  -Haupt  und  die  Seele  dieser  Gesellschaft, 
hat  nämlich  in  der  am  18.  Oktober  erfolgten  Eröffnungs- 
sitzung der  französischen  Kammer,  nachdem  er  aus  dem 
Verlaufe  der  Debatte;  die  sich  über  die  Interpellation  ent- 
spann, ersah,  dass  seine  Position  eine  verlorene  sei,  erklärt, 
dass  er  bereit  sei,  die  Strikeangelegenheit  einem  Schieds- 
richterspruch  zu  unterwerfen.  Dass  dieser  Schiedsrichter- 
spruch zu  Gunsten  der  Strikenden  lauten  wird,  stand  selbst 
für  Baron  Reille  von  vornherein  so  ausser  allem  Zweifel, 
dass  er  den  gleich  bei  Ausbruch  des  Strike  gestellten  An- 
trag auf  ein  Schiedsgericht  zurückwies.  Die  Grubengesell- 
schaft wähnte,  dass  wenn  der  Strike  nur  wenige  Tage  währt, 
die  Arbeiter,  gedrängt  durch  ihre  Nothlage,  reumüthig  zur 
Grube  zurückkehen  werden.  Wäre  sie  nicht  in  diesem 
Wahne  befangen  gewesen,  hätte  sie  sicherlich  schon  vor 
zwei  Monaten  gethan,  wozu  sie  sich  erst  jetzt  in  Folge  des 
Druckes  der  Kammer  entschloss,  da  ihr  jetziges  Nachgeben 
eine  moralische  Niederlage  ist,  aus  die  sie  sich  nur  schwer 
erheben  dürfte.  Dazu  kommt  noch,  dass  ihr  Verhalten 
während  dieses  Strike  viel  zur  Revision  der  gegenwärtigen 
Bergwerkgesetzgebung  beitragen  wird.  Ein  bezüglicher 
Antrag  auf  Aenderung  der  Berggesetze  von  1810  und 
1838,  der  dem  Staate  grössere  Rechte  als  bisher  auf 
die  Minengesellschaften  einräumt,  ist  bereits  eingebracht 


worden  und  wird  demnächst  zur  Verhandlung  gelangen. 
Haben  nun  auch  die  Grubenarbeiter  von  Carmaux  zwei 
Monate  im  Kampfe  um  ihr  Recht,  demjenigen  ihre 
Wahlstimmen  zu  geben,  den  sie  ihr  Vertrauen  entgegen- 
bringen, darben  müssen,  so  werden  sie  nun,  abgesehen 
von  ihrem  momentanen  Triumphe,  das  erfreuliche  Bewusst- 
sein haben,  durch  ihren  Kampf  zu  einer  sämmtlichen  Berg- 
arbeitern zu  Gute  kommenden  Reform  der  Bergwerkge- 
setzgebung beigetragen  zu  haben,  Ja  noch  mehr.  Ihnen 
wird  es  auch  zum  grossen  Theil  zu  danken  sein,  wenn  nun, 
wie  bereits  in  der  Kammer  angekündigt,  der  schon  längst 
eingebrachte  Entwurf  bezüglich  eines  Arbeits  - Schieds- 
richteramtes endlich  zur  Debatte  gebracht  und  zweifelsohne 
auch  zum  Gesetze  erhoben  werden  wird, 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Arbeitslosenunterstützung  unter  den  österreichischen 
Buchdruckern  Die  Frage  der  Centralisirung  der  Konditions- 
losenunterstützung  beschäftigt  jetzt  die  organisirten  Buchdrucker- 
gehilfen Oesterreichs.  Was  bis  nun  von  den  Vereinen  der 
einzelnen  Kronländer  geleistet  wurde,  geht  aus  der  folgenden 
Tabelle  hervor: 


T3  C C 

•j~«g 

9 

~ C 

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£ C 

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G 

V 

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H 

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«« 

Karenzzeit 

Wochen 

Anmerkung 

<u> 

S 

X.o 

Q 

Bukowina  . . . 

360 

55 

5 

4 

26 

Kärnten  .... 

225 

35 

4 

4-12 

26 

Salzburg  . . . 

220 

35 

5-10 

— 

52-104 

Als  Abreisegeld. 

Krain 

200 

45 

2,50-4 

6 

52 

Mähren  .... 

167 

60 

6,25 

12 

156 

^ Zur  Abreiseunterst. 

Oberösterreieh  . 

163 

60 

6,55 

12 

156 

1 nur  52W. Karenzzeit. 

Steiermark  . . . 

154 

60 

6 

12 

156 

Zur  Abreiseunterst. 

Schlesien  . . . 

153 

50 

5 

10 

104 

nur  26W. Karenzzeit. 

Böhmen  .... 

100 

55 

6-7 

12-24 

52 

Galizien  .... 

88 

35 

4-6 

4 

52 

T irol  - Vorarlberg 
Niederösterreicn 

85 

60 

50 

72 

66 

12 

12 

100 

52 

Vom  Gewerkverein  der  englischen  Dockarbeiter. 

Nachdem  in  Jahrg.  I,  No.  1 des  Sozialpolitischen  Central- 
blatts der  erste  Jahresbericht  der  Dock,  Wharf,  Riverside 
and  General  Labourers  Union  of  Great  Britain  and  Ireland 
einer  Besprechung  unterzogen  wurde,  soll  hier  nun  auch 
der  eben  erschienene  zweite  Jahresbericht  über  das  Jahr  1891 
besprochen  werden. 

Wie  sein  Vorgänger  beginnt  er  mit  einem  Bericht  des 
Generalsekretärs  Ben  Tillet  und  den  Rechnungsabschlüssen 
des  Centralfonds  und  der  Distrikte.  Es  folgt  ein  wesentlich 
statistischer  Theil.  Er  beginnt  mit  einer  Zusammenstellung 
der  mit  Hilfe  des  Vereins  errungenen  Vortheile  an  Lohn 
und  Arbeitszeit,  diesmal  aber  nicht  für  den  Gesammtverein, 
sondern  nur  für  diejenigen  Distrikte,  wo  nennenswerthe 
Erfolge  erzielt  sind,  Hüll,  Bristol  und  Swansea.  Einige 
aufgezählte  Fälle  illustriren  sodann  die  Hilfe,  welche  der 
Verein  durch  Unfall  geschädigten  Arbeitern  in  der  Rechts- 
verfolgung ihrer  Ansprüche  gewährte.  Statistische  An- 
gaben über  Schifffahrt  und  Schiffbau,  Waarenimport  und 
-export  folgen.  Den  Schluss  bildet  ein  Auszug  aer  Aus- 
sagen Ben  Tillet’s  und  des  Dockdirektors  Hubbard  vor  der 
Royal  Commission  on  Laböur.  Die  Ausstattung  des  64 
Seiten  starken  Bandes  ist  musterhaft. 

Der  Gesammteindruck,  den  man  erhält,  ist,  dass  auf 
das  Kampfjahr  1890,  trotz  des  niedergehenden  Verkehrs 
ein  Jahr  verhältnissmässiger  Ruhe  bei  nachlassender 
Kräfteanspannung  gefolgt  ist.  So  ist  die  Mitgliederzahl, 
die  1890  für  London  allein  24  500  betrug,  1891  für  den 
ganzen  Verein  auf  23  140  gesunken,  das  Jahreseinkommen 
von  über  24  000  Lstr.  auf  18  318  Lstr.  1 sh.  9 d.  Demgegen- 
über ein  erfreuliches  Gegenbild:  Die  Ausgaben  für  Stnkes 
betrugen  10  000  Lstr.  weniger  als  1890,  nämlich  4634  Lstr. 
11  sh.  2 d.  Dennoch  sind  mehrere  Strikes  von  grösserer 
Ausdehnung  vorgekommen,  hervorgerufen  durch  den  Kampf 
des  neuen  Unternehmervereins,  der  Shipping  Federation, 
gegen  die  Gewerkvereine  der  den  Dockern  nahestehenden 


46 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  4, 


Seeleute  und  Matrosen.  Infolgedessen  haben  sich  an  vielen 
Orten  die  verwandten  Gewerkvereine  zu  Federations  ver- 
bündet. Aus  den  Londoner  Distrikten  wird  von  vereinzeltem 
Wiederauftauchen  der  durch  den  grossen  Strike  von  1889 
beseitigten  Uebelstände  berichtet,  doch  geschieht  dies  nur, 
wo  die  Vereinsthätigkeit  und  das  Interesse  für  den  Verein 
nicht  lebendig  geblieben  ist.  Interessant  ist  der  Versuch 
des  Vereins,  durch  Organisation  der  ländlichen  Arbeiter 
deren  Zuzug  nach  den  Hafenstädten,  insbesondere  London 
zu  beschränken,  und  so  das  Angebot  für  Dockarbeit  zu 
verringern.  Es  sind  bereits  58  ländliche  Zweigvereine  ge- 
gründet, die  besonders  in  Lincolnshire  und  Oxfordshire 
guten  Erfolg  in  der  Verbesserung  der  Arbeitsbedingungen 
gehabt  haben. 

Man  kann  dem  Dockerverein  und  seiner  zielbewussten 
Leitung  nur  weiteres  Glück  in  seiner  vielseitigen  Thätigkeit 
wünschen. 

Lohnbewegnne:  der  Spinner  in  Lancashire.  Unter 
dem  Vorsitze  von  Mr.  Thomas  Ashton,  des  Präsidenten  der 
Gesellschaft  der  vereinigten  Baumwollspinner,  fand  am 
16.  Oktober  in  Manchester  eine  Versammlung  von  Dele- 
girten  statt,  welche  40  Millionen  Spindeln  der  Lancashire 
Baumwollindustrie  repräsentiren.  Zweck  der  Versammlung 
war  die  Besprechung  der  Berichte,  welche  von  den  ver- 
schiedenen Centren  von  Südost-Lancashire  bezüglich  der 
von  den  Unternehmern  beabsichtigten  Lohnreduktion  von 
5 pCt.  eingelaufen  waren.  Die  versammelten  126  Delegirten 
beschlossen  einstimmig,  die  Lohnreduktion  abzulehnen. 
Die  Vertreter  derjenigen  Arbeiter,  die  von  der  Lohn- 
reduktion nicht  berührt  werden,  erklärten,  dass  die  letzteren 
ihren  mit  der  Lohnherabsetzung  bedrohten  Kollegen  in 
ihrem  Widerstande  gegen  dieselbe  thatkräftige  Unterstützung 
angedeihen  lassen  würden. 


Unternehmerverbände. 


Nichtgenehmigung  eines  ländlichen  Unternehmer- 

verbandes  in  Sachsen.  Der  Landwirthschaftliche  Kreis- 
verein zu  Leipzig  hatte  kürzlich  den  Beschluss  gefasst, 
einen  Verband  zur  Besserung  der  ländlichen  Arbeiterver- 
hältnisse ins  Leben  zu  rufen.  Dass  man  bei  der  Begrün- 
dung dieses  Verbandes  viel  weniger  eine  Besserung  der 
Verhältnisse  der  ländlichen  Arbeiter  als  die  Beschaffung 
und  Erhaltung  möglichst  billiger  Arbeitskräfte  im  Auge  ge- 
habt hat,  lag  von  vornherein  klar  auf  der  Hand.  Wie  nun 
in  der  letzten  Versammlung  des  Kreisvereins  Leipzig  mit 
getheilt  wurde,  hat  das  sächsische  Ministerium  die  Statuten 
des  neubegründeten  Verbandes  nicht  genehmigt  und  auch 
auf  eine  zweite  Eingabe  einen  ablehnenden  Bescheid  er- 
theilt.  Man  beschloss  deshalb,  die  Gründung  des  Verbandes 
aufzugeben.  Gründe  für  die  Entschliessung  des  Ministe- 
riums sind  leider  in  den  Berichten  über  die  Versammlung 
nicht  mitgetheilt  worden. 


Handwerk  erfragen. 


Die  Statistik  der  deutschen  Innungen. 

Bisher  war  man  über  die  Zahl  der  Innungen  und 
deren  Mitglieder  auf  vage  Vermuthungen  angewiesen. 
Dass  die  Angaben  auf  den  Handwerkertagen  viel  zu  hoch 
gegriffen  waren,  wusste  man;  dass  die  ganze  Bewegung 
höchst  ungleichmässige  Erfolge  in  den  verschiedenen 
Theilen  des  Reichsgebietes  errungen  hatte,  gleichfalls;  aber 
unbekannt  war,  welchen  prozentualen  Antheil  an  der  Ge- 
sammtheit  der  deutschen  Handwerker  die  Innungsmitglieder 
ausmachten.  Durch  eine  dankenswerthe  Publikation  von 
Prof.  Stieda  im  „Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften“ 
ist  endlich  wenigstens  einiges  Licht  auf  diese  terra  incognita 
gefallen,  welche  wir  bereits  im  I.Jahrg.  S.  485  dieser  Zeit- 
schrift besprachen.  Stieda's  Tabelle,  welche  auf  Mittheilungen 


des  Reichsamts  des  Innern  beruht,  geht  für  Preussen  bis 
1890,  für  die  anderen  deutschen  Staaten  auf  1888  zurück. 

Als  Gesammtresultat  derselben  ergiebt  sich,  dass 
10  223  Innungen  mit  321  219  Mitgliedern  im  Deutschen  Reiche 
bestanden,  d.  h.  jede  derselben  umfasste  durchschnittlich 
nur  31  Mitglieder.  Indessen  besagen  die  Durchschnitts- 
ziffern recht  wenig;  da  das  Handwerk  technisch  in  viele 
stetig  zunehmende  Spezialfächer  und  territorial  in  noch 
mehr  lokale  Organisationen  zerfällt,  könnte  sehr  wohl  ein 
erheblicher  Theil  der  Kleingewerbetreibenden  trotzdem  in 
den  Innungen  inkorporirt  sein. 

Offenbar  ist  es  nun  der  Kernpunkt  des  ganzen 
Problems  von  der  Berechtigung  des  Innungs- 
wesens, festzustellen,  wie  hoch  dieser  Prozent- 
satz ist.  Herr  Prof.  Stieda  hat  eine  solche  Berechnung 
nicht  angestellt;  wir  wollen  eine  Schätzung  versuchen  auf 
Grund  der  Berufszählung  vom  5.  Juni  1882. 

Dabei  müssen  folgende  Fehlerquellen  vorab  angemerkt 
werden.  Zunächst  sind  in  Stieda’s  Tabelle  für  Bayern 
42  Innungen  mit  einer  unbekannten  Mitgliederzahl  einge- 
rechnet, welche  nicht  nach  der  Gewerbeordnung  reorga- 
nisirt  sind.  Mithin  ist  die  absolute  Zahl  um  etwas  zu  hoch, 
welchen  — jedenfalls  nicht  grossen  Fehler  — zu  Gunsten 
der  Innungen  wir  aber  wohl  vernachlässigen  dürfen.  Weiter 
liegt  die  Gewerbestatistik  für  Preussen,  welches  über  */■> 
aller  Innungsmitglieder  besitzt,  um  acht  Jahre  zurück,  für 
die  anderen  Staaten  um  sechs  und  seither  hat  sich  zweifel- 
los die  Zahl  der  Handwerker  beträchtlich  vermehrt.  End- 
lich — und  das  ist  das  schwerstwiegende  Bedenken  — 
kann  man  auch  die  Zahl  der  Handwerksbetriebe  in  1882 
nur  annähernd  und  nach  unsicheren  Merkmalen  feststellen. 
Allerdings  ist  die  Hausindustrie  ausgeschieden  — gegen 
frühere  Erhebungen  ein  bedeutender  Fortschritt!  — allein  , 
unter  den  Kleinbetrieben  mit  1 — 5 Gehilfen  giebt  es  eine 
ganze  Anzahl,  welche  der  Sache  nach  nicht  dem  Klein- 
gewerbe zuzurechnen  sind.  Dagegen  fallen  durchaus  unter 
die  letztere  Kategorie  die  Alleinbetriebe  ohne  Motoren  und 
sonstige  gehilfenlose  Betriebe.  Von  diesen  wurden  in 
1882  rund  2 Millionen  ermittelt.  Die  Unternehmungen, 
welche  nicht  mehr  als  5 Gehilfen  beschäftigten,  betrugen 
etwas  über  1 Million.  Zweifelsohne  steckt  in  diesen  der 
Kern  jener  Handwerker,  aus  denen  sich  die  Innungen  re- 
krutiren.  Wenn  wir  nun  die  oben  erwähnten  Fehlerquellen 
in  Betracht  ziehen,  so  ist  es  eine  jedenfalls  zu  niedrig 
gegriffene  Ziffer,  die  Gesammtzahl  der  deutschen  Hand- 
werker in  1890  auf  3 Millionen  Köpfe  zu  veran- 
schlagen. Sonach  würde  die  Zahl  der  Innungsmitglieder 
höchstens  10  pCt.  von  der  Gesammtheit  ausmachen  und. 
wie  Stieda  angiebt,  ist  dies  auch  die  Meinung  der  Agita- 
toren selbst! 

Dass  ein  solcher  Prozentsatz  kein  erheblicher  genannt 
werden  darf,  leuchtet  auf  den  ersten  Blick  ein,  und  im 
Lichte  dieser  Zahlen  gewinnt  die  Aktivlegitimation  der 
Zünftler,  im  Namen  „des  Handwerks“  zu  reden,  eine  sich 
selbst  ironisirende  Bedeutung.  Demungeachtet  Hesse  sich 
ein  ganz  sicheres  objektives  Urtheil  über  das  Gesammt- 
resultat der  „Bewegung“  wohl  gewinnen,  wenn  deren 
Ziffern  spezialisirt  nach  Berufszweigen  und  Landestheilen 
alljährlich  publizirt  würden.  Warum  dies  nicht  ge- 
schehen ist,  noch  geschieht,  ist  uns  unbekannt  und  kann 
gar  nicht  genug  bedauert  werden.  Es  ist  im  höchsten 
Grade  auffallend,  dass  es  erst  der  dankenswerthcn  Initiative 
eines  Gelehrten  bedurfte,  dieses  Dunkel  aufzuhellen  Wenn 
das  Reichsamt  des  Innern  keine  periodische  Zusammen- 
stellung und  Publikation  veranstalten  will,  so  wäre  es 
Sache  der  Innungsvorstände,  solches  zu  thun,  wie  dies  von 
Seiten  der  Gewerkschaften,  Gewerkvereine,  Genossen- 
schaften etc.  regelmässig  erfolgt.  Geschieht  das  nicht,  so 
ist'  der  Verdacht  nicht  unbegründet,  dass  die  Ergebnisse 
dieser  „Bewegung“  das  Licht  der  Oeffentlichkeit  nicht 
wohl  vertragen  können. 

Gehen  wir  nun  näher  auf  die  Stieda’sche  Tabelle  ein, 
so  ist  zuvörderst  die  territoriale  Vertheilung  der  In- 
nungen im  höchsten  Grade  interessant.  Wie  bereits  be- 
merkt, entfallen  auf  Preussen  über  2/3  der  Gesammtheit  und 


No.  4 


SOZIA1POLITISCHES  OENTRALBL.ATT. 


47 


zwar:  7823  Innungen  (davon  1828  neu  errichtete)  mit 

226  049  Mitgliedern.  Auch  innerhall)  der  Monarchie  ist 
jedoch  die  Ausbreitung  eine  ungleichmässige.  Weitaus 
überwiegen  die  Zahlen  im  Osten  des  Staatsgebietes.  Das 
Maximum  der  Innungen  weist  der  Regierungsbezirk  Pots- 
dam auf  mit  619  (davon  231  neu  errichtet);  an  Mitglieder- 
zahl übertrifft  ihn  noch  der  Regierungsbezirk  Breslau 
(19  938  gegen  18  265).  In  der  Mark,  Schlesien,  Posen  und 
Ostpreussen  wie  in  Merseburg  finden  sich  die  höchsten 
Relativzahlen.  Auffallend  ist  in  Schleswig  die  grosse 
■Zahl  der  Innungen:  356  (davon  nicht  weniger  als  144  neu 
errichtete)  bei  einem  mässigen  Mitgliederbestände  von  9145. 
In  Berlin,  wo  man  durch  die  Berichte  der  Gewerbedepu- 
tation des  Magistrats  Jahr  für  Jahr  die  Innungsbewegung 
genau  verfolgen  kann,  ist  ein  sehr  bescheidenes  Anwachsen 
um  300  Köpfe  vielleicht  alljährlich  zu  konstatiren,  das  jeden- 
falls mit  der  Vermehrung  der  selbständigen  Handwerks- 
meister nicht  Schritt  hält. 

Westwärts,  von  der  Elbe  sind  die  Erfolge  der  Be- 
wegung ganz  unbedeutende;  der  grösste  gewerbliche 
Distrikt  des  Kontinents,  Düsseldorf,  zählt  22  reorganisirte, 
105  neu  errichtete  Innungen  mit  insgesammt  6615  Mit- 
gliedern, Köln  hat  deren  gar  nur  2474,  Aachen  1864. 

In  den  ausserpreussischen  Gebieten  hat  das  König- 
reich Sachsen  besonders  hohe  Relativziffern:  1264  Innungen 
(davon  352  neu  errichtete)  mit  55  574  Mitgliedern,  weiter 
Mecklenburg-Schwerin  272  (75  neu  errichtete)  Innungen 
mit  5358  und  Hamburg,  wo  nur  3 Innungen  reorganisirt, 
dagegen  25  neu  konsiituirt  wurden  und  4258  Mitglieder  ge- 
zählt werden  konnten. 

Unbedeutend,  ja  geradezu  so  gut  wie  nicht  vorhanden 
sind  die  Innungen  in  Süddeutschland,  obwmhl  hier  gerade 
der  Wohnsitz  der  Hauptagitatoren  und  der  Ort  ihrer 
meisten  Tage  ist.  Bayern  zählt  138  neue  und  18  reorgani- 
sirte Innungen  mit  ganzen  11  144  Mitgliedern,  in  deren 
Zahl  noch  die  von  42  nicht  reorganisirten  Innungen  stecken  ; 
Würtemberg  hat  28  neue  Innungen,  die  gar  nur  1112  Mit- 
glieder zählen;  für  Baden  lauten  die  Ziffern  am  ungün- 
stigsten, 31  bezw.  1063.  Hier  hat  sich  die  Zünftlerschaar 
seit  1882  um  ganze  30  Köpfe  vermehrt! 

Für  die  Beurtheilung  der  ganzen  Kontroverse  ist  es 
von  einschneidender  Bedeutung,  zu  erfahren,  wie  die 
Innungsprivilegien,  welche  auf  Antrag  verliehen 
werden  können  (§§  lOOe  und  lOOf  der  R.- G.- O.)  in 
Anspruch  genommen  wurden.  Naturgemäss  tritt  dabei  der 
richtigere  § lOOe  (ausschliessliches  Recht  auf  Halten  von 
Lehrlingen)  in  den  Vordergrund,  während  § lOOf  überhaupt 
nur  in  138  Fällen  begehrt  wurde,  von  denen  wiederum  nur 
57  gewährt  wurden.  Diese  Verleihung  fand  ausschliesslich 
in  Preussen  statt  — nur  2 Innungen  im  Königreich  Sachsen 
erhielten  solche,  von  7,  welche  den  bezüglichen  Antrag 
stellten  und  ein  anderer  Fall  betraf  Reuss  jüngere  Linie. 
In  Hamburg  wurde  wenigstens  die  Verleihung  dieses 
Privilegs  von  einer  Innung  in  Anspruch  genommen,  jedoch 
abgelehnt,  die  starken  Mecklenburger  Innungen  stellten 
nicht  einmal  einen  bezüglichen  Antrag.  Ueberblickt  man 
dieses  winzige  Resultat,  so  wird  man  bekennen  müssen, 
dass  das  Gesetz  vom  6.  Juli  1887  so  gut  wie  gar  keinen 
Erfolg  gehabt  hat.  Es  ist  schwerlich  dadurch  für  die 
Innungen  eine  Erleichterung  ihrer  Einrichtungen  oder  ein 
indirekter  Beitrittszwang  zu  ihnen  eingetreten.  Auch 
scheinen  die  Innungen  selbst  ihm  nicht  hohen  Werth  bei- 
z ulegen. 

Von  ungleich  grösserer  Bedeutung  ist  der  § 100  c der 
R.-G.-O.  Dieser  Einbruch  in  das  Prinzip  unserer  Ge- 
werbegesetzgebung ist  gleichzeitig  als  eine  Art  ballon 
d’essai  zu  betrachten,  an  dem  die  Ansicht  der  Aufsichts- 
behörde über  die  Berührung  der  einzelnen  Innungen  fest- 
gestellt werden  kann.  Nun  wird  von  Seiten  der  Zünftler 
eine  gewisse  Willkür  bezüglich  der  Verleihung  dieses 
Privilegs  den  betreffenden  Behörden  mehr  oder  weniger 
verblümt  vorgeworfen.  Das  alte  deutsche  Recht  gewährte 
dem  Verurthedten  eine  Frist,  das  Urtheil  zu  „schelten“  und 
wir  möchten  dieses  Privileg  den  Innungen  gern  zugestehen. 
Indessen  ist  schon  im  Gesetz  aber  noch  mehr  im  Verwal- 


tungswege dabei  eine  Reihe  von  Kautelen  gegen  Willkür 
geschaffen  — so  hat  Sachsen  bestimmt,  dass  vorher  die 
Gutachten  der  bezüglichen  Gewerbekammer  und  des 
Innungsausschusses  eingeholt  werden  sollen.  Trotzdem  ist 
dort  gerade  die  Zahl  der  Genehmigung  des  § lOOe  eine 
auffallend  geringe.  Es  wurden  nämlich  68  Gesuche  gestellt, 
von  diesen  jedoch  nur  8 acceptirt.  Am  günstigsten  in 
dieser  Beziehung  hatten  es  die  Innungen  in  Anhalt.  Von 
den  92  Innungen  dieses  „Staates“  begehrten  59  das  Privileg 
aus  § lOOe  und  nicht  weniger  als  49  erlangten  es.  An  der 
j Spitze  marschirt  aber  Reuss  jüngere  Linie.  1 1 Innungen 
bestehen  daselbst,  5 davon  begehrten  und  erhielten  sämmt- 
lich  das  Privileg. 

Für  das  Deutsche  Reich  insgesammt  wurde  von  2965 
der  bezügliche  Antrag  gestellt  und  in  1190  Fällen  genehmigt. 
Das  ist  allerdings  ein  recht  ungünstiges  Resultat  dieser 
„Kraftprobe“,  besonders  wenn  man  sich  die  Zahl  der  In- 
nungen (10  223)  in's  Gedächtniss  zurückruft.  Ausserhalb 
Preussen’s  wurde  § lOOe  in  noch  nicht  100  Fällen  verliehen, 
wovon  die  Hälfte  auf  Anhalt  entfallen.  In  Preussen  selbst 
wurden  1758  Anträge  gestellt  und  1097  genehmigt.  - Hier 
haben  die  Innungen  also  relative  Erfolge  zu  verzeichnen, 
welche  freilich  ihre  Anhänger  in  keiner  Weise  befriedigen. 

Ueberblicken  wir  die  Resultate  im  Ganzen,  so  sind 
sie  recht  minimale  und  stehen  im  umgekehrten  Verhältnisse 
zu  dem  Lärm  der  Agitation.  Wir  hegen  deshalb  nicht  den 
geringsten  Zweifel,  dass  weder  die  bestehenden  noch  aber 
künftig  zu  schaffenden  Privilegien  den  Leichnam  des  In- 
nungswesens jemals  künstlich  zu  neuem  Leben  erwecken 
werden. 

Berlin.  Rudolf  Grätzer. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Schutzvorschriften  für  schulpflichtige  Kinder  in 
Altenburg.  Am  1.  November  d.  J.  tritt  für  die  Stadt  Alten- 
burg ein  Verbot  in  Kraft,  nach  dem  Kindern,  so  lange  sie 
der  Schulpflicht  nicht  vollständig  Genüge  geleistet  haben, 
das  Hausiren,  das  öffentliche  Feilbieten  von  Waaren,  sowie 
das  gewerbsmässige  Musikmachen  auf  Strassen,  Hausfluren, 
Restaurationen  etc.  verboten  ist. 

Schutz  der  Frauen-  und  Kinderarbeit  in  Belgien.  In 

den  ersten  Tagen  des  Oktober  trat  im  belgischen  Arbeits- 
ministerium in  Brüssel  der  oberste  Industrie-  und  Arbeits- 
rath zusammen,  um  die  Ausführungsbestimmungen  für  das 
im  Jahre  1889  erlassene  Gesetz  über  die  Frauen-  und 
Kinderarbeit  festzustellen.  Obgleich  drei  Jahre  hierzu  noth- 
wendig  waren,  dürfte  es  schwer  fallen  die  Notlwendigkeit 
dieser  Verzögerung  einzusehen.  Die  Beschlüsse,  welche 
auf  Grund  eines  Referates  des  belgischen  Delegierten  bei 
der  Berliner  Arbeiterschutzkonferenz  des  Barons  T'Kind  de 
Roodenbeke  gefasst  wurden,  lauten  folgendermassen : Kna- 
ben von  14  bis  15  Jahren  dürfen  Nachts  in  den  Gruben 
arbeiten,  die  Arbeit  von  Weibern  ist  während  der  Nacht 
in  der  liefe  der  Gruben  verboten;  in  den  Lampenhäusern 
der  Zechen  dürfen  weibliche  Personen  14  bis  21  Jahren 
arbeiten.  Die  tägliche  Weiberarbeit  in  den  Minen  ist  aut 
IOV2  Stunden,  1l/g  Stunden  Ruhezeit  eingeschlossen,  festge- 
setzt worden.  Knaben  von  12  Jahren  ab  dürfen  von  4 Uhr 
Morgens  ab  in  den  Minen  beschäftigt  werden.  Die  Dauer 
der  täglichen  Arbeitszeit  wurde  festgesfellt  für  Knaben 
von  weniger  als  16  Jahren  auf  9 Stunden  mit  P/2  Stunden 
Ruhezeit  und  für  weibliche  Personen  von  unter  21  Jahren 
auf  10  Stunden  mit  P/2  Stunden  Ruhezeit. 


48 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  4. 


Gewerbeinspektion. 


Aufsicht  über  die  Arbeiterverhältnisse  in  den  liskn 
lischen  Gruben  Preussens.  In  Preussen  waren  bisher  die 
fiskalischen  Gruben  und  Sahnen  in  bergpolizeilicher  Be- 
ziehung den  königlichen  Bergrevierbeamten  nicht  unterstellt, 
jedes  dieser  Werke  bildete  vielmehr  einen  Kevierbezirk  für 
sich,  in  welchem  der  Werksleiter  die  Funktionen  des  Revier- 
beamten wahrzunehmen  hatte.  Diesem  Verhältnisse  wurde 
durch  die  letzte  Revision  der  Gewerbeordnung  ein  Ende 
gemacht,  indem  dieselbe  die  Uebertragung  polizeilicher 
Befugnisse  in  einem  Betriebe  an  dessen  Leiter  verbietet. 
Künftighin  werden  daher  auch  die  fiskalischen  Gruben  und 
Salinen  in  bergpolizeilicher  Beziehung  den  ordentlichen 
Bergrevierbeamten  zu  unterstellen  sein,  und  ist  die  Abthei- 
lung für  Berg-,  Hütten-  und  Salinenwesen  des  Ministeriums 
für  Handel  und  Gewerbe  damit  beschäftigt,  die  Einordnung 
der  fiskalischen  Werke  in  die  Bezirke  der  Bergrevier- 
beamten vorzunehmen. 


Arbeiterversicherung. 


Verbände  von  staatlich  organisirten  Krankenkassen  in 
Deutschland.  In  dem  Entwurf  einer  Novelle  zum  Kranken- 
ver.sicherungsgesetze,  wie  ihn  die  verbündeten  Regierungen 
Ende  November  1890  dem  Reichstage  vorlegten,  war  auch  eine 
Bestimmung  enthalten,  nach  welcher  die  Aufsichtsbehörde  die 
Bildung  von  Kassenverbänden  zum  Zwecke  der  Anstellung  ge- 
meinsamer Beamten,  Abschliessen  von  Verträgen  mit  Apo- 
theken, Krankenhäusern,  Fürsorge  für  Rekonvaleszenten  u.  s.  w. 
anordnen  konnte.  Diese  Bestimmung  wurde  im  Reichstage 
gestrichen.  Es  ist  ist  demnach  auch  späterhin  den  Kassen  allein 
überlassen,  ob  sie  die  Verbände  bilden  wollen  oder  nicht.  Nun 
würde  in  der  That  das  materielle  Interesse  der  Kassen  selbst 
zu  solchem  Zusammenschluss  hindrängen,  wenn  nicht  häufig 
andere  Fragen  ins,  Spiel  kämen,  welche  einer  Entwickelung 
nach  dieser  Richtung  hinderlich  wären  So  berichtet  die 
„Apotheker-Zeitung“,  dass  gerade  mit  dem  Inkrafttreten  des 
neuen  Krankenversicherungsgesetzes  aus  dem  Berliner  Gewerks- 
krankenkassenvereine die  Ortskrankenkassen  der  Maurer,  Stell- 
macher, Nadler  und  Siebmacher,  Strumpfwirker,  Uhrmacher, 
Goldschmiede,  Sattler,  Vergolder,  Bildhauer  und  Lackirer  aus- 
zuscheiden beschlossen  haben.  Es  müssen  also  auch  gewisse 
Nachtheile  der  Vorstandsbihlung  vorhanden  sein,  von  denen 
freilich  noch  nichts  in  die  Oeffentliehkeit  gedrungen  ist. 

Kostspieligkeit  der  deutschen  Unfallberufsgenossen- 
scliaften.  Für  die  Kostspieligkeit  der  berufsgenossenschaft- 
lichen  Verwaltung  der  deutschen  Unfallversicherung  spricht 
ein  Antrag  den  die  Regierung  von  Schwarzburg-Rudolstadt 
an  den  Bundesrath  gerichtet  hat  und  der  dahin  geht  zu 
beschliessen , dass  die  staatlichen  Tiefbaubetriebe  des 
Fürstenthums  Schwarzburg-Rudolstadt  vom  1.  Januar  1893 
an  aus  der  Tiefbau-Berufsgenossenschaft  auszuscheiden  und 
vom  gleichen  Zeitpunkt  an  die  Unfallversicherung  bezüg- 
lich dieser  Betriebe  durch  den  Staat  Schwarzburg-Rudol- 
stadt zu  erfolgen  habe.  Als  Grund  für  diesen  Antrag  wird 
angegeben,  dass  die  an  die  Genossenschaft  zu  leistenden 
Beiträge  gegenüber  den  von  denselben  zu  gewährenden 
Renten  eine  unverhältnissige  Höhe  erreichen  und  über- 
dies damit  für  die  Behörden  geschäftliche  Weiterungen  ver- 
bunden sind,  deren  Beseitigung  aus  dienstlichen  Gründen 
geboten  erscheint.  Der  Vorstand  der  Genossenschaft  hat 
den  Antrag  abgelehnt,  die  fürstliche  Regierung  wendet  sich 
daher  an  den  Bundesrath  mit  Hinweis  auf  die  Annahme 
eines  gleichen  Antrages  des  Grossherzogthums  Hessen, 
der  auf  gleichen  Erwägungen  beruhte. 


welche  Beschlüsse  zu  fassen.  Aus  den  Berathungen  ging  her- 
vor, dass  die  Eisenbahn  verwaltung  die  hiesigen  Bahn  unter- 
beamten und  -Arbeiter  zu  besonderen  Kolonien  in  der  Weise 
vereinigen  will,  dass  jeder  Bewohner  der  Häuser  300  M.  auf  ein 
Mal  ober  in  Raten  von  30  Pf.  für  die  Woche  einzuzahlen  hat. 
Dieses  Geld  wird  ihm  verzinst  und  heim  Austritt  oder  Tod  voll 
zurückgezahlt.  Jedes  Haus  soll  vier  Wohnungen  enthalten  und_ 
ein  Morgen  Gartenland  ihm  beigegeben  werden.  Sämmtliche- 
Kolonisten  sollen  zu  einem  Konsumverein  vereinigt  werden. 
Die  Stimmung  der  hiesigen  Arbeiter  war  in  der  eingangs  er- 
wähnten Versammlung  keine  dem  Plane  günstige. 


Kellerwohnungen  in  Hamburg.  Nach  der  offiziellen 
Hamburger  Statistik,  die  allerdings  nicht  weiter  als  bis 
1885  (!)  reicht,  ist  in  den  Jahren  1880 — 1885  die  Zahl  der 
Kellerbewohner  um  91  pCt.  gestiegen.  Einzelne  Vororte 
weisen  eine  ganz  enorme  -Steigerung  auf.  So  hatten  Keller- 
bewohner 


1880 

1885 

Eimsbüttel 

. . 971 

1851 

Billw  Ausschlag  . . 

. . 963 

1370 

Rotherbaum  .... 

. . 671 

1282 

Hohenfelde  .... 

. . 748 

1107 

Barmbek 

. . 634 

935 

Borgfelde 

. . 429 

860 

Eilbek 

643 

Uhlenhorst  .... 

. . 348 

602 

Die  Gesammtzahl  der  Kellerbewohner  betrug  in  der 
Stadt,  Vorstadt  und  den  Vororten  31  436;  in  der  Stadt  und 
Vorstadt  wohnten  7,1 1 pCt.,  in  den  Vororten  6,55  pCt.  aller 
Bewohner  in  Kellern.  Unter  diesen  Umständen  musste  die 
Cholera  in  Hamburg  so  ausarten,  wie  es  der  Fall  gewesen 
ist,  und  die  armen  Bewohner  der  Kellergeschosse  dürften 
die  Hauptopfer  der  Seuche  geliefert  haben. 


Kriminalität. 


Gerichts-  und  Verbrecherstatistik  Irlands  für  das  Jahr 
1891.  Aus  dem  am  9.  Oktober  publizirten  Blaubuche  über  die 
Kriminalität  in  Irland  theilt  die  „Vossische  Zeitung“  die  folgenden 
Angaben  mit.  Nach  Weglassung  der  Anklagen,  welche  auf 
Grund  des  im  Jahre  1887  erlassenen  Spezialaktes  erhoben  worden, 
betrug  die  Gesammtzahl  der  strafrechtlichen  Verbrechen  und 
Anklagen  während  des  vergangenen  Jahres  238  027  oder  508,5  ‘ 
auf  10000  der  in  Mirte  des  Jahres  berechneten  Bevölkerung, 
gegen  240969  oder  510,7  auf  10  000  der  Bevölkerung  in  1890  und  ; 
einen  Durchschnitt  von  231576  oder  470,4  auf  10  000  der  ge-  J 
schätzten  durchschnittlichen  Bevölkerung  w'ährend  der  zenn 
Jahre  1881 — 1890.  Diese  Erhebung  zeigt  im  Vergleich  mit  den 
Zahlen  von  1890  eine  Verminderung  von  2.2,  für  10  000  Personen 
und  eine  Vermehrung  von  6451  Fällen  und  um  38,1  für  10  000  Per- 
sonen im  Vergleich  zu  dem  Durchschnitt  der  zehn  Jahre  Die 
nicht  vor  den  Polizeihöfen  abgeurtheilten  Vergehen,  d.  h.  die 
schweren  Verbrechen,  waren  geringer  als  die  in  irgend  einem 
der  vorhergehenden  zehn  Jahre,  und  sowohl  deren  Zahl  (5276), 
als  auch  deren  Verhältnis^  zu  der  veranschlagten  Bevölkerung 
(11,3  auf  10  €00)  war  bedeutend  unter  dem  entsprechenden 
Durchschnitt  dieser  Jahre.  Die  vor  den  Polizeihöfen  abgeur- 
theilten Vergehen  waren  etwas  geringer  als  die  Anzahl  der  in 
1890  verhandelten;  wenn  aber  die  Verminderung  in  der  Bevöl- 
kerung berücksichtigt  wird,  so  zeigen  dieselben  eine  Zunahme 
von  ungefähr  9 pCt.  im  Vergleich  mit  dem  Durchschnitt  der 
letzten  zehn  Jahre,  1881 — 90.  Von  den  232  751  Personen,  gegen 
welche  in  1891  summarisch  vorgegangen  worden  ist,  wurden 
34  775  entlassen  und  197  976  verurtheilt,  gegen  33  642  in  1890  Ent- 
j lassenen  und  202  038  Verurtheilten.  Von  den  Verurtheilten  waren 
! 166  094  männlichen  und  31  822  weiblichen  Geschlechts. 


Soziale  Hygiene. 


Wohnungszustände. 


Wohnungsk<louien  für  preussische  Staatshahnarbeiter. 

Eine  Versammlung  von  Unterbeamten  und  Arbeitern  der  königl. 
preussischen  Eisenbahn-Werkstätten  in  Posen  beschäftigte  sich 
dieser  Tage  mit  der  von  der  Eisenbahnverwaltung  beabsich- 
tigten Gründung  von  Arbeiterkolonien,  ohne  indess  irgend- 


Mangelhaftigkeit  der  Sanitätsverwaltung  in  Preussen. 

! Wie  es  das  Deutsche  Reich  unterlassen  hat,  einen  Verwaltungs- 
1 Organismus  für  wirksame  Gesundheitspflege  zu  schaffen,  so 
i krankt  die  Medizinalverwaltung  der  deutschen  Einzelstaaten  an 
vielen  Unterlassungssünden,  die  jetzt  nach  und  nach  anlässlich 
der  Cholera  von  Sachkundigen  aufgedeckt  werden.  Ueber  die 
Unzulänglichkeit  des  preussischen  Medizinalwesens  schreibt  der 
Kreisphysikus  Dr.  Max  Langerhaus  in  Hanckelsbüttel  in  der 
neuesten  Nummer  der  „Zeitschrift  für  Medizinalbeamte“:  „Es 


N<>.  4. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


49 


kann  dem  Kundigen  nicht  zweifelhaft  sein,  dass  die  jetzige 
Stellung  der  Medizinalbeamten  in  Preussen  ein  unüberwind- 
liches Hinderniss  abgiebt,  hei  dem  Bestreben  die  Seuche  zu  be- 
kämpfen. Denn  die  gewöhnliche  Berufstätigkeit  erfährt,  wie 
wir  es  in  der  Nähe  Hamburgs  zur  Genüge  erfahren  haben,  in 
solchen  Zeiten  eine  ungeahnte  Steigerung.  Die  zahlreichen, 
durch  das  Fortschreiten  der  Seuche  bedingten  Verordnungen 
und  Verfügungen,  die  Einrichtung  und  Ueberwachung  der 
Sanitätskornmission,  die  Ueberwachung  des  Personen-  und 
Güterverkehrs,  dazu  die  Nothwendigkeit  allerwärts  mit  pri- 
vater Initiative  vorzugehen,  hier  die  Säumigen  aufzurütteln, 
dort  die  Uebereifrigen  zurückzuhalten  und  die  Aengst- 
lichen  und  Aufgeregten  zu  beruhigen,  dazu  der  massenhafte, 
sich  bis  in  das  kleinste  Dorf  hinein  ergiessende  Strom  der 
Hamburger  Choleraflüchtigen,  dies  alles  nimmt  die  Zeit  der 
Medizinalbeamten  derart  in  Anspruch,  dass  die  dazu  kommende 
örtliche  Untersuchung  einiger  cnoleraverdächtiger  Fälle  an  ver- 
schiedenen Orten  eines  weitläufigen  Kreises  und  die  bak- 
teriologische Verarbeitung,  namentlich  die  rechtzeitige  Durch- 
musterung der  bei  der  grossen  Hitze  so  schnell  verflüssigenden 
Fäcesplatten  schon  sehr  hohe  Ansprüche  an  die  persönliche 
Leistungsfähigkeit  stellt.  Natürlich  muss  dabei  die  Privat- 
praxis empfindliche  Einbusse  erleiden,  für  welche  die  Ent- 
schädigung für  ein  paar  Dienstreisen  nur  einen  dürftigen 
Ersatz  gewähren  kann,  zumal  bei  den  jetzigen  Konkurrenzver- 
hältnissen eine  solche  Einbusse  nur  zu  leicht  dauernd  werden 
kann.“  Was  Noth  thut,  das  sei,  einen  eigenen  Medizinal- 
Beamtenstand  zu  schaffen,  dessen  Mitglieder  materiell  so 
zu  stellen  wären,  dass  sie  ihre  ganze  Zeit  den  amtlichen  Ob- 
liegenheiten widmen  könnten,  und  nicht  wie  jetzt  an  erster 
Stelle  auf  den  Ertrag  der  privaten  Praxis  angewiesen  wären 

Wirkungen  der  belgischen  Schankstätten  - Gesetz- 
gebung. Nach  kürzlich  veröffentlichten  amtlichen  Ausweisen 
bestanden  im  Jahre  1889  in  Belgien  185  036  Schankstätten 
Die  Wirkung  des  Gesetzes  vom  19.  August  desselben  Jahres, 
das  jede  neu  zu  eröffnende  Kleinverkaufstelle  geistiger  Ge- 
tränke je  nach  Einwohnerzahl  des  Ortes,  wo  sie  gegründet 
wird,  mit  einer  Erlaubnisssteuer  von  60  — 200  fr.  belegte, 
hatte  folgende  Wirkung:  Ende  1890  war  die  Zahl  der 

Wirthschaften  auf  169  258,  bis  zum  1.  März  1891  auf  160  399 
und  bis  zum  1.  März  1892  auf  155  141  gesunken.  In  kaum 
2l/u  Jahren  waren  also  29  895  Wirthschaften  von  der  Bild- 
flache  verschwunden.  Während  1889  noch  eine  Schank- 
stätte auf  32,9  Einwohner  entfiel,  kommt  gegenwärtig 
eine  solche  auf  39,1  Einwohner.  Die  Schankstätten  sind 
also  durch  eine  hohe  Steuer  vermindert,  ob  aber  auch  der 
Alkoholismus? 


Vermischtes. 

Deutsche  Gesellschaft  für  ethische  Kultur. 

Unter  diesem  Namen  ist  am  19.  d.  M.  ein  Verein  be- 
gründet worden,  welcher,  wie  wir  hoffen,  in  der  Entwicke- 
lung Deutschlands  eine  segensreiche  Rolle  spielen  wird. 
Seinen  obersten  Grundsatz  giebt  § 1 der  Statuten  an.  Der- 
selbe lautet: 

„Es  ist  der  Zweck  der  Gesellschaft,  im  Kreise  ihrer 
Mitglieder  und  ausserhalb  derselben  als  das  Gemeinsame 
und  Verbindende,  unabhängig  von  allen  Verschiedenheiten 
der  Lebensverhältnisse,  sowie  der  religiösen  und  politischen 
Anschauungen , die  Entwickelung  ethischer  Kultur  zu 
pflegen.  Unter  ethischer  Kultur  als  Ziel  ihrer  Bestrebungen 
versteht  die  Gesellschaft  einen  Zustand,  in  welchem  Ge- 
rechtigkeit und  Wahrhaftigkeit,  Menschlichkeit  und  gegen- 
seitige Achtung  walten.“ 

Am  18.  d.  M.  wurde  die  konstituirende  Generalver- 
sammlung durch  eine  Rede  des  Leiters  des  vorbereitenden 
Komitees,  des  Direktors  der  hiesigen  Sternwarte,  Geh.  Re- 
gierungsrath Prof.  Dr.  Förster,  eröffnet.  Der  Redner  gab 
der  Ueberzeugung  Ausdruck,  dass  der  gegenwärtige  Zu- 
stand unseres  Vaterlandes  die  Begründung  einer  Gesell- 
schaft für  ethische  Kultur  gebieterisch  fordere,  dass  unsere 
Zeit  der  Begründung  eines  solchen  Vereins  aber  auch 
ausserordentlich  günstig  sei.  Prof.  Förster  hofft,  dass  einst 
eine  Phase  erreicht  werden  wird,  in  welcher  „der  Kampf 
ums  Dasein  beendet,  nämlich  umgewandelt  sein  soll  in 


einen  Wetteifer  harmonischer  Kräfte  zur  Erringung  der 
grösstmöglichen  Vollkommenheit  und  des  grösstmöglichen 
Wohlstandes  für  Alle.“  Eine  sehr  lebhafte  Generaldiskussion 
schloss  sich  an,  welche  am  folgenden  Tage  fortgesetzt  wurde. 
Von  Seiten  nicht  nur  einiger  Vertreter  des  Proletariats, 
sondern  auch  einiger  Komiteemitglieder  wurden  dem  deut- 
schen Bürgerthum  bittere  Wahrheiten  gesagt.  Ein  Mann, 
welcher  nachher  zum  zweiten  Vorsitzenden  gewählt  wurde, 
der  Oberst  a.  I).  Hugo  von  Gizycki,  warf  ihr  in  einer 
zündenden  Rede  Feigheit  vor.  Wenn  das  Banner  der 
Tapferkeit,  des  „Bürgermuthes“,  welches  er  entrollte,  dem 
Verein  einige  Elemente  entfremden  wird,  so  wird  es  dem- 
selben doch  Tausende  zuführen,  welche  zu  ihm  gehören, 
einen  Theil  der  ethischen  Elite  des  deutschen  Volkes.  Der 
vorgelegte  Statutenentwurf  einer  ethischen  Gesellschaft, 
weicht  ihren  Wirkungskreis  durch  Zweiggesellschaften  auf 
ganz  Deutschland  ausdehnt,  wurden  en  bloc  angenommen. 
Darauf  konstituirte  sich  die  Gesellschaft,  und  die  Wahl 
des  Hauptvorstandes  fand  statt.  Prof.  Foerster  wurde  zum 
ersten  Vorsitzenden  gewählt;  zwei  Mitglieder  in  dem  aus 
15  Personen  (Herren  und  Damen)  bestehenden  Hauptvor- 
stande  sollen  Vertreter  des  Proletariats  sein.  Am  20.  d.  M. 
begannen  die  näheren  Berathungen  über  die  Bethätigung 
der  Gesellschaft  durch  Erörterungen  über  die  Hebung  der 
Jugenderziehung.  Der  Vorsitzende  hatte  Pläne,  welche  zur 
vollen  Reife  gediehen  wären,  noch  nicht  vorzulegen,  deutete 
aber  die  Absichten  des  Vorstandes  an.  Man  gedenkt 
ethische  Seminare  zu  begründen,  Preisausschreiben  für 
Unterrichtsbücher  zu  erlassen  und  ethische  Schulen  einzu- 
richten. Der  Vorstand  begrüsste  mit  Interesse  und  Sym- 
pathie den  Plan  eines  Mitgliedes,  Dr.  Martin  Keibel, 
Berlin  W.,  Kleiststr.  29,  eine  Schule,  deren  Tendenz  dem 
§ 1 der  Statuten  entspricht,  im  Januar  ins  Leben  zu  rufen. 
Dr.  Stanton  Coit’s  Worte  über  die  amerikanischen  und  eng- 
lischen ethischen  Schulen  und  Prof.  Foerster 's  Andeu- 
tungen über  die  Hebung  des  sittlichen  Niveaus  der 
Universitätsjugend  wurden  out  Enthusiasmus  aufgenommen. 
Einer  Berathung  über  die  Veranstaltung  von  ethischen  Vor- 
trägen und  Diskussionen  sowie  über  die  Pflege  von  weihe- 
vollen Wirkungen  der  Wissenschaft  und  Kunst  auf  die 
weitesten  Kreise  des  Volkes  schloss  sich  an.  Ein  Mitglied 
schlug  vor,  Vorträge  von  Männern  und  Frauen  der  ver- 
schiedensten politischen  und  religiösen  Richtungen  und  der 
verschiedensten  Lebensverhältnisse  halten  zu  lassen;  ein 
anderes  Mitglied  betonte,  dass  bei  der  Veranstaltung  von 
Vorträgen  neben  dem  belehrenden  Moment  das  sittlich  er- 
bauende nicht  aus  den  Augen  verloren  werden  dürfe.  Der 
Vorsitzende  stellte  sich  beiden  Vorschlägen,  die  ja  sehr 
wohl  harmoniren,  sympathisch  gegenüber.  Bestimmte  Be- 
schlüsse wurden  am  gestrigen  Tage  nicht  gefasst.  Heute 
Abend  soll  zum  Schlüsse  des  Kongresses  über  die  lite- 
rarische und  publizistische  Bethätigung,  sowie  hinsichtlich 
der  gegenüber  den  Uebelständen  der  gesellschaftlichen  und 
wirtschaftlichen  Verhältnisse  berathen  werden. 

Der  Vorstand  hatte,  mannigfachen  Missverständnissen 
gegenüber,  den  rein  ethischen,  religiös  und  politisch  neu- 
tralen Charakter  der  Gesellschaft  wiederholt  hervorzuheben. 
Dieselbe  will  die  Moral  auf  eigene  Füsse  stellen,  sie  wissen- 
schaftlich begründen,  und  überlässt  es  den  einzelnen  Mit- 
gliedern, ob  sie  den  ethischen  Bestimmungen  noch  eine 
religiöse  Basis  geben  wollen  oder  nicht.  Es  ist  nicht  ihre 
Absicht,  die  Kirche  anzugreifen.  Sollte  sie  indessen  in 
ihrem  rein  ethischen  Beginnen  von  Seiten  der  Kirche  an- 
gegriffen werden,  so  würde  sie  solchen  Uebergriff  auf  das 
Kräftigste  zurückweisen.  Von  dem  bisherigen  Verlaufe 
und  Ergebniss  der  Verhandlungen  ist  der  Vorstand  auf  das 
höchste  befriedigt  und  er  blickt  voller  Zuversicht  in  die 
Zukunft. 

Berlin,  den  21.  Oktober  1892. 

Georg  von  Gizvcki. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


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und  Förderung  Deutscher  Interessen  im  Auslande, 

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Redaktion  und  Expedition:  Berlin  W.,  Magdeburgerstrasse  36. 


Die  seit  1879  erscheinende  Wochenschrift  „Export“  ist  bestrebt,  die  Interessen 
des  deutschen  Exports  thatkräftig  zu  vertreten,  sowie  dem  deutschen  Handel  und  der 
deutschen  Industrie  wichtige  Mittheilungen  über  die  Handelsverhältnisse  des  Aus- 
landes in  kürzester  Frist  zu  übermitteln. 

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Ein  Lehr-  und  Handbuch 

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Dr.  Ludwig  Gumplowicz, 

Professor  in  Graz. 

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Der  Mangel  einer  Gesammtdarstellung  des  österreichischen  Staatsrechtes  hat  sich  in  den 
letzten  Jahren  insbesondere  in  Folge  einschneidender  Umgestaltungen  und  Neubildungen  auf  dem 
Gebiete  des  österreichischen  Verwaltungsrechtes  nicht  nur  in  Kreisen  der  Studirenden,  sondern 
auch  aller  derjenigen,  die  am  öffentlichen  Leben  theilnehmen,  fühlbar  gemacht.  Es  sei  nur 
darauf  hingewiesen,  dass  seit  den  jüngsten  Neuregelungen  des  Militärrechtes,  des  Gewerberechtes, 
des  Arbeiterschutzrechtes  noch  keine  Gesammtdarstellung  des  österreichischen  Staatsrechtes,  welche 
dieselben  berücksichtigen  würde,  erschienen  ist  und  dürfte  daher  obiges  Werk  den  mteressirenden 
Kreisen  gewiss  willkommen  sein. 


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Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil : O.  Schuchardt  in  Berlin. 


Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  31.  Oktober  1892. 


Nummer  5. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostinnter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


I.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung  . 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltcn^ 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


Statistik  und  Enquete.  Von 
Dr.  E.  Hirsehberg. 

Soziale  Wirthscliaftspolitik  n. 

Wirthscliaftsstatistik: 

Gesetzgeberische  Massnahmen  in 
Deutschland  betr.  Abzahlungs- 
geschäfte und  Wucher. 

Erhebung  wegen  Fortsetzung  der 
preussischen  Subhastationssra- 
tistik. 

Kommunale  Brotbäckerei  inLeipzig. 

Kommunale  Beschäftigung  für  Ar- 
beitslose in  Halle  a.  S. 

Statistik  der  norddeutschen  Berufs- 
genosscnschaft. 

Eine  Enquete  über  Arbeitsvermitt- 
lung in  Oesterreich. 

Ergebnisse  des  ungarischen  Zonen- 
tarifs. 

Arbeiterzustände : 

Die  Zustände  in  der  Badischen 
Anilin-  und  Sodafabrik  in  Lud- 
wigshafen a.  Rh. 

Arbeiterverhältnisse  in  Hamburg. 

Der  Fragebogen  zur  Aufnahme  der 
Arbeitslosenstatistik  in  Hamburg. 

Zur  Lage  der  Arbeiter  in  den 
Privat  Verkehranstalten. 


Zur  Lage  der  Kinderarbeit  in  Eng- 
land. 

Politische  Arbeiterbewegung : 

Der  Strike  in  Carmaux. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Internationaler  Gewerkschaftskon- 
gress einzelner  Berufe. 

Strike  wegen  vorgeschrittener  Ar- 
beitstheilung  und  L.ehrlingsbe- 
schäftigung. 

Die  Organisation  der  Buchdrucker- 
gehilfen in  Californien. 

Unternehmerverbände : 

Verband  deutscher  Ziegelwaaren- 
fabrikanten. 

Kartell  österreichischer  Ziind- 
waarenfabrikanten. 

Handwerkerfragen : 

Preisfestsetzungen  durch  Innungen. 

Ajrbeiterschntzgesetzgebung : 

Zur  Reform  des  Arbeiterschutzes 
in  Oesterreich.  Von  Dr.  Victor 
Adler. 

Vermischtes: 

Deutsche  Gesellschaft  für  ethische 
Kultur.  Von  Prof.  Dr.  Georg 
v.  Gizycki. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle, 


Statistik  und  Enquete. 


Es  giebt  verschiedene  Wege,  auf  denen  man  eine 
Darstellung  bestehender  Thatsachen  bewirken  kann,  aber 
keiner  pflegt  als  so  sicher  angesehen  zu  werden,  wie  der 
der  Statistik.  Hier  lässt  man  statt  eigener  Anschauungen 
und  Urtheile  die  Thatsachen  selber  sprechen.  Man  führt 
die  Zahlen  vor,  und  die  Zahlen  reden.  Ganz  gewiss  ist 
diese  Darstellungsform,  wenn  auch  nicht  immer  die  an- 
sprechendste, so  doch  die  objektivste.  Eine  wahre  Statistik 
soll  die  Thatsachen  eigentlich  nur  in  systematischer  Ord- 
nung aufreihen,  sich  jedes  resumirenden  Zusatzes  aber  ent- 
halten. Nur  so  würde  sie  von  vornherein  auch  die  blosse 
Möglichkeit  einer  Tendenz  ausschliessen. 

Nun  ist  dies  freilich  nicht  ganz  leicht  und  überhaupt 
nicht  immer  thunlich.  Die  Publikation  gewonnener  Zahlen- 


ergebnisse in  jeder  denkbaren  Kombination  ausführlich  vor- 
zulegen liegt  fast  ausserhalb  der  Möglichkeit.  Kein  statis- 
tisches Amt  würde  über  die  hierzu  nöthigen  Mittel  ver- 
fügen. Und  wäre  es  auch  der  Fall,  würden  diese  Aemter 
thatsächlich  ganze  Reihen  von  Bänden  mit  nackten  Zahlen 
publiziren,  so  würde  das  dieselben  benutzende  Publikum 
hiermit  kaum  zufrieden  sein.  Die-  Anschaffung  solcher 
Werke  wäre  für  den  Privatmann  nur  selten  möglich,  auch 
für  Bibliotheken  umständlich,  und  die  öffentliche  Benutzung 
praktisch  mit  grossen  Schwierigkeiten  verknüpft. 

So  bleibt  denn  nichts  übrig,  als  die  Zahlen  in  ein  ge- 
wisses enger  begrenztes  System  zu  bringen.  Es  kann 
allerdings  nicht  geleugnet  werden,  dass  die  Statistik  damit 
aus  ihrer  objektiven  Aufgabe  schon  etwas  heraustritt.  Hier 
ist  es  dann  ihre  Pflicht,  das  richtige  Mass  zu  halten;  kann 
auch  nicht  Alles  publizirt  werden,  so  kann  doch  jede  be- 
stimmte Tendenz  bei  dem  Aufbau  der  Tabellen  und  der 
Art  ihrer  Umrechnung  in  relative  Zahlen  (Verhältnisssätze) 
vermieden  werden.  Dies  macht  die  statistischen  Werke  oft 
wenig  anregend , ist  aber  ein  Zeichen  ihrer  Integrität. 
Der  weiteren  Verarbeitung  in  der  Presse  mag  es  über- 
lasseh  bleiben , das  Gebotene  nach  einer  gewünschten 
Richtung  hin  zu  verarbeiten.  Man  kann  auch  sagen,  dass 
die  amtlichen  Statistiken  zur  Zeit  im  Allgemeinen  ihre  ob- 
jektive Richtung  wahren.  Etwas  freier  natürlich  sind  die 
halb  amtlichen  Abhandlungen  gehalten,  welche  in  den  von 
einzelnen  Aemter n herausgegebenen  Zeitschriften,  Jahr- 
büchern, Berichten  enthalten  sind. 

Die  amtliche  Statistik  geniesst  daher  heute  ein 
grosses  Ansehen,  welches  das  der  privaten,  meist  schon 
etwas  subjektiven  Statistiken  weit  übertrifft.  Allerdings 
hört  man  nicht  selten  den  Tadel,  die  amtliche  Statistik  sei 
zu  trocken,  sie  erleichtere  dem  Bearbeiter  zu  wenig  die 
Benutzung  der  Quellen,  die  prozentualen  Berechnungen 
seien  nicht  reichhaltig  genug,  und  interessanter  Text  fehle, 

| und  was  der  Vorwürfe  mehr  sind.  Das  grosse  Publikum 
wird  sich  indessen,  wenn  es  die  Statistik  weiter  vor  tenden- 
ziöser Bearbeitung  bewahren  will,  daran  gewöhnen  müssen, 
dass  die  Benutzung  statistischer  Quellen  nun  einmal  mit 
einer  gewissen  rechnerischen  Mühe  meist  auf  Grund  tech- 
nischer Vorkenntnisse  verbunden  ist.  Schon  die  Mittheilung 
unvollständiger  relativer  Berechnungen  ohne  einen  weiteren 
erklärenden  Text  kann  die  unparteiische  Leistung  beein- 
trächtigen. Z.  B.  würde  die  Berechnung  der  Verwaltungs- 
kosten in  Prozenten  aller  Ausgaben  verschiedener  Ver- 
sicherungskassen  leicht  zu  deih  Einwand  führen,  dass  diese 
Vergleichung  unzulänglich  sei,  da  der  Vcrwaltungsauiwand 
der  einzelnen  Kassen  auch  von  ihrer  Grösse  abhängig,  also 
noch  eine  Vertheilung  pro  Kopf  des  Mitgliedes  erforderlich 


52 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  5. 


sei ; und  umgekehrt  würde  diese  letztere  Berechnung,  allein 
angestellt,  dem  Einwand  Kaum  geben,  dass  doch  auch  die 
prozentuale  Vertheilung  innerhalb  aller  Ausgaben  nöthig 
sei,  da  man  erst  hieraus  entnehmen  könne,  was  die  Kasse 
im  Verhältniss  zu  ihren  sonstigen  Leistungen  tür  die  Ver- 
waltung aufwende 

Dieser  thatsächlichen  Lage  der  amtlichen  Statistik 
gegenüber  findet  sich  nun  aber  das  weit  grössere  An- 
forderungen stellende  Bedürfniss  nach  statistischen  An- 
gaben. Diesem  genügt  die  bestehende  Art  der  statistischen 
Quellen  wenig.  Es  wird  schon  mehr  als  die  objektive  Dar- 
bietung von  Thatsachen,  es  wird  ein  fertiges  Bild  verlangt. 
Dazu  kommt,  dass  unsere  vorhandene  Statistik  noch  recht 
jung  ist,  sich  verhältnissmässig  noch  auf  wenig  Materien 
erstreckt  und  in  sehr  vielen  auftauchenden  Fragen,  ver- 
sagt. Nun  lässt  sich  aber  eine  fehlende  Statistik  im  Be- 
darfsfälle nur  selten  ergänzen.  Sehr  oft  ist  es  überhaupt 
unmöglich,  einmal  unterlassene  Zählungen  oder  statistische 
Aufzeichnungen  nachzuholen.  Die  Statistik  ist  so  sehr  eine 
Darstellung  von  Thatsachen,  dass  sie  da  auf  hört,  wo 
diese  sich  der  Wahrnehmung  entzogen  haben.  Ueber  die 
Zahl  der  Geburten,  Sterbefälle  vergangener  Zeiten  liegt 
z.  B.  nur  geringes  statistisches  Material  vor,  ohne  dass  es 
möglich  ist,  dies  durch  nachträgliche  Aufnahmen  zu  er- 
weitern. Ein  umsichtiger  Statistiker  muss  daher  oft  genug 
Material  sammeln,  auch  ohne  dass  dessen  sofortige  Ver- 
w-erthung  fiothwendig  erscheint.  Andererseits  ist  es  trotz 
der  theoretischen  Möglichkeit,  eine  bestimmte  wünschens- 
werte Erhebung  anzustellen,  aus  irgend  welchen  prak- 
tischen Erwägungen  oft  unthunlich,  eine  solche  zu  veran- 
stalten. Zur  Durchführung  einer  statistischen  Erhebung 
gehören  Zeit,  Geld,  die  geeigneten  Personen  zur  Befragung 
wie  zur  Bearbeitung  und  eine  gevyisse  Garantie  ihres  Ge- 
lingens, soweit  dies  vorher  zu  übersehen  ist. 

Nun  hat  man  längst  in  Fällen,  in  denen  eine  wirk- 
liche statistische  Aufnahme  unmöglich  war,  oder  unthun- 
lich, oder  unbequem  erschien,  zu  dem  Auskünfsmittel  der 
Enquete  gegriffen.  Man  hatte  in  derselben  eine  Handhabe 
gefunden,  das,  was  die  Statistik  mühsam  durch  Einzelbe- 
fragung erringen  muss,  durch  Gesammtgutachten  von  als 
massgebend  erscheinenden  physischen  oder  juristischen 
Persönlichkeiten  zu  ersetzen.  Man  liess  sich  das  Bild,  das 
aus  statistischen  Ziffern  erst  mosaikartig  zu  einem  Ganzen 
mühsam  vereinigt  und  dann  noch  richtig  betrachtet  werden 
will,  seitens  der  Vertrauenspersonen  gewissennassen  schon 
fertig  darbringen  und  in  die  richtige  Beleuchtung  rücken. 

Es  ist  eben  ein  zwar  noch  immer  verbreiteter,  aber 
daruip  desto  nachdrücklicher  zu  bekämpfender  Irrthum, 
als  ob  Statistik  und  Enquöte  dasselbe  wäre.  Statistik  ist 
die  Darstellung  von  Thatsachen  in  Zahlenform,  Enquete 
ist  die  Darstellung  von  Gutachten  über  Thatsachen.  Dass 
auch  sie  sich  meist  in  Zahlenform  giebt,  ist  der  Haupt- 
anlass ihrer  Verwechselung  mit  der  Statistik.  Es  macht 
doch  offenbar  einen  Unterschied  aus,  ob  z.  B.  eine  wirk- 
liche Zählung  der  Armen  einer  Stadt  und  der  ihnen  ge- 
gebenen Unterstützungen  für  die  einzelnen  Jahre  erfolgt, 
oder  ob  die  Behörden  gefragt  werden,  ob  die  Armenziffer 
und  die  Armenlast  in  den  betreffenden  Jahren  gestiegen 
oder  gefallen  ist,  und  in  welchem  Masse;  es  macht  einen 
Unterschied,  ob  man  Arbeiter  nach  den  von  ihnen  ver- 
dienten Löhnen  auszählt,  oder  ob  man  Sachverständige 
pach  den  Löhnen  fragt,  welche  ein  Zimmermann,  ein 
Tischler,  ein  Maurer  in  einer  bestimmten  Stadt  oder  in 
einem  bestimmten  Betriebe  in  der  Regel  zu  erhalten  pflegt. 

Ein  anderer  Grund  des  Konfundirens  von  Statistik 
und  Enquete  ist  darin  zu  suchen,  dass  die  letztere  sich  oft  als 
Statistik  ausgiebt,  dass  sie  behauptet,  Thatsachen  darzu- 
.stellen,  während  sie  nur  Meinungsäusserungen  über  das 


Vorhandensein  solcher  vorbringt.  Eine  Enquete  kann 
manchmal,  wenn  eine  Statistik  nicht  anzustellen  möglich 
ist,  recht  nützlich  sein;  aber  dringendes  Erforderni.sk  ist 
stets,  dass  sie  sich  nur  als  das  giebt,  was  sie  ist,  und  dass 
die  aus  ihr  gezogenen  Folgerungen  nie  den  subjektiven 
Charakter  der  Aufnahme  vergessen.  Denn  die  Objektivität, 
welche  der  Statistik  inne  wohnt,  und  welche  ihr  vorzugs- 
weise die  Bedeutung  giebt,  ist  eben  bei  der  Enquete  so 
wenig  vorhanden,  dass  man  direkt  sagen  kann:  die  Statistik 
ist  objektiv,  die  Enquete  ist  subjektiv. 

Den  besten  Ausdruck  für  die  durch  eine  Enquete  zu 
erreichende  Darstellung  hat  s.  Z.  der  Herausgeber  der  Re- 
sultate der  vom  Verein  für  Sozialpolitik  angestellten  Wucher- 
enquete gefunden,  indem  er  die  eingegangenen  Gutachten 
der  verschiedenen  als  sachverständig  erachteten  Männer  als 
„Stimmungsbilder“  bezeichnete.  Wer  die  Schwächen  einer 
Enquöte  kennen  lernen  will,  braucht  in  der  That  nur  jene 
Stimmungsbilder  durchzusehen.  Als  Bilder  von  der  Stim- 
mung der  einzelnen  Gutachter  mögen  sie  nicht  ohne  allen 
Werth  gewesen  sein,  für  die  Wissenschaft  dagegen  war 
die  Kenntniss  der  Stimmung  der  Gutachter  schon  darum 
ziemlich  belanglos,  weil  diese  selbst  vorwiegend  eine 
wissenschaftliche  Bedeutung  in  der  fraglichen  Materie  nicht 
hatten. 

Nun  befindet  man  sich  freilich  vielfach  in  der  Meinung, 
die  von  den  befragten  Gutachtern  erlangte  Aeusserung  sei 
eine  typische,  oder  — wenn  man  statt  eine  allgemeine 
statistische  Erhebung  anzustellen  — einzelne  Ortschaften 
j bei  einer  Enquete  in  Betracht  gezogen  hat,  diese  Ortschaften 
! seien  Typen.  Es  kann  auch  gar  nicht  geleugnet  werden, 
dass,  wenn  dem  so  wäre,  die  Bedeutung  solcher  Aufnahme 
i grösser  wäre  und  an  Werth  einer  Statistik  nahe  käme. 
Aber  es  ist  in  den  weitaus  meisten  Fällen  nichts  als  eine 
leere  Vermuthung,  dass  die  betreffenden  Ortschaften  wirk- 
lich typisch  sind.  Eigentlich  und  vorwiegend  soll  eben 
erst  aus  einer  Aufnahme,  sei  sie  statistischer  Natur  oder 
welcher  Eigenschaft  sonst,  hervorgehen,  was  als  typisch  zu 
betrachten  ist.  Es  beruht  auf  einer  argen  Selbsttäuschung, 
wenn  beispielsweise  unlängst,  um  die  Frage  der  Einwirkung 
der  neuen  sozialpolitischen  Gesetzgebung  auf  die  Armen- 
pflege aufzuklären,  an  eine  Anzahl  von  Armenverbänden 
sehr  ausgedehnte  Fragebogen  verschickt  wurden,  und  be- 
hauptet wurde,  diese  Verbände  seien  die  typischen. 
Welches  die  Typen  sind,  hätte  nur  eine  allgemeine  ausge- 
dehnte Statistik  ergeben  können.  Aber  angenommen  selbst, 
die  befragten  Verbände  wären  die  typischen,  wo  bleiben 
denn  die  Ausnahmen?  Gerade  diese  sind  es  häufig,  welche 
zumeist  interessiren.  Gerade  der  Abweichungen  vom  Durch- 
schnitt wegen  werden  oft  genug  Erhebungen  angestellt. 
Bei  einer  Enquete  über  Wohnungs-,  über  Sanitätsverhält- 
nisse interessiren  nicht  der  Durchschnitt,  nicht  der  Typus 
einer  bestimmten  Stadt,  sondern  mehr  die  Extravaganzen 
nach  oben  und  nach  unten  hin.  Dass  übrigens  jeder 
einzelne  befragte  Gutachter  über  alle  Thatsachen  in  seinem 
i Bezirk,  nicht  nur  über  die  Durchschnitts-,  sondern  auch 
.über  die  Ausnahme  Verhältnisse  so  orientirt  ist,  dass  seine 
Meinungsäusserung  die  objektive  statistische  Aufnahme  er- 
setzen kann,  wird  nur  selten  der  Fall  sein. 

Aber  die  Subjektivität  einer  Enquöte  wird  auch 
durch  einen  anderen  Umstand  noch  bedeutend  vermehrt, 
nämlich  dadurch,  dass  sie  in  der  Regel  erst  angestellt 
wird,  wenn  man  sie  für  irgend  einen  bestimmten  Zweck 
braucht.  Das  ist  ein  Fall,  in  welchem  auch  die  Statistik 
zu  schiefen  Resultaten  führen  kann.  Z.  B.  stände  in  einer 
Stadt  die  Besteuerung  von  Luxuspferden  in  Frage  und,  um 
den  eventuellen  Steuerertrag  zu  ermitteln,  erfolge  eine  Auf- 
nahme’. Ist  dieser  Zweck  bekannt,  so  wird  von  vornherein  zu 
fürchten  sein,  dass  die  Zahl  der  Luxuspferde  gegenüber 


No.  5. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


53 


der  Zahl  der  Arbeitspferde  zu  gering  ausfällt.  Diese  Ge- 
fahr läge 'bei  einer  ganz  tendenziösen  Aufnahme,  welche 
vielleicht  alljährlich  stattfindet,  ohne  Absicht  einer  Be- 
steuerung, nur  um  diese  Verhältnisse  klar  zu  legen, 
nicht  vor. 

Ginge  man  hier  nun  gar  auf  dem  Wege  der  Enquete 
vor,  etwa  so,  dass  man  einzelne  Sachverständige  um  ihre 
Meinung  hinsichtlich  der  Pferdezahl  befragt,  so  wird  die 
dann  erfolgende  Meinungsäusserung  um  so  weniger  objektiv 
erscheinen,  io  mehr  die  Einwirkung  der  öffentlichen  Dis- 
kussion, sowie  die  Stellung,  der  Charakter,  die  politische 
und  wirtschaftliche  Ansicht  des  Gutachters  mitzusprechen 
scheinen. 

Hierzu  kommt,  dass  man  sich  bei  einer  Enquete  selten 
auf  einige  präcise  Fragen  beschränkt  und  wohl  auch  nur 
selten  beschränken  kann.  Was  aber  auf  einer  Einzelzähl- 
karte .durch  Beantwortung  der  Fragen  eine  einfache  Nieder- 
legung  objektiver  Thatsachen  wird,  das  gestaltet  sich  zu 
einem  subjektiven  Bericht,  sobald  nicht  mehr  nach  diesen 
Hunderten  und  Tausenden  von  Einzelthatsachen,  sondern 
nach  zusammengesetzten  Verhältnissen  gefragt  wird. 
Während  es  Aufgabe  der  Statistik  ist,  aus  der  Summe  der  i 
gefundenen  Thatsachen  ihre  Schlüsse  zu  ziehen,  fragt  die 
Enquete  oft  bereits  nach  den  Schlüssen,  welche  die  einzelnen 
Gutachter  ihrem  Wissen  nach  glauben  ziehen  zu  können. 
Wenn  z.  B.  in  den  Fragebogen  des  Vereins  für  Sozial- 
politik über  ländliche  Arbeiterverhältnisse  gefragt  wird: 

,, Wandern  viele  ländliche  Arbeiter  aus?  in  die  Städte  und 
Industriebezirke?  ins  Ausland?“  oder  „Zeigt  sich  bei  den 
Arbeitern  Neigung  zum  Sparen?“,  so  liegen  hier  Fälle  vor, 
wo  nur  objektiv  statistisch  zu  beantwortende  Fragen  durch 
Urtheile,  durch  subjektive  Meinungsäusserungen  beantwortet 
werden  sollen. 

Ist  nun  im  Vorstehenden  wesentlich  theoretisch  ver- 
sucht worden,  den  Unterschied  zwischen  Statistik  und 
Enquete  begrifflich  festzustellen,  so  dürfte  doch  auch  die 
praktische  Bedeutung  dieser  Terminologie  bemerkbar  ge- 
worden sein.  Es  dürfte  sich  gezeigt  haben,  dass  es  nicht 
ohne  Belang  ist,  ob  man  bestehende  Verhältnisse  an  der 
Hand  dieser  oder  jener  Untersuchungsmethode  darstellt. 
Sogar  das  wird  sich  ohne  Weiteres  ergeben  haben,  dass 
die  Enquete,  als  die  minderwerthige  Methode,  welche  nur 
subjektive  Gutachten  nicht  aber  objektive  Resultate  schafft, 
höchstens  ein  Ersatzmittel  der  stets  objektiven  Statistik 
darstellen  kann. 

Hält  man  dieses  aber  fest,  so  wird  man  bei  Beob- 
achtung der  gegenwärtigen  Sachlage  in  den  verschiedenen 
Ländern  zu  der  Ansicht  kommen,  dass  die  Enquete  auf 
Kosten  der  Statistik  und  zum  Schaden  nicht  nur  dieser 
Wissenschaft,  sondern  auch  der  jeweilig  in  Frage  stehenden 
Untersuchung  leider  zu  häufig  bevorzugt  wird. 

Die  Gründe  dieser  Erscheinung  liegen  gewiss  zum 
Theil  in  der  Unvollkommenheit  der  heutigen  Statistik.  Auf 
vielen  Gebieten  noch  verhältnissmässig  wenig  entwickelt, 
vermag  sie  dem  Forscher  nicht  die  nöthigen  Dienste  zu 
leisten,  namentlich  dann  nicht,  wenn  er  glaubt,  sich  über 
gewisse  Verhältnisse  sehr  schleunig  informiren  zu  müssen 
und  auf  dem  Wege  der  Enquete  auch  informiren  zu 
können. 

Zum  anderen  Theile  spielt  eine  ziemlich  verbreitete 
Unkenntniss,  wenn  auch  vielleicht  noch  nicht  so  sehr  mit 
den  Aufgaben  und  dem  Wesen  als  mit  der  eigentlichen 
Handhabung  und  Praxis  der  Statistik  mit.  Die  Gelegenheit 
zur  Unterweisung  in  der  praktischen  Statistik  ist  eben  nur  j 
verhältnissmässig  selten  vorhanden  und  wird,  wo  sie  vor- 
handen ist,  nur  verhältnissmässig  selten  wahrgenommen. 
Als  besonderes  Prüfungsfach  pflegt  die  Statistik  heute  ! 
weder  in  den  juristischen  noch  mathematischen  Fächern  zu  i 


erscheinen.  So  begegnet  man  in  der  Gesetzgebung  und  in 
der  Verwaltung  einer  gewissen  Ignorirung  der  statistischen 
Thätigkeit  und  ihrer  Aufgaben.  Nur  selten  wird  ein  neues 
Gesetz  erlassen,  von  dem  man  sagen  kann,  dass  es  einer- 
seits auf  den  nöthigen  statistischen  Vorarbeiten  gegründet 
ist,  andererseits  selbst  dafür  Sorge  getragen  hat,  dass  seine 
Wirkungen  in  geeigneten  statistischen  Aufstellungen  ver- 
folgt werden.  So  wäre  es  z.  B.  leicht  gewesen,  gelegentlich 
des  neuen  Genossenschaftsgesetzes  sowohl  die  vorhandene, 
zwar  recht  gute,  aber  immer  noch  lückenhafte  Statistik  zu 
ergänzen,  als  auch  ein  gewisses  Mass  statistischer  Notizen 
zu  schaffen.  Die  Versicherungsgesetze  haben  freilich  in 
sich  schon  Bestimmungen  über  Statistik  aufgenommen,  aber 
die  Durchführung  derselben  sowie  ihre  Ausnutzung  lässt 
noch  vieles  zu  wünschen  übrig.  Die  Zahl  dieser  Beispiele 
Hesse  sich  leicht  vermehren,  würde  aber  in  statistische 
Details  führen. 

Es  genügt  darauf  hinzuweisen,  dass  die  bessere  Aus- 
bildung und  die  grössere  Ausdehnung  der  Verwaltungs- 
statistik sehr  oft  gute  Mittel  sind,  den  Nothbehelf  der  En- 
quete zu  vermeiden  und  zu  den  nothwendigen  statistischen 
! Zahlenangaben  zu  gelangen.  Es  wäre  gar  nicht  nöthig, 
die  Bevölkerung  durch  Umfragen  häufiger  zu  belästigen, 
wenn  bereits  die  einzelnen  Verwaltungen  durch  Führung 
regelmässiger  Statistiken  immer  ihre  Schuldigkeit  thäten. 
Andererseits  würde,  wenn  die  jetzt  sehr  überhand  nehmen- 
den, von  Behörden,  Vereinen,  Privaten  über  alle  möglichen 
Verhältnisse  angestellten  Gelegenheitsenqueten  seltener  vor- 
kämen, die  statistische  Forschung  mehr  zu  ihrem  Rechte 
kommen  und  gründliche  Untersuchungen  an  Stelle  ober- 
flächlicher, nur  scheinbar  orientirender  Informationen  treten. 

Schliesslich  ist  es  immer  noch  besser,  sein  Nichtwissen 
auf  einem  Gebiete  einzugestehen,  als  sich  auf  Grund  mangel- 
hafter Forschungen  für  orientirt  zu  halten. 

Berlin.  E.  Hirschberg. 


Soziale  Wirtschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Gesetzgeberische  Massnahmen  in  Deutschland  betr. 
Abzahlnngsgeschäfte  und  Wucher.  Dem  deutschen  Bundes- 
rathe  liegt,  wie  wir  der  Norddeutschen  Allgemeinen  Zeitung 
entnehmen,  ein  Gesetzentwurf  über  die  Abzahlungsgeschäfte 
und  eine  Novelle  zum  Wuchergesetz  vor.  Darin  wird  von 
der  Ergreifung  gewerbepolizeiheher  Massnahmen,  wie  sie 
früher  beispielsweise  nach  der  Seite  der  Konzessionserthei- 
lung  für  Abzahlungsgeschäfte,  der  Unterstellung  unter  obrig- 
keitliche Kontrolle , der  Untersagung  dieses  Gewerbe- 
betriebes für  den  Fall  der  Unzuverlässigkeit  des  Gewerbe- 
treibenden in  Aussicht  genommen  waren,  abgesehen.  Nach  dem 
Entwurf  sollen  nur  zivilrechtliche  Vorschriften  erlassen  werden. 
Die  Hauptbeschwerde,  welche  man  gegen  das  heutige  Abzah- 
lungsgeschäft erhebt,  bezieht  sich  auf  den  Eigenthumsvorbehalt 
und  die  Verwirkungsklausel  in  den  Abzahlungsverträgen.  Den 
Eigenthumsvorbehait  will  der  neue  Gesetzentwurf  zwar  nicht 
beseitigen,  schon  deshalb  nicht,  weil  mit  ihm  erst  der  Realkredit 
im  Abzahlungsgeschäft  ermöglicht  und  damit  für  solide  Abzah- 
lungsgeschäfte die  Grundlage  geschaffen  wird  Dagegen  soll 
eine  Beschränkung  der  Verwirkungsklausel  platzgreifen  und 
zwar  dahin,  wenn  der  Verkäufer  sich  das  Recht  vorbehält,  wegen 
Nichterfüllung  der  dem  Käufer  obliegenden  Verpflichtung,  von 
dem  Vertrage  zurückzutreten,  der  Käufer  gegen  Rückgabe  der 
empfangenen  Sache  die  Zurückgewährung  der  von  ihm 
leisteten  Theilzahlungen  zu  fordern  berechtigt  sein  soll.  I ür 
die  inzwischen  erfolgte  Benutzung  soll  der  Verkäufer  eine  Ver- 
gütung fordern  können,  deren  Festsetzung  nach  § 260  der  Zivil- 
prozessordnung vorgenommen  werden  soll.  Auch  ist  ihm  für 
etwaige  Beschädigung  ein  Ersatz  zu  leisten.  Des  Weiteren  soll 
einer  Bedrückung  des  Käufers  durch  übermässige  Vertrags- 
strafen entgegengetreten  werden.  Auf  dem  Wege  5er  Vertrags- 
strafe könnte-  sonst  leicht  die  wohlthätige  Absicht,  welche  mit 
der  Beschränkung  der  Verwirkungsklausel  verbunden  ist,  ver- 
eitelt werden.  Dazu  soll  dem  Richter  die  Befugniss  gewährt 


54 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  5. 


werden,  nach  freiem  Ermessen  die  Strafe  auf  den  angemessenen 
Betrag  herabzusetzen.  Sodann  soll  bestimmt  werden,  dass  für 
den  Fall  einer  Abrede,  wonach  die  Nichterfüllung  einer  Ver- 
pflichtung des  Käufers  die  Fälligkeit  der  Restschuld  nach  sich 
ziehen  soll,  der  Verfall  der  Restschuld  nur  eintreten  darf,  wenn 
der  Schuldner  mit  der  Entrichtung  von  mindestens  zwei  auf 
einander  folgenden  Theilzahlungen  im  Verzug  ist.  Auf  Ge- 
schäfte, welche  die  Zwecke  des  Abzahlungsgeschäfts  in  einer 
anderen  Rechtsform,  so  durch  miethweise  Ueberlassung  der 
Sache,  zu  erreichen  suchen,  sollen  die  Bestimmungen  gleichfalls 
Anwendung  finden.  Dagegen  sollen  sie  weder  rückwirkende 
Kraft  erhalten,  noch  dann  zur  Anwendung  gelangen,  wenn  der 
Käufer  ein  im  Handelsregister  eingetragener  Kaufmann  ist. 

Einen  Ersatz  für  die  in  den  Gesetzentwurf  nicht  aufge- 
nommenen strafrechtlichen  Bestimmungen  findet  man  in  der 
ebenfalls  dem  Bundesrath  vorgelegten  Novelle  zum  Wucher- 
gesetz vom  27.  Mai  1880.  Die  Hauptänderung,  welche  am  Wucher- 
gesetz vorgenommen  werden  soll,  bestehe  nämlich  darin , dass 
man  nicht  blos  wie  bisher  den  Wucher  unter  Strafe  stellt, 
welcher  sich  auf  ein  Kreditgeschäft  bezieht,  sondern  auch  den- 
jenigen, welcher  in  einem  Rechtsgeschäft  irgend  welcher  anderen 
Art  zum  Ausdruck  kommt.  Allerdings  will  man  im  letzteren 
Falle  die  Strafe  nur  dann  aussprechen,  wenn  diese  Geschäfte 
gewerbs-  oder  gewohnheitsmässig  abgeschlossen  werden.  Sodann  | 
will  die  Novelle  der  LTnsitte  entgegentreten,  wonach  bei  öffent- 
lichen Versteigerungen  den  Bietern  oder  anderen  Personen,  um 
diese  zum  Bieten  anzureizen,  unentgeltlich  geistige  Getränke 
verabfolgt  werden.  Schliesslich  soll  eine  Bestimmung  getroffen 
werden,  wonach,  wer  gewerbsmässig  Geld-  oder  Kreditgeschäfte 
treibt,  verpflichtet  ist,  dem  Schuldner  alljährlich  einen  Rech- 
nungsauszug zu  unterbreiten.  Damit  soll  den  Beschwerden 
darüber  abgeholfen  werden,  dass  namentlich  in  den  Kreisen  der 
ländlichen  Bevölkerung  die  auf  wucherische  Ausbeutung  aus- 
gehenden Geschäftsleute  die  Abrechnung  lange  Zeit  hinzögern. 

Erhebung  wegen  Fortsetzung  der  preussischen  Sub- 
hastationsstatistik.  Mit  Bezug  auf  die  Subhastationsstatistik 
in  Preussen  hat  der  Landwirthschaftsminister  dem  Landes- 
Oekonomiekollegium  die  Frage  unterbreitet,  ob  eine  Fortsetzung 
dieser  Statistik  überhaupt  oder  unter  gewissen  Einschränkungen 
erfolgen  soll.  Der  Minister  begründet,  der  ,.Vossischen  Zeitung“ 
zu  Folge,  die  Frage  folgenderinassen : „In  Folge  des  Be- 

schlusses des  Landes-Oekonomiekollegiums  vom  4.  März  1884. 
der  Staatsregierung  zu  empfehlen,  eine  Vervollständigung  der 
Subhastationsstatistik  in  der  Richtung  vorzunehmen,  dass  auch 
die  Besitzklässen  und  die  Ursachen  der  Subhastation  ermittelt 
werden,  ist  nach  Vereinbarung  der  betheiligten  damaligen 
Herren  Ressortchefs  die  Cirkularverfügung  vom  31.  Januar  1886 
an  die  Regierungspräsidenten  erlassen  worden.  Dieser  Erlass 
ordnet  an,  das  die  bis  dahin  lediglich  von  den  Gerichtsbehörden 
gelieferten  ziffernmässigen  Unterlagen  der  Subhastationsstatistik 
Tn  obigem  Sinne  eine  auf  den  'gutachtlichen  Aeusserungen  der 
Landräthe  beruhende  Vervollständigung  zu  erfahren  haben.  Mit 
dem  Inkrafttreten  des  erwähnten  Erlasses,  dem  1.  April  1886, 
sind  auf  Grund  -des  solchergestalt  gelieferten  Materials  zwei 
Veröffentlichungen  in  der  Zeitschrift  des  königlichen  statisti- 
schen Büreaus  ; 1887  und  1889)  erfolgt,  von  denen  die  eine  das 
Rechnungsjahr  1886  87,  die  zweite  die  beiden  Rechnungsjahre 
1887  89  umfasst,  und  welche  letztere  gleichzeitig  eine  Ver- 
gleichung mit  den  Ergebnissen  der  Aufnahme  des  ersten  Be- 
richtsjahres enthält  Die  Veröffentlichungen  haben  seiner  Zeit 
eine  lebhafte  Erörterung,  nicht  nur  in  Fachkreisen,  hervorge- 
rufen, und  namentlich  haben  die  Mittheilungen  über  die  Ur- 
sachen der  Zwangsversteigerungen  seitens  der  Beurtheilenden, 
je  nach  der  politischen  Parteistellung  derselben,  eine  verschie- 
denartige Auslegung  erfahren  und  zu  sehr  von  einander  ab- 
weichenden Schlussfolgerungen  geführt.  Jedenfalls  hat  die  Auf- 
nahme mannigfache,  nicht  allein  auf  tendenziösen  Unterstel- 
lungen beruhende  Anfeindungen  erfahren,  ja  es  ist  sogar  die 
Brauchbarkeit  und  Zweckmässigkeit  der  ganzen  Subhastations- 
statistik in  Zweifel  gezogen  worden.  Mit  Rücksicht  hierauf, 
und  da  die  gegen  diese  Statistik  gerichteten  Angriffe  nicht  ohne 
Weiteres  als  m allen  Punkten  unbegründet  zurückgewiesen 
werden  können,,  ist,  um  weiteren  Missdeutungen  vorzubeugen, 
von  einer  speziellen  Kundgebung  der  Elfgebnisse  für  1889/90 
und  1890/91  bis  jetzt  Abstand  genommen  worden,  wenngleich 
sich  nicht  verkennen  lässt,  dass  die  Zwangsversteigerungssta- 
tistik sowohl  hinsichtlich  ihrer  thatsächlichen  Feststellungen 
als  auch  in  ihrem  gutachtlichen  Stoffe  einen  gewissen  Werth 
besitzt.  Nur  eine  allgemeine  Besprechung  der  Ergebnisse  der 
Aufnahmen  von  1886/87  bis  1890/91  hat  in  der  „Statistischen 
Korrespondenz“  vom  14.  Mai  1892  stattgefunden.  Wenn  hier- 
nach eine  spezielle  Veröffentlichung  seit  Beginn  des  Rechnungs- 
jahres 1889/90  unterblieben  ist,  so  ist  doch  auch  eine  Entschei- 
dung der  Frage,  ob  die  Fortsetzung  der  Subhastationsstatistik 
überhaupt  aufgegeben  oder  wenigstens  auf  die  ziffernmässige 
Zusammenstellung  der  Ergebnisse  beschränkt  werden  soll,  be- 
ziehungsweise ob  es  sich  empfiehlt,  wohl  eine  Einziehung  und 
Verarbeitung  des  Materials,  nicht  aber  eine  Veröffentlichung 
vorzumehmen,  bisher  nicht  erfolgt.  Es  würde  mir  erwünscht 
sein,  Zu  erfahren,  welche  Stellung  das  Landes-Oekonomiekolle- 
gina:  zu  dieser  Frage  einnimmt.“  Die  Antwort  auf  diese  Frage 
scheint  uns  nicht  zweifelhaft  sein  zu  können.  Wenn  keine  ' 


Wünsche  bezüglich  einer  besseren  Erhebungsmethode  geäussert 
worden,  so  kann  doch  ein  so  wichtiger  Zweig  der  Sozialstatistik 
nicht  abgcschmtten  werden,  weil  die  Ergebnisse  der  letzteren 
nicht  allen  Parteien  gepasst  haben. 

Kommunale  Brothäckerei  in  Leipzig.  Der  in  Deutsch- 
land noch  seltene  Fall,  dass  ausser  Wasser-  und  Beleuchtungsi 
an  lagen  ein  anderer  gewerblicher  Betrieb  von  der  Gemeinde 
besorg  wird,  besteht  seit  Jahren  in  Leipzig,  wo  eine  kommu- 
munale  Bäckerei  für  Armenbrot  mit  bestem  ErfoG  betrieben 
wird  Diese  kommunale  Brotbäckerei  bildete  in  der  Leipziger 
Stadtverordnetensitzung  vom  12.  Oktober  den  Gegenstand  inter- 
essanter Verhandlungen.  Bereits  vor  drei  Jahren  hatte  man 
wegen  der  Vorortseinverleibungen  im  Armendirefctorium  an 
eine  Erweiterung  der  Armenbrotbäckerei  gedacht  und  war&ejfens 
des  Rathes  wegen  eines  Neubaues  der  jetzt  völlig  unzula,,- 
liehen  Bäckerei  im  September  v.  J.  Vorlage  an  das  Kollegium 
gemacht  worden.  Einen  Erweiterungsbau  der  jetzigen  Bäckerei 
hat  man  nicht  angängig  gefunden  und  hat  deshalb  der  Rath; 
nachdem  sich  ein  Dritter  geneigt  erklärt  hat,  das  Grundstück 
der  jetzigen  Bäckerei  zu  kaufen,  beschlossen,  vorbehaltlich  der 
vermögensrechtlichen  Auseinandersetzung  zwischen  Stadt-  und 
Armendirektorium  dem  letzteren  zum  Neubau  der  Armenbrot- 
bäckerei neues  Areal  zu  überlassen.  Bei  damaliger  Berathung 
der  Rathsvorlage  hatten  jedoch  die  Ausschüsse  Angaben  ge- 
wünscht, wie  hoch  sich  die  Kosten  eines  Neubaues  stellen  wer- 
den, und  der  Rath  hat  in  seiner  neueren  Vorlage  dargelegt, 
dass  sich  diese  Kosten  folgenderinassen  beziffern:  84  000  M. 
Bauarbeiten,  3762  M.  innere  Einrichtung,  6686  M.  für  Hilfs- 
maschinen und  20  125  M.  Arealwerth,  zusammen  114  573  M.  Zieht 
man  die  Kaufsumme  für  das  jetzige  Grundstück  (70  000  M.)  ab, 
so  würde  ein  Aufwand  von  44  573  M- verbleiben,  welchen  der 
Rath  ä conto  Stammvermögen  zu  verwilligen  bittet.  Die  Aus- 
schüsse haben  in  zwei  Sitzungen  über  die  Rathsvorlage  be- 
rathen  und  während  das  erste  Ausschussvotum  (16  gegen  14 
Stimmen)  eine  Annahme  der  Rathsvorlage  beantragte,  war  das 
aus  der  zweiten  Sitzung  hervorgegangene  Gutachten  (18  gegen 
16  Stimmen)  in  das  Gegentheil  umgeschlagen,  so  dass  Ab- 
lehnung der  Vorlage  empfohlen  wurde.  Vizevorsteher  E>r.  Zenker 
referirte  für  die  Ausschüsse  und  betonte  für  die  Majorität,  dass 
die  Stadtverwaltung  Wichtigeres  zu  thun  habe,  als 
sich  mit  gewerblichen  Unternehmungen  zu  befassen. 
Der  Rath  solle  dem  Gewerbe  keine  Konkurrenz  machen  und 
nicht  eine  Schädigung  desselben  herbeiführen.  Wenn  jetzt  eine 
Brotbäckerei  für  die  Armenanstalt  überhaupt  nicht  bestände, 
so  würde  es  Niemandem  einfallen,  eine  solche  zu  errichten. 
Man  möge,  wenn  die  jetzige  Bäckerei  nicht  ausreiche,  weiter, 
wie  schon  seither,  Abkommen  mit  Privatbäckern  treffen.  Für 
die  Minorität  machte  der  Referent  geltend,  dass  sich  die  Bäckerei 
zeither  segensreich  erwiesen  habe.  Bei  Beschaffung  des 
Brotes  lür  die  Armen  im  Wege  der  Selbstregie  sei  ein 
gutes,  billiges  Brot  gewährleistet  und  müssten  daher 
die  Stadtverordneten  nicht  die  Privatinteressen  der  Bäcker, 
sondern  die  der  Stadt  im  Auge  haben.  Aus  diesen  und  ähn- 
lichen Gesichtspunkten  sprachen  sich  eine  grössere  Anzahl 
Mitglieder  des  Kollegiums  gegen  upd  für  die  Rathsvorlage  aus, 
welche  schliesslich  nach  langer  Debatte  mit  32  gegen  27  Stimmen 
abgelehnt  wurde.  Man  darl  nun  gespannt  darauf  sein,  ob  in 
Folge  dieser  Abstimmung  die  einzige  kommunale  Bäckerei  in 
Deutschland  dem  Ansturm  von  Privatinteressenten  unterliegt. 

KommunaleBeschäftigung  für  Arbeitslose  inHalleu.S.  Die 

ausgedehnte  Arbeitslosigkeit,  welche  im  bevorstehenden  Winter 
wenigstens  innerhalb  Deutschlands  eintreten  dürfte,  wirft  ihre 
Schatten  voraus.  In  der  öffentlichen  Sitzung  vom  10.  Oktober  d.  J. 
der  Stadtverordneten  von  Halle  a.  S.  begründete  Maurermeister 
Friedrich  den  von  ihm  eingebrachten  Antrag,  die  Versammlung 
wolle  den  Magistrat  um  eine  Vorlage  ersuchen,  durch  welche  in 
grösserem  Umfange  hiesigen  Arbeitslosen  im  künftigen  Winter 
Beschäftigung  gewährt  werden  könne.  Der  Antragsteller  hob 
hervor,  dass  der  verflossene  Sommer  die  Schäden,  welche  die 
arbeitende  Bevölkerung  von  Halle  und  Umgegend  durch  Mangel 
an  Beschäftigung  erlitten,  nicht  wett  gemacht  habe;  mit  Rück- 
sicht auf  den  noch  bestehenden  und  sich  voraussichtlich  mit 
dem  Nahen  des  Winters  noch  steigernden  Arbeitsmangel  sei 
schon  gegen  das  Vorjahr  ein  weit  stärkerer  Abzug  von  Ein- 
wohnern zu  verzeichnen,  der  sich  noch  verstärken  werde,  wenn 
man  nicht  darauf  Bedacht  nehme,  den  ordentlichen  Leuten 
Arbeit  zu  verschaffen.  Dazu  habe  nun  die  Stadt  vollauf  Gelegen- 
heit, da  zu  einer  Reihe  von  Bauten  bereits  die  Mittel  genehmigt 
seien;  andere  Städte,  z.  B.  Lübeck,  hätten  bereits  ähnliche 
Schritte  zur  Bekämpfung  der  Arbeitslosigkeit  gethan.  Ober- 
bürgermeister Staude  erklärte  darauf  im  Namen  des  Magistrats, 
dass  dieser  bereits  die  hochbedeutsame  Angelegenheit  in  ein- 
gehende Erwägung  gezogen  habe  und  ungesäumt  die  Aus- 
führung der  geplanten  und  bereits  genehmigten 
städtischen  Bauten  in  Angriff  nehmen  und  auch  noch  in 
allernächster  Zeit  bei  der  Versammlung  eine  Vorlage  zur  Be- 
willigung von  Mitteln  für  weitere  Nothstandsarbeiten  ein- 
bringen  werde-  Bereits  morgen  werde  ausserdem  eine  Ver- 
sammlung von  Mitgliedern  des  Magistrats  mit  den  Vorsitzenden 
der  hiesigen  Wohltnätigkeitsvereine  stattfinden  zur  Besprechung 
der  zur  Bekämpfung  der  Arbeitslosigkeit  einzuschlagenden 


No.  5. 


SOZI  AI  .PO I .ITISCHES  ,CK  NTR  AI  -BLATT. 


55 


Schritte,  die  dringend  nöthig  seien,  da  bereits  jetzt  die  Zahl 
der  brotlosen  Arbeiter  in  unserer  Stadt  und  den  nächst- 
gelegenen Ortschaften  sich  nach  den  polizeilichen  Erhebungen 
auf  mehrere  Tausend  belaufe.  Wenn  mit  dem  Nahen  des 
Winters  eine  weitere  Steigerung  dieses  Nothstandes  eintrete, 
so  würden  vielleicht  die  Behörden  allein  nicht  im  Stande  sein, 
Abhilfe  zu  schaffen:  voraussichtlich  werde  dann  jedoch  die 
Bürgerschaft  nach  Kräften  helfen,  das  Elend  Zu  mildern.  Ob 
diese  letztere  Hoffnung  erfüllt  werden  wird,  dürfte  zu  be- 
zweifeln sein. 

Statistik  der  Norddeutschen  Holzberufsgenossen- 
schaft. In  der  Norddeutschen  Holzberufsgenossenschaft 
waren  nach  deren  jüngst  erschienenem  Verwaltungsbericht 
im  Jahre  1891  21  076  : 1890  20  897)  Betriebe  katastermässig 
eingetragen,  darunter  7052  (6581)  Grossbetriebe  und  14  024 
(14  316)  Bautischlereibetriebe.  Die  Zahl  der  durchschnitt- 
lich das  ganze  Jahr  hindurch  versicherten  Personen  betrug 
125  644  (1891  127  332),  die  anrechnungsfähige  Lohnsumme 
95  588  675  M.  (92  278  833  M.).  An  Unfällen  gelangten  4698 
(1891  4485)  zur  Anmeldung,  von  denen  1110  (1211)  entschä- 
digt wurden.  Die  Summe  der  zur  Auszahlung  gelangten 
Entschädigungen  ist  von  526  225  auf  652  713  M.  gestiegen. 
Die  Verwaltungskosten  betrugen  153  257  M.  oder  12,5  pCt. 
der  Umlagen,  darunter  16  537  M.  zur  Verhütung  von  Un- 
fällen und  2438  zur  Untersuchung  derselben. 

Eine  Enquete  über  Arbeitsvermittlung-.  Um  eine 
Regelung  des  Arbeitsnachweises  für  die  Hilfsarbeiter  der  Bau- 
uncl  Steinmetzgewerbe  herbeizufahren,  berief  der  Wiener 
Magistrat  im  Aufträge  der  niederösterreichischen  Statthalterei 
eine  Enqti6te  ein,  welche  die  insbesonders  mit  Rücksicht  auf 
die  bevorstehende  Inangriffnahme  der  Verkehrsanlagen  akut  ge- 
wordene Angelegenheit  berathen  und  geeignete  Vorschläge  er- 
statten sollte.  An  der  Enquete  nahmen  Theil  Vertreter  der  Ge- 
werbebehörde, der  niederösterreichischen  Handels-  und  Gewerbe- 
kammer, des  Vereins  für  Arbeitsvermittlung,  sowie  ein  Unter- 
nehmer und  ein  Arbeiter.  Die  Grundlagen  der  Berathungen 
dieser  Enquete,  welche  am  6.  Oktober  unter  dem  Vorsitze  eines 
Magistratsrathes  stattfand,  bildeten  folgende  Fragen: 

1.  Welche  Mängel  bestehen  derzeit  beim  Stellensuchen  im 
Baugewerbe? 

2 In  welcher  Weise  können  die  vorhandenen  Uebelstände, 
wie  nutzloses  und  zeitraubendes  Suchen  eines  Platzes,  zweck- 
loses Warten  am  Baue  etc.,  beseitigt  werden? 

3.  In  welcher  Weise  wäre  eine  ordnungsmässige  Arbeits- 
vermittlung einzurichten  ? 

4.  Ist  der  Arbeitsnachweis  centralistisch  zu  gestalten  oder 
nach  den  örtlichen  Verhältnissen  zu  decentralisiren  ? 

5 Welche  Mittel  sind  für  die  Errichtung  und  Führung  einer 
geregelten  Arbeitsvermittlung  erforderlich  und  wie  sollen  die- 
selben aufgebracht  werden? 

6.  Soll  die  Arbeitsvermittlung  unentgeltlich  oder  gegen 
Entgelt  erfolgen  und  welche  Preissätze  wären  im  letzteren  Falle 

zu  tixiren? 

7.  Wie  wäre  die  Leitung  der  Arbeitsvermittlung  zu  ge- 
stalten, damit  beide  Interessenkreise  das  nöthige  Vertrauen  der 
Einrichtung  entgegen  bringen? 

8.  Würde  es  sich  empfehlen,  bei  jedem  Baue  die  dort  be- 
nöthigten  Arbeitskräfte  nach  Zahl  und  Art  auf  einer  Tafel  er- 
sichtlich zu  machen? 

Die  Diskussion  der  vorstehenden  Fragen  gestalteten  sich 
stellenweise,  insbesonders  zwischen  den  Vertretern  der  Unter- 
nehmer und  Arbeiter,  sehr  lebhaft.  Es  kamen  hierbei  nicht  blos 
bei  der  Arbeitsvermittlung,  sondern  beim  Baugewerbe  überhaupt 
zur  Sprache,  vor  allem  der  Truckunfug.  Sehr  bemerkenswerth 
war  das  Geständniss  des  Bauunternehmers  bezüglich  der  sog. 

, .schwarzen  Listen*“;  er  gab  nicht  blos  das  Vorhandensein 
solcher  zu,  sondern  suchte  auch  deren  Nothwendigkeit  zu  be- 
gründen. 

Betreffs  des  Arbeitsnachweises  erklärte  sich  der  Vertreter 
der  Bauherren  für  den  Status  quo  und  negirte  jedes  Bedürfniss 
einer  Aenderung. 

Der  Vertreter  der  Maurer-  und  Steinmetzgehilfen  sowie  . 
der  Sekretär  des  Vereins  für  Arbeitsvermittlung  hingegen  be- 
antwortete die  vorgelegten  Fragen  wie  folgt: 

Ad  1.  Die  Mängel  beim  Stellensuchen  im  Baugewerbe 
sind  schlimmer  als  in  jedem  anderen  Gewerbe.  Zwecklos  irrt 
der  Arbeitsuchende,  den  Unbilden  der  Witterung  ausgesetzt 
und  überdies  häufig  von  den  Baupolieren  und  Aufsehern  mit 
Grobheiten  traktirt,  umher;  die  Poliere  vergeben  die  Arbeit  mit 
Vorliebe  an  ihre  Günstlinge. 

Ad  2.  Die  Aktivirung  eines  geregelten  Arbeitsnachweises 
für  die  Arbeiter  des  Baugewerbes  ist  nothwendig. 

Ad  3 und  7 Zur  Besorgung  der  verschiedenen  Geschäfte 
hat  die  Genossenschaft  der  Bau-  und  Steinmetzmeister  ein 
eigenes  Büreau  zu  errichten;  die  Leitung  des  ganzen  Institutes 
ist  einer  gleichen  Anzahl  von  Vertretern  der  Genossenschafts- 
mitglieder (Unternehmer)  und  der  Gehilfenversammlung  (Ar- 
beiter) zu  übertragen. 


Um  der  Einrichtung  das  nöthige  Vertrauen  zu  sichern, 
empfiehlt  es  sich  ferner,  bei  der  Anstellung  des  Arbeitsvermitt- 
lers  der  Gehilfenversammlung  das  Vorsch lagsrecht  einzuräumen. 

Ad  4.  Vorläufig  dürfte  ein  Büreau  mit  entsprechenden 
Wartelokalitäten  genügen. 

Ad  5 und  8.  Zur  Erhaltung  des  Büreaus  und  der  sonsti- 
gen Einrichtungen  dürfte  ein  Betrag  von  ca.  3000  fi.  erforderlich 
sein.  Ein  Theil  dieser  Kosten  wäre  durch  Erhebung  einer.  Vor- 
merkgebühr von  den  stellensuchenden  Maurern  und  Bau- 
arbeitern, und  zwar  5 kr.  per  Person,  zu  tragen;  den  Restbe- 
trag hätte  die  Genossenschaft  zu  decken. 

Da  die  Vertreter  der  Regierung  und  vornehmlich  des  Ge- 
werbeinspektorats  sich  für  die  Errichtung  einer  Arbeitsvermitt- 
lung einsetzen,  ist  begründete  Aussicht  vorhanden,  dass  die 
Bauarbeiter  wenigstens  von  den  beim  Arbeitsnachweise  vor- 
handenen Uebelständen  in  absehbarer  Zeit  befreit  werden. 

Ergebnisse  des  ungarischen  Zonentarifs.  Der  unga- 
rische Zonentarif  bewährt  sich  dauerfid.  Noch  immer 
nimmt  der  Verkehr  gegen  die  Vorjahre  zu  Nach  der  ,,Z. 
d.  V.  d E.“  betrug  in  den  ersten  neun  Monaten  dieses 
Jahres  im  Vergleich  zu  den  gleichen  Monaten  des  Vor- 
jahres die  Zahl  der  mehr  beförderten  Personen  3 954  000. 
Die  Mehreinnahmen  beliefen  sich  auf  1 389  800  fl.  Für  Ge- 
päck wurden  in  derselben  Zeit  52  900  fl.  mehr  eingenom- 
men. Im  Monat  September  wurden  trotz  der  Beeinflussung 
des  Verkehrs  durch  die  Cholera  254  200  Personen  mehr  be- 
fördert und  47  100  fl.  mehr  eingenommen.  — Bei  uns  sind 
leider  alle  Reformgedanken  auf  dem  Gebiete  des  Personen- 
verkehrswesens weit  in  den  Hintergrund  gedrängt. 


Arbeiterzustände. 


Die  Zustände  in  der  Badischen  Anilin-  und  Sodafabrik 
in  Ludwigshafen  a.  Rh. 

Mit  einiger  Berechtigung  kann  man  die  Frage  auf- 
werten, ob  die  monographische  Darstellung  der  Zustände 
in  einem  einzigen  Fabriketablissement  von  sozialökono- 
mischem Werthe  sei,  denn  die  Verhältnisse  in  einer  solchen 
Fabrik  sind  nur  zu  sehr  abhängig  von  der  zufällig  an  der 
Spitze  stehenden,  leitenden  Persönlichkeit  und  können  sich 
mjt  dem  Wechsel  des  Leiters  von  Grund  aus  ändern.  Be- 
rücksichtigt man  aber,  dass  der  Arbeiterbestand  genannter 
Fabrik  sich  aus  er.  3500  Personen  rekrutirt  und  dass  unge- 
fähr zwei  Drittel  des  Bestandes  jährlich  in  das  Etablisse- 
ment neu  eintreten,  dass  also  schon  in  einem  relativ  sehr 
kurzen  Zeitraum  eine  ausserordentlich  grosse  Zahl  von 
Arbeitern  in  nähere  Berührung  mit  der  genannten  Fabrik 
kommt,  dass  also  ihr  Einfluss  auf  die  Arbeiterbevölkerung 
weit  über  den  Bannkreis  der  Fabrikmauern  hinausreicht, 
so  erscheint  eine  solche  Monographie,  wie  sie  aus  der  Feder 
F.  J.  Ehrharts1)  hervorgegangen,  sehr  wohl  gerechtfertigt. 
Auch  gegen  die  Art  und  Weise,  wie  der  Verfasser  die 
Arbeit  in  Angriff  genommen  hat,  lässt  sich  nichts  ein- 
wenden, eher  schon  dagegen,  dass  die  ermittelten  That- 
sachen  zu  propagandistischen  Parteizwecken  ausgenutzt 
werden,  wodurch  nur  zu  leicht  der  Vorwurf  einseitiger  und 
tendenziöser  Darstellung  hervorgerufen  werden  kann.  Aber 
die  ermittelten  Thatsachen  tragen  doch  unverkennbar  den 
Stempel  der  Wahrheit  an  der  Stirn,  und  die  wichtigsten 
von  ihnen  sind  durch  authentische  Quellennachweisungen 
belegt,  so  dass  sie  leicht  nachgeprüft  werden  können.  Was 
aber  der  Arbeit  einen  ganz  besonderen  W erth  verleiht,  ist, 
dass  der  Verfasser  selbst  Arbeiter  ist,  der  in  Folge  dessen 
von  seiner  eigenen  Erfahrung  bei  der  Kritik  geleitet  wird, 
der  weiss,  wo  den  Arbeiter  der  Schuh  drückt,  und  der  tiefer 
in  die  intimen  Verhältnisse  hineinzublicken  vermag  als  es 
dem  sozialpolitischen  Forscher  von  Fach  oder  selbst  dem 
Fabrikinspektor  möglich  ist;  während  ihm  andererseits  das- 
jenige Mass  von  sozialökonomischer  Bildung  keineswegs 
abgeht,  welches  erst  einen  zusammenfassenden  Blick  über 
das  Gesammtmaterial  verstattet.  Wenn  aber  auch  auf  jeder 
Seite  der  kleinen  Brochüre  zu  merken  ist,  dass  der  Ver- 
fasser keiner  von  der  Zunft  ist,  wenn  der  Stil  ungelenk 
und  häufig  sogar  inkorrekt  ist,  die  sachlichen  Schlussfolge- 


P Verlag  der  Mannheimer  Actiendruckefei  1892  8°. 

46  Seiten.  Preis  20  Pf. 


56 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  5 


rungen  nicht  selten  über  das  Ziel  hinausschiessen  und 
manches  schiefe  oder  nur  mangelhaft  begründete  Urtheil 
mit  unterläuft,  so  stehen  wir  doch  nicht  an  zu  behaupten, 
dass  ein  paar  Dutzend  ähnlicher  Monographien  über  unsere 
grösseren  industriellen  Etablissements  eine  schätzenswerthe 
Bereicherung  des  mangelhaften  deutschen  sozialstatistischen 
Materials  abgeben  würden. 

Von  den  ermittelten  Thatsachen  seien  in  Folgendem 
die  wichtigsten  hervorgehoben. 

Der  Verfasser  lenkt  zunächst  sein  Augenmerk  auf  die 
Lohnverhältnisse  in  der  „Badischen  Anilinfabrik“.  Eine  ge- 
naue Lohnstatistik  zu  geben  ist  ihm  natürlich  nicht  mög- 
lich, aber  die  folgende  Liste  hat  doch  immerhin  einiges 
Interesse,  weil  sie  gleichzeitig  einen  Einblick  in  die  Ge- 
sundheitsschädlichkeit des  Betriebes  gewährt,  für  welche 
die  gezahlten  Löhne  nur  ein  recht  geringfügiges  Aequivalent 
sind.  Es  beträgt  der  Lohn  bei  der  Darstellung  von: 

Mark  Bemerkungen: 

Victoriagrün  2,20 — 2,75  Letzteren  haben  indess  nur  2-3Arbeiter, 
welche  bereits  seit  drei  Jahren  in 
diesem  Betriebe  beschäftigt  sind. 
Anilinblau  2,28—2,60  Die  Fabrikation  ist  derartig  schädlich, 
und  Indolin  dass  den  Arbeitern  Milch  verabreicht 

werden  muss,  um  das  Erbrechen  zu 
verhindern. 

Safranin  2,20—2,70  Die  meisten  Arbeiter  verlassen  diesen 
Betrieb,  der  ein  unerträglicher  ist, 
sehr  rasch  wieder. 

Naphtalingelb  2,00—  2,80  Die  Arbeiter  werden  bei  längerer  Ar- 
beit in  diesem  Betriebe  von  dem  gelben 
Farbstoff  förmlich  durchsaugt. 

Ponceau  2,28 — 2,72  Die  Atmosphäre  steigert  sich  hier  bis 

zur  Unerträglichkeit,  weshalb  auch  die 
Arbeiter,  die  noch  anderswo  einen 
Unterschlupf  finden,  diese  Arbeit  sehr 
rasch  wieder  verlassen. 

Victoriablau  2,28 — 2,72  Das  Aussehen  der  dabei  beschäftigten 

Arbeiter  ist  ein  Schrecken  erregendes. 

Diese  Löhne  gelten  für  Arbeiter  vom  20.  Lebensjahr 
ab;  jugendliche,  d.  h.  solche  von  14—20  Jahren,  erhalten 
einen  Durchschnittslohn  von  1,20—  1,50  M. 

Handwerker  erhalten  als  Anfangstagelohn  2,20  M.,  der 
alljährlich  um  1 Pf.  per  Stunde  bis  zur  Maximalhöhe  von 
2,80  M.  aufgebessert  wird,  nach  diesem  Maximum  leistet 
die  Direktion  in  ausserordentlichen  Fällen  einen  Zuschuss, 
der  den  Lohn  bis  3,40  M.  erhöht. 

Von  Seiten  der  Fabrikinspektoren  wird  häufig  das 
auch  in  der  Badischen  Anilin-  und  Sodafabrik  eingeführte 
Prämienwesen  als  Wohlfahrtseinrichtung  angeführt.  Diese 
Prämien,  die  nach  10 jähriger  Thätigkeit  50  M.  betragen, 
nach  je  5 Jahren  um  25  M.  steigen,  bis  sie  nach  25  jähriger 
Thätigkeit  sich  auf  300  M.  belaufen,  sind  jedoch  nur  eine  Sine- 
kure. Andere  chemische  Fabriken  in  Mannheim  z.  B.  ge- 
währen an  regulären  Prämien  — für  gute  Bedienung  der 
Oefen  etc.  — das  Gleiche,  nämlich  10—30  pCt.  des  Jahres- 
verdienstes. Dort  aber  sind  die  Prämien  kein  Bleigewicht, 
das  die  Arbeiter  an  die  Fabrik  fesselt;  — andererseits 
aber  werden  diese  Prämien  dem  bei  Unfällen  etc.  in  Betracht 
kommenden  anrechnungsfähigen  Lohne  nicht  cinbezogen, 
bringen  also  — zumal  der  Arbeiter  keinen  Rechtsanspruch 
auf  diese  Prämien  hat  — nur  dem  Fabrikinhaber  einen 
Vortheil.  — Nach  den  Ermittelungen  Ehrharts  beträgt  der 
durchschnittliche  Tagelohn  2,50  M.,  entsprechend 
einem  Jahresverdienst  von  750  M.,  während  der  pfälzische 
Fabrikinspektor,  unter  Einbeziehung  der  Aufseher-  und 
Vorarbeitergehälter,  3,61  M.  Tagelohn  herausrechnet.  Dieses 
Arbeitseinkommen  wird  nach  den  Angaben  des  Falirik- 
inspektors  bei  einer  täglichen  Nettoarbeitszeit  von  10,6 
Stunden  und  einer  Bruttoarbeitszeit  von  12  Stunden  erzielt. 
Ehrhart  dagegen  führt  glaubhaft  an,  dass  die  Nettoarbeits- 
zeit 12,  bei  einem  starken  Prozentsatz  aber  24,  36,  ja  selbst 
48  Stunden  beträgt,  „dass  von  einem  Drittheil  der  gesammten 
Arbeiter  nicht  die  Stundenzahl  von  6,  sondern  von  7 bis 
7 '/a  Arbeitstagen  geleistet  wird  und  zwar  nicht  blos  aus- 
nahmsweise eine  Woche,  sondern  durch  längere  Zeiträume 
fortgesetzt, wobei  noch  zu  berücksichtigen  ist,  dass  ein 
grosser  fheil  der  Arbeiter  bis  10  km  von  der  Arbeitsstätte 
entfernt  wohnt.  Ueberstunden  werden  besonders  den  Ver- 
heiratheten  als  „Vergünstigung  gewährt“.  — Aus  der 
Zuschrift  eines  Arbeiters  an  die  Mannheim  er- Volksstimme 
geht  hervor,  dass  derselbe  bei  einer  wöchentlichen  Brutto- 
arbeitszeit von  I00y3  Stunden  17'/aM.  Lohn  erhielt,  wovon 
1 '/s  pCt.  für  Krankengeld,  15  Pf.  für  Invalidenversicherung 


abgehen,  so  dass  ein  Nettoverdienst  von  16,53  Mark 
resultirte. 

Hiernach  können  die  folgenden  Notizen  über  die  Ge- 
sundheitsverhältnisse der  Arbeiter,  denen  die  Berichte  des 
Fabrikarztes  Dr.  Westhofen  zu  Grunde  liegen,  nicht  mehr 
überraschen.  Der  pfälzische  Fabrikinspektor  nennt  selbst 
in  seinem  Bericht  für  1884  die  Theerfabr ikation  und  die 
Zündholzfabrikation  — welche  letztere  er  für  die  minder 
gefährliche  hält  — als  die  beiden  für  die  Gesundheit  der 
Arbeiter  besonders  gefährlichen  Betriebe  der  Pfalz.  Der 
schädliche  Einfluss  bei  der  Herstellung  der  meisten  Theer- 

Erodukte  resultirt  hauptsächlich  aus  der  Einwirkung  der 
ei  der  Fabrikation  entstehenden  Dämpfe  und  Gase.  „Es 
geschieht  diese  Einwirkung  theils  durch  direktes  Einathmen 
der  Dämpfe  und  Gase,  theils  durch  Berührung  der  Haut, 
besonders  der  Schleimhäute,  oder  auch  durch  die  Materialien 
und  Fabrikationsprodukte  selbst,  theils  auch  durch  Speisen 
und  Getränke,  die  innerhalb  der  betreffenden  Räume  oder 
in  deren  Nähe  genossen  werden.  . . . Die  Einwirkungen 
zeigen  sich  äusserlich  durch  die  verschiedenartige  Färbung 
des  Gesichtes  und  der  Hände.  . . Die  Färbung  ist  auch 
keine  blos  oberflächliche,  sondern  eine  von  innen  her- 
aus bewirkte.  . . . Die  Folgen  dieser  Einwirkungen  ver- 
lieren sich  ziemlich  rasch  wieder,  wenn  ein  Wechsel  der 
Beschäftigung  eintritt;  während  anderenfalls  sehr  schlimme 
Zustände  und  gefährliche  Erkrankungen  sich  zu  zeigen  be- 
ginnen, die  bei  längerer  und  besonders  kräftiger  Einwirkung 
sogar  den  Tod  zur  Folge  haben  können“.  So  weit  der 
Fabrikinspektor  und  doch  findet  sich  nirgends  in  den  Be- 
richten ein  Hinweis  darauf,  dass  genau  so  wie  in  den 
Fürther  Spiegelbelegen  eine  Verkürzung  der  Arbeitszeit 
einzig  und  allein  Remedur  zu  schaffen  vermöchte.  Der 
Hinweis  auf  die  Konkurrenz  vermag  die  Ausdehnung  der 
Arbeitszeit  am  allerwenigsten  in  der  chemischen  Industrie 
zu  entschuldigen. 

Die  thatsäclilichen  Gesundheitsverhältnisse  werden 
durch  folgende  Zahlen  illustrirt:  In  der  Anilinfabrik  waren 

1889:  3430  Arbeiter  beschäftigt.  Davon  traten  in  ärztliche 
Behandlung  4209;  d.  h.  eine  Anzahl  Arbeiter  meldete  sich 
zwei-  und  mehrmals  im  Jahre  krank.  Von  diesen  wieder 
waren  1409  mehr  als  drei  Tage  und  zwar  mit  insgesammt 
33  568  Tage  arbeitsunfähig.  Auf  je  100  Arbeiter  derselben 
Fabrik  kommen  Krankheitsfälle  (Verletzungen  ausge- 
schlossen) : 

1880—85  1886  1887  1888  1889 

70,70  107,72  113,11  114,35  122,71. 

Davon  mehr  als  drei  Tage  arbeitsunfähig: 

1880—85  1886  1887  1888  1889 

27,18  39,41  36,38  39,16  41,08 

Die  Anzahl  der  Krankheitstage  per  Kopf  betrug: 
1880-85  1886  1887  1888  1889 

4,97  8,61  8,05  7,53  9,79 

Da  die  Fabrikkrankenkasse  für  die  ersten  drei  Kran- 
kentage keine  Unterstützung  gewährt,  so  traten  von  den 
4209  Erkrankten  nur  1409  in  den  Genuss  des  Kranken- 
geldes, die  übrigen  zwei  Drittel  setzten  die  Arbeit  entweder 
fort,  oder  mussten  den  Lohnausfall  aus  ihrer  Tasche  tragen. 
Schon  dieses  Verhältniss  allein  beweist,  dass  die  Arbeiter 
der  Anilinfabrik  dauernd  mit  harter  materieller  Noth  zu 
kämpfen  haben,  denn  bei  dem  geringen  jährlichen  Arbeits- 
verdienst , welches  das  von  W örishoffer  angenommene 
Existenzminimum  von  1300  M.  für  eine  Arbeiterfamilie  von 
5 Köpfen  um  550  M.  unterbietet,  muss  der  Lohnausfall  von 
auch  nur  zwei  bis  drei  Tagen  das  Budget  eines  Arbeiters 
auf  Monate  hinaus  in  Unordnung  bringen. 

Die  Schlussfolgerungen  des  Verfassers  auf  die  Steige- 
rung der  Erkrankungsziffern  in  den  drei  Gruppen  des  Be- 
triebes I.  Beschäftigung  mit  anorganischen,  II.  mit  organi- 
schen Chemikalien,  III.  Handwerker  sind  wegen  der  relativ 
kleinen  in  Betracht  kommenden  Zahlen  nicht  stichhaltig 
und  auch  die  Art  der  Erkrankung  kann  nicht  herangezogen 
werden,  um  Schlüsse  auf  die  Details  der  Morbiditätsverhält- 
nisse machen  zu  können.  Die  aufgeführten  Zahlen  sind 
folgende: 


Erkrankungen 

Arbeitsunfähigkeit 

Taeren 

in 

I 

II 

III 

i 

11 

III 

1880/85 

57,24 

78,86 

69,19 

511,15 

473,95 

511,11 

1886 

95,23 

107,64 

113,14 

1054,97 

778,90 

849.22 

1887 

102,82 

1 13,82 

116,04 

977,23 

949,10 

581,00 

1888 

114,10 

114,22 

114,52 

991.54 

754,67 

689,76 

1889 

123,33 

117,30 

127,25 

1470,52 

1002.55 

840,31 

Wo.  5. 


SO/I  AI -POLITISCHES  CENTRALBLATT. 


57 


Zu  bemerken  ist  noch,  dass  auch  hier  die  Tuberkulose 
in  ihren  verschiedenen  Formen  den  Hauptantheil  an  der 
Erkrankungsziffer  und  auch  an  der  Mortalität  hat.  41  pCt. 
aller  Verstorbenen  sind  ihr  zum  Opfer  gefallen  (während 
für  die  Städte  der  oberrheinischen  Niederung  mit  über 
15000  Einwohnern  ca.  15  pCt.  im  Durchschnitt  Kommt).1) 

Das  Durchschnittsalter  der  in  der  Anilinfabrik  be- 
schäftigten Arbeiter  beträgt  37  Jahr  8 Monate,  nur  ein  ein- 
ziger Arbeiterveteran  von  71  Jahren  findet  sich  unter 
3430  Arbeitern  — und  dabei  betrugen  die  Abgaben  der 
Arbeiter  allein  für  die  Invalidenversicherung  jährlich 
26  754  M.! 

Was  die  Unfälle  und  Verletzungen  anbetrifft,  so  wur- 
den im  Durchschnitt  der  Jahre  1880—  85  : 24.91  pCt.  der  Ar- 
beiter, 1889:  42,33  pCt.  verletzt.  Davon  wurden  arbeits- 
unfähig 1880/85:  8,94  pCt.;  1889:  10,44  pCt.  Alle  Ver- 

letzungen zusammen  ergeben  pro  1889,  dass  1 452  Arbeiter 
gleich  43,33  pCt.  der  Gesammtzal  beschädigt  wurden.  Da- 
von mussten  358  oder  10,44  pCt.  die  Arbeit  mit  7851  Ar- 
beitstagen aussetzen.  Am  häufigsten  ereigneten  sich  Augen- 
verletzungen und  Verbrennungen,  von  denen  1889  die 
ersteren  mit  201,  die  letzteren  mit  199  Fällen  partizipirten. 
Unter  den  angeführten  1452  Verletzungen  wurden  jedoch 
nur  207  der  Berufsgenossenschaft  angezeigt.  Für  alle 
übrigen  Unfälle  mussten  also  die  Arbeiter  selbst  die  Kosten 
tragen ! 

Was  die  Qualität  des  von  der  Anilinfabrik  verbrauch- 
ten Menschenmaterials  anbetrifft,  so  wurden  von  dem  Fa- 
brikarzt 1889  untersucht: 

im  Alter  von  14—20  Jahren  859  Mann;  davon  untauglich  44 

» „ 20  - 25  „ 888  „ „ „ 53 

„ „ „ 25-  30  „ 552  „ „ „ 57 

„ 30-  35  „ 280  „ _42 

Zusammen  2 579  Mann;  davon  untauglich  196 

„Aus  diesen  sorgfältigen  und  genauen  Untersuchungen 
der  zum  Arbeitsantritt  sich  Meldenden  geht  sonach  hervor, 
dass  von  den  3 430  Arbeitern  in  einem  Jahre  2 383  neu  ein- 
gestellt wurden,  ein  sprechender  Beweis  für  den  kolossalen 
Wechsel  und  damit  auch  für  den  gesundheitsschädigenden 
Einfluss  dieser  Fabrik  auf  die  gesammte  Arbeiterbevölke- 
rung der  ganzen  Umgebung.  Denn  die  ausscheidenden  Ar- 
beiter müssen,  soweit  sie  nicht  mit  den  Tod  abgehen,  ander- 
weitig, wenn  auch  oft  mit  sehr  grossen  Schwierigkeiten 
Unterschlupf  suchen.“ 

„In  ihrer  ganzen  Schärfe  und  furchtbaren  Tragweite 
tritt  diese  Verheerung  und  Vernichtung  der  Volksgesund- 
heit erst  vor  Augen,  wenn  wir  einen  näheren  Blick  auf  die 
Auswahl  der  Arbeiter  nach  den  Altersstufen  werfen.  Ver- 
blüfft schon  der  starke  Prozentsatz  der  unter  30 — 35  Jahre 
alten  als  „untauglich“  Abgewiesenen,  so  wird  das  Bild  doch 
erst  vollständig  durch  die  Thatsache,  dass  Arbeiter  über 
35  Jahre  überhaupt  nicht  mehr  zur  Aufnahme  in  Betracht 
kommen.“ 

Sehr  interessant  ist  die  zum  Schluss  gegebene  Ueber- 
sicht  über  Geschäftsverhältnisse  der  Anilinfabrik.  Die  „Ba- 
dische Anilin-  und  Sodafabrik“  wurde  1865  mit  einem  Aktien- 
kapital von  16V2  Millionen  Mark  begründet,  die  Aktien 
stehen  derzeit  auf  280 2),  also  fast  aut  dem  Dreifachen  des 
Nennwerthes;  die  Dividende  schwankte  in  den  letzten  zehn 
Jahren  zwischen  12  und  25  pCt.  Der  Gesammtgewinn  be- 
trug in  den  letzten  12  Jahren 


1880—1891 66  108  247  M. 

Davon  an  die  Aktionäre  vertheilt 29  466  000  „ 

Abgeschrieben  wurden  von  1873— 1890  auf  Liegen- 
schaften-, Bau-,  Apparate-  und  Utensilien  - Conto  14  340  091  ,, 
Für  den  ordentlichen  Reservefond  ....  1600  000  „ 

Für  ausserordentlichen  Reserven  ....  3648589  ,, 


Die  ganze  Anlage  erweist  sich  also  als  ein  ausserordentlich 
gut  fundirtes  Unternehmen,  dass  selbst  zu  Zeiten  wirth- 
schaftlicher  Krisen  den  Aktionären  eine  sichere  Rente  ga- 
rantirt. 

Im  Jahre  1890  betrug  der  Geschäftsgewinn  6 404  320  M., 
davon  produzirte  jeder  der  rund  3500  Arbeiter  1829  M., 
erhielt  aber  seinerseits  nur  einen  Durchschnittslohn  von 
750  M.  Die  Mehrwerthrate  beträgt  also  344  pCt.,  wobei 
allerdings  die  Gehälter  der  Direktoren,  Ingenieure,  Chemi- 


')  Statistisches  Jahrbuch  für  das  Deutsche  Reich  1892. 

a)  Nach  dem  Börsenkalender  der  Frankf.  Ztg;.  für  1892: 
277,40  ult  Di  e.  1891. 


kei,  Aufseher  etc.  nicht  eingerechnet  sind,  unter  deren  Be- 
rücksichtigung aber  immerhin  noch  weit  mehr  als  200  pCt. 
herauskommen  würden. 


Avbeiterverhältnisse  in  Hamburg.  Aus  den  kürzlich 
erschienenen  „Amtlichen  Mittheil ungen  aus  den  Jahres- 
berichten der  mit  Beaufsichtigung  der  Fabriken  betrauten 
Beamten“  (XVI.  Jahrgang  1891),  einer  im  Reichsamt  des 
Innern  gefertigten  Zusammenstellung  sämmtlicher  deutschen 
Inspektorenberichte  (Verlag  von  W.  T.  Bruer,  Berlin) 
braucht  das  Sozialpolitische  Centralblatt  nur  diejenigen 
Stellen  herauszuheben,  die  aus  den  nicht  separat  erschei- 
nenden Jahresberichten  der  Aufsichtsbeamten  stammen; 
denn  die  schon  längst  einzeln  erschienenen  Referate  der 
preussischen,  sächsischen,  bayerischen,  badischen,  württem- 
bergischen,  hessischen  und  einzelner  thüringerischen  In- 
spektoren wurden  in  dieser  Zeitschrift  schon  früher  eingehend 
besprochen.  Da  ist  es  nun  hauptsächlich  der  Jahresbericht 
für  1891  des  Hamburger  Aufsichtsbeamten,  aus  dem 
Bruchstücke  mitgetheilt  werden,  die  bis  jetzt  unbekannt 
waren/  weil  Hamburg  keinen  Abdruck  des  Referates  (ab- 
weichend von  Bremen  und  Lübeck)  veranstaltet.  Zunächst 
heisst  es  über  das  Lehrlingswesen  in  den  Fabriken  und 
in  handwerksmässigen  Betrieben  der  freien  Stadt  Hamburg: 
„Die  Heranbildung  des  Knaben  zum  Handwerker  geschieht 
vielfach  in  einer  so  gleichgiltigen  und  vollständig  lieblosen 
Weise,  dass  es  als  Pflicht  erscheint,  hierauf  hinzuweisen. 

| Während  der  Lehrer  in  den  Volksschulen  hinsichtlich  einer 
Züchtigung  des  ungehorsamen  Knaben  den  strengsten  Vor- 
schriften unterworfen  ist,  untersteht  der  eben  der  Schule 
entwachsene  Lehrling  sofort  der  „väterlichen  Zucht“  seines 
Lehrherrn.  Dieses  Recht  der  „väterlichen  Zucht“  wird  fast 
nur  durch  deutliche  Handgreiflichkeiten  zur  Ausführung 
gebracht  und  nicht  nur  der  Lehrherr  bethätigt  sich  daran, 
sondern  auch  sein  Vertreter,  bezw.  diejenigen  Arbeiter, 
denen  der  Lehrling  zur  Unterweisung  zugetheilt  wird, 
pflegen  die  „väterliche  Zucht“  in  ausgiebiger  Weise  aus- 
zuüben.  Dabei  sind  Schimpfereien  an  der  Tagesordnung, 
welche  jedes  bessere  Gefühl  in  dem  Knaben  zu  unter- 
I drücken  geeignet  sind.  Der  durch  Kontrakt  gebundene 
Lehrling  muss  derartige  „väterliche  Zucht“  und  lieblose 
Behandlung  über  sich  ergehen  lassen  und  nimmt  körper- 
liche Misshandlungen  als  etwas  zur  Sache  gehöriges  hin, 
der  jugendliche  Gelegenheitsarbeiter  duldet  dagegen  solche 
Behandlung  nicht,  oder  er  weiss  sich  derselben  sehr  rasch  zu 
entziehen  . . . Ueber  ungenügende  Leistungen,  namentlich 
der  jüngeren  Werksgehilfen,  wird  Klage  genug  geführt, 
aber  die  fehlerhafte  Ausbildung  der  Lehrlinge,  welche  zum 
grossen  Theil  die  Schuld  hieran  trägt,  wird  nicht  dafür 
verantwortlich  gemacht.  Eine  Besserung  in  dieser  Be- 
ziehung ist  nur  schwer  und  von  langer  Hand  herbeizu- 
führen; es  scheint  sogar  der  reiflichen  Ueberlegung  zu  be- 
; dürfen,  ob  dazu  nicht  eine  vollständige  Umgestaltung 
des  Lehrlingswesens  erforderlich  ist.  Ein  erster  Schritt 
dazu  ist  die  Errichtung  von  Lehrwerkstätten,  zu  welchen 
sich  aber  besonders  die  grösseren  gewerblichen  Betriebe 
nur  schwer  entschliessen.“  Im  Zusammenhang  damit  ver- 
dient hervorgehoben  zu  werden,  dass  der  Aufsichtsbeamte 
für  Hamburg  die  dort  erfolgenden  milden  Bestrafungen 
der  Unternehmervergehen  gegen  die  Schutzvorschriften 
für  jugendliche  Arbeiter  beklagt.  „In  allerletzter  Zeit  ist 
wegen  Uebertretung  des  § 138  Abs.  2 der  Gewerbeordnung 
noch  eine  Geldstrafe  von  1 Mark  vom  Gericht  festgestellt 
worden  und  muss  bezweifelt  werden,  ob  durch  diese  milde 
Auffassung  solcher  Delikte  ein  heilsamer  Einfluss  ausgeübt 
wird.  Die  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  jugend- 
licher Arbeiter  sind  nachgerade  bekannt  genug,  um  es 
gerechtfertigt  erscheinen  zu  lassen,  wenn  bei  den  Be- 
strafungen wegen  Uebertretung  dieser  .Schutzparagraphen 
zu  den  höheren  Grenzen  übergegangen  wird.“  Darin  kann 
man  dem  Aufsichtsbeamten  nur  beistimmen.  Ein  wichtiges 
Kapitel  der  Frauenarbeit  behandelt  der  Inspektor  in  fol- 
genden Zeilen:  „Zur  Ausnutzung  der  Mittagspausen  fehlen 
für  alle  in  den  Betrieben  der  inneren  Stadt  oder  jenseits 
der  Elbe  beschäftigten  Frauen  die  genügenden  Verkehrs- 
mittel Wenn  auch  einige  wohlwollende  Arbeitgeber  den 
verheiratheten  Frauen  eine  um  eine  Stunde  über  das  üb- 
liche Mass  verlängerte  Mittagspause  zugestehen,  so  ge- 
nügt, unter  voller  Anerkennung  dieses  Entgegenkommens, 
ein  solcher  Zeitraum  doch  lange  nicht,  um  darin 
ein  den  billigsten  Anforderungen  entsprechendes 


58 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRA!  .BLATT. 


No  5. 


Mittagsmahl  herzurichten,  die  Hauptmahlzeit  bleibt 
also  den  Abendstunden  Vorbehalten.  Für  die  etwa  vorhan- 
denen Kinder  ist  eine  solche  Ernährungsweise  natürlich 
mit  grossen  Nachtheilen  verknüpft,  weil  dieselben  sich 
während  des  ganzen  Tages  denn  mit  kalten  Speisen  abzu- 
finden haben.“  Endlich  wird,  und  dies  richtet  sich  haupt- 
sächlich gegen  die  Berufsgenossenschaften,  über  die  oft- 
mals ungenügende  Art  der  Ausfüllung  der  Unfall- 
anzeigen im  Jahresbericht  für  Hamburg  Klage  ge- 
führt'. „Eine  nähere  Erläuterung  des  Unfalls  durch  -Skizze 
oder  Zeichnung  wird  fast  nie  beigegeben,  so  dass  eine  Auf- 
klärung des  Vorganges  oft  nur  durch  zeitraubende  persön- 
liche Besichtigung  zu  erreichen  ist.  Die  Art  des  Hergangs 
des  Unfalls  wird  in  vielen  Fällen  nur  dürftig  oder  gar 
nicht  geschildert,  selbst  die  Angaben  über  das  Alter  des 
Verletzten,  über  die  Bedeutung  des  Unfalls  und  über  die 
zuständige  Berufsgenossenschaft  fehlen  zuweilen.  Es  er- 
scheint dringend  nothwendig,  darauf  hinzuwirken,  dass  auf 
die  präzisere  Ausfüllung  dieser  Anzeigen  wieder  grösseres 
Gewicht  gelegt  wird.“  Damit  sind  die  Bruchstücke,  welche 
die  „Amtlichen  Mittheilungen“  aus  dem  letzten  Hamburger 
Fabrikinspektorenbericht  bringen,  in  der  Hauptsache  er- 
schöpft. Ueber  die  elenden  Wohnverhältnisse  und  viele 
andere  Beschwerden  der  Hamburger  Arbeiter  scheint  in 
dem  Bericht  nichts  enthalten  gewesen  zu  sein.  Desto 
wirksamer  hat  die  Cholera  diese  Uebelstände  aufgedeckt. 

Der  Fragebogen  zur  Aufnahme  der  Arbeitsloseustatistik 
in  Hamburg  wurde  im  Anschlüsse  an  ein  Flugblatt  am  17.  Oktober 
im  Aufträge  der  statistischen  Kommission  des  Hamburger  Ge- 
werkschaftskartells  in  170  000  Exemplaren  in  Hamburg  verbreitet. 
Derselbe  hat  folgenden  Wortlaut: 

Fragebogen  zur  Aufnahme  einer  Statistik  über  die  Hamburger 
Arbeiterverhältnisse. 

Vor-  und  Zuname?  Wohnung?  Strasse  No.  Etage?  Ge- 
werbe? Arbeiten  Sie  zu  Hause,  in  der  Fabrik  oder  Werkstatt? 
Wie  alt  sind  Sie?  Jahre.  Verheirathet  oder  ledig?  Zahl  der  zu 
ernährenden  Familienangehörigen?  Sind  Sie  zur  Zeit  arbeitslos? 
Seit  wann  sind  Sie  arbeitslos?  Sind  sonst  Familienangehörige, 
welche  mit  zum  Unterhalt  der  Familie  beitragen,  arbeitslos? 
Waren  Sie  im  Laufe  des  Jahres,  vor  der  Epidemie,  arbeitslos? 
Wie  viele  Wochen?  Wie  viele  Stunden  pro  Tag  arbeiten  Sie  bei 
regelmässigem  Geschäftsgang?  Wie  viele  Stunden  pro  Tag 
arbeiten  Sie  jetzt?  Wie  lange  arbeiten  Sie  schon  kürzere  Arbeits- 
zeit? Wie  viel  beträgt  Ihr  Wochenverdienst?  bei  regelmässigem 
Geschäftsgang?  M.  Pf.  jetzt?  M.  Pf. 

Besondere  Bemerkungen:  (Angaben  über  besondere 

Familien  Verhältnisse  erwünscht.) 

NB.  Dieser  Bogen  ist  gewissenhaft  auszufüllen  und  an  die 
angegebenen  Meldestelle  innerhalb  3 Tage  abzuliefern;  Ange- 
hörige von  Berufen,  für  welche  keine  Meldestelle  angegeben  ist;, 
ersuchen  wir,  ihre  Fragebogen  in  einer  der  umstehend  ange- 
gebenen Meldestellen  abzugeben. 

Aus  dem  dem  Fragebogen  beigefügten  Flugblatte  wollen 
wir  blos  die  folgenden  Stellen  hervorheben : „Man  wagt  es  sogar, 
zu  behaupten,  dass  die  Arbeitslosigkeit  garnicht  in  dem  Masse 
vorhanden  ist,  wie  dies  von  der  arbeitenden  Bevölkerung  er- 
klärt wird. 

Nun,  wir  wollen  versuchen,  dieser  Behauptung  die  richtige 
Würdigung  zu  Theil  werden  zu  lassen-  Und  wenn  jeder  Ar- 
beiter Hamburgs  hierbei  seine  Pflicht  erfüllt,  so  werden  wir  ein 
Bild  des  herrschenden  Elends  entrollen , dem  gegenüber  die 
weitere  Verzögerung  der  nothwendigen  Hilfe  als  ein  Verbrechen 
an  der  Menschheit  angesehen  werden  muss.  Es  gilt,  durch  eine 
statistische  Aufnahme  festzustellen,  wie  gross  die  Arbeitslosig- 
keit jetzt  ist,  wie  gross  sie  im  Laufe  dieses  Jahres  vor  Ausbruch 
der  Epidemie  war.  Das  Letztere  wird  uns  eben  beweisen,  wie 
es  möglich  war,  dass  die  Seuche  aus  den  Reihen  der  Arbeiter 
eine  so  ungeheure  Zahl  von  Opfern  fordern  konnte.  Nur  eine 
schlecht  genährte,  elend  wohnende  Bevölkerung  bietet  diesen 
Krankheiten  einen  geeigneten  Boden  zur  Ausbreitung.  Also, 
nicht  umsonst  sind  die  Fragen,  die  wir  auf  dem  nebenstehenden 
Fragebogen  an  die  Arbeiterschaft  richten.  Nicht  Neugierde  ist 
die  Triebfeder,  die  uns  veranlasst,  jeden  Arbeiter  und  jede  Ar- 
beiterin zu  bitten,  unverzüglich  den  Fragebogen  auszufüllen  und 
abzuliefern.  Es  gilt,  die  Noth  zu  lindern,  indem  man  sie  in 
ihrer  vollen  Nacktheit  zeigt.  Es  gilt,  durch  klare  Beweise  das 
herrschende  Elend  unverhüllt  ans  Tageslicht  zu  ziehen,  um  die 
massgebenden  Kreise  zu  veranlassen,  die  Sünden  früherer  Jahre 
wieder  gut  zu  machen. 

Eine  Kleinigkeit  ist’s,  die  wir  von  Euch,  Ihr  Arbeiter 
Hamburgs,  verlangen.  Eine  Kleinigkeit  für  jeden  Einzelnen, 
und  in  der  Gesammtheit  doch  von  so  gewaltiger,  weittragender 
Bedeutung.  Mit  leichter  Mühe  ist’s  geschehen.  Jeder  fülle  den 
nebenstehenden  Fragebogen  aus  uncF  gebe  ihn  in  der  für  seinen 
Beruf  auf  der  Rückseite  des  Bogens  angegebenen  Meldestelle 
ab.  Lind  wer  den  Bogen  nicht  selbst  ausfüllen  mag,  er  kann 
seine  Angaben  in  den  genannten  Bureaus  machen.  Dort  wird 
stets  einer  unserer  Vertrauensleute  anwesend  sein,  der  die 


nöthigen  Aufzeichnungen  macht.  Ja,  wer  den  Weg  bis  zu  dem 
für  seinen  Beruf  errichteten  Meldebureau  scheut,  der  kann  seinen 
Bogen  in  der  Meldestelle  abgeben,  die  ihm  zunächst  liegt.  Auch 
die  Arbeiter,  welche  keinen  bestimmten  Beruf  haben,  sie  können 
in  allen  Meldestellen  ihren  Bogen  abgenommen  erhalten , oder 
doch  ihre  Angaben  machen.  Niemand  wird  unter  solchen  Um- 
ständen sagen  können,  es  wäre  ihm  nicht  möglich  gewesen,  dem 
von  uns  ausgesprochenen  Wunsche  folgen  zu  können.  Es  ist 
bei  dem  Umfang  der  Statistik  nicht  möglich,  die  Bogen  wieder 
einzuziehen  und  darf  daher  keiner  die  kleine  Mühe  scheuen, 
den  Weg  zur  Meldestelle  zu  machen.  In  einem  Tage  kann  die 
ganze  Arbeit  vollendet  seiu. 

Die  einzelnen  Berufe  werden  dann  möglichst  schnell  ihre 
Zusammenstellungen  machen  und  diese  wieder  zu  einem  Ganzen 
verarbeitet  werden.  In  kurzer  Zeit  werden  wir  dann  das  Re- 
sultat unserer  Erhebungen  zur  allgemeinen  Kenntniss  bringen 
können.“ 

Zur  Lage  der  Arbeiter  in  den  Privatverkehrsanstalten. 

Die  in  Dresden  erscheinende  „Sächsische  Arbeiter-Zeitung“  ver- 
öffentlicht in  ihrer  Nummer  vom  11.  Oktober  interessante  und 
ausführliche  Angaben  über  die  Lage  der  bei  der  Dresdner  Ver- 
kehrsanstalt „Hausa“  (Hansa)  beschäftigten  Brief  boten.  Zunächst 
werden  als  Beispiele  zwei  Fälle  von  Bezahlung  der  Brief  boten 
und  über  die  hiefür  geforderten  Leistungen  angeführt.  Ein 
Bote,  der  seit  Anfang  1890  dort  beschäftigt  war  erhielt  Anfangs 
48  M.  Monatsgehalt,  später  60  M.;  dafür  hatte  er  folgenden  Bezirk 
zu  bestellen:’  Wettinerstrasse,  einen  Theil  der  Flosshofstrasse, 
Schäferstrasse,  Berlinerstrasse,  Briessnitzschlag,  Friedrichstrasse, 
Untere  Vorwerkstrasse,  Obere  Vorwerkstrasse,  Hohenthalplatz. 
Seminarstrasse,  Brauergasse,  Dinterstrasse , Waclisbleichgasse, 
Petergasse,  Institutsgasse,  Weisseritzstrasse,  Adlergasse,  Me- 
nageriestrasse. Diese  Tour  war  täglich  vier  Mal  zu  begehen 
Ein  zweiter  6 Monate  lang  bei  der  „Hansa“  beschäftigt  ge- 
wesener Bote  hatte  Wienerstrasse  mit  allen  zwischen  dieser  und 
dem  grossen  Garten  gelegenen  Strassen  bis  nach  Strehlen; 
ebenfalls  vier  Mal  täglich.  Als  „Bezahlung“  hierfür  erhielt  der 
Mann  monatlich  25  M.  Dabei  wird  auf’s  allerstrengste  die  pein- 
lichste Genauigkeit  von  den  überangestrengten  Briefboten  ge- 
fordert, was  schon  aus  der  Dienstordnung  erhellt.  § 8 derselben 
bestimmt,  dass  die  von  den  Brief  boten  zu  leistende  Kaution  in 
ihrem  vollen  Betrage  zu  Gunsten  der  „Hansa“  verfällt,  wenn  der 
Bote  eine  Sendung  vorsätzlich  nicht  rechtzeitig  abliefert,  Briefe 
oder  Postkarten,  welche  von  einer  Austragung  zur  andern  übrig 
bleiben,  nicht  zur  Abstempelung  vorlegt,  die  vorgeschriebene 
Tour  nicht  ordnungsgemäss  oder  überhaupt  nieht  bestellt  und 
diese  Zeit  zu  seinen  eigenen  Verrichtungen  benützt  Sendungen 
anstatt  eigenhändig  an  die  empfangsberechtigten  Personen  an 
zum  Empfange  nicht  berechtigte  Personen  abgiebt  oder  Sen- 
dungen durch  Zwischenpersonen  abgiebt.  In  allen  diesen  Fällen 
und  noch  einigen  gilt  die  Kaution  als  sofort  mit  der  Zuwider- 
handlung in  das  Eigenthum  der  „Hansa“  übergegangen.  Die 
Kaution  beträgt  in  uns  bekannt  gewordenen  Fällen  Einhundert 
Mark.  Dieser  geradezu  drakonischen  Bestimmung  reihen  sich 
die  übrigen  Bestimmungen  des  Vertrages  würdig  an.  Wer 
nämlich  die  vorgedachten  Vergehen  sich  aus  Fahrlässigkeit  zu 
Schulden  kommen  lässt,  hat  eine  Strafe  zu  zahlen,  welche  das 
erste  Mal  25  Mark  und  für  jeden  Wiederholungsfall  50  Mark 
(Fünfzig  Mark)  beträgt.  Wer  den  Nachweis  nicht  erbringen 
kann,  dass  er  eine  Zuwiderhandlung  nur  aus  Fahrlässigkeit  Be- 
gangen oder  dass  ihn  überhaupt  kein  Verschulden  trifft,  von 
tlem  wird  angenommen,  dass  er  aus  Vorsatz  gehandelt  und  dann 
verfällt  die  Kaution. 

Wer  vorsätzlich  oder  aus  Fahrlässigkeit  die  Briefkästen 
nicht  ordnungsgemäss  leert,  hat  für  jeden  nicht  ordnungsgemäss 
geleerten  Briefkasten  10  M.  Strafe  zu  zahlen. 

Der  Vertrag  wird  auf  längere  Zeit  geschlossen , meist  auf 
3 Jahre,  wenigstens  in  den  bekannt  gewordenen  Fällen  Wer 
das  Dienstvernältniss  vor  Ablauf  von  6 Monaten  seit  Beginn 
desselben  löst,  zahlt  eine  Konventionalstrafe  von  50  M.  wenn  er 
nicht  nachweist,  dass  er  eihen  dringenden  Grund  dazu  hat  der 
nicht  vorherzusehen  war.  Der  Unternehmer  ist  jedoch  berechtigt, 
den  Arbeiter  jeden  Tag  ohne  Grund  und  ohne  Entschädigung 
fortzuschicken  und  ist  dabei  nach  dem  Wortlaute  des  Vertrages 
an  keine  Kündigung  gebunden,  während  andererseits  der  Arbeiter 
an  eine  30  tägige  Kündigungsfrist  gebunden  ist  (nach  Ablauf  der 
Zeit,  für  die  er  sich  überhaupt  vertragsmässig  gebunden  hat). 
Ausserdem  ist  der  Arbeiter  mit  seiner  Kündigung  an  den  ersten 
und  fünfzehnten  Monatstag  gebunden  und  die  Kündigung  wird 
nur  wirksam,  wenn  sie  an  einem  dieser  beiden  Tage  tnatsächlich 
erfolgt. 

Der  § 7 der  Dienstordnung  bestimmt,  dass  bei  Auflösung 
des  Dienstverhältnisses  die  Kaution  erst  sechs  Monate  nach  er- 
folgtem Austritt  aus  dem  Dienst  zurückgezahlt  wird. 

Zur  Lage  der  Landarbeiter  in  England.  Aus  den  von 

dem  Regierungskommissar  Richards  vorgenommenen  Unter- 
suchungen über  die  Lage  der  Landarbeiter  in  Cheshire  geht 
hervor,  dass  dort  in  den  letzten  15  Jahren,  trotzdem  die 
Löhne  eine  Aufbesserung  erfahren,  die  Zahl  der  Land- 
arbeiter beträchtlich  abgenommen  hat,  so  dass  gegenwärtig 
Arbeitermangel  vorhanden  ist.  Der  Lohn  für  gewöhnliche 


No.  5. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


59 


Landarbeiter  .stellte  sich  für  die  Woche  aut  15. sh;  Pierde- 
knechte  und  Viehwärter  erhielten  einen  um  3 sh  höheren 
Lohn  Im  Winter  währten  die  Arbeitsstunden  von  6 Uhr 
Morgens  bis  5’/*  Uhr  Abends;  während  der  Erntezeit  musste 
so  lange  gearbeitet  werden,  als  es  die  Erntearbeiten  er- 
forderten. Während  dieser  Zeit  erhalten  die  Arbeiter 
Extra  Vergütungen.  Die  Anzahl  der  Cottage  hat  in  Cheshire 
abgenommen.  Viele  derselben  befanden  sich  in  einem 
schlechten  Zustande. 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Der  Strike  von  Carmaux,  der  von  dem  Momente  an, 
da  der  Präsident  der  Grubengesellschaft,  Baron  Reille,  in 
der  Kammer  die  Erklärung  abgab,  den  Streitfall  einem 
Schiedsrichterspruch  unterwerfen  zu  wollen,  beigelegt  schien, 
droht  nun,  da  der  Spruch  erfolgt  ist,  heller  denn  je  aufzu- 
lodern. Es  muss  hier  gleich  bemerkt  werden,  dass  die 
Strikenden  von  vornherein  kein  besonderes  Vertrauen  zu 
dem  ihnen  aufgedrängten  Schiedsmann,  dem  Ministerpräsi- 
denten Loubet,  hatten,  dessen  Anordnungen  seit  Ausbruch 
des  Strike  sich  in  keiner  Weise  von  denen  anderer  kapita- 
listenfreundlicher Ministerien  unterschieden  Sie  hatten  sich 
darum  auch  geweigert,  die  Arbeit  wieder  aufzunehmen, 
ehe  der  Schiedsspruch  erfolgt  ist.  Als  Vertreter  ihrer 
Sache  hatten  sie  drei  hervorragende  Mitglieder  der  radikalen 
Linken,  die  Abgeordneten  Clemenceau,  Millerand  und  Pelle- 
tan  gewählt.  Dieselben  haben  nach  einer  gemeinsamen  Be- 
sprechung des  Streitfalles  erkannt,  dass  die  persönliche  An- 
gelegenheit Calvignac’s  dessen  Entlassung  den  Strike  her- 
vorgerufen hat,  insoferne  leicht  beizulegen  sei,  als  Calvig- 
nac  gleich  bei  Ausspruch  des  Strike  erklärt  hatte,  noch  am 
Tage  seiner  Wiederaufnahme  seinen  Urlaub  verlangen  zu 
wollen  und  diese  Erklärung  nun  auch  schriftlich  abgegeben 
hatte;  dass  somit  die  Hauptbedingung  einer  ordentlichen 
Lösung  des  Streitfalls  in  der  ausnahmslosen  Wiederein- 
stellung sämmtlicher  Arbeiter  liege,  da  es  ihnen  evident 
erscheine,  dass  ein  Vergessen  des  Geschehenen  in  Bezug 
auf  das  Vergehen  des  Grubendirektors  Humblot  nur  dann 
möglich  , wenn  dieses  Vergessen  ein  gegenseitiges  sei. 
Darum  verlangten  sie  auch  nicht  die  Entlassung  des  Direk- 
tors, der  dadurch,  dass  er  Calvignac  die  Arbeit  kündigte, 
den  ganzen  Strike  hervorgerufen  hat.  Nun  hat  aber  der 
Ministerpräsident  in  seinem  Schiedsspruch,  abgesehen  da- 
von, dass  diesem ' zu  Folge  der  Urlaub  Calvignac’s  aus 
eigenem  Antrieb  der  Grubehgesellschaft  anstatt  auf  Ver- 
langen Calvignac’s  zu  erfolgen  hat,  darauf  erkannt,  dass 
gegen  den  Grubendirektor  nichts  vorliege,  das  seine  Ent- 
lassung rechtfertigen  würde,  obwohl  Herr  Loubet  in  den 
Erwägungen  seinen  Schiedsspruch  selber  anerkennt,  dass 
die  Grubengesellschaft  durch  die  seitens  des  Direktors  er- 
folgte Entlassung  Calvignac’s  ihre  Rechte  überschritten  hat. 
Hingegen  wird  der  Grubengesellschaft  das  Recht  zuerkannt, 
die  Strikenden,  die  am  15.  August  in  die  Wohnung  des 
Direktors  drangen,  um  seine  Entlassung  zu  fordern,  und 
deswegen  zu  acht  Tagen  bis  zu  vier  Monaten  verur- 
theilt  wurden,  nicht  wieder  einzustellep.  Ob  nun  diese  Ar- 
beiter bedachtsam  oder  unbedacht  gehandelt  haben,  in 
jedem  Falle  war  ihre  Handlungsweise  nur  eine  Folge  des 
Vergehens  des  Direktors  und  wollen  die  Strikenden  nicht, 
dass  diese  allein  unter  den  Folgen  des  Strikes  leiden  sollen. 
Sie  sind  darum  entschlossen,  die  Arbeit  nur  dann  auf- 
zunehmen , wenn  auch  ihre  gerichtlich  verurtheilten 
Genossen  wieder  eingestellt  werden.  Was  nun  kommen 
wird,  ist  schwer  vorauszusehen.  Nur  so  viel  sei  noch  fest- 
gestellt, dass  die  Abgeordneten  Clemenceau,  Millerand  und 
Pelletan  in  einem  gleich  nach  Bekanntgebung  des  Schieds- 
spruchs erfolgten  telegraphischen  Schreiben  an  ihre  Man- 
danten diesen  nach  Darlegung  der  ganzen  Sachlage  er- 
klärten: „Wir  bleiben  mit  Euch  für  die  Verteidigung 
Eurer  Rechte.“ 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Internationale  Gewerkschaftskongresse  einzelner  Be- 
rufe dürften  im  Anschlüsse  an  den  Internationalen  Arbeiter- 
kongress  zu  Zürich  im  Jahre  1893  abgehalten  werden. 


Die  schweizerischen  Schuhmacher  haben  schon  einen  Auf- 
ruf zur  Beschickung  eines  in  Zürich  im  Jahre  1893  abzu- 
haltenden internationalen  .Schuhmacherkongresses  erlassen. 
Andere  Gewerkschaften  dürften  wohl  dem  Beispiele  folgen. 
Grosse  Bedeutung  dürfte  diesen  Kongressen  ebensowenig 
beizulegen  sein  wie  den  im  Anschlüsse  am  Brüsseler  inter- 
nationalen Arbeiterkongresse  abgehaltenen  internationalen 
Gewerkschaftskongressen.  Ohne  Beziehung  zum  interna- 
ttonalen Arbeiterkongresse  ist  der  von  den  Handschuh- 
machern für  das  Jahr  1893  in  Aussicht  genommene  inter- 
nationale Kongress  zu  Grenoble  in  Frankreich. 

Strike  wegen  vorgeschrittener  Arbeitsthcilung  und 
Lehrlingsheschäftigung.  In  Paris  sind  sämmtliche  Arbeiter  des 
bekannten  Riesenbetriebes,  der  Gold-  und  Silberwaarenfabrik 
von  Christoffle  im  Ausstande  wegen  der  zunehmenden  Beschäfti- 
gung der  Lehrlinge.  Man  lässt  dieselben  stets  nur  dieselbe 
Arbeit,  dieselben  Mieten,  Henkel,  Löffel,  Deckel  u.  s.  w.  anfertigen, 
worin  sie  natürlich  sehr  bald  eine  ungemeine-Geläufigkeit  er- 
langen. Aber  sie  kennen  auch  weiter  nichts,  als  diese  eine  Ver- 
richtung, diese  einförmige  Arbeit.  Diese  „Maschinenarbeiter“ 
sind  in  andern  Werkstätten  gar  nicht  zu  verwenden,  müssen 
daher  um  so  billiger  bei  Christoffle  arbeiten.  Die  gelernten 
ordentlichen  Edelschmiede  sind  dadurch  auch  schwer  benach- 
teiligt, und  müssen  ebenfalls  mit  niederen  Löhnen  vorlieb 
nehmen.  — Die  auf  die  Spitze  getriebene  Theilung  der  Arbeit, 
die  die  Herstellung  von  Waaren  zu  dem  überhaupt  denkbar 
billigsten  Preis  ermöglicht,  kommt  den  Kapitalisten  allein  zu 
j Gute , während  sie  für  den  Arbeiter  zu  einer  Quelle  der 
Noth  wird. 

Die  Organisation  (1er  Buchdruckergehilfen  in  Kali- 
fornien umfasst  so  gut  wie  sämmtliche  gelernte  Arbeiter 
des  Gew-erbes,  nämlich  von  1550  Setzern  1370  (88,4  pCt.) 
und  von  380  Setzerinnen  300  (78,95  pCt.).  Demnach  waren 
blos  13,52  pCt.  der  gelernten  Arbeiter  nicht  Mitglieder  der 
Organisation. 


Unternehmerverbände. 


Verband  deutscher  Ziegelwaarenfabrikanteu.  ln  einer 
Berliner  Versammlung  vom  13.  Oktober  beschäftigte  sich 
eine  grössere  Anzahl  von  Ziegeleibesitzern  mit  dem  Plane 
einer  „Konvention“.  Es  ist  indessen  nicht  anzunehmen,  dass 
angesichts  der  grossen  Anzahl  von  Ziegelfabrikanten  — ca. 
200  — , die  unter  den  verschiedensten  Verhältnissen  produ- 
ziren,  theils  sehr  billige,  theils  sehr  hohe  Frachten  nach 
Berlin  haben,  eine  Einigung  überhaupt  zu  erzielen  sein 
wird  Immerhin  wurde  zugegeben,  die  Idee  einer  Kon- 
vention sei  allerdings,  wenn  es  möglich  sei,  dieselbe  zu 
Stande  zu  bringen,  einer  ernsten  Arbeit  werth.  Denn  an- 
genommen, dass  nur  eine  Produktion  von  600  Millionen  in 
der  Konvention  sich  befindet,  so  würden  diese  bei  dem  in 
Aussicht  genommenen  Mindestverkaufspreise  von  25  M.  der 
Verwaltung  einen  Nutzen  von  750  000  M.  bedeuten. 

Kartell  österreichischer  Zündwaarenfabrikanten.  Die 

Zündwaarenfabrikanten  von  Böhmen,  Mähren  und  Schlesien 
haben  am  16.  und  17.  Oktober  eine  Konferenz  in  Prag  abgehalten 
und  wrollen  den  Verkauf  ihrer  Erzeugnisse  durch  eine  Centrai- 
stelle  besorgen  Der  Zeitpunkt,  von  welchem  an  die  gefassten 
Beschlüsse  An  Kraft  treten,  sowie  die  diesbezüglichen  Bestim- 
mungen werden  bis  auf  Weiteres  geheim  gehalten.  Unter  Einem 
wurde  beschlossen,  die  Zündwaarenfabrikanten  aller  anderen 
Kronländer  von  Oesterreich-Ungarn  entweder  zum  Beitritte  auf- 
zufordern oder  eine  ähnliche  Vereinigung  in  deren  Wirkungs- 
kreis ins  Leben  zu  rufen. 


Handwerk  erfragen. 


Preisfestsetzungen  durch  Innungen.  Von  den  sächsischen 
Verwaltungsbehörden  ist  kürzlich  die  interessante  Frage  grund- 
sätzlich entschieden  worden,  ob  die  fakultativen  Innungen  der 
deutschen  Gewerbeordnung  Preisfestsetzungen  treffen  dürfen, 
welche  für  sämmtliche  Mitglieder  bindend  sind.  Bei  der  könig- 
lichen Kreishauptmannsehaft  Leipzig  beschwerte  sich  ein  Barbier, 
dass  in  dem  von  der  Kreishauptmannsehaft  genehmigten  Statut 
seiner  Innung  eine  Bestimmung  aufgenommen  worden  sei, 
wonach  jedem  Innungrsmitgliede  die  Einhaltung  des  von  der 
Innung  festgesetzten  Minimaltarifs  für  gewerbliche  Leistungen 
obliegt  und  jede  Uebertretung  dieses  Tarifs  mit  einer  Ordnungs- 
strafe bedroht  ist  Er  bezweifelte  die  wirthschaftliche  und.  recht- 


60 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  5. 


liehe  Zulässigkeit  dieser  Bestimmung  und  beantragte  daher  die 
Anordnung  einer  Abänderung  bezw.  Streichung  derselben.  Die 
königliche  Kreishauptmannschaft  hat  diese  Beschwerde  abge- 
wiesen und  in  der  Entscheidung  Folgendes  ausgeführt:  Die 

angefochtene  Bestimmung  dient,  wie  der  Stadtrath  zu  L.  in  zu- 
treffender Weise  ausgeführt  hat,  zur  möglichsten  Fernhaltung 
der  Schleuderkonkurrenz.  Eine  solche  Konkurrenz  zu  beseitigen, 
einen  soliden  Geschäftsbetrieb  bei  den  Innungsmitgliedern  zu 
fördern,  eine  Benutzung  unlauterer  oder  schwindelhafter  Mittel 
seitens  der  Innungsmitglieder  auszuschliessen,  ist  aber  eine  der 
Hauptaufgaben  der  Innung,  insofern  als  diese  nach  § 97  Abs.  2 
No.  1 der  Gewerbeordnung  gerade  zur  Pflege  des  Gemeingeistes, 
sowie  zur  Aufrechthaltung  und  Stärkung  der  Standesehre  unter 
den  Mitgliedern  berufen  ist  — vergl.  Anm.  zu  § 15  des  vom 
Reichsamte  des  Innern  veröffentlichten  Normal-Innungsstatuts. 
— Ist  demnach  die  angefochtene  Bestimmung  des  Innungsstatuts 

f;erade  um  deswillen  aufgenommen  worden,  um  eine  der  gesetz- 
ichen  Aufgaben  der  Innung  zu  erfüllen,  so  fällen  sämmtliche 
aus  § 98  a Abs.  3 der  Gewerbeordnung  gezogene  Schlussfolge- 
rungen des  Beschwerdeführers  in  sich  zusammen  und  es  war 
vielmehr  anzuerkennen,  dass  dieselbe  den  gesetzlichen  Bestim- 
mungen vollkommen  entspricht.  Da  nach  § 98  b Abs.  2 No.  1 
der  Gewerbeordnung  die  Genehmigung  eines  Innungsstatuts 
aber  nur  versagt  werden  kann,  wenn  es  den  gesetzlichen  An- 
forderungen nicht  entspricht,  so  lag  hiernach  ein  Grund,  das 
Statut  der  Barbier-  und  Friseurinnung  nicht  zu  genehmigen, 
nicht  vor,  infolge  dessen  musste  sich  die  königliche  Kreishaupt- 
mannschaft aber  auch  behindert  sehen,  gemäss  § 103 1 der  Ge- 
werbeordnung, dem  Wunsche  des  Beschwerdeführers  ent- 
sprechend, eine  Anordnung  auf  Abänderung  des  Statutes  zu 
treffen.  Ist  aber  die  rechtliche  Zulässigkeit  der  betreffen- 
den Bestimmung  nachgewiesen,  so  liegt  für  die  königliche  Kreis- 
hauptmanns'chait  eine  Veranlassung,  ihre  wirtschaftliche  Zu- 
lässigkeit zu  prüfen  — d.  h.  wohl  zu  erwägen,  ob  sie  praktisch 
durchführbar  und  zweckentsprechend  sei  — nicht  vor,  sie  hat 
dies  vielmehr  lediglich  der  Innung  selbst  zu  überlassen.  Auf 
hiergegen  eingelegtes  Rechtsmittel  hat  das  königliche  Ministerium 
des  Innern  diese  Entscheidung  bestätigt. 


Arbeiterschutzgesetegebung. 


Zur  Reform  des  Arbeiterschutzes  in  Oesterreich. 

Seit  dem  Jahre  1885  hat  der  Ausbau  des.österreichischen 
Arbeiterschutzes  einen  vollständigen  Stillstand  erfahren. 
Damals  wurde  der  elfstündige  Maximalarbeitstag  mit  seinen 
zahreichen  Lücken,  eine  sehr  fragwürdige  Festsetzung  der 
Sonntagsruhe  und  Bestimmungen  über  Frauen-  und  Kinder- 
arbeit, wovon  das  Verbot  der  Nachtarbeit  für  die  Frauen 
die  wichtigste  ist,  durchgesetzt.  Die  politische  Konstellation, 
welche  Anfangs  der  Achziger  Jahre  diesen  Fortschritt  in 
Oesterreich  ermöglichte,  besteht  nicht  mehr.  Die  Rivalität 
zwischen  Liberalen  und  Konservativen  hat,  soweit  es  sich 
um  soziale  Dinge  handelt,  — einem  stillschweigenden  Ein- 
verständniss  Platz  gemacht,  welches  sich  in  einem  passiven 
Widerstande  gegen  alle  Forderungen  der  Arbeiter  aus- 
spricht. Weitere  Fortschritte  werden  mit  wechselndem 
und  meist  sehr  geringem  Erfolge  nur  auf  dem  Gebiete  der 
Arbeiterversicherung  angestrebt.  Gleichwohl  wären  wich- 
tige Probleme  des  Arbeiterschutzes  einer  Lösung  zuzu- 
führen. Insbesonders  wird  die  Ausdehnung  der  wuchtigsten 
Arbeiterschutzbestimmungen  auf  die  kleingewerblichen  Be- 
triebe und  das  Transportgewerbe  immer  dringender.  Die 
Zustände  gerade  in  diesen  Zweigen  sind  die  denkbar 
schlechtesten,  und  doch  ist  gerade  hier  ein  Fortschritt  für 
die  nächste  Zeit  nicht  zu  erwarten.  Während  sich  einer 
Unterwerfung  der  Kleinbetriebe  unter  die  Bestimmungen 
des  Arbeiterschutzes  gerade  jene  Vertreter  des  Kleinbürger- 
thums widersetzen,  welche  sich,  soweit  die  Grossindustrie 
in  Betracht  kommt,  als  Sozialreformer  geberden,  sind  es 
die  einflussreichen  grossen  Transportgesellschaften,  welche 
ihre  Interessen  in  so  durchschlagender  Weise  politisch  zu 
vertreten  wissen,  dass  die  Forderungen  der  Arbeiter  des 
Verkehrsgewerbes  zunächst  nicht  einmal  zur  parlamentari- 
schen Diskussion  gebracht  werden.  Da  in  dem  österreichischen 
Paria:  c.nte  eint  Vertretung  der  Arbeiter  fehlt,  mangelt  es 
unter  diesen  Umständen  an  jeder  Initiative. 

Bei  dieser  absoluten  Stagnation  ist  es  doppelt  be- 
merkenswert}* , dass  nun  doch  das  Parlament  und  die 
Reg-  'iu  ig  gezwungen  wurde,  die  Frage  einer  Ausdehnung 
des  Arbeiterschutzes  in  Angriff  zu  nehmen.  Die  Artregung 


ging  von  der  Organisation  der  Wiener  Bauarbeiter  aus;  die 
Gelegenheit  gaben  die  grossen  öffentlichen  Arbeite»,  welche 
in  Wien  geplant  werden.  Wie  bereits  in  Nr.  11  des  ersten 
Jahrganges  dieser  Zeitschrift  berichtet  wurde,  traten  die 
Wiener  Bauarbeiter  mit  einem  Memorandum  an  die  be- 
theiligten Körperschaften,  Gemeinderath,  Landtag  und 
Reichsrath  heran.  Die  wichtigsten  Forderungen  derselben 
waren,  in  die  Bedingnisshefte  die  Verpflichtung  der  Unter- 
nehmer aufzunehmen,  Löhne  und  Arbeitszeit  im  Einver- 
ständnisse mit  den  Arbeiterorganisationen  festzusetzen  und 
für  Taglöhnerarbeit  niedrigster  Art  (Erdarbeiten)  einen 
Minimallohn  von  1 fl.  30  kr.  bei  zehnstündiger  Arbeitszeit 
zu  bewilligen;  ferner  die  Ausdehnung  der  Arbeiterschutz- 
gesetzbestimmungen auf  die  bei  den  Verkehrsanlagen 
beschäftigten  Taglöhner,  sowie  eine  wirksame  Inspek- 
tion der  Durchführung  dieser  Bestimmungen.  Obwohl  diese 
Forderungen  an  sich  als  sehr  bescheiden  bezeichnet 
werden  müssen,  und  Angesichts  der  Einrichtungen  des 
London  County  Council  und  des  Pariser  Munizipalraths 
durchaus  kein  unerhörtes  Novum  bedeuten,  hatte  die 
Aktion  zunächst  nur  einen  sehr  beschränkten  Erfolg.  Nach 
drei  lebhaften  Debatten  im  Abgeordnetenhause,  welche  die 
völlig  veränderte  Stellung  der  Parteien  in  sozialpolitischen 
Dingen  deutlich  vor  Augen  führten,  wurde  ein  von 
Baernreither-Russ  eingebr achter  Antrag  zum  Gesetz 
erhoben,  welcher  die  Bestellung  eines  eigenen  Gewerbe- 
inspektors für  die  Verkehrsanlagen  in  Wien  festsetzt  und 
ihm  in  der  die  Bauten  leitenden  Kommission  berathende 
Stimme  giebt.  Ebenso  wurde  eine  von  denselben  Abgeord- 
neten eingebrachte  Resolution  angenommen,  welche  die 
Regierung  auffordert,  die  Gleichstellung  sämmtlicher  bei 
den  Verkehrsanlagen  beschäftigten  Arbeiter  mit  Fabriks- 
arbeitern in  Bezug  auf  Arbeiterschutz  durch  Vereinbarungen 
mit  den  Unternehmern  „nach  Thunlichkeit“  zu  veranlassen.  < 
Der  jungczechische  Abgeordnete,  Prof.  Kaizl,  hatte  seiner- 
seits die  Anregung,  den  Arbeiterschutz  auszudehnen,  auf- 
genommen und  dahin  erweitert,  dass  sie  sich  nicht  nur  auf 
die  bei  den  Wiener  Verkehrsanlagen  beschäftigten,  sondern 
auf  sämmtliche  Arbeiter  der  in  Frage  kommenden  Kategorie 
erstrecken  soll.  Sein  Gesetzesvorschlag  wurde  dem  Gewerbe- 
ausschusse  zugewiesen,  welcher  seinerseits  die  Regierung 
aufforderte,  „sicheres  und  genügendes  Material  durch  eine  j 
in  ihr  Ermessen  gestellte  Umfrage  bei  Handelskammern, 
Genossenschaften  und  Gewerbebehörden  herzustellen“.  I 
Soeben  ist  das  Handelsministerium  damit  beschäftigt,  diesem 
Aufträge  zu  entsprechen,  und  es  werden  von  Unternehmer- 
verbänden, Arbeitervereinen  und  Handelskammern  Gut- 
achten eingeholt.  Die  Wiener  Handels-  und  Gewerbe- 
kammer hat  die  Veranstaltung  einer  umfassenden  Enqu€te 
beschlossen. 

Der  in  Rede  stehende  Gesetzentwurf  Kaizl  hat  zwei 
Theile.  Der  erste  Theil  unterwirft  die  bisher  von  der 
Gewerbeordnung  gar  nicht  getroffenen  Taglöhner  dem 
VI.  Hauptstück  dieses  Gesetzes,  welches  die  Arbeiterschutz- 
bestimmungen enthält.  Insbesondere  kommen  dabei  die 
Vorschriften  in  Betracht,  welche  betreffen:  Unfallverhütung, 
sanitäre  Arbeitsstättenpolizei,  Sonntagsruhe,  Arbeitspausen, 
Verbot  des  Truckwesens,  Kündigungsfrist  u.  s.  w.  Alle 
diese  Dinge  sind  bisher  vollständig  ungeregelt,  soweit  nicht 
etwa  die  Taglöhnerarbeit  an  die  Arbeitsbedingungen  der 
cj ualitizirten  Arbeit  durch  die  Noth Wendigkeiten  des  Betriebes 
gebunden  ist.  Von  Gesetz  es  wegen  besteht  keine  Regelung 
und  bei  allen  Unternehmungen,  wo  Taglöhnerarbeit  die 
Hauptrolle  spielt  (z.  B.  Erdarbeiten),  herrscht  auch  wildeste 
Anarchie;  insbesondere  die  spezielle  Form  der  Ausbeutung 
mittelst  des  Trucksystems  (Kantinenwirtlischaft)  feiert 
wahre  Orgien.  Die  Unklarheit  der  bisherigen  gesetzlichen 
Bestimmungen  macht  jeden  Kampf  erfolglos  und  die  Bau- 
arbeiter, welche  die  Regelung  verlangten,,  befinden  sich 
in  voHer  Uebereinstimmung  mit  den  Gewerbeinspektoren, 
welche  in  ihren  Berichten  drastische  Beispiele  von  den 
Folgen  der  ganz  unbegründeten  Exemption  der  „Taglöhner“ 
vom  Gesetze  geben. 

Auch  dass  das  VI.  Hauptstück  der  Gewerbeordnung 
die  Nachtarbeit  der  Frauen  verbietet,  kommt  hier  sehr  in 


No.  5. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


61 


Betracht.  Sogar  beim  Baugewerbe  wird  immer  mehr 
Frauenarbeit  verwendet  und  gerade  die  „Lohnarbeit  ge- 
meinster Art“,  wie  sie  unser  Gesetz  nennt,  wird  immer 
mehr  dem  „schwachen  Geschlechte“  überlassen  Der^Gö- 
werbeinspektor  des  Bezirkes  Olmiitz  klagt  in  seinem  letzten 
Berichte  (für  das  Jahr  1891,  pag.  303),  dass  beim  Baugewerbe 
„männliche  Arbeiter  entlassen  und  an  ihrer  Stelle  Frauens- 
personfen  bestellt  wurden“  und  dass  überdies  die  Verwen- 
dung von  Frauen  in  Ziegeleien,  Steinbrüchen  u.  s.  w 
zunehme.  Werden  diese  Frauen  nun  zur  Nachtarbeit  ver- 
wendet, was  in  allen  Ziegeleien  aber  auch  auf  Wiener 
Bauten  offenkundig  geschieht,  so  ist  nichts  leichter,  als  sie 
als  vom  Schutze  des  Gesetzes  eximirte  „Taglöhner“  hinzü- 
stellen. 

Die  Beschränkung  der  Arbeitszeit  bezieht  sich  nach 
österreichischem  Gesetze  nur  auf  Hilfsarbeiter  in  „fabriks- 
mässig  betriebenen  Gewerbsunternehmungen“.  Die  Tag- 
löhner auch  des  1 1 stündigen  Maximalarbeitstages  theilhaftig 
zu  machen,  strebt  der  zweite  Theil  des  Kaizl’schen  Ent- 
wurfes leider  in  sehr  unzulänglicher  und  schwächlicher 
Weise  an.  Sein  § 2 lautet:  „Die  politische  Landesbehörde 
wird  ermächtigt,  nach  Anhörung  der  zuständigen  Handels- 
und Gewerbekammern  die  Bestimmungen  der  §§  96a  und 
96  b der  Gewerbeordnung  auf  die  Hilfsarbeiter  und  die 
Taglöhner  in  nicht  fabriksmässig  betriebenen  Gewerbs- 
unternehmungen, bei  denen  über  20  Personen  beschäftigt 
werden,  auszudehnen.“  Gewiss  hat  der  Paragraph  den 
Vortheil,  dass  er  es  möglich  macht  die  vielumstrittene 
Definition  des  Fabriksbetriebs  rationell  zu  umgehen  und 
wenigstens  die  Arbeiter  und  mit  ihnen  die  Taglöhuer 
grösserer  Betriebe,  welche  als  „Fabriken“  nicht  angesehen 
werden  können,  dem  Arbeiterschutz  zu  unterstellen.  Aber 
in  welche  Hände  legt  der  Entwurf  diese  Entscheidung! 
Die  politischen  Landesbehörden,  welche  gewohnt  sind,  den 
Arbeiterschutz  durch  Legionen  von  Ausnahmsbewilligungen 
zu  durchlöchern,  sollen  plötzlich  die  Rolle  wechseln  und 
seine  Grenzen  erweitern.  Und  von  der  Zustimmung  der 
Handels-  und  Gewerbekammern,  also  der  Organisationen 
der  Unternehmer,  soll  jeder  einzelne  kleine  Fortschritt  ab- 
hängig-gemacht  werden!  Wenn  der  Antrag  in  dieser  Form 
angenommen  wird,  ist  er  eine  Todtgeburt. 

Uebrigens  ist  es  bezeichnend,  dass  die  Regierung 
selbst  schon  diesem  Minimum  von  Ausbau  des  Arbeiter- 
schutzes nichts  weniger  als  freundlich  gegenüber  steht.  In 
dem  Rundschreiben , welches  die  Gutachten  über  den 
Kaizl’schen  Entwurf  einholt,  agitirt  das  Handelsministerium 
unverholen  gegen  denselben  und  zwar  in  wenig  geschickter 
Weise.  Es  wird  darin  den  Korporationen,  deren  Meinungs- 
äusserung die  Regierung  wünscht,  nahegelegt,  dass  die 
Ausdehnung  der  Geltung  des  VI.  Hauptstückes  der  Gewerbe- 
ordnung auf  die  Taglöhner  für  diese  durchaus  nicht  eine 
„lediglich  wohlthätige  Massregel“  bedeute,  sondern  ihnen 
„auch  Verpflichtungen  auferlege,  die  häufig  drückend 
Sein  könnten“  und  führt  als  Beispiel  das  Arbeitsbuch 
und  die  Zwangsgenossenschaft  auf.  Unseres  Wissens  ist  es 
das  erste  Mal,  dass  eine  Regierung  in  einem  offiziellen 
Aktenstücke  zugesteht,  das  Arbeitsbuch  sei  für  den  Arbeiter 
keine  „lediglich  wohlthätige  Massregel“,  sondern  eine 
„drückende  Verpflichtung“.  Die  Konsequenzen  freilich 
hütet  sich  das  Ministerium  zu  ziehen.  Bezüglich  der 
Zwangsgenossenschaften  ist  dem  Verfasser  des  Rundschrei- 
bens der  Regierung  ein  kleiner  lapsus  calami  passirt.  Das 
VI.  Hauptstück  der  Gewerbeordnung,  welches  beim  Antrag 
Kaizl  allein  in  Frage  kommt,  enthält  nämlich  kein  Wort 
von  den  Genossenschaften,  welche  im  VII.  Hauptstück  des 
Gesetzes  behandelt  werden. 

Wir  wiederholen:  nicht  sowohl  der  sachliche  Inhalt 
des  Gesetzes  ist  von  so  weittragender  Bedeutung,  so  gross 
sie  immerhin  ist,  als  die  Thatsache,  dass  die  Diskus- 
sion über  die  Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes  überhaupt 
wieder  einmal  auf  die  Tagesordnung  des  Parlaments  ge- 
kommen. Ehe  organisirten  Arbeiter  Oesterreichs  haben 
damit  einen  wesentlichen  Erfolg  errungen. 

Wien.  Victor  Adler. 


Vermischtes, 

Deutsche  Gesellschaft  für  ethische  Kultur. 

Der  ethische  Kongress  ist  am  21.  d.  M.  geschlossen 
worden.  Die  Sitzung  dieses  vierten  Tages  der  General- 
versammlung wurde  vom  Vorsitzenden  mit  dem  \ >rsch  läge 
eröffnet,  dass  sich  am  6.  November  c.  die  „Abtheilung 
Berlin“  konstituiren  und  darauf  der  Oberst  v.  GU.yck  über 
das  Thema  „Sind  Kriege  nothwendigT“  (spütdr  verändert 
in:  „Die  Ethik  des  Krieges“)  sprechen  möge.  Dieser  Vor- 
schlag wurde  angenommen.  Dann  trat  man  in  die  Tages- 
ordnung ein:  1.  „Berathung  über  die  literarische  und 

publcistische  Bethätigung“  und  2.  „Berathung  hinsichtlich 
der  ethischen  Bethätigung  gegenüber  den  Uebelständen 
der  gesellschaftlichen  und  wirthschaftlichen  Verhältnisse.“ 
Von  mehreren  Seiten  waren  ins  Einzelne  gehende  Vor- 
schläge bezüglich  der  Begründung  einer  ethischen  Zeit- 
schrift gemacht  worden,  der  Vorstand  glaubte  jedoch,  vor- 
läufig davon  Abstand  nehmen  und  sich  zunächst  auf  in 
zwangloser  Folge  herausgegebene  „Mittheilungen“  be- 
schränken zu  sollen,  deren  erste  Nummer  einen  Bericht 
über  die  Verhandlungen  des  ethischen  Kongresses  enthalten 
wird.  (Der  Unterzeichnete  ist  mit  der  Herausgabe  dieser 
„Mittheilungen  der  D.  G.  E.  K.“  betraut  worden.)  Zur 
Beschaffung  und  Verbreitung  ethischer  „Traktätchen“  u.  s.  w. 
wird  bald  eine  Kommission  eingesetzt  werden.  In  der  sich 
anschliessenden  Diskussion  würde  von  mehreren  Mitgliedern 
eine  grosse  Anzahl  ethisch  förderlicher  Werke,  von  Prof. 
Tönnies-Kiel  auch  zwei  solche  Zeitschriften:  das  „Sozial- 
politische Centralblatt“  und  die  „Deutschen  Worte“ 
empfohlen. 

Die  Erörterung  des  zweiten  Gegenstandes  der  Tages- 
ordnung: „Betheiligung  an  der  Hebung  der  Lebenslage 
der  ärmeren  Volksschichten,  sowie  an  dem  Schutze  und 
der  Hilfe  für  alle  Leidenden  und  Bedrängten  gegen  jede 
Art  von  Unglück  und  Unrecht“,  wurde  durch  einen  Vor- 
trag Prof.  Foerster’s  eröffnet.  Zwei  Gründe  hat  man  nach 
ihm,  eine  glückliche  Lösung  der  sozialen  Frage  zu  erhoffen: 
In  den  Kreisen  des  Arbeiterstandes,  die  jetzt  mit  so  tiefer 
Berechtigung  vordrängen,  habe  sich  der  sympathische 
Kern  der  Menschennatur  reiner  und  treuer  erhalten,  als  in 
den  oberen  Schichten  der  Gesellschaft.  Bei  diesen  seien 
daher  die  Bemühungen  um  ethische  Kultur  besonders  nöthig. 
Und  zweitens:  Sobald  die  jetzigen  schweren  und  unhalt- 
baren ökonomischen  Verhältnisse  erst  überwunden  sein 
werden,  werde  die  dann  von  allen  Hemmnissen  befreite 
Wissenschaft  eine  hohe  Stufe  der  Vollendung  erlangen  und 
der  Menschheit  einen  Wohlstandschaffen,  den  Wenige  jetzt 
ahnen.  Die  Furcht  vor  der  Uebervölkerung  sei  verkehrt, 
denn  die  Wissenschaft  werde  der  Erde  solche  Schätze  ent- 
locken, dass  unendlich  mehr  Menschen  als  jetzt  würden 
Nahrung  finden  können.  Der  hoffnungsfreudige  Optimis- 
mus des  Redners  fand  in  der  Versammlung  lebhafte  Zu- 
stimmung. Von  der  Wohlthätigkeit  verlangte  Prof.  Foerster, 
dass  sie  ethisirt  werde;  jetzt  sei  sie  gar  oft  ein  Uebelthun. 
Weit  höher  als  die  Wohlthätigkeit  stehe  die  Gerechtigkeit. 
Auf  die  Entschädigung  der  unschuldig  Verfolgten  und 
Verurtheilten  ging  er  dann  näher  ein.  Prof.  Tönnies 
stimmte  dem  Vorredner  in  Allem  bei  und  führte  dessen 
letzterwähnten  Gedanken  weiter  aus.  Die  Gesetzgeber, 
meinte  er,  ständen  meist  auf  dem  Boden  einer  nicht  sehr 
wissenschaftlichen  Weltansicht.  Was  die  besondere  Art 
der  Wirksamkeit  der  ethischen  Gesellschaft  auf  diesem 
Gebiete  sei,  könne,  bemerkte  er,  nur  die  Erfahrung  lehren. 
Nachdem  noch  einige  andere  Redner  kurz  über  den  Gegen- 
stand der  Tagesordnung  gesprochen  hatten,  schloss  der 
Vorsitzende  die  Generalversammlung.  Konkrete  Vorschläge, 
welche  dem  Vorstande  unterbreitet  worden  sind,  werden 
in  der  alsbald  zu  konstituirenden  Gruppe  IV  der  „Abthei- 
lung Berlin“  zu  prüfen  sein.  — Der  Oft  des  nächsten 
„Gesellschaftstages“  ist  Frankfurt  am  Main. 

Berlin.  Georg  von  Gizycki. 


Verantwortlich  fiii  die  Redaktion:  Di.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


62 


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No.  5. 


Xeimljartt  $imiwi,  ©edagabudjfianbhntg  Berlin  SW.,  2B>ttfyelmfira$e  121- 


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m Brucken  Beit.  - 

1815  — 1885. 

l?Olt 

Jtofeflfov  Dr.  (Etmßantin  Bulle, 

$ireftor  be§  ©i)mnü!tum§  ju  Bremen  unb  ifteidtötag-Sabgeorbncter. 

4 ©änhe.  UuHagp. 

»reis  brofrfrtrl  12  Iflarft,  gebunkert  in  4-  leinmanbbänbe  16  Harfe, 
gebunben  in  2 Igalbfranjbänbe  17  Iffiavh. 


(Sine  3eü<  i)ie  febeni  SBürger  baiS  91ed)t  »erleifjt,  ^ur  2Bat)luriie  ju  treten  unb  auf  bie 
©efä)icfe  feines  SBaterlanbes  burd)  bie  äBaljl  oon  Stbgeorbneten  ©influfe  amSjuüben,  legt  and) 
grafte  fßflicfyten  auf,  bereu  a3evnacf)läffigung  nidjt  ohne  fernere  ©4)äbigung  be#  ©e= 

famnttiuot)I‘j  bteibeit  fann. 

3113  eine  foldje  5J3flicf)t  ift  bar  3Wem  bie  Aneignung  non  Äeuntuiffeu  über  bie  bie 
©egewaart  betbegenben  potitifefjen  gragen  anjufefgtt.  Sn  uieten  gälten  aber  ift  es  nid^t  mög= 
lief),  biefe  ju  berfteften,  ohne  bie  gäben  ju  uerfolgen,  lueldje  bie  ©egenroart  mit  ber  33ergaugen- 
(jeit  uerbinben. 

ÜRit  betn  ©tur^e  ffiapaleonö,  mit  ber  an  gürflen  unb  lüclfer  batnald  trerantretenben 
Slufgabe,  itjre  Siebungen  nad)  innen  unb  nad)  aufteu  auf  oöllig  neränberten  ©runblagen 
regeln,  begann  eine  neue  JSeriobe  ber  2Beltgefd)id)te. 

2)enienigeit,  roetd)e  bie  Sreigniffe  uon  biefem  ßeitpunfte  ob  in  ifjrem  inneren  Sufammen» 
bange  fennen  lernen  mallen,  roirb  in  ber  ,,©efd)idiie  ber  neueften  gelt"  öon  ^tofeffot 
Dr.  Gonftattfia  töuüe  ein  gübrer  geboten,  mie  er  nad)  einftiutmigem  Urtbeil  ber  treffe  noch 
nicht  borbanben  mar. 

fDiöge  baö  2Betf,  ttclt^eö  tßor^üge  beß  Snfialtö  mit  trefflicher  Sluäftattung  unb  billigem 
greife  uereint,  nout  beutfdjen  tßubüfum  bie  nerbiente  iänerfennung  finben! 

Emil  Strauss,  Verlagshandlung  in  Bonn. 

Mit  Januar  1892  begann  ein  neues  Abonnement  auf  den  XI.  Jahrgang  des 

Centralblattes 

für 

allgemeine  Gesundheitspflege. 

Herausgegeben  von 

Dr.  Finkelnburg,  Dr.  Lent,  Dr.  Wolffberg, 

Professor  a.  d.  Universität  Bonn.  Geh.  Sanitätsrath  in  Cüln.  Königl.  Kreisphysikus  in  Tilsit. 


Jährlich  erscheinen  12  Hälfte  8"  mit  zahlreichen  Abbildungen  und  Tafeln. 
Aboiuiementspreis  M.  10. — pro  anno. 


Das  Programm  des  „Centralblattes  für  allgemeine  Gesundheitspflege“  stellt  sich 
im  Wesentlichen  zusammen  aus:  OriginalartikeJn  über  alle  Zweige  der  Gesundheits- 
pflege. Berichten  aus  den  Krankenhäusern  der  grösseren  Städte,  Sterblichkeits- 
statistik mit  Berücksichtigung  der  Todesursachen,  Berichten  über  epidemische 
Vorgänge,  Seuchestatistik,  Uebersichten  der  hygienischen  Bestrebungen  des  In-  und 
Auslandes,  Medizinalgesetzgebung.  Auszügen  und  Referaten  über  dienen  erschienene 
Literatur  des  In-  nud  Auslandes  etc.  etc. 

Ferner  enthalten  die  Hefte  zahlreiche  „Kleinere  Mittheilungen“  aus  dem 
Gebiete  der  Hygiene,  Literaturberichte,  regelmässige  monatliche  Nachweisungen 
über  Krankenaufnahme  und  Bestand  in  den  Krankenhäusern  von  54  Städten  der 
Provinzen  Westfalen,  Rheinland  und  Hessen-Nassau  etc.  etc. 

Abonnements  auf  «teil  XI.  Jahrgang  nehmen  alle  Buchhandlungen  und  Post- 
anstaiten  zum  Abonnementspreise  von  M.  10. — pro  anno  entgegen.  Die  bereits 
erschienenen  Jahrgänge  können  zum  Preise  von  M.  10. — pro  Jahrgang  nachbezogen 
werden. 


taoMdiaftlittier  ppeiftr. 

3 e i t f d>  r t f t 

für  ein  foäinl  - veformat.  Wenuffenfthaftewefcn. 

z Eignet  sich  vorzüglich  zum  Inseriren,  zi 

meit  er  nicf)t  nur  Dielen  ©efd)äft€(euten,  fonbern 
and)  frofjett  Beamten  öutSbefiberu  u.  f.  ».  §u 
©efidjt  fommt. 

(ärfcfjeiut  am  l.  unb  15.  jeben  iUlonatS  unb  foftet 
pev  3eite  30  JJf.,  3lbonnement  4 ®lf-  balbjäl)rfid). 

•sz  Bei  Wiederholung  höchster  Rabatt.  H Probe-Nummern  gratis, 

Ufttien-OfrEfeUFcliaU  „furnier“, 

Berlin  SW.,  Äimiggräberftraftc  10. 


3.  «uttentng,  33erlag3bud)l)anbtunq  in  iBerlin. 

traisniitrfiiiitrungsgElth 

öom  15.  Huni  1888, 

in  fcergaffung  bcrfJEoöeöe  hont  lO.Slpril  1892 

unb  bie  baüelbe  ergänjenben 
reicfy3red)tüiä)en  23eftimtnungen. 

Wit  (Sinleitung  unb  (SrlttuteruHgen 

DOtt 

(£.  üjmt  IDücMke, 

Staiirrl.  Wef).  DbtfUitßicviiiigSratb,  borlrag.  Statt)  im  Sieidjä- 
amt  bcS  Innern. 

?8ierte  gttnalid)  umgearbeitete  'Auflage. 
gt.  89.  Sieferutig  I. 

3?tei&  6 Hark  50  ^f. 

$i«  IM6naf)ine  ber  elften  Ulbtbeifuiig  oerpflicfitet  jnr 
Sfbnatjme  beö  gatijen  SÖerleö. 

t ®>*  t»eite  Sieferung  toirb 
SÖCttÖ)UUt(J  I ben  9t*it  beä  Sutb«  einWU 
StSoriBort,  Jiubultöainiabc  nnb  Sadjregifter  umfaffen  unb  oor- 
auSfidjtlich  im  Satife  beS  §cvb)ted  bieics  3ab»ä  criit) einen. 


itfliifeimetfirtieruiifl^tfeb 

oatit  15.  Suni  1883, 

in  berfVaffung  ber9lobel(e  t>«m  10. 31>rill892 

oon 

(E.  tu»n  B>nrt»tke, 

Sfoiierl.  ört).  ©ber'Siegimiiiflävatf),  oovtvag.  :Rmti  im  :11  e i eb S - 
amt  beä  Smtetn. 

gierte  gätulict»  umgearüeftctc  'JluHaqe. 
Safd)eu farntat  cartonnivt.  • 

9*reiä  Ä mt. 


Dieser  Nummer  lie^t  ein  Prospekt  bei 
über:  Die  Kranken-,  Unfall-,  Invaliditäts- 
und Alters  - Versicherungsgesetze  von 
Dr.  Georg  Kger.  Breslau,  J.  C.  Kern's 
Verlag. 


Verantwortlich  für  den  Anzeigeutheil : O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  7.  November  1892. 


Nummer  6. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandluna 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltent 
Coloneizeile  4a  Pfennig. 


INHALT. 


Gesetzgeberische  Massnah- 
men gegenüber  dem  städti- 
schen Grundbesitz.  Von 
Privatdo/ent  Dr.  Leo  Arons. 
Soziale  Wirtschaftspolitik  u. 
Wirthscliaftsstatistik: 

Die  Verbrauchsbesteuerung  in  den 
deutschen  Gemeinden.  Von  Dr. 
Rudolf  Grätzer. 

Staatshülfe  oder  Wohlthätigkeit. 

Verbesserung  im  gewerblichen 
Fortbildungsschulwesen. 

Prohibitivmassregeln  gegen  euro- 
päische Einwanderer  nach 
Amerika. 

Arbeiterzustände : 

Die  Quittungskarte  der  Alters-  und 
und  Invaliditätsversicherung  als 
Zählkarte  einer  Arbeitslosensta- 
tistik. Von  Dr.  Adolf  Braun. 

Die  Lage  der  holländischen 
Cigarrenarbeiter. 

Der  Verband  der  deutschen  Por- 
zellan- und  verwandten  Arbeiter. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Der  Strike  von  Carmaux. 


Kaufmännische  Bewegung: 

Enquete  Uber  die  Stellenlosigkeit 
der  Handlungsgehilfen. 

Arbeitsverhältnisse  kaufmännischer 
Angestellter. 

Arbeiterschutzgesetzgebung: 

Dringlichkeit  des  Inkrafttretens  der 
industriellen  Sonntagsruhe  in 
Deutschland. 

fugendliche  Arbeiter  auf  deutschen 
Walz-  und  Hammerwerken. 

Lohnfestsetzung  und  Berggesetz  in 
Preussen. 

Das  neue  französische  Arbeiter- 
schutzgesetz. 

Gewerbeinspektion : 

Die  englische  Fabrikinspektion  im 
Jahre  1890/91.  Von  Max  Neu- 
städter. 

Arb  eiter  vers  i c h erung : 

Unfallversicherung  der  Handwerker 
in  Deutschland. 

Krankenversicherung  der  Hand- 
lungsgehilfen. 


Abdruck  sämmt lieber  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Gesetzgeberische  Massnahmen  gegenüber 
dem  städtischen  Grundbesitz. 


In  einer  früheren  Nummer  des  Sozialpolitischen 
Centralblatts* 1)  sind  die  Bestrebungen  der  Bodenbesitz- 
reformer einer  Besprechung  unterzogen  worden;  so 
ungünstig  auch  der  Verfasser  jenes  Artikels  die  Aus- 
sichten des  „Deutschen  Bundes  für  Bodenbesitzreform“ 
beurtheilte,  so  unterliess  er  doch  nicht,  ausdrücklich  zu  be- 
tonen, dass  dieses  Urtheil  über  den  Bund  sich  nicht  auf  die 
Aussichten  der  Bestrebungen  selbst  bezöge.  In  derThat  haben 
diese  Bestrebungen  in  der  letzten  Zeit  vielfach  Anklang  ge- 
funden; Männer,  welche  gar  nicht  daran  denken,  dem  Bunde 

')  Vergl.  Borchardt,  die  Bestrebungen  und  Aussichten  der 
deutschen  Bodenreformer,  Sozialpolitisches  Centralblatt,  I.  lahr- 
gang,  S.  466  fg. 


beizutreten,  haben  Forderungen  desselben  als  die  ihren  auf- 
gestellt — zum  grossen  Theil  gewiss  nicht,  ohne  durch  die 
rührige  Agitation  des  Bundes  direkt  oder  indirekt  angeregt 
worden  zu  sein.  Besonders  sind  es  die  Verhältnisse 
wachsender  Grossstädte  — in  erster  Stelle  Berlins  — welche 
weiteren  Kreisen  die  Reformbedürftigkeit  unseres  Grund- 
besitzrechtes vor  Augen  führen.  In  den  „Preussischen  Jahr- 
büchern“ trat  beispielsweise  im  vorigen  Jahr  der  frühere  Stadt- 
syndikus G.  Dullö  in  einem  Aufsatz  über  „Grossstädtische 
Miethspreise“  für  ein  Enteignungsrecht  der  städtischen  Ge- 
meinden auf  solches  Land  ein,  welches  durch  Strassenan- 
lagen  etc.  aus  Ackerland  in  Bauland  verwandelt  wird.  Der 
Grundbesitz  solle  dauernd  der  Stadt  verbleiben,  die  zu  er- 
richtenden Häuser  Privateigenthum  sein,  aber  so,  dass  die  Ge- 
meinde über  die  Höhe  der  Miethen  zu  befinden  hätte.  Die 
Höhe  der  Miethe  sollte,  nach  Dullo,  alles  in  allem  7 pCt. 
des  zum  Hausbau  verwendeten  Kapitals  nicht  übersteigen. 
In  einem  Nachwort  schloss  sich  der  Herausgeber  der 
„Preussischen  Jahrbücher“,  Prof.  Delbrück,  der  Dullo’schen 
Kritik  an;  aber  seine  Forderungen  gehen  etwas  weiter.  Er 
verlangt  die  Ausdehnung  des  Expropriationsrechtes  auch 
auf  bebauten  Grund  und  Boden  für  den  Fall  des  Abbruchs 
der  bisherigen  Baulichkeiten;  ferner  Verpachtung  oder  Ver- 
kauf des  in  den  Besitz  der  Gemeinde  gelangten  Grund  und 
Bodens  auf  50  Jahre;  nach  dieser  Zeit  Heimfall  auch  der 
errichteten  Gebäude,  welche  nach  einer  Taxe  vergütet  werden 
sollen.  Er  beabsichtigt  aber  keine  Hemmung  der  steigenden 
Tendenz  der  Grundrente  durch  Fixirung  der  Miethen, 
wie  Dullo,  vielmehr  soll  die  steigende  Grundrente  dem 
Staat,  nur  zum  kleinen  Theil  der  Gemeinde,  zu  Gute 
kommen 

Wenn  schon  die  bei  allen  Grossstädten  wieder- 

1 kehrenden  Erscheinungen  des  Miethswuchers,  des  Kon- 
junkturengewinnes aus  Grundbesitz  konservativ  gesinnte 
Männer,  wie  Delbrück,  eingreifenden  Massnahmen  ge- 
neigt machen,  darf  es  nicht  Wunder  nehmen,  dass  ein  Vor- 
gang, welcher  den  Grundbesitzern  und  Bodenspekulanten 
einen  plötzlichen,  enormen  Gewinn  verheisst,  die  weitesten 
Kreise  für  ähnliche  Gedanken  empfänglich  macht. 

Ein  solcher  Vorgang  ist  aber  die  geplante  Inkommunali- 
sirung  der  Berliner  Vororte.  Die  Absicht,  die  Vororte  der 
Hauptstadt  einzuverleiben,  gewann  im  vorigen  Jahr  be- 
stimmtere Gestalt,  und  es  wurde  eine  gemischte  Kom- 
mission, bestehend  aus  10  Magistratsmitgliedern  und  15 
Stadtverordneten,  niedergesetzt,  welche  einerseits  die  Lage 
der  betreffenden  Aussengemeinden,  andererseits  die  Ver- 
pflichtungen sanitärer,  sozialpolitischer  und  finanzieller 
Natur  zu  prüfen  hatte,  welche  der  Stadt  Berlin  erwachsen 


64 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  6. 


würden  (Errichtung  von  Schulen,  Armen-  und  Kranken- 
pflege, Beleuchtungs-  und  Strassenanlagen  etc.). 

Der  Spekulation  war  mit  der  Aussicht  aut  die  Ein- 
verleibung der  Vororte  ein  weites  Feld  eröffnet.  Weite 
Strecken  theils  unbenutzten,  theils  als  Ackerland  benutzten 
Bodens  sollen  alsbald  in  geeignetes  Bauland  verwandelt 
werden.  Wenn  sich  heute  kein  Ansiedler  für  diese  Gegend 
finden  mochte  — nach  der  Einverleibung  dürfte  sicher  auf 
solche  gerechnet  werden.  Und  die  Kapitalisten  von  nah 
und  fern  verfehlten  nicht,  an  die  Arbeit  zu  gehen,  und  die 
Grundstückspreise  stiegen  gewaltig.  Zur  Charakteristik 
des  Treibens  lassen  wir  einige  Zeilen  aus  einem  Be- 
richt vom  Grundstückmarkt  folgen,  welchen  wir  dem  „Ber- 
liner Tageblatt“  entnehmen: 

„Wenn  daher  der  Umsatz  in  bebauten  Grundstücken 
beschränkt  bleibt,  so  ist  er  desto  lebhafter  in  unbebauten, 
also  Terrains,  Baustellen  etc.  und  die  Umsätze,  welche 
hierin  in  den  letzten  Wochen  und  zu  guten  Preisen  ge- 
macht werden,  sind  geradezu  kolossal  zu  nennen;  es  haben 
hiervon  namentlich  die  westlichen  Gegenden  innerhalb  der 
Stadt-  und  Ringbahn,  soweit  sie  sich  an  Berliner  Gebiet 
anschliessen  und  einer  späteren  Inkommunalisirung  ent- 
gegensehen, profitirt,  in  Wilmersdorf  und  Charlottenburg, 
in  der  Gegend  des  Kurfürstendamms,  namentlich  am 
oberen  Theil  des  Bahnhofs  Halensee,  auch  in  Schöneberg 
haben  grosse  und  vielfache  Besitzveränderungen  stattge- 
funden, allerdings  weniger  zu  Bauzwecken,  als  zur  Speku- 
lation; auch  in  dem  Gebiete  von  Wilmersdorf  und  Char- 
lottenburg, jenseits  der  Stadt-  und  Ringbahn,  sind  ebenso 
wie  in  Friedenau,  Steglitz,  Lichterfelde,  Zehlendorf  etc. 
bedeutende  Abschlüsse  zustande  gekommen.  Es  mag  hier- 
bei noch  besonders  hervorgehoben  werden,  dass  die  Käufer 
meist  sehr  solvente  hiesige  und  auswärtige  Kapita- 
listen sind.“ 

Kein  Wunder,  dass  unter  solchen  Umständen  in 
Blättern  aller  Parteien  Stimmen  laut  wurden,  welche  ver- 
hindern wollten , dass  den  spekulirenden  Grundbesitzern 
auf  Kosten  der  Steuerzahler  reiche  Gewinne  in  den  Schooss 
flössen.  Selbst  die  „Freisinnige  Zeitung“  vermochte  sich 
der  Erkenntniss  der  hierin  liegenden  Ungerechtigkeit  nicht  zu 
entziehen,  wenngleich  ihre  Auffassung  eine  sehr  einseitige 
und  ihr  Vorschlag  zur  Vermeidung  der  Ungerechtigkeit 
durchaus  kein  prinzipieller  ist.  Sie  schrieb  im  Juli  v.  J.: 

„In  einem  wichtigen  Punkt  würde  die  Einverleibung 
eine  grosse  Ungerechtigkeit  gegen  Berlin  darstellen,  wenn 
nicht  zuvor  Abhilfe  in  der  Gesetzgebung  geschaffen  wird. 
Wir  unterscheiden  bei  den  Ausgaben  der  Vororte  zwischen 
den  laufenden  Ausgaben  der  Gemeinden  und  den  ein- 
maligen Aufwendungen  derselben  für  Bauten,  also  den  Ge- 
meindeaufwendungen für  den  Bau  von  Strassen,  Brücken, 
Schulhäusern,  Armenanstalten  und  dergleichen.  In  Bezug 
auf  Bauanlagen  dieser  Art  ist  Berlin  weiter  fortgeschritten 
als  die  Vororte.  Gemeindeaufwendungen  dieser  Art  er- 
höhen den  Grund-  und  Miethswerth  in  denjenigen  Bezirken, 
in  welchen  dieselben  stattfinden.  Die  Grundbesitzer  der 
Vororte  haben  ohne  eigenes  Zuthun  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten vielfach  kolossale  Werthsteigerungen  ihres  Besitzes 
erfahren.  Es  wäre  nun  ein  Unrecht  sondergleichen, 
wenn  man  der  jetzigen  Stadt  Berlin,  also  den 
Hauswirthen  und  Miethern  von  Berlin,  zumuthen 
wollte,  mit  ihren  Steuern  dazu  beizutragen,  um 
den  Grund-  und  Häuser werth  der  Besitzer  der 
Vororte  noch  weiter  zu  erhöhen  durch  Herstellung 
solcher  Bauten  für  öffentliche  Zwecke,  wie  sie  in  Berlin 
bereits  vorhanden  sind.  Wir  befürworten  daher  nur  eine 
Einverleibung  unter  Beibehaltung  eines  getrennten  Haus- 
halts für  alle  baulichen  Extraordinarien  während  einer  Ueber- 
gangszeit.  Die  Kosten  solcher  Extraordinarien  in  den  Vor- 


orten müssten  also  von  den  Grund-  und  Hausbesitzern 
daselbst  besonders  aufgebracht  werden.  In  dieser  For- 
derung stimmen  wir  einmal  überein  mit  einem  Leitartikel 
des  sozialdemokratischen  „Vorwärts“.“ 

Wenige  Tage  vorher  hatte  nämlich  der  „Vorwärts“ 
erklärt,  „dass  eine  Form  gefunden  werden  müsse,  um  die 
zur  Bebauung  kommenden  Grundstücke  mit  einer  Abgabe 
zu  belasten,  da  gerade  deren  Werth  durch  die  Stadt- 
erweiterung und  die  bevorstehenden  öffentlichen  Bauten 
steigen  muss.“  Für  diese  Forderung,  welche  der  Bund  für 
Bodenbesitzreform  aufgestellt  hatte,  solange  die  Ueber- 
führung  des  betreffenden  Grund  und  Bodens  in  den  Be- 
sitz der  Gemeinde  nicht  zu  erreichen  sei,  versprach  der 
„Vorwärts“  das  Eintreten  der  sozialdemokratischen  Stadt- 
verordneten. 

Am  14.  Oktober  d.  J.  hat  nun  die  obenerwähnte  ge- 
mischte Kommission  unter  dem  Vorsitze  des  Oberbürger- 
meisters eine  Berathung  abgehalten,  in  welcher  nach  ein- 
gehender Besprechung  sämmtlicher  in  Betracht  kommender 
Verhältnisse  die  Noth wendigkeit  und  Zweckmässigkeit  der 
Einverleibung  von  allen  Seiten  anerkannt  wurde.  Gelegent- 
lich dieser  Berathung  stellte  der  Stadtverordnete  Singer 
nach  einem  Bericht  des  „Vorwärts“  den  Antrag,  „der  Regie- 
rung vorzuschlagen,  in  das  zur  Regelung  der  Angelegenheit 
erforderliche  Inkommunalisirungsgesetz  eine  Bestimmung 
aufzunehmen,  wonach  das  in  den  einzuverleibenden  Ge- 
meinden vorhandene  unbebaute  im  Privatbesitz  befindliche  < 
Land  auf  dem  Wege  der  Enteignung  — bei  welcher  der 
jetzige  Werth  als  Ackerland  in  Betracht  zu  ziehen  wäre  - 
in  den  Besitz  der  Stadt  Berlin  übergeführt  wird.“ 

Der  Antragsteller  begründete  diesen  Vorschlag,  indem  < 
er  darauf  hinwies,  dass  die  Inkommunalisirung  im  Interesse  ' 
der  öffentlichen  Wohlfahrt  vorgenommen  wird,  und  dass  es 
Pflicht  des  Staates  und  der  Gemeinde  Berlin  sei,  zu  ver- 
hindern, dass  sich  die  Spekulation  der  unbebauten  Terrains  ; 
bemächtigt  und  das  neu  aufzuschliessende  Bauland  dem  j 
Privatkapital  zur  Ausbeutung  überliefert  wird. 

Die  Nothwendigkeit  der  Herstellung  billiger  und  ge-  ‘ 
sunder  Wohnungen  betonend,  führte  Stadtverordneter  Singer  1 
aus,  dass  sein  Vorschlag  geeignet  sei,  die  Vorbedingungen  i 
hierfür  zu  schaffen,  „weil  das  den  Fängen  der  Privatspeku- 
lation entzogene  Land  durch  die  Gemeinde  den  Interessen 
der  Gesammtheit  dienstbar  gemacht  werden  kann.“ 

Der  Antrag  wurde  in  der  Kommission  sofort  auf  das 
Heftigste  bekämpft,  ja  ein  Redner  glaubte  ihm  gegenüber 
betonen  zu  müssen,  dass  das  Eigenthum  „verfassungsgemäss 
unverletzlich“  sei.  Voraussichtlich  wird  der  Antrag  sehr 
bald  Berliner  Volksversammlungen  beschäftigen,  in  denen 
er  einer  guten  Aufnahme  sicher  ist.  In  der  Stadtverordneten- 
versammlung würde  der  wiederholte  Antrag  dann  einen 
günstigeren  Boden  finden,  zumal  man  ganz  gewiss  nicht 
Sozialdemokrat  zu  sein  braucht,  um  seine  völlige  Berech- 
tigung anzuerkennen.  Sagt  doch  Adolf  Wagner  in  einem 
jüngst  erschienen  Artikel1):  „Das  private  Grundeigenthum 
....  hat  hier  (in  und  bei  grossen  Städten)  unleugbar  hoch 
bedenkliche  volkswirthschaftliche  und  soziale  Konsequenzen. 

Es  gewährt  ohne  oder  ohne  wesentliche  Leistungen  seinem 
Herrn  grosse  Gewinne,  führt  zu  Einkommen-  und  Ver- 
mögensbildungen auf  Kosten  Dritter  und  lässt  sich  kaum 
irgendwie  mit  einem  derjenigen  Gründe,  welche  für  die 
moderne  Arten  privaten  Grundeigenthums  doch  mehr  oder 


fl  Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften.  Jena,  1892. 
Artikel:  Grundbesitz. 

Berlin.  Leo  Arons. 


N...  6 


SO/IAl.l'OMTISC  I IES  < :i-:ntraubla  i T. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Die  Verbrauchsbesteuerung  in  den  deutschen 
Gemeinden. 

Es  ist  eine  bilde  eonvenue,  dass  die  Verbrauchsbe- 
steuerung in  den  deutschen  Gemeinden  nur  ganz  unbe- 
trächtlich sei.  Bisher  fehlte  es  an  einer  Zusammenstellung 
dieser  noch  wenig  durchforschten  Materie  besonders  aus 
neuerer  Zeit.  In  gewissem  Grade  ist  diesem  Mangel  ab- 
geholfen durch  eine  neuerliche  Publikation  des  „Statisti- 
schen Jahrbuchs  deutscher  Städte“  (2.  Jahrgang  S.  379  ff.). 
Wir  erfahren  hier  von  43  Städten  die  Höhe  des  Gesammt- 
aufkommens  an  Steuern,  die  der  Verbrauchssteuern  und 
der  Ueberweisungen.  Sodann  sind  die  einzelnen  Steuern, 
besonders  die  Verbrauchsabgaben  nach  Art  und  Höhe  genau 
spezialisirt. 

Es  ergiebt  sich  daraus,  dass  von  den  43  grösseren 
Gemeinden,  für  welche  Angaben  vorliegen,  nur  18  gar  keine 
Verbrauchssteuern  erheben.  Mit  Ausnahme  von  2 (Leipzig 
und  Braunschweig)  sind  dies  sämmtlich  preussische  Kom- 
munen. Ging  doch  die  preussische  Finanzpolitik  seit  Lan- 
gem bewusst  darauf  aus,  die  städtische  Verbrauchsbesteue- 
rung zu  Gunsten  der  staatlichen  zurückzudrängen.  In  1869 
zählen  noch  1 7,5  pCt.  aller  städtischen  Steuern  zu  jener 
Kategorie  in  1876  nur  noch  5,5  pCt.  Das  Antwortschreiben 
des  gegenwärtigen  Finanzministers  an  die  rheinischen  Ober- 
bürgermeister, welche  jenes  System  befürworteten,  verstattet 
keinen  Zweifel  daran,  dass  diese  Politik  noch  heutigen 
Tages  die  herrschende  ist,  und  die  geplante  Kommunal- 
steuerreform wird  das  letzte  Siegel  darauf  drücken. 

Demungeachtet  sind  auch  in  Preussen  die  Verbrauchs- 
abgaben nicht  so  unbeträchtlich.  Noch  bestehen  in  Wies- 
baden und  Cassel  Oktrois  auf  Getreide  und  Backwaaren, 
welche  22  000  M.  beziehungsweise  53  000  M.  ertragen,  dass 
heisst  0,76  bezw.  0,73  M.  pro  Kopf  ihrer  Bevölkerung.  Diese 
beiden  Kommunen  stehen  überhaupt  an  der  Spitze  der 
preussischen  in  Bezug  auf  die  Höhe  der  Verbrauchsabgaben. 
Wiesbaden  erlöst  daraus  in  1888/89  beziehungsweise  1889/90: 
7,91  beziehungsweise  8,15  M.  pro  Kopf  beinahe  Vs  des  Ge- 
sammtaufkommens.  Kassel  6,69  beziehungsweise  6,55  M., 
dass  heisst  '/s  der  gesammten  Steuersummen.  Diese  Ge- 
meinden erheben  ausser  der  Fleisch-  und  Wildsteuer  noch 
solche  auf  Essig  und  ausserdem  hohe  Getränkesteuern, 
namentlich  auf  Wein,  Bier  und  Spirituosen.  In  Kassel  be- 
trägt letztere  1 M.  pro  Kopf,  in  Wiesbaden  nicht  ganz  so 
viel;  dafür  ist  hier  das  Nationalgetränk,  der  Wein,  mit 
3,5  M.  belastet.  Die  Biersteuer  ist  diejenige,  welche  von 
den  preussischen  Kommunen  am  meisten  beibehalten  ist. 
Hier  sind  10  solcher  angegeben,  darunter  Berlin  mit  0,36 
beziehungsweise  0,38  M.  pro  Kopf  als  einzige  Verbrauchs- 
abgabe. 

In  erheblichen  Beträgen  existiren  weiter  in  Preussen 
\ erbrauchsabgaben  zu  Aachen  (5,97  beziehungsweise  5,84  M.  = 
über  V4  des  Gesammtaufkommens),  Posen  (5,27  beziehungs- 
weise 5,21  M.  = über  ’/8),  Breslau  (5,27  beziehungsweise 
5,15  M.  = noch  nicht  '/3)  und  Potsdam  (4,99  beziehungs- 
weise 4,84  M.  = über  V4).  In  den  anderen  ist  diese  Steuer- 
art ganz  minimal  vertreten. 

Ein  total  verschiedenes  Bild  zeigt  sich  jedoch  dem 
Beobachter  bei  den  ausserpreussischen  Gemeinden.  Flier 
fallen  zunächst  die  reichsländischen  durch  die  Höhe  der 
Verbrauchsabgaben  auf.  In  Strassburg  entfallen  auf  einen 
Einwohner  nicht  weniger  als  1 5,82  beziehungsweise  1 6,27  M. 
aus  diesen  Quellen,  während  im  Ganzen  nur  19,05  bezie- 
hungsweise 19,52  M.  an  Steuern  eingehoben  werden.  Metz 
erhebt  noch  nicht  2 M.  direkte  Steuern  gegen  131/2  M.  in- 
direkte, in  Mühlhausen  werden  über  3/4  dadurch  eingenom- 
men. Trotzdem  oder  vielmehr  gerade  deshalb  befinden 
sich  diese  Kommunen  in  keineswegs  glänzender  Finanz- 
lage. Das  hyperfiskalische  französische  System  steht  wie 
ein  Wall  dem  berechtigten  Andringen  der  Minderbemittelten 
auf  Erleichterung  entgegen.  Eine  Erhöhung  der  Steuersätze 


ist  schwer  durchführbar,  trotzdem  diese  Städte,  eine  ganze 
Musterkarte  von  Abgaben  besitzen,  die  sich  in  Strassburg 
und  Metz  sogar  auf  das  allgemein  anerkannte  „Kulturbe- 
dürfniss“  Seife  erstrecken.  Soweit  die  Städte  nicht 
Festungen  sind,  ist  die  Kontrolle  äusserst  kostspielig  und 
verhindert  dabei  doch  nicht  Defraudationen.  Dazu  die  Be- 
lästigung des  Verkehrs,  — es  lässt  sich  schwer  verstehen, 
wie  ein  solches  System  auch  in  Preussen  noch  vielfach  als 
„Ideal“  gelten  kann. 

Von  den  süddeutschen  Gemeinden  haben  besonders  die 
bayrischen  und  hessischen  sehr  hohe  Verbrauchssteuern.  Auch 
in  Stuttgart  ist  deren  Ertrag  (7,33  beziehungsweise  7,57  M. 
gegen  24,61  beziehungsweise  25,31  M.  Gesammtauf kommen) 
recht  erheblich.  An  erster  Stelle  steht  hier  Darmstadt  mit 
8,45  beziehungsweise  8,42  M.  über  1 /,t  der  Gesammtsumme, 
Augsburg,  wo  nahezu  die  Hälfte  aller  Steuern  daraus  er- 
löst wird,  Mainz,  München  und  Nürnberg.  Immer  noch 
über  '/4  der  Gesammtsumme  beträgt  der  Ertrag  in  Dresden. 
Hier  wird  allein  über  1/2  Million  Mark  alljährlich  durch  das 
Oktroi  auf  Getreide  und  Backwaaren  aufgebracht;  dagegen 
erhebt  Chemnitz  nur  eine  verschwindend  kleine  Bier- 
steuer. 

Das  Bild,  welches  aus  den  hier  zusammengestellten 
Ziffern  gewonnen  wird,  kann  selbstredend  nur  ein  unvoll- 
kommenes sein  und  sichere  Schlüsse  werden  sich  daraus 
nur  mit  grosser  Vorsicht  ziehen  lassen,  namentlich  dann 
erst,  wenn  diese  im  höchsten  Grade  dankenswerthen  Publi- 
kationen eine  Reihe  von  Jahren  hindurch  fortgesetzt,  even- 
tuell erweitert  sein  werden.  Vielfach  giebt  auch  das  Steuer- 
aufkommen keinen  rechten  Massstab  für  die  Lage  der  städti- 
schen Finanzen  — speziell  bei  momentanen  grossen  Auf- 
wendungen oder  auf  der  anderen  Seite  bei  erheblichem 
städtischem  Besitz.  So  sind  die  Daten  nicht  recht  unterein- 
ander vergleichbar  und  die  Bedürfnisse  der  Städte  sind  auch 
nicht  adaecpiat  ihrer  Bevölkerungsziffer  abzustufen.  Allein 
trotz  all  dieser  Vorbehalte  wird  der  objektiv  Urtheilende 
hieraus  einmal  den  Schluss  ziehen  dürfen,  dass  in  grossem 
Umfange  eine  Vertheuerung  nothwendiger  Unterhaltsmittel 
durch  städtische  Verbrauchsabgaben  noch  besteht,  sowie 
dass  hier  ein  äusserst  schwieriges  Problem  der  Finanz- 
politik vorliegt,  das  gebieterisch  eine  Lösung  heischt. 
Selbstredend  soll  einer  mechanischen  Vereinheitlichung 
des  Kommunalsteuersystems  in  keiner  Weise  das  Wort 
geredet  werden , eine  solche  wäre  unthunlich  und 
wenn  alle  Schwierigkeiten  überwunden  wären,  auch  un- 
praktisch. Es  gilt  für  heute  die  kommende  unausbleibliche 
Reform  nur  erst  vorzubereiten  durch  eine  Kenntnissnahme 
des  gegenwärtigen  Zustandes,  und  hierzu  dürften  diese 
Ziffern  immerhin  beitragen,  welche  von  jedem  Sozialpoli- 
tiker beachtet  werden  sollten. 

Berlin.  Rudolf  Grätzer. 


Staatshilfe  oder  Wohlthätigkeit.  In  Jahrgang  II, 
Nummer  4 des  Sozialpolitischen  Centralblatts  stellt 
Dr.  Heinrich  Cohn  die  Forderung  auf,  dass  die  öffent- 
liche Hilfe  (Staatshilfe)  weit  mehr  als  bisher  an  Stelle 
der  privaten  Wohlthätigkeit  treten  müsse.  Er  führt 
dies  ganz  richtig  mit  besonderem  Bezug  auf  die  Hilfe  für 
Arbeitslose  aus.  Als  Schwächen  der  Wohlthätigkeit  zählt 
er  neben  der  Belanglosigkeit  derselben  für  grosse  Noth- 
stände  den  Umstand  auf,  dass  sie  eine  Steuer  auf  die  Wohl- 
anständigkeit der  Gesinnung  ist,  ferner  ihre  Planlosigkeit 
und  Kostspieligkeit. 

Es  ist  sehr  zu  begrüssen,  dass  diese  Fragen  einmal 
sachlich  zur  Diskussion  gestellt  werden.  Sie  sollen  im 
Nachfolgenden  durch  eine  weitere  vermehrt  werden:  ist  die 
sogenannte  organisirte  Wohlthätigkeit  nicht  meist  ein 
wahrer  Spott  auf  jede  wirkliche  „Organisation“?  Diese 
Frage  steht  dicht  neben  derjenigen  nach  der  Planlosigkeit 
der  sogenannten  Wohlthätigkeit,  aber  sie  deckt  sich  nicht 
mit  ihr.  Ueber  die  mangelhafte  interne  Organisation  der 
sogenannten  organisirten  Wohlthätigkeit  wissen  nur  die- 


66 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  6. 


jenigen  Genaueres,  welche  in  der  Mitte  derselben  praktisch 
stehen.  Diese  haben  aber  meist  weder  die  Neigung,  an 
das  Prestige  ihres  Vereins  zu  rühren,  noch  den  Muth, 
Klassengenossen  durch  eine  offene  Kritik  entgegen  zu 
treten.  Dennoch  ist  aus  der  neuesten  Wohlthätigkeits- 
litteratur  eine  solche  Aeusserung  von  unbefangener 
Seite  zu  verzeichnen.  Dieser  Tage  erschien  im  Aufträge 
einer  kleinen  Vereinigung  wohlthätiger  Männer  in  Frank- 
furt a.  M.  (bei  C.  Zügel,  1892,  XVI,  95  und  ! 00  S.)  eine 
Schrift:  „Die  öffentliche  und  private  Fürsorge.  Gemein- 
nützige Thätigkeit  und  Armenwesen  etc.“  von  Dr. 
N.  Brückner,  in  deren  Vorwort  ein  der  Veröffentlichung 
nahestehender  Praktiker  der  Wohlthätigkeit  ganz  offen 
Folgendes  sagt: 

..Die  Verwaltungen  und  Vorstände  der  wohlthätigen  und 
gemeinnützigen  Vereine  und  Stiftungen  bestehen  fast  aus- 
schliesslich aus  Personen,  die  durch  Ihren  Beruf  in  Anspruch 
genommen  sind  und  sich  daher  nur  ganz  nebenher  mit  den 
Vereins-  und  Stiftungsgeschäften  abgeben  können,  oder  aus 
irgend  einem  anderen  Grunde  auf  diesem  Gebiete  nicht 
arbeitsfähig  oder  arbeitslustig  sind.  Nichts  aber  ist  ge- 
eigneter, eine  oberflächliche  Arbeitsweise  herbeizuführen,  i 
besonders  wenn  von  vornherein  nur  eine  geringe  Verant- 
wortlichkeit übernommen  wird.  Wiewohl,  abgesehen  von 
Anstaltspflege,  fast  nie  verantwortliche  Personen  mit 
der  Oberleitung  betraut  sind,  werden  die  Anstalten  und 
Einrichtungen  vieler  Vereine  und  Stiftungen  von  den  Vorstands- 
mitgliedern nur  in  seltenen  Fällen  besichtigt.  Der  unter 
solchen  Umständen  unausbleibliche  Mangel  an  Vertrautheit 
mit  dem  Gegenstand  der  Unternehmung  offenbart  sich 
dann  eben  so  sehr  in  den  wenigen,  unregelmässig  besuchten 
Sitzungen,  in  welchen  er  sich,  sozusagen  einem  Naturgesetz 
folgend,  in  oratorischen  Leistungen  Luft  macht,  als  über- 
haupt in  der  Art  der  Geschäftsführung.  Oft  unterbleibt  sogar 
trotz  statutarischer  Vorschriften  die  alljährliche  Veröffentlichung 
von  Geschäftsberichten,  und  soweit  sie  erscheinen,  fehlen  in 
zahlreichen  Fällen  Angaben  über  den  Vermögensstand  oder 
durchsichtige  Aufstellungen  von  Einnahmen  und  Ausgaben. 
Nur  selten  herrscht  in  den  Berichten  die  wünschenswerthe 
Offenheit  über  die  Leistungen  im  Ganzen  und  Einzelnen,  und 
damit  fehlt  auch  die  Möglichkeit,  sich  ein  einigermassen  zu- 
treffendes Bild  von  dem  Verhältniss  der  Ausgaben  zu  den 
Leistungen,  von  dem  durchschnittlichen  Bestand  der  Lhiter- 
stützten  und  überhaupt  von  den  Erfolgen  zu  entwerfen.  . . . 
Nirgends  sind  ja  Fehler  begreiflicher  und  natürlicher,  als  gerade 
in  der  Wohlthätigkeit,  denn  es  wirken  hierbei  Beweggründe 
sehr  verschiedener  Natur.  In  ihrer  reinsten  Form  entspringt  sie 
dem  Mitleid  und  der  Nächstenliebe;  im  Weiteren  dem  Gefühl 
für  das  allgemeine  Wohl;  sie  erfolgt  aus  Gewohnheit;  zur  per- 
sönlichen Befriedigung,  wenn  nicht  gar  aus  Selbstsucht;  zumeist 
aber  aus  Mischung  dieser  verschiedenen  Beweggründe.  Auf 
diese  giebt  es  eine  Unzahl  von  Varianten.  Der  Eine  spendet, 
weil  er  hinter  anderen  nicht  zurückstehen  will,  ein  zweiter  denkt 
dabei  an  sein  Seelenheil.  Manche  erhofften  materielle 
Vortheile  und  nicht  wenige  streben  nach  Titeln, 
(freien  und  sonstiger  Huld  von  Oben  u.  s.  w.  Vielen  da- 
von ist  es  aber  gleichzeitig  um  das  Wohl  der  Personen  oder 
um  die  Bestrebung  selbst  zu  thun,  für  die  sie  wirken  oder  Opfer 
bringen.  Nicht  minder  wie  jene  kann  aber  der  wahrhaft  Wohl- 
thätige,  der  aus  unverfälschter  Nächstenliebe  handelt,  dem  es 
also  dabei  nur  um  das  Heil  der  Nebenmenschen  zu  thun  ist, 
gerade  dieses  übersehen  und  zwar  aus  Mangel  an  Ueberlegung, 
an  Sach-  und  Menschenkenntniss  oder  aus  sonstigen  Ursachen, 
die  dem  eigentlichen  Zweck  entgegenwirken.  Gegenüber  der 
Regellosigkeit  und  Stümperhaftigkeit,  die  nur  gar  zu 
leicht  bei  der  Entwickelung  einer  Thätigkeit,  deren  LTrsprung 
und  Ziele  so  vielfältig  sind,  ihr  Spiel  treiben,  vermögen  nur 
solche  Einrichtungen  zu  helfen,  welche  ordnend  und  aut  klärend 
einwirken.  Das  allgemeinere  Verständniss  kann  erst  kommen 
mit  der  Gelegenheit  einer  fortlaufenden,  unschwierigen  Orienti- 
rung  über  die  bisherigen  Erfahrungen  und  deren  Zusammen- 
hang mit  anderen  Erscheinungen  Von  ihm  allein  ist  ein  dauer- 
hafter heilsamer  Einfluss  auf  die  Art  und  das  Mass  der  Bethäti- 
gung  zu  erwarten.  Regelmässige  Veröffentlichungen  richtig  be- 
gründete Anregungen,  die  von  einer  Stelle  ausgehen,  die  in 
diesem  Sinne  wirkt  und  sich  eine  unbefangene  eingehende 
Prüfung  angelegen  sein  lässt,  vermögen  sowohl  eine  grössere 
und  intensivere  freiwillige  Mitwirkung  der  Wohlhabenden,  als 
ein  harmonisches  Zusammenarbeiten  mit  der  öffent- 
lichen Fürsorge  herbeizuführen.  Nur  gelegentliche  Arbeiten 
können  hierbei  nicht  genügen,  sondern  es  bedarf  Einrichtungen, 
die  derartig  ausgestattet  sind,  dass  sie  von  Dauer  sein  können, 
deren  Geschäfte  nicht  unähnlich  jenen  von  wissenschaftlichen 
Instituten,  Handelskammern,  landwirthschaftlichen  oder  gewerb- 
lichen Vereinen  unter  Zuhilfenahme  von  Arbeitskräften,  die 
gegen  Entgelt  ihre  volle  Thätigkeit  einzusetzen  haben,  geführt 
werden.“  Und  unter  diesen  Kräften  versteht  der  Verfasser  vor 
Allem  sozialpolitisch  gebildete  und  denkende  Menschen. 

Das  sind  Ausführungen,  welche  die  Behandlung  der 
von  Dr.  Heinrich  Cohn  angeregten  Fragen  wohl  zu 


fördern  geeignet  erscheinen.  Fs  giebt  kaum  eine  Aeusse- 
rung aus  dem  Kreise  der  mitten  in  der  sogenannten  Wohl- 
thätigkeit stehenden  Männer,  welche  bisher  den  Finder  so 
offen  in  die  Wunde  zu  legen  gewagt  hätte  und  in&  ihrer 
Kritik  eben  jene  Schattenseite  berührt,  die  Dr.  Heinrich 
Cohn  noch  nicht  hervorgehoben  hatte.  Symptomatisch 
ist  es  dabei,  dass  auch  diese  Ausführungen  endigen  in  der 
Forderung,  dass  mehr  zur  öffentlichen  Fürsorge  zurück- 
gegangen werden  müsse  und  dass  die  Organisation  und 
Vorbereitung  aller  sozialen  Hilfethätigkeit  besorgt  werden 
soll  von  volkswirtschaftlich  und  sozialpolitisch  geschulten 
Kräften.  Damit  wird  aber  in  den  meisten  Fällen  die  Er- 
hebung der  planlosen  Wohlthätigkeit  zu  einem  Streben 
nach  Ausbildung  der  öffentlichen  Hilfe  in  Staat,  Provinz 
und  Gemeinde  gegeben  sein. 

Verbesserung  im  gewerblichen  Fortbildungsschul- 

wesen.  Sehr  zu  begrüssen  ist  eine  Bewegung  in  den  ge- 
werblichen Schulen  für  Handwerkslehrlinge  und  jugend- 
liche Arbeiter,  die  sich  in  verschiedenen  deutschen  Staaten 
neuerdings  geltend  macht.  Dieselbe  zielt  auf  die  Verlegung 
der  Schulzeit  von  den  späten  Abendstunden,  an  welchen 
die  jungen  Leute  gewöhnlich  ganz  abgespannt  waren,  auf 
frühere  Tagesstunden,  selbst  wenn  dieselben  in  die  Arbeits- 
zeit fallen.  Indirekt  wird  dadurch  wahrscheinlich  eine 
Verkürzung  der  Arbeitszeit  für  Lehrlinge  und  jugend- 
liche Arbeiter  erzielt.  So  ist  der  Unterricht  neuerdings 
verlegt  worden:  in  der  städtischen  Gewerbeschule  zu 
Göttin  gen  von  8— 9’/2  (!)  Uhr  auf  6V4 — 73/4  Uhr,  in  den 
gewerblichen  Fortbildungsschulen  zu  Königstein  von 
8—10  (!)  Uhr  auf  5—7  bezw.  6 — 8 Uhr,  zu  Eltville  auf 
5 — 6 Uhr,  zu  Giessen  von  7 — 9 auf  2 — 4 bezw.  5 — 7 Uhr, 
zu  Mainz  auf  5 — 7 Uhr,  zu  Darmstadt  wenigstens  für  ' 
gewisse  Gewerbe  von  7 — 9 Uhr,  auf  den  Nachmittag  bezw.  ; 
frühen  Abend.  Es  wäre  sehr  zu  wünschen,  dass  diese  ge- 
sunde Bewegung  ihren  weiteren  Fortgang  nähme  und  zu 
einer  allgemeinen  Verlegung  der  Unterrichtszeit  deutscher  : 
Fortbildungsschulen  in  die  Tageszeit  führte. 

< 

Proliibitivmassregeln  gegen  europäische  Einwanderer  ! 
nach  Amerika.  Eine  dieser  Maassregeln,  welche  von  den 
Gegnern  der  europäischen  Einwanderer  nach  Amerika  vor- 
geschlagen war,  unterzieht  der  amerikanische  General- 
konsul für  Wien  in  seinem  neuesten  Berichte  an  das  Staats- 
ministerium in  Washington  in  folgender  Weise  einer  ziem-  < 
lieh  zutreffenden  Kritik:  „Was  unliebsame  Leute  betrifft,  ] 
welche  aus  Oesterreich-Ungarn  nach  Amerika  auswandern,  j 
so  genügen  die  bestehenden  Gesetze  der  Vereinigten  ‘ 
Staaten,  wenn  sie  in  gehöriger  Weise  durchgeführt  werden, 
entweder  bei  der  Ankunft  durch  Regierungsagenten  oder  1 
bei  der  Abfahrt  durch  Beamte  der  Dampfer,  vollkommen, 
um  die  Einwanderung  zu  regeln,  ohne  dass  man  der  oft 
erwähnten  und  anscheinend  beliebten  Konsularinspektion 
bedarf.  Die  vorgeschlagenen  Konsularzeugnisse  werden 
sich  meiner  Ansicht  nach  nie  als  vortheilhaft  erweisen; 
thatsächlich  würden  sie  keineswegs  dazu  dienen,  unliebsame 
Auswanderer  fernzuhalten,  dagegen  eine  Last  und  Härte 
gegen  Solche  sein,  die  an  unseren  Gestaden  willkommen 
sind.  Die  Zeit  und  Arbeit  eines  Konsuls  sollte  vollständig 
den  Handelsinteressen  seines  Landes  und  dem  Schutze 
amerikanischer  Bürger,  die  sich  in  Bedrängniss  befinden, 
gewidmet  sein,  sowie  der  Erfüllung  der  Aufgabe,  solchen 
seiner  Landsleute  daheim  oder  aut  der  Reise  in  Europa, 
welche  Auskunft  und  Aufklärung  über  Handels-  oder 
öffentliche  Angelegenheiten  suchen,  Rath  und  Aufmerk- 
samkeit zu  Theil  werden  zu  lassen.  Es  giebt  Dinge  in 
Europa,  die  wir  lernen  und  aus  deren  Kenntniss  wir 
Nutzen  ziehen  können,  und  somit  hat  ein  Konsul  der  Ver- 
einigten Staaten  keine  Zeit  zu  vergeuden,  um  gegen  neue 
Ankömmlinge  den  Geheimpolizisten  oder  Einwanderungs- 
agenten  zu  spielen.  Die  Kosten  eines  solchen  Systems  der 
Prüfung  von  Auswanderern  durch  amerikanische  Konsuln 
würden  beträchtlich  sein,  und  auch  dann  würde  es  äusserst 
schwierig  sein,  die  Grenzen  zu  ziehen,  wann  ein  Auswande- 
rungszeugniss  zu  verweigern  oder  auszustellen  wäre.“ 


No.  6. 


SOZIALPOLITISCHES  'CENTRALUL ATT. 


67 


Arbeiterzustände. 

Die  Quittungskarte  der  Invaliditäts-  und  Altersversiche- 
rung als  Zählkarte  einer  Arbeitslosenstatistik. 

Es  ist  eine  oft,  insbesonders  seitens  von  Mayr1)  ge- 
machte, aber  bisher  im  Wesentlichen  unberücksichtigt  ge- 
bliebene Anregung,  das  Material  der  deutschen  Arbeiter- 
versicherung  sozialstatistisch  zu  verarbeiten.  Dass  sich  hier- 
für keine  besondere  Neigung  zeigt,  ist  im  Allgemeinen  wohl 
verzeihlich,  da  die  Daten  der  Kranken-  und  Unfallversiche- 
rung, speziell  die  Lohnangaben  für  die  Zwecke  dieser  Ver- 
sicherungen, nicht  in  einer  Weise  erhoben  werden,  um 
mehr  als  Annäherungs werthe  zu  erhalten.  Die  Forderung 
ist  vollauf  berechtigt,  sich  mit  diesen  ungenügenden,  auf 
Umwegen  gewonnenen  Daten  nicht  zu  begnügen,  um  die 
Erfüllung  des  Wunsches  nach  einer  wissenschaftlich  un- 
anfechtbaren Lohnstatistik  nicht  ad  Kalendas  Graecas  zu 
vertagen.  Nicht  ebenso  liegt  die  Frage  betreffs  einer 
Arbeitslosenstatistik.  Wohl  sind  auf  beschränktem  Gebiete 
derartige  Erhebungen  schon  mit  Erfolg  unternommen 
worden  und  erst  letzthin  in  dieser  Zeitschrift  von  uns 
dahinzielende  Vorschläge  gemacht  worden.  Aber  die  Frage 
muss  anders  beurtheilt  werden,  wenn  wir  ein  so  ausge- 
dehntes Gebiet  wie  das  Deutsche  Reich  in  Betracht  ziehen. 

Dem  Vorschläge,  den  Dr.  H.  Lux  in  Magdeburg  ge- 
macht hat,  in  Verbindung  mit  den  Volkszählungen  Arbeits- 
losenstatistiken vorzunehmen,  können  wir  nicht  beipflichten. 
Womit  sollen  denn  noch  unsere  Volkszählungsfragekarten, 
wenn  der  Ausdruck  Karte  überhaupt  noch  erlaubt  ist,  be- 
lastet werden?  Müsste  doch  mit  einer  die  Arbeitslosigkeit 
berücksichtigenden  Volkszählung,  soll  die  Erhebung  über 
die  Arbeitslosigkeit  von  Werth  sein,  nothwendiger  Weise 
eine  Berufsstatistik  verbunden  werden.  Ueberlasten  wir 
weiter  die  Arbeiten  der  Volkszählungen,  so  erschweren  wir 
die  Kontrollirbarkeit  der  Angaben  und  ziehen  die  Ver- 
arbeitung der  Erhebungsresultate  noch  weit  mehr  in  die 
Länge.  Wir  müssen  uns  jetzt  meist  schon  Jahre  lang  ge- 
dulden, bis  die  Resultate  einer  Volkszählung  vollständig 
vorliegen,  meist  muss  schon  mit  den  Vorbereitungen  der 
nächsten  Zählungen  begonnen  werden,  bevor  die  Ver- 
arbeitung der  vorangegangenen  beendet  ist.  Dieses  Moment 
allein  giebt  schon  gegen  den  Vorschlag  von  Dr.  H.  Lux 
den  Ausschlag.  Was  können  dem  SozialjDolitiker  Daten 
über  die  Arbeitslosigkeit  nützen,  welche  3 — 5 Jahre  alt 
sind!  In  einer  Wirthschaftsperiode,  wie  der  unseren,  wo 
die  Krisen  und  damit  die  Perioden  starker  Arbeitslosigkeit 
rasch  aufeinander  folgen,  kann  uns  nur  mit  möglichst  neuen 
Daten  gedient  sein.  Damit  soll  der  Werth  älterer  Angaben 
für  die  Theorie  und  die  Wirtschaftsgeschichte  keineswegs 
in  Frage  gestellt  werden. 

Näher  liegt  der  Vorschlag,  die  Ergebnisse  der  Invali- 
ditäts- und  Altersversicherung  für  eine  Arbeitslosenstatistik 
zu  verwerthen. 

Welche  Angaben  kann  der  Bearbeiter  einer  Arbeits- 
losenstatistik aus  der  Quittungskarte  erhalten? 

1.  Das  Alter  des  bezw.  der  Versicherten. 

2.  Den  Geburtsort. 

3.  Den  Arbeitsort  zur  Zeit  der  Ausstellung  der  Karte. 
(Aus  Kombination  von  2 und  3 kann  man  die  Wander- 
bewegung für  längere  Zeit  berechnen.) 

4.  Die  Berufsthätigkeit. 

5.  Die.  Dauer  der  Arbeit. 

6. -  Die  Dauer  eventuellen  Militärdienstes. 

7.  Die  Dauer  eventueller  Krankheiten. 

8.  Aus  der  Differenz  der  52  Wochen  des  Jahres  und  der 
auf  5,  6 und  7 in  einem  Jahre  entfallenden  Wochen  die 
Zeiten  der  Arbeitslosigkeit. 

9.  Aus  den  Datumsangaben  bei  Entwerthung  der  Karten 
die  Vertheilung  der  arbeitslosen  Wochen  auf  die  ver- 
schiedenen Jahreszeiten. 

10.  Die  Lohnklassen. 

Eine  Unmasse  von  Kombinationen  werden  sich  hier- 
aus ergeben.  Wir  haben  nur  die  wichtigsten  Punkte  hier 


J)  Vergl.  G.  v.  Mayr,  Ueber  Sammlung  und  Verwerthung 
des  durch  die  Arbeiterversicherung  gebotenen  sozialstatistischen 
Materials.  Allg.  Statistisches  Archiv,  II.  Jahrgang.  S.  127  fg. 


angeführt.  Es  könnte  ausserdem  die  Wanderbe wegung  für 
kürzere  Zeit  ziemlich  genau  verfolgt  werden,  da  man  ausser 
dem  Geburtsorte  und  dem  Ausstellungsorte  der  Karte  nicht 
nur  die  aufrechnende  Stelle  aus  der  Karte  erfahren  kann, 
also  den  Arbeitsort  zur  Zeit,  wo  die  ausgefüllte  Karte  ab- 
gegeben wurde,  sondern  auch,  da  ja  jede  Versicherungs- 
gesellschaft besondere  Quittungsmarken  besitzt,  der  Wechsel 
des  Gebietes  der  Versicherungsgesellschaften. 

Wir  sind  uns  der  Mängel  unseres  Vorschlages  wohl 
bewusst  und  halten  es  deshalb'  für  nöthig,  den  zu  gewärti- 
genden Einwürfen  schon  jetzt  zu  begegnen. 

Man  wird  mit  Recht  einwenden,  dass  die  vor  Erlass 
der  Bekanntmachung  des  Bundesrathes  betr.  die  Durch- 
führung der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  vom 
24.  Dezember  1891  (R.  G.  Bl.  1891,  No.  399),  entwerteten 
Quittungsmarken  für  die  Zwecke  der  Arbeitslosenstatistik 
nur  von  geringem  Werthe  sind,  da  erst  von  diesem  Zeitpunkte 
an  die  Entwerthung  der  Marken  nicht  mehr  durch  einen  dicken 
Querstrich,  sondern  einzig  und  allein  durch  Angabe  des 
Entwerthungstages  in  Ziffern  auf  den  einzelnen  Marken  er- 
folgen darf. 

Die  späte  Ablieferung  der  Quittungskarten  ist  für 
unsere  Zwecke  in  hohem  Grade  bedenklich.  Eine  am 
1.  Januar  1892  ausgestellte  Quittungskarte  kann,  abgesehen 
von  Ausnahmefällen,  in  denen  eine  noch  spätere  Ablieferung 
der  Karte  gestattet  ist,  noch  am  31.  Dezember  1895  abge- 
liefert werden.  Eine  gesetzliche  Bestimmung,  dass  sämmtliche 
Karten  in  der  ersten  Januarwoche  umgetauscht  werden 
müssten,  könnte  ohne  Schwierigkeit  und  ohne  Bedenken  in 
das  Gesetz  aufgenommen  werden;  damit  fiele  auch  sofort 
ein  weiterer  Ein  wand  hinweg,  dass  die  Karten  an  allen  Tagen 
desjahres  ausgestellt  seien,  also  ungleicheZeiträume  umfassen, 
demnach  die  Umschreibung  und  Umrechnung  sämmtlicher 
Karten  auf  besondere  Zählkarten  sich  als  nothwendig  heraus 
stellen  dürfte.  Dies  wäre  nicht  der  Fall,  die  Quittungs- 
karte könnte  sofort  als  Zählkarte  dienen,  wenn  sie  nur  für 
je  ein  mit  dem  1.  Januar  beginnendes  Jahr  gebraucht 
werden  dürfte.  Hierbei  könnte  zur  Erleichterung  der  Auf- 
bereitung noch  ins  Auge  gefasst  werden,  dass  die  Hälfte 
des  ohnedies  zu  grossen  Raumes  für  Einzeichnung  der 
militärischen  Dienstleistungen,  wohl  für  die  Berechnung 
der  Zahl  der  arbeitslosen  Wochen  reservirt  werden  könnte. 
Die  statistische  Verarbeitung  würde  auch  wesentlich  er- 
leichtert werden,  wenn  die  Marken  nicht  nebeneinander  in 
die  vorbestimmten  Felder  eingeklebt  werden  müssten, 
sondern  in  das  Feld  der  betreffenden  Woche,  dies  besser 

statt  mit  1,  2,  3,  4 50,  51,  52  mit  der  Datumsangabe 

der  betreffenden  Woche  versehen  sein  könnte.  Jede  Karte 
würde  dann  schon  eine  Art  Diagramm  der  Arbeitslosigkeit 
bilden.  Die  Berufsstellung  müsste  auch  genauer  spezialisirt 
werden  in  Beruf  und  Stellung  im  Berufe  wie  z.  B.  nicht 
Hilfsarbeiter  oder  Werkführer  oder  Buchbinder  oder  Textil- 
arbeiter, sondern  Hilfsarbeiter  in  einer  Buchbinderei  oder 
Werkführer  in  einer  mechanischen  Weberei. 

Wir  halten  es  natürlich  für  verfrüht  und  damit  jetzt 
für  gegenstandslos,  eventuell  sich  sonst  als  erforderlich 
herausstellende  Veränderungen  der  Ouittungskarte  nun 
schon  in  Vorschlag  zu  bringen.  Uebrigens  glauben  wir, 
dass  an  der  Quittungskarte  sonst  nichts  erhebliches  zu 
ändern  sein  dürfte,  höchstens  wären  äusserliche  Aende- 
rungen  zur  Erleichterung  der  Aufbereitung  ins  Auge  zu 
fassen,  wie  z.  B.  verschiedene  Farbe  der  Karte  für  Männer, 
Frauen,  jugendliche  Arbeiter,  jugendliche  Arbeiterinnen 
und  dergleichen. 

Es  wird  vielleicht  auch  eingewandt  werden,  dass  sich 
zahlreiche  Personen  der  Versicherung  gänzlich  entziehen 
bezw.  für  kürzere  oder  längere  Zeiträume  die  Einklebung 
von  Marken  unterlassen,  dass  Selbstversicherer  gewöhnliche 
Quittungsmarken  benützen,  dass  Personen  mit  vorüber- 
gehender Beschäftigung  von  der  Versicherungspflicht  be- 
freit sind,  dass  die  lediglich  auf  Naturallöhne  angewiesenen 
Personen  und  auf  Antrag  gewisse  in  öffentlichem  Dienste 
stehende  Personen  von  der  Versicherungspflicht  befreit 
werden  können.  All’  diese  eventuellen  Einwürfe  sind  nicht 
ins  Gewicht  fallend,  weil  das  Gesetz  sich  immer  mehr  ein- 


68 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRA1  .HT.ATT 


N«c  6. 


bürgert,  die  Kontrolle  eine  immer  gewissenhaftere  wird 
und  weil  endlich  die  Zahl  der  in  die  Versicherung  nicht  . 
einbezogenen  Lohnarbeiter  einen  unbedeutenden  ßruch- 
theil  eines  Prozents  der  Versicherten  bilden  dürfte. 

Die  gesetzlichen  und  ungesetzlichen  Ausnahmen  bei 
der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  können  nicht  in 
Frage  kommen  gegenüber  dem  Umstande,  dass  dieser 
Zweig  der  Arbeiterversicherung  alle  Arbeiter  etc.  gegen 
Invalidität  und  Alter  versichern  will,  ohne  Rücksicht  auf 
ihre  oft  wechselnde  Beschäftigung. 

Der  in  Deutschland  wohl  begründete  Pessimismus  in 
Fragen  der  Sozialstatistik  dürfte  bei  unserem  Vorschläge 
nicht  in  so  hohem  Masse  berechtigt  sein  als  bei  anderen 
Wünschen  dieser  Art  und  zwar  deshalb,  weil  neben  dem 
Interesse  der  Sozialstatistik  auch  ein  Interesse  der  Ver- 
waltung der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  und  damit 
auch  des  Reichsfiskus  hier  vorliegt.  Bekanntlich  sind  die 
versicherungstechnischen  Grundlagen  der  Altersversiche- 
rung alles  eher  als  solide.  Die  Erkenntniss  hierfür  fehlte 
dem  Gesetzgeber  nicht,  wie  die  §§  96,  97  und  98  des  Ge- 
setzes beweisen,  welche  anderweitige  Festsetzung  der  Bei- 
träge seitens  der  Versicherungsanstalten  im  Falle  der  Ge- 
nehmigung  des  Reichsversicherungsamtes  zulassen.  Zur 
Aenderung  der  Beiträge  kann  aber  erst  geschritten  werden, 
wenn  aus  den  statistisch  verarbeiteten  Erfahrungen  mit 
dem  Gesetze  neue  und  sicherere  Grundlagen  für  die  Be- 
rechnung der  Beiträge  gewonnen  sein  werden.  Dass  eine 
und  mit  die  wesentlichste  der  versicherungstechnischen 
Grundlagen  des  Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetzes 
die  durch  Arbeitslosigkeit  nicht  gehinderte  Leistungsfähig- 
keit der  Arbeiter  ist,  braucht  nicht  hervorgehoben  und  so- 
mit auch  nicht  bewiesen  zu  werden,  dass  das  Reich,  als 
Träger  des  dritten  Theiles  der  Kosten  dieser  Versicherung, 
ein  fiskalisches  Interesse  an  der  von  uns  vorgeschlagenen 
regelmässigen  Erhebung  der  Arbeitslosigkeit  hat. 

Aus  diesem  Grunde  schon  dürften  diese  Vorschläge 
einiger  Beachtung  werth  erscheinen  und  umsomehr  er- 
wägenswerth  sein,  weil  wir  auf  diesem  Wege  nicht  nur  zur 
Bearbeitung  eines  im  deutschen  Reiche  ganz  brach  liegen- 
den Gebietes  der  Sozialstatistik  gelangen  würden,  sondern 
weil  wir  auch,  und  dies  ist  nicht  in  letzter  Linie  ins  Auge 
zu  fassen,  damit  den  ersten  ernstlichen  Schritt  zu  einer 
sozialstatistischen  Erforschung  der  deutschen  Landar- 
beiterverhältnisse thun  würden.  Es  leuchtet  ja  sofort 
ein,  dass  die  Quittungskarte  uns  auch  Gelegenheit  bietet, 
die  Sachsengängerei  wissenschaftlich  und  zwar  tabellarisch 
darzustellen.  Der  Wechsel  der  Versicherungsmarken  auf 
in  Schlesien  und  Posen  ausgestellten  Quittungskarten  würde 
beachtenswerthere  Einblicke  in  die  Ausdehnung  und  viel- 
leicht auch  durch  die  Anwendung  von  Beitragsmarken 
höherer  Lohnklassen  in  die  Ursachen  der  Sachsengängerei 
ergeben,  als  die  Befragung  einer  Anzahl  Rittergutsbesitzer. 

Unser  neuer  Vorschlag,  die  Arbeitslosigkeit  zu  er- 
heben, soll  nicht  den  Zweck  haben,  das  in  unserem  Artikel 
„Zur  Methode  der  Arbeitslosenstatistik“  Ausgeführte  als 
gegenstandslos  hinzustellen.  Die  beiden  Vorschläge 
sollen  sich  nicht  gegenseitig  ausschliessen,  sie  können  und 
sollen  nebeneinander  ausgeführt  werden.  Die  direkte  Er- 
hebung mittelst  der  von  uns  vorgeschlagenen  Zählungs- 
karte soll  für  einen  bestimmten  Zeitpunkt  den  Umfang  der 
Arbeitslosigkeit  erheben  , quasi  den  Querschnitt  eines 
Jahres  ergeben,  zeigen,  wie  viele  Personen  an  einem  be- 
stimmten Tage  und  Orte  arbeitslos  waren;  die  Verarbeitung 
der  Quittungskarten  dagegen  soll,  alljährlich  wiederkehrend, 
den  Umfang  der  Arbeitslosigkeit  für  längere  Perioden 
nachweisen. 

Wir  glauben  gezeigt  zu  haben,  dass  es  an  Wegen,  zur 
Erkenntniss  des  Umfanges  der  Arbeitslosigkeit  zu  gelangen, 
nicht  fehlt,  freilich  scheint  aber  der  Wille  hierzu  zu  mangeln. 
W äre  der  Wille  vorhanden,  so  wäre  auch  die  Ausführung 
nicht  allzu  schwer.  Vielleicht  führt  der  nachdrückliche 
Hinweis  darauf,  dass  die  Wege  geebnet  sind,  doch  noch 
dazu,  dass  sie  auch  einmal  betreten  werden. 

Berlin.  Adolf  Braun. 


Die  Lage  der  holländischen  Cigarreuarbeiter.  Auf 

dem  zweiten  internationalen  Tabakarbeiterkongress,  der  in 
Amsterdam  stattfand,  wurde  über  die  Lage  der  holländischen 
Cigarrenarbeiter  folgendes  mitgetheilt.  Die  niederländische 
Cigarrenindustrie  beschäftigt,  Frauen  und  Kinder  einge- 
rechnet, 20 — 25  000  Arbeiter,  deren  Löhne  von  sehr  ver- 
schiedener Höhe  sind.  In  Amsterdam  verdient  man  9 — 14, 
in  kleinen  Städten  4 — 5 Gulden.  Die  Arbeitszeit  beträgt  in 
Amsterdam  durchschnittlich  10,  in  kleinen  Städten  13—14, 
ja  selbst  16  Stunden. 

In  Rotterdam  und  Amsterdam  werden  Frauen  nur 
selten  beschäftigt,  aber  in  Eindhoven  und  Kämpen  arbeiten 
viele  Frauen  und  Kinder.  Die  Löhne  der  Frauen  sind 
niedriger  als  die  der  Männer. 

Am  besten  organisirt  sind  die  Cigarrenmacher.  Ihr 
Bund  besteht  seit  1888.  Derselbe  zählt  22 — 23  Abtheilungen 
mit  mehr  als  1000  Mitgliedern. 

Der  Bund  hat  eine  Reiseunterstützungskasse,  eine 
Krankenkasse,  die  die  Betriebskassen  aus  dem  Felde  ge- 
schlagen, beschäftigt  sich  mit  dem  Arbeitsnachweis  und 
steht  auf  sozialistischem  Boden.  Das  Fachblatt  hat  eine 
Auflage  von  2400  Exemplaren. 

Im  allgemeinen  ist  die  Organisation  der  holländischen 
Cigarrenarbeiter  noch  unvollkommen,  woran  die  weitver- 
breitete Hausindustrie  die  Hauptschuld  tragen  soll. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Der  Verband  der  deutschen  Porzellan-  und  verwandten 
Arbeiter  hielt  Mitte  Oktober  in  Charlottenburg  seine  General- 
versammlung. Seit  seinem  Austritte  aus  der  Hirsch-Duncker- 
schen  Gewerkvereinsorganisation  hat  er  trotz  der  Llngunst 
derZeit  um  22  Ortsvereine  und  1703  Mitglieder  zugenommen.  ! 
Beschlossen  wurde  die  Abschaffung  der  Akkordarbeit  und 
den  neunstündigen  Normalarbeitstag  anzustreben,  künftighin 
auch  weibliche  Mitglieder  aufzunehmen  und  von  Verbands- 
wegen Arbeitsvermittelungsbureaus  zu  errichten.  Ferner 
wurde,  aber  vorbehaltlich  einer  allgemeinen  Mitglieder- 
abstimmung, die  Verschmelzung  mit  dem  Verbände  der 
Porzellanmaler  und  verwandten  Berufsgenossen  und  der 
Anschluss  an  die  Generalkommission  der  Gewerkschaften 
Deutschlands  beschlossen.  Mit  dem  Reise-  und  Unter-  ' 
stützungsverbande  deutscher  Porzellandreher  sollen  Ver-  ■ 
handlungen  wegen  einer  Verschmelzung  angeknüpft  werden,  * 
dagegen  wurde,  hauptsächlich  wohl  wegen  der  vereinsge- 
setzlichen Schwierigkeiten,  der  Anschluss  an  den  Verband  * 
der  österreichischen  Porzellandreher  abgelehnt. 

Der  Verband  scheint  der  steigenden  Mitgliederzahl 
und  den  Beschlüssen  der  Generalversammlung  nach,  seit 
seinem  Austritte  aus  der  Hirsch-Duncker'schen  Organisation 
besser  zu  gedeihen  als  vorher. 


Politische  Arbeiterbewegung. 

Der  Strike  von  Carmaux,  der  die  öffentliche  Meinung 
seit  Wochen  in  seinem  Bann  hielt,  hat  mit  einem  voll- 
ständigen Siege  der  Strikenden  geendet.  Alle  Forderungen 
der  Arbeiter  wurden  bewilligt.  Die  verurtheilten  Ausstän- 
digen sind  vom  Präsidenten  Carnot  begnadigt  und  auf  Ver- 
anlassung des  Arbeitsministers  durch  die  Grubengesell- 
schaft wieder  angestellt  worden.  Am  3.  November  ist  in 
Folge  dessen  die  Arbeit  wieder  aufgenommen  worden. 


Kaufmännische  Bewegung. 

Enquete  über  die  Stellenlosigkeit  der  Handlungs- 
gehilfen. Den  Mittheilungen  des  „Deutschen  Verbandes  kaut- 
männischer  Vereine“  ist  zu  entnehmen,  dass  dieser  Verband 
eine  Enquete  über  die  Gründe  und  die  näheren  Umstände 
der  Stellenlosigkeit  seiner  Gehilfenmitglieder  (keine  Zählung 
der  Stellenlosen)  vornimmt.  Es  heisst  da:  „Am  12.  Juni  1892 


No.  0. 


SOZIAl  1*01  (TISCHES  ( i:\TKAI.HI  A I T. 


69 


wurde  in  Köln  beim  YVrbuudstag  < bei  Besprechung  dos  Braun- 
schweiger Antrags  unter  Zustimmung  der  Versammlung  von 
Herrn  Bosch-Köln  hervorgehoben,  dass  Versicherung  gegen 
Stellenlosigkeit  sehr  wünschenswert!)  sei.  Der  Verbands- 
Vorstand  hat,  ausgehend  von  der  Ueberzeugung,  dass  Ver- 
sicherung gegen  Stellenlosigkeit  gewiss  den  Vorzug  vor  Unter- 
stützung bei  Stellenlosigkeit  verdiene,  schon  weil  letztere  immer 
einen  demüthigenden  Beigeschmack  habe,  diese  Angelegenheit 
längst  m den  Bereich  seiner  Erwägungen  gezogen.  Beweis  da- 
für' ist  einestheils,  dass  der  Verbands-Vorsteher  schon  im 
März  1890  seinen  Sohn,  Dr.  Walther  Lotz,  Professor  der  Staats- 
wissenschaft in  München,  veranlasste,  diese  Einrichtung  bei  der 
Clerks-Association  in  Liverpool,  dem  einzigen  Verein,  der  eine 
solche  Kasse  seit  Jahren  besitzt,  an  Ort  und  Stelle  gründlich 
zu  untersuchen  (Ergebnisse  dieser  Untersuchung  hat  Dr.  Lotz 
mitgetheilt  in  der  kaufmännischen  Presse  No.  25,  26  und  105), 
amlcrntheils,  dass  der  Hamburger  Verein  für  Handlungs-Commis 
von  1858  schon  im  Herbst  1890  einer  Anzahl  grösserer  Bundes- 
vereine praktische  Vorschläge  in  dieser  Angelegenheit  mittelst 
Rundschreibens  unterbreitet  hat.  Dieselben  fanden  aber  nur  in 
Frankfurt,  Mannheim  und  Berlin  Zustimmung,  die  übrigen  be- 
fragten Vereine  verhielten  sich  entweder  ablehnend  oder  theil- 
nahmslos.  Der  Hamburger  Bruderverein  hat  in  Folge  dessen 
von  weiterer  Verfolgung  der  Angelegenheit  damals  Abstand 
nehmen  müssen,  um  so  mehr,  als  sich  nicht  verkennen  lässt, 
dass  dieses  Problem,  so  reizvoll  es  sich  auf  den  ersten  Blick 
ansieht,  bei  seiner  Lösung  manche  grosse  Schwierigkeiten  dar- 
bietet. Es  muss  hier  gedacht  werden  an  häufiges  Ortswechseln 
der  Gehilfen  und  damit  an  die  erschwerte  nothwendige  Kontrolle, 
an  den  Umstand,  dass  die  Versicherung  meist  nur  von  minder 
gut  gestellten  Gehilfen  benutzt  werden  dürfte,  an  Handels- 
krisen, bei  welchen  die  meisten  Anforderungen  an  die  Kasse 
gestellt  werden  dürften,  während  zu  solchen  Zeiten  die  Stellen- 
vermittlung gerade  am  wenigsten  entlastend  wirken  kann  etc. 
Die  freudige  Zustimmung,  welche  Herr  Bosch  bei  seinem  Vor- 
bringen in  Köln  fand,  lässt  vermuthen,  dass  mittlerweile  mehr 
allgemeines  Interesse  für  das  Problem  erwacht  ist,  als  früher, 
und  es  bietet  sich  nun  vorzügliche  Gelegenheit  für  die  Verbands- 
vereine, dieses  in  Köln  kundgegebene  Interesse  durch  gemein- 
same Arbeit  zu  bethätigen.  Bevor  man  nämlich  solch  schwierige 
Aufgabe,  deren  glückliche  Lösung  ja  gewiss  höchst  wünschens- 
werth  wäre,  weiter  bearbeiten  kann,  ist  durchaus  nothwendig, 
dass  man  vorher  zuverlässige  statistische  Erhebungen  über 
den  durchschnittlichen  Umfang  der  Stellenlosigkeit  und  deren 
Ursachen  anstellt.  . . . Der  Verbands- Vorstand  hat  deshalb 
beschlossen,  Fragebogen  an  die  Vereine  hinauszugeben.  Der- 
selbe ist  bis  zum  15.  Dezember  d.  J.,  beantwortet  portofrei  an 
den  Verbands-Vorsteher  zurückzuliefern.  Dann  soll  dessen 
Bearbeitung  alsbald  erfolgen,  damit  dem  Vorstand  bei  seiner 
Sitzung  am  25.  März  1893"  in  Eisenach  hinlänglich  gesichtetes 
Material  zur  Beschlussfassung  für  eine  Vorlage  an  den  nächsten 
(Görlitzer)  Verbandstag  unterbreitet  werden  "kann.“ 

Arbeitsverhälthisse  kaufmännischer  Angestellter.  Die- 
selben werden  ziemlich  scharf  in  ihren  drückenden  Einzelheiten 
beleuchtet  durch  zwei  Engagementsverträge,  die  süddeutsche 
Arbeitgeber  stellensuchenden  Gehilfen  unterbreiteten  und  welche 
der  „Kaufm.  Presse“  (Frankfurt  a.  M.)  aus  ihrem  Leserkreise  mit- 
getheilt werden.  Ein  Frankfurter  Gehilfe  erhielt  aus  Mannheim 
folgendes  Anerbieten:  „Im  Besitze  Ihres  Werthen  vom  18.  d. 
theile  Ihnen  mit , dass  ich  nur  Reisende  engagire  mit  zwei- 
tägiger Kündigungsfrist.  Wenn  Sie  nun  nicht  ganz  sicher  sind, 
ein  Geschäft  zu  erzielen,  das  lohnend  ist,  so  rathe  Ihnen,  sich 
besser  mit  mir  nicht  in  Verbindung  zu  setzen.  Ihre  weitere  Be- 
richte bleibe  erwartend  und  zeichne  hochachtend  D.  M.-P.“  Ein 
Karlsruher  Bankgeschäft  aber  schrieb  einem  Stellenlosen  fol- 
gende Bedingungen:  „Ich  bewillige  ein  Gehalt  von  Neunzig 
Mark  pro  Monat,  wobei  der  Betreffende  selbst  für  Kost,  Logis  etc. 
zu  sorgen  hat.  Mein  Geschäft  ist  täglich  von  8 — 12  und  von 
l-?  Uhr  geöffnet,  in  welcher  Zeit  gearbeitet  wird,  Sonntag  Nach- 
mittag ist  geschlossen.  Gegenseitig  behalte  ich  mir  vierwöchent- 
liche Kündigung  vor  und  ist  es  meinem  Commis  bei  einer  an 
mich  zu  zahlenden  Konventionalstrafe  von  zehntausend  Mark 
verboten,  innerhalb  zehn  Jahren  nach  dem  Austritt  aus  meinem 
Geschäft  sich  hier  ein  Bankgeschäft  zu  gründen  oder  hier  in  ein 
solches  als  Commis  oder  Betheiligter  einzutreten.  Sind  Sie  ge- 
neigt,  unter  obigen  Bedingungen  die  Commisstelle  in  meinem 
Hause  zu  übernehmen,  so  sehe  ich  Ihren  w.  Nachrichten  um- 
gehend entgegen.  Mir  meine  Zusage  noch  ausdrücklich  vor- 
behaltend zeichne  hochachtend  C.  S.“ 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Dringlichkeit  des  Inkrafttretens  der  industriellen  Sonn- 
tagsruhe in  Deutschland.  Die  in  der  letzten  Nummer  des 
I.  Jahrganges  dieser  Zeitschrift  gegen  das  Ausbleiben  der  in- 
dustriellen Sonntagsruhe  für  das  Deutsche  Reich,  geäusserten 
Bedenken,  haben  mannigfache  Zustimmung  gefunden.  So  wer- 


den jetzt  in  der  Presse  Eingaben  industrielle)  Unternehmungen 
mitgetheilt,  welche  nachweisen,  dass  die.  Schwierigkeiten  der 
Regelung  durchaus  keine  übergrossen  sind  und  dass  die  Vor- 
schriften recht  bald  in  Kraft  gesetzt  werden  sollten.  Es  handelt 
sich  um  eine  interessante  Aeusserung  der  Rheinischen  < llas- 
hütten-Aktiengesellschaft  in  Köln-Ehren feld  über  die  Sonntags- 
arbeit in  Glashütten  und  Eingabe  rheinischer  Hohlglasfabriken, 
betreffend  denselben  Gegenstand.  Die  letztgedachte  Eingabe 
ist  bereits  vom  15.  Dezember  1887  datirt  und  an  den  Fürsten 
Bismarck  gerichtet.  Sie  trägt  die  Unterschriften  folgender 
Firmen:  Rheinische  Glashütten- Aktiengesellschaft  in  Ehrenfeld 
bei  Köln;  Villeroy  & Boch  in  Wadgassen  a.  d.  Saar;  Raspilh-r 
& Cie.  in  Fenner  Glashütte  a.  di  Saar;  Glashütte  vormals  Ge- 
brüder Siegwart  & Cie.  in  Stolberg  (Rheinland).  Die  Unter- 
zeichner der  Eingabe  beantragen,  der  Reichskanzler  möge  zur 
Herbeiführung: einer  bessern  Gleichstellung  der  einzelnen  Glas- 
hütten mit  einander  dahin  wirken,  „dass  die  jetzt  bestehenden 
Ausnahmebestimmungen  für  Glashütten  dahin  abgeändert  "er- 
den, dass  in  allen  Glashütten  die  Hüttenarbeit  an  Sonntag  n 
und  gesetzlichen  Feiertagen  den  jugendlichen  Arbeitern  wäh- 
rend eines  Zeitraumes  von  mindestens  vierundzwauzig 
Stunden  verboten  werde;“  ferner  bitten  dieselben,  ..bei  der 
bevorstehenden  Regelung  der  Sonntagsarbeit  geneigtest  darauf 
Bedacht  zu  nehmen,  dass  die  Hüttenarbeit  in  Glashütten 
an  Sonntagen  und  gesetzlichen  E'eiertagen  überhaupt, 
also  auch  erwachsenen  Personen,  nicht  mehr  gestattet 
werde.“  Die  Unterzeichner  führen  aus,  dass  ihre  sämmtlichen 
Hüttenarbeiter  schon  seit  langen  Jahren  eine  Sonntagsruhe  von 
mindestens  24  Stunden  hätten.  Es  sei  ihnen  bei  der  grössern 
Schmelzdauer  ihrer  geschlossenen  Häfen  auch  im  günstigsten 
Falle  nur  möglich,  ihre  Häfen  vier  Mal  und  in  seltenen  Fällen 
viereinhalb  Mal  per  Woche  auszuarbeiten  und  gebe  dies  den 
mit  offenen  Häfen  arbeitenden  Hütten,  die  hauptsächlich  im 
Osten  Deutschlands,  namentlich  in  Brandenburg,  Sachsen  und 
Schlesien  liegen,  einen  ganz  gewaltigen  Vorsprung  in  den  Her- 
stellungskosten, da  sie  regelmässig  in  jeder  W oche  36  bis  43  pCt. 
mehr  Glasmasse  als  jene  verarbeiten  könnten.  Es  liege  nun 
zwar  der  Gedanke  nahe,  die  am  Sonntag  arbeitende  Konkur- 
renz einfach  durch  Annahme  ihres  eigenen  Arbeitssystems  zu 
bekämpfen,  allein,  die  Unterzeichner  trügen  Bedenken,  den- 
selben zur  Ausführung  zu  bringen,  da  der  erforderliche  Umbau 
ihrer  Oefen  und  Hüttengebäude  und  die  nöthige  Umänderung 
fast  aller  ihrer  Einrichtungen  ein  enormes  Kapital  verschlingen 
würde  und  dieses  voraussichtlich  vergeblich  ausgegeben  sein 
dürfte,  da  bei  der  humanen  Tendenz  unserer  Fabrikgesetzgebung 
das  gänzliche  Verbot  der  Sonntagsarbeit  nur  als  eine  Frage  der 
Zeit  erscheine  und  sie  auch  ihren  Arbeitern  nach  der  langjäh- 
rigen Einstellung  der  Sonntagsarbeit  eine  Wiederaufnahme  der- 
selben weder  zumuthen  könnten  noch  möchten.  In  der  vom 
6.  Juli  1892  datirten  Aeusserung  der  Rheinischen  Glashütten- 
Aktiengesellschaft  (Rauter)  heisst  es:  „Durch  die  jetzigen  Aus- 

nahmebestimmungen sind  wir  (die  mit  geschlossenen  Häfen  ar- 
beitenden Hütten)  mit  den  Wanneöfen  (welche  ununterbroche- 
nen Tag-  und  Nachtbetrieb  und  regelmässig  wechselnde  Schichten 
haben),  gleichgestellt,  trotzdem  ihr  Betrieb  und  der  unserige 
nicht  die  geringste  Aehnlichkeit  miteinander  haben  und  wir 
ganz  andere  Waarengattungen  fabriziren  wie  sie.  Unsere  Kon- 
kurrenz bilden  die  Weisshohlglashütten  mit  offenen  Häfen.  Dass 
wir  mit  diesen  gleichgestellt  werden,  und  zwar  möglichst  unter 
Zugrundelegung  der  bei  uns  eingeführten,  der  neuen  Gewerbe- 
gesetzgebung weit  mehr  entsprechenden  Arbeitsruhe  an  Sonn- 
und  Feiertagen,  ist  für  uns  eine  Existenzfrage.“  Die  Rauter- 
sche  Eingabe  legt  im  Einzelnen  dar,  dass  für  Glashütten  aus 
technischen  Gründen  Ausnahmen  von  der  Bestimmung  des 
§ 105b,  Absatz  1 der  Gewerbeordnung  im  Allgemeinen  nicht 
erforderlich  sind  und  dass  es  sich  bei  der  Beibehaltung  der 
Sonntagsarbeit  im  grossen  Ganzen  nur  um  eine  Vermehrung 
der  regelmässigen  Produktion  handeln  würde,  welche  sogar 
durch  den  Beschluss  der  Delegirtenversammlung  des  Central- 
verbandes  deutscher  Industrieller  vom  21.  Mai  1890  als  unzulässig 
bezeichnet  worden  sei.  Sollten  dessen  ungeachtet  aus  andern 
Gründen  solche  Ausnahmebestimmungen  von  Seiten  des  Bundes- 
raths erlassen  werden,  so  bittet  das  genannte  rheinische  Werk 
darum,  solche  wenigstens  für  alle  Betriebe  derselben  Art  gleich- 
mässig  zu  erlassen,  entsprechend  dem  § 105d,  Absatz  2 der  Ge- 
werbeordnung.“ Diese  Eingaben  zeigen,  dass  jedenfalls  in  der 
Glasindustrie  die  Schwierigkeiten  nicht  bestehen,  welche  nach 
der  Versicherung  der  Behörden  der  endlichen  Inkraftsetzung 
der  industriellen  Sonntagsruhe  in  den  Weg  treten  sollen. 

Jugendliche  Arbeiter  auf  deutschen  Walz-  und  Hammer- 
werken. Auf  der  am  23.  Oktober  d.  Js.  zu  Düsseldorf  abge- 
haltenen Hauptversammlung  des  Vereins  deutscher  Eisenhütten- 
leute sprach  Generalsekretär  Dr.  Beumer  im  Auftrag  der  Eisen- 
und  Stahlindustriellen  eingehend  über  die  seiner  Zeit  in  diesem 
Blatte  mitgetheilte  bundesräthliche  Ausführungsbestimmung, 
welche  vorschreibt,  „dass  jedem  Verzeichniss  der  jugendlichen 
Arbeiter  in  Walz-  und  Hammerwerken  eine  Tabelle  beigefügt 
werde,  in  welche  während  oder  unmittelbar  nach  jeder  Arbeits- 
schicht Anfang  und  Ende  der  darin  gewährten  Pausen  einge- 
tragen wird.  Die  Tabelle  muss  bei  zweischichtigem  Betriebe 
mindestens  über  die  letzten  14  Arbeitsschichten,  bei  dreischich- 
tigen Betrieben  mindestens  über  die  letzten  20  Arbeitssehichten 


70 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  6. 


Auskunft  geben.  Der  Name  desjenigen,  welcher  die  Eintra- 
gungen in  die  Tabelle  besorgt,  muss  zu  ersehen  sein.“*  Diese 
Verordnung  ist  für  neueintretende  Arbeiter  seit  dem  1.  Juni  d.  Js. 
in  Kraft;  für  früher  Beschäftigte  bleiben  die  bisherigen  Be- 
stimmungen bis  zum  I.  April  1894  in  Geltung.  Im  Betriebe  der 
Walz-  und  Hammerwerke  sei  sie  gar  nicht  durchzuführen,  man 
müsste  denn  einen  oder  mehrere  Beamte  anstellen,  welche  die 
geforderten  Aufzeichnungen  besorgen.  Bei  der  ohnehin  von 
l ag  zu  Tag  sich  mehrenden  Belastung  durch  die  sozialpolitische 
Gesetzgebung  würden  sich  die  industriellen  Werke  umsoweniger 
auf  die  Anstellung  besonderer  Beamten  einlassen,  als  jene  Aus- 
führungsbestimmung gänzlich  zwecklos  sei,  da  gerade  in 
Walz-  und  Hammerwerken  die  jugendlichen  Arbeiter  mehr 
Pausen  haben  als  in  jedem  andern  Betriebe.  Den  Beamten  aber 
müsste  das  betreffende  Werk  LJhren  liefern,  und  ein  Versuch 
habe  ergeben,  dass  von  12  zu  diesem  Zwecke  gelieferten  Uhren 
in  drei  Wochen  schon  7 reparaturbedürftig  waren;  auch  würden 
die  überwachenden  Beamten  von  ihren  sonstigen  Arbeiten  voll- 
ständig abgehalten.  (Dann  sind  es  also  keine  besonderen  Be- 
amten?) Zudem  werde  man  mit  dieser  Notirung,  wenn  sie  nicht 
genau  auf  die  Sekunde  gemacht  werde,  der  Denunziationssucht 
der  Arbeiter  gegen  die  Arbeitgeber  Thor  und  Thür  öffnen. 
Unter  solchen  Umständen  seien  die  industriellen  Werke  ent- 
schlossen, jugendliche  Arbeiter  überhaupt  nicht  mehr  zu 
beschäftigen.  Nun  liege  aber  die  Beschäftigung  der  jugend- 
lichen Arbeiter  weniger  im  Interesse  der  Werke,  als  vielmehr 
im  Interesse  der  arbeitenden  Bevölkerung,  ln  99  von  100  Fällen 
erfolge  die  Beschäftigung  der  jugendlichen  Arbeiter  auf  Bitten 
der  Eltern.  Diese  seien  mit  Recht  sehr  erfreut,  wenn  der  aus 
der  Schule  entlassene  Knabe  sofort  Arbeit  findet  und  zwar  auf 
demselben  Werke,  auf  welchem  sein  Vater  beschäftigt  ist. 
Dieser  habe  ferner  Gelegenheit,  sich  schon  frühe  zum  tüchtigen 
Arbeiter  auszubilden;  denn  es  sei  ein  grosser  Unterschied,  ob 
man  mit  der  Erlernung  der  Walz-  und  Hammerarbeit  im  14. 
oder  im  16.  Lebensjahre  beginne.  Ferner  verdiene  der  jugend- 
liche Arbeiter  ein  gutes  Stück  Geld.  Nach  auf  50  Eisenwerke 
sich  erstreckenden  Erhebungen  verdiene  der  jugendliche 
Arbeiter  bei  300  Arbeitstagen  durchschnittlich  300 — 450  M.,  was 
für  die  auf  diesen  Werken  beschäftigten  2169  jugendlichen 
Arbeiter  einen  jährlichen  Gesammtlohn  von  rund  900  000  M. 
ausmacht.  Diese  Summe  komme  aber  erfahrungsgemäss  den 
Arbeiterfamilien  zu  gute,  und  sie  würde  in  Wegfall  kommen, 
wenn  jene  bundesräthliche  Bestimmung  nicht  aufgehoben  oder 
abgeändert  werde.  Seit  dem  1.  Juni  cl.  Js.  sind  nach  vorge- 
nommenen Erhebungen  auf  den  rheinisch-westfälischen  Walz- 
und  Hammerwerken  statt  2516  nur  2169  jugendliche  Arbeiter 
beschäftigt.  Nach  dem  1.  April  1894  würden  grössere  Werke 
jugendliche  Arbeiter  überhaupt  nicht  mehr  annehmen.  Die 
A irkung  werde  zunächst  in  der  Unfallstatistik  hervortreten,  da 
16jährige  junge  Leute  schwerer  anzulernen  seien  als  14jährige; 
es  werde  also  kein,  tüchtiger  Arbeitsnachwuchs  ausgebildet 
werden.  Die  14jährigen  Knaben  würden  ohne  Beschäftigung 
„verlottern“,  die  Autorität  des  Vaters,  der  sonst  seinen  Sohn  mit 
zur  Arbeit  nahm,  werde  geschwächt  werden,  der  der  Familie  zu 
gute  kommende  Verdienst  werde  ausfallen.  Thatsächlich  be- 
trage die  arbeitsfreie  Zeit  jugendlicher  Arbeiter  auf  Walz-  und 
Hammerwerken  schon  jetzt  bei  12  ständiger  Schicht  durchweg 
3 Stunden,  in  manchen  Werken  noch  mehr,  „und  das  genüge 
vom  gesundheitlichen  Standpunkte  aus“.  Diese  Pausen  unter 
allen  Umständen  zu  gewährleisten,  seien  die  Werke  bereit,  und 
- ie  zeigten  damit  ihren  guten  Willen,  die  jugendlichen  Arbeiter 
mch  weiterhin  zu  beschäftigen;  dagegen  verlangen  sie  die  Auf- 
hebung der  in  Rede  stehenden  Bestimmungen,  die,  ohne  dass 
genügende  Erfahrungen  gesammelt  worden,  auf  10  Jahre  festge- 
setzt sind.  Diese  Ausführungen  fanden  den  allgemeinen  Beifall 
der  Zuhörer,  und  der  Vorsitzende  betonte  im  Anschluss  daran, 
dass  der  Verein  auf  Treu  und  Glauben  die  Versicherung  geben 
könne,  den  jugendlichen  Arbeitern  bei  12stündiger  Schicht  stets 
3 Stunden  Pause  zu  gewähren,  selbstverständlich  ohne  die  Ver- 
pflichtung des  umständlichen  Niederschreibens  dieser  Pausen.  — 
Diese  Verhandlung  gewährt  einen  tiefen  Einblick  in  den  Wider- 
willen der  betreffenden  Grossindustriellen  gegen  die  geringste 
Mühewaltung  im  Interesse  des  Arbeiterschutzes.  Wenn  die 
arbeitsfreie  Zeit  jugendlicher  Arbeiter  auf  deutschen  Walz-  und 
Hammerwerken  wirklich  jetzt  schon  allgemein  bei  12. ständiger 
Arbeitszeit  3 Stunden  beträgt,  so  ist  nicht  abzusehen,  warum 
die  Werke  diesen  Zustand  nicht  auch  beurkunden  wollen.  Im 
Uebrigen  ergiebt  sich  aus  dem  Widerstand  der  Werke  gegen  so 
geringfügige  Schutzvorschriften  die  alte  Erfahrung,  dass  der 
Widerstand  der  Unternehmer  durch  kleinliche  Scliutzmassregeln 
utr  verstärkt  wird.  Hätte  die  deutsche  Gesetzgebung  den  Muth 
gehabt,  durchzugreifen,  die  jugendlichen  Arbeiter  von  der 
schweren  Walz-  und  Hammerarbeit  ganz  fernzuhalten  und  dafür 
die  obligatorische  Fortbildungsschule  bis  zum  16.  Lebensjahr 
'■inzuführen,  so  hätte  sich  die  Industrie  vermuthlich  viel  rascher 
angepasst. 

Lohntestsetzuiig  und  Berggesetz  in  Prenssen.  Hierüber 
schreibt  „Glückauf“,  das  Organ  der  Kohlenzechen  in  Rheinland- 
\\  esttalen,  in  No.  85  d.  |.  Folgendes:  „Die  Berggesetznovelle 

macht  nach  wie  vor  den  Arbeitgebern  viel  Kopfzerbrechen  und 
Schwierigkeiten  und  vor  allem  kommt  hier  in  Betracht  der 
§ 80c  Absatz  I Derselbe  lautet:  ..Ist  im  Fall  der  Fort- 


setzung der  Arbeit  vor  demselben  Arbeitsort  das  Gedinge  nicht 
bis  zu  dem  nach  § 80  b,  No.  2,  in  der  Arbeitsordnung  zu  be- 
stimmenden Zeitpunkte  abgeschlossen,  so  ist  der  Arbeiter  be- 
rechtigt, die  Feststellung  seines  Lohnes  nach  Massgabe  des  in 
der  vorausgegangenen  Lohnperiode  für  dieselbe  Arbeitsstelle 
gültig  gewesenen  Gedinges  zu  verlangen.“  Wenn  nach  dem 
Wortlaut  dieses  Paragraphen  vorgegangen  würde,  so  würde  es 
einfach  dazu  führen,  (fass  jede  Aenderung  eines  Gedinges 
überhaupt  unmöglich  wird.  Es  ist  nicht  gesagt,  ob  die  Fort- 
setzung der  Arbeit  von  dem  früheren  oder  von  einem  neuen 
Arbeiter  geschehen  muss,  sondern  es  heisst  einfach:  „Wenn 
irgend  ein  Arbeiter  es  ablehnt,  ein  Gedinge  anzunehmen,  so 
gilt  ohne  Weiteres  das  alte  Gedinge.“  In  den  Kommissions- 
verhandlungen ist  aber  festgestellt  worden,  dass  dieser  Para- 
graph in  engster  Verbindung  steht  mit  dem  i?  80  b,  Abs.  1, 
Rubrik  2.  Dort  heisst  es  nämlich,  dass  in  der  Arbeitsordnung 
ein  Zeitpunkt  festgestellt  sein  muss  (sagen  wir  8 bis  10  Taget 
bis  zu  welchem  nach  Uebernahme  der  Arbeit  das  Gedinge  ab- 
zuschliessen  ist.  Wenn  dies  nun  deshalb  nicht  geschieht,  weil 
der  aufsichtsführende  Beamte  sich  nicht  sehen  lässt,  es  mithin 
dem  Arbeiter  unmöglich  gemacht  wird,  überhaupt  über  das 
Gedinge  zu  reden,  so  erhält  er  sein  früheres  Gedinge  Danach 
also  gestalten  sich  die  Lohnverhältnisse  folgendermassen : Die 
Arbeiter  sind  beschäftigt  im  Schichtlohn  oder  im  Gedinge.  Die 
Regelung  des  Schichtlohnes  ist  einfach,  verwickelter  aber  die 
des  Gedinges  I.  wenn  die  Grundlagen,  auf  denen  das  Gedinge 
abgeschlossen  ist,  sich  ändern,  so  kann  der  Bergwerksbesitzer 
oder  der  Arbeiter  eine  Veränderung  oder  Aufhebung  des  Ge- 
dinges verlangen.  Die  Arbeitsordnung  muss  aber  eine  Bestim- 
mung enthalten,  was  dem  Arbeiter  gezahlt  werden  soll,  wenn 
eine  Vereinbarung  über  das  Gedinge  nicht  zu  Stande  kommt 
(§  80  c,  Abs.  3);  2.  wenn  die  Verhältnisse,  auf  denen  das  Ge- 
dinge beruht,  sich  nicht  ändern,  wenn  ferner  a)  dieselbe 
Kameradschaft  bleibt,  so  bleibt  selbstverständlich  das  frühere 
Gedinge.  Wünscht  einer  von  beiden  Theilen  eine  Aenderung 
des  Gedinges,  so  muss  er  dies  14  Tage  vorher  beantragen; 
b)  wenn  die  Kameradschaft  wechselt:  I.  so  erhält  die  neue 
Kameradschaft  das  frühere  Gedinge,  wenn  von  keiner  Seite 
etwas  anderes  beantragt  ist,  2.  wenn  die  Veränderung  des  Ge- 
dinges beantragt  oder  angekündigt  ist,  es  dem  Arbeiter  aber, 
weil  der  Beamte  nicht  zu  ihm  kommt,  unmöglich  ist,  sein  neues 
Gedinge  zu  vereinbaren,  so  erhält  der  Arbeiter  das  alte  Gedinge 
(§  80  cf  Abs.  1);  3.  wenn  zwischen  dem  Beamten  und  dem  Ar- 
beiter oder  der  Kameradschaft  eine  Vereinbarung  über  das 
Gedinge  nicht  zu  Stande  kommt,  so  erhält  der  Arbeiter  den- 
jenigen Lohn,  der  für  solche  Fälle  in  der  Arbeitsordnung  fest- 
gesetzt ist  (§  80b,  Abs.  I,  Rubrik  2).  Man  ersieht  aus  diesen 
Ausführungen  bereits,  mit  welchem  ungewöhnlichen  Mass  von 
Unkenntniss  des  praktischen  Bergbaues  die  Berggesetznovelle 
zu  Stande  gekommen  ist.  Der  Fehler  liegt  vor  allem  darin, 
dass  man  es  versucht  hat,  die  vielgestaltige  Praxis  in  einem 
Paragraphen  zu  schematisiren.“  Soweit  das  Organ  der  rheinisch- 
westfälischen  Zechen.  Seine  Beschwerde  klingt  sehr  verwunder- 
lich deshalb,  weil  die  Formulirung  der  neuen  Vorschriften  im 
preussischen  Berggesetz  bekanntlich  last  lediglich  Sache  der  im 
preussischen  Landtag  befindlichen  Zechenvertreter  war  und  als 
Berichterstatter  der  betreffenden  Kommission  Bergrath  Schultz- 
Bochum  fungirte.  Vielleicht  sind  die  Herren  mit  der  Aus- 
merzung jeglicher  Arbeiterschutzvorschrift  von  Bedeutung  aus 
dem  Regierungsentwurf  so  beschäftigt  gewesen,  dass  sie  für 
eine  bessere  Formulirung  der  sonstigen  Bestimmungen  keine 
Zeit  hatten. 

Das  neue  französische  Arbeiterschutzgesetz.  Nach 
fast  zwölfjährigem  Hin-  und  Herwandern  zwischen  dem 
Palais  Bourbon  und  dem  Palais  Luxembourg  ist  der  Ge- 
setzentwurf, betreffend  die  Arbeit  der  in  den  industriellen 
Anlagen  beschäftigten  Kinder,  Mädchen  und  Frauen  in  der 
Kammersitzung  vom  29.  Oktober  endlich  endgültig  ange- 
nommen und  somit  zum  Gesetze  erhoben  worden,  das 
seinem  Schlussartikel  zufolge  schon  mit  1.  Januar  1893  in 
Kraft  tritt.  Wie  die  Leser  des  Sozialpolitischen  Central- 
blattes schon  aus  früheren  Besprechungen  dieses  Gesetz- 
entwurfes wissen,  bestand,  nachdem  die  Kammer  die  vom 
Senat  getroffene  Bestimmung  angenommen,  dass  die  Arbeit, 
wenn  sie  zwischen  zwei  nicht  länger  als  neun  Stunden  be- 
schäftigten Arbeiterschichten  vertheilt  wird,  von  4 Uhr 
Morgens  bis  10  Uhr  Abends  zu  gestatten  sei,  der 
Hauptzwiespalt  zwischen  diesen  beiden  Körperschaften  nur 
noch  in  der  Uneinigkeit  über  die  Festsetzung  der  Arbeits- 
zeit der  Frauen.  Der  Senat  hatte  schliesslich  das  Verbot  der 
Nachtarbeit  ausgesprochen,  aber  dafür,  im  Gegensätze  zur 
Kammer,  die  tägliche  Arbeitszeit  auf  elf  Stunden  festgesetzt. 
I9ie  Abgeordneten  Dron  und  Dumay  versuchten  nun  allerdings 
den  bei  jedesmaliger  Beratlnmg  dieses  Entwurfes  mit  grosser 
Mehrheit  angenommenen  Paragraph,  wonach  der  Arbeitstag, 
wie  für  Kinder,  jugendliche  Leute  und  unmündige  Mädchen, 
auch  für  Frauen  nicht  mehr  als  zehn  Stunden  betragen 
dürfe,  aufrecht  zu  erhalten,  doch  vergeblich.  Der  Referent, 
Abg.  Sibille,  hatte  nämlich  darauf  hingewiesen,  dass  die 


Xo.  6. 


SOZIALPOLITISCHES  CKNTKALM  .ATT. 


71 


gegenwärtige  Legislatur  bald  zu  Ende  gehe,  dass  die 
Kammer  schon  im  nächsten  Juli  geschlossen  sein  dürfte, 
bis  dahin  aber,  nebst  anderen  Fragen,  noch  zwei  Budgets 
durchzuberathen  seien,  so  dass,  wenn  der  Entwurf  abermals 
an  den  Senat  zurückgeschickt  werde,  es  vorauszusehen  sei, 
dass  er  nicht  mehr  vor  diese  Kammer  zur  Berathung  ge- 
langen werde  und  somit  die  Arbeiterschaft  auch  der  Refor- 
men, welche  der  Senat  beigestimmt,  auf  lange  Zeit  hinaus 
verlustig  ginge.  Dies  bestimmte  denn  auch  die  Kammer, 
alle  eingebrachten  Amendements  — das  Dron’sche  mit  356 
gegen  154  Stimmen  — zu  verwerfen  und  den  Entwurf  in 
seiner  ihm  vom  Senate  gegebenen  Fassung  anzu- 
nehmen. 

So  lückenhaft  nun  auch  dieses  Gesetz  sein  mag  und 
so  wenig  es  auch  darnach  angethan  ist,  die  Bewegung  nach 
einer  wirksamen  Verkürzung  der  Arbeitszeit  zu  schwächen, 
so  bedeutet  es  immerhin  einen  Fortschritt  gegen  das  bisher 
geltende  Gesetz  vom  19.  Mai  1874.  In  erster  Linie  bedeutet 
es  schon  einen  Fortschritt,  dass  das  neue  Gesetz  ausser  auf 
die  gewöhnlichen  gewerblichen  Unternehmungen  auch  auf 
jene  zur  Anwendung  gelangt,  welche  unter  dem  Deckmantel 
der  Wohlthätigkeit  oder  des  gewerblichen  Unterrichts  nicht 
selten  Kinder  wie  Erwachsene  in  der  schändlichsten  Weise 
ausbeuten.  Der  Art.  I des  neuen  Gesetzes  besagt  nämlich : 
„Die  Arbeit  der  Kinder,  minderjährigen  Mädchen  und  Frauen 
in  den  Hüttenwerken,  Fabriken,  Bergwerken,  Gruben  und 
Steinbrüchen,  Bauplätzen,  Werkstätten  und  was  damit  zu- 
sammenhängt, welcher  Art  sie  auch  sein  möge,  öffentlich 
oder  privat,  weltlich  oder  geistlich,  selbst  wenn  diese 
Anstalten  den  Charakter  eines  Gewerbeunter- 
richts oder  der  Wohlthätigkeit  tragen,  untersteht 
den  von  diesem  Gesetze  bestimmten  Verpflichtungen.“  Ein 
weiterer  Fortschritt  besteht  darin,  dass  während  das  Gesetz 
von  1874  gestattet,  Kinder  schon  vom  12.  Lebensjahr  ab 
täglich  12  Stunden  abzurackern,  das  neue  Gesetz  das  Alter 
auf  13  Jahre  festsetzt  und  die  Arbeitszeit  auf  10  Stunden 
täglich  beschränkt.  Allerdings  gestattet  es  auch  schon 
Kinder  im  Alter  vom  12  Jahren  zu  beschäftigen,  wenn 
diese  das  durch  Gesetz  vom  28.  März  1882  eingeführte 
Schulabgangszeugniss  (Certificat  d’etudes  primaires),  sowie 
ein  ärztliches  Zeugniss  über  ihre  körperliche  Befähigung 
besitzen,  dafür  gestattet  aber  das  Gesetz  von  1874  schon 
die  Anwendung  zehnjähriger  Kinder  als  „Halbzeitler“.  Ein 
fernerer  Fortschritt  besteht  darin,  dass  die  jungen  Leute 
von  16  bis  18  Jahren  nicht  länger  als  sechzig  Stunden 
wöchentlich  und  alle  Mädchen  und  Frauen  von  über 
18  Jahren  nicht  länger  als  11  Stunden  täglich  beschäftigt 
und  was  noch  wichtiger,  auch  nicht  zur  Nachtarbeit  zu- 
gelassen werden  dürfen.  Wenn  auch  Ausnahmen  zu  ver- 
zeichnen sind,  und  das  schon  oben  erwähnte  System 
der  Schichtarbeit  dieses  Verbot  zum  Theil  wieder 
aut  hebt,  so  ist  dagegen  zu  bemerken,  dass  das  Gesetz  von 
1874  überhaupt  kein  Verbot  der  Nachtarbeit  für  Frauen 
kennt. 

Von  diesen  Verbesserungen  abgesehen,  wird  auch  die 
Gewerbeinspektion,  die  jetzt  theils  vom  Staate,  theils  von 
den  Departements  abhängt,  und  bisher  mit  fast  alleiniger 
Ausnahme  von  Paris  sehr  viel  zu  wünschen  übrig  lässt, 
eine  einheitliche  und  damit  zugleich  wirksamere  sein. 
V ährend  bisher  von  den  verschiedenen  Departements  oft 
ganz  ungeeignete  oder  mit  anderen  Arbeiten  überbürdete 
Personen,  wie  Schulinspektoren  u.  s.  w.  als  Fabrikinspek- 
toren angestellt  wurden,  werden  nach  dem  neuen  Gesetze 
sämmtliche  Inspektoren  von  der  Regierung  bezw.  vom 
Handelsminister  ernannt  und  haben  sich  vor  ihrer  An- 
stellung erst  einer  Prüfung  zu  unterwerfen. 

So  zeigt  sich  denn,  dass  das  neue  Arbeiterschutz- 
gesetz im  A ergleich  zu  dem  Gesetze  von  1874  in  vielen 
Punkten  einen  wesentlichen  Fortschritt  bedeutet.  Ob  aber 
ein  relativer  Fortschritt  auch  schon  einen  wirklichen  Fort- 
schritt bedeutet,  das  ist  eine  Frage,  die,  wenn  man  dabei 
auch  nur  an  die  englische  Gesetzgebung,  betreffend  die 
Kinder-  und  Frauenarbeit  denkt,  kaum  unbedingt  zu  be- 
jahen wäre. 


Gewerbeinspektion. 

Die  englische  Fabrikinspektion  im  Jahre  1890/91. 1 

Der  vorliegende  Bericht  des  Chefs  der  englischen 
Fabrikinspektion  über  die  Thätigkeit  der  letzteren  in  dem 
mit  dem  31.  Oktober  1891  zu  Ende  gegangenen  Berichts- 
jahre liefert  nur  eine  geringe  Ausbeute  an  Material  für  die 
Beurtheilung  der  britischen  Arbeiterverhältnisse.  Der  Be- 
richt umfasst,  wenn  man  von  den  5 statistischen  Beilagen 
absieht,  nur  34  Seiten  8°.  Die  Berichte  der  englischen 
Fabrikinspektoren  geben  eben  so  wenig  wie  diejenigen 
ihrer  Kollegen  auf  dem  Festlande  ein  erschöpfendes  Bild 
von  den  Arbeiterverhältnissen;  ja,  nach  vielen  Richtungen 
hin  stehen  die  englischen  Berichte  den  in  den  kontinentalen 
Staaten  veröffentlichten  sogar  nach.  In  seinem  Werke  über 
die  englische  Fabrikinspektion  sagt  Weyer  (S.307):  „Die  jähr- 
lichen von  dem  Chief  Inspektor  erstatteten  Berichte  seit  1878 
sind  im  Vergleich  mit  den  Berichten  der  Fabrikinspektoren 
auf  dem  Festland  ausserordentlich  dürftig.“  Der  in  Rede 
stehende  Bericht  zeichnet  sich  aber  durch  besondere 
Dürftigkeit  aus.  Es  ist  dies  letztere  indess  auf  einen 
äusseren  Grund  zurückzuführen.  Der  Posten  des  Chief 
Inspektors  ist  im  Berichtsjahre  neu  besetzt  worden:  an  die 
Stelle  des  bisherigen  Chief  Inspektors  Redgrave  ist  Mr. 
Whymper,  einer  der  Superintending  Inspektoren  getreten. 
Nach  den  einleitenden  Worten  des  neuen  Chief  Inspektors 
scheint  es,  als  ob  seine  Ernennung  erst  gegen  Ende  des 
Berichtsjahres  erfolgte,  so  dass  es  ihm  wohl  an  Zeit  ge- 
mangelt hat,  wenn  der  Bericht  zur  rechten  Zeit  erscheinen 
sollte,  einen  ausführlicheren  und  zweckentsprechenderen 
Auszug  aus  den  Berichten  der  einzelnen  Fabrikinspektoren 
zu  machen. 

Fassen  wir  zunächst  ins  Auge,  was  in  dem  Berichte 
über  die  Beobachtung  der  Fabrikgesetze  mitgetheilt 
wird.  Nach  den  Ausführungen  derjenigen  Inspektoren, 
die  über  diesen  Gegenstand  zu  Worte  gekommen,  sind 
schwere  Verstösse  gegen  die  Fabrikakte  nur  in  geringem 
Masse  vorgekommen.  Die  Unternehmer  zeigten  sich  auch 
gefügiger  bezüglich  der  Innehaltung  der  gesetzlichen  Vor- 
schriften. Ein  Fabrikinspektor  führt  indess  Klage  über  die 
grosse  Ausdehnung  seines  Bezirkes,  der  eine  gleichmässige 
Ueberwachung  der  Beobachtung  der  Fabrikgesetzgebung 
verhindere.  Es  ist  wohl  anzunehmen,  dass  dieser  Fall 
nicht  vereinzelt  dasteht  und  so  dürften  manche  Vergehen 
gegen  das  Gesetz  gar  nicht  zur  Kenntniss  des  Beamten 
kommen. 

Trotz  der  von  einzelnen  Inspektoren  abgegebenen 
Versicherung,  dass  die  Bestimmungen  des  Fabrikgesetzes 
mehr  Beachtung  seitens  der  Unternehmer  finden,  als  dies 
früher  der  Fall  gewesen,  ist  aus  den  im  Appendix  No.  3 
gegebenen  Nachweisen  über  die  Anzeigen,  die  wegen 
Nichtbeobachtung  des  Gesetzes  und  über  die  Verurthei- 
lungen,  die  auf  Grund  dieser  Anzeigen  erfolgten,  zu  er- 
sehen, dass  die  Anzahl  der  Vergehen  gegen  die  Fabrikakte 
eine  sehr  grosse  ist.  Die  Zahl  der  Anzeigen  in  dem  Be- 
richtsjahre beträgt  2417,  die  der  Verurtheilungen  2233,  in 
70  Fällen  fand  nur  eine  Verurtheilung  in  die  Kosten  des 
Verfahrens  statt;  54  Anzeigen  wurden  als  unbegründet 
zurückgewiesen.  Die  Verurtheilungen  erfolgten  u.  A.  in 
546  Fällen  wegen  Beschäftigung  geschützter  Personen  vor 
oder  nach  der  gesetzlich  festgesetzten  Arbeitszeit,  in  597 
wegen  Beschäftigung  während  der  für  Mahlzeiten  be- 
stimmten Zeit,  in  448  wegen  Beschäftigung  über  die  für  den 
Sonnabend  oder  einem  diesem  Tage  gleichzurechnenden 
Tag  vorgeschriebene  Zeit;  273  Bestrafungen  fanden  statt 
wegen  Beschäftigung  von  Kindern  oder  jungen  Personen 
unter  16  Jahren  ohne  das  nothwendige  ärztliche  Tauglich- 
keitszeugniss,  58  wegen  Beschäftigung  von  geschützten  Per- 
sonen bei  Nacht,  79  wegen  Fehlens  der  vorgeschriebenen 
Arbeiterverzeichnisse. 


')  Report  of  the  Chief  Inspector  of  Factories  and  Work- 
shops to  Her  Majestys  Principal  Secretary  of  State  for  the 
Home  Department  for  the  year  ending  31.  October  1891.  Price 
1 s.  5 d. 


so/ta  i ,poi  rrist  :h  i-.s  centralblatt. 


Ein  vcrhältnissmässig  grosser  Tbeil  des  Berichts  ist 
den  im  Berichtsjahre  vorgekommenen  Unfällen  gewidmet. 
Ihre  Anzahl  belief  Ach  auf  8527  von  welchen  420  den  Tod  zur 
Folge  hatten.  In  Folgendem  wird  eine  statistische  Ueber- 
sicht  über  die  Unfälle  gegeben: 


Alt  der  Verletzung 

Er- 

wach- 

sene 

Junge 

Per- 

sonen 

Kinder 

Zusammen 

m. 

w. 

m. 

w. 

m. 

w. 

m. 

\v.  1 

m. 

u. 

w. 

Tödtlich 

320 

9 

77 

6 

8 

405 

15 

420 

Amputation  der  rechten 
Hand  oder  des  Armes 

34 

5 

14 

2 

2 

50 

7 

57 

Amputation  der  linken 
Hand  oder  des  Armes 

30 

2 

12 

4 

i 

1 

43 

7 

50 

Amputation  eines  Thei- 
les  der  rechten  Hand 

243 

50 

191 

76 

19 

12 

453 

138 

591 

Amputation  eines  Tliei- 
les  der  linken  Hand 

287 

41 

185 

49 

22 

4 

494 

94 

588 

Amputation  eines  Tliei- 
les  des  Beines  oder 
Fusses  

16 

1 

15 

1 

i 

32 

2 

34 

Verlust  des  Augenlichts 
auf  einem  oder  beiden 
Augen 

1 1 

9 

7 

5 

18 

14 

32 

Bruch  eines  Gliedes  od. 
eines  Rumpf  knochens 

192 

17 

135 

18 

19 

4 

346 

39 

385 

Bruch  von  Hand  oder 
Fuss 

158 

42 

102 

35 

14 

7 

274 

84 

358 

Verletzungen  am  Kopl 
oder  Gesicht  .... 

526 

105 

139 

67 

17 

7 

682 

179 

861 

Verschiedene  Ver- 
letzungen   

2419' 

506 

1522 

479 

169 

56 

4110 

1041 

5151 

Zusammen  . . 

4236 

787 

2399 

742 

272 

9ljö907 

1620  8527 

Die  Anzahl  der  Unfälle  ist  als  eine  bedeutende  zu  be- 
zeichnen. Im  Berichtsjahre  1885/86  betrugen  dieselben  nur 
6656,  wovon  316  mit  tödtlichem  Ausgange,  im  Berichtsjahre 
1886/87  6827,  wovon  368  tödtlich  verliefen. 

Die  Voraussage  des  Chief  - Inspektors  in  dem  Be- 
richte für  das  Jahr  1885/86,  dass  die  Zahl  der  Unfälle 
ihr  Maximum  erreicht  haben  würde,  hat  sich  demnach 
nicht  bestätigt,  im  Gegentheil,  es  ist  noch  eine  Steige- 
rung derselben  eingetreten,  sowohl  was  die  Zahl  der  Un- 
fälle überhaupt,  sowie  derjenigen  die  den  Tod  zur  Folge 
hatten,  betrifft. 

Der  Inspektor  des  Distrikts  von  Liverpool  lenkt  die 
Aufmerksamkeit  auf  die  vielfachen  Verletzungen,  die  in 
Dampfziegelwerken,  sowie  durch  Stampf-  und  Schneide- 
maschinen in  den  Metall  werken,  namentlich  bei  Kindern 
und  jugendlichen  Arbeitern  vorgekommen.  Häufigere  und 
schwere  Unfälle  haben  sich  nach  den  Mittheilungen  des 
Liverpooler  Inspektors  ereignet  in  chemischen  Fabriken, 
Steinbrüchen,  Werften,  Sagemühlen,  Glasfabriken,  Kupfer- 
und  Bleiwerken.  Todesfälle  kamen  am  meisten  in  chemi- 
schen Fabriken,  Werften  und  in  Schieferbrüchen  vor. 

Unfälle  durch  Maschinen  veranlasst  haben  sich  nur 
in  sehr  geringer  Anzahl  ereignet.  Es  ist  dies  wohl  eine 
Folge  des  Umstandes,  dass  mehr  als  in  früheren  Jahren 
seitens  der  Unternehmer  für  die  Schutzvorrichtungen  an 
den  Maschinen  gethan  wird.  Von  verschiedenen  Inspektoren 
wird  hervorgehoben,  dass  viel  Unfälle  der  Sorglosigkeit  und 
der  Unachtsamkeit  der  Arbeiter  zuzuschreiben  sind. 

Die  Unfallstatistik  der  englischen  Fabrikinspektoren- 
berichte lässt  indess,  worauf  schon  Herkner  hingewiesen1), 
vieles  zu  wünschen  übrig,  da  jede  Angabe  darüber  fehlt, 
wie  gross  die  Anzahl  der  Arbeiter  ist,  auf  welche  sie  sich 
bezieht,  und  nicht  angeführt  wird,  wie  viel  Unfälle  auf  die 
einzelnen  Industriezweige  kommen,  eine  wie  lange  Arbeits- 
unfähigkeit die  Unfälle  zur  Folge  hatten  u.  s.  w. 

In  den  Mittheilungen  über  die  Lage  der  einzelnen 
Gew  erbe  finden  wir  manche  Angaben  von  sozialpolitischem 
Interesse.  Der  Superintending  Inspektor  Henderson,  wel- 

')  Archiv  für  soziale  Gesetzgebung  und  Statistik  1.  |ahrg. 
I.  Heft.  S.  181. 


No.  6. 

eher  über  die  Industrie  in  Schottland  und  im  Norden  von 
England  berichtet,  führt  aus,  dass  die  Situation  der  Textil- 
industrien eine  äusserst  kritische  sei.  Er  sagt  dann  weiter: 
„Seit  geraumer  Zeit  macht  sich  bei  den  Privatkapitalisten 
immer  mehr  die  Tendenz  geltend,  sich  von  dem  Geschäft 
zurückzuziehen.  Es  ist  traurig,  die  Verwüstungen  in  einigen 
der  malerischen  Thäler  Lancashires  zu  sehen,  eine  Folge 
der  modernen  Konkurrenz.  Vielfach  sieht  man  geschlossene 
Fabriken  und  unbewohnte  Häuser,  viele  ohne  Dach  und  zu- 
sammengestürzt. Es  ist  dies  ein  Beweis  für  die  grossen 
Opfer  an  Kapital,  die  gemacht  wurden,  bevor  dieser  hoff- 
nungslose Zustand  der  Dinge  eintrat.  Die  einzigen  Produ- 
zenten werden  weiterhin  Aktiengesellschaften  und  Korpo- 
rationen sein.  Ob  diese  Umgestaltung  im  Interesse  der 
Arbeiter  gelegen  ist,  bleibt  eine  offene  Frage.  Die  Baum- 
wollenindustrie ist  während  der  letzten  30  Jahre  in  dieser 
Gegend  mit  grossem  Erfolge  betrieben  worden;  sie  hat  eine 
Ausdehnung  gewonnen,  wie  sie  niemand  vorausgesehen 
hatte.  Es  hat  sich  aber  die  Entwicklungstendenz  geltend 
gemacht,  die  kleinen  Kapitalisten  an  die  Wand  zu  drücken 
und  die  Einzelunternehmer  zu  zermalmen.  Für  diese  wird 
es  immer  schwieriger  mit  den  Aktiengesellschaften,  die 
grosse  Fabriken,  ausgerüstet  mit  den  vollkommensten  Ma- 
schineneinrichtungen der  Neuzeit,  besitzen,  in  Wettbewerb 
zu  treten.  Die  Lage  des  Einzelunternehmers  hat  ferner 
eine  Verschlechterung  erfahren  durch  die  wachsenden  An- 
forderungen der  Gesetzgebung  an  die  Industriellen,  sowie 
durch  die  immer  steigende  Schwierigkeit  sich  mit  den  Ar- 
beitern und  deren  Vertretern  auf  guten  Fuss  zu  stellen.  Es 
ist  keine  Frage,  dass  in  Folge  dessen  viele  Einzelunter- 
nehmer sich  von  der  Textilindustrie  zurückgezogen  haben. 

In  der  Neuzeit  sind  in  meinem  Distrikte  viele  Textilfabriken 
errichtet  worden  oder  sind  geplant,  aber  keine  von  irgend 
einer  Bedeutung  von  einem  Einzelunternehmer.“ 

Diese  Darlegungen  bekräftigen  aufs  Neue  die  That- 
sache,  dass  unter  dem  Einflüsse  der  fortwährend  sich  t 
vollziehenden  Umgestaltungen  auf  technischem  und 
sozialem  Gebiete  immer  mehr  Momente  hervortreten, 
welche  den  Grossbetrieb  vor  dem  Kleinbetrieb  be- 
günstigen. 

Der  Fabrikinspektor  des  Distriktes  von  Leeds  liefert 
einige  bemerkenswerthe  Mittheilnngen  über  die  Industrie  * 
der  fertigen  Kleidungsstücke,  die  in  den  letzten  zehn 
Jahren  in  dem  Bezirk  eine  bedeutende  Entwickelung  ge- 
nommen hat.  Die  Zahl  der  in  den  in  Frage  kommenden  54 
Fabriken  und  über  150  Werkstätten  beschäftigten  Arbeiter  ! 
beträgt  an  1 5000.  Der  Beamte  hebt  hervor,  dass  die  W erk- 
stätten  sich  nicht  in  dem  Verhältniss  vermehrt  haben,  wie 
die  Fabriken.  Er  führt  Klage  darüber,  dass  vielfach  die 
Arbeitszeit  der  Arbeiterinnen  dadurch  eine  übermässige 
Ausdehnung  erfährt,  das  sie  oft  Abends  nach  Schluss  der 
Fabrik  angefangene  Arbeiten  mit  in  ihre  Wohnung  nehmen, 
um  sie  dort  fertig  zu  stellen.  Während  die  Fabriken  den 
Anforderungen,  die  man  vom  Standpunkte  der  Hygiene  an 
sie  stellen  muss,  meistens  entsprechen,  lassen  die  Werk- 
stätten nach  dieser  Richtung  hin  noch  manches  zu  wün- 
schen übrig,  wenngleich  eine  entschiedene  Besserung  nicht 
zu  verkennen  ist. 

In  dem  Bristoler  Bezirke  sind  die  Verhältnisse  in  der 
Kleiderindustrie  nicht  so  günstige.  Der  dortige  Fabrik- 
inspektor führt  aus,  dass  die  Herstellung  einer  genügenden 
Ventilation  in  den  betreffendenEtablissementseineschwierige 
Sache  sei;  die  Arbeit  sei  zwar  keine  sehr  anstrengende, 
aber  in  Folge  der  sitzenden  Lebensweise  und  des  Mangels  an 
Bewegung  litten  die  Arbeiter  vielfach  an  Magenkrankheiten 
und  Anämie;  die  Arbeit  habe  einen  ungünstigeren  Einfluss 
auf  die  Gesundheit,  als  harte  Arbeit.  Der  Beamte  weist 
auf  die  Bewegung  für  den  Achtstundentag  hin  und  meint, 
dass  man  auch  dabei  der  in  der  Kleiderindustrie  beschäftig- 
ten Arbeiter  gedenken  solle,  die  in  Folge  des  Umstandes, 
dass  ein  ausserordentlich  hohes  Arbeitsangebot  vorhanden 
sei,  nicht  wagten,  aus  Furcht  ihre  Stellungen  zu  verlieren, 
für  die  V erbesserung;  ihrer  Lase  in  die  Schranken  treten,  in 
Folge  dessen  seien  sie  vollständig  hülflos. 

Ueber  Missstände  in  der  Schuhwaarenindustrie  klagt 


No.  6 


SO/IAl,LJOLI I'tSCHKS  CKNTRALBLA'l  I'. 


73 


der  Fabrikinspektor  des  Bristoler  Bezirks,  die  zum  I heil 
Hausindustrie  ist.  In  den  Werkstätten,  die  meistens  wenig 
geräumig  sind  und  nicht  den  genügenden  Kubikraum  Luit 
haben,  finden  vielfach  Verstösse  gegen  die  Fabrikgesetze 
statt.  Die  Cottages  der  Hausindustriellen  liegen  weit  aus- 
einander. Bei  der  Ankunft  des  Fabriksinspektors  wird  so- 
fort Allarm  geschlagen.  Wenn  man  im  Herbste  in  der 
Hochsaison  der  Schuhwaarenindustrie,  meint  der  Beamte, 
eine  »ehorige  Kontrolle  über  die  betreffenden  Werkstätten 
ausüben  wolle,  so  sei  dazu  die  ganze  Thätigkeit  einer  Person 
nothwendig. 

Ueber  die  Gestaltung  der  wirtschaftlichen  Verhält- 
nisse Irlands  geben  einige  Angaben  des  Inspektors  des 
Dubliner  Bezirkes  Auskunft.  Die  Hoffnung,  dass  es  ge- 
lingen werde  das  viel  geprüfte  Land  wirtschaftlich  durch 
eine  grössere  Ausbreitung  des  Flachsbaues  zu  heben,  haben 
sich  nicht  erfüllt.  In  den  letzten  Jahren  hat  nach  den  amt- 
lichen statistischen  Nachweisungen  das  für  den  Anbau  von 
Flachs  verwandte  Areal  in  immer  steigenderem  Masse  ab- 
genommen. Im  Jahre  1881  wurden  130  254  Acres  mit  Flachs 
angebaut,  im  Jahre  1890:  96  896,  im  Jahre  1891:  74  672.  Die 
Zahl  der  zum  Zwecke  des  Brechens  des  Flachses  errichte- 
ten Etablissements  ist  von  1330  im  Jahre  1875  auf  1005  in 
1891  herabgegangen.  Als  Grund  des  Rückganges  der 
Flachsindustrie  werden  die  ungünstigen  Preise,  welche  die 
Flachsbauer  erhalten,  angegeben.  Aus  der  Provinz  Ulster  wird 
berichtet,  ein  grosser  Theil  des  Bodens  sei  so  erschöpft, 
dass  er  für  den  Anbau  von  Flachs  nicht  mehr  geeignet  ist. 

Nach  den  Mittheilungen  desselben  Inspektors  hat  sich 
die  Anzahl  der  industriellen  Etablissements  in  seinem  Be- 
zirk während  der  letzten  Jahre  vermehrt.  In  der  Stadt 
Dublin  selbst  ist  sie  von  316  auf  345  gestiegen;  im  ganzen 
Bezirk  beträgt  sie  (Getreidemühlen  und  die  Etablissements 
für  das  Brechen  des  Flachses  eingeschlossen)  3059.  Der 
Hauptzuwachs  ist  durch  Neuerichtung  von  Sägemühlen, 
Mineralwasserfabriken  und  Molkereien  erfolgt. 

Dass  durch  die  sich  fortwährend  steigernde  Anwen- 
dung geeigneter  Maschinen  menschliche  Arbeit  immer  mehr 
zurückgedrängt  wird,  zeigt  eine  Mittheilung  des  Fabrik- 
inspektors von  Swansea.  Er  bemerkt,  dass  derartige  Ma- 
schinen im  letzten  Jahre  in  der  Zinnindustrie  in  umfang- 
reicherer Weise  Eingang  gefunden  hätten,  wodurch  Ar- 
beiter, namentlich  Frauen  und  Mädchen  ausser  Arbeit  ge- 
setzt seien.  Letzteren  wird  gerathen  sich  mehr  häuslichen 
Beschäftigungen  zu  widmen,  da  nach  Dienstboten  u.  s.  w. 
eine  grosse  Nachfrage  sei. 

Im  Appendix  I wird  eine  Uebersicht  über  die  Zahl 
der  Fabrikinspektoren,  die  Höhe  ihrer  Besoldungen  u s w. 
gegeben.  Die  Zahl  der  für  die  Fabrikinspektion  ver- 
wandten Beamten  beträgt  den  Chief-Inspektor  eingeschlossen 
56,  darunter  4 Superintending-Inspektoren,  40  Inspektoren 
und  1 1 Junior-Inspektore. 

Das  Gesammtgehalt  der  Beamten  beträgt  21  350  Pfd. 
Sterling.  Der  Chief-Inspektor  erhält  1200  Pfd.  Die  Gehälter 
der  Superintending-Inspektoren  variiren  von  800 — 550,  die 
der  Inspektoren  von  600 — 300,  die  der  Junior-Inspektoren 
von  240 — 200  Pfd.  Sterling.  An  Reise-  und  Tagegeldern 
wurden  4954  Pfd.  Sterling  verausgabt. 

Nach  Appendix  II  beträgt  die  Zahl  der  registrirten, 
den  Arbeiterschutzgesetzen  unterworfenen  Fabriken  67  991, 
die  der  Werkstätten  77  963.  Während  des  Berichtsjahres 
wurden  in  den  Fabriken  74  837,  in  den  Werkstätten  53  032 
Inspektionen  vorgenommen. 

Berlin.  Max  Neustädter. 


Arbeiterversicherung. 


Unfallversicherung  der  Handwerker  im  deutschen  Reich. 
Der  Berliner  Centralausschuss  der  vereinigten  Innungsverbände 
Deutschlands  hat,  wie  kürzlich  seinem  Organ,  dem  „Handwerker1 


zu  entnehmen  ist,  unterm  23.  September  eine  Eingabe  an  das 
Reichsamt  des  Innern  gerichtet,  in  welcher  er  Stellung  zu  den 
auch  in  diesem  Blatte  erwähnten  Plänen  der  Reichsregierung 
nimmt,  die  Unfallversicherung  auf  das  Handwerk  auszudehnen. 
In  dieser  Eingabe  heisst  es:  „Der  in  den  deutschen  Innungs- 
verbänden korporativ  organisirte  deutsche  Handwerkerstand 
vertritt  nach  wie  vor  den  Standpunkt,  dass  die  Interessen  der 
Handwerker  am  Besten  gewahrt  würden,  wenn  liir  die  einzelnen 
Berufszweige  in  Anlehnung  an  die  deutschen  Innungsverbände 
selbständige  U nfallversich erungs  - Berufsgenossen- 
schaften errichtet  werden  dürften  und  ist  einmtithig  in  seiner 
Gegnerschaft  gegen  eine  territoriale  Gliederung  des 
Unlallversicherungswesens  ....  Wir  unterlassen  es  nicht, 
unser  lebhaftes  Bedauern  auszudrücken,  falls  solcher  Art  die 
handwerkliche  Unfallversicherung  vor  sich  gehen  sollte,  und 
bitten  Ein  Hohes  Reichsamt  des  Innern,  einer  territorialen 
Abgrenzung  des  Unfall  Versicherungswesens  nicht  Folge  zu 
geben,  indem  dann  eine  einheitliche  Organisation  des  Hand- 
werks völlig  ausgeschlossen  bleiben  würde.  Wir  bemerken 
dabei,  dass  das  . . . für  die  Wahl  der  territorialen  Abgrenzung 
beigebrachte  wesentliche  Motiv  nicht  zutrifft,  nach  welchem  die 
vorhandenen  handwerklichen  Berufsgenossenschaften,  wie  z.  B. 
die  der  Schornsteinfeger  etc.,  die  verhältnissmässig  grössten 
Verwaltungskosten  aufweisen  sollen.“  Zum  Beweise  hierfür 
werden  Zahlen  aus  drei  anderen  Unfallgenossenschaften  be- 
sonders gefährlicher  Berufe  angeführt,  die  ungefähr  ebenso 
hohe  Verwaltungskosten  aufweisen,  als  die  Schornsteinfeger- 
Berufsgenossenschaft.  Ob  solch’  ein  „Beweis“  durchschlagend 
genannt  werden  kann,  ist  wohl  im  höchsten  Grade  zweifelhaft. 
Aehnliches  gilt  vom  Schluss  der  Eingabe:  „Weiter  gestatten 
wir  uns,  auf  die  Verhandlungen  des  diesjährigen  deutschen 
Tischlertages  vom  21.— 23.  August  in  Schwerin  in  Mecklenburg 
ergebenst  hinzuweisen.  Auf  demselben  wurde  festgestellt,  dass 
bei  der  heutigen  Zuweisung  der  Tischlerbetriebe  zu  der  all- 
gemeinen Holzberufsgenossenschaft  die  Tischlereien  mit  Hand- 
betrieb, d.  h.  also  wesentlich  die  Handwerksbetriebe,  unver- 
hältnissmässig  mehr  bezahlen  müssen,  als  sie  nach  den  Be- 
stimmungen des  Unfallversicherungsgesetzes  eigentlich  zu 
zahlen  hätten.  In  der  Sächsischen  Holzberufsgenossenschaft 
beispielsweise 


im  Jahre  1891 

zahlten  die  Sägewerke 50  550,27  M. 

und  kosteten 69  709,92  „ 

zahlten  die  Maschinentischlereien  und 

Möbelfabriken 22  727,14  „ 

kosteten  . . 22  963,43  „ 

zahlten  die  Tischlereien  mit  Hand- 
betrieb   7 373,08  „ 

kosteten 3 302,92  „ 


Jedes  Gewerbe  hat  seine  ihm  eigenthümliche  Unfall- 
gebühren und  wird  der  volkswirtschaftlichen  Gerechtigkeit  (?) 
m Bezug  auf  die  Vertheilung  der  Beiträge  zur  Deckung  der 
Unfälle  am  ehesten  genügt,  wenn  jeder  Gewerkszweig  mög- 
lichst selbständig  für  sich  allein  bleibt  und  eine  Vermischung 
mit  Betrieben  anderer  Berufsarten  vermieden  wird.  Dieserhalb 
treten  die  Vorstände  der  deutschen  Innungsverbände  für  die 
selbständigen  Berufsgenossenschaften  für  die  verschiedenen 
Gewerbszweige  ein  und  behaupten,  dass  bei  einer  Vermischung 
von  mehreren  Gewerben  zu  einer  Berufsgenossenschaft  mehr 
oder  weniger  eine  Ueberlastung  der  einen  Betriebsart  zu 
Gunsten  einer  oder  mehrerer  anderen  unvermeidlich  bleiben 
werde,  wie  dieses  thatsächlich  bei  den  Bau- Berufsgenossen- 
schaften der  Fall  ist.“  Die  Berufsgenossenschaft  ist  aber  eben 
gerade  so  organisirt,  wie  es  der  Centralausschuss  wünscht,  näm- 
lich über  das  ganze  Reich,  und  daher  die  hohen  Kosten. 

Krankenversicherung  der  Handlungsgehilfen.  Eine 
Reihe  deutscher  Städteverwaltungen  regelt  soeben  im  An- 
schluss an  das  neue  Krankenversicherungsgesetz  die  Kran- 
kenversicherung der  Handlungsgehilfen.  Das  Gesetz  macht 
bekanntlich  nur  diejenigen  Handlungsgehilfen  versicherungs- 
pflichtig, welche  eine  kürzere,  als  die  sogenannte  handels- 
gesetzliche Kündigungsfrist  haben.  Da  aber  die  Kontrolle 
dieser  Vorschrift  sehr  schwierig  durchzuführen  sein  wird 
und  auch  für  Gehilfen  mit  handelgesetzlicher  Kündi- 
gung das  Bedürfniss  einer  Versicherung  gegen  Krankheit 
nicht  zu  leugnen  ist,  wird  vielfach  beantragt,  durch  Orts- 
statut die  Versicherungspflicht  auf  alle  Gehilfen  mit  Ge- 
halt bis  zu  2000  M.  auszudehen.  In  Bonn  lehnte  die  Stadt- 
verordnetenversammlung den  entspechenden  Antrag  der 
Ortskrankenkasse  allerdings  ab,  und  zwar,  „weil  man  die 
Wohlthaten  des  Gesetzes  nicht  aufzwingen  wolle  (!>“  In 
Frankfurt  a.  Main  wird  dagegen  der  gleiche  Magistrats- 
antrag durchgehen,  und  in  Dortmund  ist  das  bezügliche 
Ortsstatut  bereits  beschlossen. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


74 


ANZEIGEN. 


No.  6. 


OF  POLITICAL  AND  SOCIAL  SCIENCE. 


The  Official  Journal  of  the  American  Academy  of  Political 
and  Social  Science. 


©erlag  nun  lEonljarh  ötmtuu 

23er  (in  SW.,  SßiBjelmftrafje  121. 

|ic  nintlirtiE  §tnti|t[l! 

mib  bie 

Mititafnip  im  öriitldint  geid). 


Is  indispensable  to  all  wlio  are  in  any  way  interested  in  the  great 
questions  of  the  day. 

The  AXNALS  contains  articles  on  economic,  political,  social,  historical 
and  legal  subjects;  reports  of  the  discussions  at  the  meetings  of  the  Academy ; 
peersonal  notes,  about  the  workers  in  the  field  of  political  and  social  Science, 
and  Reviews  of  the  latest  books  treating  of  these  questions. 

SUBSCRIPTION  PRICH,  I 6-oo  PER  YHAR. 

Sent  Free  to  all  Members  of  the  Academy. 

Address 

American  )\cademy  oj  political  and  50C^  5c'^cz, 

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ntft  fallier,  Dr.  Strang  ^jartmaitn,  Jlarl  Äteero  etter,  Dr  9{a»h.  uou  Äoeber, 
Dr.  Subro.  S\ uhlettbecf,  Dr.  (Sind  bit  tf)rd,  2i>tlb.  Steffel,  'f>.  Ä*  Stofegger,  tUtorifs 
(Karriere,  Georg  ©ber«,  SJtartin  Greif,  ©bmtrb  b.  frartmaittt  (mit  Sluenqljme  ber 
Unfterbtichfeitiafrage),  Otto  b.  Seifner,  tperntamt  b.  Sihgg,  ©mit  iJSefd)fau,  (Juliue 
SStinbe,  §aits  ».  äSoljogcn. 

Sebeö  epeft  enthält  eine  ober  jroei  fünftlerifdje  Beilagen,  100311  u.  2t.  $rof.  Gabriel  '?Jtar 
feine  9)titroirfung  3ugefagt  hat. 

2t  bonnement  6 Mark  oiermonottid)  bei  febev  Buchhanbtnng  unb  Sßoft,  fomie  bei 

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Bevlagäbnd)hattblung  in  Braunfdjmeig. 

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0011 

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SDlofliftratSaffeffor  linb  STiedjtSantoalt  311  Berlin. 

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Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil:  O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  14.  November  1892. 


Nummer  7. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  BuchhandlungenjZeitungsspediteure  undPostämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 
Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


D ie  Lage  tl  erde  utschen  Sozial- 
demokratie. Von  Dr.  Hein- 
rich Braun. 

Soziale  Wirtschaftspolitik  u. 
Wirthschaftsstatistik : 

.Sozialenqueten  und  Sozialgesetz- 
gebung. Von  Dr.  G.  Schnap- 
per-Arndt. 

Versammlung  der  Bodenreformer. 

Nothstandsarbeiten  in  Lübeck. 

Schweizerische  Stickereiindustrie. 

Eine  Arbeiterbörse  in  London. 

Die  Fabrikindustrie  der  Stadt  New- 
York. 

Schulwesen  in  Australien. 

Arbeiterzustände : 

Ein  Beitrag  zur  Arbeitslosensta- 
tistik. Von  Privatdozent  Dr.  Karl 
Oldenberg. 

Nachtarbeit  der  Frauen  in  sächsi- 
schen Appreturanstalten. 

Zur  Arbeitslosigkeit  in  Deutsch- 
land. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Ausstand  der  Baumwollspinner  in 
Lancashire. 


Achtstündiger  Arbeitstag  im  Lon- 
doner Baugewerbe. 

Schweizerischer  Griitli verein. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Sozialistischer  Weltkongress. 

Schweizerischer  sozialdemokrati- 
scher Parteitag. 

Arbeiterschutzgesetzgebnng : 

Sonntagsruhe  im  deutschen  Eisen- 
bahngüterverkehr. 

Arbeiterversicherung: 

Verband  der  deutschen  Gewerk- 
vercinskrankenkassen. 

Wartezeit  für  Altersrenten. 

Arbeiterunfallversicherungsanstalt 
für  Niederösterreich. 

Zur  Altersversorgung  in  der 
Schweiz. 

Wohnungszustände  und  Woh- 
nungsgesetzgebung : 

Städtische  Wohnungsenquete. 

Wohnungskolonie  für  preussische 
Staatsbahnarbeiter. 

Vorschriften  über  das  Schlafgänger- 
wesen in  Braunschweig. 

Gewerbegerichte : 

Die  Gewerbegerichte  in  Brünn. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Lage  der  deutschen  Sozialdemokratie. 


Der  E'all  des  Sozialistengesetzes  bedeutet  einen  Mark- 
stein in  der  Geschichte  der  deutschen  Sozialdemokratie. 
Entgegengesetzten  Sinnes,  aber  mit  derselben  Leidenschaft- 
lichkeit knüpften  Gegner  wie  Parteigänger  an  dieses  Er- 
eigniss ihre  Hoffnungen:  Niedergang  und  Zerfall  erwarteten 
mit  gleicher  .Sicherheit  die  Einen,  wie  eine  immer  höher 
sich  steigernde  Entwickelung  der  sozialdemokratischen  Be- 
wegung die  Anderen.  Inzwischen  sind  mehr  als  zwei  Jahre 
verstrichen,  und  der  Moment  dürfte  gekommen  sein,  um 
ruhig  und  unbefangen  zu  beurtheilen,  wie  in  der  ver- 
änderten Situation  die  Lage  sich  gestaltet  hat. 

Zunächst  erscheint  Eines  als  charakteristisches  Mo- 
ment: In  dem  Augenblick,  in  welchem  durch  den  Ablauf 
des  Ausnahmegesetzes  für  die  sozialdemokratische  Partei 
der  allgemeine  Rechtsboden  wieder  hergestellt  war,  er- 
blickte sie  ihre  nächste  Aufgabe  darin,  sich  eine  gesetz- 


liche Organisation  zu  schaffen.  Das  eigentliche  Ziel  und 
wichtigste  Ergebniss  des  vom  12.  bis  18.  Oktober  1890  in 
Halle  a.  S.  abgehaltenen  Parteitages  bestand  in  der  Be- 
schlussfassung über  ein  Organisationsstatut.  Die  Partei 
versuchte  damit  eine  Basis  zu  gewinnen,  von  der  aus  sie 
im  Rahmen  der  geltenden  Gesetze  wirksam  sich  zu  be- 
thätigen  vermöchte.  Nach  den  Erfahrungen,  welche  die 
Partei  vor  dem  Sozialistengesetz  unter  dem  gemeinen  Recht 
gemacht  hatte1),  von  der  Periode  des  Ausnahmegesetzes  zu 
geschweigen,  erscheint  es  begreiflich,  dass  sie  jenen  Ver- 
such ohne  allzu  grosses  Vertrauen  unternahm,  und  dass  der 
Berichterstatter  über  den  Entwurf  eines  Organisations- 
statuts  bei  der  Erörterung  der  Frage,  ob  die  Konstituirung 
als  „Verein“  oder  als  „Partei“  erfolgen  solle,  auf  dem  Kon- 
gresse resignirt  erklärte:  „es  ist  ja  absolut  gleichgiltig,  wie 
wir  die  Paragraphen  fassen,  wir  werden  ja  doch  wieder 
aufgelöst“2!. 

Erfreulicherweise  ist  bisher  die  äussere  Organisation  der 
sozialdemokratischen  Partei  von  den  Behörden  unangetastet 
geblieben,  und  im  Interesse  einer  friedlichen  Gesellschafts- 
entwicklung ist  zu  wünschen,  dass  dieses  Verhalten  dauernd 
beobachtet  werde.  Für  jeden  Fall  muss  eine  gerechte  Be- 
urtheilung  anerkennen,  dass  die  sozialdemokratische  Partei 
die  erste  Gelegenheit  nach  dem  Aufhören  des  über  sie  ver- 
hängten Ausnahmezustandes  benutzt  hat,  um  dem  von  ihr 
geführten  politischen  Kampf  das  Gepräge  gesetzlicher 
Formen  zu  verleihen. 

Gleichzeitig  mit  dem  Wunsch  nach  der  Schaffung 
einer  formellen  Organisation  äusserte  sich  in  der  Sozial- 
demokratie bei  Ablauf  des  Sozialistengesetzes  besonders 
rege  das  Bedürfniss  nach  einem  neuen  Parteiprogramm. 
.Seit  dem  Gothaer  Kongress,  auf  welchem  die  Vereinigung 
der  Lassalleaner  und  Marxisten  stattfand  und  in  einem  auf 
Grund  wechselseitiger  Konzessionen  zu  Stande  gekommenen 
Programm  besiegelt  wurde,  war  mehr  als  ein  halbes 
Menschenalter  verflossen.  Die  Umstände,  die  zu  jenem 
Kompromissprogramm  führten,  hatten  jetzt  alles  Gewicht 
verloren,  und  die  fortgeschrittene  geistige  Entwicklung  der 
Partei  begnügte  sich  nicht  mehr  mit  einer  Formulirung  der 
Prinzipien,  die  vor  strenger  wissenschaftlicher  Kritik  nicht 
bestehen  konnte.  Nachdem  auf  dem  Kongress  in  Halle 
einstimmig  beschlossen  worden  war,  dem  nächsten  Partei- 
tag ein  revidirtes  Parteiprogramm  vorzulegen,  kam  es  daher 
auf  dem  Erfurter  Kongress  von  1891  zur  Feststellung  eines 
neuen,  die  veränderte  geistige  Physiognomie  der  sozial- 

>)  Vergl.  die  Rede  des  Abgeordneten  Auer  im  Protokoll, 
über  die  Verhandlungen  des  Parteitages  d.  S.  P.  D.’s.  Abge- 
halten zu  Halle  a.  S.  Berlin,  1890,  S.  115  fg. 

2)  A.  a.  O.  S.  119. 


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S(  >ZI  AL.POI.n  ISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  7. 


demokratischen  Partei  wiederspiegelnden  Programms.  In 
dem  letzteren  ist  jederlei  theoretischer  Kompromiss  be- 
seitigt, und  die  Partei  stellte  sich  damit  rückhaltlos  auf  den 
Boden  des  wissenschaftlichen  Sozialismus,  wie  er  von  Marx 
ausgebildet  worden  ist. 

Der  Hallenser  und  Erfurter  Kongress  haben  auf  diese 
Weise  das  Werk  der  äusseren  und  inneren  Konsolidation 
der  deutschen  Sozialdemokratie  vollzogen,  und  erst  seitdem 
kann  die  Periode  des  Sozialistengesetzes  als  eine  von  ihr 
vollkommen  überwundene  betrachtet  werden.  Von  diesem 
Standpunkt  aus  gewinnt  die  gegenwärtige  Lage  der  deut- 
schen Sozialdemokratie  besonderes  Interesse. 

Ein  Momentbild  derselben,  dessen  eindringliches  Stu- 
dium nicht  genug  empfohlen  werden  kann,  bietet  der  „Be- 
richt des  Parteivorstandes  an  den  Parteitag  zu  Berlin  1892“, 
der  im  Vorwärts  vom  4.  November  zur  Veröffentlichung 
gelangte.  In  diesem  Bericht  findet  sich  neben  detailirten 
Abrechnungen  ein  Resume  der  wichtigsten  Ereignisse  und 
Thatsachen,  soweit  sie  direkt  oder  indirekt  mit  der  sozial- 
demokratischen Bewegung  Deutschlands  während  der  Zeit 
vom  1.  Oktober  1891  bis  zum  30.  September  1892  Zusammen- 
hängen. Jeder  dieser  Punkte  verdiente  eine  genaue  Wieder- 
gabe und  eingehende  Erörterung.  Indess  müssen  wir  uns 
mit  einigen  wenigen  Mittheilungen  genügen  lassen. 

Zwei  Erscheinungen  bezeichnen  besonders  drastisch 
Umfang  und  Tiefe  der  sozialdemokratischen  Bewegung: 
einmal  die  finanziellen  Verhältnisse  der  Partei,  die  in  dem  Zeit- 
raum vom  I.  Oktober  1891  bis  30.  September  1892  in  Ein- 
nahmen und  Ausgaben  mit  233  915,55  M.  balanziren.  Wenn 
man  bedenkt,  dass  es  sich  hier  nur  um  den  Centralfonds 
handelt,  dass  jede  lokale  Organisation  daneben  noch  ihre 
eigene  Kassengebarung  hat,  und  dass  diese  imposanten 
Summen  in  weit  überwiegendem  Mass  aus  direkten  Bei- 
steuern unbemittelter  Angehörigen  der  Partei  sich  zusammen- 
setzen, so  giebt  dies  schon  einen  Begriff  von  der  Aus- 
breitung der  sozialdemokratischen  Ideen. 

Nicht  weniger  bedeutsam  sind  sodann  die  Erfolge  bei 
den  Wahlen  zu  den  verschiedenen  Vertretungskörpern,  deren 
sich  die  Partei  für  das  Berichtsjahr  (von  Oktober  1891  bis 
Oktober  1892)  rühmt.  Bei  den  sächsischen  Landtagswahlen 
wurden  vier  neue  Mandate  erobert,  und  die  abgegebenen  Stim- 
men stiegen  von  15000  auf  34C00.  Aehnlic.h  gestaltete  sich  das 
Verhältnis  bei  den  Berliner  Stadtverordnetenwahlen.  Bei 
den  alten burger,  reusser,  gothaer  und  meininger  Landtags- 
wahlen wurde  trotz  der  Koalition  sämmtlicher  bürgerlichen 
Parteien  und  trotz  des  Census  je  ein  Abgeordneter  durch- 
gesetzt. Ebenso  brachten  die  Nachwahlen  zum  Reichstag 
der  Sozialdemokratie  eine  Reihe  von  Erfolgen.  Als  ein 
besonders  wichtiges  Ergebnis  kann  man  es  ansehen,  dass 
bei  den  Gewerbegerichtswahlen  mit  verschwindenden  Aus- 
nahmen überall  im  ganzen  Reich  die  von  den  Sozialdemo- 
kraten aufgestellten  Kandidaten  gewählt  wurden. 

Hinsichtlich  der  Agitation  auf  dem  flachen  Lande  hebt 
der  Bericht  hervor,  dass  sie  Fortschritte  mache,  und  dass 
die  in  dasselbe  eindringenden  sozialdemokratischen  Agi- 
tatoren im  entfernten  Osten  wie  im  Umkreise  der  Industrie- 
städte seitens  des  ländlichen  Proletariats  überall  aufs 
Herzlichste  begriisst  und  Blätter  und  Schriften  mit  einem 
förmlichen  Heisshunger  verlangt  und  entgegengenommen 
werden. 

Für  die  Intensität  der  sozialdemokratischen  Bewegung 
beweist  es,  dass,  wie  mitgetheilt  wird,  der  jährlich  statt- 
findende  allgemeine  Parteitag  nicht  mehr  ausreicht  und  neben 
demselben  in  immer  steigendem  Maasse  und  mit  immer 
grösserer  Betheiligung  Landes-  und  Provinzialparteitage 
veranstaltet  werden.  Im  Laufe  des  Jahres  haben  solche 
stattgefunden  für  Württemberg,  Baden,  Schwarzburg-Rudol- 
stadt, Westfalen,  Schlesien  und  Posen,  Schwaben  und  Neu- 


burg, Provinz  Hessen,  Lippe-Detmold,  Rheinland,  König- 
reich Sachsen,  Lübeck  und  Mecklenburg,  Brandenburg, 
Provinz  Sachsen,  Pfalz,  Reuss  j.  L , Bayern,  Meiningen, 
Thüringen,  Hessen  - Darmstadt  und  Eisass  - Lothringen. 
Ferner  wurden  eine  ganze  Reihe  von  Kreiskonferenzen 
für  einzelne  oder  nahe  zusammenliegende  Reichstags- 
wahlkreise abgehalten.  Grössere  Agitationstouren  wurden 
seitens  der  Parteileitung  im  verflossenen  Jahre  veran- 
staltet durch  Thüringen,  Rheinland,  Schlesien,  Westfalen, 
Provinz  Sachsen,  Schleswig-Holstein,  das  Erzgebirge  und 
Ostpreussen.  Auch  im  Maingau,  Baden,  in  der  Pfalz  und  im 
Saarrevier  haben  eine  Reihe  von  Agitationsversammlungen 
seitens  vom  Parteivorstand  entsandter  Redner  stattgefunden. 
Daneben  wurden  von  einzelnen  Agitationskomitees  und 
Landesorganisationen  ebenfalls  grössere  Touren  veranstaltet, 
z.  B.  durch  Württemberg,  Baden,  Rheinland,  Nordbayern. 
Sämmtlic.he  Abgeordnete  haben  in  ihren  Wahlkreisen,  in 
ihren  Wohnorten  und  anderswo  zahlreiche  Versammlungen 
abgehalten,  ebenso  gilt  dies  von  den  an  der  Parteipresse 
angestellten  Personen,  „für  die  allesammt“,  wie  der  Bericht 
sagt,  „von  Nacht-  und  Sonntagsruhe  nur  allzuoft  keine  Rede 
ist.“  Ausserdem  wurden  einer  ganzen  Reihe  von  Orten 
und  Provinzen  zur  Belebung  der  Agitation  Geldmittel  zur 
Verfügung  gestellt,  und  in  der  Abrechnung  der  Parteikasse 
flguriren  unter  der  Rubrik  Allgemeine  Agitation  24  485,15  M., 
unter  Wahlagitation  9980,50  M.  Trotz  alledem  und  trotzdem 
neben  der  mündlichen  Agitation  durch  die  Presse,  durch 
Verbreitung  von  Broschüren  und  Flugschriften  gewirkt 
wurde,  beispielsweise  vom  Programm  der  Partei  fast  eine 
halbe  Million,  von  der  Erläuterungsbrochüre  zu  demselben 
120  000,  die  Broschüren  mit  den  Reden  Stumms  gegen  die 
Partei  in  30  000,  die  Maifest-Zeitung  in  500  000  Exemplaren 
verbreitet,  40  000  Exemplare  der  verschiedensten  Broschüren 
gratis  versandt  wurden,  klagen  die  Mitglieder  der  Partei, 
wie  der  Bericht  ausführt,  — und  es  giebt  wohl  kein 
charakteristischeres  Zeichen  für  die  Empfänglichkeit  der 
Massen  gegenüber  der  sozialdemokratischen  Bewegung 
immer  noch  über  eine  allzu  lau  und  unzureichend  betriebene 
Agitation. 

In  Bezug  auf  die  Presse  ergiebt  sich  aus  dem  Bericht, 
dass  die  Zahl  der  täglich  erscheinenden  Blätter  von  19  in 
1890  und  27  in  1891  auf  32  in  1892  gestiegen  ist.  Eine 
Anzahl  von  Zeitungen  forderte  Zuschüsse,  und  der  Partei- 
vorstand gewährte  dafür  65  931,35  M.,  in  welcher  Summe 
auch  ein  ansehnlicher  Betrag  für  Unterstützungen  auslän- 
discher Parteizeitungen  enthalten  ist.  Das  Centralorgan  der 
Partei,  der  Vorwärts,  hat  bei  einem  Abonnentenstand  von 
ca.  37  000  einen  Jahresgewinn  von  39  497,30  M.  ergeben. 
Was  die  Gewerkschaftspresse  angeht,  die  der  Bericht  mit 
vereinzelten  Ausnahmen  durchaus  in  sozialistischem  Geist 
gehalten  bezeichnet,  so  erschienen  zusammen  im  4.  Quar- 
tal 1892  57  Gewerkschaftsblätter  gegen  55  in  1891  und  42 
in  1890. 

Von  der  sog.  Opposition  sagt  der  Bericht,  dass  sie 
aus  einer  Gruppe  von  Personen  bestehe,  bei  der  es  sich 
nicht  um  eine  prinzipielle  Meinungsverschiedenheit,  einen 
aus  innerer  Ueberzeugung  hervorgetretenen  Gegensatz 
handle;  „in  erbitterter  Wuth  über  die  eigene  Ohnmacht 
und  völlige  Bedeutungslosigkeit,“  heisst  es  wörtlich,  „werden 
diese  Element  nur  noch  durch  ein  Bestreben  zusammen- 
gehalten: unserer  Partei  zu  schaden,  gleichviel  mit  welchen 
Mitteln.  An  der  taktischen  Geschlossenheit  und  prinzipiellen 
Klarheit  der  Genossen  scheitern  aber  alle  diese  Be- 
mühungen.“ 

Zum  Schluss  giebt  der  Bericht  eine  Statistik  der  über 
Mitglieder  der  sozialdemokratischen  Partei  verhängten 
Strafen.  Aus  derselben  geht  hervor,  dass  in  dem  Zeitraum 
eines  Jahres  nicht  weniger  als  insgesammt  1 1 7 Jahre  26  Tage 


No.  7. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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Freiheitsentziehung  und  20  532,10  M.  Geldstraten  von  den 
Gerichten  ausgesprochen  worden  sind.  Nach  dem  Bericht 
gehören  diese  Strafen  und  einzelne  drakonische  Uitheile 
im  Speziellen  zu  den  agitatorisch  wirksamsten  Vorkomm- 
nissen; sie  haben,  wie  die  charakteristische  Aeusserung 
lautet,  „die  öffentliche  Meinung  viel  tiefer  aufgeregt  und 
das  öffentliche  Gewissen  mehr  geschärft,  als  es  die  „auf- 
reizendsten“ Zeitungsartikel  und  Versammlungsreden  ver- 
mocht hätten.“ 

Wenn  man  die  Thatsachen,  wie  sie  der  Bericht  des 
sozialdemokratischen  Parteivorstandes  vorführt,  in  ihrer  Ge- 
sammtheit  unbefangen  würdigt,  so  wird  man,  auf  welchem 
Standpunkt  immer  man  auch  stehe,  sich  sagen  müssen,  dass 
es  sich  bei  der  sozialdemokratischen  Bewegung  um  etwas 
über  die  Bestrebungen  politischer  Parteien  weit  Hinaus- 
greifendes handelt.  Man  mag  in  ihr  etwas  V erderbliches, 
unsere  gesammte  Civilisation  Bedrohendes  oder  im  Gegen- 
theil  in  derselben  einen  heroischen  Kampf  sehen  um 
die  höchsten  Güter  der  Menschheit,  man  mag  von  Bewun- 
derung erfüllt  sein,  oder,  wenn  man  in  alledem  nur 
verderbliche  Irrwege  erblickt,  voll  Feindschaft  sich  dagegen 
kehren,  Eines  tritt  dem  nicht  ganz  befangenen  Beob- 
achter mit  jedem  Tage  deutlicher  vor’s  Auge:  hier  handelt 
es  sich  um  eine  Volksbewegung  der  tiefstgreifenden, 
umfassendsten  Natur,  um  eine  Bewegung,  die  sich  in  der 
Sozialdemokratie  krystallisirt  und  heute  in  ihr  den  adaequaten 
Ausdruck  findet,  aber  von  viel  tieferen  Quellen  gespeist 
wird  als  eine  blosse  Parteibewegung. 

Blickt  man  auf  ihre  momentane  Lage,  so  ist  die 
Situation  der  Sozialdemokratie  eine  überaus  vortheilhafte. 
Sie  ist  dermassen  vom  Glück  begünstigt,  dass  die  Aus- 
breitung derselben  auch  dann  eine  rasch  fortschreitende 
wäre,  wenn  die  Partei  völlig  unthätig  bliebe.  Die  Gegner  der 
sozialdemokratischen  Partei  sind  eifrig  am  Werk,  um  sie  zu 
bekämpfen,  aber  was  sie  auch  thun  oder  lassen,  — es  kommt 
nach  der  Art  ihres  Verhaltens  im  wesentlichen  der  Sozial- 
demokratie zu  statten.  Hierher  ist,  wenn  wir  einmal  von 
der  wachsenden  kapitalistischen  Entwicklung  der  Gesell- 
schaft, die  selbstverständlich  das  die  Sozialdemokratie  för- 
derlichste Moment  bildet,  absehen,  unter  vielem  Anderen 
zu  rechnen:  das  vollkommene  Unverständniss  für  die 

sozialdemokratische  Bewegung  Seitens  der  gebildeten 
und  besitzenden  Klasse;  die  Plan-  und  Rathlosigkeit  in 
der  Politik  der  Regierung  wie  der  herrschenden  Parteien; 
die  Verweigerung  von  Konzessionen  und  selbst  engum- 
grenzter Forderungen  wie  z.  B.  auf  dem  Gebiete  des 
Arbeiterschutzes,  nachdem  überdies  vorher  in  grossen 
Anläufen  ernste  Reformen  versprochen  worden  waren ; 
das  aut  die  Spitze  getriebene  Militärsystem  in  Verbindung 
mit  einer  ungerechten  Steuerverfassung  und  abso- 
lutistischen Velleitäten.  Diese  und  viele  andere  Momente 
steigern  die  Unzufriedenheit  in  höchstem  Masse  und  führen 
der  Sozialdemokratie  neben  der  arbeitenden  Klasse,  die 
immer  bewusster  in  ihr  die  eigentliche  Vertreterin  ihrer  In- 
teressen erblickt,  auch  aus  den  übrigen  Gesellschaftsklassen 
in  rasch  ansteigender  Zahl  neue  Anhänger  hinzu. 

Und  gegen  eine  solche  aus  den  innersten  Tiefen  der 
Gesellschaft  hervorbrechende  Bewegung  glauben  die  Re- 
gierungen mit  Gefängniss-  und  Geldstrafen  etwas  ausrichten 
zu  können!  Sie  gleichen  einem  Mann,  der  sich  gegen  ein 
Erdbeben  glaubt  schützen  zu  können,  wenn  er  Haus  und 
Hot  mit  einem  Stachelzaun  umgiebt. 

Die  Situation  der  Sozialdemokratie  erscheint  darnach 
als  eine  überaus  glückliche:  allein  gerade  diese  glückliche 
Situation  birgt  ihre  Gefahren  in  sich.  Nur  allzu  leicht  ver- 
führt sie  zu  einem  Gefühl  der  Sicherheit  und  sehr  be- 
denklichem Quietismus.  Die  Führer  sind  geneigt,  die  theil- 
weise  in  Folge  des  Ganges  der  gesellschaftlichen  Verhält- 


nisse ihnen  in  den  Schooss  gefallenen  Erfolge  für  das  aus- 
schliessliche Ergebniss  ihrer  Anstrengungen  zu  halten,  und 
lassen  unter  Umständen  es  fehlen  an  einer  reichen  und 
allseitigen  Entfaltung  der  geistigen  Kraft  und  Energie,  die 
in.  der  Bewegung  ruht.  Spuren  eines  solchen  Quietismus 
machen  sich  schon  jetzt  in  der  sozialdemokratischen  Partei 
bemerkbar.  Es  klingt  sehr  imposant,  dass  das  Centralorgan 
der  Partei,  der  „Vorwärts“,  in  einem  Jahr  fast  40  000  M.  an 
Gewinn  abwirft.  Mir  schiene  es  indessen  viel  gewinnreicher 
für  die  sozialdemokratische  Partei,  wenn  der  „Vorwärts“ 
eine  bedeutende,  den  führenden  Blättern  anderer  Parteien 
gleichwerthige  Zeitung,  dagegen  der  erzielte  Profit  unbedeu- 
tend wäre.  Uebrigens  berührt  auch  in  zahlreichen  Kreisen 
der  sozialdemokratischen  Partei  selbst  das  Niveau  gerade 
der  von  der  Parteileitung  direkt  ressortirenden  Blätter  pein- 
lich. Dafür  spricht  die  in  einem  Elberfelder  Antrag  an 
den  Berliner  Parteitag  und  anderswo  erhobene  Klage  über 
die  „Neue  Welt“  und  ihre  in  der  That  wahrhaft  klägliche 
Gestalt. 

Dergleichen  in  keinem  Falle  der  Parteileitung  zur 
Ehre  gereichende  Verhältnisse  äussern  freilich  so  lange 
keine  augenfällige  Wirkung,  als  die  allgemeinen  Zustände 
wie  bisher  der  Sozialdemokratie  zu  Hilfe  kommen.  Aber  der 
Mangel  geistiger  Durchbildung  und  Vertiefung  besonders 
auch  gegenüber  nicht  ausschliesslich  politischen  und  ökono- 
mischen, mit  dem  sozialen  Problem  eng  zusammenhängen- 
den Fragen  , der  die  sozialdemokratische  Parteileitung 
wenig  zu  bekümmern  scheint,  kann  in  einem  Moment 
unberechenbarer  gesellschaftlicher  Krisen  für  sie  verhäng- 
nissvolle  Konsequenzen  zeitigen. 

Ziehen  wir  nun  einen  Schluss  auf  die  Lage  der  deut- 
schen Sozialdemokratie,  so  bietet  sie  nach  den  Bedino-unoen 
ihrer  Entwicklung  und  nach  den  äusseren  Umständen,  unter 
denen  sie  im  Augenblick  gedeiht,  ein  glänzendes  Bild.  Allein 
die  Parteigänger  derselben  mögen  sich  dadurch  nicht  täuschen 
[ lassen  über  innere  Mängel,  die  wir  hier  nur  flüchtig  ange- 
deutet haben,  die  aber  zweifellos  vorhanden  sind  und  leicht 
zu  einer  ernsten  Gefahr  für  die  sozialdemokratische  Partei 
sich  ausbilden  können. 

Berlin.  Heinrich  Braun. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Sozialenqueten  und  Sozialgesetzgebung. 

Anlässlich  der  seiner  Zeit  vom  Vorstand  des  Vereins 
für  Sozialpolitik  angeregten,  nunmehr  beendigten  Erhebung 
über  die  Lage  der  Landarbeiter  hat  Anfang  dieses  Jahres 
an  gleicher  Stelle  eine  Diskussion  zwischen  Herrn  Dr.  Quarck 
und  Herrn  Professor  Schmoller  stattgefunden,  in  welcher 
auch  die  1888  erschienenen  Kritiken  über  die  in  den  Vereins- 
schriften veröffentlichten  Wucherberichte  zum  Gegenstände 
der  Erörterung  geworden  sind.  In  Folge  einiger  zufälliger 
Umstände  erhielt  ich  sowohl  von  den  Artikeln  des  Herrn 
Dr.  Quarck  als  von  demjenigen  des  Herrn  Professor  Schmoller 
erst  sehr  verspätet  Kenntniss,  so  dass  ich  davon  absah,  auf 
die  wenig  sanfte,  aber,  wie  ich  meine,  glücklicher  Weise 
auch  wenig  gerechte  Würdigung,  welche  Herr  Professor 
Schmoller  meinen  Untersuchungen  ')  angedeihen  liess, 
meinerseits  zu  erwidern.  Ich  konnte  überdies  meine  Schrift 
in  keinem  der  Züge,  durch  welche  sie  Herr  Prof.  Schmoller 
skizzirte,  wiedererkennen.  Komme  ich  nun  heute  doch  noch 
mit  einigen  Worten  auf  jene  Diskussion  zurück,  so  ist  dies 

!)  Zur  Methodologie  sozialer  Enqueten.  Frankfurt  a.  M.. 
1888,  Auffarth. 


78 


SOZIALPOLITISCHE  CENTRALBLATT. 


No.  7. 


durch  die  Aktualität,  welche  die  Erörterungen  über  den 
Wucher  und  die  Mittel  zu  seiner  Abhilfe  und  damit 
auch  jene  Berichte  heute  erlangt  haben,  genügend  ge- 
rechtfertigt. 

Darüber  will  ich  mich  nun  nicht  beschweren,  dass 
Herr  Prof.  Schmoller  jene  Kritiken  „kleinlich  nörgelnde“ 
nannte.  Ich  weiss  es  seit  zu  langer  Zeit  und  mein  reiferer 
Herr  Gegenstreiter  weiss  es  noch  länger,  dass  die  Sprache 
uns  für  im  Wesen  gleiche  Dinge  mütterlich  mit  Ausdrücken 
lobender  sowohl  wie  tadelnder  Nüance  versorgt,  und  dass 
wir  uns,  wenn  wir  unserem  Temperamente  folgen,  leicht, 
je  nachdem  die  Sache  selbst  uns  antipathisch  oder  sym- 
pathisch ist,  zu  dem  einen  oder  dem  andern  Ausdruck  ver- 
leiten lassen.  Ausführungen  gleichen  Charakters  erscheinen 
uns  dann  bald  „kleinlich“  oder  auch  „gründlich“,  „gross 
angelegt“  oder  auch  „phrasenhaft“  u.  s.  f.  Ich  hatte  aber 
wahrlich  noch  nicht  einmal  „gründlich“  tadeln  wollen,  son- 
dern das  gerade  ist  mein  Bestreben  gewesen,  positiv  auf- 
bauend, nicht  kritisch  zersetzend  die  Prinzipien  wissen- 
schaftlicher Beobachtung  zu  erörtern.  Gerade  weil  ich  die 
beobachtende  Forschung  in  der  Nationalökonomie  zwar 
nicht  als  die  allein  berechtigte,  aber  als  eine  neben  der 
deduktiven  Forschung  berechtigte  und  nothwendige  hoch- 
stelle, gerade  deswegen  kann  ich  mich  der  Ueberzeugung 
nicht  verschliessen,  dass  sie  durch  ihre  nähere  Angrenzung 
an  das  Leben  durch  ihren  grösseren  Kontakt  mit  den 
Leidenschaften  mehr  als  jene  deduktive  Richtung  dem 
Dilettantismus,  der  Verflachung,  ja  geradezu  der  Gefahr 
der  Anpassung  an  bestimmte  Tendenzen  ausgesetzt  ist. 
Fs  liegt  darum  gerade  nn  höchsten  Interesse  derjenigen, 
welche  sich  dieser  Forschungsweise  vorzüglich  gewidmet 
haben,  darüber  zu  wachen,  dass  sie  sich  jener  Richtung- 
ebenbürtig  entwickle,  und  zu  zeigen,  dass  nicht  nur  die 
Spekulation,  sondern  auch  die  wahrheitsgemässe  Beobach- 
tung auf  logischen  Grundsätzen  zu  beruhen,  dass  sie  nicht 
minder  wie  jene,  wenn  es  auch  nicht  so  klar  zu  Tage  liegt, 
geistige  Schulung  und  psychische  Selbstzucht  von  ihren 
Jüngern  zu  fordern  hat.  Darzuthun,  dass  die  unerlässlichen 
Prinzipien  der  Wahrheitsforschung  in  einem  grossen  Theile 
jener  Berichte  ausser  Acht  gelassen,  in  einzelnen  Partien, 
ich  kann  es  nicht  anders  sagen,  niedergetreten  worden 
waren,  — dazu  genügte  es  im  Wesentlichen  eine  Systemati- 
sirung  jener  Prinzipien  zu  versuchen.  Dies  that  ich  unter 
Heranziehung  der  besten,  bei  uns  nur  noch  viel  zu  wenig 
beachteten  Denker  auf  diesem  Gebiete;  an  einer  minutiösen 
negativen  Kritik  hätte  ich  meine  Feder  nicht  versuchen 
mögen.  Wenn  man  jene  Berichte  trotz  allem  die  besten 
und  objektivsten  bis  jetzt  erschienenen  nennt,  so  bedeutet 
dieses  Lob  wenig,  so  lange  der  Massstab  nicht  bekannt 
ist,  an  welchem  diese  vergleichsweise  Anerkennung  ge- 
messen werden  soll. 

Das  freilich  würde  als  ein  ernster  Vorwurf  gegen 
methodologische  Untersuchungen  anerkannt  werden  müssen, 
wenn  sie  Forderungen  stellen  würden,  welche  „in  abstracto“ 
richtig,  thatsächlich  nicht  durchführbar  wären.  Aber  solche 
Forderungen  wären  eigentlich  noch  nicht  einmal  in  abstrato 
richtig.  Denn  gerade  das  ist  das  Problem,  und  als  ein  anderes 
habe  ich  es  auch  keinen  Augenblick  aufgefasst:  Welches 
sind  die  den  bestimmten,  beschränkten  Mitteln  des 
Untersuchenden  entsprechenden  Untersuchungs- 
tormen.'' Welches  sind  die  Darstellungsformen,  ver- 
möge deren  auch  das  beschränkteste  Ergebniss  an  sogar 
u n s i ch  e r e n Mittheilungen  i n w ah  re  und  damit 
wissenschaftliche  Urtheile  gefasst  werden  kann. 
Keine  Mittel,  über  die  ein  Untersuchender  verfügt,  sind 
beschränkt  genug,  als  dass  er  nicht  z.  B.  auf  das  Bekun- 
dungssystem, das  ihm  zu  Gebote  stand,  Licht  fallen  lassen 
könnte.  Das  ist  wohlfeil  wie  die  Luft,  die  wir  athmen.  . . 
Meine  Anforderungen  waren  wesentlich  logischer  und 
psychologischer  Natur  und  der  Untersuchende,  dem  die 
Natur  die  Fähigkeiten,  sie  zu  erfüllen,  gegeben  hat,  der 
hat  sie  gratis.  Auch  die  Forderung  eines  möglichst 
kontradiktorischen  Verfahrens  ist  niemals  gänzlich  undurch- 
führbar. Fs  giebt,  wie  schon  seiner  Zeit  durch  andere  aus- 
geführt worden  ist,  verschiedene  Stufen  der  Annäherung 


an  dasselbe.  Man  kann  diese  Forderungen  auch  dadurch 
nicht  für  den  speziellen  Fall  ad  absurdum  führen,  dass  man 
darauf  hinweist,  wie  unmöglich  es  gewesen  wäre,  den 
notorischen  Wucherer  zur  Rede  zu  stellen.  Die  Wucher- 
berichte haben  so  ziemlich  den  ganzen  Umfang  des  länd- 
lichen Zwischenhandels  in  den  Bereich  ihrer  Betrach- 
tung gezogen,  und  ich  meine,  dass  eine  solche  Ausdehnung, 
die  sich  freilich  im  Titel  hätte  aussprechen  müssen,  unter 
gewissen  Umständen  auch  nur  zu  begrüssen  gewesen  wäre. 
Man  wird  aber  gewiss  nicht  behaupten  können,  dass  sich 
aus  dem  Kreise  dieser  Zwischenhändler  nicht  leicht  (ähnlich 
wie  es  bei  anderen  Untersuchungen  über  den  städtischen 
Zwischenhandel  ja  möglich  war)  Personen  hätten  zur  Rede 
stellen  lassen.  Mir  wenigstens  ist  es  ohne  die  geringste 
Mühe  bei  einem  Versuche  gelungen,  einen  solchen  Zwischen- 
händler sogar  zur  Konfrontation  mit  einem  Vertreter  ent- 
gegengesetzter Interessen  zu  bewegen.  Gelangt  bei 
Enqueten  immer  nur  eine  Seite  zu  Gehör,  wie  jetzt  ja 
auch  wiederum  bei  der  Enquete  über  die  ländlichen 
Arbeiterverhältnisse  lediglich  die  Arbeitgeber  zu  Worte  - 
gekommen  sind,  dann  kann  die  Zusammenstellung  solcher 
Untersuchungen  unmöglich  ein  Bild  ergeben,  welches  Licht 
und  Schatten  in  einer  der  Wirklichkeit  entsprechenden  Ver- 
theil ung  wiederspiegelte. 

Die  in  meiner  Schrift  entwickelten  Forderungen  harren 
denn  thatsächlich  auch  heute  noch  eines  Wortes  sachlicher 
Widerlegung.  Namhafte  Philosophen,  Historiker  und  Sta- 
tistiker haben  mir  seiner  Zeit  ihre  Zustimmung  ausdrück- 
lich zu  erkennen  gegeben.  Wenn  ich  die  Zustimmung 
mancher  und  darunter  diejenige  des  Herrn  Professor 
Schmoller  ungern  vermisse,  so  vertröste  ich  mich  damit, 
dass  darum  doch  das  Gleiche  bei  weniger  erregendem  An- 
lass, von  Andern  ausgesprochen,  Anerkennung  finden  wird  ; 
und  muss.  Ich  wusste,  dass  der  Anlass  ein  undankbarer, 
dem  Missverständniss  denkbarst  preisgegeben  war;  aber  ich  , 
habe  ihn  mir  nicht  ausgewählt.  Wahrlich,  nicht  Schuldige  < 
zu  schützen,  galt  es,  sondern  zu  verhüten,  dass  durch  ober- 
flächliche Allgemeinheit  und  gehässige  Darstellungen  auch 
die  Unschuldigen  schwer  getroffen  würden:  hier  ein  Wort 
zur  Besinnung  zu  reden,  schien  mir  auch  mit  einer  mög- 
lichen Verzögerung  des  geplanten  Wuchergesetzes  nicht  zu 
theuer  erkauft.  Ich  weiss,  wie  ich  Herrn  Professor  Schmoller 
für  wohlwollende  Förderung  und  werthvolle  Belehrung  i 
dankbar  verbunden  bin,  die  Sympathien,  welche  meine 
Feder  lenken,  sind  aber  meine  eigenen,  ich  weiss  auch  wo 
Leiden  und  Schmerzen  stecken,  und  ich  muss  mir  vorbe-  ’ 
halten,  wie  auch  der  Zug  der  Zeit  gehe,  nach  eigenem  Er- 
messen meinen  Weg  zu  wählen.  Herr  Professor  Schmoller 
hat  eingeräumt,  dass  ich  in  „bester  Absicht“  geschrieben 
habe;  meine  Darlegungen  versuchten  die  Prinzipien  der 
Wahrheitsermittelung  festzustellen,  ich  schrieb  keine  Zeile, 
die  ich  nicht  vertreten  will  und  es  sollte  damit  dem  Guten 
entgegengetreten  worden  sein?  Dies  ist  unmöglich,  so  übel 
ist  die  Weit  nicht  eingerichtet.  So  lange  wir  der  Ehrlich- 
keit unserer  Absichten  uns  bewusst  und  von  der  Noth- 
wendigkeit  ihnen  Ausdruck  zu  geben  durchdrungen,  unser 
bestes  Erwägen  einsetzen,  so  lange  dürfen  und  müssen  wir 
uns  getrost  zurufen:  Permitte  divis  caetera,  und  brauchen 
wir  uns  über  üble  Folgen  unserer  Handlungsweise  keine 
grauen  Haare  wachsen  zu  lassen.  Hatte  ich  nicht  überdies 
ausdrücklich  betont,  dass,  wenn  auch  die  Enquete  im  That- 
sächlichen  so  wenig  gelungen  sei,  daraus  noch  nicht  folge, 
dass  überall  das  Gegentheilige  das  Wahre  sei,  oder  gar, 
dass  deshalb  Abstand  davon  genommen  werden  müsse,  alle 
in  Frage  kommenden  Heilmittel  gegen  Uebel  ernstlich  zu 
erwägen,  deren  Existenz  zu  einem  Theil  schon  aus  deduk- 
tiven Gründen  unleugbar  scheine,  Mittel  die  in  Betracht  zu 
ziehen  ja  auch  geboten  wären,  wenn  diese  Berichte,  von 
denen  allerdings  zum  grossen  Theil  bewusst  abzusehen 
sei,  nicht  geschrieben  wären?  Habe  ich  nicht  ausdrück- 
lich auf  die  argumentirenden  Stellen  in  den  Berichten 
mehrerer,  leider  nur  zu  weniger  Mitarbeiter  als  höchst  be- 
achtenswerth  hingewiesen? 

Man  wird  es  mir  also  Angesichts  der  Charakteristik 
! meiner  Kritik  durch  Herrn  Professor  Schmoller  nicht  ver- 


No.  7. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


70 


denken,  wenn  ich  nun  heute  einige  Genugthuung  darüber 
ausspreche,  dass  einer  der  vorgeschlagenen  Paragraphen  in 
dem  neuen  Gesetzentwürfe  thatsächlich  zuerst,  soweit  mir 
bekannt,  in  eben  derselben  meiner  Schrift  ausgesprochen 
worden  ist:  ich  meine  die  Forderung  der  obligatorischen 
Kontokorrenteinsendung  von  Seiten  der  Handelsleute 
an  ihre  Kunden.  Die  Vorlage  soll  sie  alljährlich  verlangen; 
es  lässt  sich  meines  Erachtens  noch  nicht  einmal  ein 
Hinderniss  absehen,  warum  sie  nicht  auch  senrestral,  vie 
von  Seiten  städtischer  Bankiers  geschieht,  vorgelegt  werden 
sollten.  Hierin  also  scheint  mir  sogar  eine  Ausdehnung  des 
Entwurfs  unbedingt  zulässig,  wogegen  es  mir  andererseits 
wohl  der  reiflichen  Erwägung  werth  erscheint,  ob  nicht  an 
Stelle  allgemeiner  Paragraphen  vortheilhafter  rechtssichere 
Spezialgesetze  treten  würden,  mindestens  versucht  werden 
sollten.  Der  neue  Entwurf  würde  einen  sehr  weiten  Be-  i 
griff  des  Wuchers  adoptiren,  unter  den  logischer  Weise 
ungemein  viele  Vorgänge  unseres  wirthschaftlichen  Lebens 
fallen  müssten,  die  man  in  sie  in  praxi  einzubegreifen  denn 
doch  der  ganzen  Entstehungsweise  des  Gesetzes  folgend 
und  aus  verschiedenen  anderen  Gründen  Bedenken  tragen 
dürfte.  Wuchergesetze,  und  zwar  spezialisirte,  sind  in  ge- 
wissem Sinne  unsere  meisten  Arbeiterschutzgesetze,  denn  sie 
bezwecken  es  zu  verhindern,  dass  die  chronische  Nothlage 
des  Arbeiters  zu  seinem  Ruine  ausgenutzt  werde,  Wucher- 
gesetze sind  auch  die  irischen  Landgesetze,  z.  B.  in  ihren 
Bestimmungen  über  die  Höhe  der  Pachten;  in  allen  diesen 
Fällen  aber  fasste  man  besondere  Ausnutzungsformen  ins 
Auge  und  ging  gegen  diese  vor.  Sollte  es  nicht  möglich 
sein,  ein  analoges  Verfahren  auch  mit  Beziehung  aut  den 
finanziellen  Schutz  unseres  Landmannes  zu  versuchen? 
Bahnt  man  damit  nicht  eine  gerechtere  und  fruchtbarere 
Entwicklung  an?  Als  eine  der  wesentlichsten  Formen  in 
die  sich,  nachdem  der  Darlehnswucher  bereits  strafbar  ist, 
der  noch  nicht  mit  Strafe  bedrohte  Wucher  kleide,  sieht 
man  z.  B.  die  Form  der  Viehleihe  an,  warum  nicht  diese 
zum  Gegenstände  einer  besonderen  Untersuchung  wählen 
und  das  Unzulässige  von  dem  Zulässigen  von  vornherein 
unterscheiden?  Würde  es  nicht  mindestens  lohnen,  den 
Versuch  zu  machen?  Kann  man  aus  den  vielbesagten  Be- 
richten nicht  genügende  Information  schöpfen,  so  ist  dies 
eben  la  faute  ä eux  und  es  kann  m.  E.  nicht  zu 
schwierig  sein,  vor  einer  staatlichen,  ja  sogar  vor  einer  pri- 
vaten Kommission  ad  hoc  von  allen  Seiten  Auskunft  zu  er- 
langen. Und  endlich,  und  nicht  zum  Wenigsten,  ist  zu 
vermeiden,  dass  durch  eine  leidenschaftliche  Behandlung 
der  Sache  das  Nachdenken  über  die  tiefer  liegenden  Ur- 
sachen der  üblen  Lage  unseres  Bauernstandes,  insoweit 
eine  solche  zu  beklagen,  Abschwächung  erfahre. 

Frankfurt  a.  M.  G.  Schnapper-Ar ndt. 


Versammlung  der  deutschen  Bodenbesitzreforiner. 

Der  ,, Deutsche  Bund  für  Bodenbesitzreform“  hielt  am 
6.  November  in  Berlin  seine  Generalversammlung  ab.  Von 
der  Beachtung,  welche  der  Bund  trotz  seiner  verhältniss- 
mässig  geringen  Mitgliederzahl  (ca.  600 j durch  seine  Agi- 
tation rindet,  legten  die  zum  Theil  recht  eingehenden  Be- 
richte der  Berliner  Presse  Zeugniss  ab.  Der  Bund  hat  im 
vergangenen  Jahr  eine  Enquete  bezüglich  der  deutschen 
Gemeinden  mit  erheblichem  Gemeindegrundbesitz  unter- 
nommen, aus  welcher  der  Schriftführer  eine  Reihe  höchst 
interessanter  Daten  mittheilte.  Wir  hoffen  auf  diesen 
Gegenstand  in  einer  der  nächsten  Nummern  ausführlicher 
zurückkommen  zu  können.  Nach  einem  weiteren  Referat 
über  Wohnungsfrage  und  Baugenossenschaften  wurde  eine 
Resolution  angenommen,  welche  die  Begründung  von  Bau- 
genossenschaften mit  dauerndem  Gemeinbesitz  an  Grund 
und  Boden  sowie  Gebäuden  empfiehlt,  weil  hierdurch  die 
\\  ohnungsfrage  besser  gelöst  werde,  als  durch  Schaffung 
neuer  kleiner  Hauseigenthümer.  Die  bestehenden  Bauge- 
nossenschaften werden  aufgefordert,  von  den  Behörden 
ihrer  Gemeinden  zu  Bauzwecken  Kommunalland  in  Pacht 
zu  verlangen. 

Der  Erörterung  des  Themas  „Unsere  Taktik“  wurde 
die  meiste  Zeit  gewidmet.  Der  Vorschlag,  die  drei  bis- 


herigen Vorsitzenden  durch  Akklamation  wiederzuwählen, 
scheiterte  an  der  Erklärung  von  Dr.  Arons,  eine  Wieder- 
Wcihl  ablehnen  zu  müssen.  Es  wurden  die  Herren  Fabrik- 
besitzer Freese-Berlin  und  Reichstagsabgeordneter  Harme- 
niqg  Jena  wieder  und  Lehrer  Adolf  Damaschke-Berlin  neu 
zu  Vorsitzenden  gewählt. 

Harmening,  welcher  bekanntlich  von  seinen  politischen 
Fraktionsgenossen,  den  Deutschfreisinnigen,  wegen  seiner 
Propaganda  für  die  „Bodenbesitzreform“  heftig  angegriffen 
wird,  sprach  am  8.  in  öffentlicher  Versammlung  über  das 
Thema:  „Warum  erstreben  wir  Bodenbesitzreform“? 

Nothsfandsar  bei  teil  in  Lübeck.  Für  die  öffentlichen 
Arbeiten,  die  zur  Vermehrung  der  Erwerbsgelegenheit  für 
die  arbeitende  Bevölkerung  Lübecks  schon  jetzt  ausgeführt 
werden  sollen,  beantragt  der  Senat  bei  der  Bürgerschaft 
die  Bewilligung  der  Summe  von  132  254,59  M.  und  verlangt, 
dass  die  Baudeputation  beauftragt  werde,  eine  Reihe  von 
Siel-,  Pflasterungs-  und  Wegearbeiten  schon  jetzt,  soweit 
sich  einheimische  Arbeiter  dazu  finden,  zur  Ausführung  zu 
bringen. 

Schweizerische  Stickereiindustrie.  Die  Statutenrevision 
des  Stickereiverbandes  hat,  wie  wir  dem  Handelsmuseum  vom 
10.  November  entnehmen,  nach  dem  Elaborat  der  eigens  be- 
stellten Revisionskommission  einen  einschneidenderen  Umfang 
angenommen,  als  man  zu  erwarten  schien.  Alles,  was  eine  di- 
rekte Regelung  des  Lohnes  bedeutet,  ist  fallen  gelassen  worden 
als  ein  Eingriff  in  die  freie  Entfaltung  des  Unternehmungs- 
geistes; dagegen  wurde  beibehalten,  was  bisher  tadellos  funk- 
tionirte:  die  Fachgerichte,  Musterschutz,  Expertisen,  Verkaufs- 
stelle, Stichzählregulative  und  Aufstellung  einer  Normalarbeits- 
zeit. Vom  ferneren  ..Ausschluss  von  Mitgliedern11  wurde  abge- 
sehen; dieses  Strafmittel  das  sich  mitunter  für  den  Verband 
selbst  als  eine  sehr  schädigende,  zweischneidige  Waffe  er- 
wiesen hat,  fällt  künftig  aus. 

Ueber  diese  Reorganisation  sind  die  Ansichten  im  Schosse 
des  Verbandes  sehr  getheilt;  die  Einen  betrachten  das  Verblei- 
bende als  einen  wesenlosen  Rest,  die  Anderen  weisen  darauf 
hin,  dass  andere  Industrien,  z.  B.  die  Uhrenindustrie,  vergeb- 
lich nach  einer  auch  nur  so  weit  gehenden  Organisation  ringen, 
wie  sie  dem  Stickereiverband  immer  noch  verbleibt. 

Mittlerweile  vernimmt  man  vom  sächsischen  Stickereiver- 
bande,  dass  sein  Fortbestand  sehr  in  Frage  stehe,  seit  der 
schweizerische  Verband  den  Minimallohn  aufgehoben  hat.  Die 
erhoffte  Wiedereinführung  wird  nach  Obigem  ausbleiben  und 
die  Auflösung  des  sächsichen  Verbandes,  dem  jetzt  schon  der 
zehnte  Theil  seiner  einstigen  Mitglieder  abtrünnig  geworden  ist, 
nur  beschleunigen. 

Eine  Arbeitsbörse  in  London.  Das  von  den  Gewerk- 
vereinlern so  oft  erörterte  Projekt,  in  London  eine  Art  Arbeiter- 
börse zu  errichten,  scheint  nunmehr  von  den  Arbeitgebern  in 
ernstlichen  Angriff  genommen  zu  werden.  Ein  solches  Institut, 
das  von  dieser  Seife  ausgehend  allerdings  von  seinem  Pariser 
Vorbilde  gar  sehr  abweichen  dürfte,  soll  sich  aus  den  Arbeits- 
büreaus  des  Schiffsrhedervereins  unter  Heranziehung  von  Arbeit- 
gebern anderer  Thätigkeitsgebiete  entwickeln.  Die  Shipping 
Federation  wurde  ein  Jahr  nach  dem  grossen  Londoner  Dock- 
strike  gegründet,  um  die  Schiffseigentfiümer  und  Dockverwal- 
tungen von  den  Gewerkvereinen  einigermassen  unabhängig  zu 
machen,  indem  sie  für  den  Fall  eines  Strikes  stets  eine  Zahl 
freier,  d.  h.  keinem  Verbände  angehöriger  Arbeiter  bereit  hielt. 
Zu  diesem  Zwecke  eröffnete  man  in  etwa  35  britischen  Häfen 
Arbeitsbüreaus,  wo  Schiffsmannschaften,  Dockarbeiter,  kurz 
jeder,  der  für  Arbeit  in  einem  der  vielen  Zweige  des  Rhederei- 
wesens brauchbar  ist,  gegen  Zahlung  eines  Shillings  in  eine  Liste 
eingetragen  und,  sobald  er  beschäftigungslos  ist,  von  einer  ein- 
laufenden Nachfrage  für  Arbeiter  unterrichtet  wird.  Die  Rheder 
brauchen  bei  einem  Strike  oder  bei  aus  anderen  Gründen  noth- 
wendig  werdendem  Bedarf  an  Arbeitskräften  nur  der  Federation 
Anzeige  zu  machen,  wie  viele  Arbeiter  sie  benöthigen,  und  das 
Büreau  ist  im  Stande,  von  irgend  einem  der  Häfen  dieselben  zu 
beschaffen.  Wenn  dieses  System  auch  die  anfänglichen  Hoff- 
nungen der  Rheder,  durch  dasselbe  die  Gewerkvereine  zu 
sprengen,  nicht  im  geringsten  erfüllte,  so  hat  es  doch  die  Ver- 
bandsarbeiter vorsichtiger  gemacht.  Der  Gedanke  lag  darum 
nahe,  auch  anderen  Arbeitgebern  den  Zutritt  zu  diesen  Büreaux 
zu  gewähren,  und  auf  diese  Weise  gedenkt  man  allmälig  vorerst 
den  gesammten  Stand  der  „ungelernten“  Arbeiter  in  den  Be- 
reich dieser  Büreaus  zu  ziehen,  deren  Kontrolstelle  man  selbst- 
verständlich nach  London  verlegen  würde,  und  die  allerdings 
die  Funktionen  einer  Arbeiterbörse  erfüllen  dürfte. 

Die  Fabrikindustrie  der  Stadt  New- York.  Das  Bundes- 
zensusamt hat  einen  vorläufigen  Bericht  über  das  Fabrikwesen 
in  der  Stadt  New-York  während  des  Zensusjahres  1890  ver- 
öffentlicht. In  diesem  Berichte,  welchem  die  untenstehende 
Aufstellung  im  Vergleich  zum  Jahre  1880  entnommen  ist,  sind 
nur  Etablissements  berücksichtigt,  deren  Produktion  während 
des  Zensusjahres  den  Werth  von  500  Doll,  überstieg. 


80 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  7. 


1890  1880 

Verschiedene  Industrien 292  200 

Anzahl  der  Etablissements  ....  25  399  1 1 339 

Beschäftigte  Arbeiter 351757  227  352 

Dollars 

Investirtes  Kapital 420  238  602  181206  358 

Bezahlte  Löhne  228  337  295  97  030  021 

Kosten  des  Rohmaterials 337  086  305  288  441  691 

Verschiedene  Ausgaben 60  233  425 

Werth  der  Produktion 763  833  923  472  926  437 

In  1890  betrug  die  Anzahl  der  Bevölkerung  I 515  301  Seelen, 
eine  Zunahme  um  309  002  gegen  1380.  Der  steuerpflichtige  Eigen- 
thumswerth bezifferte  sich  in  1890  auf  1618  740  805  Doll.,  gegen 
1094  069  335  in  1880.  Die  städtische  Schuld  stellte  sich  in  1890 
auf  102  486  073  Doll.,  eine  Abnahme  um  6 939  341  Doll,  oder 
6,34  pCt.  gegen  1880.  Der  jährliche  Arbeitslohn  pro  Person  ist 
von  427  Doll,  in  1880  auf  653  Doll,  in  1890  gestiegen. 

Schulwesen  in  Australien.  Einem  in  den  „Hochschul- 
Nachrichten“  mitgetheilten  Bericht  aus  Victoria  entnehmen 
wir  die  folgenden  Notizen  über  die  Bildungsverhältnisse  der 
australischen  Provinz.  Das  Prinzip  des  Volksunterrichts  ist 
Schulzwang  ohne  Religionszwang.  Der  Unterricht  ist  un- 
entgeltlich. Vom  6.  bis  zum  13.  fahre  sind  die  Kinder  zum 
Besuch  der  Schule  verpflichtet;  nur  anderweitig  nach- 
gewiesene Erziehung,  Krankheit,  allzuweite  Entfernung  der 
nächsten  Schule  gelten  als  Entschuldigung  des  Ausbleibens. 
Besondere  Inspektoren  sind  angestellt,  um  diejenigen  Eltern 
zu  ermitteln  und  behufs  Bestrafung  anzuzeigen,  die  es  ver- 
nachlässigen, ihre  Kinder  zur  Schule  zu  schicken.  Die  Zahl 
der  Staatsschulen  ist  von  1711  in  1881  auf  2062  in  1889  ge- 
stiegen; auch  sind  eine  Anzahl  von  Abendschulen  — wohl 
für  ältere  Zöglinge  — eingerichtet.  Für  besonders  begabte 
Schüler  sind  Preise  und  Stipendien  im  Betrage  von  200  bis 
700  M.  ausgesetzt.  Laut  Statistik  vom  I.  Januar  1890  be- 
finden sich  in  Victoria  2284  Sonntagsschnlen,  welche  haupt- 
sächlich religiösen  Zwecken  dienen  die  Statistik  zählt 
24  daran  betheiligte  Sekten  auf-  und  von  143  570  Schülern 
besucht  werden;  die  Zahl  der  Lehrer  in  diesen  beträgt 
17  983.  5 Gewerbeschulen  sind  vorhanden,  welche  ganz 
oder  theilweise  vom  Staat  erhalten  werden  In  den  29 
Zeichenschulen  (Schools  of  Art  and  Design)  wurden  fast 
2000  Schüler  in  Geometrie,  Ornamentzeichnen,  Muster- 
zeichnen, Theorie  und  Praxis  der  Farbenharmonie  etc.  unter- 
richtet. Die  meisten  haben  Abendkurse,  damit  die  Arbeiter 
daran  theilnehmen  können.  Ferner  sind  vier  Anstalten  vor- 
handen, um  für  den  dort  höchst  wichtigen  Bergbau  vor- 
zubereiten. In  Melbourne  ist  eine  Arbeiter-Akademie  ge- 
gründet, zu  welcher  ein  Privatmann  100  000  M.  stiftete, 
während  die  Arbeiter  weitere  60  000  M.  und  die  Melbourner 
Bürger  40  000  M.  auf  brachten;  zu  ihrer  Erhaltung  zahlte  die 
Regierung  170  000  M.  in  1889.  Oeffentliche  Bibliotheken 
befinden  sich  380  in  der  Kolonie. 


Arbeiterzustände. 


Ein  Beitrag  zur  Arbeitslosenstatistik. 

I. 

Das  Verdienst,  die  Frage  der  Arbeitslosenstatistik  an- 
geregt zu  haben,  gebührt  Herrn  Dr.  Adolf  Braun,  wie  den 
Lesern  dieser  Zeitschrift  bekannt  ist.  Die  unverhältnissmässige 
Zähigkeit,  mit  der  dieses  Problem  bisher  vernachlässigt 
worden  ist , muss  jedem  Sozialpolitiker  aufgefallen  sein. 
Man  sucht  nach  einer  halbwegs  befriedigenden  Erörterung, 
ja  selbst  nach  einer  vollständigen  Zusammenfassung  ge- 
legentlich aufgetauchter  Notizen  in  der  deutschen  Litteratur 
vergebens.1)  Das  Versäumniss  ist  ebenso  gross  aufseiten 
der  sozialdemokratischen  Partei,  die  die  Prinzipien  ihrer 
Agitation  immer  mehr  auf  die  Arbeitslosigkeit  zuspitzt,  wie 
auf  der  Gegenseite. 

1 1 Selbst  was  Losch  in  seiner  Schrift  „Nationale  Produk- 
tion“ (Leipzig  1892).  Seite  250-265  beibringt,  ist  nicht  einmal  für 
Deutschland  und  für  die  jüngste  Vergangenheit  erschöpfend. 
Am  werthvollsten  ist  noch  der  Aufsatz  von  Baernreither  in 
Braun’s  Archiv  für  soziale  Gesetzgebung  I 43 ff.:  „Die  Statistik 
über  Arbeitslose  in  England“.  Das  sonst  so  reichhaltige  Hand- 
wörterbuch der  Staatswissenschaften  hat  das  Stichwort  Arbeits- 
losigkeit überschlagen. 


Zur  Entschuldigung  kann  nur  die  Schwierigkeit  der 
Sache  angeführt  werden. 

Indem  ich  mich  anschicke,  durch  einen  spezialistischen 
Beitrag  die  begonnene  Discussion  fortzusetzen,  liegt  es  mir 
zunächst  ob,  mich  zu  A.  Brauns  Vorschlägen  zu  äussern. 

Seinem  Gedanken  einer  ad  hoc  vorzunehmenden  Re- 
form der  Altersversicherungskarten  (in  No.  6 dieses  Blattes) 
steht  schon  die  allgemeine  Empfindlichkeit  dieses  Schmer- 
zenskindes im  Wege.  Auf  weitere  Bedenken  hat  er  selbst 
hingedeutet.  Ich  unterlasse  eine  nähere  Ausführung,  weil 
ich  es  lieber  sähe,  wenn  ein  Fachmann  der  Altersversiche- 
rung aus  dem  Leserkreise  dieses  Blattes  sich  äusserte.  Eine 
auf  diesem  Wege  gewonnene  Statistik  würde  vielleicht, 
wenn  man  daneben  eine  wirkliche  Arbeitslosenstatistik  be- 
sässe,  einen  Massstab  geben,  um  die  Fehler  der  Marken- 
klebung zu  kontrolliren,  viel  mehr  schwerlich.  Immerhin 
würde  auch  eine  mangelhafte  Arbeitslosenstatistik , von 
dieser  oder  jener  Versicherungsanstalt  gelegentlich  ausge- 
führt, von  Interesse  sein. 

Der  andere  Vorschlag  (in  No.  2 dieses  Blattes),  durch 
Beauftragte  der  Arbeitervereine  jeden  Menschen  nach  seinen 
Erwerbs-  und  Familien  Verhältnissen  fragen  zu  lassen,  scheint 
mir  nicht  ausführbar.  Entweder,  die  Sozialdemokratie 
erklärt  sich  für  den  Plan,  dann  werden  viele  Arbeitslose 
ihre  Mitwirkung  versagen,  z.  ß.  in  Berlin  die  unabhängigen 
Sozialisten,  die  mit  der  Arbeitslosigkeit  freundschaftliche 
Beziehungen  haben;  oder  die  Sozialdemokratie  erklärt  sich 
gegen  den  Plan,  dann  ist  allgemeine  Betheiligung  ebenso- 
wenig zu  erwarten.  Die  inzwischen  erfolgte  Verlautbarung 
im  „Vorwärts“,  die  in  No.  4 dieses  Blattes  nachgelesen  wer- 
den kann,  hat  entschieden,  welche  der  beiden  Unmöglich- 
keiten eventuell  praktisch  werden  würde. 

Dagegen  halte  ich  von  der  Tauglichkeit  des  Staats, 
die  Arbeitslosen  zu  zählen,  sei  es  bei  einer  Volkszählung 
oder  Berufsstatistik,  sei  es  im  Wege  einer  Spezialaufnahme,  v 
an  und  für  sich  mehr  als  A.  Braun,  und  treffe  darin  mit  der 
Auffassung  des  sozialdemokratischen  Blattes  überein,  das 
die  demnächstige  Kundgebung  bezüglicher  Wünsche  im 
Reichstage  anmeldet.  Aber  es  wird  auch  bei  blossen  Wün- 
schen und  Forderungen  bleiben.  Höchstens  lässt  sich  der 
eine  oder  andere  Bundesstaat  bewegen , in  das  nächste  . 
Volkszählungsprogramm  eine  Frage  nach  der  Arbeitslosig- 
keit einzuschalten,  aber  es  wird  bei  einer  oder  einigen  ober-  • 

flächlichen  Fragen  sein  Bewenden  haben;  und  dann  wird  ) 

der  Werth  des  Ergebnisses  gering  sein.  Man  wird  sich 
schwerlich  der  Mühe  unterziehen,  jeden  Arbeitslosen  zu 
fragen,  bei  wem  er  zuletzt  in  Arbeit  gestanden  hat,  und 
dann  die  Richtigkeit  der  Antwort  zu  kontrolliren.  Ohne 
diese  Kontrolle  aber  würde  die  ganze  Schaar  der  Arbeits- 
scheuen, Louis  u.  s.  w.,  unter  den  Arbeitslosen  flguriren, 
auch  die  Vertheilung  der  Arbeitslosen  über  die  Berufsarten 
würde  ganz  falsch  herauskommen.  Man  wird  noch  weniger 

die  Ursache  der  Arbeitslosigkeit  ermitteln  können.  Ich 

meine  also:  eine  brauchbare  staatliche  Arbeitslosenstatistik 
ist  möglich,  aber  in  nächster  Zeit  nicht  zu  erwarten. 

LTnd  aus  diesem  Grunde  rückt  die  von  A.  Braun  ziem- 
lich gering  geachtete  Statistik  seitens  einzelner  Gewerk- 
schaften wieder  in  den  Vordergrund.  Hier  liegen  be- 
merkensw  erthe  Anfänge  schon  vor,  und  grosse  Gewerk- 
schaften, wie  der  Verband  der  Deutschen  Buchdruckei, : 
sind  geneigt,  ihre  statistische  Thätigkeit  nach  dieser  Seite 
auszudehnen.  Je  öfter  solche  Spezialaufnahmen  zu  be- 
friedigenden Resultaten  führen,  um  so  besser  wird,  durch 
methodologische  Klärung  und  durch  Anregung,  eine  künftige 
Reichsstatistik  vorbereitet.  Eine  gewerkschaftliche  Statistik 
kann  sogar  mehr  leisten  als  das  Reich,  weil  die  Gewerk- 
schaft ihre  Mitglieder  viel  besser  ausfragen  kann,  und  weil  sie 
sich  nicht  so  leicht  zwischen  Arbeitslosen  und  Arbeitsscheuen 
irrt.  Und  bei  der  fortschreitenden  Verstaatlichung  bis- 
heriger Gewerkschaftsthätigkeiten  sollten  die  Gewerkschal- 
ten schon  aus  Selbsterhaltungstrieb  ihr  bescheidenes  In- 

*)  Vgl.  das  Protokoll  der  Stuttgarter  Generalversammlung 
(1892),  und  zwar  bei  den  Verhandlungen  über  Einsetzung  eines 
Ausschusses. 


No.  7. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAI  HI .ATT 


31 


ventar  von  Selbsthilfe,  zu  dein  bis  jetzt  noch  die  Statistik 
gehört,  nicht  vernachlässigen. 

Nicht  alle  Gewerkschaften  sind  gleich  tauglich  für 
diese  Aufgabe.  Diejenigen  der  Saisongewerbe,  wie  Maurer, 
sind  es  am  wenigsten,  schon  wegen  des  häufigen  Doppel- 
berufs ihrer  Mitglieder.  Die  Gewerkschaften  der  gebildetsten, 
insbesondere  der  im  Schreibwerk  erfahrensten  Berufe,  wie 
Buchdrucker,  sind  am  tauglichsten.  Es  sind  ferner  die- 
jenigen am  tauglichsten,  die  schon  Stellenvermittlung  in 
grossem  Massstabe  betreiben,  und  natürlich  auch  die,  welche 
den  grössten  Prozentsatz  ihres  Gewerbes  repräsentiren. 

Aus  allen  drei  Gründen  eignen  sich  die  Handlungs- 
gehilfen Deutschlands,  von  deren  gegenwärtigem  Versuch 
ich  Einiges  mittheilen  will,  zur  Aufnahme  einer  Arbeits- 
losenstatistik in  hervorragendem  Masse. 

II. 

Leber  die  Vereine  der  Handlungsgehilfen  in  Deutsch- 
land hat  dieses  Blatt  in  No.  3 des  ersten  Jahrgangs  einige 
summarische  Mittheilungen  gebracht.  Im  vergangenen 
Sommer  wurde  in  Schmollers  Jahrbuch,  Seite  809  berechnet, 
dass  etwa  ’/s  aller  deutschen  Handlungsgehilfen,  nämlich 
etwa  90  000,  nach  den  damals  vorliegenden  Angaben  in 
Berufsvereinen-  organisirt  seien.  Bei  der  schnellen  Zunahme 
dieser  Vereine  würden  die  Zahlen,  bis  zum  heutigen  Lage 
fortgeschrieben,  wohl  nahe  an  100  000  ergeben,  während 
alle  andern  Arbeiterfachvereine  Deutschlands  nach  einer 
neueren  Berechnung  zusammen  nicht  viel  über  400  000  Mit- 
glieder haben.  Der  Deutsche  Verband  Kaufmännischer  Ver- 
eine, hervorgegangen  aus  dem  (noch  fortbestehenden) 
deutschen  Vortragsverbande,  unter  Leitung  des  Herrn 
Edmund  Lotz  in  Koburg,  repräsentirt  unter  diesen  Vereinen 
der  Handlungsgehilfen  die  aufstrebende  staatssozialistische 
Richtung,  zumal  seit  der  in  diesem  Stücke  dissentirende 
grosse  Hamburger  Verein  (34  700  Mitglieder ')  im  August 
1892  seinen  Austritt  angemeldet  hat.  " Dem  Verband  ge- 
hörten an:  1889  19  Vereine,  1890  31,  1891  57,  jetzt  73  Ver- 
eine mit  77  323  Mitgliedern,  ohne  den  Hamburger  Verein 
42  617.  Wieviele  von  ihnen  Comptoiristen,  wieviele  Ver- 
käufer sind,  ist  nie  festgestellt  worden.  Etwa  >/4  der  Mit- 
glieder sind  Prinzipale. 

ln  No.  6 dieses  Blattes  ist  schon  in  Kürze  mitgetheilt 
worden,  dass  der  V erband  zur  Vorbereitung  einer  Versiche- 
rung gegen  Stellenlosigkeit  eine  Statistik  seiner  arbeitslosen 
Mitglieder  in  Angriff  genommen  hat. 

Die  Betheiligung  an  der  Statistik  ist  für  jeden  Ver- 
bandsverein fakultativ.  Der  Verband  will  bei  dieser 
Gelegenheit  erproben,  wieviel  Mühe  er  seinen  Mitgliedern 
zumuthen  darf:  eine  sehr  gesunde  Garantie  gegen  unzuver- 
lässige Beantwortung,  ein  Vorzug  gegenüber  der  polizei- 
lichen Zwangsenquete.  Das  Interesse  für  die  Statistik  wird 
durch  den  Zweck  der  projektirten  Versicherung  belebt: 
abermals  ein  Vorzug  der  Vereinsstatistik. 

Die  Betheiligung  haben  abgefeimt  von  grösseren  Ver- 
einen: Berlin  (Verein  junger  Kaufleute)  und  Württemberg, 
letzteres  mit  der  Motivirung,  in  Württemberg  komme 
Stellenlosigkeit  fast  nie  vor.  Auch  im  östlichen  Deutsch- 
land ist  die  Betheiligung  gering.  Im  Uebrigen  aber  ist  das 
Resultat  ein  ausserordentlich  günstiges.  Auch  Hamburg  hat 
sich  noch  einmal  betheiligt;  ferner  ein  kleinerer  Berliner 
Verein,  die  V ereine  Frankfurt,  Mannheim,  München,  Köln, 
Elberfeld,  Pforzheim,  Augsburg,  Offenbach  a.  M.,  Würzburg, 
Kassel,  Mainz,  Plauen,  Herford,  Görlitz,  Krimmitschau, 
Zwickau,  Strassburg  i.  E.,  Bremen,  mit  zusammen  4440  In- 
di vidual-Frägeblättern . Ein  grosser  Theil  dieser  Blätter  soll 
bereits,  korrekt  ausgefüllt,  in  diesem  Augenblicke  wieder  an 
die  Vereine  zurückgeliefert  sein. 

Der  Leipziger  „VerbandDeutscher  Handlungsgehilfen“, 
dei  mit  seinen  mehr  als  32  000  Mitgliedern2)  nicht  zum 
Deutschen  V erbande  Kaufmännischer  V ereine  gehört,  hat 
leider  sich  zu  einer  ergänzenden  Statistik  nicht  entschlossen, 

1 Nach  neuerer  Zählung  38  000. 

, ...  a>  Von  all  diesen  Mitgliederzahlen  sind  nur  etwa  3 4 Ge- 

hilten,  die  übrigen  Prinzipale  und  Ehrenmitglieder. 


so  wenig  wie  der  Schweizer  Verband.  Dagegen  erfahre 
ich  soeben,  dass  der  Wiener  Kaufmännische  Verein  2000 
Frageblätter,  betreffend  Versicherung  gegen  Stellenlosig- 
keit, ausgesandt  hat;  anscheinend  handelt  es  sich  jedoch 
dabei  um  eine  Arbeitslosenstatistik  nicht. 

Der  modus  procedendi  war  folgender.  Am  31.  August 
wurde  der  „Verbands-Fragebogen“  an  alle  Verbandsvereine 
geschickt,  um  später  von  den  empfangenden  Vereinen  auf 
Grund  der  Individual -Frageblätter  ausgefüllt  zu  werden. 
Von  diesen  Individual-Frageblättern  sollte  jeder  Verein  die 
für  ihn  erforderliche  Zahl  verlangen,  um  sie  an  die  ihm 
bekannten  stellenlosen  Mitglieder  weiterzugeben.  Das 
Fragenschema  ist  inzwischen  erweitert,  der  Fragebogen 
durch  einen  neuen  ersetzt  worden. 

Es  war  anfangs  beabsichtigt,  die  Erhebung  auf  den 
Quartalsschluss  zu  konzentriren.  Eine  Umfrage  ergab 
jedoch,  dass  in  diesem  Falle  die  Zahl  der  Beantwortungen 
ungenügend  ausgefallen  wäre,  so  dass  man  sich  entschloss, 
die  Aussendung  der  Frageblätter  an  die  stellenlosen  Indi- 
viduen auf  den  Zeitraum  vom  I.  Oktober  bis  zum  23.  No- 
vember auszudehnen.  Man  wird  also  nicht  die  Zahl  der 
Stellenlosen  eines  Augenblicks,  sondern  die  — grössere  - 
Zahl  der  Stellenlosen  aus  acht  Wochen  erhalten.  Vom 

1.  bis  14.  Dezember  soll  jeder  Verein  seine  Individualblätter 
für  den  „Verbands-Fragebogen“  statistisch  verarbeiten  und 
am  15.  Dezember  an  den  Verbands  Vorstand  mitsammt  den 
Individualblättern  schicken. 

Ein  naheliegender  Einwurf  gegen  jede  solche  Vereins- 
statistik lautet:  sie  bleioe  fragmentarisch,  weil  der  Verein 
nur  die  Elite  der  Fachgenossen  umfasse.  Das  Gegentheil 
ist  der  Fall.  Nur  die  Arbeitsscheuen,  an  deren  Zählung 
nichts  liegt,  bleiben  dem  Verein  fern;  die  andern  Stellen- 
wechsler suchen  mit  Vorliebe  diejenigen  Vereine  auf,  die 
Stellenvermittlung  treiben;  ja  sie  treten  mehreren  Vereinen 
zugleich  bei.  Aus  diesem  Grunde  erstreckt  z.  B.  der  Ham- 
burger Verein  seine  Mitgliedschaften  weit  über  Hamburg 
hinaus1).  Auch  von  den  andern  Verbandsvereinen  betreibt 
ein  Theil  Stellenvermittlung;  dal  aber,  wie  es  scheint,  nicht 
alle  diese  dem  „Stellenvermittlungsbunde“  angehören,  der 
sich  innerhalb  des  Verbands  gebildet  hat,  so  ist  es  möglich, 
dass  manche  Mitglieder  sogar  mehreren  Verbands  vereinen 
zugleich  angehören. 

Die  erste  Frage  des  Fragebogens  will  diesen  Sach- 
verhalt feststellen;  mit  ihrer  Beantwortung  ist  zugleich  ein 
Kontrollmittel  für  die  Zuverlässigkeit  der  Antworten  über- 
haupt gegeben,  nämlich  in  Gestalt  der  beim  Verbandsvor- 
stande  zusammenlaufenden  Individualfragebogen.  Diese 
letzteren  dienen  zwar  zunächst  nur  zur  Kontrolle  der  Ver- 
bandsfragebogen; sie  sollten  aber  sodann  sämmtlich  alpha- 
betisch zusammengelegt  werden,  so  dass  die  Bogen  des- 
jenigen Stellenlosen,  der  mehreren  Vereinen  angehört,  zu- 
sammengerathen.  Nach  Massgabe  dieser  Doppelzählungen 
sind  zunächst  die  statistischen  Summen  zu  berichtigen;  es 
bleibt  aber  dann  zu  kontrolliren : 1.  ob  die  mehrfachen  Ver- 
einsmitglieder ihre  verschiedenen  Mitgliedschaften  durch- 
gängig deklarirt  haben  (Zuverlässigkeitskontrolle);  und 

2.  ob  diejenigen,  die  mehrere  Vereinsmitgliedschaften  de- 
klarirt haben,  auch  mit  ebenso  viel  Fragebogen  vertreten 
sind  ( Vollständigkeitskontrolle). 

Aus  einem  ähnlichen  Grunde  wäre  es  angezeigt,  wenn 
der  Verband  seine  Zweigvereine  anhielte,  ein  Verzeichniss 
derjenigen  Stellenlosen  mit  einzureichen,  die  den  ihnen 
zugesandten  Fragebogen  nicht  zurückgeschickt  haben. 

Manche  Vereine  dürften  sich  ihrer  Stellenvermitte- 
lungslisten bedient  haben,  um  zu  erfahren,  welche  von 
ihren  Mitgliedern  stellenlos  seien.  Damit  mag  es  Zusam- 
menhängen, dass  mit  der  Zählung  der  Stellenlosen  eine 
Zählung  der  Stellenbewerber  verbunden  worden  ist,  die 
sich  zur  Zeit  noch  in  Stellung  befinden  und  also  möglicher- 
weise überhaupt  nicht  stellungslos  werden.  Leber  diese, 
sehr  zahlreiche  Kategorie  ist  von  jedem  Verein  eine  be- 
sondere Zusammenstellung  dem  Verbandsvorstand  einzu- 

l)  Im  September  1892  befanden  sich  von  38  000  Mitgliedern 
nur  13 — 16  000  in  Hamburg. 


82 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  7. 


senden.  Es  leuchtet  sofort  ein,  dass  eine  solche  Statistik 
des  Stellen  Wechsels  (mit  den  noch  zu  bezeichnenden,  für 
Stellenlose  und  Stellenwechsler  identischen  Spezialfragen) 
die  Statistik  der  Stellenlosigkeit  zweckmässig  ergänzt.  Der 
Vergleich  beider  statistischen  Aufnahmen  wird  gewisse  ver- 
schwiegene Ersuchen  der  Stellenlosigkeit  erkennen  lassen. 

Gehen  wir  auf  den  weiteren  Inhalt  des  Fragebogens 
ein,  so  fehlt  von  den  durch  A.  Braun  vorgeschlagenen 
Fragen  die  nach  Frau  und  Kindern  und  deren  Erwerb, 
offenbar,  weil  die  Handlungsgehilfen  meist  unverheirathet 
sind.  Es  wäre  das  im  vorliegenden  Falle  kein  so  grosser 
Mangel,  wenn  eine  allgemeine  Frage  nach  den  Subsistenz- 
mitteln an  die  Stelle  getreten  wäre.  Es  ist  ferner  leider 
auch  nicht  gefragt,  ob  „die  Fortdauer  der  Arbeitslosigkeit 
durch  Krankheit  verursacht“  sei. 

Dagegen  wird  nach  dem  Lebensalter  und  nach  der 
Dauer  der  Arbeitslosigkeit  in  Liebereinstimmung  mit 
A.  Braun  gefragt.  Es  kommen  hinzu  die  Fragen  nach  dem 
letzten  Salair,  nach  dem  Charakter  und  der  Dauer  der 
letzten  Stellung,  nach  Zahl  und  Dauer  früherer  Arbeits- 
losigkeiten, nach  dem  Urheber  der  Kündigung  und  nach 
dem  Kündigungsgrunde  („Reduktion  des  Geschäftsperso- 
nals? Auflösung  des  Geschäfts?  Konkurs  des  Geschäftsin- 
habers? Ihre  Erkrankung?  Ersatz  der  Gehilfen  durch  den 
ältesten  Lehrling?  Meinungsverschiedenheiten  zwischen 
l’rinzipal  und  Ihnen?  Um  mehr  Gehalt  zu  beziehen?  Um 
die  Kenntnisse  zu  vermehren?  Um  das  Geschäftsleben  an- 
derer Städte  und  anderer  Länder  kennen  zu  lernen?  W eil 
nicht  für  die  Stellung  geeignet?  u.  s.  w.u),  nach  der  stipu- 
lirten  Kündigungsfrist  und  deren  Einhaltung,  sowie  nach 
dem  Grunde  der  Nichteinhaltung,  nach  der  etwa  er- 
folgten Ablehnung  einer  angebotenen  Stelle  und  nach 
dem  Grunde  der  Ablehnung.  Es  wird  ferner  gefragt,  ob  die 
Stellenlosigkeit  unmittelbar  auf  die  Lehrzeit  gefolgt  sei, 
also  auf  sogenannter  Lehrlingszüchtung  beruhe.  Die 
meisten  dieser  Fragen  bezwecken  den  Grund  der  Stellen- 
losigkeit zu  eruiren.  Auch  die  Frage  nach  der  Kündigungs- 
frist kann  dazu  dienen,  da  eine  allgemeine  Verbandsstatistik 
über  Kündigungsfristen  (1891  i schon  vorliegt.  Sollte  es  sich 
lif^r ausstellen,  dass  die  Kündigungsfrist  der  Stellungslosen 
erheblich  kürzer  war  als  beim  Durchschnitt  der  Handlungs- 
gehilfen, so  würde  das  zu  weiteren  Folgerungen  Anlass  geben. 

Einige  Xebenfragen  betreffen  das  Versicherungspro- 
jekt u.  s.  w.  und  können  hier  übergangen  werden. 

Die  Formulirung  der  Fragebogen  ist  bis  auf  Einzel- 
heiten wohlgelungen.  Die  Untertheilung  einiger  Fragen, 
bei  denen  es  sich  nur  um  Niederschrift  einer  Zahl  handelt,  wie 
bei  der  Frage  nach  dem  Alter,  scheint  mir  überflüssig.  Die 
Form  der  von  den  Vereinen  auszufüllenden  Bogen  ist  nicht 
ganz  unmissverständlich.  Aber  vortrefflich  ist  die  bei  einigen 
Fragen  hinzugefügte  Motivirung  und  auch  die  Angabe  des 
Namens  in  Form  der  Lhrterschrift  scheint  mir  sehr  zweck- 
mässig. 

III. 

Ich  habe  diese  statistische  Veranstaltung  so  detaillirt 
besprochen,  weil  sie  beinahe  die  einzige  in  ihrer  Art  ist, 
denn  die  bezüglichen  Statistiken  der  Saisongewerbe  ge- 
hören nicht  hierher  — , und  weil  ich  die  spezifischen  Vor- 
züge der  Vereinsstatistik  charakterisiren  wollte.  Ich  meine 
auch,  dass  die  Mittheilung  manchem  Gewerkschaftsfreunde 
willkommen  sein  werde.  Ich  möchte  zur  Ergänzung  noch 
einige  Bemerkungen  über  andere  Arten  gewerkschaftlicher 
Arbeitslosenstatistik  hinzufügen. 

Zunächst  sei  darauf  hingewiesen,  dass  eine  weitere  Aus- 
bildung der  gewerkschaftlichen  Stellen  Vermittelung  eine 
sehr  billige  fortlaufende  Arbeitslosenunterstützung  ermög- 
lichen würde.  Es  ist  gegenüber  dem  Projekte  einer  centrali- 
sirten  Stellenvermittelung  aus  Kreisen  der  Handlungs- 
gehilfenvereine kürzlich  eingewendet  worden,  dass  die 
Konkurrenz  auch  auf  diesem  Gebiete  ihr  Gutes  habe. 
Aber  wenn  die  vorhandenen  Vermittlungsstellen  einer 
Branche  eine  gemeinsame  statistische  Centralstelle  ein- 
richteten und  einheitliche  Bewerbungsformulare  einführten, 
auf  denen  zugleich  die  für  unsern  Zweck  relevanten  Fragen 


zu  beantworten  wären,  so  würde  auch  ohne  Centralisation 
der  Stellenvermittelung  eine  umfassende  und  billige  Statistik 
gewonnen  werden. 

Es  sei  bei  dieser  Gelegenheit  gewarnt  vor  einem  Miss- 
brauch der  Stellenvermittelungsstatistik.  Der  Ueberschuss 
der  Stellen  bewerbet  über  die  Zahl  der  nachgewiesenen 
Stellungen  ergiebt  nicht  die  Zahl  der  Arbeitslosen ; denn 
viele  vergebliche  Stellenbewerber  werden  überhaupt  nicht 
arbeitslos,  ganz  abgesehen  von  den  häutigen  Doppelbewer- 
bungen. Aus  Anlass  einer  neuerlichen  Behauptung  in  der 
Presse,  die  von  150  000  arbeitslosen  deutschen  Handlungs- 
gehilfen fabelte,  theilt  das  „Hamburger  Vereinsblatt“  vom 
14.  Oktober  1892  die  Stellenvermittelungsstatistik  des  mehr- 
erwähnten Hamburger  Vereins  für  18  Monate  mit.  Hier- 
nach sind  von  den  etwa  3000  Bewerbern,  die  sich  allmonat- 
lich melden,  regelmässig  nur  etwa  23  pCt.  ausser  Stellung, 
wobei  noch  diejenigen  als  stellungslos  bezeichnet  sind,  die 
es  erst  am  Monatsschluss  werden. 

Eine  andere  Handhabe  der  gewerkschaftlichen  Statistik 
bildet  die  regelmässige  Arbeitslosenunterstützung.  Auf 
dieser  Basis  ruht  die  Arbeitslosenstatistik  der  englischen 
Gewerkvereine,  von  der  Baernreither  im  Archiv  für  soziale 
Gesetzgebung,  1,  43  ff.  eine  Probe  mitgetheilt  hat.  Um  eine 
Vorstellung  von  dieser  Statistik  zu  geben,  lasse  ich  die 
Zahlen  der  7 Gewerk  vereine,  die  Baernreither  für  1866 — 86 
zur  Mittheilung  ausgewählt  hat,  für  1887 — 90  hier  folgen, 
und  zwar  zuerst  den  Prozentsatz  der  arbeitslosen  Mitglieder, 
dann  die  ganze  Mitgliederzahl.  M 


Jahr 

Maschinen- 

Tischler 

und 

Dampf- 

maschinen- 

Eisen- 

bauer 

Zimmer  - 
leute 

bauer 

giesser 

1887  . . 

6,3 

5,8 

5,8 

10,0 

1888  . . 

4,2 

5,5 

2,6 

5,6 

1889  . . 

1,9 

3,2 

0,93 

1,8 

1890  . . 

1,6 

1.9 

0,67 

2,4 

1887  . . 

51  869 

25  497 

5 080 

11718  i 

1890  . . 

67  928 

30  693 

5 822 

14  821 

Jahr 

Kessel- 
schmiede 
und  Schiffs- 
bauer 

Londoner 

Setzer 

Schottische 

Grob- 

schmiede 

1887  . . . 

16,2 

10,5 

12,7 

1888  . . . 

7,8 

11,3 

5,0 

1889  . . . 

2 2 

10,0 

2,5 

1890  . . . 

3A 

8,8 

2.5 

1887  . . . 

25  100 

7 025 

1 628 

1890  . . . 

32  926 

8910 

2 300 

Zu  dieser  Tabelle  ist  zu  bemerken, 

dass  sie  nicht 

den 

Prozentsatz 

der  Arbeitslosen  eines  | 

ahres  ausdrückt, 

wie 

Baernreither 

irrthümlich 

annimmt,  sondern  für  jedes 

Jahr 

den  durchs 

chnittlichen 

Prozentsatz 

eines  Monats. 

Die  hohen  Prozentsätze  bei  den  Londoner  Setzern  aber, 
um  deren  Deutung  Baernreither  sich  bemühte,  rühren  daher, 
dass  sie  ausnahmsweise  sich  nicht  auf  den  Zeitraum  eines 
Monats,  sondern  eines  Vierteljahres  beziehen. 

Diese  englische  Statistik  leidet  aber  an  drei  Mängeln. 

1.  Es  werden  diejenigen  Arbeitslosen  nicht  gezählt,  die 
keine  Unterstützung  erhalten,  z.  B.  weil  die  Zeit,  für  die 
sie  den  Anspruch  auf  Unterstützung  haben,  abgelaufen  ist. 

2.  Die  meisten  Gewerkschaften  unterscheiden  nicht  zwischen 
Arbeitslosigkeit  und  Strike.  3.  Den  obigen  Prozentzahlen 
liegt  für  jeden  Monat  die  Zahl  sämmtlicher  Arbeitslosen  zu 
Grunde,  gleichviel  ob  der  Einzelne  eine  Woche  oder  den 
ganzen  Monat  arbeitslos  gewesen  ist.  Man  ist  also  aut  eine 
sehr  prekäre  Durchschnittsschätzung  angewiesen,  um 
rationellere  Prozentzahlen  herauszurechnen. 

Auch  die  Beträge  der  Arbeitslosenunterstützung 
dieselben  sind  veröffentlicht  — geben  für  eine  richtige  Be- 
rechnung keine  Handhabe,  weil  sie  den  arbeitslosen  Zeit- 
räumen nicht  proportional  sind;  der  Anspruch  aut  Unter- 
stützung variirt  nämlich  mit  der  Dauer  der  Arbeitslosigkeit 
oder  mit  der  Ancicnnität  des  Mitglieds.  Wir  brauchen  viel- 

x)  Statistical  Tables  and  Report  on  Trade  Unions.  Fourth 
Report.  London  1891.  Das  635  Folioseiten  umfassende  Werk 
giebt  die  Statistik  einer  sehr  viel  grösseren  Zahl  von  Gewerk- 
vereinen, als  der  Baernreither  vorliegende  Jahrgang. 


No.  7. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


83 


mehr  neben  der  Zahl  der  arbeitslosen  Personen  die  Zahl 
der  arbeitslosen  Tage,  für  welche  l nterstützung  gezahlt 
ist,  und  wo  möglich  eine  Schätzung  der  arbeitslosen  Tage, 
für  welche  keine  Unterstützung  gezahlt  wurde. 

Die  deutschen  Buchdrucker  unterscheiden  bei 
ihrer  Arbeitslosenstatistik,  die  1880  beginnt,  zwischen  Strike, 
Arbeitslosigkeit  und  Wanderschaft;  sie  geben  aber  nur  den 
Betrag  der  jährlichen  Unterstützung  an,  nicht  auch  die 
Zahl  Tier  Empfänger.  Da  indess  die  Arbeitslosenunter- 
stützung, sobald  sie  überhaupt  gezahlt  wird,  für  jeden  Em- 
pfänger die  gleiche  ist,  so  haben  auch  jene  Beträge  ihren 
Werth.  Dagegen  erhebt  sich  gegen  sie  ein  neues  Bedenken : 
es  ist  offenbar  nicht  immer  zwischen  Arbeitslosigkeits-, 
Reise-  und  Strikeunterstützung  unterschieden  worden;  das 
ergieht  ein  Blick  auf  die  folgende  Tabelle.1) 


Strike- 

Arbeitslosen- 

Reise- 

fahr 

l Interstützung; 

Unterstützung 

Unterstlitzung 

M. 

M. 

M. 

1880 

9590 

16  806 

52’500 

1881 

1605 

14156 

64*974 

1882 

9035 

24  619 

114651 

1883 

22  024 

28  532 

132  191 

1884 

34  252 

34  832 

125  584 

1885 

18  355 

35  763 

107  081 

1880 

21  874 

56  448 

92  237 

1887 

266 i 44 

130661 

147  416 

1888 

26  282 

76  687 

83  496 

1889 

17  664 

56512 

62  421 

1890 

39  514 

56  394 

86  190 

1891 

835  680 

51  333 

90  483 

Man  sieht;  der  Wege  sind  viele,  aber  sie  müssen  alle 
erst  chaussirt  werden,  ehe  man  auf  ihnen  nach  Rom  fahren 
kann. 

Berlin.  K.  Oldenberg. 


Nachtarbeit  der  Frauen  in  sächsischen  Appretur- 
anstalten. Die  neue  Gewerbeordnung  verhindert  bekannt- 
lich eine  Beschäftigung  der  Fabrikarbeiterinnen  zur  Nacht- 
zeit und  führt  einen  elfstündigen  Maximalarbeitstag  für  die- 
selben ein  i§  137  . Um  diesen  Arbeiterschutz  theil weise  zu 
beseitigen,  haben  eine  grössere  Anzahl  Appreturanstalten 
von  Plauen  und  Umgebung  jetzt  an  den  Bundesrath  eine 
Petition  gerichtet,  dass  ihnen  gestattet  werde,  in  der  Jahres- 
zeit vom  1.  Januar  bis  31.  Mai  ihre  Arbeiterinnen  täglich 
bis  zu  13  Stunden  zu  beschäftigen  Der  plauener  Stadt- 
rath hat  beschlossen,  sich  dieser  Petition  anzuschliessen 
und  dieselbe  der  Kreishauptmannschaft  befürwortend  vor- 
zulegen. Nun  war  aber  die  Ausnutzung  der  Arbeiterinnen 
gerade  im  Bezirke  Plauen  bis  jetzt  eine  so  weitgehende, 
dass  eine  Beibehaltung  der  neuen  Schutzvorschriften  drin- 
gend zu  wünschen  wäre.  Von  14  153  erwachsenen  Arbeite- 
rinnen des  Bezirks  Plauen  sind  nach  dem  Jahresbericht  für 
1891  des  dortigen  Fabrikinspektors  allein  11093  in  der 
1 extilindustrie  beschäftigt  gewesen,  und  die  Appreturan- 
stalten nehmen  eine  hervorragende  Stellung  innerhall)  dieser 
industrie  ein.  Der  Aufsichtsbeamte  von  Plauen  stellt  in 
seinem  Bericht  ausdrücklich  fest,  dass  in  einer  grossen 
Appreturanstalt  die  Arbeiterinnen  an  42  ‘ragen  des  Jahres 
bis  9 Uhr,  an  22  bis  10  Uhr,  an  38  bis  I I Uhr,  an  8 Tagen 
sogar  bis  12  Uhr  Nachts  und  an  2 Tagen  bis  Sonntag 
früh  6 l hr  beschäftigt  wurden,  dass  eine  längere  als  ein- 
stündige  Mittagspause  an  Arbeiterinnen  leider  nicht  im 
wünschenswerthen  Masse  gewährt  werde  und  dass  sich, 
,,um  die  Nachtarbeit  weiblicher  Arbeiter  in  Wegfall  zu 
bringen,“  lediglich  „eine  Vergrösserung  oder  Vermehrung 
der  Spannsäle  durch  Neu-  oder  Umbau  erforderlich  macht.“ 
I nter  diesen  Umständen  steht  wohl  zu  hoffen,  dass  der 
Bundesrath  die  Appreturanstalten  mit  ihrer  Eingabe  ab- 
weist und  ihnen  nicht  durch  Gestattung  von  Ausnahmen 
dazu  behilflich  ist,  auf  Kosten  der  Gesundheit  ihrer  Arbeite- 
rinnen an  Betriebskosten  zu  sparen. 

')  Ich  theile  dieselbe  mit  nach  dem  „Korrespondent“  vom 
20.  Mai  1891  und  nach  dem  letzten  „Rechenschaftsbericht“, 
nicht  nach  den  etwas  abweichenden  Zahlen,  die  Auerbach  in 
den  Schriften  des  Vereins  für  Sozialpolitik  XLV,  425  veröffent- 
licht hat.  lieber  anderweitige  Arbeitslosen  Statistik  des  Buch- 
druckerverbandes und  anderer  deutscher  Gewerkschaften  ver- 
gleiche Lux:  Sozialpolitisches  Handbuch  (Berlin  1892).  S.  29-  32. 


Zur  Arbeitslosigkeit  in  Deutschland  Aeusserungen  über 
die  Zusammensetzung  der  grossen  Mengen  Arbeitsloser,  welche 
sich  in  Deutschland  befinden,  enthält  der  Bericht  des  Vereins 
zur  Beschäftigung  Arbeitsloser  für  das  Grossherzogthum  Hessen 
und  die  Provinz  Hessen-Nassau  (für  das  Rechnungsjahr  1891/92  , 
der  kürzlich  erschienen  ist  und  sich  durch  seine  unbefangene 
Betrachtungsweise  auszeichnet.  Aus  den  Erfahrungen  der 
Arbeiterkolonie  Neu-Ulrichstein  wird  mitgetheilt:  „Bezüglich 

des  Betragens  der  Leute  (der  verpflegten  309  Arbeitslosen)  im 
ganzen  Betriebsjahre  kann  die  Verwaltung  sehr  zufrieden  sein. 
Ungehörigkeiten  u.  dergl,  sind  so  selten  vorgekommen,  dass  sie 
nicht  verdienen,  einzeln  erwähnt  zu  werden;  es  haben  überhaupt 
bessere  Leute  den  Schutz  der  Kolonie  in  Anspruch  genommen. 
- die  rohen  heruntergekommenen  Zureisenden  fürchten  nicht 
allein  die  Strenge  der  Hausordnung,  sondern  wohl  vor  Allem 
die  Heranziehung  zu  fleissigem  Arbeiten  und  bleiben  daher  der 
Kolonie  fern.  Zu  bedauern  ist  allerdings,  dass  verhältnissmässig 
viele  junge,  kaum  dem  Knabenalter  entwachsene  Burschen  auf- 
genommen  werden  müssen,  für  diese  wäre  vor  Allem  eine 
tüchtige  Lehrstelle  die  rechte  Schule.“  Auf  die  Schwierigkeit, 
für  einmal  Arbeitslose  eine  neue  Brotstellung  zu  erlangen, 
wirft  sodann  folgende  Stelle  des  Berichts  ein  helles  Licht:  „Es 
wird  dem  Fernerstehenden  auffallen,  dass  durch  die  Verwaltung 
der  Kolonie  sowie  durch  eigenes  Bemühen  ein  so  geringer 
Prozentsatz  der  Abgegangenen  in  feste  Stellung  getreten  ist, 
jedoch  wird  wiederholt  darauf  hingewiesen,  dass  nur  solche 
Leute  warm  empfohlen  werden,  von  denen  vorausgesetzt  wird, 
dass  sie  nicht  allein  den  zu  übernehmenden  Verpflichtungen  ge- 
wachsen sind,  sondern  auch,  dass  sie  durch  ihre  moralische 
Führung  die  Garantie  bieten,  in  ihrer  Stellung  auszuharren. 
Ferner  ist  darauf  hinzuweisen,  dass  gar  viele  von  den  Aufge- 
nommenen nicht  mehr  den  heutigen  Ansprüchen  in  ihren  resp. 
Erwerbszweigen  nachkommen  können,  andererseits  werden  da- 
gegen gar  selten  von  der  Kolonie  Kaufleute,  Schreiber  etc.  ge- 
wünscht und  hält  es  sehr  schwer,  dieselben,  selbst  bei  den 
wärmsten  Empfehlungen,  in  Stellen  unter  den  bescheidensten 
Ansprüchen  zu  bringen.  Landwirthschaftliche  Arbeiter  werden 
allerdings  sehr  viel  bei  uns  verlangt;  die  Kolonie  giebt  sich 
auch  alle  erdenkliche  Mühe,  Leute  entsprechenden  Alters,  welche 
irgend  Lust  und  Liebe  dazu  zeigen,  in  der  Landwirthschaft 
auszubilden,  um  solche  demnächst  einem  dauernden  Broterwerb 
zuzuführen.“ 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Ausstaud  der  Bauimvollspinner  in  Lancashire.  In  der 

grösseren  Zahl  der  Baumwollspinnereien  von  Lancashire 
ist  die  lange  bevorstehende  Arbeitssperre  erklärt  worden. 
Wie  wir  bereits  in  No  4 des  Sozialpolitischen  Centralblatts 
mittheilten,  handelt  es  sich  um  eine  fünfprozentige  Lohn- 
herabsetzung , in  welche  die  Arbeiter  einzuwilligen  sich 
weigern,  da,  wie  die  Nationalzeitung  bemerkt,  ihrer  nicht  un- 
logischen Behauptung  nach  die  von  den  Fabrikanten  als 
Grund  der  Verringerung-  angegebene  Ueberfüllung  der 
Lager  durch  eine  so  geringfügige  Preiserniedrigung  nicht 
beseitigt  werde.  Sie  behaupten  im  Gegentheil,  dass  die 
jetzt  geforderte  Verminderung  der  Löhne  nur  die  erste 
einer  Reihe  ähnlicher  Forderungen  sein  werde.  Auf  der 
andern  Seite  erklären  sie  sich  bereit,  falls  es  wirklich  auf 
eine  Räumung  der  Vorräthe  abgesehen  sei,  nur  „kurze  Zeit“ 
arbeiten  zu  wollen.  In  diesem  Vorschläge  sehen  indessen 
die  Arbeitgeber  wiederum  nur  einen  Versuch,  den  Acht- 
stundentag durch  eine  Hinterthür  in  den  Spinnereien  ein- 
zubürgern.  Und  da  beide  Parteien  gut  organisirt  und  mit 
Mitteln  wohlversehen  sind,  hat  keine  nachgegeben.  Man 
erwartet  jedoch  schon  jetzt,  dass  die  Besitzer  von  etwa 
8 Millionen  Spindeln  aus  insgesammt  20  Millionen,  die  zu 
dem  Fabrikantenbunde  gehören , weiter  arbeiten  lassen 
werden,  obwohl  sie  in  diesem  Falle  wöchentlich  pro  Spindel 
zwei  Pfennig  Strafe  an  die  Vereinskasse  entrichten  müssen. 
Da  die  Vorräthe  doch  wohl  in  ein  paar  Wochen  gehörig 
geräumt  sein  werden,  wird  auch  der  Widerstand  der  durch 
ihr  Zusammenhalten  niemals  berühmten  Fabrikanten  bald 
erlahmen.  Die  Arbeitervereine  haben  Mittel  genug  in  der 
Hand,  ihre  Mitglieder  für  einige  Wochen  ausreichend  zu 
unterstützen. 

Achtstündiger  Arbeitstag  im  Londoner  Baugewerbe. 
Arbeiter  und  Unternehmer  im  Londoner  Baugewerbe  haben 
sich,  wie  schon  gemeldet  wurde,  über  eine  neue  Arbeits- 
ordnung geeinigt,  die  thatsächlich  der  Einführung  des 
Achtstundentages  gleichkommt.  Während  der  14  Winter- 


84 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  7. 


wochen  ist  die  Arbeitszeit  auf  44- 1 bis  47  Stunden  die 

Woche  festgesetzt  worden,  wobei  die  kürzeste  Arbeit 
während  der  Monate  Dezember  und  Januar  verrichtet  wird. 
In  den  übrig  bleibenden  38  Wochen  soll  50  Stunden  die 
Woche  gearbeitet  werden,  so  dass  die  mittlere  Arbeitszeit 
auf  das  Jahr  berechnet  48  Stunden  die  Woche  ergiebt.  Die 
Arbeiter  erleiden  durch  diese  Verkürzung  ihrer  Arbeitszeit 
keinen  Lohnverlust,  da  die  Unternehmer  eine  Lohnauf- 
besserung von  '/,  Pence  die  Stunde  zugestanden  haben. 


nach  übereinstimmenden,  bei  der  gestrigen  Verhandlung 
vereinbarten  Grundsätzen  ausgeführt  werden.  Auf  den 
preussischen  und  den  sächsischen  Staatseisenbahnen  sind 
derartige  Vorarbeiten  bereits  im  Gange. 


Arbeiterversicherung. 


Schweizerischer  Griitliverein.  Mit  grosser  Mehrheit 
hat  der  schweizerische  Griitliverein  zum  Redakteur  des 
Yereinsorgans  Grossrath  Mettier  gewählt.  Mit  ihm  konkur- 
rirte  ernstlich  nur  Seidel,  der  Redakteur  der  sozialistischen 
„Arbeiterstimme“.  Die  Wahl  hat  insofern  grosse  Bedeutung 
und  wird  deswegen  von  der  schweizerischen  Presse  viel- 
fach kommentirt,  weil  Mettier  mehr  Sozialreformer  als  aus- 
gesprochener Sozialist  ist  und  daher  das  Yereinsorgan  un- 
abhängiger von  der  sozialdemokratischen  Partei  leiten  wird. 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Sozialistischer  Weltkongress.  In  seiner  Sitzung  vom 
3.  November  hat  das  schweizerische  Exekutivkomitee  für 
den  internationalen  Sozialistenkongress  die  Abhaltung  des- 
selben auf  Anfang  August  nächsten  Jahres  festgesetzt. 

Schweizerischer  sozialdemokratischer  Parteitag.  Die 

Delegirtenversammlung,  die  in  Solothurn  am  5.  und  6.  No- 
vember tagte,  hat  folgendes  Initiativbegehren  beschlossen: 

1 . Das  Recht  auf  hinreichend  belohnte,  passende  A-rbeit  ist 
jedem  Schweizerbürger  gewährleistet. 

2.  Die  Gesetzgebung  der  Kantone,  des  Bundes  und  der 
Gemeinden  hat  diesem  Grundsätze  in  jeder  Weise  Gel- 
tung zu  verschaffen,  insbesondere  sollen  diesbezügliche 
gesetzliche  Bestimmungen  getroffen  werden : 

a)  zum  Zwecke  genügender  Fürsorge  für  Arbeitsgelegen- 
heit; b)  für  wirksamen  öffentlichen  Arbeitsnachweis;  c)  für 
den  Schutz  der  Arbeiter  und  Angestellten  gegen  ungerecht- 
fertigte Entlassung  und  Arbeitsentziehung;  d)  für  unbe- 
hinderte Bildung  von  Arbeiterverbänden  und  ungehinderten 
Beitritt  zu  denselben  zum  Schutze  der  Interessen  der  Ar- 
beiter gegenüber  ihren  Arbeitgebern;  e)  für  Begründung 
und  Sicherung  einer  öffentlichen  Rechtsstellung  der  Arbeiter 
in  Fabriken  und  ähnlichen  Geschäften  durch  demokratische 
Organisation  derselben;  f)  für  sichere  und  ausreichende 
Unterstützung  unverschuldeter,  ganz  oder  theilweise  Arbeits- 
loser durch  Arbeitslosenversicherung  etc. 

Ferner  beschloss  die  Yersammlung  Ergreifung  der 
Initiative  für  Einführung  der  Proportionalvertretung,  der 
Yerstaatlichung  der  Eisenbahnen  durch  Expropriation  und 
des  staatlichen  Getreilfehandels. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Sonntagsruhe  im  deutschen  Eisenbahn-Güterverkehr. 

Am  4.  d.  M.  hat  im  Reichs- Eisenbahnamt,  wie  wir  dem 
Reichsanzeiger  entnehmen,  eine  kommissarische  Verhand- 
lung  stattgefunden,  um  über  die  Frage  der  Sonntagsruhe 
im  Eisenbahn -Güterverkehr  zu  berathen.  Zeitraubende 
Erhebungen  über  den  bisherigen  Zustand  waren  voraus- 
gegangen. Vertreter  der  Regierungen  von  Preussen,  Bayern, 
Sachsen , Württemberg , Baden , Hessen,  Mecklenburg- 
Schwerin  und  Oldenburg,  sowie  des  .Senats  von  Lübeck 
nahmen  an  der  Verhandlung  theil.  Allseitig  wurde  als  er- 
wünscht anerkannt,  dass  den  Eisenbahn-Beamten  und 
-Arbeitern  eine  ausgiebigere  Sonntagsruhe  gewährt  werde; 
indess  schien  es  erforderlich,  zunächst  durch  eingehende 
Ermittelungen  festzustellen,  ob  und  unter  welchen  Voraus- 
setzungen eine  Einstellung  des  Güterverkehrs  an  Sonn-  und 
Festtagen  durchführbar  sei.  Diese  Ermittelungen  sollen 


Verband  der  deutschen  Gewerkvereinskrankenkassen. 

1 )ie  Krankenkassen  der  deutschen  Gewerkvereine  haben  in 
ihrer  grossen  Mehrzahl  trotz  der  Beschränkungen  der 
Krankenkassennovelle  doch  ihre  Vollberechtigung  zu  er- 
halten beschlossen.  Bekanntlich  sind  dieselben  dadurch  be- 
lastet worden,  dass  es  ihnen  versagt  worden  ist,  statt  der 
Gewährung  von  Arzt  und  Arznei  selbst  eine  entsprechende 
Geldentschädigung  zu  zahlen.  Um  nun  die  neue  Last 
leichter  tragen  zu  können,  ist  gemäss  einem  Vorschläge 
des  Verbandsanwalts  Dr.  Max  Hirsch  in  einer  Versammlung 
mehrerer  Hilfskassen  in  Berlin  die  Gründung  eines  Ver- 
bandes der  deutschen  Gewerkvereinshilfskassen  beschlossen 
worden.  Demselben  sind  zunächst  die  versammelten  zehn 
nationalen  Hilfskassen  mit  über  500  örtlichen  Verwaltungs- 
stellen und  22  500  Mitgliedern  in  allen  Gegenden  Deutsch- 
lands beigetreten.  Der  Verband  bezweckt  nach  § 1 des 
Statuts  I . die  Aufrechterhaltung  eines  Kartellverhältnisses 
zwischen  den  betheiligten  Hillskassen  zur  Erleichterung 
des  Uebertritts  von  Mitgliedern;  2.  die  Abschliessung  ge- 
meinsamer Verträge  mit  Aerzten,  Apotheken,  Kranken- 
häusern und  Lieferanten  von  Heilmitteln  und  anderen  Be- 
dürfnissen der  Krankenpflege;  3.  sonstige  Förderung  und 
Vertretung  gemeinsamer  Rechte  und  Interessen  der  be- 
theiligten  Hilfskassen.  Der  Sitz  des  Verbandes  ist  in  Berlin. 


Wartezeit  für  Altersrenten.  Ueber  die  Wartezeit  zur 
Erlangung  einer  Altersrente  für  Versicherte,  die  am  1.  Januar  1891 
das  7Ö.  Lebensjahr  noch  nicht  vollendet  hatten,  hat  das  Reichs-  , 
versicherungsamt  folgende  Grundsätze  aufgestellt:  Zunächst  , 

ist  festzustellen,  um  wie  viele  Lebensjahre  und  überschiessende 
volle  Wochen  das  Lebensalter  des  Versicherten  am  1.  Januar  1891 
das  vollendete  vierzigste  Lebensjahr  überstiegen  hat.  Dem- 
nächst ist  die  so  gewonnene  Zahl  von  Jahren  und  Wochen  von 
dreissig  Jahren  in  Abzug  zu  bringen,  wobei  stets  das  Jahr  als  i 

ein  Beitragsjahr,  gleich  47  Wochen,  gerechnet  wird.  Die 
Differenz  stellt  an  Beitragsjahren  und  Beitragswochen  die  Warte- 
zeit dar,  welche  nach  dem  Inkrafttreten  des  Gesetzes  jedenfalls  ; 
noch  erfüllt  werden  muss.  Die  sämmtlichen  bis  zum  thatsäch- 
liehen  Beginn  der  Rentenzahlung  entrichteten  Beiträge,  auch  j 
die  nicht  zum  Nachweis  der  Erfüllung  der  Wartezeit  erforder- 
lichen tiberschiessenden  müssen  bei  der  Berechnung  der  Rente  ; 
in  Ansatz  gebracht  werden,  da  alle  bis  zum  Beginn  der  Renten- 
zahlung entrichteten  Beiträge  bei  Festsetzung  der  Rente  zu  be- 
rücksichtigen sind.  Wenn  ein  Rentenbewerber  einen  Theil  der 
bei  der  Rentenberechnung  in  Betracht  kommenden  1410  Wochen 
in  der  vorgesetzlichen  Zeit,  den  anderen  nach  dem  I.  Januar  1891 
erfüllt  hat,  so  sind  aus  der  vorgesetzlichen  Zeit  nur  so  viele 
Wochen  in  Anrechnung  zu  bringen,  als  es  zur  Ergänzung  der 
in  die  Zeit  nach  dem  Inkrafttreten  des  Gesetzes  fallenden  Zahl 
bedarf.  Für  Versicherte,  welche  erst  im  Jahre  1891  das  71.  Lebens- 
jahr vollendet  haben,  ist  der  Grundsatz'  ausgesprochen  worden, 
dass  der  Renten bewerber  zur  Erlangung  der  Altersrente  ausser 
der  vorgesetzlichen  Beschäftigung  nichts  weiter  nachzuweisen 
hat,  als  dass  er  die  nach  dieser  Gesetzesvorschrift  erforderliche 
Wartezeit  vollendet  hat:  mit  der  Erfüllung  dieser  Wartezeit  und 
der  Zurücklegung  des  70.  Lebensjahres  ist  der  Anspruch  auf 
Altersrente  erworben,  und  es  setzt  die  Zubilligung  der  Alters- 
rente nicht  voraus,  dass  der  „Versicherte“  noch  nach  Vollendung 
des  70.  Lebensjahres  eine  versicherungspflichtige  Beschäftigung 
ausgeübt  haben  müsse. 


Arbeiteruufallversicherungsanstalt  für  Niederösterreich, 
ln  der  Zeit  vom  1. — 31.  Oktober  1892  wurden  bei  der  Arbeiter- 
unfallversicherungsanstalt für  Niederösterreich  696  seit  1.  Januar 
5968  Unfälle  angemeldet,  welche  sich  auf  die  einzelnen  Betriebs- 
kategorien wie  folgt  vertheilen:  Land-  und  forstwirthschaftliche 
Betriebe  57.  Mühlen  59,  Eisenbahnen  5,  Hüttenwerke  und  deren 
Nebenbetriebe  146,  Gewinnung  und  Verarbeitung  von  Steinen 
und  Erden  254,  Metallverarbeitung  840,  Erzeugung  von  Maschinen, 
Werkzeugen,  Instrumenten  und  Apparaten  1494,  chemische  In- 
dustrie 138,  Erzeugung  von  Heiz-  und  Leuchtstoffen  etc.  231, 
Textilindustrie  358,  Erzeugung  von  Papier,  Leder  und  Gummi 
277,  Verarbeitung  von  Holz-  und  Schnitzstoffen  258,  Erzeugung 
von  Nahrungs-  und  Genussmitteln  388,  Bekleidung  und  Reini- 
gung 50,  Baugewerbe  1323,  pol vgraphische  Gewerbe  90  Unfälle. 
Die  Unfälle  ereigneten  sich  bei  Motoren  in  20,  bei  Trans- 
missionen in  69,  Bei  Arbeitsmaschinen  in  11%,  bei  Fahrstühlen, 


No.  7. 


SOCI Al. POLITISCHES  CENTRALBLATT. 


85 


Aufzügen,  Krahnen  und  Hebezeugen  in  105,  bei  Dampfkesseln. 
Dampfleitungen  und  Dampfkochapparaten  (Explosion  und 
Anderes)  in  8,  durch  Explosion  von  Sprengstoffen  (Pulver, 
Dynamit  etc.)  in  17,  durch  feuergefährliche,  giftige,  heisse  und 
ätzende  Stoffe  etc.,  Gase  und  Dämpfe  etc.  in  469,  durch  Zu- 
sammenbruch, Herab-  und  Umfallen  von  Gegenständen  in  979, 
durch  Fall  von  Leitern,  Gerüsten,  Stiegen,  in  Vertiefungen  etc 
in  708,  bei  Auf-  und  Abladen,  Heben  und  Tragen  in  494,  bei 
Fahren  und  Reiten,  Schleppgeleisen,  Werksbahnen  etc.  (Ueber- 
fahren,  Schlag,  Biss  von  Tlneren  etc.)  in  303,  bei  Gebrauch  von 
Handwerkszeugen  und  einfachen  Geräthen  (Hämmer,  Aexte, 
Spaten,  Hacken  etc.)  in  577,  bei  sonstigen  Arbeitsverrichtungen 
in  1023  Fällen.  Die  Verletzungen  betrafen:  Kopf  und  Gesicht 
in  291,  Augen  in  293,  Arme  und  Hände  in  934,  Finger  in  1787, 
Beine  und  Füsse  in  1247,  andere  oder  mehrere  Körpertheile  zu- 
sammen in  872,  innerliche  Verletzungen  in  72  Fällen.  Tod  durch 
Erstickung  kam  in  8,  durch  Ertrinken  in  9 und  sonstige  Ver- 
letzungen kamen  in  455  Fällen  vor. 

Zur  Altersversorgung  in  <ler  Schweiz.  Behufs  Ein- 
führung- der  obligatorischen  Altersversicherung  wurde  dem 
Grossen  Rath  des  Kantons  Neuenburg  vom  Grossrath 
Renaud  ähnlich  wie  vor  Kurzem  vom  Arbeitervertreter 
Thiebaud  im  Grossen  Rath  von  Genf  der  Antrag  gestellt, 
es  solle  bei  der  Geburt  eines  jeden  Menschen  zum  Zwecke 
der  Altersversorgung  eine  bestimmte  Summe,  z.  B.  lOFrcs. 
von  den  Eltern,  oder  falls  diese  zu  arm  sind,  vom  Staate 
einbezahlt  werden.  Diese  Summe  wäre  auf  Zinseszins  zu 
legen  und  zur  Ausbezahlung  einer  Rente  vom  55.  Alters- 
jahr  an  zu  verwenden.  Da  nur  ein  Bruchtheil  sämmtlicher 
Betheiligten  das  60.  Altersjahr  erreicht,  so  wird  den  Ueber- 
lebenden  eine  ziemlich  grosse  Rente  ausbezahlt  werden 
können,  weil  denselben  auch  die  Guthaben  der  inzwischen 
Verstorbenen  zufallen.  Der  Antrag  wurde  von  zwei  Mit- 
gliedern der  Regierung  begrüsst  und  hierauf  der  letzteren  zur 
näheren  Prüfung  und  Begutachtung  überwiesen. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung 

Städtische  Wohiiungseiiquefe.  Aus  Anlass  der  Cholera- 
gefahr sind  deutsche  Städte  mehrfach  auf  die  in  ihren 
Mauern  vorhandenen  Wohnungsmissstände  aufmerksam  ge- 
worden. So  beschloss  der  Magistrat  von  Würz  bürg  in 
seiner  Sitzung  vom  25.  v.  Mts.,  im  Sinne  einer  Eingabe  des 
Miethervereins,  die  Veranstaltung  einer  Enquete  über  die 
hiesigen  Wohnungsverhältnisse  (Wasserversorgung,  Ent- 
wässerung, Aborte  und  Pissoiranlagen,  sowie  deren  Venti- 
lation, feuchte  Keller  und  feuchte  Wände,  Ueberfüllung 
von  Wohnungen,  Verkehr  mit  Nahrungsmitteln  etc.)  zu 
veranstalten.  Die  Bildung  von  38  Kommissionen,  an  deren 
Spitze  der  Professor  der  Hygiene  Dr.  Lehmann  und  Bezirks- 
arzt  Dr.  Röder  stehen,  ist  beantragt.  In  Schweinfurt 
freilich  scheinen  sich  die  städtischen  Behörden  weniger  um 
die  wichtige  Frage  zu  kümmern.  Dort  wird  eine  Enquete 
über  die  Wohnungsverhältnisse  der  Arbeiter  vom  sozial- 
demokratischen Wahlverein  mittelst  Fragebogen  veran- 
staltet. Das  Material  wird  aber  der  Schweinfurter  Sanitäts- 
kommission zur  Verwerthung  übergeben  werden.  Zu  Wien 
endlich  berichtete  in  der  Sitzung  des  Stadtrathes  vom 
21.  v.  Mts.  Bürgermeister  Dr.  Prix  über  die  Thätigkeit  der 
magistratischen  Bezirksämter  zur  Abwendung  der  Cholera- 
gefahr während  der  Zeit  vom  Juli  bis  Oktober  laufenden 
Jahres.  Nach  dieser  Zusammenstellung  wurden  in  sämmt- 
lichen  19  Bezirken  während  des  angegebenen  Zeitraumes 
6973  Anzeigen  über  sanitäre  Gebrechen  erstattet,  3853 
sanitätspolizeiliche  Erhebungen  vorgenommen,  6015  sanitäts- 
polizeiliche Autträge  hinausgegeben  und  1535  Strafer- 
kenntnisse  gefällt.  Es  w-äre  sehr  zu  wünschen,  dass  sich 
diese  Bewegung  auf  alle  Behörden  der  namhafteren  Städte 
mit  Arbeiterbevölkerung  erstreckte. 

Wohnungskolonien  für  prcussisehe  Staatsbiihnarbeiter. 
Nicht  so  ablehnend,  wie  die  Arbeiter  in  Posen  (vergl.  No.  4 des 
Sozialpolitischen  Centralblatts,  II.  Jahrg.  S.  48),  haben  sich  die- 
jenigen von  Saarbrücken  gegenüber  den  Plänen  der  preussi- 
schen  Staatsbahnverwaltung,  Arbeiterkolonien  zu  errichten,  ver- 
halten. Am  15.  Oktober  d.  Js  fand  im  Verwaltungsgebäude  des 
Saarbrücker  Eisenbahnbetriebsamts  eine  gut  besuchte  Versamm- 
lung von  Arbeitern,  sowie  Beamten  der  Eisenbahnhauptwerk stätte 


statt.  DerVorsteher  der  Hauptwerk  stätte  wies  auf  den  herrschenden 
Mangel  an  Arbeiterwohnungen  hin  und  auf  die  dafür  zu  zahlenden 
sehr  hohen  Miethen,  welche  für  die  Arbeiter  oft  unerschwinglich 
seien.  Er  sei  deshalb  beauftragt  worden,  eine  Baugenossen- 
schaft ins  Leben  zu  rufen,  welche  den  Zweck  habe,  vorerst  ein 
Kapital  anzusammeln,  um  sodann  mit  demselben  Grund  und 
Boden  zu  erwerben,  auf  welchem  Arbeiterhäuser  gebaut  werden 
sollen.  Die  zu  gründende  Baugenossenschaft  solle  nach  dem 
Muster  des  hannoverschen  Spar-  und  Bauvereins  ge- 
bildet werden.  Bei  derselben  könne  jeder  Beamte  und  Arbeiter 
(auch  sonstige  Handwerker,  Arbeiter  und  Gewerbetreibend.  , 
welche  nicht  auf  der  Eisenbahn  beschäftigt  sind)  Mitglied  werden. 
Nothwendig  sei  aber  eine  Einlage  von  30  M.,  die  nicht  auf  ein 
mal,  sondern  auch  nach  und  nach  gezahlt  werden  kann.  Grössere 
Beiträge  bis  zu  300  M werden  angenommen  und  sollen  die  ge- 
zahlten Beträge  mit  4 pCt  verzinst  werden.  Die  zu  erbauenefen 
Wohnhäuser  würden  vorerst  von  Mitgliedern  der  Genossenschaft 
gegen  mässige  Miethe  bezogen,  jedoch  auch  an  Nichtmitglieder 
vermiethet  werden,  sobald  freie  Wohnungen  vorhanden  sind. 
Des  Ferneren  wurde  noch  bekannt  gegeben,  dass,  wenn  die  zu 
gründende  Genossenschaft  erst  einmal  Baustellen  erworben  resp. 
Häuser  erbaut  haben  würde,  jedenfalls  auch  die  Verwaltung  der 
Eisenbahn-Pensions-  und  Krankenkasse  ein  grösseres  Kapital 
gegen  mässigen  Zinsfuss  und  hypothekarische  Sicherheit  zur 
Verfügung  stellen  würde.  Die  Ausführungen  fanden  bei  den 
Anwesenden  Anklang  und  erklärten  sich  die  meisten  derselben 
bereit,  der  zu  gründenden  Baugenossenschaft  als  Mitglied  bei- 
zutreten. Es  wurden  sodann  noch  Zeichnungen  von  Arbeiter- 
häusern vertheilt.  Der  Preis  für  eine  Wohnung  von  3 Räumen 
nebst  kleinerem  Nebengelass  soll  sich  höchstens  auf  180  M.  jähr- 
lich belaufen.  In  Aussicht  ist  genommen,  dass  schon  im  nächsten 
Jahre  6 Arbefferhäuser  erbaut  werden.  In  einer  nochmaligen 
Versammlung  soll  bereits  über  die  Statuten  berathen  werden. 

Vorschriften  über  das  Schlafgängerwesen  in  Braun- 
scliweig.  Der  braunschweigische  Kreisausschuss,  welcher 
am  25.  v.  Mts.  in  Helmstedt  tagte,  berieth  u.  a.  den  Erlass 
von  Vorschriften  über  das  Schlafgängerwesen  und  über  die 
Unterbringung  von  Arbeitern  in  Arbeiterkasernen.  Danach 
muss  die  Höhe  der  Schlafräume  für  Schlafgänger  mindestens 
2 m betragen  und  auf  jeden  Schlafgänger  ein  Luftraum 
von  10  cbm  und  ein  Bodenraum  von  3 qm  kommen;  jeder 
Schlafgänger  hat  ein  Bett  für  sich  zu  erhalten  und  das 
Aufbewahren  von  leicht  in  Fäulniss  übergehenden  Gegen- 
ständen in  Schlafräumen  ist  verboten.  In  Bezug  auf  die 
Arbeiterkasernen  wird  bestimmt,  dass  bei  Neubauten  die 
Höhe  der  Räume,  wenn  mehr  als  10  Personen  in  einem 
Raume  sich  befinden,  2,75  m betragen  muss;  bereits  vor- 
handene Gebäude  dürfen  zu  diesem  Zwecke  nur  benutzt 
werden,  wenn  sie  mindestens  2,3  m hoch  und,  falls  sie 
weniger  als  zehn  Personen  haben,  mindestens  2 m hoch 
sind.  Der  Luftraum  soll  für  jede  Person  9 cbm  und,  wenn 
sich  die  Arbeiter  auch  ausser  der  Schlafzeit  darin  aufhalten, 
12  cbm  betragen.  Das  Schlafen  mehrerer  Personen  auf 
einer  Lagerstätte  ist  unstatthaft. 


Gewerbegerichte. 

Die  Gewerbegerichte  in  Brünn.  Zwei  von  den  weni- 
gen in  Oesterreich  bestehenden  Gewerbegerichten  haben 
ihren  Sitz  in  Brünn  und  zwar  die  Gewerbegerichte  für 
die  Brünner  Textil-  und  Metallindustrie.  Im  Jahre 
1891  wurden  bei  ersterem  125  Klagen  eingereicht,  von 
denen  bloss  6 durch  Urtheil  entschieden  wurden,  83  wurden 
durch  Vergleichsverhandlungen  aussergerichtlich  entschie- 
den, während  35  noch  vor  Abhaltung  der  Vergleichstag- 
sitzung zurückgezogen  oder  zurückgenommen  wurden. 
41  Klagen  betrafen  Lohnstreitigkeiten,  27  Streitigkeiten 
über  die  Auflösung  des  Dienst-,  Arbeits-  oder  Lehrver- 
hältnisses, 56  Streitigkeiten  über  Ersatzansprüche  wegen 
Austrittes  oder  Entlassung  aus  der  Arbeit. 

Die  Zahl  der  beim  Gewerbegerichte  für  die  Metall- 
industrie eingereichten  Klagen  betrug  nur  20,  von  denen 
6 vor  der  Vergleichsverhandlung  zurückgezogen,  10  in  der 
Vergleichsverhandlung  und  4 durch  Urtheil  entschieden 
wurden.  12  Fälle  betrafen  Lohnstreitigkeiten,  6 Streitig- 
keiten über  die  Kündigung.  Ueber  den  langsamen  Gang 
der  Vermittlungsthätigkeit  wird  geklagt. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


86 


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unb  ihre  Stellung  in  ber  tnobenten 
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roegifdiev  ©taatäratl)  a.  2).  Verarbeitet  unb 
berauögegeben  Don  Julius  SScrner,  eoang. 
Vfarrer.  (VI 11  imb  208  ©eiten.»  3n  Äalb« 
leberpapier  brofef)-  2 geb.  2 9Jif-  75  fpf- 
keine  neue  Sßarteifcfyrift,  fonbern  ein  Don 
jroei  tüchtigen  ©ojialpolitifevn  fjevrüfyrenöeä 
Vud),  bao  fid)  bie  gviinbltcpe  Stufflävung  über 
bie  ©ejd)icf)te  unb  bae  SSefeit  ber  „ A rauen 
frage"  int  ganzen  Umfange,  foroie  bie  (Stjarafterb 
finnig  ber  iKedjte  unb  ipffidjten  ber  grau  Dom 
fo3iabchriftltd)en  ©tanbpunfte  aus  3111-  Stuf* 
gäbe  maept,  feffelnb  unb  gemeinDerftänblid)  ge= 
fdjrieben. 


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Herausgegeben 

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XIII.  Jahrgang.  Preis  vierteljährlich  7 Mark.  Erscheint  jeden  Sonnabend. 

Zu  beziehen  durch  alle  Buchhandlungen  und  Postanstalten. 


Die  Deutsche  Litteraturzeitung  erblickt  ihren  eigenthümlichen  Beruf  darin, 
vom  Standpunkt  der  deutschen  Wissenschaft  aus  eine  kritische  Ueb ersieht  über 
das  gesammte  litterarische  Leben  der  Gegenwart  zu  bieten.  Sie  sucht  im 
Unterschied  von  den  Fachzeitschriften  allen  denen  entgegenzukommen,  welchen  es 
Bedürfniss  ist,  nicht  nur  mit  den  Fortschritten  ihres  Faches,  sondern  auch  mit  der 
Entwickelung  der  übrigen  Wissenschaften  und  mit  den  hervorragenden  Leistungen 
(.ler  schönen  Litteratur  vertraut  zu  bleiben. 

In  ihren  Mittheilungen  bringt  die  Deutsche  Litteraturzeitung  eine  U ebersicht 
über  den  Inhalt  in-  und  ausländischer  Zeitschriften,  wie  sie  in  dieser  Reich- 
haltigkeit sonst  nirgends  geboten  wird,  ferner  ständige  Berichte  über  die  Thätigkeit 
gelehrter  Gesellschaften,  Nachrichten  über  wissenschaftliche  Entdeckungen  und  litte- 
rarische Unternehmungen,  Personalnotizen  und  Vorlesungsverzeichnisse. 

Durch  die  Unterzeichnung  aller  Besprechungen  mit  dem  vollen  Namen  des 
Referenten  bietet  die  Deutsche  Litteraturzeitung  die  Gewähr  einer  gediegenen 
und  würdigen  Kritik. 


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uom  15.  Juni  1888, 
in  beritt  ffungber9?t>»e!Ie  Pont  10.2Tpril  1892 
unb  bte  bajfclbe  ergäitäenöen 
reid)§red)tlicf)en  SSeftimmungen. 
5Wtt  Einleitung  unb  Erläuterungen 

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Dom  15-  Suiii  1883, 

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Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil:  O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  21.  November  1892. 


Nummer  8. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


Zur  Diskussion  der  Frage  der 
Arbeitslosenstatistik.  Von 
Dr.  Adolf  Braun. 

Soziale  Wirtschaftspolitik  u. 
Wirtlischaftsstatistik: 

Eine  Enquete  über  die  Wirkungen 
des  Gemeindegrundbesitzes  auf 
die  Gemeindefinanzen.  Von 
Adolf  Damaschke. 

Das  Alter  der  eheschliessenden 
Personen  von  Dr.  H.  Lux. 

Die  Ausdehnung  des  städtischen 
Gewerbebetriebes  in  Preussen. 

Sozialreformatorische  Forderungen 
der  liberalen  Unionisten  in  Eng- 
land. 

Arbeite  rzustände : 

Die  Reichskommission  für  Arbeiter- 
statistik in  sozialdemokratischer 
Beurtheilung. 

Sozialstatistische  Erhebungen  in 
Baden. 


Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Zur  Entwickelung  der  Gewerk- 
schaftsbewegung in  Oester- 
reich. 

Kongress  der  österreichischen 
Buchdrucker. 

Politische  Arbeiterbewegung : 

Der  Parteitag  der  deutschen  Sozial- 
demokratie. 

Arbeiterversicherung: 

Kostspieligkeit  der  berufsgenossen- 
schaftlichen Unfallversicherung. 

Ausdehnung  der  Krank. -nversiche- 
rungspflicht  auf  Handlungsge- 
hilfen. 

Wohnungszustände : 

Beförderung  von  Stadterweiterun- 
gen in  Preussen. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Zur  Diskussion  der  Frage  der  Arbeitslosen- 
statistik. 

Mischler  erinnert  in  seinem  soeben  erschienenen  Hand- 
buche der  Verwaltungsstatistik  (Stuttgart  1892,  I.  Band 
S.  323)  daran,  dass  gleich  bei  Gründung  der  internationalen 
Arbeiterassoziation  im  § 5 der  Generalstatuten  und  auf  dem 
zu  Genf  im  Jahre  1866  abgehaltenen  Kongresse  derselben 
die  Nothwendigkeit  einer  allerwärts  durchzuführenden  Sta- 
tistik der  Arbeiterverhältnisse  betont  wurde. 

Das  dritte  Jahrzehnt  ist  seitdem  fast  verflossen,  die 
grossartig  gedachte  aber  damals  nicht  durchführbare  Zu- 
sammenfassung der  Kräfte  des  Proletariats  aller  Länder  hat 
sich  zwar  nicht  in  dem  Rahmen  der  internationalen  Arbeiter- 
assoziation aber  dennoch  im  Sinne  ihres  Gründers  zu  ver- 
wirklichen begonnen;  dies  gilt  für  das  Prinzip,  allerdings 
aber  nicht  für  die  Einzelnheiten  des  Programmes,  unter  An- 
derem  auch  nicht  tür  die  Ausführung  jenes  § 5.  An  mannig- 
fachen Anläuten  hierzu  freilich  fehlt  es  gerade  in  der  letzten 
Zeit  nicht.  Das  französische  Arbeitersekretariat  z.  B.  hat 
unlängst  Erhebungen  über  die  Arbeitslosigkeit  versucht 
vgl.  Sozialpolitisches  Centralblatt  I,  S.  432  f.).  Dieser  Ver- 


| such  mit  ganz  ungenügenden  Mitteln  ohne  genügende  Be- 
schränkung auf  das  durch  die  private  Statistik  Erfassbare 
unternommen,  muss  als  Kraftverschwendung  bedauert 
werden. 

Das  gleiche  dürfte  wohl  nicht  gesagt  werden  können 
von  den  gegenwärtig  in  Berlin  gemachten  Vorarbeiten, 
die  Arbeitslosigkeit  in  Berlin  zu  erheben. 

Als  der  Artikel  des  Herrn  Dr.  Karl  Oldenberg  „Ein  Bei- 
trag zur  Arbeitslosenstatistik“  (vgl.  Sozialpolitisches  Central- 
blatt, II.  Jahrgang  No.  7)  gedruckt  wurde,  hatten  sich  die 
in  der  berliner  Strikekontrollkommission  vereinigten  Ge- 
werkschaften eben  für  die  Aufnahme  einer  Arbeitslosen- 
statistik auf  Grundlage  der  von  mir  formulirten  Vorschläge 
entschieden  und  den  gleichen  Beschluss  der  berliner 
Vertrauensmänner  der  sozialdemokratischen  Partei  gutge- 
heissen. Damit  sind,  ganz  abgesehen  von  der  moralischen 
Unterstützung,  die  erforderlichen  Geldmittel  und  frei- 
willigen Zähler  bewilligt,  und  Oldenbergs  Meinung,  dass 
die  ablehnende  Haltung  des  „Vorwärts“  die  Durchführung 
des  Projektes  verhindern  wird,  durch  die  Thatsachen  als 
unbegründet  erwiesen. 

Aus  einer  wohl  zu  geringen  Kenntniss  der  Stärken- 
verhältnisse innerhalb  der  berliner  Arbeiterschaft  erklärt 
sich  die  Vermuthung  Oldenberg’s,  dass  die  „unabhängigen 
Sozialisten“  der  Aufnahme  Schwierigkeiten  in  den  Weg 
legen  dürften.  Die  Zahl  derselben  ist  erstens  sehr  gering, 
zweitens  würden  unseres  Erachtens  nach,  selbst  wenn 
die  Führer  sich  gegen  den  Plan  aussprechen  würden,  die 
Mitglieder  der  „unabhängigen  Partei“  denselben  in  dieser 
Frage  keine  Gefolgschaft  leisten.  Wir  zweifeln  auch 
nicht  an  der  Unterstützung  der  ausserhalb  des  sozialis- 
tischen Parteiverbandes  stehenden  Arbeitslosen  ihrer 
überwiegenden  Mehrzahl  nach,  besonders  wenn  in  ent- 
sprechender Weise  auf  die  Bedeutung  der  Aufnahme  recht- 
zeitig aufmerksam  gemacht  würde,  da  an  der  Klarstellung 
des  Umfanges  der  Arbeitslosigkeit  die  Arbeiter  jeder  Rich- 
tung interessirt  sind,  und  an  der  Verdunkelung  dieser 
Verhältnisse  ihren  Klassengenossen  gegenüber  kaum  irgend 
ein  nennenswerther  Bruchtheil  von  Arbeitern  Veranlassung 
haben  dürfte.  Soweit  dies  aber  der  Fall  wäre,  dürften 
es  kaum  politische  Motive  sein,  sondern  Abgestumpftheit, 
allgemeine  Verbitterung,  Pessimismus,  Verzweiflung,  die 
durch  lange  Arbeitslosigkeit  veranlasst,  selbst  die  Energie, 
die  Fragekarte  auszufüllen,  gebrochen  haben.  Unter 
diesen  Einschränkungen  geben  wir  aber  Oldenberg 
recht,  dass  jede  Arbeitslosenstatistik  sich  mit  der  Kon- 
statirung  einer  geringeren  Zahl  von  Arbeitslosen  be- 
gnügen wird  müssen,  als  thatsächlich  vorhanden  sind.  Da 
wir  aber  die  Differenz  der  thatsächlichen  und  der  nach- 


88 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  8. 


weisbaren  Arbeitslosigkeit  verhältnissmässig  gering  taxiren, 
so  scheint  uns  keine  Veranlassung  vorzuliegen,  von  der 
Durchführung  des  Projektes  abzustehen. 

An  der  Ausführung  einer  Arbeitslosenstatistik  für 
Berlin  und  die  angrenzenden  Orte  (Charlotten  bürg, 
Schöneberg,  Rixdorf  etc.)  kann  kaum  noch  gezweifelt 
werden,  ausserdem  sind  in  Dresden,  Köln  a.  Rh.,  Breslau, 
Mannheim,  Fürth  i.  B.  und  vielleicht  noch  in  anderen  Orten 
ähnliche  Erhebungen  in  Aussicht  genommen,  deshalb  sei 
nochmals  an  die  Sozialstatistiker  appellirt,  sich  über  die 
Erhebungsform  zu  äussern.  Dies  müsste  aber  möglichst 
bald  geschehen,  da  mit  den  Vorbereitungen,  so  auch  mit 
der  definitiven  Feststellung  des  Fragebogens  in  Kürze  be- 
gonnen werden  muss. 

Der  Termin  für  die  Erhebung  ist  noch  nicht  fest- 
gesetzt, doch  scheint  allgemein  die  dritte  Januarwoche 
als  der  geeignetste  Zeitpunkt  angesehen  zu  werden,  wenn 
auch  eine  Reihe  von  Gründen  sich  für  einen  späteren  Zeit- 
punkt ins  Feld  führen  lassen.  Die  Zeit  bis  Weihnachten; 
für  die  meisten  Gewerbe  die  Zeit  der  stärksten  Saison,  ist 
deshalb  für  unsere  Zwecke  ungeeignet.  Aufnahmen  in  den 
letzten  und  den  beiden  ersten  Jahreswochen  würden  wegen 
der  zu  jener  Zeit  fast  allgemein  stattfindenden  Inventuren 
mit  gleichzeitiger  Arbeitseinstellung  abnorme,  mit  Recht 
als  tendenziös  zu  verwerfende  Resultate  ergeben.  Spätere 
Termine  wie  Wochen  im  Februar  würden  nicht  nur  hohe 
Arbeitslosenzahlen,  sondern  auch  den  Nachweis  langandau- 
ernder Arbeitslosigkeit  ergeben;  gegen  die  Wahl  dieser 
sonst  sehr  geeigneten  Zeit  spricht  aber  das  Bedürfniss 
der  Interessenten,  die  Resultate  der  Erhebung  zu  einer  Zeit 
verwerthen  zu  können,  in  der  die  Arbeitslosigkeit  noch 
herrscht  und  durch  die  Ergebnisse  eine  Einwirkung  auf 
Staat  und  Gemeinde  bei  Angriffnahme  von  Nothstands- 
arbeiten  und  dergleichen  noch  erzielt  werden  kann.  Des- 
halb dürfte  an  der  dritten  Januarwoche  festgehalten  werden, 
welche  es  ermöglichen  dürfte,  schon  in  den  ersten  Tagen 
des  Februar  die  Gesammtzahl  der  Arbeitslosen  und  ihre 
Vertheilung  auf  die  einzelnen  Berufe  zu  publiziren.  Damit 
wird  auch  weniger  die  abgeschlossene,  als  die  erst  be- 
ginnende Arbeitslosigkeit  erhoben. 

Was  nun  das  Fragenschema  selbst  anlangt,  sind  viele 
Wünsche  laut  geworden;  wir  wollen  nur  diejenigen  hier 
einer  Besprechung  unterziehen,  welche  nicht  vom  Stand- 
punkte der  Durchführbarkeit  der  Erhebung  und  wegen  der 
Gefahr  tendenziöser  Entstellung  a limine  abzuweisen  sind. 

Vor  Allem  erscheint  uns  der  Vorschlag  Oldenberg’s, 
jeden  Arbeitslosen  zu  fragen,  bei  wem  er  zuletzt  in  Arbeit 
gestanden  hat,  aller  Erwägung  werth.  Ist  es  auch  unmög- 
lich, jede  Angabe  zu  kontrolliren,  so  wird  doch  allein  die 
Erkenntniss,  dass  die  Daten  kontrollirt  werden  könnten,  die 
Ausfüller  des  Fragebogens  zu  wahrheitsgemässer  Antwort 
veranlassen.  Aus  dem  Fragebogen  des  Verbandes  deut- 
scher Handlungsgehilfen  lässt  sich  meines  Erachtens  für 
die  ins  Auge  gefasste  Statistik  nicht  viel  entnehmen.  Der 
Fragebogen  leidet,  abgesehen  von  dem  Zuschnitte  auf  die 
speziellen  Verhältnisse  der  Handlungsgehilfen,  an  allzugrosser 
Länge  und  Komplicirtheit.  Unsere  Statistik  darf  im  Inter- 
esse der  leichten  Ausfüllung  der  Fragekarten  und  der 
raschen  Publizirung  der  Resultate  nur  die  unbedingt  noth- 
wendigen  Fragen  und  zwar  nur  in  einer  jede  Unklarheit  und 
jedes  Missverständniss  ausschliessenden  Form  enthalten. 

Der  Kürze  wegen  will  ich  den  Fragebogen  mit  den 
mir  persönlich  gemachten,  beachtenswerthen  Vorschlägen 
und  einigen  von  mir  selbst  für  nothwendig  angesehenen 
Aenderungen  hier  nochmals  zum  Abdruck  bringen,  und 
zwar  der  besseren  Veranschaulichung  wegen,  schon  mit 
Beantwortung  versehen. 


1.  Wohnung:  N.  Müllerstrasse  168. 

2.  Vor-  und  Zunahme:  Wilhelm  Müller. 

3.  Alter:  SSVa  Jahre. 

4.  Gelernter  Beruf1 2):  Töpfer. 

5.  Art  der  letzten  Beschäftigung:  Arbeiter  in  einer  Ilolzbe- 
arbeitungsanstalt. 

6.  Bei  wem  zuletzt  in  Arbeit  gestanden:  Fabrik  von  F.  W. 
Schulze,  Chausseestrasse. 

7.  Ledig  oder  verheirathet*):  Verheirathet a): 

8.  Seit  wann  arbeitslos:  28.  November  1892. 

9.  Wodurch  ist  die  Arbeitslosigkeit  verursacht,  durch  Krank- 
heit, Inventur,  Kündigung,  Strike  oder :*) 

Kündigung a). 

10.  Sind  Sie  jetzt  nur  einen  Theil  der  sonst  in  Ihrem  Gewerbe 

üblichen  Zeit  beschäftigt? Und  zwar  wie  viel 

Tage  in  der  Woche? Wie  viel  Stunden  im 

Tage  weniger  als  sonst3)**]? 

11.  Trägt  die  Frau  im  Allgemeinen  und  wodurch  zum  Llnter- 
halt  der  Familie  bei:  Ja,  als  Wäscherin. 

12.  Hat  sie  jetzt  hierzu  Gelegenheit:  Ja. 


) Name 
unter 

der  Kinder 
14  Jahren 

Alter  j 

Art  der 
Beschäftigung 

Jetzt  be- 
schäftigt 

Fritz  . 

13 Jahre 

Laufbursche 

Ja 

Karl  . 

10  „ 

Zeitung  s austräq  er 

Ja 

Emilie 

Sl/a  „ 

Gebäckausträger 

Ja 

14.  Andere  zu  unterstützende  Personen  (Vater,  Mutter,  Ver- 
wandte,   ):  69 jähriger  Vater. 

Berlin  N.,  Müllerstrasse  125. 

16.  Januar  1893.  Karl  Peters.  V 

*)  Das  nicht  Zutreffende  ist  zu  durchstreichen. 

**)  Wenn  Frage  8 beantwortet  ist,  ist  Frage  10  quer  zu 
durchstreichen. 

Vielfach  wurde  gewünscht,  die  Dauer  der  Arbeitslosig- 
keit während  des  der  Zählung  vorangegangenen  Jahres  zu 
konstatiren  und  zwar  sollten  die  Angaben  über  die  Arbeits-  ' 
losigkeit  für  jeden  Monat  gemacht  werden.  Eine  solche 
Frage  empfiehlt  sich  nicht,  weil  sie  von  den  wenigsten 
präcise  beantwortet  werden  dürfte. 

Das  Interesse  für  die  Arbeitslosenstatistik  ist  im  ganzen 
Reiche  ein  reges.  So  erfreulich  dies  als  Zeichen  des  Eifers  i 
der  Arbeiterklasse,  ihre  thatsächliche  Lage  zu  erforschen, 
ist,  so  entschieden  wollen  wir  warnen,  ohne  genügende  Vor-  ' 
bereitung,  ohne  die  Sicherheit  statistisch-technisch  richtiger 
Verarbeitung  und  ohne  Klarheit  über  die  nicht  unbeträcht- 
lichen Kosten  Erhebungen  über  die  Arbeitslosigkeit  in  An- 
griff zu  nehmen.  Am  besten  hätte  es  mir  geschienen,  wenn 
man  in  einer  Stadt  einen  wohl  vorbereiteten  Versuch  in 
diesem  Winter  gemacht  und  erst  nach  dem  Ergebnisse 
desselben  im  folgenden  Winter  für  andere  Städte  Er- 
hebungen über  die  Arbeitslosigkeit  vorbereitet  hätte.  Schon 
die  grossen,  bei  ungenügender  Vorbereitung  fruchtlos  auf- 
gewandten Kosten  sollten  zur  Vorsicht  mahnen.  Wird  auch 
sehr  viele  Arbeit  freiwillig  geleistet,  so  werden  für  eine 
Stadt  mit  100  000  Einwohnern  und  bei  der  Annahme,  dass 
4000  Fragebogen  zu  verarbeiten  sind,  die  Auslagen  sich 
kaum  auf  weniger  als  400  Mark  stellen  lassen. 

Ohlenberg  macht  sich  wenig  Hoffnung,  dass  das  Reich 
oder  die  Einzelstaaten  die  Arbeitslosenstatistik  in  die  Hand 


1)  Die  Frage  des  gelernten  Berufes,  so  interessant  auch 
die  Kombination  mit  der  Art  der  letzten  Beschäftigung  wäre, 
könnte  der  Vereinfachung  des  Fragebogens  wegen  um  so  eher 
gestrichen  werden,  als  die  Ausfüllung  dieser  Frage  sich  für  eine 
allgemeine  Berufsstatistik  mehr  eignen  dürfte. 

2)  Im  eigentlichen  Formular  wäre  blos  ,, ledig“  beziehungs- 
weise Krankheit,  Inventur  etc  zu  durchstreichen. 

3)  Von  der  Stellung  dieser  Frage,  so  treffend  sie  eine  Ar- 
beitslosenstatistik durch  Konstatirung  der  nicht  vollständigen 
Arbeitslosigkeit  ergänzen  würde,  glaube  ich  abrathen  zu  sollen, 
und  die  Zahl  der  zu  verarbeitenden  Fragekarten  nicht  in  einer 
Weise  ausstellen  zu  lassen,  welche  ganz  abgesehen  von  den 
hieraus  entstehendenzu  grossen  Kosten,  die  rasche  Verarbeitung 
der  ausgefüllten  Karten  in  Frage  stellen  könnte. 

f)  Der  Vereinfachung  wegen  könnte  man  sich  mit  der 
Frage  nach  der  Zahl  der  im  Haushalte  lebenden  Kinder  unter 
14  Jahren  begnügen. 


No.  8. 


SOCIÄLPOL1  TISCHES  CENTRALBLATT. 


nehmen  werden,  ich  kann  es  deshalb,  vorerst  wenigstens, 
unterlassen,  meine  Anschauung,  dass  die  staatliche  Statistik 
sich  für  die  Verarbeitung  dieses  Gebietes  der  Sozialstatistik 
weniger  als  für  die  anderer  eigne,  hier  zu  vertheidigen. 
Dagegen  muss  ich  mich  gegen  die  Anschauung  wenden, 
dass  bei  der  heutigen  Lage  der  Dinge  die  seitens  der 
Gewerkschaften  unternommene  Arbeitslosenstatistik  am 
meisten  verspreche.  Das  was  Oldenberg  über  die  bezüg- 
lichen Versuche  bezw.  Ergebnisse  Gei  den  Buchdruckern 
und  Handlungsgehilfen  anführt,  kann  mich  von  meiner 
Meinung,  dass  der  Rahmen  der  Gewerkschaften  für  Er- 
hebungen über  die  Arbeitslosigkeit  ein  zu  enger  ist,  nicht 
abbringen. 

Oldenberg  selbst  hat  ja  erst  jüngst  in  Schmoller’s 
lahrbuch  ’)  in  dankenswerthester  Weise  die  Angaben  über 
die  Stärke  der  deutschen  Gewerkschaften  zusammengestellt; 
aus  derselben  geht  hervor,  dass  noch  lange  nicht  3 pCt. 
der  in  der  Industrie,  Bergbau,  Handel,  Verkehrs-  und  Gast- 
wirthsgewerbe  Deutschlands  beschäftigten  Personen  gewerk- 
schaftlich organisirt  sind,  über  diesen  Rahmen  hinaus  lassen 
sich  in  Fällen  von  Strikes  und  dergl.  eher  die  Arbeiter- 
massen in  Bewegung  setzen,  als  zu  statistischen  Zwecken; 
das  wird  durch  ganz  mangelhafte  Arbeiterstatistiken  in 
Gewerben  bewiesen,  deren  Arbeiterorganisationen  glänzend 
durchgeführte  Strikes  aufzuweisen  haben.  Dass  aber  die 
Statistik  der  Arbeitslosigkeit  innerhalb  einer  Organisation 
absolut  keinen  Massstab  für  die  Grösse  der  Arbeitslosigkeit 
überhaupt  bietet,  lehrt  uns  nichts  treffender,  als  der  V erlauf 
des  letzten  Buchdruckerstrikes  im  deutschen  Reiche.  Ob- 
gleich im  Buchdruckergewerbe  ca.  50  pCt.  der  Arbeiter 
organisirt  sind  und  man  über  das  Prozentverhältniss  der 
Arbeitslosen  innerhalb  der  Organisation  auf  das  allerge- 
naueste unterrichtet  war,  so  würde  der  Strike  kaum  so 
leichthin  gewagt  worden  sein,  wenn  die  organisirten  Buch- 
druckergehilfen die  Zahl  der  Arbeitslosen  unter  den  nicht 
organisirten  Arbeitern  nicht  unterschätzt  hätten.  Man  kann 
im  Allgemeinen  annehmen,  dass  den  Organisationen  nicht 
nur  die  intelligenteren,  sondern  auch  die  beruflich  tüchtig- 
sten Arbeiter  angehören,  welche  deshalb  trotz  ihrer  Zuge- 
hörigkeit zu  der  Organisation  von  den  Unternehmern  lieber 
beschäftigt  werden,  so  dass  wohl  im  Allgemeinen  die  Arbeits- 
losigkeit innerhalb  der  Organisation  schwächer  als  ausser- 
halb derselben  sein  dürfte,  somit  auch  Schlüsse  von  der 
etwa  eruirten  Arbeitslosigkeit  der  organisirten  auf  die 
Arbeitslosigkeit  der  Unorganisirten  als  unzulässig  zu  be- 
zeichnen wären. 

Aber  auch  aus  anderen  Gründen  dürfte  man  sich 
gegen  diese  Decentralisation  der  Arbeitslosenstatistik  nach 
Gewerkschaften  am  Orte  aussprechen  Die  Kosten  würden 
bedeutend  steigen,  eine  Gleichartigkeit  bei  der  Aufnahme 
wäre  schwer  zu  erzielen,  und  die  V erschiedenheit  des  Zeit- 
punktes wie  der  Methode  der  Aufnahme  würde  abgesehen 
von  anderen  Umständen,  eine  einheitliche  Verarbeitung  leicht 
unmöglich  machen. 

Bei  der  mangelhaften  Organisation  der  Arbeitsver- 
mittelung, bei  der  Konkurrenz  der  privaten  und  öffentlichen 
Arbeitsvermittlung  mit  der  von  Arbeiter-  und  Unternehmer- 
vereinen, über  die  ja  eben  eine  Enquete  seitens  der  Cen- 
tralstelle für  Wohlfahrtseinrichtungen  im  Gange  ist,  kann 
eine  befriedigende  Arbeitslosenstatistik  durch  diese  Ein- 
richtungen nicht  erwartet  werden,  schon  deshalb,  weil 
Doppelzählungen  in  allzugrossem  Umfange  Vorkommen 


L)  Die  Ausbreitung  der  Gewerkschaften  in  Deutschland 
und  England  in  Schmoller’s  Jahrbuch  N.  F.  XVI.  Band  (1892) 
S.  949,  s.  auch  Ad.  Braun,  Die  Gewerkschaften  in  Deutsch- 
land im  Wiener  „Handels-Museum“  VII.  Band  (1892)  No.  43 
und  44. 


89 


würden.  Wie  ungenügende  Resultate  eine  Statistik  der 
Arbeitsvermittlung  für  die  Nachweisung  der  Arbeitslosigkeit 
ergeben  muss,  geht  aus  dem  seitens  des  Verbandes  aller  in 
der  Metallindustrie  beschäftigten  Arbeiter  Berlins  und  der 
Umgebung  publizirten  Berichte1)  hervor,  den  wir  zur  Er- 
gänzung der  von  Oldenberg  in  No.  7 dieser  Zeitschrift  ge- 
machten Mittheilungen  über  arbeitslosenstatistische  Ver- 
suche hier  zum  Abdrucke  bringen  wollen. 

Als  arbeitslos  haben  sich  in  der  Zeit  vom  1.  April  1892 
bis  30.  September  1892  insgesammt  2010  Metallarbeiter, 
gegen  1890  im  voraufgegangenen  Winter-Halbjahr,  eintragen 
lassen,  und  zwar : 


599  Klempner  . . . 

165  Rohrleger  . . 

58  Rohrlegergehilfen 
496  Schlosser  . 

151  Dreher  .... 
91  Mechaniker  . . 

147  Gürtler  . . . 

69  Drucker  ... 

70  Former  . . . 

30  Schleifer  . . . 

134  sonstige  Arbeiter 


unorganisirt  waren 
97  ==  ca.  16  pCt. 

26  — ca.  16  „ 

24  = ca.  41  „ 

128  = ca.  25  „ 

29  = ca.  19  ., 

34  = ca.  35  ,, 

29  = ca.  20  „ 

10  = ca.  15  „ 

25  = ca.  33  ,, 

8 = ca.  25  ., 

56  — ca.  43  ,. 


Verlangt  wurden  in  demselben  Zeitraum  insgesammt 
1030  Personen,  gegen  660  im  voraufgegangenen  Winter- 
halbjahr,  was  einer  Steigerung  von  64  pCt.  gleichkommt. 
Das  Angebot  der  Arbeitskräfte  überstieg  daher  die  Nach- 
frage nach  denselben  um  50  pCt.  gegen  66  pCt.  im  Winter- 
halbjahr. 


Verlangt  wurden 

Das  Ueberangebot 

Gegen  im 

im  Einzelnen 

betrug 

Winterhai  bf  ah 

406  Klempner  . . . 

. . ca.  33  pCt. 

58  pCt. 

140  Rohrleger  . . . 

• • „ 16  „ 

40  „ 

52  Rohrlegergehilfen 

• • „U  „ 

35  „ 

165  Schlosser  .... 

. . „77 

81  „ 

26  Dreher 

. . „83 

81  „ 

13  Mechaniker  . . . 

. . „86  ,. 

86  „ 

70  Gürtler  .... 

■ • „53  „ 

64  ., 

36  Drücker  ... 

. . „48  „ 

40  „ 

15  Former  .... 

• ■ „79  „ 

88  ,. 

21  Schleifer  .... 

. . „30  „ 

70  .. 

86  sonstige  Arbeiter 

„ 36  „ 

64  „ 

Besetzt  wurden  von  den  eingegangenen  Stellen  700, 
gleich  68  pCt.,  gegen  72  pCt.  im  voraufgegangenen  Winter- 
halbjahr. Von  den  Arbeitsuchenden  erhielten  daher  that- 
sächlich  nur  34  pCt.  Arbeit  zugewiesen,  während  66  pCt. 
keine  Arbeit  erhalten  konnten.  Insgesammt  sind  die  700 
Metallarbeiter,  ehe  sie  Arbeit  erhielten,  1920  Wochen 
arbeitslos  gewesen.  Zugleich  theilte  der  Arbeitsvermittler 
Gerisch  mit,  dass  sich  im  Monat  Oktober  bereits  505  Per- 
sonen als  arbeitslos  gemeldet  hatten,  so  dass  sicher  anzu- 
nehmen ist,  dass  im  Winterhalbjahr  der  Nachweis  von 
4000  Personen  frequentirt  werden  wird. 

Die  Thatsache,  dass  kaum  30  pCt.  der  Arbeitsuchenden 
unorganisirt  waren,  während  das  Prozentverhältniss  der 
überhaupt  Unorganisirten  ein  ganz  anderes  ist,  ferner  der 
Umstand,  dass  der  Arbeitsnachweis  nicht  nur  durch  das 
Arbeitsvermittelungsbureau  des  Verbandes  statttindet, 
spricht  für  unsere  Auffassung,  dass  man  auf  diesem  Wege 
kaum  zu  brauchbaren  Resultaten  über  den  Umfang  der 
Arbeitslosigkeit  gelangen  dürfte. 

Endlich  habe  ich  noch  der  ablehnenden  Haltung 
Oldenberg’s  gegen  meine  Vorschläge,  die  Quittungskarte 
der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  als  Individualzähl- 
karte einer  Arbeitslosenstatistik  zu  verwenden,  einiges  ent- 
gegen zu  halten.  Oldenberg  scheint  hierzu  durch  ein  für 
die  ersten  Jahre  der  Durchführung  dieses  Gesetzes  wohl 
berechtigtes  Misstrauen  gegen  die  Regelmässigkeit  der 
Markenklebung  veranlasst  zu  sein.  Es  ist  richtig,  dass  die 

')  „Vorwärts“  vom  5.  November  1892.  2.  Beilage. 


90 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  8. 


Behörden  bisnun,  vor  allem  in  den  ländlichen  Bezirken, 
sehr  nachsichtig  gegenüber  der  Unterlassung  der  Marken- 
klebung und  ähnlichen  Unregelmässigkeiten  waren,  aber 
nun  wird  das  Gesetz  immer  strenger  gehandhabt,  eigene 
Kontrollorgane  sind  geschaffen,  Berlin  z.  B.  besitzt  eine 
ganz  ausgebildete  Organisation  zu  diesem  Zwecke,  ausser- 
dem wird  die  Karte  häufig  als  Legitimationskarte  Behörden,  j 
Gewerbegerichten  etc.  gegenüber  gebraucht  und  dadurch 
der  Arbeiter  veranlasst,  der  Markenklebung  mehr  Aufmerk- 
samkeit zu  schenken;  endlich  ist  unter  den  Arbeitern  selbst 
der  Wunsch  erwacht,  die  Vortheile  des  Gesetzes,  zu  dessen 
Kosten  beizutragen  sie  gezwungen  sind,  für  sich  auszu- 
nützen bezw.  sich  zu  sichern,  so  dass  die  Quittungskarte 
uns  wohl  als  geeignete  Grundlage  für  eine  Arbeitslosen- 
statistik und  zwar  unter  den  obwaltenden  Umständen  als 
exakteste  erscheint.  Insbesondere  scheint  uns  für  unseren 
Vorschlag  das  Moment  zu  sprechen,  dass  dem  Wunsche 
subjektiver  Färbung  oder  gar  Fälschung  der  Statistik  durch 
falsche  oder  ungenaue  Beantwortung  von  Fragebogen  ein 
Riegel  vorgeschoben  ist. 

Oldenberg  schliesst  seine  Ausführungen  mit  der 
Mahnung,  die  Wege  erst  zu  chaussiren,  ehe  man  nach 
Rom  reist.  Dass  dies  nöthig  ist,  haben  wir  anerkannt, 
indem  wir  aufforderten,  unsere  Vorschläge  zu  kritisiren, 
und  indem  wir  selbst  auf  erkannte  Schwächen  unserer 
Vorschläge  aufmerksam  gemacht  haben.  Aus  dem  oben 
abgedruckten  Fragebogen  ersieht  man,  dass  mir  nichts 
ferner  liegt,  als  die  Wege  für  geebnet  zu  halten. 

Alle  diejenigen,  welche  für  Berlin  die  Arbeitslosen- 
statistik in  die  Fland  nehmen  wollen,  werden  dankbar 
sein,  wenn  man  ihnen  behilflich  ist,  den  Weg  zu  ebnen 
und  die  Vorbeitung,  Aufnahme  und  Verarbeitung  zu  unter- 
stützen. ') 

Berlin.  Adolf  Braun. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Eine  Enquete  über  die  Wirkungen  des  Gemeindegrund- 
besitzes auf  die  Gemeindefinanzen. 

Zu  der  bevorstehenden  Reorganisirung  des  preussi- 
schen  Gemeindefinanzwesens  haben  auch  die  deutschen 
Bodenreformer  auf  ihrer  letzten  Generalversammlung,  die 
am  6.  d.  Mts.  stattfand,  Stellung  genommen.  Die  von  ihnen 
aufgestellten  Forderungen  lassen  sich  in  den  Satz  zu- 
sammenfassen: Die  Werthe,  welche  nicht  ein  Einzelner, 

sondern  nur  die  Gesammtheit  erzeugt,  sollen  auch  der  Ge- 
sammtheit  gehören!  Die  Durchführung  dieses  Prinzips 
würde  — den  Bodenreformern  zufolge  — jede  Steuer, 
welche  direkt  oder  indirekt  die  produktive  Arbeit  belastet, 
entbehrlich  machen. 

Zu  den  Werthen.  welche  allein  von  der  Gesammtheit 
geschaffen  werden,  rechnen  die  Vertreter  dieser  Richtung 
in  erster  Reihe  den  oft  ungeheuren  Werthzuwachs,  welchen 
der  Grund  und  Boden  einer  Gemeinde  durch  die  Ver- 
mehrung der  Einwohnerzahl,  durch  kommunale  Anlagen, 

) Die  Bemerkung  des  Herrn  Dr.  Oldenberg,  dass  mir  das 
Verdienst  gebühre,  die  Arbeitslosenstatistik  angeregt  zu  haben, 
ist  mir  ein  erwünschter  Anlass  mitzutheilen,  dass  der  Klavier- 
arbeiter Herr  R.  Schmidt  sich  mit  dem  Projekte,  in  Berlin  eine 
Arbeitslosenstatistik  zu  veranstalten,  getragen  und  mich  um 
ein  hierauf  bezügliches  Gutachten  ersucht  hat,  das  ich  hierauf 
erst  in  No  2 des  Sozialpolitischen  Centralblattes  zur  Dis- 
kussion stellte. 


durch  Verbesserungen  jeder  Art  erhält.  Damit  dieser  Werth 
nun  auch  der  Gesammtheit  wieder  zufliesse,  verlangen  die 
Bodenreformer  ausser  einer  entsprechenden  Heranziehung 
des  Grundbesitzes  zur  Kommunalsteuer  in  erster  Linie,  dass 
die  Gemeinden  den  noch  vorhandenen  Gemeinbesitz  nach 
Möglichkeit  planmässig  vermehren  und  nur  auf  Zeitpacht 
aus  der  Hand  geben. 

Einen  Beweis  für  die  Richtigkeit  ihrer  Behauptung, 
dass  ein  grosser  Gemeindegrundbesitz  für  die  Gemeinde- 
finanzen von  den  segensreichsten  Folgen  ist,  glauben  die 
Bodenreformer  in  den  Zuständen  der  deutschen  Gemeinden 
Siebenbürgens  gefunden  zu  haben.  Nach  Professor  Oskar 
von  Meltzl’s  „Statistik  der  sächsischen  Landbevölkerung 
von  Siebenbürgen“  haben  die  dortigen  Sachsen  das  alte 
germanische  Bodenrecht  so  weit  gewahrt,  dass  noch  heute 
37,79  pCt.  des  gesammten  Grund  und  Bodens  den  politischen, 
bezw.  den  kirchlichen  Gemeinden  gehörten.  Rechnet  man 
das  Grundeigenthum  der  Kirchen  und  Schulen,  das  als 
solches  mittelbar  den  Gemeinden  zu  Gute  kommt,  hinzu, 
so  steigt  dieser  Prozentsatz  auf  40,57.  Ja,  zieht  man  nur 
die  155  ehemals  freien  Gemeinden  in  Betracht,  so  gestaltet 
sich  das  Verhältniss  so,  dass  auf  den  öffentlichen  Grund- 
besitz 47,12  pCt.  entfallen.  Und  die  Wirkung  dieses  ausge- 
dehnten Kommunalgrundeigenthums  auf  die  Gemeinde- 
finanzen? Nach  Professor  Meltzl  betrug  die  Gesammtein- 
nahme  der  hier  ins  Auge  zu  fassenden  227  Gemeinden 
ohne  Kommunalsteuerzuschläge  jährlich  921  500  fl., 
die  Gesammtausgabe  825  100  fl.  Es  ergab  sich  also  im 
Durchschnitt  ein  Plus  zu  Gunsten  der  Einnahmen. 

Aber  nicht  nur  im  fernen  Siebenbürgen  haben  Ge-  ' 
meinden  das  alte  deutsche  Recht  der  Markgenossenschaft  am  ; 
Boden  zum  Theil  zu  wahren  gewusst,  auch  im  „Reiche“ 
selbst  finden  sich  noch  Gemeinden,  die  ihren  Boden  nicht  , 
. ganz  der  Privatspekulation  ausgeliefert  haben,  und  die  des- 
halb in  der  glücklichen  Lage  sind,  eine  „Gemeindesteuer- 
reform“ nicht  nöthig  zu  haben,  da  sie  auf  Gemeindesteuern  ! 
überhaupt  verzichten  können. 

Es  lag  nahe,  dass  die  Bodenreformer  den  Verhält- 
nissen dieser  Gemeinden  besondere  Aufmerksamkeit  zu- 
wandten, um  sich  bei  der  Ausbildung  und  Propagirung 
ihrer  Reformvorschläge  die  hier  vorliegenden  praktischen 
Erfahrungen  nutzbar  zu  machen.  Und  so  hat  sich  denn 
auch  der  Bundesvorstand  vor  wenigen  Wochen  an  95  Ge-  j 
meinden,  die  ihm  als  solche  mit  bedeutendem  Grundbesitz  >, 
bekannt  waren,  unter  Beifügung  eines  Fragebogens  mit  der  J 
Bitte  um  möglichst  genaue  Auskunft  über  die  Grösse,  die 
Verwerthung  und  den  Ertrag  des  Gemeindegrundbesitzes 
gewandt.  Die  Ergebnisse  dieser  Enquete  sind  — in  so  be- 
scheidenem Rahmen  sich  auch  der  ganze  Versuch  ge- 
halten hat  — nach  mancher  Richtung  hin  nicht  uninter- 
essant. 

Von  den  95  Gemeinden,  an  welche  die  Anfragen  er- 
gingen, haben  nur  41  geantwortet.  Auffällig  muss  es  er- 
scheinen, dass  gerade  von  Gemeinden,  welche  als  sehr  reiche 
gelten,  keine  Antwort  eingelaufen  ist.  So  sind  Babenhausen 
und  Langenseebold  in  Hessen,  Mixstadt  in  Posen,  Martin- 
roda in  Thüringen,  Gemeinden,  in  denen  der  Ertrag  aus 
dem  öffentlichen  Grundbesitz  die  Gemeindesteuern  ersetzt, 
die  Antwort  schuldig  geblieben.  Auch  Klingenberg  in 
Unterfranken,  das  nach  unwidersprochener  Zeitungsnotiz  in 
der  Lage  war,  am  17.  Januar  d.  J.  an  jeden  Bürger  aus  der' 
Gemeindekasse  zu  liefern:  300  M.  baar,  3 Ster  Holz, 

50  Wellen,  Streu  oder  15  M.  Streugekl  — hat  nicht  geant- 
wortet. Die  Gründe,  welche  solche  Gemeinden  von  einer 
Beantwortung  des  Fragebogens  abhielten,  können  natürlich 
nur  vermuthet  werden.  Alan  wird  aber  kaum  fehl  gehen, 
wenn  man  die  in  der  Antwort  einer  kleinen  bayrischen 
Gemeinde,  Post  Buetthard,  angeführten  Gründe  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  als  typisch  anerkennt.  Diese  Gemeinde 
schrieb : „Ergebenst  zurück  mit  dem  Beifügen,  dass  die 
Gemeindeverwaltung:  sich  der  Befürchtung  nicht  ent- 

schlagen  konnte,  ob  mit  den  gewollten  Erhebungen  nicht 
etwa  Missbrauch  stattfinden  könnte,  und  lehnt  deshalb  vor- 
sichtshalber die  Beantwortung  des  Fragebogens  ab.“ 


No.  R. 


S(  Y/A  Al .l’OT.ITl  S(  'II ES  < ’KNTK A I .HI  .ATT 


91 


Es  ist  eine  Art  Misstrauen  gegen  alles  Neue,  Fremde, 
das  diese  Gemeinden  erfüllt.  Psychologisch  ist  dasselbe 
unschwer  zu  erklären.  Sie  sind  zufrieden,  sie  fühlen  sich 
wohl;  was  kann  also  die  Welt  da  draussen  ihnen  bieten? 
Was  kann  von  den  „gelehrten  Herren“,  und  nun  gar  aus 
Berlin  Gutes  kommen?  Sie  wollen  nicht  gestört  sein  und 
lehnen  es  deshalb  „vorsichtshalber“,  wo  es  irgend  geht,  ab, 
auf  Einflüsse  von  draussen  zu  reagiren 

Derselbe  Gedanke  klingt  auch  durch  die  Antwort  hin- 
durch, welche  die  Gemeinde  Dornstetten  gab.  In  Dorn- 
stetten erhält  jeder  Bürger  jährlich  aus  der  Gemeindekasse 
HO  M.  baar;  mit  der  Holzgabe  und  dem  Allmendgenuss  er- 
höht sich  der  Werth  des  Bürgernutzens  für  den  Einzelnen 
auf  110  M.  Und  diese  Gemeinde  schrieb:  „Die  Verhält- 

nisse sind  hier  nicht  derart,  um  hervorgehoben  zu  werden, 
und  liegt  dies  gar  nicht  im  Wunsch,  und  bittet  man, 
eine  Anführung  zu  unterlassen“. 

Die  41  Gemeinden,  welche  geantwortet  haben,  ge- 
hören 14  verschiedenen  deutschen  Landestheilen  an.  Es 
sind  vertreten  Brandenburg,  Pommern,  Schlesien,  West- 
preussen,  Westfalen,  Hessen-Nassau,  Rheinprovinz,  Hohen- 
zollern,  Baden,  Sachsen,  Mecklenburg-Schwerin,  Bayern, 
Württemberg,  Eisass. 

Die  Einwohnerzahl  der  einzelnen  Ortschaften  schwankt 
zwischen  485  und  62  000. 

Eine  erhöhte  Bedeutung  gewinnen  die  Angaben 
einzelner  Orte  dadurch,  dass  sie  als  typisch  für  einen 
grossen  Theil  der  Gemeinden  ihrer  Landschaft  gelten 
dürfen.  In  einzelnen  Antworten  wird  ausdrücklich  darauf 
hingewiesen.  So  schreibt  der  Bürgermeister  Daniel  von 
Treis  a.  d.  Mosel  (Rheinprovinz):  „Die  Bürgermeisterei 

Treis  umfasst  einen  Flächenraum  von  10  000  ha.  Davon 
gehören  mehr  als  5000  ha  den  Gemeinden.  Aus  dem  Ge- 
meindevermögen werden  sämmtliche  Gemeindebedürfnisse 
bestritten.  Dann  erhält  jeder  Bürger  gegen  Zahlung  der 
Hälfte  oder  eines  Drittels  des  Werthes  seinen  Brennbedarf 
und  25 — 50  Are  Acker  auf  Lebenszeit  zur  Benutzung.  Auf 
diesem  Gemeindeboden  findet  die  unbemittelte  Klasse  der 
Bevölkerung  fast  das  ganze  Jahr  hindurch  Beschäftigung 
und  Unterhalt.  Da  die  Gemeinde  von  dem  Ertrage  ihres 
Besitzthums  nur  soviel  erhebt,  als  sie  zur  Bestreitung  ihrer 
Bedürfnisse  bedarf,  so  fällt  der  Arbeits werth  fast  ganz  dem 
Arbeiter  zu.  — Aehnliche  Verhältnisse  finden  sich 
an  der  ganzen  unteren  Mosel“.  — Dr.  W.  Kobelt  aus 
Schwanheim  a.  Main  (Hessen-Nassau)  schreibt:  „Im  Re- 

gierungsbezirk Wiesbaden  ist  die  Zahl  der  Ge- 
meinden, die  keine  Gemeindesteuern  erheben  oder 
nur  geringe,  so  gross,  dass  uns  dies  Verhältniss  als  das 
normale  erscheint.  Mein  Wohnort  z.  B.  hat  750  ha  Wald, 
ausserdem  recht  erheblichen  Besitz  an  Wiesen  und  Feld; 
die  Vertheilung  von  Holz  hat  erst  vor  ca.  20  Jahren  aufge- 
hört, da  die  Gemeinde  als  Vorort  von  Frankfurt  in  sehr 
raschem  Wachsthum  begriffen  ist  und  Strassenanlagen, 
Schulen  und  Armenpflege  viel  Geld  kosten;  die  Gemeinde- 
steuer beträgt  eben  25  pCt.,  wird  aber  bald  vermindert  oder 
abgeschafft  werden“. 

In  der  Erwägung,  dass  bei  jeder  Reform  in  erster 
Reihe  das  schon  in  der  Praxis  Bewährte  zur  Lehre  heran- 
zuziehen sei,  hat  die  letzte  Generalversammlung  der  Boden- 
reformer auf  Anregung  des  Schreibers  dieser  Zeilen  be- 
schlossen, die  deutschen  Landesregierungen  zu  bitten,  eine 
amtliche  Zusammenstellung  aller  Gemeinden,  die  in  den 
letzten  5 Jahren  keine  Steuern  zu  erheben  brauchten,  zu 
veröffentlichen. 

Da  wo  der  Segen  grösseren  Gemeindegrundbesitzes 
greifbar  in  die  Erscheinung  getreten  ist,  war  man  natürlich 
von  selbst  bemüht,  das  zu  thun,  was  die  Bodenreformer 
von  allen  Gemeinden  fordern:  den  Kommunalgrundbesitz 
nach  Möglichkeit  zu  vermehren.  So  hat,  um  nur  einige 
Beispiele  anzuführen,  Philippsburg  in  Baden  in  den  letzten 
10  Jahren  für  105  000  M.  Acker  und  Wald  angekauft;  in 
dem  gleichen  Zeitraum  wuchs  der  Grundbesitz  der  Ge- 
meinde Löbau  (Sachsen)  um  224,32,  derjenige  der  Stadt 
Görlitz  um  1367  ha.  Der  Magistrat  von  Sprottau  schreibt: 


„Die  Vorfahren  sind  stets  darauf  bedacht  gewesen,  das 
Grundeigenthum  der  Stadtgemeinde  zu  vermehren,  und  ist 
dasselbe  nach  und  nach  angewachsen“. 

Wo  man  eine  Verminderung  des  Gemeindegrund- 
eigenthums konstatiren  muss,  klingt  es  wie  Bedauern  und 
Entschuldigung  hindurch.  So  schreibt  die  württembergische 
Stadt  Mengen:  „Das  Gemeipdevermögen  war  noch  grösser; 
es  mussten  aber  in  Folge  harter  Kriegsdrangsale  grosse 
Komplexe  verkauft  werden“.  Denselben  Grund  giebt  die 
brandenburgische  Stadt  Drossen  an;  dieselbe  schreibt: 
„Drossen  besass  vor  Zeiten  einen  ausgedehnten  Grundbesitz, 
der  aber  durch  frühere  Kriege  zum  Theil  in  andere  Hände 
kam“. 

Was  die  Verwerthung  des  Grundeigenthums  anbe- 
trifft, so  darf  als  Regel,  die  nur  wenige  Ausnahmen  erfährt, 
gelten,  dass  der  Wald  im  Gemeindebetrieb  bleibt,  während 
Aecker,  Wiesen  etc.  verpachtet  werden. 

Auf  die  Angaben  der  einzelnen  Orte  kann  natürlich 
an  dieser  Stelle  nicht  näher  eingegangen  werden.  Nur 
ganz  wenige  Beispiele  mögen  kurz  Erwähnung  finden. 

Görlitz  nimmt  bekanntlich  unter  den  deutschen  Städten 
mit  über  50  000  Einwohnern  in  Bezug  aut  die  Gemeinde- 
steuerverhältnisse die  günstigste  Stellung  ein.  Während 
der  Gesanmitertrag  der  1889/90  erhobenen  Gemeindesteuer 
pro  Kopf  in  Frankfurt  a.  M.  34,60  und  in  Berlin  22,30  M. 
betrug,  stellte  er  sich  in  Görlitz  nur  auf  8,50  M.  Diese 
Thatsache  findet  ihren  zureichenden  Grund  in  dem  Um- 
stande, dass  das  Grundeigenthum  dieser  Stadt  30  851  ha 
beträgt  und  der  Gemeindekasse  aus  demselben  jährlich 
660  560  M.  zufliessen. 

Mengen  (Württemberg),  ein  Ort  von  ca.  550  Familien, 
besitzt  1072  ha  Wald  und  93  ha  Wiesen  und  Aecker.  Der 
Ertrag  wird  so  vertheilt,  dass  für  die  Gemeindeausgaben 
20  000  M„  durch  Vertheilung  an  die  Bürger  in  baar  11  000  M., 
in  Holz  etc.  20  000  Verwendung  finden. 

Freudenstadt  (Württemberg),  ein  Ort  von  ca.  1300 
Familien,  besitzt  2400  ha  Wald  und  13  ha  Wiesen.  Der 
Ertrag  wird  wie  folgt  verwendet:  für  die  Gemeindeaus- 
gaben 106  000  M.,  für  gemeinnützige  Zwecke  1500  M.,  Ver- 
theilung an  die  Bürger  in  baar  33  000  M. 

Sigmaringendorf  (Hohenzollern),  ein  Ort  von  ca.  200 
Familien,  besitzt  420  ha  Wald  und  660  ha  Wiesen  und 
Aecker.  Aus  dem  Ertrag  werden  die  laufenden  Gemeinde- 
ausgaben gedeckt,  1275  M.  für  gemeinnützige  Zwecke  aus- 
gegeben, die  Staatssteuern  der  Bürger  mit  2673  M.  bezahlt 
und  endlich  1700  Raummeter  Brennholz  vertheilt. 

Philippsburg  (Baden),  ein  Ort  mit  2400  Einwohnern, 
besitzt  407  ha  Wald  und  514  ha  Wiesen  und  Aecker.  Aus 
dem  Ertrage  werden  die  laufenden  Gemeindeausgaben  so- 
wie die  Staatssteuern  und  die  Fluss-  und  Dammbaubeiträge 
der  Bürger  gedeckt. 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  mit  der  Forderung 
einer  planmässigen  Erweiterung  des  Konnnunalgrundeigen- 
thums  eine  Frage  angeregt  wird,  welche  ernste  Beachtung 
verdient,  und  dass  eine  organische  Entwickelung  des 
letzteren  diese  Gemeindefinanzwesen  durchgreifend  refor- 
miren  würde. 

Berlin.  Adolf  Damaschke. 


Das  Alter  der  eheschliessenden  Personen. 

Zur  Beurtheilung  der  sozialen  Verhältnisse  eines  Volkes 
ist  nicht  blos  die  Zahl,  sondern  auch  die  Art  der  geschlossenen 
Ehen  von  massgebender  Bedeutung.  — Was  die  Zahl  der 
Eheschliessungen  anbetrifft,  so  wissen  wir  es  längst  und 
neue  statistische  Erhebungen  bestätigen  es  immer  wieder 
von  Neuem,  dass  der  Hunger  einen  grösseren  Einfluss  auf 
die  Häufigkeit  der  Ehebündnisse  hat  als  die  Liebe.  Aber 
die  Zahl  der  Eheschliessungen  eines  Volkes  ist  nicht  aus- 
schliesslich massgebend,  um  aus  ihr  einen  Schluss  auf  seine 


92 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  8 


Regenerationsfähigkeit  zu  machen,  eine  weit  grössere  Rolle 
spielt  hier  die  Art  der  Eheschliessung,  wie  sie  durch  das 
jeweilige  Alter  der  eheschliessenden  Personen  bestimmt  ist. 
Denn  von  dem  Alter  der  Ehegatten  hängt  nicht  blos  die 
Zahl,  sondern  auch  die  Lebensfähigkeit  und  die  Lebens- 
dauer der  Nachkommen  ab.  Es  sei  deshalb  in  Folgendem 
das  Augenmerk  auf  das  Alter  der  Eheschliessenden  gelenkt. 
Als  Quelle  unserer  Nachweisungen  dient  uns  die  „Statistik 
des  Deutschen  Reiches  N.  F.  44:  Stand  und  Bewegung  der 
Bevölkerung  des  deutschen  Reiches  und  fremder  Staaten“ 
pag.  173  f.  Für  den  vorliegenden  Zweck  sind  nur  die 
folgenden  Nachweisungen  verwendbar. 

Bei  1000  Eheschliessungen  standen: 


Die 

Männer 
im  Alter 
von 

..  Jahren 

Die  Frauen 

un-  20  25 

ter  bis  bis 

20  25  30 

m Alter  von  . . . Jahren 

30  35  40  45  50  .., 

bis  bis  bis  bis  bis  l!n' 

35  40  45  50  60  DU 

Zu- 

sammen 

Preussen,  Bayern,  Württemberg,  Baden, 

Mecklenburg-Schwerin,  die  5 thür.  Staaten, 

Oldenburg,  Braunschweig, 

Lübeck,  Bremen; 

Periode  1876/80 

unter  20 

0,37 

1,1 

0,08 

0,01 

— 

1,6 

20—30 

76,9 

519,4 

60,1 

5,8 

0,58, 0,03 

658,6 

30 — 40 

13,2 

153,0 

59,1 

10,5 

0,86  0,05 

236,7 

40-  50 

hl 

22,4 

26.5 

13,5 

2,1  0,14 

65,7 

50—60 

0,21 

3,9 

8,7 

10,3 

4,4  0,47 

28,0 

über  60 

0,06 

0,80 

1,9 

3,2 

2,6  0,86 

9,4 

Zus. 

87,8 

700,6 

156,4 

43,3 

10,3  1,6 

1000,0  1,54 

Italien:  1872/80  durchschnittl.  jährl. 

unter  20 

4,7 

4,3  0,96 

0,25  0,07 

0,06  0,00 

- 0,00 

10,3 

20—25 

73,7 

140,6  33,7 

6,9  2,0 

0.69  0,22 

0,11  0,02 

257,8 

25  - 30 

67,5 

187,5  87,5 

19,7  5,7 

2,0  0,69 

0,50  0,00 

370,8 

30—35 

19,1 

71,4  52,6 

22,9  7,0 

2,5  0,90 

0,41  0,00 

176,9 

35—40 

4,8 

21.8  24,0 

15,3  7,7 

3,0  1,2 

0,51  0,07 

78,4 

40-45 

1,2 

7,1  10,7 

10,0  6,6 

3,8  1,6 

0,77  0,09 

41,9 

45-50 

0,43 

2,6  4,7 

5,7  4,8 

.3,4  2,1 

1,2  0,14 

25,2 

50—60 

0,32 

1,6  2,9 

4,2  4,7 

4,6  3,8 

3 8 0,70 

26,7 

über  60 

0,16 

0,50  0,75 

1,1  1,3 

1,7  1,7 

3,3  1,6 

12,0 

Zus. 

171,9 

437,4 

217,8 

86,0 

39,9 

21,7 

12,2 

10,4  2,7 

1000,0 

1,76 

Frankreich:  1872/80 

durchschnittl. 

Jährl. 

unter 

20 

1 1,0 

7,7 

2,9 

1,0 

0,39 

0 

,22 

0,0.9 

23,3 

20— 

-25 

83,5 

126,4 

28,2 

6,3 

1,6 

0 

,58 

0,13 

246,8 

25- 

-30 

84,1 

166,9 

93,5 

21,2 

6.0 

2 

,1 

0,34 

374,2 

30- 

-35 

22,5 

60,1 

45.3 

27,8 

8,5 

3 

,6 

0,53 

168,2 

35- 

-40 

6,3 

18,8 

22,2 

17,2 

12,8 

5 

,8 

0,91 

84,0 

40—45 
45 — 50 

' 25 

1 ’ 

6,9 

11,3 

12,9 

12,1 

13 

,9 

3,0 

62,5 

50- 

-60 

0,75 

1,5 

2,5 

3,6 

4,8 

8 

,8 

6,6 

28,6 

über 

60 

0,25 

0,63 

0,57 

0,86 

1,2 

3 

,2 

6,0 

12,4 

Zus. 

210,9 

388,6 

206,5 

90,8 

47,4 

38 

,2 

17,6 

1000,0 

2,11 

England 

mit  Wales:  1871/80 

unter 

20 

22,3 

10,8 

0,65 

0 05 

0,01 

— 

— 



33,9 

20- 

25 

102,2 

322,1 

50,3 

5,8 

0,94 

0,21 

0,03 

0,01  0,01 

481,6 

25- 

-30 

17,5 

123,7 

86,2 

18,3 

4.0 

0,79 

0,15 

0,05, 0,01 

250,5 

30- 

-35 

2,9 

27,0 

32,6 

22,5 

7,5 

2,1 

0,41 

0,09  0,01 

95,2 

35- 

-40 

0,71 

6,9 

12,6 

12,3 

10,8 

4,1 

1,2 

0,25  0,01 

48,9 

40- 

-45 

0,19 

2,2 

4.5 

6.8 

7,3 

6,7 

2,5 

0,74  0,04 

30,8 

45- 

-50 

0,06 

0,75 

1,7 

2,9 

4,5 

4,7 

4,2 

1,6  0,08 

20,6 

50- 

60 

0,00 

0,50 

1,1 

2,0 

3,4 

5,1 

5,6 

7,4  0,81 

26,0 

über 

60 

0,02 

0,14 

0,28 

0,48 

0,76 

1,4 

1,9 

4,6  2,9 

12,5 

Zus. 

145,9 

494,1 

190,0 

71,1 

39,2 

25,1 

16,0 

14,7  3,9 

1000.0 

1,24 

Niederlande: 

187980 

u.  21 

21-25 

unter 

21 

10,6 

9,8 

3,1 

0,65 

0,19 

0,00 

0,03 



24,5 

21- 

-25 

45,4 

118,4 

57,7 

11,2 

2,7 

0,65 

0,25 

0,06  - 

236,3 

25- 

-30 

33,9 

129,8 

124,1 

36,2 

9,2 

2,6 

0,84 

0,26\  0,03 

336,8 

30- 

-35 

9,5 

42.2 

64,9 

39,9 

14,6 

5,1 

1,6 

0,49  0,00 

178,5 

35- 

-40 

3,0 

13,0 

25,8 

23,9 

15,8 

6,8 

2,6 

0,91  0,0/ 

91,9 

40- 

-45 

0,97 

4,0 

10,3 

12,5 

1 1,2 

8,1 

3.8 

1,7  0,13 

52,7 

45- 

-50 

0,36 

1,4 

3,9 

6,1 

7,1 

6,2 

4,8 

2,8  0,16 

32,7 

50- 

60 

0,23 

0,94 

2,0 

3,9 

5,5 

7,1 

6,8 

7,5  1,1 

35,0 

über 

60 

0,10 

0,23 

0,49 

0,68 

0,84 

1,6 

2,0 

3,8  1 ,9 

11,6 

Zus. 

104.1 

319,8 

292,3 

135,0 

67,1 

38,2 

22,7 

17.4  3,4 

1000,0 

1,32 

Die 

Männer 
im  Alter 
von 

..  Jahren 


Die  Frauen  im  Alter  von  . . . Jahren 


un- 

20 

25 

30 

35 

40 

45 

50 

ter 

bis 

bis 

bis 

bis 

bis 

bis 

bis 

20 

25 

30 

35 

40 

45 

50 

60 

Dänemark:  1870/79 


Zu- 
üb. sammen 
60 


unter 

20- 

20 

25 

>23,1 

111,1 

58,7 

15,7 

4,2 

1,2 

0,48 

0,14 

— 

214,4 

25- 

30 

26.8 

160,9 

130  3 

44.1 

12,6 

4,3 

1,4 

0,55 

0,07 

381,0 

30- 

-35 

9,7 

62,3 

68,3 

38,6 

14.0 

5,2 

2.1 

0,75 

0,0 

201,0 

35- 

-40 

2.9 

20,2 

27,5 

21,1 

12,4 

5,6 

2,3 

0,96 

0,"7 

93,1 

40- 

-45 

0,89 

6,2 

10,9 

10,9 

7,9 

5,5 

2,4 

1,2 

0.14 

46,1 

45- 

-50 

0,27 

2,5 

4,8 

5,6 

5,3 

4,1 

3,0 

1,5 

0,07 

27,2 

50— 

-60 

0,21 

4,7 

3,3 

4,6 

4.8 

4,9 

3,9 

4,2 

0,55 

28,1 

über 

60 

0,07 

0,34 

0,68 

1,0 

1,1 

1,4 

1,4 

2,2 

0,89 

9,1 

Zus. 

63,9 

365,2 

304,5 

141,6 

62,3 

32,1 

17,0 

11,5 

1,9 

1000,0  1,80 

Schweden:  1871/80 

untei 

20 

0,10 

0,37 

0,13 

0.03  — 

— 

— 

— 

— 

0,64 

20- 

-25 

20,0 

108,2 

67,3 

20,8 

5 5 

1,5 

0,47 

0,10 

— 

223,8 

25- 

-30 

21,5 

138,9 

127,8 

48,2 

15,0 

46 

' 1,3 

0,44 

0,05 

357,8 

30 

-35 

7,8 

57,8 

69,5 

40,7 

16,7 

5,8 

2,1 

0,64 

0,03 

201,2 

35- 

-40 

2,5 

19,1 

27,3 

21,6 

13,0 

6,4 

2,5 

0,90 

00,5 

93.2 

40 

45 

0,74 

6,4 

11,1 

11  2 

9,1 

6,2 

29 

1,1 

0,07 

48,9 

45- 

-50 

0.20 

2,4 

4,7 

6,0 

6,1 

5.3 

3,5 

1.9 

0,03 

30,2 

50- 

-60 

0,17 

1,3 

3,2 

4,8 

6,0 

6,3 

55 

4,7 

0.54 

32,5 

über 

60 

— 

0,27 

0,70 

1,2 

1,5 

2,0 

2,2 

3,1 

0,94 

11,8 

Zus. 

53,0 

334,7 

31 1 ,7 

154,5 

72,9 

38,1 

20,5 

12.9  1,7 

1000,0 

1,54 

Norwegen:  1878/80 

unter 

20 

1,3 

4,1 

2,2 

0,84 

0,23 

0,08 

0,08 



8,9 

20- 

-25 

20,0 

127,4 

67,1 

19,2 

5,4 

1,6 

0,53 

0,58 

241,5 

25- 

-30 

22,4 

156,8 

130,7 

39,1 

13,6 

3,8 

1,6 

0,01 

368,6 

30- 

-35 

8.5 

60,6 

62,6 

32,5 

10,9 

3,7 

2,1 

0,61 

181,4 

35- 

-40 

2,1 

19,5 

24,7 

17,0 

10,1 

4.5 

1,4 

0,69 

80,0 

40- 

-45 

0,76 

6,8 

11,2 

9,6 

7,3 

4,7 

2,3 

1,4 

44,1 

45- 

-50 

0,38 

3,1 

5.0 

4,8 

5,4 

4,1 

3,0 

1,8 

27,5 

50- 

über 

60 

60 

} 0,31 

3,1 

4,4 

7,3 

7,9 

6,9 

7,4 

10,5 

48,0 

Z 

US. 

55,8 

381,4 

307,9 

130,3 

60,8 

29,4 

18,4 

16,0 

1000,0 

2,60 

Galizien  und  Bukowina:  1871/80 


20-24 

24-30 

unter  24 

131,1 

84,5 

36,6 

11,7 

1,8 

0,52 

266  2 

24—30 

146,1 

117,6 

90,3 

39,4 

7,9 

5,0 

402,3 

30—40 

35,7 

45,6 

48,5 

45,1 

10.9 

1,4 

187,2 

40-50 

5,8 

13,0 

20,4 

26,1 

16,8 

2,7 

84.8 

50-60 

0,08  2,6 

6,2 

13,1 

14,5 

7,4 

44,8 

über  60 

0,10  0,44 

1,1 

3,0 

4,9 

5,1 

14,7 

Zus. 

319,8 

263,7 

203,1 

138,4 

56,9 

18,1 

1000,0  5,13 

Die  für  die  deutschen  Staaten  /Preussen,  Bayern  etc.) 
geltenden  Zahlen  sind  leider  nicht  ohne  weiteres  mit  den 
für  die  anderen  Länder  nachgewiesenen  Angaben  vergleich- 
bar, weil  bei  der  ersten  Gruppe  die  Intervalle  doppelt  so 
gross  genommen  sind  als  bei  den  übrigen ; da  aber  dieselbe 
Quelle  auch  noch  besonders  die  für  die  angeführten  deut- 
schen Staaten,  ohne  Preussen  und  Bayern,  geltenden  Daten 
in  kürzeren  Intervallen  aufführt,  so  hat  man  wenigstens 
einen  ungefähren  Anhalt  für  die  Stellung  Deutschlands  unter 
den  anderen  Staaten.  Die  grösste  Wahrscheinlichkeit,  ge- 
sunde Kinder  zu  erzeugen  und  ihnen  auch  eine  ausreichende 
elterliche  Pflege  angedeihen  zu  lassen  ist  dann  vorhanden, 
wenn  der  junge  Mann  seine  besten  Kräfte  noch  nicht  durch 
harte  Arbeit  verausgabt  hat,  aber  bei  einem  Manne  von 
25  Jahren  höchstens.  Bei  der  Vergleichung  der  einzelnen 
Völker  mit  einander  fällt  sofort  die  grosse  Verschiedenheit 
in  der  Zahl  der  eheschliessenden  Männer  unter  25  Jahren 
auf.  Die  Stellung  der  einzelnen  Staaten  zu  einander  in 
Bezug  hierauf  ist  folgende: 

Eheschliessung  von 
Männern  bis  25  Jahren 
mit  Frauen  bis  25  Jahren 


Deutschland ca  207,9  pr.  mill.  ca.  149,5  pr.mill 

Dänemark v 214,4  ,.  „ 134,2  „ 

Schweden ,,  224,4  ,,  .,  128,7  „ 

Norwegen „ 250  4 ,,  „ 152,8  „ 

Niederlande „ 260,8  „ „ 184,2  „ 


No.  8 


SOZI  AI  POMTTHt  II  ES  CENTRALBT.A'I  I. 


93 


Eheschliessung  von 
Männern  bis  25  Jahren 
mit  Frauen  bis  25  Jahren 
Galizien  bis  z.  24.  Jahr  . „ (266,2  (-x)pr.mill.  (215,6  4-  x)  pr.  mill. 
Italien  ........  2681  pr.  mill.  ca.  223  3 „ 

Frankreich „ 270,1  „ „ 228,6  ,, 

England „ 525,5  „ „ 457,4  ,, 

Während  also  in  England  mehr  als  die  Hälfte  aller 
eheschliessenden  Männer  höchstens  25  Jahr  alt  ist,  befindet 
sich  in  Deutschland  nur  ein  Fünftel  der  Männer  in  diesem 
jugendkräftigen  Alter.  Die  für  England  geltende,  äusserst 
günstige  Zahl,  welche  die  aller  anderen  Länder  Europas 
weit  übertrifft,  ist  wohl  in  erster  Linie  der  Befreiung  der 
männlichen  englischen  J ugend  vom  Militärdienst  zu  danken, 
der  naturgemäss  die  Altersgrenze  der  Eheschliessenden  er- 
höht. Die  hohe  Zahl  für  Galizien,  die  jedenfalls  noch  die 
für  Frankreich  geltende  Zahl  übertreffen  dürfte,  wenn  die 
Zahl  der  im  24.  Lebensjahre  stehenden  eheschliessenden 
Männer  bekannt  wäre,  ist  wohl  aus  dem  Einfluss  des  jüdi- 
schen Elementes,  bei  dem  frühzeitige  Ehen  die  Regel  sind, 
erklärbar.  Auffallend  ist  die  gegenseitige  Stellung  von 
Dänemark,  Schweden  und  Norwegen,  und  auch  von  Italien 
und  Frankreich  zu  einander.  Von  vorn  herein  würde  man 
grade  die  umgekehrte  Stellung  erwarten,  wenn  lediglich 
das  Yolkstemperament  das  ausschlaggebende  Moment  für 
die  frühere  oder  spätere  Eheschliessung  wäre.  Die  gegen- 
seitige Stellung  der  drei  skandinavischen  Länder  zu  ein- 
ander, und  auch  die  Stellung  Deutschlands  in  dieser  Reihe 
dürfte  demnach  wohl  in  erster  Linie  wirthschaftlichen  Ein- 
flüssen zu  danken  sein.  Natürlich  ist  die  Zahl  der  ehe- 
schliessenden jungen  Männer  bis  zu  25  Jahren  noch  nicht 
allein  massgebend,  um  einen  Rückschluss  auf  die  bessere 
oder  schlechtere  Gesundheit  der  sozialen  Verhältnisse  zu 
gestatten.  Stellt  es  sich  z.  B.  heraus,  dass  bei  einem  Volke 
gewohnheitsgemäss  junge  Männer,  ältere  Frauen  bei  ihrer 
Wahl  bevorzugen,  so  ist  dies  Verhältnis!  zweifellos  un- 
günstiger, als  wenn  das  umgekehrte  der  Fall  ist.  Um  diese 
Verhältnisse  beurtheilen  zu  können,  enthält  die  obige  Zu- 
sammenstellung  in  ihrer  zweiten  Colonne  die  Zahl  (in  pro 
mille)  der  Eheschliessungen  von  Männern  bis  zu  25  Jahren 
mit  höchstens  gleichaltrigen  Frauen  und  Mädchen.  Die 
Vergleichung  der  beiden  Colontien  mit  einander  zeigte,  dass 
in  Norwegen,  Schweden,  Dänemark,  Deutschland  unnatür- 
lichere Eheschliessungen  - also  jüngere  Männer  mit  älteren 
Frauen  häufiger  sind  als  in  den  Niederlanden,  Galizien, 
Italien,  Frankreich  und  England.  Es  steht  zu  vermuthen, 
dass  diese  Erscheinung,  welche  den  nordischen  Staaten  eine 
ungünstigere  Stellung  als  den  südlichen  Staaten  an  weist, 
durch  häufigere  Eheschliessungen  junger  Männer  mit  älteren 
Wittwen  — zum  Zweck  der  rascheren  Selbständigmachung 
der  jungen  Männer,  — ihre  Erklärung  findet.  Die  statisti- 
schen Nachweisungen  bieten  allerdings  keinen  direkten 
Anhalt  für  diese  Behauptung.  Wenn  man  aber  berück- 
sichtigt, dass  in  den  skandinavischen  Ländern  die  Fischerei 
eine  der  hauptsächlichsten  Einkommensquellen  ist,  dass  bei 
dieser  aber  grade  die  kräftigsten  Männer  am  meisten  ver- 
unglücken, weiterhin  aber  schon  der  Besitz  eines  Fischer- 
bootes selbständig  macht,  so  scheint  unsere  Behauptung 
viel  an  Wahrscheinlichkeit  zu  gewinnen. 

Von  Interesse  ist  es,  sodann  noch  die  Heirathsfrequenz 
der  Mädchen  unter  20  Jahren  in  den  verschiedenen  Ländern 
kennen  zu  lernen.  Die  Rangordnung  ist  hier  folgende: 

Schweden  53.0  pr.  mill. 

Norwegen 55,8  , 

Dänemark 63,9  „ 

Deutschland 87,8  ,. 

Niederlande  (bis  21  JahD  (104,1 — x)pr.  mill. 

Oesterreich 117,8  pr.  mill. 

England 145,9  ,, 

Italien 171,9  „ 

Frankreich 210,9  „ 

Galizien 313,8  „ 

Ungarn 373,1  ,, 

Hier  entspricht  die  Stellung  der  einzelnen  Länder 
schon  weit  eher  der  Vorstellung  von  dem  typischen  Volks- 
temperament. Die  Abweichungen  für  England  und  Galizien 
erklären  sich  bei  dem  ersteren  Lande  wohl  daraus,  dass 


die  gesteigerte  Heirathsfrequenz  jüngerer  Männer  auch  eine 
solche  jüngerer  Frauen  mit  Nothwendigkeit  bedingt,  bei 
Galizien  aber  wohl  aus  der  jüdischen  Gepflogenheit.  Bei 
Frankreich  und  Italien  würde  man  eine  umgekehrte  gegen- 
seitige Stellung  erwarten.  Die  Zahl  der  unehelichen  Ge- 
burten, die  für  Italien  1871/80:  2,7  auf  1000  der  mittleren 
Bevölkerung,  bei  Frankreich:  2,0  beträgt,  erklärt  zur  Ge- 
nüge diese  Abweichung. 

Wirthschaftliche  Momente  verbinden  in  Italien  in 
grösserer  Ausdehnung  die  Legalisirung  des  Liebesbandes 
als  in  Frankreich.  (Galizien  weist  allerdings  noch  eine 
höhere  Zahl  unehelicher  Geburten  auf,  nämlich  4,9;  diese 
hohe  Zahl  erklärt  sich  aber  daraus,  dass  in  Galizien  eine 
grosse  Zahl  ehelich  geborener  Kinder,  besonders  in  jüdischen 
Familien,  als  unehelich  gemeldet  werden,  wenn  der  Vater 
seiner  Militärpflicht  noch  nicht  genügt  hat.) 

Das  Maximum  der  Eheschliessungen  fällt,  wie  die  zu- 
erst angeführten  Tabellen  ergeben,  bei  allen  Ländern  bei 
den  Männern  in  die  Zeit  vom  25. — 30.  Lebensjahr  (in 
England  vom  20. — 25.),  bei  den  Frauen  vom  20.  - 25.  Lebens- 
jahr (in  Galizien  unter  das  20.,  desgleichen  in  Ungarn;  in 
Westösterreich  dagegen  in  das  24. — 30.  Lebensjahr).  Von 
diesen  Maximalzahlen  aus,  die  in  den  Tabellen  ohne  Weiteres 
abzulesen  sind,  nehmen  in  allen  Ländern  die  Zahlen  stetig 
ab,  welche  die  verschiedenen  Kombinationen  der  Alters- 
gruppen und  gleichzeitig  die  immer  unnatürlicher  werdenden 
Verhältnisse  charakterisiren.  Es  hat  deshalb  auch  wenig 
Interesse,  diese  Zahlen  noch  einmal  nach  der  gegenwärtigen 
Stellung  die  verschiedenen  Länder  zu  einander  zu  rekapi- 
tuliren.  Grössere  Bedeutung  haben  nur  wieder  diejenigen 
Zahlen,  welche  die  ganz  unnatürlichen  oder  sogar  monströsen 
Verhältnisse  illustriren. 

Unnatürlich  aber  ist  an  und  für  sich  jede  Ehe- 
schliessung zu  nennen,  bei  der  der  vornehmste  Zweck  der 
Ehe:  die  Kindererzeugung  von  vornherein  ausgeschlossen 
erscheint.  Zu  dieser  Kategorie  der  unnatürlichen  Ehe- 
schliessungen werden  alle  diejenigen  gerechnet  werden 
müssen,  in  welchen  die  eheschliessende  Frau  älter  als  45 
bis  50  Jahre  ist,  — wenn  auch  eine  solche  Ehe  noch  nicht 
immer  monströs  zu  sein  braucht,  da  ja  immerhin  bei 
seelischer  Harmonie  der  Eheschliessenden  die  anderen  Auf- 
gaben der  Ehe  erfüllt  werden  können.  Zweifellos  monströs 
aber  muss  eine  Eheschliessung  genannt  werden,  bei  der  die 
Erfüllung  keiner  der  Zwecke  der  Ehe  denkbar  ist:  wenn 
die  Frau  beispielsweise  doppelt  so  alt  als  der  eheschliessende 
Mann  ist,  und  sie  gleichzeitig  das  Klimakterium  bereits 
überschritten  hat;  und  andererseits,  wenn  der  Mann  doppelt 
so  alt  als  die  eheschliessende  Frau  und  gleichzeitig  älter 
als  60  Jahre  ist. 

Um  eine  korrekte  Nachweisung  geben  zu  können, 
wollen  wir  zu  den  monströsen  Eheschliessungen  alle  die- 
jenigen rechnen,  bei  denen 

I.  die  Frau  20  Jahre  und  mehr  älter  ist  als  der  Mann, 

II.  der  Mann  30Jahre  und  mehr  älter  ist  als  die  Frau. 

(Die  betreffenden  Zahlen  sind  in  der  Tabelle  durch 

kursiv  gesetzte  Ziffern  kenntlich  gemacht.) 

Wenn  wir  die  beiden  Arten  monströser  Eheschliessun- 
gen zusammenziehen,  so  kommen  auf  1000  Eheschliessungen 
überhaupt: 


In 

England  mit  Wales  . . 

. . . 1,24 

>5 

den  Niederlanden  . . . 

. . . 1,32 

J) 

Deutschland 

. . . 1,54 

5) 

Schweden 

. . . 1,54 

Italien 

. . . 1,76 

)) 

Dänemark 

. . . 1 ,86 

Frankreich 

. . . 2,11 

yi 

Norwegen 

. . . 2,60 

)) 

Galizien  und  Bukowina  . 

. . . 3,11. 

Diese  monströsen  Eheschliessungen  gehören  zu  den 
seltsamsten,  gleichzeitig  aber  auch  zu  den  interessantesten 
Erscheinungen  des  Gesellschaftslebens.  „Der  noch  nicht 
30  jährige  Mann,  welcher  eine  Frau  von  60  Jahren  heirathet, 
ist  doch  sicherlich  nicht  durch  ein  Verhängniss,  oder  eine 
blinde  Leidenschaft  getrieben,  er  befindet  sich  im  Falle, 
seinen  „freien“  Willen  in  vollkommenstem  Umfange  anzu- 


94 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  8. 


wenden;  und  dennoch  kam  er  dahin“,  wie  Quetelet  sagt, 
„diesem  anderen  Budget,  das  nach  den  Gebräuchen  und 
Bedürfnissen  unseres  Gesellschaftslebens  geregelt  ist,  seinen 
Tribut  zu  entrichten;  und  gerade  diese  budgetmässigen 
Steuern  werden  mit  grösserer  Regelmässigkeit  abge- 
tragen als  jene,  die  man  an  die  Staatskasse  zu  ent- 
richten hat.“ 

Ebenso  wie  die  Sittlichkeitsdelikte  und  die  mit  diesen 
im  engsten  ethischen  Zusammenhang  stehende  Erscheinung 
der  Prostitution,  sind  auch  diese  Monstrositäten  der  Ehe- 
schliessungen — eine  legalisirte  Prostitution  dazu  ge- 
eignet, einen  Rückschluss  darauf  zu  machen,  dass  im  Ge- 
sellschaftsleben eine  Reihe  von  sozialen  Ursachen  wirksam 
sind,  welche  einzelne  Individuen  die  sozialethischen  An- 
schauungen eines  ganzen  Volkes  mit  verblüffender  Regel- 
mässigkeit durchbrechen  lassen.  — Leider  ist  es  bei  der 
Mangelhaftigkeit  des  vorliegenden  Materiales  nicht  möglich, 
diese  seltsame  Erscheinung  weiter  zu  untersuchen  und 
sichere  Schlüsse  aus  den  vorliegenden  Daten  zu  ziehen. 
Späteren  Untersuchungen  muss  es  Vorbehalten  bleiben, 
diese  Lücke  auszufüllen. 

Magdeburg.  H.  Lux. 


Die  Ausdehnung  des  städtischen  Gewerbebetriebes  in 
Preussen.  Zum  ersten  Mal  ist  eine  Uebersicht  über  den 
Unfang,  in  welchem  von  preussischen  Städten  gegenwärtig 
gewerbliche  Anlagen  in  kommunalen  Betrieb  genommen 
sind,  möglich  geworden  durch  die  statistischen  Materialien, 
welche  mit  dem  Entwürfe  eines  Kommunalabgabengesetzes 
dem  preussischen  Abgeordnetenhause  vor  wenigen  Tagen 
zugegangen  sind  (Drucksache  B.  No.  7,  Anlagen  zu  der 
Begründung  eines  Kommunalabgabengesetzes,  Haus  der  Ab- 
geordneten, 17.  Legislaturperiode,  V.  Session  1892/93).  Diese 
Uebersicht  ist  von  weitreichendem  sozialpolitischen  Inter- 
esse; sie  zeigt  die  Entwickelung,  welche  der  gemeinwirth- 
schaftliche  Gewerbebetrieb  innerhalb  der  preussischen  Ge- 
meindeverwaltung genommen  und  welche  günstigen  Ergeb- 
nisse er  bereits  im  Allgemeinen  erzielte.  Natürlich  geben 
die  zu  Steuerzwecken  veröffentlichten  Zahlen  ein  nicht  im 
Entferntesten  hinreichendes  Bild.  Dasselbe  muss  wesent- 
lich ergänzt  werden  durch  weitere,  hoffentlich  nicht  aus- 
bleibende Mittheilungen.  Vorläufig  ergiebt  sich  aus  dem 
vorliegenden  Material  nur  die  Zahl  der  preussischen  Städte 
von  über  10  000  Einwohnern,  welche  gewerbliche  Betriebe 
besitzen,  die  allgemeine  Beschaffenheit  dieser  Gewerbe- 
betriebe sowie  die  Ziffern  der  Soll-Ausgaben  und  -Ein- 
nahmen für  diese  Anlagen  und  für  das  Rechnungsjahr 
1891/92.  Das  ist  nicht  Viel,  aber  doch  Etwas  und  vor 
allen  Dingen  ein  Anfang,  der  zur  weiteren  Forschung 
reizen  wird. 

Von  den  205  preussischen  Städten  mit  mehr  als  10  000 
Einwohnern  besitzen  nur  7,  nämlich  Lüdenscheid  (19  450  E.), 
Luckenwalde  (18  399  E.),  Recklinghausen  (14  044  E.),  Kalk 
(13559  E.),  Burtscheid  (13381  E.),  Bocholt  Westf.  (13  033  E.) 
und  Biebrich-Mosbach  (11022  E.)  überhaupt  keine  städti- 
schen Gewerbebetriebe,  als  welche  verstanden  sind;  Gas- 
anstalten und  Elektrizitätswerke,  Wasserwerke,  Hafen-  und 
Werftanlagen,  Schlachthäuser,  Marktanstalten,  Leihhäuser 
Bade-  und  Waschanstalten  sowie  „sonstige“  gemeinnützige 
Institute.  Die  Grenze,  bis  zu  welcher  städtische  Betriebe 
herunterreichen,  liegt  also  ziemlich  tief;  eine  Stadt  muss 
schon  unter  20  000  Einwohner  haben,  wenn  sie  sich  des 
städtischen  Betriebes  irgend  eines  Gewerbeunternehmens 
ganz  entschlagen  kann.  Die  198  Städte  aber,  welche  mit 
solchen  Betrieben  ausgerüstet  sind,  hatten  insgesammt  für 
dieselben  eine  Ausgabe  von  117,9  Mill.  M.  für  das  Rech- 
nungsjahr 1891/92  vorgesehen,  worunter  noch  41,5  Mill.  M. 
aussergewöhnliche  Ausgaben  sind,  während  die  Einnahmen 
auf  121,3  Mill.  M.  veranschlagt  waren.  Mit  solchen  gewal- 
tigen Summen  operirt  bereits  der  kommunale  Betrieb  allein 
in  Preussen,  mit  Summen,  welche  die  in  manchem  der 
Privatindustrie  überlassenen  Gewerbe  angelegten  Kapitalien 
sicher  bereits  weit  übersteigen,  fm  Einzelnen  vertheilen 
sich  die  Ausgaben  und  Einnahmen  wie  folgt  auf  die  ver- 
schiedenen Kategorien  der  kommunalen  Gewerbebetriebe 
(in  Millionen  Mark): 


Gasanstalten  u.  Elektrizitätswerke  59,6 


Wasserwerke . 29,6 

Hafen  und  Werftanlagen  ....  2,4 

Schlachthäuser 4,9 

Marktanstalten 8,5 

Leihhäuser ...  2,4 

Bade-  und  Waschanstalten  ...  0,7 

sonstige  Anstalten 12,9 


Aus- 

gabe 

48,9 

25.4 

6.3 
8,2 
7,7 

2.4 
1,2 

17.5 


Ueberschuss 
(+)  oder 
Zuschuss  ( — ) 
4-9,7 
4-4,2 
— 3,9 
-3,3 
4-0,8 

-fi  0,5 

-4,6. 


Wenn  man  die  nicht  näher  angegebenen  „sonstigen“ 
Anstalten  ausser  Betracht  lässt,  ergiebt  sich  also,  dass  der 
kommunale  Betrieb  der  Anstalten  für  Licht-,  Wasserver- 
sorgungs-  und  Marktzwecke  die  grössten  finanziellen  Auf- 
wendungen erheischt.  Die  Berechnung  des  gesammten 
Ueberschusses  und  Zuschusses  für  die  einzelnen  Kategorien 
ist  natürlich  schon  deshalb  von  sehr  zweifelhaftem  Werth, 
weil  in  den  Ausgaben  die  extraordinären  stecken.  Im  All- 
gemeinen wird  man  nur  sagen  können,  dass  Hafen-  und 
Werftanlagen  die  grösste  Zuschusssumme  deshalb  aufweisen, 
weil  sie  in  den  meisten  Fällen  gar  nicht  behufs  Erzielung 
eines  Ueberschusses  betrieben  werden.  Liier  hat  der  kom- 
munale Betrieb  bereits  auf  jeden  direekten  kapitalistischen 
Gewinn  verzichtet. 

Die  Häufigkeit  der  einzelnen  Arten  kommunaler  Ge- 
werbebetriebe stuft  sich  so  ab,  dass  Gasanstalten  und 
Elektrizitätswerke  die  am  zahlreichsten  vertretene  Kategorie 
bilden,  worauf  die  anderen  Kategorien  ungefähr  in  der  oben 
angegebenen  Reihenfolge  sich  anschliessen.  LTnter  den 
grössten  Städten  fallen  Frankfurt  a.  M„  Altona,  Krefeld, 
Aachen  und  Dortmund  als  solche  auf,  welche  bis  jetzt 
weder  eine  Gasanstalt,  noch  ein  Elektrizitätswerk  betreiben, 
diese  Betriebe  also  offenbar  der  Privatunternehmung  als 
lohnendes  Monopol  überlassen  haben.  Von  einer  ausführ- 
licheren Statistik  wäre  vor  Allem  zu  verlangen,  dass  sie 
die  von  Städten  betriebenen  Verkehrsunternehmungen 
separat  anführte. 

Es  muss  dem  Zweck,  auf  die  interessante  Veröffent- 
lichung aufmerksam  zu  machen,  genügen,  wenn  diese  all- 
gemeinen Ergebnisse  derselben  hervorgehoben  werden.  Im 
Uebrigen  wäre  die  Vertiefung  der  kommunalen  Gewerbe- 
betriebsstatistik eine  dankbare  Aufgabe  für  die  deutschen 
Städtestatistiker  und  ihr  in  dieser  Zeitschrift  schon  öfters 
erwähntes  Jahrbuch.  Sicher  wird  nach  Verlauf  von  weiteren 
zehn  Jahren  der  gemeinwirthschaftliche  Betrieb  in  den 
Städten  eine  noch  grössere  Ausdehnung  gewonnen  haben 
und  dadurch  eine  Umgestaltung  der  Gewerbebetriebsformen 
überhaupt  anbahnen  helfen. 


Sozialreformatorische  Forderungen  der  liberalen 
Unionisten  in  England.  In  der  Novembernummer  des 
„Nineteenth  Century“  stellt  Chamberlain  das  sozialpolitische 
Programm  der  liberal-unionistischen  Partei  auf.  Chamberlain 
hat  ausführliche  Studien  zu  dem  Aufsatze  gemacht.  Seinen 
Sohn  Austin  hatte  er  nach  Berlin  und  Paris  geschickt,  um 
die  deutsche  und  französische  soziale  Gesetzgebung  kennen 
zu  lernen  und  von  den  massgebenden  Autoritäten  Auskunft 
und  Rath  zu  erhalten.  Namentlich  das  deutsche  Vor- 
bild ist  deshalb  unschwer  in  manchen  Vorschlägen  des 
radikalen  Führers  zu  erkennen.  Diese  Vorschläge,  kurz 
zusammengefasst,  sind  folgende;  1.  Gesetzliche  Kürzung 
der  Arbeitszeit  der  Bergleute  und  anderer  in  gefährlichen 
und  besonders  aufreibenden  Berufsarten  beschäftigten 
Arbeiter;  2.  Städtische  Verordnungen  über  das  frühzeitige 
Schliessen  der  Werkstätten  und  Läden  (shops);  3.  Gründung 
von  Schiedsgerichten  zur  Schlichtung  und  Verhütung  von 
Arbeitsstreitigkeiten;  4.  Verschärfung  des  Arbeitgeber- Haft- 
pflichtgesetzes; 5.  Alterspensionen  für  die  Armen;  6.  Be- 
schränkung und  Beaufsichtigung  der  Einwanderung  völlig 
Mittelloser;  7.  Erweiterung  der  Kompetenz  der  Städte  zur 
Herstellung  von  Verbesserungen  und  zum  Bau  von  Arbeiter- 
wohnungen; 8.  Verleihung  der  Befugnisse  an  die  Städte, 
den  Arbeitern  Geld  vorzustrecken,  damit  sie  Eigenthümer 
ihrer  Wohnungen  werden  können. 


No.  8. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALKLATT. 


95 


Arbeiterzustände. 


Die  Reichskomimssion  für  Arbeiterstatistik  in  sozial- 
demokratischer Beurtlieilung.  Der  Bericht  über  die  parlamen- 
tarische Thätigkeit  der  sozialdemokratischen  Reichstagsfraktion 
enthält " folgende  Bemerkungen  über  die  Reichskommission  fiir 

Arbeiterstatistik : _ , , , 

„Als  Ergebnis  letzteren  Antrages  (aut  Erhebungen  über 
die  Lebens-  und  Arbeitsverhältnisse  der  Arbeiter'  kann  wohl 
die  Einsetzung  der  Kommission  für  Arbeiterstatistik  betrachtet 
werden  welche  Erhebungen  in  bestimmten  Gewerkszweigen 
vornehmen  soll.  Die  aus  Mitgliedern  des  Bundesraths  und  cles 
Reichstages  bestehende  Kommission  hat  wesentlich  die  Anord- 
nungen des  Reichskanzlers  auszuführen,  und  ist  daher  in  Folge 
ihrer  geringen  Selbständigkeit  sehr  wenig  geeignet,  das  weite 
Arbeitsfeld,  welches  sich  statistischen  Untersuchungen  der 
Arbeiter  Verhältnisse  darbietet,  gründlich  und  erfolgreich  zu  be- 
wältigen. 

' Für  die  Thätigkeit  einer  Kommission,  welche  die  Aufgabe 
hat,  die  thatsächlichen  Lebensverhältnisse  der  Arbeiterklasse 
festzustellen,  bedarf  es  einer  starken  Exekutivgewalt;  um  wahr- 
heitsgemässe  Aussagen  zu  erzwingen  und  namentlich  müssen 
Vorkehrungen  getroffen  werden,  bei  denen  jede  Möglichkeit 
ausgeschlossen  ist,  dass  die  über  die  Lage  ihrer  Berufs-  und 
Klassengenossen  befragten  Arbeiter  irgendwie  durch  das  Unter- 
nehmerthum  geschädigt  werden  können.  Weder  das  Regulativ 
noch  die  Geschäftsordnung  der  Kommission  für  Arbeiterstatistik 
gewährt  nach  beiden  Richtungen  hin  genügende  Sicherhe  t.  Bei 
den  Arbeitern  wird  die  Kommission  daher  kein  rechtes  Ver- 
trauen finden,  bei  dem  Unternehmerthum  dagegen  aus  kapita- 
listischen Interessen  entschiedenem  Misstrauen  und  Widerstand 
begegnen.  Die  Arbeiten  der  Kommission  werden  in  Folge  dessen 
der  Grundlage  entbehren,  welche  für  jede  Statistik  das  Haupt- 
erforderniss  bildet:  es  fehlt  der  Kommission  das  unbedingte 
Vertrauen  und  die  Unterstützung  der  betheiligten  Volkskreise. 

Von  der  Nützlichkeit  durchdrungen,  welche  eine  ein- 
gehende Untersuchung  und  ungeschminkte  Darlegung  der 
Wohnungs-,  Ernährungs-  und  Arbeitsverhältnisse  der  Arbeiter- 
klasse darbietet,  war  von  der  sozialdemokratischen  Fraktion 
bereits  lange  vor  der  Ivonstituirung  der  Kommission  für  Ar- 
beiterstatistik die  Einsetzung  von  Reichstagskommissionen  be- 
antragt worden. 

Solche  Kommissionen,  die  vollkommen  unabhängig  von 
der  Regierung  und  mit  dem  Rechte  der  Zeugenvernehmung 
sowie  einem  genügenden  Hilfspersonal  versehen  sein  müssen, 
würden  durch  Feststellung  der  bestehenden  Verhältnisse  Klar- 
heit schaffen  über  die  elende  Lebenslage,  in  der  die  grosse  Ma- 
jorität der  Bevölkerung  sich  befindet;  sie  könnten  einer  ver- 
nünftigen , durchgreifenden  Arbeiterschutzgesetzgebung  die 
Wege  ebnen,  und  die  Arbeiterklasse  einigermassen  vor  der 
unter  dem  Drucke  des  herrschenden  Ausbeutungssvstems 
stetig  wachsenden  geistigen  und  physischen  Degenerirung 
schützen.“ 

Sozialstatistische  Erhebungen  in  Baden.  Die  statisti- 
schen Erhebungen  über  die  Arbeitsverhältnisse  des  Hilfs- 
personals im  Bäcker eigew erb e in  Baden  sind  nach 
Massgabe  des  von  der  Reichskommission  für  Arbeiterstatistik 
bearbeiteten  Fragebogens  abgeschlossen.  Es  wurden, 
wie  der  „Bad.  Korr.“  mitgetheilt  wird,  im  Ganzen  230  Be- 
triebe untersucht,  und  zwar  in  2 Städten  mit  mehr  als 
20  000  Einwohnern  zusammen  130,  in  3 Städten  mit  2000 
bis  20  000  Einwohnern  zusammen  51,  in  22  Landgemeinden 
mit  weniger  als  2000  Einwohnern  zusammen  49.  Die 
letzteren  Gemeinden  wurden  derart  bestimmt,  dass  in  je 
einem  Kreise  und  in  je  einem  Amtsbezirke  besondere  Er- 
hebungsgemeinden festgestellt  wurden,  so  dass  für  jeden 
Kreis  durchschnittlich  4—6  Erhebungsbogen  zur  Ausgabe 
gelangten.  An  allen  Orten  wurden  sämmtliche  vorhandenen 
Gehilfenbetriebe  den  Erhebungen  unterstellt.  Ferner  haben, 
um  ein  Verzeichniss  der  gewerblichen  Anlagen  in  Baden 
zu  gewinnen,  die  der  Aufsicht  der  Fabrikinspektion, 
der  Bergbehörde  und  der  Oberdirektion  des  Wasser-  und 
Strassenbaus  unterstehen,  sowie  um  diese  Anlagen  nach 
Industriegruppen  und  Ordnungen  und  nach  der  Zahl  der 
in  ihnen  beschäftigten  Arbeiter  feststellen  zu  können,  Er- 
hebungen stattgefunden,  mit  deren  Bearbeitung  jetzt  die 
badische  Fabrikinspektion  beschäftigt  ist.  Diese  Erhebungen 
beziehen  sich  auf  die  Feststellung  cler  Firma  und  Wohnung 
des  Unternehmers,  Sitz  und  Art  des  Betriebs,  Verwendung 
von  Triebwerken,  welche  durch  elementare  Kraft  bewegt 
sind,  auf  die  Gesammtzahl  der  beschäftigten  Arbeiter  mit 
Angabe  des  Geschlechts  und  Alters  (12  u.  13,  14  u.  15,  15 
bis  20  Jahre,  21  Jahre  und  älter).  Sämmtliche  Angaben  be- 
ziehen sich  auf  den  Stand  vom  1.  Oktober  d.  Js.  Ferner 
wurde  ermittelt,  ob  die  am  1.  Oktober  im  Betrieb  thätige 
Arbeiterzahl  annähernd  die  gewöhnliche,  eventuell  zu 


welchem  Zeitpunkt  die  höchste  Arbeiterzahl  in  dem 
betreffenden  Gewerbebetrieb  beschäftigt  war;  auch  hier 
erfolgten  die  Angaben  über  Geschlecht  und  Alter  der  Ar- 
beiter. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Zur  Entwickelung  (1er  Gewerkschaftsbewegung  iu 
Oesterreich.  Der  konstituirende  Verbandstag  der  Metall- 
arbeitervereine Oesterreichs,  welcher  in  cler  Zeit  vom 
30.  Oktober  bis  inklusive  1.  November  in  Wien  abgehalten 
wurde,  bedeutet  in  der  gewerkschaftlichen  Bewegung  des 
österreichischen  Proletariats  einen  mächtigen  Schritt  nach 
vorwärts.  Zum  ersten  Male  wird  eine  die  Arbeiter  einer 
bestimmten  Industrie  umfassenden  Organisation,  welche 
sich  über  das  ganze  Reich  erstreckt,  hergestellt.  Dem  Ver- 
bände gehören  gegenwärtig  18  Fachvereine  mit  rund  8500 
Mitgliedern  an,  der  Gesammtvermögensstand  dieser  Ver- 
eine belauft  sich  auf  ca.  16  500  11.  Es  fehlen  noch  die  Ver- 
eine der  Metallarbeiter  Kärntens,  Tirols,  Salzburgs  u.  a. 
Doch  ist  begründete  Aussicht  vorhanden,  dass  sich  die 
letzteren  dem  Verbände  bald  anschliessen. 

Aus  den  Verhandlungen  des  Verbandstages  verdienen 
vor  allem  die  Berichte  der  böhmischen,  mährischen  und 
steiermärkischen  Delegirten  hervorgehoben  zu  werden, 
welche  sich  über  den  heftigen  Widerstand  beklagen,  den 
die  Behörden  ihren  organisatorischen  Bestrebungen  ent- 
gegensetzen. Diesem  Umstande  ist  es  wohl  auch  zuzu- 
schreiben, dass  die  Aufstellung  von  sogenannten  Vertrauens- 
männern seitens  des  Verbandstages  fallen  gelassen  wurde. 

Von  den  positiven  Ergebnissen  des  Verbandstages 
seien  genannt  die  Schaffung  eines  Verbands- Reservefonds 
und  eines  -Sekretariats,  welch  letzteres  in  Anbetracht  der 
knappen  Mittel  mit  der  Redaktion  des  Fachorgans  vereinigt 
werden  musste. 

Bemerkenswerth  ist  das  Interesse,  das  der  Verbands- 
tag für  die  Statistik  zeigte.  Eine  der  Hauptaufgaben  des 
Verbandssekretariats  wird  denn  auch  die  Verarbeitung  des 
von  den  Vereinen  gesammelten  statistischen  Materials  sein. 
Ein  bezüglicher  Beschluss  lautet,  es  seien  alle  Metall- 
arbeitervereine, welche  die  Erhebung  statistischer  Daten  in 
ihren  Statuten  nicht  vorgesehen  haben,  aufzufordern,  ehe- 
baldigst ihre  Statuten  in  diesem  Sinne  zu  ändern.  Ferner 
werde  das  Sekretariat  beauftragt,  ehemöglichst  Fragebogen 
anfertigen  zu  lassen  und  an  die  Vereine  zu  versenden. 

In  Bezug  auf  die  Agitation  wurde  der  Beschluss  ge- 
fasst, die  jugendlichen  Hilfsarbeiter  und  Lehrlinge  in  die 
Organisation  einzubeziehen,  ohne  sie  zu  einer  materiellen 
Gegenleistung  zu  verpflichten.  Zur  Kennzeichnung  seiner 
Stellung  gegenüber  dem  projektirten  Gewerkschaftskongress 
in  London  nahm  der  Verbandstag  die  von  den  Wiener 
Fachvereinen  kürzlich  gefasste  Resolution  an,  wonach  der- 
selbe nicht  zu  beschicken  sei,  da  nur  in  den  internationalen 
Sozialistenkongressen,  deren  nächster  1893  in  Zürich  statt  - 
findet,  die  einzige  und  berechtigte  Vertretung  der  inter- 
national organisirten  Arbeiterschaft  erblickt  werden  könne. 
Einstimmige  Annahme  fand  auch  der  für  österreichische 
Verhältnisse  charakteristische  Beschluss,  diejenigen  Dele- 
girten des  Verbandstages,  welche  wegen  ihrer  Theilnahme 
an  demselben  gemassregelt  werden  sollten,  von  sämmtlichen 
Verbandsvereinen  unterstützen  zu  lassen. 

Kongress  der  österreichischen  Buchdrucker.  Der  in  den 

letzten  Oktobertagen  in  Wien  abgehaltene  Kongress  der  Buch- 
druckervereine hat  eine  Reihe  von  Beschlüssen  gefasst,  die  für 
den  Ausbau  dieser  Organisationen  von  grosser  Bedeutung  sind. 
Vor  allem  ist  es  die  Centralisation  der  Arbeitslosenunterstützung, 
welche  vom  Jahre  1893  in  Kraft  tritt  und  geeignet  ist,  das  Band, 
welches  die  verschiedenen  Organisationen  der  Buchdrucker  und 
Schriftgiesser  umschlingt,  zu  festigen  Einen  einheitlichen,  über 
alle  Provinzen  und  Fächer  sich  erstreckenden  Gewerkverein  zu 
gründen,  wurde  Abstand  genommen.  Die  vom  Buchdruckertag 
eingesetzte  Kommission  hat  in  der  Zeit  vom  29.  August  bis 
10.  September  1892  eine  Statistik  über  die  Lohn-,  Arbeits-  und 
Vereinsverhältnisse  Oesterreichs  aufgenommen,  deren  wichtigste 
Ergebnisse  folgende  sind: 

In  ganz  Oesterreich  (mit  Ausnahme  von  Dalmatien  be- 
stehen in  268  Druckorten  737  Druckereien.  Davon  sind  Daten 
eingelangt  aus  174  Druckorten  mit  501  Druckereien  ^68  pCt.); 
von  94  Druckorten  mit  236  Druckereien  waren  Daten  nicht  zu 
erlangen  (32pCt.).  Die  Daten  beziehen  sich  aut  die  Zahl  der 


96 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT 


No.  8. 


Beschäftigten,  der  Maschinen,  die  Arbeitszeit  und  die  Lohnver- 
hältnisse. Es  waren  beschäftigt: 


Faktore  

Korrektoren 

Setzer  im  festen  Lohne 

Setzer  im  Berechnen 

Maschinenmeister 

Drucker  

Setzerlehrlinge . . . 

Druckerlehrlinge 

Männliche  Hilfsarbeiter 

Weibliche  Hilfsarbeiter  ....  : 

Zusammen  . . 


286 
210 
. 2 691 
. 1 462 

688 
296 
1 664 
446 
. I 191 
_1  63 1 
. 10  565 


Die  Anzahl  der  verwendeten  Maschinen  belief  sich  auf 
2323  und  zwar: 


Schnellpressen  . . . 
Handpressen  . . . . 

Tretpressen  . . . . 

Die  Arbeitszeit  betrug: 


87-2 

Stunden  in  1 

Druckerei 

9 

„ „ 20 

Druckereien 

97a 

„ ,.  203 

10 

„ „ 226 

11 

„ ,,  46 

„ 

1 260 
394 
669 


5 Druckereien  hatten  keine  Arbeitszeit  angegeben 
Die  Lohnverhältnisse  sind  aus  folgender 
Stellung  ersichtlich: 


Höchster  \ 
Niedrigster  ( 
Höchster  \ 
Niedrigster  / 
Höchster  \ 
Niedrigster  i 
Höchster  \ 
Niedrigster  ( 
Höchster  1 
Niedrigster  ) 
Höchster  f 
Niedrigster  ( 
Höchster  1 
Niedrigster  / 
Höchster  \ 
Niedrigster  / 


Lohn  der  Faktore 

Lohn  der  Korrektoren 

Verdienst  der  Setzer  im  Berechnen 
Lohn  der  Setzer  im  gewissen  Gelde 
Lohn  der  Maschinenmeister  . . 

Lohn  der  Drucker  

Lohn  der  männlichen  Hilfsarbeiter 
Lohn  der  weiblichen  Hilfsarbeiter 


Zusammen- 

/ 40,-  fl. 

1 10,-  „ 
(28,—  .. 

1 10,—  ,. 

( 35,—  „ 

1 2,-  ,. 
(20,-  „ 
l 4,- 
(40,-  „ 
l V- 
( 25,-  „ 

1 5,  „ 

( 16—  „ 

\ 2,-  ,. 


Heber  den  Fortschritt  der  Organisation  erfahren  wir,  dass 
den  Gehilfenvereinen  3917  Personen  und  zwar  3755  qualifizirte 
und  162  Hilfsarbeiter  angehören;  Mitglieder  des  Prinzipal  Vereins 
sind  390  Gehilfen;  keinem  Vereine  gehören  1545  Gehilfen  und 
2640  Hilfsarbeiter,  zusammen  4185  Personen  an. 

Da  der  Buchdruckertag  beschlossen  hat,  der  Statistik  in  Zu- 
kunft grössere  Aufmerksamkeit  zuzuwenden,  so  ist  zu  erwarten, 
dass  der  im  Jahre  1894  stattfindende  Buchdruckertag  in  der 
Lage  sein  wird,  über  die  wirthschaftlichen  und  sozialen  Verhält- 
nisse der  österreichischen  Buchdruckereiarbeiter  ein  detaillirtes 
Referat  zu  erstatten. 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Der  Parteitag  der  deutschen  Sozialdemokratie. 

Der  in  Berlin  am  16.  d.  M.  zusammengetretene  Kon- 
gress der  deutschen  Sozialdemokratie  unterscheidet  sich 
von  seinen  Vorgängern,  dass  auf  demselben  blos  Fragen 
mehr  sekundärer  Natur  behandelt  werden,  während  auf 
dem  Hallenser  Kongress  die  Organisation  der  Partei,  auf 
dem  Erfurter  Parteitage  das  neue  Programm  beschlossen 
wurde  und  die  inneren  Streitigkeiten  der  Partei  zum 
Austrage  gebracht  wurden,  ln  den  ersten  vier  Ver- 
handlungstagen wurden  die  Rechenschaftsberichte  des 
Vorstandes  und  der  Reichstagsfraktion  besprochen  und 
gutgeheissen,  Beschlüsse  bezüglich  der  Stellung  der 
Frauen  in  der  Organisation  gefasst  und  über  die  Stellung 
der  Partei  zur  Maifeier  Beschluss  gefasst.  Erst  in  der 
nächsten  Nummer  wird  uns  Gelegenheit  geboten  sein,  über 
den  Verlauf  des  ganzen  Kongresses  ein  Bild  zu  entwerfen, 
heute  müssen  wir  uns  auf  ein  gedrängtes  Resume  der  Ver- 
handlungen beschränken. 

Circa  260  Delegirte  aus  Deutschland  hatten  sich 
zusammengefunden,  die  Sozialdemokratie  Oesterreichs,  der 
Niederlande  und  Schwedens  waren  durch  besondere  Dele- 
girte vertreten  , die  sozialdemokratischen  Parteien  der 
anderen  Länder  hatten  fast  ausnahmslos  in  Schreiben  und 
Telegrammen  ihren  Sympathien  für  die  deutsche  Sozial- 
demokratie Ausdruck  gegeben. 


Der  Bericht  der  Parteileitung  wurde  genehmigt,  es 
wurden  bei  Besprechung  desselben  zahlreiche,  zum  Theil 
wohl  unausführbare  Wünsche  vorgebracht.  Die  Debatte 
ging  hierbei  sehr  in  die  Breite,  aber  weniger  in  die  Tiefe. 
Bemerkenswerth  war  in  erster  Linie  die  Ablehnung  der 
Wünsche,  dass  die  Löhne  der  geistigen  Arbeiter  im  Dienste 
der  sozialistischen  Partei  gedrückt  werden  sollten,  wenn 
auch  nicht  geleugnet  werden  soll,  dass  diese  „Lohnpolitik“ 
nicht  blos  vereinzelte  Vertreter  fand. 

Auch  bei  den  Verhandlungen  über  den  Bericht  der 
Reichstagsfraktion  wurden  mannigfache  Wünsche  bezüg- 
lich der  künftigen  Thätigkeit  derselben  laut.  Dieselben 
wurden  sämmtlich  der  Fraktion  zur  Erwägung  übermittelt 
und  derselben  das  Vertrauen  des  Kongresses  votirt.  Zu 
lebhaftem  Beifall  wurde  bei  Besprechung  dieses  Punktes 
der  Kongress  bei  Schilderung  der  politischen  Zustände  in 
Elsass-Lothringen  hingerissen.  Beschlossen  wurde,  über 
die  Thätigkeit  der  Reichstagsfraktion  regelmässig  nach 
Sessionsschluss  einen  agitatorisch  verwerthbaren  Bericht 
zu  erstatten,  endlich  wurde  eine  energische  Resolution 
gegen  die  neue  Militärvorlage  gefasst. 

Eine  Reihe  von  Anträgen,  welche  Abänderung  der  Partei- 
organisation zum  Zwecke  hatten,  kamen  hierauf  zur  Ver- 
handlung. Dieselben  wurden  fast  ausnahmslos  abgelehnt, 
so  der  Antrag,  die  Parteitage  nur  in  zweijährigen  Zwischen- 
räumen abzuhalten,  den  Gehalt  des  Chefredakteurs  des 
„Vorwärts“  vom  Parteitage  aus  festzusetzen.  Angenommen 
wurde  ein  Antrag,  durch  den  das  Organisationsstatut 
stilistisch  derart  amendirt  wurde,  dass  die  volle  Gleich- 
stellung der  Männer  und  Frauen  innerhalb  der  sozial- 
demokratischen Partei  fürderhin  klarer  zum  Ausdruck 
komme. 

Eine  eingehende  Debatte  rief  die  Frage  der  Gestaltung 
der  Maifeier  im  Jahre  1893  hervor. 

Man  einigte  sich  fast  einstimmig  auf  die  folgende 
Resolution. 

„Im  Anschluss  an  die  auf  dem  Brüsseler  Kongress  ange- 
nommene Resolution  beschliesst  der  Parteitag  der  deutschen 
Sozialdemokratie: 

Als  Tag  der  Feier  gilt  der  1.  Mai.  An  diesem  Tage 
demonstrirt  die  klassenbewusste  deutsche  Arbeiterschaft  mit 
den  klassenbewussten  Arbeitern  der  ganzen  Welt  für  den  Acht- 
stundentag und  die  internationale  Regelung  der  Arbeiterschutz- 
gesetzgebung  im  Sinne  der  bekannten  Pariser  Resolution. 

Um  die  Feier  zu  einer  einheitlichen,  und  dadurch  in  ihrer 
Wirkung  nach  aussen  zu  einer  möglichst  imposanten  zu  ge- 
stalten, beschliesst  der  Parteitag,  dass,  wie  im  Vorjahre,  so  auch 
in  Zukunft,  die  Leitung  der  Feier  der  politischen  Organisation, 
der  Partei,  zufällt. 

Als  die  würdigste  Form  der  Feier  erachtet  der  Parteitag 
die  Arbeitsruhe  Da  jedoch  weder  durch  die  Beschlüsse  des 
internationalen  Kongresses  in  Paris,  noch  durch  die  des  Kon- 
gresses in  Brüssel  die  Arbeitsruhe  zur  unbedingten  Pflicht  ge- 
macht, es  vielmehr  den  einzelnen  Nationen  überlassen  wurde, 
den  gegebenen  Umständen  gemäss  zu  handeln:  da  ferner  die 
Art  der  Feier  durch  die  jeweilige  Geschäfts-Konjunktur  in  erster 
Linie  mit  bestimmt  wird,  beschliesst  der  Parteitag  eine  für  alle 
Zeit  giltige  Norm  nicht  zu  schaffen,  sondern  die  Bestimmung 
über  die  Art  der  Feier  den  jährlichen  Parteitagen  zu  über- 
lassen. 

Mit  Rücksicht  auf  die  zur  Zeit  herrschende  wirthschaft- 
liche  Misere,  die  einen  geschäftlichen  Aufschwung  bis  zum 
nächsten  Frühjahr  als  völlig  ausgeschlossen  erscheinen  lässt, 
hält  der  Parteitag  die  Proklamirung  der  allgemeinen  Arbeitsruhe 
für  den  1.  Mai  1893  als  undurchführbar  und  beschliesst  daher 
die  Feier  am  Abend  des  I.Mai  abzuhalten.“ 

In  der  Frage  des  Staatssozialismus,  die  bekanntlich 
während  der  letzten  Monate  zu  Diskussionen  sehr  ein- 
gehender und  t heilweise  heftiger  Art  in  der  sozialdemokra- 
tischen Parteipresse  geführt  hatte,  wurde  nach  dem  Vor- 
schläge Liebknechts  und  Vollmars,  die  zu  Referenten  er- 
nannt worden  waren,  folgende  Resolution  angenommen: 

„Der  Parteitag  erklärt: 

Die  Sozialdemokratie  hat  mit  dem  sogenannten  Staats- 
sozialismus nichts  gemein. 

Der  sogenannte  Staatssozialismus,  insoweit  er  aut  die  Ver- 
staatlichung zu  fiskalischen  Zwecken  hinzielt,  will  den  Staat  an 
die  Stelle  der  Privatkapitalisten  setzen  und  ihm  die  Macht  geben, 
dem  arbeitenden  Volk  das  Doppeljoch  der  ökonomischen  Aus- 
beutung und  der  politischen  Sklaverei  aufzulegen. 

Der  sogenannte  Staatssozialismus,  insoweit  er  sich  mit 
Sozialreform  oder  Verbesserung  der  Lage  der  arbeitenden  Klassen 
beschäftigt,  ist  ein  System  von  Halbheiten,  das  seine  Entstehung 
der  Furcht  vor  der  Sozialdemokratie  verdankt.  Er  bezweckt 
durch  kleine  Konzessionen  und  allerlei  Palliativmittel  die  Ar- 
beiterklasse der  Sozialdemokratie  zu  entfremden  und  diese  da- 
durch zu  lähmen. 


No.  8. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


97 


Die  Sozialdemokratie  hat  nie  verschmäht,  solche  staatliche 
Massregeln  zu  fordern,  oder  — falls  von  anderer  Seite  vorge- 
schlagen — zu  billigen,  welche  eine  Hebung  der  Lage  der  Ar- 
beiterklasse unter  ‘dem  gegenwärtigen  Wirthschaftssystem  her- 
beiführen könnten.  Sie  betrachtet  solche  Massregeln  aber  nur 
als  kleine  Abschlagszahlungen,  die  ihr  Streben  nach  der  soziali- 
stischen Neugestaltung  des  Staats  und  der  Gesellschaft  in  keiner 
Weise  beirren. 

Die  Sozialdemokratie  ist  ihrem  Wesen  nach  revolutionär, 
der  Staatssozialismus  konservativ.  Sozialdemokratie  und  Staats- 
sozialismus sind  unversöhnliche  Gegensätze.“ 

Den  Verlauf  der  Debatte  über  den  Staatssozialismus 
und  die  übrigen  Verhandlungen  des  beim  Schluss  dieses 
Berichtes  noch  tagenden  Parteitags  werden  wir  in  der 
nächsten  Nummer  darstellen. 


Arbeiterversicherung. 


Kostspieligkeit  der  berufsgenosseiischaftliclien  Un- 
fallversicherung-. Zu  diesem  Gegenstände  erhalten  wir 
folgende  Zuschrift:  „In  der  No.  4 II.  Jahrgang  Ihres  ge- 
schätzten Blattes  findet  sich  unter  der  Spitzmarke:  „Kost- 
spieligkeit der  Deutschen  Unfall-Berufsgenossenschaften  ein 
Aufsatz,  welcher  an  das  beantragte  Ausscheiden  der  staat- 
lichen Tiefbaubetriebe  des  Fürstenthum  Schwarzburg- 
Rudolstadt  aus  der  Tiefbau-Berufsgenossenschaft  anknüpft. 
Dieser  Artikel  zieht  aus  dem  Anträge  des  Fürstenthum 
Schwarzburg-Rudolstadt  Schlüsse,  einmal  über  die  Kost- 
spieligkeit der  deutschen  Unfallberufsgenossenschaften  und 
sodann  über  die  Kostspieligkeit  der  berufsgenossenschaft- 
lichen Verwaltung,  welchen  entgegenzutreten  wir  um  so 
mehr  Veranlassung  zu  haben  glauben,  als  der  vorliegende 
Fall  die  Tiefbau-Berufsgenossenschaft  unmittelbar  berührt. 
Es  bedarf  keiner  Erläuterung,  dass  die  „Kostspieligkeit  der 
Deutschen  Unfallberufsgenossenschaften“  und  „die  Kost- 
spieligkeit der  berufsgenossenschaftlichen  Verwaltung“  zwei 
wesentlich  verschiedene  Dinge  sind.  Im  Sinne  und  Geist 
der  sozialpolitischen  Gesetzgebung  muss  gewünscht  werden, 
dass  es  der  Industrie  und  dem  Gewerbe  möglich  ist,  die 
grössten  Aufwendungen  für  die  Entschädigungen  der  Un- 
fallversicherten zu  machen  und  zu  tragen,  mit  anderen 
Worten,  sozialaristokratisch,  und  wenn  selbst  kostspielig  zu 
wirthschaften.  Wir  kennen  zwar  den  Wortlaut  des  An- 
trages des  Fürstenthum  Schwarzburg-Rudolstadt  nicht,  und 
können  daher  nicht  beurtheilen,  ob  sich  dieser  Staat  einer 
entgegengesetzten  Auffassung  als  Begründung  seines  An- 
trages bedient  hat,  glauben  das  jedoch  nicht  annehmen  zu 
dürfen.  Dann  aber  ist  es  schwer  erfindbar,  in  welcher 
Weise  eine  Verminderung  der  Kostspieligkeit  zu  erwarten 
sein  könnte,  dass  der  Staat  an  die  Stelle  der  Berufsgenossen- 
schaft tritt.  Wenn  ferner  die  Tiefbau-Berufsgenossenschaft 
gesetzlich  verpflichet  ist,  für  die  Renten  Kapitaldeckung 
aufzubringen  und  überdem  einen  Reservefond  anzusammeln, 
dem  Staat  dagegen  als  Träger  der  Versicherung  eine  solche 
Verpflichtung  nicht  obliegt,  so  müsste  einem  nur  mässigen 
volkswirthschaftlichen  Verständniss  es  ausserordentlich 
kurzsichtig  erscheinen,  in  dieser  Uebertragung  der  Lasten 
der  Gegenwart  auf  die  Zukunft  eine  Verminderung  der 
Kostspieligkeit  zu  erblicken.  Die  Kostspieligkeit  der  berufs- 
genossenschaftlichen Verwaltung  anlangend,  so  ist  ohne 
Zweifel  zu  wünschen,  dass  diejenigen  Kosten,  welche,  ob- 
gleich unvermeidlich,  nicht  unmittelhar  für  die  Verletzten 
und  im  Interesse  derselben  aufgewendet  werden,  also  die 
wirklichen  Verwaltungskosten  so  niedrig  wie  möglich  sind. 
In  unserem  Falle  betragen  diese  Kosten  (im  Jahre  1891) 
7,4  pCt.  der  Gesammtumlage.  Eine  Erörterung  der  Frage, 
ob  diese  Quote  zu  hoch  oder  in  Ansehung  der  Zeit  des 
Bestehens  der  Genossenschaft  angemessen  sei,  erscheint  an 
dieser  Stelle  nicht  angebracht  und  können  wir  um  so  eher 
darauf  verzichten,  als  sowohl  die  berufsgenossenschaftliche 
Verwaltung  im  Allgemeinen  an  höchster,  berufener  Stelle 
jederzeit  Anerkennung  gefunden  hat,  als  auch  unsere  Ver- 
waltung im  Besonderen  seitens  der  Aufsichtsbehörde,  des 
Reichs- Versicherungsamts,  bisher  nicht  bemängelt  worden 
ist.  In  den  jährlichen  Beiträgen  des  Staates  Schwarzburg- 
Rudolstadt  würden  rund  80  M.  an  V erwaltungskosten  ent- 
i halten  sein  und  es  ist  vielleicht  nicht  ausgeschlossen,  dass 
in  diesem  Falle  die  aus  der  Uebernahme  der  Versicherung 
durch  den  Staat  entspringenden  Arbeitsleistungen  auch  ohne 


die  erwähnte  Aufwendung  erfolgen.  Eine  Ersparniss  im 
wirthschaftlichen  Sinne  ist  jedoch  auch  in  diesem  Falle  nicht 
vorhanden,  denn  die  erforderliche  Arbeit  muss  eben  ge- 
leistet werden.  Wir  können  daher  nicht  umhin,  die  aus  dem 
Ausscheidungsantrage  des  Fürstenthum  Schwarzburg-Rudol- 
stadt  gezogenen  Schlüsse  für  unzutreffend  zu  erachten, 
selbst  wenn  die  Begründung  des  Antrages  die  sich  aus  dem 
Artikel  ergebende  wäre.  Die  Tendenz  Ihres  geschätzten 
Blattes,  Gegensätze  auf  sozialem  Gebiete  zu  ermitteln  und 
auszugleichen  lässt  uns  hoffen,  dass  Sie  auch  unseren 
Aeusserungen  über  die  fragliche  Materie  Raum  zu  geben 
geneigt  sein  werden.  Mit  vorzüglichster  Hochachtung  er- 
gebenst Vorstand  der  Tiefbau-Berufsgenossenschaft.  Bendke.“ 
Zu  diesem  Schreiben  haben  wir  Folgendes  zu  bemerken. 
In  unserer  kritischen  Notiz  wurde  nicht  die  „Kostspieligkeit 
der  Berufsgenossenschaften“  als  solche  und  sodann  noch 
die  „Kostspieligkeit  der  berufsgenossenschaftlichen  Ver- 
waltung als  solche  betrachtet.  Diese  Trennung  erscheint 
uns  schon  deshalb  als  unstatthaft,  weil  die  Berufsgenossen- 
schaften nur  durch  ihre  Verwaltung  zur  wirthschaftlichen 
Bethätigung  gelangen.  Es  handelte  sich  vielmehr  lediglich 
um  die  Frage,  ob  die  Ausgaben  dieser  Verwaltung  im  Ver- 
hältniss  zu  ihren  theilweise  recht  mangelhaften  Ergebnissen 
„angemessen“  sind  und  auf  diese  Frage  will  die  Zuschrift 
der  Tiefbaugenossenschaft  gerade  nicht  eingehen.  Ver- 
meidet es  aber  die  Tiefbaugenossenschaft,  das  Verhältniss 
der  Verwaltungskosten  zu  ihren  Versicherungsleistungen 
in  obiger  Zuschrift  zu  erwähnen,  so  hat  sie  diesen  Punkt 
doch  inzwischen  in  einer  Eingabe  an  den  Bundesrath  be- 
rührt, welche  durch  die  Presse  bekannt  geworden  ist.  In 
dieser  Eingabe  heisst  es  wörtlich:  „die  Tiefbaugenossen- 
schaft verkennt  keineswegs,  dass  die  Staaten“  (welche  aus 
ihr  ausscheiden),  „eine  kleine  Ersparniss  an  Verwaltungs- 
kosten zu  erzielen  vermögen“.  Damit  wird  unsere  erste 
kritische  Notiz  bestätigt  und  es  erübrigt  jegliches  Eingehen 
auf  den  „sozialaristokratischen“  Charakter  der  Genossen- 
schaften, an  welchem  der  Sozialpolitik  und  den  versicherten 
Arbeitern  sehr  wenig  liegt. 

Ausdehnung  der  Krankenversicherungspflicht  auf 
Handlungsgehilfen.  Nach  Frankfurt  a.  M.  und  Dortmund 
haben  nunmehr  Wiesbaden  und  der  Amtsbezirk  Reut- 
lingen beschlossen,  sämmtliche  Handlungsgehilfen  ihres 
Bezirks  mit  Gehalt  von  nicht  über  2000  Mark  vom 
I.  Januar  n.  Js.  ab  für  versicherungspflichtig  zu  erklären. 
Dabei  sei  erinnert,  dass  diese  Ausdehnung  der  Versiche- 
rungspflicht bereits  unter  der  Herrschaft  des  alten  Ver- 
sicherungsgesetzes von  einigen  40  Städten  herbeigeführt 
worden  war,  die  diese  Einrichtung  selbstverständlich  bei- 
behalten. 


W ohnungszustände. 


Beförderung  von  Stadterweiterungen  in  Preussen. 

Dem  preussischen  Herrenhause  ist  als  Antrag  Adickes  und 
Genossen  ein  Gesetzentwurf,  betreffend  Stadterweiterungen, 
zugegangen.  Derselbe  bestimmt,  dass,  behufs  Erschliessung 
von  Baugeländen  in  einem  überwiegend  unbebauten  Theile 
des  Gemeindegebiets  mit  zertheiltem  Grundbesitz,  in  Stadt- 
gemeinden mit  mehr  als  10  000  Einwohnern  nach  endgiltiger 
Feststellung  eines  Fluchtlinienplanes  in  Gemässheit  der 
Gesetze  vom  2.  Juli  1875  die  zwangsweise  Zusammenlegung 
von  Grundstücken  verschiedener  Eigenthümer  verfügt  wer- 
den kann,  sowie  das  der  Gemeinde  nach  § 1 1 des  gedachten 
Gesetzes  zustehende  Recht  der  Enteignung  auf  das  neben 
öffentlichen  Strassen  und  Plätzen  gelegene  Gelände  aus- 
gedehnt werden  kann.  Das  Gesetz  hat  den  Zweck,  die 
Wohnungsnoth  in  den  grösseren  Städten  und  die  sozialen 
Missstände  zu  beseitigen,  welche  die  Zusammendrängung 
der  Bevölkerung  in  vielstöckigen  Miethskasernen  mit  sich 
bringt.  Das  Steigen  der  Preise  der  Baugrundstücke  soll 
verhindert  werden,  indem  man  den  Umwandlungsprozess 
von  Garten-  und  Ackerland  in  Baugelände  erleichtert.  Die 
Antragsteller  halten  das  sog.  Cottagesystem  für  das  beste 
Abhilfemittel  für  die  Wohnungsnoth. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


98 


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No.  8. 


timmen  vom  Rhein. 


C 

A W Unter  diesem  Namen  giebt  der  Rhein.  Bauernverein“  seit  1.  Nov.  1891 
■ ■ eine  Zeitschrift  für  land-  und  forstwirthschaftliche , sowie  christl.-soziale 
Angelegenheiten  des  Bauernstandes  und  Grundbesitzes  heraus,  welche  als 
Ergänzungshefte  des  in  einer  Auflage  von  35  000  Exemplaren  erscheinenden 
„Rhein.  Bauer, *•  dienen,  aber  auch  für  sich  ein  abgeschlossenes  Ganzes  bilden. 
Die  „Stimmen  vom  Rhein“  erscheinen  am  l..  8.,  15-  und  22.  jeden  Monats 
in  Stärke  von  mindestens  16  Seiten  8°  und  sind  durch  die  Post  für  50  Pf.  das  Viertel- 
jahr zu  beziehen. 

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Expedition  der  „Stimmen  vom  Rhein“  und  des  „Rhein  Bauer“ 

Klöckner  & Mausberg,  Kempen  (Rhein). 

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ber  Bofeeitungdtiftej  ....  2)tf.  0,80 
Bei  birefter  Äreujbaubfenbung: 

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3n  Berlin  bei  freier  gufenbung  . . „ 


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Verantwortlich  für  den  Anzeigenthcil : O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  28.  November  1892. 


Nummer  9. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Kammer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltent; 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


Arbeiter  Versicherung  und  So- 
zialstatistik. Von  Unterstaats- 
sekretär z.D.Dr.Georg  v.Mayr. 

Soziale  Wirtliscliaftspolitik  u. 
Wirtlischaftsstatistik: 

Ein  deutscher  Gesetzentwurf  gegen 
die  Unsittlichkeit. 

Gesetzentwurf  betreffend  das  Aus- 
wanderungswesen. 

Arbeiterzustämle: 

Enquete  über  die  Verhältnisse  im 
Handelsgewerbe  in  Frankfurt  a.M. 

Arbeiterverhältnisse  in  den  Buch- 
druckereien Böhmens. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Der  Ausstand  der  Baumwollspinner 
in  Lancashire. 

Unternehmerverbände : 

Der  Verband  schlesischer  Land- 
wirthe. 

Politische  Arbeiterbewegung : 

Der  Parteitag  der  deutschen  Sozial- 
demokratie. 

Arbeiterschutzgesetzgebung: 

Schutz  der  Kinder  gegen  gewerb- 
liche Ausnutzung. 


Neue  Arbeitsordnung  für  die  staat- 
lichen Kohlengruben  im  Saar- 
revier. 

Die  Sonntagsruhe  in  der  chemischen 
Industrie. 

Arbeiterversicherung: 

Die  „Belastung“  der  Industrie  durch 
die  staatliche  Arbeiterversiche- 
rung. Von  J.  Silbermann. 

Arbeitervertreter  in  den  Knapp- 
schaftskassen. 

Invaliditäts-  und  Altersversicherung 
der  Handweber. 

Innungsverbände  und  Lmfallver- 
sicherung  des  Handwerks. 

Reform  der  Krankenversicherung 
staatlicher  Arbeiter  in  Bayern. 

Gewerbegerichte , Einigungs- 
ämter u.  Arbeiterausscniisse: 

Einigung®-  und  Schiedsämter  in 
Frankreich.  Von  Leo  Frankel. 

Das  Ortsstatut  für  das  Berliner 
Gewerbegericht. 

Wolinungszustände: 

Ein  Beitrag  zur  Wohnungsstatistik 
in  Sachsen. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Arbeiterversicherung  und  Sozialstatistik. 

In  No.  6 des  Sozialpolitischen  Centralblatts  vom 
7.  November  1892  giebt  Dr.  Adolf  Braun  dankenswerthe 
Anregungen  über  die  Verwerthung  der  Quittungskarte 
der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  als  Zählkarte 
einer  Arbeitslosenstatistik , und  liefert  hierdurch  einen 
neuen  Beitrag  zur  Klarlegung  der  Thatsache,  dass  die 
Einrichtungen  der  öffentlich  - rechtlichen  Arbeiterver- 
Sicherung  in  reichem  Maasse  die  Möglichkeit  bieten, 
wichtiges  sozialstatistisches  Material  zu  sammeln,  sofern 
man  nur  den  ernsten  Willen  hat,  aus  dieser  Quelle  zu 
schöpfen.  Er  kommt  dabei  auf  die  von  mir  mehrfach  ge- 
gebenen Anregungen  zur  sozialstatistischen  Verarbeitung 
des  Materials  der  deutschen  Arbeiterversicherung  zu 
| sprechen,  und  fügt  bei,  es  sei  im  Allgemeinen  wohl  ver- 
zeihlich, dass  sich  hierfür  keine  besondere  Neigung  zeige, 
i da  die  Daten  der  Kranken-  und  Unfallversicherung,  speziell 


die  Lohnangaben  für  die  Zwecke  dieser  Versicherungen, 
nicht  in  einer  Weise  erhoben  werden,  um  mehr  als  An- 
näherungswerthe  zu  erhalten. 

Diese  pessimistische  Auffassung  ist,  wie  ich  zugebe, 
vollkommen  zutreffend,  wenn  man  nur  den  augenblicklichen 
Zustand  der  Lohnermittlungen,  insbesondere  bei  der  Un- 
fallversicherung im  Auge  hat.  Sie  trifft  aber  nicht  mehr 
zu,  wenn  man  eine  gesetzlich  nicht  blos  zulässige,  sondern 
eine  den  gesetzlichen  Anforderungen  sogar  mehr  als  die 
bisherige  Uebung  entsprechende,  Umgestaltung  der  Lohn- 
ermittlungen bei  den  Berufsgenossenschaften  ins  Auge  fasst. 
Hierauf  an  dieser  Stelle  hinzuweisen  scheint  mir  im  Inter- 
esse der  Sache  um  so  nöthiger,  als  voraussichtlich  in  nicht 
zu  ferner  Zeit  die  Reichskommission  für  Arbeiterstatistik 
sich  mit  einem  diese  Frage  behandelnden  Antrag  ihres 
Mitgliedes  Siegle  zu  beschäftigen  haben  wird. 

Die  bisherige  Art  der  Lohnermittlungen  bei  der  Un- 
fallversicherung ist  aus  einem  sachlichen  und  formellen 
Grunde,  unfruchtbar  für  die  Aufstellung  einer  Lohnstatistik. 
Der  sachliche  Grund  liegt  darin,  dass  bis  jetzt  nach  den 
wirklich  gezahlten  Löhnen  Seitens  des  Reichsversiche- 
rungsamts überhaupt  keine  Umfrage  gehalten  wird,  sondern 
nur  nach  den  versicherungstechnisch  in  Anrechnung  zu 
bringenden.  Der  formelle  Grund  ist  darin  zu  suchen,  dass 
man  darauf  verzichtet  hat,  allgemein  die  Aufführung  der 
besonderen  Nachweise  über  die  auf  die  einzelnen  Ar- 
beiter treffenden  Lohnbeträge  zu  verlangen,  vielmehr 
Seitens  des  Reichsversicherungsamts  mit  einer  summarischen 
Angabe  sich  begnügt  hat. 

In  beiden  Beziehungen  aber  bildet  das  Gesetz  kein 
Hinderniss  einer  Verbesserung  des  Materials,  weist  vielmehr 
geradezu  auf  eine  solche  hin. 

Nach  § 71  des  Unfallversicherungsgesetzes  hat  jedes 
Mitglied  der  Genossenschaft  binnen  6 Wochen  nach  Ab- 
lauf des  Rechnungsjahres  dem  Genossenschaftsvorstande 
eine  Nachweisung  einzureichen,  welche  enthält: 

1.  Die  während  des  abgelaufenen  Rechnungsjahres  im 
Betriebe  beschäftigten  versicherten  Personen  und  die  von 
denselben  verdienten  Löhne  und  Gehälter, 

2.  eine  Berechnung  der  bei  der  Umlegung  der  Bei- 
träge in  Anrechnung  zu  bringenden  Beträge  der  Löhne 
und  Gehälter, 

3.  die  Gefahrenklasse,  in  welche  der  Betrieb  einge- 
schätzt worden  ist. 

Dass  nicht  blos  die  anrechnungsfähigen,  sondern  auch 
— und  zwar  in  erster  Linie  — die  wirklich  gezahlten  Löhne 
in  den  Lohnnachweisungen  der  Berufsgenossen  aufgeführt 
werden  und  damit  in  das  bei  den  Berufsgenossenschaften 
sich  ansammelnde  Material  übergehen,  ist  direkte  gesetz- 


100 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


liehe  Vorschrift.  Dass  nicht  blos  „die  verdienten  Löhne“, 
sondern  auch  „die  versicherten  Personen“  aufzuführen 
sind,  lässt  wohl  kaum  einen  Zweifel  darüber,  dass  das  Ge- 
setz dabei  die  Einzelangabe  der  Arbeiter  im  Sinne  hatte. 

Nach  § 88  des  Unfallversicherungsgesetzes  sind  die 
Vorstandsmitglieder,  Vertrauensmänner  und  Beamten  der 
Genossenschaften  aut  Erfordern  des  Reichsversicherungs- 
amts zur  Vorlegung  ihrer  Bücher,  Belege  und  ihrer  auf 
den  Inhalt  der  Bücher  bezüglichen  Korrespondenzen,  so- 
wie der  auf  die  Festsetzung  der  Entschädigungen  und 
Jahresbeiträge  bezüglichen  Schriftstücke  an  die  Beauf- 
tragten des  Reichsversicherungsamtes  oder  an  das  letztere 
verpflichtet. 

Wie  die  Beziehungen  des  Reichsversicherungsamtes 
zu  den  Berufsgenossenschaften  sich  gestaltet  haben,  ist 
daran,  dass  diese  sich  weigern  könnten,  ihr  lohnstatistisches 
Material  einzusenden,  wohl  überhaupt  nicht  zu  denken. 
Sollten  sich  hier  aber  irgend  einmal  Schwierigkeiten  er- 
geben, oder  sollte  die  Auslegung  der  Bestimmungen  in 
§ 7 1 in  Betreff-  der  Sonderaufführung  der  den  einzelnen 
Arbeitern  gezahlten  Beträge  Anzweiflung  erfahren,  so  bliebe 
immer  noch  die  Reserve  der  Bestimmung  im  Reichsgesetz 
vom  1.  Juni  1891,  betr.  Abänderung  der  Gewerbeordnung 
(§  139b),  nach  welcher  die  Arbeitgeber  verpflichtet  sind, 
der  staatlichen  Aufsichtsbehörde  oder  der  Polizeibehörde 
diejenigen  statistischen  Mittheilungen  über  die  Verhältnisse 
ihrer  Arbeiter  zu  machen,  welche  vom  Bundesrath  oder 
von  der  Landes-Centralbehörde  unter  Festsetzung  der  da- 
bei zu  beobachtenden  Fristen  und  Formen  vargeschrieben 
werden.  Die  Heranziehung  dieses  allgemeinen  sozial- 
statistischen  Gesetzesparagraphen  wird  übrigens  voraus- 
sichtlich gar  nicht  nöthig  sein.  Die  Berufsgenossenschaften 
werden  selbst  die  Hand  zur  Aufstellung  einer  erschöpfenden 
und  fortlaufenden  Lohnstatistik  bieten,  wenn  dazu  von  be- 
rufener Seite  eine  zielbewusste  Anregung  erfolgt.  Dass 
die  Genossenschaften  aus  eigener  Initiative  nicht  zur  Ver- 
einbarung einer  alle  Genossenschaften  umspannenden  obli- 
gatorischen Lohnstatistik  gelangt  sind,  trotz  der  hierüber 
auf  den  Verbandstagen  in  Strassburg  (1890)  und  München 
(1891)  gepflogenen  bemerkenswerthen  Verhandlungen,  darf 
nicht  abschrecken.  Den  Genossenschaften  erwächst  durch 
die  Lohnstatistik  eine  Mühewaltung,  zu  deren  Selbstaufer- 
legung nicht  allenthalben  ein  genügend  kräftiger  Wille  vor- 
handen war.  Dass  aber  gleichwohl  das  Bedürfniss  nach 
Ausnützung  des  Versicherungsmaterials  zu  einer  Lohn- 
statistik  bei  den  Berufsgenossenschaften  immerhin  in  starkem 
Maasse  Ausdruck  zu  erlangen  wusste,  zeigt  deutlich,  dass 
bei  zielbewusstem  Entgegenkommen  Seitens  der  Reichs- 
verwaltung die  Ausnützung  des  entsprechend  auszugestal- 
tenden Materials  der  Berufsgenossenschaften  gelingen  muss. 

Die  Vorfrage,  o b dieses  Material  benützt  werden 
kann  und  benützt  werden  soll,  scheint  mir  hiernach  bejaht. 
Es  kommt  hiernach  nur  noch  darauf  an,  darüber  einig  zu 
werden,  wie  dieses  Material  auszugestalten  und  wie  dessen 
Ausnützung  statistisch-technisch  einzurichten  ist.  Ich  möchte 
auf  diese  Fragen  hier  nicht  näher  eingehen,  sondern  hier- 
über in  der  Hauptsache  auf  meine  auch  von  Dr.  Adolf 
Braun  erwähnten  Vorschläge  im  II.  Jahrgang  des  „Allge- 
meinen Statistischen  Archivs“  verweisen.  Hervorgehoben 
sei  hier  in  Kürze  nur  Folgendes.  Zur  Materialsammlung 
wäre  in  statistisch-technischer  Beziehung  festzuhalten,  dass 
die  Unternehmer  verpflichtet  werden,  Lohnzahlungslisten 
aufzustellen  und  einzureichen , welche  unter  Gruppirung 
der  beschäftigten  Personen  nach  ihrer  Stellung  im  Betrieb 
(Arbeitsrangstellung),  die  Dauer  der  Beschäftigung  jedes 
Arbeiters  in  einem  gegebenen  Zeitabschnitt  (Rechnungs- 
jahr) und  den  Betrag  des  demselben  im  Ganzen  gezahlten 
Lohnes  nachweisen.  Ueber  die  Art  und  Weise,  wie  die 


No.  9. 


Sammlung  und  Ausbeutung  dieses  Urmaterials  statistisch- 
technisch einzurichten  sein  wird,  will  ich  mich  hier  nicht 
verbreiten.  Dagegen  möchte  ich  noch  ein  gewissermassen 
statistisch-politisches  Verlangen,  das  ich  auch  in  den  oben 
erwähnten  Vorschlägen  betont  habe,  als  begründet  hervor- 
heben, nämlich  die  Vorkehrung  dafür,  dass  eine  Mitwirkung 
auch  der  Arbeiterkreise  bei  der  Feststellung  des  Urmaterials 
der  Lohnstatistik  stattflndet. 

Die  centrale  Verarbeitung  des  Materials,  welches  von 
sämmtlichen  Berufsgenossenschaften  eingeht,  wird,  da  wir 
ein  allgemeines  hierzu  berufenes  Arbeitsamt  nicht  besitzen, 
zweckmässig  nur  bei  dem  Reichsversicherungsamt  statt- 
finden können,  welches  hierzu  einen  statistischen  Dienst 
einzurichten  hätte,  welchem  die  Verwerthung  auch  des 
sonstigen  reichhaltigen  Materials  dieser  Behörde,  das  jetzt 
nur  ungenügend  genutzt  wird,  zufiele.  Das  Versicherungs- 
amt ist  aus  inneren  Gründen,  schon  wegen  seiner  ständigen 
Fühlung  mit  den  Berufsgenossenschaften  und  der  ständigen 
Beschäftigung  mit  den  auch  für  die  Statistik  bedeutungs- 
vollen Verhältnissen,  zur  Verarbeitung  der  berufsgenossen- 
schaftlichen Lohnlisten  weit  berufener  als  etwa  das  kaiser- 
liche Statistische  Amt.  Aber  auch  äussere  Gründe  sprechen 
in  diesem  Falle  gegen  die  Heranziehung  des  letzgenannten 
Amtes.  Dieses  hat  durch  die  allgemeinen  ihm  erwachsenden 
statistischen  Aufgaben,  insbesondere  auf  handelsstatistischem 
Gebiete,  schon  eine  solche  Geschäftslast,  dass  es  kaum  der 
Bewältigung  der  ihm  als  Arbeitsstelle  der  Reichskommission 
für  Arbeiterstatistik  zufallenden  Aufgaben  gewachsen  ist. 
Dies  ist  meines  Erachtens  durch  die  Erfahrung  in  sofern 
bereits  erwiesen,  als  der  vom  Standpunkt  der  an  er- 
schöpfender Massenbeobachtung  grundsätzlich  festhaltenden 
Statistik  bedenkliche  Entscheid  der  Kommission,  loei  den 
zunächst  in  Angriff  genommenen  Enqueten  auf  die  er- 
schöpfende Massenbeobachtung  zu  verzichten  und  das 
System  der  Stichproben  anzuwenden,  seine  Rechtfertigung 
nur  in  den  Schwierigkeiten  finden  kann,  welche  die  cen- 
trale Aufarbeitung  des  Stoffs  bietet.  Anzunehmen,  dass  das 
System  der  territorialen  Stichproben  auch  für  die  Erhebung 
selbst  geringere  Mühe  der  Betheiligten  zur  Folge  habe, 
wäre  eine  Täuschung.  Gesetzt,  ein  Gesammterhebungs- 
gebiet  zerfalle  in  die  drei  Gebietsabschnitte  A,  B und  C. 
Wenn  ich  statt  — wie  die  erschöpfende  Massenbeobachtung 
der  Statistik  es  erheischt  — in  dem  Gesammtgebiet  nur 
im  Gebiet  A eine  Erhebung  mache,  so  ist  nirgendwo  die 
Erhebungsmühe  geringer  als  bei  der  Gesammterhebung;  in 
A ist  sie  genau  so  gross,  und  in  B und  C giebt  es  über- 
haupt keine  Erhebungsmühe.  Eine  Differenz  positiver 
Mühewaltung  entsteht  erst  bei  der  centralen  Verwaltung. 
Mit  Rücksicht  auf  Ersparung  an  Verarbeitungskosten  die 
Erhebung  selbst  ihres  entscheidenden  statistischen  Charak- 
ters, nämlich  der  „erschöpfenden  Massenbeobachtung“  zu 
entkleiden,  halte  ich  für  einen  grundsätzlichen  Fehler,  über 
dessen  Bedeutung  ich  mich  hier  nicht  weiter  verbreiten 
will,  welchen  ich  aber  von  vornherein  als  ein  für  die  Ent- 
wickelung der  deutschen  Sozialstatistik  nicht  förderliches 
Element  von  der  Bearbeitung  der  aus  dem  Unfallmaterial 
zu  gewinnenden  Lohnstatistik  ferne  gehalten  wissen  möchte. 
Auch  diese  Erwägung  macht  hiernach  die  Schaffung  einer 
besonderen  die  Lohnstatistik  pflegenden  Organisation  bei 
dem  Reichsversicherungsamt  wünschenswerth.  Zugleich 
leitet  sich  daraus  die  dringende  Bitte  ab,  dass  die  Reichs- 
kommission das  System  der  „Stichproben“  nur  als  ein  aus- 
nahmsweise für  konkrete  Spezialenqueten  gewähltes  äusseres 
Erleichterungsmittel  ansehen,  auf  dasselbe  aber  fernerhin 
bei  grundlegenden  Ermittlungen  auf  dem  Gebiete  der 
Sozialstatistik  verzichten  möge. 

Strassburg.  Georg  von  Mayr. 


No.  9. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBI .ATT. 


101 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 
statistik. 

Ein  deutscher  Gesetzentwurf  gegen  die  Unsittlichkeit. 

Ein  auf  Veranlassung  des  Heinze’schen  Mordprozesses  entwor- 
fenes Gesetz  ist  dem  deutschen  Reichstage  vom  Reichskanzler 
zweganven.  Der  Entwurf  betitelt  sich  Gesetz  über  Abänderung 
des  Slrafu-esetzbuches,  des  Gerichtsverfassungsgesetzes  und  des 
Gesetzes  vom  5.  April  1888.  betreffend  die  unter  Ausschluss  der 
Oeffentlichkeit  stattfindenden  Gerichtsverhandlungen. 

Das  Strafgesetzbuch  erfährt  Abänderungen  und  Zusätze 
zu  den  §§  180,  181  und  184.  Im  ^ 180,  gewerbsmässige  Kuppelei, 
wird  ein  Strafminimum  von  I Monat  Gefängniss  festgesetzt, 
während  jetzt  bis  auf  1 Tag  herabgegangen  werden  konnte; 
auch  soll,  was  bisher  nicht  der  Fall  war,  zugleich  auf  Geldstrafe 
von  150 — 6000  Mark  erkannt  werden  können.  Ausserdem  erhält 
dieser  Paragraph  einen  Zusatz,  wonach  die  Vermiethung  von 
Wohnungen  an  Weibspersonen,  welche  wegen  gewerbsmässiger 
Unzucht  einer  polizeilichen  Aufsicht  unterstellt  sind,  straflos 
bleibt,  wenn  sie  unter  Beobachtung  der  hierüber  erlassenen 
polizeilichen  Vorschriften  erfolgt.  Der  § 181,  qualifizirte  Kuppelei, 
wird  auch  auf  die  Fälle  ausgedehnt,  in  welchen  der  Schuldige 
zu  der  verkuppelten  Person  in  dem  Verhältniss  des  Ehemannes 
zur  Ehefrau  stand.  Ausserdem  kann  in  den  Fällen  des  § 181 
zugleich  auf  Geldstrafe  von  150—6000  M.  erkannt  werden.  Ein 
§ 181  a betrifft  die  Zuhälter  und  setzt  eine  Strafe  nicht  unter 
einem  Monat,  und  wenn  der  Zuhälter  der  Weibsperson  der  Ehe- 
mann ist  oder  sie  durch  Anwendung  von  Gewalt  und  Drohungen 
zur  gewerbsmässigen  Unzucht  angehalten  hat,  nicht  unter  einem 
Jahre  Gefängniss  fest.  Ueberdies  kann  auf  Ehrenstrafen  erkannt 
werden.  Der  § 184  betreffs  unzüchtiger  Schriften  erfährt  eine 
Ausdehnung  auch  auf  die  Personen,  welche  solche  zur  Ver- 
breitung hersteilen  oder  zum  Zweck  der  Verbreitung  im  Besitz 
haben,  sowie  auf  die  Einleitung  unzüchtiger  Verbindungen  durch 
Ankündigung  in  Druckschriften  und  auf  öffeniliche  Ausstellung 
von  Abbildungen  oder  Darstellungen,  welche,  ohne  unzüchtig 
zu  sein,  durch  gröbliche  Verletzung  des  Scham-  und  Sittlich- 
keitsgefühls Aergerniss  zu  erregen  geeignet  sind. 

Die  allgemeinen  Strafbestimmungen  des  Strafgesetzbuches 
erhalten  eine  Erweiterung,  indem  bei  einer  Verurtheilung  zu 
Zuchthaus  oder  Gefängniss,  wenn  die  That  von  besonderer 
Rohheit  oder  Sittenlosigkeit  des  Thäters  zeugt,  auf  Verschärfung 
der  Strafe  bis  auf  die  Dauer  der  ersten  sechs  Wochen  erkannt 
werden  kann.  Die  Verschärfung  der  Strafe  besteht  darin,  dass 
der  Verurtheilte  eine  harte  Lagerstätte  und  als  Nahrung  Wasser 
und  Brot  erhält. 

Die  aus  § 361  No.  3 bis  8 des  Strafgesetzbuches  (Betteln, 
Vagabundiren,  Landstreicherei,  gewerbsmässige  Unzucht  u.  s.  w.) 
Verurtheilten  können  der  Landespolizei  überwiesen  und  auch  in 
Arbeitshäuser  u.  s.  w.  untergebracht  werden. 

Endlich  soll,  auch  wenn  die  Oeffentlichkeit  der  Gerichts- 
verhandlung nicht  ausgeschlossen  war,  falls  eine  Gefährdung 
der  Sittlichkeit  zu  besorgen  ist,  durch  Beschluss  des  Gerichts 
die  öffentliche  Mittheilung  aus  den  Verhandlungen  oder  aus 
einzelnen  Theilen  derselben  untersagt  werden  können. 

Ein  Gesetzentwurf  über  das  Auswanderungswesen  ist  dem 

deutschen  Reichstage  sofort  nach  seinem  Zusammentritte  zuge- 
gangen. Er  bestimmt  im  Wesentlichen  Folgendes: 

Wer  die  Beförderung  von  Auswanderern  nach  ausser- 
deutschen  Ländern  betreiben  will,  bedarf  einer  Erlaubniss  des 
Reichskanzlers.  Die  Erlaubniss  darf  nur  ertheilt  werden  a)  an 
Reichsangehörige,  welche  ihren  Wohnsitz  sowie  ihre  gewerbliche 
Niederlassung  im  Reichsgebiete  und  bei  beabsichtigter  Beförde- 
rung nach  aussereuropäischen  Ländern  (überseeische  Beförderung) 
an  einem  deutschen  Hafenplatze  haben  ; b)  an  juristische  Personen, 
eingetragene  Genossenschaften  undAktiengesellschaften, welche  im 
Reichsgebiete  ihren  Sitz  haben,  sowie  an  diejenigen  Kommanditge- 
sellschaften auf  Aktien,  welche  im  Reichsgebiete  ihren  Sitz  haben, 
und  deren  persönlich  haftende  Gesellschafter  sich  sämmtlich  im  Be- 
sitze der  Reichsangehörigkeit  befinden;  bei  beabsichtiger  über- 
seeischer Beförderung  jedoch  nur,  sofern  diese  Personen  oder  Ge- 
sellschaften ihren  Sitz  an  einem  deutschen  Hafenplatze  haben.  Vor 
Ertheilung  der  Erlaubniss  hat  der  Nachsuchende  eine  Kaution 
im  Mindestbetrage  von  30  000  M.  zu  bestellen,  und  im  Falle  über- 
seeischer Beförderung,  den  Nachweis  zu  führen,  dass  ihm  zu 
dieser  Beförderung  geeignete  eigene  Schiffe  zur  Verfügung 
stehen.  Die  Erlaubniss  ist  nur  für  bestimmte,  in  der  Ertaub- 
nissurkunde  zu  bezeichnende  ausserdeutsche  Länder  oder  Theile 
von  solchen  und  im  Falle  überseeischer  Beförderung  nur  für 
bestimmte,  in  der  Erlaubnissurkunde  zu  bezeichnende  Ein- 
schiffungshäfen zu  ertheilen.  Die  Erlaubniss  ist  nicht  zu  er- 
theilen  für  solche  überseeische  Beförderung,  welche  von  einem 
ausserdeutschen  Hafen  ausgeht.  Dem  Unternehmer  kann  jedoch 
die  Erlaubniss  ertheilt  werden,  mit  Schiffen,  welche  sich  auf 
einer  vom  deutschen  Hafen  aus  angetretenen  Fahrt  befinden, 
auch  von  ausserdeutschen  Zwischenhäfen  aus  Auswanderer  zu 
hefördern.  Die  Erlaubniss  darf  ferner  nicht  ertheilt  werden  für 
solche  überseeische  Beförderung,  welche  mit  Transportwechsel 
in  einem  ausserdeutschen  Hafen  verbunden  ist.  Sie  kann  jeder- 
zeit beschränkt  oder  widerrufen  werden,  Auswanderungsagenten 


bedürfen  der  Erlaubniss  der  höheren  Verwaltungsbehörde.  Sie 
müssen  Reichsangehörige  sein,  im  Bezirk  der  höheren  Verwal- 
tungsbehörde ihre  gewerbliche  Niederlassung  und  ihren  Wohn- 
sitz haben  und  müssen  von  einem  zugelassenen  Unternehmer 
bevollmächtigt  sein.  Sie  haben  eine  Kaution  von  1500  M.  zu 
stellen  und  dürfen  ihr  Geschäft  nicht  in  Zweigniederlassungen 
durch  Stellvertreter  oder  Umherziehen  betreiben.  Die  Erlaub- 
niss kann  jederzeit  beschränkt  oder  widerrufen  werden.  Da- 
gegen ist  nur  Beschwerde  an  die  Vorgesetzte  Behörde  zulässig. 

Die  weiteren  Bestimmungen  des  Gesetzes  sind  schon  früher 
mitgetheilt  worden  und  haben  im  Bundesrath  keine  Aenderung 
erlitten,  namentlich  der  § 21,  welcher  bestimmt,  wer  aus  dem 
Reichsgebiete  auswandern  will,  hat  hiervon  der  Ortspolizei- 
behörde seines  Wohnsitzes  oder  in  Ermangelung  eines  solchen 
derjenigen  seines  gewöhnlichen  Aufenthaltsortes  für  sich  und 
die  ihn  begleitenden  Familienangehörigen  Anzeige  zu  machen. 
Die  Anzeige  hat  den  voraussichtlichen  Zeitpunkt  der  Auswande- 
rung zu  enthalten.  Die  Ortspolizeibehörde  hat  über  die  bevor- 
stehende Auswanderung  eine  öffentliche  Bekanntmachung  zu 
erlassen.  Nach  Ablauf  von  vier  Wochen  seit  dem  Tage  der 
Bekanntmachung  ist  dem  Auswandernden  über  letztere  eine 
Bescheinigung  zu  ertheilen.  Die  Bescheinigung  kann  auf  Antrag 
vor  Ablauf  von  vier  Wochen  ertheilt  werden,  falls  kein  Grund 
zu  der  Annahme  vorliegt,  dass  der  Auswandernde  sich  durch 
die  Auswanderung  bestehenden  Verpflichtungen  entziehen  will. 
Soll  die  Auswanderung  später  als  drei  Monate  nach  dem  in  der 
Bescheinigung  angegebenen  Zeitpunkte  oder  unter  Zurücklassung 
eines  des  darin  bezeichneten  Angehörigen  stattfinden,  so  bedarf  es 
einer  erneuten  Anzeige  und  Bekanntmachung.  Die  öffentliche 
Bekanntmachung  und  die  Ertheilung  der  Bescheinigung  erfolgt 
Stempel-  und  kostenfrei.  Der  Unternehmer  darf  Auswanderer 
nur  befördern  auf  Grund  eines  vorher  abgeschlossenen  schrift- 
lichen Vertrages.  Der  Abschluss  des  Vertrages  darf  erst  erfolgen 
nach  Beibringung  der  im  § 21  bezeichneten  Bescheinigung. 


Arbeiterzustände. 


Enquete  über  die  Arbeitsverhältnisse  im  Handels- 
gewerbe von  Frankfurt  a.  M.  Ende  September  d.  J.  haben 
die  Handelskammer  und  der  Kaufmännische  Verein  von 
Frankfurt  a.  M.  zur  Kritik  und  Vervollständigung  der  hier 
schon  öfter  besprochenen  Reichsenquete  über  die  Arbeits- 
verhältnisse im  Ladengeschäft  des  Waaren-  und  Produkten- 
handels eine  Zusatzerhebung  veranstaltet,  welche  möglichst 
auf  alle  offenen  Geschäfte  der  genannten  Branche  ausge- 
dehnt wurde,  während  die  Reichsenquete  in  Frankfurt  a.  M. 
nur  ganz  wenige  Strassen  berücksichtigt  hatte.  Ueber  die 
Ergebnisse  dieser  Zusatzerhebung,  die  leider  nur  von  den 
Handelskorporationen  in  Frankfurt,  sonst  nirgends,  vorge- 
nommen  wurde,  erstattete  der  Kaufmännische  Verein  Be- 
richt in  einer  Denkschrift,  welche  er  an  die  Handelskammer 
richtete,  welche  diese  mit  dem  gesammten  Material  der 
Reichskommission  für  Arbeitsstatistik  einsandte  und  die 
jetzt  in  den  Mittheilungen  der  Handelskammer  veröffentlicht 
wird.  Nach  dieser  Denkschrift  leiden  die  von  Prinzipalen 
und  Gehilfen  nach  dem  Muster  der  Reichskommission  für 
Arbeiterstatistik  schriftlich  eingeholten  Auskünfte  in  aus- 
gedehntem Masse  an  Widersprüchen  und  Unvollständig- 
keiten.  Deshalb  muss  nach  der  Denkschrift  aus  dem  Er- 
gebnis der  Frankfurter  Zusatzenquete  der  Schluss  gezogen 
werden,  dass  das  schriftliche  Verfahren  überhaupt  nicht 
genügt,  um  Arbeitsverhältnisse  hinreichend  aufzuklären,  die 
theilweise  so  komplizirter  Natur  sind,  wie  beim  Handels- 
gewerbe. Dieser  Eindruck  wird  verstärkt  durch  die  sehr 
mangelhafte  schriftliche  Beantwortung  der  Rubriken  über 
Lehrlingswesen  und  namentlich  über  Wohnungs Verhältnisse, 
sowie  durch  die  seltene  Ausfüllung  der  Rubrik  „Bemer- 
kungen“, namentlich  durch  die  Gehilfen.  Auch  die  beiden 
Fragen,  wie  lange  der  Laden  geöffnet  ist  und  wie  lange 
das  Personal  beschäftigt  wird,  sind  in  den  seltensten  Fällen 
richtig  auseinander  gehalten  worden.  Wo,  sei  es  durch 
den  geringen  Bildungsgrad  vieler  Gehilfen,  sei  es  durch 
wirthschaftliche  Verhältnisse,  die  Beantwortung  schriftlicher 
Fragebogen  so  widersprechend  und  lückenhaft  ausfällt,  wie 
im  vorliegenden  Falle,  da  musste  unseres  Erachtens  zu  dem 
mündlichen  Enquete- Verfahren  gegriffen  werden,  bei  dem 
durch  kontradiktorische  Verhandlung  eine  Aufhebung  aller 
Missverständnisse  und  Unklarheiten  möglich  ist.  Soweit 
das  Urtheil  der  Denkschrift  über  die  Methode  der  Reichs- 
und Zusatzenquete.  Das  angesichts  dieser  Umstände  mit 
Bezug  auf  Gründlichkeit  und  Vollständigkeit  nicht  befrie- 


102 


No.  9. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


digende  Ergebnis«  der  Zusatzenquete  wird  sodann  dahin 
zusammengefasst,  dass  bezüglich  der  Arbeitszeit  die  absolut 
grösste  Ausdehnung  in  Kolonial-  und  Spezereihandlungen, 
sowie  in  Täback-  und  Cigarrenhandlungen  vorkommt  (bis 
zu  17  Stunden);  bei  letzteren  ist  stellenweise  ein  Ablösungs- 
system für  die  Gehilfen  eingeführt,  das  sich  vielleicht  auch 
auf  andere  Branchen  übertragen  Hesse.  ..  Mit  14- und  15- 
stündigen  Arbeitszeiten  folgen  dann  einzelne  Mateiial-  und 
Farbwaaren,  sowie  Putz-  und  Modewaarenhandlungen 
(offenbar  einschliesslich  Mittagspause).  Die  Schuhwaaren- 
handlungen  figuriren  in  den  Tabellen  mit  kürzeren  Arbeits- 
zeiten, es  steht  aber  fest,  dass  die  Beschäftigung  von  Per- 
sonal bei  denselben  stellenweise  bis  10  Uhr  Abends  dauert. 
Uebrigens  ist  nach  unserer  Ansicht  selbst  eine  kürzere  Ar- 
beitszeit von  I I und  1 2 Stunden,  wie  sie  ja  die  Tabellen 
vielfach  aufweisen,  wenigstens  dort  für  die  geistige  und 
körperliche  Entwicklung  der  jungen  Leute  nicht  zuträglich, 
wo  die  Mittagspause  nicht  feststeht,  wie  bei  sehr  vielen 
Geschäften,  die  aus  den  Tabellen  hervorgehen  oder  wo 
auch  während  des  Mittagessens  noch  Kunden  bedient  wer- 
den müssen.  Die  aussergewöhnliche  Arbeitszeit  spielt 
ausserdem  bei  zahlreichen  Handelszweigen  eine  nicht 
unbeträchtliche  Rolle,  die  grösste  bei  denjenigen,  welche 
ohnedies  längere  regelmässige  Arbeitszeiten  haben  und  bei 
den  Luxuswaarenhandlungen  vor  Weihnachten,  in  welchen 
nach  Auskunft  des  einen  Fragebogens  zu  jener  Zeit  manch- 
mal bis  2 Uhr  Nachts  gearbeitet  wird  Bezüglich  der  Kün- 
digungsfristen ist  aus  den  Antworten  der  167  Geschäfte  zu 
entnehmen,  dass  die  sogenannte  handelsgesetzliche  bei 
Weitem  nicht  mehr  vorherrscht,  sondern  kürzere  bis  zu 
14  Tagen  herab  vereinbart  werden.  Sehr  beliebt  scheint 
die  4 wöchentliche  oder  monatliche  Kündigungsfrist  zu  sein. 
Sehr  lückenhaft  sind  die  Antworten  auf  alle  übrigen  Fragen. 
Der  Brauch,  dass  die  Gehilten  Kost  und  Wohnung  beim 
Prinzipal  haben,  scheint  sich  namentlich  in  Kolonial-  und 
Spezereiwaarenhandlungen  erhalten  zu  haben.  Höcherfreu- 
1 ich  kann  zum  Schluss  die  Thatsache  genannt  werden,  dass 
je  ein  Geschäft  der  Mercerie-  und  Manufakturwaarenbranehe 
seine  Angestellten  unter  gewissen  Modalitäten  8 bezw. 
)4tägigen  Sommerurlaub  giebt,  ein  Beweis,  dass  diese  Wohl- 
that  recht  gut  mit  der  geschäftlichen  Praxis  sich  vereinigen 
lässt“  Hoffentlich  rindet  der  Beitrag  zur  Methodologie  der 
Handelsenquete,  den  Handelskammer  und  Kaufmännischer 
Verein  in  Frankfurt  a.  M.  geliefert  haben,  die  gebührende 
Beachtung  in  der  Reichskommission  für  Arbeiterstatistik, 
welche  ihre  Sitzungen  demnächst  wieder  beginnt.  Eine 
Ergänzung  der  bisherigen  schriftlichen  Erhebungen  durch 
ein  mündliches  Verfahren  scheint  dringend  geboten  zu  sein. 
Die  Reichskommission  sollte  nicht  zögern,  einige  ihrer  Mit- 
glieder in  eine  Spezialkommission  zu  delegiren,  welche 
sachkundige  Personen  aus  den  Berufsorganisationen  kooptirt 
und  mit  denselben  auf  einer  Studienreise,  die  nicht  länger 
als  4 Wochen  zu  dauern  braucht,  eine  Anzahl  Prinzipale 
und  Gehilfen  des  Ladengeschäfts  einiger  grösserer  und 
kleinerer  Orte  Nord-  und  Süddeutschlands  mit  Hilfe  der 
lokalen  Behörden  im  mündlichen  kontradiktorischen  Ver- 
fahren verhört.  Erst  dann  werden  brauchbare  Unterlagen 
für  die  Gesetzgebung  gewonnen  werden. 


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Ueber  die  Lohn  Verhältnisse  erfahren  wir,  dass  der 

1 arit,  welcher  für  Prag  ein  Minimum  10 — 12  fl.  und  einen 

Grundpreis  von  20  kr.  pro  1000  Buchstaben,  für  die  Provinz 
ein  Minimum  von  8 10  fl.  und  einen  Grundpreis  von 

18  kr.  normirt,  nur  von  145  Druckereibesitzern  eingehalten 
wird.  Der  Lohn  der  Setzer  im  Gewissgelde  (Metteure 
einbegriffen)  beträgt  im  Durchschnitt  12  18  fl.,  im  Minimum 

4 fl.,  im  Maximum  21 — 28  fl.  Der  Lohn  der  Setzer  im 
Berechnen  beträgt  im  Durchschnitt  12  15fl.,  im  Minimum 

2 fl.,  im  Maximum  28  fl  Der  Lohn  der  Maschinenmeister 
und  Drucker  stellt  sich  im  Durchschnitt  auf  12 — 16  fl.,  im 
Minimum  aut  5 fl,  im  Maximum  auf  30  fl.,  der  Lohn  der 
Hilfsarbeiter  auf  2-  10  fl. 

Die  Arbeitszeit  beträgt 
in  1 Druckerei  . 

,,  2 Druckereien 


„ 135 
» 17 

„ 8 

Die  Ueberstunden 
ohne  Entschädigung: 


9 Stunden, 

9'/s  , 

10 

10  V*  „ 

11 

werden  in  Prag  nach  dem  Tarife  gezahlt; 
werden  keine  Lieberstunden  gemacht. 


In  der  Provinz  wird  in  mehreren  Druckereien  an  den  ge- 
wöhnlichen Feiertagen  3-  4 Stunden  ohne  Entschädigung 
gearbeitet.  Die  Kündigungszeit  beträgt  in  den  meisten 
Druckereien  i 162)  14  Tage. 

Sehr  karg  sind  die  Angaben  über  die  gesundheit- 
lichen Verhältnisse.  Die  Durchschnittszahl  der  Kranken 
beträgt  239  oder  10,4  pCt.  von  der  Gesammtzahl;  diese 
Ziffer  bleibt  aber  hinter  der  Wirklichkeit  weit  zurück, 
Nach  den  ärztlichen  Ausweisen  ergiebt  sich  ein  durch- 
schnittlicher Krankenstand  von  30  pCt.,  wovon  18  pCt.  an 
Lungen-  und  Halskrank  heften,  9 pCt.  an  Rheumatismus  und 
3 pCt.  an  verschiedenen  Krankheiten  leiden. 

Von  den  1474  Buchdruckern  und  Schriftgiessern  ge- 
hören blos  986  dem  Centralvereine  an;  die  Aushilfsarbeiter 
haben  keinen  Verein. 

ln  Genossenschaften  organisirt  sind  in  Prag  627  Ge- 
hilfen, 219  Lehrlinge  und  444  Hilfsarbeiter;  in  der  Provinz 
sind  die  meisten  Buchdruckereiarbeiter  ohne  Genossenschaft 
und  zwar  443  Gehilfen,  263  Lehrlinge  und  222  Hilfsarbeiter. 
Nur  31  Gehilfen,  16  Lehrlinge  und  29  Hilfsarbeiter  haben 
eine  eigene  Genossenschaft,  während  187  Gehilfen,  143 
Lehrlinge  und  98  Hilfsarbeiter  einer  gemischten  Genossen- 
schaft angehören.  Da  dies  meist  Handels-  oder  Bauge- 
werbegenossenschaften sind,  kann  von  einem  Interessen- 
schutz der  diesen  Körperschaften  angehörigen  Arbeiter 
keine  Rede  sein. 


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1 


Arbeitsverhältnisse  in  den  Buchdruckereien  Böhmens. 

Der  „Centralverein  der  Buchdrucker  und  Schriftgiesser 
Böhmens“  hat  von  1 70  Buchdruckereien  im  Ganzen  giebt 
es  213  — Daten  veröffentlicht,  von  denen  einige  hier  repro- 
ducirt  seien. 

Die  Zahl  der  Beschäftigten  beträgt  3248,  darunter 
I 164  Setzer,  654  Lehrlinge  und  972  Hilfsarbeiter  (436  männ- 
liche und  536  weibliche  . Das  durchschnittliche  Alter  der 
erwachsenen  Arbeiter  schwankt  zwischen  20  und  50  Jahren, 
das  der  Lehrlinge  zwischen  14  und  20.  Das  Verhältnis«  der 
Lehrlinge  zu  den  Gehilfen  ist  ein  ungünstiges.  In  Prag 
soll  laut  Tarif  auf  3 Gehilfen  1 Lehrling  kommen;  es  giebt 
aber  Werkstätten,  in  denen  das  Zahlenverhältniss  der  Lehr- 
linge zu  den  Gehilfen  sich  wie  10:14,  9:8,  9:  15,  3:4  stellt. 
Noch  ungünstiger  steht  es  in  dieser  Beziehung  in  der  Pro- 
vinz. Hier  giebt  es  Buchdruckereien  mit  folgenden  Zahlen- 
verhältnissen: 


Lehrlinge 


10 

5 

6 
5 

3 

4 
7 
4 


Gehilfen 


>1 


3 

2 

3 

4 
2 
3 
2 
3 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Der  Ausstand  der  Baumwollspinner  in  Lancashire. 

Noch  lässt  sich  das  Ende  des  Kampfes  nicht  absehen. 
Aus  allen  Berichten  der  englischen  Blätter  geht  aber  hervor, 
dass  der  Kampf  ein  heftiger  und  lang  dauernder  sein  wird. 
Was  die  Organisation  anbelangt,  sind  die  Arbeiter  den  Unter- 
nehmern bei  weitem  überlegen.  Die  Arbeiter  stehen  wie 
ein  Mann  und  von  einer  Zersplitterung  ist  keine  Rede.  Sie 
verfügen  über  einen  seit  langem  aufgesammelten  Fond  von 
120  000  Lstrl.,  welcher  aber  vorläufig  nicht  angetastet  wird. 
Die  Unterstützungen  für  die  Strikenden  werden  durch 
Extraauflagen  von  den  in  Arbeit  Stehenden  aufgebracht. 
Es  ist  interessant,  sich  von  der  Höhe  dieser  Leistungen 
ein  Bild  zu  machen.  Der  regelmässige  Beitrag  der  Mit- 
glieder der  Spinnerunion  beträgt  1 sh.  3 d.  wöchentlich.  In 
den  letzten  3 Wochen  vor  dem  Strike  wurde  eine  ausser- 
ordentliche Auflage  von  weiteren  2 sh.  pro  Mann  ein- 
gehoben, seit  Beginn  des  Strikes  zahlen  die  in  Arbeit 


No.  9. 


so/.iAi.roi.mscuKS  ckntkai  .m.at'i 


10:5 


stehenden  Spinner  ausserdem  noch  2 sh.  wöchentlich,  so 
dass  sie  nicht  weniger  als  5 sh.  3 d.  Mann  für  Mann  bei- 
tragen. Unter  diesen  Umständen  ist  es  begreiflich,  dass 
trotz  der  enormen  Kosten  des  Ausstandes  der  aufgesammelte 
Fond  noch  nicht  angegriffen  zu  werden  brauchte.  Die 
Strikeunterstützung  beträgt  für  Spinner  12  sh.,  6 sh.  für 
Stiickarbeiter  und  3 sin  für  halftimers  (jugendliche  Halb- 
tagsarbeiter). Allein  in  Oldham  bezogen  10000  Mitglieder 
der  Cardroom  Association  in  einer  Woche  3700  Lstrl. 
als  Strikeunterstützung. 

Die  Arbeiter  fühlen  sich  ihrer  Sache  vollständig  sicher 
und  weisen  alle  Vermittlungsversuche  zurück.  Charakte- 
ristisch und  auch  in  allgemeiner  Hinsicht  interessant  ist.  die 
Aufnahme,  welche  der  Hinmiseluingsversuch  der  Mayors 
von  Liverpool  und  Manchester  fand,  welche  zu  einem 
Schiedsgericht  riethen.  Am  I.  November  muss  Herr 
A.  T.  Lee  ch,  Mayor  von  Manchester,  konstatiren , dass 
die  von  den  Vertretern  der  Arbeiter  gefasste  Resolution 
allen  seinen  Bemühungen  ein  Ende  mache,  und  er  schreibt 
an  Herrn  Mawdsley,  Sekretär  der  Assoziation  der  Baum- 
wollspinnereiarbeiter: „Ich  glaube  meine  Pflicht  gethan  zu 
haben,  was  immer  das  Resultat  sein  möge.  Das  Publikum 
wird  sich  ohne  Zweifel  einen  richtigen  Begriff  von  meinen 
und  des  Mayors  von  Liverpool  Bemühungen  machen.  Ich 
kann  nur  bedauern,  dass  der  Ton,  welchen  Ihre  Resolution 
anschlägt,  nicht  geeignet  ist,  die  obschwebenden  Differenzen 
einer  Beilegung  zuzuführen.“  Hierauf  antwortete  der 
Sekretär  der  Arbeitervereine:  „Ich  erwartete  von  Ihnen 

keine  weitere  Mittheilung  über  den  Gegenstand.  Darum 
war  ich  einigermassen  überrascht,  heute  in  meinem  Bureau 
einen  Brief  zu  finden,  in  welchem  Sie  Ihr  Bedauern  über 
den  „Ton“  unserer  Resolution  äusdrücken  Ihr  Brief 
scheint  ausdrücklich  zu  dem  Zwecke  geschrieben  zu 
sein,  eine  solche  Bemerkung  anbringen  zu  können 
und  darum  will  ich  darüber  ein  Wort  sagen.  Erstens 
boten  Sie  mir  Ihre  Mitwirkung  zur  Einsetzung  eines 
Schiedsgerichts  an,  um  den  „Strike“  zu  beenden.  Der 
Gebrauch  dieses  Wortes  bewies,  dass  Sie  nicht  einmal 
wissen,  um  was  es  sich  in  dem  Streite  handelt,  dass  Sie 
aber,  obwohl  Sie  von  der  Sache  nichts  wissen,  trotzdem 
voraussetzten,  dass  wir  und  unsere  Unternehmer  nicht 
fähig  seien,  unsere  Geschäfte  selbst  zu  ordnen,  sondern 
dass  Sie  und  andere  das  besser  verständen.  Wenn  nun 
dieser  Eingriff  bei  seinem  richtigen  Namen  genannt 
wird,  werden  Sie  böse  und  sprechen  von  einem 
„Ton“.  Aber  wir  müssen  es  ablehnen,  Lektionen  im  Brief- 
schreiben oder  im  Abfassen  von  Resolutionen  von  „Ver- 
mittlern“ anzunehmen,  die  sich  in  anderer  Leute  Angelegen- 
heiten  emmischen,  und  böse  werden,  wenn  man  ihnen  sagt, 
sie  sollten  sich  um  ihre  eigenen  bekümmern.  Es  scheint 
gegenwärtig  eine  Tendenz  bei  den  oberen  Klassen 
vorzuwalten,  zu  versuchen,  sich  auf  dem  Rücken  der 
Arbeiter  einen  Namen  zu  machen  und  sie  hernach  zu 
veranlassen,  unter  dem  Titel  der  „Versöhnung“ 
sich  Lohnreduktionen  zu  unterwerfen.  Das  wird  in 
unserem  Falle  nicht  geschehen  und  wenn  der  Briefwechsel 
zwischen  uns  Jemanden  überzeugt  hat,  dass  es  rathsam  ist, 
seine  Vermittlungsneigungen  zurückzuhalten,  bis  er  aufge- 
tordert  wird,  sie  auszuüben,  dann  wird  es  nicht  ganz  um- 
sonst gewesen  sein.  Ich  bleibe  etc.  ]ames  Mawdslev“. 

Dieser  Haltung  der  Arbeiter  gegenüber  sind  die 
1 nternehmer  nicht  im  Stande  , einig  vorzugehen.  Der 
Gedanke,  welchen  die  Arbeiter  vertreten,  die  schlechte 
Geschäftslage  nicht  mit  Verringerung  der  Löhne,  sondern 
mit  Reduktion  der  Arbeitszeit  zu  bekämpfen,  findet  in  ihren 
eigenen  Reihen  vielfach  Anklang,  und  ein  Theil  der  bürger- 
lichen Presse  ergeht  sich  in  Ermahnungen  und  Wehklagen 
über  solche  Fahnenflucht.  Es  wird  den  Fabrikanten,  welche 
weiter  arbeiten  lassen,  vorgehalten,  dass  sie  nicht  nur  die 
Kraft  des  Unternehmerverbandes  direkt  schwächen,  sondern 
ebenso  direkt  die  ausständigen  Arbeiter  unterstützen,  indem 
sie  bei  der  Lohnauszahlung  faktisch  die  Unterstützung  für 
die  Strikenden  mitauszahlen  müssen.  Aber  all  das  bleibt 
ohne  Erfolg,  weil  ein  grosser  Theil  der  Fabrikanten  auf 
dem  Standpunkt  steht,  eine  5prozentige  Lohnverringerung 


sei  nicht  im  Stande,  ihnen  zu  helfen,  und  es  sei  ein  frivoles 
Beginnen,  deswegen  in  einen  so  ausgedehnten  Lohnkampf 
einzutreten.  So  ist  in  Stock po-rt  ein  volles  Viertel  aller 
Fabriken,  welche  sämmtlich  der  Unternehmerföderation  an- 
gehören, in  voller  Thätigkeit,  obwohl  sie  ein  beträchtliches 
Pönale  zahlen  müssen.  Ueber  die  Ursache  der  Krise  im 
ßaumwollgexchäft  entnehmen  wir  den  englischen  Blättern 
einige  interessante  Daten.  Der  Rückgang  des  Baumwollen- 
verbrauches wird  dieses  Jahr  von  Seite  der  Fachleute  auf 
volle  6 pCt.  geschätzt,  aber,  und  das  ist  das  Wichtige,  die 
Zahl  der  Spindeln  hat  sich  in  derselben  Zeit  vermehrt. 
„Es  giebt  weniger  Arbeit  für  die  Spindeln,  und  mehr  Spin- 
deln, um  sie  zu  verrichten“,  so  dass  der  Rückgang  der  ver- 
arbeiteten Baumwolle  per  Spindel  auf  8 pCt.  berechnet 
wird.  Ihm  gegenüber  steht  der  Aufschwung  der  Industrie 
in  Amerika.  Im  Jahre  1890-  91  wurden  dort  2 958  000  Ballen 
Baumwolle  verarbeitet,  1 89 1 — 92  3 225  000  Ballen.  Aber 
noch  einschneidender  als  dieser  Umstand  wirkt  die  allge- 
meine Geschäftskrise  und  der  in  Folge  dessen  sinkende 
.Verbrauch,  und  zwar  sinkender  Verbrauch  nicht  nur  in  der 
Quantität,  sondern  was  für  Lancashire  entscheidend  sei, 
in  der  Qualität.  Lancashire  spinnt  gute , feine  Waare; 
gröbere  Garne  werden  auf  dem  Kontinente,  noch  minder  - 
werthigere  in  Amerika  und  die  schlechtesten  in  Indien  er- 
zeugt. Lancashire  erzeugt  theuere,  die  Konkurrenten  aber 
billige  Waare;  darum  muss  die  Geschäftskrise  Lancashire 
doppelt  treffen. 

Die  bürgerliche  Presse,  welche  in  England  weit  ob- 
jektiver Lohnkämpfe  beurtheilt,  als  das  auf  dem  Kontinent 
der  Fall  zu  sein  pflegt,  neigt  zum  grossen  Theil  zu  der 
Meinung,  dass  Lohnreduktionen  ein  schlechtes  und  unzu- 
reichendes Mittel  seien,  um  den  Nothstand  einer  Industrie  zu 
bekämpfen,  ja  vielfach  geht  sie  selbst  soweit,  die  Forde- 
rung der  Abkürzung  der  Arbeitszeit  auf  das  Kräftigste  zu 
unterstützen. 


Unternehmerverbände. 

Verband  schlesischer  Landwirthe.  Ein  „Verband  zur 
Besserung  der  ländlichen  Arbeiterverhältnisse“  ist  nunmehr 
auch  für  Schlesien  am  19.  November  in  Breslau  von  Guts- 
besitzern und  Landwirthen  der  Provinz  gegründet  worden.  Es 
wurde  offen  gesagt,  die  Anregung,  die  Sache  in  die  Hand  zu 
nehmen  und  die  vorbereitenden  Schritte  zu  thun,  habe  der  Vor- 
stand des  landwirthschaftlichen  Centralvereins  für  Schlesien 
durch  einen  in  der  diesjährigen  Sitzung  des  Centralvereins  an- 
genommenen Antrag  erhalten,  der  dahin  ging,  mit  allen  zur 
Verfügung  stehenden  Kräften  und  geeignet  erscheinenden 
Mitteln  die  Vereinigung  der  landwirthschaftlichen  Arbeitgeber 
der  Provinz  zu  einem  festgefügten  Verbände  „zur  Bekämpfung 
des  Kontraktbuches  der  Arbeitnehmer“  herbeizuführen.  Aller- 
dings habe  der  geplante  Verband  in  den  verschiedenen  Theilen 
Schlesiens  nicht  überall  die  gleiche  Aufnahme  gefunden.  Von 
den  eingegangenen  612  vorläufigen  Anmeldungen  entfielen  38 
auf  Oberschlesien,  516  auf  Mittelschlesien  und  58  auf  Nieder- 
schlesien Dagegen  kommen  in  Betracht,  dass  der  sächsische 
Verband,  der  bei  der  Gründung  des  schlesischen  immer  als  Vor- 
bild gedient  habe,  im  Januar  1891  mit  19  Mitgliedern  gegründet 
worden  sei  und  jetzt  deren  5000  zähle.  Das  sei  ein  Beweis,  auf 
wie  gesundem  Boden  sich  derselbe  entwickelt  habe  und  be- 
rechtige zu  der  Hoffnung,  dass  in  der  Provinz  Schlesien  dasselbe 
günstige  Resultat  nach  kurzer  Zeit  erreicht  werden  möge.  Nach 
kurzer  Debatte  wurden  die  Satzungen  im  Ganzen  angenommen. 
Der  Zweck  des  Verbandes  findet  im  § 1 seinen  Ausdruck,  der 
folgendermassen  lautet:  „Für  das  Gebiet  des  landwirthschaft- 

lichen Centralvereins  für  Schlesien  wird  ein  Verband  gebildet, 
welcher  den  Namen  annimmt:  „Verband  zur  Besserung  der 

ländlichen  Arbeiterverhältnisse  im  Gebiete  des  landwirthschaft- 
lichen Centralvereins  für  Schlesien“  und  den  Zweck  verfolgt, 
das  Recht  und  die  ehrliche  Arbeit  seiner  Mitglieder  zu  schützen 
und  ihnen  in  ihren  Bestrebungen  zur  Besserung  der  Lage  ihrer 
ländlichen  Arbeiter  zu  helfen.  Zur  Erreichung  dieser  Zwecke 
unternimmt  es  der  Verband:  a)  seine  Mitglieder  zu  schützen 
gegen  den  dolosen  Kontraktbruch  ländlicher  Arbeiter,  b)  seine 
Mitglieder  zu  unterstützen  durch  den  Nachweis  von  Arbeitern 
und  durch  Ueberwachung  der  Makler  und  Agenten,  c)  seinen 
Mitgliedern  zu  helfen  bei  den  Einrichtungen  zum  Wohle  ihrer 
braven  Arbeiter.  Der  Verband  verfolgt  seine  Ziele  im  Anschluss 
an  die  Bestrebungen  des . landwirthschaftlichen  Centralvereins 


104 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  9. 


für  Schlesien  und  hat  seinen  Sitz  in  Breslau.  Während  des 
Bestehens  des  Verbandes  und  während  der  Liquidation  desselben 
gilt  zwischen  dem  Verbände  und  seinen  Mitgliedern  für  alle 
Verbindlichkeiten  beiderseits  Breslau  als  Erfüllungsort  und  für 
alle  Rechtsstreitigkeiten  Breslau  als  GerichtsstancT  vereinbart  “ 
Das  nennt  man  heute  unter  Grossgutsbesitzern  ,, Verbesserung 
der  ländlichen  Arbeiterverhältnisse11. 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Der  Parteitag  der  deutschen  Sozialdemokratie. 

Auch  die  Debatte  über  den  Staatssozialismus  erhob 
sich  nicht  Uber  das  Durchschnittsniveau  der  allgemeinen 
Verhandlungen  des  Parteitages,  obgleich  die  besten  Redner 
und  die  tüchtigsten  Köpfe  an  derselben  theilnahmen,  aber 
alles  Interesse  war  in  dem  Momente  geschwunden,  als  Lieb- 
knecht mit  Vollmar  gemeinsam  die  in  der  vorigen  Nummer 
des  Sozialpolitischen  Centralblatts  veröffentlichte  Resolu- 
tion einbrachten.  War  doch  damit  erklärt,  dass  die  Ent- 
scheidung schon  vor  dem  Parteitage  gefallen  war,  und  die 
in  der  sozialistischen  Presse  stattgehabte  Discussion  die 
Sache  erledigt  hatte.  Ebenso  war  damit  konstatirt,  dass 
Vollmar  wie  in  Erfurt  auch  hier  die  Gelegenheit  erfassen 
werde  zu  erklären,  dass  er  auf  dem  gleichen  Boden  stehe, 
wie  diejenigen,  die  ihn  früher  so  scharf  angegriffen  haben. 
Es  fehlt  deshalb  an  einer  Veranlassung  hier  weiter  auf  die 
Debatte  einzugehen , denn  wichtiger  als  was  im  Verlauf 
derselben  gesagt  wurde  ist  die  Thatsache,  dass  Vollmar 
seinen  Namen  unter  die  Resolution  Liebknechts  gesetzt  hat. 
Nach  alledem  kann  man  annehmen,  dass  Vollmar  sich  von 
jetzt  an  in  Reih’  und  Glied  der  offiziellen  Sozialdemo- 
kratie bewegen  wird. 

Nach  Erledigung  der  Frage  des  Staatssozialismus  fand 
eine  kurze  Debatte  über  den  internationalen  Kongress  in 
Zürich  statt.  Der  Kongress  stimmte  der  folgenden  Reso- 
lution bei: 

„Die  deutsche  Sozialdemokratie  erachtet  es  als  ihre  Pflicht, 
den  im  Jahre  1893  in  Zürich  stattfindenden  internationalen  Ar- 
beiterkongress zahlreich  zu  beschicken.  Es  ist  ferner  wünschens- 
werth.  dass  die  Genossen  aus  den  einzelnen  Kreisen  auch  ihrer- 
seits Vertreter  entsenden.  Die  deutsche  Sozialdemokratie 
wünscht,  dass  in  die  Tagesordnung  des  Kongresses  aufgenom- 
men werden:  „Die  politische  Betheiligung  der  Arbeiterklasse  an 
dem  Kampf  um  die  politische  Macht“  und  „Die  Stellung  der 
Arbeiter  zum  Krieg“. 

Betreffend  den  Beschluss  des  englischen  Trades-Unions- 
lvongresses  zu  Glasgow,  in  Bälde  einen  internationalen  Gewerk- 
schaftskongress einzuberufen,  welcher  berathen  soll,  in  welcher 
Weise  der  gesetzliche  Achtstundentag  international  verwirklicht 
werden  kann , erklärt  der  Parteitag  der  deutschen  Sozial- 
demokratie: 

Es  liegt  kein  Grund  vor,  angesichts  des  im  nächsten 
Jahre  stattfindenden  internationalen  Arbeiterkongresses  zu  Zürich, 
der  gleich  seinen  Vorgängern  zu  Paris  und  Brüssel  die  Ange- 
legenheit des  Achtstundentags  erörtern  wird,  noch  einen  beson- 
deren internationalen  Gewerkschaftskongress  einzuberufen. 
Auch  ist  die  Frage  nach  der  gesetzlichen  Regelung  des  Acht- 
stundentags insofern  wesentlich  eine  politische  Fragen,  als  die- 
selbe nur  auf  dem  Wege  der  Gesetzgebung  gelöst  werden  kann. 
Es  sind  also  die  politischen  Arbeiterparteien  dabei  mindestens 
ebenso  interessirt  als  die  reinen  Gewerkschaftsorganisationen, 
und  überdies  geht  diese  Frage  alle  Arbeiter  an  ohne  Rücksicht 
auf  ihre  Zugehörigkeit  zu  irgend  einer  Organisation. 

Der  Parteitag  hegt  die  Erwartung,  dass  die  deutschen  Ge- 
werkschaften im  Sinne  der  obigen  Erklärung  einer  etwaigen 
Einberufung  eines  besonderen  internationalen  Gewerkschafts- 
kongresses nicht  Folge  leisten  wohl  aber  ihre  Delegirten  auf 
den  internationalen  Arbeiterkongress  nach  Zürich  senden,  wel- 
cher allein  als  der  Vertretungskörper  des  klassenbewussten  in- 
ternationalen Proletariats  angesehen  werden  kann. 

Der  Parteitag  hegt  ferner  die  Erwartung,  dass  auch  die 
englischen  Gewerkschaften  das  Verkehrte  ihres  Beschlusses  ein- 
sehen,  von  der  Einberufung  eines  besonderen  internationalen 
Gewerkschaftskongresses  Abstand  nehmen  und  ihre  Delegirten 
ebenfalls  auf  den  internationalen  Arbeiterkongress  nach  Zürich 
senden  werden.“ 

Nach  Erledigung  dieses  Punktes  der  Tagesordnung 
wurde  das  politische  Gebiet  verlassen  und  in  die  Be- 
sprechung der  Frage  des  Ge werkschafts wesens,  Boycotts 
und  der  Kontrollschutzmarke  eingetreten.  Zum  Besten  was 
über  diese  Fragen  vom  sozialdemokratischen  Standpunkte 
bisher  vorgebracht  worden  war,  gehört  das  Referat  des 


Reichstagsabgeordneten  Auer.  Die  zu  diesem  Gegenstand 
vom  Referenten  eingebrachte  fast  einstimmig  angenommene 
Resolution  lautet: 

In  der  Frage  des  Genossenschaftswesens  steht  die  Partei 
nach  wie  vor  auf  dem  Standpunkt: 

Sie  kann  die  Gründung  von  Genossenschaften  nur  da  gut- 
heissen, wo  sie  die  soziale  Existenzermöglichung  von  im  poli- 
tischen oder  gewerkschaftlichen  Kampf  gemassregelten  Genossen 
bezwecken  oder  wo  sie  dazu  dienen  sollen,  die  Agitation  zu 
erleichtern,  sie  von  allen  äusseren  Einflüssen  der  Gegner  zu  be- 
freien. Aber  in  allen  diesen  Fällen  müssen  die  Partei-Genossen 
die  Frage  der  Unterstützung  davon  abhängig  machen,  dass  ge- 
nügend Mittel  für  eine  gesunde  finanzielle  Grundlage  zur  Ver- 
fügung stehen  uud  Garantien  für  geschäftskundige  Leitung  und 
Verwaltung  gegeben  sind,  ehe  Genossenschaften  ins  Leben  ge- 
rufen werden. 

Im  übrigen  haben  die  Parteigenossen  der  Gründung  von 
Genossenschaften  entgegenzutreten  und  namentlich  den  Glauben 
zu  bekämpfen,  dass  Genossenschaften  im  Stande  seien,  die 
kapitalistischen  Produktionsverhältnisse  zu  beeinflussen,  die 
Klassenlage  der  Arbeiter  zu  heben,  den  politischen  und  gewerk- 
schaftlichen Klassenkampf  der  Arbeiter  zu  beseitigen  oder  auch 
nur  zu  mildern. 

Der  Boykott  ist  für  den  politischen  und  gewerkschaft- 
lichen Kampf  der  Arbeiterklasse  eine  Waffe,  die  nur  unter  der 
aktiven  Theilnahme  der  grossen,  heute  noch  nicht  organisirten 
Massen  wirksam  in  Aussicht  auf  Erfolg  nur  in  den  Fällen  in 
Vorschlag  gebracht  werden,  wo  es  sich  um  Fragen  handelt,  an 
denen  weite  Arbeiterkreise  mit  tiefgehendem  Interesse  betheiligt 
sind,  insbesondere  auch  um  Zurückweisung  von  Bestrebungen, 
welche  eine  politische  Schädigung  der  Arbeiterklassen  be- 
zwecken. 

Unter  keinen  Umständen  aber  darf  der  Boykott  zu  einem 
Mittel  der  politischen  oder  wirthschaftlichen  Vergewaltigung 
werden  zu  dem  Zwecke,  die  politische  Gesinnung  oder  persön- 
liche Ueberzeugung  zu  strafen,  oder  die  äussere  Bekundung 
einer  politischen  Meinung  oder  deren  Bethätigung  zu  er- 
zwingen. 

Die  Kontroll-  oder  Schutzmarke  hat  den  Zweck,  dem 
Käufer  einer  Waare  zu  zeigen,  dass  bei  deren  Herstellung  die 
jeweiligen  Forderungen  der  betreffenden  Gewerkschaftsorgani- 
sation in  bezug  aut  Lohnhöhe  und  Arbeitsbedingungen  erfüllt 
werden.  Dabei  ist  es  völlig  gleichgiltig,  ob  diese  Waaren  von 
einer  Arbeiter-Genossenschaft  oder  von  einem  Privatunternehmer 
hergestellt  werden. 

Nur  in  diesem  Sinne,  als  eine  der  Waffen  im  gewerk- 
schaftlichen Kampfe,  kann  die  Kontroll-  oder  Schutzmarke  die 
Unterstützung  der  Parteigenossen  beanspruchen.  Da  sie  zur 
Erreichung  ihres  Zweckes  aber  wie  der  Boykott  die  Theilnahme 
und  Sympathie  der  breiten  Massen  voraussetzt,  so  kann  sie  nur 
bei  Artikeln  in  Frage  kommen , die  hauptsächlich  von  der 
Arbeiterklasse  konsumirt  werden. 

Die  Parteigenossen  haben  gegen  die  Kontrollmarke  sich 
in  allen  den  Fällen  zu  erklären,  wo  ihrer  Einführung  der  Ge- 
danke zu  Grunde  liegt,  mittelst  derselben  den  gewerkschaft- 
lichen Kampf  überflüssig  zu  machen,  oder  wo  sie  als  direktes 
Zwangsmittel  dazu  dienen  soll,  jungen  oder  schwachen  Organi- 
sationen Mitglieder  zuzuführen  oder  zu  erhalten.  Diese  Ver- 
wandlung der  Kontrollmarke  zu  einer  Art  Prämie  führt  nur  zur 
politischen  Heuchelei  um  augenblicklicher  Vortheile  willen,  zur 
moralischen  nnd  materiellen  Vergewaltigung  einzelner  und 
schliesslich  zur  völligen  Demoralisation  und  Auflösung  der  ge- 
sammten  Organisation. 

Den  Ausführungen  über  den  Boykott  wurde  ohne 
Widerspruch  zugestimmt,  ebenso  den  Anschauungen  über 
die  Erkennungskarten  der  Kellner,  Friseure  und  Civil- 
musiker.  Lebhafte  Vertheidigung  seitens  der  Hutmacher, 
im  Uebrigen  keiner  gewichtigen  Angriffe  hatte  sich  die 
Kontrollmarke  der  Hutmacher  zu  erfreuen.  Die  Genossen- 
schaften fanden  keine  ernstlichen  Verfechter,  und  der  Ver- 
such, den  Kongress  zu  einer  klaren  Stellungnahme  für  die 
Gewerkschaftsbewegung  und  zu  den  Organisationsfragen 
in  derselben  zu  veranlassen,  war  von  Erfolg  nicht  be- 
gleitet. 

Ueber  eine  Reihe  von  Anträgen,  welche  sich  für 
Aenderung  einiger  Punkte  des  im  Vorjahre  beschlossenen 
Programmes  aussprachen,  ging  der  Kongress  zur  Tages- 
ordnung über. 

Aus  der  Debatte  über  die  „Presse“  ist  hervorzuheben, 
dass  die  Gründung  eines  zweiten  und  zwar  wöchentlich 
erscheinenden  Centralorgans  der  Partei  ebenso  abgelehnt 
wurde,  wie  der  Antrag  dass  der  Parteivorstand  über  die 
Gründung  neuer  Blätter  zu  entscheiden  habe.  Zahlreiche 
Klagen  wurden  gegen  die  „Neue  Welt“,  das  belletristische 
Organ  der  Partei,  erhoben. 

In  Betreff  des  Verhaltens  der  Partei  gegenüber  den 
Arbeiterinnen  wurde  nach  einer  glänzenden,  dass  Interesse 
des  Parteitages  in  hohem  Masse  fesselnden  Rede  der  Frau 
Clara  Zetkin,  folgende  Resolution  angenommen: 


No.  9. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


105 


,,Der  Parteitag  beschliesst 

1.  dass  seitens  der  sozialdemokratischen  Partei  eine  rege 
Agitation  entfaltet  werde  zum  Zweck  der  Einbeziehung  der 
Proletarierinnen  in  die  gewerkschaftlichen  und  — wo  dies  mög- 
lich — politischen  Organisationen  der  Arbeiter  und  ihrer  be- 
wussten, zielklaren  Betheiligung  an  dem  Befreiungskampf  ihrer 
Klasse  5 

2.  dass  die  sozialdemokratische  Partei  kräftig  dafür  agitire, 
und  die  sozialdemokratische  Reichstagsfraktion  dafür  eintrete, 
dass  den  Arbeiterinnen  der  freie,  unbeschränkte  Gebrauch  des 
Vereins-  und  Koalitionsrechts  gewährleistet  werde; 

3.  dass  von  der  sozialdemokratischen  Partei  in  den  Zeiten 
der  Wahlagitation  Versammlungen  veranstaltet  werden  mit  dem 
Doppelzwexk,  gegen  die  politische  Rechtlosigkeit  des  weiblichen 
Geschlechts  zu  "protestiren  und  Aufklärung  über  politische 
Fragen  in  die  Reihen  der  Proletarierinnen  zu  tragen.“ 

Das  Verhalten  der  sozialdemokratischen  gegenüber 
allen  anderen  politischen  Parteien  fand  seinen  Ausdruck 
durch  die  Annahme  des  folgenden  von  Augustin-Berlin  ge- 
stellten Antrags: 

„In  Erwägung,  dass  die  Verstärkung  der  sozialen  Gegen- 
sätze, die  zunehmende  Arbeitslosigkeit,  die  wachsende  Aus- 
beutung des  Proletariats  durch  die  bestehende  kapitalistische 
Herrschaft  bewirkt  wird,  dass  der  Kampf  zwischen  Kapital  und 
Arbeit  sich  immer  mehr  verschärft,  die  Interessen  der  Arbeiter 
von  der  einen  „reaktionären  Masse“,  die  alle  bürgerlichen  Parteien 
bilden,  immer  mehr  unterdrückt  werden,  weist  die  Sozialdemo- 
kratie jeden  Kompromiss  mit  anderen  Parteien  — gleichviel  ob 
direkt  oder  indirekt  — zurück.“ 

Nachdem  noch  eine  Reihe  persönlicher  Angelegen- 
heiten erledigt  und  dem  Vorstande  der  Partei  durch  die 
Wiederwahl  das  volle  Vertrauen  des  Parteitages  ausge- 
drückt worden  war,  konnte  der  Parteitag  am  21.  November 
Nachmittags  vom  Vorsitzenden,  Reichstagsabgeordneten 
Singer,  geschlossen  werden. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Schutz  der  Kinder  gegen  gewerbliche  Ausnutzung. 

Nach  einer  neuen  von  der  Stadt  Gera  erlassenen  Polizei- 
verordnung dürfen  dort  Schankwirthe  schulpflichtige  Kinder 
nicht  über  10  Uhr  Abends  zum  Kegelaufsetzen  benutzen. 
Zuwiderhandlungen  werden  mit  Geldstrafen  bis  zu  150  M. 
bestraft.  So  weit  damit  die  Grenze  für  die  Ausnutzung 
noch  hinaus  geschoben  ist,  so  muss  die  Verordnung  doch 
als  ein  Anfang  zur  Besserung  begrüsst  werden.  In  Leipzig 
bereitet  man  ähnliche  Massnahmen  erst  vor.  Zunächst  wurden 
Erhebungen  in  den  dortigen  Schulen  darüber  angestellt, 
welchen  Einfluss  die  Beschäftigung  der  Schulkinder  mit  Kegel- 
aufstellen, Hausiren,  Semmel-  und  Zeitungsaustragen  u.  s.  w. 
auf  deren  Fortschritte  in  der  Schule  hat.  Die  Ergebnisse 
dieser  Erhebungen  sind  nicht  sehr  erfreulich;  es  zeigte 
sich  bei  den  meisten  dieser  Kinder,  dass  bei  einem  über- 
mässigen Ausnützen  im  Erwerb  die  Lernlust  eine  nur  sehr 
geringe  war.  In  Folge  dessen  sollen  die  Schuldirektoren 
ermächtigt  werden,  solchen  Kindern,  bei  denen  die  Arbeits- 
kraft durch  die  Eltern  oder  Pfleger  zu  sehr  ausgenutzt 
wird,  das  Semmel-  und  Zeitungsaustragen,  Hausiren  u.  s.  w. 
ganz  zu  verbieten.  Von  einem  allgemeinen  Verbote  ist 
vorläufig  abgesehen  worden,  „um  nicht  die  Familien  in  ihren 
Erwerbsvernältnissen  zu  schwer  zu  schädigen“.  Dass  diese 
Rücksicht  auf  die  Dauer  ernstlich  nicht  in  Betracht  kommen 
kann,  unterliegt  wohl  keinem  Zweifel. 

Neue  Arbeitsordnung  für  die  staatlichen  Kohlengruben 
im  Saarrevier.  Eine  neue,  58  Paragraphen  enthaltende  Arbeits- 
ordnung für  die  fiskalischen  Saargruben  soll  mit  dem  nächsten 
1.  Januar  in  Kraft  treten.  In  derselben  ist  die  regelmässige 
tägliche  Arbeitszeit  auf  acht  Stunden  festgesetzt;  die  Zeit  vom 
Beginn  der  Einfahrt  bis  zur  Beendigung  der  Ausfahrt  jeder 
Fahrabtheilung  soll  neun  Stunden  nicht  überschreiten.  Für  die 
Tage  vor  und  nach  Sonn-  oder  Feiertagen  können  Beginn  und 
Ende  der  Schicht  mit  Rücksicht  auf  die  Wege  derjenigen  Ar- 
beiter, welche  ihre  Familie  nur  an  Sonn-  und  Festtagen  be- 
suchen können,  durch  Anordnung  der  Berginspektion  nach  An- 
hörung des  Arbeiterausschusses  um  längstens  drei  Stunden 
früher  bezw.  später  bestimmt  werden.  Bef  vorhandener  Gefahr 
für  die  Sicherheit  der  Baue  sowie  für  die  Sicherheit  des  Lebens 
und  der  Gesundheit  der  Arbeiter  ist  der  Arbeiter  verpflichtet, 


die  Arbeit  über  die  regelmässige  Schichtzeit  hinaus  fortzusetzen. 
Sind  in  Folge  von  Betriebsunfällen,  Mangels  Eisenbahnwagen 
zur  Verladung  oder  aus  anderen  Ursachen  (!)  Schichten  ver- 
kürzt oder  ausgefallen,  so  müssen  die  Arbeiter  auf  Verlangen 
der  Berginspektion  die  Arbeit  zeitweise  über  die  regelmässige 
Dauer  hinaus  fortsetzen  oder  Nebenschichten  machen.  Vorher 
ist  der  Arbeiterausschuss  zu  hören.  Bezüglich  des  Lohnes  wird 
vom  Obersteiger  bestimmt,  ob  eine  Arbeit  im  Schicht-  oder 
Gedinglohn  ausgeführt  werden  soll.  Die  Schichtlöhne  werden 
für  die  einzelnen  Arbeiterklassen  und  Betriebszweige  durch  den 
Bergwerksdirektor  festgesetzt  und  in  eine  Tabelle  eingetragen. 
Der  Abschluss  des  Gedinges  geschieht  einerseits  durch  den 
Ober-  oder  Fahrsteiger,  anderseits  durch  den  Kameradschafts- 
ältesten. Wenn  nichts  Anderes  verordnet  ist,  gilt  das  Gedinge 
auf  die  Dauer  des  Kalendermonats.  Als  Einheit  der  Arbeits- 
leistung wird  dem  Gedinge  bei  der  Kohlengewinnung  und  dem 
Streckenbetriebe  regelmässig  die  Tonne  und  das  Meter  zu 
Grunde  gelegt  Kommt  eine  Einigung  über  das  Gedinge  nicht 
; zu  Stande,  so  wird  die  Arbeit  nach  den  festgesetzten  Schicht- 
lohnsätzen belohnt.  Die  Berechnung  der  im  Gedinge  geförderten 
Kohlen  erfolgt  nach  Gewicht.  Die  Kosten  des  Auslesens  un- 
reiner Wagen  sind  von  denen  zu  tragen,  die  dieselben  gefördert 
haben.  Bei  Berechnung  wird  das  Gewicht  auf  5 kg  nach  unten 
abgerundet.  Den  Arbeitern  steht  es  frei,  die  Feststellung  des 
| Gewichtes  durch  einen  vom  Arbeiterausschuss  gewählten  Ver- 
| trauensmann  auf  ihre  Kosten  überwachen  zu  lassen.  Die  Aus- 
1 Zahlung  des  Lohnes  erfolgt  durch  eine  Abschlagszahlung  in  der 
ersten  Hälfte  des  Monats  und  die  Hauptlöhnung  in  der  zweiten 
Hälfte.  Auslöhnung  an  Minderjährige  selbst  findet  im  Allge- 
| meinen  nur  auf  schriftlichen  Antrag  des  Vaters,  Vormundes,  der 
f Ortspolizeibehörde  und  nach  Anhörung  des  Arbeiterausschusses 
statt.  Die  Strafen  bestehen  entweder  in  Geldstrafen  oder  in 
zeitweiliger  Ablegung.  Wer  gegen  die  Anordnungen  im  Betriebe 
verstösst,  wird  mit  Geldstrafe  bis  höchstens  zur  Hälfte  des  für  die 
vorhergegangene  Lohnperiode  ermittelten  durchschnittlichen 
Tagesarbeitsverdienstes  derjenigen  Arbeiterklasse,  zu  welcher  er 
| gehört,  bestraft.  Die  Geldstrafen,  welche  in  einem  Monat  6 M. 
nicht  übersteigen  dürfen,  fliessen  in  die  Knappschaftskassen. 
Völlige  Entlassung  tritt  u.  a.  ein,  wenn  der  Arbeiter  die  sicher- 
heitspolizeiliche Vorschrift  Übertritt  oder  sich  Thätlichkeiten 
oder  grobe  Beleidigungen  gegen  die  Beamten  oder  deren  An- 
gehörige zu  Schulden  kommen  lässt.  Für  den  Fall  der  rechts 
widrigen  Auflösung  des  Arbeitsverhältnisses  durch  den  Arbeiter 
hat  derselbe  für  jeden  Arbeitstag  vom  Tage  des  Wegbleibens 
an  bis  zu  demjenigen,  an  welchem  die  Beendigung  des  Arbeits- 
verhältnisses rechtmässig  erfolgen  konnte,  höchsten  jedoch  für 
sechs  Arbeitstage,  einen  Schadenersatz  zu  zahlen,  der  für  den 
Arbeitstag  dem  für  die  Beiträge  zur  Krankenkasse  massgeben- 
den durchschnittlichen  Tagelohn  gleichkommt.  Zur  Anbringung 
von  Beschwerden  oder  Anliegen  dürfen  sich  nie  mehr  als  drei 
Mann  gleichzeitig  einfinden.  Die  Arbeitsordnung  wird  in  den 
nächsten  Tagen  den  Grubenausschüssen  zur  Berathung  vorgelegt. 
Befremdend  wirkten  in  derselben  die  Vorschriften,  nach  welchen 
beliebig  Ueberstunden  geleistet  werden  müssen  und  monatliche 
Lohnberechnung  mit  14-tägigem  Abschlag  stattfindet,  während 
die  Zahlung  nach  dem  Gewicht  derjenigen  nach  dem  Raummass 
der  Förderwagen,  wie  sie  in  Westfalen  noch  üblich  ist,  weit 
vorzuziehen  sein  dürfte. 


Sonntagsruhe  in  der  chemischen  Industrie.  Ein 

Industrieller  theilt  aus  dem  Regierungsentwurf  der  Aus- 
führungverordnung, welche  im  Anschluss  an  die  neue  Ge- 
werbeordnung die  Sonntagsruhe  für  die  Arbeiter  der  che- 
mischen Industrie  im  Deutschen  Reiche  regeln  soll,  in  der 
Kölnischen  Zeitung  Folgendes  mit.  Die  Vermehrung  der  Pro- 
duktion durch  Sonntagsarbeit  wird  konsequent  ausge- 
schlossen; bei  allen  Soda-,  Sulfat-  und  sonstigen  Oefen 
dürfen  nur  die  Feuer  unterhalten  werden,  während  die  Be- 
schickung mit  Material  untersagt  ist;  selbst  bei  den  Blei- 
kammern der  Schwefelsäurefabriken  soll  eine  wesentliche 
Verminderung  der  zugeführten  Menge  von  Schwefelsäure- 
gas Platz  greifen.  Bemerkenswerth  sei  ferner,  dass,  während 
der  Gefahrentarif  der  Berufsgenossenschaft  für  die  che- 
mische Industrie  298  Haupt-  und  Nebenbetriebe  aufzählt 
— darunter  Kategorien,  -wie:  Fabrikation  chemisch-tech- 
nischer und  pharmazeutischer  Produkte  und  Präparate, 
anderweitig  nicht  genannt  — der  Entwurf  einer  Verordnung 
zur  Regelung  der  Sonntagsruhe  in  nur  15  Nummern  Fabri- 
kationen behandelt,  die  sich  mit  etwa  1 9 Positionen  des  Ge- 
fahrentarifs decken.  Bedauerlich  bleibt  es  jedenfalls,  dass 
solche  sozialpolitische  Entwürfe  immer  nur  Unternehmern, 
nicht  aber  den  Arbeitern  und  der  Allgemeinheit  zur  Kritik 
zugänglich  gemacht  werden. 


106 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  9. 


Arbeiterversicherung. 

Die  „Belastung11  der  Industrie  durch  die  staatliche 
Arbeiterversicherung. 

Schon  bei  der  Berathung  der  Arbeiter  versicherungs- 

• . ’ ....  O 

gesetze  im  Reichstage  wurde  von  den  individualistisch  ge- 
sinnten Gegnern  derselben  ohne  Unterlass  darauf  hinge- 
wiesen, dass  eine  solche  staatlich  aufgezwungene  Belastung 
die  industriellen  Produktionskosten  vertheuern  und  die  Pro- 
duktion selber  womöglich  unlohnend  machen  würde.  Nun 
ist  es  ja  wahr,  dass  unsere  Industrie  sich  in  einer  Krisis 
befindet,  aber  die  Ursache  liegt  doch  in  Wirklichkeit  weit 
tiefer  als  in  den  Ausgaben  für  Kranken-  und  Unfallver- 
sicherung der  Arbeiter.  Die  bedeutende  Differenz  in  der 
Rentabilität  der  einzelnen  Industriezweige  in  der  Reihe 
der  Geschäftsjahre  beweist,  dass  der  Gewinn  von  ganz 
anderen  Faktoren  abhängig  ist  als  von  den  Kosten  für  die 
Arbeiterversicherung.  Trotz  alledem  wird  in  der  Presse 
fortwährend  über  die  Belastung  der  Industrie  durch  die 
soziale  Gesetzgebung  geklagt,  so  dass  der  interessirte 
Leser  schliesslich  zu  dem  Schlüsse  kommt:  Aus  deiner 

Haut  werden  die  Riemen  für  den  Arbeiter  geschnitten. 

Um  nach  dieser  Seite  ein  annähernd  richtiges  Resultat 
zu  erhalten,  ist  es  nothwendig,  den  durchschnittlichen  Ge- 
winn möglichst  vieler  Etablissements  in  Betracht  zu  ziehen. 
Nehmen  wir  nun  die  im  Kurszettel  des  „Berliner  Börsen- 
courier“  in  den  Jahren  1887 — 1891  bezw.  1887/88 — 1891/92 
aufgeführten  Industriepapiere  unter  Beiseitelassung-  der 
wenigen  mit  Unterbilanz  arbeitenden  Gesellschaften,  so  er- 
halten wir  folgendes  Bild:  Es  entfällt  an  Dividende  auf  die 
einzelne  Gesellschaft  durchschnittlich: 

1887  1888  1889  1890  1891b 

(bezw.  1887/88)  (1888/89)  (1889/90?  (1890/91)  (1891/92) 

bei  den  Bergwerks-  und  Hütteng'esellschaften 
4,8  6,83  8,79  10,64  10,1 

bei  den  Baumaterialien-Gesellschaften 
7,92  10,8  8,41  7,88  4.94 

bei  den  Beleuchtungs-Gesellschaften 

6.07  8,02  6,73  6,45  6,15 

bei  den  Brauereien.  Mälzereien,  Brennereien 

10.7  9,7  8,26  7,26  7 

bei  den  chemischen  Fabriken 

8,45  8,85  9,85  11,29  10,18 

bei  den  Eisenbahnbedarfs-  und  Maschinenbau-Gesellschaften 
7,68  8,63  10,46  9,86  9,6 

bei  den  Glas-  und  Porzellan-Gesellschaften 
7 9,25  9,8  9,2  7,4 

bei  den  Gummifabrik-Gesellschaften 
7,73  10,37  11,47  10,21  8,28 

bei  den  Metallindustrie-Gesellschaften 

4.7  8,36  8,12  7,77  4,88 

bei  den  Papierfabrik-Gesellschaften 

7,83  9,07  9,07  8,39  7,08 

bei  den  Tuch-  und  Hutfabrik-Gesellschaften 
6,25  8,16  9,2  5,41  1,69-') 

frei  den  Webereien,  Spinnereien,  Kattunfabriken 


5,53 

8,04 

9,39 

6,08 

4,06 

bei  den 

Zuckerfabrik 

en 

8,19 

9,75 

4,62 

7,08 

6,83 

bei  verschiedenen  anderen  Industriegesellschaften 
7,94  9,47  8,07  8,78  7,13. 

Kann  man  angesichts  dieser  Zahlen  wirklich  davon 
sprechen,  dass  die  Industrie  an  die  Grenze  sozialpolitischer 
Leistungsfähigkeit  angekommen  ist?  Und  man  bedenke 
dabei  noch,  dass  die  Gewinnergebnisse  der  Privatunter- 
nehmungen, denen  das  Gesetz  oder  ein  Statut  hinsichtlich 
der  Rücklagen  zum  Reservefonds,  der  Vertheilung  von 
Tantiemen  und  dergleichen  eine  Beschränkung  nicht  aufer- 
legt, sich  noch  weit  günstiger  gestalten.  Abgesehen  von 
den  Tuch-  und  Hutfabriken  beträgt  die  geringste  im  letzten 

')  Für  das  Jahr  1891  bezw.  1891/92  sind  natürlich  nur  die- 
jenigen Gesellschaften  in  Betracht  gezogen,  deren  Geschäftser- 
gebnisse am  4.  November  schon  bekannt  waren. 

2)  Das  Ergebniss  ist  hier  wesentlich  beeinflusst  durch  die 
Manipulationen  eines  Bankhauses,  welche  die  Gerichte  längere 
Zeit  beschäftigt  haben. 


Geschäftsjahre  gezahlte  Dividende  4,88  pCt.  bei  den  Metall- 
industrie-Gesellschaften , sie  bildet  also  eine  durchaus 
lohnende  Kapitalsanlage,  und  das  umsomehr,  als  allem 
Anscheine  nach  ein  Steigen  der  Produktionsthätigkeit  für 
die  nahe  Zukunft  in  Aussicht  steht.  Bei  all  diesen  doch 
noch  immer  günstigen  Geschäftsergebnissen  macht  sich  die 
Tendenz  bemerkbar,  die  Löhne  herabzusetzen,  obwohl  die- 
selben trotz  der  20  prozentigen  Erhöhung  innerhalb  5 Jahren 
noch  immer  niedrig  genug  sind.  Bei  den  Steuerverhand- 
lungen im  preussischen  Abgeordnetenhause  wurden  900  M. 
als  Existenzminimum  bezeichnet,  und  zwar  von  einem 
konservativen  Abgeordneten.  Die  Löhne  der  viel  gepriesenen 
Königs-  und  Laurahütte  erreichen  nicht  einmal  nach  der 
20  prozentigen  Erhöhung  dieses  Minimum.  In  denjenigen 
Industriestaaten  aber,  die  mit  Deutschland  auf  dem  Welt- 
märkte konkurriren,  sind,  abgesehen  von  Belgien,  das  sein 
tiefes  Lohnniveau  mit  vielen  wer  weiss  zu  welchem  Er- 
gebniss führenden  wirthschaftlichen  Wirren  und  Krisen  be- 
zahlen muss,  die  Löhne  zum  guten  Theile  auch  etwas 
höher,  so  dass  die  Ansprüche  an  die  sozialpolitischen 
Leistungen  der  industriellen  Unternehmungen  in  Deutsch- 
land nicht  so  schwer  ins  Gewicht  fallen.  Bei  den  Kranken- 
kassen kamen  1890  auf  einen  Arbeiter  durchschnittlich 
Unternehmerbeitrag  noch  nicht  5 M.,  bei  der  Unfallversiche- 
rung etwa  6 V2  M.,  und  wenn  wir  für  die  seit  1891  geltende 
Invaliditätsversicherung  noch  gar  7 M.  für  die  Person  zu- 
rechnen, so  hat  die  sogenannte  Belastung  der  Industrie 
durch  die  Arbeiterversicherung  den  Charakter  einer  Lohn- 
erhöhung um  18 ]/2  M.  jährlich.  Aber  man  vergisst  dabei, 
dass  der  einzelne  Arbeiter  für  die  Zeit  seiner  Erwerbs- 
fähigkeit von  dieser  Erhöhung  so  gut  wie  nichts  hat,  da  er 
seinerseits  für  die  Versicherung  ja  auch  1 7 M.  zahlen  muss. 
Diese  17  M.  (bei  den  Mitgliedern  der  eingeschriebenen 
Hilfskassen  ist  die  Summe  natürlich  beträchtlich  höher)  be- 
deuten den  Abzug  einer  gleichen  Summe  von  dem  that- 
sächlich  erhaltenen  Lohne.  Der  Belastung  der  Industrie  1 
steht  demnach  eine  entsprechende  Belastung  des  Arbeiters  ' 
gegenüber,  die  für  diesen  natürlich  fühlbarer  wird  als  für 
ein  wohlfundirtes,  gut  geleitetes  industrielles  Unternehmen. 
Dazu  kommt,  dass,  wenn  nicht  die  staatliche  Unfallver- 
sicherung bestände,  doch  das  Haftpflichtgesetz  Geltung 
hätte.  Dieses  Gesetz  hatte  die  Wirkung,  dass  die  Unter- 
nehmer ihre  Arbeiter  bei  einer  privaten  Unfallversiche-  ! 
rungsgesellschaft  versicherten,  und  der  Abg.  Dr.'Buhl  rech- 
nete s.  Z.  aus,  dass  die  staatliche  Unfallversicherung  kein 
erhebliches  Mehr  an  Kosten  verursache  als  vorher  die  1 
private.  Nehmen  wir  also  diesen  Zweig  der  sozialpolitischen 
Gesetzgebung,  da  er  im  Grunde  genommen  eine  neue  Be- 
lastung nicht  mit  sich  brachte,  fort,  so  bleibt  ein  herzlicli 
geringer  Betrag  übrig,  der  für  die  Rentabilität  der  In- 
dustrie fast  gar  nicht  ins  Gewicht  fällt.  Vor  allem  ist  dies 
aber  nicht  bei  den  Bergwerksbetrieben  der  Fall,  innerhalb 
deren  Organisation  schon  seit  Jahrhunderten  die  Knapp- 
schaftskassen bestehen,  die  doch  die  Aufgaben  der  moder- 
nen Arbeiterversicherung  schon  seit  so  langer  Zeit,  wenn 
auch  in  etwas  anderer  Form  zu  erfüllen  versuchten.  Wir 
sehen  demnach,  dass  für  einzelne  Industriezweige  durch 
die  sozialpolitische  Gesetzgebung  ein  wesentlicher  Mehr- 
aufwand zu  Gunsten  der  Arbeiter  nicht  verursacht  wor- 
den ist. 

Aber  absolut  können  die  für  die  Arbeiterversiche- 
rung ausgegebenen  Summen  in  keinem  Erwerbszweige  als 
hoch  bezeichnet  werden.  Einige  wahllos  herausgeriffene 
Zahlen,  welche  dem  Verfasser  zugänglich  waren,  mögen 
als  Beweis  dienen. 

Die  Sehwartzkopffsche  Maschinenfabrik,  die  1720  Ar- 
beiter beschäftigte,  gab  in  dem  Geschäftsjahre  1891/92  für 
die  gesammte  Arbeiterversicherung  55  942  M.  aus.  Dem 
gegenüber  stehen  allein  an  Tantiemen  an  den  Aufsichts- 
rath, d.  h.  also  einzelne  Grossaktionäre,  für  die  ganz  unbe- 
deutende Kontrollarbeit,  die  doch  in  deren  eigenstem  In- 
teresse liegt,  71000  M.  Was  bedeuten  ferner  diese  55  942  M. 
gegen  1 296  000  M.  Dividende?  Wenn  das  Verhältniss  zwi- 
schen Gewinn-  und  Verlustkonto  noch  so  ungünstig  ge- 
wesen wäre,  eine  Ersparniss  von  55  942  M.  hätte  auf  die 


No.  9. 


S< >ZI ALPOI TUSCHES  CENTRALBI .ATT. 


107 


Dividenden vertheilung  nicht  den  mindesten  Einfluss  haben 
können. 

Die  Aktienbrauerci  Pfeiferberg  zahlte  bei  210  000  M. 
Dividende  und  38  092  Tantiemen  nur  7 146  M.  für  die  Ar- 
beiterversicherung Diese  7146  M.  bedeuten  Dei  2 800  000  M. 
Aktienkapital  nur  pCt.  Dividende. 

Und  nun  einige  Zahlen  für  das  vorhergegangene  Ge- 
schäftsjahr 1890  bezw.  1890/91.’)  Die  Breslauer  Aktien- 
gesellschaft für  Eisenbahnwagenbau  (Linke)  vertheilte 
462  000  DI.  an  Dividenden,  60  677  an  Tantiemen  und  28  948 
für  Kranken-  und  Unfallversicherung.  Die  Aktiengesell- 
schaft Voigt  und  Winde  zahlte  im  gleichen  Zeitraum  an 
Dividenden  84  000  Di.,  Tantieme  10  000  DI.  und  für  Arbeiter- 
versicherung 3560  DI  — Bei  der  Aktiengesellschaft  für 
Federstahlindustrie  betrugen  die  entsprechenden  Zahlen  in 
derselben  Reihenfolge  225  000  DI.,  94  000  DL,  4776  M.  Die 
Düsseldorfer  Eisen-  und  Drahtindustriegesellschaft  veraus- 
gabte für  Dividenden  150  000  DL,  Tantiemen  19  593  Dl,  Kran- 
ken- und  Unfallversicherung  15  029  DL,  die  Zellstofftabrik 
Waldhof  für  Dividenden  600  000  DL,  Tantiemen  260  754  DL, 
Kranken-  und  Unfallversicherung  30  609  DL,  sowie  für  wei- 
tere Arbeiterunterstütz ungen  7342  DL 

W ie  aus  diesen  wenigen  Zahlen  hervorgeht,  sind  also 
die  Ausgaben  für  Arbeiterversicherung  so  minimal,  dass  ein 
Wegfall  dieser  Beträge  den  an  die  Aktionäre  zu  vertheilen- 
den Reingewinn  kaum  zu  erhöhen  im  Stande  sein  würde. 
Allerdings  werden  sich  ja  die  Beträge  erhöhen,  auch  bei 
der  Invaliditätsversicherung,  bis  der  Beharrungspunkt  er- 
reicht ist.  Jedoch  auch  die  Erhöhung  wird  in  normalen 
Zeiten  ohne  besondere  Bedeutung  sein,  was  leicht  durch 
Rechnung  bewiesen  werden  kann.  Aber  auch  in  Zeiten 
wirthschaftlicher  Depression  werden  die  Zahlen  von  aus- 
schlaggebender Wirkung  keinesfalls  sein,  dafür  sind  sie 
selbst  bei  Gesellschaften  mit  gefährlichen  Betrieben  und 
grosser  Arbeiterzahl  im  Verhältniss  zum  Anlagekapital  doch 
zu  klein.  Sollte  vielleicht  die  Invaliditätsversicherung  in 
der  Zukunft  höhere  Ansprüche  an  die  Leistungsfähigkeit 
der  Unternehmer  stellen,  so  wird  bei  der  nahe  in  Aussicht 
stehenden  Erreichung  der  gesetzlich  vorgeschriebenen 
Höhe  des  Reservefonds  in  den  Kranken-  und  Berufsgenossen- 
schaftskassen  auf  der  anderen  Seite  eine  Verminderung  der 
Ausgaben  entstehen.  An  die  Grenze  sozialpolitischer  Lei- 
stungsfähigkeit ist  das  industrielle  Kapital  also  noch  lange 
nicht  gelangt. 

Berlin.  [.  Silbermann. 


Arbeitervertretung  bei  den  Knappschaftskassen.  In 

dem  rheinisch-westfälischen  Bergrevier  herrscht  lebhafte  Be- 
wegung' deshalb,  weil  die  in  den  Händen  der  Zechen  liegende 
Leitung  der  ausgedehnten  Knappschaftskassen  nach  der  kiirz- 
lichen  Wahl  sozialistischer  Aeltester  in  die  Arbeitervertretung 
jetzt  „Oberälteste“  angestellt  hat,  welche  den  Einfluss  der  ge- 
wählten Sozialisten  paralysiren  sollen  Eine  am  13.  d.  Dlts.  in 
Bochum  abgehaltene  Versammlung  der  Knappschaftsältesten 
nahm  deshalb  einstimmig  folgende  Resolution  an:  . Die  Ver- 

sammlung protestirt  entschieden  gegen  die  Anstellung  von 
Oberältesten  und  beauftragt  die  Aeltesten,  in  der  am  17.  De- 
zember stattfindenden  Generalversammlung  dafür  einzutreten, 
dass  der  Absatz  des  § 193  des  Knappschaftsstatuts,  der  dem 
Vorstande  die  eigenmächtige  Anstellung  von  Oberältesten  er- 
möglicht, gestrichen  werde,  und  gleichzeitig  darauf  hinzuwirken, 
dass  eine  kürzere  Amtsperiode  für  die  Aeltesten  und  für  die 
Knappschaftsbeämten,  etwa  von  einem  Jahr,  eingeführt  werde.“ 
Ferner  einigte  man  sich  über  folgende  Forderungen : I.  Oeffent- 
liche  Verhandlung  der  Vorstandssitzungen  und  der  Generalver- 
sammlungen, 2.  einjährige  Wahlperiode  der  Aeltesten  und 
Knappscbaftsbeamten,  3.  eine  wirtschaftlich  bessere  Haus- 
haltung und  Anstrebung  der  Selbstverwaltung,  4.  Veröffent- 
lichung sämmtlicher  Verhandlungen  in  der  Bergarbeiter-Zeitung, 
5.  Gleichstellung  des  Invalidengeldes,  6 Abänderung  des  Wahl- 
modus, 7.  Abschaffung  der  Klassensätze,  8.  Abänderung  bezw. 

I Streichung  der  §§  37,  +0,  78  (Abschnitt  4),  144,  165  und  193. 
9.  Neuwahl  bei  Amtsniederlegung  und  nicht  unbedingtes  Ein- 
treten des  Stellvertreters  in  das  erledigte  Amt,  10.  Abschaffung 
des  Lohnklassensystems,  soweit  dies  gesetzlich  zulässig,  II.  Voll- 
j ständig  freie  Wahl  des  Arztes  und  12.  für  die  Familie  den  Arzt 

’)  Die  Zahlen  sind  dem  Salingschen  Börsenjahrbuch  für 

1891  92  entnommen. 


und  die  Hälfte  der  Arznei  frei.  Eine  Kommission  soll  dies« 
Forderungen  nochmals  durchberathen  und  begründen.  Nach 
Fertigstellung  soll  noch  eine  weitere  Kommission  eine  Prüfung 
des  Entwurfes  vornehmen  ln  diese  letztere  Kommission  werden 
5 Personen  aus  den  verschiedenen  Theilen  des  Knappschafts- 
bezirks gewählt.  Nach  Fertigstellung  der  Arbeit  sollen  die  auf- 
gestellten  Forderungen  gedruckt  und  sämmtlichen  Bergarbeitern 
im  Oberbergamtsbezirke  Dortmund  zugestellt  werden,  damit, 
wie  es  einer  der  Redner  hervorhebt,  ein  jedes  Kassenmitglied 
erkennen  könne,  eine  wie  regsame  Thätigkeit  die  neuen 
Aeltesten  entwickelten.  Dian  muss  bedenken , dass  Knapp- 
schaftskassenangelegenheiten bei  dem  Alter  der  bergmännischen 
Unterstützungskassen  und  ihrer  häufigen  Benutzung  durch  die 
Bergleute  und  ihre  Familien  diese  beinahe  mehr  in  Athem 
halten,  als  berggesetzliche  Schutzfragen,  und  man  darf  daher 
den  Fortgang  der  Bewegung  mit  grossem  Interesse  beobachten. 

Invaliditäts-  und  Altersversicherung  der  Handweber.  Die 

Vertreter  der  deutschen  Weberinnungen  haben  beschlossen,  an 
den  Reichstag  und  an  den  Bundesrath  das  Ersuchen  zu  richten, 
die  Hausweberei  unter  das  Versicherungsgesetz  betreffend  die 
Altersversorgung  und  Invalidität  zu  stellen  und  die  Beiträge  je 
zur  Hälfte  von  den  Fabrikanten  und  den  Hauswebern  zu  erheben; 
ferner  soll  auf  die  Aufbringung  aller  Kosten  durch  eine  allge- 
meine Reichssteuer  hingewiesen  werden. 

Innungsverbände  und  Unfallversicherung  des  Hand- 
werks. Die  im  Jahrgang  II  No.  6 S.  73  des  Sozialpolitischen 
Centralblatts  erwähnte  Eingabe  des  Berliner  Centralaus- 
schusses  der  vereinigten  Innungsverbände  Deutschlands  an 
das  Reichsamt  des  Innern,  welche  gegen  eine  territorial 
abgegrenzte  Gliederung  der  Unfallversicherung  sich  aus- 
spricht  und  die  Innungsverbände  zu  deren  Trägern  machen 
will,  ist  ein  im  hohen  Grade  auffallendes  Aktenstück.  Zu- 
nächst sind  gerade  die  bedeutendsten  Innungsverbände 
territorial  abgegrenzt,  so  der  am  7.  Oktober  1885  gestiftete 
erzgebirgisch-  vogtländische  Bezirksverband  und  der  am 
18.  Januar  1888  genehmigte  sächsische  Innungsverband, 
welcher  nach  Stieda’s  Angaben  jetzt  252  Innungen  mit 
über  10  600  Dlitgliedern  umfasst.  Ausserdem  existiren  noch 
eine  Reihe  selbständiger,  territorial  gegliederter  Verbände. 
Somit  bedeutet  eine  Anlehnung  der  Unfallversicherung  an 
die  Innungs verbände  keineswegs  ein  Aufgeben  der  terri- 
tonalen  Organisation. 

Was  die  erwähnte  Eingabe  verschweigt,  aber  leicht 
zu  ergänzen  ist,  ist  die  Absicht,  ein  neues  Privileg  zu 
Gunsten  der  Innungsverbände  zu  schaffen.  Offenbar  hat 
in  dieser  Richtung  der  § 104  der  R.-G.-O.  ebenso  geringe 
Zugkraft  ausgeübt  als  die  anderen  Innungsvorrechte,  wie 
kürzlich  an  dieser  Stelle  ziffermässig  belegt  wurde.  Dar- 
auf deutet  auch  hin,  dass  keinerlei  authentische  Ziffern 
über  die  Grösse  und  die  Bewegung  der  Verbände  publizirt 
worden  sind.  Stieda  zählt  im  Ganzen  25  Fachinnungsver- 
bände bis  zum  Jahre  1890  aut;  diese  sollen  nach  einer  un- 
kontrollirbaren  Angabe  auf  dem  ersten  deutschen  Innungs- 
tage (1885)  damals  über  80  000  Mitglieder  besitzen.  Dass 
die  Verbände  nicht  recht  gedeihen  wollen,  beweist  am 
besten  das  wiederholt  ausgesprochene  Verlangen  der 
Zünftler,  den  Beitritt  zu  ihnen  für  alle  Innungen  obligatorisch 
zu  machen  und  ihnen  das  Recht  zu  übertragen,  allgemein 
bindende  über  das  Lehrlings-  und  Gesellenwesen  ihres  Be- 
rufszweiges zu  erlassen.  Würden  die  Verbände  wirkliches 
Leben  zeigen,  so  wären  derartige  Postulate  vollkommen 
überflüssig.  Entspricht  der  Bestand  von  80  000  Mitgliedern 
heute  dem  der  Verbände,  so  wäre  das  knapp  V4  aller 
Innungsmitglieder,  deren  Zahl,  wie  früher  gezeigt,  wiederum 
höchstens  7in  aller  selbständigen  Handwerksmeister  aus- 
macht. 

Ueberhaupt  ist  die  Stellung  der  Zünftler  gegenüber 
der  Ausdehnung  der  Unfallversicherung  auf  das  Handwerk 
eine  wenig  geklärte.  In  der  Konferenz  mit  den  Regierungs- 
vertretern (15.  — 1 7.  Juni  1891)  sprachen  sich  zwar  einzelne 
Wortführer  der  Innungsbewegung  für  Anlehnung  an  die 
Verbände  aus,  wie  sie  jetzt  die  Eingabe  verlangt;  andere 
aber  befürworteten  ein  gemischtes  System,  so  besonders 
die  Vertreter  der  Hansastädte.  Nur  wo  die  Fachbewegung 
im  Stande  sei,  die  Organisation  für  spezielle  Gewerbe  durch- 
zuführen, sollten  die  Verbände  Träger  der  Versicherung 
werden.  Einige  Redner  schlugen  vor,  nur  die  gefähr- 
licheren Berufszweige  gegen  die  Unfallgefahr  zu  ver- 
sichern und  zwei  der  bekanntesten  Agitatoren,  die  Herren 
Dlöller  «Dortmund)  und  Beutel  (Berlin),  sprachen  rundweg 
gegen  die  Einbeziehung  des  Handwerks  in  die  V ersicherung 
und  verneinten  deren  Nothwendigkeit  (! !).  Herr  von 
Woedtke,  welcher  ausführlich  den  Standpunkt  der  Re- 
gierung erläuterte,  liess  keinen  Zweifel  daran  bestehen, 


108 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  9, 


dass  die  Innungen  und  ihre  Verbände  weder  Träger  der 
Unfallversicherung  werden  könnten,  noch  mit  deren  alleiniger 
Verwaltung  betraut  würden.  Die  Unfallversicherung  des 
Handwerks  sei  Selbstzweck,  nicht  Mittel  zum  Zweck  einer 
Hebung  der  Innungen  und  deren  Mitwirkung  daher  nur 
insoweit  zulässig,  als  sie  für  die  Durchführung  der  Unfall- 
versicherung zweckmässig  sei.  Bei  dieser  deutlichen  und 
korrekten  Absage  wird  es  zweifellos  sein  Bewenden  haben 
und  der  Centralauschuss  müsste  ganz  andere  Argumente 
beibringen  als  die  jener  Eingabe,  um  diesen  — unseres 
Erachtens  einzig  möglichen  Standpunkt  der  Regierung 
zu  moditiziren 

Reform  der  Krankenversicherung-  staatlicher  Arbeiter  in 
Bayern.  Hinsichtlich  der  Krankenversicherung  der  in  den  Be- 
trieben der  bayrischen  Strassen-  und  Flussbauämter  beschäftigten 
Arbeiter  steht  demnächst  eine  wesentliche  Aenclerung  bevor. 
Bisher  waren  diese  Arbeiter  fast  durchgehends  bei  der  Ge- 
meindekrankenversicherung versichert.  Diese  Art  der  Kranken- 
versicherung konnte  aber,  wie  sie  ja  auch  vom  Gesetz  nur  als 
eine  subsidiäre  Form  derselben  gedacht  ist,  auf  die  Dauer  nicht 
allseitig  befriedigen,  und  es  hat  darum  seither  auch  nicht  an 
Klagen  gefehlt,  sowohl  von  Seiten  der  Gemeinden,  welche  diese 
ihnen  meist  fremden  und  vielfach  nur  sehr  vorübergehend  in 
der  Gemeinde  anwesenden  Elemente  nur  ungern  in  ihre 
Krankenversicherung  aufnahmen,  wie  auch  seitens  der  bethei- 
ligten Arbeiter,  denen  namentlich,  soweit  sie  der  Kategorie  der 
Strassenwärter  Stromwärter,  Vorarbeiter  u.  dgl.  angehörten,  die 
gesetzlichen  Mindestleistungen  der  Gemeindekrankenversiche- 
rung nicht  wohl  genügten.  Diese  Verhältnisse  hatten  schon  vor 
einigen  Jahren  dazu  geführt,  dass  für  die  in  den  Betrieben  der 
■Strassen-  und  Flussbauämter  Oberbayerns  beschäftigten  Arbeiter, 
sowie  bei  einem  pfälzischen  Amte  je  eine  eigene  Betriebs- 
krankenkasse errichtet  wurde.  Es  fehlte  in  der  Folge  nicht  an 
Anregungen,  die  Krankenversicherung  der  Staatsbauarbeiter  im 
Wege  der  Errichtung  einer  gesonderten  Betriebskrankenkasse 
noch  auf  weitere  Bezirke  zu  erstrecken,  zumal  die  beiden  be- 
stehenden Kasseneinrichtungen  dieser  Art  sich  durchaus  als 
lebensfähig  erwiesen  und  zur  Zufriedenheit  aller  Betheiligten 
funktionirten.  Auch  im  letzten  Landtage  haben  Abgeordnete 
von  beiden  Seiten  des  Hauses  der  Errichtung  einer  besonderen 
Krankenkasse  für  diese  Gruppen  von  Arbeitern  das  Wort  ge- 
redet. Seitens  der  Staatsregierung  waren  deswegen  schon 
früher  Verhandlungen  eingeleitet  worden,  die  in  Folge  der  da- 
zwischen liegenden  Aenderung  des  Krankenversicherungsgesetzes 
für  längere  Zeit  zum  Stillstand  gebracht  wurden,  nunmehr  aber 
dazu  geführt  haben,  eine  für  die  Arbeiter  sämmtlicher  Strassen- 
und  Flussbauämter  des  Königreiches  gemeinsame  Betriebs- 
krankenkasse mit  dem  Sitze  in  München  zu  errichten,  welche 
am  1 Januar  künftigenjahres  ins  Leben  treten  wird.  Das  vor  Kurzem 
ausgegebene  Amtsblatt  des  Staatsministeriums  des  Innern  ent- 
hält das  Statut  dieser  Kasse.  Nach  einer  gleichzeitig  im  Gesetz- 
und  Verordnungsblatt  veröffentlichten  Bekanntmachung  des 
bayrischen  Staatsministeriums  des  Innern  hat  dasselbe  die  Ver- 
sicherungspflicht auch  auf  die  im  inneren  Dienste  der  Strassen- 
und  Flussbauämter  beschäftigten  Personen  wie  Bauzeichner, 
Schreiber,  Bureaudiener  u.  s.  w.  erstreckt  Die  Aufsicht  auf  die 
Kasse  ist  der  Kreisregierung,  Kammer  des  Innern,  von  Ober- 
bavern  übertragen. 


Gewerbegerichte,  Einigungsämter  und 
Arbeiterausschüsse. 

Einigungs-  und  Schiedsämter  in  Frankreich. 

Nach  jahrelangem  Zuwarten  ist  die  französische  Kammer 
vor  Kurzem  ernstlich  daran  gegangen,  eine  Institution  be- 
hufs Schlichtung  und  Entscheidung  von  Arbeitstreitigkeiten 
kollektiver  Natur,  d i.  solcher  Streitigkeiten  zu  schaffen, 
die  fast  stets  zu  Strikes  oder  Lockouts  führen.  Für  gewerb- 
liche Streitigkeiten  individueller  Natur,  d.  h.  solcher,  die 
zwischen  einzelnen  Arbeitern  und  ihren  Arbeitgebern  zu 
Tage  treten,  besitzt  Frankreich  bekanntlich  die  Prud’hommes- 
Gerichte.  Diese  eignen  sich  aber  schon  deshalb  nicht  zur 
Schlichtung  oder  Entscheidung  von  Arbeitsstreitigkeiten 
kollektiver  Natur,  weil  sie  sich  nicht  mit  der  Festsetzung 
der  künftigen  Lohnhöhe  oder  Länge  der  Arbeitszeit,  wie 
überhaupt  nicht  mit  der  Regelung  künftiger  Arbeits- 
bedingungen und  noch  weniger  mit  Streitfällen  gleich 
dem  von  Carmaux  zu  beschäftigen  haben.  Aber  selbst 
abgesehen  davon , dass  die  Prud’hommes  sich  nur  mit 
Streitigkeiten  zu  befassen  haben,  die  aus  bereits  ab- 


geschlossenen Arbeitsverträgen,  aus  bereits  ausgeführten 
oder  in  Ausführung  befindlichen  Arbeiten  entspringen, 
besitzen  ihre  Entscheidungen  dieselbe  Rechtskraft  wie  die 
anderer  Gerichte  und  sind  gleich  diesen  vollstreckbar. 
Eine  solche  Rechtskraft  auch  den  Entscheidungen  über 
Streitigkeiten  kollektiver  Natur  zu  verleihen,  ist  aber  kaum 
rathsam,  will  man  nicht,  dass  eine  Institution,  bestimmt  die 
Konflikte  zwischen  Kapital  und  Arbeit  zu  mildern,  zur  Ver- 
schärfung dieser  Konflikte  beitrage.  Denn  man  nehme  den 
Fall,  die  Arbeiter  eines  Kohlenbeckens  verlangten  eine 
Lohnerhöhung,  oder  die  Grubenbesitzer  beabsichtigten  eine 
Lohnminderung  vorzunehmen,  wie  will  man  da  bei  einem 
etwaigen  Schiedsspruch,  den  die  Arbeiter  für  einen  unge- 
rechten, den  Verhältnissen  nicht  entsprechenden  halten, 
durchführen?  Will  man  etwa  Tausende  von  Gruben- 
arbeitern mittelst  Kolbenstössen  zur  Arbeit  zwingen 
oder  sie  in  Gefängnisse  schleppen?  Und  wollte  und 
könnte  man  dies  auch,  was  würden  dann,  abgesehen  von 
der  dadurch  hervorgerufenen  Erbitterung  der  Arbeiter,  der 
ja  eben  die  Schiedsgerichte  Vorbeugen  sollen,  aus  dem 
Koalitionsrecht?  Das  einzige  Zwangsmittel  der  Unterwerfung 
kann  da  nur  der  Druck  der  öffentlichen  Meinung  sein.  Zur 
Beilegung  von  Arbeitsstreitigkeiten  kollektiver  Natur  bedarf 
es  darum  besonderer  Einrichtungen.  England  besitzt  solche 
bereits  seit  einem  Menschenalter  in  seinen  Boards  of  Con- 
ciliation  and  Arbitration,  Belgien  seit  1887  in  seinen  Conseils 
de  l’Industrie  et  du  Travail.  Nur  Frankreich,  das  mit  seinen 
Conseils  des  Prud’hommes  allen  anderen  Ländern  voran- 
schritt, besass  bisher  keine  Institution  zur  Austragung  von 
Arbeitsstreitigkeiten  kollektiver  Natur.  Ja,  es  ist  mehr  als  1 
wahrscheinlich,  dass  ohne  den  Strike  von  Carmaux,  obwohl 
dieser  rein  politischer  Natur  war,  die  Kammer  dieser  Frage 
auch  jetzt  noch  nicht  näher  getreten  wäre,  denn  sonst  hätte  , 
sie  dies  schon  längst  gethan.  Der  Abgeordnete  Lockroy, 
der  diesmal  als  Referent  fungirte,  hatte  nämlich  schon  im 
Jahre  1886,  in  seiner  damaligen  Eigenschaft  als  Minister  für 
Handel  und  Industrie  einen  bezüglichen  Gesetzentwurf  ein- 
gebracht. Ihm  folgten  seither  die  Abgeordneten  Le  Cour, 
Camille  Raspail  und  Mesureur  mit  zum  Theil  weit  voll- 
kommeneren Gesetzentwürfen,  doch  fand  die  Kammer  stets, 
dass  sie  viel  wuchtigere  Angelegenheiten  zu  behandeln  habe. 
Auch  der  Entwurf,  dessen  erster  Theil  der  diesmaligen  Ver- 
handlung als  Unterlage  diente  und  vom  gegenwärtigen  i 
Handelsminister  Jules  Roche  herrührt,  ist  fast  schon  ein 
Jahr  alt.  Erst  der  Strike  von  Carmaux  hat  ihn  aus  den 
Kartons,  in  denen  er  bisher  gelegen,  hervorgeholt. 

Der  zur  Verhandlung  gelangte  Entwurf  unterscheidet 
sich  nun  wesentlich  dadurch  von  den  erwähnten  Boards  of 
Conciliation  and  Arbitration  und  Conseils  de  l’Industrie  et 
du  Travail,  dass  er  keine  permanente  Kommission  schafft, 
sondern  nur  zeitweilige,  von  Fall  zu  Fall  zu  errichtende 
Schiedsgerichte.  Der  zweite  Theil  des  Roche’schen  Ent- 
wurfs spricht  zwar  von  permanenten  Einigungs-  und 
Schiedsräthen  — Des  Conseils  permanents  de  Conciliation 
et  d’arbitrage  — , doch  wurde  vorläufig  davon  abgegangen, 
um  die  Diskussion  und  Annahme  des  Entwmrfs  nicht  allzu- 
lange hinauszuschieben.  Es  handelt  sich  somit  bei  der  zu 
schaffenden  Institution  weniger  darum,  Konflikten  vorzu- 
beugen, als  bereits  ausgebrochene  Konflikte  beizulegen, 
bez.  deren  friedliche  Austragung  zu  erleichtern.  Der  Ent- 
wurf geht  nämlich  von  dem  Standpunkt  aus,  dass  weder 
die  Unternehmer  noch  die  Arbeiter  von  vornherein  darauf 
bedacht  seien,  ihre  Differenzen  auf  schiedsrichterlichem 
Wege  auszutragen,  sondern  erst  dann  auf  diese  Idee  ver- 
fallen, wenn  der  Strike  schon  erklärt  ist  oder  sich  in  die 
Länge  zieht  und  die  Geister  bereits  erregt  sind.  Da  es  nun 
keine  einfache  und  schnelle  Prozedur  für  derartige  Fälle 
giebt,  andererseits  aber  diejenigen,  die  geneigt  wären, 
diesen  Weg  einzuschlagen,  davor  zurückschrecken,  wreil  sie 
befürchten,  dass  ein  von  ihnen  ausgehender  Antrag  aut 
Einsetzung  eines  Schiedsgerichtes  von  der  gegnerischen 
Partei  für  eine  Schwäche  ausgelegt  wrerden  könnte,  soll  das 
Gesetz  dem  insoferne  abhelfen,  als  es  eine  einfache,  rasche 
und  unentgeltliche  Prozedur  schafft  und  dem  jeweiligen 
Friedensrichter  des  betreffenden  Ortes,  wo  ein  Konflikt  zu 


Xo.  9 


SOZI  Al  .POLI  TISCHES  CENTRALBLATT. 


109 


Ta<>e  tritt,  von  vornherein  die  Vermittlerrolle  überträgt. 
Demgemäss  können  die  Parteien  — Unternehmer  wie  Ar- 
beiter oder  Angestellte  — die  ein  Schiedsgericht  wünschen, 
sich  zu  diesem  Behüte  an  den  Friedensrichter  wenden,  der 
im  Verlaufe  von  vierundzwanzig  Stunden  die  gegnerische 
Partei  davon  zu  verständigen  hat.  Nimmt  diese  den  An- 
trag an,  beruft  er  die  beiderseitigen  Vertreter  unverzüglich 
zu  "einer  Konferenz  ein,  die  in  seiner  Gegenwart  stattfindet. 
Auf  ihren  Wunsch  leitet  er  die  Debatte,  doch  besitzt  er 
nur  eine  berathende  Stimme.  Findet  eine  Verständigung 
statt  werden  die  Einigungsbedingungen  in  einem  vom 
Friedensrichter  aufgenommenen  Protokoll  verzeichnet  und 
von  den  beiderseitigen  Vertretern  unterfertigt.  Falls  keine 
Einigung  erfolgt,  haben  beide  Parteien,  sei  es  je  einen,  sei  es 
einen  gemeinsamen  Schiedsrichter  zu  wählen.  Im  ersteren 
Falle  können  die  beiden  Schiedsrichter  einen  dritten,  den 
sogenannten  Unparteiischen  wählen  Wenn  sie  sich  jedoch 
weder  über  die  Lösung  der  Streitangelegenheit  noch  über 
die  Wahl  des  Unparteiischen  zu  verständigen  vermögen, 
ist  letzterer  vom  Präsidenten  des  Zivilgerichtes  zu  ernennen. 
Im  Falle  eines  Strikes  ist  der  Friedensrichter  von  Amtswegen 
gehalten,  ein  Schiedsgericht  vorzuschlagen,  wenn  dies  nicht 
schon  vorher  von  betheiligter  Seite  aus  geschehen  ist,  und 
haben  die  Parteien  im  Verlaufe  dreier  Tage  ihre  Annahme 
oder  Ablehnung  des  Schiedsgerichts  zu  erklären.  Die  Pro- 
tokolle und  Entscheidungen  sind  im  Original  in  der  Kanzlei 
des  Friedensrichters  aufzubewahren,  der  jeder  der  bethei- 
ligten Parteien  eine  Abschrift  zuzustellen  hat.  Das  Ver- 
langen nach  einem  Schiedsgerichte,  die  Ablehnung  seitens 
der  gegnerischen  Partei,  die  Entscheidung  des  Einigungs- 
komitees, wie  der  Gesetzentwurf  die  Vertreter  der  beiden 
streitenden  Parteien  etwas  euphemistisch  nennt,  sowie  die 
Entscheidungen  der  Schiedsrichter  sind  von  den  Bürger- 
meistern all  jener  Gemeinden,  über  die  sich  der  Streit  er- 
streckt hat,  an  dem  für  offizielle  Kundmachungen 
bestimmten  Platz  mittelst  Anschlag  zu  veröffent- 
lichen. Ueberdies  steht  es  den  betheiligten  Parteien  frei, 
diesen  Entscheidungen  die  weiteste  Verbreitung  zu  geben. 

Die  Ausführung  der  beiden  letzteren  Bestimmungen 
dürften  wohl  auf  Unternehmer  wie  Arbeiter  einen  hinläng- 
lich starken  moralischen  Druck  ausüben,  auf  dass  sie,  ver- 
kommenden Falles,  sich  sowohl  dem  Schiedsgerichte  wie 
seinem  Entscheide  unterwerfen.  Damit  wäre  aber  durch 
diesen  Entwurf,  wenn  er  zum  Gesetz  erhoben  wird, 
nicht  nur  Vieles,  sondern  Alles  errungen,  was  sich 
meines  Erachtens  auf  diesem  Gebiete  hier  überhaupt 
erringen  lässt. 

Damit  soll  aber  nicht  etwa  gesagt  sein,  dass  der  von 
der  Kammer  angenommene  Entwurf,  dessen  Erhebung  zum 
Gesetz  jetzt  nur  noch  vom  Votum  des  Senats  abhängt,  ein- 
wandfrei ist.  Ganz  und  gar  nicht.  Es  Hesse  sich  gewiss 
so  manche,  selbst  einschneidende  Verbesserung  an  ihm 
vornehmen.  So  würde  es  sicherlich  seinen  Zweck  fördern, 
wenn  der  Entwurf  beispielsweise  eine  Bestimmung  ent- 
hielte, wonach  wenigstens  alle  bedeutenderen  Unter- 
nehmer, wie  Aktiengesellschaften  etc.,  die  durch  Ankündi- 
gung oder  Vornahme  einer  wie  immer  gearteten  Lohn- 
herabsetzung oder  durch  Verweigerung  einer  Lohnerhöhung 
oder  Arbeitszeitverkürzung  einen  Strike  herbeiführen,  ver- 
halten würden,  dem  von  ihnen  oder  ihren  Arbeitern  ange- 
rufenen Schiedsgericht  ihren  Gewinn  - und  Verlustkonto 
vorzulegen.  An  eine  solche  oder  ähnliche  Bestimmung 
dürfte  aber  der  Senat,  wo  das  Unternehmerthum  einen  so 
mächtigen  Widerhall  findet,  dass  es  eines  mehr  als  zehn- 
jährigen parlamentarischen  Kampfes  bedurfte,  um  den  Ar- 
beitsfrauen schliesslich  kaum  jenen  Schutz  zu  Theil  werden 
zu  lassen,  den  ihnen  die  englische  Fabrikgesetzgebung 
schon  vor  nahezu  einem  halben  Jahrhundert  zugesichert 
hatte,  wohl  in  allerletzter  Linie  denken. 

Paris.  Leo  Frankel. 


Wohnungszustände. 


Ein  Beitrag  zur  Wohnungsstatistik  in  Sachsen. 

Eine  Statistik  der  Wohnungsverhältnisse  fehlt  uns 
leider  noch  ganz  und  gar.  Um  auf  diese  einen  Rückschlag 
zu  machen,  sind  wir  entweder  auf  die  dürftigen  Angaben 
der  Volkszählungen  oder  auf  die  Ergebnisse  mehr  oder 
weniger  unvollständiger  Enqueten  angewiesen.  Beide 
Methoden  geben  naturgemäss  nur  ein  verzerrtes  Bild 
der  wirklichen  Verhältnisse.  Es  ist  nun  interessant,  dass 
sich  aus  der  sächsischen  Einkommensteuerstatistik,  wie 
wenig  kritisch  das  Material  auch  gesichtet  und  von  wie 
wenig  wissenschaftlichen  Gesichtspunkten  dasselbe  auch 
bearbeitet  ist,  doch  indirekt  ein  Schluss  aüf  die  Verände- 
rung der  Wohnungsverhältnisse  von  1879 — 1890  ziehen  lässt. 

Die  Jahrgänge  1879  Heft  III  und  IV  und  1891  Heft  I 
und  II  der  Zeitschrift  des  Kgl.  Sächs.  Statistischen  Bureaus 
weisen  unter  anderem  auch  die  hauptsächlichsten  Quellen 
des  Einkommens  nach.  Für  den  vorliegenden  Zweck  inter- 
essirt  nur  das  Einkommen  aus  Grundbesitz  in  den  Städten. 
Für  dasselbe  finden  sich  in  den  angezogenen  Quellen 
folgende  Angaben : 

Censiten 


1879 

1890 


443  442 
654  687 


Einkommen  aus  Grund- 
besitz in  1000  M. 

72  098 
106  390 


Die  wirkliche  Quelle  des  Einkommens  aus  Grundbesitz 
in  den  Städten  ist  aber  so  gut  wie  ausschliesslich  der 
Miethszins;  jeder  der  Censiten  — deren  Zahl  mit  der  er- 
werbstätigen Bevölkerung  zusammenfällt  — ist  gleichzeitig 
auch  als  Miether  zu  betrachten ; diese  bringen  in  ihrer  Ge- 
sammtheit  diejenige  Summe  auf,  welche  als  „Einkommen 
aus  Grundbesitz“  figurirt,  und  in  welche  auch  der  Mieths- 
werth  der  von  den  Hausbesitzern  selbst  innegehabten 
Wohnungen  einbegriffen  ist.  Das  Verhältniss  des  Ein- 
kommens aus  Grundbesitz  zu  den  Censiten  giebt  also  den 
Durchschnittsmiethspreis  der  einzelnen  Wohnung  an  und 
derselbe  beträgt:  j879;  ]627  M 

1890:  1 62,7  M., 

ist  sich  also  völlig  gleich  geblieben. 

Es  ist  aber  notorisch,  dass  der  Miethspreis  der  einzelnen 
Wohnungen  in  den  einzelnen  Städten  fortgesetzt  im  Steigen 
begriffen  ist.  Aus  diesen  beiden  Thatsachen  geht  unzwei- 
deutig hervor,  dass  im  Durchschnitt  die  Wohnungen  in 
genau  d e m s e 1 b e n Verhältniss  kleiner  geworden 
sein  müssen,  als  der  Miethspreis  stieg,  was  in  praxi 
durch  Abvermiethen  einzelner  Räumlichkeiten  an  Unter- 
miether  erzielt  sein  dürfte. 

Dieses  Ergebniss  ist  sehr  bemerkens werth;  denn  wenn 
wir  auch  schon  aus  den  Volkszählungen  erfahren,  dass  in 
Sachsen  auf  ein  Gebäude 


1880: 

7,8 

1 1,2 

1885: 

1890: 

10,8 

Einwohner  kommen,  die  Wohnungsverhältnisse  sich  also, 
trotz  der  bereits  früher')  erwähnten  Hebung  des  Durch- 
schnittseinkommens wesentlich  verschlechtert  haben 
müssen,  so  deutet  das  Resultat  doch  darauf  hin,  dass  der 
ermittelte  Durchschnittsmiethspreis  das  Maximum  ist, 
welches  der  einzelne  Censit  aufzubringen  im  Stande  ist, 
dass  die  Lebenshaltung  der  grossen  Masse  des  Volkes  — und 
diese  ist  es,  welches  die  Grösse  der  Durchschnittszahlen 
wesentlich  bestimmt,  thatsächlich  eine  Grenzlage  ist,  indem 
sofort  jede  Erschwerung  des  Lebensunterhaltes  die  Lebens- 
haltung in  demselben  Verhältniss  verschlechtert.  Eine 
Behauptung,  die  noch  dadurch  an  Sicherheit  gewinnt,  dass 
sich  bekanntlich  auch  für  den  Getreidekonsum  das  Gleiche 
nachweisen  lässt.  Der  Durchschnittskonsum  an  Brotfrucht 
betrug  per  Kopf: 

1880  81-84/85  . . 184,97  Kilo 

1885/86—89/90  . . . 176.08  Kilo, 

und  in  den  Jahren  des  höchsten  Schutzzolles  gesondert  be- 
trachtet: 1887/88  ....  192,32  Kilo 

1888/89  ....  170,24  „ 

1889/90  ....  162,35  „ 

war  also  weit  unter  das  von  Engel  zur  rationellen  Er- 
nährung geforderte  Minimum  von  183,21  Kilo  herabgesunken. 


T)  Sozialpolitisches  Centralblatt  1.  Jahrg.  No.  23  pag.  274. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  I)r.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


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deutschen  Industrie  wichtige  Mittheilungen  über  die  Handelsverhältnisse  des  Aus- 
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Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil : O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


II.  Jahrgang 


Berlin,  den  5.  Dezember  1892. 


Nummer  10 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
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Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHAL  7; 


Zum  Entwurf  eines  deutschen 
Auswanderungsgesety.es. 
Von  Dr.  Max  Quarck. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  n. 
Wirthscliaftsstatistik : 

Sozialpolitik  und  Staatsschuld.  Von 
Dr.  Rudolf  Grätzer. 

Landwirtschaftlicher  Kredit  und 
städtische  Lebensmittelversor- 
gung in  Frankreich. 

Der  Londoner  Grafschaftsrath  und 
öffentliche  Bauten. 

Arbeiterzustiimle : 

Die  Arbeitslosenstatistik  und  der 
Vorwärts.  Von  Dr.  Ernst 
Lange. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Zur  gesetzlichen  Stellung  der  Be- 
rufsvereine in  Deutschland. 

Modifikation  des  französischen  Ge- 
werkschaftsgesetzes. 

Arbeiter  als  Gegner  der  Arbeits- 
zeitregulirung. 

Lohnbewegung  der  Mailänder 
Buchdrucker. 

Ausstand  in  New-Orleans. 

Der  Ihhreskongress  der  amerika- 
nischen Ritter  der  Arbeit. 

Der  Ausstand  in  Homestead. 


Handwerkerfragen : 

Zu  den  Bestrebungen  der  Hand- 
werker in  Deutschland. 

Gewerbekammern  und  Gewerbe- 
vereine. 

Arbeitsvermittelung  im  Handwerk. 

Arbeiterschutzgesetzgebung: 

Zur  Sonntagsruhe  in  Deutschland. 

Gesetzentwurf,  betr.  den  Schutz 
der  Frauen  in  Frankreich. 
Arbeiterversicherung: 

Unfallversicherung  der  österreichi- 
schen Eisenbahnen. 

Ein  Nothgesetz,  betr.  die  deutsche 
Krankenversicherun  g. 

Invaliditätsverhältnisse  preussischer 
und  österreichischer  Bergarbeiter. 

Gewerbegerichte : 

Berggewerbegericht  für  das  Gross- 
herzogthum Braunschweig. 

Gewerbegericht  in  Hessen. 

Wohnungszustände : 

Bau  von  Arbeitenvohnungen  aus 
Mitteln  der  Alters-  und  Invali- 
ditätsversicherung. 

Wohnungsverhältnisse  in  Darmstadt. 

Städtische  Verordnung  gegen 
Wohnungsmissstände  in  Verviers. 
Litteratur: 

Rosenberg,  Dr.  Wilhelm,  Entwick- 
lung und  Stand  der  Arbeiterfrage 
in  gemeinfasslicher  Darstellung. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Zum  Entwurf  eines  deutschen  Auswande- 
rungsgesetzes. 

Die  Wechselbeziehungen  zwischen  den  amtlichen,  mit 
Ausarbeitung  sozialpolitischer  Gesetzentwürfe  betrauten 
1 Stellen  im  Deutschen  Reiche  und  zwischen  der  öffent- 
lichen Kritik  sind  nach  wie  vor  recht  unzulänglich. 
Beweis  dafür  ist  die  erneute  Einbringung  des  Entwurfes 
eines  deutschen  Auswanderungsgesetzes  beim  deutschen 
Reichstage,  eines  Entwurfes,  der  bereits  zur  letzten  Session 
des  Reichstages  in  derselben  Gestalt  vorlag  und  schon  da- 
mals in  den  wesentlichsten  Punkten  so  gut  wie  keine  Zu- 
! Stimmung,  vielmehr  lebhafte  Missbilligung  in  der  Oeffent- 
lichkeit  fand.  Der  Schreiber  dieser  Zeilen  versuchte  den 
ablehnenden  Standpunkt  grosser  Kreise  damals  aus  der 
1 Geschichte  der  deutschen  Auswanderungspolitik  und  aus 
den  gegenwärtigen  sozialen  Verhältnissen  in  einem  Auf- 
1,  satze  zu  begründen,  der  im  Sozialpolitischen  Centralblatt 


vom  29.  Februar  d.  j.  (I.  Jahrgang  No.  9,  S.  116fg.)  erschien. 

| Zahlreiche  Aeusserungen  von  anderer  Seite  gingen  nach  der 
gleichen  Richtung.  Der  Verein  für  Sozialpolitik  hat  in- 
zwischen über  Auswanderung  und  Auswanderungspolitik 
in  Deutschland  (Leipzig,  Dunker  und  Humblot,  1892)  durch 
Professor  Dr.  E.  von  Philippovich  und  unter  Mitwirkung 
sachkundiger  Fachmänner  eine  umfangreiche  Schrift  ver- 
öffentlicht, die  das  Beste  genannt  werden  kann,  was  er  in 
der  letzten  Zeit  in  seinen  Schriften  publizirte,  und  die 
ausserordentlich  reichhaltiges  und  theilweise  sehr  gutes 
Material  zur  Kritik  der  verkehrten  Auffassung  liefert,  wel- 
cher man  an  massgebender  Reichsstelle  in  der  Auswande- 
rungsfrage huldigt.  Aber  diese  Stelle  scheint  unnahbar 
für  die  sachgemässesten  und  wohlwollendsten  Vorstellungen 
zu  sein;  und  so  wird  sich  der  Reichstag  mit  dem  unver- 
änderten Entwürfe  eines  deutschen  Auswanderungsgesetzes 
zu  beschäftigen  haben. 

Die  Lücken  des  Entwurfs  bestehen  nach  wie  vor  in 
den  Mangel  jeglichen  Ansatzes  zu  einer  Organisation  der 
Auswanderung,  zur  Errichtung  behördlicher  Auskunftsstellen 
und  zur  Schaffung  strenger  gesetzlicher  Normen  für  die 
Schiffshygiene  auf  Auswandererschiffen.  Dass  man  die  or- 
ganisatorischen Einrichtungen  anderer  Staaten  kennt,  zeigen 
die  Motive,  welche  von  den  im  Sozialpolitischen  Central- 
blatt durch  E.  Naef  besprochenen  schweizer  Vorkehrungen 
(I.  Jahrgang,  No.  12,  S.  I54fg.)  sprechen;  diese  Erwähnung  ist 
aber  auch  das  Einzige,  was  von  der  Sache  in  den  Gesetz- 
entwurf überging.  Es  wäre  dringend  zu  wünschen,  dass  der 
zweite  Band  der  Veröffentlichung  des  V ereins  für  Sozialpolitik 
recht  bald  erschiene,  damit  wenigstens  der  Reichstag  die 
ausführliche  Darstellung  alles  desjenigen  vor  sich  hätte, 
was  nicht  bloss  in  der  Schweiz,  sondern  auch  in  Belgien 
und  England  über  die  positive  Förderung  und  Organisation 
des  Auswanderungswesens  bereits  geleistet  wurde.  Die 
Einseitigkeit  des  deutschen  Entwurfes  wird  dann  um  so 
deutlicher  erkannt  werden.  Was  die  Vorschriften  über  die 
hygienischen  Einrichtungen  auf  Auswandererschiffen  be- 
trifft, so  vertagt  der  Entwurf  dieselben  bis  zum  Erlass 
landesräthlicher  Vorschriften.  Es  ist  aber  unerfindlich 
warum  solche  elementare  und  seit  langem  feststehende 
Dinge  nicht  sofort  im  Gesetz  festgelegt  werden.  Die  Kon- 
trolle der  künftigen  und  jetzt  zu  erlassenden  Vorschriften 
bleibt  wiederum  in  der  Hauptsache  den  Landesbehörden 
der  Auswanderungshäfen  überlassen ; die  Reichskommissäre 
für  Auswanderungswesen  sind  und  bleiben  so  machtlos,  wie 
die  Gewerbeinspektoren  auf  ihrem  Gebiete.  In  dieser 
Herabdrückung  der  wichtigsten  staatlichen  Ueberwachungs- 
organe  für  soziale  Zustände  liegt  wenigstens  ein  gewisses 
System,  das  muss  man  anerkennen.  Im  Wesentlichen  ordnet 


! 


112 


SOZIALPOLITISCHES  CENTKAI .BLATT. 


No.  10. 


der  Entwurf  reichsgesetzlich  nur  die  Unternehmer-  und 
Agentenreglements,  sowie  die  Vorschriften  über  die  Aus- 
wanderungs-„Freiheit“  der  Einzelnen. 

Bezüglich  der  Unternehmer-  und  Agentenreglements 
soll  an  Stelle  der  bisherigen  einzelstaatlichen  Buntscheckig- 
keit  Einheitlichkeit  für  das  ganze  Reichsgebiet  geschaffen 
werden  — das  ist  so  ziemlich  der  einzige  Fortschritt,  den  der 
Entwurf  enthält.  Hier  findet  sich  auch  die  Berufung  auf  das 
schweizer  Muster;  dort  nahm  der  Bund  ebenfalls  den  Kan- 
tonen die  oberste  Aufsicht  aus  der  Hand,  ohne  freilich 
ganz  auf  ihre  Mitwirkung  zu  verzichten  Aber  materiell 
geht  der  deutsche  Entwurf  weit  über  die  schweizer  Vor- 
schriften hinaus  in  der  Reglementirung  der  Unternehmer 
und  Agenten.  Die  Schweiz  verlangt  in  der  Hauptsache 
eine  Kaution,  guten  Leumund,  Domizil  im  Lande  und  den 
Gebrauch  eines  vom  Bund  vorgeschriebenen  Vertragsformu- 
lars; sie  verbietet  den  Abschluss  von  Aus wanderungs ver- 
trügen mit  Personen,  die  ihre  öffentlich-rechtlichen  Ver- 
pflichtungen nicht  erfüllt  haben,  sowie  mit  Gesellschaften, 
denen  eine  Anzahl  von  Auswanderern  „geliefert“  werden 
soll,  und  sie  schützt  den  Auswanderer  vor  etwaigen  Kunst- 
griffen der  Agenten  in  Geldsachen,  nicht  ohne  dass  auch 
hier  die  Mitwirkung  der  Kantone  und  Gerichte  sehr  oft 
versagte.  Der  deutsche  Entwurf  geht  darüber  weit  hinaus. 
Er  verlangt  die  deutsche  Reichsangehörigkeit  von  jedem 
Auswanderungsunternehmer  oder  Agenten,  schliesst  Jeden, 
der  nicht  selbst  Schiffsbesitzer  ist,  als  Unternehmer  aus 
und  fordert,  dass  jeder  Unternehmer  seinen  Wohnsitz  oder 
seine  gewerbliche  Niederlassung  an  einem  deutschen  Hafen- 
platz  habe;  ausländische  Schiffsgesellschaften  , die  zufällig 
nicht  ihren  Sitz  in  Hamburg  oder  Bremen  haben, 

können  also  die  Beförderung  deutscher  Auswanderer  gar 
nicht  betreiben , obgleich  ihre  fortgeschrittenen  Ein- 
richtungen oft  erst  die  Muster  für  deutsche  Unter- 
nehmer waren  und  sehr  zu  befürchten  steht,  dass  beim 
Wegfall  jeder  ausländischen  Konkurrenz  eine  völlige  Stag- 
nation in  der  Entwickelung  der  deutschen  Vorkehrungen 
für  Auswanderungsbeförderung  innerhalb  des  Minimums 
eintritt,  welches  die  deutsche  Gesetzgebung  vorschreibt. 
Vielleicht  ist  diese  Wirkung  an  massgebender  Stelle  beab- 
sichtigt, um  den  Auswanderern  die  Ausführung  ihres  Vor- 
habens möglichst  unbequem  zu  machen.  Ausserdem  stellen 
die  Motive  des  Entwurfes  ganz  offen  den  Grundsatz  auf, 
dass  dem  Reichskanzler  völlig  „diskretionäre“  Macht 
darüber  zustehen  soll,  wen  er  konzessioniren  will  als 
Unternehmer.  Die  Aufstellung  „allgemeiner,  bindender 
Direktiven“  sei  nicht  rathsam,  „das  Recht  zum  Widerruf 
der  Erlaubniss  an  keinerlei  Bedingungen  zu  binden  und 
zugleich  auszusprechen,  dass  der  Nachsuchende  auch  beim 
Vorhandensein  jener  Bedingungen  keinerlei  Recht  auf  die 
Erlaubnissertheilung  habe.“  Jeder  Rechtsweg  gegen  will- 
kürliche Entscheidungen  der  Behörde  ist  also  ausgeschlossen, 
und  alle  übrigen  Vorschriften  des  Entwurfes  sind  in  diesem 
Sinne  gehalten.  Hier  kann  nur  auf  diesen  allgemeinen 
Gesichtspunkt  hingewiesen  werden,  und  es  muss  den  inter- 
essirten  Kreisen  überlassen  bleiben,  ihre  Einwendungen 
gegen  einzelne  Vorschriften  an  geeigneter  Stelle  anzubringen. 
Der  oder  die  Verfasser  des  Entwurfes  sind  offenbar  von 
dem  höchsten  Misstrauen  gegen  das  Ehiternehmer-  und 
Agentengewerbe  im  Auswanderungswesen  erfüllt,  wie  man 
es  namentlich  in  agrarischen  Kreisen  so  häufig  antrifft. 
Die  Motive  enthalten  freilich,  wie  man  schon  gewohnt  ist, 
nicht  die  geringsten  thatsächlichen  Unterlagen  für  einen 
solchen  Standpunkt,  auch  ist  wohlweislich  nicht  jener  ent- 
kräftenden Aeusserung  des  hamburger  Reichskommissars 
in  seinem  Bericht  für  1891  gedacht,  in  welcher  bestätigt 
wird,  dass  die  Klagen  über  Verleitung  zur  Auswanderung 
durch  Agenten  „meist  auf  Verhetzung  durch  konkurrirende 


Firmen“  zurückzuführen  sind  und  „keinen  Grund  zum  Ein- 
schreiten gegen  die  Acgeschuldigten“  ergeben  haben  (vergl. 
Sozialpolitisches  Centralblatt,  I.  Jahrgang,  No.  10,  S.  131). 

Der  Standpunkt  äusserster  Exklusivität  liesse  sich  noch 
verstehen,  wenn  das  Reich  selbst  Gutes  schaffen  wollte  und 
behördliche  Auskunftsstellen  für  authentische  Informationen 
einrichtete;  da  aber  jede  Lust  und  Kraft  zu  solchem  posi- 
tivem Schaffen  zu  fehlen  scheint,  so  ist  die  Verwaltungs- 
willkür, die  auf  einem  so  wichtigen  sozialpolitischen  Gebiete 
massgebend  werden  soll,  nahezu  unverständlich. 

Den  deutschen  Auswanderern  selbst  wird  am  tiefsten 
in  das  Fleisch  schneiden  das  Aufgebotsverfahren,  welches 
vom  Entwürfe  beibehalten  ist,  trotzdem  sich  gerade  hier- 
gegen die  schärfste  Kritik  aller  Kreise,  die  agrarischen  aus- 
genommen, richtete.  Schon  in  dem  früheren  Aufsatze  desVer- 
fassers  wurde  darauf  verwiesen,  dass  hiermit  einfach  eine 
agrarische  Forderung  zum  Gesetz  erhoben  ist,  welche  von 
den  Gutsbesitzern  des  preussischen  Ostens  mit  grosser  Aus- 
dauer wiederholt  wurde.  Die  Darstellung  Leidig’s  im 
Berichtsband  des  Vereins  für  Sozialpolitik  bestätigt  (S.  478), 
dass  namentlich  die  Landwirthe  Westpreussens,  Pommerns, 
Posens  und  Oberschlesiens  hinter  der  neuen  Vorschrift 
stehen.  Die  Bestimmung,  dass  jeder  Auswanderungslustige 
(§  21  des  Entwurfes)  seine.  Absicht  unter  Angabe  des  vor- 
aussichtlichen Zeitpunktes  seines  Wegzuges  der  Ortspolizei- 
behörde anzuzeigen  hat  und  dass  diese  erst  nach  Veröffent- 
lichung dieser  Anzeige  bezw.  nach  Ablauf  einer  Frist  von 
vier  Wochen  nach  derselben  einen  Pass  zur  Auswanderung 
ausstellen  darf,  diese  Vorschrift  passt  ja  auch  nur  auf  länd 
liehe  Verhältnise,  in  denen  der  Ortsvorsteher  der  Mächtigste 
im  Dorfe  ist  und  die  Bevölkerung  eventuell  mit  anderer 
Hilfe  so  zu  kontroliren  und  zu  bevormunden  vermag,  dass  i 
an  eine  Auswanderung  ohne  sein  Mitwissen  seitens  der  ! 
wenig  geschäftskundigen  ländlichen  Bevölkerung  nicht  zu 
denken  ist.  In  den  Städten  wird  sich  der  flüchtige  Kassirer 
oder  der  Bankerotteur  schwerlich  vorher  zur  Auswanderung 
bei  der  Polizei  anmelden,  ebensowenig  der  aus  politischen 
Gründen  sich  Entfernende  oder  der  Reiche,  der  aus  Steuer-  i 
und  Gesundheitsrücksichten  seinen  Wohnsitz  ins  Ausland  { 1 
verlegt.  Diese  Elemente  können  eben  unmöglich  wirksam  | 
überwacht  werden,  und  damit  fällt  die  Erheblichkeit  des  | 
ganzen  Aufgebotverfahrens  für  dieselben.  Die  vorge- 
schlagene Massregel  stellt  sich  demnach  als  eine  einseitige  Aus- 
nahmevorschrift dar,  welche  ihre  Spitze  gegen  einen  ganz 
bestimmten,  materiell  und  intellektuell  schwächeren  Theil 
der  Bevölkerung  zu  Gunsten  agrarischer  Wünsche  richtet, 
und  schon  deshalb  nicht  sehr  sympathisch  wirkt.  Es  kommt 
aber  hinzu,  dass  der  Staat  hier  einen  Grundsatz  anwenden 
will,  der  ihn  zu  den  reaktionärsten  Rechtseinrichtungen 
zurückführen  würde.  Er  will  im  Interesse  privatrechtlicher 
Ansprüche  irgend  eines  Gläubigers  gegen  den  Schuldner 
mit  Präventivmassregeln  eingreifen  , die  ausserhalb  des 
ordentlichen  Gerichtsverfahrens  liegen.  Und  er  will  ein- 
greifen durch  eine  gewisse  Freiheitsbeschränkung.  Das  ist 
ein  Weg,  der  zum  Schuldthurm  zurückführt,  so  unschön 
dies  auch  klingen  mag;  ein  wesentlicher  Unterschied 
zwischen  der  Schuldhaft  und  dem  jetzt  geplanten  Aufge- 
lrotsverfahren bei  der  Auswanderung  besteht  nicht,  nur  ein 
Unterschied  in  Formalitäten.  Dies  wird  ja  wohl  bei  der 
parlamentarischen  Entscheidung  beachtet  werden,  ebenso 
der  Widerspruch,  in  den  sich  die  Neuerung  zur  verfassungs- 
rechtlich garantirten  Bewegungsfreiheit  jedes  Staatsbürgers 
setzen  würde.  Endlich  kommt  in  Betracht,  dass  das  Auf- 
gebotsverfahren für  Auswanderer  von  der  Verwaltungs- 
praxis längst  als  eine  unpraktische  Massregel  innerhalb  des 
heutigen  Verkehrswesens  erkannt  und  mit  dem  Vordringen 
des  letzteren  überall  dort  fallen  gelassen  worden  ist,  wo  es 
sich  noch  aus  der  Zeit  erhalten  hatte,  in  welcher  überhaupt 


No.  10. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAT, BLATT. 


113 


di(>  nicht  mit  Genehmigung  der  hohen  Obrigkeit  erfolgte 
Auswanderung  als  strafbare  Handlung  aufgefasst  und  be- 
handelt wurde.  Der  öfter  erwähnte  Band  aus  den  Schriften 
des  Vereins  für  Sozialpolitik  enthält  S.  25  ff.  und  87  extra 
(aus  Bayern),  sowie  S.  150  und  152  (aus  Baden)  die  nöthigen 
Belege  hierzu.  Eine  interessante  geschichtliche  Reminis- 
zenz liefert  diese  Veröffentlichung  ausserdem.  Bereits  am 
2.  Juni  1842  beantragte  nach  dem  Berichterstatter  für 
Preussen  (S.  438)  die  königlich  preussische  Regierung  zu 
Trier  die  Einführung  des  Aufgebotsverfahrens  für  Aus- 
wanderer. Die  damaligen  Minister  des  Innern  und  der 
|ustiz  lehnten  es  jedoch  durch  Erlass  vom  30.  August  1842 
ab,  auf  diesen  Vorschlag  einzugehen,  „da  es  nicht  Aufgabe 
der  Staatsregierung  sei,  durch  Verwaltungsmassregeln  die 
privatrechtlichen  Verbindlichkeiten  der  Auswanderer  auf- 
recht zu  erhalten  und  deren  Gläubiger  zu  schützen.“  Jetzt 
scheint  dagegen  an  massgebender  Stelle  kein  Bedenken 
vorzuliegen,  dass  das  Deutsche  Reich  von  1892  hinter  dem 
Königreich  Preussen  von  1842  an  wirthschaftspolitischer 
Einsicht  zurückbleibe. 

Zusammenfassend  kann  man  ruhig  sagen,  dass  den 
Verfassern  des  hier  besprochenen  Entwurfes  eines  deutschen 
Auswanderungsgesetzes  das  Verständniss  für  höhere  soziale 
und  wirtschaftliche  Gesichtspunkte  in  sehr  bedauerlichem 
Maasse  abgeht.  Und  dabei  stellt  das  Auswanderungswesen 
ein  überaus  interessantes  Gesetzgebungs-  und  Verwal- 
tungsgebiet dar,  das  wegen  seines  Zusammenhanges  mit 
allen  wirthschaftlichen  und  sozialen  Strömungen,  die  ein 
Volk  bewegen,  ein  Feld  der  verdienstvollsten  und  weit- 
tragendsten  Schöpfungen  und  Massregeln  für  Nichtdilletanten 
böte.  Dem  vorliegendem  Entwurf  gegenüber  müsste  des- 
halb die  Parole  für  alle,  die  es  mit  der  Sozialpolitik  ernst 
meinen,  heissen:  „lieber  kein  deutsches  Auswanderungs- 
gesetz, als  ein  solches!“ 

Frankfurt  a/M.  Max  Quarck. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 
statistik. 

Sozialpolitik  und  Staatsschuld. 

Die  sozialistische  Kritik  des  bestehenden  Gesellschafts- 
zustandes hat  sich  bislang  viel  zu  wenig  mit  der  Frage 
beschäftigt,  welches  denn  die  Stützen  dieser  „kapitalistischen 
Wirthschaftsordnung“  seien  oder  — richtiger  und  präziser 
gefasst!  — aus  welchen  Quellen  denn  eigentlich  die  viel- 
fachen unleugbaren  Schäden  entspringen,  welche  jener  an- 
haften. Viel  zu  einseitig  legte  diese  Kritik  den  Haupt- 
accent auf  die  Schattenseiten  der  maschinellen  Gross- 
produktion, während  eine  Reihe  kaum  minder  wichtiger 
Ursachen  sozialer  Leiden  zu  Unrecht  ignorirt  wurden  Nur 
auf  einen  dieser  vernachlässigten  Faktoren  sei  hier  die 
Aufmerksamkeit  gerichtet  — auf  die  sozialpolitische  Be- 
deutung des  Staatsschuldenwesens,  worunter  wir  auch  die 
Verschuldung  der  öffentlichen  Körperschaften  einbegreifen. 

Unter  den  Theoretikern  des  Sozialismus  finden  wir 
keine  eingehende  Würdigung  dieses  Momentes,  dessen 
eminente  Wichtigkeit  schon  bei  der  blossen  Erwähnung  in 
die  Augen  springt.  Es  ist  bekannt,  dass  Fourier,  Proudhon 
und  Ferdinand  Lassalle  (in  der  bekannten  100  Millionen 
Thaler- Anleihe)  für  ihre  experimentellen  Reformprojekte 
stark  den  Staatskredit  in  Anspruch  nehmen,  dies  ist  in- 
dessen der  einzige  Berührungspunkt.  Selbst  Marx  be- 
spricht nur  unwesentliche  Punkte  der  bezüglichen  Streit- 
frage an  englische  bürgerliche  Oekonomen  anknüpfend. 

Dagegen  ist  es  interessant  zu  beobachten,  wie 
bei  wirklichen  Volkserhebungen  mit  sozialistischem  Hinter- 


gründe sofort  das  Problem  der  Staatsschuld  in  den  Vorder- 
grund tritt,  wobei  freilich  dessen  gordischer  Knoten  nicht 
gelöst  sondern  durchhauen  wird. 

Als  durch  Verhaftung  ihres  Hauptes  Gracchus  Babeuf 
die  „Verschwörung  der  Gleichen“  scheiterte  (1796),  fand 
man  unter  dessen  Papieren  ein  sorgfältig  ausgearbeitetes 
Programm,  welches  bezüglich  der  Nationalschuld  besagte: 

„Die  Nationalschuld  gilt  als  getilgt  für  alle  Franzosen, 
i Die  Republik  wird  den  Ausländern  das  Kapital  der  fort- 
laufenden Renten  heimzahlen,  welches  sie  ihnen  schuldet.“ 

Wie  diese  Forderung  aus  der  Zeit  der  Assignaten, 
spiegelt  ein  Postulat  der  englischen  Chartistenbewegung 
(1842)  die  Stimmung  dieser  proletarischen  Erhebung  wieder 
in  einer  Epoche,  da  die  englische  Staatsschuld  zu  einem 
nationalen  Alp  angewachsen  war.  Ein  Punkt  der  berühmten 
„people’s  charter“  verlangte  kurz  und  bündig  Aufhebung 
der  Zinszahlung  an  die  Staatsgläubiger  und  die  letzte 
Chartistenkonferenz  (1851)  beschloss,  dass  die  Zinszahlung 
gleich  einem  Abtrag  auf  das  Schuldkapital  zu  erachten  sei. 

Für  die  sozialpolitische  Würdigung  der  Staatsschuld 
sollen  diese  historischen  Reminiscenzen  nichts  anderes  als 
die  Bedeutung  eines  Symptoms  beanspruchen,  aber  eines 
recht  bedeutungsvollen  Stimmungsbildes  weiter  Volkskreise. 
Ohne  weitere  Beweisführung  aber  ist  einleuchtend,  dass 
die  Minderbesitzenden  lebhafter  reagiren  werden  gegen 
| diese  wohlerworbenen  Rechte,  sobald  die  Vermögensunter- 
schiede einer  Nation  grellere  sind,  die  Differenzirung  des 
Volkseinkommens  starke  Sprünge  aufweist.  Es  kommt 
darauf  an  festzustellen,  ob  in  der  That  das  Staatschulden- 
wesen ungünstig  auf  die  Vertheilung  des  Volkseinkommens 
einwirkt. 

Dieser  Nachweis  ist  unschwer  zu  liefern.  Finanz- 
schriftsteller des  vorigen  Jahrhunderts  haben  grosses  Ge- 
wicht darauf  gelegt,  dass  die  verstärkte  Sicherheit,  Avelche 
Schuldverschreibungen  des  Staates  gegenüber  denen  von 
Privaten  gewähren,  die  Ueberlegenheit  der  Kapitalisten 
noch  erhöhte.  Wir  wissen  aus  der  täglichen  Erfahrung, 
besonders  der  letzten  Zeit,  dass  dies  nur  in  sehr  bedingtem 
Grade,  wenn  überhaupt,  zutrifft.  Auch  das  argumentum  e 
contrario  können  wir  bei  Seite  lassen,  nach  dem  man  früher 
behauptete:  Wenn  keine  Staatsschulden  beständen,  würden 
die  Kapitalisten  behufs  Investirung  in  Schwierigkeiten  ge- 
rathen,  der  Zins  würde  bis  auf  die  Risikoprämie  sinken,  die 
Nivellirung  des  Volksvermögens  angebahnt  sein.  Das  sind 
Uebertreibungen  an  sich  richtiger  Tendenzen,  die  aber 
durch  andere  Gegenwirkungen  aufgehoben  werden  können, 
Abstraktionen,  deren  logische  Fehler  leicht  erkennbar  sind, 
die  im  wirklichen  Wirthschaftsleben  die  einfachste  Beob- 
achtung widerlegt. 

Unbestreitbar  ist  jedoch,  dass  die  Kontrahirung  einer 
Anleihe  die  Menge  des  für  produktive  Zwecke  bestimmten 
Kapitals  vermindern  muss,  sohin  die  Nachfrage  nach  Leih- 
kapital verstärkt.  Diese  Folge  kann  durch  andere  Faktoren 
paralysirt,  ja  in  das  Gegentheil  verkehrt  werden,  was  hier 
nicht  weiter  verfolgt  werden  kann.  Allein  eine  Tendenz 
zur  Erhöhung  des  Kapitalzinses  wird  stets  vorhanden  sein, 
mithin  eine  ungünstigere  Position  des  Darlehensuchers. 
Das  ist  in  erster  Reihe  der  Unternehmer  und  zwar  der 
wirtschaftlich  schwächere  Unternehmer.  Es  beginnt  der 
Versuch  einer  Abwälzung;  der  höher  Belastete  möchte  die 
Bürde  zum  Theil  wenigstens  anderen  Schultern  übertragen, 
er  spart  vielleicht  an  seiner  eigenen  Konsumtion  und  ver- 
kürzt dadurch  das  Einkommen  von  anderen  Produzenten; 
er  spart  gewiss  an  den  Produktionsmitteln,  d.  h.  vor  Allem 
an  den  Arbeitslöhnen.  Nochmals  betonen  wir,  dass  der  Er- 
folg des  geschilderten  Ganges  von  anderen  „störenden“ 
Momenten  abhängig  ist,  dass  vor  Allem  es  keineswegs  ge- 
wiss ist,  ob  die  Lohnreduktion  durchzusetzen  oder  doch  auf 
die  Dauer  zu  behaupten  ist.  Das  Wirthschaftsleben  ist  ein 
viel  zu  komplizirter  Mechanismus,  um  es  mit  einer  einzigen 
Formel  darzustellen.  Allein  so  dunkel  gerade  auch  das 
Ueberwälzungsproblem  ist,  so  gewiss  ist  für  jeden  objektiv 
Denkenden,  dass  der  wirtschaftlich  Stärkere,  d,  h.  also  im 
Grossen  und  Ganzen  der  Unternehmer  ein  Gewicht  mehr 
in  die  Wagschale  zu  werfen  hat.  Gelingt  aber  die  Ab- 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  10. 


wälzung  nicht,  so  macht  sich  die  Tendenz  auf  Ueberlegen- 
heit  des  kapitalkräftigeren  Unternehmens  und  Untergang 
des  kapitalbedürftigen,  sohin  einer  Konzentration  des 
Grossbetriebes,  in  erhöhtem  Masse  geltend.  Nimmt  man 
hinzu,  dass  ein  Anziehen  des  Zinsfusses  auch  eine  Fülle 
von  Leid  schafft  für  den,  der  den  (fälschlich  so  genannten) 
Konsumtivkredit  in  Anspruch  nimmt , so  ist  die  sozial- 
politische Bedenklichkeit  des  Staatskredites  evident. 

Allein  alle  diese  mehr  indirekten  Wirkungen  der 
Staatsschuld  sind  relativ  unbedeutend  gegenüber  einer 
weiteren  Erwägung.  Bekanntlich  nimmt  die  Rentabilität 
sehr  grosser  Privatvermögen  bei  einem  gewissen  Sättigungs- 
punkte ab.  Deren  Besitzer  begnügen  sich  mit  einem  ge- 
ringeren Zinssätze,  der  aber  ein  desto  sicherer  sein  muss. 
Allein  solcher  erster  Sicherheiten  giebt  es  nur  in  be- 
schränkter Zahl.  Grosse  Staaten,  Kommunen  etc.  sorgen 
dafür,  dass  bei  ihnen  Kapital  in  stets  wachsender  Fülle  in- 
vestirt  werden  kann.  Bei  erhöhter  Sicherheit  trägt  es  den 
Grosskapitalisten  mehr  Zinsen,  als  andere  'gleich  zu  klas- 
sirende  Kapitalien.  Dass  auch  hierin  die  starke  Tendenz 
zu  einer  beträchtlichen  sich  stetig  verstärkenden  Differen- 
zirung  des  Nationalvermögens  liegt,  ist  unzweifelhaft ; die 
unausbleiblichen  üblen  Folgen  einer  solchen  darzustellen, 
ist  nicht  unsere  Aufgabe. 

Wenn  in  unseren  Tagen  das  Resultat  unparteiischer 
Untersuchungen  den  Interessen  der  grossen  Besitzer  wider- 
spricht, pflegt  man  die  berühmte  Taktik  anzuwenden,  den 
Kleinbesitz  als  schützenden  Schild  vorzuhalten.  So  auch 
hier.  Man  pflegt  zu  argumentiren,  dass  die  „kleinen  Leute“ 
nicht  wohl  einer  bequemen  Gelegenheit  zu  sicherer  Anlage 
ihrer  Ersparnisse  entbehren  sollten  und  dass  dadurch  deren 
materielle  Interessen  fester  mit  ihren  patriotischen  verknüpft 
würden.  Diese  ganze  Deduktion  ist  theoretisch  schweren 
Bedenken  ausgesetzt;  allein  man  braucht  sich  bei  ihnen 
nicht  aufzuhalten.  Es  genügt  ein  Seitenblick  über  die 
Vogesen.  Kein  Staat  besitzt  ein  Kreditsystem,  das  nur 
annähernd  so  auf  die  Benutzung  durch  „kleine  Leute“  be- 
wusst zugeschnitten  ist  als  Frankreich  und  kein  Staat  hat 
mehr  Revolutionen  erlebt.  Dabei  kommt  dem  französischen 
System  ein  Spartrieb  des  Volkes  entgegen,  der  anderwärts 
in  gleicher  Stärke  aus  ökonomischen  und  völkerpsycho- 
logischen Gründen  nicht  existirt. 

Ebenso  bedeutungsvoll  ist  es,  dass  die  Staatsschuld 
dasjenige  Kapital  vermehrt,  dessen  Werth  beständigen  und 
beträchtlichen  Schwankungen  unterworfen  ist.  Diese  macht 
sich  der  Grossbetrieb  zu  Nutze  und  zieht  aus  ihnen  er- 
fahrungsmässig  Vortheile,  während  zumeist  die  Minderbe- 
mittelten beim  unzeitigen  Verkauf  die  Zeche  bezahlen. 
Dazu  kommt  der  Anreiz  zur  Agiotage,  zur  Spekulation  im 
schlimmen  Wortsinne,  der  durch  Anleihen  geweckt  und 
genährt  wird.  Die  sozialpolitischen  Konsequenzen  liegen 
auf  der  Hand. 

Endlich  sei  erwähnt,  dass  ein  gewisser,  wenn  auch 
indirekter  Zusammenhang  zwischen  Staatsschuld  und  be- 
sonders die  Armen  belastenden  Steuern  (also  besonders  die 
Abgaben  auf  nothwendige  Verbrauchsgegenstände)  besteht. 
Gewiss  wird  beim  Herantreten  des  Bedürfnisses  auch  die 
Deckungsfrage  durch  Steuern  eventuell  durch  Verbrauchs- 
steuern ihre  Rolle  spielen.  Jedoch  ist  nichts  erklärlicher, 
als  dass  Regierungen  wie  Parlamente  leichter  zur  Deckung 
durch  Anleihen  denn  durch  Steuern  ihre  Zuflucht  nehmen. 
Der  erstere  Weg  kann  sehr  wohl  durch  innere  Gründe  ge- 
rechtfertigt, ja  geboten  sein,  allein  bei  jener  Kategorie 
von  Fällen,  in  denen  über  die  Deckung  zu  streiten  ist, 
wird  stets  die  Anleihe  mehr  Chancen  haben.  Steuern  sind 
immer  unpopulär,  Anleihen  werden  es  gewöhnlich  erst, 
wenn  ihre  Anforderungen  erhebliche  sind.  Ist  das  Budget 
bei  erheblicher  Schuldenlast  und  demzufolge  beträchtlichen 
Summen  für  den  Dienst  der  Anleihen  nicht  zu  balanziren, 
so  müssen  sehr  eingreifende,  direkt  fühlbare  Abgaben  für 
die  Wohlhabenden  oder  die  Minderbesitzenden  stärker  be- 
lastenden Hilfe  bringen  und  die  Finanzgeschichte  giebt  auf 
jedem  Blatte  Kunde  davon,  wie  häufig  der  letztere  Weg 
beschritten  wurde. 

Die  vorstehenden  Ausführungen  dürften  genügend  ge- 


zeigt haben,  wie  bedenkliche  Konsequenzen  das  System 
der  Staatsanleihen  in  sozialpolitischer  Beziehung  zur  Folge 
hat.  Jeder,  der  eine  Vermögensvertheilung  mit  schroffen 
Abstufungen  für  unheilvoll  hält,  muss  daher  einer  vor- 
sichtigen Kreditpolitik  zustimmen,  welche  besonders  starke, 
gesetzlich  festzulegende  Amortisationen  zum  Zielpunkt  hat. 
Ein  Blick  auf  die  stetig  wachsenden  Ziffern  der  Verschul- 
dung, besonders  auch  der  Kommunen,  lehrt  die  Grösse 
dieser  Gefahr  erst  voll  würdigen;  alle  Freunde  einer  wirk- 
lichen Sozialreform  sollten  auf  Mittel  und  Wege  zur  Ab- 
hilfe sinnen! 

Die  Beurtheilung  der  Staatsschuld  hängt  nicht  aus- 
schliesslich von  sozialpolitischen  Gesichtspunkten  ab.  Wie 
die  Finanzgeschichte  nicht  angewandte  Finanztheorie  ist, 
so  wird  stets  eine  Fülle  von  andersartigen  Momenten  für 
die  Deckung  des  Bedürfnisses  entscheidend  sein.  Allein 
wie  auch  bei  Streitfragen  auf  noch  entlegneren  Gebieten 
der  sozialpolitische  Gesichtspunkt  mehr  und  mehr  in  den 
Vordergrund  tritt,  wird  er  auch  auf  diesem  mit  dem  Leben 
des  Staates  sich  so  nahe  berührendem  Gebiete  stets  von 
grosser  Bedeutung  sein  und  wird  eine  noch  grössere  sicher- 
lich in  Zukunft  für  sich  in  Anspruch  nehmen  dürfen. 

Berlin.  Rudolf  Grätzer. 


Landwirthschaftlicher  Kredit  und  städtische 
Lebensmittelversorgung. 

Der  sozialdemokratische  Abgeordnete  Paul  Lafargue 
hat  in  der  Deputirtenkammer  einen  Gesetzentwurf,  betr. 
„Die  Einrichtung  des  landwirthschaftlichen  Kredits  und  die 
Schaffung  von  Gemeindekassen  für  Approvisionirung“  über- 
reicht. Vorangestellt  ist  dem  Entwurf  eine  Motivirung, 
welcher  wir  Folgendes  entnehmen:  „Die  Einrichtung  des 

landwirthschaftlichen  Kredits  begegnet  in  Frankreich  eben 
so  sehr  wie  in  anderen  Ländern  Europas  grossen  Schwierig- 
keiten, welche  aber  nur  der  Methode  zuzuschreiben  sind, 
welche  man  in  Anwendung  bringt.  Die  Kreditanstalten, 
welche  geschaffen  werden,  um  der  Agrikultur  zu  Hilfe  zu 
kommen,  haben  von  der  Agrikultur  nur  den  Namen,  weil 
man  den  agrikolen  Kredit  mit  dem  Kredit,  welcher  der 
Industrie  und  dem  Handel  zugewiesen  wird,  verwechselte, 
obwohl  man  anerkennen  musste,  dass  die  Landwirthschaft 
eine  ganz  andere  Art  von  Kredit  braucht  und  auch  eine 
ganz  andere  Art  von  Garantie  bietet.  Man  wendete  sich 
an  Finanzleute,  welche  die  Ersparnisse  des  Landes  nur 
herangezogen  haben,  um  sie  in  industriellen  Unternehmungen 
zu  verwenden.  Sie  wollen  den  Landwirthen  ihr  eigenes 
Geld  unter  der  Form  von  Darlehen  nur  dann  zur  Verfügung 
stellen,  wenn  man  die  Artikel  des  Gesetzbuches,  welche 
den  Grundeigenthümern  ein  Privilegium  giebt,  ändert  und 
„wenn  man  die  Prozedur  der  Expropriation  vereinfacht  und 
abkürzt“.  Sie  wollen  sich  des  Geldes  der  Landwirthe  be- 
dienen, um  ihren  Boden  zu  expropriiren.  Heute  schlägt 
man  vor,  sich  an  die  in  Syndikaten  vereinigten  Grund- 
eigenthümer  selbst  zu  wenden  und  man  beachtet  nicht, 
dass  auch  diese  es  vorziehen,  ihre  überschüssigen  Kapi- 
talien in  der  Industrie  und  in  Renten  anzulegen,  um  daraus 
einen  erheblicheren  oder  besser  fundirten  Gewinn  zu 
ziehen.  Da  der  landwirthschaftliche  Kredit  seiner  Natur 
nach  dem  Kredit,  welchen  der  Industrielle  oder  der  Handels- 
mann hat,  unähnlich  ist,  muss  man  sich  auch  an  eine  andere 
Klasse  von  Darleihern  wenden,  wenn  man  ihn  einrichten 
will.  Anstatt  sich  an  Finanzleute  und  Grundeigenthümer 
zu  wenden,  ziehe  man  die  Konsumenten  der  Städte  heran, 
deren  einziger  Reichthum  in  ihren  Bedürfnissen  besteht. 
Das  Bedürfniss  legt  ihnen  die  Nothwendigkeit  der  Arbeit 
auf,  die  einzige  Quelle  allen  Kapitales.  Damit  aber  die 
Konsumenten  den  Kredit,  welchen  die  Landwirthschaft 
braucht,  auch  gewähren  können,  müssen  sie  durch  die 
Munizipalräthe  vertreten  werden , die  beauftragt , die 
Nahrungsmittel  für  die  Stadt  beizustellen,  den  Landwirthen, 
welche  diese  liefern,  Kredit  gewähren  können.  In  dieser 
Weise  würde  jene  enge  Solidarität  begründet  werden, 
welche  einst  Staat  und  Land  verband,  die  nun  durch 
die  kapitalistische  Produktion  auseinander  gerissen  sind. 
Indem  der  Munizipalrath  den  Landwirthen  die  nothwendig- 
sten  Rohprodukte  (Getreide,  Fleisch,  Wein  und  Alkohol 
abkauft  und  sie  zum  Kostenpreise  an  die  Detailisten  ab- 


No.  10. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


115 


lässt,  wie  dies  die  Resolution  des  9.  Kongresses  des  parti 
ouvrier  verlangt,  bringt  er  Produzenten  und  Konsumenten 
einander  näher.  Der  Landwirth  braucht  nicht  mehr  das 
kaudinische  Joch  der  Grosshändler  zu  passiren  und  nicht 
mit  seinen  Produkten  Geld  zu  kaufen,  um  seine  Steuern 
zu  zahlen,  die  er  viel  besser  in  natura  begleichen  könnte, 
wie  ihm  das  Dekret  vom  9.  August  1793  gestattete.  Der 
Munizipalrath  könnte  auch  Vorschüsse  gewähren  und  so  die 
Landwirthe  wirksam  ermuthigen,  zu  besseren  Methoden  des 
Landbaues  überzugehen.  Indem  er  die  Waaren  zum  Ge- 
stelmngspreise  an  die  Händler  liefert,  könnte  er  sie  besser 
überwachen  und  den  Verkaufspreis  in  billiger  Weise  fixircn. 
Konsumenten,  Händler  und  Landwirthe  würden  von  dieser 
Art  der  Munizipalapprovisionirung  profitiren,  nur  die  Speku- 
lanten würden  verlieren.  Die  Militärverwaltung  fände  in 
dringenden  Fällen  vollständig  eingerichtete  Approvisio- 
nirungskörper  in  allen  Städten  vor.  Der  Konvent  wollte 
eine  ähnliche  Methode  der  Approvisionirung  einrichten,  um 
Frankreich  vor  der  Hungersnoth  zu  bewahren,  von  der  es 
im  Beginn  der  Revolution  bedroht  war.  Der  Artikel  I des 
Dekrets  vom  9.  August  1793  bestimmte:  „In  jedem  Distrikt 

wird  ein  Vorrathsspeicher  (grenier  d’abondance)  errichtet 
werden.  Der  Nationalschatz  wird  100  Millionen  zur  Ver- 
fügung des  Exekutivkommitees  unter  der  unmittelbaren 
Ueberwachung  des  Wohlfahrtsausschusses  zum  Ankauf  von 
Getreide  bereit  halten.“  Die  furchtbaren  Wirkungen  des 
Misswachses,  von  welchem  wir  in  diesem  Jahre  bedroht 
sind,  wurde  erheblich  vermindert  durch  die  Wiederauf- 
nahme und  Ausführung  dieses  Dekretes  des  Konvents.  Nur 
die  fanatischen  und  interessirten  Vertreter  des  anarchischen 
laissez  faire,  laissez  passer  können  im  Namen  der  Handels- 
freiheit, welche  von  den  Syndikaten  der  Spekulanten  unter- 
drückt wird,  diesem  Plan  widersprechen  und  dagegen  mit 
Unrecht  den  Misserfolg  der  vom  Staat  gemachten  V ersuche 
unter  Louis  XVI.,  Napoleon  I.  und  Louis  XVIII.  anführen. 
Jene  Versuche,  welche  nicht  den  Charakter  der  Kontinuität 
hatten,  würden  unter  dem  Druck  der  Hungersnoth  mit  den 
unzulänglichen  Transportmitteln  jener  Zeit  unternommen 
und  mussten  scheitern.  Der  beste  Beweis,  dass  die  städti- 
schen Behörden  mit  grösstem  Erfolg  sich  mit  der  Verpfle- 
gung befassen  können,  ist,  dass  durch  zwei  Jahrhunderte 
dies  der  Fall  war.  Von  1608 — 1799  war  die  casa  annonaria 
(Approvisionirungshaus),  gegründet  von  Papst  Paul  V.,  mit 
der  Verpflegung  der  Stadt  Rom  betraut,  und  wie  immer  die 
Ernte  ausfiel,  ob  Getreide  im  Ueberflusse  oder  spärlich  vor- 
handen war,  sie  lieferte  es  den  Bäckern  immer  für  den- 
selben Preis  von  5 Frcs.  80  Cent,  für  100  Kilo,  und  das 
Brot  wurde  von  einer  Anzahl  öffentlicher  Bäckereien  immer 
zum  selben  Preis  von  1 1 Cent,  das  Pfund  verkauft. 
Während  jener  2 Jahrhunderte  bewahrte  die  casa  annonaria 
Rom  vor  den  Schrecken  der  Hungersnoth,  welche  in  regel- 
mässigen Zeiträumen  die  europäischen  Städte  dezimirte. 

• Und  nun  lassen  wir  den  Gesetzentwurf  selbst 

folgen. 

Artikel  1.  Die  Munizipalräthe  sind  über  einfache 
Anzeige  an  den  Minister  des  Innern  befugt,  eine  Appro- 
visiomrungskasse  einzurichten,  um  direkt  bei  den  Land- 
wirthen  das  nothwendige  Getreide,  zum  Theil  oder  zur 
Gänze,  zu  kaufen,  welches  für  die  Ernährung  der  Ge- 
meinden, die  sie  verwalten,  nöthig  ist.  Die  Approvisio- 
nirungskassen  werden  auf  dem  Wege  eines  Darlehens  oder 
aus  Gemeindemitteln  errichtet.  Sie  können  Depositen  an- 
nehmen, aber  es  ist  ihnen  untersagt,  sich  mit  Bankope- 
rationen zu  befassen.  Der  Finanzminister  hat  das  Recht, 
die  Verwendung  der  Gelder  der  Kasse  zu  kontroliren. 

Artikel  2.  Das  Getreide  wird  den  Bäckern  in  der 
Form  von  Mehl  zum  Kostenpreise  abgegeben  werden  mit 
einem  Zuschlag  von  5 pCt.,  wovon  die  Hälfte  zur  Bildung 
einer  Reservekasse,  und  die  andere  Hälfte  zur  Erhaltung 
der  Gemeindekasse  für  die  Schulen  und  für  die  Altersver- 
sicherung bestimmt  ist. 

Artikel  3.  Die  Bürger  werden  eingeladen,  ihre  Ab- 
gaben zur  Gänze  oder  zum  Theil  in  die  Gemeindespeicher 
in  natura  abzuführen  (Artikel  3 des  Dekretes  vom  9.  August 

1793). 

Artikel  4.  Die  Approvisionirungskasse  ist  befugt, 
den  Landwirthen  Vorschüsse  zu  geben,  zum  Ankauf  von 
Sämereien,  Dünger,  Ackerbauwerkzeugen  und  zur  Vieh- 
zucht, bis  zur  Höhe  von  50  pCt.  des  ungefähren  W erthes 
ihrer  Ernten  oder  des  angekauften  Viehes,  welches  als 
Pfand  dient.  Diese  Vorschüsse  werden  nur  nach  vor- 
gängiger  Einholung  der  Begutachtung  und  unter  der 


Garantie  des  Munizipalrathes  jener  Gemeinde  gegeben,  wo 
der  Darleiher  seinen  Sitz  hat. 

Artikel  5.  Der  Landwirth  unterschreibt  einen 
Schuldschein,  auf  dessen  Kehrseite  die  von  ihm  in  Pfand 
gegebenen  Werthe  verzeichnet  sind.  Auf  dem  Bürgermeister- 
amt einer  jeden  Gemeinde  wird  ein  Register  geführt,  in 
welchem  jeder  Schuldschein  und  die  Pfandobjekte  ver- 
zeichnet sind.  Letztere  kann  der  Landwirth  nicht  ver- 
äussern,  ausser  zum  Zweck  der  Abtragung  seiner  Schuld. 
Der  Zinsfuss  ist  4 pCt.  ohne  Zuschläge. 

Artikel  6.  Der  Landwirth  kann  seine  Schuld  auch 
in  natura  an  den  Gemeindespeicher  abtragen. 

* ..  * 

Der  Gesetzentwurf  wurde  der  Kommission  für  land- 
wirthschaftlichen  Kredit  zugewiesen. 


Der  Londoner  Grafschaftsrath  und  öffentliche  Bauten. 

Der  jüngst  von  dem  Londoner  Grafschaftsrathe  gefasste 
Beschluss,  sich  von  den  privaten  Bauunternehmern  unab- 
hängig zu  machen,  hat  nunmehr,  wie  wir  der  Frankfurter 
Zeitung  entnehmen,  greifbare  Gestalt  gewonnen,  indem 
diese  Körperschaft  sich  in  ihrer  Sitzung  vom  22  November 
mit  grosser  Mehrheit  für  die  Einrichtung  eines  Departe- 
ments für  öffentliche  Bauten  aussprach.  Es  soll  diesem 
unter  Aufsicht  eines  Ausschusses  von  30  Mitgliedern  des 
Grafschaftsraths  die  Vorbereitung,  Ueberwachung  und  Aus- 
führung aller  von  dem  Grafschaftsrathe  vorgenommenen 
Bauten  obliegen.  Als  die  unmittelbare  Ursache  zu  diesem 
weiteren  Schritt  auf  der  von  der  radikalen  Mehrheit  des 
Rathes  so  eifrig  verfolgten  Bahn  des  Munizipal-Sozialismus 
wird  der  Umstand  bezeichnet,  dass  die  privaten  Bauunter- 
nehmer Londons  sich  zu  einem  „Ring“  gegen  den  Graf- 
schaftsrath verbunden  hätten,  um  sich  gegen  dessen  arbeiter- 
freundliche Politik  durch  überaus  hohe  Preisanschläge  bei 
den  ausgeschriebenen  Kontrakten  schadlos  zu  halten. 


Arbeiterzustände. 


Die  Arbeitslosenstatistik  und  der  Vorwärts. 

Bereits  seit  Jahren  regt  die  zunehmende  Arbeitslosig- 
keit in  den  grossen  Industrie-  und  Handelscentren  während 
der  Wintermonate  die  öffentliche  Meinung  in  wachsendem 
Grade  auf.  Das  Eigentümliche  dabei  ist,  dass  jedesmal 
wieder  um  die  Thatsache  der  Arbeitslosigkeit  ein  er- 
bitterter Streit  geführt  wird.  Aus  den  Kreisen  der  Arbeiter 
wird  die  Klage  laut,  dass  eine  ungeheure  Zahl  beschäfti- 
gungsloser Personen  den  äusserten  Entbehrungen  ausgesetzt 
sei,  und  die  Forderung  erhoben,  dass  aus  öffentlichen 
Mitteln  etwas  dagegen  geschehen  müsse.  Von  den  staat- 
lichen und  kommunalen  Behörden  wird  das  Vorhandensein 
eines  ausserordentlichen  Notstands  rundweg  bestritten, 
nur  ausnahmsweise  wird  die  Noth  einmal  von  öffentlichen 
Behörden  anerkannt.  So  steht  Behauptung  gegen  Be- 
hauptung, und  keine  der  beiden  Parteien  ist  in  der  Lage, 
ihre  Auffassung  auch  nur  einigermassen  überzeugend  zu 
beweisen.  Die  eminente  Bedeutung,  die  der  Feststellung 
beigelegt  werden  muss,  auf  welcher  Seite  hier  die  Wahrheit 
liegt,  wird  von  Niemandem  in  Zweifel  gezogen.  Wäre  die 
Wirklichkeit  — das,  was  ist  — auf  diesem  Gebiete  unwider- 
leglich festgestellt,  so  wäre  erst  der  feste  Boden  für  die 
rationelle  Behandlung  wichtiger  Seiten  der  sozialen  Frage 
gewonnen.  In  dem  Wunsche  nach  einer  Arbeitslosen- 
statistik begegnen  sich  daher  Alle  — welchen  Parteien  sie 
auch  angehören  mögen  — , die  ernsthaft  an  dem  sozialen 
Fortschritte  Antheil  nehmen;  auf  sie  alle  wirkt  der  jetzige 
Zustand  der  Ungewissheit  in  der  Frage  der  Arbeitslosigkeit 
im  höchsten  Grade  Besorgniss  erregend  und  geradezu 
peinigend. 

Wie  ein  Hoffnungsstrahl  erschien  daher  Vielen  das 
den  Lesern  bekannte  Projekt  Dr.  Ad.  Brauns  zur  Feststellung 
der  Zahl  der  Arbeitslosen  in  den  Bevölkerungscentren.  Es 


116 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  10. 


fand  sofort  allgemeinen  Beifall,  wenn  auch  mit  mancherlei  ! 
naheliegenden  Bedenken  über  die  Vollständigkeit  des  Er- 
folges nicht  zurückgehalten  wurde.  Diesem  nur  der  Er- 
kundung der  Wahrheit  dienenden  Unternehmen  gegenüber 
schienen  alle  Parteiunterschiede  zu  verschwinden,  und  man 
durfte  sich  so  der  Hoffnung  hingeben,  dass  etwas  Brauch- 
bares, wenn  auch  nicht  Vollkommenes  zu  Stande  kommen 
würde.  Das  Centralorgan  der  sozialdemokratischen  Partei 
Deutschlands,  der  Vorwärts,  nahm  allerdings  sogleich  eine 
sehr  zurückhaltende  Stellung  dem  Vorschläge  gegenüber 
ein,  aber  seine  Haltung  war  doch  zunächst  immerhin  nicht 
direkt  feindlich.  Es  schien,  als  würde  das  Blatt  durch  die 
in  den  Gewerkschaften  und  sonstigen  Arbeiterverbänden 
sich  äussernde  werkthätige  Sympathie  für  das  geplante  Unter- 
nehmen mit  fortgerissen  werden.  Da  wollte  es  ein  un- 
glücklicher Zufall,  dass  eine  Versammlung,  die  praktische 
Massnahmen  zur  Durchführung  des  Gedankens  für  Berlin 
vorberathen  sollte,  schlecht  besucht  war,  und  sofort  kommt 
die  Gegnerschaft  des  Vorwärts  in  aller  Schärfe  zum  Aus- 
druck (No.  281  vom  30.  Nov.  d.  J.).  Die  Hauptgründe,  die 
der  Vorwärts  gegen  den  Plan  ins  Feld  führt,  sind  kurz 
folgende:  Das  durch  diese  Privatstatistik  erstrebte  Ziel 
werde  nicht  erreicht  werden,  das  Ergebniss  werde  lücken- 
haft bleiben,  und  die  Arbeitslosigkeit  werde  so  geringer 
erscheinen,  als  sie  wirklich  sei;  auch  würden  die  Kosten 
sehr  hoch  werden,  sich  für  Berlin  auf  viele  tausend  Mark 
belaufen  und  zu  dem  Werth  des  Ergebnisses  in  keinem 
Verhältniss  stehen;  der  missglückte  Versuch  einer  solchen 
statistischen  Aufnahme  in  Hamburg  habe  dies  bereits  klar 
bewiesen. 

Wenn  nun  auch  zugegeben  werden  muss,  dass  diese 
Gesichtspunkte  eine  gewisse  Beachtung  verdienen,  so 
können  sie  doch  in  keiner  Weise  als  durchschlagend  an- 
erkannt werden.  Der  Streit,  den  die  Aufnahme  entscheiden 
soll,  dreht  sich  heute  einfach  um  die  Existenz  einer  ins 
Gewicht  fallenden  Arbeitslosigkeit,  weniger  um  die  absolute 
Grösse  derselben.  Hätte  man  z.  B.  im  vorigen  Winter, 
als  man  in  berliner  Arbeiterkreisen  der  Ansicht  war,  dass 
etwa  60  000  Arbeiter  ohne  Beschäftigung  wären,  durch  eine 
statistische  Aufnahme  nachweisen  können,  dass  nur 
30  000  oder  selbst  nur  15  000  Arbeiter  wirklich  arbeitslos 
waren,  so  wäre  dies  nicht  eine  Niederlage,  sondern  ein  Sieg 
der  von  den  Arbeitern  vertretenen  Anschauung  gewesen. 
Derjenige  der  Streitenden,  der  zur  Waffe  der  Statistik  greift, 
beweist  schon  dadurch,  dass  er  seiner  Sache  sicher  ist,  denn 
diese  Waffe  ist  zweischneidig  und  kann  ihn  ebenso  gut 
treffen  wie  den  Gegner.  Führt  er  aber  die  Waffe  siegreich, 
dann  zwingt  er  sie  unwillkürlich  auch  dem  Gegner  in  die 
Hand.  Die  Wahrheit  muss  auf  diese  Weise  gewinnen, 
und  darauf  kommt  es  in  erster  Linie  an. 

Dass  das  Ergebniss  der  beabsichtigten  Statistik  nur 
unvollkommen  sein  kann,  ist  zweifellos;  ebenso  zweifellos 
ist  es  aber  auch,  dass  es  einen  Sieg  des  Gegners  bedeutet, 
wenn  man  das  Unternehmen  jetzt  nach  dem  bereits  ge- 
machten Anlauf  muthlos  fallen  lässt.  Jeder,  der  das  Be- 
stehen der  grossen  Arbeitslosigkeit  bezweifelt,  wird  unwill- 
kürlich auf  den  Gedanken  kommen,  das  Centralorgan  der 
Sozialdemokratie  fürchte  die  Statistik,  weil  diese  eben 
eine  andere  Sachlage  zu  Tage  fördern  könne,  als  die 
Sozialdemokratie  wünsche.  Der  Hinweis  auf  die  Höhe  der 
Kosten  wird  diesen  Eindruck  nur  noch  verschärfen,  zumal 
die  Arbeiter  Mannheims  bereits  mit  der  Aufnahme  be- 
gonnen hatten,  als  der  Vorwärts  es  für  angebracht  hielt, 
in  der  angegebenen  Weise  aufzutreten. 

Recht  verfehlt  ist  endlich  auch  der  Hinweis  auf  dem 
missglückten  statistischen  Versuch  in  Hamburg.  Die  Ham- 
burger Statistik  hatte  zunächst  schon  einen  anderen  Zweck 
wie  die  für  Berlin  geplante:  sie  sollte  feststellen,  wie  gross 
die  Arbeitslosigkeit  vor  Ausbruch  der  Cholera  und  wie 
gross  sie  nach  dem  Erlöschen  der  Epidemie  war.  Der 
Fragebogen  war  daher  viel  komplizirter  und  schwerer  ver- 
ständlich als  der  Braun’sche.  Dann  vor  Allem  wurden  in 
Hamburg  die  Fragebogen  einfach  den  Arbeitern  zugestellt 
und  von  ihnen  verlangt,  dass  sie  die  Formulare  ausgefüllt 
an  den  dazu  bestimmten  Stellen  abgeben  oder  dort  ausfüllen 


lassen  sollten.  Dieser  Versuch  musste  natürlich  — wie 
jeder  Sachkenner  ohne  Weiteres  zugeben  wird  — scheitern. 
Im  Gegensatz  hierzu  beruht  nun  der  Braun’sche  Plan  be- 
kanntlich gerade  auf  der  rationellen  Methode,  kleine  Be- 
zirke von  1 bis  10  Häusern  je  einem  Zähler  zu  unterstellen, 
der  dann  persönlich  die  Bewohner  befragen  und  danach 
die  Fragekarten  ausfüllen  soll.  Die  Hamburger  Erfahrun- 
gen können  also  für  den  voraussichtlichen  Erfolg  oder  Miss- 
erfolg des  Berliner  Plans  gar  nicht  in  Betracht  kommen. 

Ich  will  mit  dem  Ausdruck  der  Hoffnung  schliessen, 
dass  das  Unternehmen  durch  die  Stellungnahme  des  Vor- 
wärts nicht  hintertrieben  werden  möge.  Dass  das  zahlen- 
mässige  Ergebniss  ungünstig  beeinflusst  werden  wird,  ist 
ja  leider  sehr  zu  fürchten.  Indess  auf  der  anderen  Seite 
ist  auch  als  günstiges  Moment  nicht  zu  unterschätzen,  dass 
der  Vorwärts  dafür  gesorgt  hat,  dass  nunmehr  die  Statistik 
nicht  als  Parteiunternehmen  erscheinen  kann.  Dies  wird 
der  Aufnahme  alles  Tendenziöse  nehmen,  das  ihr  sonst 
angehängt  werden  könnte,  den  Ergebnissen  in  den  Augen 
Vieler  einen  höheren  Werth  verleihen  und  vielleicht 
auch  manchen,  der  sich  sonst  zurückgehalten  hätte, 
anregen,  seine  Kräfte  der  Sache  zu  widmen.  Es  wäre 
zu  wünschen,  dass  die  Förderer  des  Projekts,  die  der 
Vorwärts  etwas  verächtlich  als  „Idealisten“  bezeichnet,  in 
diesem  ihren  Idealismus  so  weit  gehen  möchten,  sich  durch 
den  Widerspruch  nicht  abschrecken,  sondern  nur  zu  um  so 
zäherer  Arbeit  antreiben  zu  lassen. 

Berlin-Friedenau.  E.  Lange. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Zur  gesetzlichen  Stellung  der  Berufsvereine  in 
Deutschland.  Der  Abg.  Hirsch  und  Genossen  haben  den 
Antrag,  betr.  die  eingetragenen  Berufsvereine,  der  schon 
einmal  den  Reichstag  beschäftigte,  ohne  dass  die  Berathung  , 
beendet  wurde,  von  Neuem  eingebracht.  Der  Antrag  be- 
zweckt die  Verleihung  von  Korporationsrechten  an  Gewerk-  : 
schäften,  Fach  vereine  und  Genossenschaften  und  soll  die 
Herstellung  der  vollen  Koalitions-  und  Organisationsfreiheit 
der  Arbeiter  herbeiführen. 


Modifikation  des  französischen  Gewerkschaftsge- 
setzes. Die  französische  Kammer  hat  jüngst  einen,  wie  gleich 
von  vornherein  bemerkt  sei,  zu  Gunsten  der  Arbeiter  ein- 
gebrachten  Gesetzentwurf,  betreffend  eine  Abänderung 
des  Syndikatsgesetzes  vom  21.  März  1884,  nach  verhältniss- 
mässig  kurzer  Debatte  unverändert  angenommen.  Nach 
Artikel  2 des  bestehenden  Gesetzes  können  nur  solche 
Personen  eine  Gewerkschaft  bilden,  bezw.  einer  solchen 
angehören,  die  das  nämliche  Gewerbe,  einen  gleichartigen 
Beruf  oder  solche  Berufsarten  ausüben,  die  zur  Herstellung 
bestimmter  Produkte  mit  einander  in  Zusammenhang  stehen. 
Als  das  Gesetz  erlassen  wurde,  hatte  der  damalige  Minister 
des  Innern,  Waldeck-Rousseau,  in  einem  an  die  Präfekten 
gerichteten  Rundschreiben  erklärt,  man  solle  wissen,  dass 
die  Gewerkschaften  alle  Sympathien  der  Verwaltungs- 
behörden haben,  und  gleichzeitig  die  Weisung  gegeben, 
dass,  falls  Schwierigkeiten  auftauchen  sollten,  dieselben 
„stets  in  dem  der  Entwickelung  der  Freiheit  günstigsten 
Sinne  zu  lösen  sind“.  Dem  trug  man  aber  in  der  Folge 
durchaus  nicht  immer  Rechnung.  Es  kam  vor,  dass  Gewerk- 
schaften, an  deren  Spitze  Arbeiter  standen,  die  nicht  mehr 
ihr  früheres  oder  überhaupt  kein  Gewerbe  mehr  ausübten, 
als  im  Widerspruch  mit  dem  Artikel  2 des  Gesetzes  stehend, 
aufgelöst,  ja  selbst  gerichtlich  verfolgt  wurden.  Nun  ist 
aber  schon  des  Oefteren  festgestellt  worden,  dass  es  — be- 
sonders in  der  Bergwerks-  und  Metallindustrie  — nicht  an 
Unternehmern  bezw.  Gesellschaften  fehlt,  denen  die  Gewerk- 
schaften so  sehr  ein  Dorn  im  Auge  sind,  dass,  wenn  schon 
nicht  anders,  sie  sich  wenigstens  an  diejenigen  ihrer  Arbeiter 
durch  Entlassung  rächen,  die  an  der  Spitze  der  ihnen  miss- 


No.  10. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


117 


liebigen  Gewerkschaften  stehen.  So  kam  es  vor,  dass 
Arbeiter,  die  zehn,  fünfzehn,  zwanzig  Jahre  und  darüber 
in  ein  und  derselben  Grube  oder  in  ein  und  derselben 
Fabrik  beschäftigt  waren,  wegen  ihrer  gewerkschaftlichen 
Thätigkeit  plötzlich  entlassen  wurden.  Solche  Arbeiter 
linden  aber  in  den  seltensten  Fällen  anderswo  Unterkunft 
und  müssen  darum,  wenn  sie  ihrer  Sache  nicht  untreu 
werden  wollen,  nolens  volens  einen  anderen  Beruf,  sei  es 
als  Kleinhändler,  Schankwirth  oder  sonst  dergleichen  er- 
greifen. Würden  nun  alle  Gewerkschaften,  deren  Leitungs- 
Komitee,  sei  es  ganz,  sei  es  tlieilweise  aus  Arbeitern  bestellt, 
die  nicht  mehr  ihr  früheres  Gewerbe  ausüben,  als  ungesetz- 
lich betrachtet,  aufgelöst,  wie  dies  beispielsweise  mit  einem 
Bergarbeiter  - Syndikat  von  Bonchamp  der  Fall  war,  weil 
dessen  Präsident,  der  ehedem  dreissig  Jahre  als  Gruben- 
arbeiter thätig  war,  seinen  früheren  Beruf  aufgegeben 
hatte,  oder  mit  einem  Metallarbeiter -Syndikat  von  Haut- 
mont, dessen  Vorstand  zum  Theil  aus  Schankwirthen, 
Gemischtwaarenhändlern  etc.  bestand,  die  aber  früher 
durchgehends  zwanzig  und  mehr  Jahre  in  der  Metall- 
industrie beschäftigt  waren,  dann  hinge  die  Bildung  und 
Entwickelung  der  Gewerkschaften  ganz  und  gar  von  dem 
Belieben  der  Unternehmer  ab.  Wo  sie  sie  nicht  dulden 
wollten,  brauchten  sie  da  nur  immer  diejenigen  ihrer 
Arbeiter,  die  sich  mit  der  Gründung  von  Gewerkschaften 
beschäftigen  oder  an  deren  Spitze  stehen,  ganz  einfach 
aus  der  Arbeit  zu  entlassen.  Um  nun  diesem  Uebelstande 
abzuhelfen,  aber  auch  gleichzeitig  zu  verhindern,  dass 
sich  etwa  Elemente  in  die  Gewerkschaften  einschleichen, 
die  mit  denselben  absolut  nichts  gemein  haben,  hat  die 
Kammer,  der  Vorlage  gemäss,  dem  Artikel  2 des  Syn- 
dikatgesetzes einen  Paragraph  beigefügt,  welcher  aus- 
spricht, dass  auch  solche  Personen  Mitglieder  einer  Gewerk- 
schaft sein  können,  die  das  nämliche  Gewerbe,  einen 
gleichartigen  Beruf  oder  solche  Berufsarten,  die  zur  Her- 
stellung bestimmter  Produkte  in  Zusammenhang  stehen, 
mindestens  fünf  Jahre  ausgeübt  und  die  Ausübung 
dieser  Gewerbe  oder  Berufe  seit  nicht  mehr  als  zehn 
Jahren  aufgegeben  haben.  Auf  diese  Weise  wird  man 
den  Gewerkschaften  nichts  anhaben  können,  wenn  sie 
Leute  an  ihrer  Spitze  haben,  die  ihren  früheren  Beruf  ge- 
ändert haben,  bezw.  nur  gewerkschaftlich  thätig  sind,  wie 
dies  beispielsweise  bei  Sekretären  grosser  Gewerkschaften 
oder  Gewerkschaftsverbänden  gewöhnlich  der  Fall  ist. 
Nebstbei  hat  die  Kammer,  und  zwar  auf  Antrag  des  Ab- 
geordneten Dumay,  auch  noch  einen  Paragraph  auf- 
genommen, wonach  die  Bürgermeister  verhalten  sind, 
innerhalb  zweier  Monate  nach  Promulgation  dieses  Gesetzes 
— dessen  Anerkennung  vom  Senat  allerdings  noch  aus- 
steht — den  vollständigen  Text  des  Syndikatgesetzes  in 
permanenter  Weise  an  die  Mairie  anschlagen  zu  lassen. 
Da  ein  wesentlicher  Theil  der  Arbeiter  sein  gesetzliches 
Recht,  sich  gewerkschaftlich  verbinden  zu  können,  ohne 
erst  die  behördliche  Erlaubniss  hierzu  einholen  zu  müssen, 
sicherlich  bis  heute  noch  nicht  kennt,  dürfte  auch  diese 
Bestimmung  nicht  wenig  zur  Förderung  der  französischen 
Gewerkschaftsbewegung  beitragen. 

Arbeiter  als  Gegner  der  Arbeitszeitregelnng.  Unter 
diesem  Titel  theilte  das  Sozialpolitische  Centralblatt  im  Jahrgangll, 
No.  2,  vom  10.  Oktober  d.  J eine  Stelle  aus  dem  Bericht  "des 
Gewerbeinspektors  für  das  Fürstenthum  Schwarzburg-Sonders- 
hausen  mit,  welche  die  Behauptung  enthielt,  die  Einführung 
einer  regelmässigen  Arbeitszeit  in  den  Arnstädter  Handschuh- 
fabriken sei  wegen  des  Widerstandes  der  Arbeiter  nicht  mög- 
lich. Dagegen  veröffentlichen  die  Arnstädter  Handschuh- 
arbeiter in  ihrem  Fachorgan  jetzt  folgende  Erklärung:  „Durch 

die  heutige  Produktionsweise,  die  immer  sich  steigernden 
Anforderungen  in  der  Arbeit  bei  geringwerthigerem  Material 
sind  auch  die  Handschuhmacher  zu  recht  anhaltendem  Ar- 
beiten nicht  nur  am  Tage  in  der  Fabrik,  sondern  auch 
zur  Benützung  der  Nachtstunden  im  Haus  gezwungen  und 
beträgt  die  Arbeitszeit  nachweislich  bei  vielen  derselben 
15  bis  16  Stunden  täglich.  Bei  eintretendem  flauem  Ge- 
schäftsgang haben  dieselben  Arbeiter  oft  ein  halbes  jahr  lang 
nur  drei  Tage  in  der  Woche  vollständige  Beschäftigung,  und  es 
klingt  wie  Hohn,  wenn  angesichts  solcher  wiederkehrender 
Thatsachen  von  den  Fabrikanten  Erklärungen  wie  oben  einem 
Fabrikinspektor  gegeben  werden.  Doch  es  liegt  ja  nur  in  den 
Händen  der  Fabrikanten,  solche  Zustände  abzuschaffen  und  eine 
geregelte  Produktion  und  Arbeitszeit  einzuführen,  und  sei  den- 
selben hiermit  der  gute  Rath  ertheilt,  den  Stücklohn  abzuschaffen 
und  Stundenlohn  einzuführen,  Dieselben  können  versichert 
sein,  dass  bei  einer  geregelten  täglichen  Arbeitszeit  mit  einem 
Stundenlohn  von  50  Pf.  sich  alle  Arbeiter  der  Handschuh- 
branche schnell  daran  gewöhnen  würden.  Ein  solcher  Versuch 


wäre  gar  nicht  aussichtslos  und  hätten  die  Herren  dann  keine 
Veranlassung  mehr,  solche  schmeichelhafte  Auslassungen  über 
ihre  Arbeiter  dem  Fabrikinspektor  zu  unterbreiten  “ 

Lohnbewegung  der  Mailänder  Buchdrucker.  Die  Mai- 
länder Buchdrucker  haben  durch  ihre  Lohnbewegung  den 
von  ihnen  vorgeschlagenen  Tarif  fast  vollständig  durchge- 
setzt. Die  Arbeitgeber  genehmigten  die  Verkürzung  der  Ar- 
beitszeit von  10  auf  9 Stunden  und  bei  Tageszeitungen  sogar 
auf  8 Stunden.  Der  Setzertarif  wird  erhöht  wie  folgt:  Das 
Minimum  wurde  von  Lire  3,35  auf  3,60  pro  Tag  erhöht.  Denen, 
die  jetzt  von  Lire  3,50  bis  3,75  täglich  verdienten,  wird  eine 
Erhöhung  bis  zu  7 pCt.  bewilligt,  den  Lehrlingen  von  10  pCt. 
Der  Preis  des  Satzes  für  die  Tagesblätter  erhöht  sich  um 
6 Cts.  pro  Tausend,  wenn  diese  bei  Tag,  und  um  7,  wenn  sie  bei 
Nacht  hergestellt  werden,  d.  h.  er  wird  im  ersten  Fall  auf  47, 
im  zweiten  auf  53  gebracht.  Ursprünglich  wurden  53  und 
60  Cts.  verlangt.  Die  Ueberstundenarbeit  wird  in  den  ersten 
drei  Stunden  an  Wochentagen  und  den  ersten  sieben  an 
Feiertagen  um  25  pCt  höher,  den  folgenden  Stunden  und 
während  der  Nacht  um  50  pCt.  höher  entlohnt.  Diese 
Normen  gelten  auch  für  die  Drucker. 


Ausstand  in  New-Orleans.  In  New-Orleans,  der  grossen 
Hafenstadt  am  Ausflusse  des  Mississippi,  fand  in  der  Mitte 
des  November  ein  kurzer,  aber  eigenthümlicher  Ausstand 
statt.  Das  Vorspiel  dazu  begann  am  22.  Oktober,  an 
welchem  Tage  die  Engros-Produktenhändler  ihre  Fuhrleute 
wegen  der  Forderung,  dass  nur  Mitglieder  ihrer  Organisation 
angestellt  werden  sollten,  aussperrten.  Am  Sonntag,  den 
6.  November  beschloss  der  Gewerkschaftsrath  von  New- 
Orleans,  sämmtlichen  Mitgliedern  der  demselben  angehören- 
den Organisationen  die  Arbeitseinstellung  aufzutragen  und 
damit  den  gesammten  Verkehr  und  die  gesammte  Industrie 
der  Stadt  lahmzulegen,  bis  die  Forderungen  der  Aus- 
gesperrten bewilligt  würden.  Der  grösste  Theil  der  Orga- 
nisationen brachte  diesen  Beschluss  am  nächsten  Tage 
insofern  zur  Ausführung,  als  dieselben  wirklich  die  Arbeit 
einstellten,  namentlich  die  Baugewerke,  die  Droschken- 
und  Strassenbahnkutscher,  Hafenarbeiter,  Frachtverlader 
und  Fuhrleute,  Zuckerarbeiter,  Lagerhausarbeiter,  Reis- 
mühlenarbeiter , Dampfschiffheizer , Schriftsetzer  und 
Drucker,  Bäcker,  Verkäufer  verschiedener  Waaren, 
Schneider,  Hufschmiede,  Gasarbeiter,  Küfer  und  einige 
andere  weniger  wichtige  Gewerke.  Die  Stadt  war  eine 
Woche  lang  ohne  Verkehrsmittel,  ohne  Gas,  ohne  Zeitungen 
und  zuletzt  begann  es  auch  an  Lebensmitteln  zu  mangeln. 
Hieran  musste  natürlich  der  Strike,  der  in  seiner  Weise 
mit  ruhiger  Energie  geführt  wurde,  zu  Grunde  gehen. 
Die  Vertreter  der  Arbeiter  acceptirten  ein  sehr  schwäch- 
liches Abkommen  mit  den  Produktenhändlern,  wonach  die 
Fuhrleute  einzeln,  soweit  ihre  Stellen  nicht  bereits  besetzt 
wurden,  wieder  angestellt  werden  sollen  und  Niemand 
wegen  Zugehörigkeit  zur  Union  entlassen  werden  darf. 
Ein  Theil  der  Ausgesperrten  wurde  natürlich  nicht  mehr 
eingestellt.  Der  grosse  Sympathiestrike  war  damit  zu 
Ende.  Die  Mitglieder  des  Strikekomitees  wurden  übrigens 
in  Folge  desselben  wegen  „Verschwörung“  unter  Anklage 
gestellt. 


Der  Jahreskongress  der  amerikanischen  Ritter  der 
Arbeit.  In  St.  Louis,  Ma.,  fand  in  der  Mitte  des  Monats  No- 
vember der  Jahreskongress  des  amerikanischen  Ordens  der 
Arbeitsritter  statt.  Die  einzelnen  Gruppen  desselben, 
Assemblies  genannt,  sind  zum  überwiegenden  Theil  gewerk- 
schaftlich organisirt  und  unterscheiden  sich  von  offenen  Ge- 
werkschaften durch  nichts  als  ein  gewisses,  bei  manchen 
Arbeiterschichten  sehr  beliebtes  Ceremoniell.  Der  Kongress 
erregte  geringe  Aufmerksamkeit,  fand  auch  hinter  ver- 
schlossenen Thüren  statt,  so  dass  die  Verhandlungen  wenig 
bekannt  wurden.  Aus  denselben  ging  jedoch  hervor,  dass 
der  Orden  noch  immer,  wie  bereits  seit  Jahren,  im  Rück- 
gang ist.  Powderly,  der  Hauptbeamte  desselben,  schlägt 
in  seinem  Jahresbericht  unter  anderen  weniger  drastischen 
Mitteln  zur  Hebung  der  Lage  der  Arbeiter  — zehnjährige 
Schliessung  der  amerikanischen  Häfen  gegen  die  Ein- 
wanderung vor.  Nebenbei  bemerkt  sei,  dass  Powderly 
selber  ein  eingewanderter  Irländer  ist. 

Der  Ausstand  in  Homestead  ist  zu  Ende.  Nachdem 
bereits  am  Freitag,  den  18  November,  die  Tagelöhner  und 
Handwerker,  welche  aus  Sympathie  mit  den  ausgesperrten 
Mitgliedern  der  Amalgamated  Association  der  Eisen-  und 


118 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  10. 


Stahlarbeiter  die  Arbeit  niedergelegt  hatten,  in  einer  er- 
regten Sitzung  mit  geringer  Mehrheit  die  Wiederaufnahme 
der  Arbeit  beschlossen  hatten  und  sich  einzeln  zur  Arbeit 
meldeten,  von  der  etwa  200  Mann  zurückgewiesen  wurden, 
beschlossen  zwei  Tage  später,  am  Sonntag,  den  20.  No- 
vember, auch  die  Mitglieder  der  Amalgamated  Association, 
denselben  als  hoffnungslos  aufzugeben.  So  ging  der  grosse, 
mehr  als  einmal  blutige  Kampf  am  144.  Tage  nach  seinem 
Ausbruch  zu  Ende  Derselbe  war  bis  ans  Ende  heroisch 
geführt  worden.  Nur  wenige  der  ursprünglichen  Theil- 
nehmer  sind  zu  Strikebrechern  geworden,  trotz  der  ihnen 
drohenden  hundertfachen  Mordanklagen  etc.,  zu  denen  sich 
in  der  letzten  Zeit  auch  noch  Hochverrathsklagen  gegen 
die  Mitglieder  des  Strike-Exekutivkomitees  gesellt  hatten. 
Am  18.  November  begann  auch  der  Prozess  gegen  einen 
der  Theilnehmer  am  Kampfe  vom  6.  Juli,  der  erste  in  einer 
langen  Reihe  noch  zu  erwartender  gleichartiger  Prozesse. 
Die  letzte  Periode  des  Strikes,  seit  Abzug  der  Miliz  aus 
Homestead,  ist  charakteristisch  durch  häufige  Zusammen- 
stösse  von  Ausständigen  mit  Strikebrechern,  welch  letztere 
von  der  Carnegie-Kompagnie  mit  Revolvern  versehen  wur- 
den und  diese  Waffen  in  mehreren  Fällen  mit  grosser  Rück- 
sichtslosigkeit gebrauchten.  Die  Explosion  einer  Djmamit- 
bombe  in  einem  von  Strikebrechern  bewohnten  Kosthause, 
bei  welcher  glücklicherweise  niemand  verletzt  wurde,  und 
ein  Brand  in  einem  Hause,  welches  Eigenthum  eines  ab- 
trünnigen Strikers  war,  werden  den  Ausständigen  zur  Last 
gelegt,  von  diesen  jedoch  desavouirt.  Verhaftungen  wur- 
den übrigens  in  Verbindung  mit  diesen  Vorkommnissen 
nicht  vorgenommen. 


Handwerkerfragen. 

Zu  den  Bestrebungen  der  Handwerker  in  Deutsch- 
land. Der  Abgeordnete  Ackermann  hat  im  Reichstage 
folgende  Resolution  eingebracht:  Der  Reichstag  wolle  be-  i 
schliessen:  den  Herrn  Reichskanzler  zu  ersuchen,  dem 
Reichstag  alsbald  Gesetze  vorzulegen,  durch  welche 

1.  die  Erlaubniss  zur  selbständigen  Betreibung  eines 
Handwerks  unter  vollständiger  Zusammenlegung  verwandter 
Gewerbe  von  dem  vorausgegangenen  Nachweis  der  Be- 
fähigung abhängig  gemacht  wird, 

2.  den  Konsumvereinen  die  Abgabe  von  Waaren  an 
Nichtmitglieder  schlechthin  und  unter  Strafandrohung  ver-  j 
boten  wird, 

3.  die  Abzahlungsgeschäfte  beschränkt,  die  Wander- 
lager aber  und  Wanderauktionen  ganz  verboten  werden, 

4.  der  Hausirhandel  eingeschränkt  und  den  Detail- 
reisenden, vorbehaltlich  etwaiger  durch  das  Bedürfniss  des 
Verkehrs  unerlässlich  gebotener  Ausnahmen,  untersagt  wird, 

5.  der  § 100  e der  Gewerbeordnung  dahin  abgeändert 
wird,  dass  die  in  demselben  den  Innungen  in  Aussicht  ge- 
stellten Vorrechte  auch  gegen  die  Arbeitgeber,  welche 
selbst  zur  Aufnahme  in  die  Innung  nicht  fähig  sind,  geltend 
gemacht  werden  können, 

6.  bestimmt  wird,  dass  die  Vorrechte  aus  §§  lOOe  und 
1 00  f beim  Vorliegen  der  sonstigen  Voraussetzungen  einer 
Innung  dann  gewährt  werden  müssen,  wenn  sie  die  Mehr- 
heit der  selbständigen  Handwerker  ihres  Bezirkes  in  sich 
vereinigt, 

7.  vorgeschrieben  wird,  dass  aus  der  Bezeichnung 
jedes  kaufmännischen  oder  gewerblichen  Geschäfts  das 
Geschlecht  oder  der  Name  des  Inhabers  erkennbar  sein  muss, 

8.  dass  demjenigen  eine  Strafe  angedroht  wird,  der 
nach  erkannter  Zahlungsunfähigkeit  Geschäfte  auf  Kredit 
macht,  ohne  den  anderen  Theil  zuvor  davon  in  Ivenntniss 
gesetzt  zu  haben. 

Gewerbekamniern  und  Gewerbevereine.  Zu  der  in  dieser 
Zeitschrift  schon  mehrfach  erörterten  Frage  der  Einführung  von 
Gewerbekammern  als  Vertretungen  des  Handwerks  im  Reich 
fasste  der  „Verband  deutscher  Gewerbevereine“  auf  seiner  Kölner 
Jahresversammlung  (15.  November  er.)  zur  Beantwortung  einer 
Anfrage  der  Reichsbehörden  folgende  Beschlüsse:  „Gewerbe- 
kammern sollen  im  ganzen  Reich  auf  Grund  eines  Gesetzes 
obligatorisch  errichtet  werden.  Jedoch  sollen  die  in  einzelnen 
Bundesstaaten  bestehenden  Organisationen,  welche  nach  dem 
IJrtheil  der  betreffenden  Landesregierung  geeignet  erscheinen, 
die  Aufgabe  einer  Gewerbekammer  zw  erf  üllen  oder  solche  that- 


sächlich  seit  fahren  erfüllt  haben,  die  Gewerbekammer  bilden. 
Die  Gewerbekammern  haben  nicht  nur  als  staatlich  anerkannte 
Auskunftstellen  für  die  verbündeten  Regierungen  zu  dienen, 
sondern  auch  diejenigen  Aufgaben  zu  übernehmen,  welche  die 
deutsche  Gewerbeordnung  im  Allgemeinen  und  besonders  zur 
Förderung  des  Gewerbewesens  enthält.“  Wie  sich  der  Verband 
die  Förderung  des  Gewerbewesens  denkt,  geht  aus  folgendem 
Beschluss  über  das  Lehrlingswesen  hervor:  „Der  Verband 
möge  dahin  wirken,  dass  folgende  Bestimmungen  in  die  Reichs- 
gewerbeordnung aufgenommen  werden:  Die  zwischen  Meistern 
und  Lehrlingen  abzuschliessenden  Lehrverträge  sind  schriftlich 
auszufertigen  und  müssen  die  Bestimmungen  der  Gewerbeordnung 
enthalten,  welche  die  Pflichten  des  Lehrlings  und  des  Meisters 
regeln,  ln  dieser  Beziehung  ist  ein  allgemein  gültiges  Formular 
für  das  ganze  Deutsche  Reich  vorzuschreiben.“ 

Arbeitsvermittlung  im  Handwerk.  Ueber  Versuche  zur 
Organisation  der  Arbeitsvermittlung  im  Handwerk  berichtete 
auf  dem  Verbandstage  der  deutschen  Gewerbevereine,  der  vom 
15. — 17.  November  in  Köln  stattfand,  ausführlich  ein  Karlsruher 
Delegirter.  Vertreter  der  badischen  Regierung  haben  vor  zwei 
Jahren  den  Karlsruher  Gewerbeverein  veranlasst,  sich  mit  12 
gemeinnützigen  Vereinen  zur  Errichtung  einer  Anstalt  für  Ar- 
beitsnachweis zu  verbinden.  Die  Vereine  stellen  jährlich  1600 
bis  1700  M.  zur  Verfügung.  Die  Anstalt  wurde  nach  dem  Muster 
der  Stuttgarter  eingerichtet,  die  seit  27  Jahren  schon  segens- 
reich wirkte.  Andere  Orte  wie  Freiburg  i.  B.  und  Mannheim 
folgen  jetzt  nach.  Solche  Anstalten  sollen  gegen  die  Aus- 
beutung der  Stellenvermittlungsbüreaus  arbeiten;  weiter  hätten 
sie  den  Zweck,  die  „Arbeitsscheuen“  und  „Bettler“  von  der 
Strasse  wegzubringen  und  den  entlassenen  Sträflingen  Unter- 
kunft zu  suchen.  Eine  neue  Einrichtung  ist  für  nächstes  Jahr 
geplant,  den  von  der  Fahne  entlassenen  Soldaten  unentgeltlich 
Beschäftigung  zu  verschaffen  und  auch  Lehrlinge  nach  beendeter 
Lehrzeit  unterzubringen.  Einen  scharfen  Wettbewerb  finden 
diese  Anstalten  in  den  sozialdemokratischen  Fachver- 
einen, welche  ganz  unentgeltlich  Arbeit  vermitteln  und  sogar 
noch  eine  Vergütung  für  Wanderung  gewähren.  Deshalb  er- 
strebt die  Karlsruher  Anstalt  für  Arbeitsnachweis  staatliche 
Unterstützung,  um  die  geringen  Einschreibgebühren  beseiti- 
gen zu  können  Ein  Theil  der  badischen  Kreisausschüsse, 
welche  für  ähnliche  Zwecke  erhebliche  Summen  auszugeben 
haben,  ist  bereit,  im  nächsten  Jahre  Beiträge  derartigen  Arbeits- 
nachweisstellen zuzuwenden.  Das  preussische  Ministerium  ist 
mit  der  bestehenden  Anstalt  in  Verbindung  getreten,  und  dem-  . 
nächst  wird  auf  Einladung  des  Ministeriums  eine  Berathung 
der  Leiter  solcher  Anstalten  in  Berlin  stattfinden.  Redner 
empfahl  diese  zeitgemässe  Einrichtung  von  Anstalten  für  Ar- 
beitsnachweis der  werkthätigen  Unterstützung  durch  die  Ge- 
w'erbevereine.  Interessant  ist  an  diesen  Mittheilungen,  dass  die 
Meister  die  Staatshilfe  zur  Beseitigung  derjenigen  Arbeitsver- 
mittlung anrufen  wollen,  welche  die  Gesellen  und  Arbeiter  mit 
Erfolg  aus  sich  heraus  geschaffen  haben.  Die  auf  Einladung 
eines  preussischen  Ministeriums  demnächst  in  Berlin  stattfinden- 
den Berathungen  der  Leiter  solcher  Meisteranstalten  beschäftigen 
sich  hoffentlich  mit  besseren  und  einwandsfreieren  Vorschlägen 
als  der  Bekämpfung  der  Fachvereine. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Zur  Sonntagsruhe  in  Deutschland.  Die  ministeriellen 
Ausführungsbestimmungen  zur  Sonntagsruhe  im  Handels- 
gewerbe sind  neuerdings  in  einem  Punkte  einer  Aenderung 
unterzogen  worden.  Es  ist  nämlich  unterm  10.  Juni  d.  J be- 
stimmt worden,  dass  die  Regierungspräsidenten,  in  Berlin  der 
Polizeipräsident,  ermächtigt  werden,  auf  Grund  des  § 105e  der 
Gewerbeordnung  den  stehenden  Milchhandel  an  Sonn-  und  Fest- 
tagen ausserhalb  der  fünfstündigen  Beschäftigungszeit  und  der 
weiter  frei  gegebenen  Zeit  während  zweier  Stunden  des  Nach- 
mittags, die  unter  Berücksichtigung  des  örtlichen  Bedürfnisses 
auszuwählen  seien,  zu  gestatten,  und  dass  diese  Ausnahme  auch 
für  den  ersten  Oster-,  Pfingst-  und  Weihnachtsfeiertag  zu- 
gelassen werden  kann.  Sodann  sind  die  unteren  Verwaltungs- 
behörden durch  den  Erlass  ermächtigt,  auf  Grund  des  § 55a 
Abs.  2 der  Gewerbeordnung  das  Feilbieten  von  Milch  auf  öffent- 
lichen Wegen  etc.  und  von  Haus  zu  Haus,  den  ambulanten 
Milchhandel,  während  der  für  den  stehenden  Milchhandel  frei- 
gegebenen Nachmittagsstunden  zuzulassen. 

Gesetzentwurf,  betreffend  den  Schutz  der  Frauen  in 
Frankreich.  Die  sozialdemokratischen  Abgeordneten  La- 
fargue,  Ferroul  und  Jourde  brachten  in  der  französischen 
Deputirtenkammer  folgenden  Gesetzentwurf  ein  zur  Regelung 
der  Frauenarbeit  vor  und  nach  der  Entbindung  und  zur 
Einrichtung  von  „caisses  de  maternite“: 


No.  10. 


SOCIALPOLITISCH  ES  CENTRALBLATT. 


119 


Artikel  1.  Jede  Bürgerin,  welche  der  Lohnarbeiter- 
klasse angehört,  mag  sie  verheirathet  sein  oder  nicht,  ist 
der  Sorge  der  Gesellschaft  anvertraut  vom  Beginn  des 
4.  Monates  ihrer  Schwangerschaft  bis  zum  12.  Monat  nach 
ihrer  Entbindung.  Im  Falle  das  Kind  aber  gestorben  wäre, 
nur  bis  zum  2.  Monat. 

Artikel  2.  Der  Beitrag,  welcher  der  Bürgerin 
während  dieser  Zeit  zugewiesen  wird,  beträgt  3—6  Francs 
per  Tag,  je  nach  den  Freisen  der  Lebensmittel  des  Ortes, 
wo  sie  wohnt. 

Artikel  3.  Diese  Beiträge  werden  aufgebracht  durch 
eine  „Mutterschaftskasse“  (caisse  de  maternite),  welche  in 
jedem  Arrondissement  errichtet  und  durch  eine  Steuer  er- 
halten wird,  welche  die  Industriellen  und  Handelsleute 
zu  tragen  haben,  in  der  Höhe  von  30  Francs  für  jedes  zur 
Arbeit  verwendete  Kind  und  von  60  Francs  für  jede  zur 
Arbeit  verwendete  Frau.  Der  Staat,  das  Departement  und 
die  Gemeinde  haben  je  zu  einem  Drittel  den  noch  noth- 
wendigen  Zuschuss  zu  leisten. 


Arbeiterversicherung. 


Unfallversicherung  der  österreichischen  Eisenbahnen. 


Die  Arbeiterunfallversicherungsanstalt  der  österreichi- 
schen Eisenbahnen  veröffentlichte  kürzlich  ihren  Geschäfts- 
bericht und  die  Ergebnisse  der  Unfallstatistik  für  das  Jahr 
1891.  Bei  dem  Umstande,  als  diese  Anstalt  eine  berufs- 
genossenschaft liehe  — im  Gegensätze  zu  den  7 terri- 
torialen Anstalten  Oesterreichs  — beanspruchen  ihre  Mit- 


theilungen doppeltes  Interesse. 

Es  betrugen  die  Einnahmen 272  872,09  fl. 

„ „ „ Ausgaben . 194  901,52  „ 

Somit  verbleibt  ein  Ueberschuss  von  . . 77  970,57  fl. 

.Noch  grösser  ist  der  Ueberschuss  vom 

Jahre  1890  . 94  834,53  „ 

Die  Anstalt  verfügt  daher  über  einen  Fond 
von 172805,10  fl. 


Die  Ursache  dieser  hohen  Ueberschüsse  ist  wohl  darin 
zu  suchen,  dass  die  Anstalt  in  vielen  Fällen  der  Entschädi- 
gungspflicht ganz  oder  theilweise  enthoben  wird,  indem  die 
Unternehmung  den  verletzten  Arbeiter  noch  weiter  be- 
schäftigt und  die  Anstalt  blos  die  Differenz  zwischen  dem 
früheren  und  dem  jetzigen  Lohne  ausgeglichen  hat. 

Es  betrugen  in  Prozenten  der  Einnahmen  die 


1890  1891 

Entschädigungen 49,64  41,95 

Unfallerhebungskosten  . . . 0,20  0,40 

Verwaltungskosten 12,63  12,99 

Effekten- Kursverlust  ....  0,31  0,55 

Inventarabschreibung  ....  0,84  2,48 

Reservefonds-Dotirung  . . _. 5,29 0,84 

Die  Ausgaben  insgesannnt . . 68,91  59,21 


Nach  den  Unfällen  des  Jahres  1891,  welche  den  Tod  oder 
dauernde  Erwerbsfähigkeit  herbeiführten,  erwuchsen  nach- 
stehende Rentenansprüche: 

für  6 dauernd  gänzlich  Erwerbsunfähige 
„ 23  „ theilweise  „ 

„ 5 Wittwen 

„ 12  Kinder 

Zusammen  . . . 7048,05  fl. 

Der  anrechenbare  Lohnbetrag  dieser  46  Personen  be- 
zifferte sich  auf  25  045,34  fl.  und  zwar  für  die 


Jahresbeiträge 
1837,46  fl. 
3821,82  „ 
493,45  ., 
895,32  ' 


6 dauernd  gänzlich  Erwerbsunfähigen  . . 3 062,43  fl. 

23  „ theilweise  „ . . 11  823,37  „ 

5 Wittwen 2 891,46  „ 

12  Kinder 7 268,08  „ 


Es  beträgt  somit  die  durchschnittliche  Jahresrente: 

für  1 dauernd  gänzlich  Erwerbsunfähigen  . . 306,24  fl. 

„ 1 „ theilweise  „ . . 166,17  „ 

„ I Wittwe 98,69  „ 

„ 1 Kind 74,61  ,, 


Die  Zahl  der  bei  den  österreichischen  Eisenbahn- 
betrieben im  Jahre  1891  vorgekommenen  Unfälle  ist  unbe- 
kannt, da  ja  die  Unfallversicherung  sich  blos  auf  die  in 
den  Eisenbahnwerkstätten  u.  drgl.  beschäftigten  Personen 
erstreckt.  Von  diesen  gelangen  aber  nicht  alle  Unfälle  zur 
i Anzeige,  im  Berichtsjahre  betrug  die  Zahl  der  Anzeigen  1 198, 
von  denen  270  eine  Entschädigung  begründeten.  Letztere 
hatten  zur  Folge: 


Unfälle 

eine  vorübergehende  Erwerbsunfähigkeit  von  mehr  als 


4 Wochen 234 

„ dauernd  theilweise  Erwerbsunfähigkeit 23 

,,  „ gänzliche  „ 6 

den  Tod  des  Verletzten 7 


Die  1198  angezeigten  Betriebsgattungen  vertheilten 
sich  auf  folgende  Betriebsgattungen: 


53 

1 £* 

Unfälle 

Auf  je  iooo  Ver- 
sicherte entfallen 

Betriebsgattung 

Zahl  der  ve 
sicherten  Persc 

überhaupt 

(angezeigte) 

mit  vorübergeh. 
Erwerbsunfähigkeit 

mit  dauernder 
Erwerbsunfähigkeit 

mit  tödtlichem 
Ausgange 

5 

tr,  w 

"E  g- 

c j» 

•i 

— ; i) 
rt  ■— 

5 

Unfälle  mit  voriiber- 
geh.  Erwerbsunf. 

Unfälle  mit  dauern- 
der Erwerbsunf. 

i V 

■3  g 

to 

— 

Brücken-  u.  Tunnelbau  . . 

1569 

24 

5 

i 

2 

15,3 

3,2 

0,6  1,3 

Hochbau  

3102 

25 

14 

i 

— 

8,1 

4,5 

0,3 

— 

Ober-  u.  Unterbau  .... 

1333 

18 

5 

i 

— 

13,5 

3,8  0,7 

— 

Eisenbahn  Werkstätten  . . . 

13272 

920  162 

19 

4 

69,3 

12,2 

1,4  0,3 

Dampfdrehscheiben  . . . 

4 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

Da mplkrahn betriebe  . . . 

62 

2 

— 

— 

— 

32  3 

— 

— 

— 

Heizhäuser 

Maschinelle  Anlagen  für 

5391 

185 

43 

5 

1 

34,3 

8 

0,9 

1.19 

elektrische  Bahnen  . . . 

9 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

Wasserschöpfwerke  . . . 

600 

10 

1 

i 

— 

16,7 

1,7 

1,7 

— 

Schottererzeugung  .... 

407 

2 

1 

— 

— 

4,9 

2,5 

— 

— 

Steinbrüche  

1509 

5 

1 

— 

— 

3,3 

0,7 

— 

— 

Kies-  u.  Sandgruben  . . . 

Gas-,  Wasserleitungs-  und 

366 

2 

2 

— 

— 

0,0 

5,5 

— 

— 

Heizanlagen 

26 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

Maschinenfabriken  gr.  Uml. 
Elektrische  Telegraphen  u. 

134 

— 

— 

— 

— 

— 

Telephone 

Dampfbetrieb  für  verseil. 

129 

3 

— 

— 

— 

23,3 

— 

Zwecke 

6 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

Leuchtgaserzeugung  . . . 

Elektrische  Beleuchtungs- 

88 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

1 

— 

anlagen  

53 

Imprägnirungsanstalten  . . 

64 

i 

— 

— 

— 

15,6 

— 

— 

Badeanstalten 

1 

— 

Waschanstalten 

8 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

Kanalbau 

50 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 



Eisenbahnbau  (Aufsicht  i 

37 

Wasserbau 

i 

— 

— 

— 

2,6 

— 

2.6 

— 

Brunnenbau  

Buch-  u.  Steindruckerei  kl 

76 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

Umfangs 

26 

Häckselschneidemaschinen . 

7 

- 

Summa  . . . 

28716 

1 198  234  29 

7 

41,7 

8,1 

1 

0,2 

Es  ereigneten  sich  demnach  verhältnissmässig  die  meisten 
Unfälle  in  den  Werkstätten  (69,3  per  mille);  auch  bezüg- 
lich solcher  Unfälle , die  eine  vorübergehende  Erwerbs- 
unfähigkeit von  mehr  als  4 Wochen  zur  Folge  hatten, 
stehen  die  Werkstätten  (mit  12,2  per  mille)  obenan.  Die 
meisten  Unfälle  mit  dauernder  Erwerbsunfähigkeit  weist 
der  Wasserbau  auf:  2,6  per  mille.  Unfälle  mit  tödtlichem 
Ausgange  ereigneten  sich  am  häufigsten  beim  Brücken- 
und  Tunnelbau:  1,3  per  mille. 

Ueber  die  Veranlassung  der  Unfälle  und  deren  Folgen 
giebt  nachstehende  Zusammenstellung  Aufschluss: 

Es  hatten  von  100  eine  Entschädigung  begründenden 
Unfällen  zur 


Veranlassung 

vorüber- 
gehende 
Erwerbs- 
unfähigkeit ; 

GUge 

■|il 

i|f 

■a«  E 

TJ 

£ 

c 

V 

Motoren 

1,5 

7,5 

25 

Arbeitsmaschinen 

17,4 

89,4 

10,6 

— 

Krahne,  Aufzüge,  Hebezeuge 

2.6 

100 

— 

— 

Feuergefährliche  Stoffe,  Gase  etc.  . . . 

0,7 

100 

— 

— 

Zusammenbruch,  Herab-  u.  Umfällen  . 

13,0 

88,6 

8,6 

2,8 

Fall  von  Leitern,  Gerüsten  etc 

18,9 

82,4 

1 1,8 

5,8 

Auf-  u.  Abladen,  Heben  u.  Tragen  . . 

10,7 

82,7 

13,8 

3,5 

Bewegung  der  Fahrbetriebsmittel  . . . 

4,1 

90,9 

9,1 

— 

Gebrauch  von  Handwerkzeug  u.  Geräthen 

20,4 

89,1 

9,1 

1,8 

Sonstige  ....  

10,7 

82,8 

13,8 

3,4 

86,7 

10,7 

2,6 

120 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  10. 


Die  meisten  eine  Entschädigung  begründenden  Un- 
fälle kamen  sonach  beim  Gebrauche  von  Handwerkzeugen 
vor:  20,4  pCt.,  die  nächstmeisten : 18,9  pCt.  durch  den  Fall 
von  Leitern,  Gerüsten,  in  Vertiefungen  etc. 

Von  den  sonstigen  Mittheilungen  des  Berichtes  seien 
nur  noch  die  Angaben  hervorgehoben,  welche  die  Be- 
schäftigungsdauer der  versicherten  Personen  betreffen. 

Es  zeigt  sich  da,  dass  in  zahlreichen  Betrieben  mit 
soviel  Ueberstunden  gearbeitet  wird,  dass  weder  von  einer 
Sonntagsruhe  noch  von  der  Einhaltung  der  gewerbepolizei- 
lichen Vorschriften  überhaupt  die  Rede  sein  kann. 


Zahl  der 

O 

C tß 

5 fcdj-i 

ßetriebsgattung 

versicherten 

Betriebe 

versicherten 

Personen 

Gesammtsumme 

der 

Arbeitstage 

Auf  i Versicherte 
entfallen  Arbeitsta 

Zahl  der  Versicher 
auf  eine  ganzjähri 
(300 tägige  Beobac 
tung  reduzirt) 

Brücken-  u.  Tunnelbau  . . . 

163 

1 569 

114  022 

72.67 

380,07 

Hochbau  

187 

3 102 

347  675 

112,08 

1 158,92 

Ober-  u.  Unterbau 

66 

1 333 

1 19  608 

89,73 

398,69 

Eisenbahnwerkstätten  . . 

77 

13  272 

4 193  437 

.3/0,.%' 

13  978,12 

Dampf  drehscheibenbetrieb 
Dampf  krahnbetriebe  u.  Auf- 

2 

4 

1 460 

365,00 

4,87 

züge 

ii 

62 

14  202 

229,07 

47,34 

Heizhäuser 

Maschinelle  Anlagen  für  elek- 

284 

5 391 

1 881  613 

34:, ,03 

6 272,04 

frische  Bahnen 

1 

9 

3 285 

365,00 

10,95 

Wasserschöpfwerke  .... 

672 

600 

150  159 

250,27 

500,53 

Schottererzeugung  .... 

30 

407 

31  057 

76,31 

103,52 

Steinbrüche  im  Allgem.  . . 

144 

1 509 

161  096 

106,76 

536.99 

Kies-  u.  Sandgruben  .... 
Gas-,  Wasserleitungs-  u.  Hei- 

28 

• 366 

28  147 

79,64 

97,16 

zungsanlagen  ..... 
Maschinenfabriken  (inclusive 

2 

26 

235 

9,04 

0,78 

Giessereien 

Elektr.  Telegraphen,  Blitz- 

i 

134 

39  591 

295,46 

131,97 

ableiter 

Dampfbetrieb  für  verschied. 

2 

129 

3 391 

26,29 

1 1,30 

Zwecke 

5 

6 

1 233 

203,83 

4,08 

Leuchtgaserzeugung  .... 
Elektrische  Beleuchtungsan- 

8 

88 

28  157 

310,07 

93,86 

lagen 

10 

53 

13  952 

263,25 

46,51 

Imprägnirungsanstallen  . . . 

7 

64 

8 804 

137,56 

29.35 

Badeanstalten 

1 

1 

299 

299,00 

1,00 

Waschanstalten 

4 

8 

609 

76,12 

2.03 

Kanalbau 

3 

50 

554 

11,08 

1,85 

Eisenbahnbau 

6 

37 

10  086 

272,59 

33,62 

Wasserbau 

38 

387 

18  345 

47,40 

61,15 

Brunnenbau  

10 

76 

2 885 

37,96 

9,62 

Buch-  u.  Steindruckerei  . . 

2 

26 

8 536 

326,30 

78,45 

Häkselschneidemaschinen  . . 

2 

7 

304 

43,43 

1,01 

1766 

28  716 

7 183  732 

250,16  23  945,77 

Ein  Notligesetz,  betreffend  die  Krankenversicherung. 

Die  Krankenversicherungsnovelle  vom  April  d.  J.  hat  bekannt- 
lich all  die  Tausende  von  Zwangs-  und  freien  Kassen  zur  um- 
fassenden Abänderung  ihrer  Statuten  genöthigt.  Alle  diese 
Statuten  müssen  so  ziemlich  von  den  gleichen  Staatsbehörden 
eingehend  geprüft  werden,  so  dass  sich  seit  dem  Sommer  eine 
gewaltige  Üeberbürdung,  besonders  der  Organe  der  Bezirksaus- 
schüsse, ergeben  hat.  In  Folge  dessen  stellte  sich  in  letzter  Zeit 
«lie  Unmöglichkeit  heraus,  die  Statuten  namentlich  einer  sehr 
grossen  Zahl  freier  Hilfskassen  rechtzeitig  bis  zum  Inkrafttreten 
der  Novelle,  am  1.  Januar  1893,  zuzulassen  und  als  dem  § 75  der 
Novelle  entsprechend  zu  bescheinigen  obgleich  die  meisten 
dieser  Kassen  so  zeitig  wie  nur  möglich  ihre  Statuten  abge- 
ändert und  eingereicht  hatten.  Unter  solchen  Umständen  musste 
an  eine  gesetzliche  Abhilfe  gedacht  werden,  wenn  nicht  Hunderte 
von  Hilfskassen  mit  Hunderttausenden  von  Mitgliedern  unver- 
schuldet schwer  geschädigt,  ja  letztere  vielfach  ruinirt  werden 
sollten.  Diese  Abhilfe  ist,  ähnlich  wie  zu  Anfang  des  Jahres 
1885,  in  einem  aufschiebenden  Nothgesetz  gefunden  worden 
Dasselbe  ist  unter  Mitwirkung  und  Zustimmung  von  Vertretern 
der  verbündeten  Regierungen  von  den  Abgeordneten  Dr.  Hirsch, 
Merbach,  Möller,  von  der  Schulenburg  und  Freiherr  v.  Wendt, 
also  von  Vertretern  fast  aller  grossen  Parteien  des  Reichstags, 
am  Sonnabend  in  folgender  Fassung  eingebracht  worden: 

„Gesetz,  betreffend  die  Einführung  des  §75a  des  Kranken- 
versicherungsgesetzes. Mitglieder  solcher  eingeschriebenen 


und  auf  Grund  landesrechtlicher  Vorschriften  errichteten  Hilfs- 
kassen, welche  am  1.  Januar  1893  die  in  § 75a  des  Krankenver- 
sicherungsgesetzes vorgesehene  Bescheinigung  noch  nicht  er- 
halten, aber  bereits  vor  diesem  Tage  die  hierzu  erforderliche 
Abänderung  der  Statuten  mit  dem  Anträge  auf  fernere  Zulas- 
sung oder  Genehmigung  bei  der  zuständigen  Stelle  eingebracht 
haben,  bleiben  von  der  Verpflichtung,  der  Gemeindekranken- 
versicherung oder  einer  nach  Massgabe  des  Krankenversiche- 
rungsgesetzes errichteten  Krankenkasse  anzugehören,  noch  bis 
zum  I Juli  1893  befreit,  wenn  für  die  Mitglieder  dieser  Kassen 
auf  Grund  des  § 75  des  Gesetzes  vom  15.  Juni  1883  und  der  am 
31.  Dezember  1892  geltenden  Kassenstatuten  eine  solche  Be- 
freiung^ besteht.  — Bis  zu  diesem  Zeitpunkt  haben  die  bezeich- 
neten  Kassen  der  Bestimmung  des  § 49a  des  Krankenversiche- 
rungsgesetzes nur  insoweit  zu  genügen,  als  es  sich  um  den  Aus- 
tritt von  Kassenmitgliedern  handelt.“ 

Invaliditätsverkältnisse  preussischer  und  österreichischer 
Bergarbeiter.  Im  Beiblatte  zu  den  vom  österreichischen 
Ministerium  des  Innern  herausgegebenen  „Amtlichen  Nach- 
richten“ betreffend  die  Unfälle  und  Krankenversicherung 
der  Arbeiter  werden  zur  Charakteristik  der  Verhältnisse 
der  preussischen  und  österreichischen  Montanarbeiter  einige 
ziftermässige  Zusammenstellungen  gebracht,  welche  sich  auf 
Arbeiten  von  W.  Küttner,  A.  Caron  und  A.  Zillmer  stützen 
und  aus  denen  hervorgeht , dass  die  Invaliditätsverhältnisse 
der  preussischen  Knappschaftskassen  sich  im  allgemeinen 
ungünstiger  stellen  als  diejenigen  der  österreichischen  Berg- 
werksbruderladen, dass  jedoch  der  Montan-Hüttenbetrieb 
Oesterreichs,  bei  welchem  der  Hüttenbetrieb  zur  Gewinnung 
von  Roheisen,  Rohstahl  und  Eisen  überhaupt,  von  Eisen-  und 
Stahlprodukten  im  allgemeinen  den  übrigen  Hüttenbetrieb  über- 
wiegt, bei  weitem  noch  ungünstigere  Invaliditätsverhältnisse 
aufweist,  wie  diejenigen,  welche  Zillmer  bezüglich  der  Maschinen- 
bau- und  Metallarbeiter  ermittelt. 

Die  nachstehende  Tabelle  lässt  die  bezüglichen  Verhält- 
nisse deutlich  hervortreten: 


Alter  der  Aktiven 
in  Jahren 

Mittlere  A k i v i t ä 

tsdauer  der 

Alter  der  Aktiven 
in  Jahren 

preussischen  Berg- 
arbeiter 

osterr.  Berg-  und  Hüttenarbeiter 

Gesaminter 

Bergbau 

nach 

A.  Caron 
(1S70— 79) 

Stein- 
kohlenberg- 
bau nach 
W.  Küttner 
(1S69— 83) 

Bergbau 

auf 

Braunkohle 

Bergbau  auf 
Steinkohle, 

Eisenstein  und  Gesammter 

Mineralien*  j Hutten- 

(excl.  Braun-  | betrieb 

kohle  u.  Stein- 
salz) 

20 

29,0 

28,7 

32,6 

30,6  31,8 

20  t 

30 

21,7 

20,8 

25,3 

23,3  24,2 

30  i 

40 

14,9 

13,6 

17.9 

16,0  16,8 

40  1 

50 

9,0 

7,3 

11,2 

9.6  10,1 

so  ; 

60 

5,6 

3,7 

6,8 

5,5  5,8 

60 

1 


Charakteristisch  für  die  Invalidenversicherung  ist  die  in 
den  Fällen  der  Erhebung  der  Invaliditäts-  und  Mortalitätsver- 
hältnisse der  arbeitenden  Bevölkerung  regelmässig  beobachtete 
stärkere  Sterblichkeit  der  Invaliden  gegenüber  den  Nichtinvali- 
den, bezw.  den  „Männern  überhaupt“. 

Nach  den  Erfahrungen  der  österreichischen  Bergwerks- 
bruderladen ist  die  Sterblichkeit  der  Invaliden  in  den  jüngeren 
Lebensaltern  nicht  unerheblich  grösser  und  in  den  späteren 
Lebensaltern  nicht  unbedeutend  geringer  als  die  Sterblichkeit 
der  Invaliden  nach  den  Erhebungen  der  preussischen  Knapp- 
schaftskassen. 

Es  betrug  die  mittlere  Lebensdauer  der 


Alter  der  Invaliden 
in  Jahren 

preussischen  Berg- 
arbeiter 

üsterr.  Berg-  und  Hüttenarbeiter 

Alter  der  Invaliden 
in  Jahren 

Gesammter 
Bergbau 
nach 
A.  Caron 
(1870—79) 

Stein- 
kohlenberg- 
bau nach 
W.  Küttner 
(1869-83} 

Bergbau 

auf 

Braunkohle 

Bergbau  auf 
Steinkohle, 
Eisenstein  und 
die  übrigen 
Mineralien 
(excl.  Braun- 
kohle u.  Stein- 
salz) 

Gesammter 

Hütten- 

betrieb 

20 

16,0 

16,9 

11,3 

8,5 

10.8 

20 

30 

16,1 

16,7 

14,9 

11,8 

14,4 

30 

40 

13,9 

15,0 

16,4 

13.6 

15,9 

40 

50 

12,0 

13,0 

15,4 

13,0 

15,0 

50 

60 

9,3 

9,7 

12,4 

10,6 

12,1 

60 

70 

6,9 

7,0 

8,2 

6.9 

8,0 

70 

80 

3,3 

5,1 

5,0 

4,1 

4,8 

80 

Die  mittlere  Bezugsdauer  der  Invalidenprovision,  die  auf 
Grund  der  für  die  österreichischen  und  preussischen  Montan- 
arbeiter konstruirten  Mortalitäts-  und  Invaliditätstabellen  be- 
rechnet wurde,  stellt  sich  für  erstere  im  Allgemeinen  länger 
heraus  als  für  letztere.  Sie  betrug  für 


No.  10. 


SOZIALPOLITISCHES  CKNTRALBLATT. 


121 


Alter  der  Aktiven 
in  Jahren 

preussischen  Berg- 
arbeiter 

üsterr,  Berg-  und  Hüttenarbeiter 

Alter  der  Aktiven 
in  Jahren 

Gesummter 
Bergbau 
nach 
A.  Garon 
(1870—79) 

Stein- 
kohlenberg- 
hau nach 
W.  Kiittner 
(1869—83) 

Bergbau 

auf 

Braunkohle 

Bergbau  auf 
Steinkohle, 
Eisensteine  und 
andere 
Mineralien 

Gesammter 

Hütten- 

betrieb 

20 

12,2 

13,2 

14,6 

12,9 

14,6 

20 

30 

11,6 

12,7 

14,1 

12  5 

14,0 

30 

40 

10.8 

11,8 

13,1 

11,8 

13,1 

40 

50 

9,7 

10,8 

120 

10,6 

12,1 

50 

60 

7.5 

8,3 

9,4 

8,4 

9,6 

60 

Gewerbegerichte. 


Berirgewerbegericlit  für  das  Grossherzogtlmm  Braun- 
schweig.  Während  in  Preussen  die  Errichtung  der  von  der  Regie- 
rung in  Aussicht  genommenen  Berggewerbegerichte  merkwürdig 
lange  auf  sich  warten  lässt,  hat  das  braunschweigische  Staats- 
ministerium unterm  27.  Oktober  bereits  die  nöthigen  Anordnungen 
für  Errichtung  eines  Gewerbegerichts  für  die  Braunkohlengruben 
des  Herzogthums  erlassen.  Es  erschien  zweckmässig,  das  Ge- 
werbegericht zunächst  nur  für  die  Braunkohlengruben  einzu- 
richten, weil  die  Arbeiter  der  Erzgruben  von  den  in  den  zuge- 
hörigen Hüttenwerken  beschäftigten  Arbeitern  nicht  wohl  zu 
trennen  sind,  eine  Ausdehnung  des  Berggewerbegerichts  auf  die 
Hütten  aber  nach  dem  Gesetze  nicht  zulässig  ist.  Das  Gewerbe- 
gericht für  die  Braunkohlengruben  wird  am  I.  Januar  1893  ins 
Leben  treten;  es  wird  seinen  Sitz  in  Helmstedt  haben,  in  dessen 
Nähe  die  sämmtlichen  im  Betriebe  stehenden  Braunkohlengruben 
liegen,  damit  es  den  rechtsuchenden  Bergleuten  erspart  bleibt, 
weite  Wege  bis  zum  Sitze  des  Gerichts  zurückzulegen.  Das 
Gericht  wird  zusammengesetzt  aus  einem  vom  herzoglichen 
Staatsministerium  zu  ernennenden  Vorsitzenden  und  dessen 
Stellvertreter  und  aus  zwölf  Beisitzern,  welche  theils  von  den 
Arbeitern,  theils  von  den  Arbeitgebern  gewählt  werden.  Zu 
jeder  Sitzung  des  Gerichts,  welche  je  nach  Bedürfniss  anbe- 
raumt wird,  werden  vom  Vorsitzenden  zwei  Beisitzer,  ein  Arbeit- 
geber und  ein  Arbeiter,  eingeladen,  welche  für  Zeitversäumniss 
eine  Entschädigung  erhalten.  Die  Verhandlungen  sind  öffent- 
lich; Gebühren  werden  nicht  erhoben.  Eine  weitere  Aufgabe  ist 
dem  Berggewerbegericht  noch  dadurch  zugewiesen,  dass  es  bei 
Streitigkeiten,  welche  zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitern 
über  die  Bedingungen  der  Fortsetzung  oder  der  Wiederaufnahme 
des  Arbeitsverhältnisses  entstehen,  als  Einigungsamt  angerufen 
werden  kann. 

Gewerbegericht  in  Hessen.  Unter  welchen  Umständlich- 
keiten die  Errichtung  eines  Gewerbegerichts  auch  auf  Grund 
des  neuen  deutschen  Gesetzes  noch  vor  sich  geht,  zeigen 
folgende  Vorgänge  im  Grossherzogthum  Hessen.  Die  Arbeiter 
der  Stadt  Giessen  hatten  im  März  d.  J.  bei  der  Bürgermeisterei 
den  Antrag  auf  Errichtung  eines  Gewerbegerichts  gestellt.  Die 
Stadtverordnetenversammlung  gab  dem  Ersuchen  nach  einigem 
Zögern  statt,  änderte  aber  den  Antrag  dahin  ab,  dass  anstatt 
eines  Gewerbegerichts  für  Giessen  ein  solches  gemeinsam  für 
den  Amtsgerichtsbezirk  Giessen  errichtet  werden  sollte.  Das 
grossherzogliche  Kreisamt,  welchem  der  Antrag  der  Stadt  zu- 
nächst unterbreitet  wurde,  liess  in  den  in  Betracht  kommenden 
Gemeinden  Erhebungen  darüber  anstellen,  wie  weit  in  den- 
selben die  Nothwendigkeit  zur  Austragung  von  Gewerbestreitig- 
keiten vor  einem  Gewerbegericht  anerkannt  würde.  Das  Er- 
gebnis dieser  Erhebungen  war,  dass  nur  aus  vier  Gemeinden 
zustimmende  Erklärungen  einliefen.  In  Folge  dieses  für  ein 
gemeinsames  Gewerbegericht  ungünstigen  Ergebnisses  hat  das 
Kreisamt  weitere  Schritte  nicht  zu  unternehmen  erklärt,  es  viel- 
mehr dem  hiesigen  Stadtvorstand  anheimgegeben,  ein  Gewerbe- 
gericht für  den  Stadtbezirk  zu  errichten.  In  der  letzten  Stadt- 
verordnetenversammlung wurde  dann  endlich  beschlossen,  für 
den  Stadtkreis  Giessen  ein  Gewerbegericht  zu  errichten.  Hätte 
das  Reichsgesetz  vom  Jahre  1890  die  Gewerbegerichte  obligato- 
risch mindestens  für  Städte  mit  über  10  000  Einwohnern  ge- 
macht, so  wären  alle  diese  büreaukratischen  Weiterungen  erspart 
worden. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung 


Bau  von  Arbeiterwohnuiigen  aus  Mitteln  der  Alters- 
und Invaliditätsversicherung.  Der  Vorstand  der  Ver- 
sicherungsanstalt für  die  Provinz  Hessen- Na ss au  hat  dem 


Provinzialausschuss  in  seiner  Sitzung  vom  24.  Oktober  d.  J. 
den  Antrag  vorgelegt,  ihn  zur  leihweisen  Hergabe  von 
grösseren  Beträgen  für  den  Hau  von  Arbeiterwohnungen 
zu  ermächtigen.  Der  Gedanke  wurde  sympathisch  oe- 
grüsst  und  eine  motivirte  Vorlage  für  erforderlich  erklärt, 
die  nicht  ausbleiben  wird.  Auch  der  Ausschuss  der  In- 
validitäts-  und  Altersversicherungsanstalt  für  Schlesien  be- 
schloss zur  Beförderung  des  Baues  von  Arbeiterwohnungen 
an  Gemeinden,  milde  Stiftungen,  Unternehmer  und  Arbeit- 
geber jährlich  bis  zu  3/4  Millionen  Mark  auszuleihen.  Die 
ausgeliehenen  Summen  sollen  zu  3 Prozent  verzinst  werden; 
ihre  Tilgung  hat  regelmässig  und  in  längstens  fünfzig 
Jahren  zu  erfolgen.  Die  Beleihungsgrenze  ist  auf  75  Prozent 
des  Platz-  und  Bauwerthes  der  Grundstücke  festgesetzt. 

Wohnungsverhältnisse  in  Darmstadt.  In  der  Sitzung  des 
Darmstädter  Ortsgewerbevereins  vom  18.  November  machte 
Reichstagsabgeordneter  Dr.  Osann  auf  Grund  amtlicher 
Materialien  Lemerkens  werth  e Mittheilungen  über  Wohnungs- 
missstände in  der  hessischen  Residenz.  Die  polizeilichen 
Untersuchungen  in  Darmstadt  hätten  im  Wesentlichen  folgen- 
des ergeben.  Im  3.  Polizeirevier  habe  man  ungesunde 
Wohnungen  angetroffen;  im  5.  Revier  sei  keine  Wohnung 
beanstandet  worden.  Im  I.  Revier  (Altstadt)  habe  sich  ein 
grosser  Theil  der  Arbeiterwohnungen  als  ungesund  und  unzu- 
reichend, einzelne  Wohnungen  als  überfüllt  ergeben,  77  Wohnun- 
gen habe  man  als  geradezu  „abscheulich“  bezeichnet;  diese 
würden  zum  Theil  durch  Familien  von  5 — 6,  auch  von  9 — 10 
Köpfen  bewohnt.  Vielfach  habe  man  gefunden,  dass  die  Räume 
nach  Winkeln  hingingen  und  eine  missständige  Verbindung  von 
Abort  mit  Stube  konstatirt.  Im  2.  Revier  hätten  die  Wohnungen 
nur  theilweise  als  gut  bezeichnet  werden  können.  In  vielen 
Fällen  lägen  verhältnissmässig  hohe  Miethpreise  vor;  20  Häuser 
seien  in  dieser  Beziehung  besonders  genannt  worden.  Im 
4.  Revier  habe  man  sämmtliche  Wohnungen  mit  wenig  Aus- 
nahmen als  gut  bezeichnet.  Der  Redner  drückte  sein  Erstaunen 
über  die  nicht  besonders  günstigen  Ergebnisse  aus  und  be- 
fürchtete, dass  in  verschiedenen  kleineren  Städten  des 
Landes  wohl  ähnliche  Verhältnisse  bestehen.  Das  Letztere 
ist  sehr  wahrscheinlich. 

Städtische  Verordnung  gegen  Wohnuugsniissstände 
in  Verviers.  Der  Stadtrath  der  belgischen  Fabrikstadt 
Verviers  genehmigte  eine  neue  Verordnung  zur  Bekämpfung 
ungesunder  Wohnungsverhältnisse.  Danach  ist  der  Bürger- 
meister berechtigt,  das  Wohnen  in  solchen  Gebäuden,  die 
durch  mangelhaften  Bau,  Unreinlichkeit,  schlechte  Lüftung, 
fehlenden  Wasserabfluss  u.  s.  w.  die  öffentliche  Gesundheit 
dauernd  gefährden  könnten,  auf  Grund  des  Berichts  eines 
aus  einem  Mitglied  der  Armenverwaltung,  einem  Mitglied 
der  städtischen  Sanitätskommission  und  einem  städtischen 
Baubeamten  bestehenden  Ausschusses  zu  untersagen.  In 
dringenden  Fällen,  bei  Seuchen  u.  s.  w.  kann  der  Bürger- 
meister auf  den  Bericht  des  Ausschusses  hin  sofort  die 
Räumung  der  betreffenden  Gebäude  verfügen. 


Litteratur. 

Rosenberg.  Dr.  Wilhelm,  Entwickelung  und  Stand  de^- 
Arbeiterfrage  in  gemein  fasslicher  Darstellung. 
Herausgegeben  vom  Deutschen  Verein  zur  Verbreitung  ge- 
meinnütziger Kenntnisse  in  Prag.  Prag,  1892.  Verlag  des 
Vereins.  82  S.  Preis  für  Mitglieder  30  Kr.,  für  Nichtmit- 
glieder 50  Kr.  ö.  W. 

Das  Schriftchen  enthält  eine  klare  Uebersicht  über  die 
springenden  Punkte  der  „Arbeiterfrage“  und  vertritt  den  Stand- 
punkt einer  „freisinnigen  Sozialpolitik“.  Dass  der  Arbeiter  in  der 
kapitalistischen  Volkswirthschaft,  bei  „natürlichem  Verlauf  der 
Dinge“  ökonomisch  der  bei  weitem  schwächere  Theil  ist,  wird 
erkannt  und  dargelegt,  ebenso  die  daraus  folgende  Noth- 
wendigkeit der  Arbeiterorganisationen  wie  des  regelnden  Ein- 
greifens des  Staats  in  das  Wirthschaftsgetriebe.  Neben  diesen 
beiden  Grundpfeilern  der  Sozialpolitik  will  dann  der  Verfasser 
auch  andere  Momente  nicht  ganz  unberücksichtigt  gelassen 
wissen:  die  Fürsorge  des  Arbeitgebers  für  das  Wohl  seiner  Ar- 
beiter, sofern  dieser  sich  nur  von  dem  Streben  nach  Herstellung 
eines  „patriarchalischen“  Arbeitsverhältnisses  freihält;  die  selbst- 
thätige  Barmherzigkeit  u.  a.  Wenn  auch  nicht  alle  Ausführun- 
gen des  Verfassers  einwandfrei  sind  — so  scheint  mir  das,  was 
er  über  den  Sozialismus  bemerkt,  sehr  der  Berichtigung  zu 
bedürfen,  so  wird  doch  Jedermann,  der  das  Studium  der  Volks- 
wirthschaft nicht  zu  seiner  Lebensaufgabe  gemacht  hat,  Be- 
lehrung und  Aufklärung  aus  dem  Schriftchen  schöpfen  können. 


V r'rrmtwortüch.  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrieli  braun  in  Berlin. 


122 


ANZEIGEN. 


No.  10 


©erlag  non  0ntlt.iv  Jtnlt  in  Eeigiig. 

(§r|rl)iri)tc  ks  ^nrinUsmns  rniii  (Cumimuiismns 

im  19*  Jaljdimtttcvt 

(Bon 

profeflov  Dr.  IM  tu  B)atjd|aueu. 

<tBN5t)er  evfcfjien : 

Gifte  2lbtf)eiluni] : Snint;®imon  unb  ber  3nint=$tuumiemue. 

^tocite  Slbtljcilmig:  Jyouricv,  feine  Sljeoric  unb  Sdntlc. 

gebe  3lbtf)eilimg  bitbet  ein  für  fict)  abgefdjtofienec'  ©äuge  unb  ift  einzeln  für  2 ü)lnrf  fonfliri). 


3 (Suttentag,  (BerlagSbudjbnnbluug  in  '-Bcrtin  SW48. 

fie  friiMlitiit  miö  ttjre 


itt  ber 

uottt  1.  Januar  1882  bis  batrin  1890. 
(Sine  Multurftnbie  auf  ftatiftifdjcr  WnmMage 

DO  11 


Icmtl|avit  Bunin  it,  ©erlaitsbudjljanbhmg  Berlin  SW.,  IBtlbelmllralje  121. 


(ßefdjidjte 


brr 


Beließen  Heit. 


1 815—1885. 


Bon 

pvufelUn*  Dr.  (Umtßanfin  Bulle, 

Siieltov  be3  ©pmtmüumS  311  (Bremen  imb  9leidj3tng$abgeorbtictev. 


4 Biintic.  JUmfc  Bitflaac. 

preis  brol'rfnrt  12  mark,  gebunbcn  in  4 Icinmanhbäitbr  IG  mark, 
gclnnthcn  in  2 Balbfran; büitbr  17  mark. 


©ine  geil,  bie  jebem  SB  ärger  baS  91ed)t  oerlcibt,  gur  2BaI)Iurne  31t  treten  nnb  auf  bie 
(X>efd)icfe  feines  SSatertanbeö  burctj  bie  3Bat)l  lunt  Slbgeorbneteu  ©inftufj  aubguitben,  (egt  aud) 
grobe  5ßftid)ten  auf,  (Bflid)ten,  bereu  SSernadjläffignug  nicht  otjne  fdpuere  ©djäbigung  be$  ©e= 
famnitinotjtä  bleiben  tarnt. 

9U3  eine  fold)e  (ßftidjt  ift  oor  Slllem  bie  Stneignung  non  Äenntniffen  über  bie  bie 
©egenmart  bemegenben  potitifd)eu  fragen  angnfel)en.  3"  nieten  gatten  aber  ift  eß  uidjt  ntßg« 
lid),  biefe  311  nerfteben,  ot)ne  bie  gaben  311  nerfotgen,  me(d)e  bie  ©egenmart  mit  ber  (Bergangem 
beit  nerbinben. 

fDiit  bent  ®tur3e  flfapoteonä,  mit  ber  an  gürften  unb  (Böller  bamatg  berantreteuben 
ittiifgabe,  ihre  Schiebungen  nad)  innen  unb  nad)  außen  auf  nötlig  neräuberten  ©runblagen  311 
regeln,  begann  eine  neue  (periobe  ber  2Bettgefd)id)te. 

denjenigen,  roeldje  bie  ©reigniffe  non  biefem  geitpiinfie  ab  in  ihrem  inneren  Bnfautmem 
bange  lernten  lernen  motten,  tnirb  itt  ber  ,,©efd)id)tc  ber  neucften  ;3eit"  non  tpvofcffor 
Dr.  ©onftantin  (Bulle  ein  güljrer  geboten,  rote  er  nad)  einftimmigem  llrtbeit  ber  Sßreffe  ttod) 
uidjt  norbanbett  mar. 

(öiöge  bab  2Berf,  metd)e3  (Borgüge  be§  Snbattä  mit  trefflid)er  (Jlusftattung  nnb  billigem 
greife  nereiut,  notn  beutfd)en  (ßublifum  bie  nerbiente  tJtnerfenmmg  fiubett! 

J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung  in  Berlin 
SW48  Wilhelmstrasse  119/120. 

Elegante  Callieo-Einbanddeeke 

zum 

ersten  Jahrgang 

des 


I)  r.  $>  a m m c , 

Stoat'JrtMUHilt. 

prets  2 TB. ult. 

X>as  Keicfysgefeti, 

betreffenb 

bie  ©etoerbegeriebte. 

Dom  29.  Juli  1890. 
Sej;N2lii§(falie 

mit  Slnnterfnncfen  unb  3ad)tegifter 

nott 

Xcd  Ul«0ltan, 

iOiagiftvntSnifeffor  unb  3f{ed)t3aniDatt  311  (Berlin. 

ffrocitc  ucrmclirtc  (Muggnbc. 

(Eafdjenfortnat;  cartonnirt.  preis  1 Bllt.  25  Pf. 


frei  %mti 

Pöüjenldjrift  uir  föröermig  filier  fricMiiip 
Sufialreform* 

Begatt  bcs  Brnll'rfjen  Bunörs  für  Bobrit- 
belikrelorm. 

Grfdieint  jebcit  ÖJontag. 


Slbonnementöbebingungen: 
(Bei  alten  (ßoftanftalten  (9tr.  2272 


ber  (Boftseitungdlifte')  ....  $ölf.  0,80 
(Bei  birefter  ^reu3baitbfenbitug: 

in  2)eutfd)tanb  nnb  Defterreid)  . „ 1,20 

im  SBelipoftoerein „ 1,50 

3tt  (Berlin  bei  freier  3ufe«bung  . . „ 1,— 


Bie  (Expebition 

K*  Uvdts,  &falirrfjmtejtr.  55* 


Sozialpolitischen  Centralblatts. 

Preis  i Mark. 


Dieser  Nummer  liegt  ein  Prospect  der 
Verlagsbuchhandlung  «T.  Guttentag  bei. 


Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil:  O.  Schuchardt  in  Berlin,  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  12.  Dezember  1892. 


Nummer  11. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 


Heraussreber : Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


I.  Guttentae,  Verlagsbuchhandlung, 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  betragt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


D i e K r h ö h u n g der  Bier-, 

Branntwein-  und  Börsen- 
steuer im  Deutschen  Reich. 
Von  Privatdozent  Dr.  J.  J astrow. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  11. 
Wirthscliaftsstatistik : 

Zur  Reform  der  direkten  Steuern 
in  Preussen. 

Die  deutsche  überseeische  Auswan- 
derung im  dritten  Quartal  1,892. 

Das  Einkommen  der  Privatbeamten 
in  Oesterreich. 

Die  Regelung  der  Ausverkäufe  in 
Oesterreich. 

Ein  landwirthschaftlicher  Kongress 
in  England. 

Arbeiterzustände : 

Zur  Arbeitslosenstatistik  in  Berlin. 

Arbeiterstatistik  des  sächsischen 
Bergbaus. 

Arbeitslosigkeit  in  England. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Der  Ausstand  der  Baumwollspinner 
in  Lancashire. 

Der  Berliner  Töpferstrike. 


Eine  Aussperrung  im  englischen 
Schiffsbau  in  Sicht. 

Handwerkerfragen : 

Die  Krage  der  Gewerbekammern 
vor  dem  Reichstag.  Von  Dr. 
Rudolf  Grätzer. 

Arbeiterschutzgesetzgebung: 

Sonntagsruhe  in  Staatsbetrieben. 

Kaufmännische  Bewegung : 

Gesetzliche  Kündigungsfristen  für 
Handlungsgehilfen. 

Arbeiterversicherung: 

Lohnstatistik  und  Unfallversiche- 
rung. Von  Dr.  Ernst  Lange. 

Unfallmeldestellen  bei  den  deutschen 
Post-  und  Telegraphenanstalten. 

Gewerbegerichte : 

Gewerbeschiedsgerichte  im  Kanton 
Zürich. 

Wohnungszustände : 

Schlaf  stellen  wesen  in  Leipzig. 

Woldfahrtseinrichtungen: 

Arbeitsprogramm  der  Centralstelle 
für  Wohlfahrtseinrichtungen. 

Eingesendete  Schriften. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Erhöhung  der  Bier-,  Branntwein-  und 
Börsensteuer  im  deutschen  Reich. 


In  der  Militärvorlage  sind  die  Kosten,  welche  die 
Durchführung  der  Reformen  jährlich  verursachen  wird,  auf 
etwa  60  Mill.  M.  veranschlagt.  Zur  Deckung  der  Kosten 
schlägt  die  Reichsregierung  vor,  die  Börsensteuer  zu  ver- 
doppeln, die  Brausteuer  ebenfalls  zu  verdoppeln,  aber  gleich- 
zeitig für  kleinere  und  grössere  Brauereien  verschiedenartig 
zu  bemessen,  endlich  die  Branntweinsteuer  um  ein  Geringes 
zu  erhöhen  und  die  bisherigen  Privilegien  abzuändern. 

Eine  Stellungnahme  zu  diesen  Steuererhöhungen  vom 
Standpunkt  der  Sozialpolitik  im  weitesten  Sinne  müsste  zu- 
nächst den  Zweck,  welchem  die  Steuererhöhungen  dienen 
sollen,  nach  der  sozialpolitischen  Seite  hin  prüfen.  Allein 
bei  der  ausgiebigen  Erörterung,  welche  die  Militärvorlage 
und  mit  ihr  auch  die  wirthschaftlichen  und  sozialen  Ge- 
sichtspunkte der  Wehrverfassung  ohnedies  überall  begegnet, 
können  wir  hier  von  dieser  (allerdings  wichtigsten)  Seite 
der  Sache  absehen  und  den  Zweck  als  vorgezeichnet  be- 


trachten. Das  thema  probandum  heisst  für  uns  nicht,  ob 
die  60  Millionen  aufgebracht  werden  sollen,  sondern:  ob> 
die  Bewilligung  durch  den  Reichstag  vorausgesetzt,  die 
vorgeschlagenen  Steuerjerhöhungen  sozialpolitisch  zu 
billigen  sind. 

Unter  den  für  eine  Erhöhung  in  Aussicht  genommenen 
Steuerobjekten  befindet  sich  eines,  dessen  grössere  Trag- 
fähigkeit besonders  einleuchtend  ist:  das  Börsengeschäft. 
Allein  die  mechanische  Verdoppelung  wird  hier  das  Gegen- 
theil  bewirken  von  dem,  was  man  erhofft.  Die  solidesten 
Geschäfte  können  erdrückt,  die  Spekulationsgewinne  kaum 
berührt  werden.  Wir  behalten  uns  vor,  auf  die  Buntheit 
der  Börsengeschäfte  und  den  Einfluss  der  Verdoppelung 
noch  zurückzukommen. 

Nicht  ganz  so  mechanisch  ist  der  Verdoppelungsvor- 
schlag, der  gegenüber  der  Brausteuer  gemacht  wird.  Gleich- 
zeitig mit  der  Erhöhung  der  Materialsteuer  für  Getreide 
und  Reis  von  4 M.  pro  100  kg  auf  8 M.  und  der  Bestim- 
mung der  entsprechenden  Sätze  für  Zusätze  von  Stärke, 
Zucker,  Syrup  und  andern  Malzsurrogaten  wird  für  Ge- 
treide und  Reis  die  besondere  Bestimmung  getroffen,  dass 
in  jedem  Rechnungsjahre  die  ersten  150  Doppelzentner 
einer  Brauerei  nur  mit  je  6,50  M.,  die  nächsten  350  mit  je 
7 M.  besteuert  werden  sollen,  während  umgekehrt  für  die 
entsprechende  Menge  über  5000  Doppelzentner  der  Steuer- 
satz 8,50  M.,  und  über  15  000  Doppelzentner  9 M.  be- 
tragen soll. 

In  dieser  Verschiedenheit  liegen  sozialpolitische  Rück- 
sichten nach  zwei  Seiten  hin.  Die  Begründung  macht 
darauf  aufmerksam,  dass  den  kleineren  Brauereien  für  die 
intensive  Ausnutzung  des  Materials  nicht  dieselben  Mittel 
an  Apparaten  etc.  zur  Verfügung  stehen,  wie  den  grösseren; 
dem  entsprechend  laste  die  gleiche  Materialsteuer  auf  dem 
Produkt  kleiner  Brauereien  stärker  als  auf  dem  grosser. 
Dem  solle  durch  die  Verschiedenheit  der  Steuer  Rechnung 
getragen  werden.  Jedoch  wird  die  Vergünstigung  nur 
für  Getreide  und  Reis  gewährt,  nicht  für  die  Malzsurrogate, 
um  deren  Verwendung  in  den  kleineren  Brauereien  nicht 
zu  befördern. 

Sowohl  die  Rücksicht  auf  die  verschiedene  Wirkung 
der  Steuern  auf  Klein  und  Gross,  als  auch  die  Rücksicht 
auf  die  Beeinflussung  der  Bierqualität  durch  die  Steuer  ist 
sozialpolitisch  richtig.  Im  Einzelnen  aber  ist  es  schwer, 
zu  einem  Urtheil  darüber  zu  gelangen,  inwieweit  die  hier 
vorgeschlagenen  Ziffern  das  Erwartete  zu  leisten  vermögen. 
Dem  Gesetzentwurf  ist  eine  Tabelle  über  Zahl  und  Umfang 
der  Bierbrauereien  in  der  norddeutschen  Brausteuergemein- 
schalt beigegeben,  welcher  wir  den  folgenden  Vergleich 
entnehmen : 


124 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  11 


Davon  haben  an  Brausteuer  entrichtet 

Gesammt- 

zahl 

bis 
i5  M. 

15  bis 
60  M. 

6o  bis  3oo 

300M.  1 6coM. 

ÖOO 

bis 

1500 

M. 

1500 

bis 

6000 

M, 

ÖOOO 

bis 

15000 

M. 

u ber 
15000 

M. 

1873 

13  561 

2969 

1614 

3343  1673 

1930 

1571 

299 

162 

1890/91 

8 969 

121 1 

732 

1788  1177 

1606 

1596 

480 

379 

Danach  haben  seit  dem  Jahre  1873  die  drei  grössten 
Kategorien  von  Brauereien  zugenommen,  die  kleineren  ab- 
genommen und  zwar  in  einem  Masse,  das  über  die  ge- 
wöhnlichen Erscheinungen  der  deutschen  Industrie  weit 
hinausgeht.  Die  Bierfabrik  ist  im  Begriff,  die  Brauerei 
alten  Schlages  fast  vollständig  aufzusaugen.  ln  diesem 
Kampfe  aber  bedeutet  an  sich  jede  Steuerhöhung,  da  sie 
ein  neues  Moment  für  Verstärkung  des  Betriebskapitals 
bildet,  eine  neue  Verstärkung  des  Uebergewichts  der 
Grossindustrie.  Ob  und  wieviel  die  vorgeschlagene  Steuer- 
differenz auf  die  Weiterentwickelung  von  Einfluss  sein  kann, 
dies  zu  beurtheilen  fehlt  einstweilen  das  erforderliche 
Material. 

Die  weitaus  wichtigste  sozialpolitische  Wirkung  einer 
Brausteuer  liegt  aber  in  ihrem  Einfluss  auf  den  Bierkonsum. 
Im  Kampfe  gegen  die  Alkoholpest  ist  der  anerkannt  wirk- 
samste Bundesgenosse  der  Biergenuss.  Die  bisherige  Ent- 
wickelung ist  hierfür  sehr  lehrreich.  Die  heutige  nord- 
deutsche Steuer  auf  das  Bier  ist  in  der  Hauptsache  noch 
dieselbe  Steuer,  welche  in  Preussen  im  Jahre  1819  mit  20 
Silbergroschen  auf  den  Centner  Getreide  gelegt  wurde.  Sie 
hat  nur  die  veränderte  Ausdrucksweise  von  4 M.  für  den 
Doppelcentner  angenommen.  Versuche,  diese  Steuer  zu 
erhöhen,  sind  in  den  Jahren  1869,  1875,  1879,  1880,  1881 
fünfmal  hintereinander  gemacht  und  fünfmal  hintereinander 
abgeschlagen  worden.  Inzwischen  ist  die  Steuer  auf  den 
Branntwein  wiederholt  erhöht  und  anders  gestaltet  worden. 
Dieser  festgehaltenen  günstigen  Position  hat  das  Bier  seine 
Erfolge  im  Vordringen  gegen  den  Branntwein  zu  danken. 
Baer,  wohl  die  hervorragendste  Autorität  auf  dem  Ge- 
biete des  Alkoholismus,  betont  auf  das  stärkste  die  grossen 
Erfolge,  welche  unter  der  Gunst  dieser  Umstände  der  Bier- 
verbrauch im  Zurückdrängen  des  Schnapsverbrauchs  in  der 
That  gehabt  hat. 

Wie  stellt  sich  nun  der  Entwurf  zu  dieser  sozial- 
politisch so  bedeutsamen  Seite  der  Brausteuer?  Die  Be- 
gründung iS.  5 — 6)  führt  gerade  umgekehrt  aus,  dass  der 
Bierkonsum  in  Deutschland  in  beständiger  Zunahme  be- 
griffen sei,  und  dass  daher  die  Verdoppelung  der  Steuer 
die  weitere  Entwicklung  in  dieser  Richtung  nicht  hemmen 
werde,  „da  eine  Besteuerung  des  Biers  im  Ausschank  in 
der  Folge  wohl  nicht  eintreten  dürfte.“  Von  der  Erhöhung 
fallen  auf  das  Liter  Bier  nicht  mehr  als  s/m  Pfennig,  auf 
das  übliche  Seidel  von  4 Deciliter  nur  Vs  Pfennig.  Diese 
Steuer  werde  nicht  auf  den  Konsum  abgewälzt  werden, 
da  der  Mehrbetrag  „ohne  Uebervortheilung  des  Kon- 
sumenten sich  gar  nicht  darstellen“  lasse,  und  in  dem  hohen 
Gewinn  des  norddeutschen  Bierausschankes  schon  jetzt 
eine  bei  Weitem  höhere  Steuer  Deckung  gefunden  haben 
würde. 

Die  Frage  der  Steuerüberwälzung  ist  wohl  das 
schwierigste  Kapitel  aus  der  ganzen  Finanz  Wissenschaft, 
und  es  giebt  heute  schwerlich  einen  Nationalökonomen, 
der  es  übernehmen  möchte,  irgend  eine  sozialpolitisch 
wichtige  Massregel  darauf  zu  gründen,  dass  eine  Steuer 
sicher  nicht  überwälzt  werde.  Speziell  in  Bezug  auf 
Lebensmittelsteuern  ist  man  heute  wohl  nur  in  dem  einen 
Punkt  einig,  dass  die  Steuerüberwälzung  unter  vielen  Mo- 
menten der  Preisbildung  auch  eines  ist,  und  dass  je  nach 
Gunst  oder  Ungunst  der  Verhältnisse  dieses  Moment  eine 


geringe  oder  auch  eine  über  alle  Maassen  grosse  Bedeutung 
erlangt.  Richtig  ist,  dass  wiederholt  Steueraufschläge  auf 
Lebensmittel  ohne  Preissteigerung  vorgekommen  sind;  aber 
ebenso  richtig  ist,  dass  auch  vielfach,  wenn  sonst  die 
Situation  einer  Preiserhöhung  günstig  war,  ein  geringer 
Steuerzuschlag  genügt  hat,  um  die  Preiserhöhung  in  ganz 
gewaltigen  Beträgen  durchzutreiben.  — Da  wir  wissen- 
schaftlich verwerthbare  Preisstatistiken  nicht  besitzen,  so 
hat  man  allenfalls  einen  Anhalt  an  der  Konsumstatistik. 

Nach  dem  neuesten  „Statistischen  Jahrbuch“  (1892, 
S.  135)  stellt  sich  der  Bierverbrauch  an  Litern  pro  Kopf 
der  Bevölkerung 


1874 

1875  1876  1877/78 

1878/79 

1879/80 

1 880/8 1 

1881/82 

1882/83 

im  nord- 
deutschen 
Brausteuer- 
gebiet 

66,2 

67,8  65,1  62,3 

61,6 

59,6 

62,2 

62,3 

64,2 

in  Bayern 

244,0  243,0  247,8  239,5 

228,6 

220,6 

210,7 

216,3 

209.0 

1883/81 

1884/S5 

1885/86  I 

886/87 

1887/88 

1888/89  j 

1889/90 

1890/91 

im  nord- 
deutschen 
Brausteuer- 
gebiet 

67,5 

70,4 

69,0 

75,7 

77,5 

79,9 

88,5 

87,8 

in  Bayern 

208,9 

211,9 

209,1  : 

212,3 

220,2 

212,4 

222,1 

221,2 

Danach  ist  in  Norddeutschland  die  Zunahme  des  Bier- 
konsums eine  ziemlich  stetige  gewesen,  während  der  Ver- 
brauch in  Bayern  seit  der  Steuererhöhung  im  Jahre  1879 
zurückgegangen  ist.  Die  Erhöhung  fiel  (wie  Nord-  , 
deutschland  zeigt)  in  eine  ungünstige  Zeit.  Während  diese  < 
Ungunst  in  Norddeutschland  nur  ein  kleines  Wellen- 
thal in  der  Aufwärtsbewegung  bewirkt  hat,  hat  sich  der 
Rückgang  in  Bayern  bis  heute  noch  nicht  ausgeglichen.  — 

So  leicht  sind  also  derartige  Fragen  nicht  zu  entscheiden. 

Es  ist  doch  immerhin  zu  bedenken,  dass  wir  mit  der  Er- 
höhung der  Biersteuer  riskiren,  im  Kampfe  zwischen  Bier  1 
und  Branntwein  diesem  wieder  einen  Vorsprung  zu  geben. 

So  viel  aber  darf  man  doch  wohl  nachgerade  als  fest- 
stehend ansehen,  dass  für  die  ganze  soziale  Entwicklung 
der  unteren  Volksklassen  die  Entwöhnung  vom  Branntwein 
durch  das  Bier  eine  der  wichtigsten  Kulturfragen  ist. 

Desto  bedeutsamer  ist  es  nun,  wie  der  Entwurf  sich 
zur  Branntweinsteuer  stellt. 

Die  Branntweinsteuer  gehört  zu  den  komplizirtesten, 
welche  auf  dem  Boden  des  deutschen  Reiches  bestehen. 

Die  sogenannte  Verbrauchsabgabe  vom  Spiritus  beträgt 
70  M.  pro  Hektoliter.  Die  Brennereien,  welche  bei  Erlass 
des  Gesetzes  von  1887  bestanden,  erhielten  das  Privileg,  im 
bisherigen  Umfange  gegen  eine  Steuer  von  nur  50  M. 
weiter  brennen  zu  dürfen.  Dieses  „Kontingent“  welches 
das  Privileg  des  ermässigten  Steuersatzes  genoss,  wird  von 
drei  zu  drei  Jahren  neu  bestimmt  in  der  Weise,  dass  in 
Norddeutschland  4'  2 Liter,  in  Süddeutschland  3 Liter  aut 
den  Kopf  der  Bevölkerung  entfallen.  Da  das  Kontingent 
in  dieser  Berechnung  nicht  ausreicht,  um  den  Schnaps- 
bedarf zu  decken,  so  wird  dieser  immer  genöthigt  sein, 
auch  nach  dem  höher  besteuerten  zu  greifen.  Nach 
dem  bekannten  Gesetz  der  Preisbildung  richtet  sich 
der  Preis  nach  dem  theu  ersten  Vorrath , der 
nothwendig  ist,  so  dass  der  gesammte  Trinkspiritus  so  ver- 
kauft wird,  als  ob  er  mit  70  Mark  versteuert  wäre.  Der 
Vortheil,  ihn  thatsächlich  nur  mit  50  Mark  versteuert  zu 
haben,  kommt  den  privilegirten  Brennereien  zu  Gute.  Es 
ist  dies  die  viel  besprochene  „Liebesgabe  an  die  Brenner“ 
im  Betrage  von  20  Mark  pro  Hektoliter,  im  Gesammtbetrage 
von  etwa  40  Millionen  Mark  jährlich. 


No.  11. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


125 


Seit  einiger  Zeit  gingen  bereits  Gerüchte  durch  die 
Zeitungen,  dass  die  Reichsregierung  eine  Reform  dieser  Steuer 
nach  drei  Seiten  beabsichtige.  Erstens  sollte  die  Branntwein-, 
wie  die  Biersteuer  erhöht;  zweitens  sollte  das  Zwanzig-Mark- 
Privileg  um  5 Mark  ermässigt;  drittens  sollte  auch  das 
Kontigent  des  privilegirten  Spiritus  vermindert  werden. 

ln  der  Vorlage  linden  sich  diese  Gesichtspunkte  nicht. 
Die  Yerbrauchsabgabe  ist  allerdings  erhöht,  aber  nur  un- 
bedeutend um  5 Mark  (während  die  Biersteuer  verdoppelt 
wird).  Der  Abstrich  vom  Zwanzig-Mark-Privileg  ist  ganz 
weggefallen;  die  Steuer  beträgt  vielmehr  75  Mark  und 
55  Mark,  sodass  die  „Liebesgabe“  in  demselben  Betrage 
fortbesteht  Was  endlich  die  Verminderung  des  Kontin- 
gents betrifft,  so  findet  sich  dieselbe  allerdings  in  der  Vor- 
lage : statt  4,5  und  3 Liter  nur  4 und  2%  Liter  pro  Kopf. 
Aber  diese  geringe  Verminderung  des  Kontingents  hat  einen 
ganz  anderen  Hintergrund.  Wie  die  Begründung  ausführt, 
hat  der  Branntweinkonsum  in  den  letzten  Jahren  abgenom- 
men. Wenn  man  das  Kontingent  in  der  alten  Höhe  be- 
stehen Hesse,  so  würde  das  Kontingent  allein  genügen,  um 
den  gesammten  Bedarf  an  Trinkspiritus  zu  decken.  Der 
70er  Spiritus  würde  vom  Konsum  gar  nicht  mehr  heran- 
"-ezoä'en  werden,  und  der  Preis  sich  ausschliesslich  nach 
dem  50er  richten.  Dann  hätten  die  privilegirten  Brenner 
nur  noch  den  Vortheil,  die  Einzigen  auf  dem  Markte  zu 
sein,  aber  nicht  mehr  den  Vortheil,  eine  Differenz  einzu- 
stecken, welche  gar  nicht  mehr  vorhanden  wäre. 

Wenn  also  das  Kontingent  bedeutend,  etwa  auf  die 
Hälfte  oder  ein  Viertel  herabgesetzt  würde,  so  würde  dies 
eine  Herabminderung  des  Privilegs  bedeuten.  Aber  eine 
so  geringe  Herabsetzung  des  Kontingents  bedeutet  gerade 
umgekehrt  eine  Stärkung  dieses  Privilegs. 

Für  die  sozialpolitische  Bedeutung  der  „Liebesgabe“ 
ist  von  jeher  die  Unterstützung  der  nothleidenden  Land- 
wirthschaft  in  das  Feld  geführt  worden.  Allein,  so  lange 
nicht  ein  namentliches  Verzeichniss  der  Empfänger  der 
„Liebesgabe“  vorgelegt  wird,  aus  welchem  jede  Person,  die 
aus  diesen  Mitteln  etwas  empfängt,  zu  ersehen  und  in 
Bezug  auf  ihren  nothleidenden  Zustand  zu  prüfen  ist,  kann 
gar  nicht  darüber  geurtheilt  werden,  ob  diese  40  Millionen 
in  die  Hände  von  nothleidenden  Landwirthen  oder  in  die 
Hände  von  sehr  reichen  Landwirthen  kommen.  Notorisch 
ist,  dass  ein  erheblicher  Th  eil  der  „Liebesgabe“  reichen 
Brennern  zu  statten  kommt  Der  Entwurf  begrenzt  nun 
das  höchstzulässige  Maass  eines  Brennerei-Kontigents  für 
die  Zukunft  auf  80  000  Liter.  Aber  er  nimmt  von  dieser 
Maximirung  die  Brennereien  aus,  welche  gegenwärtig  schon 
mehr  zum  ermässigten  Satze  brennen.  Diese  Aenderung 
bedeutet  also  eine  noch  stärkere  Privilegirung  derjenigen 
Grossbrenner,  welche  sich  gegenwärtig  im  Besitze  des 
Privilegs  befinden,  indem  ihnen  garantirt  wird,  dass  keine 
konkurrirenden  Grossbrenner  zu  den  gleichen  Bedingungen 
neben  ihnen  geduldet  werden. 

Zu  den  Komplikationen  der  Branntweinsteuer  kommt 
noch  hinzu , dass  die  alte  Maischraumsteuer  nicht  auf- 
gehoben, sondern,  wiewohl  in  verschiedenen  Formen  weiter 
erhoben  wird.  Da  beim  Export  des  Spiritus  eine  Bonifi- 
cation  gezahlt  wird,  welche  sich  auf  eine  ungefähre  Be- 
rechnung des  Verhältnisses  vom  Produkt  zum  Maischraum 
gründet,  so  verwandelt  jede  technische  Vervollkommnung 
die  Export-Bonifikation  in  eine  Prämie.  Es  haben  sich  hier 
ähnliche  Verhältnisse  wie  bei  der  Zuckersteuer  entwickelt, 
bei  welcher  schliesslich  den  Zuckerfabrikanten  viel  mehr 
an  Steuer  vergütet  wurde,  als  sie  jemals  gezahlt  hatten. 

Das  Gesammtergebniss  unserer  sozialpolitischen  Kritik 
ist  wenig  erfreulich.  Den  Börsensteuerentwurf  müssen  wir 
nach  der  Seite  hin,  die  uns  hier  beschäftigt,  als  verfehlt 
betrachten;  er  kann  höchstens  darin  einen  Fortschritt  be- 


deuten, dass  durch  seine  ungünstigen  Folgen  das  Problem 
einer  richtigen  Börsenbesteuerung  noch  mehr  in  den 
Vordergrund  gerückt  wird.  Der  Biersteuerentwurf  be- 
deutet in  sozialpolitischer  Beziehung  ein  höchst  gefähr- 
liches Experiment,  in  einer  Entwicklung,  welche  seit  drei- 
vierte] Jahrhunderten  im  ruhigen  Gange  begriffen  war. 
Der  Branntweinsteuerentwurf  aber  ist  in  sozialpolitischer 
Beziehung  geradezu  verderblich.  Von  den  58  Millionen, 
deren  das  Reich  bedarf,  können  40  Millionen  einfach  durch 
Aufhebung  der  Liebesgabe  gewonnen  werden,  ein  weiterer 
Theil  durch  Neuregelung  der  Exportbonifikationen.  Uebrigens 
sind  die  Komplizirtheiten  dieser  Steuer  mit  den  obigen  Dar- 
legungen noch  nicht  erschöpft.  Es  ist  sozialpolitisch  nicht 
zulässig,  ein  so  wohlthätig  wirkendes  Genussmittel  wie  das 
Bier  zu  belasten,  so  lange  der  Bedarf  durch  Aufhebung 
bedauerlicher  Steuerprivilegien  gedeckt  werden  kann. 

Immerhin  ist  die  Thatsache  zuzugeben,  dass  hierüber 
verschiedene  Ansichten  bestehen.  Es  giebt  Sozialpolitiker, 
welche  die  Liebesgabe  an  die  Brenner  vertheidigen.  Wenn 
der  Entwurf  nach  gründlicher  Erörterung  der  sozialpoliti- 
schen Bedenken  sich  über  dieselben  zu  Gunsten  der  Liebes- 
gabe hinwegsetzte,  so  hätte  man  das  Gefühl,  dass  man  es 
mit  einem  Sozialpolitiker  anderer  Richtung,  aber  immerhin 
mit  einem  Sozialpolitiker  zu  thun  hat  Aber  das  ist  nicht 
der  Fall.  Bezeichnend  für  diese  Vorlagen  ist  gerade  der 
Mangel  an  Rücksichtnahme  auf  die  sozialpolitische  Seite 
der  Steuern.  Jedem  Gesetz  ist  eine  „Begründung“  bei- 
gegeben, welche  theils  den  Wortlaut  des  Gesetzes  in  Um- 
schreibung wiedergiebt,  manchmal  einige  Ausführungen 
macht,  hier  und  da  etwas  statistisches  Material  beibringt.  Aber 
diese  „Begründungen“  reichen  nicht  entfernt  dazu  aus,  um 
den  Leser  in  den  Stand  zu  setzen,  sich  ein  Urtheil  darüber 
zu  bilden,  ob  diese  Vorlagen  wirklich  begründet  sind  oder 
nicht.  Durch  diese  Schriftstücke  geht  kaum  eine  Ahnung 
davon,  dass  es  sich  um  Dinge  handelt,  welche  auch  sozial- 
politisch von  grosser  Bedeutung  sind.  Die  Begründung  zum 
Börsensteuerentwurf  umfasst  nicht  ganz  zwei  Seiten.  Von 
der  Verschiedenheit  der  Börsengeschäfte  und  der  sozialen 
Kreise,  die  daran  betheiligt  sind,  kein  Wort!  Das  zu  der- 
selben Zeit,  wo  eben  eine  grosse  Enquete  über  die  Ver- 
hältnisse der  Börse  getagt  hat!  Ueber  die  Bedeutung, 
welche  das  Bier  im  Kampfe  gegen  den  Alkohol  hat,  glaubt 
die  Begründung  mit  ein  paar  Worten  leicht  hinweggehen 
zu  können.  Der  Entwurf  hat  Bestimmungen  über  verschie- 
dene Besteuerung  des  Klein-  und  Grossbetriebes  in  der 
Brauerei.  Man  schlägt  die  „Begründung“  auf,  um  zu  sehen, 
was  für  die  Richtigkeit  der  vorgeschlagenen  Zahlverhält- 
nisse angeführt  wird,  und  findet  den  Satz:  „Diese  Mehr- 
belastung entspricht  dem  Masse  der  höheren  Rentabilität 
des  Grossbetriebes.“  — Die  Begründung  führt  aus,  dass  im 
Interesse  guter  Bierqualität  die  Steuerbevorzugungen  für 
Getreide  und  Reis  auf  die  Malzsurrogate  nicht  ausgedehnt 
werden  sollen.  Von  der  seit  Jahren  bestehenden  Bewegung- 
unter  den  Brauern  selbst,  die  Malzsurrogate  auch  in  Nord- 
deutschland gänzlich  zu  verbieten,  ist  nicht  mit  einem 
Worte  die  Rede.  Welche  Gründe  hier  mitwirken,  ist  nicht 
zu  ersehen.  Das  Raisonnement  über  den  höheren  Preis 
des  Bieres  in  Norddeutschland  (S.  6)  hört  sich  gar  nicht  mehr 
wie  von  einem  Fachmann  an.  Sozialpolitische  Statistik, 
wo  sie  zu  Käthe  gezogen  wird,  ist  zuweilen  ganz  falsch 
angewendet. ')  Von  der  Börsensteuer  wird,  weil  es  in  den 

b So  Seite  5,  wo  zum  Beweise  einer  grösseren  Belastungs- 
fähigkeit des  Bieres  angeführt  wird,  dass  in  Süddeutschland 
pro  Kopf  der  Bevölkerung  erheblich  mehr  getragen  wird. 
Allerdings  wo  pro  Kopf  der  Bevölkerung  mehr  getrunken  wird, 
wird  auch  pro  Kopf  der  Bevölkerung  mehr  bezahlt.  — Seite  10 
wird  eine  Tabelle  des  Bierverbrauchs  in  Norddeutschland  von 
1874  bis  1891  gegeben,  dazu  die  Zahlen  aus  Süddeutschland 
nur  für  das  neueste  Jahr.  Was  z.  B.  Bayern  beweist,  wenn 
man  die  ganze  Tabelle  daneben  stellt,  haben  wir  oben  gezeigt. 


126 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  1 1 


Gedankengang  der  Begründung  hineinpasst,  behauptet,  sie 
sei  „beträchtlich  gestiegen“.  Dies  ist  einfach  nicht  richtig. 
Die  Börsensteuer  ist  allerdings  zuerst  gestiegen,  jetzt  aber 
bereits  seit  drei  Jahren  im  Rückgänge.  — Wenn  wir 
die  geringe  Berücksichtigung  sozialpolitischer  Momente 
in  den  „Begründungen“  bedauern  müssen , so  stimmt 
dies  freilich  zu  der  Arbeit  im  Ganzen.  Die  Verfasser  der 
Begründungen  haben  ihre  Aufgabe  garnicht  so  aufgefasst, 
als  ob  sie  Schriftstücke  zu  liefern  hätten,  die  die  sachliche 
Prüfung  zu  erleichtern  bestimmt  sind.  Gesetzentwürfen, 
welche  sich  zur  Aufgabe  machen,  bestehende  Gesetze  zu 
ändern,  wird  nicht  einmal  der  Text  der  aufzuhebenden 
Bestimmungen  beigegeben ! Ein  unbilliges  Verlangen  wäre 
es  doch  wirklich  nicht,  wenn  in  dieser  so  wichtigen  Sache 
den  Abgeordneten  der  Wortlaut  der  bisherigen  Steuer- 
gesetze in  die  Hand  gegeben  würde.  Wieviel  Abgeord- 
nete giebt  es  denn,  die  in  der  Lage  sind,  zur  Nachprüfung 
dieser  Gesetzentwürfe  sich  vier  Jahrgänge  der  Gesetz- 
sammlung zur  Hand  zu  nehmen?  Dass  die  bayerischen 
Gesetze,  wo  auf  sie  Bezug  genommen  wird  (S.  7),  nicht 
einmal  im  Wortlaut  angeführt  werden,  ist  unter  diesen  Um- 
ständen schon  selbstverständlich.  Die  Folge  dieses  be- 
dauerlich tiefen  Standes  der  Gesetzesarireiten,  wie  man  sie 
seit  mehr  als  einem  Jahrzehnt  dem  deutschen  Reichstag 
vorzulegen  wagt,  ist  selbstverständlich,  dass  nicht  mehr, 
wie  in  früheren  Zeiten,  Jeder  aus  dem  „amtlichen  Mate- 
rial“ sich  Belehrung  sucht,  sondern  dass  die  Schriften  der 
Interessenten')  eine  immer  grössere  Autorität  im  Publikum 
gewinnen. 

Berlin.  J.  Jastrow. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Zur  Reform  der  direkten  Steuern  in  Preussen 

liegen  bekanntlich  dem  Landtage  drei  Gesetzentwürfe  vor. 
Nach  dem  einen  soll  der  Staat  auf  die  Grund-,  Gebäude-, 
Gewerbe-  und  Bergwerkssteuern  verzichten  und  die  Aus- 
nutzung dieser  Steuerquellen  den  Kommunen  überlassen 
(sogenanntes  „Ueberweisungsgesetz“'.  Der  Ausfall  soll, 
soweit  dies  neben  den  Erträgen  der  Einkommensteuer  er- 
forderlich ist,  durch  eine  ergänzende  Steuer  vom  Vermögen 
in  Höhe  von  etwa  einhalb  pro  Mille  gedeckt  werden  („Er- 
gänzungssteuergesetz“). Endlich  sollen  die  Befugnisse  der 
Kommune  sowohl  in  der  Ausnutzung  der  obigen  Steuer- 
quellen, als  auch  in  der  Erhebung  von  Zuschlägen  zur 
staatlichen  Einkommensteuer,  von  Gebühren,  Beiträgen 
und  indirekten  Steuern  neu  geregelt  werden  („Kommunal- 
abgabengesetz“). 

In  der  Generaldebatte  des  Abgeordnetenhauses  traten 
besonders  vier  Gesichtspunkte  hervor.  Es  wurde  bestritten, 
dass  die  preussische  Grundsteuer  überhaupt  den  Charakter 
einer  Steuer  trage;  sie  sei  eine  Reallast,  und  ihr  Erlass  be- 
deute um  so  mehr  ein  Geschenk  an  die  augenblicklichen 
Grundbesitzer,  da  es  auf  dem  Lande  gar  nicht  überall  Ge- 
meinden gebe,  welche  die  Grundsteuer  weiter  erheben 
könnten  (vergl.  Sozialpolitisches  Centralblatt,  Jahrgang  II, 
No.  3,  S.  27  fg.).  Während  diese  Bedenken  gegen  einen 
Erlass  der  Grundsteuer  bis  in  die  Kreise  der  konservativen 
Parteien  hinein  Billigung  fanden  (auch  der  freikonservative 
Abgeordnete  Graf  Behr  sprach  sich  in  diesem  Sinne  aus), 
trat  doch  das  Gros  der  konservativen  Partei  und  des 
Centrums  gerade  für  diesen  Punkt  des  Reformwerks  in 

')  So  wird  z.  B.  über  die  Brausteuer  Jedermann  in  der  in 
diesem  Augenblick  erschienenen  Broschüre:  „Gegen  die  Er- 
höhung der  Brausteuer“,  des  Abgeordneten  Goldschmidt, 
Direktors  der  Patzenhofer  Brauerei,  mehr  sachgemässe  Beleh- 
rung finden,  wenn  auch  vom  Standpunkt  des  Interessenten,  als 
in  den  Motiven  der  Regierung. 


erster  Linie  ein,  weil  derselbe  eine  Unterstützung  der  Land- 
wirthschaft  bedeute.  Gegen  die  vorgeschlagene  Ver- 
mögenssteuer wurden  fast  von  allen  Seiten  Bedenken  ge- 
äussert.  Namentlich  fürchtete  man  die  Offenlegung  der 
Vermögensverhältnisse,  welche  für  Gewerbetreibende  pein- 
licher sei,  als  das  Bekennen  des  Jahreseinkommens,  sodann 
aber  auch  eine  Hinaufschraubung  des  Steuerfusses,  sobald 
erst  einmal  der  Anfang  gemacht  sei.  Während  vereinzelt 
betont  wurde,  dass  der  Erlass  der  alten  Steuern  die  neue 
zur  Voraussetzung  habe,  schien  doch  die  Mehrheit  eher  ge- 
neigt, das  Geld  auf  jede  andere  Art  als  auf  diese  aufzu- 
bringen. An  dem  Kommunalabgabengesetz  fand  zwar  die 
grossartige  Anlage  des  Entwurfs  allseitige  Billigung.  Aber 
die  Ausführung  begegnete  dem  Bedenken,  dass  sie  zu  lehr- 
buchmässig  allgemein  gehalten  sei,  auch  dem  Genehmigungs- 
rechte der  Regierung  zu  viel  Spielraum  gewähre.  Endlich 
wurde  von  den  verschiedensten  Seiten  des  Hauses  die 
gleichzeitige  Vorlage  eines  Wahlgesetzes  verlangt:  von  der 
Rechten,  um  bei  Aufstellung  der  Wählerlisten  nach  dem 
Census  den  Grundbesitzern  die  Anrechnung  der  Grund- 
steuer, auch  wenn  sie  nicht  gezählt  würde,  zu  verbriefen, 
von  der  Linken,  um  diese  Verbriefung  endgültig  zu  ver- 
eiteln und  gleichzeitig  eine  Aenderung  des  Dreiklassen- 
systems herbeizuführen. 

Die  Generaldebatte  schloss  mit  einer  Ueberweisung 
der  drei  Entwürfe  an  eine  Kommission  von  28  Mitgliedern. 
Darauf  ging  das  Haus  auseinander,  die  Kommission  blieb 
allein  zurück,  wählte  den  Abgeordneten  Freiherrn  von  Huene, 
den  bekannten  Führer  des  agrarischen  Theiles  des  Centrums, 
zu  ihrem  Vorsitzenden  und  beschloss  auf  dessen  Vorschlag, 
zuerst  die  Frage  zu  erörtern,  ob  die  ganze  „Ueberweisung“ 
angenommen  werden  solle,  sodann,  ob  eine  Ergänzung  in 
der  geforderten  Höhe  nothwendig  sei.  Die  erste  Frage 
wurde  sofort  (noch  im  Laufe  der  ersten  Sitzung)  mit  23 
gegen  zwei  Stimmen  bejaht  und  damit  der  Erlass  sämmt- 
licher  vier  Steuern  votirt.  In  Betreff  der  zweiten  Frage 
wurde  nach  längeren  Erörterungen  der  Antrag  Sattler  an-  i 
genommen:  „Die  Nothwendigkeit  eines  Ersatzes  für  den 
Ausfall  an  Staatseinnahmen  in  Folge  des  Verzichts  auf  die 
Realsteuern  ist,  wenn  auch  nicht  in  der  vollen  von  der  ' 
Regierung  geforderten  Höhe,  anzuerkennen.“  Ein  Antrag 
Würmeling,  die  Mittel  durch  stärkere  Heranziehung  des 
fundirten  Einkommens  im  Rahmen  des  Einkommen- 
steuergesetzes aufzubringen,  fand  viele  Sympathien  und 
wurde  auch  einer  Subkommission  überwiesen.  Bis  zu 
deren  Berichterstattung  aber  wurde  gleichwohl  der  Ent- 
wurf der  Vermögenssteuer  in  eine  Spezialberathung  ge-  ; 
nommen,  deren  Beschlüsse  also  nur  hypothetischen  Werth  ( 
haben.  Von  den  bisherigen  Beschlüssen  ist  der  weit- 
tragendste  die  einstimmige  Ablehnung  der  Selbstdekla- 
ration. 

Die  deutsche  überseeische  Auswanderung  im  dritten 
Quartal  185)2.  In  den  Monaten  Juli— September  1892  war  die 
Auswanderung  Deutscher  über  deutsche  Häfen,  Antwerpen, 
Rotterdam  und  Amsterdam  geringer  als  in  den  vorangegangenen 
Quartalen  des  laufenden  Jahres.  Während  im  ungünstigsten, 
dem  Winterquartale,  das  wegen  der  Stürme  im  atlantischen 
Ozean  sonst  die  niedrigsten  Auswandererziffern  aufweist,  noch 
22  685  und  im  2.  Quartale  47  768  Deutsche  über  die  genannten 
Häfen  auswanderten,  betrug  im  dritten  Quartale  die  deutsche 
Auswanderung  vornehmlich  wegen  der  Choleraepidemie  in  den 
Auswanderungshäfen  und  der  Quarantäne  und  den  Absperrungs- 
massregeln  in  den  Einwandererhäfen,  endlich  wegen  der  Ein- 
stellung der  Beförderung  von  Zwischendeckpassagieren  seitens 
der  kartellirten  Schiffahrtsgesellschaften  nur  noch  22  503  Köpfe. 

Seit  April  1892  sanken  aus  den  angeführten  Ursachen  die  Aus- 
wandererzahlen fast  ununterbrochen  folgendermassen:  April: 

20  566,  Mai:  17  455,  Juni:  9747,  Juli:  9119,  August:  9900,  Sep- 
tember: 3484.  Trotz  dieser  rückläufigen  Bewegung  übersteigt 
aber  die  deutsche  Auswanderung  der  drei  ersten  Quartale  dieses 
Jahres  noch  um  ein  Bedeutendes  den  Durchschnitt  der  drei 
Quartale  der  fünf  vorangegangenen  Jahre  und  jedes  einzelnen. 

Es  wanderten  nämlich  im  Januar — September  1892  13  731  mehr 
Deutsche  aus  als  durchschnittlich  im  gleichen  Zeitraum  der 
fünf  vorangegangenen  Jahre  und  2353  mehr  als  in  den  drei 
ersten  Quartalen  des  Jahres  1891  und  20  521  mehr  als  1890,  20  585 
mehr  als  1889,  13  004  mehr  als  1888  und  12  193  mehr  als  1887  aus. 

Zu  Rückschlüssen  über  die  ungünstige  wirthschaftliche  Situation 
Deutschlands  berechtigen  diese  Zahlen  in  hohem  Masse. 

Die  Auswanderung  während  der  Monate  Januar— September 
in  den  Jahren  1887 — 1892  war  am  stärksten  im  laufenden  Jahre 
im  Königreiche  Preussen  und  den  meisten  preussischen  Landes- 
theilen,  im  Königreich  Sachsen,  in  Mecklenburg-Schwerin,  Olden- 
burg , Braunschweig , Sachsen-Meiningen , Sachsen-Altenburg, 
Schwarzburg-Rudolstadt,  in  Lippe  und  Hamburg,  am  stärksten 
war  sie  im  Jahre  1891  in  Baden,  Mecklenburg-Strelitz,  Anhalt, 


No.  11. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAT, BLATT. 


127 


den  beiden  ReUSS , Lübeck,  Bremen  und  dem  Reichslande. 
Bayern  und  Hessen  zeichnen  sich  durch  eine  seit  1887  fast 
ununterbrochene  Abnahme  der  Auswanderungszittern  aus. 

Das  Einkommen  der  Privatbeamten  in  Oesterreich. 

In  i.len  Motiven  zu  der  neuen  österreichischen  Steuerreform- 
vorlage findet  sich  (S.  149)  eine  Aufstellung,  aus  Welcher 
sich  entnehmen  lässt,  dass  in  Oesterreich  1890  an  steuer- 
pflichtigen Oehalten  und  Pensionen  jährlich  bei  den 
ca.  70  000  P r itja t Bediensteten  80 1 /.,  Million  fl.  gezahlt 
werden  und  zwar  vertheilt  sich  diese  Summe  auf  die  ein- 
zelnen Gehaltsstufen  in  folgender  Weise: 


Gehaltsstufen 

Gesammtbezüge 

in  1000 

fl.  ö.  \V. 

in  1000  fl.  ö.  W. 

0,6—  2 

63,611 

über 

2 - 2,4 

4,903 

)> 

2,4—  3,3 
3,3—  4,2 

4,458 
2 943 

4,2—  5 

860 

)) 

5—6 

1,075 

6 — 7,5 

723 

7,5-  9 

438 

>5 

9 —10 

338 

)) 

10  —12 

322 

12  —14 

196 

14 

409 

Die  Einkommensteuer  von  dieser  Summe  per  80  '/4  Mil- 
lion beläuft  sich  gegenwärtig  auf  etwa  2 Millionen  fl.  Da- 
gegen beträgt  die  von  den  Staatsbeamten  gezahlte  Ein- 
kommensteuer rund  1 '/2  Millionen  fl.  Es  ist  nun  bezüglich 
der  aktiven  und  pensiönirten  Staatsbeamten  weder  deren 
Zahl  noch  deren  Gesammtbezug  bekannt,  noch,  wie  sie 
sich  auf  die  einzelnen  Klassen  vertheilen.  Man  kann  nicht 
etwa  aus  dem  Verhältniss  der  beiden  Steuergesammtsummen 
von  1 V2  und  2 Millionen  fl.  auf  ein  analoges  Verhältniss 
der  beiden  Gesammtbezugsummen  schliessen;  viel  eher 
dürfte  der  Schluss  gerechtfertigt  sein,  dass  die  Einkommen- 
vertheilung  der  staatlichen  Beamten  eine  andere  ist  als 
jene  der  Privatbeamten.  Bekannt  ist  nur  die  Zahl  der 
aktiven  Staatsbediensteten  (also  mit  Ausschluss  der  Pen- 
sionisten), welche  sich  auf  35  926  herausstellt,  somit  etwa 
die  Hälfte  der  Privatbediensteten  ausmacht.  Ihr  Einkommen 
(Gehalte  sammt  Aktivitätszulage,  jedoch  ohne  Funktions- 
zulagen) belief  sich  auf  SO1/?  Million  fl.  Dies  kommt  nun 
allerdings  mehr  als  der  Hälfte  der  von  den  Privatbedien- 
steten  bezogenen  Summe  gleich.  Doch  ist  nicht  zu  ver- 
gessen, dass  auf  der  einen  Seite  nur  aktive  und  auf  der 
anderen  Seite  aktive  und  pensionirte  Beamte  gezählt  sind. 
Das  durchschnittliche  Einkommen  beträgt  bei  den  Privat- 
bediensteten insgesammt  (d.  h.  mit  Rücksicht  auf  die  aktiven 
und  pensiönirten)  1085  fl.  und  bei  den  aktiven  Staats- 
beamten 1461  fl. 

Uebrigens  kann  man  sich  schwer  entschliessen,  die 
eben  mitgetheilte  Einkommenvertheilung  bei  den  Privat- 
beamten in  allen  Registern  für  zutreffend  zu  erachten  Es 
dürfte  nach  derselben  • — wenn  man  den  Gehalt  der  obersten 
Stufe  im  Durchschnitt  nur  mit  20  000  fl.  annimmt  nur 
20  solche  Personen  geben,  und  ebenso  nur  15  Personen 
ä 13  000  fl.,  was  doch  gewiss  zu  niedrig  gegriffen  ist,  wenn 
man  an  die  verhältnissmässig  grössere  Zahl  der  Direktoren 
von  Banken,  Eisenbahnen,  grossen  Fabriken,  Zeitungen  u.  s.  f. 
denkt.  Doch  es  ist  eben  schwer,  hier  zu  einer  genauen 
Ziffer  zu  gelangen. 

Die  Regelung  der  Ausverkäufe  in  Oesterreich.  Die  Re- 
gierung hat  im  Abgeordnetenhause  den  seit  längerer  Zeit  an- 
gekündigten Gesetzentwurf  über  die  Regelung  der  Ausverkäufe 
eingebracht.  Nach  diesem  Gesetze  soll  die  Veranstaltung-  von 
angekündigten  öffentlichen  Ausverkäufen  zum  Zwecke  einer 
beschleunigten  Veräusserung  von  Waaren  oder  anderen  zu 
einem  Gewerbebetriebe  gehörigen  Sachen  im  Kleinverschleisse 
nur  aus  besonderen  Gründen,  wie  im  Falle  des  Ablebens  des 
Geschäftsinhabers,  der  Veräusserung  oder  Uebersiedelung  des 
Geschäfts  u.  s.  w.,  und  nur  mit  Bewilligung  der  Gewerbe- 
behörde gestattet  sein,  welche  sich  vorher  mit  der  Handels- 
kammer in  das  Einvernehmen  zu  setzen  hat.  Mit  Ausnahme 
des  Falles  wegen  Todes  des  Geschäftsinhabers  kann  die  Be- 
willigung zum  Ausverkäufe  nur  dann  ertheilt  werden,  wenn  das 
Geschäft  bereits  seit  zwei  Jahren  besteht.  Für  die  Bewilligung 
eines  Ausverkaufes  ist  eine  Gebühr  zu  Gunsten  der  Genossen- 
schaft, welcher  der  Gewerbetreibende  angehört,  beziehungs- 
weise zu  Gunsten  des  Armenfonds  zu  entrichten;  die  Gebühr 
beträgt  in  Wien  10  fl.  bis  100  fl.,  in  Städten  von  mehr  als 
50  000  Einwohnern  5 fl.  bis  50  fl.,  in  allen  übrigen  Orten  2 fl. 
bis  30  fl.  Vor  erhaltener  Bewilligung  und  Bezahlung  der  Ge- 
bühr darf  ein  Ausverkauf  weder  angekündigt  noch  begonnen 
werden;  derselbe  darf  auch  über  die  bewilligte  Dauer  hinaus 
nicht  fortgesetzt  werden. 


Ein  lamlwirtliscliaftlicher  Kongress  in  England.  Am 

7.  Dezember  tritt  in  London  in  St.  James’s  Hali  eine  Na- 
tionalkonferenz der  Farmer  zusammen,  welcher  in  agra- 
rischen Kreisen  grosse  Bedeutung  beigelegt  wird.  Es  sind 
bereits  800  Delegirte  angemeldet,  und  die  Verhandlungen 
sollen  zwei  Tage  dauern.  Aus  der  grossen  Menge  von  An- 
trägen und  Anregungen,  die  dem  Organisationskomitee 
übergeben  wurden,  hat  dieses  folgende  Tagesordnung  zu- 
sammengestellt: I.  Die  ausländische  Konkurrenz  und  ihre 
Beziehungen  zur  Getreide-  und  Milchproduktion  2 Wäh- 
rungsgesetze und  ihre  Wirkungen  auf  die  Preise  in  der 
Landwirthschaft  3.  Besteuerung  vpn  Grund  und  Boden. 
4.  Grundeigentum.  5.  Kooperation  der  Farmer  für  Kauf 
und  Verkauf,  und  im  Zusammenhang  damit  Massregeln  zur 
Hintanhaltung  von  Lebensmittelverfälschungen.  6.  Gesetz- 
gebung über  Viehseuchen. 

Aus  den  einleitenden  Kommentaren  der  englischen 
Blätter  ist  zu  ersehen,  dass  sich  auf  dem  Kongress  eine 
starke  schutzzöllnerische  Strömung  geltend  machen  wird. 
Dieselben  Klagen  über  den  Niedergang  des  Erträgnisses 
der  landwirtschaftlichen  Produktion,  die  wir  auf  dem  Kon- 
tinent gewöhnt  sind,  ertönen  auch  in  England.  Der  Weizen 
sei  von  56  sh  per  Quarter  auf  27  sh  5 d zurüchgegangen, 
und  dies  mache  wohl  auch  eine  Aenderung  der  Zollpolitik 
wünschenswert.  Es  werden  einzelne  Beispiele  beigebracht, 
um  zu  beweisen,  dass  der  Pächter  nicht  einmal  den  Erzeu- 
gungspreis, geschweige  die  Grundrente  decken  könne  und 
ebenso  wird  auf  die  hohen  Arbeitslöhne  hingewiesen  und 
den  durch  den  Abzug  der  Arbeiter  in  die  Städte  bewirkten 
Arbeitermangel.  Die  Regierung  scheint  sich  dem  Kongress 
gegenüber  aber  ablehnend  zu  verhalten,  und  der  Ackerbau- 
minister hat  eine  Einladung  mit  den  besten  Wünschen  fin- 
den Erfolg  der  Verhandlungen  beantwortet,  aber  zugleich 
mit  der  Erklärung,  dass  es  mit  seiner  Amtsstellung  nicht 
verträglich  sei,  auf  dem  Kongress  zu  erscheinen. 

Während  die  Sehnsucht  der  Farmer  nach  Einführung 
von  Getreidezöllen  wohl  kaum  eine  praktische  Bedeutung 
bekommen  dürfte,  scheint  viel  wichtiger,  welchen  Plan  sie 
für  die  Organisation  des  Verkaufs  landwirthschaftlicher 
Produkte  haben.  Insbesondere  dürfte  ein  Vorschlag, 
welchen  Herr  S.  Holben  der  Landwirthschaftskammer  von 
Cambridgeshire  kürzlich  vorgelegt  hat,  Gegenstand  einer 
eifrigen  Diskussion  werden.  Er  gipfelt  in  Folgendem:  Das 
Ziel  ist,  ein  Mittel  zu  suchen,  die  besonderen  Vorth  eile, 
welche  ausländische  Produzenten  von  Lebensmitteln  haben, 
dadurch  auszugleichen,  dass  der  Konsument  vom  englischen 
Produzenten  unmittelbar  erreicht  wird,  und  dadurch,  dass 
ihm  diese  Produkte  unter  den  besten  Marktbedingungen, 
in  der  besten  Qualität  und  möglichst  gleich  billig  dargeboten 
werden.  Die  Produzenten  des  ganzen  Landes  sollen  sich 
in  mehrere  grosse  Gruppen  organisiren,  welche  sich  an  die 
grossen  Eisenbahnlinien  anschliessen.  Für  jede  Organisation 
soll  eine  grosse  Landesproduktengeseilschaft  gegründet 
werden,  welche  alle  Distrikte  umfasst,  die  an  einem  dieser 
grossen  Eisenbahnnetze  liegen.  In  jeder  Stadt  und  mög- 
lichst an  jeder  Eisenbahnstation  soll  ein  landwirthschaft- 
liches  Depot  errichtet  werden,  mit  welchem  Milchverschleiss, 
Käsefabriken,  Magazine  für  Fleisch  und  Mehl  und  alle 
anderen  Sorten  von  landwirtschaftlichen  Produkten  in 
unmittelbarer  Verbindung  sind.  Alle  diese  Depots  sollen 
mit  einander  telephonisch  verbunden  sein,  und  jeder 
haltende  Eisenbahnzug  soll  den  persönlichen  Verkehr  er- 
möglichen. Zudem  soll  auf  den  Bahnen  eine  Packetpost 
eingerichtet  werden.  In  allen  Depots  sollen  Preislisten  für 
sämmtliche  Artikel  zu  haben  sein  und  in  allen  Eisenbahn- 
stationen sollen  die  Produkte  der  Gesellschaft  annoncirt 
und  verkauft  werden.  Ein  weiterer  Plan  geht  dahin,  die 
Nahrungsmittel  direkt  vom  Erzeuger  den  Wohnungen  der 
Arbeiterklasse  zuzuführen.  Mit  Uebergehung  des  Detail- 
händlers soll  die  Landesproduktenkompagnie  eine  Armee 
von  Karrenführern  ausrüsten  und  die  frischesten  und  besten 
Nahrungsmittel  direkt  in  die  Arbeiterviertel  führen.  Herr 
Holben  setzt  voraus,  dass  sein  Vorschlag  nirgends  auf 
Opposition  stossen  könne;  unseres  Erachtens  übersieht  er, 
dass  die  breite  Schicht  der  Zwischenhändler  seinen  Plan 
kaum  begünstigen  und  wohl  energisch  Opposition  machen 
wird. 

Um  der  Lebensmittelverfälschung  vorzubeugen,  wird 
vorgeschlagen,  dass  alle  aus  dem  Auslande  eingeführten 
Waaren,  insbesondere  Butter  und  Fleisch,  als  verfälschte 
bezeichnet  werden.  In  welcher  Weise  dies  geschehen  soll, 
darüber  scheint  man  sich  noch  nicht  klar  zu  sein. 


128 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  1t 


Arbeiterzustände. 


Zur  Arbeitslosenstatistik  in  Berlin.  Der  Plan,  im 
Januar  1893  eine  Statistik  der  Arbeitslosen  vorzunehmen, 
ist  als  gescheitert  zu  betrachten,  nachdem  eine  sozialdemo- 
kratische Parteiversammlung  am  4.  Dezember  die  folgende 
Resolution  acceptirte: 

„In  Anbetracht,  dass  zur  praktischen  Durchführung 
eines  solchen  Projektes  die  Unterstützung  aller  Parteige- 
nossen und  auch  der  Presse  nöthig  ist,  wir  aber  durch  die 
Haltung  des  „Vorwärts“  eine  solche  nicht  zu  gewärtigen 
haben,  beschliesst  die  Versammlung:  In  Erwägung  dieses 
Umstandes  von  einer  praktischen  I Hirchführung  des  Pro- 
jektes in  diesem  Jahre  Abstand  zu  nehmen.  Auch  der 
schwache  Besuch  der  Versammlung  scheint  uns  nicht  er- 
muthigend  zu  sein  zur  Aufnahme  der  Statistik.“ 

Arbeiterstal istik  des  sächsischen  Bergbaus.  Ueber  das 
Arbeiterwesen  beim  Bergbau  im  Königreich  Sachsen  im  Jahre 
1891  geht  aus  dem  Jahrbuch  für  das  Berg-  und  Hüttenwesen  das 
Folgende  hervor.  Die  Zahl  der  beschäftigten  Personen  betrug 
31071  und  hat  gegen  das  Vorjahr,  in  welchem  29  704  Personen 
beschäftigt  wurden,  um  rund  5 pCt.  zugenommen.  Hiervon  ent- 
fallen 7009  Personen  auf  den  Erzbergbau,  21  652  auf  den  Stein- 
kohlen- und  2410  auf  den  Braunkohlenbergbau.  Von  den  drei 
Steinkohlenrevieren  des  Königreichs  Sachsen  entfällt  die  höchste 
Arbeiterzahl  mit  10  863  auf  das  Zwickauer,  die  nächste  mit  7876 
auf  das  Chemnitzer  (Lugau-Oelsnitzer)  und  die  geringste  mit  2913 
auf  das  Dresdner  (Plauenscher  Grund)  Revier.  Die  Gesammt- 
zahl  der  Beamten  beim  ganzen  Bergbau  betrug  1251.  Die  Ver- 
wendung jugendlicher  und  weiblicher  Arbeiter  hat  ziemlich 
denselben  Umfang  gehabt,  wie  in  den  Vorjahren.  Es  wurden 
beschäftigt  517  Kinder,  666  jugendliche  und  740  weibliche  Ar- 
beiter. Die  durchschnittlichen  Lohnverhältnisse  haben  im  Jahre 
1891  einen  Stillstand  erfahren.  Geringe  Steigerungen  haben 
noch  stattgefunden  beim  Erzbergbau  (im  Durchschnitt  des 
Jahres  19,62  M.)  und  beim  Steinkohlenbergbau  des  Plauen’schen 
Grundes  i.53,30M),  während  in  den  wirtschaftlich  bedeutendsten 
Revieren  ein,  wenn  auch  geringer  Lohnrückgang  sich  bemerk- 
lich  gemacht  hat  (Chemnitz  8,48  M,  Zwickau  3,51  M.).  Die 
Durchschnittslöhne  für  erwachsene  männliche  Arbeiter  betrugen: 
beim  Erzbergbau  736,25  M.,  beim  Steinkohlenbergbau  des  Chem- 
nitzer Revieres  946,42  M.,  des  Dresdner  Revieres  1096,45  M.  und 
des  Zwickauer  Revieres  1050,78  M.,  im  Durchschnitt  beim  Stein- 
kohlenbergbau überhaupt  1010,56  M.  Die  neue  Arbeiterschutz- 
gesetzgebung hat  den  sächsischen  Bergwerksbesitzern  im  Jahre 
1891  folgende  durchschnittliche  Kosten  für  die  Arbeiterversiche- 
rung verursacht  Es  wurden  an  Beiträgen  für  jede  beschäftigte 
Person  gezahlt  10,38  M.  zur  Krankenversicherung,  35,20  M.  zur 
Invaliditäts-  und  Altersversicherung  und  15,66  M.  zur  Unfallver- 
sicherung, im  Ganzen  also  durchschnittlich  61,69  M.  Naturge- 
mäss bedingen  die  einzelnen  Zweige  der  Bergwerksindustrie 
zum  Theil  ganz  erhebliche  Abweichungen  von  diesem  Durch- 
schnitt. Die  Bergwerksbesitzer  des  Zwickauer  Steinkohenrevieres 
hatten  einen  Jahresbeitrag  von  75  — 90  M.,  die  Braunkohlenwerks- 
besitzer dagegen  nur  20-25  M.  zu  leisten.  Im  Allgemeinen 
stellt  sich  die  Durchschnittsbelastung  der  Bergwerksbesitzer 
Sachsens  durch  die  sozialpolitische  Gesetzgebung  höher  als 
im  Durchschnitt  des  Deutschen  Reiches  (61,69  M.  gegenüber 
50,72  M.). 

Arbeitslosigkeit  iu  England.  Das  Centralkomitee  der 
Arbeitslosen  erliess  ein  Manifest,  worin  zunächst  die  Ur- 
sachen der  in  diesem  Winter  wieder  kolossalen  Arbeits- 
losigkeit in  England  festeestellt  werden.  Hierauf  fährt 
es  fort:  „Wir  appelliren  darum  an  alle,  welche  mit  dem 

Volke  sympathisiren,  uns  zu  helfen,  damit  ein  Druck 
auf  die  Regierung,  den  Grafschaftsrath,  die  Armenpfleger 
und  alle  öffentlichen  Körperschaften  überhaupt  ausgeübt 
und  den  Arbeitslosen  nach  folgender  Methode  Hilfe  ge- 
bracht werde:  „Alle  Arbeit  für  öffentliche  Zwecke  ist  zu 

zahlen  nach  der  von  der  Trades  - Union  des  Gewerks 
festgesetzten  Lohnhöhe,  oder  wo  eine  solche  Feststellung 
nicht  existirt,  zu  einem  Minimallohn  von  sh  30  wöchent- 
lich. Die  Arbeitszeit  soll  in  keinem  Falle  länger  als 
acht  Stunden  täglich  oder  48  Stunden  wöchentlich  be- 
tragen.“ Eine  Deputation  des  Komitees,  darunter  die  Herren 
Steadman,  Glanville,  beide  Mitglieder  des  London  County 
Council,  Queich,  Dr.  Aveling,  wurde  von  dem  ersten  Kom- 
missär für  öffentliche  Arbeiten,  Herrn  Shaw  Lefevre  am 
28.  November  in  Audienz  empfangen.  Sie  konstatirten  zu- 
nächst die  grosse  Anzahl  der  Arbeitslosen,  insbesondere 
unter  den  Ungelernten  und  den  Erd-  und  Wasserarbeitern. 
Sie  verlangten  die  Demolirung  des  Millbankgefängnisses 
und  Verwendung  des  dadurch  gewonnenen  Bodens  zur 
Aufführung  von  Arbeiterhäusern.  Herr  Shaw  Lefevre  ant- 
wortete in  sehr  sympathischer  Weise  für  die  Aufgabe  des 


Komitees.  Die  Krise,  fürchtet  er,  habe  einen  chroni- 
schen Charakter  und  sei  der  ungleichen  Vertheilung 
der  Arbeit  in  Folge  der  Saisongewerbe  geschuldet.  Das 
Parlament  habe  dem  Departement  keinen  Fonds  zur 
Errichtung  von  Arbeiterhäusern  zugewiesen  , aber  er 
sei  bereit,  so  viel  öffentliche  Arbeiten  in  Angriff  zu 
nehmen  als  nur  immer  möglich;  das  Millbankgefängniss 
werde  niedergelegt,  grosse  Erweiterungen  der  Gebäude  für 
das  Postamt,  das  Patentamt  und  die  Errichtung  einer 
National-Porträtsgalerie.  Arbeiten  im  Betrage  von  etwa 
500  000  Pfund  stehen  in  allernächster  Zeit  in  Aussicht.  Der 
durch  die  Demolirung  des  Gefängnisses  gewonnene  Grund 
werde  dem  Landgrafschaftsrath  zur  Errichtung  von  Arbeiter- 
wohnungen angeboten  werden,  was  die  Regierung  aufs 
Lebhafteste  wünsche.  Da  das  Departement  keine  Maschinerie 
besitze,  um  die  Arbeiten  selbst  auszuführen,  werden  sie  Unter- 
nehmern übergeben  werden,  aber  in  die  Kontrakte  würden 
Klauseln  aufgenommen  werden  entsprechend  dem  Beschlüsse 
des  Hauses,  dass  der  „übliche“  Lohn  bezahlt  werden  müsse. 
Die  Arbeiten  werden  sofort  beginnen  und  in  wenigen 
Tagen  die  Ankündigungen  erscheinen,  ln  Bezug  auf  die 
Verpflichtung  zur  achtstündigen  Arbeitszeit,  meint  Herr 
Lefevre,  könne  er  sich  nicht  entschliessen,  diese  Frage  in 
Angriff  zu  nehmen,  aber  da  die  Arbeiten  im  Winter  be- 
gonnen und  beendet  werden  würden,  würde  eine  natürliche 
Begrenzung  der  Arbeitszeit  eintreten. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Der  Ausstand  der  Baumwollspinner  in  Lancashire. 

Seit  nahezu  vier  Wochen  dauert  der  Ausstand  oder 
vielmehr  die  Aussperrung  an  und  noch  immer  lässt  sich 
ein  Ende  nicht  absehen.  Allerdings  stehen  die  Chancen 
seit  dem  25.  November  für  die  Arbeiter  noch  viel  günstiger 
als  vorher.  Im  Wesentlichen  ist  nur  der  Süden  von  Lan- 
cashire mit  dem  Centrum  Oldham  von  der  Bewegung  er- 
griffen. Bolton  bleibt  ausser  Spiel,  weil  es  nicht  amerika- 
nische, sondern  egvptische  Baumwolle  verarbeitet,  und  die 
Unternehmer  im  Norden  und  Nordosten  von  Lancashire 
hatten  sich  bisher  der  Bewegung  nicht  angeschlossen  Es  war 
das  Hauptziel  der  Fabrikantenförderation,  die  letzten  hin- 
einzuziehen, und  dadurch  die  ausgesperrten  Arbeiter  der 
Unterstützung  zu  berauben.  Dieser  Versuch  ist  vollständig 
gescheitert , und  zwar  durch  eine  Taktik  der  Arbeiter, 
welche  die  Daily  News  mit  sauersüsser  Miene  ein  Meister- 
stück der  Strategie  nennt.  Die  Unternehmer,  welche  in 
der  North  and  North-East  Lancashire  Cotton  Spinners  and 
Manufacturers’s  Association  kartellirt  sind,  haben  natürlich 
denselben  Anlass,  die  Löhne  herabzusetzen,  wie  ihre  Kolle- 
gen im  Süden.  Aber  sie  fürchten  den  Kampf  mit  ihren 
Arbeitern  umsomehr,  als  sie  zum  grossen  Theil  Spinner 
und  W eber  zugleich  sind,  resp.,  das  Garn,  das  sie  erzeugen, 
in  ihren  eigenen  Webereien  verarbeiten,  so  dass  eine  Ar- 
beitsunterbrechung in  der  Spinnerei  zugleich  und  sofort 
auch  die  Weberei  zum  Stillstand  brächte.  Aber  als  die 
Förderation  des  Südens  ihnen  nahelegte,  dass  sie  durch 
ihr  Weiterarbeiten  den  Flrfolg  der  Aussperrung  gefährden, 
beschlossen  sie,  einen  Versuch  zu  machen,  den  Lohnabzug 
durchzusetzen.  Am  25.  November  fand  die  Konferenz  zwi- 
schen den  Vertretern  der  Unternehmerassoziation  einer- 
seits und  der  Arbeiteramalgamation,  vertreten  durch  ihren 
Sekretär  Mawdsley  anderseits  statt.  Zunächst  wurde  eine 
allgemeine  Frage  erörtert,  nämlich,  welche  Frist  Arbeiter  und 
Unternehmer  bei  Aenderung  der  Lohnskala  einhalten  sollten. 
Und  es  wurde  ein  für  allemal  festgesetzt,  dass  von  beiden  Seiten 
so  oft  eine  Aenderung  des  Lohntarifs  beantragt  würde, 
eine  Kündigungsfrist  von  einem  Monat  eingehalten  werden 
sollte.  Dadurch  waren  die  Arbeiter  von  vornherein  in  der 
Lage,  zu  wissen,  dass  sie  auf  eine  beträchtliche  Zeit  hinaus 
in  der  Lage  sein  würden,  Unterstützungen  zu  leisten,  ander- 
seits, wenn  sie  zum  Kampfe  gedrängt  würden,  voraus- 
sichtlich erst  in  einer  Zeit,  wo  im  Süden  die  Sache  zu 
Ende  sein  würde.  Nun  erst  fragten  die  Unternehmer,  wie 


No.  II 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAI -BLATT. 


120 


sich  die  Arbeiter  verhalten  würden,  wenn  im  Südosten 
Lancashires  die  Lohnreduktion  erfolgen  sollte.  Ihr 
Sprecher  führte  aus,  dass  die  Löhne  im  Norden  und  Nord- 
osten um  5 pCt.  höher  als  in  Oldham  seien.  Hierauf  er- 
klärte Mawdsley,  dass  die  Arbeiter  im  Norden  und  Nord- 
osten eine  Reduktion  von  5 pCt.  in  dem  Falle  annehmen 
würden,  dass  im  Süden  die  Aussperrung  eine  5 prozentige 
Lohnreduktion  zur  Folge  hätte.  Darauf  zogen  sich  die 
Arbeiter  zurück  und  iiberliessen  die  Unternehmer  der 
Ueberlegung  unter  sich.  Als  sie  wieder  eintraten,  theilte 
ihnen  der  Sprecher  der  Unternehmer  mit,  dass  nach  der 
wichtigen  Ankündigung,  die  den  Fabrikanten  soeben  ge- 
macht wurde,  sie  den  Antrag  auf  Lohnherabsetzung  vor- 
läufig zurückziehen.  Es  wurde  vereinbart,  dass  die  Lohn- 
frage nicht  mehr  aufgeworfen  werden  sollte,  bis  zur 
Beendigung  des  Kampfes  im  Südosten  von  Lancashire. 
Und  es  wurde  weiter  festgestellt,  dass,  wenn  dieser  zu 
einer  Lohnreduktion  führe,  dieselbe  auch  hier  platzgreifen 
solle.  Nach  dem  Urtheil  der  englischen  Presse  ist  durch 
diesen  Schachzug  der  Kampf  so  gut  wie  entschieden.  Dem 
einigen  Vorgehen  der  Arbeiter  steht  eine  gänzliche  Zer- 
fahrenheit der  Unternehmerschaft  gegenüber  Die  Gewerk- 
schaftsführer verstanden  es,  das  Kampfgebiet  einzuengen 
und  die  Kämpfenden  mit  der  vollen  Macht  der  Gesammt- 
heit  zu  stützen. 

Unterdessen  machen  sich  zwei  Momente  bereits  fühl- 
bar. Erstens,  dass  die  öffentliche  Meinung  mehr  und  mehr 
auf  die  Seite  der  Arbeiter  und  zu  Gunsten  einer  Redu- 
zirung  der  Arbeitszeit  bei  Aufrechterhaltung  der  Löhne 
neigt.  Es  ist  nicht  ohne  Interesse,  festzustellen,  was  die 
5 pCt.  in  der  Praxis  bedeuten.  Nach  den  Angaben,  welche 
Mawdsley  gemacht  hat,  betragen  in  einer  Fabrik  von 
durchschnittlichem  Umfang  die  Löhne  für  je  ein  Pfund 
Garn  einen  Penny  bei  den  Standardgarnen  No.  30—40.  In 
den  besteingerichteten  Fabriken  kann  davon  etwas  erspart 
werden,  in  den  schlechteren  ist  der  Betrag  ein  höherer. 
Nun  kann  man  durchschnittlich  I I Pfund  Garn  auf  7 Ellen 
Gewebe  rechnen.  Eine  5prozentige  Reduktion  würde 
darum  ein  Zwanzigstel  eines  Penny  bei  7 Ellen  Gewebe 
bedeuten.  Das  ist  nun  ein  Betrag,  welcher  den  Konsu- 
menten nicht  zu  Gute  kommt  und  welchen  ausschliesslich 
der  Zwischenhändler  einsackt.  Ein  zweites  für  die  Arbeiter 
günstiges  Moment  ist,  dass  die  grossen  Webereien  be- 
ginnen Mangel  an  Garn  zu  haben.  Eine  grosse  Spinnerei 
in  Mossley,  einem  Hauptschauplatz  des  Kampfes,  hat  be- 
reits wieder  angefangen  zu  arbeiten  und  die  Unternehmer 
werden  durch  Gerüchte  beunruhigt,  dass  andere  ihr  folgen 
werden. 

Belehrend  ist  eine  Uebersicht  der  Lohnschwankungen 


im  Baumwollbezirk 

seit  der  Regulirung 

im  Jahre  1876. 

Seitdem  fanden  statt 

Lohnreduktion  am 

um 

Lohnerhöhun 

gen  am 

um 

22  Oktober  1877 

5 pCt. 

27.  Mai  1878 

5 „ 

25.  Novbr.  1878 

5 „ 

20.  Oktober  1879 

5 „ 

Februar 

■ 1880 

5 pCt. 

Januar 

1881 

5 „ 

19.  Oktober  1885 

5 „ 

20  Mai 

1888 

5 „ 

1 . Januar 

1891 

5 „ 

Daraus  ergiebt 

sich,  dass  seit  dem 

Jahre 

1876  die 

Löhne  um  25  pCt.  reduzirt, 

um  20  pCt. 

erhöht, 

also  im 

Ganzen  um  5 pCt.  niedriger 

geworden  sind.  Die 

Arbeiter 

erklären,  dass  der  \ ortheil  der  Fabrikanten  sich  nicht 
darauf  beschränke.  Durch  den  schnelleren  Gang  der  Ma- 
schinen und  die  Besorgung  von  mehr  Spindeln  durch  je 
einen  Arbeiter  sei  die  Intensität  der  Arbeit  gesteigert 
worden.  Sie  drücken  das  in  der  Formel  aus:  Der  Arbeiter 
leistet  heute  in  50  Stunden  dieselbe  Arbeit,  welche  er  vor 
20  Jahren  in  60  Stunden  leistete.  Entsprach  damals  der 
Factory  Act  mit  seiner  Maximalzeit  von  60  Stunden,  so 
zwinge  der  heutige  Stand  der  technischen  Entwicklung  zu 
einem  Achtstundengesetz. 


Der  Berliner  Töpferstrike. 

Der  vor  Kurzem  trotz  der  Ungunst  der  allgemeinen  Wirth- 
schaftslage  seitens  der  Arbeiter  in  der  Töpferei  erfolgreich  durch- 
gekämpfte Töpferstrike  musste  schon  des  Streitobjektes  wegen 
aas  Interesse  des  Sozialpolitikers  auf  sich  lenken.  Handelte  es 
sich  doch  bei  ihm  nicht  um  eine  Lohnerhöhung  oder  eine  Ar- 
beitszeitverkürzung oder  um  einen  der  sonst  häufigen  Anlässe 
zu  Arbeitseinstellungen,  sondern  um  hygienische  Anforderungen 
an  die  Arbeitsstätten. 

Schon  seit  Jahren  ist  es  das  Bestreben  der  organisirten 
Berliner  Töpfer,  eineiVMissstancl  zu  beseitigen,  der  ihre  Gesund- 
heit in  ganz  bedeutender  Weise  schädigt.  Sie  verlangen  von 
den  Bauunternehmern,  dass  sie  die  Fenster  in  den  Neubauten, 
in  denen  die  Töpfer  oeschäftigt  werden,  verglasen  lassen.  Wenn 
man  berücksichtigt,  dass  die  Bauten,  in  denen  mit  dem  Setzen 
der  Oefen  begonnen  wird,  soweit  fertig  gestellt  sind,  dass  das 
Einsetzen  der  Fensterscheiben  ohne  weitere  Umstände  vor  sich 
gehen  kann,  so  wird  man  zugeben  müssen,  dass  der  Durchfüh- 
rung keinerlei  Schwierigkeiten  im  Wege  stehen.  Da  kurze  Zeit 
nach  Beginn  der  Töpferarbeiten  in  den  Neubauten  doch  die 
Fenster  verglast  werden  müssen,  so  entsteht  dem  Bauunter- 
nehmer durch  früheres  Einsetzen  der  Scheiben  höchstens  da- 
durch eine  Ausgabe,  dass  bei  der  Arbeitsthätigkeit  im  Bau  einige 
Scheiben  zerbrochen  werden  können  Und  deswegen  werden 
die  im  Bau  beschäftigten  Arbeiter,  wie  Maler,  Stuckateure  und 
Töpfer,  der  Zugluft  mit  ihren  verderblichen  Folgen  ausgesetzt. 
Die  Arbeiter  obiger  Berufe  können  sich  bei  ihrer  Thätigkeit 
keine  Bewegung  verschaffen,  welche  die  erstarrten  Glieder  wie- 
der erwärmt.  Gelenkrheumatismus  und  Luftröhren-  und  Lungen- 
katarrhe sind  Krankheiten,  welche  diese  Arbeiter  heimsuchen, 
und  nur  deshalb,  weil  der  Unternehmer  sich  scheut,  die  Kosten 
für  einige  etwa  zerbrochene  Scheiben  zu  tragen.  In  anerkennens- 
werther  Weise  haben  die  Berliner  Töpfer  den  Kampf  aufge- 
nommen, um  diesen  Missstand  zu  beseitigen.  Schon  im  Jahre 
1890  wurde  in  diesem  Gewerbe  ein  Strike  aus  diesem  Grunde 
in  Szene  gesetzt  und  mit  theilweisem  Erfolg  auch  durchgeführt. 
In  dem  Jahre  1891  schlossen  sich  den  Töpfern  in  ihrem  Vorgehen 
auch  die  Maler  und  Stuckateure,  an.  Während  die  letzteren  aber 
nur  theilweise  Erfolg  mit  der  Bewegung  hatten,  kamen  die 
Töpfer  mit  ihrer  Forderung  ein  erhebliches  Stück  vorwärts.  Sie 
besitzen  eine  gute  Organisation,  während  die  der  Stuckateure 
der  genügenden  Festigkeit  entbehrte.  Die  im  Herbst  1891  herr- 
schende gelinde  Witterung  Hess  es  den  Bauunternehmern  über- 
flüssig erscheinen,  die  Fenster  verglasen  zu  lassen,  während  die 
Töpfer  daran  festhielten,  dass  dieses  von  einem  bestimmten 
Termin  ab  erfolgen  soll.  Von  der  Mitte  des  Oktober  an  bis  zum 
1.  April  sollen  ehe  Töpfer  nur  in  den  Bauten  die  Arbeit  verrich- 
ten, in  denen  die  Fenster  verglast  sind.  In  diesem  Jahre  hatten 
sie  den  Kampf  auf’s  neue  aufgenommen,  führen  ihn  jedoch  allein, 
da  Maler  und  Stuckateure  sich  nicht  daran  aktiv  betheiligen, 
dagegen  dem  Vorgehen  der  Töpfer  die  weitgehenste  Unter- 
stützung zugesagt  haben. 

Eine  andere  Einrichtung  mit  eben  so  verderblichen  Folgen 
wie  das  Arbeiten  in  offenen  Bauten  wird  gleichfalls  von  den 
Arbeitern  im  Baugewerbe  zu  beseitigen  versucht.  Es  ist  die 
Praxis  der  Bauunternehmer,  zum  Austrocknen  der  Räume  Koaks- 
feuer  in  offenen  Körben  aufzustellen.  In  diesen  Räumen,  welche 
mit  den  dem  brennenden  Koaks  entströmenden  giftigen  Gasen 
erfüllt  sind,  müssen  dann  Maler,  Töpfer  und  Stuckateure  ihre 
Arbeit  verrichten.  Man  hat  schon  seit  Jahren  polizeiliche  Vor- 
schriften erlassen,  durch  welche  der  Gefahr  der  Vergiftung 
durch  Kohlenoxydgas  vorgebeugt  werden  soll.  Dieser  Vergif- 
tungsgefahr sind  aber  die  Arbeiter,  welche  in  solchen  Räumen 
beschäftigt  werden,  in  erheblichem  Masse  ausgesetzt.  Eine  grosse 
Zahl  von  Erkrankungen  ist  unter  diesen  Arbeitern  in  Folge  der 
Einathmung  der  giftigen  Dünste  entstanden.  Es  sind  sogar  Fälle 
vorgekommen,  dass  Arbeiter  an  der  Arbeitsstelle  bewusstlos  zu- 
sammenbrachen. Mit  Recht  fordern  daher  die  unter  diesem 
Missstand  Leidenden,  dass  die  Bauunternehmer  angewiesen  wer- 
den, zum  Austrocknen  der  Räume  Oefen  einzustellen  die  ge- 
schlossen sind  und  ein  Abzugsrohr  für  die  Dämpfe  und  Gase 
haben.  Aber  auch  hier  musste  erst  die  Arbeiterorganisation  ein- 
treten,  ehe  Schritte  unternommen  wurden,  diesen  offenbaren 
Missstand  zu  beseitigen. 

Das  Kartell  der  Berliner  Bauarbeiter  wandte  sich  in  einer 
Eingabe  an  das  Polizeipräsidium  in  Berlin,  um  die  Aufstellung 
von  Koakskörben  von  dieser  Stelle  aus  verbieten  zu  lassen.  Der 
Polizeipräsident  zeigte  sich  entgegenkommend  und  forderte  den 
Ausschuss  des  Kartells  auf,  Beweismaterial  bezüglich  der  Schäd- 
lichkeit dieser  Koaksfeuer  zu  bringen.  Die  betheiligten  Ge- 
werkschaften brachten  dieses  Beweismaterial  auch  in  kurzer 
Zeit  in  ausgiebigstem  Maasse  zusammen  und  unterbreiteten 
es  dem  Polizeipräsidium  in  einer  Denkschrift.  Der  Polizeipräsi- 
dent erliess  hierauf  eine  Verfügung,  nach  welcher  das  Arbeiten 
in  Räumen,  in  welchem  offeneDvoaksfeuer  aufgestellt  sind,  ver- 
boten wurde.  Der  Leitung  des  Kartells  der  Berliner  Bauhand- 
werker gab  er  auf  die  Eingabe  folgenden  Bescheid: 

„Den  Ausführungs- Ausschuss  benachrichtige  ich  unter 
Bezugnahme  auf  Ihre  diesbezüglichen  Vorstellungen  ergebenst, 
wie  ich  seit  einiger  Zeit  angeordnet  habe,  dass  in  die  Bau- 
scheine die  Bestimmung  aufgenommen  wird,  dass  in  den  Räumen, 
welche  mit  Koakskörben  zum  Austrocknen  der  Wände  etc.  be- 
setzt sind,  nicht  gearbeitet  werden  darf,  dass  die  Thüren  der- 


130 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  11. 


artiger  Räume  geschlossen  gehalten,  bezw.  die  Thüröffnungen 
durch  dichte  Bretterverschläge  abgeschlossen  werden  müssen 
und  der  Zutritt  zu  diesen  Räumen  nur  den  die  Koakskörbe  Be- 
aufsichtigenden gestattet  ist.“ 

Nicht  nur  in  Berlin,  auch  in  Hamburg  - Altona  und  Um- 
gebung wurde  in  diesem  Jahre  die  Frage  der  sanitären  Be- 
schaffenheit der  Arbeitslokale  der  Töpfer  Gegenstand  des 
Streites.  Die  Lohnkommission  der  Hamburger  Töpfer  veröffent- 
lichte Ende  Oktober  folgenden  Aufruf: 

„Eine  der  wichtigsten  Bestimmungen  unseres  Lohntarifs 
ist  es,  dass  vom  15.  Oktober  bis  Ende  April  jeder  Bau,  in  dem 
noch  gearbeitet  werden  soll,  verglast  resp.  so  dicht  sein  soll, 
dass  die  Arbeitenden  nicht  der  Zugluft  ausgesetzt  sind.  Der 
15.  Oktober  steht  vor  der  Thiire.  Die  Unterzeichnete  Kommission 
hält  es  deshalb  für  Pflicht,  Euch  aufzufordern,  dass  Ihr  für 
Aufrechterhaltung  des  Tarifs  Sorge  tragt.  Einestheils  ist  Lässig- 
keit der  Herren  Meister  und  Bauherren,  anderenteils  unsere 
eigene  Lässigkeit  schuld,  wenn  der  erwähnten  Bestimmung, 
welche  unsere  Gesundheit  schützen  soll,  nicht  Rechnung  ge- 
tragen wird.  Erkältung,  entstanden  durch  Zugluft,  kann  die 
schlimmsten  Krankheiten  erzeugen  . . . .“ 

Dass  eine  so  elementare  Frage  der  Arbeiterhygiene  wie 
das  Streitobjekt  der  Berliner  Töpferstrikes  überhaupt  noch  zum 
Kampfe  führen  musste,  ist  ein  ebenso  charakteristisches  wie 
betrübendes  Zeugniss  für  den  Stand  unserer  Arbeiterschutz- 
gesetzgebung und  für  das  Unternehmerthum,  das  seine  Pflichten 
für  hygienisch  befriedigende  Arbeitsstätten  zu  sorgen,  vernach- 
lässigt. Selbst  das  Organ  der  Unternehmer  „Die  Deutsche 
Töpferzeitung“  erklärte  die  Forderungen  der  Gehilfen  für  vollauf 
berechtigt. 

Mit  Rücksicht  auf  die  verringerte  Bauthätigkeit  und  die 
zahlreichen  Arbeitslosen,  schien  die  Inscenirung  eines  Strikes 
ein  sehr  gewagtes  Spiel.  Dass  dasselbe  gewonnen  wurde,  ver- 
danken die  Töpfer  ihrem  festen  Zusammenhalten.  Am  21.  Oktober 
strikten  ca.  120  Gehilfen  mehr  als  im  Jahre  1891.  Am  28.  Ok- 
tober waren  gegen  200  Gehilfen  mehr  als  im  Vorjahre  am  Strike 
betheiligt. 

Von  der  Proklamirung  des  Strikes  am  19.  Oktober  an  bis 
zum  21.  Oktober  hatten  sich  490  Töpfer  mit  669  Kinder  als 
Strikende  angemeldet.  Am  28.  Oktober  wurden  541  Strikende 
mit  718  Kindern  gezählt. 

Bezüglich  der  Unterstützung  wurde  beschlossen: 

1.  Diejenigen  Töpfer  (Hilfsarbeiter  mit  einbegriffen),  welche 
sich  bis  Mittwoch  der  betr  Woche  als  Strikende  gemeldet  und 
nachweislich  nicht  gearbeitet  haben,  erhalten  15  M.  und 
für  jedes  Kind  unter  14  Jahren  1 M.  pro  Woche  Unterstützung. 

2.  Diejenigen,  welche  sich  vom  Donnerstag  dieser  Woche 
ab  als  Strikende  gemeldet  haben,  erhalten  pro  Tag  2,50  M.  und 
für  jedes  Kind  unter  14  Jahren  für  diese  Zeit  1 M Unter- 
stützung. 

Beschlossen  wurde  ferner,  dass  die  Arbeitenden  vom  22.  Ok- 
tober ab  zur  Unterstützung  der  Strikenden  lOpCt.  ihres  Arbeits- 
verdienstes abzuführen  haben. 

Im  Ganzen  hatte  der  „Fensterstrike“  26  821  M.  30  Pf.  ge- 
kostet, wenn  man  auch  den  durch  die  Arbeitseinstellung  ent- 
standenen Ausfall  an  Arbeitsverdienst  hinzurechnet,  an  direkten 
Unterstützungsgeldern  wurden  5518  M.  50  Pf.  und  an  Verwaltungs- 
kosten  377  M.  50  Pf.  bezahlt. 

Nach  fast  einmonatlicher  Dauer  endete  die  Arbeitseinstellung 
mit  dem  vollständigen  Siege  der  Gehilfen 

Leider  ist  aber  damit  die  Streitfrage  nur  für  dieses  Jahr 
erledigt  Vielleicht  entschliessen  sich  die  Töpfer  noch,  so  wie 
es  demnächst  in  Bezug  auf  die  offenen  Koakskörbe  geschehen 
soll,  in  einer  Eingabe  an  den  Bundesrath  auf  die  hygienischen 
Gefahren  ihres  Erwerbes  aufmerksam  zu  machen  und  damit 
eine  gesetzliche  Regelung  dieses  Verhältniss  anzubahnen. 


Eine  Arbeiteraussperrung  im  englischen  Schiffsbau  in 
Sicht.  Die  Assoziation  der  Stahlplattenfabrikanten  hat  be- 
schlossen , ihre  Arbeiter  zu  benachrichtigen  , dass  eine 
lOprozentige  Reduktion  der  Löhne  vorgenommen  werden 
soll.  Der  Schiffbau  liege  arg  darnieder , Aufträge  seien 
schwer  zu  bekommen  und  die  zu  erzielenden  Preise  ausser- 
ordentlich niedrig.  Die  Nachricht  an  die  Arbeiter  soll  am 

3.  Dezember  ausgegeben  werden,  und  wenn  sie  sich  dem 
Vorschläge  nicht  fügen,  so  haben  die  Stahlplattenfabrikan- 
ten beschlossen  die  Arbeiter  in  ganz  England  auszusperren. 
Die  Antwort  der  Arbeiter  ist  noch  nicht  bekannt. 


Handwerkerfragen. 

Die  Frage  der  Gewerbekammern  vor  dem  Reichstage. 

In  der  Sitzung  vom  6.  Dezember  kam  die  Interpellation 
des  Abgeordneten  Hitze  zur  Verlesung,  welche  Aufschluss 
über  die  Pläne  der  Regierung  bezüglich  der  Organisation 


des  Kleingewerbes  begehrte.  Aus  der  Antwort  Herrn  von 
Boetticher’s  ergiebt  sich,  was  wir  selbst  bei  Besprechung 
dieser  Streitfrage  vermutheten  (vergl.  Sozialpolitisches 
Centralblatt  I.  Jahrg.  No.  37),  dass  die  Regierung  noch  weit 
davon  entfernt  ist,  über  ein  klar  ausgebildetes  Reformprojekt 
zu  verfügen,  welches  zur  Vorlage  an  das  Parlament  reif 
ist.  Dagegen  lässt  sich  aus  seiner  Rede  entnehmen,  dass 
wenigstens  das  preussische  Handelsministerium  sich  über 
gewisse  Grundzüge  einig  ist,  welche  denn  auch  auseinander- 
gesetzt wurden.  Danach  scheint  eine  Organisation  nur  für 
das  Handwerk  geplant,  während  die  früheren  Mittheilungen 
von  offiziöser  Seite  den  Kleinhandel  mit  einbegreifen 
wollten.  Dem  entsprechend  ist  auch  jetzt  von  den  Re- 
gierungsvertretern die  neue  Organisation  als  „Hand- 
werkerkammer“ bezeichnet  worden.  Das  muss  ent- 
schieden als  ein  Fortschritt,  eine  höchst  nothwendige 
Klärung  in  der  Anschauung  gedeutet  werden.  Der  Minister 
liess  dabei  die  schwierige  Frage  der  Abgrenzung  des  Hand- 
werks von  verwandten  Berufszweigen  offen  und  gab  an, 
man  werde  wahrscheinlich  zu  einer  „mechanischen  Ab- 
grenzung wie  bei  der  Unfallversicherungsgesetzgebung 
gelangen“.  Dass  eine  erschöpfende  Realdefinition  des 
Handwerks  nicht  in  einem  Gesetze  — wenn  überhaupt  — 
gegeben  werden  kann,  ist  einleuchtend.  Dunkel  bleibt 
freilich  für  uns,  was  die  Bezugnahme  auf  die  Unfall- 
versicherung besagen  soll.  Bei  dem  jetzigen  Stande  der 
gewerblichen  Technik  kann  dieser  Schwierigkeit  u.  E.  nur 
dadurch  einigermassen  begegnet  werden,  dass  neben  thun- 
lichst  vollkommener  Aufzählung  der  in  die  Organisation 
einzubeziehenden  Berufszweige  auf  die  äusserlichen  Momente 
die  Anwendung  von  Motoren,  die  Arbeiterzahl,  die  Steuer- 
leistung namentlich  soweit  besondere  Gewerbesteuern 
bestehen  — Bezug  genommen  wird.  Am  sichersten  würde 
allen  Klagen  und  Beschwerden  über  mangelnde  Vertretung 
abgeholfen  werden,  wenn  die  nicht  in  den  „Handwerker- 
kammern organisirten  Betriebe  ebenfalls  eine  gesonderte  , 
1 Vertretung  erhielten  und  im  Zweifelsfalle  den  Betreffenden 
ein  Optionsrecht  eingeräumt  würde. 

Bezüglich  der  nicht  minder  komplizirten  Frage,  in  < 
welcher  Weise  die  Innungen  in  die  neuen  Kammern  ein-  ■ 
gegliedert  werden  sollten,  gab  der  Minister  nur  seinem 
Wohlwollen  für  erstere  Ausdruck,  hielt  eine  Lösung  für 
möglich,  über  deren  Einzelheiten  er  sich  jedoch  nicht  näher 
ausliess.  Wir  sind  der  unmassgeblichen  Ansicht,  dass  die 
Zünftler  jedenfalls  niemals  in  diesem  Rahmen  vollständig  . 
befriedigt  werden  können.  Weiter  wiederholen  wir  unsern 
früheren  Satz,  den  die  Geschichte  auf  jedem  Blatte  be-  ! 
stätigt,  dass  diese  fest  organisirte  Minderheit  stets  die 
Wahlen  beherrschen  wird.  Endlich  wird  u E.  in  letzter 
Instanz  Alles  davon  allhängen,  was  die  Organisationen  j 
leisten  werden.  Kommt  ihren  Kommittenten  deutlich  zum 
Bewusstsein,  dass  hier  ihre  Wünsche  und  Anregungen  ent- 
gegengenommen, hochgeneigt  diskutirt  und  schnell  an  die  zu- 
ständigen Behörden  übermittelt  werden,  so  ist  es  allerdings 
nur  eine  Frage  der  Zeit,  wie  lange  das  ohnehin  morsche 
Innungswesen  diese  überlegene  Konkurrenz  aushalten  dürfte. 

Es  müsste  sich  denn  auf  neue  Gebiete  werfen,  oder  aut 
den  bisher  beackerten  Besseres  zeitigen,  als  dies  bislang 
zu  beobachten  war.  Dass  war  eine  solche  Gestaltung  nicht 
beklagen  würden,  geht  schon  aus  diesen  Andeutungen 
hervor  und  wollen  wir  gleich  hinzufugen,  dass  wfir  über- 
haupt eine  besondere  Berücksichtigung  der  Innungen  bei 
der  Neuformation  in  keiner  Weise  für  nothwendig  erachten. 
Auch  wir  wollen  hier  wie  auf  anderen  Gebieten  an  das 
Bestehende  anknüpfen,  aber  nur  unter  der  Bedingung,  dass 
das  Bestehende  lebens-  und  entwicklungsfähig  ist.  Das 
trifft  für  die  Innungen  nun  durchaus  nicht  zu,  wie  in  diesem 
Blatte  mehrfach  dargethan  ist. 

Herr  von  Boetticher  betonte  weiter,  dass  die  „Hand- 
werkerkammern“ territorial  abgegrenzt  werden  sollen  und 
ihnen  zwei  Reihen  von  Kompetenzen  zugewiesen  werden. 
Einmal  obligatorische,  betreffend  die  Erstattung  von 
Gutachten  über  gewerbliche  Fragen,  Berichterstattung  über 
die  Lage  des  Handwerks,  Aufsicht  über  die  Durchführung 
der  für  die  Ausbildung  und  für  die  Behandlung  der  Lehrlinge 
erlassenen  Vorschriften.  Durch  besonderes  (Gesetz  sollen 
die  Kammern  die  Befugniss  erhalten  zur  Mitwirkung  an  der 
Ueberwachung  der  Arbeiterschutzbestimmungen  der  Ge- 
werbeordnung. Dieser  letzteren  Befugniss  müssen  wir,  wie 
bereits  in  dem  darüber  angezogenen  Aufsätze,  auf  das  Ent- 
schiedenste entgegentreten.  Was  heisst  denn  das  „Mit- 
wirkung“? Entweder  steht  eine  solche  biosaut  dem  Papier 
und  schafft  höchstens  ärgerliche  Kompetenzkonflikte  mit 


No.  II. 


SOCIALPOL1T1SCHKS  CENTRALDLATT. 


131 


den  anderen  Aufsichtsbehörden,  die  ohnehin  schon  beengt 
sind.  Oder,  was  freilich  wahrscheinlicher  ist,  diese  „Mit- 
wirkung“ wird  faktisch  zur  Aufsicht,  dann  ist,  um  einen 
derben  aber  passenden  volksthümlichen  Ausdruck  anzu- 
wenden, „der  Bock  zum  Ziergärtner  gemacht“!  Wie  wäre 
es,  wenn  man  den  Grossindustriellen  auch  eine  „Mitwirkung“ 
bezüglich  der  Aufsicht  über  die  Arbeiterschutzbestimmungen 
einräumte?  Und  dabei  sind  anerkanntermassen  in  Fabriken 
die  Missstände  lange  nicht  so  grelle,  schon  weil  sie  hier 
offener  zu  Tage  treten  und  die  Arbeiterschaft  fester  orga- 
nisirt  ist.  Wie  sich  die  Innungen  selbst  zu  dieser  Frage 
stellen,  geht  aus  einer  Aeusserung  ihres  Generalsekretärs, 
Herrn  Dr.  Schulz  auf  dem  letzten  Handwerkertage  in  Berlin 
(1892)  hervor  Danach  ')  hatte  man  sich  in  Zünftlerkreisen 
unter  einer  solchen  Kammer  eine  Behörde  vorgestellt, 
welche  an  Stelle  der  jetzigen  Beaufsichtigung  durch  die 
Gemeinden  und  Magistrate  zu  treten  habe.  Das  sei  die 
„Selbstverwaltung“  des  Handwerks!  Man  sieht,  dass  sich 
die  Auffassung  der  Regierung  diesem  hochbedenklichen 
Postulat  bereits  sehr  genähert  hat! 

Zu  den  sonstigen  obligatorischen  Befugnissen  ist  nur 
zu  bemerken,  dass  sie  ein  wenig  zu  allgemeiner  Natur  sind. 
Allerdings  ist  das  schwer  vermeidlich  und  für  den  Beginn 
der  Thätigkeit  einer  Neuorganisation  auch  unbedenklich, 
später  wird  man  freilich  zu  grösserer  Spezialisirung  schreiten 
müssen,  wenn  anders  die  Kammern  wirkliches  Interesse  bei 
den  Vertretenen  finden  sollen,  worauf  schliesslich  doch  Alles 
ankommt. 

Dazu  werden  dann  die  jetzt  geplanten  fakultativen 
Befugnisse  der  Kammern  dienen  müssen.  Herr  von  Boetticher 
bezeichnete  als  solche:  „Sie  sollen  Veranstaltungen  zur  För- 
derung der  gewerblichen,  technischen  und  sittlichen  Aus- 
bildung der  Gehilfen  und  Lehrlinge  treffen,  für  gewisse 
Gewerbegruppen  Prüfungsausschüsse  bilden  dürfen,  von 
welchen  die  Lehrlinge  geprüft  werden  und  Zeugnisse  er- 
halten. Sie  sollen  Vorschriften  erlassen  über  das  Verhalten 
der  Lehrlinge,  Art  und  Gang  ihrer  Ausbildung,  Verwendung 
von  Lehrlingen  ausserhalb  des  Gewerbes,  Besuch  der  Fach- 
und  Fortbildungsschulen,  soweit  dieser  nicht  durch  Gesetz 
oder  Statut  geregelt  wird,  Anmeldung  der  Gesellen,  Ge- 
hilfen, Lehrlinge  und  Arbeiter.“ 

An  anderer  Stelle  der  Rede  wird  hinzugefügt,  es  solle 
— ob  durch  oder  eventuell  gegen  die  Kammern  bleibt  un- 
klar — das  Lehrlingswesen  gesetzlich  geregelt  werden, 
Also  kommen  in  Betracht  die  Berechtigung  des  Haltens 
von  Lehrlingen,  und  unter  welchen  Bedingungen  diese  zu 
entziehen  sei,  Länge  der  Lehrzeit,  Massnahmen  gegen  die 
Lehrlingszüchterei  eventuell  durch  Festsetzung  einer  Ver- 
hältnissziffer  zwischen  Gesellen  und  Lehrlingen.  Es  ist  sehr 
wünschenswerth,  dass  diese  wichtigen  Fragen  in  Fluss 
kommen  und  die  Bedeutung  des  Lehrhngswesens  kann  nicht 
hoch  genug  veranschlagt  werden.  Eine  objektive  Kritik 
wird  erst  dann  Stellung  dazu  nehmen  können,  sobald  die 
bezüglichen  Vorlagen  bekannt  gegeben  sind.  Aber  mit 
der  Organisationsfrage  als  solcher  stehen  diese  Materien 
doch  nur  in  losem  Zusammenhang  und  es  ist  nicht  einzu- 
sehen, warum  jene  warten  sollen,  bis  diese  Gesetzeskraft 
erlangen.  Wir  möchten  im  Gegentheil  befürworten,  über 
diese  höchst  schwierigen  und  m das  Leben  der  gewerb- 
lichen Produktion  tief  eingreifenden  Fragen  erst  die  Gut- 
achten eben  der  neuen  Kammern  abzuwarten  und  als 
Ergänzung  und  Korrektur  derselben  eine  Enquete  mit 
Befragung  der  Arbeiter  und  Anderer  zu  veranstalten. 
Denn  die  Arbeiter  im  Handwerke  kommen  jedenfalls  bei 
dieser  Neuorganisation  schlecht  weg,  wenigstens  ist  Gefahr 
vorhanden,  dass  ihnen  eine  feste  Interessenorganisation  der 
Meister  mehr  schaden  könnte  als  alle  geplanten  Massregeln 
zum  Arbeiterschutz  und  gegen  Lehrhngsausbeutung  wett 
zu  machen  vermöchten.  Bezeichnender  Weise  beobachtete 
in  der  Debatte  der  Herr  Handelsminister  auf  eine  direkte 
Provokation  von  sozialdemokratischer  Seite  vollständiges 
Stillschweigen  hinsichtlich  der  Vertretung  der  Arbeiter- 
schaft. Wir  stehen  nun  auf  dem  Standpunkte,  dass  wir 
letztere  für  durchaus  nothwendig  und  für  die  brennendste 
Frage  der  nächsten  Zukunft  halten  — übrigens  nicht  blos 
auf  kleingewerblichem  Gebiete.  Allein  ebenso  entschieden 
müssen  wir  unsere  Ansicht  betonen,  welche  hier  freilich 
nicht  tiefer  begründet  werden  kann,  dass  die  Organisation 
der  Handwerksgehilfen  vorerst  noch  nicht  in  Angriff  ge- 
nommen werden  kann,  so  lange  die  bezüglichen  Unter- 
nehmer noch  nicht  organisirt  sind.  Hier  gilt  das  Wort 

*)  Vergl.  Protokoll  über  die  Verhandlungen  S.  96. 


Franklin’s  „Die  Zeit  bestätigt  Nichts,  was  ohne  sie  gemacht 
wird.“  Organisation  aus  dem  Boden  zu  stampfen  ist  ein 
unmögliches  Beginnen  und  der  Gang  der  Entwickelung  in 
jeder  Zeit  und  in  jedem  Lande  hat  diese  alte  Lehre 
bestätigt. 

Diese  Stellungnahme  hindert  jedoch  nicht,  dass  wir 
gewisse  vorbereitende  Massnahmen  zum  Schutze  und  zur 
Vertretung  der  Arbeiter  im  Kleingewerbe  für  erforderlich 
halten.  Es  gehörte  dazu  vor  Allem  eine  reichsgesetzliche 
Regelung  des  Versammlungs-  und  Vereinsrechtes  mit 
stärkeren  Garantien  gegen  die  Angriffe  auf  dessen  Freiheit. 
Das  kann  in  diesem  Rahmen  nicht  erörtert  werden,  ebenso- 
wenig andere  Vorschläge  verwandter  Art. 

Wichtiger  noch  als  das,  was  die  Regierung  durch  den 
Mund  ihrer  Vertreter  gesagt  hat,  ist  das,  was  sie  ver- 
schwieg. Von  einer  obligatorischen  Verpflichtung  der 
Regierung,  diese  Kammern  vor  den  bezüglichen  Gesetz- 
entwürfen und  Verwaltungsakten  gutachtlich  zu  hören,  ist 
wiederum  keine  Rede.  Hierin  scheint  das  bureaukratische 
Misstrauen  unüberwindlich  zu  sein.  Ob  diese  Kammern  in 
den  Behördenmechanismus  eingefügt  werden  und  in  welcher 
Weise  dies  geschehen  soll,  liess  man  ebenfalls  im  Dunkeln 
und  es  ist  zu  befürchten,  dass  diese  hochwichtige  Seite  der 
Sache  gar  nicht  im  definitiven  Gesetzentwürfe  zu  lösen  ge- 
sucht wird.  Doch  entspricht  es  nicht  einem  objektiven 
Urtheil,  die  kritische  Sonde  tiefer  einzusetzen  , so  lange 
der  gesammte  Entwurf  nicht  vorliegt. 

Ueber  die  Stellungnahme  des  Reichstags  ist  wenig  zu 
berichten.  Die  Debatte  ging  mehr  in  die  Breite  als  in  die 
Tiefe  und  neben  parteipolitischen  Erörterungen  spielte  das 
Moment  der  Zukunft  des  Handwerks  die  Hauptrolle. 
Beachtenswerth  ist  die  Auslassung  des  Centrumsabgeord- 
neten Metzner,  der  sich  mit  den  Handwerkerkammern  ein- 
verstanden erklärte,  wenn  daneben  die  Innungen  bestehen 
bleiben.  Das  deutet  vielleicht  auf  eine  Schwenkung  im 
zünftlerischen  Lager  hin;  denn  derselbe  Redner  lehnte  in 
der  Debatte  vom  24.  November  vorigen  Jahres  und  später 
auf  dem  Innungstage  die  Grundgedanken  dieser  Organi- 
sation gänzlich  ab.  Auch  ein  anderer  Vertreter  des 
Centrums  wollte  herausgefunden  haben,  dass  die  Hand- 
werkerkammern den  Einfluss  der  Innungen  nicht  zurück- 
drängen würden.  Endlich  sind  einige  Ausführungen  der 
sozialdemokratischen  Redner  über  den  Beruf  der  Innungen 
auf  dem  Gebiete  des  Lehrlingswesens  interessant,  jedoch 
für  die  hier  zur  Prüfung  stehende  Frage  belanglos. 

Eine  eigentliche  Klärung  konnte  wegen  des  Mangels 
thatsächlicher  Unterlagen  von  dieser  Diskussion  nicht  er- 
wartet werden.  Allein  so  viel  wird  die  Regierung  heraus- 
gefühlt haben,  dass  die  Lösung  der  Organisationsirage  des 
Handwerks  ein  dringendes  Bedürfniss  ist,  hinter  dem  andere 
zurücktreten  könnten. 

Berlin.  Rudolf  Grätzer. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Sonntagsruhe  in  Staatsbetrieben.  Das  Organ  der 
Sozialdemokratie  in  Schlesien,  die  „Volkswacht“,  ist  in  der 
Lage,  folgende  amtliche  Bekanntmachung  zu  veröffentlichen. 

„Im  Verfolg  der  Verfügung  des  königlichen  Eisenbahn- 
betriebsamtes Brieg-Lissa  vom  9.  November  1877  c 17  926  b,  und 
vom  26  März  1888  CI  1461  fb,  wird  hierdurch  Folgendes  bestimmt: 
Sobald  das  Lhnräumen  von  Kohle,  von  einem  Lokomotivtender 
auf  einen  anderen,  oder  das  Abladen  von  Betriebskohle,  oder 
von  Koaks  erforderlich  wird,  sollen  von  jetzt  ab  diese  Arbeiten 
nach  Schluss  der  Arbeitszeit  von  denjenigen  Maschinenputzern 
ausgeführt  werden,  welchen  am  Sonntage  vorher  freier  Sonn- 
tag, unter  Gewährung  ihres  Tagelohnes,  bewilligt  worden  war. 

Nach  den  vorstehenden  Verfügungen  soll  nur  denjenigen 
Maschinenputzern  monatlich  ein  freier  Sonntag  oder  Feiertag 
bewilligt  werden,  welche  im  Tagelohne  arbeiten  und  welche 
zeitweise  zu  Lieberstundenarbeiten  herangezogen  werden  müssen, 
ohne  dass  denselben  die  U eberstunden  in  Rechnung  gestellt 
werden,  was  überhaupt  nicht  geschehen  darf. 

Breslau,  den  17.  November  1892. 

Die  Betriebswerkstätte. 

B.  W.  6770.  (Name  unleserlich.) 

Wenn  man  auch  auf  die  Ausführungsbestimmungen, 
betreffend  der  Sonntagsruhe  im  Gewerbe  noch  immer 
harren  muss,  so  ist  doch  unzweifelhaft  der  aus  der  alten 


132 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  1 1 . 


Fassung  der  Gewerbeordnung  übernommene  § 105  a voll- 
ständig in  Kraft.  Von  der  königlichen  Betriebswerkstätte 
in  Breslau  sollte  angenommen  werden  können,  dass  ihr  der 
Inhalt  dieser  Paragraphen,  wonach  zu  Arbeiten  an  Sonn- 
und  Festtagen  Arbeiter  nicht  verpflichtet  werden  können, 
bekannt  sei.  In  dem  vorstehenden  Erlass  handelt  es  sich 
allerdings  nicht  um  einen  direkten,  aber  doch  um  einen 
indirekten  Zwang  zur  Sonntagsarbeit. 


Kaufmännische  Bewegung. 


Gesetzliche  Kündigungsfristen  für  Handlungsgehilfen.  Die 

Abgg:  Goldschmidt  und  Dr.  Hirsch  haben  mit  Unterstützung  der 
deutsch-freisinnigen  Partei  im  Reichstage  den  Antrag  wieder  ein- 
gebracht, den  Art.  61  des  Allgemeinen  Deutschen  Handelsgesetz- 
buches in  nachstehender  Weise  zu  ändern:  Das  Dienstverhält- 
niss  zwischen  dem  Prinzipal  und  dem  Handlungsdiener  kann  von 
jedem  Theile  mit  Ablauf  eines  jeden  Kalendervierteljahres  nach 
vorgängiger  sechswöchentlicher  Kündigung  aufgehoben  werden 
Ist  durch  Vertrag  eine  kürzere  oder  längere  Zeitdauer  oder  eine 
kürzere  oder  längere  Kündigungsfrist  bedungen,  so  müssen  sie 
für  beide  Theile  gleich  sein.  Vereinbarungen,  welche  dieser 
Bestimmung  zuwiderlaufen,  sind  nichtig. 

Beim  Abgänge  können  die  Handlungsgehilfen  ein  Zeugniss 
über  die  Art  und  Dauer  ihrer  Beschäftigung  fordern. 

Dieses  Zeugniss  ist  aut  Verlangen  der  Handlungsgehilfen 
auch  auf  ihre  Führung  und  ihre  Leistungen  auszudehnen. 

In  Betreff  der  Handlungslehrlinge  ist  die  Dauer  der  Lehr- 
zeit nach  dem  Lehrvertrage  und  in  Ermangelung  vertrags- 
mässiger  Bestimmungen  nach  den'  örtlichen  Verordnungen  oder 
dem  Ortsgebrauche  zu  beurtheilen. 


Arbeiterversicherung. 


Lohnstatistik  und  Unfallversicherung. 

Dr.  Georg  von  Mayrs  Aufsatz  „Arbeiterversicherung 
und  Sozialstatistik“  in  Xo.  9 dieser  Zeitschrift  enthält 
einige  Ausführungen  über  die  Lohnstatistik  der  Berufs- 
genossenschaften , die  nicht  unwiderlegt  bleiben  dürfen. 
Nach  § 71  des  Unfallversicherungsgesetzes  hat  jedes  Mit- 
glied einer  Berufsgenossenschaft  dem  Vorstande  jährlich 
eine  Nachweisung  einzureichen,  welche  „die  während  des 
abgelaufenen  Rechnungsjahres  im  Betriebe  versicherten  Per- 
sonen und  die  von  denselben  verdienten  Löhne  und  Ge- 
hälter“ enthält.  Dr.  von  Mayr  meint  nun,  diese  Bestimmung 
sei  so  zu  verstehen,  dass  Einzelangaben  für  jeden  Arbeiter 
gemacht  werden  müssten ; eine  nähere  Begründung  dieser 
Auslegung  giebt  er  nicht.  Ich  und  mit  mir  viele,  die  mit 
der  Ausführung  der  Unfallversicherungsgesetze  praktisch 
zu  thun  haben,  sind  dem  gegenüber  entschieden  der  Mei- 
nung, dass  dem  Gesetze  vollständig  genügt  wird,  wenn 
jeder  Unternehmer  summarisch  angiebt,  wieviel  Arbeiter 
er  beschäftigt  hat  und  wieviel  er  diesen  an  Lohn  und  Ge- 
hältern gezahlt  hat.  Andernfalls  hätte  im  Gesetz  deutlich 
gefordert  werden  müssen,  dass  Namen,  Arbeitszeit  und  Ar- 
beitsverdienst jeder  einzelnen  Person  anzugeben  seien. 
Dies  ist  indess  nicht  geschehen  und  zwar  aus  sehr  guten 
Gründen.  Wenn  ein  Unternehmer  regelmässig  2 Personen 
beschäftigt  und  während  eines  Jahres  mit  der  Besetzung 
einer  dieser  Stellen  2 mal  mit  der  Besetzung  der  anderen 
6 mal  gewechselt  hat,  so  braucht  er  nicht  für  jede  der  in 
Betracht  kommenden  8 Personen  eine  besondere  Nach- 
weisung zu  geben,  sondern  er  genügt  der  gesetzlichen 
Vorschrift  vollkommen,  wenn  er  angiebt:  2 Personen  mit 
beispielsweise  — 1600  M.  Lohn.  Und  hätte  der  Gesetz- 
geber wirklich  etwas  anders  gewollt,  welchen  sozialstatisti- 
schen  Werth  sollte  es  haben,  zu  erfahren,  dass  A.  bei  dem 
Unternehmer  Z.  während  5 Wochen  75  M.,  B.  während 
8 Wochen  120  M.,  C.  des  Vormittags  2 Wochen  hindurch 
15  M.  u.  s.  w.  verdient  hallen?  Dr.  von  Mayr  denkt  eben 


offenbar  nur  an  industrielle  Grossbetriebe  mit  in  der  Haupt- 
sache ständigem  Arbeiterpersonal  und  übersieht,  dass  es 
Berufsgenossenschaften  giebt,  die  überwiegend  aus  Klein- 
betrieben bestehen,  bei  denen  vielfach  überhaupt  nicht 
einmal  eine  einzige  Person  voll  beschäftigt  wird,  und  bei 
denen  der  Wechsel  der  arbeitenden  Personen  ein  fort- 
währender ist.  Solche  Berufsgenossenschaften  sind  z.  B.  die 
Müllerei-,  Brennerei-,  Fuhrwerks-,  Speditions-,  Speicherei- 
und  Kellerei-Berufsgenossenschaft  u.  A.  m. 

Was  im  Besonderen  die  industriellen  Nebenbetriebe 
der  Landwirthschaft  (Mühlen  , Molkereien , Brennereien, 
Stärkefabriken,  Ziegeleien,  Sägewerke  u.  s.  w.)  anbelangt, 
so  folgen  diese  bekanntlich  hinsichtlich  der  berufsgenossen- 
schaftlichen Zugehörigkeit  nicht  dem  Hauptbetriebe  der 
Landwirthschaft,  sondern  verbleiben  den  Berufsgenossen- 
schaften, zu  denen  sie  ihrer  Natur  nach  gehören.  So  kommt 
es  denn  vor,  dass  ein  Landwirth  mit  seinem  Betriebe,  der 
wirthschaftlich  durchaus  eine  Einheit  bildet,  drei,  vier  oder 
noch  mehreren  Berufgenossenschaften  angehört  — z.  B. 
mit  der  Brennerei : der  Brennerei-Berufsgenossenschaft,  mit 
der  Mühle:  der  Müllerei  - Berufsgenossenschaft , mit  der 
Ziegelei:  der  Ziegelei-Berufsgenossenschaft,  mit  dem  Säge- 
werk: der  zuständigen  Holz-Berufsgenossenschaft  und  ausser- 
dem mit  seinem  Landwirthschaftsbetriebe:  der  Landwirth- 
schaftlichen  Berufsgenossenschaft.  Ein  und  dieselbe  Person 
arbeitet  natürlich  häufig  vormittags  in  der  Mühle,  nach- 
mittags auf  dem  Felde  u.  s.  w.  Ferner  verwendet  der 
Lmternelnner  für  alle  diese  Betriebe  sein  Fuhrwerk:  heute 
Vormittag  wird  etwa  Getreide  zum  Verkaul  nach  der  Stadt 
gefahren,  nachmittags  Spiritus  nach  dem  Bahnhof,  morgen 
Bretter  aus  der  Sägemühle,  übermorgen  Mehl  aus  der  Mahl- 
mühle u.  s.  f.  Die  beim  Fuhrwerk  beschäftigten  Personen 
sind  stets  in  der  Berufsgenossenschaft  versichert,  zu  der 
der  Betrieb  gehört,  für  den  gerade  gefahren  wird.  Dieselbe 
Person  kann  also  an  einem  Tage  — je  nach  ihrer  Thätig- 
keit  in  drei  oder  vier  Berufsgenossenschaften  versichert 
sein.  Wie  sollen  nun  in  solchen  Fällen  die  von  Dr.  von 
Mayr  gewünschten . persönlichen  Lohnnachweisungen  für 
die  einzelnen  in  Frage  kommenden  Berufsgenossenschaften 
ausgeführt  werden?  Praktisch  sind  derartige  Aufstellungen 
einfach  unmöglich,  und  wären  sie  möglich,  so  hätten  sie 
nicht  den  geringsten  .sozialstatistischen  Werth.  Auch  die 
summarischen  Lohnnachweisungen , die  aus  solchen  Be- 
trieben an  die  Berufsgenossenschaften  gehen,  sind  keine 
Nach  Weisungen  im  eigentlichen  Sinne  mehr,  sondern 
nur  noch  mehr  oder  weniger  willkürliche  Schätzungen. 
Giebt  es  doch  sogar  kleine  ländliche  industrielle  Betriebe, 
in  denen  die  gesammte  erwachsene  männliche  Bevölkerung 
ganzer  Dörfer  im  Laufe  einer  Betriebskampagne  thätigist: 
Jeder  arbeitet  einige  Tage  oder  Stunden,  dann  wird  er  von 
einem  Anderen  abgelöst. 

Für  eine  Reihe  von  Berufsgenossenschaften  ist  es  da- 
her geradezu  unmöglich,  das  auszuführen,  was  Dr.  von 
Mayr  will.  Jeder  Versuch  müsste  unbedingt  an  der  starren 
Wirklichkeit  scheitern. 

Wenn  endlich  Dr.  von  Mayr  selbst  betont,  dass  eine 
Mitwirkung  der  Arbeiterkreise  bei  der  Aufstellung  der  Lohn- 
nachweisungen unbedingt  erforderlich  sei,  sobald  diesen 
sozialstatistischer  Werth  beigelegt  werden  solle,  so  muss 
ihm  durchaus  beigestimmt  werden.  Man  braucht  ja  hier 
— um  einen  ganz  bestimmten  Punkt  herauszugreifen  — 
nur  an  die  Umrechnung  der  Naturalleistungen  (freie  Woh- 
nung, Mittagstisch  u.  s.  w.)  in  Geldwerth  zu  erinnern,  von 
deren  Willkürlichkeit  jeder,  der  sich  einmal  praktisch  mit 
solchen  Dingen  beschäftigt  hat,  ein  Lied  zu  singen  weiss. 
Die  Berufsgenossenschaften  sind  nun  aber  in  ihrer  jetzigen 
Verfassung  gar  nicht  in  der  Lage,  auf  die  Art  der  Fest- 
stellung der  Lohnnachweisungen  durch  die  Unternehmer 
irgendwie  einzuwirken  Sie  können  höchstens  stichprobe- 
weise bei  einem  oder  dem  anderen  Unternehmer  die  ein- 
gereichte Nachweisung  auf  ihre  Richtigkeit  prüfen  lassen; 
im  Uebrigen  müssen  sie  das,  was  die  Unternehmer  liefern, 
auf  Treu  und  Glauben  als  richtig  gelten  lassen.  In  keiner 
Weise  können  sie  die  Unternehmer  dazu  zwingen,  die  Ar- 
beiter bei  den  Aufstellungen  mitwirken  zu  lassen. 


No.  11. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


133 


Somit  erweist  sich  die  heutige  berufgenossenschaft- 
lichc  Organisation  als  durchaus  ungeeignet  zu  den  ihr  von 
Dr.  von  Mayr  in  übergrossem  Optimismus  gestellten  sozial- 
statistischen  Aufgaben.  Es  darf  dies  auch  nicht  Wunder 
nehmen,  denn  sie  ist  für  derartige  Zwecke  gar  nicht  ge- 
schaffen worden.  Nur  eine  Reform  der  Unfall-  und  über- 
haupt der  gesummten  Arbeiterversicherungsgesetzgebung 
an  Haupt  und  Gliedern  kann  hieran  etwas  ändern. 

Friedenau-Berlin.  Ernst  Lange. 


l.Tntallnichlestellen  bei  deutschen  Post-  und  Telegraphen- 
anstalten.  Die  seit  einigen  Jahren  bei  einer  Reihe  von  Post- 
um! Telegraphenanstalten  des  platten  Landes  eingerichteten 
sogenannten  Unfallmeldestellen,  welche  dazu  bestimmt  sind,  bei 
eintretenden  unvorhergesehenen  Gefahren  für  Gut  und  Leben 
der  Landbewohner  schleunigste  Hilfe  bei  Tag  und  Nacht  aus 
Nachbarorten  durch  den  Telegraphen  herbeizurufen,  haben  nach 
einer  Mittheilung  des  Reichs- Anzeigers  eine  immer  grössere 
Ausbreitung  gewonnen. 

Die  Zahl  der  Orte  mit  Unfallmeldedienst,  welche  Ende  1887 
erst  514  betrug,  war  Ende  1891  bereits  auf  2834  gestiegen  und 
beläuft  sich  zur  Zeit  auf  4500  Dieses  bedeutende  Anwachsen 
weist  darauf  hin,  wie  durch  die  Einrichtungdes  Unfallmeldedienstes 
einem  wirklichen  Bedürfniss  abgeholfen  worden  ist.  In  den 
mannigfachsten  Nothlagen,  bei  Erkrankungen,  bei  Feuers-  und 
Wassergefahr,  bei  Diebstählen  u.  s.  w.  hat  schnelle  Hilfe  durch 
den  Telegraphen  herbeigerufen  werden  können,  die  andernfalls 
\ ielleicht  zu  spät  gekommen  sein  würde. 

Es  ist  deshalb  zu  wünschen,  dass  die  für  die  Land- 
bewohner so  segensreich  wirkenden  Unfallmeldestellen,  deren 
Einrichtung  auf  Antrag  der  Ortsgemeinden  von  der  Postver- 
waltung erfolgt,  in  möglichst  zahlreichen  Orten  des  platten 
Landes  ins  Leben  gerufen  werden. 


Gewerbegerichte. 


Gewerbeschiedsgerichte  im  Kanton  Zürich.  Im  Züricher 
Kantonsrath  sind  in  der  letzten  Novemberwoche  Gesetzentwürfe 
behandelt  worden,  welche  der  Regierungsrath  und  eine  kantons- 
räthliche  Kommission  zur  Einführung  von  Gewerbeschiedsge- 
richten und  Einigungsämtern  eingebracht  hatten.  Der  erstere 
Entwurf,  welcher  freiwillige  Schiedsgerichte  in  Aussicht  nahm, 
fand  wenig  Beifall,  so  dass  der  Regierungsrath  nicht  darauf  be- 
stand, dass  er  zur  Abstimmung  gelange,  und  der  letzteren  Vor- 
lage wurden  aus  der  Mitte  der  Versammlung  von  Oberrichter 
Wolf  und  Obergerichtspräsident  Sträuli  Grundsätze  zu  einem 
anderen  fachgerichtlichen  Verfahren  gegenübergestellt.  Während 
aber  Wolf  beantragte,  dass  für  Streitigkeiten  Gewerbtreibender 
Fachrichter  zu  den  bestehenden  Gerichten  zugezogen  werden 
können,  wollte  Sträuli  die  Schiedsgerichte  für  gewisse  Fälle  und 
die  Fachrichter  für  andere  Fälle  zulassen.  Der  Rath  gab  den 
Vorschlägen  Wolfs  den  Vorzug  und  setzte  eine  Kommission  ein, 
welche  dieselben  als  Programm  zur  Ausarbeitung  eines  neuen 
Gesetzentwurfes  benützen  soll.  Trotz  der  Anstrengungen  der 
Arbeiterschaft  scheint  die  Mehrheit  des  Kantonsrathes  der  Ein- 
führung von  gewerblichen  Schiedsgerichten  (nicht  von  Eini- 
gungsämtern) abgeneigt  zu  sein  und  eine  Nachbildung  des 
deutschen  Schöffengerichts  zu  wünschen. 


Wohnungszustände. 

Schlafstellenwesen  in  Leipzig.  Ueber  die  Ausdehnung 
des  Schlafstellenwesens  in  der  Stadt  Leipzig  hielt  der  Direktor 
des  dortigen  städtischen  Statistischen  Büreaus,  Professor  Hasse, 
am  29.  November  d.  Js.  einen  Vortrag  in  einem  Leipziger  Verein. 
Seine  Erhebungen  haben  ergeben,  dass  im  Jahre  1890  in  Alt- 
und  Neu-Leipzig  insgesammt  15  689  Zimmermiether  (Personen, 
die  sich  allein  oder  zu  mehreren  ein  Zimmer  dauernd  für  Tag 
und  Nacht  gemiethet  haben)  und  21  952  Schlafleute  (Personen, 
denen  der  Vermiether  dem  Vertrage  zufolge  nur  des  Nachts 
eine  Schlafstelle  zu  gewähren  hat)  gezählt  worden  sind.  Von 
10  280  Haushaltungen,  die  sich  mit  Schlafstellenvermiethung  ab- 
gaben  und  deren  jeder  ein  Ehepaar  Vorstand,  vermietheteff  7363 
nur  an  Männer,  2141  nur  an  Frauen,  776  an  Männer  und  Frauen. 
In  312  Fällen  war  der  Vermiether  ein  einzelner  Mann  und  ver- 
miethete  in  226  Fällen  nur  an  Männer,  in  49  Fällen  nur  an 
Frauen,  in  37  Fällen  an  Männer  und  Frauen.  2722  weibliche 


Haushaltungsvorstände  vermietheten  in  1693  Fällen  nur  an 
männliche,  in  676  Fällen  nur  an  weibliche,  in  353  Fällen  an 
männliche  und  weibliche  Personen.  6149  Haushaltungen  mit  je 
2 heizbaren  Zimmern  hatten  bis  zu  12  Schlafh  ute,  3592  Haus- 
haltungen mit  je  einem  heizbaren  Zimmer  und  2406  Haushal- 
tungen mit  je  3 heizbaren  Zimmern  hatten  bis  zu  10  Schlafleute 
aufgenommen.  In  Neu-Leipzig  wurden  in  6776  Haushaltungen 
9729  Schlafleute,  in  Alt-Leipzig  in  6538  Haushaltungen  12  223 
Schlafleute  gezählt.  Am  ungünstigsten  lagen  die  Verhältnisse 
in  Plagwitz  (1193  Schlafleute  in  770  Haushaltungen),  am 
günstigsten  in  Lössnig  (9  Schlafleute  in  7 Haushaltungen).  Das 
Schlafleutewesen  gebe  zu  mannigfachen  und  schweren  Bedenken 
Anlass,  da  es  die  Unsittlichkeit  in  vielen  Fällen  nur  verschleiert 
(Konkubinat),  in  anderen  nach  sich  zieht  (Ehebruch,  Prostitution). 
Eine  völlige  Beseitigung  dieser  Zustände  sei  nicht  wohl  mög- 
lich, weil  Tausende  auf  eine  blosse  Schlafstelle  angewiesen 
seien;  wohl  aber  lasse  das  Schlafleutewesen  sich  einschränken 
und  von  seinen  schlimmsten  Auswüchsen  befreien.  Es  müsse 
zunächst  in  den  kleineren  Wohnungen  mit  nur  einem  heizbaren 
Zimmer  untersagt  und  dürfe  nur  in  den  grösseren  zugelassen 
werden.  Es  müsse  verboten  werden  in  Wohnungen,  die  aus 
mehreren  Haushaltungen  bestehen.  Die  Schlafleute  einer 
Wohnung  müssen  alle  entweder  dem  männlichen  oder  dem 
weiblichen  Geschlechte  angehören,  einzelne  Männer  dürfen  nur 
Männer,  einzelne  Frauen  nur  Frauen  als  Schlafleute  aufnehmen. 
Diese  Massnahmen,  in  ein  Ortsstatut  zusammengefasst,  würden 
genügen,  um  der  Unsittlichkeit  im  Grossen  und  Ganzen  zu 
steuern.  Die  wirthschaftliche  Folge  würde  eine  Entvölkerung 
und  damit  Verbilligung  der  kleineren  Wohnungen  sein.  Eine 
kleine  finanzielle  Krisis  kann  wohl  für  die  Vermiether  entstehen, 
sie  wird  aber  bald  vorübergehen  und  wird  reichlich  aufgewogen 
durch  die  bessere  Beschaffenheit  der  Wohnungen  und  die  Vor- 
theile an  der  Volksgesundheit.  Die  Hausbesitzer  möchten  da- 
her nicht  allzu  heftigen  Widerstand  leisten,  wenn  von  zuständi- 
ger Stelle  dereinst  mit  solchen  Vorschlägen  an  sie  herangetreten 
würde.  Der  Redner  verlas  einen  von  ihm  ausgearbeiteten  Ent- 
wurf eines  Ortsstatuts.  In  der  dem  Vortrage  folgenden  Debatte 
erläuterte  Medizinalrath  Dr.  Siegel  die  in  einigen  Vororten  vor 
der  Einverleibung  in  Geltung  gewesenen  Regulative.  Pastor 
Schmidt  aus  Plagwitz  hob  hervor,  wie  nach  der  Aufhebung  des 
Plagwitzer  Regulativs  die  unehelichen  Geburten  dort  erheblich 
zugenommen  hätten.  Für  die  Hausbesitzer  erklärte  ein  Theil- 
nehmer  an  der  Versammlung  im  Allgemeinen  seine  Zustimmung 
zu  einem  derartigen  Regulative,  forderte  aber  grosse  Vorsicht 
bei  dessen  Ausarbeitung  und  Einführung.  Prof.  Dr.  v.  Mias- 
kowski  wünschte  eine  Kontrolle  durch  besondere  Beamte, 
welcher  Forderung  auch  beizupflichten  ist. 


Wohlfahrtseinrichtungen. 


Arbeitsprogramm  der  Centralstelle  für  Wohlfahrts- 
einrichtungen. Eine  umfassende  Untersuchung  der  Woh- 
nungsverhältnisse  in  Berlin  bereitet  z.  Z.  die  ,, Centralstelle 
für  Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen“  vor.  Im  vollen  Gange 
ist  die  von  der  „Centralstelle“  unternommene  Zusammen- 
stellung statistischer  Ermittellungen  über  die  in  Deutsch- 
land vorhandenen  Arbeitsnachweise.  Eine  der  nächsten 
Aufgaben  der  „Centralstelle  für  Arbeiter-Wohlfahrtseinrich- 
tungen“ wird  die  Aufstellung  von  Bauplänen  und  Kosten- 
anschlägen für  ländliche  Arbeiterwohnungen  bilden. 


Eingesendete  Schriften. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 

Brückner.  Dr.  N.,  Die  öffentliche  und  private  Fürsorge. 
Gemeinnützige  Thätigkeit  und  Armenwesen  mit  Beziehung 
auf  Frankfurt  a.  M.  I.  Heft.  Erziehung  und  Unterricht. 
Frankfurt  a.  M.,  1892.  Carl  Jügel.  8°.  VII  und  100  S. 
Lehmkuhl,  Aug.  S.  J.,  Ar  beitsvertrag  und  Strike  (A.  u.  d.  T. 
„Die  soziale  Frage“  beleuchtet  durch  die  „Stimmen  aus 
Maria-Laach“).  II.  Heft.  Freiburg  i.  Br.,  1891.  Herder.  8Ü. 
56  S. 

M iscliler,  Prof.  Dr.  E.,  Handbuch  der  Verwaltungs- 
statistik. I.  Bd.  Allgemeine  Grundlagen  der  Verwaltungs- 
statistik. Stuttgart,  1892.  J.  G.  Cotta  8°.  XX  und  323" S. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin 


134 


ANZEIGEN 


No.  11. 


i:.  ©utteutag,  BerlagSbuchhanblung  in  SSerltn  SW.48- 

-Soeben  gelangte  gur  Bnsgabe: 

5)a§ 

SUlgemetne  ^etggefe^ 

für  bic  pmtfHfcfyert  Staaten 

Im  nt  24.  Hunt  1865 
n e b ft  Ä'  0 m 111  e 11  t a r 

UOII 

l>r-  K.  föloßcrutamt. 

fünfte  umgcarbcitctc  Sluflnge 

unter  23erücffid)tignng 

ber  burd)  b a§  ©efe|  Dom  24.  iuui  1892  eingetretenen  ülenberungen 

heransgegeben 

UOll 

Dr.  BL  JürJt, 

C'iclj.  Sn-flratl)  u.  oortr.  Statt)  im  ffitnifirttum  für  .sjanbd  lt.  ©clDer&e. 

Stefernng  1. 

(Itmfnffcnb  bic  §§  HÜ -134  beb  ©cfcfecs.) 

gr.  8.  Jßrris  5 IQ.  50  |3f. 

älnfang  itnb  Sdjlufj  beb  SBerfeS  inerben  bis  gur  SJlitte  näctjften  iafjres  erfdjeinen,  ber  Breis 
beö  bollftänbigen  ft'ouuuentard  wirb  etwa  12  93t.  betragen. 

(Ellbeine  £ieferuugeu  werben  nicht  abgegeben.  Pie  llbitabtne  ber  erften  Lieferung  nerpflidjtet 
3ur  Bbnal]inc  bes  ganten  IPerfes. 

SPHINX 

Jfönnafeftfirift  für  Srclcn-  mtü  deiftesldmi. 

(Sentralorgart  für  beit  fsbealtsmuS  in  neuäeitlidjer  naturaltfttfdjei-  fynffung. 

■iperausgegeben  non 

Hübbe  - Schleiden, 

Dr.  J.  U. 


3)ie  ©pbinr  ,g ä t)  1 1 311  ihren  'Mitarbeitern  eine  Slnjat)!  ber  erften,  ibeat  benfenben  nnb 
f djriftftcücrifcf)  wie  fiinftCerif cf>  leiftungsfülngcn  Kräfte  -j>cutfd)lanbd  nnb  Oefterreid)S,  wie: 

S"  ans  Slntotb,  Dr.  Kugen  Archer,  2trtt)ur  iitger,  Dr.  .fjmgo  ©oerittg,  Prof.  Dr. 

ruft  fallier,  Dr.  fyrang  .Startmann,  ftarl  ftteswettcr,  I)r.  Staut),  uon  ftoeber, 
Dr.  gabt».  ftnblenbccf,  Dr.  Karl  bu  Brei,  äStll).  Steffel,  B-  ft.  Stofegger,  SJlorife 
Karriere,  ©eorg  Kbers,  SJfartin  ©reif,  Kbuarb  u.  .Startmann  (mit  Slusnahnte  ber 
Itnfterblidjfettsfrage),  Otto  D.  g eigner,  Hermann  0.  gittgg,  ©mit  ^3efdjfau,  Julius 
©tinbe,  .fbans  u.  Sßolgogcn. 

iebes  epeft  enthält  eine  ober  gmet  f ünftlerifcfje  'Beilagen,  wogu  n.  St.  Sßrof.  ©abricl  SSlay 
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(tßoft,  impfen,  tßveffe,  Berfoncnftanb,  Babrungs^ 
mittel,  iSranfem,  ünfatb,  311ter§»,  inöalibitätöOfn 
ftd)crung  nnb  ©ewcrbcorbnung  n.  f.  w.) 

(Xept--9tu§gahe  mit  Slninerfiutgen  nnb  ©acf)regi|ter 
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Dr.  Üfatte  Kütrurflf. 

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Dr.  V>.  Hrprltus. 
3:afd)enfonitot,  fartonnivt.  1 ÜR. 


Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil : O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


II.  Jahrgang 


Berlin,  den  19.  Dezember  1892. 


Nummer  12. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespahene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHAL  T. 


Zur  Frage  der  Rentenerstat- 
tung. 

Soziale  Wirtliscliaftspolitik  n. 

Wirthscliaftsstatistik : 

Die  preussische  Gebäudesteuer. 
Von  Privatdozent  Dr.  J.  Jastrow. 

Die  Einkommenverhältnisse  der 
Beamten  in  Italien.  Von  Prof. 
Dr.  Ernst  Mischlev. 

Die  Steuerreformkommission  des 
preussischen  Abgeordneten- 
hauses. 

Bestrebungen  zur  Beschränkung 
der  Freizügigkeit. 

Statistik  der  Fideikommisse  und  der 
todten  Hand. 

Der  Fleischverbrauch  im  König- 
reich Sachsen. 

Arbeitslosigkeit  in  Mannheim. 

Die  Arbeitslosen  in  England. 

Arbeitsvermittelung  durch  die  Post 
in  Luxemburg. 

Sozialstatistisches  aus  Canada. 
Arbeiterzustände : 

Zur  Statistik  der  deutschen  chemi- 
schen Industrie. 

Kellnerinnenunwesen  in  Sachsen. 


Arbeitsverhältnisse  der  Eisenbahn- 
bediensteten der  Gaisbergbahn. 

Arbeitersclnitzgesetzgebung : 

Ortsstatute  über  Lohnzahlung. 

Kaufmännische  Sonntagsruhe  in 
der  Weihnachtszeit. 

Regelung  der  Arbeitszeit  der  Eisen- 
bahnbediensteten in  England. 

Arbeiterversiclierung: 

Ausdehnung  der  deutschen  Unfall- 
versicherung. 

Ausdehnung  der  Krankenversiche- 
rungspflicht auf  Handlungsge- 
hilfen. 

Kostspieligkeit  der  deutschen  Be- 
rufsgenossenschaften. 

Gebührenfreiheit  für  die  Amts- 
handlungen der  deutschen  Kon- 
sularbehörden im  Vollzüge  des 
Unfall-  und  Invaliditätsversiche- 
rungsgesetzes. 

Gewerbegerichte : 

Gewerbegericht  in  Berlin. 

Soziale  Hygiene: 

Die  Trunksucht  als  Todesursache. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Zur  Frage  der  Rentenerstattung. 


Der  Staatskommissar  bei  den  Versicherungsanstalten 
Berlin  und  Brandenburg,  Herr  Regierungsrath  von  Sybel, 
hat  unlängst  anlässlich  eines  Rentenstreitfalles  eine  Frage 
von  so  ausserordentlicher  Bedeutung  angeregt,  dass  es  uns 
angezeigt  erscheint,  aul  dieselbe  mit  einigen  Bemerkungen 
einzugehen. 

Der  Sachverhalt  ist  kurz  folgender.  Eine  Hausspulerin 
in  der  Niederlausitz  war  mit  ihrem  Anträge  auf  Gewährung 
von  Altersrente  von  der  Versicherungsanstalt  abgewiesen 
worden,  konform  der  konstanten  Rechtsprechung  des 
Reichsversicherungsamts,  welche  diese  Beschäftigung  als 
eine  hausindustrielle  und  nicht  als  eine  Lohnarbeit  an- 
sieht. Die  Frau  erhob  Berufung  und  das  Schiedsgericht 
erkannte  zu  ihren  Gunsten.  Da  die  ergehenden  Entschei- 
dungen bekanntlich  vorläufig  vollstreckbar  sind,  die  Rechts- 
mittel keine  aufschiebende  Wirkung  haben,  so  war  die 
Folge  dieses  schiedsgerichtlichen  Urtheils,  dass  der  Klä- 


gerin einstweilen  die  Rente  gezahlt  werden  musste.  Gegen 
dasselbe  erhoben  sowohl  die  Versicherungsanstalt  als  der 
Staatskommissar  Revision.  Vor  dem  Verhandlungstermin 
verstarb  die  Klägerin.  Mit  dem  Todestage  wurde  na- 
türlich die  Rentenzahlung  eingestellt,  und  in  dem  schwe- 
benden Verfahren  war  nunmehr  also  nur  noch  darüber  zu 
entscheiden,  ob  die  in  der  Zwischenzeit  erfolgten  Zahlun- 
gen zu  Recht  oder  zu  Unrecht  geleistet  seien,  event.  also 
seitens  der  Versicherungsanstalt  zurückgefordert  werden 
könnten.  Zu  diesem  Behufe  beantragte  die  Versicherungs- 
anstalt, das  Verfahren  gegen  die  Erben  fortzusetzen. 
Dagegen  erklärte  der  Staatskommissar,  dass  er  seinerseits 
die  Revision  zurückziehe,  weil  er  die  Sache  durch  den  Tod 
der  Klägerin  für  erledigt  und  die  Fortsetzung  des  Prozesses 
gegen  deren  Erben  für  unzulässig  halte;  er  gab  zugleich 
anheim,  die  Revision  der  Versicherungsanstalt  zurückzu- 
weisen, bezw.  die  Einstellung  des  Verfahrens  zu  be- 
schliessen,  und  begründete  diesen  Standpunkt  in  ausführ- 
licher Darlegung.  Die  Versicherungsanstalt  widersprach 
dem,  das  Reichsversicherungsamt  verwies  die  Sache  ihrer 
prinzipiellen  Wichtigkeit  halber  zunächst  vor  die  erweiterte 
Spruchkammer. 

Die  Frage  ist  in  der  That  von  hervorragender  Wich- 
tigkeit und  sie  wird,  da  sie  einmal  zur  Erörterung  gestellt 
ist,  was  übrigens  auch  Herr  von  Sybel  keineswegs  ver- 
kennt, noch  erheblich  weiter  gefasst  werden  können.  Immer- 
hin aber  wird  man  zweierlei  auseinander  halten  müssen: 
was  gegenwärtig  gesetzliche  Vorschrift  ist,  und  was  ever- 
tuell  im  Wege  der  Gesetzesänderung  zu  erstreben  ist. 
Eine  ausdrückliche  Bestimmung  enthält  das  Gesetz  natür- 
lich nicht,  weder  zu  Gunsten  noch  zu  Ungunsten  der  S}  - 
belschen  Auffassung;  sonst  wäre  ja  ein  solcher  Streit  nicht 
möglich.  Ist  man  also  der  Meinung,  dass  diese  Auffassung 
das  Richtige  treffe,  so  wird  es  sich  weiter  fragen,  ob  sich 
das  bereits  mit  zwingender  Noth wendigkeit  aus  dem  System 
und  Zweck  des  Gesetzes  ergiebt,  oder  ob  es  der  Aufnahme 
einer  ausdrücklichen  Vorschrift  bedarf,  um  es  unzweifel- 
haft klarzustellen. 

Der  Staatskommissar  versucht  zunächst  den  Nach- 
weis, dass  das  Erstere  der  Fall  sei;  natürlich  musste  er  das 
thun,  denn  im  Prozess  ist  ja  das  geltende  Recht  anzuwen- 
den, nicht  neues  Recht  zu  schaffen.  Er  führt  zu  diesem 
Behufe  etwa  Folgendes  aus:  Alle  Rechtssysteme  kennen 

Vermögensrechte,  welche  derart  an  der  Person  des  Berech- 
tigten haften,  dass  sie  mit  dessen  Tode  unbedingt  erlöschen, 
keinesfalls  auf  die  Erben  übergehen,  wie  z.  B.  das  Woh- 
nungsrecht. Einen  solchen  höchst  persönlichen  Charakter 
hat  auch  die  Alters-  und  Invalidenrente.  Sie  ist  bestimmt, 
nur  einer  Person  den  knappsten  Lebensunterhalt  zu  ge- 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTKALBLATT. 


No.  12. 


währen  (von  der  Altersrente  wird  man  selbst  das  kaum 
behaupten  können),  wird  zu  diesem  Zweck  monatlich  prä- 
numerando gezahlt , muss  aber  antheilig  zurückerstattet 
werden,  wenn  der  Tod  im  Laufe  des  Monats  eintritt,  kann 
aus  persönlichen  Gründen  in  Naturalien  gewährt  werden, 
soll  unter  allen  Umständen  lediglich  dem  kärglichen  Unter- 
halt, nicht  der  Vermögensvermehrung  dienen.  Mit  Rück- 
sicht auf  diesen  höchst  persönlichen  Charakter  der  Renten 
können  dieselben  weder  von  den  Erben  gefordert  noch 
bezüglich  etwaiger  Rückstände  geltend  gemacht  werden. 
Das  Gesetz  erklärt  ausdrücklich  jede  Pfändung,  Verpfän- 
dung oder  Abtretung  der  Rente  für  unwirksam,  und  es 
macht  keinen  Unterschied,  ob  die  Uebertragung  durch  den 
Willen  des  Berechtigten  oder  kraft  Gesetzes,  wie  beim 
Erbübergange,  erfolgt.  Die  Rente  soll  unter  allen  Umstän- 
den ihrem  eigentlichen  Zwrecke,  dem  Lebensunterhalt  des 
Versicherten  zu  dienen,  erhalten  bleiben.  Es  widerspricht 
dieser  Natur  des  Rentenanspruchs,  wenn  man  die  Erben 
aktiv  oder  passiv  zum  Prozesse  zulassen  wollte.  Nament- 
lich im  letzteren  Falle  tritt  die  offenbare  Unbilligkeit  klar 
zu  Tage,  wenn  man,  nachdem  ein  Versicherter,  wie  im 
vorliegenden  Falle,  eine  geraume  Zeit  die  Rente  bezogen 
hat,  nach  seinem  Tode,  weil  wegen  irgend  eines  gesetz- 
lichen Mangels  der  Rentenanspruch  wieder  aufgehoben 
wird,  die  Rente  von  Personen  zurückzufordern  unternimmt, 
die  weder  von  der  Rente  etwas  gehabt  noch  sich  um  den 
werthlosen  Nachlass  gekümmert  haben,  blos  weil  sie  ge- 
setzliche Intestaterben  geworden  sind. 

Obwohl  wir  den  Standpunkt  des  Staatskommissars 
theilen,  müssen  wir  bekennen,  dass  uns  diese  Begründung 
nicht  recht  überzeugend  erscheinen  will,  und  dass  uns  de 
lege  lata  die  Sache  in  der  That  recht  zweifelhaft  erscheint. 
Aus  der  höchstpersönlichen  Natur  der  Rente  folgt  doch 
zunächst  nur,  dass  sie  mit  dem  Tode  erlischt;  darüber  be- 
steht aber  überhaupt  kein  Streit.  Die  Frage  aber  bleibt 
auch  von  diesem  Standpunkte  aus  unentschieden,  wie  es 
mit  dem  Streit  über  Renten  werden  soll,  die  sich  auf  einen 
Zeitpunkt  beziehen,  den  der  Berechtigte  noch  erlebt  hat. 
Dass  insbesondere  auch  rückständige  Rentenbeträge  aus 
der  Lebenszeit  des  Berechtigten  nach  seinem  Tode  nicht 
von  einem  Rechtsnachfolger  — wir  lassen  einstweilen  da- 
hingestellt, von  wem  — gefordert  werden  könnten,  folgt 
unseres  Erachtens  daraus  nicht  so  ohne  weiteres,  und  es 
würde  uns  auch  nicht  gerade  billig  erscheinen,  wenn  sie 
die  Versicherungsanstalt  einfach  lukriren  sollte,  weil  sie  sie 
nicht  schon  bei  Lebzeiten  gezahlt  hat.  Nicht  anders  wird 
es  aber  mit  dem  umgekehrten  Falle  stehen,  dass 
Renten  zu  Unrecht  erhoben  sind  und  zurückgefordert 
werden;  dass  dieses  Rückforderungsrecht  mit  dem  Tode 
des  Verpflichteten  erlöschen  soll,  wird  sich  nach  gegen- 
wärtiger Lage  der  Gesetzgebung  schwer  begründen  lassen; 
eine  andere  Frage  ist,  gegen  wen  und  unter  welchen  Um- 
ständen es  ausgeübt  werden  kann. 

Die  dem  Reichsversicherungsamt  zur  Entscheidung 
vorliegende  Frage  ist  zunächst  eine  prozessuale.  Insoweit 
wird,  da  eine  Sonderbestimmung  für  das  Rentenverfahren 
nicht  besteht,  §217  der  Civil-Prozess-Ordnung  massgebend 
sein  müssen.  Danach  ist  im  Falle  des  Todes  einer  Partei 
das  Verfahren  auf  Antrag  der  Rechtsnachfolger  bezw. 
gegen  dieselben  fortzusetzen;  es  ist  nicht  erledigt,  sondern 
wird  nur  unterbrochen.  Rechtsnachfolger  aber  sind,  da 
weder  ein  Testament  vorliegt  noch  eine  Singularsuccession 
vorliegen  kann,  die  Intestaterben.  Der  Antrag,  sie  als  Pro- 
zesspartei anzusehen  und  zuzuziehen,  ist  also  formell  nicht 
zu  beanstanden ; eine  Einstellung  des  Verfahrens  dürfte 
gegen  den  Widerspruch  der  Versicherungsanstalt  kaum  zu- 
lässig sein.  Diese  hat  einen  Anspruch  darauf,  dass  der 
Prozess  durch  Urtheil  beendet  werde. 


Das  Urtheil  des  Reichsversicherungsamts  ist  inzwischen 
ergangen.  Es  hat,  in  Uebereinstimmung  mit  unseren  vor- 
stehenden Ausführungen  die  Revision  für  zulässig  und  auch 
für  sachlich  begründet  erachtet  und  lautet  also  dahin: 
dass  der  Spruch  des  Schiedsgerichts  aufzuheben,  und  die 
Berufung  gegen  den  abweisenden  Bescheid  der  Versiche- 
rungsanstalt zu  verwerfen  ist.  Damit  wird  dieser  Bescheid 
rechtskräftig,  und  es  steht  nunmehr  fest,  dass  die  Klägerin 
die  Rente  bisher  zu  Unrecht  empfangen  hat  und  daher  zu- 
rückzahlen müsste,  wenn  sie  noch  am  Leben  wäre.  Ob 
dieses  Urtheil  ohne  Weiteres  gegen  die  Erben  vollstreckbar 
ist,  oder  nunmehr  erst  im  ordentlichen  Rechtswege  auf 
Grund  desselben  gegen  sieaufRückerstattung  geklagt  werden 
muss,  können  wir  dahingestellt  lassen.  Denn  auch  wenn 
man  das  Letztere  annimmt,  wird  eine  Verurtheilung  kaum 

. ausbleiben  können.  Es  ist  zwar  ganz  richtig,  dass  die 
Rente  weder  zur  Vermögensvermehrung  bestimmt  ist,  noch 
dazu  dient,  dass  sie  sofort  verbraucht  wird,  nicht  in  den 
Nachlass  und  nicht  mit  diesem  auf  die  Erben  übergeht. 
Aber  auf  alles  das  kommt  es  vor  dem  ordentlichen  Richter 
nicht  an.  Die  Erben  haften  ja  nicht  auf  Grund  der  Be- 
reicherung, sondern  weil  sie  als  Universalsuccessoren  die 
Rechtspersönlichkeit  des  Erblassers  fortsetzen,  für  dessen 
Passiva  aufzukommen  haben.  Zwar  können  sie  sich  durch 
das  beneficium  inventarii  schützen,  aber  gerade  in  den 
Bevölkerungsschichten,  die  hier  in  Betracht  kommen,  ist 

I - . ’ 

dieses  Schutzmittel  so  gut  wie  unbekannt  und  wird  niemals  , 
angewandt. 

Sonach  scheint  es  uns  mindestens  sehr  zweifelhaft, 
ob  nach  dem  gegenwärtigen  Rechtszustande  den  Erben  zu 
helfen  sein  wird.  Soviel  ist  aber  unbedingt  zuzugeben, 
dass  dieses  Resultat  sehr  bedauerlich  und  in  hohem  Masse 
unbilliir  sein  würde.  Der  Herr  Staatskommissar  vertritt 
nun  weiter  die  Ansicht,  dass  von  dem  Verhältniss  zwischen 
den  Versicherten  und  der  Anstalt  alle  privatrechtlichen  Ge- 
sichtspunkte fern  zu  halten  seien,  weil  man  sonst  den  Cha- 
rakter der  öffentlichen  Fürsorge  gefährden  und  den  sozial- 
politischen Zweck  verdunkeln  würde.  Wir  möchten  den  Satz  ' 
lieber  dahin  formuliren,  dass  man  aus  eben  diesen  Gründen  : 
auf  das  Verhältniss  zwischen  den  Versicherten  und  der  ! 
Anstalt  die  gewöhnlichen  privatrechtlichen  Grundsätze 
nicht  anwenden,  sondern  für  dasselbe  besondere,  diesen 
Gesichtspunkten  Rechnung  tragende  Grundsätze  aufstellen 
soll.  Das  wird  aber  nur  der  Gesetzgeber  thun  können,  und 
von  ihm  wird  man  allerdings  verlangen  können,  dass  er, 
wo  eine  Lücke  oder  ein  Uebelstand  sich  zeigt,  rasch  ein- 
greife und  einen  befriedigenden  Zustand  schaffe.  So  gut 
er  die  Uebertragung  des  Rentenanspruchs  unter  Lebenden 
verboten  hat  und  ihr  die  Rechtswirksamkeit  abspricht,  kann 
er  auch  den  Uebergang  der  bezüglichen  Rechtsverhältnisse 
auf  die  Erben  ausschlieSsen,  und  wir  erkennen  gern  ein 
Bedürfniss,  dass  dies  geschehe,  an.  Es  lässt  sich  in  der 
That  aus  den,  von  Herrn  von  Sybel  angegebenen  Gründen 
nicht  rechtfertigen,  auf  Grund  ihrer  Erbenqualität  Leute 
auf  Rückerstattung  der  Rente  zu  belangen,  die  von  der- 
selben nicht  nur  thatsächlich  keinen  Vortheil  gehabt  haben, 
sondern  nach  der  Natur  der  Rente  einen  Vorthei]  garnicht 
haben  konnten.  Vielleicht  liegt  es  nahe,  hier  das,  auch  von 
Herrn  von  Sybel  betonte,  Bereicherungsprinzip  einzuführen. 
Dann  würden  also  den  Anspruch  auf  rückständige  Renten 
nicht  die  Erben,  sondern  diejenigen  geltend  zu  machen 
haben,  welche  bei  Lebzeiten  des  Rentenberechtigten  für 
dessen  Unterhalt  gesorgt  haben,  und  ebenso  würde  eine 
Rückforderung  überzahlter  Renten  nur  auf  Grund  des 
Nachweises  gestattet  sein,  dass  bei  Nichtzahlung  der  Rente 
der  Inanspruchgenommene  für  diesen  Unterhalt  mit  seinen 
Mitteln  würde  haben  einstehen  müssen.  Aber  wir  bekennen, 
dass  uns  auch  das  nicht  voll  befriedigen  würde. 


No.  12. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


137 


Will  man  dem  sozialpolitischen  Zweck  der  Rente  «ranz 
oerecht  werden,  so  muss  man  noch  einen  entscheidenden 
Schritt  weiter  gehen,  und  es  gereicht  uns  zur  ganz  be- 
sonderen Freude,  konstatiren  zu  können,  dass  auch  Herr 
von  Sybel  vor  diesem  Schritte  nicht  zurückgescheut  ist. 
Er  stellt  in  ganz  unzweideutiger  Weise  die  Forderung  aut: 
die  vorläufig  bewilligten  Renten  dürfen  nach  Ab- 
erkennung des  Anspruchs  überhaupt  nicht  wieder 
eingezogen  werden,  also  auch  von  den  Rentenempfängern 
selbst  nicht.  Diesen  Satz  begründet  er  dahin:  Man  reicht 

einem  in  seiner  Erwerbsfähigkeit  geschwächten  Arbeiter 
Monate  lang,  vielleicht  ein  ganzes  Jahr  den  täglichen  Unter- 
halt, um  sodann  auf  einmal  den  ganzen  Betrag  zurückzu- 
fordern. Das  ist  das  denkbar  härteste  Verfahren, 
um  einen  Menschen  wirthschaftlich  zu  vernichten; 
selbst  die  Bewilligung  von  Ratenzahlungen  kann  da  nicht 
viel  helfen.  Das  Gesetz  lässt  die  vorläufig  bewilligten 
Renten  monatlich  im  voraus  zahlen,  damit  sie  zum  Verzehr 
dienen  können;  es  kann  nicht  die  Absicht  eines  sozialpoli- 
tischen Fürsorgegesetzes  sein,  dass  das  unter  solchen  Vor- 
aussetzungen gegebene  Brot  nach  Jahr  und  Tag  von 
dem  Empfänger  oder  gar  dessen  Erben  zurückerstattet 
werde. 

Das  ist  der  Kern  der  Sache.  Giebt  man  Jemandem, 
wie  das  ja  unbestreitbar  der  Fall  ist,  nur  das  Allernoth- 
wendigste  und  zu  dem  ausgesprochenen  Zwecke,  dass  er 
es  sofort  zur  Fristung  seines  Lebens  verbrauche,  so  kann 
man  das  garnicht  von  ihm  zurückfordern  wollen,  selbst 
wenn  es  sich  nachher  herausstellen  sollte,  dass  man  nicht 
verpflichtet  war,  es  zu  geben.  Wenigstens  kann  man  das 
nicht  wollen,  wenn  man  ernstlich  ein  Werk  schaffen  will, 
das  den  sozialen  Frieden  fördern  und  die  soziale  Noth 
lindern  soll.  Diese  Gesichtspunkte  müssen  hierbei  unbe- 
dingt den  Ausschlag  geben,  ihnen  müssen  alle  Bedenken, 
die  sich  vom  Standpunkte  des  Privatrechts  vielleicht  er- 
heben lassen,  weichen.  Nur  eine  Ausnahme  kann  zuge- 
lassen werden:  wer  sich  durch  unerlaubte,  betrügerische 
Mittel  eine  Rente  erschlichen  hat,  der  hat  allerdings  keinen 
Anspruch  darauf,  in  dem  Besitz  der  unrechtmässig  erlangten 
Gabe  belassen  zu  werden.  Meist  wird  er  sich  ja  schon  so 
eingerichtet  haben,  dass  von  ihm  nichts  wieder  zu  be- 
kommen ist,  aber  einen  gesetzlichen  Schutz  hat  er  nicht  zu 
verlangen. 

So  gelangen  wir  denn  schliesslich  dahin,  in  voller 
Uebereinstimmung  mit  dem  Herrn  Staatskommissar  von 
Sybel  den  Satz  zu  vertreten: 

Eine  Rente,  welche  auf  Grund  eines  vorläufig  voll- 
streckbaren Urtheils  gezahlt  und  von  dem  Renten- 
berechtigten in  gutem  Glauben  in  Empfang  genommen 
ist,  darf,  wenn  demnächst  in  höherer  Instanz  der 
Rentenanspruch  aberkannt  wird,  nicht  zurückgefordert 
werden. 

Allerdings  meinen  wir,  dass  dieser  Forderung  nicht 
anders  als  durch  einen  Akt  der  Gesetzgebung  wird  ent- 
sprochen werden  können.  Einen  solchen  zu  fordern,  halten 
wir  uns  aber  durchaus  für  berechtigt.  Eine  nennenswerthe 
Belastung  der  Versicherungsanstalten  ist  kaum  zu  besorgen 
keinenfalls  eine  solche,  die  nicht  hinter  der  sozialpoli- 
tischen W ichtigkeit  dieses  Grundsatzes  unbedingt  zurück- 
treten müsste. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Die  preussische  Gebäudesteuer. 

Seit  unseren  ersten  Auseinandersetzungen  über  die 
preussische  Grundsteuer1)  sind  die  Regierungsvorlagen  er- 
schienen, welche  über  die  Zukunft  dieser  Abgabe  ent- 
scheiden sollen.  Der  Staat  will  fortan  anf  die  Erhebung 
der  Grund-,  Gebäude-  und  Gewerbesteuern  verzichten. 
Die  Veranlagung  der  drei  „Realsteuern“  soll  der  Staat  nach 
wie  vor  besorgen.  Den  Kommunen  bleibt  es  überlassen, 
ob  sie  auf  Grund  dieser  Veranlagung  die  Steuern  erheben 
oder  ob  sie  eine  neue  eigenartige  Besteuerung  des  Grund 
und  Bodens,  des  Hausbesitzes,  des  Gewerbebetriebes  ein- 
führen wollen. 

In  den  bisherigen  Erörterungen  über  die  Steuervor- 
lagen hat  — und  dies  mit  vollem  Recht  — der  Streit  um 
die  Grundsteuer  im  Vordergründe  gestanden.  Es  gehört 
zu  den  merkwürdigen  Beweisen  für  die  Macht,  die  ein 
blosses  Wort  hat,  wenn  fortgesetzt  behauptet  und  schliess- 
lich sogar  geglaubt  wird,  dass  die  preussische  „Grund- 
steuer“ eine  Steuer  sei.  Wenn  sie  den  Namen  Staatshypothek 
führte,  so  wäre  Niemand  auf  den  Gedanken  gekommen,  sie 
für  eine  Steuer  auszugeben,  oder  zum  mindesten  würde  er 
keinen  Glauben  damit  gefunden  haben.  So  aber  ist  es 
möglich  gewesen,  die  Sache  so  darzustellen,  als  ob  die  Ab- 
gabe vom  Grund  und  Boden  mit  dem  kolossalen  Steuer- 
fuss  von  9Va  pCt.  im  Jahre  1861  den  Grundbesitzern  auf- 
erlegt worden  sei  und  ihnen  jetzt  nach  Durchführung  der 
allgemeinen  Einkommensteuer  doch  billigferweise  wieder 
abgenommen  werden  müsse. 

Die  gegenwärtige  Lage  der  preussischen  Steuerver- 
fassung bleibt  dem  Verständniss  verschlossen,  wenn  man 
sich  nicht  klar  macht,  dass  derartige  Vorstellungen  ganz 
willkürlich  sind.  Niemals  hat  es  auf  dem  Boden  unseres 
Vaterlandes  einen  Zustand  gegeben,  in  welchem  sich  der 
Genuss  des  Grundbesitzes  unbeschränkt  in  den  Händen 
seines  augenblicklichen  Eigenthümers  befand.  Der  Antheil, 
welchen  die  regierende  Gewalt  bei  der  Verleihung  des 
Grundbesitzes  sich  zurückbehalten  hatte,  war  verschieden 
hoch  bemessen  und  wurde  in  den  Streitigkeiten  späterer 
Jahrhunderte  in  noch  grösseren  Verschiedenheiten  fest- 
gestellt. Noch  im  vorigen  Jahrhundert  glaubte  man  in 
Schlesien  den  prozentualen  Antheil  des  Fiskus  bemessen 
zu  können  bei  Bauergütern  auf  34  pCt.,  bei  Rittergütern 
auf  38 7:h  pCt.,  bei  Stiftsgütern  auf  50  pCt.  Selbst  das 
preussische  Gesetz  von  1820,  welches  an  verschiedenen 
Stellen  auf  Normirung  der  Grundsteuer  zu  sprechen  kommt, 
denkt  an  Antheile,  welche  zwischen  1 6 2/3  und  20  pCt. 
schwanken.  Erst  im  Laufe  unseres  Jahrhunderts  ist  es  ge- 
lungen, diesen  Mitgenuss  der  Gesammtheit  an  den  Boden- 
erträgen auf  tiefere  Ziffern  herabzudrücken  und  ihnen 
gleichzeitig  den  Charakter  des  Genussantheils  zu  nehmen. 
Das  preussische  Grundsteuer-Gesetz  von  1861,  welches  die 
Grundsteuer  auf  ca.  9'/2  pCt.  des  Reinertrages  festgesetzt 
und  nach  einmaliger  Ermittelung  unabänderlich  lässt,  hat 
an  Stelle  grosser  und  allerdings  niemals  ganz  durchge- 
führter Ansprüche  eine  kleinere  Ziffer  gesetzt,  und  an 
Stelle  eines  Genussantheils  eine  ein-  für  allemal  fest- 
stehende Rente. 

Wenn  jetzt  die  Grundbesitzer  diesen  letzten  Rest  eines 
staatlichen  Mitgenusses  an  ihrem  Eigenthum  erschüttern 
wollen,  so  hat  dies  keinen  anderen  Sinn,  als  wenn  sie  ver- 
suchen wollten,  bei  Gelegenheit  einer  Steuerreform  eine 
vom  Staate  auf  ihre  Grundstücke  eingetragene  Hypothek 
unentgeltlich  zu  löschen.  Dieser  in  Form  einer  Ueber- 
weisung  an  die  Gemeinden  uns  drohende  Versuch  tritt  in 
unverhüllter  Nacktheit  da  hervor,  wo  ausschliesslicher 
Grundbesitzer  und  ausschliesslicher  Gemeindevertreter  die- 
selbe Person  ist,  in  den  Gutsbezirken. 

Dieser  Sachverhalt  ist  für  das  Verständniss  der 


')  Sozialpolitisches  Centralblatt  No.  3. 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  12. 


preussischen  Grundabgaben  von  grundlegender  Bedeutung. 
Er  muss  immer  auf’s  Neue  betont  werden,  da  er  immer 
auf’s  Neue  zu  vertuschen  versucht  wird.  Wenn  man  be- 
hauptet, dass  die  preussische  Grundsteuer  neben  einer 
Vermögens-  oder  Einkommensteuer  eine  doppelte  Besteue- 
rung bilde,  weil  sie  bereits  eine  Vermögens-  und  Einkommen- 
steuer aus  dem  immobilen  Besitz  darstelle:  so  lehrt  die 
Geschichte  der  preussischen  Grundsteuer  das  Gegentheil. 
Es  hat  allerdings  Zeiten  gegeben,  in  denen  der  Staat  den 
Versuch  gemacht  hat,  die  Grundsteuer  zu  einer  Vermögens- 
und Einkommensteuer  auszubilden.  Aber  alle  diese  Versuche 
sind  von  den  Grundbesitzern  siegreich  abgeschlagen  und 
gerade  durch  ihren  Einfluss  ist  die  Grundsteuer  zu  einer 
blossen  Reallast  herabgedrückt  worden. 

Alles  dies  hat  in  Preussen  jedoch  nur  soweit  Geltung, 
als  man  es  auf  die  Grundsteuer  im  engeren  Sinne  be- 
schränkt. In  Bezug  auf  die  Gebäudesteuer  liegen  die  für 
eine  Ueberweisung  in  Betracht  kommenden  Verhältnisse 
wesentlich  anders. 

Zunächst  scheidet  hier  die  komplizirende  Frage  der 
Gutsbezirke  fast  ganz  aus.  Da  ländliche  Wirthschafts- 
gebäude  von  der  Gebäudesteuer  befreit  sind,  so  kommen 
hier  nur  die  ländlichen  Wohn-  und  etwaige  Miethshäuser 
in  Betracht.  Bei  dem  geringen  Mietliswerth  von  Land- 
häusern  ist  auch  der  Gebäudesteuerertrag  aus  Gutsbezirken 
so  gering,  dass  er  gegenüber  der  Grundsteuer  fast  ignorirt 
werden  darf.  Der  Haupttheil  der  Gebäudesteuer  fliesst 
naturgemäss  aus  den  Städten.,  der  geringere  aus  den  Land- 
gemeinden. Für  eine  Ueberweisung  der  Gebäudesteuer  an 
die  Gemeinden  liegen  also  insofern  die  Verhältnisse 
günstiger,  als  es  überall  organisirte  Gemeinden  giebt,  denen 
die  Steuer  überwiesen  werden  könnte,  und  dass  die  best- 
organisirten  dieser  Gemeinden,  die  Städte,  gleichzeitig 
auch  die  eigentlichen  Träger  der  Gebäudesteuer  sind. 

Auch  der  Charakter  der  Gebäudesteuer  selbst  stellt 
diese  einer  überweisungsfähigen  Gemeindesteuer  erheblich 
näher.  Der  Charakter,  auch  der  Gebäudesteuer,  hat  vielfach 
zwischen  einem  staatlichen  Ertragsantheil  und  einer  staat- 
lichen Rente  geschwankt.  In  dem  Gesetz  von  1861  wurden 
bestehende  Meinungsverschiedenheiten  im  Wege  eines 
Kompromisses  entschieden.  Man  erhielt  zwar  den  Gebäuden 
gegenüber  den  Anspruch  eines  staatlichen  Mitgenusses  am 
Ertrage,  den  man  bei  der  Grundsteuer  im  engeren  Sinne 
aufgegeben  hatte,  aufrecht,  bestimmte  aber  in  Rücksicht 
auf  diese  Strenge  den  Prozentsatz  selbst  bedeutend  niedriger, 
nämlich  bei  Wohngebäuden  auf  4 pCt.,  bei  andern  sogar 
nur  auf  2 pCt.  Der  Ertrag  sollte  alle  15  Jahre  auf’s  Neue 
ermittelt  und  nach  der  inzwischen  erfolgten  Steigerung  neu 
herangezogen  werden. 

Danach  kann  kein  Zweifel  sein,  dass  die  heutige 
preussische  Gebäudesteuer  im  Unterschied  von  der  Grund- 
steuer wirklichen  Steuercharakter  trägt.  Wenn  ein  Ritter- 
gut verkauft  wird,  so  wird  bei  Berechnung  des  Kaufpreises 
die  Grundsteuer  ebenso  wie  jede  Hypothek  in  Anrechnung 
gebracht.  Der  neue  Besitzer,  der  das  Grundstück  um  so 
viel  billiger  gekauft  hat,  wie  der  kapitalisirte  Betrag  der 
Grundsteuer  ausmacht,  kann  nicht  behaupten,  dass  er  an 
der  sogenannten  „Grundsteuer“  eine  staatliche  Steuer  zahle. 
Wenn  indess  ein  städtisches  Wohngebäude  verkauft  wird, 
so  wird  zwar  bei  Feststellung  des  Kaufpreises  die  That- 
sache  einer  staatlichen  Gebäudesteuer  ebenfalls  mit  in  An- 
schlag gebracht;  ihre  zukünftige  Steigerung  kann  aber  nur 
als  ganz  allgemeines  Moment  in  Betracht  gezogen  werden. 
Während  bei  jedem  Verkauf  eines  Rittergutes  glatt  und 
rechnungsmässig  das  Grundsteuerkapital  vom  Kaufpreis 
abgezogen  wird,  verirren  sich  diese  Berechnungen  bei  dem 
Verkauf  städtischer  Grundstücke  in  das  grosse  Labyrinth 
der  Lehre  von  der  Steuerüberwälzung,  durch  welches  bis 
jetzt  noch  kein  Ariadnefaden  führt.  Es  braucht  kaum  ge- 
sagt zu  werden,  dass  beim  Verkauf  nur  besonders  deutlich 
in  die  Erscheinung  tritt,  was  bei  jeder  Erbauseinander- 
setzung, ja  auch  beim  Uebergang  des  Grundstückes  vom 
Vater  auf  seinen  einzigen  Sohn  und  schliesslich  auch  bei 


lang  andauerndem  Besitz  durch  ein  und  denselben  Besitzer 
(z.  B.  durch  eine  Kirchengemeinde)  zutrifft. 

Dennoch  kann  nicht  behauptet  werden,  dass  die  Ge- 
bäudesteuer des  Reallastcharakters  vollständig  entbehre. 
In  der  heutigen  preussischen  Gebäudesteuer  ist  historisch 
die  Grundsteuer  für  den  Boden,  auf  welchem  das  Gebäude 
steht,  enthalten.  Die  mit  Gebäuden  besetzten  Flächen  sind 
von  der  Grundsteuer  im  engeren  Sinn  befreit.  Mit  Rück- 
sicht darauf  ist  im  Jahre  1861  für  die  Revisionsfähigkeit 
der  Steuer,  gewissermassen  als  Pflaster,  der  geringe  Prozent- 
satz bewilligt  worden.  Zudem  ist  die  Revisionsfähigkeit 
der  Gebäudesteuer,  welche  sie  von  der  Grundsteuer  unter- 
scheiden soll,  sehr  beschränkt.  Unter  unsern  heutigen 
Kulturverhältnissen  genügt  eine  Revision  in  fünfzehnjährigen 
Zwischenräumen  auch  nicht  annähernd  mehr,  um  den 
vollen  Werth  der  Gebäude  zur  Versteuerung  heranznziehen; 
besonders  dann  nicht,  wenn  bei  der  Revision  nicht  einmal 
der  augenblickliche  Zeitpunkt,  sondern  der  Durchschnitt 
der  letzten  10  Jahre  benutzt  wird.  Und  selbst  innerhalb 
dieser  sehr  bescheidenen  Grenzen  wird  die  Revision  der 
Gebäudesteuern  nicht  einmal  vollständig  nach  der  Vor- 
schrift des  Gesetzes  durchgeführt.  Seit  dem  Jahre  1861  hat 
in  Preussen  erst  eine  Revision  der  Steuer  stattgefunden; 
diese  ist  seit  dem  Jahre  1880  in  Kraft  und  beruht  auf  dem 
Durchschnitt  der  Jahre  von  1869  bis  1879.  Wenn  man  bedenkt, 
wie  in  den  letzten  20  Jahren  in  Städten  wie  Berlin,  Breslau, 
Magdeburg  die  Grundstückspreise,  wenigstens  in  einzelnen 
Stadttheilen  in  die  Höhe  gegangen  sind,  so  wird  man  doch 
auch  in  der  Grundsteuer  dem  Element  der  Beharrlichkeit 
ein  bedeutendes  Gewicht  zugestehen  müssen. 


Endlich  ist  die  Befürchtung,  dass  die  Ueberweisung  ■ 
der  Steuer  zu  einem  Geschenk  für  ihre  gegenwärtigen 
Träger  ausschlagen  würde,  auch  gegenüber  der  Gebäude-  ! 
Steuer  nicht  ganz  unberechtigt.  Wenn  auch  für  die  Ge- 
bäudesteuer die  Gutsbezirke  nicht  erheblich  in  Betracht  , 
kommen,  so  bestehen  doch  die  Vertretungen  unserer  Land-  < 
gemeinden  so  gut  wie  ausschliesslich  aus  Grundbesitzern, 
und  in  allen  städtischen  Vertretungen  haben  die  Grund- 
besitzenden Elemente  das  entschiedene  Uebergewicht. 
Letzteres  wird  viel  weniger  durch  die  ausdrückliche  Be- 


stimmung der  Städteordnung  als  durch  das  Wahlsystem 
und  in  kleinen  Städten  auch  durch  die  gesellschaftlichen 
Verhältnisse  bedingt.  Ob  nach  Ueberlassung  der  Gebäude- 
steuer die  kommunalen  Leistungen  um  den  entsprechenden 
Betrag  steigen  werden,  lässt  sich  nicht  berechnen.  Die  Vor- 
schrift des  Entwurfs,  dass  die  Gebäudesteuer  mindestens 
in  denselben  Prozenten  wie  die  Zuschläge  zur  Einkommen- 
steuer erhoben  werden  muss,  genügt  nicht  als  Garantie 
dagegen,  dass  nicht  der  Vortheil  des  Erlasses  zum  Theil 
den  Hausbesitzern  zufliesse. 


Man  sieht  also,  dass  die  Gründe,  welche  eine  Ueber- 
weisung der  Grundsteuer  in  Preussen  zu  einer  moralischen 
Unmöglichkeit  machen,  bei  der  Gebäudesteuer  schliesslich 
doch  auch,  wiewohl  in  abgeschwächtem  Maasse  vorhanden 
sind.  Der  Gedanke  die  Grundsteuer  den  Gutsbesitzern  in 
ihr  Portemonnaie  zu  stecken,*' zeigt  uns  die  dem  Ueberwei- 
snngsplan  anhaftenden  Mängel  gewissermassen  unter  dem 
Mikroskop.  Während  aber  für  die  Behandlung  der  Grund- 
steuer besonders  ihres  uns  zweifellosen  Charakters  wegen  der 
Weg  vorgezeichnet  ist,  ist  es  schwer,  zu  der  Ueberweisung 
der  Gebäudesteuer  entschieden  Stellung  zu  nehmen. 

Man  muss  hier  unterscheiden  zwischen  dem,  was  man 
grundsätzlich  für  die  wünschenswerthe  Regelung  hält  und 
dann,  was  unter  den  augenblicklichen  politischen  Verhält- 
nissen geschehen  soll. 

Grundsätzlich  wünschenswerth  ist  es,  dass  die  ver- 
schiedenen Elemente,  welche  in  der  heutigen  Gebäudesteuer 
enthalten  sind,  zu  deutlicher  Scheidung  gelangen.  In  der 
Gebäudesteuer  steckt  ein  Stück  Reallast,  ein  Stück  Ertrags- 
besteuerung, und  endlich  auch  etwas  von  der  Vorstellung, 
dass  der  steigende  Werth  des  Grund  und  Bodens  in  irgend 
einer  Form  der  Gesammtheit  zu  gute  kommen  soll.  Die 
beiden  ersteren  Punkte  sind  in  der  heutigen  Gebäudesteuer 
verquickt;  der  letztere,  hofft  man,  soll  in  ihrer  Fortentwicke- 


No.  12. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


139 


Inno-  als  Gemeindesteuer  zur  Geltung  kommen.  Diese  drei 
Dinge  sind  nicht  durch  eine  Steuer  zu  erreichen.  Aus  den 
schon  oft  erörterten  Gründen,  um  derentwillen  der  preussi 
sehe  Staat  seine  Grundsteuer  nicht  autgeben  sollte,  sollte 
er  auch  die  mit  Gebäuden  besetzten  Flächen  der  unab- 
änderlichen Grundsteuer  unterwerfen.  Damit  würde  dieser 
Theil  der  Abgabe  aus  der  Steüerverfassung  ausscheiden 
und  ebenso  zu  einer  Rente  werden,  wie  die  ländliche  Grund- 
steuer es  schon  heute  ist.  Die  sogenannte  Ertragssteuer 
vom  Gebäude  ist  vorzüglich  geeignet  für  die  Gemeinden, 
welche  häufig  nicht  die  ganze  Persönlichkeit,  sondern  nur 
den  Hausbesitzer  als  solchen  zu  besteuern  haben;  allein 
man  gebe  nur  jede  Hoffnung  auf,  diese  Steuer  ergiebig  zu 
gestalten,  wenn  man  hier  (nach  einer  angeblichen  wissen- 
schaftlichen Lehre  von  der  Ertragssteuern)  die  Berücksich- 
tigung der  Sehuldenzinsen  und  sonstiger  persönlichen  Ver- 
hältnisse weiter  verbieten  will;  nicht  die  Ertragssteuern 
neben  der  Einkommensteuer,  sondern  statt  derselben  haben 
in  der  Gemeindeverfassung  ihre  Berechtigung.  Der  Punkt, 
an  welchem  die  Gebäude  eine  Spezialbesteuerung  vertragen, 
ist  der  dritte:  die  Steigerung  der  Bodenrente  muss  in 
irgend  einer  Form  dem  staatlichen  oder  dem  kommunalen 
Fiskus  steuerpflichtig  gemacht  werden.  Einen  Einsatz- 
punkt  hierfür  giebt  der  Entwurf  des  Kommunalabgaben- 
Gesetzes,  welcher  für  die  Kosten  von  Anlagen,  die  zur  He- 
bung des  Grundbesitzes  beitragen,  ein  neues  Umlagever- 
fahren zulässt  (§  7).  Wenn  diese  äusserst  zahm  gehaltene 
Vorschrift  erweitert  wird,  so  kann  hier  der  Einsatzpunkt 
für  eine  vollständige  Umwälzung  unserer  Grundbesteuerung 
gegeben  sein. 

Unter  den  gegenwärtigen  politischen  Verhältnissen  ist 
die  Parteigruppirung  aber  gerade  der  Ueberweisung  der 
Steuer  am  meisten  günstig,  welche  am  allerwenigsten  zur 
Ueberweisung  geeignet  ist,  nämlich  der  Grundsteuer.  Wird 
nun  die  Grundsteuer  überwiesen,  so  würde  es  heissen,  die 
hierin  liegende  Privilegirung  des  ländlichen  Grundbesitzes 
noch  ungleich  verschärfen,  wenn  man  den  Städten  die  Ueber- 
weisung der  Gebäudesteuer  versagen  wollte.  Wenn  die 
Städte  die  Gebäudesteuer  erhalten , so  genügt  es  nicht, 
ihnen  im  Gesetz  das  Recht  zu  geben,  dieselbe  zu  refor- 
miren.  Es  müsste  vielmehr  die  Forterhebung  der  staat- 
lichen Gebäudesteuer  untersagt  und  die  jährliche  Neu- 
einschätzung  ausdrücklich  vorgeschrieben , es  müsste 
endlich  durch  energische  Bestimmungen  dafür  gesorgt  wer- 
den, dass  der  Gebäudebesitz  in  den  Städten,  und  namentlich 
die  V erthsteigerung  desselben  ernstlich  herangezogen  und 
die  Erträge  im  Interesse  des  Gemeindewesens  verwendet 
werden. 

Berlin.  J.  Jastrow. 


Die  Einkommensverhältnisse  der  Beamten  in  Italien. 

Es  kann  wohl  als  eine  ziemlich  allgemein  gültige  Er- 
scheinung angesehen  werden,  dass  die  Besoldungsverhält- 
nisse der  Beamten  ungünstig  sind,  dass  diese  grosse  ge- 
sellschaftliche Klasse  somit  zu  einer  Lebensführung  ge- 
nöthigt  ist,  welche  vielfach  an  sich  und  nahezu  immer  mit 
Rücksicht  aut  ihren  Bildungsstand,  die  Erziehung  und 
soziale  Position  als  unzulänglich  bezeichnet  werden  muss. 
Dies  gilt,  wenigstens  für  den  Kontinent,  wohl  mit  Ausnahms- 
losigkeit und  zwar  von  den  niedersten  Löhnen  und  Ge- 
halten angefangen  bis  fast  in  die  höchsten(Gehalts-  und  Rangs- 
klassen hinauf.  Und  doch  ist  diese,  allerdings  mit  grosser 
Berechtigung  auftretende  Ansicht  nur  aus  einer  mehr  ober- 
flächlichen Einsicht  der  thatsächlichen  Verhältnisse  abge- 
leitet. Deshalb  stossen  Berathungen  der  parlamentarischen 
Körperschaften  stets  auf  so  erhebliche  Schwierigkeiten. 
Einerseits  liegen  die  konkreten  Verhältnisse  nicht  genügend 
zu  Tage  und  andererseits  ist  der  finanzielle  Effekt  einer 
Gehaltsregulirung  so  lange  nicht  genau  vorherzubestimmen, 
als  über  die  Rangs-  resp.  Einkommensvertheilung  unter 
den  Beamten  nicht  ganz  genaue  Daten  vorliegen. 


Eine  rühmliche  Ausnahme  in  dieser  Hinsicht  bildet 
Italien,  dessen  Generaldirektion  der  Statistik  überhaupt 
nicht  leicht  vor  irgend  einem  Probleme  der  Verwaltungs- 
Statistik  Halt  macht.  Die  jüngste  und  ganz  besonders  vor- 
treffliche diesbezügliche  Erhebung  wird  in  dem  neuesten 
Hefte  der  Annali  (IV.  Serie,  62.  Heft)  mitgetheilt,  und  in 
Folgendem  sollen  einige  Hauptübersichten,  welche  ich 
aus  derselben  gemacht  habe,  vorgeführt  werden.  Der 
sozialstatistische  Inhalt  solcher  Erhebungen  ist  sehr  gross, 
denn  sie  ermöglichen  es  in  die  Einkommensverhältnisse 
einer  bedeutenden  Schichte  des  Volkes  einzudringen  und 
überdies  zu  erfassen,  wie  gross  die  Zahl  derer  und  die 
hierfür  erforderlichen  Geldsummen  sind,  welche  zur  Er- 
haltung eines  erheblichen  Bruchtheiles  des  Volkes  durch 
dessen  organisirte  Form,  den  Staat,  verwendet  werden. 

Allerdings  muss  dabei  die  Voraussetzung  gemacht 
werden,  dass  die  Tausende  von  Menschen,  um  die  es 
sich  hier  handelt,  gerade  von  jenen  Summen  ihrer  Ein- 
nahmen ableiten,  welche  ihnen  der  Staat  in  Form  von  Ge- 
halt u.  dgl.  zur  Verfügung  stellt.  Es  kann  dabei  eben  nicht 
auf  andere  Momente  Bezug  genommen  werden.  Solche 
sind  zunächst  andere  Formen  des  öffentlichen  Einkommens, 
welche  ausserhalb  der  fixen  Gehalts bezüge  stehen.  Diese 
dürften  aber  nicht  sehr  in  die  Wagschale  fallen;  in  Oester- 
reich z.  B.  beliefen  sich  diese  steuerpflichtigen  „sonstigen 
Bezüge“  1890  auf  nicht  ganz  2 Milk  Gulden  und  betrafen 
das  Einkommen  aus  Tantiemen,  Kollegien-  und  Schulgeldern, 
Rigorosen-,  Promotions-  und  Disputationstaxen,  Stola- 
gebühren etc.  Ferner  kann  eine  solche  Statistik  auf  das 
ausseramtliche  Einkommen  der  Staatsbediensteten  nicht 
eingehen. 

Dieses  ausseramtliche  Einkommen  kann  sich  entweder 
als  sogenannter  Nebenverdienst  heraussteilen,  welchen  man 
zwar  auch  nirgends  statistisch  erfasst  hat,  aber  doch  durch 
die  bei  Volkszählungen  übliche  Frage  nach  dem  Neben- 
berufe einigertnassen  zu  beurtheilen  im  Stande  ist.  Es 
kann  sich  dann  ferner  als  Einkommen  aus  Privatvermögen 
darstellen,  zu  dessen  Bezug  der  Beamte  aus  irgend  einem 
Titel,  in  eigenem  Namen  oder  in  jenem  seiner  Angehörigen 
berechtigt  ist.  Man  hat  überhaupt  gar  keine  Ahnung, 
wie  es  thatsächlich  mit  diesen  V erhältnissen  bestellt  sei. 

Im  Allgemeinen  möchte  wohl  zu  sagen  sein,  dass  die 
Fälle  ungemein  zahlreich  sind,  in  welchen  dem  Beamten 
neben  dem  eigentlichen  Amtseinkommen  noch  weitere  Ein- 
nahmen zu  Gebote  stehen.  Wie  hoch  dieselben  aber  sein 
mögen,  in  welchem  Umfange  sie  auftreten  u.  dgl.,  darüber 
ist  ein  Urtheil  schlechthin  ausgeschlossen. 

Unter  diesen  Voraussetzungen  nun  soll  an  die  Ergeb- 
nisse der  italienischen  Beamtenstatistik  herangeschritten 
werden.  Dieselbe  bezieht  sich  auf  den  Stand  vom  I.  Juli 
1891.  Es  werden  insgesammt,  d.  h.  Civil-  und  Militärper- 
sonen, einschliesslich  des  Heeres,  in  der  Zahl  von  423  497 
ausgewiesen,  welche  in  Staatsdiensten  stehen,  und  diese 
beziehen  zusammen  vom  Staate  jährlich  mehr  als  x/3  Mil- 
liarde Lire. 

Zunächst  ist  es  erforderlich  aus  diesen  Gesammtziffern 
Jene,  welche  dem  Heeresverbande  angehören,  also  Offiziere 
und  Soldaten  auszuscheiden.  Bezüglich  der  Soldaten  resp. 
der  Mannschaft  unterliegt  dies  wohl  gar  keinem  Zweifel, 
weil  mit  den  Bezügen  dieser  Personenklasse  kein  analoges 
wirthschaftliches  Moment  gegeben  ist,  wie  bei  den  Gehalten 
sonst.  Die  Berufsstellung  hier  beruht,  schon  gemäss  dem 
Wehrsysteme,  auf  ganz  anderen  Voraussetzungen.  Ferner 
sind  diese  Personen  im  Allgemeinen  nur  ganz  vorübergehend 
dieser  Berufs-  und  Einkommensklasse  zuzuzählen  u.  s.  f. 
Dagegen  könnte  vielleicht  die  Ansicht  bestehen,  es  seien 
die  Offiziere  wirthschaftlich  genau  so  wie  die  anderen 
öffentlichen  Bediensteten  zu  qualifiziren.  In  gewissem  Finne 
ist  dies  wohl  berechtigt;  aber  es  ist  nicht  zu  vergessen,  dass 
gerade  in  dieser  Berufsklasse  das  Privatvermögen  die 
grösste  und  häufig  ausschlaggebende  Rolle  spielt,  und  dass 
hier  die  Ehrenvortheile  nach  verschiedenen  Richtungen  hin 
oft  gerade  dasjenige  sind,  was  mit  dem  Waffenhandwerke 
erstrebt  wird. 


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SOZI  AI-POLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  12. 


Gemäss  dem  Vorwalten  des  Militäretats  in  den  heuti- 
gen Budgets,  ist  die  auf  die  Besoldungen  der  Offiziere  und 
Mannschaften  entfallende  Post  die  ausschlaggebendste  im 
ganzen  Haushalte.  Von  den  genannten  423  497  Personen 
sind  nicht  weniger  als  303  889  hierher  zu  zählen,  d.  i.  2Vs  mal 
so  viele  als  die  Civilverwaltung  erfordert.  Der  Etat,  der 
durch  diese  gewaltige  Ziffer  von  303  889  Menschen  erforder- 
lich ist,  beträgt  über  186  Millionen,  d.  h.  etwa  die  Hälfte 
des  gesammten  Personalaufwandes,  während  die  andere 
Hälfte  auf  die  Civilverwaltung  entfällt. 

Auch  in  einigen  Zweigen  der  Civilverwaltung  be- 
gegnen wir  bewaffneter  Macht,  wie  z.  B.  den  Gendarmen, 
Zollwächtern,  Flurschützen  u.  dgl.,  und  zwar  in  nicht  un- 
beträchtlicher Anzahl;  es  gehören  zusammengenommen 
nicht  viel  weniger  als  30  000  Personen  hierher,  welche  zu- 
sammen etwa  28  Mill.  Gulden  an  Besoldungen  beziehen. 
Aber  es  ist  vollkommen  gerechtfertigt,  diese  Personen  mit 
den  Beamten  der  Civilverwaltung  gleichzustellen,  da  ihre 
Lebensverhältnisse  vollkommen  übereinstimmen. 

In  den  übrigen  Beamten-  und  Gehaltsklassen  erkennt 
man  leicht  die  Typen  des  heutigen  Staates,  resp.  der  heuti- 
gen Verwaltung:  vor  Allem  die  gewaltige  Armee  der  Lehr- 
personen (12V2  Tausend),  dann  die  kaum  minder  stattliche 
des  Post-  und  Telegraphendienstes  (11  '/2  Tausend);  darauf 
folgen  in  ziemlich  gleicher  Stärke  die  richterlichen  Perso- 
nale und  die  Finanzbeamten  aller  Art  (je  10  000),  endlich 
erheblich  weniger  zahlreich  die  politischen  Beamten  (6000) 
im  engsten  Sinne;  in  weitem  Abstand  folgen  dann  die 
übrigen  Hauptkategorien.  — 

Was  nun  das  durchschnittliche  Einkommen  der 
Staatsbediensteten  in  Italien  anbelangt,  so  zerfällt  dies 
naturgemäss  in  2 Kategorien : in  die  niederen  Löhne,  und 
in  die  eigentlichen  Gehalte,  wenngleich  in  letzteren  auch 
die  Bezüge  der  eigentlichen  Amtsdiener  u.  dgl.  inbegriffen 
sind,  so  dass  sich  die  Löhne  nur  auf  die  Handwerker,  Ar- 
beiter und  ähnliche  beziehen.  Diese  Durchschnittslöhne 
stellen  sich  auf  355 — 443  Lire,  somit  ungemein  niedrig,  und 
steigen  nur  bei  den  Handwerkern  der  Marine  auf  868  Lire. 
Dem  entsprechend  betragen  die  Dnrchschnittsbezüge  der 
Mannschaft  in  Heer  und  Marine  442  resp.  394  Lire. 

Zwischen  diesen  Einkommen  und  jenen  der  eigent- 
lichen Beamten  stehen  diejenigen  der  verschiedenen  be- 
waffneten Korps  der  Civilverwaltung,  und  zwar  sind  diese 
im  Durchschnitt  mit  821  — 1040  Lire  ausgemessen,  im  Allge- 
meinen wohl  viel  zu  niedrig,  um  sie  vor  den  Anfechtungen 
zu  schützen,  welchen  gerade  diese  Berufsklasse  besonders 
stark  ausgesetzt  ist. 

Die  Bezüge  der  Offiziere  und  Beamten  endlich  linkl. 
der  eigentlichen  Staatsdiener)  belaufen  sich  nach  Ressorts 
im  Durchschnitt  auf  1574 — 3524  Lire.  Am  geringsten  stehen 
die  Durchschnittsgehalte  bei  den  vielgeplagten  Jüngern  der 
Post  und  des  Bakels  (1574,  1785  Lire),  während  sie,  bis  auf 
2 Ausnahmen,  bei  den  Beamtenkategorien  aller  anderen 
Ressorts  zwischen  2000  und  3000  Lire  schwanken.  Die 
Ausnahmen  betreffen  die  Offiziere  der  Marine  (3161  Lire; 
übrigens  steht  auch  schon  der  Durchschnittsgehalt  der 
Offiziere  des  Landheeres  relativ  hoch:  2810  Lire)  und  die 
im  Allgemeinen  höher  gehaltenen  Beamten  des  äusseren 
Dienstes,  d.  i.  des  Gesandtschafts-  und  Konsulardienstes. 

Es  ist  jedoch  ziemlich  unsicher,  mit  solchen  Durch- 
schnittsziffern zu  operiren,  und  in  Folge  dessen  soll  in  der 
folgenden  Tabelle  eine  Uebersicht  sämmtlicher  Staatsbe- 
diensteten nach  einer  detail lirten  Einkommensskala  gegeben 
werden,  welche  abgesehen  von  den  niedrigsten  und  höch- 
sten Kategorien  von  1000  zu  1000  Lire  ansteigt.  In  ge- 
wisser Hinsicht  musste  bei  mancher  Einreihung  in  dieses 
Schema  etwas  freier  vorgegangen  werden,  so  namentlich 
hinsichtlich  der  Offiziere  und  Verkehrsbeamten,  deren  Ge- 
haltsbezüge so  ausgemessen  sind,  dass  sie  einer  Gruppirung 
nach  Stufen  von  1000  zu  1000  Lire  unzugänglich  sind.  Den- 
noch dürfte  es  werthvoller  sein,  ein  derartiges  grosses  Ge- 
sammtbild  über  die  (Minimal-)  Einkommensverhältnisse,  d.  h. 
die  Einkommen  aus  staatlicher  Bezugsquelle  für  die  immer- 
hin bedeutsame  Summe  von  fast  Vs  Mill.  Menschen  zu  er- 
halten, als  aus  Gründen  statistischer  Skrupulosität  auf  die 


Uebersichtlichkeit  zu  verzichten  Die  Tabelle  enthält  auch 
eine  Reihe  für  die  Bediensteten  „ohne  Gehalt“,  d)  i.  im 
Wesen  die  jungen  Anwärter  des  Staatsdienstes  in  der  aller- 
ersten Zeit  ihres  Dienstes;  übrigens  ist  deren  Ziffer  that- 
sächlich  weit  grösser  als  700,  da  sie  nicht  von  allen  Ressorts 
mitgetheilt  worden  ist. 


Gehaltsklassen 
(in  1000  Lire) 

Gesammt- 
summe  der 
Angestellten 

Offiziere  und 
Soldaten  in 
Heer  und 
Marine 

Personen 
der  Civil- 
verwaltung 

ohne  Gehalt .... 

693 



693 

bis  0,8 

289  618 

269  087 

20  531 

über  0,8—1  .... 

43  592 

13  822 

29  770 

„ 1-2  .... 

52  165 

13  157 

39  008 

„ 2—3  .... 

15  436 

477 

14  959 

„ 3-4  .... 

9 958 

5 114 

4 844 

„ 4-5  .... 

3 521 

1 523 

1 998 

..  5-6  .... 

958 

101 

857 

.,  6-7  .... 

812 

418 

394 

„7-8  ... 

83 

— 

83 

„ 8-9  .... 

391 

127 

264 

„ 9-10  .... 

34 

— 

34 

„ 10  — 12  .... 

131 

57 

74 

„ 12—15  .... 

23 

1 

22 

„15 

16 

5 

11 

aut  Sporteln  gesetzt 

1 425 

— 

1 425 

1.2 -2,5  ■ • 

1 708 

— 

1 708 

1,2-34  . . . V 

2 654 

— 

2 654 

1 5—2,5  ...  1 

279 

— 

279 

Zusammen 

423  497 

303  889 

119  608 

In  dieser  Tabelle  ist  der  Civildienst  vom  eigentlichen 
Heeresdienste  getrennt;  was  den  letzteren  anbelangt,  so 
beziehen  sich  die  beiden  ersten  und  ein  Theil  der  dritten 
Gehaltsklasse  auf  die  Mannschaften,  dann  der  Rest  der  dritten  ! 
Gehaltsklasse  und  alle  übrigen  auf  die  Offiziere.  Der  weit- 
aus grössere  Theil  derselben  bezieht  1000 — 2000  Lire,  kaum  ! 
die  Hälfte  von  deren  Zahl  3000 — 4000  Lire  und  wieder  nur 
etwas  über  1/ä  von  dieser  letzeren  Ziffer  4000-  5000  Lire. 
Wohl  nur  '/so  «der  5 pCt.  aller  Offiziere  erhalten  mehr  als 
5000  Lire  an  Sold.  Es  birgt  somit  auch  in  Italien  das  Waffen- 
handwerk viel  glänzendes  Elend. 

Was  nun  die  120  000  Civilbeamten  anbelangt,  so  müssen  ( 
wir  zunächst  die  4600  Beamten  der  Post  und  Telegraphen-  j 
Verwaltung  in  die  Skala  eintheilen,  was  vielleicht  ohne  Ein-  ; 
wand  so  geschehen  kann,  dass  wir  sie  je  zur  Hälfte  (=  2300) 
in  die  Skala  1000 — 2000  Lire  und  2000 — 3000  Lire  einstellen,  j 
Dann  kann  die  prozentuelle  Vertheilung  aller  Civilbedien- 
steten  in  die  einzelnen  Gehaltsklassen  übersichtlich,  wie 
folgt,  angenommen  werden : 


Zugehörige  Civilbedienstete 

Gehaltsklasse  in  Prozent  von  deren  Gesammt- 

summe 

bis  800  Lire 17 

801—1000  „ 25 

1001—2000  „ 35 

2001—3000  „ 14 

3001—4000  4 

4001—5000  1,7 

über  5001  „ 1,4 


Es  befindet  sich  somit  fast  die  gesammte  italienische 
Beamtenschaft  in  den  Gehaltsklassen  unter  3000  Lire,  denn 
auf  die  besser  dotirten  entfallen  nur  7 pCt. ! Und  zwar 
beziehen  mehr  als  '/3  nur  1001 — 2000  Lire,  '/4  gar  nur  800 
bis  1000  Lire  und  V«  noch  weniger;  endlich  1/t  die  auch 
noch  höchst  bescheidene  Summe  von  2000 — 3000  Lire.  Neh- 
men wir  an,  dass  die  Beamten  der  Kategorie  1000 — 2000 
im  Durchschnitte  1500  Lire  erhalten,  so  ist  zu  konstatiren, 
dass  mehr  als  3/4  aller  Civilbediensten  Italiens  weniger  als 
1500  Lire  = 680  fl.  Oe.  W.  beziehen.  Fürwahr  es  liegt  ein 
wahrer  Heroismus  darin,  wenn  unter  solchen  Arbeiterlöhnen 
Beamtendienste  geleistet  und  Ausgaben  bestritten  werden, 
zu  welchen  der  leidige  „Stand“  diese  Gesellschaftsklasse  oft 
unerbittlich  nöthigt,  während  der  dringendste  Bedarf  nicht 
bestritten  werden  kann. 


V Post-  und  Telegraphenbeamten. 


No.  12. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


141 


Und  man  kann  nicht  etwa  da  den  Einwand  erheben, 
dass  diese  Ziffern  deshalb  so  gering  sind,  weil  in  denselben 
vielleicht  jene  Personen  allzu  zahlreich  seien,  deren  Ein- 
kommen mehr  nach  Massgabe  der  Arbeitslöhne  zu  bemessen 
wäre.  Ganz  im  Gegentheil.  Die  eigentlichen  sogenannten 
Staatsdiener  sind  — wie  die  folgende  Tabelle  zeigt  — nur 
in  der  Zahl  von  ca.  1 1 000  vorhanden  und  beziehen  zu- 
sammengenommen 10  Mill.  Lire.  Somit  beträgt  die  Entloh- 
nung eines  Dieners  allerdings  im  Durchschnitte  nur  900  Lire 
aber  ihre  Zahl  ist  zu  gering,  als  dass  sie  das  Gesammt- 
ergebniss  beeinflussen  könnte.  Das  bewaffnete  Korps  be- 
steht aus  29  000  Mann,  welche  zusammen  28  Mill.  Lire  be- 
ziehen, so  dass  der  Durchschnittslohn  etwa  950  Lire,  also 
etwas  mehr  als  bei  den  Dienern  ausmacht.  Wir  können 
somit  ziemlich  richtig  annehmen,  dass  Diener  und  Wach- 
korps zusammen  in  die  zwei  Gehaltskategorien  bis  1000 
Lire  fallen.  Nun  aber  sind  in  diesen  beiden  Gehaltsstufen 
etwa  50  000  Personen  eingereiht,  während  Diener  und  Wach- 
korps zusammen  nur  aus  40  000  Personen  bestehen.  Es 
müssen  also  noch  etwa  10  000  Beamte  in  dieser  niederen 
Gehaltsstufe  stehen,  falls  dieselbe  nicht  etwa  von  Arbeitern, 
Handwerkern  etc.  ausgefüllt  wird.  Somit  steht  dann  das 
Gros  der  eigentlichen  Beamten,  etwa  70  000,  in  den  Gehalts- 
stufen von  1001  Lire  aufwärts,  und  zwar  befinden  sich  nicht 
weniger  als  60  000  in  den  Gehaltsklassen  von  1000  bis 
3000  Lire. 

Die  erwähnte  Tabelle  lautet  nun  folgendermassen: 


Kategorien 

Zahl  der 
Per- 
son eil 
(in  1000) 

Besol- 
dungs- 
summe 
in  Mill. 

Lire 

1.  Diplomatie  und  Consular-Personal  . . . 

0,2 

0,9 

2.  Civildienst  ausser  Post  3—5 

33,8 

80.8 

3.  lustizpflege 

9,6 

24,8 

4.  Lehrpersonale 

9,6 

18,6 

5.  Diener 

6.  Bewaffnete  Mannschaften  in  den  Minist. 

11,0 

10,2 

liir  Inneres,  Finanzen  und  Ackerbau  . 

29,0 

27,9 

47,5 

7.  Offiziere . . 

16,7 

8.  Militär-Mannschaft  ....  ... 

inkl.  Militär-Handwerker 

313,4 

148,9 

Gesammtsumme 

423,3 

359,6 

Es  sind  dies  die  Hauptkategorien  der  Verwaltung,  und 
es  hat  auch  vom  Standpunkte  der  Struktur  derselben  ein 
Interesse,  zu  sehen,  wie  sich  deren  verhältnissmässiges  Ge- 
wicht im  Personalbedarf  des  Staates  ausprägt. 

Die  Einblicke,  die  man  durch  die  neue  italienische 
Beamtenstatistik  auch  in  sozialer  Hinsicht  erlangen  kann, 
sind  sonach  höchst  bedeutungsvoll  und  es  wäre  zu  wün- 
schen, dass  dieselben  in  ähnlicher  Vollkommenheit  auch  für 
die  anderen  grossen  Staaten  ermöglicht  würden. 

Prag.  Ernst  Mischler. 


Die  Steuerreform-Kommission  des  preussischen  Ab- 
geordnetenhauses beendete  die  erste  Berathung  der  Ver- 
mögenssteuer („Ergänzungssteuer“).  Zum  Ersatz  für  die  ab- 
gelehnte obligatorische  V ermögensanzeige  (s.  Sozialpolitisches 
Centralblatt  No.  11)  wurde  der  Behörde  das  Recht,  Zeugen 
und  Sachverständige  zu  vernehmen,  allgemein  beigelegt, 
während  die  Vorlage  es  nur  gegenüber  beanstandeten  Ver- 
mögensanzeigen vorgeschlagen  hatte.  Von  sozialpolitischer 
YV  ichtigkeit  sind  namentlich  die  Beschlüsse  über  die  Steuer- 
freiheit der  kleineren  Vermögen.  Die  Vorlage  (§  17)  liess 
^ ermögen  bis  6000  M.  grundsätzlich  steuerfrei,  und  ver- 
schonte auch  die  etwas  grösseren  Vermögen  bis  16  000  M., 
wenn  der  Besitzer  kein  grösseres  Einkommen  als  900  M. 
hatte  (bei  Wittwen,  Waisen  etc.  1200  M.).  Die  Kommission 
setzte  die  Ziffer  16  000  aut  20  000  herauf.  Von  dem  Steuer- 
(ca-  7 2 pro  Mille  i wurden  einige  Abweichungen  be- 
schlossen. ^ Die  Steuer  von  Vermögen  bis  zu  30  00(1  M.  soll 
höchstens  2 M.  weniger  als  die  Einkommensteuer  des  Be- 
sitzers; und  wenn  derselbe  gar  kein  steuerpflichtiges  Ein- 
kommen hat,  höchstens  3 M.  betragen. 


Ein  anderer  Beschluss  der  Kommission  gestattet  bei 
kleinen  Vermögen  bis  zur  Höhe  von  50  000  M.  die  Berück- 
sichtigung besonderer  persönlicher  Verhältnisse,  und  dem- 
entsprechend eine  zeitweise  Ermässigung  der  Steuer 
um  zwei  Stufen.  Nach  der  Vorlage  ist  der  Zeit- 
werth einer  Lebensversicherungspolize  bei  Lebzeiten  des 
Versicherten  als  Vermögensobjekt  zu  betrachten  und  zu 
besteuern;  die  Kommission  hat  die  Versicherungen  bis  zum 
Betrage  von  24  000  M.  für  steuerfrei  erklärt.  — Einige  Be- 
schlüsse, betreffend  die  Grundsätze  der  Veranlagung  sind 
nach  den  bisher  bekannt  gewordenen  Nachrichten  nicht 
recht  zu  beurtheilen.  Die  Vorlage  ordnet  an,  dass  der 
Kurswerth  börsengängiger  Papiere  nach  dem  Kurse  eines 
bestimmten  Tages  zu  berechnen  ist;  eine  Massregel, 
welche  offenbar  der  schweizerischen  Gesetzgebung  ent- 
nommen ist  und  dazu  dienen  soll,  Schiebungen  in  der  Be- 
rechnung zu  verhindern.  Es  ist  nicht  recht  einzusehen, 
weswegen  die  Kommission  statt  dieser  klaren  Bestimmung 
die  unklare  Bestimmung  „nach  dem  Kurswerthe“  gefasst 
hat.  Die  Vorlage  ordnet  an,  dass  rückständige  Zinsen  (wenn 
sie  nicht  etwa  unbeitreiblich  sind)  als  Kapitalforderung  zu 
betrachten  sind.  Man  kann  diese  Vorschrift  allenfalls  be- 
mängeln, weil  sie  überflüssig  sei.  Die  Kommission  hat  aber 
die  Bestimmung  gestrichen.  Es  soll  doch  damit  nicht  etwa 
einem  Kapitalisten  die  Möglichkeit  gegeben  werden,  seinen 
Kapitalszuwachs  Jahre  lang  der  Besteuerung  zu  entziehen, 
indem  er  die  Zinsen  weiter  auf  Zinseszins  stehen  lässt?  - 
Dass  die  Veranlagung  vom  Schluss  des  Jahrhunderts  ab 
nur  alle  drei  Jahre  erfolgen  soll  (der  Entwurf  hatte  dies 
königlicher  Verordnung  Vorbehalten),  ist  ebenfalls  bedenk- 
lich. Nachdem  die  obligatorische  Vermögensanzeige  ab- 
gelehnt war,  hätte  umsoweniger  die  Behörde  in  dem  Rechte 
alljährlicher  Neuveranlagung  beschränkt  werden  sollen.  - 
In  Betreff  der  Kontingentirung  der  Steuer  hatte  die  Vor- 
lage die  Summe  auf  35  Mill.  M.  für  das  Jahr  1895/96,  und 
für  die  folgenden  Jahre  auf  je  5 pCt  mehr  festgesetzt;  er- 
giebt  die  Veranlagung  ein  Plus  oder  Minus,  so  sollte  durch 
königliche  Verordnung  der  Steuerfuss  entsprechend  herab- 
gesetzt oder  erhöht  werden.  Die  Kommission  hat  die  Er- 
höhung nur  für  den  Fall  gestattet,  dass  der  Fehlbetrag  nicht 
durch  ein  Mehr  an  Einkommensteuer  gedeckt  würde.  Ferner 
hat  die  Kommission  das  gesetzgeberische  Versprechen  vor- 
geschlagen, die  Vermögenssteuer  in  Zukunft  nur  gleich- 
zeitig mit  der  allgemeinen  Einkommensteuer  zu  erhöhen. 

Alle  diese  Beschlüsse  haben  jedoch  nur  hypothetische 
Bedeutung,  da  inzwischen  noch  eine  Subkommission  mit 
der  Berathung  der  Frage  betraut  ist,  ob  überhaupt  die  Ver- 
mögenssteuer oder  eine  andere  Form  (Besteuerung  des 
„fundirten  Einkommens“)  gewählt  werden  soll. 

Bestrebungen  zur  Beschränkung  der  Freizügigkeit: 

ln  Ostpreussen  macht  sich  unter  den  landwirtschaftlichen 
Arbeitgebern  eine  lebhafte  Bewegung  gegen  die  Auswande- 
rung der  Arbeiter  nach  dem  Westen  und  namentlich  gegen 
die  Thätigkeit  der  sogenannten  Wanderagenten  geltend,  die 
in  skupelloser  Wejse  die  Arbeiter  zum  Auswandern  ver- 
anlassen sollen.  Jetzt  ist  nun  eine  Anzahl  von  Landwirten 
zusammengetreten  und  hat  einen  Aufruf  zur  Unterzeich- 
nung einer  Petition  erlassen,  die  nach  der  „Königsberger 
land-  und  forstwirthschaftlichen  Zeitung“  Folgendes  an- 
streben soll: 

1.  Den  Agenten  ist  der  Betrieb  ihres  Gewerbes  im  Lhrdier- 
zielien  sowohl  für  die  eigene  Person  als  auch  für  ihre 
Vertreter  gänzlich  zu  untersagen. 

2.  Die  Konzessionen  der  Agenten,  Stellenvermittler  und 
dergleichen  sind  auf  ein  Minimum  zu  beschränken 
und  ihre  Gebühren  durch  einen  festen  Tarif  fest- 
zusetzen. 

3.  Wer  seinen  Wohnort  verlässt,  verliert  mit  dem  Tage 
seines  Abzuges  den  Unterstützungswohnsitz  in  dem 
bisher  bewohnten  Orte  und  erwarbt  denselben  sofort 
in  dem  neuen  Wohnort  mit  seinem  Anzuge  daselbst. 

4.  Jede  Kommune  erhält  das  Recht,  Neuanziehemvollenden 
die  Aufnahme  zu  veiwveigern,  wenn  dieselben  als 
Arbeiter  nicht  nachweisen,  dass  sie  zuvor  einen  festen 
Kontrakt  an  einer  Arbeitsstelle  in  der  Kommune  ge- 
schlossen haben,  ferner  wenn  sie  krank  oder  siech  sind. 
Von  jedem  neu  Anziehenden  kann  die  Kommune  ein 
Anzugsgeld  erheben. 

Hiernach  würde  also  der  Arbeiter,  der  nach  einem  an- 
deren Orte  verziehen  will,  von  dem  Tage  seines  Abzuges 
an  bis  zu  seiner  Aufnahme  in  eine  neue  Kommune  ohne 


142 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  12. 


Unterstütsungswohnsitz  sein.  Gelingt  es  ihm  mm  nicht 
was  ja  nach  obigen  Bestimmungen  leicht  möglich  ist  — in 
einer  anderen  Kommune  Aufnahme  zu  finden,  so  kann  ihn 
natürlich  auch  der  Ort,  in  dem  er  sich  auch  früher  auf- 
hielt, nunmehr  abweisen,  denn  er  ist  ja  für  diesen  mit  dem 
Tage  des  Abzugs  ein  Fremder.  Ihm  bleibt,  besonders 
wenn  er  krank  oder  siech  ist,  nur  die  Landstrasse.  Auch 
eine  Sozialreform! 

Statistik  der  Fideikommisse  und  der  „todten  Hand“. 

Im  Reichstage  hat  der  deutsch -freisinnige  Abgeordnete 
Jordan  den  Antrag  eingebracht,  die  Reichsregierung  zur 
Ausarbeitung  und  Vorlage  einer  Statistik  aufzufordern,  aus 
der  erhellt: 

l.  ai  Der  jetzige  Umfang  und  Werth  des  durch  Fideikommiss, 
Stammgut,  Lehnsqualität  u.  s.  w.  der  freien  Verfügung 
der  Besitzer  oder  Nutzniesser  entzogenen,  d.  h.  „ gebun- 
denen“, wie  auch  des  in  der  sogenannten  „todten  Hand“, 
d.  h.  im  Besitz  des  Fiskus,  von  Korporationen,  Stif- 
tungen u.  s.  w.  befindlichen  Grundbesitzes; 
b)  die  Zunahme  desselben  seit  Wiedererrichtung  des 
Deutschen  Reiches;  sowie: 

II.  ob,  bezw.  in  welchem  Masse,  innerhalb  desselben  Zeitraumes 
der  freie,  besonders  der  bäuerliche  Grundbesitz  nach  Zahl, 
Umfang  und  Werth  der  Betriebe  abgenommen  hat,  und  zwar: 

a)  durch  Vereinigung  mit  den  ad  I bezeichneten  Liegen- 
schaften, oder 

b)  auf  welche  andere  Art? 

Der  Antrag,  welchem  billiger  Weise  wohl  Schwierig- 
keiten nicht  bereitet  werden  dürften,  entspricht  einem  gegen- 
wärtigen Bedürfniss  der  sozialpolitischen  Wissenschaft.  Man 
hatte  sich  daran  gewöhnt,  das  Fideikommiss  als  eine  im 
Absterben  begriffene  Einrichtung  zu  betrachten,  als  vor 
einigen  Jahren  die  statistischen  Untersuchungen  des  Pro- 
fessor Conrad  in  Halle  das  frappante  Ergebniss  lieferten, 
dass  wenigstens  in  den  sechs  östlichen  preussischen  Pro- 
vinzen die  Fideikommisse  aus  alter  Zeit  weit  seltener  sind, 
als  die  aus  neuerer  Zeit.  In  Preussen  werden  die  Fidei- 
kommissakten vollständig  in  den  Oberlandesgerichts-Archi- 
ven  gesammelt.  In  diesen  Akten  sind  Stiftungen  aus  dem 
17.  Jahrhundert  äusserst  selten.  Ja,  selbst  sämmtliche  Stif- 
tungen aus  dem  17.  und  18.  Jahrhundert  zusammengenom- 
men betragen  nur  153,  während  das  Gros  der  Fidei- 
kommisse (394)  erst  aus  dem  19.  Jahrhundert  stammt. 
Aber  auch  innerhalb  des  19.  Jahrhunderts  weist  die  erste 
Hälfte  nur  72  Stiftungen  auf,  während  die  zweite  Hälfte 
(obgleich  doch  noch  nicht  ganz  verflossen)  es  schon  bis 
zu  322  gebracht  hatte.  Die  vier  abgelaufenen  Jahrzehnte 
seit  1850  zeigten  folgende  Zahlen  von  Neustiftungen:  40, 
63,  84,  135;  eine  gewaltig  im  Steigen  begriffene  Reihe! 
6,2  Prozent  der  Gesammtfläche  der  östlichen  Provinzen 
sind  Fideikommisse.  Von  dem  Privatbesitz  in  Grösse  von 
über  1000  Hektar  sind  28  Prozent  der  Fläche,  von  den 
über  5000  Hektar  50,1  Prozent  der  Fläche  fideikommissarisch 
festgelegt.  Conrad  hat  auf  die  verhängnissvollen  Wir- 
kungen, namentlich  auf  den  Antheil  des  Fideikommisses  an 
der  Latifundienbildung,  hingewiesen.  Die  Frage  hat  auch 
gegenwärtig  eine  aktuelle  Bedeutung,  da  die  Kommission 
für  Ausarbeitung  des  „Bürgerlichen  Gesetzbuches“  auch 
über  die  Fortdauer  der  Fideikommisse  zu  entscheiden  haben 
wird.  Eine  über  das  ganze  Reich  ausgedehnte  Statistik 
kann  hier  nur  von  den  besten  wissenschaftlichen  Folgen 
begleitet  sein. 

Mit  vollem  Recht  stellt  der  Antrag  mit  den  Fidei- 
kommissen den  Besitz  der  „todten  Hand“  in  weitestem 
Umfange  auf  eine  Stufe.  Nur  sollte  hier  die  Statistik  nicht 
auf  den  Grundbesitz  beschränkt  bleiben.  Kolossale  Ver- 
mögen in  Gestalt  von  baarem  Gelde,  von  Staatspapieren, 
von  Schätzen  in  Gold  und  Silber,  befinden  sich  in  den 
Händen  von  Kirchengemeinden  und  von  Stiftungen  aller 
Art.  Es  ist  Zeit,  endlich  einmal  Licht  über  die  Entwick- 
lung dieser  Vermögen  zu  verbreiten.  Die  Statistik  unter 
Ausdehnung  auf  das  bewegliche  Besitzthum  kann  nicht 
einmal  schwer  durchzuführen  sein.  In  Preussen  wenigstens 
bedürfen  Korporationen  zur  Annahme  von  Vermächtnissen 
landesherrlicher  Genehmigung.  Wenn  nichts  weiter  ver- 
öffentlicht würde,  als  ein  Ueberblick  über  die  im  Laufe 
des  letzten  Jahrhunderts  ertheilten  landesherrlichen  Ge- 
nehmigungen, so  würde  schon  dies  erstaunliche  Resultate 
geben.  Auch  diese  Frage  hat  eine  aktuelle  Bedeutung,  da 
gegenwärtig  in  Preussen  eine  Vermögenssteuer  geplant 
wird,  bei  welcher  die  „todte  Hand“  das  Privilegium  der 
Steuerfreiheit  erhalten  soll. 


Der  Fleischverbrauch  im  Königreich  Sachsen.  Nach 
Anzahl  der  versteuerten  Schlachtstücke  und  unter  Berück- 
sichtigung des  Verkehrs  an  vereinsländischem  und  vereins- 
ausländischem Fleischw'erk  stellt  sich 


im  Jahre 

der  wirkliche  Ver- 
brauch in  1000  kg 

der  Konsum  per 
Kopf  in  kg 

Rind- 

fleisch 

Schweine- 

fleisch 

Rind- 

fleisch 

Schweine- 

fleisch 

zusammen 

1882 

37  661 

56  457 

12,4 

18,6 

31,0 

1883 

37  696 

59  195 

12,2 

19,2 

31,4 

1884 

36  462 

64  962 

1 1,6 

20,8 

32,4 

1885 

37  942 

64  691 

11,9 

20,4 

32,3 

1889 

49  084 

72  572 

14,4 

21,3 

35,7 

1890 

48  504 

71  549 

14,0 

20,6 

34,6 

Für  Leipzig  allein  stellt  sich  der  Fleischverbrauch 
per  Kopf  in  Kilogramm: 


im  Jahre 


Rindfl.  Schweinefl.  zusammen 


1888  32,1 

1889  28,4 

1890  23,2 

1891  \ 19  1 

mit  denVorortenf 


27.2 

25.2 

21.2 

59.3 
53,6 

44.4 

21,7 

40,8 

Nach  der  starken  Abnahme  des  Fleischkonsums  in 
Leipzig,  der  nicht  blos  durch  die  Inkommunalisirung  der 
Vororte  seit  1891  erklärt  wird,  dürfte  die  statistische  Nach- 
weisung für  1891  auch  für  ganz  Sachsen  ein  weiteres 
Zurückgehen  des  Fleischkonsums  konstatiren. 


Arbeitslosigkeit  in  Mannheim.  Die  sich  in  den  letzten 
Wochen  stetig  steigernde  Arbeitslosigkeit  in  Mannheim  hat 
die  dortigen  sozialdemokratischen  Gewerkschaften  veran- 
lasst, eine  ordnungsmässige  Zählung  der  Arbeitslosen  vorzu- 
nehmen und  es  ergab  sich  eine  Zahl  von  etwa  1500. 

Inzwischen  hatten  noch  andere  Arbeiterentlassungen 
stattgefunden  und  wurden  weitere  geplant ; so  dass  sich 
der  Oberbürgermeister  veranlasst  sah , mit  Arbeiterdele- 
girten  zu  verhandeln,  um  zunächst  beruhigend  zu  wirken. 
Die  Stadtverwaltung  hat  zwar  ein  Recht  auf  Arbeit  als 
nichtbestehend  den  Verhandlungen  vorausgesetzt,  jedoch 
die  Absicht  kund  gegeben,  eine  grössere  Zahl  von  Arbeits- 
losen mit  Strassenherstellung  und  Erdarbeiten  an  dem  zu 
erstellenden  Stadtpark  zu  beschäftigen. 

Leider  kann  das  nicht  Alles  so  plötzlich  geschehen, 
wie  es  Noth  thut  und  würden  auch  nicht  alle  Arbeitslosen 
Verwendung  finden. 

Die  Regierung  verfolgt  die  Kalamität  mit  Interesse 
und  wird  in  den  nächsten  Wochen  durch  den  Fabrikinspektor 
Wörrishoffer  mit  den  Arbeitgebern  verhandeln  lassen,  ob  es 
nicht  angeht,  anstatt  der  Kündigung  von  Arbeitern  nur  eine 
Kürzung  der  Arbeitszeiten  eintreten  zu  lassen. 

Dass  die  Arbeiter  mit  gekürztem  Lohn  für  gekürzte 
Arbeitszeit  immerhin  einer  trüben  Zeit  entgegen  gehen,  ist 
ausser  Zweifel  und  wird  der  Zustand  bei  Eintritt  von 
Frostwetter,  das  die  Schiffahrt  hindert,  noch  verschlimmert 
werden. 

Was  werden  solche  Vorkommnisse  für  Einfluss  üben 
auf  die  Entschliessungen  zur  Fortsetzung  der  Sozialreform 
auf  dem  Gebiete  der  Versicherungsgesetzgebung,  und  wird 
man  etwa  dadurch  geneigt  sein,  an  eine  Versicherung  gegen 
Arbeitslosigkeit  zu  gehen,  wie  sie  von  verschiedenen  Sozial- 
reformern bereits  eingehend  besprochen  worden  ist? 

Die  Arbeitslosen  in  England  Es  scheint,  dass  die 
neue  liberale  Regierung  gezwungen  sein  wird,  wenigstens 
zum  Theil  das  sozialpolitische  Programm,  welches  sie  in  der 
Wahlbewegung  aufstellte  und  -welchem  sie  zum  Theil  ihren 
Sieg  verdankt,  wahr  zu  machen.  Eine  Deputation  des 
Centralkomitees  der  Arbeitslosen  erschien  am  letzten  Frei- 
tag beim  Generalpostmeister  in  Audienz,  um  ihn  aufzu- 
fordern, die  Ueberzeitarbeit  im  Postdienste  abzustellen 
und  so  Arbeit  für  die  Arbeitslosen  zu  schaffen.  Unter  den 
Rednern  waren  Dr.  Aveling,  John  Maxwell  und  Quetsch. 
Es  wurde  ausgeführt,  dass  in  gewissen  Staatsbetrieben 
geradezu  noch  mehr  Ueberzeit  gemacht  werde,  als  in 
privaten;  dass  die  Löhne  der  Arbeiter  bei  einzelnen  Klassen 
der  Arbeiter  im  Postdienst  ausserordentlich  niedrig  seien 
und  dass  angesichts  der  Thatsache,  dass  das  Postdepartement 
einen  jährlichen  Ueberschuss  von  3 000  000  Lstr.  ausweise, 
die  von  den  Trades  - Unions  bestimmten  Lohnsätze  und 


No.  12 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


143 


Arbeitszeit  angewendet  werden  sollten.  Der  Generalpost- 
meister, Herr  Arnold  Morley,  antwortete,  er  anerkenne 
die  hochernste  Natur  des  Gegenstandes,  welcher  ihm  unter- 
breitet werde.  Niemand  könne  die  Berichte  in  den  Zeitungen 
lesen,  ohne  den  Nothstand  anzuerkennen,  welcher  nicht  nur 
in  London,  sondern  in  allen  grossen  Städten  des  Landes 
drohe.  Er  würdige  die  Anregungen,  die  ihm  gemacht 
werden,  allerdings  nicht  als  definitive  Lösung  der 
Schwierigkeit,  aber  als  eine,  die  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  helfen  könne,  das  Elend  und  die  Notli, 
welche  heute  bestehen,  einzuschränken.  In  Bezug 
auf  die  Löhne  gab  er  zu,  dass  der  Marktpreis  der  Arbeits- 
leistung nicht  der  Maassstab  sein  dürfe,  durch  welchen  sich 
ein  Regierungsdepartement  bestimmen  lassen  dürfe.  Er 
sei  der  Ueberzeugung,  dass  die  Postdirektion,  soweit  sie  es 
mit  ihrer  Pflicht  gegen  das  Publikum  und  den  Lordschatz- 
meister vereinigen  könne,  anderen  grossen  Unternehmern 
ein  Beispiel  geben  müsse.  Er  sei  entschlossen,  alles  zu 
thun,  was  in  seiner  Macht  stehe,  damit  der  Beschluss  des 
Parlaments  ausgeführt  werde,  nach  welchen  die  Kontrakte 
und  die  Löhne  den  Festsetzungen  der  Gewerkschaften 
entsprechen  sollen,  und  zwar  nicht  nur  dem  Buchstaben 
nach,  sondern  dem  Geiste.  In  Bezug  auf  die  Ueberzeit 
gehe  die  Politik  des  Postdepartements  in  den  letzten  Jahren 
dahin,  sie  zu  beschränken  und  die  Arbeitszeit  so  viel  als 
möglich  abzukürzen.  Nur  zu  gewissen  Zeiten,  so  bei  An- 
kunft der  amerikanischen,  indischen  und  Cap-Post  sei  es 
unmöglich,  ohne  Ueberzeit  auszukommen.  Uebrigens  werde 
er  mit  aller  Kraft  bestrebt  sein,  die  Ueberzeit  zu  beseitigen, 
und  er  versicherte  der  Deputation,  dass  ihre  Argumente 
dazu  beigetragen  hätten,  ihn  in  dieser  Richtung  zu  bestärken. 

Arbeitsvermittelung  durch  die  Post  in  Luxemburg. 

Seit  dem  1.  Dezember  ist  eine  eigenartige  Form  der  Ar- 
beitsvermittelung in  Luxemburg  in  Anwendung  gekommen. 
Diejenigen  Arbeitgeber  und  Arbeiter,  welche  Arbeiter 
bezw.  Arbeit  suchen,  schreiben  ihr  Gesuch  auf  eine  Post- 
karte, welche  dem  Postamt  in  Luxemburg  als  Plauptver- 
mittelungsamt  zugeht.  Hier  werden  sämmtliche  Gesuche 
registrirt.  Am  Abend,  nach  Eingang  der  letzten  Tages- 
post, wird  eine  Zusammenstellung  aller  eingegangenen 
Gesuche  gedruckt  und  am  folgenden  Tage  allen  Postämtern 
zugestellt.  Die  Postämter  hängen  die  betreffende  Liste  an 
den  Schaltern  auf.  Man  verspricht  sich  von  dieser  Ein- 
richtung, durch  welche  jeder  vom  Stand  des  Arbeitsmarktes 
Kenntmss  nehmen  kann,  grossen  Nutzen  für  das  Land. 

Sozialstatistisches  ans  Canada.  In  ähnlicher  Weise 
wie  bei  der  Censusaufnahme  in  den  Vereinigten  Staaten 
von  Amerika  wird  in  Canada  verfahren,  man  beschränkt 
sich  nicht  aut  die  Aufnahme  des  bevölkerungsstatistisch 
Bemerkenswerthen,  sondern  dehnt  die  Erhebung  auf  eine 
Reihe  von  Gebieten  aus,  welche  mit  der  Bevölkerungs- 
statistik in  einem  blos  losen  Zusammenhänge  stehen.  Diesem 
Verfahren  verdanken  wir  einige  sozialstatistisch  bemerkens- 
werthe  Daten  über  Canada.  Die  Aufnahme  wurde  im 
Frühling  1891,  der  Hauptsache  nach  Anfangs  April  vorge- 
nommen. 

Einer  sehr  eingehenden  Darstellung  im  „Export“  ent- 
nehmen wir  die  folgenden  Daten:  Die  städtische  Bevölke- 

rung betrug  I 394  259  Köpfe,  demnach  29,9  pCt.  der  Ge- 
sammtbevölkerung.  40,8  pCt.  der  städtischen  Bevölkerung 
leben  in  den  47  (1881:  35)  Städten  mit  über  5000  Ein- 
wohnern, 44,9  pCt.  in  den  45  Städten  mit  3000 — 5000  Ein- 
wohnern und  20,3  pCt.  in  den  9 1 Städten  mit  1 500 — 3000 
Einwohnern. 

Die  rasche  Zunahme  der  städtischen  Bevölkerung 
wird  durch  die  folgenden  Angaben  illustrirt  Die  Stadt 
A ancouver  in  Britisch-Columbia , die  1881  noch  nicht 
bestand,  zählte  1891  schon  13  685  Einwohner.  In  der 
Zeit  von  1881  — 1891  stieg  die  Bevölkerungszahl  von  New- 
AA  estminster  von  1500  aut  6641  (342,9  pCt.),  Victoria’s  von 
5925  auf  16  841  ( 184,2  pCt.),  Winnipeg’s  von  7985  auf  25  642 
(221,1  pCt.)  Einwohner,  Montreal  wuchs  um  39,5  pCt., 
Toronto  um  88,4  pCt.,  Ottawa  um  41  pCt.,  Hamilton  um 
36,2  pCt.  Die  Zunahme  der  Gesammtbevölkerung  betrug 
hingegen  im  Jahrzehnt  1881  — 1891  blos  11,66pCt.  Während 
in  den  Städten  die  Bevölkerung  rasch  anwuchs,  nahm  sie 
in  vielen  ländlichen  Bezirken,  insbesonders  in  den  am 
längsten  besiedelten,  am  Atlantischen  Ozean  gelegenen  zum 
Theil  erheblich  ab.  Neben  der  überseeischen  Einwande- 
lung  findet  eine  starke  Wanderbewegung  der  eingeborenen 
Bevölkerung  statt,  ein  Zug  nach  Westen  in  die  der  Kultur 


erst  durch  den  Bau  der  Canadischen  Pacificbahn  er- 
schlossenen oder  noch  zu  erschliessenden  Gebiete  und  ein 
Zug  in  die  Städte.  In  Canada  waren  4 155  014  (1881: 
3 685  545),  im  Auslande  13,4  (1881:  14,2)  pCt.  der  Gesammt- 
bevölkerung  geboren.  Die  natürliche  Bevölkerungszunahme 
scheint,  soweit  sich  dies  aus  dem  Vergleiche  der  Ergeb- 
nisse der  seit  1870  vorgenommenen  Volkszählungen  scliliessen 
lässt,  abzunehmen. 

In  Canada  zählte  man  1891  930  684  Wohnstätten,  da- 
von waren  919  879  Häuser  aus  Holz  (81,6  pCt.),  Ziegeln 
(15,3  pCt.)  oder  Steinen  (11,31  pCt.),  250  Rasenhütten  und 
10  555  zu  zeitweiligem  Gebrauche  der  Holzfäller,  Säge- 
mühlen - , Eisenbahnarbeiter , Goldgräber  etc.  etc.  er- 
richtete Holzgebäude  , sogenannte  shanties.  Die  Zahl 
der  Gebäude  letzterer  Art  hat  seit  1881  um  4134  abge- 
nommen, was  für  die  zunehmende  Sesshaftigkeit  der  Be- 
völkerung spricht.  Von  den  919  879  Wohnhäusern  waren 
854  842  bewohnt,  54  164  unbewohnt  und  10  873  im  Bau  be- 
griffen. Während  die  Bevölkerung  um  11,66  pCt.  stieg, 
wuchs  die  Zahl  der  bewohnten  Häuser  um  15,8  pCt , was 
für  eine  Besserung  der  Wohnungsverhältnisse  spricht. 
Die  niedrigste  Durchschnittszahl  von  Bewohnern  hat 
Britisch-Columbia  mit  4,9  Einwohner  auf  ein  Haus,  die 
grösste  Quebeck  und  die  nordwestlichen  Territorien  mit 
6,0  Einwohner  auf  ein  Haus.  Nur  4 pCt.  der  Häuser  haben 
mehr  als  zwei  Stockwerke.  Miethskasernen  kommen  nur 
vereinzelt  vor. 

Mit  Ausschluss  des  Bergbaues  gab  es  im  April  1891 
in  Canada  75  765  (1881:  49923)  gewerbliche  Anlagen.  Die 
Zahl  der  Arbeiter  betrug  367  496,  um  112  561  (44  pCt.)  mehr 
als  im  Jahre  1881.  Aus  73,67pCt.  (1881:  76,07 pCt.)  Männern, 
1 9, 1 2 pC't.  (1881:  16,29pCt.)  Frauen,  5,28pCt.  (1881:  5,56pCt.) 
Knaben  und  1,93  pCt.  (1881:  2,08  pCt.)  Mädchen  setzte  sich 
die  industrielle  Arbeiterschaft  zusammen.  Demnach  hat 
die  Verwendung  der  jugendlichen  Arbeiter  unbedeutend 
abgenommen,  während  die  Frauenarbeit  auf  Kosten  der 
Verwendung  männlicher  Arbeiter  erheblich  an  Umfang  zu- 
genommen hat.  Die  Nahrungsmittelindustrie  beschäftigte 
1891  51  585  (1881:  21  146)  Arbeiter,  die  Textilindustrie  80662 
(1881:  60  617)  Arbeiter.  Die  Zahl  der  in  der  Papier- 

erzeugung, in  den  Druckereien  u.  s.  w.  beschäftigten  Ar- 
beiter stieg  um  53  pCt.,  jene  der  Maschinenindustrie  um 
30  pCt. 

In  der  Industrie  allein  waren  9873  Dampfmaschinen 
mit  298  372  Pferdekräften  in  Thätigkeit.  Eine  Maschine 
hatte  im  Durchschnitte  30  Pferdekräfte  gegen  26  in  Belgien. 
Im  ganzen  verfügt  Canada  über  1073  991  mechanische 
Pferdekräfte. 

Die  gesammten  Löhne  betrugen  993/i  Millionen  Dollars. 
Der  Durchschnittslohn  der  Arbeiter  271,2  Dollars  (1881: 
233,11  Dollars).  Der  Werth  der  von  jedem  Arbeiter  ge- 
lieferten Waare  betrug  1 292,44  Dollars  (1881:  1214,72  Dollars). 
Die  Löhne  machten  1891  20,98(1881:  19, 19)  pCt.  desAVerthes 
der  fertigen  AVaaren  aus. 


Arbeiterzustände. 


Zur  Statistik  der  deutschen  chemischen  Industrie. 

Bei  der  XV.  Hauptversammlung  des  Vereins  zur  Wahrung 
der  Interessen  der  chemischen  Industrie  Deutschlands  zu 
Berlin  am  11.  November  1892  wurden  aus  dem  Jahresbe- 
richte der  Berufsgenossenschaft  folgende  interessante  That- 
sachen  bekannt  gegeben: 


1889 

Die  Zahl  der  Betriebe  stieg  4809 

Die  Zahl  der  Vollarbeiter  90  585 

(300  Arbeitstage) 

Die  S u m m e der  bezahlte n 

Löli  ne 71 61 1 050 


1890 
5 043 
97  498 


80  074  696 


1891 
5 273 
100  285 


63855  957 


Hiernach  hat  sich  der  durchschnittliche  Arbeitslohn 
von  790,7  über  821,25  auf  836,17  M.  entwickelt,  d.  i.  eine 
Steigerung  von  1,3  pCt.  und  nach  2 Jahren  von  5,8  pCt. 
Von  89  chemischen  Fabriken  auf  Aktien  die  1891  mit  einem 
eingezahlten  Aktienkapital  von  212  539  200  M.  arbeiteten,  wur- 
den im  Ganzen  24  005  890  M.  Dividenden  bezahlt  d.  h. 
durchschnittlich  1 1 ,29  pCt.,  was  aber,  da  neben  den  ange- 
gebenen noch  andere  Kapitalien  mitarbeiteten,  zu  hoch  ist. 
Die  entsprechenden  Dividendenzahlen  von  1890  82  zurück 


144 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  12. 


sind  12,81;  10,58;  9,78;  8,92;  7,17;  7,96;  6,37;  10,02  und  für 
das  fahr  1882  12,82.  Ohne  Dividende  haben  von  den 
89  Aktienfabriken  20  gearbeitet  9 Betriebe  erzielten  0—2'/.2, 
14:  2Va— 5,  16  : 5--7'/2  pCt.,  14  7 >/o-  1 0 pCt.,  7.9  10—15  pCt. 
und  1Ö  15  pCt,  und  mehr.  Die  Zahl  der  über  71/2  pCt. 
vertheilenden  Fabriken  ist  von  51,2  pCt.  im  fahre  1890  auf 
41,5  pCt  in  1891  zurückgegangen.  Die  Entwicklung  ist  bei 
den  verschiedenen  Theilgebieten  der  chemischen  Industrie 
eine  sehr  verschiedene  gewesen. 

Kellnerinnenunwesen  in  Sachsen.  Der  Stadtrath  von  Mee- 
rane hatte  durch  allgemeine  Verordnung  das  Halten  von  Kellne- 
rinnen verboten.  Auf  Beschwerde  einiger  Wirthe  hat  nun  die 
Kreishauptmannschaft  das  Bestreben  der  Polizeibehörde,  dem 
Kellnerinnenunwesen  entgegen  zu  treten,  als  löblich  anerkannt, 
hat  aber  eine  allgemeine  Polizei  Verordnung  als  dem  Prinzip  der 
Gewerbefreiheit  widersprechend  für  nicht  zulässigerachtet;  es  ist 
vielmehr  die  Polizeibehörde  angewiesen,  in  jedem  einzelnen  kon- 
kreten Falle  ein  Verbot  eintreten  zu  lassen,  und  ist  ferner  daraut 
aufmerksam  gemacht,  dass  jeder  Verstoss  gegen  Anstand  und 
Sitte  nicht  nur  an  den  Kellnerinnen,  sondern  auch  an  dem 
Wirth  zu  ahnden  und  bezw.  mit  Konzessionsentziehung  vor- 
zugehen sei.  Auf  die  beim  Rathe  erhobene  Vorstellung  einiger 
Restaurateure,  dass  durch  gänzliche  Untersagung  des  Haltens 
von  weiblichen  Dienstboten  ihr  ganzes  Geschäft  in  Frage  ge- 
stellt sei,  ist  diesen  Wirthen  erlaubt,  wiederum  weibliches  Per- 
sonal zum  Bedienen  der  Gäste  zu  verwenden,  es  ist  ihnen  aber 
auferlegt,  6 Tage  vor  Antritt  einer  jeden  Kellnerin  der  Polizei- 
behörde Namen,  Geburtsort  und  Aufenthalt  der  neu  Anzustellen- 
den anzugeben,  damit  die  Behörde  Gelegenheit  hat,  sich  nach 
dem  Vorleben  der  betreffenden  Person  zu  erkundigen.  Im 
Falle  ungünstiger  Mittheilung  darf  die  betreffende  Person  über- 
haupt nicht  nach  Meerane  übersiedeln.  Die  getroffenen  Mass- 
nahmen sollen  mit  Strenge  durchgeführt  werden. 

Arbeitsverliältnisse  der  Eisenbahnbediensteten  der 
Gaisbergbahn.  Die  in  Salzburg  erscheinenden  „Sozialdemo- 
kratischen Blätter“  theilen  Löhne  und  Arbeitszeit  des  Per- 


sonales  der 

Gaisberg 

bahn  mit: 
Lohn 

Zehrgeld 

Saisonzulage 
pro  fahr 

Für  alte 
führer  . 

Lokomotiv- 

1,50  fl. 

60  kr. 

60  fl. 

Für  junge 
führer  . 

Lokomotiv- 

1,40—1,50  fl. 

25—30  kr. 

30-40  fl. 

Für  alte  Heizer  . . 

1.25  11. 

20—25  kr. 

30  - 45  fl. 

Für  junge 

Heizer  . . 

1,10—1,20  fl. 

15-20  kr. 

15—20  ff. 

Die  Arbeitszeit  in  der  Saison:  Lokomotivführer;  längste 
löStunden,  mittlere  13— 14  Stunden,  kürzeste  10 — 12  Stunden; 
Heizer:  längste  17  — 18  Stunden,  mittlere  14 — 16  Stunden, 
kürzeste  10 — 13  Stunden.  Dabei  ist  in  der  Zeit  von  Anfang 
Mai  bis  ca.  8.  Oktober  kein  Mann  vom  Maschinenpersonal 
einen  einzigen  Tag  frei,  auch  nicht  an  einem  Sonntage. 

Die  Kündigung  kann  von  Seite  der  Direktion  zu  jeder 
Zeit  14tägig  erfolgen;  die  Bediensteten  können  nur  am 
1.  Oktober  jeden  Jahres  dreimonatlich,  also  per  1.  Januar, 
kündigen.  Wer  den  Dienst  zu  anderer  Zeit  verlässt,  wird 
der  Caution  — 100  fl.  — verlustig. 

Im  Heizhaus  und  der  nächsten  Umgebung  fehlt  Trink- 
wasser; das  Personal  ist  auf  das  Gasthaus  angewiesen,  da- 
gegen herrscht  im  Heizhause  ein  Schmutz,  wie  man  ihn 
in  keinem  anderen  derartigen  Etablissement  antreffen  wird, 
infolgedessen  viel  Kleidung  und  Schuhe  verbraucht  werden. 
Zu  allem  i^t  die  Behandlung  seitens  des  Maschinenmeisters 
eine  nicht  näher  zu  bezeichnende. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Ortsstatute  über  Lohnzahlung.  Von  der  Bestimmung  der 
neuen  Gewerbeordnung,  nach  welcher  durch  Ortsstatut  ein 
Lohnzahltag  bestimmt,  sowie  die  Lohnzahlung  statt  an  Minder- 
jährige, an  deren  Eltern  oder  Vormünder  vorgeschrieben  werden 
kann,  wird  vorläufig  von  den  deutschen  Gemeindeverwaltungen 
ein  sehr  geringer  Gebrauch  gemacht.  Uebrigens  lassen  es  auch 
die  Arbeiterorganisationen  meist  an  entsprechenden  Anträgen 
fehlen.  Ausser  Augsburg,  das  an  dieser  Stelle  schon  früher 
erwähnt  wurde,  sind  nur  noch  Leipzig  und  Köln  zu  nennen. 
In  Leipzig  freilich  wurde  der  Erlass  ortsstatutarischer  Vor- 
schriften über  Einführung  wöchentlicher  Lohnzahlungen  am 
Freitag,  wie  er  von  den  Arbeitervertretern  des  Leipziger 
Gewerbegerichts  gewünscht  wird,  von  der  dortigen  Gewerbe- 
kammer im  ablehnenden  Sinne  begutachtet.  Der  Ausschuss 
dieser  Unternehmervertretung  hält  den  Erlass  für  nicht  noth- 
wendig.  Der  vom  Gewerbegericht  für  die  Lohnzahlung  am 
Freitag  geltend  gemachte  Grund,  dass  die  Arbeiterfrauen  Sonn- 


abends früh  billiger  und  besser  einkaufen  können,  sei  absolut 
unzutreffend.  Im  grossen  und  ganzen  erfolge  die  Lohnzahlung 
wöchentlich,  und  für  wenige  Ausnahmen  ortsstatutarische  B(> 
Stimmungen  zu  erlassen,  liege  keine  Veranlassung  vor.  Allzusehr 
sei  der  Handwerkerstand  in  den  letzten  Jahren  mit  neuen  Ge- 
setzen bedacht  worden,  die  er  erst  noch  kennen  lernen  müsse  — 
die  Lohnzahlungsart  sei  Sache  freier  Vereinbarung  zwischen 
Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer,  die  keines  Reglements  bedürfe  — 
im  Uebrigen  aber  seien  selbst  die  Arbeiter  über  den  Werth  des 
Freitags  als  Lohnzahltag  sehr  verschiedener  Meinung.  Es  wird 
sich  nun  fragen,  ob  sich  der  Leipziger  Magistrat  nach  diesem 
sehr  einseitigen  Gutachten  richtet.  In  Köln  ersuchte  der 
Magistrat  das  Gewerbegericht  nur  um  ein  Gutachten  über  die 
Frage,  ob  ein  Ortsstatut  erlassen  werden  solle,  wonach  der  von 
den  minderjährigen  Arbeitern  verdiente  Lohn  nur  von  Eltern 
oder  Vormündern  erhoben  werden  könne  oder  nur  mit  deren 
schriftlicher  Zustimmung  von  den  jugendlichen  Arbeitern  selbst. 
Ein  zwölfgliedriger  Ausschuss,  welchem  laut  Regulativ  diese 
Sache  zur  Berathung  überwiesen  war,  hat  nun  die  Frage  ein- 
stimmig verneint.  Danach  wäre  die  Einführung  der  nach 
§ 119a  der  Gewerbe-Ordnung  zulässigen,  für  die  jugendlichen 
Arbeiter  unter  Umständen  sehr  nachtheiligen  Massregel  vorder- 
hand in  Köln  fraglich  geworden. 

Kaufmännische  Sonntagsruhe  in  der  Weihnachtszeit. 

Nach  § 105b  der  Gewerbeordnung  kann  die  Polizeibehörde  an 
den  4 letzten  Sonntagen  vor  Weihnachten  die  Beschäftigung 
des  kaufmännischen  Flilfspersonals  bis  zu  10  Stunden  gestatten. 
Nun  hat  sich  die  in  Frankfurt  a.  M.  erscheinende  „Kaufmännische 
Presse“  die  Mühe  genommen,  soviel  sie  konnte,  die  behördlichen 
Verfügungen  lür  die  Weihnachtszeit  zu  sammeln.  Da  ergiebt 
sich  denn  folgendes  Bild.  Die  sonntägliche  Arbeitszeit  vor  Weih- 
nachten ist  festgesetzt: 

in  Frankfurt  a.  M.  tür  vier  Sonntage  vor  Weihnachten  auf 
7—  8 ’/a  Uhr  Morgens,  10l/2 — 2 LThr  Mittags  und  3 — 6 Uhr 
Nachmittags. 

im  Reg.-Bez.  Wiesbaden  ebenso, 

in  Darmstadt  für  vier  S.  v.  W.  auf  6 — 9 Uhr  M.  II  — I Uhr 
Mittags  und  3 — 7 Nachm., 

in  der  Rheinprovinz  für  drei  S.  v.  W.  auf  73/4 — 93/.j  Uhr 
Morgens  und  1 1% — 7 Uhr  Abends, 
in  Essen  für  vier  S.  v.  W.  von  7 — 9 LThr  M.  und  2 — 6 bezw. 
7 Uhr  Ab., 

in  Hannover  für  vier  S.  v.  W.  von  7 — 9 Uhr  M.  und  11  bis 

6 Uhr  Ab., 

in  Braun  schweig  ebenso, 

in  Hamburg  für  vier  S.  v.  W.  von  8— 9V2  Uhr  M.,  1 1 '/s — ! 2 
Uhr  Mitt  und  4 — 10  LThr  Ab  , 
in  Altona  ebenso, 

in  Bremen  für  vier  S.  v.  W.  von  7—10  Uhr  M.,  12 — 2 Uhr 
Mittags  und  5—10  LThr  Ab., 

in  Berlin  für  zwei  S.  v.  W.  von  7 — 9 Uhr  M.  und  II—  6 LThr 
Abends;  nachträglich  noch  für  den  letzten  S.  v.  W.  bis 
10  Uhr  Abends, 

in  Halle  für  vier  S.  v.  W.  von  7 — 91/2  Uhr  M.  und  1 1 1/o  bis 

7 Uhr  Ab  , 

in  Bern  bürg  für  vier  S.  v.  W.  von  7- 9 Uhr  M.,  IP/j— 2 Uhr 
Mittags,  3- 4'/2  Uhr  Nachm,  und  6—7  LThr  Ab., 
in  Leipzig  (Landkreis,  oder  auch  Stadt?)  für  drei  S.  v,  W. 

ausser  der  gewöhnlichen  Zeit  bis  10  Uhr  Ab., 
in  Dresden  für  zwei  S.  v.  W.  von  11  Uhr  Vorm,  bis  9 Uhr 
Abends, 

in  Liegnitz  für  zwei  S.  v.  W.  ausser  der  gewöhnlichen  Zeit 
von  3 — 7 Uhr  Nachm., 

in  Thorn  für  vier  S.  v.  W.  von  7 — 9 Uhr  M.,  11 — 3 Uhr  Mitt. 
und  4—6  Uhr  Nachm 

Die  „Kaufmännische  Presse“  bemerkt  hierzu  mit  Recht, 
dass  ein  solches  Kunterbunt  unzweckmässiger  Bestimmungen 
die  Unzulänglichkeit  der  neuen  Vorschriften  im  Sinne  eines 
wirksamen  Arbeiterschutzes  zeige  und  stellt  die  Erörterung  der 
Angelegenheit  für  den  nächsten  Verbandstag  der  deutschen 
Kaufmännischen  V ereine  in  Aussicht. 

Regelung  der  Arbeitszeit  von  Eisenbahnbedieusteteii 
in  England.  Der  Bericht  des  Board  of  Trade  über  den 
letzten  grossen  Unfall  in  Thirsk  hat  die  Midland  Railway 
Compagny  veranlasst,  neuerdings  eine  Arbeitsordnung  test- 
zusetzen, welche  die  Arbeitszeit  von  Signalwächtern  in 
allen  Fällen  von  nun  an  auf  12  Stunden  beschränkt.  Bis- 
her waren  für  den  Nachtdienst  13  Stunden,  für  den  Tag- 
dienst 1 1 Stunden  die  Grenze.  In  Zukunft  wird  durchgängig 
von  sechs  bis  sechs  Uhr  gearbeitet  werden.  Auch  der 
Sonntagsdienst,  wenn  die  Stationen  nicht  geöffnet  sind,  ist 
neu  geordnet  worden.  Der  diensthabende  Beamte  ist  ver- 
antwortlich dafür,  dass  beim  Schichtwechsel  der  neu  ein- 
tretende Wächter  voll  und  ganz  arbeitsfähig  sei. 


No.  12. 


SO/.IAl, POT  I TISCH KS  CENTRAl  .BLATT. 


145 


Arbeiterversicherung. 


Ausdehnung  (1er  deutschen  Unfallversicherung.  Schon 
seit  längerer  Zeit  ist  ein  Gesetzentwurf  in  Vorbereitung, 
welcher  die  Ausdehnung  der  Unfallversicherung  zum  Gegen- 
stände hat.  In  demselben  wird  auch,  wie  dem  Reichstage 
neuerdings  mitgetheilt  ist,  die  Ausdehnung  der  Unfallver- 
sicherung auf  die  Besatzung  von  Fischerfahrzeugen,  sowie 
auf  die  Insassen  der  Gefangenen-,  Besserungs-,  Armen-  und 
Krankenanstalten  geplant. 

Ausdehnung  der  Kraukenversicherungspflicht  aut' 
Handlungsgehilfen.  Ausser  den  in  No.  8 des  Sozialpoliti- 
schen Centralblatt  genannten  Städten  haben  nunmehr  unter 
denselben  Modalitäten  noch  folgende  Gemeinden  sämmt- 
liehe  Handlungsgehilfen  ihres  Bezirks  vom  1.  Januar  v.  Js. 
ab  für  versicherungspflichtig  erklärt:  Nürnberg,  Wiirz- 
burg  und  Freiburg  i.  Br. 

Kostspieligkeit  der  deutschen  Berufsgenossenscliaften. 

Zu  dieser  Frage  theilt  uns  die  Tiefbaugenossenschaft  mit 
Bezug  auf  unsere  Notiz  in  No.  8,  II.  Jahrgang,  des  Sozial- 
politischen Centralblattes  den  Wortlaut  zweier  Eingaben 
vom  15.  Oktober  d.  J.  an  den  Bundesrath  und  an  den 
Reichskanzler  mit,  um  uns  nachzuweisen,  dass  folgende 
von  uns  angeführte  Stelle  in  keiner  der  beiden  Eingaben 
enthalten  sei:  „Die  Tiefbauberufsgenossenschaft  verkennt 
keineswegs,  dass  die  Staaten  eine  kleine  Ersparniss  an  Ver- 
waltungskosten zu  erzielen  vermögen.“  In  den  uns  zu- 
gänglich gemachten  Eingaben  vom  15.  Oktober  findet  sich 
diese  Stelle  thatsächlich  nicht.  Allein  in  unserer  Notiz  war 
ausdrücklich  gesagt  worden,  dass  der  obige  Satz  einer  Mit- 
theilung der  Presse  über  eine  Eingabe  entnommen  sei, 
welche  die  Genossenschaft  gemacht  habe.  Heute  sei  hin- 
zugefügt, dass  die  „Voss.  Ztg.“  im  November  d.  |.  jene 
Mittheilung  wörtlich  enthielt  und  dass  dieselbe  unwider- 
sprochen durch  die  gesammte  deutsche  Presse  ging.  Es 
fragt  sich  also,  ob  nicht  noch  eine  andere  Eingabe  der 
Tiefbaugenossenschaft  vorhanden  ist,  welche  jenen  Satz 
thatsächlich  enthält,  und  wenn  nicht,  weshalb  die  Genossen- 
schaft die  irrige,  mit  voller  Bestimmtheit  auftretende  Mit- 
theilung nicht  längst  in  der  Presse,  der  sie  an  dieser  Stelle 
mit  entsprechender  Angabe  entnommen  wurde,  dementirte. 
Uebrigens  haben  die  Eingaben  der  Genossenschaft  keinen 
Erfolg  gehabt.  Die  staatlichen  Betriebe  von  Bayern, 
Schwarzburg-Rudolstadt  und  Reuss  j.  L.  sind  wegen  der 
Kostspieligkeit  der  berufsgenossenschaftlichen  Verwaltung 
doch  aus  der  Genossenschaft  ausgetreten. 

Gebührenfreiheit  für  die  Amtshandlungen , die  von 
deutschen  Konsularbehörden  im  Vollzüge  des  Unfall-  und 
des  Inyaliditätsversielierungsgesetzes  ausgeführt  worden.  Es 
waren  Zweifel  darüber  entstanden,  ob  die  Gebührenfreiheit,  die 
das  Unfallversicherungsgesetz,  sowie  das  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherungsgesetz gewährte,  sich  auch  auf  die  Legalisation  von 
Quittungen  über  Unfall-,  Invaliditäts-  und  Altersrenten  durch 
die  kaiserlich  deutschen  Konsularbehörden  beziehe. 

Neuerdings  hat  nun  der  Reichskanzler  durch  Erlass  vom 
21  Oktober  d.  J.  die  kaiserlichen  Konsularbehörden  angewiesen, 
m Zukunft  in  den  Fällen,  in  denen  ihre  Thätigkeit  auf  Grund  der 
erwähnten  Gesetze  für  eine  an  und  für  sich  gebührenpflichtige 
Handlung  in  Anspruch  genommen  wird,  Gebühren  ausser  An- 
satz zu  lassen.  In  dem  Erlass  wird  ausgeführt,  dass,  wenn  auch 
der  Geltungsbereich  der  bezeichn eten  Gesetze  im  Grossen  und 
Ganzen  aut  das  Inland  beschränkt  sei,  es  doch  den  von  der 
sozialen  Gesetzgebung  des  Deutschen  Reichs  angestrebten 
Zielen  entspreche,  die  Gebührenfreiheit  auch  auf  die  im  Aus- 
lande in  dem  Rahmen  dieser  Gesetzgebung  vorzunehmenden 
Handlungen  auszudehnen. 


Gewerbegerichte. 


Gewerbegericht  in  Berlin.  Als  an  dieser  Stelle  in 
No.  6,  I.  Jahrgang,  des  Sozialpolitischen  Centralblattes  das 
•Statut  für  das  neue  Berliner  Gewerbegericht  zur  Be- 
sprechung  gelangte,  wurde  bereits  hervorgehoben,  dass 
nie  Schäftung  von  Wählerlisten  sich  nicht  als  praktisch 


und  als  viel  zu  umständlich  erweisen  würde.  Die  That- 
I Sachen  haben  dieser  Kritik  noch  mehr,  als  erwartet  werden 
konnte,  Recht  gegeben.  Trotzdem  der  Schlusstermin  zur 
! Einzeichnung  in  die  Wählerlisten  mehrfach  hinausgeschoben 
j wurde  und  trotz  wochenlanger  lebhafter  Agitation,  nament- 
! lieh  auf  sozialdemokratischer  Seite,  haben  sich  in  die  Listen 
von  280  009"  wahlberechtigten  Arbeitern  nur  34  388  und  von 
80  000  Arbeitgebern  nur  3047  eintragen  lassen.  Erfahrungs- 
j gemäss  wird  solch’  ein  mangelhaftes  Ergebniss  vermieden, 
wenn  man,  wie  z.  B.  in  Frankfurt  a.  M.,  von  der  Aufstellung 
besonderer  Wählerlisten  absieht  und  die  Prüfung  der 
Wahllegitimation  erst  am  Wahltage  selbst  für  jeden  sich 
[ vorstellenden  Wähler  nach  einer  kurzen,  im  Voraus  fest- 
gestellten Norm  vornimmt.  Die  3047  eingetragenen  Unter- 
nehmerwähler dürften,  ganz  wie  es  seiner  Zeit  an  dieser 
! Stelle  vorhergesagt  wurde,  zum  grossen  Theile  von  den 
Innungen  gestellt  sein. 


Soziale  Hygiene. 

Die  Trunksucht  als  Todesursache.  Es  ist  bisher  nicht 
recht  möglich  gewesen,  klar  zu  sehen,  in  welchem  Maasse 
der  Alkoholismus  den  menschlichen  Körper  so  weit  zerstört, 
dass  er  geradezu  als  Todesursache  auftritt.  Begreiflicher- 
weise genügt  es  da  nicht,  nur  die  Fälle  von  Tod  bei  Säufer- 
wahnsinn zu  konstatiren,  sondern  es  ist  nothwendig,  auch 
jene  Fälle  einzubeziehen,  in  welchen  die  Trunksucht  als 
mitwirkende  Ursache  auftritt.  Dies  zu  erfassen,  ist  seit 
der  Einführung  der  neuen  Aufnahmekarte  für  Sterbefälle  in 
der  Schweiz,  resp.  in  den  15  grössten  Städten  derselben  (mit 
zusammen  einer  halben  Million  Einwohner),  möglich.  Während 
nämlich  im  Jahre  1891  bei  Männern  nur  105  Todesfälle  an 
Säuferwahnsinn  = 3,1  pCt  aller  Todesfälle  eintraten,  be- 
trägt die  Anzahl  jener  Sterbefälle,  bei  denen  einerseits 
Säuferwahnsinn  vorlag,  anderseits  aber  die  Trunksucht 
nebenbei  konstatirt  wurde,  366  = 10,7  pCt.  aller  Todes- 
fälle, und  zwar  betrug  der  Prozentsatz  in  der  Altersklasse 
20 — 39  Jahre  11,6,  in  jener  von  40 — 59  Jahre  14,8  (!)  und  in 
derjenigen  von  mehr  als  60  Jahren  6,1  pCt  aller  Sterbe- 
fälle, war  somit  in  dem  reiferen  Mannesalter  ganz  exorbi- 
tant hoch.  Von  Frauenspersonen  starben  59  unter  den 
hier  gegebenen  Verhältnissen.  Von  den  Verstorbenen  war 
die  überaus  überwiegende  Mehrzahl  verheirathet,  nämlich 
265  (darunter  33  Frauen),  während  nur  95  ledig  und  52  ver- 
wittwet  waren;  das  widerspricht  sehr  den  allgemeinen 
Anschauungen,  dass  der  Alkoholismus  mehr  unter  der 
ledigen  Bevölkerung  grassire  und  hängt  damit  zusammen, 
dass  die  Trunksucht  tödlich  am  intensivsten  in  den  Alters- 
klassen von  40 — 60  Jahren  auftritt,  in  welchen  eben  die 
Hauptbevölkerung  verheirathet  ist.  Dem  Berufe  nach 
waren  die  366  verstorbenen  Männer:  139  Handwerker  und 
Fabrikarbeiter,  46  Wirthe  (!),  44  Handelsleute,  35  Dienst- 
boten und  Taglöhner,  24  Lehrer,  Künstler,  Beamte,  (!) 
18  Landwirthe,  13  Fuhr-  und  Schiffleute,  9 Eisenbahn- 
angestellte, 6 Rentiers,  5 Fabrikanten,  4 Studenten  etc. 
Von  den  59  verstorbenen  Frauen  waren  7 Arbeiterinnen, 
7 Dienstboten  und  Taglöhnerinnen,  2 Angehörige  wissen- 
schaftlicher Berufe,  I Wirthin  etc.  und  29  Hausfrauen.  Die 
Ehemänner  dieser  letzteren  gehörten  folgenden  Berufen  an: 
5 Handwerker,  5 Dienstmänner  und  Taglöhner,  4 Wirthe, 
3 Rentiers,  2 Landwirthe  etc.  Leider  sind  eben  die  Zahlen 
noch  zu  klein,  wenn  sie  auch  gross  genug  sind,  um  immer- 
hin schon  charakteristisch  zu  wirken.  Wenn  einmal  eine 
längere  Jahresreihe  von  Beobachtungen  vorliegen  wird, 
und  es  möglich  ist,  diese  Zahlen  mit  den  Berufsziffern  der 
Bevölkerung  zu  vergleichen,  dann  wird  erst  der  grosse 
Werth  derselben  voll  hervortreten  Diese  Ziffern  sind  aber 
auch  den  thatsächlichen  Verhältnissen  gegenüber  zu  klein, 
indem  sich  die  Aerzte  erst  gewöhnen  müssen,  bei  Aus- 
füllung der  Sterbekarte  auf  den  Punkt  der  „concomitirenden“ 
Ursachen,  speziell  den  Alkoholismus  Bezug  zu  nehmen.  Es 
ist  dies  bekanntlich  ein  Umstand,  der  bei  allen  neuen  Er- 
hebungen zu  Tage  tritt. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


146 


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Sozialpolitisches  Gentralblatt. 

Herausgeber 

Dr.  Heinrich  Braun. 

Das  Sozialpolitische  Centralblatt  erscheint  in  gross  Quart-Format  in  einem 
Umfange  von  ca.  70  Druckbogen  im  Jahr. 

Die  Ausgabe  der  Nummern  in  Stärke  von  ca.  1 V2  Bogen  erfolgt  jeden  Montag. 

Abonnementspreis  vierteljährlich  2 Mk.  50  Pf. 


Wir  bitten  ergebenst  um  rechtzeitige  Erneuerung  des  Abonnements 

auf  das 

2.  Quartal  des  zweiten  Jahrganges 

(Januar— März  1893). 

Ein  Bestellzettel  liegt  dieser  Nummer  bei. 

Das  Abonnement  kann  bei  jeder  Buchhandlung  und  jeder  Postanstalt  — No.  5945 
der  Postzeitungsliste  - — aufgegeben  werden. 


Das  Sozialpolitische  Centralblatt,  das  jetzt  im  zweiten  Jahrgang  erscheint,  hat 
sich  die  Aufgabe  gestellt,  über  das  Gesammtgebiet  der  Sozialpolitik  eine  Orientirung 
darzubieten,  indem  es  einmal  jede  neu  auftauchende,  das  öffentliche  Leben  und  die 
Gesetzgebung  berührende  sozialpolitische  Frage  in  sachlichen  Darstellungen  be- 
handelt, und  auf  der  anderen  Seite  soweit  als  möglich  das  gesammte,  in  den  ver- 
schiedenartigsten Publikationen  zerstreute  Material  für  alle  Gebiete  der  Sozialpolitik 
in  geordneter  Mittheilung  vorführt,  um  auf  diese  Weise  dem  Leser  die  notwendigen 
Handhaben  für  die  Bildung  eines  selbständigen  und  sachkundigen  Urtheils  darzu- 
bieten. 

Nach  zahlreichen  öffentlichen  Stimmen  in  der  in-  und  ausländischen  Fach- 
litteratur  wie  der  Tagespresse  hat  das  Sozialpolitische  Centralblatt  den  angestellten 
Versuch  mit  Glück  unternommen  und  eine  Lücke  ausgefüllt,  die  allgemein  empfunden 
wurde. 


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Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil:  O.  Sehuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


II.  Jahrgang 


Berlin,  den  26.  Dezember  1892. 


Nummer  13. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag*  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
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Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

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Colonelzeile  40  Pfennig. 


IN HALT. 


No  t h st  an  ds  A k t i o n e n.  Von  Dr. 
Max  Quarck. 

Soziale  Wirthschaftsuolitik  u. 

Wirthscliaftsstatistik : 

Die  neue  Gewerbesteuer  in 
Preussen.  Von  Privatdozent  Dr. 
J.  fastrow. 

Landwirthschaftlicher  Kongress  in 
1 sondern. 

Novelle  . zum  Gesetz,  betr.  den 
Unterstützungswohnsitz. 

Ländliche  Arbeiterverhältnisse  in 
der  Provinz  Brandenburg. 

Befähigungsnachweis  für  Bergar- 
beiter in  Preussen. 

Mindesteinkommen  städtischer  Be- 
amter und  Arbeiter  in  Paris. 

Arbeiterzustände: 

Plan  einer  Arbeitslosenstatistik  in 
1 .eipzig. 

Zur  Lage  der  Kellnerinnen  in 
München. 


Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Einschränkung  des  Arbeiterschutzes 
der  Arbeiter  in  der  Edelmetall- 
industrie. 

Arbeitei’versicherung: 

I.ohnstatistik  und  Unfallversiche- 
rung. Von  L'nterstaatssekre- 
| tär  z.  D.  Georg  v.  Mayr. 

75  a des  deutschen  Krankenver- 
sicherungsgesetzes. 

Unfallstatistik  der  jugendlichen  Ar- 
beiter in  Deutschland. 

Rechnungsergebnisse  der  deutschen 
Berufsgenossenschaften  für  1891. 

Der  Ausbau  der  Arbeiterversichc- 
I rung  in  Oesterreich. 

Soziale  Hygiene: 

Aerztliche  Nachweisungen  von 
Todesfällen  durch  Unfall. 

Die  neue  statistische  Sterbekarte 
in  der  Schweiz. 

Die  Zahl  der  weiblichen  Aerzte 
in  der  Schweiz. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Nothstands- Aktionen. 


Wieder  steht  die  Gesellschaft  allenthalben  vor  einem 
erschreckenden  Nothstand  der  arbeitenden,  aber  jetzt 
beschäftigungslosen  Bevölkerung.  Die  Alltagspolitik,  die 
sich  mit  der  Aussicht  auf  eine  „gute  Ernte“  über  Alles 
hinwegzutäuschen  liebt,  ist  wieder  einmal  gründlich  ad 
absurdum  geführt  worden.  Wir  haben  speziell  in  Deutsch- 
land dieses  Jahr  eine  recht  gute  Ernte  gehabt,  eine  kleine 
Ermässigung  der  Zölle  auf  Lebensmittel  hat  als  Folge  der 
neuen  Handelsverträge  mitgeholfen,  die  Preise  des  Unent- 
behrlichsten etwas  zu  ermässigen;  auch  die  Industrieprodukte 
aller  Art  für  den  unmittelbaren  Verbrauch  sind  auf  einer 
so  tiefen  Preisstufe  angelangt,  wie  seit  Jahren  nicht,  — und 
doch,  da  kaum  der  Anfang  des  Winters  ins  Land  gegangen, 
das  alte  Elend!  In  der  Reichshauptstadt  bestreitet  man 
zwar  sein  Vorhandensein  noch  ofliziell,  wie  die  stürmischen 
Auseinandersetzungen  zwischen  Magistrat  und  Arbeiterver- 
tretern in  der  Stadtverordnetenversammlung  vom  1 . Dezember 
d.  J.  gezeigt  haben,  man  bestreitet  es,  obgleich  die  Letzte- 
ren bereits  seit  März  d.  J.  die  Aufmerksamkeit  der  Behörden 
auf  vorbeugende  Massregeln  zu  lenken  versuchten.  Aber 


die  Verwaltungsberichte  der  Gemeindebehörden  über  den 
ganz  anormalen  Besuch  des  Asyls  für  Obdachlose,  über  die 
Steuerrückstände  und  einzelne  Unterstützungsfonds  mit 
ihrem  Hinweis  auf  die  „schlechten  Zeitverhältnisse“  bestäti- 
gen die  Existenz  des  Nothstandes  auch  in  Berlin.  In  Breslau 
ist  das  Asyl  für  Obdachlose  ebenfalls  überfüllt,  in  Lübeck 
erhielt  der  Senat  bereits  in  der  Bürgerschaftsversammlung 
vom  31.  Oktober  133  000  M.  bewilligt,  um,  wie  es  in  seinem 
Anträge  heisst,  „bei  einer  etwa  ungünstig  sich  gestaltenden 
Geschäftslage  der  arbeitenden  Bevölkerung  die  Gelegenheit 
zum  Erwerbe  zu  vermehren  “ Aus  Hamburg,  dessen  Bevöl- 
kerung noch  unter  den  Nachwirkungen  der  Choleraepidemie 
steht,  dringen  dann  und  wann  herzzerreissende  Schilde- 
runeen  von  der  Lage  der  armen  Leute  in  die  Presse.  In 
Braunschweig'  schätzt  man  die  Zahl  der  Arbeitslosen  auf 
ca.  1500,  im  rheinischen  Industriegebiet  legen  Eisenbahn- 
verwaltung, Bergwerke,  Hütten  und  Fabriken  um  die  Wette 
Feierschichten  ein,  wenn  sie  nicht  gar  zu  positiven  Arbeiter- 
entlassungen schreiten.  In  Crefeld  theilte  der  Oberbürger- 
meister den  Stadtverordneten  schon  in  der  Sitzung  vom 


3.  November  d.  J.  mit,  dass  infolge  massenhaften  Zuzuges 
verarmter  Hausweber  und  Taglöhner  aus  den  benachbarten 


Fabrikorten  im  Etat  der  Armenverwaltung  der  auf  das  erste 
Halbjahr  entfallende  Betrag  bereits  um  40  000  M.  über- 
schritten sei,  und  dasselbe  Verhältniss  wird  aus  Mühlheim 
am  Rhein,  aus  Kempen  u.  s.  w.  gemeldet.  In  Halle  äusserte 
gelegentlich  der  Hauptversammlung  des  Armenvereins  am 
15.  November  ein  Stadtverordneter,  die  Arbeitsnoth  könne 
in  diesem  Winter  noch  grösser  werden,  als  im  vorigen. 
In  Magdeburg  taxiren  die  Arbeiter  die  Zahl  der  Arbeits- 
losen  auf  ca.  2000,  in  Mannheim  auf  3000.  In  Stuttgart 
erstaunt  man  über  die  kolossale  Steigerung  des  Armenauf- 
wandes, der  an  Beiträgen  zur  Miethe  und  zur  Beköstigung 
allein  den  diesjährigen  Etat  um  10  000  M.  überschreitet.  In 
Nürnberg  gab  ein  gut  orientirter  Redner  in  der  letzten 
Arbeitslosenversammlung  die  Zahl  der  Beschäftigungslosen 
auf  2 — 3000  Köpfe  an.  Und  wie  in  Deutschland,  so  steht  es 
in  Oesterreich,  in  England.  Bereits  im  September  schätzte 
man  die  Arbeitslosen  in  Grossbritannien  auf  60  000,  für  jetzt 
giebt  man  sie  mit  1 ’/4  Million  Köpfen  an.  Sir  John  Gorst, 
der  Vertreter  der  englischen  Regierung  auf  der  Berliner 
Arbeiterschutzkonferenz,  äusserte  schon  im  November: 
„Diese  Arbeitslosen  sind  eine  ständige  Drohung  für  unsere 
Kultur  . . . Am  grössten  ist  das  Elend  in  London  und  in 
Nordengland  unter  den  Eisenarbeitern,  sowie  den  Schiffs- 
1 bauern.“ 


In  etwas  grösserem  Massstabe,  als  voriges  Jahr  sucht 
man  dem  Nothstande  jetzt  durch  Massnahmen  in  einigen 
deutschen  Städten  zu  begegnen.  Früher,  als  man  es  sonst 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  13. 


gewohnt  war,  wurden  z.  B.  in  Halle  a.  S.  bereits  in  der 
Stadtverordnetenversammlung  vom  14.  November  grössere 
Summen  für  städtische  Tief-  und  Hochbauten  bereitgestellt, 
die  ca.  800  Arbeitern  und  Handwerkern  Beschäftigung 
bieten  sollen.  In  W eissenfeis,  Mühlhausen  i.  Th.,  Braun- 
schweig (25  000  M.  an  Erdarbeiten  für  200  Personen  und 
60-70  Tage),  Essen  (Flussregulirung),  Mainz  (194  000  M. 
für  Ausschachtungsarbeiten  beim  Bau  des  Schlacht-  und  Vieh- 
hofes), Mannheim  und  Magdeburg  wurden  in  derFolge  ähnliche 
Massnahmen  getroffen.  In  den  Städten  äussert  sich  eben 
der  Nothstand  naturgemäss  in  Folge  der  Bevölkerungs- 
konzentration am  akutesten,  und  es  bedarf  nur  einiger  ver- 
zweifelter Bewegungen  der  Schaaren  Arbeitsloser,  um  die 
städtischen  Behörden  auf  den  Zündstoff  aufmerksam  zu 
machen,  der  sich  da  ansammelt.  Und  doch  — wie  elementar 
sind  die  Vorkehrungen,  selbst  dort,  wo  solche  wirklich  ge- 
troffen würden ! Es  ist  kein  städtisches  Arbeitsamt  da, 
welches  die  Organisation  der  Notharbeiten  übernimmt.  Es 
muss  schon  als  ein  ungeheurer  Fortschritt  bezeichnet 
werden,  dass  man  sich  in  Mannheim  entschliessen  konnte, 
die  Nothstandsarbeiten  den  Beschäftigungslosen  theilweise 
in  Regie  zu  geben,  ein  Gedanke,  den  andere  Städtever- 
waltungen absolut  nicht  zu  fassen  vermögen.  Hier  zieht 
man  die  Armenbehörde  in  Veranstaltungen  herein,  die  doch 
gerade  nicht  den  Stempel  der  Armenunterstützung  tragen 
sollen,  und  dort  weiss  man  der  technischen  Schwierigkeiten 
so  wenig  Herr  zu  werden,  dass  die  Arbeitslosen  lange  ver- 
geblich auf  den  Beginn  der  längst  beschlossenen  Noth- 
standsarbeiten warten  müssen.  Die  Zeit-  oder  Akkordlohn- 
sätze glaubt  man  vielfach  nicht  niedrig  genug  ansetzen  zu 

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können;  höchstens  dass  der  Verdienst  pro  Tag  den  orts- 
üblichen Taglohn  für  Ungelernte  erreichen  soll.  20  Pf. 
pro  Stunde  in  grösseren,  13  Pf.  in  kleineren  Städten,  — das 
sind  die  Nothstandstarife,  die  bekannt  geworden  sind. 
Theilweise  erklären  sie  sich  aus  den  ganz  unzureichenden 
Summen,  die  bewilligt  wurden,  theilweise  aus  der  Besorg- 
niss,  neue  Arbeitslose  möchten  herangelockt  werden.  Man 
beschränkt  deshalb  vielfach  das  Recht  zur  Betheiligung  an 
Nothstandsarbeiten  auf  Verheirathete  und  solche,  die  be- 
reits den  Unterstützungswohnsitz  in  der  Stadt  erworben 
haben.  Aber  neben  den  Städten  mit  unzulänglichen  Vor- 
kehrungen steht  ja  die  lange  Reihe  derjenigen,  welche 
überhaupt  noch  keine  besonderen  Anstalten  treffen  zu 
müssen  glauben,  stehen  gerade  die  grössten  Gemeinde- 
wesen, die  dem  Nothstand  noch  ruhig  zusehen  trotz  aller 
Vorstellungen  der  Beschäftigungslosen,  wie  Berlin,  Magde- 
burg, Leipzig,  oder  die  mit  ihren  Vorkehrungen  noch  nicht 
soweit  gediehen  sind,  dass  die  Arbeitslosen  einen  Nutzen 
von  ihnen  haben,  wie  Hamburg,  Bremen  und  Frankfurt  a.  M. 
Die  Versuchung,  dasjenige  noch  dringender  zu  wiederholen, 
was  der  Verfasser  in  No.  26,  I.  Jahrg.  des  Sozialpolitischen 
Centralblattes  über  kommunale  Sozialpolitik  und  die  Pflege 
städtischer  Betriebe  ausführte,  läge  ja  hier  in  besonders 
hohem  Masse  vor.  Denn  es  steht  denjenigen  Gemeinde- 
verwaltungen sehr  schlecht  an,  über  das  Unzulängliche  und 
Tendenziöse,  oder  über  das  Nichtzustandekommen  freier 
Arbeitslosenstatistiken  die  Achseln  zu  zucken,  da  die  kom- 
munale Arbeitsvermittlung  und  die  kommunale  Sozial- 
statistik bisher  von  ihnen  noch  viel  sträflicher  vernachlässigt 
wurde,  zwei  Einrichtungen,  die  in  solchen  Zeiten  der  wirt- 
schaftlichen Noth  gerade  ihre  beste  Bewährung  finden 
würden.  Aber  man  kann  die  Mangelhaftigkeit  der  städti- 
schen Vorkehrungen  gegen  die  periodische  Arbeitslosigkeit 
nach  wie  vor  streng  beurteilen  und  muss  doch,  gerade  im 
jetzigen  Stadium  der  Angelegenheit  und  gerade  in  Deutsch- 
land, auf  einen  Theil  zurückgreifen,  der  vielleicht  noch 
schuldiger  ist  — auf  den  Staat. 

Das  Festhalten  an  der  blossen  Routine,  mit  welcher 


die  grösseren  Städte  ihrer  Pflicht  noch  gerecht  zu  werden 
glauben,  erscheint  deshalb  in  noch  etwas  milderem  Lichte, 
weil  die  kommunale  Sozialpolitik  noch  neu  und  kaum  an- 
gebaut ist  durch  Erfahrung  und  Praxis.  Weit  besser  vor- 
bereitet nach  Wissen  und  Können  müsste  aber  der  Staat 
sein.  Er  hat  durch  seine  Verwaltungsbehörden,  durch  die 
Gewerbeinspektoren,  durch  die  Arbeiterversicherung  seit 
Langem  Fühlung  mit  den  grossen  Umschlägen  im  Erwerbs- 
leben, aber  er  steht  ihnen  heute  noch  so  gleichgiltig  gegen- 
über, wie  jemals.  Die  deutsche  Reichsregierung  ist  bei 
jeder  Aenderung  der  Gewerbeordnung  auf  die  Wichtigkeit 
der  grossen  Massnahmen  hingewiesen  worden,  die  Professor 
Herkner  in  No.  10,  I.  Jahrgang  dieser  Zeitschrift  gelegent- 
lich der  Arbeitslosigkeit  im  letzten  Frühjahr  skizzirte:  auf 
die  Abkürzung  der  Arbeitszeit,  auf  die  Nothwendigkeit 
grösster  Bewegungsfreiheit  für  die  gewerkschaftliche  Be- 
wegung, welche  als  Regulator  der  kapitalistischen  Ueber- 
produktion  dienen  kann,  und,  fügt  der  Verfasser  dieser 
Zeilen  hinzu,  auf  den  wirthschaftlichen  Segen,  der  aus 
einer  sozialpolitisch  durchdachten  Leitung  der  grossen 
Staatsbetriebe  gerade  für  solche  Nothzeiten  fliessen  könnte. 
Aber  alle  Mahnungen  sind  nur  in  den  Wind  verhallt.  Man 
ist  zufrieden,  in  jedem  Falle  ganz  gewöhnliche  Augenblicks- 
arbeit geleistet  zu  haben,  und  Professor  Herkner  wird  nach 
den  Erfahrungen  des  letzten  Jahres  vielleicht  auch  geneigt 
sein,  seinen  optimistischen  Schlusssatz  vom  März  d.  J.,  dass 
das  Deutsche  Reich  noch  „grossen  und  herrlichen  Tagen  , 
entgegengehen“  könne,  in  sozialer  Beziehung  sehr  wesent- 
lich einzuschränken.  Das  Verhalten  der  Reichs-  und  Staats- 
behörden in  Sachen  der  geltenden  und  noch  in  Kraft  zu  , 
setzenden  Sonntagsruhe,  die  ein  Anfang  gesunder  Arbeits- 
zeitregulirung hätte  sein  können,  hat  nicht  den  Stempel  ' 
des  zielbewussten  und  entschlossenen  Wollens,  sondern  , 
den  des  kleinmiithigen  Schwankens  getragen.  Die  Reichs- 
postverwaltung hat  sich  durch  ihre  berühmten  Cholera- 
sammlungen unter  den  Beamten  weitab  vom  Wege  des 
sozialpolitischen  Verständnisses  entfernt  und  sie  beschäftigt 
eben  wieder,  beim  Drang  des  Weihnachtsgeschäftes,  lieber 
1000  Soldaten  als  500  brotlose  brave  Arbeiter.  In  dieser  • 
Hinsicht  hat  sich  der  englische  Generalpostmeister  Morley  1 
weit  vorurteilsloser  gezeigt;  er  will  mehr  als  3000  Arbeits- 
losen während  der  Weihnachtszeit  im  Londoner  Postamt 
Arbeit  geben.  Auch  der  englische  Arbeitsminister  stellte 
Ende  November  d.  J.  den  Londoner  Beschäftigungslosen 
einige  Notharbeiten  von  Staatswegen  in  Aussicht,  bei  denen 
die  Lohntarife  der  Gewerkvereine  in  Anwendung  kommen 
sollten.  Bei  uns  in  Deutschland  denkt  man  garnicht  an 
irgendwelches  Eingreifen  des  Staates  und  überlässt  die 
Sorge  ruhig  den  in  diesen  Dingen  noch  gänzlich  uner- 
fahrenen Stadtverwaltungen.  In  Preussen  stehen  noch 
über  200  Millionen  Mark  für  bewilligte  Bahnbauten  bereit, 
in  Bayern  ungefähr  25  Millionen.  Welcher  Segen  könnte 
in  der  Arbeiterbevölkerung  gestiftet  werden,  wenn  nur  ein 
Theil  dieser  Riesensummen  gerade  jetzt  in  Bewegung  ge-, 

' setzt  würde,  Staatliche  Verwaltungen  kaufen  und  bestellen 
aber  freilich  erfahrungsgemäss  immer  in  den  Zeiten  besten 
Geschäftsganges  und  vermehren  dadurch  die  unnatürliche 
Hast  der  kapitalistischen  Produktion  mit  ihren  unvermeid- 
lichen Rückschlägen  noch  um  einige  Grade.  Ausserdem 
hat  man  es  immer  vorgezogen , italienische  Bahn- 
arbeiter zu  beschäftigen , und  die  Schulung  Deutscher 
für  die  Spezialarbeiten  ist  dadurch  beinahe  geflissent- 
lich hintangehalten  worden.  So  fassen  die  Verwal- 
tungen grosser  staatlicher  Betriebe  ihre  sozialpolitische 
Mission  auf.  In  München  stellte  man  mit  Beginn  des  Winters 
die  im  Gang  befindlichen  Staatsbauten  ein,  statt  sie  in 
irgend  einer  Richtung,  welche  die  Technik  erlaubt,  zu  ver- 
doppeln. In  Meiningen  ist  man  taub  für  die  Rufe  der 


No.  13. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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Arbeitslosen,  die  Saaleregulirung  wenigstens  solange  zu 
beginnen,  als  es  die  Witterung  erlaubt.  Die  staatlichen 
Forst  Verwaltungen  beschäftigen  hie  und  da  eine  kleine 
Gruppe  Brotloser,  aber  von  einer  systematischen  Inangriff- 
nahme umfassender  Winterarbeiten,  die  zugleich  Landes- 
kulturarbeiten im  besten  Sinne  des  Wortes  wären,  verlautet 
nirgends  etwas.  Im  Grossherzogthum  Baden  bemühte  sich 
der  bekannte  Fabrikaufsichtsbeamte  Dr.  Würrishofer,  bei 
den  Mannheimer  Unternehmern  in  Konferenzen,  die  Mitte 
Dezember  d.  ]s.  stattfanden,  durch  die  Befürwortung  einer 
Reduktion  der  Arbeitszeit  auf  acht  und  neun  Stunden 
weiteren  Arbeiterentlassungen  vorzubeugen.  Dieses  Bemühen 
in  der  Stunde  der  Noth  zeugt  von  hoher  sozialpolitischen 
Einsicht;  als  jedoch  im  Bundesrath  vor  zwei  Jahren  die 
Abänderung  der  Gewerbeordnung  berathen  wurde,  da  hatte 
jene  Einsicht  keinen  Einfluss  auf  die  Stimmen  Badens,  die 
frühzeitig  auf  einen  gesetzlichen  Maximalarbeitstag  hätten 
dringen  müssen,  um  der  Krisis  vorzubeugen.  Ebenso  kam 
bei  der  Reform  des  preussischen  Berggesetzes  zu  Beginn 
dieses  Jahres  aus  dem  Landtage  nur  die  Stimme  des 
Unternehmerthums  zu  Gehör  bei  dem  preussischen  Handels- 
minister. Alle  Anträge  auf  Einführung  der  achtstündigen 
Schicht  und  eines  Verbots  regelmässiger  Ueberschichten 
waren  vergeblich.  Und  doch  hätte  die  Annahme  die 
gegenwärtige  Arbeitslosigkeit  im  Bergbau  wesentlich 
gemildert  und  eine  vernünftigere  Vertheilung  der  Arbeit 
auf  die  verschiedenen  Jahreszeiten  herbeigeführt. 

Der  jetzige  Nothstand  und  die  gänzliche  Hilflosigkeit 
des  Staates  ihm  gegenüber  sind  also  die  unvermeidlichen 
Folgen  früherer,  schwerer  Unterlassungssünden  auf  dem 
Gebiete  einer  Sozialpolitik , die  mehr  als  Gelegenheits- 
macherei  ist  und  über  die  augenblicklichen  Bedürfnisse  mit 
zielbewussten  Blicken  hinausschaut.  Im  Reichstag  und  in 
städtischen  Vertretungen  wird  zu  Beginn  des  kommenden 
Jahres  durch  die  Anfragen  der  Arbeitervertreter  den  mass- 
gebenden Stellen  Gelegenheit  gegeben  werden,  ihre  Stellung 
zu  der  Arbeitslosigkeit  darzulegen.  Was  werden  diejenigen, 
welche  nur  Gelegenheitspolitik  trieben,  als  es  noch  Zeit 
zu  bessern  war,  anderes  Vorbringen  können,  als  Gelegen- 
heitsentschuldigungen, da  wir  mitten  im  Nothstand  sind? 
Es  ist  nicht  viel  mehr  zu  erwarten.  Abhilfe  gegen  Noth- 
stände,  wie  wir  einen  solchen  im  Augenblick  erleben,  ge- 
währt nur  ein  Regierungs-  und  Verwaltungssystem,  das  von 
sozialpolitischer  Einsicht  gewissermassen  durchtränkt  ist  und 
bei  der  unbedeutendsten  Massnahme  nur  von  dieser  geleitet 
wird.  Von  diesem  System  sind  wir  noch  sehr  weit  entfernt, 
und  deshalb  werden  in  absehbarer  Zeit  alle  Nothstands- 
aktionen  nur  eitel  Flickwerk  bleiben. 

Frankfurt  a.  Main.  Max  Quarck. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 
statistik. 

Die  neue  Gewerbesteuer  in  Preussen. 

Im  Laufe  der  nächsten  Wochen  beginnt  in  der 
preussischen  Monarchie  die  erste  Einschätzung  der  Ge- 
werbetreibenden auf  Grund  des  Gewerbesteuergesetzes  vom 
24.  Juni  1891,  durch  welches  die  bestehende  Gewerbesteuer 
nicht  sowohl  reformirt,  als  geradezu  neu  begründet  wird. 
Gleichzeitig  liegt  aber  dem  preussischen  Landtage  bereits 
der  Entwurf  eines  Gesetzes  vor,  welches  die  eben  einge- 
führte Steuer  für  den  Staat  ausser  Hebung  setzen  und  das 
weitere  Schicksal  der  Steuer  von  den  Kommunen  abhängig 
machen  will.  In  dem  gegenwärtigen  Moment  wendet  sich 
also  dieser  Steuer  ein  doppeltes  Interesse  zu,  sowohl  weil 


sie  neu  eingeführt  wird,  als  auch  weil  ihr  bereits  der  Unter- 
gang droht. 

Die  Geschichte  der  preussischen  Gewerbesteuer  bietet 
ein  merkwürdiges  Beispiel  dafür,  wie  langsam  in  die  Ent- 
wicklung unserer  öffentlichen  Abgaben  sozialpolitische  Ge- 
sichtspunkte einzudringen  vermochten,  und  wie  leicht  sie 
gleich  wohin n der  Gegenwart  durchzusetzen  sind.  Die  alte 
preussische  Gewerbesteuer  knüpft  an  die  Einführung  der 
Gewerbefreiheit  in  der  (Stein  - Harden bergschen  Zeit  an. 
Das  Edikt  vom  2.  November  1810  ordnete  an,  dass  (von 
einzelnen  Ausnahmen  abgesehen)  jeder  preussische  Unter- 
than  das  Recht  haben  sollte,  jedes  beliebige  Gewerbe  zu 
betreiben,  wofern  er  nur  einen  Gewerbeschein  löste.  Die 
vierteljährlich  zu  entrichtende  Gebühr  für  den  Gewerbe- 
schein, eine  Art  Licenzabgabe  in  freierer  Auffassung,  er- 
streckte sich  auf  alle,  welche  sich  in  selbständiger  Aus- 
übung irgend  einer  gewinnbringenden  Thätigkeit  ernährten. 
Sie  betraf  den  Kaufmann  und  den  Handwerker,  aber  auch 
den  Arzt  und  den  Litteraten.  Sie  war  eine  so  allgemeine 
Abgabe,  dass  sie  annähernd  eine  Art  allgemeiner  Personal- 
steuer darstellte.  Freilich  bewirkte  die  Anknüpfung  an  das 
historische  Moment  (den  aufgehobenen  Zunftzwang),  dass 
zwar  Alle  von  der  Steuer  erfasst  wurden,  die  von  ihrer 
Hände  Arbeit  in  selbständigem  Erwerbe  lebten,  aber  die 
Rentiers  verschont  blieben.  Die  neue  Steuerverfassung 
von  1820,  welche  die  Personalbesteuerung  der  preussischen 
Bevölkerung  nach  einer  ungefähren  Eintheilung  in  einige 
wenige  Klassen  allgemein  durchzuführen  suchte  („Klassen- 
steuer“), konnte  sich  darauf  beschränken,  die  Gewerbe- 
steuer als  eine  blosse  Ergänzungssteuer  zu  betrachten. 
In  dem  System  von  1820  sollte  die  Gewerbesteuer  zu  einer 
Mehrbelastung  solcher  Gewerbe  dienen,  die  einer  beson- 
deren Heranziehung  fähig  schienen,  entweder  weil  man  in 
ihnen  der  Regel  nach  ein  steuerfähiges  Betriebskapital  oder 
einen  besonders  leicht  erzielten  Gewinn  vermuthete,  oder  end- 
lich,weil  (wie  zur  Hökerei  und  Schankwirthschaft)  nach  An- 
sicht der  Regierenden  ohnedies  ein  übermässiger  Andrang 
stattfand,  den  durch  eine  besondere  Steuer  zu  zügeln  an- 
gemessen schien.  Das  Gesetz  zählte  daher  die  gewerbe- 
steuerpflichtigen Thätigkeiten  im  Einzelnen  auf  und  be- 
stimmte die  Art,  in  welcher  sie  besteuert  werden  sollten. 
Von  den  verschiedenen  Klassen  heben  wir  die  folgenden 
hervor:  A.  Handel  mit  kaufmännischen  Rechten;  B.  Handel 
ohne  kaufmännische  Rechte;  C.  Gast-,  Speise-  und  Schank- 
wirthschaft; D.  Bäckergewerbe;  E.  Fleischergewerbe  . . . .; 
H.  Handwerk.  Für  diese  sechs  Klassen  ist  ein  gemein- 
samer Besteuerungsmodus  vorgeschrieben,  welcher  für  die 
ältere  preussische  Gewerbesteuer  charakteristischer  ist  als 
irgend  ein  anderer.  Der  Steuersatz  ist  nach  Ortschaften 
verschieden  (Grossstädte,  Mittelstädte,  Kleinstädte,  Dörfer). 
So  beträgt  der  .Steuersatz  für  kaufmännischen  Handel  in 
einer  Gressstadt  30  Thaler;  für  Schankwirthschaft  in  einer 
Kleinstadt  6 Thaler;  für  einen  Schuhmacher  auf  dem  Dorfe 
2 Thaler  u.  s.  w.  Doch  werden  diese  Zahlen  nur  als  Nor- 
malsätze („Mittelsätze“)  betrachtet,  um  als  Grundlage  für 
Berechnung  des  Steuer-Solls  zu  dienen.  Die  thatsächliche 
Vertheilung  des  Steuer-Solls  findet  innerhalb  jeder  Gruppe, 
meist  durch  die  Steuerpflichtigen  selbst,  statt,  welche  zu 
diesem  Zweck  in  „Steuergesellschaften“  zusammengefasst 
werden. 

In  diesen  Steuergesellschaften,  einer  eigenthümlichen 
Bildung  des  preussischen  Steuerrechts , ist  der  soziale 
Grundgedanke  unverkennbar.  Es  sind  Berufsgenossen- 
schaften mit  Berücksichtigung  ländlicher  und  städtischer 
Unterschiede,  welche  aber  immerhin  als  solidarische  Ge- 
meinschaften gedacht  sind.  Diese  Standesgemeinschaften 
bringen  dem  Staate  die  Steuer  auf,  welche  auf  ihrem  Ge- 
werbe lastet.  Dabei  soll  der  Reiche  viel,  der  Arme  wenig 
beitragen,  je  nach  der  Stellung,  die  ihm  seine  Berufs- 
genossen selbst  zuerkennen.  Wenn  dieser  Gedanke  an 
sich  wohl  geeignet  war,  eine  Fortentwicklung  der  Steuer 
unter  sozialen  Gesichtspunkten  zu  fördern,  so  stellten  sich 
die  Verhältnisse  praktisch  doch  erheblich  anders  Bei  einer 
Repartirung  des  Steuer-Solls  schrieb  das  Gesetz  ausdrück- 
lich vor,  dass  unter  die  Hälfte  des  Mittelsatzes  auch  bei 


150 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


Xo.  13. 


den  kleinsten  Mitgliedern  nicht  heruntergegangen  werden 
dürfe.  Damit  war  einerseits  eine  Befreiung  der  Schwäch- 
sten unmöglich  gemacht , andererseits  aber  auch  einer 
Mehrbelastung  der  Stärksten  ein  Riegel  vorgeschoben, 
dessen  Mechanik  mit  mathematischer  Sicherheit  funktionirte. 
Denn  wo  ein  Heruntergehen  unter  die  Hälfte  des  Normal- 
satzes verboten  ist,  da  gehören  schon  ganz  ausserordent- 
liche Verhältnisse  dazu,  um  ein  Hinaufgehen  etwa  über  das 
Doppelte  zu  erzwingen.  — Immerhin  mag  der  letztere  Um- 
stand zur  Zeit  der  Einführung  des  Gesetzes  nur  von  ge- 
ringer Bedeutung  gewesen  sein.  Die  ganze  Steuerver- 
fassung von  1820  trägt  allzu  deutlich  das  Gepräge  eines 
von  jahrzehntelangen  Kriegen  erschöpften,  von  Kapital 
entblössten  Landes,  in  welchem  es  überwiegende  Gross- 
betriebe nicht  gab.  Als  aber  in  den  nächsten  Jahrzehnten 
das  Land  sich  allmählich  von  den  kriegerischen  Ver- 
wüstungen erholte,  traf  die  gesteigerte  Kapitalsbildung 
mit  der  Einführung  der  Dampfkraft  und  der  Eisenbahnen 
zusammen.  Nicht  nur  die  Grossbetriebe  wurden  häufiger, 
sondern  über  diesen  kamen  Riesenbetriebe  in  einem  Mass- 
stabe  vor,  wie  ihn  die  Verfasser  des  Gesetzes  von  1820 
auch  nicht  entfernt  geahnt  hatten.  Die  Aktiengesellschaften 
drangen  in  alle  Industriezweige  ein  und  schufen  gewaltige 
Kapital  - Associationen.  Die  Industrie  heftete  sich  zum 
Theil  an  kleine  Ortschatten.  Jene  Eintheilung  in  Gross-, 
Mittel-,  Kleinstädte  und  Dörfer  als  Kennzeichen  für  die 
Belastungsfähigkeit  eines  Betriebes  verlor  ihren  Sinn. 
Neue  Gewerbe  kamen  auf  und  blieben  gänzlich  steuerfrei,  da 
sie  in  der  Aufzählung  des  alten  Gesetzes  nicht  enthalten 
waren.  Trotzdem  erfolgte  keine  Neuorganisation  der  Steuer. 

In  einer  Anzahl  kleiner  Novellen  suchte  man  einzelnen  Un- 
ebenheiten  gerecht  zu  werden,  aber  die  Grundlagen  des  Sy- 
stems wurden  nicht  angetastet.  Die  wichtigste  dieser 
Novellen  ist  die  von  1861,  welche  sich  dazu  entschloss,  über 
der  Klasse  A noch  eine  Klasse  A I vorzuschieben , in 
welcher  der  höchste  Mittelsatz  auf  96  Thaler  (288  M.) 
normirt  und  ganze  Regierungsbezirke  zusammengefasst 
w'urden.  An  dem  Wesen  der  sozialen  Vertheilung  der 
Steuerlast  wurde  durch  diese  Reformen  nur  wenig  ge- 
ändert. Nach  wie  vor  war  es  in  dieser  Verfassung  un- 
möglich, über  den  Mittelsatz  so  weit  hinauszugehen,  dass 
irgend  eine  merkliche  Belastung  der  Riesenbetriebe  hätte 
.stattfinden  können.  Als  in  den  beiden  Jahrzehnten  nach 
Erlass  der  Novelle  von  1861  die  Bildung  von  Riesenbetrieben 
in  Handel  und  Gewerbe  einen  zweiten  gewaltigen 
Aufschwung  nahm,  hörte  der  höchste  Mittelsatz  von  96  Tha- 
ler (288  M.)  gegenüber  den  Riesenbetrieben  auf,  den  Cha- 
rakter einer  wirklichen  Steuer  zu  tragen.  In  den  grossen 
Aktienbanken,  welche  ihre  Bilanzen  alljährlich  veröffent- 
lichten, konnte  man  zuweilen  nachrechnen,  dass  die  Ge- 
werbesteuer sie  mit  ’/io  pCt.  des  Reinertrages  traf,  wäh- 
rend die  Steuer  auf  kleinen  Betrieben  zuweilen  mit  2 pCt. 
lastete.  Mit  anderen  Worten:  die  preussische  Gewerbe- 
steuer, deren  ursprünglicher  Gedanke  eine  Art  sozialer 
Vertheilung  der  Steuer  unter  den  Berufsgenossen  war,  hatte 
sich  zu  einer  Abgabe  entwickelt,  welche  nicht  von  unten 
nach  oben,  sondern  von  oben  nach  unten  wuchs  und  zwar 
in  einer  Weise,  dass  die  untersten  Schichten  zuweilen 
Zwanzigmal  so  stark  belastet  waren  als  die  obersten.  Die 
Reformirung  der  Steuer  in  den  Handelsklassen  konnte  nur 
dazu  beitragen,  durch  die  genauere  Unterscheidung  das 
Verhältniss  noch  offensichtiger  zu  machen.  Wenn  gegen- 
wärtig in  Preussen  der  Grosshandel  (einschliesslich  der 
Grossindustrie!)  2 Millionen  Mark  Gewerbesteuer  aufbringt, 
während  Mittel-  und  Kleinhandel  zusammen  an  1 1 Millionen 
aufzubringen  haben,  so  leuchtet  auf  den  ersten  Blick  ein,  dass 
der  Grossbetrieb  von  Steuer  in  demselben  Maasse  entlastet 
worden  ist,  in  welchem  er  an  Erfolgen  zugenommen  hat- 
Unbekümmert  um  die  Veränderung  der  Verhältnisse 
wurde  Jahr  für  Jahr  die  Komödie  der  Steuergesellschaften,  i 
der  Zutheilung  nach  deren  Umfang,  der  Repartition  unter 
die  Berufsgenossen  aufgeführt.  In  vollem  Ernst  wurde  in 
amtlichen  Schriftstücken,  wo  von  einem  Ueberblick  über 
die  gesammte  Steuerverfassung  die  Rede  war,  von  der  Ge- 
werbesteuer wie  von  einer  Steuer  gesprochen,  die  auf  dem 


Gewerbe  laste,  während  sie  doch  im  Wesentlichen  nichts 
anderes  war,  als  eine  Steuer  auf  dem  mittleren  und  kleine- 
ren Gewerbe. 

Es  gehört  zu  den  kräftigsten  Beweisen  für  die  Leich- 
tigkeit, mit  der  lange  vernachlässigte  sozialpolitische  Ge- 
sichtspunkte in  der  Steuerverfassung  durchzuführen  sind, 
wenn  unter  diesen  Verhältnissen  nach  70jähriger  Stagnation 
die  preussische  Regierung  im  Stande  war,  mit  einem 
Schlage  eine  Gewerbesteuer  auf  Grund  prozentualer  Er- 
tragsberechnung durchzusetzen.  Es  genügte  der  Entschluss 
der  preussischen  Regierung,  um  ein  neues  Gewerbesteuer- 
gesetz zu  schaffen,  welchem  nicht  einmal  ein  so  einseitig  i 
zusammengesetztes  Parlament,  wie  das  preussische  Abge- 
ordnetenhaus es  ist,  zu  widersprechen  wagte.  Der  Entwurf 
der  Regierung  ist  vielmehr  vom  Abgeordneten  hause  ohne 
wesentliche  Aenderungen  acceptirt  worden. 

In  dem  so  zu  Stande  gekommenen  Gesetz  vom 
24.  Juni  1891,  welches  zum  ersten  Mal  für  das  Rechnungs- 
jahr 1893/94  in  Kraft  tritt,  beträgt  die  .Steuer  für  alle  Ge- 
werbetriebe mit  einem  Ertrage  von  mehr  als  50  000  Mark 
I pCt.  ihres  Ertrages;  diese  Steuerpflichtigen  werden  nach 
Stufen  -eingeschätzt  und  bilden  zusammen  die  Klasse  1. 
Während  so  für  die  grössten  Gewerbebetriebe  eine  ge- 
nauere Einschätzung  durchgeführt  ist,  sind  die  kleinsten 
(von  1500  Mark  Ertrag  und  darunter)  grundsätzlich  frei- 
gelassen.  Zwischen  diesen  beiden  Extremen  stehen  in  der 
Mitte  die  Klassen  II,  III  und  IV  (mit  einem  Ertrage  von 
20  000  -50  000  Mark,  von  4000 — 20000  Mark,  von  1500  Iris 
4000  Mark),  für  welche  das  alte  System  der  Steuergesell-  ■ 
schaffen  mit  einem  Mittelsatz  beibehalten  ist. 

Massgebend  für  die  Veranlagung  zur  Gewerbesteuer 
ist  nicht  mehr  der  Ort,  an  dem  sich  das  Gewerbe  befindet 
(wie  es  denn  heutzutage  keinen  Sinn  hätte,  auch  nur  vom  ‘ 
Handwerksbetrieb  anzunehmen,  dass  er  in  der  Grossstadt  , 
bedeutender  sein  müsse  als  in  der  Kleinstadt) , sondern  f 
der  äussere  Umfang  des  Geschäfts.  Der  äussere  Umfang  1 
wird  aber  geschätzt  nach  dem  Ertrage,  den  das  Gewerbe  in 
den  letzten  Geschäftsjahren  abgeworfen  hat,  ohne  Rück- 
sicht darauf,  ob  von  demselben  ein  Theil  als  Schuldenzinsen 
an  einen  Gläubiger  abgegeben  wird  oder  nicht.  Da  übrigens 
auch  in  dieser  strengen  Umgrenzung  der  Ertrag  kein 
sicheres  Merkmal  für  den  äusseren  Umfang  des  Geschäfts 
ist,  so  giebt  das  Gesetz  als  zweites  Merkmal  für  die  Ver- 
anlagung zu  den  vier  Klassen  die  Höhe  des  Betriebskapitals 
an.  .Schon  bei  einem  Betriebskapital  von  3000  Mark  be-  1 
ginnt  die  Steuerpflicht  unter  allen  Umständen  ebenso,  wie 
man  mit  einem  Betriebskapital  von  30  000,  1 50  000  oder 
einer  Million  Mark  in  die  dritte,  zweite  oder  erste  Klasse, 
gelangt,  selbst  bei  nur  geringem  Ertrage. 

Hiernach  ergiebt  sich  für  die  Höhe  der  gegenwärtigen 
preussischen  Gewerbesteuer  die  folgende  Tabelle: 


entweder 

oder 

S t 

euersatz 

Klasse 

Ertrag 

Betriebskapital 

höch- 

ster 

mitt-  niedrig- 
lerer ster 

M. 

M. 

M. 

M.  M. 

I 

50000  u.  mehr 

1 Million  u.  mehr 

1 in  Stufen  mit  etwa 
1 1 pCt.  des  Ertrages 

II 

20-50  000 

150  000  bis  1 Mill. 

480 

300  156 

III 

4-20000 

30—150  000 

192 

80  32 

IV 

1500  -4000 

3-  30  000 

36 

16  4 

Bei  dieser  Verteilung  der  Steuer,  welche  nunmehr 
gleichmässig  für  alle  in  Preussen  betriebenen  stehenden, 
Gewerbe  gilt1),  sind  die  sozialen  Gesichtspunkte,  welche 


i)  Neben  der  allgemeinen  Gewerbesteuer  legt  das  Gesetz 
dem  Schankgewerbe  noch  eine  besondere  Steuer  auf.  Dieselbe 
beträgt  in  den  vier  Gew’erbesteuer-Klassen  je  100,  50,  25  und  15  M : 
für  Betriebe,  die  von  Gewerbesteuer  gänzlich  verschont  sind, 
10  M.  Da  diese  Steuer  nicht,  wie  die  Gewerbesteuer  nach  Per- 
sonen, sondern  nach  Betrieben  veranlagt  wird,  und  für  jede 
Betriebsstelle  einzeln  zu  entrichten  ist,  so  hat  das  Gesetz  dieser 
Schanksteuer  den  Namen  einer  ,,Betriebssteuer‘‘  beigelegt:  eine 
recht  unglücklich  gewählte  Bezeichnung,  hergenommen  von 
einem  Kriterium,  welches  für  weitaus  die  grösste  Mehrzahl  der 
Steuerpflichtigen  gar  nicht  in  Betracht  kommt. 


No.  Io 


SOZIALPOLITISCHES  CENTKALB1  -All. 


151 


früher  so  arg  zurückgetreten  waren,  ziemlich  stark  in  den 
Vordergrund  gerückt.  Die  blosse  Beseitigung  der  Maximi- 
rung  (der  grössten  sozialen  Ungerechtigkeit,  die  in  einer 
Steuerverfassung  bestehen  kann)  genügte,  um  eine  ent- 
sprechende Heranziehung  der  Gross-  und  Riesenbetriebe  zu 
bewirken.  Seitdem  die  Möglichkeit  gegeben  ist,  die  steuer- 
kräftigsten  Betriebe  in  eine  höehste  Klasse  hinauszudrängen, 
in  welcher  sie  einfach  nach  ihrem  Umfang  prozentual  be- 
steuert werden,  kann  das  Institut  der  Steuergesellschaften 
für  die  drei  übrigen  Klassen  in  der  That  seinen  ursprüng- 
lichen sozialen  Zweck  erfüllen;  es  kann  dazu  dienen,  das 
aufzubringende  Steuer-Soll  nach  Massgabe  der  Steuerfähig- 
keit  unter  die  Steuerpflichtigen  und  durch  diese  selbst  zu 
vertheilen.  In  diesem  Rahmen  ist  hinreichende  Möglichkeit 
gegeben,  die  steuerkräftigeren  Betriebe  in  demselben  Masse 
heranzuziehen,  wie  die  weniger  kräftigen  geschont  werden. 
)a,  diese  Möglichkeit  ist  in  der  neuen  Gewerbesteuerver- 
fassung so  ausgiebig,  dass  das  Gesetz  mit  vollem  Recht 
sich  veranlasst  gesehen  hat,  einer  zu  weit  gehenden  Aus- 
dehnung dieser  Pflicht  der  Solidarität  entgegenzutreten.  Wenn, 
namentlich  in  Klasse  11,  viele  schwache  und  nur  wenige  starke 
Betriebe  sind,  so  kann  das  Repartitionsverfahren  den  Starken 
sehr  leicht  Lasten  aufbürden,  welche  schwerer  sind,  als 
selbst  die  Besteuerung  in  Klasse  1 für  dieselben  sein  würde. 
Hier  hat  daher  das  Gesetz  den  Belasteten  das  Recht  gegeben, 
nachträglich  eine  Ermässigung  bis  auf  den  Prozentsatz  der 
Klasse  1 (circa  I pCt.  des  Ertrages)  zu  verlangen.  Nöthigen- 
talls  ist  der  Finanzminister  ermächtigt,  das  Steuer-Soll  einer 
ganzen  Steuergesellschaft  entsprechend  herabzusetzen.  — 
Einer  besonderen  Rücksicht  bedürfen  auch  solche  Personen, 
welche  nicht  auf  Grund  des  Ertrages,  sondern  nur  auf 
Grund  ihres  Betriebskapitals  einer  höheren  Klasse  zugetheilt 
sind.  Wenn  dieselben  nachweisen,  dass  sie  zwei  Jahre 
hintereinander  mit  ihrem  Betriebskapital  nicht  den  Mindest- 
ertrag der  betreffenden  Klasse  erzielt  haben,  so  sind  sie 
aut  ihren  Antrag  nach  dem  Ertrage  (und  nicht  nach  dem 
Betriebskapital)  einzuschätzen  und  also  in  die  entsprechende 
niedere  Klasse  zu  bringen. 

Alle  diese  Massregeln  sind  wohl  geeignet,  eine  Ver- 
theilung  der  Steuerlast  nach  der  Tragfähigkeit  zu  befördern. 
Sie  gelten  aber  nur  innerhalb  eines  Prinzips,  welches  an 
sich  der  \ ertheilung  nach  der  Tragfähigkeit  geradezu 
widerspricht.  Bei  Berechnung  des  Ertrages  und  des  Betriebs- 
kapitals ist  ein  Abzug  von  Schuldenzinsen  und  Schuldkapi- 
talien nicht  gestattet.  Dadurch  wirkt  nun  die  .Steuer  in 
verschiedener  Stärke,  je  nachdem  das  Geschäft  mit  eigenem 
oder  mit  fremdem  Kapital  betrieben  wird.  Am  deutlichsten 
macht  man  sich  das  Yerhältniss  in  Klasse  1 klar.  Wer  sein 
Geschäft  mit  einer  Million  eigenen  Kapitals  betreibt  und 
damit  einen  Ertrag  von  100  000  M.  erzielt,  entrichtet  die 
Gewerbesteuer  mit  1000  M.,  d.  h.  mit  1 pCt.  seines  Plrtrages 
oder  i pCt.  seines  Reingewinns.  Wer  ein  eben  solches 
Geschäft  mit  einem  geliehenen  Kapital  von  I Million  Mark 
betreibt,  ebenfalls  einen  „Ertrag“  von  100  000  M.  erzielt, 
abei  von  denselben  50000  M.  als  Zinsen  an  seinen  Darlehns- 
geber abzuführen  hat  und  nur  50  000  M.  als  Reingewinn 
behält,  soll  ebenfalls  die  Gewerbesteuer  mit  1 pCt.  vom 
„Ertrage“,  mit  1000  M.  entrichten,  d.  h.  also  mit  2 pCt.  des 
wirklichen  Reingewinns.  Nun  kommen  aber  im  geschäft- 
lchen  Leben  noch  ganz  andere  Verhältnisszahlen  von 
ochuldenzinsen  und  Reingewinn  vor.  Wer  bei  einem  Er- 
trage von  100  000  M.  75  000  M.  an  Zinsen  abzuführen  hat, 
und  nur  25  000  M.  persönlichen  Reingewinn  behält  (ein 
eschättsbetrieb,  der  noch  gar  nichts  Irrationelles  an  sich 
lätte),  soll  ebenfalls  1000  M.  Gewerbesteuer  entrichten, 

' J’  fl  pGt.  seines  wirklichen  Reingewinns.  — Diese 
steigende  Skala  zu  Ungunsten  der  Nichtkapitalisten  kann 
unter  Umständen  die  sonderbarsten  Folgen  haben.  Stellen 
w ir  uns  vor,  dass  einmal  in  einem  schlechten  Geschäftsjahre 
(vc  die  Erträge  im  Verhältnisse  zum  Betriebskapital  gar  zu 
gering  sind)  die  Einschätzung  allgemein  auf  Grund  der  Be- 
triebskapitalien erfolgen  muss,  so  kann  dies  in  Gegenden,  in 
denen  viel  mit  fremdem  Kapital  gevirthschaftet  wird,  darauf 
hinauslaufen,  dass  die  Gewerbtreibenden  desto  höher  ein- 
geschätzt w7erden,  je  mehr  Schulden  sie  haben,  und  die  1 


Gewerbesteuer  wird  nicht  eine  Steuer  vom  Kapital,  son- 
dern eine  Steuer  vom  Kapitalsmangel.  Auch  von  solchen 
Einzelfällen  abgesehen,  kann  man  die  Gewerbesteuer  in 
dieser  Hinsicht  wohl  geradezu  als  eine  Kreditsteuer,  und 
zwar  als  eine  Kreditsteuer  schlimmster  Art  bezeichnen. 

Das  sonderbare  und  dem  ganzen  Geiste  des  Gesetzes 
widersprechende  Verbot  des  Schuldenabzuges  hängt  mit 
einer  Theorie  von  den  sogenannten  „Realsteuern“  („Object-“ 
oder  „Ertragssteuern“)  zusammen,  deren  Wesen  angeblich 
darin  bestehen  soll,  dass  sie  ohne  Rücksicht  auf  die  Person 
und  also  auch  ohne  Rücksicht  auf  persönliche  Schulden 
erhoben  werden.  Die  Theorie  ist  wissenschaftlich  hinfällig, 
wiewohl  sie  sich  in  den  Handbüchern  der  Finanzwissen- 
schaft  noch  hinschleppt.  In  Preussen  wurde  an  scheinbaren 
Argumenten  dafür  geltend  gemacht,  dass  auch  die  Grund- 
und  Gebäudesteuer  den  Schuldenabzug  nicht  zulasse.  Dies 
ist  aber  nur  deswegen  der  Fall,  weil  die  preussische  Grund- 
steuer überhaupt  keine  Steuer  ist,  sondern  eine  Reallast 
und  die  preussische  Gebäudesteuer,  wenn  sie  auch  eine 
Steuer  ist,  so  doch  immerhin  genügende  Eigenschaften  der 
Reallast  behalten  hat,  um  jene  Eigentümlichkeit  zu  recht- 
fertigen.  ')  Die  alte  preussische  Gewerbesteuer  aber  operirte 
mit  so  geringen  Beträgen,  dass  innerhalb  derselben  falsche 
Prinzipien  ebenso  wenig  wie  richtige  zu  voller  Wirksamkeit 
gelangten.  Wenn  jetzt  das  neue  Gewerbesteuer-Gesetz  den 
Versuch  macht,  eine  Steuer  mit  ordnungsmässiger  Ein- 
schätzung ohne  Schuldenabzug  durchzuführen,  so  soll  man 
sich  klar  machen , dass  dies  nicht , wie  man  gewöhn- 
lich annimmt,  die  Fortsetzung  eines  alten  Prinzips  ist,  sondern 
in  Wahrheit  ein  erster  Versuch. 

Macht  man  sich  dies  klar,  so  wird  man  auch  nicht  im 
Zweifel  darüber  sein,  dass  dieser  Versuch  misslingen  wird. 
Die  Ermässigungen,  welche  in  Klasse  II,  III  und  IV  nach 
willkürlichem  Ermessen  zulässig  sind,  werden  in  erster 
Linie  dazu  gebraucht  werden,  um  die  Berücksichtigung  der 
Schulden  trotz  des  Gesetzes  herbeizuführen;  wo  sie  nicht 
ausreichen,  wird  man  darüber  hinaus  die  Einschätzungen 
so  lange  schieben,  bis  sie  ein  halbwegs  annehmbares  Resultat 
ergeben.  In  Klasse  I,  wo  derartige  Berücksichtigungen 
nicht  zulässig  sind,  wird  das  letztere  Mittel  allein  herhalten 
müssen. 

Ein  irgendwie  vernünftiger  Grund  für  die  Beibehaltung 
der  Schuldensteuer  ist  von  keiner  Seite  geltend  gemacht 
worden.  Wenn  aber  eines  Tages  die  Schuldensteuer  aus 
der  Gewerbesteuer  gestrichen  wird,  so  bleibt  zwischen  dem 
Objekt  der  Gewerbesteuer  und  dem  Objekt  der.Einkommen- 
steuer  kein  Unterschied  mehr  bestehen.  Man  fragt  sich 
dann  vergebens,  weswegen  denn  gerade  die  Einkommen, 
welche  durch  Gewerbebetriebe  erzielt  werden,  einen  Zuschlag 
zur  Einkommensteuer  zahlen  sollen,  während  alle  anderen 
Einkommen  (z  B.  Kapitalrenten)  mit  der  Einkommensteuer 
allein  wegkommen.  Ein  rechter  Grund  dafür  ist  in  der  That 
nicht  anzugeben. 

Und  darum  lässt  sich  auch  gegen  die  Ueberweisung 
der  Gewerbesteuer  an  die  Gemeinden,  wie  sie  soeben  vor- 
geschlagen ist,  sehr  viel  weniger  einwenden,  als  gegen  die 
Lieberweisung  der  Grund-  und  Gebäudesteuer.  Hätte  man 
sich  dies  bei  Zeiten  klar  gemacht,  so  würde  man  nicht  erst 
die  staatliche  Steuer  reformirt,  sondern  sie  von  vornherein 
zu  einer  kommunalen  Gewerbesteuer  umgestaltet  haben. 
Immerhin  ist  es  auch  jetzt  noch  nicht  zu  spät  dazu. 

Berlin.  J.  Jastrow. 


Landwirthschaftlicher  Kongress  in  England. 

Unter  den  Theilnehmern  der  am  7.  Dezember  in  der 
St.  James  Hall  in  London  zusammengetretenen  National- 
konferenz der  Farmer  überwog  das  Element  der 
Grundeigenthümer  und  Landagenten,  während  die  Dele- 
girten  der  Farmervereine,  insbesondere  in  den  Verhand- 

!)  Vergl.  die  früheren  Ausführungen  im  Sozialpolitischen 
Centralblatt  II.  Band  No.  3 und  12. 


152 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALI5LATT. 


No.  13. 


lungen  des  ersten  Tages,  ziemlich  in  den  Hintergrund  traten. 
Der  politische  Zweck  des  Kongresses  wurde  erreicht.  Eine 
Resolution,  welche  Getreidezölle  verlangt,  wurde  mit  un- 
gefähr 600  gegen  200  Stimmen  angenommen,  obwohl  der 
Antragsteller  selbst,  Herr  Chaplin,  erklärte,  er  halte  es 
für  unmöglich,  eine  solche  Massregel  durchzusetzen,  so 
lange  die  Farmer  und  die  Landarbeiter  nicht  dafür  gewonnen 
seien.  Von  den  Landlords  wurde  mehrfach  ausgeführt,  ihr 
Interesse  und  das  der  Farmer  und  der  Landarbeiter  sei 
identisch.  Ein  Zoll  von  10  sh  auf  den  Quarter  Weizen 
werde  für  die  Konsumenten  nicht  empfindlich  sein.  Da- 
gegen nun  protestirten  in  ganz  energischer  Weise  die 
Farmer,  und  erklärten,  dass  für  sie  nicht  die  Zollfrage, 
sondern  die  Höhe  des  Pachtes  das  Entscheidende  sei.  Der 
Streit  zwischen  Harmonie  und  Klassenkampf  erreichte 
seinen  Gipfel,  als  der  einzige  Vertreter  der  Arbeiter,  Herr 
Riley,  der  Vertreter  der  Landarbeiterunion  von  Hereford- 
shire,  die  Tribüne  bestieg.  Er  konnte  seine  Rede  nur  unter 
fortwährenden  Unterbrechungen  und  Zischen  von  Seite  der 
Landlords,  neben  vereinzeltem  Beifall  von  Seiten  der 
Pächter  beenden.  Er  meinte,  die  Arbeiter  wollten  von 
Protektion  durch  Zölle  nichts  wissen,  ihre  Interessen  seien 
dieselben,  wie  die  der  Pächter,  welche  selbst  arbeiten. 
Das  einzige  Mittel,  um  der  Landwirthschaft  zu  helfen,  sei, 
dass  die  Landarbeiter  in  die  Lage  gesetzt  werden,  sich 
besser  zu  nähren.  Die  Landarbeiter  seien  auch  entschlossen, 
einen  grösseren  Antheil  an  den  Gütern,  die  sie  erzeugen, 
zu  erringen  Arbeiter  und  Pächter  müssten  in  Zukunft  den 
Ertrag  ihrer  Arbeit  ehrlich  theilen,  wenn  auch  aut  Kosten 
des  Landlords,  welcher  nichts  flaue.  In  Bezug  auf  die  Ver- 
suche der  schutzzöllnerischen  Tories,  die  Arbeiter  zu  ge- 
winnen, erklärte  er,  jeder  Vorschlag,  welcher  den  Arbeitern 
nicht  bessere  Löhne  sichere,  sei  politisch  und  praktisch 
zum  absoluten  Misserfolg  im  Vornherein  verurtheilt.  Auch 
die  Farmer,  insbesondere  die  von  Laneashire,  drückten  sich 
in  Bezug  auf  die  protektionistischen  Absichten  der  Gross- 
grundbesitzer sehr  deutlich  aus.  Herr  Barlo  w verwehrte 
sich  dagegen,  dass  der  Kongress  zu  einer  politischen  Aktion 
missbraucht  werde.  Man  wolle  mit  der  Zollfrage  nur  jenen 
Gegenstand  verhüllen,  welcher  der  wichtigste  sei,  das  ist 
die  Pachtrente.  Protektion  sei  kein  Heilmittel,  sie  könnte 
den  Farmern  nur  nützen,  wenn  der  Brotpreis  wirklich  in 
die  Höhe  getrieben  würde,  und  wie  wollten  sie  denn  das 
Publikum  überzeugen,  dass  es  in  seinem  Interesse  liege, 
wenn  der  Preis  der  Nahrungsmittel  steige?  Die  Diskussion 
wurde  so  heftig,  dass  es  Herr  Bear  angezeigt  hielt,  vorzu- 
schlagen, man  möge,  um  die  Einigkeit  der  Landinter- 
essenten nicht  zu  stören,  überhaupt  nicht  abstimmen;  aber 
schliesslich  wurde  unter  grossem  Lärm  und  Klagen  über 
Verletzung  der  Geschäftsordnung  die  Resolution,  wie  er- 
wähnt, angenommen.  Nachdem  noch  ein  Beschluss  zu 
Gunsten  des  Bimetallismus  nicht  ohne  Widerspruch  durch- 
gegangen war,  beantragte  Lord  Winchilsea,  „dass  es  im 
Hinblick  auf  die  gegenwärtige  Krisis  unumgänglich  noth- 
wendig  sei,  eine  landwirtschaftliche  Union,  zusammen- 
gesetzt aus  allen  Personen  jedweder  Klasse,  die  an  dem 
Boden  aus  dem  vereinigten  Königreiche  Interesse  habe,  zu 
gründen,  zum  Zweck,  erstens,  um  solche  Beschlüsse  durch- 
zusetzen, welche  durch  diesen  Kongress  einstimmig  ange- 
nommen wurden,  zweitens,  um  Massregeln  zu  diskutiren, 
die  jeweilig  im  Interesse  der  Landwirthschaft  liegen,  drittens, 
um  ihre  Mitglieder  in  einem  festen  Körper  von  Stimmen  in 
jedem  Wahlbezirk  zu  sammeln,  welcher  ohne  Unterschied 
der  Partei  solche  Kandidaten  unterstützen  soll,  die  ihre  Vor- 
schläge vertreten  wollen,  und  viertens,  um  im  Allgemeinen  das 
Zusammenwirken  aller  an  der  Landwirthschaft  Interessirten, 
seien  sie  Eigenthiimer,  Pächter  oder  Arbeiter,  zum  gemein- 
samen Wohl  zu  erzielen.“  Ueber  diese  Resolution  entspann 
sich  keine  Debatte  und  sie  wurde  mit  Enthusiasmus  ange- 
nommen. 

Aber  am  nächsten  Tag  ging  die  schöne  Solidarität 
der  Interessen  rasch  in  die  Brüche.  Zwar  eine  Resolution, 
welche  sich  gegen  die  hohe  Besteuerung  des  Bodens 
richtete,  erregte  noch  wenig  Zwist.  Anders  wurde  es,  als 
Herr  Carrington-Smith  beantragte,  „es  sei  nothwendig, 
die  Gesetze,  welche  die  Pachtverhältnisse  regeln,  so  zu 
ändern,  dass  sie  festsetzen:  erstens  ein  absolutes  und  un- 
verlierbares Recht  des  Pächters  auf  den  unverminderten 
Werth  einer  jeden  Melioration , die  er  während  seiner 
Pachtdauer  eingeführt  habe,  zweitens  die  Beseitigung  des 
Exekutionsgesetzes  zur  Eintreibung  der  Rente,  drittens  die 
gleiche  Theilung  aller  Steuern  zwischen  Grundbesitzer  und 
Pächter.“  Ein  Delegirter  der  Pächter  nach  dem  anderen 


erhob  sich  und  konstatirte,  dass  das  heutige  Pachts}'stem 
eine  Prämie  auf  die  schlechte  Wirthschaft  setze.  Schlechte 
Pächter  hätten  unter  Nachweis  einer  Verminderung  des 
Ertrages  immer  eine  Herabsetzung  des  Pachtschillings 
erzielt,  der  gewissenhafte  Wirth  aber,  welcher  den  Boden 
verbessere,  erziele  nie  eine  Herabsetzung  des  Pacht- 
schillings, welche  ihm  vom  Landlord  mit  dem  Hinweis 
darauf  verweigert  werde,  dass  er  für  den  durch  ihn  ver- 
besserten Boden  an  seinerstatt  Pächter  genug  zum  alten 
Preise  haben  könne.  Herr  William  Smith,  Parlaments- 
mitglied, sagte  im  Namen  der  Pächter  von  Laneashire,  dass 
sie  dieselben  Privilegien  verlangen,  wie  die  irischen  Pächter. 
Sie  wollten  einen  angemessensn  (fair)  Pachtschilling,  Fixirung 
der  Dauer  des  Pachtes  und  freien  Boden,  wozu  er  noch  die 
Freiheit  in  der  Wahl  der  Kulturmethode  verlangte.  Er  be- 
antragte „dass  nach  der  Meinung  dieses  Kongresses  das 
wahre  Heilmittel  für  die  gegenwärtige  Lage  der  Agrikultur 
in  der  Annahme  der  genannten  Forderungen  der  drei  F\s 
gelegen  sei:  „fixit}’  of  tenure,  fair  rent  and  free  sale  of 
tenant’s  improvements“.  Einige  Landlords,  die  übrigens  bei 
dieser  Sitzung  in  weit  geringerer  Zahl  anwesend  waren 
als  bei  der  ersten,  wehrten  sich  nach  Kräften,  aber  ver- 
gebens warnte  Herr  Lywood  davor,  „mit  dem  grossen 
Prinzip  der  Freiheit  des  Vertrages  zu  brechen“,  und  ver- 
gebens setzte  er  auseinander,  dass  die  Höhe  des  Pacht- 
schillings stets  ein  Resultat  der  freien  Konkurrenz  sei.  Er 
bat  dringend,  praktisch  zu  sein  und  keine  Spaltung  der 
Interessenten  des  Bodens  herbeizuführen.“  Der  Pächter 
Rimmer  aber  meinte,  der  Vorredner  habe  vom  Standpunkt 
des  Landlords  nicht  übel  gesprochen.  Die  Interessen  der 
Pächter  seien  jedoch  andere  und  vor  allem  müsste  die 
Pacht  herabgesetzt  werden:  Sie  im  Norden  würden  sich 

für  ihre  Sache  wehren  und  nicht  länger  den  Kaprizen  der 
Grundbesitzer  und  der  Landagenten,  die  durchaus  nicht 
ehrlich  ihren  Antheil  an  den  Verlusten  der  Landwirthschaft 
auf  sich  genommen  hätten,  ihre  Interessen  opfern.  Mit 
Getreidezöllen  („die  Protektion  protegirt  nur  den  Hunger“) 
werde  nichts  erreicht,  der  Interessengegensatz  liege  nicht 
zwischen  Erzeuger  und  Konsumenten,  sondern  zwischen 
Erzeuger  und  Grundbesitzer.  Wenn  ein  Arzt  zu  einen 
Kranken  gerufen  werde,  der  an  lebensgefährlichem  Fieber 
darniederliegt,  beginne  er  nicht  damit,  dem  Patienten  die 
Nägel  zu  schneiden  und  seinen  Schnurbart  zu  putzen.“ 
Herr  Barlow  erklärte,  dass  die  Pächter  eine  neue  Pacht- 
rechtbill verlangen;  der  Agrikultural-Holdings-Akt  sei  werth- 
los,  weil  die  Schlussworte  des  ersten  Paragraphen  seine 
Wirkung  aufheben,  indem  sie  bestimmen,  dass  der  Werth 
der  Meliorationen  danach  berechnet  werden  solle,  was  sie 
dem  Nachfolger  in  der  Wirthschaft  werth  seien.  Schliess- 
lich versuchte  Chaplin  Frieden  zu  stiften,  aber  es  gelang 
ihm  nur,  das  Amendement  von  Smith  zur  Ablehnung  zu 
bringen.  Die  Hauptresolution  von  Carrington-Smith 
wurde  mit  grosser  Majorität  angenommen,  nachdem  die 
Landlords  vergebens  versucht  hatten,  sie  durch  Beschrän- 
kung des  Ersatzrechtes  des  Pächters  auf  „dauernde“  Ver- 
besserungen abzuschwächen.  Damit  war  das  Hauptinter- 
esse des  Kongresses  erschöpft  und  unter  geringer  Aufmerk- 
samkeit wurden  zum  Schlüsse  Anträge  angenommen,  die 
sich  auf  Gründung  einer  grossen  landwirthschaft! ichen 
Produzentengesellschaft  unter  dem  Namen  „National  Union 
of  Agriculturists“,  sowie  auf  die  Nothwendigkeit  von  Vieh- 
seuchengesetzen bezogen. 


Novelle  zum  Gesetz,  betr.  den  Unterstützungswohnsitz. 

Die  in  Aussicht  genommene  Novelle  zum  LTnterstützungswohn- 
sitzgesetze  vom  6.  Juni  1870  liegt,  wie  die  Vossische  Zeitung  erfährt, 
dem  Bundesrathe  vor,  und  die  Beschlussfassung  verzögert  sich 
deshalb,  weil  das  zugehörige  Material  bestehend  in  einer  Armen- 
statistik und  einer  Darstellung  der  Armengesetzgebung;  und  der 
Organisation  der  Armenpflege  in  den  einzelnen  Bundesstaaten, 
sehr  umfangreich  ist.  Die  Novelle  ist  bestimmt,  einigen  in  der 
Praxis  hervorgetretenen  Uebelständen  abzuhelfen,  ohne  der 
künftigen,  in  Folge  der  Wirkung  des  Arbeiterinvaliditäts-  und 
Alterversicherungsgesetzes  etwa  nothwendigen  Umgestaltung; 
der  Grundsätze  der  Armengesetzgebung  vorzugreifen.  Es  soll 
fortan  der  Beweis,  dass  ein  Unterstützungswohnsitz  des  Unter- 
stützungsbedürftigen nicht  zu  ermitteln  gewesen,  schon  dann 
als  erbracht  gelten,  wenn  der  die  Erstattung  der  verauslagten 
Beträge  fordernde  Armenverband  dargelegt  hat,  dass  von  ihm 
alle  diejenigen  Erhebungen  vorgenommen  worden,  die  nach 
Lage  der  Verhältnisse  als  geeignet  zur  Ermittelung  eines  Unter- 
stützungswohnsitzes anzusehen  waren.  Wird  nach  der  Er- 
stattung ein  Unterstützungswohnsitz  des  Unterstützten  nach- 


No.  13. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


153 


trii^licli  ermittelt,  so  soll  der  Armenverband,  welcher  die  Er- 
stattung vorgenommen  hat,  berechtigt  sein,  innerhalb  zweier 
Jahre,  vom  Tage  der  Ermittelung  ab  gerechnet,  von  dem 
Armenverbande  des  Unterstützungswohnsitzes  für  die  gewährte 
Unterstützung  und  für  die  durch  nachträgliche  Ermittelung 
entstandenen  Kosten  Ersatz  zu  beanspruchen.  Als  Grenze  für 
Erwerbung  eines  Unterstützungswohnsitzes  soll  künftig  das 
18.  Lebensjahr  gelten  und  die  Verjährung  soll  nach  zwei  Jahren 
eintreten.  Eine  Haftstrafe  soll  denjenigen  treffen,  der  sich 
dem  Unterhalt  seiner  Familie  entzieht,  obwohl  er  dazu  ver- 
pflichtet ist. 

Ländliche  Arbeiterverhältnisse  in  der  Provinz  Branden- 
burg. Die  ländlichen  Arbeiterverhältnisse  haben  sich  nach  den  Er- 
mittlungen des  landwirtschaftlichen  Provinzialvereins  in  der  Pro- 
vinz Brandenburg  (Unternehmerverband)  auch  im  letzten  Jahre 
wieder  verschlechtert.  Fast  in  allen  Theilen  der  Provinz  wird 
über  grossen  Arbeitermangel  geklagt,  ganz  besonders  wird  die 
grosse  Schwierigkeit  betont,  weibliche  Dienstboten  zu  erlangen, 
ln  den  meisten  Gegenden  sieht  man  sich  daher  immer  mehr 
genötigt,  die  erforderlichen  Arbeitskräfte,  besonders  aber  das 
Hausgesinde  aus  den  östlichen  Provinzen,  besonders  aus  Posen 
und  Oberschlesien,  teilweise  aus  Galizien  und  Russisch-Polen 
zu  beschaffen,  womit,  abgesehen  von  den  grossen  Kosten,  alle 
möglichen  Unzuträglichkeiten  verbunden  sind.  Tagelöhner- 
familien sind  in  einzelnen  Bezirken  leichter  wie  in  früheren 
Jahren  zu  erlangen  gewesen;  die  wesentliche  Verteuerung  des 
Lebensunterhaltes  in  den  Städten  hat  hier  in  der  That  schon  zu 
einer  Rückwanderung  von  Arbeiterfamilien  aus  den  grossen 
Städten  nach  dem  Lande  Veranlassung  gegeben.  Gegen  die 
neuen  sozialpolitischen  Gesetze  haben  die  ländlichen  Arbeiter 
in  der  Mark  grossen  Widerwillen  gezeigt.  Nicht  selten  be- 
wahren sie  die  ihnen  behändigten  Quittungskarten  nicht  auf 
oder  verweigern  geradezu  die  Annahme;  grösstenteils  weigern 
sie  sich  auch,  die  auf  sie  entfallenden  Versicherungsbeiträge  zu 
zahlen.  Vielfach  wird  die  Uebernahme  der  Arbeiter  gleich  von 
der  Bezahlung  sämmtlicher  Prämienbeträge  durch  die  Arbeit- 
geber abhängig  gemacht.  Dass  diese  sich  in  Folge  dessen  mit 
den  neuen  Gesetzen  gleichfalls  nicht  zu  befreunden  vermögen, 
wird  fast  allseitig  bestätigt  Die  Auswanderung  nach  über- 
seeischen Ländern  hat  für  die  Provinz  Brandenburg  im  letzten 
Jahre  eine  erhebliche  Steigerung  erfahren;  es  sind  von  100  000 
Einwohnern  138  gegen  108  im  Vorjahre  ausgewanclert.  Die  Ge- 
sammtzahl  betrug  5783  Personen. 


zwar  in  Versammlungen,  die  Anfang  Januar  stattzufinden  haben. 
Dadurch  soll  die  Arbeiterschaft  für  diese  Frage  interessirt 
werden,  und  das  Gewerkschaftskartell  hoff  t dann  zu  einer  ziem- 
lich sicheren  statistischen  Aufnahme  zu  gelangen. 

Zur  Lage  der  Kellnerinnen  in  München.  Der  „Münchner 
Post“  ist  vorreinem  Arzte  folgender  Brief  zugegangen : „Gestern 
war  ich  mit  einem  Kollegen,  prakt.  Arzt  Dr.  X.  . . . im  Cafö 
Wittelsbach,  woselbst  uns  die  blassen,  abgespannten  Gesichts - 
züge  der  Kellnerinnen  auffielen.  Auf  meine  Anfrage  erzählte 
mir  das  eine  der  Mädchen,  dass  sie  von  dem  neuen  Besitzer  in 
einer  Weise  angestrengt  würden,  dass  sie  es  kaum  mehr  er- 
tragen könnten.  Ein  um  den  andern  Tag  muss  die  bis  Nachts 
um  2 Uhr  beschäftigte  Kellnerin  schon  früh  um  6 Uhr  wieder 
an  die  Arbeit,  so  dass  sie  an  diesem  Tage  20  Stunden  Dienst 
hat,  während  sie  an  dem  nächsten  Tage  erst  Morgens  um  9 Uhr 
an  tritt,  dass  sind  17  Stunden  unausgesetzte  Arbeitszeit.  Noch 
schlimmer  sind  die  armen  Wassermädchen  (Kinder  von  16  bis 

17  Jahren)  daran,  dieselben  müssen  jede  Nacht  noch  von  2 bis 
3 Uhr  Geschirr  putzen,  so  dass  diese  mitten  in  der  Entwickelung 
stehenden  zarten  Geschöpfe  einen  Tag  21,  den  folgenden 

18  Stunden  Arbeitszeit  haben.  Dazu  denke  man  sich  den  Auf- 
enthalt in  der  überhitzten,  unreinen,  mit  Tabaksdämpfen  ge- 

' schwängerten  Atmosphäre!  Eines  der  kleinen  Wassermädchen 
hat  seit  der  Eröffnung  des  Lokales  (etwa  ll$  Jahr)  noch  nie  einen 
freien  Tag  gehabt.  Die  Kellnerin  ist  nach  ihrer  Aussage  drei 
Wochen  nicht  aus  dem  Lokal  gekommen.  Die  Bitte  um  einen 
halben  Tag  Urlaub  in  der  Woche,  der  für  die  armen  Dinger 
doch  dringend  nothwendig  ist  (sie  kommen  sonst  zu  keinem 
Bad  etc.)  wurde  barsch  zurückgewiesen  mit  dem  Bemerken, 
dass,  wer  ausgehen  wolle,  gekündigt  wird.  Für  diese  geradezu 
übermenschliche  Anstrengung  beziehen  die  Kellnerinnen  10,  die 
Wassermädchen  monatlich  5 Mark,  von  welchem  Betrage  noch 
die  Gläser,  welche  die  Gäste  in  der  Trunkenheit,  oder  das 
Mädchen  in  Folge  ihrer  Uebermüdung  zerbrechen,  abgezogen 
werden  “ Dass  hier  nicht  durch  Polizeiverordnung  oder  Orts- 
statut vorläufig  und  durch  Reichsgesetz  endgiltig  eingeschritten 
wird,  ist  unbegreiflich. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Befähigungsnachweis  für  Bergarbeiter  in  Preussen. 

Die  Regierung  geht  mit  dem  Plane  um,  den  Befähigungs- 
nachweis für  die  Bergarbeiter  durch  Gesetz  zu  bestimmen, 
und  holt  bei  den  Bergämtern  Gutachten  über  diesen  Punkt 
ein.  Das  hiesige  Oberbergamt  hat  sich  im  Allgemeinen 
für  eine  Lehrzeit  ausgesprochen  und  zwar  sollen  die  jugend- 
lichen Arbeiter  (möglichst  nicht  unter  16  Jahren)  zwei 
Jahre  als  Schlepper  und  die  zwei  folgenden  Jahre  als  Lehr- 
hauer arbeiten,  ehe  sie  als  Vollbauer  die  lohnendste  Arbeit 
erlangen.  Eine  grössere  hiesige  Bergwerksgesellschaft  for- 
derte seinerzeit  für  leichtere  Arbeit  unter  Tage  als  Schlep- 
per etc.  vier  Jahre  und  für  die  Lehrzeit  als  Hauer  drei 
Jahre;  für  Militärpflichtige  zwei  Jahre. 


Mindesteinkommen  städtischer  Beamten  und  Arbeiter 
in  Paris.  Im  Gemeinderath  stellte  Boll,  wie  die  Vossische 
Zertung  mittheilt,  den  Antrag,  das  Mindesteinkommen  der 
städtischen  Angestellten  und  Arbeiter  auf  1200  Fr.  zu  erhöhen, 
was  eine  Mehrausgabe  von  1 500  000  Fr.  erfordern  würde.  Die 
Menrheit  der  Versammlung  entschied  sich  jedoch  für  den  Vor- 
schlag Baudins,  das  Mindesteinkommen  auf  1500  Fr.  festzusetzen, 
wodurch  die  Mehrausgabe  auf  3 400  000  Fr.  steigt.  Es  handelt 
sich  um  etwa  6500  Leute,  die  diese  Erhöhung  gemessen  werden, 
wählend  die  Zahl  der  unter  1200  Fr.  besoldeten  etwas  geringer 
]Sh  f\ll*?er  Kirchendienern,  Hausknechten,  Hauswarten,  Boten 
und  ähnlichen  Leuten  befinden  sich  darunter  Arbeiter  aller  Art, 
namentlich  Sielräumer  und  die  Anführer  der  Kehrmannschaften. 
Letztere  sind  in  die  Erhöhung  nicht  einbegriffen,  da  sie  nur 
einen  Theff  des  Tages  beschäftigt  sind,  und  vielfach  aus  Frauen 
und  Kindern  bestehen. 


Arbeiterzustände. 


Plan  einer  Arbeitslosenstatistik  in  Leipzig.  Das  Gewerl 

schaftskartell  beschäftigte  sich  kürzlich  mit  der  Frage  de 
ArbeffslosenstaUstik.  Die  meisten  der  Anwesenden  erklärte 
sich  dafür,  dass  auch  für  Leipzig  eine  solche  aufgenomme 
werden  möge,  wobei  allerdings  nicht  verkannt  wurde,  dass  e 
tIt  sel'  ^ Jese  Statistik  vollkommen  zutreffend  zu  gestalter 

Nach  längerer  Aussprache  einigte  man  sich  dahin,  dass  sich  di. 
Gewerkschaften,  mit  dieser  Angelegenheit  befassen  sollen  uni 


Einschränkung  des  Arbeitersehutzes  der  Arbeiter  in 
der  Edelnietallindustrie.  Dem  Bundesrath  ist  ein  Antrag  von 
Württemberg  und  Baden  zugegangen,  w elcher  sich  auf  die 
Beschäftigung  der  Arbeiterinnen  über  16  Jahre  in  den  Edel- 
metallwaaren-  Fabriken  und  den  dazu  gehörigen  Hilfs- 
! geschäften  bezieht.  Nach  demselben  lasse  die  jetzige  Lage 
der  Verhältnisse  Ausnahme -Vorschriften  gegenüber  den 
Bestimmungen  der  Gewerbeordnung  dringend  wünschens- 
werth  erscheinen,  wenn  nicht  die  in  Betracht  kommende 
Industrie  erhebliche  Einbusse  erleiden  soll.  Betheiligt  an 
den  zu  erlassenden  Vorschriften  sind  in  Württemberg  nach 
angestellten  Erhebungen  zusammen  an  verschiedenen 
Plätzen  83  Fabriken  mit  5262  Arbeitern,  darunter 
1022  weibliche  über  16  Jahre,  in  Gmünd  allein  66  Fa- 
briken mit  2600  Arbeitern,  darunter  538  erwachsene 
weibliche.  Im  badischen  Bezirk  Pforzheim  kommen 
575  Betriebe  in  Betracht  mit  12  200  Arbeitern,  darunter  3100 
weibliche  über  sechzehn  Jahre.  Beantragt  w'ird  der  Erlass 
einer  Verordnung,  wodurch  in  den  gedachten  Fabriken  bei 
aussergewöhnlicher  Häufung  der  Arbeit,  die  Arbeiterinnen 
über  sechsehn  Jahre  vom  15.  März  bis  15.  Oktober  bis  9 Uhr, 
vom  16.  Oktober  bis  14.  März  bis  10  Uhr  Abends,  und  im 
ganzen  Jahre  an  Vorabenden  der  Sonn-  und  Festtage  bis 
7 Uhr  Abends  beschäftigt  wmrden  dürfen.  Die  Arbeitszeit 
darf  13  und  an  Vorabenden  von  Sonn-  und  Festtagen 
10  Stunden  nicht  überschreiten.  Die  Ueberarbeit  der  Ar- 
beiterinnen über  sechzehn  Jahre  darf  nicht  an  mehr  als 
80  Tagen  im  Jahre  stattfinden.  Dann  folgt  eine  Reihe  von 
Anordnungen  über  die  Regelung  der  Arbeitszeit  der  Ar- 
beiterinnen über  sechzehn  Jahren  und  deren  Kontrolirung 
durch  die  zustehende  Verwaltungsbehörde.  Diese  Bestim- 
mungen sollen  nur  auf  solche  Fabriken  angewandt  werden, 
bei  denen  die  untere  Verwaltungsbehörde  durch  den  regei- 
I mässigen,  zu  gewissen  Zeiten  des  Jahres  erfolgenden  Ein- 
tritt eines  vermehrten  Arbeitsbedürfnisses  anerkennt.  Die 
: Bestimmungen  sollen  auf  5 Jahre  Giltigkeit  haben. 

Charakteristisch  für  die  Weiterentwdckelung  unserer 
sozialen  Gesetzgebung  ist  es  unzweifelhaft,  dass  die  Re- 
gierungen ebenso  abgeneigt  sind,  den  Wünschen  der  Ar- 
beiter bezüglich  des  Weiterausbaues  der  Arbeitergesetz- 
1 gebung  zu  entsprechen,  als  sie  bereit  sind,  die  gering- 


154 


SOZI  ALPOLI'I  ISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  13. 


fügigen  Arbeiterschutzbestimmungen  der  Gewerbeordnung 
zu  beschneiden.  Was  speziell  die  Pforzheimer  Edelmetall- 
industrie anlangt,  so  klagte  diese  seit  Langem  über  die 
Abnahme  der  Bestellungen,  über  die  steigende  Konkurrenz 
und  über  die  Absperrung  eines  ihrer  hauptsächlichsten, 
wenn  nicht  des  hervorragendsten  Absatzgebietes  durch  die 
Mac  Kinley-Bill.  Dass  man  die  durch  Absatzstockungen 
verursachte  Nothlage  einer  Industrie  durch  die  Möglichkeit 
gesteigerter  Leberproduktion  kuriren  will,  ist  charakte- 
ristisch für  die  wirthschaftspolitische  Einsicht  mass- 
gebender Kreise.  Vielleicht  will  man  aber  durch  die  Ver- 
längerung der  Arbeitszeit  blos  die  Zahl  der  Arbeitslosen 
vermehren,  um  damit  Gelegenheit  zu  bekommen,  im  Inter- 
esse der  Konkurrenzfähigkeit  die  Löhne  zu  drücken.  Eine 
Unterstützung  dieser  Politik  kann  die  sozialpolitische 
Einsicht  der  württembergischen  und  badischen  Regierung 
nicht  in  günstiges  Licht  stellen. 


Arbeiterversicherung. 

Lohnstatistik  und  Unfallversicherung. 

Herr  Ernst  Lange  meint  in  No.  1 I des  Sozialpolitischen 
Centralblatts  mein  Aufsatz  in  No.  9 dieser  Zeitschrift  ent- 
halte einige  Ausführungen  über  die  Lohnstatistik  der  Be- 
rufsgenossenschaften, die  nicht  unwiderlegt  bleiben  dürften. 
Ich  erbitte  mir,  da  die  zu  .erörternde  Frage  im  Hinblick 
auf  die  in  Aussicht  stehenden  Berathungen  der  Kommission 
für  Arbeiterstatistik,  eine  grössere  Bedeutung  gewinnt,  das 
Wort,  um  meinerseits  den  Ausstellungen  Herrn  Lange’s 
entgegenzutreten.  Die  kritischen  Pünke  sind: 

1. die  Tragweite  der  Bestimmung  in  § 71  des  Unfall- 
versicherungsgesetzes ; 

2.  der  sozialstatistische  Werth  der  Einzelangaben  über  die 
Beschäftigungsdauer  der  Arbeiter  und  der  an  dieselben 
gezahlte  Lohn; 

3.  die  in  einzelnen  Fällen  sich  ergebenden  praktischen 
Schwierigkeiten  bei  Aufstellung  der  Lohnnach Weisung; 

4.  die  Mitwirkung  der  Arbeiterkreise. 

Was  zunächst  die  Tragweite  der  Bestimmung  in 
§ 71  des  Unfallversicherungsgesetzes  betrifft,  so 
muss  entgegen  der  Auffassung  Herrn  Lange’s  mit  Ent- 
schiedenheit daran  festgehalten  werden , dass  der  fragliche 
Gesetzesparagraph  die  Grundlage  für  die  den  Unternehmern 
aufzuerlegende  Verpflichtung  bildet,  dass  Einzelangaben 
und  zwar  unter  Vortrag  des  Namens  der  Arbeiter  und  der 
von  den  einzelnen  Personen  verdienten  Löhne  gemacht 
werden.  Die  von  Herrn  Lange  vertretene  Ansicht,  dass 
dem  Gesetze  „vollständig“  genügt  wird,  wenn  jeder  Unter- 
nehmer summarisch  angiebt,  wie  viel  Arbeiter  er  beschäftigt 
hat,  und  wieviel  er  diesen  an  Lohn  und  Gehältern  gezahlt 
hat,  ist  — ich  bedauere  an  dieser  Auffassung  festhalten  zu 
müssen  mit  dem  in  No.  9 dieser  Zeitschrift  mitgetheilten 
AVortlaut  des  §71  nicht  vereinbar.  Dass  auch  gegentheilige 
Meinungen  laut  geworden  sind,  ist  richtig;  ich  hatte  dess- 
halb  in  meinem  Aufsatz  als  letzte  Reserve  noch  die  Be- 
stimmung im  Reichsgesetze  vom  1.  funi  1891,  betreffend 
Abänderung  der  Gewerbeordnung  § 139b)  herangezogen, 
jedoch  mit  der  Erwartung,  dass  es  nicht  nothwendig  sein 
werde  von  dieser  Bestimmung  Gebrauch  zu  machen. 

In  der  That  dürfte  auch  Herr  Lange  nach  Prüfung 
der  über  die  Tragweite  des  § 71  ausser  dem  Wortlaut  des 
Gesetzes  noch  vorliegenden  massgebenden  Aeusserungen 
seine  Meinung,  welche  nur  die  gegenüber  den  Berufs- 
genossenschaften augenblicklich  geübte  faktische  Toleranz 
nicht  aber  die  grundlegende  Bestimmung  des  Gesetzes 
spiegelt,  nicht  aufrecht  erhalten  können.  Ich  nehme  ins- 
besondere Bezug.  auf  die  Verhandlungen  des  Berufsgenossen- 
schaftstags  in  München.  Dort  hatte  zunächst  der  Referent 
Direktor  Wenzel  bemerkt: 

„er  habe  schon  im  vorigen  Jahre  darauf  hingewiesen,  dass 
nach  dem  Wortlaut  des  §71  des  Unfallversicherungsgesetzes 
kein  Zweifel  darüber  bestehen  könne,  dass  eine  Aufzählung 


der  einzelnen  Arbeiter  und  die  Angabe  des  von  jedem  der- 
selben verdienten  Lohnes  unbedingt  geboten,  und  die  Kol- 
lektivnach Weisungen,  welche  nur  die  Zahl  der  beschäftigten 
Arbeiter  und  die  Gesammtsumme  der  von  ihnen  ver- 
dienten Löhne  enthalten,  thatsächlich  gesetzwidrig  seien. 
Die  Richtigkeit  dieser  seiner  Auffassung  sei  damals  von 
dem  Herrn  Präsidenten  des  Reichs-Versicherungsamts  aus- 
drücklich anerkannt  worden.  Wenn  also  jetzt  das  vor- 
liegende Formular  die  namentliche  Aufführung  der  einzelnen 
Arbeiter  fordere,  so  verlange  es  nichts,  was  nicht  bereits 
im  Gesetz  enthalten  sei.“ 

Die  Verhandlungen  des  genannten  Genossenschafts- 
tages enthalten  aber  noch  weiter  zur  Sache  Gehöriges.  Die. 
vorgenannte  Aeusserung  des  Referenten  wurde  von  Doktor 
Lange  aufgegriffen.  Er  bemerkte: 

„Sei  diese  Ansicht  richtig,  so  habe  die  Brennereiberufsge- 
nossenschaft das  Gesetz  nicht  richtig  ausgeführt;  anderer- 
seits müsse  er  sagen,  sie  könnte  das  Gesetz  auch  künftig 
nicht  ausführen,  sie  würde  dazu  ein  paar  Hundert  Beamte 
brauchen.  Darum  möchte  er  bitten,  dass  der  Herr  Präsident 
des  Reichs-Versicherungsamts  erkläre,  ob  er  die  Ansicht  des 
Herrn  Referenten  theile.  Es  sei  das  doch  eine  sehr  ein- 
schneidende Frage.“ 

Darauf  hin  erwiderte  abschliessend  der  Referent: 

„Die  Stellung,  die  Herr  Präsident  Bödiker  zu  dieser  Frage 
einnehme,  ergebe  sich  aus  der  Erklärung,  die  er  bereits  im 
vorigen  Jahre  abgegeben  habe,  als  Referent  behauptete,  dass 
Kollektivnacp Weisungen  eigentlich  ungesetzlich  seien.  Er 
habe  damals  gesagt:  „Herr  Wenzel  hat  mit  Recht  hervor- 

gehoben, wir  könnten  nach  dem  Gesetz  namentliche 
Lohnnachweisungen  verlangen:  aber  wir  legen  Ihnen 
kein  Hinderniss  in  den  Weg,  von  namentlichen  Personen- 
nachweisungen  Abstand  zu  nehmen.“ 

Man  ersieht  hiernach,  die  jetzige  Streitfrage  Lange — Mayr 
ist  auf  dem  Berufsgenossenschaftstage  in  München  schon 
eingehend  erörtert  und  erledigt  worden  als  Streitfrage 
Wenzel — Dr.  Lange! 

Um  übrigens  noch  eine  weitere  Autorität  anzuführen, 
welche  sich  in  Uebereinstimmung  mit  meiner  Auffassung 
von  der  Tragweite  des  § 71  befindet,  gestatte,  ich  mir  auf 
den  mir  gerade  zur  Hand  befindlichen  Kommentar  zum 
Unfallversicherungsgesetz  von  Landmann  Bezug  zu  nehmen, 
dessen  Verfasser  als  Bundesrathsmitglied  in  Folge  seiner 
Betheiligung  an  der  Ausgestaltung  dieser  Gesetzgebung 
über  deren  Intentionen  auch  im  Einzelnen  wohl  unterrichtet 
sein  dürfte.  Landmann  sagt: 

„Die  Angabe  der  Namen  der  Arbeiter  und  der  von  den 
einzelnen  Personen  verdienten  Löhne  kann  von  den  Ge- 
nossenschatten zwar  verlangt  werden,  allein  in  der  Regel 
wird  es  genügen,  wenn  nur  bei  den  jugendlichen  Arbeitern 
und  Lehrlingen,  sowie  bei  den  mehr  als  4 M.  täglich  be- 
ziehenden Arbeitern  die  spezielle  Namens-  und  Lohnangabe 
gefordert  wird.“ 

Ich  denke,  das  Angeführte  wird  zur  Deckung  meiner 
Auslegung  der  Tragweite  des  § 7 1 genügen.  In  diesem 
Punkte  die  Einwendungen  Lange’s  zu  widerlegen , er- 
schien mir  das  Wuchtigste;  denn  der  fragliche  Paragraph, 
den  man  auch  den  „statistischen  Paragraphen“  des  Unfall- 
versicherungsgesetzes nennen  kann,  ist  die  Grundlage  für 
Herstellung  einer  Lohnstatistik  aus  dem  Material  der  Ar- 
beiterversicherung, einer  Lohnstatistik,  welche  selbstver- 
ständlich nicht  „die“  Lohnstatistik  darstellen  und  ander- 
weitige auf  die  Lohnverhältnisse  bezügliche  Ermittelungen 
keineswegs  ausschliessen  soll.  Wenn  Lange  meint,  die 
Berufsgenossenschaften  seien  für  derartige  Zwecke  gar 
nicht  geschaffen  worden,  so  übersieht  er,  dass  allenthalben 
im  öffentlichen  Leben  an  eine  primäre  für  konkrete  Zwecke 
besonderer  Art  geschaffene  Organisation  sich  eine  sekun- 
däre statistische  Registrirungspflicht  anschliesst.  Die  Straf- 
gerichte sind  auch  nicht  geschaffen,  damit  Kriminalstatistik 
gemacht  wird , aber  nachdem  die  Strafjustiz  einmal  im 
Gang  ist,  hat  sie  gleichzeitig  für  eingehende  statistische 
Registrirung  ihres  Funktionirens  zu  sorgen.  Durch  die  Ein- 
beziehung in  die  öffentlich-rechtliche  Arbeiterversicherung 
hat  auch  die  private  Unternehmerthätigkeit  ein  gewisses 
Maass  öffentlicher  Verpflichtungen  übernommen  und  dazu 
gehört  in  erster  Linie  die  statistische  Pflicht  genauer 
Rechenschaftsablage  über  Arbeiter-  und  Lohnverhältnisse. 

Diese  allgemeine  Bedeutung  der  öffentlich-rechtlichen 
Arbeiterversicherung  und  des  §71  des  Unfallversicherungs- 


No.  13 


n< izialpolittschks  centrat, ui.att. 


155 


geselzes  gegenüber  den  Zweifeln  Langels  klar  zu  legen, 
ist  das  Wichtigste.  Die  übrigen  Hingangs  bezeichneten 
Punkte  treten  dagegen  an  Bedeutung  zurück.  Ich  glaube 
mich  desshalb  für  heute  bezüglich  derselben  kurz  fassen 
zu  müssen,  um  die  Gastfreundschaft  dieser  Zeitschrift  nicht 
über  Gebühr  in  Anspruch  zu  nehmen.  Diese  schliesst 
nicht  aus,  dass  ich  im  Laufe  der  etwa  sich  weiter  spinnen- 
den Diskussion  darauf  später  einmal  näher  zurückkomme. 

Lange  bezweifelt  den  sozialstatistischen  Werth  der 
Einzelangaben  über  die  Beschäftigungsdauer  der  Arbeiter 
und  den  an  dieselben  gezahlten  Lohn.  Er  sagt:  „Welchen 
sozialstatistischen  W erth  sollte  es  haben,  zu  erfahren,  dass 
A bei  dem  Unternehmer  Z während  5 Wochen  75  M.,  B 
während  8 Wochen  120  M.,  C des  Vormittags  2 Wochen 
hindurch  15  M.  und  so  weiter  verdient  haben?“  Nun  ich 
denke  für  die  Leser  dieses  Blattes  ist  durch  die  Aushebung 
dieser  Frage  auch  die  Antwort  im  bejahenden  — nicht  wie 
Lange  meint,  im  verneinden  Sinn  — zu  geben;  denn  das 
wäre  doch  eine  sehr  unvollkommene  Auffassung  der  Lohn- 
statistik, welche  deren  Werth  nur  in  den  Nachweisen  „für 
industrielle  Grossbetriebe  mit  in  der  Hauptsache  ständigem 
Arbeiterpersonal“  sucht.  Gerade  der  durch  eine  sorgsame 
Lohnstatistik  vermittelte  Nachweis  über  den  Arbeiter- 
wechsel,  über  die  Kurzfristigkeit  oder  Langfristigkeit  der 
Beschäftigung  und  die  dabei  sich  ergebenden  Lohn- 
Verhältnisse  ist  von  dem  höchsten  „sozialstatistischen 
Werth“.  Lange  übersieht  ganz  und  gar  die  Bedeutung, 
welche  die  dem  einzelnen  Unternehmer  vielleicht  gleich- 
gültig erscheinenden  Einzelangaben  in  ihrem  Zusammen- 
zug  und  ihrer  Ausgliederung  in  der  Massenerhebung  ge- 
winnen. 

Dass  sich  im  Einzelnen  bei  Aufstellung  der  Lohnnach- 
weisungen Schwierigkeiten  ergeben,  insbesondere  da,  wo 
mehrere  industrielle  Nebenbetriebe  eines  landwirtschaft- 
lichen Unternehmens  in  Frage  sind,  will  ich  garnicht 
leugnen.  Das  ist  aber  keine  Eigenheit  gerade  dieses 
Zweigs  der  Statistik;  das  kommt  überall  vor,  sogar  bei 
unserer  modernen  Volkszählung,  wo  in  gewissen  Einzelfällen 
die  Erfassung  der  Individuen  Schwierigkeiten  bietet.  Nie- 
mals aber  darf  man  bei  objektiver  Beurteilung  der  Sache 
aus  den  Schwierigkeiten  der  Ausnahmefälle  die  Unmöglich- 
keit des  Ganzen  deduziren.  Der  subjektive,  der  statisti- 
schen Ermittelung  überhaupt  abgeneigte  Sinn  der  so- 
genannten „Praktiker“,  die  übrigens  in  den  Kreisen  der 
Biireaukratie  ebenso  und  vielleicht  noch  verbreiteter  sind 
als  sonst  im  praktischen  Wirtschaftsleben,  ist  allerdings 
zu  solchem  Pessimismus  gern  geneigt.  WTer  wie  ich  fahre 
lang  in  der  aktiven  amtlichen  Statistik  gestanden  hat,  kennt 
alle  diese  Strömungen  recht  gut  und  weiss  sie  auf  ihren 
richtigen  Werth  zu  taxiren.  Im  vorliegenden  Falle  bestreite 
ich  übrigens  die  praktische  Unmöglichkeit  der  Aufstellung 
der  Lohnnach Weisungen.  Alle  Schwierigkeiten,  welche 
Lange  anführt,  sind  zwar  keine  Spezialitäten  der  in 'Aus- 
sicht genommenen  Statistik,  sondern  bestehen  schon  von 
vornherein  für  die  Beschaffung  der  Grundlagen  der  Bei- 
tragsberechnungen, also  tiir  die  primäre  Verwaltungsauf- 
gabe nicht  für  die  sekundäre  Statistik.  Wenn  hier  bisher 
„mehr  oder  weniger  willkürliche  Schätzungen“  statt  eigent- 
licher Nachweisungen  Vorkommen,  so  geschieht  dies 
einfach  gegen  das  Gesetz.  Abhülfe  ist  hier  mit  oder 
ohne  sozialstatistische  Hintergedanken  nöthig;  sie  wird  aber 
zugleich  auch  den  betreffenden  Unternehmern  sehr  nützlich 
sein.  Die  Abhülfe  liegt  in  sorgsamer  getrennter  Buchfüh- 
rung  für  jeden  einzelnen  industriellen  Nebenbetrieb  der 
Landwirthschaft,  welche  auch  in  der  Zuweisung  der  be- 
schäftigten Arbeitskräfte  und  ihrer  Entlehnung  zu  den  ein- 
zelnen Betrieben  besteht.  V o die  Buchführung  nicht  so 
eingerichtet  ist,  da  fehlt  der  richtige  ökonomische  LTeber- 
blick.  Wenn  die  statistische  Lohnnach  Weisung  dazu  bei- 
tragen könnte,  rückwirkend  eine  Verbesserung  der  primären 
Buchungen  herbeizuführen,  so  wäre  das  ein  besonderer 
nicht  zu  unterschätzender  pädagogischer  Vorzug  derselben. 

Und  schliesslich  — wenn  es  wirklich  nicht  gelingen 
sollte,  bei  allen  landwirthschaftlichen  Nebenbetrieben  die 
volle  Wahrheit  zu  ergründen  — wenn  dies  seinen  Ausdruck 


in  den  elementaren  Lohnaufzeichnungen  wahrheitsgetreu 
fände,  wäre  denn  das  statistische  Unglück  gar  so  gross? 
Durchaus  nicht.  Bei  der  zentralen  Bearbeitung  würde  man 
ja  doch  nicht  Alles  zusammen  werfen,  sondern  das  Material 
nach  gewissen  Gruppen  auseinanderhalten.  Dann  würde 
man  auch  Tücht  unterlassen,  bei  jenen  Nebenbetrieben 
welche  jetzt  anscheinend  die  Prätention  erheben  wollen 
nach  ihren  Minoritätsempfindungen  die  Majorität  zu  lenken 
die  erforderlichen  warnenden  Bemerkungen  über  das 
Mass  der  Zuverlässigkeit  ihrer  Nachweise  beizufügen.  I las 
wäre  sozialstatistisch  nicht  gerade  erfreulich,  aber  doch 
kein  Grund,  überhaupt  die  Flinte  ins  Korn  zu  werfen. 
Auch  dürfte  man  wohl  hoffen,  dass  bei  fortschreitender 
Einsicht  in  den  Nutzen  sorgsamster  Buchführung  die  Aus- 
nahmsfälle ungenauer  Registrirung  immer  seltener  würden. 

Was  schliesslich  die  Mitwirkung  der  Arbeiterkreise 
| bei  der  Feststellung  des  Urmaterials  der  Lohnstatistik  be- 
i trifft,  so  stehen  Lange  und  ich  grundsätzlich  auf  gleichem 
1 Boden.  Nun  hebt  Lange,  während  ich  mit  dem  Detail 
; dieser  Frage  mich  überhaupt  nicht  beschäftigt  hatte,  einige 
Schwierigkeiten  hervor.  Gewiss  wird  — das  will  ich  gar 
nicht  bestreiten  — die  Durchführung  dieses  Gedankens 
i noch  weiterer  sorgsamen  Erwägung  bedürfen.  Aber  gerade 
Lange’s  Aufsatz  weist  schon  auf  einen  Ausweg  hin. 
Meinerseits  gehe  ich  durchweg  von  der  Auffassung 
aus,  dass  die  ganze  Statistik  thunlichst  in  freigeleisteter 
Mitarbeit  der  Berufsgenossen  aufgestellt  wird.  Es  wäre 
mir  am  liebsten,  dieselben  könnten  sich  unter  Weiter- 
führung der  in  München  gepflogenen  Verhandlungen  frei- 
i willig  über  das  Formular  der  Nach  Weisung  und  dann 
: weiter  auch  darüber  verständigen,  wie  die  — meines 
Erachtens  auch  im  Interesse  der  Berufsgenossen  selbst 
gelegene  — Mitwirkung  der  Arbeiterkreise  zu  erzielen 
w'äre,  über  deren  Modalitäten  ich  mich  in  meinem  Artikel 
über  Sammlung  und  Verwerthung  des  sozialstatistischen 
Materials  (Allgemeines  Statistisches  Archiv,  II.  Jahrgang, 
1.  Halbband)  kurz  geäussert,  bezüglich  deren  ich  aber  sehr 
gerne  jeder  weiteren  Belehrung  zugänglich  bin.  Insoweit 
alsdann  derartige  freiwillige  Organisationen  bei  den  Berufs- 
genossenschaften misslängen,  wären  sie  immerhin  bis  auf 
| Weiteres  in  der  Lage,  auf  dem  von  Lange  bezeichneten 
Wege  der  Stichproben  vorzugehen  und  damit  gegen  reni- 
tente Unternehmer  einen  angemessenen  Druck  zu  üben. 

Fasse  ich  meine  Auffassung  der  Sachlage  nach 
Kenntnissnahme  von  Lange’s  Aufsatz  zusammen,  so  muss 
ich  sagen:  An  der  grundsätzlichen,  gesetzlich  gegebenen 

Ermöglichung  der  Lohnstatistik  auf  Grund  spezieller  Nach- 
weisungen der  Berufsgenossen  der  Unfallversicherung  ist 
unbedingt  festzuhalten;  diese  Statistik  wird  gerade  bei 
Berücksichtigung  auch  der  Arbeitsdauer  hervorragendes 
sozialpolitisches  Interesse  bieten;  dass  Schwierigkeiten 
dabei  zu  überwinden  sind,  wird  Niemand  bestreiten;  aber 
theils  beziehen  sie  sich,  soweit  die  Nebenbetriebe  in  Frage 
sind,  nur  auf  Ausnahmefälle,  theils  sind  sie,  auch  wo  sie 
allgemein,  wie  hinsichtlich  der  Mitwirkung  der  Arbeiter- 
kreise bestehen,  nicht  unüberwindlich.  Herr  Lange  wird 
dies  wohl  wiederum  als  „übergrossen  Optimismus“  be- 
zeichnen — wohlan,  ich  halte  diesen  Optimismus  sozial- 
politisch für  wirkungsvoller  als  den  übergrossen  Pessi- 
mismus ! 

Strassburg.  Georg  von  Mayr. 


§ 75  a des  deutschen  Krankenversicherungsgesetzes. 
Das  Gesetz  vom  14.  Dezember  1892  betr.  die  Einführung  des 
§ 75a  des  Krankenversicherungsgesetzes  lautet:  „Mitglieder 
solcher  eingeschriebenen  und  auf  Grund  landesrechtlicher  Vor- 
schriften errichteten  Hilfskassen,  welche  am  1.  Januar  1893  die 
im  § 75a  des  Krankenversicherungsgesetzes  vergesehene  Be- 
scheinigung noch  nicht  erhalten,  aber  bereits  vor  diesem  Tage 
die  hierzu  erforderliche  Abänderung  der  Statuten  mit  dem  An- 
träge auf  fernere  Zulassung  oder  Genehmigung  bei  der  zu- 
ständigen Stelle  eingebracht  haben,  bleiben  von  der  Ver- 
pflichtung, der  Gemeinde-Krankenversicherung  oder  einer  nach 
Massgabe  des  Krankenversicherungsgesetzes  errichteten  Kranken- 
kasse anzugehören,  noch  bis  zum  1.  Juli  1893  befreit,  wenn  für 


156 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  13. 


die  Mitglieder  dieser  Kassen  auf  Grund  des  § 75  des  Gesetzes 
vom  15.  Juni  1883  und  der  am  31.  Dezember  1892  geltenden 
Kassenstatuten  eine  solche  Befreiung  besteht. 

Bis  zu  diesem  Zeitpunkte  haben  die  bezeichneten  Kassen 
der  Bestimmung  des  § 49a  des  Krankenversicherungsgesetzes 
nur  insoweit  zu  genügen,  als  es  sich  um  den  Austritt  von 
Kassenmitgliedern  handelt.“ 

Unfallstatistik  der  jugendlichen  Arbeiter  in  Deutsch- 
land. Die  jüngst  für  das  Jahr  1891  neu  erschienenen  Rech- 
nungsergebnisse der  deutschen  Berufsgenossenschaften 
lassen  im  Zusammenhalt  mit  den  früheren  Berichten  er- 
kennen, dass  die  jugendlichen  Arbeiter  in  Folge  der  Mangel- 
haftigkeit des  deutschen  Arbeiterschutzes  noch  immer  ein 
starkes  Kontingent  frühzeitiger  Invaliden  stellen  müssen. 
Es  betrug  die  Zahl  der  jugendlichen  Verletzten,  für  welche 
im  Laufe  des  Rechnungsjahres  Entschädigungen  festgestellt 
wurden : 


1889 
in.  | w. 

1890  1891 

m.  w.  m.  w. 

1889-1891 

zus. 

bei  den 

gewerbl.  Genossenschaften  . 

675 

110 

878 

107  940  130 

2840 

landwirthschaftl.  Genossen- 

schäften 

236 

51 

394 

122  598  158 

1559 

Ausführungsbehörden  . . . 

3 

6 

5 

— 12  — 

26 

Baugewerkgenossenschaften 

1 

4 

— 4 

i i 

9 

915  167 

1281 

229  1554  288 

44U 

1082 

1010  1842 

Danach  machen  die.  unter  den  staatlichen  und  kom- 
munalen Ausführungsbehörden,  sowie  unter  den  Bauge- 
werksgenossenschaften stehenden  Betriebe  wenig  Gebrauch 
von  jugendlicher  Arbeit,  sodass  auch  wenig  Verletzungen 
Vorkommen;  immerhin  brauchte  die  Steigerung  der  Unfall- 
ziffer  bei  den  Staats-  und  Kommunalbetrieben  nicht  vor- 
handen zu  sein.  Auffällig  ist  dagegen  das  regelmässige 
Steigen  der  Unfallziffer  jugendlicher  Arbeiter  bei  den  Ge- 
nossenschaften, weil  doch  trotz  des  Hinzukommens  neuer  Be- 
triebe auf  der  anderen  Seite  die  Fürsorge  für  jugendliche 
Arbeiter  immer  mehr  zunehmen  und  in  einem  Sinken  der 
Unfallziffer  äussern  sollte.  Namentlich  bei  den  landwirth- 
schaftlichen  Genossenschaften  erscheint  die  Unfallziffer 
jugendlicher  Arbeiter  ganz  anormal. 

Rechnungsergebnisse  der  deutschen  Berufsgenossen- 
seliaften  für  1891.  Die  vom  Reichs  - Versicherungsamt  aufge- 
stellte, dem  Reichstage  vorgeleg'te  Nachweisung'  der  gesammten 
Rechnungsergebnisse  der  Berufsgenossenschaften  über  die  Un- 
fallversicherung für  das  Rechnungsjahr  1891  bezieht  sich  auf  die 
siebente  Rechnungsperiode  seit  dein  Bestehen  der  gesetzlichen 
Unfallversicherung.  Die  Nachweisung  erstreckt  sich  auf  112  Be- 
rufsgenossenschaften (64  gewerbliche  und  48  landwirtschaft- 
liche), auf  352  Ausführungsbehörden  (158  staatliche  und  194  Pro- 
vinzial- und  Kommunal-Äusführungsbehörden)  und  auf  13  auf 
Grund  des  Bauunfall-Versicherungsgesetzes  bei  den  Baugewerks- 
Berufsgenossenschaften  errichtete  V ersicherungsanstalten : 

Die  112  Berufsgenossenschaften,  mit  913  Sektionen,  1086 
Mitgliedern  der  Genossenschaftsvorstände,  5247  Mitgliedern  der 
Sektionsvorstände,  22  795  Vertrauensmännern.  165  angestellten 
Beauftragten  (Revisions-Ingenieuren  etc.  'S,  1000  Schiedsgerichten 
und  4019  Arbeitervertretern,  haben  5 181  761  Betriebe  mit  17382827 
versicherten  Personen  umfasst.  Hierzu  treten  bei  den  352  Ausfüh- 
rungsbehörden mit  329  Schiedsgerichten  und  1445  Arbeiterver- 
tretern zusammen  632  459  Versicherte,  so  dass  im  Jahre  1891  bei 
den  Berufsgenossenschaften  und  Ausführungsbehörden  zusam- 
men 18  015  286  Personen  gegen  die  Folgen  von  Betriebsunfällen 
versichert  gewesen  sind  In  der  letzterwähnten  Zahl  dürften 
1 bis  1 '/ß  Millionen  solcher  Personen  doppelt  erscheinen,  die 
gleichzeitig  nebeneinander  in  gewerblichen  und  in  landwirth- 
schaftlichen  Betrieben  beschäftigt  und  versichert  sind.  An  Ent- 
schädigungsbeträgen sind  seitens  der  Berufsgenossenschaften 
gezahlt  worden  23  718  775,73  M.  (gegen  18  208  842,21  M.  im  Vor- 
jahre'; seitens  der  Ausführungsbehörden  2370243,16  M.  (gegen 
1866  703,15  M im  Vorjahre);  seitens  der  13  Versicherungsanstal- 
ten der  Baugewerks-Berufsgenossenschaften  337  358,1 1 M.  (gegen 
239  774,19  M im  Vorjahre).  Die  Gesammtsumme  der  Entschädi- 
gungsbeträge (Renten  etc.)  belief  sich  auf  26  426  377,00  M.  gegen 
20315319,55  M.  im  fahre  1890  gegen  14  464  303,15  M.  im  fahre 
1889,  gegen  9 681447,07  M.  im  Jalire  1888,  gegen  5 932  930  08  M. 
im  Jahre  1887  und  gegen  1 915  366,24  M.  im  Jahre  1886.  — Die 
Anzahl  der  neuen  Unfälle,  für  welche  im  Jahre  1892  Entschädi- 
gungen festgestellt  wurden,  belief  sich  auf  51  209  (gegen  42  038 
im  Jahre  1890  . Hiervon  waren  Unfälle  mit  tödlichem  Ausgange 
6428  gegen  6047),  Unfälle  mit  dauernder  v ölliger  Erwerbsunfähig- 
keit 2o95  (gegen  2708  Die  Zahl  der  von  den  getödteten  Per- 
sonen hinterlasseben  entschädigungsberechtigten  Personen  be- 


trägt 12  837  gegen  11  337  im  Vorjahre).  Darunter  befinden  sich 
4064  Wittwen  (3687),  8482  Kinder  (7348)  und  291  Ascendenten 
302t  Die  Anzahl  sämmtlicher  zur  Anmeldung  gelangten  Un- 
fälle beträgt  225  337  (gegen  200  001  im  Vorjahre).  Die  Gesammt- 
ausgaben  der  Berufsgenossenschaften  belaufen  sich  auf 
43  500  528,01  M.,  hiervon  37  891754,76  M.  für  die  gewerblichen, 

5 608  773  25  M.  für  die  landwirthschaftlichen  Berufsgenossen- 
schaften.  Von  der  Gesammtausgabe  entfallen,  wie  schon  be- 
merkt, 23  718  775,73  M.  auf  Entschädigungsbeträge  1 757  623  32  M. 
auf  die  Kosten  der  Unfalluntersuchungen  und  der  Feststellung 
der  Entschädigungen,  auf  die  Kosten  der  Schiedsgerichte  sowie 
auf  die  Ausgaben  für  Unfallverhütung,  und  14  101,02  M.  auf  Kosten 
für  Uebernahme  der  Unfall  Versicherungsverträge  (§  100  des  Un- 
fallversicherungsgesetzes) etc.  In  die  Reservefonds  sind  für 
das  Jahr  1890  12  975  592,05  M.  eingelegt  worden.  Die  laufenden 
Verwaltungskosten  betragen  5 634345,89  M.,  gegen  4 559  664,84  M. 
im  Vorjahre.  Auf  den  Kopf  der  Versicherten  berechnet,  be- 
laufen sich  im  Rechnungsjahre  bei  den  gewerblichen  Berufs- 
genossenschaften die  laufenden  Verwaltungskosten  auf  0,78  M. 
gegen  0,75  M.  im  Jahre  1890  , auf  je  1000  M.  der  anrechnungs- 
fähigen Löhne  1,20  M.  (gegen  1,16  M.;,  auf  jeden  Betrieb  9,82  AI. 
(gegen  9.47  M.),  auf  jeden  im  Rechnungsjahr  zur  Anmeldung 
gelangen  Unfall  24,46  M.  (gegen  24,80  M.  im  Vorjahre).  Die 
Bestände  des  bis  zum  Schlüsse  des  Rechnungsjahres  ange- 
sammelten Reservefonds  der  Berufsgenossenschaften  betragen  zu- 
sammen 70  738  066,62  M.,  die  der  mehrerwähnten  Versicherungs- 
anstalten 360  335,85  M. 

Der  Ausbau  (1er  Arbeiterversicherung  in  Oesterreich. 

Das  Gesetz,  betreffend  die  registrirten  Hilfskassen  vorn 
16.  Juli  1892  ist  nunmehr  laut  No.  202  des  Reichs-Gesetz- 
blattes vom  10.  Dezember  1892  sanktionirt  werden.  Gleich- 
zeitig wurde  eine  Ministerialverordnung  ausgegeben,  mit 
welcher  zur  Vollziehung  des  Gesetzes  Bestimmungen 
getroffen  wurden,  die  sich  auf  die  Anlagen  der  Register, 
die  Rechnungsführung  u.  A.  beziehen. 

Da  sich  hinsichtlich  der  Unfall-  und  Krankenversiche- 
runo-  die  Klagen  der  Unternehmer  und  Arbeiter  mehren,  ’ 
wird  die  Abhaltung  einer  von  den  Unfallversicherungs- 
anstalten und  Krankenkassen  längst  gewünschten  Enquete  : 
beabsichtigt,  ln  der  Sitzung  des  Abgeordnetenhauses  vom 
9.  Dezember  1892  kamen  die  Mängel  der  beiden  Versiche- 
rungsgesetze  zur  Sprache  und  wurde  folgende  Resolution  1 
angenommen : 

„Da  die  Krankenkassen  durch  die  Bestimmung  des  j 
§ 27  des  Gesetzes  vom  30.  März  1888,  R.  G.  Bl.  No  33, 
dauernd  gehindert  erscheinen,  ihre  ungenügenden 
Leistungen  für  die  versicherten  Mitglieder  zu  erhöhen,  ' 
ja  sogar  die  Gefahr  besteht,  dass  sie  dieselben  noch  f 
verringern  müssen,  wird  die  hohe  Regierung  aufgefor-  | 
dert,  die  Bestimmungen  des  Paragraphen  dahin  zu  J 
ändern,  dass  für  die  Abgabe  an  den  Reservefonds  zehn  t 
Prozent  der  Jahreseinnahme  und  für  die  Höhe  dieses 
Fonds  die  einfache  Jahreseinnahme  bestimmt  werde.  ' 
Ferner  werde  bestimmt,  dass  die  Unfallversicherung  bei  ' 
Unfällen  die  ganzen  Pflichten  der  Krankenversicherung 
übernehmen  soll.“ 

Eine  Erfüllung  dieser  W ünsche,  die  sich  mit  denen 
der  Krankenkassen  decken,  ist  nicht  zu  erwarten;  ebenso 
steht  die  Schaffung  eines  Alters-  und  Invalidenversicherungs- 
gesetzes  noch  im  weiten  Felde.  Ein  bezüglicher,  im  Vor- 
jahre gestellter  Antrag  bildete  kürzlich  den  Gegenstand 
der  Berathung  des  Gewerbeausschusses.  Letzterer  gelangte 
jedoch  insbesondere  mit  Rücksicht  auf  die  „wenig  befriedi- 
genden“ Erfahrungen  Deutschlands  zu  dem  Resultate,  dass 
zuerst  umfassende  Vorarbeiten  der  Regierung  vorangehen 
müssen,  ehe  an  die  Einführung  der  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherung in  Oesterreich  geschritten  werden  könne. 

Wie  sehr  das  Bedürfniss  nach  einer  entsprechenden 
Ausdehnung  der  Arbeiterversicherung  auch  in  Kreisen 
empfunden  wird,  die  ausserhalb  der  eigentlichen  Arbeiter- 
bevölkerung sich  befinden,  beweist  die  ziemlich  rege  Agi- 
tation unter  den  Privatbeamten,  deren  Altersversorgung 
kürzlich  im  Parlamente  beantragt  wurde. 


Soziale  Hygiene. 


Aerztliche  Nachweisungen  von  Todesfällen  durch 
Unfall.  In  der  jüngsten  Zeit  ist  die  Kenntniss  der  Todes- 
fälle durch  Unfälle  unleugbar  sehr  ausgedehnt  worden, 
indem  namentlich  mit  der  staatlichen  Unfallversicherung 


Ko.  13. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


157 


die  Nothwendigkeit  gegeben  ist,  die  Unfälle  so  genau  wie 
möglich  zur  Verzeichnung  zu  bringen.  Auch  die  Gewerbe- 
inspektoren tragen  ihren  Theil  dazu  bei,  insbesondere  was 
die  Beschreibung  der  Verumständung  der  einzelnen  Fälle 
anbelangt,  wobei  sie  es  besonders  auf  den  Zweck  der  Un- 
fallverhütung abgesehen  haben.  Nun  darf  man  aber  dabei 
nicht  übersehen,  dass  alle  diese  Fälle  von  Unfällen  doch 
immer  nur  eine  bestimmte  Berufsklasse  betreffen,  nämlich 
entweder  jene  Personen,  welche  in  der  staatlichen  Unfall- 
versicherung inbegriffen  sind , oder  auf  welche  sich  die 
lnspektionsthätigkeit  ausdehnt.  Es  giebt  aber  noch  zahl- 
reiche andere  Bevölkerungsklassen,  bei  denen  die  Unfälle 
auch  in  nicht  geringer  Zahl  auftreten.  Hier  bietet  im  all- 
iremeinen  die  Statistik  nur  sehr  dürftige  Anhaltspunkte, 
mdem  sie  mit  einer  einzigen  Ziffer  die  sogenannten  Todes- 
fälle aus  gewaltsamer  Veranlassung  nachweist.  Eine  Aende- 
rum>-  in  dieser  Hinsicht  ist  dringendst  nothwendig  und  ist 
seit ^1 89 1 auch  in  der  Schweiz,  resp.  vorläufig  in  den  grösse- 
ren Städten  (15  Städte  mit  zusammen  1/2  Milk  Einwohner) 
vorgenommen  worden,  indem  die  Aerzte  dieselbe  Art  der 
Nachweisung  befolgen,  welche  wir  etwa  seitens  der  Ge- 
werbeinspektoren gewöhnt  sind.  Die  Aerzte  haben  nämlich: 
,,Art,  Veranlassung  und  Zeitpunkt  des  Unfalles,  sowie  Folgen 
(bei  Verletzungen,  Natur  und  Sitz  derselben)  und  die 
schliessliche  Todesursache  in  jedem  Falle  genau  anzugeben.“ 
Es  fielen  nun  im  ersten  Halbjahr  1892  in  den  genannten 
Städten  139  Sterbefälle  aus  Ursache  von  Unfällen  vor, 
welche  110  Männer  und  29  Frauen  betrafen.  Im  Speziellen 
lassen  sie  sich  charakterisiren  als:  Sturz  vom  Dach  und 
Fall  überhaupt  49  Fälle  (37  Männer,  12  Weiber);  Sturz  vom 
Wagen  4 (Männer),  Ueberfahren  durch  Fuhrwerke  4 (M.); 
Einwirken  von  Maschinen  I (M.) ; Eisenbahnunfälle  10  (M.); 
Herabfallen  von  Balken,  Steinen  etc.  2 (W.);  Stich-,  Schnitt-, 
Quetschwunden  5 (M.);  Schusswunden  2 (M.);  andere  Ver- 
letzungen 4 (M.);  Vergiftungen  4 (2  M.,  2 W.);  Ertrinken  19 
(18  M.,  I W.);  Ersticken  im  Rauch,  durch  Gase  etc.  I I (8  M., 
3 W.);  Erfrieren  2 (M.);  Verbrennen  13  (5  M.,  8 W.);  Hitz- 
schlag  2 (1  M.,  I W.);  ohne  Angabe  der  Veranlassung  7 (M.). 
- — Allerdings  liegen  ja  für  viele  grössere  Städte  polizeiliche 
Ausweise  über  Verletzungen  in  Folge  von  Unfällen  vor; 
dieselben  werden  aber,  selbst  wenn  sie  sich  auch  auf  die 
Sterbefälle  beziehen  würden,  niemals  die  ärztlichen  Nach- 
richten ersetzen  können,  weil  sie  eben  nur  jene  Fälle  in 
sich  begreifen,  in  denen  die  Behörde  Anlass  zum  Einschreiten 
gefunden  hat. 

Die  neue  statistische  Sterbekarte  in  der  Schweiz. 

Vom  Januar  1891  angefangen  ist  die  schweizerische  Sterb- 
lichkeitsstatistik  auf  eine  neue  Basis  gestellt  worden  und 
in  die  Möglichkeit  gelangt,  sozialen  Momenten  in  aus- 
gedehntem Masse  gerecht  zu  werden.  Diese  Karte  ist  vor- 
läufig in  den  Städten  Gross -Zürich,  Gross-Genf,  Basel, 
Bern,  Lausanne,  St.  Gallen,  Chaux-de-Fonds,  Luzern,  Neuen- 
burg, Winterthur,  Biel,  Herisau,  Schaffhausen,  Freiburg  und 
Locle  eingeführt,  welche  zusammen  etwa  eine  halbe  Million 
Einwohner  besitzen,  wird  aber  allmählich  auch  auf  die 
kleineren  Städte  und  schliesslich  auf  alle  Orte  überhaupt 
ausgedehnt  werden.  Das  wesentliche  und  neue  an  dieser 
Sterbekarte,  welche  im  L’ebrigen  die  sonst  gebräuchlichen 
fragen  nach  Datum,  Ort,  Beruf,  Civilstand,  Legitimität, 
Heimath,  W ohnort  und  Geburtsdatum  enthält,  ist  der 
Punkt  8:  Aerztliche  Bescheinigung  der  Todesursachen,  und 
die  folgenden.  Im  Punkt  8 werden  folgende  Fragen  gestellt: 
a)  Grundkrankheit  oder  primäre  Ursache,  b)  Folgekrankheit 
undunmittelbare  Todesursache,  c)  erwähnenswerthe  conco- 
mitirende  Krankheiten  oder  Zustände.  Dann  folgt  Punkt  9, 
zu  welchem  mitzutheilen  ist,  ob  eine  ärztliche  Autopsie 
stattgetunden  hat  oder  nicht,  und  endlich  der  sozialwichtige, 
wenngleich  anscheinend  wenig  bezeichnende,  aber  sofort 
aufzuklärende  Punkt  10:  „Bemerkungen“. 

„ Diese  „Bemerkungen“,  welche  zur  Beurtheilung  des 
Sterbefalles  beitragen  sollen,  haben  sich  in  erster  Linie  auf 
die  sozialen  und  \\  olmverhältnisse  zu  beziehen.  Die  Angabe 
dieser  letzteren  wird  womöglich  für  alle  Fälle  gewünscht, 
in  welchen  der  I od  in  Folge  einer  epidemisch-kontagiösen 
oder  tuberkulösen  Erkrankung  eingetreten  ist.  Die  zu 
berücksichtigenden  Punkte  sind  im  Einzelnen:  I.  Die  Wohn- 
räume  und  zwar  I.  Grösse,  2.  Lage  in  Bezug  auf  die  Sonnen- 
bestrahlung, 3.  \ entilation,  4.  Heizung,  5.  Feuchtigkeit  in 
Folge  schlechter  Bauart,  6 Feuchtigkeit  in  Folge  schlechter 
Benützung  (Kochen,  Waschen  im  Zimmer  etc.);  II.  Schlaf- 


raum; dieselben  Punkte  I — 6 wie  bei  I.  Dann  III.  Beseiti- 
gung der  Abfallstoffe,  I.  Aborte,  2.  Abwasser.  IV.  Trink- 
wasserversorgung. Alle  diese  Punkte  kommen  nun  in  ganz 
knapper,  jede  unnütze  Schreiberei  vermeidender  Weise 
zur  Aufzeichnung.  Wenn  nämlich  eine  Wohnung  in  den 
angedeuteten  Punkten  mangelhaft  ist,  so  wird  einfach  durch 
die  römischen  und  arabischen  Ziffern  auf  den  bezüglichen 
Umstand  verwiesen;  z.  B.  mangelhaft  I,  I,  3,  6;  II  2 — 4;  III  1. 
Es  ist  wohl  überflüssig,  erst  des  Weiteren  auseinanderzu- 
setzen, wie  wichtig  es  zur  Beurtheilung  der  Sterblichkeit 
ist,  nachweisen  zu  können,  dass  gewisse  Wohnungsmiss- 
stände  in  steter  Verbindung  mit  gewissen  Todesursachen 
auftreten. 

Aber  auch  der  Punkt  8 a — c der  Sterbekarte  wird 
völlig  neue  Aufschlüsse  ermöglichen,  wie  denn  überhaupt 
diese  schweizerische  Sterbekarte  wohl  als  die  beste  der 
derzeit  bestehenden  bezeichnet  werden  kann.  Im  Prinzipe 
soll  da  immer  streng  auseinandergehalten  werden,  was  als 
primäre  oder  ursächliche  Erkrankung  (8  a)  und  was  als 
Folgezustand,  sekundäre  Krankheit  (8  b)  anzusehen  ist.  Aller- 
dings wird  es  im  besonderen  Falle  die  Beantwortung  der 
Frage  8 a)  oft  schwierig,  manchmal  unsicher,  ja  hie  und  da 
unmöglich  sein,  und  dennoch  ist  es  gerechtfertigt,  sie  zu 
stellen,  da  sie  eben  die  für  die  Gesundheitspflege  wichtigste 
ist.  Dagegen  ist  die  Frage  8 b)  meist  leichter  zu  beant- 
worten, da  sich  hier  um  Zustände  handelt,  die  der  Arzt 
entweder  beobachtet  hat,  oder  durch  die  Untersuchung  nach 
dem  Tode  (event.  mit  Autopsie,  Punkt  9)  feststellen  kann. 
Hierher  gehören  namentlich  auch  die  Folgezustände  von 
Unfällen,  was  für  die  staatliche  Unfallversicherung  von  be- 
sonderer Bedeutung  werden  kann.  Was  endlich  die 
Frage  8 c)  anbelangt,  so  sind  bei  dieser  jene  pathologischen 
Zustände  zu  notiren,  die  nebenbei  auch  den  Verlauf  und 
Ausgang  der  Hauptkrankheit  von  Einfluss  waren.  Dies 
gilt  z.  B.  hinsichtlich  Verkrümmungen  der  Wirbelsäule  bei 
Lungen-  und  Herzleiden,  Alkoholismus  bei  akuten  Krank- 
heiten, Geistesstörungen  und  dergl. 

Diese  neue  Sterbekarte  ist  in  der  Schweiz  mit  all- 
seitigem Beifalle  aufgenommen  worden  und  hat  sich  auch 
sofort  vollkommen  emgelebt,  so  dass  ihre  erweiterte  An- 
wendung in  Aussicht  genommen  werden  konnte.  Namentlich 
die  Aerzte  selbst  haben  die  Bedeutung  derselben  sofort 
erfasst  und  sind  weit  entfernt,  in  derselben  etwa  eine  Be- 
lästigung zu  finden.  Dass  diese  Karte  aber  nicht  nur  in 
rein  ärztlicher  Beziehung,  sondern  auf  in  sozialer  Hinsicht 
Erfolge  aufzuweisen  hat,  lehren  die  interessanten  und  werth- 
vollen Aufschlüsse,  welche  sich  in  den  Wochenbulletins 
des  eidgenössischen  statistischen  Bureaus  über  Alkoholismus 
als  Todesursache,  Einfluss  der  Wohnverhältnisse  bei  tuber- 
kulösen Krankheiten  etc.  schon  jetzt  vorfinden. 

Die  Zahl  der  weiblichen  Aerzle  in  der  Schweiz. 

Ungeachtet  der  ziemlich  ungehinderten  Entwicklung,  welche 
das  ärztliche  Studium  und  der  ärztliche  Beruf  der  Frauen  in  der 
Schweiz  finden,  ist  die  Zahl  der  weiblichen  Aerzte  gegenwärtig 
noch  recht  bescheiden.  Im  Jahre  1891  zählte,  die  Schweiz  mit 
ihrer  Bevölkerung  von  rund  drei  Millionen  Einwohnern 
1157  Aerzte  und  260  Zahnärzte,  zusammen  also  1417  ärzt- 
liche Personen,  unter  denen  sich  nur  10  weibliche  Aerzte 
und  2 weibliche  Zahnärzte  befanden  und  zw*ar  in  folgenden 
Kantonen:  Zürich  219  männliche  und  5 weibliche  Aerzte, 
ferner  29  männliche  und  1 weiblicher  Zahnarzt;  Basel- 
stadt  69  männliche  und  1 weiblicher;  St.  Gallen  121  männ- 
liche und  1 weiblicher;  Aarga  u 94  männliche  und  1 weiblicher 
Arzt;  Thurgau  neben  53  männlichen  Aerzten  kein  weib- 
licher, dagegen  neben  3 männlichen  I weiblicher  Zahnarzt; 
Genf  113  männliche  und  2 weibliche  Aerzte.  Vorläufig 
suchen  die  weiblichen  Aerzte  somit  vorwiegend  dichter  be- 
wohnte und  grössere.  Kantone  und  Ortschaften  auf,  wo  die 
Zahl  des  bestehenden  männlichen  Aerztepersonals  ohnehin 
schon  eine  grössere  ist.  Vermuthlich  dürfte  jedoch  die  Zahl 
der  weiblichen  Aerzte  in  den  künftigen  Jahren  in  stärkerem 
Maasse  ansteigen,  wenn  die  Zeit,  welche  dem  ärztlichen 
Studium  der  Frauen  zu  Gebote  steht,  sich  immer  mehr  aus- 
gedehnt haben  wird. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


158 


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Di*.  A>eiitrtd)  9fofiu, 

ovb.  H5rofeffor  für  ©taaBredjt  unb  bcutfcfjcS  Stecijt  a.  b.  Uniüerfität  fjrei&urg  i.  33. 

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dritte  21  b 1 1)  c 1 1 u u g 

(Sdüiift  be§  erften  SBanbcS). 

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The  ANNALS  contains  articles  on  economic,  political,  social,  historical 
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peersonal  notes,  about  the  workers  in  the  field  of  political  and  social  science, 
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timmen  vom  Rhein. 


Unter  diesem  Namen  giebt  der  „Rhein.  Bauernverein“  seit  l.  Nov.  1891 
eine  Zeitschrift  für  lainl-  und  forstwirthschaftliclie,  sowie  christl. -soziale 
Angelegenheiten  des  Bauernstandes  und  Grundbesitzes  heraus,  welche  als 
Ergänzungshefte  des  in  einer  Auflage  von  35  (MM)  Exemplaren  erscheinenden 
„Rhein.  Bauer,“  dienen,  aber  auch  für  sich  ein  abgeschlossenes  Ganzes  bilden. 


Die  „Stimmen  vom  Rhein“  erscheinen  am  1..  8.,  15.  und  22.  jeden  Monats 
in  Stärke  von  mindestens  1(1  Seiten  S°  und  sind  durch  die  Post  für  50  Pf.  das  Viertel- 
jahr zu  beziehen. 

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Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil:  O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  2.  Januar  1893. 


Nummer  14. 


SOZIALPOLITISCHES 


C E 


N T R AL  B L 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


ATT. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostämter. 
No.  S945  der  Postzeitungsliste. 


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Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltcne 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHAL  T. 


Das  Strafrecht  und  die  besitz- 
losen Klassen.  Von  Rechts- 
anwalt Dr.  Ludwig  Fuld. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  u. 

Wirthscliaftsstatistik: 

Die  Bauernauswanderung  aus  Ga- 
lizien und  aus  der  Bukowina. 
Von  Prof  Dr.  Ernst  Mi  schief. 

Novelle  zunr  deutschen  Wucher- 
gesetz. 

Deutscher  Gesetzentwurf,  betreffend 
die  Abzahlungsgeschäfte. 

Eine  Petition  gegen  die  Erhöhung 
der  Biersteuer. 

Einführung  des  bäuerlichen  An- 
erbenrechtes in  Baden. 

Arbeitslosigkeit  und  Stadtverord- 
nete in  Berlin. 

Ergebnisse  der  staatlichen  Griffel- 
fabrikation in  Meiningen. 

Zur  Statistik  des  Hausirhandels. 

Arbeiterzustände: 

Wandernde  Arbeiter  in  der  Provinz 
Brandenburg. 

Die  Arbeiter  und  die  grossen  Ver- 
kehrsanstalten in  Berlin. 


Arbeitslose  in  England. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Die  Organisation  der  Zimmerer 
Deutschlands.  Von  Zimmerer 
August  Bringmann. 

Arbeiterscliutzgesetzgebimg: 

Kaufmännische  Sonntagsruhe  in  der 
Weihnachtszeit. 

Sonntagsruhe  in  der  chemischen 
Industrie. 

Bergpolizeiverordnung  über  Errich- 
tung von  Waschkauen  für  Berg- 
leute im  Bezirk  Dortmund. 

Arbeiterversicherung: 

Unfallverhütung  durch  die  deut- 
schen Berufsgenossenschaften. 

Die  eingeschriebenen  Plilfskassen 
und  die  §§  75  und  75a  des 
Krankenversicherungsgesetzes. 

W ohmmgszustände : 

Die  Wohnungsverhältnisse  der 
ärmeren  Bevölkerung  in  Berlin. 
Von  Dr.  Adolf  Braun. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Das  Strafrecht  und  die  besitzlosen  Klassen. 


Nicht  mit  Unrecht  ist  der  geltenden  Gesetzgebung  der 
Vorwurf  gemacht  worden,  dass  ihre  Normen  den  Bedürf- 
nissen der  besitzlosen  Klassen  in  weit  geringerem  Masse 
Rechnung  tragen  als  denjenigen  der  besitzenden,  und  mit 
Grund  konnte  Anton  Menger,  der  scharfsinnige  und  geistvolle 
österreichische  Gelehrte,  dem  Entwürfe  eines  bürgerlichen 
Gesetzbuches  für  das  deutsche  Reich  die  schwere  Anklage 
entgegenschleudern,  dass  er  es  verabsäumt  habe,  die  Inte- 
ressen der  besitz-  und  mittellosen  Volksklassen  durch  ge- 
eignete Vorschriften  zu  wahren.  Die  nähere  Begründung 
dieser  Anklage  durch  den  genannten  Gelehrten,  dessen 
hochinteressante  Abhandlungen:  „Das  bürgerliche  Recht  und 
die  besitzlosen  Klassen“,  Jedermann  zu  empfehlen  sind, 
mag  immerhin  manche  Uebertreibung  aufweisen,  in  der 
Hauptsache  trifft  der  Vorwurf  vollkommen  zu  und  die  Ver- 
sündigung gegen  die  Anforderungen  der  Sozialpolitik  ist 
die  schwerste  Schuld,  welche  den  Verfassern  des  Entwurfs 


zur  Last  fällt.  Aber  nicht  nur  das  bürgerliche  Recht  hat 
es  bislang  verabsäumt,  den  Bedürfnissen  der  besitzlosen 
Klassen  gerecht  zu  werden,  sondern  auch  das  Strafrecht 
trifft  dieser  Vorwurf,  und  selbst  die  jüngste  Strafgesetz- 
gebung scheint  des  ausreichenden  Verständnisses  dafür  zu 
entbehren,  dass  die  Interessen  und  Verhältnisse  der  Besitz- 
losen der  Berücksichtigung  doch  mindestens  in  demselben 
Masse  bedürfen,  wie  diejenigen  der  Besitzenden.  Und  doch 
liegt  die  Nothwendigkeit  einer  solchen  Berücksichtigung 
so  nahe;  sind  es  doch  die  Angehörigen  der  besitzlosen 
Klassen,  die  Darbenden  und  Elenden,  die  Enterbten  und 
Beladenen,  mit  welchen  sich  das  Strafrecht  hauptsächlich 
zu  beschäftigten  hat,  sind  es  doch  vor  Allem  die  Armen, 
welche  dem  Verbrechen  und  der  Strafe  anheimfallen!  Es 
ist  neuerdings  mehrfach  der  Versuch  gemacht  worden,  die 
Grenzen  zwischen  dem  Strafrecht  und  der  Sozialpolitik  zu 
verwischen  und  ersterem  Aufgaben  zuzuweisen,  welche 
lediglich  in  das  Gebiet  dieser  fallen;  solche  Versuche  sind 
zu  tadeln,  sie  schaden  nur  beiden  Wissensgebieten  und 
können  nur  dazu  führen,  dass  der  Strafrichter  zu  einem 
sozialpolitischen  Pfuscher  wird,  welcher  ihm  ferne  liegende 
Aufgaben  ohne  Verständniss  behandelt.  Selbstverständlich 
sind  die  sozialpolitischen  V erhältnisse  für  das  Strafrecht  von 
grösster  Bedeutung  und  Niemand  kann  verkennen,  dass  die 
Besserung  der  wirthschaftlichen  und  sozialen  Verhältnisse 
auf  die  Häufigkeit  der  Verübung  von  Verbrechen  einen 
bestimmenden  Einfluss  ausübt.  Aber  dieser  Zusammenhang 
und  diese  Wechselbeziehung  bedingt  mit  Nichten,  dass  das 
Strafrecht  zu  einer  Unterart  der  Sozialpolitik  wird,  und  die 
Strafrechtspflege  thatsächlich  in  eine  Art  sozialpolitischer 
Aller weltsfürsorge  sich  umwandelt,  wie  dies  von  manchen 
italienischen  Gelehrten  als  Ideal  erstrebt  wird.  Die  Grenz- 
verrückung zwischen  Strafrecht  und  Sozialpolitik  muss 
verhütet,  dem  Strafrecht  aber  die  Aufgabe  zugewiesen 
werden,  sich  von  der  engen  Anschauung  frei  zu  machen, 
als  ob  nur  besitzende  Klassen  im  Staate  und  der  Gesell- 
schaft existirten.  In  ausserordentlich  detaillirter  Weise 
schützt  das  Strafrecht  das  Rechtsgut,  an  dessen  Beschützung 
die  Besitzenden  interessirt  sind,  das  Vermögen;  mit  strengen 
Strafen  bedroht  es  jede  Form  des  Einbruchs,  welcher  seitens 
der  Besitzlosen  in  die  Rechte  der  Besitzenden  verübt  wird; 
der  Schutz  der  Rechtsgüter,  an  welchen  die  Besitzlosen  vor 
Allem  interessirt  sind,  der  Gesundheit  und  Ehre,  der  weib- 
lichen Sittlichkeit,  ist  dem  gegenüber  ein  unvollständiger 
und  lückenhafter  zu  nennen.  Die  Gesetzgebung,  welche 
den  schweren  Diebstahl  mit  strengster  Strafe  ahndet,  hat 
für  den  Verführer  eines  Mädchens  über  sechszehn  Jahre 
keine  Strafandrohung,  der  Staat,  welcher  die  verzweifelnde 
Mutter,  die,  um  den  Hunger  ihrer  Kinder  zu  stillen,  aus 


160 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  14. 


dem  Bäckerladen  ein  Brod  entwendet,  wegen  Diebstahls 
bestraft,  lässt  es  ruhig  geschehen,  wenn  der  raffinirte  Wüst- 
ling die  Ehre  eines  armen  Mädchens  raubt.  Und  doch  ist 
die  geschlechtliche  Ehre  neben  der  Gesundheit  zumeist  das 
einzige  Gut,  das  die  Armen  besitzen!  Weshalb  schützt  das 
Strafrecht  die  Geschlechtsehre  nicht  in  demselben  Umfange 
wie  das  Vermögen  und  Eigenthum,  weshalb  bedroht  es  die 
Antastung  jener  nicht  mit  gleich  strengen  Strafen  wie  den 
Angriff  dieser?  Ja  weshalb?  Weil  eben  die  Bedürfnisse 
der  Besitzlosen  von  der  Gesetzgebung  nicht  in  aus- 
reichendem Grade  beachtet  werden,  weil  der  plutokratisch- 
materialistische  Geist  die  Strafgesetzgebung  mehr  und  mehr 
sich  unterthan  gemacht  hat,  wie  schon  vor  vielen  Jahren 
ein  so  gemässigter  Mann  wie  Berner  ausdrücklich  hervor- 
gehoben hat.  Aber  nicht  nur  die  Geschlechtsehre  ist  im 
Vergleiche  zu  dem  Vermögen  nur  ungenügend  geschützt, 
sondern  die  Ehre  überhaupt;  wer  mir  meinen  Regenschirm 
stiehlt  oder  meinen  Ueberzieher  mitgehen  heisst,  kommt  in 
das  Gefängniss,  wer  mir  aber  meine  Ehre  durch  nieder- 
trächtige Verleumdungen  .stiehlt,  zahlt  eine  Geldbusse,  die 
in  den  meisten  Fällen  keine  besondere  Höhe  erreicht;  in 
Deutschland  kann  der  Richter  bei  der  Aburtheilung  einer 
Beleidigung,  welche  für  die  Vermögensverhältnisse  nach- 
theilige Folgen  hat,  neben  der  eigentlichen  Strafe  auch 
noch  die  Verurtheilung  zu  einer  Geldbusse  aussprechen. 
Der  Gesetzgeber  bekümmert  sich  also  lediglich  um  solche 
Folgen  einer  Beleidigung;  welche  für  die  Vermögens- 
verhältnisse und  den  Erwerb  von  Bedeutung  sind,  andere 
scheinen  für  ihn  nicht  zu  existiren ; der  materialistisch- 
plutokratische  Geist,  welcher  diese  Bestimmung  hervor- 
gerufen hat,  kommt  auch  in  einer  andern  Vorschrift  des 
deutschen  Strafgesetzbuchs  zum  Ausdruck,  nämlich  der- 
jenigen, welche  die  Gefährdung  des  Kredits  durch  Ver- 
leumdung unter  Strafe  stellt.  Warum  wird  hier  nur  der 
vermögensrechtliche  Kredit  geschützt,  weshalb  nicht  das 
Vertrauen,  das  der  Künstler,  Gelehrte,  Handwerker  u.  s.  w. 
in  seinem  Berufe  geniesst?  Die  Antwort  lautet  auch  hier, 
weil  für  die  Gesetzgebung  in  erster  Linie  nur  das  in  Geld 
abschätzbare  Interesse  als  des  Schutzes  wertli  in  Betracht 
kommt.  Ein  noch  wichtigeres  Rechtsgut  der  Besitzlosen 
als  die  Ehre  bildet  die  Gesundheit,  sie  ist  zumeist  das  ein- 
zige Kapital  der  Armen;  während  der  Staat  dem  Geld- 
kapital jeden  nur  irgend  wünschenswertheft  Schutz  ange- 
deihen lässt,  weist  der  Schutz  der  Gesundheit  recht  fühl- 
bare Lücken  auf,  die  Verletzung  des  Vermögens  verfolgt 
der  Staat  von  Amtswegen,  die  der  Gesundheit  rügt  er  da- 
gegen in  zahlreichen  Fällen  nur  dann,  wenn  der  an  seiner 
Gesundheit  Geschädigte  einen  Antrag  auf  Strafverfolgung 
stellt.  Der  durch  die  Schädigung  der  Gesundheit  hervor- 
gerufene Verlust  der  Arbeitsfähigkeit  findet  in  der  Straf- 
gesetzgebung keine  ausreichende  Beachtung  und  an  die 
Bestrafung  der  Gesundheitsschädigung,  welche  durch  über- 
mässige Anstrengung  und  Beschäftigung  hervorgerufen 
wird,  hat  der  Staat  überhaupt  noch  nicht  gedacht.  Es  mag 
auch  darauf  hingewiesen  werden,  dass  die  Gesetzgebung 
es  bislang  noch  nicht  für  nothwendig  erachtet  hat,  den 
Dienstboten  einen  durch  strafrechtliche  Bestimmungen  mit 
dem  entsprechenden  Nachdruck  versehenen  Schutz  gegen 
die  Schädigung  ihrer  Gesundheit  durch  übermässige  An- 
strengungen zu  gewähren,  es  mag  daran  erinnert  werden, 
dass  die  Vermiethung  absolut  ungesunder  Wohnungen  an 
die  Armen  noch  nicht  der  Bestrafung  unterstellt  ist.  Die 
Beispiele  Hessen  sich  noch  wesentlich  vermehren,  insbeson- 
dere auch  durch  Anführung  der  Bestimmungen  über  das 
Strafensystem,  die  ebenfalls  der  Rücksicht  auf  die  Ver- 
hältnisse der  Besitzlosen  zum  grössten  Theile  noch  ent- 
behren. 

Die  Strafrechtspflege  und  die  Strafgesetzgebung  steht 


vor  einer  durchgreifenden  Reform  an  Haupt  und  Gliedern; 
ob  dieselbe  früher  oder  später  zur  Wirklichkeit  werden 
wird,  muss  dahingestellt  bleiben,  aber  darüber  besteht  kein 
Zweifel,  dass  es  einer  gründlichen,  von  grossen  Gesichts- 
punkten beherrschten  Reform  bedarf,  um  das  Strafrecht 
mit  den  Bedürfnissen  und  Anschauungen  der  Zeit  in  Ein- 
klang zu  bringen.  In  welcher  Richtung  sich  dieselbe  be- 
wegen wird  ist  ungewiss,  aber  das  sollte  als  sicher  ange- 
nommen werden  können,  dass  den  Bedürfnissen  der  Besitz- 
losen in  erhöhtem  Masse  Rechnung  getragen  und  die  materia- 
listisch-plutokratische  Tendenz  beseitigt  werden  wird,  welche 
es  mit  sich  bringt,  dass  der  kleinste  Vermögensgegenstand 
sich  eines  besseren  Rechtsschutzes  erfreut  als  Ehre  und 
Gesundheit. 

Mainz.  Ludwig  Fuld. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Die  Bauernauswanderungen  aus  Galizien  und  aus  der 
Bukowina. 

Fast  täglich  wissen  die  österreichischen,  aber  auch  die 
reichsdeutschen  und  russischen  Zeitungen  von  der  starken 
Auswanderung  zu  berichten,  welche  aus  den  östlichen 
Ländern  Oesterreichs,  namentlich  aus  Galizien,  stattfindet 
und  nach  Russland  gerichtet  ist.  In  der  jüngsten  Zeit  ■ 
scheint  nun  diese  Thatsache  in  den  österreichischen  offi-  . 
ziehen  Kreisen  ziemlich  ernsthaft  aufgefasst  zu  werden.  : 
Es  verlautete,  dass  die  Grenzen  der  Bukowina  geradezu  mit 
Gensdarmerie  und  Militär  abgesperrt  werden  oder  sein  ' 
sollen,  um  den  Auswanderern  den  Austritt  nach  Russland  , 
und  Rumänien  unmöglich  zu  machen;  ebenso  verlautete, 
dass  seitens  des  Polenklubs,  der  parlamentarischen  Ver- 
tretung Galiziens  im  österreichischen  Abgeordnetenhause, 
dieser  Erscheinung  die  grösste  Aufmerksamkeit  zugewendet  ; 
und  repressive  Massregeln  der  Regierung  zum  Theil  ver-  > 
langt,  zum  Theil  bereits  in  Anwendung  sind. 

Es  ist  nun  höchst  charakteristisch,  wie  diese  Aus-  < 
Wanderungsbewegung  ursächlich  aufgefasst  wird,  und  es  « 
zeugt  davon,  wie  sehr  die  Tendenz  vorwaltet,  bei  allen  Er-  , 
scheinungen  das  staatspolitische,  namentlich  das  nationale 
und  konfessionelle  Moment  hervorzukehren,  statt  einfach  zu 
dem  naheliegendsten,  dem  wirtschaftlichen , zu  greifen. 
So  wird  der  genannten  Bauernauswanderung  das  nationale 
Moment  zu  Grunde  gelegt,  welches  sich  überdies  vielfach 
mit  dem  konfessionellen  verbindet.  Die  Bauern  wandern 
angeblich  aus,  weil  sie  Ruthenen  sind,  welche  das  russisch- 
orthodoxe Russland  dem  polnisch-katholischen  Galizien  vor- 
ziehen, respektive  dem  polnisch-katholischen  Charakter  der 
in  Galizien  herrschenden  Faktoren;  dasselbe  soll  in  der 
Bukowina  gelten,  woselbst  die  Ruthenen  angeblich  deshalb 
auswandern,  weil  sie  von  dem  rumänischen  Elemente  in  ! 
ihrer  nationalen  Existenz  bedroht  werden.  Es  sollen  also 
gewissermassen  ethische,  ideale  Momente  sein,  welche  die 
Bauern  aus  dem  Osten  Oesterreichs  vertreiben. 

Man  kann  sich  kaum  etwas  Unzutreffenderes  vor- 
stellen als  diese  Ansicht.  Wer  je  den  österreichischen 
Osten  bereist  oder  gar  Derjenige,  welcher  in  demselben 
eine  Zeit  lang  gelebt  hat,  wird  den  Gedanken  sofort  von  [ 
sich  weisen,  dass  der  Bauer  Galiziens  oder  der  Bukowina 
aus  nationalen  oder  konfessionellen  Momenten  seine  Heimath 
verlassen  könne.  Ueberhaupt  muss  ein  Volk  schon  sehr 
hoch  stehen,  wenn  seine  niedersten  Schichten,  — und  in 
den  genannten  Ländern  bilden  in  Ermangelung  einer 
Arbeiter-Proletarierklasse  eben  die  Bauern  die  niedersten 
Schichten,  — durch  solche  ideale  Momente  zum  Verlassen 
der  Heimath  bewogen  werden  sollen.  Es  ist  also  schon  von 
vornherein  schwer  glaublich,  dass  diese  Momente  vorwalten. 
Dagegen  ist  es  nothwendig,  in  die  sozialen  und  wirthschatt- 


No.  14 


SO/IAI.I'OI  ITISCHES  CENTR  AI  .BLATT. 


161 


liehen  Ursachen  näher  einzudringen,  welche  die  in  Rede 
stehende  Bewegung  mit  grösster  Leichtigkeit  erklären. 
Durch  eine  solche  Anfassung  wird  es  auch  möglich,  zu  all- 
gemeineren Einblicken  in  die  soziale  Lage  dieser  Gebiets- 
teile der  österreichischen  Monarchie  zu  gelangen,  welche 
vor  100  Jahren  ein  Einwanderungsgebiet  bildeten  und  sozu- 
sagen der  Kultur  zugeführt  werden  sollten,  und  welche 
heute,  nachdem  etwa  drei  Generationen  ins  Land  ge- 
gangen, ihre  Bevölkerung  nicht  mehr  zu  ernähren  im 
Stande  sind. 

Was  zunächst  die  Thatsachen  anbelangt,  ob  überhaupt 
eine  solche  Auswanderung  bestehe,  so  ist  zu  bemerken,  dass 
die  Thatsache  zweifellos  ist.  Es  findet  eine  starke  Auswande- 
rung ruthenischer  Bauern  aus  Galizien  und  der  Bukowina 
statt,  welche  nach  Russland  gerichtet  ist  und  welche  schon 
längere  Zeit,  d.  h.  mehrere  Jahre  andauert.  Ueber  die 
Grösse  ihres  Umfangs  ist  nichts  bekannt;  es  kann  nur  be- 
hauptet werden,  dass  es  eine  wahre  Massenauswanderung 
sei  und  dass  dieselbe  bereits  mindestens  durch  ein,  viel- 
leicht durch  zwei  Dezennien  andauere.  Auch  kann  gesagt 
werden,  dass  die  Auswanderer  aus  Galizien  fast  nur 
Bauern  und  zum  grössten  Theil  Ruthenen  sind,  während 
aus  der  Bukowina  ebenso  wie  aus  Siebenbürgen  und  den 
angrenzenden  Theilen  Ungarns  auch  Rumänen  und  nicht 
nur  Bauern,  sondern  auch  Handwerker  auswandern.  Dies 
die  Thatsachen,  und  nun  zu  den  Ursachen. 

Sowohl  Galizien  als  auch  die  Bukowina  sind  Gebiete 
mit  Latifundien  und  zwar  Länder  mit  ausgesprochenem 
Yorwalten  des  Grossgrundbesitzes.  Dieses  Vorwalten  wird 
dadurch  noch  bedeutungsvoller,  dass  es  sich  nicht  nur  auf 
die  Flächenverhältnisse  bezieht,  sondern  dass  der  Gross- 
grundbesitzer auch  auf  die  Führung  der  bäuerlichen  Wirth- 
schaften  insofern  von  Einfluss  wird,  als  er  die  Besitzer 
derselben  mit  seinem  Gutsbetriebe  vielfach  verknüpft.  Für 
die  Bukowina  im  Besondern  kommt  noch  die  gewaltige 
Fläche  des  griechisch-orientalischen  Religionstondes  in  Be- 
tracht, dessen  Forste  wohl  30-40  pCt.  des  Landes  bedecken. 
Dabei  sind  die  Verhältnisse  des  grossen  Grundbesitzes 
durchaus  nicht  die  besten.  Der  Betrieb  lässt  viel  zu 
wünschen  übrig  und  die  Verschuldung  ist  sehr  weit  vor- 
geschritten. 

Es  erübrigt  demnach  nur  ein  erheblich  verminderter 
1 heil  des  Landes  für  den  bäuerlichen  Besitz,  welcher  über 
eine  stets  gleichbleibende  Fläche  verfügt,  während  die  : 
Koptzahl  der  Bewohnerklasse,  die  hiervon  ihren  Unterhalt 
ziehen  will,  sich  stark  vermehrt,  zum  mindesten  mehr  als 
verdoppelt  und  in  vielen  Gegenden  verdreifacht  hat.  Die 
ehemaligen  Gutsbestände  sind  mehrfach  getheilt  worden 
und  in  weiten  Gebieten  in  Zwerggüter  übergegangen. 
Dabei  aber  ist  in  der  ungemein  extensiven  und  primitiven 
Bewirthschaftungsweise  der  bäuerlichen  Güter  in  Galizien 
und  der  Bukowina  eine  Aenderung  wohl  kaum  im  nennens- 
werthe  Masse  erfolgt,  um  so  mehr,  als  auch  auf  den  Gütern 
des  Adels  ähnliche  Verhältnisse  bestehen.  Als  Ursache 
wird  seitens  der  Grossgrundbesitzer  einfach  angegeben, 
dass  sie  nicht  im  Stande  seien  Arbeitskräfte  zu  bekommen, 
da  der  galizische  und  bukowiner  Bauer  überhaupt  nicht  in 
Taglohn  gehe  oder  zum  mindesten  sehr  unzuverlässig 
sei.  Und  der  Bauer  selbst  bebaut  die  väterliche  Scholle 
nach  altgewohnter  Weise  mit  möglichst  wenig  Arbeitsauf- 
wand und  gerade  so  weit,  als  zur  Fristung  seines  kärg- 
lichen Lebens  nothwendig  ist.  Arbeitslust,  Intelligenz  und 
Streben  sucht  man  ganz  vergebens. 

Die  Bauern  werden  somit  auf  einer  und  derselben, 
schon  von  Antang  an  verhältnissmässig  knapp  zugemessenen 
fläche  immer  zahlreicher,  immer  mehr  und  mehr  zusammen- 
gedrängt. Ein  Ausweg  aus  dieser  Enge  besteht,  soweit  er 
die  inneren  Zustände  im  Lande  anbelangt,  überhaupt  nicht. 

I nd  da  kommen  wir  zu  einem  der  wichtigsten  Punkte  in 
dieser  Angelegenheit,  welcher  die  sozialen  Verhältnisse  des 
Ostens  Oesterreichs  und  vielfach  des  Ostens  überhaupt  so 
charakteristisch  erscheinen  lässt.  Es  fehlt  der  organische 
Kreislauf  innerhalb  der  einzelnen  Stände,  und  im  Speziellen, 
besteht  kein  Zusammenhang  zwischen  den  Städten  und 
den  städtischen  Berufszweigen , namentlich  dem  Hand- 


werk einerseits  und  dem  Bauernstände,  resp.  den  Dörfern 
andererseits.  Dieselbe  Erscheinung,  dass  die  ländliche  Be- 
völkerung auf  ein  und  derselben  Fläche  immer  zahlreicher 
wird,  und  deren  Güter  immer  kleiner  werden,  besteht  in 
ausgedehntestem  Maasse  wohl  auch  anderwärts,  und  die 
fortschreitende  Bildung  kleiner  Besitzstände  ist  ja  etwas 
ganz  alltägliches,  aber  überall  im  Westen  findet  ein  Theil 
der  ländlichen  Bevölkerung  seinen  Abfluss  nach  den 
Städten  resp.  in  das  Handwerk  und  die  Fabriken,  so  dass 
die  bedrohlichen  Folgen  der  Vermehrung  der  bäuerlichen 
Bevölkerung  doch  einigermassen  abgewendet  werden. 

Ganz  anders  liegen  die  Dinge  in  Galizien  und  der 
Bukowina.  Die  Städte  im  Osten  dieses  Landes  sind  zum 
grössten  Theil  von  jüdischer  Bevölkerung  bewohnt,  aus 
welcher  sich  auch  die  Gewerbs-  und  Handelsbevölkerung, 
letztere  ausschliesslich,  erstere  grossentheils  rekrutirt. 
Ferner  bilden  sonstige  Zuzügler,  z.  B.  Deutsche,  Polen 
(in  der  Bukowina)  etc.  die  Elemente  der  anwachsenden 
städtischen  Bevölkerung,  während  die  Ruthenen  (und  in 
der  Bukowina  auch  die  Rumänen)  sehr  wenig  Neigung  zu 
städtischem  Leben  und  zur  Ausübung  des  Handwerkes  be- 
sitzen. Dazu  kommt,  dass  die  Grossindustrie  nur  in  sehr 
geringer  Ausdehnung  besteht,  und  dass  somit  auch  sie 
nicht  die  bäuerliche  überschüssige  Bevölkerung  in  sich, 
d.  h.  unter  ihren  Arbeiterstand  aufnehmen  kann.  Zustände 
solcher  Art  sind  eben  ein  organischer  Fehler  im  sozialen 
Körper.  Uebrigens  sind  auch  die  Städte  im  allgemeinen 
auf  einer  sehr  niedrigen  Wohlstandsstufe,  ja  viele  derselben 
sogar  vollkommen  armselig.  Sie  vermögen  also  der  Land- 
bevölkerung nur  in  sehr  beschränktem  Maasse  Absatz  für 
deren  Bodenprodukte  zu  bieten,  namentlich  auch,  was  die 
immerhin  in  die  Wagschale  fallenden  Produkte  der  Gärtnerei, 
Kleinvieh-,  Milchwirthschaft  u.  dgl.  anbelangt. 

Wo  derartige  organische  Fehler  in  dem  Organismus 
einer  Bevölkerung  auftreten  und  seit  langer  Zeit  heimisch 
sind,  darf  es  nicht  Wunder  nehmen,  dass  sich  auch  die 
bekannten  Krebsschäden,  insbesondere  der  Wucher  ein- 
stellen. Und  da  ist  ja  bekannt,  dass  diese  östlichen  Gegenden 
geradezu  das  klassische  Land  des  Wuchers  bilden.  Nament- 
lich ist  auch  die  bäuerliche  Bevölkerung  der  Auswucherung 
im  hohen  Maasse  zum  Opfer  gefallen.  Die  Ursachen  hier- 
für liegen  zum  Theil  in  den  bereits  erwähnten  Lhnständen, 
welche  mehr  die  potentielle  Möglichkeit  und  Disposition 
darstellen,  zum  Theil  lassen  sie  sich  ziemlich  genau  präci- 
siren.  Die  Wucherfreiheit,  welche  zu  Ende  der  60er  Jahre 
eingeführt  wurde  und  bis  in  die  Mitte  der  70er  Jahre  be- 
stand, leitete  den  grossen  Prozess  des  Verfalles  gleichsam 
ein,  und  die  Wurzeln  der  gegenwärtigen  starken  Aus- 
wandererbewegung sind  ohne  Zweifel  in  diese  Zeit,  also 
etwa  um  20  Jahre  zurück  zu  verlegen.  Ferner  hat  der 
früher  bestandene  totale  und  auch  jetzt  noch  fühlbare 
Mangel  an  Einrichtungen  für  bäuerlichen  Kredit  die  geld- 
suchenden  Bauern  in  die  Hände  der  privaten  Geldverleiher 
getrieben.  Diese  aber  sind  gerade  in  jenen  Gegenden  in 
einer  relativ  ungemein  grossen  Anzahl  vorhanden.  Das 
hängt  damit  zusammen,  was  über  die  eigenartige  Be- 
schaffenheit der  Städte  gesagt  wurde.  Die  Städte  sind 
nicht  imStande,  ihrer  zahlreichen,  dichtgedrängt  wohnenden, 
durchaus  verarmten  Bevölkerung  aus  gewerblicher  oder 
regelrechter  Handelsthätigkeit  Unterhalt  zu  verschaffen, 
und  das  um  so  weniger , als  auch  die  Landbe- 
völkerung nicht  konsumtionsfähig  ist.  Nun  ist  aber 
die  starke  städtische  Bevölkerung  einmal  da  und  will 
existiren.  Sie  greift  deshalb,  eine  durch  die  andere  ge- 
drängt, über  den  Rahmen  der  bürgerlichen  Gewerbe  hin- 
aus und  betritt  morastigen  Boden.  Früher  war  es  der 
Geldwucher,  der  ja  zulässig  war;  seit  dem  Verbote  des- 
selben ist  er  es  auch  noch,  nur  dass  er  so  viel  als  möglich 
verschleiert  und  verkleidet  wird.  Ein  wichtiges  Gebiet 
desselben  sind  die  Theilhaberschaften,  d.  i.  der  sogenannte 
Viehwucher,  aber  auch  sonstiger  Naturalienwucher  u.  dgl. 
In  relativ  vielen  Fällen  endet  der  Prozess  der  Auswuche- 
rung mit  der  Vertreibung  des  Bauern  von  Haus  und  Hof 
durch  die  Feilbietung.  Der  Bauer  ist  nun  thatsächlich  er- 
werbslos, da  er  zu  keiner  anderen  Beschäftigung  geeignet 


162 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  14. 


und  überdies  unbeholfen  und  ungebildet  ist.  Er  muss  das 
Land  verlassen.  Zum  grossen  Theil  ist  allerdings  auch  die 
Indolenz,  geringe  Bildung  und  der  Leichtsinn  der  Bauern 
Schuld  daran,  dass  sie  in  so  grossem  Umfange  in  Wucher- 
hände gerathen  und  zuletzt  um  ihren  Besitzstand  kommen; 
doch  wäre  es  weit  gefehlt,  wollte  man  hierin,  wie  es  so 
oft  geschieht,  eine  Hauptursache  finden.  Endlich  ist  zu 
erwähnen,  dass  die  Rechtsordnung,  namentlich  die  Konkurs- 
vorschrift, nicht  immer  geeignet  ist,  die  Behauptung  des 
Bauernstandes  in  seinem  Besitze  zu  kräftigen,  während  sie 
seinem  Gegner  viele  Handhaben  verleiht,  die  auch  bis  zur 
letzten  peinlich  genau  ausgenützt  werden. 

Und  nun,  wenn  wir  uns  die  genannten  Punkte,  die 
Latifundien-  und  Grossgrundbesitzwirthschaft,  den  exten- 
sivsten Wirthschaftsbetri eb,  das  Fehlen  organi- 
schen städtischen  Lebens  und  die  Abneigung  des 
Landvolkes  demselben  gegenüber  sowie  gegenüber  dem 
Handwerk,  das  Fehlen  der  Grossindustrie,  die 
Aus  Wucherung  und  die  grosse  Indolenz  sowie  den 
niederen  Bildungsstand  der  Bauern  jener  Gegenden 
vergegenwärtigen  • — dann  müssen  wir  wohl  zugeben,  dass 
alle  Elemente  und  die  grösstmögliche  Disposition  zur  Aus- 
wanderung gegeben  sind. 

Und  in  der  That,  der  Bauer  muss  zu  Grunde  gehen, 
ganz  verarmen,  oder  aber  auswandern,  und  er  zieht  das 
letztgenannte  vor.  Das  Land  ist  relativ  übervölkert  und 
die  Auswanderung  eben  eine  naturnothwendige  Er- 
scheinung. — 

Selbstverständlich  fehlt  es  da  nicht  an  Solchen,  welche 
sich  diese  Zustände  zu  Nutzen  machen  und  die  bestehende 
Auswanderung  äusserlich  in  gewisse  Bahnen  zu  bringen 
wissen.  Diese  Personen  als  Ursachen  der  Auswanderung 
anzusehen,  ist  natürlich  ganz  verfehlt.  Im  allgemeinen 
kann  man  da  Jene  unterscheiden,  welche  gewissen  grösseren 
Interessen  dienen,  und  Jene,  für  welche  die  Beeinflussung 
der  Auswanderung  ein  rentables  Privatunternehmen  ist, 
obgleich  dem  nichts  entgegensteht,  dass  ein  und  dieselbe 
Person  beide  Ziele  vereinigen  kann. 

Da  wird  nun  behauptet,  dass  nationale  Agitatoren  im 
Inlande  die  Bauernbevölkerung  zur  Auswanderung  nach 
Russland  respektive  Rumänien  verleiten,  beziehungsweise 
aufreizen.  Ich  kann  jedoch  das  nicht  für  zutreffend  ansehen, 
und  zwar  sowohl  wegen  des  Charakters  der  ruthenischen 
Bauernbevölkerung  als  auch  wegen  der  ohnehin  genügend 
vorhandenen  ökonomischen  Emigrationsursachen,  welche  so 
stark  wirken,  dass  ein  Hervorkehren  idealer  Momente  ganz 
wirkungslos  verbliebe.  Uebrigens  wer  sollten  denn  diese 
Agitatoren  sein?  Lehrer?  Diese  würden  von  den  über- 
geordneten polnisch  gesinnten  Schulräthen  bald  auf  die 
Finger  geklopft  werden.  Und  Popen?  Zunächst  sind 
diese  im  allgemeinen  von  einer  idealen  Weltanschauung 
ziemlich  weit  entfernt  und  von  einer  Verminderung  der 
Zahl  ihrer  Pfarrkinder  meist  wenig  erbaut;  dann  aber 
haben  sie  als  (in  Galizien)  griechisch-unirte  doch  wenig 
Ursache,  eine  Förderung  der  griechisch-orthodoxen  Sache 
zu  betreiben.  Und  es  ist  doch  kein  Zweifel,  dass  es  sich 
dem  Geistlichen,  sei  es  welcher  Konfession  immer,  zunächst 
um  die  Sache  der  Religion  handelt,  und  erst  in  zweiter 
Linie  um  eine  andere,  etwa  um  die  Nationalität. 

Ich  glaube,  es  liegen  da  ganz  andere  Veranlassungen 
vor,  dass  die  Auswanderung  sich  gerade  nach  Russland 
wendet.  Zunächst  ist  eben  die  topographische  Lage  zu 
bedenken.  Galizien  grenzt  ja  doch  in  weitem  Bogen  an 
Russland  und  die  Grenze  ist  ganz  offen;  auch  für  die  Buko- 
wina gilt  dasselbe,  nur  dass  dort  noch  ein  langer  Grenz- 
saum gegen  Rumänien  dazukommt.  Kann  man  sich  da 
wundern,  dass  der  Bauer  gerade  diesen  Weg  wählt?  Die 
seinerzeit  erfolgte  Abgrenzung  Galiziens  und  der  Bukowina 
ist  eben  rein  diplomatisch  erfolgt,  ohne  jede  Rücksicht  auf 
die  innere  Beschaffenheit  der  Theile.  Da  muss  man  aller- 
dings darauf  gefasst  sein,  dass  diese  willkürlich  gezogene 
Linie  nicht  immer  die  Aufgabe  einer  scharfen  Grenzscheide 
erfüllt.  Dazu  kommt,  dass  auch  die  angrenzenden  Theile 
des  Nachbarlandes  eine  Bevölkerung  bergen,  welche  die- 
selbe Sprache  spricht  wie  der  auswandernde  Bauer,  die- 


selbe Tracht  trägt  und  dieselben  Lebensgewohnheiten  hat, 
was  bei  dem  schwerfälligen  Ruthenen  sehr  in  die  Wag- 
schale fällt. 

Dagegen  erachte  ich  es  wohl  als  ziemlich  wahrschein- 
lich, dass  eine  Einwanderung  galizischer  Bauern  in  Russland 
von  offizieller  russischer  Seite  gefördert  wird.  Es  bedarf 
dabei  weniger  einer  direkten  Anregung,  sondern  es  ist  nur 
erforderlich,  die  ohnehin  zur  Auswanderung  gezwungene 
Bevölkerung  in  eine  bestimmte  Bahn  zu  leiten.  Russland 
thut  hier  eben  nur  das,  was  wohl  alle  Staaten  entweder 
geradezu  thun,  oder  doch  wenigstens  zulassen.  Vor  allem 
Nordamerika , die  südamerikanischen  Staaten , viele  der 
kleineren  Balkanstaaten  etc.  Auch  Oesterreich  selbst  wird 
einer  Zuwanderung  nach  den  okkupirten  Ländern  gerade 
keinen  Widerstand  entgegensetzen.  Und  schliesslich  kann 
ja  nur  daran  erinnert  werden,  in  welchem  Maasse  die  äussere 
und  innere  „Kolonisation“,  denn  mit  diesem  Namen  kann 
man  eine  solche  Bevölkerungspolitik  der  Staaten  doch  wohl 
bezeichnen,  noch  vor  gar  nicht  lange  zurückliegender  Zeit 
betrieben  worden  ist.  Russland  thut  dies  eben  heute,  weil 
bei  ihm  vielfach  dieselben  populationistischen  Momente 
vorwalten,  welche  in  vielen  mehr  innereuropäischen  Staa- 
ten noch  vor  100  Jahren  in  Giltigkeit  standen,  als  deren 
Bevölkerungszahl  nur  die  Hälfte  von  der  heutigen  aus- 
machte. 

Allerdings  mag  in  gar  vielen  Fällen  eine  solche  Po- 
litik Russlands  nur  zum  Vorwand  genommen  werden,  um 
den  Auswandererstrom  gerade  dahin  zu  leiten,  oder  über- 
haupt so  manche  Familie,  die  erst  beim  Entschluss  auszu- 
wandern angelangt  ist,  zur  Ausführung  derselben  zu  be- 
wegen. Lind  damit  kommen  wir  zu  jenem  Krebsschaden 
der  Zustände,  welche  ebenso  gut  für  Galizien,  wie  für  die 
Bukowina  gilt,  dass  sich  nämlich  eine  grössere  Zahl  von  , 
lichtscheuen  Individuen  an  die  Auswanderer  heranmacht 
und  aus  einer  Geschäftsverbindung  mit  denselben  Gewinn 
zieht. 

Diese  Individuen  sind  entweder  einfache  „Schwärzer“ 
oder  „Grenzführer“,  welche  die  Bauern  nach  Russland, 
dessen  Grenze  so  wohl  verwahrt  ist,  auf  Schleichwegen 
hinüberbringen,  oder  es  sind  Auswanderungsagenten,  welche 
sich  mit  der  Regelung  des  Stromes  auch  nach  überseeischen  , 
Staaten  befassen.  Beide  stellen  jene  oben  genannte  Klasse 
dar,  welche  sich  mit  der  Auswanderung  aus  nichts  weniger  <■ 
als  idealen,  ethischen,  sondern  aus  sehr  materiellen  Grün- 
den befasst. 

Die  Schwärzer  nach  Russland  haben  verhältnissmässig 
leichtes  Spiel.  Die  Schmugglerwege  und  Schliche  sind 
ihnen  wohlbekannt;  ihre  einzige  Aufgabe  beruht,  nachdem 
die  Familien  zur  endlichen  Ausführung  ihres  gehegten  Planes 
gebracht  worden  sind,  darin,  auf  wenig  betretenen  Wegen 
oder  bei  Nacht  und  Nebel  ihre  Schützlinge  nach  Russland 
hinüberzubringen.  Die  wenigen  Geldmittel,  die  dem  Bauern 
aus  der  Realisirung  seiner  Habe  noch  übrig  geblieben  sind, 
reichen  gewöhnlich,  um  ihn  drüben  einige  Zeit  zu  halten 
und  dann  kehrt  er  — falls  jene  Angaben  über  ein  Ent- 
gegenkommen russischerseil s entweder  überhaupt  oder  im 
speziellen  Falle  nicht  eintreten  — wieder  zurück.  Dies  kann 
tagtäglich  beobachtet  werden  und  ist  auch  ziemlich  be- 
kannt, weil  man  begreiflicherweise  von  den  offen  und  am 
hellichten  Tage  auf  der  breiten  Landstrasse  zurückkehren- 
den Familien  mehr  weiss,  als  von  jenen,  welche  heimlicher- 
weise ihr  Heimathsdorf  verlassen  und  die  Grenze  überschrit- 
ten haben. 

Dagegen  haben  die  Agenten  für  die  überseeische 
Auswanderung  ein  viel  schwereres  Spiel  und  deshalb  hört 
man  so  wenig  von  einer  solchen,  und  fast  ausschliesslich 
nur  von  jener  nach  Russland.  Der  Bauer  hat  im  allge- 
meinen nicht  den  hierzu  erforderlichen  Unternehmungsgeist 
und  am  allerwenigsten  das  nothwendige  Geld.  Somit  sind 
diese  Art  Agenten,  insoweit  sie  in  den  genannten  Gegenden 
und  mit  bäuerlicher  Bevölkerung  arbeiten,  oft  vom  Betrug 
nicht  weit  entfernt.  Es  bedarf  auch  geradezu  solcher  krum- 
men Wege  um  die  Bauern  zum  Entschluss  zu  bringen, 
gerade  nach  Amerika  zu  gehen  und  nicht  nach  Russland. 
Der  Effekt  dieser  Auswanderung  ist  im  allgemeinen  der, 


No.  14. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


dass  die  Emigrantenfamilien  nach  einigen  Tagen  oder 
Wochen  von  Hamburg  wieder  zurückkommen,  und  zwar 
total  aller  Mittel  und  Habe  entblösst.  Von  Zeit  zu  Zeit 
kommt  es  dann  zu  einem  der  bekannten  Betrugsprozesse 
gegen  Auswanderungsagenten,  ohne  dass  jedoch  nach  Be- 
endigung derselben  deren  Thätigkeit  aufhören  würde. 

Es  ist  wohl  nicht  anzunehmen,  dass  den  politischen 
Behörden  Galiziens  und  der  Bukowina  der  Bestand  von 
Auswanderungsagenten  unbekannt  sein  könne.  In  beiden 
Ländern  ist  es  ja  ganz  notorisch,  dass  dieselben  in  den 
Dörfern  ihrem  Handwerke  obliegen.  Doch  hört  man 
nichts  von  einem  Einschreiten,  selbst  jetzt  nicht,  wo  doch 
Repressionsmassregeln  gegen  die  Auswanderer  selbst  er- 
griffen werden.  Es  ist  auch  nicht  recht  klar,  wie  man 
eigentlich  diesen  Personen  nahetreten  kann,  falls  dieselben 
ohne  Kollisionen  mit  dem  Strafgesetze  nur  eine  Vermitt- 
lungsthätigkeit  ausüben;  dass  von  fiskalischer  Seite  aus 
meist  ein  Haken  an  der  Sache  ist,  trifft  wohl  zu,  genügt 
aber  nicht  zu  einem  Einschreiten  der  politischen  Behörden 
überhaupt.  Allerdings  dürfte  es  wohl  möglich  sein,  vom 
polizeilichen  Standpunkte  aus  vorzugehen;  nun  ist  es  aber 
schwer,  sich  darüber  ein  Urtheil  zu  bilden,  da  der  Polizei- 
codex eben  ziemlich  unbekannt  ist.  Jedenfalls  steht  die 
Thatsache  fest,  das  im  allgemeinen  von  Polizeiwegen  gegen 
die  Auswanderungsagenten  nicht  vorgegangen  wird.  Aller- 
dings steht  ebenso  fest,  dass  selbst  bei  der  ganz  unmög- 
lichen Annahme  der  vollständigen  Unterdrückung  der  ge- 
nannten Agenten  die  Auswanderung  durchaus  nicht  auf- 
hören, wenn  auch  wahrscheinlich  etwas  nachlassen  würde. 

Und  nun  soll  noch  die  Behauptung  beleuchtet  werden, 
dass  es  gerade  durchaus  ruthenische  Bauern  seien,  welche 
auswandern,  und  dass  deshalb  nationale  und  konfessionelle 
Umstände  angeblich  als  naheliegend  vermuthet  werden 
dürften.  Ich  glaube  dies  denn  doch  nicht.  Zunächst  ist 
die  Behauptung  in  dieser  Schärfe  nicht  richtig.  Dass 
aus  Galizien  nur  Ruthenen  auswandern,  mag  zutrefifen, 
aber  aus  der  Bukowina  und  Siebenbürgen  wandern  ebenso 
auch  Rumänen  und  selbst  Deutsche,  und  aus  Ungarn  ebenfalls 
diese  und  überdies  noch  Slovaken  aus.  Es  emigriren  eben 
fene,  für  welche  die  oben  erörterten  Ursachen  zutreffen. 
Aus  der  Bukowina  wandern  viele  deutsche  Kolonisten  nach 
Rumänien  aus,  allerdings  nur  wenig  Rumänen.  Doch  erklärt 
j sich  dies  unschwer.  Der  Rumäne  bewohnt  hier  im  allge- 
meinen den  günstiger  situirten  Landestheil  und  ist  selbst 
in  relativ  besserer  Lage;  überdies  ist  die  Volksvermehrung 
dieser  Nation  eine  viel  langsamere  als  jene  der  Deutschen 
und  Ruthenen.  Dagegen  emigriren  die  Rumänen  (Wallachen) 
aus  Siebenbürgen  in  hellen  Schaaren  und  zwar  sowohl  nach 
Amerika,  als  auch  auf  dem  Landwege.  Und  was  Galizien 
I anbelangt,  so  bewohnen  die  Ruthenen  eben  die  grossen 
Mächen  der  östlichen  Hälfte  des  Landes,  in  welchen  von 
jeher  die  wirthschaftliche  Situation  ungünstiger  war  als  in 
dem  polnischen  Lande  der  Mazuren,  d.  h.  dem  westlichen 
Galizien.  Für  die  Bewohner  dieses  Gebietstheiles  liegen 
die  ökonomischen  Ursachen  eben  nicht  in  jener  Intensität 
vor,  dass  sie  das  Volk  zum  Verlassen  der  Heimath  veran- 
I lassen  würden.  All’  dies  hat  aber  mit  dem  nationalen 
Momente  nichts  zu  thun.  — 

LTnd  nun  noch  zum  Schlüsse  ein  Wort  über  die  gegen 
diese  Auswanderung  gegenwärtig  eingehaltene  Repression. 
Ls  wird  die  Grenze  abgesperrt  und  zwar  entweder  durch 
Militär,  Gensdarmen  etc.  oder  man  plant  sogenannte  Bauern- 
w ehren.  Eine  Absperrung  durch  die  bewaffnete  Macht  ist 
denn  doch  undurchführbar,  man  kann  nicht  die  lang- 
gestreckte Flachlandsgrenze  Galiziens  und  zum  Theil  der 
[ Bukowina  oder  die  menschenleeren  Grenzgebirge  des 
letzteren  Landes  ständig  militärisch  besetzen!  Und  eine 
Absperrung  durch  Bauernwehren  ist  erst  recht  unwirksam. 
Entnimmt  man  diese  den  Konnationalen  der  Emigranten, 
j so  werde  sie  diese  eben  entschlüpfen  lassen,  und  nimmt 
inan  sie  was  ein  grosser  politischer  Fehler  wäre  — aus 
einer  anders  sprachlichen  Bevölkerung  oder  aus  anderen 
Bevölkerungselementen,  so  entfacht  man  Hass  und  Zwie- 
tracht im  eigenen  Lande.  Aber  selbst  zugegeben,  es 
; könnte  diese  ganz  utopische  Idee  der  Absperrung  der 


163 

Grenze  ausgeführt  werden,  so  würde  nur  ein  vorüber- 
gehender Effekt  erzielt  werden.  Sobald  die  Aufsicht  laxer 
wird  — und  dies  wird  namentlich  bei  den  Bauernwehren 
gar  bald  der  Fall  sein  — wird  sich  der  Strom  der  Aus- 
wanderer von  neuem  aus  dem  Lande  drängen. 

Und  dann  — wie  würde  sich  eine  solche  Beschränkung 
der  persönlichen  Freiheit  mit  der  staatsgrundgesetzlich  ge- 
währleisteten Freizügigkeit  und  Auswanderungsfreiheit  ver- 
tragen? 

In  der  That,  so  wird  man  diesem  populationistischen 
Phänomen  wohl  nicht  beikommen;  nicht  um  die  Symptome 
handelt  es  sich,  sondern  um  die  Ursachen  und  diese  liegen 
eben  in  den  ökonomischen  Missständen,  welche  oben  ange- 
führt worden  sind.  Diese  erwecken  und  nähren  den  Aus- 
wandererstrom, alles  übrige,  politische,  geistliche,  geschäft- 
liche Agitatoren  und  Agenten  u.  dgl.,  können  ihn  in  zeit- 
weiser Stärke  und  in  der  einzuschlagenden  Route  beein- 
flussen, aber  nicht  seinen  eigentlichen  Kern  treffen  Möge 
man  sich  daher  diesen  Ursachen  zuwenden.  Dass  dies  kein 
leichtes  Unterfangen  sei,  gebe  ich  gern  zu,  denn  es  liegt 
nicht  eine  bestimmte,  vereinzelte  Ursache,  sondern  ein 
grosser  Ursachenkomplex  vor,  der  zusammengenommen  die 
bäuerliche  Bevölkerung  der  Emigrationsgebiete  in  ihren 
wirthschaftlichen  Grundfesten  erschüttert  hat. 

Prag.  Ernst  Misch ler. 


Novelle  zum  deutschen  Wuchergesetz.  Dem  Reichstag 
ist  ein  Entwurf  einer  Novelle  zum  Wuchergesetz  Seitens  des 
Bundesraths  zugegangen.  Der  Wortlaut  des  Entwurfs  ist  der 
folgende:  Art.  I In  dem  Strafgesetzbuch  werden  die  §§  302a 
und  302  d folgendermassen  abgeändert,  und  werden  hinter  dem 
§ 302d  folgender  § 302e  und  in  dem  § 367  hinter  No.  15  folgende 
No.  16  eingestellt. 

§ 302a.  Wer  unter  Ausbeutung  der  Notldage,  des  Leicht- 
sinns oder  der  Unerfahrenheit  eines  Anderen  mit  Bezug  auf  ein 
Darlehen  oder  auf  die  Stundung  (im  gegenwärtigen  Gesetze 
heisst  es:  „für  ein  Darlehen  oder  im  Falle  der  Stundung)  einer 
Geldforderung  oder  auf  ein  anderes  zweiseitiges  Rechtsgeschäft, 
welches  denselben  wirthschaftlichen  Zwecken  dienen  soll,  sich 
oder  einem  Dritten  Vermögensvortheile  versprechen  oder  ge- 
währen lässt,  welche  den  üblichen  Zinsfuss  dergestalt  über- 
schreiten, dass  nach  den  Umständen  des  Falles  die  Vermögens- 
vortheile in  auffälligem  Missverhältnis  zur  Leistung  stehen, 
wird  wegen  Wuchers  mit  Gefängniss  bis  zu  sechs  Monaten  und 
zugleich  mit  Geldstrafe  bis  zu  dreitausend  Mark  bestraft.  Auch 
kann  auf  Verlust  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  erkannt  werden. 

§ 302d.  Wer  den  Wucher  (§§  302a  bis  303c>  gewerbs- 
oder  gewohnheitsmässig  betreibt,  wird  mit  Gefängniss  nicht 
unter  Mrei  Monaten  una  zugleich  mit  Geldstrafe  von  einhundert- 
fünfzig bis  zu  fünfzehntausend  Mark  bestraft.  Auch  ist  auf 
Verlust  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  zu  erkennen. 

§ 302 e Dieselbe  Strafe  trifft  denjenigen,  welcher  mit  Be- 
zug auf  ein  Rechtsgeschäft  anderer  als  der  im  § 302a  bezeichne- 
ten  Art  gewerbs-  oder  gewohnheitsmässig  unter  Ausbeutung 
der  Nothlage,  des  Leichtsinns  oder  der  Ünerfahrenheit  eines 
Anderen  sich  oder  einem  Dritten  Vermögensvortheile  ver- 
sprechen oder  gewähren  lässt,  welche  den  Werth  der  Leistung 
dergestalt  überschreiten,  dass  nach  den  Umständen  des  Falles 
die  Vermögensvortheile  in  auffälligem  Missverhältnis  zu  der 
Leistung  stehen. 

§ 367.  16)  wer  den  über  das  Abhalten  von  öffentlichen 

Versteigerungen  und  über  das  Verabfolgen  geistiger  Getränke 
vor  und  bei  öffentlichen  Versteigerungen  erlassenen  polizeilichen 
Anordnungen  zuwiderhandelt. 

Art.  II.  In  dem  Gesetz,  betreffend  den  Wucher,  vom 
24.  Mai  1880  (Reichs-Gesetzbl.  S.  109)  wird  der  Art.  3 im  ersten 
Absatz  und  im  ersten  Satz  des  zweiten  Absatzes  folgender- 
massen abgeändert  und  wird  folgender  Art.  4 eingestellt? 

Art.  3.  Verträge,  welche  gegen  die  Vorschriften  der 
§§  302a.  302b,  302e  des  Strafgesetzbuchs  verstossen,  sind  ungiltig. 
Sämmtliche  von  dem  Schuldner  oder  für  ihn  geleisteten  Ver- 
mögensvortheile (§§  302a,  302 e)  müssen  zurückgewährt  und  vom 
Tage  des  Empfanges  an  verzinst  werden 

Art.  4.  Wer  gewerbsmässig  Geld-  oder  Kreditgeschäfte 
betreibt,  hat  demjenigen,  mit  welchem  er  hieraus  in  Geschäfts- 
verbindung steht,  für  jedes  Kalenderjahr  binnen  drei  Monaten 
nach  Schluss  desselben  einen  vollständigen  Rechnungsauszug 
über  die  noch  schwebenden  Geschäfte  mitzutheilen.  Wer  es 
unterlässt,  dieser  Verdichtung  nachzukomtnen,  wird  mit  Geld- 
strafe bis  zu  fünfhundert  Mark  oder  mit  Haft  bestraft  und  ver- 
liert den  Anspruch  auf  die  Zinsen  für  das  verflossene  Jahr  hin- 
sichtlich der  Geschäfte,  welche  in  den  Rechnungsauszug  aufzu- 
nehmen waren. 


164 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  14. 


Deutscher  Gesetzentwurf  betreffend  die  Abzalilungs 

feschäfte.  Das  dem  Reichstage  zugegangene  Gesetz,  betreffend 
ie  Abzahlungsgeschäfte,  hat  folgenden  Wortlaut: 

§ 1.  Hat  bei  dem  Verkauf  einer  dem  Käufer  übergebenen 
beweglichen  Sache,  deren  Kaufpreis  in  Theilzahlungen  be- 
richtigt werden  soll,  der  Verkäufer  sich  das  Recht  Vorbehalten, 
wegen  Nichterfüllung  der  dem  Käufer  obliegenden  Verpflich- 
tungen von  dem  Vertrage  zurückzutreten,  so  ist  im  Falle  dieses 
Rücktritts  der  Käufer  berechtigt,  gegen  Rückgabe  der  empfan- 
genen Sache  die  Zurückgewährung  der  von  ihm  geleisteten 
Theilzahlungen  zu  fordern.  Eine  entgegenstehende  Verein- 
barung ist  nichtig.  Dem  Vorbehalte  des  Rücktrittsrechts  steht 
es  gleich,  wenn  der  Verkäufer  wegen  Nichterfüllung  der  dem 
Käufer  obliegenden  Verpflichtungen  kraft  Gesetzes  die  Auf- 
lösung des  Vertrags  verlangen  kann. 

§ 2.  Der  Verkäufer  kann  im  Falle  des  § 1 ausser  dem 
Ersatz  für  solche  Beschädigungen  der  Sache,  welche  durch 
einen  vom  Käufer  zu  vertretenden  Umstand  verursacht  sind, 
nur  eine  angemessene  Vergütung  für  die  dem  Käufer  über- 
lassene Nutzung  der  Sache  verlangen.  Eine  entgegenstehende 
Vereinbarung,  sowie  die  vor  Ausübung  des  Riicktrittsrechts 
erfolgte  vertragsmässige  Festsetzung  der  Höhe  der  Vergütung 
ist  nichtig.  Auf  die  Festsetzung  der  Höhe  der  Vergütung 
finden  die  Vorschriften  des  § 260,  Absatz  1 der  Zivilprozess- 
ordnung entsprechende  Anwendung.  (Freies  richterliches  Er- 
messen.) 

§ 3.  Eine  wegen  Nichterfüllung  der  dem  Käufer  ob- 
liegenden Verpflichtungen  verwirkte  Vertragsstrafe  kann,  wenn 
sie  unverhältnissmässig  hoch  ist,  auf  Antrag  des  Käufers  durch 
Urtheil  auf  den  angemessenen  Betrag  herabgesetzt  werden.  Die 
Herabsetzung  einer  entrichteten  Strafe  ist  ausgeschlossen. 
Die  Abrede,  dass  die  Nichterfüllung  der  dem  Käufer  ob- 
liegenden Verpflichtungen  die  Fälligkeit  der  Restschuld  zur 
Folge  haben  solle,  kann  rechtsgiltig  nur  für  den  Fall  ge- 
troffen werden,  dass  der  Käufer  mit  mindestens  zwei  auf 
einander  folgenden  Theilzahlungen  ganz  oder  theilweise  im 
Verzug  ist  und  der  Betrag,  mit  dessen  Zahlung  er  im 
Verzug  ist,  mindestens  dem  zehnten  Theile  des  Kaufpreises 
gleichkommt. 

§ 4.  Hat  der  Verkäufer  auf  Grund  des  ihm  vorbehal- 
tenen Eigenthums  die  verkaufte  Sache  wieder  an  sich  ge- 
nommen, so  gilt  dies  als  Ausübung  des  Rücktrittsrechts  im 
Sinne  des  § 1. 

§ 5.  Auf  Geschäfte,  welche  darauf  abzielen,  die  Zwecke 
eines  Abzahlungsgeschäfts  (§  1 j in  einer  anderen  Rechtsform, 
insbesondere  durch  miethweise  Ueberlassung  der  Sache  zu 
erreichen,  finden  die  Bestimmungen  dieses  Gesetzes  ent- 
sprechende Anwendung,  gleichviel  ob  dem  Empfänger  der  Sache 
ein  Recht,  später  deren  Eigenthum  zu  erwerben,  eingeräumt  ist 
oder  nicht. 

§ 6.  Die  Bestimmungen  dieses  Gesetzes  finden  keine  An- 
wendung, wenn  der  Empfänger  der  Sache  als  Kaufmann  in  das 
Handelsregister  eingetragen  ist 

§ 7.  Verträge,  welche  vor  dem  Inkrafttreten  dieses  Ge- 
setzes abgeschlossen  worden  sind,  unterliegen  den  Vorschriften 
desselben  nicht. 

Eine  Petition  gegen  die  Erhöhung  der  Hiersteuer 

hat  der  Vorstand  des  deutschen  Gastwirthsver Landes  so- 
eben an  den  Reichstag  gerichtet.  Das  umfangreiche  Schrift- 
stück enthält  beachtenswerthe  Ergänzungen  zu  dem  statisti- 
schen Material,  welches  bereits  in  dem  Leitartikel  der  No.  1 1 
des  Sozialpolitischen  Centralblatts  angeführt  wurde.  Neben 
der  bayerischen  Statistik  macht  die  Petition  auf  die  württem- 
bergische  aufmerksam,  welche  besonders  deutlich  die  Wir- 
kungen einer  Biersteuererhöhung  zeigt.  Obgleich  die  Er- 
höhung (von  7,20  M.  auf  10  M.  pro  Doppelcentner)  nicht 
annähernd  so  gross  war,  wie  die  jetzt  für  die  norddeutsche 
Brausteuergemeinschaft  geplante  Verdoppelung,  so  hat  sie 
doch  bewirkt,  dass  der  Kopfverbrauch  an  Bier  von  194,2  1 
in  den  Jahren  1872/73  bis  1880/81  nach  erfolgter  Erhöhung 
in  diesem  letzteren  Jahre  auf  160,5  1 im  Durchschnitt  des 
nachfolgenden  Jahrzehnts  zurückging.  Der  Rückgang  hat 
also  18  pCt.  betragen.  Dass  er  nicht  noch  stärker  war, 
führt  die  Petition  darauf  zurück,  dass  gerade  damals  die 
württembergische  Weinproduktion  einen  noch  erheblicheren 
Rückgang  (um  23  pCt.)  aufzuweisen  hatte.  In  Baden  ist 
allerdings  trotz  einer  Steuererhöhung  im  Jahre  1880  der 
Bierkonsum  in  der  Folgezeit  noch  um  1 I pCt.  gestiegen. 
Allein  dies  erkläre  sich  durch  einen  geradezu  abnormen 
Rückgang  der  Weinproduktion  (um  57 V2  pCt. !)  Dass  dies 
der  wahre  Grund  der  badischen  Entwickelung  sei,  gehe 
am  deutlichsten  aus  den  sehr  verwandten  Verhältnissen  des 
benachbarten  Elsass-Lothringen  hervor,  wo  in  der  gleichen 
Zeit  ohne  Erhöhung  der  Biersteuer  der  Bierkonsum  nicht 
um  1 1 , sondern  11m  27  pCt.  zugenommen  habe.  — Diese 
Besprechung  der  süddeutschen  Verhältnisse  ist  ungleich 
sachkundiger  als  die  bezüglichen  Bemerkungen  in  den 
Motiven  der  Regierungsvorlage.  In  Norddeutschland  spielt 


I der  Wein  als  Volksgetränk  nur  eine  untergeordnete  Rolle. 
Hier  stehen  dem  Bier  als  Grenznachbarn  nicht  auf  der 
einen  Seite  der  Wein,  auf  der  andern  der  Branntwein, 
sondern  nur  der  letztere  gegenüber.  Die  Erschwerung  des 
Bierkonsums  wurde  in  Süddeutschland  theilweise  dadurch 
wett  gemacht,  dass  gleichzeitig  Weinkonsumenten  dem 
Bier  zugeführt  wurden.  In  Norddeulschland  würde  die 
gleiche  Erschwerung  des  Bierkonsums  ausschliesslich  dem 
Branntwein  zu  gute  kommen.  Für  die  Bedeutung  des 
Bieres  im  Kampfe  gegen  den  Alkoholismus  führt  die  Peti- 
tion eine  Anzahl  Aussprüche  von  Autoritäten  an,  nicht  ohne 
durchblicken  zu  lassen,  dass  dieselben  den  Verfassern  der 
Regierungsvorlage  wohl  ohnedies  hätten  vor  Augen  schwe- 
ben müssen.  Ueberhaupt  ist  das  Schriftstück  von  einer 
gewissen  stillen  Ironie  gegen  die  leicht  hingeworfenen  Sätze 
der  „Begründung1-  durchzogen,  welche  dem  Gesetzentwurf 
beigegeben  ist.  Sie  polemisirt  gegen  die  Steuererhöhung 
von  „nur“  Vs  Pf-  pro  Seidel  und  rechnet  aus,  dass  dieselbe 
bei  einem  Ausschank  von  einer  Tonne  täglich  (was  in 
Baiern  nur  einen  „kleinen“  Wirth  bedeutet)  427  M.  im  Jahre 
ausmachen  würde;  eine  Extrasteuer,  wie  sie  nach  den 
.Sätzen  der  preussischen  Gewerbesteuer  einem  gewerblichen 
Einkommen  von  42  700  M.  entsprechen  würde:  Eine  Argu- 
mentation, welche,  wenn  auch  nicht  an  sich,  so  doch  gegen- 
über einer  Vorlage  berechtigt  ist,  die  behaupten  will,  dass 
die  neue  Steuer  das  Bier  nicht  vertheuern,  sondern  vom 
Gastwirth  getragen  würde. 

Einführung  des  bäuerlichen  Anerbenrechtes  in  Baden. 

lieber  die  Vorstadien  dieser  Angelegenheit  wurde  bereits  mehr- 
fach an  dieser  Stelle  berichtet.  Jetzt  ist  zur  Neuregulirung  des 
bäuerlichen  Erbrechts  im  badischen  Justizministerium  ein  Gesetz- 
entwurf ausgearbeitet  und  zur  Beurtheilung  an  die  in  Betracht 
kommenden  Stellen  des  Landes  übermittelt  worden.  Der  Zweck  j 
des  Anerberecht  - Gesetzentwurfs  ist  darauf  gerichtet,  eine 
Ueberlastung  des  Anerben  zu  verhindern,  indem  dem  Anerben 
das  Recht  zustehen  soll,  zu  verlangen,  dass  ihm  bei  der  Ausein- 
andersetzung das  Anerbengut  mit  Zubehör  gegen  Ersatz  der  . 
Hälfte  des  laufenden  Verkaufs werths  überlassen  wird,  soweit 
dies  geschehen  kann,  ohne  dass  der  Pflichttheil  der  Miterben 
auf  weniger  als  ein  Viertheil  des  gesetzlichen  Erbtheils  be-  , 
schränkt  wird  Für  die  übernommene  Verpflichtung  hat  der  , 
Anerbe  hypothekarische  Sicherheit  in  der  weitgehendsten  Weise 
zu  leisten.  Tritt  das  Anerberecht  ein,  so  kann  bis  zur  Aus- 
einandersetzung der  Antheil  eines  Anerben  an  dem  Anerbegut 
ohne  Zustimmung  der  übrigen  Erben  nicht  veräussert  oder  be- 
lastet werden.  Der  Erblasser  kann  durch  Verfügung  das  An- 
erberecht ausschliessen  oder  beschränken,  er  kann  einen  seiner 
Nachkommen  nach  freier  Wahl  zum  Anerben  ernennen.  Liegt 
eine  solche  Verfügung  nicht  vor,  so  ist  als  Anerbe  der  jüngste 
Sohn  berufen,  und  in  Ermangelung  von  Söhnen  die  älteste  , 
Tochter.  Die  Bevorzugung  eines  Erben  soll  dadurch  vermieden 
werden,  dass  den  Miterben  ihr  nach  dem  Verkaufswerthe  des 
Anerbegutes  zu  berechnendes  Pflichttheil  ganz  oder  doch  zu 
einem  Bruchtheil  gesetzlich  garantirt  wird.  Wenn  der  Entwun 
bestimmt  hat,  den  Miterben  nicht  mehr  als  die  Hälfte  des 
Werthes  ihres  Pflichttheils  zu  garantiren,  so  ist  er  dabei  von 
der  Thatsache  ausgegangen,  dass  in  der  Regel  erhebliche  ältere 
Schulden  auf  der  Erbschaft  lasten,  so  dass  der  Anerbe  beim 
Herauszahlen  des  vollen  Pflichttheils  überlastet  würde.  Dem 
Anerberechte  sollen  unterliegen:  1.  die  geschlossenen  Hofgüter 
und  Zubehör;  2.  alle  sonstigen  landwirthschaftlichen  Wohnungen, 
einschliesslich  Scheunen,  Stallung,  Hof-  und  Hausgarten.  Keine 
Anwendung  findet  das  Gesetz  hinsichtlich  derjenigen  landwirth- 
schaftlichen Anwesen,  die  kraft  bestehender  Sitte  in  der  Rege! 
in  der  Form  des  Kindskaufs  ungetheilt  an  einen  der  Erben  über- 
gehen. In  der  Begründung  wird  sodann  ausgeführt,  dass  die  nn 
Anschluss  an  die  landwirthschaftliche  Enquete  von  1883  in  der 
ersten  Kammer  gegebene  Anregung  auf  Adoptirung  des 
preussischen  Systems  der  Höferolle  wohl  kaum  Folge  zu  geben 
sei,  da  die  Erfahrung  gezeigt  habe,  dass  die  bäuerliche  Be- 
völkerung von  dem  Rechte  des  Eintrags  in  die  Höferolle  nur 
selten  Gebrauch  mache.  Es  sei  deshalb  zu  erwägen,  ob  etwa 
die  Feststellung  eines  gesetzlichen  Intestatanerberechts  zu  be- 
fürworten sei,  etwa  derart,  dass,  sofern  der  Gutsbesitzer  unter 
Lebenden  oder  auf  den  Todesfall  nicht  anders  verfügt  hat,  das 
Gut  kraft  Gesetzes  auf  eines  der  Kinder  ungetheilt  übergeht 
und  von  diesem  Kinde  unter  den  Normen  des  Anerberechtes 
übernommen  werden  kann.  Die  Schwierigkeit  einer  Regelung 
in  diesem  Sinne  liege  darin,  dass  das  Geltungsgebiet  solcher 
Vorschriften  über  das  Anerberecht  und  die  cfern  Anerberecht 
zu  unterwerfenden  Arten  von  landwirthschaftlichen  Anwesen 
durch  das  Gesetz  die  nähere  Begrenzung  erfahren  müssten. 

Arbeitslosigkeit  und  Stadtverordnete  in  Berlin.  Ange- 
sichts der  ausserordentlichen  Nothlage  haben  die  sozialdemo- 
kratischen Stadtverordneten  den  folgenden  Antrag  eingebracht: 

„Die  Versammlung  wolle  beschliessen : 

Um  der  in  immer  grösserem  LImfange  hervortretenden 
Arbeitslosigkeit  und  dem  sich  hieraus  ergebenden  Nothstande 


No.  14 


.SOZIALE« JLITISC1 IKS  CENTRAI .Bl , ATT. 


165 


der  Arbeiter  nach  Möglichkeit  zu  steuern,  ersucht  die  Stadt- 
verordnetenversammlung den  Magistrat: 

1.  die  Arbeitszeit  der  in  den  städtischen  Betrieben  — Strassen- 
reinigung , Park-  und  Gartenverwaltung , Wasserwerke, 
Kanalisation,  Gasanstalt  u.  s.  w.  — beschäftigten  Arbeiter 
auf  acht  Stunden  täglich  festzusetzen  und  die  hierdurch 
erforderlich  werdende  grössere  Anzahl  von  Arbeitern  ein- 
zustellen, 

II.  die  Hafenbauanlage  am  Urban,  den  noch  nicht  in  Angriff 
genommenen  Theil  der  Wasserwerke  am  Müggelsee,  sowie 
andere  städtische  Erdarbeiten  schleunigst  vornehmen  zu 
lassen, 

111.  die  zur  vollständigen  Durchführung  der  Kanalisation  er- 
forderlichen Arbeiten  in  Angriff  zu  nehmen.“ 

In  der  Sitzung  der  Berliner  Stadtverordneten  vom 
29.  Dezember  kam  der  Antrag  zur  Verhandlung.  Der  Stadt- 
verordnete Singer  befürwortete  denselben  in  längerer 
Rede,  in  der  er  unter  Anderem  Folgendes  ausführte. 
Weite  Volkskreise  seien  von  einem  tief  gehenden  Nothstande 
ergriffen.  Das  müsse  jeder  einsehen,  der  sich  nicht  grundsätz- 
licli  den  Erscheinungen  der  Zeit  verschliessen  wolle.  Die  Ar- 
beitslosigkeit habe  einen  grossen  Umfang  angenommen  und  aus 
der  Arbeitslosigkeit  resultire  der  Nothstand.  So  schlimm  der- 
selbe auch  im  vorigen  Winter  bereits  war,  so  werde  derselbe 
in  diesem  Winter  doch  noch  bedeutend  zunehmen,  da  die  Re- 
servemittel, die  im  vorigen  Winter  noch  zur  Aushilfe  zu  Gebote 
standen,  inzwischen  aufgebraucht  seien.  Die  wirtschaftliche 
Depression  sei  eben  inzwischen  immer  weiter  gegangen,  Die 
Verhältnisse,  denen  wir  entgegengehen,  seien  so  ausserordent- 
lich traurige,  dass  es  Pflicht  der  Behörden  sei,  dem  Uebelstande 
nach  Möglichkeit  zu  steuern.  Die  Statistik  zeige,  dass  der 
Fleischkonsum  pro  Kopf  der  Bevölkerung  von  73,5  kg  im  Jahre 
1890/91  auf  70,3  kg  im  Jahre  1891/92  herabgegangen  ist.  Der 
Rückgang  des  Fleischkonsums  sei  das  schlimmste  Zeichen  des 
Nothstandes.  Gleichzeitig  sei  der  Konsum  von  Pferdefleisch 
erheblich  gestiegen  und  ganz  abgesehen  von  der  Frage,  ob 
Pferdefleisch  ein  genügendes  Nahrungsmittel  sei,  so  stehe  doch 
fest,  dass  ein  grosser  Widerwille  gegen  dasselbe  besteht  und 
nur  der  äusserste  Nothstand  zum  Verbrauch  von  Pferdefleisch 
greifen  lässt.  Er  erinnere  ferner  an  den  anormalen  Besuch  der 
Asyle,  an  die  ausserordentlich  grosse  Zahl  von  Steuerrück- 
ständen, an  das  Anschwellen  der  Armenunterstützungen,  den 
Rückgang  der  Sparkasseneinlagen  etc.  Eine  Beschränkung  der 
Arbeitszeit  auf  acht  Stunden  würde  einem  grossen  Theile  Ar- 
beitsloser Beschäftigung  geben  und  von  der  sozialökonomischen 
Wissenschaft  werde  anerkannt,  dass  ein  wesentliches  Mittel,  die 
Arbeitslosigkeit  auf  ein  niedrigeres  Niveau  zu  bringen,  die  Ver- 
kürzung der  Arbeitszeit  sei.  Er  und  seine  Freunde  seien  über- 
zeugt, dass  auf  manchen  Gebieten  ein  schnelleres  Tempo  in  der 
Schaffung  von  Arbeitsgelegenheit  hätte  stattfinden  können,  so 
namentlich  bei  den  Bau  der  Wasserwerke,  bei  der  Hafenanlage 
am  Urban  und  bei  der  Durchführung  der  Kanalisation.  Er  er- 
kenne an,  dass  auch  das  Kleingewerbe  in  einer  misslichen 
Situation  sich  befinde,  die  Beschaffung  von  Arbeit  für  die 
Arbeitslosen  würde  aber  auch  ihm  zu  gute  kommen  und 
deshalb  handele  es  sich  hier  um  eine  Frage,  welche,  abgesehen 
von  der  politischen  Parteistellung,  die  Allgemeinheit  angehe. 
Im  Interesse  der  Arbeitslosen  und  Hungernden  bitte  er,  den 
Antrag  nicht  platonisch  zu  behandeln,  sondern  Wege  zu  suchen, 
die  zu  praktischen  Zielen  führen  und  er  rufe  Allen  das  Wort 
zu:  Discite  moniti! 

Stadtv.  Meyer  I.  verkennt  ebenfalls  nicht  die  Wichtigkeit 
der  vorliegenden  Frage,  obgleich  er  damit  keineswegs  sagen 
wolle  dass  er  dem  Vorredner  in  allen  Punkten  beistimme.  Er 
habe  den  Antrag  auf  Ausschussberathung  gestellt,  weil  er  den 
Gegenstand  für  zu  wichtig  halte,  um  ihn  nicht  einer  ernstlichen 
i iuiung  zu  unterziehen.  Der  Ausschuss  könne  ja  dann  darüber 
berathen,  welche  Mittel  und  Wege  einzuschlagen  seien,  um  einem 
drohenden  Nothstand  vorzubeugen. 

Stadtv.  Dr.  Barth  erklärt,  dass  auch  er  für  Ausschuss- 
'er,athung  sei.  Der  Begriff  des  Nothstandes  sei  ja  sehr  elastisch 
und  die  Ansichten  könnten  darüber  auseinandergehen,  ob  der 
augenblickliche  Nothstand  in  diesem  Jahre  grösser  sei,  als  im 
\ origen.  Er  selbst  zweifele  aber  daran,  weil  die  Lebensmittel 
in  diesem  Jahre  billiger  seien,  wie  im  Vorjahre.  Was  nun  die 
gemachten  \ orschläge  anbetreffe,  so  seien  die  unter  I gestellten 
tur  ihn  und  wie  er  meine,  für  eine  Kommune  überhaupt  nicht 
annehmbar.  Es  sei  ja  gewiss  wünschenswert!!,  wenn  eine  Herab- 
setzung  der  Arbeitszeit  und  eine  Erhöhung  des  Lohnes  erzielt 
werden  könne,  aber  dies  sei  doch  nur  dann  möglich,  wenn  dabei 
gleichzeitig  ein  Hinaufgehen  der  Leistung  damit  Hand  in  Hand 
gehe.  Die  Antragsteller  hätten  diesen  letzteren  Punkt  nun  wohl 
schwerhch  im  Auge.  Es  heisse  doch,  eine  den  städtischen 
Arbeitern  völlig  unberechtigte  Vergünstigung  den  anderen 
Arbeitern  gegenüber  gewähren,  wenn  man  bei  demselben  Lohn 
une  Leistung  von  etwa  20pCt.  weniger  beanspruchen  würde. 
Lies  komme  einer  künstlichen  Lohnerhöhung  um  20  pCt.  gleich, 
lerin  finde  er  den  anderen  Arbeitern  gegenüber  eine  Ungerech- 
lgkeit.  Wenn  ihm  aber  geeignete  Vorschläge  unterbreitet 
'urden,  wodurch  die  Arbeitszeit  gekürzt  werden  könne,  werde 
er  seine  Zustimmung  nicht  versagen. 

Die  Debatte  wird  hierauf  geschlossen  und  der  Antrag 
einem  Ausschüsse  von  15  Personen  überwiesen. 


Ergebnisse  «1er  staatlichen  Griffelfabrikation  in  Meiningen. 

Im  thüringischen  Herzogthum  Sachsen  - Meiningen  hat  die  Re- 
gierung seit  einigen  Jahren  die  Schiefergriffelindustrie,  welche 
Sax  in  seiner  „Thüringer  Hausindustrie“  schildert,  und  die 
in  Folge  übertriebener  Konkurrenz  sehr  darniederlag,  in 
staatlichen  Betrieb  übernommen.  Nach  den  dem  kürzlich 
zusammengetretenen  Landtag  unterbreiteten  Vorlagen  steht  cs 
nun  mit  diesem  Betrieb  durchaus  nicht  ungünstig.  Obwohl  die 
Einnahme  aus  den  Schieferbrüchen  für  die  nächsten  drei  Jahre 
mit  541  000  gegen  bisher  555  000  M.  eingestellt  ist,  bleibt  doch 
noch  ein  Jahresüberschuss  von  134  000  M.,  der  sich  durch  die 
von  der  Regierung  vorgeschlagene  Einführung  des  Lokomotiv- 
betriebs  noch  wesentlich  erhöhen  würde.  Der  Schiefergriffel- 
betrieb ist  sehr  ansehnlich.  Es  sind  dabei  270  Griffelmacher  be- 
schäftigt, die  jährlich  270  Millionen  Griffel,  das  Tausend  zu 
75  Pf.,  liefern  und  sonach  einen  jährlichen  Einzelverdienst  von 
750  M.  gewähren.  Die  Betriebskosten  erfordern  306  000,  die  Ein- 
nahmen betragen  363  000  M.,  sodass  ein  Jahresüberschuss  von 
57  000  M.  jährlich  verbleibt. 

Zur  Statistik  des  Hausirhandels.  Der  Bundesrath 
beschäftigt  sich  bekanntlich  auf  Antrag  Baierns  gegen- 
wärtig mit  der  gesetzlichen  Regelung  einer  Einschränkung 
des  Hausirhandels.  Die  Gewerbeordnungsnovelle  vom 
1.  Juli  1883  hatte  Verschärfungen  für  den  Gewerbebetrieb 
im  Umherziehen  vorgesehen,  jedoch  war  damit  eine  Ein- 
schränkung des  Hausirhandels  nicht  erreicht.  Im  Jahre 
188+  wurden  im  Deutschen  Reiche  212  341  Wandergewerbe- 
scheine für  Hausirer  ausgestellt,  1885:  215  272,  1886:  219  132, 
1887:220  770,  1888:  222  900  und  1889:  226511.  In  diesem 
Zeitraum  hatte  sich  demnach  die  Zahl  der  Hausirer  um 
6,67  pCt  vermehrt.  Die  Erweiterung  hat  sich  nicht  gleich- 
mässig  oder  annähernd  gleichmässig  über  sämmtliche 
Einzelstaaten  erstreckt.  Es  giebt  vielmehr  eine  ganze  An- 
zahl Bundesstaaten,  in  denen  die  Zahl  der  Hausirer  abge- 
nommen hat,  so  Baden,  Mecklenburg-Schwerin  und  auch 
Bayern.  In  Baiern  betrug  im  Jahre  188+  die  Zahl  der  für 
Hausirer  ausgestellten  Wandergewerbescheine  20  663  und 
1889  nur  19  131.  Dafür  hat  sich  in  anderen  Bundesstaaten 
die  Hausirerzahl  stärker  vermehrt.  In  Preussen  ist  sie  in 
den  Jahren  von  188+  bis  1889  von  117  570  auf  126  460  oder 
um  7,6  pCt.  gestiegen.  Die  stärkste  Zunahme  in  der 

Hausirerzahl  hat  von  den  grösseren  Bundesstaaten  Hessen 
aufzuweisen.  Hier  ist  die  Zahl  von  2778  auf  6323  oder  um 
127  pCt.  gestiegen.  Hessen  zunächst  kommt  Elsass-Loth- 
ringen,  in  welchem  1884  noch  8919,  1889  schon  11  589,  d.  h. 
im  letzteren  Jahre  um  nahezu  30  pCt.  mehr  als  im  ersteren 
Hausirscheine  ausgegeben  wurden. 


Arbeiterzustände. 


Wandernde  Arbeiter  in  der  Provinz  Brandenburg,  ln 

den  V erhandlungen  der  vor  kurzem  stattgehabten  Generalver- 
sammlung des  Brandenburgischen  Herbergsverbandes  wurde 
mitgetheilt,  dass  abgesehen  von  Berlin  jetzt  in  der  Provinz 
Brandenbung  45  Herbergen  zur  Heimath,  das  sind  3+  mehr  als 
vor  neun  Jahren  bestehen.  Dieselben  hatten  einen  Verkehr  von 
102+37  Schlafgästen.  In  den  31  Land-  und  8 Stadtkreisen  be- 
finden sich  ausserdem  133  Verpflegungsstationen.  Die  starke 
Vermehrung  der  Herbergen  und  Verpflegungsstationen  findet 
ihre  LTrsache  in  der  rapiden  Zunahme  der  Wanderer.  Diese  Zu- 
nahme ist,  wie  konstatirt  wurde,  so  stark,  dass  die  Zahl  der 
Wanderer  im  Jahre  1891  in  den  meisten  Stationen  doppelt  so 
hoch  war,  als  im  Jahre  1889.  Einige  Zahlen  mögen  dies  ver- 
deutlichen. So  verkehrten  z.  B.  im  Jahre  1889  in  Fürstenberg 
2500  Wanderer,  im  Jahre  1891  dagegen  4000;  in  Beelitz  3100  bis 
6300;  in  Treuenbrietzen  3900—8500;  in  Zehdenick  800—3300;  in 
Küstrin  3300  bezw.  5300.  Diese  Zahlen  lassen  auf  eine  auffällige 
Zunahme  der  industriellen  Reservearmee  schliessen. 

Die  Arbeiter  und  die  grossen  Verkehrsanlagen  in  Wien. 

Die  Verkehrskommission  hat  im  Sinne  einer  vom  Abgeordneten- 
hause bei  der  Votirung  des  Gesetzes  über  die  Verkehrsanlagen 
gefassten  Resolution  zum  Schutze  und  zur  Sicherung  der  bei 
der  Ausführung  der  öffentlichen  Verkehrsanlagen  in  Wien  be- 
schäftigten Arbeiter  eine  Arbeitsordnung  Testgestellt.  Die 
wichtigsten  Bestimmungen  derselben  sind  folgende:  Die  auf- 
genommenen Arbeiter  werden  eingetheilt  in  Aufseher,  Pro- 
fessionisten,  Erdarbeiter  und  Handlanger  beiderlei  Geschlechtes 
und  jugendliche  Arbeiter.  Jugendliche  Arbeiter  vom  vollendeten 
vierzehnten  bis  siebzehnten  Lebensjahre,  sowie  Frauenspersonen 
werden  nur  zu  leichteren  Arbeiten  verwendet  und  dürfen 
zwischen  8 Uhr  Abends  und  5 LThr  Morgens  nicht  beschäftigt 
werden.  Die  Vorgesetzten  Organe  sind  verpflichtet  bei  der  Zu- 


166 


SOZIALPOLITISCHES  CENT  RAI. Bl  .ATI'. 


No.  14. 


Weisung  der  Arbeit  auf  die  physischen  Kräfte  des  Arbeiters 
Rücksicht  zu  nehmen  und  insbesondere  bei  jugendlichen  Ar- 
beitern darauf  zu  sehen,  dass  ihre  Arbeit  der  Gesundheit  nicht 
nachtheilig  und  der  körperlichen  Entwicklung  nicht  hinderlich 
sei.  Der  Arbeitgeber  muss  auf  seine  Kosten  alle  Einrichtungen 
herstellen  und  erhalten,  welche  mit  Rücksicht  auf  die  Beschaflen- 
heit  des  Baues  oder  der  Betriebsstätte  zum  Schutze  des  Lebens 
und  der  Gesundheit  der  Arbeiter  erforderlich  sind.  Die  Arbeits- 
zeit beginnt  in  den  Monaten  März  bis  einschliesslich  Oktober 
um  6 Uhr  Morgens  und  dauert  bis  7 Uhr  Abends.  In  den 
anderen  Monaten  hat  die  Arbeit  mit  Tagesanbruch  zu  beginnen 
und  mit  Eintritt  der  Dunkelheit  zu  endigen  und  ist  hiernach 
die  Stunde  des  Beginns  und  der  Endigung  für  je  vierzehn  Tage 
im  Vorhinein  festzustellen.  Die  Arbeitszeit  ist  Mittags  auf  eine 
Stunde,  in  den  Sommermonaten  ausserdem  noch  Vor-  und  Nach- 
mittag auf  je  eine  halbe  Stunde  zu  unterbrechen.  In  den 
Wintermonaten  kann  die  vor-  und  nachmittägige  Ruhepause  auf 
eine  Viertelstunde  beschränkt  werden,  beziehungsweise  entfällt 
sie  ganz,  wenn  die  Arbeitszeit  vor  und  nach  der  Mittagspause 
fünf  Stunden  oder  weniger  beträgt.  Bei  Arbeiten,  welche  konti- 
nuirlich  betrieben  werden  müssen,  ist  eine  zwölfstündige  Ar- 
beitsschicht gestattet  Bei  diesen  Arbeiten  ist  ausser  der 
Mittagspause  die  Arbeit  Vor-  und  Nachmittag,  beziehungsweise 
vor  und  nach  Mitternacht  auf  je  eine  halbe  Stunde  zu  unter- 
brechen. Im  Allgemeinen  hat  die  Arbeit  an  Sonntagen  zu 
ruhen  Ausnahmen  sind  nur  nach  den  Bestimmungen  der  be- 
züglichen Ministerialverordnungen  aus  dem  Jahre  1885  gestattet. 
An  Feiertagen  ist  den  Arbeitern  die  nöthige  Zeit  zur  Theil- 
nahme  am  Vormittagsgottesdienste  einzuräumen.  Die  Bestim- 
mung des  Lohnes  ist  Gegenstand  der  freien  Ucbereinkunft 
zwischen  Arbeitgeber  und  Arbeiter.  Für  die  Zeit,  wo  die  Ar- 
beit durch  Witterungsverhältnisse  oder  Elementarereignisse  un- 
möglich gemacht  wird,  findet  eine  Entlohnung  nicht  statt.  Die 
Zahlung  des  Taglohnes  erfolgt  am  Ende  jeder  Woche.  Die 
Akkordarbeiter  erhalten  zur  Bestreitung  der  Auslagen  für  den 
täglichen  Lebensunterhalt  am.  Ende  jeder  Woche  über  Ver- 
langen einen  Baarvorschuss  bis  zu  80  pCt.  ihres  vorläufig  zu 
schätzenden  Verdienstes.  Von  dem  Lohne  oder  Arbeitsver- 
dienste dürfen  nur  die  Baarvorschüsse,  die  Beiträge  für  die 
Kranken-  und  Unfallversicherung  und  gerichtlich  gepfändete 
Beträge  in  Abzug  gebracht  werden.  Gast-  oder  Kantinenwirthe, 
welche  an  die  Arbeiter  Forderungen  zu  stellen  haben,  dürfen 
bei  den  Lohnzahlungen  weder  selbst  gegenwärtig,  noch  durch 
andere  Personen  vertreten  sein. 

Alle  Arbeiter  müssen  bei  der  Arbeiterunfallversicherungs- 
anstalt für  Niederösterreich  und  bei  der  Bezirkskrankenkasse  in 
Wien  versichert  sein  Die  Arbeitsordnung  ist  vorläufig  eine 
provisorische.  Die  definitive  wird  seinerzeit  nach  Anhörung  aller 
betheiligten  Faktoren  in  einer  Enquete  von  der  Kommission  er- 
lassen werden. 

Arbeitslose  in  England.  In  der  neuesten  Nummer 
der  Zeitschrift  „Nineteenth  Century“  entwickelt  der  be- 
kannte englische  Arbeiterführer  John  Burns  seine  An- 
sichten darüber,  wie  die  Arbeitslosigkeit  zu  steuern  sei. 
Er  führt  aus,  dass  die  Arbeitslosigkeit  vermindert  werden 
könne  durch  eine  allgemeine  Verkürzung  der  Arbeitszeit, 
durch  Verstadtlichung  der  Industrie  und  Verstaatlichung 
der  Monopole.  Als  erste  und  hauptsächlichste  Forderung 
stellt  er  die  Einführung  eines  gesetzlichen  Achtstunden- 
tages hin.  Durch  diese  Massregel,  meint  er,  würde  eine 
grosse  Anzahl  von  Arbeitslosen  Arbeit  erhalten.  Bei  den 
Eisenbahnen  allein  würden  dann  100  000  Menschen  mehr  Ar- 
beit erhalten  können.  Durch  Abschaffung  der  Ueberarbeit 
könnte  allein  bei  dem  Generalpostamt  für  800  Personen  Ar- 
beit verschafft  werden.  Neben  der  Abschaffung  der 
Ueberzeit  und  der  Verkürzung  der  Arbeitszeit  verlangt 
Burns  die  Ersetzung  zeitweiliger  Arbeit  durch  andauernde 
Arbeit  und  glaubt  diese  dadurch  herbeiführen  zu  können, 
dass  soviel  wie  möglich  die  Arbeiten  nicht  durch  Einzel- 
unternehmer oder  durch  Aktiengesellschaften  sondern  durch 
öffentliche  Körperschaften  zur  Durchführung  gebracht 
werden.  Als  Voraussetzung  einer  Hilfe  für  die  Arbeitslosen 
fordert  Burns  die  Schaffung  von  Arbeitsbüreaus,  die  mit 
allen  nothwendigen  Hülfsmitteln  ausgerüstet  sind.  Diese 
Arbeitsbüreaus  die  für  jeden  grösseren  Bezirk  einzurichten 
sind,  müssten  unter  der  Leitung  eines  entsprechend  vor- 
gebildeten Beamten  stehen.  Sie  müssten  ferner  allesammt 
auf  telegraphischem  und  telephonischem  Wege  in  Verbin- 
dung gebracht  werden  durch  ein  Centralbüreau,  ein  Reichs- 
biireau,  das  sich  der  Mithilfe  von  18  000  Postanstalten  be- 
dienen könnte  um  die  verschiedenen  Bedürfnisse  zu  er- 
kunden und  ihnen  Genüge  zu  leisten.  Neben  den  Arbeits- 
büreaus wünscht  Burns  die  Bildung  eines  Hilfskomitees  für 
jeden  Bezirk  eines  County  Councils  in  welchem  Mitglieder 
der  Trade  Unions,  der  Charity  Organisation  Society,  der 
Friendly  Societies  der  Temperenz-Gesellschaften  etc.,  ferner 
solche  Personen  die  den  betreffenden  Bezirk  gründlich 


kennen  — Beamte  der  Grafschafts-  und  sonstiger  Lokal- 
behörden — , sowie  Arbeiter  vertreten  sein  sollen.  Dadurch 
würde  die  Möglichkeit  an  die  Hand  gegeben  sein  die  Ar- 
beiter von  den  Landstreichern  zu  sondern  — was  unbe- 
dingt nothwendig  sei.  Diesen  Hilfskomitees  sollte  die  Auf- 
gabe zugewiesen  werden , Unterstützungen  an  Geld  und 
Nahrungsmitteln  nur  an  diejenigen  zu  vertheilen,  die  durch 
Krankheit  oder  sonstige  Umstände  unfähig  sind  zu  arbeiten 
und  die  sich  weigern  in  ein  Arbeitshaus  zu  gehen,  weil 
ihre  Arbeitsunfähigkeit  nur  vorübergehend  ist.  Diese  nicht- 
amtlichen Körperschaften  könnten  vorläufig  die  Aufgaben 
übernehmen,  welche  späterhin  deu  bald  zu  errichtenden 
neuen  „Districts  and  Poor  Law  Councils“  die  mit  den  mög- 
lichst grössten  Gerechtsamen  für  die  genannten  wie  für 
ähnliche  Zwecke  auszustatten  seien , übertragen  werden 
müssten.  Die  für  die  Arbeitslosen  bestimmten  von  Privaten 
einlaufenden  Unterstützungsgelder  wären  den  Lokalbehörden 
zu  überliefern,  welche  die  Arbeitskraft  der  Arbeitslosen  für 
die  Ausführung  von  öffentlichen  Arbeiten  zu  verwenden 
hätten.  Niemand  sollte  beschäftigt  werden , der  nicht 
mindestens  3 Monate  in  dem  betreffenden  Distrikt  sich  auf- 
gehalten hat  und  Niemand  solle  voll  beschäftigt  werden. 
Burns  ist  der  Meinung,  dass  für  die  Zwecke  der  Unter- 
stützung der  Arbeitslosen  die  Regierung  Geld  zu  billigem 
Zinsfusse  leihen  könne,  in  vielen  Fällen  könne  auch  eine 
bestimmte  Abgabe  dafür  entrichtet  werden,  obgleich  jeder 
Distrikt  die  V erantwortung  für  seine  Arbeitslosen  zu  über- 
nehmen hätte.  Weiterhin  führt  Burns  aus,  er  glaube,  dass, 
wenn  die  Lokalbehörden  dem  vom  Londoner  County  Council 
gegebenen  Beispiel  folgen  und  die  Arbeitslosen  in  der 
Weise,  wie  dies  in  Chelsea  geschehen  sei,  beschäftigen, 
würden  in  London  allein  24  000  -30  000,  in  ganz  England 
200  000  Arbeitslose  Arbeit  erhalten  können. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Die  Organisation  der  Zimmerer  Deutschlands. 

Die  ersten  modernen  Zimmererorganisationen  wurden 
in  Deutschland  im  Jahre  1868  gegründet  und  zwar  „Der 
allgemeine  deutsche  Zimmererverein“,  dessen  Central- 
leitung in  Berlin,  und  „Die  Internationale  Gewerksgenossen- 
schaft der  Maurer  und  Zimmerer“,  deren  Centralleitung  in 
Dresden  ihren  Sitz  hatte.  Nachdem  sich  die  beiden  sozia- 
listischen Parteien  geeinigt  hatten,  vereinigten  sich  auch 
die  Zimmererorganisationen  im  Jahre  1876  unter  dem  Namen 
„Deutsches  Zimmergewerk“.  Diese  Organisation  wurde  auf 
Grund  des  Sozialistengesetzes  aufgelöst. 

Bald  aber  entstanden  in  einer  Reihe  von  Orten  wieder 
Vereinigungen  der  Zimmerer  unter  verschiedenen  Namen, 
an  anderen  Orten  übernahmen  die,  noch  aus  früherer  Zeit 
bestehenden,  zünftigen  Organisationen  die  Führung  der 
Zimmerer.  Der  Berliner  Zimmererstrike  vom  Jahre  1883  ver- 
anlasste  den  „Handwerkertag  deutscher  Zimmerleute“,  der 
vom  19.  bis  22.  August  1883  in  Berlin  tagte.  Auf  dem- 
selben wurde  die  Gründung  des  „Verbandes  deutscher 
Zimmerleute“  beschlossen  zum  Zweck  der  „Wahrung  der 
Ehre,  der  Hebung  und  des  Schutzes  der  Interessen  deut- 
scher Zimmerleute  auf  gewerkschaftlicher  Grundlage“  (der 
politischen  Stellungnahme  sollte  sich  der  Verein  enthalten). 

Erreicht  sollte  dieser  Zweck  werden,  durch: 

„möglichste  Lohnaufbesserung  allerorts  zur  Beschaffung 
eines  kräftigen  Unterhalts  des  Gesellen  und  seiner  Familie. 
Regelung  der  Arbeitszeit,  grösstmöglichste  Beschränkung 
der  Ueberstunden  und  Sonntagsarbeit.  Erstrebung  eines 
Schutzes  gegen  die  Zahlungsunfähigkeit  des  Arbeitgebers. 

„Erstrebung  einer  direkten  wirklichen  Vertretung  der 
Gesellenschaft  im  Meisterrathe,  in  Gesellen-,  Lehrlings-  und 
Lohnfragen.  Erstrebung  eines  Schutzes  eventuell  einer 
Versicherung  für  Handwerkszeug,  gegen  Diebstahl  und 
Feuersgefahr.  . 

„Anstellung  eines  tüchtigen  Rechtsanwalts  sowie  Hinzu- 
ziehung eines  Sachverständigen  für  Rechtsstreitfälle.  Führung 
begründeter  Prozesse  auf  Verbandskosten,  durch  den  er- 
bandsvorstand. 


Ko.  14 


SOZtAl.l’OT.msaißS  CKNTK  ALRt , ATT. 


167 


„Fachtechnische  Belehrung  der  Mitglieder  inLehrstunden 
und  durch  Herausgabe  der  „Zeitschrift  der  Zimmerkunst“. 

„Materiellen  Schutz  und  Beihülfe  der  von  Unfall  be- 
troffenen Mitglieder.“ 

Mitglied  konnte  „jeder  Zimmergeselle  werden,  welcher 
glaubhaft  nachweist , dass  er  die  Zimmererprofession  ord- 
nungsmässig  erlernt  hat.“ 

Neben  diesem  Verbände  bildete  sich  1887  noch  eine 
andere  Zimmererorganisation,  die  „Freie  Vereinigung  der 
Zimmerer  Deutschlands“.  Diese  war  ein  loser  Zusammen- 
schluss mehrerer  selbständiger  Lokalorganisationen,  zu 
agitatorischen  Zwecken  und  zu  gegenseitiger  Unterstützung 
in  Strikefällen.  Auf  einem  alljährlich  stattfindenden  Kon- 
gress wurde  ein  „Geschäftsleiter“  und  ein  Kassierer  einge- 
setzt und  ein  Vorort  bestimmt,  der  drei  „Kontrolleure“ 
wählte,  die  den  Gang  der  Geschäfte  überwachten.  Vom 
Geschäftsleiter  wurde  die  Agitation  betrieben,  derselbe 
hatte  in  Strikefällen  das  Unterstützungsbedürfniss  zu  begut- 
achten; die  Strikeunterstiitzung  zahlten  die  einzelnen 
Organisationen,  nach  eigenem  Ermessen  direkt  an  die 
Strikenden.  Zur  Agitation  wurden  25  pCt.  der  Einnahmen 
der  örtlichen  „Unterstützungsfonds“  an  den  Kassierer 
gesandt. 

Im  |ahre  1890  bestand  die  Freie  Vereinigung  aus 
23  Lokalorganisationen.  Vom  3.  Juni  1889  bis  14.  April  1890 
gingen  bei  den  Kassierer  2061,13  M.  ein,  die  Gesammtaus- 
gabe  betrug  in  derselben  Zeit  1922,53  M.  Lieber  das  Ver- 
mögen der  einzelnen  Lokalorganisationen  liegt  sicheres 
Material  nur  aus  Leipzig  vor. 

Der  Fachverein  der  Zimmerer  Leipzigs  nahm  in  den 
Jahren  1887 — 1890  2214,95  M.  ein  und  gab  1902,31  M.  aus. 
Der  Unterstützungsfonds  der  Zimmerer  Leipzigs  verein- 
nahmte in  den  Jahren  1887 — 1890  16  914,16  M.  und  veraus- 
gabte in  der  gleichen  Zeit  10  959,97  M.  Während  sich  im 
Jahre  1890  die  Freie  Vereinigung  zu  Gunsten  des  Ver- 
bandes  deutscher  Zimmerleute  auflöste,  ging  ein  Theil  der 
süddeutschen  Zimmerleute  der  Centralorganisation  verloren, 
da  in  Folge  eines  unglücklich  verlaufenen  Zimmererstrikes 
in  München  der  „Süddeutsche  Zimmererbund“  gegründet 
wurde.  Derselbe  hatte  in  der  letzten  Zeit  vor  dem  gänz- 
lichen Uebertritte  seiner  Mitglieder  in  die  Mutterorganisation 
5 Verwaltungsstellen,  mit  zusammen  500  Mitgliedern. 

In  Berlin,  Halle  a.  S.  und  Crimmitschau  bestehen  noch 
selbständige  Zimmerervereine,  in  Blankenburg  a.  FI.,  Wer- 
nigerode a.  H.  und  Osterwick  gehören  Zimmerer  den  dorti- 
gen Bauhandwerkervereinen  an,  auch  der  „Verband  der 
Maurer  und  verwandter  Berufsgenossen“  zählt  einige 
Zimmerer  zu  seinen  Mitgliedern.  Diese  hier  angeführten 
Vereinigungen  zusammen  dürften  aber  kaum  mehr  als 
200  Zimmerer  in  sich  schliessen.  Ausserdem  besteht  noch 
in  Zwickau  ein  Zimmererverein  mit  42  Mitgliedern,  welche 
bloss  mit  Rücksicht  aut  das  sächsische  Vereinsgesetz  der 
Centralorganisation  nicht  angehören.  Unter  den  Zimmerern, 
die  jetzt  noch  in  den  selbständigen  oder  in  Bauhandwerker- 
vereinen organisirt  sind,  besteht  keine  nähere  Verbindung. 

Die  häufig  geänderten  Statuten  des  Verbandes  um- 
schreiben in  ihrer  Fassung  vom  Jahre  1890  den  Zweck  des- 
selben folgendermassen: 

„Der  \ erband  deutscher  Zimmerleute  bezweckt  die 
V ertretung  der  Interessen  seiner  Mitglieder  behufs  Erzielung 
möglichst  günstiger  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  auf  Grund 
des  § 152  der  Reichsgewerbeordnung. 

„Zur  Erreichung  dieses  Zweckes  sollen  alle  gesetzlich 
gestatteten  Mittel^  dienen,  wie  Belehrung  der  Zimmerer 
durch  Wort  und  Schrift,  möglichst  weite  Ausbreitung  der 
Organisation,  Leitung  und  Unterstützung  der  Ausstände  im 
Zimmerergewerbe,  besondere  Unterstützung  der  wegen  dieser 
Bestrebungen  gemassregelten  und  verfolgten  Verbandsmit- 
glieder.“ 

Seit  1891  kann  „jeder  Zimmerer  und  im  Zimmerer- 
geschäft beschäftigte  Arbeiter“  Mitglied  werden,  „der  die 
Interessen  des  Zimmerergeschäfts  nicht  schädigt“.  Die 
oberste  Behörde  der  Organisation  ist  die  Generalversamm- 
ltmg,  die  alle  zwei  Jahre  Zusammentritt.  Zur  Erledigung 
der  laufenden  Geschäfte  setzt  die  Generalversammlung 
einen  Verbandsvorsteher  und  einen  Verbandskassierer  ein, 


sie  bestimmt  einen  ()rt  als  Sitz  des  Verbandes.  Die  Mit- 
glieder an  diesem  Orte  wählen  aus  ihrer  Mitte  6 Personen, 
die  mit  dem  Vorsteher  und  Kassierer  zusammen  den  Haupt- 
vorstand bilden.  Die  Generalversammlung  bestimmt  noch 
einen  zweiten  Ort,  wo  die  Mitglieder  den  Verbandsaus- 
schuss wählen,  dies  hat  Streitigkeiten  zwischen  dem  Ver- 
bandsvorstand  und  den  einzelnen  Filialen  zu  regeln  und  in 
gewissen  Fällen  die  Generalversammlung  einzuberufen. 
Sobald  mindestens  10  Verbandsmitglieder  in  einem  Orte 
sind,  sollen  diese  in  der  Regel  einen  „Lokalverband“ 
(Filiale)  gründen;  der  Lokalvorstand  wird  von  den  Mit- 
gliedern des  Ortes  gewählt. 

Beim  Eintritt  zahlen  die  Mitglieder  50  Pf.  Einschreibe- 
geld, in  den  Monaten  Mai,  Juni,  Juli  und  August  werden 
15  Pf.,  während  der  anderen  Monate  10  Pf.  wöchentlicher 
Beitrag  erhoben.  Ausserdem  hat  jedes  Mitglied,  nach  Be- 
finden des  Plauptvorstandes,  mindestens  aber  durch  13 
Wochen  im  Jahr  pro  Woche  5 Pf.  auf  die  Mark  seines  täg- 
lichen Verdienstes  zur  Strikekasse  zu  zahlen,  d.  h.  wer  pro 
Tag  3 M.  Lohn  erhält,  zahlt  demnach  pro  Woche  15  Pf. 
zum  Strikefonds. 

Das  wöchentlich  einmal  erscheinende  Verbandsorgan 
„Der  Zimmerer“,  erhalten  die  Mitglieder  von  der  Verbands- 
kasse geliefert.  Reisende  Mitglieder  erhalten  im  Winter, 
in  jeder  Filiale,  die  sie  passiren,  jedoch  höchstens  nur  aus 
einer  pro  Tag,  eine  Reiseunterstützung,  die  mit  Rücksicht 
auf  den  Stand  der  Kasse,  vom  Hauptvorstand  festgesetzt 
und  von  der  Verbandskasse  getragen  wird. 

Bis  Ende  März  1892  hatte  der  Verband  in  300  Orten 
Filialen  und  38  100  Mitgliedsbücher  mit  laufender  Nummer 
ausgegeben,  von  denen  einige  Tausend  ihren  zweiten  Be- 
sitzer haben.  Auch  sind  manche  Mitglieder  schon  zum 
zweiten-  und  drittenmal  im  Verbände  und  haben  jedesmal 
eine  andere  Nummer  bekommen.  Man  kann  aber  sagen, 
dass  seit  dem  Bestehen  38  000 — 40  000  Personen  Verbands- 
mitglieder waren. 

Aus  dem  vorliegenden  Material  lässt  sich  folgende 
Tabelle  zusammenstellen: 


Jahr 

durch- 
schiff tt). 
Zahl  der 
Filialen 

durch- 
schnittliche 
Mitglieder- 
zahl nach 
Zählungen 

durch- 
schnittliche 
Mitglieder- 
zahl nach 
Berechnung 
der  Beiträge 

einge-  ausge- 
treten ; treten 

nach  dem 
berechneten 
Einschreibegelde 

1883 

19 

1884 

31 

— 

— 

— 

— 

1885 

64 

3 500 

— 

— 

— 

1886 

78 

4 963 

— 

— 

— 

1887 

82 

5 428 

4 682 

3913 

— 

1888 

92 

7 548 

6 103 

5139 

3718 

1889 

140 

1 1 164 

9 809 

9816 

6110 

1890 

226 

12  723 

12  089 

8884 

6604 

1891 

187 

9 098 

9013 

3787 

6863 

Im  Jahre  1890  stand  die  Zahl  der  Filialen  und  1889 
und  1890  stand  die  Mitgliederzahl  bedeutend  höher  als  1891. 
Diese  Erscheinung  erklärt  sich  aus  dem  Umstande,  dass  im 
Jahre  1890  in  über  hundert  Orten  von  Zimmerleuten  Forde- 
rungen gestellt  worden  waren,  und  dass,  soweit  bekannt, 
52  Strikes  stattgefunden  haben,  an  denen  Verbandsmit- 
glieder betheiligt  waren.  In  den  Protokollen  der  General- 
versammlungen und  Kongresse  findet  man  häufig  die  Klage, 
„dass  oft  die  Zimmerleute  erst  aus  der  Verbandskasse  be- 
deutende Unterstützungen  aus  Anlass  von  Lohnbewegungen 
erhalten  und  dann  ohne  Ursache  ihre  Mitgliedschaft  aut- 
geben“.  Die  Hamburger  Filiale  zählte  z.  B.  vor  dem 
Zimmererstrike  1890  2292,  nach  dem  Strike  nur  noch  1065 
Mitglieder. 

Die  Differenz  der  Mitgliederzahl  „nach  Zählungen“ 
und  der  „nach  den  Beiträgen  berechneten“  ist  auch  auf- 
fällig; indessen  sind  doch  beide  Zahlenreihen  richtig.  Nach 
den  Statuten  verliert  der  die  Mitgliedschaft,  der  im  Winter 
drei,  im  Sommer  zwei  (früher  auch  drei)  Monate  hinterein- 
ander seine  Beiträge  nicht  bezahlt.  Wer  aber  aus  der 
Organisation  austreten  will,  meldet  sich  nur  in  den 


(68 


SOZIALPOLITISCHE  CENTRALBLATT. 


No.  14. 


seltensten  Fällen  ab  und  wird  dann  noch  drei  bezw.  zwei 
Monate  als  Mitglied  geführt,  ohne  das  er  seine  Verpflich- 
tungen erfüllt. 

Die  Ursache  des  häufigen  Wechsels  der  Mitglieder 
beruht  darauf,  dass  die  grosse  Mehrzahl  der  deutschen  Ar- 
beiter die  Organisationen  nur  gelegentlich  benützen,  um 
irgend  eine  Forderung  durchzusetzen.  Ausnahmen  hiervon 
werden  nur  die  Organisationen  zu  verzeichnen  haben,  die 
noch  nebenbei  Kassen  zu  anderen  als  Strikezwecken  ein- 
gerichtet haben. 

In  der  Organisationsform  liegt  die  trübselige  Erschei- 
nung nicht  begründet.  Dies  beweist  auch  der  „Fachverein 
der  Zimmerer  Leipzigs“,  der  durchaus  selbständig  war  und 
nach  seinen  Listen  gewöhnlich  400 — 600  Mitglieder  zählte, 
während  nach  seinen  Einnahmen  sich  die  Zahlen  ganz 
anders  stellten  : 


Jahr 

Durchschnittlich 

Eingetretene 

Ausgetretene 

zahlende  Mitgl. 

Mitg 

lieder 

1887—88 

231 

233 

— 

1888—89 

229 

258 

260 

1889—90 

212 

140 

151 

Es  wäre  freilich  falsch,  zu  behaupten,  dass  die  grosse 
Mehrzahl  der  Arbeiter  nur  die  Organisationen  ausbeuten 
wollen;  im  Gegentheil,  der  grösste  Theil  der  Arbeiter, 
die  einmal  in  Organisationen  gewesen  sind,  bringen  ge- 
legentlich auch  wieder  Opfer.  Davon  zeugt  die  Einnahme 
beim  „Unterstützungsfond  der  Leipziger  Zimmerleute“,  zu 
dem  auch  nicht  Vereinsmitglieder  steuerten,  und  die  Geld- 
summen, die  bei  Strikes  von  zur  betreffenden  Zeit  nicht 
organisirten  Arbeitern  aufgebracht  werden.  In  Berlin 
waren  z.  B.  1890  kaum  400  Zimmerer  organisirt,  trotzdem 
wurde  der  Hamburger  Zimmerererstrike  mit  über  8000  M., 
allein  von  den  Berliner  Zimmerleuten,  unterstützt.  Dass 
Arbeiter  ihre  Organisation  immer  wieder  im  Stich  lassen, 
liegt  zum  Theil  an  den  Chikanen  der  Arbeitgeber  und  der 
Behörden. 

Ueber  Deutschland  vertheilten  sich  die  Mitglieder  im 
Juni  1890  und  im  Juni  1892  folgendermassen : 


Filialen 
1890  1892 

Mitglieder 
1890  | 1892 

Schleswig-Holstein  und  Mecklenburg, 
Hamburg,  Lübeck 

76 

65 

4360 

3608 

Prov.  Preussen,  Posen  und  Pommern. 

35 

18 

2119 

881 

Prov.  Sachsen  und  die  thüringischen 
Fürstenthümer 

30 

21 

1927 

650 

Prov.  Brandenburg  und  Schlesien  . . 

19 

22 

1762 

1203 

Prov.  Hannover,  Oldenburg  und 
Bremen 

16 

14 

1438 

998 

Prov.  Westpfalen  und  Rheinland  . . 

13 

16 

631 

580 

Prov.  Hessen-Nassau  und  Gr.  Hessen 

8 

6 

394 

190 

das  übrige  Süddeutschland  und  die 
Reichslande 

15 

12 

630 

430 

Kgr.  Sachsen 

— 

4 

— 

229 

Ein  Drittel  aller  Mitglieder  entfällt  auf  Schleswig- 
Holstein,  Mecklenburg,  Hamburg  und  Lübeck.  Die  Mit- 
glieder in  Hannover  und  Oldenburg  konzentriren  sich  auch 
meistentheils  in  den  nördlichen  Theil  der  Provinz  und  in 
Bremen.  Die  starke  Betheiligung  in  diesen  Gegenden  ist 
zum  grossen  Theile  auf  alte  Gewohnheiten  zurückzuführen, 
hier  haben  die  zünftigen  Gesellenorganisationen  bestanden 
bis  sie  in  Verbandsfilialen  umgewandelt,  oder  von  diesen 
abgelöst  worden  sind.  Die  Arbeitgeber  stehen  in  diesen 
Gegenden  den  Organisationen  weniger  direkt  feindlich 
gegenüber,  als  in  vielen  anderen  Gegenden.  In  Nord- 
deutschland ist  überhaupt  meistentheils  an  die  zünftigen 
Gesellenorganisationen  angeknüpft  worden,  so  besonders 
noch  in  den  Provinzen  Preussen,  Posen,  Pommern. 

Im  Königreich  Sachsen  war  früher  jeder  Versuch, 
Verbandsfilialen  zu  gründen,  vergebliche  Mühe,  die  Hand- 
habung des  Vereinsgesetzes  seitens  der  dortigen  Behörden 
stand  dem  entgegen.  Jetzt  haben  sich  in  vier  Orten 
Zimmerer  dem  Verbände  als  „Einzelzahler“  aber  nicht  als 
Filialen  angeschlossen. 


Nach  den  statistischen  Erhebungen  des  Verbandes 
betrug  im  Jahre  1891  der  durchschnittliche  Tagelohn1) 
in  Schleswig-Holstein,  Mecklenburg,  Hamburg  und 


Lübeck ...  . 3,63  M. 

„ Preussen,  Posen  und  Pommern 2,98  ,, 

„ Sachsen  und  Thüringen 2,97  „ 

„ Brandenburg  und  Schlesien 3,49  ,, 

„ Hannover,  Oldenburg  und  Bremen 3,80  „ 

„ Westfalen  und  Rheinland ...  3,70  „ 

„ Hessen-Nassau  und  Grossherzogthum  Hessen  . 3,66  „ 

„ das  übrige  Süddeutschland 3,30  „ 


Diese  Zahlen  sind  wegen  der  Ungleichartigkeit  und 
der  geringen  Anzahl  der  Einzelangaben  natürlich  blos  mit 
Vorsicht  zu  gebrauchen. 

Zu  bemerken  ist  insbesondere,  dass  in  Preussen, 
Sachsen  und  Thüringen  die  Zimmerer  in  den  Orten  mit 
niedrigsten  Löhnen  nicht  zum  Verbände  gehören.  Es  ist 
wohl  möglich,  dass  in  diesen  Gegenden  viele  Zimmerer  die 
Kosten  für  eine  Organisation  nicht  aufbringen  können, 
diese  sind  nicht  ganz  unerheblich,  wenn  man  ausser  den 
Beiträgen  auch  die  Kosten  des  Versammlungsbesuches  in 
Betracht  zieht. 


Die  einzelnen 
1892: 

Filialen 

des  Verbandes 

bestanden 

Filialen 

seit 

Filialen 

seit 

7 

1883 

20 

1888 

6 

1884 

33 

1889 

18 

1885 

43 

1890 

12 

1886 

10 

1891 

12 

1887 

14 

1892 

In  den  Jahren  1889  und  1890  sind  demnach  die  meisten 
Neugründungen  vorgekommen.  1890  traten  mehrere  Lokal- 
organisationen dem  Verbände  bei,  die  früher  zur  „Freien 
Vereinigung“  zählten;  sonst  ist  das  günstige  Resultat  nur  auf 
die  Strikes  während  jener  Zeit  zurückzuführen.  In  solchen 
Zeiten  spannt  jede  Organisation  ihre  Kräfte  an,  die  Berufs- 
genossen an  anderen  Orten  auch  zu  organisiren;  einmal  um  vor 
Strikebrechern  geschützt  zu  sein,  dann  aber  auch,  um 
Unterstützung  zu  bekommen;  viele  Strikende  gehen  nach 
entfernten  Orten,  um  dort  zu  arbeiten,  dabei  streuen  sie 
Samen  zu  neuen  Organisationen  aus  u.  s.  w.  Die  Arbeit- 
geber kalkuliren,  wie  man  hier  sieht,  nicht  ganz  richtig, 
wenn  sie’s  zum  Strike  in  der  Erwartung  kommen  lassen, 
dadurch  die  Arbeiterorganisationen  vollständig  zu  ver- 
nichten. Es  verschwinden  wohl  Filialen  und  Mitglieder, 
verlassen  die  Organisationen,  sie  verlassen  aber  trotzdem 
nicht  ihren  Standpunkt.  Die  Unternehmer  erreichen  das 
Gegentheil  dessen,  was  sie  erstreben.  Es  werden  die  Ar- 
beiter in  Gegenden  organisirt,  die  sonst  der  Arbeiterbe- 
wegung noch  längere  Zeit  unzugänglich  gewesen  wären. 

Seit  1889  liegen  die  Jahresabrechnungen  des  Ver- 
bandes vor,  daraus  lassen  sich  einige  Angaben  über  die 
Vermögensverhältnisse  desselben  machen: 


In  den  Filial-  Verbandshauptkasse  Strikeunterstützungsfond 
kassen  belassen  Einnahme  Ausgabe  Einnahme  Ausgabe 

M.  M.  M.  M.  M. 


1889  22  541,30  42  727,30  33  921,29 

1890  27  035,35  59  440,95  49  851,28 

1891  19  634,45  49  356,06  47  536,60 


31  914,26  31  036,18 

97  702,64  104  426,50 

21  754,89  5 646,95 


Auf  die  Einzelheiten  des  Verhältnisses  dieser  Kassen 
kann  hier  nicht  näher  eingegangen  werden. 

Die  Kassenverhältnisse  waren  nicht  immer  gut.  ln 
Folge  der  vielen  Strikes  im  Jahre  1890  hatte  der  Verband 
am  18.  Juli  1890  6315,80  M.  Schulden,  denen  kein  sicheres 
Guthaben  gegenüber  stand.  Es  zeugt  gewiss  für  die  Stärke 
der  Organisation,  dass  diese  Schuld  so  schnell  gedeckt  und 
dass  die  Kassenbestände  Ende  1891  ein  Baarvermögen  von 
17  927,40  M.  aufweisen. 

Die  Reiseunterstützung  wurde  vom  Hauptvorstande, 
für  den  Winter  1891/92  auf  1 M.  pro  Lokalverband  und 
Person  festgesetzt,  es  sind  im  letzten  Winter  an  561  Per- 
sonen 9258  M.,  also  an  jede  Person  durchschnittlich  16,50  M. 
gezahlt  worden.  Für  diesen  Winter  ist  die  Reiseunter- 
stützung auf  60  Pf.  herabgesetzt  worden. 


v)  „Zimmerer“  No.  40  1892 


i 

t 


i 


I 


So.  14. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


160 


Am  10.  April  1893  tritt  die  zehnte  Generalversammlung 
des  Verbandes  in  Bremen  zusammen,  es  ist  nicht  anzü- 
nehmen,  dass  irgend  welche  Aenderungen  an  den  Grund- 
lagen tles  Verbandes  vorgenommen  werden  und  auch  die 
Hinrichtungen  desselben  dürften  im  Wesentlichen  dieselben 
bleiben. 

Hamburg.  August  Bringmann. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Kaufmännische  Sonntagsruhe  in  der  Weihnachtszeit. 

Zu  der  Mittheilung  in  No.  12  ist  nachzutragen,  dass  in 
Stuttgart  bloss  an  den  beiden  letzten  Sonntagen  vor  Weih- 
nachten eine  Verlängerung  der  Verkaufszeit  zugelassen 
wurde.  Die  Läden  durften  an  diesen  beiden  Sonntagen  bis 
4 Uhr  Nachmittags  geöffnet  sein.  Es  sind  keine  Klagen 
laut  geworden,  dass  die  Verkaufszeit  zu  kurz  bemessen  ge- 
wesen sei,  und  es  dürfte  daraus  der  Schluss  zu  ziehen  sein, 
dass  auch  in  den  Städten,  wo  an  den  vier  letzten  Sonn- 
tagen bis  Abends  7 Uhr  und  noch  länger  geöffnet  sein 
durfte,  eine  Schädigung  nicht  eingetreten  wäre,  auch  wenn 
von  der  Befugniss  zur  Erlassung  von  Ausnahmen  etwas 
weniger  reichlich  Gebrauch  gemacht  worden  wäre. 

In  Berlin  soll  auf  Grund  direkter  Anweisung  des 
Kaisers  bestimmt  worden  sein,  dass  von  7 — 9 Uhr  Vor- 
mittags und  von  11  — 10  Uhr  Abends,  also  zusammen 
13  Stunden,  verkauft  werden  darf.  'Es  wräre  interessant,  zu 
erfahren,  ob  diese  Zeitungsnachricht  richtig  ist  und  wie 
sie  sich  mit  dem  klaren  Wortlaut  des  Reichsgesetzes,  dass 
höchstens  eine  Verkaufszeit  von  10  Stunden  zugelassen 
werden  kann,  vereinigen  lässt. 

Sonntagsruhe  in  der  chemischen  Industrie.  Wie  in 

Preussen  (vgl.  Sozialpolitisches  Centralblatt  II.  Jahrgang- 
No.  9>,  so  fanden  auch  in  Baden  Vorberathungen  über  die 
Sonntagsruhe  bei  der  chemischen  Industrie  statt.  Bei 
den  Verhandlungen,  die  im  badischen  Ministerium  des  Innern 
unter  dem  Vorsitz  des  Respizienten  des  genannten  Ministe- 
riums und  unter  Zuzug  sowohl  der  Beamten  der  Fabrik- 
inspektion wie  auch  von  Vertretern  aller  wichtigeren 
Zweige  der  chemischen  Industrie  abgehalten  wurden, 
hat  es  sich  ergeben,  dass  zwar  auch  auf  diesem  In- 
dustriegebiete den  jetzigen  Gepflogenheiten  gegenüber 
wesentliche  Einschränkungen  der  Sonntagsarbeiten  durch- 
führbar sind , dass  aber  doch  eine  Erweiterung  der 
nach  einem  im  Reichsamte  des  Innern  vorbereiteten  Ent- 
würfe  künftig  zuzulassenden  Sonntagsarbeiten  theils  aus 
technischen  Gründen  noth wendig,  theils  aus  überwiegenden 
wirthschaltlichen  Rücksichten  nicht  wohl  zu  umgehen  ist. 
Diese  Erweiterungen  betrafen  zudem  jeweils  nur  eine  kleine 
Zahl  im  Grossherzogthum  beschäftigter  Arbeiter.  Einen 
wichtigen  und  schwierigen  Theil  der  Berathungen  trafen 
die  Bedingungen,  unter  denen  diese  Sonntagsarbeiten  ge- 
stattet werden  sollen.  Sie  hatten  sämmtlich  die  Gewährung 
einer  Ruhezeit  wenigstens  an  einem  Theile  der  Sonn-  und 
Feiertage,  dann  aber  in  genügender  Ausdehnung,  an  die  in 
den  ununterbrochenen  Betrieben  beschäftigten  Arbeiter  zum 
Gegenstände.  Alle  zulässigen  Ausnahmen,  besonders  die 
vorgeschlagenen  Erweiterungen  wurden  unter  dem  Gesichts- 
punkte der  Ermöglichung  einer  solchen  theilweisen,  dann 
aber  genügenden  Sonntagsruhe  geprüft.  Sodann  ver- 
schmähte man  es  in  Baden  nicht,  abweichend  von  dem  merk- 
würdigen preussischen  Vorgehen,  auch  die  Arbeiter  zu 
hören.  Im  Auftrag  des  Ministeriums  des  Innern  begab  sich 
Anfang  d.  M.  Fabrikinspektor  Wörrishofer  nach  Mannheim, 
um  die  Meinung  von  Vertretern  der  Arbeiterschaft  von  Fa- 
briken, in  denen  Sonntags  gearbeitet  wird,  darüber  zu  hören, 
wie  sie  bei  der  in  Aussicht  stehenden  gesetzlichen  Rege- 
lung der  Arbeitszeit  die  Sonntagsruhe  bestimmt  wissen 
wollen,  ob  sie  alle  14  Tage  24  Stunden  Ruhe,  oder  alle  drei 
Wochen  36  Stunden  Ruhe  wünschen.  Bis  auf  Einen  ent- 
schieden sich  alle  Vertreter  für  den  letzten  Modus.  Schliess- 
lich ist  zu  erwähnen,  dass  die  berliner  Büreaukratie  neuer- 
dings ihre  Unfähigkeit,  geeignete  Vorschriften  zu  erlassen, 
dadurch  bekundet,  dass  sie  m halbamtlichen  Blättern  Mit- 
theilungen  von  einer  Hinausschiebung  des  Erlasses  der 
Sonntagsruhevorschriften  bis  zum  1.  Januar  oder  1.  April 
1894  machen  lässt.  ~ 


Bergpolizeiverordnnng  über  Errichtung  von  Waschkauen 
für  Bergleute  im  Bezirk  Dortmund.  Der  Verein  der  Zechen- 
besitzer  für  den  Oberbergamtsbezirk  Dortmund  verhandelte  in 
seiner  letzten  Sitzung  vom  28.  November  d.  Js.  über  den  Ent- 
wurf einer  solchen  Verordnung,  die  eine  verspätete  Nachwirkung 
des  Strikes  von  1889  zu  sein  scheint  und  über  welche  das  könig- 
liche Oberbergamt  ein  Gutachten  verlangte.  Der  Berichterstatter 
des  Vereins  der  Grubenbesitzer  ging  nach  dem  kürzlich  er- 
schienenen offiziellen  Bericht  im  Essener  „Glückauf“  davon  aus, 
dass  die  Errichtung  von  Waschkauen  auf  den  grösseren  Zechen 
des  westlichen  und  nördlichen  Reviers  durchaus  wünschens- 
werth  und  auch  bei  den  meisten  Zechen  entweder  bereits  durch- 
geführt, oder  mindestens  ins  Auge  gefasst  (!)  sei. 
Der  vorliegende  Entwurf,  welcher  die  allgemeine  Einführung 
der  Waschkauen  bezwecke,  gebe  jedoch  in  mehreren  Punkten 
zu  Bedenken  Anlass  Zunächst  müsse  auffallen,  dass  der  Ent- 
wurf in  der  Begründung  damit  gerechtfertigt  wird,  dass  die 
Einrichtung  von  Waschkauen  der  Gesundheit  der  Bergleute  zu- 
| träglich  und  förderlich  sei.  Nach  Massgabe  des  Berggesetzes 
I sei  es  lediglich  Aufgabe  der  Bergbehörde  „für  die  Sicherheit 
des  Lebens  und  der  Gesundheit  der  Bergarbeiter  Sorge  zu 
tragen.“  Es  werde  also  hier  ein  ganz  neues  Prinzip,  nämlich 
die  Förderung  der  Gesundheit  hereingetragen,  gegen  welches 
grundsätzlich  Widerspruch  erhoben  werden  müsse,  da  ein  Ver- 
folgen desselben  zu  den  weitgehendsten  Konsequenzen  Anlass 
geben  könnte.  Was  ferner  die  vorliegende  Frage  an  sich  im 
Allgemeinen  anlange,  so  müsse,  wie  schon  früher  geschehen, 
seitens  des  Vereins  nochmals  darauf  hingewiesen  werden,  dass 
Waschkauen  sowohl  auf  den  kleinen  Gruben  im  Süden,  wo  die 
Arbeiter  meist  in  der  Nachbarschaft  als  Kleinbauern  ansässig 
sind,  als  auch  im  Osten,  wo  die  Arbeiter  sich  beharrlich  weigern, 
Waschkauen  zu  benutzen,  die  Errichtung  von  Waschkauen  eine 
durch  nichts  gerechtfertigte  Verschwendung  von  Kapital 
sein  würde.  Die  im  § 3 verlangte  Qualifikation  des  Kauen- 
wärters durch  die  Bergbehörde  sei  durchaus  abzulehnen,  der 
Wärter  brauche  keinerlei  technische  oder  bergmännische  Kennt- 
nisse des  Bergbaues  zu  besitzen,  sondern  es  komme  in  erster  Linie 
der  von  dem  königlichen  Oberbergamt  schwer  festzustellende 
Sinn  des  Wärters  für  Reinlichkeit  als  Erforderniss  in  Betracht. 
Wennschon  man  bislang  eine  Trennung  der  Kinder  von  den 
Erwachsenen  vorgenommen  habe,  so  sei  jedoch  die  im  § 1 nun- 
mehr verlangte  Trennung  aller  jugendlichen  Leute  unter  20 
Jahren  von  älteren  Personen  durchaus  unzweckmässig.  Es  sei 
von  dieser  Trennung  keine  Hebung  der  Sittlichkeit,  sondern 
vielleicht  eher  das  Umgekehrte  zu  erwarten,  da  gerade  die  An- 
wesenheit der  älteren  Leute  auf  die  jungen  einen  günstigen 
Einfluss  ausübe.  Es  sei  deshalb  zu  beantragen,  dass  die  Tren- 
nung lediglich  auf  die  jugendlichen  Arbeiter  bis  zu  16  Jahren 
ausgedehnt  werde.  Schliesslich  sei  die  im  § 6 gestellte  Frist 
von  drei  Monaten  zur  Einführung  der  verordneten  Massregel 
nicht  ausreichend.  Im  Allgemeinen  sei  schliesslich  vor  dem 
Erlass  dieser  Verordnung  jedenfalls  noch  näher  zu  erwägen,  ob 
thatsächlich,  wie  in  der  Begründung  angegeben,  das  Baden  in 
warmen  bezw.  in  .heissen  Wasser,  wie  es  die  Bergleute  vor- 
ziehen, nützlich,  oder  ob  es  nicht  umgekehrt  der  Gesundheit  der 
Arbeiter,  welche  unmittelbar  nachher  einen  Weg  über  das  freie 
Feld  nehmen,  schädlich  sei.  Im  Anschluss  an  dieses  Referat 
wurde  von  einer  Seite  noch  zur  grundsätzlichen  Frage  hervor- 
gehoben, dass  die  vorliegende  Polizeiverordnung  an  sich  eine 
dem  Bergbau  gegenüber  unbillige  sei.  Die  Zechen  hätten 
nicht  etwa  auf  Drängen  der  Bergbehörde,  sondern  aus  freien 
Stücken  und  unter  ~ der  Befürwortung  des  Bergbauvereins 
Waschkauen  auf  all  den  Zechen  angelegt,  auf  denen  dieselben 
thatsächlich  ein  Bedürfniss  seien;  auf  denjenigen  Zechen,  auf 
denen  ein  solches  Bedürfniss  wegen  der  Kleinheit  des  Betriebes 
oder  wegen  der  Weigerung  der  Arbeiter,  die  Waschkauen  zu 
benutzen,  nicht  vorliege,  unterblieb  natürlich  die  Einrichtung 
einer  Badevorrichtung.  Heute  besässen  mehr  als  zwei  Drittel 
sämmtlicher  Arbeiter  die  Möglichkeit,  sich  nach  Beendigung  der 
Schicht  zu  baden.  Soviel  bekannt,  seien  andere  Gewerbe,  ob- 
schon auch  diese  vielfach  die  Arbeiter  mit  Staub  und  Schmutz 
in  Berührung  bringen,  mit  der  Errichtung  von  Badeeinrichtungen 
nur  in  ganz  einzelnen  Fällen  vorgegangen.  Gerade  aber  die 
Thatsache  der  Bereitwilligkeit  vieler  Zechen,  diese  Wohlfahrts- 
einrichtungen zu  treffen,  geben  nunmehr  der  Bergbehörde  An- 
lass, durch  eine  allgemeine  Polizeiverordnung  die  Errichtung 
von  Waschkauen  anzubefehlen,  damit  es  wiederum  scheine, 
dass  alle  Wohlfahrtseinrichtungen  vom  Staat  den  Bergwerksbe- 
sitzern aufgedrungen  werden  mussten.  Man  müsse  gegen  ein 
solches  Verfahren  entschieden  Widerspruch  erheben  und 
auch  daran  erinnern,  dass  der  Staat  für  seine  Gruben  in  Saar- 
brücken zur  Errichtung  von  Waschkauen  noch  nicht  überge- 
gangen sei.“  Soweit  der  Bericht  im  Organ  der  Zechenbesitzer. 
Die  Anspielung  auf  die  Verhältnisse  im  fiskalischen  Bergbau  zu 
beantworten,  wird  Sache  der  Staatsbehörden  sein.  Im  Uebrigen 
tragen  die  aus  der  westfälischen  Praxis  von  den  Grubenbesitzern 
gegen  die  geplante  Verordnung  angeführten  Gründe  den  Stempel 
leerer  Vorwände  so  sehr  an  der  Stirn,  dass  ein  Eingehen  auf 
dieselben  hoffentlich  auch  der  Bergbehörde  überflüssig  erscheinen 
und  dem  baldigen  Erlass  der  betreffenden  Verordnung  ent- 
gegenzusehen sein  wird. 


170 


No.  14 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


Arbeiterversicherung. 


Unfallverhütung  durch  die  deutschen  Berufsgenossen- 
schaften. Eine  Merkwürdigkeit  der  deutschen  Gewerbe- 
gesetzgebung besteht  bekanntlich  darin,  dass  sie  die- Aufsicht 
über  die  Unfallgefahr  in  industriellen  Betrieben  nicht  aus- 
schliesslich durch  die  staatlichen  Gewerbeinspektoren  aus- 
üben lässt,  sondern  daneben  noch  durch  Beauftragte  der 
Unfallberufsgenossenschaften,  d.  h.  der  Unternehmer,  eine 
Zwiespältigkeit,  die  natürlich  nicht  zum  Nutzen  der  Unfallver- 
hütung ausschlagen  kann.  Wie  nun  die  neuesten  „Rechnungs- 
ergebnisse der  Berufsgenossenschaften  für  1891“,  die  dem 
Reichstag  zugingen,  erkennen  lassen,  sind  allerdings  die  äusser- 
1 ichen  Kosten,  welche  die  Berufsgenossenschaften  zum  Zwecke 
der  Verhütung  derUnfälle  aufgebracht  haben,  vonJahr  zuJahr 
gestiegen.  Im  Jahre  1889  hatten  die  gewerblichen  Genossen- 
schaften dafür  rund  301  000  M.  auf  bringen  müssen,  1890 
schon  rund  341  000  M.  und  1891  gar  rund  430  000  M.  An 
der  Spitze  steht  diesmal  mit  über  47  000  M.  die  Berufs- 
genossenschaft der  chemischen  Industrie,  ihr  folgt  mit 
37  000  M.  die  Tiefbau-Genossenschaft.  Aber  der  Charakter 
dieser  Unfallverhütung,  die  durch  Beauftragte  der  Unter- 
nehmer besorgt  wird,  hat  sich  natürlich  nicht  ändern  können, 
die  Kosten  bei  Erlass  von  Unfallverhütungsvorschriften  sind 
sogar  von  16  602  M.  im  Vorjahre  auf  11  518  M.  im  Jahre 
1891  zurückgegangen  und  acht  gewerbliche  Berufsgenossen- 
schaften sind  noch  immer  ohne  jede  Veranstaltung  zur 
Unfallverhütung.  Noch  elementarer  sind  freilich  die  Vor- 
kehrungen bei  den  landwirthschaftlichen  Genossenschaften, 
wo  ja  ausserdem  die  staatlichen  Inspektoren  ganz  fehlen. 
Die  Ausgaben,  welche  die  landwirthschaftlichen  Genossen- 
schaften zusammen  für  die  Unfallverhütung  im  Jahre  1891 
aufgewendet  haben,  betragen  etwas  über  5000  M.  (gegen 
3854  M.  im  Vorjahre).  Die  grosse  Mehrzahl  dieser  Genossen- 
schaften scheint  der  Unfallverhütung  noch  apathisch  gegen- 
überzusjehen.  Die  Steigerung,  welche  die  Unfallversiche- 
rungskosten für  die  Landwirtschaft  von  Jahr  zu  Jahr 
erfahren  und  die  verhältnissmässig  recht  beträchtlich  genannt 
werden  müssen,  wird  jedoch  auch  diese  Berufsgenossen- 
schaft bald  dazu  drängen,  der  Unfallverhütung  grössere 
Aufmerksamkeit  zu  widmen,  so  meint  man  in  einer  halb- 
amtlichen Mittheilung.  WTir  würden  uns  weit  mehr  Erfolg 
versprechen,  wenn  man  endlich  zur  Anstellung  ländlicher 
Arbeitsinspektoren  schritte. 

Die  eingeschriebenen  Hilfskassen  und  die  §§  75  und 
75a  des  Krankenversicherungsgesetzes.  Wie  dringend 
nothwendig  die  Schaffung  des  § 75  a des  Krankenversiche- 
rungsgesetzes war,  geht  aus  einer  Uebersicht  der  Bescheini- 
gungen auf  Grund  des  § 75  des  Krankenversicherungsgesetzes 
hervor,  welche  die  „Arbeiterversorgung“  am  24.  Dezember  1892 
(IX.  Jahrgang,  No.  36)  veröffentlicht.  Nach  dieser  Zusammen- 
stellung und  späteren  Bekanntmachungen  im  Reichsanzeiger 
sind  erst  43  eingeschriebene  Hilfskassen  im  Besitze  der  Be- 
scheinigung, dass  sie,  vorbehaltlich  der  Höhe  des  Kranken- 
geldes, den  Anforderungen  des  § 75  des  Krankenversiche- 
rungsgesetzes genügen.  22  derselben  haben  ihren  Sitz  in 
Hamburg,  8 in  Berlin,  je  eine  in  Magdeburg,  Elbing,  Dort- 
mund, Spremberg,  Rathenow,  Gera,  Gotha,  Bremen,  Dres- 
den, Schwäbisch- Gmünd  und  München,  bei  zweien  ist  der 
Sitz  der  Kasse  nicht  angegeben. 


Wohnungszustände. 


Die  Wohnungsverhältnisse  der  ärmeren  Bevölkerung 
in  Berlin. 

Der  Erforschung  der  Wohnungsverhältnisse  wird  in 
Deutschland  im  Vergleiche  zu  den  übrigen  sozialstatistischen 
Aufgaben  noch  am  meisten  Interesse  und  Aufmerksamkeit 
gewidmet.  Fehlt  es  uns  auch  an  so  mustergiltigen  Arbeiten, 
wie  die  Bücher’s  über  Basel,  so  besitzen  wir  doch  über 
die  Wohnungsverhältnisse  einer  Reihe  deutscher  Grossstädte, 
Berlins,  Leipzigs,  Frankfurts  a.  M.  neues  und  verwerth- 
bares  Material.  Eine  Reihe  von  .Stadtverwaltungen , vor 


allem  die  Berlins,  haben  die  amtliche  Zählkarte  für  die 
Volkszählung  vom  Jahre  1890  um  eine  Reihe  auf  die  Er- 
forschung der  Wohnungsverhältnisse  abzielende  Fragen  er- 
weitert. So  dankenswerth  dies  auch  ist,  so  genügt  es  frei- 
lich nicht  zur  Beleuchtung  der  grossstädtischen  Wohnungs- 
verhältnisse, und  zwar  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  bei 
einem  ansehnlichen  Bruchtheile  gerade  der  Arbeiterklasse 
Wohnort  und  Erwerbsort  nicht  zusammenfallen.  Die 
Steigerung  der  Grundstückspreise  und  die  noch  meist  über 
das  proportionale  Verhältniss  sich  steigernden  Miethspreise 
drängen  die  wenig  erwerbenden  Personen  über  das  städti- 
sche Weichbild  hinaus,  so  dass  z.  B.  in  Berlin  sozialstatis- 
tische Untersuchungen  sich  nicht  auf  das  Stadtgebiet  be- 
schränken dürfen,  sondern  alle  diejenigen  Orte  mitumfassen 
müssen,  in  denen  in  Berlin  thätige  Personen  wohnen.  Dies 
zwingt  uns  bei  aller  Sympathie  für  die  sozialstatistischen 
Interessen  einiger  unserer  kommunalstatistischen  Aemter, 
den  betreffenden  Untersuchungen  gegenüber  uns  sehr 
reservirt  zu  verhalten,  und  die  Inangriffnahme  sozialstatis- 
tischer  Arbeiten  von  den  landesstatistischen  Aemtern  oder 
dem  reichsstatistischen  Amte  bezw.  von  besonders  zu 
schaffenden  arbeitsstatistischen  Aemtern  zu  fordern.  Bei 
Festhaltung  dieses  prinzipiellen  Standpunktes  werden  wir 
aber  vorerst  noch,  und  wie  wir  fürchten  auf  geraume  Zeit 
hinaus,  auf  die  sozialstatistischen  Leistungen  der  Kom- 
munalstatistik angewiesen  bleiben.  Unter  diesen  Ein- 
schränkungen verdient  eine  Arbeit  Dr.  G.  Berthold’s,  über 
die  Wohnungs-Verhältnisse  Berlins1)  volle  Beachtung.  Wir 
basiren  deshalb  die  folgende  Darstellung  auf  die  Resultate 
derselben. 

Die  Bevölkerungszunahme  Berlins  erinnert  an  das 
Wachsthum  der  nordamerikanischen  Bevölkerungscentren, 
sowohl  was  das  Wachsthum  überhaupt  und  seine  hauptsäch- 
liche Ursache,  die  Zuwanderung,  anlangt.  1864  zählte 
Berlin  633  279,  1871  826  341,  1880  1 122  330  und  1890  1578  794 
Einwohner,  von  denen  nur  642633  (40,7pCt.)  in  Berlin  geboren 
und  936  161  (59,3  pCt.)  nach  Berlin  gezogen  waren.  Der 
durchschnittliche  Zuzug  nach  Berlin  in  den  Jahren  1886  bis 
1890  betrug  37  208  Köpfe.  In  weit  stärkerem  Maasse  als 
Berlin  selbst  nahmen  die  angebauten  Vororte  an  Bevölke- 
rung und  vor  allem  an  Zuzug  zu.  Mit  Einschluss  der  dem- 
nächst mit  Berlin  zu  vereinigenden  Vororte  hätte  Berlin 
zur  Zeit  der  letzten  Volkszählung  ca.  1 900  000  Einwohner 
gezählt  und  dürfte  bei  der  im  Jahre  1894  zu  gewärtigenden 
Vereinigung  die  zweite  Million  überschritten  haben,  dem- 
nach sich  sehr  der  Bevölkerungszahl  von  Paris,  der  zweit- 
grössten Stadt  Europas  nähern. 

Die  Berliner  Wohnungsnoth  charakterisirt  sich  gegen- 
wärtig nicht  durch  den  Mangel  an  Wohnungen,  sollen  doch 
nach  Zeitungsmeldungen  gegenwärtig  20 — 30000  Wohnungen 
in  Berlin  allein  unvermiethet  sein,  sondern  durch  die  fin- 
den grössten  Theil  der  Bevölkerung  unerschwingliche  Höhe 
der  Miethen,  welche  durch  systematische  Bodenspekulation 
verursacht  wurde.  Während  noch  im  Jahre  1 880  der  durch- 
schnittliche W'erth  des  Grund  und  Bodens  für  ein  Grund- 
stück 48  033  M.  betrug,  war  derselbe  in  einem  Dezennium 
auf  78  557  M.  hinaufgeschnellt;  wenn  auch  nicht  in  gleichem 
Verhältniss,  so  war  aber  doch  in  ansehnlichem  Maasse 
auch  der  Werth  der  Baulichkeiten  in  der  gleichen  Zeit  ge- 
stiegen und  zwar  von  107  998  auf  138  090  M.  (Feuerversiche- 
rungssumme). Dementsprechend  stiegen  die  Miethen  im 
Durchschnitte  von  609  auf  666  M.  Da  aber  ausserdem  die 
durchschnittliche  Zahl  der  Bewohner  eines  Grundstückes 
in  dem  Zeiträume  1880 — 1890  von  61  aut  73  gestiegen  ist, 
so  lässt  sich  das  Anwachsen  des  Erträgnisses  erst  aus  der 
Kombination  dieser  beiden  Verhältnisse  in  voller  Schärte 
erkennen. 

Während  seit  1875  die  Zahl  der  vermiet heten 
Wohnungen  und  Gelasse  ununterbrochen  gestiegen  ist  und 


!)  Die  Wohnungsverhältnisse  der  ärmeren  Klassen  in 
Berlin,  Ursachen  ihrer  Mängel,  Versuche  und  Vorschläge  zur 
Abhilfe  derselben  in  G.  v.  Mayr’s  Allgemeinem  Statistischem 
Archiv,  II.  Jahrg.  1891/92,  II.  Halbband  (Tübingen  1892)  S.  480 
| bis  508.  Auch  im  Sonderabdruck  erschienen. 


No.  14. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAT  .BLATT. 


171 


zwar  von  1875  mit  196  375  auf  255  479  im  Jahre  1880, 
371  010  im  Jahre  1890  und  386  854  im  Jahre  1891,  schwankte 
die  Zahl  der  u n v er rn  i et  h eten  ausserordentlicli.  1875 
wurden  3527,  1879  20  671,  1880  18  508  gezählt,  von  da  ab 
bis  zum  Jahre  1887  fiel  die  Zahl  der  unvermietheten  un- 
unterbrochen bis  auf  6904,  um  dann  wieder  rasch  anzu- 
schwellen bis  15  756  im  Jahre  1891.  1875  war  nur  1,76  pCt. 

aller  Wohnungen  unvermiethet,  1879  7,78pCt.,  1887  2,07  pCt. 
und  1891  3,91  pCt. 

Die  durchschnittliche  Bewohnerzahl  pro  Grundstück 
(1890:  73  Köpfe)  wird  in  den  meisten  Arbeitervierteln  be- 
deutend überstiegen,  sie  betrug  im  östlichen  Stralauer 
Viertel  95,  in  der  westlichen  jenseitigen  Louisen-  und  in 
der  nördlichen  Rosenthaler  Vorstadt  je  96  und  erreichte 
mit  127  Köpfen  pro  Grundstück  in  der  östlichen  jenseitigen 
Louisen-Vorstadt  das  Maximum.  Diese  hohen  Behausungs- 
ziffern sind  auf  den  starken  Kinderreichthum  und  auf  das 
häufige  Vermiethen  an  Schlafleute  zurückzuführen.  Die 
Zahl  der  Schlaf leute  stieg  von  1880  1890  von  59  087  auf 

95  365  Köpfe,  das  ist  von  52,4  auf  62,1  pro  Mille  der  Haus- 
haltsbevölkerung. Die  Zahl  der  Chrambregarnisten  und 
Schlafleute  stieg  von  92  189  im  Jahre  1880  auf  133  359 
Köpfe  im  |ahre  1890,  demnach  von  83,67  auf  blos  86,89  pro 
Mille.  Die  bedeutend  geringere  Steigerung  der  Aftermiether 
überhaupt  gegenüber  der  der  Schlafleute  ist  ein  ungünstiges 
soziales  Symptom.  Die  Zahl  der  Schlafleute  allein  über- 
stieg in  7 von  16  Standesamtsbezirken  den  Durchschnitt 
ganz  erheblich,  sie  stieg  in  einem  bis  auf  90,6  pro  Mille 
der  Haushaltsbevölkerung.  Dass  die  Höhe  der  Miethen  und 
ihre  stete  Steigerung  viele  Leute  zwingt  sich  blos  mit 
Schlafstellen  zu  begnügen,  beziehentlich  ihre  Wohnung  mit 
Schlafleuten  zu  theilen,  geht  aus  der  Berliner  Miethspreis- 
statistik  hervor.  Während  die  Zahl  der  Wohnungen  mit 
Miethen  unter  200  M.  sich  im  Zeiträume  1886 — 1891  von 
97  277  auf  76  579,  das  ist  um  21,29  pCt.  verminderte,  stieg 
allein  die  Zahl  der  Wohnungen  im  Preise  von  201 — 250  M. 
von  50  441  auf  79  375,  das  ist  um  57,36  pCt.  und  die  der 
Wohnungen  über  200  M.  überhaupt  von  322  172  auf  402  610, 
das  ist  um  fast  24,96  pCt.,  der  durchschnittliche  Miethspreis 
stieg  von  609  auf  666  M.  von  Anfang  1886  auf  den  Anfang 
1891.  Im  Jahre  1891  kostete  annähernd  die  Hälfte  (49,9  pCt.) 
der  Wohnungen  weniger  als  301  M.  und  über  :7r  (76,2  pCt.) 
der  Gesammtzahl  weniger  als  600  M.  und  Idos  7r> — '/- 
(15,2  pCt.)  über  900  M.  Bei  der  Zählung  vom  Jahre  1885 
ergab  sich,  dass  durchschnittlich  jeder  Raum  156  M.  kostete 
gegen  149  M.  im  Jahre  1880,  in  den  meisten  Arbeitervierteln 
übersteigt  aber  der  Miethspreis  diesen  Durchschnitt  ganz 
beträchtlich,  so  kostete  im  Jahre  1885  ein  Zimmer  in  Moabit 
178,  in  der  nördlichen  Rosenthaler  Vorstadt  167,  in  der 
südlichen  194,  im  östlichen  Stralauer  Viertel  195,  im  west- 
lichen 216,  in  der  östlichen  Louisenstadt  192  und  in  der 
westlichen  jenseitigen  224  M.  Damit  findet  die  wiederholt 
nachgewiesene  Behauptung,  dass  die  Arbeiter  absolut  für 
die  Miethe  mehr  zu  bezahlen  haben  als  die  Besitzenden, 
ihre  Bestätigung  auch  in  Berlin.  Da  der  ortsübliche  Tage- 
lohn für  Berlin  2 M.  40  Pf.,  demnach  in  300  Arbeitstagen, 
die  aber  nur  ein  verhältnissmässig  geringer  Bruchtheil  von 

' . o o 

Arbeitern  aufweisen  dürfte,  720  M.  beträgt , verschlingt 
eine  hygienisch  und  sozial  ganz  ungenügende  Befriedi- 
gung des  Wohnungsbedürfnisses  schon  den  4.  3.  Theil  des 

Gesammteinkommens  der  verheiratheten  Arbeiter! 

Die  wucherischen  Miethsverträge  und  die  Strenge 
ihrer  Handhabung  vertheuert  die  Miethen  in  hohem  Maasse, 
denn  die  mangelnde  Sesshaftigkeit  der  Bevölkerung  lässt 
sich  zum  nicht  geringen  Theile  hierauf  zurückführen.  Im 
Jahre  1891  fanden  194  196  (1887:  146  283)  Umzüge  statt,  be- 
rechnen wir  die  Kosten  jedes  derselben  nur  mit  ca.  10  M.,  so 
ergiebt  sich  eine  für  eine  Arbeiterfamilie  recht  erheblich  ins 
Gewicht  fallende  Vergrösserung  ihrer  Wohnungsausgaben! 

Wenn  auch  aus  ganz  anderen  Gründen  wie  Dr.  Bert- 
hold,  halten  auch  wir  eine  Lösung  der  Wohnungsfrage 
durch  Staat  oder  Gemeinde  für  undurchführbar.  Wir 
glauben  alle  Bestrebungen  dieser  Art  werden  für  abseh- 


bare Zeit  an  der  Grösse  der  Aufgabe,  an  dem  Mangel  der 
Mittel  scheitern.  Eine  Lösung  der  Wohnungsfrage  dürfte 
schon  mit  Rücksicht  auf  die  Freizügigkeit  nur  vom  Reiche 
und  für  das  ganze  Reich  gleichzeitig  in  Angriff  ge- 
nommen werden  können,  hierzu  gehören  aber  selbst  bei 
grösster  Beschränkung  in  der  Forderung  des  hygienisch 
und  sozial  Erstrebenswerthen  für  ein  Gebiet  wie  es  das 
deutsche  Reich  ist,  viele  Milliarden.  Man  würde  ein 

sozialpolitischer  Phantast  sein,  vom  modernen  Militärstaate 
derartiges  zu  fordern,  müsste  die  Macht  des  Besitzes  unter- 
schätzen, wollte  man,  nicht  nur  theoretisch,  die  Vorbe- 
dingung, die  Expropriation  des  zu  Wohnzwecken  benützten 
und  sich  eignenden  Grundbesitzes  heute  fordern.  Wir 
glauben  aber,  dass  es  nicht  minder  phantastisch  wäre,  die 
Lösung  der  Wohnungsfrage  in  grossen  Städten  oder  in 
einem  ganzen  Lande  von  Vereinen,  gemeinnützigen  und 
Aktiengesellschaften  zu  erhoffen.  Unzweifelhaft  kann  durch 
derartige  Massnahmen  kleinen  Gruppen  von  Personen  - 
Beamten,  kleinen  Rentnern,  vielleicht  auch  vereinzelten 
Arbeitern  — geholfen  werden,  solche  Bestrebungen  können 
aus  höchst  anerkennenswerthen  Motiven  oder  lediglich  als 
sichere  Kapitalsanlage  in  die  Hand  genommen  werden,  sie 
werden  aber  niemals  die  Wohnungsfrage  ihrer  sozialen 
Lösung  entgegenführen. 

Staat  und  Stadt  können  durch  Abänderung  der  Mieths-, 
Gebäude-  und  Grundsteuern,  durch  Verbilligung  der  Kom- 
munikationsmittel viel  bessern,  aber  nicht  die  Wohnungsfrage 
lösen.  Uebrigens  überschätze  man  nicht  die  Vortheile  der 
billigen  Lokaltarife  für  die  Arbeiter.  Die  Fuhrkosten  nicht 
nur,  sondern  auch  die  Zeitversäumniss  müssen  als  Vertheue- 
rungen  der  billigeren  Miethspreise  ausserhalb  des  Arbeits- 
ortes in  Betracht  gezogen  werden,  und  nicht  nur  dies,  es 
darf  auch  nicht  übersehen  werden,  dass  der  Arbeiter,  der 
z.  B.  in  Friedrichshagen  wohnt,  Mittags  nicht  zu  Hause  essen 
kann,  dass  er  sich  entweder  schlechter  oder  theurer  nähren 
muss,  dass  Arbeits-,  Fahrt-  und  Ruhezeit  wenig  von  den 
24  Tagesstunden  übrig  lassen  werden,  um  sich  seiner 
Familie,  seiner  geistigen  und  körperlichen  Erholung  zu 
widmen.  Hier  heisst  es  ab  wägen,  ob  dem  so  allgemein 
empfohlenen  Entferntwohnen  der  Arbeiter  nicht  erhebliche 
soziale  Nachtheile  entgegenstehen. 

Berthold  verlangt  ein  bestimmtes  Verhältniss  zwischen 
Kubikinhalt  der  Wohnräume  und  der  Bewohnerzahl.  So 
sehr  dem  im  Prinzipe  beizustimmen  ist,  so  wenig  erhoffen 
wir  uns  von  dieser  Massregel,  so  wenig  halten  wir  sie  für 
die  schon  bewohnten  Häuser  für  durchführbar.  Würde 
man  das  massgebende  Wort  bei  der  Festsetzung  dieses 
Verhältnisses  den  sachkundigen  Hjfgieniker  sprechen  lassen, 
müssten  hunderttausende  Personen  in  Berlin  delogirt 
werden.  Hierfür  übernimmt  keine  Behörde  die  Verant- 
wortung, ebensowenig  für  den  dann  unausbleiblichen  ohne- 
dies aus  anderen  Gründen  schon  zu  erwartenden  Krach  der 
Grundstückswerthe. 

Die  Geschichte  der  Wohnungsfrage,  speziell  die  in 
England,  wo  Jahrzehnte  lange  Erfahrungen  vorliegen  und 
Millionen  fruchtlos  angewandt  wurden,  beweist  uns,  dass 
die  Wohnungsfrage  zu  den  Fragen  gehört,  die  für  sich 
nicht  zu  lösen  sind.  Bestenfalls  könnte  unter  übrigens 
nicht  gering  zu  achtenden  Verlusten  an  den  Vortheilen  der 
F reiztigigkeit  und  des  Koalitionsrechtes  eine  winzige  Aristo- 
kratie der  Arbeiterklasse  geschaffen  werden. 

Wir  glauben  deshalb,  dass,  so  wünschenswerth  eine 
Besserung  der  Wohnungsverhältnisse  der  Arbeiter  wäre, 
so  klar  auch  die  ungeheuren  moralischen,  hygienischen  und 
anderen  Nachtheile  der  elenden  Arbeiterwohnungsverhält- 
nisse zu  Tage  liegen,  nicht  hier  sondern  auf  anderen  Ge- 
bieten, so  in  Bezug  auf  den  Arbeiterschutz  u.  dergl.  Forde- 
rungen im  Interesse  der  Arbeiterklasse  mit  Hoffnung  auf 
praktischen  Erfolg  aufzustellen  sind. 

Berlin.  Adolf  Braun. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


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No.  14. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung  in  Berlin  SW.**- 

Demnächst  erscheint  Heft  IV  (Schlussheft  des  V.  Bandes): 

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SOZIALE  GESETZGEBUNG  UND  STATISTIK. 

Vierteljahresschrift 


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Berlin  \V.  8.  Mohrenstrasse  6. 


zur  Erforschung  der  gesellschaftlichen  Zustände  aller  Länder. 

In  Verbindung 

mit  einer  Reihe  namhafter  Fachmänner  des  In-  und  Auslandes 

herausgegeben  von 

Dr.  Heinrich  Braun. 

Das  Archiv  erscheint  in  Bänden  von  ca.  40  Druckbogen  lex  8°  in  4 Heften. 

Abonnementspreis  pro  Band  M.  12.—.  Einzelne  Hefte  M.  4.  . 

Inhalt  des  vierten  Heftes: 

I.  Abhandlungen. 

Hie  prenssischen  Steuervorlagen  vom  Standpunkt  der  Sozialpolitik  besprochen. 

Von  Dr.  J.  Jastrow,  Privatdozent  an  der  Universität  Berlin. 

Die  Reform  des  Arheitersehutzes  beim  prenssischen  Bergbau.  Von  Di.  Leo 

V erkauf. 

II.  Gesetzgebung. 

Deutsches  Reich. 

Der  Entwurf  eines  Auswanderungsgesetzes.  Von  Prof.  Dr.  Eugen  v.  Philipp  o- 
v i c li  nebst  Wortlaut  des  Entwurfs  eines  Gesetzes  über  das  Auswanderungswesen. 

Wortlaut  des  Gesetzes,  betreffend  die  Abänderung  einzelner  Bestimmungen  des 
Allgemeinen  Berggesetzes  vom  24.  Juni  1S65.  Vom  24.  Juni  1892. 

III.  Miscellen. 

Die  Statistik  der  Unfall-  und  Krankenversicherung  im  Deutschen  Reich  für  das 
Jahr  180«.  Von  Dr.  E.  Lange. 

IV.  Literatur. 

Handbuch  der  Verwaltungs- Statistik.  Erster  Band:  Allgemeine  Grundlagen  der 
V erwaltungs-Statistik  von  Dr.  Ernst  M i s c h 1 e r , Professor  in  Prag.  Besprochen 
von  Dr.  Georg  von  Mayr. 


3 (Suttentag,  ähTlag§budjf)nnblung  in  33crlin  SW46. 

©uttrnta it Tili c ©am m 1 u tut 
T>  c it  t f di  o v R c i dj  e i\  e f e h,  v. 
SejUShisgaben  mit  SUtmerfungen. 
Safdjenformat,  cartonnirt. 

liv.  20. 

trniitciUictiirtienmpflcfeß 

ooni  15.  Suni  1883, 

in  berftaiinug  bcr'JtobeKe  Dom  10. Steril  18th? 

DO  11 

<£.  tunt  IDiu'Mltc. 

'Eierte  qängidi  nnnu'arl'eitetc  vUnfliHU1- 
s^rei§  3 9)lf. 

Br.  28. 

lliifiilliitrlidimtiipgtfEli 

ooiu  6.  3>'h  1884 

nebft2lu§beljnitng§ge|etj  u o n 1 28. D3 f a i 1835 

DOH 

GL  tum  Söoetitfe. 


5Ulgemctne§  tSettjöffcfc 

für  bie  preufifcfyen  Staaten 

hont  24.  Juni  1865 
n e h ft  J4  o m nt  enta  r n o n 

Du-  M.  KIiDfcnnamt. 

fünfte  um  gearbeitete  Stuf  läge 

unter  33erücEfid)tignng 

bei-  bmet)  ba3  GSefcty  Dom  24.  3un’  1892  eingetretenen  Slenberimgeu 
IjernitSgegeben  Don 

Dr.  B).  3für|f, 

(Sei;.  SBergvatl)  11.  ooxtv.  Otatlj  im  iDtiiuftcvium  für  .§aiitcl  11.  ©eitierbe. 

Siefenmg  1. 

(Untfaifenb  bie  §§  HO— 134  bcs  Gleiches.) 

gr.  S.  preis  5 B).  50  Pf. 

Stnfang  imb  Sdfhifi  be§  Söerfef  uu'vben  biS  ,;u c Dfitte  biefee  3af)reS  erfdjeinen,  bei1  Jheis 
beö  oollftänbigen  ÄommentarS  toirb  etroa  12  Ü)i.  betragen. 

(Etnselue  ü'iefentngen  merben  uidjt  abgegeben.  Pie  2lbuatjme  ber  elften  Lieferung  oevpfliditet 
jiir  2Ibtialpne  bes  gaiijen  IDerFes. 


PierlE  umneltotE  JUiflage. 

qireiS  2 9)4  f. 


Bv.  30. 

9teid)ägefe^ 

betreffenb  bie 

fnunlitiitiits-  nnö  JUtcrs- 
ntrfitlitrang. 

33 orn  22.  3 mit  1889. 

23oit 

(f.  uon  äi'OCbtfe. 

'liierte  jlnflnae. 


%srciS  2 mt. 

Slm3fii1)v(ict)e  'Evoipefte  ber  jefct  4.3  'Pfiubdieii 
umfaffenben  obigen  Sammlung  ftefjen  gratis  nnb 
franco  311  SDienften. 


Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil:  O.  Schuckardt  in  Berlin.  — - Druck  von  II.  S.  Hermann  in  Berlin. 


n.  Jahrgang. 


Berlin,  den  9.  Januar  1893. 


Nummer  15. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostamter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


IN  HALI. 


Vermögenssteuer  und  „fun- 
dirtes  Einkommen“.  Von 
Privatdocent  Dr.  J.  Jastrow. 

Soziale  Wirtschaftspolitik  u. 
Wirthscliaftsstatistik : 

Zur  Beschäftigung  der  Arbeits- 
losen. 

Circular,  betreffen  den  Ausschank 
geistiger  Getränke  in  Preussen. 

Zur  Reform  der  englischen  Armen- 
pflege. 

Die  Anzahl  der  Analphabeten  in 
Italien. 

Die  Pellagra  in  Italien. 

Arbeiterzustände : 

Reichskommission  für  Arbeiter- 
statistik. 

Ortsübliche  Löhne  in  Deutschland. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Bergarbeiterausstand  im  Saarrevier. 


Die  Umgestaltung  der  deutschen 
Buchdruckerorganisationen. 

Unternehmerverbände : 

Der  Plan  eines  rheinisch-west- 
phälischen  Kohlenkartells.  Von 
Dr.  Max  Quarck. 
Handwerkerfra  gen : 

Gesetzentwurf  des  Centrums,  betr. 
Reform  der  Gewerbeordnung. 
Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Ausführungverordnung  zur  Sonn- 
tagsruhe in  Industrie  und  Hand- 
werk. 

Enquete  der  Wiesbadener  Handels- 
kammer über  die  Sonntagsruhe. 

Automaten  und  Sonntagsruhe. 

Arbeiterversicherungskosten  und 
Unternehmergewinne  in  Oester- 
reich. 

Arbeiterversicherung: 

Nochmals  Lohnstatistik  und  LTnfall- 
versicherung.  Von Dr.E. L a n ge. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Vermögenssteuer  und  „fundirtes  Einkommen“. 


Der  Vorschlag  der  preussischen  Regierung,  eine  Steuer 
vom  Vermögen  in  Höhe  von  etwa  V2  Pro  Mille  einzuführen, 
ist  von  der  Kommission  des  Abgeordnetenhauses  durchbe- 
rathen  worden. ')  Doch  sollen  die  Beschlüsse  der  Kom- 
mission blos  hypothetischen  Werth  haben  und  nur  für 
den  Fall  gelten,  dass  die  Kommission  sich  schliesslich  im 
Prinzip  nicht  etwa  für  eine  andere  „Ergänzungssteuer“ 
neben  der  gegenwärtigen  Besteuerung  des  Einkommens 
entscheide.  Mit  der  Prüfung  dieser  Prinzipienfrage  war 
eine  besondere  Subkommission  betraut,  welche  in  den 
beiden  letzten  Sitzungen  vor  den  Ferien  (am  15.  und  16. 
Dezember)  ihre  Ausarbeitungen  vorgelegt  hat. 

Die  Subkommission  hat  keinen  förmlichen  Gesetzent- 
wurf ausgearbeitet,  sondern  nur  Grundzüge  einer  zukünf- 
tigen Ergänzungssteuer  gezeichnet.  Die  Grundzüge  sind 
in  doppelter  Art  entworfen.  Der  erste  Entwurf  proponirt 
eine  Zuschlagssteuer  aut  alles  Einkommen,  welches  mit 

1)  Vergl.  Sozialpolitisches  Centralblatt  No.  II  und  12. 


Zuhilfenahme  von  Kapital  erzielt  wird.  Der  Steuerfuss 
soll  verschieden  bemessen  werden.  Einkommen  aus 
Kapitalbesitz,  aus  Verpachtung  von  Grundbesitz,  von 
Handels-  oder  Gewerbebetrieben  soll  neben  der  allgemeinen 
Einkommensteuer  die  Zuschlagssteuer  durchweg  in  Höhe 
von  P/i  pCt.  entrichten.  Beim  Selbstbetriebe  von  Land- 
wirthschaft,  Handel  oder  Gewerbe  mit  eigenem  Besitzthum, 
soll  das  Einkommen  von  40  000  M.  bis  herab  zu  600  M.  in 
fallender  Skala  besteuert  werden.  Wenn  die  Veranlagungs- 
behörde zu  der  Ueberzeugung  gelangt,  dass  bei  Anwen- 
dung des  Tarifs  ein  erhebliches  Missverhältnis  zu  Un- 
gunsten des  Steuerpflichtigen  entstehen  würde,  so  hat  die- 
selbe eine  Herabsetzung  um  1 bis  10  Stufen  eintreten  zu 
lassen.  In  jedem  Falle  soll  die  Zuschlagssteuer  wenigstens 
2 M-  weniger  betragen  als  die  Einkommensteuer  selbst.  Ein- 
kommen unter  3000  M.  sollen  von  der  Zuschlagssteuer  ganz 
frei  sein.  ■ — Zu  diesem  ersten  Entwurf  hat  auf  Veran- 
lassung des  Vorsitzenden  der  Abgeordnete  Dr.  Friedberg 
einen  zweiten  Entwurf  nach  dem  Muster  des  italienischen 
Einkommensteuer-Gesetzes  ausgearbeitet. 

Die  Kommission  hat  sich  in  zweitägigen  Beratlnmgen 
über  den  Entwurf  ihrer  Subkommission  noch  nicht  einigen 
können.  Die  bisher  in  die  Oeffentlichkeit  gelangten  Nach- 
richten geben  nicht  einmal  ein  vollständiges  Bild  der 
„Grundzüge“.  Die  Angaben  über  den  Steuerfuss  und  über 
die  Steuergrenze  sind  zum  Theil  widersprechend1).  Nur 
so  viel  ist  klar,  dass  die  Absicht  dahin  geht,  statt  einer 
Steuer  auf  das  Vermögen  eine  Steuer  auf  das  Ein- 
kommen aus  Vermögen  („fundiertes  Einkommen“)  zu 
legen. 

Der  praktische  Unterschied  zwischen  diesen  beiden 
Steuerformen  liegt  zunächst  in  den  Vermögen,  welche  kein 
Einkommen  gewähren.  Da  der  Regierungsentwurf  den 
Mobiliarbesitz  ohnedies  von  Vermögenssteuer  verschonen 
will,  selbst  soweit  er  in  kostbaren  Hauseinrichtungen,  in  Gold 
und  Edelsteinen  besteht,  so  kann  es  sich  nur  noch  um  so- 
genannte ertraglose  Grundstücke  handeln.  Als  solche 
kommen  hauptsächlich  in  Betracht:  einmal  Wildparks,  Lust- 
gärten und  andere  Grundstücke,  aus  denen  der  Besitzer 
keinen  Geldvortheil  bezieht,  andrerseits  Grundstücke,  welche 
der  Besitzer  unbebaut  liegen  lässt , um  sie  beim 
Steigen  des  Grundbesitzes , wie  er  sich  z.  B.  in  der 


l)  Wenn  man  rechnet,  dass  auf  100  M.  Vermögen  etwa 
4 M.  Einkommen  entfallen,  so  entspricht  einer  Steuer  von  V2  pro 
Mille  auf  das  Vermögen  eine  Steuer  von  P/4  pGt.  auf  das  daraus 
iiiessende  Einkommen.  Wenn  in  den  bisherigen  Zeitungsbe- 
richten ziemlich  übereinstimmend  von  einem  Steuerfuss  bis  zur 
Höhe  von  4'/*  pCt.  die  Rede  war,  so  kann  das  nur  auf  einen 
Schreibfehler  im  Protokoll  oder  in  einem  sonstigen  gemeinsamen 
Urbericht  zurückgehen. 


174 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  15. 


Nähe  grosser  Städte  zusehends  vollzieht,  im  geeigneten 
Moment  mit  desto  grösserem  Gewinn  zu  verkaufen. 
Es  wird  als  ein  Vorzug  der  Steuer  auf  fundirtes 
Einkommen  bezeichnet,  dass  sie  das  Vermögen  nach  der 
Höhe  seines  Ertrages  treffe,  während  die  Vermögenssteuer 
das  Vermögen  gleichmässig  treffe  ohne  Rücksicht  darauf, 
ob  es  Ertrag  gewähre.  Mit  Bezug  auf  jene  beiden  Beispiele 
kann  ich  diese  Argumentation  nicht  als  berechtigt  aner- 
kennen. Parks  und  Lustgärten  sind  nicht  ertraglos.  Ihr 
Ertrag  besteht  in  dem  Genuss,  den  sie  ihrem  Besitzer  ge- 
währen. Brachliegende  Spekulationsgrundstücke  sind  eben- 
sowenig ertraglos;  ihr  Ertrag  besteht  in  der  Werthsteigerung, 
die  sie  reehnungsmässig  alljährlich  abwerfen.  Dass  diese 
Erträge  nicht  als  „Einkommen“  im  Sinne  des  herrschenden 
Sprachgebrauchs  bezeichnet  und  so  von  der  Einkommen- 
steuer erfasst  werden  können,  mag  richtig  sein;  allein  dies 
ist  kein  Grund  gegen  die  Form  einer  besonderen  Ver- 
mögenssteuer, sondern  gerade  ein  Grund  für  dieselbe.  Eine 
wohlgeordnete  Steuerverfassung  soll  nicht  in  einseitiger 
Verfolgung  der  einmal  bestehenden  Auswahl  von  Steuer- 
objekten alle  neuen  Lasten  immer  auf  dieselben  Objekte 
thürmen,  sondern  durch  verschiedene  Steuerformen  die 
Last  auf  möglichst  alle  steuerfähigen  Objekte  zu  vertheilen 
suchen.  Es  kommen  Fälle  in  der  Praxis  vor,  in  denen  die 
bisherige  Steuerfreiheit  der  sogenannten  ertraglosen  Grund- 
stücke geradezu  skandalös  wirkt.  Wenn  Jemand  vor 
zwanzig  oder  dreissig  Jahren . ein  Gut  mit  Park  im 
Werthe  von  200  000  M.  gekauft  hat  und  es  heute 
für  600  000  M.  verkauft,  so  mag  es  unserm  Rechtsgefühl 
nicht  widersprechen,  dass  der  Genuss,  den  er  an  dem  Besitze 
des  Parks  gehabt  hat,  in  der  ganzen  Zwischenzeit  ein- 
kommensteuerfrei geblieben  sei;  was  aber  sicher  unserm 
Rechtsgefühl  widerspricht,  ist:  dass  nach  der  herrschenden 
Steuerverfassung  auch  der  Gewinn  von  400  000  M.  ein- 
kommensteuerfrei bleibt,  weil  hier  kein  Spekulationsgewinn 
fdas  Grundstück  war  ja  in  der  That  nicht  zu  Spekulations- 
zwecken gekauft  worden),  sondern  nur  eine  „Vermehrung 
des  Stammvermögens“  vorliege.  Zu  Gunsten  eines  solchen 
Besitzers  die  Vermögenssteuer  eigens  in  eine  Steuer  auf 
fundirtes  Einkommen  umwandeln,  damit  er  von  derselben 
nicht  getroffen  werde,  dazu  liegt  doch  fürwahr  kein  Anlass 
vor.  — Für  die  preussischen  Verhältnisse  kommt  aber  als 
besonders  gravirend  noch  der  Zweck  hinzu,  dem  die  Ver- 
mögenssteuer dienen  soll.  Sie  soll  einen  Ersatz  für  die 
vom  Staate  aufgegebenen  sogenannten  Realsteuern,  in  erster 
Linie  Ersatz  für  die  Grundsteuer,  bieten.  Alle  jene  „ertrag- 
losen“ Grundstücke  haben  aber  bisher  doch  wenigstens 
noch  die  auf  ihnen  lastende  Grundsteuer  bezahlt.  Jetzt 
sollen  sie  von  der  Grundsteuer  befreit  und  von  der  sie  er- 
setzenden Vermögenssteuer  auch  nicht  getroffen  werden. 

Aber  nicht  blos  für  die  „ertraglosen“  Vermögen, 
sondern  auch  für  die  ertragbringenden  besteht  ein  prakti- 
scher Unterschied  zwischen  den  beiden  Besteuerungs- 
formen. Die  Vermögenssteuer  trifft  alle  Vermögen  mit 
dem  gleichen  Satz,  die  Zuschlagssteuer  (wenn  wir  die 
Mehr-Steuer  auf  fundiertes  Einkommen  kurzweg  so  nennen 
wollen)  trifft  die  einen  mit  einem  höheren,  die  anderen  mit 
einem  niederen  Satze,  je  nachdem  das  daraus  fliessende 
Einkommen  höher  oder  niedriger  ist.  Dieser  Umstand, 
allgemein  betrachtet,  scheint  gerade  für  die  Zuschlagssteuer 
zu  sprechen;  allein  eine  Anzahl  spezieller  Fälle  nötigen 
dazu,  auch  aus  diesem  Unterschiede  einen  Grund  mehr  für 
die  Vermögenssteuer  zu  machen.  Ein  Kaufmann,  der  im 
Durchschnitt  der  letzten  drei  Jahre  keinen  Geschäftsgewinn 
erzielt  hat,  hat  kein  steuerpflichtiges  Einkommen  im  Sinne 
des  Gesetzes,  er  ist  für  das  folgende  Jahr  einkommensteuer- 
frei.  Bei  der  vorjährigen  Selbsteinschätzung  ist  es  vorge- 
kommen, dass  einer  der  reichsten  Bankiers  in  Frankfurt 


am  Main,  der  in  dem  bösen  Jahr  1891,  argentinischen  An- 
gedenkens, so  viel  verloren  hatte,  dass  der  vorangegangene 
Gewinn  dadurch  aufgewogen  wurde,  sich  zur  Einkommen- 
steuer mit  0,00  einschätzte.  Solche  Fälle  sind  gar  nicht  selten 
vorgekommen.  Wo  wirklich  Geschäftsgewinn  und  Geschäfts- 
verlust gegen  einander  aufgerechnet  sind  (und  nicht  etwa  als 
Geschäftsverlust  eingesetzt  ist,  was  thatsächlich  Vermögens- 
verlust war),  da  ist  dieses  Verfahren  vollkommen  legal; 
man  war  sich  auch  bei  Beratung  des  Gesetzes  dessen  be- 
wusst, dass  solche  Fälle  eintreten  können  und  sollen.  Nur 
Unverstand  oder  böser  Wille  kann  dem  reichen  Kaufmann, 
der  mit  Verlust  gearbeitet  hat,  einen  Vorwurf  daraus  machen, 
dass  er  denselben  in  seine  Durchschnittsberechnung  voll 
einbezieht.  Dennoch  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  es  unserm 
Rechtsgefühl  widerspricht,  wenn  reiche  Leute  keine 
Steuer  zahlen.  Hier  zeigt  sich  eben  deutlich,  dass  nach 
unserer  Anschauung  der  Vermögensbesitz  als  solcher  in 
gew  issem  Grade  zur  Steuer  verpflichtet.  Dieser  Anschauung 
aber  wird  nur  zum  Ausdruck  verholten  durch  eine  selb- 
ständige Vermögenssteuer,  nicht  durch  eine  Zuschlagssteuer, 
welche  fortfällt,  sobald  einmal  kein  Einkommen  vorhanden 
ist.  — Der  Millionär  ohne  Einkommen  ist  nur  das  krasseste, 
nicht  das  einzige  Beispiel  dieser  Art.  Das  häufigere  ist  der 
wohlhabende  Mann  mit  geringem  Einkommen.  Bei  der 
sonderbaren  Methode,  welche  das  Gesetz  für  die  Berechnung 
des  Einkommens  vorschreibt,  giebt  es  vielfach  die  Möglich- 
keit, die  Höhe  des  Einkommens  bedeutend  herabzudrücken. 
Gerade  zur  Zeit  der  vorjährigen  Selbsteinschätzung  lagen 
infolge  der  damaligen  Börsenverhältnisse  massenweis  Ka- 
pitalien, die  sonst  in  hohen  Dividendenpapieren  angelegt 
waren,  in  den  Tresors  der  Banken  als  „tägliche  Gelder“ 
mit  1%  Ertrag.  Die  „Ausführungsanweisung“  des  Ministers 
schien  dazu  aufzufordern,  diese  Einkommen  nach  ihrem 
augenblicklichen  Stande  zu  deklariren.  Nun  mache 
man  die  Rechnung:  100  000  Mark,  deponiert  zu  1%, 

ergiebt  ein  rechnungsmässiges  „Einkommen“  von  1000  Mark. 
Auf  dieses  eine  „Zuschlagssteuer“  von  I ’/4  pCt.  giebt 
I 2,5  M.  Dies  auf  das  Kapital  zurückberechnet,  ergiebt  den 
Satz  von  0,125  pro  Mille  (statt  0,5  pro  Mille!)  — Da  es  übri- 
gens ein  offenes  Geheimniss  ist,  dass  solche  Kapitalsanlagen 
nicht  nur  zufällig  vorkamen , sondern  auch  absichtlich  für 
die  Zeit  der  Steuerveranlagung  vorgenommen  wuirden,  so 
muss  es  geradezu  als  eine  Aufgabe  der  Vermögenssteuer 
bezeichnet  werden,  ein  Korrektiv  dagegen  zu  bilden;  eine 
Aufgabe,  deren  Erfüllung  vereitelt  wird,  wenn  man  auch 
die  Besteuerung  des  Vermögens  an  das  Einkommen 
knüpft,  dessen  Berechnung  gerade  korrigirt  werden  soll.  — 
Diese  Gründe  scheinen  mir  wichtiger  zu  sein,  als  die  um- 
gekehrte Möglichkeit,  im  Wege  der  Zuschlagssteuer  solche 
Erträge  desto  ergiebiger  zu  fassen.  W er  dies  will,  kann 
seinen  Zweck  viel  einfacher  durch  eine  progressive  Ein- 
kommensteuer erreichen.  Es  hat  einen  Sinn,  hohe  Erträge 
zu  besteuern,  weil  sie  hoch  sind;  es  hat  auch  einen  Sinn, 
sie  zu  besteuern,  weil  sie  auf  Vermögen  beruhen.  Die 
Vermengung  beider  Gesichtspunkte  aber  v'irkt  verwirrend. 
Es  gehört  zu  den  weitverbreiteten  Irrthümern  unserer  Zeit, 
dass  die  grössten  Gewinne  aus  blossem  Kapitalbesitz 
fliessen.  An  den  Spekulationsgewinnen  z.  B.  ist  das 
Staunendste  gerade,  dass  sie  häufig  mit  so  geringen  Ka- 
pitalien in  blitzschnellem  Umsatz  erzielt  werden.  Im  \\  ege 
einerSteuer  auf  fundirtes  Einkommen  gerade  die  grossen 
Gewinne  treffen  zu  wollen,  ist  ein  vergebliches  und  irre- 
führendes Bemühen. 

Ein  dritter  praktischer  Unterschied  rindet  in  Bezug 
auf  solche  Einkommen  statt,  wrelche  theils  fundiert,  theils 
nicht  fundiert  sind.  Wer  sein  eigenes  Gut  bebaut,  wer 
mit  eigenem  Kapital  eine  Fabrik  betreibt,  der  verdankt 
sein  Einkommen  sowohl  seinem  Vermögensbesitz,  als  seiner 


No.  15. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


175 


Arbeit.  Indem  die  Einkommensteuer  sein  ganzes  Ein- 
kommen trifft,  die  Vermögenssteuer  sein  ganzes  Vermögen, 
sind  die  beiden  Steuerobjekte  mit  genügender  Klarheit 
erfasst.  Wie  aber  eine  Steuer  auf  fundiertes  Einkommen 
ein  solches  gemischtes  Einkommen  so  erfassen  soll,  dass  es 
gerade  in  dem  Verhältniss  des  Kapitalanteils  mehr  be- 
lastet werde,  das  hat  noch  Niemand  ergründet;  entweder 
wird  die  Normirung  ganz  willkürlich  vorgenommen  (und 
dies  scheint  in  dem  Entwurf  der  Subkornmission  der  Fall 
zu  sein,  welche  einfach  nach  der  Höhe  des  Einkommens, 
statt  nach  der  Höhe  des  Kapitalanteils  den  Steuerfuss 
sinken  lässt),  oder  man  gelangt  auf  Umwegen  schliesslich 
doch  zu  der  Vermögenssteuer,  die  man  vermeiden  will. 

Man  muss  sich  klar  machen,  welches  der  Grund  der 
Vermögenssteuer  ist.  Der  Grund  dieser  Steuer  ist  nicht 
das  Einkommen,  das  Jemand  aus  dem  Vermögen  bezieht, 
sondern  der  Besitz  des  Vermögens  selbst.  Alle  Gründe,» 
welche  für  eine  Steuer  auf  das  Einkommen  sprechen, 
lassen  sich  auch  für  eine  Steuer  auf  das  Vermögen  geltend 
machen,  — nur  allerdings  in  bedeutend  geringerem  Maasse 
und  in  bedeutend  gesteigerter  Verschiedenartigkeit.  Diesen 
beiden  Unterschieden  aber  trägt  die  vorgeschlagene  Ver- 
mögenssteuer genügend  Rücksicht,  indem  sie  sich  mit  einer 
sehr  geringen  Quote  ( ‘/2  pro  Mille)  begnügt.  Die  „Vossische 
Zeitung“,  welche  gegenüber  der  Vermögenssteuer  zu  An- 
fang eine  nicht  unbedingt  ablehnende  Haltung  einnahm, 
schrieb  kürzlich:  „Wir  behaupten  keineswegs,  dass  die  "Ver- 
mögenssteuer unter  allen  Umständen  eine  verwerfliche 
Steuer  ist;  aber  das  Nebeneinanderbestehen  von  Ein- 
kommensteuer und  Vermögenssteuer  ist  unerträglich.“ 
Dieses  Argument  mag  auf  den  ersten  Blick  etwas  Packendes 
haben  : die  Steuergeschichte  hat  aber  überall  das  Gegen- 
theil  gelehrt.  Wo  eine  Vermögenssteuer  ohne  Einkommen- 
steuer daneben  bestand,  nahmen  die  Sätze  der  Vermögens- 
steuer schnell  eine  solche  Höhe  an,  dass  die  Steuer  geradezu 
unerträglich  wurde  und  man  zu  einer  Einkommensteuer 
übergehen  musste,  welche  genauere  Abstufungen  und 
Unterscheidungen  ermöglichte.  Gerade  diesen  isolirten 
Vermögenssteuern  hat  die  Vermögenssteuer  als  solche  zu 
verdanken,  dass  sie  in  Misskredit  gerathen  ist.  Die  Ver- 
mögenssteuer statt  der  Einkommensteuer  hat  abgewirth- 
schaftet;  hingegen  neben  einer  Einkommensteuer  als 
Hauptsteuer  hat  eine  mässige  Vermögenssteuer  noch  Aus- 
sicht auf  grosse  Wirksamkeit  in  der  Finanz  Verfassung  der  1 
europäischen  Völker. 

Für  verschiedene  Steuerzwecke  soll  man  sich  ver- 
schiedener Steuerformen  bedienen.  Dies  ist  eine  Forderung, 
die  im  Interesse  der  Einfachheit  und  Klarheit  jeder  einzelnen 
Steuertorm  unerlässlich  ist.  Gerade  die  italienische  Fun- 
kommensteuer, auf  welche  man  sich  gegenwärtig  berufen 
will,  liefert  den  besten  Beweis  dafür,  wohin  man  schliess- 
lich geräth,  wenn  man  alle  Nüancen,  welche  die  Ver- 
schiedenheit der  Steuerzwecke  erfordert,  in  das  System 
einer  Steuer  hineinzwängen  will.  Die  italienische  Ein- 
kommensteuer ist  auf  einen  Steuerfuss  von  12  pCt.  ge- 
gründet. Die  Einkommen  zerfallen  aber  in  verschiedene 
Kategorien,  welche  verschieden  herangezogen  werden: 
a)  die  Kapitalsanlage  mit  ihrem  vollen  Betrage;  b)  Handel, 
Gewerbe  etc.  mit  6/$;  c)  Löhne  mit  5/s;  d)  Gehälter  der 
Staats-  und  Gemeindebeamten  mit  Vs  etc.  Ausserdem  aber 
werden  noch  verschiedene  Ermässigungen  nach  der  Höhe 
des  Einkommens  gewährt.  Diese  Ermässigungen  betragen 
z.  B.  in  den  Kategorien  b und  c bei  Einkommen  von  401 
bis  500  Lire  Abzug  von  250  Lire,  bei  501 — 600  Lire  Abzug 
von  200  Lire  etc.,  in  Kategorie  d Steuerfreiheit  der  Ein- 
kommen unter  400  Lire,  ln  anderen  Kategorien  sind  wieder 
andere  Befreiungen  normirt.  Andrerseits  kennt  das  italie- 
nische Finanzgesetz  wieder  Zuschläge.  Das  ganze  System 


ist  so  komplizirt,  dass  es  den  Eingeschätzten  förmlich  zu 
Beschwerden  herausfordert.  Denn  je  verwickelter  die  Be- 
stimmungen eines  Steuergesetzes  sind,  desto  eher  neigt  der 
Steuerpflichtige  dazu,  sich  in  irgend  einer  Beziehung  für 
ungerecht  behandelt  zu  halten;  die  Veranlagungsbehörden 
werden  gedrängt,  gar  zu  glimpflich  einzuschätzen.  Die 
Gesetzgebung  sieht  sich  genöthigt,  mit  der  Thatsache  zu 
rechnen,  dass  durch  die  weiten  Maschen  der  Einschätzungs- 
kategorien ein  Theil  der  Einkommen  hindurchschlüpft,  und 
setzt  aut  den  Rest  einen  übertrieben  hohen  Steuerfuss.  Das 
sind  überall  die  Folgen  komplizirter  Steuergesetze.  Es 
giebt  zwei  Pole  der  Steuerveranlagung:  Aufstellung  all- 
gemeiner Grundsätze  und  Berücksichtigung  der  einzelnen 
Individualität.  Wer  zwischen  diesen  beiden  sich  hindurch- 
zuwinden sucht  durch  Aufstellung  eines  von  Gesetzes- 
wegen geltenden  Gefächers,  in  welches  angeblich  alle 
Verhältnisse  des  praktischen  Lebens  untergebracht  werden 
können,  erreicht  das  Gegentheil  von  dem,  was  er  will. 
Mit  diesen  Unterscheidungen  erhöht  er  nicht  das  Gefühl 
gerechter  Behandlung,  sondern  vermindert  es. 

Im  Interesse  der  preussischen  Finanzen  ist  dringend 
zu  wünschen,  dass  die  Regierung  an  ihren  ursprünglichen 
Plan  einer  Vermögenssteuer  festhalte.  Gegenüber  den 
vielen  Bedenken  vom  Standpunkte  des  Steuerzahlers  sind 
die  Vorzüge  der  Steuer  vom  Standpunkt  des  Staates  in  den 
Vordergrund  zu  stellen.  Das  Vermögen  ist  das  breiteste 
Objekt,  welches  einer  Steuer  sich  darbieten  kann.  Schon 
aus  diesem  Grunde  darf  die  Steuerverfassung  grosser  Staaten 
dieses  Objekt  auf  die  Dauer  nicht  ausser  Acht  lassen.  Aus 
demselben  Grunde  ist  ein  Ueberblick  über  die  Gruppirung 
und  Vertheilung  der  Vermögen  nicht  nur  im  Interesse  der 
staatlichen  Finanzen,  sondern  im  Interesse  unserer  ge- 
sammten  Wirthschaftspolitik  wünschenswerth,  ja  geradezu 
unerlässlich.  Keine  Steuer  ist  ferner  so  geeignet,  den  Be- 
sitzenden das  Gefühl  für  die  Pflichten  vor  Augen  zu  halten, 
welche  ihnen  der  Besitz  auferlegt,  als  gerade  eine  Steuer, 
die  das  Besitzthum  als  solches  zum  Steuerobjekt  wählt. 
Der  Philosoph  Albert  Lange  hat  einmal  mit  Bedauern  er- 
zählt, dass  er  in  einer  wohlhabenden  Familie  den  Aus- 
spruch gethan,  „Reichthum  ist  ein  Amt“,  und  den  Ge- 
sichtern angemerkt  habe,  dass  er  nicht  verstanden  worden 
sei.  Darin  liegt  die  grosse  moralische  Bedeutung  einer 
Vermögenssteuer,  dass  sie  den  Vermögenden  zum  Bewusst- 
sein bringt,  wie  das  Besitzthum  als  solches,  ohne  Rücksicht 
darauf,  ob  es  viel  Einkommen,  wenig  oder  selbst  gar  keins 
gewährt,  ihnen  Pflichten  gegen  das  Gemeinwesen  auferlegt. 

Behält  die  Regierung  dieses  Ziel  im  Auge,  besteht  sie 
darauf,  dass  das  Objekt  der  geplanten  „Ergänzungssteuer“ 
das  Vermögen  als  solches  bleiben  solle,  so  wird  es  unter 
unseren  parlamentarischen  Verhältnissen  klug  gehandelt 
sein,  die  einzelnen  Forderungen  der  Subkommission  auf 
die  Vermögenssteuer  zu  übertragen,  soweit  es  irgend  mög- 
lich ist. 

Da  ist  zunächst  die  Schonung  der  kleinen  Rentiers. 
Die  Subkommissionsvorschläge,  die  „Zuschlagssteuer“  erst 
bei  Einkommen  in  der  Höhe  von  2100  oder  3000  M.  ein- 
treten  zu  lassen,  gehen  ziemlich  weit  über  die  Regierungs- 
vorlage hinaus;  die  Forderung,  dass  die  „Zuschlagssteuer“ 
mindestens  um  2 M.  hinter  der  Einkommensteuer  Zurück- 
bleiben müsse,  ist  ganz  neu.  Ich  kann  diesen  Bestrebungen 
im  Prinzip  nicht  zustimmen.  Die  bekannte  V ittwe,  die 
ein  Einkommen  von  1200  Mark  aus  einem  ererbten  Kapital 
von  30  000  M.  bezieht,  erscheint  sehr  schonungsbedürftig, 
wenn  man  sie  mit  dem  ersten  besten  Millionär  vergleicht. 
Wenn  aber  eine  allgemeine  Vermögenssteuer  eingeführt 
wird,  so  muss  man  diese  Wittwe  nicht  mit  einem  Millionär 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  15. 


vergleichen,  sondern  mit  einer  andern  Wittwe,  welche 
1200  M.  durch  ihre  Nadel  verdient.  Erkennt  man  das  Ver- 
mögen als  Steuerquelle  an,  so  sehe  ich  weder  theoretische, 
noch  praktische  Gründe,  welche  dafür  sprächen,  diese 
beiden  Wittwen  in  steuertechnischer  Beziehung  einander 
gleich  zu  stellen.  — Auch  die  Furcht  davor,  dass  in  den 
niederen  Stufen  die  Ergänzungs-  oder  Zuschlagssteuer 
einen  höheren  Betrag  ausmachen  werde  als  die  Haupt- 
steuer, kann  ich  nicht  theilen.  Es  ist  richtig,  dass  eine 
Vermögenssteuer  von  l/a  pro  Mille  ein  Vermögen  von 
30  000  M.  mit  15  M.  Ergänzungssteuer  trifft,  während  die 
Einkommensteuer  auf  das  daraus  fliessende  Einkommen 
von  1200  Mk.  nur  9 Mk.  beträgt.  Bei  einem  Vermögen  von 
2 Millionen  Mark  hingegen  würde  die  Vermögenssteuer  im 
Betrage  von  1000  M.  zu  einer  Einkommensteuer  von  etwa 
3000  M.  hinzukommen.  Man  hat  auf  Grund  dessen  ausge- 
rechnet, dass  bei  jenen  kleinen  Vermögen  die  Vermögens- 
steuer mehr  als  das  Anderthalbfache  der  Einkommensteuer 
ausmachen  würde,  bei  diesem  grossen  hingegen  nur  etwa 
den  dritten  Theil,  und  hat  die  Vermögssteuer  angeklagt 
als  eine  Steuer,  welche  im  Verhältnis  zur  Einkommensteuer 
desto  grösser  sei,  je  kleiner  das  Vermögen.  Alles  dieses 
hat  nur  den  Schein  der  Berechtigung  für  sich.  Bei  Be- 
ratlnmg  des  preussischen  Einkommensteuergesetzes  war 
man  über  den  Mangel  einer  Unterscheidung  zwischen 
fundirten  und  unfundirten  Einkommen  einig.  Um 
diesen  Mangel  nicht  zu  schwer  drücken  zu  lassen, 
hat  man  sich  zunächst  damit  begnügt , die  niederen 
Einkommensteuerstufen , welche  i n d er  Regel  auf 
unfundirtes  Einkommen  fallen,  stark  herabzusetzen.  Dieser 
Vortheil  der  niedrigeren  .Steuer  ist  den  Eenteneinkonunen 
dieser  Stufen  nur  per  nefas  zu  Gute  gekommen.  Wenn 
jetzt  die  Vermögenssteuer  bei  ihnen  im  Verhältnis  zur 
Einkommensteuer  abnorm  hoch  erscheint,  so  liegt  dies 
nicht  daran,  dass  ihre  Vermögenssteuer  zu  hoch,  sondern 
dass  ihre  Einkommensteuer  zu  niedrig  ist.  Ich  stehe  in 
dieser  Beziehung  vollständig  auf  dem  Standpunkte  des 
Regierungsentwurfs  und  gehe  sogar  noch  über  denselben 
hinaus.  Trotzdem  halte  ich  es  aber  für  möglich,  in  diesem 
Punkte  nachzugeben.  Wir  haben  bei  Berathung  der  Erb- 
schaftssteuer böse  Erfahrungen  darin  gemacht,  wenn  man 
dem  Parlamente  in  der  Schonung  der  kleinen  Vermögen 
einen  Vorwand  dafür  in  die  Hand  giebt,  auch  die  grossen 
ungeschoren  zu  lassen.  Falls  die  Kommission  sich  die 
Vorschläge  der  Subkommission  aneignet,  so  wäre  es  im 
Interesse  der  Vermögenssteuer  wiinschenswerth , dass  die 
Regierung  die  Milderungen,  welche  die  Kommission  bei 
der  Besteuerung  des  fundirten  Einkommens  zu  Gunsten 
der  niederen  Stufen  vorgeschlagen  hat,  einfach  auf  die 
V ermögenssteuer  übertrage. 

Eine  zweite  Milderung  in  den  Subkommissionsvor- 
schlägen  enthält  die  Vorschrift,  dass  bei  offenbar  zu  starker 
Belastung  des  Steuerpflichtigen  die  Herabsetzung  um  1 — 10 
Stufen  zulässig  sein  solle.  Diese  Vorschrift  steht  in  der 
preussischen  Steuerverfassung  ziemlich  vereinzelt  da.  Die 
Einkommensteuer  kennt  nur  eine  Herabsetzung  um  höchstens 
drei  Stufen  und  auch  diese  nur  aus  besonderen  Gründen. 
Die  Kommission  ist  offenbar  in  Angst  davor  gewesen,  dass 
nach  dieser  Definition  zuweilen  ein  Einkommen  als  fundirt 
bezeichnet  werden  müsste,  welches  thatsächlich  sehr  wenig 
fundirt  sei.  Man  mag  über  diese  Befürchtung  denken,  wie 
man  wolle,  eine  weitgehende  Schonung  des  Steuerpflichtigen 
aus  individuellen  Gründen  ist  aber  an  und  für  sich  bei  allen 
Steuern  wünschenswerth.  Es  ist  ein  grosser  Mangel  unserer 
heutigen  Steuerverfassung,  dass  sie  der  Berücksichtigung 
individueller  Gründe  so  enge  Schranken  zieht.  Es  mag 
sich  sonderbar  ausnehmen,  dass  dieses  Feingefühl  des 
Gesetzgebers  gerade  zum  Durchbruch  kommt,  wo  es  sich 


um  die  Besteuerung  von  Vermögenseinkünften  handelt; 
indess  dies  ist  kein  Grund,  die  an  und  für  sich  berechtigte 
Forderung  abzulelmen.  Auch  diese  Forderung  kann  auf 
die  Vermögenssteuer  übertragen,  es  kann  bestimmt  werden, 
dass  aus  individuellen  Gründen  die  Vermögenssteuer  um 
einen  bestimmten  Satz  nach  Ermessen  der  Behörde  ermässigt 
werden  darf. 

Endlich  handelt  es  sich  noch  um  einen  Punkt,  welcher 
mehr  als  die  vorangegangenen  ein  Kardinalpunkt  ist.  Die 
Vorschläge  der  Subkommission  lassen  es  bei  der  heute  be- 
stehenden Erklärungspflicht  bewenden  und  umgehen  auf 
diese  Art  die  von  der  Regierung  vorgeschlagene  Verpflich- 
tung jedes  Einzelnen,  nicht  blos  wie  bisher  sein  Einkommen, 
sondern  ausserdem  auch  noch  sein  Vermögen  zu  deklariren. 
Dies  ist  der  eigentliche  Sitz  des  Widerstandes  im  Kampfe 
gegen  die  Vermögenssteuer.  Namentlich  die  Handels-  und 
gewerbtreibenden  Kreise  scheuen  sich,  im  Interesse  ihres 
Kredits,  vor  einer  Offenbarung  ihres  wechselnden  Ver- 
mögensstandes weit  mehr,  als  vor  der  Offenbarung  des 
jährlichen  Gewinnes.  Selbst  die  Hauptkommission  des  Ab- 
geordnetenhauses in  ihrer  hypothetischen  Berathung  des 
Regierungsentwurfs  hat  doch  sofort  die  obligatorische  Ver- 
mögensanzeige gestrichen.  Nun  ist  allerdings  richtig,  dass 
eine  Vermögenssteuer  ohne  Deklarationspflicht  ein  etwas 
stumpfes  Schwert  ist.  Dennoch  sollte  die  Regierung  das 
Ziel  im  Auge  behalten,  durch  Nachgiebigkeit  in  diesem 
Punkte  die  Form  der  Vermögenssteuer  zu  retten.  Es  hat 
ja  auch  gewisse  Bedenken,  Deklarationspflichten  einzu- 
führen, wenn  sie  bei  den  Deklaranten  unpopulär  sind.  Der 
Erklärungspflicht  bei  der  Einkommensteuer  ist  der  Bochumer 
Prozess  in  hohem  Masse  zu  Hilfe  gekommen.  Die  Beschä- 
mung über  die  dabei  aufgedeckten  Zustände  war  im  Lande 
so  gross,  dass  die  Deklarationspflicht  als  eine  Erlösung 
begrüsst  und  demgemäss  aufgenommen  wurde.  Wer  die 
früheren  preussischen  Zustände  kennt,  wird  zugeben  müssen, 
dass  die  Wahrhaftigkeit  der  Steuereinschätzungen  mit  dem 
Jahre  1892  einen  gewaltigen  Fortschritt  gemacht  hat.  So 
berechtigt  auch  die  Ausdehnung  dieser  Verpflichtung  auf 
die  Vermögensdeklaration  sein  mag,  man  könnte  doch,  wenn 
die  Vermögenssteuer  überhaupt  erreichbar  ist,  sich  an  diesem 
Erfolge  genug  sein  lassen  und  nun  sehen,  wie  man  von  dem 
festen  Punkte  aus,  den  man  in  der  Phnkommensdeklaration 
hat,  nach  und  nach  auf  eine  Kontrole  der  Vermögensein- 
schätzungen hinwirken  kann.  Hält  man  eine  politische  In- 
stitution an  sich  für  wünschenswerth,  so  kann  man  unter 
Umständen  auch  auf  ein  sehr  wesentliches  Mittel  verzichten, 
in  der  sicheren  Erwartung,  dass  die  Institution  einmal,  ins 
Leben  getreten,  in  irgend  einer  Form  sich  auch  die  Organe 
schaffen  werde,  um  lebensfähig  zu  bleiben.  Von  diesem 
Standpunkt  aus  wäre  es  wünschenswerth,  den  geplanten 
Schleichwegen  zur  Umgehung  der  Vermögenssteuer  eine 
ihrer  populärsten  Spitzen  dadurch  abzubrechen,  dass  auch 
die  Vermögenssteuer  unter  Verzicht  auf  die  Deklarations- 
pflicht für  annehmbar  erklärt  werde. 

Berlin.  J.  Jastrow. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 
statistik. 

Zur  Beschäftigung  von  Arbeitslosen.  Endlich  be- 
ginnen einige  städtische  Verwaltungen,  sich  angesichts  der 
Arbeitslosigkeit,  die  immer  weiter  um  sich  greift  und  immer 
gefahrdrohender  wird,  zu  Massnahmen  der  Abwehr  und  der 
Linderung  aufzuraffen.  So  haben,  wie  die  Frankfurter 
Zeitung  mittheilt,  Essen  und  Bochum  die  sofortige  Inangriff- 
nahme städtischer  Arbeiten  beschlossen.  In  Essen  sollen 


No.  15. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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Kläranlagen  und  Erdarbeiten  ausgeführt  werden;  in  Bochum 
ist  der  Bau  einer  städtischen  Schwimmanstalt  für  350  000 
Mark  beschlossen,  mit  dem  sofort  begonnen  werden  soll. 
Witten  hat  6000  Mark  aus  dem  Ueberschuss  der  Sparkasse 
ausgeschüttet,  für  die  Kanalisirungs-  und  Strassenbau- 
arbeiten  sowie  Wegeanlagen  und  Verschönerungen  her- 
gestellt werden  sollen.  Die  Summe  wird  in  ganz  kurzer 
Zeit  aufgebraucht  sein.  Düsseldorf  endlich  will  die  städti- 
schen Arbeiten  auf  dem  ehemaligen  Bahngelände  ohne 
Unterbrechung  fortsetzen  lassen  und  hofft  dadurch  der 
äussersten  Noth  für  einige  Wochen  steuern  zu  können. 

Cirkular  betr.  den  Ausschank  geistiger  Getränke  in 
Preussen.  Der  Minister  des  Innern  hat  unter  dem  II.  November 
1892  das  nachstehende  Zirkular,  betreffend  den  Ausschank 
geistiger  Getränke  oder  den  Verkauf  von  Branntwein  im  Wege 
des  Kleinhandels  durch  Konsumvereine  und  sonstige  Gesell- 
schaften, an  die  königlichen  Regierungspräsidenten  gerichtet: 

„Es  haben  sich  namentlich  in  neuester  Zeit  vielfach 
Konsumvereine  und  sonstige  Gesellschaften  gebildet,  welche 
wesentlich  den  Ausschank  geistiger  Getränke  oder  den  Verkauf 
von  Branntwein  im  Wege  des  Kleinhandels  an  ihre  Mitglieder 
bezwecken.  Ob  die  preussischen  Gerichte,  die  hierin  einen 
Gewerbebetrieb  bisher  nicht  erblickt  haben,  von  ihrer  Praxis 
abgehen  und  sich  der  Rechtsänsicht  des  Dresdener  Ober-Landes- 
gerichts anschliessen  möchten,  das  bei  eingetragenen  Genossen- 
schaften mit  Rücksicht  auf  deren  selbstständige  juristische 
Persönlichkeit  die  Merkmale  eines  konzessionspflichtigen 
Betriebes  als  vorhanden  erachtet,  erscheint  fraglich.  Jeden- 
falls aber  kann  angenommen  werden,  dass  in  einer  grossen 
Zahl  von  Fällen  die  Form  eines  Konsumvereins  oder 
einer  sonstigen  Gesellschaft  zu  den  vorgedachten  Zwecken 
nur  simulirt  ist  und  in  Wahrheit  ein  konzessionspflichtiger 
Schankwirthschaftsbetrieb  oder  Branntweinkleinhandel  des 
Lagerhalters,  Geschäftsführers,  Kastellans  u.  s.  w.  vorliegt,  dessen 
gesetzwidriges  Treiben  die  Mitglieder  häufig  noch  durch  Be- 
sorgung eines  billigen  Einkaufs  der  Getränke  in  seinem  Interesse 
oder  in  anderer  Weise  unterstützen.  Da  solche  Gesetzgebungen 
— durch  eine  nur  zum  Schein  vorgeschobene  Vereinsbildung 
an  vielen  Orten  zu  einer  ernsten  Gefahr  für  das  Volkswohl  zu 
werden  drohen,  ersuche  ich  Euer  Hochwohlgeboren  ergebenst, 
die  Aufmerksamkeit  der  Polizeibehörden  auf  die  in  Rede  stehen- 
den Vereine  besonders  hinzulenken.  Durch  sorgfältige  Ermitte- 
lungen ist  überall  der  Sachverhalt  möglichst  klarzustellen  und 
das  gesammte  Material,  falls  der  Verdacht  der  Simulation  sich 
begründen  lässt,  zur  Strafverfolgung  gegen  den  Lagerhalter  und 
die  etwa  mitschuldigen  Mitglieder  den  Staatsanwaltschaften  zu 
übergeben.  Seitens  der  letzteren  ist  nach  einer  Mittheilung  des 
Herrn  Justizministers  ein  nachdrückliches  Vorgehen  zu  er- 
warten.“ 

Eine  Reform  der  englischen  Armenpliege  mit  beson- 
derer Rücksicht  auf  die  Armenpflege  arbeitsunfähiger  alter 
Leute  wird  geplant.  Eine  k.  Kommission  ist  eingesetzt 
worden,  um  zu  untersuchen:  ,,ob  Veränderungen  in  dem 
jetzigen  System  der  Armenpflege  im  Interesse  arbeitsun- 
fähiger alter  Leute  zweckdienlich  wären,  oder  welche 
Hilfe  denselben  anderweitig  zu  Theil  werden  könne.“ 
Lord  Aberdare  wird  den  Vorsitz  führen.  Die  Verhand- 
lungen sollen  nicht  öffentlich  geführt  werden. 

Die  Zahl  der  Analphabeten  in  Italien  beträgt  immer 
noch  mehr  als  die  Hälfte  der  erwachsenen  Bevölkerung; 
1891  waren  von  100  Getrauten  50,10  Analphabeten  und 
zwar  59,00  Weiber,  41,04  Männer.  Immerhin  lässt  sich  eine 
stetige  Abnahme  des  Prozentsatzes  der  Analphabeten  kon- 
statiren;  innerhalb  der  letzten  10  Jahre  um  ca.  10  pCt.;  es 
betrug  die  Zahl  der  analphabetischen  Heirathskandidaten 
1881  noch  59,07  vom  100. 

Die  Pellagra  in  Italien,  bekanntlich  eine  der  furcht- 
barsten „sozialen“  Krankheiten,  d.  h.  Krankheiten,  die  durch 
soziale  Verhältnisse  entstehen,  ist  leider  wieder  hn  Zu- 
nehmen begriffen.  Während  die  Todesfälle,  als  deren 
Ursache  Pellagra  konstatirt  worden  ist,  bis  zum  Jahre  1889 
stetig  sich  vermindert  hatten  (1887  = 3688,  1888  = ,3483, 
1889  = 3113),  hat  sich  ihre  Zahl  seitdem  nicht  unbeträcht- 
lich vermehrt.  1890  starben  3691,  1891  gar  4288  Personen 
an  der  Pellagra.  Da  die  Pellagra  durch  den  Genuss  minder- 
werthigen,  verdorbenen  Reises  entsteht  und  die  Bevölke- 
rung zu  diesem  Nahrungsmittel  stets  nur  in  Ermangelung 
besserer  Speisen,  namentlich  des  Weizenbrodes,  sich  ge- 
zwungen sieht,  so  darf  die  Zunahme  der  Pellagra  mit  dem 
Steigen  der  Lebensmittelprei.se  in  Italien  während  der  letzten 
Jahre  in  Verbindung  gebracht  werden;  sie  ist  eine  der 
unmittelbarsten  Folgen  der  Agrarschutzzölle. 


Arbeiterzustände. 

Reichskommission  für  Arbeitsstatistik.  Nach  einer  Be- 
kanntmachung des  Reichskanzlers  im  „Reichsanzeiger“  ist  auf 
Grund  des  § 2 des  Regulativs  vom  1.  April  1892  vom  Reichs- 
tage an  Stelle  des  Abgeordneten  Schippel  der  Abgeordnete 
Molkenbuhr  zum  Mitgliede  der  Kommission  für  Arbeiterstatistik 
gewählt  worden. 

Ortsübliche  Tagelöhne  in  Deutschland.  Die  ortsüblichen 
Tagelöhne,  wie  sie  für  die  einzelnen  Kreise  und  Kreistheile 
Geltung  erlangt  haben,  sind  von  Amtswegen  veröffentlicht  wor- 
den. Die  Zusammenstellung  ist  am  24.  December  1892  abge- 
schlossen. Spätere  Abänderungen  der  bisherigen  Festsetzungen 
werden  gesammelt  und  alljährlich  einmal  je  nach  Bedürfnis* 
entweder  als  Nachträge  zur  ersten  Nachweisung  oder  in  Form 
einer  völlig  neuen  Zusammenstellung  veröffentlicht  werden.  Die 
veröffentlichten  Tagelöhne  zerfallen  in  vier  Klassen,  solche  für 
erwachsene  männliche  und  weibliche  Tagearbeiter  und  für  jugend- 
liche männliche  und  weibliche  Arbeiter,  d.  h.  für  solche  unter 
16  Jahren.  Nach  der  Novelle  zum  Krankenversicherungsgesetz 
ist  es  auch  gestattet,  die  Sätze  für  jugendliche  Arbeiter  getrennt 
für  solche  zwischen  vierzehn  und  sechzehn  und  für  Kinder  unter 
vierzehn  Jahren  vorzunehmen.  Von  dieser  Befugniss  ist  mehr- 
fach Gebrauch  gemacht,  so  für  den  Kreis  Ruppin,  für  den  Saal- 
kreis, den  Kreis  Neustadt  a.  R.,  für  einen  grossen  Theil  des 
Regierungsbezirks  Aachen,  für  verschiedene  bayerische  Bezirks- 
ämter, sächsische  Amtshauptmannschaften  und  für  den  ganzen 
Regierungsbezirk  Kassel,  ln  dem  letzteren  ist  der  Tagelohn  für 
Kinder  unter  vierzehn  Jahren  auf  66 2/3  Pf.  festgesetzt.  Was  die 
Höhe  der  Tagelohnsätze  betrifft,  so  ist  es  natürlich,  dass  sie  in 
den  grössten  Städten  und  in  den  Industriedistrikten  diejenigen 
auf  dem  flachen  Lande  überragen.  Berlin  weist  2,70  M.  für  er- 
wachsene männliche,  1,50  M.  für  weibliche,  1,30  für  jugendliche 
männliche  und  1 M.  für  weibliche  Arbeiter  auf,  Breslau  für  er- 
wachsene männliche  Arbeiter  2M.,  München  2,30  M.  Die  höchsten 
ortsüblichen  Tagelohnsätze  verzeichnen  die  Stadt  Hamburg,  der 
Stadtkreis  Altona,  Geestemünde,  sowie  Theile  des  Kreises  Keh- 
dingen  mit  3 M.  für  erwachsene  männliche  Arbeiter,  während 
die  niedrigsten  mit  0,90  M.  auf  dem  platten  Lande  der  Kreise 
Leobschütz  und  Lublinitz  im  Regierungsbezirk  Oppeln  Geltung 
haben. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Der  Bergarbeiterausstand  im  Saarrevier. 

Unter  dem  5.  Dezember  v.  Js.  legte  der  preussische 
Handelsminister  dem  Abgeordnetenhause  die  üblichen  „Nach- 
richten von  der  Verwaltung  der  preussischen  Staatsberg- 
werke, -Hütten  und  -Salinen  während  des  Etatsjahres  1891/92“ 
vor,  in  denen  es,  ebenfalls  im  herkömmlichen  Stil,  S.  22 
wörtlich  heisst:  „Die  wirthschaftliche  Lage  der  auf  den 
Staatswerken  beschäftigten  Arbeiter  war  im  Grossen  und 
Ganzen  eine  befriedigende  zu  nennen.  Und  am  29.  des- 
selben Monats  brach  ganz  plötzlich  ein  Ausstand  derselben 
staatlichen  Arbeiter  auf  den  Saarkolilengruben  aus,  der 
während  der  Niederschrift  dieser  Zeilen,  am  5.  Januar,  un- 
gefähr 21  000  Köpfe  der  fiskalischen  Saargrubenbelegschaft 
umfasst,  die  in  jenem  amtlichen  Nachweis  mit  28  831  Köpfen 
angegeben  ist.  Der  neue  Arbeiterausstand  auf  den  staat- 
lichen Kohlengruben  ist  also  noch  ausgedehnter,  als  der- 
jenige von  1889,  denn  damals  strikten  nach  offiziellen  An- 
gaben an  demjenigen  Tage,  der  das  Maximum  aufwies,  am 
28.  Mai  1889,  bloss  etwa  il  790  Arbeiter. 

Die  Lage  hat  sich  eben  seit  1889,  wo  die  Arbeitsver- 
hältnisse der  fiskalischen  Gruben  in  Preussen  zum  ersten 
Mal  von  der  öffentlichen  Meinung  mit  kritischem  Auge  be- 
trachtet wurden,  in  manchen  Beziehungen  geändert.  Man 
revidiite  damals  endlich  die  eigenthümliche  Arbeitsordnung 
vom  6.  August  1877  und  der  amtliche  „Bergmannfreund“ 
schrieb  zu  jener  Zeit,  dass  von  den  Bergleuten  „eine  ganze 
Reihe  der  weitgehendsten  Zugeständnisse  erreicht  worden“ 
seien,  ln  der  That  stellte  ja  auch  die  staatliche  Berg- 
arbeiterenquete im  Sommer  1 889  eine  Anzahl  recht  erheb- 
licher Missstände  auf  den  Staatsgruben  fest.  Aber  die 
praktischen  „Zugeständnisse“  waren  unkluger  Weise  so 
geringfügig,  dass  sie  materiell  wenig  änderten  und  den 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  15. 


Bergleuten  nur  zeigten,  dass  ihre  Bewegung  beachtet  wor- 
den war.  Dies  blieb  natürlich  nicht  ohne  Einfluss  auf  die 
Organisationsbestrebungen  der  Arbeiter.  Es  entstand  das 
erste  selbständige  Bergarbeiterblatt  im  Saarrevier  unter 
dem  Namen  „Schlägel  und  Eisen“.  Dasselbe  vertrat  die 
demokratische  Richtung  gegenüber  der  ultramontanen  Ar- 
beiterbewegung unter  der  Aegide  des  Centrums,  das 
zunächst  einen  grossen  '['heil  der  katholischen  Berg- 
leute für  sich  hatte.  Trotzdem  wusste  sich  der  neue  demo- 
kratische Rechtsschutzverein,  in  welchem  übrigens  auch 
ultramontane  Bergleute  zahlreich  vertreten  sind,  zu  be- 
haupten und  auszudehnen;  er  errichtete  sogar  einen  eigenen 
Saal  für  die  Bergleute  in  Bildstock,  der  anfangs  1892  voll- 
endet wurde.  Ein  Mitte  1892  vom  Centrum  geleiteter  Ver- 
such, die  allerdings  vielfach  ungeschickte  Leitung  des  Rechts- 
schutzvereins in  ultramontane  Hände  zu  bringen,  scheiterte 
an  der  Zähigkeit,  mit  welcher  die  Bergleute  doch  an  der 
radikaleren  Führung  testhielten.  Die  Saarbergleute  waren 
von  1889  an  auch  aut  den  nationalen  und  internationalen 
Bergmannskongressen  vertreten.  Massregelungen  der  Führer 
durch  die  fiskalische  Bergbehörde  mögen  auch  zur  Er- 
haltung der  Sympathie  der  Bergleute  für  die  demokratischen 
Leiter  beigetragen  haben.  Die  Arbeiteräusschüsse,  welche 
die  Bergbehörde  für  die  Saargruben  durch  Reglement  vom 
21.  Februar  1890  einführten , blieben  wegen  der  büreau- 
kratischen  Vorschriften  für  die  Wahl  derselben,  sowie  wegen 
ihrer  geringen  Machtbefugnisse  ganz  unpopulär.  Hierzu 
kamen  seit  Anfang  1892  mehrtache  Lohnherabsetzungen 
und  die  Einlegung  von  Feierschichten,  welche  die  Gruben- 
verwaltung vornahm,  nach  ihrer  Aussage  das  einzige  Mittel 
zur  Verhütung  grösserer  Arbeiterentlassungen.  Die  Ver- 
öffentlichung des  Entwurfes  einer  neuen  Arbeitsordnung, 
die  anfangs  November  auf  Grund  der  am  I.  Januar  1893 
in  Kratt  tretenden  Berggesetznovelle  ohne  jede  Vorberathung 
mit  den  Arbeitern  erfolgte,  rollte  dann  die  Diskussion  aller 
aut  das  Arbeitsverhältniss  bezüglichen  Fragen  wieder  auf, 
und  so  ist  es  eigentlich  die  Reform  des  preussisclien  Berg- 
gesetzes, deren  einseitige  parlamentarische  Verhandlung 
last  spurlos  am  Saarrevier  vorüberging,  die  in  ihren  prak- 
tischen Folgen  und  mit  ihren  sehr  wenig  arbeiterfreund- 
lichen Bestimmungen  den  letzten  Anstoss  zur  jetzigen  Be- 
wegung gegeben  hat,  — gerade  kein  glänzendes  Zeugniss 
tür  das  gesetzgeberische  Geschick,  mit  welcher  sie  vor- 
genommen wurde. 

Der  erste  Beschluss  dahin,  die  Einführung  der  neuen 
Arbeitsordnung  und  die  Nichtberücksichtigung  der  Arbeiter- 
wünsche mit  einem  Ausstand  zu  beantworten,  wurde  von 
einer  Versammlung  der  Saarbergleute  auf  Bildstock  am 
8.  Dezember  v.  Js.  gefasst.  Trotzdem  machte  die  staatliche 
Grubenverwaltung,  von  ganz  geringfügigen  Dingen  abge- 
sehen, gar  keine  Anstalten,  den  Wünschen  der  Arbeiter 
bezüglich  der  achtstündigen  Arbeitszeit,  der  Beseitigung  aller 
Lohnabzüge,  der  besseren  Regelung  der  Kündigungs-  und  Aus- 
trittsgründe u.  A.  m.  irgendwie  entgegenzukommen.  Für 
diesen  Fall  war  der  Ausstand  auf  den  1.  Januar  beschlossen 
und  von  den  Arbeitern  behauptet  worden,  dass  dies  von 
der  Verwaltung  als  Massenkündigung  anzusehen  sei.  Neben- 
bei cirkulirten  auf  allen  Gruben  Massenpetitionen  der  Berg- 
leute an  den  Handelsminister  wregen  Abänderung  der  Ar- 
beitsordnung. Dass  die  Leitung  des  Rechtsschutzvereins 
an  lonnellem  Geschick  und  an  taktischer  Fähigkeit  noch 
Manches  zu  wünschen  übrig  lässt,  zeigt  folgendes  Flugblatt, 
das  der  Führer  Warken  nach  dem  20.  Dezember  im  Revier 
verbreitete,  wohl  fortgerissen  vom  allgemeinen  Unwillen, 
denn  er  selbst  mit  seinem  Kollegen  Schillo  hatte  am  8.  De- 
zember noch  erklärt,  dass  er  gegen  den  Strike  sei: 

..Die  Zeit  zum  direkten  Handeln  ist  nun  gekommen  1 An 
Euch  liegt  es  nun,  oh  Ihr  zu  Grunde  gehen  wollt  oder  nicht. 
Darum  Mann  an  Mann,  Schulter  an  Schulter,  gekämpft  für  Deine 
Rechte  und  Deine  Familie,  die  Dir  Gott  gegeben,  für  deren 
Wohl  Du  christlich  und  moralisch  verpflichtet  bist,  Sorge  zu 
tragen.  Rüste  Dich  nun  zum  Kampfe  für  Wahrheit,  Freiheit, 
Pflicht  und  Recht!  Ueberlege  und  handle  danach.  Bleibe 
lieber  aus  den  Versammlungen  und  verrathe  Deine  Kameraden 
nicht  wie  Judas  der  Verräther.  Am  Mittwoch,  den  28.  Dezember, 
bekenne  nun  aufrichtig,  ob  Du  in  einen  Ausstand  eintreten 
willst  oder  nicht.  Die  Führer  wollen  den  Ausstand  nicht? 


E s w i r d d e n F ü h r e r n vorgeworfen,  sie  w ü r d e n n i c h t s 
für  die  Bergleute  thun.  Nun,  vorwärts!  Die  Behörde  giebt 
nichts  nach.  Entweder  um  Gras  — ! — ! — ! Balams  Esel  hat 
kein  Heu  gefressen,  sondern  nur  Gebackenes  und  Gebratenes. 
Gras  kann  unser  Magen  auch  nicht  vertragen.  Drei  Jahre 
arbeiten  wir  nun,  und  das  Resultat  ist:  — ! — ! — ! Strei  — - ! — ! — . 
Erkenne  nun  die  Macht,  Du  Bergmann,  Du  bist  die  Krone  der 
Arbeiter.  Wenn  Dein  starker  Arm  nicht  will,  dann  stehen  alle 
Räder  still.  Am  Mittwoch,  den  28.  Dezember,  Morgens  10  und 
Nachmittags  6 Uhr,  grosse  Versammlung  für  das  ganze  Saar- 
revier im  bergmännischen  Saale.  Alle  Bergleute,  Mann  an 
Mann,  Schulter  an  Schulter,  sollen  erscheinen  zur  Entscheidung. 
Betrachte  Deine  Gegner  alle.  Die  Führer  der  Bergleute.  Für 
Weihnachten  mussten  alle  Versammlungen  von  uns  ausgesetzt 
werden,  weil  alle  Führer  früher  das  Weihnachtsfest  hinter 
Schloss  und  Riegel  gefeiert  haben. 

Der  Vorsitzende:  gez.  Warken.“ 

Kurz  nach  Weihnachten,  am  28.  Dezember,  beschlossen 
nun  die  Bergleute  den  Ausstand  endgültig,  und  sie  setzten 
diesen  Beschluss  auch  sofort  am  nächsten  Morgen  in  die 
That  um.  Am  29.  Dezember  fehlten  von  den  28  831  Berg- 
leuten aller  Gruben  auf  etwa  der  Hälfte  der  Schächte 
3 — 1000  Mann.  Die  staatliche  Grubenverwaltung  glaubte 
vielleicht  durch  folgende  Bekanntmachung  die  Ausstands- 
bewegung  noch  hemmen  zu  können: 

„Mehrere  Bergarbeiterversammlungen  haben  gestern  einen 
allgemeinen  Arbeiterausstand  beschlossen.  Wir  warnen  auf  das 
ernstlichste  vor  einer  Arbeitseinstellung  und  werden  jedem 
.Strike versuch  in  der  bestimmtestenWei.se  entgegentreten.  Wer 
trotz  dieser  Warnung  die  Arbeit  niederlegt,  hat  die  Folgen 
seiner  Handlungsweise  sich  selbst  zuzuschreiben.  Saarbrücken, 
den  29.  Dezember  1892.  Königliche  Bergwerksdirektion. 

v.  Velsen.“ 

Die  Drohung  erwies  sich  jedoch  als  wirkungslos.  Am 
30.  Dezember  waren  bereits  die  Hälfte  aller  Bergleute,  etwa 
14  000,  ausständig,  am  4.  Januar  etwa  21000.  Es  striken 
also  beinahe  noch  einmal  soviel  Arbeiter  als  1889.  Die 
Strikenden  berufen  sich  auf  ihre  1889  vergeblich  geäusser- 
ten  Wünsche  und  erklären,  nicht  früher  die  Arbeit  auf- 
nehmen zu  wollen,  als  ihre  Führer  das  Signal  dazu  geben; 
diese  aber,  Warken  und  Schillo  sind  verhaftet.  Die  staat- 
liche Grubenverwaltung  verweigert  jede  Verhandlung  mit 
dem  Rechtsschutzverein  und  identiflzirt  sich  in  ihrem 
Saarbrücker  Organ  durchaus  mit  der  von  den  Arbeitern 
abgelehnten  Arbeitsordnung.  Militärische  und  behördliche 
Vorkehrungen,  sowie  ein  Erlass  des  trierer  Bischofs  mahnen 
die  Strikenden  zur  Ruhe,  die  wesentlich  auch  noch  nicht 
gestört  wurde.  Die  irrige  Annahme  der  Arbeiter  bezüglich 
ihrer  „Massenkündigung“  sucht  die  Grubenverwaltung  durch 
folgende  Bekanntmachung  zu  zerstreuen: 

„ln  den  beiden  am  Mittwoch  auf  dem  Bildstock  abgehal- 
tenen Bergarbeiter  - Versammlungen  ist  von  den  ehemaligen 
Bergleuten  Warken-Bildstock  und  Müller-Landsweiler  behauptet 
worden,  das  Strikekomitee  habe  bei  der  Bergwerksdirektion  für 
die  gesammten  Belegschaften  gekündigt.  Das  ist  eine  grobe 
Unwahrheit,  Wenn  auch  eine  derartige  Kündigung  ohne  jede 
Bedeutung  gewesen  wäre  und  an  der  Thatsache,  dass  die  Aus- 
ständigen sich  des  Kontraktbruches  schuldig  gemacht  haben, 
nichts  geändert  hätte,  so  stellen  wir  doch  zur  Aufklärung  un- 
serer Bergleute  hiermit  fest,  dass  uns  weder  von  Seiten  des 
Strikekomitees  noch  von  irgend  einer  anderen  Seite  eine  Kün- 
digung zugegangen  ist.“ 

So  steht  denn  einer  der  grössten  fiskalischen  Betriebe 
des  preussisclien  Staates  wiederum  in  einer  schweren  sozialen 
Krisis,  über  deren  Verlauf  regelmässig  weiter  zu  berichten 
sein  wird.  Da  den  Arbeitern  fast  keine  Mittel  zur  Ver- 
fügung stehen,  die  staatliche  Grubenverwaltung  aber  bei 
der  gegenwärtigen  Wirthschaftskrisis  unter  einem  kurzen 
Strike  geschäftlich  nicht  allzuschwer  leidet  und  durch  den- 
selben  eher  in  ihrem  Widerstand  gegen  die  Arbeiterwünsche 
bestärkt  zu  werden  scheint,  so  dürfte  der  unklug  begonnene 
Ausstand  für  die  Bergleute  ergebnisslos  verlauten.  Die 
moralische  und  sozialpolitische  Bilanz  der  Bewegung  wird 
freilich  kaum  zu  Gunsten  der  staatlichen  Verwaltung  aus- 
fallen.  — 


Die  Umgestaltung  der  deutschen  Buchdruckerorgani- 
sationen. Der  Vorstand  des  Unterstützungsvereins  Deut- 
scher Buchdrucker  erlässt  eine  Bekanntmachung,  aus 
welcher  folgendes  entnommen  sei:  „Mit  dem  31.  Dezember 


No.  15. 


SOZIALPOLITISCH!«  CKNTKAI.Rl.AT  1 


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dieses  Jahres  stellt  der  Unterstütze  tags  verein  Deutscher  Buch- 
drucker seine  Thätigkeit  ein  und  an  dessen  Stelle  tritt  der 
Verband  der  Deutschen  Buchdrucker.  Das  neue  Statut  so- 
wie die  Beschlüsse  des  Vorstandes  über  die  Leistungen  des 
Verbandes  gehen  den  Mitgliedern  demnächst  zu.  Betreffs 
der  Leistungen  an  reisende  und  konditionslose  Mitglieder 
am  Orte  bleibt  vorläufig  dieselbe  Karrenzzeit  und  die 
gleiche  Höhe  der  Unterstützung  wie  seither  im  Unter- 
stützungsverein Deutscher  Buchdrucker.  — Laut  Beschluss 
des  Vorstandes'  werden  den  dem  Verbände  beitretenden 
seitherigen  Mitgliedern  des  Unterstützungsvereins  Deutscher 
Buchdrucker  die  zu  letzterem  Vereine  geleisteten  Beiträge 
in  Bezug  auf  etwaige  Gewährung  von  Unterstützungen  in 
Anrechnung  gebracht.  Das  Eintrittsgeld  für  Neueintretende 
beträgt  I M.,  für  Wiedereintretende  2 M.  Der  Verband 
gewährt  ausserdem  Unterstützung  an  vorübergehend  er- 
werbsunfähige Mitglieder  vorläufig  in  Höhe  von  7 M.  pro 
Woche;  eine  eventuelle  baldige  Erhöhung  der  Unterstützung 
auf  10,50  M.  pro  Woche  unterliegt  noch  der  Erwägung. 
Die  Unterstützung  an  Erwerbsunfähige  wird  52  Wochen 
geleistet,  im  Sterbefalle  ein  Begräbnissgeld  von  50  resp. 
100  M.  Der  Verbandsbeitrag  ist  vorläufig  auf  80  Pf.  pro 
Woche  für  Arbeitende  und  20  Pf.  für  arbeitslose  und  vor- 
übergehend arbeitsunfähige  Mitglieder  festgesetzt.  Der 
Verband  der  Deutschen  Buchdrucker  beginnt  seine  Thätig- 
keit  in  einer  schweren  Zeit;  das  in  allen  Berufen  zu  Tage 
tretende  Elend  der  Arbeitslosigkeit  macht  sich  auch  in  der 
Kunst  Gutenbergs  geltend.  Leider  finden  wir  bei  unseren 
Prinzipalen  hierfür  kein  Verständiss;  das  Bestreben  der- 
selben geht  vielmehr  dahin,  durch  Erweiterung  der  Lehr- 
lingsskala die  Noth  noch  zu  vergrössern.  Dass  diesen  auf 
weitere  Verschlechterung  unserer  Lage  hinzielenden  Be- 
strebungen der  Prinzipale  nur  eine  starke  Organisation  ent- 
gegentreten kann,  dürfte  jedem  denkenden  Kollegen  klar 
sein.  Möge  daher  ein  jeder,  der  seine  Zeit  begriffen,  mit 
aller  Kraft  dahin  wirken,  dass  die  Lauen  aufgerüttelt  und 
sich  ihrer  Pflicht  bewusst  werden,  mitzuwirken  an  dem 
Ausbau  der  Gehilfenorganisation.  Durch  Gründung  gegne- 
rischer Gehilfenvereine  und  Kassen  wird  eine  Zersplitterung 
der  Gehilfenschaft  und  eine  grössere  Abhängigkeit  derselben 
von  der  Prinzipalität  beabsichtigt.  Kollegen!  Lasst  Euch 
nicht  irre  führen,  seid  jederzeit  eingedenk,  dass  Eure  Inter- 
essen naturgemäss  nur  gewahrt  sein  können  in  den  Reihen 
der  opferbereiten  Kollegenschaft!  im  Verbände  der  Deut- 
schen Buchdrucker!“ 

Ferner  trat  die  Central-Kranken-  und  Begrälmisskasse 
für  die  Mitglieder  des  Unterstützungsveins  Deutscher  Buch- 
drucker (E.  H.),  nachdem  die  ausserordentliche  Generalver- 
sammlung zu  Berlin  am  13.  November  1892  die  Auflösung 
der  Kasse  beschlossen  hat,  nunmehr  mit  dem  1.  Januar  1893 
in  Liquidation.  Laut  49  des  Statuts  und  unter  Zustim- 
mung der  erwähnten  Generalversammlung  wird  die  Ab- 
wicklung der  Geschäfte  durch  den  Vorstand  vollzogen.  Die 
Liquidation  der  Kasse  vollzieht  sich  in  folgender  Weise: 
Die  vorhandenen  Kranken  sowie  diejenigen  Mitglieder, 
welche  l)is  zum  31.  Dezember  1892,  Nachts  12  Uhr,  erkrankt 
sind,  werden  bis  zu  ihrer  Genesung  bezw.  Aussteuerung 
aus  dem  vorhandenen  Fonds  unterstützt.  Die  vom  ersten 
Januar  1893  ab  erkrankenden  Mitglieder  erhalten  aus  der 
Central-Krankenkasse  keine  Unterstützung  mehr  (für  die 
Mitglieder  des  Verbandes  tritt  letztere  ein).  Die  letzte 
Beitragsleistung  für  die  Central-Kranken-  und  Begräbniss- 
kasse  ist  am  Sonnabend,  den  31.  Dezember  1892  erfolgt. 


Unternehmerverbände. 


Der  Plan  eines  rheinisch -westfälischen 
Kohlenzechenkartells. 

Die  technische  Entwicklung  drängt  unaufhörlich  zum 
Ersatz  der  noch  ‘(.vorhandenen  zahlreichen  Einzelbetriebe 
durch  immer  weniger  Gross-  oder  Riesenbetriebe.  Auch 
die  Kohlengewinnung  in  Deutschland  kann  sich  dieser  Ent- 
wicklung nicht  entziehen.  Sie  ist  auf  drei  ziemlich  scharf 
abgegrenzte  Produktionsgebiete  vertheilt : auf  das  Saarrevier, 
wo  sämmtliche  Schächte  bereits  in  einer  Hand,  in  derjenigen 
des  preussischen  Staates  vereinigt  sind  und  der  Betrieb  sich 


seit  längerer  Zeit,  abgesehen  von  den  Einwirkungen  der 
Emanzipationsbestrebungen  der  30  000  Arbeiter,  einer  ge- 
wissen Stetigkeit  erfreut;  auf  das  schlesische  Kohlenrevier 
mit  rund  60  000  Arbeitern,  dessen  Absatz  bereits  der  Haupt- 
sache nach  in  den  ßüreaus  zweier  Berliner  Grosshandels- 
firmen centralisirt  ist;  endlich  auch  Rheinland- Westfalen, 
wo  130  000  Bergarbeiter  schaffen,  wo  aber  der  zersplitterte 
Einzelbetrieb  noch  ähnlich  vorherrscht,  wie  in  den  kleinen 
Nebenbezirken  der  deutschen  Kohlenproduktion  Halle- 
Clausthal,  Königreich  Sachsen  und  bayerische  Pfalz;  jedoch 
ist  auch  in  diesem  grössten  Kohlenrevier  Deutschlands  die 
Entwicklung  zum  Grossbetrieb  unverkennbar.  Die  Zechen- 
unternehmungen des  rheinisch-westfälischen  Kohlenreviers 
gingen  allein  zwischen  1874  und  1891  von  245  aut  173 
zurück,  während  ihre  Produktionsmenge  sich  verdoppelte, 
d.  h.  die  durchschnittliche  Produktion  einer  Zeche  von 
etwa  62  auf  fast  200  Tausend  Tonnen  wuchs.  Und  unter 
den  173  Zechen  sind  auch  bereits  25  bis  30  thatsächlicb 
mit  anderen  vereinigt.  Die  Konsolidation  und  Centralisation 
ist  also  auch  hier  im  vollen  Gange;  der  grosse  und  kapital- 
kräftige Betrieb  saugt  hier  um  so  eher  den  kleineren  und 
schwächeren  auf,  als  sich  im  Ruhrrevier  die  Sachen  be- 
sonders  „hart  im  Raume  stossen“;  dasselbe  vereinigt  jene 
Fülle  von  Schächten  auf  einem  Gebiet,  das  man  mit  der 
Eisenbahn  annähernd  in  einer  Stunde  durchfährt,  und  die 
zunehmende  technische  Schwierigkeit  und  Kostspieligkeit 
der  Kohlengewinnung,  die  mit  der  wachsenden  Tiefe  der 
Schächte  zusammenhängt,  begünstigt  ausserdem  die  Zu- 
sammenlegung. 

Neben  den  loseren  Interessentenvereinigungen  des 
rheinisch-westfälischen  Kohlenreviers  gehen  deshalb  schon 
seit  20  Jahren  mehr  oder  weniger  offene  Bestrebungen,  ein 
Kartell  zwischen  den  Kohlenproduzenten  des  Gebietes  zu 
Stande  zu  bringen.  In  seinen  „Studien  zur  rheinisch-west- 
fälischen Bergarbeiterbewegung“  (Schmollers  Jahrbuch  für 
Gesetzgebung  etc.,  Jahrgang  XIV,  Heft  2 u.  3)  giebt  Olden- 
burg eine  Uebersicht  dieser  Kartellirungsversuche , die  mit 
Kontingentirungsversuchen  begannen,  und  über  die  Be- 
nutzung der  Berggewerkschaftskasse  zur  Besteuerung  der 
Mehrproduktion  zu  dem  Projekt  eines  Kohlenverkaufs- 
kartells, sowie  eines  vollständigen  Trusts  führte.  Die 
neuesten  Bestrebungen,  über  welche  im  Nachfolgenden  zu 
berichten  ist,  knüpfen  an  den  vorletzten  Plan  an,  der  ein 
Lieblingsgedanke  des  langjährigen  Vorsitzenden  des  Vereins 
für  die  bergbaulichen  Interessen  des  Oberbergamtsbezirks 
Dortmund,  des  vom  1889er  Strike  her  bekannten  Abgeord- 
neten Dr.  Hammacher  war  und  den  der  Leiter  des  Essener 
Bergwerksvereins  König  Wilhelm,  Morebach,  bereits  1887 
in  einer  Broschüre  „Ueber  die  Bildung  einer  Handelsgesell- 
schaft zum  Zwecke  des  Ankaufs  und  Wiedervertriebs  der 
Kohlenproduktion  des  Oberbergamtsbezirks  Dortmund“ 
ausführte,  um  ihn  neuerdings  als  den  einzig  realisirbaren 
Plan  der  Kartellkommission  in  allen  Einzelheiten  ausge- 
arbeitet, vorzulegen.  1887  ging  der  Vorschlag  dahin,  dass 
eine  Handelsgesellschaft  mit  25  Millionen  Mark  Kapital, 
deren  Aktien  durch  ein  Berliner  Bankhaus  untergebracht 
werden  sollten,  die  ganze  Produktion  des  Ruhrgebietes  auf- 
kaufen und  zwar  80  Prozent  des  letztjährigen  Absatz- 
quantums  zu  den  letztjährigen  Preisen  jeder  Zeche,  den 
Ueberschuss  zu  fortschreitend  geringeren  Sätzen.  Am  Ge- 
winn nehmen  die  Zechen  zu  drei  Vierteln  Theil.  Für  das 
zweite  Geschäftsjahr  wurde  eine  Preissteigerung  von 
wenigstens  2,  für  das  dritte  von  wenigstens  4 Prozent  ver- 
sprochen. Als  unbedingte  Voraussetzung  wurde  die  I heil- 
nahme  von  90  Prozent  der  Zechen  betrachtet.  Der  damalige 
Misserfolg  des  Planes  erklärt  gleichzeitig  seine  jetzige 
Wiederaufnahme.  Alle  die  Gründe,  welche  damals  zu  seiner 
Verwerfung  führten,  sind  gegenwärtig  weggetallen  oder 
haben  erheblich  an  Beweiskraft  verloren.  Die  Kohlenpreise 
stiegen  von  1888  ab  und  schienen  mit  ihrer  Besserung  ein 
Kartell  ganz  überflüssig  zu  machen.  Seit  Ende  1890  sind 
sie  wieder  stellenweise  im  Weichen,  und  die  Zechenorgane 
veröffentlichen  neuestens  Beispiele  von  Preisunterbietung«! 
grosser  Zechen,  die  sie  mit  den  schärfsten  Ausdrücken  belegen. 
Das  grosse  Kartell  schien  1887/88  überflüssig  zu  werden 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  15. 


durch  die  Begründung  mehrerer  Sondervereinigungen,  einer 
Preiskonvention  der  Fettkohlenwerke  und  der  Flammkohlen- 
zechen,  eines  1890  reorganisirten  Ivokessyndikats,  endlich 
durch  das  Zustandekommen  der  Dortmunder,  Essener, 
Bochumer  und  Steele-Mühl  heirner  Verkaufsvereine.  Alle 
diese  Vereine  hatten  den  Vertrieb  der  Produkte  der  ihnen 
beigetretenen  Zechen  auf  eigene  Rechnung  übernommen. 
Sie  erreichten  jedoch  ebenfalls  nicht  die  ursprünglich  in 
Aussicht  genommene  Ausdehnung  und  vereinigten  sich 
daher  schliesslich  zur  sog.  „Zechengemeinschaft“,  welche 
die  Preise  für  die  einzelnen  Sorten,  sowie  die  Lieferungs- 
bedingungen feststellen  sollte,  gemeinschaftlich  behandeln 
sollte  sie  schon  nicht  mehr  alle,  sondern  nur  „geeignete“ 
Geschäfte.  Die  absteigende  Konjunktur  löste  jedoch  all- 
mählich auch  hier  wie  im  Ivokessyndikat  alle  Bande;  nur 
sehr  wenige  Zechen  halten  sich  noch  an  die  getroffenen 
Vereinbarungen,  und  aus  dieser  Deroute  heraus,  die  natür- 
lich mit  der  allgemeinen  wirthschaf fliehen  Krisis  im  engen 
Zusammenhang  steht,  entwickelten  sich  nun  seit  Mitte  1892 
die  neuesten  Versuche,  ein  allgemeines  Kartell  oder  Syndikat 
zu  Stande  zu  bringen,  das  man  in  Erinnerung  an  die  mittel- 
alterlichen Vereinigungen  der  Hansekaufleute  „Kontor“  zu 
taufen  vorgeschlagen  hat  — vielleicht  auch,  um  andere 
odiose  Benennungen  zu  vermeiden. 

Für  den  sozialpolitischen  Beobachter  wird  es  immer 
ein  anziehendes  Schauspiel  sein,  zu  beobachten,  wie  unter 
der  sinkenden  Herrschaft  des  individuellen  Einzelbetriebes 
die  geistigen  Führer  einer  Kohlenindustrie,  die  130  000  Ar- 
beiter beschäftigt,  beinahe  40  Millionen  Tonnen  im  fahre, 
also  rund  10  000  Doppelwagen  täglich  in  den  Verkehr  w irft 
und  dadurch  einen  täglichen  Umsatz  von  beinahe  eine 
Million  Mark  erzielt,  durch  die  Macht  der  Dinge  gezwungen 
worden,  einen  kollektivistischen  Betrieb  anzustreben,  der 
an  technischer  Grossartigkeit  seines  Gleichen  suchen  würde. 
Dabei  hängen  sich  aber  die  Reste  privatkapitalistischer 
Vorurtheile  und  Zustände  wie  Bleigewichte  an  die  Füsse 
der  Vorwärtsstrebenden  und  es  ist  ein  groteskes  Bild,  zu 
sehen,  wie  der  neue  Gedanke  noch  mit  den  alten  Formen 
ringt,  wie  Privatbetrieb  und  Privateigenthum  als  annoch 
geltende  Rechtsinstitutionen  und  der  Privateigennutz  als 
wirthschattliche  Folge  immer  wieder  den  genialsten  Plan 
durchqueren,  abgesehen  davon,  dass  dieser  Plan  selbst  seine 
privatkapitalistische  Spitze  gegen  den  ausser  der  Kohlen- 
industrie stehenden  Verbrauch  kehrt  : der  rheinisch-west- 
fälischen Kohlenförderung  eine  bevorzugte  Stellung  zu  er- 
ringen auf  Kosten  Anderer  im  Kampf  Alles  gegen  Alle. 
Seit  Juli  1892  liegt  der  im  Schoosse  des  bergbaulichen 
Vereins  gereifte  Vertragsentwurf  für  ein  „Kontor,“  eine 
Handelsgesellschaft  auf  Aktien  der  rheinisch-westfälischen 
Kohlenzechen  vor.  Immer  wieder  ist  der  Termin,  Iris  zu 
welchem  er  in  Kraft  treten  und  gegen  alle  nicht  beitreten- 
den Werke  der  Vernichtungskrieg  beginnen  sollte,  hinaus- 
geschoben worden,  neuestens  bis  Ende  Januar  1893.  In 
diesen  Monaten  des  Hangens  und  Bangeus  haben  auch 
bereits  namhafte  Zugeständnisse  an  mächtige  Privatinter- 
essenten im  Entwurf  gemacht  werden  müssen.  Anfänglich 
sollte  die  Förderung  des  Jahres  1891  massgebend  für 
die  Absatzbetheiligung  der  einzelnen  Zechen  sein; 
es  ist  zweifelhaft , ob  man  nach  Hinausschiebung 
des  Termins  bis  Januar  1893  daran  wird  festhalten  können; 
die  Zugrundelegung  der  Förderung  des  I.  Halbjahrs  1892 
wurde  bereits  wahlweise  gestattet.  Der  Grund  dafür,  dass 
die  zum  Beitritt  bereiten  Zechen  noch  immer  nicht  die  für 
nothwendig  gehaltenen  90  pCt.  der  rheinisch-westfälischen 
Gesammtförderung  vertreten,  wurzelt  im  privatkapitalisti- 
schen Misstrauen  der  Kleineren  gegen  die  Grösseren  - 
die  ersteren  fürchten  ihre  Selbständigkeit  durch  das  Kontor 
auf  immer  zu  verlieren;  es  wurzelt  aber  ebenso  in  dem 
privatkapitalistischen  Selbstbewusstsein  einiger  Grosser,  die 
wissen,  dass  sie  mit  der  Macht  ihres  Kapitals  und  ihrer 
technischen  Ausrüstung  auch  ohne  Kartell  die  Oberhand 
behalten  werden,  ohne  dass  sie  genöthigt  wären,  den  Inter- 
essen Anderer  auch  nur  das  Geringste  zu  opfern.  Da- 
zwischen stehen  diejenigen  Betriebe,  welche  Neuanlagen 
planen,  also  auf  der  kapitalistischen  Stufenleiter  noch  in 


die  Reihen  der  Grossen  und  Starken  vorzurücken  hoffen 
und  durch  die  Kartellirung  darin  gehemmt  zu  werden 
fürchten.  Ihnen  hat  man  bereits  das  Zugeständnis«  einer 
Sicherheit  für  die  Möglichkeit  ihrer  Ausdehnung  durch 
nachträgliche  Festsetzung  einer  vom  Kontor  garantirten 
Mindestforderung  machen  müssen.  Ebenso  stossen  sich 
manche  Zechen  an  der  1 0jährigen  Dauer,  die  der  Vertrag 
haben  soll,  und  plädiren  für  5 Jahre  — das  sind  keine 
Anzeichen  dafür,  dass  man  sich  eine  lange  Entsagung  im 
privatkapitalistischen  Kampfe  zutraut.  In  der  That  wurde 
bereits  vorgesehen,  dass  jede  Zeche  berechtigt  sein  soll, 
nach  5 Jahren  mit  semestrativer  Kündigung  zurückzutreten, 
falls  dann  die  ausserhalb  des  Kartells  stehende  Förderung 
15  pCt.  erreichen  sollte  — ein  Beweis  dafür,  dass  man  die 
10  pCt.  aussenstehender  Förderung  für  keine  geringe  Gefahr 
hält.  Man  kennt  also  von  vornherein  die  Richtigkeit  der 
Beobachtung,  die  Generaldirektor  Richter  von  der  Laura- 
hütte in  der  letzten  Hauptversammlung  der  Gesellschaft 
äusserte:  „Die  Verbände  gewähren  im  Allgemeinen  den 
Preisen  zwar  einen  gewissen  Schutz;  aber  sie  zeitigen 
neue  Anlagen;  diese  sind  die  schlimmsten  Feinde  der  Ver- 
bände, weil  dadurch  Zuvielerzeugung  und  Preisrückgänge 
entstehen“.  Man  hält  neue  Anlagen  und  Zuvielerzeugung 
nicht  einmal  in  einem  Kohlengebiete  für  ausgeschlossen, 
das  bereits  nahezu  monopolistisch  von  Unternehmungen 
besetzt  ist.  Nebenbei  werden  die  kaufmännischen  Leiter 
der  jetzt  noch  selbständig  betriebenen  Zechen  als  heftige 
Gegner  des  Planes  genannt,  weil  sie  den  Verlust  ihrer 
Existenz  fürchten;  man  hat  deshalb  bereits  vorgeschlagen, 
den  etwa  100  höheren  Beamten,  die  keine  Verwendung 
mehr  linden  würden,  Jahresrenten  aus  Mitteln  des  künftigen 
Kartells  auszusetzen.  Der  Plan  für  die  Organisation  des 
„Kontors“  ist  allerdings  grossartig  genug  angelegt,  um  noch 
einer  ganzen  Reihe  von  Direktoren  und  Beamten  Beschäfti- 
gung zu  bieten.  Unter  dem  aus  einem  Generaldirektor, 
einem  juristischen  Beirath  und  vier  kaufmännischen  Mit- 
gliedern bestehenden  Vorstandes  will  man  fünf  Haupt- 
abtheilungen bilden,  und  zwar  für  den  Kohlenverkaut, 
für  die  Rechnungsführung  mit  den  Zechen , für  die 
Frachttarife , für  die  Buchhalterei  und  Statistik , sowie 
für  Registratur  und  Statistik.  Die  Absatzgebiete 
würden  in  scharf  abgegrenzte  geographische  Betriebsbezirke 
getheilt  und  intensiv  bearbeitet  werden.  Die  Aufsicht  über 
die  Zechen  und  die  Herausgabe  gedruckter  Mittheilungen 
des  Kontors  gehörte  ebenfalls  zu  den  Obliegenheiten  der 
Leitung,  die  durch  häufige  Versammlungen  der  Kartellirten 
kontrollirt  würde.  Diese  centralistische  Organisation  würde 
eine  technische  Revolution  im  Kohlenhandel  herbeiführen, 
wie  sie  grossartiger  nicht  gedacht  werden  kann.  V as  die 
Preisfestsetzung  angeht,  so  soll  sie  dem  Vorstand  und  einem 
Beirath  überlassen  sein,  während  Produktionsbeschränkungen 
nur  durch  Beschluss  der  vertragschliessenden  Zechen  herbei- 
geführt werden  können  — ein  charakteristischer  Unter- 
schied! Und  trotz  der  Grossartigkeit  dieser  Pläne  kann 
die  letzte  offizielle  Kundgebung  der  Kartellkommission  vom 
16.  Dezember  v.  Js.  doch  nur  feststellen,  dass  erst  80  pCt., 
und  zwar  auf  Grundlage  der  eigentlich  nicht  recht  mehr 
massgebenden  Förderung  von  1891,  ihren  Beitritt  erklärt 
hätten;  die  nothwendigen  weiteren  10  pCt.,  und  darunter 
befinden  sich  eine  Anzahl  sehr  grosser  Werke,  fehlen  noch. 
Der  20.  Januar  wird  über  die  Anmeldungen  und  der  27.  Januar 
über  das  Kartell  entscheiden. 

Die  Industrie  und  die  Privatverbraucher  stehen  dem 
geplanten  „Kontor“  misstrauisch  gegenüber.  Sie  fürchten, 
dass  dasselbe  seine  Macht  zu  ungemessenen  Preissteige- 
rungen benutzen  wird,  und  diese  Befürchtung  dürfte  trotz 
aller  gegentheiligen  Versicherungen  von  kartelltreundlicher 
Seite  durchaus  begründet  sein.  Innerhalb  des  heutigen 
privatkapitalistischen  Wirthschattssystemes  muss  sich  ja  eine 
so  wichtige  Kapital  Vereinigung  zur  Ausbeutungsmaschine 
aus  wachsen;  wir  möchten  wissen,  welchen  Grund  sie  haben 
sollte,  von  dem  Prinzip  dieser  V irthschattsordnung  abzu- 
weichen, wenigstens  innerhalb  ihres  Machtgebietes.  An  den 
Grenzen  derselben  mag  sie  unter  dem  Druck  der  schlesi- 
schen und  Saarkonkurrenz  Zugeständnisse  machen;  im 


No.  15. 


SOZI  Al  .POLITISCHES  CENTRALBLATT. 


181 


Uebrigen  wird  sie  sich  eingestandenermassen  nicht  im 
Geringsten  bedenken,  in  das  Ausland  zu  Schleuderpreisen 
abzugeben,  um  ihren  inneren  Markt  mit  Hilfe  staatlicher 
Prohibitivtarife  desto  mehr  zu  tyrannisiren.  In  dem  billigen 
Verkehr  mit  dem  Ausland  liegt  ebenso  kapitalistisches 
System,  wie  in  Krupp’s  und  Loewe’s  Offerten  an  Frankreich. 
Und  der  „herrische,  rüde  Ton“,  der  dann  gegen  die  Ver- 
braucher im  geschäftlichen  Briefwechsel  nach  dem  viel 
getadelten  Muster  anderer  Kartelle  angeschlagen  werden 
kann,  gehört  ebenfalls  dazu.  Freilich  werden  auch  beim 
Scheitern  des  Kartells  mit  der  Zeit  einfach  die  grössten 
und  kräftigsten  Zechen  durch  fortlaufende  Konsolidationen 
dieselbe  Rolle  in  unserem  Wirthschafts.system  einnehmen, 
die  das  Kartell  eingenommen  hätte.  Es  giebt  eben  kein 
Ausweichen  mehr;  auf  dem  einen  oder  dem  anderen  Wege 
dringt  die  Entwicklung  zum  Kollektivismus,  und  wir  betonen 
dies  besonders  stark,  um  nicht  in  die  Rolle  derjenigen  zu 
verfallen,  die  da  glauben,  durch  Verhinderung  des  mächtigen 
Kohlenkartells  mehr  als  einen  ganz  vorübergehenden  Vor- 
theil für  die  individualistische  Produktion  retten  zu  können. 

Frankfurt  a.  Main.  Max  Ouarck. 


Handwerkerfragen. 


Gesetzentwurf  desCentrnnis  betr.  Reform  der  Gewerbe- 
ordnung. Der  Gesetzentwurf  des  Centrums,  betreffend  die 
Abänderung  der  Gewerbeordnung  für  das  Deutsche  Reich, 
enthält  Bestimmungen  I.  betreffs  der  Konsumvereine,  wonach 
die  Bestimmungen  der  Gewerbeordnung  bezüglich  der  Kon- 
zessionspflicht für  Gast-  und  Schankwirthschaften  und  den 
Kleinhandel  mit  Branntwein  auch  auf  die  Konsumvereine 
und  ähnliche  Genossenschaften  Anwendung  finden. 

II.  betreffs  des  Hausirhandels: 

1.  Der  Begriff  des  Hausirhandels  ist  verschärft,  indem  alle 
diejenigen,  welche  überhaupt  „auf  öffentlichen  Wegen,  Strassen, 
Plätzen  oder  an  anderen  öffentlichen  Orten  oder  ohne  vorgängige 
Bestellung  von  Haus  zu  Haus  Waaren  feilbieten  oder  Waren- 
bestellungen aufsuchen  oder  Waaren  bei  anderen  Personen  als 
bei  Kauf  leuten  zum  Wiederverkauf  ankaufen  oder  gewerbliche 
Leistungen  anbieten,“  den  Beschränkungen  für  den  Hausirhandel 
unterworfen  werden,  während  diese  bisher  nur  für  den  Hausir- 
handel über  den  Bereich  der  Gemeinde  hinaus  galten. 

2.  Vom  Hausirhandel  sollen  absolut  ausgeschlossen  sein: 
Cigarren  und  Tabak  (soweit  nicht  ausdrücklich  von  der  Polizei 
anders  bestimmt  wird),  Putzwaaren  und  Luxusartikel,  Öhren  aller 
Art  und  alle  Schriften,  welche  in  Lieferungen  erscheinen;  in  der 
Regel  sollen  ausgeschlossen  sein:  Kolonial-  und  Materialwaaren, 
Manufakturwaaren  und  Waaren,  welche  handwerksmässig  her- 
gestellt  werden,  soweit  sie  nicht  vom  Verkäufer  selbst  ange- 
fertigt sind. 

3.  Nicht  blos  bezüglich  der  Waaren,  sondern  auch  bezüg- 
lich der  Personen,  welche  einen  Hausirschein  erhalten  dürfen, 
sind  weitere  Beschränkungen  vorgesehen.  Vor  dem  25.  Lebens- 
jahre soll  in  der  Regel  Keiner  zum  Hausirhandel  zugelassen 
werden.  Ebenso  sollen  Frauenspersonen  nur  ganz  ausnahms- 
weise einen  Hausirschein  erhalten.  Wer  für  den  Unterhalt  seiner 
Frau  oder  seiner  Kinder  oder  für  den  Unterricht  der  letzteren 
nicht  genügend  sorgt,  soll  ebenfalls  keinen  Hausirschein  erhalten. 

4.  Während  bisher  der  ausgestellte  Hausirschein  für  das 
•ranze  Deutsche  Reich  Geltung  hatte,  soll  derselbe  jetzt  nur  für 
den  Bezirk  der  höheren  Verwaltungsbehörde  gelten,  für  welchen 
er  ausgestellt  respektive  ausgedehnt  ist.  Zudem  soll  die  Aus- 
stellung respektive  Ausdehnung  von  dem  Bedürfnisse  abhängen. 

5.  Dem  Hausirer  ist  es  verboten,  in  Ausübung  seines  Ge- 
werbes ohne  vorgängige  Erlaubniss  in  fremde  Wohnungen  ein- 
zutreten. 

6.  Das  Aufkäufen  oder  Aufsuchen  von  Bestellungen  auf 
Waaren  bei  Privaten  (Detailkreisen)  gilt  dem  Hausirhandel 
gleich. 

Der  Gesetzentwurf  will  jedoch  den  hergebrachten 
Gewerbebetrieb  im  bisherigen  Umfange  gestatten  den  An- 
gehörigen derjenigen  Gemeinden,  deren  Bewohner  zur  Ge- 
winnung ihres  Lebensunterhalts  auf  einen  Gewerbebetrieb 
im  Umherziehen  angewiesen  sind.  Der  Bundesrath  soll 
hierüber  nähere  Bestimmungen  treffen. 


III.  Betreffs  der  Abzahlungsgeschäfte  wird  folgende 
Bestimmung  getroffen : 

Wer  gewerbsmässig  bei  der  Veräusserung  von  Waaren 
gegen  ratenweise  Bezahlung  den  Leichtsinn  oder  die  Uner- 
fahrenheit des  Erwerbers  dadurch  ausbeutet,  dass  er  diesen  zu 
Anschaffungen  beredet,  welche  den  wirthschaftlichen  Verhält- 
nissen desselben  offenbar  nicht  entsprechen,  oder  dass  er  sich 
oder  einem  Dritten  Gegenleistungen  versprechen  oder  gewähren 
lässt,  welche  zu  dem  Werth  der  veräusserten  Waaren  in  auf- 
fälligem Missverhältnisse  stehen,  wird  mit  Gefängniss  bis  zu 
6 Monaten  und  zugleich  mit  Geldstrafe  bis  zu  2000  M.  bestraft. 

Gegen  Reklameanzeigen  richtet  sich  folgender  Para- 
graph : 

Wer  bei  seinem  Gewerbebetrieb  öffentlich,  um  den  Absatz 
von  Waaren  oder  gewerblichen  Leistungen  zu  fördern,  wider 
besseres  Wissen  unwahre  Thatsachen  vor.spiegelt  oder  wissent- 
lich wahre  Thatsachen  entstellt,  insbesondere  wer  zu  diesem 
Zweck  über  den  Ursprung  und  Erwerb  seiner  oder  eines  anderen 
Gewerbetreibenden  Waaren,  über  besondere  Eigenschaften  oder 
Auszeichnungen  dieser  Waaren,  über  die  Menge  der  Waaren- 
vorräthe,  den  Anlass  zum  Verkauf  oder  die  Preissbemessung 
auf  Täuschung  berechnete  falsche  Angaben  macht,  wird  mit 
Geldstrafe  bis  zu  1000  M.  und  im  Unvermögensfall  mit  Gefäng- 
niss bis  zu  3 Monaten  bestraft. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


AusfühiTingsverordmiugcn  zur  Sonntagsruhe  in  In- 
dustrie und  Handwerk.  Die  Ausführungsbestimmungen 
für  die  Sonntagsruhe  in  Industrie  und  Handwerk,  welche 
im  Reichsamt  des  Innern  ausgearbeitet  worden  sind,  wur- 
den den  einzelnen  Bundesregierungen  zur  Begutachtung 
mitgetheilt.  Die  Antworten  sind,  wie  halbamtliche  Blätter 
mittheilen,  grösstentheils  bereits  an  der  hiesigen  Zentral- 
stelle eingelaufen.  Augenblicklich  ist  man  hier  damit  be- 
schäftigt, die  Ergebnisse  dieser  Umfrage  nach  den  für  die 
Berufsstatistik  massgebenden  Gruppen  zusammenzustellen. 
Sobald  diese  umfangreiche  Arbeit  beendet  sein  wird,  sollen 
Sachverständige  aus  den  einzelnen  für  die  Ausnahmen  von 
der  Sonntagsruhe  besonders  in  Betracht  kommenden  Grup- 
pen zu  Konferenzen  einberufen  werden.  Erst  nach  der 
durch  die  letzteren  erfolgten  Begutachtung  der  Ausfüh- 
rungsraestimmungen wird  mit  dem  Erlass  der  kaiserlichen 
Verordnung  wegen  Inkraftsetzung  der  Sonntagsruhe- 
vorschriften für  Industrie  und  Handwerk  vorgegangen 
werden. 

Enquete  der  Wiesbadener  Handelskammer  über  die 
Sonntagsruhe.  Die  Handelskammer  in  Wiesbaden  hat  eine 
Enquete  über  die  Sonntagsruhe,  mit  besonderer  Rücksicht 
auf  die  Geschäftsverluste  und  den  W unsch  der  Abschaffung 
der  bestehenden  gesetzlichen  Bestimmungen  veranstaltet. 
Es  wurden  670  Fragebogen  versendet,  von  denen  400  an 
Laden-Inhaber  der  Stadt  Wiesbaden,  270  an  die  Laden- 
Inhaber  der  benachbarten  Landkreise  gingen.  Von  den 
Wiesbadenern  haben  84,  von  den  landstädtischen  Geschäften 
81  geantwortet;  man  kann  annehmen,  dass  diejenigen,  die 
nicht  geantwortet  haben,  an  dem  Gesetze  nichts  Erhebliches 
auszusetzen  haben,  da  sie,  wenn  sie  sich  schwer  geschä- 
digt fühlen  würden,  jedenfalls  nicht  schweigen  würden. 
Diejenigen,  welche  geantwortet  haben,  konstatiren  fast  alle 
eine  Verminderung  des  Absatzes  am  Sonntage,  aber  nur 
ein  Theil  derselben  von  den  Wiesbadenern  16,  von  den 
landstädtischen  Geschäften  41  — behauptet  einen  dauern- 
den Schaden  von  2 bis  20  bezw.  von  2 bis  60  pCt.  des 
Gesammtumsatzes  zu  haben.  Die  Abschaffung  der  Sonn- 
tagsruhe wünschen  in  Wiesbaden  nur  6,  auf  dem  Lande 
nur  9 Geschäfte;  nur  19  wünschen  eine  Verlängerung  der 
fünfstündigen  Geschäftszeit.  57  Geschäfte  wünschen  eine 
Verlegung  der  Geschäftsstunden.  Dagegen  sind  22  Ge- 
schäfte in  Wiesbaden  und  25  Firmen  der  Landstädte  mit 
den  jetzigen  Bestimmungen  vollständig  zufrieden,  ja  einige 
wären  noch  mit  weiteren  Beschränkungen  einverstanden. 
Im  Uebrigen  hat  die  Enquete  ergeben  oder  vielmehr  nur 
bestätigt,  dass  die  kleinsten  Geschäfte,  welche  die  wenigsten 
Arbeitskräfte  haben,  die  heftigsten  Gegner  der  Sonntags- 
ruhe sind. 


182 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALRLATT. 


Np.  15. 


Automaten  und  Sonntagsruhe.  Die  Bestimmungen  der 
Ministerialanweisung  über  die  Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe 
vom  10.  Juni  1892  haben  in  Bezug  aut  die  in  Gast-  und  Schank- 
wirthschalten  aufgestellten  selbstthätigen  Verkaufsapparate, 
Automaten,  eine  verschiedene  Auslegung  erfahren.  Obwohl  es 
nach  Auffassung  der  Verwaltungsbehörde  einem  Zweifel  nicht 
unterliegen  kann,  dass  die  selbstthätigen  Verkaufsapparate  als 
offene  Verkaufsstellen  im  Sinne  des  § 41a  der  Gewerbeordnung 
anzusehen  sind,  so  kommt  doch  für  die  Beantwortung  der  Frage, 
ob  deren  Betrieb  in  Gast-  und  Schankwirthschaften  an  Sonn- 
tagen den  Bestimmungen  der  Gewerbeordnung  über  die  Sonn- 
tagsruhe im  Handelsgewerbe  zuwider  erfolgt,  eine  Reihe  von 
Umständen  in  Betracht,  deren  Würdigung  zweckmässigerWeise 
den  Gerichten  zu  überlassen  ist.  Die  zuständigen  Minister 
haben  daher,  der  Schweidnitzer  „Täglichen  Rundschau“  zu- 
folge, angeordnet,  dass  in  Zukunft  gegen  diejenigen  Gast-  und 
Schankwirthe,  welche  den  Automaten  betrieb  an  Sonn-  und  Fest- 
tagen innerhalb  ihrer  Geschäftsräume  zulassen,  erst  dann  mit 
polizeilichen  Verfügungen  und  Zwangsmitteln  eingeschritten 
werde,  wenn  durch  rechtskräftige  richterliche  Entscheidung  fest- 
gestellt ist,  dass  in  diesem  Betriebe  ein  Vergehen  im  Sinne  des 
§ 146a  der  Gewerbeordnung  liegt.  Damit  soll  nicht  ausgeschlossen 
sein,  dass  die  Polizeibehörden  in  ihnen  geeignet  erscheinenden 
Fällen  durch  entsprechende  Anzeigen  die  Strafverfolgung  her- 
beiführen,  deren  Ergebniss  die  Grundlage  für  Massnahmen  poli- 
zeilicher Natur  bilden  soll. 

Arbeiterversicherungskosten  und  Unternehinerge- 
winne  in  Oesterreich.  Der  Wiener  „Vorwärts“  führt 
einige  Beispiele  über  das  Verhältniss  der  Kosten  der  Ar- 
beiterversicherung zu  den  Geschäftsgewinnen  auf.  Bei  der 
Wienerberger  Ziegelfabriks-  und  Baugesellschaft  stehen 
einem  Reingewinne  von  452  108  fl.  Ausgaben  für  die  Be- 
triebskrankenkassen  in  der  Höhe  von  6 740  fl.  und  für  die 
Unfallversicherung  von  8 573  fl.  gegenüber,  demnach  be- 
tragen die  Ausgaben  für  die  Arbeiterversicherungen  noch 
nicht  ganz  3,4  pCt.  des  Reingewinnes.  Bei  der  Krainischen 
Ballgesellschaft  betrug  der  Beitrag  zur  gesammten  Arbeiter- 
versicherung 1 079  fl.,  noch  nicht  ganz  3,9  pCt.  des  Rein- 
gewinn(28000fl.),  die  Tantiemen  betrugen  mehr  als  die  Kosten 
der  Arbeiterversicherung,  nämlich  1241  fl.  Die  Elbemühl 
Papierfabriks-  und  Verlagsgesellschaft  zahlte  für  die  Ar- 
beiterversicherung im  Jahr  1890  4 741  fl.  wenig  mehr  als  an 
Tantiemen,  (4000  fl.)  und  noch  nicht  6,8  pCt.  des  Rein- 
gewinnes von  70  000  fl.  Die  Druckerei-  und  Verlags- 
Aktiengesellschaft,,!  .eykam“  zahlte  für  die  staatliche  Zwangs- 
versicherung 1961  fl.  ca.  4,02  pCt.  des  Reingewinns  von 
48  731,  an  Dividenden  wurden  35  000  fl.  vertheilt;  ohne  die 
Arbeiterversicherung  hätte  also  jeder  Aktionär  pro  Gulden 
um  etwa  — einen  halben  Kreuzer  mehr  bekommen. 


Arbeiterversicherung. 


Nochmals  Lohnstatistik  und  Unfallversicherung. 

Meine  Bemerkungen  über  Lohnstatistik  und  Unfall- 
versicherug  in  No.  I I dieser  Zeitschrift  haben  Herrn 
Dr.  von  Mayr  Veranlassung  zu  einer  ausführlichen  Entgeg- 
nung in  No  13  gegeben.  Die  Wichtigkeit  der  Sache  und 
das  Interesse,  das  ihr  gewiss  jeder  Leser  des  Centralblatts 
entgegenbringt,  wird  es  rechtfertigen,  wenn  ich  nunmehr 
meinerseits  nochmals  auf  den  Gegenstand  eingehe. 

Die  zunächst  zur  Diskussion  stehende  Frage  ist  die, 
ob  den  Berufsgenossenschaften  ohne  weitere  gesetzliche 
Bestimmung  einfach  auf  Grund  des  § 71  des  Unfallver- 
sicherungsgesetzes die  Verpflichtung  auferlegt  werden 
könne,  von  ihren  Mitgliedern  namentliche  Lohnnachweisun- 
gen zu  verlangen.  Dr.  von  Mayr  bejaht  diese  Frage,  ich 
muss  sie  verneinen.  Dr.  von  Mayr  sucht  seine  Auffassung 
durch  Aeusserungen  des  Direktors  Wenzel,  des  Präsidenten 
des  Reichs-Versicherungsamts  Bödiker  und  des  Kommen- 
tators des  Unfallversicherungsgesetzes  Landmann  zu  be- 
weisen. Meines  Erachtens  ist  ihm  der  Beweis  indess  nicht 
gelungen.  Was  die  Berufung  auf  Wenzel  anbelangt,  so 
hatte  sich  dieser  seiner  Zeit  auf  dem  Berufsgenossenschafts- 
tag zu  München  geradezu  selbst  widerlegt.  Er  hatte  be- 


hauptet, die  Kollektiv-Lohnnachweisungen  seien  thatsächlich 
gesetzwidrig- — was  der  Präsident  des  Reichs- Versicherungs- 
amts  anerkannt  habe.  Auf  meine  Gegenbemerkung  musste 
er  erklären,  der  Präsident  Bödiker  habe  nur  geäussert: 
„Herr  Wenzel  hat  mit  Recht  hervorgehoben,  wir  könnten 
nach  dem  Gesetz  namentliche  Lohnnachweisungen  ver- 
langen; aber  wir  legen  Ihnen  kein  Hindern  iss  in  den  Weg, 
von  namentlichen  Personennachweisungen  Abstand  zu 
nehmen.“  Das  heisst  doch  klar  und  deutlich : der  Präsident 
hält  die  Kollektivnachweisungen  nicht  für  gesetzwidrig, 
denn  sonst  dürfte  er  sie  nicht  dulden,  müsste  vielmehr  auf 
die  richtige  Ausführung  des  Gesetzes  dringen.  Der  Be- 
schluss des  Berufsgenossenschaftstages  entsprach  auch 
dieser  Auffassung.  Uebrigens  scheint  mir  die  Aeusserung 
des  Präsidenten  in  ihrem  ersten  Theil  nicht  ganz  genau  zu 
sein;  er  konnte,  streng  genommen,  nur  sagen:  „wir  hätten 
namentliche  Lohnnachweisungen  verlangen  können.“  Denn 
das  Reichs-Versicherungsamt  hat  amtlich  in  zahlreichen 
Bescheiden  stets  an  dem  Standpunkt  festgehalten,  dass  es 
Sache  der  Genossenschaftsvorstände  sei,  nähere  Vorschriften 
über  Form  und  Inhalt  der  Nachweisungen  zu  erlassen  (zu 
vergl.  Handbuch  der  Unfallversicherung,  herausgegeben  von 
Mitgliedern  des  Reichs-Versicherungsamts,  Bemerkung  11 
und  12  zu  § 71  U.-V.-G.).  Diese  Auslegung  des  § 71  ist 
also  bestehendes  Recht  geworden;  das  Reichs- Versicherungs- 
amt  ist  selbst  an  seine  Bescheide  gebunden  und  kann  nun 
nicht  mehr  ohne  Weiteres  zu  einer  grundsätzlich  anderen 
Auslegung  übergehen.  Ich  glaube  auch  nicht,  dass  der 
Präsident  dies  als  seine  persönliche  Meinung  hat  aus- 
sprechen wollen:  es  handelt  sich  hier  offenbar  nur  entweder 
um  eine  ungenaue  Ausdrucksweise  oder  um  eine  ungenaue 
Wiedergabe  seiner  Aeusserung.  Der  Satz  aus  dem  Land- 
mann’schen  Kommentar,  auf  den  sich  ferner  Dr.  von  Mayr 
beruft,  giebt  auch  nur  die  Auslegung  des  § 71  durch  das 
Reichs- Versicherungsamt  wieder.  Uebersetzt  man  die 
Bemerkung  Landmann’s  aus  der  berüchtigten  Juristen- 
sprache, in  der  bekanntlich  aktive  Sätze  ängstlich  ver- 
mieden werden,  in  allgemein  verständliches  Deutsch,  so  be- 
sagt sie:  Die  Genossenschaften  (d.  h.  die  Genossenschafts- 
vorstände)  können  die  Angaben  der  Namen  der  Arbeiter 
und  der  von  den  einzelnen  Personen  verdienten  Löhne  ver- 
langen, sie  werden  sich  aber  in  der  Regel  mit  summa- 
rischen Nachweisungen  begnügen  u.  s.  w.  Man  sieht  also, 
dass  gerade  nach  den  von  Mayr’schen  Autoritäten  — mit 
Ausnahme  des  Direktors  Wenzel,  der  sich  aber  bereits  selbst 
widerlegt  hat  — durch  Kollektiv-Lohnnachweisungen  dem 
Gesetz  durchaus  genügt  wird.  Die  Vorstände  können 
allerdings  mehr  verlangen,  als  das  Gesetz  direkt  vorschreibt 
— was  ich  indess  nie  bestritten  habe. 

Zur  weiteren  Unterstützung  der  von  mir  vertretenen 
Anschauung  sei  nur  noch  Folgendes  angeführt: 

E.  von  Woedtke  sagt  in  seinem  bekannten  Kommentar 
zum  Unfallversicherungsgesetz  ganz  unzweideutig:  „Die 

namentliche  Aufführung  jedes  einzelnen  Versicherten  schreibt 
das  Gesetz  nicht  vor.“  Und  in  dem  bereits  erwähnten 
Handbuch  der  Unfallversicherung  heisst  es  sogar:  „Die  Ein- 
richtung der  Nachweisung  ist  thunlichst  einfach  zu  ge- 
stalten und  soll,  im  Interesse  einer  möglichsten  Schonung 
der  Betriebsgeheimnisse,  wenn  angängig,  nur  summarische, 
nicht  zu  weit  ins  Einzelne  gehende  Angaben  erfordern.“ 
Also  schon  die  Rücksicht  auf  die  Betriebsgeheimnisse  — 
ein  Moment,  das  meines  Erachtens  ganz  in  den  Hinter- 
grund zu  treten  hat  — lässt  das  Reichs- Versicherungsamt 
summarische  Lolmnachweisungen  wünschen!  Ich  denke, 
dies  wird  zur  Rechtfertigung  meines  Standpunktes  in  der 
vorliegenden  Streitfrage  genügen! 

Dr.  von  Mayr  befindet  sich  ferner  im  \\  iderspruch 
mit  dem  Reichs-Versicherungsamt,  wenn  er  meint,  Lohn- 
schätzungen seien  „einfach  gegen  das  Gesetz“.  In  der 
Praxis  können  solche  Schätzungen  häufig  gar  nicht  ver- 
mieden werden,  und  das  Reichs- Versicherungsamt  hat  daher 
auch  mehrfach  anerkannt,  dass  sie  dem  Gesetz  genügen. 
Mir  liegt  gerade  ein  Rundschreiben  des  Reichs-Versiche- 
rungsamts an  die  Vorstände  der  Berufsgenossenschaften 


No.  15. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


1&3 


vom  16.  Dezember  1892  vor,  in  dem  es  am  Schlüsse  heisst: 

„ zumal  der  Pflicht  zur  gehörigen  Lohnnachweisung 

im  Sinne  des  § 71  des  Unfallversicherungsgesetzes  durch 
analoge  Anwendung  der  in  dem  Bescheide  201  (Amtl.  Nach- 
richten des  Reichs- Versicherungsamts  1886  S.  206)  ausge- 
führten Grundsätze  — eventuell  schon  durch  eine  ange- 
messene Schätzung  der  auf  die  beiden  Betriebe  antheilig 
entfallenden  Lohnsummen  — hinreichend  Genüge  geschieht.“ 
Weitere  Entscheidungen  etc.  der  Art  sind  in  Bemerkung  13 
zu  § 71  U.  V.  G.  des  Handbuchs  angegeben. 

Das  Reichs- Versicherungsamt  konnte  auch  dem  § 71 
gar  keine  andere  Auslegung  geben,  ohne  die  Möglichkeit 
der  praktischen  Ausführung  des  Gesetzes  in  Frage  zu 
stellen.  Das  Unfallversicherungsgesetz  bezweckt,  dass  die 
versicherten  Arbeiter  für  die  Folgen  von  Betriebsunfällen 
entschädigt  und  nebenher  auch  durch  vorbeugende  Mass- 
regeln  vor  dem  Eintritt  von  Unfällen  geschützt  werden.  Alle 
Einzelbestimmungen  des  Gesetzes  sind  zur  Verwirklichung 
dieses  Hauptzweckes  da;  unter  diesem  Gesichtspunkt  muss 
ihre  Auslegung  erfolgen.  Die  Lohnnachweisungen  im  Be- 
sonderen sollen  die  Umlegung  der  Aufwendungen  der  Be- 
rufsgenossenschaften auf  die  einzelnen  Mitglieder  ermög- 
lichen. Sie  sind  also  so  einzurichten,  dass  sie  diesem  Zweck 
genügen.  Die  Aufsichtsbehörde  ist  nicht  dazu  berechtigt, 
mehr  zu  erzwingen.  Hätten  die  als  Träger  der  Unfall- 
versicherung gebildeten  Berufsgenossenschaften  als  Organe 
einer  einigermassen  rationellen  Lohnstatistik  dienen  sollen, 
so  hätte  man  ihnen  eine  durchaus  andere  Gestalt  geben 
müssen  — womit  nicht  gesagt  sein  soll,  dass  die  jetzige 
'Organisation  für  die  Unfallversicherung  vollkommen  ist. 
Der  Kriminalstatistik  der  Strafgerichte  entspricht  die  Un- 
fallstatistik der  Berufsgenossenschaften,  aber  in  keiner  Weise 
die  Lohnstatistik  der  versicherten  Betriebe. 

Vollständig  stimme  ich  der  Ansicht  Dr.  von  Mayr’s  bei, 
dass  dem  Nachweis  über  den  Arbeiterwechsel,  über  die 
Kurzfristigkeit  oder  Langfristigkeit  der  Beschäftigung  und 
die  dabei  sich  ergebenden  Lohnverhältnisse  ein  hoher 
sozialstatistischer  Werth  beiwohnt.  Indess,  die  berufs- 
genossenschaftliche  Lohnstatistik  vermag  einen  solchen 
Nachweis  nicht  zu  vermitteln.  Wenn  jedes  Unternehmen, 
das  überhaupt  versicherungspflichtig  ist,  stets  in  seiner 
Gesammtheit  versichert  wäre  und  zwar  nur  in  Einer  Berufs- 
genossenschaft — dann  wäre  die  Aufstellung  einer  der- 
artigen Statistik  mit  Hilfe  der  Lohnnachweisungen  wenig- 
stens denkbar.  Diese  Voraussetzung  trifft  aber  bekanntlich 
keineswegs  zu:  gar  viele  Betriebe  bestehen  aus  einem  ver- 
sicherungspflichtigen und  einem  nicht  versicherungspflich- 
tigen Theile,  und  andere  sind  wieder  mit  ihren  einzelnen 
im  engsten  wirthschaftlichen  Zusammenhänge  stehenden 
Theilen  verschiedenen  Berufsgenossenschaften  zugetheilt. 
Jeder  LTebergang  eines  versicherten  Arbeiters  aus  einem 
Theil  des  Betriebes  in  einen  anderen  würde  also  als 
Arbeiterwechsel  erscheinen.  Der  Zusammenzug  und  die 
Ausgliederung  der  einzelnen  Angaben  würde  somit  zu  Er- 
gebnissen führen,  die  nur  zu  verkehrten  Auffassungen  Anlass 
bieten  könnten.  Ueberhaupt  will  es  mir  scheinen,  als  ob 
der  sozialstatistische  Werth  der  hier  in  Rede  stehenden 
Nachweise  doch  sehr  wesentlich  davon  abhinge,  dass  die 
Erhebungen  auch  auf  die  Gründe  der  Aenderungen  des 
Arbeiterpersonals  ausgedehnt  würde  — also  etwa:  ob  der 
Austritt  eines  Arbeiters  durch  dessen  Tod,  Krankheit,  Ein- 
ziehung zum  Militärdienst  oder  durch  eine  Aenderung  der 
Betriebseinrichtung  u.  s.  w.  mehr  veranlasst  wurde.  Anderer- 
seits wieder  würde  es  von  grossem  Interesse  sein,  die 
Schicksale  der  einzelnen  Personen  in  ihrer  Wanderung 
durch  verschiedene  Betriebe  zu  verfolgen.  Beide  Aufgaben 
vermögen  die  berufsgenossenschaftliche  Lohnnachweisungen, 
auch  wenn  man  den  § 71  U.-V.-G.  noch  so  inhaltsreich 
auslegen  wollte,  absolut  nicht  zu  lösen. 

Für  ganz  verfehlt  muss  ich  die  Ausführungen  Dr.  von 
Mayr’s  über  die  zu  erstrebende  Verbesserung  der  Buch- 
führung in  den  Unternehmungen  halten,  deren  einzelne 


Theile  verschiedenen  Berufsgenossenschaften  angehören. 

; Zunächst  ist  es  ein  seltsames  Verlangen,  dass  die  Unter- 
nehmer ihre  Buchführung  danach  einrichten  sollen,  wie 
j ihre  Betriebe  unfallversicherungstechnisch  behandelt  wer- 
j den.  Wenn  man  indessen  auch  dies  als  wünschens- 
werth  gelten  lassen  will,  so  wird  durch  eine  derartige 
Buchführung  doch  die  Schwierigkeit  der  namentlichen 
Lohnnachweisungen  in  keiner  Weise  gehoben.  Es  ist 
doch  für  die  Buchführung  ganz  gleichgültig,  ob  heute  ge- 
j rade  Schulze  oder  Müller  die  Stärke  aus  der  Stärkefabrik 
| zum  Bahnhof  fährt;  in  den  Büchern  wird  stets  nur  etwa  der 
halbe  Wochenlohn  eines  Arbeiters  für  solche  Fuhren 
j wöchentlich  zu  erscheinen  brauchen.  Vor  Allem  werden  die 
J Lohnschätzungen  dadurch  nicht  aus  der  Welt  geschafft 
werden  können;  denn  wie  z.  B.  die  Thätigkeit  des  Ad- 
ministrators eines  Gutes  für  einen  dort  betriebenen  in- 
dustriellen Nebenbetrieb  oder  mehrere  solcher  (Mühle, 
Molkerei,  Brennerei  u.  s.  w.)  oder  die  eines  Kommis,  der 
nur  selten  in  der  Fabrik  zu  thun  hat  und  im  Uebrigen  im 
Kontor  beschäftigt  ist,  im  Fabrikbetriebe  anders  aus  der 
Gesammtthätigkeit  ausgeschieden  und  der  darauf  ent- 
fallende Theil  des  Gehalts  bestimmt  werden  soll  als  durch 
Schätzung,  ist  mir  räthselhaft. 

Welch  ein  Apparat  wird  alle  5 Jahre  im  Deutschen 
Reich  in  Bewegung  gesetzt,  um  die  Volkszählung  zu  er- 
möglichen! Und  die  von  Dr.  von  Mayr  erstrebte  Lohn- 
statistik, die  gewiss,  was  die  Beschaffung  und  Prüfung  des 
Urmaterials  anbelangt,  weit  schwieriger  ist  als  eine  Volks- 
zählung, soll  jährlich  so  nebenher  abfallen,  als  wäre  sie  ein 
Nichts!  Schon  jetzt  wird  allgemein  über  die  hohen  Verwal- 
tungskosten der  Berufsgenossenschaften  geklagt.  Diese 
Klagen  sind  zweifellos  zum  Theil  berechtigt,  denn  das  Ver- 
hältniss  der  auf  die  eigentliche  Unfallregelung  entfallenden 
Arbeit  und  Kosten  zu  den  für  andere  sekundäre  Zwecke 
: entstehenden  Arbeiten  und  Ausgaben  (Katasterführung,  Ein- 
ziehung und  Prüfung  der  Lohnnachweisungen,  Beitrags- 
erhebung, Statistik  u.  s.  w.)  ist  bei  manchen  Genossen- 
schaften jetzt  schon  derartig  ungünstig,  dass  man  in  der 
That  daran  zweifeln  muss,  ob  die  zu  Recht  bestehende 
Organisation  wirklich  zweckentsprechend  ist.  Aeusserst 
verschärft  würde  dieser  Missstand  natürlich  werden,  wenn 
die  Berufsgenossenschaften  im  Rahmen  des  jetzigen  Ge- 
setzes auch  noch  zu  lohnstatistischen  Aemtern  im  Sinne 
i von  Mayrs  gemacht  würden.  Die  Angriffe  von  allen  Seiten 
über  die  „theure  berufsgenossenschaftliche  Verwaltung“ 
würden  immer  heftiger  und  immer  gerechtfertigter  werden 
— früher  oder  später  wäre  eine  Krisis,  deren  wahrschein- 
lichen Charakter  ich  hier  nicht  weiter  darzustellen  brauche, 
unvermeidlich. 

Auch  aus  allgemein  sozialpolitischen  Gründen  kann 
und  darf  die  Lohnstatistik  niemals  reinen  Unternehmer- 
korporationen, wie  den  Berufsgenossenschaften,  übertragen 
werden.  Geschieht  es  doch,  so  wird  im  besten  Falle  nur 
ein  klägliches  Stückwerk  geschaffen  werden,  und  das  Be- 
treten des  richtigen  Weges  vielleicht  auf  lange  Zeit  hinaus 
verzögert  werden.  Deshalb  stehe  ich  den  Plänen  von  Mayrs 
ausserordentlich  pessimistisch  gegenüber.  Im  Uebrigen 
neige  ich  • — wie  ich  glaube  — in  sozialpolitischen  Dingen 
und  auch  sonst  eher  zum  Optimismus  als  zum  Pessimismus. 
So  zweifle  ich  z.  B.  nicht,  dass  ich  mich  bei  weiterem 
Gedankenaustausch  auch  mit  Herrn  Dr.  von  Mayr  auf  das 
Programm  einigen  könnte:  Völlige  Reorganisation 

des  Arbeiterversicherungswesens  unter  Berück- 
sichtigung der  Ermöglichung  einer  rationellen 
Sozialstatistik. 

Berlin-Friedenau.  E.  Lange. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


184 


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Im  Verlage  von  Joseph  Baer  &,  Co.  in  Frankfurt  a.  Main  erscheinen 
vom  1.  Januar  1893  ab: 

Blätter  für  soziale  Praxis 

in  Gemeinden,  Vereinen  und  Privatleben. 

Herausgegeben  unter  Mitwirkung  von  hervorragenden  Fachmännern 

von 

Dr.  N.  Brückner,  Frankfurt  a.  Main. 

Die  neue  Zeitschrift  teil!  der  sozialen  Fürsorge  in  kleinerem  Kreis , in 
Gemeinde , Vereinen  und  Privatleben  dienen  und  hier,  unter  Beiseitelassung 
jeder  theoretischen  Erörterung , einen  Sammelpunkt  für  praktische  Erfahrungen 
bilden , der  bis  jetzt  den  Provinzial-  und  Stiftungsvorständen,  sowie  allen  pri- 
vaten Freunden  der  Gemeinnützigkeit  vollständig  fehlte. 

Wöchentlich  eine  Nummer  in  40,  Preis  vierteljährlich  Mk.  2,50. 

A b onne m e n t s nimmt  jede  Buchhandlung  und  Postanstalt  entgegen. 

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Verlag  der  Manz’schen  k.  und  k.  Hof-Verlags-  und  Universitäts-Buchhandlung  in  Wien. 

Das 

ÖSTERREICHISCHE  STAATSRECHT 

(Verfassungs-  und  Verwaltungsrecht). 

Ein  Lehr-  und  Handbuch 

von 

Dr.  Ludwig  Gumplowicz, 

Professor  in  Graz. 

41  Bogen.  8".  Preis  broschirt  10  Mark. 

Der  Mangel  einer  Gesammtdarstellung  des  österreichischen  Staatsrechtes  hat  sich  in  den 
letzten  Jahren  insbesondere  in  Folge  einschneidender  Umgestaltungen  und  Neubildungen  auf  dem 
Gebiete  des  österreichischen  Verwaltungsrechtes  nicht  nur  in  Kreisen  der  Studirenden,  sondern 
auch  aller  derjenigen,  die  am  öffentlichen  Leben  theilnehmen,  fühlbar  gemacht.  Es  sei  nur 
darauf  hingewiesen,  dass  seit  den  jüngsten  Neuregelungen  des  Militärrechtes,  des  Gewerberechtes, 
des  Arbeiterschutzrechtes  noch  keine  Gesammtdarstellung  des  österreichischen  Staatsrechtes,  welche 
dieselben  berücksichtigen  würde,  erschienen  ist  und  dürfte  daher  obiges  Werk  den  interessirenden 
Kreisen  gewiss  willkommen  sein. 


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empfiehlt  sich  zur  antiquarischen  Besorgung 
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und Volkswirtschaft. 

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Dieser  Nummer  liest  t-in  Prospekt  bei 
über  die  bei  Trowitzscli  und  Sohn  in 
Berlin  erscheinende  Zeitschrift:  „Das 

Land“. 


Verantwortlich  für  den  Anzeigenthcil : O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  16.  Januar  1893. 


Nummer  16. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostamter. 
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J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 
Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


Zur  B e u r t h e i 1 u n g der  neuen 
deutschen  Arbeitersta- 
tistik. Von  Dr.  Heinrich 
Braun. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  u. 
Wirthscliaftsstatistik : 

Zur  Vermögenssteuer  in  Preussen. 

Zur  kommunalen  Sozialpolitik  in 
Berlin. 

Kreisstatut  über  Lohnzahlungen  an 
minderjährige  Arbeiter. 

Neue  Gewerbestatistik  für  Baden. 

Sozialpolitische  Gesetzentwürfe  in 
Oesterreich. 

Arbeiterzustände: 

Die  Lage  der  Nagelschmiede  in 
den  Dörfern  Arnoldshain  und 
Schmitten  im  Taunus.  Von 
Fritz  Bickel. 

Zur  Arbeitslosen  Statistik  in  deut- 
schen Städten. 

Zum  Nothstand  in  Berlin. 

Vom  englischen  Arbeitsmarkt. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Der  Bergarbeiterausstand  im  Saar- 
revier und  in  Rheinland-West- 
falen. 

Kongress  der  Former  von  Oester- 
reich-Ungarn. 


Strike  der  Glasarbeiter  in  Eng- 
land. 

Unternehmerverbände : 

Ein  neuer  Brauerverein. 

Verband  von  Fabrikanten  land- 
wirthschaftlicher  Maschinen. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Abänderungen  der  kaufmännischen 
Sonntagsruhe. 

Sonntagsruhe  auf  den  preussischen 
Staatsbahnen. 

Befähigungsnachweis  der  Bergar- 
beiter in  Preussen. 

Kinderschutz  in  der  englischen 
Industrie. 

Englische  Verordnung  über  die 
Ventilation  der  Fabriken. 

Kommunaler  Arbeiterschut/  in 
London. 

Gewerbeinspektion : 

Reorganisation  der  pfhussischen 
Gewerbeaufsicht. 

Fabrikinspektion  in  Frankreich. 

Arbeiterversieherimg: 

Statistik  der  Invaliditäts-  und 
Alters  Vcricherung. 

Krankenversicherung  der  Dienst- 
boten in  Baden. 
Wohnungszustände: 

Wohnungszustände  in  Frank- 
furt a.  M. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Zur  Beurtheilung  der  neuen  deutschen 
Arbeiterstatistik. 


Wenn  auch  die  Erwartungen,  mit  der  man  überall 
die  Ankündigungen  einer  Kommission  für  Arbeiterstatistik 
begrüsst  hatte,  durch  die  wenig  zweckentsprechende  Organi- 
sation derselben  tief  herabgestimmt  worden  sind,  so  ist  doch 
das  immer  dringender  empfundene  Bedürfniss  nach  einer 
sozialen  Statistik  für  das  deutsche  Reich  stark  genug,  um 
den  Verhandlungen  und  Ergebnissen  der  Kommission  Auf- 
merksamkeit zu  sichern.  Statt  aber  dieses  allgemeine 
Interesse  für  die  Thätigkeit  der  Kommission  zu  benutzen, 
indem  man  ihre  Berathungen  und  die  durch  sie  veranlassten 
statistischen  Erhebungen  ins  volle  Licht  rückt,  die  öffent- 
liche Diskussion  anregt  und  die  berufenen  Kreise  zu  einer 
fördernden  Mitwirkung  heranzieht,  scheint  im  Gegentheil 
jenes  Interesse  geringgeschätzt  zu  werden  und  Alles  zu  ge- 
schehen, was  auch  den  kümmerlichen  Rest  desselben  zu 
zerstören  geeignet  ist. 


Biireaukratisch  ist  die  Organisation  der  Kommission, 
büreaukratisch  das  Vorgehen  bei  den  Erhebungen  und 
büreaukratisch  auch  die  Sorge,  mit  der  man  die  Resultate 
der  letzteren  geheim  hält.  Die  kürzlich  beendete  und  in 
Druck  gegebene  Statistik  der  Arbeitszeit  in  Bäckereien  und 
Konditoreien1)  wird  nicht,  was  in  der  Natur  der  Sache  ge- 
legen wäre,  der  öffentlichen  Erörterung  zur  Verfügung  ge- 
stellt, sondern  wie  ein  Aktenstück  behandelt.  Dass  wir  in 
der  Lage  sind,  diese  Statistik,  statt  nach  offiziösen  Zeitungs- 
nachrichten, auf  Grund  des  Originals  zur  Besprechung  zu 
bringen,  haben  wir  blos  der  persönlichen  Liebenswürdig- 
keit eines  Mitgliedes  der  Kommission  zu  verdanken.  - 
Seitens  der  Behörden  liegt  darin,  dass  sie  weder  die  Proto- 
kolle über  die  Verhandlungen  der  Kommission  noch  auch 
bisher  die  Arbeiterstatistik  publizirten,  eine  Pflichtversäum- 
niss,  die  Tadel  verdient,  und  über  die  Klage  zu  führen 
vor  Allem  die  Mitglieder  der  Kommission  Grund  hätten, 
weil  sie  in  Folge  dessen  auf  die  Unterstützung  des  Urtheils 
der  öffentlichen  Meinung  verzichten  müssen,  das  ihnen  nur 
desto  werthvoller  wäre,  weil  die  Statistik  zur  Grundlage 
weiterer  Erhebungen,  etwa  mündlicher  Vernehmung  der 
Interessenten,  durch  die  Kommission  gemacht  werden  dürfte. 

Man  weiss,  dass  die  Grenzen  für  die  Thätigkeit  der 
Kommission  für  Arbeiterstatistik  in  jeder  Hinsicht  auf  das 
engste  gezogen  sind.2)  Dieselbe  ist,  wie  es  in  ihrem  Regu- 
lativ heisst,  errichtet  worden:  „zur  Mitwirkung  bei  den 

statistischen  Erhebungen,  welche  bei  der  Vorbereitung  und 
Ausführung  der  die  Verhältnisse  der  gewerblichen  Arbeiter 
(Titel  VII  der  G.-O.)  betreffenden  Gesetzgebung  erforderlich 
werden.“  Die  Vornahme  der  Erhebung  im  Bäckereigewerbe 
hatte  den  speziellen  Zweck,  festzustellen,  ob  die  Anwen- 
dung des  § 120e  Absatz  3 der  G.-O.,  wonach  Seitens  des 
Bundesraths  die  Dauer  der  Arbeitszeit  vorgeschrieben 
werden  kann , durch  die  Zustände  in  diesem  Gewerbe  ge- 
boten sei.  Die  Enthüllungen,  insbesondere  in  der  dankens- 
werthen  Untersuchung  Bebels  über  die  Lage  der  Bäckereien 
(Stuttgart,  1890)  waren  bekanntlich  die  Veranlassung,  dass 
die  Kommission  in  ihren  Verhandlungen  am  23.,  24.  und 
25.  Juni  1892  in  erster  Linie  sich  für  eine  Erhebung  Lüber 
die  Lage  der  Bäcker  entschied,  die  durch  eine  im  Sep- 
tember v.  J.  von  dem  kaiserlichen  Statistischen  Amt  vor- 
genommene statistische  Aufnahme  eingeleitet  wurde  und 
nunmehr  vorliegt. 

')  Der  genaue  Titel  lautet:  Arbeiterstatistik.  Er- 

hebung über  die  Arbeitszeit  in  Bäckereien  und  Konditoreien. 
Veranstaltet  im  September  1892.  Bearbeitet  im  Kaiserlichen 
Statistischen  Amt.  Berlin  1892.  Druck  von  Koebke.  Folio,  83  S. 

2)  Vgl.  meine  Aufsätze  über  die  Kommission  für  Arbeiter- 
statistik im  Sozialpolitischen  Centralblatt,  Bd.  I,  S.  113  fg„  331  fg. 
und  im  Archiv  für  soziale  Gesetzgebung  und  Statistik  Bd.  V, 
S.  145  fg. 


186 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


Nu.  16. 


Die  Kommission  hatte  sich  für  die  Aufnahme  mittelst 
Fragebogen  und  dafür  entschieden,  dass  die  Erhebung  sich 
nicht  auf  jeden  vorhandenen  Betrieb  erstrecken,  sondern 
mit  der  Stichprobe  begnügen  solle.  Gegen  diese  Me- 
thode waren  zum  Theil  schon  Seitens  einiger  Mitglieder  der 
Kommission  Bedenken  geltend  gemacht  worden.  So  meinte 
Herr  von  Schicker,  die  Veranstaltung  der  Erhebung  mittelst 
von  den  Betheiligten  auszufüllender  Fragebogen  schliesse 
die  Aufforderung  an  die  Bäckermeister  ein,  gegen  sich  selbst 
auszusagen'). 

Demgegenüber  äusserte  der  Vorsitzende  Dr.  v.  Rotten- 
burg, man  werde  wohl  in  der  Auskunft  der  Arbeitnehmer 
eine  gewisse  Kontrole  gegen  die  Angaben  der  Arbeit- 
geber erblicken  können. 

Uns  will  scheinen , als  ob  bei  diesem  Einwand 
zweierlei  übersehen  wurde.  Einmal  der  missliche  Umstand, 
der  sich  mit  der  vorliegenden  \\  ie  jeder  zu  einem  beson- 
deren Zweck  unternommenen  Statistik  verknüpft:  dass  die 
Interessenten  in  einem  solchen  Fall  lebhafter  noch  wie 
sonst  die  Antworten  von  ihren  Tendenzen  beeinflussen 
lassen , namentlich  wenn  sie  ihre  Angaben  vollkommen 
unverantwortlich  zu  machen  in  der  Lage  sind  und  eine 
Strafandrohung  fehlt.  Sodann  aber  ist  speziell  in  den  Ant- 
worten der  Bäckergehülfen  nur  eine  sehr  unzulängliche 
Korrektur  der  Aussagen  der  Bäckermeister  gegeben.  Wie 
die  vorliegende  Statistik  zeigt,  .haben  fast  alle  Arbeiter  in 
den  Bäckereien  Wohnung  und  Kost  im  Hause  des  Meisters 
(vgl.  Arbeiterstatistik  etc.  S.  75  . Daraus  ergiebt  sich,  dass 
in  diesem  Gewerbe  noch  sehr  patriarchalische  Verhältnisse 
herrschen,  und  die  Gehülfen  folgeweise  von  den  Meistern 
in  starker  Abhängigkeit  sich  befinden.  Unter  solchen  Um- 
ständen wird  eine  Statistik,  die  gleichzeitig  an  Meister  und 
Gesellen  sich  wendet  und  die  Letzteren  zwingt,  gewisser- 
massen  unter  den  Augen  der  Arbeitgeber  die  Fragebogen 
zu  beantworten,  jenes  vermeintliche  Korrektiv  sich  gegen- 
seitig kontrolirender  Aussagen  nicht  enthalten.  Und  wenn 
die  vorliegende  Arbeiterstatistik  (vgl.  S.  II)  eine  Anzahl 
Fälle  ausdrücklich  konstatiren  kann,  in  welchen  die  Arbeit- 
geber statt  ihrer  Gehülfen  eigenmächtig  die  Fragebogen 
der  letzteren  ausfüllten,  so  ist  der  Schluss  naheliegend, 
dass  die  Gehülfen  gewiss  sehr  häufig  unter  einem  in- 
direkten Zwang  bei  der  Beantwortung  ihrer  Fragebogen 
sich  befunden  haben  mögen. 

Nicht  minderes  Bedenken  erweckt  die  Methode  der 
Erhebung  hinsichtlich  des  eingeschlagenen  Verfahrens  der 
Stichprobe.  Wenn  man  sich  selbst  damit  abfinden  könnte, 
dass  sie  dem  Begriff  einer  möglichst  erschöpfenden  Massen- 
beobachtung, als  die  sich  die  Statistik  darstellen  soll,  wider- 
spricht, so  haben  gerade  im  gegenwärtigen  Fall  keinerlei 
in  der  Sache  liegende  Gründe  dazu  Veranlassung  geboten, 
auf  eine  vollständige  und  umfassende  Beobachtung  der  fest- 
zustellenden Thatsachen  Verzicht  zu  leisten,  vielmehr  hätte 
die  Rücksicht  auf  die  unzureichende  Qualifikation  der  mit 
der  Auswahl  der  zu  Befragenden  betrauten  Behörden  von 
einer  Stichproben  weisen  Erhebung  ablenken  sollen.  Man 
kann  sich  daher  den  Vorschlag  einer  Stichprobe  nur  aus 
dem  Umstande  erklären,  dass  dem  für  die  Erfordernisse  einer 
Arbeiterstatistik  mit  sehr  unzureichenden  Mitteln  ausgestatte- 
ten kaiserlichen  Statistischen  Amt  die  Ausführung  der  Erhe- 
bung übertragen  werden  sollte,  was  um  so  weniger  ein  stich- 
haltiger Grund  ist,  als  dieses  Amt  gerade,  wenn  man  von  der 
Person  seines  Direktors  absieht,  ein  sehr  ungeeignetes  Organ 
für  die  Arbeiterstatistik  darstellt.  Es  kommt  aber  noch  ein  an- 
deres sehr  wichtigesMoment  hinzu.  Wie  das  kaiserliche  Statis- 
tische Amt  selbst  konstatirt,  bot  die  Vertheilung  der  Frage- 

i Vergl.  Protokolle  über  die  Verhandlungen  der  Kommis- 
sion für  Arbeiterstatistik,  S.  6. 


bogen  innerhalb  der  einzelnen  Staatsgebiete  Schwierig- 
keiten, weil  neuere  statistische  Erhebungen  über  Anzahl 
und  Personal  der  Betriebe  fehlten.  In  Folge  dessen  sind 
mancherlei  direkt  konstatirte  Fehler  begangen  worden,  die 
unerheblich  wären,  wenn  sie  nicht  den  Schluss  nahelegten, 
dass  der  absolute  Mangel  für  den  gegenwärtigen  Zeitpunkt 
zulänglicher  statistischer  Unterlägen  die  Stichprobe  zu  einer 
sehr  beliebigen  Auswahl  statistischer  Daten  umgewandelt 
haben  dürfte. 

Die  letztere  Gefahr  wurde  dadurch  erhöht,  dass  in 
den  grossen  Städten  einzelne  Bezirke  ausgewählt  wurden, 
aut  welche  die  Erhebung  beschränkt  wurde.  Mit  Recht 
machte  der  Abg.  Siegle  darauf  aufmerksam  (vgl.  Proto- 
kolle etc.  S.  24  fg\),  dass  dies  in  den  Kreisen  der  nicht- 
befragten  Interessenten  Unzufriedenheit  und  Misstrauen 
erregen  werde,  und  er  beantragte,  die  Erhebungen  in  allen 
ausgewählten  Orten,  auch  in  den  grossen  Städten,  auf  alle 
Betriebe  auszudehnen.  Auf  diese  Weise  wären  mancherlei 
zu  Tage  getretene  Mängel  der  Erhebung  vermieden  worden. 

Unter  den  methodischen  Fehlern  gehört  ferner  zu  den 
wichtigsten  der  schon  erwähnte  büreaukratische  Charakter, 
der  auch  die  Ausführung  der  Erhebung  kennzeichnete. 

Hätte  man  die  letztere  als  eine  öffentliche  Angelegen- 
heit behandelt,  die  sie  im  eminenten  Sinn  ist,  und  statt 
mindestens  neun  Zehntel  der  Bäckereien  völlig  davon  in 
Unkenntniss  zu  lassen,  dass  in  den  verflossenen  September- 
tagen eine  für  die  Lage  des  ganzen  Gewerbes  sehr  bedeut- 
same Untersuchung  vorgenommen  wurde,  die  allgemeine 
Aufmerksamkeit  auf  die  letztere  gelenkt  und  die  legitimen 
Vertreter  der  Betheiligten,  die  Vereine  der  Meister  und 
Gehilfen  zur  Unterstützung  herangezogen,  dann  wäre 
sicherlich  nicht  nur  mancher  von  den  oben  erwähnten 
Misständen  ausgemerzt,  sondern  allem  Vermuthen  nach  die 
Erhebung  auch  positiv  sehr  verbessert  worden.  Es  ist  diese 
Ignorirung  der  Berufsvereine  um  so  auffallender,  als  in  der 
der  Kommission  gelegentlich  ihrer  Verhandlung  vorgelegten 
Denkschrift  von  der  Eventualität  einer  Heranziehung  der 
Arbeiterorganisationen  die  Rede  war,  und  überdies  der  Kom- 
mission für  Arbeiterstatistik  der  badische  Fabrikinspektor 
Dr.  Wörishoffer  angehört,  welcher  gerade  mit  den  Ver- 
tretungen der  Arbeiter  bei  sozialstatistischen  Untersuchungen 
eine  sehr  gute  Erfahrung  gemacht  hat.  Er  äussert  sich  darüber 
u.  A.  folgendermassen : „Speziell  bei  den  Erhebungen  über  die 
soziale  Lage  der  Fabrikarbeiter  in  Mannheim  und  dessen 
Umgebung  wurde  die  Erfahrung  gemacht,  dass  bei  allen 
konkreten  Erörterungen  die  Arbeiter  ein  gutes  sachliches 
Urtheil  hatten,  und  ihr  Zuzug  lieferte  eine  Anzahl  werth- 
voller Anregungen.“')  Warum  hat  man  ein  so  vollkommen 
einwandsfreies  Zeugniss  sich  nicht  zu  Nutze  gemacht, 
sondern  die  Ortsbehörden  und  Polizeibeamten  mit  einer 
Aufgabe  betraut,  die  ihrem  Berufskreis  recht  fern  liegt, 
und  wie  viele  Stellen  der  Bäckerstatistik  beweisen  (vergl. 
z.  B.  S.  10  u.  59)  die  Gleichmässigkeit  und  objektive  Durch- 
führung der  Enquete  dadurch  geschädigt? 

Wir  beschränken  uns  auf  diese  Bemerkungen  zur 
methodischen  Seite  der  neuen  Arbeiterstatistik  und  behalten 
uns  vor  auf  die  materiellen  Ergebnisse  derselben  für  die 
Beurtheilung  der  Lage  der  Bäcker-Gehilfen  und  die  Seitens 
der  Gesetzgebung  daraus  zu  ziehenden  Folgerungen  in 
einem  besonderen  Aufsatze  zurückzukommen. 

Das  Ergebniss  unserer  Betrachtung  fasst  sich  darin 
zusammen,  dass  die  Kommission  für  Arbeiterstatistik  in  ihrer 
Verbindung  mit  dem  kaiserlichen  Statistischen  Amt,  — 
die  besprochene  Statistik  bestätigt  nur,  was  sich  bereits 
aus  der  Organisation  der  Kommission  ergab  — , sich 

!)  Vergl.  Jahresbericht  der  badischen  Fabrikinspektion  für 
das  Jahr  1891,  Karlsruhe,  1892,  S.  32. 


No.  16. 


SOZIALPOl  .TTISCHES  CENTO  ALB  I.  ATT. 


187 


als  eine  ungeeignete  Einrichtung  erweist  sowohl  für  die 
engbegrenzten  arbeitsstatistischen  Aufgaben,  die  ihr  gegen- 
wärtig gestellt  werden,  als  auch  um  so  viel  mehr  für 
weitergehende,  umfassende  und  systematische  arbeits- 
statistische Untersuchungen,  wie  sie  unabweisbare  Noth- 
wendigkeit  sind.  Hier  muss  Wandel  geschaffen  werden 
durch  eine  zweckentsprechende  auf  neuen  und  völlig  selbst- 
ständigen Grundlagen  aufgebaute  Organisation  in  der  Form 
eines  Reichs- Arbeitsamts,  welches  die  Gewähr  bietet  für 
eine  wissenschaftlichen  Erfordernissen  genügende  und  gleich- 
zeitig die  Bedürfnisse  der  Gesetzgebung  und  Verwaltung  be- 
friedigende Ausführung  einer  Arbeitsstatistik 

Berlin.  Heinrich  Braun. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Zur  Vermögenssteuer  in  Preussen.  In  unserer  vorigen 
Nummer  haben  wir  unser  Bedauern  darüber  ausgesprochen, 
dass  die  Vorschläge  der  Subkommission  in  den  Zeitungen 
nur  ungenügend  und  zum  Theil  widerspruchsvoll  wieder- 
gegeben sind.  Die  Lücke  wird  jetzt  in  dankenswerther 
Weise  durch  ein  Mitglied  der  Kommission,  Professor 
Enneccerus,  ausgefüllt,  welcher  soeben  in  einem  eigenen 
Schriftchen  den  augenblicklichen  Stand  der  Verhandlungen 
bespricht1).  Danach  scheint  die  zweite  Steuerform,  welche 
auf  Veranlassung  des  Vorsitzenden  der  Abgeordnete  Fried- 
berg nach  italienischem  Muster  ausgearbeitet  hatte,  nicht 
mehr  auf  der  Tagesordnung  zu  stehen,  sondern  nur  noch 
der  Vorschlag,  welchen  wir  als  „Zuschlagssteuer“  bezeichnet 
hatten  Im  Interesse  einer  Verständigung  über  die  ziemlich 
wirr  durcheinander  laufenden  Vorschläge  wäre  es  wünschens- 
werth,  dass  an  diesem  Ausdruck  (den  wir  den  „Grundzügen“ 
der  Subkommission  entnommen  haben)  festgehalten  würde; 
dies  umsomehr,  da  der  Ausdruck  „fundirte  Einkommen- 
steuer“ mit  der  „reitenden  Artillerie-Kaserne“  auf  einer 
Stufe  steht. 

Die  „Zuschlagssteuer“  also,  welche  die  Kommission 
an  Stelle  der  Vermögenssteuer  vorschlägt,  soll,  wie  wir 
bereits  berichtet  haben,  mit  l1/*  pCt.  erhoben  werden: 
vom  Einkommen  aus  Kapitalvermögen  aus  verpachtetem 
oder  vermiethetem  Grundbesitz  und  Gewerbebetrieb  in  der 
vollen  Höhe  des  Einkommens;  vom  Einkommen  aus  dem 
Betriebe  von  Landwirthschaft  oder  Gewerbe  mit  eigenem 
Besitzthum  verschiedenartig,  je  nach  der  Höhe  des  Ein- 
kommens Diese  Verschiedenartigkeit  regelt  sich  wie  folgt. 
Beträgt  das  Einkommen  mehr  als  40  000  M„  so  wird  es  zur 
Zuschlagssteuer  voll  herangezogen.  Liegt  es  zwischen 

38  000  und  40  000  M.,  so  werden  10  pCt.  ctes  Einkommens 

frei  gelassen;  bei  36000—38000:  II  pCt.;  bei  34000-36000: 
12  pCt.  etc.  . . . .;  bei  900  1200:  38  pCt.;  bei  600—900: 

39  pCt.;  bei  600  M.  und  darunter  40  pCt. 

Hiernach  ist  die  Befürchtung,  welche  wir  auf  Grund 
der  lückenhaften  Berichte  glaubten  aussprechen  zu  sollen, 
vollauf  berechtigt.  Die  Berechnung  der  Einkommensteuer 
würde  in  einer  Weise  komplizirt  werden,  dass  die  Bevöl- 
kerung nicht  mehr  im  Stande  wäre,  den  Irrgängen  dieser 
Berechnung  zu  folgen.  Es  nimmt  sich  geradezu  erheiternd 
aus,  wenn  zu  Gunsten  der  „Zuschlagssteuer“  angeführt 
wird,  dass  ein  Kalkulator  ganz  gut  im  Stande  sei,  die  Be- 
rechnung zu  machen.  Den  Grundzügen  der  Subkommission 
ist  ein  Berechnungsbeispiel  beigefügt,  welches  weit  mehr 
geeignet  ist,  die  Komplizirtheit  der  Berechnungsweise  zu 
veranschaulichen,  als  zu  vermindern. 

Der  Verfasser  der  Brochüre  selbst  ist  ein  entschie- 
dener Gegner  der  Vorschläge,  über  die  er  zu  berichten 
hat.  Er  befürwortet  auf  das  Wärmste  die  Regierungs- 
vorlage und  berührt  sich  hierin  vielfach  mit  den  Argumenten, 
welche  in  unserer  vorigen  Nummer  dargelegt  sind.  Neu 

v)  „Vermögenssteuer,  fundirte  Einkommensteuer,  oder  Erb- 
schaftssteuer?“ Von  Professor  L.  Enneccerus,  Mitglied  der 
Steuerkommission  des  Hauses  der  Abgeordneten.  Marburg, 
El  wert,  1893. 


ist  an  dem  Schriftchen  namentlich  die  Betonung  der 
schweren  Mehrbelastung,  die  gerade  dem  mittleren  und 
kleineren  Gewerbebetriebe  erwachsen  würde,  wenn  an 
Stelle  der  Vermögenssteuer  diese  Form  der  Zuschlagssteuer 
gewählt  würde.  Die  degressive  Scala,  welche  Abzüge  bis 
zu  40  pCt.  vorschreibt,  hat  den  blossen  Schein  einer  Be- 
günstigung der  kleinen  Einkommen  für  sich.  Enneccerus 
weist  an  einzelnen  aus  dem  Leben  gegriffenen  Beispielen 
auf  das  Schlagendste  nach,  dass  trotz  dieser  Abzüge  gerade 
bei  mittleren  und  kleineren  Gewerbetreibenden  noch  immer 
die  Zuschlagssteuer  in  höheren  (und  zwar  theilweise  in  be- 
deutend höherem)  Masse  erhoben  würde,  als  „fundirtes 
Einkommen“  in  Wahrheit  vorhanden  ist.  Zwar  soll  die 
Kommission,  wenn  sie  „zu  der  Ueberzeugung  gelangt,  dass 
ein  erhebliches  Missverhältniss  zu  Ungunsten  des  Steuer- 
pflichtigen bei  Anwendung  des  Tarifs  entstehen  würde“ 
eine  Herabsetzung  um  1 — 10  Stufen  bewirken.  Aber  ganz 
abgesehen  davon,  dass  auch  diese  weitere  Herabsetzung 
durchaus  nicht  immer  genügt,  wird  die  „Ueberzeugung“, 
von  der  hier  die  Rede  ist,  nur  erzielt  werden  können, 
wenn  der  Steuerpflichtige  sich  entschliesst,  den  wahren 
Stand  seines  geringen  Vermögens  darzulegen.  Und  so 
dient  die  Form  der  Zuschlagssteuer  ( — es  ist  dies  einer 
der  werthvollsten  Nachweise  in  der  vorliegenden  Schrift  — ) 
dazu,  um  die  Vermögensdeklaration,  welche  man  durch 
Kommissionsbeschluss  gestrichen  hat,  in  einer  Weise  wieder 
einzuführen,  dass  von  ihr  im  Wesentlichen  nur  die  mittleren 
und  kleineren  Vermögen  getroffen  werden  können. 

Zur  kommunalen  Sozialpolitik  in  Berlin.  Die  sozial- 
demokratischen Stadtverordneten  haben  folgende  Anträge  ein- 
gebracht: 

I.  Die  Versammlung  wolle  beschliessen:  Die  Stadtver- 
ordnetenversammlung ersucht  den  Magistrat,  die  von  ihm 
beschäftigten  Hoch-  und  Tiefbauunternehmer  sowie  die  mit 
Strassenanlagen  und  Pflasterungen  beauftragten  Unternehmer 
zu  veranlassen,  dass  vom  1.  April  d.  J.  an  Einrichtungen  auf 
den  Arbeitsplätzen  getroffen  werden,  bei  denen  es  den  von 
den  Unternehmern  beschäftigten  Arbeitern  ermöglicht 
wird,  die  Arbeitspausen  in  geschlossenen  Räumen  zuzu- 
bringen. 

II  Die  Versammlung  wolle  beschliessen:  Die  Stadtver- 
ordnetenversammlung ersucht  den  Magistrat  um  Herbei- 
führung eines  Kommunalbeschlusses,  wonach  vom  1.  April 
an  ein  städtischer  Centralarbeitsnachweis  errichtet  wird,  der 
neben  der  kostenlosen  Vermittlung  von  Arbeit  die  fort- 
laufende Aufnahme  und  Führung  einer  Arbeitslosenstatistik 
zu  bewirken  hat. 

Weitere  Anträge,  betreffend  die  Regelung  der  Lohn-  und 
i Arbeitsbedingungen  der  städtischen  Arbeiter,  sind  in  Vorbe- 
reitung. 

Kreisstatut  über  Lohnzahlung  an  minderjährige  Arbeiter. 

Von  den  Kreistagen  für  Saarbrücken  und  Saarlouis  wurde  der 
W unseh  ausgesprochen,  es  möge  gemäss  §1 19a  der  Gewerbeordnung 
durch  Kreisstatut  bestimmt  werden,  dass  der  von  minderjährigen 
Arbeitern  verdiente  Lohn  zukünftig  an  die  Eltern  oder  Vor- 
münder ausgezahlt  werde  Diese  Angelegenheit  wurde  nun  in 
der  letzten  gemeinschaftlichen  Vorstandssitzung  des  Vereins  zur 
Wahrung  der  gemeinsamen  und  wirtschaftlichen  Interessen  der 
Saar-Industrie  und  der  „Südwestlichen  Gruppe  des  Vereins 
deutscher  Eisen-  und  Stahl-Industrieller“  zur  Besprechung  ge- 
bracht. Nach  einer  längern  Ausführung  des  Herrn  v.  Stumm 
gegen  diese  Einführung  wurde  folgende  Resolution  gefasst: 
„Die  Vereine  sprechen  sich  auf  das  entschiedenste  gegen  ein 
Kreisstatut  aus,  welches  die  Auszahlung  des  von  Minderjährigen 
verdienten  Lohnes  an  die  Eltern  oder  Vormünder  gemäss  § 1 19a 
der  Gewerbeordnung  vorschreibt.  Wenn  auch  bei  den  eigen- 
tümlichen Verhältnissen  der  fiskalischen  Bergleute  für  diese 
das  Bedürfniss  einer  solchen  Vorschrift  nicht  geleugnet  werden 
soll,  so  besteht  es  für  die  Arbeiter  der  Privatindustrie  in  keiner 
Weise.  Für  diese  genügt  es,  wenn  bei  eintretendem  Bedürfniss 
die  Regelung  wie  bisher  auch  für  die  Folge  von  Fall  zu 
Fall  durch  Vereinbarung  zwischen  Arbeiter  und  Arbeitgeber 
erfolgt.“ 

Neue  Gewerbestatistik  für  Baden.  Im  verflossenen  Spät- 
jahre stellte  die  badische  Regierung  eine  Erhebung  der  Zahl 
der  nach  der  Novelle  zur  Gewerbeordnung  vom  1-  Juni  1891 
einer  besonderen  Aufsicht  unterstehenden  gewerblichen  Be- 
triebe im  Grossherzogthum,  sowie  eine  Zählung  der  in  ihnen 
beschäftigten  jugendlichen  und  erwachsenen,  männlichen  und 
weiblichen  Arbeiter  und  der  verheiratheten  und  verwittweten 
Arbeiterinnen  an,  über  deren  Methode  an  dieser  Stelle  in  No.  8, 
II.  Jahrgang  berichtet  wurde.  Ueber  das  Ergebniss  dieser 
Statistik  kann  die  „Bad.  Korresp.“  jetzt  berichten,  dass  im  Lande 
4859  Anlagen  der  genannten  Art  vorhanden  und  in  demselben 
126  296  Arbeiter  beschäftigt  sind,  84  805  männliche  und  41492 
weibliche;  von  letzteren  sind  20  162  verheirathet  oder  verwittwet. 
Die  Zahl  der  jugendlichen  Arbeiter  hat  gegen  das  Vorjahr  trotz 


188 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  16. 


der  Vermehrung  der  Zahl  der  einer  besonderen  Aufsicht  unter- 
stehenden Anlagen  um  2299  abgenommen  und  zwar  die  jungen 
Leute  um  586,  die  Kinder  um  1736.  In  Prozenten  ausgedrückt 
vertheilte  sich  die  Gesammtzahl  der  Arbeiter  auf 

Kinder  von  12  und  13  Jahren  mit  ...  0,5  pCt. 

Junge  Leute  von  14  und  15  Jahren  mit  . . 8,6  „ 

Arbeiter  von  16 — 20  Jahren  mit 24,5  „ 

Arbeiter  über  20  Jahre  alt  mit 66,4  „ 

Das  Verhältniss  der  Zahl  der  männlichen  zu  der  Zahl  der 
weiblichen  Arbeiter  war  in  Prozenten  ausgedrückt  den  vorstehen- 
den Kategorien  nach  das  folgende: 

männlich  weiblich 

Kinder  von  12  und  13  Jahren  . . . 54  pCt.  46  pCt. 

Junge  Leute  von  14  und  15  Jahren.  48  ,,  52  „ 

Arbeiter  von  16 — 20  Jahren  ....  56  „ 44  ,, 

Arbeiter  über  20  Jahre  alt  ....  74  „ 26  „ 

Für  die  technische  Entwicklung  in  Baden  ist  es  höchst 
charakteristisch,  dass  unter  den  jugendlichen  Arbeitern  von  14 
und  15,  sowie  unter  den  jüngeren  Erwachsenen  von  16 — 20  Jahren 
das  weibliche  Element  theils  eine  überwiegende,  theils  eine  sehr 
bedeutende  Kelle  spielt.  Hier  sprechen  die  Textilfabriken  in 
Südbaden  viel  mit. 

Sozialpolitische  Gesetzentwürfe  in  Oesterreich.  Im 

Ackerbauministerium  sind  zwei  Gesetzentwürfe  ausge- 
arbeitet worden,  von  denen  der  eine  sich  auf  Errichtung 
von  Berufsgenossenschaften  der  Landwirthe,  der  zweite  auf 
die  Errichtung  von  Rentengütern  bezieht.  Zur  Berathung 
dieser  Gesetzentwürfe  ist  eine  Ministerialkommission  einbe- 
rufen, an  welcher  die  Vertreter  sämmtlicher  betheiligten 
Centralstellen  theilnehmen  werden. 


Arbeiterzustände. 

Die  Lage  der  Nagelschmiede  in  den  Dörfern  Arnolds- 
hain und  Schmitten  im  Taunus. 

In  der  Grafschaft  Reifenberg  im  Taunus  wurde  die 
Nagelschmiedindustrie  im  Anfänge  des  18.  Jahrhunderts 
von  dem  Grafen  Kasimir  Ferdinand  von  Bassenheim  ein- 
geführt. Ursprünglich  war  nur  das  Dorf  Reifenberg  be- 
dacht, da  aber  der  grosse  Eisenhammer  sich  in  dem  etwa 
1 Stunde  entfernten  Schmitten  befand,  siedelten  sich  die 
meisten  Nagelschmiede  in  diesem  Orte  und  dem  benach- 
barten Arnoldshain  an.  Durch  die  im  Anfänge  unseres 
Jahrhunderts  gemachte  Erfindung  der  Maschinennägel- 
fabrikation wurde  dem  an  sich  wenig  einträglichem  Ge- 
werbe Abbruch  gethan.  Doch  wurde  dies  durch  die  ver- 
mehrte Nachfrage  nach  Nägelarten,  die  noch  nicht  mittelst 
Maschinen  hergestellt  wurden,  wieder  ausgemerzt,  sodass 
in  den  60er  und  70er  Jahren  ein  bedeutender  Aufschwung  zu 
verzeichnen  ist.  Diese  vermehrte  Nachfrage  rührte  be- 
sonders von  dem  Wachsthum  der  benachbarten  Städte 
(Frankfurt  a.M.,  Wiesbaden)  und  der  Zunahme  des  Verkehrs 
her.  Der  Aufschwung  erreichte  1877  seinen  Endpunkt,  und  es 
beginnt  hier  der  Niedergang  des  Gewerbes.  Von  den  Zu- 
stand dieses  Handwerkes  in  den  5 Taunusdörfern  Ober-  und 
Niederreifenberg,  Seelenberg,  Schmitten,  Arnoldshain  in 
dem  Jahre  1880/81  giebt  Schnapper-Arndt,  in  seinem  Buche 
„5  Dorfgemeinden  auf  dem  Hohen  Taunus“,  eine  ausge- 
zeichnete Schilderung. 

Die  Aufgabe,  die  ich  mir  stellte,  war  die,  zu  unter- 
suchen, wie  sich  die  Zustände  in  den  folgenden  12  Jahren 
verändert  haben.  Während  meines  Aufenthaltes  im  Herbste 
1892  in  den  Taunusdörfern,  besonders  in  Schmitten,  veran- 
staltete ich  eine  Enquete,  welche  ich  mittelst  kurzer  aber 
die  Hauptpunkte  berücksichtigenden  Fragebogen  aufnahm, 
deren  Ergebnisse  ich  im  Folgenden  mittheile. 

Der  Einwohnerstand  in  den  beiden  Dörfern  gestaltet 
sich  so,  dass  in  Schmitten  die  Einwohnerzahl  auf  742,  also 
um  2 gegen  das  Jahr  1880/81  gestiegen  ist  und  die  von 
Arnoldshain  auf  670,  also  um  16  gestiegen  ist.  Trotzdem 
ist  die  Anzahl  der  Nagelschmiede  in  Schmitten  auf  44,  also 
um  26  gesunken.  Von  diesen  44  Meistern  haben  33  und  in 
Arnoldshain  von  ca.  30  Meistern  23  meine  Fragebogen 
ausgefüllt. 


Die  Absatz  Verhältnisse  haben  sich  insoweit  nach  den 
Aussagen  der  Meister  geändert,  dass  die  Grossisten  fast 
alle  sich  jetzt  an  die  Fabriken  wenden  und  die  Meister 
sich  mit  den  kleinen  Abnehmern  begnügen  müssen;  um  wenig- 
stens diese  sich  zu  erhalten  bedarf  es  der  grössten  Mühe  und 
Sorgfalt.  Oft  kommt  es  vor,  dass  ein  Meister  Freitag  Nacht 
um  I Uhr  abmarschirt  und  bis  Samstag  Abend  mit  seiner 
Waare  herumzieht,  ohne  sie  vollständig  loszuwerden.  Die 
Fabriken  haben  zu  viele  Vortheile  auf  ihrer  Seite,  sie 
müssen  in  der  Konkurrenz  die  Sieger  bleiben,  obgleich,  rich- 
tiger wohl  weil  die  Preise  der  Nägel  sehr  gesunken  sind.  Ich 
habe  im  Folgenden  die  Preise  angegeben,  die  ich  von  Meistern 
als  Preise  für  die  Kunden  auf  dem  Lande  erhielt.  Ich  kann 
dieselben  daher  nicht  mit  denjenigen  vergleichen,  welche 
Schnapper-Arndt  für  das  Jahr  1880/81  angiebt  und  welche 
für  Grossisten  galten,  sondern  ziehe  die  Preisangaben  aus 
dem  Jahre  1877  von  demselben  Verfasser  heran.  Rubrik  II 
bezeichnet,  wieviel  Pfund  der  Sorte  auf  1000  Nägel  gehen: 


I. 

II. 

III. 

IV. 

V. 

VI. 

A r t 

Pfund 

1877 

1892 

gesunken 
absolut  relativ 

Sohlnägel  . . . 

2 

1,47 

1,16 

0,31 

21,1 

do.  ... 

3 

1,89 

1,45 

0,44 

23,3 

do  . . . 

4 

2,40 

1,80 

0,60 

25 

Schlossnägel  . . 

2l/2 

1,89 

1,70 

0,19 

10,1 

Speichernägel 

7 

3,57 

3,25 

0,32 

8,9 

Es  fand  also  von  1877  auf  1892  ein  durchschnittliches 
Fallen  des  Preises  um  17,68  pCt.  statt.  Dabei  ist  noch 
zu  beachten,  dass  die  best  bezahlte  Sorte,  die  Hufnägel, 
die  also  den  Durchschnittsgewinn  eines  Nagelschmiedes  im 
Jahre  1877  bedeutend  erhöhte,  in  der  vergleichenden 
Tabelle  garnicht  mehr  erwähnt  ist,  da  sie  jetzt  nicht  mehr 
angefertigt  wird.  Es  ist  leicht  erklärlich,  dass  bei  einem 
solchen  Rückgang  die  Nagelschmiede  sich  nach  einer 
Rückendeckung  umsehen  und  diese  bildet  der  Ackerbau. 
Es  besitzen  die  33  Meister  zusammen  54'/2  Morgen  Land, 
die  23  Meister  in  Arnoldshain  1 03 1 /.>  Morgen  Land,  welches 
sich  also  vertheilt: 

In  Schmitten  sind  ohne  Land  7'),  mit  weniger  als  2 Morgen 
14,  mit  2 — 4l/a  Morgen  11,  mit  mehr  als  4'/2  Morgen  1; 

In  Arnoldshain  sind  ohne  Land  I2),  mit  weniger  als  zwei 
Morgen  5,  mit  2 — 4’/2  Morgen  7,  mit  mehr  als  4!/o  Morgen 
zehn. 

Es  erhellt  hieraus,  dass  die  Meister  in  Schmitten  noch 
hauptsächlich  auf  ihr  Handwerk  angewiesen  sind,  und  that- 
sächlich  befinden  sich  daselbst  auch  die  ärmsten  Nagel- 
schmiede. Es  existirt  nur  einer  mit  grösserem  Grundbesitz 
daselbst  und  zwar  mit  12  Morgen,  der  nächstbeste  besitzt 
4 Morgen  Land,  während  in  Arnoldshain  10  Meister,  also 
43 1 /2  pCt.  zwischen  5 und  14  Morgen  besitzen.  Dieser 
verhältnissmässig  geringen  Anzahl  gewährt  die  Landwirth- 
schaft  einen  Schutz  gegen  das  gänzliche  Verarmen  in  der 
Konkurrenz  mit  den  Fabriken.  Ausser  dem  vorher  schon 
erwähnten  Vortheil  des  bequemeren  Absatzes  stehen  den 
Fabriken  noch  folgende  Thatsachen  zur  Seite.  Einmal  sind 
sie  in  der  Lage  ihre  Nägel  in  schöner  Verpackung  ihren 
Abnehmern  zukommen  zu  lassen,  dann  aber  gewähren  sie 
ihren  Kunden  Kredit  oder  hohen  Rabatt  bei  Baarzahlung, 
und  darauf,  besonders  auf  Kredit  geben  kann  sich  der 
Nagelschmied  schwer  einlassen.  Denn  dieser  muss,  wenn 
er  nicht  selbst  wieder  .Schulden  machen  will,  die  Zahlung 
sofort  zum  Einkauf  neuer  Rohmaterialien  benutzen.  Der 
geringe  Kundenkreis,  den  die  Nagelschmiede  noch  besitzen, 
wird  ihnen  wohl  auch,  sobald  die  Fabriknägel  sich  in  die 
von  den  Verkehrsstrassen  abliegenden  Dörfer  ihren  Weg 
gebahnt  haben,  entrissen  werden. 

Die  Nahrungs-  und  Wohnungsverhältnisse  sind  diesen 
Gesammtverhältnissen  entsprechend  und  dürfte  wohl  hier 

*)  Davon  sind:  ledig  2,  Wittwer  mit  1 unmündigen  Kind  1, 
14  verheirathet,  von  denen  3 je  2 unmündige  Kinder  und  einer 
kein  unmündiges  Kind  hat. 

2)  Derselbe  ist  ledig. 


No.  16. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT 


189 


die  Schilderung  des  Haushaltes  des  Nagelschmiedes  N.  N. 
als  charakteristisch  für  die  Lage  aller  den  Hauptpunkten 
nach  angeführt  werden:  N.  N.  ist  bald  50  Jahre  alt,  ver- 

heirathet  und  hat  drei  unmündige  Kinder.  Er  arbeitet  auf 
eigene  Kosten  in  der  Werkstatt  eines  anderen  Meisters,  dem 
er  täglich  für  die  Benutzung  der  Werkzeuge  eine  Entschädi- 
gung von  20  Pf.  giebt.  Um  5 LJhr  steht  er  am  Ambos  und 
nach  einer  kleinen  Pause  um  8 Uhr,  in  der  Kaffee  mit 
Brot  genossen  wird,  geht  die  Arbeit  bis  12  Uhr.  Das  Mittag- 
essen wird  gebildet  von  einer  Wassersuppe,  Kartoffeln  und 
Gemüse  soweit  es  das  eigene  Land  liefert,  Fleisch  giebt  es 
nur  zur  Kirchweih  und  Weihnachten,  dann  wird  bis  5 Uhr 
wieder  gearbeitet.  Das  Abendessen  besteht  meist  aus  Kar- 
toffeln mit  Salat  oder  manchmal  auch  Brot  und  Wurst. 
Der  Rest  des  Tages  wird  mit  dem  Bestellen  der  2 Morgen 
Land  oder  anderen  gelegentlichen  Arbeiten  vollbracht. 
Sein  höchster  Reinverdienst  beträgt  am  Tage  1,20  M.,  dabei 
schleppt  er  seine  Nägel  oft  bis  nach  Hanau  zum  Verkauf. 
Die  Frau  sucht  durch  Einfädeln  von  Perlen  für  die  Reifen- 
berger Perlkranzfabrik  den  Verdienst  etwas  zu  erhöhen, 
wobei  die  Kinder  (2  Knaben  von  1 1 und  7 und  ein  Mäd- 
chen von  8 Jahren)  helfen.  Dabei  verdient  sie  am  Tage 
20 — 30  Pf.  Das  Land  wird  als  Kartoffelacker  und  Wiesen- 
stück  benutzt.  Letzteres  liefert  im  Sommer  das  Futter  für 
die  beiden  Ziegen.  Im  Winter  erfordert  die  Fütterung  der 
Thiere  noch  besondere  Auslagen.  Sodann  besitzt  die 
Familie  noch  einige  Hühner.  Von  dem  kleinen  2 stockigem 
Hause,  das  sein  Eigenthum  ist,  vermiethet  N.  N.  den 
2.  Stock,  bestehend  aus  Wohnstube,  Küche  und  kleiner 
Kammer,  gegen  eine  Jahresmiethe  von  80  M.  Zum  Schlüsse 
wäre  noch  der  kleine  Nebenverdienst  im  Herbst  durch 
Beerenlesen  zu  erwähnen.  Den  Hauptbestandteil  des 

Mobiliars  bilden  2 Betten,  1 Kommode,  1 Schrank,  1 Tisch 
und  4 alte  Stühle.  Ausser  dem  Arbeitsanzug  für  den  Werk- 
tag besitzt  jedes  Familienglied  einen  besseren  für  Sonn- 
und  Feiertage.  Schuhwerk  zum  Wechsel  steht  dagegen 
nicht  zur  Verfügung. 

Wie  dieser  Meister  so  haben  auch  die  anderen  zum 
grossen  Theile  keine  Hilfe  in  der  Werkstatt.  Von  den  33 
in  Schmitten  haben  keine  Hilfe  19,  von  den  23  in  Arnolds- 
hain 14. 

Einen  Sohn  haben  in  der  Werkstatt  beschäftigt  9 
bezw.  6;  2 Söhne  in  Schmitten  2 Meister,  in  Arnoldshain 
keiner.  Einen  Gesellen  haben  in  Schmitten  3 Meister,  in 
Arnoldshain  4. 

Dass  die  Hilfeleistung  in  Arnoldshain  verhältnismäßig 
grösser  ist,  rührt  daher,  dass  die  dortigen  Meister  zum 
grossen  Theil  durch  den  Landbesitz  sehr  geschützt,  das 
Herabgehen  des  Handwerkes  nicht  in  dem  Maasse  spüren, 
als  die  ärmeren  Meister  und  daher  ein  oder  den  anderen 
Sohn  das  Handwerk  wieder  erlernen  lassen. 

Die  Lohnverhältnisse  speziell  für  die  Gesellen  in 
Schmitten  gestalten  sich  im  Durchschnitt  folgendermassen, 
wobei  ich  dieselben  Nägelsorten  annehme  wie  oben  bei 
den  Preisen: 


N ägelsorte 

Pfund 

Lohn  für  1000 
1877  1892 

Gesunken 
absolut  relativ 

Sohlnägel  . . . 

2 

0,57 

0,48 

0,09 

16% 

do.  . . . 

3 

0,64 

0,55 

0,14 

20% 

do.  . . . 

4 

0,80 

0,60 

0,20 

25% 

Schlossnägel  . . 

2'/ 2 

0,80 

0,80 

0,00 

0 o/o 

Speichernägel 

7 

1,14 

1,00 

0,14 

12% 

Nimmt  man  die  Berechnung  des  täglichen  Lohnes  auf 
Grundlage  der  Angaben  von  Schnapper-Arndt,  so  erhält 
man  den  Durchschnittslohn  aus  diesen  5 Sorten  für  das 
Jahr  1877  in  der  Höhe  von  1,25,  für  1881  von  1,07,  für  1892 
von  1,04. 

Dazu  kommt,  dass  die  Hufnägelfabrikation,  die  auch 
für  die  Gesellen  am  meisten  einträglich  war,  vollständig- 
lahm  gelegt  ist.  Diese  Angaben  über  die  Gesellen  habe 
ich  aus  dem  Bericht  zweier  Meister,  die  einen  Gesellen 
haben  und  einem  Meister,  der  keinen  hat.  Die  meisten 
Gesellen  und  viele  kleinere  Meister  sind  in  die  in  Reifen- 


berg angelegten  Gasrohrhakenfabriken  eingetreten.  Viele 
der  Einwohner  Schmittens  sind  in  den  letzten  Jahren 
in  die  Fabrik  bei  Frankfurt,  Höchst  u.  s.  w.  eingetreten. 
Während  1881  nur  6 in  auswärtigen  Fabriken  beschäftigt 
waren,  sind  es  1892: 

21  Familienväter, 

4 Frauen, 

30  ledige  Personen  (meist  im  Alter  von  14 

bis  20  Jahren). 

Die  grösste  Anzahl  davon  absorbirt  die  grosse 
Spinnerei  und  Weberei  „Hohe  Mark“,  welche  von  Schmitten 
aus: 

5 verheirathete  männliche, 

4 ,,  weibliche  Personen, 

12  ledige  junge  Burschen, 

12  „ „ Mädchen  beschäftigt. 

Ganz  ausgewandert  sind  in  den  letzten  Jahren  vier 
Familien  in  die  Fabrikdistrikte  bei  Frankfurt  und  Höchst. 

Was  die  Ausgaben  der  Armenkasse  des  Ortes 
Schmitten  angeht,  so  wurden  1891/92  für  Ortsarme  995  M. 
baar,  gegen  261,14  M.  im  Jahre  1880/81  ausgegeben.  Dazu 
kommen  noch  die  jährlichen  Weihnachtsunterstützungen 
von  einer  Frankfurter  Gesellschaft  in  Gestalt  von  Kleidungs- 
stücken im  Werthe  von  ca.  100  M.  und  eine  erhebliche 
Unterstützung  von  Seiten  des  Frankfurter  Taunusklubs  in 
Geld  und  Esswaaren. 

Diese  Unterstützungen  kommen  zum  grossen  Theile 
den  verarmten  Nagelschmieden  zu  gute.  Man  muss  sich 
hier  bewusstsein,  dass  man  den  nur  noch  spärlichen  Vertretern 
eines  aussterbenden  Handwerks  diese  Dienste  thut  (das  Durch- 
schnittsalter der  Meister  ist  in  Schmitten  46  Jahre,  in 
Arnoldshain  52  Jahre).  Auf  der  anderen  Seite  muss  man 
nicht  glauben,  dass  das  das  richtige  sei,  zuzusehen,  wie 
diese  Leute  gegen  den  Strom  schwimmen  und  allmählich 
vom  Strudel  hinabgerissen  werden,  sondern  es  ist  unsere 
Pflicht,  hier  den  einmal  bestehenden  Meistern  weiter  zu 
helfen,  aber  zu  verhindern,  dass  neue  Werkstätten  entstehen. 
Es  muss  den  Meistersöhnen  Gelegenheit  geboten  werden, 
ein  anderes  Handwerk  zu  ergreifen.  Viele  Meister  sehen 
schon  ein,  dass  ihre  Söhne  mit  diesem  Handwerk  keine  Familie 
ernähren  können  und  lassen  sie  etwas  anderes  erlernen. 

Die  meisten  der  Nagelschmiede  fordern  eine  Eisenbahn, 
damit  ihnen  der  Transport  erleichtert  wird.  Von  anderer 
Seite  wäre  auch  dies  sehr  vortheilhaft  für  die  bereits  be- 
stehenden grösseren  Unternehmungen  wie  Gasrohrhaken-, 
Holzwolle-,  Schirmstöcke-Fabriken  u.  a.  m.  und  es  gäbe  auch 
vielleicht  eher  einen  Anstoss,  ähnliche  Unternehmungen  zu 
begründen,  die  dann  die  Nagelschmiede  als  Arbeiter  be- 
schäftigten. Andere  Nagelschmiede  sehen  ihre  Hilfe  darin, 
dass  das  Militär  wieder  von  ihnen  Huf-  und  Schuhnägel 
bezieht,  oder  dass  die  Konkurrenz  der  Zuchthäuser,  in 
denen  Nägel  geschmiedet  werden,  aufgehoben  wird. 

Wieder  andere  möchten  endlich  eine  genossenschaft- 
liche Vereinigung  der  Nagelschmiede  begründen.  Aehn- 
liche  Pläne  wurden  1849  und  1857  angeregt  und  ausgeführt, 
scheiterten  jedoch  beide;  erst  recht  so  würde  es  einer 
solchen  Vereinigung  in  der  augenblicklichen  Lage  gehen. 

Freiburg  i.  B.  Fritz  Bickel. 


Zur  Arbeitslosenstatistik  in  deutschen  Städten.  In  einer 
Reihe  deutscher  Städte  wurden  nach  verschiedenen  Systemen 
Arbeitslosenstatistiken  aufgenommen  bezw.  werden  sie  vorbe- 
reitet. Vorläufige  Ergebnisse  liegen  ausser  von  Mannheim  u.  a. 
von  Braunschweig  und  Halle  a.  S.  vor. 

Das  Ergebniss  der  Arbeitslosenstatistik  in  Braunschweig 
war  folgendes:  Arbeitslose  wurden  bis  Mitte  Dezember  gezählt: 
1367.  Davon  waren  verheirathet  659  mit  1752  Kindern,  115  ohne 
Kinder,  unverheirathet  593.  Summe  aller  Arbeitslosen  sammt 
Frauen  und  Kindern: 

774  Verheirathete  X 2 = 1548  Köpfe 

Kinder  = 1752  „ 

LTnverheirathete — 593  „ 

Im  Ganzen  3893  Köpfe. 

Bei  der  Aufnahme  ist  noch  zu  berücksichtigen,  dass  eine 
grosse  Anzahl  Arbeitslose  theils  aus  Angst,  theils  aus  Egoismus, 


190 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  16. 


theils  auch  aus  Gleichgültigkeit  sich  nicht  gemeldet  haben.  Trotz 
dieses  Ergebnisses  liess  am  Dienstag  Morgen  der  Inspektor 
Kreis  in  Brauschweig  die  Arbeit  am  Bürgerpark  wegen  Frostes 
einstellen,  wodurch  232  Arbeiter  sammt  ihren  Familien  brotlos 
wurden.  Die  ^ Arbeiter  Braunschweigs  haben  sofort  Protest 
gegen  dieses  Vorgehen  erhoben,  worauf  der  Magistrat  in  seiner 
gestrigen  Sitzung  beschloss,  die  Arbeiten  wieder  aufnehmen  zu 
lassen. 

Das  Gewerkschaftskartell  zu  Halle  a.  S.  hat  am  4.  De- 
zember eine  Statistik  der  Arbeitslosen  aufgenommen,  deren 
Ergebniss  jetzt  vorliegt.  Insgesammt  sind  1002  Arbeitslose 
ermittelt  worden,  wovon  632  verheirathet  waren  und  ins- 
gesammt 1710  Kinder  zu  ernähren  haben.  Durchschnitt- 
lich kommen  auf  jeden  Arbeitslosen  81  Tage  Arbeitslosigkeit. 
Die  kürzeste  Arbeitslosigkeit  betrug  1,  die  längste  1095  Tage. 
Die  grösste  Zahl  Arbeitsloser  stellte  die  Branche  „nichtgelernter“ 
Arbeiter,  nämlich  490,  dann  die  der  Maurer  (140),  Zimmerer  47), 
Maler  (41),  Schlosser  (36),  Tischler  (25)  u.  s.  f.  Die  durch  die 
Statistik  ermittelte  Zahl  der  Arbeitslosen  kann  keinen  Massstab 
bieten  für  die  wirkliche  Zahl  der  Unbeschäftigten. 

Die  Arbeiter,  welche  die  Fragebogen  vertheilten,  kamen  in 
Wohnungen,  die  man  richtiger  alsPesthöhlen  bezeichnet.  „Mobiliar 
war,  wie  das  Halle’sche  „Volksblatt“  berichtet,  in  manchen  Woh- 
nungen fast  gar  nicht  vorhanden.  An  Stelle  der  Betten  lag  da 
ein  Strohsack  auf  den  Dielen,  auf  welchen  nicht  selten  kranke, 
abgehärmte  und  halb  verhungerte  Kinder  lagen.  Familien  mit 
mehreren  Kindern  wurden  angetroffen,  wo  der  Vater  schon 
monatelang  keine  Arbeit  hatte.  Verschiedene  flehten  die  Sammler 
um  Unterstützung  an.  Andere  wieder  besassen  die  falsche 
Scham,  nicht  mitzutheilen.  dass  sie  arbeitslos  seien,  wodurch 
ein  grosser  Prozentsatz  nicht  ermittelt  worden  ist  Vorzüglich 
trifft  dies  die  Handwerker“. 

Ferner  liegen  Angaben  vor  über  die  Arbeitslosigkeit  in 
Ludwigshafen  und  Karlsruhe  i B. 

In  Ludwigshafen  hat  die  Armenpflegerschaft  über  die 
Arbeitslosigkeit  am  Orte  Erhebungen  angestellt  und  400  Per- 
sonen eruirt,  denen  es  an  Arbeit  gebricht.  " Es  dürfte  aber  diese 
Erhebung,  trotzdem  sie  gewissermassen  amtlich  gemacht  wurde, 
noch  lange  keine  vollständige  sein. 

Aus  Karlsruhe  meldet  das  „Berliner  Tageblatt“:  Die  Zahl 
der  hiesigen  Arbeitslosen  beträgt  1400.  Dieselben  haben  eine 
Kommission  gewählt,  welche  vom  Stadtrath  Arbeit  erbitten  soll. 

Sehr  gut  vorbereitet  war  die  in  Dresden  auf  Grund  der 
im  Sozialpolitischen  Centralblatt  vorgeschlagene  Methode  in 
Aussicht  genommene  Arbeitslosenstatistik.  Dass  dieselbe  nicht 
in  Angriff  genommen  wird,  ist  Schuld  der  Dresdner  Polizeibe- 
hörde. Ob  dies  im  Einverständnisse  mit  der  Regierung  ge- 
schah, deren  statistisches  Btireau  lebhaftes  Interesse  für  die 
Sozialstatistik  gezeigt  hat,  wird  der  Entscheid  der  Oberbe- 
hörden zeigen,  an  die  sich  die  Veranstalter  beschwerdeführend 
gewandt  haben. 

Die  Thatsache,  dass  eine  sozialstatistische  Erhebung  seitens 
der  Arbeiter,  sicherlich  eine  Thätigkeit  im  Rahmen  der  gesetz- 
lichen Ordnung,  durch  das  Machtwort  einer  Polizeibehörde  ver- 
hindert werden  kann,  ist  so  charakteristisch  für  die  sozialpoli- 
tische Einsicht  und  für  die  weitausschauende  Arbeiterfürsorge 
unserer  Behörden,  dass  wir  darauf  näher  eingehen  müssen. 

Mitte  Dezember  v.  J.  ging  der  Dresdener  Polizeidirektion 
folgende  Eingabe  zu: 

. „Der  Unterzeichnete  Vorstand  des  „Vereins  Centralkom- 
mission aller  Branchen  von  Dresden“  stellt  hiermit  ergebenst 
das  Gesuch  an  die  königliche  Polizeidirektion,  gestatten  zu 
wollen,  dass  derselbe  eine  Geldsammlung  innerhalb  der  Berufe 
der  hiesigen  Arbeiter  veranstalten  darf.  Der  Zweck  dieser 
Geldsammlung  ist  die  Aufbringung  derjenigen  Kosten,  welche 
uns  durch  die  geplante  Aufnahme  einer  Statistik  der  in  hiesiger 
Stadt  aufhältlichen  Arbeitslosen  erwachsen  werden.  Eine  solche 
Aufnahme  vorzunehmen  ist  der  Unterzeichnete  Vorstand  von 
dem  oben  genannten  Verein  in  dessen  Sitzung  vom  4.  No- 
vember d.  J,  beauftragt  worden.  Das  Geld  soll  Verwendung 
finden  zum  Druck  der  Zählkarten,  gedruckter  Erläuterungen  für 
die  Zähler,  Honorar  zur  Sichtung  des  Materials  und  eventuell 
für  die  Zähler  bei  ungenügender  Anzahl  von  freiwilligen  Zählern. 

Wir  erlauben  uns,  der  königlichen  Polizeidirektion  zu 
diesem  Gesuch  zu  bemerken,  dass  der  Wunsch  einer  solchen 
Statistik  in  Arbeiterkreisen  seit  Jahren  ein  sehr  lebhafter  ist, 
da  dieselben  zu  erfahren  wünschen,  wie  weit  das  Uebel  der 
Arbeitslosigkeit  in  den  einzelnen  Berufen  verbreitet  ist.  Aber 
auch  für  alle  anderen  Kreise  der  Bevölkerung  ist  eine  solche 
Statistik  von  höchstem  Werthe,  was  durch  sämmtliche  kompe- 
tente Persönlichkeiten  und  Gelehrte  auf  dem  Gebiete  der  Sozial- 
politik anerkannt  worden  ist. 

Da  wir  beabsichtigen,  die  Zählung  bereits  im  Monat  Januar 
vorzunehmen,  ersuchen  wir  die  königliche  Polizeidirektion,  diese 
Angelegenheit  möglichst  zu  beschleunigen.“ 

Nach  Verlauf  von  vier  Wochen  wurde  die  von  den  Dres- 
dener Arbeitern  gewünschte  Geldsammlung  verboten  und  die 
Arbeitslosenstatistik  gänzlich  verboten. 

Das  Verbot  hat  folgenden  Wortlaut: 

Bekanntmachung. 

Nachdem  zur  Kenntniss  gelangt  ist,  dass  der  hiesige  Verein 
„Centralkommission  aller  Branchen  von  Dresden  und  Lbngegend“ 
die  Aufnahme  einer  Statistik  in  hiesiger  Stadt  aufhältlicher 


Arbeitloser  durch  Ausgabe  von  Zählkarten  in  den  Häusern  und 
den  Wohnungen  der  Stadt  und  durch  Aussendung  von  Zählern 
in  letztere  beabsichtigt,  so  wird  mit  Rücksicht  auf  die  hieraus 
für  die  Einwohnerschaft  erwachsenden  Belästigungen  und 
sonstigen  LTnzuträgl  ichkeiten,  jede  derartige  Zählung, 
insbesondere  die  Ausgabe  von  Zählkarten  in  den  Häusern  und 
den  Wohnungen,  sowie  auf  den  Strassen,  Plätzen  und  Orten 
des  öffentlichen  Verkehrs,  und  das  Auftreten  von  Zählern  zu 
dem  oben  gedachten  Zwecke  innerhalb  der  Stadt  Dresden  hier- 
mit verboten. 

Zuwiderhandlungen  werden  mit  Geld  bis  zu  60  Mark  oder 
mit  Haft  bis  zu  14  Tagen  bestraft  werden. 

Dresden,  am  II.  Januar  1893. 

Die  Königl.  Polizei-Direktion. 

A.  Schwauss. 

Wenn  nun  auch  gegen  diesen  Bescheid  der  Polizeidirektion 
Beschwerde  bei  der  Oberbehörde  eingelegt  werden  wird,  so  ist 
doch  vorläufig  die  Absicht  der  Dresdener  Gewerkschaften,  die 
Zahl  der  Arbeitslosen  festzustellen,  zu  nichte  gemacht  worden. 

Aus  der  ganzen  Geschichte  der  Verfolgungen  der  Arbeiter- 
bewegung ist  uns  nur  ein  ähnlicher  Fall  in  Erinnerung  und 
zwar  aus  Wien  zur  Zeit  des  Ausnahmezustandes.  Damals 
wurde  der  Bäckerfachverein,  welcher  eine  Statistik,  über  Lohn- 
end Arbeitsverhältnisse  in  seinem  Gewerbe  erheben  wollte,  von 
der  Polizei  sistirt  mit  der  Begründung,  dass  die  Statistik  Auf- 
gabe des  Staates  sei,  demnach  statistische  Erhebungen  eines 
Vereins  unberechtigte  Eingriffe  in  die  Machtbefugnisse  des 
Staates  seien. 

Zum  Nothstand  in  Berlin.  Charakteristisch  für  die  in 
Berlin  herrschenden  Nothstandsverhältnisse  und  die  völlig  un- 
zureichende Art,  in  der  ihnen  zu  steuern  versucht  wird,  ist  die 
folgende  durch  die  Zeitungen  gehende  Notiz:  Mehr  als  4000 
Personen  suchen  und  finden  jetzt  täglich  in  der  Wärmehalle  in 
den  Stadtbahnbögen  am  Alexanderplatz  Unterkunft.  Natürlich 
kann  die  Beherbergung  einer  solch  grossen  Anzahl  Menschen 
in  den  kaum  900  Personen  fassenden  Räumen  nur  dadurch  be- 
wirkt werden,  dass  die  Wärmehallen  nach  Ablauf  einer  Stunde 
von  den  Gästen  geräumt  werden  müssen,  um  den  draussen 
Harrenden  Zuflucht  zu  gewähren.  Mit  Genugthuung  kann 
jedoch  bemerkt  werden,  dass  das  Publikum  den  Anordnungen 
der  Beamten,  nach  Ablauf  der  Stunde  die  Säle  zu  verlassen, 
willig  Folge  leistet,  während  es  im  vorigen  Winter  häufig  zu 
erregten  Scenen  kam.  Wie  seitens  der  Verwaltung  der 
Wärmehalle  mitgetheilt  wird,  erweist  sich  die  letztere  viel  zu 
klein,  um  segensreich  wirken  zu  können,  um  so  mehr,  als  die 
beiden  Wärmehallen,  die  im  vorigen  Jahre  noch  vorhanden 
waren,  eingegangen  sind.  Die  Halle  in  Moabit  war  nur  wenig 
besucht  und  zwecklos,  die  Räumlichkeiten  der  Halle  in  der 
Jerusalemerstrasse  wollte  der  Hausbesitzer  nicht  mehr  hergeben, 
da  er  der  Ansicht  ist,  dass  dadurch  sein  Haus  an  Werth  ver- 
liert. Es  wäre  recht  wünschenswert!!,  wenn  der  Magistrat  oder 
die  königlichen  Behörden  einige  von  den  ihnen  zur"  Verfügung- 
stehenden  Räumlichkeiten  dem  Verein  für  Arbeitsnachweis  für 
diesen  Zweck  überlassen  würden!  Die  Privatwohlthätigkeit 
macht  sich  in  anerkennenswerther  Weise  geltend.  Nicht  nur 
werden  Unterstützungen  an  Feuerungsmaterial,  Speisen  etc. 
gegeben,  sondern  auch  häufiger  werden  dem  Verein  Geld- 
summen überwiesen,  für  welche  Bedürftige  umsonst  gespeist 
werden.  Ebenso  werden  von  Seiten  des  Vereins  täglich  etwa 
250  Portionen  Suppe  unentgeltlich  ausgetheilt. 

Vom  englischen  Arbeitsmarkt.  Dem  Bericht  John 
Burnett’s,  des  Arbeitskorrespondenten,  an  das  Handelsamt 
über  die  Verhältnisse  des  Monats  November  entnehmen  wir 
folgende  Daten:  Die  Verhältnisse  des  Marktes  für  gelernte  Ar- 
beiter blieben  annähernd  unverändert.  In  einigen  Branchen 
gab  es  sogar  eine  geringe  Verbesserung,  aber  das  sind  solche, 
die  Saisongeschäfte  par  excellence  sind,  wie  die  Schreinerei, 
so  dass  die  Besserung  wenig  Bedeutung  hat.  Im  Monat 
November  war  die  Zahl  der  Strikes  44,  von  welcher  nur 
der  der  Baumwollenarbeiter  von  Lancashire  eine  grosse  Be- 
deutung hat.  Acht  davon  entfielen  auf  die  Bauarbeiter,  7 auf 
die  Kohlengruben,  4 auf  den  Schiffbau,  5 auf  die  Textilindustrie, 
2 auf  die  Kleiderfabrikation  und  der  Rest  auf  verschiedene 
Industrien. 

Im  Ganzen  sendeten  22  Trades-Lbrions  ihre  Berichte  über 
den  Arbeitsmarkt  ein.  Diese  Gewerkschaften  umfassen  270  288 
Mitglieder,  von  welchen  22  342  ohne  Arbeit  sind,  gegenüber  19  684 
im  vorangegangenen  Monat.  Der  Prozentsatz  ist  also  8,27  gegen 
7,33  im  letzten  Monat.  Hierin  sind  übrigens  2000  ausgesperrte 
Baumwollarbeiter  inbegriffen,  so  dass  im  übrigen  eine  sehr  geringe 
Veränderung  zu  konstatiren  ist.  Anders  aber  stellt  sich  der 
Vergleich  mit  dem  vorigen  Jahr.  Im  entsprechenden  Monat  1891 
war  der  Prozentsatz  der  Arbeitslosen  3,81  und  im  entsprechenden 
Monat  1890  nur  2,40.  Zwei  Gewerkvereine  machen  die  allgemeine 
Angabe,  dass  ihr  Geschäftsgang  sehr  schlecht  sei,  11  bezeichnen 
ihn  als  schlecht,  6 als  mässig  und  nur  3 als  gut 


No.  16. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


191 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Der  Bergarbeiterausstand  im  Saarrevier  und  in 
Rheinland- Westfalen. 

Steigende  gegenseitige  Verbitterung  das  ist  die 
Signatur  der  Ausstandsbewegung  in  den  staatlichen  Saar- 
kohlengruben, wie  sie  sich  seit  dem  5.  Januar,  dem  Datum 
des  ersten  Berichtes  an  dieser  Stelle,  bis  zum  12.  Januar, 
dem  Abfassungstag  dieser  Zeilen,  weiter  entwickelt  hat, 
der  äussere  Verlauf  in  dieser  Berichtswoche  spiegelt  sich 
zunächst  in  folgenden  Thatsachen  wieder 

Die  preussische  Grubenverwaltung  im  Saarreviere 
rechnet  die  jetzige  Gesammtbelegschaft  aller  ihrer  Schächte 
auf  rund  30  000  Mann.  Davon  arbeiteten  nach  den  amtlichen 
Bekanntmachungen : 


am  2. 

Januar  

4 611  Mann 

3. 

v 

6 283  ,. 

4. 

55  

7 824  „ 

„ 5. 

>5  

8 473  „ 

„ 7. 

8 784  „ 

„ 9. 

55  

9 873  „ 

„ io. 

11  171 

„ 11. 

v 

13  316  „ 

Wenn  diese  Mittheilungen  genau  zutreffen,  so  nahm 
also  die  Zahl  der  Arbeitenden  in  der  Berichtswoche  lang- 
sam, aber  stetig  zu;  dennoch  hätten  am  12.  Januar  von 
30000  Bergleuten  immer  noch  etwa  17000  imStrike  gestanden 
Bezeichnend  für  das  Anfangsstadium,  in  welchem  sich  die 
Organisation  der  Saarbergleute  befindet,  ist  die  Thatsache, 
dass  auf  3 Schächten  die  Gesammtbelegschaft  von  einigen 
hundert  Mann  geschlossen  fortarbeitet  und  völlig  abseits 
vom  Ausstande  sich  hält. 

Der  Vorgeschichte  des  Strikes  ist  nachzutragen,  dass 
Mitglieder  der  staatlich  eingeführten  Grubenausschüsse  be- 
reits am  16.  Dezember  ihr  Amt  niederlegten,  weil  sie  keine 
Möglichkeit  sahen,  irgend  einen  Wunsch  der  Arbeiter  be- 
züglich der  neueinzufiihrenden  Arbeitsordnung  zur  Geltung 
zu  bringen.  Vielfache  Bestätigung  hat  auch  die  Mitthei- 
lung gefunden,  dass  gegen  Ende  des  Jahres  eine  mehrfache 
Minderung  des  Arbeitsverdienstes  der  Bergleute  durch 
Herabsetzung  der  Zeit-  und  Akkordlöhne,  sowie  durch  Ein- 
legung von  Feierschichten  stattfand,  sowie  dass  Geld-  und 
Arbeitsstrafen  mehr  als  je  angewendet  wurden.  Ueber  alle 
diese  Dinge  haben  freilich  weder  die  Bergbehörde,  die 
doch  im  Veröffentlichen  sonstiger  Zahlen  nicht  säumig  war, 
noch  die  Berichterstatter  grosser  Zeitungen,  die  sich  zahl- 
reich im  Saarrevier  einfanden,  eingehende  und  systematische 
Mittheilungen  gemacht.  Im  Uebrigen  wurde  die  äussere 
Physiognomie  der  Ausstandsbewegung  in  der  Berichtswoche 
beherrscht  durch  eine  Rührigkeit  der  Arbeiterführer  in  der 
Strikeagitation  sowie  eine  Antheilnahme  aller  Schichten 
der  Arbeiterbevölkerung  an  derselben,  wie  man  sie  früher 
im  Bezirk  nicht  gekannt  hatte,  andererseits  aber  auch  durch 
eine  Strenge  und  Schroffheit  der  staatlichen  Grubenver- 
waltung, wie  sie  im  Sinne  des  Staatskapitalismus  ebenfalls 
noch  kaum  entfaltet  worden  war  Auf  jede  Kundgebung 
der  Strikenden  erfolgte  fast  immer  eine  solche  der  fiskali- 
schen Bergwerksleitung,  welche  diejenige  der  Arbeiter  an 
Feindseligkeit  übertrumpfen  zu  wollen  schien. 

Um  ihren  Forderungen  bestimmten  Ausdruck  zu  geben, 
hatten  die  Strikenden  sofort  nach  Ausbruch  des  Strikes  auf 
die  sog.  „Völklinger  Beschlüsse“  verwiesen  Dieselben  sind 
jenes  rein  praktische,  von  jedem  parteipolitischen  Zusatz 
freie  Reformprogramm  der  Saarbergleute,  das  sich  aus  der 
1889er  Bewegung  herausbildete.  Dasselbe  datirt  vom 
4.  Mai  1890  und  zerfällt  in  24  Paragraphen,  die  den  acht- 
stündigen Arbeitstag  unter  und  den  zehnstündigen  über 
Tage,  ferner  Minimallöhne,  deren  Sätze  jetzt  theilweise  er- 
höht wurden,  Bestimmungen  über  geregelte  Ausbildung  der 
Bergmannskinder , Schutz  von  Massregelungen  , Schieds- 
gerichte, Vorschriften  über  das  Nullen,  die  Strafen  und  die 
Arbeitspausen  erbitten.  Nur  zu  einem  kleinen  Theil  sind 
diese  Wünsche  seit  1890  erfüllt  worden.  Als  am  4.  Januar 
der  Vorstand  des  Rechtsschutzvereins  und  Delegirte  des 
Strikekomitees  mit  der  königlichen  Bergwerksdirektion  in 
Saarbrücken  über  jene  Forderungen  und  die  Beilegung 
des  Strikes  zu  verhandeln  versuchten,  erfolgte  ein  schroff 
ablehnender  Bescheid. 

Die  fiskalische  Verwaltung  stellte  sich  genau  auf  den 
Standpunkt  des  Privatunternehmers  in  Rheinland-Westfalen, 


die  bekanntlich  ebenfalls  erklärt  haben,  „niemals“  mit  ihren 
Arbeitern  unterhandeln  zu  wollen.  Die  Handelskammer  in 
Saarbrücken,  an  deren  Spitze  Freiherr  von  Stumm  steht, 
sowie  ein  grosser  Theil  der  Presse  bestärkte  die  fiskalische 
Verwaltung  in  dieser  Haltung;  erstere  erklärte,  dass  sie 
bereit  sei, 

„die  aus  einem  energischen  Vorgehen  der  Bergbehörde  gegen- 
über dem  eingetretenen  Bergmannsstrike  sich  ergebenden  Konse- 
quenzen und  den  damit  verbundenen  Kohlenmangel  willig  zu 
tragen,  falls  die  königliche  Bergverwaltung  mit  dem  bisherigen 
System,  ihre  Autorität  durch  den  unter  sozialdemokratischer 
Führung  stehenden  sogenannten  Rechtsschutzverein  unter- 
graben zu  lassen,  bricht  und  die  Wiederannahme  der  kontrakt- 
brüchigen Bergleute  von  dem  Austritt  aus  diesem  Verein  ab- 
hängig macht  “ 

Daraus  erklärt  sich  die  oben  dargestellte  Abnahme 
der  Strikenden  einerseits,  die  in  ihrer  Mittellosigkeit  an- 
fangen, dem  furchtbaren  Drucke  zu  weichen,  der  auf  sie 
ausgeübt  wird,  und  andererseits  die  erbitterte  Sprache  und 
Handlungsweise  der  noch  im  Ausstand  befindlichen  17  000 
Bergleute. 

In  späteren  Kundgebungen  der  staatlichen  Gruben- 
j Verwaltungen  wird  den  früheren  als  Ergebniss  mehrfacher 
Berathungen  mit  den  höheren  Verwaltungsbehörden  noch 
hinzugefügt,  dass  man  bereit  sei,  nach  Wiederaufnahme 
der  Arbeit  „die  gesetzlichen  Vertreter  der  Bergleute  (die 
Gruben-Ausschüsse)  über  die  Wünsche  der  Arbeiter  zu 
vernehmen,  doch  so,  dass  eine  Behandlung  der  gegen- 
wärtigen Forderungen  der  Strikenden  ausgeschlossen  ist.“ 
Dabei  handelt  es  sich  um  jene  machtlosen,  vorsichtig  ge- 
siebten Grubenausschüsse,  von  welchen  schon  in  unserem 
ersten  Bericht  die  Rede  war.  Trotzdem  haben  die  Aus- 
ständigen immer  wieder  versucht,  durch  Verhandlung  mit 
den  Behörden  ihre  Beschwerden  auf  geordnetem  Wege 
vorzubringen.  Der  Oberpräsident  der  Rheinprovinz  sagte 
auf  telegraphische  Anfrage  den  Empfang  einer  Bergmanns- 
deputation zu.  Der  am  7.  Januar  in  Koblenz  erschienenen 
Abordnung  wurde  jedoch  folgende  Erklärung  vorgelesen: 

„Der  Oberpräsiclent  lehnt  die  Annahme  der  Deputation  ab. 
1.  weil  dieselbe  nicht  ausschliesslich  aus  fiskalischen  Bergleuten 
besteht,  wie  er  nach  der  Anmeldung  annehmen  musste,  2.  weil 
die  Deputation  nach  der  dem  Regierungsrath  zur  Nedden  ge- 
machten Angabe  kommt,  um  Beschwerden  und  Anträge  der 
ausständischen  Bergleute  vorzutragen,  hinsichtlich  deren  allein 
die  Vorgesetzten  Bergbehörden  zuständig  sind.  Der  Oberpräsi- 
dent räth  den  ausständischen  Bergleuten  des  Saarreviers 
dringend,  die  Arbeit  sofort  wieder  aufzunehmen,  und  warnt  vor 
| Ausschreitungen  jeder  Art,  insbesondere  gegen  die  arbeitswilligen 
Bergleute.“ 

Auch  in  Bonn  beim  Oberbergamt  fand  die  Deputation 
kein  Gehör  Und  ebenso  lehnte  nach  einem  Extrablatt  des 
offiziellen  „Bergmannsfreundes“  vom  10.  Januar  der  im 
1 Strikerevier  anwesende  Oberberghauptmann  Freund  aus 
Berlin  am  9.  Januar  jede  materielle  Verhandlung  mit  dem 
Strikekomitee  ab,  das  sich  bei  ihm  aus  eigenem  Antriebe 
hatte  melden  lassen. 

Die  fiskalische  Grubenverwaltung  machte  schliesslich 
unterm  10.  Januar  Folgendes  bekannt: 

„Wegen  ihrer  aufreizenden  Thätigkeit  vor  dem  Strike  und 
ihres  Verhaltens  während  desselben  sind  heute  die  Hauptagita- 
toren für  immer  aus  der  Grubenarbeit  entlassen  und  wurden 
ihnen  auf  sämmtlichen  Gruben  des  Bezirkes  die  Abkehrscheine 
zugestellt  Diese  Massregel  trifft  vorläufig  etwa  500  Mann, 
nahezu  sämmtlich  agitatorisch  thätige  Mitglieder  des  Rechts- 
schutzvereins Ob  Mie  Zahl  derselben  sich  noch  vermehren 
wird,  hängt  lediglich  von  dem  weiteren  Verhalten  der  Beleg- 
schaft ab.  Ferner  werden,  da  die  schlechte  Lage  des  Kohlen- 
geschäftes eine  Verminderung  der  Belegschaft  nothwendig 
macht,  ausserdem  von  den  Ausständigen  mindestens  2 - 3000  Mann 
bis  auf  Weiteres  von  der  Grubenarbeit  zurückgewiesen  werden. 
Die  Bergverwaltung  hatte  die  Absicht,  diese  im  geschäftlichen 
Interesse  nothwendige  Massregel  lediglich  mit  Rücksicht  auf  die 
Belegschaft  zu  vermeiden  Diese  Rücksicht  ist  aber  nunmehr 
im  Hinblick  auf  das  Verhalten  der  Belegschaft  in  Wegfall  ge- 
kommen. Selbstverständlich  werden  bei  der  Auswahl  der  von 
der  Arbeit  zurückzuweisenden  mindestens  2—  3000  Mann,  in 
erster  Reihe  diejenigen  in  Betracht  kommen,  welche  am  längsten 
im  Ausstand  verharren.“ 

Schon  am  5.  Januar  hatte  man  begonnen,  Maschinen- 
wärter, die  sich  früher  vom  Strike  ferngehalten  hatten,  jetzt 
aber  mit  in  denselben  eingetreten  waren,  aus  ihren  Stellungen 
zu  entlassen.  Die  aufreizende  Wirkung,  welche  diese  scharfen 
Massregeln  haben  müssen,  braucht  nicht  weiter  dargelegt 
zu  werden.  Daneben  gehen  die  Verhaftungen  noch  anderer 
Führer,  als  Warkens  und  Schillos. 


192 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  16. 


Die  Versammlungen  der  Strikenden  im  eigenen 
Saale  des  bergmännischen  Schutzvereins  verlaufen,  ob- 
gleich sie  noch  immer  von  Tausenden  besucht  sind, 
musterhaft.  Neu  ist  die  grosse  Theilnahme  der  Frauen  an 
denselben,  die  sogar  eine  Anzahl  Rednerinnen  stellen  und 
zum  Ausharren  fast  mehr  als  die  Männer  aufmuntern.  Neue 
Beschlüsse  sind  von  den  Ausständigen  bislang  nicht  gefasst 
worden;  nur  wurde  eine  Petition  an  den  Handelsminister 
angenommen,  welche  beklagt,  dass  die  Behörde  sich  weigere, 
mit  dem  Rechtsschutzverein  zu  verhandeln,  und  welche  die 
Bitte  an  den  Minister  stellt: 

„gegenwärtige  Eingabe  Sr.  Majestät  zur  Kenntniss  vorzulegen, 
die  Kompetenten  Behörden  anzuweisen,  dass  sie  über  eine  ent- 
sprechende Abänderung  des  Arbeitslohns  und  der  Ver- 
tretungsbedingungen mit  dem  Vorstand  des  Rechtsschutz- 
vereins verhandeln  und  die  Weisung  geben,  dass  jedenfalls  die 
anstössigsten  Bestimmungen  fallen  und  den  allerdrückendsten 
Beschwerden  abgeholfen  werde,  endlich  dem  gewerkschaftlichen 
Rechtsschutzverein  die  ihm  längst  gebührende  juristische  Per- 
sönlichkeit und  die  Errichtung  der  Gewerbeschiedsgerichte  nicht 
länger  vorzuenthalten.'1 

Ausserdem  erliess  das  Strikekomitee  einen  Aufruf  mit  der 
Bitte  um  Unterstütung  an  alle  Gewerkschaften  in  Deutsch- 
land mit  der  Begründung,  dass  die  Bergleute  „in  einen 
Kampf  eingetreten  sind,  um  eine  nicht  annehmbare  Arbeits- 
ordnung zu  Falle  zu  bringen  und  bessere  Arbeits-  und 
Lohnbedingungen  herbeizutühren  — aber  keine  gefüllte 
Kasse  haben.“ 

Dieser  Appell  führt  zur  neuesten  Epoche  der  Aus- 
standsbewegung — zu  dem  Widerhall,  welchen  dieselbe  im 
rheinisch-westphälischen  Kohlenrevier  gefunden  hat.  Bereits 
zu  Beginn  des  Strikes  verkehrten  Abgeordnete  aus  dem 
Saarrevier  mit  den  Organisationen  der  Bergleute  in  Rhein- 
land-Westfalen. Unter  dem  6.  Januar  forcierte  das  Organ 
der  westfälischen  Organisation  die  dortigen  Bergleute  in 
einem  Aufruf  auf,  „Mann  für  Mann  für  die  Ausständigen 
einzutreten,“  und  am  gleichen  Tage  fanden  drei  grosse 
Bergarbeiterversannnlungen  in  Essen,  Gelsenkirchen  und 
Dortmund  statt.  Die  Organisation  ist  auch  hier  erst  in  den 
Anfängen.  Die  Stimmung  dieser  Versammlungen  wird  als 
sehr  strikelustig  geschildert;  es  fehlte  nicht  an  zahlreichen 
Klagen  über  die  Lage  im  eigenen  Bezirk.  Die  Essener 
Versammlung  nahm,  nachdem  die  Führer  sehr  eindringlich 
zur  Besonnenheit  gemahnt  hatten,  folgende  Resolution  an; 

„Die  heutige  zahlreich  besuchte  Bergarbeiter  Versammlung 
ist  einstimmig  darin,  dass  die  Bergleute  im  Saarrevier  Grund 
genug  zum  Strike  hatten.  Ferner  spricht  dieselbe  den  Berg- 
arbeitern des  Saarreviers  die  Berechtigung  zum  Strike  aus,  wenn 
dieser  ihnen  auch  seitens  der  Verwaltungen  und  kapitalistischen 
Zeitungen  abgesprochen  wird.  Versammlung  beschliesst  die 
strikenden  Kameraden  mit  allen  Mitteln  und  in  jedem  Fall  zu 
unterstützen.“ 

Zur  Organisation  wurde  ein  aus  12  Personen  bestehen- 
des Komitee  gewählt  und  beschlossen,  für  Sonntag  eine 
Versammlung  anzusetzen.  Die  Dortmunder  Versammlung 
verfiel  der  polizeilichen  Auflösung,  weitere  Versammlungen 
wurden  theilweise  behördlich  verboten,  theilweise  be- 
schlossen sie  das  Festhalten  an  dem  inzwischen  sporadisch 
ausgebrochenen  Ausstand  fEssen).  Nach  dem  in  der  Nummer 
vom  1 1.  Januar  des  Zechenorgans  „Glückauf“  veröffentlichten 
Ausstandsjournal  begannen  am  8.  Januar  Theilausstände  auf 
4 Zechen  von  insgesammt  von  2 343  Mann  Belegschaft 
1 275  Mann  strikten.  Am  10  Januar  strikten  dann  auf 
8 Gruben  insgesammt  5 623  Mann,  am  1 1 . Januar  auf  28  Gru- 
ben nach  telegraphischen  Meldungen  etwa  13  000  Mann. 
Vereinzelte  Ausschreitungen  sind  auch  hier  nicht  ausge- 
blieben. Sehr  rasch  scheint  sich  aber  die  Ausstandsbewe- 
gung nicht  zu  entwickeln;  ausserdem  umfasst  sie  vorläufig 
nur  den  zehnten  Theil  der  Gesammtbelegschaften,  die  sich 
in  Rheinland- Westfalen  auf  rund  130  000  Köpfe  belaufen. 
Der  Vorstand  des  Vereins  (Zechenbesitzer)  für  die  bergbau- 
lichen Interessen  des  Oberbergamtsbezirks  Dortmund  hat 
bereits  am  9.  Januar  beschlossen,  den  Zechen  zu  empfehlen, 
gemäss  der  Arbeitsordnung  alle  mehr  als  drei  Tage  ohne 
Grund  von  der  Arbeit  fortbleibenden  Bergleute  abzulegen. 
Die  Kohlenpreise  in  den  Rheinhäfen  haben  sogar  bereits 
begonnen  anzuziehen,  alles  Dinge  die  darauf  hindeuten, 
dass  den  rheinisch-westfälischen  Zechen  ein  Strike  ihrer 
Bergleute  vielleicht  gar  nicht  unwillkommen  sein  würde. 

Ein  abschliessender  Rückblick  muss  für  das  Ende  der 
Ausstandsbewegungen  Vorbehalten  bleiben;  das  praktische 
Ergebniss  der  jetzigen  Kämpfe  dürfte  sein,  dass  die  Ueber- 


zeugung  von  der  Nothwendigkeit  einer  festgefügten  Organi- 
sation um  so  sicherer  und  nachhaltiger  in  Bergarbeiter- 
kreisen verbreitet  wird,  je  härtere  Bedingungen  jetzt  das 
Machtgebot  der  Stärkeren  den  Unterlegenen  aiktirt. 


Kongress  der  Former  von  Oesterreich-Ungarn.  Am  25., 
26.  und  27.  Dezember  1892  tagte  in  Wien  der  I.  österreichisch- 
ungarische Eisen-  und  Metällformer-Kongress,  zu  welchem 
Niederösterreich  inkl.  Wien  13,  Ungarn  2,  Mähren  7,  Böhmen  4, 
Schlesien  I und  Steiermark  2,  zusammen  also  29  Delegirte  ent- 
sendet wurden.  Vertreten  waren  die  Orte:  Budapest,  Bielitz- 

Biala,  Wiener-Neustadt,  Leobersdorf,  Prag,  Brünn,  Prerau,  Mürz- 
zuschlag, Stockerau,  Göblasbruck,  Ternitz,  Baden,  Rossitz, 
Königgrätz  und  Wien.  Den  Gegenstand  der  Verhandlungen 
bildeten  : I.  Situationsberichte,  2.  Organisationsfrage,  3.  Die  Fach- 
presse, 4.  Arbeiterschutz  und  5.  Eventuelles.  Eine  besonders 
lebhafte  Debatte  verursachte  die  Organisationsfrage,  in  welcher 
der  Anschluss  der  Eisen-  und  Metallformer-Organi- 
sationen an  den  Verband  der  Eisen-  und  Metallarbeiter 
Oestereichs  in  Erwägung  gezogen  und  insbesondere  von  den 
Provinzvertretern  energisch  verfochten  wurde.  Die  Schwierig- 
keiten. mit  welchen  die  gewerkschaftliche  Organisation  zu 
kämpfen  hat,  werden  in  Oesterreich  durch  die  ausgesprochen 
feindselige  Haltung  der  Behörden  noch  bedeutend  gesteigert. 
Die  Abneigung  der  Behörden,  Fachvereine  auch  nur  zu  bewilligen, 
steigt  mit  der  Grösse  des  Gebietes,  über  welche  sie  ihre  Thätig- 
keit  erstrecken  sollen,  und  je  mehr  Arbeiter  sie  umfassen,  desto 
gefährlicher  erscheinen  sie.  Es  musste  also  beim  Wiederaufbau 
der  Gewerkschaftsorganisation  Ende  der  achtziger  Jahre  mit 
lokalen  aut  Spezialfächer  beschränkten  Vereinen  begonnen 
werden  und  erst  in  letzter  Zeit  kann  man  Schritt  für  Schritt 
daran  gehen,  dieselben  zu  grösseren  Gewerkschaften  und  Ver- 
bänden zusammenzulegen.  In  dieser  Beziehung  ist  der  Former- 
kongress von  um  so  grösserer  Bedeutung,  als  nach  dem  An- 
schluss der  Former  die  noch  aussenstehenden  kleineren  Organi- 
sationen wohl  bald  folgen  werden.  Es  wurde  folgende  Reso- 
lution angenommen:  in  Erwägung  dass  die  stets  fort- 

schreitende Organisation  der  Unternehmer,  welche  durch  die 
jüngst  erfolgte  Schaffung  des  Verbandes  aller  Industriellen 
Oesterreichs  bereits  eine  solche  Höhe  erreichte,  dass  aus  ihr 
den  Arbeitern  eine  immense  Gefahr  erwächst,  wenn  diese 
Letzteren  nicht  ohne  allen  Zeitverlust  und  mit  dem  Aufgebote 
aller  Energie  dahin  trachten:  der  Organisation  der  Unternehmer 
eine  gleiche,  umfassende  und  daher  gleich  mächtige  Organisation 
entgegenzustellen,  beschliesst  der  heutige  Eisen-  und  Metall- 
former-Ivongress:  Von  der  Schaffung  abgesonderter 

Fachorganisationen  Abstand  zu  nehmen  und  den  Ge- 
nossen Allerorts  zu  empfehlen,  sich  den  alle  Branchen  um- 
fassenden Metallarbeiter-Gewerkschaften  einzufügen, 
eventuell  als  Fach  Sektionen  mit  selbständigem  Wirkungs- 
kreise.“ 

Seitens  der  Delegirten  aus  Budapest  wurde  die  Erklärung 
abgegeben,  dass  die  Eisen-  und  Metallformer  U.ngarns  sich 
ohne  Rückhalt  für  einen  Anschluss  an  die  Organi- 
sationen ihrer  Kollegen  in  Oesterreich  aussprechen. 
Bezüglich  des  Punktes  „Arbeiterschutz“  schloss  sich  der  Kon- 
gress einstimmig  den  am  letzten  Brünner  Metallarbeiter-Kon- 
gress gefassten  Resolutionen  vollinhaltlich  an  und  trat  in  einer 
speziell  gefassten  Resolution  energisch  für  eine  radikale  Umge- 
staltung und  Verbesserung  unserer  Gewerbeinspektion  ein. 

Hinsichtlich  der  ,;Fachpresse“  wurde  beschlossen:  „Die 

beiden  Blätter  ,Oesterreichischer  Metallarbeiter1  und  ,Kakoucko 
kovoldelnik'  als  Fachblätter  anzuerkennen  und  für  deren  weiteste 
Verbreitung  respektive  obligatorische  Einführung  nachdrücklichst 
einzutreten.“ 

Strike  der  Glasarbeiter  in  England,  ln  der  letzten 
Woche  des  abgelaufenen  Jahres  kam  es  zu  einem  Lohn- 
streit in  der  Glasindustrie.  Die  Unternehmer  verlangten 
eine  Herabsetzung  der  Löhne  um  6 sh.  wöchentlich,  und 
zwar  unter  Hinweis  auf  schlechten  Geschäftsgang.  Die 
Arbeiter  erklärten,  diese  Bedingungen  nicht  annehmen  zu 
können  und  konstatirten,  dass  die  Fabriksanlagen  noch  in 
der  letzten  Zeit  bedeutend  vergrössert  worden  seien.  Bei 
der  Delegirtenversammlung,  abgehalten  in  Normanton,  er- 
klärten die  Arbeiter,  dass  sie  für  das  Jahr  1893  an  dem  im 
Jahre  1892  geltenden  Lohntarif  und  Arbeitsbedingungen 
unbedingt  festhalten.  Die  Unternehmer  verlangen  nämlich 
auch  Aenderung  in  Bezug  auf  die  zulässige  Zahl  der  Lehr- 
linge, auf  die  Eintheilung  der  Arbeit  und  Ersatz  für  ge- 
sprungene Tafeln.  Die  Zahl  der  Arbeiter  beträgt  im 
Ganzen  ca.  5000,  und  zwar  1500  in  Castleford,  1000  im 
Barnsley- Distrikt,  400  in  Hunslet,  400  in  und  um  Mex- 
borough,  550  in  Dewsbury  und  Thornhill,  350  in  Conis- 
borough  und  250  in  Knottingley.  Es  wird  angenommen, 
dass  der  Kampf  längere  Zeit  dauern  wird. 


No.  16. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


193 


Unternehmerverbände. 


Ein  neuer  Brauerverein.  Der  Kampf  der  Brauerei- 
unternehmer gegen  die  geplante  Brausteuererhöhung  hat 
zur  Folge  gehabt,  dass  der  im  Stillen  schon  lange  vor- 
handene Gegensatz  zwischen  den  grossen  und  kleineren 
Brauereien  — die  grossen  sind  meist  Aktiengesellschaften 
— offenkundig  geworden  ist.  Eine  zahlreich  besuchte  Ver- 
sammlung von  Vertretern  mittlerer  und  kleinerer  Brauereien 
zu  Leipzig  am  29.  Dezember  1892  hat  die  Gründung  eines 
„Vereins  mittlerer  und  kleinerer  Brauereien  der  nord- 
deutschen Steuergemeinschaft“  beschlossen.  Aus  dem 
ganzen  Charakter  der  Versammlung  lässt  sich  schliessen, 
dass  dieser  neue  Interessentenverein  sofort  eine  entschie- 
dene Kampfstellung  gegen  die  Grossbetriebe  einnehmen  wird. 

Wohl  in  keiner  Industrie  in  Deutschland  geht  zur  Zeit 
die  Vernichtung  des  Kleinbetriebs  durch  den  Grossbetrieb 
so  entschieden,  unaufhaltsam  und  beständig  vor  sich  wie  in 
der  Brauindustrie.  Die  neue  Vereinsbildung  ist  daher  in 
der  That  sehr  erklärlich,  ja,  man  möchte  fast  sagen,  natur- 
nothwendig. 

Verband  von  Fabrikanten  landwirthschaftlicher  Maschi- 
nen. Ein  Verband  deutscher  Fabrikanten  und  Verkäufer  land- 
wirthschaftlicher Maschinen  hat  sich  am  Schluss  des  verflossenen 
Jahres  in  Halle  a.  S.  gebildet.  Der  Verein  bezweckt  einen 
engeren  Zusammenschluss  aller  Interessenten,  um  einen  Gegen- 
druck gegen  die  in  letzter  Zeit  hervorgetretenen  landwirth- 
schaftlichen  Ankaufsgenossenschaften  auszuüben,  welche  den 
Ankauf  von  landwirtschaftlichen  Maschinen  u.  s.  w für  ihre 
Mitglieder  unter  Umgehung  des  Zwischenhandels  und  Abzug 
von  Rabatt  in  ihrer  Hand  zentralisiren  wollen  und  dadurch  so- 
wohl die  betreffende  Industrie  als  sich  selbst  zu  schädigen  im 
Begriff  stehen,  indem  sie  die  ersten  zwingen,  entweder  höhere 
Preise  einzuführen,  welche  einen  Rabatt  für  die  Konsumenten 
einschliessen,  oder  billiger  und  schlechter  zu  fabriziren.  Behufs 
Erreichung  dieses  Zweckes  werden  die  Mitglieder  des  Ver- 
bandes weder  mit  landwirtschaftlichen  Ankaufsgenossen- 
schaften,  noch  auch  mit  solchen  Fabrikanten  und  Händlern,  die 
an  Ankaufsgenossenschaften  liefern,  fernerhin  irgend  welche 
Verbindung  zu  unterhalten. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Abänderung  der  kaufmännischen  Sonntagsruhe.  Die 

Centralstelle  in  Preussen  hat  sich  nunmehr  leider  ebenfalls 
dazu  entschlossen,  die  Hand  zur  „Milderung“  der  kauf- 
männischen Sonntagsruhe  zu  bieten,  die  doch  weit  eher 
eine  Verschärfung  ertragen  hätte.  Die  betheiligten  Ressort- 
minister haben  bei  den  Regierungspräsidenten  und  diese 
bei  den  ihnen  unterstellten  Behörden  „Erörterungen“  über 
die  Abänderung  verschiedener  Bestimmungen  veranlasst, 
die  gegenwärtig  im  Gange  sind.  Sollen  dabei  einzelne 
Ansprüche  der  Sonntagsruhegegner  zurückgewiesen  werden, 
so  lauten  doch  auf  der  anderen  Seite  die  Direktiven  auch 
recht  wenig  reformfreundlich.  Wird  doch  den  Gemeinden, 
die  ein  Bedürfniss  hierzu  vorhanden  glauben,  geradezu  der 
Gedanke  nahegelegt,  durch  Ortsstatut  die  Arbeitszeit  bis 
Nachmittags  4 Uhr  zu  erstrecken.  Und  das  in  einer 
Zeit,  in  der  die  Gegner  der  Ruhe  eben  anfingen,  einzu- 
sehen, dass  die  Sonntagsruhe  doch  eine  Wohlthat  sei  und 
dass  sie  dort  am  wenigsten  Beschwerden  macht,  wo  sie  am 
konsequentesten  durcngefiihrt  wurde.  Die  jetzt  von  der 
preussischen  Centralstelle  veranlassten  Erörterungen  sind 
geradezu  eine  Provokation  zur  Wiederaufnahme  der  Agitation 
für  die  Sonntagsruhegegner  und  können  von  allen  Freunden 
einer  gesunden  Sozialreform  nur  tief  bedauert  werden. 
Nach  diesen  einleitenden  Bemerkungen  möge  der  Wort- 
laut der  Schriftstücke  folgen,  welche  den  unteren  Ver- 
waltungsbehörden seitens  der  Regierungspräsidenten  zuging. 
Dasselbe  lautet: 

Die  Herren  Ressortminister  haben  beschlossen  eine  Er- 
örterung derjenigen  Beschwerden,  betreffend  die  neuen  Vor- 
schriften über  che  Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe  herbeizu- 
führen,  denen  sich  im  Verwaltungswege  ohne  Aenclerung  des 
Gesetzes  abhelfen  Hesse.  Grundsatz  bleibt,  dass  das  Ziel  des 
Gesetzes,  den  im  Handelsgewerbe  beschäftigten  Personen  eine 
wirksame  Sonntagsruhe  zu  gewähren,  nicht  vereitelt  werden 
-darf;  aber  den  Gewerbetreibenden  sollen  nicht  grössere  Ver- 


luste und  Schäden  erwachsen,  als  zur  Erreichung  dieses  Zieles 
unvermeidlich  ist.  Ew  pp.  wollen  sich  hiernach  über  folgende 
Punkte  auf  Grund  der  im  dortigen  Bezirk  gemachten  Erfah- 
rungen und  nach  Anhörung  von  Betheiligten  (auch  von  Hand- 
lungsgehülfen)  äussern.  1.  Aus  vielen,  meist  kleineren  Städten 
ist  beantragt  worden,  die  Nachmittagsstunden  der  Sonn-  und 
Festtage  für  die  Ausübung  des  Plandelsgewerbes  in  grösserem 
Umfange  freizugeben,  als  es  durch  die  Anweisung  vom  10.  Juni 
1892  (Ziffer  1 i geschehen  ist.  (Es  folgt  dann  eine  kurze  Wieder- 
gabe sattsam  bekannter  Beschwerden,  die  ländliche  Bevölkerung 
sei  gewöhnt,  an  den  Sonntag-Nachmittagen  zu  kaufen,  die  Ge- 
schäfte in  den  Grenzorten  könnten  den  Wettbewerb  nicht  mehr 
mitmachen  u.  s.  w.)  Hierbei  wird  m Betracht  kommen,  ob  es 
zweckmässig  und  durchführbar  sein  würde,  bei  der  anderweiten 
Festsetzung  der  Geschäftszeit  an  Sonn-  und  Feiertagen  einen 
Unterschied  zu  machen  zwischen  den  kleinen  Städten,  wo  die 
bewegten  Uebelstände  hervorgetreten  sind , und  grösseren 
Städten,  sowie  den  Ortschaften  des  platten  Landes,  wo  dies 
anscheinend  nicht  der  Fall  ist.  Schliesslich  sei  hier  besonders 
hervorgehoben,  dass  Gemeinden,  in  denen  aus  den  oben  er- 
wähnten Gründen  eine  von  den  Bestimmungen  der  Anweisung- 
abweichende  Regelung  der  Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe 
gewünscht  wird,  diesen  Wunsch  in  gewissem  Umfange  selbst 
erfüllen  können,  sobald  sie  die  fünfstündige  Beschäftigung  des 
Gesetzes  durch  statutarische  Bestimmung  verkürzen  Alsdann 
können  sie  die  Verkaufsstunden  in  der  Ihnen  passenden  Weise 
festsetzen,  und  sie  würden,  wenn  sie  beispielsweise  die 
Beschäftigungszeit  unter  Verkürzung  auf  4 Stunden 
von  11  Uhr  Vormittags  bis  3 Uhr  Nachmittags  oder 
auch  von  12  Uhr  Mittags  bis  4 Uhr  Nachmittags  legten . 
voraussichtlich  auf  die  Genehmigung  eines  solchen 
Beschlusses  durch  den  Bezirksausschuss  rechnen  kön- 
nen. 2.  Aus  den  Kreisen  der  Händler  mit  Lebens-  und  Genuss- 
mitteln Back-  und  Ivonditorwaaren,  Fleisch,  Wurst,  Fische, 
Milch,  Vorkostartikel,  Obst,  Bier,  Tabak,  Zigarren),  sind  theils 
stark  übertriebene  theils  auf  irrigen  rechtlichen  Anschauungen 
beruhende  Beschwerden  erhoben  worden.  In  letzterer  Hinsicht 
sei  namentlich  auf  die  in  den  Eingaben  der  Bäcker  fast  regel- 
mässig wiederkehrende  Auffassung  hingewiesen,  dass  die  Vor- 
schriften Uber  die  Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe  auf  sie 
nicht  anwendbar  seien,  weil  sie  als  Verkäufer  selbstverfertigter 
Waaren  lediglich  Handwerker  seien.  Diese  Auffassung  ist  als 
unhaltbar  zu  verwerfen.  3.  Das  Gleiche  gilt  für  die  Gewerbe 
der  Fleischer,  Wurstmacher,  Zigarrenmacher  etc.  Ist  für  die 
vorstehend  aufgeführten  Gewerbe  das  Bedürfniss  einer  Aende- 
rung  oder  Ergänzung  der  Ausführungs-Anweisung  vom  10  Juni 
dieses  Jahres  hervorgetreten,  sei  es,  dass  für  "die  Nahrungs- 
und Genussmittelgewerbe  eine  andere  Festsetzung  der  gesetz- 
lich zugelassenen  fünf  Verkaufsstunden  als  für  die  übrigen 
Handelsgewerbe  angezeigt  erscheint , sei  es , dass  die  auf 
Grund  des  § 105e  der  Gewerbeordnung  gestatteten  Aus- 
nahmen sich  nicht  als  ausreichend  erwiesen  haben?  Für 

die  Versorgung  des  Publikums  mit  Roheis  an  Sonn-  und  Fest- 
tagen haben  die  Herren  Minister  in  einem  Falle  genehmigt, 
dass  ausser  den  allgemein  für  den  Betrieb  des  Handelsgewerbes 
zugelassenen  fünf  Stunden  noch  die  Zeit  vor  deren  Beginn,  von 
5 Uhr  Morgens  ab,  freigegeben  werde.  Wenn  ein  Bedürfniss 
hierfür  bestehen  sollte,  so  wird  die  Zulassung  einer  gleichen 
Ausnahme  bei  den  Herren  Ministern  befürwortet  werden.  4.  Ist 
ein  Bedürfniss  für  den  Verkauf  von  Zeitungen  und  Reiselektüre 
an  Sonn-  und  Festtagen  auf  den  Bahnhöfen  anzuerkennen? 
5.  Durch  Ziffer  IV;  2.  der  Ausführungsanweisung  sind  die 
unteren  Verwaltungsbehörden  ermächtigt  worden,  bei  öffent- 
lichen Festen  etc.  und  für  Ortschaften,  in  denen  durch  Fremden- 
besuch  ein  gesteigerter  Verkehr  veranlasst  wird,  das  Hausiren 
mit  Blumen,  Backwaaren,  geringwerthigen  Gebrauchsgegen- 
ständen, Erinnerungszeichen  und  ärmlichen  Gegenständen  zuzu- 
lassen Da  sich  ein  gleiches  Bedürfniss  für  Wurstwaaren,  ge- 
räucherte Fische  und  Obst  herausgestellt  hat,  so  werden  mit 
Genehmigung  der  Herren  Minister  ctie  unteren  Verwaltungsbe- 
hörden hierdurch  ermächtigt,  unter  den  a.  a.  O.  gedachten  Vor- 
aussetzungen auch  das  Hausiren  mit  Obst,  Wurstwaaren,  Fischen 
und  sonstigen  Lebensmitteln  zu  gestatten.  Hat  sich  endlich  ein 
Bedürfniss  geltend  gemacht,  den  unteren  Verwaltungsbehörden 
in  noch  weiterem  Umfange  die  Ermächtigung  zur  Zulassung  von 
Ausnahmen  von  dem  Verbote  des  § 55  a der  Gewerbeordnung 
zu  ertheilen?“ 

Da  die  Behörden  ausdrücklich  angewiesen  sind,  die 
Gehilfen  zu  hören,  so  thuen  hoffentlich  wenigstens  die 
Organisationen  dieser  Betheiligung  ihre  ganze  Schuldigkeit, 
um  eine  allzugrosse  Verstümmelung  der  Sonntagsruhe  im 
Handelsgewerbe  zu  verhindern. 

Sonntagsruhe  auf  den  preussischen  Staatsbahnen. 

Den  früheren  Mittheilungen  des  Sozialpolitischen  Central- 
blattes über  diesen  Gegenstand  kann  hinzugefügt  werden, 
dass  nunmehr,  seit  I Januar  1893,  auch  in  den  Direktions- 
bezirken Hannover  und  Magdeburg  alle  Güterzüge 
während  24  Sonntagsstunden  versuchsweise  ausfallen.  Die 
vor  einiger  Zeit  in  Köln  gepflogenen  Berathungen  über 
angebliche  Schädigungen  der  Industrie  durch  die  Sonntags- 


194 


SOZIALPOLITISCHES  centralblatt. 


No.  16. 


ruhe  im  Eisenbahngüterverkehr  scheinen  also  zu  einem 
.sonntagsruhefreundlichen  Ergebniss  geführt  zu  haben; 
leider  ist  unseres  Wissens  jede  Veröffentlichung  der  Be- 
rathungsergebnisse  nach  bureaukratischem  Muster  unter- 
blieben. Noch  mehr  zu  bedauern  ist  freilich,  dass,  wie 
jetzt  zum  ersten  Mal  verlautet,  für  die  betheiligten  unteren 
Beamten,  Arbeiter  und  Hilfspersonen  der  preussischen 
Staatsbahnen  mit  Einführung  der  Sonntagsruhe  eine  Ver- 
dienstherabsetzung Hand  in  Hand  geht.  Den  Genannten 
wird  nämlich  nach  zuverlässigen  Mittheilungen  der  Ver- 
dienst für  drei  Sonntage  im  Monat  abgezogen,  sodass  z.  B. 
die  2 M.  täglich  beziehenden  Hilfspersonen  statt  60  nur 
noch  54  M.  monatlich  erhalten.  Das  wäre  eine  merkwür- 
dige Art  von  Sozialreform,  um  welche  die  preussische  Re- 
gierung  wohl  im  Abgeordnetenhause  gelegentlich  befragt 
werden  sollte. 

Befähigungsnachweis  für  Bergarbeiter  in  Preussen  Zu 

dieser  angesichts  der  neueren  Vorgänge  in  den  deutschen  Kohlen- 
revieren doppelt  interessanten  Frage,  die  in  No.  13,  II.  Jahrgang 
des  Sozialpolitischen  Centralblatts  bereits  kurz  berührt  wurde, 
macht  jetzt  der  ,. Glückauf“,  das  Organ  der  rheinisch -west- 
fälischen Grubenbesitzervereine,  auf  Grund  der  im  Dortmunder 
Oberbergamt  stattgefundenen  Verhandlungen  in  seiner  No.  103, 
28.  Jahrgang,  folgende  ergänzende  Mittheilungen.  Es  sei  die 
Frage  besprochen  worden,  in  welcher  Weise  sich  eine  bessere 
Ausbildung  der  Bergleute  ermöglichen  lasse.  Es  seien  dabei  in 
den  Berichten  über  diese  Versammlung  mehrfach  Irrthümer 
unterlaufen.  Die  Frage,  ob  die  angestrebte  Regelung  im  Wege 
der  Polizeiverordnung  oder  der  Unfallverhütungsvorschriften 
oder  aber  schliesslich  durch  private  Einrichtungen  der  Berg- 
werke erfolgen  soll,  wurde  überhaupt  grundsätzlich  von  der 
Erörterung  ausgeschlossen,  geschweige  denn  zur  Erledigung  ge- 
bracht. Es  sei  bekannt,  dass  die  Bergwerke  selbst,  welche  ihrer- 
seits zuerst  den  Gedanken  der  Ausbildung  der  Bergleute 
angeregt  haben,  die  beiden  letzteren  Wege  vorziehen  und  sich 
gegen  jede  neue  Bergpolizeiverordnung  entschieden  aussprechen 
würden.  Die  Nachricht,  dass  eine  vierjährige  Arbeitsausbildungs- 
zeit beschlossen  sei,  sei  ebenfalls  völlig  unrichtig,  Beschlüsse 
seien  überhaupt  nicht  gefasst  worden,  sondern  es  habe  das  Ober- 
bergamt lediglich  einen  Meinungsaustausch  über  die  beregten 
Punkte  herbeiführen  wollen,  um  für  seine  weitere  Entschliessung 
das  volle  Material  zu  erhalten.  Es  wurde  dabei  allerdings  von 
einzelnen  Seiten  die  Forderung  einer  vier-  oder  sogar  sechs- 
jährigen Ausbildungszeit  zum  flauer  aufgestellt,  sowie  ein  voll- 
ständig geregeltes  Aufsteigen  durch  alle  vorbereitenden  Grade 
als  Schlepper,  Lehrhauer  verlangt,  jedoch  von  anderer  Seite  mit 
Nachdruck  dagegen  geltend  gemacht,  dass  eine  so  weitgehende 
Beschränkung  des  Eintritts  in  ein  freies  Gewerbe  bislang  noch 
nicht  vorgekommen,  auch  mit  den  Gesichtspunkten  der  der- 
zeitigen Gewerbeordnung  und  mit  den  Bedürfnissen  einer  Gross- 
industrie, welche  unter  Umständen  Arbeiter  haben  muss,  nicht 
vereinbar  sei  Sogar  dem  Handwerk  habe  man  bisher  noch 
nicht  daran  gedacht,  so  grosse  ztinftlerische  Beschränkungen 
aufzuerlegen;  man  müsse  sich  daher  begnügen,  die  Uebertragung 
von  Y'ollhauerarbeiten  auf  solche  Leute  zu  beschränken,  die 
mindestens  22  Jahre  alt  seien  und  bereits  2 Jahre  Grubenarbeit 
unter  Tage  geleistet  hätten.  Es  würde  dies  gegen  die  jetzigen 
Verhältnisse  ein  grosser  und  vorläufig  hinreichender  Schritt  sein. 
Das  s.nd  offenbar  die  Wünsche  der  Grubenbesitzer  bezüglich 
dieser  Angelegenheit. 

Kinderscliutz  in  der  englischen  Industrie.  Seit  An- 
fang dieses  Jahres  gilt  auf  Grund  der  sogenannten  Sydney- 
Buxton’schen  Klausel  des  englischen  Fabriken-  und  Werk- 
stättenaktes das  elfte  Altersjahr  als  die  unterste  Alters- 
grenze der  im  Gewerbe  und  Industrie  thätigen  Arbeiter. 
Ca.  70  000  10 — II  Jahre  alte  Kinder  werden  hierdurch  von 
der  Fabrikarbeit  befreit.  Trotzdem  bleibt  England  hinter 
fast  allen  nicht  südeuropäischen  Staaten  mit  Arbeiterschutz- 
gesetzgebung in  Bezug  auf  den  Kinderschutz  zurück.  Ein 
Antrag  auf  Festsetzung  der  Altersgrenze  für  die  jugend- 
lichen landwirthschaftlichen  Arbeiter,  was  von  hoher 
prinzipieller  Bedeutung  wäre,  dürfte  das  englische  Parla- 
ment vielleicht  schon  in  seiner  nächsten  Tagung  be- 
schäftigen. 

Englische  Verordnung  über  die  Ventilation  der 
Fabriken.  Ein  auf  Grund  der  Fabrik-  und  Arbeitsordnung 
erlassenes  Statut  ermächtigt  den  Minister  des  Innern,  Vor- 
kehrungen zu  treffen,  dass  für  bessere  Ventilationsvorrich- 
tungen in  besonders  gesundheitsgefährlichen  Betrieben  ge 
sorgt  wird  Als  solche  Betriebe  bezeichnet  der  Minister 
des  Innern  die  Herstellung  von  Töpferwaaren,  Sprengstoffen 
und  Chemikalien,  sowie  Steinbrüche. 

Kommunaler  Arbeiterschutz  in  London.  Der  neue  Lon- 
doner Grafschaftsrath  fährt  in  seiner  bahnbrechenden  Arbeit 
fort.  Am  27.  Mai  1892  war  auf  Antrag  von  John  Burns  das 


Prinzip  festgelegt  worden,  dass  die  Arbeiten  für  die  Gemein- 
den nur  unter  der  Bedingung  vergeben  werden  sollten,  dass 
Lohnsätze  und  Arbeitsbedingungen,  wie  sie  die  Trades 
Unions  anerkennen,  eingehalten  würden.  Zum  Zweck  der 
Durchführung  wurde  ein  Komitee  eingesetzt,  welches  in 
der  Sitzung  des  13.  Dezember  referirte.  In  den  sich  durch 
mehrere  Tage  hinziehenden  Verhandlungen  wurde  folgendes 
Regulativ  angenommen.  Erstens:  In  der  County  Hall  soll 
eine  Liste  der  Lohnsätze  und  Arbeitsstunden  aufgelegt 
werden,  die  bei  jenen  Arbeitern  des  Grafschaftsrathes  fest- 
gehalten werden,  die  ohne  Intervention  eines  Unternehmers 
ausgeführt  werden.  Die  Liste  wird  durch  den  Grafschafts- 
rath festgesetzt  über  Empfehlung  des  Komitees  für  öffent- 
liche Arbeiten,  und  wird  auf  die  von  den  Trades  Unions  in 
London  anerkannten  und  in  Geltung  stehenden  Lohnsätzen 
und  Arbeitsbedingungen  begründet  werden.  Die  Liste 
bildet  einen  Theil  der  Regulative  (Standing  Orders)  des 
Rathes  und  soll  zu  jeder  Zeit  dem  Publikum  zur  Einsicht 
offen  stehen.“  Diese  Bestimmungen  gaben  zu  einer  leb- 
haften Debatte  Anlass;  insbesondere  wurde  von  gegne- 
rischer Seite  behauptet,  dass  dadurch  der  Grafschaftsrath 
den  Trades  Unions  gebunden  an  Händen  und  Füssen  aus- 
geliefert werde.  Ausserdem  sei  die  grosse  Gefahr  vor- 
handen, dass  auf  diesem  Wege  weniger  Arbeiten  ausge- 
führt werden  würden  als  früher,  und  die  Arbeitslosigkeit 
und  der  Pauperismus  nur  wachsen  würde.  Aber  die  grosse 
Mehrheit  des  Rathes  Hess  sich  durch  diese  Argumente  nicht 
einschüchtern  und  der  Paragraph  wurde  mit  61  gegen  31 
Stimmen  angenommen.  Der  2.  Paragraph  lautet:  Die 

Offertausschreibungen  von  Arbeiten,  ehe  innerhalb  eines 
Umkreises  von  20  Meilen  von  Charing-cross  ausgeführt 
werden,  sollen  Bestimmungen  enthalten,  dass  der  Ersteher 
verpflichtet  sei,  Löhne  zu  zahlen,  die  nicht  geringer  sind, 
und  Arbeitszeit  zu  beobachten,  die  nicht  grösser  ist  als  die, 
welche  in  der  Liste  des  Grafschaftsrathes  festgestellt  sind. 
Dass  weiters  diese  Bedingungen  in  einen  Anhang  zum 
Kontrakt  aufgenommen  und  Strafe  für  jede  Verletzung  der- 
selben festgestellt  werden.  Für  jeden  Kontrakt  gilt  jene 
Liste,  die  beim  Abschluss  desselben  in  Kraft  war.  § 3 
lautet:  Wenn  der  Unternehmer  im  Zusammenhang  mit 

den  von  ihm  erstandenen  Arbeiten  beabsichtigt,  in  einer 
grösseren  Entfernung  als  20  Meilen  von  Charing-cross 
Arbeiten  ausführen  zu  lassen,  ist  er  verpflichtet,  ausser 
obigem  in  dem  Anhang  zum  Kontrakt  die  verschiedenen 
Arten  von  Arbeit,  die  er  verwenden  will,  anzuführen,  zu 
dem  die  Orte,  wo  diese  Arbeiten  ausgeführt  werden  sollen, 
die  Lohnsätze  und  Arbeitsstunden,  die  für  jede  Art  Arbeit 
in  Anwendung  kommen  wird,  und  kein  Vertrag  soll  abge- 
schlossen werden,  wenn  nicht  Arbeitsstunden  und  Lohn- 
sätze in  Uebereinstimmung  sind  mit  jenen,  die  durch  die 
Trades  Unions  anerkannt  sind,  die  in  jenen  Distrikten 
existiren,  in  welchen  die  Arbeiten  ausgeführt  werden. 
Auch  diese  Klausel  ist  dem  Vertrag  anzufügen  und  bildet 
einen  Theil  von  ihm,  ebenso  wie  Strafen  für  jede  Ver- 
letzung festgesetzt  werden.“  Hiermit  ist  der  Streit,  welcher 
die  Parteien  des  London  Council  eine  Zeit  lang  beschäftigte, 
erledigt,  und  zwar  in  dem  Sinne,  dass  überall  für  kommu- 
nale Arbeiten,  die  von  der  lokalen  Gewerkschaft  aner- 
kannten Lohnsätze  angewendet  werden  sollen.  Eine  Partei 
hatte  nämlich  verlangt,  dass  auch  auf  Arbeiten,  die  ausser 
dem  Londoner  Bereich  ausgeführt  werden,  die  Londoner 
Sätze  Anwendung  finden.  Dem  Ausschuss  liegt  nun  noch 
ein  Antrag  vor,  dass  der  Grafschaftsrath  selbst  einen  Mini- 
mallohn von  50  Pf.  per  Stunde  und  eine  Maximalarbeitszeit 
von  10  Stunden  festsetze.  Ueber  diesen  Antrag  wird  dem- 
nächst referirt  werden. 


Gewerbeinspektion. 

Reorganisation  der  preussischen  Gewerbeaufsicht. 

Die  Fortführung  der  Reorganisation  der  preussischen  Ge- 
werbeinspektion muss  auch  im  preussischen  Staatshaushalt 
für  1893  9t  zum  Ausdruck  kommen.  Sie  geht  leider  etwas 
langsam  vor  sich.  Sie  wurde  im  Jahre  1891  92  begonnen 
und  wird  voraussichtlich  erst  im  Jahre  1894/95  zu  Ende  ge- 
führt werden.  Bekanntlich  wurde  sie  so  in  die  Wege  ge- 
leitet, dass  in  der  Regel  bei  jeder  Regierung  ein  Regierungs- 
Gewerberath  angestellt,  und  dass  jeder  Regierungsbezirk 
in  Inspektionsbezirke  eingetheilt,  sowie  für  jeden  der  letz- 
teren ein  Gewerbeinspektor  angestellt  wird.  Die  Regie- 
rungsbezirke, für  welche  man  keine  Regierungs-Gewerbe- 


No.  16. 


SO/ 1 AI.l’OLITl SCHES  CENTRALBLATT. 


165 


räthe  in  Aussicht  genommen  hat,  sind  Gumbinnen,  Marien- 
werder, Köslin,  Stralsund,  Bromberg,  Lüneburg,  Stade,  Os- 
nabrück, Aurich  und  Sigmaringen.  Dagegen  sind  den  bei 
den  anderen  Regierungen  derselben  Provinzen  angestellten 
Gewerberäthen  für  diese  Bezirke  Hilfsarbeiter  beigegeben, 
bezw.  sollen  es  erst  noch  werden  Es  steht  immer  noch 
die  Anstellung  einiger  Gewerberäthe  aus.  Die  Hälfte  der  J 
noch  nöthigen  Stellen  dürfte  im  Etat  für  1893/94  gefordert 
werden.  Aehnlich  steht  es  mit  den  Assistentenstellen. 
Ferner  ist  noch  mehr  als  die  Hälfte  der  in  Aussicht  ge- 
nommenen Gewerbe-Inspektorenstellen  gegenwärtig  nicht 
besetzt.  Hier  soll  erst  der  nächstjährige  Etat  eine  Ver- 
mehrung in  Vorschlag  bringen.  Bisher  ist  für  die  Besol- 
dung der  in  Folge  der  Reorganisation  zur  Anstellung  ge- 
langten neuen  Beamten  ein  jährliches  Mehr  von  rund 
200  000  M.  in  den  Etat  gekommen.  Im  Uebrigen  soll  gleich- 
zeitig mit  der  Weiterführung  der  Reorganisation  der  Ge- 
werbeinspektion auch  die  Ueberweisung  der  Dampfkessel- 
revision auf  die  Gewerbeinspektion  fortgeführt  werden.  In 
zwölf  Regierungsbezirken  ist  dieselbe  bereits  erfolgt.  Für 
das  nächste  Jahr  ist  sie  in  Aussicht  genommen  für  die  Be- 
zirke Frankfurt,  Breslau,  Liegnitz,  Oppeln,  Magdeburg, 
Merseburg,  Erfurt  und  Schleswig.  Diese  Ueberweisung  der 
Kesselrevisionen  ist  auch  insofern  auf  die  finanzielle  Seite 
der  ganzen  Angelegenheit  von  Einfluss,  als  mit  der  Zu- 
nahme der  Dampfkessel  auch  die  anfänglich  ins  Auge  ge- 
nommene Zahl  der  Gewerbeinspektoren  eine  Vermehrung- 
erfahren  muss.  Schon  im  laufenden  Jahre  hatte  sich  her- 
ausgestellt, dass  in  Folge  der  in  zwei  Bezirken  vorhandenen 
grösseren  Zahl  der  Dampfkessel  sich  drei  Gewerbeinspek- 
toren mehr  nöthig  zeigten,  als  ursprünglich  angenommen 
war.  Wenn  die  Bepackung  der  „refornnrten“  Gewerbe- 
inspektion mit  der  Kesselrevision  eine  weitere  Vermehrung 
der  Inspektoren  zur  Folge  hätte,  so  wäre  das  wenigstens 
eine  gute  Wirkung;  im  Uebrigen  aber  lenkt  sie  leider  die 
Beamten  von  ihren  sozialpolischen  Aufgaben  ganz  we- 
sentlich ab. 

Fahrikinspektion  in  Frankreich.  Ein  Dekret  des 
Handelsministers  vom  13.  Dezember  1892  regelt  die  Be- 
stellung von  Inspektoren  „für  industrielle  Arbeit  der 
Kinder,  Mädchen  und  Frauen“,  gemäss  dem  Gesetz  vom 
2.  November  1892.  Das  Dekret  setzt  fest  die  Bestellung 
erstens  von  Divisionsinspektoren  und  zweitens  von  Departe- 
mentsinspektoren und  -inspektorinnen,  welche  den  ersteren 
unterstehen.  Die  Anstellung  wird  erst  nach  einem  Probe- 
jahr eine  definitive.  Es  werden  1 1 Divisionsinspektoren 
und  92  männliche  und  weibliche  Departementsinspektoren 
angestellt.  Für  das  Seine-Departement  werden  15  Inspek- 
toren und  10  Inspektorinnen  bestimmt.  Ein  besonderer  Er- 
lass wird  die  Eintheilung  der  übrigen  Inspektionsbezirke 
regeln.  Während  des  Probejahres  erhält  das  Inspektions- 
personal ein  Gehalt  von  2400  Francs.  Die  definitiv  ange- 
stellten Departementsinspektoren  erhalten  ein  Gehalt  von 
3000  Francs,  welches  in  dreijährigen  Zwischenräumen  bis 
zu  5000  Francs  steigt.  Die  Divisionsinspektoren  bekommen 
ein  Gehalt  von  6000  bis  8000  Francs  und  werden  aus  den 
Departementsinspektoren  entnommen.  Dazu  kommen  noch 
bei  Dienstreisen  Diäten  im  Betrage  von  15  Francs  täglich 
für  sämmtliche  Inspektoren  und  Inspektorinnen.  Ausserdem 
erhalten  sie  eine  fixe  Zulage  von  500 — 800  Francs  für  Biireau- 
kosten. 


Arbeiterversicherung. 

Statistik  der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung.  Die 

dem  Reichstage  soeben  vorgelegte,  im  Reichsversicherungsamt 
aufgestellte  Nachweisung  der  Geschäfts-  und  Rechnungsergeb- 
nisse der  Invaliditäts-  und  Altersversicherungsanstalten  für  das 
erste  Rechnungsjahr  1891  umfasst  die  sämmtlichen  31  Versiche- 
rungsanstalten. 

Wie  die  Nachweisung  erkennen  lässt,  sind  für  diese  Ver- 
sicherungsanstalten mit  insgesammt  149  Vorstandsmitgliedern, 
618  Ausschussmitgliedern,  58  086  V ertrauensmännern,  239  Kontrol- 
beamten,  613  Schiedsgerichten,  7984  besonderen  Markenverkaufs- 
stellen, 4436  mit  der  Einziehung  der  Beiträge  betrauten  Kranken- 
kassen und  5142  in  gleicher  Weise  mitwirkenden  Gemeinde- 
behörden und  sonstigen  von  der  Landes-Centralbehörde  be- 
zeichneten  Stellen  an  Entschädigungsbeiträgen  9 049  086,39  M. 
gezahlt  worden. 

Die  Zahl  der  bewilligten  Altersrenten  betrug  130  774,  die 
der  Invalidenrenten  27. 


An  Verwaltungskosten  sind  aufgewendet  worden 
3 722  882,40  M.,  was  für  den  Kopf  des  Versicherten  eine  Ausgabe 
von  etwa  0,40  M.  ergiebt  oder  4,19  pCt.  der  Gesammtcinnahmc 
an  Beiträgen  (der  erhobenen)  ausmacht.  Von  den  Verwaltungs- 
kosten entfallen  444252,94  M,  auf  die  Kosten  der  Einziehung 
der  Beiträge  (§  112  Absatz  3 des  Invaliditäts-  und  Altersver- 
sicherungsgesetzes)  und  255  875,73  M.  auf  die  Kosten  der  Schieds- 
gerichte. 

Die  Gesammteinnahme  aus  Beiträgen  belief  sich  mit  Ein- 
schluss von  371  744  M.  Beiträgen  für  Seeleute  auf  88  886  971,06  M 

Die  Zahl  der  verkauften  Beitragsmarken  beträgt  rund  10'; 
Millionen  in  Lohnklasse  I,  164  Millionen  in  Lohnklasse  II,  92 
Millionen  in  Lohnklasse  III  und  62  Millionen  in  Lohnklasse  IV  ; 
an  Doppelmarken  werden  rund  230  000  als  verkauft  nachg( 
wiesen. 

Der  Antheil  der  Versicherungsanstalten  an  den  bei  Auf- 
stellung der  Nachweisungen  vom  Rechnungsbüreaü  endgültig 
vertheilten  Renten  (§  90  des  Invaliditäts-  und  Altersversiche 
rungsgesetzes)  betrug  bei  124  835  Einzelfällen  9 217  262,48  M . 
dieser  Antheil  repräsentirt  einen  Kapitalwerth  von  49  516  096  M. 

Im  Laufe  des  Rechnungsjahres  1891  sind  5838  Renten  mit 
einem  auf  die  Versicherungsanstalten  entfallenden  Antheil  von 
420  824,52  M in  Wegfall  gekommen;  es  verbleiben  demnach  am 
Schluss  des  Jahres  noch  118  997  Altersrenten  mit  einem  abzüg- 
lich des  Reichszuschusses  sich  berechnenden  lahresbetrage  von 
8 796  437,96  M. 

Der  Vermögensbestand  einschliesslich  des  Werthes  der 
Inventarien  der  Versicherungsanstalten  belief  sich  bei  Ablauf 
des  Jahres  1891  auf  76  748  279,14  M.,  wovon  bis  dahin 
3 428  409,70  M.  dem  Reservefonds  (§  21  a.  a.  O.)  überwiesen 
worden  sind. 

Die  durchschnittliche  Verzinsung  der  Kapitalanlagen  erfolgt 
mit  3,67  pCt. 

Krankenversicherung  der  Dienstboten  in  Baden.  Die 

Zahl  der  Dienstboten-Krankenkassen  im  Grossherzogthum  Baden 
betrug  nach  dem  soeben  bekannt  gewordenen  amtlichen  Aus- 
weis im  Jahre  1891  65  (gegen  62  im  Jahre  1890  und  63  im  Jahre 
1889).  Der  Bestand  der  Mitglieder  bei  Beginn  des  Jahres  1891 
betrug  überhaupt  31  305,  davon  27  280  weibliche,  am  Ende  des 
Jahres  32  567,  davon  28  099  weibliche;  es  hat  somit  eine  Zunahme 
von  1262  stattgefunden.  Die  meisten  Dienstboten  am  Ende  des 
Jahres  1891  zählte  der  Kreis  Karlsruhe  und  zwar  9109,  ihm  zu- 
nächst kam  der  Kreis  Mannheim  mit  7310  Dienstboten,  die 
Kreise  Freiburg  mit  4380,  Baden  3458  und  Heidelberg  2679. 
Während  des  Jahres  1891  sind  im  Ganzen  5239  Erkrankungsfälle 
eingetreten.  Die  Zahl  der  Krankheitstage  im  Jahre  1892  beträgt 
überhaupt  92  037.  Die  meisten  Erkrankungsfälle  weist  der  Dienst- 
botenstand des  Kreises  Karlsruhe  mit  2025  Erkrankungen  bezw. 
28  002  Krankheitstagen  auf.  Es  folgen  die  Kreise  Mannheim 
968  bezw.  17  459;  Freiburg  731  bezw  16  434;  Baden  432  bezw. 
7877;  Heidelberg  361  bezw.  8961.  Die  Einnahmen  der.  65  Dienst- 
boten-Krankcnkassen  im  Jahre  1891  betrugen  307  915  M (1890: 
290  960  M. );  dabei  entfallen  auf  Mannheim  51  782  M.  Die  Aus- 
gaben beziffern  sich  auf  295  764  M.  (1890:  266917  M.);  hiervon 
entfallen  51  540  M.  auf  Mannheim.  An  Beiträgen  sind  im  Jahre 
1891  201  400  M.,  auf  1 Mitglied  6,31  M.  entrichtet  worden  (1890: 
216  888  bezw.  6,85,  1889:  206  038  bezw.  6,79).  Von  den  im  Jahre 
erwachsenen  Krankheitskosten  im  Betrage  von  209  21 1 M.  kommen 
auf  1 Mitglied  6,55  M , auf  einen  Krankheitsfall  39,93  M.,  auf 
1 Krankheitstag  2,27  M.  Der  Vermögensbestand  sämmtlicher 
badischer  Dienstboten-Krankenkassen  stellte  sich  im  Jahre  1891 
folgendennassen:  Aktiva  78  968  M.  (1890:  78,838  M.);  Passiva 
13  050  M.  (10  236  M.;  9430  M.). 


Wohnungszustände. 

Wohmingszustäncle  in  Frankfurt,  a.  Main.  In  Frank- 
furt a.  Main  fand  in  den  letzten  Wochen  eine  Revision  der 
ein-  und  zweizimmerigen  Wohnungen,  namentlich  solcher, 
in  welchen  sogenannte  „Schläfer“  gehalten  werden,  statt. 
Die  Untersuchung  erfolgte  unter  Leitung  des  Kreisphysikus. 
Es  handelte  sich  in  der  Hauptsache  nicht  blos  um  die  ge- 
sundheitlichen Verhältnisse  der  Wohnungen,  sondern  auch 
um  die  Feststellung,  wie  viele  Personen  und  in  welcher 
Weise  sie  diese  Wohnungen  benutzen,  bezw.  ob  die  kürzlich 
dieserhalb  erlassenen  polizeilichen  Vorschriften  (vergl.  Sozial- 
politisches Centralblatt  No.  35,  I.  Jahrgang)  beachtet  wor- 
den sind.  Dabei  stellte  sich  heraus,  dass  viele  von  diesen 
Wohnungen  unter  dem  Dach  liegen  und  sich  im  Preise 
zwischen  15  und  30  M.  monatlich  bewegen.  Häufig  sind 
die  Bodenräume  durch  Dielen  abgeschlagen,  um  zwei 
Zimmer  herzustellen.  In  einer  solchen  Wohnung  fand  man 
als  Insassen  ein  Ehepaar  mit  5 Kindern  und  2 Schläfern. 
Sie  kostete  monatlich  20  M. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  braun  in  Berlin. 


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vom  1.  Januar  1893  ab: 

Blätter  für  soziale  Praxis 

in  Gemeinden.  Vereinen  und  Privatleben. 

Herausgegeben  unter  Mitwirkung  von  hervorragenden  Fachmännern 

von 

Dr.  N.  Brückner,  Frankfurt  a.  Main. 

Die  neue  Zeitschrift  ivill  der  sozialen  Fürsorge  in  kleinerem  Kreis , in 
Gemeinde,  Vereinen  und  Privatleben  dienen  und  hier,  unter  B eiseitelas  sung 
jeder  theoretischen  Erörterung , einen  Sammelpunkt  für  praktische  Erfahrungen 
bilden,  der  bis  jetzt  den  Provinzial-  und  Städteverwall ungen,  den  Stadtver- 
ordneten, Vereins-  und  Stiftungsvorständev,  soivie  allen  privaten  Freunden  der 
Gemeinnützigkeit  vollständig  fehlte. 

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SOZIALE  GESETZGEBUNG  UND  STATISTIK. 


Verlag  der  Internationalen  Verlags-Anstalt 
Berlin  SW.,  Wilhelmstrasse  10. 


Vierteljahresschrift 

zur  Erforschung  der  gesellschaftlichen  Zustände  aller  Länder. 

In  Verbindung 

mit  einer  Reihe  namhafter  Fachmänner  des  In-  und  Auslandes 

herausgegeben  von 

Dr.  Heinrich  Braun. 

Das  Archiv  erscheint  in  Bänden  von  ca.  40  Druckbogen  lex.  8°  in  4 Heften. 
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Das  Gesetz 

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Telegraphenwesen 

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Geheimer  Justizrath  und  o.  <i.  Professor  der  Rechte  in 
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II.  Jahrgang 


Berlin,  den  23.  Januar  1893. 


Nummer  17. 


SOZIALPOLITISCHES 

C E NTRALB  LATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

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Einzelnummer  20  Pf. 

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Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


Die  Ergebnisse  der  Ham- 
burger Ar  b e i t s 1 o s e n st  a- 
tistik.  Von  C.  Legien,  Vor- 
sitzender der  Generalkommission 
der  Gewerkschaften  Deutsch- 
lands. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  11. 
W irthscli  aftsstatistik : 

Volksschuldotationsgesctz  in 
Preussen. 

Vermögenssteuer  und  Erbschafts- 
steuer in  Preussen. 

Aus  der  Steuerkommission  des 
preussischen  Abgeordneten- 
hauses. 

Gesetzentwurf,  betr.  den  Hausir- 
handel. 

Gründung  eines  Ausschusses  für 
Arbeitsnachweis  und  Arbeits- 
nachweisstatistik in  Berlin. 

Arbeiterzustände : 

Der  lohnstatistische  Werth  der  von 
den  Berufsgenossenschaften  ge- 
zahlten Beerdigungskosten.  Von 
Dr.  E.  Lange. 

Lohnverhältnisse  in  der  chemischen 
Industrie  der  Stadt  Berlin  Von 
Dr.  E.  Hirschberg. 

Nothwendigkeit  einer  neuen  Berufs- 
statistik für  das  deutsche  Reich. 

Amtlicher  Bericht  über  die  Arbeiter- 
verhältnisse auf  den  Staatsberg- 
werken in  Preussen. 

Ausdehnung  der  ,,Vagabondage“ 
in  1892. 

Arbeiterwanderungen  innerhalb 
Deutschlands. 

Arbeitszeit  im  Kanton  Zürich. 


Politische  Arbeiterbewegung : 

Zur  Feier  des  1.  Mai  in  Oesterreich. 

Das  Recht  auf  Arbeit  in  der 
Schweiz. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Der  Bergarbeiterausstand  im  Saar- 
revier und  in  Rheinland-West- 
falen. 

Von  der  englischen  Bergarbeiter- 
konferenz. 

Arbeiterscliutzgesetzgebung : 

Haftpflicht  der  Unternehmer,  betr. 
die  Arbeiterschutzbestimmungen. 

Verbot  der  Kinderbeschäftigung  in 
Theatern. 

Gerichtliches  Urtheil,  betr.  Abän- 
derung von  Fabrikordnungen  in 
der  Schweiz. 

Früherer  Schluss  d.-r  Geschäfte  in 
London. 

Arbeiterversicherung: 

Altersrenten  auf  Grund  des  Inva- 
liditäts-  und  Altersversicherungs- 
gesetzes. 

Versicherung  gegen  Arbeitslosig- 
keit in  der  Stadt  Bern. 

Gewerbegerichte : 

Schiedsgerichte  für  ländliche  Ar- 
beiter. 

Berggewerbegerichte  in  Preussen. 

Gewerbegerichte  in  Basel-Stadt. 

Litteratur: 

Woedtke,  E.  v.,  Krankenversiche- 
rungsgesetz. 

Gottschalk,  Eduard,  Das  neue  Aus- 
wanderungsgesetz. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Ergebnisse  der  Hamburger  Arbeits- 
losenstatistik. 

Die  Feststellung  des  Umfanges  der  Arbeitslosigkeit 
ist  für  den  ernsthaften  Sozialpolitiker  von  so  grossem  Werth, 
dass  man  sich  wundern  muss,  dass  seitens  der  Behörden 
keinerlei  Anstalten  getroffen  werden,  solche  Feststellungen 
zu  machen.  Erklärlich  wird  dies  nur  durch  das  Bemühen, 
alles  zu  vermeiden,  was  den  Besitzenden  unbequem  und 
unangenehm  sein  könnte.  Wenn  man  sich  seitens  der  Be- 
hörden nicht  überall  in  dem  Mass  rücksichtsvoll  gegen  die 
besitzenden  Bürger  gezeigt  hat  wie  in  Dresden,  wo  man 
die  geplante  Arbeitslosenstatistik  einfach  verbot,  so  hat 
man  aber  umso  weniger  den  Arbeitern  bei  Aufnahme 
der  Statistik  hilfreiche  Hand  geboten,  obgleich  es  ganz 


besonders  im  Interesse  der  Verwaltungsbehörden  liegen, 
müsste,  den  Umfang  der  Noth  an  ihrem  Orte  kennen  zu 
lernen.  So  mussten  die  Arbeiter  überall  mit  eigener 
Kraft  und  eigenen  Mitteln  sich  dieser  Sache  annehmen. 
Es  dürfte  auf  diesem  Gebiete,  wie  auf  anderen  der  bekannte 
Weg  in  Deutschland  eingehalten  werden:  erst  nachdem  die 
Arbeiter  gezeigt  haben,  dass  bestimmte  Arbeiten  ausführ- 
bar und  für  die  Bevölkerung  nutzbringend  sind,  erst  dann 
kommen  die  Behörden  nachgehinkt. 

Für  die  Arbeiterschaft  hat  die  Arbeitslosenstatistik 
enorme  Bedeutung.  Sie  soll  in  erster  Linie  dazu  dienen, 
an  die  massgebenden  Behörden  mit  zweifellosen  Beweisen 
heran  treten  zu  können,  dass  eine  Nothlage  des  Volkes- 
vorhanden und  deren  Abhilfe  dringend  geboten  ist.  Dann 
dürfte  diese  Statistik,  sofern  sie  in  regelmässigen  Zwischen- 
räumen aufgenommen  wird,  dem  Arbeiter  auch  einen  Ein- 
blick in  das  Aufsteigen  und  den  Niedergang  der  wirth- 
schaftlichen  Konjunktur  gestatten,  der  ihm  heute  fast  voll- 
ständig abgeht  und  ihn  bei  den  Lohnkämpfen  zu  falschen 
Massnahmen  greifen  lässt.  Das  haben  die  organisirten  Ar- 
beiter einer  ganzen  Reihe  grösserer  Städte  eingesehen  und 
deshalb  beschlossen,  solche  Statistiken  zu  erheben.  Ja,  es  ist 
bereits  der  Plan  aufgetaucht,  dies  in  zentralistischer  Form  zu 
unternehmen,  indem  die  Generalkommission  der  Gewerk- 
schaften Deutschlands  ersucht  werden  soll,  solche  Aufnahmen 
nach  einem  einheitlichen  System  für  ganz  Deutschland  zu 
veranstalten.  Ob  diesem  Gedanken  Folge  gegeben  werden 
kann,  lässt  sich  zur  Zeit  noch  nicht  angeben.  Die  Be- 
schlüsse, Arbeitslosenstatistiken  aufzunehmen,  wurden  viel- 
fach in  Folge  der  im  Sozialpolitischen  Centralblatt  ge- 
gebenen Anregung  gefasst.  Die  Generalkommission  suchte 
in  ihrem  Korrespondenzblatt  durch  eine  mit  Tabellen  ver- 
sehene Anleitung  die  Aufnahme  in  ein  einheitliches  System 
zu  bringen.  Ob  dies  gelungen,  ist  noch  nicht  festzustellen, 
da  eingehende  Berichte  über  die  Aufnahmen,  die  zum 
grossen  Theil  Mitte  Januar  erfolgen,  noch  nicht  vorliegen. 
In  anderen  Orten,  z.  B.  in  Hamburg  besteht  der  Plan,  eine 
Arbeitslosenstatistik  zu  veranstalten,  bereits  seit  längerer 
Zeit.  Schon  im  Jahre  1891  tauchte  dieser  Gedanke  auf. 
Eine  von  einer  Arbeitslosenversammlung  an  den  Ham- 
burger Senat  abgesandte  Deputation  wurde  von  diesem 
ersucht,  den  Umfang  der  Arbeitslosigkeit  statistisch  festzu- 
stellen. Das  Hamburger  Gewerkschaftskartell  erklärte  sich 
hierzu  bereit,  sofern  der  Hamburger  Staat  die  hieraus  er- 
wachsenden Kosten  tragen  wolle.  Eine  vom  Gewerkschatts- 
kartell  eingesetzte  Kommission  unterbreitete  dem  Senat 
einen  detaillirten  Plan,  nach  welchen  monatlich  eine  Fest- 
stellung der  Arbeitslosigkeit  durch  regelmässig  auszu- 
gebende Fragebogen  erfolgen  sollte.  Der  Senat  lehnte 
diesen  Plan  ab , weil  die  Kosten  der  Durchführung 


198 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  17. 


zu  grosse  seien  und  die  Statistik  trotzdem  nicht  als 
zuverlässig  angesehen  werden  könnte.  Ausserdem  wurde 
die  Ablehnung  damit  motivirt,  dass  es  wohl  Sache 
der  grösseren  Bundesstaaten  sei,  hierin  zuerst  vorzu- 
gehen. Der  Hinweis  darauf,  dass  gerade  die  Staaten 
mit  freierer  Verfassung  in  diesem  Punkte  vorangingen  und 
voranzugehen  haben,  blieb  fruchtlos.  Die  von  dem  Ge- 
werkschaftskartell ausgearbeiteten  Pläne  wurden  in  den 
Akten  des  Senats  begraben. 

Das  Auftreten  der  Choleraepidemie  erzeugte  in  Ham- 
burg eine  so  grosse  Arbeitslosigkeit,  dass  das  Gewerk- 
schaftskartell dem  Drängen  der  Gewerkschaften  nachgeben 
musste  und  die  Aufnahme  einer  Arbeitslosenstatistik  be- 
schloss. Die  früher  ausgearbeiteten  Pläne  Hessen  sich  für 
diese  Aufnahme  aber  nicht  verwerthen.  Dagegen  musste 
die  Statistik  mit  grösster  Schnelligkeit  ins  Werk  gesetzt 
werden.  Dazu  kam  noch,  dass  es  zur  Zeit  der  Aufnahme 
der  Statistik  nicht  möglich  war,  Versammlungen  abzuhalten 
um  die  Pläne  eingehend  zu  berathen.  Die  Folge  davon 
war,  dass  bei  der  Aufnahme  Fehler  begangen  wurden, 
die  den  Werth  der  gewonnenen  Resultate  wesentlich 
beeinträchtigten.  Wenn  eine  Arbeitslosenstatistik  zu  dem 
Zweck  aufgenommen  wird,  an  die  Verwaltungskörper- 
schaften heran  zu  treten,  damit  sie  Abhilfe  der  Noth 
schaffen,  so  muss  die  Aufnahme,  was  ja  eigentlich  als 
selbstverständlich  zu  gelten  hat,  nicht  nur  möglichst  voll- 
ständig sein,  sondern  auch  schnell  zusammen  gestellt  wer- 
den. Beiden  Anforderungen  entspricht  die  Hamburger 
Statistik  nicht.  Die  Ursachen  dieses  unangenehmen  Ergeb- 
nisses an  dieser  Stelle  zu  erörtern  führte  zu  weit.  Die  Ur- 
sachen sind  aber  hier  erkannt  und  werden  sicherlich  bei 
Wiederaufnahme  einer  Arbeitslosenstatistik  die  erkannten 
Fehler  vermieden  werden.  Die  Statistik,  die  schon  am 
15.  Oktober  1892  aufgenommen  wurde,  gelangt  erst  jetzt 
zur  Veröffentlichung  und  führt,  was  für  den  mit  den  ham- 
burger  Verhältnissen  Vertrauten  als  sicher  zu  gelten  hat, 
kaum  die  Hälfte  der  zu  jener  Zeit  Arbeitslosen  an.  Das 
Hamburger  Gewerkschaftskartell  nahm  an,  dass  die  durch 
die  Epidemie  geschaffenen  besonderen  Umstände  geeignet 
wären,  die  statistische  Aufnahme  nicht  nur  auf  die  Arbeits- 
losen allein  zu  beschränken,  sondern  sie  auf  alle  Ham- 
burger Arbeiter  auszudehnen,  um  einen  Einblick  in  die 
Personal- , Arbeitszeit-  und  Lohnverhältnisse  der  ge- 
sammten  Arbeiterbevölkerung  zu  gewinnen.  Dieser  Ge- 
danke scheiterte  an  zu  geringer  Betheiligung,  die  jeden- 
falls auf  ein  Missverstehen  der  eigentlichen  Absicht  seitens 
der  Arbeiterschaft  zurück  zu  führen  ist.  Die  einzelnen 
Gewerkschaften  wurden  beauftragt  die  Zahl  der  in  ihrem 
Berufe  thätigen  Personen  abzusch ätzen.  Diese  Schätzung, 
die  selbstverständlich  auf  Zuverlässigkeit  keinen  Anspruch 
machen  kann,  ergab,  dass  ca.  1 70  000  Lohnarbeiter  in  Ham- 
burg beschäftigt  werden  Von  diesen  betheiligten  sich  an 
der  Statistik  18  824  Personen.  Von  dieser  Zahl  sind  jedoch 
213  Händler,  Kolporteure  und  Krämer  in  Abzug  zu  bringen, 
da  diese  nicht  als  eigentliche  Lohnarbeiter  zu  gelten  haben. 
Es  bleiben  sonach  18  611  an  der  Statistik  betheiligte  Lohn- 
arbeiter oder  10,9  pCt.  der  gesammten  Lohnarbeiterschaft. 
Diese  äusserst  geringe  Betheiligung  lässt  zuverlässige 
Schlüsse  auf  die  Personal  Verhältnisse  der  Hamburger  Ar- 
beiterbevölkerung nicht  zu.  Bei  den  an  der  Statistik  be- 
theiligten 18  824  Personen  war  das  Durchschnittsalter  34 
Jahre.  Das  höchste  Alter  betrug  70,  das  niedrigste  15  Jahre. 
Von  den  Ausstellern  waren  1 1 672  Personen  oder  62  pCt. 
verheirathet  und  7152  ledig.  Die  Verheiratheten  haben  zu- 
sammen 42  178  Familienangehörige  zu  ernähren.  Von  den 
an  der  Statistik  betheiligten  Personen  waren  am  15.  Ok- 
tober 4 893  zusammen  seit  50  375  Wochen  oder  durch- 
schnittlich pro  Kopf  der  Arbeitslosen  IO2/*  Wochen  arbeits- 


los. Die  längste  Arbeitslosigkeit  betrug  41  Wochen,  die 
kürzeste  1 Woche.  Die  Dauer  der  längsten  Arbeitslosig- 
keit ist  vom  1.  Januar  bis  15.  Oktober  1892  berechnet.  In 
mehreren  Fällen  zog  sich  die  Arbeitslosigkeit  bis  in  das 
Ende  des  Jahres  1891  hinein.  Von  den  Arbeitslosen  waren 
2 658  oder  fast  55  pCt.  verheirathet.  Diese  hatten  zusammen 
9 539  Familienangehörige  zu  ernähren.  Die  Arbeitslosigkeit 
betrug  bei  den  Verheiratheten  zusammen  27  648  Wochen 
oder  durchschnittlich  pro  Kopt  102/-  Wochen.  Ausserdem 
waren  in  diesen  Familien  noch  614  Familienangehörige,  die 
zum  Unterhalt  der  Familie  beitragen  müssen,  ohne  Be- 
schäftigung. Ledige  Personen  waren  2 235  seit  zusammen 
22  727  Wochen  oder  durchschnittlich  pro  Kopf  10'/.-,  Wochen 
arbeitslos.  Auch  diese  Arbeitslosen  hatten  zusammen  764 
Familienangehörige  zu  ernähren.  Dass  die  Zahl  der  ver- 
heiratheten Arbeitslosen  eine  grössere  ist,  als  die  der  ledi- 
gen, mag  darauf  zurückzuführen  sein,  dass  die  Unternehmer 
mit  Vorliebe  jüngere  Arbeitskräfte  beschäftigen,  hauptsäch- 
lich wohl  aber  darauf,  dass  die  ledigen  Personen  bei  län- 
gerer Arbeitslosigkeit  den  Ort  verlassen.  Das  Gesammt- 
ergebniss  der  festgestellten  Arbeitslosigkeit  am  15.  Oktober 
ist,  dass  15  196  Menschen  durchschnittlich  seit  1 02/5  Wochen 
ohne  Subsistenzmittel  waren.  Eine  andere  Bezeichnung 
kann  man  nicht  wählen,  weil  der  Arbeiter  mit  dem  Tage 
des  Eintritts  der  Arbeitslosigkeit  auch  ohne  Mittel  zur  Er- 
nährung dasteht. 

Die  Statistik  stellte  dann  fest,  wie  gross  die  Arbeits- 
losigkeit im  Laufe  des  Jahres,  mit  oder  ohne  Unterbrechung 
bis  zum  Tage  des  Eintritts  der  Epidemie  (27.  August)  war. 
Es  waren  in  dieser  Zeit  arbeitslos  8301  Personen  zusammen 
84  010  Wochen  oder  durchschnittlich  pro  Person  1 0’/io 
Wochen.  Unter  diesen  Arbeitslosen  befanden  sich  5 108 
Verheirathete  oder  61  pCt.,  die  zusammen  18  728  Familien- 
angehörige zu  ernähren  hatten.  Durchschnittlich  stellte  sich 
die  Dauer  der  Arbeitslosigkeit  bei  den  Verheiratheten  auf 
103/-  Wochen.  Ledige  waren  3 1 93  zusammen  29  840  Wochen 
oder  durchschnittlich  pro  Person  93/I0  Wochen  arbeitslos. 
Die  ledigen  Arbeitslosen  hatten  zusammen  630  Familien- 
angehörige zu  ernähren.  Es  waren  nach  dieser  statistischen 
Feststellung  in  der  Zeit  vom  1.  Januar  bis  27.  August 
1892  27  659  Personen  während  1 01/ 10  Wochen  ohne  aus- 
reichende Ernährung. 

Vom  1.  Januar  bis  15.  Oktober  1892  waren  in  Ham- 
burg insgesammt  10  893  Personen  mit  oder  ohne  Unter- 
brechung zusammen  135  397  Wochen  oder  durchschnittlich 
pro  Person  1 2'/;1  Wochen  arbeitslos.  Rechnet  man  den 
Verlust  an  Arbeitsverdienst  nur  nach  dem  ortsüblichen 
Tagelohn  von  3,00  M.,  so  ergiebt  dies  einen  Verlust  an 
Arbeitseinkommen  von  2 437  1 46,00  M.  oder  durchschnittlich 
pro  Kopf  der  Arbeitslosen  223  M. 

Die  Statistik  stellt  dann  ferner  die  Dauer  der  täglichen 
Arbeitszeit  und  die  Höhe  des  wöchentlichen  Lohnes  fest, 
wie  sie  bei  normalem  Geschäftsgang  vorhanden  sind.  In 
vielen  Berufen  war  in  Folge  des  durch  die  Choleraepidemie 
verursachten  schlechten  Geschäftsganges  eine  Verkürzung 
der  Arbeitszeit  und  Verringerung  des  Einkommens  einge- 
treten. Auch  hierauf  ist  bei  Aufnahme  der  Statistik  Rück- 
sicht genommen.  Diese  Zahlen  können  aber,  mit  Rücksicht 
auf  die  schon  erwähnte  geringe  Betheiligung  an  der  Statistik, 
nicht  als  vollständig  massgebend  anerkannt  werden.  Bei 
regelmässigem  Geschäftsgang  betrug  die  durchschnittliche 
Arbeitszeit  der  an  der  Statistik  betheiligten  Personen  10',2 
Stunden  pro  Tag  bei  einem  durchschnittlichen  Wochenlohn 
von  21,75  M.  In  8 Gewerben  (Arbeiter  in  städtischen  Be- 
trieben, Barbiere,  Gastwirthsgehilfen , Baggereiarbeiter, 
Handlungsgehilfen,  Hausknechte,  Pferdebahnarbeiter  und 
Cigarrenmacher)  wird  die  längste  Arbeitszeit  mit  1 8 Stunden 
pro  Tag  angegeben.  In  4 Gewerben  (Fabrik-  und  Hilfs- 


No.  17. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


199 


arbeiter,  Gastwirthsgehilfcn,  Musiker  und  Schuhmacher)  ist 
als  kürzeste  Arbeitszeit  4 Stunden  vermerkt.  Mit  Ausnahme 
der  Musiker  und  Lohnkcllner  dürfte  eine  vierstündige  täg- 
liche Arbeitszeit  wohl  nur  auf  besondere  in  dem  betreffenden 
Geschäftsbetrieb  vorhandene  Umstände  zuriickzutühren 
sein.  In  Folge  des  durch  die  Choleraepidemie  hervor- 
gerufenen schlechteren  Geschäftsganges  ist  die  Arbeitszeit 
im  allgemeinen  Durchschnitt  um  f/2  Stunde  pro  Tag  ver- 
kürzt und  der  Wochenlohn  um  1,43  M.  gesunken. 

Ein  Wochenlohn  von  36,00  M.  wurde  in  4 Gewerben 
(Bauarbeiter,  Maurer,  Steinmetzen  und  Zimmerer)  bei  regel- 
mässigem Geschäftsgang  erzielt.  Berücksichtigt  man  jedoch, 
dass  in  diesen  Gewerben  während  mehrerer  Monate  die 
Arbeit  überhaupt  ruht,  so  dürfte  auch  dieses  Arbeitsein- 
kommen unter  keinen  Umständen  als  ein  hohes  bezeichnet 
werden  können.  In  14  Gewerben  (darunter  Plätterinnen, 
Schneiderinnen  und  Tabakzurichterinnen)  sind  als  niedrig- 
ster Wochenlohn  6,00  M.  bei  regelmässigem  Geschäftsgang 
verzeichnet,  ln  1 I Gewerben  verringerte  sich  das  niedrigste 
Arbeitseinkommen  in  Folge  des  schlechten  Geschäftsganges 
auf  3,00  M.  pro  Woche. 

Dies  nur  einige  kurze  Angaben  aus  dem  sehr  umfang- 
reichen Zahlenmaterial  der  Statistik.  Diese  Feststellungen, 
die  wie  erwähnt  noch  keineswegs  den  vollen  Umfang  des 
in  Hamburg  vorhandenen  Nothstandes  darstellen,  geben 
doch  ein  so  schwarzes  Bild  von  Elend  und  Entbehrungen, 
dass  man  keineswegs  sich  darüber  zu  wundern  braucht, 
dass  die  Cholera  unter  der  Hamburger  Arbeiterbevölkerung 
so  verheerend  auftreten  konnte.  Die  Arbeitslosigkeit  ist  im 
Anfang  dieses  Jahres  in  ungeheurer  Weise  gewachsen  und 
wenn  seitens  der  Behörden  nicht  ganz  energische  Mass- 
regeln  zur  Linderung  der  Noth  ergriffen  werden,  so  ist  ein 
Wiederausbruch  der  Epidemie  zu  befürchten. 

Die  Ergebnisse  der  Statistik  sind  mit  einer  Denkschrift 
an  den  Hamburger  Senat  eingesandt  worden.  Die  Denk- 
schrift enthält  die  Forderung,  dass  unverzüglich  Staats- 
arbeiten in  grösserem  Umfange  in  Angriff  genommen  wer- 
den sollen.  Wenn  dies  aus  technischen  Gründen  nicht  an- 
gängig, so  soll  den  Arbeitslosen  direkte  Unterstützung,  die 
aber  nicht  als  Armenunterstützung'  aufzufassen  ist,  gewährt 
werden.  Ferner  soll  die  Arbeitszeit  der  in  städtischen  Be- 
trieben beschäftigten  Arbeiter  auf  8 Stunden  pro  Tag  fest- 
gesetzt und  ein  Lohn  gezahlt  werden,  wie  er  seitens  der 
verschiedenen  Hamburger  Gewerkschaften  anerkannt  und 
in  der  Praxis  durchgeführt  ist.  Dieselben  Arbeitsbedin- 
gungen sollen  die  Gewerbetreibenden,  welche  mit  Staats- 
arbeiten betraut  sind,  innehalten.  Auch  sollen  Zuchthaus- 
arbeiten, die  geeignet  sind,  den  freien  Arbeitern  die  Arbeits- 
gelegenheit zu  schmälern  oder  den  Lohn  zu  verringern 
geeignet  sind,  in  Zukunft  unterlassen  werden.  Sodann  wird 
zur  leichteren  Vermittelung  der  Arbeit  die  Errichtung  eines 
städtischen  Arbeitsnachweises  unter  ausschliesslicher  Ver- 
waltung und  Kontrolle  der  Arbeiter  gefordert. 

Nach  der  Stellung,  welche  die  Behörden  anderer  Orte 
den  Forderungen  der  Arbeiterschaft  gegenüber  eingenom- 
men haben,  ist  kaum  zu  erwarten,  dass  der  Hamburger 
Senat  den  V linschen  der  Hamburger  Arbeiter  nachkommt. 
Mit  Rücksicht  aut  die  bei  Unterlassung  der  nothwendigen 
Massnahmen  der  gesummten  Bevölkerung  drohenden  Gefahr, 
wollen  wir  aber  dennoch  die  Hoffnung  auf  ein  energisches 
Eingreifen  der  Behörden  nicht  aufgeben. 

Hamburg.  C.  Legien. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Volksschuldotations-Gesetz  in  Preussen. 

Nach  dem  Scheitern  des  grossen  Volksschulgesetz  - 
Entwurfs  vom  Jahre  1892  hat  die  preussische  Regierung, 
wie  es  scheint,  eine  zusammenhängende  Regelung  des 
Volksschulwesens  für  absehbare  Zeit  aufgegeben.  Dem 
Landtage  ist  ein  kleiner,  aus  nur  4 Paragraphen  bestehen- 
der Gesetzentwurf  zugegangen,  welcher,  von  allen  päda- 
gogischen Fragen  absehend,  nur  die  dringendsten  Finanz- 
bedürfnisse zu  befriedigen  bestimmt  ist.  Nach  § 1 des 
Gesetzes  sollen  für  die  Verbesserung  des  Diensteinkommens 
der  Lehrer  und  Lehrerinnen  an  öffentlichen  Volksschulen 
3 Millionen  Mark  dauernd  in  den  Etat  eingestellt  werden, 
ferner  für  Volksschulbauten  und  deren  Ausstattungen 
1 Million  Mark  ebenfalls  dauernd  und  6 Millionen  Mark  ein- 
malig. Die  Mittel  sollen  indirekt  durch  die  ersten  Mehr- 
erträge der  neuen  Einkommensteuer  gedeckt  werden.  Wenn 
für  die  Unterhaltung  einer  Schule  höhere  Leistungen  der 
Gemeinde  nöthig  werden,  so  soll  in  Zukunft  unterschieden 
werden,  ob  es  sich  um  Erhöhung  des  Lehrergehalts  oder 
um  andere  Fragen  (Ausstattung  und  innere  Einrichtung 
der  Schulen,  Errichtung  neuer  Schulen,  neuer  Klassen 
und  neuer  Lehrerstellen)  handelt.  Während  für  die  ganze 
Reihe  der  letzteren  Fälle  das  Verwaltungsstreit  verfahren  zu- 
gelassen wird,  wird  für  die  ersteren  (Erhöhung  der  Lehrer- 
gehälter) eine  ziemlich  diktatorische  Befugniss  für  die  Staats- 
behörden in  Anspruch  genommen.  Die  Gründe,  welche  die 
Regierung  für  die  nothwendige  Verstärkung  ihrer  Befugnisse 
anführt,  sind  ein  trauriger  Beweis  dafür,  dass  es  Selbst- 
verwaltungsbehörden, von  denen  eine  uneigennützige  und 
weitblickende  Behandlung  der  Lehrergehaltsfragen  zu  er- 
warten ist,  in  Preussen  nicht,  oder  doch  zum  mindesten  nur 
ausnahmsweise,  giebt.  Die  Regierung  klagt  darüber,  dass  die 
Unterstützungen,  welche  der  Staat  zum  Zweck  der  Verbesse- 
rung des  Schulwesens  den  Gemeinden  zu  zahlen  sich  verpflich- 
tet habe,  zur  blossen  Entlastungder  Gemeindesteuerpflichtigen 
gebraucht  worden  seien.  Die  den  Selbstverwaltungs- 
behörden gegebenen  Befugnisse  hätten  in  der  Praxis  dazu 
geführt,  dass  die  Selbstverwaltungskörper  Beschlüsse  zu 
fassen  im  Stande  waren,  welche  zu  ihren  Gunsten  die 
Staatskassen  rechtlich  banden,  ohne  dass  die  Verbesserung 
des  Schulwesens  erreicht  würde.  „Der  zulässige  Höchst- 
betrag der  Schulsteuern  ist  von  den  Kreisausschüssen  und 
Provinzialräthen  aufs  Aeusserste  beschränkt,  ja  sie  haben 
auch  wohl  nach  dem  Erlass  der  Gesetze  wegen  Erleich- 
terung der  Volksschullasten  jede  weitere  Belastung,  welche 
durch  Einrichtung  neuer  Klassen  oder  Lehrerstellen 
in  Folge  vermehrter  Kinderzahl  nothwendig  wurde, 
überhaupt  aus  dem  Grunde  abgelehnt , »weil  sonst 
die  durch  jene  Gesetze  gewollte  Erleichterung 
illusorisch  werden  würde.«“  Von  einer  Fortdauer  der  be- 
stehenden Form  der  Schuldotation  befürchtet  die  Regierung 
nicht  eine  Förderung,  sondern  eine  ganz  direkte  Schädigung 
der  Schulinteressen.  „Die  Gemeinden  werden  vielfach  be- 
strebt sein,  jede  andere  kommunale  Aufgabe  eher  zu  er- 
füllen, als  irgend  etwas  für  die  Schule  zu  thun  — schon 
die  frühere  langjährige  Erfahrung  hat  dies  gezeigt  — , und 
sie  werden  in  diesem  Streben  durch  die  Kreisausschüsse 
und  Provinzialräthe  geschützt  sein.  Erscheint  es  hiernach 
unbedingt  erforderlich,  die  Prüfung  der  Leistungsfähigkeit 
der  Beschlussfassung  den  Selbstverwaltungsbehörden  zu 
entziehen,  so  würde  damit  ein  genügender  Erfolg  nicht 
erreicht  werden,  wenn  sie  in  so  freier  Weise,  wie  das 
Gesetz  vom  26.  Mai  1887  dies  zulässt,  auch  über  das  Be- 
dürfniss  der  Schule  entscheiden1;  denn  der  Wunsch,  eine 
möglichst  geringe  Belastung  der  Gemeinden  herbeizuführen, 
würde  die  gedachten  Behörden  in  manchen  Fällen  unver- 
merkt dahin  leiten,  das  Bedürfniss  der  Schule  herabzusetzen. 
Bei  dem  bisherigen  Verfahren  können  sie  unbeschränkt 
über  die  wichtigsten  Unterrichtsfragen  entscheiden,  und  sie 
haben  dies  thatsächlich  gethan,  z.  B.  über  die  Fragen,  ob 
ein  zweiter  Lehrer  schon  [!]  bei  120  Schulkindern  ange- 
stellt zu  werden  braucht,  ob  ein  Lehrer  oder  eine  (geringer 
zu  besoldende)  Lehrerin  anzunehmen  ist,  ob  eine  besondere 
einklassige  Schule  für  die  Kinder  der  konfessionellen  Minder- 
heit eingerichtet  werden  soll,  oder  ob  die  Schüler  zweck- 
mässiger die  mehrklassigen  Schulen  der  Mehrheit  be- 
suchen.“ 


200 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  17. 


Aus  der  ersten  Lesung  des  Gesetzentwurfs,  welche 
am  10.  und  11.  Januar  im  Abgeordnetenhause  stattfand,  ist 
namentlich  die  Haltung  des  Abgeordneten  v.  Minnigerode- 
Rossitten  hervorzuheben.  Derselbe  erklärte  sich  gegen  die 
vorgeschlagene  Verwendung  der  Ueberschiisse  aus  der  Ein- 
kommensteuer, war  aber  bereit,  Bewilligungen  für  Schul- 
bauten zu  machen.  Beides  bedarf  einer  Erklärung.  Wenn 
die  Ueberschüsse  der  Einkommensteuer  (wie  dies  im  Ein- 
kommensteuergesetz in  Aussicht  gestellt  war)  direkt  zu 
Gunsten  der  Gemeinden  verwendet  würden,  so  wäre  die 
Folge  davon,  dass  die  gegenwärtig  in  Berathung  stehende 
Vermögenssteuer  geringer  bemessen  zu  werden  brauchte 
oder  gar  ganz  wegfallen  könnte.  Daher  die  Strömung  gegen 
die  Schuldotation  zur  Verbesserung  der  Lehrergehälter. 
Wenn  aber  Gelder  für  Schulbauten  bewilligt  werden,  so 
kommt  dies  in  erster  Linie  denen  zu  statten,  welche  nach 
den  gegenwärtigen  Gesetzen  die  Kosten  für  Schulbauten 
aufzubringen  haben;  dies  sind  auf  dem  Lande  gegenwärtig 
vielfach  die  Gutsbesitzer.  Nun  ist  gar  nicht  zu  leugnen, 
dass  die  Regelung  der  Schulbaupflichten  in  Preussen  eine 
höchst  unvollkommene  ist,  dass  theilweise  ganz  veraltete 
Bestimmungen  noch  heute  in  Kraft  sind,  die  unter  den 
veränderten  Verhältnissen  in  der  Tliat  den  Gutsbesitzern  weit 
grössere  Lasten  aufbürden,  als  bei  Erlass  der  Bestimmungen 
geahnt  werden  konnte.  Allein  hierin  können  wir  nur  einen 
Grund  sehen,  die  Frage  der  Schullasten  in  grossem  Masse 
gesetzlich  zu  regeln.  Dieser  Regelung  will  die  konser- 
vative Partei  in  Preussen  aus  dem  Wege  gehen,  weil  damit 
die  Selbständigkeit  ihrer  Gutsbezirke  zusammenhängt.  Die 
preussischen  Gutsbesitzer  wollen  die  kommunalen  Rechte, 
die  sie  in  ihrer  Person  vereinigen,  behalten,  die  Pflichten 
aber  möglichst  abwälzen.  Unter  welchem  Gesichtspunkt 
in  der  gegenwärtigen  preussischen  Volksvertretung  die 
Schule  erscheint,  geht  am  besten  daraus  hervor,  dass  dieser 
Entwurf  nicht  etwa  der  Unterrichtskommission,  sondern  — 
der  Steuerkommission  überwiesen  wurde.  Ein  deutlicher 
Beweis  dafür,  dass  dieselben  Elemente,  über  deren  Gesichts- 
punkte in  den  Selbstverwaltungskörpern  die  Regierung 
Klage  führt,  auch  bei  der  Berathung  im  Abgeordneten- 
hause die  Oberhand  gewonnen  haben.  Diese  Kommission 
hat  sich  beeilt,  einen  Antrag  des  konservativen  Abgeordneten 
v.  Jagow  anzunehmen,  wonach  die  Verwendung  der  Ein- 
kommensteuer-Ueberschüsse  zu  Schulzwecken  vom  1.  April 
1895  an  durch  den  jedesmaligen  Etat  geregelt  werden,  die 
Einstellung  von  2 Millionen  zur  Erleichterung  der  Schul- 
ba ulasten  aber  sofort  erfolgen  soll. 


Vermögenssteuer  oder  Erbschaftssteuer  in  Preussen. 

Zur  Vermeidung  der  Vermögenssteuer  ist  nunmehr 
der  neue  Plan  einer  durchgängigen  Besteuerung  der  Erb- 
schaften aufgetaucht.  Bisher  unterliegen  in  Preussen, 
wie  in  den  andern  deutschen  Staaten , nur  die  Erb- 
schaften in  der  Seitenlinie  einer  Steuer.  Indem  auch  der 
Uebergang  des  Vermögens  von  Eltern  auf  Kinder  oder  von 
einem  Ehegatten  auf  den  andern  der  Erbschaftssteuer  unter- 
worfen und  der  Steuerfuss  im  Ganzen  erhöht  wird,  sollen 
die  Beträge  aufgebracht  werden,  zu  deren  Erzielung  der 
Vorschlag  der  Vermögenssteuer  als  einer  „Ergänzungs- 
steuer“ gemacht  ist. 

Der  Abgeordnete  v.  Eynern  hat  der  Steuerreform- 
Kommission  bereits  einen  diesbezüglichen  Antrag  unter- 
breitet. Von  Seiten  der  Regierung  sind  Aufstellungen  dar- 
über gemacht  worden,  wie  hoch  die  Vermögenssteuer  sein 
müsse,  wenn  dieselbe  den  nothwendigen  Betrag  von  35  Mil- 
lionen Mark  einbringen  sollte.  Diese  Ermittelungen,  welche 
hauptsächlich  auf  Vergleichungen  mit  ausländischen  Erb- 
schaftssteuern beruhen,  waren  in  der  bereits  in  voriger 
Nummer  angezeigten  Broschüre  des  Abgeordneten  Ennec- 
cerus  (Marburg,  Elwert’sche  Buchhandlung)  mitgetheilt. 
Danach  müssten  Erbschaften  der  Kinder  und  Eltern,  sowie 
der  Ehegatten  untereinander  mit  2pCt.,  der  Adoptivkinder 
mit  4 pCt.,  der  Geschwister  mit  6 pCt.,  der  Geschwister- 
kinder mit  8 pCt.,  Anderer  mit  12  pCt.  belastet  werden. 

Für  die  Form  der  Erbschaftssteuer  wird  hauptsächlich 
angeführt,  dass  im  Durchschnitt  dasselbe  Resultat  erzielt 
werde,  ob  man  das  Vermögen  alljährlich  mit  einer  Ver- 
mögenssteuer oder  bei  dem  jedesmaligen  Vermögensüber- 
gang mit  einer  Erbschaftssteuer  treffe.  Es  sei  nur  Sache 
der  statistischen  Berechnung,  wie  häufig  im  Durchschnitt 


die  Todesfälle  und  unter  ihnen  die  einzelnen  Arten  .der 
Vererbung  seien.  Sobald  genügende  Erfahrungen  für  diese 
Berechnungen  vorlägen,  lasse  sich  mit  der  selten  wieder- 
kehrenden Erbschaftssteuer  derselbe  Ertrag  vom  Vermögen 
aufbringen  ohne  die  alljährliche  Belästigung,  welche  die 
Vermögenssteuer  im  Gefolge  habe. 

Da  die  Anhänger  einer  hohen  Erbschaftssteuer  na- 
mentlich in  der  Wissenschaft  weit  verbreitet  sind,  so  ist 
für  den  vorliegenden  Fall  schart  zu  betonen,  dass  es  sich 
hier  durchaus  nicht  um  die  Frage  für  oder  wider  die  Erb- 
schaftssteuer, sondern  nur  darum  handelt,  ob  man  die  Erb- 
schaftssteuer gerade  für  die  Zwecke  der  Ver- 
mögenssteuer wolle.  Man  kann  Anhänger  einer  Erb- 
schaftssteuer sein  und  dieselbe  für  den  vorliegenden  Zweck 
gleichwohl  verwerfen.  Eine  Erbschaftssteuer,  welche  dazu 
dienen  sollte  (und  dies  ist  der  Zweck,  der  in  der  Wissen- 
schaft mit  einer  Erbschaftssteuer  gewöhnlich  verbunden 
wird),  den  Staat  an  der  Erbschaft  mit  einer  kleinen  Quote 
theilnehmen  zu  lassen,  wird  hauptsächlich  auf  die  grossen 
Vermögen  gelegt  werden  und  die  kleineren  nach,  Möglich- 
keit schonen.  Eine  Erbschaftssteuer  aber,  welche  dazu  dienen 
soll,  einen  regelmässig  wieder  kehrenden  etatsmässigen  Betrag 
aufzubringen  (und  eine  solche  ist  die  gegenwärtig  in 
Preussen  geplante  35  Millionen  - Steuer)  wird  sich  sehr 
wenig  auf  die  Riesenvermögen  verlassen  können,  welche 
zu  selten  sind,  um  als  Grundlage  für  eine  regelmässige 
Berechnung  dienen  zu  können;  sie  wird  sich  hauptsächlich 
auf  den  Durchschnitt  stützen  müssen,  Ausnahmen  und  Milde- 
rungen nur  selten  zulassen  können.  Eine  solche  an  den 
Durchschnitt  sich  haltende  Erbschaftssteuer  wird  immer  in 
der  Weise  konstruirt  sein,  dass  sie  die  Erben  desto  weniger 
genirt,  je  grösser  ihr  Vermögen  ist.  Der  Millionen -Erbe 
kann  an  dem  Tage,  wo  er  das  Erbe  seiner  Väter  in  Empfang 
nimmt,  leichten  Herzens  2 pCt.  davon  abgeben  und  wird 
dies  lieber  thun  als  jährlich  '/2  pro  Mille  steuern.  Aber  der 
kleine  Kapitalist,  der  kleine  oder  mittlere  Landwirth,  der 
kleinere  oder  mittlere  Gewerbetreibende,  der  mit  der  Erb- 
schaft gleichzeitig  alle  Familienlasten  übernimmt,  sieht  sich 
vor  die  Nothwendigkeit  gestellt,  beim  Antritt  der  Erbschaft 
in  dem  Augenblick,  wo  die  Familie  die  ergänzende  Kraft 
des  bisherigen  Ernährers  verloren  hat,  die  Hälfte  der  Jahres- 
einnahmen  aus  dem  Kapital  als  Steuer  zu  zahlen;  hier  fällt 
die  Steuer  gerade  in  die  Zeit  in  der  sie  am  schwersten 
aufzubringen  ist  (Vergl.  Enneccerus  S.  44);  hier  ist  die 
einmalige  Aufbringung  von  2 pCt.  eine  ungleich  schwerere 
Last,  als  die  40malige  Zahlung  von  1/2  pro  Mille.  Ferner  wird 
die  Erbschaftssteuer  desto  häufiger  erhoben,  je  häufiger  der 
Tod  eine  Familie  heimsucht  Auch  diese  Schwierigkeit 
wirkt  auf  Familien  mit  Riesenvermögen  weniger  drückend, 
als  auf  die  mit  kleinerem  oder  mittlerem  Besitz;  auf  die 
Familien,  die  reichlich  von  ihren  Zinsen  leben,  weniger  als 
auf  diejenigen,  die  an  dem  Vater  nicht  nur  den  Vermögens- 
besitzer, sondern  auch  den  arbeitskräftigen  Ernährer  ver- 
lieren. Mag  man  daher  Anhänger  oder  Gegner  der  Erb- 
schaftssteuer sein,  — für  den  Zweck  eine  bestimmte  Summe 
als  „Ergänzungssteuer“  aufzubringen,  ist  sie  entschieden 
nicht  geeignet.  Vorzüge  vor  der  Vermögenssteuer  bietet 
sie  nur  für  die  grossen  Vermögen. 

o o 

Der  Vorschlag,  die  Erbschaftssteuer  an  Stelle  der 
Vermögenssteuer  zu  setzen,  ist  im  Dezember  v.  J.  in  der 
Versammlung  von  „Vertretern  des  Handels-  und  Gewerbe- 
standes  in  Rheinland  und  Westfalen“,  in  Barmen,  zuerst 
betont  worden.  Darauf  hat  die  „Kölnische  Zeitung“  sich 
des  Vorschlages  angenommen.  Der  „Verein  zur  Wahrung 
der  gemeinsamen  wirthschaftlichen  Interessen  in  Rheinland 
und  Westfalen“  hat  in  seiner  Hauptversammlung  in  Düssel- 
dorf Anfang  Januar  der  Erbschaftssteuer  gleichfalls  den 
Vorzug  gegeben.  Der  Antragsteller  in  der  Kommission 
des  Abgeordnetenhauses  ist  der  rheinische  Abgeordnete 
v.  Eynern.  Die  Strömung  hat  also  ihren  Hauptsitz  in  den 
Kreisen  derrheinisch-westtälischenGrosskapitalisten,  in  jener 
Ecke  unseres  Vaterlandes,  welcher  selbst  der  Abgeordnete 
Enneccerus  für  nöthig  hält  zuzurufen:  „eine  Steuer  kann 

nicht  einseitig  nur  nach  den  Interessen  und  Wünschen  der 
Besitzer  grosser  Vermögen  zugeschnitten  werden!“ 

Der  Antrag  Eynern  ist  inzwischen  in  der  Kommission 
gefallen.  Es  ist  aber  mit  Bestimmtheit  vorauszusehen,  dass 
er  in  den  Plenarverhandlungen  wiederkehrt.  Deswegen 
muss  schon  jetzt  auf  das  Entschiedenste  betont  werden, 
dass  es  sozialpolitisch  zwei  völlig  verschiedene  Dinge  sind, 
ob  man  für  eine  Erbschaftssteuer  im  Allgemeinen  oder  ob 
man  für  dieselbe  gerade  zu  dem  hier  vorgeschlagenen 
Zweck  ist. 


No.  17. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


201 


So  wenig  wie  die  Vorschläge  über  Besteuerung  des 
fundirten  Einkommens  sind  die  Vorschläge  einer  solchen 
Erbschaftssteuer  geeignet,  als  Ersatz  für  die  Vermögens- 
steuer zu  gelten.  Erkennt  man  einmal  den  Grundsatz,  dass 
das  Vermögen  eine  Steuer  zahlen  soll,  an,  so  führen  die 
Abweichungen  von  dem  Grundsatz  Ungleichheiten  herbei, 
welche  desto  stärker  drücken,  je  kleiner  die  Ver- 
mögen sind.  Die  einzige  Form,  die  Vermögen  nach  ihrer 
Grösse  gerecht  zu  besteuern,  ist  die  Vermögenssteuer  selbst. 


Aus  (1er  Steuerreformkommission  des  preussischen 
Abgeordnetenhauses  haben  wir  diesmal  hauptsächlich  über 
drei  sozialpolitisch  wichtige  Verhandlungen  zu  berichten: 
über  die  Frage  der  Grundsteuerentschädigungen,  der  Auf- 
hebung der  Bergwerkssteuer  und  der  prinzipiellen  Stellung- 
nahme zur  Vermögenssteuer. 

Den  Erlass  der  Grundsteuer  haben  wir  wiederholt  als 
ein  Geschenk  an  die  Grundbesitzer  auf  Kosten  der  Grund- 
besitzlosen charakterisirt  (vergl.  namentlich  Centralblatt 
No.  II,  12).  Dies  tritt  am  deutlichsten  in  den  Fällen  hervor, 
wo  s.  Z.  bei  Durchführung  der  Grundsteuer  für  Verzicht 
auf  die  damalige  Privilegirung  eine  Entschädigung  gezahlt 
worden  ist.  Die  Regierung  hatte  vorgeschlagen,  dass  diese 
Entschädigungsgelder  zurückgezahlt  werden  sollen,  wenn 
sich  das  Gut  noch  in  den  Händen  derselben  Familie  be- 
finde. Ein  Vorschlag,  der  offenbar  dazu  bestimmt  war, 
das  Anstössige  an  dem  Erlass  der  Grundsteuer  wenigstens 
in  den  offenkundigsten  Fällen  zu  beseitigen.  Allein  die- 
selben Gründe,  welche  dafür  sprechen,  dass  die  erhaltene 
Grundsteuerentschädigung  zurückgezahlt  werden  soll,  lassen 
sich  auch  dafür  geltend  machen,  dass  jeder  Grundbesitzer, 
der  durch  den  Erlass  der  Grundsteuer  bereichert  wird,  eine 
Entschädigungssumme  an  den  Staat  zahle;  und  umgekehrt, 
wenn  im  Allgemeinen  die  Grundbesitzer  zu  solchen  Ent- 
schädigungsgeldern nicht  gezwungen  werden,  so  liegt  ein 
besonders  grosses  Unrecht  gegen  den  Erben  vor,  welcher 
das  Gut  in  einer  Erbauseinandersetzung  übernommen  hat 
und  nun  gleichwohl  den  gesammten  Betrag  des  ehe- 
maligen Entschädigungsgeldes  zurückzahlen  soll.  Wenn- 
gleich in  der  Kommission  der  einzig  gerechte  Standpunkt, 
dass  jeder  Grundbesitzer  den  Erlass  der  Grundsteuer  dem 
Staate  zu  bezahlen  habe,  sich  ( — nach  Lage  der  Sache  gar 
zu  begreiflich! — ) gar  nicht  mehr  hervorwagte,  so  fehlte  es 
doch  nicht  an  Meinungsverschiedenheiten.  Man  einigte  sich 
auf  einen  Antrag  Enneccerus,  wonach  von  Gütern,  die  in 
Händen  derselben  Familie  geblieben  sind,  erhaltene  Ent- 
schädigungsgelder zurückzuzahlen  sind,  aber  dem  Erben, 
welcher  das  Gut  auf  Grund  einer  besonderen  Theilung 
übernommen  hat,  nur  noch  der  Theil  der  Rückzahlungs- 
pflicht auferlegt  wird,  der  seinem  Erbtheil  entspricht.  Da- 
mit schrumpft  die  Rückzahlungspflicht  so  bedeutend  zu- 
sammen, dass  ihr  Charakter  nur  desto  deutlicher  hervortritt: 
gegenüber  der  offenbaren  Bereicherung  der  Grundbesitzer 
soll  die  Herauszahlung  der  Entschädigungsgelder  eine  Kon- 
zession an  das  öffentliche  Rechtsbewusstsein  darstellen.  Es 
ist  ein  Feigenblatt,  kaum  noch  gross  genug,  die  Scham  zu 
bedecken. 

In  Betreff  der  Bergwerkssteuer  hatte  die  Regierung 
vorgeschlagen,  dieselbe  für  aufgehoben  zu  erklären,  während 
Grund-,  Gebäude-  und  Gewerbesteuer  nur  ausser  Hebung- 
gesetzt  werden.  Die  prinzipielle  Fassung  liess  hier  den 
Geschenkcharakter  des  Steuererlasses,  ganz  besonders  schroff 
hervortreten.  Die  Kommission  war  wie  es  scheint,  nur  dar- 
über im  Zweifel,  ob  nicht  ausser  den  staatlichen  Berg- 
abgaben auch  noch  die  aus  Privatregalien  herrührenden 
aufzuheben  seien,  entschied  sich  aber  in  der  Form  gleich- 
wohl dahin,  die  schroffe  „Aufhebung“  der  Steuer  durch  die 
sanftere  Ausdrucksweise  zu  ersetzen:  „ferner  werden  ausser 
Hebung  gesetzt“.  Eine  Milderung,  welche  im  Interesse  der 
Deutlichkeit  eher  zu  bedauern  ist. 

Sozialpolitisch  mit  Freuden  zu  begriissen  ist  von  dies- 
maligen Beschlüssen  der  Kommission  einzig  und  allein  die 
prinzipielle  Stellungnahme  zur  Vermögenssteuer.  Wie 
erinnerlich,  hat  die  Kommission  den  ganzen  Regierungs- 
entwurf durchberathen,  aber  mit  dem  Vorbehalt,  'über  die 
Frage,  ob  die  Form  der  Vermögenssteuer  oder  eine  andere 
gewählt  werden  solle,  erst  nachträglich  zu  entscheiden.  In 
dieser  nachträglichen  Enscheidung  wurde  sowohl  die  Be- 
steuerung des  fundirten  Einkommens  als  auch  die  Erb- 
schaftssteuer als  Surrogat  abgelehnt  und  also  die  Vermögens- 
steuer imPrinzip  angenommen.  Wenn  in  dieser  Kommission, 
in  welcher  die  ungenirten  Vertreter  der  Vermögensinter- 


essen nicht  nur  die  Mehrheit,  sondern  fast  die  Alleinherr- 
schaft haben,  statt  der  Umwege  über  fundirtes  Einkommen 
oder  Erbschaften  schliesslich  der  gerade  Weg  einer  Be- 
steuerung des  Vermögens  selbst  vorgezogen  wurde,  so  ist 
dies  zwar  ein  durchschlagender  Beweis  dafür,  dass  die 
technischen  Gründe,  mit  welchen  auch  wir  dafür  eingetreten 
sind,  dass  die  Vermögenssteuer  die  einzige  rationell  durch- 
führbare Form  ist,  von  grossem  Gewichte  sind.  Gleichwohl 
gebe  man  sich  nicht  der  Täuschung  hin,  dass  die  Be- 
schlüsse der  Kommission  endgültige  sind.  Die  rhetorische 
Bekämpfung  der  Vermögenssteuer  ist  in  Plenarverhand- 
lungen  wichtiger.  Und  wenn  in  der  gegenwärtigen 
preussischen  Steuerreform  noch  irgend  ein  Ergebniss  ge- 
rettet werden  soll,  welches  sozialpolitisch  von  Werth  ist, 
so  muss  die  Form  der  Vermögenssteuer  immer  von  Neuem 
als  die  einzig  richtige  betont  werden. 

Gesetzentwurf,  betreffend  den  Hausirliaudel.  Die 

bayerische  Regierung  hat  bekanntlich  dem  Bundesrath 
einen  Gesetzentwurf  betr.  den  Hausirhandel  vorgelegt. 
Ueber  diesen  Gesetzentwurf  verlautet  nun,  dass  darin 
Folgendes  bestimmt  wird:  1.  Der  Hausirschein  ist  nur 

gültig  für  den  Bezirk  der  Behörde,  welche  ihn  aus- 
gestellt hat.  2.  Er  kann  auf  kürzere  Zeit,  als  für  das 
Kalenderjahr,  ertheilt  werden.  3.  Die  Ausstellung  des 
Hausirscheines  ist  in  gewissen  Fällen  abhängig  von 
dem  durch  die  zuständigen  Behörden  festzustellenden 
Bedürfniss.  4.  Der  Hausirschein  ist  auch  für  denjenigen 
nothwendig,  welcher  an  seinem  Wohnort,  oder  am  Sitze 
seiner  gewerblichen  Niederlassung  das  Gewerbe  im  Umher- 
ziehen betreibt,  d.  h.  von  Haus  zu  Haus  hausirt.  5.  Handels- 
reisende, welche  auf  Grund  des  § 44  der  Gewerbeordnung  ihr 
Gewerbe  ohne  Wandergewerbeschein  ausüben,  dürfen  Be- 
stellungen auf  Waare  nur  bei  solchen  Gewerbetreibenden 
(also  nicht  bei  Privatkunden)  suchen,  in  deren  Gewerbe- 
betriebe Waaren  der  angebotenen  Art  Verwendung  finden. 

Gründung  eines  Centralausschusses  für  Arbeitsnachweis 
und  einer  Arbeitsnachweisstatistik  in  Berlin.  Magistratsassessor 
Dr.  Freund  theilte  in  der  letzten  Sitzung  des  Centralvereins  für 
Arbeitsnachweis  mit,  dass  er  an  nahezu  200  Verbände  u.  s.  w., 
welche  in  Berlin  nicht  gewerbsmässig  Arbeitsnachweise  unter- 
halten, eine  Voranfrage  über  die  Geneigtheit  zu  einer  Konferenz 
von  Delegirten  der  Berliner  Arbeitsnachweise  zur  Bildung  eines 
Centralausschusses  habe  ergehen  lassen.  Aus  den  sehr  zahlreich 
eingegangenen  Antworten  sei  die  allseitige  Zustimmung  zu  dem 
Plan,  auch  der  Arbeiter,  zu  ersehen.  Der  Vorstand  beschloss, 
die  Einberufung  der  Konferenz  unverzüglich  in  die  Wege  zu 
leiten.  In  der  Konferenz  soll  zunächst  die  Bildung  eines  Central- 
ausschusses von  etwa  30  Delegirten  beschlossen  werden,  dem 
die  Aufgabe  ertheilt  wird,  für  die  Durchführung  einer  geregelten 
Arbeitsnachweisstatistik  Sorge  zu  tragen.  Ein  sozialdemokra- 
tischer Antrag  auf  Errichtung  eines  kommunalen  Arbeitsnach- 
weisbureaus, das  regelmässige  Nachweisungen  über  die  Arbeits- 
losigkeit veranstalten  sollte,  wurde  von  der  Majorität  des  Stadt- 
verordnetenkollegiums abgelehnt,  obgleich  doch  durch  die  Be- 
strebungen des  Zentralvereins  ihre  Nothwendigk eit  auch  von 
anderer  Seite  nachgewiesen  wird. 


Arbeiterzustände. 


Der  lohnstatistische  Werth  der  von  den  Berufs- 
genossenschaften gezahlten  Beerdigungskosten. 

Der  Mangel  einer  einigermassen  brauchbaren  Lohn- 
statistik macht  sich  in  wachsendem  Grade  fühlbar.  Sogar 
die  Frage,  ob  der  Geldwerth  der  Löhne  im  Deutschen  Reich 
während  der  letzten  Jahre  im  Allgemeinen  eine  steigende 
oder  fallende  Tendenz  gezeigt  habe,  wird  verschieden  be- 
antwortet. In  der  Reichstagsdebatte  vom  14.  Januar  d.  J. 
griff  der  Staatsminister  von  Bötticher  aus  dem  von  den 
Berufsgenossenschaften  gelieferten  statistischen  Material  die 
seit  1886  gezahlten  Beerdigungskosten  heraus,  um  zu  be- 
weisen, dass  die  Löhne  seitdem  stetig  gestiegen  seien.  Es 
wird  von  Interesse  sein,  diese  Zahlen  auf  ihre  Zuverlässig- 
keit und  Beweiskraft  einmal  genau  su  prüfen. 

§ 6 Z.  1 des  Unfallversicherungsgesetzes  bestimmt, 
dass  als  Ersatz  der  Beerdigungskosten  das  zwanzigfache 
des  nach  den  Vorschriften  des  Gesetzes  für  den  Arbeitstag 
ermittelten  Arbeitsverdienstes  des  Getödteten,  mindestens 


202 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  17. 


jedoch  30  M.  zu  leisten  sind.  Die  Statistik  liefert  nun  jähr- 
lich die  Zahl  der  hälle,  in  denen  Ersatz  für  Beerdigungs- 
kosten geleistet  ist  und  den  Gesammtbetrag  dieser  Kosten; 
durch  Division  ergiebt  sich  also  die  durchschnittliche  Höhe 
der  Beerdigungskosten  für  den  einzelnen  Fall.  Dividirt 
man  diese  Durchschnittszahl  weiter  durch  20,  so  würde  man 
den  durchschnittlich  für  den  Arbeitstag  ermittelten  Ver- 
dienst der  Getödteten  erhalten,  wenn  die  niedrigsten  der 
ermittelten  Tagelöhne  1,50  M.  (den  20.  Theil  von  30  M.)  be- 
trügen. Diese  Voraussetzung  trifft  natürlich  durchaus  nicht 
zu;  denn  man  braucht  nur  die  ortsüblichen  Tagelöhne  an- 
zusehen, um  zu  ermessen,  wie  oft  die  Tageslöhne  — nament- 
lich auch  bei  weiblichen  Personen  — unter  1,50  M.  bleiben. 
Das  so  gefundene  Ergebniss  ist  also  eine  höhere  Zahl,  als 
der  Wirklichkeit  entspricht.  Multiplizirt  man  diesen  fiktiven 
Durchschnittstagelohn  nun  mit  300  — als  der  durchschnitt- 
lichen Zahl  der  Arbeitstage  für  einen  das  ganze  Jahr  hin- 
durch regelmässig  beschäftigten  Arbeiter  — , so  erhält  man 
den  natürlich  auch  tiktiven  Durchschnittsjahreslohn  der 
Getödteten. 

Die  Entwickelung  dieser  Zahlen  in  den  in  Frage 
kommenden  6 Jahren  stellt  sich  nun  bei  den  gewerblichen 
Berufsgenossenschaften  wie  folgt: 


Jahr 


1886  . 

1887  . 

1888  . 

1889  . 

1890  . 

1891  . 


Zahl 

Summe 

der 

der  Beerdigu 

getödteten 

kosten 

Personen 

M. 

2329 

1 13  674,76 

2968 

148  158,63 

2865 

147817,08 

3329 

175  284,25 

3581 

196  987,57 

3705 

209  497,67 

Daraus  berechneter 
durchschnittlicher 
Verdienst  Jahres- 

von20Tagen  verdienst 
M.  IM. 

48,81  732,13 

49,92  748,78 

51,60  773,92 

52,05  780,80 

55,01  825,13 

56,54  848,17. 


Es  zeigt  sich  also  ganz  unzweideutig  ein  beständiges 
Wachsen  des  berechneten  Durchschnittsverdienstes.  Da  es 
sich  immerhin  um  2300  bis  3700  Personen  in  jedem  Jahr 
handelt,  die  — sicherlich  ohne  jede  Tendenz  — aus  allen 
Industriezweigen  entnommen  sind,  so  muss  in  der  That  als 
bewiesen  gelten,  dass  der  nach  den  Bestimmungen  des  ; 
Unfallversicherungsgesetzes  ermittelte  Tagesverdienst  der 
bei  den  gewerblichen  Berufsgenossenschaften  versicherten 
Personen  (aller  Arbeiter,  vieler  Beamten  und  einiger  weniger 
Unternehmer),  die  täglich  mindestens  einen  Arbeitsverdienst 
von  1,50  M.  hatten,  seit  1886  beständig  gewachsen  ist. 
Ueber  die  schlechtest  — mit  weniger  als  1,50  M.  täglich  — be- 
zahlten Arbeiter  sagen  die  gefundenen  Zahlen  natürlich 
gar  nichts  aus. 

Um  nun  einer  Ueberschätzung  dieses  Ergebnisses  vor- 
zubeugen, ist  es  nothwendig,  die  Bestimmungen  ins 
Auge  zu  fassen,  noch  denen  der  Tagesverdienst  in  jedem 
einzelnen  Falle  festgestellt  wird.  Grundsätzlich  ist  der 
Arbeitsverdienst,  den  der  Einzelne  in  dem  Betriebe  wirk- 
lich hatte,  in  dem  er  den  Unfall  erlitt,  anzunehmen.  Die  I 
Abweichungen  von  diesem  Prinzip  in  einzelnen  Fällen  (Er- 
höhungen und  Herabsetzungen  des  Individuallohns  sowie 
Ersatz  durch  den  Arbeitsverdienst  anderer  Personen)  können 
hier  als  unwesentlich  für  die  Frage,  ob  die  Löhne  im  Laufe 
der  Jahre  gestiegen  sind  oder  nicht,  übergangen  werden. 
Dieser  Individualarbeitsverdienst  wird  nun  bei  den  Per- 
sonen, die  ihren  Lohn  nicht  in  mindestens  wochenweise 
ffxirten  Beträgen  erhalten,  in  der  Art  gefunden,  dass  der 
Jahres  verdienst  durch  die  Zahl  der  wirklichen  Arbeits- 
tage dividirt  wird.  Ist  ein  Arbeiter  längere  Zeit  hindurch 
arbeitslos  gewesen,  so  kommt  dies  in  dem  auf  diese  be-  i 
rechneten  Tagesverdienst  und  somit  auch  in  dem  daraus 
wieder  gefundenen  Jahresverdienst  nicht  zum  Ausdruck. 
Die  obige  Berechnung  giebt  also  nur  den  Durchsclmitts- 
Tages- und  Jahresverdienst  der  das  ganze  Jahr  hindurch 
voll  beschäftigt  gewesenen  Personen  mit  den  schon 
erwähnten  sonstigen  Einschränkungen.  Gerade  über  das 
augenblicklich  im  Vordergründe  stehende  Problem  der  zu- 
nehmenden Arbeitslosigkeit  der  industriellen  Arbeiter 
giebt  diese  Statistik  somit  nicht  den  geringsten  Aufschluss. 
Die  Statistik  würde  dieselben  Zahlen  ergeben,  wenn  auch 
die  Zahl  der  periodisch  Arbeitslosen  und  die  Länge  der 


Perioden , in  denen  viele  Arbeiter  ohne  Beschäftigung 
waren,  in  den  fraglichen  Jahren  bedeutend  zugenommen 
hätte. 

Es  schien  mir  angebracht,  auf  diesen  tiel  greifenden 
Mangel  der  oben  gegebenen  Zahlen  hier  ausdrücklich  hin- 
zuweisen, damit  nicht  etwa  ein  verhängniss voller  Irrthum 
bei  ihrer  Beurtheilung  und  Verwerthung  Platz  greife. 

Berlin-Friedenau.  Ernst  Lange. 


Lohnverhältnisse  in  der  chemischen  Industrie  der 
Stadt  Berlin. 

Ganz  mit  Recht  ist  in  diesem  Blatte  von  Georg 
v.  Mayr  wiederholt  auf  die  Bedeutung  der  sozialpolitischen 
Gesetzgebung  für  die  soziale  Statistik  hingewiesen  worden 
und  in  Uebereinstimmung  mit  den  Ausführungen  des 
Unterzeichneten  in  seiner  Schrift  über  die  amtliche  Statistik 
und  die  Arbeiterfrage  im  Deutschen  Reich,  namentlich  auch 
auf  die  Möglichkeit  hingewiesen  worden,  das  Material  der 
Unfallversicherung  bei  den  Berufsgenossenschaften  für  eine 
Lohnstatistik  zu  benutzen.  Den  theoretischen  Streit,  welcher 
sich  hieran  angeschlossen  hat,  weiter  fortzuspinnen,  dürfte 
um  so  weniger  nothwendig  sein,  als  inzwischen  wohl  vor- 
bereitete praktische  Schritte  hinlänglich  den  Beweis  erbracht 
haben,  dass  man  — wenn  auch  noch  nicht  in  allen  Berufs- 
genossenschaften und  noch  nicht  in  dem  wünschenswerthen 
Umfange  — zu  guten  positiven  Resultaten  kommen  kann. 
Probiren  geht  oft  über  Studiren. 

Soeben  hat  das  Statistische  Amt  der  Stadt  Berlin 
eine  kleine  vier  Quartseiten  umfassende  Veröffentlichung 
herausgegeben,  in  welcher  die  „Lohnverhältnisse  in  der 
chemischen  Industrie  der  Stadt  Berlin  und  der  umliegenden 
Ortschaften  im  Jahre  1891“  behandelt  werden.  Diese 
Statistik  ist  auf  Grund  von  Individualzählkarten,  welche 
für  das  Statistische  Amt  ausgefüllt  wurden,  bearbeitet 
worden.  Die  Karte  hatte  folgenden  Wortlaut: 

Jahr  1891.  Chemische  Industrie. 

1.  Name  des  Arbeiters 

männlich?  weiblich?  (Zutreffendes  zu  unterstreichen!) 

2.  Genaue  Bezeichnung  des  Betriebes:  

in 

3.  Ob  jugendlicher  Arbeiter  oder  Lehrling?  (Zutreffendes 
zu  unterstreichen!) 

4.  Dauer  der  Beschäftigung  im  Laufe  des  Jahres: 

vom bis 

vom bis 

vom bis 

vom bis 

Ueberhaupt  Zahl  der  Arbeitstage:  .... 

5.  Gesammter  Jahresarbeitsverdienst:  

Dass  durch  Division  der  Zahl  der  Arbeitstage  in  den 
Jahresarbeitsverdienst  der  Tagesarbeitsverdienst  berechnet 
werden  kann,  ist  ohne  Weiteres  klar. 

Im  Uebrigen  wird  die  Veröffentlichung  des  Amts  mit 
folgenden  Worten  eingeleitet: 

„Für  die  Zwecke  der  Unfallversicherung  werden  von  den 
für  die  Durchführung  derselben  eingesetzten  Berufsgenossen- 
schaften Listen  über  tlie  Löhne  der  Arbeiter  in  den  zugehörigen 
Betrieben  geführt.  Auf  Grund  dieses  Materials  hat  zunächst  "die 
Berufsgenossenschaft  der  chemischen  Industrie  bestimmte  ihr 
seitens  des  Statistischen  Amts  der  Stadt  für  diesen  Zweck 
übermittelte  Zählkarten  ausgefüllt  und  dem  Amt  zur  weiteren 
Bearbeitung  übergeben.  Diese  Zählkarten  betreffen  den  ein- 
zelnen Arbeiter  und  enthalten  Fragen  über  Geschlecht  des  Ar- 
beiters, die  Bezeichnung  des  Betriebes,  ob  jugendlicher  Arbeiter 
oder  Lehrling,  Dauer  der  Beschäftigung  nach  dem  Datum  (mit 
Raum  für  Notirung  der  mehrmaligen  Beschäftigung),  die  Zahl 
der  Arbeitstage  und  den  gesammten  Jahresarbeitsverdienst. . Der 
letztere  umfasst  auch  die  abgeschätzten  Naturalleistungen.  Wenn 
in  der  Statistik  auch  Angaben  Vorkommen,  welche  einen  für 
Arbeiter  ungewöhnlich  hohen  Verdienst  aufweisen,  so  dürfte  es 
sich  hier  meist  um  Betriebsbeamte  oder  Werkmeister  handeln. 
Die  ganz  geringen  Löhne  betreffen  in  der  Regel  die  jugend- 
lichen Arbeiter.  Für  künftige  ähnliche  Feststellungen  auf  diesem 
Gebiete  werden  voraussichtlich  Materialien  vorliegen,  welche 
sowohl  das  Alter,  wie  die  genauere  Bezeichnung  der  Arbeits- 
stellung (ob  Geselle,  Tagelöhner  u.  s.  w.)  begreifen,  was  hier 
nicht  der  Fall  sein  konnte,  da  die  benutzten  Lohnlisten  dieses 
nicht  enthielten.  Hinsichtlich  der  Dauer  der  Beschäftigung  ist 
zu  bemerken,  dass,  wo  dieselbe  in  den  Lohnlisten  auf  mehr  als 


No.  17. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


203 


365  Tage  angegeben  war,  die  betreffende  Zahl  durch  Reduktion 
auf  einen  zehnstündigen  Arbeitstag  gewonnen  war.  Anderseits 
wird  die  Beschäftigungsdauer  im  ganzen  Jahre  für  den  einzelnen 
Arbeiter  zum  Theil  eine  grössere  sein,  als  die  Tabellen  nach- 
weisen;  denn  diese  theilen  nur  die  Beschäftigung  in  einem  Be- 
triebe mit,  berücksichtigen  aber  nicht  den  Wechsel  desselben. 
Die  Betriebe  selbst  sind  Fabriken  nach  Massgabe  des  Unfall- 
versicherungsgesetzes.“ 

Die  Nachtheile,  welche  eine  derartige  Aufnahme  bis- 
her noch  hat,  leuchten  ein.  Man  kommt  nicht  überall  zur 
Kenntniss  des  Jahresarbeitsverdienstes,  sondern  nur  da,  wo 
der  Arbeiter  das  Jahr  hindurch  in  einem  und  demselben 
Betriebe  beschäftigt  war.  Auch  fehlen  noch  die  Bezeich- 
nungen der  Arbeitsstellung,  ob  Werkmeister,  Geselle,  Ge- 
hilfe u.  s.  w.,  die  Ausscheidungen  der  Naturallöhnungen, 
Tantiemen  und  der  Akkordarbeit,  sowie  die  Angaben  der 
Zahl  der  Arbeitsstunden  und  des  Alters.  Aber  schon  sind 
Zählkarten  in  Arbeit,  welche  das  Alter  enthalten,  und  viel- 
leicht wird  bei  anderer  Gelegenheit  auch  auf  Arbeitsstunden 
und  Arbeitsstellung  eingegangen  werden  können.  Jeden- 
falls ist  dies  doch  der  erste  statistische  Versuch  auf  diesem 
Gebiete,  und  der  bisherigen  Methode  der  Lohnermittelungen 
gegenüber  ein  Fortschritt  erreicht  worden. 

Bisher  wurden  die  Lohnverhältnisse  wesentlich  durch 
Enqueten  ermittelt,  d.  h.  durch  Gutachten  über  die  Höhe 
der  Löhne  von  .Seiten  von  Sachverständigen  oder  solchen 
Personen,  die  man  dafür  hielt.  Nur  vereinzelt  kam  bei  den 
Enqueten  eine  wirkliche  Statistik,  eine  Aufnahme  der  that- 
sächlichen  Verhältnisse  vor,  und  wo  dies  in  erheblicherem 
Maasse  der  Fall  war,  konnte  wiederum  die  räumliche  Aus- 
dehnung der  Aufnahme  nur  auf  wenige  Betriebe  beschränkt 
bleiben.  Man  muss  sich  vergegenwärtigen,  dass  eine  Lohn- 
statistik eine  Einkommensdeklaration  verlangt,  und  man 
weiss,  wie  schwer  es  ist,  eine  solche  richtig  zu  erlangen. 
Aut  der  anderen  Seite  ist  mit  approximativen  Angaben 
nicht  viel  erreicht,  es  nutzt  wenig,  zu  wissen,  dass  ein 
Tischler,  ein  Schneider,  ein  Klempner  in  der  Regel  diesen 
oder  jenen  Betrag  verdient.  Man  will  die  Zahl  der  Lohn- 
empfänger in  den  einzelnen  Lohnklassen  kennen  lernen. 
Und  dies  ist  durch  die  Lohnstatistik  der  Berufsgenossen- 
schaften zu  erreichen. 

Der  Einwand,  dass  diese  Statistik  lediglich  auf  An- 
gaben der  Arbeitgeber  basire,  will  wenig  besagen.  Es  ist 
zwar  richtig,  dass  bei  Lohnenqueten  beobachtet  worden 
ist,  dass  die  Arbeitgeber  geneigt  sind,  bei  ihren  Gutachten, 
die  Löhne  höher,  die  Arbeitnehmer  sie  niedriger  zu  schätzen. 
Indessen  handelt  es  sich  hier  in  der  Regel  um  das  Material 
der  Geschäftsbücher,  was  einen  hohen  Grad  von  Zuver- 
lässigkeit hat.  Auch  würde  ein  Arbeitgeber,  welcher  höhere 
Löhne  in  den  Listen  verzeichnet,  als  er  wirklich  zahlt,  ent- 
sprechend höhere  Beiträge  und  Entschädigungen  zur  Unfall- 
versicherung zahlen  müssen,  da  beides  nach  den  Löhnen 
bemessen  wird. 

Die  Gesammtzahl  der  Arbeiter,  auf  welche  sich  die 
Statistik  des  Amts  bezog,  war  6502  (5122  männliche,  1380 
weibliche)  in  Berlin  und  5342  (4980  männliche,  362  weib- 
liche) in  den  umliegenden  Ortschaften  (mit  Charlottenburg). 
Wir  heben  folgende  Tagelohnsätze  hervor  (in  Pfennigen): 

Männliche  Arbeiter:  Weibliches  Geschlecht: 


Lohn 

Berlin  Umgegend 

Lohn 

Berlin 

Umgegend 

151—175 

106 

44 

51—  75 

4 

2 

176—200 

126 

71 

76—100 

71 

5 

201-225 

170 

166 

101—125 

213 

36 

226—250 

277 

479 

126—150 

359 

149 

251-275 

498 

821 

151-175 

378 

123 

276-  300 

787 

901 

176-200 

171 

26 

301—325 

755 

701 

201—225 

86 

7 

326-350 

639 

569 

226  - 250 

42 

4 

351-375 

423 

322 

251—275 

34 

3 

376—400 

316 

225 

276-300 

6 

2 

401-425 

205 

163 

426—450 

120 

104 

451—475 

88 

59 

476—500 

93 

76 

501-525 

48 

44 

Beim  männlichen  Geschlecht  ist  wie  ersichtlich  in 
Berlin  wie  in  den  Vororten  die  Lohnklasse  2,76—3  M.  am 
stärksten  vertreten,  dort  mit  15,4,  hier  mit  18,1  pCt.  aller 
Beschäftigten.  Es  folgt  in  Berlin  die  nächst  höhere  Tage- 
lohnklasse (3,01 — 3,25  M.),  in  der  Umgegend  jedoch  die 
nächst  niedrigere  (2,51— 2,75  M.).  Die  erstere  wies  14,7  pCt. 
aller  Arbeiter  auf  gegen  14,1  pCt.  in  der  Umgegend,  die 
letztere  16,5  ge*gen  nur  9,7  pCt.  in  Berlin.  Während  in 
Berlin  57  pCt.  der  Arbeiter  der  chemischen  Industrie  einen 


3 M.  übersteigenden  täglichen  Arbeitsverdienst  hatten,  be- 
lief sich  diese  Zahl  in  den  Vororten  nur  auf  49  pCt. 

Für  das  weibliche  Geschlecht  zeigen  diese  Zahlen, 
dass  die  Mehrzahl  der  Arbeiterinnen  (in  Berlin  53,  in  der 
Umgegend  75  pCt.)  einen  Lohn  von  1,26  — 1,75  M.  empfing 
und  zwar  war  hierbei  in  Berlin  die  Klasse  1,26 — 1,50  M. 
weniger  stark  betheiligt  als  die  folgende  1,51 — 1,75  M.,  in 
den  Vororten  umgekehrt. 

Einen  höheren  Verdienst  als  1,75  M.  pro  Tag  haben 
in  Berlin  26,  in  der  Umgegend  nur  12pCt.  der  Arbeiterinnen. 

Auf  die  Minimallöhne  näher  einzugehen  lohnt  deshalb 
nicht,  weil  diese  meist  jugendliche  Personen  betreffen. 
Wird  erst  eine  Lohnstatistik  aus  berufsgenossenschaftlichem 
Material  vorliegen,  welche  das  Alter  mit  berücksichtigt  - 
und  solches  befindet  sich  in  Bearbeitung  — so  wird  die 
Behandlung  dieser  Verhältnisse  noch  lehrreichere  Resultate 
ergeben. 

Von  sämmtlichen  Arbeitern  waren  beim  männlichen 
Geschlecht  1954  oder  38  pCt.,  beim  weiblichen  275  oder 
20  pCt.  300  Tage  und  länger  in  ein  und  demselben  Betriebe 
beschäftigt.  In  den  Vororten  waren  die  Prozentsätze  die 
gleichen,  eine  Bekräftigung  ihrer  Zuverlässigkeit. 

Was  im  Uebrigen  die  Dauer  der  Beschäftigung  be- 
trifft, so  weisen  die  Tabellen  in  der  V orspalte  die  Lohn- 
klassen, im  Kopf  25  tägige  Klassen  der  Beschäftigungsdauer 
auf.  Ausserdem  sind  die  ersten  6 Wochentage  einzeln 
unterschieden,  und  es  findet  sich  auch  eine  Auszählung  für 
eintägige  Klassen,  jedoch  ohne  Kombination  mit  dem  Lohne: 


Dauer  der  Beschäftigung 

1 Tag  . . . . . . ' . . 

männl. 
. . . 30 

weibl. 

7 

2 Tage  .... 

. . . 34 

9 

3 „ 

. . . 35 

10 

4 „ 

. . . 45 

1 1 

5 „ .... 

. . . 35 

13 

6 „ 

. . . 65 

16 

1 — 6 Tage  .... 

. . . 244 

66 

1—12  „ 

. . . 438 

131 

1-14 

. . . 481 

143 

)s  sind  hierbei  ausser 

den 

ersteir  beiden 

Wochen 

je  sechs  Arbeitstagen  auch  die  ersten  vierzehn  Tage  beson- 
ders ausgeschieden  worden.  Hieraus  zeigt  sich,  wie  sich  bei 
der  bestehenden  gesetzlichen  Kündigungsfrist  von  14  Tagen 
die  Rechnung  nach  Tagen  gegenüber  derjenigen  nach 
Wochen  stellt.  Nach  vorstehenden  Zahlen  haben  also  die 
Arbeit  im  Betriebe  freiwillig  oder  gezwungen  wieder  auf- 
gegeben in  Prozent  sämmtlicher  Arbeiter,  nach  einer  Be- 
schäftigung bis  zu 

1 Woche  ( 6 Arbeitstagen)  4,8  beim  männl.,  4,8  beim  weibl.  Geschl. 

2 Wochen  (12  „ ) 8;6  „ „ 9,5  „ „ „ 


Die  weitere  Betrachtung  der 

Tabellen 

ergiebt : 

Beschäftigungsdauer  von 

männl. 

weibl. 

1—  25  Tagen 

. . 742 

215 

26-  50  

. . 438 

167 

51-  75  „ 

. . 321 

143 

76—100  „ 

92 

101—125  ,,  

. . 188 

80 

126-150  „ 

. . 151 

58 

151-175  

. . 148 

43 

176-200  .,  

. . 142 

42 

201-225  „ 

. . 153 

38 

226-250  „ 

. . 124 

46 

251-275  

. . 156 

41 

276—300  „ 

151 

301-325  „ 

. . 1308 

244 

326-350  

. . 179 

3 

über  350  „ 

. . 419 

17 

Zusammen  . 

. . 5122 

1380 

Diesen  Angaben  gegenüber  ist  es  von  Wichtigkeit 
sich  zu  vergegenwärtigen,  dass  das  Jahr  1891  mit  einem 
Donnerstag  begann  und  unter  den  365  Tagen  überhaupt 
52  Sonntage  und  ausserdem  7 Feiertage  aufwies,  worunter 
Ostern,  Pfingsten,  Weihnachten,  Charfreitag,  Himmelfahrt, 
Busstag  und  Neujahrs  tag,  dass  also  im  Ganzen  306  reguläre 
Arbeitstage  verblieben.  Die  Statistik  zeigt  hier  bei  den 
männlichen  Arbeitern,  dass  beschäftigt  waren: 


300 

Tage 

48 

Arbeiter 

308  Tage 

301 

55 

39 

55 

309  „ 

302 

55 

46 

55 

310  „ 

303 

55 

86 

5* 

311  „ 

304 

55 

57 

55 

312  „ 

305 

114 

55 

313  „ 

306 

55 

93 

314  „ 

307 

55 

79 

55 

51  Arbeiter 


51 

77 

53 

267 

80 

31 


5) 


55 


204 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  17. 


Alsdann  folgen  kleinere  Zahlen  bis 


358  Tage:  5 Arbeiter 

359  „ : 11 

360  „ : 64  „ 

361  „ : 4 


362 

363 

364 

365 


Tage 


3 Arbeiter 
6 „ 

21 

260 


Ein  klares  Bild  können  nun  diese  Daten  schon  darum 
nicht  geben,  weil  die  Zahl  der  in  Tage-  oder  Wochenlohn 
stehenden  Arbeiter  nicht  unterschieden  werden  konnten. 
Dass  gerade  weniger  306,  als  vielmehr  305  Tage  einen  Ab- 
schnitt darstellen,  wie  aus  obigen  Zahlen  ersichtlich  ist, 
kann  vielleicht  mit  der  Maifeier  am  Sonnabend  den  1.  Mai 
Zusammenhängen,  während  die  starke  Abgrenzung  mit  312 
Tagen  ein  Feiern  nur  während  der  52  Sonntage  und  des 
LMai  vermuthen  lässt.  Die  grosse  Zahl  der  365  Tage  hin- 
durch beschäftigten  Arbeiter  enthält  jedenfalls  nicht  nur 
Arbeiter,  sondern  auch  Angestellte  mit  Monatslöhnen  und 
dergleichen,  welchen  die  Sonntage  und  Feiertage  mit  be- 
zahlt werden,  ohne  dass  deswegen  ein  wirkliches  Arbeiten 
vorausgesetzt  zu  werden  braucht.  Alle  diese  Angaben  sind 
— wie  schon  bemerkt  — zwar  noch  nicht  geeignet,  die 
wirklichen  Verhältnisse  erkennen  zu  lassen,  aber  sie  weisen 
darauf  hin,  dass  man  an  ihre  statistische  Aufklärung  unter 
Beschaffung  besserer  Grundlagen  gehen  kann  und  soll. 
Zumal  würde  der  Vergleich  protestantischer  und  katho- 
lischer Landestheile  von  Interesse  sein.  Besonders  zur 
Vorsicht  bei  der  Benutzung  der  vorstehenden  Zahlen  mahnt 
übrigens  der  Umstand,  dass  mehrfach  die  Ueberstunden  über 
einen  Arbeitstag  von  zehn  Stunden  hinaus  als  besondere 
Tage  zusammengerechnet  worden  sind,  sodass  sogar  10  Ar- 
beiter und  I Arbeiterin  mehr  als  365  Tage  beschäftigt  er- 
scheinen. 

Es  kann  nun  für  jetzt  davon  abgesehen  werden,  auf 
die  Details  der  vorliegenden  mit  No.  3 des  Gemeindeblatts 
der  Stadt  Berlin  ausgegebenen  Publikation  näher  einzu- 
gehen. .Sie  behandelt  noch  besonders  die  Talgsiedereien, 
Talgkerzenfabriken  und  Seifensiedereien  (871  Arbeiter  und 
431  Arbeiterinnen),  die  Gummi-  und  Guttaperchawaaren- 
fabriken  (818  Arbeiter  und  244  Arbeiterinnen),  sowie  den 
Beginn  und  die  Wiederholung  der  Beschäftigung  bei  den 
weniger  als  300  Tage  beschäftigt  gewesenen  Personen. 
Auch  gewährt  die  Kombination  der  einzelnen  Lohnklassen 
mit  den  einzelnen  Klassen  der  Beschäftigungsdauer  weitere 
Einblicke. 

Es  genügt  — und  darauf  kam  es  den  Unterzeichneten 
vorwiegend  an  — nachgewiesen  zu  haben,  dass  die  Lohn- 
statistik der  Berufgenossenschaften  sehr  wohl  geeignet  ist, 
unsere  so  mangelhaften  Kenntnisse  über  die  wichtigsten 
sozialen  Erscheinungen  zu  erweitern.  Dass  nicht  alle 
Berufsgenossenschaften  im  Besitz  guten  lohnstätistischen 
Materials  sind,  legt  den  betheiligten  Kreisen  die  Pflicht  auf, 
dafür  zu  sorgen,  dass  das  betreffende  Material  beschafft  und 
ergänzt  werde.  Allerdings  sind  diese  Genossenschaften 
für  andere  Zwecke  eingerichtet,  als  für  die  Statistik.  Aber 
es  ist  kurzsichtig  und  engherzig,  darum  der  Verwerthung 
desjenigen  Materials  entgegen  zu  sein,  dessen  Beschaffung 
nun  einmal  die  Pflicht  und  das  Gesetz  verlangt.  Die  Be- 
reicherung der  Wissenschaft  kommt  schliesslich  auch  wieder 
der  Verwaltung  zu  Gute,  und  wenn  Berufsgenossenschaften, 
wie  unter  anderen  die  chemische,  die  Wissenschaft  durch 
Gewährung  von  Material  gefördert  haben,  so  geschah  dies 
wohl  wesentlich  in  Würdigung  dieser  Thatsache.  Hoffent- 
lich treten  auch  die  statistischen  Aemter  wie  die  Reichs- 
kommission für  Arbeiterstatistik  dieser  Angelegenheit  näher. 

Berlin.  E.  Hirschberg. 


Nothwendigkeit  einer  neuen  Berufsstatistik  für  das 
Deutsche  Reich.  An  den  Rechnungsergebnissen  der  Berufs- 
genossenschaften, die  an  und  für  sich  selbst  noch  lücken- 
haft sind,  wird  in  halbamtlichen  Blättern  die  Nothwendig- 
keit  einer  neuen  Berufsstatistik  für  das  Deutsche  Reich 
nachzuweisen  gesucht.  Es  heisst  da: 

„Als  die  Vorbereitungen  für  die  letzte  Volkszählung  zu 
treffen  waren,  wurde  in  Vorschlag  gebracht,  mit  dieser  Volks- 
zählung eine  gewerbestatistische  Erhebung  ähnlich  der  Berufs- 
zählung im  Jahre  1882  zu  verbinden.  Der  Plan  scheiterte  an 
Schwierigkeiten,  welche  von  verschiedenen  Seiten  geltend  ge- 
macht wurden.  Es  ist  das  zu  bedauern,  weil  die  gewerblichen 
Berufsverhältnisse  in  dem  seit  der  Aufnahme  der  letzten  Berufs- 
statistik verflossenen  Jahrzehnt  sich  gewaltig  verändert  haben. 
Hierüber  geben  eine,  wenn  auch  nur  im  Grossen  und  Ganzen 


zutreffende  Uebersicht  die  Zahlen,  welche  in  den  Rechnungs- 
ergebnissen der  Berufsgenossenschaften  über  die  versicherten 
Personen  veröffentlicht  werden.  Nach  diesen  Rechnungsergeb- 
nissen waren  in  dem  unfallversicherungspflichtigen  Gewerbe  im 
Jahre  1886:  3,4  Millionen  Arbeiter  beschäftigt,  1891  aber  5,0  Mil- 
lionen. In  der  Zwischenzeit  sind  zwei  Berufsgenossenschaften 
neu  in  Thätigkeit  getreten.  Rechnet  man  deren  Versicherte  mit 
0,2  Millionen  ab,  so  bleiben  für  die  1886  bereits  vorhandenen 
Genossenschaften  4,8  Millionen  übrig.  In  derZeit  von  5 Jahren 
hat  sich  demnach  die  Zahl  der  hauptsächlich  industriellen 
Arbeiterschaft  um  1,4  Millionen  oder  um  etwa  40  pCt.  gehoben. 
Was  die  grösseren  Industriezweige  betrifft,  so  hat  die  Zahl  der 
in  der  Eisenindustrie  beschäftigten  Arbeiter  um  mehr  als 
100000  zugenommen.  LTm  ebensoviel  die  in  der  Textilindustrie. 
Die  Bergarbeiterschaft  hat  sich  um  nahezu  80  000  vermehrt.“ 

Alles  dies  trifft  zu  und  eine  grosse  Anzahl  sonstiger 
sozialpolitischer  Gründe  spricht  in  noch  höherem  Grade 
für  die  Dringlichkeit  einer  Erneuerung  der  deutschen 
Berufsstatistik  Warum  beginnt  man  die  Vorarbeiten  zu 
einer  solchen  unter  Berücksichtigung  aller  Erfahrungen, 
■welche  die  freiwillige  Arbeiterstatistik  inzwischen  sammelte, 
nicht  so  bald  als  möglich?  Wäre  die  Reichskommission  für 
Arbeitsstatistik  so  organisirt  worden,  wie  es  sein  sollte  und 
könnte,  so  müsste  die  Sache  längst  im  Flusse  sein.  Denn 
an  Mitteln  zu  solch  einer  Statistik  wird  es  doch  einem 
Kulturstaate  nicht  fehlen! 


Amtlicher  Bericht  iiher  die  Arbeiterverhältnisse  auf 
den  Staatsbergwerken  in  Preussen.  Dem  preussischen 
Abgeordnetenhause  ist,  wie  alljährlich,  eine  Uebersicht  über 
die  Betriebsergebnisse  der  fiskalischen  Bergwerke  und 
Gruben  vorgelegt  worden.  Den  Abschnitten,  welche  die 
Arbeiterverhältnisse  betreffen,  ist  Folgendes  zu  entnehmen: 

Die  Gesamtzahl  der  auf  den  verschiedenen  Staatsberg- 
und  Salinenwerken  beschäftigten  Arbeiter  betrug  im  Durch- 
schnitte des  Etatsjahres  1891/92  57  856  (1381  mehr  als  im  Vor- 
jahre). An  der  Erhöhung  der  Gesammtziffer  nimmt  der  Bergbau 
im  engeren  Sinne  den  bei  weitem  grössten  Antheil.  „Der  Ge- 
sundheitszustand der  Arbeiter  war  im  Allgemeinen  ein  guter.“ 
Die  Zahl  der  tödtlichen  Verunglückungen  betrug  im  Berichts- 
jahre 123,  oder  auf  1000  Mann  der  im  Durchschnitte  beschäftig- 
ten Arbeiter  2,067  gegen  1,614  im  Jahre  1890/91.  „Die  wirth- 
schaftliche  Lage  der  auf  den  Staatswerken  beschäftigten  Ar- 
beiter war  im  Grossen  und  Ganzen  eine  befriedigende  zu  nennen, 
obwohl  die  Preise  der  notlnvendigsten  Lebensmittel,  namentlich 
des  Roggens  und  der  Kartoffeln,  in  noch  höherem  Grade,  als 
im  Jahre  1890  gestiegen  waren  und  dieser  Umstand  die  Lage 
der  Arbeiter  ungünstig  beeinflussen  musste.“  Die  Steigerung 
der  Gesammtproduktion  bot  „reichliche  Arbeitsgelegenheit“,  so 
dass  die  Belegschaften  zum  Theil  vermehrt  werden  mussten. 
Auch  erfuhren  die  Löhne  mit  Rücksicht  auf  die  bestehende 
Theuerting  zum  Theil  eine  weitere  Erhöhung  und  auf  zahl- 
reichen Staatswerken  wurde  für  eine  billigere  Beschaffung  von 
Kartoffeln  für  den  Winterbedarf  Sorge  getragen.  Die  Ansiede- 
lung von  Bergleuten  in  den  bergmännischen  Kolonien  und  in 
den  Ortschaften  des  Baurayons  der  Saarbrücker  Staatswerke 
wurde  nach  dem  bewährten  System  unter  Gewährung  von  Haus- 
bauprämien und  unverzinslichen  Bauvorschüssen  erfolgreich 
fortgeführt.  Im  Berichtsjahre  wurden  daselbst  107  Prämien  von 
840  bis  900  M.  im  Gesammtbetrage  von  95  865  M.,  sowie  an  rück- 
zahlbaren Bauvorschüssen  143  000  M.  gewährt.  Die  Gesammt- 
zahl  der  seit  dem  Jahre  1842  im  Saarbrücker  Gruben  re  vier 
prämiirten  Häuser  erhöhte  sich  auf  5371,  von  denen  1503  in 
bergmännischen  Kolonien  und  3868  ausserhalb  der  letzteren  in 
den  betreffenden  Ortschaften  des  Baurayons  liegen.  Im  Saar- 
brücker Bezirke  wurde  als  Vorbereitungsklassen  für  die  Steiger- 
schulen im  Winterhalbjahre  13  Werksschul-Oberschulklassen  mit 
98  Schülern  gebildet.  Der  übrige  Werksschul untericht  wurde 
dem  Bedürfnisse  entsprechend  durch  neun  neue  Klassen  neben 
den  36  bestehenden  erweitert.  Zugleich  wurde  bei  einer  der 
Werksschulen  ein  Knaben-Handwerksunterricht  eingeführt.  Die 
Zahl  der  wöchentlichen  Unterrichtsstunden  — ausschliesslich 
der  Zeichenstunden  — wurde  von  112  Stunden  im  Vorjahre  auf 
147  Stunden  vermehrt,  und  die  Zahl  der  Schüler  stieg  von  1699 
im  Vorjahre  auf  2114,  also  um  415.  Von  den  am  Anfänge  des 
Berichtsjahres  vorhandenen  13  Industrieschulen  wurde  eine  auf 
Wunsch  der  Belegschaft  zu  Völklingen  in  eine  Kleinkinder- 
schule umgewandelt.  Der  Besuch  der  verbliebenen  12  Industrie- 
schulen ist  von  423  Schülerinnen  auf  312  im  Berichtsjahre  zu- 
rückgegangen, Der  Grund  ist  theils  in  der  reichlichen  und 
lohnenden  Beschäftigung  der  Mädchen  in  Fabriken 
und  Geschäften  (! !),  theils  auf  das  Widerstreben  der  Eltern, 
namentlich  der  Mütter , zurückzuführen , welche  ihre  Kinder 
lieber  zur  Aushülfe  bei  den  häuslichen  Arbeiten  benutzen,  als 
zu  einem  Besuche  dieser  Schule  behufs  Erlernung  der  weib- 
lichen Handarbeiten  anhalten.  Die  Zahl  der  Kleinkinderbewahr- 
änstalten  erhöhte  sich  durch  Umwandlung  der  Industrieschule 
zu  Völklingen  und  Neugründung  einer  solchen  Anstalt  in 
Wellersweiler  von  16  auf  18,  und  die  Zahl  der  sie  besuchenden 
Kinder  von  1748  im  Vorjahre  auf  1860.  Die  Beaufsichtigung 


No.  17. 


SOZIALPOLITISCHES  CKNTRAT. BLATT. 


205 


übten  18  Lehrerinnen  mit  7 Gehilfinnen  aus.  „Die  Kleinkinäer- 
bewahranstalten  erfreuten  sich  bei  den  Bergleuten  und  Werks- 
beamten fortgesetzt  grosser  Beliebtheit.“  Die  Gesammtkosten 
für  Werksschulen , Bibliotheken,  Industrieschulen  und  Klein- 
kinderbewahranstalten,  sowie  für  die  Wochenschrift  „Der 
Bergmannsfreund“  im  Saarbrücker  Bezirk  haben  sich 
im  Jahre  1891/92  auf  56  154  M.  gegen  47  010  M im  Vorjahre  be- 
laufen. Für  die  aus  Staatsmitteln  bestrittenen  Kosten  der  eigent- 
lichen Bergschulen  wurden  88  021  M.  ausgegeben“. 

Während  sich  also  der  amtliche  Bericht  über  Wohl- 
fahrtseinrichtungen sehr  ausführlich  und  breit  auslässt,  ent- 
hält er  über  die  sozialpolitisch  wichtigen  Punkte  der  Ar- 
beitslage im  Wesentlichen  nur  allgemeine  Redensarten. 
Und  das  verhält  sich  schon  Jahrelang  trotz  aller  Kritik  so, 
sodass  Hoffnung  auf  die  nothwendige  Aenderung  kaum  vor- 
handen ist. 

Ausdehnung-  der  „Vagabundage“  in  1892.  Zur  „Be- 
kämpfung der  Vagabondage“  sind  bekanntlich  in  Deutschland 
zahlreiche  „Verpflegungsstationen“  eingerichtet  worden.  Die 
jetzt  für  |1892  bekannt  werdende  Frequenz  liefert  eine  unfrei- 
willige Statistik  der  im  Vorjahr  vorhanden  gewesenen  Arbeits- 
losigkeit, da  „Vagabonden“  in  solchen  Massen  nicht  Vor- 
kommen können.  Zunächst  wird  aus  Sachsen  Folgendes  bekannt: 
Die  Verpflegstation  Dresden  (Verein  gegen  Ärmennoth  und 
Bettelei)  hatte  in  den  ersten  10  Monaten  6161  Personen  zu  ver- 
pflegen; die  Verpflegstation  Riesa  in  der  gleichen  Zeit  ca.  5000; 
die  Geldgabenstelle  Meissen,  zwischen  beiden  gelegen,  unter- 
stützte in  derselben  Zeit  10  473  Bittsteller.  Bei  der  Geldgaben- 
stelle Meissen  war  die  Zahl  der  Unterstützten  heuer  in  10  Monaten 
um  ca.  1400  Personen  grösser  als  in  der  gleichen  Zeit  des  Vor- 
jahres; bei  den  Geldgabenstellen  Oschatz  und  Wurzen  wurden 
in  den  ersten  9 Monaten  dieses  Jahres,  sogar  je  ca.  2000  Per- 
sonen mehr  unterstützt  als  in  der  gleichen  Zeit  des  Vorjahres; 
dagegen  wuchsen  die  Verpflegzahlen  bei  den  Verpflegstationen 
Riesa  und  Dresden  nur  um  ca.  1000  gegen  das  Vorjahr.  Die 
Verpflegstelle  zu  Leipzig  (Arbeitsstätte)  zeigt  ein  Wachsthum 
der  Frequenz  (in  9 Monaten)  um  ca  200,  die  zu  Chemnitz  hat 
fast  die  gleiche  Zahl  Gäste  wie  im  Vorjahre,  die  Verpflegstellen 
Auerbach,  Freiberg,  Neusalz,  Ostritz,  Annaberg  zeigen  alle  eine 
Zunahme  von  ca.  500  bis  1000  Personen  gegen  die  gleiche  Zeit 
des  Vorjahres.  Klage  über  auffallende  Bettelei  wird  aus  Orten 
mit  Verpflegstellen  nicht  gemeldet,  wohl  aber  heisst  es  bei 
Orten  mit  Geldgabenstellen  wie  Meissen,  Mügeln,  Leisnig, 
Sebnitz,  Waldheim,  Grimma  u a.,  „dass  es  noch  beträchtlich  viel 
Hausbettler  gäbe“,  „dass  trotz  des  Geldgeschenks  der  Stadt  und 
der  Innungen  noch  viel  gebettelt  werde“.  Und  wie  in  Mittel- 
deutschland, so  im  Westen  und  Süden.  In  der  Verpflegungs- 
Station  Hanau  sprachen  im  Jahre  1892  nicht  weniger  als  11993 
„Fremde“  vor,  in  der  zu  Rotenburg  1508  Mann  (gegen  1 141  im 
Vorjahre),  in  der  zu  Merzig  1535  Personen  (gegen  1066  im  Vor- 
jahre). Es  ist  zu  bedauern,  dass  diese  Ziffern  in  der  letzten 
Nothstandsdebatte  des  Reichstages  keine  Erwähnung  fanden. 
Sie  sprechen  doch  beredt  genug. 

Arbeiterwanderungen  innerhalb  Deutschlands.  Ueber 
diesen  sozialpolitisch  und  gesetzgeberisch  so  wichtigen  Gegen- 
stand scheint  mit  der  Zeit  die  Alters-  und  Invaliditätsversiche- 
rung sicheren  Aufschluss  geben  zu  sollen.  Wenigstens  geht  das 
Fluktuiren  der  Arbeiterschaft  zwischen  dem  Herzogthum  Braun- 
schweig und  den  sächsischem  Bezirken  aus  einer  amtlichen  Zu- 
sammenstellung hervor,  die  in  der  Invalidität«-  und  Altersversiche- 
rungsanstalt Braunschweig  gefertigt  worden  ist.  Danach  wurden 
bis  31.  Dezember  v.J.  seitens  dieser  Anstalt  an  die  Anstalt  Sachsen- 
Anhalt  2072  Karten  Versicherter  und  von  letzterer  nach  Braun- 
schweig 1174  übersandt.  Aehnlich  ist  das  Verhältniss  zwischen 
den  Anstalten  Braunschweig  und  Hannover.  Es  geht  daraus 
hervor,  dass  die  Nachbarbezirke  im  Norden  und  Westen  mit 
Braunschweig  im  lebhaften  Austausch  von  Arbeitskräften  stehen; 
allerdings  überwiegt  die  Einwanderung  aus  jenen  Bezirken  in 
den  Braunschweiger  die  Auswanderung  von  dort  bedeutend.  Es 
wäre  zu  wünschen,  dass  die  übrigen  30  Versicherungsanstalten 
des  Deutschen  Reichs  ihre  Beobachtungen  in  ähnlicher  Weise 
mittheilten  und  dass  diesem  Gegenstände  von  der  Centralstelle 
die  grösste  Aufmerksamkeit  zugewendet  würde. 

Arbeitszeit  im  Kanton  Zürich.  Anlässlich  eines  Vortrages 
in  der  Lokalorganisation  der  Arbeiter  von  Winterthur  tiber 
„Fabrik-  und  Piaftpflichtgesetz“  theilte  der  Fabrikinspektor  des 
Kantons  Zürich,  Herr  Kern,  mit,  dass  er  eine  statistische  Zu- 
sammenstellung über  die  tägliche  Arbeitszeit  in  der  zürcheri- 
schen Industrie  gemacht  habe,  wonach  in  der  Baumwollspinnerei 
und  Zwirnerei  98  pCt.  täglich  II  Stunden,  in  der  Metall-  und 
Maschinenindustrie  7 pCt.  11  Stunden  arbeiten;  letztere  7 pCt. 
sind  die  kleineren  Schlosser-  und  Schmiedegeschäfte.  85  pCt. 
dieses  Industriezweiges  haben  eine  tägliche  Arbeitszeit  von  10 
Stunden,  8 pCt.  eine  solche  zwischen  10  und  11  Stunden.  In 
der  Holzindustrie  herrscht  ebenfalls  der  Zehnstundentag  vor; 
nur  20  pCt.  haben  eine  11  ständige  Arbeitszeit.  In  der  Seiden- 
industrie arbeiten  73pCt.  täglich  11  Stunden,  wie  überhaupt  in 
der  Textilindustrie  die  längste  Arbeitszeit  besteht.  Es  zeigt  sich  I 


auf  diesem  Gebiete  der  Einfluss  der  Arbeiterorganisationen,  die 
in  der  Textilindustrie  nahezu  vollständig  fehlen.  Im  ganzen 
Kanton  Zürich  arbeiten  54  pCt.  aller  Etablissementc  und55pCt. 
der  ganzen  (industriellen)  Arbeiterschaft  täglich  11  Stunden. 
Fortschritte  hinsichtlich  der  Verkürzung  der  Arbeitszeit  ver- 
spricht sich  Herr  Kern  nur  von  dem  Eingreifen  der  Arbeiter- 
organisationen; von  der  internationalen  Gesetzgebung  erhofft  er 
gar  nichts,  da  diese  Versuche  nur  auf  eine  gegenseitige  diplo- 
matische Bekomplimentirung  hinauslaufen.  Wünschenswerth 
sei  dagegen  in  dieser  Richtung  die  internationale  Verständigung 
der  organ isirten  Arbeiter. 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Zur  Feier  des  1.  Mai  in  Oesterreich.  In  Bezug  auf  die 
Feier  des  1.  Mai  herrschen  Meinungsverschiedenheiten  zwischen 
den  Arbeitern  Deutschlands  und  Oesterreichs.  Die  deutschen 
Arbeiter  haben  auf  dem  berliner  Parteitage  bezügliche  Be- 
schlüsse gefasst.  Für  Oesterreich  sind  nunmehr  massgebend 
die  Beschlüsse  einer  am  6.  Januar  stattgefundenen  seitens  der 
Parteileitung  einberufenen  Konferenz  der  Vertrauensmänner 
der  Landesorganisationen,  Einstimmig  wurde  folgender  Be- 
schluss gefasst: 

Angesichts  der  politischen  Rechtlosigkeit  der  Arbeiter- 
schaft Oesterreichs  und  entsprechend  den  Beschlüssen  des 
Brüsseler  Kongresses  und  des  Wiener  Parteitages  erklärt  die 
Konferenz  : 

Die  Feier  des  1.  Mai  als  internationale  Demonstration  für 
den  Achstundentag,  für  die  Erkämpfung  politischer  Rechte  und 
die  internationale  Solidarität  des  Proletariates  wird  im  Jahre 
1893  in  Oesterreich  ebenso  begangen  werden,  wie  in  den  frühe- 
ren Jahren. 

Die  Parteikonferenz  findet  an  den  Parteitagsbeschlüssen, 
betreffend  die  Maifeier  trotz  der  mehrfach  geäusserten  Be- 
denken nichts  zu  ändern  Die  Beschlüsse  der  deutschen  Partei- 
genossen sind  für  uns  nicht  massgebend,  da  die  politischen 
Verhältnisse  Oesterreichs  von  denen  Deutschlands  total  ver- 
schieden sind. 

Als  würdigste  Form  der  Feier  ist  die  Arbeitsruhe  anzu- 
streben. Ueberall  aber  sind  am  Vormittage  des  1.  Mai  Volks- 
versammlungen, Abends  Feste  zu  veranstalten,  die  der  Bedeutung 
des  Tages  entsprechen. 

Die  Vorbereitungen  für  die  Maifeier  werden  in  allernächster 
Zeit  in  Angriff  genommen  werden;  der  Parteivertretung  wurde 
aufgetragen,  für  die  Herausgabe  einer  entsprechenden  Flug- 
schrift, eines  Festblattes  und  die  Herstellung  eines  Maifest- 
zeichens zu  sorgen. 

Recht  auf  Arbeit  in  der  Schweiz.  Nach  langwierigen 
Kämpfen  innerhalb  der  sozialdemokratischen  Partei  der  Schweiz 
hat  dieselbe  sich  nunmehr  entschlossen,  auf  dem  Wege  der 
Initiative  die  Anerkennung  des  Rechts  auf  Arbeit  durch  die 
Bundesregierung  zu  fordern.  50  000  Stimmen  sind  nothwendig, 
damit  der  bez.  Antrag  der  Berathung  der  gesetzgebenden 
Körperschaften  unterbreitet  werden  muss. 

Das  Initiativbegehren  hat  folgenden  Wortlaut: 

Die  Unterzeichneten  Schweizerbürger  stellen  gemäss 
Artikel  121  der  Bundesverfassung  und  dem  Bundesgesetz  vom 
27  Januar  1892  über  das  Verfahren  bei  Volksbegehren  und  Ab- 
stimmungen betreffend  Revision  der  Bundesverfassung  das  Be- 
gehren der  Volksabstimmung  über  den  Antrag,  es  sei  folgender 
neuer  Artikel  der  Bundesverfassung  einzuverleiben: 

„Das  Recht  auf  ausreichend  lohnende  Arbeit  ist  jedem 
Schweizerbürger  gewährleistet.  Die  Gesetzgebung  des  Bundes 
hat  diesem  Grundsatz  unter  Mitwirkung  der  Kantone  und  der 
Gemeinden  in  jeder  möglichen  Weise  praktische  Geltung  zu 
verschaffen. 

Insbesondere  sollen  Bestimmungen  getroffen  werden: 

1.  zum  Zwecke  genügender  Fürsorge  für  Arbeitsgelegenheit, 
namentlich  durch  eine  auf  möglichst  viele  Gewerbe  und 
Berufe  sich  erstreckende  Verkürzung  der  Arbeitszeit; 

2.  für  wirksamen  und  unentgeltlichen  öffentlichen  Arbeitsnach- 
weis, gestützt  auf  die  Fachorganisationen  der  Arbeiter; 

3.  für  Schutz  der  Arbeiter  und  Angestellten  gegen  ungerecht- 
fertigte Entlassung  und  Arbeitsentziehung; 

4.  für  sichere  und  ausreichende  Unterstützung  unverschuldet 
ganz  oder  theilweise  Arbeitsloser,  sei  es  auf  dem  Wege  der 
öffentlichen  Versicherung  gegen  die  Folgen  der  Arbeitslosig- 
keit, sei  es  durch  Unterstützung  privater  Versicherungs- 
institute der  Arbeiter  aus  öffentlichen  Mitteln; 

5.  für  praktischen  Schutz  der  Vereinsfreiheit,  insbesondere 
für  ungehinderte  Bildung  von  Arbeiterverbänden  zur 
Wahrung  der  Interessen  der  Arbeiter  gegenüber  ihren 
Arbeitgebern  und  für  ungehinderten  Beitritt  zu  solchen 
Verbänden; 


206 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  17. 


6.  für  Begründung  und  Sicherung  einer  öffentlichen  Rechts- 
stellung der  Arbeiter  gegenüber  ihren  Arbeitgebern  und 
für  demokratische  Organisation  der  Arbeit  in  den  Fabriken 
und  ähnlichen  Geschäften,  vorab  des  Staates  und  der  Ge- 
meinden.“ 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Der  Bergarbeitern  ussta  ml  im  Saarrevier  uml  in  Rhein- 
land-Westfalen. Die  Bergarbeiter  der  grossen  westlichen 
Kohlenreviere  sind  nunmehr  der  Uebermacht  der  schroff  vor- 
gehenden Staatsbehörden  und  Unternehmer  erlegen.  Im 
Saarbezirk  ist  die  Wiederaufnahme  der  Arbeit  durch  fast  alle 
Bergleute  Thatsache,  in  Rheinland- Westfalen  handelt  es 
sich  im  Moment,  in  dem  diese  Zeilen  geschrieben  worden, 
nunmehr  nur  um  vereinzelt  aufflackernde  Flämmchen  des 
geplanten,  aber  missglückten  Gesammtstrikes. 

Bezeichnend  für  das  Verhalten  der  Behörden  ist 
die  Auswahl,  welche  man  für  die  Entlassungen  unter 
den  Leuten  traf.  In  erster  Linie  entfernte  man  alle 
Mitglieder  des  Rechtsschutz  Vereins;  ferner  31  Knapp- 
schaftsälteste und  I I Grubenausschussmitglieder.  26  von 
ersteren  sind  Vertrauensmänner  oder  Vorstandsmitglieder 
des  Rechtsschutzvereins,  19  von  letzteren  sind  Vertrauens- 
männer. Im  Ganzen  sind  80  von  den  220  Grubenaus- 
schus.smitgliedern  aus  der  Arbeit  entlassen.  Auch  in  den 
Verhaftungen  fuhr  man  fort.  Die  Zahl  der  Entlassenen 
soll  in  einer  Versammlung  vom  20.  Januar  noch  festgestellt 
werden.  In  Versammlungen  wurde  den  Entlassenen  die 
Auswanderung  angerathen,  sodass  die  Familien  der  Armen- 
pflege anheimfallen  würden;  andere  antworteten  auf  die 
Frage,  was  aus  den  „Abgelegten“  werden  solle,  mit  dem 
charakteristischen  Zwischenrufe:  „Räuberbanden“.  Ein 

letzter  Versuch,  mit  den  Behörden  zu  verhandeln,  wurde 
am  12.  Januar  gemacht.  Eine  Verhandlung  war  aber  unter 
den  von  der  Bergwerksdirektion  gestellten  Bedingungen 
unmöglich.  Inzwischen  ist  am  17.  Januar  eine  aus  Schillo 
und  Thomä  bestehende  Bergarbefterdeputation  in  Berlin 
eingetroffen.  Sie  hat  auch  nichts  erreicht. 

Was  den  partiellen  Sympathiestrike  der  Bergleute  von 
Rheinland- Westfalen  angeht,  so  wäre  telegraphischen 
Zeitungsnachrichten  zu  Folge  die  Zahl  der  Streikenden  am 
18.  Januar  auf  7 600  Mann  gesunken,  sodass  wohl  ohne  be- 
sondere Zwischenfälle  beim  Erscheinen  dieser  Zeilen  auch 
in  Rheinland- Westfalen  die  Bewegung  unterdrückt  sein 
dürfte. 

In  Essen  beträgt  die  Zahl  der  Abgekehrten  mindestens 
600,  in  Gelsenkirchen  gegen  900,  in  Dortmund  gegen  1000. 
Das  wären  Ziffern,  welche  diejenigen  aus  dem  Saarreviere 
noch  weit  überträfen  und  die  bereits  die  Armenverwaltungen 
der  Westfälischen  Städte  beunruhigen. 

Sehr  spät,  erst  am  15.  Januar,  hat  die  Ausstands- 
Kommission  dem  Bergbauverein  durch  eingeschriebenen 
Brief  ihre  Forderungen  überreicht:  „achtstündige  Schicht 
einschliesslich  der  Ein-  und  Ausfahrt,  25  pCt.  Lohnerhöhung 
für  alle  Bergarbeiter,  Anlegung  der  früher  Gemassregelten 
und  Unterlassung  fernerer  Massregelung,  Zurücknahme  der 
ganzen  Arbeitsordnung,  Selbstverwaltung  der  Knappschaft, 
Anerkennung  der  Arbeiterausschüsse,  freie  Wahl  derselben, 
aber  auf  jederzeitigen  sofortigen  Widerruf“.  Die  Nieder- 
lage der  Bergarbeiter  dürfte  durch  diese  Kundgebung  nicht 
mehr  aufgehalten  werden. 

Von  der  englischen  Bergarbeiterkonferenz  Nach  lang 
ausgesponnener  Debatte  entschied  sich  die  Bergarbeiterkonferenz 
in  ihrer  Sitzung  vom  11.  Januar  mit  67  gegen  2 Stimmen  zu 
Gunsten  des  gesetzlichen  Achtstundentages  für  Bergwerke. 
Da  mit  Ausnahme  von  Northumberland,  welches  die  Beschickung 
des  Kongresses  abgelehnt  hat,  jeder  Kohlendistrikt  Grossbritan- 
niens aut  der  Konferenz  vertreten  war,  bedeutet  diese  Abstim- 
mung thatsächlich,  dass  so  ziemlich  die  gesammten  britischen 
Bergarbeiter  über  den  Weg,  auf  welchem  ein  Achtstundentag 
für  Bergwerke  am  besten  zu  erreichen  sei,  zu  einer  Einigung 
gelangt  sind.  Vor  Kurzem  war  es  noch  Süd- Wales,  welches 
sich  einem  parlamentarischen  Eingreifen  in  diese  Frage  gegen- 
über ablehnend  verhielt.  Nun  ist  offenbar  auch  dieses  zu  der 
Mehrheit  übergetreten,  und  so  standhafte  Opposition  auch  die 
Führer  der  Durhamer  Bergleute  bisher  noch  machen,  ist  es  doch 
längst  kein  Geheimniss  mehr,  dass  auch  in  diesem  Bezirke  die 
Zahl  Derer  in  stetem  Wachsen  begriffen  ist,  welche  auch  in 
diesem  Punkte  ein  gemeinsames  Vorgehen  mit  dem  Rest  ihrer 
Kameraden  befürworten.  Je  mehr  sich  aber  unter  den  Berg- 


I leuten  selbst  der  Kreis  der  Gegner  einer  Beschränkung  der  Ar- 
beitszeit auf  gesetzlichem  Wege  verengert,  desto  grösser  wird 
die  Wahrscheinlichkeit,  dass  das  Parlament  ihrem  Verlangen 
Folge  zu  leisten  für  angemessen  findet.  Im  weiteren  Verlaufe 
der  gestrigen  Sitzung  gelangten  noch  Anträge  auf  verschiedene 
Abänderungen  des  Bergwerksgesetzes,  auf  Errichtung  eines 
Ministeriums  für  Bergwerke  sowie  auf  Abschaffung  der  Regale 
und  Wegegebühren  zur  Annahme.  Die  letzteren,  zum  grössten 
Theile  den  Grundbesitzern  zu  Gute  kommenden  Abgaben  be- 
laufen sich  in  vielen  Fällen  auf  Summen,  die  ebenso  noch  sind, 
wie  die  Löhne  der  Arbeiter  selbst.  Die  Abschaffung  solcher 
Abgaben  dürfte  noch  grössere  Schwierigkeiten  bereiten , als 
selbst  die  Einführung  des  Achtstundentages. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Haftpflicht  der  Unternehmer  betr.  die  Arbeitersclmtz- 
bestirnmungen.  Das  Reichsgericht  hat  auf  dem  Gebiete  der 
Arbeiterschutzgesetzgebung  nach  Mittheilung  der  „Juristischen 
Wochenschrift“  die  folgenden  für  Fabrikbesitzer  wichtigen 
Grundsätze  ausgesprochen:  Der  Gewerbetreibende,  dem  das 
Gesetz  die  Verpflichtung  auferlegt,  für  die  Befolgung  der  dem 
Wohle  jugendlicher  Arbeiter  dienenden  Bestimmungen  zu 
sorgen,  sei  regelmässig  der  Fabrikherr,  dem  die  Fabrik  gehöre 
und  zu  dessen  Zwecken  die  Arbeiter  angenommen  würden. 
Gleichgiltig  sei  es  hierbei,  ob  der  Fabrikherr  selbst  mit  seinen 
Arbeitern  in  ein  Arbeitsverhältniss  trete  oder  ob  dieselben  von 
einer  andern  Person  angenommen  und  entlassen  würden.  Es  sei 
auch  gleichgiltig,  ob  die  Arbeiter  unmittelbar  für  den  Fabrik- 
herrn die  Arbeit  verrichteten  oder  für  einen  andern  in  der 
Fabrik,  der  seinerseits  die  Herstellung  der  Fabrikate  für  den 
Fabrikherrn  übernommen  habe.  ln  allen  Fällen  bleibe  der 
Fabrikherr  der  Arbeitgeber,  da  er  es  sei,  welcher  die  Beschäfti- 
gung für  seine  Zwecke  in  seiner  Fabrik  zulasse  und  durch 
dessen  Maassnähmen  bei  dem  Betriebe  seiner  Fabrik  jene  Be- 
schäftigung erst  verwirklicht  werde. 

Verbot  der  Kindrrbeschaftigimg  an  Theater».  Der  Anfang 
zu  einem  solchen  ist  gemacht  worden  im  — östlichen  Preussen. 
Der  Polizeipräsident  von  Posen  hat  angeordnet,  dass  zur  Ver- 
wendung von  schulpflichtigen  Kindern  bei  Theateraufführungen 
für  jeden  einzelnen  Fall  und  für  jedes  einzelne  Kind  die  Er- 
laubniss  des  Polizeipräsidenten  einzuholen  ist,  die  jedoch  erst 
nach  Anhörung  des  zuständigen  Kreisschulinspektors  ertheilt 
werden  soll  Die  Thätigkeit  von  schulpflichtigen  Kindern  bei 
derartigen  Aufführungen  darf  indess  nur  bis  spätestens  11  Uhr 
Nachts  ausgedehnt  werden.  Auffallen  muss  die  Halbheit 
dieser  Ma.ssregel,  sowie  ihre  Beschränkung  auf  einen  so  kleinen 
Bezirk. 

Gerichtliches  IMtheil,  betr.  Abänderung  von  Fabrik- 
ordnungen in  der  Schweiz  Nach  einem  Entscheide  des  Einzel- 
richters I des  Bezirksgerichtes  Zürich  vom  30.  November  1892 
ist  die  seitens  eines  Fabrikinhabers  einseitig  erfolgende  Re- 
duktion der  in  der  Fabrikordnung  festgesetzten  Arbeitszeit  oder 
die  Einstellung  des  Betriebes  an  einzelnen  Tagen,  wenn  dazu 
nicht  höhere  Gewalt  zwingt,  als  eine  wesentliche  Aenderung 
des  Dienstvertrages  aufzufassen.  Demgemäss  sind  solche  Mass- 
regeln  14  Tage  vor  Inkrafttreten  derselben  Samstags  oder  am 
Zahltag  anzukündigen,  so  dass  es  jedem  Arbeiter  ermöglicht 
wird,  den  ihm  nicht  mehr  zusagenden  Dienst  regelrecht  aufzu- 
kündigen. Erfolgt  keine  14  Tage  vorausgehende  Anzeige  und 
tritt  che  Verkürzung  der  Arbeitszeit  willkürlich  von  heute  auf 
morgen  in  Kraft,  so  hat  der  betroffene  Arbeiter  Anspruch  auf 
Ausbezahlung  seines  vollen  Lohnes  wie  bei  voller  Arbeitszeit 
oder  es  steht  ihm,  wenn  ihm  derselbe  vorenthalten  wird,  das 
Recht  zu,  sofort  ohne  Beobachtung  der  Kündigungsregeln  aus 
dem  Geschäfte  auszutreten,  weil  der  Fabrikbesitzer  die  be- 
dungene Verpflichtung  nicht  erfüllt,  resp.  eine  vertragswidrige 
Behandlung  des  Arbeiters  verschuldet  hat  (Artikel  9 des  Fabrik- 
gesetzes). 

Früherer  Schluss  der  Geschäfte  in  London.  In  London 

ist  jetzt  eine  Agitation  im  Gange,  welche  eine  Beschluss- 
fassung des  Parlamentes  zu  dem  Zweck  herbeiführen  will, 
dass  wenigstens  an  einem  Tage  in  der  Woche  die  Ge- 
schäfte früher  geschlossen  werden.  In  einer  in  der  zweiten 
Januarwoche  abgehaltenen  Versammlung  der  Londoner 
Handlungsgehilfen  referirte  John  Burns  über  diese  Frage. 
Er  führte  u.  a aus,  dass,  wenn  die  Läden  um  8 Uhr  ge- 
schlossen würden  anstatt  um  I I Uhr  abends,  der  Konsum 
keineswegs  zurückgehen  würde.  Das  Publikum  würde  sich 
in  die  neue  Einrichtung  bald  finden  und  der  Verbrauch 
derselbe  bleiben. 


No.  17. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


207 


Arbeiterversicherung. 


Altersrenten  auf  Grund  der  Invaliditäts-  und  Altersver- 
sicherungfsgesetzes.  Nach  den  im  Reichsversicherungsamt 
angefertigten  Zusammenstellungen,  welche  auf  den  von  den 
Vorständen  der  Versicherungsanstalten  und  der  zugelassenen 
besonderen  Kasseneinrichtungen  gemachten  Angaben  beruhen, 
betrug  am  31.  Dezember  1892  die  Zahl  der  seit  dem  Inkrafttreten 
des  Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetzes  erhobenen 
Ansprüche  auf  Bewilligung  von  Altersrente  bei  den  31  Ver- 
sicherungsanstalten und  den  neun  vorhandenen  Ivasseneinrich- 
tungen  224  630.  Von  diesen  wurden  175  874  Rentenansprüche 
anerkannt  und  39  922  zurückgewiesen,  4192  blieben  unerledigt, 
während  die  übrigen  4642  Anträge  auf  andere  Weise  ihre  Er- 
ledigung gefunden  haben.  Von  den  erhobenen  Ansprüchen  ent- 
fallen auf  Schlesien  25  796,  Ostpreussen  20  891,  Brandenburg 
17  180,  Rheinprovinz  15008,  Hannover  13  036,  Sachsen- Anhalt 
12  646,  Posen  11704,  Schleswig-Holstein  8606,  Westfalen  8437, 
Westpreussen  8378  Pommern  7555,  Hessen-Nassau  4902,  Berlin 
2425.  Auf  die  8 Versicherungsanstalten  des  Königreichs  Bayern 
kommen  22560  Altersrentenansprüche,  auf  das  Königreich  Sachsen 
9348,  Württemberg  5004,  Baden  4213,  Grossh.  Hessen  3941,  beide 
Mecklenburg  4580,  die  Thüringischen  Staaten  4718,  Oldenburg 
797,  Braunschweig  1587,  Hansestädte  1509,  Eisass  - Lothringen 
6722  und  auf  die  9 zugelassenen  Kasseneinrichtungen  insgesammt 
3087.  Die  Zahl  der  während  desselben  Zeitraums  erhobenen 
Ansprüche  auf  Bewilligung  von  Invalidenrente  betrug  bei  den 
31  Versicherungsanstalten  und  den  9 zugelassenen  Kassenein- 
richtungen insgesammt  36  696.  Von  diesen  wurden  17  946  Renten- 
ansprüche anerkannt  und  12  688  zurückgewiesen,  4177  blieben 
unerledigt,  während  die  übrigen  1885  Anträge  aut  andere  Weise 
ihre  Erledigung  gefunden  haben.  Von  den  geltend  gemachten 
Invalidenrentenansprüchen  entfallen  auf  Schlesien  5178,  Ost- 
preussen  2972,  Rheinprovinz  2810,  Hannover  1928,  Brandenburg 
1747,  Westpreussen  1675,  Sachsen-Anhalt  1592,  Posen  1364,  Pom- 
mern 1242,  Westfalen  1201,  Hessen-Nassau  803,  Schleswig-Hol- 
stein 533,  Berlin  523  Auf  die  8 Versicherungsanstalten  des 
Königreichs  Bayern  kommen  4747  Invalidenrentenansprüche,  auf 
das  Königreich  Sachsen  1249,  Württemberg  1032,  Baden  1058, 
Grossh.  Hessen  443,  beide  Mecklenburg  408,  die  Thüringischen 
Staaten  634,  Oldenburg  86,  Braunschweig  217,  Hansestädte  181, 
Elsass-Lothringen  766  und  auf  die  9 zugelassenen  Kasseneinrich- 
tungen insgesammt  2307.  Unter:  den  Personen,  die  in  den  Genuss 
der  Invalidenrente  traten,  befanden  sich  545,  welche  bereits 
vorher  eine  Altersrente  bezogen. 

Versicherung-  gegen  Arbeitslosigkeit,  in  der  Stadt  Bern. 

In  der  Stadt  Bern  soll  unter  öffentlicher  Verwaltung  eine 
Arbeitslosenkasse  gegründet  werden.  Die  vom  Stadtrath  be- 
stellte Kommission  beantragte  diesbezüglich  u.  a.:  DieVersiche- 
rungskasse  wird  von  der  Gemeinde  selbst  durch  ihr  Arbeits- 
nachweisbureau verwaltet.  Eine  aus  sieben  Mitgliedern  be- 
stehende Kommission  führt  die  Aufsicht  und  bestimmt  die  Höhe 
der  zu  gewährenden  Unterstützungen.  Die  Mittel  der  Kasse 
werden  beschafft  durch  Beiträge  der  versicherten  Arbeiter,  der 
Arbeitgeber  und  der  Gemeinde  und  durch  Geschenke.  Die  Mit- 
glieder sollen  40  Cts  per  Monat  beitragen.  Der  Gemeindebeitrag 
soll  Fr.  5000  per  Jahr  nicht  übersteigen.  Mitglied  kann  jeder  in 
der  Gemeinde  beschäftigte  Arbeiter  werden.  Er  hat  sich  dafür 
bei  seinem  Arbeitgeber,  oder  beim  Vorstand  des  Fachvereins, 
oder  direkt  im  städtischen  Arbeitsnachweisbureau  anzumelden. 
Diese  Anmeldestellen  nehmen  auch  die  Monatsbeiträge  der  Mit- 
glieder entgegen.  Anspruch  auf  Unterstützung  hat,  wer  wenig- 
stens sechs  Monate  lang  der  Kasse  angehört,  seine  Beiträge 
regelmässig  geleistet  hat  und  wenigstens  zwei  Wochen  arbeitslos 
ist.  Die  Unterstützung  beträgt  im  Maximum  Fr.  1. — für  ledige, 
und  Fr.  1,50  für  verheirathete  Arbeitslose.  Das  Reglement  be- 
stimmt die  Fälle,  in  welchen  wegen  selbstverschuldeter  Arbeits- 
losigkeit keine  Unterstützung  gewährt  wird.  In  die  Aufsichts- 
kommission wählen  der  Gemeinderath  drei  Mitglieder,  die 
Arbeitgeber  zwei  Mitglieder  und  die  Arbeiterunion  zwei  Mit- 
glieder. Die  Kommission  hat  nach  Möglichkeit  für  Arbeits- 
gelegenheit zu  sorgen.  Die  Kasse  soll  auf  den  1.  März  dieses 
Jahres  ins  Leben  treten,  also  erst  von  nächsten  Winter  an 
Unterstützungen  gewähren. 


Gewerbegerichte. 


Schiedsgerichte  für  ländliche  Arbeiter.  Im  deutschen 
Reichstage  ist  von  den  Polen  folgender  Antrag  eingebracht 
worden:  „Die  verbündeten  Regierungen  zu  ersuchen,  dem 
Reichstage  baldthunlichst  den  Entwurf  eines  Gesetzes,  be- 
treffend die  Einführung  besonderer  Gerichte,  vorzulegen, 


welche  nach  Analogie  der  Gewerbegerichte  berufen  wären, 
Streitigkeiten  zwischen  den  ländlichen  Arbeitern  und  deren 
Arbeitgebern  in  einer  schnellen,  billigen  und  einfachen 
Weise  zu  entscheiden.“ 

Berggewerbegerichte  in  Preussen.  Zum  1.  April  1393 
soll  nach  Massgabe  des  Reichsgesetzes  über  die  Gewerbe- 
gerichte mit  der  Errichtung  von  fünf  Berggewerbegerichten 
für  die  bedeutenderen  Bergbaubezirke  des  Staates  vorge- 
gangen werden,  als  deren  Sitze  Beuthen  O.-S.,  Waldenburg 
i.  Schl.,  Dortmund,  Saarbrücken  und  Aachen  in  Aussicht 
genommen  sind.  Bei  jedem  dieser  Gerichte  ist  eine  ent- 
sprechende Anzahl  von  Kammern  — im  Ganzen  32  - vor- 

gesehen, und  zwar  in  der  Regel  als  sogenannte  detachirte 
Kammern  am  Amtssitze  der  königlichen  Bergrevierbeamten 
der  betreffenden  Gerichtsbezirke.  Die  für  diesen  Zweck 
erforderlichen  Ausgaben  erscheinen  mit  58  500  M.  dauernder 
Ausgaben  zum  ersten  Male  im  preussischen  Etat,  denen 
eine  Einnahme  an  Verhandlungsgebühren  in  Höhe  von 
8000  M.  gegenübersteht;  an  einmaligen  Ausgaben  behufs 
der  Einrichtung  der  erforderlichen  Diensträume  etc.  sind 
ausserdem  16  600  M.  ausgeworfen,  von  welchem  Betrage 
6000  M.  für  das  Wahlverfahren  dienen  sollen. 

Gewerbegerichte  in  Baselstadt  Die  gewerblichen  Schieds- 
gerichte bestehen  im  Kanton  Baselstadt  seit  Dezember  1889,  in 
welchem  Monat  zuerst  die  Wahlen  der  Schiedsrichter  durch  die 
Interessenten  wie  bei  öffentlichen  Wahlen  vorgenommen  wurden: 
dabei  betheiligten  sich  17  pCt.  der  stimmberechtigten  Wähler. 
Ende  vorigen  Monats  fand  die  zweite  Erneuerung  des  Richter- 
kollegiums statt,  wobei  sich  nur  12  pCt.  am  Wahlakte  be- 
theiligten. Die  Zahl  der  Richter  beträgt  120,  60  Arbeitgeber  und 
60  Arbeiter;  sämmtliche  Gewerbe  sind  in  zehn  Gruppen  abge- 
grenzt, auf  welche  je  12  Laienrichter  entfallen.  Jeder  Gerichts- 
vorstand setzt  sich  aus  zwei  Laienrichtern  und  einem  Obmann, 
der  juristisch  gebildet  ist,  zusammen;  jedes  Jahr  wurden  im 
Durchschnitt  500  Streitfälle  erledigt;  im  Allgemeinen  funktionirt 
das  neue  Institut  zur  allgemeinen  Zufriedenheit. 


Litteratur. 


E.  von  Woedtke,  Kaiserlich  Geheimer  Ober  - Regierungsrath, 
Vortragender  Rath  im  Reichsamt  des  Innern:  K ranken- 

versicher ungs  ge, setz  vom  15.  Juni  1883  in  der  Fassung 
der  Novelle  vom  30.  April  1892  und  die  dasselbe  er- 
gänzenden reichsrechtlichen  Bestimmungen.  Mit 
Einleitung  und  Erläuterungen.  Vierte  gänzlich  umge- 
arbeitete Auflage.  Lieferung  I.  Berlin,  1892.  J.  Guttentag, 
Verlagsbuchhandlung. 

Die  Kommentare  v.  Woedtkes  zu  den  Arbeiterversicherungs- 
gesetzen sind  so  allgemein  bekannt  und  in  den  interessirten 
Kreisen  gewürdigt,  dass  es  genügt,  das  Erscheinen  einer  neuen 
Auflage  eines  dieser  Bücher  an  zu  zeigen  und  sich  eine  Be- 
sprechung vollkommen  erübrigt.  Die  jetzt  erschienene  erste 
Lieferung  des  Kommentars  zur  Novelle  vom  10.  April  1892  um- 
fasst das  Gesetz  bis  zum  § 48  a und  giebt  ausserdem  eine  Ein- 
leitung sowie  den  allgemeinen  Theil  der  Begründung  des  älteren 
Gesetzes  und  der  Novelle.  Im  Text  sind  die  aus  der  Novelle 
sich  ergebenden  Abänderungen  des  älteren  Gesetzes  durch 
fetten  Druck  kenntlich  gemacht.  Die  zweite  Lieferung,  die 
das  Werk  jedoch  noch  nicht  zum  Abschluss  bringen  wird,  be- 
findet sich  im  Druck. 

Gottsclialk,  Eduard,  Das  neue  Auswanderungs-Gesetz. 
Eine  Beleuchtung  desselben.  Hamburg,  Selbstverlag  1892. 
26  S.  8°. 

Eine  zur  Beurtheilung  des  Auswanderungsgesetzentwurfes 
nützliche  Schrift,  in  welcher  der  Standpunkt  der  Hamburger 
Schiffsexpedienten  vertreten  wird.  Natürlich  muss  bei  der 
Lektüre  der  Broschüre  berücksichtigt  werden,  dass  der  Verfasser 
Interessent  bezw.  Vertreter  von  Interessenten  des  Vereins  Ham- 
burger Schiffsexpedienten  ist;  es  ist  daher  begreiflich,  dass  er 
gegen  jede  weitere  auch  aus  hygienischen  und  sozialpolitischen 
Rücksichten  nothwendig  erscheinende  Beschränkung  bei  Beauf- 
sichtigung der  Expedition  der  Auswanderer  ist  und  die  derzeitige 
Partikulargesetzgebung  für  ausreichend  hält.  Trotz  alledem  ist 
die  Schrift  wegen  mannigfacher  Daten  und  der  klaren  Hervor- 
hebung des  Interessentenstandpunktes  lesenswerth. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


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Die  Deutsche  Litteraturzeitung  erblickt  ihren  eigentümlichen  Beruf  darin, 
vom  Standpunkt  der  deutschen  Wissenschaft  aus  eine  kritische  Uebersicht  über 
das  gesammte  litterarische  Leben  der  Gegenwart  zu  bieten.  Sie  sucht  im 
Unterschied  von  den  Fachzeitschriften  allen  denen  entgegenzukommen,  welchen  es 
Bedürfniss  ist,  nicht  nur  mit  den  Fortschritten  ihres  Faches,  sondern  auch  mit  der 
Entwickelung  der  übrigen  Wissenschaften  und  mit  den  hervorragenden  Leistungen 
der  schönen  Litteratur  vertraut  zu  bleiben. 

In  ihren  Mittheilungen  bringt  die  Deutsche  Litteraturzeitung  eine  Uebersicht 
über  den  Inhalt  in-  und  ausländischer  Zeitschriften,  wie  sie  in  dieser  Reich- 
haltigkeit sonst  nirgends  geboten  wird,  ferner  ständige  Berichte  über  die  Thätigkeit 
gelehrter  Gesellschaften,  Nachrichten  über  wissenschaftliche  Entdeckungen  und  litte- 
rarische LTnternehmungen,  Personalnotizen  und  Vorlesungsverzeichnisse. 

Durch  die  Unterzeichnung  aller  Besprechungen  mit  dem  vollen  Namen  des 
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Die  seit  1879  erscheinende  Wochenschrift  „Export“  ist  bestrebt,  die  Interessen 
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deutschen  Industrie  wichtige  Mittheilungen  über  die  Handelsverhältnisse  des  Aus- 
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Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil : O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  30.  Januar  1893. 


Nummer  18. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostämter. 
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Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


Die  Lage  der  Bäckereiarbeiter 
im  Lichte  der  deutschen 
Arbeiterstatistik.  Von  Dr. 
Heinrich  Braun. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  u. 
Wirtlischaftsstatistik: 

Deutsche  Auswanderung  im  Jahre 
1892. 

Progressive  Kommunalsteuern  in 
Preussen. 

Die  italienischen  Postsparkassen. 

Arbeiterzustiinde: 

Durchschnittslöhne  in  den  Bres- 
lauer Gewerben. 

Arbeitslosenstatistiken. 

Berliner  Arbeitslosenversamm- 
lungen. 

Zur  Lage  der  Drechsler  in  Dresden. 

Arbeitslöhne  in  Oesterreich. 

Arbeitslöhne  und  Lebensmittelpreise 
in  Italien. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Zur  Geschichte  der  letzten  deut-  I 
sehen Bergarbeiterausstände.  Von  [ 
Dr.  Max  Q u a r c k. 


Arbeiterschntzgesetzgebung : 

Das  neue  französische  Arbeiter- 
schutzgesetz und  sein  Gefolge. 

Nacht-  und  Sonntagsarbeit  in  der 
Schweiz. 

Gewerbeinspektion : 

Der  Fabrikinspektor  in  Rheinhessen 
und  die  Arbeiter. 

Arbeiterversicherung: 

Berliner  Schiedsgericht  für  die 
Invaliditäts-  und  Altersversiche- 
rung. 

Leistungen  einer  Zuschusskasse. 

Wohmmgszustände  und  Woh- 
nungsgesetzgebung : 

Die  neue  Baupolizeiordnung  für 
die  Berliner  Vororte.  Von  Dr. 
E.  Lange. 

Regelung  des  Schlafstellenwesens 
in  Berlin. 

Wohnungszustände  in  Wien. 

Soziale  Hygiene: 

Die  gewerbliche  Quecksilberver- 
giftung. 

Eingesendete  Schriften. 


Abdruck  sämmtliclier  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Lage  der  Bäckereiarbeiter  im  Lichte  der 
deutschen  Arbeiterstatistik. 


Die  „Erhebung  über  die  Arbeitszeit  in  Bäckereien  und 
Konditoreien“,  welche  in  Folge  der  Beschlüsse  der  Kom- 
mission für  Arbeiterstatistik  im  September  1 892  vom  kaiser- 
lichen statistischen  Amt  veranstaltet  wurde  und  nunmehr 
in  der  Bearbeitung  desselben  vorliegt,1)  verlangt  mit  gleich- 
mässigem  Nachdruck  die  Erörterung  sowohl  der  methodo- 
logischen Seite  dieser  Statistik  wie  ihrer  materiellen  Ergeb- 
nisse. In  diesem  Fall  dient  die  Beurtheilung  des  ein- 
geschlagenen methodischen  Weges  nicht  bloss  dazu,  über 
den  Werth  der  gewonnenen  positiven  Resultate  zu  grösserer 
Sicherheit  zu  gelangen;  darüber  hinaus  führt  sie  zur  Beant- 
wortung der  Frage,  ob  wir  mit  der  gegenwärtig  bestehenden 
Organisation  auch  das  Ziel  einer  den  Bedürfnissen  der 
Wissenschaft  wie  der  staatlichen  Verwaltung  genügenden 
Arbeiterstatistik  erreichen  können.  Nach  der  Seite  sind 


wir  in  einer  vorhergegangenen  Erörterung  zu  dem  nega- 
tiven Ergebniss  gelangt,  dass  die  Kommission  für  Arbeiter- 
statistik in  ihrer  Verbindung  mit  dem  kaiserlichen  Statisti- 
schen Amt  keine  geeignete  Einrichtung  für  die  Aufgaben 
der  Arbeiterstatistik  darstellt.1)  Daran  wird  nichts  geändert 
durch  die  von  uns  bereitwillig  gewährte  Anerkennung, 
dass  das  kaiserliche  Statistische  Amt  mit  sichtlichem 
Streben  nach  Objektivität  vorgegangen  ist  und  durch  eine 
gute  Technik  der  Bearbeitung  dieser  Statistik  formelle 
Vorzüge  verliehen  hat.  Die  im  Grundriss  verfehlte  Kon- 
struktion eines  Bauwerks  kann  nun  einmal  durch  noch  so 
sorgfältige  Ausführung  architektonischer  Details  nicht  wett- 

C5  O O 

gemacht  werden. 

Das  für  die  Frage  der  Organisation  der  Arbeiter- 
statistik entscheidende  Resultat  würde  auch  dadurch  nicht 
umgestossen  werden,  dass  die  materiellen  Ergebnisse  der  vor- 
liegenden Statistik  sich  als  ausreichend  bewähren  sollten  für  die 
Erledigung  der  Frage,  ob  der  Bundesrath  von  seiner  Befugniss, 
einzelnen  Gewerben  die  Dauer  der  Arbeitszeit  vorzu- 
schreiben, auch  Bäckereien  und  Konditoreien  gegenüber 
Gebrauch  machen  solle.  Die  Eignung  der  dargebotenen 
Behelfe  für  die  Lösung  einer  solchen  speziellen  Frage 
würde  noch  nicht  beweisen,  dass  wir  den  richtigen  Weg 
zu  einer  Arbeiterstatistik  eingeschlagen  haben,  während 
umgekehrt  aus  einer  zweckmässig  geleiteten  Arbeiter- 
statistik neben  umfassenderen  Resultaten  ohne  Weiteres 
auch  ein  sicheres  Urtheil  über  derartige  Einzelfragen  ent- 
springen würde. 

Die  Erhebung  über  die  Arbeitszeit  wurde  bekanntlich 
mittelst  Fragebogen  vorgenommen,  die  in  solcher  Zahl  zur 
Hälfte  an  Arbeitgeber  und  zur  Hälfte  an  Arbeitnehmer 
vertheilt  werden  sollten,  dass  nach  einer  auf  Grund  der 
Gewerbestatistik  von  1882  vorgenommenen  Schätzung  etwa 
10  pCt.  der  in  den  einzelnen  Staaten  vorhandenen 
Bäckereien  und  Konditoreien  der  Befragung  unterworfen 
werden  konnten. 

Die  Zahl  der  Erhebungsorte  war  398;  diese  Orte  liegen 
zerstreut  über  ganz  Deutschland  und  gehören  verschiedenen 
Grössenklassen  an:  Grossstädten  (100  000  und  mehr  Ein- 
wohner), Mittelstädten  (20  000  bis  100  000),  Kleinstädten 
(5000  bis  20  000),  Landstädten  (2000  bis  5000)  und  Orten  von 
weniger  als  2000  Einwohnern.  Im  Ganzen  sind  5347  Frage- 
bogen bearbeitet  worden,  von  denen  2758  auf  Arbeitgeber 
und  2589  auf  Arbeitnehmer  entfielen.  Nach  der  für  die 
Ortsbehörden  gegebenen  Anweisung  sollten  nur  solche 
Betriebe  in  die  Umfrage  einbezogen  werden,  in  welchen 

')  Vergl.  meinen  Aufsatz:  Zur  Beurtheilung  der  neuen 
deutschen  Ärbeiterstatistik  im  Sozialpolitischen" Centralblatt, 
Bd.  II,  No.  16,  S.  185  fg. 


1)  Berlin,  1892,  Druck  von  Koebke,  Folio,  83  S. 


210 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  18. 


„bei  Herstellung-  der  Waaren  regelmässig  mindestens  ein 
Gehilfe  gegen  Lohn  beschäftigt  wird  und  soweit  dieselben 
nicht  einen  kontinuirlichen  Betrieb  mit  Eintheilung  des 
Personals  in  Tag-  und  Nachtschicht  haben“  (vergl.  Erhe- 
bung etc.  S.  82). 

In  den  Betrieben,  für  welche  Fragebogen  bearbeitet 
wurden,  befanden  sich  14  102  Arbeitnehmer,  darunter  8458 
mit  der  Herstellung  von  Backwaaren  beschäftigte  Werk- 
führer und  Gesellen,  4189  Lehrlinge,  413  ungelernte  Arbeiter 
und  1042  für  den  Verkauf  im  Laden  angestellte  Personen. 

Die  Tabellen  über  die  Arbeitszeit  sind  eingetheilt 
1.  nach  Staaten  und  Gebietsgruppen,  2.  nach  den  fünf 
schon  erwähnten  Ortsklassen,  3.  nach  vier  Grössenklassen 
der  Betriebe,  4.  nach  der  Häufigkeit  der  täglichen  Waaren- 
herstellung  (ob  täglich  einmal  oder  mehrmals  Irische 
Waare  hergestellt  wird),  5.  nach  Anwendung  oder  Nicht- 
anwendung von  Maschinen,  6.  nach  den  Auskunftspersonen 
(d.  h.  wie  sich  die  Verhältnisse  auf  Grund  der  Antworten 
der  Arbeitgeber,  resp.  der  Arbeitnehmer  darstellen).  Neben 
den  Tabellen  über  die  Arbeitszeit  enthält  die  vorliegende 
Statistik  solche  über  Lehrlings  Verhältnisse,  Maschinenan- 
wendung und  über  die  Frage,  ob  Gehilfen  und  Lehrlinge 
Wohnung  und  Kost  beim  Meister  haben. 

Was  die  Arbeitszeit  anlangt,  so  wird  in  der  vor- 
liegenden Statistik  dieselbe  mit  Recht  gesondert  betrachtet 
für  die  gewöhnlichen  Bäckereien,  unter  welchen  diejenigen 
verstanden  werden,  deren  Arbeitszeit  zu  einem  mehr  oder 
weniger  bedeutenden  Theil  in  die  Nachtstunden  fällt.  Diese 
gewöhnlichen  Bäckereien  bilden  den  ganz  überwiegenden 
Theil  der  in  die  Erhebung  einbezogenen  Betriebe;  sie  be- 
tragen 85,1  pCt.,  während  die  Tagbäckereien  nur  6 pCt. 
und  die  Konditoreien  8,9  pCt.  ausmachen,  ln  den  4551  ge- 
wöhnlichen Bäckereien  sind  10  979  Hilfspersonen,  darunter 
1221  Werkführer,  6029  Gesellen,  3440  Lehrlinge  und  289 
ungelernte  Arbeiter  ausschliesslich  oder  vorwiegend  bei 
Herstellung  der  Waaren  beschäftigt.  54,9  pCt.  dieser  Hilfs- 
personen sind  mithin  Gesellen;  11,1  pCt.  sind  Werkführer i 
31,4  pCt.  Lehrlinge  und  2,6  pCt.  ungelernte  Arbeiter.  In 
diesen  Bäckereien  beträgt  die  Arbeitszeit  der  Gesellen  vor 
den  Wochentagen  ohne  Abzug  der  dazwischen  liegenden 
Pausen  und  mit  Einschluss  der  Nebenarbeiten  (Reinigen 
der  Bleche  u.  A.  m.) : 

nach  den  Aussagen  der 

Stunden  Arbeitgeber  Arbeitnehmer 

in 


12  und  weniger  . . . 59,4  47,0 

mehr  als  12—14  . . . 28,4  28,9 

„ „ 14  16  . . . 8,8  17,7 

„ „ 16-18  ...  2,0  4,3 

„ „18  ....  0,4  1,0 

unbestimmt  . . . . . 1 ,0 1,1 


von  je  100,0  100,0  Betrieben. 


Nach  den  Aussagen  der  Arbeitgeber  hat  also  etwas 
mehr  als  die  Hälfte  der  gewöhnlichen  Bäckereien,  nach 
denen  der  Arbeitnehmer  etwas  weniger  als  die  Hälfte  eine 
Arbeitszeit  bis  zu  12  Stunden,  nach  den  Aussagen  Beider 
haben  mehr  als  ein  Viertel  dieser  Betriebe  eine  12 — 14 
ständige,  nach  den  Arbeitgebern  11,2  pCt.  eine  mehr 
als  14  stündige  Arbeitszeit,  nach  den  Arbeitnehmern 
23  pCt.,  und  darunter  befinden  sich  nach  beider  Aussagen 
namhafte  Prozente  mit  ganz  horrenden  Arbeitszeiten  ver- 
treten. Indess  würde  es  aut  eine  Täuschung  hinauslaufen, 
wenn  man  dieses  überaus  traurige  Bild  für  ein  die  ein- 
schlägigen Verhältnisse  vollständig  darstellendes  hielte. 
Denn  von  den  Bedingungen  zu  schweigen,  in  denen  die 
Bäckerarbeit  verrichtet  wird:  dass  sie  grossentheils  in  die 
Nachtzeit  fällt,  in  gesundheitsschädlichen,  von  Mehlstaub 
geschwängerten,  schlecht  ventilirten  und  zugleich  oft  auf 
eine  Temperatur  von  25  35°  Reaumur  überhitzten  Räumen 


stattfindet,  dass  sie  zugleich  von  schlecht  genährten,  häufig 
chronisch  schwer  kranken  Arbeitern  verrichtet  wird,  — 
davon  abgesehen,  bezeichnen  die  hier  erwähnten  Arbeits- 
zeiten nur  die  gewöhnliche  und  regelmässige  Arbeitszeit 
„vor  den  Wochentagen“.  Zu  dieser  Arbeit  kommt  die  „vor 
Sonntag“,  d.  h.  von  Sonnabend  Abends  oder  Nachts  bis  in 
den  Sonntag  hinein;  sie  findet  in  allen  gewöhnlichen 
Bäckereien  mit  Ausnahme  von  6,3  pCt.  statt.  Ein  weiteres 
Moment  ist  dies:  In  ca.  der  Hälfte  aller  gewöhnlichen 

Bäckereien  gemessen  die  Arbeiter  auch  nicht  einen  einzigen 
Tag  im  Jahr  der  Ruhe;  es  sei  denn,  sie  sind  stellenlos. 
Damit  kein  Zweifel  über  die  Thatsächlichkeit  dieses  krassen 
Verhältnisses  bestehe , zitiren  wir  die  amtliche  Statistik 
wörtlich.  Seite  69  heisst  es:  „In  einem  grossen  Theile  der 
Bäckereien  und  Konditoreien  wird  die  Arbeit  das  ganze 
Jahr  hindurch  von  keinem  vollen  Ruhetage  (24  Stunden) 
unterbrochen  . . .“  Ziffermässig  ausgedrückt  heisst  dies,  dass 
von  je  100  Betrieben  (nämlich  unter  4551  gewöhnlichen 
Bäckereien,  321  Tagebäckereien  und  475  Konditoreien)  ge- 
währen dem  Hilfspersonal  regelmässige  Ruhezeiten  von 
mindestens  24  Stunden  überhaupt  nur  56,1  pCt.  nach  der 
Aussage  der  Arbeitgeber  und  50,9  pCt.  nach  Aussage  der 
Arbeitnehmer!  (A.  a.  O.  Tab.  VII,  S.  46  fg.)  Hierzu  tritt 
eine  über  das  gewöhnliche  Mass  noch  verlängerte  Arbeits- 
zeit, wie  sie  in  einigen  Bäckereien  an  einzelnen  Tagen 
jeder  Woche,  in  fast  allen  Bäckereien  in  gewissen  Perioden, 
vor  Festen,  Märkten  u.  s.  w.  vorkommt. 

Relativ  günsfigere  Verhältnisse  als  die  gewöhnlichen 
Bäckereien,  zeigen  die  sogenannten  Tagebäckereien.  Die 
Dauer  der  für  Haupt-  und  Nebenarbeit  aufzuwendenden 
Zeit  beläuft  sich  nach  Abzug  der  Pausen  in  76,9  pCt.  der 
Tagebäckereien  mit  Gesellen  auf  12  und  weniger  Stunden, 
in  nur  5,5  pCt.  auf  mehr  als  14  Stunden. 

Ungünstiger  stellt  sich  wiederum  die  Lage  der  Arbeiter 
in  den  Konditoreien  dar.  In  65,3  pCt.  der  Betriebe  beläult 
sie  sich  auf  höchstens  12,  in  30,5  pCt.  auf  mehr  als  12  bis  14 
und  in  1,2  pCt.  auf  mehr  als  14  Stunden. 

Was  die  Ladengeschäfte  angeht,  so  werden  hier 
geradezu  ausserordentliche  Arbeitszeiten  konstatirt.  In  den 
Bäckereien  dauert  die  Verkaufszeit  bei  7,4  pCt.  der  Geschäfte 
14  oder  weniger,  bei  56,7  pCt.  mehr  als  14  — 16,  bei  35,9  pCt. 
mehr  als  16  Stunden.  Und  das  sind  die  Angaben  der  Arbeit- 
geber; nach  denen  der  Arbeitnehmer  ist  der  Prozentsatz 
der  langen  Verkaufszeiten  noch  etwas  grösser.  In  ca.  der 
Hälfte  der  fraglichen  Geschäfte  beginnt  der  Ladenverkauf 
vor  5 '/•>  Uhr  Morgens.  In  den  Ladengeschäften  der  Kon- 

-SO  O 

ditoreien  sind  die  Verkaufszeiten  relativ  günstiger.  (A.  a. 
O.,  S.  68.) 

Die  traurigen  Verhältnisse  in  den  Bäckereien  und 
Konditoreien,  die  wir  an  der  Hand  der  amtlichen  Statistik 
konstatirten,  erreichen  ihren  Gipfel  in  der  Thatsache,  dass 
diese  ungeheuerlichen  Zustände  nicht  nur  für  die  erwachsenen 
Arbeiter,  sondern  auch  für  die  in  jenen  Betrieben  be- 
schäftigten Kinder  und  jungen  Leute  unter  und  über 
16  Jahren  dieselbe  Geltung  haben.  „Im  Allgemeinen“  heisst 
es  wörtlich,  (a.  a.  O.,  S.  72),  „gilt  in  Betreff  der  gewöhn- 
lichen Bäckereien  bezüglich  der  Arbeitszeit  der  Lehrlinge, 
ihrer  Ausdehnung,  ihrer  Lage  in  den  Nachtstunden,  der 
Dauer  und  Unbestimmtheit  ihrer  Pausen  das  bei  Besprechung 
der  Gesellenarbeitszeit  Gesagte.  Wie  Spalte  29  und  30  der 
Tabelle  II b zeigen,  ist  in  63,1  pCt.  der  Betriebe,  in  denen 
Gesellen  und  Lehrlinge  zusammen  beschäftigt  sind  die  .... 
Arbeitszeit  . . . für  die  Lehrlinge  ebenso  lang,,  wie  für  die 
Gesellen ; in  1 7,3  pCt.  der  Betriebe  ist  sie  für  die  Lehrlinge 
kürzer,  in  19,6pCt.  länger  als  für  die  Gesellen“.  Das  Ver- 
hältniss  wird  noch  schlimmer  dort,  wo  die  Lehrlinge  eine 
Fachschule  besuchen.  Es  ergiebt  sich,  das  an  Schultagen 
die  Lehrlinge  in  382  (28,3  pCt.)  Betrieben  über  14,  in  136 


No.  18. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


211 


(10,1  pCt.)  übei"  16  und  in  26  (1,9  pCt.)  Betrieben  über 
18  Stunden  effektiv  durch  Arbeit  und  Unterricht  in  An- 
spruch genommen  sind.  (A.  a.  O.,  S.  74.)  In  den  Tage- 
bäckereien ist  die  Arbeitszeit  durchschnittlich  etwas  kürzer 
wie  in  den  gewöhnlichen  Bäckereien.  In  den  Konditoreien 
liegen  die  Verhältnisse  den  Lehrlingen  insofern  günstiger 
wie  in  den  gewöhnlichen  Bäckereien,  als  Arbeitszeiten  von 
mehr  als  14stündiger  Dauer  bei  ihnen  seltener  sind; 
ungünstiger  insofern,  als  eine  Arbeitszeit  von  mehr  als 
12  Stunden  häufiger  erscheint.  (A.  a.  O.,  S.  75.) 

Gegenüber  der  Darstellung,  welche  die  amtliche  Er- 
hebung von  den  Lehrlingsverhältnissen  giebt,  scheint  zu 
alledem  noch  die  Annahme  gerechtfertigt,  dass  der  Umfang 
und  vielleicht  auch  die  Intensität  der  Lehrlingsausbeutung 
in  Folge  einer  unglücklich  gefassten  Anweisung  an  die  Orts- 
behörden in  der  amtlichen  Statistik  nicht  ganz  zum  Aus- 
druck gekommen  ist.  Die  letzteren  wurden  angewiesen, 
nur  in  solchen  Geschäften  die  Erhebung  vorzunehmen,  wo 
„regelmässig  mindestens  ein  Gehilfe  gegen  Lohn  beschäf- 
tigt wird“  (a.  a.  O.  S.  82).  Die  Intention  war  dabei  die, 
dass  diejenigen  Bäckereien,  in  denen  der  Meister  allein 
oder  mit  seinen  Familienangehörigen  arbeitet,  unberück- 
sichtigt bleiben,  und  es  sollte  gewiss  nicht  bewirkt  werden, 
dass  dort,  wo  ein  Meister  nur  mit  Lehrlingen  arbeitet,  die 
Erhebung  unterlassen  werde.  Jedenfalls  wäre  es  von  grösstem 
Interesse  gerade  darnach  zu  forschen,  wie  weit  derUebelstand 
verbreitet  ist,  dass  in  Bäckereien  Gesellen  durch  Lehrlinge 
ersetzt  werden.  Jene  Anweisung  an  die  Ortsbehörden  die  von 
gegen  Lohn  beschäftigten  Gehilfen  spricht,  wird  aber  wahr- 
scheinlich in  vielen  Fällen  dazu  geführt  haben,  (weil  Ge- 
hilfe in  manchen  Theilen  Deutschlands  das  Syno- 
nym für  Geselle,  nirgendwo  aber  für  Lehrling  ist), 
diejenigen  Betriebe  zu  ignoriren,  in  denen  sich  blos  Lehr- 
linge befinden.  Eine  ausschliessliche  Verwendung  von 
Lehrlingen  ist  gerade  nun  in  mittleren  und  kleineren 
Städten,  auf  die  sich  die  amtliche  Erhebung  vorwiegend 
erstreckte,  sehr  häufig  zu  finden,  und  man  kann  es  deshalb 
für  wahrscheinlich  erklären,  dass  mit  der  Zahl  von  4189 
Lehrlingen,  die  in  der  Erhebung  den  8458  Werkführern 
und  Gesellen  gegenübergestellt  werden,  kaum  ein  typisches 
Verhältniss  für  die  in  Deutschland  vorhandene  Verbreitung 
des  Lehrlingswesens  in  Bäckereien  und  Konditoreien  be- 
zeichnet wird.  Es  kommt  hinzu,  dass  wenn  unsere  An- 
nahme zutrifft,  so  wenig  wie  der  Umfang  auch  die  Inten- 
sität der  Ausbeutuno-  der  unglücklichen  Bäckerlehrlinge  in 
richtigem  Verhältniss  dargestellt  wird,  weil  dort,  wo  neben 
dem  Meister  blos  Lehrlinge  in  Verwendung  stehen,  die 
letzteren  in  vielen  Fällen  auch  die  schwere,  dem  jugend- 
lichen Körper  durchaus  unangemessene  Arbeit  der  Gesellen 
zu  leisten  haben  werden.  Der  erörterte  Fehler  und  manche 
andere  methodische  Missgriffe  in  Verbindung  mit  den 
Mängeln  der  Organisation  unserer  Arbeiterstatistik  haben 
es  wohl  vornehmlich  bewirkt,  dass  die  amtliche  Erhebung 
die  Lage  der  Bäckereiarbeiter  hinsichtlich  der  Arbeitszeit 
in  etwas  weniger  grellem  Licht  erscheinen  lässt  als  andere 
Untersuchungen.  Nach  den  Thatsachen  aber,  die  die  amt- 
liche Arbeiterstatistik  aufdeckt,  ist  es  desto  schwerer  ver- 
ständlich, warum  Organe  der  Regierung  es  für  nöthig 
finden,  einen  gewissen  Gegensatz  zwischen  der  verdienst- 
vollen Enquete  Bebels  und  den  amtlichen  Feststellungen 
über  die  Dauer  der  Arbeitszeit  in  den  Bäckereien  hervor- 
zuheben. 

Um  daraus  entspringenden  Missverständnissen  vorzu- 
beugen, wollen  wir  jenen  Unterschied  zu  erklären  ver- 
suchen. In  unserer  Erörterung  über  die  methodischen 
Mängel  der  amtlichen  Arbeiterstatistik  (vergl.  Sozialpoli- 
tisches Centralblatt,  Bd.  II.,  No.  16,  S.  185  fg.)  wiesen  wir 
darauf  hin,  von  welchem  Einfluss  es  für  die  wenig  selb- 


ständig denkenden,  in  ihrer  Energie  gelähmten  Arbeiter  in 
den  Bäckereien  sein  musste,  dass  sie  die  vom  Schutzmann 
in  die  Werkstatt  gebrachten,  dem  Meister  ohne  Zweifel  zur 
Kenntniss  gekommenen  Fragebogen  gewissermassen  unter 
seinen  Augen  zu  beantworten  hatten.  Das  modifizirte  notli- 
wendig  das  Ergebniss  der  amtlichen  Statistik.  Bei  der 
Bebehschen  Enquete  kam  ein  solches  Moment  nicht  ins 
Spiel,  vielmehr  ergiebt  sich  aus  den  Bedingungen,  unter 
denen  die  letztere  unternommen  wurde, , dass  Bebel  gerade 
an  die  energischsten  und  unerschrockensten  Elemente  der 
Bäckereiarbeiter  sich  wandte,  und  dass  diese  furchtlos  und 
ohne  Rückhalt  die  ganze  Wahrheit  aussprachen.  Viel- 
leicht noch  wichtiger  ist  aber  das  folgende  Moment, 
das  sich  aus  einer  Vergleichung  jener  privaten  und  der 
amtlichen  Erhebung  ergiebt.  Die  letztere  legte  ihren 
Schwerpunkt  auf  die  Kleinstädte  (5 — 20  000  Einwohner)  die 
Landstädte  (2 — 5000  Einwohner)  und  die  Orte  mit  weniger 
als  2000  Einwohnern.  Aus  einer  von  uns  angestellten  Be- 
rechnung ergiebt  sich  nun  folgendes.  Die  amtliche  Ar- 
beiterstatistik erstreckte  sich  auf  18  Grossstädte  (100  000  und 
mehr  Einwohner)  und  blos  55  Mittelstädte  (20 — 100  000  Ein- 
wohner), dagegen  auf  99  Klein-,  99  Landstädte  und  1 27  Orte 
mit  weniger  als  2000  Einwohnern.  Bebels  Enquete  da- 
gegen betraf  fast  ausschliesslich  Grossstädte  und  Mittel- 
städte und  nur  ausnahmsweise  kleinere  Orte.  Nun  kon- 
statirt  die  amtliche  Erhebung  selbst:  „innerhalb  der  Orts- 
klassen steigt  der  Prozentsatz  der  Betriebe  von  längerer 
Arbeitszeit  (mehr  als  12  Stunden)  mit  der  Grösse  der  Orte. 
Von  den  grossstädtischen  Betrieben  haben  nur  32  pCt.  eine 
die  Dauer  von  12  Stunden  nicht  übersteigende  Arbeitszeit, 
25,9  pCt.  eine  solche  von  mehr  als  14,  5,6  pCt.  eine  solche 
von  mehr  als  16  Stunden.“  (A.  a.  O.  S.  65). 

Darnach  bedarf  es  keiner  weiteren  Erklärung  dafür, 
dass  die  Bebel’sche  Enquete  die  sich  ganz  überwiegend 
mit  den  Verhältnissen  der  grossen  Städte  beschäftigt,  ge- 
rade wenn  sie  ein  zutreffendes  Bild  entwarf,  zu  dem  Er- 
gebniss höherer  Arbeitszeiten  gelangen  musste.  Diese 
Beglaubigung,  die  Bebels  Bäckerenquete  durch  die  amt- 
liche Erhebung  gefunden  hat,  besitzt  ein  ganz  besonderes 
Interesse.  Es  kann  sein,  dass  zu  dilatorischem  Verhalten 
geneigte  Elemente  in  den  Resultaten  der  amtlichen  Ar- 
beiterstatistik  immer  noch  nicht  einen  unausweichlichen 
Zwang  erblicken  werden,  gegen  die  Zustände  unter  denen 
die  erbarmenswerthen  Arbeiter  in  den  Bäckereien  leiden, 
resolut  einzuschreiten.  Vielleicht  dass  jene  Elemente  für 
ein  Vorgehen  des  Bundesraths  noch  weitere  Erhebungen 
über  die  in  der  amtlichen  Statistik  leider  unberücksichtigt 
gebliebenen  sanitären  Zustände,  die  Lohn-  und  Wohnungs- 
verhältnisse für  nöthig  erklären  werden.  Solchen  zum  Auf- 
schub auch  der  dringendsten  Massnahmen  Geneigten  kann 
man  jetzt  mit  noch  besserem  Fug  und  Recht  als  bisher 
antworten:  jeder  Aufschub  ist  unstatthaft,  denn  jene  amt- 
lich noch  nicht  beurkundeten  Verhältnisse  sind  durch  die 
von  der  offiziellen  Statistik  selbst  beglaubigte  Enquete 
Bebels  in  ihrem  unheilvollen  Charakter  längst  enthüllt  und 
machen  ein  unmittelbares  Einschreiten  des  Bundesraths  zu 
einer  rascheste  Erfüllung  heischenden  Verpflichtung.  Uns 
will  scheinen,  als  ob  der  Bundesrath  nun  auch  nicht  länger 
zögern  dürfte,  von  der  ihm  durch  § 120e  Abs.  3 der  Ge- 
werbeordnung zugestandenen  Berechtigung  Gebrauch  zu 
machen  und  im  Sinne  der  bescheidenen  Forderungen  der 
Bäckereiarbeiter  wenigstens  eine  Maximalarbeitszeit  von 
12  Stunden  inklusive  der  Pausen  und  das  Verbot  der  Nacht- 
arbeit für  Lehrlinge  zu  verordnen. 

Berlin.  Heinrich  Braun. 


212 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  18. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 


Deutsche  Auswanderung  im  Jahre  1892.  Die  überseeische 
Auswanderung  aus  dem  Deutschen  Reich  über  deutsche  Hafen, 
Antwerpen,  Rotterdam  und  Amsterdam  belief  sich  nach  den 
vorläufigen  Ermittelungen  des  kaiserlichen  Statistischen  Amts 
im  Jahre  1892  auf  112  208  Personen  1891  waren  1 15  392  Personen 
ausgewandert,  1890  91  925,  1889  90  259,  1888  98  515  und  1887  99  712. 
Die  Auswanderung  des  letzten  Jahres  blieb  also  um  3184  hinter 
der  des  Vorjahres  zurück,  meist  in  Folge  des  grossen  Ausfalls, 
den  die  Cholera  im  Herbst  bewirkt  hatte.  Von  den  Auswan- 
derern gingen  59  897  (1891  59  673)  über  Bremen,  28  072  (31  581) 
über  Hamburg,  2214  (1891)  über  andere  deutsche  Häfen,  17  554 
(19  0691  über  Antwerpen,  3553  2392)  über  Rotterdam  und  918  (786) 
über  Amsterdam. 

Progressive  Kommunalsteuern  in  Preussen.  Aus  Anlass 
eines  Spezialfalls  ist,  nach  dem  ,, Reichsanzeiger“ , von  dem 
Minister  des  Innern  und  dem  Finanzminister  folgende  Verfügung 
vom  28.  Oktober  1892,  betreffend  die  Frage  der  Zulässigkeit  pro- 
gressiver Kommunalsteuersysteme  für  Einkommen  über  900  M., 
an  einen  Oberpräsidenten  ergangen: 

„In  Erwiderung  auf  den  gefälligen  Bericht  vom  5.  August 
1892,  betreffend  die  Frage  der  Zulässigkeit  progressiver  Kommu- 
nalsteuersysteme für  Einkommen  über  900  M.  treten  wir  Euer 
Excellenz  ganz  ergebenst  . darin  bei,  dass  eine  Abstufung  der 
Zuschlagsprozente  zu  der  .Staatseinkommensteuer  nicht  deshalb 
als  gesetzlich  ausgeschlossen  zu  betrachten  ist,  weil  das  Ein- 
kommensteuergesetz vom  24.  Juni  1891  im  § 74  nur  hinsichtlich 
der  mit  Einkommen  bis  zu  900  M.  versehenen  Personen  die 
Heranziehung  mit  einem  geringeren  Prozentsätze  als  bei  höheren 
Einkommen  vorsieht.  Es  steht  vielmehr  an  sich  nichts  im  Wege, 
wo  besondere  Verhältnisse  dies  erfordern,  mit  Genehmigung  der 
zuständigen  Behörde  auch  bei  den  Einkommen  über  900  M.  eine 
Abstufung  der  kommunalen  Zuschlagsprozente  eintreten  zu 
lassen. 

Danach  ist  an  sich  gegen  die  Bestätigung  der  in  der 
Stadtgemeinde  N.  für  das  laufende  Rechnungsjahr  beschlossenen 
Abstufung  der  Zuschlagsprozente  zu  der  Staatseinkommensteuer 
nichts  zu  erinnern,  da  eine  massige  Abstufung  nach  unten  auch 
den  Intentionen  der  neuen  staatlichen  Steuergesetzgebung,  die 
Entlastung  der  unteren,  minder  einkommenskräftigen  Klassen 
durch  eine  stärkere  Heranziehung  der  besser  situirten  Steuer- 
zahler herbeizuführen,  entspricht.“ 

Hiernach  könnte  den  arbeiterfreundlichen  Elementen  in 
den  kommunalen  Vertretungskörpern  in  der  Zukunft  eine  recht 
wirkungsvolle  Thätigkeit  erwachsen.  Wenn  der  Gesetzentwurf, 
betreffend  Aenderung  des  Wahlverfahrens,  der  augenblicklich 
dem  Abgeordnetenhause  vorliegt,  Gesetz  wird  — dann  ist  frei- 
lich dafür  gesorgt,  dass  die  Progression  nur  massig  bleiben 
wird.  Nach  dem  genannten  Gesetzentwurf  sollen  ja  die  drei 
Wählerabtheilungen  nach  Massgabe  der  sämmtlichen  von  den 
Wählern  zu  entrichtenden  direkten  Staats-,  Gemeinde-,  Kreis- 
und  Provinzialsteuern  gebildet  werden.  Bei  progressiver  Ge- 
staltung der  Kommunalsteuern  verschiebt  sich  also  das  Wahl- 
recht zum  Abgeordnetenhaus  zu  Gunsten  der  Wohlhabenden. 
Dasselbe  gilt  für  das  Kommunalwahlrecht  in  den  Gemeinden, 
die  der  Städteordnung  vom  30.  Mai  1853  und  der  Landgemeinde- 
ordnung vom  3.  Juli  1891  unterstehen  Die  schärfere  Heran- 
ziehung der  wohlhabenden  Schichten  der  Bevölkerung  zur 
Kommunalsteuer  stärkt  also  deren  politische  Macht;  was  die 
grosse  Masse  auf  der  einen  Seite  gewinnt,  verliert  sie  auf  der 
andern.  Im  Ganzen  ist  also  von  der  progressiven  Kommunal- 
steuer nicht  viel  zu  hoffen  — es  sei  denn,  dass  sie  dazu  bei- 
tragen wird,  das  plutokratische  Dreiklassenwahlsystem  in  Staat 
und  Gemeinde  mehr  und  mehr  in  Misskredit  zu  bringen. 

Die  italienischen  Postsparkassen  erfreuen  sich  eines 
von  Jahr  zu  Jahr  wachsenden  Zuspruchs,  sodass  sie  heute 
schon  ein  wichtiges  Glied  in  der  Volkswirtschaft  Italiens 
bilden.  Die  neuesten  Angaben  über  ihre  Benutzung  ent- 
hält das  Annuario  Statistico  für  1892;  sie  reichen  leider  erst 
bis  zum  Jahre  1890;  somit  umfassen  sie  just  1 1/2  Dezennien, 
da  die  Postsparkassen  im  Jahre  1876  eingerichtet  worden 
sind.  Während  im  1.  Jahre  ihres  Bestehens  in  123  246  Malen 
erst  3 709  357  Lire  eingezahlt  wurden,  belief  sich  die  im 
Jahre  1890  eingezahlte  Summe  auf  mehr  als  das  50 fache, 
196  716  266  Lire.  Die  Zahl  der  offenen  Bücher  hat  sich  von 
61  350  im  Jahre  1876  auf  305  746  im  Jahre  1890  vermehrt.  Die 
Höhe  des  Guthabens  am  31.  Dezember  von  2 443  404  Lire 
(1876)  auf  310  483  635  Lire  (1890).  Die  Steigerung  der  Ein- 
lagen in  den  Postsparkassen  ist  zum  Theil  wohl  dem  eifrigen 
Entgegenkommen  der  Post  Verwaltung  zu  danken,  welche  die 
Zahl  der  autorisirten  Annahmestellen  Jahr  für  Jahr  ver- 
mehrt. Während  es  deren  1876  erst  1989  gab,  zählte  man 
ihrer  1890  bereits  4479.  Zum  Theil  hat  auch  die  Benutzung 
der  Postsparkassen  sich  auf  Kosten  der  übrigen  Spar- 


institute ausgedehnt,  bei  denen  namentlich  seit  Mitte  der 
1880er  Jahre  die  Einlagen  zurückgegangen  sind.  In  den 
Genossenschaftskreditinstituten,  den  Volksbanken  und  an- 
dern Kreditinstituten,  welche  die  Rolle  der  Sparkassen 
spielen,  betrugen  die  Einzahlungen  1886  noch  425  597  237 
Lire,  1889  das  letzte  Jahr  für  welches  die  Angaben  vorliegen, 
nur  mehr  365  849  852  Lire,  die  Guthaben  bezifferten  sich  am 
31.  Dezember  1886  auf  348  993  161  Lire  1889  auf  331  488  000. 


Arbeiterzustände. 


Durchsclmittslöhne  in  (len  Breslauer  Gewerben.  Um 

die  Feststellung  der  für  die  Invaliditäts-  und  Altersver- 
sicherung zu  entrichtenden  Beiträge  zu  erleichtern,  ver- 
öffentlicht der  Magistrat  Breslaus  die  Durchsclmittstage- 
löhne  der  Mitglieder  von  Orts-,  Betriebs-  (Fabriks-),  Bau- 
und  Innungskrankenkassen,  die  bekanntlich  auch  für  die 
Zutheilung  zu  einer  der  4 Lohnklassen  des  Invaliditäts- 
gesetzes massgebend  sein  sollen.  Aus  der  interessanten 
Uebersicht  ergeben  sich  auch  lohnstatistisch  verwerthbare 
Aufschlüsse,  z.  B.  über  die  Rangstufe  der  Gewerbe,  hin- 
sichtlich der  Lohnhöhe,  den  Spielraum  der  Höchst-  und 
Mindest-Durchschnittslöhne  (nach  Klassen)  in  den  ein- 
zelnen Gewerben,  den  allgemeinen  gewerblichen  Lohn- 
ständen  in  Breslau  u.  dergl.  Wenn  wir  die  mitgetheilten 
Lohnsätze  in  6 Klassen  gliedern:  Durchsclmittslöhne: 

a)  unter  1 M.,  b)  1—1,49  M.,  c)  1 ,50 — 1,99  M„  d)  2 2,49  M., 
e)  2,50—3  M.,  f)  über  3 M,  so  ergiebt  sich  folgende  Grup- 
pirung  der  einzelnen  Gewerbe. 

ln  der  1.  Lohnklasse  (unter  1 M.)  rangiren  vor- 
wiegend nur  Lehrlinge,  die  allerdings,  weil  versicherungs- 
pflichtig,  sämmtlich  über  16  Jahre  sind;  nämlich  die  Lehr- 
linge der  Bierbrauer,  Barbiere,  Transportgewerbe,  Bürsten- 
macher, Böttcher,  Friseure,  Gelbgiesser,  Gürtler,  Gewerbe- 
gehilfen (weiblich),  Gerber,  Glacehandschuhfnacher, 
Kürschner,  Klempner,  Korbmacher,  Kretschmer,  Maler, 
Mechaniker,  Pfefferküchler,  Schornsteinfeger,  Sattler,  Stell- 
macher, Tapezierer,  Tischler,  Tuchmacher,  Uhrmacher,  Ver- 
golder. Ferner  aber  reichten  mit  ihren  niedrigst  gelohnten 
auch  erwachsenen  Arbeitern  folgende  Gewerbe  in  diese 
Klasse  mit  einem  Durchschnittstagelohn  von  weniger  als 
1 M.  (meist  80  Pf.)  hinab:  die  Buchdrucker  (mit  der  4.  der 
von  ihnen  selbst  gebildeten  Lohnklasse),  die  Fabrikarbeiter, 
die  Gewerbegehilfen  (5.  Klasse),  die  Schneider,  die  Seiler, 
die  Steindrucker,  die  Töpfer. 

In  der  2.  Lohnklasse  (1  1,49  M.  Durchschnittslohn) 

begegnen  wir  zunächst  den  Lehrlingen  besser  bezahlter 
Gewerbe,  nämlich  der  Bäcker,  Branntweinbrenner,  Schank- 
gewerbe, Glaser,  Hutmacher,  Kupferschmiede,  Müller, 
Schuhmacher,  Schmiede.  Sodann  gehören  die  Durch- 
schnittslöhne der  meisten  weiblichen  Arbeiter  dieser  Klasse 
an:  die  Arbeiterinnen  im  Transportgewerbe,  im  Bürsten- 
macher-, Fleischer-,  Klempner-,  Müllereigewerbe,  sowie  der 
weiblichen  Gewerbegehilfinnen  (ausser  Buchhalterinnen, 
Verkäuferinnen  etc.).  Endlich  finden  wir  auch  zwischen 
1 und  1,49  M.  eine  ganze  Reihe  von  Durchschnittslöhnen 
erwachsener  männlicher  Arbeiter:  der  Buchbinder  (4.  und 
5.  KL),  Buchdrucker  (3.  Kl.),  Dreschsler,  Fabrikarbeiter, 
Juweliere  (4.  Kl.),  Stuckateure,  Steinmetzen,  Zimmerer 
(3.  KL). 

Den  drei  Lohnklassen  zwischen  1,50 — 3 M.  gehört 
das  Gross  der  erwachsenen  männlichen  Arbeiter  an.  Eine 
ganze  Reihe  von  Gewerben  hat  Durchschnittslöhne  in  allen 
3 Lohnklassen,  schwankt  also  mit  den  Durchsclmitts- 
löhnen  erwachsener  männlicher  Arbeiter  zwischen  1,50  M. 
und  3 M.  Das  sind  folgende  Gewerbe:  Buchbinder,  Buch- 
drucker, Dachdecker,  Drechsler,  Fabrikarbeiter,  Gewerbe- 
gehilfen, Juweliere,  Pfefferküchler,  Stuckateure,  Stein- 
metzen, Tuchmacher,  Uhrmacher,  Zimmerer. 

Nur  in  der  3.  der  von  uns  gebildeten  Lohnklasse 
befinden  sich  zunächst  mit  ihren  Durchschnittslöhnen  2 aus- 
erkorene weibliche  Berufsarten:  der  Friseure  und  der 

Buchhalterinnen,  Verkäuferinnen,  Direktricen.  Ferner  ran- 
giren mit  ihren  erwachsenen  männlichen  Arbeitern  hier 
folgende  Gewerbe:  Bierbrauer- „Arbeiter“,  Barbiere,  Korb- 
macher, Maler  - „Arbeiter“,  Schornsteinfeger,  Schneider, 
Sattler  „minderjährige  Arbeiter“,  Tapezierer  dgl.,  Vergolder 
dgl.,  Schlosser- „Arbeiter“,  Tischler  dgl. 


No.  18. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


213 


In  der  4.  Klasse  (2 — 2,49  M.)  finden  wir:  Bäcker, 
Branntweinbrenner,  Bürstenmacher,  Böttcher,  Haushälter, 
Schänker  etc.,  1 'leischer,  Friseure,  Gelbgiesser,  Gürtler, 
Glaser,  Kupferschmiede- „Arbeiter“,  Kürschner,  Klempner, 
Maler- „Gesellen“,  Schuhmacher,  Sattler -„Gesellen“,  Stell- 
macher, Seiler,  Tapezierer,  Tischler-„GeselIen“. 

In  der  5.  Klasse  (2,50  — 3 M.)  begrüssen  wir:  die 
Bierbrauer- „Gesellen“,  das  Transportgewerbe,  Gerber  und 
deutsche  Handschuhmacher- „Gesellen“,  Hutmacher,  Glace- 
handschuhmacher, Kupferschmiede  - „Gesellen“,  Müller, 
Mechaniker,  Schlosser  - „Gesellen“,  Schmiede  - „Gesellen“, 
Vergolder;  auch  Kellner,  Köche,  Portiers  u.  dergl. 

Endlich  in  den  lichten  Höhen  der  obersten  (6.) 
Lohnklasse  mit  einem  Durchschnittsloh n von  mehr  als 
3 M.  sind  nur  noch  ganz  wenig  Auserwählte  versammelt. 
Es  ragen  hinein  mit  ihren  1.  Lohnstufen  die  Buchbinder, 
Fabrikarbeiter,  Juweliere  und  Steindrucker. 

Arbeitslosenstatistikeil.  Die  im  Sozialpolitischen  Central- 
blatt gemachten  Vorschläge,  die  Zahl  der  Arbeitslosen  in  diesem 
Winter  statistisch  festzustellen,  haben  zu  einer  langen  Reihe 
von  Versuchen  geführt.  Wir  fahren  heute  in  der  Registrirung 
der  unternommenen  Arbeitslosenstatistiken  fort: 

In  Kassel  wurde  vom  dortigen  Gewerkschaftskartell  die 
Zahl  der  Arbeitslosen  ermittelt. 

Wie  die  „Kreuzzeitung“  berichtet,  ist  die  Zahl  der  beschäf- 
tigungslosen Männer  mit  965  festgestellt,  wovon  543  verheirathet 
und  Ernährer  von  1393  Kindern  sind.  Die  Stadt  habe  ein  be- 
sonderes Biireau  errichtet,  woselbst  die  Arbeitslosen  sich  melden 
können,  um  Arbeit  zu  erhalten.  Der  Stadtrath  erkannte  den 
Nothstand  an  und  lässt  jetzt  an  verheirathete  Arbeitslose  Marken 
für  Kohlen  und  Brot  vertheilen.  Diese  Unterstützung  wird  nicht 
als  Armenunterstützung  betrachtet.  Betreffs  der  Unverheiratheten 
dagegen  meinte  der  Bürgermeister  zur  Arbeiterdeputation,  aut 
dem  Lande  gäbe  es  Arbeit  genug. 

In  Lüneburg  ist  seitens  der  Arbeiter  gleichfalls  eine 
Arbeitslosenstatistik  aufgenommen  worden.  Dadurch  wurden 
302  Arbeitslose  ermittelt,  wovon  204  Verheirathete  mit  insgesammt 
563 Kindern.  Diese  302Personen  waren  zusammen  1606  Wochen 
beschäftigungslos.  Die  wirkliche  Zahl  der  Arbeitslosen  wird 
jedoch  auf  4—500  Mann  geschätzt.  Die  Noth  unter  ihnen,  so 
wird  uns  von  dort  berichtet,  spottet  jeder  Beschreibung 

In  Dortmund  und  in  Leipzig  werden  demnächst  Er- 
hebungen über  die  Zahl  der  Arbeitslosen  stattfinden. 

Berliner  Arbeitslosenversammlungen.  ln  vielen  Orten 
wurden  seitens  der  sozialdemokratischen  Partei  oder  den  gewerk- 
schaftlichen Organisationen  Arbeitslosenversammlungen  ein- 
berufen und  zwar  ausnahmslos  auf  die  Vormittagsstunden  der 
Wochentage,  um  die  Anwesenheit  beschäftigter  Arbeiter  zu  ver- 
hindern und  den  Charakter  der  Versammlungen  als  Zusammen- 
künfte Arbeitsloser  zu  sichern.  In  Hamburg  fanden  gleichzeitig 
ein  Dutzend  stark  besuchter  Arbeitslosenversammlungen  statt, 
in  Berlin  4 und  zwar  in  den  grössten  Sälen  der  Stadt.  Die  Berliner 
Versammlungen  sind  weniger  dadurch  bemerkenswert!!,  dass  sie 
ausserordentlich  stark  besucht  waren  und  in  vollster  Ruhe  und 
Ordnung  verliefen,  denn  dies  gilt  auch  von  fast  allen  anderen  Ver- 
sammlungen dieser  Art,  sondern  durch  den  Umstand,  dass  per- 
sönliche Vorstellungen  beim  Oberbürgermeister  und  dem 
preussischen  Handelsminister  beschlossen  wurden.  Die  Deputa- 
tionen wurden  ausnahmslos  vom  Bürgermeister  und  zum  Theil 
vom  Handelsminister  empfangen. 

Zur  Empfangnahme  der  Antworten  wurden  neuerdings 
Arbeitslosenversammlungen  einberufen,  in  denen  die  Deputa- 
tionen Bericht  erstatteten.  Oberbürgermeister  Zelle  hat  ihnen, 
wir  folgen  im  weiteren  einem  Berichte  der  „Volks-Zeitung“, 
auseinandergesetzt,  dass  die  Stadt  bereits  nach  Möglichkeit  für 
die  Beschäftigung  der  Arbeitslosen  Sorge  getragen  habe  durch 
Vornahme  von  Erdarbeiten.  Eine  schärfere  Ausführung  von 
Bauarbeiten  sei  bei  dem  starken  Frost  unmöglich;  sobald  aber 
Thauwetter  eintrete,  würde  mit  der  Inangriffnahme  der  städti- 
schen Bauten,  insbesondere  der  Hafenarbeiten  am  Urban,  vor- 
gegangen  werden.  Die  Deputation  habe  noch  verschiedene 
Vorschläge  zur  Beschäftigung  der  Arbeitslosen  gemacht,  die 
aber  von  dem  Oberbürgermeister  als  unthunlich  erachtet  wären. 
Derselbe  habe  aber  versprochen,  sein  Möglichstes  zur  Linderung 
des  Nothstandes  zu  thun.  Im  Vergleich  zu  dem  Empfang  bei 
dem  Oberbürgermeister  Zelle  sei  der  Empfang  bei  dem  Handels- 
minister weniger  freundlich  gewesen.  Derselbe  habe  in  militäri- 
schem Tone  nach  ihrem  Beruf  gefragt  und  auf  die  Antwort, 
dass  sie  Bauarbeiter  seien,  ihnen  bedeutet,  dass  ihnen  die 
Arbeitslosigkeit  im  Winter  doch  nichts  Neues  sein  könne.  Zwei 
Deputationen  sind  überhaupt  nicht  vom  Handelsminister  em- 
pfangen worden,  sondern  haben  den  schriftlichen  Bescheid  er- 
halten, dass  bereits  das  Erforderliche  gethan  sei,  um  dauernd 
über  die  Lage  des  Arbeitsmarkts  in  Kenntniss  zu  bleiben.  Nach 
Erstattung  der  Berichte  nahmen  die  Versammlungen  eine  gleich- 
lautende Resolution  an,  welche  gegen  das  Verhalten  des  Han- 
delsministers protestirt  und  an  die  Reichs-,  Staats-  und  Ge- 
meindebehörden die  Forderung  richtet,  die  Arbeitszeit  der  von 
ihnen  beschäftigten  Personen  auf  eine  Zeit  zu  beschränken,  die 


| eine  möglichst  grosse  Zahl  Beschäftigungsloser  in  Arbeit  zu 
stellen  erlaubt  und  thunlichst  Artikel  auf  Vorrath  in  Arbeit  zu 
, geben,  sowie  bei  Vergebung  von  Arbeiten  im  öffentlichen  In- 
teresse dieselben  in  erster  Linie  den  Arbeitergenossenschaften 
| zu  übertragen. 

Zur  Lage  der  Drechsler  in  Dresden.  Nach  einer  von 
dem  Drechsler  Lösch  bearbeiteten  Statistik  ergeben  sich  folgende 
Daten  für  Beurtheilung  der  Lage  der  Drechsler  in  Dresden. 
Von  160  Fragebogen  kamen  nur  95  zurück,  von  diesen  waren  ver- 
j schiedene  sehr  mangelhaft  beantwortet.  Das  Alter  schwankt 
j zwischen  18  und  46  Jahren.  Es  beträgt  im  Durchschnitt  2374 
! Jahre.  Ledig  waren  63,  verheirathet  31,  Wittwer  I der  Befragten. 

: Von  ihrem  Verdienst  haben  zu  ernähren:  60  je  1 Person,  7 je  2 Per- 
sonen, 13  je  3 Personen,  5,  je  4 Personen,  5 je  5 Personen,  4 je  6 Per- 
sonen, eine  7 Personen.  Um  den  Unterhalt  bestreiten  können,  ar- 
beiten in  12  Fällen  die  Frauen,  in  12  Fällen  die  Kinder  mit! 
Soldaten  waren  12  Befragte,  3 auch  bald  wieder  entlassen,  80 
waren  gar  nicht  im  Militärdienste.  Organisirt  waren  53,  nicht 
organisirt  42  der  Befragten.  Kost  und  Logis  wurde  in  1 Falle, 
j Logis  allein  auch  in  1 Falle  gewährt.  Aut  Stück  arbeiteten  60, 

J auf  Lohn  30,  getheilt  5 Kollegen  Die  tägliche  Arbeitszeit 
schwankte  zwischen  8 bis  12  Stunden  und  betrug  im  Durch- 
schnitte 9,52  Stunden.  Der  Verdienst  schwankte  zwischen  8 M. 

| 50  Pf.  und  28  M.  88  Pf.  und  betrug  im  Durchschnitt  in  der 
! Möbelbranche  17  M.  62  Pf,  in  der  Stockbranche  15  M.  15  Pf.,  bei 
verschiedenen  Arbeiten  19  M.  31  Pf.,  für  Schnitzer  22  M.  20  Pf. 
Ueberstunden  wurden  von  21  Befragten  gemacht,  und  nur  in 
I 2 Fällen  um  ein  Geringes  besser  bezahlt.  Der  Zahltag  ist  in 
33  Werkstätten  der  Sonnabend,  in  1 Werkstatt  ist  Abschlagzahlung 
mit  4 wöchentlicher,  in  2 Werkstätten  mit  14  tägiger,  in  3 Werk- 
stätten mit  ganz  unbestimmter,  oft  erst  nach  5 bis  6 Wochen 
stattfindenden  Abrechnung.  Von  41  Werkstätten  haben  Dampf- 
kralt  3 , Gasmotoren  7.  Schutzvorrichtungen  finden  sich  in 
14  Werkstätten,  dagegen  fehlen  sie  in  5.  ln  4 Werkstätten  ist 
das  Werkzeug  ungenügend  In  43  Arbeitsräumen  sind  292  Per- 
sonen (Berufsgenossen)  beschäftigt,  die  Räume  sind  in  6 Fällen 
als  ungesund, ""dunkel,  eng  etc.  bezeichnet.  Die  Ausbildung  der 
Lehrlinge  ist  19  Mal  als  gut,  1 Mal  als  mittel,  II  Mal  als  un- 
genügend bezeichnet,  in  4 Werkstätten  werden  dieselben  zur 
Konkurrenz  gegen  die  Gehilfen  benutzt.  Ueberstunden  der 
Lehrlinge  wurden  in  6 Fällen,  davon  5 in  der  Möbelbranche 
konstatirt.  Die  Fortbildungsschule  wird  2—8  Stunden  pro  Woche 
besucht.  Von  38  Arbeitgebern  sind  14  organisirt.  Als  beson- 
derer Fall  von  Schlauheit  ist  erwähnt,  dass  ein  Arbeitgeber  einen 
4.  Lehrling,  den  er  selbst  nicht' halten  durfte,  auf  den  Namen 
eines  anderen  Meisters  schreiben  liess! 

Arbeitslöhne  in  Oesterreich.  Die  neue  Forst-  und  Jagd- 
statistik des  österreichischen  Ackerbauministeriums  bestätigt, 
dass  die  Arbeitslöhne,  namentlich  im  nördlichen  Oesterreich, 
durchweg  erheblich  niedriger  sind,  als  in  Deutschland.  So 
sinken  die  Tagelöhne  der  Waldarbeiter  für  Männer  in  Böhmen 
auf  50,  in  Mähren  auf  70,  in  Galizien  auf  40,  für  Frauen  in 
Böhmen  auf  40,  in  Mähren  auf  50,  in  Galizien  auf  33  kr.,  für 
Kinder  in  Böhmen  auf  27,  in  Mähren  auf  40,  in  Galizien  gar  auf 
18  kr.!  In  Galizien  erhalten  nicht  selten  für  eine  achtstündige 
Tagesarbeit  Männer  33,  Frauen  25  und  Kinder  16  kr.!  Selbst 
für  die  schwere  Arbeit  des  Holzschlagens  werden  in  Galizien 
ausserordentlich  niedrige  Tagelöhne  ausgewiesen,  bis  zu  38  kr. 
für  Männer  bei  achtstündiger  Arbeitszeit.  Allerdings  ist  auch 
die  Leistungsfähigkeit  des  galizischen  Arbeiters  eine  geringere. 
Immerhin  arbeiten  Landwirtschaft  und  Industrie  in  Oesterreich 
mit  erheblich  niedrigeren  Löhnen  als  in  Deutschland. 

Arbeitslöhne  uncl  Lebensmittelpreise  in  Italien.  Der 

soeben  im  Auszüge  erschienene  Jahrgang  1892  des  Annuario 
Statistico  italiano  enthält  wiederum  interessante  Angaben 
über  die  Bewegung  der  Arbeitslöhne  und  Lebensmittel- 
preise bis  zum  Jahre  1891.  Mitgetheilt  sind  die  Arbeits- 
löhne aus  7 grossen  Etablissements  der  Textilbranche,  aus 

1 Papierfabrik,  I Lichtefabrik,  ferner  aus  sämmtlichen  Berg- 
werken Sardiniens,  den  Schwefelgruben  Siziliens  und  der 
Romagna.  Eine  Lohnsteigerung  hat  nur  in  einzelnen 
Arbeitskatogorien  einer  Baumwollspinnerei  und  Weberei 
sowie  in  den  sizilischen  Schwefelgruben  stattgefunden;  in 

2 Wollmanufakturen,  1 Seidenspinnerei,  in  der  Papier-  und 

Lichtefabrik,  sowie  in  den  Bergwerken  Sardiniens  sind  die 
Löhne  1891  gegenüber  dem  Vorjahre  unverändert  geblieben; 
in  den  übrigen  Etablissements  sind  die  Löhne  im  letzten 
Jahre  (1891)  gesunken.  Die  Lohnbewegung  des  Jahres  1891 
gewinnt  jedoch  erst  die  rechte  Bedeutung,  wenn  wir  mit 
der  1891  erreichten  Lohnhöhe  die  Lohnsätze  einer  längeren 
Reihe  von  Vorjahren  vergleichen  und  feststellen:  oE  die 
Stabilität  Festhalten  eines  Maximalsatzes  oder  Erhaltung 
eines  vorher  gesenkten  Niveaus,  ob  die  Lohnsteigerung  die 
Erreichung  des  bisherigen  Höchstbetrages  oder  die  Wieder- 
gewinnung eines  bereits  erreichten  Standes  und  so  wTeiter. 
Gestiegen  sind  folgende  Lohnsätze:  Der  Spinner  und 

Spinnerinnen  sowie  der  Weberinnen  in  einer  Baumwoll- 


214 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


Xo.  18. 


fabrik  in  Castellanza  (Provinz  Mailand)  von  bezw.  1,99, 
1,20,  1,19  auf  2,10,  1,26,  1,26  Lire,  womit  sie  ihren  bisher 
höchsten  Stand  erreicht  haben.  Gestiegen  sind  ferner  die 
Löhne  der  Arbeiter  in  den  Schwefelgruben  Siziliens,  für 
die  Häuer  im  Tagelohn  von  2,30  auf  2,70  Lire,  im  Akkord- 
lohn von  2,85  auf  3,25  Lire,  für  die  Maurer  von  2,75  auf 

3.00  Lire.  Gleichwohl  erreichen  die  Lohnsätze  des  Jahres 

1891  noch  nicht  das  Niveau  wieder,  auf  dem  sie  bereits 
1871  standen.  Damals  betrugen  sie  bezw.  2,78,  3,50,  3,51 
Lire.  Es  lässt  sich  also  angesichts  der  letztjährigen  Lohn- 
steigerung nur  soviel  sagen,  dass  die  Löhne  in  den  sizili- 
schen  Schwefelgruben  anfangen,  sich  von  ihrem  furcht- 
baren Tiefstände,  den  sie  Mitte  der  1880er  Jahre  erreicht 
hatten,  langsam  zu  erheben.  Stabil  auf  dem  bisher 
höchsten  Stande  sind  geblieben  folgende  Lohnsätze  (denen 
in  Klammer  das  Jahr  beigefügt  ist,  in  welchem  sie  den 
jetzigen  Lohnstand  erreicht  haben,  seit  dem  sie  also  un- 
verändert sind):  Baumwollspinner  in  der  Provinz  Genua: 

Maximum  3,50  Lire  (1874),  Minimum  2,00  Lire  (1871);  Baum- 
wollspinnerinnen, ebenda:  Maximum  1,40  (1888),  Minimum 

1.00  (1888);  Baumwollweber,  ebenda:  Maximum  3,50  (1885), 
Minimum  2,00  (1871);  Weiber:  Maximum  1,20(1871),  Minimum 

1.00  (1888).  Wollmanufaktur  in  der  Provinz  Arezzo:  Männer: 
Akkord  3,50  (1888),  Tagelohn  1,40  (1882);  Weiber:  Akkord 

2.00  (1888),  Tagelohn  0,60  (1881).  YVollmanufactur  in  Biella 
(Provinz  Novara):  Männer  bei  der  Wollwäsche  3,50  (1888), 
in  der  Färberei  2,25  (1889),  im  Kardierraum  2,75  (1891), 
Spinner  4,35  (1889);  Weiber:  in  der  Zwirnerei  1,50  (1887), 
Andreherinnen  2,00  (1889),  Weberinnen  2,25  (1887),  Sticke- 
rinnen 2,15  (1885).  Seidenspinnerei  in  Villanovetta  (Provinz 
Cuneo):  Spinnerinnen,  geübte,  1,20  (1887),  Spinnerinnen 
2.  Klasse  1,10  (1887),  Zwirnerinnen  1,30  (1888).  Papier- 
manufaktur in  Serrevalle  Sesia  (Provinz  Novara):  Männer 
Lumpenbearbeitung  2,28  (1888),  Vorbereitung  der  Pasta 
2,27  (1888),  Papierbereitung  2,56  (1888),  Appretur  2,28  ( 1888), 
Reparaturwerkstätten  4,12  (1888);  Weiber:  Appretur  1,85 
(1888),  Enveloppefabrikation  1,52  (1888).  Kerzenfabrik  in 
Turin:  Männer,  Vorarbeiter  5,00  (1889),  geübtere  Arbeiter 
3,25  (1889);  Weiber  1,00  (1874).  In  den  übrigen  Branchen, 
in  denen  1891  die  Lohnsätze  stabil  geblieben  sind,  haben 
sie  sich  nur  auf  einem  in  früheren  Jahren  bereits  gesenkten 
Niveau  erhalten,  haben  sie  also  das  ehemalige  Maximum 
noch  nicht  wieder  erreicht.  Das  gilt  z.  B.  für  eine  Hanf- 
spinnerei in  der  Provinz  Bologna,  wo  die  Kardierer  seit 
1888  2,47  Lire,  gegen  3,24  1881—86,  die  Spinner  2,11  (seit 
1888)  gegen  2,28  (1878 — 86),  die  Spinnerinnen  0,80  (seit  1887) 
gegen  0,96  (1878-  86)  u.  s.  f.  (Dasselbe  gilt  für  die  Löhne 
der  Bergleute  in  Sardinien  1891.)  Endlich  gesunken  sind 
die  Löhne  der  Baumwollweber  in  der  Provinz  Mailand  auf 
1,64  Lire  — niedrigster  Stand  seit  1871  und  die  Löhne 
sämmtlicher  Arbeiterkategorien  einer  Manufaktur  der  Pro- 
vinz Vicenza.  Hier  schwanken  1891  die  Löhne  für  männ- 
liche Arbeiter  zwischen  2,10  und  4,25  Lire  und  sind  damit 
auf  das  Niveau  der  Löhne  in  den  Jahren  1874—1884  herab- 
gedrückt; die  Weiberlöhne  variiren  zwischen  1,30  und  1,50 
Lire,  gleich  dem  Lohnstande  der  Jahre  1877 — 1883.  Wenn  wir 
von  den  unwesentlichen  Lohnerhöhungen  absehen,  die  uns 
unsere  Statistik  nachweist,  so  lässt  sich  im  Allgemeinen 
sagen,  dass  die  Arbeitslöhne  in  den  befragten  Branchen 
sich  auf  dem  Niveau  gehalten  oder  auf  und  unter  das 
Niveau  zurückgeworfen  sind,  das  sie  ungefähr  Mitte  der 
1880er  Jahre  bis  ca.  1888  erreicht  hatten.  Gerade  aber  seit- 
dem sind  — wesentlich  wohl  dank  der  Agrarschutzpolitik  — 
die  Preise  der  wichtigsten  Lebensmittel  nicht  unbe- 
trächtlich gestiegen,  worüber  uns  ebenfalls  das  neue 
Annuario  unterrichtet.  Ein  Kilogramm  Weizenbrot 
kostete  Centesimi  (100=  I Lire  = 80  Pf.) 


1 

. Qualität 

2.  Qualität 

1885  . . . 

. ~37,9 

31,3 

1886  . . . 

. 38,4 

30,9 

1887  . . . 

38,8 

31,7 

1888  . . . 

. 39,3 

32,2 

1889  . . . 

. 40,6 

335 

1890  . . . 

. 40,7 

33,6 

1891  . . . 

. 42,9 

35,8 

Auch  die  Fleisch  preise  standen  auf  allen  Märkten 
Italiens  1891  höher  als  1885;  ebenso  die  Mais-  und  Reis- 
preise. Ein  Doppelcentner  Mais  1.  Qualität  kostete  1885 
<4,69  Lire,  1891  17,39;  2.  Qualität  1885  13,59  Lire,  1891 

16,09;  I Doppelcentner  Reis  1.  Oualität  in  Vercelli  1885 
28,23,  1891  36,87;  in  Mailand  1885  31,25,  1891  41,38  Lire. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Zur  Geschichte  der  letzten  deutschen  Bergarbeiter- 
ausstände. 

„Diese  Arbeiterschutzgesetzgebung  muss,  wenn  sie 
wirksam  sein  und  Früchte  tragen  soll,  begleitet  sein  von 
einer  scharfen  Repression  der  Sozialdemokratie“  — diese 
Worte,  die  Freiherr  von  Stumm  in  der  Reichstags- 
sitzung vom  12.  Januar  d.  Js.  während  der  Debatte  über 
die  sozialdemokratische  Nothstandsinterpellation  äusserte, 
nachdem  sich  die  Diskussion  weit  mehr  den  Bergarbeiter- 
ausständen,  als  dem  allgemeinen  Nothstand  zugewendet 
hatte,  dürfen  mit  Fug  und  Recht  als  das  Leitmotiv  be- 
trachtet werden,  an  dessen  Hand  man  die  sozialpolitische 
Erklärung  der  neuesten,  unbesonnen  begonnenen  und  un- 
glücklich beendigten  Arbeiterbewegungen  in  den  west- 
deutschen Kohlenrevieren  findet.  In  Wahrheit  verfahren 
Behörden  und  Unternehmer  an  der  Saar  und  in  Rheinland- 
Westfalen  nach  jenem  Stnmm'schen  Rezept,  nur  noch  nicht 
mit  so  vollendeter  Meisterschaft  wie  sein  Urheber  und 
auch  nicht  immer  ganz  so  konsequent.  Es  ist  eine  Irre- 
führung der  öffentlichen  Meinung,  wenn  gegenwärtig  nur 
von  der  augenblicklichen  und  etwaigen  künftigen  Auf- 
hebung der  Koalitionsfreiheit  in  den  Bergrevieren  mit  einer 
gewissen  Besorgniss  gesprochen  wird;  die  Koalitionsfreiheit 
hat  für  die  Bergarbeiter  im  Saarrevier  und  in  Rheinland- 
Westfalen  auch  bisher  nur  auf  dem  Papier  gestanden,  und 
dieser  Umstand  ist  die  eigentliche  Ursache  der  neuesten, 
tief  bedauerlichen  Vorgänge  natürlich  nicht  der  Berg- 
arbeiterbewegung überhaupt,  wovon  heute  nicht  zu 
sprechen  ist.  In  zweiter  Linie  waren  die  neuesten  Berg- 
arbeiterausstände  eine  Frucht  der  sogenannten  preussischen 
Berggesetzreform  vom  vorigen  Jahre,  deren  die  Arbeiter 
verbitternde  Zweideutigkeit  hier  seiner  Zeit  zur  Genüge 
besprochen  wurde,  — auf  diesen  Punkt  wird  unten  noch 
kurz  einzugehen  sein. 

Die  Koalitionsfreiheit  hat  für  die  Bergarbeiter  im 
Saarrevier  und  in  Rheinland- Westfalen  auch  bisher  in  der 
Hauptsache  nur  auf  dem  Papier  gestanden  — das  lehren 
hundert  Thatsachen,  die  dem  aufmerksamen  Beobachter 
seit  Langem  bekannt  sind.  Die  Aeusserung  des  Freiherrn 
von  Stumm,  die  Bergbehörde  im  Saarrevier  habe  der  An- 
sicht gehuldigt,  „dass  der  Rechtschutzverein  (der  Berg- 
leute) auch  seine  guten  Eigenschaften  habe,  indem 
durch  seine  Publikationen  und  Agitationen  etwaige  Ver- 
stösse,  Unterschleife  und  dergleichen  der  Unterbeamten  zur 
Kenntniss  der  Direktion  gelangen  könnten“,1)  weist  ja  schon 
an  und  für  sich  auf  eine  höchst  subalterne  Auffassung  des 
kulturellen  Nutzens  der  Arbeiterorganisationen  durch  die 
Behörden  hin;  sie  ist  aber  ausserdem  die  Aeusserung  eines 
Unternehmerautokraten,  der  bereits  jede  Pause  in  der 
koalitionsfeindlichen  Thätigkeit  der  Behörden  als  einen  un- 
ermesslichen Schaden  an  der  Unternehmerautorität  ansieht. 
In  Wahrheit  sind  den  Organisationen  der  Bergarbeiter  im 
Saarrevier  und  in  Westfalen  von  Anfang  an  durch  Be- 
hörden und  Unternehmer  die  erdenklichsten  Schwierig- 
keiten gemacht  worden.  Diejenigen  Bergleute,  welche  in 
den  Fachvereinen  als  Einberufer  von  Versammlungen,  als 
Beamte  oder  auch  nur  als  einfache  Mitglieder  irgend  eine 
Rolle  spielten,  waren  stetig  der  Massregelung  durch  die 
Bergbehörden  und  Zechen  ausgesetzt.  Zuletzt  bestanden 
die  Vorstände  der  Verbände  in  beiden  Revieren  nur  noch 
aus  „abgelegten“,  d.  h.  entlassenen  Arbeitern;  ein  anderer 
konnte  den  Posten  gar  nicht  mehr  annehmen.  Natürlich 
war  es  unmöglich,  seitens  der  Unternehmer  die  äusserste 
Strenge  gegen  alle  Mitglieder  der  Verbände  walten  zu 
lassen.  Da  die  letzteren  immerhin  10  000 — 20  000  Mitglieder 
hatten,  so  wäre  die  schroffe  Massregelung  aller  Mitglieder 
mindestens  im  Saarrevier  gleichbedeutend  mit  dem  Verlust 
der  Hauptarbeitskräfte  gewesen.  Da  trat  dann  ergänzend 

!)  Stenographisches  Protokoll  der  Reichstagssitzung  vom 
12.  Januar  1892,  S.  442. 


No.  18. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


215 


die  Plackerei  der  organisirten  Leute  i m Betriebe  hinzu. 
Wer  z.  B.  das  Arbeiterorgan  der  Saarbrücker  Bergver- 
waltung, das  zuerst  als  Beilage  einer  anderen  Zeitung  er- 
schien und  das  seit  einiger  Zeit  aus  Staatsmitteln  selbst- 
ständig gemacht  ist,2)  von  1889  an  aufmerksam  verfolgt  hat, 
wie  der  Verfasser,  der  weisS,  dass  hier  die  Mitglieder  des 
Rechtsschutzvereins  der  Saarbergleute  beständig  als 
Menschen  geringeren  Grades  geradezu  der  Verachtung 
preisgegeben  wurden.  Das  musste  selbstverständlich  aut 
die  Unterbeamten  der  Bergwerksverwaltung  und  ihre  Praxis 
ein  wirken  Das  Organ  des  Rechtsschutzvereins  hatte  seit 
Beginn  mit  den  grössten  Schwierigkeiten  zu  kämpfen,  die 
ihm  geschäftlich  und  moralisch  gemacht  wurden;  sein 
jämmerliches  Aeussere  und  Innere  redet  noch  heute  Bände 
von  dem  Kampf,  den  es  tagtäglich  auszufechten  hat. 
Lokalitäten  zur  Abhaltung  von  Versammlungen  waren 
stets  sehr  schwer  zu  erhalten.  Dafür  wurde  dann  der 
Bau  eines  eigenen  Versammlungslokals  für  Bergleute  auf 
dem  Bildstock  bei  Saarbrücken  von  der  ganzen  amtlichen 
Presse  des  Bezirks  von  Anfang  bis  zu  Ende  mit  den  liebens- 
würdigsten Glossen  über  die  Geschäftsführung  u.  s.  w.  be- 
gleitet. Ein  Wunder  beinahe,  dass  das  Haus  seit  Kurzem 
vollendet  dasteht.  Das  traurige  Bild,  das  mutatis  mutandis 
aut  den  westfälischen  Bezirk  zutrifft,  soll  hier  nicht  weiter 
ausgemalt  werden.  Danach  sind  die  Worte  des  preussi- 
schen  Handelsministers  von  Berlepsch  zu  beurtheilen,  die 
er  in  der  schon  öfter  erwähnten  Reichstagssitzung  äusserte: 
„Die  preussische  Bergwerksverwaltung  steht  nicht  auf  dem 
Standpunkt  und  wird  nie  auf  dem  Standpunkt  stehen,  dass 
sie  die  Koalitionsfreiheit  der  Arbeiter  beschränken  will“ 
(a.  a.  O.  S.  450).  Zur  Entschuldig  jung  dieser  Aeusserung 
kann  man  nur  che  mangelhafte  Information  des  hohen  Be- 
amten annehmen,  die  ja  auch  in  anderer  Richtung  erwiesen 
und  erklärlich  ist.  Herr  von  Stumm  will  nun  in  kurzen 
Worten  noch,  dass  „den  sozialdemokratischen  Vereinen  und 
Presserzeugnissen  nicht  bloss  durch  die  Polizei,  sondern 
durch  Selbsthilfe  des  Arbeitgebers,  ob  Privat-  oder  Sta'ats- 
arbeitgebers,  zu  Leibe  gegangen  wird“.  Das  Zugeständ- 
niss,  welches  in  den  Worten  hegt:  „nicht  bloss  durch  die 
Polizei“,  ist  sehr  werthvoll;  diese  Macht  hat  also  auch  nach 
Herrn  von  Stumm  ihre  Schuldigkeit  im  Saarrevier  gethan. 
Es  fehlt  seiner  Ansicht  nach  die  Einwirkung  auf  das,  was 
der  Arbeiter  „nach  aussen  thut“  — die  Reglementirung  seiner 
ganzen  menschlichen  und  bürgerlichen  Existenz!  Herrn 
von  Stumm  als  grossen  Hüttenbesitzer  ist  dies  scheinbar  ge- 
lungen, der  noch  grösseren  Bergverwaltung  aber  nicht, 
obgleich  es  an  Bemühungen  hierzu  ihrerseits  wahrlich 
nicht  gefehlt  hat,  wie  oben  gezeigt  wurde.  Dieser  Gegen- 
satz zeigt  den  Weg  in  die  sozialpolitische  Sackgasse,  in 
welche  die  Argumente  der  Unternehmerdespotie  führen. 
So  grosse  Arbeitermassen,  wie  sie  die  Saargruben  be- 
schäftigen, lassen  sich  eben  bereits  nicht  mehr  in  ihrem 
ganzen  Dasein  auch  ausserhalb  der  Arbeit  knebeln.  Der 
grosse  Staatsbetrieb  äussert  hier  bereits  eine  Art  kollek- 
tivistischer Wirkung:  indem  er  Arbeitermassen  von  30  000 
Kopien  aut  verhältnissmässig  so  engem  Raume  mit  wesent- 
lich gleichen  Interessen  zusammenhäuft,  zieht  er,  ohne  es 
zu  wollen,  die  Anfänge  des  Klassenbewusstseins  gross.  Aus 
dieser  naturgemässen  Entwicklung  giebt  es  keinen  Ausweg 
mehr,  auch  nicht  mit  der  ausgedehntesten  Stumm’schen 
l nternehmerherrschaft  über  die  ganze  Existenz  des  Ar- 
beiters. Freiherr  von  Stumm  hat  dies  schliesslich 
selbst  zugegeben.  Er  hatte  verlangt,  dass  die  Berg  Ver- 
waltung sofort  zu  Beginn  des  Ausstandes  alle  Bergleute 
„definitiv  entlassen  sollen,  die  binnen  drei  Tagen  nicht  an- 
fuliren  — so  würde  die  ganze  Sache  im  Sande  verlaufen 
sein“.  Das  klang  ungeheuer  schneidig  und  stramm.  Als 
ihm  aber  vorgehalten  wurde,  was  denn  ein  Betrieb  an- 
tangen  solle,  der  25  000  strikende  Arbeiter  „definitiv  ent- 
lasse“, da  zog  sich  Herr  von  Stumm  hinter  eine  wunder- 


2)  Herr  von  Berlepsch  sagte  im  Reichstage:  „Das  Organ, 
welches  die  Bergwerksverwaltung  benutzt,  um  ihre  Kund- 
gebungen an  die  Bergleute  gelangen  zu  lassen.“  (A.  a.  O. 
S.  449.)  v 


same  Deutung  seines  „definitiven“  Entlassungsmodus  zu- 
rück: „definitiv  heisse  nicht  für  immer;  wer  defi  n itiv  ent- 
lassen ist,  kann  in  früherer  oder  späterer  Zeit 
doch  immer  wieder  angestellt  werden“  (a.  a.  O. 
S.  463).  Darin  liegt  das  Eingeständniss  der  unbesiegbaren 
Macht  der  Arbeiterorganisation  und  der  Arbeitermassen, 
die  man  wohl  in  ihrer  Entwicklung  zur  kulturellen  Macht 
aut  halten,  aber  „nicht  für  immer“  davon  abhalten  kann. 
Und  so  bestand  und  besteht  denn  auch  die  ganze  sozial- 
politische Weisheit  der  Behörden  und  Unternehmer  im 
„Aufhalten“,  in  der  zeitweisen  Störung  der  Organisation, 
und  diese  Störungen  allein  verursachen  die  trüben  Er- 
scheinungen, deren  Zeugen  wir  in  diesen  Tagen  wieder 
waren.  Der  Abgeordnete  Barth  hat  es  (a.  a.  O.  S 458) 
ganz  richtig  gesagt:  „Die  Arbeiter  sind  nicht  am  meisten 

zu  fürchten,  die  organisirt  sind;  im  Gegentheil,  die  nicht 
organisirten  Arbeiter  sind  zu  fürchten.  Die  organisirten 
Arbeiter  haben  Führer,  die  von  ihrer  Verantwortung  mehr 
oder  weniger  durchdrungen  sind;  diese  haben  etw'as  zu 
riskiren,  wenn  sie  einen  schlechten  Rath  geben,  und  diese 
haben  auch  zu  gewärtigen,  dass  in  dem  Augenblick,  wo 
der  von  ihnen  vorgeschlagene  Strike  missglückt,  sie  um 
ihre  gesammte  Position  im  Kreise  ihrer  Genossen  gebracht 
sind.“  Diesen  Worten  hätte  nur  noch  die  praktische  Nutz- 
anwendung auf  die  Bewegung  in  den  beiden  Bergrevieren 
hinzugefügt*  werden  sollen.  Die  Massnahmen  der  Behörden 
und  Unternehmer  haben  fortgesetzt  bewirkt,  dass  die 
Organisation  der  Arbeiter  eine  halbe,  unfertige,  unreife 
blieb.  Sie  haben  durch  ihre  Massregeln  unfähige  und  un- 
besonnene Leute  zu  Märtyrern  und  Führern  gestempelt, 
die  in  einer  fertigen  und  reifen  Organisation  ein  Amt  keinen 
Tag  lang  bekleiden  würden.  Sie  haben  die  innere  Selbst- 
zucht der  Mitglieder  der  Organisationen  dadurch  verhindert, 
dass  sie  dieselben  fortwährend  nur  mit  der  Frage  be- 
schäftigten: darf  ich  überhaupt  Mitglied  sein  oder  nicht, 
und  wenn  ich  es  bleibe,  habe  ich  da  nicht  schon  Grosses 
geleistet?  Daher  das  ungestüme  Drängen  der  undiszipli- 
nirten,  halborganisirten  Massen  zum  unzeitigen  Strike,  da- 
her die  Widerstandslosigkeit  der  Führer,  die  doch  wussten, 
dass  gar  kein  Rückhalt  vorhanden  sei.  Halborganisation 
richtet  denselben  Schaden  an,  wie  Halbbildung.  Nicht  der 
Staatsbetrieb  und  die  Zechenbesitzer  sind  das  Opfer  des 
„Wahnsinns“  der  Arbeiter,  sondern  die  Arbeiter  sind  das 
Opfer  eines  — verfehlten  sozialpolitischen  Systems.  Der 
Vergleich  zwischen  dem  Verhalten  der  sozialdemokratischen 
Bergarbeiter  Sachsens  und  dem  der  westfälischen  und  Saar- 
bergleute, wie  ihn  der  Abgeordnete  Auer  im  Reichstag  zog, 
spricht  in  dieser  Beziehung  wirklich  Bände.  Hundert  weitere 
Belege  können  den  Uebersichten  über  den  thatsächlichen 
Gang-  der  Bewegung  entnommen  werden,  welche  das  Sozial- 
politische  Centralblatt  an  anderer  Stelle  seit  Beginn  der 
Ausstände  brachte. 

Welchen  Antheil  in  zweiter  Linie  die  verfehlte  Reform 
der  preussischen  Berggesetzgebung  an  den  bedauerlichen 
Vorgängen  in  den  westlichen  Bergrevieren  hat,  kann  eben- 
falls hier  nur  ganz  kurz  angedeutet  werden.  Leo  Verkauf 
hat  im  „Archiv  für  soziale  Gesetzgebung  und  Statistik“ 
(V.  Band,  4.  Heft)  S.  634  ff.  die  unheilvolle  Bedeutung 
dieser  Missreform,  die  der  künstlich  gezüchteten  Halb- 
organisation der  Bergleute  würdig  an  der  Seite  steht,  für 
die  Bergarbeiterbewegung  in  klarer  Voraussicht  treffend 
gezeichnet.  In  der  preussischen  Berggesetznovelle  „über- 
wiegt jener  Theil  von  Bestimmungen,  die  es  dem  Ermessen 
des  Unternehmers  überlassen,  welchen  materiellen  Inhalt  er 
ihnen  zu  geben  für  nöthig  findet  ...  in  Wirklichkeit  treten 
die  Bestimmungen  zu  Gunsten  der  Unternehmer  stark  in 
den  Vordergrund.  Gegenüber  diesen  beiden  Gruppen 
sinken  die  Vorschriften  zum  Schutze  der  Arbeiter  . . . zur 
Bedeutungslosigkeit  herab  . . . Die  Erfahrungen  in  den 
Steinkohlenbezirken,  die  kaiserlichen  Erlasse,  die  Ent- 
sendung von  Bergbeamten  nach  England,  die  langwierigen 
Vorbereitungen  mussten  in  den  Kreisen  der  Bergleute  die 
Hoffnung  erwecken,  dass  ihren  Beschwerden  gesetzliche 
Abhilfe  gebracht  werden  würde.  Um  so  grösser  wird  die 
Enttäuschung  sein,  wenn  sie  das  Erhoffte  mit  dem  Erlangten 


216 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  18. 


vergleichen.“  So  schrieb  der  sachkundige  Kritiker  der 
preussischen  Berggesetz reform  lange  vor  Ausbruch  der 
neuesten  Ausstände,  und  wie  sehr  haben  ihm  die  That- 
sachen  Recht  gegeben!  Die  neue,  auf  Grund  der  Berg- 
gesetznovelle vom  1.  Januar  d.Jsi  ab  einzuführende  Arbeits- 
ordnung für  die  staatlichen  Saarkohlengruben  war  der 
Tropfen,  der  das  Gefäss  zum  Ueberlaufen  brachte,  war  der 
letzte  Anlass,  dass  man  Sturm  erntete,  nachdem  man  Wind 
gesäet  hatte.  Darüber  waren  sich  auch  alle  Redner  im 
Reichstag  einig.  Jene  Arbeitsordnung  wurde  nach  Mass- 
gabe  des  „Reformgesetzes“  ohne  die  Arbeiter  entworfen, 
sie  verewigte  alte  Missstände  und  brachte  erhebliche  Lohn- 
reduktionen für  einzelne  Arbeiterklassen,  und  sie  sollte 
unverändert  unter  dem  Schein  eingeführt  werden,  als 
hätten  die  Bergleute  in  dem  machtlosen  Grubenausschüssen 
einen  Einfluss  auf  ihre  Fassung  ausüben  können.  Das  war 
die  erste  praktische  Aeusserung  der  Berggesetzreform  im 
Saarrevier,  und  sie  verfehlte  ihre  Wirkung  nicht.  Uebrigens 
erhoben  die  Saarbergleute  rechtzeitig  ihren  Wider- 
spruch gegen  die  neuen  Bestimmungen.  Es  ist  das  Ver- 
dienst des  Abgeordneten  Auer,  dies  sachlich  in  der  Reichs- 
tagssitzung vom  13.  Januar  d.  Js.  nachgewiesen  zu  haben.1) 

Die  Stellung  der  Machthaber  zur  Koalitionsfreiheit 
und  zum  gesetzlichen  Schutz  der  Bergleute  hat  also  im 
Wesentlichen  die  sozialpolitischen  Zustände  gezeitigt,  vor 
denen  wir  jetzt  in  den  Bergrevieren  stehen.  Wer  es  nicht 
liebt,  sich  und  Anderen  angenehme  Täuschungen  zu  be- 
reiten, wird  auch  sagen  müssen,  dass  nicht  die  geringste 
Aussicht  auf  Aenderung  dieses  Systems  vorliegt.  Es  wird 
also  weiter  in  den  Richtungen  wirken,  die  oben  angedeutet 
wurden.  Damit  dürfte  in  sehr  bedauerlicher  aber  schwerlich 
zu  vermeidender  Konsequenz  die  Arbeiterbewegung  in  den 
deutschen  Kohlenrevieren  allmählich  bei  der  naturgemässen 
Ungeschliffenheit  einer  hart  arbeitenden  Bevölkerung 
Aeusserlichkeiten  annehmen,  die  den  Klassenkampf  in  un- 
säglicher Weise  verschärfen. 

Frankfurt  a.  Main.  Max  Quarck. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Das  neue  französische  Arbeiterschutzgesetz  und  sein 
Befolge.  Mit  dem  am  1.  Januar  in  Kraft  getretenen  Gesetze, 
betreffend  die  Arbeit  der  in  den  industriellen  Anlagen  be- 
schäftigten Kinder,  Mädchen  und  Frauen  sind  vielerorts 
theils  Strikes  ausgebrocken , theils  Arbeiterentlassungen 
vorgenommen  worden,  die  nun  die  Anhänger  der  Manchester- 
schule  für  ihre  Theorie  des  Gehenlassens  auszunützen 
suchen,  während  die  Vorkommnisse  nur  beweisen,  erstens 
wie  unvollkommen  das  neue  Gesetz  ist,  zweitens  welchen 
Widerwillen  und  welchen  Widerstand  selbst  der  geringste 
Schutz  der  Arbeitskraft,  und  sei  es  auch  der  weiblichen 
Arbeitskraft,  bei  gewissen  Unternehmern  hervorruft.  Sämmt- 
liche  Strikes  und  Arbeiterentlassungen  drehen  sich  um  den 
Art.  3 des  Gesetzes,  welcher  bestimmt,  dass  Kinder  unter 
sechzehn  Jahren  nicht  länger  als  zehn  Stunden  täglich 
beschäftigt  werden  dürfen,  jugendliche  Arbeiter  und 
Arbeiterinnen  nicht  länger  als  sechzig  Stunden  wöchent- 
lich, ohne  dass  der  Arbeitstag  mehr  als  elf  Stunden  be- 
trage, und  Mädchen  und  Frauen  über  achtzehn  Jahre  nicht 
länger  als  elf  Stunden  täglich.  Die  Arbeitsstunden  sind 
durch  eine  oder  mehrere  Ruhepausen  von  zusammen  min- 
destens einer  Stunde  zu  trennen.  Verschiedene  Unter- 
nehmer, die  vorzugsweise  weibliche  Arbeitskräfte  benützen, 
haben  nun  diejenigen  ihrer  Arbeiterinnen,  die  noch  nicht 
das  achtzehnte  Lebensjahr  erreicht  haben,  an  die  Luft  ge- 
setzt, um  sie  durch  ältere  zu  ersetzen,  die  zu  einer  effek- 
tiven Arbeitszeit  von  Sechsundsechzig  Stunden  wöchentlich, 
also  um  sechs  Stunden  länger  als  jene  angehalten  werden 
können.  Andere  Unternehmer  wieder  haben  mit  der  Ein- 
führung des  elfstiindigen  Arbeitstages  Lohnherabsetzungen 
vorgenommen,  die  um  so  tadelnswerther  sind,  als  nicht  nur 


die  bisherigen  Löhne  der  Arbeiterinnen  zumeist  derart  ge- 
staltet sind,  dass  überdies  noch  die  Armenunterstützung  in 
Anspruch  genommen  werden  muss,  sondern  die  Unter- 
nehmer während  der  Diskussion  des  Gesetzes  auch  ver- 
sicherten, dass  wenn  der  Arbeitstag  für  Frauen,  anstatt  auf 
zehn  Stunden,  wie  dies  die  Vorlage  beantragte,  blos  auf 
elf  Stunden  beschränkt  würde,  die  Löhne  der  Arbeiter  da- 
durch nicht  in  Mitleidenschaft  gezogen  würden,  was  aber 
unmöglich  wäre,  wenn  der  Arbeitstag  gleich  um  zwei 
Stunden  gekürzt  würde.  Dazu  kommt  noch,  dass  das 
Parlament,  in  Voraussetzung  eines  zehnstündigen  Ar- 
beitstages so  hohe  Zölle  namentlich  aut  Textilwaaren  etc. 
setzte,  zu  deren  Hervorbringung  ganz  besonders  weibliche 
Arbeitskräfte  in  Anspruch  genommen  werden.  Einzelne 
Unternehmer  wollen  wieder,  dass  wenn  die  Stunde  schlägt, 
welche  die  Arbeiter  zur  Arbeit  ruft,  dieselben  nicht  etwa 
erst  die  Fabrik  betreten,  sondern  bereits  an  der  Maschine 
stehen  und  dieselbe  erst  verlassen,  wenn  sie  zum  Stillstand 
gebracht  ist,  wodurch  die  Arbeiter  sowohl  bei  Beginn  und 
Beendigung  des  Arbeitstages  sowie  während  der  Ruhe- 
pausen jedesmal  um  mehrere  Minuten  und  somit  täglich  um 
mindestens  eine  Viertelstunde  geprellt  werden.  Andere 
Unternehmer  wieder  wollen  die  bisherigen  Ruhepausen 
theils  so  beschränken,  dass  es  den  Arbeitern  unmöglich  ist, 
ihr  Mittagsmahl  zu  Hause  einzunehmen  und  sie  dadurch 
zu  unnöthigen  Extraausgaben  gezwungen  sind,  theils  wieder 
so  ausdehnen,  dass  wenn  auch  nicht  die  effektive  Arbeits- 
zeit, so  doch  der  Arbeitstag  um  ein  Bedeutendes  verlängert 
würde.  Ist  es  unter  allen  diesen  LTmständen  zu  verwundern, 
wenn  seit  Inslebentreten  des  neuen  Schutzgesetzes  täglich 
neue  Strikes  zu  verzeichnen  sind?  Sie  der  Arbeiterschutz- 
gesetzgebung in  die  Schuhe  zu  schieben,  heisst  das  über 
alle  Massen  selbstsüchtige  Vorgehen  der  Unternehmer  ganz 
in  der  Ordnung  finden,  eine  noch  so  geringe  Beschränkung 
desselben  aber  als  etwas  ganz  Unrechtmässiges  erklären. 
Nein,  wenn  irgend  eine  Lehre  aus  all  diesen  »Strikes  und 
Arbeiterentlassungen  zu  ziehen  ist,  so  ist  es  die,  dass  die 
Gesetzgebung  Unrecht  hatte,  nicht  auf  dem  zehnstündigen 
Arbeitstag  zu  verharren,  weil  dadurch  eine  einheitliche 
Arbeitszeit  für  alle  Arbeiterkategorien  geschaffen  worden 
wäre,  was  nebenbei  bemerkt  auch  die  Fabrikinspektion  er- 
leichtert und  wirksamer  macht,  und  dass  es  gewissen 
Unternehmern  gegenüber  angebracht  ist,  ganz  genau  zu 
bestimmen,  wann  die  Arbeit  zu  beginnen  hat,  wann  sie  zu 
enden  ist,  wann  die  Ruhepausen  einzutreten  und  wie  lahge 
sie,  namentlich  die  Mittagspause,  zu  währen  haben.  »Sonst 
versagt  die  Arbeiterschutzgesetzgebung  gerade  Jenen  gegen- 
über, gegen  die  sie  in  erster  Linie  gerichtet  ist,  gegen  die, 
die  in  ihren  Arbeitern  nichts  als  ein  Ausbeutungsobjekt 
sehen. 


Nacht-  nnil  Sonntagsavbeit  in  dev  Schweiz.  Der  schweize- 
rische Bundesrath  gestattete  folgenden  Industrien  bedingungs- 
weise gewisse  Vorbereitungs-  und  Hilfsarbeiten  Nitchts  und 
Sonntags  vornehmen  zu  lassen:  Gerbereien,  Bäckereien,  Teig- 

waarenfabriken  , Milchindustrie , Spritfabriken  , Gasfabriken, 
Holzstoff-,  Cellulose-,  Papier-  und  Kartonfabriken,  Holzsägerelen, 
Elektrizitätswerken,  Salinen,  Cement-  und  Kalkfabriken,  Gips- 
fabriken, Ziegeleien,  Ofen-  und  Thonwaarenfabriken,  Mehl-  und 
Reismühlen,  Bierbrauereien. 

Indessen  dürfen  zur  Nacht-  und  Sonntagsarbeit  nur  männ- 
liche, über  18  Jahre  alte  Arbeiter,  und  nur  mit  ihrer  Zustimmung 
verwendet  werden.  Die  auf  den  einzelnen  Arbeiter  fallende 
Arbeitszeit  darf  II  Stunden  während  24  Stunden  nicht  über- 
schreiten. Am  Sonntag,  in  den  Fabriken  mit  Sonntagsarbeits- 
bewilligung  je  am  zweiten  Sonntag,  müssen  für  jeden  Arbeiter 
24  unmittelbar  aufeinander  folgende  Stunden  frei  bleiben.  Das- 
selbe gilt  für  die  gesetzlichen  Festtage.  Die  Bewilligungen 
nebst  deren  Bedingungen,  sowie  die  Arbeitseintheilung  (Stunden- 
plan)  sind  in  den  Arbeitslokalen  anzuschlagen. 


Gewerbeinspektion. 


Der  Fabrikinspektor  für  Rheinhessen  und  die  Arbeiter. 

Der  Fabrikinspektor  für  Rheinhessen,  Herr  Kraus  in  Darmstadt, 
hat  den  Arbeiterausschuss  des  Mainzer  Gewerbegerichts  nut- 
getheilt,  dass  er  gern  bereit  sei,  von  der  in  dieser  »Stadt  ge- 
bildeten Beschwerdekommission  der  Arbeiter  Mittheilungen  über 
geschäftliche  Llebelstände,  unter  denen  die  Arbeiter  leiden,  ent- 
gegenzunehmen. Bezüglich  der  Untersuchung  dieser  Beschwerden 


l)  Vgl.  Stenographische  Protokolle  S.  477. 


Xo.  18. 


SOZI  AI. POLITISCHES  CENTRALBLATT. 


217 


will  sich  Herr  Kraus  genau  an  den  § 139b  der  Gewerbeord- 
nung halten,  welcher  ihm  die  Grenzen  seiner  Thätigkeit  an- 
weise. Er  habe,  schreibt  er,  diese  Einschaltung  nicht  gemacht, 
um  die  Arbeiter  abzuhalten,  ihm  auch  andere  Wahrnehmungen 
über  die  Verhältnisse  der  Arbeiter  in  Mainz  mitzutheilen,  im 
Gegenthcil  sei  ihm  alles  darauf  bezügliche  von  hohem  Interesse. 
Mit  der  Verweisung  auf  § 139b  habe  er  nur  sagen  wollen,  dass 
ihm  öfter  mehr  und  grösserer  Einfluss  zugedacht  und  zu- 
geschrieben werde,  als  er  besitze,  während  doch  seine  wirklich 
gesetzlichen  Befugnisse  auf  bestimmte  Paragraphen  der  Gewerbe- 
ordnung beschränkt  seien, 


Arbeiterversicherung. 


Berliner  Schiedsgericht  für  die  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherung. Bei  dem  für  den  Stadtkreis  Berlin  errichteten 
Schiedsgericht  für  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  wurden 
im  vergangenen  Jahre  292  Berufungen  neu  anhängig;  hierzu  1 * 
kamen  '44  aus  dem  Vorjahre  übernommene,  sodass  im  ganzen 
336  Berufungen  schwebten(  worunter  9,  die  durch  Revisions- 
entscheidung des  Reichsversicherungsamtes  in  die  Berufungs- 
instanz zurückverwiesen  worden  waren.  261  Berufungen  waren 
von  den  Versicherten,  29  vom  Staatskommissar  und  2 von  beiden 
erhoben,  42  Berufungen  waren  gegen  die  Feststellung  einer 
Invalidenrente,  14  gegen  die  Feststellung  einer  Altersrente,  112 
gegen  die  Ablehnung  einer  Invalidenrente,  124  gegen  die  Ab- 
lehnung einer  Altersrente  gerichtet.  18  Berufungen  wurden 
durch  rechtskräftigen  Bescheid  des  Vorsitzenden,  17  durch 
Vergleiche  oder  Zurücknahme,  229  durch  Entscheidung  des 
Schiedsgerichts  erledigt. 

Leistlingen  einer  Zuschusskasse.  Die  Novelle  zum 
Krankenversicherungsgesetz  hat  zur  Folge  gehabt,  dass  eine 
Reihe  freier  Hilfskassen  sich  auflösten  und  dass  der  Uebertritt 
zu  den  Ortskassen  grosse  Dimensionen  annahm.  Ein  Theil  der 
Arbeiter,  die  früher  Hilfskassen  und  jetzt  Ortskassen  angehören, 
dürften  nicht  leicht  die  Differenz  der  Kassenleistungen  in 
Krankheitsfällen  entbehren.  Einen  Ausgleich  sollen  che  Zu- 
schusskassen herbeiführen.  Als  Beispiel  der  Leistungen  einer 
solchen  mögen  die  der  Allgemeinen  Deutschen  Zuschuss- 
Kranken-  und  Sterbekasse  in  Mainz  dienen.  Dieselbe  gewährt 
männlichen  Personen  bei  35  Pt.  Wochenbeitrag;  12  M.,  bei  25  Pf.: 

9 M.,  bei  20  Pf. ; 6 M.  Krankenunterstützung  pro  Woche.  Sterbe- 
geld (Beerdigungskosten)  in  der  I.  Klasse  60  M.,  2.  Klasse  50  M., 

3.  Klasse  40  M.  Das  Eintrittsgeld  beträgt  für  Leute  im  Alter 
von  15  — 45  Jahren  1 M.  30  Pf.,  vom  45. — 55.  Jahre  5 M.  30  Pf.; 
letztere  werden  jedoch  nur  innerhalb  eines  Monats,  nach  Grün- 
dung einer  Filiale,  aufgenommen,  später  nicht  mehr.  Es  besteht 
sodann  für  die  verheiratheten  Mitglieder  eine  Sterbekasse,  welche 
den  Zweck  hat,  den  Mitgliedern  beim  Tode  ihrer  Frauen  ent- 
sprechende Beihilfe  zu  den  Beerdigungskosten  zu  gewähren. 
An  Beiträgen  hierfür  werden  eintretenden  Falls  10  Pt.  pro  Mit- 
glied erhoben,  drei  solcher  Beiträge  werden  im  Voraus  erhoben 
und  an  der  Hauptkasse  deponirt,  so  dass  dem  betreffenden  Mit- 
gliede  sofortige  Beihilfe  gewährt  werden  kann.  Der  Gesammt- 
betrag  eines  einmaligen  Beitrages  wird  nach  Abzug  der  nur 
geringen  Verwaltungskosten  an  das  betreffende  Mitglied  aus- 
bezahlt. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung 

Die  neue  Baupolizeiordnung  für  die  Vororte  Berlins. 

Schon  seit  einer  Reihe  von  Jahren  hatte  die  Bebauung 
der  Umgebung  Berlins  einen  mehr  und  mehr  unleidlichen 
Charakter  angenommen.  Der  Grund  und  Boden  war  zum 
grossen  Theil  in  die  Hände  von  Spekulanten  übergegangen, 
die  nur  das  Interesse  hatten,  die  Grundstückspreise  weiter 
in  die  Höhe  zu  treiben.  Dies  gelang  ihnen  vollkommen. 
Die  Preise  des  Baugrundes  stiegen  ms  Unglaubliche;  die 
ursprünglichen  Grundbesitzer  sowie  einzelne  Bodenspeku- 
lanten zogen  ungeheure  Gewinne.  Alles  war  auf  das  Ent- 
stehen grosser  Miethshäuser  zugeschnitten.  Vier-  bis  fünf- 
geschossige sogenannte  Miethskasernen  — vielfach  mit 
Seiten-  und  Quergebäuden  — schossen  gleichsam  über 


Nacht  auf  Terrains  empor,  auf  denen  gestern  noch  Getreide 
und  Kartoffeln  gebaut  wurden.  Die  Bebauung  mit  Land- 
häusern trat  immer  mehr  zurück;  ja,  an  manchen  Orten 
(z.  B.  in  Friedenau)  wurden  Landhäuser,  die  erst  vor 
wenigen  Jahren  gebaut  waren,  bereits  wieder  niedergerissen, 
um  Miethskasernen  Platz  zu  machen  — zum  Bedauern 
Aller,  die  nicht  an  der  Bodenspekulation  interessirt  waren. 

So  wurde  denn  der  Ruf  nach  einer  anderweitigen 
Regelung  der  Bauordnungen  immer  lauter  und  fand  endlich 
Gehör  — wenn  auch  nicht  bei  den  Gemeindebehörden  der 
einzelnen  Ortschaften,  so  doch  bei  den  staatlichen  Ver- 
waltungsorganen. Der  Landrath  des  Kreises  Teltow  erwarb 
sich  vor  etwa  einem  Jahre  das  Verdienst,  die  Angelegenheit 
durch  den  Erlass  einer  Baupolizeiordnung  für  seinen  Kreis, 
die  den  gröbsten  Auswüchsen  auf  diesem  Gebiete  zu  Leibe 
ging,  in  Fluss  zu  bringen.  Freilich  fand  man,  dass  der 
Landrath  damit  seine  Machtbefugnisse  überschritten  hätte, 
und  die  Verordnung  wurde  wieder  aufgehoben;  aber  es 
war  doch  so  viel  erreicht,  dass  sich  nunmehr  die  höheren 
Behörden  angelegentlich  mit  der  Sache  beschäftigten.  Die 
Folge  war  der  Erlass  der  „Baupolizeiordnung  für  die  Vor- 
orte von  Berlin“  vom  5.  Dezember  1892  durch  den  Regie- 
rungspräsidenten von  Potsdam. 

Diese  neue  Bauordnung  ist  in  der  Hauptsache  sofort 
in  Kraft  getreten  und  findet  Anwendung  auf  die  Berlin 
umgebenden  Bezirke  der  Kreise  Teltow  und  Nieder-Barnim, 
soweit  sie  ausserhalb  der  Berliner  Ringbahn  liegen,  sowie 
auf  einen  Theil  der  Stadt  Charlottenburg.  Sie  trifft  in  der 
Hauptsache,  von  den  rein  technischen  Vorschriften  abge- 
sehen, wesentliche  Beschränkungen  der  baulichen  Aus- 
nutzung der  Grundstücke  und  zwar,  indem  sie  1 . die  Zahl 
der  Geschosse  und  die  Höhe  der  Gebäude  beschränkt, 
2.  die  zulässige  Bebauung  der  Grundflächen  bei  höheren 
Häusern  einschränkt,  bei  kleineren  ausdehnt,  3.  für  alle 
nicht  unmittelbar  aneinander  gebaute  Gebäude  sowie  Ge- 
bäudetheile  (Seitenflügel  etc.)  angemessene  Abstände  von 
einander  und  der  Grenze  des  Grundstücks  festsetzt  und 
4.  grössere  Flächen  der  landhausmässigen  Bebauung  ganz 
überlässt. 

Für  die  Bezirke,  die  nicht  der  Bebaung  mit  Land- 
häusern Vorbehalten  sind,  ist  die  Unterscheidung  zwischen 
regulirten  und  nicht  regulirten  Strassen  von  Bedeutung. 
Grundstücke,  die  an  regulirten  Strassen  belegen  und  mit 
geregelter  Wasserzuführung  sowie  geregelter  unterirdischer 
Ableitung  der  Abwässer  versehen  sind  — Grundstücke 
I.  Klasse  — dürfen  höchstens  bis  zu  "*/ , 0,  Eckgrundstücke 
bis  zu  6/10  der  Gesammtfläche  bebaut  werden;  die  Wohn- 
häuser dürfen  nicht  mehr  als  vier  bewohnbare  Geschosse 
übereinander  haben  und  höchstens  18  m hoch  sein.  Aut 
allen  übrigen  Grundstücken  — Klasse  II.  — dürfen  höchstens 
dreigeschossige  und  15  m hohe  Gebäude  errichtet  werden, 
die  nicht  mehr  als  V ui)  bei  Eckgrundstücken  fl/,o  der  Grund- 
fläche bedecken.  Der  Bauwich,  d.  h.  der  Abstand  der 
Häuser  von  der  Nachbargrenze,  falls  sie  nicht  unmittelbar 
bis  an  die  Grenze  herantreten , muss  bei  den  Grund- 
stücken I.  Klasse  mindestens  6 m,  bei  denen  II.  Klasse  min- 
destens 5 m betragen.  Man  sieht,  dass  die  Bestimmungen 
keineswegs  rigoros  sind,  dass  vielmehr  in  diesen  Bezirken, 
die  wohl  weitaus  den  grösseren  Theil  des  ganzen  fraglichen 
Terrains  umfassen,1)  der  Ausnutzung  des  Terrains  noch  ein 
weiter  Spielraum  gelassen  ist. 

Eine  bedeutend  stärkere  Bebauung  der  Grundfläche 
ist  bei  Kleinbauten  gestattet,  d.  h.  bei  Bauten,  die 
ausser  dem  Keller-  und  Dachgeschoss  nur  zwei  Ge- 
schosse enthalten  und  nicht  höher  als  9 m sind.  Hier 
dürfen  7/m>  bei  Eckgrundstücken  */,,  der  Fläche  be- 
baut werden  und  beträgt  der  Bauwich  nur  mindestens 
3 m.  Auf  diese  Weise  wird  also  der  Bau  solcher  kleiner 
Häuser  erleichtert.  Vielleicht  hätte  man  zweckmässig  hierin 
noch  weiter  gehen  können,  indem  man  die  zulässige  Be- 
bauung der  Grundfläche  und  den  Bauwich  direkt  von  der 


i)  Eine  Karte,  in  die  die  Landhausbezirke  eingetragen  sind, 

existirt  leider  noch  nicht. 


218 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  18. 


Höhe  der  Häuser  hätte  abhängen  lassen,  etwa  in  der  Weise, 
dass  man  bestimmt  hätte,  der  Bauwich  habe  mindestens  1/3 
der  Haushohe  zu  betragen  u.  s.  w.  Damit  wäre  dann  stets 
mit  dem  Bau  niedrigerer  Häuser  eine  grössere  Ausnutzung 
der  Grundstücke  verbunden  gewesen  und  umgekehrt.  Das 
Schablonenhafte,  das  den  jetzigen  Bestimmungen  in  dieser 
Beziehung  anhaftet,  wäre  dann  mehr  geschwunden. 

In  den  der  landhausmässigen  Bebauung  vorbehaltenen 
Bezirken  endlich,  die  in  der  Baupolizeiordnung  genau  um- 
grenzt sind,  dürfen  höchstens  3/, 0,  bei  Eckgrundstücken  4/10 
der  Grundstücke  bebaut,  nur  ein-  und  zweigeschossige 
Häuser  errichtet  und  nur  dann  zwei  Nachbarhäuser  un- 
mittelbar aneinandergebaut  werden,  wenn  die  Frontlänge 
zusammen  nicht  mehr  als  40  m beträgt.  Als  Bauwich  sind 
mindestens  4 m inne  zu  halten. 

Die  ästhetischen  und  sanitären  Vorzüge  der  neuen 
Ordnung  liegen  auf  der  Hand.  Der  Miethskaserne  in  ihrer 
hässlichsten  Gestalt,  wie  sie  namentlich  die  Aussenbezirke 
der  Stadt  Berlin  aufweisen,  ist  für  den  Geltungsbereich  der 
neuen  Bauordnung  der  Garaus  gemacht.  Sozialpolitisch 
wichtig  ist  ferner  vor  Allem,  dass  der  Bodenspekulation 
wenigstens  ein  kleiner  Riegel  vorgeschoben  ist.  Die  Ge- 
winne, die  die  Grundbesitzer  aus  dem  Wachsen  der  Bevöl- 
kerung ziehen,  sind  auf  ein  etwas  geringeres  Hass  zurück- 
geführt — zum  Wohle  der  Gesammtheit,  die  thatsächlich 
diese  Werthsteigerungen  schafft.  Dass  einige  Bodenspeku- 
lanten durch  die  neue  Ordnung  Verluste  erleiden,  kann  am 
allerwenigsten  gegen  die  Massregel  geltend  gemacht  wer- 
den. Sie  spekulirten  darauf,  dass  ihnen  Werthe  zufallen 
würden,  die  sich  als  Produkt  der  Entwickelung  Berlins  im 
Zusammenhänge  mit  der  bestehenden  gesammten  gesell- 
schaftlichen Ordnung  darstellen.  Die  Entwickelung,  die  von 
Niemandem  garantirt  war,  wird  nun  eine  andere,  als  sie  er- 
warteten; sie  haben  also  falsch  spekulirt  und  nun  die  Verluste 
ebenso  widerspruchslos  zu  tragen,  wie  sie  im  anderen  Falle 
die  Gewinne  eingeheimst  hätten.  Die  von  der  Gesannntbe- 
völkerung  hervorgebrachte  Werthsteigerung  des  Grund  und 
Bodens  ist  und  wäre  auch  ferner  der  Allgemeinheit  in  keiner 
Weise  zu  Gute  gekommen,  also  hat  die  Allgemeinheit  auch 
die  durch  die  neue  Ordnung  hier  und  da  bewirkte  Ent- 
werthung  des  Bodens  nicht  zu  tragen.  Die  schon  laut 
gewordene  Forderung  einer  Entschädigung  der  mit  Verlust 
bedrohten  Grundbesitzer  ist  somit  durchaus  unbegründet, 
ja  unlogisch,  ihr  kann  und  darf  grundsätzlich  nicht  nach- 
gegeben werden.  Trotzdem  muss  zugegeben  werden,  dass, 
wie  jede  neue  Ordnung,  so  auch  diese  in  der  Uebergangs- 
zeit  einige  Härten  mit  sich  bringen  wird,  die  vielleicht  den 
Einen  oder  den  Andern  unverschuldet  recht  schwer  treffen 
mögen.  Hier  kann  nur  eins  helfen:  dass  bei  der  Ausführung 
der  neuen  Vorschriften  nicht  zu  bureaukratisch  verfahren 
und  namentlich  in  der  ersten  Zeit  besonderen  Verhältnissen 
verständnissvoll  Rechnung  getragen  werde. 

Die  sozialpolitisch  wichtigste  Frage  ist  nun  die,  ob 
durch  die  neue  Bauordnung  auch  dem  Wohnungsbedürfniss 
der  Arbeiterbevölkerung  mehr  als  es  bisher  geschah,  Rech- 
nung getragen  wird.  Werden  nicht  vielleicht  in  den  nicht 
für  die  Landhausbebauung  vorbehaltenen  Bezirken  die 
Häuser  zwar  niedriger,  dafür  aber  die  Zimmer  um  so  kleiner, 
die  Wohnungen  um  so  enger  werden?  Werden  nicht  etwa 
die  hohen  Miethskasernen  einfach  durch  etwas  niedrigere 
langgestreckte  Miethskasernen  ersetzt  werden?  Wird  vor 
Allem  eine  Arbeiterfamilie  künftig  billiger  wohnen  können, 
als  bei  der  alten  Ordnung  möglich  gewesen  wäre?  Dies 
sind  augenblicklich  schwer  zu  beantwortende  Fragen.  Die 
Beantwortung  wird  wesentlich  davon  abhängen,  wie  sich 
die  Bodenpreise  in  dem  Gebiet  innerhalb  der  Ringbahn  und 
in  den  noch  unbebauten  Theilen  Berlins  zu  den  Boden- 
preisen in  dem  Gebiet,  das  der  neuen  Bauordnung  unter- 
steht, stellen  werden.  Die  Gefahr  liegt  jedenfalls  vor,  dass 
gerade  die  ärmere  Bevölkerung  nur  geringen  Gewinn  aus 
der  neuen  Ordnung  ziehen  wird  und  die  Früchte  haupt- 
sächlich den  Landhausbewohnern,  unter  denen  man  sich 
natürlich  nur  wirthschaftlich  besser  Situirte  vorzustellen 
hat,  in  den  Schooss  fallen  werden.  Rudolf  Eberstadt  hat 


sicherlich  Recht,  wenn  er  behauptet1),  dass  der  Wohnungs- 
noth  durch  blosse  Bauordnungen  überhaupt  nicht  abgeholfen 
werden  kann,  und  dass  vor  Allem  eine  grundsätzliche 
Aenderung  des  Bebauungsplans  noth wendig  ist.  Dieser 
sei  so  zu  gestalten,  dass  die  grossen  Baublocks  durch  kleine 
Zwischenstrassen  zerlegt  würden.  Auf  diese  Weise  würde 
die  Herstellung  vieler  kleiner  Wohnhäuser  in  den  schmalen 
Zwischenstrassen  erzwungen,  die  Möglichkeit  der  Aus- 
nutzung des  Terrains  durch  die  Aufführung  grosser  Hinter- 
häuser u.  s.  w.  würde  auf  hören,  die  Wohnungen  billiger 
und  gesünder  werden.  Das  Wohnen  übereinander  würde 
dem  Wohnen  nebeneinander  Platz  machen. 

Als  weiteres  Bedenken  kommt  noch  hinzu,  dass  die 
Rechtmässigkeit  der  Bauordnung  vielfach  bezweifelt  wird. 
In  wie  weit  diese  Zweifel  berechtigt  sind,  kann  hier  nicht 
untersucht  werden.  Jedenfalls  ist  es  nicht  ausgeschlossen, 
dass  die  Gerichte  den  Zweiflern  ganz  oder  zum  Theil  Recht 
geben  werden  und  dass  somit  die  Bauordnung  mindestens 
durchbrochen  wird. 

Da  liegt  denn  in  der  That  der  Gedanke  nahe,  ob  es 
nicht  am  Platze  wäre,  diese  gesannnte  Materie  zum  Gegen- 
stand der  gesetzlichen  Regelung  zu  machen.  Der  von 
Adickes  dem  preussisehen  Herrenhause  vorgelegte  Gesetz- 
entwurf, die  Erleichterung  der  Stadterweiterungen  betreffend, 
fasst  bereits  das  Problem  von  einer  andern  Seite  her  an 
und  würde  der  Regierung  ein  weiteres  Vorgehen  erleichtern. 
Allerdings  würde  die  Regierung  im  Abgeordnetenhause  wohl 
einen  schweren  Stand  haben;  dafür  hätte  sie  aber  die  grosse 
Masse  des  Volkes  auf  ihrer  Seite. 

Wie  die  Dinge  nun  auch  weiter  verlaufen  mögen  — 
die  Baupolizeiordnung  vom  5.  Dezember  1892  bildet  einen 
Wendepunkt  in  der  Entwickelung  der  Wohnungsfrage  in 
den  Städten  und  ihren  Urhebern  gebührt  Anerkennung 
und  Dank. 

Berlin-Friedenau.  E.  Laiwe. 


Regelung-  des  Schlafstellenwesens  in  Berlin.  Eine  neue 
Verordnung  über  das  Schlafstellenwesen  ist  durch  das  Polizei- 
präsidium ergangen.  Diese  Verordnung,  die  am  1.  April  d.  J.  in 
Kraft  treten  soll,  enthält  folgende  Bestimmungen:  Niemand  darf 
in  den  von  ihm  und  seinen  Familienangehörigen  benutzten 
Wohnräumen  anderen  gegen  Entgelt  Schlafstelle  gewähren, 
wenn  nicht  die  von  ihm  selbst,  seinen  Familienangehörigen  und 
den  Schlafleuten  zu  benutzenden  Schlafräumlichkeiten  folgenden 
Anforderungen  entsprechen:  a)  Jeder  Schlafraum  muss  für  die- 
jenigen Personen,  welche  derselbe  für  die  Schlafzeit  aufnehmen 
soll,  mindestens  je  drei  Quadratmeter  Bodenfläche  und  je  zehn 
Kubikmeter  Luftraum  auf  den  Kopf  enthalten.  Für  Kinder 
unter  sechs  Jahren  genügt  ein  Drittel,  für  Kinder  von  sechs  bis 
zu  vierzehn  Jahren  genügen  zwei  Drittel  jener  Masse,  b)  Kein 
Schlafraum  darf  mit  Abtritten  in  offener  Verbindung  stehen. 
Niemand  darf  ohne  besondere  Erlaubniss  der  Polizeibehörde 
Schlafleute  verschiedenen  Geschlechts  gleichzeitig  bei  sich  auf- 
nehmen oder  behalten,  ausser  wenn  sie  zu  einander  im  Ver- 
hältniss  von  Eheleuten,  von  Eltern  und  Kindern  oder  von  Ge- 
schwistern stehen.  Abgesehen  hiervon  dürfen  Schlafleute, 
soweit  nicht  das  Verhältniss  von  Eheleuten,  von  Eltern  und 
Kindern  oder  von  Geschwistern  vorliegt,  nur  in  solchen  Räumen 
zum  Schlafen  untergebracht  werden,  welche  nicht  zugleich  für 
Personen  des  anderen  Geschlechts  zum  Schlafen  dienen.  Für 
jeden  erwachsenen,  über  14  Jahre  alten  Schlafgast  und  für  je 
zwei  Kinder  muss  eine  besondere  Lagerstätte  bereit  sein.  Die- 
selbe muss  mindestens  aus  einem  Strohsacke,  einem  Strohkopf- 
kissen und  einer  wollenen  Decke  bestehen.  Wer  Schlafleute 
aufnimmt  ist  verpflichtet,  innerhalb  einer  Woche  nach  der  Auf- 
nahme des  ersten  Schlafgastes  auf  dem  Biireau  desjenigen 
Polizeireviers,  in  welchem  die  Wohnung  belegen  ist,  eine  schrift- 
liche wahrheitsgetreue  Anzeige  niederzulegen.  Die  Polizei- 
behörde ertheilt  hierauf  dem  Wohnungsinhaber  nach  Prüfung 
der  von  demselben  vorzuweisenden  Schlafräume  und  soweit  die 
Aufnahme  der  Schlafleute  nach  der  Polizeiverordnung  zulässig 
ist,  eine  Bescheinigung,  welche  in  der  Wohnung  aufzubewahren 
und  auf  polizeiliches  Erfordern  jedesmal  sofort  vorzuzeigen  ist. 
In  gleicher  Weise  muss  der  Wohnungsinhaber  die  Namen  seiner 
Familienangehörigen,  wie  auch  seiner  Schlafleute  auf  polizei- 
liches Erfordern  jederzeit  angeben.  Tritt  eine  Vermehrung  in 

b Preussische  Jahrbücher,  Novemberheft  1892  und  Januar- 
heft 1893. 


No.  18. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAIJiLATT. 


219 


dem  Familienstande  des  Wohnungsinhabers  oder  in  der  durch 
die  polizeiliche  Bescheinigung  für  zulässig  erklärten  Zahl  der 
Schlafleute  ein,  oder  werden  die  angezeigten  Schlaträume,  wenn 
auch  nur  theilweise  verringert,  so  ist  eine  neue  Anzeige  unter 
Beifügung  der  früheren  polizeilichen  Bescheinigung  erforderlich, 
auf  welche  ebenso,  wie  auf  das  weitere  Verfahren,  die  Bestim- 
mungen der  vorigen  beiden  Absätze  Anwendung  finden.  For- 
mulare für  die  Anzeige  werden  zum  Zwecke  der  sofortigen  Be- 
nutzung auf  den  Polizei-Revierbüreaus  unentgeltlich  verabfolgt 
Mit  Geldstrafe  bis  zu  dreissig  Mark  wird  bestraft,  wer  den  Be- 
stimmungen dieser  Polizeiverordnung  zuwiderhandelt  oder  den 
besonderen  polizeilichen  Anordnungen  oder  Aufforderungen 
Folge  zu  leisten  unterlässt.  Das  Polizeipräsidium  ist  befugt, 
Personen,  welche  in  den  letzten  fünf  Jahren  vor  Erlass  einer 
solchen  Verfügung  wegen  Verbrechens  oder  Vergehens  gegen 
die  Sittlichkeit  oder  wegen  Uebertretung  der  sittenpolizeilichen 
Vorschriften  bestraft  sind,  oder  welche  unter  Polizeiaufsicht 
stehen,  das  Halten  von  Schlafleuten  zu  untersagen. 

Wolmungsz  »Stände  in  Wien.  Der  kürzlich  erschienene  Be- 
richt des  Wiener  Stadtphysikats  für  die  Jahre  1887 — 1890  enthält 
auch  einige  kärgliche  Mittheilungen  über  sanitätswidrige  Woh- 
nungen im  Wiener  Gemeindegebiete. 

Es  wurden  in  den  Berichtsjahren  719  feuchte  Wohnungen 
eruirt  und  248  Fälle  von  Wohnungsüberfüllung  verhandelt. 
38  Souterainwohnungen  und  23  Dachbodenwohnungen  wurden 
beanstandet.  238  sonstige  sanitätswidrige,  licht-  und  luftarme 
Wohnungen  wurden  zur  Anzeige  gebracht. 

Wohnungen  neben  Geschäftslokalitäten  ohne  rückwärtigen 
Ausgang  wurden  99  angezeigt  und  Geschäftslokalitäten,  welche 
gleichzeitig  bewohnt  wurden,  94,  ferner  142  bewohnte  Gassen- 
läden  ohne  rückwärtigen  Ausgang. 

Sanitätswidrige  Schlafstellen  des  gewerblichen  Hilfs- 
ersonals  wurden  513  eruirt;  die  grösste  Zahl  derselben,  wurde 
ei  Schumachern  und  Gastwirthen  vorgefunden  und  zwar:  bei 
ersteren  85  und  bei  den  letzterwähnten  179. 

In  den  einzelnen  Berichtsjahren  wurden  seitens  der  Sani- 
tätsaufseher 17  958,  13  013,  11  337  und  17  01 1 Revisionen  ausgeführt. 
Die  Anzeigen  bezogen  sich  auf  Vorgefundene  sanitätswidrige 
Zustände  in  Höfen,  Kellern,  auf  Dachböden,  Strassen,  Plätzen, 
Baugründen  u.  s.  w.,  ferner  auf  Hausbrunnen,  Stallungen,  Senk- 
und  Düngergruben,  Aborte  und  Kanäle. 

Der  Bericht  giebt  sodann  die  Zahl  der  bewohnten  Häuser, 
Wohnparteien  und  Bewohner  nach  der  Volkszählung  vom  lahre 
1890  an. 


Im 

Bezirke 

Häuser 

Wohn- 

parteien 

Bewohner 

Durch- 
schnittliche 
Zahl  der 
Bewohner 
1 Hauses 

I. 

1 395 

13  178 

67  029 

48 

II. 

2 454 

29  277 

158  372 

64 

III. 

1 972 

23  733 

110  279 

56 

IV. 

1 028 

13  426 

59  135 

57 

V. 

1 376 

18  121 

84  031 

61 

VI. 

1 133 

13  833 

63  901 

56 

VII. 

1 239 

15  508 

69  859 

56 

VIII. 

842 

11  324 

48  976 

58 

IX. 

1 281 

16  753 

81  170 

63 

X. 

1 430 

16  150 

74  547 

52 

Der  Physikatsbericht  enthält  ferner  eine  nach  den  Ergeb- 
nissen der  Volkszählung  vom  Jahre  1880  zusammengestellte 
Tabelle  über  die  Wohnungsdichtigkeit. 


Im  Durchschnitte  entfallen 


Im 

auf  1 Hektar 

auf  1 be- 

auf 

auf 

auf 

Be- 

der 

bewohnten 

wohntes 

1 

1 

1 

Wohnung 

zirke 

Grundfläche 

Gebäude 

Wohnung 

Zimmer 

Personen 

Piecen 

I. 

483,58 

51,45 

5,16 

1,8 

6.22 

II. 

520,07 

60.93 

5,53 

3,7 

3.55 

III. 

522,44 

53,99 

4,72 

3,2 

3,97 

IV. 

743,45 

62,36 

4,62 

2,8 

3,86 

V. 

858,68 

60,70 

4,87 

3,9 

2,94 

VI. 

718,52 

58,66 

4,80 

3,1 

3,46 

VII. 

739,16 

59,84 

4,63 

2,9 

3,46 

VIII. 

753,77 

59,38 

4,39 

3,0 

3,42 

IX. 

627,94 

62.24 

465 

3,2 

3,54 

X. 

626,92 

75,75 

4.89 

4,9 

2,38 

Wien 

619,84 

59,34 

4,86 

3,1 

3,64 

Soziale  Hygiene. 


Die  gewerbliche  Quecksilbervergiftung.  In  den  Spiegel- 
belegen zu  Fürth  in  Bayern,  wo  früher  der  Mercurialismus 
(Quecksilbervergiftung)  viele  und  schwere  Opfer  forderte,  ist 
in  den  letzten  1 Q Jahren,  wie  Dr.  Wollner  (Mittheilungen  über 
den  Stand  der  Mercurialkrankheit  in  den  Spiegelbelegen  in 
Fürth,  ,, Münchener  medic.  Wochenschrift“)  berichtet,  kein  Fall 
von  Mercuralismus  vorgekommen.  Die  Thatsache  erscheint  in 
noch  viel  günstigerem  Lichte,  wenn  berücksichtigt  wird,  dass 
gegenwärtig  meist  Arbeiter  beschäftigt  werden,  welche  bereits 
seit  längerer  Zeit  — bis  zu  30  Jahren  — in  Belegen  arbeiten. 
Da  in  den  letzten  Jahren  eine  grössere  Zahl  von  Arbeitern  ent- 
lassen werden  musste,  ist  es  begreiflich,  dass  nur  die  älteren 
und  geübteren  zurückbehalten  wurden.  Wodurch  ist  nun  diese 
höchst  erfreuliche  Abnahme  des  gewerblichen  Mercurialismus 
in  Fürth  zu  erklären?  Darüber  giebt  Dr.  Wollner  sehr  inter- 
essante Aufschlüsse.  Seit  dem  Jahre  1885  bestehen  beson- 
dere Vorschriften  über  sanitäre  Massregeln  in  den  Werkstätten, 
auf  die  eine  gewisse  stetige  Abnahme  der  Erkrankungsfälle 
zurückzuführen  ist.  Das  plötzliche  Sistiren  der  Erkrankungen 
seit  den  letzten  P/2  Jahren  musste  aber  andere  Ursachen  haben. 
Genaue  Untersuchungen,  die  Dr.  Wollner  diesbezüglich  an- 
stellte, zeigten,  dass  die  grösste  Zahl  der  Erkrankungen  an 
Mercurialismus  in  den  früheren  Jahren  aus  den  grossen  Betrieben 
stammten,  die  für  den  Export  arbeiteten. 

Die  sanitären  Vorkehrungen  waren  in  diesen  Belegen 
durchaus  nicht  schlechter  als  in  anderen,  im  Gegentheil,  sie 
waren  sogar  die  besten;  aber  die  Arbeiter  daselbst  waren  die 
schlechtest  gezahlten,  herabgekommene  Individuen,  die  das 
Bestreben  hatten,  durch  möglichst  lange  Arbeit  ein  hinlängliches 
Auskommen  zu  finden.  Diese  grossen  Fabriken  arbeiten  jetzt 
nicht  mehr  mit  Quecksilber,  sondern  mit  Silber,  während  in  den 
kleineren  Werkstätten,  wo  oft  nur  1 — 2 Arbeiter  angestellt  sind, 
noch  immer  mit  Quecksilber  gearbeitet  wird.  In  diesen  ist  aber 
die  Arbeit  eine  so  pressante,  die  Arbeitszeit  eine  kurze,  sechs 
Stunden  pro  Tag,  dabei  die  Bezahlung  eine  relativ  gute.  Die 
Arbeiter  sind  also  im  Stande,  bei  geringerer  Arbeitszeit  sich 
besser  zu  nähren.  Dr.  Wollner  kommt  zum  Schlüsse:  „Wenn 
nun  der  Mercurialismus  zunächst  wenigstens  für  P/2  Jahre  ver- 
schwunden ist,  seitdem  die  Belege  aufgehört  haben,  in  welchen 
die  höchste  Arbeitszeit  und  die  schlechteste  Bezahlung  durch- 
geführt war,  so  ist  doch  wohl  ohne  Zwang  der  Rückschluss 
erlaubt,  dass  von  allen  Massregeln  zum  Schutze  der  Arbeiter 
keine  mehr  Beachtung  verdient,  als  kurze  Arbeitszeit  und  gute 
Bezahlung.  Damit  soll  nicht  gesagt  sein,  dass  die  anderen  Vor- 
schriften überflüssig  sind,  aber  es  ist  doch  zweifelhaft,  dass  sie 
einen  grossen  Erfolg  haben  werden  ohne  kurze  und  gut  be- 
zahlte Arbeit.“ 


Eingesendete  Schriften. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 

Cathrein,  Victor  S.  J.,  Das  Privateigenthum  und  seine 
Gegner.  (A.  u.  d.  J Die  soziale  Frage  beleuchtet  durch 
die  „Stimmen  aus  Maria-Laach“.  V.  Heft.)  Freiburg  i.  Br., 
1892  Herder.  8°.  93  S. 

Fuhr,  Dr  Karl,  Rechtsanwalt  in  Giessen,  Strafrechtspflege 
und  Sozialpolitik.  Berlin,  1892.  Otto  Liebmann.  8°.  VIII 
und  340  S. 

Jänecke,  Max,  Die  Gewerbepolitik  des  ehemaligen 
Königreichs  Hannover  in  ihren  Wandlungen  von 
1815 — 4866.  Marburg,  1892.  Eiwert.  6°.  66  S. 

Kaufmann,  Dr.  Constantin,  Doc.  f.  Chirurg.,  Handbuch  der 
Unfallverletzungen  mit  Berücksichtigung  der  deutschen, 
österreichischen  und  schweizerischen  Unfallpraxis.  Stutt- 
gart, 1893.  Ferdinand  Enke.  6°.  VI  und  256  S. 

Kulemann,  W.,  Amtsrichter,  Der  Arbeiterschutz  sonst  und 
jetzt  in  Deutschland  und  im  Auslande.  Leipzig,  1893. 
Dunker  & Humblot.  8°.  XII  und  159  S. 

Preuss,  Dr.  H.,  Die  Bodenbesitzreform  als  soziales  Heil- 
mittel. Volkswirtschaftliche  Zeitfragen,  Heft  109/11 1.  Berlin, 
1892.  Simion.  8U.  93  S. 

Reichesberg,  Dr.  jur.  Naüm,  Friedrich  Albert  Lange  als 
Nationalökonom.  Bern,  1892.  J.  Wyss.  8°.  95  S. 

Schloss,  David  F.,  Methocl  of  Industrial  Remuneration. 
London,  1892.  Williams  and  Norgate.  8Ü.  VIII  und  279  S. 

Warschauer,  Dr.  Otto,  Geschichte  des  Socialismus  und 
neueren  Kommunismus.  Erste  Abtheilung,  St.  Simon 
und  der  Saint  Simonismus.  Leipzig,  1892  Fock.  8U. 
VIII  und  106  S.  Zweite  Abtheilung.  Fourier,  Seine  Theorie 
und  Schule  Leipzig,  1893.  Fock.  8°.  \ I und  131  S. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin 


220 


ANZEIGEN. 


No.  18. 


|3  $crb.  SümntlcrS  ©erlagvbud)I)attblung  itt  'Berlin  SW.,  ^immerftrafje  1)4. 

E Ctljtf rtje  litiitur. 

IPodienjcfyrift  3iir  Derbreituruj  etl]ifd?er  Bestrebungen. 

3m  Aufträge  ber  £>eittfd)en  ©cfeOfd^aft  für  ct^ifc^c  Kultur 

I)erausgegeben  non 

Pvnfcfliu*  (i3an*ii  tunt  (Gi|inkt. 

3Böd)entIid)  eine  Kummer  üoit  8 ©eiten  gr.  4°. 

preis  'uierfcliäljvliilj  1,60  Tttarlt. 

Pnü^ETfungsItÜB  I.  Batfjfrag  Br.  2070a. 

Jtntunu i fff n |d) aftli d) c fjdjnifdjtift. 

Ki'hacfnm:  Dr.  1§.  fhttüme. 

2Böd)entIid)  eine  Kummer  mm  1 i/2 — 2 Sogen. 

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Jlluimtcments  tmrdj  l'ämmtliilir  Butfjljanblungen  itnh  pojtanpaürn. 
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Verlag  der  Manz’schen  k.  und  k.  Hof-Verlags-  und  Universitäts-Buchhandlung  in  Wien. 


Elemente 


der 

Volks  wirthsehaftslehre. 

Von 

Dr.  W.  Neurath, 

Professor  an  der  k.  k.  Hochschule  für  Hodenkultur  in  Wien. 

Zweite  Auflage 

(grösstentheils  neu  bearbeitet  und  vermehrt).  XXVI  und  487  Seiten  8°. 

Preis  2 M.  50  Pf. 

• Emil  Strauss,  Verlagshandlung  in  Bonn. 

Mit  Januar  1892  begann  ein  neues  Abonnement  auf  den  XI.  Jahrgang  des 

Centralblattes 

für 

allgemeine  Gesundheitspflege. 


Dp.  Finkelnburg, 

Professor  a.  d.  Universität  Bonn. 


Herausgegeben  von 

Dr.  Leut, 

Geh.  Sanitätsrath  in  Cöln. 


Dr.  Wolffberg, 

Königl.  Kreisphysikus  in  Tilsit. 


Jährlich  erscheinen  12  Hälfte  8"  mit  zahlreichen  Abbildungen  und  Tafeln. 

Abonnementspreis  M.  10. — pro  anno. 


Das  Programm  des  „Centralblattes  für  allgemeine  Gesundheitspflege“  stellt  sich 
im  Wesentlichen  zusammen  aus:  Originalartikeln  über  alle  Zweige  der  Gesundheits- 
pflege, Berichten  aus  den  Krankenhäusern  der  grösseren  Städte,  Sterblichkeits- 
statistik mit  Berücksichtigung  der  Todesursachen,  Berichten  über  epidemische 
Vorgänge,  Seuchestatistik,  Uebersichten  der  hygienischen  Bestrebungen  des  In-  und 
Auslandes,  Medizinalgesetzgebung,  Auszügen  und  Referaten  über  die  neu  erschienene 
Literatur  des  In-  und  Auslandes  etc.  etc. 

Ferner  enthalten  die  Helte  zahlreiche  „Kleinere  Mittheilungen“  aus  dem 
Gebiete  der  Hygiene,  Literaturberichte,  regelmässige  monatliche  Nachweisungen 
über  Krankenaufnahme  und  Bestand  in  den  Krankenhäusern  von  54  Städten  der 
Provinzen  Westfalen,  Rheinland  und  Hessen-Nassau  etc.  etc. 

Abonnements  auf  den  XI.  Jahrgang  nehmen  alle  Buchhandlungen  und  Post- 
anstalten zum  Abonnementspreise  von  M.  10. — pro  anno  entgegen.  Die  bereits 
erschienenen  Jahrgänge  können  zum  Preise  von  M.  10. — pro  Jahrgang  nachbezogen 
werden. 


Soeben  erschien: 

WirthscMtliclie  Weltlage. 

Börse  und  Geldmarkt  im 
Jahre  1892. 

Von 

Julius  Basch, 

Redakteur  der  National-Zeitung. 

8°.  Eleg.  brosch.  Preis  Mark  1. 

Dieser  Jahresbericht  hat  sich  so  viele 
Freunde  erworben,  dass  die  Ausgabe  für 
das  Jahr  1892  mit  Spannung  erwartet  wird. 

Zu  beziehen  durch  alle  Buchhandlg., 
sowie  gegen  Einsendung  des  Betrages  (ev. 
in  deutschen  Briefmarken)  postfrei  von  der 
Verlagsbuchhandlung 

R.  L.  Prager  in  Berlin  NW.  7. 


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(Smffgnfag’ftlfc  Sammlung 
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(©egebett  ©erlitt,  bett  16.  Slpril  1871.) 

$ejt= Ausgabe  mit  (Srgänpngcn , 2hu 
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' (©oft,  impfen,  ©reffe,  ©erfonenftanb,  9tal)rung§= 
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©ejbSluSgabe  mit  ‘ülnmerfttngen  unb  ©adjregifter 
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5 g tf)  s j t 6 n f e 3H  n f I a g e 

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Dp.  1§.  Kppeliue. 
&afcI)e»formcit,  fartonnirt.  1 ÜJi. 


Verantwortlich  für  den  Anzeigenthcil:  O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


II.  Jahrgang 


Berlin,  den  6.  Februar  1893. 


Nummer  19. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


T.  Guttentae,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


Das  Abzahlungsgeschäft  und 
der  dem  Reichstag  vor- 
liegende Gesetzentwurf  von 
Rechtsanwalt  Wilhelm  Haus- 
m a n ti. 

Soziale  Wirtliscliaftspolitik  u. 

Wirthscliaftsstatistik : 

Rentengüter  in  Preussen. 

Einkommenverhältnisse  im  Gross- 
herzogthum Hessen. 

Reinerträgnisse  des  österreichischen 
Tabakmonopoles. 

Bauernkongress  in  Oesterreich. 

Auswanderung  aus  Schweden. 

Todesfälle  durch  Verhungern  in 
London. 

Bankerotte  in  den  Vereinigten 
Staaten. 

Arbeiterzustände: 

Neue  lohnstatistiche  Versuche 
im  Königreiche  Sachsen  von 
Dr.  Adolf  Braun. 

Arbeiterverhältnisse  in  den  preussi-  ! 
sehen  Staatsbergwerken. 

Zur  „Vagabonden“frage. 

Ausdehnung  der  ,, Vagabondage“ 
im  Jahre  1892. 

Arbeitslosenstatistik  in  Stuttgart. 

Ein  neues  Arbeitsamt  in  England. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Sozialdemokratischer  Kongress  in 
Ungarn. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Die  Organisation  der  Textilarbeiter  j 
Italiens. 

Unternehmerverbände : 

Rheinisch  - westfälisches  Kohlen- 
kartell. 


Verband  der  braunschweigischen 
Brauereibesitzer. 

Die  böhmischen  Zuckerkartelle  und 
die  Rübenbauer. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Zur  Sonntagsruhe  in  Berlin. 

Zur  Sonntagsruhe  auf  den  preussi- 
schen  Eisenbahnen. 

.Sonntagsruhe  in  den  österreichi- 
schen Tabaktrafiken  und  Lotto- 
kollekturen. 

Neue  Arbeiterschutzgesetzgebung 
in  Belgien. 

Achtstündiger  Arbeitstag  auf  den 
rumänischen  Eisenbahnen 

Durchführung  der  Arbeiterschutz- 
gesetzgebung im  Staate  Connec- 
ticut. 

Gewerbeinspektion : 

Vermehrung  der  Gewerbeinspek- 
toren in  Württemberg. 

Vermehrung  der  Fabrikinspektoren 
und  Versuch  mit  Fabrikinspek- 
torinnen  in  England. 

Arbeiterversicherung: 

Krankenvereine  auf  Grund  des  deut- 
schen Genossenschaftsgesetzes. 

Ausschusssitzung  des  Verbandes 
der  deutschen  Berufsgenoss  .-n- 
schaften. 

Maximalhöhe  der  Unfallrente. 

Zur  Unfall-  und  Krankenversiche- 
rung in  der  Schweiz. 

Gewerbegerichte : 

Thätigkeit  des  Gewerbegerichtes 
in  Frankfurt  a.  M. 

Eingesendete  Schriften. 

und  Zeitschriften  gestattet, 


Abdruck  sämmtlicker  Artikel  ist  Zeitungen 

jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


INHALT. 


Das  Abzahlungsgeschäft  und  der  dem 
Reichstag  vorliegende  Gesetzentwurf. 


Am  21.  Januar  d.  J.  fand  im  Reichstag  die  erste  Be- 
rathung  des  Entwurfes  eines  Gesetzes  betreffend  die  Ab- 
zahlungsgeschäfte statt. 

In  der  Auffassung  der  Frage  zeigt  nunmehr  die 
öffentliche  Diskussion  einen  erfreulichen  Fortschritt.  Ver- 
stummt ist  der  frühere  von  vielen  Handelskammern 
laut  gewordene  Ruf,  dass  die  von  Waarenabzahlungs- 
geschäften  geschlossenen  Verträge  durch  Gesetz  einfach 
für  — rechtsungültig  erklärt  werden  sollen;  ver- 
stummt der  Ruf  nach  Auferlegung  einer  besonderen  Steuer, 
nach  Einführung  eines  Konzessionszwanges  für  Abzahlungs- 


bazare, nach  Beseitigung  des  Eigenthumsvorbehalts.  Von 
allen  Parteien  ist  die  hohe  volkswirthschaftliche  Bedeutung 
und  Unentbehrlichkeit  des  Abzahlungsgeschäfts  anerkannt 
worden.  Ein  Anerkenntniss,  das  grossen  Werth  besitzt, 
weil  es  keineswegs  leichthin,  sondern  von  einzelnen  Seiten 
mit  innerem  Widerstreben  abgegeben  worden  ist,  erzwun- 
gen durch  das  Gewicht  der  Resultate,  welche  die  wissen- 
schaftliche Forschung  beigebracht  und  die  Begründung 
zum  Gesetze  richtig  erkannt  hat.  Von  allen  Seiten  ist  aber 
auch  auf  der  anderen  Seite  mit  vollem  Recht  das  Vor- 
handensein von  Missständen  betont  worden. 

Die  allseitig  zugestandene  Thatsache,  dass  das  Ab- 
| Zahlungsgeschäft  wirthschaftlich  von  grosser  Bedeutung 
und  unentbehrlich  ist,  reicht  indessen  nicht  aus,  dem  Un- 
| eingeweihten  ein  klares  Bild  von  dem  Wesen  dieses  Ver- 
kehrs zu  geben. 

Der  kredit-  und  mittellose  Mensch,  der  eine  zur 
; Existenz  oder  zum  Erwerbe  nothwendige  Sache  braucht, 
| aber  nicht  bezahlen  kann,  bekommt  diese  gewöhnlich  nicht 
ausgehändigt,  wenn  er  nicht  mit  der  Sache  selbst  Sicher- 
heit bestellt.  Das  Pfandrecht  setzt  den  Besitz  der  Sache 
in  der  Hand  des  Gläubigers  voraus.  Das  Verkehrs- 
bedürfniss  verlangte  aber  den  Besitz  des  nicht  bezahlten 
Gegenstandes  in  der  Hand  des  Schuldners  zum  sofortigen 

O CT 

Gebrauche  und  gleichzeitige  dingliche  Sicherheit  für  den 
Gläubiger.  Als  Rechtsformen,  welche  diesen  beiden  Zwecken 
| gerecht  wurden,  fand  man  die  in  die  Form  von  Kauf- 
' Verträgen  mit  vor  behaltenem  Eigenthum  und  in  die  Form 
I von  Miethsverträgen  gekleideten  Abzahlungsverträge.  Alle 
i diese  Verträge  enthalten  die  von  allen  Seiten  angefeindete 
Verwirkungsklausel,  d.  h.  die  Vertragsbestimmung,  nach 
welcher  beim  Ausbleiben  einer  Rate  die  bis  dahin  fälligen 
Raten  und  ausserdem  die  verkauften  Sachen  selbst  dem 
Verkäufer  verbleiben  sollen.  Die  Härten,  welche  sich  er- 
geben , wenn  nach  Bezahlung  von  etwa  4/s  des  Kauf- 
( preises  eine  Rate  ausbleibt  und  alsdann  das  gezahlte  Geld 
und  die  Sache  selbst  verloren  sind,  liegen  auf  flacher  Hand. 
Eine  solche  Möglichkeit  zu  bekämpfen,  ist  Pflicht  des  Gesetz- 
gebers, um  so  mehr,  als  es  gerade  die  Armen  sind,  welche 
unter  diesem  Rechtszustande  zu  leiden  haben. 

Schon  vor  mehr  als  50  Jahren  waren  die' Abzahlungs- 
Verträge  im  Gebiete  des  Preussischen  Allgemeinen  Land- 
rechts eine  häufige  Erscheinung.  Nur  die  sog.  Abzahlungs- 
bazare, d.  h.  Kaufhäuser,  in  denen  Waaren  der  verschie- 
densten Gattung  gegen  Theilzahlung  zu  haben  sind,  sind 
neueren  Datums. 

Ein  kurzer  Blick  auf  die  Gegenstände  des  Abzahlungs- 
verkehrs zeigt  dessen  hohe  sozialpolitische  Bedeutung  und 
Wichtigkeit  für  die  Industrie. 


222 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  19. 


Alle  Bekleidungsgegenstände  für  Frauen  und  Männer, 
vom  Kopf  bis  zum  Fuss,  von  den  einfachsten  bis  zu  den 
elegantesten,  Hochzeits-  und  Trauerkleider  werden  täglich 
in  Massen  auf  Abzahlung  gekauft.  Ebenso  alle  Wohnungs- 
einrichtungsgegenstände von  den  einfachsten  Küchen- 
möbeln bis  zu  den  elegantesten  Salongarnituren.  Grosse 
und  kleine  Hotels  und  Pensionate  nehmen  die  Möbel  für 
ganze  Zimmerreihen,  junge  Aerzte,  Künstler,  Kaufleute, 
aber  auch  arme  Wittwen,  welche  sich  vom  Zimmer- 
vermiethen  ernähren,  nehmen  ihren  Bedarf  an  Hausgeräth 
mittelst  Abzahlungsvertrages.  Die  meisten  jungen  Arbeiter- 
Ehepaare  können  nur  durch  diesen  sich  eine  häusliche 
Einrichtung  schaffen.  Hierdurch  wird  die  Eheschliessung 
begünstigt  und  der  Vermehrung  der  ausserehelichen  Ge- 
burten entgegengearbeitet.  Das  Bett  für  die  Schlafstelle, 
deren  Vermiethung  dem  Arbeiter  die  Last  der  Wohnungs- 
miethe  erleichtert,  wird  mittelst  Abzahlungsvertrages  ge- 
kauft. Die  Handelskammerberichte  von  den  Jahren  1886 
und  1887  bemessen  den  Umsatz  der  Nähmaschinen,  welche 
ratenweise  verkauft  werden,  auf  1 /2  bis  2/3  des  Gesammt- 
umsatzes;|  jetzt  heisst  es  [in  den  Petitionen,  dass  8/in  dis 
y/10  der  £ Gesammtfabrikation  durch  das  Abzahlungs- 
geschäft umgesetzt  werden.  Alle  Kleinmotoren,  Maschinen 
aller  Art,  Pianofortes,  Kinderwagen,  Geldschränke,  Veloci- 
peds,  Drehorgeln,  Harmoniums,  Eisschränke,  Billards,  Bier- 
druckapparate, Buchdruckerpressen,  die  Schriftzeichen  für 
die  Trucksysteme,  Badewannen,  10-Pfennig- Automaten, 
Bücher,  Uhren,  Gold-  und  Silbersachen  werden  ausser- 
ordentlich häufig  mittelst  sog.  Möbelleih  Vertrages  verkauft. 

Ein  [ziffermässiger  Nachweis  für  die  Häufigkeit  des 
Vorkommens  der^ Abzahlungsverträge  lässt  sich  nicht  er- 
bringen; es  bedarf  dieses  Nachweises  auch  nicht,  da  wir 
ein  sicheres  Urtheil  gewännen,  wenn  wir  die  Personen  der 
Käufer  ein  wenig  näher  ansehen.  Nehmen  wir  an,  dass 
für  diejenigen,  welche  weniger  als  3000  Mark  Jahresein- 
kommen haben,  das  Abzahlungsgeschäft  von  Bedeutung  ist, 
so  würden  über  96 1/2  pCt.  der  Gesammtbe Völker ung  als 
Ratenzahlungskäufer  in  Betracht  kommen.  Auch  die  Häufig- 
keit der  Inserate  in  einzelnen  Zeitungen  (z.  B.  im  Berliner 
Lokalanzeiger,  manchmal  in  einer  Nummer  ca.  50),  welche 
ausdrücklich  die  Veräusserung  gegen  Theilzahlungen 
offeriren,  lassen  einen  Rückschluss  auf  die  Häufigkeit  des 
Geschäfts  selbst  zu. 

Das  Abzahlungsgeschäft  ist  nicht  bloss  in  den  Gross- 
städten, sondern  in  ganz  Deutschland,  in  Oesterreich,  in 
der  Schweiz,  in  Italien,  in  Frankreich,  England  und  in 
den  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  weit  verbreitet; 
die  Thatsache,  dass  diese  Form  sich  fast  in  der  ganzen 
civilisirten  Welt  eingebürgert  hat,  ist  ein  Beweis  für  die 
wirthschaftliche  Berechtigung  und  eine  ernste  Mahnung 
zur  Vorsicht. 

An  dem  Aufschwung  der  Industrie  hat  das  Abzahlungs- 
geschäft erheblichen  Antheil;  auf  Seiten  des  Käufers  wirkt 
es  in  wohlthätiger  Weise  wie  ein  Sparzwang.  Zur  Er- 
höhung des  Standard  ot  life  der  unteren  Volksklassen  hat  es 
wesentlich  beigetragen.  Dem  Kapitalarmen,  sowie  dem  im 
Sturme  des  Lebens  Gescheiterten  gewährt  es  die  Mittel 
und  Ruhe  zu  neuem  Erwerbe,  indem  es  ihm  vor  Pfän- 
dungen dritter  Gläubiger  geschützte  Gegenstände  bietet 
Die  Begründung  hat  diese  Wirkung  des  Abzahlungsgeschäfts 
als  Schutz  für  den  Verschuldeten  ausdrücklich  als  berechtigt 
anerkannt. 

Als  Resultat  des  Vorstehenden  ergiebt  sich,  dass  das 
Abzahlungsgeschäft  lebensfähig  zu  erhalten  ist  und  nur  die 
möglichen  Auswüchse  zu  bekämpfen  sind. 

Die  Begründung  des  Gesetzentwurfs  hat  die  Bedeutung 
des  Gesetzentwurfs  im  Allgemeinen  richtig  gewürdigt.  Die 


Motive  haben  denn  auch  Beifall  gefunden,  während  er  dem 
Gesetzentwürfe  selbst  versagt  geblieben  ist. 

Das  Grundprinzip  der  vorgeschlagenen  Regelung  ist 
richtig.  Der  Verkäufer,  der  die  gelieferten  Sachen  wegen 
Nichterfüllung  seitens  des  Käufers  zurücknimmt,  muss  auch 
seinerseits  die  empfangenen  Ratenzahlungen  zurückgewähren 
(§  1),  abzüglich  einer  angemessenen  Vergütung  für  die  dem 
Käufer  überlassene  Nutzung  der  Sache  (§  2).  Hier  stehen 
sich  Leistung  und  angemessene  Gegenleistung  gegenüber, 
und  grundsätzlich  ist  gewiss  zuzugestehen,  dass  sich  ein  ge- 
rechterer Ausgleich  kaum  finden  lassen  dürfte.  Allein  in 
der  vorgeschlagenen  Fassung  ist  das  Gesetz  nicht  annehm- 
bar. Der  Käufer  kann  jederzeit,  ohne  jeden  Rechts- 
grund, sobald  es  ihm  beliebt,  die  Auflösung  des  Vertrages 
erzwingen.  Er  braucht  ja  nur  einfach  die  Zahlungen 
einzustellen,  dann  bleibt  dem  Verkäufer  gar  nichts  anderes 
übrig,  als  die  Sachen  zurückzunehmen.  Denn  die  dem 
Letzteren  allerdings  zustehende  Klage  auf  Zahlung  des 
Kaufpreises  würde  bei  sehr  vielen  Abzahlungskäufern  nutz- 
los sein.  Wenn  nun  ein  leichtsinniger  Käufer  in  frivoler 
Weise  einen  Vertragsbruch  begangen  hat,  dann  würde  er 
trotz  seiner  verwerflichen  Handlung  noch  den  etwaigen 
Ueberschuss  der  gezahlten  Raten  über  den  Nutzungswerth 
ausgezahlt  erhalten.  Dies  würde  — was  doch  sicherlich 
nicht  beabsichtigt  ist  — wie  eine  Prämie  für  den  Treubruch 
erscheinen  und  eine  ungemein  wirksame  Verleitung  zum 
Abschluss  unnöthiger  Käufe  sein.  Nur  der  Käufer,  der 
nicht  erfüllen  konnte,  nicht  der,  der  nicht  erfüllen  wollte, 
ist  der  Rechtswohlthat  würdig;  nur  die  Noth  nicht  der 
Leichtsinn  ist  zu  schützen.  Der  Schutz  des  § 1 ist  daher 
abhängig  zu  machen  von  dem  vom  Käufer  zu  erbringenden 
Nachweis1),  dass  er  ohne  sein  Verschulden  nicht  erfüllen 
konnte,  z.  B.  wegen  Krankheit,  Arbeitslosigkeit  u.  dergl. 
Erst  durch  diesen  Nachweis  würde  das  Recht  des  Ver- 
käufers in  billiger  Weise  gewahrt  und  vielen  Prozessen 
vorgebeugt  werden.  Die  Verkäufer  haben  dann  keinen 
berechtigten  Grund  sich  zu  beklagen.  Die  Miethen  für 
bewegliche  Sachen  sind  bekanntlich  hoch;  der  Grad  der 
Entwerthung  durch  den  Gebrauch  ist  durch  Sachverstän- 
dige leicht  festzustellen  und  in  der  Regelung  selbst  liegt 
ein  mächtiger  Zwang  für  den  Käufer,  sich  mit  den  Zah- 
lungen zu  beeilen.  Denn  je  länger  er  wartet,  desto  höher 
die  Miethsentschädigung.  Es  wird  zu  erwägen  sein,  ob 
nicht  Vorsorge  zu  treffen  ist,  dass  die  Miethsentschädigung 
den  Kaufpreis  nicht  übersteigen  darf.  Im  § 2 dürfte  den 
Verkäufern  ausser  der  Nutzungsentschädigung  auch  noch 
ein  Ersatz  für  eine  durch  andere  Umstände  als  durch  die 
Abnutzung  entstandene  Werthverringerung  zuzubilligen 
sein  (wenn  z.  B.  eine  Maschine  in  der  Nutzungszeit  durch 
eine  neuere  Konstruktion  geringwerthiger  geworden). 

Rückhaltsloseste  Anerkennung  verdient  der  Gesetz- 
entwurf dafür,  dass  er  an  die  schwierige  Aufgabe,  auch 
gleichzeitig  das  österreichische  Abzahlungsgeschäft,  welches 
ohne  Eigenthumsvorbehalt  abgeschlossen  wird  und  an  Stelle 
unserer  Verfallklausel  sich  der  sog.  Terminsverlustklausel 
(d.  h.  der  Bestimmung,  dass  bei  Nichtzahlung  einer  Rate 
sofort  der  ganze  Rest  fällig  und  klagbar  ist)  bedient,  zu 
regeln,  frisch  herangegangen  ist  (§  3).  Die  Rechtsgültigkeit 
der  Abrede  davon  abhängig  zu  machen,  dass  der  Verkäufer 
mit  zwei  aufeinander  folgenden  Raten  im  Rückstände  ist, 
dürfte  indessen  nicht  unbedenklich  sein.  Kann  der  Käufer 
nicht  zahlen,  weil  er  krank  oder  arbeitslos  war,  so  ist  er 
doch  des  Schutzes  nicht  weniger  bedürftig,  weil  er  zwei 
Monate  krank  oder  arbeitslos  war.  Will  der  Käufer  nicht 
zahlen,  dann  ist  er  auch  bei  einmaliger  Nichtzahlung  nicht 


1)  Vergl.  Hausmann,  Veräusserung  beweglicher  Sachen 

gegen  Ratenzahlung,  S.  82. 


No.  19. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


223 


zu  schützen.  Ausserdem  kann  die  gute  Absicht  des  Ge- 
setzes durch  Stipuliren  kurzer  Fristen  leicht  vereitelt 
werden.  Auch  hier  dürfte  die  Rechtswohlthat  besser 
wie  im  $ 1 — vom  Nachweis  abhängig  zn  machen  sein, 
dass  der  Käufer  ohne  sein  Verschulden  nicht  erfüllen 
k onnt  e. 

Mit  Recht  weisen  die  Motive  auf  die  ausserordentliche 
Wichtigkeit  hin,  welche  die  beabsichtigte  Erweiterung 
des  Wuchergesetzes  für  das  Abzahlungsgeschäft  hat. 
Hierauf  des  Näheren  einzugehen  unterlassen  wir  hier. 

Der  Grundzug  des  Gesetzentwurfs  zeigt  das  Streben, 
einen  gerechten  Ausgleich  zu  finden,  und  deshalb  dürfen 
wir  uns  der  Hoffnung  hingeben,  dass  schliesslich  ein  Rechts- 
zustand hergestellt  wird,  der  der  deutschen  Gesetzgebung 
zur  Ehre  gereichen  und  anderen  Ländern  zum  Vorbilde 
dienen  wird. 

Berlin.  Wilhelm  Hausmann. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Rentengüter,  Nach  den  Mittheilungen  des  Landwirth- 
schaftsministers  im  preussischen  Abgeordnetenhause  (Sitzung 
vom  1.  Februar)  beträgt  die  Zahl  der  bisher  begründeten  Renten- 
güter 572  Es  wurde  bei  ihnen  insgesammt  ein  Kaufpreis  in 
Renten  von  169  535  M.  und  in  Kapital  von  974  615  M.  verabredet; 
von  den  letzteren  Beträgen  sind  bereits  829  111  M.  abgezahlt. 
Für  die  erste  Einrichtung  haben  die  Rentenbanken  192  000  M. 
hergegeben.  — Auf  die  einzelnen  Provinzen  vertheilen  sich  die 
Rentengüter  wie  folgt;  Schleswig-Holstein  3,  Hannover  2,  West- 
falen 11,  Schlesien  20,  Ostpreussen  141,  Westpreussen  151,  Posen 
100,  Pommern  88.  — Von  den  angebotenen  24  548  Hektar  sind 
6550  in  Rentengüter  verwandelt,  der  Rest  steht  noch  aus.  — 
Nach  den  Grössenklassen  ergeben  sich  folgende  Gruppen 


über 

25  Hektar . . . 

55  Rentengüter 

„ 10 

-25  „ ... 

125 

„ 7>/2 

-10  „ . . . 

108 

- 7>/2  „ . . . 

132 

2lA> 

V ^ 

-5  „ ... 

115  „ 

unter 

272  „ • ■ • 

37 

Eine  grössere  Zahl  von  Rentengütern  ist  noch  in  Bildung 
begriffen  Bis  zum  Abschluss  von  Punktationen  ist  der  Bildungs- 
prozess vorgeschritten  bei  2496  Rentengütern,  davon  in  Ost- 
preussen 586,  in  Westpreussen  1013,  in  Posen  554,  in  Pommern 
275,  in  Brandenburg  10,  in  Schlesien  55.  Es  handelt  sich  dabei 
um  23  069  Hektar  zu  Preisen  von  15  Millionen  Mark.  1 10  000  Hektar 
stehen  noch  zur  Verfügung. 

Der  langsame  Fortgang  der  Neubegründungen  hat  nach 
Ausführungen  des  Ministers  nicht  in  den  Beamten  der  General- 
kommissionen, seinen  Grund,  sondern  in  dem  Mangel  an  Land- 
messern. Die  Frage,  ob  auch  die  Domänen  in  Rentengüter  ver- 
wandelt werden  s’ollen,  habe  die  Staatsregierung  beschäftigt, 
aber  sie  sei  von  dem  Standpunkt  ausgegangen,  dass,  wenn 
privates  Land  angeboten  wird,  dieses  zuerst  in  Rentengüter  ver- 
wandelt werden  solle.  Die  Thätigkeit  der  Generalkommissionen 
werde  eine  dauernde  sein.  Die  Verhältnisse  drängen  darauf  hin, 
namentlich  im  Osten  einen  Stand  bäuerlicher  Besitzer  zu  schaffen. 
Es  solle  immer  die  Schaffung  bäuerlicher  Stellen  bevorzugt 
werden;  nur  da  wo  hinreichende  Arbeitsgelegenheit  vorhanden 
sei,  könne  man  daran  denken,  kleinere  Stellen  zu  schaffen.  Auf 
die  Bildung  grosser  Gemeinden  durch  Neubildung  oder  An- 
schluss an  bestehende  Gemeinden  werde  immer  der  grösste 
Werth  gelegt  werden.  Die  Bildung  eines  grundbesitzenden 
Proletarists  sei  aber  zu  vermeiden. 

Einkommensvertheilung  im  Grossherzogthum  Hesseu. 

Nach  den  soeben  veröffentlichten  amtlichen  Uebersichten 
über  die  Ergebnisse  der  Veranlagung  zur  Einkommensteuer 
im  Grossherzogthum  Hessen  für  1892/93  kommen  auch  in 
diesem  Bundesstaat  auf  eine  Gesammtbevölkerung  von 
992  883  Seelen  (Zählung  von  1890)  und  217  206  Steuer- 
pflichtige, mit  einem  Gesammtsteuerkapital  von  28,5  Mill.  M. 
Nicht  weniger  als  72  pCt.  dieser  Steuerpflichtigen  aber 
haben  nur  ein  Einkommen  bis  zu  900  Mark,  sodass  also  die 
grosse  Mehrheit  der  hessischen  Bevölkerung  durchaus  pro- 
letarisirt  ist.  Dies  kommt  auch  darin  zum  Ausdruck,  dass 
diese  Mehrheit  nur  den  kleinsten  Theil  des  gesammten 
Steuerkapitals  stellt,  25  pCt.  nämlich.  Die  übrigen  75  pCt. 


des  Steuerkapitals  entfallen  auf  die  28  pCt.  der  vermögen- 
der en  Steuerzahler.  Natürlich  gestaltet  sich  auch  unter 
diesen  die  Vcrmögensvertheilung  durchaus  plutokratisch. 
Je  höher  man  steigt,  in  desto  grösserem  Gegensätze  stehen 
die  Prozentzahlen,  mit  welcher  die  einzelnen  Steuerklassen 
an  der  Zahl  der  Steuerpflichtigen  einerseits  und  dem  Ge- 
sammtsteuerkapital andererseits  partizipiren ; in  der  höchsten 
Steuerklasse  (Einkommen  von  46  000  bis  3,2  Mill.  M.)  stellen 
0,073  pCt.  der  Steuerpflichtigen  nicht  weniger  als  11  pCt. 
des  Gesammtsteuerkapitals.  Und  dabei  wuchs  das  letztere 
von  1871  bis  1892/93  um  volle  15,7  Millionen  oder  123,5  pCt. 
Wohin  der  Zuwachs  in  der  Hauptsache  fiel,  ist  aus  Obigem 
ersichtlich. 

Die  Reiiiertriignisse  des  österreichischen  Tabak 

inonopols  stiegen  von  1871  bis  1891  von  37  961  962  auf 
52  395  316  fl.  ö.  W.,  demnach  um  39  pCt.,  die  Einnahmen 
von  55  223  354  auf  83  446  970  fl.,  das  sind  50,1  pCt.  und  die 
Ausgaben  von  17  531392  auf  31051654  fl.,  demnach  um 
77,1  pC't. 

Bauernkongress  in  Oesterreich.  Ein  Kongress  wirk- 
licher Bauern  steht  in  Oesterreich  bevor.  Der  Bauern- 
führer Steininger  fordert  in  der  Neujahrsnummer  seiner  in 
Gobelsburg  erscheinenden  Zeitung  „Mittelstrasse“  alle  land- 
wirthschaftlichen  Vereine,  Kasinos,  sowie  die  einzelnen 
Bauern  und  alle  Bauernfreunde  zur  Beschickung  eines  Kon- 
gresses auf,  der  über  Hebung  und  Rettung  des  Bauern- 
standes, über  ein  einheitliches  Bauernprogramm  und  über 
Schaffung  einer  Bauernpresse  Beschlüsse  fassen  soll.  Nach 
dem  Reichenberger  „Freigeist“  wäre  das  der  erste  Kon- 
gress, der  von  Bauern  selbst  einberufen  und  abgehalten 
wird. 

Auswanderung  aus  Schweden.  Nach  den  dem 
schwedischen  Departement  des  Innern  zugegangenen  Be- 
richten sind  im  Jahre  1892  aus  und  über  Schweden  38  206 
Personen  nach  fremden  Welttheilen  ausgewandert,  wovon 
33  240  Schweden  und  4966  Ausländer  waren.  Im  Jahre  1891 
betrug  die  Anzahl  der  Auswanderer  39  763,  davon  32  454 
aus  Schweden  und  7309  Personen  aus  anderen  Ländern. 

Todesfälle  durch  Verhungern  in  London.  Ein  amtliches 
Blaubuch,  das  am  26.  Januar  vom  Ministerium  des  Innern  ver- 
öffentlicht wird,  beziffert  die  Anzahl  der  Todesfälle  durch  Ver- 
hungern in  London  im  Jahre  1891  auf  dreissig.  Fälle,  bei  denen  der 
Tod  durch  Nahrungsmangel  beschleunigt,  aber  durch  eine  andere 
Ursache  herbeigeführt  worden  ist,  sind  in  dieser  Zahl  nicht  mit 
einbegriffen.  Trotz  der  ungeheuren  Grösse  der  staatlichen  und 
privaten  Wohlthätigkeit  in  London  sind  diese  30  Fälle  den  zahl- 
reichen Armenpliegern  unbekannt  geblieben,  bis  Hilfe  zu  spät 
war.  Was  aber  noch  trauriger  ist,  ist  die  Thatsache,  dass  diese 
Aermsten  eine  so  entsetzliche  und  nach  allen  Schilderungen 
vollauf  berechtigte  Abneigung  gegen  das  „Workhouse“,  die 
staatlichen  Armenasyle  haben,  dass  sie  lieber  in  der  Stille  ver- 
hungern, als  dort  um  Aufnahme  einkommen.  Die  entsprechen- 
den Ziffern  für  den  Winter  1892 — 1893  werden  noch  grösser 
sein,  da  seit  1886,  dem  „schwarzen  Jahr“,  für  London  kein  ähn- 
licher Nothstand  unter  der  armen  Bevölkerung  bestanden  hat, 
wie  jetzt. 

Hoffentlich  wird  die  vom  Ministerium  Gladstone  sowie 
von  Chamberlain  u.  a.  geplante  Reform  des  englischen  Armen- 
wesens auch  mit  dem  Workhouse,  diesem  Denkmale  des  Ein- 
flusses Malthus’scher  Lehren  auf  die  englische  Gesetzgebung 
gründlich  aufräumen. 

Bankerotte  in  den  Vereinigten  Staaten.  Die  Verbindlich- 
keiten und  die  Prozentsätze  der  realisirbaren  Aktiva  in  den 
Bankerottfällen  in  den  Vereinigten  Staaten  stellten  sich 
nach  Bradstreets  in  den  letzten  zwölf  Jahren  wie  folgt: 


Jahr. 

Verbindlich- 
keiten in  Millionen 
Dollar 

Prozent 

Aktiv 

1881  . . 

....  76,0 

47 

1882  . . 

....  93,2 

51 

1883  . . 

....  175,9 

52 

1884  . . 

...  248,7 

54 

1885  . . 

....  119,1 

46 

1886  . . 

....  113,6 

49 

1887  . . 

....  130,6 

50 

1888  . . 

....  120,2 

52 

1889  . . 

....  140,7 

50 

1890  . . 

....  175,0 

53 

1891  . . 

....  193,1 

53 

1892  . . 

....  108,5 

50 

Die  Grösse  der  Verbindlichkeiten  im  Zusammenhalt 
mit  jener  der  realisirbaren  Aktiven  gilt  als  ein  im  Allge- 


224 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  19. 


meinen  zutreffender  Massstab  für  die  Durchschnittsgrösse 
des  Umfanges  der  fallit  gewordenen  Unternehmungen.  Wir 
sehen  hier,  dass  demgemäss  diese  Durchschnittsgrösse  seit 
12  Jahren,  abgesehen  nur  von  1881  und  1 882  nicht  so  gering 
war,  wie  im  letzten  fahre  und  im  vorletzten  Jahre  beinahe 
doppelt  so  gross. 

Eine  besondere  Tabelle  Bradstreets  gruppirt  speziell 
jene  Bankerottfälle  dpr  letzten  vier  Jahre  wo  der  Betrag 
der  Verbindlichkeiten  „100  000  Doll,  oder  mehr“  war.  Diese 
Fälle  stellen  sich  zur  Gesammtzahl  der  Bankerottfälle  wie 
hier  ersichtlich : 


100  000  Doll.  Alle  anderen 
fahr  oder  mehr,  Fälle, 

Prozent  Prozent 

1889  1,42  98.58 

1890  1,88  98,12 

1891  224  97,76 

1892  1,60  98,40 


In  dieser  Zusammenstellung  weist  nur  das  Jahr  1889 
ein  noch  stärkeres  Ueberwiegen  der  Sterblichkeit  der  kleine- 
ren Unternehmungen  auf,  als  1892.  Von  1891  auf  1892  aber 
zeigt  sich  uns  eine  sehr  bedeutende  Zunahme  in  der  Kate 
des  Untergangs  jener  Geschäftsleute,  die  wegen  geringen 
Umfanges  des  Geschäftes  und  deshalb  eingeschränkten 
Kredites  nicht  mit  dem  Betrage  von  100  000  Doll.  Schulden 
Bankerott  machen  können. 


Arbeiterzustände. 


Neue  lohnstatistische  Versuche  im  Königreich  Sachsen. 

So  berechtigt  auch  die  Klagen  über  die  mangelhafte 
und  gänzlich  ungenügende  Pflege  der  Sozialstatistik  seitens 
der  Organe  der  amtlichen  Statistik  sind,  so  muss  doch  hin- 
sichtlich der  Lohnstatistik  zugestanden  werden,  dass  die 
Erfahrungen  über  die  Methode  derselben  heute  noch  so 
geringe  sind,  dass  sich  hierdurch,  wenn  auch  nur  zum 
geringen  Theile,  die  unterlassene  Inangriffnahme  sozial- 
statistischer  Erhebungen  grossen  Styls  seitens  der  staatlichen 
statistischen  Aemter  wohl  erklären  lassen  kann. 

Wo  bisher  von  Privaten,  Handelskammern,  anderen 
Unternehmerorganisationen , Arbeitervereinen  und  amt- 
lichen Büreaus  die  Lohnverhältnisse  erhoben  wurden, 
mussten  fast  ausnahmslos  die  sachkundigen  Statistiker  über 
das  methodisch  ungenügende  der  Erhebung  klagen.  Andrer- 
seits muss  zugestanden  werden,  dass  die  Schwierigkeiten  der 
Lohnstatistik,  ganz  abgesehen  von  den  Unzukömmlichkeiten, 
die  sich  aus  ihrer  Natur  als  Streitobjekt  gegensätzlicher 
sozialer  Klassen  von  selbst  ergeben,  wenn  auch  nicht  un- 
überwindliche, so  doch  ganz  ausserordentlich  grosse  sind, 
bei  denen  neben  anderen  erschwerenden  Momenten  allein 
schon  die  unstäten  Verhältnisse  innerhalb  der  modernen 
Wirthschaftsbetriebe  sich  als  grössere  Hindernisse  ent- 
gegenstellen als  bei  irgend  einer  anderen  statistischen  Er- 
hebung zu  überwinden  sind.  Die  Lohnstatistik  lässt  sich,  soll 
sie  berechtigten  Wünschen  genügen,  nicht  vergleichen  mit 
den  sicherlich  auch  nicht  geringen  Mühen  bei  einer  Volks- 
zählung, bei  welcher  es  sich  lediglich  um  Feststellung  eines 
momentanen  Zustandes  handelt;  ebensowenig  aber  auch  mit 
der  Statistik  der  natürlichen  Bevölkerungsbewegung  und  der 
Statistik  des  auswärtigen  Handels.  Bei  letzteren  handelt  es 
sich  um  die  Festhaltung  von  nur  einmal  bei  den  betreffen- 
den Personen,  bez.  Gegenständen  in  Erscheinung  tretenden 
Ereignissen:  Ein-  oder  Austritt  aus  dem  Leben  bezw.  aus 
dem  Wirthschaftsgebiete.  Ganz  anders  verhält  es  sich  bei 
einer  den  Anforderungen  der  Sozialpolitiker  genügenden 
Lohnstatistik.  Hier  will  man  nicht  nur  erfahren,  wie  viel 
Lohn  an  einem  bestimmten  Tage  oder  in  einer  bestimmten 
Löhnungsperiode  gezahlt  wurden,  sondern  man  will  den 
Wechsel  der  Löhne,  das  Verhältniss  der  Zeiten  der  Arbeits- 
losigkeit zu  denen  des  Verdienstes,  Beziehungen  der  Lohn- 
höhe zur  Arbeitszeit,  Alter,  Geschlecht  etc.  etc.  kennen 
lernen,  man  muss  hierbei  nach  Verhältnissen  forschen,  die 


der  Befragte  aus  mannigfachen  Gründen  nicht  so  gerne 
und  so  leicht  der  Oeffentlichkeit  preisgiebt,  wie  die  Aus- 
künfte die  bei  einer  Volkszählung  gewünscht  werden.  Dass 
man  auch  hier  mit  zu  intimen  Fragen  vorsichtig  sein  muss, 
zeigt  Chr.  Lancke  mit  dem  Nachweise1),  dass  in  Mecklenburg- 
Schwerin  die  Frage  nach  der  Taubstummheit  bei  der  Volks- 
zählung vom  Jahre  1885  von  nicht  weniger  als  9,67  pCt.  der 
Taubstummen  nicht  beantwortet  wurde. 

Wir  wollen  es  dahingestellt  sein  lassen,  ob  es  dem 
Sozialstatistiker  methodisch  und  finanziell  je  möglich  sein 
wird,  präzise  alle  Fragen  des  Sozialpolitikers  zu  beant- 
worten. Wir  begnügen  uns  blos  festzustellen,  dass  die 
Schwierigkeiten  bei  der  Sozialstatistik  unseres  Erachtens 
erheblich  grössere  sind  als  die  bei  irgend  einem  anderen, 
bisher  seitens  der  amtlichen  Statistik  bearbeiteten  Gebiete. 

Mit  Rücksicht  hierauf  müssen  die  auf  Veranlassung 
Bodio’s2)  und  Bölnnert’s  auf  beschränktem  Gebiete  unter- 
nommenen lohnstatistischen  Untersuchungen  mit  Genug- 
thuung  begrüsst  werden. 

Schon  der  Jahrgang  1885  der  Zeitschrift  des  Königlich 
Sächsischen  Statistischen  Büreaus  enthält  lohnstatistische 
Experimente  neben  einer  Abhandlung  Böhmert’s  über  die 
Methoden  der  Lohnstatistik.  Das  zuletzt  ausgegebene 
Doppelheft  dieser  Zeitschrift  (XXXVIII.  Jahrgang  1892, 
Heft  1 und  2)  enthält  neben  einem  sehr  beachtenswerthen 
Aufsatz  Böhmert’s  über  den  gegenwärtigen  Stand  und  die 
neuen  Aufgaben  der  Lohnstatistik  lohnstatistische  Unter- 
suchungen in  der  Cigarrenfabrikation  mit  besonderer  Rück- 
sicht auf  die  Methode  der  Lohnstatistik  von  Alban  Förster 
(a.  a.  O.  S.  161-187). 

Es  handelt  sich  naturgemäss  bei  dieser  Arbeit  um  eine 
Monographie  unter  der  Voraussetzung,  dass  das  Objekt  der- 
selben als  Typus  des  ganzen  Untersuchungsgebietes,  hier 
der  Cigarrenfabrikation  im  Königreich  Sachsen  betrachtet 
werden  kann.  Darüber,  ob  es  sich  hier  wirklich  um  ein 
typisches  Untersuchungsobjekt  handelt,  könnte  natürlich 
einzig  und  allein  auf  Grund  einer  die  ganze  Cigarren- 
industrie des  Königreichs  Sachsen  erfassenden  Lohnstatistik 
geurtheilt  werden. 

Der  lohnstatistische  Versuch  ging  von  der  Voraus- 
setzung aus,  „dass  besondere  Erhebungen  zur  wahrheits- 
getreuen Ermittlung  der  Lohnverhältnisse  zuvörderst  nicht 
unbedingt  nöthig  erscheinen,  dass  die  Lohnlisten  bei 
richtiger  Führung  ein  ganz  brauchbares  Material  zu  mono- 
graphischen lohnstatistischen  Darstellungen  abgeben  und 
dass  durch  die  Bearbeitung  der  Lohnlisten  ....  manches 
neue  und  brauchbare  Resultat  für  die  Methode  der  Lohn- 
statistik und  für  die  Statistik  der  Löhne  und  Arbeitsver- 
hältnisse überhaupt  zp  erzielen  sein  werde.“ 

Auch  wir  glauben,  dass  auf  diesem  Wege  sich  so 
manches  werthvolle  Ergebniss  für  die  Erfassung  der  Lohn- 
und  Arbeitsverhältnisse  gewinnen  lassen  kann,  aber  unbe- 
dingte Voraussetzung  dieser  Methode  ist  eine  gleichmässige, 
zu  statistischer  Verarbeitung  sich  eignende  von  Unter- 
nehmern und  Arbeitern  kontrollirte,  gesetzlich  im  Einzelnen 
bestimmte  Art  der  Lohnnachweisung,  wobei  die  Besonder- 
heiten der  Betriebe  und  die  mannigfachen,  oft  im  einzelnen 
Betriebe  nicht  gleichartigen  Lohnzahlungsformen  berück- 
sichtigt werden  müssten,  was  nicht  in  allen  Fällen  leicht 
möglich  sein  dürfte,  da  sie  beim  einzelnen  ständigen  Ar- 
beiter im  Laufe  eines  Jahres  wechseln  können  und  vorerst 
in  ihrer  Mannigfaltigkeit  noch  nicht  erforscht  sind.  Diese 
Konsequenz  zieht  Förster  nicht,  obgleich  sie  so  nahe  liegt. 
Müsste  man  sich  aber  bei  der  statistischen  Verarbeitung 
der  geschäftlichen  Lohnangaben  der  Arbeit  unterziehen,  die- 
selben auf  besondere  zur  Verarbeitung  geeignete  Schemata 
zu  bringen,  so  wäre  die  Lohnstatistik  ungeheuer  erschwert 


!)  Die  Taubstummheit  im  Grossherzogthum  Mecklenburg- 
Schwerin,  ihre  Ursachen  und  ihre  Verhütung.  Eine  statistisch- 
otologische  Studie  (Leipzig,  1892),  citirt  in  der  Deutschen  Viertel- 
jahrsschrift für  öffentliche  Gesundheitspflege.  XXV.  Band  (1893  i. 
1.  Heft,  S.  124. 

2)  Siehe  u.  A.  Sombart  Lohnstatistische  Studien  im  II.  Band 
des  Archivs  für  soziale  Gesetzgebung  und  Statistik. 


No.  19. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


225 


und  sehr  kostspielig,  da  dann  wohl  der  Haupttheil  der  Arbeit 
auf  die  wissenschaftlichen  und  nur  der  geringere  auf 
die  Rechnungsarbeiter  käme.  Es  müssten , mit  einem 
Worte,  gesetzlich  Unternehmer  und  Arbeiter  zur  Einhaltung 
genau  vorgezeichneter  Lohnnachweisungen  gezwungen 
werden,  jede  derselben  müsste  von  dem  Arbeiter  und  dem 
Unternehmer  bezw.  dessen  verantwortlichem  Stellvertreter 
gegengezeichnet  sein.  Bei  Differenzen  zwischen  beiden 
wäre,  etwa  von  den  Gewerbegerichten,  festzustellen,  welchen 
Lohn  der  Arbeiter  thatsächlich  empfangen  hat.  Dass  die 
Lohn  nach  Weisungen  einerseits  die  Höhe  der  Lohnabzüge 
und  der  Auslagen  der  Arbeiter  im  Produktionsprozess,  wie 
z.B.  für  Fädlerinnen,  Spulerinnen,  Licht,  Wachs,  Faden  u.  v.a. 
andrerseits  Naturalleistungen  etwa  aus  sogenannten  Wohl- 
fahrtseinrichtungen ersichtlich  machen  müssen,  versteht 
sich  von  selbst.  Unter  diesen  Voraussetzungen  glauben 
auch  wir,  dass  dann  die  Lohnnachweisungen  eine  geeignete 
Grundlage  der  Lohnstatistik  werden  könnten.  Freilich 
wird  aber  dabei  eine  erhebliche  Schwierigkeit  nicht  über- 
sehen werden  können,  wir  werden  nämlich  auf  diesem 
Wege  eine  ganz  brauchbare  Lohnstatistik  der  ständig  be- 
schäftigten Arbeiter  in  dauernd  im  Betriebe  befindlichen 
Unternehmungen  erhalten.  Ungeeignet  erscheint  dieses 
Rohmaterial  zur  Gewinnung  lohnstatistischer  Resultate  für 
die  Hausindustriellen,  insbesonders  für  die,  bei  denen  das 
Verlagssystem  eingeführt  ist,  und  die  für  mehrere  „Fabri- 
kanten“ arbeiten.  Nur  in  geringem  Masse  eignet  es  sich 
für  die  fluktuirende  Arbeiterbevölkerung,  einem  erheb- 
lichen Bruchtheile  unserer  Arbeiterschaft ; jedenfalls  wäre 
es  sehr  mühevoll,  sämmtliche  Individualangaben  für  einen 
Arbeiter,  der  in  einer  Reihe  von  Betrieben  innerhalb  eines 
Jahres  gearbeitet  hat  zusammenzustellen,  um  sein  Gesammt- 
einkommen  zu  ermitteln.  Man  ersieht  hieraus,  dass  es 
zweierlei  ist,  die  Statistik  der  von  den  einzelnen 
Betrieben  gezahlten  Löhne  und  die  Statistik  der 
von  den  Arbeitern  empfangenen  Löhne.  Beides  ist 
sozialstatistisch  von  Bedeutung,  das  zweite  erscheint  uns 
freilich  wichtiger  aber  schwerer  erfassbar,  für  das  erste 
eignet  sich  unter  unseren  Vorbehalten  die  von  Förster  an- 
gewandte Böhmert’sche  Methode. 

Da  es  sich  bei  Förster’s  Arbeit  um  einen  praktischen 
Versuch  mit  dieser  Methode  gehandelt  hat,  wäre  es  wohl 
von  Nöthen  gewesen,  die  Kosten  dieser  Erhebung  an  Zeit 
und  Geld  genau  festzustellen,  bezw.  mitzutheilen,  denn 
gerade  bei  solchen  Experimenten  kommt  es  nicht  nur  auf 
die  wissenschaftlichen  Resultate  und  technischen  Erfahrungen 
an,  sondern  auf  die  Beantwortung  der  Frage,  ob  es  finanziell 
möglich  ist,  Erhebungen  auf  Grund  dieser  Erfahrungen  für 
ganze  Länder  bezw.  ganze  Industriezweige  derselben  vor- 
zunehmen. Die  Angabe  der  Zeit-  und  Geldkosten  des 
Experimentes  hätte  diese  Frage  natürlich  nicht  präcise  be- 
antwortet, aber  leicht  werthvolle  Anhaltspunkte  zur  Beant- 
wortung derselben  ergeben. 

Bei  dem  Untersuchungsobjekte  handelte  es  sich  um 
einen  ziemlich  komplizirten  Betrieb  mit  der  Möglichkeit 
der  Vergleichung,  da  verschiedene  Qualitäten  mit  sehr  ab- 
weichenden Lohnsätzen  in  drei  sich  an  verschiedenen  Orten 
befindlichen  Etablissements  produzirt  wurden.  Mehrere 
Arbeiterkategorien,  Männer,  Frauen  und  jugendliche  Ar- 
beiter werden  beschäftigt,  neben  Geldlohn  finden  sich 
Naturalleistungen,  neben  Akkordlohn  Zeitlohn,  neben  einem 
starken  Prozentsätze  ständig  beschäftigter  Arbeiter  finden 
sich  auch  nur  kurze  Zeit  in  den  Etablissements  thätige 
Arbeiter,  kurz,  es  wurde  mit  Recht  ein  komplizirtes  Ver- 
suchsobjekt gewählt.  Selbst  die  Form  der  Lohnnachweisungen 
differirte  in  den  verschiedenen  Etablissements. 

Die  Lohnnachweise  des  Hauptetablissements  hatten 
Listenform  und  enthielten  Angaben  über  Namen,  Nummer 
des  Arbeiters  in  der  Lohnliste,  Beschäftigungsart  und  Ge- 
schlecht, Zahl  der  Arbeitstage  und  ausgezahlten  Lohn  in 
den  einzelnen  Wochen  des  Jahres.  In  den  Lohnlisten  waren 
die  einzelnen  Kategorien  der  Arbeiter  unterschieden  und 
innerhalb  derselben  die  Arbeiter  nach  dem  Namen  alpha- 
betisch geordnet.  Die  Bearbeitung  der  Lohnlisten  ist  in 
der  Weise  erfolgt,  dass  auf  kleine  handliche  Zahlblättchen 


der  Name  des  Arbeiters,  das  Geschlecht,  die  Beschäftigungs- 
ai't,  die  Zahl  der  Arbeitstage,  die  Höhe  des  Jahresver- 
dienstes und  ob  der  Arbeiter  das  ganze  Jahr  beschäftigt, 
neu  eingetreten  oder  abgegangen  ist,  notirt  wurde,  wobei 
verschiedene  Abkürzungen  gebraucht  wurden.  Die  Wochen- 
löhner wurden  durch  ein  W.  L.,  die  Akkordlöhner  durch 
Weglassung  dieser  Bezeichnung  gekennzeichnet.  Die  Zähl- 
blättchen ermöglichten  leichte  Verarbeitung  und  zahlreiche 
Kombinationen. 

Die  Lohnliste  beruhte  auf  Abrechnungen  der  Arbeiter, 
sie  ist  aber  verarbeitet  worden,  ohne  dass  die  Richtigkeit 
der  Uebertragungen  in  die  Lohnliste  vorher  seitens  der 
Arbeiter  kontrollirt  werden  konnte. 

Ein  anderes  System  der  Lohnnachweisung,  bei  dem 
Gelegenheit  war,  die  von  den  Unternehmern  kontrol- 
lirten,  von  den  Arbeitern  selbst  geschriebenen 
Lohnangaben  und  zwar  gleich  direkt  ohne  Uebertragung 
auf  Zählkarten  zu  verarbeiten,  weil  sich  die  Lohnnach- 
weisung schon  selbst  als  Zählkarte  darstellte,  fand  sich 
in  den  zwei  anderen  Fabriken  derselben  Unternehmung. 

Die  Lohnnachweisungen  bestanden  nämlich  in  den 
gesammelten  Jahreslohnkarten  der  einzelnen  Arbeiter. 
Diese  Art  ist  nicht  nur  sozialstatistisch  viel  bequemer  als 
die  der  langen  Lohnlisten,  bei  deren  Uebertragung  Irr- 
thtimer  möglich  sind,  bei  deren  Benutzung  Unbequemlich- 
keiten zum  mindesten  sich  ergeben,  sie  erübrigen  auch  den 
Unternehmern  viele  Arbeit,  diese  ersparen  sich  die 
Buchungen,  die  von  den  Arbeitern  selbst  vorgenommen 
werden.  Der  Unternehmer  hat  blos  beim  Jahresschluss 
bezw.  bei  Abgang,  Tod  etc.  eines  Arbeiters  die  betreffende 
Jahreslohnliste  einfordern  zu  lassen.  Der  Arbeiter  hat  stets 
die  genaue  Jahresübersicht  der  ihm  zugeflossenen  Löhne, 
Differenzen  werden  dadurch  nicht  so  leicht  möglich. 

Bei  der  Verarbeitung  wurden  männliche  und  weib- 
liche, jugendliche  und  erwachsene  Arbeiter,  ferner  sieben 
verschiedene  Arbeiterkategorien  (ohne  Werkführer  u.  dgl.), 
Akkordlöhner  und  Zeitlöhner  und  die  verschiedenen 
Etablissements  auseinander  gehalten.  Verarbeitet  wurden 
die  Angaben  über  die  Beschäftigungsdauer  der  Arbeiter, 
die  geleisteten  Arbeitstage,  die  Summe  der  gezahlten  Löhne 
und  die  aus  den  Arbeitstag  entfallenden  Lohnbeträge.  Der 
Jahr  es  verdienst  aus  dem  Arbeitslohn  der  länger  als  250  Tage 
im  Jahre  beschäftigten  Arbeiter  wurde  in  16  Lohnklassen 
geschieden.  Ausserdem  wird  eine  Uebersicht  über  die 
Wochenlohnbeträge  im  Jahre  1890,  über  die  Zahl  der  Ar- 
beitstage und  die  Höhe  des  Jahresverdienstes  einer  Anzahl 
Arbeiter  und  Arbeiterinnen  in  den  Jahren  1886 — 1890  ge- 
| geben,  endlich  finden  sich  neben  einer  klaren  graphischen 
Darstellung  der  Entwicklung  des  täglichen  durchschnitt- 
lichen Arbeitsverdienstes  der  vier  Arbeiterhauptkategorien, 
Angaben  über  Wohlfahrtseinrichtungen,  Naturalleistungen 
u.  dgl.  und  endlich  eine  Uebersicht  über  die  Lohnverhält- 
nisse  der  Hausarbeiter  der  betreffenden  Unternehmung,  die 
auf  Grund  der  Lohnbücher  ausgearbeitet  wurde. 

Wir  können  die  besprochene  Arbeit  als  eine  sehr 
nützliche  bezeichnen.  Sicherlich  würde  eine,  ein  grosses  Ge- 
biet behandelnde  Publikation  nicht  bis  in  die  letzten  Einzel- 
j heiten  Resultate  publiziren  können,  wie  dies  hier  geschehen 
ist,  um  den  Gang  der  Arbeit  zu  illustriren,  aber  auch  bei 
Beschränkung  in  der  Publikation  wird  sich  auf  dem  von 
Böhmert-Förster  eingeschlagenen  Wege  so  manches,  wenn 
auch  sicherlich  nicht  alles,  was  den  Sozialpolitiker  inter- 
essirt,  erforschen  lassen. 

Wenn  Förster  sich  mit  den  seitens  der  Industriellen 
zum  Zwecke  der  Unfallversicherung  und  Einkommenssteuer 
geführten  Lohnnachweisungen  begnügen  will,  so  stimmen 
wir  mit  ihm  nicht  überein  und  stellen  dem  unsere  oben 
gemachten  Vorschläge  entgegen.  Bei  den  Schlusssätzen 
Förster’s  bleibt  es  unklar,  ob  er  lediglich  die  Verhältnisse 
der  ständigen  Arbeiter  erforschen  lassen,  oder  diese  blos 
trennen  will  von  den  fluktuirenden  Arbeitern. 

So  erfreulich  es  auch  ist,  dass  wenigstens  eines  unserer 
vielen  staatlichen  statistischen  Büreaus  sich  mit  ernstlichen 
Versuchen  auf  dem  Gebiete  der  Lohnstatistik  abgiebt,  so 
müssen  wir  doch  den  Wunsch  aussprechen,  dass  die  Experi- 


226 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALPLATT. 


No.  19. 


mente  nicht  blos  Experimente  bleiben,  dass  sie  sich  als 
Vorarbeiten  zu  einer  bald  in  Angriff  zu  nehmenden  Sozial- 
statistik darstellen  mögen;  dieser  Wunsch  kann  umsomehr 
ausgesprochen  werden,  als  das  Experiment  als  ein  ge- 
lungenes bezeichnet  werden  kann. 

Berlin.  Adolf  Braun. 


Arbcitsverhältnisse  in  den  preussischen  Staatsbeig- 
werken.  Bei  Mittheilung  des  neuesten  amtlichen  Berichtes  über 
die  preussischen  Staatsbergwerke  (No.  17,  II.  Jahrgang  dieses 
Blattes)  war  getadelt  worden,  dass  jener  Bericht  so  wenig  ein- 
gehende Nachrichten  über  die  Arbeiterverhältnisse  enthalte. 
Die  Verwaltung  scheint  jenen  Mangel  nachträglich  repariren 
zu  wollen.  Ueber  Arbeitslöhne  und  Arbeitsdauer  der  Berg- 
arbeiter veröffentlicht  ein  Bericht  über  die  Bergwerksindustrie 
und  Bergverwaltung  Preussens  im  Jahre  1891,  welcher  nach  amt- 
lichen Quellen  zusammengestellt  ist  und  jetzt  als  Sonderabdruck 
den  Mitgliedern  des  Abgeordnetenhauses  zugegangen  ist,  folgende 
statistische  Notizen.  Das  Jahresverdienst  der  Bergarbeiter  im 
Berichtsjahre  1891  ist  in  fast  allen  Bezirken  noch  höher  gewesen 
als  im  Vorjahre  innerhalb  der  wichtigeren  Steinkohlenbezirke 
berechnet  man  sich  den  verdienten  reinen  Lohn  (nach  Abzug  aller 
Arbeitskosten  und  der  Knappschafts-  und  Krankenkassenbei- 
träge) auf  I Schicht  und  1 Arbeiter  der  Gesammt-Belegschaft 
(einschliesslich  der  jugendlichen  und  weiblichen  Arbeiter  , wie 
folgt:  in  Oberschlesien  im  I.  Vierteljahre  auf  2,41  M.,  in  den  drei 
folgenden  Vierteljahren  auf  2,46  M.  bezw.  2,49  M.  und  2,49  M. 
und  im  Jahres-Durchschnitt  auf  2,46  M.  (gegen  2.37  M im  Vor- 
jahre); in  Niederschlesien  auf  2,45  M.,  bezw.  2,49  M.,  2,52  M.  und 
2,53  M.  in  den  einzelnen  Vierteljahren  und  2,50  M.  im  Jahres- 
Durchschnitt  (gegen  2,45  M.);  im  Oberbergamtsbezirke  Dortmund 
auf  3,52  M.,  3,54  M.,  3.57  IM.  und  3,54  M.,  bezw.  im  Jahres-Durch- 
schnitt auf  3,54  M.  (gegen  3,49  M.) ; bei  den  Saarbrücker  Staats- 
werken auf  3,92  M..  3,94  M.,  3,85  M.  und  3,85  M.,  bezw.  durch- 
schnittlich aut  3,89  M.  (gegen  3,79  M.);  im  Achener  Bezirke  auf 
3,08  M , 3,09  M.,  3,12  M.  und  3,10  M.,  bezw.  im  Mittel  auf  3,10  M. 
(gegen  3,01  M.).  Noch  deutlicher  kommt  die  Steigerung  der 
Löhne  in  dem  Betrage  des  von  einem  Arbeiter  der  Gesammt- 
Belegschaft  durchschnittlich  erzielten  reinen  Jahresverdienstes 
zum  Ausdruck.  Es  erhöhte  sich  nämlich  der  letztere  im  Ver- 
gleich zum  Vorjahre:  beim  Steinkohlenbergbau  in  Oberschlesien 
von  671  M.  auf  693  M.,  in  Niederschlesien  von  735  M.  auf  759  M., 
int  Oberbergamtsbezirke  Dortmund  von  1067  M.  auf  1086  M., 
bei  den  Saarbrücker  Staatswerken  von  1114  M.  auf  1137  M.  und 
im  Aachener  Bezirke  von  878  M.  auf  948  M.,  ferner  beim  Braun- 
kohlenbergbau im  Halleschen  Oberbergamtsbezirke  von  730  M 
auf  750  M.,  beim  Kupferschieferbergbau  daselbst  von  853  M.  auf 
913  M.,  beim  Steinsalzbergbau  daselbst  von  1012  M.  auf  1046  M., 
beim  rechtsrheinischen  Erzbergbau  ausser  Siegen-Nassau  von 
639  M.  auf  649  M.,  beim  linksrheinischen  Erzbergbau  von  634  M. 
auf  642  M.  Nur  beim  staatlichen  Erzbergbau  am  Oberharze 
sowie  in  den  Siegen-Nassauischen  Erzrevieren  war  der  Verdienst 
etwas  geringer  als  im  Vorjahre.  Er  sank  nämlich  im  Oberharz 
von  613  M.  aut  610  M.,  in  Siegen-Nassau  von  676  M.  auf  648  M. 
Die  Dauer  einer  gewöhnlichen  Arbeitsschicht,  welche  schon  in 
den  beiden  Vorjahren  vielfach  Kürzungen  erfahren,  ist  im  Laufe 
des  Berichtsjahres  in  einzelnen  Bezirken  noch  weiter  herab- 
gesetzt worden.  So  nahmen  von  den  unterirdisch  beschäftigten 
eigentlichen  Bergleuten  beim  Oberschlesischen  Steinkohlenberg- 
bau an  der  früher  fast  durchgängig  üblich  gewesenen  12stündigen 
Schicht  (einschliesslich  Ein-  und  Ausfahrt)  im  Durchschnitt  des 
Jahres  1891  noch  45pCt.  Theil,  gegen  55  pCt.  im  Vorjahre, 
während  die  übrigen  meistens  (im  letzten  Vierteljahre  40  pCt.) 
10  ständige,  zum  kleineren  Theile  auch  8stündige  Schichten  ver- 
fuhren. Beim  Niederschlesischen  Steinkohlenbergbau  hatten 
tOstündige  Schichtzeit  (einschliesslich  Ein-  und  Ausfahrt)  im 
Durchschnitt  des  Jahres  1891  87  pCt.  der  Belegschaft,  gegen 
91  pCt.  im  Vorjahre;  die  übrigen  verfuhren  8stündige  Schichten. 
In  den  übrigen  Steinkohlenbezirken  blieb  ebenso  wie  beim 
Braunkohlen-,  dem  Erz-  und  Steinsalzbergbau  die  Schichtdauer 
im  wesentlichen  unverändert.  — Leider  entspricht  auch  diese 
Lohn-  und  Schichtstatistik  in  keiner  Weise  den  elementarsten 
Anforderungen  einer  wissenschaftlich  brauchbaren  Nachweisung. 
Es  fehlt  jede  Eintheilung  in  die  verschiedenen  Arbeiterkategorien, 
jede  Kombination  der  Schichtzeit  mit  den  Löhnen  u.  s.  w.  Nur 
das  Eine  lässt  sich  erkennen,  dass  auch  bei  den  Staatsarbeitern 
die  Löhne  einen  durchaus  proletarischen  Charakter  tragen. 

Zur  „Vag-aboiulen“frag-e.  In  den  Verhandlungen  der  vor 
kurzem  stattgehabten  Generalversammlung  des  Branden- 
burgischen  Herbergsverbandes  wurde  mitgetheilt,  dass,  abge- 
sehen von  Berlin,  jetzt  in  der  Provinz  Brandenburg  45  Herbergen 
zur  Heimat,  das  sind  34  mehr  als  vor  neun  Jahren,  bestehen. 
Dieselben  hatten  einen  Verkehr  von  102  437  Schlafgästen,  ln 
31  Land-  und  8 Stadtkreisen  befinden  sich  ausserdem  133  Ver- 
pflegungsstationen. Die  starke  Vermehrung  der  Herbergen  und 
Verpflegungsstationen  findet  ihre  Ursache  in  der  rapiden  Zu- 
nahme der  Wanderer.  Diese  Zunahme  ist,  wie  konstatirt  wurde, 
so  stark,  dass  die  Zahl  der  Wanderer  im  Jahre  1891  in  den  meisten 


Stationen  doppelt  so  hoch  war  als  im  Jahre  1889  Einige  Zahlen 
mögen  dies  verdeutlichen.  So  verkehrten  z.  B.  im  Jahre  1889  in 
Fürstenberg  2500  Wanderer,  im  Jahre  1891  dagegen  4000;  in 
Beelitz  310(f  bis  6300;  in  Treuenbritzen  3900  bis  8500;  in  Zehdenick 
800  bis  3300;  in  Küstrin  3300  bis  5300.  Diese  Zahlen  lassen 
auf  eine  auffällige  Zunahme  der  industriellen  Reservearmee 
schliessen. 

Ausdehnung  der  ., Vagabundage"  im  Jahre  1892.  Der 

unter  gleichem  Titel  gebrachten  Notiz  in  No.  17,  II.  Jahrgang 
dieser  Zeitschrift  sind  für  1892  folgende  weitere  Zahlen  über 
die  steigende  Frequenz  der  sog.  Verpflegungsstationen  für 
„Wanderbettler“  in  Deutschland  anzufügen.  Die  Gesammt- 
ziffer  der  zugereisten  mittellosen  Wanderer  betrug  bei  der 
Station  Gifhorn  im  Jahre  1892,  4628  Mann  (gegen  2880  in 
1891),  in  Rotenburg  (Hannover)  1508  (gegen  1141),  in 
Helmstedt  (Braunschweig)  10  562  Personen  von  Mitte  1891 
bis  Ende  1892,  in  Merzig  (Rheinprovinz)  1535  (gegen  1066), 
in  Hanau  11  993  (gegen  13  529).  Das  sind  furchtbare  Ziffern 
die  von  dem  Elend  arbeitsloser  Wanderburschen  erzählen. 

Arbeitslosenstatistik  in  Stuttgart.  Durch  die  Arbeits- 
losenstatistik, die  neulich  in  Stuttgart  vom  Gewerkschaftskartell 
aufgenommen  wurde,  sind  2086  Arbeitslose  ermittelt  worden. 
Unter  diesen  befanden  sich  1151  Verheirathete.  Die  Zahl  der 
von  den  Arbeitslosen  zu  ernährenden  Angehörigen  betrug  1833 
Die  Gesammtdauer  der  Arbeitslosigkeit  betrug  15  046  Wochen, 
durchschnittlich  war  also  jeder  Arbeitslose  etwas  über  7 Wochen 
ohne  Beschäftigung.  Wenn  man  die  Berufe  mit  mehr  als  20 
Arbeitslosen  aufzählt,  so  ergiebt  sich  folgendes  Bild: 

Arbeitslos  waren 


464  Tagelöhner  . . 

2651  Wochen, 

durchschnittlich 

5,7 

Wochen 

184  Schreiner  . . . 

1460 

7,9 

152  Maurer 

702 

4,6 

123  Maler 

879 

7,1 

119  Schneider  . . . 

428 

3,6 

89  Zimmerleute  . 

615 

7,0 

79  Steinhauer . . . 

372 

4,7 

69  Gipser  oder 

Stuckateure  . . 

407 

5,9 

67  Schlosser .... 

542 

8,0 

66  Buchdrucker  . 

1347 

20,4 

65  Hausknechte  . 

569 

8,7 

59  Bierbrauer  . . . 

397 

7,0 

46  Buchbinder  . . 

348 

7,5 

44  Sattler 

274 

6,2 

40  Tapezirer  . . . 

310 

7,7 

39  Schuhmacher  . 

356  „ 

9,1 

37  Kaufleute  . . . 

473 

12,7 

36  Bäcker  . . . . 

174 

4,8 

26  Mechaniker  . . 

143 

5,5 

22  Bildhauer  . . . 

140 

6,3 

21  Gärtner 

151 

)> 

7,1 

In  den  Nachbarorten  Stuttgarts  wurden  340  Arbeitslose 
mit  1765  beschäftigungslosen  Wochen  ermittelt;  durchschnittlich 
war  also  jeder  etwas  über  5 Wochen  ohne  Arbeit.  Die  Zahl  der 
Verheiratheten  betrug  213,  die  Zahl  der  zu  ernährenden  Ange- 
hörigen 593  Unter  den  Arbeitslosen  befanden  sich  163  Tage- 
löhner mit  835  Wochen  Arbeitslosigkeit,  durchschn.  5,1  W.; 
64  Steinhauer  mit  268  W.,  durchschn.  4,1  W.:  47  Maurer  mit 
221  W.,  durchschn.  4,7  W.;  12  Zimmerleute  mit  59  W.,  durchschn. 
4,9  W.;  10  Schreiner  mit  61  W,  durchschn.  6 W. 

Ein  neues  Arbeitsamt  für  England.  Die  englische  Sozial- 
statistik. bisher  schon  die  bei  weitem  ergiebigste  und  frucht- 
barste, ist  im  Begriff  durch  die  Schaffung  einer  grossen  Organi- 
sation in  einem  sehr  gute  Hoffnungen  erweckenden  Massstab 
sich  zu  vervollkommnen.  Das  bisherige  Arbeitsbüreau  im 
Handelsdepartement,  dem  übrigens  nur  der  kleinste  Theil  der 
sozialstatistischen  Arbeit,  die  in  England  in  der  einen  oder 
andern  Form  ununterbrochen  im  Gange  ist,  zufiel,  genügte  der 
ihm  gestellten  Aufgabe  durchaus  nicht.  An  dessen  Stelle  soll 
jetzt  ein  Amt  treten,  von  dem,  wie  wir  dem  Vorwärts  ent- 
nehmen, der  Handelsminister  Mundelia  einer  Deputation,  be- 
stehend aus  den  parlamentarischen  Komitees  der  Trade  Unions 
und  der  Genossenschaftsvereine,  den  folgenden  Plan  entwarf: 
„Die  Arbeit  des  Sammelns , Verarbeitens  und  Publizirens 
von  statistischen  und  anderen  Informationen  über  die  aut 
die  Arbeitsverhältnisse  bezüglichen  Fragen  wird  in  Zukunft 
einer  gesonderten  Sektion  des  Handelsamts  übertragen  werden. 
Diese  Sektion  wird  die  Aufgaben  der  jetzigen  Handelsabtheilung 
im  Gewerbeamt  übernehmen  und  aus  drei  unterschiedenen 
Abtheilungen  — „Departements“  — , dem  Handels-,  Arbeits-  und 
statistischen  -Departement,  bestehen,  unter  der  Aufsicht  des 
Herrn  Giften  als  Generalkontrolleur. 

„Der  besondere  Stab  im  Centralbiireau  des  Arbeitsdeparte- 
ments, das  ein  eigenes  Gebäude  bewohnen  wird,  wird  aus  einem 
Arbeitskommissär  (für  die  allgemeine  Leitung  des  Departements), 
einem  Hauptsekretär  („Korrespondent“)  und  drei  weiteren 
Arbeitssekretären,  wovon  der  eine  weiblichen  Geschlechts  sein 
soll,  und  etwa  30  Schreibern  bestehen. 


No.  19 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALE, LAI"!'. 


227 


„Tn  einer  Anzahl  grosser  Pro\  inzstädie  werden  Ortssekre- 
täre ernannt  werden,  soweit  als  möglich  in  denselben  Centren, 
die  als  Sitze  der  Fabrikinspektion  in  Aussicht  genommen  sind. 
Diese  Ortssekretäre  haben  die  Pflicht,  das  Departement  über 
alle  wichtigen  Vorgänge  in  ihrem  Distrikt,  welche  die  Arbeit 
betreffen,  auf  dem  Laufenden  zu  halten,  und,  wo  erforderlich, 
die  Untersuchungen  des  Centralbüreaus  durch  lokale  Erhebungen 
zu  unterstützen.  Eventuell  sollen  den  so  geschaffenen  Orts- 
ämtern noch  weitere  Aufgaben  übertragen  werden. 

„Neben  der  Fortführung  und  Ausdehnung  der  bis  jetzt 
vom  Arbeits-  und  anderen  Sekretären  des  Handelsdepartements 
in  Bezug  auf  Sammlung  von  Material  über  Löhne,  Strikes,  Ge- 
werkvereine, Einwanderung,  Arbeitsstunden  etc.  ausgeführten 
Arbeiten  sind  zur  Zeit  hauptsächlich  folgende  Unternehmungen 
in  Aussicht  genommen  : 

„1.  Herausgabe  einer  „Arbeitszeitung“  — „Labour  Ga- 
zette — , die  zunächst  monatlich,  später  vielleicht  häufiger  er- 
scheinen soll.  Ihr  Zweck  soll  die  Lieferung  von  genauen  Infor- 
mationen sein  über  Fragen,  die  für  Arbeiter  und  Arbeiterinnen 
von  besonderem  Interesse  sind.  Der  gegenwärtig  vom  derzeitigen 
Arbeitssekretär,  Herrn  Burnett,  herausgegebene  Monatsbericht 
über  den  Stand  des  Arbeitsmarktes  der  „gelernten“  Industrien 
wird  so  in  der  „Gazette“  in  erweiterter  Form  erscheinen.  Ebenso 
soll  Bericht  erstattet  werden  über  die  im  Laufe  des  Monats  be- 
gonnenen, fortgeführten  oder  beendeten  gewerblichen  Streitig- 
keiten oder  über  wichtige  gewerbliche  Abmachungen,  wie 
Schiedssprüche,  Abänderungen  von  gleitenden  Lohnlisten,  Ver- 
theilung  der  Arbeiten  unter  verschiedene  Gewerbe. 

„Ferner  soll  veröffentlicht  werden  ein  amtlicher  Auszug 
aus  den  Berichten  der  Fabriks-  und  Bergwerksinspektoren  an 
das  Ministerium  des  Innern  über  den  Stand  der  Arbeit  in  ihren 
Distrikten,  soweit  dies  in  den  Bereich  ihrer  Thätigkeit  fällt,  über 
Unfälle,  Ausführung  des  Fabriks-  und  Bergwerksregulirungs- 
gesetzes und,  soweit  es  möglich  ist,  auch  über  wichtige  Ver- 
fügungen etc.  auf  Grund  des  Haftpflichtgesetzes,  über  Mass- 
nahmen von  Lokalbehörden  mit  Bezug  auf  die  Werkstätten- 
113'giene  und  die  Anwendung  der  Gesetze  über  Behausung  der 
Armen.  Von  wichtigen  Versammlungen  und  Konferenzen,  z.  B. 
den  Kongressen  der  Gewerkvereine  und  der  Genossenschaften, 
den  Meetings  der  Bergarbeiterföderation,  den  internationalen 
Kongressen  über  Arbeiterfragen  soll  gleichfalls  Notiz  genommen 
werden. 

„Vom  Hauptregistrator  der  Friendly  Societies  soll  ein 
monatlicher  Bericht  über  alle  Gewerkvereine,  Arbeitergenossen- 
schaften und  Hilfskassen,  die  während  des  Monats  angemeldet 
wurden  oder  sich  auflösten,  geliefert  werden. 

„In  gleicher  Weise  sollen  Berichte  über  die  Verhältnisse 
der  Landarbeiter,  über  die  Wirkungen  der  Gesetze  in  Bezug  auf 
die  ländlichen  Anwesen  und  Ackerloose,  über  den  weiblichen 
Arbeitsmarkt,  über  den  Stand  der  Verhältnisse  in  gewissen  un- 
regelmässigen Industrien  etc.  beschafft  werden.  Daneben 
Statistiken  über  den  Pauperismus,  über  die  Sparkassen,  das 
Unterrichtswesen  (besonders  in  gewerblicher  Hinsicht',  Export 
und  Import,  den  durchschnittlichen  Detailpreis  der  wichtigsten 
Verbrauchsgegenstände  der  Arbeiterklasse,  wie  der  Engrospreise 
der  wichtigsten  Weltmärkte.  Von  bedeutenderen  Vorgängen  im 
Auslande,  die  sich  auf  die  Arbeiterangelegenheiten  beziehen, 
soll  Notiz  genommen,  und  eine  Liste  cfer  in  England  und  im 
Auslande  erscheinenden  amtlichen  Publikationen  in  Bezug  auf 
Arbeiterangelegenheiten  gegeben  werden,  zugleich  mit  kurzen, 
leichtverständhchen  Auszügen  aus  diesen  Veröffentlichungen, 
desgleichen  eine  Zusammenstellung  der  im  Inland  und  Aus- 
land geschaffenen  Gesetze,  die  für  die  Arbeiterklasse  von  Be-  j 
deutung  sind. 

„Die  „Labour  Gazette“  soll  monatlich  1 Penny  (8 1 /.^  Pf.)  ( 
kosten  und  an  Volksbibliotheken,  Arbeiterorganisationen,  Ar- 
beiterbildungsvereine, Handelskammern  etc.  umsonst  abgegeben 
werden. 

„2.  Von  Zeit  zu  Zeit  wird  das  Arbeitsdepartement  Spezial- 
untersuchungen veranstalten  über  wichtige  Fragen,  welche  die 
Arbeiterverhältnisse  betreffen,  und  in  Bezug  auf  die  bisher  keine 
genügende  Auskunft  zu  haben  ist.  Als  dahin  gehörende  Gegen- 
stände der  Untersuchung  sind  in  Aussicht  genommen: 

,,a)  der  Umfang  und  die  Ursachen  der  Auf-  und  Abbewegungen 
der  Beschäftigungsgelegenheit  in  gewissen  unregelmässigen 
(Saison-  etc.  Industrien),  und  ihre  Rückwirkung  auf  die 
Bedingungen  und  die  Leistungsfähigkeit  der  beschäftigten 
Arbeiter. 

„b ) Zusammenstellung  der  in  England  und  ausserhalb  ge- 
machten Versuche,  durch  behördliche  Beschaffung  von 
Arbeit,  durch  Nothstandsarbeiten,  munizipale  oder  nationale 
Werkstätten,  Ackerbaukolonien  oder  dergleichen,  Noth- 
stände  zu  lindern,  sowie  der  Ursachen  des  Fehlschlagens 
oder  Gelingens  dieser  Versuche. 

,,c)  Gewisse  Fragen  über  die  Verhältnisse  der  Kinderarbeit 
innerhalb  und  ausserhalb  der  Fabriken. 

,,d)  Berichterstattung  über  die  Wirkungen  schädlicher  Arbeits- 
orozesse  in  gewissen  typischen  Gruppen  der  ungesunden 
Gewerbe,  wie  Töpfereien,  Bleiweisswerke,  Messerschleiferei, 
chemische  Fabriken  etc.  möglichst  sowohl  vom  statistischen 
wie  dem  wissenschaftlichen  und  medizinischen  Gesichts- 
punkt aus. 


„Andere  wichtige  Gegenstände,  die  ebenfalls  Spezialunter- 
suchungen erheischen  mögen,  sind:  Die  ökonomischen  Wir- 

kungen der  Einwanderung  Fremder,  die  verschiedenen  Methoden 
der  Lohnzahlung  und  Regulirung  (z.  B.  Gleitende  Listen,  Ge- 
winnbetheiligung, Genossenschaftliche  Arbeit  etc ),  die  Arbeit 
verheiratheter  Frauen,  die  Kosten  des  Lebensunterhaltes,  die 
Arbeitsstunden,  Ueberzeitarbeit  etc. 

„3.  Das  Arbeitsdepartement  wird  bereit  sein,  gelegentlich 
vom  Parlament  angeordnete  Untersuchungen  über  Arbeiterfragen 
zur  Ausführung  zu  bringen. 

„4.  Das  Departement  beabsichtigt,  jährlich  einen  Bericht 
über  seine  Thätigkeit  herauszugeben,  der  möglichst  so  abge- 
fasst werden  soll,  dass  er  ein  handliches  Nachschlagebuch  für 
Arbeiter  mit  Bezug  auf  die  Hauptfragen  bildet,  welche  das 
Departement  im  Laufe  des  Jahres  beschäftigt  haben  “ - 

Dies  das  von  Herrn  Mundella  entwickelte  Programm.  Die 
nöthigen  Fonds  für  das  neue  Departement,  fügte  er  hinzu,  sind 
bereits  vom  Schatzkanzler  (Sir  W.  Harcourt)  ausgeworfen 
worden.  Es  sei  ein  neues  und  ausdehnungsfähiges  Departement, 
von  dem  jeder  Arbeiter  das  Recht  haben  werde,  Auskunft  ein- 
zuholen, und  das  nicht  eingesetzt  sei,  Ansichten  zu  propagiren. 
Er  hoffe  zuversichtlich,  es  werde  in  diesem  Falle  sich  nicht  das 
Tennyson’sche  Wort  bewahrheiten:  „Wissen  kommt  und  Weis- 
heit verschmachtet“,  sondern  dass  diese  Massregel  der  Re- 
gierung beiträgen  werde,  die  Lage  derer  zu  verbessern,  für  die 
sie  getroffen  sei,  den  nationalen  Wohlstand  zu  erhöhen  und  ein 
grösseres  Mass  industriellen  Friedens  herbeizuführen. 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Sozialdemokratischer  Kongress  in  Ungarn.  Ueber  den 
Parteitag  der  Sozialdemokratie  Ungarns  berichtet  die  Wiener 
Arbeiterzeitung:  Am  6.,  7.  und  8.  Januar  fand  in  Budapest  der 
zweite  Parteitag  der  ungarländischen  Sozialdemokraten  statt. 
Er  war  von  60  Delegirten  aus  Budapest  und  33  Delegirten  aus 
der  Provinz  beschickt,  wobei  zu  bemerken  ist,  dass  auch 
Kroatien  zum  ersten  Male  durch  2 Delegirte  vertreten  war.  Auch 
von  Seite  der  österreichischen  sozialdemokratischen  Partei 
wurden  zwei  Vertreter  entsendet.  Die  Hauptaufgabe  des  Partei- 
tages war,  sich  klar  darüber  zu  werden,  ob  Programm  und 
Taktik  der  österreichischen  Partei  seit  dem  Hainfelder  Kongresse, 
welche  am  ersten  Parteitag  der  ungarischen  sozialdemokratischen 
Partei  angenommen  wurden,  genehmigt  werden  sollen,  und  die 
zweite  Hauptaufgabe  bestand  darin,  einen  Organisationsplan  für 
ganz  Ungarn  zu  entwerfen,  um  die  Partei  zu  kräftigen  und  ihr  eine 
teste  Grundlage  zu  geben.  Die  Verhandlungen  haben  bei  diesen 
Punkten  ergeben,  dass  an  dem  Programm  und  der  Taktik, 
welche  vom  ersten  Parteitag  beschlossen  wurden,  im  allgemeinen 
nichts  zu  ändern  ist.  Es  wurde  nur  das  eine  zur  Annahme 
empfohlen,  dass  der  Zusatz  „ohne  Unterschied  des  Geschlechtes“ 
bestimmter  ausgedrückt  werde,  im  Uebrigen  wurde  dieses  Pro- 
gramm einstimmig  angenommen.  Was  den  Organisationsentwurf 
anbelangt,  so  erklärte  sich  der  Kongress  mit  dem  der  österreichi- 
schen Sozialdemokraten  einverstanden;  dieser  wurde  auch  mit 
ganz  wenigen  Aenderungen  angenommen.  Auch  beschloss 
man,  den  1.  Mai  1893  ebenso  wie  in  Oesterreich  unter  allen 
Umständen  zu  feiern,  in  dem  Vollbewusstsein,  dass  das  ungar- 
ländische arbeitende  Volk  ebenso  wirtschaftlich  und  politisch 
geknechtet  sei,  wie  das  österreichische.  In  der  Affäre  Engel- 
mann (des  früheren  Redakteurs  der  Budapester  „Arbeiterpresse“ 
und  Genossen  konnte  nun  trotz  aller  Mühe,  welche  sich  gerade 
die  Delegirten  aus  der  Provinz  gaben,  kein  Ausgleich  zustande 
kommen,  weil  Engelmann  und  Genossen  den  Parteitag  ver- 
liessen  und  jede  Verständigung  mit  ihren  Kampfgenossen  im 
Vorhinein  ausschlugen,  und  weiter,  weil  sie  selbst  der  Kom- 
mission, welche  nur  aus  Provinzdelegirten  gewählt  wurde,  jede 
Möglichkeit  nahmen,  versöhnend  einzugreifen.  Trotzdem  diese 
Kommission  viermal  Engelmann  und  Genossen  bat,  sie  möchten 
zur  Verhandlung  kommen,  lehnten  diese  mit  aller  Entschieden- 
heit ab.  Sie  wollten,  die  Kommission  solle  zu  ihnen  kommen, 
und  auf  dieses  konnte  sich  diese  nicht  einlassen,  weil  sie  vom 
Parteitag  berufen  war,  beide  Parteien  anzuhören  und  danach  zu 
urtheilen,  und  das  konnte  nur  im  Beisein  beider  Parteien  ge- 
schehen. Die  Folge  der  Hartnäckigkeit  war,  dass  die  Kom- 
mission den  Beschluss  fasste:  Engelmann  und  Genossen  sind 
von  der  Organisation  so  lange  ausgeschlossen,  bis  sie  den  Be- 
weis für  ihre  schweren  Anschuldigungen  geliefert  habem  Dieser 
Kommissionsbeschluss  wurde  vom  Parteitag  einstimmig  ange- 
nommen. Was  den  Parteitag  selbst  betrifft,  so  muss  konstatirt 
werden,  dass  die  Verhandlungen  bis  auf  die  Affäre  Engelmann 
einen  sehr  würdigen  Verlauf  nahmen.  Jeder  einzelne  war  be- 
strebt, im  Dienste  der  Partei  seine  ganze  Kraft  einzusetzen.  Mit 
grossem  Interesse  wurden  die  Berichte  der  Landarbeiter  über 
deren  traurige  Lage  verfolgt;  dieselben  machten  einen  tiefen 
Eindruck. 


228 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  19. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Die  Organisation  (1er  Textilarbeiter  Italiens  tritt 
soeben  in  das  Stadium  nationaler  Centralisätion  ein.  Es 
soll  eine  „Federazione  nazionale  dei  tessitori“  begründet 
werden  als  Zusammenfassung  thunlichst  aller  lokalen  Ver- 
einigungen: der  Societä  di  resistenza  und  di  mutuo  soccorso, 
der  Leghe,  Cooperative  u.  s.  w.  Bisher  haben  ihren  Beitritt 
erklärt:  die  Societä  sindacale  tessitori  in  seta  in  Mailand; 
die  Cooperativa  in  Schio;  die  Societä  tessitori  aus  Biella 
und  Umgegend;  die  Lega  tessitori,  sezione  Jacquard,  in 
Monza.  Um  das  Zustandekommen  der  Federazione  zu  er- 
leichtern und  zu  beschleunigen,  ist  nunmehr  von  F.  Caval- 
cabrina  ein  Statutentwurf  ausgearbeitet  worden,  dessen 
Grundzüge  folgende  sind:  Der  Art.  1 schlägt  für  die  neue 
Föderation  den  etwas  schleppenden  Titel  vor:  Unione 

generale  italiana  tra  i lavoratori  adetti  alle  arti  tessili  e 
affini,  während  im  nächsten  Art.  (2)  die  Mitgliedschaft  dahin 
präzisirt  wird,  dass  an  der  Unione  Theil  nehmen  können: 
alle  Kampf-,  kooperativen,  Hilt's-  und  Unterstützungsvereine, 
welche  aus  gewöhnlichen  Arbeitern  als  Webern,  Spinnern, 
Bandwebern,  Wirkern  u.  s.  w.  beiderlei  Geschlechts  be- 
stehen, sofern  diese  sich  in  direkter  Abhängigkeit  vom 
Unternehmer  befinden;  ebenso  alle  Vereinigungen  von 
Hausindustriellen  der  Textilbranche  (operai  che  lavorino 
a domicilio  per  conto  di  mercanti  o maestranze).  Als 
Zweck  der  Unione  wird  ausgesprochen  (Art.  4):  „Gegen- 
seitige Unterstützung  durch  Rath  und  That  bei  Verfolgung 
des  Klasseninteresses“;  dieses  allgemeine  Ziel  wird  dann 
durch  folgende  Mittel  zu  erreichen  versucht: 

a)  Durch  Verbreitung  des  Assoziationsprinzips:  Gründung 
und  Unterstützung  von  Kampfes-Fachvereinen,  Hilfs- 
kassen, Genossenschaften,  Alterskassen  etc.; 

b)  durch  Verbreitung  technischer  Fachbildung  mittelst 
Leihbibliotheken, Schulen,  Herausgabe  einer  Fachzeitung 
und  Förderung  der  Arbeitskammern,  deren  Bestimmung 
es  ist,  die  Lage  der  Arbeiter  zu  verbessern; 

c)  durch  Beilegung  der  Streitigkeiten  zwischen  Unter- 
nehmer und  Arbeiter  mittelst  gemischter  Schiedsgerichte, 
deren  Urtheil  zwingende  Geltung  haben  sollen; 

d)  durch  Einbringung  und  Aufrechterhaltung  der  Lohn- 
tarife und  durch  Einführung  eines  Normalarbeitstages; 

e)  durch  Reiseunterstützung  arbeitsuchender  Genossen, 
sofern  diese  mit  ihren  Beiträgen  zu  den  Lokalvereinen 
nicht  im  Rückstände  sind. 

Die  übrigen  Bestimmungen  des  Statutenentwurfs  haben 
nur  nebensächliches  Interesse:  Die  Beiträge  zur  Central- 
stelle sollen  nach  Massgabe  der  Mitgliederzahl  der  einzelnen 
Lokalvereine  bemessen  werden  (unter  50  Mitgliedern  1,00Lire, 
50—200  2,00  Lire,  über  500  10,00  Lire);  im  Falle  eines 
Generalstrikes  an  einem  Orte  sollen  alle  Mitglieder  der 
Union  die  strikenden  Genossen  „moralisch  und  materiell“ 
zu  unterstützen  verpflichtet  sein.  Beabsichtigte  Strikes 
sind  dem  Centralkomitee  zwecks  Organisirung  der  Unter- 
stützung rechtzeitig  anzumelden.  Ein  Kongress  von  Vertretern 
aller  theilnehmenden  Vereine  soll  in  zweijährigen  Zwischen- 
räumen abgehalten  werden.  Die  Union  wird  vertreten  durch 
das  Centralkomitee,  das  seinen  Sitz  in  der  vom  Kongress  zu 
bestimmenden  Stadt  hat.  Endlich  soll  die  Union  ein  Fach- 
blatt zur  ausschliesslichen  Verfügung  sich  halten.  — Er- 
sichtlich ist  nach  diesem  Entwurf  die  geplante  Centralisation 
einstweilen  noch  eine  mehr  ideelle.  Immerhin  ist  den  Be- 
strebungen von  allen  Freunden  der  Arbeiterorganisationen 
ein  gedeihlicher  Fortgang  zu  wünschen. 


Unternehmerverbände. 


Rheinisch-westfälisches  Kohlenkartell.  Ueber  den  Plan 
eines  rheinisch-westfälischen  Kohlenkartells  ist  in  No.  15,  II.  Jahr- 
gang des  Sozialpolitischen  Centralblatts  ausführlich  berichtet 
worden.  Am  28  Januar  sollte  in  Dortmund  die  entscheidende 
Versammlung  behufs  Gründung  des  gemeinsamen  Kontors  statt- 
linden.  Es  gelang  Jedoch  noch  immer  nicht,  das  Kartell  end- 
gültig zu  Stande  zu  bringen  und  die  Gründung  ist  nochmals 
auf  den  16.  Februar  verschoben  worden.  Die  Verhandlung  in 
Dortmund  ergab  folgendes  Ergebniss.  Die  Gesammtförderung 
des  Oberbergamtsbezirks  Dortmund  habe  für  das  Jahr  1891 


37  295  030  t betragen.  Davon  gingen  ab:  a)  Hüttenzechen 

3 378  414  t,  b)  Revier  Osnabrück  155  513  t,  c)  Privatwerke  unter 

10  000  t Jahresförderung  32  592  t,  d)  Kaiserin  Augusta,  welche 
den  Betrieb  einstellte  22  267  t,  zusammen  3 588  786  t,  bleiben 
33  706  244  t.  Hiervon  waren  in  der  Versammlung  nicht  vertreten 
2 148  304  t,  vertreten  31557  940  t;  von  diesen  enthielten  sich  der 
Abstimmung  428  097  t ( Königsgrube),  mit  Nein  stimmten  178  474  t 
(Schlägel  und  Eisen),  während  der  Rest  mit  30  951369  t seine 
Stimme  mit  Ja  abgab.  Das  Haupthinderniss  bildet  also  noch  die 
Zurückhaltung  der  Königsgrube  von  der  Magdeburgischen  Berg- 
werksaktiengesellschaft. Diese  Zeche  „Königsgrube“  (bei  Wanne) 
verlangt:  1.  Festsetzung  der  gleichen  Busse  zu  Lasten  des 

Syndikats  bei  mangelnder  Abnahme  seitens  desselben,  wie  der 
zu  gunsten  desselben  bestimmten  Busse  bei  Nichtlieferung 
seitens  der  Zechen.  2.  Einräumung  des  Rechtes  zur  Bestimmung 
eines  Mitgliedes  des  Beiraths,  nebst  Stellvertreter  für  jede  dem 
Syndikat  " beitretende  Zeche.  Festsetzung  des  Stimmrechts  auf 
I Stimme  für  die  Förderung  bis  zu  1 Million  Tonnen,  2 Stimmen 
für  eine  Förderung  bis  zu  2 Million  Tonnen  und  endlich  drei 
Stimmen  für  jede  2 Million  Tonnen  übersteigende  Förderung. 
3.  Eintheilung  der  Syndikatsverwaltung  nach  Qualitätsgruppen. 

4 Die  Meistbegünstigungsklausel  Das  Organ  der  Kartellbe- 
strebungen,  die  „Rhein.  Westf.  Ztg.“  bemerkt  dazu:  „Bezüglich 
I.  geben  nach  allgemeinem  Dafürhalten  die  Bedingungen  des 
Vertrages  jeder  Zeche  hinreichende  Handhaben,  um  sich  gegen 
mangelhafte  Abnahme  des  Syndikats  zu  schützen,  ausserdem  ist 
aber  auch  der  gewünschte  Zusatz  zu  § 2 des  Vertrages  gemacht 
worden,  indem  bestimmt  worden  ist,  dass  das  Syndikat  den- 
jenigen Zechen,  deren  Absatz  unter  der  Antheilziffer  bleibt,  eine 
jährlich  in  der  ersten  Versammlung  der  Zechenbesitzer  festzu- 
stellende Entschädigung  zu  zahlen  hat,  gleichviel  ob  eine  Ein- 
schränkung der  Förderung  beschlossen  worden  oder  nicht.  Da- 
gegen erscheint  die  gewünschte  Vermehrung  des  Beirathes  auf 
noch  mehr  als  33  Mitglieder  durchaus  unthunlich,  da  sonst  ein 
gedeihliches  Arbeiten  desselben  unmöglich  sein  würde.  Ueber 
Frage  3 kann  erst  nach  Gründung  des  Syndikates  entschieden 
werden.  Die  Meistbegünstigungsklausel  endlich  ist  selbstver- 
ständlich, da  eben  der  Vertrag  nur  unter  Zustimmung  aller  Be- 
theiligten geändert  werden  kann.“  Es  wird  nun  darauf  an- 
kommen, ob  der  ausserordentlich  ins  Gewicht  fallenden  „Königs- 
grube“ diese  Auskunft  genügt.  Der  Antheil  der  am  28.  Januar 
bedingungslos  Zustimmenden  an  der  Gesammtförderung  betrug 
erst  92  pC't.,  während  95  pCt.  für  nothwendig  gehalten  werden. 

Verband  der  braunschweigischen  Brauereibesitzer.  Zur  Ab- 
wehr derBestrebungen  der  Arbeiter,  ihre  Lage  zu  verbessern, haben 
die  braunschweiger  Brauereiunternehmer  Ende  vorigen  Jahres 
einen  Verein  gebildet,  aus  dessen  Statuten  folgende  interessante 
Einzelheiten  mitgetheilt  werden  können.  Es  heisst  da  u.  a. : 
„Treten  bei  einem  Mitgliede  Thatsachen  hervor,  welche  den 
Ausbruch  eines  Boykotts  wahrscheinlich  machen,  so  ist  die 
fragliche  Brauerei  verpflichtet,  dies  sofort  dem  Vorsitzenden 
oder  Stellvertreter  unter  genauer  Darlegung  der  Verhältnisse 
möglichst  schriftlich  anzuzeigen,  welcher  seinerseits  sofort  eine 
Versammlung,  über  die  bis  dahin  die  strengste  Verschwiegen- 
heit zu  bewahren  ist,  einberuft.  Alsdann  beschliesst  die  Ver- 
sammlung, ob  die  schwebende  Angelegenheit  in  Güte  oder  auf 
dem  Zwangswege  zu  erledigen  ist.  Der  Majoritätsbeschluss  ist 
für  die  betroffene  Brauerei  bindend.  Sollte  eine  gütliche  Bei- 
legung nicht  erfolgen  und  in  Folge  dessen  von  den  hiesigen 
Sozialdemokraten  eine  Brauerei  in  Verruf  erklärt  werden,  so 
treten  zum  Schutze  der  in  Verruf  erklärten  Brauerei  folgende 
Bestimmungen  in  Kraft:  Sämmtliche  Brauereigeschäfte  ent- 

lassen das  gesammte  Arbeitspersonal  mit  Ausnahme  bestimmter 
Personen.  Wer  von  den  entlassenen  Arbeitskräften  welche  im 
Dienst  behält  oder  vor  Beendigung  des  Boykotts  wieder  in  den 
Dienst  nimmt,  zahlt  eine  Konventionalstrafe  von  zehntausend 
Mark  Bierfahrer  einer  anderen  Brauerei  dürfen  bei  Meidung 
der  gedachten  Konventionalstrafe  nicht  vor  Ablauf  von  drei 
Monaten  nach  Beendigung  des  Boykotts  eingestellt  werden. 
Von  den  entlassenen  Leuten,  insbesondere  den  Bierfahrern,  ist 
während  der  Dauer  des  Boykotts  jede  Hilfeleistung  verboten, 
selbst  eine  Begleitung  der  Geschirre  ist  auch  ohne  Lohnge- 
währung oder  anderweitige  Vergütung  nicht  gestattet.  Wer 
dies  wissentlich  zulässt,  zahlt  ebenfalls  die  obengedachte  Kon- 
ventionalstrafe. Die  Fälligkeit  einer  Konventionalstrafe  ist  durch 
die  Versammlung  durch  Zweidrittel  - Majorität  auszusprechen. 
Die  Betroffenen  haben  sich  der  Abstimmung  zu  enthalten. 
Sollte  bei  einer  Brauerei  ohne  Wissen  der  leitenden  Persönlich- 
keit ein  Verstoss  gegen  die  vorstehenden  Bestimmungen  Vor- 
kommen, so  wird  die  gedachte  Konventionalstrafe  erst  dann 
fällig,  wenn  nicht  am  Tage  nach  schriftlicher  Aufforderung  von 
Seiten  des  Vorsitzenden  dem  Mangel  abgeholfen  ist.  Für  jeden 
Hektoliter  Bier,  welchen  die  boykottirte  Brauerei  in  Folge  des 
Boykotts  weniger  verkauft,  wird  der  betreffenden  Brauerei  vom 
Vereine  eine  Entschädigung  von  drei  Mark  gezahlt.  Der  Ersatz- 
anspruch und  demgemäss  auch  die  Beitragspflicht  beginnt  mit 
dem  Monate,  in  welchem  der  Boykott  verhängt  wird.  Existiren 
Zweifel  über  das  Datum,  so  bestimmt  die  Versammlung  mit 
absoluter  Majorität,  welcher  Zeitpunkt  als  Beginn  des  Boykottes 
zu  betrachten  ist-  Das  Ende  eines  Boykottes  wird  als  einge- 
treten betrachtet:  1.  wenn  der  wirkliche  Absatz  der  boykottirten 
Firma  während  zweier  aufeinander  folgender  Monate  weniger 


No.  19. 


SOZIALPOLITTSCI I LS  CENTRALBLATT, 


229 


als  6 pCt.  hinter  dein  reclinungsmässig  gefundenen  „Soll-Absatz“ 
zurückbleibt,  2.  wenn  die  gegen  die  boykottirte  Firma  ver- 
hängten Massregeln  betreffenderseits  ausdrücklich  zurückge- 
nommen werden,  und  3.  wenn  die  Versammlung  es  mit  Ein- 
stimmigkeit (die  boykottirte  Firma  hat  sich  der  Stimmenabgabe 
zu  enthalten)  bescldiesst.  Wird  der  Boykott  gegen  sämmtliche 
verbundene  Brauereien  erklärt,  so  tritt  die  hier  vereinbarte 
Entschädigungspflicht  nicht  in  Wirkung.“  Man  sieht,  dass  sich 
die  Organisation  der  Unternehmerverbände  allmählich  bis  in  die 
kleinsten  Einzelheiten  vervollkommnet. 

Die  böhmischen  Zuckerkartelle  und  die  Rübenbauer. 

Die  Abgeordneten  Krumbholz  und  Genossen  verlangten  im 
österreichischen  Reichsrath  in  Form  einer  Interpellation  ein 
Gesetz  zum  Schutze  der  durch  die  böhmischen  Zucker- 
fabrikskartelle bedrohten  Landwirthe.  Aus  der  sehr  inter- 
essanten Begründung  der  Interpellation,  die  für  die  Natur- 
geschichte der  Kartelle  von  Interesse  ist,  heben  wir  das 
folgende  hervor:  Im  Laufe  des  Jahres  1892  wurden  im 

Königreiche  Böhmen  an  verschiedenen  Orten  öffentliche 
Versammlungen  der  mit  dem  Anbau  der  Zuckerrübe  be- 
schäftigten Landwirthe  abgehalten,  in  welchen  überein- 
stimmend begründete  Klagen  gegen  die  die  Landwirtschaft 
arg  bedrohenden  Kartelle  der  Zuckerfabrikanten  geführt 
wurden.  In  diesen  Versammlungen  wurde  insbesondere 
darauf  hingewiesen,  dass  diese  Kartelle  den  Zweck  ver- 
folgen und  erfahrungsgemäß  denselben  bisher  immer  auch 
erreicht  haben,  dass  die  Zuckerfabrikanten  immer  das  ge- 
sammte  Quantum  der  angebauten  Zuckerrübe  um  die  von 
ihnen  im  voraus  einseitig  bestimmten  Preise  käuflich  er- 
werben, und  sodann  untereinander  die  an  die  einzelnen 
Fabriken  zufallenden  Quantitäten  nach  bestimmten  Terri- 
torien vertheilen  und  zuweisen. 

Durch  derartige  geheime  Abmachungen  wird  der 
Preis  der  Zuckerrübe  einseitig  nur  von  Abnehmern  be- 
stimmt, und  die  Landwirthe  sind  wegen  der  Schwierigkeit, 
ja  sogar  Unmöglichkeit,  die  Rübenvorräthe  auf  längere  Zeit 
aufzubewahren,  in  die  Zwangslage  versetzt,  den  Zucker- 
fabriken ihre  Produkte  um  die  von  diesen  einseitig  be- 
stimmten Preise  überlassen  zu  müssen,  und  hierdurch  vom 
Grosskapitale  in  einer  solchen  Weise  ausgebeutet  und  be- 
schädigt werden,  dass  die  Zuckerrübenproduktion  dadurch 
arg  bedroht  erscheint. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Zur  Sonntagsruhe  in  Berlin.  Anlässlich  der  Sonntagsruhe 
hat  der  Bund  der  Obst-,  Gemüse-,  Kartoffel-,  Holz-  und  Kohlen- 
händler an  den  Oberpräsidenten  der  Provinz  Brandenburg  und 
das  Polizeipräsidium  eine  Eingabe  gerichtet,  in  der  gesagt  wird, 
dass_  sich  das  konsumirende  Publikum  vollständig  an  die  für 
Berlin  festgesetzten  Verkaufsstunden  gewöhnt  habe.  Sollte  sich 
indess  eine  Aenderung  der  gegebenen  Bestimmungen  als  noth- 
wendig  erweisen,  so  möchten  die  Verkaufsstunden  für  alle  Ge- 
werbetreibenden gleichmässig,  und  zwar  früh  aut  die  Zeit  von 
6 — 10  Uhr  und  Nachmittags  von  12-3  Uhr  festgesetzt  werden. 
Ferner  wird  gebeten,  den  Gast-  und  Schankwirthen  sowie 
Konditoren  den  Verkauf  von  Genussmitteln  über  die  Strasse  zu 
untersagen,  weil  der  Begriff  „fertige  Speisen“  sehr  dehnbar  sei. 
Diesen  Gewerben  dürfe  nur  gestattet  sein,  das  zu  verkaufen, 
was  der  Gast  augenblicklich  verzehren  könne. 

Zur  Sonntagsruhe  auf  den  preussischen  Eisenbahnen. 

Die  Sonntagsruhe  für  den  Güterverkehr  auf  den  preussischen 
Eisenbahnen  scheint  nicht  von  Dauer  zu  sein.  Nach  einer 
Meldung  der  Tagesblätter  soll  dieselbe  seit  dem  1.  Ja- 
nuar d.  J.  wieder  aufgehoben  sein. 

Sonntagsruhe  in  den  österreichischen  Tabaktrafiken 

und  Lottokol lektu ren.  Die  von  Privaten  betriebenen  Ver- 
kaufsstellen der  österreichischen  Tabakmonopolverwaltung 
und  die  Einsatzstellen  der  Zahlenlottos  waren  bis  nun  nicht 
den  ziemlich  strengen  Bestimmungen  über  die  Sonntags- 
ruhe für  das  österreichische  Handelsgewerbe  unterworfen. 
Das  fiskalische  Interesse  des  Staates  stellte  sich  der  Durch- 
führung der  sozialpolitischen  Gesetzgebung  entgegen.  Den 
Ernst  der  österreichischen  Sozialpolitik  charakterisirt  es 
nicht  aufs  vortheilhafteste,  wenn  in  dem  heute  noch  nicht 
ausser  Kraft  gesetzten  Artikel  VIII  des  Kaiserlichen  Pa- 
tentes vom  20.  Dezember  1859,  mit  welchem  die  sonst  viel- 


I fach  amendirte  Gewerbeordnung  erlassen  wurde,  ausdrück- 
lich statuirt  wird,  dass  bezüglich  der  Monopole  und  Regalien 
des  Staates  die  bis  dahin  in  Geltung  gewesenen  Vorschriften 
weiter  massgebend  bleiben  sollen,  somit  die  Bestimmungen 
der  Gewerbeordnung  keine  Anwendung  finden  sollten.  Auf 
Grund  dieser  Bestimmung  sind  die  Staatsbetriebe  bisher 
von  der  G.-O.  und  somit  auch  von  der  Arbeiterschutz- 
gesetzgebung eximirt.  Durchbrochen,  aber  nicht  aus  dem 
Wege  geräumt  ist  diese  Ausnahmebestimmung  mehrfach, 
so  durch  die  freilich  erst,  durch  die  Inspektoren  erkämpfte 
Ausdehnung  der  Gewerbeinspektion  auf  die  Tabakfabriken. 
Eine  Ausdehnung  der  Sonntagsruhe  auf  die  k.  k.  Tabak- 
trafiken und  Lottokollekturen  suchte  ein  Antrag  des  Abg. 
Gessmann  vom  27.  November  1891  herbeizuführen.  Der 
Finanzminister  erliess,  um  einer  Beschlussfassung  des  Reichs- 
rathes  zuvorzukommen  am  10.  August  1892  einen  Erlass, 

\ welcher  an  alle  Finanzlandesdirektionen  und  Finanzdirek- 
tionen gerichtet  ist.  In  demselben  wurde  verfügt,  dass  in 
den  Tabaktrafiken  und  Lottokollekturen  mit  ständigem, 
( gegen  Entlohnung  aufgenommenen  Personal  demselben  jeder 
zweite  Sonntag  oder  an  jedem  Sonntag  die  halbe  reguläre 
Verschleisszeit  freigegeben  werden  solle.  Für  die  Ein- 
haltung dieser  V orschrift  werden  entsprechende  Ordnungs- 
strafen festgesetzt.  Mit  Rücksicht  auf  diesen  Erlass  be- 
schloss der  Budgetausschuss,  dem  der  Antrag  Gessmann 
zur  Beschlussfassung  vorgelegt  wurde,  denselben  als  er- 
ledigt zu  betrachten.  Diese  Lösung  ist  sehr  zu  bedauern, 
weil  ohne  vollständige  Schliessung  der  Geschäfte  und  ohne 
gleich mässige,  den  Geschäftsinhabern  nicht  überlassene 
Fixirung  der  Ruhezeit  eine  Kontrole  über  die  Durchführung 
i des  Erlasses  nicht  möglich  sein  wird  und  weil  die  besonders 
in  mittleren  und  kleineren  Orten  häufige  Vereinigung  von 
Tabaktrafiken  und  Lottokollekturen  mit  Viktualien-,  Papier  - 
u.  a.  Handel  leicht  zahlreiche  andere  Uebertretungen  der 
Sonntagsruhebestimmungen  und  damit  Missvergnügen  der 
Konkurrenten  zur  Folge  haben  muss,  endlich  weil  ein 
Zwang  zur  Sonntagsruhe  nicht  nur  im  Interesse  der  An- 
gestellten, sondern  auch  der  Ladeninhaber  liegt,  besonders 
in  diesem  Falle,  wo  es  sich  fast  nur  um  kleine  Leute  handelt. 

Neue  Arbeitevschutzgesetzgebung  in  Belgien.  Das  bel- 
gische „Staatsblatt“  veröffentlicht  eine  Reihe  königlicher  Erlasse, 
wodurch  die  Frauen-  und  Kinderarbeit  in  industriellen  Anlagen 
nach  den  Forderungen  des  Gesetzes  vom  3.  Dezember  1889  ge- 
regelt wird.  Dieses  Gesetz  hatte  u.  a.  bestimmt,  dass  der  König 
innerhalb  dreier  Jahre  die  höchste  zulässige  tägliche  Arbeit.s- 
dauer  und  die  Ruhepausen  (für  Frauen  und  Kinder)  nach  den 
Erfordernissen  der  Industrie  sowohl  als  der  Art  der  Beschäfti- 
gung regeln  wird.  Die  jetzigen  Erlasse  — die  sich  indess  nicht 
auf  den  Bergwerksbetrieb  beziehen  — enthalten  diese  damals 
vorgesehene  Regelung.  Wir  heben  hieraus  auf  Grund  einer 
j Mittheilung  der  Kölnischen  Zeitung  Folgendes  hervor: 

1.  Spinnereien  und  Webereien  von  Leinen,  Baumwolle, 
Hanf  und  Jute:  Arbeitsdauer  iP/s  Std.,  jedoch  für  Kinder  von 
12—13  Jahren  nur  6 Std.  mit  Ausnahme  der  vor  dem  Erlass  be- 
schäftigten; drei  Ruhepausen  mit  (zusammen)  P/s  Std.  Ruhe  und 
einschliesslich  einer  einstündigen  Mittagspause;  während  der 
Pausen  müssen  die  Einrichtungen,  an  denen  geschützte  Personen 
arbeiten,  Stillstehen  und  diese  freien  Ausgang  haben.  2.  Woll- 
spinnerei und  Weberei:  Arbeitsdauer  IP/4  Std.;  drei  Pausen  mit 
1 / 2 Std.,  davon  einstündige  Mittagspause.  3.  Zeitungsdruckereien : 
Arbeitszeit  10  Std.;  mehrere  Pausen  mit  P/2  Std.  4.  Kunstge- 
werbe, darunter  graphische  Künste,  Schriftgiessereien,  Buch- 
bindereien, Klavier-,  Orgel-,  Geigenfabriken,  Diamantschneidereien 
11.  a.  m. : Arbeitsdauer  10  Std.  (in  Schriftgiessereien  8 für  Ar- 

beiter unter  16  Jahren);  drei  Ruhepausen  mit  P/2  Std.  5.  Papier- 
fabriken: Arbeitsdauer  6 Std.  für  Kinder  unter  14  Jahren,  10  Std. 
für  die  anderen  geschützten  Personen;  Pausen  für  Kinder  '/o  Std., 
für  die  übrigen  dreimal  mit  P/2  Std.  Die  vor  dem  Erlass  be- 
schäftigten Kinder  werden  wie  geschützte  Personen  über  14  Jahren 
j behandelt.  Nachts  dürfen  Knaben  von  mehr  als  14  Jahren  be- 
I schäftigt  werden.  6.  Tabak-  und  Cigarrenfabriken:  wie  in  den 
Papierfabriken,  jedoch  ohne  Ausnahmebestimmung  für  Nacht- 
arbeit. 7.  Zuckerfabriken:  Arbeitsdauer  101  2 Std.,  drei  Pausen 
mit  P/a  Std.  Nachtarbeit  wird  für  Knaben  über  14  und  Mädchen 
über  16  Jahre  gestattet.  8.  Möbelindustrie,  darunter  Parkettirung, 
Marmorarbeit,  Wagenfabriken,  Böttchereien,  Bürstenfabriken: 
Arbeitsdauer  (hier  betrifft  die  Ausnahme  blos  die  geschützten 
Personen  bis  zum  16.  Jahre)  9 Std.  vom  1.  Oktober  bis  Ende 
März,  sonst  10  Std.;  drei  Pausen  mit  P/2  Std  , einstündige  Mittags- 
pause. 9.  Töpfereien  und  Fayencefabriken  (wieder  ttir  alle  ge- 
schützten Personen):  Arbeitsdauer  10  Std.,  drei  Pausen  mit 
P/2  Std.,  mit  einstiindiger  Mittagspause.  10.  Fabriken  von  feuer- 
hartem Steingut:  desgl.  1 1 . Spiegelfabriken : desgl.  Ferner 
können  beim  Giessen  Knaben  von  14 — 16  Jahren  Nachts  sowie 
alle  14  Tage  6 Std.  am  Ruhetage  beschäftigt  werden;  zwischen 
diese  6 Std.  fällt  eine  wenigstens  halbstündige  Pause.  12.  Zünd- 
holzfabriken: Arbeitsdauer  10l/s  Std.;  drei  Pausen  mit  P/2  Std, 


230 


SOZI  AI, POLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  19. 


und  mit  freiem  Ausgang.  In  diesen  Fabriken  dürfen  nach  einem 
früheren  Erlass  Kinder  unter  14  Jahren  schon  nicht  mehr  be- 
schäftigt werden.  13.  Baugewerbe  (für  Arbeiter  von  weniger  als 
16  Jahren):  Arbeitsdauer  8 Std.  vom  I.  November  bis  Ende 
Februar,  sonst  10  Std.;  Pausen  I bezw.  P/2  Std.  14.  Ziegeleien: 
Arbeitsdauer  a)  8 Std.  für  alle  unter  14  und  Mädchen  unter 
16  Jahren:  b)  12  Std.  für  die  übrigen  Geschützten  vom  1.  April 
bis  Ende  September,  sonst  c)  8 Std.;  Pausen,  zu  a und  c mehrere 
mit  1 Std.,  zu  b mit  P/2  Std.  mit  einstündigem  Mittag.  15.  Zink- 
hütten: Arbeitsdauer  a)  für  Kinder  unter  14  Jahren  5 Std., 
b)  für  die  übrigen  Geschützten  10  Std.;  Pausen  zu  a V2  Std.,  zu 
b mehrere  mit  V2  Std.  und  mit  einer  Mittagstunde  zwischen 
II  und  2 Uhr;  Nachtarbeit  nur  für  Knaben  von  14-  16  Jahren. 
16.  Glas-  und  Krystallfabriken  (für  solche,  die  beim  Glasbereiten 
selbst  thätig  sind):  Arbeitsdauer  10  Std.  und  20  Min.;  drei  Pausen, 
nämlich  Morgens  20  Min.,  Mittags  V2  Std.,  Nachmittags  20  Min.: 
Nachtarbeit  für  Knaben  von  14 — 16  und  weibliche  Personen  von 
16—21  Jahren;  Arbeit  an  jedem  zweiten  Ruhetag  für  Knaben 
von  14—16  Jahren,  die  beim  Giessen  thätig  sein  müssen,  und 
dann  nur  bis  zu  6 Std.  mit  x/a  Std.  Pause.  17.  Bekleidungsge- 
werbe I,  nämlich  Produktion  von  Kleidungsstücken  und  Kurz- 
waaren:  Arbeitsdauer  11  Stunden;  drei  Pausen  mit  P/2  Std.  und 
einstündigem  Mittag.  18.  Sonstige  Bekleidungsgewerbe,  also 
Leder,  Schuhwerk,  Färbereien,  Schirme,  Handschuhe  u s.  w. : 
Arbeitsdauer  10  Std.:  Pause  mit  1 Std.  und  freiem  Ausgang. 
19.  Schwere  Maschinen  und  Eisenbahnwagen  u.  s.  w. : Arneits- 
dauer  10  Std.  für  Kinder  unter  14  Jahren,  11  Std.  für  die  übrigen 
Geschützten;  Pausen  mit  1 Std.  und  freiem  Ausgang.  20.  Leichte 
Maschinen,  darunter  Instrumente  für  Techniker,  Uhren,  Giesserei 
für  kleinere  Gegenstände,  Waffenfabriken  u.  s.  w.:  Arbeitsdauer 
10  Std.  für  Kinder  unter  14  Jahren,  1 1 Std.  für  die  übrigen  Ge- 
schützten in  Fabriken  von  Schrauben,  Nägeln,  Werkzeug- 
maschinen, landwirtschaftlichen  und  Gartenmaschinen  und  Ge- 
räten, Wagen,  Zaundraht  und  Drahtgeweben,  Stahlfedern, 
Messern,  Küchengeräten,  Kratzen,  Feuerspritzen,  Hufen,  Näh- 
u.  s.  w.  Maschinen,  Fahrrädern  u.  a.  m.,  ferner  beträgt  die 
Arbeitsdauer  für  Geschützte  über  14  Jahre  in  den  sonstigen 
Anstalten  dieser  Gruppe  10  Std.,  Ruhepausen  allgemein  P/2  Std. 
mit  einstündigem  Mittag  und  mit  freiem  Ausgang  Die  in  den 
verschiedenen  Erlassen  angesetzten  Stundenzahlen  sind  die  höchst 
zulässigen  für  die  Arbeitsdauer,  die  niedrigsten  für  die  Ruhe- 
pausen. Wo  Nachtarbeit  gestattet  wird,  darf  die  gesammte 
Arbeitsdauer  die  durch  die  Erlasse  für  die  betreffenden  ge- 
schützten Personen  gestattete  Zahl  Stunden  thatsächlicher  Arbeit 
in  24  Stunden  nicht  übersteigen;  und  wo  Sonntagsarbeit  - der 
Ausdruck  durfte  der  Verfassung  wegen  nicht  gebraucht  werden 
— zulässig  ist,  muss,  wie  noch  ausdrücklich  bestimmt  wird,  freie 
Zeit  zum  Besuch  des  Gottesdienstes  gelassen  werden.  In  den 
Fabrikräumen  muss  neben  dem  Gesetz  eine  Stundentabelle  an- 
geschlagen werden. 

Da  die  Erlasse  nicht  unerwartet  kamen,  haben  die  Ge- 
werbetreibenden bereits  ihre  Vorkehrungen  getroffen;  in  Gent 
z.  B.  haben  alle  grossen  Textilfabriken  bereits  verfügt,  dass  die 
ttir  geschützte  Personen  vorgeschriebenen  Maximalstunden  und 
Ruhepausen  für  alle  Arbeiter  gelten,  und  zwar  ohne  Lohnver- 
kürzung. 

Achtstündiger  Arbeitstag  auf  den  rumänischen  Eisen- 
bahnen. Der  sozialdemokratische  Abgeordnete  Mortzun  hat 
in  der  rumänischen  Kammer  beantragt  für  die  Eisenbahn- 
bediensteten  den  achtstündigen  Normalarbeitstag  einzu- 
führen. Der  Kammerausschuss,  dem  dieser  Antrag  zur 
Vorberathung  zugewiesen  wurde,  acceptirte  den  Gesetz- 
entwurf. 

Durchführung  der  Arbeitersehutzgesetzgebung  im  Staate 
Connecticut.  Das  Gesetz  zur  wöchentlichen  Zahlung  der  Löhne 
und  das  Zehnstundengesetz  für  Frauen  und  Kinder  wurden, 
nach  dem  Berichte  des  arbeitsstatistischen  Amtes  im  Jahre  1891 
im  Staate  Connecticut  nur  ungenügend  durchgeführt,  weshalb 
die  Anstellung  eines  besonderen  Beamten  für  diesen  Zweck, 
sowie  die  Ausdehnung  des  Wochenzahl ungsgesetzes  auf  alle 
Gewerbe  empfohlen  wird.  Es  ist  häufig  vorgekommen,  dass 
Arbeiter  entlassen  wurden,  weil  sie  die  Ausführung  dieser  Ge- 
setze verlangt  hatten. 


Gewerbeinspektion. 

Vermehrung  der  Gewerbeinspektoren  in  Württem- 
berg. In  Folge  der  fortdauernden  Steigerung  der  Geschäfte 
bei  der  Gewerbeinspektion  soll  vom  Ministerium  des  Innern 
die  Bildung  eines  neuen  Inspektionsbezirks  und  die  Ernen- 
nung eines  weiteren  Gewerbeinspektors  beabsichtigt  sein. 
Württemberg  würde  dann  drei  Inspektionsbezirke  besitzen, 
während  das  ganze  Land  noch  vor  wenigen  Jahren  blos 
einem  Inspektor  unterstellt  war. 


Vermehrung  der  Fabrikinspektoren  uml  Versuch  mit 
Fabrikinspektorinnen  in  England.  Am  24.  Januar  wurden  Ab- 
ordnungen fast  sämmtlicher  Vereinigungen  der  Londoner  Arbeite- 
rinnen vom  Minister  des  Innern  Asrpiith  empfangen.  Dieselben 
betonten  die  Nothwendigkeit  einer  gründlichen  Reform  der  In- 
spektion der  Werkstätten  und  forderten  die  Ernennung  von  In- 
spektorinnen  für  dieselben. 

Der  Minister  wies  in  seiner  Antwort  darauf  hin , dass 
einige  der  gewünschten  Reformen  nur  durch  die  gesetzgebenden 
Körperschaften  in  Angriff  genommen  werden  könnten,  theilte 
aber  mit,  dass  er  probeweise  zwei  weibliche  Inspektoren  für 
Fabriken  und  Werkstätten,  wo  Frauen  und  Kinder  arbeiteten, 
zu  ernennen  beabsichtige  Er  erklärte  ausserdem,  dass  drei 
Centralämter  in  bestimmten  Provinzialstädten  geschaffen  werden 
würden,  als  ein  neutraler  Boden,  auf  dem  sich  Arbeiter  und  In- 
spektoren begegnen  sollen.  Auch  stehe  die  Ernennung  weiterer 
fünfzehn  Fabrikinspektorassistenten  bevor. 


Arbeiterversicherung. 


Krankenvereine  auf  Grund  des  deutschen  Genossen- 
schaftsgesetzes.  In  Halberstadt  sollte  eine  von  den  dortigen 
Arbeitern  gegründete,  unbeanstandet  in  das  Genossenschatts- 
register  eingetragene  Genossenschaft  unter  der  Firma  „Halber- 
städter Familienverein  für  Krankenpflege“,  deren  Zweck  ist,  den 
Vereinsmitgliedern  in  Krankheitsfällen  von  Familienmitgliedern 
ärztliche  Hilfe  und  Medikamente  auf  genossenschaftlichem  Wege 
zu  beschaffen,  aut  Verlangen  des  Regierungspräsidenten  auf- 
gelöst werden,  weil  sie,  nach  dessen  Ansicht,  Zwecke  verfolge, 
welche  ausserhalb  der  vom  Genossenschaftsgesetze  gezogenen 
Grenzen  lägen.  Der  Bezirksausschuss  hat  den  Antrag  des  Re- 
gierungspräsidenten mit  der  Begründung  abgelehnt,  dass  die  er- 
wähnte Vereinigung  alle  gesetzlichen  Merkmale  einer  Genossen- 
schaft an  sich  trage  und  wenn  im  § 2 des  Gesetzes  auch  nur 
von  bestimmten  Genossenschaften,  Kreditvereinen,  Konsum- 
vereinen u.  s.  w.  die  Rede  sei,  dies  nicht  ausschliesse,  dass  auch 
Genossenschaften  mit  anderen  als  im  § 2 genannten  Zwecken 
als  gesetzlich  zulässig  anzusehen  seien,  indem  der  § 2 eben  nur 
Beispiele  für  genossenschaftliche  Zwecke  anführe.  Gegen  dieses 
Erkenntniss  des  Bezirksausschusses  hat  der  Regierungspräsident 
Berufung  bei  dem  obersten  Verwaltungsgericht  eingelegt. 

Ausschusssitzung  des  Verbandes  der  deutschen  Berufs- 
genossenschafteii.  Der  geschäftsführende  Ausschuss  des  Ver- 
bandes der  deutschen  Berufsgenossenschaften  hielt  am  28.  Januar 
unter  dem  Vorsitz  des  Reichstagsabgeordneten  Rösicke  in  Berlin 
eine  Sitzung  ab,  in  welcher  11.  a.  die  Angelegenheit  der  von  dem 
Verbände  zu  erlassenden  Nqrmal-Unfallverhütungs  Vorschriften 
zur  Sprache  kam  Der  Vorsitzende  konnte  mittheilen,  dass  die 
Entwürfe  für  die  einzelnen  Gruppen,  in  welche  die  Unfallver- 
hütungsvorschriften  seiner  Zeit  eingetheilt  worden  waren,  Iris 
auf  einen  sämmtlich  dem  Reichs-Versicherungsamte  zur  Prüfung 
eingereicht  sind.  Auf  Grund  früherer  Beschlüsse  war  seitens 
des  geschäftsführenden  Ausschusses  eine  Enquete  über  die  Noth- 
wendigkeit einer  Arbeitsvermittelung  für  invalide  Arbeiter  in 
Berlin  und  Umgegend  veranlasst  worden.  Das  Resultat  dieser 
Enquete  liegt  jetzt  vor,  und  kann  danach  eine  solche  Noth- 
wendigkeit für  Berlin  für  jetzt  nicht  anerkannt  werden.  Die  in 
Rede  stehende  Enquete  hat  zugleich  interessantes  Material 
zur  Beurtheilung  der  Frage  geliefert,  inwieweit  die  von  den 
Berufsgenossenschaften  bewilligten  Renten  Ersatz  für  die  ver- 
minderte Erwerbsfähigkeit  der  Verletzten  zu  bieten  im  Stande 
sind.  Da  indessen  das  gesammelte  Material  doch  nicht  ausgiebig 
genug  erscheint,  um  daraus  bindende  Schlüsse  zu  ziehen,  so 
sollen  die  Erhebungen  noch  weiter  fortgesetzt  werden.  — Die 
in  der  Novelle  zum  Krankenversicherungsgesetz  enthaltene  Be- 
stimmung, wonach  den  Berufsgenossenschaften  die  Uebernahme 
des  Heilverfahrens  schon  \or  Ablauf  der  ersten  13  Wochen 
freisteht,  wurde  einer  nochmaligen  Besprechung  unterzogen. 
Um  sich  in  dieser  Frage  schlüssig  zu  machen,  muss  den  Berufs- 
genossenschaften u.  a.  die  Untersuchung  der  Verletzten  gleich 
nach  dem  Unfall  gestattet  sein.  Zur  Vermeidung  von  Konflikten, 
die  hieraus  möglicherweise  entstehen  könnten,  wurde  beschlossen, 
ein  Rundschreiben  an  alle  gesetzmässigen  Krankenkassen  zu 
erlassen,  worin  die  durch  das  Gesetz  geschaffene  Situation  und 
der  Standpunkt  der  Berufsgenossenschaften  klargelegt,  sowie 
ein  möglichst  vollkommens  Einverständniss  zwischen  den  berufs- 
genossenschaftlichen Vertrauensärzten  und  den  Krankenkassen- 
ärzten angebahnt  werden  soll.  — Die  Unzuträglichkeiten,  die 
sich  bei  der  Versicherung  von  Regiebauten  gezeigt  haben,  sind 
schon  wiederholt  Gegenstand  der  Berathungen  seitens  des  Ver- 
bandes der  deutschen  Berufgenossenschaften  gewesen.  Auch 
bei  den  diesmaligen  Verhandlungen  des  geschäftsführenden  Aus- 
schusses kam  diese  Angelegenheit  zur  Sprache  und  man  theilte 
die  von  einem  anwesenden  Vertreter  der  Baugewerks-Berufs- 
genossenschaften  ausgesprochene  Ansicht,  dass  allen  Differenzen 
am  besten  dadurch  vorgebeugt  würde,  wenn  die  industriellen 


No.  19. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBI .ATT. 


231 


Berufsgenossenschaften  den  Baugewerks-Berufsgenossenschaften 
egenüber  von  vornherein  erklärten,  ob  sie  für  die  Versicherung 
er  Regiebauten  ihrer  Mitglieder  aufkommen  oder  nicht  oder 
das  Risiko  für  alle  diejenigen  Regiebauten  übernehmen,  die  bei 
den  Baugewerks-Berufsgenossenschaften  vor  dem  Eintritt  eines 
Unfalls  nicht  angemeldet  worden  sind. 

Maximalhöhe  der  LTnfallrente.  Eine  interessante  Streit- 
frage lag  dem  Reichsversicherungsamt  in  einer  seiner  letzten 
Sitzungen  zur  Entscheidung  vor.  Ein  Arbeiter,  welcher  in  Folge 
eines  durch  Betriebsunfall  erlittenen  Bruchschadens  von  einer 
Berufsgenossenschaft  eine  Rente  von  10  pCt.  bezog,  wurde 
durch  einen  neuen  Unfall  völlig  erwerbsunfähig  und  forderte 
deshalb  von  einer  anderen  Berufsgenossenschaft  die  volle 
Rente.  Diese  erkannte  zwar  ihre  Entschädigungspflicht  sowie 
auch  die  Ganzinvalidität  des  Arbeiters  an,  bemass  aber  dessen 
Rente  nur  auf  90pCt.,  da  er  ja  eine  Rente  von  lOpCt.  bereits 
erhalte  und  mehr  als  im  Ganzen  100  pCt.  noch  nicht  bekommen 
dürfe.  Das  Schiedsgericht  trat  dieser  Auffassung  bei,  dagegen 
verurtheilte  das  Reichsversicherungsamt  am  16.  Januar  er.  die 
beklagte  Berufsgenossenschaft  zur  Zahlung  der  vollen  Rente, 
mit  nachstehender  Begründung:  Die  Vollrente  ist  keine  an  sich, 
bezw.  für  den  einzelnen  Arbeiter  feststehende  Ziffer;  deshalb 
sind  eine  Rente  von  lOpCt  und  eine  Rente  von  90  pCt.,  wenn 
sie  von  verschiedenen  Arbeitsverdiensten  berechnet  werden, 
nicht  zusammen  gleich  einer  Rente  von  100  pCt.  Verminderter 
Erwerbsfähigkeit  entspricht  naturgemäss  auch  verminderter  Ar- 
beitsverdienst. In  der  Rente  von  lOpCt.  empfing  als  der  Be- 
schädigte zugleich  die  Vergütung  dafür,  dass  ihm  bei  späteren 
Unfällen  die  Rente  nur  nach  einem  entsprechend  niedrigeren 
Arbeitsverdienst  berechnet  werden  werde.  Demselben  würde 
also  Unrecht  geschehen,  wenn  man  ihm  bei  der  Rentenfest- 
stellung nunmehr  nochmals  die  ihm  bereits  zustehende  Rente 
in  Anrechnung  bringen  wollte.  War  jene  Rente  richtig  be- 
messen, d.  h.  betrug  die  Verminderung  der  Erwerbsfähigkeit 
und  des  Arbeitsverdienstes  wirklich  lOpt't.,  so  erhält  der  Kläger, 
wenn  ihm  jetzt  nach  d;esem  verminderten  Arbeitsverdienst  "die 
volle  Rente  dazu  bewilligt  wird,  nicht  mehr  als  wenn  er  sofort 
durch  den  ersten  Betriebsunfall  ganzinvalide  geworden  und 
nach  seinem  damaligen  Arbeitsverdieest  zu  entschädigen  ge- 
wesen wäre. 

Zur  Unfall-  und  Krankenversicherung  in  der  Schweiz. 

Ueber  den  Stand  der  vorbereitenden  Arbeiten  für  die  schweize- 
rische Arbeiterversicherung  bringt  die  „Kölnische  Volkszeitung“ 
die  folgende  Mittheilung:  Eine  engere  Kommission,  bestehend 
aus  dem  Vizepräsidenten  des  Nationalrathes,  Forrer,  Ständerath 
Göttisheim  von  Basel  und  zwei  Beamten  des  Departements,  tagt 
unter  dem  Vorsitze  des  Departementschefs,  um  die  Gesetzent- 
würfe für  die  beiden  Versicherungen  festzustellen.  Diese  Kom- 
mission wird  in  den  nächsten  8 bis  14  Tagen  ihre  Arbeiten 
beendigen.  Hierauf  wird  das  Departement  eine  grössere  ausser- 
parlamentarische  Expertenkommission  berufen,  welcher  die  Ge- 
setzentwürfe der  engeren  Kommission  unterbreitet  werden. 
Diese  Expertenkommission  wird  nicht  vor  Ende  Februar  zu- 
sammentreten können,  vielleicht  auch  erst  später,  da  in  der 
ersten  Märzwoche  die  Früjahrssession  der  Bundesversammlung 
beginnen  soll.  Nachdem  die  Expertenkommission  ihre  Be- 
rathungen beendet  hat,  wird  das  Industriedepartement  die 
Gesetzentwürfe  dem  Bundesrathe  und,  nachdem  derselbe  sie 
genehmigt  hat,  der  Bundesversammlung  vorlegen.  Da  im 
Oktober  d.  j.  die  Gesammterneuerung  des  Nationalrathes  bevor- 
steht, so  ist  kaum  anzunehmen,  dass  das  Parlament  die  Berathung 
der  Gesetze  über  die  Kranken-  und  Unfallversicherung  vor  dem 
Dezember  beginnen  werde,  höchstens  der  eine  Rath  könnte  die 
Berathung  in  der  Junisession  beginnen.  Die  Grundzüge  der 
Krankenversicherung  unterscheiden  sich,  soweit  jetzt  schon 
bekannt,  in  vielen  wesentlichen  Punkten  von  denjenigen  der 
deutschen  Krankenversicherung. 


Gewerbegerichte. 


Thätigkeit  des  Gewerbegerichts  in  Frankfurt  a.  M.  Das 

Gewerbegericht  zu  Frankfurt  a.  M.  ist  eines  der  ältesten  im 
Deutschen  Reiche.  Es  wurde  bereits  zu  einer  Zeit  eingerichtet, 
in  der  noch  kein  Reichsgesetz  über  Gewerbegerichte  vorhanden 
war  und  in  der  es  lediglich  von  der  sozialpolitischen  Einsicht 
der  Ortsbehörden  abhing,  ob  eine  solche  Einrichtung  getroffen 
werden  sollte  oder  nicht.  Das  Statut  des  Frankfurter  Gerichts 
diente  deshalb  lange  Zeit  den  nach  ihm  entstehenden  gewerb- 
lichen Schiedsgerichten  als  Muster,  das  sich  trefflich  bewährte 
und  von  liberaleren  Anschauungen  durchdrungen  war,  als  leider 
das  spätere  Reichsgesetz  über  Gewerbegerichte.  Aus  diesen 
Gründen  ist  ein  Rückblick  bemerkenswert!],  der  in  den  Frank- 
furter „Blättern  für  soziale  Praxis“  auf  die  bisherige  Thätigkeit 


des  Gerichts  anlässlich  seines  neuesten  Jahresberichtes  geworfen 
wird  und  der  interessante  Vergleiche  zwischen  dem  gewerbe- 
gerichtlichen und  dem  amtsgerichtlichen  Verfahren  zieht.  Da- 
nach hat  sich  seit  5 Jahren  die  Zahl  der  Klagen  mehr  als  ver- 
doppelt; waren  es  1887/88  = 526,  so  stieg  ihre  Anzahl  Jahr  für 
Jahr  (681,  988,  1078),  um  im  Berichtsjahr  1263  zu  erreichen.  Die 
Termine  vermehrten  sich  in  der  gleichen  Zeit  von  740  (914, 
1356,  1653)  auf  1862  Urtheile  aber  wurden  1887/88  = 81  (66,  153, 
277),  1891/92  aber  305  gesprochen.  Die  meisten  Klagen  fanden 
demnach  nicht  durch  Urtheil,  sondern  durch  Vergleich  ihre  Er- 
ledigung. So  kamen  1887/88  414,  in  den  folgenden  Jahren  567, 
789,  751,  1891/92  sogar  917  Vergleiche  zu  Stande.  Betrachtet  man 
demgegenüber  die  Erledigung  der  Klagen  beim  Frankfurter 
Amtsgericht,  so  wurden  clort  in  6319  Terminen  nur  1917  Ver- 
gleiche geschlossen;  d.  h.  während  das  Gewerbegericht  mit 
einem  allerdings  einfacheren  Verfahren  und  der  Beschränkung 
auf  eine  einzelne  Gattung  von  Rechtssachen  über  die  Hälfte  der 
Termine  durch  Vergleiche  endigte,  gelang  dieses  dem  Amtsge- 
richte nur  mit  einem  Drittel.  Die  immer  stärkere  Inanspruch- 
nahme des  Gerichts  führt  der  Bericht  vor  allem  auf  das  stetige 
Wachsthum  der  Bevölkerung  zurück,  in  Verbindung  mit  welchem 
besonders  das  Baugeschäft  zunahm,  das  in  allen  seinen  Theilen 
einen  wesentlichen  Faktor  für  die  Thätigkeit  des  Gerichts  aus- 
macht. Die  Eile,  mit  der  Bauten  häufig  durchgeführt  werden 
sollen,  bringt  es  mit  sich,  dass  gerade  in  diesem  Gewerbe,  mehr 
als  in  andern,  die  Einstellung  der  Arbeiter  und  Fest- 
setzung der  Arbeitsbedingungen  sehr  oberflächlich 
gehandhabt  wird,  sodass  des  Oefteren  über  Punkte  Unklar- 
heit herrscht,  die  man  als  Grundbedingungen  eines  Arbeitsver- 
hältnisses ansehen  möchte,  z.  B.  darüber,  wer  Bauunternehmer 
ist,  für  wen  eingestellt  und  gearbeitet  wurde,  ob  Tag-  oder 
Akkordlohn  gelte  u.  dergl.  So  waren  denn  von  im  Jahre  1891/92 
klagenden  Arbeitern  etwa  ’/s  Schreiner  und  Maurer,  1890  91 
weniger,  1889/90  sogar  mehr  als  l/4-  Was  die  Höhe  des  Streit- 
gegenstandes angeht,  so  waren  Klagen  um  40 — 50  M am 
häufigsten.  Vor  den  ordentlichen  Gerichten  käme  dafür  eine 
Gebühr  von  2,40  M.  einmal,  ev.  sogar  dreimal  in  Ansatz.  Vor 
dem  gewerblichen  Schiedsgericht  wurden  Kosten  von  2—3  M. 
nur  in  95  Fällen  erhoben,  während  beinahe  2/3  aller  Sachen  mit 
20—30  Pf.  Kosten  erledigt  wurden.  Von  besonderem  Werth  für 
die  Lohnstreitigkeiten,  bei  welchen  eine  grosse  Zahl  der  Be- 
theiligten auf  das  Arbeitserträgniss  zum  LInterhalt  angewiesen 
ist,  ist  natürlich  eine  rasche  Erledigung  der  Klagen.  Vor  dem 
Amtsgericht  lässt  sich  diese  Schnelligkeit  schon  deshalb  nicht 
erzielen,  weil  allein  die  Einlassungsfrist  mindestens  3 Tage  be- 
trägt (dagegen  mindestens  24  Stunden  beim  Gewerbegericht) 
und  weil  erfahrungsgemäss  auch  bei  schnell  arbeitenden  Prozess- 
abtheilungen der  erste  Termin  nicht  früher  als  14  Tage  nach 
Klageerhebung  angesetzt  werden  kann.  Beim  Gewerbegericht 
aber  wurden  ’/s  aller  Klagen  in  2 Tagen,  mehr  als  die  Hälfte  in 
2—3,  beinahe  2 3 aller  innerhalb  4 Tagen  erledigt.  Schliesslich 
bemerkt  der  Bericht  äusserst  zutreffend  zu  der  Thatsache,  dass 
sich  das  Gericht  weit  mehr  mit  Klagen  der  Arbeiter,  als  der 
Unternehmer  zu  beschäftigen  hat:  „Es  ist  zu  bedenken,  dass 
die  Position  des  Arbeiters  und  des  Arbeitgebers  verschieden 
ist.  Letzterer  wird  an  der  Austragung  des  Streits  mit  einem 
Arbeiter  in  der  Regel  kein  sonderliches  pekuniäres  Interesse 
haben,  weil  er,  falls  z B.  ein  Arbeiter  ohne  Kündigung  weg 
bleibt,  leicht  Ersatz  finden  wird.  Er  klagt  in  solchem  Falle  nur, 
wenn  er  des  Obsiegens  ganz  sicher  ist,  oder  wenn  er  es  im 
Interesse  der  Wahrung  der  Autorität  seinen  Arbeitern  gegen- 
über für  räthlich  findet.  Anders  der  Arbeiter  Da  er  und  seine 
Familie  zumeist  nur  auf  den  Ertrag  der  Arbeit  angewiesen  sind, 
ist  für  ihn  die  möglichst  lange  Aufrechterhaltung  des  Arbeits- 
verhältnisses beinahe  eine  Lebensfrage.  Er  wird  also  überall 
dort,  wo  es  nur  einigermassen  zweifelhaft  ist,  ob  die  Kündigung 
zu  Recht  erfolgte,  die  Hilfe  des  Gerichts  in  Anspruch  nehmen. 
Durch  den  Prozess  kann  er  nur  gewinnen,  verlieren  schon  um 
deswillen  nicht,  weil  Kosten  für  den  Fall  des  Unterliegens  von 
ihm  nicht  beizutreiben  sind.“ 


Eingesendete  Schriften. 

(Besprechung  Vorbehalten.) 

Eger,  Georg  Dr  jur.,  Regierungsrath,  Kra nken Versicherung s- 
gesetzi  2.  Aun.  Breslau,  1892  Wern.  8U.  V und  266  S. 

Hainiscli,  Dr.  Michael,  Die  Zukunft  der  Deutsch-Oester- 
reicher. Wien,  1892.  8".  VI  und  162  S. 

Landau,  Fab.,  Die  Mortalität  in  Hamburg  in  diesem 
Jahrhundert.  Hamburg,  1892.  Oberstedt  & Schering.  8°. 
31  S. 

Müller,  Hans,  Der  Klassenkampf  in  der  deutschen 
Sozialdemokratie.  Zürich,  1892.  Verlagsmagazin  (J.  Scha- 
belitz) 8°.  VIII  und  140  S. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


ANZEIGEN. 


$j*crbcr’fd)e  'LU’rlngehnnMmio,  Jvrcitmrq  im  Tircidgau. 


Soeben  fiitb  erf d;ieiteii  mib  buvdj  aüe  5Buc$$aubluugen  31t  bejieljen: 

(Soffa,  Dr.  T'ic  erfteit  (*lnucnte  ber  S&trtbfcbaftöfebre.  DJ  ad) 

ber  neunten  Stuftage  ber  Primi  elementi  di  Economia  sociale  bearbeitet  non 
Dr.  ©.  fUJoormeifter.  ^uicitc  Stuflage.  8°.  (VIII  lt.  160  @.)  5Dt.  1.50. 

^r<Hjc,  3Me  focialc,  beleuchtet  burch  bic  „Stimmen  auö  20?aria« 
Suacb“.  8°.  6.  «öeft:  ScftntfuI)!,  St.,  S.  J.,  Die  foeinle  gtage  unb  bie  ftaatlidic 
©etoatt.  (IV  u.  76  ©.)  70  fpf. 

Ojprres,  Dr.  jur.  £>aui>budj  bei-  gelammten  ^Hvbeitertgefefeftebtimf 
beö  deutschen  Reiche*.  Sntbaltenb  bie  St  r b e i t e r -SS  c r f i ä)  e v n u g § = 
unb  .<&  cl)  u tj  g e f e tj  g eb  u it  g , b.  I).  fämmtliclje  fReidjägefeije  über  Äranfem,  Unfall», 
Snbalibitätä»  iiiib  31  tters = ® er f 1 d)erun g , Ditet  VI— X ber  ©croerbeorbitnng,  ©efeij  betr. 
bie  ©emerbegeridjte,  fomie  einige  Heinere  ©efelje,  itebft  beit  fReid)§«3lU6fiit)runge=3>erürb= 
innigen,  Sefanntmacbungen  beö  i8unbe3ratf)§,  fKnitbfdjreiben  be3  3Reid)3=33eriid)eritug3= 
amtl  unb  ©rlaffen  beo  3leid)ä=S)3oftamt§,  uadj  beut  neueften  ©taub  ber  ©efeiigebuitg. 
f diu ie  als  St  n b a n g bas  ;T(eici)ögefeti  betr.  bie  (SvmerbG  unb  3ßirtf)fct)aft€genoffen« 
fdiaften,  bic  einfdjlägigen  23eftimm»ngeii  and  bem  .fmnbetsgeietjbud),  ©trafgefelUmri), 
©erid)t§»33erfafliingsgefd3  11.  f.  f.  fOfit  alpljabetifdjem  ©adjregifter,  SJSrä jubicienregifter, 
d)ronaIogifd)cni  unb  ft)ftematifd)ent  Sntjalteberjeicbnif;  fomie  einer  Ueberfidfi  ber  ©traf 
beftimmiingen  unb  ber  unmittelbar  in  bas  CSini  1=  unb  fßrocefjredjt  eingretfeuben  ®or= 
fdiriften  ber  fociaten  ©eietje.  ©ij  teutatifci)  georbitet  unb  berausgegeben.  fünfte 
Siefcrung.  gr.  8°.  (XXXVI  u.  ©.  641—766.)  Dt.  1.60.  hiermit  ift  bae  Söcrf  tuIL 
ftänbig.  (XXXVI  u.  766  ©.)  Dt.  8;  geb.  in  Öeinroanb  mit  ©olbtitel  50t.  9.20.  JQriu» 
banbbeefett  in  Seinroanb  mit  ©olbtitel  75  fif. ; iit  .fjalbfranj  Dt.  1. 

fiubl,  Dr.  2t.,  *>te  öeutfebe  ''HrbetterfKKfcflekiiafl  ber  ^jiitbre 
iss??—  IS?» -2  alö  Mittel  ;ur  Vbfumi  bev  '»Hrbettcrfraae*  gr.  8°. 

(XII  u.  128  @.)  50t  1.30. 

®aö  Heine  SBerf  menbet  fid)  gunäd)ft  an  beit  iktjrerftanb,  mit  Stncffidjt  auf  ben 
faiferlidjen  ©rlajj  ootit  1.  Diät  1889,  monad)  bereite  in  ben  Unterricht  ber  8et)rerfeniinare 
eine  befanbere  Unterroeifung  ber  ^bgtingc  in  ben  elementaren  ©rniibfätten  ber  sb'olfdmirtt)= 
febaft  eingefügt  merben  fotl,  aber  and)  du  roeitere  Greife,  bie  fid)  auf  bem  roidjtigen  ©ebiet 
ber  focialen  ©efetigebuiig  eine  genauere  Äenntuiß  öerfdjaffen  motten. 


OF  POLITICAL  AND  SOCIAL  SCIENCE. 


The  Official  Journal  oj  the  American  Academy  of  Political 
and  Social  Science. 

Is  indispensable  to  all  who  are  in  any  way  interested  in  the  great 
questions  of  the  day. 

The  ANNALS  contains  articles  011  economic,  political,  social,  historical 
and  legal  subjects;  reports  of  the  discussions  at  the  meetings  of  the  Academy ; 
personal  notes,  about  the  workers  in  the  field  of  political  and  social  Science, 
and  Reviews  of  the  latest  books  treating  of  these  questions. 


SUBSCRIPTION  PRICE,  $ 6.00  PER  YEAR. 

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American  )\cademy  oj  political  and  50C^  5c^ence’ 

STATION  B,  PHILADELPHIA. 


timmen  vom  Rhein. 

Unter  diesem  Namen  giebt  der  „Rhein.  Bauernverein“  seit  1.  Nov.  1891 
eine  Zeitschrift  für  land-  und  forstwirtlischaftliche,  sowie  cliristl. -soziale 
Angelegenheiten  des  Bauernstandes  und  Grundbesitzes  heraus,  welche  als 
Ergänzungshefte  des  in  einer  Auflage  von  35  000  Exemplaren  erscheinenden 
„Rhein.  Bauer,“  dienen,  aber  auch  für  sich  ein  abgeschlossenes  Ganzes  bilden. 


Die  „Stimmen  vom  Rhein“  erscheinen  am  1.  8.,  15.  und  22.  jeden  Monats 
in  Stärke  von  mindestens  16  Seiten  8n  und  sind  durch  die  Post  für  50  Pi’,  das  Viertel- 
jahr zu  beziehen. 

Probenummern  gratis  und  franco.  | 


Expedition  der  „Stimmen  vom  Rhein“  und  des  „Rhein.  Bauer“ 

Klöckner  & Mausberg,  Kempen  (Rhein). 


No.  19. 

töfiiflUtnfMlidjtr  Prpcilcr. 

3 c i t f d)  v i f t 

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®te 

^n3talbcmafiratic 

in  ifjven 

2öal)rl)citcn  unb  ^rrüjömcnt 

unb  bie 

Stellung  Der  Alirdje 

gur  fogialcit  ^vaege. 

33on 

(ßtutarb  Svljall, 

liith.  ?Saftor  ja  SBatjrbovf. 


'45reis  3 «SKf.;  geb.  in  .«patbfrg.  5 SOIf. 


S-Suttentag,  3Sertag§bud)banblimg  in  33ev(inSW^. 


Das  Heid]sc^efe§, 

betreffenb 

bie©3cs»crbcgcrid)tc. 

Dom  29.  Juli  1890. 
TejL2Iit§gabe 

mit  Slnmerfunqen  unb  8ndjregifter 

ÜOll 

%bo  Miugiian, 

'UtogiftvatSnffcffor  ntib  DtecptSanitialt  ju  SBerliit. 

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Hugo  Frankel, 

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zelne Werke  aus  diesem  Gebiete. 


Verantwortlich  fiir  den  Anzeigentheil : O.  Sckuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


II.  Jahrgang 


Berlin,  den  13.  Februar  1893. 


Nummer  20. 


SOZIALPOLITISCHES 


ENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen,  Zeitungsspediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


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Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT, : 


Zum  deutschen  Wucherge- 
setzent würfe.  Von  Dr.  Max 
Quarck. 

Soziale  Wirtschaftspolitik  n. 
W irthscliaftsstatistik : 

Die  Einkommensverhältnisse  in 
Baden.  Von  Prof.  Dr.  E.  v.  Phi- 
lip povich. 

Vermögensstatistik  des  Kantons 
Zürich. 

Geisteskranke  im  Königreich 
Sachsen. 

Bevölkerungsbewegung  in  Frank- 
reich im  fahre  1891. 

Arbeiterzustände : 

Kommission  für  Arbeiterstatistik. 

Ergebnisse  der  Arbeitslosensta- 
tistiken. 

Zunahme  des  Hausbettels. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Fachvereine  und  Staatsaufsicht. 

Geldstrafen  für  ausständige  Berg- 
arbeiter im  Saarrevier. 

Die  englischen  Trades  L’nions  und 
die  sozialdemokratischen  Kon- 
gresse. 

Kongress  der  französischen  Ar- 
beiterbörsen. 

Handwerkerfragen : 

Der  Marseiller  Bäckermeisterstrike. 

Arbeiterschntzgesetzgebung : 

Petition  gegen  die  Einschränkung 
der  Sonntagsruhe. 


Zur  Frage  der  Sonntagsruhe. 

Ortsstatut  für  die  Auszahlung  des 
Lohnes  an  Minderjährige. 

Arbeiterschutz  bei  Staatsarbeiten 
in  Dänemark. 

Arbeiterversicherung: 

Kosten  der  Unfallversicherung. 

Gechäftsthätigkeit  der  bayerischen 
und  sächsischen  Landesversiche- 
rungsämter. 

Arbeitslosenversicherung  im  Kan- 
ton Basel-Stadt. 

Buchdruckerhilfskassen  in  Russland. 
Gewerbegerichte , Einigungs- 
ämter u.  Arbeiterausscniisse : 

Fünf  Berggerichte  für  Preusscn. 

Die  Einigungsämter  in  Frankreich. 
Wolmungszustände : 

Einfluss  der  Wohnungsverhältnisse 
auf  die  Sterblichkeit  an  tuber- 
kulösen und  infektiösen  Krank- 
heiten. 

Armenwesen : 

Vertretung  der  Arbeiter  in  den 
boards  of  guardians. 

Armuth  in  Schottland. 

Schulwesen: 

Zur  materiellen  Lage  der  Volks- 
schullehrer in  Preussen. 

Antrag  auf  gleiche  Schulbücher  in 
den  Berliner  Gemeindeschulen. 

Analphabeten  in  Russland. 
Vermischtes: 

Generalversammlung  des  Vereins 
für  Sozialpolitik. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedocli  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Zum  deutschen  Wuchergesetzentwurfe. 


Seit  1880  hat  das  deutsche  Reich  wieder  eine  Spezial- 
gesetzgebung gegen  den  sogenannten  Wucher.  Zur  Zeit 
des  Norddeutschen  Bundes,  im  Jahre  1867,  waren  unter  dem 
Drucke  der  nach  Geltung  ringenden  kapitalistischen  Wirth- 
schaftsfreiheit  alle  Zinsbeschränkungen  und  die  mit  ihnen 
zusammenhängenden  Strafbestimmungen  aufgehoben  wor- 
den. Die  agrarische  Reaktion  gegen  jene  Massregel  der 
Gewerbefreiheit  fiel  dann  zusammen  mit  den  staatssozia- 
listischen Bestrebungen,  die  Ende  der  70er  Jahre  unter  der 
Devise  „Schutz  der  Schwachen“  begannen.  Aus  der  agra- 
rischen Agitation  gegen  den  Zwischenhandel  auf  dem 
Lande  und  dem  unsicheren  Tasten  der  staatlichen  Gesetz- 
gebung nach  Massnahmen , die  den  wirthschaftlich 


Schwächeren  kleine  Erleichterungen  gewähren  wollen,  ohne 
den  sozialen  Uebeln  der  Zeit  ernstlich  an  den  Leib  zu 
gehen,  erwuchs  als  Zwitterkind  die  neue  Wuchergesetz- 
gebung,  die  diesen  Ursprung  von  Anfang  an  zur  Schau 
trug  und  denselben  je  länger,  je  weniger  verleugnen  kann. 

Der  erste  neue  Wucherparagraph  vom  24.  Mai  1880 
bedroht  mit  Gefängnissstrafe  bis  zu  sechs  Monaten  bezw. 
mit  Geldstrafe  bis  zu  3000  M.  eventuell  mit  Verlust  der 
bürgerlichen  Ehrenrechte  Diejenigen,  welche  „unter  Aus- 
beutung der  Nothlage,  des  Leichtsinns  oder  der  Unerfahren- 
heit eines  Anderen  für  ein  Darlehen  oder  im  Falle  der 
Stundung  einer  Geldforderung  sich  oder  einem  Dritten 
: Vermögensvortheile  versprechen  oder  gewähren  lassen, 
welche  den  üblichen  Zinsfuss  dergestalt  überschreiten,  dass 
nach  den  Umständen  des  Falles  die  Vermögensvortheile  in 
j auffälligem  Missverhältniss  zu  der  Leistung  stehen.“  Er- 
gänzungsbestimmungen betreffen  den  verschleierten,  sowie 
I den  gewerbs-  oder  gewohnheitsmässigen  Wucher  (§§  302a 
bis  d des  Strafgesetzbuches).  Das  Charakteristische  an 
diesen  bisherigen  Bestimmungen  ist  die  Beschränkung 
auf  wucherische  Geldgeschäfte;  sowie  die  dehnbare 
Fassung,  welche  dem  richterlichen  Ermessen  fast  Alles 
anheimstellt.  Die  Beschränkung  auf  Geldgeschäfte  war 
das  Merkmal,  welche  die  Wucherparagraphen  von  ihrer 
Mutter,  der  agrarischen  Bewegung,  mitbrachte.  Die  Ueber- 
vortheilung  der  Bauern  oder  auch  des  kleineren  Beamten 
durch  Geldverleiher  war  ein  Moment  gewesen,  das  jene 
Bewegung  mit  Vorliebe  verwerthete;  richtete  sich  doch  der 
j Vorwurf  gegen  das  verhasste  bewegliche  Kapital,  und 
kosteten  doch  die  Wucherparagraphen  den  Agitatoren  gar 
Nichts,  während  die  Errichtung  ländlicher  Kreditbanken 
oder  sonstige  positive  Schutzmassnahmen  (Versicherung  etc.) 
substantielle  Mittel  erfordert  hätten.  Die  dehnbare  Fassung 
der  Strafbestimmungen  aber  war  der  Ausfluss  der  allge- 
meinen  sozialpolitischen  Richtung,  die  den  Schein  erwecken 
wollte,  als  schütze  sie  den  Schwächeren,  die  aber  gleich- 
zeitig eine  Erschütterung  der  Uebermacht  des  Kapitals  um 
jeden  Preis  zu  vermeiden  suchte.  Zu  diesem  Zwecke 
musste  dem  richterlichen  Ermessen  der  weiteste  Spielraum 
gelassen  werden.  Das  Strafgesetz  sollte  und  durfte  nur  in 
den  krassesten  Ausnahmefällen  in  Anwendung  kommen; 
die  zum  System  erhobene,  eine  Grundlage  der  heutigen 
Wirtschaftsordnung  bildende  industrielle  Ausbeutung  der 
Nothlage  eines  Anderen  musste  von  jeder  kriminellen 
Ahndung  ausgeschlossen  bleiben,  weil  sonst  die  sozialpoli- 
tische Wirkung  des  Wuchergesetzes  weit  über  das  von  seinen 
Urhebern  beabsichtigte  Mass  hinausgegangen  wäre.  Die 
Erfahrungen,  welche  man  mit  den  bisherigen  Bestimmungen 
machte  und  die  in  der  Begründung  des  neuesten  Wucher- 


234 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  20. 


gesetzentwurfes  („Gesetz,  betreffend  Ergänzung  der  Be- 
stimmungen über  den  Wucher“,  Drucksache  des  Reichs- 
tags No.  70,  8.  Legislaturperiode,  II.  Session  1892/931  S.  3 ff. 
mitgetheilt  sind,  bestätigen  unsere  Ausführungen.  Je  länger 
man  die  Wucher paragraphen  handhabte,  desto  vorsichtiger 
ging  man  mit  ihnen  im  Interesse  des  Kapitalismus  um. 
Die  Zahl  der  wegen  Wuchers  Angeklagten  fiel  von  1882 
bis  1890  von  176  auf  64,  die  der  Verurtheilten  von  98  auf 
22.  Wenn  sich  die  „Begründung“  über  die  geringe  Zahl 
der  Verurteilungen  dadurch  hinwegtrösten  will,  dass  sie 
von  einer  prophylaktischen  und  abschreckenden  Wirkung 
der  Strafvorschriften  spricht,  so  ist  dies  wohl  nur  eine  Ver- 
legenheitswendung zur  Verhüllung  der  Thatsache,  dass  die 
heutige  Gesellschaft  und  ihre  juristischen  Organe  die 
Wucherparagraphen  allseitig  gar  nicht  anwenden  können 
und  dürfen.  Im  direkten  Widerspruch  mit  jener  ersten 
Erklärung  steht  übrigens  der  nächste  Satz  der  „Begründung“, 
der  besagt,  dass  „gleichwohl  die  Klagen  über  Fälle  des 
eigentlichen  Kreditwuchers  noch  nicht  völlig  verstummt“ 
seien;  hier  wird  also  wieder  zugestanden,  dass  die  vor- 
beugende Wirkung  eine  recht  geringe  war. 

Durch  den  neuen  Entwurf  soll  nun  ein  erweitertes 
Vorgehen  gegen  den  Wucher  möglich  gemacht  werden  — 
ut  aliquid  fecisse  videatur  und  damit  die  Kriminalstatistik 
in  ihrer  bisherigen  Entwicklung  nicht  vielleicht  schliesslich 
mit  Null  abschliesst.  Der  Wucher  hat  sich  nach  der  „Be- 
gründung“ nur  „andere  Rechtsformen  gewählt“  und  ist  in 
diesen  „nicht  schwächer,  sondern  mächtiger  geworden“. 
„Eine  gewichtige  Grundlage  haben  diese  Klagen“,  so  sagen 
die  Motive,  „in  den  Erhebungen  gewonnen,  die  der  Verein 
für  Sozialpolitik  über  den  Wucher  auf  dem  Lande  ange- 
stellt hat;  sie  finden  eine  weitere  Bestätigung  in  den  um- 
fassenden amtlichen  Ermittelungen,  die  von  einzelnen 
Bundesregierungen  veranlasst  worden  sind.“  Es  ist  be- 
zeichnend für  die  Flüchtigkeit  der  Verhandlungen  im 
Reichstag,  in  Plenum  und  in  der  Kommission,  dass  man  es 
dort  bisher  noch  gar  nicht  für  der  Mühe  werth  gehalten 
hat,  sich  diese  „gewichtigen  Grundlagen“  näher  anzusehen. 
Die  „Gewichtigkeit“  würde  dabei  wohl  sehr  erheblichen 
Schaden  gelitten  haben.  Denn  die  Erhebungen  des  Vereins 
für  Sozialpolitik  sind  jenes  Sammelsurium  tendenziöser 
Stimmungsberichte,  deren  Unwissenschaftlichkeit  nicht  blos 
von  der  wissenschaftlichen  Kritik  nachgewiesen,  sondern 
von  ihren  Urhebern  selbst  in  öffentlicher  Vereins  Versamm- 
lung zugegeben  worden  ist.  Es  scheint  aber  neuerdings 
eine  Art  Privilegium  des  deutschen  Reichstages  werden  zu 
sollen,  dass  er  dasjenige  ignorirt,  was  die  Sozialwissenschaft 
ausserhalb  seiner  Wände  leistet.  Wir  denken  dabei  auch 
an  die  neuliche  Empfehlung  des  Freiherrn  von  Stumm,  aus 
Professor  Wolf  in  Zürich,  dem  Verfasser  von  „Sozialismus 
und  kapitalistische  Gesellschaftsordnung“,  eine  „Zierde 
eines  deutschen  Lehrstuhles“  zu  machen,  während 
die  wissenschaftliche  Kritik  aller  Schattirungen  gleich- 
zeitig das  zitirte  Buch  einstimmig  als  eines  der 
flachsten  Machwerke,  die  noch  das  Licht  erblickt 
haben,  ablehnte;  es  gab  aber  Niemanden  im  Reichs- 
tage, der  die  Empfehlung  des  Freiherrn  von  Stumm 
mit  diesem  Hinweis  kennzeichnete.  So  konnte  auch 
die  Schrift  des  Vereins  für  Sozialpolitik  ruhig  von  den 
Motiven  als  „gewichtige  Grundlage“  angeführt  werden,  und 
so  fiel  es  auch  Niemandem  ein  nach  den  „umfassenden 
Ermittelungen  einzelner  Bundesregierungen“  über  den 
Wucher  zu  fragen.  Dem  Gesetzentwurf  ist  das  Ergebniss 
derselben  nicht  beigefügt,  die  Oeffentlichkeit  weiss  Nichts 
von  ihm;  wie  ist  es  möglich,  das  wichtige  sozialpolitische 
Gesetze  sachgemäss  erledigt  werden  können,  wenn  ein 
solches  Verfahren  bezüglich  des  Hauptmaterials  eingeschla- 
gen und  vom  Reichstage  stillschweigend  geduldet  wird? 


Eine  sachliche  Diskussion  ist  auf  dieser  schwankenden  Basis 
kaum  zu  beginnen.  Und  so  stehen  die  neuen  Abänderungs- 
vorschläge in  der  Hauptsache  ohne  jede  materielle  Begrün- 
dung da.  Sie  bedeuten  einen  Nothbehelf  für  das  Fiasko 
der  bisherigen  Gesetzgebung  und  gehen  in  der  Hauptsache 
dahin,  dass  folgender  neue  § 301  e in  das  Strafgesetzbuch 
eingeschoben  werden  soll:  „Dieselbe  Strafe  demjenigen, 
welcher  mit  Bezug  auf  ein  Rechtsgeschäft  andere  als 
die  im  § 302a  bezeichnete  Art  gewerbs-  oder  gewohn- 
heitsmässig  unter  Ausbeutung  der  Nothlage,  des  Leicht- 
sinns oder  der  Unerfahrenheit  eines  Anderen  sich  oder 
einem  Dritten  Vermögensvortheile  versprechen  lässt,  welche 
den  Werth  der  Leistung  dergestalt  überschreiten,  dass  nach 
den  Umständen  des  Falles  die  Vermögensvortheile  in  auf- 
fälligem Missverhältniss  zu  der  Leistung  stehen.“  Die  all- 
gemeinen Redewendungen  der  „Begründung“  zur  Recht- 
fertigung dieser  Erweiterung  des  Wucherparagraphen  sind 
so  scharf  in  der  Form  gehalten  und  sprechen  so  viel  von 
„zielbewusster  Aussaugung“  und  „wucherischer  Ausbeutung“, 
dass  man  alle  Ruhe  und  Unbefangenheit  des  nüchternen 
Beurtheilers  bewahren  muss,  um  sich  bewusst  zu  bleiben, 
dass  ja  trotz  der  Ausdehnung  der  Wucherstrafandrohung 
von  Darlehnsgeschäften  auf  Rechtsgeschäfte  aller  Art  doch 
die  alte  Dehnbarkeit  der  Wucherdefinition  bleibt,  die  es 
dem  Ankläger  und  Richter  gestattet,  nur  diejenigen  kapi- 
talistischen Auswüchse  zur  Verfolgung  auszusuchen,  die 
dem  System  selbst  gefährlich  werden  können,  wäh- 
rend die  „zielbewusste  Aussaugung“  auf  industriellem 
und  anderen  Gebieten  nach  wie  vor  erlaubter  Grund- 
satz bleibt.  Eine  einzige  neue  Bestimmung  des  Ent- 
wurfes verdient  Anerkennung,  so  nebensächlich  sie  auch 
ist;  sie  wurde  den  Vorschlägen  Schnapper-Arndt’s  in  seiner 
Kritik  der  Wucherenquete  des  Vereins  für  Sozialpolitik  ent- 
nommen und  besagt,  dass  derjenige,  welcher  gewerbsmässig 
Geld-  oder  Kreditgeschäfte  betreibt,  seinen  Kunden  für 
jedes  Jahr  binnen  3 Monaten  nach  Schluss  desselben  einen 
Rechnungsauszug  mitzutheilen  hat  (Artikel  4 des  Ent- 
wurfes). Hier  könnte  man  unseres  Erachtens  .sogar 
noch  weiter  gehen  und  halbjährliche  Abrechnung  vor- 
schreiben. 

Im  Uebrigen  behält  der  Entwurf  seinen  Charakter  als 
Scheinreform  durchaus  bei.  Sollte  auch  nur  gewissen 
Spezialitäten  des  kapitalistischen  Wuchers,  dem  Viehwucher, 
dem  Grundstückwucher,  dem  Lohnwucher  nahe  getreten 
werden,  so  müssten  Spezialstrafbestimmungen  für  diese 
kapitalistischen  Ausschreitungen  geschaffen  werden,  wie 
es  Sclmapper-Arndt  in  No.  7,  II.  Jahrgang  dieser  Zeit- 
schrift S.  79  angedeutet  hat.  Man  will  aber  keine  Spezial- 
bestimmungen, weil  sonst  die  Gefahr  nahe  läge,  dass  sehr 
hohe  Leute  sich  in  den  Schlingen  des  Gesetzes  fangen, 
und  weil  die  kautschukartige  Fassung  die  vorsichtige  Aus- 
wahl der  Opfer  erleichtert.  Man  will  keine  Laienrichter 
als  Vollstrecker  des  Wucherparagraphen,  wie  sie  der  Ab- 
geordnete Stadthagen  in  der  Kommission  beantragt  hat, 
weil  sie  dieselbe  Gefahr  heraufbeschwören  würden.  Ut 
aliquid  fecisse  videatur  — das  ist  und  bleibt  das  Motto  des 
Entwurfes.  Man  überhebt  sich  dadurch  der  Beseitigung 
der  Grundursache  allen  Wuchers,  „der  Förderung  der  wirth- 
schaftlichen  Verhältnisse“,  und  geht  an  ihr  mit  der  wohl- 
feilen Phrase  der  Motive  vorüber,  dass  „diese  Aufgaben  im 
Allgemeinen  nicht  auf  dem  Gebiete  der  Gesetzgebung 
liegen“  (S.  5).  Und  dabei  hat  man  wenige  Sätze  vorher 
zugestanden  (S.  4),  dass  der  Grund  des  Uebels  vielfach  „in 
dem  passiven  Verhalten  der  Geschädigten  zu  suchen“  ist. 
Eine  zielbewusste  Gesetzgebung  hätte  doch  vor  allen 
Dingen  dieses  „passive  Verhalten“  durch  materielle  Unter- 
stützung der  Schwachen  und  Kleinen  zu  beseitigen,  die 
dann  schon  selbst  Kraft  genug  hätten,  sich  des  Wuchers 


No.  20. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


235 


in  allen  Formen  zu  erwehren.  Statt  dessen  kurirt  man  an 
den  Symptomen  und  lässt  die  Grundursache  weiter  wirken. 
Und  so  wird  denn  der  Wuchergesetzentwurf,  ob  er  an- 
genommen oder  abgelelmt  wird,  an  der  naturgemässen 
Entwicklung  unserer  sozialen  Verhältnisse  auch  nicht  das 
Geringste  ändern. 

Frankfurt  a.  Main.  Max  Ouarck. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 


Die  Einkommensverhältnisse  in  Baden. 

In  No.  9 des  VIII.  Bandes  der  Statistischen  Mittheilungen 
für  das  Grossherzogthum  Baden  werden  die  Ergebnisse  der 
Veranlagungen  zur  Einkommensteuer  für  1891  im  Vergleich 
mit  jenen  für  1886  veröffentlicht.  Bei  der  grossen  Be- 
deutung, welche  jeder  sorgfältigen  Einkommensstatistik  zu- 
kommt, scheint  es  mir  angezeigt  zu  sein,  diesen  Beitrag 
zur  Kenntniss  der  Einkommensverhältnisse  im  Deutschen 
Reich  einem  grösseren  Kreise  zugänglich  zu  machen  und 
ich  entnehme  ihm  daher  die  folgenden  Angaben.  Zu 
ihrem  Verständniss  sei  vorausgeschickt,  dass  zur  Ein- 
kommensteuer in  Baden  nur  die  Einkommen  über  500  M. 
herangezogen  werden,  sowie  dass  gewisse  juristische  Per- 
sonen (Aktiengesellschaften  und  gewisse  Genossenschaften) 
steuerpflichtig  sind,  ln  welcher  Zahl  und  mit  welchem 
Einkommen  sie  in  den  Veranlagungen  auftreten,  ist  aus 
jener  Veröffentlichung  nicht  zu  entnehmen.  Dadurch  wird 
die  Beurtheilung  der  gesammten  Einkonunensgrösse  er- 
schwert, da  ja  jene  Einkommen  meist  zweimal  gezählt  sind, 
einmal  als  Einkommen  der  juristischen  Personen,  sodann  als 
Einkommen  derjenigen,  welchen  sie,  z.  B.  bei  der  Dividenden- 
vertheilung  einer  Aktiengesellschaft,  zuflossen.  Es  ist  ferner 
das  Verhältniss  der  grossen  und  kleinen  Einkommen  nicht 
mit  Sicherheit  festzustellen,  da  es  wohl  wahrscheinlich  ist, 
dass  unter  den  grossen  Einkommen  jene  der  juristischen 
Personen  verhältnissmässig  stärker  vertreten  sind,  als  bei 
den  kleinen,  aber  über  das  Mass  dieser  Betheiligung  kein 
Urtheil  gefällt  werden  kann.  Bezüglich  der  Gesammtheit 
der  Ermittlungen  ist  ferner  zu  beachten,  dass  sie  nur  einen 
kurzen  Zeitraum  und  auch  hier  nur  den  Anfangs-  und  End- 
punkt zur  Vergleichung  heranziehen,  so  dass  über  die  „Ent- 
wicklung“ der  Einkommens  Verhältnisse,  auch  nur  ihrer  Ten- 
denz nach,  nur  wenig  geschlossen  werden  kann.  Hingegen  sind 
die  Angaben  wichtig  zur  Beurtheilung  der  gegebenen  Ver- 
hältnisse und  als  Ansätze  zu  einer  dauernden  Einkommens- 
statistik,  deren  Fortführung  mit  grösstem  Danke  seitens  der 
Oeffentlichkeit  entgegengenommen  würde. 

I.  Einkommensgrösse  und  Einkommensklassen 

Im  Jahre  1891  waren  aus  einer  Bevölkerungszahl  von 
1657  867  Personen  362  361  steuerpflichtig  mit  einem  Ge- 
sammteinkommen  von  532,7  Mill.  Mark,  worunter  39  Milk 
Mark  Schuldzinsen.  Die  Zahl  der  Steuerpflichtigen  betrug 
21,9  pCt.  der  Bevölkerung.  1886  hatte  sie  nur  19,8  pCt. 
ausgemacht  und  das  Bruttoeinkommen  aller  Steuerpflichtigen 
belief  sich  damals  auf  448,1  Milk  Mark,  die  Höhe  der  Schuld- 
zinsen auf  33,7  Milk  Mark.  Es  haben  sich  daher  die  Steuer- 
pflichtigen um  14,5  pCt.  vermehrt,  ihr  Einkommen  ist  um 
etwas  mehr,  um  18,9  pCt.  (19,1  pCt.  nach  Abzug  der  Schuld- 
zinsen) gewachsen.  Diese  verhältnissmässig  starke  Zu- 
nahme der  Steuerpflichtigen  und  der  Gesammteinkonnnen  — 
die  Bevölkerung  ist  in  derselben  Zeit  nur  um  3,4  pCt.  ge- 
wachsen — wird  zum  Theil  auf  eine  mit  der  Zeit  eintretende 
richtigere  und  vollständigere  Erfassung  der  steuerbaren 
Einkommen  zurückgeführt. 

In  welchem  Masse  sich  die  steuerbaren,  d.  h.  die  um 
die  Schuldzinsen  verminderten  und  nach  unten  abgerundeten 


Einkommen  auf  die  einzelnen  Einkommensklassen  vertheilen, 
zeigt  die  folgende  Uebersicht  unter  Gegenüberstellung  der 
in  jede  Klasse  entfallenden  Zahl  der  Steuerpflichtigen,  ihres 
Gesammteinkommens,  sowie  der  Verhältnisszahlen.  Da  hier 
nicht  die  Ergebnisse  der  Einkommensteuer  verfolgt  werden 
sollen,  ist  bezüglich  letzterer  nur  der  verhältnissmässige 
Antheil  der  einzelnen  Klassen  am  gesammten  Steueranschlag, 
d.  h.  an  den  der  Steuererhebung  zu  Grunde  liegenden, 
durch  Reduktionen  des  wirklichen  Einkommens  gebildeten 
Beträge  (1886  180  Milk  Mark,  1889  221  Milk  Mark)  angeführt. 


18  8 6 


Steuerbares  Ein- 
kommen (Einkommen 
nach  Abzug  der 
Schuldzinsen) 

Zahl  der 
Steuer- 
pflichtigen 

Prozent 

der 

Gesammt- 

zahl 

Ein- 
kommen in 
iooo  M.\) 

Prozent 

des 

Gesammt- 

Eink. 

Prozent 

des 

Steuer- 

anschlags 

500—  900  M. 

202  034 

63,7 

127  362 

31,6 

14,9 

1 000  V 1 400  „ 

53  703 

16,9 

62  289 

15,4 

9,8 

1 500-  2 900  „ 

42  144 

13,3 

82  948 

20,6 

18,0 

3 000—  9 900  „ 

17  103 

5,4 

79  191 

19,6 

29.7 

10  000  14  500  „ 

1 154 

0,4 

13  536 

3,4 

6,9 

15  000-29  500  „ 

756 

0,2 

14  993 

3,7 

7,9 

30  000  und  mehrM. 

302 

0,1 

22  973 

5,7 

12,8 

18  9 1 


500-  900 

M. 

224  540 

61,9 

145  760 

30,3 

13,9 

1 000—  1 400 

65  846 

18,2 

75  989 

15,8 

9,8 

1 500—  2 900 

49  647 

13,6 

97  782 

20,4 

17,4 

3 000—  9 900 

19  645 

5,6 

91  675 

18,9 

28,1 

10  000  -14  500 

1 333 

0,3 

15  696 

3,3 

6,5 

15  000—29  500 

899 

0,3 

17  698 

3,6 

7,6 

30  000  und  mehr  M. 

451 

0,1 

36  945 

7,7 

16,7 

Zunahme  von  1886 — 1891  in  Prozenten: 


Steuerpflichtige 

Steuerbares  Eink. 

Steueranschlag 

11,1 

14,4 

15,7 

22,6 

22,0 

21,5 

17,8 

17,9 

17,9 

14,9 

15,7 

16,2 

15,5 

16,0 

16,0 

18,9 

18,0 

18,0 

49,3 

60,8 

60,0. 

Suchen  wir  aus  den  vorstehenden  Angaben  Wohl- 
standsklassen zu  bilden,  so  können  wir  etwa  folgende 
Gruppen  zusammenfassen.  Es  besassen 


grosse  Eink. 
mittlere  ,, 
massige  „ 
kleine  ,, 


1 886 

Prozent 

Prozent 

der 

des 

Steuerpfl. 

Eink. 

(über  10000  M.) 

0,7 

12,8 

19,6 

(3000—9900  „ ) 

5,4 

(1500—2900  „ ) 

13,3 

20,6 

( 500-1400  „ ) 

80,6 

47,0 

1891 


Prozent  1 
der 

Steuerpfl. ! 

Prozent 

des 

Eink. 

0,7 

14,6 

5,6 

18,9 

13,6 

20,4 

80,1 

46,1 

Fassen  wir  zum  Zwecke  eines  Vergleichs  mit  den 
kürzlich  bekannt  gewordenen  preussischen  Einkommens- 
verhältnissen (vgl  Sozialpolitisches  Centralblatt  1 892  No.  4) 
nur  das  Jahr  1891  und  nur  die  Einkommen  über  900  M.  ins 
Auge,  so  ergeben  sich  nur  einige  wenige  Verschiedenheiten. 
In  Preussen  betrug  die  Zahl  der  zur  Steuer  veranlagten 
Personen  mit  einem  Einkommen  über  900  M.  8,1  pCt.  der 
Bevölkerung,  in  Baden  8,3  pCt.  In  Preussen  war  das  Ver- 
hältniss der  Personen  mit  mehr  als  3000  M.  Einkommen  zur 
Bevölkerung  1,05  pCt.,  zur  Zahl  aller  Zensiten  13  pCt.,  ihr 
Antheil  am  gesammten  steuerbaren  Einkommen  49  pCt.,  in 


x)  Es  ist  hierbei  zu  beachten,  dass  die  hier  angeführten 
Einkommensgrössen  aus  der  Summirung  der  jeweils  nach  unten 
auf  eine  durch  100,  bei  höheren  Einkommen  durch  500  oder  1000 
theilbare  Zahl  abgerundeten  Einkommen  entstanden  sind.  Die 
wirklichen  Einkommen  der  einzelnen  Klassen  sind  daher  etwas 
höher,  als  oben  angegeben  ist.  Doch  wird  die  dadurch  der 
Wirklichkeit  gegenüber  hervorgerufene  Verschiebung  für  das 
relative  Verhältniss  der  Klassen  ohne  Bedeutung  sein.  Allen 
folgenden  Uebersichten  liegen  die  nicht  abgerundeten  Ziffern 
zu  Grunde. 


236 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  20. 


Baden  sind  die  betreffenden  Zahlen  1,34  bezw.  9,9  und 
48  pCt.  In  Preussen  standen  in  den  mittleren  und  den 
ersten  Stufen  der  höheren  Einkommensklassen  (3000  bis 
14  500  M.)  11,5pCt.  aller  Zensiten,  in  Baden  9,3  pCt.;  über 
28  500  M.  Einkommen  hatten  dort  0,49  pCt.  aller  Steuer- 
pflichtigen, über  30  000  M.  hier  0,2  pCt.  Die  kleinen  und 
mässigen  Einkommen  sind  demnach  in  Baden  verhältniss- 
mässig  stärker  vertreten  als  in  Preussen. 

Im  Verhältniss  zur  Bevölkerungszahl  betrug  das  durch 
die  Steuerveranlagung  ermittelte  Bruttoeinkommen  1886 
279,9  M.,  1891  321,3  M.,  das  Reineinkommen  (Einkommen 
nach  Abzug  der  Schuldzinsen)  258,9  bezw.  297,7  M auf  den 
Kopf  der  Bevölkerung.  Dass  dieser  Zuwachs  zum  Theil 
auf  vollständigere  Heranziehung  der  Einkommen  bei  der 
Veranlagung  zurückzuführen  ist,  wurde  bereits  bemerkt. 
Trägt  man  auch  den  bei  der  Steuerveranlagung  nicht  be- 
rücksichtigten Einkommen  unter  500  M.  Rechnung,  so  er- 
giebt  sich  eine  Erhöhung,  die  vom  Verfasser  der  Statis- 
tischen Mittheilung  auf  Grund  bestimmter  Anhaltspunkte 
so  geschätzt  wird,  dass  etwa  400  M.  Brutto-  bezw.  370  M. 
Reineinkommen  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  anzunehmen 
wären. 


II.  D a s E i n ko  m men  nach  seine  m U r s p r u n g und  das 
Verhältniss  von  Stadt  und  Land. 

Das  gesammte  ermittelte . Bruttoeinkommen  vertheilte 
sich  seinem  Ursprung  nach  in  folgender  Weise.  Es  ent- 
fielen: 


auf 

1886 

I Prozent 
Mill.  Mark  des  Ge- 
sammteink. 

18  9 1 

Prozent 
Mill.  Mark  des  Ge- 

| sammteink. 

Grund  - Häuserbesitz 
u.  selbständigen  Betrieb 
der  Landwirthschaft  . . 

165,5 

36,9 

181,5 

34,1 

Gewerbebetriebe 
(selbständiger  Unter- 
nehmer)   

116,4 

26,0 

137,2 

25,7 

Sonstigen  Erwerb  (Ar- 
beit ausser  selbst,  wirth- 
schaftlichen  Betrieben)  . 

121,5 

27,1 

10,0 

159,8 

30,0 

Kapitalzins  u.  Renten 

44,7 

54,2 

10,2 

Das  Einkommen  ist  in  allen  Gruppen  gestiegen,  aber 
in  verschiedenem  Masse.  Während  das  gesammte  Brutto- 
einkommen von  1886  auf  1891  um  18,9  pCt.  gewachsen  ist, 
stieg  das  aus  Landwirtschaft,  Grund-  und  Häuserbesitz 
um  9,7,  das  aus  selbständigem  Gewerbebetrieb  um  17,9,  das 
Renteneinkommen  um  21,2,  das  Einkommen  aus  sonstigem 
Erwerb  um  31,5  pCt.  Die  letztere  Einkommensgruppe  um- 
schliesst  die  Einkommen  aus  (körperlicher  und  geistiger) 
Arbeit  und  Dienstleistungen,  soweit  solche  nicht  in  selbst- 
ständiger wirtschaftlicher  Unternehmerstellung  begründet 
sind.  Da  kein  Grund  zur  Annahme  vorhanden  ist,  dass  die 
sorgfältigere  Steuerveranlagung  gerade  in  dieser  Gruppe 
so  unverhältnissmässig  stärker  als  in  den  anderen  gewirkt 
habe,  ist  ein  relativ  grösseres  Wachsthum  dieser  Einkommen 
zweifellos. 

Die  folgende  Uebersicht  erweist  die  Verteilung  des 
Einkommens  zwischen  Stadt  und  Land.  Es  betrug  das  ge- 
sammte Bruttoeinkommen  in 


1886 
Mill.  M 

Städten  mit  über  10  000  Einw.  154,6 
Städten  mit  4000 — 10  000  „ 25,1 

Uebrigen  Gemeinden  ....  268,4 


1891  Zunahme 

Mill.  M.  in  pCt. 
198,2  28,2 

30,3  20,8 

304,1  13,3 


Die  ungleich  günstigere  Lage  der  Städte  ist  auf  den 
ersten  Blick  ersichtlich.  Fasst  man  beide  Städtegruppen 
zusammen,  so  ergab  sich  für  1 Einwohner  im  Jahre  1886 
ein  Reineinkommen  von  475  M.,  im  Jahre  1891  ein  solches 
von  525,5  M.  Auf  dem  Lande  betrugen  die  Ziffern  199 
bezw.  224,9  M.  Der  Antheil  des  flachen  Landes  am  Ge- 
sammteinkommen  sinkt.  Dieser  Satz  erleidet  aber  eine 
merkwürdige  Ausnahme,  wenn  man  das  Einkommen  nach 
seinem  Ursprünge  in  Stadt  und  Land  verfolgt.  Es  betrug 
nämlich  in  Millionen  Mark  das  Einkommen  aus 


in 

Grundbesitz 

1886  1891 

1.  S.  W. 

Zu- 
nahme 
in  pCt. 

Gewerbe  be 

1886  1891 

trieb 

Zu- 
nahme 
in  pCt. 

Städten  mit  über  10  000  Einw. 
Städten  mit  4000  - 10  000  „ 

Uebrigen  Gemeinden  .... 

20,3 

3,5 

141,6 

25,3 

4,0 

152,2 

24,3 

14,5 

7,4 

49,7 

9,2 

57,5 

64,1 

10,7 

62,3 

29,1 

16,0 

8,5 

in 

sonstigem  Erwerb 

Renten 

Städten  mit  über  10  000  Einw. 
Städten  mit  4000— 10  000  „ 

Uebrigen  Gemeinden  .... 

57.4 
9,7 

54.5 

74,9 

12,7 

72,3 

30.5 
31,0 

32.6 

27,2 

2,7 

14,8 

34,0 

3,0 

17,2 

24,3 

9,3 

16,8 

Während  das  Einkommen  aus  Grundbesitz  und  Ge- 
werbebetrieb auf  dem  flachen  Lande  nur  die  Hälfte  oder 
ein  Drittel  der  Regression  gleicher  Einkommenzweige  in 
der  Stadt  aufweist,  übersteigt  die  Zunahme  des  Einkommens 
aus  Arbeits-  und  Dienstverhältnissen  dort  jene  der  Stadt. 
Ich  möchte  zur  Erklärung  dieser  auffallenden  Erscheinung 
annehmen,  dass  hier  allerdings  ein  verschiedener  Fortschritt 
der  Veranlagung  in  Stadt  und  Land  vorliegt.  Anerkannter- 
massen  hatte  die  Veranlagung  der  Einkommensteuer  in  der 
ersten  Zeit  auf  dem  flachen  Lande  mit  grossen  Schwierig- 
keiten zu  kämpfen.  Dass  das  Renteneinkommen  auf  dem 
flachen  Lande  stärker  gewachsen  ist  als  in  den  kleineren 
Orten,  während  sein  Wachsthum  hinter  dem  der  Städte 
zurückbleibt,  hängt  mit  dem  Gang  der  Verschuldung  zu- 
sammen. In  der  ersten  Städtegruppe  sind  die  Schuldzinsen 
in  den  Jahren  1886  bis  1891  um  33,1  pCt.  gewachsen,  in  der 
zweiten  Gruppe  nur  um  0,7  pCt.,  auf  dem  flachen  Land  um 
7,4  pCt. 

Freiburg  i.  B.  Eugen  v.  Philippovich. 


Vermögensstatistik  des  Kantons  Zürich.  Die  von  der 
Finanzdirektion  des  Kantons  Zürich  bearbeitete  Statistik  der 
Steuerpflichtigen  nach  den  einzelnen  Vermögens-  und  Ein- 
kommensstufen ergiebt  folgende  Resultate.  Es  versteuern  ein 
Vermögen 


von 

5 000 

bis  20  000 

Frcs. 

13  689  Personen, 

• j 

20  000 

„ 50  000 

4 233 

3) 

5) 

50  000 

„ 100  000 

33 

1 659 

33 

100  000 

„ 250000 

33 

951 

35 

33 

250  000 

„ 500  000 

33 

306 

500  000 

„ 1 000  000 

121 

33 

” 1 

000  000 

und  mehr 

53 

96 

33 

Den  vier  ersten  Kategorien 

zusammen  (von  5000  Frcs. 

einer  Viertelmillion)  gehören  also  20  532  Steuerpflichtige  an,  den 
drei  letzten  Kategorien  zusammen  (mit  Vermögen  von  über  einer 
Viertelmillion)  523.  Die  Inhaber  der  Vermögen  dieser  drei 
Stufen  (von  über  einer  Viertelmillion)  wohnen  je  zu  etwa  sieben 
Zehntel  im  Bezirk  Zürich ; von  den  121  Halbmillionären  befinden 
sich  87,  von  den  96  Millionären  70  im  Bezirk  Zürich. 

Etwa  60  000  Personen  versteuern  ein  Einkommen  im  Be- 
trage bis  1000  Frcs  , andererseits  68  Personen  ein  solches  von 
20  000  Frcs.  und  mehr  (20  000—30  000:  29;  30000—50  000:  17; 
50  000  und  mehr:  22). 

Geisteskranke  im  Königreich  Sachsen.  Die  Zahl  der 
Geisteskranken  im  Königreich  Sachsen,  einem  der  in- 
dustriellsten und  dichtest  bevölkerten  Theile  des  deutschen 
Reiches  mit  sehr  niedriger  Lebenshaltung  der  Arbeiter- 
bevölkerung, nimmt  auffallend  rasch  zu.  Während  zwischen 
den  Volkszählungen  von  1875  und  1890  die  Bevölkerung  um 
27  pCt.  zunahm,  stieg  die  Zahl  der  Geisteskranken  um 
31  pCt.  Die  Gesammtzahl  der  Geisteskranken  in  Sachsen 
betrug  Ende  1890  8011,  3910  derselben  waren  in  Landes- 
anstalten  untergebracht. 

Bevölkerungsbewegung  in  Frankreich  im  Jahre  1891. 

Vor  einigen  Tagen  sind  die  Nachweise  über  die  Bewegung 
der  Bevölkerung  in  Frankreich  im  Jahre  1891  erschienen. 
Die  Todesfälle  in  dem  genannten  Jahre  übersteigen  die 
Geburten  um  10  000  (876  000  Todesfälle  gegen  866  000  Ge- 
burten). Wenn  nicht  die  in  Frankreich  sich  auf  haltenden 
Angehörigen  anderer  Nationen  einen  Geburtsüberschuss 
von  9000  aufzuweisen  hätten,  hätten  die  Todesfälle  die  Ge- 
burten um  19  000  überstiegen.  Der  durch  Einwanderung 
hervorgerufene  Bevölkerungszuwachs  ist  aus  den  betreffen- 


No.  20. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


237 


den  Nachweisungen  nicht  zu  ersehen.  Die  Geburtsziffer 
war  1890:  838  000,  1889:  880  000.  Seit  1881  ist  eine  fast  un- 
unterbrochene Abnahme  der  Geburtenziffer  zu  konstatiren, 
in  welchem  Jahre  sie  sich  auf  937  000  stellte.  Die  Departe- 
ments Mayenne,  Maine-et-Loire,  Gers,  Aude,  Charente  In- 
ferieure,  Cantal  und  Haute-Marne  zeigen  eine  Abnahme 
der  Geburtsziffer  gegen  1890.  Die  Todesfälle  betrugen 
876  000  wie  1890;  im  Osten,  Norden  und  Süden  war  in 
Folge  der  Influenza  eine  Zunahme  der  Todesfälle  zu  be- 
merken. In  53  Departements  überstiegen  die  Todesfälle  die 
Geburten,  während  in  34,  besonders  in  der  Bretagne  und 
in  Flandern  das  Gegentheil  der  Fall  war.  Die  Geburten 
überstiegen  die  Todesfälle  1881  um  108  000,  1882  um  97  000, 
1883  um  96  000,  1884  um  78  000,  1885  um  87  000,  1886  um 
52  000,  1887  um  56  000,  1888  um  44  000,  1889  um  85  000,  1890 
zeigte  sich  zum  ersten  Male  ein  Ueberschuss  der  Todesfälle 
über  die  Geburten  und  zwar  um  38  000,  dem  1891  ein 
solches  von  10  000  folgte.  Aus  den  vierteljährigen  Census- 
nachweisen  geht  indess  hervor,  dass  in  Folge  der  Ein- 
wanderung aus  anderen  Ländern  keine  absolute  Bevölke- 
rungsabnahme in  den  beiden  Jahren  stattgefunden  hat, 
sondern  dass  eine  kleine  Zunahme  zu  verzeichnen  ist.  Die 
Zahl  der  Eheschliessungen  stellte  sich  1891  auf  285  000,  die 
grösste  seit  1884,  in  welchem  Jahre  sie  289  000  betrug.  Ehe- 
scheidungen sind  1 891  5752  vorgekommen,  die  höchste 
Ziffer  seit  1884/85,  in  welchem  Jahre  die  Ehescheidung 
wieder  eingeführt  wurde.  1890  ereigneten  sich  5457,  1889: 
4786,  1888:  4708,  1887:  3636,  1886:  2950;  es  ist  jedoch  her- 
vorzuheben, dass  seit  1886  die  Ehescheidung  erleichtert 
wurde.  Die  geringste  Anzahl  der  Ehescheidungen  kamen 
in  den  Departements  Alpes,  Pyrenäen,  der  Bretagne  und 
der  Auvergne  vor.  In  Paris  und  in  dessen  Vorstädten 
kamen  1642  Ehescheidungen  vor,  also  mehr  als  ein  Viertel 
der  Gesammtzahl , auf  100  000  Haushaltungen  kommen 
282  Ehescheidungsfälle,  während  in  dem  Departement 
Haute-Loire  auf  IOuOOO  Haushaltungen  1,6  Fälle  entfielen. 


Arbeiterzustände. 


Kommission  für  Arbeiterstatistik.  Die  Kommission  für 
Arbeiterstatistik  trat,  wie  wir  den  Berichten  des  Reichsanzeigers 
entnehmen,  am  3.  Februar  im  Reichsamt  des  Innern  zu  ihrer 
zweiten  Sitzung  zusammen.  An  Stelle  des  erkrankten  Unter- 
Staatssekretärs  Dr.  von  Rottenburg,  welcher  die  Verhandlungen 
der  ersten  Sitzung  in  den  Tagen  vom  23.  bis  25.  Juniv.J.  leitete, 
führt  der  Unter-Staatssekretär  im  königlich  preussischen 
Ministerium  für  Handel  und  Gewerbe  Lohmann  den  Vorsitz. 
Von  den  Mitgliedern  ist  der  Reichstagsabgeordnete  Schippel 
ausgeschieden  und  an  seine  Stelle  der  Abgeordnete  Molkenbuhr 
in  die  Kommission  eingetreten;  im  Uebrigen  hat  die  Zusammen- 
setzung der  Kommission  keine  Aenderung  gefunden. 

Als  Kommissare  des  Reichskanzlers  wohnen  Regierungs- 
rath Werner  und  Regierungsassessor  Lohmann,  als  Kommissar 
des  Ministers  für  Handel  und  Gewerbe  Regierungsassessor  Dön- 
hoff _und  als  Kommissar  des  Senats  der  freien  Stadt  Hamburg 
der  Gewerbeinspektor  Steinert  den  Verhandlungen  bei. 

Die  Tagesordnung  ist  folgende: 

1.  Eingänge  und  geschäftliche  Mittheilungen. 

2.  Untersuchung  über  die  Arbeitszeit  im  Müllergewerbe. 

3.  Untersuchung  über  die  Arbeitszeit  im  Bäcker-  und  Konditor- 
gewerbe. 

4.  Antrag  Hirsch : Erhebung  über  die  Verhältnisse  der  jugend- 
lichen und  weiblichen  Arbeiter  und  die  Arbeitszeit  der 
erwachsenen  Männer  in  der  Hausindustrie. 

5.  Antrag  Siegle:  Fortlaufende  Erhebungen  über  die  Löhne 
und  die  Arbeitszeiten  aller  Arbeiter,  welche  den  gewerb- 
lichen Berufsgenossenschaften  angehören. 

In  ihrer  Sitzung  vom  3.  d.  Mts.  erledigte  die  Kommission 
zunächst  den  ersten  Gegenstand  der  Tagesordnung:  ,, Geschäft- 
liche Mittheilungen  und  Eingänge“.  Eine  von  dem  kauf- 
männischen Verein  zu  Frankfurt  a.  M.  in  Verbindung  mit  der 
Handelskammer  daselbst  im  Anschlüsse  an  die  amtlichen  Er- 
hebungen über  die  Arbeitszeit  im  Handelsgewerbe  für  Frank- 
furt a.  M veranstaltete  Privaterhebung  wurde  für  geeignet  er- 
achtet, bei  der  Aufbereitung  des  amtlich  beschafften  Materials 
mit  berücksichtigt  zu  werden,  während  eine  von  der  Handels- 
kammer in  München  veranlasste  Erhebung  hierzu  nicht  geeignet 
erschien,  weil  sie  sich  im  Wesentlichen  auf  Bank-  und  Gross- 
handelsgeschäfte beschränkt  und  somit  nicht  in  den  Rahmen  der 
amtlichen  Ermittelungen  fällt. 


Eine  an  den  Reichskanzler  gerichtete  und  der  Kommission 
zur  Begutachtung  überwiesene  Beschwerde  über  die  Art  der 
Erhebung  der  Arbeitszeit  in  den  Berliner  Handelsgeschäften 
wurde  für  unbegründet  erklärt. 

Bei  der  Berathung  des  zweiten  Gegenstandes  der  Tages- 
ordnung: „Untersuchung  über  die  Arbeitszeit  im  Müllergewerbe“ 
wurde  beschlossen,  diejenigen  Betriebe  von  der  Erhebung  aus- 
zuschliessen,  in  denen  überhaupt  kein  Getreide  vermahlen  wird. 
Ueber  die  Frage,  ob  es  zweckmässig  sei,  die  Erhebung  auf  reine 
; Getreidemühlen  zu  beschränken  oder  auch  auf  solche  Mühlen  zu 
erstrecken,  die  im  Nebenbetrieb  Oel-  und  Sägemühlen  seien, 
wurde  die  Beschlussfassung  bis  zur  Berathung  der  im  Entwürfe 
vorgelegten  Fragebogen  ausgesetzt  Diese  wurde  auf  den 

6.  cf  Mts.  verlegt,  um  die  Zuziehung  von  zwei  Sachverständigen 
j als  Auskunftspersonen  zu  ermöglichen. 

Zu  dem  dritten  Gegenstände  der  Tagesordnung:  „Unter- 
suchung über  die  Arbeitszeit  im  Bäcker-  und  Konditorgewerbe“ 

J wurde  von  den  bestellten  Referenten  und  Korreferenten  über 
J die  im  September  1892  veranstaltete  und  im  Kaiserlichen 
Statistischen  Amt  bearbeitete  Erhebung  berichtet. 

In  der  am  4.  d.  Mts.  über  den  gleichen  Gegenstand  fort- 
J gesetzten  Berathung  wird  von  der  Kommission  einstimmig  an- 
| erkannt,  dass  das  vorliegende  Material,  wenn  es  auch  nach 
einigen  Richtungen  der  Vervollständigung  und  Aufklärung  be- 
dürfe, eine  vertrauenswürdige  und  genügende  Grundlage  für 
j die  weitere  Behandlung  der  Angelegenheit  bilde.  Ueber  die 
Frage,  in  welcher  Richtung  die  Erhebungen  noch  einer  Vervoll- 
ständigung und  Aufklärung  bedürften  und  welches  Verfahren 
dabei  einzuschlagen  sei,  fand  eine  eingehende  Berathung  statt, 
auf  Grund  deren  ein  zu  dem  Ende  niedergesetzter  Ausschuss 
j der  Kommission  formulirte  Vorschläge  unterbreiten  wird. 

Bei  der  Berathung  wurde  namentlich  auch  hervorgehoben, 
dass  eine  Regelung  deF Arbeitszeit  im  Bäckergewerbe  auf  Grund 
der  Bestimmungen  des  § 120e  Abs.  3 der  Gewerbeordnung 
zweckmässig  kaum  werde  erfolgen  können,  ohne  auch  die 
Regelung  der  Sonntagsarbeit  (§  105e  daselbst)  und  den  be- 
sonderen Schutz  der  jugendlichen  Arbeiter  (§  154  Abs.  4 daselbst) 
zu  berücksichtigen  und  dass  dies  bei  den  weiteren  Arbeiten  der 
Kommission  zu  berücksichtigen  sein  werde. 

In  der  am  6.  d Mts.  fortgesetzten  Berathung  wurde  unter 
j Zuziehung  eines  Wind-  und  eines  Wassermüllers  der  Entwurf 
j des  für  Windmühlen  aufgestellten  Fragebogens  im  einzelnen 
durchberathen  und  mit  einigen  Abänderungen  gutgeheissen. 

Sobald  weitere  Berichte  vorliegen,  werden  wir  auf  die 
Verhandlungen  zurückkommen. 

Ergebnisse  der  Arbeitslosenstatistiken.  Zu  den  in  den 
Nummern  16,  17,  18  und  19  des  Sozialpolitischen  Centralblattes 
schon  registrirten  Arbeitslosenstatistiken  sind  nunmehr  noch 
folgende  nachzutragen: 

In  Brandenburg  hat  die  Aufnahme  der  Arbeitslosen- 
statistik folgendes  Ergebniss  geliefert.  Im  Ganzen  waren  984 
Zählkarten  ausgegeben  worden.  Davon  sind  eingegangen  408. 
Hiernach  waren  am  24.  Januar  arbeitslos  312  Verheirathete  und 
96  Ledige.  Die  Zahl  der  ernährungspflichtigen  Angehörigen 
betrug  940.  Das  Alter  der  Arbeitslosen  bewegte  sich  zwiscKen 
14  und  77  Jahren.  Die  längste  Dauer  der  Arbeitslosigkeit  betrug 
313  Wochen  1 Tag.  Sie  betraf  einen  77  Jahre  alten  Mann,  der 
keine  Altersrente  bekommt  Die  Gesammtdauer  der  Arbeits- 
losigkeit belief  sich  auf  4234  Wochen  2 Tage;  durchschnittlich 
war  also  jeder  Arbeitslose  IOV3  Woche  ohne  Beschäftigung. 

In  Schkeuditz  bei  Halle  a/S.  ergab  die  am  17.  Januar 
erhobene  Arbeitslosenstatistik  117  Arbeitslose,  von  denen  78  ver- 
heirathet  waren  und  156  Kinder  zu  erhalten  hatten,  so  dass  351 
Personen  d h 7%  der  Bevölkerung  von  der  Arbeitslosigkeit 
getroffen  waren.  Die  Gesammtzahl  der  Arbeitslosenzahl  waren 
6300.  Die  Dauer  der  Arbeitslosigkeit  schwankte  zwischen  6 und 
120  Tagen 

Die  Arbeitslosenstatistik  in  Dortmund  hatte  folgendes 
Resultat: 

Es  sind  nach  den  bis  jetzt  eingelaufenen  Listen  an  Arbeits- 
losen ermittelt  in  der  Stadt  427;  davon  sind  verheirathet  174  mit 
724  Familienangehörigen,  so  dass  sich  die  erschreckend  hohe 
Summe  von  1151  Personen  ergiebt,  die  infolge  Arbeitslosigkeit 
in  Dortmund  darben,  hungern  und  frieren  müssen. 

In  scharfer  Weise  werden  die  nackten  Ziffern  durch  einige 
kurze  Angaben  ergänzt,  die  die  Arbeitslosen  zur  Illustrirung 
ihres  Elends  an  den  Rand  geschrieben  haben.  Die  markantesten 
davon  sind  folgende: 

Familienvater  mit  5 Angehörigen,  von  der  städtischen  Ver- 
waltung entlassen;  seit  15.  November  1891  in  meinem  Berufe 
keine  Arbeit  mehr  gehabt  (Bergarbeiter);  Schwiegereltern  zu 
ernähren;  Ernährer  der  Mutter;  desgl  des  Vaters;  zwei  Familien- 
väter, 14  Tage  bei  der  städtischen  Kehranstalt  beschäftigt  ge- 
wesen, beide  entlassen;  desgl.  ein  Wittwer,  arbeitslos,  weil 
keinen  Lohn  erhielt;  Frau  krank;  seit  6 Monaten  keine  Miethe 
zahlen  können;  blindes  und  2 kranke  Kinder;  seit  November 
kranker  Familienvater  mit  Frau  und  Kind,  bezieht  kein  Kranken- 
geld, unmündige  Schwester  zu  ernähren , 8 M.  Alimentation 
monatlich  an  die  Mutter  zu  zahlen;  Wittwe,  alleiniger  Ernährer, 
krank;  Ernährer  seiner  Mutter;  arbeitslos  wegen  Unfall,  bezieht 
keine  Rente  (Bergarbeiter  mit  Frau  und  Kind);  bis  jetzt  im 
Krankenhaus  und  augenblicklich  obdachlos;  Familienvater  mit 


238 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  20. 


3 Kindern;  wegen  Krankheit  arbeitsuntauglich,  bezieht  keine 
Invalidenpension  noch  Altersrente;  wegen  Krankheit  nicht  mehr 
zur  Arbeit  angenommen. 

Fürwahr,  diese  kurzen  Sätze,  sie  entrollen  gleich  halb  er- 
stickten Rufen  der  Verzweiflung  dem  Einsichtigen  ein  Bild  des 
entsetzlichsten  tiefsten  Jammers.  Und  dabei  ist  in  Betracht  zu 
ziehen,  dass  diese  Statistik  noch  nicht  beendet  ist  und  dass  die- 
selbe durchaus  keinen  Anspruch  auf  Vollständigkeit  machen 
kann,  einmal,  weil  sie  zum  ersten  Mal  und  in  viel  zu  kurzer  Zeit 
unternommen  werden  musste,  und  zweitens,  weil  manche  Arbeits- 
lose aus  falschem  Schamgefühl  die  Angaben  verweigern. 

In  Wandsbeck  hat  die  Aufnahme  einer  Arbeitslosen- 
statistik folgendes  Ergebniss  gehabt:  Die  Gesammtzahl  der 

Arbeitslosen,  welche  sich  an  der  statistischen  Aufnahme  durch 
Beantwortung  der  an  sie  gestellten  Fragen  betheiligten,  betrug 
511  (darunter  315  Verheirathete  mit  1 161  Kindern).  Nach  Berufen 
geordnet,  befinden  sich  unter  dieser  Zahl  353  nicht  gelernte 
Arbeiter,  1 1 Maler,  9 Tischler,  6 Töpfer.  5 Schuhmacher,  Stein- 
brügger,  Brauer  und  Küper  je  4,  Schneider  3,  Müller  und  Bäcker 
2,  Steindrucker,  Glaser  und  Gärtner  je  1.  Die  Dauer  der  Arbeits- 
losigkeit beträgt  im  Durchschnitt  77/s  Wochen. 

In  Wolfenbüttel  wurden  durch  eine  von  den  dortigen 
Arbeitern  aufgenommene  Statistik  240  Arbeitslose  ermittelt,  die 
zusammen  1930  Wochen  arbeitslos  waren.  Unter  ihnen  befanden 
sich  149  Verheirathete. 

Die  Gewerkschaften  in  Gotha  haben  am  22.  Januar  die 
Zahl  der  Arbeitslosen  zu  ermitteln  gesucht.  Das  Ergebniss  der 
Statistik  ist  unvollständig,  gewährt  aber  immerhin  einen  Anhalt 
für  die  Grösse  der  herrschenden  Noth.  In  der  Stadt  Gotha 
wurden  im  ganzen  389  Arbeitslose  ermittelt,  darunter  258  Ver- 
heirathete. Von  diesen  waren  ohne  Beschäftigung  25  eine  Woche, 
72  drei  Wochen,  36  fünf  Wochen,  47  sieben  Wochen,  34  neun 
Wochen,  34  elf  Wochen,  10  dreizehn  Wochen  und  42  fünfzehn 
bis  sechzehn  Wochen.  Zeitweise  Beschäftigung  hatten  59 
30  Arbeitslose  gaben  über  die  Dauer  der  Arbeitslosigkeit  nichts 
an.  In  den  Vororten  Gothas  wurden  ermittelt:  in  Nelleben  23 
Arbeitslose,  Boilstädt  12,  Goldbach  105.  Remstädt  27,  Buf- 
leben  33,  Siebleben  55,  Sundhausen  29;  zusammen  284  Arbeits- 
lose, wovon  167  verheirathet  waren.  Hierzu  das  Resultat  aus 
Gotha  gerechnet,  ergiebt  673  Arbeitslose.  Auch  die  Arbeitslosen 
in  den  Vororten  waren  zumeist  schon  seit  Oktober  und  Novem- 
ber ohne  Beschäftigung. 

Zur  Stuttgarter  Arbeitslosenstatistik  ist  noch  nachzu- 
tragen, dass  die  Aufnahme  für  die  vereinigten  Gewerkschaften 
dieser  Stadt  mit  534  M.  14  Pf.  Kosten  verbunden  waren,  wovon 
auf  die  54  Zähler,  die  selber  arbeitslos  waren,  256,50  M.  Ver- 
gütung - - 4,75  M.  pro  Zähler  entfielen.  Da  durch  die  Statistik 
in  Stuttgart  2086  Arbeitslose  ermittelt  wurden,  kommen  auf  jeden 
25'/2  Pf.  Ermittelungskosten. 

Eine  Erhebung  über  die  Arbeitslosigkeit  in  der  Stadt 
Zürich  ergab  folgendes:  Im  ganzen  haben  sich  1610  männliche 
Personen  als  arbeitslos  gemeldet;  allein  wirklich  arbeitslos  waren 
blos  1400  Mann,  da  eine  grosse  Anzahl  Leute  nur  Passanten  oder 
vorübergehend  für  einige  Tage  arbeitslos  waren. 

Von  diesen  Arbeitslosen  sind  488  Familienväter,  mit  zu- 
sammen 1059  Kindern.  Verheirathet  sind  71,4  "/0  Schweizer, 
15,2%  Deutsche  und  13,4%  Italiener  und  Tiroler.  115  Familien- 
väter haben  sich  mehr  als  5 Jahre  in  Zürich  aufgehalten:  es  sind 
27  Schweizer,  52  Deutsche  und  36  Italiener  und  Tiroler.  Bei 
den  ledigen  Leuten  gestaltet  sich  das  Aufenthaltsverhältniss 
ähnlich,  nur  die  Zahl  der  deutschen  Arbeiter  ist  verhältniss- 
mässig  kleiner. 

In  Bezug  auf  die  Nationalität  ist  die  Schweiz  mit  75%, 
Deutschland  mit  10 % und  Italien  und  Tirol  mit  15%  vertreten. 

Es  ist  eine  auffallende  Erscheinung,  dass  eine  so  grosse 
Anzahl  Personen,  die  mehr  als  5 Jahre  hier  wohnen  und  unter 
denen  sich  viele  befinden,  die  entweder  hier  geboren  oder  doch 
20  und  mehr  Jahre  in  Zürich  ansässig  sind,  arbeitslos  dastehen. 

Der  Bürgermeister  von  Brüssel  hat  in  den  letzten  Tagen 
des  Januar  eine  amtliche  Kundgebung  plakatiren  lassen,  in  der 
er  sämmtliche  Arbeitslosen  auffordert  sich  auf  der  Arbeitsbörse 
zu  melden,  damit  ihm  Gelegenheit  geboten  werde,  sich  mit 
ihnen  wegen  Beschaffung  von  Arbeit  in  Verbindung  zu  setzen. 

Zunahme  des  Hausbettels.  In  Eisenach  sind  beim 
Verein  gegen  Hausbettelei  im  vorigen  Jahre  800  Unter- 
stützungsgesuche mehr  eingelaufen,  als  im  Jahre  1891. 
Gegen  die  ersten  Jahre  seit  dem  Bestehen  des  Vereins  hat 
sich  die  Zahl  der  Unterstützungsuchenden  vervierfacht. 
Die  Zahl  der  Verpflegten  betrug  im  Vorjahre  2309. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Fachvereine  und  Staatsaufsicht.  In  der  Sitzung  des 
preussischen  Oberverwaltungsgerichts  (III.  Senat)  vom  5.  Ja- 
nuar d.  J.  gelangten  zwei  Streitsachen  des  Vorstandes  des 
„Unterstützungsvereins  Deutscher  Buchdrucker“  zu  Berlin 


wider  das  Berliner  Polizeipräsidium  zur  Entscheidung,  welche 
wegen  der  grundsätzlichen  Wichtigkeit  der  erörterten  Fragen 
wohl  eine  eingehendere  Berichterstattung  verdienen.  Die  in 
der  Zeit  vom  23.  bis  26.  Juni  1891  in  Berlin  abgehaltene 
ordentliche  Generalversammlung  des  genannten  Vereins 
hatte  beschlossen,  im  Hinblick  auf  die  zu  erwartende  Tarif- 
bewegung im  Buchdruckergewerbe  den  Vorstand  zu  beauf- 
tragen, alsbald  auf  unbestimmte  Zeit  zur  Ansammlung  eines 
Unterstützungsfonds  eine  obligatorische  Extrasteuer  in  Höhe 
von  50  Pf.  pro  Woche  und  Mitglied  auszuschreiben.  Nach- 
dem der  Vorstand  diesen  Beschluss  zur  Ausführung  ge- 
bracht hatte,  verfügte  der  Polizeipräsident  zu  Berlin,  im 
Aufträge  des  Ministers  des  Innern,  unter  dem  23.  Dezember 
1891  an  denselben:  es  sei  von  der  Weitererhebung  dieser 
Sondersteuer  Abstand  zu  nehmen,  und  es  seien  die  Gau- 
vorstände sofort  mit  entsprechender  Anweisung  zu  versehen, 
zur  Vermeidung  einer  Exekutivstrafe  von  150  M.  event.  drei 
Wochen  Haft  für  jeden  Kontraventionsfall.  Auf  Aufhebung 
dieser  Verfügung  klagte  der  Vereinsvorstand  gegen  den 
Polizeipräsidenten,  weil  dieselbe  über  die  der  Behörde  zu- 
stehenden Aufsichtsbefugnisse  hinausgehen.  Es  könne  nicht 
darauf  ankommen,  ob  diese  die  Ansammlung  und  Verwen- 
dung des  Fonds  zur  Unterstützung  der  durch  den  Strike 
arbeitslos  gewordenen  Vereinsmitglieder  billige  oder  nicht, 
sondern  allein  darauf,  ob  die  Ansammlung  und  Verwen- 
dung einer  gesetzlichen  oder  statutarischen  Vorschrift  zu- 
widerlaufe. Eine  gesetzliche  Vorschrift,  die  dem  entgegen- 
stehe, gebe  es  nicht;  aber  dieses  Vorgehen  halte  sich  auch 
durchaus  innerhalb  der  statutarischen  Vereinszwecke  der 
Wahrung  der  Berufsinteressen  und  der  Unterstützung  hilfs- 
bedürftiger Vereinsmitglieder.  Der  beklagte  Polizeipräsident 
wendete  in  erster  Reihe  ein:  das  Verwaltungsstreitverfahren 
finde  in  dieser  Sache  überhaupt  nicht  statt,  weil  die  an- 
gefoclitene  Verfügung  nicht  eine  polizeiliche  im  Sinne  der 
§§  127  ff.  Landersverw.-Ges.  sei,  sondern  aus  der  Oberauf- 
sicht über  erlaubte  Gesellschaften,  einem  Ausfluss  des 
staatlichen  Hoheitsrechts,  entsprungen  sei.  Durch  Urtheil 
des  Berliner  Bezirksausschusses  vom  29  März  1892  wurde 
jedoch  die  angefochtene  Verfügung  ausser  Kraft  gesetzt, 
und  dieses  Urtheil  ist  nunmehr  auf  die  Berufung  des  Polizei- 
präsidenten von  dem  Oberverwaltungsgericht  mit  folgender 
Begründung  bestätigt  worden:  Das  Aufsichtsrecht  des  Staates 
über  die  Vereine  und  Gesellschaften  — abgesehen  von  den 
gemeinnützigen  Korporationen  des  öffentlichen  Rechtes, 
bezüglich  deren  er  sich  weitergehende  Rechte  Vorbehalten 
habe  ■ — sei  nach  den  Rücksichten  der  Aufrechthaltung  der 
Ordnung,  Ruhe  und  Sicherheit  und  der  Abwendung  von 
Gefahren,  also  nach  rein  polizeilichen  Gesichtspunkten  zu 
handhaben.  Für  ein  von  diesem  polizeilichen  verschiedenes 
besonderes  Aufsichtsrecht,  wie  es  der  Beklagte  für  den 
Staat  in  Anspruch  nehme,  welches  denselben  eine  Art  dis- 
kretionärer Gewalt  im  allgemeinen  Wohlfahrtsinteresse, 
ohne  verwaltungsrichterliche  Kontrolle  gewähren  solle, 
biete  das  Gesetz  keinen  Anhalt.  Alles  das  gelte  insbesondere 
auch  von  den  Versicherungsanstalten,  welchen  der  klagende 
Verein  zuzuzählen  sei,  sofern  dieselben  nicht  etwa  behufs 
Erlangung  der  Zulassung  zum  Geschäftsbetriebe  sich  be- 
sonderen Aufsichtsbefugnissen  unterworfen  hätten,  was  in- 
dessen nicht  der  Fall  sei.  Eine  in  Ausübung  des  allgemeinen 
staatlichen  Aufsichtsrechts  erlassene  behördliche  Anordnung 
sei  sonach  eine  polizeiliche  Verfügung,  und  mit  dem  gegen 
diese  gewährten  Rechtsmittel  anfechtbar.  Sachlich  sei  die 
Verfügung  unhaltbar.  Zwar  sei  anzuerkennen,  dass  die 
Polizei  das  Recht  habe,  nicht  nur  Gesetzwidrigkeiten,  — 
eine  solche  stehe  unzweifelhaft  nicht  in  Frage  — , sondern 
auch  Statutwidrigkeiten,  soweit  durch  solche  das  öffent- 
liche Interesse  berührt  werde,  zu  verhüten  und  gegen  die- 
selben mit  den  ihr  überhaupt  beigelegten  Zwangsmitteln 
einzuschreiten.  Aber  ein  statutwidriges  Verhalten  liege 
nicht  vor;  insbesondere  sei  es  unrichtig,  dass  die  Einfüh- 
rung eines  solchen  Beitrags  nur  im  Wege  der  Statutänderung 
habe  geschehen  dürfen.  Die  Festsetzung  der  Beitragshöhe, 
welche  aus  naheliegenden  Gründen  beweglich  erhalten 
werden  müsse,  sei  überhaupt  nicht  Sache  des  Statuts,  und 
sie  sei  denn  auch  im  Statute  des  klagenden  Vereins  aus- 
drücklich dem  Beschlüsse  der  Generalversammlung  Vorbe- 
halten. Von  der  ihr  hiermit  überwiesenen  Befugmss  habe 
die  Generalversammlung  nur  einen,  auch  mit  den  statut- 
mässigen  Vereinszwecken  nicht  in  Widerspruch  stehenden 
Gebrauch  gemacht. 

Die  erwähnte  Generalversammlung  hatte  ferner  mehrere 
Statutänderungen  beschlossen,  und  der  Vorstand  reichte 
die  Beschlüsse  dem  Polizeipräsidium  behufs  Herbeiführung 


No.  20. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


239 


der  landespolizeilichen  Genehmigung  ein.  Nachdem  einige 
formelle  Punkte  durch  Korrespondenz  erledigt  waren,  er- 
liess  der  Polizeipräsident  am  30.  Dezember  1891  eine  Ver- 
fügung folgenden  Inhalts  an  den  Vorstand:  Ehe  eine  defini- 
tive Entschliessung  getroffen  werden  könne,  müssten  jeden- 
falls eine  Anzahl  von  Bestimmungen  beseitigt,  bezw.  ge- 
ändert werden.  Es  sei  deshalb  eine  nochmalige  Beschluss- 
fassung über  die  Statutänderung  erforderlich.  Zu  diesem 
Zwecke  habe  der  Vorstand  unverzüglich  eine  neue  General- 
versammlung einzuberufen  und,  dass  dies  geschehen,  durch 
Vorlegung  der  Einberufungsbeläge  nachzuweisen,  alsdann 
aber  den  von  dieser  Versammlung  beschlossenen  Statut- 
entwurf zur  staatlichen  Genehmigung  vorzulegen.  Zugleich 
werde  der  Vorstand  angewiesen,  die  weitere  Gewährung 
von  Unterstützungen  aus  Vereinsmitteln  an  strikende  Ver- 
einsmitglieder, weil  in  Widerspruch  mit  § 153  Gewerbe- 
ordnung stehend,  einzustellen  und  den  Gauvorständen 
aufzugeben,  die  Beitragszahlung  derjenigen  Vereinsmitglieder 
anzunehmen,  welche  ihren  statutarischen  Verpflichtungen 
nachgekommen  seien  und  lediglich  deshalb,  weil  sie  an  dem 
noch  gültigen  Tarif  festgehalten  (d.  h.  an  dem  Strike  sich 
nicht  betheiligt  haben),  aus  dem  Vereine  ausgeschlossen 
seien.  Auf  Nichtbefolgung  dieser  Anordnungen  wurde  eine 
Exekutivstrafe  von  150  M.,  event.  zwei  Wochen  Haft  an- 
gedroht. Diese  Verfügung,  welche  von  dem  Vereins- 
vorstande  gleichfalls  durch  Klage  angefochten  wurde, 
bildete  den  Gegenstand  des  zweiten  Prozesses.  Der  Bezirks- 
ausschuss erkannte  auch  in  diesem  Falle  auf  Ausserkraft- 
setzung, und  die  Berufung  des  Polizeipräsidenten  wurde 
von  dem  Oberverwaltungsgericht  abgewiesen.  Bezüglich 
der  formellen  Zulässigkeit  des  Verwaltungsstreitverfahrens 
und  der  sachlichen  Zulässigkeit  der  Strikeunterstützung 
bezog  sich  der  Gerichtshof  auf  die  Entscheidungsgründe 
in  der  ersten  Streitsache;  inwiefern  die  Unterstützung  gegen 
§ 153  Gewerbeordnung  verstossen  solle,  sei  nicht  erfind- 
lich. Ebensowenig  aber  stehe  der  Polizei  eine  Entscheidung 
darüber  zu,  welche  Mitglieder  ihre  statutarischen  Pflichten 
erfüllt  hätten,  und  ob  eine  Ausschliessung  zu  Recht  oder 
zu  Unrecht  erfolgt  sei.  Das  seien  innere  Vereinsangelegen- 
heiten, auf  welche  einzuwirken  ein  öffentliches  Interesse 
nicht  vorliege.  Und  was  endlich  die  Statutänderungen  an- 
gehe, so  müssten  dieselben  zwar  der  Aufsichtsbehörde  vor- 
gelegt werden,  und  diese  habe  zu  befinden,  ob  sie  die- 
selben genehmigen  wolle  oder  nicht.  Davon  ganz  verschieden 
aber  sei  das  hier  für  die  Aufsichtsbehörde  beanspruchte 
Recht,  ihrerseits  auf  eine  Statutänderung  hinzuwirken  und 
gar  die  Einberufung  einer  Generalversammlung  zu  diesem 
Zweck  anzuordnen.  Ein  solches  Recht  habe  sie  mindestens 
so  lange  nicht,  als  die  gegenwärtig  in  Kraft  befindlichen 
Statuten  mit  dem  Gesetze  nicht  in  Widerspruch  stehen. 

Geldstrafen  für  die  ausständischen  Bergarbeiter  im 
Saarrevier.  Der  jüngste  Ausstand  der  Bergleute  hat,  wie 
der  Frankfurter  Zeitung  aus  dem  Saarkohlenrevier  be- 
richtet wird,  für  die  daran  Betheiligten  ausser  anderen  un- 
angenehmen Folgen  die  gehabt,  dass  sie  kontraktlich  eine 
Geldstrafe  verwirkten,  die  für  die  während  des  Strikes  ver- 
säumten Schichten  bis  zu  6 derselben  pro  Schicht  I M., 
für  mehr  als  6 Schichten  6 M.  im  Ganzen  beträgt.  Die 
Gesammtstrafsumme  in  Höhe  von  etwa  100  000  M.  wird  der 
Knappschaftskasse  zugeführt.  In  diese  Kasse  haben,  wie 
man  hört,  schon  über  1000  gänzlich  oder  zeitweilig  ab- 
gelegte Bergleute  ihre  monatlichen  Beiträge  von  50  Pf. 
zur  Sicherung  späterer  Pensionsansprüche  eingezahlt. 

Die  englischen  Trades  Unions  und  die  sozialdemo- 
kratischen Kongresse.  Der  parlamentarische  Ausschuss 
der  I rades  Unions  beschloss,  den  internationalen  Kongress 
1894  statt  1893,  wie  zuerst  bestimmt  war,  abzuhalten  und 
Vertreter  zu  den  internationalen  Kongressen  in  Calais  und 
Zürich  zu  senden.  Dieser  Beschluss  spricht  dafür,  dass  die 
in  den  englischen  Gewerkvereinen  vorhandene  auf  einen 
Anschluss  an  die  sozialdemokratische  Bewegung  gerichtete 
Strömung  immer  entscheidenderen  Einfluss  gewinnt. 

Kongress  der  französischen  Arbeitsbörsen.  Der  zweite 
Kongress  des  nationalen  Verbandes  der  französischen  Arbeits- 
börsen ist  auf  den  12.  Februar  nach  Toulouse  einberufen.  Es 
gehören  nun  dem  Verbände  der  Arbeitsbörsen  an  die  von  Paris, 
St.  Etienne,  Roanne,  Toulouse,  Cognac,  Nantes,  Algier,  Mont- 
pellier, Cholet  und  St.  Girons. 

Von  den  auf  die  Tagesordnung  gesetzten  Punkten  heben 
wir  hervor: 


Die  Beziehungen  der  Arbeitsbörsen  zu  den  Kommunal- 
verwaltungen. Obligatorische  Gründung  der  Arbeitsbörsen 
durch  die  Kommunen  überall  dort,  wo  seitens  der  Gewerk- 
schaften der  bez.  Wunsch  ausgesprochen  wird. 

Gründung  einer  nationalen  Ausstandskasse  und  lokaler 
Ausstandskassen  durch  alle  Arbeitsbörsen. 

Welche  Wege  sind  einzuschlagen  um  die  Vereinigung  der 
Organisation  verwandter  Berufe  herbeizuführen? 

Die  Organisation  der  Feier  des  1.  Mai  durch  alle  Gewerk- 
schaften. 

Durch  den  Kongress  sollen  alle  Organisationen  eingeladen 
werden  sich  auf  dem  Gewerkschaftskongress  zu  Paris  (Juli  1893) 
vertreten  zu  lassen. 

Vollständige  und  endgiltige  Uebergabe  der  Stellenver- 
mittlung an  die  Arbeitsbörsen. 

Die  Arbeitsbörsen  sollen  den  Charakter  von  Einrichtungen 
öffentlichen  Nutzens  (d’utilite  publique)  erhalten  und  unter  aus- 
schliesslicher Leitung  der  Gewerkschaften  gestellt  werden. 

Gründung  eines  Organs  für  den  Verband  der  Arbeits- 
börsen. 

Bewilligungen  von  Subventionen  seitens  des  Departements 
und  der  Kommunen  zur  Erleichterung  des  Wegzuges  für  be- 
schäftigungslose Arbeiter.  Diese  Subventionen  sollen  von  den 
Arbeitsbörsen  verwaltet  werden. 

Organisirung  von  Centralverbänden  der  Gewerkschaften 
durch  das  internationale  Arbeitersekretariat. 


Handwerkerfragen. 


Der  Marseiller  Bäckermeisterstrike , der  anfangs 
Februar  ausgebrochen  war,  gehört  wohl  zu  den  selt- 
samsten Strikes  und  er  wäre  wahrscheinlich  auch  kaum 
zu  verzeichnen  gewesen  sein,  wenn  der  Marseiller  Ge- 
meinderath nicht  aus  lauter  Sozialisten  bestünde  Darauf 
deutet  wenigstens  jener  Theil  der  Presse  hin,  der,  im 
Gegensatz  zu  seiner  sonstigen  Haltung,  diesmal  energisch 
für  die  Strikenden  eintrat.  Und  doch  war  dieser  Strike 
nichts  Anderes  als  eine  Auflehnung  gegen  Gesetz  und 
Behörde.  Ein  Gesetz  von  1791  giebt  näfnlich  den  Ge- 
meinden das  Recht,  den  Verkaufspreis  des  Brodes  festzu- 
stellen Der  Bürgermeister  von  Marseille,  Dr.  Flaissieres, 
hatte  nun  nach  einem  vorher  eingeholten  Gutachten  der 
Nahrungsmittelkommission  über  den  Preis  des  MehlesJ 
Produktionskosten  u.  s.  w.,  den  Preis  des  Kilo  Brodes,  der 
bis  dahin  40  Centimes  betrug,  auf  37 Vs  Cent,  festgesetzt. 
Daraufhin  beschlossen  die  Bäckermeister  ihre  Bäckereien 
zu  schliessen,  während  sie  sich,  wie  es  in  ihrem  Proteste 
hiess,  gleichzeitig  feierlich  verpflichteten,  dieselben  erst 
nach  unbedingtem  Widerruf  der  bürgermeisterlichen  Ver- 
ordnung wieder  zu  eröffnen.  Um  ihren  Kampf  gegen  das 
Bürgermeisteramt  siegreich  durchführen  zu  können,  hatten 
sie  auch  ihre  Arbeiter  auf  ihre  Seite  zu  ziehen  verstanden, 
indem  sie  ihnen  nicht  nur  einzelne  schon  längst  gestellte 
Forderungen  bewilligten,  sondern  ihnen  auch  den  vollen 
Lohn  für  die  ganze  Dauer  des  Strikes  zusagten.  Dazu  kam 
noch,  dass  die  Bäckermeister  von  Toulon,  Arles,  Avignon 
und  Nimes  sich  mit  ihnen  solidarisch  erklärten  und  die 
Anträge  des  Bürgermeisteramtes,  Marseille  mit  Brod  zu 
versehen,  zurückwiesen.  Aber  trotz  alledem  sahen  sie  sich 
schon  nach  zweitägigem  Strike  veranlasst,  ihre  ablehnende 
Haltung  aufzugeben.  Ihren  scharfen  gegen  den  Bürger- 
meister gerichteten  Resolutionen,  die  nur  den  Zorn  der 
Bevölkerung  gegen  sie  hervorriet,  folgte  bald  ein  milderer 
Ton.  Es  war  allerdings  nicht  so  leicht,  Marseille,  das  täglich 
170  000  Kilo  Brod  verzehrt,  gleichsam  im  Handumdrehen  ge- 
nügend mit  Gebäck  zu  versehen.  Nichtsdestoweniger  hat 
es,  mit  Ausnahme  der  ersten  Morgenstunden,  nirgends  an 
Brod  gefehlt  und  als  der  Strike  zu  Ende  war,  gab  es  sogar 
einen  solchen  Ueberfluss,  dass  der  Laib  zu  25  Cent,  abge- 
geben wurde.  Die  Militärbäckereien  von  Marseille,  Nimes, 
Toulon  u.  s.  w.  hatten  nämlich,  ausser  den  ca.  dreissig  vom 
Bürgermeister  requirirten  Backöfen,  reichlich  Hilfe  geleistet. 
Das  Ganze,  was  die  Bäckermeister  erreicht  haben,  ist,  dass 
der  Bürgermeister  auf  Fürbitte  des  Präfekten  diesem  zu- 
gesagt hat,  die  offizielle  Brodtaxe  probeweise  durch  eine 
offiziöse  ersetzen  zu  wollen,  an  deren  Stelle  jedoch,  wenn 
sie  nicht  eingehalten  wird,  allsogleich  wieder  die  offizielle 
Taxe  zu  treten  hat.  Am  schlimmsten  bei  diesem  ganzen 
Strike  sind  die  Bäckergehilfen  daran,  die  mit  ihren  Meistern 
gemeinsame  Sache  machten,  da  sie  nun  von  den  meisten 
übrigen  Arbeiterkörperschaften  in  Bann  gelegt  werden. 


240 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  20. 


Einzelne  Körperschaften  beantragen  selbst,  sie,  bezw.  deren 
Syndikat  aus  der  Arbeitsbörse  auszuschliessen.  Uns  jedoch 
dünkt,  dass  man  gerade  vom  Arbeiterstandpunkt  aus  nicht 
allzuscharf  mit  ihnen  ins  Gericht  gehen  dürfte,  da  deren 
demoralisirende  Nachtarbeit,  wenn  auch  kein  Entschul- 
digungs-,  so  doch  ein  bedeutender  Milderungsgrund  für 
sie  ist. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Petition  gegen  die  Einschränkung  der  Sonntagsruhe. 

Bei  der  Handelskammer  in  Hanau  ist  eine  mit  ca.  300  Unter- 
schriften bedeckte  Petition  Gewerbetreibender  — darunter 
die  bedeutenderen  Firmen  fast  aller  Branchen  — einge- 
laufen, worin  die  Handelskammer  ersucht  wird,  ihren  ganzen 
Einfluss  aufzubieten,  dass  die  bisherigen  Bestimmungen 
über  die  Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe  unverändert 
bleiben.  Die  Petition  führt  aus,  dass  man  die  neuen  Be- 
stimmungen sogar  nur  als  ersten  Schritt  auf  dem  Gebiete 
der  Sonntagsruhe  betrachtet  habe,  und  es  auffallend  finden 
müsse,  wenn  schon  jetzt  von  den  kaum  eingeführten  Be- 
stimmungen Einschränkungen  zugelassen  werden  sollten. 
Die  Gewerbetreibenden  erklären,  dass  die  Folgen  der 
Sonntagsruhe  für  ihre  Geschäfte  durchaus  nicht  so  ein- 
schneidend seien,  um  eine  Aenderung  der  Bestimmungen 
für  nothwendig  oder  auch  nur  für  wünschenswerth  zu 
halten.  Im  Gegentheil  hätten  sich  nach  den  gemachten 
Erfahrungen  die  Käufer  schon  überwiegend  daran  gewöhnt, 
ihren  Bedarf  in  der  Woche  zu  decken  und  mit  der  Zeit 
werde  der  Verkauf  an  Sonntagen  sich  auf  ein  Minimum 
reduziren.  Die  Handelskammer  wird  in  ihrer  nächsten 
Sitzung  Stellung  zu  der  beachtenswerthen  Petition  nehmen. 

Zur  Frage  der  Sonntagsruhe.  Eine  bemerkenswerthe 
Entscheidung  bezüglich  des  Gesetzes  über  die  Sonntagsruhe 
fällte  das  Schöffengericht  am  Amtsgericht  II.  Berlin.  Die  In- 
spektoren der  Berliner  Kirchhöfe,  soweit  dieselben  auf  den 
ihrer  Verwaltung  anvertrauten  Kirchhöfen  einen  Blumenhandel 
betreiben,  sind  seit  dem  Inkrafttreten  des  Gesetzes  über  die 
Sonntagsruhe  wiederholt  von  Stafmandaten  betroffen  worden, 
weil  sie  auf  ihren  Kirchhöfen  auch  ausserhalb  der  erlaubten 
Geschäftsstunden  Blumen  verkauft  haben  oder  verkauft  haben 
sollten.  Die  Mandate  sind  zunächst  bezahlt  worden,  als  sich 
dieselben  aber  wiederholten,  traten  die  Kirchhofsinspektoren 
zusammen  und  beschlossen  in  einer  Versammlung,  dass  beim 
nächsten  Strafmandate  auf  gemeinsame  Rechnung  die  richter- 
liche Entscheidung  angeruten  und  die  Sache  erforderlichen 
Falles  bis  in  die  höchste  Instanz  — das  Kammergericht  — ver- 
folgt werden  solle.  Das  nächste  Strafmandat  traf  den  Inspektor 
der  Andreas-  und  Markusgemeinden,  Lamcke,  der  den  obigen 
Beschluss  zur  Ausführung  brachte  und  Einspruch  erhob.  Das 
Urtheil  des  Schöffengerichts  lautete  dahin,  dass  der  Kirchhof 
als  geschlossener  Raum  zu  betrachten,  der  nicht  als  öffentliche 
Verkaufsstelle  im  Sinne  des  Gesetzes  anzusehen  sei,  so  lange 
die  verkauften  Blumen  auf  dem  Kirchhofe  bleiben  und  nicht 
ausserhalb  desselben  gelangen.  Der  Angeklagte  sei  daher 
kostenlos  freizusprechen.  Da  sich  aus  dieser  Entscheidung  die 
mannigfachsten  Konsequenzen  auch  für  andere  Betriebe  ergeben 
müssen,  so  kann  es  kaum  ausbleiben,  dass  sich  auch  die  höheren 
Instanzen  mit  der  Frage  zu  beschäftigen  haben  werden. 

Ortsstatut  über  Auszahlung  des  Lohnes  an  Minderjährige. 

Der  Gemeinderath  von  Wein  heim  (Baden)  hat  es  als  ein 
dringendes  Bedürfniss  erachtet,  von  den  Befugnissen  in  § 119a, 
Ziff.  2 und  3 Gewerbeordnung  Gebrauch  zu  machen,  und  die 
Auszahlung  des  Lohnes  an  Minderjährige  durch  Ortsstatut  zu 
regeln.  Nach  dem  zu  erlassenden,  auf  sämmtliche  gewerbliche 
Betriebe  sich  erstreckenden  Ortsstatut  soll  der  von  Arbeitern 
unter  18  Jahren  verdiente  Lohn  in  der  Regel  an  die  Eltern  und 
Vormünder,  an  die  Minderjährigen  selbst  aber  nur  mit  schrift- 
licher Zustimmung  der  Eltern  u.  s.  w.  gezahlt  werden.  Aus- 
nahmen hiervon  sind  nur  vorgesehen  bezüglich  der  Minder- 
jährigen, deren  Eltern  nicht  die  nöthige  Gewähr  für  eine  geord- 
nete Verwendung  des  vereinnahmten  Lohnes  bieten.  Es  wurde 
den  Weinheimer  Krankenkassen,  dem  dortigen  Gewerbe-  und 
Kaufmännischen  Verein  Gelegenheit  geboten,  sich  über  das  zu 
erlassende  Ortsstatut  zu  äussern.  Die  ergangenen  Erklärungen 
lauten  in  der  Hauptsache  zustimmend;  ebenso  hat  der  Mann- 
heimer Bürgerausschuss  nahezu  einstimmig  dem  Entwürfe  die 
Genehmigung  ertheilt.  Auf  Grund  des  § 142b  der  Gewerbe- 
ordnung und  § 161b  der  Vollzugsverordnung  hierzu,  in  der 
Fassung  der  badischen  Verordnung  vom  24.  März  1892  hat  das 
Ministerium  des  Innern  diesem  Ortsstatut  die  Genehmigung 


unter  der  Voraussetzung  ertheilt,  dass  die  Bestimmung  des  § 2 
des  Ortsstatuts,  wonach  die  Gewerbetreibenden  verpflichtet  sind, 
den  Eltern  und  Vormündern  jeweils  nach  Umlauf  von  6 Monaten 
Mittheilung  von  den  an  minderjährige  Arbeiter  gezahlten  Lohn- 
beträgen zu  machen,  nur  hinsichtlich  der  mehr  als  18  Jahre  alten 
minderjährigen  Arbeiter  und  derjenigen  jüngeren  Arbeiter  platz- 
greift, an  welche  der  Lohn  nach  besonderer  Gestaltung  unmittel- 
bar ausgezahlt  werden  darf.  Wie  die  Badische  Korrespondenz 
hört,  soll  die  Erlassung  eines  solchen  Ortsstatuts  auch  in  an- 
deren Gemeinden  des  Landes  geplant  sein. 

Arbeiterscluitz  bei  Staatsarbeiten  in  Dänemark.  Bei 

der  ersten  Lesung  des  von  dem  Sozialdemokraten  Hördum 
eingebrachten  Gesetzentwurfes  über  die  Festsetzung  des 
Arbeitslohnes  und  der  Arbeitszeit  bei  der  Vergebung  staat- 
licher und  kommunaler  Bauten  sprachen  der  Minister  des 
Innern,  sowie  mehrere  Abgeordnete  sich  bestimmt  gegen 
denselben  aus,  hervorhebend,  dass  dem  Staat  und  den 
Kommunen  das  Recht  zur  Benutzung  der  freien  öffent- 
lichen Konkurrenz  verbleiben  müsse.  Der  Gesetzentwurf 
wurde  zur  zweiten  Lesung  und  an  einen  Ausschuss  ver- 
wiesen. 


Arbeiterversicherung. 


Kosten  (lei*  Unfallversicherung.  Auf  Grund  der  vom 
Reichsversicherungsamte  zur  Abfassung  des  Berichts  an  den 
Reichskanzler  eingeforderten  Rechnungsdarlegungen  der  Berufs- 
genossenschaften ist  von  amtlicher  Seite  die  Berechnung  auf- 
gestellt worden,  dass  auf  das  Jahr  1892  die  Ausgaben  für  die 
Unfallversicherung  54  Millionen  Mark  betragen  haben.  Die  zur 
Ausführung  der  Unfallversicherung  eingesetzten  Organe,  Beruts- 
genossenschaften  und  Ausführungsbehörden,  sind  nun  7 Voll- 
jahre  in  Thätigkeit  gewesen.  Im  ersten  dieser  Jahre  beliefen 
sich  ihre  Ausgaben  auf  10,5  Millionen;  diese  haben  sich  dem- 
nach mehr  als  verfünffacht.  Man  wird  dabei  allerdings  nicht  ' 
ausser  Acht  lassen  dürfen,  dass  in  der  Zwischenzeit  weite  Kreise 
in  die  Unfallversicherung  neueinbezogen  worden  sind,  wie  die  1 
land-  und  forstwirthschaftlichen  Arbeiter,  die  Seeleute,  die  Tief-  ’ 
bauarbeiter.  Insgesammt  wurden  in  den  sieben  Jahren  für  diesen  ' 
einzigen  Zweig  der  staatlichen  Arbeiterversicherung  rund  230 
Millionen  Mark  verausgabt. 

Geschäftsthätigkeit  des  bayrischen  und  sächsischen 
Landesversicherungsaintes.  Die  Geschäftsthätigkeit  des  baye- 
rischen Landes  Versicherungsamtes  im  Jahre  1892  war  eine  weit  { 
ausgedehntere  als  im  Jahre  1891.  Im  Jahre  1892  waren  im  Ganzen 
zu  entscheiden  99  Beschwerden  gegen  82  im  Vorjahre  und  i 
402  Rekurse  gegen  213  im  Vorjahre.  Von  diesen  402  Rekursen  \ 
waren  eingelegt  360  von  den  Verletzten,  38  von  den  Berufs-  * 
genossenschaften,  bezw.  Ausführungsbehörden,  4 von  beiden  j 
Theilen.  Im  Jahre  1892  hielt  das  kömgl.  Landesversicherungsamt 
24  öffentliche  und  19  nicht  öffentliche  Sitzungen  ab.  In  den 
öffentlichen  Sitzungen  wurden  von  den  402  Rekursen  343  end- 
giltig  entschieden,  59  waren  am  Schlüsse  des  Jahres  1892  noch 
in  der  Instruktion  begriffen  und  gingen  somit  unerledigt  auf  das 
Jahr  1893  über.  Von  den  76  im  Jahre  1892  verhandelten  Be- 
schwerden wurden  3 zu  Gunsten,  32  zu  Ungunsten  der  Be- 
schwerdeführer entschieden  und  41  zurückgezogen,  bezw.  als 
gegenstandslos  erklärt.  Aus  dem  Jahre  1891  waren  unerledigt 
übernommen  worden  : 280,  mithin  waren  im  Jahre  1892  im  Ganzen 
1927  Berufungen  anhängig  (gegen  1235  im  Vorjahre),  so  dass  sich 
eine  Zunahme  von  692  Berufungen  ergiebt  Von  der  Gesammt- 
zahl  der  Beruiungen  wurden  bei  den  Schiedsgerichten  erledigt 
1548  Fälle.  Durch  Rekurs  anfechtbare  schiedsgerichtliche  Ent- 
scheidungen sind  im  Laufe  des  Jahres  ergangen  1353.  Die  Zahl 
der  Sitzungstage  betrug  155.  Was  die  Geschäftsthätigkeit  der 
zur  Durchführung  der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  er- 
richteten Schiedsgerichte  anlangt,  so  sind  bei  den  acht  Schieds- 
gerichten für  die  bayerischen  Versicherungsanstalten,  sowie  bei 
dem  der  Beaufsichtigung  der  königl.  Landes  Versicherungsämter 
nicht  unterstellten  Schiedsgerichte  für  die  Arbeiterpensionskasse 
der  königl.  Staatseisenbahnverwaltung  im  Jahre  1892  im  Ganzen 
1528  Berufungen  anhängig  geworden.  Von  der  Gesammtzahl  der 
Berufungen  wurden  bei  den  Schiedsgerichten  erledigt  1629  Fälle. 
Die  Zahl  der  Sitzungstage  betrug  103,  die  Zahl  der  Sachen  395. 
Die  Berichte  der  Vorsitzenden  der  Schiedsgerichte  für  die  In- 
validitäts- und  Altersversicherungsanstalten  erkennen  gleichfalls 
an,  dass  die  Schiedsgerichtsbeisitzer  reges  Interesse  und  prak- 
tisches Verständniss  entwickeln  und  die  Kenntniss  der  ein- 
schlägigen gesetzlichen  Bestimmungen  mehr  und  mehr  sich  zu 
eigen  machen. 

Auch  die  Geschäftsthätigkeit  des  sächsischen  Landesver- 
sicherungsamts  ist  nach  dem  soeben  erschienenen  Geschäfts- 
bericht im  Jahre  1892  abermals  gestiegen.  Die  Zahl  der  Regi- 
strandennummern,  welche  im  Vorjahre  1891  auf916  zurückgegangen 


No.  20. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT, 


241 


war,  hat  sich  im  Berichtsjahre  auf  1009  erhöht,  wovon  642  auf 
Angelegenheiten  der  Unfallversicherung,  308  auf  Angelegenheiten 
der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  und  59  auf  allgemeine 
Angelegenheiten  kommen.  Im  Ganzen  lagen  für  die  Spruch- 
thäfigkeit  60  (im  Vorjahre  44)  Rekurse  gegen  schiedsgerichtliche 
Entscheidungen  vor,'  von  denen  34  zu  öffentlich-mündlichen 
Verhandlungen  gelangten,  4 aus  formellen  Gründen  zurück- 
gewiesen, 13  der  Zuständigkeit  halber  an  das  Reichs-Versiche- 
rungsamt  abgegeben,  2 nach  Ertheilung  anderweiten  Lescheids 
der  Berufsgenossenschaft  zurückgezogen  und  7 unerledigte,  weil 
noch  im  Verfahren  befindlich,  in  das  Jahr  1893  übernommen 
wurden.  Die  Verwaltungsthätigkeit  des  Landesversicherungs- 
amtes hatte  sich  im  Betriebsjahre  wieder  mit  mehr  Kataster- 
beschwerden zu  beschäftigen  als  im  Vorjahre  Es  kamen  26 
solche  vor  (13  im  Vorjahre  . Beschwerden  über  die  Festsetzung 
der  Beiträge  gingen  5 ein  (7  im  Vorjahre),  die  sämmtlich  ab- 
gewiesen wurden  Tarifbeschwerden  lagen  24,  Beschwerden  über 
Strafverfügungen  der  Genossenschaftsvorstände  und  des  Vor- 
standes der  Versicherungsanstalt  für  das  Königreich  Sachsen  24 
vor  (41  im  Vorjahre). 

Arbeitslosenversicherung  im  Kanton  Basel-Stadt.  Die 

Frage  der  Arbeitslosenversicherung  scheint  in  der  Schweiz 
nun  in  das  Stadium  des  Versuchs  zu  kommen.  Nachdem 
die  Stadt  Bern  vorangegangen  ist,  brachte  im  Monat 
Januar  die  sozialdemokratische  Fraktion  des  grossen  Rathes 
des  Kantons  Basel-Stadt  folgende  Resolution  ein:  „Der 
Regierungsrath  wird  eingeladen  zu  prüfen  und  zu  be- 
richten, ob  und  wie  behufs  rationeller  Bekämpfung  der 
schlimmen  Folgen  der  Arbeitslosigkeit  eine  Versicherung 
gegen  Arbeitslosigkeit  vom  Staate  zu  errichten  oder  ent- 
sprechende private  Institute  vom  Staate  zu  unterstützen 
seien.“ 

Buchdrucker-Hilfskassen  in  Russland.  Wie  der  Leipziger 
„Correspondent“  mittheilt,  bestanden  im  Jahre  1891  in  Russland 
folgende  Buchdrucker-Unterstützungskassen:  Seit  1814  die  Ge- 
sellschaft der  Warschauer  Buchdrucker  mit  433  Mitgliedern,  seit 
1816  die  Unterstützungs-  und  Beerdigungskasse  der  Buch- 
drucker-Gesellschaft in  Riga  mit  124,  seit  1819  die  Unterstützungs- 
und Beerdigungskasse  der  Buchdrucker  in  Dorpat  mit  30,  seit 
1840  die  Unterstützungskasse  für  Buchdrucker,  Schriftgiesser, 
Lithographen,  Xylographen  und  Photographen  in  St.  Petersburg 
mit  114,  seit  1848  die  gegenseitige  Unterstützungskasse  für 
Wittwen  und  Waisen  der  Buchdrucker-Gesellschaft  in  Riga  mit 
64,  seit  1851  die  Unterstützungskasse  der  Buchdruckerei  der 
Kaiserlichen  Akademie  der  Wissenschaften  in  St.  Petersburg 
mit  82,  seit  1866  die  LTnterstützungskasse  der  Schriftsetzer  in 
St.  Petersburg  mit  505,  seit  1869  die  Unterstützungskasse  der 
Buchdrucker  in  Moskau  mit  291,  seit  1873  die  Allgemeine  In- 
validenkasse der  Buchdrucker-Gesellschaft  in  Riga  mit  95,  seit 
1881  die  gegenseitige  Unterstützungskasse  der  Schriftsetzer  in 
Charkow  mit  64,  seit  1884  die  gegenseitige  Unterstützungskasse 
der  Buchdrucker  in  Odessa  mit  86,  seit  1885  die  gegenseitige 
Untersttitzungskasse  der  Buchdrucker  in  Kasan  mit  52,  seit  1885 
die  gegenseitige  Unterstützungskasse  der  Fjodorolf’schen  Gesell- 
schaft in  Odessa  mit  180,  seit  1890  die  gegenseitige  Unter- 
stützungskasse der  Schriftsetzer  in  Kiew  mit  187  Mitgliedern, 
seit  1891  die  gegenseitige  Unterstützungskasse  der  Buchdrucker 
und  Lithographen  in  Reval. 


Gewerbegerichte,  Einigungsämter  und 
Arbeiterausschüsse. 

Fünf  Berggerichte  für  Preussen  sollen  am  1.  April 
ins  Leben  treten.  Als  Sitz  dieser  Gerichte  sind  in  Aus- 
sicht genommen  die  Orte  Beuthen,  Waldenburg,  Dortmund, 
Saarbrücken  und  Aachen. 

Die  Einigungsämter  in  Frankreich.  Der  französische 
Handelsminister  Siegfried  hat  ein  ausführliches  Rund- 
schreiben an  die  Präfekten  gerichtet,  in  dem  er  ihre  Auf- 
merksamkeit auf  das  neue  Gesetz,  betreffend  die  Schieds- 
gerichte zwischen  Arbeitern  und  Arbeitgebern,  lenkt  und 
ihnen  die  Anwendung  desselben  bei  Ausständen  dringend 
empfiehlt,  nachdem  sich  die  Arbeiter  an  mehreren  Orten 
bereits  geweigert  haben,  die  Intervention  des  Friedens- 
richters behufs  Schlichtung  des  Konflikts  anzunehmen; 
deshalb  müssten  die  Präfekten  darauf  bedacht  sein,  die 
Arbeiter  über  die  wahre  Tragweite  des  Gesetzes  aufzu- 
klären. Auch  den  Arbeitgebern  gegenüber  könne  ein 
energisches  Auftreten  der  Präfekten  nothwendig  sein,  falls 


jene  aus  irgend  welchen  Gründen  nicht  in  das  Schieds- 
gericht willigten.  Des  Ministers  Absicht  geht  dahin,  kein 
Mittel  unversucht  zu  lassen,  um  allen  Konflikten  auf  güt- 
lichem Wege  ein  Ende  zu  machen,  und  in  dieser  Richtung 
könnten  die  Präfekten,  welche  mit  den  besonderen  Ver- 
hältnissen ihres  Amtsbezirkes  genau  vertraut  sind,  erheb- 
liche Dienste  leisten. 


Wohnungszustände. 


Einfluss  der  Wolm Verhältnisse  auf  die  Sterblichkeit 
an  tuberkulösen  und  infektiösen  Krankheiten.  In  den 

15  grössten  schweizerischen  Städten  ist  seit  Januar  1891  die 
Möglichkeit  geboten,  den  Einfluss  der  Wohnverhältnisse 
auf  die  Sterblichkeit  zu  messen  und  zwar  sowohl  im  Allge- 
meinen als  auch  hinsichtlich  bestimmter  Krankheiten,  in- 
dem die  Aerzte  bei  Ausfüllung  der  Sterbekarten  bezüg- 
liche „Bemerkungen“  machen,  für  welche  ihnen  in  einer 
Anleitung  die  nöthigen  Anhaltspunkte  gegeben  sind. 
Speziell  hinsichtlich  der  tuberkulösen  und  infektiösen 
Krankheiten  stellt  sich  die  Sache  für  1891  in  folgender 
Weise  dar: 


Sterbefälle  in  den  15  grössten 

Gemeinden  an 

Wohnungsverhältnisse 

tuberku- 

löse 

Krankh. 

infektiösen 

Krankh. 

tuberk.  und 
inf.  Krankh. 
zusammen 

günstig 

25,4% 

20,4  o/o 

23,7  o/o 

ungünstig 

unbekannt,  oder  Personen 

16,5  0/o 

19,7  o/0 

17,6% 

im  Spital  gestorben  . . 

34,8  % 

36,9  0/0 

35,5  o/o 

nicht  angegeben  .... 

23,3  o/0 

23,0  "/o 

23,2  0/0 

zusammen  . . . 

100,0  o/o 

100,0  o/o 

100,0  o/o 

Auf  den  ersten  Blick  scheint  allerdings  eine  Einwir- 
kung der  Wohnverhältnisse  nicht  hervorzutreten.  Nun  ist 
aber  zu  bedenken,  dass  die  35,5  pCt.,  für  welche  die 
Wohnungsverhältnisse  unbekannt  blieben,  und  die  zumeist 
solche  Personen  betreffen,  die  im  Krankenhause  starben, 
gewiss  im  Allgemeinen  die  ärmsten  Klassen  angehen  und 
zum  grössten  Theile  jenen  17,6pCt.  zugerechnet  werden 
müssen,  für  welche  ungünstige  Sterbefälle  konstatirt  werden. 
Damit  steigt  die  Zahl  schon  auf  die  Hälfte  der  Fälle  an. 
Nun  handelt  es  sich  noch  um  ca.  ’/i  der  Fälle,  in  denen 
die  Aerzte  die  Frage  nach  den  Wohnverhältnissen  nicht 
beantworteten.  Da  dürfte  die  Ansicht  auch  gerechtfertigt 
sein,  dass  diese  Fälle  gleichfalls  zum  grössten  Theile  jenen 
1 7,6  -f  35,5  pCt.  zuzurechnen  sind,  für  welche  ungünstige 
Wohnverhältnisse  zum  Theil  vorliegen,  zum  Theil  ange- 
nommen werden  müssen.  Diese  Annahme  stützt  sich  auf 
die  einfache  Thatsache,  dass  der  Arzt  bei  günstig  plazirten 
Wohnungen  einfach  das  Wort  „günstige  Wohnungsverhält- 
nisse“ einzutragen  hat,  während  bei  mangelhaften  Wohnun- 
gen er  mit  dieser  einfachen  Thatsache  nicht  hinreicht, 
sondern  auch  in  das  Detail  der  vom  Statistischen  Büreau 
aufgestellten  Anleitung  einzugehen  und  anzugeben  hat,  in 
welcher  speziellen  Hinsicht  die  Wohnung  als  ungünstig 
qualifizirt  werden  muss.  Jedenfalls  liegt  der  Einfluss  der 
ungesunden  Wohnungen  speziell  auf  die  tuberkulösen  und 
infektiösen  Krankheiten  deutlich  zu  Tage. 

Es  ist  nicht  uninteressant  in  die  Bemerkungen  einzu- 
gehen, welche  die  Aerzte  über  die  Wohnverhältnisse  ver- 
storbener Personen  auf  die  Sterbekarten  verzeichnen,  z.  B.: 

1 Zimmer  für  5 Personen.  — Wohnung  schlecht  ventilirt 
und  übervölkert.  — Wohnung  in  feuchtem  Keller.  — Luft 
durch  Fabriken  und  Metzgerei  verdorben.  — Schweineställe 
in  der  Nähe  (Typhus).  — Infiltration  von  Gräbern.  ■ — 
Wohnung  mangelhaft,  feucht,  niedrig,  Ventilation  unmög- 
lich, Hinterhaus.  — Luft  durch  einen  Pferdestall  verdorben. 
— Phthisiker  in  derselben  Wohnung  erkrankt,  in  der  schon 
Personen  phthisisch  zu  Grunde  gingen.  — Zu  kleine 
Wohnung,  nahe  dem  Aborte,  schlechte  Heizung.  — Eltern 
und  5 Kinder  in  1 Zimmer.  — Neues  Haus,  feuchte  Wände, 
u.  s.  f.  u.  s.  f.  — Die  die  Gesundheitspflege  handhabenden 
Gemeindebehörden  würden  durch  Duplikate  oder  einen 
Auszug  aus  diesen  Sterbekarten  in  Stand  gesetzt,  eine  un- 


242 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  20. 


unterbrochene  Kontrolle  über  die  Wohnungsverhältnisse 
ausüben  zu  können  und  in  die  Lage  versetzt,  bei  jedem 
einzelnen  Fall  sofort  einzuschreiten  Namentlich  bei 
Wiederholungen  von  Sterbefällen  aus  denselben  Ursachen 
werden  — bei  der  Publizität  der  ganzen  Sache  durch  die 
Bulletins  — die  Gemeinden  sich  ihrer  so  vielfach  vernach- 
lässigten Pflicht  der  sanitären  Wohnungskontrolle,  gern 
oder  ungern,  eben  bewusst  werden  müssen. 


Armenwesen. 


Vertretung  der  Arbeiter  in  den  boards  of  guardians. 

„Battersea“  — schreibt  die  „Daily  Chronicle“  vom  6.  Januar  1893 
— „ist  dabei  ein  Beispiel  zu  geben,  das  ganz  London  nachahmen 
sollte“.  Mr  John  Burns  Wähler  organisireri  eine  Bewegung,  die 
darauf  abzielt,  die  Mitglieder  des  board  of  guardians  besser  mit 
dem  Empfinden  und  Denken  der  Armen  bekannt  zu  machen. 
Noch  immer  wird  zur  Wahlberechtigung  in  der  Armenverwal- 
tung ein  Einkommensnachweis  aus  Grundeigenthum  verlangt 
und  wenn  das  seit  November  nur  mehr  die  geringe  Summe  von 
5 Lstr.  beträgt,  so  ist  doch  gar  nicht  abzusehen,  warum  über- 
haupt derlei  Anforderungen  an  einen  guardian  of  the  poor  ge- 
stellt werden,  denen  nicht  einmal  ein  Parlamentsmitglied  nach- 
zukommen braucht.  Es  liegt  gar  kein  Grund  vor,  die  Wahl  von 
Arbeitern  als  guardians  zu  fürchten.  Die  Arbeiter  wissen  sehr 
gut,  dass  falsche  und  zu  reichlich  bemessene  Aufwendungen  in 
der  Armenpflege  nur  dazu  führen,  die  Löhne  zu  drücken.  Nichts 
aber  könnte  ihnen  weniger  erwünscht  sein.  Diese  Anschauungs- 
weise bietet  auch  die  Erklärung  dafür,  dass  in  Schottland  die 
Unterstützung  arbeitsfähiger  Männer,  wo  sie  einmal  nöthig  wird, 
völlig  den  Privatgesellschaften  überlassen  ist.  Wo  aber  in  Zeiten 
der  Notli  Kapitalien  zur  Hilfe  aufgebracht  worden  sind,  findet 
man  dort  stets  die  leitenden  Persönlichkeiten  der  Arbeiterschaft 
an  der  Verwaltung  betheiligt.  Hat  man  doch  längst  erkannt, 
dass  sie  die  feinste  Nase  für  solche  haben,  die  die  Wohlthätig- 
keit  ihrer  Faulheit  dienstbar  machen  wollen.  Die  Mitglieder  aus 
dem  Arbeiterstand  sind  streng;  aber  trotzdem  bringt  ihnen  der 
Unterstützungsbedürftige  mehr  Vertrauen  entgegen,  weil  er 
weiss,  jener  hat  die  soziale  Frage  nicht  nur  durchstudirt,  son- 
dern selbst  durchlebt;  weil  er  ferner  das  Vertrauen  hat,  dass  ein 
Arbeiter  als  guardian  nicht  jeden,  der  um  Unterstützung  bittet, 
von  vornherein  für  einen  Lumpen  und  Vaeabonden  hält.  Hat  aber 
keine  Klasse  an  der  gesunden  Wirksamkeit  der  Armengesetz- 
gebung ein  grösseres  Interesse  als  die  Arbeiterklasse,  so  darf 
sie  auch  nicht  durch  irgend  eine  und  sei  es  die  kleinste  Be- 
schränkung, von  der  vollen  Antheilnahme  an  der  Armenverwal- 
tung zurückgehalten  werden.  Wenn  schon  heute  jeder  Arme 
wüsste,  dass  er  in  jedem  board  of  guardians  Klassengenossen 
vertreten  fände,  würden  nicht  manche  den  Hungertod  oder  das 
Gefängniss  der  „kalten  Wohlthätigkeit“  vorziehen.  LTm  Armen- 
unterstützung bitten  ist  schon  an  und  für  sich  eine  solche  Er- 
niedrigung, dass  niemand  zu  befürchten  braucht,  durch  die  Ver- 
tretung der  Arbeiter  in  den  board  of  guardians  werde  unnöthiger 
Bettelei  Vorschub  geleistet. 

Armuth  in  Schottland.  Der  17.  Jahresbericht  des  Board 
of  Supervision  für  Armen-  und  Gesundheitspflege  in  Schottland 
Jahrgang  1891  92  ist  erschienen.  Danach  betrug  die  Zahl  der 
Pnterstiitzten  z.  B.: 

Männl.  Weibl.  Angehörige 


1883  19  536  43  383  35  466 

1886  19  801  42  170  35  620 

1889  19  827  41  361  34  455 

1892  19  318  40130  32110 


Die  Zahl  der  Armen  aller  Art,  die  am  14.  Mai  1892  Unter- 
stützung erhielten,  war  90  792,  d.  h.  271  weniger  als  1891  Das 
Verhältniss  zur  Bevölkerungszahl  ist  22:  1000  gegen  41  pro  Mille 
im  Jahre  1868.  Im  Jahre  1873  betrug  die  Zahl  der  Armen  1 16  107, 
d.  h.  33  pro  Mille.  Dem  Kirchspiel  kostete  damals  jede  Person 
6 Lstr.  18  sh.  Im  Jahre  1883  gab  es  97  097  Arme,  gleich  25  pro 
Mille,  die  Kosten  waren  8 Lstr.  12  sh.;  1892  im  Mai  betrug  die 
Zahl  der  Armen  90  792,  d.  h.  22  pro  Mille  und  die  Kosten  die 
der  einzelne  durchschnittlich  verursachte  9 Lstr.  12  sh.  Die 
durchschnittlichen  jährlichen  Unterhaltungskosten  für  geistes- 
kranke Arme  betrugen  im  Jahre  1892  21  Lstr.  7 sh  Im  Jahre 
1875  betrug  die  Zahl  der  Irren  am  Zähltage  6737,  die  Zahl  der 
Waisen  und  verlassenen  Kinder  6096;  im  Jahre  1885  Irre:  9159, 
Waisen  etc  : 5448;  im  Jahre  1892  Irre:  10  778,  Waisen  etc.:  4306. 
Von  den  geisteskranken  Armen  des  letzten  Jahres  waren  7313 
in  Anstalten  untergebracht;  998  in  Armenhäusern  und  2467  bei 
Verwandten  oder  anderen  Privatpersonen.  Von  den  4306  Kindern, 
die  am  Zähltage  sich  vorfanden,  waren  2906  Waise  und  1400  Ver- 
lassene. Auswärts  — namentlich  auf  dem  Lande  - waren  4566 
Kinder  untergebracht,  davon  1833  bei  Verwandten  und  2733  bei 
Fremden.  Die  Zahl  der  Armen,  die  während  des  letzten  Jahres 
starben  betrug  7445,  die  ihrer  Angehörigen  853.  An  Bittge- 
suchen wurden  von  den  Parochial  Boards  3157  abgewiesen. 


Dazu  kommen  5814,  die  sich  weigerten  ins  Armenhaus  zu 
gehen  (!  . Die  Totaleinnahme  im  vergangenen  Rechnungsjahre, 
das  am  14.  Mai  1892  endet,  war  915  233  Lstr.,  wovon  753  744  Lstr. 
durch  Steuer  erhoben  wurde.  Die  Ausgabe  betrug  912  838  Lstr. 
(gegen  880  458  Lstr.  im  Jahre  vorher).  11  pCt.  der  Armen,  d.  h. 
im  Ganzen  9711,  sind  Engländer  und  Iren,  darunter  Iren  allein 
8532.  Von  den  58  855  Armen,  die,  abgesehen  von  ihren  Ange- 
hörigen, der  Unterstützung  anheimfielen,  waren  42  pCt.  60  Jahre 
alt  und  darüber.  9 pCt.  waren  Kinder  und  49  pCt.  zwischen, 
sagen  wir  14  und  60  Jahren.  Von  den  90  792  Armen  waren 
19  pCt.  Einwohner  von  Armenhäusern  oder  Irrenanstalten.  Dass 
die  Zahl  der  Geisteskranken  ganz  besonders  stark  zugenommen 
hat,  wurde  oben  schon  gezeigt.  Es  lässt  sich  das  vielleicht 
durch  grössere  Sorgfalt  und  Differenzirung  in  der  Behandlung 
der  Armen  erklären.  1868  waren  nur  5790  Geisteskranke  in 
Pflege,  1892  dagegen  10  778,  das  bedeutet  eine  Zunahme  von 
86  pCt.  Trotzdem  hat  die  Zahl  der  Armen  aller  Art  in  den 
letzten  24  Jahren  um  47  pCt.  abgenommen,  die  der  ordinarv  poor 
sogar  um  51  pCt.;  während  das  Verhältniss  der  Irren  zu  den 
Armen  ein  Wachsen  um  187  pCt.  aufweist.  Gleicherweise  zeigt 
sich  eine  Abnahme  der  Ausgaben  für  die  ordinary  poor  und  ein 
Anwachsen  für  die  geisteskranken  Armen. 


Schulwesen. 


Zur  materiellen  Lage  der  Volksschullehrer  in  Preussen. 

bringt  die  Begründung  des  Volksschuldotations-Gesetzes  eine 
Reihe  interessanter  statistischer  Zusammenstellungen.  Als  in 
den  siebziger  Jahren  der  Staat  daran  ging,  gewisse  Minimal- 
forderungen gegenüber  den  Gemeinden  durchzusetzen  und  ihnen 
zu  diesem  Zweck  nöthigenfalls  auch  Zuschüsse  zu  gewähren, 
wurden  die  Normalgehälter  prozentweise  festgesetzt.  Für  die 
alleinstehenden  und  zum  Theil  auch  für  die  ersten  Lehrer  auf 
dem  Lande  wurde  in  Ost-  und  Westpreussen,  Posen,  Pommern, 
Sachsen  und  Westfalen  das  Gehalt  neben  freier  Wohnung  und 
Feuerung  in  der  Regel  mindestens  auf  750  M.,  in  Brandenburg 
und  Schlesien  auf  810  M.,  in  der  Rheinprovinz  auf  825  bis 
1050  M.  (einschliesslich  der  Feuerung),  in  Schleswig-Holstein  auf 
900  bis  1200  M.  normirt.  In  Hannover  wurde  im  Allgemeinen  an 
dem  früheren  Maximalsatze  von  750  M.  neben  freier  Wohnung 
festgehalten.  — Für  die  zweiten  und  folgenden  Lehrer  wurden 
geringere  Dotationen  festgesetzt,  und  zwar  in  Ostpreussen  540  M., 
in  Pommern  600  M.,  in  Nieder-  und  Mittelschlesien  700—750  M., 
in  Schleswig-Holstein  720 — 1050  M.,  in  Westfalen  750—900  M.,  in 
der  Rheinprovinz  zum  Theil  höhere  Besoldungen.  — Höher  war 
die  Dotirung  der  vereinigten  Kirchen-  und  Schulämter,  z.  B.  im 
Regierungsbezirk  Frankfurt  870  bis  910  M.  In  Westfalen  und  in 
der  Rheinprovinz  bestanden  überhaupt  besondere  Sätze  für  billige 
und  theuere  Orte.  — In  den  Städten  begannen  die  Gehälter  in 
der  Regel  mit  750—900  M.  und  steigen  je  nach  Grösse  und 
Theuerung  der  Orte.  Zum  Theil  war  bei  diesen  Sätzen  die 
Entschädigung  für  Wohnung  und  Feuerung  inbegriffen. 

In  den  Jahren  1888  und  1889  ergingen  neue  Schuldodations- 
gesetze.  Namentlich  wurde  durch  die  Erhöhung  der  staatlichen 
Dienstalterszulagen  bis  zu  500  M.  für  Lehrer  und  bis  350  M.  für 
Lehrerinnen  in  allen  Orten  bis  zu  10  000  Einwohnern  eine  erheb- 
liche Gehaltsverbesserung  herbeigeführt.  In  den  meisten  Städten 
ist  heute  bereits  das  System  der  Testen  Stellengehälter  mit  dem 
System  der  beweglichen  Dienstaltersskala  vertauscht  oder  ver- 
mischt. Die  LTnterschiede  zwischen  Stadt  und  Land  haben  mit 
der  Entwickelung  des  Verkehrs  und  der  Industrie  in  vielen 
Landestheilen  an  Bedeutung  verloren.  Etliche  Gemeinden  sind 
aus  eigener  Initiative  mit  einer  besonderen  Ordnung  und  Er- 
höhung der  Besoldung  vorgegangen. 

Einzelne  Regierungen  naben  mit  Rücksicht  auf  die  Ver- 
änderung der  Preisverhältnisse  selbstständig  eine  anderweite 
Festsetzung  der  Gehälter  vorgenommen;  so  ist  das  Normalgehalt 
der  zweiten  und  folgenden  Lehrer  im  Regierungsbezirk  Marien- 
werder durchgängig  auf  650  M.  erhöht.  Im  Regierungsbezirk 
Stettin  sind  auf  dem  Lande  viele  der  mit  660  M.  dotirten  Durch- 
gangsstellen in  ordentliche  Lehrerstellen  umgewandelt.  Im  Re- 
gierungsbezirk Frankfurt  a.  O.  ist  das  Minimum  für  die  zweiten 
Lehrer  vielfach  auf  600  M.,  im  Regierungsbezirk  Potsdam  auf 
750  M.  erhöht.  Im  Regierungsbezirk  Merseburg  ist  eine  Erhöhung 
der  Mindestsätze  auf  900  M.  angestrebt  und  in  der  Durchführung 
begriffen.  Die  Regierung  in  Minden  hat  das  Einkommen  der 
alleinstehenden  Lehrer  in  billigen  ländlichen  Ortschaften  auf 
1000  M.,  die  Regierung  in  Arnsberg  in  ärmeren  Gegenden  auf 
900  M.  erhöht.  Die  rheinischen  Regierungen  haben  fast  durch- 
weg die  Skala  der  siebziger  Jahre  überschritten. 

In  trockenem  Denkschriftenton  entwirft  so  die,, Begründung“ 
ein  Bild,  welches  fast  in  gleicher  Weise  verurtheilend  ist  sowohl 
für  den  Zustand,  welchen  die  Reform  vorfand,  als  auch  für  die 
niedrigen  Ziele,  welche  sie  sich  steckte.  Gehälter  von  540  und 
600  M.,  die  etwa  einen  Tagelohn  von  2 M.  entsprechen  werden 
für  seminaristisch  gebildete  Lehrer  als  Normalgehälter  be- 
zeichnet. Höhere  Zahlen  als  1200  M.  sind  im  Vorstehenden 
überhaupt  nicht  vorgekommen.  Gehälter,  die  diese  Höhe  über- 


No.  20. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


243 


schritten  haben,  scheinen  behördlicher  Fürsorge  nicht  mehr  zu 
bedürfen.  Hierin  liegt  ein  fundamentaler  Irrthum  in  der  Be- 
handlung der  Lehrergehaltsfrage.  Die  Beschränkung  der  Reform- 
frage auf  die  Beseitigung  der  skandalösesten  Mindesthonorare 
ist  schuld  daran,  dass  diese  Beseitigung  nur  so  unvollkommen 
gelingt.  So  lange  auch  die  sogenannten  besseren  Stellen  (nament- 
lich auf  dem  Lande)  nur  gerade  auskömmlich  besoldet  sind, 
wird  diese  Thatsache  immer  ihren  Einfluss  nach  unten  hin 
drückend  ausüben.  Den  besten  Beweis  hierfür  liefert  die  Be- 
gründung selbst  mit  ihren Ueberblick  über  die  gegenwärtigen 
Verhältnisse,  welcher  in  geradezu  erschreckendem  Maasse  zeigt, 
in  welch  breitem  Umfange  gerade  die  niederen  und  niedersten 
Gehaltsstufen  vertreten  sind. 

Dieser  Ueberblick  gründet  sich  auf  eine  Statistik  vom 
Jahre  1891.  Danach  giebt  es  auf  dem  Lande  45414  vollbeschäf- 
tigte Lehrkräfte,  darunter  3186  Lehrerinnen,  21875  alleinstehende 
und  894  I erste  Lehrkräfte.  Die  beiden  letztgenannten  Gruppen 
bestehen  fast  durchgängig  aus  Lehrern,  sodass  an  alleinstehen- 
den und  ersten  Lehrern  30  798,  an  zweiten  und  folgenden  Lehrern 
11412  vorhanden  waren.  Es  bezogen  auf  dem  Lande  ein  Ein- 
kommen (ausschliesslich  der  Wohnung  und  Feuerung  bezw  des 
Werths  derselben,  sowie  ausschliesslich  der  staatlichen  Dienst- 
alterszulagen) bis  zu  750  M.  : 12  185,  darüber  30  043  Lehrer.  Es 
entsprechen  diese  Ziffern  ungefähr  den  Zahlen  der  zweiten  bezw. 
folgenden  und  der  alleinstehenden  bezw.  ersten  Lehrer.  Von 
jenen  12  185  Lehrern  hatten  indess 

14  ein  Einkommen  bis 300  M. 

83  ,,  ,,  von  . . . 301 — 450  „ 

2382  „ „ „ . . . . 451—600  „ 

9706  ,,  „ „ . . . . 601-750  „ 


Ferner  hatten  von  den  30  043  Lehrern 

5819  ein  Einkommen  von  . . . 751 — 810  M. 

8176  „ „ „ . . . 81 1—  900  „ 

7520  „ „ „ . . . 901—1050  „ 

3999  „ „ . . . 1051—1200  „ 

4529  „ „ „ . . . 1201  M.  u.  m. 

Anders  stellt  sich  thatsächlich  das  Einkommen  bei  Hinzu- 
rechnung der  staatlichen  Alterszulagen,  welche  von  der  Vollen- 
dung des  10.  Dienstjahres  ab  gewährt  werden.  Es  bezogen 
hiernach : 


9 Lehrer  ein  Einkommen  bis  . . . 300  M. 

78  „ „ ,,  von  . 301 — 450  „ 

2309  ,,  „ „ .,  . 451—600  „ 

6127  „ „ , 601  - 750  „ , also 

8523  Lehrer  ein  Einkommen  unter  750  M. 

„sodass  von  den  oben  erwähnten  12  185  Lehrern  mit 
einem  Stelleneinkommen  bis  zu  750  M.  jedenfalls  3662 
schon  mehr  als  zehn  Dienstjahre  zählten;  ein  Verhältniss, 
für  dessen  Betonung  man  der  „Begründung“  zu  besonderem 
Danke  verpflichtet  ist.  Es  bezogen  ferner  einschliesslich  der 
staatlichen  Dienstalterszulagen : 

2938  Lehrer  ein  Einkommen  von  751 — 810  M. 


5754 

5) 

55 

„ 811—  900 

6952 

55 

55 

55 

55 

„ 901—1050 

5041 

55 

55 

.,  1051—1200 

13020 

„ 1201  M.  u. 

Anders  gestaltet  sich  das  Verhältniss  in  den  Städten. 
Es  hatten  hier  ohne  die  staatlichen  Dienstalterszulagen  und  aus- 
schliesslich des  Werthes  der  Wohnung  und  Feuerung 
4 Lehrer  ein  Einkommen  . . bis  300  M. 

42  „ ,,  „ von  301 — 450  „ 

390  „ „ „ „ 451-  600  „ 

1660  „ „ „ „ 601-  750  „ 

916  „ „ „ „ 751—  810  „ , also 


3 012  Lehrer,  oder  rund  aller  städtischen,  ein  Ein- 
kommen bis  zu  810  M.,  ferner 

1 843  Lehrer  ein  Einkommen  von  81 1 — 900  M. 

2 696  „ „ „ „ 901-1  050  „ 

2 665  „ „ „ ,,1  051  — 1 200  „,  also 

10  216  Lehrer,  oder  rund  die  Hälfte  aller  städtischen 
Lehrer,  ein  Einkommen  bis  1200  M. 


Etwas  anders  stellt  sich  das  thatsächliche  Einkommen  bei 
Hinzurechnung  der  staatlichen  Alterszulagen  (in  allen  Orten  bis 
zu  10  000  Einwohnern.  Es  bezogen  hierbei 


2 Lehrer  ein  Einkommen 


39 

354 

1544 

800 


55 

55 

y> 


55 

5) 


55 

>5 

55 

55 


. . bis  300  M. 
von  301—450  „ 

„ 451  - 600  „ 

„ 601—750  „ 

„ 751—810  „ , also 


2739  Lehrer  ein  Einkommen  bis  810  M., 
sodass  von  jenen  obigen  3012  Lehrern  mit  einem  Ein- 
kommen bis  810  M.  (unter  Berücksichtigung  des  Umstandes, 
dass  in  den  grossen  Orten  die  staatlichen  Dienstalterszulagen 
nicht  gewährt  werden)  nur  ein  kleiner  Theil  ein  Dienst- 
alter von  über  zehn  Jahren  gehabt  haben  kann.  Es 
wird  übrigens  bemerkt,  dass  die  geringen  Einkommenssätze  von 
450  M.  und  darunter  sich  zum  Theil  daraus  erklären,  dass  an 
den  betreffenden  Orten  eine  besondere  Mieths-  und  Feuerungs- 


[ entschädigung  nicht  .gegeben  wird,  für  den  Werth  derselben 
I aber  bei  Aufnahme  der  Statistik  anscheinend  ein  unverhältniss- 
I mässig  hoher  Betrag  von  dem  Gesammteinkommen  abgesetzt 
ist.  Es  bezogen  ferner 

1518  Lehrer  ein  Einkommen  von  811—  900  M. 

2306  „ „ „ „ 901—1050  „ 

2220  „ „ „ „ 1051-1200  „ 

also  im  Ganzen  8783  Lehrer  ein  Einkommen  bis  zu  1200  M,, 
sodass  unter  den  gedachten  Umständen  von  jener  Hälfte  der 
städtischen  Lehrer  mit  einem  Einkommen  bis  zu  1200  M.  verhält- 
nissmässig  weniger  als  auf  dem  Lande  ein  Dienstalter  von  über 
zehn  Jahren  gehabt  haben  können. 

Ausschliesslich  Wohnung  und  Feuerung,  aber  einschliess- 
lich der  staatlichen  Dienstalterszulagen  haben  die  Lehrer  i m 
Durchschnitt  jährlich  ein  Einkommen  von  1186M.  (die  Land- 
lehrer 1064  M.),  und  zwar  stehen 
21  472  Lehrer,  also  ein  Drittel,  zwischen  450  und  900  M., 

30  730  „ „ beinahe  die  Flälfte,  zwischen  450  und  1050  M. 

Im  Einzelnen  gestalten  sich  diese  Verhältnisse  natürlich 
wiederum  sehr  verschieden  nach  den  einzelnen  Provinzen, 
Gegenden  und  Orten.  So  beträgt  die  Zahl  der  Landlehrer  mit 
einem  Einkommen  bis  zu  810  M.  (einschliesslich  der  staatlichen 
Alterszulagen)  in  den  Regierungsbezirken  Königsberg  42  pCt., 
Posen  54  pCt. , Frankfurt  und  Merseburg  24  pCt.,  Lüneburg 
37  pCt.,  Minden  20  pCt.,  Koblenz  3 pCt.  Dagegen  beträgt  die 
Zahl  der  Stadtlehrer  mit  einem  Einkommen  bis  zu  1200  M.  in 
den  genannten  Regierungsbezirken  Königsberg  60  pCt.,  Posen 
68  pCt.,  Merseburg  60  pCt.,  Lüneburg  42  pCt.,  Minden  37  pCt., 
Koblenz  42  pCt. 

Man  weiss  nicht,  worüber  man  sich  bei  dieser  Sachlage 
mehr  wundern  soll:  darüber,  dass  die  Regierung  für  Verbesse- 
rung derselben  so  wenig  verlangt,  oder  dass  es  Abgeordnete 
giebt,  die  auch  das  Wenige  noch  für  zu  viel  halten,  Wir 
glauben  nicht,  dass  in  allen  deutschen  Staaten  die  Verhältnisse 
gleich  schlimm  liegen,  wie  in  Preussen  (wiewohl  sie  glänzend 
wohl  nirgends  sein  werden),  Ein  vergleichender  Ueberblick 
über  die  Besoldung  der  Volkschullehrer  in  den  verschiedenen 
Staaten  wäre  eine  dankenswerthe  sozialpolitische  Leistung. 

Antrag  auf  gleiche  Schulbücher  in  den  Berliner  Ge- 
meindeschnlen.  Die  sozialdemokratische  Fraktion  der  Stadt- 
verordnetenversammlung hat  nach  dem  Vorwärts  folgenden 
Antrag  eingebracht:  Wir  beantragen,  die  Versammlung  wolle 
beschliessen:  „Die  Stadtverordnetenversammlung  ersucht  den 
Magistrat  dafür  Sorge  zu  tragen,  dass  von  Ostern  d.  J.  an  in 
den  korrespondirenden  Klassen  sämmtlicher  Gemeindeschulen 
die  gleichen  Unterrichtsbücher  Verwendung  finden.“  Es  ist 
j sehr  zu  wünschen,  dass  dieser  durchaus  zweckmässige  Antrag 
angenommen  und  ein  sehr  empfindlicher  Uebelst'and  damit 
beseitigt  wird. 

Analphabeten  in  Russland.  In  der  zu  St.  Petersburg 
Ende  Januar  abgehaltenen  Sitzung  des  Komitees  für  Lese-  und 
Schreibunterricht  erstattete  A.  N.  Stramoljubskij  einen  Bericht, 
j in  dem  es  heisst:  „Falls  in  Russland  alljährlich  3250  Schulen 
[ gegründet  werden  sollten,  würde  erst  nach  260  Jahren  die  ganze 
Bevölkerung  lesen  und  schreiben  können.  Gegenwärtig  können 
in  Russland  von  Männern  nicht  mehr  als  25  pCt.,  von  Frauen 
nur  2 pCt.  lesen  und  schreiben!“  Dafür  beträgt  das  Budget  des 
Ministeriums  für  Volksaufklärung  für  das  Hundertmillionenreich 
auch  nur  7 Mill.  Rubel,  und  die  Landschaften  wie  die  Städte  — 
mit  Ausnahme  der  Ostseeprovinzen  und  Polens  — hegen  gleich- 
falls nicht  den  Ehrgeiz , für  Schulen  besondere  Opfer  zu 
bringen. 


Vermischtes. 


Generalversammlung  des  Vereins  für  Sozialpolitik.  Die 

, Generalversammlung  des  Vereins  für  Sozialpolitik  findet  am  20. 
und  21.  März  d.  J.  in  Berlin  in  der  Friedrich-Wilhelms-Universität 

; statt.  Beginn  Montag,  den  20.  März,  früh  10  Uhr.  Tagesordnung: 
I.  Die  ländliche  Arbeiterfrage  und  die  deutschen  Binnenwande- 
rungen. Erster  Referent  Herr  Professor  Dr.  Knapp  (Strass- 
burg i.  E. ):  Einleitung  in  die  Verhandlungen.  Zweiter  Referent 
Herr  Privatdozent  Dr.  Weber  (Berlin) : Bericht  über  die  Enquete. 
Dritter  Referent  Herr  Graf  von  Kanitz-Podangen  (Mitglied  des 
Reichstags  und  des  preussischcn  Abgeordnetenhauses):  Bericht 
vom  praktischen  Standpunkt  aus.  Vierter  Referent  Herr  Unter- 
staatssekretär  a.  D.  Dr.  von  Mayr  (Strassburg  i.  E.):  Bericht  über 
die  Binnenwanderungen.  II.  Die  Bodenbesitzvertheilung  und  die 
Sicherung  des  Kleingrundbesitzes.  Erster  Referent  Herr  Professor 
Dr.  Sering  (Berlin).  Zweiter  Referent  Herr  Geh.  Justizrath  Pro- 
fessor Dr.  Gierke  (Berlin).  Als  dritter  Referent  ist  Herr  Metz, 
Präsident  der  Generalkommission  in  Frankfurt  a.  O...  in  Aussicht 
genommen. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


244 


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Xo.  20. 


Verlag  von  .Joseph  Baer  & Co.  in  Frankfurt  a.  Main. 

lätter  für  soziale  Praxis 

in  Gemeinden,  Vereinen  und  Privatleben. 

Herausgegeben  unter  Mitwirkung  von  hervorragenden  Fachmännern 

von 

Dr.  N.  Brückner,  Frankfurt  a.  Main. 

Die  neue  Zeitschrift  will  der  sozialen  Fürsorge  in  kleinerem  Kreis,  in 
Gemeinde , Vereinen  und  Privatleben  dienen  und  hier,  unter  Beiseitelassung 
jeder  theoretischen  Erörterung,  einen  Sammelpunkt  für  praktische  Erfahrungen 
bilden,  der  bis  jetzt  den  Provinzial-  und  Städtevericaltungen , den  Stadtver- 
ordneten, Vereins-  und  Stiftungsvorständen,  sowie  allen  privaten  Freunden  der 
Gemeinnützigkeit  voll  ständig  fehlte. 

Wöchentlich  eine  Nummer  in  40,  Preis  vierteljährlich  Mk.  2,50. 

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B)imats|tfjriff  für  Srcleit-  uni»  Omürslrüiut. 

Gentralorgait  für  beit  'sbealtomits  in  neu^eitl icber  natmalifttfcber  A-ajfung. 

fjetauSgegeben  non 

Hübbe- Schleiden, 

Dr.  J.  U. 


2)ie  <ipt)itu;  jäljlt  gu  ipven  fötitaibeitevu  eine  Anjat)!  bev  elften,  ibeal  benfenben  unb 
fcfjriftfteUerifd)  wie  f'ünftlerifdj  leiftungefabtgen  Kräfte  ®eutfd)lanbs  unb  £>eftemid)3,  wie: 

S'ane  Arnolb,  Dr.  (Sagen  'Dreier,  Arthur  jyitger,  Dr.  £ugo  ©ocriitg,  Prof.  Dr. 

rnft  tpattict,  Dr  ^ftanj  £artmann,  .(Varl  .(ViecMO  etter,  Dr.  Aaplj.  non  Äocber, 
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II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  20.  Februar  1893. 


Nummer  21. 


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Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


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Privatdozent  Dr.  J.  jastrow.  Adler. 

Soziale  Wirtlischaftspolitik  u.  Arbeiterschutzgesetzgebung: 
Wil’thscbaftsstatistlk : Dle  -Sonntagsruhe  für  das  Handels- 

gewerbe im  Reichstage. 

Centralisirung  der  Arbeitsvermitt-  JDie  Sonntagsruhe  im  preußischen 
in  Berlin.  Handelsgewerbe. 

Neue  Arbeitsvermittlung  in.  Darm-  Normalarbeitstag  für  Grubenar- 

sta<1t.  beiter  in  Grossbritannien. 

Nothstandsfordcrungen  in  Dort-  Gewerl)eillspektion: 

mund.  Fabrikinspektion  und  deutscher 

Arbeiterzustände : Reichstag. 

Kommission  für  Arbeiterstatistik.  Gewerbegerichte,  Einiguiigs- 
Arbeitslosenstatistiken.  ämter  u.  Arbeiterausscniisse: 

Lohnfristen  für  preussisehe  Staats-  Die  belgischen  Industrie-  und 
bahnarbeiter.  Arbeitsräthe.  Von  Dr.  Adolf 

Gewerkschaftliche  Arbeiter-  Braun, 

bewegung:  Woblfahrtseinrichtungeu : 

Die  Entwicklung  der  Mannheimer  Arbeiter-Speisehallen.  V on  Stadt- 
Gewerkschaften  seit  Aufhebung  u,lu\  blandelsk-ammei  - Sekietäi 

des  Sozialistengesetzes.  K B oedicker. 

Der  zweite  Kongress  der  frahzö-  Litteratur: 
sischen  Arbeitsbörsen.  Goerres,  Dr.  jur.  K.,  Handbuch 

Drohende  Arbeitseinstellung  der  der  gesammten  Arbeitergesetz 

Kohlenarbeiter  Englands.  gebung  des  Deutschen  Reiches. 

Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


im  „Kommunalabgaben-Gesetz“. 


In  der  Zeit  vom  18.  Januar  bis  zum  8.  Februar  hat 
die  Kommission  des  preussischen  Abgeordnetenhauses  den 
Entwurf  eines  Kommunalabgaben-Gesetzes  in  erster  Lesung 
durchberathen.  Die  Berichte,  welche  über  ihre  Sitzungen  in 
die  Oeffentlichkeit  gelangten,  waren  höchst  mangelhaft  und 
wurden  kaum  gelesen.  Und  doch  enthält  dieser  Entwurf  das 
wichtigste  preussisehe  Finanzgesetz.  Ja,  nächst  einem  all- 
gemeinen Unterrichtsgesetz  ist  ein  Kommunalabgaben- 
Gesetz  vielleicht  überhaupt  der  wichtigste  Gegenstand  der 
preussischen  Gesetzgebung,  nachdem  die  obersten  natio- 
nalen Angelegenheiten  dem  Reiche  zugewiesen  sind.  Es 
gehört  mit  zu  den  traurigen  Beweisen  für  die  mangelnde 
Fühlung  zwischen  Volk  und  Volksvertretung  in  Preussen, 
dass  zwar  bei  jenem  wichtigsten  Gegenstände  die  Verhandlun- 
gen des  Parlaments  noch  im  Stande  waren,  eine  leidenschaft- 
liche Theilnahme  und  Opposition  im  Volk  hervorzurufen, 


dass  aber  schon  der  zweitwichtigste  Gegenstand  diese 
Theilnahme  nicht  mehr  findet,  wiewohl  er  doch  den 
Leuten  an  ihr  empfindlichstes  Objekt,  an  den  Geldbeutel, 
greift. 

Ein  Kommunalabgaben-Gesetz  steht  im  Mittelpunkte 
zwischen  der  Finanzverwaltung  einerseits,  der  Kommunal- 
| Verwaltung  andererseits.  Dort  berührt  sie  sich  mit  den  weit- 
reichendsten Fragen  der  staatlichen  Finanzpolitik,  hier  mit 
den  Fragen  der  kommunalen  Vertretung  und  Organisation. 
Dort  gelangt  man  von  der  Regelung  der  Kommunalabgaben 
| zu  der  Frage,  welche  Steuern  der  Staat  aus  seinem  Haus- 
halte ausscheiden,  um  sie  den  Kommunen  zu  überlassen, 
welche  Art  der  Besteuerung  (direkte  oder  indirekte)  er  be- 
vorzugen, welche  er  verhindern  soll.  Man  hat  die  ver- 
schiedenen Möglichkeiten  zu  erwägen,  unter  denen  einzelne 
soziale  Gruppen  bevorzugt  oder  benachtheiligt  werden 
können;  alles  Dinge,  die  für  die  Ausgestaltung  auch  der 
staatlichen  Finanzen  von  der  grössten  Bedeutung  werden 
können.  Hier  gelangt  man  von  der  Regelung  der  kommu- 
nalen Finanzen  zu  einer  Kritik  der  kommunalen  Organe, 
denen  die  Handhabung  an  vertraut  ist.;  man  muss  sich 
schlüssig  machen,  inwieweit  von  diesen  Organen  eine 
loyale  und  unparteiische  Ausführung  zu  erwarten,  inwie- 
weit auch  hier  die  Bevorzugung  einzelner  herrschender 
1 Schichten  zu  befürchten  und  darum  den  Aufsichtsorganen 
erhöhte  Befugnisse  zu  geben  sind.  Namentlich  in  Preussen, 
wo  alle  diese  Verhältnisse  seit  Generationen  sich  im  engsten 
Zusammenhänge  und  ohne  durchgreifende  grosse  Regelun- 
gen  entwickelt  haben,  ist  ein  Kommunalabgaben-Gesetz 
gewissermassen  der  Brennpunkt  für  die  sozialpolitischen 
Ausstrahlungen  der  Finanz-  und  Kommunalgesetzgebung. 

Unter  den  zahlreichen  Beispielen,  die  zur  Illustration 
dieser  Verhältnisse  angeführt  werden  können,  ist  das  an- 
schaulichste die  Stelle,  welche  der  Grund-,  Gebäude-  und 
Gewerbesteuer  in  der  zukünftigen  Regelung  der  kommu- 
nalen Abgaben  zugewiesen  ist. 

Der  Entwurf  geht  von  dem  Grundgedanken  aus,  dass 
für  das  kommunale  Abgabewesen  der  Grundsatz  von 
Leistung  und  Gegenleistung  eine  geeignete  Grundlage  der 
Besteuerung  bilde.  Den  Kommunen,  die  mit  Recht  be- 
tonen, dass  ihre  Anlagen  hauptsächlich  dem  Werthe  des 
Grundbesitzes  und  Gewerbebetriebes  zu  gute  kämen,  sollen 
diese  Objekte  zur  besonderen  Besteuerung  überlassen 
werden.  In  einem  eigenen  Gesetzentwurf  setzt  der  Staat 
die  Grund-,  Gebäude-  und  Gewerbesteuer  ausser  Hebung. 
Der  .Staat  wird  aber  die  Veranlagung  nach  wie  vor  be- 
sorgen. Den  Kommunen  bleibt  es  überlassen,  ob  sie  diese 
staatliche  Veranlagung  zu  Grunde  legen  oder  eine  neue 
Form  der  Besteuerung  des  Grund  und  Bodens,  der  Ge- 


246 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  21. 


bäude,  der  Gewerbe,  einführen  wollen.  Insbesondere  kann 
einer  solchen  Neubesteuerung  des  Grundbesitzes  die  jähr-  I 
liehe  Ermittelung  des  Reinertrages,  einer  Besteuerung  des 
Gewerbes  auch  die  Anzahl  der  Fabrikarbeiter,  der 
Maschinen  etc.  zu  Grunde  gelegt  werden.  Während  hierin 
den  Gemeinden  ziemlich  freie  Hand  gelassen  wird,  wird 
ihnen  nur  darin  ein  Zwang  auferlegt,  dass  sie  überhaupt 
zur  Erhebung  dieser  drei  besonderen  Steuern  verpflichtet 
sind,  sobald  die  kommunalen  Finanzen  sie  dazu  nöthigen, 
Zuschläge  zur  Staatseinkommensteuer  zu  erheben.  Diese 
Zuschläge  zur  Staatseinkommensteuer  werden  in  Preussen 
herkömmlicher  Weise  in  Prozenten  ausgedrückt.  So  viel 
Prozente,  wie  von  der  staatlichen  Einkommensteuer  als 
Kommunalzuschlag  erhoben  werden,  ebensoviel  Prozente 
müssen  mindestens  auch  von  diesen  drei  Steuern  erhoben 
werden;  höher  dürfen  die  Prozente  der  Grund-,  Gebäude-  und 
Gewerbesteuer  sein  (und  zwar  höchstens  das  1'/2  fache  der 
Zuschläge  zur  Staatseinkommensteuer);  niedriger  aber 
nicht.  Wenn  eine  Gemeinde  keine  Einkommensteuern  er- 
hebt, so  dürfen  von  diesen  drei  Steuern  höchstens  150  pCt. 
erhoben  werden. 

Der  Zweck  dieser  Bestimmungen  ist  klar.  Bisher 
haben  die  preussischen  Gemeindevertretungen , in  denen 
überall  die  Grundbesitzer  die  Mehrheit,  Grundbesitzer  und 
Gewerbetreibende  zusammen  ‘die  überwältigende  Mehr- 
heit haben,  die  Neigung  gezeigt,  die  städtischen  Finanz- 
bedürfnisse möglichst  im  Wege  der  Einkommensteuer 
zu  decken.  Eine  Steuer  auf  das  Einkommen  trifft  alle 
Schichten  der  Bevölkerung  gleichmässig,  während  doch 
die  Leistungen  der  Kommunen  anerkanntermassen  dem 
Grundbesitz  und  dem  Gewerbebetrieb  besonders  zu  gute 
kommen.  Gestützt  auf  diese  Erfahrungen , will  der  Ent- 
wurf die  Gemeinden  dazu  nöthigen,  die  Grundbesitzer  und 
Gewerbetreibenden  mit  einer  Vorbelastung  für  die  Zwecke 
der  städtischen  Verwaltung  heranzuziehen. 

So  richtig  dieser  Grundgedanke  ist,  so  unterliegt  die 
Art  der  Ausführung  doch  erheblichen  Bedenken.  Der  Ent- 
wurf stellt  den  Grundbesitz  und  den  Gewerbebetrieb  im 
Verhältniss  zur  Kommune  gleich.  Ihre  thatsächlichen  Be- 
ziehungen zu  derselben  sind  aber  sehr  verschieden.  Die 
Werthsteigerung,  welche  der  Grundbesitz  durch  die  kom- 
munalen Leistungen,  ja  durch  das  blosse  Vorhandensein 
eines  kommunalen  Gemeinwesens  erfährt , drückt  sich  in 
einem  erhöhten  Preise  aus,  welcher  bei  Verkäufen  und  bei 
Vererbungen  so  häufig  in  die  Erscheinung  tritt,  dass  er 
geradezu  als  eine  Bereicherung  des  Inhabers  betrachtet 
werden  kann.  Die  Werthsteigerung  des  Gewerbebetriebes 
kommt  zwar  den  Inhabern  einzelner  Firmen  zuweilen  auch 
in  derselben  Weise  zu  gute;  in  der  Regel  aber  drückt  sich 
diese  Werthsteigerung  nur  in  dem  grösseren  allgemeinen 
Werth  des  örtlichen  Gewerbebetriebes  überhaupt  aus. 
Während  die  Werthsteigerung  des  Bodenbesitzes,  einmal  voll- 
zogen, ausschliesslich  dem  zu  gute  kommt,  der  den  Boden 
besitzt,  vertheilt  sich  die  Werthsteigerung  des  Gewerbe- 
betriebes auf  Alle,  welche  ein  Gewerbe  treiben  oder  es  zu 
treiben  beabsichtigen.  An  dem  erhöhten  Niveau  des 
Grundbesitzes  nehmen  nur  die  Theil , die  sich  auf  ihm  be- 
finden, während  von  dem  erhöhten  Niveau  des  Gewerbe- 
betriebes die  augenblicklichen  Gewerbetreibenden  nur  einen 
begrenzten  Antheil  haben.  Sollen  daher  Grundbesitzer  und 
Gewerbtreibende  durch  besondere  Steuern  zu  den  kommu- 
nalen Kosten  herangezogen  werden,  so  wäre  hierfür  eine 
verschiedene  Konstruktion  der  Besteuerung  nothwendig 
gewesen.  Statt  dessen  geht  der  Entwurf  von  einer  Art 
Theorie,  oder  sagen  wir  lieber  Fiktion,  von  „Real-“  oder 
„Objektsteuern“  aus,  und  setzt  Grund-,  Gebäude-  und 
Gewerbesteuer  einander  vollständig  gleich. 

Ist  diese  Gleichsetzung  schon  an  sich  ungerechtfertigt, 


so  wird  die  Ungerechtigkeit  noch  dadurch  erhöht,  dass  die 
drei  Steuern  verschiedenartigen  Charakters  und  zwar  nicht 
zu  Gunsten,  sondern  wiederum  zu  Ungunsten  der  Gewerb- 
treibenden  sind.  Wir  haben  in  früheren  Aufsätzen  ver- 
sucht, die  preussische  Grund-,  Gebäude-  und  Gewerbe- 
steuer im  Einzelnen  zu  charakterisiren ').  Die  Grundsteuer 
wird  vom  „Reinerträge“  der  Grundstücke  erhoben,  aber 
nicht  von  dem  Reinerträge,  den  sie  heute  haben,  sondern 
den  sie  zur  Zeit  der  ersten  Veranlagung  im  Jahre  1861  (an- 
geblich) gehabt  haben.  Die  Gebäudesteuer  soll  alle  15 
Jahre  revidirt  werden.  Aber  die  Revisionen  sind  unregel- 
mässig und  unvollkommen;  heute  wird  die  Gebäudesteuer 
von  dem  Ertrage  erhoben,  den  die  Gebäude  nach  der  Ver- 
anlagung von  1880  in  den  Jahren  1869  -1879  gebracht  haben. 
Die  Gewerbesteuer  aber  nach  ihrer  neuesten  Konstruktion 
soll  alljährlich  nach  dem  wirklichen  Reinerträge  fest- 
gestellt werden.  Wer  also  von  einer  Grund-,  Gebäude-  und 
Gewerbesteuer  als  drei  „Realsteuern“  spricht,  vergleicht 
drei  Dinge  mit  einander,  die  völlig  ungleich  sind.  Die  stei- 
genden Erträge  des  Grundbesitzes  sind  vermittelst  der  bis- 
herigen Grundsteuer  überhaupt  nicht,  die  des  Gebäude- 
besitzes nur  mangelhaft,  die  des  Gewerbes  aber  vollständig 
zu  fassen.  Und  mehr  als  das;  während  nach  der  bisherigen 
Steuer  Verfassung  die  Gebäude,  welche  zu  landwirthschaft- 
lichen  Zwecken  gebraucht  werden,  von  der  Gebäudesteuer 
befreit  sind,  unterliegen  die  Gebäude  zu  gewerblichen 
Zwecken  der  halben  Gebäudesteuer. 

Während  also  die  Leistungen  der  Kommune,  soweit 
sie  den  Grundbesitz  oder  den  Gewerbebetrieb  im  Werthe 
erhöhen,  dem  augenblicklichen  Grundbesitzer  vollständig, 
dem  augenblicklichen  Inhaber  einer  Firma  aber  nur  zum 
Theil  zu  Gute  kommen,  sind  die  drei  Steuern  so  einge- 
richtet, dass  gerade  umgekehrt  die  Mehrerträge  aus  dem 
Gewerbe  vollständig  und  übermässig,  die  aus  dem  Gebäude- 
und  Grundbesitz  nur  mangelhaft  oder  gar  nicht  zum 
Steuerobjekt  gemacht  werden  können. 

Ich  will  nun  vollständig  von  dem  Standpunkte  ab- 
sehen,  den  ich  persönlich  in  dieser  Frage  einnehme.  Ich 
erkenne  den  Begriff  der  „Real“-  oder  „Objektsteuern“  über- 
haupt nicht  an;  die  Steuern  zahlt  immer  der  Mensch  und 
nicht  die  Sache  oder  das  Objekt.  Ich  will  davon  absehen, 
dass  man  von  dieser  Ansicht  ausgehend  zu  einer  gänzlich 
andern  Auffassung  und  Konstruktion  dieser  Steuern  ge- 
langen müsste* 2).  Allein  auch  wenn  man  sich  einiger- 
massen  auf  den  Standpunkt  des  Entwurfs  stellt,  so  ist  doch 
für  Jeden,  der  den  Charakter  dieser  Steuern  kennt,  voll- 
kommen klar,  dass  die  Benutzung  der  bisherigen  staat- 
lichen Veranlagung  für  die  kommunale  Besteuerung  am 
allermeisten  im  Interesse  der  Grundbesitzer  liegt.  Da  nun 
in  den  kommunalen  Vertretungen  die  Grundbesitzer  die 
Mehrheit  haben,  so  wäre  das  Mindeste,  was  man  im  Allge- 
meininteresse fordern  könnte:  dass  den  kommunalen  Ver- 
tretungen untersagt  würde,  die  bisherigen  Veranlagungen 
weiter  zu  benutzen.  Früher,  als  man  noch  den  Plan  hatte, 
diese  Steuern  durch  den  Staat  zu  erheben  und  die  Erträge 
ganz  oder  theilweise  den  Gemeinden  zu  „überweisen“, 
hatte  die  Beibehaltung  der  bisherigen  Steuern  noch  einen 
gewissen  Sinn.  Aber  jetzt,  wo  diese  Form  des  Ueber- 
weisungsgedankens  wie  verschwunden  ist,  wo  der  Staat 
sich  entschlossen  hat,  auf  diese  Steuern  zu  verzichten  und 
die  Besteuerung  dieser  Objekte  den  Kommunen  zu  über- 
lassen, da  hat  die  Beibehaltung  der  bisherigen  Veranlagung 
keinen  rechten  Sinn  mehr.  Wenn  der  Entwurf  die  Möglich- 


b Vergl.  „Sozialpolitisches  Centralblatt“  11.  Jahrg.  No.  3, 
S.  27  fg„  No.  12,  S.  137  fg.,  No.  13,  S.  149fg. 

2)  Ich  verweise  auf  meine  diesbezüglichen  Arbeiten  in 
der  „Vierteljahresschrift  für  Volkswirthschaft“,  Jahrgang  XXX, 
Heft  1 und  „Archiv  für  soziale  Gesetzgebung“,  Band  V,  Heft  4. 


No.  21. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


247 


keit  einer  gedeihlichen  Reform  dieser  Steuern  schaffen  i 
wollte,  so  hat  er  das  Beste  gethan,  was  sich  zur  Vereite- 
lung dieser  Möglichkeit  thun  liess,  indem  er  die  Beibehal- 
tung der  bisherigen  Besteuerungsform  gestattete,  d.  h. 
nahelegte. 

Sehen  wir  nun  zu,  was  die  Kommission  in  dieser  Be- 
ziehung an  dem  Entwurf  geändert  hat.  So  viel  ich  sehe, 
kommen  hier  drei  Kommissionsbeschlüsse  in  Betracht.  Für 
die  Besteuerung  der  Gewerbe  (§  25)  ist  eine  verschiedene 
Abstufung  der  Prozente  gestattet  „mit  Rücksicht  auf  eine 
über  den  Massstab  der  staatlichen  Gebäudesteuer  hinaus- 
gehende Besteuerung  der  gewerblichen  Gebäude  oder  auf 
die  Heranziehung  der  gewerblichen  Räume  zu  einer  Mieths- 
steuer.“  Was  mit  einer  „über  den  Massstab  der  staatlichen 
Gebäudesteuer  hinausgehenden  Besteuerung  der  gewerb- 
lichen Gebäude“  gemeint  sei,  ist  mir  unklar.  Die  staatliche 
Gebäudesteuer  wird  mit  4 pCt.  von  Wohngebäuden,  mit 
2 pCt.  von  gewerblichen  Gebäuden  entrichtet.  Nach  dem 
Wortlaut  des  Kommissionsbeschlusses  würde  also  die  Heran- 
ziehung der  Gewerbetreibenden  zur  Gebäudesteuer  be- 
stehen bleiben  und  eine  Schonung  erst  dann  eintreten, 
wenn  eine  Kommune  etwa  die  gewerblichen  Gebäude  noch 
höher  als  mit  jener  halben  Gebäudesteuer  belastete.  Mög- 
licherweise liegt  hier  aber  eine  Ungenauigkeit  der  Bericht- 
erstattung vor,  die  sich  heben  wird,  sobald  die  offizielle 
Zusammenstellung  der  Beschlüsse  zugänglich  wird.  Jeden- 
falls ist  in  dem  Beschluss  eine  Anerkennung  der  oben  be- 
rührten Ungerechtigkeit  und  ein  gewisses  Entgegenkommen 
enthalten. 

Klarer  und  einschneidender  ist  der  zweite  Beschluss. 
Das  allgemeine  Maximum  der  Realsteuern  45)  ist  von  1 50 
auf  100  pCt.  herabgesetzt  worden;  nur  wo  die  Zuschläge 
zur  Einkommensteuer  mehr  als  100  pCt.  betragen,  soll  auch 
bei  den  Realsteuern  jenes  Maximum  noch  überschritten 
werden  dürfen.  Für  alle  Gemeinden,  welche  mit  100  pCt. 
Einkommensteuerzuschlag  ausreichen,  ( — und  dies  wird 
vermuthlich  in  Zukunft  die  grosse  Mehrheit  sein  — ),  er- 
halten daher  Grundbesitzer  und  Gewerbetreibende  die 
Garantie,  dass  sie  den  Kommunen  nicht  mehr  an  Real- 
steuern zahlen  werden,  wie  ihnen  gegenwärtig  der  Staat 
erlässt,  d.  h.  mit  andern  Worten:  die  Garantie,  dass 
sie  von  den  bisherigen  kommunalen  Realsteuern 
gänzlich  verschont  bleiben.  Wenn  der  Entwurf  die 
Absicht  hatte,  Grundbesitz  und  Gewerbebetrieb  nach  dem 
Masse  ihres  Vortheils  zu  den  Kommunallasten  heranzuziehen, 
so  ist  diese  Besteuerung  geeignet,  für  die  Mehrzahl  der 
Gemein  len  diese  Absicht  völlig  unschädlich  zu  machen. 

Zwischen  Klarheit  und  Unklarheit  in  der  Mitte  steht 
die  dritte  Aenderung.  Während  der  Entwurf  die  drei 
Steuern  gleichmässig  behandeln  will  (§  47),  hat  die  Kom- 
mission die  Heranziehung  der  Grund-  und  Gebäudesteuer 
zu  verschiedenen  Prozentsätzen  für  zulässig  erklärt,  mit 
der  Massgabe,  dass  dieselben  bei  der  einen  Steuer  höchstens 
doppelt  so  hoch  sein  dürfen,  wie  bei  der  andern.  Wenn 
der  Sinn  dieser  Bestimmung  der  ist,  dass  man  die  Grund- 
steuer, die  nach  veralteten  Katastern  erhoben  wird,  mit 
einem  höheren  Prozentsatz  erheben  soll,  als  die  Gebäude- 
steuer, welche  doch  wenigstens  einigermassen  revisibel  ist, 
so  wäre  diese  Besteuerung  nicht  mehr  als  gerecht  und 
sollte  nach  der  Seite  hin  vervollständigt  werden,  dass  auch 
der  Gewerbesteuer  eine  noch  weitergehende  Verg'ünstio'une:  I 
zu  Theil  würde.  Allein  nach  den  spärlichen  in  die  Oeffent- 
lichkeit  gelangten  Nachrichten  ist  die  Absicht  die  umge- 
kehrte Da  die  Grundsteuer  angeblich  mit  91/.,  pCt.  des 
Reinertrages,  die  Gebäudesteuer  nur  mit  2—4  pCt.  des- 
selben erhoben  wird,  so  soll  die  Möglichkeit  geschaffen 
werden,  von  den  Grundbesitzern  nur  die  halbe  Grundsteuer 


einzuziehen,  während  von  den  Gebäudebesitzern  die  volle 
Gebäudesteuer  beigetrieben  wird. 

Die  im  Vorstehenden  besprochenen  Ungerechtigkeiten 
erfahren  allerdings  durch  das  ganze  System,  innerhalb  dessen 
sie  sich  bewegen,  gleichzeitig  eine  gewisse  Einschränkung,  ln 
dem  System  der  kommunalen  Finanzen,  wie  es  dem  Entwurf 
vorschwebt,  stehen  allen  Steuern  voran  die  „Gebühren“  und 
„Beiträge“.  In  einer  Reihe  von  Fällen  erhalten  die  Ge- 
meinden das  Recht  oder  die  Pflicht,  von  den  Grundbe- 
sitzern und  Gewerbetreibenden,  denen  bestimmte  kom- 
munale Einrichtungen  besonders  zu  Gute  kommen,  Beiträge 
zu  den  Kosten  derselben  vorweg  zu  erheben.  Allein  diese 
Einschränkung  gilt  doch  eben  nur  für  gewisse  Fälle  und 
enthebt  die  staatliche  Gesetzgebung  nicht  der  Pflicht,  für 
eine  angemessene  Vorbelastung  des  Grundbesitzes  und 
Gewerbebetriebes  zu  den  allgemeinen  Zwecken  des  staat- 
lichen Haushalts  zu  sorgen  Ferner  ist  es  fraglich,  wie 
jene  Spezialbestimmung  in  der  Praxis  gehandhabt  werden 
wird.  Es  wird  dies  überwiegend  von  der  zukünftigen  Zu- 
sammensetzung der  kommunalen  Organe  abhängen. 

Nach  dieser  Seite  hin  aber  ist  eine  reformirende 
Wirkung  der  neuen  Finanzgesetzgebung  nicht  wohl  ab- 
zusehen. Die  Regierung  hatte  vorgeschlagen,  bei  den 
Wahlen  nach  dem  Dreiklassensystem  die  vom  Staate 
erlassenen  Realsteuern  bei  den  Landtagswahlen  nicht  an- 
zurechnen, hingegen  bei  den  Kommunalwahlen  die  Anrech- 
nung stets  stattfinden  zu  lassen,  selbst  wenn  die  Kommune 
von  dem  Rechte  zur  Erhebung  dieser  Steuern  keinen  Ge- 
brauch macht  Dies  allein  genügte,  um  eine  Umwandlung 
der  kommunalen  Organe  im  Sinne  einer  lebhaften  Be- 
rührung mit  breiteren  Volksschichten  zu  hintertreiben. 
Nehmen  wir  hinzu,  dass  die  Kommission  für  die  Mehrzahl 
der  Kommunen  den  Realsteuerpflichtigen  jene  Garantie 
gegen  Realsteuerzuschläge  gegeben  hat,  während  gleich- 
zeitig für  die  Landtagswahlen  schon  der  Plan  aufgetaucht 
ist,  die  Kommunalsteuern  mit  anzurechnen:  so  ist  auf  diese 
Art  namentlich  für  die  Grundbesitzer  die  bequeme  Mög- 
lichkeit geschaffen,  in  ihren  kommunalen  Wahlprivilegien 
zu  bleiben,  ohne  sich  mit  Steuern  zu  belasten  und  gleich- 
zeitig dasselbe  Verhältniss  noch  einmal  für  eine  neue  Pri- 
vilegirung  auch  bei  den  staatlichen  Wahlen  auszunutzen. 
Die  gemeinsame  sozialpolitische  Folge  dieser  Verkettung 
kann  nur  die  sein,  dass  staatliche  und  kommunale  Sozial- 
politik noch  stärker  als  bisher  den  Bevölkerungsschichten 
ausgeliefert  wird,  welche  an  ihrer  Vereitelung  das  grösste 
Interesse  haben,  und  dass  der  geringe  Zusammenhang 
zwischen  Vertretern  und  Vertretenen,  'der  in  Preussen  allen- 
falls noch  besteht,  noch  stärker  als  bisher  ins  Schwinden 
gebracht  wird. 

Mir  scheint  daher,  dass  sich  alle  Diejenigen  im  Irr- 
thum befinden,  welche  im  Namen  der  Freiheit  gegen  ge- 
wisse Rechte  der  Aufsichtsorgane  gegenüber  den  kommu- 
nalen Vertretungen,  wie  dies  das  Kommunalabgaben-Gesetz 
vorschreibt,  Einspruch  erheben.  Wenn  dieses  Gesetz  zu 
Stande  kommt,  und  wenn  seine  sozialpolitischen  Absichten 
nicht  blos  auf  dem  Papier  bleiben  sollen,  so  wird  sich  sehr 
bald  zeigen,  dass  die  Aufsichtsrechte  nicht  zu  stark,  sondern 
dass  sie  zu  schwach  sind.  Man  muss  diese  Verhältnisse 
nicht  nach  den  Zuständen  grosser  Städte  beurtheilen,  in 
denen  die  öffentliche  Meinung,  wie  sie  in  Tageszeitungen 
und  Vereinen  sich  ausspricht,  auf  die  kommunalen  Ver- 
tretungen einen  kontrollirenden  und  anspornenden  Einfluss 
übt.  In  der  grossen  Mehrzahl  der  mittleren  und  der 
kleinen  Gemeinden  fehlt  dieses  Moment  fast  vollständig. 
Hier  giebt  es  nur  zwei  Wege,  die  kommunalen  Organe 
unter  Hintansetzung  von  Klasseninteressen  zu  einer  opfer- 
freudigen Wirksamkeit  für  das  Gemeinwesen  hinzudräniren : 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  21. 


entweder  die  Einbeziehung  der  unteren  Volksschichten  in 
die  kommunalen  Vertretungen  oder  ein  scharfes  Eingreifen 
einer  unparteiischen  Regierungsgewalt  in  die  Selbstver- 
waltungskörper. Ein  Reformwerk,  welches  den  ersteren 
Weg  verschmäht,  wird  allein  durch  das  Gewicht  der  That- 
sachen  und  der  Uebelstände  früher  oder  später  sich  auf 
den  zweiten  Weg  gedrängt  sehen. 

Das  übersehen  die  Vertheidiger  der  heutigen  Selbst- 
verwaltung, welche  sehr  massvoll  zu  sein  glauben,  wenn 
sie  auf  der  einen  Seite  gegen  Erweiterung  des  Wahlrechts 
und  gleichzeitig  auf  der  andern  gegen  Erweiterung  der 
Aufsichtsrechte  kämpfen. 

Berlin.  J.  Jastrow. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 


Centralisiruiig  der  Arbeitsvermittlung  in  Berlin.  Der 

Vorstand  des  Centralvereins  für  Arbeitsnachweis  in  Berlin  hatte, 
wie  wir  in  No.  17,  Il.Jahrg.  des  Sozialpolitischen  Centralblattes  be- 
richteten, behufs  Besprechung  der  Frage  einer  Regelung  des 
Arbeitsnachweises  eine  Einladung  an  alle  Vereinigungen,  ohne 
Unterschied,  ob  Arbeitgeber-  oder  Arbeitnehmer-Vereinigungen, 
welche  keinen  gewerbsmässigen  Arbeitsnachweis  unterhalten,  zu 
einer  Konferenz  ergehen  lassen,  welche  am  6.  d.  M im  Bürgersaale 
des  Rathhauses  stattfand.  Dieselbe  war  von  einer  sehr  ansehn- 
lichen Zahl  von  Vertretern  von  Arbeitgeber-  und  Arbeitnehmer- 
Vereinigungen  — ca.  80  bis  90  — unter  diesen  auch  der  Berliner 
Strike-Kontrollkommission  beschickt.  Der  Vorsitzende  des  ein- 
berufenden Vereins,  Magistrats  - Assessor  Dr.  Freund,  betonte 
von  vornherein,  dass  die  Konferenz  keinen  amtlichen,  sondern 
nur  einen  privaten  Charakter  habe.  Derselbe  wies  sodann  darauf 
hin,  dass  in  Berlin  über  200  selbständige  Arbeitsnachweise  be- 
stehen, welche  gegenseitig  ohne  jede  Fühlung  seien.  Um  eine 
solche  Fühlung  zu  gewinnen,  hielt  er  es  für  vortheilhaft,  einen 
Centralausschuss  für  sämmtliche  Arbeitsnachweise  zu  bilden, 
welcher  Bildung  später  die  eines  Verbandes  folgen  solle.  Haupt- 
aufgabe des  Centralauschusses  würde  sein  die  Schaffung  einer 
Arbeitsnachweis-Statistik,  dergestalt,  dass  von  allen  Arbeits- 
nachweisen dem  Centralausschuss  allmonatlich  das  statistische 
Material  über  Arbeitsangebote,  Arbeitsgesuche  und  vermittelte 
Stellen  übergeben  werde.  Aus  den  Schwankungen  der  An- 
gebote und  der  vermittelten  Stellen  würde  ein  Rückschluss  auf 
die  Arbeitslosigkeit  zu  ermöglichen  sein  Ebenso  könnte  der 
Zuzug  von  ausserhalb  festgestellt  werden,  was  unter  Umständen 
von  grosser  Wichtigkeit  wäre.  Eine  weitere  Aufgabe  des  Central- 
ausschusses würde  darin  zu  erblicken  sein,  für  alle  Arbeitsnach- 
weise ein  eigenes  grosses  Heim  zu  schaffen  (also  eine  Art 
Arbeitsbörse)  mit  allen  entsprechenden  Nebeneinrichtungen, 
ohne  dem  einzelnen  Arbeitsnachweise  seine  Selbständigkeit  zu 
nehmen.  Später  könnte  dann  ein  Centralverband  der  Arbeits- 
nachweise mit  Statuten  gebildet  w'erden  Dr.  Freund  empfahl 
die  Bildung  eines  derartigen  Centralausschusses,  aus  23  Per- 
sonen zusammengesetzt,  und  zwar  aus  10  Arbeitgebern  und 
10  Arbeitnehmern,  sowie  drei  Unparteiischen,  die  weder  Arbeit- 
geber noch  Arbeitnehmer  sind,  aus  dem  Vorstande  des  Central- 
vereins  für  Arbeitsnachweis.  Zur  Herbeiführung  dieser  Wahl 
empfahl  er  die  Einsetzung  einer  Kommission. 

Die  Vertreter  der  Unternehmer  brachten  den  Vorschlägen 
Dr.  Freunds  mehr  Sympathie  entgegen,  als  die  Vertreter  der 
Arbeiter.  Von  letzteren  wurde  gegen  das  Projekt  angeführt, 
dass  es  in  der  Praxis  unausführbar  sei,  weil  das  preüssische 
Vereinsgesetz  der  gemeinsamen  Thätigkeit  von  Vereinen,  welche 
z.  Z.  als  politische  seitens  der  Aufsichtsbehörden  betrachtet 
werden,  entgegenstehe,  dass  die  Interessen  derArbeitsnachwei.se 
der  Unternehmer  anderen  Interessen  dienen,  wie  die  der  Arbeiter, 
ausserdem  seien  die  Vertreter  der  Arbeiter  ohne  Mandat,  sie 
müssten  erst  die  Meinung  ihrer  Vereine  einholen,  die  Gefahr 
liege  vor,  dass  bei  Konllikten  zwischen  Unternehmern  und 
Arbeitern  der  Arbeitsnachweis  leicht  den  Strikenden  schaden 
könne.  Die  Schaffung  eines  eigenen  Heims  müsse  Sache  der 
Kommune  sein.  An  der  Statistik  sich  zu  betheiligen,  zeigten  die 
meisten  Arbeitervertreter  Geneigtheit,  in  dieser  Hinsicht  ist  die 
Meinung  des  Metallarbeitervertreters  beachtenswerth,  er  warnte 
davor,  sich  bezüglich  der  aufzunehmenden  Statistik  allzu 
sanguinischen  Hoffnungen  hinzugeben,  da  dieselbe  einmal  auf 
die  Arbeitslosigkeit  falsche  Schlüsse  zulasse,  andererseits  aber 
mindestens  50  pCt.  aller  Stellen  ohne  Arbeitsnachweis  besetzt 
werden,  auch  viele  Gewerkschaften  gar  keinen  Arbeitsnachweis 
besitzen.  Wie  Dr.  Freund  erklärte,  will  der  Central  verein  für 
Arbeitsnachweis  die  Kosten  der  Zusammenstellung  der  Arbeits- 


nachweis-Statistik sowie  deren  Drucklegung  allein  tragen  Er 
entnahm  aus  den  Verhandlungen,  dass  die  Gewerkschaften  ge- 
neigt seien,  die  Bestrebungen  zur  Schaffung  einer  Arbeitsnach- 
weis-Statistik zu  unterstützen  und  billigte  es,  dass  die  Vertreter 
der  Gewerkschaften  etc.  zunächst  mit  diesen  Rücksprache 
nehmen  wollten.  Eine  Resolution,  in  welcher  die  Dclegirten  die 
Bestrebungen  auf  Schaffung  einer  Arbeitsnachweis-Statistik  be- 
grüssen,  bezüglich  der  Bildung  eines  Centralausschusses  und 
eines  Centralverbandes  sich  mit  ihren  Gewerkschaften  etc.  in 
Verbindung  zu  setzen  und  eine  Beschlussfassung  hierüber 
herbeizutiihren  Zusagen,  wurde  angenommen.  Eine  neue  Ver- 
sammlung wird  später  stattfinden.  Eine  Resolution,  vom  Maler 
Riesop  gestellt , welche  den  Magistrat  um  Errichtung  einer 
Arbeitsbörse  nach  Pariser  Muster  ersucht,  gelangte  als  über 
den  Rahmen  der  Tagesordnung  hinausgehend  nicht  zur  Ab- 
stimmung. 

Neue  Arbeitsvermittlungsanstalt  in  Darmstadt.  Am 
1.  Februar  d.  J,  fand  die  Eröffnung  einer  Anstalt  für  Arbeits- 
und Wohnungsnachweis  in  Darmstadt  statt.  Die  Anstalt  will 
demnächst  durch  Gründung  von  Zweiganstalten  in  den  grösseren 
Städten  des  Grossherzogthums,  event.  auch  in  Frankfurt  a.  M., 
die  Geschäftsbeziehungen  nach  auswärts  lebhafter  und  nach- 
haltiger gestalten.  Zweck  der  neuen  Anstalt,  die  von  16  ge- 
meinnützigen Zwecken  dienenden  Vereinen  in  Darmstadt  ge- 
gründet wurde,  ist  es,  vor  allem  den  Verkehr  zwischen  den 
Arbeitgebern  und  Arbeitsuchenden  möglichst  zu  erleichtern. 
Es  macht  bezüglich  der  Arbeitsuchenden  keinen  Unterschied, 
ob  sie  als  Gesellen  oder  Lehrlinge  oder  als  Fabrikarbeiter  Be- 
schäftigung wünschen  oder  ob  sie  für  Dienstleistungen  vorge- 
merkt werden  sollen,  wie  sie  von  weiblichen  oder  männlichen 
Dienstboten  oder  von  sogenannten  Arbeitsgehilfen  und  Ge- 
hilfinnen oder  von  einfachen  Tagelöhnern  oder  sonstigen  vor- 
übergehenden Lohnarbeitern  verrichtet  zu  werden  pflegen.  Die 
Anstalt  verfolgt  ferner  speziell  auch  noch  die  weitere  Aufgabe, 
für  weibliche  Dienstboten,  die  mit  guten  Zeugnissen  versehen 
sind,  die  deren  Fähigkeiten  entsprechenden  Stellen  zu  ver- 
mitteln. Eine  weitere,  mit  der  Anstalt  verbundene,  u.  W. 
überhaupt  hier  zum  ersten  Mal  in  Deutschland  zur  Ausführung 
gelangende  Einrichtung  ist  die  Organisation  des  Nachweises 
kleiner  Miethwohnungen,  wie  sie  insbesondere  für  Arbeiter  ge- 
eignet sind.  Auch  die  Vermittelung  guter  Lehrstellen  für  Lehr- 
linge soll  durch  die  Anstalt  in  Verbindung  mit  dem  Orts- 
gewerbeverein angestrebt  werden.  Die  Einschreibegebühren 
sind  unter  Verzicht  auf  Gewinn  möglichst  niedrig  festgesetzt. 
Dieselben  betragen  für  Arbeiter,  Gesellen  und  Gehilfen,  Lehr- 
linge 20  Pf.,  für  solche,  die  sich  von  auswärts  schriftlich  an- 
melden 30  Pf.,  für  Dienstboten  15  Pf.  Für  den  Wohnungsnach- 
weis ist  die  Einschreibegebühr  für  Miether  auf  30  Pf.  festge- 
setzt Für  Arbeitgeber  beträgt  die  Einschreibegebühr  30  Pf., 
für  auswärtige  50  Pf.,  für  Dienstherrschaften  40  Pf.,  ausserdem 
sind  Abonnementskarten  mit  5 Kupons  zu  1 M , sowie  Jahres- 
abonnements für  grössere  Betriebe  je  nach  der  Zahl  der  Ar- 
beiter von  5 — 10  M.  vorgesehen. 

NothstamlsIVmleruugen  in  Dortmund.  Eine  in  Dort- 
mund tagende  Arbeitslosenversammlung  fasste  eine  Reso- 
lution, der  wir  den  folgenden  Passus  entnehmen: 

Die  Arbeitslosen  stellen  dem  Magistrat  anheim,  folgende 
Vorschläge  zu  beherzigen: 

1 . Niederreissung  der  alten  Häuser,  welche  als  baufällig 
oder  gesundheitswidrig  zu  betrachten  sind; 

2.  Abschaffung  des  Submissionsverfahrens  für  alle  städti- 
schen Arbeiten,  weil  dadurch  die  Arbeitgeber  sich 
gegenseitig  im  Preise  unterbieten,  und  den  Ausfall 
am  Profit  dann  durch  Lohnabzüge  und  Verlängerung 
der  Arbeitszeit  beim  Arbeiter  wieder  auszugleichen 
suchen ; 

3.  Gewährung  der  achtstündigen  Arbeitszeit  an  sämmt- 
liche Beamte  und  Arbeiter  der  Stadt; 

4.  Gewährung  eines  auskömmlichen  Lohnes  für  die- 
selben. 


Arbeiterzustände. 


Kommission  für  Arbeiterstatistik  Die  Kommission  für 
Arbeiterstatistik  berieth  in  ihrer  Sitzung  vom  7.  Februar  die 
Entwürfe  der  Fragebogen  für  Getreidemühlen , welche  nur 
Wasserkraft  haben,  und  für  Getreidemühlen,  welche  durch 
Dampf  allein  oder  in  Verbindung  mit  Wasserkraft  getrieben 
werden.  Nach  Durchberathung  der  einzelnen  Fragen  beauftragte 
die  Kommission  einen  Auss  huss,  die  drei  Fragebogen  für  das 
Mühlengewerbe  an  der  Hand  der  Kommissionsbeschlüsse  neu 
zu  redigiren  und  der  Kommission  zur  endgültigen  Beschluss- 


No.  21 


SOZIAI.rOUTISClIES  CLNTRAI , HI, ATI . 


249 


fassung  zu  unterbreiten,  gleichzeitig  auch  über  das  bei  Verthei- 
lung  und  Veränderung  der  Fragebogen  zu  beachtende  Verfahren 
bestimmte  Vorschläge  zu  machen. 

Um  dem  Ausschuss  die  für  seine  Arbeiten  erforderliche 
Zeit  zu  gewähren,  wurde  auf  den  folgenden  Tag  eine  Sitzung 
der  Kommission  nicht  anberaumt. 

In  der  Sitzung  vom  9.  d.  M,  kamen  zwei  bereits  in  der 
früheren  Tagung  der  Kommission  gestellte  Initiativ-Anträge  zur 
Verhandlung. 

Von  dem  Reichstags-Abgeordneten  Siegle  war  beantragt, 
dem  Reichskanzler  folgenden  Vorschlag  zu  unterbreiten: 

„Es  sollen  fortlaufende  Erhebungen  über  die  Löhne  und 
die  Arbeitszeiten  aller  Arbeiter  vorgenommen  werden,  welche 
den  gewerblichen  Berufsgenossenschaften  angehören.11 

Nach  eingehender  Debatte  wurde  beschlossen,  den  Antrag 
einem  Ausschuss  von  fünf  Mitgliedern  zu  überweisen,  der  Zweck, 
Umfang  und  Methode  der  beantragten  Erhebungen  feststellen 
und  hierüber  sowie  über  die  Mittel  der  Durchführung  der  Kom- 
mission Bericht  erstatten  soll. 

Der  Antrag  des  Reichstagsabgeordneten  Dr.  Hirsch:  „Die 
Commission  für  Arbeiterstatistik  wolle  beschliessen: 

den  Herrn  Reichskanzler  um  die  Vornahme  einer  Er- 
hebung über  die  Verhältnisse  der  jugendlichen  und  weib- 
lichen Arbeiter  und  die  Arbeitszeit  der  erwachsenen  Männer 
in  der  Hausindustrie,  und  zwar  successive  nach  den  Haupt- 
zweigen derselben,  sobald  die  Arbeiten  der  Kommission  es 
gestatten,  zu  ersuchen“ 
wurde  nach  längerer  Berathung  angenommen. 

Die  Kommission  genehmigte  in  ihrer  Schlusssitzung  am 
10.  Februar  die  von  ihrem  Ausschuss  vorgeschlagene  Fassung 
der  drei  Fragebogen  für  das  Mühlengewerbe. 

Für  die  Vertheilung  der  Fragebogen  beschloss  die  Kom- 
mission die  Benutzung  des  Katasters  der  Müllerei-Berufsge- 
nossenschaft, in  welchem  die  vorhandenen  Mühlenbetriebe  nach 
Bezirken  der  unteren  Verwaltungsbehörden  und  innerhalb  der- 
selben nach  der  Zeit  der  Anmeldung  geordnet  verzeichnet  sind. 
Die  Befragung  von  je  10  pCt.  der  in  jedem  eine  Anzahl  von 
unteren  Verwaltungsbezirken  umfassenden  Katasterbande  ver- 
zeichneten  Wind-,  Wasser-  und  Dampfmühlen  wurde  für  aus- 
reichend gehalten.  Eine  völlig  unparteiliche  Auswahl  der  ein- 
zelnen Mühlen  würde  nach  Ansicht  der  Kommission  zweck- 
mässig durch  einen  Kommissar  der  Reichsregierung  und  einen 
Delegirten  der  Kommission  in  der  Weise  erfolgen  können,  dass 
innerhalb  jedes  Katasterbandes  bis  zur  Erreichung  einer  Anzahl 
von  10  pCt  der  betreffenden  Mühlenart  zunächst  alle  für  die 
einzelnen  unteren  Verwaltungsbezirke  an  erster  Stelle,  dann  die 
an  zweiter  Stelle  und  so  fort  aufgeführten  Mühlen  bei  der  Er- 
hebung berücksichtigt  würden. 

Nach  einstimmiger  Ansicht  der  Kommission  empfiehlt  es 
sich,  wie  bei  früheren  Erhebungen  so  auch  jetzt  die  Fragebogen 
für  die  eine  Hälfte  der  Betriebe  an  die  Arbeitgeber , für  die 
andere  Hälfte  an  je  einen  Arbeitnehmer  auszugeben,  und  zwar 
nach  der  auf  dem  bezeichneten  Wege  gefundenen  Reihenfolge 
abwechselnd  in  der  einen  Mühle  den  Arbeitgeber,  in  der  anderen 
einen  Arbeitnehmer  zu  befragen. 

Ebenso  war  die  Kommission  darüber  einig,  dass  es  zweck- 
mässig sei , unvollständig  oder  missverständlich  ausgefüllte 
Fragetiogen  mittelst  protokollarischer  Vernehmung  der  be- 
treffenden Auskunftspersonen  durch  die  Behörden  ergänzen  zu 
lassen. 

Zur  Weiterführung  der  Untersuchung  über  die  Arbeitszeit 
in  Bäckereien  empfahl  die  Kommission,  durch  protokollarische 
Vernehmung  eines  Theils  der  mittelst  Fragebogens  befragten 
Auskunftspersonen  die  Gründe  für  die  verschiedene  Gestaltung 
der  ermittelten  Arbeitszeiten  zu  erforschen,  durch  Befragung 
der  Krankenkassen  die  Krankheits-  und  Sterblichkeitsverhält- 
nisse unter  den  Bäckern  aufzuklären  und  eine  Reihe  von  Inter- 
essentenverbänden um  gutachtliche  Aeusserungen  über  die  Ar- 
beitszeit und  die  Möglichkeit  ihrer  Regelung  zu  ersuchen.  Das 
auf  diese  Weise  beschaffte  Material  beabsichtigt  die  Kommission 
zur  Grundlage  einer  letzten  Berathung  über  die  Arbeitszeit  in 
Bäckereien  zu  machen,  bei  welcher  Arbeitgeber  und  Arbeit- 
nehmer mit  berathender  Stimme  zugezogen  und  Auskunfts- 
personen vor  der  Kommission  vernommen  werden  sollen. 

Arbeitslosenstatistiken.  In  Wurzen  sind  durch  die  Auf- 
nahme einer  Arbeitslosenstatistik  190  Arbeitslose  ermittelt  worden, 
wovon  131  verheirathet  und  zwei  verwittwet  waren.  Die  Ver- 
heiratheten  haben  258  Kinder  und  18  sonstige  Angehörige  zu 
ernähren.  Nur  vier  Arbeitslose  beziehen  Unterstützung,  einer 
wöchentlich  50  Pf.  Invalidengeld,  einer  5 M.  Unfallrente  und  zwei 
erhalten  Armenunterstützung.  Auf  die  sogenannten  Ortsarmen 
hat  sich  also  die  Zählung  noch  gar  nicht  mit  erstreckt.  Mit 
trostloser  Eintönigkeit  kehren  in  den  ausgefüllten  Fragebogen 
die  Bemerkungen  wieder:  „Mache  Schulden“,  „lebe  vom  Borg“, 
„versetze  meine  Sachen“,  „zehre  frühere  Ersparnisse  auf“.  Den 
Gewerben  nach  gehören  die  Arbeitslosen  zu  den  Handarbeitern, 
Maurern,  Zimmerern,  Steinmetzen,  Dachdeckern,  Schmieden, 
Malern,  Klempnern,  Tischlern,  Spinnern,  Formern,  Bäckern, 
Schlossern,  Müllern  und  Cigarrenmachern.  Die  Dauer  der 
Arbeitslosigkeit  schwankt  zwischen  einem  Monat  und  einem 
halben  Jahre.  In  vielen  Familien  herrscht  dabei  Krankheit.  In 


i 44  Fällen  verdient  die  Frau  wöchentlich  einige  Mark  (80  Pf.  bis 
j 7 M.  wöchentlich^.  In  einem  Falle  verdient  der  Vater  nichts, 
| die  Mutter  nichts,  nur  das  eine  Kind  bringt  wöchentlich  50  Pf. 

! nach  Plause.  In  einem  anderen  Falle  verdienen  Mutter  und 
j Kind  je  eine  Mark,  der  Vater  findet  trotz  fortgesetzter  Be- 
I mühungen  keine  Arbeit.  — Wurzen  hatte  bei  der  letzten  Volks- 
zählung 14  635  Einwohner. 

Im  Leipziger  Vorort  Möckern  wurden  durch  die  Arbeiter 
| am  5.  Februar  160  Arbeitslose  ermittelt,  darunter  3 Frauen.  Im 
Durchschnitt  war  jeder  Arbeitslose  2l/2  Monate  ohne  Beschäfti- 
gung. 111  Arbeitslose  waren  verheirathet;  die  Zahl  ihrer  schul- 
pflichtigen Kinder  betrug  227.  Mit  allen  Angehörigen  zasammen 
betrug  die  Zahl  der  Beschäftigungslosen  440,  was  lOpCt.  der 
j Einwohner  Möckerns  ausmacht. 

Das  Ergebniss  der  Mannheimer  Arbeitslosenstatistik 
| liegt  jetzt  vollständig  vor.  Die  Statistik  wurde  am  7.  Dezember 
J v.  J.  aufgenommen.  Von  den  etwa  15  000  Arbeitern  Mannheims 
| füllten  1072  Arbeitslose  die  Fragebogen  aus,  davon  995  männliche 
und  77  weibliche.  Diese  1072  Arbeitslosen,  von  denen  512  ver- 
heirathet waren  und  die  insgesammt  1058  Kinder  und  119 
sonstige  Angehörige  zu  ernähren  hatten,  waren  zusammen 
51  552  Tage  ohne  Beschäftigung,  durchschnittlich  jeder  49  Tage. 
Die  längste  Dauer  der  Abeitslosigkeit  betrug  700,  die  kürzeste 
| 1 Tag.  Dem  Berufe  nach  vertheilten  sich  die  Arbeitslosen  wie 
folgt:  268  Tagelöhner  waren  im  Durchschnitt  je  54  Tage  arbeits- 
i los7  90  Maurer  je  26  Tage,  73  Schlosser  je  41  Tage,  41  Tüncher 
je  59  Tage,  36  Schreiner  je  37  Tage,  31  Bäcker  je  44  Tage, 
30  Gypser  je  34  Tage,  29  Schmiede  je  38  Tage,  29  Schneider 
| je  45  Tage,  26  Tagelöhnerinnen  je  53  Tage,  24  Former  je 
j 52  Tage  24  Schuhmacher  je  25  Tage,  22  Eisendreher  je  55  Tage, 
| 21  Tapezirer  je  88  Tage.  Unter  den  übrigen  war  noch  zahl- 
5 reiches  Dienstpersonal  ohne  Beschäftigung. 

Die  in  Basel  angestellten  amtlichen  Erhebungen  überden 
Umfang  der  Arbeitslosigkeit  ergaben  eine  Anmeldung  von 
734  Personen,  welche  mit  ihren  Angehörigen  die  Gesammt- 
zahl  der  Unterstützungsbedürftigen  auf  2300  steigern.  Die  Re- 
| gierung  hat  zu  deren  Unterstützung  Fr  10  000  Dewilligt  und 
j bereitet  einen  Gesetzentwurf  betreffend  die  Arbeitslose n- 
j Versicherung  vor. 

Lolinfristen  für  preussisclie  Staatshahnarbeiter.  Im 

August  v.  Js.  wurde  bereits  bekannt,  dass  die  preussische  Eisen- 
bahnverwaltung in  mehreren  ihrer  Direktionsbezirke  statt  der 
bis  dahin  bestandenen  vierzehn  tägigen  Lohnperioden  vierwöchige 
j insofern  einführe,  als  die  formelle  Lohnberechnung  nur  noch 
1 für  diesen  längeren  Zeitraum  stattfinde  und  im  Uebrigen  ledig- 
lich halbmonatliche  Abschlagszahlungen  geleistet  würden,  „so- 
fern die  Arbeiter  nicht  auch  auf  solche  Verzicht  leisten.“  Das 
wurde  damals  im  „Reichsanzeiger1  offen  zugestanden,  mit  einer 
„wünschenswerthen  Vereinfachung  des  Rechnungswesens“,  so- 
wie mit  der  „Sicherung  pünktlicher  Lohnzahlung  an  die  zum 
Theil  auf  weite  Strecken  vertheilten  Arbeiter“  begründet  Nach- 
theilige Folgen  dieser  Massnahmen  für  die  Arbeiter  wurden  in 
Abrede  gestellt.  Nun  scheint  es  fast,  als  hätten  sich  doch  im 
inneren  Verkehr  Weiterungen  mit  den  Arbeitern  herausgestellt- 
Wenigstens  ergreift  der  „Reichsanzeiger“  vom  13.  d.  M.  nach  bei- 
nahe halbjähriger  Frist  nochmals  das  Wort  in  dieser  Angelegenheit 
und  erklärt  zur  Sache:  „In  einer  grossen  Anzahl  von  Eisenbahn- 
Verwaltungsbezirken  hat  schon  immer  nur  eine  monatliche  Lohn- 
zahlung bestanden  Die  Einrichtung  hatte  sich  dort  gut  bewährt. 
Es  haben  weder  die  Arbeiter  eine  Abkürzung  der  Lohnperioden 
verlangt,  noch  ist  die  Wahrnehmung  gemacht  worden , dass 
dieses  Verfahren  auf  ihre  Wirtschaftsführung  einen  irgendwie 
nachtheiligen  Einfluss  ausgeübt  hätte.  Es  lag  daher  kein  An- 
lass vor,  in  diesem  Verfahren  eine  Aenderung  eintreten  zu  lassen. 
Im  Interesse  einer  übersichtlichen  und  einfacheren  Gestaltung 
des  nach  der  Natur  des  Eisenbahnbetriebes  verwickelten  Kassen- 
und  Rechnungswesens  und  der  ebenfalls  umfangreichen  Rech- 
nungsführung bei  den  Krankenkassen  und  bei  der  Pensions- 
kasse für  die  Eisenbahnarbeiter  erschien  indessen  eine  tun- 
lichst gleichmässige  Einrichtung  des  Löhnungswesens  dringend 
erwünscht.  Aus  diesem  Grunde  ist  in  Erwägung  gezogen,  auch 
in  den  übrigen  Eisenbahn-Verwaltungsbezirken  den  Versuch  mit 
einer  nur  einmaligen  Lohnabrechnung  im  Monat  zu  machen,  mit 
der  Massgabe  jedoch,  dass  grundsätzlich  alle  Arbeiter,  die  bisher 
zweimal  im  Monat  den  Lohn  empfangen  hatten,  auch  künftig 
der  Lohn  zweimal  monatlich,  und  zwar  in  der  Mitte  des  Monats 
in  Form  einer  Abschlagszahlung  und  am  Schlüsse  als  Definitiv- 
zahlung, erhalten  sollen,  soweit  nicht  die  Arbeiter  selbst  aus- 
drücklich auf  die  Zahlung  in  der  Mitte  des  Monats  verzichten. 
Von  dieser  letzteren  Befugniss  haben  viele  Arbeiter  Gebrauch 
gemacht  und  den  Wunsch  auf  nur  einmalige  Auszahlung  des 
Lohnes  im  Monat  ausgesprochen.  Für  die  übrigen  Arbeiter 
wird  die  Abschlagszahlung  in  der  Mitte  des  Monats  unter  Ver- 
meidung aller  sonst  nothwendigen  Rechnungsformen  in  der  Regel 
so  bemessen,  dass  etwa  der  Betrag  eines  Tagelohns  zur  Deckung 
der  zu  den  Krankenkassen  und  zur  Pensionskasse  zu  leistenden 
Beiträge  und  der  etwa  zu  erstattenden  entheiligen  Kosten  für 
Heilmittel  erkrankter  Familienangehörigen  zurückbehalten  wird. 
Die  Differenz  zwischen  dem  wirklichen  Verdienste,  nach  Ab- 
rechnung dieser  für  Abzüge  bestimmten  Beträge,  und  der  Ab- 
schlagszahlung ist  daher  so  gering , dass  von  nachtheiligen 


250 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT, 


No.  21 


Folgen  der  neuen  Einrichtung  auf  die  Wirthschaftsführung  der 
Arbeiter  keine  Rede  sein  kann.“ 

Mit  dieser  Erklärung  rollt  die  preussische  Eisenbahnver- 
waltung die  Frage  der  staatlichen  ,, Musterstätten“  wieder  in 
einer  Weise  auf,  die  für  ihren  sozialpolitischen  Ruf  schwerlich 
vortheilhaft  sein  kann.  Wenn  „in  einer  grossen  Anzahl“  von 
Bezirken  „schon  immer“  langwöchige  Lohnperioden  bestanden 
haben,  so  ist  das  schlimm  genug;  dann  hätte  in  diesen  Bezirken 
schleunigst  die  achf-  oder  mindestens  vierzehntägige  Löhnung 
eingeführt  werden  müssen,  nicht  aber  umgekehrt  die  lang- 
wöchige verallgemeinert  werden  dürfen.  Die  „gute  Bewäh- 
rung“ langer  Lohnperioden  für  die  Staatskasse  soll  in  keiner 
Weise  bestritten  werden;  bleiben  doch  auf  diese  Weise  grosse 
Lohnsummen  längere  Zeit  als  sonst  beim  Betriebskapital,  sodass 
hier  der  Staat  als  Borger  bei  den  Arbeitern  erscheint.  Viel 
zweifelhafter  dürfte  dagegen  die  „Wahrnehmung“  sein,  dass  die 
langen  Lohnperioden  keinen  Einfluss  auf  die  Wirthschaft  der 
Arbeiter  hätten.  Eine  Reihe  von  Fabrikinspektoren  bestätigen 
das  Gegentheil,  die  „Frankfurter  Arbeiterbudgets“  geben  die 
direkte  Klage  eines  Eisenbahnarbeiters  über  die  vierwöchige 
Lohnzahlung  wieder,  und  die  preussische  Eisenbahnverwaltung 
hat  sich  bisher  nicht  so  um  den  Haushalt  und  das  Auskommen 
ihrer  Arbeiter  bekümmert,  dass  man  ihren  „Wahrnehmungen“ 
irgend  welchen  Werth  beimessen  könnte.  Bei  Staatsbetrieben 
wird  überdies  der  Befehl  des  Vorgesetzten  sehr  oft  zum 
„Wunsch“  des  Arbeiters,  weshalb  auch  die  Berufung  auf  den 
letzteren  keineswegs  sehr  glücklich  erscheint.  Die  Höhe  des 
bei  vierwöchigen  Lohnperioden  und  halbmonatlichen  „Abschlags- 
zahlungen“ herauskommenden  Verdienstes  lässt  sich  aus  den 
allgemeinen  Wendungen  des  „Reichsanzeiger“  nicht  beurth eilen. 
Hier  wären  detaillirte  ziffernmäßige  Angaben  sehr  am  Platze 
gewesen,  die  auch  die  allgemeine  Annahme  hätten  widerlegen 
können,  dass  die  sehr  starken  Lohnreduktionen  vom  letzten 
Herbst  das  Auskommen  der  Staatsbahnarbeiter  sehr  wesentlich 
erschwert  haben.  Wenn  die  preussische  Staatsbahnverwaltung 
also  ohne  Rücksicht  auf  die  sozialpolitischen  Einwendungen, 
die  man  ihr  bereits  im  August  v.  Js.  von  wohlmeinender  Seite 
machte,  aut  dem  eingeschlagenen  Wege  der  Verkürzung  ganz 
natürlicher  und  beinahe’ selbstverständlicher  Arbeiterrechte  fort- 
fahren will,  so  kann  man  ihr  nur  dankbar  sein,  wenn  sie  diese 
Vorgänge  durch  ähnliche  Erklärungen  im  „Reichsanzeiger“  zur 
allgemeinen  Kenntniss  und  Beurtheilung  bringt. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Die  Entwickelung  der  Mannheimer  Gewerkschaften  seit 
Aufhebung  des  Sozialistengesetzes.  Im  Juli  1890  einigten  sich 
die  Leiter  der  Mannheimer  Gewerkschaften  auf  folgendes 
Aktionsprogramm : 

I.  Errichtung  eines  Arbeitsnachweises,  welcher  von  sämmt- 
lichen  Gewerkschaften  zu  unterhalten  ist. 

2 Heranbildung  tüchtiger  Kräfte,  Abhaltung  regelmässiger 
Vorträge  und 

3.  Gemeinsame,  d.  h von  sämmtlichen  Gewerkschaften  ver- 
anstaltete, Abhaltung  von  Festlichkeiten. 

Am  1.  Oktober  wurde  das  Programm  dahin  erweitert,  dass 
eine  Bibliothek  und  eine  Agitationsschule  für  die  Mitglieder  der 
Gewerkschaften  ins  Leben  gerufen  werden  solle.  Die  Bibliothek 
wurde  sofort  errichtet,  an  Stelle  der  Agitationsschule  wurden 
bis  vor  Kurzem  einmal  im  Monate  Diskussionsabende  seitens 
der  Centralisation  der  Gewerkschaften  veranstaltet.  Am  20.  Ok- 
tober 1891  wurde  eine  Centralherberge  errichtet.  Aus  Anlass 
eines  Strikes  wurde  eine  Kommission  zur  Entgegennahme  von 
Beschwerden  an  das  Fabrikinspektorat  eingesetzt.  Die  zahlreich 
einlaufenden  Beschwerden  werden  von  einer  dreigliedrigen 
Kommission  einer  Vorprüfung  unterzogen  und  dann  möglichst 
rasch,  ohne  dass  der  Name  des  beschwerdeführenden  Arbeiters 
genannt  wird,  dem  Fabrikinspektorate  zugestellt. 

Die  Aufnahme  einer  Arbeitslosenstatistik  und  Beschaffung 
von  Arbeit  für  die  Beschäftigungslosen  wurde  von  der  Centra- 
lisation  der  Gewerkschaften  unternommen. 

So  beachtenswerth  die  Thätigkeit  der  Mannheimer  cen- 
tralisirten  Gewerkschaften  ist,  so  entfernt  ist  sie  noch  von  der 
Lösung  ihrer  Hauptaufgabe,  der  Organisation  der  Arbeiter. 
Ende  Januar  bestanden  nach  dem  Berichte  Teufel’s,  des  Schrift- 
führers der  centralisirten  Gewerkschaften  in  Mannheim,  im 
Correspondenzblatte  der  Gewerkschaften  Deutschlands  28  F"ach- 
vereine  mit  blos  etwas  über  2000  Mitgliedern.  Demnach  sind 
weder  alle  Arbeiterkategorien  organisirt,  noch  ein  erheblicher 
Bruchtheil  der  Arbeiter  der  betreffenden  Branchen  in  ihren 
Fachvereinen  Von  6000  Metallarbeitern  sind  bloss  250,  von 
1600  Maurern  bloss  80  organisirt.  Während  der  Metallarbeiter- 
verband relativ  die  schwächste  Mitgliederzahl  hat,  sind  die 
Branchen  vereine  der  Metallarbeiter  verhältnissmässig  sehr 
stark,  so  sind  80  von  300  Schmieden,  50  von  1 10  Kesselschmieden 
und  50  von  je  120  Maschinisten  und  Heizern,  240  von  300  Formern, 


60  von  140  Spenglern  organisirt.  Wahrscheinlich  rührt  die 
Schwäche  des  Verbandes  bloss  vom  Weiterbestände  der  Branchen- 
vereine her. 

Der  zweite  Kongress  (1er  französischen  Arbeitsbörsen. 

Der  bereits  in  unserer  vorigen  Nummer  erwähnte  Kongress 
der  französischen  Arbeitsbörsen,  der  für  den  12.  d.  M.  nach 
Toulouse  einberufen  worden  war  und  drei  Tage  währte, 
fand  im  grossen  Saale  der  dortigen  Arbeitsbörse  statt. 
Vertreten  waren  auf  demselben  die  Arbeitsbörsen  von 
Angers,  Beziers,  Cette,  Cognac,  Lyon,  Marseille,  Mont- 
pellier, Nantes,  Paris,  Roanne,  St.  Etienne,  St.  Girons,  St.  Na- 
zaire,  Toulon  und  Toulouse,  also  im  Ganzen  15  Arbeitsbörsen, 
während  die  Arbeitsbörsen  von  Algier,  Carcassone,  Cholet, 
Cours,  Nimes  und  Trignac  ihre  schriftliche  Zustimmung 
ertheilt  hatten.  Nach  eingehender  Behandlung  aller  auf  die 
Tagesordnung  gestellten  Punkte  fasste  der  Kongress  im 
Verlaufe  seiner  Verhandlungen  folgende  Beschlüsse:  1.  Die 
auf  dem  vorjährigen  Kongress  zu  St.  Etienne  ausgearbeiteten 
Statuten,  welche  die  Ziele  und  Mittel  des  Bundes  der 
Arbeitsbörsen  bestimmen.  — siehe  No.  7 des  I.  Jahrganges 
dieser  Zeitschrift,  — unverändert  beizubehalten;  2.  den 
monatlichen  Bundesbeitrag  der  Arbeitsbörsen  mit  weniger 
als  fünf  Gewerkschaften  auf  1 Franc  und  jenen  der  Arbeits- 
börsen  mit  fünf  und  mehr  Gewerkschaften  auf  20  Centimes 
pro  Gewerkschaft  festzusetzen;  3.  dem  Parlament  einen 
Gesetzentwurf  zu  unterbreiten,  der  den  Arbeitsbörsen  den 
Charakter  von  öffentlichen  Nützlichkeitsanstalten  verleiht, 
ohne  jedoch  dem  Staat  das  Recht  der  Einmischung  in  ihre 
Verwaltung  zu  geben;  4.  eine  Delegation  an  die  öffentlichen 
Gewalten  zu  entsenden,  um  sie  aufzufordern,  die  Stellen - 
vermittlungs-Büreaus  aufzuheben  und  deren  Thätigkeit  den 
Arbeitsbörsen  bezw.  Gewerkschaften  vollständig  zu  über- 
lassen; 5.  die  Manifestation  des  I.  Mai  als  Ausdruck  der 
Forderung  des  achtstündigen  Arbeitstages  zu  unterstützen 
und  die  Gewerkschaften  damit  zu  betrauen,  alle  französi- 
schen Arbeiter  aufzufordern,  an  derselben  theilzunehmen; 

6.  einen  allgemeinen  nationalen  Gewerkschaftskongress  am 
13.  Juli  und  den  folgenden  Tagen  in  Paris  abzuhalten; 

7.  bezüglich  der  Prud'hommes-Gerichte  (Gewerbegerichte) 
dahin  zu  wirken;  a)  dass  die  Dauer  des  Mandats  der  Prud- 
hommesräthe  auf  zwei  Jahre  beschränkt  werde,  b)  dass  die 
Gewerkschaften  allein  das  Recht  erhalten,  die  Kandidaten 
aufzustellen,  c)  dass  diese  Kandidaten  den  Mitgliedern  von 
Gewerkschaften  entnommen  werden  und  das  imperative 
Mandat  annehmen,  d)  dass  die  den  Gewerkschaften  zuge- 
hörigen Frauen  das  Wahlrecht  erhalten,  e)  dass  die  Kom- 
petenz der  Prud’hommes-Gerichte  auf  die  Gesammtheit  der 
Arbeiter  erstreckt  werde  und  f)  dass  diese  Gerichte  in 
allen  Gemeinden  errichtet  werden,  die  eine  Arbeiterorgani- 
sation besitz®.  Von  den  übrigen  Beschlüssen  heben  wir 
noch  hervor,  das  Verlangen,  dass  Staat,  Departements  und 
Gemeinden  alle  von  ihnen  benöthigten  Arbeiten  in  eigener 
Regie  ausführen;  dass  zur  Uebernahme  von  diesen  zu  ver- 
gebenden Arbeiten  auch  Arbeitersyndikate  ohne  Erlag  einer 
Kaution  zugelassen  werden,  dass  man  in  dem  Pflichtenheft 
der  Unternehmer  das  Lohnminimum  verzeichne  und  dass 
die  Löhne  beider  Geschlechter  bei  gleicher  Thätigkeit 
gleichmässig  bemessen  werde.  Zum  Schlüsse  bestimmte 
der  Kongress  noch,  dass  alle  Munizipalitäten  ersucht 
werden,  Kredite  für  die  Entsendung  von  Arbeiterdelega- 
tionen für  die  Weltausstellung  von  Chicago  zu  votiren. 
Die  endgültige  Behandlung  der  Frage,  betreffend  eine  all- 
gemeine Ausstandskasse,  wurde  dem  nächstjährigen  Kongress 
übertragen,  als  dessen  Sitz  Lyon  bezeichnet  wurde. 

Drohende  Arbeitseinstellung  der  Kolilenarbeiter  Eng- 
lands. Eine  abermalige  freiwillige  Arbeitseinstellung  der 
Kohlenbergarbeiter  Englands  ist  in  Sicht.  Der  geschäfts- 
führende Ausschuss  der  „National  Federation  of  Miners“, 
deren  Mitglieder  auch  den  vorjährigen  Arbeitsstillstand  in 
Scene  setzten,  beschloss  dieser  Tage,  wie  wir  der  „National- 
Zeitung“  entnehmen,  „in  Anbetracht  des  Umstandes,  dass 
in  verschiedenen  Bergwerksdistrikten  die  Zechen  auf  Lohn- 
herabsetzungen dringen,  allen  Bergarbeitern  eine  freiwillige 
Arbeitseinstellung  anzurathen,  deren  Anfang  und  Dauer  aut 
einer  für  den  28.  Februar  anberaumten  Konferenz  festge- 
setzt werden  soll.“  Eine  Wiederholung  des  im  Vorjahre 
so  viel  Aufsehen  erregenden  Versuchs,  durch  Beschränkung 
der  Produktion  und  Räumung  der  Vorräthe  das  Sinken  der 
Kohlenpreise  zurückzuhalten,  ist  durchaus  nicht  ausge- 
schlossen. Die  Kohlenpreise  sind  zwar  beträchtlich  gefallen 
und  zeigen  vorläufig  keine  Neigung  zur  Stabilität,  aber  die 


No.  21 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


251 


zur  Föderation  gehörenden  Bergleute  haben  ihre  Löhne 
bislang  behauptet,  während  alle  anderen  Kohlenbezirke  sich 
erhebliche  Herabsetzungen  haben  gefallen  lassen  müssen. 
In  den  Augen  der  Arbeiter  wiegt  diese  handgreifliche 
Thatsache  natürlich  schwerer  als  alle  Beweisgründe  von 
der  Unmöglichkeit,  auf  diesem  Wege  den  Weltmarkt  dauernd 
beeinflussen  zu  können.  Die  Föderation  ist  ausserdem  auch 
numerisch  bedeutend  stärker  als  im  Vorjahre,  da  ihr  in- 
zwischen die  Bergleute  von  Durham  und  Cleveland  beige- 
treten sind.  Diejenigen  von  Südwales  verspüren  ebenfalls 
grosse  Neigung  zu  solchem  Schritte,  stehen  auch  augen- 
blicklich in  Verhandlungen  mit  ihren  Arbeitgebern  betreffs 
abermals  geforderter  Lohnerniedrigungen;  und  die  Berg- 
leute von  Nortlunnberland  haben  sich  soeben  geweigert, 
eine  neue  Herabsetzung  von  5 Prozent,  die  vierte  seit  1891, 
anzunehmen.  Die  Aussichten  auf  ein  gemeinsames  Zu- 
sammengehen der  Bergarbeiter  Englands  in  dieser  Frage 
sind  demnach  ziemlich  erheblich. 


Unternehmerverbände. 

Zur  Frage  eines  Petroleumkartells  in  Oesterreich. 

Mit  der  „Kontingentirung  der  Produktion“  beginnt 
man,  mit  der  Preissteigerung  hört  man  auf!  Das  ist  die 
gewöhnliche  Entwicklung  des  modernen  Kartells.  Die  Be- 
völkerung Oesterreichs  scheint  dies  nun  auch  erfahren  zu 
sollen,  die  dortigen  Petroleumraffinerien  sind  bereits  zu- 
sammengetreten, um  die  „Kontingentirung  der  Produktion“ 
anzubahnen.  Und  dies  zu  einer  Zeit,  wo  das  österreichische 
Ministerium  das  Einbringen  eines  Antikartellgesetzes  wieder 
einmal  ernstlich  erwägt,  in  einem  Lande  wie  Oesterreich, 
dessen  ärmere  Bevölkerung  ohnedies  unter  dem  Drucke 
der  exorbitant  hoch  bemessenen  Petroleumabgaben  schwer 
leidet.  Diese  letzteren  bewirken  es,  dass  der  Petroleum- 
verbrauch Oesterreich -Ungarns  unverhältnissmässig  ge- 
ringer als  der  des  Deutschen  Reiches  ist,  dass  er  dort  kaum 
3,50  kg  pro  Kopf  der  Bevölkerung  beträgt  (Deutsches 
Reich  ca.  10,10  kg!).  Petroleum,  insofern  es  zur  Beleuch- 
tung verwendbar  ist,  unterliegt  in  Oesterreich  einem  Ein- 
fuhrzolle  von  10  fl.  ö.  W.,  bezw.  einer  inneren  Verbrauch- 
steuer von  6 fl.  50  kr.  per  100  kg.  Auch  diese  hohe  fis- 
kalische Belastung  erklärt  es,  dass  die  Petroleumpreise  in 
Oesterreich-Ungarn  so  hoch  sind,  obwohl  die  des  Rohnaphta 
in  Russland  und  Amerika  einen  kaum  je  geahnten  Tiefstand 
erreicht  haben.  Die  Ueberproduktion  des  Rohnaphta  ist 
jetzt  so  gross,  dass  das  Pud  von  8—9  Kop.  im  Jahre  1891, 
auf  1 — 4 Kop.  Ende  1892  gesunken  ist.1)  Die  Petroleum- 
industriellen thun  nun  ein  Uebriges,  sie  gründen  ein  Kartell! 
„Nur  die  Kontingentirung  der  Produktion  zwischen  beiden 
Reichshälften“  soll  damit  erreicht  werden,  „Vereinbarungen 
betreffs  derPreisbildung  sind“-  -nach  Behauptung  der  Kartell- 
leute ! — „ausgeschlossen“.  Die  Raffineure  behaupten,  sich  vor 
Allem  zu  Gunsten  des  österreichischen  Steuersäckels  vereint 
zu  haben.  Zur  Erklärung  dieser  wahrhaft  köstlichen  Zu- 
muthung  sei  bemerkt,  dass  die  erwähnte  Verbrauchssteuer 
am  Standorte  der  Raffinerie  entrichtet  wird.  Da  nun  die 
ungarischen  Etablissements  grösseren  Umsatz  als  die  öster- 
reichischen haben,  während  wieder  Oesterreichs  Konsum 
grösser  als  der  ungarische  ist,  fällt  gegenwärtig  ein  be- 
trächtlicher Mehrbetrag  der  ungarischen  Steuerkasse  zu, 
obwohl  das  betreffende  Steuerobjekt,  das  Petroleum,  that- 
sächlich  in  Oesterreich  verbraucht  wird.  Diesen  Umstand 
also  benutzen  die  Petroleumindustriellen  Oesterreichs,  um 
ihr  Preiskartell  mit  einem  hochpatriotischen  Mäntelchen  zu 
schmücken.  Man  soll  ihnen  glauben,  dass  sie  die  Produktion 
beider  Reichshälften  kontingentiren,  um  den  Steuerverlust 
des  österreichischen  Finanzministers  aus  der  Welt  zu 
schaffen ! Dass  gleichzeitig  mit  der  Bildung  des  Kartells  der 
Petroleumpreis  um  3/4  Gulden  pro  100  kg  erhöht  wurde, 
ist  Thatsache.  Dass  die  Aktien  der  ungarischen  Kreditbank, 


des  Grossaktionärs  der  Fiumaner  Petroleumraffinerie,  ebenso 
spontan  höher  bewerthet  wurden  und  dass  dies  ganz  offen 
mit  der  Bildung  des  österreichischen,  angeblich  gegen 
Ungarn  gerichteten  Kartells  begründet  wurde,  ist  ebenfalls 
Thatsache.  Nebenbei  aber  behaupten  die  Kartellleute,  dass 
sie  durchaus  keine  Absicht  zur  Preissteigerung  haben! 
Aus  all’  dem  ergiebt  sich,  dass  der  Kampf  gegen  die 
ungarische  Petroleumindustrie  ein  ebensolches  Schein- 
manöver ist  wie  es  das  Leugnen  der  Neigung  zur  Preis- 
erhöhung ist  Die  faktische  Preissteigerung  des  Fabrikats 
wie  die  rosigen  Hoffnungen  der  ungarischen  Interessenten 
sprechen  da  wohl  deutlicher  als  die  gewundene  Erklärung 
des  österreichischen  Petroleumkartells. 

Was  hier  vor  sich  geht,  ist  in  hohem  Grade  lehrreich 
für  den  Charakter  der  Industrie-  und  Handelskartelle.  Im 
Handumdrehen  nehmen  sie  zumeist  das  Wesen  des  Preis- 
kartells an.  Würde  Oesterreich  über  eine  gewissenhaftere 
Verwaltung  verfügen,  so  hätten  wir  wohl  schon  längst  von 
der  Einleitung  gerichtlicher  Vorerhebungen  hören  müssen. 
Das  österreichische  Koalitionsgesetz  vom  7.  April  1870 
dehnt  im  § 4 das  Verbot  gewisser  Verabredungen  der 
Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  auch  auf  jene  Beschlüsse 
von  Gewerbsleuten  aus,  deren  „Zweck  die  Erhöhung  des 
Waarenpreises  zum  Nachtheile  des  Publikums  ist“.  Dass 
also  die  Petroleumkartelleure  die  Beeinflussung  der  Preis- 
tendenz leugnen,  ist  nicht  erstaunlich,  das  Gegentheil  wäre 
dies  weit  eher.  Alle  Umstände  deuten  aber  darauf  hin, 
dass  derlei  eigentlich  doch  geplant,  ja  theilweise  schon  er- 
zielt ist.  Und  so  wäre  wohl  genügender  Anlass  zur  An- 
wendung der  geltenden  Gesetze,  auch  solange  das  Antikartell- 
gesetz in  Oesterreich  erst  — erwogen  wird.  Der  Petroleum- 
v erbrauch  Oesterreich-Ungarns  betrug  im  Jahre  1890  1 568 172q 
schon  die  letzttägige  Preiserhöhung  um  ■i/i  fl.  allein  würde 
demnach  eine  Vertheuerung  der  dortigen  Lebenshaltung 
um  I 176  129  fl.  mit  sich  bringen.  Die  vielgeschmähte 
Steuer  der  Militärbefreiten  bringt  dem  Staate  nicht  viel 
mehr  ein,  als  hier  dem  Volke  seitens  des  neuen  Kartells 
entzogen  wird.  Indess  es  ist  durch  die  Erfahrung  schon 
genugsam  erhärtet,  dass  die  Belastung  durch  die  Privat- 
unternehmer immer  weniger  als  die  st  aatliche  Steuerlast 
empfunden  wird.  Und  doch  sollte  man  wohl  das  Gegen- 
theil annehmen  können.  So  wenig  Staub  diese  Kartellge- 
schichte im  eigentlichen  Volke  aufgewirbelt,  im  Parlamente 
wurde  sie  doch  endlich  zur  Sprache  gebracht.  Der  Abge- 
ordnete Steinwender  und  Genossen  interpellirten  den 
Finanzminister  unter  Darlegung  des  Kartell  Vorgehens,  ob 
derselbe  nicht  vielleicht  in  der  staatlichen  Monopoli- 
sirung  der  Petroleumraffinerie  das  geeignete  Mittel  zum 
Schutze  der  Bevölkerung  und  der  Staatsfinanzen  vor  der 
Ausbeutung  durch  die  kartellirten  Grossproduzenten  sehe. 
Finanzminister  Dr.  Steinbach  wird  sich  doch  endlich  über 
seine  Stellung  zu  dieser  Frage  klar  werden  müssen.  Er 
gilt  als  Anhänger  der  konservativen  Sozialpolitik.  Hier 
mag  es  sich  endlich  zeigen,  wie  Dr.  Steinbach  seiner 
Ueberzeugung  gerecht  wird.  Vier  bis  fünf  Prozent  der 
Haushaltkosten  des  „kleinen  Mannes“  entfallen  auf  die  Be- 
leuchtungsausgaben, ja  in  den  hausindustriellen  Betrieben, 
bei  den  Webern  und  Glasarbeitern  Böhmens,  erhöht 
sich  dieser  Antheil  auch  auf  7 — 8 pCt.!  Da  wäre  es  doch 
wahrlich  angemessen,  reinen  Tisch  zu  machen  mit  dem 
Produktions-  (oder  Preis-)  karteil  der  Petroleumindustriellen! 

Es  ist  eine  seltsame  Fügung,  dass  gerade  Oesterreich, 
das  in  Folge  seiner  reichen  galizischen  Erdölgruben  doch 
wenigstens  halbwegs  des  russisch-amerikanischen  Petroleum- 
ringes spotten  könnte,  nun  im  eigenen  Lande  von  seinen 
eigenen  Industriellen  mit  Aehnlichem  bedroht  werden 
soll.  Deutschland  verfügt  über  weit  geringere  Naphtha- 
schätze. Als  vor  zwei  Jahren  die  Umtriebe  der  Standard 
Oil  Company  bemerkt  wurden,  wandte  sich  die  allgemeine 
Aufmerksamkeit  dieser  Gefahr  zu,  — in  Oesterreich  zeigt 
man  sich  darin  gemüthlicher ! Und  doch  ist  die  Lage  hier 
ungleich  ernster.  Fleute  ist  ja  auch  Russlands  Petroleum- 
handel kartellirt,  Nobel  und  Rothschild  haben  das  Heft  in 
Händen.  In  den  letzten  Tagen  bildeten  sich  ausser  dem 
Petroleumkartell  noch  Kartelle  der  Reisstärke-,  der  Kerzen 


x)  Deutsches  Handels-Archiv  (1892),  II,  S.  540. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  21 


und  Seifenfabrikanten  unter  gleichzeitiger  bedeutender  Steige- 
rung der  betreffenden  Waaren.  So  ist  die  österreichische  Be- 
völkerung nun  von  aussen  wie  von  innen  durch  die  Kartellge- 
fahr bedroht.  Ein  Entrinnen  ist  kaum  möglich,  wenn  nicht  die 
Staatsverwaltung  kräftiger  als  es  bisher  wahrzunehmen  war, 
aultritt.  Nach  dem  Staatsmonopol  wurde  im  Deutschen 
Reiche  gelegentlich  der  amerikanischen  Petroleumkartell- 
gefahr gerufen,  jetzt  wünscht  man  es  also  auch  in  Oester- 
reich-Ungarn. So  heftig  ist  der  Widerwille  des  Volkes 
gegen  die  privaten  Ausbeuter,  dass  es  sich  lieber  unter  den 
Schutz  des  — Fiskalismus  stellt.  Die  Erfahrungen  mit  den 
Staatsmonopolen  sind  ja  keine  so  günstigen,  dass  dieser 
Wunsch  nicht  als  das  Aufgeben  des  Kampfes,  als  die  Wahl 
des  kleineren  Uebels  erscheinen  müsste.  So  führt  die 
„Kontingentirung“  der  privaten  Produktion  nicht  blos  zur 
Preiserhöhung,  sie  führt  vielleicht  noch  weiter,  zu  ihrer 
V erstaatlichung ! 

Wien.  Heinrich  Adler. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Die  Sonntagsruhe  für  das  Haiidelsgewerbe  im  Reichs- 
tage. Alle  Interessenfragen,  die  durch  die  seit  I.  Juli  v.  J.  ein- 
geführte  kaufmännische  Sonntagsruhe  im  Bereiche  des  Deutschen 
Reiches  aufgerührt  worden  sind,  kamen  in  den  Reichstags- 
sitzungen vom  10  und  1 1.  d.  M.  in  einer  zweitägigen  und  ausführ- 
lichen Debatte  zur  Besprechung.  Leider  war  nur  das  thatsächliche 
Material,  welches  die  Redner  anführten,  bis  auf  Bayern,  über 
welches  besonders  zu  sprechen  sein  wird,  sehr  unvollständig 
und  tendenziös  ausgewählt.  Auf  die  Klagen  darüber,  dass 
Jemand  am  Sonntag  keinen  Spiritus  für  Krankenzwecke  habe 
erhalten  können  und  ähnliche  Dinge  braucht  hier  nicht  näher 
eingegangen  zu  werden;  sie  entbehren  jedes  sozial-politischen 
Gewichtes.  Etwas  präziser  waren  folgende  Angaben,  die  der 
Abgeordnete  Möller  machte,  und  die  sich  namentlich  auf  den 
Cigarrenhandel  beziehen.  Er  habe  von  174  Firmen  aus  allen 
Theilen  Deutschlands  Nachrichten  gesammelt,  woraus  sich  er- 
gebe, dass  an  den  Sonntagen  die  Einnahmen  der  Cigarren-  und 
Tabakhändler  um  46  pCt.  zurückgegangen  seien.  Die  Zunahme 
an  den  Sonnabenden  habe  aber  nur  P/apCt.  betragen  und  die 
Montage  zeigten  eine  Abnahme  von  2 pCt.  Auf  die  ganze  Woche 
habe  er  die  Statistik  nicht  ausdehnen  können,  da  es  den  meisten 
Geschäftsleuten  zu  peinlich  sei,  von  diesen  Geschäftsgeheim- 
nissen allgemeine  Kenntniss  zu  geben.  Soweit  diese  positiven 
Angaben.  Die  nähere  Prüfung  derselben  ergiebt,  dass  Mitthei- 
lungen von  blossen  174  willkürlich  ausgewählten  Firmen  für  die 
Allgemeinheit  doch  kaum  ausschlaggebend  sein  können,  selbst 
wenn  diese  Mittheilungen  sonst  vollständig  waren.  Sie  sind  aber 
auch  dies  nicht.  Es  geht  nicht  an,  mit  Absatzziffern  von  Sonn- 
abend, Sonntag  und  Montag  zu  operiren  und  bezüglich  der 
übrigen  Tage  das  Geschäftsgeheimniss  vorzuschützen.  Entweder 
muss  eine  vollständige  Uebersicht  der  gesammten  Gestaltung 
des  Cigarrenabsatzes  seit  Einführung  der  Sonntagsruhe  gegeben 
werden,  oder  man  muss  die  Statistik  überhaupt  aus  dem  Spiel 
lassen.  Namentlich  bei  Cigarrenhandlungen  ist  die  äusserste  Vorsicht 
geboten,  wie  der  preussische  Handelsminister  mit  Recht  betonte. 
Der  Minister  sagte:  „Wenn  man  denjenigen,  die  nur  Tabak  und 
Cigarren  verkaufen,  die  Erlaubniss  giebt,  so  wird  sie  auch  bald  von 
den  Kaufleuten  und  Händlern  verlangt  werden,  die  neben  Cigarren 
auch  andere  Artikel,  vielleicht  sogar  Manufakturwaaren  führen. 
Geben  Sie  die  Erlaubniss  aber  auch  diesen  Leuten,  so  wird  gar 
keine  Kontrolle  möglich  sein,  ob  sie  wirklich  nur  Cigarren  ver- 
kaufen oder  ob  sie  auch  Manufakturwaaren  am  Sonntag  ab- 
setzen. Geschieht  aber  letzteres,  so  werden  natürlich  auch  die 
Manufakturwaarengeschäfte  an  uns  herantreten  und  mit  Recht 
die  Erlaubniss  nachsuchen  Damit  würde  man  aber  die  ganzen 
Bestimmungen  über  die  Sonntagsruhe  über  den  Haufen  werfen.“ 
Das  trifft  zu,  ist  aber  nicht  der  einzige  Grund  für  eine  möglichst 
ablehnende  Haltung  zu  den  weitgehenden  Forderungen  der 
Cigarrenhändler.  Es  kommt  hinzu,  dass  diese  ihr  Personal  bereits 
in  "der  Woche  sehr  ausgedehnt  bis  11  und  12  Uhr  Nachts  aus- 
nutzen, und  es  ist  zu  beachten,  dass  ein  vergrösserter  Kistchen- 
verkauf  den  Sonntagsausfall  mehr  als  wett  gemacht  haben  könnte. 
In  eine  sozialpolitische  Sackgasse  aber  führt  das  Argument  des 
Abgeordneten  Buhl,  welcher  ausführte : „Die  gesetzliche  Be- 
stimmung, dass  der  Hausirer  Sonntags  seine  Beschäftigung  nicht 
ausüben  darf,  hilft  desshalb  nicht,  weil  von  den  Hausirern  \Verk- 
tags  gekauft  werden  kann.  Zum  Kaufmann  muss  der  Arbeiter 
oder  Kleinbauer  hingehen,  der  Hausirer  oder  Detailreisende  aber 
geht  zum  Bauer  und  das  Geschäft  wird  Werktags  gemacht.“ 
Diese  Beweisführung  könnte  doch  nur  gegen  die  ganze  Existenz 
des  Hausirhandels  sprechen  und  ihr  Urheber  müsste  eigentlich  das 
völlige  Verbot  desselben  beantragen,  wenn  es  ihm  Ernst  wäre;  gegen 


die  Sonntagsruhe  aber  können  die  Werktagseinkäufe  beim  Hau- 
sirer unmöglich  ins  Feld  geführt  werden.  Was  Bayern  speziell  be- 
trifft, so  machte  der  Abgeordnete  von  Vollmar  die  vollständigsten 
Angaben  über  die  beispiellose  Art,  wie  man  dort  die  kaufmännische 
Sonntagsruhe  durchlöcherte.  Er  stellte  fest,  dass  in  Nürnberg 
entgegen  dem  Magistratsantrag  auf  14  Stunden  thatsächlich  von 
der  Regierung  12  Stunden  für  das  Feilhalten  von  Lebensmitteln 
freigegeben  sind,  nämlich  von  5—9  und  von  11 — 7 Uhr.  In  Fürth 
ist  für  die  Genussmittelbranche  die  Zeit  von  6—9  und  lO'/a— 7'/i> 
LThr  freigegeben,  für  die  übrigen  Geschäfte  von  6—9,  lO'/a— 3'/j 
und  6V2 — Uhr.  Die  Regierung  macht  an  andern  Orten  den 
Leuten  sogar  Vorschläge,  wie  sie  die  Bestimmung  mit  den  fünf 
Stunden  umgehen  können,  nämlich  indem  sie  die  fünf  Stunden 
über  den  ganzen  Tag  vertheilen.  Recht  eigenthümlich  ist  die 
Bestimmung  der  Regierung  von  Oberbayern.  Diese  hat  für  alle 
Geschäfte,  gleichgültig,  welcher  Art,  die  Zeit  bis  4 Uhr  Nach- 
mittags am  Sonntag  freigegeben.  Zu  dieser  offenbaren  Aende- 
rung  des  Gesetzes  hat  die  oberbayrische  Regierung  weder  den 
Reichstag  noch  den  Bundesrath  gebraucht.  "Der  Oberpräsident 
von  Schwaben  hat  das  Verlangen,  auch  dort  eine  gleiche  Rege- 
lung zu  treffen,  mit  dem  Bemerken  abgelehnt,  das  widerstreite 
der  Pflicht  einer  gewissenhaften  Anwendung  und  Ausführung 
der  Gesetze.  Demgegenüber  hatte  der  Vertreter  der  bayrischen 
Regierung  einen  schweren  Stand.  Er  führte  an,  dass  in  Ober- 
bayern die  Zahl  der  Städte  nur  69,  die  der  Ortschaften  dagegen 
13  000  betrage.  Ein  ähnliches  Verhältniss  dürfte  auch  anderswo 
bestehen.  Die  ländliche  Bevölkerung  von  Oberbayern  sei  sodann 
so  schwerfällig,  dass  sie  bei  dem  Mittagsschluss  der  Läden  nicht 
mit  ihren  Einkäufen  fertig  werde.  Dieses  testimonium  pauper- 
tatis  schadet  hoffentlich  der  bayrischen  Regierung  bei  ihrem 
oberbayrischen  Unterthanen  nichts.  Bezeichnend  war,  dass  der 
Regierungsvertreter  schliesslich  doch  die  Verantwortlichkeit  für 
die  behördlichen  Ausnahmebestimmungen  ablehnte.  Bei  diesem 
Mangel  an  beweiskräftigen  Argumenten  fiel  es  den  Abgg.  Bebel, 
Grillenberger  und  Wöllmer  nicht  schwer,  die  völlige  Berechti- 
gung und  Durchführbarkeit  einer  Sonntagsruhe  nachzuweisen, 
die  noch  weniger  als  die  gesetzlich  erlaubten  5 Arbeitsstunden 
zulässt.  Gehörte  nicht  ein  förmliches  Spezialstudium  dazu,  diese 
Bewegung  im  Einzelnen  zu  verfolgen,  so  hätten  diese  Redner 
ausserdem  eine  lange  Reihe  kaufmännischer  Unternehmer  aus 
allen  Gegenden  und  Ortsklassen  anführen  können,  welche  sich 
durchaus  für  Beibehaltung  der  Sonntagsruhe  im  möglichst 
grossen  Ausmasse  ausgesorochen  haben,  und  sie  hätten  nach- 
weisen  können,  dass  in  den  wenigen  Städten,  die  durch  Orts- 
statut die  Sonntagsarbeit  auf  ein  Minimum  beschränkten  (Frank- 
furt a.  Main,  Stuttgart,  Augsburg  u.  a.  m.)  gerade  die  grösste 
Zufriedenheit  mit  dem  so  geschaffenen  Zustande  herrschte. 
Deshalb  gab  der  preussische  Handelsminister  von  Berlepsch  aus 
der  Ueberzeugung  des  grössten  Theiles  der  Kauf  leute  Ausdruck, 
als  er  erklärte:  ,,In  dem  Kommissionsbericht  (zum  § 105  b der 

Gewerbeordnung)  ist  ausdrücklich  ausgesprochen , dass  den 
Handelsgehilfen  ein  möglichst  freier  Sonntag-Nach- 
mittag gewährt  werden  müsse.  Namentlich  den  letzten 
Punkt  habe  ich  für  mich  zum  Grundsatz  gemacht.  Die  Punkte, 
die  Anfechtung  erfahren  haben,  sind  die  einheitliche  Dauer  der 
Geschäftszeit  und  deren  Begrenzung  auf  bestimmte  Stunden. 
Die  Uebelstände  sind  heute  schon  im  Wesentlichen  beseitigt  . . . 
Soweit  mir  bekannt,  ist  von  Konsumenten  nirgends  eine 
Klage  eingegangen.  Von  117  Petitionen  ist  nicht  eine  ein- 
zige von  einem  Konsumenten  eingereicht.  In  Folge  dessen  möchte 
ich  schliessen,  dass  die  Klagen  über  die  schwere  Schädigung 
der  ländlichen  Bevölkerung  nicht  zutreffen.  Von  den  Petitionen 
sind  sehr  viele  nach  einem  ganz  bestimmten  Schema  gemacht, 
sodass  man  mit  Sicherheit  annehmen  kann,  dass  von  einer  oder 
mehreren  Stellen  aus  eine  Agitation  gegen  die  Sonntagsruhe 
ins  Werk  gesetzt  worden  ist.  Das  alles  macht  uns  miss- 
trauisch, uhd  man  kann  sich  nicht  wundern,  dass  wir  nicht 
ohne  Weiteres  nachgegeben  haben.  Dazu  kommt  auch,  dass 
Petitionen  ergingen,  die  gerade  das  Gegentheil  verlangten,  die 
uns  zu  recht  strenger  Durchführung  der  Sonntagsruhe  aufforder- 
ten.“ Das  trifft  Alles  wörtlich  zu,  und  die  Schlusserklärung  des 
Handelsministers  des  grössten  deutschen  Bundesstaates,  nach 
welcher  ohne  zwingende  Veranlassung  von  dem  freien  Sonntag- 
nachmittag für  Handlungsgehilfen  nicht  abgegangen  werden 
soll,  ist  nach  langer  Zeit  einmal  wieder  als  eine  Regierungs- 
kundgebung zu  begrüssen,  welche  von  sozialpolitischer  Einsicht 
zeugt)  Hoffentlich  ist  damit  auch  erklärt,  dass  der  in  der  letzten 
Ministerialanweisung  an  die  Gemeinden  ertheilte  Rath,  die  fünf 
Arbeitsstunden  durch  Ortsstatut  von  11—4  Uhr  zu  legen,  nun- 
mehr in  keiner  Weise  aufrecht  erhalten  wird;  sonst  läge  ja  eine 
sehr  eigenthümliche  Zweideutigkeit  vor. 

Die  Sonntagsruhe  im  pveussischen  Haiidelsgewerbe. 

Mitte  Dezember  v.  J.  haben  die  Minister  des  Innern,  für 
Handel  und  Gewerbe  und  des  Kultus  die  Oberpräsidenten 
aufgefordert,  über  die  Wirkungen  der  Sonntagsruhevor- 
schriften im  Handelsgewerbe  nach  verschiedenen  näher  be- 
zeichneten  Richtungen  Erhebungen  anzustellen.  V ie  von 
mehreren  Seiten  berichtet  wird,  sind  diese  Erhebungen 
nunmehr  im  vollen  Gange.  Die  Oberpräsidenten  haben  die 
ihnen  unterstellten  Behörden  zur  Abgabe  von  Aufforde- 
rungen und  zur  Veranstaltung  von  Untersuchungen  veran- 


No.  21 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


253 


lasst.  Verschiedentlich  haben  sich  bereits  die  Regierungs- 
präsidenten an  die  wirtschaftlichen  Korporationen  ge- 
wendet, um  deren  Urtheile  in  der  Sonntagsruhefrage  zu 
hören. 

Normalarbeitstag  für  Grubenarbeiter  in  Gross- 
britannien.  Die  von  Storey,  Sir  Charles  Dilke,  Lord  Ran- 
dolph  Churchill  u.  a.  m.  eingebrachte  Vorlage  betr.  die 
Einführung  des  achtstündigen  Arbeitstages  für  Minenarbeiter 
besagt,  dass  Niemand  an  einem  Tage  von  24  Stunden  länger 
als  8 Stunden  in  einem  Bergwerk  arbeiten  dürfe.  Arbeit- 
geber oder  deren  Agenten,  welche  gegen  diese  Bestimmung 
handeln,  sollen  mit  einer  Strafe,  die  40  sh.  nicht  über- 
steigen darf,  belegt  werden. 


Gewerbeinspektion. 


Fabrikinspektion  und  deutscher  Reichstag  Seit  1879, 
der  Einführung  der  obligatorischen  Fabrikinspektion  für 
sämmtliche  deutsche  Bundesstaaten  durch  eine  Gewerbe- 
ordnungsnovelle, erneuern  sich  alljährlich  im  Reichstage  bei 
Berathung  des  Etats  des  Reichamts  des  Innern,  die  Debatten 
über  die  organisatorischen  Mängel  der  deutschen  Gewerbe- 
aufsicht. Diesmal  fielen  die  bezüglichen  Debatten  auf  den 
7.  und  8.  d.  M.  Viel  Wichtiges  und  Sachgemässes  brachten 
sie  in  sozialpolitischer  Richtung  nicht;  es  ist  natürlich,  dass 
mit  der  eigentlichen  Technik  der  Fabrikinspektion  nur  sehr 
wenige  Abgeordnete  vertraut  sind.  Zunächst  knüpften 
mannigfache  und  berechtigte  Aussetzungen  an  die  Persön- 
lichkeiten an,  die  man  namentlich  in  Preussen  zu  Inspektoren 
macht.  Der  Abgeordnete  Bachem  vermisste  ganz  richtig 
den  innigen  Verkehr  mit  den  Arbeitern.  Desto  weniger 
hätte  er  Ingenieure  als  Beamte  vorschlagen  dürfen,  die 
heute  ohnedies  meist  genommen  werden,  sondern  Aerzte  und 
Sozialpolitiker,  wie  es  der  Abgeordnete  Wurm  that.  Dass 
sich  dort  kein  gedeihlicher  Verkehr  entfalten  kann,  wo  die 
Regierung  Inspektoren,  wegen  ihrer  Annäherung  an  die 
Arbeiter,  massregelt,  wie  in  Köln,  musste  erst  viel  später 
der  Abgeordnete  Wurm  bemerken;  die  Regierungsvertreter 
aber  vermieden  mit  einer  Geflissentlichkeit,  die  nicht  für 
die  Sicherheit  ihres  Standpunktes  sprach,  jedes  Eingehen 
auf  diesen  charakteristischen  Kölner  Zwischenfall,  der  s.  Z. 
auch  an  dieser  Stelle  behandelt  wurde.  Der  Kölner  Re- 
gierungspräsident kann  sich  also  nicht  rühmen,  dass  das 
Ministerium  für  ihn  eingetreten  sei,  und  das  ist  immerhin 
ein  kleiner  Gewinn.  Auch  sonst  übte  der  Abgeordnete 
Wurm  in  seinen  beiden  Reden  die  sachkundigste  Kritik  an 
der  deutschenFabrikinspektion.  Erwies  nach,  wiedilettanten- 
haft  die  Zusammenstellung  der  Einzelberichte  zu  „amt- 
lichen Mittheilungen“  erfolge,  wie  mangelhaft  die  Fabrik- 
inspektoren selbst  sich  bei  Abfassung  ihrer  Originalreferate 
unterrichten,  wie  viele  Verstösse  der  Unternehmer  gegen 
die  allereinfachsten  Schutzvorschriften  trotzdem  alljährlich 
noch  festgestellt  werden  u.  s.  w.  Die  Verbindung  der 
Damptkesselrevision  mit  der  Gewerbeaufsicht  wurde  durch 
mehrere  Abgeordnete  scharf  getadelt;  der  Regierungsver- 
treter  wusste  nur  zu  antworten,  dass  sich  das  System  in 
Sachsen  bewährt  habe,  soviel  er  höre;  bekanntlich  ist  das 
Gegentheil  der  Fall.  Charakteristisch  war  auch  der  vom 
Abgeordneten  Hirsch  erbrachte  Nachweis,  dass  der  letzte 
Generalbericht  der  deutschen  Inspektoren  insgesammt  etwa 
— 5 Zeilen  über  Arbeiterorganisationen  enthält.  Am  zweiten 
Tage  verflachte  sich  die  Diskussion  ausserordentlich  durch 
das  Eingreifen  solcher  Abgeordneten,  die  lediglich  den 
Unternehmer  gegen  die  doch  so  schwache  deutsche  Fabrik- 
inspektion in  .Schutz  nehmen  zu  müssen  glaubten.  Auf 
welcher  Höhe  sich  in  Folge  dessen  die  Debatte  bewegte, 
möge  die  eine  Thatsache  belegen,  dass  der  Abgeordnete 
Hartmann  die  Originalveröffentlichung  der  Berichte  des- 
halb für  unnöthig  erklärte,  weil  er  und  viele  seiner  Kollegen 
die  Referate  doch  nicht  lesen  würden  und  weil  für  Wiss- 
begierige jetzt  schon  je  ein  geschriebenes  Exemplar  der 
Einzelberichte  auf  dem  Büreau  des  Hauses  liege.  Ausser- 
halb des  Reichstages  existiren  also  für  den  Abgeordneten 
Hartmann  keine  Leute,  welche  die  Berichte  der  Fabrik- 
inspektion etwas  angehen!  Ebenso  waren  die  Erklärungen 


der  Regierung  zum  Gegenstand  in  sehr  lauem  Ton  ge- 
halten. Nach  diesem  Gang  der  Dinge  ist  in  absehbarer 
Zeit  keine  einheitliche  Verbesserung  der  deutschen  Fabrik- 
inspektion zu  erwarten. 


Gewerbegerichte,  Einigungsämter  und 
Arbeiterausschüsse. 

Die  belgischen  Industrie-  und  Arbeitsräthe. 

Auf  Grund  des  Artikels  I § 2 des  Gesetzes  vom 
16.  August  1887  haben  die  belgischen  Industrie-  und  Arbeits- 
räthe die  Aufgabe,  über  die  gemeinschaftlichen  Interessen 
der  Arbeitgeber  und  Arbeiter  zu  berathen,  entstehenden 
Differenzen  vorzubeugen  und,  wo  es  nöthig  ist,  solche  zu 
schlichten1). 

Die  Bildung  der  Industrie-  und  Arbeitsräthe  ging 
langsam  von  Statten.  Im  März  und  Dezember  1889  wurde 
je  einer  im  Jahre  1890  2 im  ersten  12  mit  35  Sektionen  im 
2.  Quartal,  9 mit  29  Sektionen  im  3.  Quartal  und  7 mit 
12  Sektionen  im  4.  Quartal  konstituirt.  Im  Jahre  1891  traten 
3 mit  4 Sektionen  im  1.,  8 mit  17  Sektionen  im  3.,  1 mit 
8 Sektionen  im  4.  Quartale  zusammen.  Im  2.  Quartale  1 892 
wurden  noch  2 mit  3 Sektionen  konstituirt  und  für  3 In- 
dustrie- und  Arbeitsräthe  mit  13  Sektionen  waren  Mitte 
1892  die  Wahlen  wohl  ausgeschrieben,  aber  noch  nicht  voll- 
zogen. 6 Sektionen  konnten  wegen  passiven  Widerstandes 
der  Arbeiter,  18  wegen  des  Widerstandes  der  Unternehmer, 
6 wegen  gemeinsamer  Wahlenthaltung  von  Arbeitern  und 
Unternehmern  und  13  aus  anderen  Gründen  nicht  konstituirt 
werden. 

Die  Industrie-  und  Arbeitsräthe  wurden  mehrfach  zu- 
sammenberufen, um  über  die  gemeinsamen  Interessen  der 
Unternehmer  und  Arbeiter  zu  berathen,  so  über  die  Aus- 
führung der  Artikel  4,  6 und  7 des  Gesetzes  vom  13.  De- 
zember 1889  über  die  Arbeit  der  Frauen,  jungen  Leute  und 
Kinder  in  den  Fabriken,  über  die  Lohn-  und  Preisstatistik 
und  die  Arbeiterbudgets. 

Die  Arbeiter-  und  Industrieräthe  haben  auch  bei  einer 
Reihe  von  Differenzen  zwischen  Unternehmern  und  Ar- 
beitern intervenirt.  An  einigen  Beispielen  sei  im  Folgenden 
die  Art  der  Thätigkeit  dieser  neuen  sozialen  Verwaltungs- 
organe  illustrirt. 

Aus  Anlass  der  Erneuerung  der  Handelsverträge 
wurden  mehrfach  die  Industrie-  und  Arbeiterräthe  um  Gut- 
achten angegangen.  Gelegentlich  der  Abgabe  zollpolitischer 
Gutachten  wurden  auch  sozialpolitische  Forderungen  auf- 
gestellt, so  seitens  der  12.  Sektion  des  Brüsseler  Industrie- 
und  Arbeitsrathes , der  die  Tabakindustrie  repräsentirt. 
Diese  forderte  den  Normalarbeitstag  für  die  erwachsenen 
Arbeiter  der  Tabakindustrie  und  die  genaue  Durchführung 
des  Frauen-  und  Kinderschutzgesetzes  von  1889. 

Durch  königliche  Erlasse  vom  16.,  18.,  23.  April  und 
18.  Mai  1891  wurden  ausserordentliche  Sitzungen  der 
Industrie-  und  Arbeitsräthe  einberufen  zum  Zwecke  der 
Beibringung  von  Materialien  über  die  Löhne,  Lebensmittel- 
preise und  Arbeiterbudgets  mit  Rücksicht  auf  die  Kündi- 
gung der  Handelsverträge.  77  von  90  Industrieräthen  waren 
zu  jener  Zeit  konstituirt.  Ausführliche  Fragebogen,  durch 
die  Auskünfte  über  die  Lohnhöhe,  die  Detailpreise  der 


l)  Der  deutsche  Text  des  Gesetzes  findet  sich  mit  einer 
Einleitung  von  Herkner  abgedruckt  im  Archiv  für  soziale 
Gesetzgebung  und  Statistik,  II.  Band  ,S.  146  ff.  Der  folgenden 
Darstellung  liegen  zu  Grunde  Note  sur  les  conseils  de  Tindustrie 
et  du  travail  en  matiere  de  conciliation  und  Note  sur  quelques 
reunions  de  conseils  de  Tindustrie  et  du  travail  deliberant  sur 
des  interets  communs  aux  patrons  et  aux  ouvriers  S.  523—559 
von  Salaires  et  budgets  ouvriers  en  Belgique  an  mois  d’avril 
1891.  Renseignements  fournis  par  les  conseils  de  Tindustrie  et 
du  travail.  Bruxelles,  ministere  de  l’agriculture,  de  Tindustrie  et 
des  travaux  publics,  Direction  de  Tindustrie.  Bruxelles,  1892. 


254 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  21. 


Lebensmittel  und  die  Ausgabenwirthschaft  der  Arbeiter  im 
Monat  April  1891  gewonnen  werden  sollten,  wurden  ver- 
sandt. Die  Resultate  dieser  Ergebung  liegen  nunmehr  in 
einem  ausführlichen  485  Seiten  umfassenden  Tabellen- 
werke vor. 

Eine  Reihe  von  Sektionen  befassten  sich  mit  den 
Fragen  der  Arbeiterversicherung,  so  forderte  die  Sektion 
des  Lütticher  Industrie-  und  Arbeitsrathes  für  Textil-  und 
Bekleidungsindustrie  die  obligatorische  Unfallversicherung 
mit  Theilung  der  Kosten  derselben  zwischen  Unternehmern 
und  Arbeitern.  Eine  andere  Lütticher  Sektion  hielt  es  für 
wünschenswerth,  dass  die  Errichtung  und  Leistung  der 
Hilfskassen  (Kranken-  u.  dergl.  Kassen)  Sache  der  Arbeiter 
sei,  dass  aber  den  Unternehmern  eine  gebührende  Ver- 
tretung eingeräumt  werden  solle;  das  umgekehrte  Verhält- 
nis solle  für  die  Unfallversicherung  gelten,  die  Pensions- 
kassen sollen  vom  Staate  verwaltet  und  vom  Staate  in  Ge- 
meinschaft mit  den  Arbeitern  erhalten  werden.  In  Bezug 
auf  ihre  Intervention  bei  Arbeiterausständen  hielt  es  diese 
Sektion  für  wünschenswerth,  dass  sie  autorisirt  werde,  die 
Etablissements,  welche  von  Strikes  betroffen  werden,  zu 
besuchen  und  selbst  Beobachtungen  anzustellen. 

Die  vierte  Lütticher  Sektion  beschloss , die  Unter- 
nehmer einzuladen,  einen  Tag  im  Monat  oder  je  einen 
halben  Tag  in  jeder  Monatshälfte  zu  bestimmen,  an  denen 
sie  selbst  die  Bemerkungen  ihrer  Arbeiter  entgegennehmen 
könnten. 

Die  Fragen  der  Arbeiterversicherung  wurden  auch 
sonst  mehrfach  diskutirt;  u.  a.  beantragte  ein  Unternehmer 
die  Altersversicherung  der  Arbeiter  durch  eine  Besteuerung 
der  Geschäftsgewinne  und  durch  Beiträge  der  Arbeiter  zu 
ermöglichen,  eine  Sektion  beschloss,  den  Wunsch  auszu- 
sprechen, dass  die  provinzialen  Verwaltungskörper  die  Un- 
fallversicherung zu  Lasten  der  Unternehmer  organisiren 
oder  zum  mindesten  die  Geschäftsführung  der  privaten 
Unfallversicherungsanstalten  unter  ihre  Kontrolle  stellen 
mögen. 

Mehrfach  wurde  auf  bessere  Durchführung  des  Ge- 
setzes vom  16.  August  1887,  betreffend  die  Bezahlung  der 
Arbeiter  (Verbot  des  Trucksystems)  gedrungen.  Fragen  der  ! 
Unfallverhütung,  der  Fabrikhygiene  wurden  besprochen, 
endlich  sei  noch  angeführt,  dass  der  Industrie-  und  Arbeits- 
rath von  Dison  den  Wunsch  aussprach,  dass  die  Unter- 
nehmer zur  Hintanhaltung  des  Lohnfalles  in  der  Leinen- 
industrie sich  kartelliren  sollten.  — 

So  sehr  auch  die  Bildung  der  Industrie-  und  Arbeits- 
räthe  die  Kritik1)  herausfordern  muss,  so  muss  doch  an- 
erkannt werden,  dass  ihre  Existenz  nicht  unvortheilhaft  ist 
für  die  soziale  Entwickelung;  ersieht  man  doch  aus  den 
leider  ziemlich  sparsamen  Mittheilungen  über  die  Thätig- 
keit  der  Industie-  und  Arbeitsräthe,  dass  selbst  von  den  Unter- 
nehmern mehrfach  ziemlich  weitgehende  Anregungen  ge- 
macht wurden,  und  dass  eine  Reihe  von  Arbeiterwünschen 
unter  der  Autorität  der  Industrie-  und  Arbeitsräthe  zum 
Ausdruck  kamen. 

So  wenig  auch  die  geschilderte  Thätigkeit  der 
Industrie-  und  Arbeitsräthe  von  direkter  praktischer  Be- 
deutung ist , so  ist  diese  doch  nicht  zu  unterschätzen 
wegen  der  Beeinflussung  der  öffentlichen  Meinung  im  Inter- 
esse des  sozialen  Fortschrittes  und  wegen  der  Steigerung  | 
des  Selbstgefühls  der  Arbeiterklasse,  deren  Vertreter  in  den 
Industrie-  und  Arbeitsräthen  den  Vertretern  der  Unter- 
nehmer als  durchaus  Gleichberechtigte  gegenübertreten.  — ■ 

Die  Hauptthätigkeit  der  belgischen  Industrie-  und 
Arbeitsräthe  scheint  in  ihren  Funktionen  als  Einigungsamt 
zu  bestehen.  Eine  allgemeine  Uebersicht  über  diese  Thätig- 
keit liegt  nicht  vor,  nur  eine  grössere  Anzahl  von  Bei- 
spielen über  die  Art  dieser  Thätigkeit  werden  mitgetheilt. 
Darauf  näher  einzugehen,  lohnt  nicht,  da  über  Wesen  und 
Funktion  des  Einigungsamtes  uns  viel  grössere  und  auf 
längere  Zeit  sich  erstreckende  Erfahrungen,  vornehmlich 
aus  England,  zur  Verfügung  stehen.  Erwähnen  wollen  wir 
nur,  dass  die  belgischen  Industrie-  und  Arbeitsämter  eine 

1)  S.  Herkner  a.  a.  O. 


Reihe  ganz  genauer  Normalwerkstattordnungen  ausge- 
arbeitet haben. 

Dass  in  einem  Lande,  wie  Belgien,  das  Jahrzehnte 
lang  den  Standpunkt  der  Nichtintervention  in  das  Arbeits- 
verhältniss  festgehalten  hat,  Institutionen  wie  die  Industrie- 
und  Arbeitsräthe  sich  erst  langsam  einleben,  sich  erst  das 
Vertrauen  von  Arbeitern  und  Unternehmern  erwerben 
müssen,  versteht  sich  von  selbst.  Besonders  erschwert  wird 
dies  noch  in  vorliegendem  Falle  durch  den  Umstand,  dass 
das  Wahlrecht  der  Arbeiter  ein  ausserordentlich  einge- 
schränktes ist.  Trotz  dieses  Mangels  und  so  mancher  an- 
derer sind  die  Industrie-  und  Arbeitsräthe  als  Ansätze  zur 
Bildung  von  Arbeitsämtern  nützliche  Institutionen.  Wir 
besitzen  in  Deutschland  nichts  ähnliches,  denn  die  ver- 
wandten Bestimmungen  des  Gesetzes  über  die  Gewerbe- 
gerichte sind  besten  Falls  als  Ansätze  für  die  Schaffung  von 
Institutionen  ähnlich  den  belgischen  Industrie-  und  Arbeits- 
räthen anzusehen. 

Berlin.  Adolf  Braun. 


Wohlfahrtseinrichtungen. 

Arbeiter-Speisehallen. 

Die  Stadt  Hanau  a.  M trägt  schon  in  ihrer  ganzen 
historischen  Entwickelung  einen  ausgeprägt  industriellen 
und  kommerziellen  Charakter.  Ihrer  lebhaft  fortschreitenden 
Entwickelung  genügten  im  Laufe  der  Jahre  die  in  der  Stadt 
selbst  ansässigen  Arbeitskräfte  nicht,  und  so  kam  es,  dass 
die  nahegelegenen  ländlichen  Ortschaften  immer  mehr 
Arbeitskräfte  nach  der  Stadt  Hanau  entsandten,  wo  diese 
Beschäftigung  fanden,  ohne  dass  sie  genöthigt  waren,  ihren 
ländlichen  Wohnsitz  und  damit  die  Vortheile  billigerer 
Wohnungs-  und  Ernährungsverhältnisse  aufzugeben. 

Von  den  Ortschaften,  die  nach  Hanau  ihre  Arbeits- 
kräfte entsenden,  ist  nun  nur  eine,  Kesselstadt,  so  nahe 
bei  der  Stadt  gelegen,  dass  die  Arbeiterbevölkerung  zur 
Einnahme  ihrer  Mittagsmahlzeit  das  häusliche  Heim  auf- 
suchen kann.  Die  übrigen  Ortschaften,  von  denen  die  Ar- 
beiter früh  Morgens  zur  Stadt  kommen  und  in  die  sie 
Abends  zurückkehren,  sind  1 — 2 Stunden  von  Hanau  ent- 
fernt, und  schon  vor  langer  Zeit  machte  sich  die  Schwierig- 
keit für  die  aus  diesen  Ortschaften  stammende  Arbeiter- 
schaft geltend,  auf  gute,  billige  Weise  eine  ausreichende 
Mittagsmahlzeit  zu  erhalten.  Früher  halfen  sich  die  Arbeiter 
damit,  dass  sie  sich  mit  einem  Vorrath  kalter  Küche 
versahen,  diese  während  der  Pause  in  den  Arbeitsräumen 
verzehrten  und  die  warme  Hauptmahlzeit  auf  den  Schluss 
der  Arbeit  nach  Rückkehr  in  ihre  ländliche  Ortschaft  ver- 
legten. Aber  dieses,  einer  naturgemässen  Ernährung  des 
Körpers  wenig  entsprechende  Auskunftsmittel  genügte  auf 
die  Dauer,  zumal  in  Zeiten  angestrengterer  Thätigkeit,  nicht, 
und  immer  zahlreichere  Arbeiter  wandten  sich  den  Speise- 
wirthschaften  zu,  die  indess  auch  aus  mancherlei  Gründen 
den  Bedürfnissen  der  Arbeiter  nicht  entsprachen. 

Eine  grössere  Anzahl  der  Arbeiter  aus  den  kaum  eine 
Stunde  von  Hanau  entfernten  Ortschaften  Grossauheim 
und  Steinheim  kam  nun  im  Laufe  der  Zeit  aus  Ersparniss- 
rücksichten  dazu,  sich  die  warme  Mittagsmahlzeit  von  An- 
gehörigen zu  Hause  zubereiten  und  zum  Genuss  in  der 
Arbeitspause  nach  Hanau  bringen  zu  lassen.  Infolge  des 
Mangels  geeigneter  Räume  gewöhnten  sich  diese  Arbeiter 
daran,  ihre  Mittagsmahlzeiten  einzeln  oder  in  kleinen 
Gruppen  im  Freien  einzunehmen.  So  konnte  man  denn 
seit  Jahrzehnten  in  den  die  Stadt  umgebenden  Anlagen  in 
der  Mittagsstunde  zahlreiche  Arbeiter  erblicken,  welche 
stehend  oder  irgendwelche  primitive  Sitzgelegenheiten  be- 
nutzend in  Gesellschaft  der  aus  dem  Heimathsort  her- 
beigeeilten Angehörigen  das  überbrachte  Mittagsmahl  ein- 
nehmen. Es  bedarf  wohl  keiner  näheren  Darlegung,  dass 
diese  Zustände  insbesondere  bei  schlechtem  Wetter,  bei 
Schnee,  Regen,  Sturm  oder  Kälte  für  die  in  Betracht  kom- 


No.  21. 


S(  )Z  I ALPOLIT1 SCHKS  CKNTRAI .BLATT. 


255 


mentle  grosse  Anzahl  von  Arbeitern  und  Arbeiterinnen  zu 
den  grössten  Unzuträglichkeiten  führten.  Der  in  manchen 
Fabriken  versuchte  Ausweg,  die  Fabrikräume  selbst  den 
Arbeitern  zur  Einnahme  der  Mittagsmahlzeit  zur  Verfügung 
zu  stellen,  scheiterte  abgesehen  von  mancherlei  anderen 
Gründen,  an  dem  auch  wohlberechtigten  Wunsch  der  Ar- 
beiter in  der  Arbeitspause  die  Fabrik  zu  verlassen,  dann 
aber  auch  an  der  vermehrten  Schwierigkeit  der  dringend 
erforderlichen  Lüftung  der  Arbeitsräume  in  der  Pause  in 
der  kälteren  Jahreszeit. 

Im  Jahre  1873  war  nun  bereits  der  Gedanke  aufge- 
taucht, an  geeigneter  Stelle  aus  öffentlichen  Mitteln  eine 
Halle  zu  erbauen  und  dies  den  Arbeitern  zur  Einnahme 
ihrer  Mittagsmahlzeiten  kostenfrei  zur  Verfügung  zu  stellen; 
aber  diese  Idee  hatte  keinen  fruchbaren  Boden  gefunden, 
zumal  angestellte  Ermittelungen  angeblich  zu  dem  Resultat 
führten,  dass  die  betreffenden  Arbeiter  und  Arbeiterinnen 
keinenfalls  die  Halle  überhaupt  benutzen  würden,  da  sie  Alle 
sich  scheuten,  sich  gegenseitig  „in  den  Topf  sehen  zu  lassen.“ 

So  unterblieb  denn  leider  damals  die  Ausführung  des 
Projekts  der  Erbauung  einer  Speisehalle  und  erst  im  ver- 
gangenen Jahre  wurde  der  Gedanke  durch  den  Oberbürger- 
meister Westerburg  von  Neuem  aufgenommen.  Wesent- 
lich gefördert  wurde  die  Verwirklichung  des  Projekts  durch 
ein  sachverständiges  Gutachten  des  hiesigen  Gewerbege- 
richts,  welches  sich  in  einer  Plenarsitzung  einstimmig  für 
die  Nützlichkeit  derartiger  Esshallen  aussprach. 

Auf  Antrag  des  Oberbürgermeisters  nahmen  nunmehr 
die  städtischen  Behörden  den  Gedanken  auf  und  beschlossen 
zunächst  versuchsweise  die  Erbauung  einer  Arbeiter-Speise- 
halle im  südlichen  Theile  der  Stadt,  wo  besonders  viele 
auswärtige  Arbeiter,  namentlich  der  Cigarrenbranche  in  den 
dort  gelegenen  Fabriken  beschäftigt  sind  und  sich  das  Be- 
dürfniss  daher  am  meisten  geltend  machte.  Zu  den  Kosten 
der  Erbauung  der  Halle  im  Anschläge  von  etwa  3000  M. 
wurden  von  einer  Anzahl  besonders  betheiligter  Firmen 
freiwillig  circa  1000  M.  gezeichnet,  während  der  Rest  auf 
die  allgemeine  Stadtkasse  übernommen  wurde. 

Die  dauernden  Unterhaltungs-  und  Betriebskosten 
(Feuerung  etc.)  sind  auf  200  M.  jährlich  veranschlagt  und 
werden  ebenfalls  von  der  Stadt  getragen.  Irgend  welche 
Gebühren  kommen  nicht  zur  Erhebung,  überhaupt  sind  mit 
der  Benutzung  der  Halle  keinerlei  Formalitäten,  Legitima- 
tionsprüfungen oder  dergleichen  lästige  Beschränkungen 
verbunden . 

Der  Aufbau  der  Speisehalle  wurde  so  rüstig  gefördert, 
dass  sie  am  19.  Dezember  1892  der  öffentlichen  Benutzung 
übergeben  werden  konnte.  Die  Speisehalle  liegt  in  der 
Nähe  der  städtischen  Anlagen,  an  einem  seitlich  abführen- 
den, nicht  sehr  belebten  Wege  und  präsentirt  sich  als  ein 
einfacher  Fachwerkbau  mit  flachem  Dache.  Die  Dimen- 
sionen der  natürlich  heizbaren  Halle  sind  Länge  14,76  m, 
Breite  5,76  m,  Höhe  4,05  m in  Lichten.  In  einem  Anbau 
an  der  Halle  ist  ein  grosser  Heerd  aufgestellt,  welcher  zum 
Wärmen  etwa  kalt  gewordener  Speisen  benutzt  wird.  In 
der  Halle  selbst  sind  Bänke  — von  Aufstellen  von  Tischen 
ist  vorerst  der  Raumersparniss  halber  Abstand  genommen  — 
aufgestellt,  welche  gleichzeitig  ca.  130  Personen  Platz  ge- 
währen. 

Am  ersten  Tage,  nachdem  die  Halle  durch  Bekannt- 
machung in  den  Zeitungen  der  öffentlichen  Benutzung 
übergeben  war,  erschien  — Niemand.  Aber  die  Scheu,  die 
Fürsten  zu  sein,  welche  die  neue  Einrichtung  benutzten, 
verschwand  sehr  bald,  am  zweiten  Tage  benutzten  schon 
40  Personen  die  Speisehalle  und  am  dritten  Tage  war  der 
Andrang  von  Arbeitern  und  Arbeiterinnen  bereits  so 
stark,  dass  viele  erst  auf  einen  Platz  warten  mussten. 

Die  Befürchtung,  es  würden  durch  Ueberl'üllung  der 
Halle  Unordnungen  und  Schwierigkeiten  entstehen,  wurde 
aber  von  den  Arbeitern  selbst,  denen  man  die  Ordnung 
des  Betriebs  einstweilen  vollständig  überliess,  erfreulicher- 
weise sehr  rasch  beseitigt. 

In  stillschweigender  Verabredung  verlässt  jetzt  die 
erste  Abtheilung  von  über  100  Personen  nach  Einnahme 
ihrer  Mittagsmahlzeit  etwa  20  Minuten  nach  12  Uhr  die 


Halle,  um  der  zweiten,  in  gleicher  Stärke  erscheinenden 
Abtheilung  Speisender  Platz  zu  machen.  Bis  zum  heutigen 
Tage  ist  die  Benutzung  der  Halle  eine  gleich  starke  ge- 
blieben, es  haben  täglich  zwischen  200  und  300  Personen 
ihre  Mittagsmahlzeit  in  derselben  eingenommen  bezw.  in 
der  Halle  verkehrt  und  es  liegt  wohl  auf  der  Hand,  dass 
gerade  in  diesem,  so  ausnehmend  strengen  Winter  die  An- 
nehmlichkeiten der  neuen  Einrichtung  ganz  besonders 
empfunden  wurden. 

Es  wird  beabsichtigt,  im  Sommer  um  die  Speisehalle 
herum  Tische  und  Bänke  zu  errichten,  um  so  an  schönen 
Tagen  der  Arbeiterbevölkerung  Gelegenheit  zu  schaffen, 
auch  im  Freien,  aber  in  eingefriedigtem  Gartenraum,  Platz 
zu  nehmen. 

Die  Errichtung  einer  Arbeiter-Speisehalle  hat  sich  also 
in  Llanau  vorzüglich  bewährt;  eine  nicht  ferne  Zeit  wird 
voraussichtlich  auch  für  die  anderen  Stadttheile,  soweit  dies 
nöthig,  gleiche  Einrichtungen  schaffen,  denn  mit  der  einen 
Halle  ist  einstweilen  nur  dem  dringendsten  Bedürfniss  genügt. 

Es  giebt  zahlreiche  andere  Städte,  in  welchen  gleiche 
Verhältnisse,  wie  in  Hanau  obwalten,  und  sie  finden  viel- 
leicht durch  diese  Ausführungen  Veranlassung,  auch  ihrer- 
seits den  Gedanken  der  Errichtung  derartiger  Speisehallen 
zur  That  werden  zu  lassen. 

Hanau.  R.  Boedicker. 


Litteratur. 


Goerres,  Dr.  jur.  K.,  Handbuch  der  gesammten  Arbeiter- 
gesetzgebung des  Deutschen  Reiches.  Systematisch 
geordnet  und  herausgegeben  Freiburg  i.  B.,  1892,  Herder’sche 
Verlagsbuchhandlung.  XXXVI  und  765  S. 

ln  einem  handlichen  Bande  hat  K.  Goerres  die  Texte  aller 
sozialpolitischen  Reichsgesetze  und  von  Reichswegen  zu  den- 
selben erlassenen  Verordnungen  zusammengefasst  und  damit 
ein  sehr  nützliches  und  durch  ein  ausführliches  Sachregister  im 
Werthe  erhöhtes  Handbuch  für  den  weiten  Kreis  der  an  der 
Durchführung  der  deutschen  Sozialgesetzgebung  Interessirten 
geschaffen.  Es  wird  Beamten  und  Sozialpolitikern  ebenso  gute 
Dienste  thun  wie  Unternehmern  und  Arbeitern  und  den  Leitern 
und  Berathern  der  Organisationen  derselben. 

Der  Inhalt  ist  bis  auf  die  neueste  Zeit  ergänzt,  wie  die 
Aufnahme  des  § 75  a K.-V.-G.  beweist. 

In  dem  Werke  fehlen  dagegen  die  zahlreichen  seitens  der 
Einzelstaaten  erlassenen,  zum  Theil  höchst  wichtigen  Durch- 
führungsverordnungen, wie  die  zum  Invaliditäts-  und  Altersver- 
sicherungsgesetz, zur  Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe.  Wohl 
wäre  mit  Aufnahme  der  landesrechtlichen  Verordnungen  der 
Band  gewaltig  angeschwollen  und  für  viele  Leser  mancher,  das 
Werk  vertheuernder  Ballast  aufgenommen  worden.  Vielleicht 
entschliesst  sich  die  Verlagsbuchhandlung,  um  dem  Werke  noch 
grössere  Gebrauchsfähigkeit  zu  verschaffen,  für  die  grösseren 
Bundesstaaten  Anhänge  zu  dem  Werke  herauszugeben,  welche 
die  landesrechtlichen  Bestimmungen  enthalten. 

Abgesehen  von  diesem  Mangel  ist  das  Werk  eher  zu 
reichhaltig,  wir  finden  in  demselben  neben  dem  Krankenver- 
sicherungsgesetz in  der  seit  1.  Januar  1893  gütigen  Fassung 
noch  die  ursprüngliche  Fassung,  und  sogar  Auszüge  aus  dem 
Gerichtsverfassungsgesetze,  der  Civilprozessordnung,  der  Ge- 
bührenordnung für  Zeugen  und  Sachverständige,  die  überhaupt 
hätten  gespart  werden  können  oder  wo  eine  weitere  Beschrän- 
kung der  Auszüge  vollauf  genügt  hätte. 

Der  Werth  des  Werkes  wird  erhöht  durch  U ebersichten 
der  unmittelbar  in  das  Civil-  und  Prozessrecht  eingreifenden 
Vorschriften  der  sozialen  Gesetze,  der  in  letzteren  enthaltenen, 
nach  der  Zuständigkeit  der  Behörden  aufgeführten  Strafbe- 
stimmungen, einem  ausführlichen,  30  Spalten  füllenden  Sach- 
register. einem  20  spaltigen  systematischen  Inhaltsverzeichnisse, 
einem  chronologischen  Verzeichnisse  der  sozialen  Gesetze  etc. 
seit  1868  und  der  zu  den  sozialen  Gesetzen  ergangenen  Ent- 
scheidungen des  Reichsversicherungsamtes  und  des  Reichs- 
gerichtes nach  der  Reihenfolge  der  betr.  Gesetzesbestimmungen. 
Nachdem  Boediker’s  Gewerbe-  und  Versicherungsgesetzgebung 
durch  die  Novellen  zur  Gewerbeordnung  und  zum  Krankenver- 
sicherungsgesetze an  praktischem  Werth  eingebüsst  hat,  füllt 
Goerres  Handbuch  eine  Lücke  in  unserer  Litteratur  aus.  Es 
geschieht  dies  in  trefflicherWeise.  Die  Ausstattung  des  Werkes 
ist  eine  gute,  die  Nummerirung  der  Absätze  aller  Paragraphen 
erhöht  die  Brauchbarkeit  des  Buches  beim  Nachschlagen  und 
Citiren. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin,  \V.,  Victoriastrasse  16. 


256 


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Xo.  21 . 


Neunter  Jahrgang.  I 8 ?>  8. 

Die  Gesellschaft 

Monatsschrift  für  Litteratur,  Kunst  und  Sozialpolitik. 

Begründet  und  herausgegeben  von  Dr.  M.  G.  Conrad. 

Abonnementspreis  pro  Quartal  (3  Hefte)  4 Mark.  Der  Einzelpreis  des  Heftes  ist  Mark  1.50. 

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..Die  Gesellschaft"  ist  unter  allen  Monatsschriften  Deutschlands  die  einzige,  die 
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der  jungen  litterarischen  Generation,  der  die  Zukunft  gehört,  der  Sammelpunkt  der 
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Der  Mangel  einer  Gesammtdarstellung  des  österreichischen  Staatsrechtes  hat  sich  in  den 
letzten  Jahren  insbesondere  in  Folge  einschneidender  Umgestaltungen  und  Neubildungen  auf  dem 
Gebiete  des  österreichischen  Verwaltungsrechtes  nicht  nur  in  Kreisen  der  Studirenden,  sondern 
auch  aller  derjenigen,  die  am  öffentlichen  Leben  theilnehmen,  fühlbar  gemacht.  Es  sei  nur 
daraul  hingewiesen,  dass  seit  den  jüngsten  Neuregelungen  des  Militärrechtes,  des  Gewerberechtes, 
des  Arbeiterschutzrechtes  noch  keine  Gesammtdarstellung  des  österreichischen  Staatsrechtes,  welche 
dieselben  berücksichtigen  würde,  erschienen  ist  und  dürfte  daher  obiges  Werk  den  interessirenden 
Kreisen  gewiss  willkommen  sein. 


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II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  27.  Februar  1893. 


Nummer  22. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostamter. 
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Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


Jahresberichte  der  Badischen 
Fabrikinspektion  für  das 
J a h r 1 892.  Von  Prof.  Dr. 
Heinrich  Herkner. 

Soziale  Wirtschaftspolitik  11. 
Wirthscliaftsstatistik: 

Heimstätten  und  ländliche  Gesinde- 
vermittelung im  deutschen  Land- 
wirthschaftsrath. 

Berufsstellung  der  deutschen  Aus- 
wanderer im  Jahre  1892. 

Hausirhandel  in  Sachsen. 

Arbeiterzustände : 

Arbeitslosenstatistiken. 

Erhebungen  über  die  Lage 
der  schweizerischen  Eisenbahn- 
arbeiter. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Lohnbewegung  der  englischen 
Grubenarbeiter. 

Unternehmerverbände: 

Rheinisch-westfälisches  Kohlen- 
kartell. 

Handwerkerfragen : 

Badischer  Landesgewerberath. 


Obligatorische  Buchdruofeefberufs- 
genossenschaften  in  der  Schweiz. 

Kaufmännische  Bewegung: 

Die  Arbeitslosenstatistik  der  Hand- 
lungsgehilfen. Von  Privatdocent 
Dr.  K.  Ol  den  b erg. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Misslichkeit  der  Ausnahmen  von 
der  kaufmännischen  Sonntags- 
ruhe. 

Arbeiterversicherung: 

Geschäftsbericht  des  Reichsver- 
sicherungsamtes für  das  J ahr  1 892. 

Haftpflichtgesetzentwurf  für  Gross- 
britannien. 

Gewerbeger  iclite : 

Gewerbegerichtswahlen  in  Berlin. 

Wohmingszustände  und  Woh- 
nungsgesetzgebung : 

Wohnungsgesetzgebung  im  Gn-s- 
herz.ogthum  Hessen. 

Schulwesen,  Bildnngs-  und  Er- 
ziehungsfragen: 

Die  Kunst  ein  soziales  Problem.  Von 
Dr.  Heinrich  Krzyzano w s k i . 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestaltet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Jahresbericht  der  Badischen  Fabrikinspektion 
für  das  Jahr  1892. x) 


Der  Vorstand  der  Badischen  Fabrikinspektion,  Herr 
Oberregierungsrath  Dr.  Wörishoffer,  ist  eine  in  den  Kreisen 
der  Sozialpolitiker  von  rechts  und  links  viel  zu  bekannte 
Persönlichkeit,  als  dass  man  sich  in  die  Nothwendigkeit 
versetzt  fühlte,  eine  ausführlichere  Besprechung  .seines 
Jahresberichtes  irgendwie  mit  einleitenden  Worten  zu  recht- 
fertigen.  Immerhin  ist  es  ein  Umstand,  der  diesen  Bericht 
selbst  seinen  Vorgängern  gegenüber  noch  auszeichnet. 
Zum  ersten  Male  wird  in  demselben  eine  Arbeiter- 
statistik vorgeführt,  die  sich  auf  sämmtliche  der  Aufsicht 
nunmehr  unterstehende  Anlagen  erstreckt.  Da  diese  Er- 
hebung jedes  Jahr  vorgenommen  werden  soll,  so  kann 
künftig  aus  der  Vergleichung  der  Ergebnisse  nicht  nur  die 
absolute  Vermehrung  oder  Verminderung  der  gewerblichen 
Anlagen  und  der  in  denselben  beschäftigten  Arbeiter  er- 


mittelt, sondern  auch  ersehen  werden,  ob  und  in  welchem 
Umfange  in  den  einzelnen  Industriezweigen  die  Verwen- 
dung von  Kindern,  jungen  Leuten,  Arbeiterinnen  überhaupt 
und  verheiratheter  Arbeiterinnen  insbesondere  absolut  und 
relativ  zu-  oder  abgenommen  hat.  Und  da  die  Statistik  sich 
auch  auf  die  männlichen  erwachsenen  Arbeiter  bezieht, 
so  giebt  sie  selbstverständlich  über  deren  Verhältnisse  eben- 
falls werthvolle  Aufschlüsse.  Die  Bedeutung  derselben 
dürfte  indess  noch  dadurch  einer  Steigerung  fähig  sein, 
dass  aus  der  Altersklasse  21  Jahre  und  mehr  diejenigen, 
welche  das  40.  oder  45.  Lebensjahr  zurückgelegt  haben, 
besonders  zur  Darstellung  gelangten.  Bekanntermassen 
werden  ja  Arbeiter,  die  das  genannte  Alter  überschreiten, 
nicht  gern  mehr  neu  aufgenommen.  Die  im  vorliegenden 
Berichte  mitgetheilte  Statistik  ist  nach  den  Abtheilungen 
der  deutschen  Industriestatistik  gegliedert.  Eine,  geogra- 
phischen Gesichtspunkten  Rechnung  tragende  Bearbeitung 
soll  gesondert  veröffentlicht  werden.  Um  die  allgemeinsten 
Ergebnisse  der  Erhebung  mitzutheilen,  so  beschäftigten 
4859  Anlagen  126  296  Arbeiter  und  zwar  84  805  (67,1  pCt.) 
männliche  und  41  491  (32,9  pCt.)  weibliche.  Kinder  von 
12  und  13  Jahren  wurden  593,  junge  Leute  von  14  und  15 
Jahren  10  887  gezählt.  Von  den  35  598  erwachsenen  Arbei- 
terinnen waren  10  162  verheirathet  oder  verwittwet. 

Nach  den  arbeitsstatistischen  Mittheilungen  wendet 
sich  das  Interesse  denjenigen  Theilen  des  Berichtes  zu, 
welche  über  die  Art  und  Weise  Aufschluss  gewähren,  in 
der  die  im  abgelaufenen  Jahre  in  Kraft  getretene  Reform 
des  Arbeiterschutzes  zur  Durchführung  gelangte. 
Hier  lässt  sich  das  erfreuliche  Ergebniss  feststellen, 
dass  die  Zahl  der  Kinder  sank  von  2356  auf  593,  die  der 
jungen  Leute  von  11423  auf  10  887.  Diese  Abnahme  ist 
um  so  bemerkenswerther,  als  andererseits  gleichzeitig  durch 
die  erfolgte  Erweiterung  des  Arbeiterschutzes  (§154  Abs.  3) 
die  Zahl  der  der  Aufsicht  unterstellten  Anlagen  sich  ganz 
erheblich  vergrössert  hat.  Häufig  hörte  man  von  Unter- 
nehmerseite die  Einschränkung  der  Kinderarbeit  mit  dem 
Plinweise  ablehnen,  dass  die  armen  Arbeiterfamilien  des 
Verdienstes  der  Kinder  nicht  zu  entrathen  vermöchten. 
Thatsächlich  sind  indess  Klagen  dieses  Inhaltes  aus  Arbeiter- 
kreisen nicht  zur  Kenntniss  der  Aufsichtsbeamten  gelangt. 

Ebensowenig  Schwierigkeiten  hat  die  Durchführung 
des  elfs fündigen  Maximalarbeitstages  für  erwachsene 
Arbeiterinnen  zur  Folge  gehabt.  „Fast  ausnahmslos  ist  man 
mit  dieser  Aenderung  zufrieden  und  konstatirt  entweder 
keinen  oder  einen  sehr  viel  geringeren  Rückgang  in  der 
Produktion,  als  es  der  Reduktion  der  Arbeitszeit  entspricht. 
Nur  der  eine  oder  andere  Arbeitgeber  ist  in  dieser  Be- 
ziehung anderer  Ansicht.  Im  Gegensätze  hierzu  haben 


l)  Karlsruhe,  Verlag  von  Ferd.  Thiergarten.  1893. 


258 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  22. 


mehrere  Besitzer  von  Spinnereien  und  Webereien 
ausgesprochen,  dass  sie  die  Reduktion  der  Arbeits- 
zeit in  ihrem  Industriezweige  auf  10  Stunden  täg- 
lich begrüssen  würden.  Voraussetzung  aber  sei  der 
gesetzliche  Zwang,  dem  sich  Alle  unterwerfen  müssten. 
Derartige  Ansichtsäusserungen  mögen  theilweise  beein- 
flusst sein  von  einer  gegen  die  Arbeiter  wohlwollenden  und 
humanen  Gesinnung,  im  Wesentlichen  sind  sie  aber  jeden- 
falls der  Ausdruck  der  im  praktischen  Leben  ge- 
machten Erfahrung,  dass  die  fortschreitende  Tech- 
nik zu  einer  Verkürzung  der  Arbeitszeit  drängt... 
Mit  einiger  Sorgfalt  in  der  Berücksichtigung  der  besonderen 
Verhältnisse  der  einzelnen  Anlagen  und  der  verschiedenen 
Industriezweige  kann  man  daher  aus  der  Neigung  der 
Arbeitgeber  zu  langer  Arbeitszeit  auf  eine  zurück- 
gebliebene oder  doch  auf  eine  einfache  Technik 
schli essen.“  Unter  diesen  Umständen  wird  jeder  Sozial- 
politiker nur  lebhaft  bedauern,  dass  es  nicht  gelungen  ist, 
den  Uebergang  zur  zehnstündigen  Arbeitszeit  in  der  er- 
folgten Reform  des  Arbeiterschutzes  bereits  sicher  zu 
stellen,  wie  es  auch  von  uns  in  der  Besprechung  des  Gesetz- 
entwurfes gefordert  wurde.1)  Aber  freilich,  während  man 
in  Deutschland  vorgiebt,  dem  Schutze  der  Schwachen  zu 
huldigen,  ist  es  nur  zu  oft  ein  Schutz  der  wirthschaftlich 
Untauglichen,  der  wirklich  zu  Stande  kommt.2) 

Charakteristisch  für  das  moderne  Arbeitsverhältniss 
ist  die  Bemerkung  des  Berichterstatters,  dass  die  vom  Ge- 
setze (§  137,  Abs.  4)  den  Arbeitgebern  auferlegte  Ver- 
pflichtung, Arbeiterinnen  über  sechzehn  Jahre,  die  ein 
Hauswesen  zu  besorgen  haben,  auf  ihren  Antrag  hin 
eine  halbe  Stunde  vor  der  Mittagspause  zu  entlassen, 
keinerlei  Wirkung  geübt  hat.  Wo  diese  frühere  Entlassung 
stört,  dürfen  die  Arbeiterinnen,  wollen  sie  sich  nicht  der 
Entlassung  aussetzen,  „gar  nicht  wagen,  den  genannten 
Antrag  zu  stellen.“ 

Ueber  die  auf  Grund  des  § 138  Abs.  I — 4 bewilligten 
Ueber stunden  enthält  der  Bericht  eine  sehr  genaue  und 
lehrreiche  Zusammenstellung.  Auf  35  598  erwachsene  Ar- 
beiterinnen entfielen  überhaupt  147  089  Ueberstunden,  also 
auf  den  Kopf  4,1.  Insofern  erscheint  die  Ueberzeitbe- 
willigung  in  einem  sehr  harmlosen  Lichte.  Etwas  anders 
liegen  die  Verhältnisse,  wenn  man  nur  die  Zahl  derjenigen 
Arbeiterinnen,  für  die  überhaupt  Ueberstunden  bewilligt 
wurden,  in  Beziehung  bringt  zur  Zahl  der  Ueberstunden. 
Dann  vertheilen  sich  die  letzteren  nur  auf  6122  Arbeiterinnen, 
pro  Kopf  also  24  Ueberstunden.  Das  gesetzliche  Maximum 
von  80  Ueberstunden  pro  Person  nahm  nur  eine  Stroh hut- 
fabrik  in  Anspruch,  die  aber  nur  7 Arbeiterinnen  be- 
schäftigt. Schwerer  ins  Gewicht  fallen  die  72  Stunden 
Ueberarbeit  pro  Kopf  in  Anlagen  der  Guttapercha-  und 
Gummiwaarenfabrikation , an  welcher  245  Arbeiterinnen 
theilnahmen.  In  grösserem  Umfange  wurde  ferner  von  den 
Seidenspinnereien  und  den  Tabak-  und  Cigarrenfabriken 
Ueberzeit  beansprucht,  während  in  der  Bijouteriefabrikation 
von  384  vorhandenen  Anlagen  nur  82  mit  1 129  Arbeiterinnen 
Ueberzeit  im  Ausmasse  von  8,3  Stunden  pro  Person  ver- 
langten. Unter  diesen  Umständen  erscheint  es  wunderbar, 
dass  Baden  und  Württemberg  beim  Bundesrathe  den  An- 
trag stellen  konnten,  der  Edelmetallindustrie  solle  die  Be- 
fugniss  zuerkannt  werden,  an  80  Tagen  im  Jahre  zwei 
Stunden  Ueberzeit  arbeiten  zu  lassen.  Dieser  Antrag 
dürfte  daher,  soweit  Baden  in  Betracht  kommt,  mehr  auf  den 
Einfluss  des  Vertreters  der  Pforzheimer  Unternehmer  und 


b Archiv  für  soziale  Gesetzgebung  und  Statistik.  III.  S.  579. 

2)  Brentano,  über  das  Verhältniss  von  Arbeitslohn  und 
Arbeitszeit  zur  Arbeitsleistung.  2.  Auflage.  Leipzig  1893.  S.  44. 


die  Oppositionslust,  in  der  sich  die  letzteren  gegenüber  der 
Fabrikinspektion  gefallen,  als  auf  thatsächliche  Bedürfnisse 
der  Industrie  zurückzuführen  sein. 

Die  Nachtarbeit  hat  eine  weitere  Zunahme  nicht  er- 
fahren. Aeusserst  traurig  aber  sind  nach  wie  vor  die  Ver- 
hältnisse der  Arbeiter  in  denjenigen  kleineren  Betrieben, 
welche  oft  Nachtarbeit  haben,  ohne  zwei  Arbeitsschichten 
einzustellen.  „Am  grössten  sind  diese  Missstände,  wenn 
die  Arbeiter  des  Tagesbetriebes  auch  abwechselnd  die 
ganzen  Nachtschichten  versehen  müssen,  weil  dann  regel- 
mässig wiederkehrend  grössere  als  24  ständige,  meist  36- 
stündige  Arbeitsschichten  entstehen.  Aber  auch  dort,  wo 
jeweils  zwei  Arbeiter  der  Tagesschichten  je  eine  halbe 
Nachtschicht  eines  Arbeitspostens  des  ununterbrochenen 
Betriebes  versehen,  ergiebt  sich  eine  lange  Arbeitszeit,  be- 
sonders wegen  der  dann  grösseren  Häufigkeit  dieser  langen 
Schichten.  So  wird  z.  B.  in  den  meisten  Sägemühlen  des 
Biihlerthales  Nachts  ein  Drittel  der  Arbeiter  des  Tages- 
betriebes beschäftigt.  Die  Folge  davon  ist,  dass  jeder  Ar- 
beiter an  zwei  Tagen  18  ständige  und  am  dritten  Tage  12- 
stündige  Arbeitszeit  hat.  Dass  auf  diese  Weise  die 
Gesundheit  der  Arbeiter  rasch  zerstört  werden 
muss,  ist  einleuchtend.“  Hier  wäre  es  also  dringend 
geboten,  dass  der  Bundesrath  bald  von  der  ihm  durch 
§ I20e  eingeräumten  Befugniss,  die  Arbeitszeit  erwachsener 
Arbeiter  zu  regeln,  Gebrauch  machte 

Soweit  ausserordentliche  Verhältnisse  vorzuliegen 
scheinen,  wird  von  den  Aufsichtsbeamten  auch  Einsicht  in 
die  Lohnbücher  genommen.  „Dabei  werden  mitunter 
beispiellos  niedere  Akkordsätze  der  Arbeiterinnen  ange- 
troffen. Da  hierbei  ein  Theil  der  letzteren,  namentlich 
solche,  die  sich  noch  nicht  die  volle  Fertigkeit  erworben 
haben,  nicht  bestehen  kann,  werden  von  dem  Arbeitgeber 
Zuschüsse  eingeführt,  durch  welche  dann  der  Wochenver- 
dienst auf  5 — 51/:-  M.  erhöht  wird.  So  verdient  z.  B.  in  einer 
Trikotfabrik  eine  noch  als  Lehrmädchen  geltende  Arbeiterin 
bei  Akkordpreisen  von  8 und  12  Pf.,  sowie  von  13  bis  18  Pf. 
für  das  Nähen  oder  das  Säumen  eines  Dutzend  Jacken, 
Hosen  und  dergl.  während  zwei  Wochen  in  9,2  Tagen 
5,44  M.  Unter  diesen  Umständen  sind  die  nothwendigen 
Zuschüsse  weit  davon  entfernt  den  Charakter  der  Frei- 
gebigkeit zu  tragen.“ 

Eine  besondere  Arbeitslast  erwuchs  der  Fabrikauf- 
sicht im  Berichtsjahre  durch  die  Begutachtung  von  etwa 
900  Arbeitsordnungen,  welche  auf  Grund  der  §§  134  ff. 
entweder  überhaupt  erst  erlassen  oder  umgestaltet  worden 
waren.  Eine  grössere  Zahl  der  eingekommenen  Arbeits- 
ordnungen trug  wieder  den  schon  durch  die  frühere  Be- 
richterstattung  bekannten  Charakter:  sie  sprachen  nur  von 
Pflichten  der  Arbeiter  und  Rechten  der  Arbeitgeber.  Meist 
genügte  ein  blosser  Hinweis  auf  das  Unzulässige  oder  das 
Bedenkliche  der  beanstandeten  Vorschriften,  um  die  ent- 
sprechenden Aenderungen  herbeizuführen.  Andererseits 
wurden  aber  auch  in  einigen  Industriezweigen  durchweg, 
oder  in  einzelnen  Landestheilen  Bestimmungen  in  die  Ar- 
beitsordnung aufgenommen  und  hartnäckig  festgehalten, 
welche  entweder  mit  anderen  ausdrücklichen  Vorschriften 
des  Gesetzes  im  direkten  Widerspruche  standen , oder 
welche  doch  auf  Umwegen  eine  verschiedene  Bemessung 
der  gegenseitigen  Rechte  und  Pflichten  in  einzelne  kon- 
krete Seiten  des  Arbeitsverhältnisses  einzuführen  suchten.  . . 
Im  Allgemeinen  zeigt  es  sich,  dass  die  einfach  und  schlicht 
abgefassten  Arbeitsordnungen  ihrem  Zwecke  am  vollkom- 
mensten entsprachen,  während  die  breit  gehaltenen  und 
paragraphenreichen  Arbeitsordnungen  nicht  nur  störende 
Wiederholungen  und  durch  einzelne  Abänderungen  schwer 
zu  beseitigende  innere  Widersprüche  enthielten,  sondern  es 
ergab  sich  auch,  dass  die  grosse  Zahl  von  Paragraphen 


No.  22. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


259 


und  Einzel  best  immungen  in  der  Regel  durch  die  Absicht 
veranlasst  war,  die  Rechte  der  Arbeiter  zu  beschränken.“ 

Wenig  Anlass  zu  Beanstandungen  gaben  die  Bestim- 
mungen über  die  Arbeitszeit.  Doch  wurde  die  Wahrneh- 
mung gemacht,  dass  die  letztere  in  einigen  Industriezweigen 
aussergewöhnlich  lange  bemessen  wurde,  z.  B.  in  Bier- 
brauereien und  Mälzereien.  Ebenso  wiesen  die  Lohnaus- 
zahlungsfristen zuweilen  eine  die  Arbeiter  unbedingt  schä- 
digende Erstreckung  auf,  einen  Uebelstand,  dem  wegen  der 
ungenügenden  gesetzlichen  Handhaben  nicht  immer  be- 
gegnet werden  konnte.  „Es  waren  Fälle  zu  verzeichnen, 
in  denen  die  Arbeiter  bis  zu  sechs  Wochen  auf  ihren 
verdienten  Lohn  warten  müssen.“  Nebenbei,  eine  schöne 
Illustration  zu  der  Theorie  gewisser  Volkswirthe,  dass  der 
Gewinn,  den  der  Arbeitgeber  aus  der  Beschäftigung  der 
Arbeiter  ziehe,  beruhe  auf  der  Differenz  zwischen  dem 
hohem  Werthe  der  gegenwärtig  im  Lohne  gezahlten  Güter 
und  dem  geringem  Werthe  der  durch  die  erst  in  der  Zu- 
kunft von  den  Arbeitern  herzustellenden  Waaren  gegeben 
erscheint. 

Vielfache  Schwierigkeiten  boten  die  in  die  Arbeits- 
ordnung aufgenommenen  Bestimmungen  über  die  Rechte 
der  Arbeitgeber  und  der  Arbeiter  bei  Betriebsstörungen. 
Mehrfach  wurde  hierüber  einfach  gesagt:  „Bei  Betriebs- 
störungen ist  die  Fabrik  zur  Zahlung  einer  Entschädigung 
an  die  Arbeiter  nicht  verpflichtet.“  Hiermit  wurde  in  der 
1 hat  beabsichtigt,  die  Arbeiter  während  der  Dauer  einer 
Betriebsstörung  bis  zum  Ablaufe  der  ordnungsmässigen 
Kündigungsfrist  an  die  Fabrik  zu  binden,  ohne  dass 
letztere  ihnen  Verdienstgelegenheit  oder  Entschä- 
digung zu  gewähren  habe.  Diesen  Ansprüchen  der 
Arbeitgeber  gegenüber  wurde  von  der  Fabrikaufsicht,  frei- 
lich nicht  allenthalben  mit  Erfolg,  das  Verlangen  geltend 
gemacht,  die  Verpflichtung  der  Arbeiter,  ohne  Entschädi- 
gung oder  Verdienst  im  Arbeitsverhältniss  zu  bleiben,  auf 
zwei  oder  drei  Tage  zu  beschränken.  Auch  die  Strafbe- 
stimmungen und  die  Verwendung  der  Geldstrafe  bot  zu 
Beanstandungen  Anlass,  auf  die  innerhalb  des  Rahmens 
dieser  Ausführungen  indess  nicht  gut  eingegangen  werden 
kann.  Erwähnt  aber  mag  noch  werden,  dass  die  Arbeit- 
geber sich  häufig  ohne  jede  einschränkende  Bestimmung 
das  Recht  der  körperlichen  Untersuchung  der  Arbeiter  zu 
wahren  suchten.  Abgesehen  von  der  Einwirkung  auf  das 
Ehrgefühl  der  Arbeiter  kam  noch  die  Gefahr  in  Betracht, 
dass  namentlich  in  den  zahlreichen  Cigarrenfabriken  dieses 
Recht  von  einem  sittlich  oder  zweifelhaften  Aufseherper- 
sonal gegenüber  den  Arbeiterinnen  willkürlich  missbraucht 
werden  könnte.  So  wmrde  verlangt,  dass  wenigstens  nur 
die  Personen  desselben  Geschlechtes  das  Recht  der  Unter- 
suchung ausüben  sollten. 

Für  die  hilflos  abhängige  Stellung  der  Arbeiter  ist 
auch  die  Thatsache  bezeichnend,  dass  trotz  des  doch  viel- 
fach äusserst  bedenklichen  Inhaltes  der  Arbeitsordnungen 
Einsprachen  von  Seiten  der  Arbeiter  gelegentlich  ihrer  ge- 
setzlich vorgeschriebenen  „Anhörung“  nur  äusserst  selten 
erfolgten. 

Konnte  die  Fabrikaufsicht  auch  in  der  Formulirung 
der  Arbeitsordnung  manche  Einseitigkeit  und  Willkür  aus- 
merzen, so  wird  der  Arbeiter,  wie  der  Bericht  bemerkt,  in 
der  praktischen  Geltendmachung  seiner  Rechte  ohne  die 
Hilfe  der  Gewerbegerichte  wenig  zu  erreichen  vermögen. 
„Die  Fabrikinspektion  ist  daher  der  Ansicht,  welche  sie 
auch  dem  Ministerium  des  Innern  gegenüber  in  vielen  ein- 
zelnen Begutachtungen  stets  ausgesprochen  hat,  dass  im 
Interesse  der  Arbeiter  Gewerbeg-erichte,  mit  Aus- 
nahme der  rein  landwirtschaftlichen  Bezirke,  überall 
Bedürfniss  sind,  wenn  auch  die  Arbeitgeber  das 


Vorhandensein  eines  solchen  Bedürfnisses  ver- 
nei  nen.“ 

Aus  dem  Kapitel  des  Berichtes,  welches  vom  Schutze 
der  Arbeiter  gegen  Unfälle  handelt,  mag  die  Beobachtung 
wiedergegeben  werden  , dass  fortwährend  die  Zahl  der- 
jenigen Unfälle  sehr  gross  ist,  welche  die  zu  grossen  An- 
strengungen, die  man  den  Arbeitern  zumuthet,  hervorrufen. 

In  Bezug  auf  die  Wohlfahrtseinrichtungen  findet  sich 
die  Bemerkung,  dass  die  Arbeitgeber  sie  im  Allgemeinen 
zu  dem  Zwecke  treffen,  um  sich  stets  eine  genügende  Zahl 
tüchtiger  Arbeiter  zu  sichern.  Fabriksspeiseanstalten, 
namentlich  wenn  den  Arbeitern  an  deren  Verwaltung  ein 
entsprechender  Antheil  zugestanden  wird,  werden  gebilligt, 
da  sie  eine  Erhöhung  der  Abhängigkeit  der  Arbeiter  nicht 
wohl  zur  Folge  haben  können.  Hingegen  werden  die  Ge- 
fahren, welche  sich  für  die  Arbeiter  aus  dem  Wohnen  in 
Häusern  ergeben,  die  dem  Arbeitgeber  gehören,  durchaus 
anerkannt.  Der  Missstand  besteht  in  den  sehr  kurzen,  zu- 
dem vielfach  an  die  Dauer  des  Arbeitsverhältnisses  ge- 
knüpften Kündigungsfristen,  so  dass  in  der  Regel  die 
Wohnung  mit  Ablauf  des  Arbeitsverhältnisses  geräumt 
werden  muss.  Hierdurch  sind  die  Arbeiter  gehindert,  sich 
in  diesem  Falle  anderwärts  eine  passende  Existenz  zu 
gründen,  da  sie  ihre  Familie  nicht  leicht  an  dem  seitherigen 
Wohnorte  zurücklassen  können.  An  diesem  Punkte  setzt 
auch,  und  zwar  mit  Recht,  die  Kritik  der  Arbeiterparteien 
gegenüber  den  Arbeiterwohnungen  der  Fabriken,  an  ....  . 
Jedenfalls  würde  den  allgemeinen  Interessen  mehr  gedient 
sein,  wenn  die  Arbeitgeber  hierin  liberaler  würden,  und 
wenn  sie  dagegen  in  der  Bemessung  der  Miethzinse  den 
Werth  ihrer  Leistungen  mehr  in  Rechnung  zögen.  — Es 
kommt  auch  vor,  dass  einzelne  Gemeinden  das 
Entstehen  von  Arbeiterwohnungen  unter  allen 
möglichen  Vorwänden  zu  h i n t e r t r e i b e n suchen, 
um,  in  der  Befürchtung  wachsender  Ar  men  lasten, 
den  Zuzug  fremder  Arbeiter  in  die  Gemeinde  fern 
zu  halten. 

Während  sich  die  Ernährung  der  Arbeiter  nach  den 
Beobachtungen  der  Aufsichtsbeamten  erheblich  verbessert 
hat,  stehen  die  Wohnungsverhältnisse  noch  immer  in 
scharfem  Gegensätze  zu  diesen  Fortschritten.  „Man  kann 
sich  dies  wohl  nicht  besser  klar  machen,  als  wenn  man  sich 
vergegenwärtigt,  dass  zahlreiche  Schichten  der  Mittelklassen 
sich  sehr  wohl  mit  der  in  den  besser  gestellten  Arbeiter- 
familien üblichen  Ernährung  zufrieden  geben  würden,  dass 
aber  wohl  kaum  ein  Angehöriger  auch  des  weniger  be- 
mittelten Theiles  derselben  mit  den  Wohnungen  der  Ar- 
beiter und  ihrem  Gefolge  von  Unbehagen  und  Unkultur 
vorlieb  nehmen  würde.“ 

Eine  Ausdehnung  im  Verkehre  mit  den  Arbeitern  war 
nicht  zu  verzeichnen.  Lieber  die  Gründe  der  Zurück- 
haltung, welche  sich  die  Arbeiter  hier  auferlegen,  giebt  ein 
mehrfach  besprochenes  Vorkommniss  in  Mannheim  Auf- 
klärung. Von  einer  Schuhfabrik  wurden  Arbeiter,  die  durch 
Vermittelung  des  Arbeiterblattes  eine,  wie  die  Untersuchung 
ergab,  durchaus  begründete  Beschwerde  an  die  Fabrikauf- 
sicht gerichtet  hatten,  eben  deswegen  entlassen.  Unter 
diesen  Umständen  hat  die  Centralisation  der  Mannheimer 
Gewerkschaften  beschlossen,  eine  besondere  Kommission 
für  den  Verkehr  mit  der  Fabrikinspektion  zu  wählen  und 
so  Massregelungen  der  Arbeiter  zu  verhüten.  Dieses  Vor- 
gehen wird  von  der  Fabrikaufsicht  ausdrücklich  gebilligt. 
Auch  die  sonstigen  Organisationsbestrebungen  der  Arbeiter- 
schaft werden  mehrfach  sympathisch  erwähnt.  So  z.  B.: 
„In  St.  Ilgen  wurde  seitens  der  südwestdeutschen  Produktiv- 
vereinigung für  Cigarrenfabrikation,  Vorwärts,  eine  Cigarren- 
fabrik errichtet.  Die  Arbeitsräume  sind  sehr  geräumig  und 
in  hygienischer  Beziehung  allen  Anforderungen  entsprechend 


260 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  22. 


eingerichtet.  Auch  in  architektonischer  Beziehung  ist  die- 
selbe gefällig  hergestellt.  Die  inneren  Wände  sind,  was 
sonst  fast  nie  angetroffen  wird,  mit  Oelfarbe  gestrichen. 
Die  Arbeitszeit  ist  etwas  massiger  als  anderwärts.  Das  Be- 
streben der  Arbeiter,  ihren  Einfluss  als  Konsumenten  zur 
Geltung  zu  bringen,  muss  als  ein  legitimes  Mittel  bezeichnet 
werden,  um  auch  ihrerseits  an  den  Vortheilen  der  ganzen 
wirthschaftlichen  Entwickelung  theilzunehmen.“ 

Den  Organisationen  der  Arbeiter  wird  das  Zeugniss 
ausgestellt,  eine  intellektuelle  und  moralische  Hebung  der 
Arbeiter  anzustreben.  „Das  Bewusstsein,  dass  das  soziale 
Aufsteigen  der  ganzen  Klasse  auf  eine  höhere  Stufe,  airge- 
sehen von  anderen  Faktoren,  wesentlich  auch  von  einer 
Erhöhung  ihrer  intellektuellen  und  sittlichen  Kraft  abhängig 
ist,  scheint  immer  tiefer  in  die  Schichten  besonders  auch 
der  organisirten  Arbeiter  einzudringen  und  wird  ohne 
Zweifel  an  der  fortschreitenden  Verbesserung  der  Arbeiter- 
zustände einen  nicht  unwesentlichen  Theil  haben,  wenn  bei 
etwaiger  grösserer  Betheiligung  der  Arbeiter  an  den  Organi- 
sationen nicht  ihr  derzeitiger  Charakter  im  Lande  eine 
Aenderung  erfährt.“ 

Naturgemäss  lässt  sich  bei  einer  vergleichsweise 
kurzen  Wiedergabe  der  bemerkenswerthesten  Ausführungen 
des  Berichtes  einer  seiner-  Hauptvorzüge,  die  vollendete 
Sachlichkeit  und  Unparteilichkeit  desselben,  nicht  voll- 
kommen zum  Ausdrucke  bringen.  Wer  nach  dieser  Hin- 
sicht ein  Bedenken  hegt,  den  können  wir  nur  auf  die 
Lektüre  des  Berichtes  selbst  verweisen,  die  sich  übrigens 
auch  noch  aus  anderen  Gründen  sehr  empfiehlt.  Wir  sind 
der  Ueberzeugung,  dass  jeder,  der  noch  eine  Spur  sozialer 
Unbefangenheit  besitzt,  unserer  Auffassung  beipflichten  wird. 

Im  Reichstage  wurde  neulich  von  einem  national- 
liberalen Unternehmer  die  Behauptung  aufgestellt,  die 
badische  Fabrikaufsicht  habe  sich  das  Vertrauen  der  Ar- 
beitgeber nicht  zu  erwerben  vermocht.  Sollte  diese  Be- 
hauptung materiell  zutreffend  sein,  was  wir  Grund  haben, 
entschieden  zu  bezweifeln,  so  könnte  diese  Thatsache  jeden- 
falls nicht  dem  Ansehen  der  Fabrikinspektion,  sondern  nur 
demjenigen  der  Unternehmer  schaden.  Es  würde  dann  der 
Beweis  geliefert  sein,  dass  die  wegen  ihrer  einseitigen  Be- 
urtheilung  sozialer  Verhältnisse  so  oft  verlästerten  deut- 
schen Arbeiter  immer  noch  Muster  von  Objektivität  wären 
im  Vergleiche  mit  den  Unternehmern.  Würden  erstere  sich 
doch  mit  unparteiisch  waltenden  Beamten  zufrieden  zeigen, 
letztere  aber  nicht. 

Karlsruhe.  Heinrich  Herkner. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Heimstätten  und  ländliche  Gesinde  Vermittelung  im  Deut- 
schen Landwirthschaftsrath.  In  der  Woche  vom  13.  bis  18.  Fe- 
bruar d J.  fanden  zu  Berlin  eine  Reihe  von  Versammlungen 
landwirtschaftlicher  Unternehmerverbände  statt,  welche  sich 
vorwiegend  mit  der  Lage  der  preussischen  Landwirthe  beschäf- 
tigten. Positive  sozialpolitische  Forderungen  stellte  von  allen 
diesen  Vereinigungen  nur  der  deutsche  Landwirthschaftsrath  in 
seiner  XXI.  Plenarversammlung  und  in  den  Sitzungen  vom  15. 
und  16.  Februar  auf.  Dieselben  bezogen  sich  auf  das  Projekt 
der  Errichtung  ländlicher  Heimstätten  und  auf  die  Regelung 
des  ländlichen  Gesindevermittelungswesens.  Einer  eventuellen 
Heimstättengesetzgebung  von  Reichswegen  stehen  die  Agrarier 
nicht  sympathisch  gegenüber.  Die  gesetzliche  Einführung  eines 
gegen  Zwangsvollstreckung  gesicherten  Besitzminimums  für  Klein- 
besitzer, die  vom  Referenten  als  „berechtigter“  Kern  des  Heim- 
stättenprojektes bezeichnet  worden  war,  wurde  gleichfalls  ab- 
gelehnt aus  angeblicher  Sorge  für  den  Kredit  des  Bauern ; viel- 
mehr fanden  nur  die  Ausführungen  eines  Juristen  Beifall,  der 
die  Zwangsvollstreckung  im  bürgerlichen  Gesetzbuch  etwas 


„humaner“  geregelt  wissen  will.  Das  Ergebniss  der  Erörterun- 
gen über  diesen  Gegenstand  wurde  zusammengefasst  in  folgenden 
Beschlüssen:  „I.  Unter  Festhaltung  seiner  im  Jahre  1891  gefass- 
ten Beschlüsse  und  gestützt  auf  die  bei  weitem  überwiegend 
ablehnende  Begutachtung  der  deutschen  landwirthschaftlichen 
Centralvereine  erachtet  der  Deutsche  Landwirthschaftsrath  die 
bisher  gemachten  Versuche  der  Ausgestaltung  eines  Heimstätte- 
rechts für  praktisch  unzureichend  und  wirkungslos.  II.  Der 
Deutsche  Landwirthschaftsrath  erblickt  wiederholt  in  der  Heim- 
stättebewegung einen  gesunden  sozial  - politischen  Gedanken, 
glaubt  aber,  dass  erfolgreicher  als  durch  unmittelbare  Einschrän- 
kungen der  Verfügungsfreiheit  im  Kreditverkehr  dieser  Gedanke 
aut  dem  Wege  einer  sozialreformatorischen  Ausgestaltung  der 
verschiedenen  Gebiete  des  Agrarrechts,  insbesondere  hinsicht- 
lich des  Erbrechts  in  Grundbesitz,  des  Liegenschaftsverkehrs, 
sowie  des  Grundverschuldungsrechts  verwirklicht  werden  kann. 

III.  Da  eine  den  Grundgedanken  der  Heimstättebewegung  mit 
berücksichtigende  Ausgestaltung  des  Agrarrechts  nur  unter 
vollster  Berücksichtigung  der  verschieden  gestalteten  wirthschaft- 
lichen und  rechtlichen  Verhältnisse  des  ländlichen  Grundbe- 
sitzes in  den  einzelnen  deutschen  Staaten  erfolgen  kann,  so 
weist  diese  Voraussetzung  auf  die  praktische  Anwendung  des 
Heimstätteprinzips  in  den  hier  vorwiegend  in  Betracht  kommen- 
den Gebieten  des  Anerbenrechts,  des  Verschuldungs-  und  Kredit- 
rechts, sowie  der  Organisation  des  ländlichen  Kreditwesens  im 
Wege  der  Einzelstaats-Gesetzgebung  hin.  IV.  „Der  D.  L.  R. 
beschliesst,  an  den  massgebenden  Stellen  dahin  vorstellig  zu 
werden,  dass  bei  der  weiteren  Bearbeitung  des  neuen  bürger- 
lichen Gesetzbuches  und  der  Zwangsvollstreckungs-Ordnung  für 
das  Deutsche  Reich  die  vom  Landrichter  Schneider  erhobenen 
Bedenken  Berücksichtigung  finden“.  Diese  Bedenken  beziehen 
sich  ausser  auf  das  Besitzminimum  hauptsächlich  auf  denjenigen 
Paragraphen  des  Entwurfes  eines  bürgerlichen  Gesetzbuches, 
welcher  einem  Gläubiger  gestattet,  die  Zwangsversteigerung  und 
Zwangsverwaltung  gleichzeitig  zu  beantragen  und  nebenbei 
noch  die  Eintragung  einer  Zwangshypothek  zu  verlangen.  So- 
zialpolitisch am  interessantesten  war  eine  vorhergegangene  Ver- 
handlung über  das  Gesindemaklerwesen,  über  welches 
Oekonomierath  Dr  von  Mendel  berichtete.  Nach  den  Ausfüh- 
rungen dieses  Berichterstatters  ist  das  Vermittelungswesen  für 
die  Beschaffung  ländlichen  Gesindes  in  Deutschland  vollständig 
„demoralisirt  “ Der  Beweis  für  diese  Behauptung  sei  durch 
eine  Erhebung  geliefert  worden,  welche  der  in  der  Provinz 
Sachsen  begründete,  gegenwärtig  6000  Mitglieder  zählende  Ver- 
ein zur  Hebung  der  ländlichen  Arbeiterverhältnisse  angestellt 
hat.  Diese  Erhebung  bestand  in  einer  an  zweihundert  Städte 
gerichteten  Umfrage,  die  von  hundertsechzehn  beantwortet  wor- 
den ist.  Die  Antworten  ergaben,  dass  nur  achtunddreissig  dieser 
Städte  lauter  unbestrafte  Gesindemakler  besitzen  In  allen 
übrigen  seien  bestrafte  „Individuen“  auf  dem  betreffenden  Ge- 
biete thätig,  und  zwar  acht-  bis  achtzehnmal,  zum  Theil  wegen 
schweren  Diebstahls  und  Kuppelei  bestrafte.  Ferner  habe  sich 
ergeben,  dass  nur  eine  ganz  unbedeutende  Zahl  der  Gesinde- 
makler und  Arbeiteragenten  derart  bemittelte  und  gebildete 
Leute  sind,  dass  von  ihnen  ein  „rationeller  ‘ Betrieb  des  Ge-  ; 
werbes  zu  erwarten  sei.  Von  Buchführung  sei  fast  nirgends 
die  Rede.  Auch  kümmere  sich  niemand  darum,  ob  der  unter- 
zubringende Dienstbote  oder  Arbeiter  kontraktbrüchig  sei  oder 
nicht.  Wie  gewissenlos  von  diesen  Personen  verfahren  werde, 
beweise  eine  grössere  Zahl  von  Fällen,  in  denen,  wie  das  neuer- 
dings nicht  selten  vorgekommen,  Arbeitslose  aus  den  Städten 
durch  Vermittelung  von  Agenten  nach  dem  Lande  geschafft 
wurden,  um  dort  zu  arbeiten.  Es  verstehe  sich  ja  auch  ganz 
von  selbst,  dass  die  aus  den  Städten  nach  dem  Lande  zurück- 
strömenden  Arbeitskräfte  nur  aus  den  schlechtesten  Elementen 
bestehen  können;  die  brauchbareren  Leute  behalten  auch  bei 
schlechter  Zeit  zumeist  genügende  Beschäftigung  in  der  Stadt. 

Ein  ganz  übliches  Vorkommniss  sei,  dass  die  Arbeiteragenten 
Leute  zur  Erntezeit  aufs  Land  schicken  mit  der  Weisung,  nach 
I 14  Tagen  zu  einem  andern  genannten  Arbeitgeber  zu  gehen, 
nach  weiteren  14  Tagen  wieder  zu  einem  andern,  so  dass  den 
Arbeitern  also  der  Kontraktbruch  geradezu  vorgeschrieben 
werde.  Man  habe  vielfach  versucht,  diesem  Unwesen  auf  dem 
Wege  der  Begründung  von  Vereinen  zur  Arbeitsvermittelung 
entgegenzutreten,  bis  jetzt  aber  mit  unzureichendem  Erfolge 
und  zwar  wegen  des  fehlenden  gesetzlichen  Rückhaltes  den 
Gesindemaklern  und  Agenten  gegenüber.  Zur  Gewinnung  eines 
solchen  Rückhaltes  müsse  man  fordern,  dass  die  Erlaubniss  zum 
Betriebe  der  Stellenvermittelung  für  Dienstboten  und  Arbeiter 
von  dem  Nachweise  der  Unbescholtenheit  abhängig  gemacht, 
dass  dem  Makler  ferner  eine  bestimmte  Form  der  Buchführung 
vorgeschrieben  und  behördlich  überwacht  werde.  Weiter  sei 
der  Gebührensatz  zu  regeln,  damit  der  Missbrauch  verschwinde, 
wonach  viele  Vermittler  sich  von  beiden  Theilen,  meist  ohne 
Vorwissen  des  anderen  Theiles,  bezahlen  lassen.  Häufig  suchen 
die  Makler  die  Bücher  oder  Zeugnisse  der  Dienstboten  in 
Händen  zu  behalten,  um  noch  etwas  aus  ihnen  herauspressen 
zu  können;  ein  sehr  beliebter  Weg  hierzu  sei  auch  die  Ge- 
währung von  Unterkunft  unter  der  Vorspiegelung,  dass  sich 
dann  leichter  eine  gute  Stelle  finden  lassen  werde. 
Endlich  pflegten  viele  Makler  durch  schwindelhafte  Zeitungs- 
inserate (200  Knechte  werden  gesucht  und  dergl.)  Leute  an  sich 
zu  locken,  um  sie  dann  durch  Anforderung  einer  Vorauszahlung 


No.  22. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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für  Vermittelung  zu  prellen  oder  aber  um  Anknüpfungen  ebenso 
schwindelhafter  Art  mit  Arbeitgebern  zu  suchen.  Alle  derartige 
Machenschaften,  insbesondere  auch  die  Begünstigung  des  Kon- 
traktbruches sollte  das  Gesetz  zu  fassen  suchen  und  unter  Strafe 
stellen.  Die  Versammlung  beschloss,  die  Angelegenheit  dem 
Vorstande  zu  weiterer  Veranlassung  zu  übergeben.  Ein  trüberes 
Bild  der  ländlichen  Arbeiterverhältnisse  kann  wohl  nicht  ent- 
worfen werden.  Zu  verwundern  ist  es  nur,  dass  die  deutschen 
Grossgrundbesitzer  nicht  auf  den  letzten  Grund  dieser  Er- 
scheinungen aufmerksam  werden,  zumal,  wenn  sie  sich  in  der 
Reichshauptstadt  mit  ihren  fortgeschrittenen  Einrichtungen  be- 
finden. Die  Arbeitsbedingungen,  welche  der  ländliche  Unter- 
nehmer dem  Gesinde,  das  er  braucht,  bisher  noch  bietet,  sind 
eben  so  ungünstige  gegenüber  den  materiell  und  kulturell  ent- 
wickelten Arbeitsverhältnissen  der  Städte , dass  es  leicht  er- 
klärlich ist,  wenn  nur  ganz  minderwerthige  Kräfte  sich  noch 
zur  Landarbeit  entschliessen.  Und  diese  minderwerthigen  Kräfte 
sind  natürlich  die  geborenen  Opfer  solcher  Makler,  wie  sie  der 
Berichterstatter  mit  offenbar  etwas  stark  aufgetragenen  Farben 
schilderte.  Gegen  die  staatliche  Beaufsichtigung,  ja  sogar  Re- 
gelung des  ländlichen  Gesindevernnttlungswesens  ist  u.  E.  gar 
nichts  einzuwenden.  Nur  werden  dabei  mehr  Dinge  über  die 
Lage  des  ländlichen  Gesindes  bekannt  werden,  als  den  Agrariern 
vermuthlich  lieb  ist. 

Rerufstellung  «1er  deutschen  Auswanderer  im  Jahre  1892. 

Nach  dem  Bericht  über  die  Thätigkeit  des  Reichskommissars 
für  das  Auswanderungswesen  während  des  Jahres  1892,  der 
soeben  dem  Reichstag  zugegangen  ist,  kamen  von  den  über  die 
deutschen  Häfen  insgesammt  beförderten  241  667  Personen 
90  255  aus  Deutschland.  Von  diesen  gehörten  ihrem  Berufe  nach 
an:  der  Landwirthschaft  10728  oder  11,9  pCt.,  der  Industrie 
16  504  oder  18,3  pCt.,  dem  Handel  und  Verkehr  4518  oder  6 pCt., 
dem  Arbeiterstande  32324  oder  3 5,8  pCt.,  anderen 
Berufsarten  (freien  Berufen,  öffentlichem  Dienste)  1362  oder 

1.5  pCt.  Ohne  Beruf  bezw.  ohne  Berufsangabe  waren  24  819  oder 

27.5  pCt.,  zusammen  90  255  oder  100  pCt.  Ueber  die  Herkunfts- 
länder der  über  deutsche  Häfen  beförderten  Auswanderer  er- 
geben die  Tabellen,  dass  die  preussischen  Provinzen  Posen  und 
Westpreussen,  sowie  Bayern  und  Sachsen  das  Hauptkontingent 
der  Auswanderer  auch  im  Jahre  1892  stellten. 


Hausirhandel  in  Sachsen.  Im  Reichstage  war  kürzlich 
behauptet  worden,  dass  von  1885-1890  die  Zahl  der  Hausirer  im 
Königreich  Sachsen  zurückgegangen  sei.  Den  amtlichen  Zahlen 
zu  Folge  ist  dies  zwar  ein  Irrthum.  Während  im  Jahre  1884  in 
Sachsen  10  720  Wandergewerbescheine  für  Hausirer  ausgegeben 
wurden,  betrug  deren  Zahl  im  Jahre  1889  II  139.  Auch  die  Zahl 
der  auf  Grund  des  § 44a  Absatz  1 der  Gewerbeordnung  er- 
theilten  Legitimationskarten  sowie  der  Gewerbelegitimations- 
karten für  Handlungsreisende  hatte  sich  in  dem  genannten  Zeit- 
raum erhöht,  und  zwar  die  erstere  von  1207  auf  1611,  die  letztere 
von  7551  auf  8578.  Allein  die  ziffermässige  Steigerung  hält 
kaum  mit  der  Zunahme  der  sächsischen  Bevölkerung  Schritt. 


Arbeiterzustände. 


Arbeitslosenstatistikeil.  Die  Arbeitslosenstatistik,  die  von 
den  Arbeitern  Elberfeld-Barmens  aufgenommen  wurde,  hat  fol- 
endes  Ergebnis  gehabt.  In  Elberfeld  ermittelte  man  1889  Ar- 
eitslose,  darunter  1102  Verheirathete;  die  Zahl  der  von  diesen 
zu  ernährenden  schulpflichtigen  Kinder  betrug  2201,  wovon  135 
beschäftigt  waren.  Die  Zahl  der  von  den  Arbeitslosen  sonst  zu 
unterstützenden  Angehörigen  belief  sich  auf  529.  Die  Gesammt- 
zahl  der  durch  die  Arbeitslosigkeit  betroffenen  Personen  betrug 
4619  Personen.  — In  Barmen  sind  1320  Arbeitslose  gezählt 
worden,  davon  waren  755  verheirathet.  Die  Zahl  der  von  ihnen 
zu  erhaltenden  Kinder  unter  14  Jahren  betrug  1457  und  die  der 
sonstigen  zu  unterstützenden  Personen  221.  Nur  drei  Viertel 
der  Frauen  haben  durch  Waschen,  Bügeln,  Nähen  u.  s.  w volle 
oder  theilweise  Beschäftigung  finden  können. 

Die  Zählung  der  Leipziger  Arbeitslosen  vom  5.  Februar 
hat  nach  einer  dem  Wähler  vom  Verein  Gewerkschaftskartell 
zugegangenen  Mittheilung  ein  sehr  schwerwiegendes  Resultat 
erzielt.  In  Leipzig  (inkl.  Vororte)  wurden  7362  Arbeitslose  ge- 
zählt und  in  den  umliegenden  Ortschaften  Grosszschocher, 
Leutzsch,  Liebertwolkwitz,  Möckern,  Pannsdorf,  Probstheida, 
Schönefeld  und  Stötteritz  1330;  zusammen  mithin  8692. 

Zum  Bericht  über  die  Gothaer  Arbeitslosenstatistik  ist 
noch  das  Ergebniss  aus  zwei  Strassen  nachzutragen,  was  bei 
der  ersten  Meldung  noch  nicht  ermittelt  war.  In  der  Hützels- 
und Jüdengasse  wurden  21  Arbeitslose  gezählt,  die  gegen  204 
Wochen  ohne  Beschäftigung  waren.  Zusammen  mit  diesen 
beträgt  die  Zahl  der  durch  die  Statistik  ermittelten  Arbeits- 
losen 410. 


Erhebungen  über  «lie  Lage  der  schweizerischen  Eisen- 
bahnarbeiter. Ein  Beamter  des  eidgenössischen  Eisenbahn- 
departements macht  gegenwärtig  bei  den  Winterthurer  Bahn- 
angestellten Erhebungen  über  Ihre  Dienst-,  Ablösungs-  und 
Lohnverhältnisse.  Die  Erhebungen  dürften  im  Zusammenhänge 
stehen  mit  den  Gesetzesanträgen,  betr.  die  strengere  Durch- 
führung des  schweizerischen  Arbeiterschutzgesetzes  für  die 
Eisenbahnen.  • 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Lohnbewegung  der  englischen  Grubenarbeiter.  Das 

Exekutivkomitee  «der  englischen  Bergarbeiterföderation 
(Miners  federation  of  Great  Britain)  hielt  am  10.  Februar 
in  London  eine  Sitzung  ab.  Das  Komitee  ist  von  Vertre- 
tern aus  allen  Theilen  der  Grubengebiete  des  Landes  ge- 
bildet und  steht  unter  dem  Präsidium  des  Parlamentsmit- 
gliedes Mr.  Pickard.  Die  Versammlung  beschäftigte  sich 
zunächst  mit  den  Massregeln,  die  jetzt  dem  Parlament  vor- 
hegen: Das  Bergarbeiterachtstundengesetz,  das  Haftpflicht- 
gesetz und  die  Diätenfrage  für  die  Parlamentsmitglieder. 
Es  wurde  beschlossen,  dass  am  3.  Mai,  jenem  Tage,  an 
welchem  voraussichtlich  die  Achtstu ndenbill  vors  Haus  ge- 
bracht werden  wird,  zahlreiche  Deputationen  von  Gruben- 
arbeitern erscheinen  sollen,  und  dass  alle  Vertreter  von 
Gruben  bezirken  offiziell  aufgefordert  werden  sollen,  am 
Platze  zu  sein.  Hierauf  wurde  auf  die  allgemeine  Lage 
eingegangen  und  konstatirt,  dass  die  Löhne  in  fortwähren- 
dem Sinken  begriffen  sind,  und  endlich  etwas  geschehen 
müsse,  um  diesem  Sinken  Einhalt  zu  thun.  Es  wurde  be- 
schlossen: „Da  es  zur  Kenntniss  des  Exekutivkomitees  ge- 
kommen ist,  dass  die  Bergarbeiterdistrikte,  welche  der 
Föderation  nicht  angehören , fortwährend  zu  weiteren 
Lohnreduktionen  genöthigt  werden,  wird  allen  Gruben- 
distrikten empfohlen,  eine  allgemeine  Arbeitsruhe  zu  pro- 
klamiren,  und  zwar  für  jenen  Tag,  welchen  eine  besondere 
Konferenz  festsetzen  wird.  Nach  unserem  Urtheile  sind 
Preise  und  Löhne  bereits  zu  niedrig  Es  wird  angeordnet, 
dass  alle  Grubenarbeiterassoziationen  im  vereinigten  König- 
reich eingeladen  werden,  am  28.  Februar  zu  einer  Konfe- 
renz in  Birmingham  zusammenzutreten  , um  die  Frage  zu 
erwägen.“  — Dieser  Beschluss  ist  sehr  wichtig,  wenn  man 
sich  an  die  Folgen  erinnert,  welche  die  sechstägige  Ar- 
beitsruhe im  März  vorigen  Jahres  nach  sich  zog.  Seither 
ist  aber  die  Föderation  durch  den  Beitritt  der  Gruben- 
arbeiter von  Durham  und  Cleveland  erheblich  gewachsen 
und  umfasst  heute  300  000  Arbeiter.  Der  Vizepräsident 
Herr  Sam  Woods  äusserte  zu  einem  Mitarbeiter  der  Daily 
Chronicle,  es  könne  nicht  bezweifelt  werden,  dass  der  Ein- 
fluss der  Föderation  heute  so  massgebend  ist,  dass  sich 
auch  die  ihr  nicht  angehörenden  Belegschaften  anschliessen 
müssen.  Die  unwiderstehliche  Logik  der  Thatsachen  würde 
also  die  vorgeschlagene  Arbeitsruhe  zu  einer  das  ganze 
Land  umfassenden  machen.  Das  wäre  allerdings  eine  sehr 
einschneidene  Sache.  Grosse  Vorräthe  von  Kohlen  sind 
nicht  vorhanden,  und  schon  eine  vierzehntägige  Arbeits- 
ruhe würde  die  meisten  Lokomotiven  im  Lande  zum  Still- 
stand bringen,  während  ein  Ausfall  von  drei  Monaten  Ar- 
beit die  meisten  unserer  grossen  , Städte  zur  Finsterniss 
bringen  würde.  Herr  Woods  erklärte,  dass  nicht  etwa- 
eine verringerte  Nachfrage  nach  Kohle  die  Lohnreduktion 
rechtfertige.  Der  Preis  war  am  letzten  Juli  um  45  pCt. 
höher  als  im  Juli  1888,  während  die  Förderung  um  25  Mill. 
Tonnen  höher  war,  und  die  von  1891  um  4 Mill.  Tonnen 
überstieg,  und  das  trotz  des  dreizehnwöchentlichen  Aus- 
standes in  Durham.  Nach  Woods  Ansicht  ist  die  Macht- 
stellung der  Föderation  stärker  als  je  zuvor. 


Unternehmerverbände. 


Rheinisch  - westfälischer  Kohlenkartell.  Die  in  No.  19, 
II.  Jahrgang  dieser  Zeitschrift  erwähnte  Versammlung  der  Inter- 
essenten am  rheinisch  - westfälischen  Kohlensyndikat  hat  am 
16.  Februar  d.  J.  in  Dortmund  stattgefunden  und  nach  Entgegen- 
nahme der  noch  ausstehenden  Beitrittserklärung  der  Zechen 
„Königsgrube“  (Magd.  Bergwerks-Aktiengesellschaft)  und  „Mont 


262 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  22. 


Cenis“  das  wichtige  Kartell  endgiltig  konstituirt,  zu  dessen  Sitz 
mit  2112  gegen  1177  für  Bochum  bezw  Dortmund,  abgegebenen 
Stimmen  Essen  gewählt  wurde.  31  Zechenvertreter  wurden  als 
Beirath,  und  von  diesen  sofort  Generaldirektor  Kirdorf,  Berg- 
assessor a.  D.  Krabler,  Bergassessor  a.  D.  Pieper  und  General- 
direktor Müser  als  Vorstand  des  Syndikats  gewählt.  Dadurch, 
dass  es  den  einzelnen  Zechen  freigestellt  ist,  die  Förderung  des 
|ahres  1891  oder  1892  ihrer  Betheifigung  zu  Grunde  zu  legen, 
haben  die  grundlegenden  Zahlen,  die  bereits  in  No.  19  dieser 
Zeitschrift  mitgetheilt  wurden,  folgende  Verschiebung  erfahren 
Nimmt  man  für  jede  Zeche  das  Jahr  mit  der  günstigsten  Förde- 
rung an , so  ergiebt  sich  eine  Gesammtfördermenge  von 
38  421036  t.  Hiervon  ab  a)  Förderung  der  Zechen  unter  10  000  t 
Jahresförderung  — 41  890  t.  b)  Förderung  der  Hüttenzechen 
'—  3 644  402  t,  zusammen  3 686  292  1,  ab  bleibt  Summa  34  734  744  t. 
Hiervon  sind  zunächst  auszuscheiden  die  Zechen,  welche  den 
Beitritt  ablehnten,  nämlich:  Alte  Haase  41  786  t,  Berneck  28  412  t, 
Friedlicher  Nachbar  96  376  t,  Langenbrahm  231  904  t,  Paul  13709  t, 
Prinz  Friedrich  21  728  t,  Richardt  73  026  t,  Roland  120  993  t,  Wed- 
hausen 124  471  t,  zusammen  752  405  t,  bleiben  also  33  982  339  t. 
Hiervon  waren  nicht  erschienen  die  Vertreter  den  Zechen  West- 
ende 224  326  t,  Wiesche  119  635  t,  Mont-Cenis  198  934  t,  somit 
nochmals  ab  542  895  t,  verbleiben  33  439  444  t.  Seitens  der  diese 
33  439  444  t repräsentirenden  Zechen  ist  der  Vertrag  mit  der 
Aktiengesellschaft  Rheinisch- Westfälisches  Kohlensyndikat  voll- 
zogen. Vorstand  und  Beirath  haben  ihre  Thätigkeit  inzwischen 
bereits  begonnen.  Der  V ertrag  zwischen  Syndikat  und  Einzel- 
zechen, auf  welchem  die  Thätigkeit  des  ersteren  basiren  wird, 
ist  in  der  No.  20  vom  18.  Februar  d.  Js.  der  berg-  und  hütten- 
männischen Zeitung  „Glück  auf“  in  Essen  abgedruckt.  Nach 
seinem  Statut  giebt  das  handelsgesetzlich  eingetragene  Syndikat 
3000  Aktien  zu  je  300  M.  aus,  welche  von  den  Zechen  über- 
nommen werden  müssen.  Der  Vertrag  bezeichnet  als  Zweck 
des  Kartells  „die  Ausschliessung  einer  ungesunden  Konkurrenz 
auf  dem  Kohlenmarkte“  und  „thunlich  feste  Vereinbarungen 
über  die  Betheiligung  am  Gesammtabsatz,  sowie  über  Preise 
und  Lieferungsbedingungen.“  Jeder  Zechenbesitzer  hat  für  je 
volle  10  000  t seiner  festgesetzten  Betheiligungsziffer  je  eine 
Stimme.  Für  eine  Produktionsbetheiligung'  von  je  1Ö00000  t 
kann  jeder  Zechenbesitzer  bezw.  jede  Zechengruppe  ein  Mit- 
glied des  Beiraths  ernennen.  Ausserdem  besteht  eine  besondere 
Kommission  für  die  Festsetzung  der  Betheiligungsziffer.  Ein 
Abschnitt  des  Vertrags  handelt  von  dem  gemeinsamen  Verkauf 
und  Ausnahmen  davon,  der  folgende  von  der  Betheiligung  der 
kontrahirenden  Zechen  am  Gesammtabsatz  und  der  Regelung 
der  Förderung,  bezw.  Produktion,  der  nächste  von  der  Fest- 
setzung der  Preise  und  Lieferungsbedingungen , sowie  Be- 
gleichung der  Rechnung;  schliesslich  wird  die  Aufbringung  der 
Geschäftskosten  durch  einen  gleichmässigen  prozentualen  Abzug 
von  den  Monatsrechnungen  ausbedungen  und  ein  System 
strenger  Konventionalstrafen  für  Vertragswidrigkeiten  verein- 
bart. Das  Organ  der  westfälischen  Zechen,  die  „Rhein.  Westf. 
Ztg.“,  begriisst  das  definitive  Zustandekommen  des  Syndikats 
mit  folgenden  Sätzen:  „In  der  wirthschaftlichen  Entwicklung 
der  ganzen  Erde  steht  die  feste,  bindende  Vereinigung  von  über 
170  in  privatem  Besitz  befindlichen  Zechen  mit  einer 
gesammten  Jahresförderung  von  über  37  Millionen  Tonnen 
Kohlen  ohne  Beispiel  da.  Beispiellos  ist  es,  dass  diese  Vereini- 
gung der  grossartigsten,  auf  ganz  engem  Bezirke  schaffenden 
Produktivstätten  unseres  V aterlandes,  deren  Vertreter  bisher  ge- 
wohnt waren,  in  mehr  oder  minder  eifrigem  Wettbewerb  um  den 
Absatz  ihrer  Erzeugnisse  sich  gegenseitig  den  Rang  abzulaufen, 
auf  dem  freien,  reiflich  überlegten  Entschluss  der  Bergwerks- 
industriellen beruht  . . . Das  Syndikat  wird  kein  Ring  sein,  wie  I 
unsere  Gegner  es  fälschlich  nennen,  sondern  eine  Verkaufs-  j 

femeinschaft  zur  Regelung  einseits  der  Kohlenpreise  gemäss 
en  natürlichen  und  gegebenen  Bedürfnissen  des  Marktes,  j 
Nicht  um  hohe  Preise  zu  erzielen,  was  dem  Syndikat 
von  vornherein  das  Lebenslicht  ausblasen  würde,  sondern  nur 
um  solche  Preise  aufrechtzu  erhalten,  welche  einer  angemessenen 
Verzinsung  der  kolossalen  in  den  bergwerksindustriellen  Unter- 
nehmungen festgelegten  Kapitalien  entsprechen,  ist  das  Syn- 
dikat gegründet  worden.  Und  zur  Erreichung  dieses  Zweckes 
ist  andererseits  das  Recht  der  Regelung  der  Produktion  mit 
dem  Syndikat  inbegriffen  und  auch  selbstverständlich.  Die 
niederrheinisch-westfälischen  Bergwerksindustriellen  haben  durch 
ihre  private  Vereinigung  nur  das  gethan,  was  man  in  der 
Regelung  der  Kohlenförderung  und  der  Preise  durch  die  könig- 
liche Bergwerksdirektion  zu  Saarbrücken  als  ein  bisher  unbestreit- 
bares Recht  des  Fiskus  d.  h.  des  Staates  angesehen  hat. 
Nichts  anderes  wird  von  nun  an  in  Dortmund-Essen  geschehen, 
als  was  in  Saarbrücken  lange  und  erfolgreiche  Gewohnheit  gewesen 
ist.  Die  alte  Zeit  des  Haders  und  schädlichen  Wettbewerbs  ist  ab- 
geschlossen. Mit  dem  16.  Februar  1893  hat  für  die  niederrheinisch- 
westfälische Bergwerksindustrie  eine  neue  Epoche  begonnen.“ 
Diese  Worte  über  die  Preise  des  Syndikats  wird  man  sich  gut 
merken  müssen.  Wenn  daneben  grosser  Nachdruck  darauf 
gelegt  wird,  dass  das  Syndikat  die  170  Zechen  „in  privatem  Be- 
sitz“ lässt,  so  will  dies  angesichts  der  Gemeinsamkeit  der 
Leitung  nicht  viel  heissen ; wohin  solche  Syndikate  den  Weg 
weisen,  das  ergiebt  schon  die  Bezugnahme  auf  die  verstaat- 
lichten Saarbergwerke.  Das  neue  Kohlensyndikat  entzieht 
der  privaten  und  individualistisch  zersplitterten  preussischen 


Steinkohlenförderung,  die  soeben  amtlich  mit  ca.  57  Mill.  t für 
1892  nachgewiesen  wird,  33  Mill.  t und  stellt  dieselben  unter 
collektivistische  Leitung ; das  ist  in  der  That  der  „Beginn  einer 
neuen  Epoche“,  aber  nicht  im  Sinne  der  individualistischen 
Wirthschaftsordnung  ! 


Handwerkerfragen. 


Badischer  Landesgewerberath.  Der  Grossherzog  von 
Baden  hat  eine  Verordnung  über  die  Errichtung  eines  Landes- 
gewerberaths erlassen.  Diesem  soll  obliegen : Die  Berathung 
der  ihm  von  der  Staatsverwaltung  in  Bezug  auf  die  Förderung 
des  Gewerbes  im  allgemeinen  und  in  Bezug  auf  das  gewerb- 
liche Unterrichts-  und  Bildungswesen  vorgelegten  Fragen,  ins- 
besondere auch  in  Betreff  der  Verwendung  der  im  Staatsbudget 
hierfür  vorgesehenen  Mittel,  die  Begutachtung  der  sich  auf  das 
Gewerbewesen  beziehenden  Gesetze,  Verordnungen  und  son- 
stigen behördlichen  Anordnungen  allgemeiner  Art.  die  Ein- 
bringung von  Vorschlägen  und  Anträgen  im  Interesse  des 
Gewerbes,  die  Aufstellung  von  Vorschlagslisten  für  die  Er- 
nennung ausserordentlicher  Mitglieder  des  Gewerbeschulraths 
aus  dem  Gewerbestand.  Der  Landesgewerberath  setzt  sich 
zusammen  aus  je  einem  Vertreter  der  Gauverbände  der  Ge- 
werbevereine und  des  badischen  Kunstgewerbevereins,  je  einem 
Vertreter  der  Handelskammern  und  der  diesen  gleichstehenden 
Handelsgenossenschaften,  zwei  Vertretern  der  im  Lande  be- 
stehenden Innungen,  vier  Vertretern  des  Arbeiterstandes  und 
einer  Anzahl  vom  Ministerium  des  Innern  ernannter  Sachver- 
ständigen. Den  Vorsitz  führt  der  Präsident  des  Ministeriums 
des  Innern,  bezw.  der  von  diesem  ernannte  Stellvertreter.  Die 
Mitglieder  sind  auch  ausserhalb  der  Sitzungen  Organe  des 
Ministeriums  des  Innern,  sie  nehmen  aber  diesen  Posten  als 
Ehrenamt  ein. 

Obligatorische  Buchdruckerberufsgenossenschaft  in  der 
Schweiz.  Die  Mitte  Februar  in  Zürich  versammelten  Abgeord- 
neten des  Vereins  schweizerischer  Buchdruckereibesitzer  und 
des  schweizerischen  Typographenbundes,  also  der  Prinzipale 
und  Gehilfen,  haben  beschlossen,  es  sei  als  dringendes  Bedürf- 
niss  des  Gewerbewesens  zu  erklären,  dass  ein  schweizerisches 
Gewerbegesetz  die  Bildung  obligatorischer  Syndikate  nach 
folgenden  Grundsätzen  ermögliche:  1.  Die  Mehrheit  der  Genossen 
eines  Gewerbes  kann  die  Bildung  eines  obligatorischen  Syndi- 
kats beschlossen  2 Kein  Gewerbe  kann  durch  das  Gesetz  zur 
Bildung  eines  obligatorischen  Syndikates  verhalten  werden. 
3.  Jedes  Gewerbe  giebt  sich  selbst  die  bezügliche  Gewerbe- 
verfassung,  vorbehältlich  ihrer  Genehmigung  durch  die  Bundes- 
behörden. 4.  Die  Verordnungen  der  obligatorischen  Syndikate 
haben  Gesetzeskraft  5.  Obligatorischen  Berufsgenossenschaften 
liegt  die  Sorge  für  den  Unterhalt  der  arbeitslosen  Berufs- 
genossen ob. 

Die  Vorstände  der  beiden  Vereine  sind  beauftragt,  der 
Bundesversammlung  eine  gemeinsame  Eingabe  einzureichen 
behufs  Verwirklichung  dieser  Forderungen. 


Kaufmännische  Bewegung. 


Die  Arbeitslosenstatistik  der  Handlungsgehilfen. 

In  No.  7 des  laufenden  Jahrgangs  dieser  Zeitschrift 
wurde  über  das  Unternehmen  des  deutschen  Verbandes  kauf- 
männischer Vereine  berichtet,  die  arbeitslosen  Vereinsmit- 
glieder für  den  Zeitraum  1.  Oktober — 23.  November  1892 
zu  zählen.  Das  Zählungsergebniss  liegt  nunmehr  in  No.  18 

O C5  O 

der  Verbandsdrucksachen  vor. 

Es  haben  hauptsächlich  die  grösseren  Vereine  des  Ver- 
bandes an  der  Statistik  theilgenommen,  nämlich  28  mit 
53  746  Mitgliedern.  Diese  Vereine  sind  über  den  grössten 

o . . o 

Theil  Deutschlands  verbreitet  und  einer  hat  seinen  Sitz  in 
Wien.  Von  den  4472  ausgesandten  Fragebogen  sind  nicht 
ganz  die  Hälfte,  nämlich  1901,  ausgefüllt  eingegangen.  Von 
den  Antwortgebern  waren  nicht  weniger  als  1263  Comp- 
toristen,  231  waren  Lageristen,  113  Reisende,  226  Laden- 
verkäufer, 68  sonstige  Gehilfen  oder  ohne  spezielle  Berufs- 
angabe. Dieses  Ergebniss  ist  insofern  überraschend,  als 
man  erst  hieraus  erfährt,  dass  der  Verband  ganz  über- 
wiegend aus  Comptoiristen,  Lageristen,  Reisenden  besteht, 
während  die  grosse  Klasse  der  Verkäufer  nur  mit  einem 


No.  22. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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verschwindenden  Antheil  vertreten  ist.  Allerdings  muss 
man  berücksichtigen,  dass  unter  denen,  die  die  Ausfüllung 
der  Fragebogen  unterlassen  haben,  sich  mehr  Verkäufer  als 
Comptoiristen  finden  werden. 

Für  die  Comptoiristen  etc.  kann  aber  die  Erhebung 
als  eine  hinreichend  vollständige  gelten;  kein  Anzeichen 
deutet  darauf,  dass  ausserhalb  des  Verbandes  die  Stellen- 
losigkeit unter  den  Comptoiristen  grösser  sei,  im  Gegentheil, 
die  Stellenvermittlung  des  Verbandes  muss  die  Stellen- 
wechsler anziehend)  Wir  kommen  so  zu  der  Beobachtung, 
dass  die  Elite  des  Standes  mit  der  Lösung  sozialer  Aufgaben 
vorangeht. 

Von  den  1901  Antwortgebern  waren  nur  878  wirklich 
stellenlos;  die  übrigen  1023  suchten  nur  eine  neue  Stelle. 
Der  Verbands  Vorsitzende  meint,  dass  diese  letztere  sich 
„meist  in  gekündigter  Stellung“  befanden;  er  begründet 
aber  seine  Annahme  nicht,  und  mir  ist  vielmehr  das  Gegen- 
theil wahrscheinlich;  wenigstens  wird  von  den  etwa  3000  Be- 
werbern, die  die  Stellenvermittlung  des  Hamburger  Vereins 
allmonatlich  benutzen,  regelmässig  nur  23%  ausser  Stellung 
oder  in  für  den  Monatsschluss  gekündigter  Stellung.  Da 
nun  selbst  die  Gekündigten  möglicher  Weise  überhaupt 
nicht  stellenlos  werden,  und  da  überdies  auch  die  Mit- 
zählung der  später  stellenlos  Werdenden  statistisch  irrationell 
wäre,  so  haben  wir  uns  nur  an  die  wirklich  ausser  Stellung 
Befindlichen  878  zu  halten. 

Von  diesen  kommen  noch  IIS2)  in  Abzug,  die  bloss 
als  Stellenbewerber  beim  Verbände  angemeldet  waren,  ohne 
zum  Verbände  zu  gehören;  bleiben  763.  Da  unter  den 
53  746  Mitgliedern  der  betheiligten  Vereine  die  etablirten 
Mitglieder  nicht  gerechnet  sind,  so  kämen  wir  auf  einen 
Prozentsatz  der  arbeitslosen  Comptoiristen,  Lageristen  und 
Handlungsreisenden  von  14  im  Hundert;  das  ist  für  einen 
fast  zweimonatlichen  Zeitraum  und  bei  ungünstiger  Ge- 
schäftslage ein  überraschend  niedriger  Satz,  wie  man  sich 
durch  einen  Vergleich  mit  den  Seite  82  dieser  Zeitschrift  mit- 
getheilten  englischen  Zahlen  überzeugen  kann. 

Dabei  ist  jedoch  fälschlich  vorausgesetzt,  dass  die 
2571  Inhaber  unbeantworteter  Fragebogen  sich  in  Stellung 
befanden.  Nehmen  wir,  nach  Analogie  des  entsprechenden 
Zahlenverhältnisses  bei  den  Antwortgebern,  an,  dass 
2571  878 

=1187  von  ihnen  stellungslos,  die  Uebrigen  nur 

veränderungsbedürftig  waren,  so  hätten  wir  statt  763  viel- 
mehr 1950  Arbeitslose  im  Verbände.  Dieser  Zuschlag  ist 
indess  aus  zwei  Gründen  zu  hoch  gegriffen;  erstens  werden 
unter  den  I 187  wieder  einige  Hundert  sein,  die  nicht  zum 
Verbände  gehören;  und  zweitens  werden  viele  Verbands- 
mitglieder den  Fragebogen  fälschlich  erhalten  haben;  Miss- 
griffe in  dieser  Beziehung  waren  nicht  zu  vermeiden,  und 
die  einzelnen  Vereine  sind  bei  der  Versendung  augen- 
scheinlich sehr  verschieden  verfahren.  So  hat  der  Wiener 
Verein  einfach  an  seine  sämmtlichen  1714  Mitglieder  die 
Bogen  verschickt,3)  während  der  grosse  Hamburger  Verein 
i Mitgliederzahl  38  000,  Zahl  der  Stellenbewerber  monatlich 
3000)  nicht  einmal  alle  Stellenbewerber,  sondern  meines 
Erinnerns  nur  wenige  hundert  Mitglieder  befragte.  Bei  so 
grosser  Ungleichartigkeit  des  Verfahrens  ist  es  freilich 
andrerseits  auch  nicht  ausgeschlossen,  dass  eine  erhebliche 
Zahl  arbeitsloser  Mitglieder  übergangen  worden  ist;  aber 
in  Summa  werden  wir  kaum  zu  niedrig  greifen,  wenn  wir 
den  obigen  Prozentsatz  auf  2 . 8 verdoppeln,  und  wir  be- 
halten damit  noch  immer  auffällig  niedrige  Ziffern. 

Nicht  werfiger  als  186  Stellungslose  haben  angegeben, 
dass  sie  bei  mehreren  kaufmännischen  Vereinen  zugleich 

!)  Der  württembergische  Verein,  der  die  Statistik  nicht 
mitmachte,  gab  an,  dass  in  seinem  Lande  Stellenlosigkeit  fast 
gar  nie  vorkomme.  Die  Vereine  Dresden  (86  Mitgl.),  Mainz 
(584  Mitgl.),  Sorau  (146  Mitgl.)  und  Meiningen  haben  in  der  That 
nur  Stellenlose  gezählt. 

2)  Eigentlich  wäre  diese  Summe  zu  vergrössern  um  die 
unbekannte  Zahl  derjenigen,  die  zwar  einem  Verein,  aber  nicht 
einem  der  betheiligten  Verbandsvereine  angehören. 

3)  Dieser  Verein  hat  auch  nur  27  ausser  Stellung  Befind- 
liche neben  272  anderen  Stellenbewerbern  gezählt. 


Stellenbewerber  seien;  leider  ist  nicht  mitgetheilt,  wieweit 
daraus  etwa  Doppelzählungen  erwachsen  sind,  und  wieweit 
die  Nichtbeantwortung  von  Fragebogen  etwa  mit  solcher 
Doppelbefragung  zusammenhängt. 

Der  Hauptwerth  der  Statistik  liegt  nun  aber  darin, 
dass  ausser  der  Zahl  noch  weitere  Details  über  die  Stellen- 
losen erfragt  worden  sind. 

1.  Von  den  878  Stellenlosen  waren  reichlich  600  zum 
ersten  Male  in  ihrem  Leben  stellenlos.  1 74  waren  einmal, 
67  zweimal,  31  dreimal  schon  früher  ausser  Stellung  ge- 
wesen; und  zwar  (im  Ganzen?)  82  bis  zu  einem  Monat,  69 
bis  zwei  Monat,  125  noch  länger.  Wir  haben  es  also  im 
grossen  Ganzen  nicht  mit  gewohnheit.smässigen  Stellen- 
wechslern zu  thun. 

2.  Die  Dauer  der  gegenwärtigen  Stellenlosigkeit  haben 
nur  16  Beantworter  nicht  angegeben;  350  waren  seit 
1 Monat,  123  seit  2 Monaten,  84  seit  3 Monaten,  305  seit 
noch  längerer  Zeit  stellungslos.  Natürlich  wird  bei  den 
Meisten  die  Stellenlosigkeit  mit  dem  Tage  der  Beantwortung 
des  Fragebogens  noch  nicht  beendet  gewesen  sein.  Wie 
viel  Krankheitstage  in  die  stellenlose  Zeit  einbegriffen  waren, 
ist  leider  nicht  gefragt  worden. 

3.  Noch  nicht  25  fahre  alt  waren  615  Stellenlose, 
zwischen  25  und  30  Jahr  168,  zwischen  30  und  40  fahr  66, 
über  40  fahr  28.  Dies  Verhältnis  ist  ganz  ausserordentlich 
günstig;  wenn  wir  es  mit  der  Altersstatistik  der  Handlungs- 
gehilfen vergleichen,  die  gelegentlich  der  Berufszählung 
von  1882  aufgenommen  wurde,  so  fällt  ein  unverhältniss- 
mässiger  Prozentsatz  der  Stellenlosen  aut  die  jugendlichen 
Altersklassen.  Ein  starkes  Missverhältniss  in  der  Alters- 
gruppirung  bleibt  auch  bestehen,  wenn  man  die  in  Folge 
ihrer  Militärpflicht  stellenlos  Gewordenen  (siehe  unten)  bei 
Seite  lässt,  und  nach  den  Altersverhältnissen  von  1892 
würde  dasselbe  sich  unzweifelhaft  noch  schärfer  ausprägen. 

4.  233  Stellenlose  haben  schon  eine  ihnen  angebotene 
Stelle  ausgeschlagen;  und  zwar  93  wegen  ungenügender 
Gehaltsofferte,  47  wegen  unerwünschter  Beschäftigung, 
93  aus  sonstigen  Gründen.  Diese  233  befinden  sich  also 
mindestens  nicht  in  äusserster  Noth.  Im  Uebrigen  wissen 
wir  über  die  Subsistenzmittel  der  Stellenlosen  leider  nichts. 

5.  Bei  12  Stellenlosen  ergiebt  sich  der  überraschende 
Umstand,  dass  sie  gar  nicht  Gehilfen  sind,  sondern  frühere 
selbständige  Kaufleute,  die  ihre  Selbständigkeit  aufgeben 
wollten.  Dieses  Dutzend  hätte  eigentlich  bei  der  Berech- 
nung des  Prozentsatzes  stellenloser  Gehilfen  im  Verbände 
abgezogen  werden  müssen. 

6.  Ein  Jahresgehalt  von  noch  nicht  1000  M.  bezogen 
in  ihrer  letzten  Stellung  nur  259  Stellenlose,  von  1000  bis 
1500  M.  359,  von  1500-2000  159,  von  mehr  als  2000  M.  80. 
Auch  diese  Gehalts  Verhältnisse  deuten  darauf  hin,  dass  die 
Stellenlosen  nicht  zu  den  am  schlechtesten  Besoldeten,  nicht 
zum  Ausschuss  des  Standes  gehören. 

7.  Während  bei  der  Verbandsenquete  von  1891  in  fast 
80  pCt.  aller  Fälle  das  Vorkommen  einer  ungünstigeren 
Kündigungsfrist  als  der  des  Handelsgesetzbuchs  (6  Wochen 
vor  dem  Quartalswechsel)  angegeben  wurde,  haben  jetzt 
von  804  Stellenlosen  486  die  handelsgesetzliche,  77  eine 
noch  günstigere  Kündigungsfrist  gehabt;  die  Frist  war  aut 
einen  Monat  verkürzt  gewesen  bei  157,  auf  14  Tage  und 
weniger  bei  84.  Ein  charakteristisches  Missverhältniss 
zwischen  den  beiden  Aufnahmen  lässt  sich  bei  der  ver- 
schiedenen Fragestellung  nicht  konstatiren.  Bei  der  über- 
wiegenden Mehrzahl  der  Stellenlosen  ist  die  Kündigungs- 
frist übrigens  auch  thatsächlich  eingehalten  worden. 

8.  259  Stellenlose  sind  entlassen  worden,  528  haben 
selbst  gekündigt;  auch  dies  ist  ein  günstiges  Symptom. 

9.  41  Stellenlose  sind  sofort  nach  ihrer  Lehrzeit  ent- 
lassen worden;  in  solchen  Fällen  liegt  der  Verdacht  der 
Lehrlingszüchtung  vor. 

10.  Ueber  den  Kündigungsgrund  wird  Folgendes  mit- 
getheilt: 

a)  Vom  Prinzipal  ausgehende  Kündigung:  wegen 

Reduktion  des  Geschäftspersonals  100  mal,  wegen 
Geschäftsauflösung  37  mal,  wegen  Konkurses  1 1 mal. 


264 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  22 


Ersatz  des  Gehilfen  durch  den  ältesten  Lehrling 
23  mal,  Erkrankung  des  Gehilfen  116  mal,  Ein- 
berufung zum  Militär  193  mal,  zusammen  480  mal. 

b)  Kündigung  in  Folge  einer  Meinungsverschiedenheit 
zwischen  Prinzipal  und  Gehilfen  146  mal,  weil  für 
die  Stellung  nicht  geeignet  28  mal,  zusammen 
1 74  mal. 

c)  Vom  Gehilfen  ausgehende  Kündigung:  wegen  seiner 
Familien  Verhältnisse  (Verheirathung?)  27  mal,  um 
mehr  Gehalt  zu  bekommen  7 1 mal,  um  die  Kennt- 
nisse zu  vermehren  65  mal,  um  das  Geschäftsleben 
anderer  Städte  und  Länder  kennen  zu  lernen 
26  mal,  zusammen  189  mal. 

Bezeichnend  ist,  dass  bei  den  noch  in  Stellung  befind- 
lichen Stellenwechslern,  die  in  die  obigen  Zahlen  nicht 
einbegriffen  sind,  die  Fälle  sub  c,  sowie  die  Fälle  der  Ver- 
schweigung des  Kündigungsgrundes  unverhältnissmässig 
über  wiegen. 

Es  sei  noch  bemerkt,  dass  der  Berliner  Verein  (mit 
58  Stellenlosen)  aus  weiblichen  Mitgliedern  besteht,  und 
dass  der  Wiener  Verein,  der  einzige  nicht  reichsdeutsche, 
nur  27  .Stellenlose  meldet.  Bei  den  Berlinerinnen  sind  die 
ganz  kurzen  Kündigungsfristen  ausnehmend  häufig,  ferner 
besonders  häufig  der  Kündigungsgrund  „um  mehr  Gehalt 
zu  bekommen“.  Bei  den  Wiener  Stellenlosen  ist  die  Dauer 
der  Stellenlosigkeit  auffallend  lang. 

Den  praktischen  Zweck  dieser  ganzen  Erhebung  bildet 
das  Projekt  einer  „Versicherung“  gegen  Arbeitslosigkeit. 
Durch  die  Voten  der  Arbeitslosen  selbst  hat  dieses  Projekt, 
„auch  wenn  die  Versicherung  einen  ziemlich  erheblichen 
jährlichen  Beitrag  bei  angemessener  Gegenleistung  erfor- 
dert,“ eine  ansehnliche  Majorität  erhalten  im  Gegensätze 
zur  „Unterstützung“  der  .Stellenlosen. 

Ohne  Frage  hat  die  Statistik  noch  ihre  Mängel;  es 
muss  Lehrgeld  gezahlt  werden;  aber  der  Verband  wird 
durch  Erfahrung  lernen,  und  andere  Berufsvereine  werden 
hinter  ihm  nicht  Zurückbleiben. 

Berlin.  K.  Oldenberg. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

3Iissliclikeit  der  Ausnahmen  von  der  kaufmännischen 
Sonntagsruhe.  Eine  Petition  Breslauer  Kolonialwaarenhändler, 
die  soeben  an  das  preussische  Staatsministerium  abgegangen 
ist,  beleuchtet  in  drastischer  Weise  das  Verhängnisvolle  ein- 
zelner Ausnahmebestimmungen  für  die  Aufrechterhaltung  der 
kaufmännischen  Sonntagsruhe.  Die  Behörden  haben  nämlich 
den  „Vorkosthandlungen“  eine  verlängerte  Arbeitszeit  an  Sonn- 
tagen gestattet , den  Kolonialwaarenhändlern  aber  verweigert 
(§  105e  der  Gewerbeordnung).  Die  oben  genannte  Petition  führt 
nun  ganz  richtig  aus:  „Der  genannte  Paragraph  spricht  ganz 
allgemein  von  Gewerben,  welche  tägliche  Bedürfnisse  befriedigen. 
Es  entsteht  nun  die  Frage,  was  sind  „tägliche  Bedürfnisse“? 
Welche  Handelsartikel  dienen  zur  Befriedigung  „täglicher  Be- 
dürfnisse“? Es  kann  doch  nicht  im  Ernst  angenommen  werden, 
dass  „gedörrtes  Obst , Früchte , Beeren“ , welche  u.  A.  die 
ministerielle  Entscheidung  anführt,  allein  „tägliche  Bedürfnisse“ 
oder  Handelsartikel  zur  Befriedigung  täglicher  Bedürfnisse  sind. 
Kaffee,  Zucker,  Gewürze,  Salz,  Streichhölzer,  Lichte,  Petroleum, 
Oele  u.  s.  w.  sind  mindestens  ebensolche  „tägliche  Bedürfnisse“. 
Mit  welchem  Recht,  fragen  wir,  greift  die  ministerielle  Entschei- 
dung aus  der  grossen  Zahl  der  täglichen  Bedürfnisse  einige 
wenige  heraus  und  will  ihnen  eine  hervorragendere  Bedeutung 
als  den  anderen  gewähren?  Das  Gesetz  ist  klar  und  gerecht. 
Die  ministerielle  Entscheidung  vertheilt  dagegen  Licht  und 
Schatten  nach  willkürlichen  Annahmen.  Die  ministerielle  Ent- 
scheidung spricht  weiter  von  „werthvolleren  Waaren“  als  Vor- 
kostartikeln, welche,  weil  sie  das  Unglück  haben,  nach  Ansicht 
der  beregten  Entscheidung  „werthvoller“  zu  sein,  in  Nachtheil 
versetzt  werden  müssen.  Wer  diese  „werthvolleren  Waaren“ 
„in  erster  Linie“  führt,  ist  von  den  Vergünstigungen  des  Ent- 
scheides ausgeschlossen.  Auch  hier  entsteht  die  Frage:  „Was 
sind  den  werthvollere  Waaren  als  Vorkostartikel?  Was  sind 
eigentlich  Vorkostartikel?  Ist  Mehl  ein  Vorkostartikel  und  Salz 
nicht,  oder  ist  vielleicht  Cichorie  eine  werthvollere  Waare  als 
Erbsen?  Und  wie  will  man  feststellen,  welche  von  diesen  Waaren 
in  dem  einen  oder  anderen  Geschäft  „in  erster  Linie“  geführt 
werden?  Man  wird  durch  den  Entscheid  in  ein  Labyrinth 
von  Fragen  geführt,  welche  schwer  zu  beantworten  sind  . . . . 


Thatsächlich  liegen  die  Verhältnisse  doch  so,  dass  die  Vorkost- 
handlungen, Bäudeleien,  Viktualienhandlungen  etc.  fast  dieselben 
Artikel,  wie  die  Kolonialhandlungen  und  letztere  in  ihrer  über- 
wiegenden Zahl  fast  dieselben  Waaren  wiederum  wie  jene  zum 
Verkauf  stellen.  Es  besteht  zwischen  beiden  Geschäftsarten 
nur  der  Unterschied,  dass  die  sogenannten  Kolonialwaarenhand- 
lungen,  und  zwar  im  Interesse  des  kaufenden  Publikums,  ver- 
hältnissmässig  bedeutend  höhere  Spesen  bei  ihrem  Geschäfts- 
betriebe haben,  als  die  sog.  Vorkosthandlungen  u.  s.  w.  Zum 
Schluss  stellen  die  Breslauer  Kolonialwaarenhändler  folgendes 
Petitum:  „die  von  Vorkosthandlungen  durch  Ziffer  III  1a  und 
2a  der  Ausführungsanweisung  vom  10.  Juni  1892,  betreffend  die 
Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe,  zugelassenen  Ausnahmen 
auf  Grund  des  § 105e  der  Gewerbeordnung  wieder  aufzu- 
heben, oder  aber,  was  dem  § 105e  mehr  entsprechen  würde, 
auch  den  Unterzeichneten  zu  gewähren.“  Hoffentlich  benutzt 
die  Regierung  diesen  Anlass  um  einen  begangenen  Fehler  wie- 
der gut  zu  machen  und  im  Interesse  der  Sonntagsruhe  dem 
ersten  Petitum  der  Kolonialwaarenhändler  Folge  zu  geben, 
also  die  Ausnahmen  aufzuheben.  Dieser  Vorgang  konnte  den 
Behörden  einen  wichtigen  Fingerzeig  dahin  geben,  wohin  man 
mit  Ausnahmen  kommt  — zur  Durchlöcherung  der  Schutzgesetze. 


Arbeiterversicherung. 


Geschäftsbericht  des  Reichsversicherungsamts  für  das 
Jahr  1892.  Der  dem  Reichskanzler  alle  Jahre  zu  erstattende 
Geschäftsbericht  des  Reichsversicherungsamts  liegt  jetzt  für  das 
Jahr  1892  vor. 

Hiernach  waren  auf  dem  Gebiet  der  Unfallversicherung 
bei  etwa  18  000  000  Versicherten  5474  Rekurse  gegen  Urtheile 
der  ausschliesslich  vom  Reichsversicherungsamt  ressortirenden 
1255  Schiedsgerichte  anhängig,  unter  welchen  sich  1234  aus  den 
Jahren  1890  und  1891  übernommene  Rekurse  befanden.  Durch 
Urtheil  wurden  3244,  durch  Beschluss  (Verwerfung  wegen  LTn- 
zulässigkeit  oder  verspäteter  Einlegung  i und  auf  andere  Art 
(Zurücknahme,  Vergleich  etc.)  550,  zusammen  3794  Rekurse  er- 
ledigt. An  291  Sitzungstagen  haben  in  3507  Fällen  mündliche 
Verhandlungen  stattgefunden.  Darunter  wurden  an  39  Sitzungs-  : 
tagen  476  Rekurse  aus  dem  Gebiet  der  land-  und  forstwirth- 
schaftlichen  und  an  2 Tagen  23  Rekurse  aus  dem  Gebiet  der  , 
Seeunfallversicherung  verhandelt.  Beweisaufnahme  wurde  in  j 
748  Fällen  beschlossen,  236  LTrtheile  wurden  ohne  vorgängige  , 
mündliche  Verhandlung  gefällt. 

Bei  den  ausschliesslich  vom  Reichsversicherungsamt  ressor- 
tirenden Schiedsgerichten  sind  im  Berichtsjahre  22  249  Berufun- 
gen anhängig  geworden,  gegenüber  123  239  Bescheiden  der  Fest- 
stellungsorgane. Die  Zahl  der  angemeldeten  Unfälle  betrug 
nach  einer  vorläufigen  Ermittelung  235  587,  die  der  entschädigten 
Unfälle  55  551.  Nur  etwas  mehr  als  der  sechste  Theil  der 
Rentenfeststellungsbescheide  ist  durch  Berufung  und  von  den 
schiedsgerichtlichen  Urtheilen  in  den  rekursfähigen  Fällen  etwa 
ein  Viertel  durch  Rekurs  angegriffen  worden.  Die  gezahlten 
Entschädigungen  beliefen  sich  auf  32  560  000  M. 

Ueber  die  Aufnahme  oder  Ablehnung  der  Aufnahme  von 
Betrieben  in  die  Genossenschaftskataster  (Unternehmerverzeich- 
nisse) war  in  2684  Fällen  — einschliesslich  604  aus  dem  Vorjahre 
stammender  Fälle  — zu  verhandeln.  2062  Sachen  wurden  er- 
ledigt. 

Für  8 gewerbliche  Berufsgenossenschaften  wurde  die  Ab- 
änderung oder  Neuaufstellung  des  Gefahrentarifs,  für  4 die 
Beibehaltung  des  bestehenden  Tarifs  genehmigt  beziehungsweise 
angeordnet. 

Es  waren  ferner  zu  bearbeiten: 

225  Gefahrentarifbeschwerden,  274  Beschwerden  gegen  die 
Festsetzung  der  Genossenschaftsbeiträge,  50  gemischte  larifbe- 
schwerden  und  148  Beschwerden  gegen  die  Höhe  der  Prämien  etc. 
auf  Grund  des  Bauunfallversicherungsgesetzes.  Dazu  kamen 
21  landwirtschaftliche  Abschätzungsbeschwerden. 

Neben  diesen  718  Tarif-,  Umlage-,  Prämien-  und  Ab- 
schätzungsbeschwerden wurden  3777  — darunter  711  vorjährige 
Beschwerden  gegen  Strafverfügungen  der  Berufsgenossen- 
schaftsvorstände und  2114 — darunter  401  vorjährige  — ■ sonstige 
Beschwerden  aller  Art  behandelt.  Von  den  Strafbeschwerden 
blieben  1118  und  von  den  sonstigen  Beschwerden  aller  Art  305 
rückständig. 

Für  eine  gewerbliche  Berufsgenossenschait  wurden  revi- 
dirte  Unfallverhütungsvorschriften,  für  eine  andere  ein  Nachtrag 
zu  den  bereits  bestehenden  Vorschriften  genehmigt. 

Die  Aufstellung  einer  auf  19  918  von  den  Berufsgenossen- 
schaften etc.  ausgefüllten  Zählkarten  beruhenden  Statistik,  be- 
treffend die  in  iand-  und  forstwirtschaftlichen  Betrieben  im 
Jahre  1891  entschädigten  Einfälle,  wurde  ihrem  Abschluss  nahe 
gebracht. 

Statutenänderungen  wurden  für  23  Berufsgenossenschaften 
genehmigt. 

Auf  dem  Gebiete  der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung 
handelte  es  sich  ausser  zahlreichen  Anfragen  über  die  Versicherungs- 
pflicht, Beitragsentrichtung  und  Markenentwerthung  etc.  um  die 


No.  22. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


265 


Aufstellung  der  Uebersichten  über  die  Geschäfts-  und  Rechnungs- 
ergebnisse der  Versicherungsanstalten,  um  die  Bestimmungen 
über  die  an  die  Postbehörden  abzuführenden  Betriebsfonds,  um 
Verwendung  der  Vermögensbestände  u.  a.  m. 

Im  Jahre  1892  wurden  bei  11200  000  versicherten  Personen 
2756  Revisionen  in  Alters-  und  815  in  Invalidenrentensachen  an- 
hängig. Unerledigt  übernommen  aus  dem  Jahre  1891  sind  944 
Altersrentensachen.  Erledigt  wurden  durch  Urtheil  nach  münd- 
licher Verhandlung  2538,  auf  andere  Weise  (Zurückverweisung, 
Zurücknahme  oder  Vergleich  etc.)  739,  zusammen  mithin  3277 
Revisionen.  An  212  Sitzungstagen  haben  in  2611  Fällen  münd- 
liche Verhandlungen  stattgefunden. 

Bei  den  aut  Grund  des  Invaliditäts-  und  Altersversiche- 
rungsgesetzes errichteten  632  Schiedsgerichten  wurden  im  Be- 
richtsjahre 19  441  Berufungen  anhängig,  während  50  962  Ansprüche 
auf  Altersrente  und  36  696  auf  Invalidenrente,  zusammen  87  658 
Rentenansprüche  erhoben  wurden,  von  denen  — einschliesslich 
der  aus  dem  Vorjahr  übernommenen  7102  Altersrentenan- 
sprüche — 37  554  Alters-  und  17  100  Invalidenrentenansprüche 
seitens  der  Versicherungsanstalten  etc.  Anerkennung  gefunden 
haben. 

Renten  bezogen  im  Jahre  1892  187  800  Personen,  und 
zwar  22,4  Millionen  Mark,  mithin  pro  Kopf  119,28  M.  Die 
seit  dem  1.  Januar  1891  festgesetzten  Renten  repräsentiren  ein 
Deckungskapital  von  rund  83  Millionen  Mark  und  mit  Einschluss 
der  Einlagen  in  den  Reservefonds  ein  Kapital  von  rund  99,6 
Millionen  Mark. 

Die  Einnahmen  ergaben  nach  Abzug  der  Verwaltungs- 
kosten : 

1891  rund  85,2  Millionen  Mark, 

1892  >'  84,3 

zusammen  169,5  Millionen  Mark. 

Ohne  Berücksichtigung  der  Zinsen  stellt  sich  der  Ueber- 
schuss  aus  den  Beiträgen  der  beiden  bezeichneten  Jahre  somit 
auf  rund  69,9  Millionen  Mark. 

Beschwerden  gegen  Strafverfügungen  der  Vorstände  der 
Versicherungsanstalten  waren  740  zu  bearbeiten,  von  denen  572 
erledigt  wurden.  Statutenänderungen  wurden  für  3 Versiche- 
rungsanstalten genehmigt. 

Vom  Rechnungsbüreau  waren  einschliesslich  der  aus  dem 
Vorjahre  übernommenen  24  860  Rentenvertheilungsanträge  88  243 
derartige  Anträge  zu  bearbeiten.  Von  diesen  wurden  82  240 
erledigt. 

Gegen  diese  Rentenvertheilungen  wurde  beim  Reichsver- 
sicherungsamt in  181  Fällen  Einspruch  erhoben.  Diese  Ein- 
sprüche wurden — einschliesslich  der  im  Jahre  1891  unerledigten 
30  Fälle  — bis  auf  51  Fälle  erledigt. 

In  den  ,, Amtlichen  Nachrichten  des  Reichsversicherungs- 
amts“ wurden  aus  dem  Gebiete  der  Unfallversicherung  127 
Rekursentscheidungen  und  Verwaltungsbescheide  von  grund- 
sätzlicher Bedeutung,  aus  dem  Gebiet  der  Invaliditäts-  und 
Altersversicherung  1 16  Revisionsentscheidungen  u s.  w.  und 
Verwaltungsbescheide  veröffentlicht. 

Die  Zahl  der  Plenarsitzungen  belief  sich  auf  14. 

Die  Gesammtzahl  der  bearbeiteten  Rekurse,  Revisionen 
und  Beschwerden  betrug,  abgesehen  von  den  Arbeiten  des 
Rechnungsbüreaus,  21  247,  von  denen  5335  unerledigt  in  das 
Jahr  1893  hinübergingen. 

An  journalisirten  Eingängen  waren  beim  Reichsversiche- 
rungsamt im  Jahre  1892  insgesammt  206  079  zu  verzeichnen. 

Haftpflicht-Gesetzentwurf  für  Grossbritannien.  Am  21.  Fe- 
bruar wurde  durch  den  Minister  des  Innern,  Asquith,  dem  Unter- 
hause der  Entwurf  eines  Gesetzes  über  die  Haftpflicht  der 
Arbeitgeber  vorgelegt.  Derselbe  hat  den  Zweck,  1.  die  Arbeit- 
geber zu  hindern,  durch  gewisse  Clauseln  im  Arbeitskontrakt 
ihre  Haftpflicht  zu  umgehen,  und  2.  durch  Vereinfachung  des 
Geschäftsganges  dem  Arbeiter  den  Bezug  der  Entschädigung 
zu  erleichtern.  Ueber  die  Gesichtspunkte,  von  denen  die  Regie- 
rung bei  der  Ausarbeitung  der  Vorlage  sich  hat  leiten  lassen, 
machte  Mr.  Asquith  folgende  Mittheilungen : Nach  dem  gemeinen 
Recht  ist  der  Arbeitgeber  den  von  ihm  Beschäftigten  sowohl  in 
England  als  in  Schottland  für  Unfälle,  die  durch  seine  eigene 
Nachlässigkeit  ihnen  zugefügt  worden,  haftbar,  und  nach  einer 
jüngsten  Entscheidung  des  Oberhauses  heisst  Nachlässigkeit  des 
Arbeitgebers  hier  nicht  nur  persönliche  Sorglosigkeit,  sondern 
auch  Sorglosigkeit  in  der  Auswahl  der  Maschinen,  der  Arbeiter 
und  Nichtanwendung  der  geeigneten  Arbeitsweise.  In  Folge  des 
Wachsthums  und  der  Ausdehnung  der  Betriebe  wurde  es  nun 
dem  verunglückten  Arbeiter  schwer,  die  Haftpflicht  des  Unter- 
nehmers zu  beweisen,  da  es  ihm  nicht  möglich  war,  seinen  Unfall 
aus  der  persönlichen  Nachlässigkeit  des  Fabrikanten  herzuleiten. 
Daher  riefen  die  Arbeiter  zu  ihrem  Schutze  ein  anderes  Rechts- 
princip  an.  Der  Fabrikant,  so  erklärten  sie,  sei  auch  für  das 
Verhalten  seiner  Stellvertreter  und  seiner  Angestellten  innerhalb 
ihrer  Funktionssphäre  verantwortlich.  Nun  aber  entschieden  die 
Gerichtshöfe  in  Zweifelsfällen,  dass  es  sich  um  Ausnahmen  von 
der  allgemeinen  Regel  handle.  Der  Arbeiter  gehe  nämlich  still- 
schweigend einen  Contract  ein,  durch  den  er  die  während  seiner 
Thätigkeit  vorkommenden  Unfälle  seiner  Genossen  als  Folgen 
seiner  Nachlässigkeit  zu  verantworten  übernehme.  So  sei  der 
Fabrikant,  Minenbesitzer  u.  s.  w.  in  jedem  Falle  von  vornherein 


exculpirt  gewesen,  während  zur  Entschädigung  eventuell  der 
ärmste  Arbeiter  herbeigezogen  wurde,  denn  schuld  an  dem 
Unfall  war  a priori  ein  Arbeiter.  Diese  richterliche  Interpretation 
- die  Fiction  der  „gemeinsamen  Beschäftigung“  — die  als 
allgemein  gültig  angesehen  wurde,  stellte  der  Arbeiter  minder 
günstig  als  alle  "anderen  Gesellschafts-  und  Berufsklassen.  Denn 
wenn  z.  B.  ein  Eisenbahnunfall  durch  die  Schuld  eines  der 
Eisenbahnbeamten  sich  ereignet,  so  hält  sich  jeder  betroffene 
Passagier  ohne  weiteres  an  die  Eisenbahngesellschaft.  Der 
Rechtsungleichheit  zu  Ungunsten  der  Arbeiter  soll  nun  die  vor- 
gelegte Bill  ein  Ende  machen  Es  liegt  ihr  folgendes  Prineip  zu 
Grunde:  Wo  Jemand  auf  seine  Verantwortlichkeit  hin  Trieb- 
kräfte in  Bewegung  setzt,  welche  für  Andere  Lebensgefahr  be- 
dingen, da  muss  er  für  die  möglichen  Folgen  einstehen.  Dieser 
Satz  erleidet  nur  eine  Beschränkung:  dem  Arbeitgeber  wird  der 
Einwand  offen  gehalten,  dass  der  geschädigte  Arbeiter  durch 
eigene  Nachlässigkeit  den  Unfall  verursacht  habe;  in  diesem 
Fall  ruht  der  Ersatzanspruch  des  Arbeiters  und  die  Haftpflicht 
des  Arbeitgebers. 


Gewerbegerichte. 


Gewerbegerichtswahlen  in  Berlin.  Die  am  20.  Fe- 
bruar stattgehabten  Wahlen  endigten  mit  einem  grossen 
Sieg  der  Sozialdemokraten.  Die  letzteren  haben  nicht  nur 
in  der  gesammten  Klasse  der  Arbeitnehmer,  sondern  auch 
in  zwei  Bezirken  in  der  Klasse  der  Arbeitgeber  gesiegt. 
Der  12.  Bezirk,  in  welchem  die  Sozialdemokraten  in  der 
Klasse  der  Abeitgeber  den  Sieg  erfochten,  umfasst  die 
Gegend  der  Skalitzerstrasse,  es  hatten  hier  36  Wähler 
5 Beisitzer  zu  wählen,  der  37.  Bezirk,  in  welchem  ebenfalls 
den  Sozialdemokraten  der  Sieg  zufiel,  liegt  im  äussersten 
Norden  (Demminerstrasse) , hier  waren  4 Beisitzer  von 
54  Wählern  zu  wählen.  Die  Sozialdemokraten  verfügen 
also  im  Gewerbegericht  über  219  Stimmen,  denen  201  nicht- 
sozialdemokratische gegenüberstehen.  Bei  den  gestrigen 
Wahlen  haben  etwa  70  pCt.  der  eingeschriebenen  Wähler, 
die  bekanntlich  nur  einen  unbedeutenden  Prozentsatz  der 
Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  repräsentiren,  von  ihrem 
Wahlrecht  Gebrauch  gemacht. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung 

Wolimmgsgesetzgebung-  im  Grossherzogtlmin  Hessen. 

Der  in  No.  23,  I.  Jahrgang  S.  293  dieser  Zeitschrift  besprochene 
Entwurf  der  hessischen  Regierung  die  Beaufsichtigung  von 
Mietwohnungen  betreffend,  wurde  am  18.  Februar  d.  Js.  von 
der  zweiten  Kammer  des  Grossherzogthums  ohne  wesentliche 
Aenderungen  genehmigt.  Alle  Redner  waren  darin  einig,  dass 
im  Wohnungswesen,  namentlich  in  den  Städten,  schwere  Miss- 
stände vorliegen,  die  durch  die  Regierungsenquete  lange  nicht 
ausreichend  aufgedeckt  worden  seien.  Auch  wurde  von  den 
meisten  anerkannt,  dass  die  Gesetzesvorlage  geeignet  sei,  hier 
Wandel  zu  schaffen.  Einzelne  Redner  rügten,  dass  die  polizei- 
liche Aufsicht  der  Wohnungen  nur  für  die  Gemeinden  über 
5000  Einwohner  nicht  auch  für  das  Land  vorgeschrieben  sei, 
woselbst  ein  Eingreifen  nicht  minder  Noth  thue.  Mit  Recht  be- 
zweifelte der  sozialdemokratische  Abg.  Ullrich,  dass  die  private 
Bauthätigkeit  die  nothwendigen  kleinen  Wohnungen  hersteilen 
werde,  und  empfahl  deshalb,  den  Gemeinden  von  Staatswegen 
Mittel  zur  Erbauung  billiger  Wohnungen  zur  Verfügung°zu 
stellen.  Auch  der  Abg.  Gutfleisch  trat  als  Berichterstatter^  der 
dem  Entwurf  einer  wesentlich  besseren  Redaktion  unterworfen 
hatte,  für  die  Vorlage  ein,  indem  er  sowohl  die  Bestimmungen 
für  durchaus  zweckmässig  als  auch  die  Beschränkung  auf  die 
grösseren  Gemeinden  für  richtig  hielt.  Widerspruch  fand 
namentlich  Artikel  1 des  Gesetzes,  welcher  den  Gesundheits- 
beamten des  Staates  und  den  Ortspolizeibehörden  und  deren 
Beauftragten  die  Befugniss  einer  Untersuchung  der  Miethwoh- 
nungen und  Schlafstellen  giebt.  Indessen  wurde  zum  Schluss 
dieser  Artikel  gegen  eine  Minderheit  von  8,  das  ganze  Gesetz 
ge^en  eine  Minderheit  von  5 Stimmen  angenommen.  Während 
der  Artikel  1 des  Gesetzes  schon  am  1.  Oktober  d.  J.  (nicht  wie 
der  Entwurf  vorgesehen  bereits  am  1.  Juli)  in  Kraft  treten  soll, 
erhalten  die  übrigen  Bestimmungen  erst  vom  1.  Oktober  1894 
ab  Geltung. 


266  SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT.  No.  22. 


Schulwesen,  Bildungs-  und  Erziehungsfragen. 

Die  Kunst  ein  soziales  Problem. 

Vor  mir  liegen  zwei  Schriften  — „Die  bürgerliche 
Kunst  und  die  besitzlosen  Volksklassen“  von  Emil  Reich 
(Leipzig  1892)  und  „Die  Volksunterhaltung“  von  Kurt 
Bäcker  (Berlin  1893)  — die  beide  im  Grunde  nichts  anderes 
sind  als  eine  Modernisirung  der  Schillerschen  Forderung 
einer  ästhetischen  Erziehung  des  Menschengeschlechts.  — 
„Das  Volk“,  davon  gehen  beide  aus,  „die  grosse,  besitz- 
lose, arbeitende  Klasse , hat  keinen  Theil  an  der  Kunst“. 
Und  beide  kommen  zu  dem  Schluss : man  müsse  dem  Volk 
die  Kunst  zugänglich  machen,  es  zur  Kunst  erziehen,  wenn 
man  einer  schweren  Schädigung  des  Volkes  und  der  Ge- 
fahr der  Zerstörung  unserer  Kultur  Vorbeugen  wolle. 

Wer  die  beiden  Schriften  unmittelbar  nacheinander 
liest,  wird  sich  des  Eindruckes  nicht  erwehren  können,  dass 
Bäcker  das  Buch  Reichs  gekannt  und  zu  seiner  Arbeit 
benutzt  habe,  ob  er  gleich  desselben  nirgends  erwähnt. 
Es  finden  sich  Uebereinstimmungen,  die  so  stark  sind,  dass 
es  schwer  wird,  sie  dem  Zufall  zuzuschreiben,  und  die  um 
so  auffallender  sind,  als  Bäcker  den  Standpunkt  Reichs 
durchaus  nicht  überall  theilt.  Und  trotzdem  erscheint  es 
nicht  unmöglich,  dass  beide  Schriften  unabhängig  von  ein- 
ander entstanden  sind.  Denn  je  mehr  man  sich  in  das 
Buch  Reichs  hineinliest,  desto  mehr  überzeugt  man  sich, 
dass  auch  er  nicht  immer  Sprecher  sondern  oft  genug 
Sprachrohr  ist,  dass  hüben  wie  drüben  überhaupt  nicht 
ein  Mann  das  Wort  führt  sondern  viele,  oder  wenn  man 
will,  einer  im  Namen  vieler,  die  oft  da  und  dort  die- 
selben sind. 

Und  das  ist  für  uns,  denen  es  um  die  Sache  zu  tlnm 
ist,  das  Wichtigste:  es  handelt  sich  in  den  Schriften  Reichs 
und  Bäckers  nicht  um  Forderungen  lediglich  dieser  Beiden 
sondern  vieler;  sie  wollen  nicht  eine  neue  Bewegung  er- 
zeugen, sondern  einer  Bewegung,  die  bereits  im  Zuge  ist, 
neue  Anhänger  werben.  Was  aus  ihnen  beiden,  den 
Bürgerlichen,  spricht,  ist  der  soziale  Geist  der  Zeit,  der  von 
den  Massen  ausgeht  und  jetzt  die  Losung  ausgiebt:  die 

Kunst  dem  Volke! 

Freilich,  bis  es  zu  dieser  Losung  kam,  musste  viel 
geschehen.  Das  Bürgerthum,  das  zu  Schillers  Zeiten  noch 
als  dritter  Stand  sich  gegen  Adel  und  Geistlichkeit  empor- 
rang, es  musste  zum  herrschenden  Stande  werden.  Der 
alte  vierklassige  Staat  musste  zum  zweiklassigen,  der 
Mittelstand  zur  Bourgeoisie,  das  Handwerk  mit  goldenem 
Boden  zum  guten  Theil  zu  Proletariat  werden.  Die  In- 
dustrie musste  in  ihren  Centren  ungeheure  Arbeitermassen 
ansammeln,  und  das  intelligente  Bürgerthum,  um  tüchtigere 
Arbeiter  zu  gewinnen,  den  ungebildeten  Massen  die  allge- 
meine .Schulpflicht  aufzwingen,  womit  es  diesen  zugleich 
eine  Anweisung  auf  Kulturgenuss  ausstellte,  die  es  nicht 
einlöste  — , und  das  Proletariat  musste  zum  Bewusstsein 
seiner  selbst  erwachen,  zum  Klassenbewusstsein. 

Die  entsprechende  Wandlung  musste  auch  die  Kunst 
durchmachen.  Sie,  die  zu  Schillers  Zeiten  eine  Kämpferin 
für  den  Fortschritt  war,  sie  wurde  zur  Hüterin  des  Still- 
standes unter  der  herrschenden  Bourgeoisie. 

Es  ist  vielleicht  die  lesenswertheste  Partie  in  dem 
Buche  Reichs,  die  Schilderung,  wie  im  Gegensatz  zu  dieser 
bürgerlichen  Kunst,  in  der  nichts  widertönen  soll  von  dem 
Kämpfen  und  Ringen  da  draussen,  die  ein  geweihter  Be- 
zirk bleiben  soll,  wo  die  wirren  Stimmen,  die  wilden  Rufe 
verstummen,  entrückt  dem  Zwist  der  Parteien,  eine  Welt 
für  sich  — wie  im  Gegensatz  zu  dieser  Kunst,  die  so  mit 
Nothwendigkeit  einem  bornirten,  heuchlerischen  Pseudo- 
idealismus  verfiel,  eine  neue  Kunst  sich  entwickelt,  die  so- 
zusagen am  Siegestage  der  Bourgeoisie  geboren,  die  Inter- 
essen der  Besiegten  vertritt,  mit  diesen  sich  aufrichtet  und 
erstarkt,  in  allen  Stücken  das  Gegentheil  von  jener  nun 
abblühenden  Kunst  — rauh,  wahr,  ernst  das  Leben  zeichnend, 
wie  es  ist,  realistisch,  naturalistisch  — sozial.  Nur  in  einem 
Punkte  bleibt  auch  sie  bürgerlich:  in  ihrem  Publikum. 


Das  Bürgerthum  ist  eben  für  alle  Kunst  der  kaufkräftige 
Konsument.  Die  soziale  Kunst  spricht  vom  Volke  aber 
nicht  mit  dem  Volke,  sondern  mit  dem  Bürtmrthum.  Nun 

_ ...  . o 

denn,  so  mag  sie  vielleicht  wenigstens  dazu  beigetragen 
haben,  im  Bürgerthum  den  Gedanken  zu  wecken,  dass  es 
wohlgethan  wäre,  die  Kunst  dem  Volke  zugänglich  zu 
machen.  Sagt  doch  Kurt  Bäcker,  der  hierüber  vielleicht 
aus  eigener  Erfahrung  Bescheid  weiss:  „Wenn  der  soziale 
Gedanke  als  Vorstellung  einer  erweiterten  Menschlichkeits- 
pflicht bei  vielen  Gebildeten  und  manchen  Besitzenden 
heute  bereits  eine  grosse  Macht  gewonnen  hat,  so  sind 
Romanlektüre  und  dramatische  Darstellungen  ziemlich  stark 
an  diesem  Erfolge  betheiligt.“ 

Menschlichkeitspflicht!  — Wenn  wir  den  ersten  Faktor 
angeben  sollten,  der  in  dieser  Frage  mitspricht,  wir  wüssten 
keinen  andern.  Die  „Gebildeten“,  welche  dem  Volke  die 
Kunst  zuführen  wollen,  sind  höchst  wahrscheinlich  mehr 
oder  minder  Menschenfreunde,  Volksfreunde.  Es  ist  die 
Sorge  um  das  Wohl  des  Volkes,  die  ihnen  am  Herzen 
liegt.  — Der  Mensch  hat  das  Bediirfniss  nach  Genuss,  sagt 
man  sich,  und  sucht  dasselbe  zu  befriedigen,  wie  er  kann. 

Je  mehr  diese  Befriedigung  gehemmt  wird,  desto  mehr 
steigert  sich  das  Verlangen.  Schliesslich  ist  diesem  Hunger 
auch  die  schlechteste  Nahrung  willkommen.  Die  Kneipen, 
die  Tingeltangel,  die  Spezialitätentheater  u.  s.  w„  sie  sind 
es,  wo  das  Volk  heute  in  grosser  Zahl  seine  Genüsse  sucht. 

Die  Volksgesundheit  wird  vergiftet,  und  so  erscheint  es 
schon  vom  Standpunkt  der  Volkshygiene  aus  geboten, 
edlere,  reinere,  sittigendere  Genüsse  dem  Volke  zu  ermög- 
lichen. 

Für  noch  viel  segensreicher  aber  wird  die  Kunst  in 
einer  anderen  Hinsicht  erachtet.  Sie  soll  die  tiefe  und  ge- 
fährliche Kluft  überbrücken  helfen,  die  zwischen  Besitzenden 
und  Besitzlosen,  Gebildeten  und  Ungebildeten  besteht,  denn 
so  ist  es  ja:  die  beiden  Klassen  haben  kaum  noch  eine 
Gemeinschaft  mit  einander.  Ihre  Lebensweise,  ihre  Ge- 
danken, Hoffnungen,  Wünsche,  Ehrbegriffe  sind  völlig  ver- 
schieden. Diese  Fremdheit  soll  beseitigt  werden  — und 
hier  sollen  nun  Drama  und  Roman  den  Arbeiter  etwas 
ähnliches  lehren  wie  sie  es  viele  Gebildete  und  manchen 
Besitzenden  bereits  gelehrt  haben:  Menschlichkeitspflicht. 

So  wird  der  Klassenhass  gemildert  und  der  soziale  Kampf 
jedenfalls  mit  weniger  Brutalität  geführt  werden.  Das 
höchst  erreichbare  Ziel  aber  bleibt,  die  Kultur  in  die  Volks- 
seele  zu  legen  — denn  ist  sie  da,  so  wird  ihr  keine  soziale  j 
Revolution  etwas  anhaben  können. 

Dies  der  Standpunkt  der  bürgerlichen  Philanthropen 
ä la  Bäcker,  bei  dem  allerdings  etwas  von  bürgerlichem 
Klassengeist  durchblickt.  Der  Kampf,  den  das  Proletariat 
um  seine  Zukunft  führt,  ist  zum  allermindesten  nicht  ganz 
nach  seinem  Herzen,  und  die  Menschenliebe  ist  doch  immer 
begleitet  von  etwas  Furcht. 

Sehen  wir  nun  zu,  wie  die  bürgerlichen  Philanthropen 
dem  Volke  die  Kunst  zugänglich  machen  wollen.  Man 
denkt  an  billige  Volkskonzerte  — Billigkeit  spielt  hier 
selbstverständlich  überall  die  Hauptrolle  — an  Gesang- 
und  Orchestervereine,  Erweiterung  und  Vermehrung  der 
Volksbibliotheken  — an  Vermehrung  der  Besuchstunden  der 
Museen,  die  namentlich  an  Sonntagen  offen  gehalten  werden 
sollen,  an  einführende,  erläuternde  Vorträge,  an  Wander- 
museen und  Wandergastspiele  guter  Schauspieltruppen,  an 
regelmässig  wiederkehrende  Volksvorstellungen  in  den 
ständigen  Theatern  u.  s.  w. 

Das  Theater!  Hiermit  wären  wir  an  dem  wichtigsten 
Punkte  dieser  Angelegenheit  gekommen. 

Was  wollten  die  Volksfreunde  in  diesem  Betracht  und 
was  haben  sie  geleistet? 

Es  war  der  Freiburger  Professor  Georg  Adler,  der 
den  Vorschlag  machte,  alle  Subvention irten  staatlichen 
und  städtischen  Theater  sollten  einmal  in  der  Woche  für 
höchstens  50  Pf.  eine  Arbeitervorstellung  geben.  Die 
Gemeinden,  die  Souveräne,  vor  allem  der  deutsche  Kaiser 
mögen  ihre  pekuniäre  Macht  hierzu  geltend  machen  — also 
Oeffnung  der  Hoftheater  für  die  Arbeiter! 


No.  22. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


267 


Wir  sehen,  auch  Adler  appellirte  in  der  Richtung 
nach  oben  — ; der  Erfolg  war,  wie  ihn  böse  Menschen 
voraussahen,  gleich  Null,  und  wer  weiss,  ob  nicht  die 
Philanthropen  noch  heute  ohne  ein  Theater  wären,  hätte 
sich  nicht  vorher  ein  anderes  Ereigniss  vollzogen,  das 
mittelbar  — aber  sehr  mittelbar  — ihnen  zu  Statten  kam. 

Im  Herbst  1889  war  die  „Freie  Bühne“  gegründet 
worden,  nicht  fürs  Volk,  nein,  sondern  weil  es  der  „neuen 
dramatischen  Kunst“  an  einem  Asyl  fehlte.  Der  Kapitalis- 
mus als  Theaterunternehmer  liess  sie  nicht  in  seine  Schau- 
spielhäuser ein,  denn  der  Kassenerfolg  schien  ein  höchst 
zweifelhafter,  und  obendrein  war  diese  neue  sozialkritische 
Kunst  der  Censur  ein  Dorn  im  Auge.  Vor  beiden,  dem 
Kapitalismus  wie  der  Censur,  suchte  man  — d.  h.  eine  An- 
zahl rein  künstlerisch  interessirter  Schriftsteller,  Dichter  etc. — 
sichdurch  die  Bildung  eines  geschlossenen  Vereins  zu  schüt- 
zen, und  das  Unternehmen  gelang  unter  grossem  Aufsehen. 

Das  Muster  der  „Freien  Bühne“  schwebte  Bruno 
Wille  vor,  als  er  an  die  Arbeiter  Berlins  einen  Aufruf  er- 
liess,  sich  aus  eigener  Kraft,  zu  eigenem  Nutz  und  Frommen 
eine  „Freie  Volksbühne“  zu  schaffen,  mit  demokratischer 
Einrichtung,  eine  Bühne,  deren  Zweck  nicht  Unterhaltung, 
„sondern  hoher  Kunstgenuss,  sittliche  Erhebung  und  kräf- 
tige Anregung  zum  Nachdenken  über  die  grossen 
Zeit  fragen  sein  sollte“. 

Es  ist  bekannt,  welchen  Erfolg  dieser  Aufruf  hatte.  Die 
„Freie  Bühne“  fristet  längst  nur  mehr  eine  Scheinexistenz, 
die  Theilnalnne  des  Publikums  hatte  nachgelassen,  die  „Freie 
Volksbühne“  blüht  noch  heut  und  weder  die  Drangsalirung 
durch  die  Polizei,  noch  ein  im  letzten  Jahre  entstandener  Zwist 
im  Innern  haben  sie  ums  Leben  bringen  können.  Im  Gegen- 
theil.  Der  Zwist  gab  Anlass  zur  Gründung  einer  „Neuen 
freien  Volksbühne“  und  nichts  spricht  gegen  die  Lebens- 
fähigkeit beider  Vereine.  Das  Publikum  der  „Freien  Volks- 
bühne“ sieht  eben  nicht  wie  das  bürgerliche  der  „Freien 
Bühne“  in  der  Kunst  „nur  die  Kunst“,  sondern  „seine  Sache“ 
- das  mag  „unkünstlerisch“  sein,  aber  man  bedenke  dafür, 
dass  diese  „seine  Sache“  die  Sache  der  Zukunft  ist. 

Wie  stellen  sich  nun  die  Philanthropen  hierzu? 

Das  energische  Vorgehen  der  „klassenbewussten“ 
Arbeiterschaft  Berlins  veranlasst  sie  zur  Nachahmung.  Auch 
bei  ihnen  kommt  das  Prinzip  der  Selbsthilfe  zu  Ehren.  Auch 
sie  gründen  u.  z.  den  „Verein  für  Volksunterhaltungen“, 
der  zugleich  ein  Theaterverein  ist. 

Zweck  und  Ziel  dieses  Vereins,  der  sich  aus  Ange- 
hörigen aller  Stände  und  Berufe  zusammensetzt,  lässt  sich 
am  kürzesten  mit  den  Worten  Kurt  Bäckers  angeben:  das 
Volk  soll  hier  finden  „Erholung  von  der  täglichen  Sorge 
und  Arbeitslast,  die  trotz  aller  sozialdemokratischen  Zu- 
kuntt.sträume  nie  zu  beseitigen  ist.“  Demgemäss  möglichste 
Fernhaltung  aller  „drückend  nnd  düster“  wirkenden  Dich- 
tungen, sowie  aller  derjenigen,  „in  denen  es  sich  um  noch 
unentschiedene  Kunstkämpfe  handelt“,  die  dem  Volke  fern- 
liegen und  es  höchstens  zu  müssigen  ästhetischen  Grübe- 
leien verleiten  könnten.  Demgemäss  im  Ganzen  und 
Grossen  Ausschluss  der  modernen  Dramatik. 

Ein  Progamm,  das  an  Deutlichkeit  nichts  zu  wünschen 
übrig  lässt!  Denn  dass  die  Sorge  um  die  müssigen  ästhe- 
tischen Grübeleien  selber  mtissig  ist,  leuchtet  ein.  Wann 
hätte  je  ein  naives  Publikum  über  eine  neue  Kunstform 
gegriibelt?  — Nicht  ohne  eine  gewisse  Komik  ist  es 
übrigens,  dass  diese  Gebildeten,  denen  soziale,  also  doch 
moderne  Dramen  und  Romane  zur  „Vorstellung  einer  er- 
weiterten Menschlichkeitspflicht“  mitverholfen  haben,  dem 
Volke  das  moderne  Drama  so  ängstlich  vorenthalten.  — 
Nun  sei  es  so,  die  „feindlichen  Brüder“,  an  deren  Versöh- 
nung ihnen  doch  so  sehr  gelegen  ist,  dürften  von  der  „Freien 
Volksbühne“  doch  schwerlich  zur  „ethischen“  übergehen. 

Der  „sozialkritisch  geschulte“  Arbeiter  verlangt  eben 
und  dafür  hat  die  Freie  Volksbühne  den  glänzenden 
Beweis  erbracht  — nach  einer  anderen  Kost,  als  ihm  eine 
noch  so  wohlwollende  Philanthropie  vorsetzen  möchte.  Und 
sollen  wir  denn  durchaus  an  dem  Vorurtheil  festhalten, 


dass  der  Arbeiter,  weil  er  Arbeiter  ist,  dem  landläufigen 
| Theatergast  an  Intelligenz  nachstehe?  Sollen  sich  in  einer 
| so  zahlreichen  und  so  eifrig  um  ihre  geistige  Ausbildung 
bemühten  Arbeiterschaft,  wie  die  Berliner  es  allem  Anscheine 
nach  ist,  nicht  so  viel  helle  Köpfe  finden  wie  in  der  ersten 
besten  Mittelstadt,  die  im  Ganzen  vielleicht  halb  so  viel 
Einwohner  zählt  wie  die  Berliner  Arbeiterschaft  erwachsene 
Mitglieder?  Die  dazu  obendrein  kein  Centralpunkt  geistigen 
Lebens  ist?  Und  doch  würde  schwerlich  jemand  auf  den 
Einfall  kommen,  wenn  ein  Stück  z.  B.  von  Ibsen  in  einer 
Stadt  wie  Halle,  Magdeburg,  Nürnberg,  Braunschweig  auf- 
geführt würde,  die  Kapazität  des  hier  allerdings  „verehr- 
lichen“  Publikums  feierlich  anzuzweifeln. 

Doch  genug  davon.  Wir  wollen  uns  freuen  darüber, 
dass  jeder  der  beiden  Volksbühnen  vereine  sein  Theater  hat, 
denn  wahrscheinlich  ist  es  das,  welches  er  gerade  braucht. 
Dass  in  der  Arbeiterschaft  überhaupt  ein  Kunstbedlirfniss 
existirt,  dazu  bedurfte  es  keines  Beweises,  aber  hocherfreu- 
lich ist  es,  zu  wissen,  dass  die  bedeutendsten  Dichter  des 
Jahrhunderts  in  der  Arbeiterschaft  ein  Publikum  finden  und 
dass  ihre  Werke  da  „zündend“  wirken.  Dieses  „zündend“ 
ist  mehr  werth,  als  sogar  das  geistreichste  Theaterreferat. 

Ich  glaube,  die  soziale  Bewegung  um  die  Kunst  ist 
damit  in  ihren  Hauptzügen  dargelegt.  Die  Frage  drängt 
sich  auf:  was  lehrt  uns  diese  Bewegung?  was  lehrt  uns 
insbesondere  der  Gang  dieser  Bewegung? 

Von  Künstlern  und  Philanthropen  ist  sie  ausgegangen, 
aber  die  erste  That  auf  dem  unvergleichlich  wichtigsten 
aller  hier  in  Frage  kommenden  Gebiete  gehört  der  klassen- 
bewussten Arbeiterschaft,  und  wenn  die  gemischte  Gesell- 
schaft der  Philanthropen  bald  nachher  ebenfalls  zur  That 
schreitet,  so  erscheint  diese  sehr  deutlich  auch  als  Gegen- 
that.  Die  Dinge  — nicht  die  Worte,  sondern  die  Dinge  — 
kamen  erst  in  Gang,  als  der  am  weitesten  fortgeschrittene, 
zur  klarsten  Erkenntniss  der  Volksinteressen  gelangte  Theil 
des  Volkes,  als  die  „sozialkritisch  geschulte“  Arbeiterschaft 
sie  in  Gang  brachte.  Und  auf  diesem  Wege,  scheint  es 
uns,  in  That  und  Gegenthat,  wird  die  Bewegung  zu  Nutz 
und  Frommen  des  Volkes  weitergehen.  Sowie  ja  auch  die 
anderweitigen  „sozialen  Reformen“  nicht  deswegen  weiter- 
gehen, weil,  wie  die  bürgerliche  Presse  es  darstellt,  der 
Staat  dieselben  in  die  Hand  genommen  und  die  besitzenden 
Klassen,  die  Willigen  wie  die  Widerwilligen  zur  Mitarbeit 
fortgerissen  hat,  sondern  weil  die  gewaltige  Bewegung  der 
zum  Klassenbewusstsein  erwachten  Massen  die  herrschenden 
Klassen  zu  Reformen  zwingt.  „Wer  hat,  dem  wird  ge- 
geben werden“  so  heisst  es  ja  in  der  Bibel. 

Zu  Nutz  und  Frommen  des  Volkes  — und  — der 
Kunst,  denn  dass  beider  Interessen  auf  demselben  Wege 
liegen,  ist  klar.  Freilich  fehlt  es  nicht  an  Stimmen,  welche 
ihr  eine  Zeit  der  Vergröberung,  des  Niederganges  prophe- 
zeien, welche  von  einer  ihr  bevorstehenden  Einbusse  an 
Feinheit  und  Tiefe  der  Empfindung,  Adel  der  Gedanken 
u.  s.  w.  reden.  Nun,  dieselben  Bedenken  hat  man  einst 
wohl  auch  in  den  aristokratischen  Salons  der  aufstrebenden 
bürgerlichen  Kunst  entgegengehalten,  wer  aber  möchte 
heute  diesen  Standpunkt  theilen?  Die  Massen,  an  deren 
Verständniss  und  Gefühl  die  moderne  Kunst  sich  ganz  un- 
zweifelhaft wendet,  sie  sinken  ja  doch  nicht,  sie  bleiben 
auch  nicht  stehen,  im  Gegentheil,  sie  schreiten  vor,  sie 
steigen  auf.  Die  Zukunftskunst  der  Massen  wird  sich  zur 
Gegenwartskunst  des  Bürgerthums  verhalten  wie  die 
Wagnersche  Musik  des  grossen  Orchesters  zu  der  des 
alten  kleinen  Orchesters  oder  gar  der  Kammermusik.  Man 
erinnert  sich  ja,  wie  man  seiner  Zeit  dieses  grosse 
Orchester  als  roh,  brutal,  aller  feineren  Empfindung  hohn- 
sprechend verschrie  — und  heute?  Heute  hört  man  in 
dieser  Brutalität  — Reichthum,  Fülle,  Tiefe,  Macht  der 
Empfindung  u.  s.  w. 

So  wird  es  auch  mit  der  Kunst  werden,  die  nicht 
mehr  aus  dem  Empfinden  einer  „aristokratischen“  Klasse, 
sondern  aus  dem  Volke  heraus  spricht. 

Berlin.  Heinrich  Krzyzanowski. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


268 


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No.  22. 


OF  POLITICAL  AND  SOCIAL  SCIENCE. 


The  Official  Journal  of  the  American  Academy  of  Politicai 
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questions  of  the  day. 

The  ANNA  LS  contains  articles  on  economic,  politicai,  social,  historical 
and  legal  subjects;  reports  of  the  discussions  at  the  meetings  of  the  Academy ; 
personal  notes,  about  the  workers  in  the  field  of  politicai  and  social  Science, 
and  Reviews  of  the  latest  books  treating  of  these  questions. 


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„EXPORT“ 

Organ  des  Centralvereins  für  Handelsgeographie 

und  Förderung  Deutscher  Interessen  im  Auslande. 

XIV.  Jahrgang-. 

Herausgegeben 

von 


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Dr.  IPirtbuT. 

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Dr.  jur.  et  phil. 

Redaktion  und  Expedition:  Berlin  W.,  Magdeburgerstrasse  36. 


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Die  seit  1879  erscheinende  Wochenschrift  „Export“  ist  bestrebt,  die  Interessen 
des  deutschen  Exports  thatkräftig  zu  vertreten,  sowie  dem  deutschen  Handel  und  der 
deutschen  Industrie  wichtige  Mittheilungen  über  die  Handelsverhältnisse  des  Aus- 
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A.  Zimmer’s  Verlag  (Ernst  Mohrmann)  Stuttgart. 


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Verantwortlich  für  den  Anzeigcntheil:  O.  Schuchatdt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  8.  Hermann  in  Berlin. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  6.  März  1893. 


Nummer  23 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


T.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  S W.  48. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHAL  T. 


Zur  Landarbeiterfrage  in 
Russland.  Von  P.  v.  Struve. 

Soziale  Wirthscliaftspolitik  u. 
Wirthscliaftsstatistik: 

Entwurf  betr.  Abänderung  des 
Unterstützungswohnsitzgesetzes. 

Rückgang  des  Fleischkonsums. 

Finanz  fragen: 

In  der  preussischcn  Steuerreform- 
kommission. 

Gegen  die  progressive  kommunale 
Einkommensteuer. 

Ueber  indirekte  Gemeindesteuern. 
Arbeiterzustände : 

Ergebnisse  der  statistischen  Er- 
hebungen im  Tischler-  (Schrei- 
ner-) Gewerbe  pro  1891.  Von 
Dr.  H.  Lux. 

Erhebungen  des  evangelisch- 
sozialen Kongresses  über  die 
Lage  der  ländlichen  Arbeiter 
im  deutschen  Reiche. 

Arbeitslosenstatistik. 

Frauenarbeit  in  den  Vereinigten 
Staaten. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Der  Ausstand  der  Baumwollen- 
arbeiter in  Lancashire. 

Die  Union  der  vereinigten  Ma- 
schinenbauer Englands. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Der  Lirsprung  der  Arbeiterbewegung 
in  Belgien.  Von  Dr.  Emile 
Vandervelde. 

Unternehmerverbände : 

Die  Bekämpfung  der  Trusts  durch 


Abdruck  sämmtlicher 


die  Zollpolitik  der  Vereinigten 
Staaten. 

Handwerkerfragen : 

Oesterreichische  parlamentarische 
Enquete  über  die  Gewerbeord- 
nungsnovelle. 

Arbeitersclmtzgesetzgebung : 

Entwurf  einer  neuen  Seemanns- 
ordnung für  das  Deutsche  Reich. 

Arbeitszeit  in  der  deutschen  Stein- 
industrie. 

Zur  Sonntagsruhe  in  Basel. 

Arbeiterversicherung: 

Zur  Frage  des  Anspruches  einer 
Invaliditäts-  und  Altersrente. 

Darstellung  der  deutschen  Arbeiter- 
versicherung für  die  Weltaus- 
stellung in  Chicago. 

Wittwen-  und  Waisenversicherung 
der  Seeleute. 

Wohnungszustände  und  Woli- 
nungsgesetzgebung : 

Bau  von  Beamten-  und  Arbeiter- 
wohnungen durch  deutsche  Ge- 
meindeverwaltungen. 

Zur  Arbeiterwohnungsfrage. 
Soziale  Hygiene: 

Verbot  offener  Koksöfen. 

Beschränkung  des  Ausschanks 
geistiger  Getränke  in  England. 

Mässigkeitsvereine  undMässigkeits- 
wirthschaften  in  der  Schweiz. 
Schulwesen,  Bildungs-  und  Ev- 
ziehnngsfragen: 

Gewerbliche  Fortbildung  in  Hessen. 

Unterrichtsverband  der  Arbeiter- 
vereine Niederösterreichs. 

Volksbibliotheken. 


gestattet, 


Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Zur  Landarbeiterfrage  in  Russland. 

Die  ganze  russische  Volkswirthschaft  steht  mitten  in 
einer  Krise.  Es  ist  der  Uebergang  von  den  primitiven 
Wirtschaftsformen  zu  den  komplizirten  Gebilden  der  kapi- 
talistischen Wirtschaftsordnung,  welcher  sich  so  schmerz- 
voll für  das  grosse  Land  gestaltet.  Und  eben  in  der  Land- 
wirtschaft machen  sich  die  schweren  Begleiterscheinungen 
des  grossartigen  Umwandlungsprozesses  viel  fühlbarer  als 
auf  anderen  Gebieten  des  volkswirtschaftlichen  Lebens. 
Ein  grosser  Theil  des  Landes  mit  fast  ausschliesslich  acker- 
bautreibender Bevölkerung  ist  relativ  übervölkert,  während 
ein  anderer  Theil  bedeutenden  Bevölkerungsmangel  auf- 
weist. Beide  Theile  leiden  unter  diesen  Verhältnissen. 
Nebenbei  gesagt,  ist  es  theoretisch  von  grossem  Interesse, 


dass  auch  in  dem  dünnbevölkerten  Russland  die  Bevölke- 
rungsfrage der  Ausgangspunkt  der  wirtschaftlichen  Ent- 
wickelung und  die  Ursache  der  sozialen  Leiden  bildet. 

In  der  jüngsten  Publikation  des  „Departements  für 
Ackerbau  und  landwirtschaftliche  Gewerbe“,  welche  in 
einer  grossen  Arbeit  von  S.  A.  Ivorolenko:  „Die  Lohn- 
arbeit auf  Landgütern  und  die  Landarbeiterwanderungen 
im  Zusammenhänge  mit  einer  statistischen  Skizze  des  Euro- 
päischen Russlands  in  landwirtschaftlicher  und  industrieller 
Beziehung“  besteht,  liegt  ein  wertvoller  Beitrag  zur  Kennt- 
niss  der  agrarischen  Zustände,  speziell  der  Landarbeiter- 
frage in  Russland,  vor. 

Diese  Arbeit  ist  — abgesehen  von  dem  reichen  ge- 
druckten Material,  welches  für  den  allgemeinen  Theil  be- 
nutzt wurde  — eine  Verarbeitung  von  mehr  als  20  000  Ant- 
worten auf  einen  von  dem  genannten  Departement  an  die 
Gutsbesitzer  versandten  Fragebogen.  Die  Fragen  betrafen 
folgende  Punkte:  1.  Die  Art  und  Weise,  in  welcher  die 
Landgüter  in  der  betreffenden  Gegend  bewirtschaftet 
werden,  ob  vorzugsweise  durch  Tagelöhner  oder  monatliche 
Arbeiter  oder  Terminarbeiter  oder  endlich  im  Wege  der 
Theilpacht?  2.  Werden  die  Accordarbeiter  und  die  Termin- 
arbeiter im  Voraus  (gegen  Handgeld)  oder  erst  bei  Beginn 
der  verschiedenen  Feldarbeiten  gedungen?  3.  Falls  für  die 
Feldarbeiter  nicht  Ortsangesessene  (d.  h.  eingewanderte) 
Arbeiter  gemietet  werden,  aus  welcher  Gegend  kommen 
dieselben?  Wenn  im  Gegenteil  aus  den  betreffenden 
Gegenden  Arbeiterwanderungen  unternommen  werden,  wo- 
hin richten  sich  dieselben  und  wie  gross  ist  die  Anzahl  der 
Arbeiter,  welche  daran  beteiligt  sind?  4.  Wie  hoch  ist  der 
Lohn  für  Jahresarbeiter,  welches  sind  die  Kontraktbedin- 
gungen und  wie  hoch  stellt  sich  die  Beköstigung?  5.  Wenn 
die  Benützung  der  Terminarbeiter  verbreitet  ist,  wie  lang 
sind  dann  die  Termine,  für  welche  sich  die  Arbeiter  ver- 
dingen und  wie  hoch  ist  der  übliche  Lohn  der  Termin- 
arbeiter? 6.  Wie  hoch  ist  der  Lohn  der  Accordarbeiter  und 
welches  sind  die  Kontraktbedingungen?  7.  Wie  hoch  ist  der 
Tagelohn  im  Frühjahr,  während  der  Heumahd  und  der 
Kornernte?  Ausser  der  Beantwortung  dieser  Fragen  konnten 
die  Gutsbesitzer  dem  Departement  ihre  Wünsche  mit- 
theilen. Aus  dem  Fragebogen  ist  schon  ersichtlich,  dass 
sozialpolitische  Gesichtspunkte  bei  dieser  Enquete  gar 
nicht  in  Betracht  kamen,  und  es  ist  höchst  bezeichnend,  dass 
auch  die  Verarbeitung  des  grossen  Materials  einem  eifrigen 
Vertreter  der  Gutsbesitzerinteressen  übertragen  wurde. 

Herr  Korolenko  theilt  die  50  Gouvernements  des  euro- 
päischen Russlands  (mit  Ausschluss  der  10  polnischen)  in 
3 Gruppen:  1.  21  Gouvernements  (Central-  und  Westruss- 
land), wo  der  gesammte  Nahrungsspielraum  auf  der  gegen- 


270 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  23. 


wärtigen  Entwickelungsstufe  für  die  vorhandene  Bevölke-  j 
rung  zu  klein  ist;  andere  Erwerbszweige  ausser  dem  Acker- 
bau können  den  Bevölkerungsüberschuss  Korolenko 
schätzt  ihn  auf  2 V2  Millionen  Arbeitsfähiger  beiderlei  Ge- 
schlechts — nicht  absorbiren,  und  so  ist  derselbe  entweder 
auf  Wanderarbeit  oder  auf  Auswanderung  angewiesen. 

2.  8 Gouvernements,  welche  Mangel  an  Bevölkerung  im 
Verhältniss  zum  genannten  Nahrungsspielraum  aufweisen 
(Süd-  und  Ostrussland).  Diesen  Bevölkerungsmangel  schätzt 
Korolenko  auf  2 873  000  Arbeitsfähiger  beiderlei  Geschlechts. 
Der  Mangel  an  landwirthschaftlichen  Arbeitskräften  allein 
wird  von  ihm  auf  1 435  000  geschätzt.  3.  21  Gouvernements 
(Nord-  und  Nordwestrussland),  auch  einige  Gouvernements 
Central-  und  Ostrusslands),  welche  gleichfalls  einen  Be- 
völkerungsmangel im  Verhältniss  zum  gesammten  Nahrungs- 
spielraum aufweisen.  Da  jedoch  der  Ackerbau  hier  weder 
entwickelt  noch  rentabel  ist,  so  ist  ein  bedeutender 
Theil  der  Bevölkerung  in  anderen  Erwerbszweigen  be- 
schäftigt und  zwar  in  einigen  Gouvernements  in  solchem 
Umfange,  dass  auch  hier  grosser  Mangel  an  landwirth- 
schaftlichen Arbeitern  herrscht. 

Die  starken  alljährlichen  Landarbeiterwanderungen 
hnden  aus  dem  Gebiete  I in  das  Gebiet  2 statt.  Es  muss 
dabei  bemerkt  werden,  dass  in  den  „übervölkerten  Gou- 
vernements Centralrusslands  die  Wirthschaft  nicht  wie 
es  „naturgemäss“  sein  sollte  — vorzugsweise  auf  Lohn- 
arbeit, sondern  auf  der  Ausbeutung  der  „Landnoth“  der 
Bauern  basirt  ist.  Diese  Ausbeutung  findet  in  den  hohen 
Pachtpreisen  ihren  Ausdruck  vgl.  unsere  Ausführungen  in 
dieser  Zeitschrift,  jahrg.  II.  No.  I).  Herr  Korolenko  dagegen 
will  die  Ursache  der  schwachen  Entwickelung  der  echtkapita- 
listischen Landwirthschaft  nicht  nur  in  der  viel  leichteren 
und  bequemeren  Art  der  Ausbeutung,  welche  das  Pacht- 
verhältniss  bietet,  sehen,  sondern  auch  in  der  Unsicherheit, 
welcher  die  Gutsbesitzer  durch  häufigen  Kontraktbruch 
seitens  der  Arbeiter  ausgesetzt  sind.  Wir  wollen  keines- 
wegs diese  Thatsache  bestreiten,  aber  sie  ist  doch  von 
secundärer,  untergeordneter  Bedeutung. 

In  den  süd-  und  ostrussischen  Gouvernements,  in 
welchen,  wie  gesagt,  der  grosse  Mangel  an  landwirthschaft- 
lichen Arbeitskräften  durch  Wanderarbeiter  aus  Central- 
russland theilweise  gedeckt  wird,  hängt  die  Nachfrage  nach 
Arbeitskräften  ganz  von  dem  jeweiligen  Ausfall  der  Ernte 
ab:  bei  schlechter  Ernte  kehren  die  eingewanderten  Ar- 
beiter unverrichteter  Sache  als  Bettler  durch  Entbehrungen 
völlig  erschöpft  zurück  in  die  Heimath,  wo  sie  schon  längst 
überflüssig  sind.  Auch  hier  in  diesen  fruchtbaren  Gou- 
vernements erweist  sich  nach  Korolenko  als  „Haupthinder- 
niss  zu  einer  rationellen  Bewirthschaftung  der  Güter“  eben- 
falls der  systematische  Kontraktbruch  seitens  der  Arbeiter. 
„Bei  einem  mehr  oder  minder  günstigen  Ausfall  der  Ernte, 
wenn  die  Erntezeit  kommt,  verlassen  fast  auf  allen  (?!) 
Gütern  die  Arbeiter  ihre  Herren,  bei  welchen  sie  bereits 
Handgelder  genommen  haben,  und  treten  auf  den  Arbeits- 
märkten als  um  Arbeit  werbende  Tagelöhner  auf,  wobei 
sie  ganz  unverhältnissmässig  hohen  Lohn  für  sich  in 
Anspruch  nehmen.  Da  die  Felder  nicht  ungeerntet 
bleiben  können,  sind  die  Gutsbesitzer  oft  gezwungen  3, 

4 selbst  5 Rubel  Tagelohn  den  von  ihnen  schon  früher 
gedungenen  Arbeitern  zu  zahlen  und  nicht  nur  verlieren 
sie  dabei  die  Vortheile,  welche  eine  gute  Ernte  ihnen  geben 
könnte,  sondern  sie  tragen  noch  sehr  bedeutende  Verluste. 
Dadurch  werden  sie  zur  Verpachtung  ihrer  Güter  ge- 
drängt.“ 

In  dieser  tendenziösen  Schilderung  vermissen  wir  eine 
Kleinigkeit:  den  Hinweis  auf  die  Fundamentalursache  J 

des  häufigen  Kontraktbruches  seitens  der  Landarbeiter. 
Schon  in  einer  früheren  Publikation  der  Departements  für 


Ackerbau  etc.  („Die  Produktionskosten  des  Getreides“,  1890) 
finden  wir  folgende  interessante  Erklärung  dieser  Erschei- 
nung — diese  Erklärung  rührt  von  einem  Gutsbesitzer, 
Korrespondenten  des  Departements  her  — : „Handgelder  ver- 
lieren diejenigen  Gutsbesitzer,  welche  im  Winter  die  orts- 
angesessenen Arbeiter  für  billigen  Lohn  dingen.  Es  sind 
eben  meistentheils  nothgedrungen  eingegangene  Arbeiter- 
kontrakte, welche  — bei  einer  für  die  Arbeiter  günstigeren 
Konjunktur  — von  denselben  ignorirt  resp.  gebrochen 
werden.  Ein  Gutsbesitzer  gesteht  in  seinem  Berichte  ganz 
offen,  dass  er  den  Arbeitern  gegenüber,  welche  er  im 
Winter  dingt,  sich  immer  verpflichtet,  die  Differenz  zwischen 
dem  Winter-  und  Sommerlohn  auszuzahlen,  wenn  nur  die 
Arbeit  pünktlich  und  gut  verrichtet  wird.  Eine  natürliche 
Folge  dieser  Verhältnisse  ist  es,  dass  die  Sitte,  die  Arbeiter 
im  Winter  oder  im  Herbst,  wo  die  Geldnoth  am  grössten, 
zu  dingen , sich  als  unpraktisch  erwiesen  hat  und  auf- 
gegeben werden  musste. 

Der  Durchschnittslohn  der  Jahresarbeiter  (Gesinde) 
mit  Beköstigung  stellt  sich  (für  die  Periode  1883 — 1891)  in 
den  50  Gouvernements  auf  62  Rubel,  Maximallohn  ist  104 
Rubel  (Gouvernement  Taurieff),  Minimallohn  30  Rubel  (Gou- 
vernement Wolhynien).  Aus  der  Tabelle  der  Durchschnitts- 
löhne in  den  einzelnen  Gouvernements  ersieht  man,  dass 
einerseits  gleiche  oder  fast  gleiche  Löhne  in  räumlich  sehr 
von  einander  entfernten  Gouvernements  Vorkommen,  anderer- 
seits aneinandergrenzende  Gouvernements  grosse  Diffe- 
renzen aufweisen.  Die  durchschnittlichen  Unterhaltskosten 
(Beköstigung)  eines  Jahresarbeiters  betragen  46  Rubel 
(Maximum  65  Rubel  im  Gouvernement  Kurland,  Estland  und 
St.  Petersburg,  Minimum  33,50  Rubel  im  Gouvernement 
Podolien). 

Der  durchschnittliche  Arbeitslohn  resp.  die  Unter- 
haltskosten einer  Jahresarbeiterin  betragen  34  resp.  43 
Rubel.  Die  Differenz  in  der  Bezahlung  der  männlichen  und 
weiblichen  Arbeit  ist  darnach  eine  sehr  bedeutende,  während 
die  Unterhaltskosten  nur  wenig  differiren. 

Die  Terminarbeiter  verdingen  sich  gewöhnlich  auf 
ungefähr  5 Monate,  von  Ende  April  oder  Anfang  Mai  bis 
zum  10.  Oktober.  Der  Durchschnittslohn  eines  solchen 
Terminarbeiters  schwankt  zwischen  68  Rubel  (Gouverne- 
ment St.  Petersburg)  bis  30  Rubel  (Gouvernement  Minsk); 
eine  Terminarbeiterin  bekommt  im  Maximum  44  Rubel 
(Gouvernement  St.  Petersburg)  im  Minimum  — 16  Rubel 
(Gouvernement  Orel). 

Der  durchschnittliche  Tagelohn  während  der  Erntezeit 
erreicht  sein  Maximum  im  Gouvernement  T aurien  — 1 ,23  Rubel, 
sein  Minimum  im  Gouvernement  Grodno  — 0,41  Rubel. 

Der  Durchschnitt  aus  den  höchsten  Tagesverdiensten 
variirt  für  dieselbe  Periode  von  2,80  Rubel  im  Gouverne- 
ment Jekaterinoslaw  bis  0,45  Rubel  im  Gouvernement  Wilno; 
der  Durchschnitt  aus  den  niedrigsten  Tagesverdiensten  be- 
wegt sich  zwischen  0,80  Rubel  im  Gouvernement  Taurien 
und  0,35  Rubel  im  Gouvernement  Grodno.  Die  Differenz 
zwischen  dem  durchschnittlichen  Maximal-  und  dem  durch- 
schnittlichen Minimallohn  macht  für  das  Gouvernement 
Jekaterinoslaw  2,20  Rubel,  für  das  Gouvernement  Wologda 
nur  0,05  Rubel  aus.  „In  einzelnen  Fällen“  erreicht  der 
Tageslohn  in  Südrussland  während  der  Erntezeit  5,00  Rubel, 
während  für  das  Gouvernement  Grodno  ein  solcher  aus- 
nahmsweise gezahlter  Maximallohn  nur  0,75  Rubel  beträgt. 
Interessant  dürfte  der  Unterschied  zwischen  dem  getreide- 
reichen Süden  (Gouvernement  Cherson)  und  dem  hohen 
Norden  (Gouvernement  Archangelsk)  sein;  während  hier 
die  Differenz  zwischen  dem  Tagelohn,  welcher  zur  Ernte- 
zeit gezahlt  wird  und  demjenigen  während  der  Aussaatzeit 
nur  0,01  Rubel  ausmacht,  beträgt  dort  diese  Differenz 
0,88  Rubel. 


No.  23. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


271 


Relativ  hohe  und  stabile  Löhne  werden  in  den  3 Bal- 
tischen Gouvernements  Kur-,  Liv-  und  Estland  gezahlt, 
was  vollkommen  clem  hohen  Stande  der  Landwirtschaft  in 
denselben  entspricht. 

Eine  Umwälzung  in  der  landwirtschaftlichen  Arbeitcr- 
lage  im  Süden  Russlands  ruft  die  Verbreitung  der  arbeit- 
sparenden landwirtschaftlichen  Maschinen  hervor  und 
dieser  Umstand  im  Vereine  mit  der  Bevölkerungszunahme 
in  den  südrussischen  Gouvernements  wird  sich  sehr  fühlbar 
für  die  ruinirte  Bauernschaft  der  übervölkerten  Central- 
gouvernements machen  und  die  Arbeiterwanderungen  be- 
deutend reduziren. 

Man  bedenke  dabei,  dass  fast  die  Hälfte  der  gesummten 
arbeitsfähigen  Bevölkerung  (beiderlei  Geschlechts)  in  diesen 
Gouvernements  auf  Wanderarbeit  ausgehen  muss! 

Die  Binnenwanderungen  in  den  unfruchtbaren,  nicht- 
schwarzerdigen Gouvernements  Centralrusslands  und  im 
Norden  Russlands  tragen  einen  ganz  anderen,  nicht  land- 
wirtschaftlichen Charakter:  hier  sind  die  Wanderarbeiter 
entweder  selbständige  Gewerbetreibende  oder  gewerbliche 
Arbeiter  oder  endlich  städtische  Dienstboten. 

Diese  Verhältnisse  sind  zum  Theil  durch  das  Fort- 
bestehen ganz  veralteter  Institutionen  bedingt.  Freizügig- 
keit würde  hier  bald  Wandel  schaffen.  Wie  immer  so  auch 
in  dem  vorliegenden  Falle  eilt  das  wirtschaftliche  Leben 
den  rechtlichen  Formen  voraus.  Auf  die  Dauer  aber  ist 
ein  solches  Auseinandergehen  unhaltbar,  und  in  raschem 
Tempo  nähern  wir  uns  dem  Momente,  wo  dies  allgemein 
empfunden  werden  wird. 

St.  Petersburg.  P.  v.  Struve. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Entwurf  betr.  die  Aenderung  des  Unterstützungswolin- 

sitzgesetzes.  Seitens  der  Regierung  ist  dem  deutschen  Reichstag 
ein  Entwurf  betr.  die  Aenderung  des  Gesetzes  über  den  Unter- 
stützungswohnsitz und  Abänderung  des  Strafgesetzbuchs  zuge- 
gangen. 

Derselbe  bestimmt,  dass  die  Fähigkeit  zum  selbstständigen 
Erwerb  und  Verlust  des  Unterstützungswohnsitzes  nach  zurück- 
gelegtem 18.  Lebensjahre  erworben  wird,  statt  wie  bisher  mit 
dem  24.  Lebensjahr.  Die  Ansprüche  der  Armenverbände  auf 
Erstattung  sollen  zukünftig  in  zwei  Jahren  verjähren.  Die  Be- 
stimmung. dass  der  Armenverband  des  Dienstortes  erkrankten 
Dienstboten,  Gesellen,  Lehrlingen  während  6 Wochen  Kur-  und 
Verpflegung  zu  gewähren  hat,  wird  auch  auf  land-  und  forst- 
wirthschaftliche  Arbeiter  und  die  Verpflichtung  auf  13  Wochen 
ausgedehnt.  Nach  § 30  des  jetzt  geltenden  Gesetzes  hat  für 
einen  Hülfsbedürftigen,  welcher  keinen  Unterstützungswohnsitz 
hat,  derjenige  Landarmenverband  einzutreten,  in  dessen  Bezirk 
sich  derselbe  bei  Eintritt  der  Hülfsbedürftigkeit  befand.  Hier- 
nach muss  der  Ortsarmenverband  der  vorläufigen  Unterstützung 
demjenigen  Landarmenverband,  von  welchem  er  die  Erstattung 
der  aufgewendeten  Kosten  fordert,  den  Beweis  erbringen,  dass 
der  von  ihm  Unterstützte  einen  Unterstützungswohnsitz  nicht 
besitzt.  Dieser  Beweis  ist  nicht  selten  schwierig,  ins- 
besondere dann  wenn  die  Vernehmung  des  Unterstützten 
unmöglich  ist,  beispielsweise  bei  Kindern,  bei  Schwerkranken, 
alsbald  versterbenden  Personen , bei  abgeschobenen  Idioten, 
Irren  oder  Taubstummen  sowie  dann,  wenn  es  sich  um  die 
Kosten  der  Beerdigung  aufgefundener  unbekannter  Leichen 
handelt.  Der  Paragraph  soll  daher  dahin  abgeändert  werden, 
dass  statt  der  Worte  „welcher  keinen  Unterstützungswohnsitz 
hat“  gesagt  wird:  „wenn  ein  Unterstützungswohnsitz  nicht  zu 
ermitteln  ist“.  Der  Beweis,  dass  ein  Unterstützungswohnsitz 
des  Unterstützten  nicht  zu  ermitteln  gewesen  ist,  gilt  schon 
dann  als  erbracht,  wenn  der  die  Erstattung  fordernde  Armen- 
verband dargelegt  hat,  dass  er  alle  diejenigen  Erhebungen  vor- 
genommen hat.  welche  nach  Lage  der  Verhältnisse  als  geeignet 
zur  Ermittelung  eines  Ufiterstützungswohnsitzes  anzusehen  waren. 
Wird  nach  der  Erstattung  ein  Unterstützungswohnsitz  des  Unter- 
stützten nachträglich  ermittelt,  so  ist  der  Armenverband,  welcher 
die  Erstattung  vorgenommen  hat,  berechtigt,  innerhalb  zweier 
Jahre,  vom  Ablauf  desjenigen  Jahres  ab,  in  welchem  die  Er- 


stattung erfolgt  ist,  von  dem  Armenverbande  des  Untersttitzungs- 
wohnsitzes  für  die  gewährte  Unterstützung  und  für  die  durch 
nachträgliche  Ermittelungen  entstandenen  Kosten  Ersatz  zu  be- 
anspruchen. Schliesslich  wird  dem  § 361  des  Strafgesetzbuchs 
beigefügt:  Wer,  obschon  er  in  der  Lage  ist,  Diejenigen,  zu  deren 
Ernährung  er  verpflichtet  ist,  zu  unterhalten,  sich  der  Unter- 
haltungspflicht trotz  der  Aufforderung  der  zuständigen  Behörde 
derart  entzieht,  dass  durch  Vermittelung  der  Behörde  fremde 
Hülfe  in  Anspruch  genommen  werden  muss.“ 

Rückgang  des  Fleischkonsums  in  Leipzig.  Der  Ende 
Februar  veröffentlichte  Geschäftsbericht  über  den  Betrieb  des 
städtischen  Schlachthofes  in  Leipzig  pro  1892  ergiebt  einen  nicht 
unbeträchtlichen  Rückgang  des  Fleischverbrauchs  gegen  das 
Vorjahr,  der  zweifellos  der  Hauptsache  nach  auf  eine  Ver- 
schlechterung der  Erwerbsverhältnisse  des  Mittelstandes  und 
der  Arbeiterklasse  zurückzuführen  ist.  Namentlich  hat  der  Ver- 
brauch an  Rindfleisch  nicht  blos  verhältnissmässig,  sondern 
auch  absolut  einen  Rückgang  um  20  940  kg  erfahren,  denn  er 
ist  von  6 939  801  kg  im  Jahre  1891  auf  6 908  861  kg  herabgesunken. 
Auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  entfielen  1892:  18,27  kg  Rind- 
fleich  (1891 : 19,14  kg),  2,75  kg  Hammelfleisch  (2,85  kg)  und 
21,43  kg  Schweinefleisch  (21,69  kg).  Der  Verbrauch  an  Kalb- 
fleisch bezifferte  sich  ebenso  wie  im  Vorjahre  auf  5,46  kg.  Ins- 
gesammt  ergiebt  sich  demnach  ein  Rückgang  von  49,14  kg  auf 
47,91  kg,  das  sind  2,5  pCt.  des  vorjährigen  Konsums. 


Finanzfragen. 

In  der  preussisclien  Steuerreform-Kommission  sind 
zwei  Resolutionen  beantragt,  in  denen  die  Regierung  er- 
sucht wird: 

1 . ohne  Verzug  die  geeigneten  Schritte  zu  übernehmen, 
um  zu  ermöglichen,  dass  die  Gewerbebetriebe  des 
Reiches  zu  den  Gemeindeabgaben  in  demselben 
Umfange  wie  Diejenigen  des  Staates  herangezogen 
werden; 

2.  baldmöglichst  einen  Gesetzentwurf  vorzulegen, 
welcher  die  Begründung  und  den  Geschäftsbetrieb 
der  Sparkassen  regelt. 

Beide  Resolutionen  sind  sozialpolitisch  von  Bedeutung. 
In  einer  Gemeinde  wie  Spandau  würde  sich  vermutlich 
die  Last  der  Kommunalsteuern  erheblich  anders  gestalten, 
wenn  der  grösste  Gewerbtreibende  der  Gemeinde,  der 
Militärfiskus  als  Inhaber  der  Gewehrfabriken,  Konserven- 
fabriken etc.,  welcher  gegenwärtig  die  kommunalen  Ein- 
richtungen steuerfrei  mitgeniesst,  zu  den  Gemeindesteuern 
herangezogen  werden  könnte  Unseres  Erachtens  bedarf  es 
aber  dazu  keines  besonderen  Gesetzes  Durch  das  Reichs- 
gesetz vom  25.  Mai  1873  ist  es  nur  verboten,  die  im  Eigen- 
thum des  Reichs  befindlichen  Gegenstände  hinsichtlich  der 
Befreiung  von  Steuern  anders  zu  behandeln,  als  die  im 
Eigenthum  des  einzelnen  Staates  befindlichen  gleichartigen 
Gegenstände.  Die  Vorstellung  als  ob  es  zu  einer  Besteue- 
rung des  Reichsfiskus  einer  besonderen  Ermächtigung  durch 
das  Reich  bedürfe,  entspricht  weder  den  heutigen  all- 
gemeinen Lehren  der  Steuerhoheit,  noch  dem  positiven 
Recht.  — Sehr  verbreitet  ist  die  Vorstellung,  als  ob  bei 
einer  etwaigen  Besteuerung  des  Reichsgewerbebetriebes 
die  Postanstalten  eine  selbstverständliche  Ausnahme  bilden 
müssten.  Auch  dem  ist  nicht  zuzustimmen.  Wenn  der 
preussische  Fiskus  für  den  Betrieb  seiner  Eisenbahnanstalten 
zu  den  kommunalen  Lasten  beiträgt,  so  kann  es  auch  der 
Reichsfiskus  für  den  Betrieb  seiner  Postanstalten 

Die  zweite  Resolution,  betreffend  die  Sparkassen,  ist 
zu  allgemein  gehalten,  als  dass  sich  aus  ihr  die  beabsich- 
tigte Richtung  des  geforderten  Gesetzentwurfs  ersehen 
liesse. 

Gegen  die  progressive  kommunale  Einkommensteuer 

hat  sich  die  Steuerreformkommission  ausgesprochen.  Zu 
$ 30  des  Kommunalabgabengesetzes,  welcher  die  Gemeinde- 
zuschläge zur  Staatseinkommensteuer  betrifft,  hatte  die 
Regierung  vorgeschlagen 

„eine  verschiedene  Bemessung  der  Zuschläge  für 
die  einzelnen  Stufen  des  Steuertarifs  bedarf  der 
Genehmigung.  In  keinem  Falle  darf  der  Prozent- 
satz der  Besteuerung  in  den  untereu  Stufen  höher 
sein  als  in  den  oberen“. 

Dazu  hat  nach  den  vorliegenden  Zeitungsnachrichten 
die  Kommission  beschlossen,  dass  der  Prozentsatz  der  Be- 


272 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  23. 


Steuerung  auch  in  den  oberen  Stufen  nicht  höher  sein  I 
dürfe  als  in  den  unteren.  Danach  scheint  es,  als  ob  die 
Kommission  den  ganzen  Absatz  gestrichen  und  statt  dessen  ; 
die  Bestimmung  gesetzt  hätte,  dass  die  Kommunalzuschläge 
ohne  Abweichung  nach  oben  und  unten  gleichmässig  nach 
den  Sätzen  der  Staatseinkommensteuer  von  allen  Ein- 
kommen zu  erheben  seien. 

Der  Gedanke  der  progressiven  Steuer  ist  sozialpolitisch  | 
doch  zu  bedeutend,  als  dass  man  diesen  Beschluss  (wie  es 
die  Zeitungen  bisher  fast  allgemein  gethan  haben)  mit  Still- 
schweigen übergehen  könnte.  Zuvor  ist  es  nöthig,  dass 
der  Gedanke  einer  gewissen  Progression  schon  in  der 
heutigen  preussischen  Staatseinkommensteuer  enthalten  ist, 
welche  allmälich  bis  zu  3 pCt.  und  bei  Einkommen  von 
100  000  Mark  an  bis  auf  4 pCt.  steigt.  Würde  man  nun  die 
kommunalen  Zuschläge  zu  den  Beträgen  der  staatlichen 
Einkommensteuer  wiederum  progressiv  gestalten,  indem 
man  etwa  von  den  untersten  Stufen  75  pCt  der  staatlichen 
Sätze,  von  den  obersten  125  pCt.  erhöbe,  so  würde  dies  für 
die  letzteren  thatsächlich  eine  doppelte  Progression  sein. 
Es  ist  auch  nicht  zu  leugnen,  dass  ein  solches  Recht  unter 
Umständen  einem  argen  Missbrauche  in  den  Händen  der 
Kommunalbehörden  ausgesetzt  wäre.  Wenn  z.  B.  in  einer 
Gemeinde  ein  einziger  reicher  Mann  wohnt,  so  ist  die  Ge- 
fahr vorhanden,  dass  allein  für  seine  Steuerstufe  eine  mass- 
lose  Erhöhung  beschlossen  und  so  gewissermassen  die 
Steuerverfassung  auf  ein  privilegium  odiosum  gerichtet 
würde.  Allein  wir  sollten  meinen,  dass  gegen  einen  Miss- 
brauch das  Beanstandungsrecht  der  Aufsichtsbehörde,  wie 
es  die  Regierung  vorgeschlagen  hatte,  einen  genügenden 
Schutz  bilden.  Es  liegt  keine  Veranlassung  vor,  den  kom- 
munalen Behörden,  in  welchen  überall  die  besitzenden 
Klassen  das  entschiedene  Uebergewicht  haben,  eine  Höher- 
besteuerung  der  Wohlhabenden  (zu  der  eine  übertriebene 
Neigung  gewiss  nicht  vorhanden  sein  wird)  allgemein  zu 
verbieten. 

Ueber  indirekte  Gemeindesteuern  hat  die  Steuerreform- 
Kommission  des  preussischen  Abgeordnetenhauses  in  der 
soeben  begonnenen  zweiten  Lesung  des  Konununalabgaben- 
Gesetzentwurfes  eine  wichtige  Resolution  gefasst.  Der 
Entwurf  weist  den  indirekten  Abgaben  die  erste  Stelle  in 
der  Reihenfolge  der  Gemeindesteuern  zu  (§  9).  Allerdings 
verbietet  er  (§  10)  Steuern  auf  den  Verbrauch  von  Fleisch, 
Getreide,  Mehl,  Backwerk,  Kartoffeln  und  Brennmaterialien 
neu  einzuführen  oder  zu  erhöhen.  Neben  einer  Wildpret- 
und  Geflügelsteuer,  welche  (als  hauptsächlich  die  höheren 
Klassen  belastend)  ausdrücklich  gestattet  wird,  bleibt  kaum 
etwas  anderes,  als  eine  Getränksteuer  übrig.  Nun  ist  aber 
die  Besteuerung  von  Gegenständen,  welche  bereits  das 
Reich  belastet,  reichsgesetzlich  in  enge  Grenzen  eingeengt. 
Die  reichsgesetzliche  Beschränkung  ist  bis  jetzt 
der  einzige  feste  Wall  gegen  eine  willkürliche 
Entwickelung  unserer  indirekten  Steuern  gewesen. 
Diesen  Wall  sucht  die  vorgeschlagene  Resolution  hinweg- 
zuräumen, welche  die  preussische  Regierung  auffordern  will: 
bei  dem  Reich  die  geeigneten  Schritte  zu  thun,  um 
den  Gemeinden  die  Möglichkeit  einer  zweck- 
mässigen Gestaltung  der  Besteuerung  der  Getränke 
zu  gewähren  und  die  bestehenden  Verschieden- 
heiten in  der  Berechtigung  der  Gemeinden  zur 
Einführung  derartiger  Steuern  zu  beseitigen. 

Bei  Gelegenheit  der  Gewerbesteuer  ist  in  Preussen 
den  Schankwirthen  eine  Extragewerbesteuer  unter  den 
Namen  „Betriebssteuer“  auferlegt  worden.  Dem  gegen- 
wärtigen Reichstage  liegen  Entwürfe  zur  Erhöhung  der 
Bier-  und  der  Branntweinsteuer  vor.  Wenn  nun  drittens 
auch  noch  sämmtlichen  Gemeinden  das  Recht  gegeben 
werden  sollte,  die  Getränke  zu  besteuern,  so  ist  gar  nicht 
abzusehen,  in  welches  Wirrsal  von  Steuerentwickelung  und 
Belastung  der  Getränke  wir  gerathen  könnten.  Es  ist 
dringend  zu  wünschen,  dass  der  Resolution  höchstens  in- 
soweit Folge  gegeben  würde,  als  sie  eine  grössere  Gleich- 
mässigkeit  der  Gemeindebefugnisse,  aber  nicht,  soweit  sie 
eine  erhebliche  Erweiterung  derselben  anstrebt. 


Arbeiterzustände. 


Ergebniss  der  statistischen  Erhebungen  im  Tischler- 
(Schreiner-)  Gewerbe  pro  1891. 

Mit  einer  Verspätung,  die  man  sonst  nur  bei  den  Publika- 
tionen des  statistischen  Amtes  des  Deutschen  Reiches  ge- 
wohnt ist,  sind  endlich  vor  Kurzem  die  von  dem  deutschen 
Tischlerverbande  ermittelten  Ergebnisse  einer  umfassenden 
Enquete  erschienen.  Das  Resultat  entspricht  nun  zwar 
recht  wenig  der  bedeutenden,  auf  die  Erhebungen  ver- 
wandten Mühe,  denn  weder  die  Veranstalter  noch  die  Be- 
arbeiter vermochten  dieselben  nach  wissenschaftlichen 
Grundsätzen  anzulegen  und  zu  verwerthen,  aber  doch 
bietet  auch  diese  Arbeit  einige  werthvolle  Daten  zur  Be- 
reicherung unseres  so  mangelhaften  sozialstatistischen 
Materials. 

Die  Erhebung  erstreckte  sich  auf  246  Orte,  in  welchen 
nach  Schätzung  12  143  Tischlerwerkstätten  mit  50  855  Ge- 
sellen und  9768  Lehrlingen  vorhanden  waren.  Die  Er- 
hebungen beziehen  sich  jedoch  nur  auf  10  276  Geschäfte 
mit  46  995  Gesellen  und  9431  Lehrlingen. 

Von  diesen  10  276  Geschäften  arbeiteten  nur  1306  mit 
Kraftmaschinenbetrieb  (12  733  Pferdekräfte).  453  Geschäfte 
arbeiteten  mit  Maschinen  mit  Hand-  bezw.  Fussbetrieb  und 
7613  Geschäfte  arbeiteten  ohne  Maschinen.  Von  904  Ge- 
schäften fehlt  hierüber  die  Angabe. 

Im  grossen  Ganzen  zeigt  also  das  Tischlergewerbe 
auch  heut  noch  den  Charakter  des  handwerksmässigen  Be- 
triebes ; und  dieser  Charakter  würde  noch  deutlicher  zum 
Vorschein  kommen,  wenn  in  den  statistischen  Angaben  nicht 
die  von  den  organisirten  Arbeitern  erhaltenen  überwiegen 
würden;  das  sind  aber  hauptsächlich  gerade  solche  aus  grossen 
Städten  und  grösseren  Geschäften.  Der  Eindruck  der  ange- 
führten Zahlen  wird  auch  dadurch  nicht  verwischt,  wenn 
der  Bearbeiter  anführt,  dass  zahlreiche  Geschäfte  vor- 
handen sind,  welche  die  gröberen  Vorarbeiten:  Zuschneiden 
der  Bretter,  Hobeln  etc.  in  besonderen  Maschinen  Werkstätten 
für  Rechnung  ausführen  lassen,  sich  selbst  also  nur  mit  der 
handwerksmässigen  Fertigstellung  der  Möbel,  Bauarbeiten  etc. 
befassen. 

Was  die  persönlichen  Verhältnisse  der  Gesellen  anbe- 
trifft, so  sind  von  46  995  Gesellen  25  843  oder  52  pCt.  ver- 
heirathet,  40  pCt.  ledig:  von  den  übrigen  fehlen  die  An- 
gaben; — auf  8 Verheirathete  kommen  im  Durchschnitt 
17  Kinder.  (Bei  dieser  letzteren  Angabe  ist  die  Zahl  der 
aufgeführten  Verheiratheten  grösser  als  oben,  ohne  dass 
für  diese  merkwürdige  Differenz  eine  Erklärung  gegeben 
wird.)  — Von  44  642  Gesellen,  deren  Alter  nachgewiesen 
ist,  sind 


unter  20  Jahr 

4 977 

Gesellen 

= 1 1,12  pCl 

20-30 

7) 

18  985 

77 

= 42,53  „ 

30-40 

12816 

5? 

S 28,71  „ 

40-50 

75 

5 768 

77 

= 12,92  „ 

50—60 

75 

1 491 

7? 

= 3,34  „ 

60—70 

512 

= 1,15  „ 

über  70 

77 

93 

77 

= 0,21  „ 

Der  Bearbeiter  macht  zu  der  bemerkenswerthen  That- 
sache,  dass  82,36  pCt.  aller  Gesellen  unter  40  Jahre  alt  sind, 
die  Anmerkung,  dass  unter  1000  Tischlern  nur  2 die  Aus- 
sicht haben,  Reichsaltersrentner  zu  werden.  Diese  Behaup- 
tung schiesst  sicher  über  das  Ziel  hinaus,  denn  es  darf 
nicht  übersehen  werden,  dass  sich  die  überwiegende  Zahl  An- 
gaben auf  organisirte  Gesellen  beziehen,  dass  also  mit 
Nothwendigkeit  die  jüngeren  Altersklassen  praevaliren; 
aber  um  mehr  als  50  pCt.  dürften  die  hier  ermittelten  \ er- 
hältnisse  mit  den  im  Tischlergewerbe  allgemein  gültigen 
Verhältnissen  sicher  nicht  differiren,  und  dann  wäre  cs 
immer  noch  erst  4 auf  1000  Tischler,  welche  Vortheil  aus 
der  Altersversicherung  ziehen  können;  auch  die  Sterbe- 
tafel, die  allerdings  aus  nur  384  Todesfällen  gewonnen  ist, 
weist  darauf  hin.  — Bemerkenswerth  ist  übrigens,  dass  von 
allen  Verstorbenen  nicht  weniger  als  zwei  Drittel  Krank- 
heiten der  Athmungsorgane  zum  Opfer  fielen. 


No.  23. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT, 


273 


Was  die  Wohnungsverhältnisse  der  Arbeiter  an- 
betrifft, so  giebt  die  Erhebung  so  gut  wie  keinen  Aufschluss. 
Alles  was  vorhanden  ist,  ist  nur  eine  nach  einzelnen  Orten 
geordnete  Zusammenstellung  derjenigen  verheiratheten  Ge- 
sellen, welche  nicht  an  ihrem  Wohnorte  selbst  arbeiten 
im  Durchschnitt  15  pCt.  der  verheiratheten  Gesellen  — aber 
in  dem  Verzeichniss  sind  eine  ganze  Reihe  solcher  Städte 
aufgeführt,  welche  nicht  inkommunalisirte,  nahegelegene 
Vororte  besitzen,  wodurch  diese  ganze  Zusammenstellung 
ziemlich  werthlos  wird. 

Die  Arbeitszeit  betrug  im  Durchschnitt  61,57  Stunden 
wöchentlich;  im  Jahre  1884:  65,05  Stunden;  1885:  63,75 
Stunden;  1887:  62,4  Stunden;  1889:  61,33  Stunden.  Auch 
aus  dieser  Vergleichung  lassen  sich  aber  keine  Schlüsse 
aufbauen,  da  bei  den  verschiedenen  Erhebungen  nicht 
dieselben  Ortschaften  und  noch  viel  weniger  dieselben 
Werkstätten  in  Betracht  kamen.  Die  kürzeste  Arbeits- 
zeit wird  für  Bremen  verzeichnet  (54  Stunden),  die  höchste 
(72  Stunden)  für  Annaberg,  Bonn,  Kreuznach,  Helbra;  im 
Allgemeinen  ist  in  grösseren  Städten  eine  kürzere  Arbeits- 
zeit, in  kleineren  eine  längere  die  Regel.  Während  der 
Bericht  mit  Befriedigung  die  Thatsache  referirt,  dass  die 
Tendenz  der  Verkürzung  der  Arbeitszeit  unverkennbar  sei, 
besonders  in  einigen  Städten  mit  bedeutender  proletarischer 
Bewegung:  — u.  a.  Breslau,  Görlitz,  Chemnitz,  Halle, 

Offenbach,  Ludwigshafen  — , wird  dagegen  aus  Augsburg, 
Schweidnitz  und  Braunschweig  eine  nicht  unerhebliche 
Verlängerung  der  Arbeitszeit  gemeldet.  ■ — Die  Arbeitszeit 
der  Lehrlinge  — hier  fehlt  wieder  die  Altersangabe  — ist 
fast  durchweg  dieselbe  wie  die  der  Gesellen;  aus  32  Orten 
wird  sie  dagegen  um  3 Stunden,  aus  20  Orten  um  6 Stunden, 
aus  6 Orten  um  9 Stunden  und  aus  5 Orten  gar  um  1 1 bis 
12  Stunden  wöchentlich  länger  bezeichnet!  — Diese  letzteren 
Orte  sind  Burg  bei  Magdeburg  mit  75,  Kirchheim  u.  T.,  Schkeu- 
ditz und  Stettin  mit  72  und  Wittenberg  mit  84  Wochenstunden ! 

Wie  wirksam  sich  die  gewerkschaftliche  Bewegung  im 
Interesse  der  Verkürzung  der  Arbeitszeit  erwiesen  hat, 
zeigt  vor  allem  das  Beispiel  Beuthens  (Oberschlesieh),  wo 
1889  noch  78  Arbeitsstunden  und  für  80  Arbeiter  noch  je 
330  Ueberstunden  verzeichnet  waren,  in  Folge  von  Arbeits- 
einstellung jedoch  ein  Rückgang  der  Arbeitsstunden  um 
15  Stunden  und  der  Ueberstunden  von  26  400  insgesammt 
auf  4200  erzielt  wurde. 

Auch  im  Tischlergewerbe  machte  sich  die  Geschäfts- 
Haue  nur  zu  bemerkbar.  Aus  142  Orten  wurde  über  Ar- 
beitsmangel berichtet  und  109  Orte  hiervon  bezifferten  die 
Zahl  der  Wochen  auf  93  455.  Diese  93  455  Wochen  ent- 
sprechen 1869  ein  ganzes  Jahr  lang  Arbeitsloser  und  da  in 
den  142  Orten  27  449  Gesellen  arbeiten,  so  kommt  auf  je 
15  Gesellen  ein  Arbeitsloser.  Auch  die  Abrechnung  des 
Tischlerverbandes  gewährt  einen  Einblick  in  die  Arbeits- 
losigkeit. Im  Jahre  1891  zählte  der  Verband  durchschnitt- 
lich 15  600  Mitglieder,  die  Mitgliederzahl  war  um  63  pCt. 
seit  1889  gestiegen.  Die  Zahl  der  Reisenden  stieg  dagegen 
von  810  auf  2891,  d.  h,  um  257  pCt.,  auf  5 Mitglieder  kam 
ein  Reisender.  Zur  Unterstützung  waren  21  902  M.  erforder- 
lich gegen  3778  M.  1889;  also  eine  Steigerung  um  479  pCt. 
Die  durchnittlich  auf  jeden  Reisenden  entfallende  Unter- 
stützung betrug  7,51  M.  = 7 pCt.  Steigerung;  und  zur  Auf- 
bringung dieser  Summe  waren  pro  Mitglied  1,40  M.  erfor- 
derlich gegen  0,40  M.,  also  250  pCt.  Steigerung. 

Was  den  Arbeitslohn  anbetrifft,  so  arbeiteten 
1891:  56,7  pCt.  gegen  53,9  pCt.  (1889)  in  Akkord, 

1891:  43,3  pCt.  „ 46,1  pCt.  (1889)  in  Tagelohn. 

1889  betrug  der  Stücklohn  im  Durchschnitt  pro  Stunde: 
13,86  Pf.;  der  Zeitlohn  29,62  Pf.; 

1891  Stücklohn:  30,82;  Zeitlohn  29,96  Pf. 

Die  Tendenz  zur  immer  weiteren  Einführung  der 
Akkordarbeit  ist  also  unverkennbar. 

Das  Durchschnittseinkommen  betrug  1889:  944,40  M. 
im  Jahre;  1891:  937,50  M.;  — die  Verschiebung  ist  dem 
Umstande  zuzuschreiben,  dass  sich  die  Erhebungen  1891 
auf  eine  grössere  Zahl  kleinerer  Orte  bezog  als  1889. 


Wie  innig  kürzere  Arbeitszeit  mit  höherem  Lohn  Zu- 
sammenhängen, zeigt  die  folgende  Uebersicht: 


Zahl 

der 

Arbeiter 

Zahl  der 
Stunden  pro 
Woche 

Durch- 
schnitts- 
zahl der 
Wochen- 
stunden 

Verdienst  pro  Stunden 
auf 

L°hn  Stück  | 

Pf.  [ Pf  ( Pf 

Verdienst  pro 
auf 

Lohn  | Stück 
M.  | M. 

Woche 

Durch- 

schnitt 

M. 

7 305 

bis  57 

56,43 

39,1 

37,3 

38,1 

22,04 

21,06 

21,48 

19  979 

über  57— 60 

59,82 

31,5 

33,1 

32,2 

18,82 

19,83 

19.29 

6416 

,,  60—63 

62,48 

27,4 

29,1 

28,2 

17,10 

18,17 

17,65 

7 871 

,,  63—66 

65,29 

24,2 

25,1 

24,8 

15,70 

16,38 

16,16 

1 293 

„ 66-72 

68,59 

21,5 

21,0 

21,7 

14,73 

15,05 

14,91 

Bei  den  Arbeitern  auf  Kost  und  Logis  stellt  sich  der 
f Verdienst,  Werth  für  Kost  und  Logis  eingerechnet,  unter 
| der  gleichen  Arbeitsskala  wie  folgt: 

bis  57  Std.  Arbeitszeit  pro  Std.  30,7  Pf.,  pro  Woche  17,50  M. 


über  57 — 60  „ 

51 

26  9 

55  55  55  55 

„ 16,11  „ 

„ 60-63  „ 

55 

„ „ 27,7  „ „ 

„ 17.30  „ 

14,13  „ 

„ 63—66  „ 

,, 

„ , 21,5  „ „ 

„ 66-72  „ 
bei  78  „ 

,, 

* 5 51  19,5  5,  5, 

„ 13,76  „ 

.,  12,25  ,. 

,, 

,5  5 ’ 15,7  ,,  ,, 

Zum  Schluss  enthält  der  Bericht  eine  umfängliche 
Tabelle,  in  welcher  für  die  Orte  der  Erhebung  die  Zahl 
der  in  die  Enquete  einbezogenen  Geschäfte  und  Gesellen, 
der  durchschnittlichen  Arbeitszeit  und  des  durchschnitt- 
lichen Arbeitslohnes  — nach  Stück-  und  Akkordlohn  geord- 
net — enthalten  ist;  in  Parallele  ist  damit  eine  Nachweisung 
der  jährlichen  Ausgaben  für  Nahrungsmittel,  Wohnungs- 
miethe  und  sonstige  Lebensbedürfnisse  gestellt.  Wie 
interessant  auch  diese  Tabelle  ist,  so  hat  sie  doch  lediglich 
agitatorischen  Werth,  indem  nicht  die  wirklichen  Ausgaben 
aufgeführt  werden,  sondern  die,  welche  gemacht  werden 
sollten,  „wenn  das  Leben  des  Arbeiters  jene  Behaglich- 
keit bieten  sollte,  auf  welche  er  bei  gerechter  Vertheilung 
der  Arbeitserträge  Anspruch  hat;“  bei  dieser  durchaus 
unwissenschaftlichen  Willkür,  die  den  einzelnen  Erhebern 
eingeräumt  war,  kommt  derjenige  für  Haselünne,  der  etwas 
Acker wirthschaft  treibt,  denn  auch  auf  nur  940  M.  jährlich, 
derjenigen  für  Baden-Baden  dagegen  auf  2490  M.  und  der 
für  Steglitz  auf  2520  M.  Ein  halbes  Dutzend  wirklicher 
Arbeiterbudgets  hätte  mehr  Werth  gehabt  als  diese  etwas 
naive  Zusammenstellung,  in  welcher  z.  B.  der  Dessauer  Beant- 
worter der  Fragebogen  jährlich  16  M.  für  Schuhwerk  für  eine 
Familie  von  4—5  Köpfen,  der  Bremer  dagegen  80  M.  für 
nothwendig  hält.  Höchstens  psychologischen  Werth  hat 
diese  Tabelle,  denn  sie  zeigt  uns  die  so  viel  geschmähte 
Genusssucht  der  Arbeiter  in  ihrem  wahren  Lichte,  sie  zeigt 
uns  die  ganze  Anspruchslosigkeit  der  „unzufriedenen  Ar- 
beiter“ und  sie  lässt  die  ganze  Fülle  des  Proletarierelendes 
ahnen,  wenn  ein  Durchschnittseinkommen  von  1000 — 2000  M. 
schon  für  ein  begeh rens wer thes  Ziel  einer  besseren  Zukunft 
angesehen  wird. 

Magdeburg.  H.  Lux. 


Erhebung  des  evangelisch-sozialen  Kongresses  über  die 
Lage  der  ländlichen  Arbeiter  im  Deutschen  Reiche. 

Mit  Hilfe  der  evangelischen  Geistlichen  im  ganzen  Deut- 
schen Reiche  versucht  der  evangelisch-soziale  Kongress  so- 
eben eine  Erhebung  über  die  Lage  der  deutschen  Land- 
arbeiter, die  als  eine  Art  Gegenstück  zu  der  in  dieser  Zeit- 
schrift mehrfach  besprochenen  Enquete  des  Vereins  für 
Sozialpolitik  betrachtet  werden  darf.  Man  geht  wohl  nicht 
fehl,  wenn  man  den  Generalsekretär  des  Kongresses,  Herrn 
Göhre,  den  bekannten  Verfasser  von  „Drei  Monate  Fabrik- 
arbeiter“, als  den  geistigen  Urheber  und  Leiter  der  Erhebung 
ansieht.  Wenigstens  verrathen  die  ausgesandten  Frage- 
bogen, die  uns  im  Wortlaute  vorliegen  und  von  den  Geist- 
lichen bis  zum  15.  März  d.  J.  beantwortet  werden  sollen, 
ebenso  wie  das  ausführliche  Begleit-  und  Erläuterungs- 
schreiben, eine  methodologische  Schulung  und  wirthschaft- 
liche  Kenntnisse,  deren  sich  der  Verein  für  Sozialpolitik 


274 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  23. 


nicht  hätte  zu  schämen  brauchen.  Der  Verein  für  Sozial- 
politik wandte  sich  bekanntlich  ausschliesslich  an  die  länd- 
lichen Unternehmer.  Hierzu  bemerkt  das  Begleitschreiben 
des  evangelisch-sozialen  Kongresses  . so  wohlwollend 
und  objektiv  von  diesen  Herren  die  gestellten  Fragen  auch 
grösstentheils  beantwortet  worden  sind,  so  spiegeln  sie 
selbstverständlich  doch  nur  die  allerdings  eminent  bedeut- 
samen Anschauungen  dieser  obersten  sozialen  Schicht  aut 
dem  Lande  wieder.  Ebenso  wichtig  aber  ist  die  Kenntniss 
der  Anschauungen,  welche  die  ländlichen  Arbeiter  selbst 
über  ihre  materielle  Lage,  sowie  der  Wünsche,  die  sie  für 
ihre  Zukunft  haben.“  Diese  Worte  zeigen,  dass  die  Kritik 
der  Enquete  des  Vereins  für  Sozialpolitik,  wie  sie  in  dieser 
Zeitschrift  mehrfach  geübt  wurde,  die  Anschauungen  weiter 
Kreise  zum  Ausdruck  brachte.  Wenn  der  Verein  für  Sozial- 
politik lediglich  die  „eminent  bedeutsamen  Anschauungen 
der  obersten  sozialen  Schicht  auf  dem  Lande“  zur  Spiege- 
lung bringen  wollte,  so  wäre  ihm  dies  ja  unverwelnt  ge- 
blieben, obgleich  diese  einseitige  Aufgabe  etwas  schlecht 
in  den  Rahmen  des  Vereins  passt.  Aber  die  Resultate  dieser 
Spiegelung  hätten  dann  wenigstens  nicht  unter  dem  irre- 
führenden Titel : „Die  Verhältnisse  der  Landarbeiter“  in  die 
Welt  geschickt  werden  dürfen.  Man  kann  es  also  als  eine  Art 
Korrektur  der  Enquete  desVereins  für  Sozialpolitik  begrüssen, 
dass  der  evangelisch-soziale  Kongress  jetzt  auch  die  andere 
Seite  der  Sache  zur  Spiegelung  kommen  lassen  will.  Sein 
Begleitschreiben  sagt  weiter:  „Das  scheinbar  Nächstliegende 
wäre  nun  freilich  gewesen,  nach  den  Arbeitgebern  die  Ar- 
beiter selbst  hierüber  zu  befragen.  Aber  das  geht  aus 
äusseren  Gründen  selbstverständlich  nicht.  So  bleibt  nichts 
übrig,  als  sich  damit  an  dritte  Personen  zu  wenden.  Das 
aber  können  auf  dem  Lande  nur  die  Herren  Geistlichen 
sein.  Wenn  überhaupt  jemand,  kennen  sie  vermöge  ihrer 
langjährigen  Wirksamkeit  die  in  ihrer  Gemeinde  ansässigen 
Arbeiterschichten,  haben  sie  deren  Vertrauen,  besitzen  sie 
vermöge  ihres  Berufes  die  Fähigkeit,  vermöge  ihrer  wissen- 
schaftlichen Bildung  Urtheil  und  Objektivität  genug,  um 
ein  möglichst  unparteiisches  Bild  gerade  der  sozialpsycho- 
logischen  Faktoren,  der  Wünsche  und  Gesinnung  der  länd- 
lichen Arbeiterschaft  zu  geben.“  Leber  das  Urtheil  und 
die  Objektivität  der  evangelischen  Geistlichen  und  ihre 
Eignung  für  die  Erhebungen  werden  ja  die  Ergebnisse  der 
letzteren  entscheiden;  bis  dahin  sei  mit  einem  Urtheil 
darüber  zurückgehalten.  Richtig  ist,  dass  sie  den  Arbeiter- 
verhältnissen wenigstens  objektiver  als  die  Unternehmer 
gegenüber  stehen.  Auch  über  die  Möglichkeit  einer  Be- 
fragung der  Arbeiter  selbst,  und  wenn  sie  nur  „aus  äusseren 
Gründen“  verneint  wird,  sind  wir  anderer  Meinung,  da  es 
sich  auch  bei  der  Erhebung  des  Kongresses  nicht  um 
Statistik,  sondern  um  Beschreibung  handelt.  Doch  kommt 
das  Begleitschreiben  des  Kongresses  unserem  Standpunkte 
ausserordentlich  nahe  durch  folgende  Ausführungen : „Bei 
der  Abfassung  des  Fragebogens  gingen  wir  ferner  von  der 
Voraussetzung  aus,  dass  die  Herren  Referenten  ihren  Ant- 
worten an  uns  möglichst  ausschliesslich  Recherchen  und 
Unterredungen  mit  den  Arbeitern  selbst  zu  Grunde  legen 
werden.  Wir  erlauben  uns,  dies  hiermit  mit  besonderer 
Betonung  zum  Ausdruck  zu  bringen  und  versichern,  dass 
nur  dann,  wenn  die  erbetenen  Mittheilungen  der  Herren 
Berichterstatter  allein  auf  direkten  Studien  und  Beobach- 
tungen unter  den  Arbeitern  selbst  beruhen,  wenn  sie  allein 
aus  unmittelbarstem  Verkehr  mit  ihnen  geschöpfte  That- 
sachen  ohne  Beiwerk  und  subjektive  Färbung  bringen,  dass 
nur  dann  die  ganze  Enquete  wirklich  Werth  haben  und  die 
grosse  Mühe  lohnen  wird,  die  auf  sie  verwendet  ist.  Wir 
nehmen  von  vornherein  an,  dass  die  Herren,  die  unsern 
Fragebogen  freundlichst  beantworten  werden,  diese  unsere 
Voraussetzung  peinlichst  zu  erfüllen  die  Güte  haben  werden. 
Es  versteht  sich  dabei  freilich  von  selbst,  dass  es  uns  nur 
erwünscht  ist,  wenn  diejenigen  Herren  Geistlichen,  welche 
schon  seit  Jahren  Gelegenheit  gehabt  haben,  Erfahrungen 
über  die  wirthschaftlichen  Verhältnisse  ihrer  Parochie  zu 
machen,  auch  diese,  soweit  sie  die  Lage  der  Arbeiter 
betreffen,  uns  mittheilen.  Nur  bitten  wir  dringend,  soweit 
die  Angaben  hierbei  nicht  auf  Nachfragen  bei  den 


Arbeitern  beruhen  und  unbedingt  dann,  wenn  doch 
etwa  bei  anderen  Personen  Auskunft  direkt  ein- 
geholt worden  sein  sollte,  die  Quelle  ausdrücklich 
anzugeben.  Das  Hauptgewicht  legen  wir,  wie 
gesagt,  darauf,  die  Arbeiter  zu  hören.  Gerade  dies 
ist  bisher  nie  und  nirgends  in  der  hier  versuchten  Weise 
geleistet  worden,  und  wenn  es  gelänge,  Material  aus  dieser 
Quelle  zu  erlangen,  so  würde  unsere  Arbeit  einen  dauernden 
und  selbständigen  Werth  besitzen.“  Die  methodologische 
Klarheit  dieser  Anweisung  verdient  vollste  Anerkennung; 
wäre  sie  doch  endlich  Allgemeingut  jeder  Gemeinschaft, 
namentlich  aber  der  wissenschaftlichen  Vereine,  die  Enqueten 
unternehmen!  Es  bleibt  nun  abzuwarten,  inwieweit  die 
Berichterstatter,  also  die  Geistlichen,  empfänglich  für  die 
wichtige  Belehrung  sind  und  sie  bei  ihren  Referaten  be- 
folgen. Diese  Referate  dürften  ebensoviel  Monographien 
werden,  als  Berichte  einlaufen,  da  der  beigegebene  Frage- 
bogen sehr  umfangreich  ist  und  der  Kongress  Werth  darauf 
legt,  dass  seine  Fragen  „durch  zusammenhängendere 
Mittheilungen  entsprechend  den  einzelnen  Fragekomplexen“ 
beantwortet  werden.  Ein  Theil  des  Umfanges  des  Frage- 
bogens ist  auf  die  Einfügung  von  Erkundigungen  nach 
ethischen  und  religiösen  Verhältnissen  zurückzuführen,  die 
einem  evangelisch-sozialen  Kongresse  nahelagen.  Zum 
anderen  Theile  liegt  aber  die  Ursache  in  einer  ausser- 
ordentlich verdienstlichen  Gründlichkeit  und  Sachlichkeit, 
deren  sich  der  Verfasser  befleissigte.  Es  sind  eine  ganze 
Anzahl  Lücken  ausgefüllt,  die  der  Fragebogen  des  Vereins 
für  Sozialpolitik  besass.  So  linden  die  Wohnungsverhält- 
nisse, die  Arbeitsverhältnisse  der  Kinder,  Halberwachsenen 
und  Frauen,  die  Ernährung  u.  s.  w.  viel  eingehendere  Be- 
rücksichtigung, als  dort,  und  man  kann  das  Sachverständ- 
nis.? und  Geschick  des  Verfassers  bis  in  Kleinigkeiten  hinein 
verfolgen ; so  holt  er  z.  B.  die  vom  Verein  für  Sozialpolitik 
unter  A4  vergessene  Frage  unter  I,  5 nach,  indem  er  sich 
nach  Verschiebungen  in  der  Stärke  der  einzelnen  Arbeiter- 
kategorien aus  den  letzten  zwei  Jahrzehnten  erkundigt. 
Methodologische  Versehen  in  der  Fragestellung,  wie  z.  B. 
die  „durchschnittlich  situirte  Arbeiterfamilie“,  kommen 
natürlich  auch  vor.  Im  Ganzen  aber  dokumentiren  die  vor- 
liegenden Schriftstücke  ein  weit  höheres  soziales  Verständ- 
nis, als  diejenigen,  welche  der  Verein  für  Sozialpolitik 
seiner  Zeit  zu  gleichem  Zweck  versandte.  Das  Endurtheil 
über  die  Erhebung  wird  nun  von  der  Beschaffenheit  der 
einlaufenden  Antworten  und  der  Art  ihrer  Verarbeitung 
und  Veröffentlichung  abhängen. 


Arbeitslosenstatistik.  Die  Kölner  Gewerkschaften  haben 
im  Severinsviertel  versuchsweise  eine  Arbeitslosenstatistik  auf- 
genoramen,  und  nachdem  deren  Residtat  vorlag,  den  Beschluss 
gefasst,  auch  in  den  übrigen  20  Stadtbezirken  die  Arbeitslosen 
zu  zählen.  Im  Severinsviertel  betrug  die  Zahl  der  Arbeitslosen 
598,  die  Dauer  ihrer  Arbeitslosigkeit  10  160  Wochen,  so  dass  im 
Durchschnitt  auf  jeden  17  Wochen  1 Tag  Arbeitslosigkeit 
kommen.  Auf  die  einzelnen  Berufe  vertheilten  sieb  die  Arbeits- 
losen wTie  folgt:  8 Schneider  waren  zusammen  106  Wochen,  je 
13  Wochen  72  Tag  arbeitslos;  39  Schreiner  675  W.,  je  17  W.  2 T. ; 
7 Zimmerer  115  W.,  je  16  W.  21/l'T. ; 45  Stuckateure  und  Maurer 
481  W.,  ]e  10  W.  4 T.;  9 Klempner  168  W.,  je  16  W.  4 T.; 

40  Maler  '753  W.,  je  18  W.  5 T.;  3 Sattler  31  W.,  je  10  W.  2 T.; 
2 Bäcker  30  W.,  je  15  W.;  9 Steinhauer  157  W..  je  17  W.  3 T.; 

41  Metallarbeiter  763  W.,  je  18  W.  3 T.;  15  Schuhmacher  238  W., 
je  15  W.  5 T.;  70  Frauen  1434  W.,  je  19  W.;  279  Tagelöhner 
4633  W.,  je  lö'/g  W.;  25  andere  Arbeiter  575  W.,  je  23  W.  Kosten 
hat  die  Statistik  insgesammt  389,70  M.  verursacht,  so  dass  die 
Ermittelung  jedes  Arbeitslosen  einen  Aufwand  von  rund  65  Pf. 
erforderte. 

Frauenarbeit  in  den  Vereinigten  Staaten.  Der  Bundes- 

census  von  1890  giebt  das  mittlere  Lebensalter  der  Arbeiterinnen 
auf  2472  Jahre  an  und  das  mittlere  Alter,  in  w-elchem  sie  zu 
arbeiten  anfingen,  auf  167a  Jahre.  Sie  arbeiteten  durchschnitt- 
lich 71  v Jahre  und  zwar  in  178  Erwerbszweigen.  Nur  22  pCt. 
hatten  Ferien  und  4 pCt.  erhielten  während  der  Ferienzeit  ihren 
Lohn.  Ungefähr  26  pCt.  waren  ständig  beschäftigt,  während 
43  pCt.  jährlich  im  Durchschnitt  12'/2  Wochen  ohne  Beschäftigung 
waren.  Von  den  Dienstmädchen  arbeiteten  26'/o  pCt.  mehr  wie 
10  Stunden  per  Tag,  in  den  Fabriken  ungefähr  30  pCt.  und  in 


No.  23. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT, 


275 


allen  Industriezweigen  zusammen  ungefähr  9 pCt.  Mehr  als 
60  Stunden  per  Woche  arbeiteten  8V2  pCt.  Guter  Gesundheit 
waren  76  pCt.  Der  Durchschnittslohn  in  einer  Durchschnitts- 
arbeitszeit von  43  Wochen  per  Jahr  war  6,01  Doll,  und  für  das 
ganze  Jahr  4,91  Doll.  Der  jahresverdienst  betrug  durchschnitt- 
lich 269,70  Doll.,  die  durchschnittlichen  Ausgaben  261,30  Doll.; 
durchschnittliche  Ersparniss  72,15  Doll,  und  durchschnittliche 
Schulden  36,60  Doll. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Der  Ausstaiul  der  Raumwollarbeiter  in  Lancashire 

scheint  sich  seinem  Ende  zu  nähern.  Obgleich  die  Fa- 
brikanten formell  darauf  bestehen,  dass  die  Arbeiter  sich 
einer  5procentigen  Lohnverminderung  unterwerfen,  sind 
doch  in  Oldham  eine  Viertelmillion  Spindeln  in  Thätigkeit 
gesetzt  worden.  Die  betreffenden  Fabrikanten  scheinen 
also  die  Bedingung  der  Arbeiter,  dass  vorläufig  nur  eine 
Lohnminderung  um  2'/3  pCt.  eintrete , angenommen  zu 
haben.  Darüber  herrscht  grosser  Verdruss  Sei  den  übrigen 
Fabrikanten,  welche  die  Arbeitssperre  fortsetzen  möchten, 
doch  hofft  man  auf  der  anderen  Seite,  dass  von  den  Fa- 
brikanten Einer  nach  dem  Anderen  den  Arbeitern  in  der 
oben  angegebenen  Weise  entgegenkommen  werde.  Damit 
wäre  dann  allerdings  der  lockout  so  gut  wie  zu  Ende. 

Die  Union  der  vereinigten  Maschinenbauer  Englands 

(Amalgamated  union  of  engineers)  hat  ihre  Statuten  zum 
Theil  geändert.  Auf  dem  Delegirtenkongress  in  Leeds 
wurde  beschlossen;  Das  Exekutivkomite  hat  seinen  Sitz  in 
London  wie  bisher,  wird  aber  nicht  mehr  von  den  Lon- 
doner Zweigvereinen  allein  gewählt,  sondern  das  ganze 
Reich  wird  in  Distrikte  getheilt  und  die  einzelnen  Mitglieder 
des  Exekutivkomites  werden  in  diesen  Distrikten  gewählt. 
Das  Exekutivkomite  wird  in  Zukunft  täglich  Amtsstunden 
halten  zum  Zweck  der  sofortigen  Erledigung  der  Geschäfte. 
Jedes  Mitglied  wird  auf  drei  Jahre  gewählt.  Eine  andere 
Aenderung  bezieht  sich  auf  die  Anstellung  von  Distrikts- 
organisatoren, deren  Pflicht  es  ist,  dafür  zu  sorgen,  dass 
die  Zweigvereine  in  ihrem  Distrikt  ordentlich  geführt 
werden,  sie  haben  Versammlungen  einzuberufen  und  die 
Agitation  für  die  gewerkschaftliche  Bewegung  zu  betreiben, 
das  Exekutivkomite  bei  Schiedsgerichten  oder  Verhandlungen 
mit  den  Unternehmern  zu  vertreten,  so  viel  als  möglich 
alle  Missverständnisse  zu  beseitigen  und  so  Strikes  eventuell 
überflüssig  zu  machen. 


Politische  Arbeiterbewegung. 

Der  Ursprung  der  Arbeiterbewegung  in  Belgien. 

Die  belgische  Arbeiterpartei  wurde  zu  Brüssel  am 
6.  April  1885  durch  Zusammenfassung  schon  vorher 
existirender  Fraktionen  begründet.  Der  Ursprung  der 
Partei  liegt  indess  viel  weiter  zurück. 

Nur  sehr  wenige  Organisationen  der  belgischen 
Arbeiterpartei  reichen  bis  in  die  Epoche  der  Internationalen 
Arbeiterassociation,  eine  einzige  sozialistische  Vereinigung 
stammt,  ohne  ihre  Thätigkeit  seit  der  Gründung  unter- 
brochen zu  haben,  aus  einer  noch  früheren  Epoche,  die 
Broederlyke  Wewersmaatschappij,  eine  Kampfesorganisation 
der  Weber,  welche  zu  Gent  im  Jahre  1857  gegründet 
wurde.  Aelter  sind  die  rein  gewerkschaftlichen  ausserhalb 
der  sozialistischen  Organisation  stehenden  Vereinigungen 
der  Hutmacher  und  Buchdrucker  zu  Brüssel.  Im  Gegen- 
sätze zu  diesen  Organisationen  haben  die  Genter  Weber 
sich  schon  im  Jahre  1867  als  erste  Genter  Sektion  der 
Internationalen  Arbeiterassociation  konstituirt,  nach  mehreren 
Jahren  gründete  die  alte  Vereinigung  der  Weber,  durch 
Gewährung  eines  Darlehens  von  3000  Franken  die  berühmte 
Cooperativgenossenschaft  Voruuit.  Der  Voruuit  wurde  im 
Jahre  1880  gegründet  zur  Hauptstütze  der  flämischen 


sozialistischen  Arbeiterpartei  und  trug  viel  zur  Gründung 
derselben  bei. 

Obgleich  die  Gründung  der  Weberorganisationen  und 
der  Schwesterorganisationen  der  Spinner  trotz  ihrer  kleinen 
Anfänge  für  die  Entwickelung  der  belgischen  Arbeiter- 
partei von  der  grössten  Bedeutung  war,  vollzogen  sic  sich 
doch  vollkommen  unbeachtet.  Die  Genter  Zeitungen  jener 
Jahre  sprechen  sich  ebensowenig  über  die  Gründungen 
dieser  Arbeiterorganisationen  aus,  wie  die  römischen  Zeit- 
genossen über  den  Eintritt  des  Christenthums  in  die  Welt. 
Kaum  berichten  die  Zeitungen  von  Arbeitseinstellungen, 
kein  Wort  widmen  sie  den  Arbeiterorganisationen,  die 
übrigens  nur  im  Geheimen  existirten. 

Zum  Glücke  für  diejenigen,  welche  sich  für  die  Ent- 
stehungsgeschichte des  Sozialismus  in  Belgien  interessiren, 
hatten  die  belgischen  Sozialisten  ähnlich  den  ersten  Christen 
ihre  mündliche  Tradition  und  ebenso  fanden  sie  ihren 
Evangelisten. 

Im  Jahre  1862,  wenn  wir  uns  nicht  täuschen,  erschien 
eine  kleine  Broschüre,  von  der  ein  Exemplar  als  Reliquie  in 
der  Büchersammlung  des  Voruuit  aufbewahrt  wird,  welche 
mit  rührender  Genauigkeit  über  die  Anfänge  des  Genter 
Sozialismus  berichtet. 

Gemäss  regelt  von  den  Unternehmern,  verfolgt  von 
den  Behörden  auf  Grund  des  Gesetzes,  welches  die  Koali- 
tionen verbot,  vereinigten  sich  die  Spinner  und  W eber, 
ähnlich  wie  in  England  zur  Zeit  der  Luddisten,  auf  Dach- 
böden und  in  Kellern. 

Die  Vorsitzenden  der  geheimen  Versammlungen  Bilen 
und  de  Ridder  konnten  vom  Anfang  der  Bewegung  an 
keine  Arbeit  finden,  und  waren  gezwungen,  um  nicht 
Hungers  zu  sterben,  mit  Unterstützung  ihrer  Arbeitsge- 
nossen  kleine  Wirthshäuser  aufzuthun.  Eines  derselben  in 
het  zwart  Hondeken  (Zum  kleinen  schwarzen  Hund)  wurde 
das  Volkshaus  (maison  du  peuple)  jener  Zeit.  Dort  hatten 
unter  den  vielen  jene  zwei  Kampfvereine  ihre  Kriegskasse 
verwahrt.  Als  man  in  einzelnen  Sousstücken  eine  aus- 
reichende Summe,  um  einen  Strike  wagen  zu  können,  ge- 
sammelt hatte,  wurde  gleichzeitig  in  allen  Fabriken  die 
Arbeit  eingestellt.  In  den  folgenden  zwei  Jahren  folgten 
die  Arbeitseinstellungen  fast  ohne  Unterbrechung.  Be- 
hörden und  Unternehmer  wetteiferten  in  strengen  Mass- 
regeln.  Mehr  als  500  Arbeiter  wurden  zu  mehr  oder  minder 
harten  Strafen  wegen  ihrer  Antheilnahme  an  Strikes  be- 
straft, der  Führer  der  Weber  wurde  zu  zwei  Jahren  Ge- 
fängnis* verurtheilt.  Endlich  endeckte  und  konfiszirte  man 
auch  unter  den  Augen  der  vor  Wuth  zitternden  Arbeiter 
den  Widerstandsfonds  in  der  Höhe  von  700  Franken.  Aber 
schon  am  folgenden  Tage  hatten  die  Arbeiter  unter  Auf- 
erlegung der  grössten  Opfer  die  doppelte  Summe  aufge- 
bracht; trotz  aller  gegen  sie  vereinigten  Mächte,  siegten 
die  Strikenden  dank  ihrer  unbezwinglichen  Energie,  der 
sie  den  Namen  Eisenköpfe  verdankten;  sie  erlangten  eine 
Lohnerhöhung  und  die  fast  vollkommene  Abschaffung  des 
Trucksystems. 

Bald  darauf  organisirten  sich  die  Metallarbeiter  durch 
diese  Beispiele  ermuthigt  und  im  Jahre  1860  bildeten  die 
drei  Gruppen  die  Federation  der  Genter  Arbeiter,  welche 
von  Anfang  an  mehrere  Tausende  Mitglieder  zählte.  Aber 
schon  nach  kaum  einjährigem  Bestände  löste  sich  diese 
Organisation  wieder  aut.  Verlorene  Strikes,  die  Baum- 
wollennoth  zur  Zeit  des  amerikanischen  Bürgerkrieges,  die 
Industriekrisis  mit  ihren  Folgen  rüttelten  auch  am  Bestände 
der  Arbeiterorganisationen,  die  der  Spinner  und  Metall- 
arbeiter lösten  sich  auf,  nur  der  Weberverein  überstand, 
wenn  auch  mit  einem  Rückgänge  der  Mitgliederzahl  von 
2000  auf  300,  die  fürchterliche  Krise,  welche  erst  1863  zu 
Ende  ging. 

Die  Federation  der  Genter  Arbeiter  war  die  erste 
ihrer  Art  in  Belgien,  welche  die  V ertheidigung  der 
Klasseninteressen  der  Arbeiter  zum  Zwecke  hatte. 
Unter  diesem  Gesichtspunkte  verdient  sie  ihren  Platz  in 
der  Geschichte  der  sozialistischen  Bewegung.  Jedoch 
konnte  von  einer  bewusst  sozialistischen  Bewegung  noch 


276 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  23. 


nicht  die  Rede  sein.  Die  Spinner  und  Weber  hatten  getreu 
ihren  religiösen  Ueberlieferungen  auf  ihrem  Banner  die 
alte  Devise  ihrer  Zunftkassen  „Got  en  de  Wet“  (Gott  und 
das  Gesetz)  stehen. 

Wohl  den  meisten  von  ihnen  war  die  Bedeutung  des 
Wortes  Sozialismus  zu  jener  Zeit  unbekannt,  als  sie  im 
Jahre  1857  ihre  Organisationen  gründeten  und  gleichzeitig 
Johan  Cesar  Alexander  Baron  von  Colins,  ihr  Landsmann 
in  der  „Science  Sociale“  seine  kollektivistischen  Theorien 
entwickelte. 

* ...  * 

Die  zweite  Periode  der  belgischen  Arbeiterbewegung 
beginnt  im  Jahre  1867  unter  der  Einwirkung  der  inter- 
nationalen Arbeiterassociation.  Die  Bewegung  beschränkt 
sich  nicht  blos  auf  die  Genter  Fabriken,  ln  Verviers,  im 
Hainaut,  in  Brüssel  und  Gent,  überall  bilden  sich  Sektionen 
der  internationalen  Arbeiterassociation.  Von  1869  an  nahm 
die  Bewegung  einen  ausserordentlichen  Aufschwung,  über- 
all wurden  Strikekassen  gegründet;  trotz  der  Niederwerfung 
der  Kommune  konnten  die  belgischen  Sektionen  im  Jahre 
1871/72  den  Kampf  um  den  Zehnstundentag  bezw.  die  Ver- 
minderung der  Arbeitszeit  führen. 

Die  belgischen  Sozialisten  enthielten  sich  Stellung  zu 
nehmen  in  dem  Konflikte  zwischen  Marxisten  und  Anar- 
chisten. Der  Führer  der  belgischen  Partei  Cesar  de  Paepe 
war  bemüht,  die  beiden  unbedingt  entgegengesetzten  Rich- 
tungen auszusöhnen,  in  seinem  bemerkenswerthen  Be- 
richte für  den  Brüsseler  Kongress  über  die  öffentlichen 
Dienste  in  der  zukünftigen  Gesellschaft.1) 

Während  die  belgische  Arbeiterbewegung  den  Kämpfen 
innerhalb  der  Internationale  gegenüber  Neutralität  be- 
wahrte, hatte  sie  ihren  eigenen  Hausstreit,  zwischen  ihren 
zwei  Organen,  von  denen  „rinternationale“  die  Arbeiter- 
elemente und  den  Klassenstandpunkt,  das  andere  die 
„Liberte“  eine  kleine  Gruppe  von  August  Come  und  Littre 
beeinflusster  proudhonistischer  Nationalökonomen  und 
Schriftsteller,  darunter  Victor  Arnould,  Guillaume  Degreef 
und  Hector  Denis  und  deren  Anhang  vertrat.  Cesar  de 
Paepe,  ein  Schüler  Colins,  war  bemüht,  das  Verbindungs- 
glied zwischen  beiden  Gruppen  zu  bilden. 

Das  gegenwärtige  Programm  der  belgischen  Arbeiter- 
partei, das  hauptsächlich  auf  Cesar  de  Paepe  zurückzu- 
führen ist,  kann  als  Ausgleichung  der  beiden  innerhalb  der 
belgischen  Sozialdemokratie  existirenden  Richtungen  an- 
gesehen werden. 

Die  belgische  Sozialdemokratie  bildet  das  geistige 
Verbindungsglied  der  Arbeiterbewegungen  der  drei  haupt- 
sächlichsten Kulturstaaten  Europas.  Von  England  hat  sie 
das  Prinzip  der  Selbsthilfe,  der  Gewerkschafts-  und  Ge- 
nossenschaftsorganisation, von  den  Deutschen  die  marxistische 
Taktik  und  die  Theorie  des  Klassenkampfes  entlehnt,  und 
endlich  von  den  Franzosen  die  idealistischen  Tendenzen, 
die  Vorstellung  eines  vollständigen  sozialistischen  Systems, 
das  als  Religion  aufgefasst  werden  kann,  die  das  Christen- 
thum fortsetzt  und  ausführt,  übernommen. 

Nach  der  Auflösung  der  Internationale  hörten  auch 
die  meisten  belgischen  Sektionen  derselben  zu  bestehen 
auf.  Ein  Theil  der  Mitarbeiter  der  „Liberte“  wandte  sich 
zwar  von  der  Arbeiterbewegung  ab,  trug  aber  zum  Ent- 
stehen der  Wahlreformbewegung  wesentlich  bei,  andere 
zogen  sich  ganz  vom  öffentlichen  Leben  zurück,  so  dass 
der  belgische  Sozialismus  trotz  der  hartnäckigen  Be- 
mühungen einiger  agitatorisch  beanlagter  Personen  abge- 
storben schien. 


D Dieser  Bericht  wurde  gleichzeitig  mit  seinem  Berichte 
über  das  Kollektiveigenthum,  den  er  für  den  Basler  Kongress 
verfasste,  von  Benoit  Malon  (Libraire  de  la  Revue  socialiste)  im 
Jahre  1891  neu  herausgegeben.  Diese  beiden  Berichte  bilden 
die  ökonomische  Grundlage  des  Parteiprogramms  der  belgischen 
Arbeiterpartei. 


Indessen  wurde  im  Jahre  1880  der  Voruuit,  bald  nach- 
her die  flämische  sozialistische  Bewegung  gegründet  und 
endlich  vereinigten  sich  am  5.  April  1885  zu  Brüssel  100 
Arbeiter,  welche  59  Organisationen  vertraten,  um  eine 
neue,  sich  von  den  Bürgerlichen  unterscheidende  Partei  zu 
begründen. 

Auf  diesem  Kongresse  waren  neben  direkt  sozialisti- 
schen Organisationen  gemässigte  Gruppen  vertreten,  bei 
welchen  die  Rücksichten  auf  die  gewerkschaftlichen  und 
Kasseninteressen  im  Vordergründe  standen,  dies  zeigte  sich 
schon  bei  der  Festsetzung  des  Namens  der  neuen  Partei; 
während  die  Flamen  für  die  Bezeichnung  „sozialistische 
Partei“  plaidirten,  traten  die  stets  opportunistischeren 
Brüsseler  für  die  Bezeichnung  Arbeiterpartei  ein.  Da  all- 
gemeine Uebereinstiinmung  darüber  herrschte,  dass  man 
eine  Partei,  welche  Klassenmteressen  vertreten  sollte,  be- 
gründen wolle,  so  gaben  die  radikaleren  Elemente  in  Bezug 
auf  die  Benennung  der  Partei  gerne  nach.  Während  ein 
Theil  der  Delegirten  die  Partei  als  Vertreterin  lediglich  der 
Interessen  der  Handarbeiter  ansehen  wollte,  entschied  sich 
die  Majorität  für  einen  weniger  engherzigen  Standpunkt 
und  beschloss,  dass  die  Partei  alle  Arbeiter  Handarbeiter 
wie  Kopfarbeiter  — umfassen  solle. 

Seit  dem  |ahre  1888  bilden  in  diesem  Sinne  auch  die 
Studenten  und  früheren  Studenten  der  Universitäten  Gent, 
Lüttich  und  Brüssel  eine  der  Organisationen  der  belgischen 
Arbeiterpartei. 

Brüssel.  Emile  Van d er v elde. 


Unternehmerverbände. 


Die  Bekämpfung  der  Trusts  durch  die  Zollpolitik 
in  den  Vereinigten  Staaten.  Die  juristische  Kommission 
der  Repräsentantenkammer  hat  den  Bericht  ihrer  Unter- 
kommission angenommen,  welche  eine  Enquete  über  den 
Whisky-Trust  angestellt  hat.  Der  Bericht  empfiehlt  den 
Eingangszoll  auf  Getränke  von  2'/2  Dollars  auf  1 Dollar  pro 
Gallone  herabzusetzen  und  den  Zoll  auf  Waaren  jeder  Art 
stets  dann  herabzusetzen,  wenn  dieselben  durch  einen  Trust  t 
oder  eine  andere  ähnliche  Vereinigung  beeinflusst  würden. 


Handwerkerfragen. 


Oesterreichisclie  parlamentarische  Enquete  über  die 
(fewerbeordnnngsnovelle.  Der  Gewerbeausschuss  des  öster- 
reichischen Abgeordnetenhauses  hat  eine  Spezialkommission  ein- 
gesetzt, welche  einstimmig  folgenden  Beschluss  fasste:  Es  sei 

zu  beantragen,  dass  ein  Permanenzausschuss  von  drei  Mit- 
gliedern behufs  Abhaltung  der  Enquete  und  Vorbereitung  der 
Anträge  eingesetzt  werde.  Die  Enquete  soll  schriftlich  und 
mündlich  abgehalten  werden.  Die  schriftliche  Enquete  soll  statt- 
tinden  durch  Einsendung  eines  Fragebogens  an  möglichst  zahl- 
reiche Genossenschaften,  Gewerbevereine  u.  s.  w. ; die  münd- 
liche hätte  zu  erfolgen  durch  Einvernehmung  einer  bestimmten 
Anzahl  von  Experten,  welche  aus  hervorragenden  Verbänden 
und  Korporationen  gewählt  werden  sollen.  Der  Fragebogen  für 
die  mündliche  und  schriftliche  Enquete  soll  sich  beschränken 
auf  eine  kleine  Zahl  von  kontroversen  Fragen. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Entwurf  einer  neuen  Seemannsordnung  für  das  deutsche 
Reich.  Gegenwärtig  gilt  für  Deutschland  die  durch  das  Gesetz 
vom  27.  Dezember  1872  eingeführte  Seemannsordnung.  Um  eine 
gründliche  Reform  derselben  herbeizuführen,  hat  die  sozial- 
demokratische Fraktion  im  Reichstag  den  Entwurf  einer  neuen 


No.  23. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


277 


Seemannsordnung  eingebracht,  die  wir  im  Folgenden,  nach  ihren 
hauptsächlichsten  Bestimmungen  skizziren. 

Von  Bedeutung  ist  zunächst  die  Fassung  des  Begriffs 
,, Schiffsmannschaft“  in  den  einleitenden  Bestimmungen.  Die 
bestehende  Seemannsordnung  unterscheidet  zwischen  „Schiffs 
mannschaft“  und  Personen,  die  ohne  zur  ,, Schiffsmannschaft“ 
zu  gehören,  auf  einem  Schiffe  als  Maschinisten,  Aufwärter  oder 
in  anderer  Eigenschaft  angestellt  sind,  beispielsweise  als  Heizer 
oder  Trimmer,  wenn  sie  ihnen  auch  ausdrücklich  dieselben 
Rechte  und  Pflichten  einräumt.  Sodann  ist  die  Anheuerung 
durch  Vermittler  nicht  verboten.  Dem  gegenüber  bestimmt  der 
cingebrachte  Entwurf: 

„Zur  „Schiffsmannschaft“  (Mannschaft)  gehören  alle  auf 
einem  Schiff' angemusterten  Personen  der  Schiffsbesatzung,  auch 
die  als  Schiffsoffiziere,  Maschinisten,  Feuerleute,  Aufwärter  oder 
in  anderer  Eigenschaft  angestellten  Personen,  mit  alleiniger  Aus- 
nahme des  Schiffers.  Zu  Schiffsoffizieren  dürfen  nur  Personen 
ernannt  werden,  welche  die  vorgeschriebenen  Prüfungen  be- 
standen haben.  Die  Vorgesetzten  auf  einem  Schiffe  bestimmt 
der  Schiffer;  derselbe  hat  die  ersteren  den  übrigen  Schiffsleuten 
vor  Antritt  der  Reise  und  im  Falle  eines  Ersatzes  während  der 
Reise,  bekannt  zu  geben.  Die  Anhäuerung  der  Schiffsmann- 
schaft darf  nur  durch  den  Schifier  persönlich  oder  durch  den 
Rheder  erfolgen;  die  Anheuerung  durch  Mittelspersonen  ist 
unzulässig.“ 

Eine  zweite  wesentliche  Aenderung  betrifft  die  Seemanns- 
ämter; es  sind  ihrer  im  Bundesgebiet  im  Ganzen  103,  je  eines 
in  jedem  Seehandelsplatz  an  der  deutschen  Küste  von  irgend 
welcher  Bedeutung ; sie  fertigen  die  von  den  Schiffsleuten  zu 
führenden  Seefahrtsbücher  aus,  sie  haben  die  Aufgabe,  die 
zwischen  diesen  und  dem  Schiffsführer  getroffenen  Abreden 
über  Dienstantritt  und  Austritt  festzustellen,  Streitigkeiten 
zwischen  beiden  vorbehaltlich  des  Rechtsweges  zu  entscheiden, 
schliesslich  Uebertretungen  der  Schiffsleute  zu  untersuchen  und 
in  vorläufiger  Festsetzung  zu  bestrafen.  Bisher  steht  die  Er- 
richtung dieser  Musterungsbehörden  den  einzelnen  Bundes- 
staaten zu ; das  Reich  hat  nur  die  Oberaufsicht  über  die 
Geschäftsführung.  Demgegenüber  stellt  der  Entwurf  die  For- 
derung auf : 

„Die  Errichtung  und  Verwaltung  von  Seemannsämtern 
sowohl  im  Inlande  als  auch  im  Auslande  wird  durch  ein  be- 
sonderes Reichsgesetz  geregelt,  das  gleichzeitig  ein  Ober- 
Seemannsamt  als  Reichsbehörde  einzusetzen  hat.  Auch  die 
Seemannsämter  sind  Reichsbehörden.“ 

Abgeändert  sind  ferner  in  den  Bestimmungen  über  das 
Vertragsverhäitniss  die  Paragraphen,  welche  Arbeitsverpflich- 
tungen  des  Schiffsmannes  regeln.  Der  Entwurf  bestimmt : 

„Der  Schiffsmann  ist  verpflichtet,  in  Ansehung  des  Schiffs- 
dienstes alle  ihm  seitens  des  Schiffers  oder  seiner  sonstigen 
Vorgesetzten  übertragenen  Arbeiten  zu  verrichten,  für  welche 
er  sich  durch  den  Heuervertrag  verpflichtet  hat.  Zu  Arbeiten 
anderer  Art  ist  er  nur  in  Fällen  der  Noth  verpflichtet.  Noth- 
arbeit wird  als  Ueberstundenarbeit  berechnet.  Der  Schiffsmann 
hat  seinen  Verpflichtungen  unter  allen  Umständen,  sowohl  an 
Bord  des  Schiffes  und  in  dessen  Booten  als  auch  in  den 
Leichterfahrzeugen  und  auf  dem  Lande  nachzukommen,  Unter 
gewöhnlichen  Umständen  löst  eine  Wache  die  andere  in  der 
Arbeit  ab.  Ohne  Erlaubniss  des  Schiffers  oder  eines  Schiffs- 
offiziers darf  der  Schiffsmann  das  Schiff  nicht  verlassen,  doch 
darf  ihm  ausser  der  Arbeitszeit,  wenn  nicht  triftige  Gründe 
vorliegen,  die  Erlaubniss  nicht  verweigert  werden.  Auch  ist 
ihm  der  Zeitpunkt  der  Rückkehr  stets  anzugeben.  Ist  dies 
unterblieben,  so  reicht  der  Urlaub  bis  zu  dem  Zeitpunkt,  mit 
welchem  am  anderen  Tage  die  Arbeit  beginnt.  Wenn  das 
Schiff  in  einem  Hafen  liegt,  so  ist  der  Schiffsmann  an  Sonn- 
und  Festtagen  nur  in  Fällen  der  Noth  und  an  Werktagen  nicht 
länger  als  acht  Stunden  zu  arbeiten  verpflichtet.  Wache  gehen 
gehört  zur  Arbeit.  Treten  Nothfälle  ein,  so  werden  dem  Schiffs- 
mann für  seine  Arbeit  einschliesslich  der  Wachestunden  Ueber- 
stunden  berechnet.  Die  Art  und  Dauer  der  Notharbeit  ist  in 
das  Schiffsjournal  vom  Schiffer  einzutragen.“ 

Neu  ist  die  folgende  Bestimmung:  „Jedes  Schiff  ist  vor 
seiner  Ausreise  aus  einem  deutschen  Hafen  vom  Seeamt  einer 
Prüfung  darüber  zu  unterziehen,  ob  das  Schiff  in  seetüchtigem 
Zustande,  gehörig  eingerichtet  und  ausgerüstet,  gehörig  bemannt 
und  verproviantirt  ist,  ob  die  Vorräthe  an  Speisen  und  Getränken 
genügend  und  im  guten  Zustande  sind,  ob  die  Geräth schäften 
zum  Laden  und  Löschen  tüchtig,  ob  Stauung  nach  Seemanns- 
gebrauch gehörig,  ob  das  Schiff  überladen  ist,  ob  es  mit  dem 
nöthigen  Ballast  und  der  erforderlichen  Garnirung  versehen  ist. 
Vorhandene  Mängel  hat  das  Seeamt  abzustellen  und  bis  zur  Ab- 
stellung der  Erinnerungen  das  Auslaufen  des  Schiffes  zu  ver- 
hindern.“ 

Ueber  jeden  nach  Antritt  des  Dienstes  eintretenden  Todes- 
tall  soll  der  Schiffsführer  unter  Zuziehung  nicht  nur  eines 
Schiffsoffiziers , sondern  auch  eines  „andern  vollbefahrenen 
Schiffsmannes“  urkundlichen  Nachweis  schaffen  über  Name,  Zeit, 
Ort,  Alter  und  Todesart;  der  Schiffer  soll  für  die  getreue  Ab- 
lieferung des  Nachlasses  dem  Seeamt  haftbar  sein. 

Die  „Disziplinarbestimmungen“  sind  dahin  erweitert,  dass 
die  Uebertragung  der  dem  „Schiffer“  zustehenden  Disziplinar- 
gewalt anf  eine  dritte  Person  unzulässig  sei  und  jede  disziplina- 


rische Strafe  von  Schiffern  in  das  Schiffsjournal  eingetragen 
werden  soll. 

Im  § 80a  wird  den  Schiffern  und  Schiffsleuten  Verein- 
uncl  Coalitionsfreiheit  zugesichert.  Die  betreffenden  Bestimmun- 
gen lauten: 

„Die  Schiffer  und  Schiifsleute  haben  das  Recht,  sich  zum 
Zwecke  der  Erlangung  besserer  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen 
zu  versammeln  und  Vereine  zu  bilden.  Sämmtliche  der  freien 
Ausübung  dieses  Rechtes  entgegenstehende  gesetzliche  Bestim- 
mungen werden  hiermit  aufgehoben.  Wer  die  Ausübung  dieses 
Versammlungs-  und  Vereinigungsrechtes  hindert  oder  zu  hindern 
sucht,  wird  mit  Gefängniss  bestraft.“ 

Arbeitszeit  in  der  deutschen  Steinindustrie.  Im  Juli 
vorigen  fahres  hatte  der  Vorstand  des  Vereins  der  Bimssand- 
stein-Industriellen eine  eingehend  begründete  Eingabe  an  den 
Bundesrath  gerichtet,  um  für  das  Bimssandstein-Gewerbe  als  ein 
seiner  Natur  nach  auf  eine  bestimmte  Jahreszeit  beschränktes 
Gewerbe  die  in  § 139a  der  Reichsgewerbeordnung  vorgesehene 
ausnahmsweise  Zulassung  einer  wöchentlichen  siebenzigstündigen 
Arbeitszeit  für  junge  Leute  und  Arbeiterinnen  zu  erwirken. 
Auch  der  Vorstand  des  Ziegler-  und  Kalkbrennervereins  hatte 
eine  für  seine  Gewerbe  dasselbe  erstrebende  Eingabe  an  den 
Bundesrath  abgesandt.  Zur  Berathung  dieser  Eingaben  hatte 
das  Reichskanzleramt  eine  Versammlung  von  Delegirten  der  be- 
treffenden Gewerbe  auf  den  13.  Februar  d.  J.  nach  Berlin  einbe- 
rufen, in  welcher  diese  Angelegenheit  im  Sinne  des  Vorstandes, 
als  für  eine  Verlängerung  der  zulässigen  Arbeitszeit,  entschieden 
worden  ist.  Die  von  dem  Vertreter  des  Bimssandstein-Gewerbes 
gestellten  auf  noch  weitere  „Vergünstigungen“  gerichteten  An- 
träge wurden  abgelehnt,  insbesondere  auch  die  Beantragte  Aus- 
scheidung dieses  Gewerbes  aus  der  Ziegeleiberufsgenossenschaft. 
Dieser  Vorgang  ist  ein  neuer  Beleg  dafür,  dass  es  der  Regie- 
rung gar  nicht  darauf  ankommt,  magere  Arbeiterschutzbestim- 
mungen immer  wieder  durch  Ausnahmen  zu  durchbrechen. 

Zur  Sonntagsruhe  in  Basel.  Der  grosse  Rath  nahm 
am  23.  Februar  in  erster  Lesung  ein  Gesetz  an,  welches 
für  die  dem  eidgen.  Fabrikgesetz  nicht  unterstellten  Ge- 
werbe die  Sonntagsruhe  gesetzlich  regelt.  Danach  sind  an 
allen  öffentlichen  Ruhetagen  alle  Beschäftigungen,  welche 
in  industriellen,  gewerblichen  und  landwirthschaftlichen 
Betrieben  ausgeübt  werden,  sowie  Beschäftigungen  anderer 
Art,  durch  welche  Lärm  oder  Störung  verursacht  wird, 
untersagt.  Im  kaufmännischen  Betriebe  dürfen  Angestellte 
und  Lehrlinge  an  den  öffentlichen  Ruhetagen  nicht  be- 
schäftigt werden,  Verkaufsläd’en  und  Magazine  sind  an  den 
hohen  Festtagen  den  ganzen  Tag,  an  den  gewöhnlichen 
öffentlichen  Ruhetagen  zwischen  9 und  1073  Uhr  Vormittags 
geschlossen  zu  halten.  Angestellte  und  Lehrlinge,  sowie 
Familienglieder  unter  14  Jahren  dürfen  nur  bis  12  Uhr 
Mittags  beschäftigt  werden.  Ueberdies  ist  den  Angestellten 
und  Lehrlingen  je  der  zweite  Sonntag  ganz  freizugeben. 
Hiervon  ausgenommen  sind  der  Apothekerberuf,  das  Bäcker- 
und  Konditorgewerbe,  das  Metzger-,  das  Coiffeurgewerbe, 
die  Gärtnerei,  die  Wirthschaften,  Badeanstalten  und  Noth- 
arbeiten zwingender  Art.  In  ganz  besonderen  Fällen  sind 
weitere  Ausnahmen  gestattet,  welche  der  Regierungsrath 
in  jedem  einzelnen  Falle  gewährt.  Zuwiderhandlungen 
gegen  diese  Bestimmungen  unterliegen  der  Beurtheilung 
des  Polizeigerichts. 


Arbeiterversicherung. 


Zur  Frage  <les  Anspruchs  einer  Invaliden-  und  Alters- 
rente. Der  nach  Massgabe  des  Invaliditäts-  und  Altersversiche- 
rungsgesetzes erworbene  Anspruch  auf  Invaliden-  und  Alters- 
rente ruht  für  diejenigen  Personen,  welche  eine  LTnfallrente 
beziehen,  solange  und  soweit  die  letztere  unter  Hinzurechnung 
der  Invaliden-  bezw.  Altersrente  den  Betrag  von  415  M.  über- 
steigen würde.  Die  Durchführung  dieser  gesetzlichen  Bestim- 
mung ist  insofern  auf  Schwierigkeiten  gestossen,  als  die  In- 
validitäts- und  Altersversicherungsanstalten,  welche  beim  Zu- 
sammentreffen von  Unfallrenten  einerseits  und  von  Invaliditäts- 
und Altersrenten  andererseits  die  Zahlung  der  letzteren  gemäss 
der  erwähnten  Vorschrift  einzustellen  haben,  zuweilen  von  dem 
Vorhandensein  der  Unfallrente  überhaupt  nicht  oder  doch  nicht 
rechtzeitig  Kenntniss  erlangt  haben.  Auf  den  Vorschlag  des 
Reichsversicherungsamtes  haben  desshalb  die  Reichspostver- 
verwaltung,  wie  die  Centralpostbehörden  von  Bayern  und 
Württemberg  den  Postanstalten  ihres  Ressorts  aufgegeben,  wenn 
das  gleichzeitige  Vorliegen  zweier  solcher  Rentenanweisungen 


278 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  23. 


für  denselben  Berechtigten  bemerkt  wird,  der  betheiligten  Ver- 
sicherungsanstalt hiervon  Mittheilung  zu  machen  und  vor  Aus- 
führung der  Anweisungen  eine  Rückantwort  der  Versicherungs- 
anstalt abzuwarten. 

Darstellung  der  deutschen  Arbeiterversicherung  für  die 
Weltausstellung  in  Chicago.  Eine  übersichtliche  Darstellung 
der  Arbeiterversicherung  des  Deutschen  Reichs  giebt  Doktor 
Zacher  in  seinem  im  Aufträge  des  Reichsversicherungsamtes 
bearbeiteten  und  für  die  Weltausstellung  in  Chicago  bestimmten 
„Leitfaden  der  Arbeiter-Versicherung  des  Deutschen  Reichs“ 
(Verlag  von  A.  Asher  & Co.  in  Berlin).  Danach  waren  — bei 
einer  Gesammtbevölkerung  von  rund  50  Milk,  darunter  I2V2  Mill. 
Lohnarbeiter  — im  Jahre  1892  versichert  gegen  Krankheit  rund 
7 723  000  Personen,  gegen  Unfall  I8  000Ö00,  gegen  Invalidität 
11200  000.  Entschädigt  wurden  bei  Krankheit  rund  2 752  000  Per- 
sonen, bei  Unfall  rund  210  000,  bei  Invalidität  rund  187  000.  Es 
betrugen  bei  der  Versicherung  gegen 


Krankheit 

Unfall 

Invalidität 

M. 

M. 

M. 

die  Einnahmen 

132  000  000 

68  000  000 

108  200  000 

darunter: 

u .,  ..  , (Arbeitgeber  . 

Beitrage  der 'Arbeit-ehmer 

31  000  000 
77  500  000 

54  000  000 

47  375  000 
47  375  000 

die  Ausgaben 

124  000  000 

54  000  000 

108  200  000 

darunter: 

v . , (Entschädigung 

Kosten  der  (Verwaltu8g  - 

95  000000 
• 6 200  000 

32  500  000 
7 400  000 

22  400  000 
4 480  000 

Der  durchschnittliche  Entschädigungsbetrag  auf  den  einzelnen 
Unterstützungsfall  betrug:  bei  Krankheit  35  M.,  bei  Unfall 
185  M.,  bei  Invalidität  120  M.  Der  durchschnittliche  Kosten- 
betrag der  Versicherung  auf  den  Kopf  der  versicherten  Personen 
betrug  bei  der  Versicherung  gegen  Krankheit  14  M , gegen  Un- 
fall 3 M.,  gegen  Invalidität  9 Ri.  Die  Arbeiter  tragen  also  fast 
genau  soviel  zu  den  Kosten  der  drei  Versicherungsarten  bei, 
wie  die  Unternehmer,  nämlich  124,5  Mill.  gegen  132  Mill.  Mark 
im  Jahre. 

Wittwen-  und  Waisen  Versicherung  der  Seeleute. 

Der  Deutsche  Nautische  Vereinstag-  beschloss  in  der  zweiten 
Februarwoche  eine  Resolution  an  den  Reichskanzler  zu 
richten,  worin  die  Einführung  der  Wittwen-  und  Waisen- 
versicherung  für  Seeleute  als  empfehlenswerth  bezeichnet 
wird. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung 

Bau  von  Beamten-  und  Arbeiterwohnungen  durch  deutsche 
Gemeindeverwaltungen.  Auf  eine  vom  Magistrat  von  München 
an  eine  Anzahl  deutscher  Städte  gerichtete  Anfrage  über  die 
bisherige  Stellung  der  Gemeindeverwaltungen  zur  Herstellung 
von  Arbeiterwohnungen  oder  von  billigen  Wohnungen  für  Ar- 
beiter und  kleine  Beamte,  sowie  auch  eine  ferner  erbetene 
Aeusserung  darüber,  ob  und  in  welcher  Weise  die  Stadt  als 
eigene  Unternehmerin  tür  diese  Zwecke  vorgehe,  ob  und  in 
welcher  Weise  und  mit  welchem  Erfolge  sie  gemeinnützige 
Bestrebungen  von  Gesellschaften  unterstütze,  erklärten  die 
Stadtverwaltungen  von  Köln,  Breslau,  Crefeld,  Berlin,  Rlagde- 
burg  und  Stettin,  dass  sie  weder  in  der  einen  noch  in  Gier 
andern  Richtung  thätig  waren.  Einige  Städte  haben  Wohnungen 
für  Arbeiter  und  Bedienstete  der  Gemeinde  erbaut,  so  Dresden 
drei  Wohnhäuser  für  städtische  Arbeiter  und  Beamte  mit  kleinem 
Gehalt,  und  + tir  Arbeiter  der  städtischen  Gasfabrik.  Frank- 
furt a.  RI.  sechs  Doppelhäuser  für  geringer  besoldete  Beamte 
Braunschweig  gewährt  bei  Herstellung  billiger  und  gesunder 
Wohnungen  auf  zehn  Jahre  unkündbare  Darlehen  zu  4 pCt. ; 
Aachen,  Danzig,  Halle,  Bremen,  Dresden  haben  Grundstücke 
zu  massigen  Preisen  abgelassen;  Aachen,  Barmen  betheiligten 
sich  an  Aktiengesellschaften  zum  Zwecke  der  Erbauung  billiger 
Arbeiterwohnungen  mit  Kapital;  Chemnitz  und  Hamburg  unter- 
stützten durch  Erleichterung  der  baupolizeilichen  Vorschriften; 
in  Düsseldorf  baute  eine  müde  Stiftung,  in  Barmen  und  Elber- 
feld die  Stadt  Arbeiterwohnungen.  In  Strassburg  hat  die  Spar- 
kasse mit  Rücksicht  darauf,  dass  die  Erüferigungen  der  Anstalt 
hauptsächlich  aus  den  Einlagen  minder  bemittelter  Klassen  her- 
rühren, einen  Theil  der  Ueberschüsse  zum  Bau  von  Arbeiter- 
wohnungen verwendet  und  in  acht  Häusern  64  Wohnungen  ein- 
gerichtet. In  manchen  Städten  bestehen  gemeinnützige  Bau- 
gesellschaften mit  schönen  Erfolgen.  Bei  vielen  dieser  Gesell- 


schaften ist  entweder  eine  Verzinsung  gar  nicht  beabsichtigt 
oder  eine  höhere  Rente  als  3V2  oder  4 pCt.  statutarisch  ausge- 
schlossen. So  liegen  die  einschlägigen  Verhältnisse  im  Deutschen 
Reiche  und  seinen  Grosstädten  ganz  verschieden,  bedauerns- 
werth  ist  dabei,  dass  es  hervorragende  Städte  giebt,  deren  Ver- 
waltungen dieser  so  wichtigen  Frage  überhaupt  noch  keine 
Beachtung  geschenkt  haben;  hierher  gehört  in  erster  Linie  auch 
Berlin. 

Zur  Arbeiterwolinungsfragp.  In  der  Frankfurter 
Zeitung  vom  26.  Februar  finden  wir  folg'ende  Mittheilung: 

„Aus  dem  Ruhrkohlenrevier,  23.  Februar.  Die  Arbeiter- 
wohnungstrage ist  kein  so  leicht  zu  lösendes  Problem.  Wie 
es  aber  nicht  gelöst  werden  darf,  wenn  die  Arbeiter  nicht 
verrathen  und  verkauft  sein  wollen,  hat  sich  anlässlich  des 
Bergarbeiterstrikes  in  Westfalen  gezeigt.  Von  den  Be- 
sitzern der  Kohlenzechen  sind  vielfach  sogenannte  Zechen- 
häuser, Häuser  für  die  Bergarbeiter,  gebaut  worden.  Für 
die  Bewohner  gelten  gewöhnlich  Miethsverträge,  die  ihre 
persönliche  Freiheit  völlig  aufheben.  Zeche  „Heinrich 
Gustav“  (Harpener  Bergbaugesellschaft)  hat  einen  Mieths- 
vertrag  mit  folgendem 

rN  ' Ȥ  5- 

Der  Bergmann übernimmt  für  sich  und  seine  bei 

ihm  wohnenden,  dem  Bergmansstand  angehörenden  Söhne  die 
Verpflichtung,  während  der  Dauer  des  Rliethsvertrages  auf 
Zeche  „Heinrich  Gustav“  für  den  daselbst  üblichen  Schichtlohn 
oder  Gedingesatz  zu  arbeiten.  Er  verzichtet  also  für  sich  und 
genannte  Söhne  ausdrücklich  auf  das  Recht,  während  dieser 
Periode  die  Arbeit  zu  kündigen  und  die  Abkehr  zu  fordern.“ 

Bei  dem  Strike  erhielten  die  ausständigen  Zechenhaus- 
bewohner folgenden  Brief: 

„An  den  Bergmann zu 

Hierdurch  fordere  ich  Sie  auf,  spätestens  bis  zum  14.  Januar 
cr.  dem  § 5 Ihres  Rliethsvertrages  nachzukommen,  da  Sie  gegen 
denselben  verstossen. 

Zeche  „Heinrich  Gustav“,  den  12.  Januar  1893. 

Der  Direktor:  Adrian  i.“ 

Und  das  nennen  auch  solche  Unternehmer  dann  stolz 
Wohlfahrtseinrichtungen. 


Soziale  Hygiene. 


Verbot  offener  Koksöfen.  Das  Austrocknen  der  Räume 
mit  offenen  Koksöfen  hat  mehrfach  in  Berlin  und  Hamburg 
den  Ausbruch  von  Strikes  verursacht.  Das  Vorgehen  der 
Arbeiter  in  dieser  Frage  wird  gerechtfertigt  durch  folgende 
Seitens  des  Dresdner  Raths  im  Februar  1893  erlassene  Be- 
kanntmachung: „Zum  Austrocknen  der  Räume  in  Neu- 

bauten werden  häufig  offen  brennende  Koksöfen  ohne  Ab- 
zug der  Feuerungsgase  nach  den  Schornsteinen  verwendet. 
Die  solchen  Oefen  in  grossen  Mengen  entströmenden  zum 
Athmen  untauglichen  giftigen  Gase  machen  den  längeren 
Aufenthalt  in  Räumen,  in  welchen  derartige  brennende 
Oefen  aufgestellt  sind,  gesundheitsschädlich,  unter  Um- 
ständen lebensgefährlich.  Deshalb  verbieten  wir  hiermit 
das  Arbeiten  in  Räumen,  in  denen  offene  Koksöfen  ohne 
Abzug  der  Feuerungsgase  nach  den  Schornsteinen  in  Brand 
gehalten  werden.  Arbeiter,  welche  diesem  Verbot  zuwider- 
handeln, werden  mit  Geldstrafe  bis  zu  150  M„  event.  mit 
Haftstrafe  belegt  werden. 

Beschränkung  des  Ausschanks  geistiger  Getränke  in 
England.  Im  englischen  Unterhause  brachte  Harcourt  einen 
Antrag  ein  über  den  Detailhandel  mit  geistigen  Getränken. 
Wenn  in  einem  Distrikte  zwei  Drittel  der  Abstimmenden 
für  die  Schliessung  der  Schenken  stimmten,  sollten  in  drei 
Jahren  neue  Gerechtsame  nicht  vertheilt  und  alte  nicht 
erneuert  werden,  ausgenommen  die  wirklichenRestaurationen 
und  Hotels.  Ueljer  die  Schliessung  der  Schenken  am  Sonn- 
tag soll  die  einfache  Majorität  der  Steuerzahler  entscheiden 
und  dann  der  Beschluss  sofort  rechtskräftig  werden. 

Im  weiteren  Verlaufe  der  Sitzung  wurde  der  Gesetz- 
entwurf in  erster  Lesung  angenommen. 

Mässigkeitsvereine  und  Mässigkeitswirthschaften  in 
der  Schweiz.  Die  gesellschaftlichen  Bestrebungen  zur  Be- 
kämpfung der  Trunksucht  sind  in  der  Schweiz  besonders 
lebhaft  und  von  ziemlichem  Erfolg  begleitet.  Nach  den  An- 


No.  23. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


279 


gaben  des  Centralkomitees  des  internationalen  Ver- 
eins zum  blauen  Kreuz  gab  es  in  der  Schweiz  im  Jahre 
1877  eine  einzige  organisirte  Sektion  und  vermehrte  sich 
deren  Zahl  bis  1890  auf  nicht  weniger  als  168,  von  welchen 
Vereinen  112,  also  die  weitaus  grössere  Anzahl,  auf  die 
französischen  Kantone  und  nur  56  auf  die  deutschen  Kan- 
tone entfallen.  Diese  Mässigkeits vereine  zählten  zu  Be- 
ginn der  Bewegung,  im  Jahre  1877,  nur  32  Mitglieder,  wo- 
gegen deren  Zahl  heute  weit  über  5 Tausend  beträgt 
(1890:  5348).  Auch  von  diesen  Ziffern  entfällt  der  Haupt- 
antheil  (1890:  3857)  auf  die  französischen  Kantone  und  nur 
die  Anzahl  von  etwa  1 */2  Tausend  auf  die  deutschen  Theile 
des  Landes.  Am  kräftigsten  war  die  Bewegung  in  den 
Jahren  1881  — 1885,  in  denen  sich  die  Mitgliederzahl  verzehn- 
fachte; in  den  allerletzten  Jahren  ist  eher  eine  kleine  Ab- 
nahme zu  konstatiren. 

1877  1881  1883  1885  1888  1890 

Mässigkeitsvereine  I 19  41  86  139  168 

Mitgliederzahl  derselben  32  366  2763  3866  5510  5348 

Mässigkeitswirthschaften  — — 48  64  101  137 

Im  Zusammenhänge  mit  der  Errichtung  der  organisir- 
ten  Sektionen  des  Vereins  zum  blauen  Kreuz  steht  die  Er- 
öffnung sogenannter  Mässigkeitswirthschaften,  welche 
den  Namen  der  „Säle  zum  blauen  Kreuz“  führen.  Der 
erste  derselben  wurde  1879  in  Boudry  eröffnet  und  sie 
breiteten  sich,  genau  so  wie  die  Mässigkeitsvereine  selbst, 
zunächst  und  zumeist  über  die  französischen  Ortschaften, 
und  weit  weniger  über  die  deutschen  aus.  Heute  (1891; 
beträgt  die  Zahl  dieser  Wirthschaften  146  in  116  verschie- 
denen Ortschaften,  von  denen  sich  die  meisten  in  den 
Kantonen  Waadt  (51),  Genf  (34),  Nauenburg  (27)  und  Bern 
(16)  befinden;  in  allen  übrigen  Kantonen  zusammengenom- 
men wurden  bis  1890  nur  18  eröffnet.  Als  Orte,  in  welchen 
eine  grössere  Anzahl  solcher  „Säle  zum  blauen  Kreuz“  be- 
stehen, sind  zu  nennen : Genf-Stadt  (24),  Lausanne  (6),  Plain- 
palais  (6),  Vevey  (5),  Neuenburg  (4;  Murten  (4),  La  Chaux- 
de-Fonds,  Bern,  Bex  (je  3),  Neuenstadt,  Basel,  Aigle,  Mou- 
don,  Chateau  d’Oex,  Le  Chätelard  (je  2);  in  76  Orten  be- 
steht je  1 solche  Mässigkeitswirthschaft.  Es  ist  somit 
deutlich  zu  ersehen,  dass  die  Bewegung  in  Genf  ihren 
Hauptsitz  hat  und  in  den  französischen  Ortschaften  einen 
ganz  besonders  geeigneten  Boden  findet. 


Schulwesen,  Bildungs-  und  Erziehungsfragen. 


Gewerbliche  Fortbildung  in  Hessen.  In  der  zweiten 
Kammer  der  hessischen  Stände  in  Darmstadt  versuchten  am 
15.  Februar  d.  J.  die  Gegner  des  städtischen  und  ländlichen 
Fortbildungswesens  einen  Ansturm  auf  die  fortgeschrittenen 
hessischen  Einrichtungen,  deren  diese  Zeitschrift  schon  öfters 
Erwähnung  gethan  hat.  Ein  Interpellant  richtete  an  die  Regie- 
rung die  trage,  ob  sie  mit  der  an  vielen  Orten  verfügten  Ver- 
legung der  Unterrichtsstunden  der  Fortbildungsschulen  in  die 
übliche  Geschäfts-  bezw.  Arbeitszeit  einverstanden,  wenn  nicht, 
ob  sie  gewillt  sei,  den  in  Frage  kommenden  Schulvorständen 
gegenüber  ihren  Einfluss  behufs  Rückgängmachung  der  be- 
schlossenen Neuerung  geltend  zu  machen.  Die  Antwort  der 
Regierung  lautete,  dass  Artikel  17  des  Volksschulgesetzes  vier 
"wöchentliche  Stunden  während  fünf  Monaten  des  Jahres  fest- 
setzen und  es  den  Schulvorständen  überlassen  sei,  die  Zeiten 
der  Abhaltung  des  Unterrichts  auf  Grund  der  Kenntniss  der 
örtlichen  Verhältnisse  und  der  Bedürfnisse  zu  bestimmen.  Die 
Einrichtung  hatte  sich  bewährt,  Klagen  seien  nur  in  ganz  ver- 
einzelten fällen  laut  geworden,  die  Regierung  habe  zur  Abän- 
derung keinen  Anlass.  In  der  nachfolgenden  Besprechung  trat 
die  Mehrheit  der  Redner  durchaus  für  Aufrechterhaltung  des 
Bestehenden  ein.  Pennrich  führte  Beschwerde  über  die  Schä- 
digungen, die  in  Bingen  für  Industrielle  und  Gewerbtreibende 
durch  Festsetzung  des  Fortbildungsunterrichts  an  Nachmittagen 
entstanden.  Vom  Regierungstische  wurden  diese  Angaben, 
ebenso  auch  aus  Abgeordnetenkreisen  für  übertrieben  bezeichnet. 
Hiernach  wurde  in  die  Berathung  über  die  Petition  des  hessischen 
Bauernvereins  betreffs  der  Schulverhältnisse  auf  dem  Lande  ein- 
getreten. In  der  Petition  sind  sechs  Wünsche  formulirt,  welche 
dahin  gehen,  die  finanzielle  Leistungsfähigkeit  der  Gemeinde 
bei  Schulhausneubauten  zu  berücksichtigen,  die  Verpflichtung 
zum  Besuch  ländlicher  Fortbildungsschulen  aufzuheben,  die 
Kinder  vom  11.  Jahre  ab  auf  dem  Lande  von  April  bis  September 


an  den  Nachmittagen  vom  Schulbesuch  zu  befreien,  den  welt- 
lichen Unterricht  einzuschränken  (auf  Lesen,  Schreiben,  Rechnen, 
deutsche  Sprache  und  Grundlehren  der  Naturkunde)  und  bei 
Mädchen  den  Unterricht  in  weiblichen  Handarbeiten  den  prak- 
tischen Bedürfnissen  für  sie,  als  künftigen  Bauersfrauen,  anzu- 
passen, den  Turnunterricht  aufzuheben  und  schliesslich  einen 
Wechsel  in  den  Lehrmitteln  thunlichst  zu  vermeiden.  Die 
Regierung  und  die  Kommission  lehnten  hier  ebenfalls  ganz 
richtig  ein  Eingehen  auf  die  seltsame  Petition  ab. 

Unterrichtsverband  der  Arbeitervereine  Nieder- 
österreichs. Am  18.  Oktober  1891  konstituirte  sich  ein 
eigenartiger  Verein  in  Wien,  der  Unterrichtsverband  der 
Arbeitervereine  Niederösterreichs;  derselbe  hat  den  Zweck 
das  Vortrags-  und  Unterrichtswesen  der  Arbeitervereine 
einheitlich  zu  organisiren.  Dem  Verband  gehören  15  Bil- 
dungsvereine, 41  Fachvereine  mit  zahlreichen  Ortsgruppen 
und  Filialen,  I slavischer  und  ausserdem  6 Provinzvereine 
an.  Von  den  97  in  Wien  und  Umgegend  domizilirenden  Ar- 
beitervereinen gehörten  52  mit  20  000  Mitgliedern  dem  Ver- 
bände an,  davon  nahmen  ca.  1200  an  dem  Unterrichte  Theil. 
Die  Abhaltung  von  199  Unterrichtskurzen  wurde  von  den 
Vereinen  gewünscht.  Vom  1.  November  1891  bis  Ende 
1892  wurden  1362  Vorträge  gehalten.  Auf  jeden  Monat 
fielen  97,  auf  jeden  Verein  22  Vorträge.  115  Vortragende 
standen  dem  Verbände  zur  Verfügung,  58  trugen  regel- 
mässig vor,  auf  jeden  Vortragenden  kamen  im  Durchschnitt 
12  Vorträge,  5 Vortragende  hielten  allein  280  Vorträge. 
Ausserdem  wurden  von  39  Lehrern  64  Unterrichte  ab- 
gehalten, an  denen  über  1400  Schüler  theilnahmen,  dann 
wurden  noch  17  Vortragcyklen  und  ein  Volkskonzert  ver- 
anstaltet. Endlich  wird  noch  über  die  Abhaltung  von 
Festen  und  Exkursionen  und  der  Errichtung  einer  Bibliothek 
berichtet  Die  Einnahmen  des  Verbandes  beziffern  sich 
auf  3824  fl.  44'/2  kr.  An  Lehrerhonoraren  wurden  1624  fl. 
92  kr.,  für  Vorträge  445  fl.  37  kr.,  für  den  Gehalt  des  Se- 
kretärs 357  fl.  verausgabt. 


Volksbibliotheken.  Unter  den  10  reichsten  Biblio- 
theken, welche  jährlich  200  000  — 800  000  M.  verausgaben 
können,  befinden  sich  neben  den  grossen  staatlichen  Biblio- 
theken zu  London,  Paris  und  Berlin,  sieben  Volksbibiotheken, 
das  sind  Bibliotheken,  welche  dem  Volke  gute  Lektüre 
unentgeltlich  und  ohne  formelle  Erschwerung  bieten,  es 
sind  dies  die  Volksbibliotheken  zu  Boston  mit  670  000  M„ 
die  zu  London  mit  660  000,  die  zu  Chicago  mit  470  000,  die 
zu  Sidney  mit  280  000,  die  zu  Manchester  und  Liverpool  mit 
je  240  000  M.  und  die  Pariser  Volksbibliotheken  mit  200  000  M. 
Budget  im  Jahre  1890  bezw.  1891.  Die  Pariser  Volks- 
bibliotheken, welche  noch  in  den  70  er  Jahren  unbedeutend 
waren,  erzielen  jetzt  jährlich  ca.  2 Millionen,  die  Londoner, 
welche  1886  kaum  genannt  wurden,  21/ 2 Milionen  Buch- 
benutzungen im  Jahre,  dagegen  gaben  die  Volksbibliotheken 
Berlins,  nur  V3,  die  Wiens  nur  1/4  Million,  die  Dresdens, 
Münchens,  Frankfurts  und  Bremens  nur  100000 — 200000 
Bücher  ab,  während  Manchester  1 560  000,  Liverpool  980  000, 
Birmingham  848  000,  Leeds  800  000,  Edinburgh  780  000, 
Bristol  630  000,  Bradford  51 7 000,  Sheffield  426  000  Bücher 
im  Jahre  verleiht.  Die  Volksbibliothek  von  Manchester 
giebt  jährlich  bei  einer  Einwohnerzahl  von  500  000  Ein- 
wohner, 1 560  000  Bücher  aus,  überdies  werden  in  den 
Journalsälen  drei  Millionen  Leser  pro  Jahr  notirt.  Nicht  nur 
auf  Europa  und  die  Vereinigten  Staaten  beschränkt  sich 
die  auf  Errichtung  von  Volksbibliotheken  gerichtete  Be- 
wegung, auch  in  Australien,  Südafrika,  China  und  Japan  ist, 
wie  wir  einem  sehr  interessanten  Aufsatze  von  Professor 
Dr.  E.  Reyer  in  den  Deutschen  Worten  (XII.  Jahrgang, 
1892,  12.  Heft)  entnehmen,  diese  Bewegung  sehr  lebhaft. 
Ueberall  ist  die  Ueberzeugung  durchgedrungen,  dass  die 
Volksbibliotheken  der  Volksschule  ergänzend  zur  Seite 
stehen  müssen. 

Auch  wir  sind  der  Ueberzeugung,  dass  wohl  dotirte, 
vernünftig  und  vorurtheillos  eingerichtete,  allgemein  leicht 
zugängliche,  von  jedem  unnöthigen  büreaukratischen  Appa- 
rate freie  Volksbibliotheken  bei  dem  Bildungsdrange  unserer 
Arbeiterbevölkerung  weit  grösseren  Nutzen  stiften  können, 
als  die  Fortbildungsschulen  und  dergleichen. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


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Deutsche  Litteraturzeitung 

Begründet  von  Professor  Dr.  Max  Koediger. 

Herausgegeben 


Dr.  Paul  Hinneberg. 

XIII.  Jahrgang.  Preis  vierteljährlich  7 Mark.  Erscheint  jeden  Sonnabend. 

Zu  beziehen  durch  alle  Buchhandlungen  und  Postanstalten. 


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Die  Deutsche  Litteraturzeitung  erblickt  ihren  eigenthümlichen  Beruf  darin, 
vom  Standpunkt  der  deutschen  Wissenschaft  aus  eine  kritische  Ueb ersieht  über 
das  gesammte  1 itterar isc he  Leben  der  Gegenwart  zu  bieten.  Sie  sucht  im 
Unterschied  von  den  Fachzeitschriften  allen  denen  entgegenzukommen,  welchen  es 
Bedürfniss  ist,  nicht  nur  mit  den  Fortschritten  ihres  Faches,  sondern  auch  mit  der 
Entwickelung  der  übrigen  Wissenschaften  und  mit  den  hervorragenden  Leistungen 
der  schönen  Litteratur  vertraut  zu  bleiben. 

In  ihren  Mittheilungen  bringt  die  Deutsche  Litteraturzeitung  eine  Uebersicht 
über  den  Inhalt  in-  und  ausländischer  Zeitschriften,  wie  sie  in  dieser  Reich- 
haltigkeit sonst  nirgends  geboten  wird,  ferner  ständige  Berichte  über  die  Thätigkeit 
gelehrter  Gesellschaften,  Nachrichten  über  wissenschaftliche  Entdeckungen  und  lite- 
rarische Unternehmungen,  Personalnotizen  und  Vorlesungsverzeichnisse. 

Durch  die  Unterzeichnung  aller  Besprechungen  mit  dem  vollen  Namen  des 
Referenten  bietet  die  Deutsche  Litteraturzeitung  die  Gewähr  einer  gediegenen 
und  würdigen  Kritik. 


No.  23. 


Dieser  Tage  erscheint: 

Lagerkatalog  No.  475: 

Nationalökonomie,  Politik  und 
Verwandtes. 

Bitte  zu  verlangen. 

Augsburg,  1.  März  1893. 

J.  Windprecht’s 

Antiquariats  - Buchhandlung. 

5.  ©uttentag,  BerlagsSbudjbaubfuug  in  Berlin  SW®. 

Öintttentag’fdic  Gammluna 
3 e u t T e v Krirfisgrrrftc. 

Br.  2. 

^trafgcfcgtutd] 

für  bas 

©cutfdje  Betdj 

nebft 

Den  aebritudjltüjiten  pdj0-p:aM^n: 

(Sßoft,  iyntyfen,  treffe,  ißerfonenjtanb,  9fal)rung§= 
mittet,  Sranfcm,  UnfalL,  3UterS=,  $nöalibitäfc§öer= 
ftdjerung  unb  ©emerbeorbnung  u.  f.  ro.) 

<Xcj:t:5tu§gabe  mit  5lnnier!ungen  itttb  ©adjregijter 

Don 

Di*.  Bans  Mübnrflf. 

^gd)g|gljntr  3ä  tt  f I a g e 

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Di*.  1§.  Uppelius. 

Süfcljenformat,  fartonnirt.  1 9)?. 


Br.  20. 


Dom  15.  3hmi  1883 

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Jafdienfoimat;  fartonnirt. 
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Verlag  der  Internationalen  Verlags-Anstalt 
Berlin  SW.,  Wilhelmstrasse  10. 

Zur  Börsenenquete 

in  Deutschland. 

Von 

Di*,  jur.  Jul.  Lubszynski. 

Preis  80  Pf. 


Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil:  O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  13.  März  1893. 


Nummer  24 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer.  Preis  vierteljährlich  •>  Mark  50  Pf. 

Zu  beziehen  durch  J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung  Einzelnummer  20  Pf. 

alle  Buchhandlungen, Zeitungsspediteure  undPostümter.  in  Berlin  SW  48  Der  Anzeigenpreis  betragt  für  die  dreigespaltene 

No.  5945  der  Postzeitungsliste.  ‘ ' Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHAL  T. 


Der  gegenwärtige  Stand  der 
sozialistischen  Arbeiter- 
bewegung Belgiens.  Von 
Dr.  Emile  V andervel d e. 

Gerhardt  Haupt  man  ns  „We  her“. 
Von  Georg  Simmel. 

Soziale  Wirtschaftspolitik  n. 
W irtli  scli  aftsstatistik : 

Verhältnisse  der  unteren  Post- 
beamten des  Deutschen  Reiches. 

Zur  Hausweberpolitik  in  Schlesien. 

Stand  der  Arbeiterkolonien  in 
Deutschland. 

Zum  Arbeitsnachweis  in  Berlin. 

Landwi  rthschaftskammern  in 
Preussen. 

Bezahlung  der  Arbeiter  in  eng- 
lischen Staatswerkstätten. 

Zum  Verbot  der  Einwanderung  in 
den  Vereinigten  Staaten. 

Finanzfragen: 

Gegen  die  Kommunalsteuerprivi- 
legien der  Beamten. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Arbeitseinstellungen  in  Oesterreich 
im  Jahre  1891. 

Politische  Arbeiterbewegung : 

Programm  der  parlamentarischen 
Arbeiterpartei  von  Queensland. 


Unternehmerverbände: 

Rheinisch-  westphälisches  Kohlen- 
kartell und  staatliche  Verwaltung. 

Arbeiterscluitzgesetzgebung : 

Arbeitszeit  jugendlicher  Textil- 
arbeiter in  Preussen  und  Sachsen. 

Sonntagsruhe  für  Bahnarbeiter. 

Die  Frage  des  Achtstundentages  in 
England. 

Gewerbeinspektion : 

Vermehrung  der  Fabrikinspektoren 
in  Preussen. 

Die  Gewerbeinspektion  in  Oester- 
reich 

Arbeiterversicberung: 

Das  Reichsversicherungsamt  und 
die  Elemente  der  Volkswirth- 
lehre. 

Zur  Durchführung  der  Alters-  und 
Invaliditätsversicherung. 

Die  Haftpflicht  in  England. 

Gewerbegerichte : 

Berggewerbegerichte  in  Preussen. 

Scbnlwesen,  Bildungs-  und  Er- 
ziehungsfragen: 

Berliner  Arbeiterbildungsschule. 

Rechtspflege : 

Die  Behandlung  politischer  Ge- 
fangener. Von  Georg  Lecle- 
bour. 


Abdruck  sämmtliclier  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Der  gegenwärtige  Stand  der  sozialistischen 
Arbeiterbewegung  Belgiens. 


Es  sind  bald  zwei  Jahre  verflossen  seit  dem  Beschlüsse 
der  belgischen  Kammern,  die  Verfassung  und  insbesonders 
die  Artikel  derselben  zu  revidiren,  welche  die  Ausübung 
des  Wahlrechts  auf  diejenigen  Personen  beschränken,  welche 
20  holländische  Gulden  direkte  Steuern  bezahlen.  Bisher 
fand  sich  aber  für  keinen  der  Vorschläge,  den  § 1 3 1 der 
Verfassung  zu  revidiren,  die  erforderlichen  2 Drittel  Ma- 
jorität. Bios  die  Radikalen  der  Kammer,  30  an  Zahl,  halten 
mit  Entschiedenheit  an  der  Forderung  des  allgemeinen 
Wahlrechtes  fest,  die  gemässigten  Liberalen  wollen  das 
Wahlrecht  von  einem  mehr  oder  minder  einschneidenden  Bil- 
dungscensus,  die  ultramontane  Regierung  ausser  von  diesem 
noch  von  einem  durch  die  Wohnungsmiethe  ausgedrückten 
Einkommens-  oder  besser  gesagt  Ausgabencensus  abhängig 


machen.  Die  Ultramontanen  fürchten  die  Vermehrung  der 
Wähler  in  den  Städten,  die  Liberalen  die  Vermehrung  der 
Zahl  der  ländlichen  Stimmberechtigten,  so  dass  die  Gegner 
des  allgemeinen  Stimmrechts  sich  auf  kejn  gemeinsames 
Vorgehen  einigen  können. 

Der  Widerstand  gegen  das  allgemeine  Wahlrecht  ist 
aus  der  Furcht  vor  der  erstarkten  sozialistischen  Bewegung 
zu  erklären.  Man  weiss,  dass  die  Einführung  des  allge- 
meinen Wahlrechts  der  belgischen  Kammer  eine  ansehn- 
liche sozialistische  Minorität  bescheeren  wird,  der  bei  der 
oft  gleichen  Stärke  der  liberalen  und  ultramontanen  Partei 
eine  entscheidende  Stellung  im  belgischen  Parlamente  zu- 
kommen könnte.  Ausserdem  würde  das  allgemeine  Wahl- 
recht den  Sozialdemokraten  in  den  grossen  Städten  und  in 
den  zahlreichen  Industriegemeinden  die  Majorität  in  den 
kommunalen  Verwaltungskörpern  verschaffen,  so  in  Gent, 
in  den  Bergwerksbezirken,  in  den  Centren  der  Textil- 
industrie, wo  überall  die  Fabrikanten  bisher  unangefochten 
neben  der  Herrschaft  in  der  Industrie  auch  unumschränkte 
Herren  der  kommunalen  Verwaltung  waren.  Eine  ähnliche 
Umwälzung  würde  im  östlichen  und  westlichen  Flandern 
stattfinden,  wo  75  bez.  84  pCt.  des  Grund  und  Bodens  von 
Pächtern  bebaut  werden,  und  somit  in  den  kommunalen 
Verwaltungskörpern  an  die  Stelle  der  Landbesitzer  die 
Pächter  treten  würden.  Aus  diesen  Gefahren  für  die  jetzt 
Herrschenden  erklärt  sich  vollauf  die  feindliche  Stellung- 
nahme gegen  das  allgemeine  Stimmrecht. 

Aber  auch  die  Bewegung  für  das  allgemeine  Stimm- 
recht ist  gewaltig  erstarkt.  Gelegentlich  der  Enquete  über 
die  Arbeitsbedingungen,  die  in  Folge  des  grossen  Strikes 
im  Becken  von  Chaleroy  vom  Jahre  1886  unternommen 
wurde,  forderten  die  Vertreter  der  Arbeiter  überall  das 
allgemeine  Stimmrecht;  seitdem  sind  zahlreiche  Strikes  aus- 
gebrochen, bei  denen  das  Verlangen  nach  dem  allgemeinen 
Stimmrecht  erhoben  wurde.  Der  letzte  brach  gdeichzeiti" 
in  vier  Bergwerken,  in  denen  von  Lüttich,  Chaleroy,  des 
Centrums  und  im  Borinage  aus,  entsprechende  Beschlüsse 
wurden  in  zahlreichen  Industrie-  und  Arbeitsräthen  gefasst 
und  die  Folge  davon  war,  dass  der  Kammerausschuss  sich 
für  die  Revision  der  Verfassung  aussprach. 

Mannigfach  wurde  nun  für  das  allgemeine  Stimmrecht 
demonstrirt,  so  trat  am  25.  Dezember  1892  in  Brüssel  ein 
ausserordentlicher  Kongress  zusammen,  auf  dessen  Tages- 
ordnung stand:  Das  allgemeine  Wahlrecht  und  der  General- 
strike.  Ueber  600  Delegirte  von  359  Gruppen  nahmen  Theil 
und  beschlossen  nach  langer  Debatte  einstimmig,  den 
Generalstrike  in  dem  Augenblicke  zu  proklamiren,  in  dem 
die  Kammern  das  allgemeine  Stimmrecht  ablehnen  würden 

Um  die  Bedeutung  dieses  Beschlusses  klar  zu  stellen, 


282 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  24. 


muss  ein  Bild  der  sozialistischen  Organisation  entworfen 
werden. 

Die  Arbeiterpartei  setzt  sich  aus  ebensovielen  auto- 
nomen Organisationen  zusammen,  als  das  Land  industrielle 
Bezirke  besitzt. 

Die  einzelnen  Organisationen  sind  sehr  verschieden 
an  Stärke,  einzelne  umfassen  fast  alle  Arbeiter  des  Bezirkes, 
andere  nur  sehr  wenige.  Oft  sind  die  Arbeiter  aber  nur 
sehr  wenig  disziplinirt  und  schliessen  sich  auch  dort,  wo  sie 
der  sozialistischen  Partei  angehören,  nur  zum  geringsten 
Theile  den  Fach  vereinen  und  Kooperativgenossenschaften 
an.  Vielfach  sind  die  belgischen  Arbeiter  eher  zu  einem 
revolutionärem  Handstreich,  als  zu  der  mühseligen  Thätig- 
keit  innerhalb  ihrer  Organisationen  zu  gewinnen.  Wie 
sehr  die  Arbeiter  aber  für  das  allgemeine  Stimmrecht  sind, 
ersieht  man  aus  einer  Probeabstimmung  der  nicht  Wahl- 
berechtigten gelegentlich  der  allgemeinen  Wahlen  im 
Borinage,  bei  dieser  Gelegenheit  wurden  17  000  Stimmen 
für  den  sozialistischen  Kandidaten  abgegeben.  Die  Ver- 
anstaltung des  freiwilligen  Referendums  in  den  letzten 
Wochen  hat  gleichfalls  den  Beweis  geliefert,  dass  die  über- 
wiegende Masse  der  Bezirke,  in  welchen  das  Referendum 
angewandt  wurde,  für  das  allgemeine  Wahlrecht  ist.  Am 
grössten  ist  die  Macht  der  sozialistischen  Partei  in  den  Be- 
zirken von  Gent,  Brüssel,  Jolimont  und  im  Centre  Hainaut. 
Ihre  Organisation  ist  dort  fast  überall  die  gleiche:  Die 

Grundlage  bilden  die  Hilfskassen,  im  Centre  Hainaut  ein 
grosser  Konsumverein,  dann  kommen  die  gewerkschaftlichen 
Organisationen  und  als  Krönung  des  Gebäudes  die  poli- 
tischen Gruppen,  die  cercles  d’etude  i Studiencirkel)  in 
Betracht. 

Werfen  wir  rasch  einen  Blick  auf  diese  verschiedenen 
Organisationsformen. 

I.  Die  Hilfskasse  n.  Diese  stehen  in  der  Regel  ausser- 
halb des  Rahmens  der  sozialistischen  Organisation,  die 
meisten  von  ihnen  sind  älter  als  die  Arbeiterpartei.  Ihnen 
gehören  neben  Sozialisten  auch  Nicht-Sozialisten  an.  Einige 
von  ihnen,  und  darunter  recht  einflussreiche  mit  einem  aus- 
gebreitetem Filialennetze,  haben  rein  sozialistischen  Cha- 
rakter. In  Gent  hat  die  Stärke  der  sozialistischen  Bewegung 
die  meisten  Hilfskassen  in’s  sozialistische  Lager  geführt,  im 
März  1890  vereinigten  sich  dieselben  zu  einem  Bunde, 
dem  Bond  Moyson,  das  12  000  Mitglieder  (4000  Männer  und 
8000  Frauen  und  Kinder)  zählt. 

II.  Die  gewerkschaftliche  Organisation.  Fast 
in  allen  Industriebranchen  existiren  Gewerkvereine,  aber 
nur  die  wenigsten  besitzen  eine  ansehnliche  Mitgliederzahl, 
so  die  Metall-,  die  Holz-,  Cigarren-  und  Bergwerksarbeiter; 
diese  sind  im  Besitze  centralisirter  Organisationen.  Dann 
kommen  noch  in  Betracht  die  Textilarbeiter  von  Gent  und 
in  Brüssel  die  Lithographen,  Bildhauer  und  Marmorschneider. 
Eine  von  mir  angestellte  Enquete  über  die  Stärke  der  bel- 
gischen Fachvereine  hat  ergeben,  dass  ca.  60 — 65  Tausend 
Arbeiter  demnach  10  pCt.  der  belgischen  Industrie-  und 
Bergarbeiter  den  sozialistischen  Organisationen  angehören 
dürtten.  Die  am  besten  organisirten  Gewerkschaften  - 
die  Buchdrucker,  Bronzearbeiter,  Handschuhmacher  und 
Juweliere  befinden  sich,  obgleich  sie  ihrer  Majorität  nach 
aus  Sozialisten  bestehen,  noch  ausserhalb  des  Rahmens  der 
Arbeiterpartei.1) 

III.  Die  Kooperativgen  ossens  chaften.  Dieselben 
bilden  das  Rückgrat  der  sozialistischen  Organisation,  sie 
sind  für  die  belgische  Arbeiterbewegung  von  grösserer  Be- 
deutung als  die  gewerkschaftlichen  Organisationen  und 
machen  ganz  ausserordentliche  Fortschritte. 

M Vgl.  Emile  Vandervelde,  Enquete  sur  les  associations  pro- 
fessionelles. 2 Volumes,  Bruxelles  Office  de  Publicity,  1891. 


1880,  zur  Zeit  der  Gründung  des  Voruuit,  gab  es  in 
ganz  Belgien  blos  ca.  15  kleine  Cooperativgenossenschaften. 
Erst  nach  den  ersten  drei,  vier  Jahren  machte  der  Voruuit 
grosse  Fortschritte.  Im  Jahre  1884  gründeten  die  Genter 
Sozialisten  eine  grosse  Brodfabrik,  zu  deren  feierlichen  Er- 
öffnung sie  Vertreter  der  Arbeiterpartei  des  ganzen  Landes 
einluden.  Diese  kehrten  zurück  voll  Enthusiasmus  für  die 
neue  im  Voruuit  verwirklichte  Organisationsform.  Allgemein 
hielt  man  es  für  einen  vorzüglichen  Gedanken,  die  Massen 
zu  fesseln,  indem  man  gleichzeitig  ihr  momentanes  ökono- 
misches Interesse  und  ihr  Streben  nach  einem  idealen 
Gesellschaftszustande  zu  befriedigen  suchte,  indem  man 
ihnen  Brod,  Schuhe,  Kleider,  Kohle,  Cigarren,  Medikamente 
und  all  dies  billiger  als  irgendwo  sonst  verschaffte.  Dies 
gelang,  obgleich  man  einen  Theil  des  Reingewinnes,  all- 
jährlich mehrere  Tausende  von  Franks,  für  die  sozialistische 
Propaganda,  die  Presse,  die  politische  Bethätigung,  für 
Kranke,  Arbeitslose,  für  Unterstützungen  bei  Arbeitsein- 
stellungen, und  dergl.  verwenden  konnte.  „Bombardiren 
wir“,  sagte  eines  Tages  Anseele,  „bombardiren  wir  die 
kapitalistische  Gesellschaft  mit  Kartoffeln  und  Vierpfund- 
broden,  gründen  wir  eine  Musterfabrik  in  der  die  energi- 
schesten, überall  gemassregelten  Agitatoren  eine  Zuflucht 
finden,  bei  Löhnen,  die  eine  wirkliche  Entlohnung  darstellen, 
lassen  wir  nur  acht  Stunden  arbeiten  und  gewähren  wir  da- 
mit auch  acht  Stunden  der  Müsse,  um  Gelegenheit  zu 
geben  für  die  neuen  Ideen  propagandistisch  zu  wirken.“ 

Das  waren  die  Gedanken,  denen  der  Voruuit  sein 
Entstehen  verdankt  und  dem  bald  zahlreiche  Nachahmungen 
folgten,  so  die  Vrije  Bakkers  (freie  Bäcker)  von  Antwerpen, 
das  Brüsseller  Maison  du  Peuple  ( Volkshaus),  der  Progres 
(Fortschritt)  von  Jolimont,  die  Ruche  ouvriere  (der  Arheiter- 
bienenstock)  von  Verviers,  die  Populaire  (volksthümliche 
Gesellschaft)  von  Lüttich,  der  Proletaire  (Proletarier)  von 
Löwen,  die  Gesellschaften  von  Brügge,  Jumet,  Herstal 
u.  s.  w.,  die  15  Cooperativgesellschaften  des  Borinage.  Alle 
diese  Gesellschaften  wurden  nach  den  gleichen  Grundsätzen 
gegründet  und  sind  ziemlich  gleich  organisirt.  Sie  stehen 
gegen  ein  geringes  ßeitrittsgeld  von  1 - 2 Frcs.  allen  An- 
hängern der  Arbeiterpartei  offen.  Seine  Aktie  zahlt  das  neue 
Mitglied  durch  Abzüge  vom  Reingewinn  in  Theilzah- 
lungen  ab. 

Von  zwei  oder  drei  Ausnahmen  abgesehen,  befinden 
sich  die  sozialistischen  Cooperativgesellschaften  in  einer 
ausserordentlich  günstigen  Lage.  Die  vier  bedeutendsten 
sind  die  Vrije  Bakkers  von  Antwerpen  mit  4800  Mitgliedern, 
der  Genter  Voruuit,  das  Brüsseler  Maison  du  Peuple  und 
der  Progres  von  Jolimont;  über  dieselben  seien  einige 
Einzelheiten  hier  mitgetheilt: 

1.  Der  Voruuit  zählt  gegenwärtig  über  5000  Mitglieder, 
seine  Mitgliederzahl  hat  sich  in  5 Jahren  verdoppelt.  Sein 
Geschäftsumsatz  beträgt  1600  000  Frcs.  jährlich.  Ausser 
der  Brodfabrik,  seinem  wichtigsten  Geschäftszweige,  hat 
die  Gesellschaft  3 Apotheken,  ein  grosses  Kohlenlager  und 
Läden  für  den  Verkauf  von  Kleidern,  Schuhwerk,  Tabak 
und  Cigarren,  Kurz-  und  Kolonialwaaren  errichtet. 

2.  Der  Progres  von  Jolimont  wurde  1886  errichtet  und 
hat  sich  noch  rascher  wie  der  Voruuit  entwickelt.  Ende 
1892  zählte  die  Gesellschaft  6276  Mitglieder.  Sie  besitzt 
vier  Volkshäuser,  welche  gleichzeitig  als  Wirthshäuser  und 
Versammlungslokale  dienen,  zwei  Fleischereien,  mehrere 
Apotheken,  und  eine  Bäckerei,  welche  jetzt  pro  Halbjahr 
2 Millionen  Kilogramm  Brod  backt.  Am  Schlüsse  ihres  ersten 
Geschäftsjahres  besass  sie  2499  Mitglieder,  1888  traten  342, 
1889  507,  1890  953,  1891  1220  und  im  ersten  Halbjahre  1892 
755  neue  Mitglieder  hinzu.  Die  Entwicklung  der  Brod- 
fabrikation  zeigt  die  folgende  Tabelle: 


No.  24. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


283 


1.  Halbjahr 

1888  . 

353664  Brode 

zu  4 Pfund 

2 

1888  . 

415  200 

do. 

i-  „ 

1889 

543  352 

do. 

2. 

1889 

534  225 

do. 

1. 

1890  • 

565  627 

do. 

o 

*■'*  >i 

1890  . 

703  589 

do. 

i.  „ 

1891  . 

764  822 

do. 

2. 

1891 

964  229 

do. 

1.  ” 

1892  . 

. 1038  216 

do. 

3.  Das  Maison  du 

r’euple  zu  Brüssel  wurde  im  Jahre 

1885  gegründet,  es  versorgt  jetzt  mehr 

als  9000  Haushal- 

tungen,  somit  wohl 

circa 

45  000  Personen 

mit  Brod.  Durch- 

schnittlich  werden 

pro 

Halbjahr  90  000- 

-100  000  kg  Brod 

gebacken,  ausserdem  werden  Kohlen  und  Kurzwaaren  ver- 
kauft, Wirthshäuser,  Spezereiwaarenläden  etc.  betrieben. 
Der  Geschäftsumsatz  beträgt  mehr  als  2 Millionen  Francs. 

Die  Entwickelung  der  Brodfabrikation  ist  hier  noch 
interessanter  wie  in  Jolimont,  wie  folgende  Tabelle  zeigt. 


1. 

Halbjahr 

)> 

1887  . 

175  104  Brode  ä 

1. 

1888 

290  342 

do. 

2. 

V, 

1888  . 

465  963 

do. 

1. 

n 

1889  . 

604  05 1 

do. 

2. 

1889  . 

654  984 

do. 

1. 

i j 

1890  . 

765  420 

do. 

2. 

5) 

1890  . 

870  061 

do. 

1. 

1891  . 

. 1 276  938 

do. 

2. 

1891  . 

1 718  785 

do. 

1. 

1892  . 

1 950  584 

do. 

Zu  Hunderten  schliessen  sich  allmonatlich  neue  Mit- 
glieder den  sozialistischen  Kooperativgesellschaften  an.  Dem 
Beispiele  der  Sozialisten  folgten  die  Konservativen  (Ultra- 
montanen), sie  gründeten  konkurrirende  Kooperativgesell- 
schaften, so  zu  Gent  in  der  direkten  Nachbarschaft  des 
Voruuit  den  Volksbelang,  in  Brüssel  das  Maison  des  Ouvriers, 
im  Centre  die  Gesellschaft  der  Hayettes  u.  s.  w.  Ausser- 
dem wurden  noch  andere  Kooperativgenossenschaften 
ohne  politische  Färbung  gegründet,  die  Folge  hiervon  ist, 
dass  ein  sich  stets  steigernder  Prozenttheil  der  Bevölkerung 
„Kooperativbrod“  isst  und  die  kleinen  Bäckereien  immer 
mehr  Kunden  verlieren.  Insbesondere  in  Brüssel  ver- 
schlechtert sich  die  Lage  der  kleinen  Bäckermeister  hier- 
durch zusehends,  begreiflicherweise  bekämpfen  diese  ener- 
gisch die  Kooperativbewegung,  aber  ihre  Zahl  vermindert 
sich  im  gleichen  Verhältniss  wie  die  Bankerotte  steigen. 

So  zeitigt  die  Kooperativbewegung  doppelte  Resultate; 
sie  schafft  billiges  Brod  und  befördert  den  Akkumulations- 
prozess im  Kleinhandel.  Der  energisch  geführte  Kampf 
gegen  die  Konkurrenz  der  Kooperativgesellschaften  hat 
den  Arbeitern  gezeigt,  dass  sie  in  ihrem  sozialen  Eman- 
zipationskampfe auf  sich  allein  angewiesen  sind.  Somit 
steht  die  belgische  Arbeiterpartei  fest  auf  dem  Boden  des 
Klassenkampfes,  sie  ist  aber  weit  entfernt  trotz  des  Ge- 
wichtes, das  sie  auf  die  Kooperativgesellschaften  legen,  zu 
verkennen,  dass  die  Lösung  des  sozialen  Problems  etwa 
allein  von  den  ökonomischen  Faktoren,  so  bedeutungsvoll 
diese  auch  sein  mögen,  abhänge.  Die  blutige  Nieder- 
werfung der  Arbeiterbewegung  von  Chaleroy  im  Jahre  1886, 
bei  der  Militär,  Zivilorgane  des  Staates,  Kirche  und  Unter- 
nehmerthum solidarisch  waren  in  der  Bekämpfung  der 
Arbeiter,  hat  die  Arbeiter  in  schroffen  Gegensatz  gebracht 
gegen  alle  herrschenden  Gewalten,  so  auch  gegen  die 
Kirche. 

Die  Verschärfung  des  Klassenkampfes  hat  auch  die 
starke  Freidenker bewegung  in  Belgien  gespalten,  ein 
Theil  hielt  die  Religion  für  die  Arbeiterklasse  für  noth- 
wendig  und  die  Kritik  der  Glaubenswahl  als  Beförderung 
der  antiautoritären  Strömung  unter  den  Arbeitern  für  den 
Bestand  der  heutigen  Form  der  Gesellschaft  für  gefährlich 
und  kehrte  deshalb  in  den  Schooss  der  Kirche  zurück,  der 
andere  Theil  ging  in  das  sozialistische  Lager  über.  Ein- 
stimmig erklärte  sich  der  im  April  1891  zu  Malines  abge- 
haltene Kongress  der  Freidenker  für  das  allgemeine  Stimm- 


recht und  den  Achtstundentag,  die  Freidenker  nahmen  des- 
halb auch  an  der  Maidemonstration  Theil. 

Auch  die  freie  Universität  von  Brüssel  wird 
immer  mehr  von  den  sozialistischen  Ideen  beeinflusst,  ihr 
Rektor  Hector  Denis  ist  Mitglied  der  Arbeiterpartei,  ein 
Dutzend  Professoren  und  die  Mehrzahl  der  ausserordent- 
lichen Professoren  und  die  Privatdozenten  sind  für  den 
Sozialismus  gewonnen.  Seit  1888  gehören  Kreise  der  Stu- 
denten und  früherer  Studenten  der  brüsseler  Universität 
und  der  staatlichen  Universitäten  der  Arbeiterpartei  an. 
Seit  1890  gründen  die  Vereinigungen  der  Studenten  und 
früheren  Studenten  Unterrichts-  und  künstlerische  Unter- 
haltungskurse (Section  d’Art  et  d’Enseignement),  sie  ver- 
anstalten im  Maison  du  peuple  zwei-  bis  dreimal  im  Monate 
litterarische  und  künstlerische  Abendunterhaltungen.  Mit 
Enthusiasmus  betheiligte  sich  die  Mehrzahl  der  brüsseler 
Künstler  an  dem  neuen  Unternehmen,  an  dem  regelmässig 
mehr  als  700  Arbeiter  theilnehmen.  Diese  Abende  haben 
vor  allem  einen  erzieherischen  Zweck,  man  bemüht  sich, 
den  Theilnehmern  eine  allgemeine  Idee  der  modernen 
ästhetischen  Bewegung  beizubringen.  So  wurden  mehrere 
Abende  den  Werken  von  Ibsen,  Zola,  Tolstoi,  Victor 
Hugo  etc.  etc.,  dann  den  Musikwerken  von  Grieg,  Brahms, 
Richard  Wagner,  Beethoven  etc.  gewidmet.  Ausserdem 
wird  litterarischer  und  wissenschaftlicher  Unterricht  abge- 
halten und  allwöchentlich  werden  Besuche  der  Museen  und 
der  industriellen  Etablissements  veranstaltet.  Das  brüsseler 
Beispiel  wurde  in  Iolimont  und  in  Frankreich  in  Roubaix 
nachgeahmt. 

Wir  haben  uns  etwas  länger  bei  den  Unterrichts-  und 
Unterhaltungskursen  aufgehalten,  weil  wir  zeigen  wollten, 
dass  die  belgische  Arbeiterbewegung  alle  modernen  Inter- 
essen vertritt,  dass  sie  eine  universelle  Partei  ist.  Sie  ist 
eine  Partei  des  Proletariates,  die  den  Kampf  um  eine  neue 
Welt  führt.  Dank  dieses  weiten  Gesichtskreises  war  sie 
im  Stande,  alle  Fraktionen  der  Arbeiterbewegung  in  sich 
zu  vereinigen.  Es  existiren  fast  keine  Gruppen  ausserhalb 
ihres  Rahmens  mit  Ausnahme  der  Ritter  der  Arbeit  von 
Chaleroy,  die  demselben  Programme  und  derselben  Taktik 
folgen  und  sich  lediglich  aus  persönlichen  Motiven  von 
der  Gesammtbewegung  fern  halten.  Was  die  Anarchisten 
anlangt,  so  ist  ihre  Zahl  so  gering,  dass  sie  füglich  ruhig 
ignorirt  werden  können,  jedenfalls  findet  gegenwärtig  ihre 
Agitation  keinen  Anklang  unter  den  Massen  und  kann  so- 
mit  die  Aktion  der  Arbeiterpartei  nicht  stören. 

Brüssel.  Emile  Vandervelde. 


Gerhardt  Hauptmanns  „Weber“. 

ln  die  Regesten  unserer  sozialen  Bewegung  gehört 
Hauptmanns  Schauspiel  „Die  Weber“  ebenso  hinein,  wie 
die  Gründungsurkunde  eines  Kartells  oder  die  Verhand- 
lungen des  Vereins  für  Sozialpolitik.  In  gleichem  Maasse 
wie  sie  Ereignisse,  denen  diese  Blätter  sonst  gewidmet  sind, 
bringt  dies  Werk  die  tiefen  Strömungen  zum  Ausdruck,  zu 
deren  Träger  und  Symbol  jede  moderne  Lebensäusserung, 
willig  oder  widerwillig,  sich  gestalten  muss.  Indem  Haupt- 
mann das  Elend  der  schlesischen  Weber  in  den  vierziger 
Jahren  und  ihre  Revolte  gegen  die  Ausbeuter  in  den  er- 
greifendsten Zügen  vorführt,  dachte  er  sicher  nicht  daran, 
soziale  Agitation  zu  treiben,  und  nach  persönlichen 
Aeusserungen  von  ihm  hat  nicht  einmal  die  Beziehung  des 
Gegenstandes  zu  den  Bewegungen  des  Tages,  sondern  aus- 


284 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  24. 


schliesslich  das  dichterische  Problem  als  solches  ihn  inter- 
essirt.  Aber  nichts  konnte  mehr  als  grade  dieses  Geständ- 
niss  die  Macht  jener  Bewegungen  beweisen ; denn  es  zeigt, 
wie  tief  schon  in  die  verborgenen,  unbewussten  Quellen  der 
dichterischen  Phantasie  das  Elend  der  Massen  und  ihre  Sehn- 
sucht nach  Erlösung  hinabgedrungen  ist.  In  andern  Zeiten 
wäre  eben  ein  Interesse  des  Dichters  und  des  Publikums 
an  solchen  Problemen  unmöglich  gewesen;  dass  der  künst- 
lerische Gestaltungsdrang,  ohne  jede  bewusste  Rücksicht 
aul  die  sozialen  Bewegungen,  dennoch  wie  von  selbst  in  ihnen 
mündet,  ist  ein  stärkerer  Beweis  ihrer  alles  durchdringen- 
den Wucht,  als  irgend  eine  Tendenzdichtung  es  wäre. 

Das  völlig  Neue  an  der  Hauptmannschen  Dichtung 
ist,  dass  nicht  die  Schicksale  einzelner  Menschen,  sondern 
ganzer  Klassen  den  Inhalt  der  Handlung  bilden.  In  jedem 
der  fünf  Akte  stehen  andere  Typen  im  Mittelpunkt  der 
Handlung  und  der  letzte  spielt  in  einer  Weberfamilie,  von 
der  noch  keine  Person  in  den  früheren  aufgetreten  war. 
Die  Individuen  tragen  nicht  die  Entwickelung,  sondern 
werden  von  ihr  getragen;  grade  durch  die  Verschiedenheit 
der  Charaktere  hindurch,  in  denen  das  Klassenschicksal  die 
allerverschiedensten  Reaktionen  auslöst,  zeichnet  sich  aufs 
Schärfste  die  Gemeinsamkeit  eben  dieses  Schicksals.  Der 
Einzelne  mag  gut  oder  böse,  geduldig  oder  rebellisch  sein : 
das  Thun,  in  dem  seine  Natur  sich  äussert,  ist  doch  be- 
stimmt durch  das  Loos  der  Klasse.  Dieses  ist  das  Material, 
alle  Individualität  nur  Werkzeug,  das  den  Stoff  wohl  ver- 
schieden formen,  aber  nichts  aus  ihm  machen  kann,  was 
nicht  in  ihm  liegt.  Die  Verzweiflung  des  Einen,  die  Bru- 
talität des  Andern,  die  Ergebenheit  des  Dritten  — das  alles 
sind  nur  formal  verschiedene  Ausstrahlungen,  die  auf  das- 
selbe materiale  Centrum  weisen,  auf  das  Gesammtloos  der 
Klasse,  mit  dem  sich  abzufinden  den  Gesammtinhalt  des  in- 
dividuellen Lebens  bildet,  wenngleich  sich  jeder  auf  seine 
besondere  Weise  damit  abfindet.  Damit  hat  die  Stellung, 
die  die  soziale  Weltanschauung  der  Individualität  gegenüber 
ihrem  Milieu  einräumt,  ihre  erste  künstlerische  Gestaltung 
errungen;  der  Kampf  gegen  den  romantischen  Individualis- 
mus, von  dessen  Verbreitung  über  das  Feld  der  realen  und 
materiellen  Interessen  jede  Zeile  dieser  Blätter  erzählt,  hat 
seinen  ersten  Sieg  auf  dem  Gebiete  der  „reinen  Formen“ 
gewonnen. 

Tn  diesem  völligen  Bruch  mit  der  Romantik  verschmäht 
es  Hauptmann  auch,  die  Weber  etwa  als  besonders  er- 
habene oder  edle  Charaktere  gegenüber  teuflischen  Unter- 
drückern auftreten  zu  lassen.  Es  sind  beschränkte,  rohe, 
schwache  Menschen,  ganz  so  dumpf  und  niedrig,  wie  ihre 
Atmosphäre  sie  züchten  musste.  Aber  eben  dies  wirkt  un- 
gleich erschütternder,  als  wenn  es  sittliche  Heroen  wären; 
denn  dass  der  Gute  durch  den  Bösen  unterdrückt  wird, 
mag  ein  rührendes  Schauspiel  sein,  aber  es  hängt  von  zu- 
fälliger, individueller  Konstellation  ab;  dagegen,  dass  ver- 
möge sozialgeschichtlicher  Nothwendigkeit  eine  Klasse 
durch  die  andere  unterdrückt  werde,  völlig  gleichgültig,  ob 
in  der  einen  oder  in  der  andern  sich  die  guten  oder  die 
bösen  Individuen  finden,  diese  Unausweichlichkeit  des 
Klassenschicksals,  nach  der  der  Eine  oben,  der  Andere 
unten  ist,  „ohne  Ansehn  der  Person“  — das  ist  die  eigent- 
liche Tragik,  die  endlich  gewonnene  Deutung  des  Fatums- 
glaubens und  der  „Schicksalstragödie“.  Bei  der  zwei- 
maligen Aufführung  dieses  Stückes  vor  den  geistigsten 
Kreisen  Berlins  zeigte  sich  die  schon  erworbene  soziale 
Schulung,  die  das  Schicksal  der  Klassen  eine  unendlich 
viel  tiefere  ästhetisch-sittliche  Wirkung  gewinnen  liess,  als 
irgend  eine  Darstellung  individueller  Schicksale  es  vermöchte. 

Die  Polizei  hat  die  Aufführung  nur  einem  geschlosse- 
nen Verein  gestattet,  die  öffentliche  verboten.  Dagegen 
erlaubt  sie  dem  Berliner  Residenztheater  Jahr  für  Jahr  die 


gemeinsten  französischen  Possen  aufzuführen,  die  durch 
den  Kitzel  der  Sexualgefühle  und  die  vorgeführte  Centra- 
lisirung  aller  Lebensinteressen  auf  die  entsprechenden  Ver- 
gnügungen ihre  erzieherische  Wirkung  auf  unser  Volk  aus- 
üben dürfen;  im  Panoptikum  darf  eine  Wachsbilderserie 
blutiger  Thaten  dem  Publikum  unter  dem  Titel  „Für 
Nervenstarke“  dargeboten  und  damit  die  Verrohung  der 
sich  dazu  drängenden  Jugend,  die  Züchtung  der  Grausam- 
keitswollust  und  der  Raubthierinstinkte  im  Menschen 
systematisch  betrieben  werden.  Aber  eines  der  grössten 
Kunstwerke,  vom  tiefsten  sittlichen  und  künstlerischen  Ernste 
getragen,  wird  der  Gesammtheit  vorenthalten,  die,  wenn 
aut  irgend  etwas,  so  hierauf  ein  Recht  des  Eigenthums 
hat,  weil  nur  der  Geist  der  Gesammtheit  selbst  der  Boden 
ist,  auf  dem  diese  Frucht  wachsen  konnte.  Das  ist  die 
„ästhetische  Erziehung“  unseres  Volkes. 

Berlin.  Georg  Simmel. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Verhältnisse  der  unteren  Postbeamten  des  deutschen 
Reichs.  In  den  Reichstagssitzungen  vom  3.,  4.  und  6.  März 
d.  J.  wurden  die  Verhältnisse  der  unteren  Postbeamten  des 
deutschen  Reichs  in  Anknüpfung  an  den  Etat  der  Reichs- 
postverwaltung in  sehr  gründlicher  und  sozialpolitisch  in- 
teressanter Weise  erörtert.  Aus  den  Mittheilungen  des 
Generalpostmeisters,  Staatssekretär  Dr.  von  Stephan  und 
des  freisinnigen  Abgeordneten  Vollrath,  die  sich  gegenseitig  < 
ergänzten  und  korrigirten,  ging  hervor,  dass  die  Post- 
assistenten, um  welche  es  sich  hauptsächlich  handelte,  auf 
Grund  eines  Reglements  von  1871  nur  sehr  langsam  und 
nie  in  die  höhere  Postkarriere  befördert  werden.  Auf  einen 
Hinweis  des  Abgeordneten  Stöcker  darauf,  dass  man  in 
England  nicht  darnach  frage,  wie  Etwas  erlernt,  sondern 
was  erlernt  sei,  erwiderte  der  Staatssekretär  bezeichnender 
Weise:  „Es  ist  überall  ein  Unterschied  zwischen  höherer  ; 
und  niederer  Karriere.  Eine  andere  Organisation  ist  über-  , 
haupt  nicht  möglich.  Vor  den  englischen  Beamtenverhält- 
nissen bewahre  uns  der  Himmel.“  Die  Anwärter  auf  Post-  i 
assistentenstellen  werden  mit  sechswöchentlicher  Kün- 
digung und  2 Mark  Tagegeldern  angenommen.  Zur  festen 
Anstellung  gelangen  sie  überhaupt  erst  nach  9 bis  10  Jahren 
frühestens.  Der  Staatssekretär  gestand  wörtlich  zu,  dass  die 
Post  Verwaltung  des  deutschen  Reichs  es  so  wolle,  „dass  die 
Beamten  von  ihren  Eltern  unterstützt  werden  sollen.“  Das 
geschehe  ja  auch  in  anderen  Verwaltungszweigen  10  bis 
15  Jahre  lang.  Zum  Sekretärexamen  werden  nur  Militär- 
anwärter zugelassen.  „Ein  Recht  auf  Urlaub  hat  kein  Be- 
amter,“ sagte  der  Staatssekretär,  obgleich  er  sich  rühmte, 
den  Urlaub  überhaupt  erst  eingeführt  zu  haben.  Kein 
Wunder,  dass  sich  unter  diesen  Umständen  der  deutschen 
Postunterbeamten  eine  tiefgehende  Unzufriedenheit  be- 
mächtigt hat.  Dieselbe  fand  in  der  vor  einigen  Jahren 
erfolgten  Gründung  eines  Postassistentenverbandes  ihren 
Ausdruck.  Lim  diesen  Verband  und  seine  systematische 
Anfeindung  durch  die  Reichspostverwaltung  drehte  sich 
der  andere  Haupttheil  der  Debatten,  und  wenn  die  Organi- 
sation der  Postunterbeamten  noch  keinen  Erfolg  gehabt 
hätte,  als  die  Herbeiführung  solcher  ausserordentlich 
klärender  Debatten,  so  hätte  derselbe  schon  Viel  geleistet. 

Die  überwiegende  Mehrzahl  der  Redner  aller  Parteien  bis 
nach  Rechts  hinüber  stellte  sich  nämlich  entschieden  aut 
die  Seite  der  Beamten,  die  das  Recht  besässen,  sich  zur 
Hebung  ihrer  materiellen  Lage  zu  vereinigen,  und  gegen 
die  Reichspostverwaltung,  welche  jener  Organisation  alle 
möglichen  Schwierigkeiten  in  den  Weg  legt.  Die  Reichs- 
postverwaltung  beruft  sich  bei  ihren  Massregeln  gegen  den 
Verband  der  Postassistenten,  die  in  Strafversetzungen  und 
Entlassungen  thätiger  Mitglieder,  in  der  Versagung  des  Ur- 
laubes zur  Theilnahme  an  den  Verbandstagen,  in  der  Aus- 
kundschaftung privater  Verhältnisse  der  betheiligten  Beamten 


No.  24. 


SOZIALl’O]  ITISCHES  CENTRALBI.ATT. 


285 


und  Aehnliehem  bestehen,  auf  ihre  Pflicht  und  ihr  Recht, 
die  Postunterbeamten  vor  — „Vermögen Schädigungen“  durch 
solche  Vereinigungen  zu  — warnen.“  Dass  mehr  angewendet 
würde,  als  „Warnungen“,  bestritt  der  Staatssekretär  im 
Reichspostamte  nämlich,  und  Oberpostdirektoren,  die  den 
Beitritt  zum  Verbände  direkt  verboten  hatten,  wurden  von 
ihm  desavouirt.  Indessen  konnte  die  Reichspostverwaltung, 
das  wurde  allseitig  festgestellt,  weder  eine  bereits  vorhan- 
dene noch  eine  drohende  „Vermögensschädigung“  der  Ver- 
bandsmitglieder nachweisen.  Keiner  der  Parteiredner  ver- 
mochte in  der  Thatsache,  dass  der  Verband  mehrfache 
ausserordentliche  Beiträge  von  seinen  Mitgliedern  zur  Er- 
richtung neuer  oder  Fortführung  alter  Kasseneinrichtungen 
(Kleiderkasse,  Unterstützungskasse,  Zeitungskasse  etc.)  er- 
hoben hat,  so  Bedenkliches  zu  erkennen,  wie  der  Staats- 
sekretär im  Reichspostamte.  Im  Gegentheil  — ein  Theil 
dieser  Schwierigkeiten  ist  eben  die  direkte  Folge  der  Er- 
fahrungen, welche  die  Reichspostverwaltung  der  Ausbreitung 
des  Verbandes  bereitet  hat.  Uebrigens  zählt  der  Verband 
trotzdem  ca.  4000  Mitglieder,  und  seiner  Verwaltung  wurde 
allseitig  das  Zeugniss  der  Wirthschaftlichkeit  ausgestellt. 
Wenn  der  Staatssekretär  meinte,  dass  die  Bezeichnung  der 
Beamten  als  „Proletarier,  Hungerleider  und  Postkulis“  den- 
selben es  erschwere,  „eine  Stellung  in  der  anständigen 
Welt  und  Zutritt  zu  besseren  Familien  zu  behalten“,  so 
liegt  doch  der  Einwand  sehr  nahe,  dass  jene  Charakteri- 
sirung  am  raschesten  durch  eine  gründliche  Besserstellung 
der  Beamten  unmöglich  gemacht  werden  kann ; auf  diese 
legen  die  Beamten,  der  Reichstag  und  das  gesammte  in 
hohem  Grade  interessirte  Publikum  weit  höheren  Werth, 
als  auf  die  Gnadengeschenke  aus  den  vielerlei  Wohlfahrts- 
einrichtungen, welche  der  Staatssekretär  für  seine  Post- 
beamten emrichtete  und  die  naturgemäss  das  Streberthum 
gross  ziehen,  wohl  auch  gross  ziehen  sollen.  Das  Ergebniss 
der  mehrtägigen  Debatte  war  eine  entschiedene  Miss- 
billigung des  Verhaltens  der  Reichspostverwaltung  gegen 
ihre  Unterbeamten,  dieses  Gefühl  hatte  wohl  auch  der 
Staatssekretär  im  Reichspostamte,  und  daraus  erklärt  sich 
der  autokratische  und  gereizte  Ton  desselben  zur  Genüge, 
der  allgemein  unangenehm  auffiel.  Etwas  zu  kurz  kamen 
bei  den  Debatten  die  untersten  Postbediensteten,  die  zum 
Theil,  wie  die  Hilfsbriefträger,  1,50  M.  pro  Tag  Lohn  er- 
halten. Ein  Strike  dieser  „Beamten“,  wie  ihn  der  reichs- 
parteiliche Abg.  v.  Keudell  an  die  Wand  malte,  würde 
Vielen  gar  nicht  wunderbar  erscheinen.  Hoffentlich  zieht 
mit  der  Zeit  doch  ein  humanerer  Geist  in  die  deutsche 
Reichspostverwaltung  ein. 

Zur  Hausweberpolitik  in  Schlesien.  Auf  der  Tagesord- 
nung des  diesjährigen  schlesischen  Provinziallandtags  stand 
auch  die  Frage  der  Hausweberei.  Die  Körperschaft  sollte  an- 
gegangen werden,  die  Regierungspolitik  durch  Zuschüsse  aus 
der  Provinzialkasse  zu  unterstützen.  Das  hohe  Haus  hat  jedoch 
das  Ansinnen  abgelehnt  mit  dem  Hinweis,  dass  die  Massnahmen 
der  Regierung  nichts  Ganzes  und  nichts  Halbes,  desshalb  gar 
keiner  Unterstützung  werth  seien.  Aus  der  interessanten 
Debatte,  in  der  wieder  nur  ein  Regierungsvertreter  der  Haus- 
industrie das  Wort  redete,  sei  Folgendes  mitgetheilt: 

Vom  Provinzialausschuss  wird  beantragt,  der  Landtag 
wolle  beschliessen : ,,a)  behufs  Hebung  der  Lage  der  schlesi- 
schen Hausgewerbetreibenden  durch  Förderung  ihrer  Erwerbs- 
und- Leistungsfähigkeit  und  durch  Ueberfiihrung  der  in  nicht 
lebensfähigen  Zweigen  der  Hausindustrie  beschäftigten  Personen 
zu  anderen  Erwerbszweigen  wird  in  den  Hauptverwaltungsetat 
der  Betrag  von  10  000  M.  eingestellt;  b)  dem  Provinzialaus- 
schusse  wird  es  überlassen  zu  bestimmen,  in  welcher  Höhe 
dieser  Betrag  zu  dem  einen  oder  anderen  der  vorstehenden 
Zwecke  verwandt  werden  soll ; c)  die  Beträge  sind  dem  Herrn 
Oberpräsidenten  zur  Verfügung  zu  stellen  unter  der  Voraus- 
setzung, dass  seitens  der  königlichen  Staatsregierung  zu  den- 
selben Zwecken  ein  gleich  hoher  Betrag  bewilligt  wird.“  Der 
Berichterstatter  der  III.  Kommission,  Abg.  Kommerzienrath 
Richter-Arnsdorf,  befürwortet  die  Annahme  des  Antrages  des 
Provinzialausschusses.  Nach  Eröffnung  der  Debatte  führt  Graf 
Pfeil-Neurode  aus,  dass  er  sich  von  der  Vorlage  keinen  Erfolg 
versprechen  könne.  Das  Uebel  müsse  an  der  Wurzel  angefasst 
werden.  Er  meint,  dass  das  Uebel  eine  Folge  des  Edikts  vom 
9.  November  1807  sei,  wodurch  die  Dismembrationen  ermöglicht 
worden  Die  Bergforsten  seien  abgeholzt  worden  und  in  kleinen 
Parzellen  an  kleine  Leute  abgegeben  worden.  In  der  ersten 
Zeit  habe  der  Waldboden  noch  Früchte  hergegeben.  Allmählich 
sei  er  ausgesogen  und  auch  vom  Regen  abgewaschen  worden. 
Die  Besitzer  hätten  sich  nach  einem  Nebenerwerb  umsehen 
müssen,  um  auf  der  Scholle  verbleiben  zu  können.  Aus  diesem 
Stande  habe  sich  die  jetzige  Weberbevölkerung  entwickelt. 
Wenn  die  Kinder  dieser  Leute  immer  wieder  Weber  würden, 
werde  der  Nothstand  bestehen  bleiben,  man  möge  machen,  was 


man  wolle.  Die  staatliche  Gesetzgebung  müsse  dafür  sorgen, 
dass  die  ungesunden  Grundbesitzerverhältnisse  beseitigt  würden, 
dass  die  kleinen  Flächen  auf  den  Bergen  allmählich  wieder 
aufgekauft  und  angeforstet  würden.  Dann  würden  die  Weber 
verschwinden  und  auch  die  Ueberschwemmungen  aufhören. 
Oberpräsidialrath  Baurschmidt  erkennt  an,  dass  die  gegenwärtig 
von  der  Staatsregierung  getroffenen  Massnahmen,  die  Noth 
nicht  sofort  beseitigen  würden.  Man  gehe  aber  zu  weit,  wenn 
man  sich  davon  gar  nichts  verspreche.  Schon  die  bis  jetzt  er- 
zielten Resultate  bei  den  Versuchen  die  Kinder  der  Weber  zu 
anderen  Berufsarten  überzuführen,  seien  schon  ganz  erfreuliche. 
Besonders  empfehlenswert!:  erachtet  Redner  die  Beschaffung 
neuer,  den  Anforderungen  der  Neuzeit  entsprechender  Web- 
stühle. (!)  Landrath  Gerfach-Oppeln  hält  die  Hausindustrie  nicht 
mehr  für  lebensfähig.  Durch  den  einen  Theil  der  Vorlage 
würde  man  den  Nothstand  nur  zu  einem  dauernden  machen. 
Es  würde  vielmehr  die  ganze  Summe  darauf  zu  verwenden  sein, 
dass  die  Kinder  der  Weber  anderen  Gewerben  zugeführt 
würden.  Redner  stellt  einen  diesbezüglichen  Antrag.  Sollte 
dieser  die  Zustimmung  nicht  finden,  so  bittet  er  um  Ablehnung 
der  ganzen  Vorlage.  Abg.  von  Johnston-Neurode  spricht  seine 
Zustimmung  zu  cuesem  Anträge  aus.  Abg.  Bürgermeister  Pfuhl- 
Landeshut  stellt  sich  auf  den  Standpunkt  des  Grafen  Pfeil 
Mit  den  10  000  M.  sei  gar  nichts  zu  schaffen.  Der  Nothstand, 
wie  er  vielfach  geschildert  werde,  sei  in  dem  Maasse  entschieden 
nicht  vorhanden.  Abg.  Geh.  Kommerzienrath  Dr.  Websky- 
Wüstewaltersdorf  weist"  darauf  hin,  dass  die  Hausindustrie  init 
der  Fabrik  nicht  mehr  konkurriren  könne  Während  bei  einer 
niedergehenden  Konjunktur  der  Fabrikbesitzer  den  grössten 
Theil  des  Verlustes  trage,  gerathe  die  Hausindustrie  in  die 
grösste  Noth.  Seiner  Ansicht  wäre  der  Bau  von  Eisenbahnen 
durch  die  Gebiete  der  Hausindustrie  das  beste  Mittel,  letztere 
verschwinden  zu  machen.  Leider  aber  seien  die  Hoffnungen 
auf  die  Vermehrung  der  Verkehrsmittel  wieder  sehr  geringe 
geworden.  Nach  weiterer  Debatte,  die  neue  Gesichtspunkte 
nicht  mehr  bringt,  wurden  sowohl  der  Antrag  Gerlach,  als  auch 
die  Anträge  des  Provinzialausschusses  abgelehnt. 

Stand  der  Arbeiterkolonien  in  Deutschland.  Der  Central- 
verband deutscher  Arbeiterkolonien  trat  am  7 März  im  Herren- 
hause zu  einer  Sitzung  zusammen,  in  welcher  mitgetheilt  wurde, 
dass  im  Laufe  der  letzten  zwei  Jahre  4 neue  Arbeiterkolonien 
errichtet  sind,  eine  in  Hamburg,  eine  in  Westpreussen,  eine 
zweite  in  Württemberg  und  eine  zweite  in  Schlesien,  die  letztere 
ist  eine  katholische.  Einem  Rückblick  auf  die  Entwicklung  der 
Arbeiterkolonien  in  den  ersten  10  Jahren  ihres  Bestehens  ent- 
nehmen wir,  dass  bis  März  1891  sich  44  807  Kolonisten  in  22  Ko- 
lonien befunden  haben.  Die  z.  Z.  bestehenden  25  Arbeiter- 
kolonien verfügen  über  ca.  4000  Plätze,  in  den  Verpflegungs- 
stationen befinden  sich  gegenwärtig  10  000,  in  den  400  deutschen 
Herbergen  zur  Heimath  14  000  Betten.  Weiterhin  wurde  die 
Frage  erörtert,  ob  die  Errichtung  besonderer  Zwangsabtheilungen, 
der  zwecklos  Wandernde  zwangsweise  zuzuführen  seien, 
wünschenswert!:  sei.  Auf  Empfehlung  von  Pastor  Bodelschwingh 
sprach  sich  die  Versammlung  jedoch  gegen  jeden  Zwang  aus. 

Zum  Arbeitsnachweis  in  Berlin.  Im  Centralverein  für 
Arbeitsnachweis  Abtheilung  I.  für  männliche  Personen 
wurden  im  Monat  Februar  a.  J.  von  777  eingeschriebenen 
Arbeitsuchenden  480  in  Stellung  gebracht ; gemeldet  waren 
495  Stellen. 

Landwirtlischaftskainmern  in  Preussen.  Nach  Mit- 
theilungen von  Regierungsorganen  wird  die  Einrichtung 
von  Landwirthschaftskammern  innerhalb  der  Staatsregierung 
erörtert.  Es  wird  dabei  erwogen,  ob  es  nicht  angängig 
sein  würde,  noch  in  der  jetzigen  Session  dem  Landtage 
eine  entsprechende  Vorlage  zu  machen. 

Bezahlung-  der  Arbeiter  in  englischen  Staatswerkstätten. 

Im  englischen  Unterhause  wurde  der  Antrag,  zur  Einzelbe- 
rathung  des  Marinebudgets  überzugehen,  von  Gorst,  einem  der 
englischen  Delegirten  auf  der  internationalen  Arbeiterschutz- 
konferenz zu  Berlin,  durch  den  Unterantrag  bekämpft,  dass  in 
den  königlichen  Marineetablissements  Niemand  gegen  einen 
Lohn  angestellt  sein  sollte,  der  nicht  für  seinen  ordentlichen 
: LTnterhalt  ausreiche,  und  dass  die  Arbeitsbedingungen  bezüglich 
der  Arbeitsstunden,  Löhne,  Unfallversicherung  und  Altersver- 
sorgung solche  sein  müssten,  dass  sie  allen  Privatfirmen  im 
ganzen  Reich  als  Muster  dienen  könnten.  Der  Staatssekretär 
des  Krieges  Campbell-Bannerman  erklärte  betreffs  des  Antrages 
Gorst,  derselbe  berühre  alle  Regierungsdepartements.  Die  Re- 
gierung acceptire  den  Antrag  im  Prinzip,  nämlich  in  dem  Sinne, 
dass  die  Regierung  die  beste  Brodherrm  des  Landes  sein  sollte, 
nicht  aber  in  dem  Sinne,  dass  sie  sich  auf  neue  Experimente 
einlasse,  welche  die  allgemeine  Uebung  weit  überschritten. 
Man  müsse  erwägen,  dass  die  Regierung  Gelder  der  Steuer- 
zahler zu  verwalten  habe;  indessen  werde  sie  auf  Beachtung 
des  allgemeinen  Prinzips  des  Gorstschen  Antrages  achten. 
Schliesslich  wurde  Gorst’s  Antrag  vom  Hause  ohne  Abstimmung 


286 


S( )ZIAL POLITISCHES  CENTRALBLA'I'T. 


No.  24 


acceptirt.  Somit  hat  die  Lohnpolitik  der  Londoner  Munizipal- 
verwaltung, wenn  auch  in  anderer  Form  beim  Reiche  Nach- 
ahmung gefunden.  Die  Tendenz  zur  Steigerung  der  Löhne 
wird  hierdurch  von  Staatswegen  in  England  begünstigt. 

Zum  Verbot  (1er  Einwanderung  in  die  Vereinigten 
Staaten.  Nach  der  vom  Kongress  genehmigten  Bill  Chandler 
erstreckt  sich  das  Verbot  der  Einwanderung  nach  den  Ver- 
einigten Staaten  auf  Personen  im  Alter  von  über  16  Jahren, 
die  verkrüppelt,  erblindet  oder  des  Lesens  und  Schreibens 
unkundig  sind,  auch  Personen,  die  mit  körperlichen  Ge- 
brechen behaftet  sind,  die  dem  Staate  zur  Last  fallen 
können  und  endlich  auf  Mitglieder  von  Vereinigungen, 
welche  verbrecherische  Bestrebungen  gegen  Leben  und 
Eigenthum  begünstigen. 


Finanzfragen. 

Gegen  die  Kommunalsteuer-Privilegien  der  Beamten 

wendet  sich  ein  Beschluss  der  Steuerreform-Kommission 
des  Abgeordnetenhauses.  Nach  dem  geltenden  Recht  haben 
die  Beamten  zweierlei  Kommunalsteuer-Privilegien  Erstens 
zahlen  sie  die  Kommunalsteuern  nur  von  der  Hälfte  ihres 
Amtseinkommens.  Zweitens  darf  der  Gesammtbetrag  der 
Kommunalsteuern  nie  mehr  als  1 bis  2 pCt.  ihres  Amts-  , 
einkommens  ausmachen.  Dem  gegenüber  hat  die  Kommis- 
sion in  ihrer  ersten  Lesung  zu  34  des  Kommunalabgaben- 

Gesetzes  folgenden  Zusatz  beschlossen: 

. . | 
das  Diensteinkommen  der  Beamten  wird  bei 
einer  Besteuerung  bis  zu  50  pCt.  der  Staatssteuern 
zum  vollen  Betrage,  bei  den  über  diesen  Satz  hin- 
ausgehenden Zuschlägen  zu  deren  halben  Prozent- 
sätzen, nicht  aber  über  100  pCt.  hinaus  zu  den 
Gemeindeabgaben  herangezogen. 

Das  heisst,  in  Gemeinden,  welche  nur  50  pCt.  der 
Einkommensteuer  oder  weniger  erheben,  hören  die  Be- 
amtenprivilegien auf.  In  Gemeinden,  in  denen  mehr  als 
50  pCt.  erhoben  werden,  besteht  für  die  Beamten  wiederum 
ein  doppeltes  Privileg:  indem  sie  einmal  für  den  über- 
schiessenden  Theil  nur  die  halbe  Steuer  zahlen  und  sodann 
niemals  mehr  kommunale  als  staatliche  Einkommensteuer 
zu  zahlen  brauchen. 

Wenn  man  bedenkt,  auf  welchen  Grund  die  Kommunal- 
steuer-Privilegien der  Beamten  zurückgehen,  so  wird  man 
den  Beschluss  der  Kommission  nicht  bloss  billigen,  sondern 
wünschen,  dass  noch  über  denselben  hinausgegangen  würde. 
Bei  Einführung  der  Personalbesteuerung  in  der  ersten 
Hälfte  unseres  Jahrhunderts  war  die  allgemeine  Unter- 
schätzung des  Einkommens  ein  offenes  Geheimniss  Des- 
wegen glaubte  man  den  Beamten,  deren  Amtseinkommen 
offen  zu  Tage  lag,  eine  Entschädigung  gewähren  zu 
müssen.  Da  der  Staat  nicht  gesonnen  war,  auf  einen  Theil 
seiner  Steuern  zu  verzichten,  so  ertheilte  er  den  Beamten 
jenes  Privileg  auf  Kosten  der  Kommune  ( vergl  Gesetz  vom 
11.  Juli  1822).  Jetzt,  wo  eine  strenge  Deklarationspflicht 
durchgeführt  ist  und  die  Einkommensverhältnisse  aller 
Steuerpflichtigen  vor  der  Kommission  in  gleicher  Weise 
klar  gelegt  werden,  ist  jener  Anlass  zu  einem  Privileg  für 
die  Amtseinkommen  weggefallen.  Allenfalls  könnte  geltend 
gemacht  werden,  dass  der  Beamte,  welcher  in  der  Wahl 
seines  Wohnortes  weniger  frei  ist,  als  irgend  ein  Anderer, 
davor  geschützt  werden  müsse  bei  Versetzung  in  einen 
Ort  mit  übertrieben  hohen  Kommunalsteuern  um  einen 
Theil  seines  Gehalts  gebracht  zu  werden.  Hierfür  würde 
die  Bestimmung  genügen,  dass  die  Kommunalsteuern  in 
keinem  Falle  mehr  als  3 oder  4 pCt  des  Gehalts  ausmachen 
dürfen.  Eine  solche  Bestimmung  würde  in  klarer  und  ein- 
facher Weise  das  Privileg  auf  gewisse  Ausnahmefälle  be- 
schränken. Die  weniger  einschneidenden  Bestimmungen 
der  Kommission  empfehlen  sich  aber  auch  schon  um  ihrer 
Komplizirtheit  willen  nicht.  Steuergesetze  müssen  an- 
schaulich sein,  und  etwaige  Ausnahmen  von  denselben 
müssen  es  erst  recht  sein. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Arbeitseinstellungen  in  Oesterreich  im  Jalire  1891.  Bei 

Gelegenheit  der  eben  stattfindenden  Budgetdebatte  machte  der 
österreichische  Handelsminister  über  die  Arbeitseinstellungen 
im  Jahre  1891  folgende  Mittheilungen:  Er  habe,  seiner  Zusage 
vom  vorigen  Jahre  gemäss,  eine  Zusammenstellung  der  im  Jahre 
1891  stattgehabten  Arbeitseinstellungen  im  Gewerbebetriebe  an- 
fertigen lassen,  welche  nur  die  im  Gewerbegebiete,  nicht  aber 
die  auf  dem  Gebiete  des  Bergbaues  vorgekommenen  Arbeits- 
einstellungen enthalte.  Die  Zahl  der  Strikes  im  Jahre  1891  habe 
104  betragen,  eine  relativ  geringe  Anzahl  im  Vergleiche  zu  den 
Ausständen  in  anderen  Ländern.  In  England  waren  im  Jahre 
1889  1145  Strikefälle  und  in  Deutschland  in  der  Zeit  vom 
1.  Januar  1889  bis  Ende  April  1890  1131  grössere  gewerbliche 
Arbeitseinstellungen,  einschliesslich  der  im  Bergbetriebe  vorge- 
kommenen. Im  Jahre  1891  waren  in  Salzburg,  Schlesien  und 
Dalmatien  gar  keine  Einstellungen,  die  meisten  sind  in  Nieder- 
österreich, Böhmen  und  Mähren  vorgekommen.  In  der  über- 
wiegenden Anzahl  der  Fälle  waren  die  Lohnfragen  der  Grund 
der  Arbeitseinstellung  Der  durch  die  Strikes  verursachte  Ver- 
lust an  Arbeitstagen  belief  sich  auf  247  000,  und  es  waren  14  000 
strikende  Arbeiter  betheiligt.  Das  Ergebniss  der  Strikes  er- 
scheine in  19  Fällen  die  gänzliche,  in  29  Fällen  die  theilweise 
Bewilligung  der  Forderungen;  in  54  Fällen  wurden  die  Forde- 
rungen nicht  bewilligt. 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Programm  der  parlamentarischen  Arbeiterpartei  von 
Queensland  (Australien)  Die  „parlamentarische  Arbeiterpartei“ 
veröffentlicht  angesichts  der  bevorstehenden  Wahlen  ihr  Pro- 
gramm. Obenan  steht  in  demselben  der  Satz:  „Bedingungslose 
Freisetzung  aller  Unionsgefangenen!“  (In  Folge  der  zahlreichen 
Ausstände  des  letzten  Jahres  haben  viele  Führer  der  Trades 
Unions  Gefängnissstrafen  zu  verbüssen.)  Dann  folgt  die  fort- 
dauernd wiederholte  Forderung:  „Jeder  Mann  eine  Wahl- 

stimme!“ Der  Wahltag  sei  ein  allgemeiner  Feiertag,  an  welchem 
alle  Wirthshäuser  zu  schliessen  sind.  Als  Kandidaten  sollen  nur 
Männer  aufgestellt  werden,  die  sich  spirituoser  Getränke  ent- 
halten. Die  Frage  der  Staatsfinanzen  soll  unter  keiner  Bedin- 
gung als  Arbeiterparteifrage  betrachtet  werden;  Ausschluss  aller 
tarbigen  Arbeiter;  Einführung  des  Achtstundentages,  — „wo 
ausführbar“.  Besonders  lehrreich  ist  das  Kapitel,  das  die  An- 
forderungen enthält,  welche  der  Arbeiter  dem  „Staate“  gegen- 
über erhebt:  Einrichtung  eines  Staatsdepartements  für  Arbeit, 

an  das  sich  zu  wenden  jeder  berechtigt  ist,  und  das  die  Pflicht 
hat,  jeden  zu  einem  Minimallohn  zu  beschäftigen;  Gründung 
einer  Staatsbank;  Forderung  der  Staatskontrolle  über  Bewässe- 
rungsanlagen, Dorfansiedelungen,  Minen,  Maschinen;  allgemeiner 
Schulzwang,  Unentgeltlichkeit  der  Staatsschulen;  Abschaffung 
des  Oberhauses  etc.  Da  die  australischen  Kolonien  streng  parla- 
mentarisch regiert  werden,  so  hat  die  Arbeiterpartei  schon 
wiederholt  Gelegenheit  gehabt,  ihr  Programm  praktisch  zur  An- 
wendung zu  bringen. 


Unternehmerverbände. 


Rheinisch-westfälisches  Kohlenkartell  uml  staatliche 
Verwaltung.  Das  neugegründete  rheinisch  - westfälische 
Kohlenkartell  ist  in  der  Sitzung  des  preussischen  Abgeord- 
netenhauses vom  3.  März,  sowie  in  der  Reichstagssitzung 
vom  7.  März  Gegenstand  der  Debatten  gewesen.  Im 
preussischen  Abgeordnetenhaus  machte  der  freisinnige 
Abg.  Broemel  auf  die  Gefahr  aufmerksam,  dass  eine  so 
mächtige  Vereinigung  die  Konsumenten  sehr  leicht  durch 
willkürliche  Preisfestsetzungen  ausbeuten  könne.  Der 
preussische  Handelsminister  von  Berlepsch  gab  daraut  eine 
ziemlich  gewundene  Erklärung  ab,  in  welcher  er  ausführte, 
dass  in  einer  solchen  Vereinigung  wohl  eine  Gefahr  liegen 
könne,  dass  er  aber  das  Vertrauen  zu  der  „Qualität“  der 
leitenden  Persönlichkeiten  habe,  sie  würden  die  in  ihren 
Händen  liegende  Macht  nicht  zum  Schaden  des  Publikums 
ausbeuten.  Das  ist  ein  ziemlich  grosser  Optimismus  an- 
gesichts der  Thatsache,  dass  die  leitenden  Persönlichkeiten 
Unternehmer  wie  andere  sind  und  die  naturgemässe  Ab- 
sicht haben  müssen,  Gewinne  soweit  zu  machen,  als  es 


No.  24. 


S< )/ 1 Al  ,P(  JI.ITISCI  I ES  CENTRAI  .liLATT. 


287 


ihre  wirthschaftliehe  Macht  erlaubt.  Wenn  der  Minister 
zugab,  dass  die  Vereinigung  des  Kohlenverkaufs  aus  den 
Saar-  und  schlesischen  Gruben  in  der  einzigen  Hand  des 
Fiskus  ebenfalls  eine  Art  Syndikat  darstelle,  so  folgt  daraus 
doch  nur,  dass  einzig  und  allein  die  Verstaatlichung  bezw. 
Vergesellschaftung  der  Riesenbetriebe  eine  sichere  Gewähr 
gegen  jeden  Missbrauch  des  Unternehmermdhopols  bietet. 
Dass  der  Macht  des  rheinisch- westfälischen  Kartells  immer- 
hin gewisse  Grenzen  gezogen  sind,  deutete  der  Minister 
durch  folgende  Worte  an:  „Es  giebt  doch  natürliche 

Grenzen  Ihrer  Macht,  denen  Sie  sich  auch  fügen  werden, 
und  das  sind  vor  allen  Dingen  die  konkurrirenden  Kohlen- 
gebiete. Die  englische  Kohle  konkurrirt  an  ausserordent- 
lich vielen  Stellen  mit  der  westfälischen;  die  belgische 
Kohle  konkurrirt  mit  ihr;  in  gewissem  Sinne  konkurrirt  mit 
ihr  die  Saarbrücker  Kohle;  in  der  Provinz  Sachsen  kon- 
kurriren  die  böhmische  und  die  sächsische  Braunkohle,  eben- 
dort, über  Berlin  hinaus,  die  oberschlesische  Kohle.  Also  so 
ganz  selbständig  in  der  Preisnormirung  sind  sie  doch  nicht. 
Ich  weise  darauf  hin,  dass  es  wiederholt  vorgekommen  ist,  dass 
nicht  nur  die  Kaiserliche  Marine,  sondern  auch  die  Königliche 
Eisenbahnverwaltung  in  solchen  Fällen,  wo  sie  geglaubt 
hat,  zu  hohe  Preise  bei  den  Zechen  zahlen  zu  müssen,  in 
das  Ausland  gegangen  ist.  Ausserdem  möchte  ich  darauf 
aufmerksam  machen,  dass  in  einem  Staat,  dessen  Eisenbahn- 
verwaltung in  einer  Hand  konzentrirt  ist,  die  Mittel,  einer 
solchen  Vereinigung  gegenüberzutreten,  erheblich  grösser 
sind,  als  in  irgend  einem  anderen  Lande  der  Welt  Ich 
möchte  also  annehmen,  dass  schon  die  hierdurch  gegebenen 
Machtmittel  so  grosse  sind,  dass  wir  eine  bedenkliche  Ent- 
faltung der  Macht  des  Syndikats  nicht  werden  zu  fürchten 
haben“.  Diese  Ausführungen  werden  nun  sehr  wesentlich  ' 
moditizirt  durch  die  Thatsache,  dass  die  preussischen  Bahnen 
zum  Vortheil  des  rheinisch-westfälischen  Bergbaus  sehr 
hohe  Prohibitivtarife  gegen  die  englischen  Konkurrenz- 
kohlen eingeführt  haben  und  beibehalten.  Die  Reichs- 
marine hat  sich  allerdings  kürzlich  von  den  Willkürpreisen 
der  westfälischen  Vereinigung  emanzipirt.  Staatssekretär 
Hollmann  theilte  hierüber  in  der  Reichstagssitzung  vom 
7.  März  Folgendes  mit:  „Die  Marine  hatte  von  dem  west- 

fälischen Kohlenausfuhrverein  zwei  Offerten  erhalten,  zu 
12,50  M.  und  12  M.  Bei  der  letzteren  brachen  wir  die  Ver- 
handlungen ab;  da  kam  am  20.  die  dritte  Offerte  von  9 M. 
Die  Zechen  hatten  sich  trotz  unserer  Aufforderung  nicht 
herbeigelassen,  einzeln  Offerten  abzugeben,  sie  gaben  ihr 
Angebot  ab  durch  den  ,. Kohlenausfuhrverein“,  wie  er  sich 
uns  gegenüber  genannt  hat.  Selbst  wenn  bei  der  Sep- 
tembersubmission die  Offerte  früher  als  am  20.  gemacht 
wäre,  hätte  die  Marineverwaltung  sich  nicht  mehr  daran  binden 
können,  da  die  Sache  bereits  erledigt  war.  Ein  Preis- 
abschlag von  3'/2  M.,  von  12,50  auf  9 M.,  erfolgte  also  inner- 
halb eines  halben  Jahres.  Die  westfälische  Kohle  wurde 
loko  Zeche  in  Hamburg  mit  9,40  - 9,90  bezahlt,  später  mit  8,40, 
also  ein  Preisrückgang  nur  um  1,50,  nicht  um  3,50  M.  Eine 
Zuschlagsertheilung  für  12,50  hätte  die  Reichsfinanzen  ganz 
beträchtlich  geschädigt,  denn  wir  brauchen  etwa  80,000 
Tonnen  Kohlen,  hätten  also  rund  300,000  M.  zugegeben, 
welche  wir  besser  anderswo  verwenden.  Deshalb  kauft  die 
deutsche  Marine  englische  Kohle  zu  9 M , und  der  Reichs- 
tag billigte  dieses  Vorgehen  durch  die  Annahme  folgender 
Resolution:  „Der  Reichstag  erklärt,  dass  die  Marineverwal- 
tung  bei  dem  in  der  übergebenen  Denkschrift  geschilderten 
Bezug  von  Kohlen  den  gebotenen  finanziellen  und  wirth- 
schaftlichen  Rücksichten  entsprechend  gehandelt  hat.“  Diese 
Vorgänge  lassen  die  „Qualität“  der  leitenden  Personen  im 
Kartell  nicht  in  so  glänzendem  Lichte  erscheinen,  wie  sie 
Minister  von  Berlepsch  schilderte. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Arbeitszeit  jugendlicher  Textilarbeiter  in  Preussen  und 
Sachsen.  Die  Handels-  und  Gewerbekammer  Plauen  beschloss, 
den  Antrag  der  Handelskammer  Lennep  auf  Wiedereinführung 
der  elfstündigen  Arbeitszeit  für  jugendliche  Fadenanmacher 
(Anleger;  in  Spinnereien  und  Zwirnereien  zu  unterstützen.  Der 
Berichterstatter  wies  darauf  hin,  dass  durch  die  Reichsgewerbe- 
ordnung die  früheren  Ausnahmebestimmungen  des  sächsischen 


Gewerbegesetzes  zum  grossen  ’l  heil  in  Wegfall  gebracht  worden 
seien,  doch  habe  die  Reichsgewerbeordnung  bei  Beschränkung 
der  Arbeitszeit  jugendlicher  Arbeiter  auf  10  Stunden  bisher  die 
elfstündige  Arbeitszeit  für  Anleger  in  Spinnereien  bestehen 
lassen,  bis  diese  Ausnahme  mit  der  1891  er  Gesetzgebung  in  ein- 
seitiger Weise  beseitigt  worden  sei.  Bezüglich  der  auf  die  von 
der  Kommission  veranstaltete  Erhebung  eingegangenen  Ant- 
worten sei  hervorzuheben,  dass  der  Spinner-  und  Fabrikanten- 
verein  130  und  der  Industrieverein  zu  Werdau  ungefähr  ebenso 
viel  Mitglieder  besitze,  sodass  sich,  da  diese  Vereine  für  ihre 
Mitglieder  geantwortet  hätten,  hiernach  240 — 250  Antworten  für 
die  Wiederherstellung  der  llstündigen  Arbeitszeit  erklärten. 
Die  Verkürzung  der  Arbeitszeit  sei  aber  auch  mit  Rücksicht  auf 
die  erwachsenen  Arbeiter  nicht  durchführbar,  ein  Schichtwechsel 
der  jugendlichen  Arbeiter  begegne  grossen  Schwierigkeiten  und 
vor  Allem  seien  beim  Abziehen  der  Spulen  alle  Arbeitskräfte 
nothwendig.  Seien  schon  diese  Wirkungen  auf  den  Betrieb 
beachtenswerth,  so  seien  nicht  minder  diejenigen  auf  die  Ar- 
beiter in  Betracht  zu  ziehen  Man  könne  nun  allerdings  gegen 
die  Erhebung  einwenden,  dass  nur  Arbeitgeber  gefragt  worden 
seien;  wenn  man  sich  aber  vergegenwärtige,  dass  sich  1887  in 
Crimmitschau  2700,  in  Werdau  2500  grossjährige  Arbeiter  gegen 
den  Wegfall  der  Kinderarbeit  in  Versammlungen  ausgesprochen 
haben,  so  glaube  er,  dass  dieser  hohe  Prozentsatz  der  dortigen 
Arbeiter  auch  jetzt  die  Wiederherstellung  der  llstündigen 
Arbeitszeit  jugendlicher  Arbeiter  wünsche.  Man  kann  gespannt 
darauf  sein,  ob  der  deutsche  Bundesrath  den  Unternehmern  auch 
dieses  Zugeständnis  noch  bewilligt. 

Sonntagsruhe  für  Balinarbeiter.  Auch  die  Hessische 
Ludwigsbahn  hat  nunmehr  versuchsweise  insofern  der 
Sonntagsruhe  Rechnung  getragen,  als  an.  Sonn-  und  Feier  - 
tagen  in  der  Zeit  von  4 L hr  Morgens  bis  8 Uhr  Abends  die 
Güterzüge  ausfallen  und  auch  die  Büreauar beiten  auf  das 
Nöthigste  beschränkt  werden  sollen. 

Die  Frage  des  Achtstundentages  in  England.  Der 

Premierminister  Gladstone  empfing  am  3.  März  eine  Ab- 
ordnung von  70  Personen,  darunter  die  Parlamentsmitglieder 
Pickard,  Dilke,  Burns,  Tillett,  Wilfrid  Lawson  und  andere. 
Es  wurden  mehrere  Reden  gehalten,  in  denen  die  Oppor- 
tunität und  die  Nothwendigkeit  der  Einführung  des  gesetz- 
lichen Achtstundentages  betont  wurde.  Gladstone  erwiderte, 
die  Regierung  könne  in  dieser  Angelegenheit  nichts  thun, 
bis  unter  den  Arbeitern  selbst  eine  grössere  Einmüthigkeit 
über  diese  Frage  bestehe,  aber  sie  würde  sich  der  Ein- 
bringung eines  Gesetzentwurfs,  betreffend  den  Achtstunden- 
tag nicht  widersetzen. 


Gewerbeinspektion. 


Zur  Vermehrung  der  Fabrikinspektoren  in  Preussen- 

Vom  I.  April  d.  Js.  ab  werden  in  folgenden  Regierungs- 
bezirken neue  Gewerbe-Aufsichtsbezirke  zur  Durchführung 
kommen:  in  Frankfurt  a.  O.  4,  Breslau  4,  Liegnitz  3,  Oppeln  3, 
Magdeburg  4,  Merseburg  4,  Erfurt  2 und  Schleswig  4 Auf- 
sichtsbezirke. Zum  schlimmsten  Schaden  für  die  Institution 
wird  die  Auswahl  der  Beamten  in  erster  Linie  mit  Rücksicht 
auf  ihre  technische  Qualifikation  getroffen,  die  Forderung 
sozialpolitischer  und  hygienischer  Schulung  tritt  in  den 
Hintergrund,  und  die  Belastung  mit  der  Kesselrevision 
vereitelt  den  Zweck  der  Fabrikinspektion  in  einer  ausser- 
ordentlichen, auch  durch  die  Vermehrung  der  Beamten 
nicht  gut  zu  machenden  Weise. 

Die  Gewerbeinspektion  in  Oesterreich  wurde  bei  ihrer 
Organisation  im  fahre  1886  von  15  Inspektoren  versehen, 
jetzt  ist  die  Zahl  'der  Aufsichtsbeamten,  welche  aber  auch 
die  Geschäfte  der  Beauftragten  der  deutschen  Berulsge- 
nossenschaften  zu  versehen  haben,  aut  die  Zahl  von  39  ge- 
wachsen. Die  Zahl  der  Inspicirungen  hat  entsprechend 
zugenommen. 


288 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  24. 


Arbeiterversicherung. 

Das  Reichs-Versicherungsamt  und  die  Elemente  der 
Volks  wirthschaftslehre. 

In  No.  7 des  1.  Jahrgangs  dieser  Zeitschrift  auf  S.  97 
ist  bereits  gezeigt  worden,  dass  das  Reichs- Versicherungsamt 
mit  den  Begriffen  Arbeitslohn  und  Unternehmergewinn  in 
einer  Weise  umspringt,  die  dem  volkswirtschaftlich  Ge- 
bildeten kaum  noch  verständlich  ist.  Aus  einer  neueren  Re- 
visionsentscheidung (No.  191  vom  24.  Oktober  1892,  Amtliche 
Nachrichten  des  Reichs-Versicherungsamts.  Invaliditäts-  und 
Altersversicherung  1892  S.  138)  geht  hervor,  dass  das 
Reichs-Versicherungsamt  in  dieser  Beziehung  leider  noch 
nichts  gelernt  hat. 

Diese  Entscheidung  verneint  die  Versicherungspflicht 
eines  „Rittmanns“,  der  auf  der  Oder  als  Lootse  verkehrt 
und  in  Breslau  wohnt,  weil  er  zu  den  selbständigen  Ge- 
werbetreibenden gehöre.  In  den  Gründen  wird  zunächst 
ausgeführt,  dass  auf  dem  Gebiete  der  Unfallversicherung 
in  mehrfachen  Entscheidungen  angenommen  worden  sei, 
dass  solche  auf  den  Binnengewässern  thätige  Lootsen  in 
der  Regel  selbständige  Unternehmer  seien.  Sodann  heisst 
es  weiter:  „Es  liegt  kein  Anlass  vor,  die  Stellung  der  ge- 

nannten Personen  gegenüber  der  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherung anders  zu  beurtheilen;  sie  müssen  vielmehr 
auch  hier  im  Allgemeinen  als  selbständige  Gewerbe- 
treibende, nicht  aber  als  gegen  Lohn  und  Gehalt  beschäf- 
tigte Personen  der  Schiffsbesatzung  von  Fahrzeugen  der 
Binnenschiffahrt  im  Sinne  § 1 Z.  3 des  Invaliditäts-  und 
Altersversicherungsgesetzes  angesehen  werden.  Hierfür 
sprechen  insbesondere  auch  die  im  vorliegenden  Falle  er- 
mittelten thatsächlichen  Verhältnisse.  Der  Kläger  schloss 
seine  Verträge  mit  den  Schiffahrtsunternehmern  stets  nur 
für  die  einzelne  Fahrt  ab,  stand  während  der  Dauer  dieser 
Fahrt,  die  er  meist  auf  einem  besonderen,  den  Schiffen  vor- 
ausfahrenden Kahne  zurücklegte,  den  Schiffsführern  selbst- 
ständig gegenüber  und  trat  demnächst  — ganz  verschieden 
von  den  zur  Schiffsbesatzung  gehörenden  Personen  — die 
Rückfahrt  nach  Breslau  allein  an.  Auch  das  Entgelt 
erfolgte  als  ein  je  nach  der  Dauer  und  den 
etwaigen  Schwierigkeiten  der  einzelnen  Fahrt 
vereinbarter  Pauschbetrag  und  stellt  sich  nicht  als 
Lohn  oder  Gehalt,  sondern  als  ein  Unternehmer- 
gewinn  dar.“ 

Das  Reichs-Versicherungsamt  steht  also  immer  noch 
auf  seinem  alten  Standpunkt,  dass  eine  gewerblich  thätige 
Person  entweder  Lohn  (oder  Gehalt)  oder  Unternehmer- 
gewinn  erziele  und  im  ersteren  Falle  Arbeiter  (oder  Be- 
amter), im  letzteren  Falle  Unternehmer  sei.  Man  sollte 
meinen,  schon  die  letzten  beiden  Silben  des  Wortes  Unter- 
nehmergewinn müssten  vor  einer  so  verkehrten  Auf- 
fassung schützen.  Es  unterliegt  ja  keinem  Zweifel,  dass 
ein  solcher  Rittmann  gelegentlich  einen  Gewinn  aus 
seinem  Unternehmen  ziehen  wird,  aber  dass  der  ganze 
Entgelt,  den  er  von  den  .Schiffern  erhält,  jemals  Ge- 
winn sein  kann,  ist  doch  völlig  ausgeschlossen,  da  dieser 
Entgelt  immer  auch  mindestens  den  Lohn  für  die  thatsächlich 
geleistete  Arbeit  enthalten  muss.  Doch  dies  bedarf  für  die 
Leser  dieser  Zeitschrift  wohl  keiner  weiteren  Worte. 

Ist  auch  die  Thatsache  längst  offenkundig  geworden, 
dass  der  intelligentere  Theil  der  Arbeiter,  der  für  die  Ver- 
besserung seiner  wirtschaftlichen  Lage  kämpft,  den  Be- 
hörden vielfach  an  volkswirtschaftlicher  Einsicht  über- 
legen ist,  so  kann  man  sich  doch  schwer  an  den  Gedanken 
gewöhnen,  dass  selbst  eine  Behörde,  wie  das  Reichs- 
Versicherungsamt,  sich  über  die  elementarsten  volkswirt- 
schaftlichen Begriffe  im  Unklaren  befindet.  Das  Reichs- 
Versicherungsamt  ist  gegenwärtig  wohl  die  populärste 
deutsche  Reichsbehörde.  Um  so  mehr  ist  zu  bedauern, 
dass  es  sich  öffentlich  solche  Blossen  giebt.  Verstösse 
gegen  die  Grundlehren  der  politischen  Oekonomie,  die  be- 
reits Gemeingut  weiter  Volkskreise  geworden  sind,  sollten 
doch  gerade  beim  Reichs-Versicherungsamt  völlig  ausge- 
schlossen sein! 


Zur  Durchführung  der  Alters-  und  Invaliditätsver- 
sicherung. Am  27.  März  tritt  im  Reichsversicherungsamt 
eine  Konferenz  der  Vorstände  der  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherungs-Anstalten zur  Besprechung  einzelner  die 
Durchführung  der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  be- 
treffenden Fragen  zusammen. 


Die  Haftpflicht  in  England.  Gelegentlich  der  Haft- 
pffichtbill  stellen  die  englischen  Kohlengrubenbesitzer  Be- 
trachtungen und  Berechnungen  an,  deren  Resultate  in  einem 
kaum  verhüllten  Kontrast  zu  der  Haltung  stehen,  die  sie 
dem  Gesetzentwurf  gegenüber  einnehmen  zu  müssen  glauben. 
Sie  vergleichen  ihr  System  freiwilliger  Uebereinkunft 
zwischen  Arbeitern  und  Arbeitgebern  mit  dem  in  Deutsch- 
land herrschenden  und  legen  daher  ihren  Berechnungen  die 
für  Deutschland  geltenden  Zahlen  zu  Grunde.  Danach  hat 
im  Jahre  1891  die  Ausgabe  der  Unternehmer  für  die  ge- 
sammte  Arbeiter  Versicherung  in  der  Kohlenindustrie  per 
Arbeiter  15,42  Shilling  betragen  und,  da  es  in  England  ca. 
600  000  Kohlenarbeiter  gebe,  so  sei  zur  Versicherung  der- 
selben nach  diesem  Massstabe  462  000  SS  nothwendig.  Dies 
sei  doppelt  soviel,  als  was  jetzt  von  Unternehmern  und 
Arbeitern  zusammen  für  Unterstützungszwecke  aufgebracht 
werde.  Würde  nun  diese  Ausgabe  auf  die  Kohlenpreise  ge- 
schlagen, so  würde  das  nur  ein  wenig  mehr  als  einen  halben 
Penny  per  Tonne  ausmachen,  da  1 Penny  Aufschlag  schon 
770  0Ö0  SS  liefern  würde.  Daran  wird  die  naive  Bemerkung 
geknüpft,  dass,  wenn  man  diese  Rechnung  dem  Parlament 
vorlegte,  dieses  jedenfalls  einstimmig  die  Bill  annehmen 
werde.  Doch  sei  zu  bedenken,  dass  ja  die  Kohlenindustrie 
nicht  allein  die  betroffene  sei.  Es  könnte  ja  leicht  In- 
dustrien geben,  welche  die  Auflage  schwerer  tragen  würden. 
Die  deutschen  Industriellen  wenigstens  hätten  ein  lautes 
Murren  erhoben  über  die  schwere  Bürde,  welche  die 
Arbeiterversicherung  ihnen  auferlegt  hätte.  Auch  sei  die 
englische  Industrie  schon  vollauf  genug  belastet  und  ge- 
hemmt. „Also“  sei  das  deutsche  „unelastische,  militärische“ 
System  zu  verwerfen  und  das  auf  Freiwilligkeit  und  Gegen- 
seitigkeit beruhende  englische  beizubehalten.  Natürlich 
verwahrt  man  sich  feierlich  gegen  den  Vorwurf  des  Mangels 
an  Fürsorge  für  die  Arbeiter,  obgleich  ausdrücklich  zuge- 
standen  wird,  dass  das  bisherige  System  in  vielen  Distrikten 
nicht  ausgereicht  habe.  Auch  auf  die  Konsumenten  wird 
sehr  zarte  Rücksicht  genommen,  denn  man  scheint  trotz 
Allem  anzunehmen,  dass  diese  die  Mehrkosten  zu  tragen 
haben  werden. 


Gewerbegerichte. 

Berggewerbegerichte  in  Preussen.  Schon  in  den  No.  17 
und  10  des  II.  Jahrgangs  dieser  Zeitschrift  wurde  mitgetheilt, 
dass  auf  Grund  des  Reichsgesetzes  über  Gewerbegerichte 
vom  29.  Juli  1890  in  Preussen  und  Braunschweig  die  Er- 
richtung besonderer  Gewerbegerichte  für  die  Bergbau- 
distrikte beschlossen  sei.  Für  Preussen  speziell  sollen  vom 
I.  April  d.  J.s.  ab  zwei  Berggewerbegerichte  im  schlesischen, 
und  je  eins  im  westfälischen,  aachener  und  Saarkohlen- 
bezirk funktioniren.  Der  leichte  Verkehr  der  Unternehmer 
und  Arbeiter  mit  dem  Gericht  wird  dadurch  ermöglicht 
werden,  dass  sich  die  Gerichte  in  verschiedene  Kammern 
mit  dem  Sitze  am  Wohnort  des  als  Vorsitzenden  ins  Auge 
gefassten  Bergrevierbeamten  theilen.  Man  konnte  an  diesen 
Massnahmen  aussetzen,  dass  fünf  Gewerbegerichte  für  eine 
Bergarbeiterbevölkerung  von  mehr  als  400  000  Köpfen, 
auch  wenn  einzelne  Kammern  geschaffen  werden,  etwas 
wenig  sind,  und  dass  die  Revierbeamten  vielleicht  nicht 
gerade  die  geeignetsten  Vorsitzenden  darstellen;  aber  man 
musste  im  Ganzen  anerkennen,  dass  die  Regierung  aus  den 
letzten  Bergarbeiterbewegungen  gelernt  habe  und  mit 
den  Berggewerbegerichten  einen  ganzen  Wust  klein- 
licher Reibereien  zwischen  Unternehmern  und  Arbei- 
tern im  Bergbau  aus  der  Welt  schaffen  werde.  Die  staat- 
liche Organisation  der  preussischen  Berggewerbegerichte 
anstatt  der  kommunalen  ist  auf  Grund  des  § 77  des  Gesetzes 
und  der  Ueberlegung  vorgezogen  worden,  dass  „eine  zweck- 
mässige Eintheilung  der  Gerichtsbezirke  nicht  von  lokalen 
Instanzen,  sondern  nur  von  der  Landesbehörde  nach  einem 
einheitlichen  Plan  getroffen  werden  kann“.  Ganz  uner- 
wartet hat  nun  in  der  Sitzung  des  preussischen  Abgeord- 
netenhauses vom  6.  März  d.  Js.  der  konservative  Abgeord- 
nete von  Minnigerode  im  Namen  eines  Theils  seiner  Freunde 
Widerspruch  gegen  die  Bewilligung  der  Mittel  für  jene 
Berggewerbegerichte  in  Preussen  erhoben  (16  000  M.  ein- 
malige und  58  500  M.  laufende  Ausgaben  weniger  8000  M. 
Einnahmen).  Die  Begründung  des  Widerspruchs  war  bis 
auf  einen  Punkt  eine  äusserst  schwache.  Die  konservativen 


No.  24. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


289 


Gegner  der  Gewerbegerichte  glauben  durch  die  Nicht- 
errichtung solcher  Institute  einer  weiteren  Stärkung  des  „sehr 
einseitigen  und  krankhaften  Solidaritätsgefühls  der  Arbeiter“ 
Vorbeugen  zu  können,  worauf  der  freisinnige  Abgeordnete 
Dr.  Meyer  ganz  richtig  erwiderte,  dass  die  Ablehnung  dieser 
Woldthat  und  die  dadurch  bei  den  Arbeitern  erzeugte  Ver- 
bitterung einen  weit  stärkeren  Kitt  für  dieselben  bilden 
würden.  Daneben  läuft  die  Betürchtung  der  Konservativen 
her,  dass  die  Gewerbegerichte  auch  für  ländliche  Arbeiter 
eingeführt  werden  möchten;  und  dies  wäre  den  Gross- 
grundbesitzern aus  verschiedenen  Gründen  sehr  unangenehm. 
Nun  betrifft  das  Gewerbegerichtsgesetz  vom  29.  Juli  1890 
aber  nur  gewerbliche  Arbeiter  und  der  Antrag  der  Polen 
auf  Ausdehnung  desselben  auf  die  ländlichen  Arbeiter  wird 
in  absehbarer  Zeit  kaum  zur  Verhandlung  oder  gar  zur  An- 
nahme kommen.  Den  Anlass  zu  dieser  konservativen  De- 
monstration gegen  den  „Humanitätsfanatismus“  gegenüber 
den  Arbeitern  gaben  wohl  auch  die  Gewerbegerichte  mehr 
zufällig  ab.  Es  kam  den  Herren  von Minnigerode,Dr.  Ritterund 
ihren  90  konservativen  Freunden  mehr  darauf  an,  überhaupt 
einmal  gegen  jegliche  Sozialpolitik  zu  Gunsten  der  Arbeiter 
zu  protestiren.  Das  agrarische  Unternehmerthum  scheint 
sich  demnach  allmählich  seinen  Arbeitern  gegenüber  sehr 
unsicher  zu  fühlen.  Nur  in  einem  Punkte  war  die  Beweis- 
führung der  konservativen  Gegner  der  Gewerbegerichte 
nicht  ungeschickt:  als  sie  darauf  hinwiesen,  dass 

ja  der  Staat  die  Kompetenz  der  Gewerbegerichte 
für  die  Arbeiter  seiner  gewerblichen  Betriebe  für 
Militär-  und  Marinezwecke  auch  ausgeschlossen  habe. 
Das  ist  allerdings  ein  wunder  Punkt  der  gegenwärtigen 
preussischen  Gewerbeverwaltungen,  zu  dessen  Verschleie- 
rung Vorwände,  wie  die  Rücksicht  auf  die  Disziplin  und 
Aehnliches  nicht  hinreichen.  Denn  die  Arbeiter  der  mili- 
tärischen Staatsbetriebe  sind  freie  Arbeiter  wie  andere 
auch,  zu  denen  der  Fiskus  lediglich  im  privatrechtlichen 
Vertragverhältniss  steht,  ein  Verhältniss,  das  der  gewerbe- 
gerichtlichen Judikatur  ebensogut  unterliegen  muss,  wie  das- 
jenige zwischen  Privatunternehmern  und  Arbeitern.  Staats- 
geheimnisse kommen  für  das  gewerbegerichtliche  Verfahren, 
das  sich  bloss  um  Lohn-  und  Kündigungsstreitigkeiten  dreht, 
auch  nicht  in  Betracht.  Deshalb  berührte  der  preussische 
Handelsminister  in  seiner  Replik  diesen  Punkt  nur  sehr 
oberflächlich;  es  war  seine  Achillesferse,  und  nur  der 
Umstand,  dass  sich  die  Verhandlung  im  preussischen  Ab- 
geordnetenhaus, nicht  im  Reichstag  abspielte,  schützte  ihn 
vor  den  weiteren  Konsequenzen.  Im  Uebrigen  wies  der 
Minister  aus  der  Geschichte  der  Gewerbegerichte  und  der 
Vorgeschichte  des  Gesetzes  von  1890  ziemlich  glücklich  die 
Absurdität  des  konservativen  Angriffs  nach,  wozu  der  kon- 
servative Abg.  Kropatschek  als  Ergänzung  die  Thatsache 
erwähnte,  dass  sogar  unter  Bismarck  schon  ein  Gewerbe- 
gerichtsgesetz ausgearbeitet  worden  war.  Für  die  Gewerbe- 
gerichte bei  den  staatlichen  Kohlengruben  will  man  nach 
den  Mittheilungen  des  Ministers  nicht  Revierbeamte,  sondern 
richterliche  Personen  als  Vorsitzende  nehmen.  Auf  die 
Raschheit  und  Billigkeit  eines  beruf  liehen,  sachverständigen 
Gewerbegerichts  hätte  Herr  von  Berlepsch  noch  etwas  mehr 
eingehen  können ; dies  wäre  dankbarer  gewesen,  als  die  fort- 
währende Berufung  auf  frühere  Abstimmungen  der  Kon- 
servativen und  des  Staatsrathes.  Schliesslich  wurde  die 
Position  mit  grosser  Mehrheit  angenommen,  und  die  preus- 
sischen Berggewerbegerichte  werden  also  vom  1.  April  ab 
funktioniren. 


Schulwesen,  Bildungs-  und  Erziehungsfragen. 


Berliner  Arbeiterbildnngsschule.  Seit  der  Gründung  der 
Berliner  Arbeiterbildnngsschule  im  Jahre  1891  nahmen  an  dem 
Unterrichte  4500  Schüler  Theil. 

Unterrichtet  wird  in  folgenden  Fächern:  Deutsch  in  drei 
Stufen  (ober,  mittel,  unter),  Logik,  Geschichte  (alte,  mittlere, 
neue),  Nationalökonomie,  Gesetzeskunde,  Physiologie,  Chemie, 
Mathematik  und  mathematische  Geographie,  Rechnen  und  Buch- 
führung. 

Gegenwärtig  werden  die  Schulen  von  insgesammt  798 
Schülern  und  Schülerinnen  besucht.  Der  durchschnittliche  Be- 
such pro  Unterrichtsstunde  betrug  26  Theilnehmer. — Der  Unter- 


richt findet  an  den  Wochentagen  Abends  von  8l/a — 101/?  Uhr,  an 
den  Sonntagen  Vormittags  von  10—12  Uhr  statt. 

Das  Lehrpersonal  besteht  aus  17  zum  Theil  akademisch 
gebildeten  Lehrern. 

Die  noch  im  Entstehen  begriffene,  theilweise  durch  Ge- 
schenke und  Ueberweisungen  gebildete  Bibliothek  umfasst  224 
Bände.  Ausserdem  liegen  in  sämmtlichen  Schulen  eine  Anzahl 
berliner  und  auswärtiger  Arbeiterzeitungen  und  Zeitschriften 
zur  unentgeltlichen  Benutzung  für  die  Mitglieder  und  Schüler  aus. 

Für  die  den  Unterricht  nicht  besuchenden  Mitglieder 
finden  Versammlungen  statt,  in  denen  populär  wissenschaftliche 
Vorträge,  theils  einzeln  in  sich  abgeschlossen,  theils  in  Cyklen 
abgehalten  werden. 

Besichtigung  von  industriellen,  hygienischen  Kunst-  und 
anderen  wissenschaftlichen  Instituten  gaben  den  Theilnehmern 
Gelegenheit,  durch  eigene  Anschauung  zu  lernen. 

Dem  von  der  Schule  unterhaltenen  Referentennachweis 
stehen  zur  Zeit  41  Referenten  zur  Verfügung. 

Für  die  Zeit  vom  Januar  1891  bis  Januar  1893  sind  zu  ver- 
zeichnen an  Einnahmen:  1.  Beiträge  12 969,15  M.,  2.  Sammlungen 
3101,87  M.,  3.  Geschenke  6979,06  M.,  4.  Festlichkeiten  6921,21  M., 
5.  Diverses  1062,30  M.,  Summa  31  033,59  M.;  und  an  Ausgaben: 
1.  für  Einrichtungen  3020,85  M.,  2.  für  Miethen,  Steuern  6070,30  M., 
3.  für  Lehrerhonorar  12  329,50  M.,  4.  für  Festlichkeiten  4101,42  M., 
5.  Diverses  (Petroleum,  Feuerung,  Drucksachen,  Portis,  Schreib- 
materialien, Verwaltung  der  Schulen  etc.)  5719,03  M.,  Summa 
31  241,10  M. 


Rechtspflege. 


Die  Behandlung  politischer  Gefangener. 

In  seiner  Sitzung  vom  27.  Februar  hat  sich  der 
Deutsche  Reichstag  auch  mit  der  Frage  einer  Reform  der 
Strafvollstreckung  beschäftigt;  nur  so  ganz  nebenbei,  und 
doch  wäre  die  Frage  wichtig  genug,  um  einem  eigenen 
Anträge  aus  der  Mitte  des  Hauses  als  Gegenstand  zu 
dienen. 

Verschiedene  Vorkommnisse  neuerer  Zeit,  üble  Er- 
fahrungen, welche  politische  Gefangene  jüngst  gemacht 
und  der  Oeffentlichkeit  unterbreitet  haben,  brachten  die 
Frage  in  Fluss.  Nach  dem  Vorgänge  des  Vereins  „Berliner 
Presse“  haben  auch  andere  Journalisten  vereine  Deutschlands 
durch  eine  Petition  dem  Reichstage  und  der  Reichsregierung 
die  Dringlichkeit  einer  einheitlichen  Regelung  und  Humani- 
sirung  der  Gefängnissstrafen  wegen  politischer  oder  im 
weiteren  Sinne  nicht  ehrenrühriger  Strafthaten  klar  zu 
machen  gesucht.  Bis  jetzt  ohne  befriedigenden  Erfolg, 
denn  alles  eher  als  befriedigend  sind  die  Antworten,  mit 
denen  in  der  Sitzung  des  Reichstages  vom  27.  Februar  der 
Regierungskommissar  Hanauer  die  in  recht  milder  Form 
ergangenen  Anregungen  der  Abgeordneten  v.  Bar,  Schräder 
und  Gröber  bei  Seite  schob.  Zunächst  erklärte  Herr 
Hanauer  unter  vagem  Hinweis  auf  die  Schwierigkeit  der 
Angelegenheit,  dass  die  verbündeten  Regierungen  die  Sache 
„im  Auge“  behielten.  Was  die  Büreaukratie  nur  „im  Auge 
behält“,  während  es  sonst  noch  so  ausserordentlich  viel  mit 
dem  Munde  zu  besprechen  und  mit  der  Feder  zu  schreiben 
hat,  das  kann  lange  warten,  ehe  es  „in  die  Hand  ge- 
nommen“ wird.  Gleich  der  Fata  Morgana  wird  es  dem 
Auge  immer  gleich  fern  bleiben,  während  die  Büreaukratie 
mühsam  vorwärts  watet,  vergilbende  Aktenbündel  als  Merk- 
zeichen ihres  Marsches  hinter  sich  zurücklassend.  Doch 
selbst  einen  solchen  in  Zukunftsnebeln  verdämmernden 
Fernblick  trübte  Herr  Hanauer  noch  mehr,  indem  er  auf 
weiteres  Drängen  hin  erklärte:  um  den  Strafvollzug  zu 
reformiren,  bedürfe  es  einer  vorhergehenden  Aenderung  des 
im  Strafgesetzbuch  vorgeschriebenen  Strafensystems.  Es 
wurde  ihm  von  mehreren  Seiten  prompt  erwidert,  dass 
solche  zarte  Rücksicht  die  Regierung  nicht  abgehalten  habe, 
in  der  sogenannten  lex  Heinze  allerhand  Verschärfungen 
der  Strafvollzugsbestimmungen,  also  doch  gleichfalls  Aende- 
rungen  des  Strafensystems  zu  planen.  Wenn  es  möglich 
ist,  den  Strafvollzug  zu  Ungunsten  der  Zuhälter  zu  ver- 
schärfen, ohne  das  Strafgesetzbuch  umzustossen,  dann  muss 
es  auch  möglich  sein,  die  Strafvollzugsbestimmungen  zu 


290 


SOZIALPOLITISCHES  CE VI  i\ AI. BLATT. 


No.  24 


Gunsten  politischer  Gefangener  zu  mildern.  Ein  über- 
zeugender, im  Reichstag  leider  nicht  geltend  gemachter 
Beweis  dafür  liegt  übrigens  auch  darin,  dass  in  Deutsch- 
land die  allerverschiedensten  Arten  der  Strafvollstreckung 
gegen  politische  Gefangene  zur  Anwendung  kommen,  je 
nach  den  Vollzugsbestimmungen  der  Einzelstaaten,  oder 
nach  der  spezielleren  Hausordnung  des  einzelnen  Gefäng- 
nisses; ja,  mir  ist  aus  eigener  Erfahrung  bekannt,  dass  in 
einem  Gefängniss  von  einem  Jahre  zum  andern  ganz  er- 
hebliche und  zwar  leider  nicht  erleichternde  Aenderungen 
der  Gefängnissordnung  vorgenommen  werden  können,  unter 
denen  auch  der  politische  Gefangene  zu  leiden  hat.  Es  ist 
sehr  wohl  durchführbar,  wie  es  denn  auch  im  Interesse  der 
wegen  nicht  ehrenrühriger  Vergehen  Verurtheilten  dringend 
erforderlich  ist,  durch  Reichsgesetz  genaue  Vorschriften 
und  nöthigenfalls  besondere  Vorkehrungen  für  die  Behand- 
lung derartiger  Gefangener  zu  treffen,  ohne  dass  dadurch 
eine  organische  Umgestaltung  des  im  Strafgesetzbuch  vor- 
gesehenen Strafensystems  bedingt  würde.  Damit  die  Re- 
gierung dieses  wünschenswerthe  Ziel  aber  nicht  nur  „im 
Auge  behält“,  sondern  auch  die  Mittel  zur  Erreichung  des- 
selben wirklich  in  die  Hand  nimmt,  müssen  die  bestehenden 
Missstände  mehr  als  bisher  bekannt  werden,  und  dazu 
sollen  auch  die  folgenden  Ausführungen  beitragen. 

Im  Deutschen  Reiche  geniesst  von  allen  Einzelstaaten 
das  Königreich  Sachsen  den  besten  Ruf  hinsichtlich  der 
Behandlung  politischer  Gefangener,  welchen  dort  wenigstens 
das  Recht  der  Selbstbeköstigung  zusteht.  Sehen  wir  von 
den  Ausnahmeerfahrungen  ab,  welche  in  einigen  kleinstaat- 
lichen  Gefängnissen  gemacht  wurden,  so  bereitet  Preussen 
von  den  grösseren  deutschen  Staaten  den  politischen  Ge- 
fangenen das  trostloseste  Schicksal.  Zwar  waltet  da  ein 
erheblicher  Unterschied  ob  zwischen  den  einzelnen  Ge- 
fängnissen. Das  rührt  aber  von  den  recht  verschiedenen 
Einrichtungen  der  Gefängnisse  selbst  her.  Soweit  allge- 
meine Vorschriften  massgebend  sind,  ist  die  Lage  der  poli- 
tischen Gefangenen  in  allen  Gefängnissen  die  nämliche. 
Sie  werden  grundsätzlich  von  Amtswegen  nicht  anders  be- 
handelt als  andere  Gefangene.  Solche  Vergünstigungen, 
die  dem  einzelnen  zu  Gute  kommen  können,  theilt  er  mit 
einigen  anderen  nicht  zu  den  gemeinen  Verbrechern  ge- 
rechneten Kategorien  von  Gefangenen.  Gewisse  Vergünsti- 
gungen können  ihm  gewährt  werden  nach  Gutdünken  der 
Gefängniss  Verwaltung;  er  hat  aber  kein  Recht  sie  zu 
fordern.  Sie  beschränken  sich  in  der  Regel  auf  Selbstbe- 
schäftigung und  auf  eigene  Kleidung.  In  allen  anderen 
Dingen  pflegt  der  politische  Gefangene  den  gemeinen  Ver- 
brechern gleichgestellt  zu  sein.  Unter  den  preussischen 
Gefängnissen  gilt  als  Musteranstalt  das  grosse  Centralge- 
fängniss  in  Plötzensee.  Nach  dem  einstimmigen  Urtheil 
gefängnisskundiger  Leute  kann  man  annehmen,  dass  es 
seinen  Insassen  das  Höchstmass  von  Wohlbehagen  gewährt, 
das  in  preussischen  Gefängnissen  überhaupt  zu  haben  ist. 
Da  ich  zweimal,  im  Frühjahr  1891  und  im  Sommer  1892, 
je  einen  Monat  daselbst  eines  Pressvergehens  wegen  habe 
zubringen  müssen,  bin  ich  in  der  Lage,  von  den  dortigen 
Zuständen  ein  Bild  zu  entwerfen. 

Die  baulichen  Einrichtungen  des  Gefängnisses  zu 
Plötzensee  lassen  wenig  zu  wünschen  übrig.  Politische 
Gefangene  erhalten  durchweg  Einzelhaft  in  den  Isolirflügeln 
des  Gebäudes.  Ansprüche  an  Bequemlichkeit  kann  man 
natürlich  in  einem  Gefängniss  nicht  stellen.  Die  Zellen- 
einrichtung ist  von  einfachster  Art.  Ein  Tischchen,  ein 
Schemel,  ein  kleines  Wandgestell  zum  Aufstellen  von 
Büchern  und  Geräthen,  eine  durch  Scharniere  an  die  Wand 
befestigte  und  zum  Auf-  und  Niederklappen  eingerichtete 
Bettstelle  mit  sehr  harter  Matratze  und  Wolldecke:  das  ist 
das  Mobiliar.  Durchaus  den  berechtigten  Anforderungen 
entsprechend  sind  die  hygienischen  Einrichtungen.  Eine 
jede  Zelle  besitzt  ein  Kloset  mit  Wasserspülung  und  durch 
Oeffnung  des  etwa  sieben  Fuss  über  dem  Boden  ange- 
brachten und  mit  Eisenstäben  vergitterten  Fensters  lässt 
sich  leicht  die  Lüftung  der  Zelle  erzielen.  Geheizt  wird 
durch  Wasserrohren.  Da  die  Zellenwände  nach  Aussen 
und  Innen  von  mächtiger  Dicke  sind,  bleibt  die  Temperatur 


ziemlich  gleichmässig,  im  Sommer  nicht  zu  heiss  und  im 
\\  inter  nicht  zu  kalt.  So  weit  entsprechen  also  die  Ein- 
richtungen den  Anforderungen,  welche  man  vernünftiger 
W eise  im  Interesse  der  Gesundheitspflege  an  eine  Gefäng- 
nisszelle  stellen  kann.  Ebenso  lässt  sich  auch  nicht  klagen 
über  das  Benehmen  der  Gefängnissbeamten,  welches  den 
politischen  Gefangenen  gegenüber  ein  rücksichtsvolles  zu 
sein  pflegt.  Einem  wegen  Pressvergehens  verurtheilten 
Gefangenen  wird  eigene  Kleidung  und  Selbstbeschäftigung 
anstandslos  bewilligt.  Um  das  Recht  zur  Selbstbeschäfti- 
gung zu  erlangen,  ist  es  allerdings  erforderlich,  dass  eine 
ausserhalb  des  Gefängnisses  wohnhafte  unbescholtene,  d.  h. 
noch  nicht  mit  Gefängniss  bestrafte  Persönlichkeit  die 
Arbeitskraft  des  Gefangenen  kauft  (für  etwa  45  M.  monat- 
lich). Es  bleibt  dann  diesem  „Arbeitgeber“  überlassen, 
den  Gefangenen  mit  schriftlichen  Arbeiten  zu  beschäftigen. 
Geschieht  das  nicht,  so  hat  der  Gefangene  sich  irgend 
einer  der  im  Gefängniss  eingeführten  Beschäftigungen  zu 
unterziehen,  z.  B.  an  der  Fabrikation  künstlicher  Blumen 
durch  Stengelaufkleben  sich  zu  bethätigen.  Auf  alle  jene 
Vergünstigungen  hat,  wie  vorhin  schon  betont  wurde,  der 
politische  Gefangene  als  solcher  keineswegs  einen  recht- 
lichen Anspruch.  Es  hegt  in  der  Hand  der  Gefängnissver- 
waltung,  nach  eigenem  Ermessen  einen  jeden  Gefangenen 
derartige  Erleichterungen  zu  gewähren  oder  zu  verweigern. 
Thatsächlich  kommt  das  allerdings  darauf  hinaus,  dass  in 
Plötzensee  politische  Gefangene  fast  immer,  andere  nur  in 
seltenen  Fällen  dieser  Vergünstigung  theilhaftig  werden. 

Die  Nachtheile  des  Gefängnisslebens  in  Plötzensee  für 
die  Gesundheit  rühren  hauptsächlich  her  von  der  dürftigen 
und  schwer  verdaulichen  Kost  und  dem  Mangel  an  Be- 
wegung in  frischer  Luft.  Selbstbeköstigung  ist  in  Plötzen- 
see ausgeschlossen  für  alle  Gefangene.  Ein  Jeder  hat  sich, 
so  gut  oder  so  schlecht  es  geht,  der  Gefängnisskost  anzu- 
bequemen.  Dreimal  täglich  wird  durch  ein  in  der  Thür 
angebrachtes  Klappfenster  dem  Gefangenen  Essen  in  die 
Zelle  hineingereicht;  Morgens  eine  Art  Kaffee  mit  schwachem 
Milchzusatz  und  ein  Stück  Brod,  Mittags  „dicke  Suppe“, 
Abends  „dünne  .Suppe“,  unter  Umständen  auch  an  ihrer 
Stelle  Brod  und  Käse  oder  Brod  und  Schmalz,  sowrie  alle 
14  Tage  ein  gesalzener  Häring.  Die  „dicke  Suppe“  besteht 
meist  aus  Hülsenfrüchten,  Erbsen,  Bohnen,  Linsen,  hin  und 
wieder  mit  Kartoffeln  und  Reis  versetzt,  oder  auch  aus 
Kartoffeln  mit  Häring  oder  Milchreis.  Ein  Gemisch  von 
allerhand  solchen  Bestandtheilen,  leicht  angesäuert,  ist  die 
sogenannte  Rumford’sche  Suppe,  die  im  Gefängnissjargon 
ihren  Namen  in  „Rumfutsch“  umgewandelt  hat.  Viermal 
in  der  Woche  wird  die  Mittagssuppe  mit  etwas  zerhaktem 
und  zerfasertem  Fleisch  versetzt.  Die  dünnere  Abendsuppe 
wird  aus  Brod,  Buchweizen,  Gries,  Legumin,  Mehl  u.  dergl. 
bereitet.  Alle  diese  Gerichte  sind  sauber  und  sorgfältig 
zubereitet  und  auch  schmackhaft,  soweit  das  dürftige 
Material  das  erlaubt,  aber  für  einen  mit  normalem  Appetit 
begabten  Menschen  ist  die  Kost  nicht  ausreichend.  Es 
bildet  sich  allmählich  ein  Gefühl  der  ungenügenden  Sätti- 
gung heraus,  das  auch  nach  der  Füllung  des  Magens  nicht 
verloren  geht  und  vor  den  Mahlzeiten  sich  bis  zum  Heiss- 
hunger steigert.  Wer  einen  guten  Magen  hat,  kann  trotz- 
dem lange  Zeit  damit  auskommen,  doch  soll  die  Monotonie 
der  Kost  auf  die  Dauer  die  Verdauungsnerven  zu 
Grunde  richten.  Wehe  aber  dem,  der  ein  bereits 
geschwächtes  Verdauungssystem  in  das  Gefängniss  hin- 
einbringt! Nach  kurzer  Zeit  stellen  sich  die  bedenk- 
lichsten Verdauungsbeschwerden  ein.  An  die  schweren 
Hülsenfrüchte  kann  ein  schwacher  Magen  sich  durch- 
aus nicht  gewöhnen.  Noch  weniger  geniessbar  habe 
ich  das  schwere  schwarze  Gefängnissbrod  gefunden. 
Nun  ist  allerdings  die  Möglichkeit  gegeben,  durch  den 
Arzt  sich  eine  Kosterleichterung  anweisen  zu  lassen. 
Man  lässt  sich  „zum  Arzt  vormelden“  und  wird  dann  zu 
einer  bestimmten  Morgenstunde  mit  einigen  Dutzenden 
anderer  Patienten  nach  dem  Lazareth  geführt,  wo  der  Arzt 
Sprechstunde  abhält.  Wie  das  bei  der  Menge  der  Abzu- 
fertigenden nicht  anders  zu  erwarten  ist,  geht  es  dabei 
sehr  schablonenhaft  her.  Man  bringt  seine  Beschwerden 


No.  24 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


291 


und  Wünsche  vor,  der  Arzt  stellt  einige  Fragen,  sagt: 
Wir  werden  sehen!  und  der  Patient  kann  abtreten.  Pallia- 
tivmittel,  wie  doppeltkohlensaures  Natron  gegen  Sod- 
brennen, werden  bereitwillig  verabfolgt.  Auch  gegen  die 
Ersetzung  des  schweren  säuern  Schwarzbrodes  durch 
Semmel  wird  kein  längerer  Widerstand  geleistet.  Aber 
weitere  Kosterleichterungen  — das  hat  seine  Schwierigkeit. 
Da  die  Mangelhaftigkeit  der  Nahrung  an  sich  als  ein  inte- 
grirender  Bestandtheil  der  dem  Verbrecher  zuerkannten 
Strafe  angesehen  wird,  darf  der  Arzt  erst  dann  die  so- 
genannte Krankenkost  (von  der  es  fünf  oder  sechs  „Formen“ 
giebt)  anweisen,  wenn  sich  ernstliche  Krankheitserscheinun- 
gen bei  dem  Beschwerdeführer  herausgestellt  haben.  Die 
Beurlaubung  aus  dem  Gefängniss  darf  z.  B.  erst  bei  drohen- 
der Lebensgefahr  gewährt  werden.  Auf  die  Angaben  des 
Gefangenen  selbst,  sofern  sie  nicht  durch  wahrnehmbare 
Krankheitssymptome  bestätigt  werden,  darf  der  Arzt  sich 
nicht  verlassen,  da  er  von  der  Annahme  auszugehen  hat, 
dass  der  Gefangene  durch  Simulation  sich  eine  Kost- 
erleichterung erschwindeln  will.  Da  wird  dann  zu  dem 
Hilfsmittel  gegriffen,  durch  einen  Lazarethgehilfen  bei  dem 
Stationsaufseher  (in  den  Isolirfltigeln  hat  ein  Aufseher  zwei 
Stationen  zu  je  16  Gefangenen  unter  sich)  nachfragen  zu 
lassen,  ob  der  Gefangene  eine  ganze  Portion  Essen  in 
die  Zelle  hereinnimmt.  Geschieht  das,  dann  wird  ange- 
nommen, dass  das  Verdauungssystem  noch  leidlich  in  Ord- 
nung ist;  also  giebt  es  keine  Krankenkost.  Nimmt  der 
Gefangene  nur  halbe  oder  dreiviertel  Portionen , dann  ist 
die  Diagnose  auf  ernstliche  Verdauungsstörungen  gestellt, 
und  es  giebt  „Krankenkost“,  die  mit  Milch  (V2  Liter  täglich) 
oder  ein  um  den  andern  Mittag  Kartoffeln  mit  einem 
„Spatzen“,  einem  Stückchen  gebratenen  Fleisches,  anfängt. 
Steht's  schlimmer  mit  dem  Patienten,  so  giebt’s  auch  noch 
unerhörtere  Genüsse;  doch  kann  ich  darüber  aus  persön- 
licher Erfahrung  keine  Auskunft  ertheilen.  Der  Arzt  pflegt 
in  seinem  Verhalten  keinen  Unterschied  zu  machen  zwischen 
politischen  und  sonstigen  Gefangenen,  wohl  um  seine  Un- 
parteilichkeit zu  bethätigen.  Macht  doch  auch  der  Staat 
keinen  Unterschied  zwischen  ihnen.  Alle  werden  als  simu- 
lationsverdächtig nach  der  nämlichen  Schablone  behandelt. 
Die  prophylaktische  Hygiene  ist  nicht  über  die  Gefängniss- 
mauern  hinüber  gedrungen.  Die  Gesundheit  muss  erst 
durch  Gefängnisskost  und  Gefängnissluft  ruinirt  werden, 
ehe  der  Gefängnissarzt  sich  gestattet  mit  Palliativmitteln 
einzugreifen. 

Nicht  minder  nachtheilig  als  die  ungeeignete  Nahrung 
kann  der  Mangel  an  hinreichender  Bewegung  in  freier  Luft 
auf  den  Gesundheitszustand  einwirken.  Wie  ich  vorhin 
erwähnte,  ist  es  dem  Gefangenen  allerdings  möglich,  durch 
häufiges  Oeffnen  des  Fensters  innerhalb  der  Gefängniss- 
zelle  selbst  eine  erträgliche  Luft  herzustellen  und  einem 
Jeden  ist  es  zu  rathen,  bei  offenem  Fenster  zu  schlafen. 
Da  aber  keineswegs  alle  Gefangene  hinreichende  Vorsicht 
beobachten  und  die  Gänge  nur  unzureichend  gelüftet  wer- 
den können,  herrscht  innerhalb  des  Gebäudes  eine  üble 
Atmosphäre  vor.  Nach  Veilchen  riecht  es  in  Plötzensee 
ebensowenig  wie  im  Gefängniss  zu  Kamerun,  wie  Herrn 
Legationsrath  Kayser,  der  das  als  anmuthigen  Scherz 
zur  Rechtfertigung  der  Kameruner  Kolonialverwaltung  am 
28.  Februar  im  Reichstag  vorbrachte,  ausdrücklich  bestätigt 
werden  soll.  Um  so  nothwendiger  wäre  einem  jeden  Ge- 
fangenen bei  seiner  vorwiegend  „sitzenden“  Lebensweise, 
häufigere  Bewegung  in  freier  Luft.  Als  ich  das  erste  Mal 
in  Plötzensee  war,  wurde  mir  in  Rücksicht  auf  ein  chro- 
nisches Knieleiden  ohne  viel  Schwierigkeiten  die  Vergünsti- 
gung zugestanden,  zusammen  mit  ein  paar  andern  „Selbst- 
beschäftigern“  einige  Stunden  täglich  in  einem  der  grossen 
Barackenhöfe  zuzubringen.  Das  zweite  Mal  stiess  ich  beim 
Nachsuchen  um  die  nämliche  Vergünstigung  auf  unüber- 
windlichen Widerstand,  trotzdem  ein  angesehener  Arzt  mir 
ein  Gesundheitsattest  ausgestellt  hatte , in  welchem  meines 
Leidens  halber  eine  ausgiebige  Bewegung  in  freier  Luft 
für  dringend  erforderlich  erklärt  worden  war.  Ich  wurde 


mit  meinem  Anliegen  von  einem  Beamten  zum  andern  ge- 
schickt. Der  Polizei-Inspektor  erklärte  mir,  dass  mittler- 
weile in  Folge  des  Heinzh-Prozesses  die  Gefängnisordnung 
auf  Betrieb  der  Oberstaatsanwaltschaft  verschärft  worden 
i sei.  Das  Spazierengehen  der  Selbstbeschäftiger  auf  den  ßa- 
rackenhöfen  sei  nicht  mehr  erlaubt.  Eine  Extrafreistunde 
(ausser  der  regelmässig  allen  Gefangenen  zustehenden  Frei- 
stunde) könne  mir  nur  der  Arzt  bewilligen.  Der  Arzt 
seinerseits  versicherte  achselzuckend,  es  sei  gegen  das 
Reglement,  einem  Gefangenen  im  ersten  Monat  bereits  eine 
Extra-Freistunde  zu  gewähren.  Dabei  blieb’s.  Ich  musste 
mit  etwa  30  anderen  Isolirgefangenen  täglich  die  übliche 
Freistunde  in  einem  kleinen  öden  Hofe  im  Rundgange  ab- 
traben — eine  Qual  mehr  als  eine  Erholung.  Weil  also 
in  einem  Mordprozess  zu  Tage  getreten  war,  dass  Zuhälter 
und  sonstige  gemeine  Verbrecher  im  Gefängniss  allerhand 
Unfug  getrieben  hatten,  war  für  die  politischen  und  anderen 
wegen  nicht  ehrenrühriger  Vergehen  verurtheilte  Gefangene 
eine  gesundheitsschädliche  Beschränkung  der  Bewegungs- 
freiheit verfügt  worden.  Das  ist  „Staatsraison“. 

Doch  lässt  sich  aus  diesem  Vorkommnisse  immerhin 
eine  praktische  Nutzanwendung  ziehen  für  die  Frage 
der  Strafvollziehungsreform.  Wenn  zu  Ungunsten  po- 
litischer Gefangener  in  Folge  eines  sie  gar  nicht 
berührenden  Vorkommnisses  die  Oberstaatsanwaltschaft  zu 
Berlin  im  Verordnungswege  für  die  ihr  unterstellten  Ge- 
fängnisse eine  Verschärfung  der  Strafvollzugsbestimmungen 
durchführen  kann,  so  kann  sie  umgekehrt  auch  eine  Er- 
leichterung in  der  nämlichen  Weise  veranlassen.  Und  was 
im  Kammergerichtsbezirk  durch  die  Staatsanwaltschaft, 
kann  für  das  ganze  Reich  durch  Bundesraths-  und  Reichs- 
tagsbeschluss bewirkt  werden.  Dass  das  aber  nothwendig, 
dringend  nothwendig  ist,  das  dürfte  doch  hoffentlich  Jedem 
klar  werden,  der  sich  die  gemeiniglich  unbekannte  That- 
sache  einmal  vergegenwärtigt,  dass  die  Gefängnissstrafe, 
wie  sie  gegenwärtig  durchgeführt  wird,  grade  für  den  an 
ausreichende  Nahrung  und  die  Bedürfnisse  des  Kultur- 
menschen gewöhnten  Gefangenen  nicht  bloss  auf  Freiheits- 
beraubung hinauskommt,  in  der  doch  die  alleinige  und  eine 
hinreichende  Strafe  gesucht  werden  sollte,  sondern  auf 
eine  mehr  oder  weniger  nachhaltige  Untergrabung  der  Ge- 

ö c?  o ö 

sundheit.  Wenn  die  Gesundheitsschädigung  nicht  in  der 
Absicht  des  Gesetzgebers  liegt,  so  muss  er  den  bestehenden 
Zustand  abändern;  und  er  kann  es,  wenn  er  es  will;  er 
kann  es  mit  Leichtigkeit. 

Die  Frage,  ob  für  die  gesammten  Gefangenen  Aende- 
rungen  der  Strafvollzugsbestimmungen  vorzunehmen  sind, 
soll  hier  unerörtert  bleiben,  aber  für  politische  Gefangene1) 
lässt  sich  ohne  besondere  Schwierigkeit  ein  Anspruch  auf 
folgende  Rechte  gesetzlich  festsetzen:  1.  Einzelhaft; 

2.  eigene  Kleidung;  3.  Selbstbeschäftigung;  4.  Selbst- 
beköstigung und  5.  ausreichende  Bewegung  in  freier 
Luft.  Lassen  sich  nicht  in  allen  Gefängnissen  Deutsch- 
lands Einrichtungen  treffen,  welche  die  Durchführung 
solcher  Bestimmungen  ermöglichen,  so  kann  man  in  ein- 
zelnen Gefängnissen  Sondereinrichtungen  für  die  Aufnahme 
politischer  Gefangener  reservirt  halten.  So  lange  die  Staats- 
raison in  Deutschland  die  Verfolgung  und  Einkerkerung 
von  Menschen  wegen  unbequemer  gegen  die  bestehende 
Staatsordnung  gerichteter  Meinungsäusserungen  verlangt, 
soll  sie  wenigstens  der  Menschlichkeit  das  Zugeständniss 
machen,  ihre  Opfer  nicht  ausser  der  Freiheit  auch  noch 
der  Gesundheit  zu  berauben.  So  viel  ist  doch  mindestens 
ein  Staat,  der  auf  den  Namen  eines  Kulturstaates  Anspruch 
erhebt,  sich  selbst  und  seinen  Angehörigen  schuldig. 

Berlin.  Georg  Ledebour. 

x)  Der  Kürze  halber  ist  in  den  meisten  Fällen  in  diesem 
Aufsatz  in  der  Regel  ..politische  Gefangene“  gesetzt  für:  „wegen 
nicht  ehrenrühriger  Vergehen  verurtheilte  Gefangene.“ 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  I)r.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


292 


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der  jungen  literarischen  Generation,  der  die  Zukunft  gehört,  der  Sammelpunkt  der 
hervorragendsten  Dichter  und  Denker  deutscher  Zunge,  der  erklärte  Liebling  der 
zukunftsfrohen  akademischen  Jugend,  unabhängig  nach  oben  und  unten,  rechts  und 
links,  freimütig  und  unerschrocken  in  ihrem  Urteil,  dabei  vornehm  und  gerecht 
auch  gegen  den  Andersdenkenden,  doch  unversöhnlich  gegen  alle  Verlogenheit  und 
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in  Gemeinden,  Vereinen  und  Privatleben. 

Herausgegeben  unter  Mitwirkung  von  hervorragenden  Fachmännern 

von 

Dr.  N.  Brückner,  Frankfurt  a.  Main. 

Die  neue  Zeit  Schrift  will  der  sozialen  Fürsorge  in  kleinerem  Kreis , in 
Gemeinde , Vereinen  und  Privatleben  dienen  und  hier,  unter  Beiseite! assung 
jeder  theoretischen  Erörterung,  einen  Sammelpunkt  für  praktische  Erfahrungen 
bilden , der  bis  jetzt  den  Provinzial-  und  Stiidteverrvahungen , den  Stadtver- 
ordneten, Vereins-  und  Stiftungsvorständen,  sowie  allen  privaten  Freunden  der 
< i emein  » ütziglceit  voll  ständig  fehlte. 

Wöchentlich  eine  Nummer  in  40,  Preis  vierteljährlich  Mk.  2,50. 
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Postzeitungsliste  No.  1035a. 

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(©egeben  ÜBerlin,  ben  16.  April  1871.) 

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Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil:  ().  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


II.  Jahrgang 


Berlin,  den  20.  März  1893. 


Nummer  25. 


SOZIALPOLITISCHES 

C E NTRALB  LATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nnmmer. 

Zu  beziehen  durch 

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Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHAL  T. 


Der  Gesetzentwurf  zu  Gunsten 
des  Koalitionsrechtes  vor 
dem  französischen  Senate. 
Von  Leo  Frankel. 

Soziale  Wirthscliaftspolitik  u. 

W irthschaftsstatistik : 

Die  Achtundvierzig  - Stunden- 
Woche. 

Städtische  Apotheken. 

Zur  Lage  der  irischen  Pächter. 

Arbeiterzustämle: 

Bestrafte  Bettler  im  Königreiche 
Sachsen. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Organisationen  von  Staatsarbeitern. 

Unternehmerverbände: 

Centralverband  Deutscher  In- 
dustrieller und  die  Bestrafung 
des  Kontraktbruches. 

Westfälisches  Kokssyndikat. 

Arbeitersclmtzgesetzgebung: 

Zur  Sonntagsruhe  in  der  deutschen 
Industrie  und  im  Handwerk. 

Petitionen  zur  Sonntagsruhe  im 
Handelsgewerbe. 

Zur  Frage  der  Arbeitsordnungen. 

Arbeiterinnenschutz  in  der  Schweiz. 

Gewerbeinspektion : 

Zur  Fabrikaufsicht  der  Berufs- 
genossenschaften. 


Arbeiterversicherung: 

Die  Altersrentenempfänger  von 

1891. 

Zur  Reform  der  berufsgenossen- 
schaftlichen Schiedgerichte.  Von 
Ernst  Lange. 

Arbeiterversicherung  und  Armen-  j 
pflege. 

Vorläufige  Statistik  der  deutschen 
Krankenversicherung. 

Konferenz  der  Vertreter  der  Lan- 
desversicherungsämter und  der 
Invaliditäts-  und  Landesversiche- 
rungsanstalten. j 

Die  nichtständigen  Mitglieder  des 
Reichsversicherungsamtes. 

Zur  Frage  der  Arbeitslosenversiche-  1 
rung  in  der  Schweiz. 
Armenwesen: 

Die  Novelle  zum  Unterstützungs-  I 
wohnsitzgesetz. 

Wohlfahrtseinrichtungen : 

i Speiseanstalten  für  Arbeiter. 

Soziale  Hygiene: 

Die  Kurtaxe.  Von  Privatdozent 
Dr.  J.  Jastrow. 

Schulwesen,  Bildnngs-  und  Er- 
ziehungsfragen : 

Die  Kunstbildung  des  Volkes  und 
der  Sonntag. 

Gewerbliche  Fortbildung  in 
Preussen. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Der  Gesetzentwurf  zu  Gunsten  des  Koalitions- 
rechtes vor  dem  französischen  Senate. 

Die  Leser  dieser  Zeitschrift  kennen  den  Entwurf  Bovier- 
Lapierre  und  wissen,  dass  er  denLTnternehmern  bei  Strafe  ver- 
bietet, die  Arbeiter  an  der  Ausübung  des  ihnen  durch  Gesetz 
vom  21.  März  1884  zuerkannten  Rechtes  der  Gewerkschafts- 
bildung und  -Bethätigung  zu  hindern.  Dass  dieser  Entwurf, 
der  in  der  vorigen  Session  in  der  ihm  von  der  Kammer 
gegebenen  Fassung1)  vor  den  Senat  gelangte,  dort  keine 
allzufreundliche  Aufnahme  finden  werde,  war  nach  der  Ab- 
weisung, die  der  frühere  Bovier-Lapierre’sche  Entwurf  im 
Palais  Luxembourg  erfuhr,  vorauszusehen.  Eine  noch  so 
scharfe,  noch  so  gewagte,  selbst  ungerechtfertigte  Kritik 
des  neuen  Entwurfes  hätte  darum  kaum  Jemanden  ver- 

b Siehe  Sozialpolitisches  Centralblatt  I.  Jahrg.  S.  297. 


wundert.  Der  Referent  in  dieser  Frage,  Herr  Trarieux 
ging  aber  weit  über  eine  Kritik  hinaus,  es  sei  denn,  dass 
man  das  Entrollen  von  Schreckbildern  oder  Ausfälle  gegen 
die  nicht  im  Banne  der  herrschenden  Parteien  stehenden 
Gewerkschaften  und  deren  Führer  als  eine  Kritik  des  Ent- 
wurfes betrachten  will. 

Wie  leider  bei  allen  Fragen,  welche  die  Arbeiterklasse 
berühren,  weniger  nach  dem  Rechte  gefragt  wird,  das  nach 
Anerkennung  ringt,  als  nach  den  momentanen  Interessen 
der  sich  verletzt  sehenden  Unternehmerklasse,  so  auch  hier. 
Herrn  Trarieux’  Rede  war  der  Hauptsache  nach  weniger 
eine  kritische  Untersuchung  des  Entwurfes,  als  ein  un- 
gehöriges Auf  bauschen  all  der  Nachtheile,  die,  wie  ja  jede 
Beseitigung  irgend  eines  Vorrechts  dessen  Nutzniesser  trifft, 
das  Unternehmerthum  bei  Annahme  des  Entwurfes  natur- 
gemäss  treffen  würden.  Seine  Absicht  war  vornehmlich 
den  Widerstand  der  Unternehmer  zu  reizen  und  den  gesetz- 
lichen Bestrebungen  der  Arbeiter  den  Weg  zu  versperren. 
In  welcher  Weise  er  dies  that,  davon  hier  eine  Probe.  Er 
sagte  unter  anderem: 

„An  dem  Tage,  an  dem  die  Arbeiter  wüssten,  dass  sie 
einen  Arbeitgeber  bei  dem  geringsten  Konflikt  vor  die  Stratge- 
richte  ziehen  können,  welche  furchtbare  Druck-  und  Zwangs- 
mittel hätten  wir  da  in  ihre  Hände  gelegt!  Und  welchen 
Schrecken,  um  nicht  zu  sagen  welche  Panik  würden  wir  an 
diesem  Tage  in  der  grossen  Industrie  verbreitet  haben  und  wie 
viele  Werkstätten  vielleicht  sperren  lassen!  . . . O,  wenn  Sie  es 
noch  mit  Arbeitersyndikaten  zu  thun  hätten,  die  von  friedlichen 
Absichten  und  friedlichem  Geiste  beseelt  sind  und  ebenso  be- 
wusst ihrer  Pflichten,  als  sie  fest  in  der  Vertheidigung  ihrer 
Rechte  sein  können,  dann  hätte  ich  nichts  dagegen;  aber  . . . 
leider  giebt  es  eine  zu  grosse  Anzahl  jener  Werkstätten  - 
Marodeure,  jener  Stri kespekulanten,  jener  Hungrigen 
der  Arbeiterhalbwelt,  die  Sie  niemals  werden  befriedigen 
können,  die  von  den  Theorien  Babeuf’s  zu  denen  der  Anarchie 
schreiten  und  die  zu  befriedigen  es  nur  ein  einziges  Mittel  giebt, 
nämlich  das  unlösliche  Problem  zu  lösen:  Allen  ein  reichliches 
Auskommen  zu  geben,  indem  man  die  Arbeit  und  die  Anstren- 
gung beseitigt!  Wäre  es  nicht  die  schwerste  Unbedachtsamkeit, 
jenen  gewerbsmässigen  Agitatoren  diese  neuen  Drohungs- 
und Einschüchterungsvorwände  zu  liefern?  . . . Dass  der  Kom- 
munismus, dass  der  Kollektivismus  gewisse  Geister  anzieht,  dar- 
über sind  wir  nicht  verwundert;  was  uns  aber  anbelangt,  so 
wissen  wir,  dass  die  Gesellschaft  ihren  Untergang  dabei  fände, 
und  getreu  dem  politischen  System,  wonach  in  unserem  Lande 
Alles  auf  der  Achtung  des  Eigentliums,  der  legitimen  Tochter 
der  .Sparsamkeit  und  der  Arbeit  beruht“  — (man  denke  dabei  an 
die  Panama- Affaire!)  — „könnten  wir  nicht  den  Fehler  begehen, 
das  schon  genugsam  angegriffene  industrielle  Eigen- 
thum noch  mehr  zu  bedrohen“. 

Abgesehen  davon,  dass  diese  Art  der  Abweisung  des 
Entwurfes  wenig  geeignet  ist,  den  sozialen  Frieden, 
den  man  ja  sonst  stets  im  Munde  führt,  zu  fördern,  muss 
man  sich  verwundert  fragen,  in  welchem  Zusammenhang 
denn  eigentlich  die  Eigenthumsfrage  mit  dem  Koalitions- 
recht steht  und  inwiefern  die  Wahrung  dieses  Rechtes  eine 
Bedrohung  des  industriellen  oder  eines  sonstigen  Eigen- 


294 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  25. 


thums  sei.  Wenn  schon  der  leiseste  Versuch,  eine  Bresche 
in  das  von  den  wirtschaftlich  Starken  konstruirte  System 
des  Laissez-faire  zu  schiessen,  als  ein  Angriff  auf  das 
industrielle  Eigenthum  bezeichnet  wird,  wer  kann  da  noch 
auf  durchgreifende  soziale  Reformen  hoffen?  Als  das  erste 
französische  Fabrikgesetz,  das  sich  vorwiegend  mit  der 
Regulirung  • der  Kinderarbeit  befasste,  1840  vor  die  Pairs- 
kammer  gelangte,  wurde  es  als  „der  Beginn  des  Saint- 
Simonismus  oder  des  Phalansterismus“  bekämpft;  gelangt 
heute  irgend  ein  Arbeiterschutzgesetz  vor  das  Parlament, 
wird  es  als  Beginn  des  sozialistischen  Staates,  als  ersten  Schritt 
zum  Kollektivismus  ausgeschrien.  Die  Kampfweise  ist  die- 
selbe geblieben,  nur  ein  Wort  hat  das  andere  ersetzt.  Wenn 
sich  aber  die  Regelung  der  Kinderarbeit  noch  in  eine  ge- 
wisse Beziehung  zum  Fourierismus  stellen  lässt,  so  ist  es 
hingegen,  selbst  mit  dem  besten  Willen,  nicht  möglich,  das 
Koalitions-  bezw.  Syndikatsrecht  der  Arbeiter  mit  dem 
Kollektivismus  in  irgend  einen  natürlichen  Zusammenhang 
zu  bringen,  geschweige  denn  zusammenwerfen.  Während 
nämlich  der  Kollektivismus  die  Abschaffung  des  Privat- 
eigenthums an  den  Produktionsmitteln  und  damit  die  Be- 
seitigung der  kapitalistischen  Produktion  und  deren  Er- 
setzung durch  die  allgemein  genossenschaftliche  oder  ge- 
sellschaftliche Produktion  aristrebt,  also  in  direktem  Gegen- 
satz zur  Lohnarbeit  steht,  setzt  das  Koalitionsrecht  die 
Lohnarbeit  und  mit  ihr  das  Privateigenthum  an  den  Pro- 
duktionsmitteln voraus.  Nur  wo  Lohnarbeit  besteht,  Arbeits- 
kraft und  Arbeitsmittel  getrennte  Mächte  sind,  kann  von 
einem  Rechte,  sich  behufs  Erzielung  besserer  Arbeitsbe- 
dingungen zu  koaliren,  die  Rede  sein.  Man  braucht  sich 
darum  durchaus  nicht  vom  Kollektivismus  oder  Kommunis- 
mus angezogen  zu  fühlen,  man  kann  sogar  ein  Gegner 
dieser  Lehren  und  nichtsdestoweniger  ein  eifriger  Ver- 
fechter des  Syndikatsrechtes  der  Arbeiter  sein,  wie  denn 
auch  Bovier-Lapierre  sowie  die  Majorität  der  Abgeordneten, 
die  für  den  Entwurf  stimmten,  nichts  weniger  als  Kollekti- 
visten  sind. 

Selbst  da,  wo  der  Referent  näher  auf  den  Entwurf 
einging,  wich  er  der  eigentlichen  Frage,  ob  dem  Gesetze 
vom  21.  März  1884  Geltung  verschafft  werden  soll,  fürsorg- 
lich aus.  Es  war,  als  ob  dieses  Gesetz,  das  den  Arbeitern 
das  Recht  zuerkennt,  sich  behufs  Studium  und  Vertheidi- 
gung  ihrer  wirtschaftlichen  Interessen  in  Gewerkschaften 
zusammenzuschliessen,  überhaupt  nicht  bestünde.  Er  sprach 
blos  von  dem  Rechte  der  Unternehmer.  Sein  ganzes  Plai- 
doyer  lief  auf  die  Frage  hinaus,  ob  denn  der  Arbeitgeber 
nicht  „Herr  in  seinem  Hause“  sei.  Den  Unternehmern  ver- 
bieten wollen,  Arbeiter  wegen  deren  Zugehörigkeit  zu  einer 
Gewerkschaft  an  die  Luft  zu  setzen,  heisst  in  seiner 
Sprache:  Personen,  mit  denen  der  Unternehmer  keine  Be- 
ziehungen unterhalten  will,  mit  Gewalt  in  dessen  Haus  ein- 
führen,  sei  eine  Art  Hausfriedensbruch ; sie  zu  hindern, 
den  Arbeitsvertrag  nach  eigenem  Gutdünken  willkürlich 
festzusetzen,  heisst  ihm  zufolge,  ihnen  den  Arbeitsvertrag 
aufzwingen  und  sei  ein  Angriff  auf  deren  Industrieeigen- 
thumsrecht. Und  solcherart  warnte  er  den  Senat  vor  der 
Annahme  des  Entwurfes,  „da  die  bedrohte  Industrie  leicht 
ihren  Unternehmungsgeist  einschränken  könnte.“ 

Aber  ernster  als  diese  Gefahr,  mit  der  ja  stets  ge- 
droht wird,  wenn  es  sich  um  ein  Gesetz  zu  Gunsten  der 
Arbeiter  handelt,  scheint  uns  vielmehr  eine  andere  zu  sein: 
wenn  die  Arbeiter  sehen,  dass  selbst  Forderungen,  die 
den  Unternehmern  keine  wie  immer  gearteten  Lasten 
auferlegen,  sondern  sie  nur  hindern,  die  ihren  Ar- 
beitern gesetzlich  gewährten  Rechte  auf  Umwegen 
wieder  zu  nichte  zu  machen,  verzweifeln  sie  schliesslich, 
jemals  auf  friedlichem  Wege  zu  ihrer  Emanzipation  ge- 
langen zu  können.  Wenden  sie  sich,  wie  beispielsweise 


behufs  Normirung  des  Arbeitstages  an  die  Gesetzgebung, 
damit  diese  der  Machtvollkommenheit  der  Unternehmer  ge- 
wisse Schranken  setze,  so  verweist  man  sie  auf  die  Gewerk- 
schaften als  auf  den  viel  natürlicheren  und  zweckent- 
sprechenderen Weg;  betreten  sie  aber  diesen,  dann  heisst 
es:  Wenn  man  den  Unternehmern  verbiete,  Arbeiter  wegen 
ihrer  Gewerkschaftsangehörigkeit  aufs  Pflaster  zu  werfen, 
dann  greife  man  ihr  Industrieeigenthumsrecht  an! 

Es  ist  begreiflich,  dass  die  Unternehmerklasse  ihre 
Herrschaft  nach  allen  Seiten  hin  aufrecht  zu  erhalten  sucht 
und  auf  keines  ihrer  Vorrechte  aus  freien  Stücken,  aus 
reiner  Menschenliebe  verzichtet;  aber  besteht  denn  die 
Kunst  des  Herrschens  in  starrem  Festhalten  an  Rechten, 

| deren  Unterbau  vom  Strome  der  Zeit  bereits  tief  unter- 
waschen ist,  oder  nicht  vielmehr  in  einem  Anpassen  an  die 
veränderten  Verhältnissen  und  die  ihnen  entspringenden 
Forderungen?  Wähnte  der  Referent  schon,  sich  des  Sozialis- 
mus oder  Kollektivismus  als  eines  probaten  Schreckmittels 
bedienen  zu  können,  dann  wäre  es  wohl  angebrachter  ge- 
wesen, den  Senat  damit  vor  der  Verwerfung  anstatt  vor 
der  Annahme  des  Bovier-Lapierre’schen  Entwurfes  zu 
warnen,  da  nichts  der  sozialistischen  Bewegung  mehr  dient, 
als  wenn  selbst  Gesetzentwürfe,  die  sich  blos  gegen 
die  unumschränkte  Herrschaft  der  Unternehmer,  blos  gegen 
den  Missbrauch  ihrer  ökonomischen  Macht  richten,  so 
schnöde  zurückgewiesen  werden,  wie  dies  der  Referent  mit 
dem  vorliegenden  Entwürfe  gethan. 

Wenn  der  Entwurf  schliesslich  nicht  einfach  verworfen 
wurde,  so  ist  dies  nur  dem  Umstande  zu  verdanken,  dass 
der  ehemalige  Ministerpräsident  Rene  Goblet  einen  Gegen- 
entwurf einbrachte,  der  schon  anstandshalber  der  Kom- 
mission zur  Berathung  überwiesen  werden  musste.  Diesem 
Entwürfe  gemäss  sollen  alle  diejenigen,  welche  durch  Ge- 
waltthätigkeiten  oder  Drohungen,  Entziehung  der  Beschäfti- 
gung oder  verabredete  Arbeitsverweigerung  die  freie  Aus- 
übung der  Rechte  verletzten,  die  sich  für  die  Arbeiter  wie 
für  die  Unternehmer  aus  dem  Gesetze  vom  21.  März  1884 
ergeben,  mit  Gefängniss  von  sechs  Tagen  bis  zu  einem 
Monat  und  einer  Geldbusse  von  16  bis  200  Frcs.  oder  mit 
einer  dieser  beiden  Strafen  allein  bestraft  werden.  Des- 
gleichen sollen  auch  diejenigen,  die  in  den  Arbeitsräumen 
mittelst  Anschlages  bekannt  geben,  sei  es  gewerkschaft- 
lichen, sei  es  nicht  gewerkschaftlichen  Arbeitern  die  Be- 
schäftigung zu  verweigern,  mit  den  gleichen  Strafen  belegt 
werden. 

Auf  eine  Kritik  dieses  Entwurfes  einzugehen,  wird  es 
wohl  Zeit  sein,  wenn  er  wieder  vor  das  Plenum  des  Senates 
gelangt.  Das  wird  aber  während  dieser  Legislatur,  die  schon 
im  Herbst  abläuft,  nach  den  bisher  gemachten  Erfahrungen 
kaum  mehr  der  Fall  sein.  Inzwischen  brechen  bald  da,  bald 
dort  grosse  Strikes  aus,  die  einzig  und  allein  durch  die  Nicht- 
anerkennung der  Syndikatsrechte  der  Arbeiter  verschuldet 
sind,  wie  dies  erst  bei  dem  soeben  beendeten  Generalstrike 
der  Metallarbeiter  von  Rive-de-Gier  der  Fall  war. 

Paris.  Leo  Frankel. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Die  Achtundvierzig-Stunden-Woche. 

Ein  wichtiges  volkswirtschaftliches  Experiment  wurde 
von  Mather&  Platt,  den  Besitzern  der  Salford  Eisen- 
werke zu  Manchester,  am  20.  Februar  begonnen.  Vorläufig  iür 
ein  Jahr  lang  will  die  Firma  ihre  Arbeiter  nur  48  Stunden 
wöchentlich  beschäftigen  anstatt  der  bisherigen  53  Stunden, 


No.  25. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


295 


und  zwar  an  den  fünf  ersten  Wochentagen  von  7 Uhr 
45  Minuten  bis  5 Uhr  30  Minuten,  mit  einer  Mittagspause 
von  einer  Stunde  und  am  Sonnabend  von  derselben  Zeit 
bis  Mittags  12  Uhr.  Dabei  sollen  die  Löhne  nicht  reduzirt 
werden.  Die  Hoffnung  auf  Gelingen  des  Experimentes  wird 
auf  folgende  Ueberlegungen  gegründet. 

Die  ausfallenden  Arbeitsstunden  sind  jedenfalls  die- 
jenigen, welche  für  die  Firma  am  wenigsten  Werth  haben; 
denn  bei  früherem  Beginn  der  Arbeitszeit  kommt  doch, 
besonders  im  Winter,  ein  beträchtlicher  Prozentsatz  der 
Arbeiter  zu  spät,  was  sehr  oft  den  Stillstand  einer  Maschine 
und  die  Unthätigkeit  anderer  Arbeiter  zur  Folge  hat.  Die, 
welche  rechtzeitig  kommen,  sind  kalt  und  hungrig  und  da- 
her nicht  gleich  zur  Arbeit  bereit.  Kaum  aber  sind  sie  im 
Zuge,  so  ist  die  Frühstückspause  da,  die  bei  der  neuen 
Zeiteintheilung  ganz  erspart  wird.  Diese  ist  nur  eine 
Konsequenz  der  veränderten  und  verbesserten  Lebensweise 
der  heutigen  Arbeiter  verglichen  mit  denen  vor  20  oder 
30  Jahren.  Damals  gingen  sie  um  9 Uhr  zu  Bett.  Es  gab 
keine  Abendschule  noch  Gelegenheit  zu  abendlicher  Lek- 
türe und  vernünftiger  Erholung,  wodurch  die  Zeit  des 
Schlafengehens  um  etwa  2 Stunden  verschoben  ist. 

Die  verloreneArbeitszeit  kann  wieder  eingebracht  werden 
durch  Beseitigung  der  mancherlei  Verschwendungen,  die  in 
allen  Fabriken  Vorkommen.  Zunächst  könne  man  ohne 
Schaden  die  Maschinen  schneller  laufen  lassen,  wie  es  in 
Amerika  schon  allgemein  geschehe.  Eine  Beschleunigung 
von5pCt.  würde  einen  schon  merklichen  Gewinn  bedeuten. 
Ferner  könne  bei  der  Arbeit  selbst  erheblich  an  Zeit  ge- 
spart werden,  wenn  dieselbe  in  ein  geordnetes  System  ge- 
bracht werde,  das  alles  Suchen  und  Probiren  beseitige; 
denn  dadurch  gehe  am  meisten  Zeit  verloren.  Dieses  durch- 
zuführen, sei  Sache  der  Aufseher,  Werkführer  und  Vor- 
arbeiter; die  grössere  Ordnung  werde  jedoch  auch  auf  die 
Arbeiter  zurückwirken,  da  erfahrungsgemäss  diese  sich 
auch  gehen  liessen,  wo  das  ganze  Arbeitssystem  schlaff  sei. 
Von  den  Arbeitern  unmittelbar  wird  erwartet,  dass  sie  ihre 
Arbeit  Morgens  und  Mittags  pünktlich  beginnen,  und  dass 
sie  in  Folge  der  Abkürzung  der  Arbeitszeit  aufmerksamer 
und  geschickter  seien.  Dass  man  nicht  versäumt,  sie  auf 
die  vorbildliche  Bedeutung  ihrer  Haltung  bei  dem  vor- 
liegenden Experimente  aufmerksam  zu  machen,  ist  selbst- 
verständlich. 

Der  Standpunkt,  den  Arbeiter  und  Unternehmer  diesem 
Versuche  gegenüber  einnehmen,  ist  offenbar  ein  ver- 
schiedener. Die  Arbeiter  scheinen  hauptsächlich  darauf  Ge- 
wicht gelegt  zu  haben,  dass  die  Kürzung  der  Arbeitszeit 
einer  grösseren  Anzahl  von  Arbeitern  als  bisher  Gelegen- 
heit zur  Beschäftigung  geben  würde.  Die  Firma  geht  auch 
auf  diesen  Gesichtspunkt  ein,  indem  sie  in  ihrem  Cirkular 
an  die  Arbeiter  erklärt,  sie  in  diesem  Bestreben  unter- 
stützen zu  wollen,  soweit  es  geschehen  könne  ohne  der 
Industrie  zu  schaden,  an  deren  gesundem  Zustande  alle  ein 
gemeinsames  Interesse  hätten.  Andererseits  aber  legt  sie, 
und  mehr  noch  die  übrigen  Unternehmer,  die  das  Experi-  t 
ment  mit  grossem  Interesse  zu  verfolgen  scheinen,  Gewicht 
darauf,  dass  die  Arbeitsleistung  nicht  wesentlich  vermindert 
werde,  da  wegen  des  gleichen  Lohnes  jede  Verminderung 
der  Leistung,  welche  eine  Einstellung  von  mehr  Arbeits- 
kräften nöthig  machen  würde,  eine  Vermehrung  der  Kosten 
bedeute.  Unsere  Quelle  (The  Engineer  vom  24.  Februar  1893) 
warnt  die  Arbeiter  davor,  zugleich  zweierlei,  Kürzung  der 
Arbeitszeit  und  Erhöhung  des  Lohnes  zu  verlangen,  denn 
das,  meint  sie,  bedeute  eine  Kürzung  der  Zeit  ohne  Ver- 
minderung des  Lohnes.  Sie  scheint  das  Experiment  nur 
dann  als  gelungen  und  nachahmenswürdig  betrachten  zu 
wollen,  wenn  kein  Verlust  am  Geschäftsgewinn  zu  ver- 
zeichnen sein  werde.  Sie  hält  jedoch  dieses  keineswegs  für 
unmöglich,  konstatirt  vielmehr,  dass  eine  weit  grössere  An- 
zahl von  Unternehmer,  als  man  früher  erwartet,  dem  Acht- 
stundentage geneigt  sei. 

Mögen  die  Salford  Eisenwerke  ihren  Schritt  noch  so 
sorgfältig  berechnet  haben,  — sehr  gross  ist  er  nicht;  denn 

fenau  genommen  beträgt  die  wöchentliche  Arbeitzeit  49  Stun- 
en  — immerhin  ist  ein  gewisses  Risiko  bei  demselben  und  es 
verdient  die  Initiative  Anerkennung.  Uebrigens  ist  der  Ver- 
such nicht  der  erste  in  seiner  Art.  Vor  einem  Jahr  unternahm 
Allan  von  den  Scotia  Engine  Works  einen  ähnlichen,  über 
den  wir  jedoch  Sicheres  nicht  erfahren  konnten.  Jeden- 
falls ist  das  Beispiel  kein  abschreckendes  gewesen. 


Städtische  Apotheken.  Der  Betrieb  von  Apotheken 
der  bisher  schon  in  Folge  des  Konzessionswesens  ein  mehr 
oder  weniger  monopolistischer  war,  eignet  sich  wie  kaum 
ein  anderer  zur  Uebernahme  in  städtische  Regie.  Städtische 
Apotheken  bestehen  auch  bereits  in  Breslau  und  Köln  a.  Rh. 
Die  günstigen  Ergebnisse  der  letzteren,  welche  unter  der 
Armenverwaltung  steht  und  im  letzten  Betriebsjahre  allein 
78  000  Mark  gegenüber  der  Medizinaltaxe  ersparte,  veran- 
lassten  den  Stadtverordneten  Sonnemann,  in  der  Stadtver- 
ordnetenversammlung vom  7.  d.  Mts.  auch  für  Frank- 
furt a.  M.  die  Errichtung  einer  städtischen  Apotheke  an- 
zuregen. Die  Anregung  wurde  beifällig  aufgenommen  und 
es  sollen  nunmehr  Erhebungen  über  die  Erfahrungen  an- 
derer Städte  gemacht  werden.  Ebenso  hat  die  Stadt  Mainz 
beim  Staate  das  Recht  zum  Betriebe  einer  städtischen 
Apotheke  nachgesucht , die  namentlich  auch  der  Orts- 
krankenkasse dienen  soll.  Endlich  richtete  die  bayerische 
Stadt  Ludwigs hafen  dieser  Tage  dasselbe  Ersuchen  an 
die  Regierung,  um  die  Finanzen  des  städtischen  Kranken- 
hauses, der  Armenpflege  und  Krankenkassen  zu  entlasten. 
Man  kann  nur  wünschen , dass  diese  Städte  das  weit- 
gehendste Entgegenkommen  bei  ihren  Regierungen  finden 
und  dass  der  allein  rationelle  Regiebetrieb  der  Apotheken 
durch  Gemeinden  immer  weiter  um  sich  greift. 

Zur  Lage  der  irischen  Pächter  Der  Bericht  der  Kommission 
zur  Untersuchung  der  Lage  der  von  ihren  Grundstücken  ge- 
wiesenen Pächter  wurde  vor  Kurzem  dem  Unterhause  vorge- 
legt. Danach  sind  noch  884  Pächter  von  ihren  Grundstücken 
ausgewiesen,  ohne  dass  die  „Feldzugsplanliga“  eine  Einigung 
mit  den  Gutsbesitzern  hätte  herbeiführen  können.  Die  Kom- 
mission hält  diesen  Zustand  für  gefährlich  und  glaubt,  dass  die 
geringe  Anzahl  von  Verbrechen,  die  sich  auf  diesen  Gütern  zu- 
trugen, nur  der  Hoffnung  auf  eine  mögliche  Verständigung  zu- 
zuschreiben sei.  Sie  empfiehlt: 

1.  Die  Landkommission  soll  befugt  sein,  Streitigkeiten 
zwischen  den  Gutsbesitzern  und  den  ausgewiesenen  Pächtern 
beizulegen;  2.  wo  das  betreffende  Pachtgut  in  der  Verwaltung 
des  Gutsbesitzers  ist,  soll  der  frühere  Pächter  an  die  Kommission 
das  Ersuchen  um  Wiedereinsetzung  in  den  früheren  Besitz 
stellen  und  seine  hierauf  bezüglichen  Bedingungen  aussprechen 
dürfen,  worauf  der  Landlord  von  der  Kommission  um  Annahme 
derselben  resp.  um  seine  Gegenvorschläge  ersucht  werden 
würde;  3.  kommt  keine  freundliche  Einigung  zu  Stande,  so  hat 
die  Kommission  den  Pachtzins  oder  überhaupt  die  Bedingungen 
für  die  Wiedereinsetzung  des  Bittstellers  in  seinen  früheren 
Besitz  zu  bestimmen;.  4.  für  den  Fall  eines  solchen  Gesuches 
habe  der  Landbesitzer  das  Recht,  den  Ankauf  des  Pachtgutes 
zu  den  Bestimmungen  der  Landankaufsakte  (1891)  zu  verlangen. 
Der  Pächter,  der  darauf  nicht  eingeht,  verliert  sein  Recht  auf 
Wiedereinsetzung;  5.  die  Kommission  habe  das  Recht,  den 
Termin  für  die  Anzahlung  und  die  Ratenzahlungen  je  nach 
Umständen  festzusetzen;  6.  der  Gutsbesitzer  soll  für  die  rück- 
ständigen Pachtzinsen  bis  zum  Tage,  da  das  Ausweisungs- 
urtheil  gefällt  wurde,  eine  gerechte  Entschädigung  erhalten, 
von  dem  die  Hälfte  vom  Pächter  zu  bezahlen  oder  sicher  zu 
stellen  ist.  Drei  weitere  Items  geben  der  Kommission  das 
Recht,  Anleihen  aufzunehmen,  um  den  wieder  eingesetzten 
Pächtern  die  Ergänzung  oder  Beschaffung  von  Viehstand  u.  s.  w. 
zu  ermöglichen,  zu  hestimmen,  ob  der  gegenwärtige  oder  frühere 
Pächter  ein  grösseres  Interesse  am  Gute  habe,  und,  je  nachdem, 
jenen  in  seinen  früheren  Besitz  wieder  einzusetzen,  für  den 
andern  nach  den  Bestimmungen  der  Akte  von  1891  Land  anzu- 
kaufen. 


Arbeiterzustände. 


Bestrafte  Bettler  im  Königreich  Sachsen.  Der  wirth- 

schaftliche  Niedergang  der  letzten  Jahre  kommt  auch  in 
der  vom  Königreich  Sachsen  besonders  sorgfältig  geführten 
Statistik  bestrafter  Bettler  und  „Vagabunden“,  deren  vor- 
läufige Ergebnisse  soeben  veröffentlicht  werden,  zum  Aus- 
druck. Vom  Jahre  1888  auf  1891  ist  die  Ziffer  der  bestraften 
Personen  von  8458  auf  10  075,  von  1888  auf  1892  die  Ziffer 
der  Bestrafungsfälle  von  12  868  auf  18  297  gestiegen.  Die 
meisten  Bestrafungen  erfolgten  in  der  kalten  Jahreszeit,  wo 
die  Gewerbe-,  Verkehrs-  und  Bauthätigkeit  darniederliegt, 
was  auf  die  „Vagabunden“-Eigenschaft  der  Bestraften  auch 
hier  ein  bezeichnendes  Licht  wirft.  Auf  das  Sommerhalb- 
jahr 1891  entfielen  nur  5535,  auf  das  Winterhalbjahr  1891/92 
dagegen  nicht  weniger  als  1 1 699  Bestrafungsfälle,  also  bei- 
nahe die  doppelte  Anzahl.  Der  Antheil  weiblicher  Per- 
sonen ist  etwas  zurückgegangen,  betrug  aber  1891  immer  noch 


296 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  25. 


beinahe  4 pCt.  Ledig  waren  1891  etwa  70  pCt.  der  Bestraften, 
über  30  Jahre  alt  waren  59  pCt.;  man  sieht  also,  wie  sehr 
der  Umstand  mitspricht,  dass  die  besten  Kräfte  in  früh- 
zeitiger Arbeit  verbraucht  sind.  Die  Angaben  über  die 
Gebiirtigkeit  geben  einen  Begriff  von  der  Heimathlosigkeit 
des  modernen  Proletariers.  Von  den  1891  Bestraften  waren 
nur  44,7  pCt.  aus  Sachsen  selbst,  41,1  pCt.  aus  anderen 
deutschen  Bundesstaaten  und  nicht  weniger  als  14,1  pCt. 
stammten  aus  dem  Ausland.  Es  gehört  viel  Verständniss- 
losigkeit  und  Muth  dazu,  aus  diesen  Ziffern  Etwas  gegen 
die  Arbeiter  herauszulesen. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Organisationen  von  Staatsarbeitern.  In  der  Schweiz 
organisirten  sich  unlängst  die  Arbeiter  der  grossen  Waffen- 
fabriken von  Thun  und  die  Arbeiter  der  staatlichen  Insti- 
tute des  Kantons  Basel-Stadt.  In  Frankreich  sind  die  Arbeiter 
der  staatlichen  Tabackfabriken  trefflich  organisirt,  ebenso 
in  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika  die  Staatsarbeiter 
in  Massachusetts  schon  seit  längerer  Zeit.  Ihrem  Muster 
folgen  nun  die  Arbeiter  des  Staates  Nebraska.  Eine  Kon- 
vention von  Delegirten  der  .Gewerkschaften  von  Nebraska 
trat  am  19.  Februar  in  Omaha  (Nebraska)  zusammen.  Diese 
organisirten  einen  Nebraska  State  Labor  Kongress,  welcher 
den  Zweck  haben  soll,  in  jeder  Stadt  und  Ortschaft  im 
Staate  eine  Central  Labor  Union  zu  organisiren.  Eine  Kon- 
stitution und  Nebengesetze  ähnlich  denjenigen  der  Staats- 
Arbeiter-Organisation  von  Massachusetts  wurde  ange- 
nommen. 


Unternehmerverbände. 


Central  verband  Deutscher  Industrieller  und  Be- 
strafung des  Kontraktbruchs.  Das  Direktorium  des 
Centralverbandes  Deutscher  Industrieller  hat  in  Ausführung 
des  seitens  der  Delegirtenversammlung  am  4.  Februar  d.  J. 
gefassten  Beschlusses  unter  dem  24.  Februar  eine  Eingabe 
an  den  Reichskanzler  gerichtet,  welche  eine  Abänderung 
des  § 153  der  Gewerbeordnung  anstrebt  und  für  die  Be- 
strafung des  Kontraktbruchs  industrieller  Arbeiter  eintritt. 
In  Anknüpfung  an  die  bei  Berathung  der  Gewerbeordnungs- 
novelle von  1891  über  den  vom  Reichstag  abgelehnten  § 153 
der  Vorlage  abgegebenen  Erklärungen  wird  in  der  Eingabe 
ausgeführt: 

,,Die  in  der  Zwischenzeit  gemachten  Erfahrungen  haben 
die  Richtigkeit  der  seiner  Zeit  sowohl  von  den  verbündeten 
Regierungen  als  auch  seitens  der  Industrie  vertretenen  An- 
schauungen dargethan.  Ganz  besonders  haben  die  mit  Beginn 
dieses  Jahres  ausgebrochenen  Ausstände  der  Bergarbeiter  im 
Saar-  und  Ruhrgebiet  gezeigt,  dass  die  geltenden  Bestimmungen 
nicht  ausreichen,  die  Arbeiter  von  Niederlegung  der  Arbeit 
unter  Kontraktbruch  abzuhalten,  die  nicht  zum  Strike  geneigten 
Arbeiter  vor  Zwang  zu  schützen  und  den  gewerbsmässigen 
Agitatoren,  die  zwecks  Verallgemeinerung  entstehender  Aus- 
standsbewegungen zur  Niederlegung  der  Arbeit  unter  Kon- 
traktbruch auffordern,  das  Handwerk  zu  legen.  Wäre  es  möglich 
gewesen,  an  der  Hand  der  von  den  verbündeten  Regierungen 
in  § 153  vorgeschlagenen  Bestimmungen,  der  gewerbsmässigen 
Hetzarbeit  der  Agitatoren  rechtzeitig  entgegenzutreten  und  die 
Vergewaltigung  der  zur  Niederlegung  der  Arbeit  nicht  geneigten 
Arbeiter  wirksamer  zu  verhüten,  so  würde  es  aller  Voraussicht 
nach  gelungen  sein,  den  Ausstand  im  Keime  zu  ersticken,  zu 
verhindern,  dass  viele  tausend  Arbeiter  mit  ihren  Familien  in 
Noth  und  Verderben  gestürzt  wurden,  und  es  würde  auch  ein 
Uebergreifen  des  Strikes  in  das  Ruhrgebiet  nicht  stattgefunden 
haben.  Diese  Ansicht  gelangte  in  der  am  4.  Februar  er.  ab- 
gehaltenen Delegirtenversammlung  des  Centralverbandes  Deut- 
scher Industrieller  einstimmig  zum  Ausdruck.  Zwar  sind  bei 
den  erwähnten  letzten  Ausständen  einige  der  ärgsten  Schürer 
der  Unzufriedenheit,  welche  durch  ihre  netzerischen  Reden  die 
Arbeiter  zum  sofortigen  Niederlegen  der  Arbeit  unter  Kontrakt- 
bruch veranlassten,  schliesslich  verhaftet  und  an  der  Fortsetzung 
ihrer  unheilvollen  Thätigkeit  zeitweilig  verhindert  worden; 
indess  geschahen  diese  Verhaftungen  auf  Grund  von  Delikten, 
die  mit  den  Bestimmungen  der  Gewerbeordnung  in  keinem 


Zusammenhänge  standen,  theils  erwiesen  sie  sich  als  unhaltbar; 
unzweifelhaft  aber  ist,  dass  es  nach  dem  geltenden  Recht  un- 
möglich war,  jene  Hetzer  und  Agitatoren  trühzeitig  genug  un- 
schädlich zu  machen,  um  dadurch  der  ganzen  Bewegung  die 
Spitze  abzubrechen.  Diese  Erfahrungen  haben  dazu  gedient, 
in  den  Kreisen  der  Industrie  die  Ueberzeugung  zu  befestigen, 
dass  es  im  Interesse  der  Sicherheit  und  cler  gleichmässigen 
Entwickelung  der  gesammten  nationalen  Wirthschaft  nothwendig 
ist,  auf  die  seiner  Zeit  von  den  verbündeten  Regierungen  vor- 
geschlagenen Bestimmungen  des  § 153  der  Abänderung  zur 
Gewerbeordnung  zurückzukommen.  In  Konsequenz  dieser,  in 
der  erwähnten  Versammlung  der  Delegirten  des  Central  verbandes 
Deutscher  Industrieller  zum  Ausdruck  gelangten  Anschauung 
ist  das  ehrerbietigst  Unterzeichnete  Direktorium  von  der  Ver- 
sammlung beauftragt  worden,  an  Ew.  Excellenz  die  gehorsamste 
Bitte  zu  richten,  in  hochgeneigte  Erwägung  zu  nehmen,  ob  es 
sich  nicht  mit  Rücksicht  auf  die  in  den  letzten  Jahren  und  ins- 
besondere anlässlich  der  im  Saar-  und  Ruhrgebiete  letzthin  zum 
Ausbruch  gelangten  umfangreichen  Arbeiterausstände  gemachten 
Erfahrungen  empfiehlt,  im  Interesse  der  Sicherheit  und  der 
Existenz  unserer  gesammten  Industrie  schon  jetzt  die  seiner 
Zeit  in  § 153  des  Gesetzentwurfs,  betreffend  die  Abänderung 
der  Gewerbeordnung  gemachten  Vorschläge  wieder  aufzunehmen 
und  dem  Reichstage  eine  entsprechende  Vorlage  zu  unter- 
breiten.“ 

In  dieser  Eingabe  ist  doch  wenigstens  ehrlich  und 
offen  gesagt,  worauf  es  der  „Industrie“,  wie  sich  die  In- 
dustriellen nennen,  ankommt:  darauf,  mit  Hilfe  der  staat- 
lichen Gewalten  „die  Ausstände  im  Keime  zu  ersticken“. 
Das  Koalitionsrecht  der  Arbeiter  ist  den  Industriellen  also 
Etwas,  das  man  „ersticken“  muss,  wenn  es  ihnen  nicht 
passt.  Es  kommt  hinzu,  dass  diese  Eingabe  kurz  nach 
jener  Zeit  abgefasst  ist,  in  welcher  die  preussischen  Be- 
hörden ohnedies  in  Rheinland-Westfalen  gegen  die  striken- 
den  Bergarbeiter  vorgingen,  als  wenn  die  gesetzgeberischen 
Wünsche  der  Unternehmer  bereits  buchstäblich  erfüllt 
wären.  Man  wird  obige  Eingabe  wie  so  manches  Andere 
aus  den  letzten  Jahren  als  werthvolle  Urkunden  zur  Ge- 
schichte der  sozialen  Entwicklung  in  Deutschland  betrachten 
dürfen. 

Westfälisches  Kokessyndikat.  Dieser  Vorläufer  des 
vor  Kurzem  zu  Stande  gekommenen  Kohlenkartells  ver- 
öffentlicht soeben  seinen  zweiten  Jahresbericht  für  1892, 
der  namentlich  interessante  Einblicke  in  die  Wirkungen 
eines  Syndikats  auf  die  aussenstehenden  Unternehmungen 
thun  lässt.  Es  betrug  die  Kokeserzeugung  auf  den  Zechen 
und  Privatkokesanstalten  des  Oberbergamtsbezirks  Dort- 
mund im  Jahre  1892:  a)  bei  den  Syndikatsmitgliedern 

4 025  053  t,  b)  bei  den  5 ausserhalb  stehenden  Kokereien 
142  350  t (3,4  pCt.),  c)  auf  den  Kokereien  im  Hüttenbesitz 
393  581  t,  zusammen  4 560  984  t,  im  Werthe  von  rund  49'/2 
Millionen  Mark  gegen  4 388  010  t im  Werthe  von  5772  Mill. 
Mark  im  Vorjahre,  was  einer  Zunahme  von  172  974  t,  oder 
rund  4 pCt.  entspricht  gegenüber  einer  Werthsvermmderung 
von  rund  14  pCt.  Die  Verkaufsmenge  des  Syndikats  deckte 
sich  nach  dem  Bericht  vollständig  mit  der  Erzeugungs- 
menge der  kartellirten  Oefen.  In  Westfalen  sank  jedoch 
der  Absatz;  für  das  verflossene  Geschäftsjahr  und  die 
künftigen  proklamirt  der  Bericht  den  Grundsatz:  „Wir  sind 
dadurch  leider  gezwungen , auf  Aufträge  aus  unserer 
nächsten  Nähe  zu  besseren  Preisen  zu  verzichten,  und  Er- 
satz für  diesen  Ausfall  in  weiter  Ferne  im  Wettbewerb 
gegen  das  Ausland  unter  Gewährung  von  Fracht- 
ausgleichungen zu  suchen.“  Man  hatte  Produktions- 
einschränkungen vorgenommen,  welche  sich  bei  den  hohen 
Betheiligungsziffern  der  Mitglieder  nominell  im  Januar, 
Februar,  März  auf  20,  April,  Mai,  Juni  15,  Juli,  August, 
September,  Oktober,  November,  Dezember  20  pCt.  beliefen, 
in  Wirklichkeit  aber  im  Jahresdurchschnitt  13  pCt.  der  Be- 
theiligungstonnenzahl betrugen.  Doch  fruchtete  dies  Nichts; 
das  Syndikat  muss  40  pCt.  seiner  Erzeugung  zu  billigen 
Preisen  ins  Ausland  verschleudern  und  dadurch  die  aus- 
wärtige Konkurrenz  der  deutschen  Metallindustrie  unter- 
stützen. Die  Zahl  der  im  Syndikat  vereinigten  Kokesöfen 
betrug  zu  Ende  1891:  5966,  darunter  626  Oefen  mit  Neben- 
produktengewinnung.  Im  Jahre  1892  traten  hinzu  338  neu- 
erbaute Kokesöfen,  so  dass  die  Gesammtzahl  daher  Ende 
1892:  6304  beträgt.  Die  Jahresrechnung  weist  eine  Unter- 
bilanz von  77  319,85  M.  auf;  es  konnte  daher  zur  Schaffung 
eines  Reservefonds  nicht  geschritten  werden. 


No.  25. 


SOZIA!  .POLITISCHES  CENTRALBLATT. 


297 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Zur  Sonntagsruhe  in  der  deutschen  Industrie  und  im 
Handwerk.  Von  der  Gewerbeordn ungsnovelle  von  1891  sind 
bekanntlich  die  Bestimmungen  über  die  Sonntagsruhe  in  In- 
dustrie und  Handwerk  noch  nicht  zur  Durchführung  gebracht. 
Nachdem  von  der  zuständigen  Reichsbehörde  eine  Zusammen- 
stellung derjenigen  Arbeiten  der  einzelnen  Berufszweige,  welche 
von  den  Sonntagsruhebestimmungen  gänzlich  oder  unter  gewissen 
Bedingungen  ausgenommen  werden  sollen,  angefertigt  worden, 
war  dieselbe  den  Einzelregierungen  zur  Begutachtung  unter- 
breitet worden.  Sobald  diese  Gutachten  sämmtlich  eingelaufen 
sein  werden,  wird  zur  Vernehmung  von  Sachverständigen  ge- 
schritten werden.  Lind  zwar  dürfte  sich  die  letztere  so  gestalten, 
dass  immer  nur  von  denjenigen  Berufszweigen,  bei  welchen  sich 
bezüglich  der  Ausnahmebewilligungen  Bedenken  erhoben  haben, 
Vertreter  zu  Konferenzen  im  Reichsamt  des  Innern  nach  Berlin 
berufen  werden,  in  denen  zur  Aufklärung  über  diese  Bedenken 
geschritten  werden  soll.  Die  Konferenzen  dürften  auf  verschie- 
dene Termine  verlegt  werden  und  zwar  soll  die  Absicht  be- 
stehen, sie  in  der  Reihenfolge  der  Gruppen  der  Berufsstatistik 
abzuhalten.  Mit  der  Abhaltung  der  ersten  Konferenz  dürtte 
schon  in  naher  Zeit  vorgegangen  werden. 

Petitionen  zur  Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe.  Unter 
den  beim  Reichstage  eingegangenen  und  der  Petitionskommission 
zur  weiteren  Beschlussfassung  übergebenen  Petitionen  befinden 
sich  61  die  Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe  betreffende,  7 der- 
selben wünschen  die  Erhaltung,  bez.  Verschärfung  der  gesetz- 
lichen Bestimmungen.  Die  übrigen  Petitionen,  von  denen  nur 
sehr  wenige  von  einzelnen  Personen,  die  weit  überwiegende 
Mehrzahl  von  Vereinen,  Verbänden  oder  einer  Vielzahl  von  Ge- 
schäftstreibenden  ausgehen,  erbitten  im  Wesentlichen  Milde- 
rungen der  im  Gesetz  enthaltenen  Bestimmungen , für  den  Ge- 
schäftsbetrieb günstigere  Verlegung  der  freigegebenen  Stunden 
oder  Verlängerung  der  letzteren,  ferner  Ermächtigung  der  Ge- 
schäftsinhaber, selbst  oder  deren  Angehörigen  zum  Verkauf  im 
Laden  im  früheren  LTmfange,  Freigebung  der  für  den  Quartals- 
ersten folgenden  Sonntagen,  oder  Freigabe  der  Dezember- 
sonntage. Um  Wiederaufhebung  des  Gesetzes  resp.  völlige 
Freigebung  des  gesammten  Ladenverkaufs  wird  in  6 Petitionen 
gebeten,  und  4 Petitionen  verlangen  ausser  den  erbetenen  Aende- 
rungen  betreffs  der  Sonntagsruhe  noch  eine  besondere  Be- 
steuerung oder  Beschränkung  des  Hausirgewerbes.  Als  be- 
sondere Kategorien  von  Gewerbetreibenden  sind  unter  den 
Petenten  vertreten:  Cigarrenhändler,  Konditoren,  Blumenhändler 
und  Kunstgärtner,  Bäcker,  Metzger,  Inhaber  von  Trinkhallen, 
Gemüse-,  Milch-  und  Kohlenhändler,  Bahnhofsbuchhändler,  In- 
haber von  Automaten  schliesslich  in  grosser  Zahl  Inhaber  von 
kleinen  Verkaufsläden,  die  ihr  Geschäft  selbst  betreiben  und 
sich  durch  die  Bestimmung  des  § 41  a des  Gesetzes  in  be- 
sonderem Masse  in  ihrem  Erwerb  geschädigt  fühlen.  LTnter  den 
vielfachen,  in  den  Petitionen  kundgegebenen  Beschwerden 
nehmen  einen  besonderen  Raum  ein  die  Klagen  aus  kleineren 
Landstädten  mit  vorzugsweise  ländlicher  Kundschaft  über  den 
Rückgang  der  Geschäftsthätigkeit,  insofern  die  Landbewohner- 
schaff durch  das  zu  frühzeitige  Ende  der  Geschäftsstunden  fast 
ganz  behindert  sei,  ihren  Bedarf  bei  städtischen  Gewerbetreiben- 
den zu  decken  und  darum  entweder  den  Hausirern  in  die  Hände 
falle  oder;  in  der  Landesgrenze  nahe  gelegenen  Gegenden  ihren 
Verkehr  in  das  Ausland  lenke.  Der  zur  Verhandlung  in  der 
Kommission  hinzugezogene  Regierungskommissar  Regierungs- 
rath Werner  gab,  über  die  Ansichten  der  verbündeten  Regie 
rungen  hinsichtlich  der  über  die  Sonntagsruhe  laut  gewordenen 
Beschwerden  befragt,  die  Erklärung  ab:  Eine  Erhöhung  der  in 
der  Gewerbeordnung  festgesetzten  Maximalzeit  von  5 Stunden 
für  die  Sonntagsarbeit  im  Handelsgewerbe,  wie  sie  von  ein- 
zelnen der  vorliegenden  Petitionen  gewünscht  werde,  sei  aus- 
geschlossen. Dazu  bedürfe  es  einer  Abänderung  des  Gesetzes, 
zu  welcher  eine  Veranlassung  nicht  anerkannt  werden  könne 
Die  übrigen  Petitionen,  welche  im  Rahmen  des  Gesetzes  eine 
andere  Gestaltung  der  Sonntagsruhe  durch  Verlegung  der  frei 
gegebenen  Stunden  erstrebten,  wären  zweckmässig  an  die  zu- 
ständigen bundesstaatlichen  Regierungen  zu  richten  gewesen, 
da  die  Ausführungsbestimmungen  nicht  Sache  der  Reichs- 
behörden, sondern  der  Behörden  in  den  Einzelstaaten  sei. 

In  der  Kommission  war  man  einstimmig  der  Ansicht 
worauf  wiederholt  hingewiesen  worden  ist,  dass  eine  nam- 
hafte Zahl  der  kundgegebenen  Klagen  sich  schon  durch  eine 
Verlegung  der  für  die  Geschäftsthätigkeit  frei  gegebenen 
Stunden  beseitigen  lasse.  Es  wurde  daher  beschlossen, 
dem  Reichskanzler  die  Petitionen  zur  Kenntnissnahme  zu  über- 
reichen, um  daraus  Veranlassung  zu  nehmen,  die  Regierungen 
der  Einzelstaaten  auf  die  einzelnen  Beschwerdepunkte  hinzu- 
weisen. 

Zur  P rage  der  Arbeitsordnungen.  In  einer  Verfügung 
vom  18.  Februar  hat  der  Minister  für  Handel  und  Gewerbe  aus- 
geführt, dass  die  Aufnahme  einer  Bestimmung  in  die  Arbeits- 
ordnung, wonach  die  Arbeit  Morgens  zwischen  6 und  8 Uhr 
beginnt  und  Abends  zwischen  7 und  9 Uhr  endet,  mit  der  Vor- 
schrift im  § 134  b Ziffer  1 der  Gewerbeordnung  nicht  vereinbar 


sei.  Wenn  dort  angeordnet  werde,  dass  die  Arbeitsordnung 
Bestimmungen  über  Anfang  und  Ende  der  regelmässigen  täg- 
lichen Arbeitszeit,  sowie  der  für  die  erwachsenen  Arbeiter  vor- 
gesehenen Pausen  enthalten  muss,  so  verfolge  diese  Vorschrift 
den  Zweck,  jeden  Zweifel  über  einen  der  wesentlichsten  Theile 
des  Arbeitsvertrages,  die  Dauer  und  die  Lage  der  regelmässigen 
Arbeitszeit,  auszuschliessen.  Dieser  Zweck  werde  aber  nur  er- 
reicht, wenn  für  Beginn  und  Ende  der  Arbeitszeit  bestimmte 
Zeitpunkte  festgesetzt  werden  Wenn  Dauer  und  Lage  der 
Arbeitszeit  nach  den  Jahreszeiten  zu  wechseln  pflegen,  so  hindere 
nichts,  dass  die  Zeitpunkte  für  Beginn  und  Ende  der  Arbeitszeit 
nach  den  Jahreszeiten  verschieden  angegeben  werden.  Auch 
bleibe  es  dem  Arbeitgeber  unbenommen,  in  der  Arbeitsordnung 
Bestimmungen  darüber  zu  treffen,  unter  welchen  Voraussetzungen 
ausnahmsweise  Abweichungen  von  der  regelmässigen  Dauer  und 
La^e  der  Arbeitszeit  sollen  stattfinden  können.  Die  von  einer 
Seite  aufgeworfene  Frage,  ob  eine  Bestimmung,  wonach  Zuspät- 
kommen mit  einer  Geldstrafe  bis  zu  75  Pfg.  oder  bis  zur  Hälfte 
des  durchschnittlichen  Arbeitsverdienstes  bestraft  wird,  trotz  der 
Unbestimmtheit  der  Strafandrohung  mit  der  Vorschrift  im  § 134b 
Ziffer  4 der  Gewerbeordnung  vereinbar  sei,  sei  zu  bejahen.  Denn 
nach  der  Absicht  des  Gesetzes  erscheine  es  genügend,  dass  in 
der  Arbeitsordnung  nur  der  Höchstbetrag  der  Strafe  festgesetzt, 
die  Bemessung  der  letzteren  im  Einzelfalle  aber  dem  Arbeit- 
geber überlassen  wird 

Arbeitererinnenschutz  in  der  Schweiz.  Das  „schwei- 
zerische Nationalkomitee  des  internationalen  Bundes  der 
Freundinnen  Junger  Mädchen“  richtet  an  die  Bundesver- 
sammlung ein  Gesuch  um  Revision  des  Artikels  31  der 
Bundesverfassung  in  dem  Sinne,  dass  dem  Bund  die  Gesetz- 
gebung- über  das  Wirthschaftswesen  zustehen  soll.  Die 
Eingabe  verlangt  namentlich  die  Berücksichtigung  der 
Kellnerinnen  im  Ruhetags-  oder  im  Fabrikgesetz,  Schliessung 
der  Wirthschaften  an  Sonntag  - Vormittagen  und  frühere 
Schliessung  derselben  des  Nachts;  endlich  eine  Erhöhung 
des  Alters  für  die  Zulassung  zum  Kellnerinnenberuf.  Bis- 
her waren  die  Kellnerinnen  in  der  Schweiz  nur  durch 
Spezialgesetze  einzelner  Kantone  geschützt,  wodurch  aber 
der  bundesgesetzlichen  Regelung  vorgearbeitet  wurde. 

Eine  Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes  auf  alle  dem 
Fabrikgesetze  nicht  unterstellten  Arbeiterinnen  wird  in  einer 
Eingabe  an  die  parlamentarischen  Vertretungskörper  seitens 
des  Centralkomitees  des  Verbandes  schweizerischer  Ar- 
beiterinnenvereine verlangt. 


Gewerbeinspektion. 


Zur  Fabrikaufsicht  (1er  Berufsgenossenschaften.  An 

der  Hand  vieler  Einzelheiten  ist  schon  oft  dargelegt  worden, 
wie  ungenügend  die  Fabrik-  und  Unfallverhütungsaufsicht 
der  deutschen  Unfallberufsgenossenschaften  ist  und  sein 
muss,  weil  sie  von  den  Unternehmern  ausgeht.  Nachdem 
nun  das  Reichsversicherungsamt  eine  Verbesserung  dieser 
Aufsicht  angeregt  hat,  schreibt  man  der  „Voss.  Zeitung“, 
offenbar  aus  Kreisen  der  Berufsgenossenschaften  selber, 
Folgendes: 

„Die  von  dem  Reichsversicherungsamt  in  neuester  Zeit  in 
Anregung  gebrachte  Ueberwachung  der  Betriebe  durch  Mit- 
glieder der  "Berufsgenossenschaften  selbst  dürfte  in  der  Praxis 
nach  den  bisherigen  Erfahrungen  wenig  Anklang  finden.  Es  ist 
zwar  richtig,  dass  gerade  die  Mitglieder  sehr  geeignet  und  ver- 
möge ihrer  Sachkenntnis  berufen  sind  sich  untereinander  zu 
überwachen;  doch  werden  die  Vorstände  im  Prinzip  auf  ein 
solches  Ansinnen  nicht  eingehen,  weil  ein  derartiges  Vorgehen 
1 das  Gegeneinanderbringen  von  unmittelbaren  Konkurrenten  und 
damit  eine  Art  von  Denunziantenthum  leicht  bewirken  könnte. 
So  viel  bekannt  geworden,  hat  denn  auch  schon  eine  grössere 
Berufsgenossenschaft  im  ablehnenden  Sinne  Stellung  genommen, 
; obschon  es  bei  den  Bauberufsgenossenschaften  beispielsweise 
vorkommt,  dass  die  Mitglieder  bei  der  Aufdeckung  nicht  ange- 
meldeter Betriebe  sich  thätig  erweisen.  Das  Reichsversiche- 
rungsamt  wird  daher  über  kurz  oder  lang  andere  Vorschläge  zur 
besseren  Ueberwachung  der  Betriebe  wohl  in  Anregung  bringen, 
da  auch  die  weitergehende  Vermehrung  der  Beauftragten,  die  an 

Gehalt  und  Reisespesen  etwa  je  9000  M.  erfordern,  zu  grosse 
Kosten  verursacht.“ 

„Bessere“  Vorschläge  innerhalb  des  berufsgenossen- 
schaftlichen Prinzipes  lassen  sich  aber  eben  nicht  machen; 
man  muss  auch  aus  Gründen  der  Kostspieligkeit  mit  diesem 
selbst  brechen. 


298 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  25. 


Arbeiterversicherung. 

Die  Altersrentenempfänger  von  1891. 

Das  Rechnungsbiireau  des  Reichsversicherungsamts 
hat  eine  Anzahl  von  Tabellen  zusammengestellt,  welche  den 
Zweck  verfolgen,  auf  Grund  des  dieser  Behörde  vorliegen- 
den Materials  näheren  Aufschluss  über  den  Kreis  derjenigen 
Personen  zu  geben,  welche  im  ersten  Jahre  nach  dem  In- 
krafttreten des  Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetzes 
in  den  Genuss  der  Altersrente  gelangt  sind.  Wir  dürfen 
diese  Arbeit  wohl  als  die  erste  Lieferung  einer  nunmehr 
alljährlich  zu  erwartenden  Statistik  ansehen,  die  uns  un- 
zweifelhaft mit  der  Zeit  recht  wichtige  und  dankenswerthe 
Aufschlüsse  geben  wird,  während  natürlich  die  Ergebnisse 
eines  Jahres,  zumal  des  ersten,  in  mehrfacher  Beziehung 
unter  Ausnahmeverhältnissen  stehenden,  nur  von  unterge- 
ordneter Bedeutung  sind.  Gerade  von  diesem  Gesichts- 
punkte aus  haben  wir  gegen  die  Statistik  pro  1891  als  das 
Anfangsglied  einer  späteren  Reihe  von  Jahresstatistiken 
einige  Ausstellungen  zu  erheben. 

In  die  Uebersichten  sind  alle  diejenigen  Renten,  welche 
in  dem  betreffenden  Jahre  endgültig  bewilligt  wurden,  auf- 
genommen , diejenigen  aber  ausgeschlossen , hinsichtlich 
dener  das  Festsetzungs verfahren  noch  nicht  zum  Abschluss 
gelangt  war.  Dagegen  wird  nichts  zu  erinnern  sein.  Das 
Material  gewinnt  durch  diese  Scheidung  an  Zuverlässigkeit. 
Zwar  werden  so  die  Rentenanträge  eines  Jahres  in  minde- 
stens zwei  Abtheilungen  zerrissen,  und  das  ist  gerade  mit 
Rücksicht  auf  die  Sonderung  der  Rentenempfänger  nach 
Altersklassen  immerhin  eine  Unbequemlichkeit,  während  es 
zum  Beispiel  bei  der  Invalidenrente  weniger  in  Betracht 
käme.  Aber  der  Fehler  wird  sich  später  durch  Kombination 
mehrerer  Jahresergebnisse  leicht  verbessern  lassen,  mag 
also  mit  in  den  Kauf  genommen  werden.  Vollkommen  un- 
erfindlich ist  es  aber,  weshalb  nun  nicht  wirklich  die  Er- 
gebnisse eines  vollen  Jahres,  sondern  nur  die  bis  zum 
1.  Dezember  1891  rechtskräftig  bewilligten  Renten  der  Be- 
arbeitung zu  Grunde  gelegt  sind,  und  wir  erfahren  auch 
nicht,  aus  welchem  Grunde  das  geschehen  sein  mag.  Es 
macht  den  Eindruck,  als  habe  die  Arbeit  zu  einem  be- 
stimmten Termin  — etwa  für  die  Chicagoer  Ausstellung  — 
fertig  sein  müssen,  und  als  habe  man  eben  verarbeitet,  was 
bis  dahin  vorlag.  Das  wäre  eine  Erklärung,  aber  keine 
Entschuldigung.  Diese  Elfmonatsstatistik  mag  ja,  für  sich 
allein  betrachtet,  nicht  ganz  werthlos  sein,  aber  da  nun 
doch  einmal  das  Jahr  die  übliche  Zeiteintheilung  ist,  hat 
man  damit  etwas  geschaffen  , was  zu  Vergleichen  nicht 
geeignet  ist,  und  wenn  es  gleichwohl  dazu  verwendet  wird, 
nothwendig  zu  falschen  Resultaten  führen  muss. 

Man  hat  davon  abgesehen , die  Ziffern  der  Renten- 
empfänger zu  den  Gesammtzahlen  der  Versicherten  oder 
der  Lebenden  überhaupt  in  Verhältniss  zu  setzen,  obwohl 
hierdurch  erst  die  Uebersichten  eine  erhöhte  Bedeutung 
gewonnen  hätten,  für  die  Beurtheilung  der  Sterblichkeits- 
und Invaliditätsverhältnisse  in  den  verschiedenen  Berufs- 
gruppen verwTerthbar  geworden  wären.  Das  ist  damit  be- 
gründet, dass  eine  solche  Vergleichung  ein  näheres  Ein- 
gehen auf  Details  erfordert  hätte,  als  es  für  diese  vorläufige 
Zusammenstellung  möglich  war,  und  dass  die  Gesammtzahl 
der  versicherungspflichtigen  Personen  vorläufig  nur  inner- 
halb grosser  Fehlergrenzen  bekannt  ist  Das  heisst:  man 
hatte  keine  Zeit  und  kein  Material.  Jeder  dieser  Gründe 
für  sich,  zumal  der  letztere,  würde  die  geübte  Enthaltsam- 
keit genügend  rechtfertigen;  eine  genaue  Bearbeitung  des 
Materials  auch  in  dieser  Richtung  wird  übrigens  für  die 
Zukunft  in  Aussicht  gestellt.  Dass  man  davon  absah,  solange 
man  für  das,  was  man  bot,  nicht  in  jeder  Beziehung  ein- 
stehen zu  können  glaubte,  ist  gewiss  nur  zu  loben.  Um  so 
bedauerlicher  bleibt  es,  dass  man  in  anderer  Beziehung 
weit  weniger  vorsichtig  verfahren  ist. 

Die  Veröffentlichung  des  Reichsversicherungsamts 
giebt  auch  eine  Anzahl  von  Daten  über  den  durchschnitt- 
lichen Jahresarbeitsverdienst  der  Rentenempfänger,  nach 


deren  Geschlecht,  Beruf,  Alter,  Wohnort  und  nach  den 
einzelnen  Versicherungsanstalten  geordnet.  Nun  soll  an 
sich  nicht  bestritten  werden,  dass  auch  hier  sich  werden 
Daten  ermitteln  lassen,  die  lohnstatistisch  verwerthbar 
sind,  wiewohl  man  immer  nur  Durchschnittszahlen  wird 
geben  können,  die  ihren  eigentlichen  Werth  doch  erst  er- 
halten, wenn  sie  durch  das  Verhältniss  der  hier  betrach- 
teten zu  der  Gesammtzahl  der  Lohnempfänger  kontrollirt 
werden  — eine  Vergleichung,  auf  die  hier  aus  so  guten 
Gründen  verzichtet  worden  ist.  Weit  zweifelhafter  muss 
es  erscheinen,  ob  denn  die  Rentenfeststellungsbescheide, 
auf  Grund  deren  die  Zusammenstellungen  gefertigt  sind, 
wirklich  Material  enthalten,  um  daraus  auch  solche  An- 
gaben entnehmen  zu  können.  Und  sieht  man  nun  näher 
zu,  wie  das  zu  Stande  gebracht  ist,  so  ergiebt  sich,  dass 
diese  Ziffern  leider  so  gut  wie  gar  keinen  Werth  haben. 

Das  ist  nämlich  so  gemacht  worden.  Zunächst  hat 
man  die  Rentenempfänger  in  vier  Lohnklassen  eingetheilt. 
Diese  Eintheilung  ist  als  dauernde  Grundlage  einer  statisti- 
schen Aufnahme  absolut  unbrauchbar  und  bedeutet  etwas 
ganz  anderes,  als  man  nach  der  Bezeichnung  vermuthen 
sollte.  Jeder  Arbeiter  gehört  einer  der  vier  Lohnklassen 
an,  aber  wechselnd,  heute  der  einen,  morgen  der  anderen, 
und  nach  dem  Gesammtergebniss  der  während  der  ganzen 
30  jährigen  Wartezeit  verdienten  Löhne  bestimmt  sich  dann 
die  Höhe  seiner  Altersrente.  Man  kann  also  nicht  sagen, 
dass  es  Altersrenten  der  vier  Lohnklassen  gebe,  wie  sie 
etwa  in  den  Gesetzeskommentaren  als  Probeexempel  aus- 
gerechnet sind,  sondern  es  giebt  unzählige  Kombinationen 
und  Uebergänge.  Die  Voraussetzung  jener  Normalexempel, 
dass  ein  Arbeiter  unverändert  derselben  Lohnklasse  ange- 
hört hat,  wird  eben  im  praktischen  Leben  doch  nur  dann 
und  wann  zutreffen.  Nur  während  der  Uebergangszeit 
wird  für  die  vorgesetzliche  Beschäftigung  ein  Durchschnitts- 
lohn ermittelt  und  der  Rentenberechnung  zu  Grunde  ge- 
legt. Im  ersten  Jahre  werden  die  bewilligten  Renten  also 
ungefähr  jenen  „Normalrenten“  entsprechen,  mit  jedem 
folgenden  Jahre  immer  weniger,  weil  der  Einfluss  der  nach- 
gesetzlichen Beschäftigung  auf  die  Rentenhöhe  immer  mehr 
zunimmt.  Für  das  Jahr  1891  also  hat,  so  verstanden,  die 
Eintheilung  der  Renten  nach  Lohnklassen  eine  gewisse  Be- 
rechtigung; in  Wirklichkeit  bedeutet  sie  aber  nichts  anderes, 
als  wenn  man  etwa  sagen  wollte:  Renten  bis  120,  von 

120  -150,  von  150  -180,  über  180  M. 

Aus  dieser  Lohnklasseneintheilung  hat  man  dann  aber 
noch  weitere  Folgerungen  gezogen;  man  hat  sich  nämlich 
berechtigt  gehalten,  nur  die  in  § 23  des  Gesetzes  für  die 
einzelnen  Klassen  aufgestellten  Durchschnittslohnsätze  in 
die  Rechnung  einzuführen.  Diese  Sätze  sind  in  das  Gesetz 
nur  zu  einem  ganz  bestimmten  Zweck  aufgenommen,  näm- 
lich um  bei  der  Ermittelung  desjenigen  Mindestbetrages 
benutzt  zu  werden,  den  der  Arbeiter  noch  muss  verdienen 
können,  um  nicht  für  erwerbsunfähig  zu  gelten.  Anzu- 
nehmen, dass  diese  sogenannten  Durchschnittssätze,  die 
durchaus  nicht  etwa  das  arithmetische  Mittel  aus  dem 
Höchst-  und  Mindestlohnbetrage  der  einzelnen  Klasse  dar- 
stellen, auch  geeignet  wären,  als  Grundlage  für  wirkliche 
Durchschnittsberechnungen  der  Lohnsätze  zu  dienen,  das 
ist  dem  Gesetzgeber  garnicht  eingefallen,  und  das  zu  thun 
sollte  auch  jeder  andere  wohl  Bedenken  tragen.  Wissen- 
schaftlichen Werth  haben  also  die  auf  diese  Weise  er- 
mittelten Zahlen  überhaupt  nicht.  Sollen  diese  Zusammen- 
stellungen auf  das  Jahr  1891,  wo  sie  noch  annähernd  zu- 
treffen mögen,  beschränkt  bleiben,  so  sind  sie  nicht  viel 
mehr  als  eine  Zahlenspielerei;  vor  einer  Fortführung  der- 
selben für  die  folgenden  Jahre  aber  möchten  wir  dringend 
warnen. 

Hiervon  abgesehen  kann  es  nur  mit  Befriedigung  be- 
grlisst  werden,  dass  das  Reichsversicherungsamt  ent- 
schlossen ist,  das  reichhaltige  und  werthvolle  Material, 
welches  sich  in  seinen  Btireaus  versammelt,  in  einer  sach- 
verständigen und  zuverlässigen  Bearbeitung  auch  der 
Oeffentlichkeit  zugänglich  und  nutzbar  zu  machen.  Auf 
die  ziemlich  umfangreichen  Tabellen  im  Einzelnen  einzu- 
1 gehen,  halten  wir  noch  für  verfrüht.  Dazu  wird  es  dann 


No.  25. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


299 


an  der  Zeit  sein,  wenn  die  Ergebnisse  mindestens  für  ein 
weiteres  Jahr  vorliegen  und  eine  Vergleichung  gestatten. 
Nur  zwei  Punkte  wollen  wir  noch  kurz  berühren. 

Vielfach  ist  bereits  konstatirt  worden,  dass  die  Zahl 
der  Altersrentner  im  Jahre  1891  (126  397)  eine  über  alle  Er- 
wartungen grosse  geworden  ist.  Man  hat  daraus  einerseits 
Bedenken  gegen  die  Richtigkeit  der  finanziellen  Grundlage, 
auf  welcher  die  ganze  Institution  ruht,  andererseits  weit- 
gehende Folgerungen  speziell  in  Bezug  auf  die  Wichtig- 
keit der  Altersversicherung,  die  man  doch  erheblich  unter- 
schätzt habe,  herleiten  zu  sollen  geglaubt.  Beides  und 
jedenfalls  das  Letztere  würde  aber  doch  nur  dann  be- 
rechtigt sein,  wenn  feststände,  dass  man  es  hier  nicht  mit 
einer  nur  vorübergehenden  Erscheinung  zu  thun  hat.  Es 
haben  sich  in  der  That  erstaunlich  viele  Personen  von  über 
70  Jahren  gefunden,  die  noch  erwerbsfähig  sind  — oder 
vielmehr,  die  noch  für  erwerbsfähig  erklärt  worden  sind. 
Dass  das  nicht  immer  dasselbe  ist,  und  weshalb  nament- 
lich auch  die  Lokalinstanzen  einer  „wohlwollenden“  An- 
wendung des  Gesetzes  geneigt  sind,  werden  wir  hier  nicht 
zu  erörtern  brauchen.  Dieses  Wohlwollen  wird  andauern, 
aber  seine  Folgen  werden  sich  ändern.  Vorläufig  führt  es 
dazu,  die  Zahl  der  Altersrentner  zu  vermehren,  weil  es  sich 
nur  darum  handeln  konnte,  entweder  die  Altersrente  oder 
garnichts  zu  erhalten.  Später  handelt  es  sich  um  die  Wahl 
zwischen  Alters-  und  Invalidenrente,  und  dann  wird  dieses 
nämliche  Wohlwollen  dazu  führen,  die  Zahl  der  Alters- 
rentner zu  vermindern  und  die  der  Invaliden  zu  erhöhen. 

Auch  wenn  man  dieses  Moment  der  Lfnsicherheit 
ausser  Acht  lässt,  kann  die  künftige  Entwickelung  nur  sehr 
annähernd  und  überschläglich  geschätzt  werden.  Um  den 
zu  erwartenden  Jahreszugang  zu  berechnen,  wird  man  das 
Geburtsjahr  1821,  weil  es  in  den  Listen  erst  theilweise  ent- 
halten ist,  ausser  Betracht  lassen  müssen.  Die  Zahl  der 
Rentenempfänger  aus  1820  beläuft  sich  auf  22  635.  Diese 
Ziffer  wird  man  etwas  zu  erhöhen  haben,  weil  im  Dezember 
doch  noch  einige  Fälle  erledigt  sein  mögen  — ein  volles 
Zwölftel  wäre  natürlich  viel  zu  hoch  — , man  wird  sie  ferner 
zu  erhöhen  haben,  weil  sie  ja  die  Ziffer  des  Jahres  1821 
ersetzen  soll,  mithin  die  im  Laufe  eines  Jahres  Verstorbenen 
noch  zuzusetzen  sind,  und  man  wird  endlich  auf  etwaige 
Nachzügler  aus  den  Vorjahren  Rücksicht  zu  nehmen  haben. 
Unter  Berücksichtigung  aller  dieser  Momente  wird  der 
Jahreszugang  aut  ca.  25  000  Köpfe  zu  veranschlagen  sein, 
der  dann  eine  Vermehrung  nur  nach  Massgabe  der  Zu- 
nahme der  Bevölkerungszifier  erfahren  würde.  Der  Jahres- 
abgang  durch  Tod  ist  nach  den  Ergebnissen  eines  einzigen 
Jahres  kaum  zu  schätzen.  Nimmt  man  die  Zahlendifferenzen 
des  einen  Jahres  als  typisch  an,  und  vertheilt  man  die 
Sterblichkeit  gleichmässig  auf  die  einzelnen  Jahre  beides 
ist  natürlich  ungenau  — so  mag  man  ihn  auf  - 13 — 15  000 
annehmen;  das  würde  also  einen  Nettozuwachs  von  10  bis 
12  000  = ca.  10  pCt.  der  ersten  Jahresziffer  ergeben.  Dazu 
kommt  dann  aber  noch  der  einstweilen  ganz  unkontrollir- 
bare,  von  Jahr  zu  Jahr  an  Bedeutung  zunehmende  Abgang 
durch  LTebertritt  in  die  Zahl  der  Empfänger  von  Inva- 
lidenrente. 


Zur  Reform  der  berufsgenossenschaftlichen 
Schiedsgerichte. 

Bei  der  Berathung  des  Reichshaushaltsetats  im  Reichs- 
tage kam  vor  kurzem  ein  Fall  zur  Sprache,  in  dem  ein 
berufsgenossenschaftliches  Schiedsgericht  die  Entscheidung 
einer  Berufung  ungebührlich  verzögert  hatte  — mit  der 
Begründung,  dass  erst  mehr  Fälle  aufgelaufen  sein  müssten, 
bis  das  Schiedsgericht  zusammenberufen  werden  könnte. 
Dieses  Verfahren  wurde  auch  vom  Staatsminister  von  Böt- 
ticher verurtheilt.  Der  Minister  gab  dabei  einen  Theil  der 
Schuld  den  bestehenden  Gesetzen  und  äusserte  u.  A.:  „Wir 
sind  ja  bei  'der  Unfallversicherung  davon  ausgegangen,  dass 
es  sich  empfehle,  die  Entscheidungen  abgeben  zu  lassen 
durch  Berufsgenossen  der  betreffenden  Arbeiter,  die  bei  den 


Rentenansprüchen  in  Frage  kommen;  und  dadurch  ist  es 
gekommen,  dass  einzelne  von  den  Schiedsgerichten,  die  wir 
gebildet  haben,  ausserordentlich  wenig  zu  thun  haben,  dass 

hier  ein  Arbeitsmangel  eintritt Wenn  wir  uns  über 

die  Novelle  zum  Unfallversicherungsgesetz,  die  ja  jetzt  im 
ersten  Entwürfe  fertiggestellt  ist,  demnächst  unterhalten 
werden,  werden  wir  auch  über  diese  Frage  zu  sprechen 
haben  und  werden  vielleicht  dazu  kommen,  einer  anderen 
Einrichtung  den  Vorzug  zu  geben,  bei  der  die  einzelnen 
Schiedsgerichte  einen  grösseren  Geschäftskreis  erhalten  und 
ihre  Sitzungen  in  kürzeren  Zeitabschnitten  abhalten 
können“. 

Hiernach  gewinnt  es  den  Anschein,  als  habe  die  Re- 
gierung doch  die  Absicht,  eine  etwas  weiter  gehende  Re- 
form der  Unfallversicherungsgesetzgebung  in  Anregung  zu 
bringen,  als  man  bisher  annehmen  musste.  Denn  man  kann 
aus  den  Andeutungen  des  Ministers  von  Bötticher  wohl 
nur  schliessen,  dass  man  den  Schiedsgerichten  den  eng 
berufsgenossenschaftlichen  Charakter  nehmen  und  ihre 
Wirksamkeit  auf  sämmtliche  oder  wenigstens  eine  grössere 
Anzahl  von  Berufsgenossenschaften  für  einen  bestimmten 
Bezirk  ausdehnen  will.  Der  Minister  macht  mit  Recht  ge- 
rade die  berufsgenossenschaftliche  Beengtheit  der 
Schiedsgerichte  für  die  gerügten  Mängel  verantwortlich, 
also  wird  er  auch  der  Ansicht  sein,  dass  die  Reform  an 
diesem  Punkt  einzusetzen  hat.  Einige  spätere  Aeusserungen 
des  Ministers  erhoben  diese  Vermuthung  zur  Gewissheit. 

Der  Gedanke  ist  ja  in  den  Kreisen,  denen  die  prak- 
tische Ausführung  der  Unfallversicherungsgesetze  obliegt, 
schon  oft  ausgesprochen  worden ; dass  er  nun  auch  von  der 
Regierung  aufgenommen  wurde,  ist  mit  grosser  Freude  zu 
begrüssen.  Es  ist  in  der  That  in  den  meisten  Fällen  für 
die  Rechtsprechung  völlig  gleichgültig,  ob  gerade  en- 
gere Berufsgenossen  der  Kläger  in  den  Schiedsgerichten 
sitzen  oder  nicht.  Ausserdem  umfassen  manche  Berufs- 
genossenschaften so  verschiedene  Gewerbezweige,  dass 
schon  heut  die  Schiedsgerichte  keineswegs  immer  aus  ge- 
werblichen Sachverständigen  im  engeren  Sinne  bestehen. 
Sachverständige  können  indessen  stets  von  den  Schieds- 
gerichten in  geeigneten  Fällen  zugezogen  werden;  und 
hiervon  wird  künftig  nun  etwas  mehr  Gebrauch  gemacht 
werden  müssen  als  gegenwärtig.  Wählt  man  dann  die 
Bezirke,  für  die  die  Schiedsgerichte  errichtet  werden,  an- 
gemessen, so  werden  die  Gerichte  genügend  beschäftigt 
sein  und  somit  Verzögerungen  der  Entscheidungen  — so- 
weit sie  nicht  durch  die  Sache  selbst  bedingt  sind  — nicht 
mehr  Vorkommen. 

Nur  ein  Bedenken  könnte  gegen  diese  Reform  gel- 
tend gemacht  werden:  dass  nämlich  die  engeren  Berufs- 
genossen der  Verletzten  aus  dem  Arbeiterstande  dann  im 
Allgemeinen  von  der  Mitwirkung  bei  dem  gesammten  Ent- 
schädigungsfeststellungsverfahren ausgeschlossen  wären, 
dass  ihnen  sogar  die  geringe  Kontrolle  über  die  Ent- 
schädigungsfeststellungen , die  ihnen  jetzt  als  Beisitzer  zu 
den  Schiedsgerichten  möglich  ist,  verloren  gehen  würde. 
Die  Fühlung  zwischen  den  Berufsgenossenschaften  und  den 
versicherten  Arbeitern  würde  damit  so  gut  wie  ganz  ver- 
loren gehen.  Diesem  Uebelstande  kann  jedoch  leicht  und 
gründlich  abgeholfen  werden,  wenn  bestimmt  wird,  dass  die 
nach  § 41  des  Unfallversicherungsgesetzes  u.  s.  w.  gewählten 
Arbeitervertreter  bei  der  Entschädigungsfeststellung  in 
erster  Instanz  mitzuwirken  haben  — ein  Vorschlag,  den  ich 
bereits  in  No.  38  Jahrg.  I S.  474  ff.  dieser  Zeitschrift  näher 
begründet  habe.  Auf  diese  Weise  würde  zu  gleicher  Zeit 
eine  Beschleunigung  der  Entscheidungen  und  eine  V er- 
minderung  der  Berufungen  erreicht  werden. 

Die  damit  angebahnte  Verbesserung  des  Verfahrens 
zur  Feststellung  der  Unfallentschädigungen  wäre  funda- 
mental; und  die  Berufsgenossenschaften  hätten  Aussicht, 
volksthiimlichere  Anstalten  zu  werden,  als  sie  es  jetzt  sind. 

Berlin-Friedenau.  E.  Lange. 


300 


SOZI  ALPOLITI SCHES  CENTR  AI  .BLATT. 


No.  25. 


Arbeiterversicherimg  und  Armenpflege.  Nach  be- 
sonderen Erhellungen,  welche  das  Königreich  Sachsen  hat 
vornehmen  lassen,  ergaben  sich  dort  aus  der  Statistik  der 
Armenpflege  folgende  Zahlen:  es  betrug 


im  Jahre 
1880 

imjahre 

1890 

die  Zahl  der  Unterstützten 

wegen  Unfall 

2 443 

1 378 

wegen  Krankheit  ...  

25  070 

18  859 

wegen  anderer  LTsachen  

66  186 

60  659 

Zusammen  . . . 

93  699 

80  896 

Von  100  Unterstützten  wurden  unterstützt 

wegen  Unfall 

2.60 

1,70 

wegen  Krankheit  . . 

26,76 

23,31 

wegen  anderer  Ursachen 

70,64 

74,99 

Auf  10  000  Einwohner  entfallen  vorüber- 
gehend Unterstützte 

wegen  Unfall 

2,7 

1,1 

wegen  Krankheit 

51,0 

105,7 

25,0 

überhaupt . 

62,3 

Dauernd  Unterstützte 

wegen  Unfall 

5,5 

2,8 

wegen  Krankheit 

33,3 

28,8 

überhaupt  

209,5 

168,6 

Folglich  betrug 

im  Jahrzehnt  1880  90 

Die  Abnahme  der  Unterstützten 

wegen  Unfall  

— 43,34  % 

- 26,53  "/o 

wegen  Krankheit  

überhaupt  . . 

- 14,14% 

Dagegen  die  Zunahme  der  Bevölkerung 

+ 17,12"/0 

Einzelne  Tagesblätter  ziehen  nun  daraus,  dass  pro- 
zentual die  Zahl  der  wegen  Unfall  Unterstützten  von  2,60 
aut  1,70  zurückgegangen,  die  Zahl  der  wegen  Krankheit 
Unterstützten  von  26,76  auf  23,31  gewichen,  die  Zahl  der 
wegen  andrer  Ursachen  Unterstützten  dagegen  gestiegen 
ist,  und  zwar  von  70,64  auf  74,99,  den  Schluss,  dass  hier 
eine  ganz  deutliche  Einwirkung  der  Arbeiterversicherung 
aut  die  Armenpflege  vorliege.  Das  wäre  nun  eigentlich 
kein  Lob  für  die  Arbeiterversicherung;  aber  der  Schluss 
ist  wohl  deshalb  hinfällig,  weil  in  der  Armenpflege,  und 
vollendsauf  13  Jahre  zurück,  eine  Aufnahme  der  Ursachen 
der  Unterstützung  grösstentheils  nur  ganz  zufällige  Er- 
gebnisse liefern  kann. 

Vorläufige  Statistik  der  deutschen  Krankenversicherung 
im  Jahre  1891.  Das  letzte  Vierteljahrsheft  zur  Statistik  des 
Deutschen  Reichs  bringt  die  vorläufigen  Ergebnisse  der  Kranken- 
versicherung der  Arbeiter  im  Jahre  1891.  Abgesehen  von  den 
Knappschaftskassen  waren  1891  insgesammt  21  498  Kassen  in 
Thätigkeit,  gegen  21  173  im  Vorjahre,  mit  6 329  820  Mitgliedern 
gegen  6 065  637  im  Vorjahre  und  3 727  231  im  Jahre  1885,  dem 
ersten  Jahre  der  Geltung  des  Gesetzes.  Die  Mitgliederzahl, 
welche  stetig  gestiegen  ist,  beträgt  über  13  pCt.  der  Bevölkerung 
überhaupt,  jedoch  ist  der  Personenkreis,  dem  die  Wohlthat  des 
Gesetzes  zu  gute  kommt,  nicht  unerheblich  grösser  um  des- 
willen, weil  eine  beträchtliche  Zahl  von  Kassen  auch  den  Ange- 
hörigen der  Mitglieder,  welche  selbst  als  Mitglieder  nicht  gezählt 
sind,  freie  ärztliche  Behandlung  und  Arznei  u.  s.  w.  gewähren. 
Ausserdem  sind  nicht  einbegriffen  die  in  Ivnappschaftskassen 
versicherten  Personen,  welche  im  Jahre  1890  die  Zahl  459  111  er- 
reichten. 

Weitaus  die  meisten  Versicherten  zählen  die  Ortskranken- 
kassen nämlich  2 563  132;  es  folgen  dann  die  Betriebs-  (Fabrik-) 
Krankenkassen  mit  1693517,  die  Gemeinde-Krankenversicherung 
mit  1 041  193,  die  eingeschriebenen  Hilfskassen  mit  819403,  die 
landesrechtlichen  Hilfskassen  mit  140  036,  die  Innungskranken- 
kassen mit  61875  und  die  Baukrankenkassen  mit  10  664  Mit- 
gliedern. 

Die  Kassen  wurden  in  Anspruch  genommen  1891  in 
2 397  826  Erkrankungsfällen  (1890:  2 422  350).  Auf  ein  Mitglied 
kam  im  Jahre  1891:  0,3,  1890:  0,4  Erkrankungsfall  Hierzu  ist  zu 
bemerken,  dass  das  Vorjahr  1890  wegen  der  Influenza  besonders 
ungünstige  Zahlen  aufwies. 

Die  Unterstützung,  welche  von  den  Krankenkassen  ge- 
leistet wird  und  den  Mitgliedern  zu  gute  kommt,  besteht  in 
freier  ärztlicher  Behandlung,  Gewährung  von  Arznei  etc  , freier 
sonstiger  Kur  und  Verpflegung  im  Hause  oder  in  Anstalten, 
ferner  in  Krankengeld,  Unterstützung  an  Wöchnerinnen  und 
Sterbegeld.  Hierfür  wuirclen  von  den  Krankenkassen  aufge- 
wendet (Krankheitskosten)  im  Jahre  1891:  89  548  781  M.,  gegen 
84  040  014  M.  im  Jahre  1890.  Hieran  sind  betheiligt  der  Arzt  mit 

17.8,  Arzneien  und  sonstige  Heilmittel  mit  14,8,  Krankengeld  mit 

41.8,  Anstaltsverpflegung,  Sterbegeld  etc.  mit  14,9  Millionen 
Mark. 


Auf  I Mitglied  kamen  durchschnittlich  Krankheitskosten: 
bei  allen  Kassenarten  13,02  M.  Unter  dem  Durchschnitt  blieben, 
abgesehen  von  der  Gemeindekrankenversicherung,  der  gesetz- 
lich geringere  Leistungen  obliegen,  von  den  einzelnen  Kassen- 
arten die  Ortskrankenkassen  mit  12,30  (gegen  11,91  im  Vorjahre) 
und  die  Innungskassen  mit  10,31  (9,70'!;  über  dem  Durchschnitt 
standen  namentlich  die  Betriebskrankenkassen  mit  17,01  (16,72) 
und  die  eingeschriebenen  Hilfskassen  15,04  (14,65). 

Bei  einer  Gesammtausgabe  (mit  Kapitalsanlage)  von  98,8 
Millionen  Mark  hatten  sämmtliche  Kassen  aus  Beiträgen  und 
Eintrittsgeldern  allein  eine  Einnahme  von  96.7  (91,2)  Millionen 
Mark.  Von  diesen  Einnahmen  kamen  also  89,5  Millionen  Mark 
den  Mitgliedern  wieder  zu  gute.  Da  allenthalben  mit  Ausnahme 
der  eingeschriebenen  Hilfskassen  die  Arbeitgeber  ein  Drittel  der 
Beiträge  zu  leisten  haben,  so  haben  die  Arbeiter  mit  Ausnahme 
derer,  die  sich  bei  den  eingeschriebenen  Hilfskassen  versichert 
hatten,  erheblich  mehr,  als  ihre  eigenen  Leistungen  betragen, 
zurückempfangen. 

Konferenz  der  Vertreter  der  Landes  Versicherungsämter 
und  der  Invaliditäts-  und  Altersversicherungsanstalten.  Für 

die  vom  Reichsversicherungsamt  einberufene  Konferenz  der 
Vertreter  der  Landesversicherungsämter  und  der  Invaliditäts- 
und Altersversicherungsanstalten,  die  am  27.  März,  Vormittags 
! tO  Uhr,  im  Reichstagsgebäude,  Zimmer  5,  zusammentreten  soll, 
ist  nunmehr  folgende  Tagesordnung  festgestellt  worden: 

1.  Welche  Vereinbarungen  oder  Massnahmen  sind  zu  treffen, 
um  in  allen  Fällen  ein  sachgemässes  ärztliches  Zeugniss  über 
die  Erwerbsfähigkeit  eines  Invalidenrentenbewerbers  mit  mög- 
lichst geringen  Kosten  zu  erhalten?  2 In  welchem  Umfange 
dürfen  "die  Versicherungsanstalten  gemäss  § 12  Absatz  I des 
Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetzes  das  Heilverfahren 
für  einen  erkrankten  Versicherten  übernehmen?  3 Empfiehlt 
es  sich,  allgemeine  Anordnungen  herbeizuführen,  welche  eine 
Gewähr  dafür  bieten,  dass  die  Versicherungsanstalten  von  allen 
das  Versicherungsverhältniss  oder  den  Rentenbezug  berührenden 
Thatsachen  (Tod  eines  Versicherten,  Tod,  Inhaftirung,  Aus- 
wanderung eines  Rentenempfängers  oder  sonstige  Thatumstände, 
welche  das  Ruhen  der  Rente  gemäss  § 34  des  Invaliditäts-  und 
Altersversicherungsgesetzes  herbeiführen)  rechtzeitig  Kenntniss 
erhalten?  — Zu  vergleichen  § 141  Absatz  1 a.  a.  O.  4.  Ist  das 
normal  verlaufene  Wochenbett  als  Krankheit  im  Sinne  des  § 17 
Absatz  2 des  Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetzes  an- 
zusehen? 5.  Besprechung  der  bisher  von  den  Versicherungs- 
anstalten zur  Förderung  des  Baues  von  Arbeiterwohnungen  ge- 
troffenen Massregeln  (§  129  Absatz  2 des  Invaliditäts-  und 
Altersversicherungsgesetzes).  6.  Ist  es  wünschenswert!),  be- 
züglich der  von  den  Versicherungsanstalten  vorzunehmenden 
Entwerthung  von  Beitragsmarken  ein  einheitliches  Verfahren 
einzuführen?  7.  Empfiehlt  sich  zur  Vermeidung  von  Nach- 
wahlen die  Aufnahme  einer  statutarischen  Vorschrift,  welche 
beim  Ausscheiden  eines  oder  mehrerer  Vertreter  der  Arbeit- 
geber oder  der  Versicherten  im  Ausschüsse  nebst  deren  Ersatz- 
männern das  Stimmverhältniss  etwa  durch  jedesmalige  Aus- 
lösung einer  entsprechenden  Anzahl  von  Vertretern  der  an- 
deren Kategorie  regelt?  (§  48  Absatz  1 des  Invaliditäts-  und 
Altersversicherungsgesetzes.)  8 Behandlung  der  gefundenen 
Quittungskarten,  deren  Inhaber  nicht  sogleich  zu  ermitteln  sind. 
9.  Theilen  die  Schiedsgerichte  von  Amts  wegen  oder  auf  ent- 
sprechende allgemeine  oder  für  den  einzelnen  Fall  gestellte 
Anträge  der  Versicherungsanstalt  (Berufsgenossenschaft)  das 
Ergebniss  einer  im  schiedsgerichtlichen  Verfahren  veranlassten 
Beweisaufnahme  vor  der  Urtheilsfällung  mit?  Besteht  in  dieser 
Beziehung  ein  Bedürfniss  zu  weiteren  über  den  Rahmen  des  an 
die  Berufsgenossenschaften  gerichteten  Rundschreibens  vom 
15  Juni  1887  hinausgehenden  Massnahmen?  10.  Besprechung  der 
mit  dem  sogenannten  Einzugsverfahren  (§§  112 ff.  des  Invalidi- 
täts- und  Altersversicherungsgesetzes ) bisher  gemachten  Erfah- 
rungen (Antrag  der  Versicherungsanstalten  Sachsen-Anhalt  und 
Rheinprovinz)  11.  Durchführung  der  Beitragsleistung  bei  Ver- 
sicherten, die  gleichzeitig  in  einem  dauernden  Arbeitsverhältniss 
zu  mehreren  Arbeitgebern  stehen  (Antrag  der  Versicherungs- 
anstalt Oldenburg). 

Hie  nichtständigen  Mitglieder  des  Reiehsversicherungs- 
amtes.  Am  30.  September  1893  wird  die  Amtsdauer  der  nicht- 
ständigen Mitglieder  des  Reichsversicherungsamtes  aus  dem 
Stande  der  Arbeitgeber  und  der  Arbeitnehmer,  sowie  der  Stell- 
vertreter dieser  Mitglieder  ihr  Ende  erreichen.  Für  die  von  den 
Vorständen  der  gewerblichen  und  der  landwirtschaftlichen 
Berufsgenossenschaften,  sowie  von  den  gewerblichen  Arbeiter- 
vertretern vorzunehmenden  Neuwahlen  hat  der  Bundesrath  das 
Stimmverhältniss  der  einzelnen  Wahlkörper  zu  bestimmen.  Die 
nichtständigen  Mitglieder  aus  dem  Stande  der  land-  und  forst- 
wirtschaftlichen Versicherten  nebst  ihren  Stellvertretern  sind 
durch  den  Bundesrath  zu  berufen.  Die  Zahl  dieser  Stellver- 
treter ist  auf  je  sechs  für  jedes  (Mitglied  festgesetzt  worden. 
Der  Bundesrath  ist  durch  ein  Schreiben  des  Reichskanzlers  er- 
sucht worden,  1)  überdas  Stimmverhältniss  der  bei  den  Wahlen 
betheiligten  Wahlkörper,  2)  über  die  Berufung  von  zwei  nicht- 
ständigen Mitgliedern  des  Reichsversicherungsamtes  aus  den 
land-  und  forstwirtschaftlichen  Versicherten,  sowie  von  je  sechs 
Stellvertretern  dieser  Mitglieder  Beschluss  zu  fassen. 


No.  25. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


301 


Zur  Frage  der  Arbeitslosenversicherung  in  der  Schweiz. 

Der  Regierungsrath  des  Kantons  Basel-Stadt  hat  sein  Departe- 
ment cles  Innern  beauftragt,  auf  Grund  eines  von  sozialdemo- 
kratischer Seite  eingebrachten  Antrags  eine  Vorlage  über  Er- 
richtung einer  Versicherungskasse  tiir  Arbeitslose  auszuarbeiten. 
Vorläufig  hat  der  Rath  einen  Kredit  von  10  000  Frcs.  für  die 
Arbeitslosen  bewilligt.  Die  Kasse  wird  nach  dem  Muster  der 
am  I.  März  in  Bern  ins  Leben  getretenen  Arbeitslosenkasse 
eingerichtet  werden,  welche  von  der  Berner  Gemeinde  selbst 
durch  ihr  Arbeitsnachweisbureau  verwaltet  wird.  Die  Mittel 
der  Kasse  werden  durch  Beiträge  der  Gemeinde,  der  versicherten 
Arbeiter,  der  Arbeitgeber  und  durch  Geschenke  beschafft.  Die 
Mitglieder  sollen  40  Cent,  im  Monat  beitragen,  der  Beitrag  der 
Gemeinde  5000  Frcs.  im  Jahre  nicht  übersteigen  Jeder  in  der 
Gemeinde  beschäftigte  Arbeiter  kann  Mitglied  werden  und  hat 
sich  zu  diesem  Zweck  beim  Vorstande  seines  Fachvereins  oder 
im  städtischen  Arbeitsnachweisbureau  anzumelden.  Anspruch 
auf  Unterstützung  hat,  wer  wenigstens  sechs  Monate  der  Kasse 
angehört,  und  mindestens  zwei  Wochen  arbeitslos  ist.  Die 
Unterstützung  beträgt  für  Ledige  höchstens  1 Frcs.  und  für 
I Frcs.  50  Cent,  für  Verheirathete.  Arbeitgeber  und  Arbeiter 
wählen  in  die  Aufsichtskommission  je  zwei  Mitglieder,  der  Ge- 
meinderath drei;  diese  Kommission  beschliesst  über  alle  die 
Kasse  betreffenden  Angelegenheiten;  einen  obligatorischen 
Charakter  besitzt  die  Kasse  nicht  Im  grossen  Stadtrath  von 
Zürich  wurde  der  Antrag  gestellt,  der  Stadtrath  soll  unter- 
suchen, ob  nicht  die  Stadt  einen  Beitrag  an  eine  Arbeitslosen- 
zersicherungskas.se  leisten  solle.  Beschlossen  wurde,  einen 
Kredit  bis  auf  5000  Frcs.  für  die  Arbeitslosenkommission  zu 
bewilligen,  dieselbe  hat  zu  untersuchen  wie  der  Arbeitslosen- 
noth  begegnet  werden  könne,  ferner  die  Frage  der  Versicherung 
gegen  Arbeitslosigkeit  nach  allen  Richtungen  zu  prüfen  und  zu 
erwägen,  wie  die  Unterstützung  der  Arbeitslosen  von  städtischen 
Organen  in  Verbindung  mit  den  freiwilligen  Vereinen  regulirt 
werden  könne.  In  St.  Gallen  hat  die  dortige  Arbeiterunion 
dem  Gemeinderathe,  dem  Handwerker-  und  Gewerbeverein  den 
Entwurf  für  eine  Arbeitslosenkasse  unterbreitet. 


Armenwesen. 


Die  Novelle  zum  Unterstützungswohnsitzgesetz  wurde 
am  16.  März  vom  Reichstag  in  Berathung  begonnen. 
Den  Gegenstand  der  Debatte  bildeten  hauptsächlich  drei 
der  vorgeschlagenen  Neuerungen:  Die  Herabsetzung  der 

Altersgrenze  von  24  Jahren  auf  18;  die  Ausdehnung  der 
Unterstiitzungspflicht  des  jedesmaligen  Dienstortes;  die  Ver- 
schärfung des  Strafgesetzes  für  Personen,  welche  sich  der 
Verpflichtung,  ihre  Angehörigen  zu  unterhalten,  entziehen. 

Was  die  Altersgrenze  betrifft,  so  läuft  gegenwärtig 
die  Frist  für  selbständige  Erwerbung  eines  Unterstützungs- 
wohnsitzes  erst  vom  vollendeten  24.  Lebensjahre  an.  Na- 
mentlich die  Grossgrundbesitzer  des  Ostens  klagen  darüber, 
dass  junge  Leute,  welche  auf  eigene  Faust  in  die  Industrie- 
städte gehen,  ihnen  zurückgeschoben  werden,  wenn  sie 
durch  einen  Unglücksfall  nach  ein  paar  Jahren  hilfsbedürftig 
werden.  So  werde  die  Arbeitskraft  des  jungen  Arbeiters 
durch  die  Freizügigkeit  der  Landwirtschaft  entzogen, 
während  die  Unterstützung  im  Falle  der  Arbeitsunfähigkeit 
ihr  gleichwohl  auferlegt  werde.  Der  Deutschkonservative 
Abgeordnete  Hahn,  welcher  die  Debatte  einleitete,  be- 
grüsste  es  mit  Freuden,  dass  in  Zukunft  der  neue  Wohn- 
sitz des  jungen  Arbeiters  die  Unterstiitzungspflicht  zu 
tragen  haben  solle,  ja,  er  hielt  es  für  erwägenswert,  ob 
man  nicht  noch  tiefer  hinuntergehen  und  statt  des  18.  das 
16.  Lebensjahr  setzen  solle.  Während  Osann  (Nat.-lib.) 
schon  den  Termin  von  18  Jahren  für  bedenklich  hielt,  weil 
in  diesem  Alter  der  Arbeiter  sich  noch  gar  nicht  selbst- 
ständig vermieten  dürfe,  ja  sogar  die  Löhne  unter  Um- 
ständen an  die  Eltern  auszuzahlen  seien,  erklärte  umgekehrt 
der  sozialdemokratische  Abgeordnete  Stolle,  dass  man  aus 
der  hier  anerkannten  Arbeitsmündigkeit  des  jungen  Arbeiters 
die  Konsequenzen  ziehen  und  ihnen  nicht  blos  die  gewerb- 
liche Selbständigkeit,  sondern  auch  bis  zu  einer  gewissen 
Grenze  das  politische  Wahlrecht  geben  müsse. 

Der  Dienstort  von  Dienstbosten,  Gesellen,  Gewerbe- 
gehülfen  und  Lehrlingen  hat  nach  dem  geltenden  Recht  in 
Fällen  von  Erkrankungen  die  Kur-  und  Verpflegungskosten 
der  ersten  6 Wochen  zu  tragen,  ohne  dass  der  Unter- 
stützungswohnsitz in  Betracht  käme.  Statt  der  6 Wochen 
will  der  Entwurf  13  Wochen  setzen  und  die  Bestimmung 
gleichzeitig  auf  land-  und  forstwirtschaftliche  Arbeiter 
ausdehnen.  Diese  beiden  Erweiterungen  fanden  verschie- 
dene Beurteilung.  Der  nationalliberale  Redner  billigte  die 


letztere,  hatte  aber  gegen  die  erstere  Bedenken  Der  Abg. 
Gamp  (Reichspartei)  betonte,  dass  von  dieser  Pflicht  die 
ländlichen  Gemeinden  stärker  betroffen  würden  als  die 
städtischen,  in  denen  es  überall  Krankenkassen  gäbe. 

Gegen  die  Verschärfung  des  Strafgesetzes  er- 
klärte sich  der  Abg.  Stolle  namens  seiner  Partei.  Die  be- 
stehenden Bestimmungen  seien  bereits  streng  genug.  In 
einer  Zeit,  in  welcher  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  es 
mit  sich  bringen,  dass  zahlreiche  Personen  arbeiten  wollen 
und  gleichwohl  keine  Arbeit  finden,  seien  solche  Ver- 
schärfungen doppelt  unangebracht. 

Im  Uebrigen  glitt  die  Debatte  vielfach  über  den 
Rahmen  des  vorliegenden  kleinen  Gesetzentwurfes  hinaus 
und  brachte  weitergehende  Wünsche  ans  Tageslicht.  Die 
Konservativen  erklärten  wieder  einmal  ganz  offen,  dass  sie 
dafür  seien,  den  Gemeinden  das  Recht  zur  Erhebung  von 
Einzugsgeldern  zu  geben,  also  die  Freizügigkeit,  die  „im 
Prinzip  unangetastet“  bleiben  solle,  tatsächlich  für  den 
unbemittelten  Theil  der  Bevölkerung  abzuschaffen.  Die 
Verschiebung  der  Unterstützungspflicht  zu  Lasten  der  In- 
dustriebezirke begrüssten  sie  mit  Freude.  Deutschkonser- 
vative, Reichspartei  und  Centrum  waren  einig  darin,  dass 
der  Landarbeiter  aus  dem  Osten  nicht  nöthig  habe,  nach 
dem  Westen  zu  wandern.  Gamp  schloss  seine  Rede  mit 
der  Versicherung,  dass  eine  Arbeiterfamilie  im  Osten  sich 
viel  besser  stehe  als  ein  Industriearbeiter  im  Westen,  und 
v.  Schalscha  begann  die  seinige  mit  der  Erklärung,  dass 
ihm  die  letzten  Worte  des  Vorredners  aus  der  Seele  ge- 
sprochen seien. 

Während  die  Forderung  eines  Einzugsgeldes  auch 
auf  nationalliberaler  Seite  Widerspruch  fand,  wurde  die 
weitergehende  Verschiebungsfrage  mit  den  sich  daran 
knüpfenden  sozialen  Problemen  bis  jetzt  nur  von  dem  Abg. 
Stolle  behandelt.  Er  machte  darauf  aufmerksam,  dass  zu 
den  Industriebezirken,  denen  die  Mehrbelastung  gewünscht 
werde,  auch  die  armen  Weberdistrikte  im  Königreich 
Sachsen  gehören  Die  Armenlasten  seien  gegenwärtig  un- 
gleich vertheilt.  Die  Gutsbezirke  haben  theilweise  gar 
keine  Armenlasten,  weil  sie  ihre  Arbeiter  in  den  benach- 
barten Dörfern  wohnen  haben.  Die  Lage  der  Landarbeiter 
im  Osten  sei  kläglich.  Der  Arbeiter  werde  aus  dem  Osten 
förmlich  fortgetrieben.  Aus  Ostpreussen,  Westpreussen, 
Pommern,  Schlesien,  Posen  etc.  strömten  im  jahre  1886  im 
Ganzen  1 1 9,243  Köpfe  mehr  hinein,  als  Sachsen  an  diese 
Provinzen  abgab.  Ein  grosser  Theil  dieses  Ueberschusses, 
den  Sachsen  wegen  der  schlechten  Löhne  im  Osten  erhalte, 
solle  nunmehr  früher  in  Sachsen  unterstützungsberechtigt 
werden,  als  es  nach  dem  geltenden  Recht  der  Fall  sei.  Die 
Gemeinden  werden  noch  mehr  als  bisher  bestrebt  sein,  die 
Anziehenden  die  zweijährige  Frist,  die  zur  Erwerbung  des 
Unterstützungswohnsitzes  nothwendig  ist,  nicht  aussitzen 
zu  lassen.  Diese  schlimmste  Art  der  Abschiebungen  werde 
noch  vermehrt  werden.  Abhülfe  könne  nur  eine  geordnete 
Centralisirung  der  Unterstützungspflicht  im  ganzen  Reich 
oder  in  den  Einzelstaaten  bringen. 


W ohlfahrtseinrichtungen. 

Speiseanstalten  für  Arbeiter.  In  sämmtlichen  Militär- 
werkstätten von  Spandau  sollen  für  das  Arbeiterpersonal 
grosse  Speiseanstalten  errichtet  werden.  Der  Anfang  ist 
damit  für  die  Munitionsfabrik  gemacht  worden,  wo  der- 
artige Einrichtungen  für  mehrere  tausend  Personen  ge- 
troffen sind.  Von  der  Militärverwaltung  werden  für  diesen 
Zweck  grosse  Menageküchen  und  Speisesäle  erbaut.  Die 
Preise  für  die  Speisen  sind  sehr  wohlfeil. 


Soziale  Hygiene. 

Die  Kurtaxe. 

Zu  den  Beschlüssen,  welche  die  Steuerreformkom- 
mission des  Abgeordnetenhauses  in  der  Berathung  des 
Kommunalabgabengesetzes  in  aller  Stille  gefasst  hat,  ge- 
hört auch  der  Zusatz:  Badeorte  und  klimatische  Kurorte 
sind  befugt,  Kurtaxen  zu  erheben. 


302 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  25. 


Die  Kurtaxe  hat  in  der  letzten  Zeit  eine  grössere  Be- 
deutung gewonnen,  als  man  früher  ahnte  und  es  ist  ange- 
bracht, diesen  in  der  Oeffentlichkeit  bisher  noch  gar  nicht 
bemerkten  Zusatz  ein  wenig  näher  zu  beleuchten. 

Bis  vor  zwanzig  oder  dreissig  Jahren  waren  die  Kur- 
taxen Abgaben,  die  auf  einige  wenige  Badeorte  beschränkt 
waren.  In  geringer  Höhe  erhoben,  sollten  sie  einen  Beitrag 
der  Badegäste  zu  den  Kosten  darstellen,  welche  die  Ge- 
meinde für  Badehäuser,  Promenaden,  Musik  etc.  aufwandte. 
Eine  erhebliche  pekuniäre  Belästigung  stellten  sie  um  so 
weniger  dar,  da  die  grosse  Mehrzahl  der  Besucher  sich  aus 
wohlhabenden  Schichten  rekrutirte  und  bedürftigen  Kranken 
herkömmlicherweise  Befreiung  zugestanden  wurde.  Seit 
der  Mitte  der  sechziger  und  namentlich  seit  den  siebziger 
Jahren  hat  mit  dem  Wachsthum  der  grossen  Städte  und 
dem  Ausströmen  ihrer  Bewohner  in  die  Sommerfrischen 
gleichzeitig  die  Anzahl  der  Kurtaxorte  und  die  Anzahl 
ihrer  Besucher,  vielfach  damit  auch  die  Höhe  der  Kurtaxe 
zugenommen.  Die  letztere  wird  nicht  mehr  in  Pausch  und 
Bogen,  sondern  unter  genauer  Berechnung  der  Kopfzahl 
der  Familie  bestimmt.  Ihre  Entrichtung  gilt  nicht  mehr  für 
die  ganze  Dauer  des  Sommers;  dieselbe  Summe  wird  viel- 
mehr nach  Ablauf  von  vier  oder  sechs  Wochen  noch  ein- 
mal eingefordert.  Ja,  es  soll  Vorkommen,  dass  von  Per- 
sonen, die  den  ganzen  Sommer  sich  an  einem  Orte  auf- 
halten, die  Kurtaxe  nach  Ablauf  von  weiteren  vier  oder 
sechs  Wochen  noch  ein  drittes  Mal  eingefordert  wird. 
Wenn  nun  eine  Kurtaxe  von  ein  paar  Mark  wirklich  pro 
Kopf  der  Familie  entrichtet  wird,  so  kann  diese  leicht  auf 
einen  Betrag  von  15 — 20  M.  kommen.  Und  wenn  dieser 
letztere  Betrag  gar  zwei-  oder  dreimal  entrichtet  werden 
soll,  so  stellt  sich  die  Kurtaxe  als  eine  fühlbare  Besteuerung 
des  Sommerautenthalts  dar.  Da  nun  ein  kürzerer  oder 
längerer  Sommeraufenthalt  heute  glücklicherweise  nicht 
mehr  das  Privilegium  reicher  Leute,  sondern  ein  aner- 
kanntes Lebensbedürfniss  weiter,  grossstädtischer  Schichten 
ist,  da  alljährlich  Volksschullehrer,  kleine  Kaufleute  und 
Handwerker  massenweise  in  die  Sommerfrische  gehen,  so 
ist  es  eine  durchaus  nicht  mehr  unwichtige  Frage  der 
sozialen  Hygiene,  ob  eine  Steuer  auf  diese  Erholungen  ge- 
rechtfertigt ist.  Diese  Frage  ist  um  so  dringender,  da  die 
Anzahl  der  Kurtaxorte  von  Jahr  zu  Jahr  zunimmt.  Auch 
unter  den  Vororten  Berlins  giebt  es  bereits  einige,  welche 
sich  für  befugt  halten,  Kurtaxen  zu  erheben. 

Die  obige  Frage  ist  meines  Erachtens  in  sozialpoli- 
tischer Hinsicht  zu  verneinen.  Unter  den  heutigen  „Bade- 
orten“, „Luftkurorten“,  „Sommerfrischen“  etc.  befinden  sich 
nur  einige  wenige,  welche  den  Charakter  von  Luxusbädern 
tragen.  Ihre  grosse  Mehrzahl  sind  Orte,  die  dem  gewöhn- 
lichen Erholungszwecke,  namentlich  der  grosstädtischen 
Bevölkerung  dienen.  Auch  unter  den  Besuchern  sind,  so- 
weit meine  Erfahrung  reicht,  nur  der  geringste  Theil  solche 
Personen,  bei  denen  die  Erholungsreise  als  eine  Art  Luxus 
betrachtet  werden  kann;  für  die  grosse  Mehrzahl  ist  die 
Erholungsreise  nichts,  als  ein  Akt  der  Gesundheitspflege. 
Die  Gewohnheit,  solche  Erholungsreisen  zu  machen,  ist 
unter  dem  Gesichtspunkt  der  sozialen  Hygiene  eine  der 
kostbarsten  sich  heute  entwickelnden  Volksgewohnheiten. 
Im  Interesse  unserer  Volksgesundheit  ist  es  wünschens- 
werth,  dass  diese  Gewohnheit  sich  nicht  blos  erhalte, 
sondern  sich  immer  weiter  bis  in  die  tiefsten  Schichten 
der  Bevölkerung  verbreite,  damit  es  in  absehbarer  Zeit 
auch  in  der  grossstädtischen  Arbeiter  bevölkerung  Sitte 
werde,  wenn  auch  vielleicht  nicht  jedes  Jahr,  so  doch  ab 
und  zu  in  regelmässigen  Zwischenräumen  der  grossstädti- 
schen Luft  zu  entfliehen.  Einer  solchen  Entwickelung  steht 
die  Besteuerung  der  Erholungsreise  entschieden  im  Wege. 
Und  zwar  nicht  blos  wegen  des  Geldopfers,  das  sie  er- 
fordert, sondern  namentlich  wegen  des  verkehrten  Gesichts- 
punktes, den  sie  jener  werdenden  Volksgewohnheit  ent- 
gegensetzt: als  ob  eine  Erholungsreise  ein  steuerwürdiges 
Luxusbedürfnis  sei. 

Aber  auch  aus  Gründen  sozialer  Gerechtigkeit  ist 
einer  solchen  Steuer  zu  widersprechen.  In  den  Kurtax- 
ordnungen  wird  gewöhnlich  bestimmt,  dass  der  Steuer  die 


Personen  unterliegen,  welche  zum  Zwecke  der  Heilung  oder 
der  Erholung  den  Ort  besuchen,  dass  aber  von  ihr  die  Per- 
sonen befreit  sind,  die  zum  Zwecke  des  Gewerbebetriebes 
ihren  Aufenthalt  nehmen.  Es  ist  nicht  gerecht,  die  Kranken 
zu  besteuern  und  den  Erwerbsgewinn  steuerfrei  zu  lassen. 
Soll  überhaupt  eine  derartige  Steuer  erhoben  werden,  so 
wäre  es  umgekehrt  das  richtige,  sie  auf  diejenige  soziale 
Gruppe  zu  legen,  welche  von  der  Veranstaltung  eines  Bade- 
orts den  Gewinn  hat,  d.  h.  das  Steuersoll  einer  Kurtaxe 
gerade  aut  die  hinzuziehenden  Gewerbetreibenden  zu 
repartiren,  und  die  Badegäste  davon  frei  zu  lassen.  — Es 
ist  aber  ferner  höchst  bedenklich,  eine  Steuer  gerade  auf 
die  soziale  Gruppe  zu  legen,  welche  von  der  Kontrolle 
der  Verwendung  ausgeschlossen  ist.  Ein  Dörfchen,  das  sich 
zum  Badeort  erklärt  und  mit  Genehmigung  der  Vorge- 
setzten Behörde  Kurtaxen  erhebt,  behält  dann  die  Beträge 
für  sich  und  macht  mit  ihnen,  wenn  die  Fremden  abge- 
zogen sind,  was  ihm  gut  scheint.  In  die  Oeffentlichkeit  ge- 
langt meistens  keinerlei  Nachricht  darüber.  Und  eine 
Rechnungslegung  an  die  Steuerzahler  kommt  noch  weniger 
vor.  Es  ist  ein  geradezu  unerhörter  Zustand,  dass  in  Ge- 
stalt der  Kurtaxe  jährlich  Millionen  aufgebracht  werden, 
über  deren  Verwendung  den  Steuerzahlern  nicht  die  ge- 
ringste Rechenschaft  gelegt  wird.  Zwar  hört  man  zuweilen, 
dass  das  Geld  nur  „zu  Badezwecken“  verwendet  würde. 
Allein  dies  ist  ein  blosser  Scheinein  wand.  Jedes  Badehaus, 
jede  Promenade,  jede  Landungsbrücke  erhöht  den  Werth 
des  Grundbesitzes  im  Dorf.  Und  wenn  die  Dorfeinwohner 
von  den  Fremden  Steuern  erheben,  um  Badehäuser,  Prome- 
naden und  Brücken  anzulegen,  so  verwenden  sie  die  Be- 
träge thatsächlich  zu  ihrer  eigenen  Entlastung  oder  Be- 
reicherung. Man  mag  darüber  streiten,  inwieweit  dies  der 
Fall  ist.  Dass  es  aber  bis  zu  einem  gewissen  Grade  der 
Fall  ist,  ist  unbestreitbar.  Und  darum  ist  es  nicht  zulässig, 
dass  die  Verwendung  der  Steuern  unkontrollirt  in  der  Hand 
der  Gruppe  liegt,  welche  ein  Interesse  daran  hat,  das  Ver- 
hältnis der  Verwendungszwecke  nicht  bekannt  werden  zu 
lassen. 

Schliesslich  halte  ich  aber  auch  die  preussische 
Landesgesetzgebung  nicht  für  befugt,  eine  derartige  Be- 
stimmung in  ihr  Kommunalabgabengesetz  aufzunehmen.  Es 
ist  ein  jedem  Deutschen  garantirtes  Recht,  seinen  Aufent- 
haltsort zu  nehmen,  wo  er  will.  Dieses  Recht  darf  ihm  aut 
keinerlei  Weise  beschränkt  werden,  weder  durch  lästige 
Bedingungen,  noch  durch  Steuern,  die  an  den  Aufenthalts- 
ort geknüpft  sind1).  Wenn  bisher  gleichwohl  noch  solche 
Kurtaxen  eingefordert  und  vom  Publikum  bezahlt  wurden, 
so  war  dies  seitens  der  rechtskundigen  Zahler  ein  frei- 
williger Akt.  Man  verzichtete  auf  den  Widerspruch  gegen 
die  Form  der  Steuer,  da  man  einen  gewissen  Beitrag  zu 
den  Aufwendungen  der  Gemeinde  freiwillig  zu  zahlen  ohne- 
dies bereit  war.  Dass  alle,  welche  Kurtaxen  zahlten,  damit 
ihre  Verpflichtung  anerkannt  haben,  ist  keineswegs  richtig. 
Die  Kurtaxe,  wo  sie  bisher  eingefordert  wurde,  war  eine 
reichsgesetzwidrige  Einrichtung.  Die  preussische  Ge- 
setzgebung ist  nicht  befugt,  den  Kommunalbe- 
hörden ein  Recht  beizulegen,  welches  ihnen  die 
Reichsgesetze  ausdrücklich  entziehen. 

Darin  läge  aber  gerade  die  praktische  Bedeutung 
einer  solchen  ausdrücklichen  Bestimmung  im  Kommunal- 
abgabengesetz. Sie  würde  das  Signal  dazu  sein,  die  Kur- 
taxen, die  ohnedies  in  letzter  Zeit  in  bedenklichem  Wachsen 

!)  Reichsgesetz  über  die  Freizügigkeit  von  1867.  „Jeder 
Bundesangehörige  hat  das  Recht  innerhalb  des  Bundesgebiets 
an  jedem  Orte  sich  aufzuhalten  oder  niederzulassen,  wo  er  eine 
neue  Wohnung  oder  ein  Unterkommen  sich  zu  verschaffen  im 
Stande  ist  . . . In  der  Ausübung  dieser  Befugnisse  darf  der 
Bundesangehörige,  soweit  nicht  das  gegenwärtige  Gesetz  Aus- 
nahmen zulässt,  weder  durch  die  Obrigkeit  seiner  Heimath,  noch 
durch  die  Obrigkeit  des  Orts,  in  welchem  er  sich  aufhalten  oder 
niederlassen  will,  gehindert  oder  durch  lästige  Bedingungen  be- 
schränkt werden.“  § 1 ) „Die  Gemeinde  ist  nicht  befugt,  von 
den  neu  Anziehenden  wegen  des  Anzuges  eine  Abgabe  zu  er- 
heben. Sie  kann  dieselbe  gleich  den  übrigen  Gemeindeein- 
wohnern zu  den  Lasten  heranziehen.  Uebersteigt  die  Dauer  des 
Aufenthalts  nicht  den  Zeitraum  von  drei  Monaten,  so  sind  die 
neu  Anziehenden  diesen  Lasten  nicht  unterworfen.“  (§  8.) 


No.  25. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


begriffen  sind,  „auf  Grund  des  Gesetzes“  überall  einzu- 
richten, zu  erhöhen  und  einfach  für  den  Gemeindehaushalt 
zu  verwenden.  Bald  würde  die  Befugniss  jedes  Deutschen, 
ohne  „lästige  Bedingungen“  seinen  Aufenthalt  zu  nehmen, 
wo  er  will,  während  der  Monate  Juli  und  August  für  alle 
die  Orte  suspendirt  sein,  die  um  diese  Zeit  begehrens- 
werth  sind. 

Die  reichsrechtliche  Seite  der  vorstehenden  Ausführun- 
gen gilt  selbstverständlich  nur  insoweit,  wie  die  Kurtaxe 
an  die  blosse  Thatsache  des  Aufenthalts  geknüpft  ist.  Wenn 
die  Ortsbehörde  eines  Badeortes  Kurtaxen  erhebt  für  das 
Recht,  an  den  Reunions  theilzunehmen,  für  das  Recht  des 
Zutritts  zu  geschlossenen  Promenaden,  für  das  Anhören  von 
Badekonzerten  etc.,  so  liegt  hierin  kein  Verstoss  gegen  das 
Reichsgesetz,  weil  solche  Beiträge  weder  das  Recht  des 
Aufenthalts  am  Orte  beschränken,  noch  den  Charakter 
einer  Steuer  tragen,  ln  der  Praxis  würde  sich  eine  unter 
diesem  Gesichtspunkt  aufgefasste  Kurtaxe  dahin  stellen 
(und  hat  sich  bei  erhobenem  Widerspruch  in  der  That  hier 
und  da  bereits  dahin  gestellt),  dass  die  Kurtaxe  eingefordert 
und  im  Weigerungsfälle  der  Betreffende  am  ßallsaale  zu- 
rückgewiesen, von  der  Benutzung  des  Lesekabinets  ausge- 
schlossen, ja  unter  Umständen  von  der  Promenade  mit  be- 
waffneter Pfand  weggewiesen  wird.  Es  lässt  sich  diese 
Auffassung  der  Kurtaxen  auch  auf  die  Bäder  anwenden. 
Eine  Badeverwaltung  kann  frei  darüber  bestimmen,  wem 
sie  Badebillets  verkaufen  will,  wem  nicht,  für  wen  die 
Badebillets  gelten  sollen,  für  wen  nicht.  Sie  kann  aut  diese 
Art  auch  von  der  Benutzung  der  Badeanstalten  Jeden  aus- 
schliessen,  der  die  Kurtaxe  nicht  bezahlt  hat.  Hier  stellt 
sich  die  Kurtaxe  gewissermassen  als  eine  Grundtaxe  für 
die  Benutzung  der  Badeanstalt  dar,  zu  welcher  die  Ge- 
bühren für  die  einzelnen  Bäder  hinzutreten.  Wo  die  Bade- 
einrichtungen sich  in  den  Händen  des  Gemeindevorstandes 
befinden  (und  in  der  Anzahl  kleiner  Badeorte  ist  dies  in 
der  Regel  der  Fall),  da  werden  derartige  Gebühren  so  in- 
einander verschwimmen,  dass  vielfach  kaum  zu  unter- 
scheiden sein  wird,  ob  sie  auf  Grund  privatrechtlichen 
Titels  oder  als  öffentlich-rechtliche  Abgaben  erhoben 
werden.  So  lange  der  privatrechtliche  Titel  in  den  Vorder- 
grund gestellt  wird,  wird  mit  öffentlich-rechtlichen  Gründen 
dagegen  nicht  anzukämpfen  sein. 

Für  sozialpolitisch  bedenklich  halte  ich  das  Umsich- 
greifen  derartiger  Kurtaxen  zwar  ebenfalls.  Wo  der 
Staat  im  Besitze  der  Bäder  ist,  hat  er  jedenfalls  die  sozial- 
politische Verpflichtung,  auch  solche  Kurtaxen  so  zu  ge- 
stalten, dass  sie  nicht  zu  einer  Beschränkung  des  Aufent- 
haltsrechts ausarten.  Wieweit  den  Gemeinden  in  die  Er- 
hebung solcher  Kurtaxen  hineingeredet  werden  kann,  ist 
fraglich.  Jedenfalls  aber  liegt  keine  Veranlassung  vor, 
durch  eine  besondere  Gesetzesbestimmung  den  Gemeinden 
ausdrücklich  ein  Recht  zu  geben,  auf  dessen  Ausdehnung 
die  grosse  Mehrzahl  der  betheiligten  Gemeinden  geradezu 
lauert. 

Wollen  die  Gemeinden  Kurtaxen  als  blosse  Taxen  für 
die  Benutzung  von  Kuranstalten  erheben,  so  bedarf  es  da- 
für ebensowenig  eines  Gesetzes,  wie  wenn  private  Eigen- 
thümer  von  Bädern  und  Badeeinrichtungen  dies  thun  wollen. 
Wollen  die  Gemeinden  aber  Kurtaxen  als  Taxen  für  den 
Aufenthalt  an  Badeorten  erheben,  so  bedarf  es  dazu  eines 
eigenen  Reichsgesetzes.  Die  preussische  Gesetzgebung  ist 
für  das  erstere  überflüssig,  für  das  letztere  inkompetent. 

Berlin.  J.  Jastrow. 


Schulwesen,  Bildungs-  und  Erziehungsfragen. 

Die  Kunstbildung  des  Volkes  und  der  Sonntag-.  In  Eng- 
land gewinnt  die  Bewegung  für  Eröffnung  der  Kunstsammlungen 
am  Sonntag  zusehends  an  Stärke  Das  Komitee,  welches  am 
6.  November  1892  die  grosse,  von  vielen  Geistlichen  unterstützte 
Demonstration  für  den  „Museums-SonntagJ  leitete,  sprach  seit- 
her beim  Minister  Acland  vor,  welcher  die  soziale  Bedeutung 


der  Frage  anerkannte  und  ihr  seine  volle  Aufmerksamkeit  zu 
widmen  versprach.  Auch  an  den  Lord  Mayor  von  London 
wendete  man  sich,  und  dieser  erklärte  sich  mit  den  Be- 
strebungen für  Offenhaltung  der  Museen  am  Sonntag  Nach- 
mittags vollkommen  einverstanden.  Am  8 März  ward  nun  unter 
V orsitz  des  Lord  Mayors  im  Mansion-House  ein  grosses  Meeting 
abgehalten,  um  für  diese  Idee  Propaganda  zu  machen 

Im  November  1892  brachte  Professor  v.  Kraus  diese  Frage 
im  österreichischen  Abgeordnetenhause  zur  Sprache  und  plaidirte 
für  Verlängerung  der  sonntäglichen  Besuchsfrist.  Bisher  waren 
die  Bemühungen  des  Abg.  v.  Kraus  nicht  von  Erfolg  begleitet. 
Dagegen  haben  die  populären  Kunstbildungsbestrebungen  mit 
der  Einrichtung  von  sehr  billigen  Sonntagsnachmittagsvor- 
stellungen im  wiener  Hofburgtheater  einen  grossen  Erfolg 
errungen.  Das  Wiener  Beispiel  findet  jetzt  in  Karlsruhe  Nach- 
ahmung. 

Die  Verlängerung  der  sonntäglichen  Besuchszeit  der  Ber- 
liner Museen  ist  nach  einer  Erklärung  des  Ministers  Bosse  im 
preussischen  Landtage  für  die  allernächste  Zeit  zu  gewärtigen. 
Hoffentlich  wird  diese  Bestimmung  auf  alle  staatlichen  und 
städtischen  Museen  Preussens  ausgedehnt. 

Gewerbliche  Fortbildung  in  Preussen.  Der  preussische 
Handelsminister  hat  an  sämmtliche  Regierungspräsidenten 
das  folgende,  vom  16.  Januar  datirte  Schreiben  gerichtet: 

„Da  der  zur  Gewährung  von  Staatszuschüssen  zur  Unter- 
haltung von  Fortbildungsschulen  bestimmte  Fonds  der  Handels- 
und Gewerbe  Verwaltung  im  Staatshaushaltsetat  für  1893  94  nicht 
erhöht  werden  wird,  die  in  früheren  Jahren  bei  den  übertrag- 
baren Fonds  gemachten  Ersparnisse  aber  jetzt  aufgebraucht  sind, 
so  wird  es  unvermeidlich,  die  bisherigen  Bewilligungen 
für  Fortbildungsschulen  durchschnittlich  in  jeden  Regie- 
rungsbezirk um  10  pCt.  zu  kürzen.  Bei  dieser  Lage  der 
Sache  fragt  es  sich,  ob  es  zweckmässiger  ist,  die  Zuschüsse  für 
viele  Schulen  zu  vermindern  oder  die  unumgänglichen  Abzüge 
bei  möglichst  wenigen  Anstalten,  und  zwar  bei  den  grössten 
zu  machen,  weil  im  ersteren  Falle  zu  befürchten  ist,  dass 
dadurch  eine  grössere  Zahl  von  Gemeinden  veranlasst  werden 
könnte,  den  Unterricht  an  den  Fortbildungsschulen  ganz  einzu- 
stellen, und  infolge  dessen  sogar  grössere  Summen,  als  erforder- 
lich ist,  verfügbar  werden  möchten.  Die  dritte  Möglichkeit  ist 
die,  an  einer  Anzahl  kleinerer  Orte,  in  denen  die  Fortbildungs- 
schulen bei  den  Gewerbetreibenden  wenig  Interesse  gefunden 
haben,  die  Zahl  der  wöchentlich  erth eilten  Unterrichtsstunden 
weniger  als  6 beträgt,  und  der  Besuch  obligatorisch  ist,  den 
Unterricht  bis  auf  Weiteres  ganz  einstellen  zu  lassen  und  auf 
diesem  Wege  lOpCt.  der  für  die  Fortbildungsschulen  im  dortigen 
Verwaltungsbezirke  bisher  bewilligten  Staatszuschüsse  zu  er- 
sparen. Hierüber  wollen  Euer  Hoch  wohlgeboren  (Hochgeboren) 
sich  gefälligst  binnen  3 Wochen  äussern  und  zugleich  ent- 
sprechende nähere  Vorschläge  im  Einzelnen  machen. “ 

Mit  dieser  Verfügung  stellt  sich  die  preussische  Ge- 
werbesteuerverwaltung auf  einen  im  Interesse  des  gewerb- 
lichen Fortbildungswesens  höchst  bedauerlichen  Standpunkt. 
Man  weiss  kaum,  welche  der  drei  ins  Auge  gefassten  Mass- 
regeln  man  als  nachtheiliger  bezeichnen  soll.  In  kleineren 
Orten  steht  das  Schulwesen  in  Preussen  ohnedies  oft  auf 
einem  so  niedrigen  Niveau,  dass  der  Wegfall  der  dort  be- 
findlichen, übrigens  wenig  kostspieligen  Fortbildungsschulen 
eine  nochmalige  V erschlechterung  bedeutet.  In  den  grossen 
Städten  mit  ihrer  gehäuften  Arbeiterbevölkerung  aber  bietet 
sich  die  einzige  Gelegenheit,  eine  durchgreifende  gewerb- 
liche Schulung  der  jugendlichen  Arbeiter  zu  erzielen,  und 
hier  steht  man  ohnedies  weit  hinter  andern  Staaten  (Frank- 
reich, Oesterreich)  zurück.  Will  man  aber  allen  Fort- 
bildungsschulen 10  pCt.  der  staatlichen  Subvention,  die  ca. 
700  000  M.  für  ganz  Preussen  beträgt,  abzwacken,  so  begeht 
man  beide  Fehler  auf  einmal  und  überlässt  die  Pflege  des 
gewerblichen  Fortbildungswesens  im  Wesentlichen  den 
Gemeinden,  Vereinen  und  Privaten  — ein  Zustand,  über 
den  kein  Kommentar  geschrieben  zu  werden  braucht!  Im 
vorigen  Jahre  war  man  stolz  darauf  die  Zuschüsse  an  ge- 
werbliche Schulen  seit  1887  von  300  000  M.  auf  700  000  M. 
erhöht  zu  haben,  während  andere  Staaten  mit  Recht 
Millionen  für  diese  Zwecke  ausgeben  — jetzt  ist  man  sehr 
rasch  von  dem  Enthusiasmus  zurückgekommen.  Auf  mehr- 
fache Anfragen  betheuerte  der  preussische  Handelsminister 
in  der  Sitzung  des  preussischen  Abgeordnetenhauses  vom 
25.  Februar  d.  Js.  seinen  guten  Willen  und  erwähnte  auch 
die  kaufmännischen  Fachschulen,  für  welche  in  Preussen 
überhaupt  noch  so  gut  wie  Nichts  gethan  wird;  aber  er  sei 
dem  Finanzminister  gegenüber  „in  einer  verzweifelten 
Lage“.  Dieses  mangelhafte  Können  bei  noch  so  gutem 
Wollen  ist  kein  glänzendes  Zeugniss  für  die  Befähigung 
der  leitenden  Personen  der  preussischen  Gewerbever- 
waltung. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


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OF  POLITICAL  AND  SOCIAL  SCIENCE. 


The  Official  Journal  oj  the  American  Academy  of  Politicai 
and  Social  Science. 


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questions  of  the  day. 

The  ANNALS  contains  articles  on  economic,  politicai,  social,  historical 
and  legal  subjects;  reports  of  the  discussions  at  the  meetings  of  the  Academy ; 
personal  notes,  about  the  workers  in  the  field  of  politicai  and  social  Science, 
and  Reviews  of  the  latest  books  treating  of  these  questions. 


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Verantwortlich  für  den  Anzeigentheih  O.  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


II  Jahrgang 


Berlin,  den  27.  März  1893. 


Nummer  26. 


SOZIALPOLITISCHES 

C E NTRALB  LATT. 

Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Jeden  Montag  erscheint  eine  Nummer. 

Zu  beziehen  durch 

alle  BuchhandlungenjZeitungsspediteure  undPostämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung 
in  Berlin  SW.  48. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Der  Anzeigenpreis  beträgt  für  die  dreigespaltene 
Colonelzeile  40  Pfennig. 


INHALT. 


G r u n (Ist eue r u n d B e s i t z ii ber- 
schuldung  in  Preussen.  Von 
Privatdozent  Dr.  J.  Jastrow. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  n. 
Wirthschaftsstatistik : 

Städtische  Wirthschaftsbetriebe. 

Staatsmonopole  als  Konsequenz  der 
Trusts. 

Generalversammlung  des  Vereins 
für  Sozialpolitik. 

Die  Arbeitsvermittlung  in  Wien 
und  Briinn. 

Arbeiterzustände: 

Zur  1 ,age  der Handlungsgehiltlnnen. 
Von  Dr.  med.  Agnes  Bluhin. 

Ergebnisse  der  Arbeitslosensta- 
tistiken. 

Gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung: 

Arbeitszeit  in  den  Genfer  Drucke- 
reien. 


Politische  Arbeiterbewegung: 

Wahlprogramm  der  aargauischen 
Arbeiter. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Eine  Enquete  über  die  Wirkungen 
des  neuen  deutschen  Arbeiter- 
sehutzgesetzes.  Von  Privatdozent 
Dr.  K.  Ol  de  nb  erg. 

Zur  Frage  des  Achtstundentages  in 
den  englischen  Staatswerkstätten. 

Arbeiterversicherung: 

Die  Unfälle  beim  Betriebe 
der  normalspurigen  Eisen- 
bahnen Deutschlands.  Von 
Dr.  H.  Lux. 

Schulwesen: 

Volksschulgesetzgebung  in  Ru- 
mänien. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Grundsteuer  und  Besitz  -Ueberschuldung 
in  Preussen. 


In  der  Generalversammlung  des  „Vereins  für  Sozial- 
politik“, welche  am  20.  und  21 . d.M.  in  Berlin  stattfand,  machte 
der  Centrallandschafts-DirektorSombart  darauf  aufmerksam, 
dass  der  bevorstehende  Erlass  der  Grundsteuer  in  Preussen 
dem  Staate  eine  Handhabe  biete,  die  überschuldeten  Grund- 
besitzer selbst  zur  Beseitigung  des  Uebelstandes,  den  sie 
beklagen,  zu  nöthigen.  Allen  Grundbesitzern,  deren  Grund- 
stücke über  ein  gewisses  ordnungsmässiges  Mass  hinaus  mit  j 
Hypotheken  belastet  seien,  sollte  die  Grundsteuer  mit- 
unter der  Bedingung  erlassen  werden,  dass  sie  den  bis- 
herigen Steuerbetrag  zur  Abstossung  der  Darlehen  ver- 
wenden. 

Mit  dieser  Bemerkung  ist  ein  ganz  neuer  sozialpoli- 
tischer Gesichtspunkt  in  die  in  Preussen  arg  verfahrene 
Grundsteuerfrage  hineingebracht. 

Ich  stehe  zwar  für  meine  Person  dem  Plane  des 
Grundsteuererlasses  ablehnend  gegenüber.  Ich  erblicke  in 
ihm  ein  Geschenk  an  die  Grundbesitzer  auf  Kosten  der 


Grundbesitzlosen.  Aber  ich  habe  anerkannt1),  dass  der  Er- 
lass der  Grundsteuer  einen  sozialpolitischen  Vorzug  vor 
dem  Erlass  anderer  Steuern  besitzt.  Da  die  Grundsteuer 
als  eine  auf  dem  Grund  und  Boden  ruhende  erste  Staats- 
hypothek ohne  Rücksicht  darauf,  ob  Hypotheken  privater 
Gläubiger  nach  ihr  eingetragen  sind,  stets  in  vollem  Elm- 
fang zu  entrichten  ist,  da  also  der  verschuldete  Grundbe- 
sitzer ebenso  viel  Grundsteuer  zu  zahlen  hat,  wie  der 
schuldenfreie,  so  stellt  die  Grundsteuer  einen  desto  grösseren 
Theil  des  reinen  Einkommens  dar,  je  grösser  die  Verschul- 
dung ist.  Für  einen  Grundbesitzer,  der  auf  seinem  Gute 
eine  Ernte  im  Werthe  von  5000  M.  hat  und  davon  200  M. 
Grundsteuer  zu  entrichten  hat,  bedeutet  der  Erlass  der 
Grundsteuer  einen  Vortheil  von  4 pCt.  seines  Ein- 
kommens. Für  einen  Grundbesitzer  mit  derselben  Ernte 
und  derselben  Grundsteuer,  der  aber  die  Hälfte  seiner  Ein- 
nahmen auf  Hypothekenzinsen  zu  verwenden  hat,  bedeutet 
der  Erlass  eine  Vergünstigung  im  Betrage  von  8 pCt. 
seines  Einkommens.  Eben  weil  die  preussische  Grund- 
steuer nichts  anderes  ist,  als  eine  erste  Staatshypothek  an 
sämmtlichen  Grundstücken  des  Landes  (und  weil  man  um 
dieses  Gesichtspunktes  willen  nicht  auf  hören  darf,  im 
Prinzip  eine  solche  Verschenkung  von  Staatshypotheken 
zu  bekämpfen),  muss  man  doch  zugeben,  dass  der  Erlass 
immerhin  die  sozialpolitisch  bemerkenswerthe  Seite  hat, 
dass  er  dem  Verschuldeten  verhältnissmässig  viel,  dem 
Schuldenfreien  verhältnissmässig  wenig  giebt.  Dieser 
sozialpolitische  Gesichtspunkt  erhält  nun  eine  erhöhte  prak- 
tische Bedeutung  durch  den  von  Sombart  ausgesprochenen 
Gedanken. 

Dass  heut  zu  Tage  ein  grosser  Theil  unserer  Grund- 
besitzer vom  Gutsherrn  bis  herab  zum  Kleinbauern  und 
zum  Stellenbesitzer  unter  Ueberschuldung  leidet,  ist  nicht 
wohl  zu  bestreiten.  Allerdings  liesse  sich  wohl  bei  gutem 
Willen  der  Betheiligten  zur  Beseitigung  dieses  Uebel- 
standes ganz  erheblich  mehr  thun,  als  bisher  geschehen 
ist.  Es  mag  Stimmen  geben,  welche  ein  Eingreifen  des 
Staates  in  die  Bodenkreditverhältnisse  auch  unter  den 
heutigen  Verhältnissen  nicht  für  angezeigt  halten.  Allein 
die  gegenwärtige  Frage  lautet  nicht,  ob  der  Staat  eine  ge- 
wisse Summe  aufwenden  soll,  um  den  verschuldeten  Grund- 
besitzern zu  Hilfe  zu  kommen,  sondern  ob  er  an  eine  Ver- 
schenkung, die  nun  einmal  beschlossene  Sache  zu  sein 
scheint,  nicht  wenigstens  sozialpolitisch  vernünttige  Be- 
dingungen knüpfen  soll.  Diese  letztere  Frage  sollte  ohne 


i)  Vergl.  Archiv  für  soziale  Gesetzgebung  und  Statistik, 
Bd.  V,  S.  573. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


N".  26. 


306 


Unterschied  des  politischen  und  wirtschaftlichen  Glaubens- 
bekenntnisses bejaht  werden. 

Erkennt  man  aber  den  Grundsatz  sozialpolitisch  ver- 
nünftiger Verwendung  an,  so  muss  man  auch  anerkennen, 
dass  nicht  blos  eine  vernünftige,  sondern  die  ver- 
nünftigste Verwendung  zu  suchen  ist.  Gerade  unter  dem 
Gesichtspunkt  des  Sombart’schen  Vorschlages,  welcher  den 
Staat  dazu  auffordert,  zu  prüfen,  zu  welchen  Zwecken  der 
bisherige  Steuerbetrag  weiter  verwendet  werden  soll,  tritt 
die  ganze  Unvernunft  zu  Tage,  die  darin  liegt,  zur  Beförderung 
der  „nothleidenden  Landwirthschaft“  nicht  blos  denen  etwas 
zu  geben,  welche  (wirklich  oder  vermeintlich)  Noth  leiden, 
sondern  auch  denen,  welche  anerkanntermassen  im  Ueber- 
fluss  sitzen.  Ueber  der  oben  gemachten  Unterscheiduni); 
zwischen  verschuldetem  und  unverschuldetem  Grundbesitz 
darf  man  doch  nicht  vergessen,  dass  schliesslich  der  Haupt- 
massstab für  die  Grundsteuer  in  der  Grösse  des  Besitzes 
liegt.  Den  grössten  und  reichsten  Besitzern  des  Bandes 
werden  bei  Erlass  der  Grundsteuer  kolossale  Summen  ge- 
schenkt, blos  weil  andere  „Noth  leiden“. 

Es  war  ebenfalls  in  den  Verhandlungen  des  Vereins 
für  Sozialpolitik,  wo  Professor  Sering  auf  die  Latifundien- 
besitzer aufmerksam  machte,  die  aus  ihren  Gütern  mehr 
Einnahmen  haben,  als  sie  verbrauchen  können,  die  mit 
ihren  Ueberschüssen  Jahr  für  Jahr  neue  Güter  zukaufen 
und  ihren  ohnedies  schon  bedrohlich  grossen  Besitz 
noch  mehr  vergrössern,  um  mit  ihren  gesteigerten 
Revenuen  dieses  „gemeinschädliche“  Treiben  in  noch 
grösserem  Massstabe  fortzusetzen.  Es  giebt  bei  uns  eine 
ganze  Anzahl  Uatifundienbesitzer,  welche  10,  20,  50  000  M. 
und  mehr  alljährlich  an  Grundsteuer  bezahlen.  Wenn  mit 
dem  Erlass  der  Grundsteuer  der  sozialpolitische  Gesichts- 
punkt einer  Fürsorge  für  die  Schwächeren  wirklich  ver- 
bunden wird,  wie  kann  man  es  verantworten,  dass  man 
jenen  allzu  Starken  eine  Summe  schenkt,  mit  der  sie  jähr- 
lich einen  Bauern  mehr  auskaufen  können?  Wie  kann 
man  es  verantworten,  ein  Gebahren  zu  stärken,  welches 
ein  so  sachkundiger  und  besonnener  Beurtheiler  unserer 
Landwirthschaft  als  „gemeinschädlich“  bezeichnet? 

Will  man  also  wirklich  die  Grundsteuer  zu  dem 
sozialpolitischen  Zwecke  verwenden,  den  wirthschaftlich 
Scliw  achen  in  der  von  Sombart  vorgeschlagenen  Weise  zu 
helfen,  so  wäre  es  das  Richtige,  das  gesammte  Grund- 
steuerkontingent von  40  Millionen  als  einen  einheitlichen 
Fonds  zu  betrachten  und  zur  Entlastung  der  heute  über- 
schuldeten Grundbesitzer  zu  verwenden.  Wenn  sich  die 
nicht  überschuldeten  Grundbesitzer  hiermit  einverstanden  er- 
klären, so  werden  wir  auch  an  die  in  letzter  Zeit  so  oft 
betheuerte  „Solidarität  der  Interessen  des  Grundbesitzes“ 
glauben  können. 

Die  den  preussischen  Finanzen  drohende  Schmach, 
dass  Staatsgelder  zur  Bereicherung  der  reichsten  Leute 
verwendet  werden  sollen,  könnte  auf  diese  Weise  erheblich 
gemildert  werden. 

Sombart  gehört  zu  den  wenigen  Mitgliedern  des 
preussischen  Abgeordnetenhauses,  deren  Stimme  bei  allen 
Parteien  in  hohem  Ansehen  steht.  Wir  hoffen,  dass  er 
seine  Worte  in  die  That  übersetzt  und  einen  bezüglichen 
Antrag  im  Abgeordnetenhause  einbringt. 

Berlin.  J.  Jastrow. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 
statistik. 

Städtische  Wivthschaftsbetriebe.  Ueber  die  von  der 
Armendeputation  verwalteten  wirthschaftlichen  Betriebe 
enthält  der  Bericht  über  die  Verwaltung  des  Armenwesens 
der  Stadt  Köln  pro  1891/92  nachstehende  Zusammenstellung. 
Die  unter  Leitung  des  Oekonomen  der  Armendeputation 
stehende  sogen,  freiwillige  Arbeitsanstalt,  bei  welcher  nur 
selbständige  Handwerker,  und  zwar  in  eigener  Betriebs- 
stätte, zur  Verarbeitung  der  von  der  Armendeputation  ge- 
lieferten Rohstoffe  thätig  gewesen  sind,  hat  geliefert:  a.  die 
Bekleidung  für  arme  Handwerkslehrlinge:  136  Paar  Schuhe, 
eben  so  viel  Hemden,  62  Drillichanzüge  und  74  Tuchan- 
züge; b.  Schuhe  für  Schulkinder:  1603  Paar  Lederschuhe 

und  48  Paar  Holzschuhe  zur  Vertheilung  durch  die  Bezirke 
und  in  einzelnen  Fällen  durch  die  Armendeputation,  123 
Paar  Lederschuhe  und  30  Anzüge  für  Knaben  zu  der  aus 
der  Stiftung  Michels  veranstalteten  Weihnachtsbescheerung, 
88  Paar  Lederschuhe  zur  Vertheilung  aus  der  Stiftung  Fischer, 
sowie  diverse  Kleidungsstücke  und  Bettzeug  für  die  Aussen- 
armenpflege.  Die  unter  derselben  Leitung  stehende  Koch- 
anstalt lieferte  7546  Portionen  Fleischbrühe  für  die  offene 
Krankenpflege.  Die  in  derselben  Weise  geleitete  Bäckerei, 
in  welcher  ein  Meister  und  zwei  Gehilfen  beschäftigt  waren, 
stellte  37  962  Stück  Roggenbrode  ä 2 Kilo  und  66  1 13  Stück 
Weizenbrode  ä 2 Kilo  für  die  geschlossenen  Anstalten  her. 
Der  Selbstkostenpreis  der  Roggenbrode  betrug  37,39,  der 
Weizenbrode  54,91  Pf.  Die  unter  Leitung  des  Verwalters 
des  Bürgerhospitals  durch  einen  Braumeister  und  zwei 
Gehilfen  in  gemietheten  Räumen  des  Alexianerklosters  be- 
triebene Brauerei  lieferte  das  für  die  geschlossenen  An- 
stalten erforderliche  Bier.  Es  wurden  hergestellt  1889/90 
233  400  Liter  (Selbstkostenpreis  10,26  Pf.  pro  Liter),  1890/91 
232  000  Liter  (Selbstkostenpreis  11,56  Pf.  pro  Liter),  1891/92 
243  950  Liter  (Selbstkostenpreis  10,58  Pf.  pro  Liter).  Die 
unter  Leitung  eines  angestellten  Apothekers  stehende 
Armenapotheke  lieferte  die  Arzneien  für  die  städtischen 
Kranken-  und  Armenanstalten,  für  die  offene  Kranken- 
pflege und  für  die  in  hiesigen  privaten  und  Wohlthätigkeits- 
anstalten  aufgenommenen  armen  Kranken.  Die  Zahl  der 
Verordnungen  hat  gegen  die  Vorjahre  zugenommen;  sie 
betrug  89  761  gegen  83  810  im  Jahre  1890/91  und  79  732  im 
Jahre  1889/90.  Desgleichen  hat  der  gegen  die  Ansätze  der 
Medizinaltaxe  zu  berechnende  Gewinn  sich  erhöht.  Der- 
selbe betrug  1889/90  65  650  M„  1890/91  74  587  M„  1891/92 
78  591  M.  Im  Allgemeinen  betrug  der  durchschnittliche 
Selbstkostenpreis  einer  Verordnung:  1889/90  50,38  Pf., 

1890/91  49,10  Pf.,  1891/92  45,49  Pf.  Der  Gesammtrechnungs- 
abschluss  der  wirthschaftlichen  Betriebe  stellt  sich  wie 
folgt.  Es  betrugen  die  Ausgaben:  bei  der  freiwilligen  Ar- 
beitsanstalt 1889/90  7334 M.,  1890/91  9710  M„  1891/92  14510  M.; 
bei  der  Kochanstalt  1177  bzw.  1296  bzw.  1711  M.;  bei  der 
Bäckerei  45  317  bzw.  45  591  bzw.  53  859  M.;  bei  der  Bier- 
brauerei 25  308  bzw.  29  503  bzw.  27  095  M.;  bei  der  Apo- 
theke 40  588  bzw.  41077  bzw.  40  886  M. 

Staatsmonopole  als  Konsequenz  der  Trusts  Mit 

38  gegen  I Stimme  hat  der  Senat  des  Bauernstaates 
Minnesota  eine  Denkschrift  an  den  Kongress  der  Vereinigten 
Staaten  beschlossen,  welche  ihn  auffordert,  auf  Grund  des 
Expropriationsrechts  Besitz  von  den  Hartkohlenländereien 
in  Pennsylvanien  zu  ergreifen  und  dieselben  unter  Bedin- 
gungen auszubeuten,  welche  sowohl  den  Kohlengräbern, 
wie  den  Konsumenten  gegenüber  gerecht  wären. 

Begründet  wird  diese  Forderung  damit,  dass  die 
Kohlenfelder  in  den  Besitz  von  einigen  Kompagnien  gelangt 
seien,  welche  die  Arbeitslöhne  herabdrücken,  die  Preise 
jedoch  erhöhen;  dass  sie  dem  Volk  mehr  an  Steuern  ab- 
nehmen, als  ein  halbes  Dutzend  souveräner  Staaten;  dass 
die  üblen  Zustände  in  der  Kohlenregion  ein  Auswuchs  des 
Privateigenthums-Rechts  sind,  durch  welches  ein  Artikel 
unbedingter  Xothwendigkeit  monopolisirt  wurde. 

Von  praktischer  Bedeutung  wird  der  Antrag  des 
Senats  von  Minnesota  vorerst  nicht  sein,  da  der  Kongress 
der  Vereinigten  Staaten  nicht,  auch  wenn  er  wollte, 
Ländereien  im  Staate  Pennsylvanien  ohne  Zustimmung  der 
Legislatur  desselben  expropriiren  könnte.  Aber  trotzdem 
ist  der  Vorgang  bemerkenswerth,  zeigt  er  doch,  wie  die 
Entwickelung  der  Trusts  in  den  Vereinigten  Staaten  dem 
Staatssozialismus  den  Boden  vorbereitet. 


No.  26. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


307 


Generalversammlung  des  Vereins  für  Sozialpolitik. 

Unter  zahlreicher  Betheiligung  begannen  Montag,  den 
20.  März,  im  grossen  Auditorium  der  Berliner  Universität  die 
Verhandlungen  der  Generalversammlung  des  Vereins  für  Sozial- 
politik. Prof.  Dr.  Schmoller  (Berlin)  eröffnete  die  Versamm- 
lung, indem  er  sein  Bedauern  aussprach,  dass  die  Generalver- 
sammlung, die  im  September  v.  J.  in  Posen  stattfinden  sollte, 
der  Choleraepidemie  wegen  nicht  stattfinden  konnte.  — Es 
wurden  alsdann  Prof.  Dr.  Schmoller  zum  ersten,  Geheimer 
Ober-Regierungsrath  Dr.  Thiel  zum  zweiten  und  Geheimer 
[ustizrath  Prof.  Dr.  Gierke  zum  dritten  Vorsitzenden  und  Prof. 
Dr.  Sering,  Privatdozent  Dr.  Oldenberg  (Berlin)  und  Dr  Losch 
(Stuttgart)  zu  Schriftführern  gewählt.  — Den  Verhandlungen 
wohnte  Staatsminister  von  Heyden  bei. 

Prof.  Dr.  Schmoller  äusserte  sich  hierauf  ungefähr 
folgendermassen:  Ich  will  den  Fragen,  die  uns  heute  und  morgen 
beschäftigen  werden,  nicht  vorgreifen.  Ich  will  blos  bemerken: 
Wie  wir  vor  zwei  Jahren  den  Kern  der  gewerblichen  Arbeiter- 
frage zu  behandeln  suchten,  so  wollte  der  Ausschuss  diesmal  die 
ebenso  wichtige,  ja  vielleicht  noch  wichtigere  ländliche  Arbeiter- 
bezw.  Bauernfrage  zur  Debatte  stellen.  Meine  Herren,  das,  was 
heute  und  morgen  hier  gesprochen  wird,  kann,  je  mehr  es  der 
Wahrheit  und  der  Gerechtigkeit  nahe  kommt,  desto  weniger 
darauf  rechnen,  den  Beifall  der  sozialen  Klassen  in  den  Parteien 
zu  finden,  die  naturgemäss  darauf  ausgehen,  einseitige  Klassen- 
interessen zu  verfolgen,  die  im  Kampfe  des  Tages  oline  Leiden- 
schaften ihre  Ziele  nicht  erreichen,  die  vielleicht  nur  dadurch 
die  Massen  sammeln  und  in  Bewegung  bringen  können.  Mag 
das  für  diese  richtig  oder  unentbehrlich  sein,  unsere  Aufgabe 
ist  es,  über  diesen  Gegensätzen,  über  den  Parteien  zu  stehen. 
Werden  wir  darum  von  beiden  entgegengesetzten  Seiten  ange- 
griffen, so  ist  das  in  meinen  Augen  kein  Fehler,  sondern  ein 
Vorzug.  Unsere  Aufgabe  ist  nicht,  uns  populär  zu  machen,  ein- 
seitig dem  einen  oder  anderen  Klasseninteresse  zu  schmeicheln. 
Dadurch  würde  die  Verständigung  nur  erschwert  werden.  Sie 
wird  ohnedies  um  so  schwieriger,  je  komplizirter  die  Gesellschaft 
sich  gestaltet,  je  verschiedener  die  Klassen  mit  entgegengesetzten 
Interessen  einander  gegenüber  stehen,  je  mehr  noch  Missver- 
ständniss,  Kurzsichtigkeit,  Uebertreibung  und  Leidenschaft  im 
Kampfe  des  Tages  mitspielen,  je  verschiedenere  Ideale  und 
Weltanschauungen  der  Parteien  und  Klassen  das  Bewusstsein 
geben,  im  Namen  der  höchsten  Prinzipien  zu  handeln.  In  einem 
freien  konstitutionellen  Staate  giebt  es  für  das  einzelne  Klassen- 
interesse, für  die  einzelne  getorderte  Massregel  keine  sichere 
Legitimation;  sie  muss  nicht  blos  von  Interessenten  ausgehen, 
sondern  die  Zustimmung  aller  Unbetheiligten,  der  überwiegenden 
öffentlichen  Meinung,  der  Wissenschaft,  der  unabhängigen  Tages- 
presse, zuletzt  der  Regierung  und  des  Parlaments  gefunden 
haben  Wir  suchen  im  Dienste  der  Wissenschaft  die  Wahrheit. 
Wir  suchen  nach  der  Wahrheit,  die  jedem  Unbefangenen  ein- 
leuchtet, die  über  den  Parteien  und  Klassen  steht,  die  nur  eine 
einzige,  jedem  normalen  Verstände  evidente  sein  kann.  Wir 
leben  der  Hoffnung,  dass  diese  Art  wissenschaftlicher,  unbe- 
streitbarer Erkenntniss  einen  zunehmenden  Einfluss  auf  alles 
Staats-  und  Gesellschaftsleben  gewinnen  werde,  dass  derjenige 
Staat  am  höchsten  steht,  der  hierin  am  weitesten  geht,  der  eine 
öffentliche  Meinung  sich  schafft,  die  nicht  auf  Interessen,  Leiden- 
schaft und  Missverständniss,  sondern  auf  wissenschaftlicher  Er- 
kenntniss beruht  Der  Verein  für  Sozialpolitik  besteht  nun  über 
zwanzig  Jahre.  Er  ist  sich  und  seinem  Programm  stets  treu  ge- 
blieben, für  die  Hebung  der  unteren  Klassen  einzutreten.  Dieses 
Ziel  steht  nicht  im  Widerspruch  mit  dem  eben  geschilderten 
Kampfe  für  den  Sieg  wissenschaftlicher  Erkenntniss  in  der 
öffentli<  hen  Meinung.  Freilich  konnten  wir  uns  dementsprechend 
nicht  ohne  weiteres  mit  dem  Ivlasseninteresse  der  Arbeiter,  noch 
wenige)  mit  ihren  einseitigen  Idealen  und  Theorien  identiflziren, 
aber  wir  sind  stets  für  ihre  berechtigten  Forderungen  einge- 
treten; und  das  war,  gegenüber  den  hergebrachten  Vorstellungen 
der  Gebildeten  und  Besitzenden  von  nicht  geringer  Bedeutung. 
Wir  sehen  wohl  alle  oder  fast  alle  in  der  heutigen  Arbeiterbe- 
wegung, auch  in  der  Sozialdemokratie,  nicht  wie  so  viele  der 
Besitzenden  blos  ein  Unglück,  eine  Unbequemlichkeit,  etwas  das 
man  nur  zu  bekämpfen  habe.  Nein,  diese  Bewegung  ist  uns 
eine  nothwendige  historische  Folge  unserer  geistigen  und  wirth- 
schaftlichen Entwickelung.  Die  allgemeine  Schulbildung,  die 
Presse,  die  nothwendige  demokratische  Färbung  aller  sonstigen 
Staatseinrichtungen,  die  Wunder  der  heutigen  Technik  und  des 
heutigen  Verkehrs  haben  die  unteren  Klassen  aus  dem  Schlummer 
gedankenlosen  Eindämmerns  erweckt;  sie  sind  erwacht,  sie 
fordern  mit  Recht  ein  gewisses  Mass  von  Einfluss,  eine  Berück- 
sichtigung ihrer  Interessen,  eine  grössere  Theilnahme  an  den 
wirthschaftlichen  und  geistigen  Gütern  unserer  Kultur.  Sie 
wollen  mit  Recht  in  selbstbewusster  Aktion  als  Gleichberechtigte 
theilnehmen  am  Staats-  und  Wirthschaftsleben.  In  alledem  sehe 
ich  wenigstens  und  wohl  die  meisten  von  uns  kein  Unglück,  im 
Gegentheil,  einen  ungeheuren  Fortschritt,  in  der  That  eine  Welt- 
wende, den  Beginn  einer  neuen  grossen  Epoche  der  Weltge- 
schichte. Aber  ebenso  klar  bin  ich  mir  der  Schwierigkeiten  und 
Gefahren  des  LTebergangs  bewusst  Es  ist  ein  Feuer  entzündet, 
das  durch  den  Appell  an  die  gemeinen  Instinkte  unsere  Kultur 
ebenso  vernichten,  als,  richtig  geleitet,  emporheben  kann.  Darum 
gilt  es,  ebenso  schroff,  ebenso  sicher  und  kalt  jeder  Drohung 


mit  Revolution  entgegenzutreten  und  an  den  grossen  Traditionen 
unseres  vaterländischen  Staatslebens  festzuhalten.  Vor  allem 
steht  mir  eins  fest:  im  Kampfe  der  Nationen,  der  sich  massigen, 
aber  zunächst  nicht  beseitigen  lässt,  haben  vor  allem  die  unteren 
Klassen  nur  da  Aussicht  auf  Besserung  und  LIebung,  wo  eine 
feste  Staatsgewalt  das  Ansehen,  die  Macht,  das  volle  wirthschaft- 
liche  Gedeihen,  den  Absatz  nach  aussen  sichert,  vermehrt,  vor 
jedem  Rückschlag  sichert.  Jedes  extreme  Vorgehen  hat  bis  jetzt 
stets  den  politischen  und  wirthschaftlichen  Niedergang  der  be- 
treffenden Staaten  rasch  herbeigeführt.  Auch  die  soziale  De- 
mokratie würde  dasselbe  Resultat  erzielen.  Darum  sind  wir 
arbeiterfreundlich,  aber  nicht  sozialdemokratisch;  darum  sind 
wir  für  demokratische  Einrichtungen,  aber  nur  insoweit  sie 
unsere  guten  bewährten  vaterländischen  und  monarchischen  In- 
stitutionen nicht  vernichten.  Möge  man  uns  darum  von  den 
entgegengesetzten  Standpunkten  aus  schmähen.  Wer  heute 
nicht  den  Muth  hat,  sich  schmähen  und  verlästern  zu  lassen, 
der  wird  nichts  Grosses  erreichen.  Mich  wenigstens  beseelt 
der  felsenfeste  Glaube  an  den  künftigen  Sieg  unserer  Sache, 
sonst  würden  Sie  mich  nicht  an  dieser  Stelle  sehen  (Lebhafter 
Beifall.) 

Den  ersten  Vortrag  zur  Einleitung  der  Verhandlungen  über 
„die  ländliche  Arbeiterfrage  und  die  ^deutschen  Binnenwande- 
rungen“ hielt  Herr  Prof.  Dr.  Knapp  aus  Strassburg  i.  E.  Der 
Vortragende  fasste  in  lichtvoller  Weise  die  Ergebnisse  der  im 
vorigen  Sommer  von  dem  Verein  für  Sozialpolitik  veranstalteten 
Enquete  über  die  Verhältnisse  der  Landarbeiter  zusammen,  in- 
dem er  sich  auf  Norddeutschland  beschränkte  und  dieses  in 
Gemässheit  der  vorwiegend  darin  zum  Ausdruck  kommenden 
Arbeitsverfassungen  in  drei  Theile  theilte:  der  erste  westlich 
der  Weser,  der  zweite  zwischen  Weser  und  Elbe,  der  dritte 
östlich  der  Elbe.  Das  in  dem  westlichen  Theil  vorwiegende 
Arbeitsverhältniss  ist  das  Heuerlingsverhältniss,  welches  in  der 
Verpachtung  eines  Stückes  Land  von  Seiten  des  Besitzers  an 
die  Arbeiter  besteht,  Dr.  Kaerger  hatte  in  seiner  Bearbeitung 
der  Enquete  über  die  Verhältnisse  in  diesem  Theil  Deutsch- 
lands das  Heuerlingsverhältniss  als  nach  jeder  Richtung  günstig 
und  für  Besitzer  wie  Arbeiter  vortheilhaft  bezeichnet,  so  dass 
man  seine  Verallgemeinerung  wünschen  könnte.  Knapp  zeigte 
aber,  dass  dieses  Verhältnis  und  sein  Gedeihen  den  west- 
fälischen Bauernhof  zur  Voraussetzung  hat,  dessen  Besitzer  in 
Bildung  und  Sitten,  wenn  auch  eben  nicht  im  Besitz,  mit  dem 
Heuerling  auf  einer  Stufe  steht  und  mit  ihm  umgeht.  In  dem 
mittleren  Theile  Norddeutschlands  überwiegen  die  in  Dörfern 
wohnenden  freien  Arbeiter,  die  auf  den  nicht  umfangreichen 
umliegenden  Rittergütern  Beschäftigung  finden  und  im  Üebrigen 
selbständig  sind.  Im  östlichen  Nordaeutschland  überwiegen  die 
grossen  Rittergüter,  auf  denen  die  Hauptklasse  der  Arbeiter 
instleute  sind.  Letztere  befinden  sich  aber  im  Rückgang,  weil 
an  Stelle  der  früheren  Naturallöhnung  mehr  Geldlöhnung,  an 
Stelle  der  patriarchalischen  eine  kapitalistische  Bewirthschaftung 
getreten  ist.  Hierdurch  werden  zugleich  die  Wanderarbeiter 
aus  Russland  und  Polen  angezogen,  die  sich  mit  niedrigem  Lohn 
zufrieden  geben,  mit  dem  sich  schliesslich  auch  die  Instleute 
begnügen  müssen.  Das  und  das  Fehlen  von  Bauerndörfern  be- 
wirke die  Abwanderung  nach  dem  Westen.  In  Uebereinstim- 
mung  mit  Prof.  Sering  (in  dessen  Werk  über  die  innere  Koloni- 
sation) forderte  Knapp  die  Anlegung  von  Bauerndörfern  im 
Osten  und  die  Ansiedelung  von  Arbeitern  in  diesen  Dörfern, 
indem  er  insbesondere  die  Errichtung  selbständiger  Arbeiter- 
kolonien als  sozialpolitisch  nachtheilig  verwarf.  Knapp  be- 
zeichnet die  Erfahrungen,  die  man  mit  dem  Ansiedelungsgesetz 
für  Posen  und  Westpreussen  in  Bezug  auf  Bauernkolonisation 
gemacht  habe,  als  günstige  und  glaubt,  dass  mit  den  beiden 
Rentengütergesetzen  von  1890  und  1891  noch  viel  erreicht  werden 
könne.  — Dem  interessanten  Vortrage  folgte  eine  Darlegung 
des  Unter-Staatssekretärs  a.  D.  Dr.  von  Mayr  (Strassburg)  über 
die  „Binnenwanderungen“,  zu  dessen  Erläuterung  die  Resultate 
der  vom  preussischen  Ministerium  des  Innern  in  den  Jahren 
1891  und  1892  veranstalteten  Ermittelungen  über  Ali-  und  Zu- 
wanderung gedruckt  vertheilt  wurden.  Der  Vortragende  be- 
schäftigte sich  vorzugsweise  mit  der  Technik  statistischer  Er- 
hebungen über  innere  Wanderung.  Nachdem  noch  die  Statuten 
dahin  abgeändert  worden,  dass  fortan  der  Beitrag  der  Mitglieder 
von  10  auf  15  M.  erhöht  wird,  trat  eine  Pause  ein. 

Im  weiteren  Verlauf  der  Sitzung  erstattete  der  Privat- 
dozent Dr.  Weber  (Berlin)  einen  Bericht  über  die  vom  Verein 
im  vorigen  Sommer  aufgenommene  Enquete  über  die  Verhält- 
nisse der  Landarbeiter.  Er  wies  auf  cfie  Schwierigkeiten  hin, 
die  mit  einer  solchen  Enquete  verbunden  sind.  Eine  sehr  gute 
Statistik  über  die  ländliche  Arbeiterfrage  sei  von  dem  Evange- 
lisch-sozialen Kongress  aufgenommen  worden;  allein  da  dessen 
Vertrauensleute  fast  ausschliesslich  Geistliche  waren,  so  könne 
auch  diese  Statistik  auf  Vollständigkeit  keinen  Anspruch  machen. 
Zur  Sache  selbst  bemerkte  der  Redner,  dass  die  Landarbeiter 
im  Osten  ganz  besonders  vom  Wandertriebe  ergriffen  seien, 
weil  sie  keinen  Landbesitz  erwerben  können,  und  sie  zeitlebens 
dazu  verdammt  seien,  Instleute  zu  bleiben.  Deshalb  begeben 
sich  die  meisten  Auswanderer  aus  dem  Osten  über  das  grosse 
Wasser,  nach  Amerika,  woselbst  sie  im  Stande  seien,  Landbesitz 
zu  erwerben.  Wenn  das  so  weiter  gehe,  dann  werden  im  Osten 
die  Arbeitgeber  und  Arbeiter  sehr  bald  aus  zwei  verschiedenen 
Nationen  bestehen.  Schon  jetzt  werden  die  deutschen  Arbeiter 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  26. 


im  Osten  vielfach  von  russischen  und  polnischen  Arbeitern  ver- 
drängt. Nicht  der  geringere  Lohn  allem  sei  die  Ursache  dieses 
Zustandes,  denn  nicht  immer  erhalten  die  ausländischen  Arbeiter 
geringere  Löhne  als  die  deutschen;  es  trete  noch  der  Umstand 
hinzu,  dass  die  ausländischen  Arbeiter  der  Armenlast  nicht  ver- 
fallen, dass  man  ihnen  bedeutend  mehr  bieten  könne  als  den 
deutschen  Arbeitern,  da  ein  Wink  an  den  zuständigen  Amts- 
vorsteher genüge,  um  die  fremden  Arbeiter  über  die  Grenze  zu 
schaffen.  Es  sei  zweifellos,  dass  diese,  wenn  auch  nur  zeitweise 
beschäftigten  Landarbeiter  einmal  die  deutschen  Landarbeiter 
von  ihrer  heimathlichen  Scholle  treiben  und  andererseits  die 
Löhne  der  heimischen  Arbeiter  herabdrücken.  Dadurch  werden 
die  Errungenschaften  unserer  Kultur  herabgedrückt  und  die 
Kaufkraft  unseres  Volkes  gelähmt.  Aber  noch  grösser  sei  durch 
diese  Verhältnisse  die  Gefahr  für  unsere  nationalen  Aufgaben. 
Der  östliche  Grossgrundbesitzer  sei  nicht  mehr  in  der  Lage,  die 
nationalen  Interessen  zu  vertheidigen,  da  ihm  die  Hintersassen 
fehlen.  Wenn  ein  schlesischer  Grossgrundbesitzer  vor  einiger 
Zeit  im  Parlament  gesagt  habe:  es  muss  den  Grossgrundbesitzern 
gestattet  sein,  sich  die  Arbeiter  zu  holen,  wo  es  ihnen  beliebt, 
so  sei  das  ein  Manchesterstandpunkt  im  schroffsten  Sinne  des 
Worts.  Wenn  die  Einwanderung  fremder  Arbeiter  nach  dem 
Osten  unseres  Vaterlandes  in  der  bisherigen  Weise  zunehme, 
dann  sei  der  Osten  nicht  mehr  in  der  Lage,  seiner  Aufgabe,  das 
Deutsch thum  im  Frieden  zu  vertheidigen,  zu  entsprechen.  Er 
wolle  der  Beschränkung  der  Freizügigkeit  nicht  das  Wort  reden; 
man  werde  doch  wohl  aber  in  Erwägung  ziehen  müssen,  ob  es 
nicht  angezeigt  erscheine,  die  Einwanderung  russischer  und 
polnischer  Arbeiter  zu  beschränken,  und  ausserdem  werde  eine 
staatliche  Regelung  der  Landarbeiterlöhne  eintreten  müssen.  Es 
sei  dies  keineswegs  etwas  Unerhörtes,  in  Mecklenburg  bestehe 
bereits  eine  solche  Staatsraison.  Er  sei  entfernt,  die  Grossgrund- 
besitzer im  Osten  für  die  geschilderten  Verhältnisse  verant- 
wortlich zu  machen  Die  Ursache  liege  in  den  gesammten  Ver- 
hältnissen der  Nachbarländer.  Da  der  Grundbesitz  im  Osten 
mit  den  Nachbarländern  schwer  konkurriren  könne,  so  sei  es 
um  so  nothwendiger,  den  Kleinbesitz  zu  fördern,  die  deutschen 
Arbeiter  durch  innere  Kolonisation  sesshaft  zu  machen,  dadurch 
würde  auch  der  Grossgrundbesitz  in  der  Lage  sein,  genügende 
deutsche  Arbeitskräfte  zu  erhalten.  Selbstverständlich  müssten 
die  staatlichen  Domänen  betreffs  Besserung  der  Arbeiterver- 
hältnisse mit  gutem  Beispiele  vorangehen.  Wenn  es  in  der  bis- 
herigen Weise  weitergehe,  dann  werden  die  ländlichen  Arbeiter 
einem  für  das  gesammte  Staatswesen  geradezu  gefährlichen 
Proletariat  verfallen.  Wenn  es  sich  heute  um  die  Vertheidigung 
der  deutschen  Ostgrenze  handele,  dann  sei  es  nicht  zweifellos, 
dass  das  deutsche  Volk  wie  ein  Mann  zusammenstehen  werde. 
Fraglich  sei  es  jedoch,  wie  sich  die  Dinge  gestalten  würden, 
wenn  es  sich  um  die  nicht  minder  wichtige  Vertheidigung  des 
Deutschthums  an  der  Ostgrenze  im  Frieden  handelte.  Venn 
unsere  Arbeiterbevölkerung  aber  auf  einer  höheren  Kulturstufe 
erhalten  werden  solle,  dann  sei  es  in  erster  Linie  nothwendig, 
die  deutsche  Einheit  zu  erhalten  und  zu  befestigen.  Deshalb 
sei  es  Pflicht  des  Staats,  an  die  Lösung  dieser  Frage  ohne 
Säumen  und  mit  voller  Energie  heranzugehen,  obwohl  man  sich 
nicht  verhehlen  dürfe,  dass  dabei  ein  Kampf  zu  führen  sein 
werde  zum  Theil  gegen  den  Grossgrundbesitz,  insbesondere  aber 
gegen  das  Manchesterthum.  (Lebhafter  Beifall.)  — Während 
dieser  Rede  war  der  Finanzminister  Dr.  Miquel  erschienen. 

Prof.  Dr.  Fahlbeck  (Schweden)  machte  Mittheilungen 
über  die  ländlichen  Arbeiterverhältnisse  in  Schweden.  — Dr. 
Quarck  (Frankfurt  a.  M.)  bemängelte  die  vom  Verein  für  Sozial- 
politik über  die  ländlichen  Arbeiterverhältnisse  angestellte 
Enquete.  Zu  tadeln  sei  es,  dass  man  nicht  offen  gesagt,  dass 
man  nur  Unternehmer  gefragt  habe.  Auch  die  Bearbeitung 
der  Enquete  könne  er  nicht  billigen,  da  sie  die  Unternehmer- 
auskünfte allzudeutlich  an  der  Stirn  trage.  Auf  den  Titel 
des  jetzt  herausgegebenen  Enquetewerks  hätte  man,  um  Irre- 
führungen zu  vermeiden,  setzen  sollen  : „nach  den  Auskünften 
der  Unternehmer“.  Die  Bearbeitung  der  drei  Bände  lasse  Manches 
zu  wünschen  übrig  und  sei  so  unlesbar  und  unübersichtlich  wie 
möglich.  Einige  Bearbeiter  geständen  zu,  dass  die  Gutsbesitzer 
ihre  eigenen  Arbeiterverhältnisse  nicht  kennten  Es  wimmle  von 
unzulässigenVerallgemeinerungen,  Schönfärbereien  und  Schimpfe- 
reien gegen  die  sozialdemokratische  Bewegung ; vorhin  habe 
Professor  Schmoller  versichert,  dass  man  der  Sozialdemokratie 
objektiv  gegenüberstehe:  weshalb  drucke  der  Verein  also  in 
seiner  Enquete  diese  öden  Schimpfereien  ab  ohne  irgend  einen 
Zusatz  ? Üeber  die  Ernährungs-  und  Kleidungsverhältnisse  der 
Leute  enthielten  die  drei  Bände  wenig,  über  ihre  elenden 
Wohnungen  fast  gar  nichts.  Die  Arbeitszeiten  seien  regelmässig 
zu  kurz  angegeben,  von  der  Gesindeordnnng  heisse  es  nur 
immer,  sie  möge  ja  nicht  abgeändert  werden,  weil  sonst  die 
Gutsbesitzer  noch  schlechter  fahren  würden.  Das  zeuge  nicht 
von  gutem  Gewissen.  Redner  weist  an  einigen  weiteren  Bei- 
spielen nach,  dass  die  Unternehmer  der  Provinz  Sachsen  die 
Verhältnisse  rosig  schilderten , während  abgedruckte  Arbeits- 
verträge einen  Blick  in  das  Elend  der  Arbeiter  thun  Hessen. 
Auf  Grund  eines  solchen  Materials  seien  natürlich  die  Bearbeiter 
zu  den  ungereimtesten  Schlussfolgerungen  gekommen,  die  sich 
gegenseitig  widersprächen;  der  eine  stemple  die  ländliche  Ar- 
beiterfrage zur  Unternehmerfrage,  der  andere  müsse  die  Prole- 
tarisirung  zugeben.  Die  Enquete  bringe  ein  verzerrtes  Bild  der 


Arbeiterverhältnisse  und  man  könne  nur  sagen:  es  muss  von 
vorn  angefangen  werden. 

Privatdozent  Dr.  Kärger  (Berlin):  Dass  die  Enquete 
Mängel  habe,  sei  ganz  erklärlich.  Dass  er  zu  einem  anderen 
Schlüsse  gekommen  sei,  als  Dr.  Weber,  sei  um  so  erklärlicher, 
da  er  auf  Grund  der  Ergebnisse  im  Westen  geurtheilt,  während 
Dr.  Weber  den  Osten  im  Auge  gehabt  habe.  Andererseits 
komme  es  auch  auf  den  persön liehen  Standpunkt  des  Bericht- 
erstatters an.  Er  bleibt  dabei : er  kenne  nur  eine  ländliche 
Arbeiterfrage  vom  Standpunkt  des  Unternehmerthums,  und  man 
könne  nicht  tragen : wie  ist  die  materielle  Lage  des  ländlichen 
Arbeiters  zu  bessern?  (Widerspruch.)  Das  Verhältniss  der 
Land-  und  Industriearbeiter  sei  durchaus  verschieden.  Es  gebe 
auf  dem  Lande  keine  Produktionskrisis  und  keine  Reservearmee 
wie  bei  der  Industrie.  Der  ländliche  Unternehmer  sei  genöthigt, 
soviel,  als  auf  seinem  Grund  und  Boden  vorhanden,  produziren 
zu  lassen.  Er  gebe  zu,  dass  in  vielen  Gegenden  für  die  Arbeiter 
noch  vieles  zu  wünschen  übrig  bleibe.  Im  allgemeinen  habe 
die  Enquete  aus  fast  allen  Gegenden  eine  steigende  Tendenz 
ergeben.  Man  habe  sich  sehr  entrüstet  über  den  Import  chine- 
sischer Arbeiter.  Wenn  er  auch  diesem  Import  nicht  direkt  das 
Wort  reden  wolle,  so  könne  er  diese  Entrüstung  nicht  theilen  ; 
denn  es  sei  Thatsache,  dass  die  ländlichen  Arbeiter  selbst  bei 
hohen  Löhnen  auswandern.  Jedenfalls  werde  man  gegen  den 
Import  von  ländlichen  Arbeitern  aus  den  deutschen  Kolonien 
nichts  einwenden  können.  (Widerspruch.)  So  lange  die  länd- 
lichen Arbeitgeber  sich  in  Noth  befinden,  werde  man  ihnen 
nicht  verwehren  können,  sich  die  erforderlichen  Arbeitskräfte 
zu  schaffen,  wo  sie  sie  finden. 

Abg.  Sombart  (Ermsleben) : Er  wolle  nicht  von  gelben 
und  schwarzen  Arbeitern  sprechen,  soweit  als  möglich  solle  man 
an  den  deutschen  Arbeitern  festhalten.  Er  halte  auch  dafür, 
dass  man  wohl  hie  und  da  qualifizirte  Arbeiter  hätte  befragen 
können,  obwohl  er  aus  eigener  Erfahrung  die  Schwierigkeiten 
einer  solchen  Befragung  kenne.  Er  verkenne  auch  nicht  die  von 
Dr.  Weber  geschilderte  Gefahr;  allein  die  Nothlage,  in  der  sich 
die  östlichen  Grossgrundbesitzer  befinden,  mache  es  nothwendig, 
dass  polnische  und  russische  Arbeiter  zeitweise  beschäftigt 
werden. 

Landrath  von  Werther  (Halle  a.  S.) : Die  Grossgrund- 
besitzer haben  erst  zu  fremden  Arbeitern  gegriffen,  als  sie  sich 
in  einer  Nothlage  befanden.  Zunächst  haben  sich  die  ländlichen 
Arbeitgeber  einem  Vacuum  gegenüber  befunden.  Die  ländlichen 
Arbeiter  wenden  sich  in  immer  grösseren  Massen  der  Industrie 
zu.  Daran  haben  aber  die  ländlichen  Arbeitgeber  keine  Schuld 
und  es  sei  zu  befürchten,  dass  auch  die  innere  Kolonisation 
hieran  wenig  ändern  werde.  Den  Kontraktbruch  könne  man 
allerdings  den  Arbeitern  nicht  allein  zur  Last  legen.  Die  Arbeit- 
geber, die  die  Arbeiter  beschäftigen  wollen,  naben  zum  min- 
desten dieselbe  Schuld  Die  Industrie  nehme  sich  eben  die 
Arbeiter,  wo  sie  sie  finde.  Die  Industrie  ziehe  die  besten  Ar- 
beiter von  den  Dörfern  in  die  Städte  und  sobald  sie  Mangel  an 
Arbeit  habe,  stosse  sie  die  schlechtesten  Arbeiter  ab.  Die  länd- 
lichen Arbeitgeber  seien  nicht  in  der  Lage,  ein  Gleiches  zu 
thun , deshalb  seien  sie  auch  nicht  in  der  Lage,  die  nackte 
Geldbezahlung  einzuführen.  In  der  Provinz  Sachsen  habe  sich 
ein  ländlicher  Arbeitgeberveroancl  gegründet,  der  den  freien 
Arbeitsvertrag  zur  Grundlage  und  die  Betheiligung  am  Gewinn 
als  Ziel  habe.  Er  gebe  sich  der  Hoffnung  hin,  dass  es  dadurch 
gelingen  werde,  bessere  Verhältnisse  zu  schaffen. 

Prof.  Dr.  Conrad  (Halle  a.  S.)  bestritt,  dass  die  materielle 
Lage  der  ländlichen  Arbeiter  sich  verschlechtert  habe  Einen 
Ausweg  behufs  Lösung  der  Frage  erblickte  der  Redner  u.  a. 
darin,  dass  die  deutschen  Landwirthe  sich,  gleich  ihren  pol- 
nischen Kollegen,  bemühen,  tüchtig  in  ihrem  "Fach  zu  werden 
und  dass  die  Grossgrundbesitzer  sich  auf  die  Bewirtschaftung 
eines  gewissen  Terrains  beschränken,  und  das  übrige,  das  sie 
nicht  übersehen  können,  ihren  Arbeitern  zur  Bewirtschaftung 
übergeben.  Dadurch  würden  sich  die  Grossgrundbesitzer  einen 
sesshaften  Arbeiterstand  schaffen. 

Dr.  Schoenlank  führt  aus:  Es  mag  paradox  klingen, 

wenn  gerade  er  erkläre,  dass  die  Enquete  des  V ereins  für  Sozial- 
politik befriedigend  sei.  Nicht  etwa  als  eine  Darstellung  der 
ändlichen  Arbeiterzustände;  darüber  herrsche  ja  kein  Wider- 
spruch, und  Herr  Weber  habe  es  in  seiner  Monographie  aus- 
drücklich gesagt,  dass  von  der  Enquete  die  Feststellung  der  Lage, 
in  welcher  sich  die  Landarbeiter  zur  Zeit  tatsächlich  objektiv 
befinden,  nicht  erwartet  werden  dürfe.  Aber  die  Erhebung 
sei  werthvoll  als  eine  urkundliche  Sammlung  von  Bekenntnissen 
schöner  Unternehmerseelen,  die  zum  grossen  Theil  mit  herz- 
erfrischender Naivetät  sich  ausgesprochen  haben.  Es  verstehe 
sich,  dass  die  Erhebung,  legt  man  an  sie  den  Maassstab  der 
wissenschaftlichen  Methodologie,  durchaus  unzureichend,  dass 
sie  verfehlt  sei.  Aber  dieser  misslungene  Versuch  erinnere 
daran,  dass  es  dringende  Pflicht  des  Reichs,  oder  Preussens, 
des  grössten  Bundesstaats,  schon  lange  gewesen,  eine  wirklich 
brauchbare  Enquete  nach  englischem  Muster  mit  kontradikto- 
rischem Verfahren  u.  s.  w.  zu  veranstalten.  Trotz  alledem  ent- 
hülle die  aus  Unternehmerquellen  geschöpfte  Darstellung  eine 
solche  Fülle  schwerer  Missstände,  schildere  eine  so  beklagens- 
werthe  Situation  der  deutschen  Landarbeiterschaft,  dass  die 
Verbesserung  der  Lage  des  landarbeitenden  Volkes  als  eine 
dringende,  rascheste  Lösung  heischende  Aufgabe  sich  darstelle. 


No.  26. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


309 


Dr.  Weber,  dessen  zum  grossen  Theil  vorzüglichen  Aus- 
führungen in  vielen  Punkten  beizustimmen  ist,  hat  als  ein  be- 
deutsames Mittel  zur  Beseitigung  der  zu  Tage  getretenen 
Uebel  den  Ausschluss  der  polnischen  Arbeiter  von  den  deut- 
schen Grenzen  gefordert.  Diese  Polensperre  ist  ein  Gegen- 
stand, über  den  man  diskutiren  kann.  Redner  betont,  dass 
er  hier  nur  seine  private  Ansicht  ausspreche.  Es  lässt  sich 
geltend  machen,  dass  die  nordamerikanischen  Arbeiter  in  ihrer 
grossen  Mehrheit  für  die  Chinesenbill  eingetreten  sind,  weil  sie 
in  den  gelbhäutigen  Kulis  Lohndrücker  erblickten,  die  in  die 
Union  eingeführt  wurden,  um  ihnen  Schmutzkonkurrenz  zu 
machen.  Die  Polensperre,  die  Herr  Weber  empfiehlt,  ist 
ein  Messer  ohne  Klinge,  wenn  die  nothwendige  Ergänzung 
fehlt,  die  Koalitionsfreiheit  der  Landarbeiter  und  die  "Beseiti- 
gung, die  radikale  Beseitigung  der  Gesinde-Ordnung.  That- 
kräftige  Interessenvertretung  durch  straffe  Organisation  und 
Fortfall  jenes  feudalen  Gesinde- Ordnurags -Wesens,  das  eine 
Schmach  für  unser  Jahrhundert  ist,  das  nicht  hineingehört 
in  das  Zeitalter  der  allgemeinen  Wehrpflicht,  der  allge- 
meinen Schulpflicht,  des  allgemeinen  Stimmrechts,  das  sind  die 
nächsten  Ziele  der  Landarbeiterpolitik.  Herr  Welrer  habe  ein- 
gewendet, die  Landarbeiter,  zerspalten  in  so  mannigfaltige 
Gruppen,  seien  nicht  organisationsfähig,  Insten,  Einlieger,  DepJr- 
lanten  u.  s.  w.  hätten  verschiedenartige  Interessen.  Nun,  die 
Sorge  für  eine  zweckmässige  Organisation  überlasse  man  nur 
ruhig  den  Landarbeitern  selbst,  die  sich  ihre  Fachverbände 
schon  schaffen  werden,  ist  ihnen  erst  das  Koalitionsrecht  ge- 
setzlich gewährleistet.  Es  werde  sich  für  sie  bald  heraussteilen, 
dass  die  vitalen , die  grossen  Interessen  aller  Landarbeiter- 
schichten dieselben  sind. 

Die  herrschende  Klasse  in  den  Parlamenten,  vor  allem  der 
Grossgrundbesitz,  werde  sich  dagegen  sperren.  Aber  so  gut  der 
Widerstand  des  grossgewerblichen  Unternehmerthums  gegen 
Maximalarbeitstag  und  Industriearbeiterschutz  in  den  verschie- 
denen Kulturstaaten  gebrochen  wurde  und  wird,  so  werde  auch 
das  Klasseninteresse  des  Grossgrundbesitzes  überwunden  werden 
durch  die  elementare  Macht  der  sozialen  Bewegung,  durch  den 
Willen  des  Volkes. 

Geheimer  Ober  - Regierungsrath  Dr.  Thiel  (Berlin): 
Zwischen  den  Industrie-  und  den  Landarbeitern  bestehe  doch 
ein  derartiger  Unterschied,  dass  nicht  dieselben  Bestimmungen 
angewendet  werden  können.  Der  Landarbeiter,  der  vielfach  die 
Möglichkeit  habe,  selbst  Unternehmer  zu  werden,  sei  dem  Ar- 
beitgeber nicht  derartig  bedingungslos  preisgegeben,  wie  der 
Industriearbeiter.  Die  Gesindeordnung  könnte  wohl  reformirt 
werden,  für  jugendliche  landwirthschaftliche  Arbeiter  sei  jedoch 
ein  gewisses  patriarchalisches  Verhältnis  erforderlich.  Er  sei 
wohl  für  die  innere  Kolonisation,  diese  müsse  aber  so  einge- 
richtet sein,  dass  sie  nicht  Zwergwirthschaften  schaffe,  wie  sie, 
zum  grossen  Schaden  der  Besitzer,  vielfach  im  Süden  und 
Westen  Deutschlands  bestehen.  Ausserdem  halte  er  es  im 
Interesse  der  landwirthschaftlichen  Kulturen  für  erforderlich, 
dass  die  Wanderung  der  ländlichen  Arbeiter  nicht  beschränkt 
werde,  damit  dort,  wo  die  intensivste  Landwirthschaft  vorhanden, 
auch  die  besten  Arbeitskräfte  vorhanden  seien.  Es  sei  das  um 
so  nothwendiger,  da  die  Landarbeit  sich  nur  auf  eine  gewisse 
Periode  beschränke 

Es  sprachen  noch  Generalsekretär  Buek  (Berlin),  Sekretär 
Dr.  Suchsland  (Halle  a.  S.)  und  Dr.  Quarck  (Frankfurt  a,  M.). 
— Geheimer  Regierungsrath,  Prof.  Dr.  JAdolf  Wagner  (Berlin) 
wandte  sich  unter  grossem  Beifall  der  Versammlung  gegen  den 
Import  chinesischer  Arbeiter.  Er  stehe  vollständig  auf  dem 
Standpunkt  des  Dr.  Weber,  dass  nur  die  Staatsraison  bei  Beur- 
theilung  dieser  Frage  massgebend  sein  könne.  — Nach  einem 
längeren  Schlussreferat  des  Dr.  Weber  (Berlin)  wurde  gegen 
6 Lflir  Abends  die  Sitzung  geschlossen. 

In  der  zweiten,  vom  Dienstag,  den  21.  März,  Sitzung  refe 
rirte  Prof.  Dr.  Spring  über:  Die  Bodenbesitzvertheilung  und  die 
Sicherung  des  Kleingrundbesitzes.  Der  Redner  gab  zu,  dass  es 
ein  rein  menschliches  Postulat  sei,  auch  den  ländlichen  Arbeitern 
das  Koalitionsrecht  zu  gewähren.  Die  ländliche  Arbeiterfrage 
sei  aber  nur  durch  Beschaffung  eines  bäuerlichen  Mittelstandes 
zu  lösen.  Er  halte  es  für  erforderlich,  auch  die  Landarbeiter 
durch  Parzellirungen  zu  Besitzern  zu  machen.  Der  Einwand, 
diese  Kleinbesitzer  könnten  die  Konkurrenz  mit  den  Gross- 
grundbesitzern nicht  aushalten,  sei  hinfällig.  Eine  Accumulation 
der  Betriebe  sei  in  der  Landwirthschaft  nicht  wahrnehmbar.  Die 
landwirthschaftliche  Produktion  würde  durch  die  Vermehrung 
des  Kleinbesitzes  eher  eine  Förderung  als  eine  Einschränkung 
erfahren.  Die  zunehmende  Intensität  der  Landwirthschaft  und 
die  wachsenden  Ansprüche  der  Arbeiter  führen  mit  Nothwendig- 
keit  zur  Verkleinerung  des  Landbesitzes.  Die  ländlichen  Gross- 
grundbesitzer seien,  infolge  der  zunehmenden  Intensität  der 
Landwirthschaft,  kaum  noch  in  der  Lage,  ihren  Besitz  in  ge- 
höriger Weise  zu  bewirthschaften.  Eine  Verkleinerung  des 
Grossgrundbesitzes  würde  den  Grossgrundbesitzer  nur  entlasten. 
Er  würde  alsdann  nicht  mehr  Zinsen  zahlen  müssen  für  eine 
Bodenfläche,  die  ihm  keinen  oder  nur  geringen  Ertrag  bringe. 
Im  Osten  unseres  Vaterlandes  sei  mit  der  Ansiedelung  von 
Kleinbauern  bereits  begonnen  worden.  Hier  haben  sich  bereits 
12  000  selbständige  Besitzer  mit  insgesammt  60  000  Köpfen  als 
kleine  Landbesitzer  auf  etwa  140-  bis  150  000  ha  neu  angesiedelt. 
Durch  ein  derartiges  System  werde  nach  Generationen  ein 


blühender  Bauernstand  geschaffen  werden.  Dadurch  würden 
aber  auch  die  Verhältnisse  der  Städtebewohner  eine  wesentliche 
Besserung  erfahren,  und  es  sei  selbstverständlich,  dass,  wo  es 
dem  Bauernstände  gut  gehe,  auch  die  finanziellen  und  militäri- 
schen Verhältnisse  des  Staats  gute  seien.  Allerdings  gelte  es, 
dem  zunehmenden  ländlichen  Verschuldungssystem  zu  begegnen. 
Die  Bodenverschuldung  sei  der  letzte  Grund  der  landwirth- 
schaftlichen Krisis.  Gee-en  diese  zunehmende  Bodenverschuldung 
können  weder  Getreidezölle  noch  die  Doppelwährung  etwas 
nützen ; denn  der  Landwirth  trage  allein  das  Risiko  der  sinken- 
den Getreidepreise,  während  seine  Zinsverpflichtungen  unver- 
ändert weiter  laufen.  Durch  die  fortwährende  Preissteigerung 
des  Bodenbesitzes  wachse,  infolge  der  Art  der  Vererbung  und 
des  Besitzwechsels,  die  ländliche  Verschuldung  von  Generation 
zu  Generation.  Man  sei  bereits  auf  dem  Standpunkt  angelangt, 
dass  die  Bodenrente  den  Ertrag  der  zu  zahlenden  Zinsen  nicht 
mehr  decke,  und  dass  diejenigen  den  Nutzen  von  dem  länd- 
lichen Bodenerträge  haben,  die  der  Bearbeitung  vollständig  fern 
stehen.  Wenn  man  den  Landwirth  nicht  untergehen  lassen 
wolle,  dann  sei  es  erforderlich,  die  zunehmende  Verschuldung 
des  bäuerlichen  Grundbesitzes  zu  verhüten.  Selbstverständlich 
dürfe  dies  nicht  geschehen  durch  eine  bureaukratische  Kontrole 
oder  durch  Einschränkung  des  Meliorationskredits;  denn  die  er- 
forderlichen Meliorationen,  die  mit  den  technischen  Fortschritten 
Hand  in  Hand  gehen,  machen  den  Kredit  für  den  Landmann 
nothwendig.  Der  gewaltige  Aufschwung  unserer  Landwirthschaft 
im  Laufe  dieses  Jahrhunderts  wäre  unmöglich  gewesen  ohne  die 
Zuführung  von  Kapitalien.  Je  mehr  die  landwirthschaftliche  Be- 
völkerung sich  an  jenen  Fortschritten  betheiligt,  um  so  mehr 
sehe  sie  sich  auf  die  ausgedehnte  Inanspruchnahme  des  Kredits 
angewiesen,  und  es  sei  erforderlich,  ihr  diesen  Kredit  in  viel 
höherem  Masse  als  bisher  zugänglich  zu  machen.  Aber  es  sei 
nothwendig,  eine  Verschuldungsgrenze  im  Grundbuch  festzu- 
stellen, die  dem  auch  auf  anderen  Rechtsgebieten  zur  Anerken- 
nung gelangten  Grundsatz  Rechnung  trage,  dass  der  Arbeitslohn 
von  der  Zwangsvollstreckung  frei  bleibe.  Demgemäss  würde 
als  unverschuldbar  etwa  der  mässige  Pachtwerth  eines  Grund- 
stücks in  das  Grundbuch  einzutragen  sein;  ferner  müsse  die 
Zwangsvollstreckung  aus  Personalschulden  für  den  Grund  und 
Boden  auszuschliessen  sein.  Hierauf  berichtete  der  Präsident 
der  Generalkommission  in  Frankfurt  Metz  über  seine  praktischen 
Erfahrungen  bei  Errichtung  von  Rentengütern  auf  Grund  des 
Gesetzes  von  1891 ; er  bedauerte,  dass  über  die  einschlägigen 
Bestimmungen  sowohl  bei  den  Rentengutsaustheilern,  wie  den 
Erwerbern  noch  zu  wenig  Kenntniss  verbreitet  sei.  — Der  fol- 
gende Redner  Prof.  Dr.  Gierke  legte  die N othwendigkeit  einer 
Aenderung  der  Rechtsordnung  für  den  Grundbesitz^  dar.  Das 
Ziel  müsse  sein  die  Erhaltung  des  Privatbesitzes  am  Grund  und 
Boden,  aber  in  Verbindung  mit  einer  sozialen  Gestaltung,  welche 
die  Erhaltung  des  Besitzes  möglich  mache.  Hierzu  sei  eine 
sozialrechtliche  Regelung  des  ländlichen  Grundbesitzes  noth- 
wendig. Es  müsse  ein  antikapitalistisches  bäuerliches  Erbrecht, 
ein  obligatorisches  Anerbenrecht  und  eine  Sicherung  gegen 
Kapitalverschuldung  durch  freiwilligen  Verzicht  auf  das  gefahr- 
volle „Grundrecht“  der  Bodenverschuldung , ein  fakultatives 
Heimstättenrecht  geschaffen  werden.  Hierzu  könne  die  Organi- 
sation des  Kreditwesens  benutzt  werden,  indem  sie  demjenigen, 
der  Kredit  brauche,  Bedingungen  für  den  Ausschluss  künftiger 
Verschuldung  auferlege  und  die  Verschuldungsfonnen  em- 
schränke;  ebenso  sei  die  Kreditorganisation  für  die  Entlastung 
von  bestehenden  Schulden  durch  Verwandlung  der  Kapitalschuld 
in  amortisirbare  Rentenschulden  heranzuziehen.  — Nachdem 
noch  der  Vorsitzende  mitgetheilt,  dass  die  inzwischen  vollzogene 
Wahl  des  Ausschusses  die  Wiederwahl  der  bisherigen  Mitglieder 
ergeben  habe,  trat  eine  Pause  ein. 

Im  weiteren  Verlauf  der  Sitzung  machte  in  der  Debatte 
über  die  Bodenbesitzvertheilung  und  die  Sicherung  des  Klein- 
grundbesitzes, Prof.  Dr.  Hasbach  (Königsberg  i.  Pr.)  ein- 
gehende Mittheilungen  über  englische  Agrarverhältnisse,  wäh- 
rend Herr  von  Riepenhausen  (Crangen)  sich  des  längeren 
über  das  Heimstättenrecht  äusserte. 

Prof.  Dr.  Adolf  Wagner:  Im  Grundgedanken  bezüglich 

der  ländlichen  Arbeiterfrage  scheine  in  der  Versammlung  ziem- 
liche Uebereinstimmung  zu  herrschen,  nur  bezüglich  der  Mittel, 
die  angewendet  werden  sollen,  um  eine  Lösung  dieser  Frage 
herbeizuführen,  herrschen  einige  Meinungsverschiedenheiten. 
Er  stimme  dem  Herrn  Dr.  Weber  bei,  dass  die  Frage  vom 
Standpunkt  der  Staatsraison  beurtheilt  werden  müsse.  Die 
Wanderlust  der  Landarbeiter  sei  stets  in  den  Jahren  der  Speku- 
lation am  grössten  gewesen.  Diese  Spekulation  sei  zumeist 
entstanden  durch  das  Uebertreiben  der  Schutzzölle,  in  welcher 
Folge  dem  Leben  in  dulci  jubilo  der  Katzenjammer  stets  gefolgt 
sei.  Er  halte  es  für  nothwendig,  die  Einwanderung  der  polni- 
schen Arbeiter  nach  Deutschland  möglichst  zu  beschränken. 
Ob  es  möglich  sein  werde,  die  innere  Kolonisation  in  be- 
friedigender Weise  durchzuführen,  sei  zum  mindesten  zweifel- 
haft. Es  seien  bisher  einige  tausend  Besitzer  angesiedelt  und 
es  dürften  noch  einige  weitere  tausend  angesiedelt  werden. 
Allein  dies  sei  doch  immer  nur  ein  Tropfen  auf  einen  heissen 
Stein.  Erforderlich  sei  es,  dass  der  Staat  mit  seinen  Mitteln 
hier  helfend  eintrete.  Ebenso  wie  er  100  Millionen  für  die  Ger- 
man isirung  der  preussischen  Polen  ausgegeben  habe,  so  sei  er 
verpflichtet,  noch  grössere  Mittel  für  die  innere  Kolonisation  her- 


310 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  26. 


zugeben.  Dies  würde  der  Allgemeinheit  reichliche  Zinsen 
tragen.  Ferner  stimme  er  Herrn  Prof.  Sering  bei,  dass  die 
Mittel  zum  persönlichen  Unterhalt  unpfändbar  sein  müssen.  Er 
stehe  ganz  auf  dem  Standpunkte  Rodbertus’,  dass  erst,  nachdem 
der  Lebensunterhalt  gedeckt,  von  einer  Rente  die  Rede  sein 
könne.  Ausserdem  erachte  er  die  Begründung  öffentlicher 
Banken,  Kommunal-,  Kreis-  und  Provinzialbanken,  die  sich  in 
eine  Centralbank  zuspitzen  müssten,  für  nothwendig.  Diese 
Banken  müssen  in  die  Lage  versetzt  werden,  auch  ohne  Werth- 
scheine den  ländlichen  Grundbesitzern  Kredit  zu  gewähren, 
Depositen-  und  Sparkassengelder  anzunehmen  u.  s.  w.  Ebenso 
wie  die  Eisenbahnen,  so  wären  auch  mit  der  Zeit  die  Banken 
zu  verstaatlichen.  Im  Weiteren  erachte  er  es  für  erforderlich, 
staatliche  Versicherungsanstalten  für  Brand-,  Hagel-  und  Vieh- 
schäden zu  gründen,  und  endlich  sei  er  der  Meinung,  dass  ohne 
Getreidezölle  und  die  Einführung  der  Doppelwährung  der  Land- 
bevölkerung auf  die  Dauer  nicht  geholfen  werden  könne. 
Wenn  auch  die  Getreidezölle  den  Grossgrundbesitzern  grösseren 
Vorthei]  gewähren  als  den  Kleinbesitzern,  so  dürfe  das  ebenso- 
wenig ins  Gewicht  fallen,  als  der  Umstand,  dass  durch  die  Ge- 
treidezölle vielleicht  einige  andere  Bevölkerungsklassen  benach- 
theiligt  sein  würden.  (Lehafter  Beifall.)  — Abg.  Wissen  Er 
könne  dem  Vorredner  nicht  zustimmen.  Seit"  Rodbertus  sei 
Deutschland  vom  Sozialismus  durchseucht;  die  Erfahrungen,  die 
man  mit  der  Verstaatlichung  der  Eisenbahnen  gemacht  habe, 
seien  doch  keineswegs  geeignet,  für  weitere  Verstaatlichungs- 
pläne Propaganda  zu  machen.  Er  sei  praktischer  Landwirth 
und  könne  bekunden,  dass  die  Branntweinsteuer,  Getreidezölle 
u.  s.  w.  bisher  nur  dem  Grossgrundbesitzer  zu  Gute  gekommen 
seien,  den  kleinen  bäuerlichen  Besitzer  aber  nur  benachtheiligt 
haben.  (Widerspruch.)  Er  sei  überzeugt,  dass  die  Bauern  sich 
vor  der  Bevormundung,  die  Herr  Geheimer  Rath  Gierke  ange- 
deutet, bestens  bedanken  werden.  Dem  Gedanken  der  inneren 
Kolonisation  stimme  er  mit  Freuden  bei,  er  halte  aber  dafür, 
dass  man  die  Unteroffiziersprämien  besser  für  die  innere  Kolo- 
nisation verwende.  — Geheimer  Ober -Regierungsrath  Prof.  Dr. 
Thiel  ^Berlin):  Er  könne  mittheilen,  dass  die  Provinzialbank 

des  Rheinlandes  sich  bereits  als  sogenannte  Bauernbank  kon- 
stituirt  habe.  Die  bäuerliche  Verschuldung  erfordere  allerdings 
dringend  eine  Begrenzung.  In  den  letzten  sechs  Jahren  seien 
in  Preussen  800  Millionen  Mark  bäuerliche  Hypotheken  mehr 
eingetragen  als  gelöscht  worden.  Helfen  könne  seiner  Meinung 
nach  nur  das  Schäffle’sche  System,  wonach  Landbesitzer  nur 
bis  zur  Hälfte  ihres  Besitzthums  Anleihen  aufnehmen  können. 
Bei  weiteren  Anleihen  müsse  der  bäuerliche  Grundbesitzer  die 
Zustimmung  einer  Korporation  beibringen,  die  gewissermassen 
als  Girant  auftrete.  — Es  sprechen  noch  u.  a.  Landrath  von 
Werther,  General-Sekretär  Dr.  Suchsland  (Halle  a.  S.),  Abg. 
So  mbar  t (Ermsleben  1 (Vgl.  über  die  Rede  Sombart’s  den  lei- 
tenden Aufsatz  dieser  No.  des  Sozialpolitischen  Centralblatts: 
Grundsteuer  und  Besitz-Ueberschuldung  in  Preussen  von  Privat- 
dozent Dr.  J.  Jastrow  . — Der  Vorsitzende,  Prof.  Dr.  Schmoller 
(Berlin),  hob  zum  Schluss  hervor,  dass  im  Allgemeinen  Ein- 
stimmigkeit geherrscht  habe.  Ganz  besonders  seien  darin  alle 
Redner  einig  gewesen,  dass,  wenn  es  nicht  gelinge,  die  unbe- 
dingte freie  Verschuldung  und  das  unbedingte  freie  Erbrecht 
des  bäuerlichen  Grundbesitzes  zu  begrenzen,  dem  Bauernstände 
niemals  geholfen  werden  könne.  Im  Weiteren  begrüsste  es  der 
Vorredner  mit  Genugthuung,  dass  sich  an  den  diesmaligen  Ver- 
handlungen auch  einige  Sozialdemokraten  betheiligt  haben;  es 
wäre  nur  zu  wünschen  gewesen,  dass  die  Betheiligung  der 
politischen  Parteien  im  Allgemeinen  eine  regere  gewesen  wäre. 
Mit  dem  Wunsche,  dass  die  Verhandlungen  zur  Lösung  der 
Bauernfrage  beigetragen  haben  werden,  schloss  der  Vorsitzende 
die  Generalversammlung. 


Die  Arbeitsvermittlung  in  Wien  und  Brünn.  Die 

Thätigkeit  des  Vereins  für  Arbeitsvermittlung  wurde  schon 
im  Sozialpolitischen  Centralblatt  gewürdigt. 

Zum  Missverhältniss  zwischen  Arbeiterangebot  und 
Arbeitergesuchen  liefert  auch  der  letzte  Bericht  des  Ver- 
eins einen  schätzbaren  Beitrag.  Bei  ihm  bewarben  sich 
um  Arbeit  in  den  Jahren 

Personen  Personen 

1885 — 90  33  430,  Arbeit  wurde  nachgewiesen  11884 

1891  9 540  ,,  „ „ 3 698 

1892  9 684  „ ,;  „ 3 854 

Summa  52  654  19  436 

Die  in  Brünn  befindliche  Filiale  des  genannten  Ver- 
eins hat  während  der  vier  Jahre  ihres  Bestehens  (1889 — 92) 
von  5903  Stellensuchenden  nur  2618  Arbeit  vermitteln 
können.  Gewiss  sind  mitunter  auch  andere  Umstände  als 
der  Arbeitsmangel  die  Ursache,  dass  die  Stellensuchenden 
kein  Unterkommen  finden,  aber  in  den  weitaus  meisten 
Fällen  wird  die  Ursache  im  Mangel  von  Arbeitsan- 

geboten  bestehen.  Von  der  Vereinsleitung  wird  in 
ezug  auf  das  Angebot  von  Arbeitskräften  bemerkt: 


„Das  Angebot  von  stellensucbenden  Arbeitern  war  in  den 
Wintermonaten  1892  ein  weitaus  stärkeres,  als  sonst  in 
dieser  Jahreszeit.  Allerdings  ist  dieser  grössere  Andrang 
von  Arbeitern  aus  unserer  Tabelle  über  die  Vermittlungs- 
thätigkeit  nicht  hinlänglich  ersichtlich,  weil  in  jenen  Ge- 
schäftszweigen, wo  die  Nachfrage  nach  Arbeitskräften 
während  dieser  Periode  allgemein  nachliess,  die  Vornahme 
von  Vormerkungen  Stellensuchender  auf  jenes  Minimum 
beschränkt  werden  musste,  welches  uns  der  Fassungsraum 
unserer  Wartesäle  erlaubt.  Dem  Zwange  der  Umstände 
folgend,  mussten  wir  diese  Abweisungen  vornehmen.  Ohne 
diese  Massnahmen  würde  die  Zahl  der  Vormerkungen  wohl 
um  Tausende  gestiegen  sein“. 

Die  Nachfrage  nach  Arbeitskräften  war  in  WTien  am 
stärksten  in  den  Monaten  August,  September  und  Oktober, 
am  schwächsten  in  den  Monaten  Januar,  Februar  und 
Dezember.  Von  den  seitens  der  WTiener  Centrale  besetzten 
3854  Stellen  waren  3292  in  WTien  und  Umgebung,  384  im 
übrigen  Niederösterreich,  je  86  im  übrigen  Cisleithanien 
und  in  Ungarn,  2 in  Bosnien  und  4 im  Auslande  (Serbien). 

Trotz  des  allgemeinen  schlechten  Geschäftsganges  ist 
die  Inanspruchnahme  des  Vereines  gestiegen.  Die  Aus- 
gaben der  Wiener  Centrale  vertheilen  sich,  wie  folgt:  Für 
Lokalmiethe  410,40  fl.,  für  Gehalte  und  Quartiergelder  für 
einen  Sekretär,  einen  Kanzlisten,  einen  ständigen  und 
einen  Aushilfsdiener  2502,50  fl.,  für  Buchdrucker-  und  Buch- 
binder-Auslagen 335,85  fl.,  für  Spesen  an  Briefporto,  Post- 
karten , Beleuchtung,  Beheizung  und  Kanzleirequisiten 
407,72  fl.,  für  Ausgabe  der  Anmeldestelle  in  Wr. -Neustadt 
3 fl.  Saldo  per  1892  381,05  fl. 

Die  von  der  Brlinner  Filiale  besetzten  988  Stellen  be- 
fanden sich  zum  grössten  Theile  (905)  in  Brünn  und  Um- 
gebung, je  33  im  übrigen  Mähren  und  in  Niederösterreich, 
13  im  übrigen  Oesterreich  und  4 im  Auslande  (3  in  Serbien, 
1 in  Sachsen). 

Die  Nachfrage  nach  Arbeitskräften  war  am  stärksten 
in  den  Monaten  April,  Mai,  November  und  Dezember,  am 
schwächsten  in  den  Monaten  Januar  und  Februar. 

Auch  die  Vermittlungsthätigkeit  der  Filiale  wurde  gegen 
das  Vorjahr  in  erhöhtem  Masse  in  Anspruch  genommen. 

Die  Ausgaben  der  Brlinner  Filiale  vertheilen  sich  fol- 
gendermassen : für  Lokalmiethe  260  fl.,  Gehalte  530  fl.,  Be- 
dienung 120  fl  , Telephon  70  fl.,  Beheizung  23,42  fl.,  Be- 
leuchtung und  Porto  16,35  fl.,  Drucksorten  56,45  fl.  Saldo 
für  1893  359,87  fl. 


Arbeiterzustände, 


Zur  Lage  der  Handlungsgehilfinnen. 

Der  Vorsitzende  des  kaufmännischen  und  gewerb- 
lichen Hilfsvereins  für  weibliche  Angestellte  in  Berlin, 
Herr  Julius  Meyer,  hat  sich  im  vergangenen  Jahre  der 
ebenso  mühsamen  wie  dankenswerthen  Aufgabe  einer 
Enquete  unter  den  Mitgliedern  seines  Vereins  unterzogen 
und  das  Resultat  der  sehr  eingehenden  Fragebogen  in  einer 
soeben  bei  J.  J.  Heine  erschienenen  Broschüre  „Die  Aus- 
bildung und  Stellung  der  Handlungsgehilfin  in 
Berlin“  niedergelegt. 

Von  den  ausgesandten  1600  Fragebogen  wurden  965 
zumeist  vollständig  beantwortet.  Unter  den  Antwortenden 
überwiegt  die  Zahl  der  Buchhalterinnen,  als  der  intelligen- 
teren, gegenüber  derjenigen  der  Verkäuferinnen,  welche 
thatsächlich  60  pCt.  aller  Gehilfinnen  ausmachen.  Da  nun 
Buchhalterinnen  besser  gestellt  sind  als  Verkäuferinnen,  so 
lässt  die  Darlegung  Meyers  die  Lage  der  Handlungsgehilfin 
bedeutend  günstiger  erscheinen,  als  sie  in  Wahrheit  ist. 
Ferner  ist  die  Enquete  unternommen  vor  Inkrafttreten  des 
neuen  Krankenkassengesetzes,  d.  h.  zu  einer  Zeit,  wo  für  die 
Angestellten  noch  kein  Zwang  bestand,  einer  Hilfskasse 
beizutreten,  und  wo  sich  erfahrungsgemäss  die  am 
schlechtesten  gestellten  von  den  kaufmännischen  Ver- 
einen fernhielten. 

Meyer  schätzt  die  Zahl  der  in  Berlin  beschäftigten 
Handlungs-  und  Gewerbegehilfinnen  auf  9 — 11000.  Die 
| an  der  Umfrage  betheiligten  965  gehören  etwa  dem  5.  Theil 


No.  26. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAT  .BLATT. 


311 


aller  Geschäfte  Berlins  an,  an  welchen  weibliche  Gehilfinnen 
thätio-  sind.  Sie  sind  fast  sämmtlich  unverheirathet,  stehen 
zu  54  pCt.  im  Alter  von  18  25  Jahren  und  entstammen 
zumeist  kleineren  Kaufmanns-  und  Beamtenfamilien;  nur 
10  pCt.  rekrutiren  sich  aus  der  Arbeiterklasse.  Mehr  als 
ist  vaterlos  oder  völlig  verwaist.  Der  Herkunft  ent- 
spricht es,  dass  62  pCt.  höhere  Mädchen-  oder  Privat- 
schulen besucht  haben.  Der  theoretischen  Vorbereitung 
in  den  kaufmännischen  Fächern  widmen  längere  Zeit  vor 
allem  diejenigen,  welche  Stellung  als  Buchhalterin,  Com- 
toristin  u.  s.  w.  suchen.  In  der  Vernachlässigung  des  all- 
gemeinen Zeichenunterrichtes  für  Mädchen  sieht  Verfasser 
den  Grund  für  die  auffällige  Thatsache,  dass  das  Gebiet 
der  Modekonfektion  — Entwerfen  der  Muster  und  Moden 
- ein  Thätigkeitsfeld,  das  besonders  gut  bezahlt  wird,  fast 
ganz  in  den  Händen  von  Männern  sich  befindet.  Eine 
praktische  Lehrzeit  machten  von  722  Angestellten  nur  ca. 
70  pCt.  durch:  bei  40  pCt.  dauerte  die  Lehre  3 — 6 Monat, 
bei  20  pCt.  3/4 — 1 Jahr,  bei  7 pCt.  D/a — 3 Jahre. 

Das  Gehalt  variirt  nach  den  Branchen,  nach  der  Länge 
der  Dienstzeit  und  nach  der  Dauer  der  theoretischen  Vor- 
bildung. Die  besten  Gehälter  kommen  in  der  Weisswaaren-, 
Nähmaschinen-  und  Konfektionsbranche  vor.  Die  Tapisserie- 
branche, in  welcher  die  längste  praktische  Lehrzeit  üblich 
ist,  zeigt  das  niedrigste  Durchschnittsgehalt.  Dabei  findet 
sich  im  allgemeinen  die  schlechteste  Bezahlung  meist  mit 
den  ungünstigsten  Kündigungsfristen  und  der  längsten 
Arbeitszeit  vereinigt. 

Das  Durchschnittsgehalt  steigt  ziemlich  gleichmässig 
von  41  M.  monatlich  im  I.  Jahre  bis  114  M.  monatlich  im 
16. — 19.  Dienstjahr  an.  Darüber  hinaus  tritt  dann  wieder 
ein  Sinken  des  Gehaltes  ein.  40  pCt.  der  Verkäuferinnen 
erhalten  nach  V4 — V2jähriger  Lehrzeit  10 — 15  M monatlich. 
Dass  Buchhalterinnen  entsprechend  ihrer  längeren  Vor- 
bildung besser  bezahlt  werden  als  Verkäuferinnen  wurde 
bereits  erwähnt. 

Den  Einnahmen  hat  Meyer  die  Ausgaben  gegenüber- 
gestellt. Nach  den  Angaben  von  235  jungen  Mädchen, 
welche  in  Pensionen,  möblirten  Zimmern  oder  eigener 
Wohnung  leben,  stellen  sich  die  Ausgaben  für  Wohnung, 
Essen  und  Trinken  auf  durchschnittlich  51  M.  monat- 
lich. Rechnet  man  dazu  10  M.  monatlich  für  Garderobe, 
Wäsche  u.  s.  w.,  so  sieht  man,  dass  fast  1/4  aller  an  der 
Umfrage  betheiligten  Angestellten,  welche  ein  Monats- 
gehalt unter  60  M.  beziehen,  nicht  einmal  bei  niedrigsten 
Ansprüchen  im  Stande  ist,  durch  vielstündige  Arbeit  den 
nothwendigsten  Lebensunterhalt  zu  erwerben. 

Die  Arbeitszeit  beläuft  sich  in  Berlin  im  allgemeinen 
auf  9'/ 2 — IOV2  Stunden,  excl.  P/2 — 2stündiger  Mittagspause. 
Vom  Herbst  bis  Weihnachten  geht  sie  indess  gewöhnlich 
über  den  Durchschnitt  hinaus,  indem  eine  Verkürzung  der 
Tischzeit  eintritt.  In  manchen  Geschäften  wird  den  An- 
gestellten, die  dann  darauf  angewiesen  sind  in  einem  nahe- 
liegenden Restaurant  zu  speisen,  eine  kleine  Entschädigung 
in  Baar  gegeben.  Die  längste  Arbeitszeit  — bis  16  Stun- 
den — findet  sich  dort,  wo  die  Gehilfinnen  mit  vollständiger 
freier  Station  angestellt  sind;  dies  ist  jedoch,  wie  die  Um- 
frage ergab,  nur  bei  1 pCt.  der  Fall.  Wenig  günstig  ist 
gleichfalls  die  sog.  englische  Tischzeit,  d.  h.  der  frühe  Ge- 
schäftsschluss um  5l/2  oder  6V2  Uhr  bei  fehlender  Mittags- 
pause. Als  Vereinsarzt  ist  es  mir  aufgefallen,  dass  vor- 
wiegend derartig  beschäftigte  junge  Mädchen  mit  chro- 
nischen Magenkrankheiten  behaftet  sind. 

Das  Gesetz  über  die  Sonntagsruhe  hat  weniger  Be- 
deutung  für  die  Handlungsgehilfinnen  gehabt,  als  sich  a 
priori  vermuthen  liess,  indem  7,  der  Gehilfinnen  schon  vor 
Inkrafttreten  des  Gesetzes  völlige  Sonntagsruhe  besass  und 
ausserdem  15  pCt.  nur  ausnahmsweise  Sonntags  beschäftigt 
wurden.  Am  schlechtesten  gestellt  waren  wiederum  die  bei 
freier  Station  Beschäftigten,  welche  auch  am  Sonntag  12 
bis  16  Stunden  arbeiten  mussten  und  höchstens  1 — 2 Mal 
im  Monat  den  halben  Sonntag  dispensirt  wurden. 

Was  die  Kündigungsfrist  anbetrifft,  so  sind  die  Hand- 
lungsgehilfinnen weit  schlechter  gestellt  als  ihre  männlichen 
Kollegen.  Während  von  den  letzteren  58  pCt.  mit  der  ge- 


setzlichen Kündigung  von  6 Wochen  vor  Quartalsschluss 
angestellt  sind,  erfreut  sich  unter  den  Gehilfinnen  nur  1/3 
dieser  Bestimmung.  22  pCt.  haben  vierwöchentliche,  34  pCt. 
vierzehntägige;  5 pCt.  achttägige  Kündigung  und  3 pCt. 
können  ohne  jede  Kündigung  entlassen  werden.  Vereinzelt 
findet  sich  auch  die  Bestimmung,  dass  bei  Krankheit  die 
Entlassung  mit  dem  Tage  der  Erkrankung  oder  vierzehn 
Tage  bis  vier  Wochen  nach  derselben  erfolgt.  Die  Ab- 
machungen über  die  Kündigung  finden  sich  überall,  wo 
sog.  Geschäftsordnungen  bestehen,  in  diese  aufgenommen. 
Im  Ganzen  sollen  nach  Meyer  diese  Geschäftsordnungen 
keinen  Anlass  zu  Ausstellungen  bieten,  nur  ein  Beispiel 
unerhörter  Rücksichtslosigkeit  wird  in  extenso  von  ihm 
angeführt.  Wir  begnügen  uns  hier  mit  folgendem  Satze: 
„Bleibt  der  Angestellte  aus  dem  Geschäft  fort,  so  wird 
ihm  jeder  Tag,  selbst  im  Krankheitsfall,  in  Abzug 
gebracht,  auch  kann  er  ohne  jede  vorhergegangene  Kün- 
digung sofort  entlassen  werden.  Fehlt  derselbe  Nach- 
mittags, so  wird  der  ganze  Tag  dafür  abgezogen!“ 

Berlin.  Agnes  Bluhm. 


Ergebnisse  der  Arbeitslosenstatistiken.  Von  der  Leip- 
ziger Arbeitslosenstatistik,  die  am  5.  Februar  aufgenommen 
wurde,  liegt  jetzt  das  definitive  Ergebniss  vor.  Nach  Berufs- 
gruppen geordnet,  stellt  es  sich  wie  folgt: 


G r u p p e 

Arbeitslos 

Verheirathet  i 

Kinder  unter 
14  Jahren 

bß 

'S 

V 

Arbeitslos  d. 

Krankheit 
Beruf  ge- 
wechselt 

Zusammen 
arbeitslos 
(a  Woche  rz: 
7 Tage) 

Jahr  W.  ] T. 

Lohn- 
ausfall n. 
ortsüblich. 
Tage  lohn 

M. 

Bauhandwerker  . . 

2876 

2122  4252 

744  146  172 

6B7 

24 

2 

428  988 

Bekleidungs-,  Leder- 
und  Textilindustrie 

626 

310 

557 

316 

58  129 

192 

20 

3 

114  653 

Gastwirthschaft  und 
Bedienung  . . . 

254 

69 

123 

185 

38  14 

82 

3 

6 

51  218 

Graphische  Gewerbe 

297 

95 

163 

202 

32  39 

98 

37 

3 

61  612 

Handel  und  Fährver- 
kehr   

404 

159 

219 

245 

46  30 

154 

10 

4 

98  041 

Holz-u.  Glasindustrie 

425 

251 

485 

174 

46  58 

97 

4 

5 

60  592 

Metallindustrie . . . 

463 

199 

330 

264 

58  64 

149 

46 

4 

93  550 

Nahrungs-  u.  Genuss- 
mittelbranche . . 

285 

158 

305 

127 

30  141 

102 

17 

5 

63  281 

Diverse  

2978 

1854  3102 

1124 

317  22 

874 

26 

6 

519  243 

8608  5227  9536  3381 

771  669 

2438 

36 

3 

1 488  178 

Die  Statistik  erstreckt  sich  auf  Leipzig  und  Vororte  sowie 
auf  die  nächstliegenden  ländlichen  Fabrikorte.  Eigentlich  wur- 
den in  diesem  Distrikt  8820  Arbeitslose  gezählt,  aber  212  Karten 
aus  Leipzig  waren  nur  mangelhaft  ausgefüllt,  so  dass  die  darauf 
gemachten  Angaben  nicht  in  die  Tabelle  rubrizirt  werden 
konnten.  Die  auffallend  niedrige  Zahl  der  im  Handel  und  Fuhr- 
verkehr  beschäftigten  arbeitslosen  Personen  hat  wohl  darin  ihre 
Ursache,  dass  die  stellenlosen  Kaufleute  sich  geweigert  haben. 
Das  Gewerkschaftskartell  hat  die  Arbeitslosen  der  einzelnen 
Branchen  in  Altersklassen  eingetheilt;  danach  waren  arbeitslos 
im  Alter  bis  zu  30  Jahren  3997  Personen,  bis  zu  31 — 40  Jahren 
2147,  bis  zu  41—50  Jahren  1380,  über  50  Jahre  1084.  Auch  die 
Dauer  der  Arbeitslosigkeit  wurde  nach  Gruppen  geordnet;  da- 
nach waren  bis  50  Tage  arbeitslos  2699  Personen,  bis  100  Tage 
3375,  bis  150  Tage  1415,  über  150  Tage  1119  (über  ein  Jahr  waren 
266  Personen  arbeitslos).  Der  Ausfall  des  Lohnes  ist  nur  nach 
dem  ortsüblichen  Tagelohn  (12  M.  für  männliche,  8 M.  für  weib- 
liche Personen)  berechnet.  Die  durchschnittliche  Dauer  der 
Arbeitslosigkeit  bei  den  8608  arbeitslosen  Personen  betrug  pro 
Kopf  14  Wochen  5 Tage.  Die  Berufsstatistik  der  1890er  Auf- 
nahme ergab  (bei  einer  Einwohnerzahl  von  357  122)  80  232  Ar- 
beiter und  Arbeiterinnen  ohne  das  Bureau-  und  Aufsichtspersonal. 
Für  Leipzig  kommen  (nach  Abzug  von  1330  Arbeitslosen,  die  in 
den  ländlichen  Vororten  gezählt  wurden)  7278  Personen  in  Be- 
tracht, demnach  sind  ca.  9 pCt.  der  Arbeiterbevölkerung  Leipzigs 
arbeitslos. 

Es  wird  beabsichtigt,  im  Sommer  wieder  eine  Arbeits- 
losenzählung vorzunehmen. 

Durch  die  Arbeitslosenstatistik,  die  in  Eilenburg  der 
Arbeiterverein  aufnahm,  wurden  209  arbeitslose  Personen  er- 
mittelt, die  zusammen  1975  Wochen,  jede  also  durchschnittlich 
9 l/-i  Woche  ohne  Beschäftigung  waren.  Unter  ihnen  befanden 
sich  149  Verheirathete,  die  zusammen  362  Kinder  zu  ernähren 
hatten,  53  Ledige  und  7 Wittwen.  Viele  Arbeitslose  scheuten 
sich,  die  statistischen  Formulare  auszufüllen,  weil  sie  Nachtheile 
für  sich  fürchteten,  wenn  die  Unternehmer  durch  einen  Zufall 
davon  erführen. 


312 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  26. 


Die  Kölner  Arbeiter  hatten  bekanntlich  beschlossen,  die 
versuchsweise  in  einem  Bezirke  vorgenommene  Arbeitslosen- 
zählung auf  ganz  Köln  und  die  Vororte  auszudehnen.  Die 
Zählung,  die  am  19.  Februar  begann,  hat  einen  Zeitraum  von 
16  'Pagen  in  Anspruch  genommen.  Ueber  das  Ergebniss  be- 
richtet das  Organ  der  Kölner  Arbeiter:  Festgestellt  wurden 
8851  Arbeitslose.  Nach  Bezirken  stelle  sich  die  Arbeitslosigkeit 
wie  folgt:  1.  Bezirk  715  Arbeitslose,  2.  Bezirk  558,  3.  304,  4.  96, 
5.  560,  6 145,  7.  211,  8.  74,  9.  518,  10.  165.  11.  854,  12.  596,  13  207, 
14.  523,  20.  111.  Besonders  stark  waren  die  Vororte  betheiligt, 
so  waren  z.  B.  in  Mansfeld,  Raderthal,  Baienthal  von  1429  Ar- 
beitern 229  arbeitslos,  darunter  32  Frauen.  Lindenthal  mit  3097 
Arbeitern  hatte  461  Arbeitslose  (40  Frauen),  Ehrenfeld  I bei  5360 
Arbeitern  854  Arbeitslose  (89  Frauen),  Nippes  6705  Arbeiter,  813 
Arbeitslose  (114  Frauen),  Deutz  330  Arbeitslose  (64  Frauen), 
Ehrenfeld  II  179,  dabei  8 Frauen,  Longerieh  97  Arbeitslose.  Die 
Zählung  wurde  von  ca.  22  Zählern  vorgenommen,  welche  eine 
Vergütung  von  1—2  M.  erhielten.  Die  Unkosten  für  Zählung 
und  Flugblattvertheilung  betrugen  622  M.,  des  ferneren  für  das 
Bureau  400  M.,  dazu  würden  noch  die  Druckkosten  u.  s.  w. 
kommen.  Die  Statistik  scheint  zu  ergeben,  dass  die  Arbeits- 
losigkeit in  den  Monaten  Januar  und  Februar  1893  um  die 
Hälfte  stärker  war,  als  in  gleicher  Zeit  des  Vorjahres.  Zwei 
Drittel  bis  drei  Viertel  der  Gesammtsumme  dürfte  Mitte  März 
noch  arbeitslos  sein. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Arbeitszeit  in  den  Genfer  Druckereien.  In  Genf  haben 
die  Druckereibesitzer  und  ihre  Angestellten  ein  Ueberein- 
kommen  geschlossen,  welches  den  seit  1877  bestehenden 
Lohntarif  erhöht  und  die  neunstündige  Arbeitszeit  einführt. 
Die  Uebereinkunft  gilt  für  sieben  Jahre  und  tritt  auf  1.  April 
in  Kraft.  Von  24  Druckereien  sind  derselben  nur  zwei 
nicht  beigetreten. 


Politische  Arbeiterbewegung. 

Wahlprogramm  der  aargauischen  Arbeiter.  Im 

Kanton  Aargau  haben  die  Arbeiter  für  die  Kantonraths- 
wahlen folgendes  Programm  aufgestellt:  1.  Unentgeltlich- 

keit der  Lehrmittel.  2.  Gewerbliche  Sühn-  und  Schieds- 
gerichte. 3.  Kantonales  Arbeiterschutzgesetz.  4.  Kantonale 
Gewerbeordnung.  5.  Staatliche  obligatorische  Mobiliar- 
versicherung. 6.  Einführung  staatlicher  Viehleihkassen. 
7.  Staatlicher  Arbeitsnachweis.  8.  Kantonales  Fabriks- 
inspektorat.  9.  Regelung  des  Hypothekarwesens.  10.  Pro- 
portionales Wahlverfahren.  11.  Wahl  von  Regierungs-  und 
Ständeräthen  durch  das  Volk  nach  Proportion  12.  Revision 
des  Steuergesetzes.  13.  Unentgeltliche  Beerdigung.  14.  Weib- 
liche Fortbildungsschulen. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Eine  Enquete  über  die  Wirkungen  des  neuen  deutschen 
Arbeiterschutzgesetzes. 

Der  Centralverband  Deutscher  Industrieller  hat  auf 
Grund  eines  im  Juni  1892  gefassten  Beschlusses  bei  seinen 
Mitgliedern  angefragt,  wie  die  Gewerbeordnungsnovelle 
(das  Arbeiterschutzgesetz)  vom  Juni  1891  bisher  gewirkt 
habe.  Die  eingegangenen  Antworten  sollen  „in  geeigneter 
Bearbeitung“  dem  Reichskanzler  mitgetheilt  werden,  aber 
schon  in  der  Delegirtenversammlung  vom  4.  Februar  hat 
der  Geschäftsführer  des  Verbandes,  Herr  Bueck,  über  die 
wichtigsten  Ergebnisse  eingehend  berichtet,  und  Heft  59 
der  „Verhandlungen,  Mittheilungen  und  Berichte“  des 
Centralverbandes  giebt  jetzt  im  März  diesen  Bericht  im 
Wortlaut  wieder.  Einen  Auszug  hatten  schon  etwas  früher 
die  Berliner  Politischen  Nachrichten  gebracht,  ausserdem 
soll  für  eine  einzelne  Industrie  das  vollständige  Material 
in  dem  betreffenden  Fachblatte  Ende  vorigen  Jahres  ver- 
öffentlicht sein. 


Um  jedes  Missverständniss  auszuschliessen,  bemerke 
ich  nochmals,  dass  es  sich  hier  um  eine  Enquete  handelt, 
bei  der  ausschliesslich  Arbeitgeber  die  agirenden  Per- 
sonen sind. 

Trotzdem  zur  Zeit  der  Enquete  das  Gesetz  erst  seit 
wenigen  Monaten  und  in  manchen  Bestimmungen  noch 
überhaupt  nicht  in  Kraft  getreten  war  und  eine  ab- 
schliessende Erfahrung  somit  nicht  vorlag,  erscheint  mir 
immerhin  die  verhältnissmässig  geringe  Ausbeute,  die  die 
313  ausgefüllten  Fragebogen  an  ernstlichen  Beschwerden 
geben,  als  günstiges  Symptom.  Nachdem  schon  Herr 
Bueck  eine  Auslese  getroffen,  kann  ich  noch  manches 
Weitere  als  unerheblich  ausscheiden.  Ausdrücklich  hat 
ungünstige  Wirkungen  des  Gesetzes  in  Abrede  gestellt  nur 
eine  „verhältnissmässig  sehr  geringe  Minderheit“  der  313; 
es  sind  überwiegend  theils  die  kleinen  Maschinenfabriken 
und  Eisengiessereien  und  die  Betriebe  der  Kleineisen- 
industrie, die  überhaupt  von  dem  Gesetze  weniger  berührt 
werden,  theils  die  finanziell  und  technisch  bestgestellten 
Werke.  Man  wird  indess  vermuthen  dürfen,  dass  die  wohl 
erheblich  mehr  als  1000  Centralverbandsmitglieder,  die  den 
Fragebogen  zu  beantworten  unterdessen,  kaum  viel  ver- 
schwiegen haben  werden.  Nun  wird  angenommen,  dass 
die  Antwortgeber  meist  grössere  Industrielle  sind;  wonach 
sich  zu  ergeben  scheint,  dass  auch  von  den  kleineren  Be- 
trieben, die  doch  die  empfindlichsten  sind,  nur  eine  ver- 
schwindende Minderzahl  klagt. 

Die  Arbeiter  sind  nach  Aussage  der  Antwortgeber  — 
mit  Ausnahme  der  kleinen  Minderheit,  die  sich  „schon  voll 
und  ganz  in  den  Händen  der  Sozialdemokratie  befindet“  — 
mit  dem  Gesetze  unzufrieden,  weil  es  ihnen  die  Ver- 
dienstgelegenheit mindert.  Es  wird  daraus  ersichtlich,  einen 
wie  starken  Rückhalt  unsere  Sozialpolitik  in  der  Sozial- 
demokratie findet;  lehrt  doch  die  .Sozialdemokratie  den 
Arbeiter,  selbst  augenblickliche  V erluste  ohne  Murren  zu 
ertragen.  Geriethen  sämmtliche  Arbeitnehmer  des  Central- 
verbands voll  und  ganz  in  die  Hände  der  Sozialdemokratie, 
so  müsste  die  Zufriedenheit  mit  dem  Gesetze  gewinnen. 

Die  Beschwerden  der  Arbeitgeber  betreffen  theils  die 
Frauen-,  theils  die  jugendliche  Arbeit.  Die  Beschäftigung 
beider  Arbeiterkategorien  ist  durch  das  Gesetz  eingeschränkt 
worden;  bei  den  Frauen  (und  Mädchen)  über  16  Jahre  auf 
1 1 Stunden  am  Tage,  sowie  nach  einigen  anderen  Rich- 
tungen, bei  den  jungen  Leuten  (14 — 16  Jahre)  namentlich 
durch  Kürzung  der  Maximalzeit  in  Spinnereien  von  1 1 auf 
10  Stunden;  bei  den  Kindern  durch  gänzliches  Verbot  der 
Beschäftigung  .Schulpflichtiger.  Es  hat  sich  nun  ergeben, 
dass  die  Arbeitgeber  zur  Entlassung  von  jugendlichen  Ar- 
beitern über  das  vom  Gesetz  geforderte  Mass  hinaus  in 
grossem  Massstabe  geschritten  sind,  die  erwachsenen  Ar- 
beiterinnen dagegen  weiterbeschäftigt  werden,  indem  der 
weibliche  Maximalarbeitstag  wie  in  England  auch  den 
Männern  zu  Gute  kommt,  wenigstens  in  der  Textilindustrie. 
Nach  der  Zählung  von  1882  sind  aber  etwa  die  Hälfte  aller 
Fabrikarbeiterinnen  in  der  Textilindustrie  beschäftigt.  Ent- 
lassungen von  Arbeiterinnen  werden  nur  aus  der  Zucker- 
industrie, Gummiindustrie,  Buchdruckerei,  Montan-  und 
Metallindustrie  ausdrücklich  berichtet.  Theilweise  mag  diese 
verschiedene  Wirkung  bei  jugendlichen  und  bei  weiblichen 
Arbeitern  damit  Zusammenhängen,  dass  für  erstere  das  Gesetz 
nach  Artikel  9 nicht  so  plötzlich  in  Kraft  tritt  als  für  letztere. 
Die  indirekte  Wirkung  aber  auf  die  erwachsenen  männ- 
lichen Arbeiter  muss  beide  Male  eine  Vermehrung  der 
Arbeitsgelegenheit  sein1),  sofern  nicht  entweder  die  Ver- 
kürzung der  Arbeitszeit  durch  gesteigerte  Arbeitsleistung 
sich  sofort  ausgeglichen2)  oder  die  nothwendige  Erhöhung 
des  Lohnfonds  die  Konkurrenzfähigkeit  der  betreffenden 

’)  Merkwürdiger  Weise  nimmt  der  Berichterstatter  das 
Gegentheil  an:  Seite  76  von  No.  59  der  Verhandlungen,  Mitthei- 
lungen und  Berichte“  des  Centralverbands. 

2)  Hiergegen  spricht  der  Umstand,  dass  die  Arbeiter  bei 
der  Neuerung  meist  Lohnverkürzungen  erlitten  und  in  einzelnen 
Fällen  sogar  dagegen  gestreikt  haben.  Auch  in  anderer  Form 
haben  Arbeiter,  z.  B.  durch  den  Mund  der  Arbeiterausschüsse, 
ihre  Unzufriedenheit  mit  der  kürzeren  Arbeitsdauer  ausgedrückt. 


No.  26. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT 


313 


Industrien  und  ihren  Absatz  entsprechend  beeinträchtigt 
haben  sollte.  Demgemäss  wird  auch  von  mehreren  Seiten 
gemeldet,  dass  die  Unmöglichkeit  einer  Arbeitszeitverlänge- 
rung- zu  wesentlicher  Erweiterung  der  Fabrik  bereits  ge- 
führt habe.  Nur  ein  Grossindustrieller  hat  durch  Einführung 
dreifacher  Schichten  die  jugendliche  Arbeit  beibehalten 
oder  vielmehr  ausgedehnt.  Es  ist  ferner  die  Möglichkeit  zu 
erwägen,  ob  nicht  die  Textilindustrie  durch  die  ihr  mit  dem 
Maximalarbeitstag  aufgenöthigte  Stetigkeit  der  Produktion 
gewonnen  hat  und  ob  nicht  ihre  gegenwärtige  gegenüber 
anderen  Industrien  günstige  Lage  theilweise  dieser  Stetigkeit 
gedankt  wird.  Uebrigens  ist  es  die  Frage,  wie  weit  die 
Entlassungen  Folge  des  Gesetzes  und  wie  weit  sie  Folge 
der  Konjunktur  sind;  wenn  beispielsweise  in  einer  grossen 
Spinnerei,  die  früher  einmal  196  Jugendliche  beschäftigte, 
jetzt  deren  nur  noch  77  in  Arbeit  sind,  so  wünscht  man  zu 
wissen,  ob  nicht  auch  die  erwachsenen  Arbeiter  gleichzeitig 
weniger  geworden  sind.  Der  Berichterstatter  nimmt  selt- 
samer Weise  an,  dass  in  Zeiten  aufsteigender  Konjunktur 
die  Abnahme  der  Jugendlichen  sich  noch  beschleunigen 
würde,  während  doch  feststeht,  dass  die  Zahl  der  jugend- 
lichen Arbeiter  mit  der  Konjunktur  steigt  und  mit  ihr  fällt. 

Weit  ungünstiger  als  für  die  Männer  erscheinen  da- 
gegen nach  den  Berichten  die  Nebenwirkungen  des  Ge- 
setzes für  die  geschützten  Personen  selbst.  Die  entlassenen 
Personen  werden  entweder  arbeitslos  oder  sie  finden  eine 
noch  unzuträglichere  Beschäftigung.  In  Voraussicht  der 
letzteren  Gefahr  liess  die  Regierung  sich  durch  § 1 54  Abs.  4 
der  Gewerbeordnung  ermächtigen,  die  einschneidendsten 
Schutzbestimmungen  auf  einzelne  Hausindustrien  auszu- 
dehnen, und  schon  die  Motive  des  Gesetzentwurfs  (Seite  61 
der  Heymann’schen  Ausgabe)  stellten  in  Aussicht,  dass  die 
Regierung  wenigstens  für  die  mit  Fabrikbetrieb  konkur- 
rirenden  Hausindustrien  die  Ausdehnungsbestimmungen 
möglichst  bis  zu  dem  Zeitpunkte  fertig  stellen  würde,  wo 
das  Verbot  der  Kinderarbeit  in  vollem  Umfange  in  Kraft 
tritt  (1.  April  1894)1).  Nun  ist  die  gefürchtete  Folge  schon 
unter  der  partiellen  Wirksamkeit  des  Gesetzes  eingetreten. 
Aus  der  Textil-  und  Glasindustrie  wird  „übereinstimmend“ 
berichtet,  dass  die  von  der  Fabrik  ausgeschlossenen  Kinder 
jetzt  grossentheils  viel  härter  arbeiten,  und  zwar  vorzugs- 
weise in  der  Hausindustrie.  Entsprechend  wird  behauptet, 
dass  Wöchnerinnen,  die  jetzt  sechs  Wochen  lang  feiern 
müssen,  zu  Hause  oft  viel  schwerer  als  in  der  Fabrik 
arbeiten.  Aber  auch  diejenigen  Jugendlichen  werden  ge- 
schädigt, denen  gesetzlich  der  Zutritt  zur  Fabrik  noch 
offen  steht.  Kinder,  die  vor  dem  15.  Jahre  die  Volks- 
schule absolvirt  haben,  finden  nicht  leicht  Fabrikarbeit, 
weil  sie  entgegen  dem  Regier ungsentwurfe  bis  zum  Ablauf 
des  Jahres  nur  sechs  Stunden  arbeiten  dürfen,  und  auch 
bis  zum  16.  Jahre  ist  ihnen  die  Aufnahme  jetzt  er- 
schwert; sie  suchen  im  Kleinbetrieb  unterzukommen  oder 
sie  tagelöhnern  und  bleiben  dann  auch  gewöhnlich  Tage- 
löhner. Wer  aber  erst  mit  dem  sechszehnten  Lebens- 
jahre in  die  Fabrik  tritt,  hat  bis  zur  Militärzeit  noch 
nicht  ausgelernt,  nach  dieser  hat  er  zum  Lernen  nicht  mehr 
Lust.  In  der  Textilindustrie  lässt  sich  für  „viele“  Arbeiten 
nach  Vollendung  des  16.  Lebensjahres  die  erforderliche 
Fingerfertigkeit  überhaupt  nicht  mehr  aneignen.  „Ein 
dritter  Theil  bleibt  bis  zum  16.  Lebensjahre  zu  Hause  oder 
arbeitet  nur  tagelöhnernd  gelegentlich,  verwildert  und  ver- 
roht, und  wenn  er  dann  in  das  Werk  eintritt,  vermehrt  er 
die  Klasse  der  turbulenten,  an  Ordnung  und  Gehorsam 
schwer  zu  gewöhnenden  und  demgemäss  schwer  zu  be- 
handelnden Arbeiter,  welche  die  Haupthelden  bei  jedem 
Skandal  und  die  zuverlässigsten  Truppen  der  Sozial- 
demokratie sind.“  Ein  Theil  der  Jugendlichen  wird  freilich 
auch  künftig  noch  in  Reparaturwerkstätten  u.  s.  w.  Platz 
finden  das  hier  Ausgeführte  gilt  in  erster  Linie  für  die 
Grosseisenindustrie  — aber  seltener  als  früher  unter  der 


b Bis  zu  diesem  Zeitpunkt  gilt  der  neue  Arbeiterschutz 
nur  für  solche  jugendlichen  Arbeiter,  die  im  Juni  1891  noch  nicht 
beschäftigt  wurden. 


unmittelbaren  Aufsicht  und  Zucht  des  Vaters.  Den  weiter- 
beschäftigten Jugendlichen  wird  ferner  nachgesagt,  dass  sie 
in  den  Arbeitspausen  verwildern,  und  auch  die  Sittlichkeit 
der  Arbeiterinnen  soll  nach  „zahlreichen“  Berichten  durch 
die  frühen  Feierabende  am  Wochenschluss  leiden;  in  der 
Textilindustrie  z.  B.,  wo  wegen  des  eine  Stunde  erfordern- 
den Reinigens  der  Maschinen  die  Arbeiterinnen  sogar  schon 
um  halb  fünf  statt  um  halb  sechs  entlassen  werden  müssen, 
und  wo  die  meisten  Arbeiterinnen  kein  Hauswesen  zu  ver- 
sorgen haben,  finden  diese  „nur  noch  mehr  Zeit,  sich  her- 
umzutreiben“. 

Stellt  man  in  dieser  Weise  Gewinn  und  Verlust  sich 
gegenüber  — der  Bericht  weiss  freilich  nur  von  Verlust  — , 
so  darf  man  nicht  übersehen,  dass  einerseits  dem  Hinein- 
drängen in  die  Hausindustrie  voraussichtlich  bald  ein  Riegel 
vorgeschoben  wird,  dass  aber  anderereits  auch  die  gestei- 
gerte Nachfrage  nach  erwachsenen  Arbeitern,  von  der  die 
Sozialdemokraten  soviel  Aufhebens  machen,  nur  einen  vor- 
übergehenden Gewinn  bedeutet.  Es  sind  freilich  neben 
den  angeführten  Wirkungen  noch  weitere  ins  Auge  zu 
fassen.  Ob  die  Lohnreduktion,  die  thatsächlich  für  den 
einzelnen  Arbeiter  (durch  den  Maximalarbeitstag)  und  na- 
türlich in  viel  höherem  Grade  für  die  Arbeiterfamilie  ein- 
getreten ist,  dauernd  dem  Arbeiter  zur  Last  fällt  oder 
) weitergewälzt  wird,  ist  fraglich.  Bueck  nimmt  a.  a.  O. 
Seite  81  das  erstere,  Seite  31  aber  das  letztere  an.  Der 
Wegfall  oder  die  Kürzung  des  Verdienstes  von  Frau  und 
Kindern  verlangsamt  in  wohlthätigster  Weise  die  Bevölke- 
rungszunahme. Die  Industrie  leidet  ferner  unter  der  Un- 
beweglichkeit des  Maximalarbeitstages,  namentlich  in  dem 
Falle,  dass  eine  Fabrik  je  nach  Bedarf  verschiedene  Artikel 
arbeitet.  In  der  Spinnerei  ist  beispielsweise  das  Zahlen- 
verhältniss  zwischen  Vorspinnmaschinen  und  Feinspindeln  ein 
verschiedenes,  je  nach  der  Garnnummer,  die  gesponnen  wird. 
Bei  niedrigen  Garnnummern  mussten  früher  die  Vorspinn- 
maschinen Ueberarbeit  leisten;  das  hört  jetzt  auf,  und  die 
Feinspindeln  müssen  dafür  pausiren.  Aber  auf  die  Dauer 
wird  ja  wohl  der  Fabrikant  auf  den  Gedanken  verfallen, 
einzelne  Arbeiterinnen  auf  beiderlei  Thätigkeiten  einzuüben, 
so  dass  er  nur  einige  Vorspinnmaschinen  mehr  anzuschaffen 
hat,  aber  keinen  Arbeiter  feiern  lässt.  Eine  geringe  Ver- 
mehrung des  stehenden  Kapitals  wird  übrigens  auch  sonst 
erforderlich  und  vertheuert  die  Produktion.  Ferner  wird 
der  elfstiindige  Arbeitstag  unbecpxetn,  wo  es  sich  um  dring- 
liche Bestellungen  handelt,  so  wenn  die  Gummiindustrie 
postmässig  verkehrende  Dampferlinien  zu  versorgen  hat, 
oder  wenn  eine  Bestellung  der  deutschen  Industrie  ver- 
loren geht,  weil  diese  sie  ohne  Ueberarbeit  nicht  schnell 
genug  ausführen  kann;  der  erstere  Fall  soll  eingetreten 
sein,  man  behalf  sich  mit  Männerarbeit,  die  aber  theurer 
und  schlechter  war:  natürlich,  da  die  Männer  in  die  neue 
Beschäftigung  noch  nicht  eingeübt  waren. 

Nun  sind  zwar  Ausnahmebestimmungen  für  zulässige 
Ueberarbeit  vorgesehen;  aber  gerade  gegen  deren  Hand- 
habung wenden  sich  die  gereiztesten  Klagen.  Man  klagt 
über  die  zu  weit  gehende  Kompetenz  der  unteren  Verwal- 
tungsbehörden, andererseits  über  die  Nothwendigkeit,  unter 
Umständen  bis  an  den  Reichskanzler  zu  gehen,  und  über 
die  Länge  des  Verfahrens  überhaupt.  Am  meisten  ist  aber 
der  Berichterstatter  über  eine  preussische  Ausführungs- 
bestimmung empört,  die  mit  einem  Worte  ungefähr  den 
Grundsatz  aufstellt,  dass  Ueberarbeit  nur  zu  gestatten  sei 
im  Interesse  des  Konsumenten. 

Dass  im  ganzen  die  Industrie  durch  gesteigerte  Pro- 
duktionskosten in  der  internationalen  Konkurrenz  schon 
Schaden  genommen  habe,  wird  nicht  geradezu  behauptet. 
Bekanntlich  ist  ja  auch  die  durch  das  Gesetz  vorzugsweise 
betroffene  Textilindustrie  jetzt  in  relativ  günstiger  Lage. 

Arbeiterinnen,  die  ein  Hauswesen  zu  besorgen  haben, 
dürfen  nach  der  Novelle  eine  anderthalbstündige . Mittags- 
pause verlangen.  Sie  haben  indess,  wie  „übereinstimmend1 
berichtet  wird,  diese  Vergünstigung  nur  ganz  vereinzelt 
beansprucht;  hinzugefügt  wird,  dass  ein  solches  Verlangen 
einer  Arbeiterin  als  Kündigung  betrachtet  werde. 


314 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  26. 


Die  Begrenzung  der  zulässigen  Geldstrafen  wirkt  nach 
Berichten  von  „den  verschiedensten  Seiten“  auf  die  Dis- 
ciplin  nachtheilig. 

Die  Bestimmungen  über  die  Sonntagsruhe  sind  ausser 
für  den  Handel  bekanntermassen  noch  immer  nicht  in 
Geltung  getreten;  der  Handel  ist  aber  im  Centralverbande 
nicht  nennenswerth  vertreten.  Merkwürdiger  Weise  scheint 
fast  aus  Seite  69,  Absatz  2 der  früher  genannten  Publikation 
sich  zu  ergeben,  dass  auch  die  industrielle  Sonntagsruhe 
theilweise  schon  jetzt  freiwillig  und  rechtsirrthümlich  durch- 
geführt wird,  ehe  noch  die  Ausführungsbestimmungen  er- 
gangen sind.  Schon  mit  Rücksicht  darauf  können  die  Ein- 
wendungen der  Antwortgeber  gegen  die  Sonntagsruhe  hier 
übergangen  werden. 

Berlin.  K.  Oldenberg. 

Zur  Frage  des  Achtstundentages  in  den  englischen 

Staats  Werkstätten.  Die  Agitation  unter  den  in  den  Staats- 
werkstätten beschäftigten  Personen  für  die  Herbeiführung 
des  achtstündigen  Arbeitstages  nimmt  täglich  an  Ausdeh- 
nung zu.  In  einer  Massenversammlung  der  Angestellten 
der  königl.  Gewehrfabrik  in  Enfield  sagte  Mr.  FredHammill, 
der  Arbeiterkandidat  für  Newcastle,  dass  der  Gewinn  der 
Fabrik  mindestens  8 oder  9 pCt.  betrage,  bisweilen  aber 
17  pCt.  erreiche;  das  Arsenal  von  Woolwich  realisire  25  pCt., 
und  die  Post  habe  sogar  einen  jährlichen  Reinertrag  von 
3 — 4 Mill.  Pfd.  Sterl.  erzielt;  die  Regierung  könne  daher 
sehr  wohl  den  Achtstundentag  einführen,  ohne  dass  sich 
ihr  ungeheurer  Verdienst  merklich  vermindern  würde. 
Damit  würde  die  Regierung  sämmtlichen  Fabrikanten  des 
Vereinigten  Königreichs  ein  treffliches  Beispiel  geben.  Die 
schliesslich  einstimmig  angenommene  Resolution  lautete: 
„Die  Zeit  ist  gekommen,  da  die  Regierung  es  unternehmen 
darf,  den  Achtstundentag  einzuführen,  und  daher  fordern 
wir  sie  auf,  es  zu  thun.“ 


Arbeiterversicherung. 

Die  Unfälle  beim  Betriebe  der  normalspurigen  Eisen- 
bahnen Deutschlands. 

Seit  1890  bringt  das  statistische  Jahrbuch  für  das 
Deutsche  Reich  eine  übersichtliche  Zusammenstellung  der 
Eisenbahnunfälle  seit  1880;  dieselben  sind  in  der  folgenden 
Tabelle  zusammengestellt,  in  der  wir  gleich  die  Relativ- 
zahlen einfügen,  die  auf  eine  Million  von  den  Lokomotiven 
zurückgelegte  Nutzkilometer  berechnet  sind. 


Be-  ' 
triebs- 
jahr 

Unfälle 

Verunglückte  Personen4) 

Entgleisungen  *) 

$ 

:D 

C 

£ 

£ 

CC 

N 

Sonstige2) 

Zusammen 

Auf  io ^ Lokomo-  ] 
tiv-Kilometer  Un-  S 
fälle  überhaupt 

Reisende 

Personen,  überhaupt5) 

rj 

:0 

aj 

WD 

verletzt 

Aufio(i  Person. - 
km  Todtung.  u. 
Verletzungen 

getudtet 3) 

verletzt2) 

Auf  io6  Person.- 
km  Tüdtung.  uJ 
Verletzungen  6) 

1880/81 

483 

482 

2 539 

3 504 

16,9 

26 

138 

0,03 

354 

2 208  10,8 

1881  82 

380 

410 

2 548 

3 346 

1.5,6 

18 

90 

0,02 

470 

2 129  9,8 

1882  83 

445 

346 

2 524 

3315 

14,6 

78 

376 

0,06 

556 

2 383  11,0 

1883/84 

450 

345 

2 592 

3 387 

14,0 

24 

87 

0,02 

564 

2 113  9,4 

1884  85 

400 

324 

2 524 

3 248 

12,8 

49 

121 

0,02 

507 

2 138  9,0 

1885  86 

389 

263 

2 847 

3 499 

13,6 

22 

68 

0,01 

503 

2 362  8,1 

1886  87 

448 

259 

2 934 

3 641 

13,9 

43 

141 

0,02 

520 

2 554  9,1 

1887  88 

508 

249 

1 764 

2 521 

9,3 

27 

107 

0,02 

463 

1 334  6,6 

1888/89 

393 

251 

1 905 

2 549 

8,8 

31 

123 

0,02 

562 

1 447  7,1 

1889/90 

423 

304 

2712 

3 439 

11,1 

40 

174 

0,02 

606 

2 462  9,2 

1890/91 

535 

372 

3 266 

4 173 

12,3 

46 

236 

0,03 

734 

2 999  9,9 

*)  Mit  Ausschluss  der  beim  Rangiren  vorgekommenen 
kleineren  Unfälle. 

2)  Die  königl.  bayerische  Staats  - Eisenbahn- Verwaltung 
verzeichnet  seit  1887/88  nicht  mehr  so  viele  geringfügige  Un- 
fälle und  Verletzungen,  daher  der  Rückgang  seit  1886/87. 


Auf  eine  Million  zurückgelegte  Personenkilometer 
kommen  also  im  Durchschnitt  der  Jahre  1880/91:  0,0245 

Verunglückungen  von  Reisenden  jährlich.  Oder:  auf 
40,8  Millionen  Personenkilometer  kommt  immer  ein  ver- 
unglückter Reisender.  Verglichen  mit  der  alten  Post- 
beförderung ist  also  die  Sicherheit  bei  den  Reisen  auf 
der  Eisenbahn  ausserordentlich  gross.  — Als  absolutes 
Maass  für  die  Betriebssicherheit  kann  die  Zahl  der  ver- 
unglückten oder  verletzten  Personen  aber  doch  nicht 
angesehen  werden,  da  hier  der  Zufall  eine  gar  zu  un- 
kontrollirbare  Rolle  spielt : ein  unsicher  aufgestelltes  Gepäck- 
stück kann  beim  Herunterfallen  einer  zufällig  darunter 
sitzenden  schwächlichen  Person  eine  schwere  Verletzung 
oder  gar  den  Tod  verursachen,  während  es  harmlos  einfach 
zur  Erde  poltert,  wenn  diese  Person  sich  zufällig  zum 
Coupefenster  hinauslehnte  etc.  — und  weil  andererseits 
nicht  jeder  Eisenbahnunfall  nothwendig  mit  einer  Ver- 
unglückung von  Personen  verbunden  sein  muss.  Wohl 
aber  kann  als  Maass  für  die  Betriebssicherheit  die  Zahl  der 
aus  dem  Betriebe  resultirenden  Unfälle  angenommen 
werden.  Die  Zahl  der  auf  eine  Million  Lokomotivkilometer 
reduzirten  Unfälle  in  der  Tabelle,  die  im  Durchschnitt 
1880/91:  13,2  beträgt,  ist  ziemlich  klein.  Das  kann  nicht 
wunderbar  erscheinen,  denn  bei  dem  Stande  unserer  moder- 
nen Eisenbahntechnik  muss  eine  ganze  Reihe  von  zufälligen 
Momenten  erst  Zusammentreffen,  ehe  ein  Unfall  möglich 
wird  und  je  grösser  die  Zahl  der  Signalvorrichtungen, 
Sicherheitseinrichtungen,  besonders  der  automatisch  wir- 
kenden, wird,  desto  geringer  wird  die  Wahrscheinlichkeit 
des  Eintreffens  eines  Eisenbahnunfalles;  — andererseits 
aber  steigert  sich  wieder  mit  dem  Anwachsen  des  Eisen- 
bahnverkehrs die  Wahrscheinlichkeit  eines  Unfalles.  In  die 
auf  I Million  Lokomotivkilometer  reduzirten  Unfälle  sind 
alle  diese  W ahrscheinlichkeiten  bereits  eingetreten , und 
deren  Zahl  giebt  uns  die  bei  dem  derzeitigen  Stande  der 
Technik  unvermeidlichen  Unfälle  an. 

Hierbei  ist  jedoch  ein  sehr  wesentliches  Moment,  näm- 
lich der  Einfluss  der  einzelnen  Person,  vernachlässigt;  und 
doch  alterirt  dieser  Faktor,  genau  so  wie  die  sogenannte 
persönliche  Gleichung  bei  physikalischen  und  astronomischen 
Beobachtungen,  sehr  wesentlich  das  Endresultat.  Dieser 
persönliche  Faktor  muss  offenbar  mit  in  Betracht  gezogen 
werden,  und  zwar  mit  um  so  grösserer  Berechtigung,  als 
es  bei  den  Eisenbahnunfällen,  wie  bei  allen  Unfällen  über- 
haupt, in  letzter  Linie  immer  eine  an  einer  gewissen  Stelle 
oder  zu  einem  gewissen  Zeitpunkt  mangelnde  Aufmerksam- 
keit ist,  welche  den  Unfall  verursacht.  Die  Unfallswahr- 
scheinlichkeit wird  im  Allgemeinen  umgekehrt  proportional 
der  aufgewandten  Aufmerksamkeit  sein.  — Aber  die  Inten- 
sität der  Aufmerksamkeit  — ein  gewisses  Maass  der  Uebung 
vorausgesetzt  — ist  offenbar  abhängig  von  der  verausgabten 
Arbeit,  und  zwar  ist  dieses  Abhängigkeitsverhältniss  nicht 
einfach  durch  eine  lineare  Funktion  darzustellen.  Es  ist 
ein  Erfahrungssatz,  der  nicht  erst  nicht  näher  bewiesen  zu 
werden  braucht,  dass  die  Summe  der  zur  Erhaltung  der 
Aufmerksamkeit  verausgabten  Nervenarbeit  nicht  doppelt 
so  gross,  sondern  im  Allgemeinen  grösser  sein  muss,  wenn 
in  zwei  gleichen,  ohne  dazwischen  liegende  Ruhepause, 
auf  einander  folgenden  Intervallen  zwei  Arbeiten  von  gleicher 
Grösse  zu  leisten  sind ; — oder  umgekehrt,  dass  im  zweiten 
Intervall  nicht  die  gleiche,  sondern  eine  kleinere  Arbeit  ge- 
leistet wird,  wenn  jedesmal  die  gleiche  Nervenarbeit  aufge- 
wendet werden  soll. 

Diese  Voraussetzung  ist  auf  die  Eisenbahnunfälle  an- 
zuwenden. Wären  diese  wirklich  sämmtlich  als  unvermeidlich 
nach  dem  gegenwärtigen  Stande  unserer  Technik  anzusehen, 
so  könnte  mit  der  Ausdehnung  des  Eisenbahnverkehrs  ihre 
absolute  Zahl  allerdings  wachsen,  aber  das  Verhältniss 

3)  Einschliesslich  der  24  Stunden  nach  dem  Unfall  ver- 
storbenen Personen. 

4)  Ohne  die  Selbstmörder,  deren  Zahl  für  1880/91  betrug: 
187  getödtete,  17  verletzte. 

Ä)  Einschliesslich  Bahnangestellte 

e)  Ausschliesslich  der  bei  Nebenbeschäftigung  (Bahn- 
unterhaltun  gs-Bauarbeiten  etc.)  Getödteten  oder  Verletzten. 


Verlag  der  Actien-Gesellschaft  „Neue  Börsen-Haile“  in  Hamburg. 


Für  Herzte,  KMeiitous-Verwaltiiiigen,  Universitäten, 

Staats-  und  stäfltiscüe  Behöiüen,  Vdswirtlie  und  die  GeMlfleten  aller  Staude. 


In  unserm  Verlage  erscheint : 

Die  Cholera  in  Hamburg 

in  ihren  Ursachen  lind  Wirkungen. 

Eine  ökonomisch  * medizinische  Untersuehiing. 

An  der  Mitarbeiterschaft  werden  sich  u.  A.  betheiligen  : 

Dr.  L.  von  Halle  in  Berlin. 

G.  Heinz,  Vorstand  des  Handelsstatistischen  Bureaus  in  Hamburg. 
Dr.  G.  Koch,  Vorstand  des  Statistischen  Bureaus  der  Steuer- 
Deputation  in  Hamburg. 

L.  Nagel,  Secretär  der  Gewerbekammer  in  Hamburg. 

D.  Steinert,  Fabrik-Inspector  in  Hamburg. 

Dr.  F.  Wolter,  practiscber  Arzt  in  Hamburg. 


Gr.  4U,  3 Theile,  mit  Karten  und  graphischen  Darstellungen. 

Tkeil  I:  Oekonomische  Ursachen. 

» II:  Verlauf  und  Bekämpfung  der  Epidemie. 

» III:  Die  Wirkungen  der  Cholera  auf  das  wirthschaftliche 
Leben. 

Subscript  ions-Preis  für  die  3 Hefte:  9 eMi. 


Der  I.  Theil  enthält  in  ' seinem  ersten  Abschnitt  von 
Dr.  L.  von  Halle  eine  Darstellung  der  socialen  Entwickelung  im 
neuzeitlichen  Hamburg  nach  der  Richtung  der  Vermehrung,  der  Ab-  und 
Zuwanderung  sowie  der  Staatsangehörigkeit.  Die  Bevölkerungsbewegung 
seit  50  Jahren  wird  dargestellt  und  gezeigt,  wie  unter  der  Einwirkung 
der  Freizügigkeit  und  der  modernen  Verkehrs-  und  Winhschaftsverhält- 


nisse  die  Zusammensetzung  der  Bevölkerung  siel)  fortdauernd  ver- 
schlechtert, Avie  der  numerische  Schwerpunkt  siel)  immer  weiter  nach 
unten  verlegt.  Der  Beruf,  die  Löhne,  Preise  und  Einkommen  werden 
behandelt  und  in  einer  ausführlichen  Darstellung  die  Wohnungsverhält- 
nisse in  ihren  Beziehungen  zu  dem  vorgenannten  Abschnitt  geschildert. 
Die  Baugesetze  und  die  Art  des  Bauens,  was  die  Wohnung  kostet  und 
Avie  sie  beschaffen  ist,  alles  Avird  unter  Hervorhebung  der  Minimal- 
anforderungen an  die  Wohnung  beigebracht.  Alsdann  bringt  ein 
zwei  t.  e r Abschnitt  eine  social-statistische  Arbeit  von  Dr.  Koch, 
in  der  besonders  die  gegemvärtige  Zusammensetzung  der  Bevölkerung 
im  Einzelnen  dargelegt  und  eine  Vergleichung  herbeigeführt  Avird  zAvischen 
der  Gesannntheit  und  den  einzelnen  Stadttheilen  einerseits  und  anderer- 
seits denjenigen  Bezirken,  in  denen  die  Cholera  besonders  stark  auf- 
getreten ist.  Es  Avird  zu  dem  Zwecke  die  Anzahl  der  Grundstücke,  die 
darauf  befindlichen  Häuser,  die  Gelasse  in  diesen  Häusern,  die  Haus- 
haltungen und  Einlogirer  in  diesen  Gelassen,  demgemäss  das  Verhältnis! 
aller  Theile  zur  Gesammtheit  festgestellt.  Die  BeAvohner  Averden  nach 
Geschlecht,  Alter  und  Beruf  eingetheilt  und  ihre  Einkommen-Verhältnisse, 
ihre  Miethebeträgo  und  die  Zahl  der  Erkrankungen  und  Sterbefälle  an 
der  Cholera  angegeben.  Der  Frage  der  allgemeinen  Sterblichkeit  im 
Laufe  des  letzten  Jahrzehnts  ist  ein  weiterer  Raum  geA\ddmet.  Ein 
dritter  Ab  schnitt  ist  der  Erörterung  allgemein  principieller  Fragen 
und  einer  Zusammenfassung  der  socialen  Momente  mit  Rücksicht  auf 
die  in  der  Epidemie  in  Betracht  kommenden  Gesichtspunkte  gewidmet. 
(Verfasser  Dr.  L.  von  Halle.) 

Der  II.  Theil  des  Buches,  bearbeitet  von  Dr.  med.  F.  W o 1 1 e r , 
beginnt  mit  den  früheren  Cholera-Epidemien  in  Hamburg,  um  sich  sodann 
ausführlich  der  Entstehung,  dem  Verlauf  und  der  Bekämpfung  der  vor- 
jährigen Epidemie  zuzuwendeu.  Der  ganze  Apparat  der  Kraukenhäuser, 
der  Sanitätskolonnen,  der  Kranken-  soAvie  Leichentransporte,  die  Thätig- 
keit  der  Cholera  - Commission  des  Senates , der  lokalen  Sicherheits- 
Ausschüsse  und  der  bürgerlichen  Gesundheit«  - Commissionen  Avird  im 
Einzelnen  verfolgt,  ausserdem  aber  vor  allem  die  medizinischen  Gesichts- 
punkte im  weitesten  Umfange  und  in  möglichst  allgemein  verständlicher 
Form  beigebracht  werden,  so  dass  das  Ganze  auch  dem  Nicht-Mediziner 
eine  willkommene  Belehrung  bieten  wird.  Der  Verfasser  hat  im  Aufträge 
der  Cholera-Commission  des  Senates  die  Bearbeitung  des  älteren  Materials 
für  die  von  ReicliSAvegen  erscheinende,  lediglich  medizinische  Darstellung 
der  Cholera-Epidemie  ausgeführt.  Er  wird  daher  in  der  Lage  sein, 
gestützt  auf  medizinisch-historisohe  Kenntnisse,  die  modernen  Theorien 
über  das  Wesen  der  Cholera  einer  Nachprüfung  zu  unterziehen,  Avie  er 
andererseits  bei  seiner  Darstellung  auf  die  inzwischen  zu  erwartenden 
Berichte  des  Professors  Gaffky  in  Giessen,  auf  manche  andere  amtliche 
und  nichtamtliche  Materialien,  wie  eigene  reiche  Erfahrungen  zurück- 
zugreifen in  der  Lage  sein  wird. 


In  einem  Anhänge  wird  eine  bis  ins  kleinste  Detail  ausgeführte 
Darstellung  des  Verlaufs  in  einem  einzelnen,  von  der  Cholera  besonders 
schwer  heimgesuchten  Quartier  enthalten  sein , deren  Autor  Herr 
H.  Benrath,  Redacteur  am  »Hamburgischen  Correspondenten«,  ist. 

Der  III.  Tlieil  des  Buches  enthält  eine  Schilderung  der  Wirkungen 
der  Cholera,  der  momentanen,  der  über  das  Ende  der  Epidemie  hinaus- 
gehenden und  der  für  die  Zukunft  vorauszusehenden.  Er  behandelt  die 
Einwirkung  der  Seuche 

1)  auf  den  Handel,  bearbeitet  voraussichtlich  von  Herrn  G.  H e i n z , 

2)  auf  den  Gewerbe-  und  Kleinhändlerstand,  von  Herrn  L.  Nage 

3)  auf  den  Detailhandel  von  Herrn  Dr.  Cr.  Koch, 

4)  auf  die  gewerblichen  Arbeiter  in  den  Grossbetrieben  von  Herrn 
Eabrik-Inspector  D.  Steine rt, 

5)  wird  der  dritte  Theil  behandeln  den  Notkstand  und  seine  Be- 
kämpfung, bearbeitet  von  einem  hervorragenden  Fachmann  unter  Benutzung 
■des  Materials  der  Armenbehörde  und  desjenigen  der  verschiedenen  Noth- 
standscomites  und  Hülfsausschüsse.  Hierbei  wird  speciell  die  Frage  der 
Arbeitslosen-Statistik  sowie  die  allgemein  principiell  wichtigsten  Ergeb- 
nisse aus  der  Organisation  der  Nothstandsausschüsse  ins  richtige  Licht 
gestellt  werden.  Der  Secretär  des  Executiv-Ausschusses  der  Central- 
Nothstands-Oomites,  Herr  Rechtsanwalt  Dr.  Dehn,  hat  seine  weit- 
gehendste Unterstützung  für  den  Zweck  zur  Verfügung  gestellt. 

In  einem  Schlussworte  wird  Dr.  L.  v o n H a 1 1 e die  Gesammt- 
Resultate  aller  drei  Theile  nochmals  zusammenfassen  und  in  der 
Richtung , wie  ein  nicht  vorauszusehender,  unberechenbarer  Aus- 
nahmezustand sich  in  einem  kleinen,  abgeschlossenen  Gemeinwesen  fühl- 
bar macht,  zu  verwerthen  versuchen. 

Den  Heften  wird  als  erläuterndes  Anschauungsmaterial  eine  Anzahl 
von  Karten,  graphischen  Darstellungen  und  Tabellen  beigegeben. 

Das  erste  Heft  erscheint  im  März,  das  zweite  im  Mai,  das  dritte 
im  Juli  d.  J.,  doch  bleibt  eine  andere  Reihenfolge  des  Erscheinens  der 
Hefte  Vorbehalten. 


Zu  beziehen 

rom  Verlag- der  A.-G.  „Neue  Börseu-Halle“,  Hamburg, 

Alter  wall  76,  sowie  durch  alle  Buchhandlungen. 


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ti  "Inhalt  u.  A.:  Hamburgs  Handel  und  Verkehr.  (Mit  Illustrationen  — 
Hamburgs  Rhederei  und  überseeische  Schiffsverbindungen.  - Das  Hamburger 
Assecuranzgeschäft.  (See  Feuer,  Leben.)  - Fondsgeschäft.  - sSdSS 
j ff  - T Warengeschäft.  — Weinhandel.  — Bierbrauerei.  — Die  hübe 
Hamburgs  Lebensader  (Mit  vielen  Illustrationen.)  — Die  Technik  des 
Hamburger  Handelsverkehrs.  (Mit  vielen  Illustrationen.)  - Das  Hamburger 

Ausla nde  C (m i t viele^lES^ 

.Ä™terlii)T‘;CirC''l,'‘'  " “"•***  »W-  "”d  Agentm-tSmhäfte 


Proisjaecte  unentgeltlich. 


Dieses  Jahrbuch  giebt  in  einer  Reihe  von  theilweise  reich  illustrirtem 
i on.ographien  aus  den  besten  federn  .Aufschlüsse  über  die  hervorragendsten 
Zweige  des  Ham  burgischen  Welthandels  und  ist  deshalb  für  jeden  Volkswirt* 
und  Parlamentarier  von  unschätzbarem  Werthe. 


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Terminliandel. 

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, . ,J)ie.se  beiden,  über  die  gauze  Angelegenheit  in  gemeinverständlicher- 
u eiso  sich  verbreitenaen  Abhandlungen  verdienen  in  jetziger  Zeit  um  so  mehr 
die  allseitige  Würdigung  und  Beachtung,  als  die  hier  behandelten  Fragen, 
gegenwärtig  auch  die  Börsen-hnquete-Konimission  beschäftigen  und  bekanntlich, 
der  (Tegenstand  der  Kontroverse  iu  weiteren  Kreisen  sind. 


N'o.  26 


SOZIALl’OLI’I  TSCI UCS  CRN  IRALBLAVI . 


315 


dieser  Zahl  zu  den  zurückgelegten  Lokomotivkilometern  — 
dem  Masse  der  Intensität  des  Eisenbahnverkehrs  müsste 
konstant  bleiben.  Diese  Relativzahlen  in  unserer  Tabelle 
zeigen  aber  sehr  erhebliche  Schwankungen.  — Es  wird 
sich  nun  fragen,  in  wie  weit  sie  zum  Beweise  unserer  Be- 
hauptung herangezogen  werden  können.  In  den  Daten  für 
1880/87  stecken  nach  den  eigenen  Angaben  des  statistischen 
Jahrbuches  eine  ganze  Anzahl  kleinerer  Unfälle  mit  darin, 
die  von  1887  an  wegen  ihrer  Belanglosigkeit  weggelassen 
worden  sind.  Erfahrungsmässig  aber  sind  solche  statisti- 
schen Angaben,  in  welchen  ein  weiter  Spielraum  in  der 
Entscheidung  darüber  gelassen  ist,  was  noch  als  Unfall 
angesehen  werden  soll,  immer  unzuverlässig;  man  wird 
also  die  ersteren  Daten  nur  äusserst  vorsichtig  benutzen 
dürfen.  Ueberdies  fallen  auch  noch  in  die  ersten  Jahre 
unmittelbar  nach  den  umfangreichen  Eisenbahnverstaat- 
lichungen — umfassende  Einführungen  technischer  Vor- 
kehrungen  zur  Sicherung  des  Eisenbahnbetriebes,  so  dass 
die  Zahlen  nicht  ohne  weiteres  mit  einander  vergleichbar 
sind.  Anders  dagegen  stellt  es  sich  mit  den  für  die  letzten 
drei  Jahre  geltenden  Zahlen;  hier  wird  sich  schon  weit 
eher  ein  Anhalt  für  die  Ermittelung  des  persönlichen  Mo- 
mentes der  Eisenbahnunfälle  finden  lassen. 

Um  zu  diesem  zu  gelangen,  stellen  wir  zunächst  die 
Anzahl  der  überhaupt  in  der  Eisenbahn-Betriebsverwaltung 
beschäftigten  Beamten  und  Arbeiter  zusammen,  dann  die 
in  der  Transport  Verwaltung  beschäftigten  Beamten  und 
Arbeiter  (Zahlen,  die  auch  an  sich  Interesse  haben)  und  er- 
mitteln schliesslich  die  auf  den  einzelnen  in  der  Trans- 
portverwaltung beschäftigten  Beamten  entfallende  durch- 
schnittliche Arbeitslast,  indem  wir  berechnen,  wie  viel  Lo- 
komotivkilometer auf  die  einzelne  Person  im  Jahre  kommen. 
Die  Vergleichung  ergiebt  folgendes  Bild: 


Betriebs/- 

jalir 

Beamte 

und 

Arbeiter 

überhaupt 

Beamte  und  Arbeiter 
im  Transportbetriebe 

Beamte  zusammen 

Auf  1 im  Transport 
beschäftigte 
Person  kommen 
jährlich  Loko- 
motivkilometer 

bei 

ii  1 Beam- 
bei  den  1 . . 

; ten  und 

Be-  Arbei- 

tern zu- 
amten sam- 

men 

Unfall 

IO6 

Loko- 

motiv- 

kilo- 

meter 

e auf 

iooo  im 
Trans- 
port- 
betrieb 
be- 
schäf- 
tigte 
Beamte 

i 

2 

3 

4 

5 

6 

7 

8 

1880,81 

241  435 

82  533 

138415 

2507,9 

1499 

16,9 

42,2 

1881  82 

246  741 

82  591 

142  083 

2599.4 

1512 

15.6 

40,3 

1882  83 

258  463 

83  319 

150  684 

2734,3 

1508 

14,6 

39,9 

1883  84 

269  832 

85  058 

158  439 

2846,3 

1533 

14,0 

39,8 

1884/85 

278  583 

86  701 

164  662 

2921,1 

1536 

12,8 

37,5 

1885/86 

283  068 

87  557 

167  647 

2943,0 

1535 

13,6 

39,9 

1886  87 

285  761 

88  673 

169  282 

2950,4 

1548 

13.9 

41,0 

1887/88 

291  723 

89  722 

172  934 

3036,4 

1516 

9.3 

28,1 

1888/89 

301  855 

91  479 

180  006 

3163,4 

1608 

8,8 

27,9 

1889/90 

315  729 

94  448 

190  259 

3293,8 

1636 

11,1 

12,3 

36,4 

1890  91 

340  553 

100  423 

204  520 

3369,9 

1651 

41,6 

Zum  Vergleich  mit  einander  besonders  geeignet  sind 
die  Zahlen  der  Spalten  5 und  8;  in  der  ersteren  sind  die 
Arbeitsleistungen  der  in  der  Transportverwaltung  beschäf- 
tigten Beamten,  in  der  letzteren  das  Tausendfache  der  auf 
diese  Arbeitsleistung  entfallenden  Unfälle  enthalten. 

Auffallend  ist  zunächst  die  ganz  außergewöhnliche 
hohe  Zahl  der  Unfälle  des  letzten  Jahres,  die  an  die  Zahl 
des  ersten  Jahres  nahe  heranreicht,  wo  doch  in  dem  letzten 
Jahre  die  leichten  Unfälle  gar  nicht  mitgezählt  worden 
sind.  Die  auffälligste  Erscheinung  aber  ist  doch  die  stets 
wachsende  Arbeitslast  der  Transportbeamten.  Sie  stieg  von 
der  Bewältigung  von  2507,9  Lokomotivkilometer  durch  einen 
Beamten  innerhalb  des  Jahres  1880/81  auf  3369,9  Lokomotiv- 
kilometer im  Jahre  1890/91,  wuchs  also  um  34,2  pCt.;  in 
dem  betrachteten  zehnjährigen  Intervall  betrug  die  Steige- 
rung 3,11  pCt.  per  Jahr,  in  dem  Jahre  1888  89  bis  1889/90 
aber  wuchs  sie  von  3163,4  auf  3293,8  Lokomotivkilometer 


an,  also  um  4,12  pCt.,  um  in  dem  letzten  Jahre  auf  2,31  pCt. 
wieder  herunterzugehen. 

In  den  drei  letzten  Jahren  betrug  die  Zunahme  der 
Arbeitsleistung  auf  einen  im  Transport  beschäftigten  be- 
amten : 

Von  1888/89  bis  1889  90  . . . 130/4  Lokomotivkilometer 

„ 1889/90  „ 1890/91  ...  76,1  „ 

„ 1888/89  „ 1890/91  . . . 206,1 

Demgegenüber  betrug  die  Zunahme  der  Unfälle  auf 
1000  Beamte: 

Von  1888/89  bis  1889/90  8,5 

„ 1889/90  ,.  1890/91  5,2 

„ 1888/89  „ 1890/91 13,7. 

Die  Unfallszunahme  steht  also  zweifelsohne  mit  der 
Zunahme  der  Arbeitsleistung  in  Beziehung;  aber  wie  man 
sich  leicht  überzeugen  kann,  ist  die  Zahl  der  Unfälle  nicht 
einfach  proportional  der  jedem  Beamten  zugemutheten  Ar- 
beitslast, sondern  steigt  rascher  als  diese. 

Allerdings  darf  hier  nicht  ausser  Acht  gelassen 
werden,  dass  das  vorliegende  Material  nicht  umfangreich 
genug  ist,  um  alle  diejenigen  Momente  auszuscheiden, 
welche  die  angenommene  einfache  Beziehung  kompli- 
ziren,  dass  es  somit  auch  nicht  möglich  ist,  mit  Sicher- 
heit die  Funktion  zu  ermitteln,  welche  die  Abhängig- 
keit der  Zahl  der  Unfälle  von  der  jeweiligen  Anstrengung 
der  Beamten  darstellt.  Aber  so  viel  lehren  die  ermittelten 
Zahlen  doch,  dass  unzweifelhaft  eine  solche  Abhängigkeits- 
beziehung vorhanden  ist,  dass  die  Sicherheit  des  Bahnbe- 
triebes in  ganz  hervorragendem  Masse  von  der  dem  ein- 
zelnen Beamten  zugemutheten  Arbeit  abhängt.  Die  ganz 
ausserordentlich  hohe  Steigerung  der  Eisenbahnunfälle  in 
den  letzten  Jahren  ist  ganz  ohne  Frage  der  Ueberbürdung 
der  Beamten  mit  Arbeit  zu  danken;  mit  einer  jährlichen 
Vermehrung  der  Arbeitslast  um  durchschnittlich  3,1  1 pCt. 
ist  in  den  letzten  Jahren  die  Grenze  der  Zulässigkeit  - 
ganz  abgesehen  von  den  individuellen  Nachtheilen  für  die 
Transportbeamten  — schon  weit  überschritten  worden. 

Magdeburg.  H.  Lux. 


Schulwesen. 

Volksschulgesetzgebiing  in  Rumänien.  In  der  Kammer- 
sitzung vom  13.  März  wurde  ein  Gesetz  verschlag,  der  die 
Gemeinden  und  Distrikte  von  den  bisher  für  die  Erhaltung 
der  Mittelschulen  geleisteten  Beiträgen  befreit,  ohne  Debatte 
angenommen,  und  hierauf  die  Generaldebatte  über  das  vom 
Unterrichtsminister  T.  Jonescu  ausgearbeitete  Volksschul- 
und  Volksschullehrergesetz  eröffnet.  Dieses  hält  die 
bisher  bestandene  Unentgeltlichkeit  des  Volksschul- 
unterrichts aufrecht,  und  will  dem  Mangel  an  geeigneten 
Schullokalitäten  sowie  auch  dem  Uebelstande  abhelfen, 
dass  trotz  des  obligatorischen  Charakters  des  Volksschul- 
unterrichts in  Rumänien  der  Besuch  namentlich  der 
Dorfschulen  ausserordentlich  viel  zu  wünschen  übrig  lässt. 
Ferner  sollen  die  künftigen  Volksschullehrer  sich  einer 
Prüfung  ihrer  Befähigung  vor  einer  eigens  für  diesen 
Zweck  gebildeten  Kommission  unterziehen  und  soll  dem 
Ministerium  für  Kultus  und  Unterricht  neben  dem  Rechte 
der  Ueberwachung  der  Volksschule  und  ihrer  Lehrer  auch 
das  Recht  zustehen,  solche  Volksschullehrer,  die  ihre  Amts- 
pflicht nicht  erfüllen  oder  gar  staatsgefährliche,  ordnungs- 
widrige Wühlereien  betreiben,  mit  Disziplinarstrafen  zu  be- 
legen und  gegebenenfalls  ganz  zu  entlassen.  Wie  ver- 
lautet, wird  von  der  sogenannten  liberalen  Opposition  die 
Beschränkung  der  Unentgeltlichkeit  des  Volksschulunter- 
richts auf  die  Kinder  rumänischer  Volksschullehrer  vorge- 
schlagen werden.  Doch  wird  dieser  Antrag  von  der  Regie- 
rung als  unannehmbar  bezeichnet,  und  unterliegt  es  keinem 
Zweifel,  dass  die  Volksschul  Vorlage  im  Sinne  ihrer  oben 
angegebenen  hauptsächlichen  Ziele  mit  grosser  Stimmen- 
mehrheit ohne  jedwede  bemerkenswerthe  Abänderung  an- 
genommen werden  wird. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


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No.  26. 


3)6 


«T  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung  in  Berlin  SW.-*8- 

In  8 Tagen  erscheint:  Band  VI  Heft  I 

ARCHIV 

für 

SOZIALE  GESETZGEBUNG  UND  STATISTIK. 

Viertel  jahresschri  ft 

zur  Erforschung  der  gesellschaftlichen  Zustände  aller  Länder. 

In  Verbindung 

mit  einer  Reihe  namhafter  Fachmänner  des  In-  und  Auslandes 

herausgegeben  von 

Dr.  Heinrich  Braun. 

Das  Archiv  erscheint  in  Bänden  von  ca.  40  Druckbogen  lex.  8°  in  4 Heften. 
Abonnementspreis  pro  Band  M.  12.—.  Einzelne  Hefte  M.  4.—. 


Inhalt  des  ersten  Heftes. 

Abhandlungen. 

Die  ortsüblichen  Tagelöhne  gewöhnlicher  Tagearbeiter  im  Deutschen  Reiche.  (Mit 
einer  Karte  von  Deutschland.)  Von  Dr.  E.  Lange. 

Ein  Experiment  mit  dem  Achtstundentage.  Von  Dr.  Otto  Pringsheim. 

Pie  neue  Arbeiterschutzgesetzgebung  in  Frankreich.  Von  Raoul  [ay,  Professor  an 
der  Rechtsfakultät  in  Grenoble. 

Zwei  Hauslialtnngshudgets  über  einen  zwanzigjährigen  Zeitraum.  Von  Dr.  E.  Hof- 
mann, Pfarrer. 

Gesetzgebung. 

Grossbritannien. 

Gesetzentwurf  betreffend  die  Achtstundenarbeit  für  Bergleute.  Eingeleitet  von  Sir 
Charles  Dilke. 

Frankreich. 

Gesetz  betreffend  die  Arbeit  von  Kindern,  minderjährigen  Mädchen  und  Frauen  in 
gewerblichen  Unternehmungen. 

Belgien. 

Gesetz  betr«  ffeiul  die  Arbt  it  von  Frauen,  jugendlichen  Personen  und  Kindern  in 
gewerblichen  Betrieben.  Unter  Berücksichtigung  der  Ausführungsverordnungen. 
Eingeleitet  von  Prof.  Dr.  Heinrich  Herkner. 

Miszellen. 

Sozialismus  und  kapitalistische  Gesellschaftsordnung. 

I.  Antwort  aut  die  Kritik  Professor  Werner  Sombarts.  Von  Prof.  Julius  Wolf 
( Zürich). 

II.  Erwiderung  auf  die  „Antwort“  Professor  Julius  Wolfs.  Von  Prof.  Werner 
Sombart  (Breslau). 

Litteratur. 

•Jay.  Prof.  Raoul,  Etudes  sur  la  ejuestion  ouvriere  en  Suisse.  (,F.  Schüler.) 
Graf.  Eduard,  Die  Austheilung  der  Allmend  in  der  Gemeinde  Schütz.  (A.  v. 
Miaskowski.) 

Kosin,  Prof.  Dr.  Heinrich,  Das  Recht  der  Arbeiterversicherung.  (W.  Sombart.) 
Zusammenfassung  der  Resultate  der  wirtschaftlichen  Erforschung  Russ- 
lands durch  die  landschaftliche  Statistik.  Band  II:  Die  bäuerliche  Pacht 
der  nicht  zu  den  Bauernanteilen  gehörigen  Ländereien.  Von  Prof.  N.  Karyscheff, 
(P.  v.  Struve.) 


Soeben  erschien: 

Antiquarisch  er  Lagerkatalog  No.307. 

Nationalökonomie. 

(Bibi,  des  Herrn  Fred.  Holms  in  Upsala.) 
Ca.  550  Nummern. 

Früher  erschienen,  die  Bibliothek 
des  bekannten  Politikers  Moriz  Molil 
enthaltend: 

Catalog  No.  291:  Staatsreeht  u.  Völker- 
recht. Politik.  — No.  292:  Theorie  der 
Volkswirtschaftslehre.  Handel  u.  Industrie. 
— No.  293:  Die  sozialen  Fragen.  — 

No.  294:  Finanz.  Zölle.  Bank-  u.  Münz- 
wesen.  — No.  297:  Statistik.  — No.  303: 
Nachtrag. 

Frankfurt  a M , Rossmarkt  18. 

Joseph  Baer  & Co. 

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Kauft  jederzeit  Bibliotheken  und  ein- 
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Dieser  Nummer  liegen  zwei  Prospekte 
bei:  .los.  Baer  & Co.  in  Frankfurt  a.  31.: 
„Blätter  für  soziale  Praxis“;  Verlag  der 
A.-G.  „Neue  Börsen -Halle“,  Hamburg: 
„Die  Cbolera  in  Hamburg“. 


Verantwortlich  für  den  Anzeigentheil : (3,  Schuchardt  in  Berlin.  — Druck  von  H.  S.  Hermann  in  Berlin. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  3.  April  1893. 


Nummer  27. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 

o 


Erscheint  jeden  Montag. 

Zu  beziehen 

durch  alle  Buchhandlungen,  Spediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Anzeigenpreis  für  die  dreigespaltene  Colonelzeile 
40  Pfennig. 


INHALT. 


Die  österreichische  Enquete 
über  die  Organisation  der 
Grossindustrie.  Von  Prof. 
Dr.  Heinrich  Herkner. 

Soziale  Wirthscliaftspolitik  und 
Wirthsckaftsstatistik : 

Zur  Sozialstatistik  der  Missernten 
in  Russland.  Von  Peter  von 
Stru  ve. 

Arbeiterzustände : 

Arbeitslosigkeit  im  Buchdrucker- 
gewerbe. Von  Privatdozent  Dr. 
Karl  Oldenberg. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Der  internationale  sozialistische 
Arbeiterkongress  i.  J.  1893. 

Gewerkschaftliche  Arbeiterbe- 
wegung: 

Beendigung  des  Strikes  der  Baum- 
wollspinner in  S.  O.  Lancashire. 

Dienstboten  - Gewerkvereine  im 
Kaplande. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Ausdehnung  der  Frauen-  und  Kin- 
derarbeit in  Deutschland. 

William  Mather’s  Gesetzentwurf 
betr.  die  Regulirung  der  Arbeits- 
zeit durch  die  Trades  Unions. 


Arbeits-  und  Gewerbekammern  in 
Holland. 

Arbeiterversiclierung : 

Haftpflicht-Schutzverband  deutscher 
Industrieller. 

Verhandlungen  der  Konferenz  der 
Vertreter  der  Landesversicher- 
ungsämter etc. 

Wohnungszustände  und  Woh- 
nungsgesetzgebung : 

Berliner  Wohnungsstatistik. 

Braunschweigische  Verordnung 
über  das  Schlafgängerwesen. 

Wohnverhältnisse  der  Arbeiter  in 
Oberfranken. 

Schulwesen : 

Die  Unentgeltlichkeit  der  Lehrmittel 
an  den  schweizerischen  Schulen. 
Von  Rechtsanwalt  Otto  Lang. 

Soziale  Hygiene: 

Einschränkung  des  Alkoholver- 
kaufs in  England. 

Armen  wesen : 

Amtlicher  Arbeitsnachweis  und 
Armenrecht. 

Zur  Statistik  der  Berliner  Arbeiter- 
kolonie. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  österreichische  Enquete  über  die  Organi- 
sation der  Grossindustrie. 

Fast  zwei  Jahre  sind  verflossen,  seitdem  die  öster- 
reichische Regierung  den  Gesetzentwurf,  betreffend  die  Ein- 
führung von  Einrichtungen  zur  Förderung  des  Einvernehmens 
zwischen  den  Gewerbsunternehmern  und  ihren  Arbeitern, 
dem  Abgeordnetenhause  vorgelegt  hat.  So  dürfte  denn  eine 
kurze  Verständigung  über  den  Inhalt,  namentlich  im  Inter- 
esse der  reichsdeutschen  Leser,  die  sich  der  Vorlage  kaum 
noch  deutlich  entsinnen  werden,  zunächst  am  Platze  sein. 

Zwei  durchaus  verschiedene  Wesen  sind  hier  in  dem 
Laboratorium  der  Bureaukratie  zu  einem  zwar  sehr  inter- 
essanten, aber,  wie  wir  fürchten,  wenig  lebensfähigen  Ho- 
munculus  verbunden  worden.  Die  eine  Idee  ist  gegeben 
durch  die  in  Oesterreich  bereits  durchgeführte  Zwangs- 
organisation des  Kleingewerbes,  die  nun  auf  Grossindustrie 
und  Bergbau  übertragen  werden  soll;  die  andere  durch 
die  Organisationen  von  Arbeitern  und  Arbeitgebern,  welche 


auf  englischem  Boden  in  Gewerkvereinen,  Unternehmerver- 
bänden und  Einigungskammern  ursprünglich  und  in  voller 
Freiheit  erwachsen  sind.  So  ist  ein  Gebilde  entstanden,  das 
überdies  auch  an  die  vom  rechten  Zentrum  der  Frankfurter 
Nationalversammlung  (Lette,  Degenkolb,  Veit  und  Becker  aus 
Gotha)  im  Jahre  1849  vorgeschlagene  Organisation  der 
Fabrikindustrie  lebhaft  erinnert. 

Jede  Fabrik  hat  einen  Arbeiterausschuss  einzuführen, 
dem  ähnliche  Aufgaben  wie  in  Deutschland  zugedacht  sind. 
Die  obligatorische  Einsetzung  des  Ausschusses  muss  deshalb 
erfolgen,  weil  er  als  Wahlkörper  für  weitere  Zwecke  zu 
dienen  hat.  Die  Mitglieder  der  Ausschüsse  haben  Delegirte 
für  die  Genossenschaftsversammlung  der  Flilfsarbeiter  des 
betreffenden  Gewerbes  zu  erwählen.  Dieser  Genossen- 
schaftsversammlung der  Arbeiter  tritt  eine  andere  aus 
sämmtlichen  Gewerbsunternehmern  gebildete  gegenüber. 
Beide  Organisationen  sollen  im  Rahmen  der  bestehenden 
Gesetze  ihre  wirthschaftlichen  Interessen,  soweit  sie  mit 
dem  Gegenstände  ihrer  gewerblichen  Thätigkeit  Zusammen- 
hängen, erörtern,  einschlägige  Wünsche  und  Beschwerden 
in  Berathung  ziehen  und  hierbei  über  ihre  Haltung  zu  den 
in  den  betreffenden  Fragen  von  der  anderen  Genossen- 
schaft gefassten  Beschlüssen  sich  entscheiden.  Schliesslich 
haben  auch  die  Genossenschaftsversammlungen  als  Wahl- 
körper zu  dienen,  um  die  Vertreter  beider  Interessen  für 
ein  Einigungsamt  herauszudestilliren. 

Von  der  Arbeiterpartei  wurde  die  Vorlage  zunächst 
mit  grossem  Misstrauen  aufgenommen.  Wenige  Tage  nach 
der  Veröffentlichung  derselben  schrieb  das  leitende  Organ, 
die  „Arbeiter-Zeitung“: 

„Die  Arbeiter  rufen  nach  Koalitionsrecht,  und  die  Re- 
gierung bietet  ihnen  eine  Zwangsanstalt,  welche  sie  den 
Unternehmern  mit  gebundenen  Händen  ausliefert  und  ausser- 
dem der  Gnade  der  Polizei  preisgiebt.  Es  wimmelt  von  den 
bekannten  polizeilichen  Redewendungen.  Die  Arbeiter  wollen 
freie  gewerkschaftliche  Organisation,  die  Regierung  bietet 
ihnen  das  Prokrustesbett  der  Genossenschaft  und  stellt  sie 
unter  direkte  Vormundschaft  der  Unternehmer.  Die  Arbeiter 
wollen  Brot,  die  Regierung  bietet  ihnen  einen  Stein.“ 

Diese  Kritik  zeigt,  dass  man  in  Arbeiterkreisen  nicht 
gesonnen  war,  gegen  die  Zwangsorganisationen  des  Ent- 
wurfes auf  freies  Versammlungs-,  Vereins-  und  Koalitions- 
wesen und  die  Ertheilung  des  politischen  Wahlrechtes  ir- 
gendwie zu  verzichten.  Im  Uebrigen  hatten  die  Arbeiter 
längst  die  Erfahrung  gemacht,  dass  die  bestehenden  Zwangs- 
genossenschaften des  Kleingewerbes  sich  durchaus  nicht 
immer  als  ein  Hinderungsmittel,  sondern,  innerhalb  gewisser 


318 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  27. 


Grenzen,  sogar  als  ein  gar  nicht  zu  verachtender  Vorspann 
für  die  freie  gewerkschaftliche  Organisation  erwiesen  hatten. 
Später  deutete  man  auch  an,  man  werde  selbst  diese  neuen 
Zwangsgenossenschaften  schon  entsprechend  auszunutzen 
verstehen. 

Längere  Zeit  bedurfte  es,  ehe  die  Unternehmerwelt  zu 
dem  Gesetzentwürfe  Stellung  nahm.  Noch  im  Spätherbst  des 
Jahres  1891  wunderte  sich  unseres  Erinnerns  der  Führer 
der  deutsch-liberalen  Partei,  Herr  v.  Plener,  in  einer  Rede 
zu  Eger,  dass  man  dieser  bedeutsamen  Vorlage  keine 
grössere  Theilnahme  entgegen  bringe.  Indess  die  Ruhe 
war  nur  die  bekannte  Ruhe  gewesen,  welche  dem  Sturme 
vorherzugehen  pflegt.  Und  der  Sturm  der  Unternehmer- 
Entrüstung  brach  im  Winter  1891/92  mit  ungewöhnlicher 
Heftigkeit  los. 

Das  Abgeordnetenhaus  hatte  die  Vorlage  an  den  Ge- 
werbeausschuss verwiesen.  Dieser  entschloss  sich  in  der 
Sitzung  vom  18.  Februar  1892  eine  mündliche  und  schriftliche 
Enquete  zu  veranstalten.  Die  Ergebnisse  dieser  Befragung 
sind  vor  einigen  Wochen,  zusammengestellt  von  dem  Be- 
richterstatter, dem  als  Sozialpolitiker  bestens  bekannten  Dr. 
Baernreither,  erschienen  und  sollen  einer  kurzen  Besprechung 
unterzogen  werden.*) 

Die  vorliegende  Enquete  ist  unseres  Wissens  die  vierte, 
die  vom  österreichischen  Abgeordnetenhause  in  gewisser 
Anlehnung  an  das  bewährte  englische  Vorbild  über  sozial- 
politische Fragen  unternommen  worden  ist.**)  Noch  bleibt 
sie  hinter  letzterem  beträchtlich  zurück,  doch  steht  sie  ihm 
viel  näher  als  ihre  Vorgängerinnen. 

Es  wurde  entsprechend  den  drei  Abtheilungen  der  Re- 
gierungsvorlage ein  18  Fragen  umfassender  Fragebogen  auf- 
gestellt. Zur  schriftlichen  Beantwortung  lud  man  die  Handels- 
kammern und  Unternehmerverbände,  zur  mündlichen  die 
Gewerbeinspektion.  38  Arbeitgeber  und  29  Arbeiter,  ein.  Je 
drei  Arbeitgeber  und  Arbeiter  konnten  oder  wollten  der 
Aufforderung  keine  Folge  leisten. 

Da  man  nicht  annehmen  kann,  dass  die  gesetzgebenden 
Faktoren  und  die  öffentliche  Meinung  den  Werth  einer 
Arbeiterstimme  sehr  viel  höher  als  den  einer  Arbeitgeber- 
stimme veranschlagen  werden,  sind  die  Arbeiter  bei  der  Er- 
hebung unleugbar  verkürzt  worden.  Schon  in  der  münd- 
lichen Befragung  stehen  35  Arbeitgebern  nur  26  Arbeiter 
gegenüber.  Dazu  kommt,  dass  um  schriftliche  Begutachtung 
überhaupt  nur  Arbeitgeberorganisationen  (Handelskammern 
und  Unternehmerverbände)  angegangen  worden  sind.  Ausser 
der  höchst  ungleichmässigen  Berücksichtigung  beider  Par- 
teien fordert  die  Auswahl  der  Persönlichkeiten  einigermaassen 
zur  Kritik  heraus.  Warum  hat  man  z.  B.  zur  mündlichen 
Befragung  auch  Handelskammerpräsidenten  geladen,  nach- 
dem doch  den  Handelskammern  schon  genügende  Gelegen- 
heit zur  Aeusserung  eröffnet  worden  war?  Und  wenn  diese 
Präsidenten  mehr  als  Arbeitgeber  denn  als  Präsidenten  ge- 
hört werden  sollten,  durfte  man  glauben,  ein  Handelskammer- 
präsident werde  sich,  selbst  wenn  sein  persönlicher  Stand- 


'“)  Ergebnisse  der  von  dem  Gewerbeausschusse  des  öst.  I 
Abgeordnetenhauses  veranstalteten  mündlichen  und  schriftlichen  ; 
Enquete  über  den  Gesetzentwurf,  betreffend  die  Einführung  von  j 
Einrichtungen  zur  Förderung  des  Einvernehmens  zwischen  den 
Gewerbsunternehmern  und  ihren  Arbeitern.  Zusammengestellt  vom 
Berichterstatter  Dr.  Baernreither.  Wien.  Aus  der  k.  k.  Hof-  und 
Staatsdruckerei  1893.  VIII — 304. 

::  l Es  kommen  in  Betracht  die  Ermittlung  der  Arbeitsver- 
haltnisse gelegentlich  der  Berathnng  der  Arbciterschutzgesetzung 
1883,  die  Enquete  über  die  Arbeiterkammern  1889  und  jene  über 
die  Lage  des  Schuhmachergewerbes  1892. 


punkt  von  demjenigen  seiner  Kammer  abweichen  sollte, 
nicht  scheuen,  diesem  Zwiespalte  offenen  Ausdruck  zu  ver- 
leihen? So  scheint  es  uns  namentlich  verfehlt  gewesen  zu 
sein,  dass  man  nicht  danach  getrachtet  hat,  aus  dem  nord- 
östlichen Bezirke  der  Reichenberger  Kammer  eine  andere 
Persönlichkeit  als  den  Präsidenten  einzuladen.  Wir  können 
nicht  recht  glauben,  dass  die  äusserst  fortschrittsfeindliche 
Haltung,  die  von  der  genannten  Kammer  und  natürlich  im 
Grossen  und  Ganzen  auch  von  deren  Präsidenten  einge- 
nommen worden  ist,  der  Stimmung  aller  Industriellen  jener 
Gegend  entspricht. 

Entschiedener  noch  ist  der  Missgriff  zu  bemängeln,  dass 
unter  den  einvernommenen  Arbeitern  auch  solche  sich  be- 
finden, denen  die  Arbeiterstellung  gar  nicht  zukommt.  So 
sind  einzelne  Werkführer  und  Meister  befragt  worden,  die 
dort,  wo  es  um  Arbeiterausschüsse,  also  im  Allgemeinen 
um  eine  gegen  sie  gerichtete  Institution  sich  handelt,  nicht 
als  durchaus  unbefangene  Zeugen  gelten  können.  Weiter 
wurde  ein  „Zimmermann“  Florian  Sterzler  als  Vertreter  des 
kath.  Arbeitervereins  in  Wien  vorgeladen.  Nun  ist  aber 
besagter  Sterzler  schon  seit  21  Jahren  nicht  mehr  „beim 
Geschäfte“,  sondern  in  der  Kanzlei  der  Genossenschaft  der 
Zimmermeister  thätig.  Zum  Ueberfluss  besteht  auch  der 
Verein,  als  dessen  Vertreter  er,  wie  es  scheint,  ver- 
nommen wurde,  zum  grössten  Theile  aus  Arbeitern  des 
Kleingewerbes.  In  wie  weit  nun  diese  Persönlichkeit  als 
geeigneter  Vertreter  der  Arbeiter  der  fabrikmässigen  Holz- 
industrie gelten  soll,  ist  uns  nicht  verständlich.  Fernerhalten 
wir  es  nicht  für  zweckmässig,  dass  in  einigen  Fällen  Arbeiter 
und  Arbeitgeber  desselben  Betriebes  befragt  worden  sind. 
Diese  Arbeiter  — es  sind  solche,  die  schon  seit  vielen 
Jahren  in  den  betreffenden  Unternehmungen  arbeiten  — 
werden  doch  ganz  naturgemäss  durch  die  ihrer  Aussage 
vorangegangenen  Darlegungen  ihrer  Chefs  beeinflusst,  mag 
ihnen  auch,  wie  von  letzteren  erwähnt  wurde,  ausdrücklich 
vollkommene  Freiheit  zugesichert  worden  sein.  Endlich 
hätten  wir  es  für  angezeigt  gehalten,  dass  Arbeiterinnen, 
da  der  Entwurf  sich  doch  auch  auf  sie  bezieht,  ebenfalls 
vorgeladen  worden  wären. 

Diese  Ausstellungen  mögen  an  sich  kleinlich  erscheinen. 
Wir  würden  es  auch  gewiss  unterlassen  haben,  dieselben 
hervorzuheben,  wenn  nicht  eben  die  Thatsache,  dass  nur 
eine  so  geringe  Anzahl  von  Arbeitern  vernommen  wurde, 
jeden  Fehler  bei  der  Auswahl  potenzirte. 

Im  Uebrigen  verdient  die  Erhebung  alles  Lob.  Die 
mündlichen  Beantwortungen  sind  nach  den  Aufzeichnungen 
des  stenographischen  Protokolles  getreu  wiedergegeben 
worden.  Die  Fragen  haben,  wie  die  englischen  Minutes  of 
Evidence,  fortlaufende  Nummern,  auf  welche  ein  sorgfältig 
ausgearbeitetes  die  Benutzung  der  Ergebnisse  ungemein  för- 
derndes Register  verweist.  Die  Gutachten  der  schriftlichen 
Enquete  sind  nicht  dem  ganzen  Wortlaute  nach  veröffentlicht 
worden,  sondern  der  Berichterstatter  hat  einen  nach  den 
Fragen  des  Fragebogens  geordneten  Auszug  verfasst.  Die 
Gutachten,  der  Reihe  nach  wörtlich  abgedruckt,  hätten,  da 
sich  häufig  eine  Kammer  in  ihrem  Votum  an  die  andere 
anlehnt,  wie  dies  auch  bei  den  Gewerbevereinen  und  Unter- 
nehmerverbänden der  Fall  ist,  ein  Material  ergeben,  das, 
wie  der  Berichterstatter  mit  Recht  hervorhebt,  wegen  seiner 
Ausdehnung  und  den  Wiederholungen  nur  mühsam  zu  be- 
nutzen gewesen  wäre.  Diesen  Darlegungen  sind  noch 
Protokolle  bereits  funktionirender  Arbeiterausschüsse, 
Statutenentwürfe,  Uebersichten  über  die  Thätigkeic  des 
Wiener  und  Brünner  Gewerbegerichtes  und  endlich  Aus- 


No.  27. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


319 


ziige  beigefügt,  die  im  Handelsministerium  aus  Berichten 
der  Gewerbeinspektoren  über  die  Vorlage  verfasst  worden 
sind. 

Alles  in  Allem  bieten  die  Ergebnisse  der  vom  Ge- 
werbeausschusse  veranstalteten  Enquete  das  weitaus  beste 
Material,  das  gegenwärtig  zur  Beurtheilung  der  Frage  der 
Arbeiterausschüsse  vorliegt.  Sind  hier  doch  endlich  ein- 
mal auch  Arbeiter  über  den  Werth  dieser  Einrichtungen 
vernommen  worden,  während  der  Verein  für  Socialpolitik 
und  selbstverständlich  auch  Herr  Post  allein  um  die  Auf- 
fassung der  Unternehmer  sich  bemüht  haben. 

Da  man  sich  bei  der  mündlichen  Befragung  der  Sach- 
verständigen oder  „Experten“,  wie  der  im  politischen  Leben 
Oesterreichs  gebräuchliche  Ausdruck  lautet,  mit  Recht  nicht 
allzu  streng  an  das  Frageschema  gehalten  hat,  so  bieten 
die  Ergebnisse  auch  eine  Reihe  allgemeinerer  Aeusserungen, 
die  für  die  Beurtheilung  österreichischer  Arbeiterverhält- 
nisse von  hohem  Werthe  sind.  Vielleicht  ergiebt  sich  ein 
anderes  Mal  die  Gelegenheit,  auf  dieselben  in  diesen  Blättern 
zurückzukommen.  Heute  soll  im  Allgemeinen  nur  auf  das 
äusserst  schmeichelhafte  Zeugnis  verwiesen  werden,  das 
von  mehreren  aus  dem  Deutschen  Reiche  stammenden  In- 
dustriellen der  Leistungsfähigkeit  der  österreichischen  Ar- 
beiter ausgestellt  worden  ist.  Ein  grosses  Verdienst  hat 
sich  sodann  der  Abgeordnete  Dr.  Exner  dadurch  erworben, 
dass  er  eine  Reihe  hervorragender  Arbeitgeber  veran- 
lasste,  sich  über  die  Ertheilung  des  politischen  Wahlrechts 
an  die  Arbeiter  auszusprechen.  So  sind  viele  bedeutsame 
Kundgebungen  zu  Gunsten  der  Betheiligung  der  Arbeiter- 
schaft am  öffentlichen  Leben  zu  Stande  gekommen,  die 
hoffentlich  von  den  massgebenden  Faktoren  die  geziemende 
Beachtung  erfahren  werden. 

Was  nun  die  Arbeiterausschüsse  selbst  betrifft,  so 
wurde  deren  Einführung  wenigstens  in  der  mündlichen 
Enquete  fast  von  allen  Seiten  als  wünschenswerth  hin- 
gestellt. Trotzdem  traten  nur  die  Gewerbeinspektion 
(namentlich  in  sehr  eingehender  und  geschickter  Begrün- 
dung der  Zentralgewerbeinspektor  Hofrath  Dr.  Migerka) 
und  die  Arbeiter  für  die  obligatorische  Einführung,  wie  sie 
die  Regierungsvorlage  vorschlägt,  ein,  während  die  Arbeit- 
geber, mit  Ausnahme  der  Herren  Dr.  Faber,  Strakosch  und 
v.  Ringhoffer,  in  mehr  oder  minder  entschiedener  Weise 
sich  gegen  diesen  Gedanken  erklärten.  Immer  und  immer 
wieder  machten  die  Gegner  der  obligatorischen  Einführung 
für  ihren  Standpunkt  geltend,  dass  die  gute  Funktion  des 
Ausschusses  lediglich  auf  dem  guten  Willen  der  Bethei- 
ligten beruhe,  und  dieser  sich  gesetzlich  nicht  erzwingen 
lasse.  Dieses  Argument  könnte  u.  E.  aber  nur  unter  zwei 
Voraussetzungen  wirklich  ins  Gewicht  fallen.  Erstens 
müsste  dargethan  werden,  dass  überall,  wo  nicht  gerade 
eine  den  Ausschüssen  feindliche  Stimmung  herrscht,  die 
Arbeitgeber  aus  eigener  Initiative  zur  Einführung  derselben 
schreiten,  und  zweitens,  dass  die  gesetzliche  Einführung, 
wo  Arbeiter  oder  Arbeitgeber  nichts  von  den  Ausschüssen 
wissen  wollen,  positiven  Schaden  anzurichten  im  Stande 
sei.  Der  erstere  Nachweis  wurde  überhaupt  gar  nicht  ver- 
sucht, der  letztere  nur  mit  zweifelhaftem  Glücke,  d.  h.,  es 
wurde  zwar  oft  diese  Befürchtung  geäussert,  aber  kein  Fall 
beigebracht,  in  dem  an  und  für  sich  gute  Beziehungen 
durch  Einführung  eines  Ausschusses  gestört  worden  wären. 
Dass  aber  Ausschüsse  selbst  dort  nicht  immer  ohne  äusseren 
Anstoss  zu  Stande  kommen,  wo  für  deren  Entwicklung 
günstige  Vorbedingungen  bestehen,  das  geht  deutlich  aus 
der  Aussage  des  Herrn  Dr.  Faber  hervor.  Er  sagt:  „Unser 


Unternehmen  hat  selbst  schon  seit  längerer  Zeit  das  Be- 
dürfniss  gefühlt,  einen  solchen  Ausschuss  einzuführen. 
Wie  es  nun  aber  schon  zu  gehen  pflegt,  ist  die 
Sache  immer  verschoben  worden  und  ist  erst  wie- 
der in  Folge  des  hier  vorliegenden  Gesetzent- 
wurfes neu  angeregt  worden.“ 

Wir  müssten  es  daher  nur  lebhaft  bedauern,  wenn  die 
Regierung,  bez.  das  Parlament  von  der  obligatorischen  Ein- 
führung Abstand  nehmen  sollte. 

Weniger  leicht  ist  die  Frage  zu  beantworten,  welche 
Aufgaben  dem  Ausschüsse  zugewiesen  werden  sollen.  Die 
Unternehmer  haben  sich  vielfach  darüber  beklagt,  dass  die 
Vorlage  als  erste  Aufgabe  die  bezeichnet  hat,  Wünsche  und 
Beschwerden  der  Arbeiterschaft  in  Beziehung  auf  den  Lohn- 
vertrag und  sonstige  Arbeitsbedingungen  vorzutragen.  Man 
mag  zur  Beruhigung  der  ängstlichen  Gemüther  die  in  zweiter 
Linie  genannte  Erhaltung  des  guten  Einvernehmens  vor- 
rücken, den  Lohnvertrag  in  Arbeitsverhältnis  verwandeln, 
aber  immer  wird  thatsächlich  die  von  dem  Entwürfe  an 
erster  Stelle  genannte  Aufgabe  die  bedeutungsvollste  bleiben. 
Hat  man  sich  über  das  Arbeitsverhältnis  einmal  ver- 
ständigt, so  ergiebt  sich  das  gute  Einvernehmen  schon  von 
selbst.  Im  Uebrigen  standen  die  Mitwirkung  in  der  Hand- 
habung der  Disziplin  und  in  der  Feststellung  der  Fabrik- 
ordnung, sowie  die  Verwaltung  der  Wohlfahrtseinrichtungen 
in  Frage.  In  letzterer  Beziehung  förderte  die  Enquete 
die  sehr  treffende  Bemerkung  zu  Tage,  dass  der  Ar- 
beiterausschuss mehr  eine  Kontrollinstanz  gegenüber  der 
Verwaltung  der  Wohlfahrtseinrichtungen,  mag  diese  auch 
in  Arbeiterhänden  gelegen  sein,  bilden  solle,  und  dass  es 
sich  daher  nicht  empfehle,  dieselbe  dem  Ausschüsse  selbst 
zu  überweisen. 

Sehr  getheilt  sind  die  Meinungen  sowohl  der  Arbeit- 
geber wie  der  Arbeiter  darüber,  ob  der  Ausschuss  in  An- 
wesenheit des  Arbeitgebers  tagen  solle  oder  nicht.  Viel- 
fach wurde  betont,  dass  die  Arbeiter  sich  in  Gegenwart 
ihres  Chefs  nicht  frei  genug  äussern  würden.  Andererseits 
soll  aber  gerade  der  Ausschuss  eine  innigere  Beziehung 
zwischen  beiden  Theile  schaffen.  Vielleicht  wird  die  Be- 
deutung dieser  Frage,  zu  der  die  Vorlage  keine  Stellung 
genommen  hat,  überschätzt.  Sofern  es  sich  nicht  um  eine 
sehr  grosse  Arbeiterzahl  und  somit  auch  um  einen  viel- 
gliedrigen  Ausschuss  handelt,  dürften  dessen  Angehörige 
wohl  vor  der  formellen  Sitzung  hinreichende  Gelegenheit 
haben,  sich  zu  verständigen.  Immerhin  erschiene  es  uns 
richtiger,  die  Anwesenheit  des  Arbeitgebers  in  der  Aus- 
schusssitzung von  einer  Einladung  des  Ausschusses  ab- 
hängig zu  machen. 

Zur  Vornahme  der  Wahl  berechtigt  erklärte  der  Regie- 
rungsentwurf nur  diejenigen  Arbeiter,  welche  seit  einem 
Jahre,  für  wählbar  nur  diejenigen,  welche  seit  mindestens 
drei  Jahren  dem  Unternehmen  angehörten.  Es  ist  be- 
zeichnend, dass  diese  äusserst  weitgehende  Beschränkung 
einzelnen  Unternehmern  und  ihren  Verbänden  immer  noch 
nicht  genügte.  So  fordert  das  Gutachten  des  Industriellen 
Klub  für  das  passive  Wahlrecht  sogar  eine  fünfjährige 
Beschäftigung.  In  sehr  wirkungsvoller  Weise  wurden  diese 
Engherzigkeiten  von  einem  Industriellen  selbst  bekämpft, 
dessen  vornehme  und  freie  Auffassung  des  Arbeitsverhält- 
nisses überhaupt  vielen  seiner  Standesgenossen  als  Vorbild 
zu  empfehlen  wäre.  Dr.  Faber,  Spitzenwebereibesitzer  in 
Lettowitz,  sagt:  „Zunächst  wäre  ich  ganz  entschieden  da- 
gegen, in  irgend  einerWeise  das  active  und  passive  Wahlrecht 
für  den  Arbeiterausschuss  zu  beschränken.  Von  der  Lösung 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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dieser  Frage  wird  die  Art  des  Funktionirens  eines  obliga- 
torischen Ausschusses,  der  ein  Einigungsamt  im  Kleinen 
darstellen  soll,  in  hohem  Grade  abhängig.  Nur  dann,  wenn 
keinerlei  Beschränkungen  auferlegt  werden,  wird  man  dessen 
sicher  sein,  mit  denjenigen  Leuten  zu  reden,  mit  denen  man 
reden  will,  nämlich  mit  denjenigen,  welche  die  Arbeiter  als 

ihre  Vertrauensmänner  betrachten erfahrungsgemäss 

sind  erst  dann  sämmtliche  Arbeiter  wirklich  bei  der  Sache, 
wenn  sie  sämmtlich  mitgewählt  haben,  während  anderenfalls 
diejenigen,  die  nicht  mitgewählt  haben,  nur  ein  geringeres 
Interesse  bekunden  und  vielleicht  sogar  gegen  den  Arbeiter- 
ausschuss wirken.  Weiter  halte  ich  es,  wenn  der  Arbeiter- 
ausschuss bindende  Abmachungen  namens  der  Arbeiterschaft 
zu  vertreten  hat,  für  selbstverständlich,  dass  durch  keinerlei 
Beschränkung  des  aktiven  Wahlrechts  irgend  ein  Arbeiter 
von  der  Wahl  ausgeschlossen  sein  darf.“ 

Es  wäre  sehr  zu  wünschen,  dass  die  gesetzgebenden  Fak- 
toren diesem  Standpunkte  beipflichteten. 

Die  Frage  der  genossenschaftlichen  Organisation  der 
k abriksindustrie  wurde  schon  deshalb  weit  weniger  ein- 
gehend erörtert,  weil  die  meisten  Unternehmer  ja  gegen 
deren  Voraussetzung,  den  obligatorischen  Arbeiterausschuss, 
sich  erklärten.  Allein  auch  die  Arbeiter  brachten  diesen 
Genossenschaften  wenig  Sympathieen  entgegen  und  forderten 
mit  grossem  Nachdruck  die  Freiheit  der  gewerkschaftlichen 
Bewegung.  Es  muss  übrigens  anerkannt  werden,  dass  die 
im  allgemeinen  sehr  geringe  Zentralisation  der  österreichi- 
schen Industrie  den  Zielen  der  Vorlage  wenig  entspricht. 
Zunächst  dürfen  die  Genossenschaften  wohl  als  gescheitert 
gelten.  Immerhin  hielten  wir  es  für  wünschenswerth,  dass 
nach  einigen  Jahren,  nach  genügender  Einbürgerung  der 
Ausschüsse,  die  Frage  nach  einer  zweckmässigeren  Ver- 
wirklichung der  Absichten  des  Entwurfes  wieder  aufge- 
worfen würde. 

Grösseres  Entgegenkommen  fanden  die  Einigungsämter 
auch  auf  Seiten  der  Arbeitgeber.  Auf  die  Motive  dieser 
Haltung  warf  freilich  die  Aeusserung  eines  Baumwoll- 
spinnereibesitzers, des  Herrn  A.  Richter  (Prag),  ein  eigen- 
thümliches  Licht:  „Wenn  man  mit  den  verschiedenen  Herren 
offen  redet,  so  sagen  sie:  Unter  drei  Uebeln  wählen  wir 
das  kleinste;  die  Regierung  will  etwas  thun;  wenn  wir 
gegen  das  Ganze  stimmen,  wird  uns  mehr  aufgedrängt, 
nehmen  wir  die  Einigungsämter,  das  ist  das  Unschuldigste. 
Man  glaubt,  dass  sie,  wie  die  Gewerbegerichte,  auf  dem 
Papiere  bleiben  werden.“ 

Werfen  wir  noch  einen  raschen  Blick  auf  die  Ergeb- 
nisse der  schriftlichen  Erhebung,  so  bewährt  sich  auch 
hier  die  sehr  oft  gemachte  Erfahrung,  dass  nicht  so  sehr 
die  einzelnen  Arbeitgeber  als  deren  Organisationen  den 
sozialreformatorischen  Forderungen  der  Zeit  den  bornirte- 
sten  Widerstand  entgegensetzen.  Es  ist  bezeichnend,  dass 
sämmtliche  Gutachten  der  Handelskammern  und  Unter- 
nehmerverbände (ausgenommen  allein  der  Brünner  Schaf- 
wollindustriellen-Verein)  in  sehr  entschiedener,  ja  „heftiger“ 
Weise,  wie  der  Berichterstatter  bemerkt,  gegen  den  Ent- 
wurf sich  erklären.  Der  Reichenberger  Kammer  ist  die 
Vorlage  sogar  „weder  annehmbar,  noch  überhaupt  ver- 
besserungsfähig.“ Von  anderer  Seite  werden  die  Arbeiteraus- 
schüsse „als  Kampforganisation  unter  gesetzlichem  Schutze“ 
hingestellt.  In  den  Genossenschaften  erblickt  man  „Cadres 
für  Massenstrikes.“  So  geht  es  weiter,  bald  im  Tone  ge- 
kränkter Unschuld,  bald  hoheitsvoller  Entrüstung,  bald 
überlegener  staatsmännischer  Einsicht.  Doch  Ehre,  wem 
Ehre  gebühret.  Die  Krone  verdient  das  Gutachten  des  . 


Bielitzer  Gewerbevereines:  „Der  Staat  hat  die  Pflicht,  die 
staatserhaltenden  Elemente  zu  stärken,  die  Arbeiter  können 
aber  kaum  zu  den  staatserhaltenden  Faktoren  gezählt  wer- 
den, und  es  sind  diese  Elemente  eher  zurückzuhalten,  als 
zu  fördern Es  muss  der  Standpunkt  vertreten  wer- 

den, dass  wir  mit  der  Masse  der  Arbeiter  übeihaupt  nicht 
verhandeln,  sonderndass  jeder  Unternehmer  nur  mit  seinen 
Leuten  zu  thun  haben  soll.“  Dieser  Standpunkt  habe  sich 
bewährt  und  wird  dem  Abgeordnetenhause  warm  empfohlen. 

Wie  sich  diese  Bielitzer  Stützen  der  Gesellschaft  wohl 
die  Erhaltung  eines  Staates  ohne  Arbeiter  vorstellen  mögen? 

Karlsruhe.  Heinrich  H e r k n e r. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Zur  Sozialstatistik  der  Missernten  in  Russland. 

Der  kolossale  Misswachs  des  Jahres  1891  hat  der 
russischen  Bauernschaft  schwere  Wunden  geschlagen.  Im 
Jahre  1892  ist  zwar  ein  viel  kleineres  Territorium  von 
Missernten  betroffen  worden,  aber  dort,  wo  sich  der  Miss- 
wachs wiederholt  hat,  erscheint  die  Lage  der  bäuerlichen 
Bevölkerung  bedeutend  schlechter  als  im  Vorjahre.  Dies 
ist  z.  B.  für  einen  grossen  Theil  des  Gouvernement  Woro- 
nesch  der  Fall.  Dank  dem  Umstande,  dass  das  Zemstwo 
dieses  Gouvernements  zu  denen  gehört,  wrelche  ein  vor- 
trefflich geleitetes  statistisches  Amt  besitzen,  können  wir 
uns  eine  ziemlich  klare  Vorstellung  von  den  wirthschaft- 
lichen  Verhältnissen  der  Bevölkerung  verschaffen,  wenn 
wir  das  von  dem  Statistiker  Stscherbina  redigirte  „Land- 
wirthschaftliche  Jahrbuch  für  das  Gouvernement  Woronesch“ 
1892  *)  zur  Hand  nehmen. 

Der  Ausfall  der  Getreideernte  ergiebt  für  das  ganze 
Gouvernement  ein  Manco  von  997473  Tschetwert2),  was 
ungefähr  lj§  des  gesammten  Unterhaltungsbedarfes  aus- 
macht. Dieses  Manko  vertheilt  sich  aber  sehr  ungleich- 
mässig  auf  einzelne  Kreise  des  Gouvernements.  Drei 
Kreise  haben  einen  Ueberschuss,  in  den  übrigen  9 Kreisen 
bewegt  sich  der  Mangel  zwischen  12,70/0  und  352,7°/o  der 
geernteten  Getreidemenge. 3) 

Der  Vieh  Verlust  in  Folge  der  zwei  Missernten  1891 
und  1892  wird  für  das  ganze  Gouvernement  auf  30O/0  (28 o/0 
Grossvieh  und  43%  Kleinvieh)  geschätzt.  Für  einen  Kreis 
(Ostrogoschsk)  wurde  derselbe  im  Wege  einer  Zählung, 
deren  Ergebnisse  mit  denen  der  Höfezählung  vom  Jahre 
1884  verglichen  wurden,  ermittelt  und  macht  für  die  ge- 
sanunte  Bauernbevölkerung  rund  25,6°/o  Grossvieh  und 
36,20/0  Kleinvieh  aus.  Der  Viehverlust  ist  desto  grösser,  je 
weniger  Land  die  betreffende  Bauerngruppe  besitzt,  und 
so  ist  in  dieser  Hinsicht,  wie  wohl  in  allen  anderen  ceteris 
paribus,  die  Lage  der  früheren  Ivronbauern  günstiger  als 
die  der  früheren  Leibeigenen  der  Privatbesitzer.  Nach  der 
Höfezählung  vom  Jahre  1884  machten  die  viehlosen  Bauern- 
wirthschaften  14%  der  Gesammtzahl  aus,  im  Jahre  1892 
machen  sie  schon  2i0/0  aus.  Dass  die  Missernten  nicht 
nur  die  Lage  der  schwachen  Wirthschaften,  sondern  auch 
die  der  Mittelwirthschaften  verschlechtern,  erhellt  daraus, 


J)  Selskochosjaistwennyi  obzör  po  Woroneschskoi  Gubernii 
za  1891/92  god.  (Mit  neun  Kartogrammen.  Herausgegeben  von 
der  Woronescher  Gouvernements-Landschaft.  Woronesch,  1892). 

2)  1 Tschetwert  = 2,099  hl. 

3)  Hier  werden  nur  Roggen,  Weizen,  Hafer.  Gerste  und 
Hirse  gerechnet. 


No.  27. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


321 


dass  die  Zahl  der  Wirthschaften  mit  vier  Pferden  und 
darüber  sich  von  9,4%  auf  50/0  reduzirt  hat.  Die  Ver- 
schuldung der  Bauernschaft  des  Gouvernement  Woro- 
nesch  erreichte  im  Jahre  1892  31  133953  Rbl.,  was  auf  eine 
Bauernwirthsehaft  (ein  Bauernhof)  98,75  Rbl.  ergiebt.  Diese 
Verschuldung  besteht  aus  folgenden  fünf  Sorten:  1.  Privat- 
schulden (an  Dorfwucherer  etc.);  2.  Darlehen  aus  den  Ge- 
treidegemeindemagazinen; 3.  Darlehen  aus  dem  Gouverne- 
mentskapital für  Volksverpflegung;  4.  Darlehen  aus  dem 
Reichskapital  für  Volksverpflegung ; 5.  Fiskalsteuerrückstände. 
Es  muss  dabei  bemerkt  werden,  dass  hier  1.  die  Höhe  der 
Privatschulden,  wie  sie  für  „gewöhnliche“  Zeiten  durch 
vorhergehende  statistische  Untersuchungen  festgestellt  wurde 
einfach  auf  Misserntezeit  übertragen  wurde,  d.  h.  reduzirt 
erscheint,  2.  Rückstände  an  Landschaftssteuern  und  3.  Schul- 
den an  verschiedene  Kreditinstitute  gar  nicht  in  Rechnung 
gezogen  wurden/) 

Die  Dezimirung  des  Viehstandes  und  überhaupt  die 
Verarmung  der  Bauernwirthsehaft  hat  zu  einer  massenhaften 
Verpachtung  resp.  Verpfändung  der  Grundantheile 
Seitens  der  wirthschaftlich  schwächeren  Bauern  geführt. 
Der  Pachtzins  für  bäuerliche  Grundantheile  ist  bedeutend 
gefallen  — um  33%  resp.  36 °/0,  für  Ländereien  der  Privat- 
besitzer, um  15%  resp.  18%  gegen  das  Vorjahr  resp. 
die  Periode  1886 — 1892.  Die  Löhne  der  Landarbeiters) 
sind  im  Ganzen  um  5,9%  bis  1 1.5 °/0  gesunken  — gegen  das 
Vorjahr,  welches  wiederum  ein  gleiches  Sinken  gegen  das 
Jahr  1890  aufweist.* * * * * 6)  „Die  Arbeiter  jagten  nach  Verdienst, 
das  Angebot  der  Arbeit  überstieg  bedeutend  die  Nachfrage 
und  nicht  selten  — berichten  die  Korrespondenten  — nehmen 
die  Arbeiter  Stellen  an,  ohne  jeglichen  Lohn,  nur  gegen 
Verpflegung.“  Nur  der  Lohn  der  Arbeiter,  welche  nicht 
nur  ihre  eigene  Arbeitskraft,  sondern  auch  die  ihres  Pferdes 
dem  Arbeitgeber  zur  Verfügung  stellen  konnten,  ist  gegen 
das  Vorjahr  in  die  Höhe  gegangen,  ein  nothwendiges  Re- 
sultat des  grossen  Verlustes  an  Pferden. 

Grelles  Licht  auf  die  Lage  der  bäuerlichen  Bevölkerung 
werfen  die  Daten  über  die  Landarbeiterwanderungen. 
Schon  im  Winter  1891  haben  viele  Bauernfamilien  ihre 
Heimath  verlassen  und  sind  in  das  Ciskaukasische  Gebiet 
gegangen;  im  Lrühjahr  1892,  nachdem  die  Lage  sich  völlig 
geklärt  hatte,  hat  sich  aus  dem  Gouvernement  Woronesch 
ein  unaufhaltbarer  Menschenstrom  gegen  den  Süden  er- 
gossen. Alles  suchte  Arbeit.  Der  Verfasser  der  vorliegen- 
den Publikation  schätzt  die  Zahl  der  auf  Wanderarbeit 
Ausgegangenen  auf  62  °/0  der  gesammten  arbeitsfähigen 
männlichen  Bevölkerung,  bezeichnet  aber  selbst  diese  Ziffer 
als  zu  klein  gegriffen  und  sagt:  „Ueberhaupt  darf  man 

nicht  ohne  Grund  annehmen,  dass  im  Jahre  1892  ungefähr 
Vz  Million  beiderlei  Geschlechts  auf  Wanderarbeit  ausge- 
gangen ist.“  Aber  fast  alle  diese  Wanderarbeiter  wurden 
noch  vor  Eintritt  der  Getreideernte  durch  die  Cholera  in 
die  Heimath  verscheucht  und  haben  daher  keine  oder  nur 
sehr  winzige  Verdienste  (3—8  Rubel)  heimgebracht. 

Lür  die  nächste  Zukunft  haben  die  besonders  arg  heim- 
gesuchten südlichen  Kreise  des  Gouvernements  Woronesch 
keine  guten  Aussichten:  Sie  stehen  vor  einem  dritten 

Misswachs,  wenigstens  der  Wintersaaten. 

Die  Phatsache  allein,  dass  ein  so  kolossaler  Prozentsatz 
der  arbeitsfähigen  männlichen  Bauernbevölkerung  auf 
Wanderarbeit  ausgeht,  kennzeichnet  zur  Genüge  die  Lage 
der  ausschliesslich  ackerbautreibenden  Gouvernements  Russ- 
lands, insbesondere  Zentralrusslands.  Es  ist  klar,  dass  die 


4)  Von  Hypothekarverschuldung  im  gewöhnlichen  Sinne  kann 

im  Allgemeinen  bei  der  russischen  Bauernschaft  keine  Rede  sein. 

5)  Man  soll  nicht  vergessen,  dass  diese  landwirthschaftlichen 

Arbeiter  sich  zum  grössten  Thdl  aus  den  wirthschaftlich  schwachen, 

landarmen,  halb  oder  ganz  ruinirten  Bauern  rekrutiren. 

6)  Diese  Zahlen  gelten  für  die  Sommerarbeiten;  ähnliche 
werden  für  die  Herbstarbeiten  angegeben. 


kapitallose  russische  Kleinbauernwirthschaft  sich  in  dem 
Medium  der  modernen  Geldwirthschaft  nicht  lebensfähig, 
d.  h.  nicht  widerstandsfähig  erwiesen  hat.  Es  muss  und 
wird  sich  eine  andere  wirthschaftliche  Form  herausbilden. 
Diese  Erkenntniss,  welche  sich  in  Russland  kaum  durch- 
zuringen beginnt,  muss  zum  Ausgangspunkt  einer  rationellen 
Agrarpolitik  genommen  werden. 

St.  Petersburg.  P.  v.  Struve. 


Arbeiterzustände. 

Arbeitslosigkeit  im  Buchdruckergewerbe. 

Als  am  26.  Lebruar  d.  J.  in  der  Generalversammlung 
der  Ortskrankenkasse  der  Berliner  Buchdrucker  von  dem 
enormen  Deficit  die  Rede  war,  mit  dem  im  letzten  Jahre 
die  Kasse  abgeschlossen  hatte,  da  wurde  diese  Thatsache 
auf  die  grosse  Arbeitslosigkeit  in  Berlin,  diese  aber  auf  den 
Zustand  zurückgeführt,  der  sich  nach  dem  grossen  Strike 
des  Winters  1891/92  entwickelt  hat.  Die  Principale  sollten 
nämlich  durch  Herbeiziehung  auswärtiger  Gehülfen  eine  so 
starke  lokale  Arbeitslosigkeit  geschaffen  haben,  dass  jetzt, 
zur  Zeit  der  hohen  Saison,  von  den  etwa  6000  Kassen- 
mitgliedern (wovon  mehrere  hundert  Principale  und  etwa 
1000  Lehrlinge  abzurechnen)  über  1000,  also  mehr  als  I/s, 
arbeitslos  gewesen  und  grossenteils  der  Krankenkasse  zur 
Last  gefallen  wären. 

Einige  statistische  Daten,  die  uns  der  Vorstand  des 
Verbands  Deutscher  Buchdrucker  freundlichst  zurVerfügung 
stellt,  bestätigen  diese  Auffassung  nicht  nur,  sondern  con- 
statiren  eine  ausserordentliche  Arbeitslosigkeit  für  den 
ganzen  Umkreis  des  Verbandes.  Der  Verband  umfasst  be- 
kanntlich die  Mehrzahl  aller  Buchdrucker  Deutschlands; 
speciell  in  Berlin  zählte  er  laut  Jahresbericht  1891  weit 
über  3000  Mitglieder;  von  diesen  waren  nicht  mehr  als 
200  arbeitslos  um  die  Zeit,  wo  die  Ortskrankenkasse,  also 
die  gesammte  Berliner  Buchdruckerschaft,  1000  Arbeitslose 
hatte.  Es  ergiebt  sich  so,  dass  im  Verbände  relativ  weniger 
arbeitslose  Buchdrucker  sind  als  ausserhalb  desselben; 
naturgemäss,  da  der  Verband  von  seinen  Mitgliedern  ein 
gewisses  Minimum  an  Verdienst  fordert,  also  die  weniger 
Leistungsfähigen,  d.  h.  die  der  Arbeitslosigkeit  am  meisten 
Ausgesetzten,  aus  seinen  Reihen  ausschliesst.  Um  so  mehr 
fällt  die  Arbeitslosigkeit  ins  Gewicht,  die  wir  innerhalb  des 
Verbands  jetzt  finden  werden. 

Der  Verband  zahlte  im  Juli,  August  und  September 
1892,  also  nach  dem  Strike,  an  seine  stellenlosen  Mitglieder 
Orts-  und  Reiseunterstützung  (nicht  Strikeunterstützung)  für 
116292  Unterstützungstage,  d.  h.  nach  der  damaligen  Mit- 
gliederzahl1) entfielen  auf  jedes  Mitglied  im  Laufe  des 
Vierteljahres  durchschnittlich  7,6  Unterstützungstage,  und 
es  entfielen  auf  jeden  Tag  0,083  Arbeitslose.  Die  Zahl  der 
unterstützten  Mitglieder  betrug  5844,  d.  i.  über  J/3  der  ge- 
sammten Mitgliederzahl  und  weit  mehr  als  der  Procentsatz 
Arbeitsloser  unter  den  Londoner  organisirten  Setzern  (vgl. 
II,  82  dieses  Blattes);  freilich  gilt  der  letztere  Procentsatz  nicht 
für  die  ungünstige  Sommersaison,  sondern  für  den  Durch- 
schnitt aller  vier  Vierteljahre;  auch  ist  der  Londoner  Satz 
insofern  anders  berechnet,  als  die  Zahl  der  Empfänger  für 
das  Vierteljahr  als  Ganzes  zu  Grunde  gelegt  ist,  während 
in  dem  deutschen  Falle  die  Empfängerzahlen  für  jeden  der 


*)  Die  Mitgliederzahl  des  Jahres  1892  steht  noch  nicht  fest; 
der  Verbandsvorsitzende  schätzt  für  das  4.  Quartal  1892  16000  Mit- 
glieder; dann  würde  das  3.  Quartal  nach  Analogie  des  Jahres  1890 
15270  Mitglieder  gehabt  haben. 


322 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  27. 


drei  Monate  zusammengezählt  sind,  so  dass  ein  Mitglied,  das 
während  aller  drei  Monate  die  Unterstützung  empfing,  drei- 
mal gezählt  ist.  — Dem  gegenüber  gab  es  in  demselben 
Sommervierteljahr  1891,  also  vor  dem  Strike,  3955  unter- 
stützte Mitglieder  mit  73248  Unterstützungstagen;  auf  jedes 
Mitglied  entfielen  nur  4,2  statt  7,6  Unterstützungstage;  von 
allen  Mitgliedern  waren  23 °/Q  im  Laufe  des  Vierteljahrs 
arbeitslos,  immer  noch  gegenüber  den  Londoner  Ziffern  ein 
enormer  Satz. 

Nun  muss  ich  hinzufügen,  dass  das  hier  berechnete 
Verhältniss  zwischen  der  Zahl  der  Unterstützten  und  der 
Mitglieder  den  Procentsatz  der  Arbeitslosen  nicht  ganz 
correct  ausdrückt,  dass  derselbe  vielmehr  höher  ist.  Ein- 
mal müsste  man  nämlich  die  Zahl  der  Unterstützten  ver- 
mehren um  die  Zahl  derjenigen  arbeitslosen  Mitglieder,  die 
noch  nicht  unterstützungsberechtigt  sind,  und  zweitens  sollte 
man  die  Zahl  der  Mitglieder  vermindern  um  die  Zahl  der 
Empfänger  von  Krankenunterstützung,  da  bei  letzteren  es 
nicht  zum  Ausdruck  kommt,  ob  sie  stellenlos  oder  in  Stellung 
sind.  Nun  gab  es  im  September  1892  neben  2026  Empfängern 
von  Reise-  oder  Ortsunterstützung  circa  500  arbeitslose 
Mitglieder  ohne  solchen  Unterstützungsanspruch;  ferner 
neben  einer  muthmasslichenGesammt-Mitgliederzahl  von  1 5 270 
etwa  550  Empfänger  von  Krankenunterstützung;  danach  wäre 

der  Procentsatz  der  Arbeitslosen  2°2^  + _ ,„0 / statt 

l527°—  550  ' 

2 026  . 

- ;l0  — 1 3 % 1 für  einen  vierteljährlichen  Zeitraum  würden 

wir  daher  auf  einen  Procentsatz  von  39%  kommen. 

Die  Saison  des  Buchdruckgewerbes  beginnt  im  Novem- 
ber und  endigt  mit  dem  April.  Es  ist  deshalb  eine  noth- 
wendige  Ergänzung,  noch  auf  die  winterliche  Arbeitslosigkeit 
einen  Blick  zu  werfen,  die  natürlich  geringer  ist.  Im  No- 
vember und  December  1892  gab  es  37727  Unterstützungs- 
tage; im  November  und  December  1890  — der  Winter  1891 
ist  des  Strikes  wegen  zum  Vergleiche  nicht  geeignet  — 
gab  es  deren  nur  18904.  Die  Mitgliederzahl  war  1892 
schätzungsweise  16000,  1890  17461;  es  kamen  daher  auf 
ein  Mitglied  im  Winter  1890  1,1  Unterstützungstage,  1892 
aber  2,4  Unterstützungstage;  die  Arbeitslosigkeit  hat  sich 
nach  dem  grossen  Strike  mehr  als  verdoppelt. 

Berlin.  K.  Ol  de  nb erg. 


Politische  Arbeiterbewegung. 

Der  Internationale  sozialistische  Arbeiterkongress  wird 
in  der  zweiten  Augustwoche  d.  J.  abgehalten  werden.  Eine 
in  der  letzten  Märzwoche  in  Brüssel  stattgefundene  Vor- 
konferenz, an  der  sich  Vertreter  der  sozialistischen  Parteien 
Deutschlands,  Frankreichs,  Englands,  Belgiens  und  Hollands 
betheiligten,  traf  die  nothwendigen  vorläufigen  Bestimmun- 
gen über  die  Geschäftsordnung  etc.  des  Kongresses.  Zur 
Theilnahme  werden  nicht  zugelassen  die  Anarchisten  und 
„unabhängigen“  Sozialisten. 

Der  Vorwärts  veröffentlicht  in  seiner  Nummer  vom 
30.  März  die  bisher  eingelaufenen  Anträge  zur  Tages- 
ordnung des  Kongresses.  Eine  Reihe  derselben  geht  dahin, 
den  Kongress  für  eine  Demonstration  zu  Gunsten  des  Welt- 
friedens und  gegen  den  Militarismus  zu  benutzen,  eine  Reihe 
anderer  Anträge  wendet  sich  gegen  die  Art  der  parlamenta- 
rischen Mitarbeit,  wie  sie  seitens  der  Sozialdemokratie  im 
Deutschen  Reichstage  geübt  wird,  andere  fordern  an  Stelle 
des  Parlamentarismus  den  Ausbau  der  in  der  Schweiz  schon 
in  Anwendung  stehenden  demokratischen  Formen  der  Ge- 
setzgebung (Referendum  und  Initiative),  debattirt  wird  ferner 
werden  über  das  Verhältniss  des  Anarchismus  zur  Sozial- 
demokratie, über  die  internationalen  Beziehungen  der  ver- 
schiedenen sozialistischen  Parteien,  über  internationale  Ge- 


werkschaften, internationale  Verbindung  der  Arbeitsbörsen, 
über  die  Frage,  ob  die  Religion  zur  Privatsache  erklärt 
werden  soll  u.  s.  w. 

Die  überaus  bunte  Tagesordnung  dürfte  wohl  kaum  in 
ihrer  ganzen  Länge  zur  Diskussion  gestellt  werden. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Beendigung  des  Strikes  der  Bauinwollspinner  in  S.  O.-Lanca- 
sliire.  Nach  einer  Dauer  von  zwanzig  Wochen  ist  endlich,  wie 
wir  der  Frankfurter  Zeitung  entnehmen,  der  Strike  der  Baum- 
wollspinner in  Siid-Ost-Lancashire  durch  ein  Kompromiss 
beendet  worden.  Wie  erinnerlich,  hatten  die  Fabrikanten  im 
Herbste  mit  dem  Hinweis  auf  die  niedrigen  Garnpreise  und  die 
Anhäufung  der  Vorräthe  eine  Lohnherabsetzung  von  5 pCt.  für 
nothwendig  erklärt.  Die  Arbeiter  wiesen  diese  Forderung  zurück 
aus  Furcht,  dass  einer  einmaligen  Aenderung  der  Löhne  bald 
weitere  folgen  würden.  Sie  bestritten  aber  andererseits  nicht  die 
Stichhaltigkeit  der  Gründe  der  Fabrikanten  und  gaben  zu,  dass 
drastische  Mittel  gegen  die  andauernde  Verschlechterung  des 
Garnmarktes  zu  ergreifen  seien.  Sie  schlugen  daher  ihrerseits 
als  Abhilfe  vor,  für  eine  bestimmte  Zeit  die  Arbeit  in  den  Spin- 
nereien auf  eine  geringere  Zahl  der  Stunden  täglich  zu  be- 
schränken, da  auf  diese  Weise  die  Vorräthe  allmählich  verringert 
und  die  Nachfrage  in  höherem  Grade  gesteigert  werden  würde, 
als  durch  die  von  den  Fabrikanten  in  Aussicht  genommene  Ver- 
billigung der  Produktionsunkosten.  Die  Fabrikanten  glaubten 
aber  in  diesem  Gegenvorschlag  einen  Schachzug  zu  erblicken, 
durch  welchen  die  Arbeiter  den  Achtstundentag  in  den  Spinne- 
reien dauernd  einzuführen  versuchten.  Alle  Ausgleichsverhand- 
lungen blieben  erfolglos  und  Anfang  November  wurde  den  Spin-  < ; 
nern  gekündigt.  Ihre  Arbeitseinstellung  bedingte  natürlich  auch 
diejenige  der  fast  doppelt  so  zahlreichen,  zum  grösseren  Theil 
aus  Frauen  und  Kindern  bestehenden  übrigen  Spinnereiarbeiter, 
zu  welchen  allmählich  andere  Tausende  aus  den  Baumwoll- 
webereien hinzukamen.  Denn  trotzdem  Anfangs  bedeutende  ( 
Garnvorräthe  zur  Verfügung  standen  und  die  Spinnerei-Besitzer 
in  den  anderen  Theilen  von  Lancashire  natürlich  nach  besten 
Kräften  den  Produktionsausfall  ihrerseits  gutzumachen  suchten, 
verursachte  der  monatelange  Stillstand  von  ungefähr  17  Millionen 
Spindeln  schliesslich  doch  einen  so  bedeutenden  Mangel  an  Garn, 
dass  viele  Webereien  die  Arbeit  einzustellen  gezwungen  wurden. 

Man  schätzt  die  Zahl  der  Arbeitslosen  während  der  letzten  ! 
Wochen  auf  rund  125000  Personen  und  ihren  Verlust  an  Löhnen 
auf  40  Millionen  Mark.  Aus  solchen  Zahlen  lässt  sich  unschwer  t 
ermessen,  wie  viel  Noth  und  Entbehrung  der  Strike  über  Lanca- 
shire gebracht  hat.  Die  Masse  der  Arbeitslosen,  insonderheit 
der  Frauen  und  Kinder,  hatte  seit  langem  alle  ihre  eigenen  und  ; 
ihrer  Vereine  Hilfsquellen  erschöpft,  und  auch  der  Verband  der 
Spinner,  von  deren  Handlungsweise  der  Verlauf  des  Ausstandes 
abhing,  hat  wohl  schliesslich  seine  eigenen  bedeutenden  Fonds 
zu  Ende  gehen  sehen  und  damit  die  Nothwendigkeit  einer  Ver- 
ständigung mit  den  Fabrikanten  erkannt.  Das  gestern  nach  einer 
bis  zum  frühen  Morgen  dauernden  Berathung  getroffene  Ab- 
kommen stellt  die  Lohnherabsetzung  für  alle  Spinnerei-Arbeiter 
auf  sieben  Pence  per  Pfd.  St.,  also  eine  Kleinigkeit  unter  3 pCt. 
fest.  Um  eine  öftere  Wiederholung  derartiger  für  beide  Theile 
gleich  verderblicher  Strikes  zu  erschweren,  wurde  ferner  be- 
schlossen, dass  dieser  Lohnsatz  mindestens  sechs  Monate  in  Kraft 
bleiben  und  dann  eine  Lohnherabsetzung  oder  Erhöhung  nicht 
mehr  oder  weniger  als  5 pCt.  betragen  und,  wenn  angenommen, 
ein  volles  Jahr  gelten  solle,  ehe  die  eine  oder  die  andere  Seite 
eine  weitere  Aenderung  beantragen  darf.  Alle  Streitigkeiten  be- 
züglich Arbeit,  Lohn  u.  s.  w.  müssen  vor  ein  Komitee  gebracht 
werden,  zu  welchem  Arbeiter  und  Fabrikanten  je  drei  oder  vier 
Mitglieder  stellen,  und  einem  ebenso  zusammengesetzten  Aus- 
schüsse sollen  ferner  auch  alle  Angelegenheiten  vorgelegt  werden, 
welche  wie  Eröffnung  neuer  Absatzgebiete  oder  Zollverände- 
rungen des  Auslandes  der  Baumwollindustrie  Lancashires  nützen 
oder  schaden  könnten. 

Dienstboten  - Gewerkverein  im  Kaplande.  Im  Kaplande 

haben  die  schwarzen  weiblichen  Dienstboten  eine  Gewerk- 
schaft gebildet.  Kein  Mitglied  dieser  Genossenschaft  darf 
sich  als  Köchin,  Magd  u.  s.  w.  auf  länger  als  sechs  Monate 
engagiren  lassen.  Ist  das  Halbjahr  abgelaufen,  so  hat  sie 
über  die  ihr  zu  Theil  gewordene  Behandlung  in  einer 
Generalversammlung  zu  berichten.  Fällt  der  Bericht  un- 
günstig für  die  Herrschaft  aus,  so  wird  ihr  Name  auf  die 


No.  27. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


.323 


„schwarze  Liste“  gesetzt;  sie  wird  „geboyhottet“  und  erhält 
keine  Bedienung  mehr,  während  die  aus  dem  Dienst 
Scheidende,  bis  sie  eine  bessere  Stellung  erlangt  hat,  aus 
dem  Vereinsfonds  erhalten  wird,  an  welchen  allmonatliche 
Beiträge  zu  leisten  sind. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Ausdehnung  der  Frauen-  und  Kinderarbeit  im  Deutschen 
Reiche.  Dem  Reichskanzler  und  Bundesrathe  sind  von  zahl- 
reichen Unternehmerverbänden  Eingaben  betr.  Verlängerung 
der  Arbeitszeit  der  Frauen  und  jugendlichen  Personen  zu- 
gegangen. Wie  halbamtlich  mitgetheilt  wird,  beschäftigt 
man  sich  gegenwärtig  an  den  zuständigen  reichsbehörd- 
lichen Stellen  mit  der  Prüfung  dieser  Eingaben. 

Es  sind  Erhebungen  über  den  Umfang  angestellt, 
welchen  die  gewünschten  Ausnahmen  annehmen  würden, 
sowie  über  die  Anzahl  der  Fabriken  und  Arbeiter,  welche 
von  diesen  Ausnahmen  betroffen  werden  würden.  Sobald 
die  Ergebnisse  dieser  Erhebungen  zusammengestellt  sein 
werden,  wird  der  Bundesrath  über  die  auf  die  Beschäfti- 
gung der  Frauen  und  jugendlichen  Arbeiter  bezüglichen 
Eingaben  Beschluss  fassen. 

William  Mather’s  Gesetzentwurf,  die  Regulirung  der 
Arbeitszeit  durch  die  Trades  Unions  betreffend.  Der 

Firma  Mat  her  & Platt  scheint  es  Ernst  zu  sein  mit 
ihren  sozialen  Reformversuchen.1)  Einer  der  Inhaber  der 
Firma,  der  Vertreter  für  South  Salford  im  Parlament  ist, 
hat  einen  Gesetzentwurf  betreffs  Regelung  der  Arbeitszeit 
eingebracht,  der  Anerkennung  und  besonders  darum  Be- 
achtung verdient,  dass  er  in  demselben  den  Trades  Unions 
eine  entscheidende  Rolle  zuertheilt. 

Vor  25  Jahren  war  in  England  ein  Unionist  ein  „Um- 
stürzler“, der  nach  Kräften  niedergehalten  und  bei  Leibe 
nicht  durch  Zugeständnisse  ermuthigt  werden  durfte.  Die 
Zeiten  haben  sich  geändert.  Jetzt  will  ein  angesehener 
Fabrikbesitzer  den  Unions  eine  öffentliche  Funktion  über- 
tragen: Sie  sollen  in  jedem  Distrikte,  jede  für  ihren  In- 

dustriezweig die  Arbeitszeit,  wenn  auch  nicht  definitiv  fest- 
stellen, so  doch  durch  Vorschläge  und  Leitung  der  Ver- 
handlung mit  den  Unternehmern  und  den  nicht  zur  Union 
gehörigen  Arbeitern  reguliren.  Die  gesammte  erwachsene 
Arbeiterschaft  soll  die  letzte  Entscheidung  haben.  Mat  her 
begründet  das  Vertrauen,  das  er  den  Trades  Unions  schenkt, 
mit  der  sozial-politischen  Bedeutung  derselben.  Sie  hätten 
sich  nicht  nur  bewährt  als  Unterstützer  ihrer  Mitglieder  in 
Arbeitslosigkeit,  Krankheit  und  Alter,  sie  seien  auch  in- 
dustrielle und  wirthschaftliche  Erzieher  der  Arbeiter  ge- 
wesen. Dadurch  dass  ihre  Statuten  und  Verordnungen  von 
Tausenden  zugleich  beobachtet  wurden,  sei  es  den  Arbeit- 
gebern möglich  geworden  , mit  den  Arbeitskräften  zu 
rechnen.  Auch  die  Verbesserung  der  Fabrikate  während 
der  Zeit  der  steigenden  Löhne  und  abnehmenden  Arbeits- 
zeit, sowie  die  Thatsache,  dass  die  Kosten  der  Produktion 
im  Verhältniss  zu  den  Gesannntbetriebskosten  sich  ver- 
mindert hätten,  schreibt  Mather  ihrem  Einfluss  zu. 

Arbeits-  nml  Gewerbekammern  in  Holland.  Ein  in  der  zweiten 
Kammer  der  Generalstaaten  von  zwei  Mitgliedern  dieses  gesetz- 
gebenden Körpers  eingebrachter  Entwurf  eines  Gesetzes  über 
die  Errichtung  von  Arbeits-  und  Gewerbekammern  hat  nach  einer 
amtlichen  Mittheilung  aus  Haag,  .die  wir  dem  Handels-Museum 
entnehmen,  im  wesentlichen  folgenden  Inhalt: 

1.  Je  nach  Bedürfniss  können  in  jeder  Gemeinde  entweder 
von  amtswegen  oder  auf  Antrag  der  Gemeinde  oder  der  Inter- 
essenten eine  oder  mehrere  Arbeitskammern  eingerichtet  werden. 
Zweck  der  Arbeitskammer  ist  die  Förderung  der  gemeinsamen 
Interessen  der  Arbeitgeber  und  Arbeiter.  Sie  sammelt  Infor- 
mationen über  Arbeiterangelegenheiten,  berichtet  aus  eigener 
Initiative  oder  über  Ersuchen  an  die  Regierungs-  und  Communal- 


b Vgl.  Sozialpolitisches  Centralblatt,  Jahrg.  II,  No.  25,  S.  294. 


behörden  über  Arbeiterinteressen  und  hat  Streitigkeiten  zwischen 
Arbeitgebern  und  Arbeitern  vorzubeugen  oder  durch  einen  Schieds- 
spruch zwischen  den  Parteien  beizulegen  Unter  „Betrieben“ 
werden  alle  Gewerbe,  Erwerbe,  Betriebe,  Unternehmungen  von 
Schifffahrt,  Landwirthschaft,  Handel  und  Industrie  verstanden, 
sowie  eine  jede  im  Dienste  solcher  Verrichtungen  stehende  Thä- 
tigkeit.  Als  Arbeitgeber  (patroons)  sind  alle  Jene  anzusehen,  die 
das  Geschäft  der  Aufsicht  über  diejenigen  ausüben,  welche  um 
Lohn  thätig  sind,  während  als  Arbeiter  (werklieden)  Alle  er- 
scheinen, die  entweder  selbstständig  oder  unter  einem  Arbeit- 
geber eine  Thätigkeit  verrichten,  ohne  Andere  dabei  zu  beauf- 
sichtigen. — Eine  Arbeitskammer  kann  nach  den  in  ihrem  Be- 
reiche ausgeübten  Betrieben  in  mehrere  Abtheilungen  zerfallen. 
Die  Einrichtung  der  Kammer  selbst,  sowie  ihrer  Abtheilungen, 
Mitglieder  und  Stellvertreter  wird  durch  königlichen  Beschluss 
bestimmt.  Jede  Kammer  und  jede  Abtheilung  besteht  aus  der 
gleichen  Anzahl  Arbeitgeber  und  Arbeiter. 

2.  Mitglied  einer  Kammer  oder  Stellvertreter  eines  solchen 
kann  nur  sein,  wer  nicht  durch  richterliches  Urtheil  die  Verfü- 
gung über  sein  Vermögen  oder  das  Wahlrecht  für  die  Arbeits- 
kammer verloren,  das  Alter  von  30  Jahren  erreicht  und  während 
der  letzten  zwei  Jahre  in  einer  Gemeinde,  die  zum  Ressort  der 
Kammer  gehört,  denselben  oder  einen  gleichartigen  Betrieb  aus- 
geübt hat.  Die  Mitglieder  oder  Stellvertreter  werden  von  den 
Wählern  nach  Stimmenmehrheit  und  für  die  Dauer  von  drei  Jahren 
gewählt.  Arbeitgeber  und  Arbeiter  wählen  ihre  Vertreter  ge- 
trennt. Die  Zahl  der  Stellvertreter  soll  mindestens  die  Hälfte 
der  Zahl  der  Mitglieder  betragen. 

3.  Wähler  ist  jeder,  der  den  Voraussetzungen  des  Gesetzes 
für  das  passive  Wahlrecht  entspricht  und  das  25.  Lebensjahr 
vollendet  hat.  Die  Wähler  werden  in  den  Wahllisten  jener  Ge- 
meinden eingetragen,  wo  sie  ihren  Betrieb  ausüben. 

4.  Jede  Abtheilung  versammelt  sich  jährlich  mindestens  drei- 
mal und  auch  öfter,  wenn  es  der  Vorsitzende,  welchen  die  Mit- 
glieder der  Abtheilung  aus  ihrer  Mitte  für  ein  Jahr  erwählen,  für 
nothwendig  hielte. 

5.  Der  Vorstand  der  Kammer  besteht  aus  den  vereinigten 
Vorständen  der  Abtheilungen,  oder  wenn  keine  solchen  vorhanden 
wären,  aus  mindestens  zwei  Mitgliedern  jeder  Kategorie  (Arbeit- 
geber und  Arbeiter).  Er  ernennt  aus  seiner  Mitte  einen  Vor- 
sitzenden und  einen  Stellvertreter  des  Vorsitzenden.  Gehört  der 
Letztere  der  Kategorie  der  Arbeitgeber  an,  so  muss  der  Stell- 
vertreter Arbeiter  sein  und  umgekehrt.  Der  Schriftführer  braucht 
nicht  Mitglied  der  Kammer  zu  sein  (er  hat  in  diesem  Falle  nur 
berathende  Stimme)  und  erhält  eine  Besoldung,  die  von  der  Re- 
gierung festgesetzt  wird.  Der  Kammervorstand  erstattet  jährlich 
dem  Ressortminister  über  die  Thätigkeit  der  Kammer  einen  Be- 
richt, der  ganz  oder  im  Auszuge  den  Generalstaaten  mitgetheilt 
wird.  — Jede  Kammer  versammelt  sich  mindestens  einmal  im 
Jahre  auf  Berufung  des  Vorstandes  und  öfter,  wenn  dieser  es 
für  nothwendig  hält  oder  der  dritte  Theil  der  Mitglieder  es  unter 
schriftlicher  Angabe  der  Gründe  beantragt.  Der  Vorstand  kann 
auch  eine  oder  mehrere  Abtheilungen  zu  einer  gemeinsamen 
Berathung  berufen. 

6.  Jede  Abtheilung  ernennt  aus  ihrer  Mitte  ein  „Versöhnungs- 
bureau“, das  aus  einer  gleichen  Anzahl  von  Vertretern  der  Ar- 
beitgeber und  Arbeiter  besteht,  und  aus  den  übrigen  Mitgliedern 
der  Kammer  einen  Vorsitzenden  bezeichnet.  Die  Ernennungen 
sind  für  ein  Jahr  giltig.  Das  Versöhnungsbureau  versammelt  sich 
monatlich  einmal  und  öfter,  wenn  es  angezeigt  erscheint,  um  die 
Streitigkeiten  zu  untersuchen  und  zu  erledigen,  die  ihm  unter- 
breitet werden.  Wenn  in  einem  durch  eine  Abtheilung  vertretenen 
Betriebe  eine  Streitigkeit  zu  entstehen  droht  oder  entstanden  ist, 
so  geben  die  Parteien  dem  Vorstande  des  Versöhnungsbureaus 
der  Abtheilung  nach  einem  festzustellenden  Formular  schriftlich 
davon  Kenntniss.  Geringfügige  Streitigkeiten  können  auch  münd- 
lich angezeigt  werden.  Das  Bureau  wird  schleunigst  zur  Be- 
rathung versammelt,  und  wenn  es  keine  Einigung  der  Pateien 
erzielt,  so  bezeichnet  jede  Partei  ein  Mitglied  aus  der  sie  in  der 
Abtheilung  vertretenden  Kategorie,  welches  in  das  Bureau  eintritt. 
Nach  erneuerter  Untersuchung  trifft  das  Bureau  seine  Entscheidung, 
die  veröffentlicht  und  den  Parteien  schriftlich  mitgetheilt  wird. 
Wenn  die  Entscheidung  nicht  die  Zustimmung  der  Parteien  findet 
und  der  Vorstand  der  Kammer  die  Erledigung  der  Streitigkeit  für 
wiinschenswerth  erachtet,  bietet  dieser  Vorstand  den  Parteien 
seine  Vermittelung  an  und  führt  einen  Schiedsspruch  herbei. 

7.  In  allen  Versammlungen  wird  bei  Stimmengleichheit  die 
Abstimmung  auf  die  nächste  Versammlung  verlegt.  Tritt  wieder 
Stimmengleichheit  ein,  so  entscheidet  die  Stimme  des  Vorsitzenden. 

Wenn  die  Anzahl  der  anwesenden  Vertreter  der  Arbeitgeber 
der  Anzahl  der  anwesenden  Vertreter  der  Arbeiter  nicht  gleich- 
kommt, so  haben  so  viele  Mitglieder,  als  bei  der  einen  Kategorie 
mehr  anwesend  sind,  von  den  an  Lebensjahren  jüngsten  ange- 
fangen, nur  berathende  Stimme.  — Die  Regierung  kann  eine  oder 
mehrere  Kammern,  Kammervorstände  und  Abtheilungen  berufen, 
um  ihre  Ansichten  über  Gesetzentwürfe  oder  Maassregeln,  die 
sich  auf  Arbeitsinteressen  beziehen,  zu  hören.  Solchen  ausser- 


324 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  27. 


ordentlichen  Versammlungen  darf  ein  Regierungskommissär  bei- 
wohnen. 

8.  Die  Mitglieder  der  Kammern  erhalten  als  solche  keine 
Besoldung.  Für  die  Theilnahme  an  den  Versammlungen  der 
Kammern  und  an  gewissen  Sitzungen  des  Versöhnungsbureaus 
wird  ihnen  eine  Entschädigung  zugesprochen.  Nach  Anhörung 
der  Provinzialstaaten  wird  den  Kammern  jährlich  von  der  Regierung 
eine  Beihilfe  zu  den  Ausgaben  des  Budgets  der  Kammern,  das 
diese  unter  Genehmigung  der  Provinzialstaaten  aufgestellt  haben, 
zuerkannt.  Die  Ausdehnung  dieser  gesetzlichen  Bestimmungen 
auf  Personen,  die  in  Fabriken  oder  Werkstätten  unter  staatlicher 
Verwaltung  thätig  sind,  wird  durch  königliche  Verordnung  bestimmt. 


Arbeiterversicherung. 

Haftpflicht-Schutz  verband  deutscher  Industrieller.  Auf 

Anregung  des  Verbandes  der  Dampfkesselfabriken,  Brücken- 
bauanstalten und  Eisenkonstruktionswerkstätten  hat  sich 
im  Juni  1892  ein  Haftpflicht-Schutzverband  gebildet,  dessen 
Zwecke  folgende  sind: 

1.  durch  fachwissenschaftliche  Untersuchungen  und 
durch  Verwerthung  der  Erfahrungen  des  praktisch-gewerb- 
lichen Lebens  dahin  zu  wirken,  dass  die  nach  dem  Unfall- 
versicherungsgesetz verbliebene  und  durch  die  sozialpoli- 
tische Gesetzgebung  überhaupt  begründete  bezw.  neuge- 
schaffene Haftpflicht  derart  beschränkt  werde,  dass  sie 
nicht  über  die  Grenze  der  Billigkeit  hinausgeht,  bezw.  in 
den  Kreis  der  berufsgenossenschaftlichen  Unfallversiche- 
rung einbezogen  wird.  Demgemäss  wird  der  Verband 
seine  Ziele  zu  erreichen  suchen 

a)  durch  die  Sammlung  des  einschlägigen  Materials 
betreffend  die  Unfallversicherung  (Urtheile  des  Reichsver- 
sicherungsamtes und  der  Schiedsgerichte  betreffend  Ab- 
weisungen von  Schadenersatzansprüchen,  ferner  der  Ur- 
theile der  Gerichtshöfe  in  Haftpflicht-  und  Strafprozessen, 
endlich  Entscheidungen  der  höheren  Verwaltungsbehörden, 
betreffend  die  Handhabung  der  Reichs  - Gewerbeordnungs- 
novelle vom  1.  Juli  1891,  das  Krankenkassen-  sowie  das 
Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetz) 

b)  durch  Vorstellungen  bei  den  gesetzgebenden  Körper- 
schaften und  Behörden. 

Der  Verband  bezweckt  ferner: 

2.  den  Verbandsmitgliedern  durch  sachverständigen 
Rath  und  Auskunft  möglichst  wirksame  Rathschläge  in  den 
aus  der  Zivil-  und  Strafgesetzgebung  herrührenden  Haft- 
pflichtstreitfällen zu  gewähren  oder  zu  vermitteln.  Der 
Verband  wird  in  zwanglosen  Heften  Mittheilungen  über  die 
einschlägigen  Fragen  der  gewerblichen  Gesetzgebung,  Ver- 
waltung und  Rechtsprechungen  liefern; 

3.  die  Einführung  einer  die  Interessen  der  Industriellen 
thunlichst  vollkommen,  d.  h.  alle  möglichen  Fälle  der  Haft- 
pflicht deckenden  Versicherung,  insbesondere  durch  Auf- 
stellung von  Normativbedingungen. 

Verhandlungen  der  Konferenz  der  Vertreter  der  Landesver- 
sicheruugsämter  und  der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung!!;- 
anstalten.  Die  vom  Reichs-Versicherungsamt  einberufene 
Konferenz  von  Vertretern  der  Landesversicherungsämter  und 
der  Invaliditäts-  und  Altersversicherungsanstalten  wurde,  wie  wir 
dem  Bericht  des  Reichsanzeigers  entnehmen,  am  27.  März  im 
Reichstagsgebäude  unter  dem  Vorsitz  des  Präsidenten  Dr.  Bödiker 
eröffnet.  Erschienen  waren  58  Theilnehmer.  Die  Tagesordnung 
ist  bereits  in  Nr.  25  des  Sozialpolitischen  Centralblattes  vom 
20.  März  mitgetheilt  worden. 

Erster  Gegenstand  der  Tagesordnung  war  die  Berathung, 
welche  Massnahmen  zu  treffen  seien,  um  in  allen  Fällen  ein  sach- 
gemässes  ärztliches  Gutachten  über  die  Erwerbsfähigkeit  eines 
Invalidenrentenbewerbers  mit  möglichst  geringen  Kosten  zu  er- 
halten. Nachdem  seitens  des  Reichs -Versicherungsamts  und  der 
Vertreter  der  meisten  Versicherungsanstalten  die  bisher  in  dieser 
Richtung  gemachten  Erfahrungen  mitgetheilt  worden  waren, 
einigte  man  sich  dahin,  daran  festzuhalten,  dass  es  regelmässig 
Sache  des  Rentenbewerbers  sei,  das  zur  Begründung  seines  An- 
trags erforderliche  ärztliche  Gutachten  selbst  zu  beschaffen  und 
zu  bezahlen;  dass  es  aber  den  Versicherungsanstalten  nicht  ver- 
wehrt sei,  zu  den  Kosten  des  ersten  ärztlichen  Attestes  allgemein 


einen  Zuschuss  zu  zahlen,  und  dass  es  dem  Ermessen  der  Vor- 
stände anheimgestellt  werde,  sich  in  dieser  Beziehung  mit  den 
Aerzten  ihres  Bezirks  in  Verbindung  zu  setzen.  Es  wurde  dabei 
betont,  dass  ein  Handinhandgehen  der  Versicherungsanstalten 
und  der  Aerzte  im  Interesse  der  Durchführung  der  Versicherung 
dringend  zu  wünschen  sei,  und  dass  eine  Einigkeit  sich  am  ehesten 
erzielen  lasse,  wenn  man  den  berechtigten  Wünschen  der  Aerzte 
Entgegenkommen  beweise. 

Zu  Punkt  3 der  Tagesordnung  war  die  Versammlung  der 
Ansicht,  dass  ein  Bedürfniss,  allgemeine  Anordnungen  in  die 
Wege  zu  leiten,  um  den  Versicherungsanstalten  von  den  das  Ver- 
sicherungsverhältniss  oder  den  Rentenbezug  berührenden  That- 
sachen  (Tod  eines  Versicherten,  Inhaftirung  eines  Renten-Em- 
pfängers  etc.  [§  34  des  Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetzes]) 
rechtzeitig  Kenntniss  zu  verschaffen,  jedenfalls  zur  Zeit  nicht  vor- 
liegt. Von  verschiedenen  Seiten  wurde  hervorgehoben,  dass  auf 
besonderes  Ansuchen  der  Versicherungsanstalt  die  zuständigen 
Behörden  (Regierungspräsidenten,  Staatsanwaltschaften,  Gefängniss- 
directionen  etc.)  schon  jetzt  sich  zu  den  erforderlichen  Mitthei- 
lungen verstanden  haben. 

Ueber  die  Frage,  ob  ein  normal  verlaufendes  Wochenbett  als 
Krankheit  im  Sinne  des  § 17  Absatz  2 des  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherungsgesetzes anzusehen  sei,  waren  die  Ansichten  getheilt. 

Zur  Unterstützung  der  bejahenden  Meinung  wurde  auch  auf  § 20 
des  Krankenversicherungsgesetzes  hingewiesen;  aber  auch  von 
der  gegnerischen  Seite  wurde  zugestanden,  dass,  wenn  es  sich 
um  die  Erfüllung  der  gesetzlichen  Wartezeit  handele,  die  Bewilli- 
gung der  Rente  an  einer  Beschäftigungslosigkeit  wegen  eines 
Wochenbettes  nicht  scheitern  solle. 

In  den  weiteren  Verhandlungen  der  Konferenz  der  Vertreter 
der  Landesversicherungsämter  und  der  Invaliditäts-  und 
Altersversicherungsanstalten  wurden  diejenigen  Maassregeln 
erörtert,  welche  seitens  der  Versicherungsanstalten  auf  Grund  des 
§ 12  des  Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetzes  zum  Zweck 
der  Wiederherstellung  erkrankter  Versicherter  bisher 
getroffen  worden  sind.  Es  wurde  hierbei  namentlich  aner- 
kannt, dass  in  dieser  Beziehung  kein  Unterschied  danach  zu 
machen  sei,  ob  der  betreffende  Versicherte  der  reichsgesetz- 
lichen Krankenversicherung  unterliege  oder  nicht,  dass  viel- 
mehr die  Versicherungsanstalten  bezüglich  beider  Kategorien 
von  Versicherten  die  gleichen  Befugnisse  haben.  Bezüglich 
des  Zeitpunktes,  in  welchem  derartige  Maassregeln  anzuordnen 
sind,  und  hinsichtlich  ihres  Umfanges  bestehen  nach  der  ein- 
helligen Ansicht  der  Anwesenden  keine  Schranken  für  das 
Ermessen  der  Versicherungsanstalten,  welche  in  jedem  Einzel- 
falle unter  Berücksichtigung  aller  in  Betracht  kommenden  Ge- 
sichtspunkte, insbesondere  finanzieller  und  sozialpolitischer  Er- 
wägungen, zu  entscheiden  haben,  ob,  wann  und  wie  sie  von 
diesem  ihrem  Rechte  Gebrauch  machen  wollen.  Von  den  ver-  ! 
schiedenen,  hierbei  zur  Erörterung  gelangten  Einzelfragen  ist  her-  ' 1 
vorzuheben,  dass  die  Versammlung  sich  mit  der  Ansicht  des 
Reichs-Versicherungsamts  einverstanden  erklärte,  wonach  ein  Ver-  1 
sicherter  zur  Duldung  einer  ihm  ärztlicherseits  zur  Abwendung  j 
drohender  Erwerbsunfähigkeit  angesonnenen  Operation  nicht  ge- 
zwungen werden  kann. 

Bei  eingehender  Besprechung  der  Frage,  betreffend  die  Ver- 
wendung eines  Theils  des  Vermögens  der  Versiche- 
rungsanstalten zur  Herstellung  von  Arbeiterwohnungen 
zeigte  sich  die  überwiegende  Mehrheit  der  Vertreter  der  Ver- 
sicherungsanstalten geneigt,  innerhalb  der  gesetzlichen  Grenzen 
Kapitalbeträge  zu  Gunsten  der  Förderung  des  Baues  von  Arbeiter- 
wohnungen anzulegen.  Der  Ankauf  von  Grundstücken  und  die 
Herrichtung  von  Wohnungen  in  eigener  Regie  der  Versiche- 
rungsanstalten wurde  im  allgemeinen  nicht  in  Aussicht  genommen, 
weil  hierdurch  der  Verwaltungsapparat  der  Anstalten  ein  zu  ver- 
wickelter werden  würde.  Als  regelmässige  Form  wurde  viel- 
mehr die  Hingabe  von  Darlehen,  insbesondere  an  Kommunal- 
verbände und  gemeinnützige  Baugesellschaften,  ins  Auge  gefasst. 

Das  Reichsversicherungsamt  erklärte  sich  mit  diesen  Grund- 
sätzen einverstanden.  Es  werde  nach  wie  vor  den  auf  Errichtung 
von  Arbeiterwohnungen  zielenden  Bestrebungen  seine  wohlwol- 
lende Unterstützung  nicht  versagen;  nur  werde  den  Versicherungs- 
anstalten empfohlen,  mit  Rücksicht  auf  den  Mangel  an  Erfahrungen 
schrittweise  und  allmählich  vorzugehen  und  bei  Bemessung  der 
Darlehne  die  allgemeinen  finanziellen  Verhältnisse  der  betreffen- 
den Versicherungsanstalt  zu  berücksichtigen.  Allgemein  war  man 
unter  Zustimmung  des  Reichsversicherungsamts  der  Ansicht, 
dass  nicht  allein  die  grossen  Städte  und  Industriecentren,  sondern 
auch  das  flache  Land  mit  Wohlfahrtseinrichtungen  für  die  arbei- 
tende Bevölkerung  bedacht  werden  sollen. 

Nach  Abschluss  dieser  Berathung  wurden  die  Verhandlungen 
Nachmittags  5!/2  Uhr  abgebrochen  und  vertagt. 

Am  28.  März  Vormittags  9 Uhr  wurden  die  Berathungen 
fortgesetzt.  Sie  erstreckten  sich  auf  folgende  Punkte: 

Die  angeregte  Einführung  eines  einheitlichen  Verfahrens 
bezüglich  der  von  den  Versicheiungsanstalten  vorzunehmenden 
Entwerthung  von  Beitragsmarken  wurde  nicht  für  erforder- 


No.  27. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


325 


lieh  erachtet;  cs  wurde  aber  als  nothwendig  bezeichnet,  für  die 
Entwerthung  nur  solche  Stempel  zu  verwenden,  durch  welche  die 
Erkennbarkeit  der  auf  der  Marke  befindlichen  Bezeichnungen  der 
Versicherungsanstalt,  der  Lohnklasse  und  des  Werthbetrages 
möglichst  wenig  beeinträchtigt  wird.  Andernfalls  würden  für  die 
Vertheilungsarbeiten  des  Rechnungsbureaus  grosse  Schwierig- 
keiten entstehen. 

Zur  Vermeidung  zu  häufiger  Nachwahlen,  sowie  andererseits 
zur  Wahrung  thunlichster  Gleichmässigkeit  in  der  Vertretung 
der  Arbeitgeber  und  der  Versicherten  in  den  Ausschüssen 
der  Versicherungsanstalten  (§  48  Abs.  1 des  Invaliditäts-  und 
Altersversicherungsgesetzes)  wurde  die  Aufnahme  einer  Bestim- 
mung in  das  Statut  vorgeschlagen,  wonach  beim  Ausscheiden  eines 
oder  mehrerer  Mitglieder  der  einen  Kategorie  nebst  deren  Ersatz- 
männern eine  derdadurch  entstandenen  Differenz  entsprechendeAn- 
zahl  von  Mitgliedern  der  zahlreicheren  Kategorie  nach  Bestimmung 
durch  Loos  sich  der  Abstimmung  zu  enthalten  hat.  Der  Vorschlag 
fand  mit  der  Maassgabe  die  Billigung  der  Versammlung,  dass  der 
Vorsitzende  des  Ausschusses  von  der  Ausloosung  ausgenommen 
sein  solle.  Dagegen  wurde  ein  Antrag,  das  gleiche  Verfahren  auch 
bei  blosser  Verhinderung  einzelner  Vertreter  und  ihrer  Ersatz- 
männer einzuführen,  als  der  erkennbaren  Absicht  des  Gesetzgebers 
widersprechend  abgelehnt. 

Eine  einheitliche  Regelung  der  Frage,  wie  die  gefundenen 
Quittungskarten,  deren  Inhaber  nicht  sogleich  zu  ermitteln 
sind,  zu  behandeln  seien,  wurde  nicht  für  geboten  erachtet,  da 
die  Angelegenheit  in  den  Bezirken  der  überwiegenden  Mehrzahl 
der  Versicherungsanstalten,  den  örtlichen  Verhältnissen  ent- 
sprechend, bereits  geregelt  ist.  Inzwischen  tauschten  die  An- 
wesenden ihre  auf  diesem  Gebiet  gesammelten  Erfahrungen 
weiter  aus. 

Es  wurden  hierauf  mehrere  prozessuale  Fragen  aus  dem 
Gebiet  des  Rentenfeststellungsverfahrens  erörtert.  Dabei  wurde 
allseitig  anerkannt,  dass  bisher  in  ausreichender  Weise  seitens 
des  Schiedsgerichts  -Vorsitzenden  vor  dem  Verhandlungstermin 
eine  Mittheilung  des  wesentlichen  Ergebnisses  schiedsgerichtlicher 
Beweiserhebungen  an  die  Versicherungsanstalten  bewirkt  worden 
ist.  Insbesondere  habe,  so  wurde  betont,  eine  Mittheilung  des 
Beweismaterials  dann  stattgefunden,  wenn  die  Erhebungen  die 
Annahme  nahelegten,  dass  nunmehr  die  Versicherungsanstalt 
freiwillig  den  erhobenen  Rentenanspruch  anerkennen  werde. 
Dadurch,  dass  in  dieser  Weise  die  Schiedsgerichte  mit  den  Ver- 
sicherungsanstalten Hand  in  Hand  gegangen  seien,  hätten  zahlreiche 
Ansprüche  zur  freiwilligen  Anerkennung  gelangen  und  Streitig- 
keiten vermieden  werden  können.  In  Anknüpfung  an  diese  Ver- 
handlungen wurde  von  Vertretern  einzelner  preussischer  Ver- 
sicherungsanstalten über  wiederholt  wahrgenommene  Ver- 
zögerungen in  der  Behandlung  von  Berufungssachen 
geklagt  und  dabei  darauf  hingewiesen,  dass  in  der  Hauptsache 
das  langsame  Arbeiten  einzelner  Schiedsgerichte  auf  Mängel  in 
der  Organisation  der  letzteren  und  auf  den  unerwünscht  häufigen 
Wechsel  in  der  Person  der  Schiedsgerichts-Vorsitzenden  zurück- 
zuführen sei. 

Beim  Austausch  der  Meinungen  über  die  mit  dem  sogenannten 
Einzugsverfahren  (§§  112  ff.  des  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherungsgesetzes) gemachten  Erfahrungen  und  über  die 
etwaigen  Vorzüge  dieses  Verfahrens  gegenüber  der  Entrichtung 
der  Beiträge  durch  die  Arbeitgeber  selbst  ging  die  allgemeine 
Ansicht  dahin,  dass  ein  abschliessender  Vergleich  beider  Systeme 
noch  verfrüht  sei.  Jedenfalls  sei  nach  den  bisherigen  Erfahrungen 
dem  Einzugsverfahren  nicht  so  unzweifelhaft  der  Vorzug  zu- 
zuerkennen, dass  eine  Verallgemeinerung  dieser  Massregel  für 
diejenigen  Versicherungsanstalten  sich  empfehle,  welche  bisher 
ohne  Einzugsverfahren  thätig  gewesen  sind.  Insbesondere  trifft 
dies  für  die  preussischen  Versicherungsanstalten  zu.  Dieselben 
besitzen  auch  zumTheil  segensreich  wirkende  Controleinrichtungen, 
durch  welche  schon  eine  umfangreiche  Beitragsentrichtung  erzielt 
worden  ist. 

Ueber  die  Frage,  wie  die  Beitragsleistung  bei  Ver- 
sicherten zu  erfolgen  habe,  die  gleichzeitig  in  einem 
dauernden  Arbeitsverhältniss  zu  mehreren  Arbeit- 
gebern stehen  (z.  B.  Bauwächter  über  mehrere  benachbarte 
Grundstücke),  einigte  man  sich  in  der  Ansicht,  dass  eine  soli- 
darische Verpflichtung  der  Arbeitgeber  zur  Verwendung  der 
gesetzlichen  Beitragsmarken  bestehe,  insoweit  nicht  etwa  das 
Arbeitsverhältniss  bei  dem  einen  oder  anderen  Arbeitgeber  als 
ein  nebensächliches  im  Sinne  des  Bundesrathsbeschlusses  vom 
22.  Dezember  1891  von  der  Versicherungspflicht  ausgenommen 
ist.  Den  Arbeitgebern  bleibt  es  alsdann  überlassen,  sich  über 
die  Vertheilung  der  Beiträge  untereinander  zu  verständigen. 

Hiermit  war  die  Tagesordnung  erschöpft,  worauf  noch  eine 
Konferenz  der  Vorstände  derjenigen  Versicherungsanstalten,  die 
an  der  Versicherung  der  Seeleute  betheiligt  sind,  unter  Theil- 
nahme  von  Vertretern  des  Reichs -Versicherungsamts  stattfand. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung. 

Berliner  Wolllllingsstatistik.  Nachdem  die  Ergeb- 
nisse der  Berliner  Wohnungsaufnahme  von  1890  im 
Statistischen  Jahrbuch  der  Stadt  Berlin  mitgetheilt  worden, 
ergiebt  ein  Vergleich  mit  den  Verhältnissen  von  1885,  dass 
die  Gesammtzahl  der  Wohnungen  von  304490  auf  366920, 
worunter  sich  42417  mit  Gewerberäumen  verbundene  be- 
fanden, gestiegen  ist;  es  hat  also  eine  Zunahme  um  20.5  pCt. 
stattgefunden,  während  die  Bevölkerung  um  20,03  pCt.  stieg 
(von  1315287  auf  1578799  Seelen).  Vorderwohnungen 
wurden  im  Jahre  1890  205  705  gezählt,  Hof-  und  Hinter- 
wohnungen 161  215  gegen  183605  und  120503  im  Jahre 
1885.  Die  Zahl  der  Wohnkeller  in  Vorderhäusern  hat  sich 
von  16823  auf  16025  vermindert,  dagegen  stieg  die  Zahl 
der  Hofkeller  von  11  192  auf  12243.  I*1  einzelnen  Stadt- 

theilen  haben  die  Wohnungen,  namentlich  in  Friedrichs- 
werder, um  1 77  %0  abgenommen,  ferner  im  Stadttheil  Kölln 
und  Dorotheenstadt  um  je  io9°/00,  dann  in  Berlin  und 
Friedrichstadt  um  28  und  27  °/00,  alle  übrigen  Stadttheile 
weisen  eine  Zunahme  auf,  die  stärkste  der  Stadttheil  Moabit 
mit  1014  %0  und  die  Thiergartenvorstadt  mit  1012  °/00,  dann 
die  jenseitige  Luisenstadt,  östlich  mit  642  °/00  und  die  Rosen- 
thaler  Vorstadt  nördlich  mit  633  0/oo.  Heizbare  Zimmer 
wurden  1890  721  419,  nicht  heizbare  68  11 7 gezählt,  während 
1885  610809  heizbare  1111064969  nicht  heizbare  Zimmer  er- 
mittelt wurden.  Wohnungen  ohne  heizbare  Zimmer  wurden 
1890  noch  3366  gegen  2974  im  Jahre  1885  gezählt,  haben 
also  leider  um  132  °/00  zugenommen.  Von  21614  Grund- 
stücken zählten  4950  über  100  Bewohner,  darunter  u.  a. 
503  200 — 300,  und  n 6 über  300  Bewohner.  Die  Zahl  der 
Wohnungen  schwankte  in  den  Grundstücken  zwischen  1 bis 
über  60;  während  1885  nur  99  Grundstücke  mit  über 
60  AVohnungen  vorhanden  waren,  stieg  ihre  Zahl  1890  auf 
159;  die  Zahl  der  Grundstücke  mit  51 — 60  Wohnungen  er- 
höhte sich  von  149  auf  243,  die  mit  41 — 50  Wohnungen  von 
439  auf  651;  dagegen  nahmen  die  Grundstücke  mit  1,  2, 
3 — 5 und  6 — 10  Wohnungen  ab,  Grundstücke  mit  einer 
Wohnung  von  785  auf  712,  Grundstücke  mit  nur  2 Woh- 
nungen verminderten  sich  auf  659  von  713,  solche  mit  3 — 5 
von  2295  auf  2286  und  die  mit  6 — 10  von  3844  auf  3810. 
Während  1885  noch  66,9  Einwohner  durchschnittlich  auf 
ein  Grundstück  kamen,  stieg  diese  Zahl  1890  auf  72,9. 

Braunschweigische  Verordnung  über  das  Schlafgängerwesen. 

Ueber  das  Schlafgängerwesen  hat  die  Kreisdirektion  in  Wolfen- 
büttel auf  Grund  des  braunschweigischen  Gesetzes  vom  8.  April 
1892  folgende  Vorschriften  erlassen:  I.  Die  Schlafräume  dürfen 
mit  den  Wohn-  und  Schlafräumen  des  Quartiergebers  und  dessen 
Familienangehörigen  nicht  in  offener  Verbindung  stehen.  Etwa 
vorhandene  Verbindungsthüren  müssen  nicht  nur  verschlossen 
gehalten,  sondern  als  solche  unbenutzbar  gemacht  werden. 
Frauen  und  Mädchen,  welche  bei  einer  alleinstehenden  Frau  als 
Schlafgängerinnen  wohnen,  können  mit  dieser  die  Wohn-  und 
Schlafräume  theilen,  sofern  letztere  im  übrigen  diesen  Vorschriften 
entsprechen.  2.  Die  Schlafräume  dürfen  nicht  in  offenen  Räumen 
(z.  B.  Schlafstellen  auf  offenem  Boden)  bestehen.  3.  Die  Schlaf- 
räume müssen  für  jeden  Schlafgänger  mindestens  10  Kubikmeter 
Luftraum  und  3 Quadratmeter  Bodenfläche  enthalten.  4.  Die 
Schlafräume  müssen  mit  einer  verschliessbaren  Zugangsthür  und 
mit  mindestens  einem  an  der  Aussenwand  des  Hauses  ange- 
brachten Fenster  versehen  sein,  dessen  Glasfläche  mindestens  r/n 
der  Bodenfläche  beträgt.  5.  Die  Schlafräume  dürfen  nicht  in  un- 
mittelbarer Nähe  von  Düngergruben  liegen  und  nicht  mit  Aborten 
in  offener  Verbindung  stehen.  6.  Für  jeden  Schlafgänger  muss 
ein  Bett,  für  je  zwei  Schlafgänger  ein  AVaschgeschirr  vorhanden 
sein.  7.  Jeder  Schlafraum  muss  mit  frischem  Trinkwasser  ver- 
sehen sein.  8.  Die  Schlafräume  müssen  täglich  gereinigt  und  aus- 
reichend gelüftet  werden.  9.  An  der  Innenseite  der  Thür  jedes 
Schlafraumes  ist  ein  Abdruck  oder  eine  Abschrift  dieser  Vor- 
schriften und  eine  ortspolizeiliche  Bescheinigung  über  die  Höchst- 
zahl der  Personen,  welche  in  dem  Raume  Schlafstelle  finden 
dürfen,  anzubringen.  10.  Zuwiderhandlungen  gegen  diese  Vor- 
schriften werden  nach  § 7 Absatz  2 des  Gesetzes  mit  Geldstrafe 
bis  zu  60  Mk.  oder  mit  Haft  bis  zu  14  Tagen  bestraft  und  sind 
die  Polizeibehörden  befugt,  von  Befolgung  dieser  Vorschriften 
sich,  auch  durch  Augenschein,  zu  überzeugen. 


326 


SOZIALPOLITISCHES  CENT  KALB  I .ATT. 


No.  27. 


Wohnverhältnisse  (1er  Arbeiter  in  Oberfranken.  Die 

Versicherungsanstalt  für  Oberlranken  hat  auf  Veranlassung 
des  Staatsministeriums  an  die  Magistrate  der  Städte  Bay- 
reuth, Bamberg  und  Hof  die  Anfrage  gerichtet,  ob  es  noth- 
vvendig  sei,  in  den  genannten  Städten  aus  Mitteln  der  Ver- 
sicherungsanstalt Arbeiterwohnungen  zu  bauen.  Bis  Anfang 
März  d.  Js.  lag  nur  eine  Antwort  des  Magistrats  von  Bay- 
reuth vor,  die  dahin  lautet,  dass  gemäss  einstimmiger 
Erklärung  des  Magistrates  das  Bedürfniss  nach  Arbeiter- 
wohnungen für  Bayreuth  sehr  dringend  sei.  Der  Redakteur 
der  Bayreuther  Abendzeitung  hat  im  November  einige 
Arbeiterwohnungen  angesehen  und  giebt  darüber  eine 
Schilderung,  die  u.  A.  folgendes  enthält:  „Ich  fand  Stuben, 
deren  Fussboden  die  pure  Erde  bildete:  die  Wände  waren 
feucht  und  zeigten  eine  Art  Pilze.  An  einer  anderen  Stelle 
musste  ich,  um  eine  „Etage“  hoch  zu  steigen,  wie  die 
Hühner  auf  einer  Leiter  emporkraxeln.  Hier  oben  sah  es 
noch  schlimmer  aus:  die  meisten  Fensterscheiben  waren 
geborsten  und  mit  Papier  überklebt,  ein  qualmiger  Ofen 
verbreitete  neben  der  geringen  Wärme  einen  Dunst,  dass 
mir  fast  übel  wurde.  An  einer  dritten  Stelle  wohnte  eine 
ganze  Familie  in  einem  elenden  Dachstübchen;  ein  arm- 
seliges Bett  mit  Stroh  diente  den  Eltern  und  zwei  kleineren 
Kindern  als  Lagerstätte,  während  drei  andere  Kinder  abends 
ein  Bund  Stroh  erhielten  und  hierauf  ihre  müden  Glieder 
ausstreckten.“  Diese  Schilderung  ist  nicht  übertrieben.  In 
den  meisten  Fällen  halten  die  Arbeiter,  wenn  sie  so  glück- 
lich sind,  zwei  Stuben  miethen  zu  können,  noch  einen  Kost- 
gänger. Die  verheiratheten  Gewerbsgehilfen  erklären  in 
einer  Zuschrift  an  das  Bayreuther  Tagblatt,  dass  Manchen 
Entsetzen  erfassen  würde,  wenn  er  die  Wohnungen  der 
Arbeiter  sähe;  und  doch  müsse  der  Arbeiter  noch  froh 
sein,  in  einem  solchen  Loche  mit  seiner  Familie  kampiren 
zu  dürfen.  Für  eine  solche  Arbeiterwohnung  werden  6o 
bis  8o  Mk.  pro  Jahr  gezahlt.  Villen  werden  hier  viel  ge- 
baut, aber  an  Arbeiterwohnungen  denkt  man  nicht,  obwohl 
die  hiesige  Arbeiterbevölkerung  sesshaft  ist  und  der  Mangel 
an  Wohnungen  für  Arbeiter  und  kleinere  Beamte  schon 
seit  langen  Jahren  besteht. 


Schulwesen. 

Die  Unentgeltlichkeit  der  Lehrmittel  an  den 
schweizerischen  Schulen. 

Auch  wenn  die  Frage  der  unentgeltlichen  Verabreichung 
der  Lehrmittel  an  die  Schüler  nur  eine  pädagogische  Frage 
wäre  und  bei  ihrer  Beantwortung  finanzielle  Erwägungen 
gar  nicht  zu  berücksichtigen  wären,  so  läge  ihre  Erörterung 
doch  nicht  ausserhalb  des  Rahmens  einer  der  Sozialpolitik 
gewidmeten  Zeitschrift.  Thatsächlich  werden  aber  die  Be- 
denken, gegen  welche  die  Freunde  der  Unentgeldlichkeit 
der  Lehrmittel  aufzukommen  haben,  weniger  pädagogischen 
Rücksichten  entstammen,  als  vielmehr  der  Befürchtung  dass 
die  Kosten  dieser  Neuerung  den  Korporationen,  welchen 
die  Besorgung  des  Schulwesens  obliegt,  nicht  zugemuthet 
werden  können.  Einige  Mittheilungen  über  den  Umfang, 
in  welchem  die  erwähnte  Neuerung  an  schweizerischen 
Schulen  durchgeführt  ist  und  die  dadurch  verursachten 
Mehrauslagen  dürften  um  so  mehr  zur  Abklärung  der 
Meinungen  beitragen,  als  es  in  Deutschland  an  praktischen 
Erfahrungen  hierüber  ganz  fehlt,  während  solche  in  der 
Schweiz  aus  20  Jahren  vorliegen. 

Die  Gesetzgebung  über  das  Schulwesen  steht  in  der 
Schweiz  ausschliesslich  den  Kantonen  zu;  die  Bundesver- 
fassung stellt  nur  gewisse  Minimalforderungen  auf,  hinter 
welchen  jene  nicht  Zurückbleiben  sollen.  Eine  derselben 
geht  dahin,  dass  der  Primarunterricht  obligatorisch  und  an 
den  öffentlichen  Schulen  unentgeldlich  sein  muss.  Ein  so- 
genanntes Schulgeld  wird  also  nirgends  erhoben,  der  Auf- 
wand für  die  Schulen  vielmehr  aus  den  anderweitigen  Ein- 
nahmen der  Schulgemeinden  und  Kantone  bestritten.  Wo 
der  Grundsatz  des  unentgeltlichen  Schulunterrichts  dahin 


erweitert  worden  ist,  dass  auch  die  Lehrmittel  oder  ein 
Theil  derselben  den  Schülern  unentgeltlich  verabfolgt 
werden,  ist  das  aus  freiem  Entschluss  der  Schulgemeinden 
oder  auf  Grund  der  kantonalen  Unterrichtsgesetze  ge- 
schehen. 

Ein  Blick  auf  die  Entwickelung  des  schweizerischen 
Schulwesens  zeigt,  dass  die  Idee  der  Unentgeltlichkeit  der 
Lehrmittel  sich  — ohne  je  einen  Rückschlag  zu  erleiden  — 
einen  Kanton  nach  dem  anderen  erobert  hat.  Hinsichtlich 
ihrer  Ausführung  existiren  natürlich  Verschiedenheiten,  die 
aber  keine  grundsätzliche  Bedeutung  haben,  sondern  sich 
aus  den  ökonomischen  Verhältnissen  der  einzelnen  Kantone 
und  Gemeinden  erklären.  Sic  verdienen  erwähnt  zu  werden, 
weil  sich  daraus  ersehen  lässt,  wie  die  Unentgeltlichkeit  der 
Lehrmittel  allmählich  und  unter  Anpassung  an  die  ge- 
gebenen Zustände  schrittweise  eingeführt  werden  kann. 

Die  wichtigste  Verschiedenheit  besteht  wohl  darin,  dass 
in  einigen  Kantonen  die  Unentgeltlichkeit  durch  Gesetz 
oder  Verordnung  für  alle  Gemeinden  obligatorisch  einge- 
führt ist,  während  in  anderen  Kantonen  ihre  Einführung 
in  s Ermessen  der  Gemeinden  gestellt  und  ihnen  nur  etwa 
seitens  des  Kantons  ein  Beitrag  zu  den  hieraus  erwachsenden 
Kosten  in  Aussicht  gestellt  wird. 

Sodann  erstreckt  sich  die  Unentgeltlichkeit  an  einigen 
Orten  blos  auf  das  Schreibmaterial,  in  anderen  dagegen 
sowohl  auf  dieses  wie  alle  übrigen  individuellen  Lehrmittel 
(Bücher,  Atlas,  Reisszeuge  etc.).  Endlich  hat  sich  ein 
Unterschied  in  der  Praxis  insofern  ergeben,  als  die  unent- 
geltlich verabreichten  Lehrmittel  den  Kindern  in  einigen 
Kantonen  beim  Austritt  aus  der  Schule  wieder  abverlangt 
werden,  während  sie  anderenorts  in  ihrem  Eigenthum  ver- 
bleiben. Selbstverständlich  ist,  dass  diese  Grundsätze  nicht 
auf  allen  Schulstufen  gleichzeitig  verwirklicht  werden 
müssen,  sondern  dass  man  — wie  das  für  die  Schweiz  zu- 
trifft — damit  in  der  Primarschule  beginnen  kann,  um  die 
Unentgeltlichkeit  später,  nach  Maassgabe  der  Umstände, 
auf  die  höheren  Schulstufen  auszudehnen. 

Gegenwärtig  ist  die  Unentgeltlichkeit  der  Lehrmittel 
und  der  Schreibmaterialien  auf  der  Primarschulstufe  obliga- 
torisch eingeführt  in  Glarus,  Solothurn,  Baselstadt,  Basel- 
land, Waadt,  Neuenburg,  Genf,  der  Schreibmaterialien  allein 
in  Zug  und  St.  Gallen.  In  diesen  9 Kantonen,  auf  welche 
33  °/o  der  Bevölkerung  der  Schweiz  entfallen,  kommt  die 
Unentgeltlichkeit  143  700  Schülern  zu  gut  und  verursacht 
eine  Gesammtauslage  von  295  200  M.  oder  etwas  mehr  als 
2 M.  pro  Schüler.  In  drei  Kantonen:  Zürich,  Appenzell  a.  Rh. 
und  Thurgau  ist  die  Unentgeltlichkeit  der  Lehrmittel  nicht 
obligatorisch  für  den  ganzen  Kanton,  dagegen  erleichtert 
dieser  den  einzelnen  Gemeinden  ihre  Einführung  durch 
Staatsbeiträge.  Von  der  Gesammtbevölkerung  entfallen 
auf  diese  drei  Kantone  ca.  16  %.  Der  Stand  der  Dinge 
ist  im  Einzelnen  folgender: 

Die  Grösse  des  staatlichen  Beitrages  richtet  sich  in 
Zürich  nach  der  Steuerkraft  der  Gemeinden  und  bewegt 
sich  zwischen  10  und  75  % der  durch  die  Unentgeltlich- 
keit bedingten  Auslagen.  Gegenwärtig  haben  von  371  Primar- 
schulgemeinden 195  die  volle  Unentgeltlichkeit  und  67  die 
Unentgeltlichkeit  der  Schreibmaterialien  eingeführt.  Von 
den  156040  Primarschülern  gemessen  die  Wohlthat  der 
vollen  Unentgeltlichkeit  38789  = 69  °/0,  und  diejenige  der 
Unentgeltlichkeit  der  Schreibmaterialien  7382  = 13%,  so 
dass  also  auf  die  Schulgemeinden,  welche  sich  gegenüber 
dieser  Neuerung  ganz  ablehnend  verhielten,  nur  18  °/0  der 
Schüler  entfallen. 

Von  den  99  Sekundarschulgemeinden  (Real-  und  Bürger- 
schulen) haben  30  — darunter  die  grössten  — die  volle 
Unentgeltlichkeit  und  6 die  Unentgeltlichkeit  der  Schreib- 
materialien eingeführt,  die  andern  63  Schulgemeinden 
kennen  sie  weder  in  der  einen  noch  in  der  andern  Form. 
Auf  die  erste  Gruppe  (volle  Unentgeltlichkeit)^  entfallen  von 


No.  27 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


327 


den  6397  Sekundarschülern  2985  — 46,6 % und  auf  die  zweite 
Gruppe  7,6 °/0.  Danach  ist  nur  die  kleinere  Hälfte  der  Se- 
kundarschüler  von  der  Unentgeltlichkeit  ganz  ausge- 
schlossen. 

In  den  andern  zwei  Kantonen  dieser  Gruppe,  Appenzell 
a.  Rh.  und  Thurgau,  ist  die  Unentgeltlichkeit  noch  nicht 
im  gleichen  Umfange  wie  in  Zürich  durchgeführt,  aber  es 
fehlt  nicht  an  aussichtsreichen  Bemühungen,  sie  zum  all- 
gemeinen Grundsatz  zu  machen.  In  den  übrigen  13  Kantonen 
der  Schweiz  erhalten  zum  Mindesten  die  Kinder  armer 
Eltern  die  Lehrmittel  unentgeltlich.  Auch  in  ihrem  Gebiete 
haben  aber  manche  Gemeinden  aus  eigenen  Mitteln  die 
volle  Unentgeltlichkeit  für  alle  Schulkinder  eingeführt. 

Die  Gesammtauslage  der  Kantone  für  die  unentgeltlich 
verabreichten  Lehrmittel  und  Schreibmaterialien  wird  sich  aul 
circaöoooooM.  belaufen,  und  wenn  dieUnentgeltlichkeit  wenig- 
stens auf  der  Primarschulstufe  durch  die  ganze  Schweiz 
eingeführt  würde,  so  erforderte  sie  bei  einer  Schülerzahl 
von  470000  einen  Aufwand  von  etwas  mehr  als  1 Million 
Mark.  In  welchem  Verhältniss  die  durch  die  Unentgelt- 
lichkeit der  Lehrmittel  bedingte  Mehrausgabe  zum  sonstigen 
Aufwand  für  das  Schulwesen  steht,  lässt  sich  leichter  am 
Schulorganismus  der  einzelnen  Kantone  darthun. 

Baselstadt  lässt  die  Wohlthat  der  unentgeltlichen  Ver- 
abreichung der  Lehrmittel  und  Schreibmaterialien  nicht  nur 
den  Primarschülern,  sondern  auch  den  Besuchern  der  Se- 
kundarschulen, der  Realschulen,  der  Töchterschule  und  des 
untern  Gymnasiums  zu  Theil  werden,  im  Ganzen  etwa 
11 500  Schülern.  Das  erfordert  einen  Aufwand  von  circa 
53000  M.  Es  beträgt  die  Ausgabe  pro  Schüler  und  Jahr 
für  Schreibmaterial  im  Minimum  2,20  M.,  im  Maximum 
2,90  M.;  für  Schulbücher  im  Minimum  1,10  M.,  im  Maximum 
10  M.  — Die  Gesammtausgaben  von  Baselstadt  für  das 
Schulwesen  (abgesehen  von  der  Universität)  belaufen  sich 
auf  1 100000  M.  Der  Aufwand  von  53000  M.  für  die  unent- 
geltlichen Lehrmittel  bedeutet  also  nur  eine  Steigerung  der 
gesammten  Schulausgaben  um  circa  5 °/0. 

Eine  Berechnung  darüber,  mit  welchen  Kosten  die  Ein- 
führung der  Unentgeltlichkeit  der  Lehrmittel  in  Deutschland 
verbunden  wäre,  ermöglicht  folgende  Angabe:  Die  Aus- 
stattung eines  Primarschülers  kostet  in  der  Stadt  Zürich 
4 M.,  wovon  2,40  M.  auf  Schreibmaterialien  und  1,60  M.  auf 
Schulbücher  entfallen.  Dass  hier  noch  Ersparnisse  gemacht 
werden  können,  scheint  Basel  zu  beweisen,  wo,  bei  grosser 
Leistungsfähigkeit  der  Schulen,  für  das  Schreibmaterial  eines 
Primarschülers  2,20  M.  und  für  Schulbücher  1,10  M.,  zu- 
sammen also  3,30  M.  ausgegeben  werden. 

Bei  dieser  Kostenberechnung  muss  daran  erinnert 
werden,  dass  der  Preis,  welchen  der  Staat  oder  die  Ge- 
meinden für  die  Lehrmittel  und  das  Schreibmaterial  be- 
zahlen, bezw.  zu  dem  sie  dieselben  an  die  Kinder  abgeben 
können,  bedeutend  niedriger  ist  als  derjenige,  welchen  der 
Händler  im  Einzelverkauf  vom  Schüler  verlangt.  Der  Kanton 
Zürich  hat  einen  besonderen  staatlichen  Lehrmittelverlag 
eingerichtet;  die  in  seinem  Aufträge  verfassten  Lehrmittel 
werden  auf  seine  Rechnung  gedruckt  und  gebunden  und 
annähernd  zum  Selbstkostenpreise  abgegeben.  Im  Jahre 
1891  belief  sich  seine  Einnahme  auf  56000  M.  Bei  einem 
Inventarwerth  von  128000  M.  schloss  die  Rechnung  mit 
7520  M.  Gewinn.  Die  Annahme  , dass’  der  staatliche  Verlag 
seine  Artikel  um  wenigstens  33%  billiger  abgiebt  als  der 
private  Buchhandel  wird  nicht  sehr  fehl  gehen. 

Die  meisten  der  angeführten  thatsächlichen  Mittheilungen 
sind  dem  von  Dr.  Albert  Huber  herausgegebenen  „Jahrbuch 
des  Unterrichtswesens  in  der  Schweiz  1891“  (Verlag  Artist. 
Institut  Orell  Füssli,  Zürich)  entnommen,  auf  welches  der- 
jenige verwiesen  sei,  der  über  die  Schulverhältnisse  der 
schweizerischen  Kantone  näheren  Auschluss  wünscht. 

Zürich.  Otto  Lang. 


Soziale  Hygiene. 

Einschränkung  des  Alkoholverkaufs  in  England.  Die 

vom  Schatzkanzler  unlängst  eingebrachte  sog.  „Direct  Veto 
Bill“,  welche  die  Ertheilung,  bezw.  die  Verweigerung  und 
Nichterneuerung  der  Schankkonzessionen  von  einer  Volks- 
abstimmung in  den  einzelnen  Distrikten  abhängig  macht, 
will  etwas  dem  Gothenburger  System  Aehnliches  einführen. 
Achtzehn  radikale  Klubs  haben  sich  gegen  die  Bill  erklärt, 
die  im  Unterhause  eine,  wenn  auch  knappe  Mehrheit  finden 
dürfte.  Gefährlich  für  die  Regierung  ist,  dass  die  arbei- 
tenden Klassen  die  Maassregel  als  einen  Eingriff  in  ihre 
Freiheit  und  als  unbefugte  Bevormundung  betrachten  und 
dadurch  verstimmt  werden.  Auch  werden  durch  die  ge- 
planten Maassregeln  nicht  unwesentliche  finanzielle  Inter- 
essen des  Selbstverwaltungskörpers  tangirt.  Wenn  der 
Regierungsentwurf  Gesetz  werden  wird,  so  dürften  50  bis 
60000  Lstrl.  Schanksteuern  ausfallen , die  im  Jahre  1883 
den  Grafschaftsräthen  zur  Ablösung  von  Lokalsteuern  über- 
wiesen wurden. 


Armenwesen. 


Amtlicher  Arbeitsnachweis  und  Armeureelit.  Der  Vossi- 
schen  Zeitung  geht  aus  Schlesien  die  folgende  beachtens- 
werthe  Mittheilung  zu:  Die  Einrichtung  amtlicher  Ar- 
beitsnachweisstellen macht  der  Regierungspräsident 
Prinz  Handjery  den  Magistraten  der  Städte  mit  mehr  als 
10000  Einwohnern  in  einer  jüngst  ergangenen  Verfügung 
zur  Pflicht,  indem  er  darauf  hinweist,  dass  nach  der  Recht- 
sprechung des  Bundesamts  für  das  Heimathswesen  arbeits- 
fähigen Personen,  die  wegen  mangelnder  Arbeitsgelegen- 
heit nicht  im  Stande  sind,  sich  und  ihre  Angehörigen  zu 
ernähren,  der  Anspruch  auf  öffentliche  Armenunterstützung 
zusteht.  Prinz  Handjery  erklärt,  er  werde  künftig  die  Ab- 
weisung von  Beschwerden  wegen  Verweigerung  von  Armen- 
unterstützungen bei  dem  Bezirksausschüsse  nur  dann  be- 
fürworten, wenn  der  betreffende  Magistrat  ihm  den  Nach- 
weis liefert,  dass  dem  Beschwerdeführer  durch  die 
städtischenBehördeneineArbeitsgelegenheitnach- 
gewiesen  ist,  dieser  aber  keinen  Gebrauch  davon  ge- 
macht hat. 

Zur  Statistik  (1er  Berliner  Arbeiterkolonie.  Die  Berliner 
Arbeiterkolonie  hat  nach  den  Berichten,  die  in  der  am  27.  März 
abgehaltenen  Generalversammlung  erstattet  wurden,  in  den  letzten 
beiden  Jahren  mit  einem  Fehlbetrag  von  zusammen  79600  M. 
abgeschlossen.  Zur  Deckung  hat  man  neue  Hypotheken  auf  das 
Anstaltsgrundstück,  Reinickendorferstrasse  No.  36a,  aufnehmen 
müssen,  das  nun  mit  165000  M.  belastet  ist.  Den  über  zwei  Jahre 
sich  erstreckenden  Berichten  war  im  Einzelnen  Folgendes  zu  ent- 
nehmen. Im  Jahre  1891  sind  972  Mann  an  73474  Tagen  be- 
herbergt worden;  im  Jahre  1892  ist  diese  Zahl  auf  766  in 
64000  Tagen  zurückgegangen,  weil  man  neuerdings,  um  Erspa- 
rungen zu  erzielen,  die  Anstalt  nicht  mehr  voll  belegt  und  ausser- 
dem nur  möglichst  arbeitskräftige  Leute  aufnimmt.  Im  Jahre 
1891  hatte  man  964  abgewiesen,  1892  ist  die  Zahl  der  Abgewie- 
senen noch  weit  grösser  gewesen;  insgesammt  sind  die  vorhan- 
denen Betten  im  letzten  Jahre  in  34900  Fällen  nicht  benutzt 
worden.  Die  Industrie  der  Kolonie  erstreckte  sich  im  Wesent- 
lichen auf  Strohwaaren,  Kistenfabrikation  und  Tischlerei,  Bürsten- 
binderei, Rohrflechterei  und  Buchbinderei.  Aus  den  Betrieben 
wurden  in  beiden  Jahren  205000  M.  eingenommen,  während  die 
direkten  Ausgaben  der  Betriebe  sich  auf  158000  M.  beliefen. 
Dazu  treten  freilich  noch  die  sehr  erheblichen  Generalunkosten, 
die  Unterhaltung  des  Fuhrwerks  u.  dgl.,  sowie  die  Kosten  für 
Bauten,  die  früher  aus  dem  Gewinn  bestritten  werden  konnten, 
den  die  Kolonie  in  Höhe  von  146000  M.  durch  Grundstücks- 
spekulationen gemacht  und  der  inzwischen  vollständig  auf- 
gebraucht ist.  Die  Tegeler  Filiale  erforderte  im  Jahre  1891 
4467,  im  Jahre  1892  1723  M.  Zuschuss.  In  das  Jahr  1893  trat 
die  Kolonie  mit  einem  Vermögen  von  246  000  M.,  das  allerdings 
im  Grundstück  festliegt  und  keine  Zinsen  bringt.  Im  laufenden 
Jahre  hofft  man  den  Fehlbetrag,  der  1891  47000,  1892  32600  M. 
betrug,  auf  18000  M.  vermindern  zu  können.  Zur  Deckung  dieses 
Betrages  sucht  man  schon  jetzt  der  Kolonie  durch  Schenkungen 
neue  Einnahmen  zuzuführen. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


17,500  Seiten  Text, 


328 


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No.  27. 


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“7 


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Verlag  des  Bibliographischen  Instituts,  Leipzig. 

Ungefähr  10,000  Abbildungen,  Karten  und  Pläne. 


| in  Halbfranz 


gebunden 


| zu  je  10  Mk. 


LEX 


@arC  ^e^memne  ^erCctg,  gäerfiu  W.  41. 

5Recptg=  unb  ©taatgroiffenfdjaftlidje  S8erlagg=  unb  ©ortimenigbucpBanblung. 

*71  ithr(»rftt  Dr.,  9?egicrunggratp,  sJ3orftet>er  ber  ©pejidfommiffion  SPofen, 
ll^  g)je  gicittengütergefepe  in  SJJreupett  ootn  27.  3uni  1890  unb 
7.  3uli  1891.  S^eytauöq.  mit  Stnmerfunaen.  ^art  DJ?.  1,  poftfrei  SD?.  1,05. 

itmi  Dbrr=ipräfibtaivatb,  Die  DJegeorbnung  für  bie  Drouin? 

_ eA*  Itpu v\j  guidjfen  uom  11.  3uli  1891.  (Erläutert.  Äart.  SD?.  1,60, 
poftfrei  DJ?.  1,70.  

von  iliaiimlmm-ilirtliHfiiii, 

SDurdpuprung  ber  llnfdlrerfidening  bett>eilicjten  ©taatg-  unb  ^ommund-- 
bepörben.  Spreig  5)?.  4,  geb.  31?.  5,  poftfrei  je  SD?.  0,30  mehr. 

itiTU  4Hrmifilit!‘Hl  5te  ncurn  DreiiiW*«  Dentmltungsgcfcpe. 

n jiummiuj»),  syjacjj  tem  S£obe  beS  ©erfafferg  uuigearbeiiet,  fortgefiiprt 

unb  perauggegeben  neu  ©tubt,  Dberpräfibent  ber  ©rooun  SBeftfden, 
unb  ©rauubepreng,  UnterftaatSiefretar  im  SD?inifterium  beg  3«nern. 
©anb  I— IV.  ©eb.  je  SD?.  8,  poftfrei  SD?.  8,30. 

ÜplilKt  Dl-’  ^mt§ritt!ter<  $Jrfufitfdjc  Dcreins-  unb  ^frfnntmUings- 
A.itUUi»,  unter  bejonberer  i^erücf fic^tigung  beö  ©efepeg  oom  11.  SDiärg 

1850.  SPreig  SD?.  1,  poftfrei  SD?.  1,10. 

^ntfrhpfhmrnpn  Ö£ö  föntgl.  (Obcruenualtungsgcndjts.  Jperaugg. 
Vi/IU)U)t  luunrgi  fl  ucn  3epeng(  ©endgpräfibent  beg  S'ontgl.  Dberoer= 

wdtungggericptg,  Stöirfl.  ©epeimerDberregierunggrdp,  pon  SD?eperen, 
©endgpräfibent  beg  Sonigl.  Dberoermdtungggericptg,  SBirfl.  ©epeimer 
Dberregierunggrdp,  unb  griebriepg,  Äonigl.  Dbcruenndtnngggericptg= 
rdp.  ©b.  I — X XIII  je  SD?.  7,  geb.  SO?.  8,  poftfrei  je  SD?.  0,30  tnepr. 
$janpt-iKrgi|‘tfr  gu  ©b.  1 — XX  SD?.  7,  geb.  SD?.  8,  poftfrei  je  SD?.  0,30  tnepr. 

iTmftillir  ®eb-  Öber^inanjrdp,  §ns  Dreufjifdjc  ©inkommenjlfuergefeif 
UljUlUI,  x>oni  24.  3uni  1891  u.  bie  Slugfüprunggamoeifung  oom  ö.DIug.  1891 
mit  (Erläuterungen  unb  einer  (Einleitung:  3)ie  gefcpicptlicpe  (Entmicfelung 
beg  ©mip.  ©teuerfpftemg  unb  jpjtematijcpe  SDarftellung  ber  (Sinfommen* 
jteuer.  Braute  oerm.  unb  oerbeff.  Ülufl.  ©eb.  SD?.  14,  poftfrei  SD?.  14,50. 

JflliltitTll  =öber=j$inangratp,  Das  Dreufjifdjc  (fBenjerbeltruergerei?  nom 
24.  3uni  189t  unb  bie  Dlugfübrunggantueijungen  mit  (Erläute= 
rungen  unb  einer  (Einleitung:  SDie  gefd)icptlicpe  (Sntioitfelung  ber  getoerb» 
liepen  ©efteuerung  in  Spreupeii  unb  fpftematifepe  SDarfteltung  ber 
©eroerbefteuer.  ©eb.  SD?.  12,  poftfrei  SD?.  12,50. 

flWmpriihtTnlVtt  Sanbratp,  ®«s  pegjerfdjt  unb  öie  pegener- 

uuejgnu|e  u,  in  Drcnpcn  nebft  (Ergänzung  gpeft 

2 ©be.  SD?.  18,50,  geb.  SD?.  21,  poftfrei  je  SD?.  0,50  mepr. 

IfinlhMT  ©i-p  Ober>S?eg.=Diatb,  Die  Dreüfijdje  gnnbgeiufinbroröuuttg  für 
A) tu o «- 1)  t jjjp  |'tfgflt  0|Hiti)£n  |Irtuitn?rn  ber  ponnrd)ie  oom  3.  3di  1891. 

(Erläutert.  ©eb’.  SD?.  6,  poftfrei  SD?.  6,30. 

Ifiprrflirth  ©taatgminifter,  unb  $,  ftüll,  ®ep.  Dber=9?egierunggd)?atp, 
c“  **-  ffomnutmrlabgitbettgefep.  Btoeite  Perm.  Slufl.  ©eb.  DJ?.  5, 

poftfrei  SD?.  5,20. 


PflljHunt, 


4?.,  Diegierunggratp , Sie 
DJ?.  2,40,  poftfrei  DJ?.  2,50. 


$treuf?ifdj£n  Jlrntengutsgrfdje. 


Hog9f 


Cber«SRegierunggratp,  ^ie  neueren  ffiefepe  nuf  beut  ffiebiete  bcs 
» ^reup.  IfolltöfdjnlUJefeuö.  DJ?.  5,  geb.  D)?.  6,  poftir.  je  SD?.  0 30  mepr. 


iHtilllflmt  ©ebeitner  SJtegierunggratp,  unb  Dr.  |tt.  für|i,  ©epeimer 

(y»iui)rnni<  sgergratp,  §aö  Keidjsgcfetj  betreffenb  bie  (Öeinerbegeridjte. 
©om  29.  3uh  1891.  ©eb.  SD?.  9,  poftfrei  SD?.  9,30. 


SJuliu^  ^ittenfdö,  Berlin  W. 

Bmdit 

iifier  bte 

Irmcinbruenunltunci  kl  Stobt  lin 

in  öcn  1861—76. 

I.  Slpeil  4 SKI.  II.  Speil  6 SKI.  III.  Sfjeil  5 SKI 
gebunben  in  Seinmanb. 

Bericht 

über  bie 

Ifinfinbcoeruinttuug  kt  Jitabt  gcrlt« 

in  t)fn  galjrcn  1877—81. 

I.  big  III.  Speil  je  5 SD?f. 
gebunben  in  Seintuanb. 

Beriet 

über  bie 

Ifirinbromunltung  btr  gtnbt  gcrlin 

in  iicit  ^nljmi  1882 — 88. 

I./II.  Speil  je  5 SKI.,  III.  Speil  4 SKI. 
gebunben  in  Seimnanb. 

Carl  grijmaniis  Verlag,  Berlin  W. 

SD?auerftraße  44. 

JJolksniirtliftfjnfÜirpes  t’i'fdiml] 


jum 


Bearbeitet 


0011 

f). 

Diegierunglratf). 

8°.  VIII  unb  96  ©eiten. 

SPreig  larton.  SD?f.  1,  poftfrei  5D?f.  1,10. 

Sd^riften  ber  CentraljMe  für 
21rbeiter=lDol|lfal]rtseinnd?tungen. 

97r.  1. 

SiE|rttit|ffnni0  tet  DJotiiunp. 

SD?it  208  Stbbilbungen  im  £ejt. 

8°.  VI  unb  370  ©eiten. 

SPreig  gepeftet  5D?f.  8.—,  poftfrei  DJ?f.  8.30. 
„ gebunben  SP?f.  9. — , poftfrei  SD?f.  9.30. 

97r.  2. 

Die  iu)edunn|Jige  Dermenbung 

ber 

Sonntags-  nttit  dfeierseit. 

S°.  IV  unb  94  ©eiten. 

SPreig  gepeftet  SD?t.  2.—,  poftfrei  5D?I.  2.10. 

Carl  {)njmami?  Hering  in  Hrrliit  W., 

5D?auerfirape  44. 


Carl  Heymanns  Verlag  in  Berlin  \V.;  Mauerstrasse  44.  — Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld  in  Berlin  W. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  io.  April  1893. 


Nummer  28. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 


Herausgeber: 


Erscheint  jeden  Montag. 

Zu  beziehen 

durch  alle  Buchhandlungen,  Spediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Anzeigenpreis  für  die  dreigespaltene  Colonelzeile 
40  Pfennig. 


INHALT. 

Die  Erhebungen  (Bd.  II  u.  III) 
und  Verhandlungen  des 
Vereins  für  Sozialpolitik 
über  die  Verhältnisse  der 
ländlichen  Arbeiter.  Von 
Dr.  Max  Quarck. 

Soziale  Wirtschaftspolitik  und 
Wirtlischaftsstatistik : 

Zur  gesetzlichen  Regelung  des 
Hausierhandels. 

Statistik  der  weiblichen  und  jugend- 
lichen Arbeiter  im  Königreich 
Württemberg. 

Katholische  Vereinsgründung  zur 
Verhinderung  der  Sachsen- 
gängerei. 

Die  Tabakarbeitergenossenschaft  in 
Hamburg. 

Arbeiterzustände : 

Lohnmodalitäten  im  sächsischen 
Vogtlande. 

Arbeitslosenstatistik . 

Politische  Arbeiterbewegung : 

Schweizerischer  Arbeiterbund. 

Sozialdemokratischer  Kongress  in 
Gent. 

Gewerkschaftliche  Arbeiterbe- 
wegung: 

Der  Ausgang  der  grossen  Arbeits- 
aussperrung in  der  Baumwoll- 
industrie von  Lancashire.  Von 
Prof.  Dr.  W.  Lotz. 

Strike  der  Heizer  und  Trimmer  in 
Hamburg. 

Strike  der  Brauereiarbeiter  in 
Mainz. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Erhebungen  (Bd.  II  und  III)  und  Verhand- 
lungen des  Vereins  für  Sozialpolitik  über  die 
Verhältnisse  der  ländlichen  Arbeiter. 

Während  der  Verhandlungen  des  Vereins  für  Sozial- 
politik, die  in  der  vorletzten  Nummer  dieser  Zeitschrift  kurz 
wiedergegeben  wurden,  sprach  ein  Referent  selbst  den 
Wunsch  aus,  dass  die  Diskussion  über  die  Landarbeiter- 
enquete des  Vereins  litterarisch  fortgesetzt  werden  möchte. 
Dieser  Wunsch  beweist  wohl,  dass  die  Verhandlungen  noch 
mehrfacher  Ergänzung  bedürfen  und  nach  verschiedenen 
Richtungen  unbefriedigt  Hessen.  Der  Anfang  einer  weiteren 
litterarischen  Erörterung  möge  deshalb  mit  nachfolgenden 


Zeilen  gemacht  werden,  die  eine  Besprechung  der  beiden 
letzten  Enquetebände  mit  einigen  kritischen  Randglossen 
zu  den  Verhandlungen  verbinden  wollen. 

Die  schriftliche  Unternehmerenquete  des  Vereins  über 
die  Verhältnisse  der  Landarbeiter  zeigt  jetzt,  wo  sie  in 
drei  umfangreichen  Bänden  abgeschlossen  vorliegt,  das 
Bild  einer  durchaus  widerspruchsvollen  Erhebung,  wie  sie  sich 
auf  Grund  der  hier  bereits  kritisirten  Methode  nicht  anders 
ergeben  konnte.  Nicht  einmal  über  diese  Methode  ist  man 
sich  im  Verlauf  der  Erhebung  einig  geblieben.  Während 
Thiel  S.  XII  seiner  Einleitung  zu  Band  I noch  die  „Dring- 
lichkeit, die  Arbeiter  selbst  zu  befragen“,  bestreitet,  berichtet 
Grossmann  S.  403,  Band  II,  dass  er  sich  mit  einem  „Führer 
der  Sozialdemokratie  in  Kiel“  in  Verbindung  gesetzt  habe, 
der  aus  jedem  Kreise  der  Provinz  einen  dem  Arbeiterstand 
angehörigen  Mann  zur  Beantwortung  des  Fragebogens 
nennen  wollte.  Der  eine  Bearbeiter  wollte  also  nachträg- 
lich dieselbe  Anhörung  der  Arbeiter  bewirken,  deren  Noth- 
wendigkeit  der  Miturheber  der  Erhebung  bestritten  hatte. 
Uebrigens  kam  auch  die  nachträgliche  Anhörung  nicht  zu 
Stande.  Thiel  stellt  in  seiner  Einleitung  noch  die  Auskunft 
des  Unternehmers  der  des  Arbeiters  gleich,  in  der  Land- 
wirtschaft herrsche  völlige  Interessengemeinschaft.  Der 
Bearbeiter  des  III.  Bandes,  Weber,  muss  dagegen  be- 
deutende „Interessengegensätze“  feststellen  und  wirft  damit 
die  ganze  Methodologie  Thiel  s über  den  Haufen.  Während 
ferner  Thiel  S.  XII  seiner  Einleitung  zu  Band  I den  schweren 
methodologischen  Fehler,  der  schon  früheren  Erhebungen 
des  Vereins  anhaftete,  dass  man  nämlich  die  Arbeitgeber 
durch  die  Fragestellung  zu  einem  ganz  unzulässigen  Gene- 
ralisiren  geradezu  anleitete,  wieder  in  Schutz  nahm,  gesteht 
Weber  S.  768,  Band  III  zu:  „Aus  einzelnen  Berichten  ge- 

winnt man  den  Eindruck  . . .,  dass  noch  konkretere  An- 
gaben gemacht  worden  wären,  wenn  die  Fragestellung  selbst 
den  Referenten  ausdrücklich  angewiesen  hätte,  über  die 
Verhältnisse  speziell  seines  Gutes  zu  berichten.“  Eine 
Hauptforderung  unserer  nach  Thiel  so  „voreiligen“  methodo- 
logischen Kritik  war  gewesen,  dass  man  die  Generalbericht- 
erstatter und  Bearbeiter  mehr  mit  der  persönlichen  Nach- 
prüfung der  Unternehmerberichte  hätte  betrauen  müssen; 
die  Richtigkeit  dieser  Forderung  wird  jetzt  zweifach  be- 
stätigt: Grossmann  als  Mitbearbeiter  des  II.  Bandes  ist  wirk- 
lich persönlich  in  die  Provinz  Sachsen  gereist,  um  dort  zu 
kontroliren,  aber  er  hat  freilich  nur  mit  den  Unternehmern 
konferirt;  und  Weber  sagt  ebenfalls  nachträglich,  dass  der 
„lokalen  Autopsie“  die  genauere  Beschreibung  der  Arbeiter- 
verhältnisse Vorbehalten  bleiben  müsse.  Mehr  Zugeständ- 
nisse an  unsere  methodologische  Kritik  kann  man  sich  nicht 
wünschen.  Nimmt  man  hinzu,  dass  in  den  Verhandlungen 
mehrfach  auf  Aerzte  und  Geistliche  als  Kontrolpersonen, 
deren  Heranziehung  nothwendig  gewesen  wäre,  hingewiesen 
wurde,  so  bedarf  der  kritische  Standpunkt  der  Erhebungs- 


Ein  Kongress  der  Arbeiter  der  deut- 
schen Nahrungsmittelindustrie. 

Generalversammlung  des  Deut- 
schen Metallarbeiter-  und  Tisch- 
lerverbandes. 

Englische  Strikes  und  Lockouts 
im  Jahre  1891. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Schutzbestimmungen  für  Ziegelei- 
arbeiter im  Deutschen  Reich. 

Die  Braunschweiger  Gemüsecon- 
servenfabriken  und  die  Sonntags- 
ruhe. 

Beschäftigung  der  weiblichen  und 
jugendlichen  Arbeiter  in  Gummi- 
fabriken. 

Arbeiterversicherung : 

Vermehrung  der  Zahl  der  nicht- 
ständigen Mitglieder  des  Reichs- 
versicherungsamts. 

Aus  den  Rechnungsergebnissen  der 
Knappschaftsberufsgenossen- 
schaft für  1892. 

Unfallhäufigkeit  an  verschiedenen 
Wochentagen. 

Unfallverhütungsvorschriften  für 
das  Baugewerbe. 

Zur  Statistik  der  Deutschen  Alters- 
und Invaliditätsversicherung. 

Schulwesen : 

Der  Geschichtsunterricht  als  Vor- 
bereitung zur  Theilnahme  am 
öffentlichen  Leben. 

Criminalität: 

Arbeitsverdienst  der  Gefängniss- 
arbeiter. 


330 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  28. 


methode  gegenüber  kaum  noch  einer  weiteren  Rechtferti- 
gung. 

Nun  hat  freilich  Kaerger  diese  Aussetzungen  trotzdem 
in  den  Verhandlungen  als  „Kleinigkeiten“  bezeichnet,  und 
Weber  hat  hinzugefügt:  „Wer  ist  denn  durch  unsere 

Enquete  korrumpirt  worden?“  Beide  Einwände  schätzen  aber 
u.  E.  die  Exaktheit  der  wissenschaftlichen  Methode  bei  sozialen 
Erhebungen  doch  etwas  zu  gering.  Sollte  nicht  jene  Exaktheit 
bei  jeder  wissenschaftlichen  Arbeit  Selbstzweck  sein,  ganz  ab- 
gesehen von  der  etwaigen  Wirkung  der  späteren  Ergebnisse? 
Und  sollte  nicht  ein  gewisser  Stolz  des  Vereins  für  Sozial- 
politik darin  bestehen,  maassgebende  Musterenqueten  zu 
veranstalten?  Es  befinden  sich  unter  den  Vereinsmitgliedern 
eine  ganze  Reihe  jüngerer  Gelehrter,  die  für  verfehlte 
Staatsenqueten  einerseits  und  einseitige  Arbeitererhebungen 
andererseits  schon  sehr  bittere  Worte  des  Tadels  gehabt 
haben:  sollten  sie  nicht  alle  wünschen,  dass  ihr  wissen- 
schaftlicher Verein  wenigstens  nachahmenswerthe  Erhe- 
bungen mache?  Das  Wort  Weber's  vom  „Korrumpiren“ 
aber  führt  zum  Abschluss  dieser  methodologischen  Be- 
merkungen. Wir  möchten  ihm  mit  der  umgekehrten  Frage 
antworten:  „Woher  wissen  wir.  dass  wir  mit  der  Enquete 
nicht  korrumpirt  sind?“  d.  h.  welches  Kontrolmittel  hat 
uns  das  Verfahren  des  Ve-reins  für  Sozialpolitik  an  die 
Hand  gegeben?  Gar  keines!  Es  ist  keine  Vergleichung  von 
Unternehmer-  und  Arbeiterauskünften  möglich,  es  hat  keine 
allgemeine  Kontrole  der  Einzelberichterstatter  durch  die 
Generalberichterstatter  oder  durch  die  Bearbeiter  stattge- 
funden, die  letzteren  haben  nur  eine  Anzahl  handgreiflicher 
Unrichtigkeiten  ausgemerzt,  die  Kontrole  durch  „persönliche 
Autopsie“  ist  einem  einzelnen  Kritiker  unmöglich  — unsere 
umgekehrte  Frage  hat  also  wohl  eine  Berechtigung.  Jede 
wissenschaftlich  richtige  Erhebungsmethode  trägt  eben  die 
Möglichkeit  ihrer  Kontrole  in  sich  selbst;  bei  dem  Fehlen 
dieser  Möglichkeit  ist  keine  wissenschaftlich  richtige  Methode 
vorhanden.  Es  ist  reiner  Zufall,  wenn  der  einzelne  Kritiker 
bei  diesem  Stand  der  Sache  materielle  Fehler  in  den  Er- 
hebungsergebnissen nachweisen  kann.  Band  II,  S.  566  ff. 
werden  einige  Verträge  mit  ländlichen  Arbeitern  der  Pro- 
vinz Sachsen  wörtlich  abgedruckt.  Ihre  Durchsicht  ergiebt, 
dass  eine  Reihe  der  für  den  Arbeiter  sehr  nachtheiligen 
Vertragseigenthümlichkeiten  in  den  Unternehmerberichten 
für  die  Provinz  Sachsen  entweder  nicht  erwähnt  oder  sogar 
positiv  abgeleugnet  worden  (vgl.  z.  B.  bezw.  der  Bestrafung 
ländlicher  Arbeiter  S.  600  und  580  u.  A.  m.).  Hier  lassen 
sich  also  materielle  Unrichtigkeiten  in  den  Enqueteergeb- 
nissen vereinzelt  nachweisen.  Darf  man  nun  von 
„Kleinigkeiten“  sprechen,  weil  der  Nachweis  nur  ver- 
einzelt gelingt  und  in  Masse  einfach  nicht  zu  führen 
ist?  Muss  man  nicht  vielmehr  umgekehrt,  nachdem  einzelne 
Nachweise  gelungen  sind,  trotzdem  die  Kontrole  im  Allge- 
meinen einfach  abgeschnitten  ist,  doppelt  bedenklich  wer- 
den? Sind  doch  auch  sonst  die  Auskünfte  des  Unter- 
nehmers in  einer  nicht  gerade  Vertrauen  erweckenden 
Form  an  den  Verein  gelangt.  Durch  die  Antworten  zieht 
sich  beispielsweise  ein  „blöder  Hass“,  um  mit  Weber  zu 
sprechen,  gegen  die  Aushaltung  der  vollen  Sommerschule 
für  die  Kinder  ländlicher  Arbeiter;  ein  Kenner  der  länd- 
lichen Schulverhältnisse  hat  aber  in  No.  11,  S.  91  der 
„Blätter  für  soziale  Praxis“  nachgewiesen,  wie  nachtheilig 
die  den  Unternehmern  zu  Liebe  beschränkte  ländliche 
Sommerschule  auf  die  Verhältnisse  der  Landarbeiter  wirkt. 
Ueber  die  rohe  Aeusserung  eines  Unternehmers  S.  61 1, 
Bd.  II  bezüglich  der  „humaneren“  Behandlung  der  Arbeiter 
in  neuerer  Zeit  („Sie  Schafskopf“  statt  „Du  Schafskopf") 
brach  die  Versammlung  des  Vereins  in  grosse  Heiterkeit 
aus;  vielleicht  findet  man  nachträglich  doch,  dass  der  Ab- 
druck solcher  „Scherze“  der  Schriften  eines  wissenschaft- 
lichen Vereins  nicht  gerade  würdig  ist;  sie  gehören  wohl 
eher  in  den  Mund  eines  Stump-Redners  auf  Volksversamm- 


lungen, und  wir  erinnern  uns  nicht,  dass  die  Kritiker  des 
Vereins  für  Sozialpolitik,  denen  ja  einmal  während  der 
Verhandlungen  Vorwürfe  wegen  der  von  ihnen  gewählten 
Form  gemacht  wurden,  auf  einen  solchen  Ton  herunter- 
gegangen wären.  Nach  alledem  war  es  nicht  glücklich, 
seitens  der  Vertheidiger  der  Enquete  an  das  Wort  „Cor- 
ruption“  zu  streifen.  Schien  doch  gerade  bei  ihnen  jede 
Empfindung  für  die  nicht  bloss  äusserlichen  Mängel  der 
ganzen  Vereinsarbeiten  über  die  Landarbeiterfrage  zu 
fehlen,  und  verlockte  doch  der  Ton  der  Unternehmeraus- 
künfte in  der  Enquete  einzelne  Theilnehmer  an  den  Ver- 
handlungen zu  Behauptungen,  die  noch  unstichhaltigere 
waren,  als  der  Text  der  Erhebungen.  Generalsekretär 
Bueck  und  Professor  Conrad  datirten  z.  B.  das  Vorkommen 
einer  von  Sonnenaufgang  bis  Sonnenuntergang  reichenden 
Arbeitszeit  lür  das  Gesinde  in  die  Zeit  vor  50  Jahren  zu- 
rück; aus  der  Schilderung  eines  schlesischen  Kreisphysikus 
konnte  ihnen  das  Vorhandensein  solcher  Arbeitszeiten  noch 
im  Jahre  1892  nachgewiesen  werden.  Geh.  Rath  Thiel  aus 
dem  preussischen  landwirtschaftlichen  Ministerium  ent- 
schuldigte den  Umstand,  dass  der  Wortlaut  von  Arbeits- 
verträgen nur  für  die  Provinz  Sachsen  mitgetheilt  worden 
sei,  damit,  dass  solche  schriftliche  Verträge  kaum  vorkämen ; 
nach  einem  soeben  erschienenen  Schriftchen  (Buchholz, 
Grossgrundbesitzer,  Bauer  und  Landarbeiter,  Berlin,  Iloff- 
schläger,  S.  37  ff.)  kommen  solche  Arbeitsverträge  mehrfach 
auch  ausserhalb  der  Provinz  Sachsen  vor.  Schliesslich 
sei  es  noch  gestattet,  dasjenige  genau  zu  konstatiren,  was 
mir  während  der  Verhandlung  irrtümlich  bestritten  wurde: 
das  völlige  Auseinandergehen  der  beiden  Hauptbearbeiter 
in  ihren  Schlussfolgerungen.  Auf  Grund  eines  und  des- 
selben Enquetematerials  schreiben 


Kaerger,  I.,  S.  216/217: 
„Von  wenigen  Ausnahmen  ab- 
gesehen ist  die  materielle 
Lage  der  ländlichen  Ar- 
beiter, welcher  Kategorie  sie 
auch  immer  angehören  mögen, 
in  ganz  Deutschland  eine 
gute  und  zeigt  seit  zwei  bis  drei 
Jahrzehnten  die  deutliche  Ten- 
denz, sich  stetig  zu  verbessern. 
Die  ländliche  Arbeiterfrage  kann 
also  nicht  in  der  Frage  be- 
stehen, durch  welche  Mittel  die 
wirtschaftliche  Lage  der  Ar- 
beiter gehoben  werden  könne.“ 


Weber,  III.,  S.  794/795: 

„Der  Arbeiterstand,  welchen 
der  moderne  landwirthschaft-  , 
liehe  Grossbetrieb  mit  seinem  . 
Bedarf  an  Saisonarbeitskräften 
schafft  . . . verdient  überhaupt 
den  Namen  eines  „Standes“ 
nicht,  denn  seine  Lebensbedin- 
gungen sind  in  allen  wesent- 
lichen Punkten  gleichartig 
denen  des  Proletariats  < 
überhaupt.“ 


Die  ostelbischen  Arbeiter,  welche  Weber  meint,  sind 
von  Kaerger  mit  in  sein  entgegengesetztes  Urtheil  einge- 
schlossen; Kaerger  hat  ja  im  halbamtlichen  Aufträge  die 
Sachsengängerei,  sowie  Land  und  Leute  im  Osten  persön- 
lich studirt;  man  sollte  es  also  wirklich  Niemandem  ver- 
denken, wenn  er  der  Enquete  des  Vereins  so  skeptisch 
wie  möglich  gegenübersteht,  nachdem  die  Bearbeiter  des- 
selben so  „unmögliche  Dinge“  geleistet  haben,  um  mit 
Knapp  zu  reden.  Das  ist  ja  richtig:  der  Weber’sche 
Schlussband  überragt  verhältnissmässig  die  beiden  übrigen 
an  Ernst  und  Sachkenntniss  um  mehr  als  eine  Haupteslänge. 
Er  gesteht  S.  4 zu,  von  der  Enquete  „dürfe  nicht  in  erster 
Linie  die  Feststellung  der  Lage,  in  welcher  sich  die  Land- 
arbeiter zur  Zeit  thatsächlich  objektiv  befinden,  erwartet 
werden.“  Dafür  diene  sie  zur  Feststellung  der  Entwick- 
lungstendenz der  ländlichen  Arbeitsverhältnisse.  Wir 
meinen,  Weber  ist  da  zu  bescheiden  mit  Bezug  auf  seine 
eigene  Person.  Seinem  persönlichen  Wissen  ist  es  ge- 
lungen, mit  Bezug  auf  Ostelbien  selbst  an  der  Hand  des 
mangelhaften  Enquetematerials  jene  Entwicklungstendenz 
zur  Proletarisirung  festzustellen;  in  allen  übrigen  Berichts- 
bezirken, für  welche  das  persönliche  Wissen  der  Bearbeiter 
fehlte,  hat  auch  keine  Entwicklungstendenz  festgestellt  wer- 


No.  28. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


331 


den  können,  und  das  Ergebniss  der  Vereinsarbeiten  ist 
dort  nach  allen  Richtungen  fast  gleich  Null. 

Demgemäss  konzentrirten  sich  auch  die  mündlichen 
Verhandlungen  fast  ausschliesslich  auf  die  ostelbischen  land- 
wirtschaftlichen Verhältnisse.  Die  Gefahren  der  dortigen 
Entwickelung  wurden  stark  betont.  Aber  fast  ausschliesslich 
vom  nationaldeutschen,  nicht  vom  sozialpolitischen  Stand- 
punkt. Das  Deutschthum,  der  Bestand  des  Reichs  und  der 
Glanz  der  preussischen  Krone  seien  bedroht,  wenn  der  kapi- 
talistische Latifundienbetrieb  den  proletarischen  polnischen 
Arbeiter  so  weiter  bevorzugen  dürfe  vor  dem  widerstands- 
fähigeren und  theureren  deutschen.*)  Davon,  dass  der 
Standard  of  life  der  gesammten  deutschen  Landarbeiter 
durch  den  Polenimport,  der  bis  weit  nach  Westdeutschland 
reicht,  tief  gedrückt  wird,  sprach  kaum  Jemand.  Bekannt- 
lich importiren  ja  auch  die  „nationalen“  westfälischen 
Zechenbesitzer  massenhaft  Polen,  die  bayerischen  Ziegelei- 
unternehmer Italiener  u.  s.  w.  Da  liegt  doch  eigentlich  die 
Frage  näher,  ob  sich  überhaupt  in  der  deutschen  Arbeiter- 
schaft ein  Nationalitätsgefühl  erhalten  kann,  nachdem  es 
sämmtliche  Stützen  von  Thron  und  Altar  derart  hinter 
ihren  Geldbeutel  setzen.  Und  vernichtet  so  die  wirtschaft- 
liche Entwickelung  das  Nationalitätsgefühl  bei  Unternehmern 
wie  Arbeitern  — kann  da  ein  Eingriff  der  „Staatsraison“ 
noch  viel  nützen?  Gegen  den  Import  von  Chinesen  und 
Negern  protestirte  ja  die  Vereinsversammlung  sehr  ener- 
gisch; man  kann  aber  nicht  sagen,  dass  das  Polenverbot 
von  allen  Rednern  als  einstimmige  Forderung  aufgestellt 
worden  wäre.  Deshalb  wäre  nichts  natürlicher  gewesen, 
als  der  Schluss,  dass  man  nun  wenigstens  den  Widerstand 
der  Arbeiter  gegen  die  Poleninvasion  durch  Gewährung 
des  Coalitionsrechtes  und  sonstige  Schutzgesetze  stärke. 
Aber  nur  ein  sozialdemokratischer  Prediger  in  der  Wüste 
erklärte  sich  unbedingt  für  das  Coalitionsrecht  der  länd- 
lichen Arbeiter,  und  Weber  kam  demselben  am  weitesten 
entgegen;  die  übrigen  Redner  verklausulirten  ihr  Urtheil  so, 
dass  man  ihren  Widerwillen  merkte.  Wo  ist  da  Aussicht 
vorhanden,  dass  die  Poleninvasion  auch  nur  von  nationalem 
Standpunkt  kräftig  zurückgewiesen  werde,  geschweige  denn 
vom  sozialpolitischen?  Vielleicht  schimmert  die  Erkenntniss 
durch,  dass  die  Polenwelle  nur  eine  kleine  Theilbewegung 
in  jenem  unaufhaltbaren  Strom  ist,  welcher  die  Völker  der 
Erde  von  Osten  nach  Westen  zu  immer  höherer  Kultur 
führt  und  gegen  die  aus  nationalen  Gründen  anzukämpfen 
vergeblich  ist,  gerade  weil  sie  sozialpolitisch  schliesslich 
doch  die  Berührung  zurückgebliebener  Menschenmassen  mit 
dem  Niveau  einer  westlicheren  Kultur  vermittelt? 

Doch  nein  — so  kosmopolitisch  sind  die  Verhandlungen 
des  Vereins  für  Sozialpolitik  nicht  ausgeklungen.  Hier  trat 
die  innere  Kolonisation  mit  Kleinbauern  helfend  ein.  Sering 
und  Weber  sehen  in  den  bisherigen  Erfolgen  dieser  Koloni- 
sation, die  sich  auf  dem  preussischen  Rentengüter-  und 
Ansiedelungsgesetz  aufbaut,  einen  Fingerzeig  dahin,  dass 
die  individualistische  Entwickelung  in  der  Landwirthschaft 
die  Zukunft  für  sich  hat,  nicht  die  kollektivistische,  auf  den 
Grossbetrieb  hinauslaufende:  in  den  sechs  ostpreussischen 
Provinzen  frisst  nach  ihrer  Meinung  der  Grossgrundbesitzer 
nicht  mehr  der  Bauer  auf,  sondern  der  sich  zum  Klein- 
bauer aufschwingende  Landarbeiter  den  Grossgrundbesitzer 
— die  Geschichte  zahlreicher  Güterparzellirungen  beweise 
dies.  Und  auch  die  wirtschaftliche  Zukunft  sei  den  Klein- 
gütern sicher:  denn  der  Mangel  an  ausreichendem  Betriebs- 
kapital lasse  eine  intensive  Bewirtschaftung  der  Grossgüter 
in  ihrer  vollen  Ausdehnung  nicht  mehr  zu.  Die  augen- 
blickliche Lage  giebt  diesen  Argumenten  Recht.  Ob  aber 
diese  Lage  nicht  sehr  wesentliche  Veränderungen  erfahren 
wird?  Das  Grosskapital  findet  heute  in  Industrie-  und 


.*)  Inzwischen  wird  übrigens  die  Allgemeinheit  dieser  Er- 
scheinung in  der  ostdeutschen  Presse  bestritten. 


Staatspapieren  kaum  mehr  die  gewünschte  Verzinsung ; ob 
es  sich  nicht  über  kurz  oder  lang  dem  landwirtschaftlichen 
Grossbetriebe  zuwendet  und  binnen  kurzem  die  Lücke 
ausfüllt,  die  jetzt  noch  für  die  Intensität  der  Güter-Bewirth- 
schaftung  im  Grossen  vorhanden  ist?  Ob  diesem  gewaltigen 
Druck  dann  noch  irgendwelche  Klein-  und  Mittelgüter 
widerstehen  können?  Für  diese  besteht  selbst  nach  Sering 
die  eine  grosse  Gefahr:  die  Ueberschuldung,  der  auf  der 
anderen  Seite  ein  stetig  wachsendes  Bedürfniss  nach  Er- 
höhung des  Kredits  gegenübersteht.  In  diesem  Dilemma 
kam  man  zur  Forderung  einer  Verschuldungsbeschränkung 
und  des  Anerberechtes,  gegen  die  sich  freilich  der  bei  den 
Verhandlungen  anwesende  Typus  eines  kleinbürgerlichen 
Bauern,  Wisser,  ablehend  verhielt.  Kurz  — beim  Mangel  je- 
der sicheren  und  allgemein-giltigen  Ermittelung  über  die  kapi- 
talistische und  betriebstechnische  Seite  dieser  Fragen 
möchten  wir  vorläufig  zu  demselben  Non  liquet  kommen, 
das  wir  der  Landarbeiterenquete  gegenüber  ausgesprochen 
haben.  Wir  schwören  auf  kein  Akkumulationsgesetz  der 
Marx’schen  Lehre,  zumal  abgewartet  werden  muss,  ob  der 
dritte,  noch  ausstehende  Band  des  „Kapitals“  überhaupt 
das  Gesetz  der  Kapitalanhäufung  auch  für  die  Landwirth- 
schaft proklamirt.  Ebensowenig  aber  vermag  die  kurze 
Erfahrung  mit  einigen  Güterparzellirungen  in  den  ost- 
preussischen Provinzen  bereits  eine  grundsätzliche  Bedeu- 
tung für  die  ökonomische  Entwickelung  auf  agrarischem 
Gebiete  zu  beanspruchen.  Vollends  der  Zusammenhang 
mit  der  Landarbeiterfrage  ist  vorläufig  ein  sehr  loser;  sagte 
doch  Weber  in  der  Debatte  ganz  richtig:  „Einstweilen  hat 
die  innere  Kolonisation  an  den  Arbeiterverhältnissen  nichts 
geändert;  sie  hat  dieselben  übernommen,  wie  sie  lagen.“ 

Es  ist  eben  kein  Zufall,  dass  Derjenige,  welcher  gern 
auf  den  Grund  der  Dinge  blicken  möchte,  von  den  Vor- 
arbeiten und  Verhandlungen  des  Vereins  für  Sozialpolitik 
nicht  befriedigt  sein  kann.  Ueber  die  Vorarbeiten  soll  hier 
kein  Wort  mehr  verloren  werden.  Aber  auch  bei  den  Ver- 
handlungen äusserte  sich  eine  merkwürdige  Scheu  der 
besser  orientirten  Mitglider  rückhaltlos  zu  urtheilen.  Ver- 
treter der  ländlichen  Arbeiter  hatte  der  Vereinsausschuss 
gar  nicht  heranzuziehen  versucht.  Statt  dessen  sprachen 
zwei  ausländische  Gelehrte  über  ausländische  Landarbeiter- 
verhältnisse, deren  Kenntniss  im  Uebrigen  gewiss  ausseror- 
dentlich schätzenswerth  gewesen  wäre,  deren  Mittheilungen 
in  diesem  Falle  aber  hauptsächlich  zur  Verdrängung  wichti- 
gerer Erörterungen  beitragen  mussten.  Auch  in  nächster 
Zukunft  will  die  Leitung  des  Vereins  für  Sozialpolitik  zur 
Aufklärung  der  Landarbeiterfrage  nichts  mehr  beitragen; 
Detailstudien  über  die  sozialen  Verhältnisse  auf  dem  Lande 
verwies  sie  an  die  private  Forschung.  Uns  will  deshalb 
das  Bild  der  Arbeiten  des  Vereins  über  die  Landarbeiter- 
frage weit  weniger  harmonisch  und  abgerundet  erscheinen, 
als  es  der  Vorsitzende  in  seinem  Schlussresume  darstellte. 
Aehnlich  wie  bei  den  letzten  Verhandlungen  über  Strikes 
und  Gewerkvereine  ist  auch  diesmal  die  Hauptsache  in  der 
Schwebe  geblieben. 

Frankfurt  a.  Main.  Max  Quarck. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 


Zur  gesetzlichen  Regelung  des  Hausirhandels.  Dem 

Bundesrath  liegt  gegenwärtig  nach  Mittheilungen  von 
Organen  der  Regierung  eine  Novelle  zur  Gewerbeordnung 
vor,  welche  den  Gewerbebetrieb  im  Umherziehen  betrifft. 
In  dieser  Angelegenheit  waren  schon  längere  Zeit  hindurch 
von  den  zuständigen  Reichsbehörden  Erhebungen  veran- 
staltet, als  im  Anfang  November  v.  J.  Bayern  beim  Bundes- 


332 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  28. 


rathe  den  Antrag  stellte,  über  einen  Gesetzentwurf  von 
13  Artikeln  betreffend  die  Aenderung  der  Gewerbeordnung 
Beschluss  zu  fassen.  Der  Entwurf  wurde  in  Berathung  ge- 
zogen und  hat  seitdem  verschiedentliche  Erörterungen  er- 
fahren. Man  ist  im  allgemeinen  einig  darin,  dass  dem  sess- 
haften Kleingewerbe  ein  Schutz  gegen  die  Konkurrenz  des 
Hausirhandels  gewährt  werden  muss,  jedoch  sollen  auch 
die  berechtigten  Interessen  des  letzteren  sowie  der  Handels- 
reisenden nicht  geschädigt  werden.  Es  ist  sehr  schwierig, 
hier  die  richtige  Grenze  zu  ziehen  und  gesetzliche  Be- 
stimmungen zu  treffen,  die  beiden  Zielen  gerecht  werden. 
Die  Verhandlungen  dürften  in  nächster  Zeit  noch  nicht  zum 
Abschluss  gebracht  werden  können.  Bei  dem  Stand  der 
Arbeiten  des  Reichstages  ist  es  nicht  wahrscheinlich,  dass 
diesem  eine  Novelle  über  den  Hausirhandel  noch  in  der 
laufenden  Tagung  zugestellt  werden  wird. 


Statistik  der  weiblichen  und  jugendlichen  Arbeiter  im 
Königreich  Württemberg.  Auch  in  Württemberg  soll  jetzt 
wie  in  Baden  alljährlich  nach  sächsischem  Muster  eine  Zäh- 
lung der  in  Fabriken  beschäftigten  Arbeiter  veranstaltet 
werden;  leider  will  man  insofern  unvollständig  verfahren, 
als  die  erwachsenen  männlichen  Arbeiter  nicht  mitgezählt 
werden  sollen,  eine  Auslassung,  die  kaum  zu  verstehen  ist, 
wenn  man  weiss,  wie  wichtig  die  fortlaufende  Kontrole  et- 
waiger Verschiebungen  zwischen  den  verschiedenen  Ar- 
beiterkategorien ist.  In  den  soeben  erschienenen  Jahres- 
berichten der  württembergischen  Gewerbeinspektoren  (Bei- 
lage zu  No.  14  des  „Gewerbeblattes  aus  Württemberg“  vom 
2.  April  1893,  Stuttgart)  für  1892  findet  sich  das  erste  Er- 
gebniss  dieser  Erhebungen  wiedergegeben.  Danach  betrug 
für  das  ganze  Königreich  Württemberg  (die  beiden  getrenn- 
ten Tabellen  der  beiden  Inspektionsbezirke  sind  hier  zu- 
sammengezogen) die  Anzahl  der 


Fabriken  etc., 

Arbeiterinnen 

iunse  Leute  von 

Kinder  unter 

jugendliche  Arbeiter 

in 

der  Industriegruppe 

in  welchen  beschäftigt 
werden 

über  16  Jahre 

14- 

-16  Jahren 

14  Jahren 

zusammen 

Arbeiterinnen  1 jugendl. 

16—21 

über  21 

ZU- 

ZU- 

ZU- 

ZU- 

über  16  Jahr 

Arbeiter 

Jahre 

Jahre 

s am  men 

m. 

W. 

sammen 

m. 

W. 

sammen 

m. 

W. 

sammen 

III. 

Bergbau,  Hütten-  und 
Salinenwesen,  Torf- 

• 

gräberei  

4 

7 

7 

66 

73 

97 

4 

101 

— 

— 

— 

97 

4 

101 

IV. 

Industrie  der  Steine  und 
Erden  

45 

98 

88 

274 

362 

441 

42 

483 

6 

6 

447 

42 

489 

V. 

Metallbearbeitung  . . 

144 

209 

801 

958 

1 759 

1 160 

397 

1 557 

20 

6 

26 

1 180 

403 

1 583 

VI. 

Maschinen,  Werkzeuge, 
Instrumente,  Apparate 

37 

220 

383 

389 

772 

1 374 

127 

1 501 

16 

3 

19 

1 290 

120 

1 410 

VII. 

Chemische  Industrie  . 

27 

21 

279 

288 

567 

80 

111 

191 

— 

3 

3 

80 

1 14 

194 

VIII. 

F orstwirthschaftliche 
Nebenprodukte,  Leucht- 
stoffe, Fette,  Oele  und 
Firnisse 

7 

7 

30 

59 

89 

5 

13 

18 

5 

13 

18 

IX. 

Textilindustrie  . . . 

318 

271 

6 937 

8 179 

15  116 

1 125 

2 799 

3 924 

31 

65 

96 

1 156 

2 864 

4 020 

X.  Papier  und  Leder  . . 

96 

92 

1 003 

1 500 

2 503 

199 

368 

567 

6 

3 

9 

205 

371 

576 

XI. 

Industrie  derPIolz-  und 
Schnitzstoffe  .... 

63 

133 

161 

364 

525 

344 

103 

447 

30 

6 

36 

474 

109 

583 

XII. 

Nahrungs-  und  Genuss- 
mittel   

82 

90 

1 008 

1 574 

2 582 

261 

493 

754 

3 

8 

11 

264 

501 

765 

XIII. 

Bekleidung  und  Reini- 
gung   

103 

86 

1 023 

1 431 

2 454 

179 

364 

543 

6 

2 

8 

185 

366 

551 

XIV. 

Polygraphische  Ge- 
werbe   

69 

86 

332 

448 

780 

280 

52 

432 

11 

1 

12 

291 

53 

344 

— 

Sonstige  Industrie- 
zweige   

3 

5 

4 

33 

37 

7 

5 

12 

1 



1 

8 

5 

13 

1 008 

1 325 

12  156 

15  563 

27  719 

5 552 

4 878 

10  430 

130 

97 

227 

| 5 682 

4 975 

10  657 

Aehnlich,  wie  in  Baden,  ist  auch  für  Württemberg  in 
den  amtlichen  Berichten  die  Angabe  des  Zeitpunktes  leider 
unterlassen,  an  welchem  im  Jahre  1892  obige  Ziffern  durch 
die  Verwaltungsbehörden  (Oberämter)  festgestellt  wurden. 
Offenbar  hegen  materiell  die  Verhältnisse  in  Württemberg 
ganz  ähnlich,  wie  in  Baden.  Denn  es  betrug  nach  obigem 
und  dem  badischen  Bericht  für  1892  die  Gesammtzahl  der 

in  Württemberg  Baden 

Kinder 227  593 

jugendlichen  Arbeiter  . . 10  430  10  887 

erwachsenen  Arbeiterinnen  . 27  719  35  589 

Württemberg  würde  danach  ebenfalls  über  100000  er- 
wachsene männliche  Arbeiter  haben.  Die  Kinderaus- 
nutzung scheint  infolge  der  neuen  Schutzbestimmungen  in 
Baden  weit  rascher  abgenommen  zu  haben,  als  in  Württem- 
berg. Hier  betrug  die  Zahl  der  industriell  beschäftigten 
Kinder  schon  1891  nur  301  Köpfe,  in  Baden  dagegen  2356; 
in  Württemberg  sank  also  die  Ziffer  nur  um  I/3,  in  Baden 
dagegen  um  beinahe  */5.  Die  Reihenfolge  der  Industrien, 
welche  weibliche,  jugendliche  und  kindliche  Kräfte  aus- 
nutzen, ist  in  Württemberg  genau  die  gleiche  wie  in  Baden. 
Aber  wie  gesagt:  ehe  Württemberg  nicht  auch  die  Ziffern 
der  männlichen  erwachsenen  Arbeiter  erhebt,  werden  sich 
sozialpolitisch  werthvolle  Schlüsse  aus  der  neuen,  sonst  so 
verdienstlichen  Statistik  nicht  ziehen  lassen 

Katholische  Vereiiisgründung  zur  Verhinderung  der 
Sachsengängerei.  Zur  Bekämpfung  der  Sachsengän- 
gerei der  polnischen  Arbeiter  ist  vor  Kurzem  auf  Anre- 


gung und  unter  dem  Protektorat  des  Erzbischofs  von  Sta- 
blewski für  die  Diözese  Gnesen-Posen  eine  Bruderschaft 
des  „heiligen  Isidor“  ins  Leben  gerufen.  Sie  will  Arbeiter 
und  Arbeiterinnen  durch  Verschaffung  von  entsprechen- 
dem Einkommen  so  viel  wie  möglich  in  der  Heimaths- 
Diözese  zurückhalten  und,  falls  jene  doch  wegziehen,  sie 
im  engen  Zusammenhänge  mit  der  Kirche  erhalten.  Mit- 
glied ist  jeder  Arbeiter  und  Arbeiterin,  die  für  die  Sommer- 
monate ausserhalb  der  Heimath  auf  Arbeit  gehen.  Inwie- 
weit durch  diese  Bruderschaft  die  konfessionellen  Interessen 
geschützt  werden  können,  haben  wir  nicht  zu  beurtheilen, 
sicherlich  wird  es  aber  der  Bruderschaft  des  Heiligen 
Isidor  an  den  Mitteln  fehlen,  die  ununterbrochen  wirkenden 
sozialen  Ursachen  der  sich  jährlich  wiederholenden  sozialen 
Wanderungen  nach  dem  Westen  zu  verhindern.  Der  in 
Posen  reich  begüterte  katholische  Klerus,  unter  dessen  Pa- 
tronanz die  Bewegung  steht,  könnte  freilich  auf  seinen 
Gütern  für  ein  entsprechendes  Einkommen  der  wegen  ihres 
unzureichenden  Einkommens  zur  Sachsengängerei  Gezwun- 
genen sorgen  und  auf  diese  Weise  zugleich  auch  die  übrigen 
Unternehmer  beeinflussen.  Leider  erfährt  man  nicht,  ob 
die  Bruderschaft  des  Heiligen  Isidor  in  dieser  Weise  in 
ihren  Bestrebungen  gefördert  werden  soll. 

Die  Tabakarbeiter  - Genossenschaft  in  Hamburg-  wurde 

in  Folge  der  grossen  Tabakarbeiteraussperrung  vom  Jahre 
1890  ins  Leben  gerufen.  Ihr  Schicksal  unterscheidet  sich 
überaus  günstig  von  ähnlichen  Unternehmungen  gleicher 
Art.  Das  offizielle  Datum  der  Gründung  der  Genossen- 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


333 


No.  28. 


Schaft  deren  auch  in  Raten  zahlbare  Geschäftsantheile  auf 
25  M.  lauten,  ist  der  18.  März  1891.  Beim  Landgericht  an- 
gemeldet waren  am  Schlüsse  des  Jahres  1891  1317  Mit- 

glieder, welche  laut  § 61  des  Statuts  je  für  100  M.  haften, 
so  dass  demnach  die  Gesammthöhe  der  Haftsumme  13 1 700  M. 
beträgt.  Mit  der  Fabrikation  von  Cigarren  wurde  im  Monat 
Mai  begonnen.  Die  Zahl  der  in  der  Genossenschafts-Fabrik 
beschäftigten  Mitglieder  ist  ständig  gestiegen;  Ende  1891 
waren  dies  157  Personen,  und  zwar  96  Cigarrenarbeiter, 
37  Zurichter,  14  Sortirer,  1 Beldeber,  1 Fertigmacher, 

1 Hausknecht,  3 Meister,  1 Tischler,  1 Buchhalter  und 

2 Vorstandsmitglieder.  Der  Verkauf  der  Genossenschafts- 
Cigarren  wurde  am  1.  Juli  eröffnet;  der  Absatz  steigerte 
sich  von  Monat  zu  Monat;  die  Genossenschaft  hatte  Ende 
1891  ca.  80  Verkaufsstellen  in  Hamburg  und  Umgegend. 
Der  Absatz  nach  dem  Inlande  war  zu  jener  Zeit  nicht  be- 
deutend. An  Cigarren  wurden  im  ersten  Geschäftsjahr  ins- 
gesammt  angefertigt  3463521,  verkauft  2873800.  An 
Arbeitslohn  wurden  58  195,73  M.  verausgabt.  Vorstands- 
mitglieder, Buchhalter  und  Meister  erhielten  ein  Gehalt  von 
30  M.  pro  Woche.  Nach  den  geführten  Lohnlisten  ver- 
dienten die  Sortirer  in  1558  Arbeitstagen  6158  M.,  mithin 
durchschnittlich  pro  Tag  3,95  M.,  pro  Woche  23,7DM.  Die 
Cigarrenarbeiter  verdienten  in  13079  Arbeitstagen  41  418  M., 
durchschnittlich  pro  Tag  3,17  M.,  pro  Woche  19  M,  Die 
Zurichterinnen  erhielten  10M.,  1 1 M.  und  12  M.  pro  Woche. 
Zur  Verarbeitung  gelangten  ca.  50000  Pfund  Tabak,  wovon 
10000  Pfund  Deckblatt. 

Die  in  der  1.  Generalversammlung  beantragten  Lohn- 
erhöhungen wurden  abgelehnt,  da  es  Bestreben  der  Ge- 
nossenschaft bleiben  müsse,  auch  unter  ungünstigen  Bedin- 
gungen gute  Waare  zu  liefern,  und  weil  nach  Ansicht  der 
Generalversammlung  der  Vortheil  der  Genossenschaft  der 
Gesammtheit  zu  Gute  kommen  soll,  und  nicht  jenen,  die 
gerade  das  Glück  hätten,  in  der  Genossenschaft  beschäftigt 
zu  werden. 

Ueber  das  zweite  Geschäftsjahr  (1892)  wurde  vor  Kurzem 
in  der  Generalversammlung  der  Genossenschaft  berichtet. 
Wir  entnehmen  dem  Berichte  das  folgende:  Die  Genossen- 
schaft hat  im  Jahre  1892  6180000  Cigarren  verkauft;  der 
Umsatz  ist  gegen  das  Vorjahr  um  8 Mille  pro  Woche  ge- 
stiegen. Am  Schluss  des  Jahres  1892  waren  154  Arbei- 
ter in  der  Genossenschaft  beschäftigt,  davon  29  in  der  in 
Eschwege  errichteten  Filiale.  Der  wöchentliche  Durch- 
schnittsverdienst betrug  bei  den  Sortirern  25,20  M.,  bei  den 
Cigarrenarbeitern  18,42  M.  und  bei  den  Zurichtern  11  und 
12  M.  In  Eschwege  verdienten  die  Cigarrenarbeiter  durch- 
schnittlich 12,84  M.,  die  Wickelmacher  7,08  M.  und  die 
Zurichter  7,50  M.  bis  8 M.  pro  Woche.  Die  Beamten  und 
Meister  in  der  Genossenschaft  wurden  mit  30  M.  pro  Woche 
besoldet  — ausgenommen  den  Meister  der  Eschweger 
Filiale,  welcher  27  M.  erhielt.  Im  Ganzen  wurden  an  Ar- 
beitslohn 114253,09  M.  gezahlt. 

In  der  Fabrik  zu  Hamburg  ist  Anfang  August  der  Lohn 
bei  den  gangbarsten  Sorten  um  50  Pf.  pro  Mille  erhöht 
worden.  Die  Fabrikfiliale  in  Eschwege  wurde  Anfangs  Sep- 
tember 1892  errichtet;  die  Genossenschaft  stellte  dort 
sämmtliche  vom  dortigen  Ausschluss  der  Tabakarbeiter  her 
noch  gemassregelten  Tabakarbeiter  an.  — Die  Löhne, 
welche  die  Genossenschaft  in  Hamburg  und  Eschwege  be- 
zahlt, sind  wesentlich  höher  als  die  sonst  ortsüblichen.  Die 
Löhne  und  Fabrikeinrichtungen  entsprechen  vollkommen 
den  an  die  Ausgabe  der  Schutzmarken  der  Tabakindustrie 
seitens  des  Vorstandes  des  Unterstützungsvereins  deutscher 
Tabakarbeiter  geknüpften  Bedingungen. 

Die  Tabakarbeitergenossenschaft  hat  schon  früher  die 
von  dem  Unterstützungsverein  Deutscher  Tabakarbeiter  zu 
Bremen  gestellten  Bedingungen  erfüllt  und  hat  sofort  bei 
der  Ausgabe  der  Kontrollmarken  (1.  April  1893)  dieselben 
bei  ihren  Waaren  in  Anwendung  gebracht. 

Die  Genossenschaft  nimmt  die  auf  die  Arbeiter  entfal- 
lenden Beiträge  zur  Alters-  und  Invalidenversicherung  auf 
sich;  zusammen  mit  den  Beiträgen  zur  Ortskasse  sind  hier- 
für 2143,59  M.  gezahlt  worden.  Das  Vermögen,  mit  dem 
die  Genossenschaft  arbeitet,  beträgt  64644.72  M.;  hiervon 
entfallen  30625,40  M.  auf  Geschäftsantheile  der  Mitglieder, 
Der  Gewinn  betrug  im  Jahre  1892  18287,82  M.  Derselbe 
ist  als  günstig  zu  bezeichnen,  wenn  in  Betracht  gezogen 


wird,  dass  die  Errichtung  der  Filiale  und  sonstige  Neuein- 
richtungen nicht  geringe  Kosten  verursacht  haben.  Auch 
sind  durch  die  Cholera  vor  allem  in  soweit  erhebliche 
Mehrausgaben  entstanden,  als  zur  Zeit  der  Epidemie  trotz 
des  erheblich  verminderten  Absatzes  keine  Entlassungen 
vorgenommen  wurden.  Trotzdem  die  Genossenschaft  in 
den  beiden  ersten  Jahren  ihres  Bestehens  mit  enormen 
Schwierigkeiten  zu  kämpfen  hatte,  hat  sich  das  junge  Unter- 
nehmen bisher  gut  entwickelt. 


Arbeiterzustände. 


Lolmmodalitäten  im  sächsischen  Vogtlande.  In  den 

neuen  Jahresberichten  der  sächsischen  Gewerbeinspektoren 
für  1892  theilt  der  Aufsichtsbeamte  für  den  Bezirk  Anna- 
berg  i.  V.  die  Ergebnisse  einer  Erhebung  mit,  die  er  über 
die  in  seinem  Bezirk  üblichen  Lohnmodalitäten  veran- 
staltete. Aus  335  Betrieben  mit  6046  Arbeitern  ermittelte 
er,  dass  als  Lohntag  gewählt  war 

Montag  Dienstag  Mittwoch  Donnerstag  Freitag 

in  1 Anlage  2 1 4 30 

Samstag  Sonntag  Unbestimmt 

276  9 12  Anlagen. 

Die  Mehrzahl  der  Fabriken  hält  also  bis  jetzt  am 
Samstag  als  Lohntag  fest.  Jedoch  war  die  Aeusserung  zu 
vernehmen,  dass  nach  Einführung  der  Sonntagsruhe  im 
Handelsgewerbe  im  Interesse  des  Arbeiterstandes  die  For- 
derung einer  obligatorischen  Verlegung  der  Lohnauszahlung 
vom  Samstag  auf  einen  anderen  Wochentag  zu  erheben 
sei,  weil  die  Zeit  am  Samstagabend  sich  nicht  mehr  zur 
Besorgung  der  nöthigen  Einkäufe  eigne,  besonders  da,  wo 
durch  Ortsstatut  oder  sonstige  Festsetzung  der  Verkehr 
am  Sonntag  lediglich  auf  den  Lebensmittelverkauf  be- 
schränkt sei  (dürfte  sehr  selten  sein!  Redaktion).  Die 
Frau  des  Arbeiters  könne  oft  nicht  mehr  die  vortheil- 
hafteste,  sondern  nur  die  nächste  Einkaufsquelle  aufsuchen, 
was  mehrfach  mit  Unzuträglichkeiten  verknüpft  sei  und  die 
Arbeiterfamilien  benachtheilige.  Man  kann  diesen  Aus- 
führungen nur  zustimmen,  auch  von  dem  Gesichtspunkt 
aus,  dass  die  Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe  durch  eine 
Verlegung  des  Lohntages  auf  Freitag  gefestigt  wird.  Die 
Zweckmässigkeit  der  Lohnzahlung  an  den  ersten  Tagen 
der  Woche  oder  vollends  am  Sonntag,  die  wohl  zu  einem 
Gang  in  die  Fabrik  verpflichten  soll,  ist  sehr  stark  anzu- 
zweifeln. Die  Lohnperioden  waren  im  Bezirk  achttägig 
bei  217,  vierzehntägig  bei  109  und  monatlich  bei  9 Anlagen 
Es  muss  Wunder  nehmen,  dass  die  beiden  letzteren^Kate. 
gorieen  immer  noch  in  solchem  Umfange  vorkommen- 
Endlich  wurde  festgestellt,  dass  der  Lohn  war:  Stunden-, 

lohn  in  50,  Tagelohn  in  22,  Wochenlohn  in  90,  Monatslohn 
in  9,  Stücklohn  in  77  und  gemischter  Lohn  in  87  Anlagen. 
Es  stehen  also  bedauerlicherweise  164  Anlagen  mit  Akkord- 
und  gemischtem  Lohn  169  Anlagen  mit  Zeitlohn  gegen- 
über. 

Arbeitsloseustatistik.  Der  Ausschuss  des  Vereins  der 
Lithographen,  Steindrucker  und  Berufsgenossen  Deutsch- 
lands hat  den  Versuch  gemacht,  die  Zahl  der  Arbeitslosen 
im  Gewerbe  in  Deutschland  in  der  Zeit  vom  1.  bis  zum 
15.  Januar  festzustellen.  Es  wurden  zu  diesem  Zwecke 
Fragebogen  an  die  Vertrauensleute  des  Verbandes  und  des 
gleichartigen  Senefelder  Bundes,  zusammen  nach  173  Orten, 
versandt.  Es  gingen  die  ausgefüllten  Bogen  jedoch  nur 
aus  59  Orten  ein,  so  dass  von  114  Orten  keine  Mitthei- 
lungen vorliegen.  Infolgedessen  giebt  die  Statistik  auch 
keinen  ausreichenden  Ueberblick  über  die  Beschäftigungs- 
losigkeit der  Arbeiter  des  genannten  Berufes.  Es  zeigt 
dies  aufs  neue,  dass  die  deutsche  Arbeiterschaft  den 
Werth  der  statistischen  Feststellungen  der  Arbeitslosigkeit 
noch  nicht  erkannt  hat  und  den  auf  diesem  Gebiet  ge- 
machten Bemühungen  nicht  das  genügende  Interesse  ent- 
gegenbringt. Ferner  ergiebt  sich  aus  der  Statistik  desVer- 


334 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  28. 


eins  der  Lithographen,  dass  die  Zentralisirung  der  Arbeits- 
losenstatistik auf  erhebliche  Schwierigkeiten  stösst.  Will 
man  die  Aufnahme  solcher  Statistiken  zentralisiren,  so  wird 
dies  am  zweckmässigsten  und  zuverlässigsten  in  der  Weise 
geschehen  müssen,  dass  die  Vertrauensleute  Einrichtungen 
schaffen,  bei  welchen  eine  regelmässige  Aufzeichnung  der 
vorkommenden  Arbeitslosigkeit  möglich  ist. 

Trotz  der  mangelhaften  Betheiligung  an  der  Statistik 
weist  dieselbe  doch  eine  enorme  Zahl  Beschäftigungsloser 
aus.  Es  sind  in  25  Städten  42  Lithographen  und  177  Stein- 
drucker, zusammen  219  Personen,  als  arbeitslos  festgestellt. 
Unter  diesen  befinden  sich  56  Verheirathete.  Die  Arbeits- 
losigkeit betrug  zusammen  1894  Wochen,  durchschnittlich 
pro  Person  63/s  Wochen.  Als  längste  Dauer  der  Arbeits- 
losigkeit sind  45  Wochen,  als  kürzeste  1 Woche  angegeben, 
Ferner  wird  in  der  Statistik  noch  angeführt,  dass  in  Graz 
14  Personen  zusammen  370  Wochen  und  in  Basel  5 Per- 
sonen zusammen  15  Wochen  arbeitslos  waren.  Bei  der 
Unzulänglichkeit  dieser  Statistik  lassen  sich  zuverlässige 
Schlüsse  auf  die  Lage  im  Gewerbe  nicht  ziehen. 


Politische  Arbeiterbewegung. 

Schweizerischer  Arbeiterbiuid.  Am  Ostermontag  fand 
in  Biel  der  diesjährige  Kongress  des  schweizerischen  Ar- 
beiterbundes statt.  300  Delegirte,  welche  ca.  100000  Ar- 
beiter vertraten,  waren  eingetroffen. 

Die  Verhandlungen  begannen  unter  Leitung  des  Präsi- 
denten des  schweizerischen  Grütlivereins.  Arbeitersekretär 
Greulich  referirte  über  die  Kranken-  und  Unfallversicherung. 

Seine  Vorschläge  weichen  vom  Projekt  des  schweize- 
rischen Industriedepartements  stark  ab.  Während  nämlich 
dieses  Projekt  sich  an  den  deutschen  und  österreichischen 
Entwurf  anlehnt,  verlangt  Greulich,  dass  der  Staat  die 
Kosten  für  ärztliche  Behandlung  und  Arznei  vollständig 
auf  sich  nehme  und  die  Krankenkassen  nur  den  Lohnaus- 
fall ersetzen  sollen.  Seine  Thesen  lauten:  1)  Die  Beiträge 
für  die  Krankenversicherung  sollen  ausschliesslich  durch 
die  Versicherten  getragen  werden.  2)  Die  Pflege,  ärztliche 
Behandlung  und  Spitalkosten  sollen  durch  den  Bund  unter 
Mitbetheiligung  der  Kantone  und  der  Gemeinden  getragen 
werden.  3)  Es  ist  die  Organisation  der  Berufskranken- 
kassen anzustreben.  4)  Die  Beiträge  für  die  Unfallversiche- 
rung sollen  ausschliesslich  durch  die  Arbeitgeber  getragen 
werden.  5)  Im  Falle  von  Arbeitsfähigkeit  hat  die  Kranken- 
kasse auf  Rechnung  der  Unfallversicherung  während  vier 
Wochen  Unterstützung  zu  leisten. 

Der  französische  Arbeitersekretär  referirte  französisch 
über  den  gleichen  Gegenstand  im  Sinne  Greulich’s. 

In  derDisskusion  wurde  von  einem  Redner  die  Streichung 
der  dritten  These  beantragt,  Ein  anderer  Redner  sprach 
sich  für  ausschliessliche  Verwaltung  der  Krankenkassen 
durch  die  Arbeiter  aus,  damit  nicht  die  Bundesbureaukratie 
vermehrt  werde. 

Es  wurde  beschlossen,  alle  gestellten  Anträge  dem 
Arbeitersekretariat  zum  näheren  Studium  zu  überweisen. 

Ueber  die  Frage  des  internationalen  Arbeiterschutzes 
referirte  Nationalrath  Dr.  Decurtius.  Seine  Anträge  lauten : 
1)  Die  organisirten  Arbeiter  der  verschiedenen  Länder 
sollen  durch  Konferenzen,  Versammlungen,  Broschüren 
u.  s.  w.  eine  lebhafte  Agitation  entfalten,  um  die  Ausarbei- 
tung eines  allgemeinen  Gesetzes  zu  veranlassen.  2)  In  der 
Ausübung  ihrer  politischen  Rechte  sollen  die  Arbeiter  ihren 
Einfluss  geltend  machen,  um  durch  die  gesetzgebenden  Be- 
hörden die  internationale  Arbeiterschutzgesetzgebung  zu 
verwirklichen.  3)  Das  Centralcomite  wird  beauftragt,  einen 
Delegirtenkongress  der  organisirten  Arbeiter  der  verschie- 
denen Länder  einzuberufen,  um  die  Fragen  und  Postulate 
betreffend  den  internationalen  Arbeiterschutz  zu  diskutiren 
und  zu  lösen.  4)  Die  katholische  Arbeiterorganisation  wird 
eingeladen,  eine  internationale  Propaganda  zur  Verwirk- 
lichung der  in  der  Encyclika  Leos  XIII.  über  die  Arbeiter- 
frage enthaltenen  Grundsätze  zu  organisiren. 


In  der  Diskussion  wurde  Streichung  von  Antrag  3 und 
4 beantragt. 

Von  anderer  Seite  wurde  für  These  4 folgende  Re- 
daktion vorgeschlagen: 

Der  bevorstehende  Arbeiterkongress  soll  sich  neuer- 
dings mit  der  Frage  der  internationalen  Arbeiterschutzge- 
setzgebung befassen.  Man  zählt  gleichfalls  darauf,  dass  die 
katholischen  Arbeiterverbände  mit  Energie  die  in  der 
Encyclika  Leos  XIII.  kundgegebenen  Grundsätze  vertheidigen 
werden. 

Nationalrath  Favon  und  Redakteur  Reimann  referirten 
über  obligatorische  Berufsgenossenschaften.  Favon 
stellte,  ausgehend  vom  Grundsatz,  dass  jedes  Gewerbe- 
gesetz, dem  nicht  die  obligatorischen  Berufsgenossenschaften 
zu  Grunde  liegen,  als  seinen  Zweck  verfehlend  betrachtet 
werden  müsse,  folgende  Thesen  auf:  1)  Die  obligatorischen 
Berufsgenossenschaften  müssen  in  jedem  Beruf  zwei  ver- 
schiedene Gruppen  umfassen,  die  der  Meister  und  die  der 
Arbeiter.  Diese  Gruppen  haben  gemeinschaftlich  zu  regu- 
liren:  a)  die  Lehrlingsverhältnisse,  b)  die  Arbeitszeit,  c)  die 
Lohnverhältnisse.  2)  Die  obligatorischen  Berufsgenossen- 
schaften müssen  in  allen  Gemeinden  oder  Bezirken  organi- 
sirt  werden,  in  denen  sich  die  nöthigen  Berufselemente  vor- 
finden. 3)  Jeder  Meister  und  jeder  Arbeiter,  der  auf  einem 
organisirten  Beruf  arbeitet,  ist  Mitglied  der  Berufsgenossen- 
schaft. 4)  Die  von  der  Berufsgenossenschaft  gefassten  Be- 
schlüsse haben  Gesetzeskraft  für  alle  Prinzipale  und  Arbei- 
ter, die  in  einer  Gemeinde  oder  einem  Bezirk  den  organi- 
sirten Beruf  ausüben.  5)  In  jedem  Kanton  besteht  ein 
Kantonalverband  der  obligatorischen  Berufsgenossenschaf- 
ten; dessen  Organ  ist  eine  Kommission,  bestehend  aus  einer 
gleichen  Anzahl  von  Delegirten  jedes  Meister-  und  Arbeiter- 
gewerbestandes. Sie  entscheidet  über  die  Reklamationen 
gegen  die  Beschlüsse  einer  Gewerkschaft  des  Kantons  und 
legt  die  Konflikte  zwischen  den  Meister-  und  Arbeiterge- 
werkschaften eines  Berufes  bei.  6)  Alle  Kantonalverbände 
bilden  einen  schweizerischen  Verband,  dessen  Organ  eine 
Kommission  von  gleich  viel  Delegirten  der  Meister  und 
Arbeiter  aus  den  Kantonalverbänden  ist.  Diese  entscheidet 
über  die  Reklamationen  gegen  die  Beschlüsse  der  kantonalen 
Kommission  und  begleicht  die  Konflikte  zwischen  den 
letzteren.  7)  Die  eidgenössischen  und  kantonalen  Behörden 
haben  das  Recht,  sich  in  den  eidgenössischen  und  kan- 
tonalen Kommissionen  durch  Mitglieder  vertreten  zu  lassen. 

Diese  Anträge  wurden  nach  eingehender  Diskussion 
angenommen  und  der  leitende  Ausschuss  beauftragt  eine 
bezügliche  Eingabe  an  die  Bundesversammlung  zu  richten. 

Ueber  das  Ruhetagsgesetz  für  schweizerische  Eisen- 
bahnarbeiter, -Beamte  und  Angestellte  referirte  Siebenmann 
(Bern).  Er  beantragte,  der  schweizerische  Arbeitertag  solle 
beschliessen : der  schweizerische  Arbeiterbund  schliesst 

sich  dem  Begehren  der  schweizerischen  Eisenbahnarbeiter, 
-Beamten  und  Angestellten  an  die  Bundesversammlung  be- 
treffend Vollzug  des  Bundesgesetzes  und  strikte  Durch- 
führung der  bereits  bestehenden  Bestimmungen  bezüglich 
Arbeitszeit,  Ruhetage  und  sonstige  Wohlfahrtseinrichtungen 
beim  Betrieb  der  Eisenbahnen  und  anderer  Transportan- 
stalten an.  Sollte  eine  Revision  beschlossen  werden,  so 
soll  dieselbe  in  der  Weise  durchgeführt  werden,  dass  hin- 
sichtlich der  Durchführung  des  genannten  Gesetzes  nebst 
Vollziehungsverordnung  ein  spezielles  Inspektorat,  gleich 
wie  das  Fabrikinspektorat,  errichtet  werde. 

Als  Arbeitersekretär  wurde  Herr  Greulich  wieder  ge- 
wählt, ebenso  wurden  die  Adjunkten  wieder  bestätigt.  Die 
Zahl  derselben  soll  nach  Beschluss  des  Arbeitertages  um 
zwei  vermehrt  werden. 

Sozialdemokratischer  Kongress  in  Gent.  In  den  Oster- 
tagen fand  in  Gent  der  diesjährige  Kongress  der  belgischen 
Sozialdemokraten  statt,  an  dem  sich  auch  gegen  1000  fran- 
zösische Sozialisten  aus  Roubaix  betheiligten.  Am  2.  April 
nahm  der  Kongress  fast  einstimmig  eine  Tagesordnung  an, 
wonach  die  früheren  Beschlüsse  betreffs  des  allgemeinen 
Stimmrechts  aufrechterhalten  werden,  ein  allgemeiner 
Ausstand  jedoch  in  dem  Falle  unterlassen  werden  soll,  wo 
die  Einschränkungen  in  Bezug  auf  das  allgemeine  Stimm- 
recht ausschliesslich  auf  das  Alter  oder  auf  das  Recht  der 
Familienväter,  mehrere  Stimmen  abzugeben,  sich  beziehen 


No.  28. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAI  BLATT. 


335 


würden.  Wenn  man  das  Mehrheitsvotum  den  Grund- 
besitzern oder  denjenigen,  welche  ein  Diplom  über  gelehrte 
oder  künstlerische  Bildung  aufweisen,  bewilligen  würde, 
dann  sollte  der  Generalrath  der  Arbeiterpartei  beauftragt 
werden,  den  allgemeinen  Ausstand  anzubefehlen.  Am 

3.  April  beschloss  der  Kongress,  dass  die  belgische  Arbeiter- 
partei auf  dem  Kongress  in  Zürich  vertreten  sein  solle. 
Ferner  wurde  eine  Tagesordnung  angenommen,  in  welcher 
das  Stimmrecht  für  die  Frauen  gefordert  wird.  Der 
Kongress  wurde  sodann  geschlossen. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Der  Ausgang  der  grossen  Arbeiteraussperrung  in  der 
Baumwollindustrie  von  Lancashire. 

Der  Verlauf  des  grossen  Lohnkampfs  in  der  Baumwoll- 
industrie von  Lancashire,  welcher  nicht  weniger  als  zwanzig 
Wochen  dauerte,  beansprucht  ein  so  grosses  sozialpolitisches 
Interesse,  dass  wir  den  Ausgang  desselben  kurz  skizziren 
und  namentlich  das  wichtige  Dokument  mittheilen  wollen, 
auf  dessen  Grundlage  die  Einigung  erfolgte. 

Folgendes  ist  der  Wortlaut  des  Vergleichs,  durch  den  der 
jüngste  erbitterte  Lohnkampf  von  Lancashire  beigelegt  wurde: 

1.  Die  Vertreter  der  Arbeitgeber  und  Arbeiter  erkennen  es 
als  wünschenswerth  an,  einen  Weg  zu  finden  zur  Schlichtung  von 
Streit  und  Meinungsverschiedenheiten,  sowie  zur  Vermeidung  von 
Ausständen  und  Aussperrungen  der  Arbeiter. 

2.  Der  schwebende  Streit  soll  beigelegt  werden  durch  eine 
Herabsetzung  des  gegenwärtigen  Lohnes  der  Baumwollspinner, 
der  Arbeiter  an  den  Kratzen-  und  Schlagmaschinen,  ferner  der 
Haspler  und  Spuler,  und  zwar  um  je  7 d.  vom  £ Sterl.  *)  Diese 
Herabsetzung  soll  sofort  in  Wirkung  treten,  und  die  Fabriken 
sollen  ihre  Arbeit  am  nächsten  Montag,  27.  März,  wieder  auf- 
nehmen. 

3.  Wenn  Arbeitgeber  und  Arbeiter  demnächst  sich  einigen 
sollten  über  eine  Erhöhung  des  Normal-Lohnniveaus2)  derjenigen, 
welche  an  der  letzten  Lohnaufbesserung  theilnahmen,  so  soll 
diese  Lohnerhöhung  die  jetzt  vereinbarte  Herabsetzung  nicht 
übersteigen:  es  sei  denn,  dass  in  der  Zwischenzeit  eine  weitere 
Herabsetzung  dieser  Löhne  stattgefunden  habe.  Sollte  jedoch 
letzteres  der  Fall  sein  und  dann  eine  Lohnerhöhung  beschlossen 
werden,  so  sollen  die  Arbeiter  Aussicht  haben  auf  eine  Lohn- 
erhöhung um  ebensoviel  als  die  letzte  Herabsetzung  betrug, 
welche  der  jetzt  vereinbarten  voranging.  Hierbei  ist  jedoch 
immer  Voraussetzung,  dass  kein  Antrag  auf  Erhöhung  oder 
Herabsetzung  der  jetzt  eben  vereinbarten  Lohnsätze  gemacht 
wird,  ehe  von  heute  ab  6 Monate  verstrichen  sind. 

4.  Auf  Grund  des  eben  angeführten  Artikels  darf  eine  Er- 
höhung oder  Herabsetzung  der  vorerwähnten  Lohnsätze  in  Zu- 
kunft erst  beantragt  werden  frühestens  nach  Ablauf  eines  Jahres 
von  dem  Zeitpunkt  der  vorhergehenden  Erhöhung  oder  Fierab- 
setzung ab,  je  nachdem  der  Fall  dann  liegen  mag;  ferner  soll 
jede  dann  zu  vereinbarende  Lohnerhöhung  oder  Lohnherab- 
setzung nicht  mehr  oder  weniger  als  5 pCt.  der  um  jene  Zeit  zu 
zahlenden  Normallöhne  betragen.  Sollte  ein  allgemeiner  Antrag 
auf  Erhöhung  oder  Herabsetzung  der  Löhne  gestellt  werden,  so 
unterliegt  die  Erhöhung  oder  Herabsetzung  des  Lohns  der  männ- 
lichen Kratzen-  und  Schlagmaschinenarbeiter  hinsichtlich  ihres 
Betrages  völlig  der  freien  Uebereinkunft. 

5.  Der  Sekretär  der  lokalen  Arbeitgeber-Vereinigung  und  der 
Sekretär  des  lokalen  Gewerkvereins  sollen  einander  je  einen 
Monat  vor  Inkrafttreten  jedwede  Forderung  einer  Herabsetzung 
oder  Erhöhung  der  bisherigen  Lohnsätze  ankündigen. 

6.  Keine  lokale  Arbeitgeber-Vereinigung,  ebensowenig  die 
Gesammtvereinigung  der  Arbeitgeber  einerseits,  kein  Gewerk- 
verein und  keine  Verbindung  von  Gewerkvereinen  andererseits 
dürfen  in  Zukunft  begünstigen,  ermuthigen  oder  unterstützen 
irgend  eine  Aussperrung  oder  einen  Ausstand  von  Arbeitern, 
die  etwa  veranlasst  oder  verursacht  werden  sollten  durch  eine 
Frage,  eine  Meinungsverschiedenheit  oder  einen  Streit,  Zank, 
eine  Beschwerde  oder  Klage  betreffs  der  Arbeit,  der  Löhne  oder 

r)  Das  ist  2"/i2  pCt. 

4)  Für  jede  Arbeitergruppe  ist  ein  Normallohnsatz  (Standard 
waghs)  festgesetzt,  der  wechselnd  erhöht  oder  herabgesetzt  wird. 


irgend  eines  anderen  Punktes,  es  sei  denn,  dass  zuvor  folgende 
Versuche  gescheitert  seien: 

Zunächst  muss  die  Sache  von  dem  Sekretär  der  lokalen 
Arbeitgeber-Verbindung,  dem  Sekretär  des  lokalen  Gewerkver- 
eins, bezw  vom  Sekretär  des  lokalen  Gewerkvereins  dem 
Sekretär  der  lokalen  Arbeitgeber-Verbindung  vorgelegt  worden 
sein.  Dann  müssen  zunächst  diese  Sekretäre  oder  ein  Aus- 
schuss, bestehend  aus  drei  Vertretern  des  örtlichen  Gewerkver- 
eins mit  ihrem  Sekretär  und  drei  Vertretern  der  Arbeitgeber- 
Verbindung  mit  ihrem  Sekretär  nach  genauer  Untersuchung 
innerhalb  7 Tagen  vom  Empfang  der  schriftlichen  Mittheilung 
sich  vergeblich  bemüht  haben,  die  Streitfrage  zu  schlichten. 
Endlich  muss  nach  Scheitern  all’  dieser  Vermittelungsversuche 
auf  Antrag  eines  der  beiden  Sekretäre  der  lokalen  Vereinigungen 
ein  Ausschuss  von  vier  Vertretern  des  Verbandes  der  Arbeitgeber- 
vereine sammt  dem  Sekretär  sowie  von  vier  Vertretern  des  lokalen 
Verbandes  der  Arbeitervereine  sammt  dem  Sekretär  sich  binnen 
weiterer  7 Tage  nach  Anhängigmachung  der  Sache  erfolglos  um 
Schlichtung  oder  Beilegung  des  Streits  bemüht  haben.  Hierzu 
ist  zu  bemerken,  dass  die  Sekretäre  des  letzterwähnten  Aus- 
schusses belügt  sind,  nach  Bedarf  die  Frist  von  7 Tagen  zu  ver- 
längern. 

8.  Was  Eröffnung  neuer  Märkte  im  Auslande,  Veränderungen 
fremder  Schutzzolltarife  und  ähnliche  das  Wohl  oder  Wehe  des 
Baumwollengewerbes  beeinflussende  Fragen  angeht,  so  soll 
hierüber  ein  Ausschuss  von  drei  oder  mehr  Mitgliedern  jedes 
Verbandes  Verhandlungen  pflegen,  und  alle  bestehenden  Koali- 
tionen sollen  ihren  gesammten  Einfluss  zur  Förderung  der 
allgemeinen  Interessen  des  brittischen  Baumwollgewerbes  geltend 
machen. 

9.  Der  obengenannte  Ausschuss  soll  zusammentreten,  sobald 
der  Sekretär  eines  der  beiden  Gesammtverbände  der  Meinung  ist, 
dass  Fragen,  die  die  allgemeinen  Interessen  des  Baumwoll- 
gewerbes betreffen,  zu  erörtern  seien. 

10.  Die  Vertreter  der  an  dem  schwebenden  Streite  be- 
theiligten Arbeitgeber  und  Arbeiter  verpflichten  sich  hierdurch, 
alles  in  ihren  Kräften  stehende  zu  thun,  um  die  in  vorliegendem 
Vergleiche  übernommenen  Verpflichtungen  treu  zur  Durchführung 
zu  bringen. 

(Folgen  die  Unterschriften  der  Vertreter  der  Arbeitgeber- 
und  der  Arbeiter-Koalitionen.) 

Auf  den  ersten  Blick  zeigen  die  verwickelten  Ab- 
machungen die  als  Friedensschluss  nach  der  Aussperrung 
vereinbart  wurden  und  am  27.  März  1893  in  Kraft  traten, 
dass  bis  zum  Schlüsse  zäh  von  beiden  Parteien  gekämpft 
worden  ist.  Aber  jeder  Zug  von  Brutalität,  von  Vergewal- 
tigung fehlt  — trotz  der  Erbitterung,  die  auch  in  Lanca- 
shire der  Klassenkampf  schüren  musste. 

Für  den  deutschen  Leser  ist  das  Ungewohnte,  dass  die 
Vorstände  der  Arbeiterfachvereine  als  berufene  Vertreter 
der  gesammten  Arbeiterschaft,  ohne  weiteres  seitens  der 
gleichfalls  verbundenen  Arbeitgeber  anerkannt  werden. 
Während  der  ganzen  Dauer  der  Aussperrung  wurde 
zwischen  den  Parteien  mit  der  gemessenen  Höflichkeit, 
aber  auch  mit  der  hartnäckigen  Zähigkeit  verhandelt,  die 
zwei  Geschäftsleute  anwenden,  welche  bis  aufs  äusserste 
um  den  Preis  einer  Waare  feilschen.  Dass  die  Arbeiter- 
führer beim  Friedensschluss  ihren  Rechtsbeistand,  Herrn 
Ashcroft,  beizogen,  fanden  die  Prinzipale  nicht  im  geringsten 
anstössig,  vielmehr  thaten  sie  ein  gleiches  und  brachten 
ebenfalls  einen  Juristen  zur  Stelle.  Dem  Daily  Chronicle 
entnehme  ich  folgende  Schilderung  der  äusseren  Form  der 
Vergleichsverhandlungen,  die  eine  ganze  Nacht  durch,  von 
Nachmittags  3 Uhr  bis  5 Uhr  10  Minuten  am  nächsten 
Morgen  35  Bevollmächtigte  in  Brooklands  Hotel,  in  einer 
Vorstadt  Manchesters,  beschäftigt  haben:  Jede  Partei  hatte 
besondere  Berathungsräume  inne,  und  besonders  ernannte 
Sendboten  wurden  für  den  Zwischenverkehr  verwendet: 
auf  Seiten  der  Arbeiter  die  Herren  Mawdsley  und  Mullin; 
auf  Seiten  der  Arbeitgeber  die  Herren  Andrews,  J.  B. 
Tattersall  und  Smathurst.  Wenn  eine  Partei  einen  beson- 
deren Vorschlag  zu  machen  wünschte,  so  ging  der  Ueber- 
bringer  in  das  Zimmer,  welches  die  Vertreter  der  anderen 
Partei  inne  hatten  und  kündigte  den  Gegenstand  mündlich 
an.  Wenn  die  Frage  eine  Debatte  erforderte,  so  trafen 
sich  die  Parteien  in  einem  der  zwei  Zimmer.  Einmal  wurde 
die  Diskussion  so  lebhaft  erhitzt,  dass  Herr  Mawdsley  un- 
gefähr Nachts  11  Uhr  an  eine  Vertagung  dachte.  Dieser 


336 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  28. 


Antrag  blieb  indessen  in  der  Minderheit,  und  der  Gedanke 
einer  Vertagung  wurde  nicht  ausgeführt. 

Auf  die  Frage,  was  er  von  dem  Resultat  der  Konfe- 
renz halte,  hat  Herr  Mawdsley  einem  Interviewer  erwidert, 
dass  die  Arbeiter  so  ziemlich  alles  Verlangte  erreicht 
hätten. 

Betreffs  der  Versammlung  sagte  er,  dass  die  Höhe  der 
vorgeschlagenen  Lohnherabsetzung  die  erste  Frage  gewesen 
sei.  Die  Arbeitgeber  wünschten  andere  Dinge  zunächst  zu 
berathen  und  dies  zuletzt  vorzunehmen,  aber  die  Arbeiter- 
Vertreter  bestanden  darauf,  dass  die  Lohnfrage  zuerst 
erörtert  werde.  Nach  einigem  Disputiren  kamen  die  Ar- 
beitgeber den  Wünschen  der  anderen  Partei  entgegen. 

Die  Vertreter  der  Arbeitgeber  zogen  sich  hierauf  aus 
dem  gemeinsamen  Zimmer  zurück  und  boten  beim  Zurück- 
kehren dorthin  eine  Lohnherabsetzung  von  3%  an.  Dieses 
wurde  nun  von  den  Arbeitern  privatim  überlegt  und  nach 
einer  kurzen  Debatte  zurückgewiesen.  Dagegen  schlugen 
sie  eine  Herabsetzung  von  7 d.  vom  £ vor,  wobei  sie  ver- 
sicherten, dass  dies  für  das  gewöhnliche  Volk  viel  leichter 
zu  berechnen  sein  würde. 

3%,  bewies  Mr.  Mawdsley,  hiesse  7,2  d.  vom  £,  wäh- 
rend 7 d.  eine  runde  Ziffer  sei.  mit  der  sich  leichter  rechnen 
liesse.  Von  Seiten  der  Arbeitgeber  wurden  ein  oder  zwei 
verschiedene  Vorschläge  gemacht,  Unterschiede  zwischen 
den  verschiedenen  Klassen  der  Arbeiter  zu  machen;  aber 
die  Vertreter  der  letzteren  erklärten,  dass  sie  alle  gleich- 
mässig  behandelt  werden  wollten,  soweit  es  diese  Bedin- 
gungen beträfe. 

Er  erklärte,  dass  die  Arbeitgeber  den  Spinnern  mehr 
und  den  Kratzarbeitern  weniger  abzuziehen  wünschten. 
Sie  erboten  sich,  die  Arbeiter-Bedingungen  anzunehmen 
für  die  männlichen  Kratzarbeiter  und  die  3°/0ige  Herab- 
setzung für  die  Spinner.  Man  konnte  auf  dieser  Grundlage 
zu  keiner  Uebereinstimmung  gelangen;  aber  nach  einer 
abermaligen  Erörterung  kündigten  die  Vertreter  der  Arbeit- 
geber an,  dass  sie  dem  Vorschlag  der  Arbeiter  gemäss  mit 
7 d.  vom  £ sich  begnügen  würden.  Diese  wichtige  Eini- 
gung, welche  zwischen  8 und  9 Uhr  erzielt  wurde,  war 
die  Grundlage,  auf  der  man  über  die  übrigen  Bedingungen 
gegenseitig  sich  einigte.  Diese  wurden  mit  verbissener 
Hartnäckigkeit  ausgefochten  selbst  bis  auf  den  Wortlaut 
der  Abmachung. 

Die  Klausel,  um  die  am  meisten  gestritten  wurde,  war 
die,  welche  sich  auf  die  Beilegung  künftiger  Streitigkeiten 
bezieht.  Zuletzt  indessen  fand  diese  Klausel  den  einstim- 
migen Beifall  beider  Parteien  mit  Ausnahme  von  zwei 
Rechtsgelehrten,  welche  mit  der  angewandten  Wortfassung 
nicht  ganz  einverstanden  waren.  Ihre  bezüglichen  Einwen- 
dungen wurden  vollständig  überstimmt. 

Die  anderen  Artikel  wurden  sorgfältig  geprüft  und  ein- 
stimmig angenommen. 

„Im  Ganzen“  — dies  fügte  Herr  Mawdsley  hinzu 
„ist  der  Erfolg  der  Konferenz  so  befriedigend,  als  es  die 
eifrigsten  Arbeiter  nur  erwarten  konnten.“ 

Hierzu  ist  hinzuzufügen,  dass  der  Haupterfolg  der  Ar- 
beiter nicht  aus  dem  Text  des  Friedensschlusses  selbst, 
sondern  daraus  zu  entnehmen  ist,  dass  in  den  Friedens- 
bedingungen ein  Punkt  völlig  fallen  gelassen  wurde  und 
absichtlich  unerwähnt  blieb:  die  Forderung  der  Arbeit- 
geber, dass  die  Gewerkvereinler  ausdrücklich  die  Anstel- 
lung von  Nicht-Gewerkvereinlern  (blacklegs)  als  zulässig 
anerkennen  sollten. 

München.  W.  Lotz. 

Strike  der  Heizer  und  Trimmer  in  Hamburg.  Den 

Heizern  und  Trimmern  Hamburgs  gelang  es,  in  den  letzten 
Jahren  die  Monatsheuer  für  Heizer  auf  85  M.,  für  Trimmer 
auf  75  M.  zu  bringen.  Diese  durch  die  Organisation  er- 
rungenen Vortheile  suchten  die  Rheder  jedoch  wieder  zu 
beseitigen.  Schon  im  Jahre  1891  Hessen  sie  eine  Lohn- 
reduktion um  20  pCt.  eintreten.  Der  Strike,  welcher  um 
die  Erhaltung  der  bisherigen  Löhne  geführt  wurde,  fiel  zu 
Ungunsten  der  Arbeiter  aus.  Im  Jahre  1892  unternahmen 
die  Rheder  in  Folge  der  ungünstigen  Geschäftslage  eine 
weitere  Lohnreduzirung  und  es  ist  ihnen  gelungen,  die 
Monatsheuer  für  Heizer  auf  60  M.  und  für  Trimmer  auf 
50  M.  herabzudrücken.  Innerhalb  zweier  Jahre  ist  also 


eine  Lohnreduzirung  von  25  M.  pro  Monat  eingetreten. 

Die  Heizer  und  Trimmer  gedenken  die  Heuer  auf  75  M. 
für  Heizer  und  65  M.  für  Trimmer  zu  erhöhen,  und  sind 
deshalb  am  25.  März  in  einen  Strike  eingetreten.  Die 
Arbeiter  haben  sich  gegenseitig  verpflichtet,  nicht  eher  an- 
zumustern, bis  alle  Rheder  die  von  der  Organisation  fest- 
gesetzte Heuer  bezahlen. 

Strike  der  Brauereiarbeiter  in  Mainz.  Am  22.  März 
stellten  in  Mainz  135  Brauer,  Ki'iper  und  Hülfsarbeiter  die 
Arbeit  ein,  um  ihre  Forderungen,  iostündige  Arbeitszeit, 
einen  Minimallohn  von  24  M.  pro  Woche,  Bezahlung  der 
Ueberstunden  und  freie  Ausübung  des  Koalitionsrechtes 
durchzubringen.  Die  Mainzer  Arbeiterschaft  unterstützt  die 
Ausstehenden  dadurch,  dass  sie  diejenigen  Wirthschaften 
boykottirt,  in  welchen  Bier  aus  den  Brauereien  geschänkt 
wird,  welche  die  Forderungen  der  Brauer  nicht  bewilligt 
haben. 

Ein  Kongress  der  Arbeiter  der  Nahrungsmittelindustrie 

als:  Bäcker,  Brauer,  Konditoren,  Müller,  Pfefferküchler, 

Schlächter  u.  s.  w.  ist  für  Montag,  22.  Mai  1893,  Nachmittags 
4 Uhr  nach  Hannover  einberufen.  Zweck  des  Kongresses 
soll  sein,  über  eine  Vereinigung  der  bestehenden  Organi- 
sationen, entsprechend  den  Beschlüssen  des  Halberstädter 
Gewerkschaftskongresses  zu  berathen.  Ferner  soll  auch  die 
Thätigkeit  der  Reichskommission  für  Arbeiterstatistik  be- 
sprochen werden. 

Die  Tagesordnung  lautet:  1.  Konstituirung.  2.  Bericht. 

3.  Die  Beschlüsse  des  Halberstädter  Gewerkschafts-Kon- 
gresses und  deren  Durchführung  in  der  Nahrungsmittel- 
industrie. 4 Die  Thätigkeit  der  Reichskommission  für 
Arbeiterstatistik  und  unsere  Stellungnahme  hierzu.  5.  An- 
träge der  Delegirten  und  deren  Erledigung. 

Generalversammlungen  des  Deutschen  Metallarbeiter- 
uud  Tischlerverbandes.  In  Altenburg  tagte  zu  Ostern  die 
Generalversammlung  des  Deutschen  Metallarbeiter -Ver-  j 

bandes.  Die  Zahl  der  Delegirten  betrug  ca.  90.  Aus  dem  , 
Bericht  des  Vorstandes  ging  hervor,  dass  der  Verband  am 
31.  Dezember  1892  27000  Mitglieder  hatte,  welche  sich  auf 
318  Filialen  vertheilen;  aufgelöst  wurden  von  den  Behörden 
zwei  Filialen ; ferner  ist  hervorzuheben,  dass  fast  überall  die 
Organisationen  durch  die  Polizei  zu  leiden  hatten.  Die  ; 
Einnahme  des  Verbandes  betrug  von  August  1891  bis 
31.  Dezember  1892  211  926,42  M.,  die  Ausgabe  197  589,05  M.,  j 
der  Vermögensbestand  am  31.  Dezember  1892:  Hauptkasse 
i73°59  M.,  Zahlstellen  12606,78  M.,  in  Summa  14337  M., 
die  Schulden  des  Verbandes  am  31.  Dezember  1892  9905,23  M. 
Bilanz:  Vermögensbestand  14337.37  M.,  Schulden  des  Ver- 
bandes 9905,23  M.,  somit  reines  Vermögen  4432,14  M.  Der 
Kassenbestand  der  Hauptkasse  betrug  am  1 . April  8406,68  M. 

Der  Verbandstag  des  Deutschen  Tischlerverbandes,  der 
zur  selben  Zeit  in  Kassel  verhandelte,  war  von  61  Dele- 
girten besucht.  Die  auf  ihm  gegebene  Abrechnung  über 
die  letzten  beiden  Jahre  enthält  folgende  Posten : Gesammt- 
Einnalnne  in  beiden  Jahren  238  638,62  M.,  Ausgaben  an 
Reise  - Unterstützung  54152,97  M.,  Gemassregelten  - Unter- 
stützung 6434,66  M.,  Rechtsschutz  6260,95  M.,  Agitation 
6697,46  M..  Unterstützung  in  Nothfällen  2305,0DM,,  sonstige 
Ausgaben  1469,03  M.,  35  pCt.  der  Lokalkassen  74  892,80  M., 
Tischler-Zeitung  45764,67  M.,  Gehälter  u.  s.  w.  10  570,08  M., 
sonstige  Verwaltungs-Ausgaben  15  986,00  M.,  an  die  General- 
kommission 2240,00  M.,  Unkosten  vom  Gewerkschaftskon- 
gress 1361.10  M.  Summa  228  174.72  M.;  Ueberschuss 
10  463  90  M. 

Die  Mitgliederzahl  ist  von  15856  im  Jahre  1891  auf 
18092  im  Jahre  1892  gestiegen.  Die  Zahlstellen  haben  sich 
um  44  vermehrt.  Auf  die  finanziellen  Verhältnisse  des  Ver- 
bandes hat  der  dauernd  schlechte  Geschäftsgang  während 
des  ganzen  Jahres  1892  sehr  ungünstig  gewirkt,  was  u.  a. 
sich  auch  darin  zeigt,  dass  die  Reise-Unterstützung  sehr 
bedeutende  Summen  erforderte.  Im  Jahre  1891  haben  2891, 
im  Jahre  1892  3740  Reisende  die  Unterstützung  in  Anspruch 
genommen.  Eine  rege  Agitation  wurde  in  den  verschie- 
denen Theilen  Deutschlands  mit  Erfolg  entfaltet.  Die  Be- 
lästigungen seitens  der  Behörden  haben  nachgelassen,  nach- 


No.  28. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTN  AI. Bl  .ATT. 


337 


dem  gerichtlich  entschieden  worden  ist,  dass  dieser  Ver- 
band den  Charakter  einer  Versicherungsgesellschaft  nicht 
besitze. 

Englische  Strikes  und  Lockouts  im  Jahre  1891.  Der  von 

Mr.  Burnett,  dem  Secretär  des  Handelamts,  in  Form  eines 
parlamentarischen  Blaubuches  herausgegebene  Bericht  über 
Strikes  und  Lockouts  ist  soeben  veröffentlicht  worden. 
Der  Regel  entsprechend,  dass  Strikes  zu  Gunsten  höherer 
Löhne  günstige  Zeiten  charakterisiren,  sind  die  in  dem 
wirthschaftlich  ungünstigen  Jahre  1891  unternommenen 
Ausstände  meist  nicht  höherer  Löhne  wegen,  sondern  um 
Lohnreductionen  zu  verhüten  unternommen  worden.  Es 
fanden  883  Strikes  in  4500  Betrieben  statt.  Im  Vergleich 
zum  Vorjahre  ist  ein  geringer  Rückgang  zu  constatiren. 
Erfolg  hatten  die  Strikenden  in  45  Proc.  der  Fälle,  während 
sie  in  24.4  Proc.  der  Fälle  einen  Theilerfolg  erzielten.  Bei 
den  erfolglosen  Lohnstrikes  war  jedoch  die  Zahl  der  be- 
theiligten Personen  viel  grösser,  als  bei  den  von  Erfolg 
gekrönten.  Strikes  zur  Erzielung  kürzerer  Arbeitsstunden 
oder  um  anderer  Forderungen  willen  waren  nicht  zahlreich, 
im  ganzen  nur  23;  aber  in  87  Proc.  dieser  Fälle  hatten  die 
Ausständigen  Erfolg.  47  meist  ergebnisslose  Strikes  rich- 
teten sich  gegen  die  Verwendung  von  nicht  zu  Gewerk- 
vereinen gehörigen  Arbeitern.  Die  295,000  Personen,  die 
an  den  Ausständen  von  1891  betheiligt  waren,  verloren 
durch  dieselben  allein  an  Löhnen  mehr  als  380,000  Pfd. 
Sterling.  Burnett  setzt  als  Durchschnittsdauer  der  Strikes 
1 Monat  an,  und  berechnet  den  gesammten  Verlust  der 
Arbeiter  und  ihrer  Familien  auf  1,500,000  Pfd.  St.  Nach 
den  von  den  Gewerkvereinen  angegebenen  Zahlen  beläuft 
sich  der  Verlust  sogar  noch  höher.  Nach  den  Angaben 
von  23  Betrieben  betrug  der  Werth  des  bei  ihnen  durch 
Ausstandsbewegungen  zeitweise  brachgelegten  Capitals 
9’493’io3  Pfd-  St. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Schutzbestimmnngeii  für  Ziegeleiarbeiter  im  deutschen 
Reiche.  Dem  deutschen  Bundesrath  ist  ein  Entwurf  von 
Bestimmungen,  betreffend  die  Beschäftigung  von  Arbeite- 
rinnen und  jugendlichen  Arbeitern  in  Ziegeleien, 
zugegangen,  wonach  diese  Arbeiter  zur  Gewinnung  und 
zum  Transport  von  Rohmaterialien  sowie  zu  Arbeiten  in 
den  Oefen  und  zum  Befeuern  der  Oefen,  Arbeiterinnen  auch 
zur  Handformerei  der  Ziegelsteine  mit  Ausnahme  der  Dach- 
ziegel (Dachpfannen)  und  Bimssandsteine  (Schwemmsteine) 
nicht  verwendet  werden  dürfen.  Die  tägliche  Beschäftigung 
darf  12  Stunden,  die  wöchentliche  66  Stunden  nicht  über- 
schreiten; die  Arbeitsstunden  dürfen  nicht  vor  41/2  Uhr 
morgens  beginnen  und  nicht  über  9 Uhr  abends  hinaus 
dauern.  Es  müssen  zwei  Arbeitspausen  gegen  Mittag  und 
Nachmittags  gewährt  werden,  die  nach  je  längstens  vier 
Stunden  Arbeit  eintreten,  die  Dauer  der  Mittagspause  muss 
mindestens  eine  Stunde,  die  der  übrigen  Pausen  mindestens 
je  eine  halbe  Stunde  betragen.  Im  übrigen  ist  den  Arbeit- 
gebern die  Verpflichtung  auferlegt,  an  der  Arbeitsstätte 
Tabellen  über  die  Beschäftigungsstunden  der  jungen  Leute 
und  Arbeiterinnen  anzubringen.  Die  Art  der  Tabellen- 
führung ist  genau  vorgezeichnet.  Die  Bestimmungen  treten 
zum  Theil  mit  dem  1.  Mai  d.  J.,  zum  Theil  mit  dem  Tage 
der  Verkündung  in  Kraft.  Sämmtliche  Bestimmungen  haben 
fünfjährige  Gültigkeit.  Die  Bestimmungen  der  Gewerbe- 
ordnung über  die  Beschäftigung  von  Arbeiterinnen  und 
jugendlichen  Arbeitern  in  Fabriken  sind  auf  solche  Ziegeleien, 
welche  nicht  blos  vorübergehend  oder  in  geringem  Umfange 
betrieben  werden,  ausgedehnt  worden.  Es  sind  darüber 
Erhebungen  angestellt  worden,  die  durch  zahlreiche  Ein- 
gaben aus  Interessentenkreisen,  sowie  durch  mündliche 
Verhandlungen  mit  Gewerbe- Aufsichtsbeamten  und  An- 
gehörigen des  Ziegelei-Gewerbes  ihre  Ergänzung  gefunden 
haben.  Unter  Berücksichtigung  der  gewonnenen  Unterlagen 
ist  der  Entwurf  entstanden.  Es  war  angesichts  der  Miss- 
stände, welche  in  den  deutschen  Ziegeleien  herrschen, 


hohe  Zeit,  dass  diese  Sonderbestimmungen  getroffen  wurden. 
Nur  müssten  dieselben  viel  weiter  gehen;  aber  man  hat 
natürlich  wieder  einmal  keinen  Arbeiter  zu  den  Vor- 
berathungen zugezogen. 

Die  Braunschweigischen  Gemüsekonservenfabrikanten 
und  die  Sonntagsruhe.  Durch  die  Handhabung  des 
Gesetzes  über  die  Sonntagsruhe  droht,  nach  Mitthei- 
lungen des  Berliner  Tageblattes,  Braunschweigs  Spargel- 
züchtern, Exporteuren  und  Konservenfabrikanten 
ein  enormer  Schaden,  der  von  sachverständiger  Seite 
auf  400000  Mk.  geschätzt  wird  und  geradezu  eine  Ver- 
nichtung der  heimischen  hochentwickelten  Spargel-Industrie 
bedeutet.  Wegen  Beseitigung  der  eintretenden  Härten  ist 
nun  vor  Kurzem  eine  Abordnung  des  Vereins  für  Gemüse- 
bau beim  herzoglichen  Staatsministerium  vorstellig  geworden. 
Dasselbe  hat  für  die  bevorstehende  Spargelcampagne  für 
den  Fall  besonderer  Dringlichkeit  noch  zehnstündige  Ar- 
beitszeit für  den  Sonntag  gestattet,  gleichzeitig  aber  erklärt, 
dass  vom  nächsten  Jahre  ab,  falls  inzwischen  keine  Aende- 
rung  der  gesetzlichen  Bestimmungen  eintrete,  die  Sonntags- 
arbeit ausnahmslos  nur  fünf  Stunden  währen  dürfe.  In  der 
heutigen  Sitzung  des  Vereins  für  Gemüsebau  ist  nun  eine 
Eingabe  an  den  Reichstag  beschlossen  worden,  in  der 
es  heisst,  der  hohe  Reichstag  wolle  dahin  wirken,  dass  die 
Bestimmungen  über  die  Sonntagsruhe  auf  den  Bau,  den 
Versand  und  die  Konservirung  von  frischem  Spargel  wäh- 
rend der  Monate  Mai  und  Juni  nicht  ausgedehnt,  es  dagegen 
gestattet  werden  soll,  zwecks  Gewinnung,  Versand  und 
Konservirung  von  Spargel  Arbeiterinnen  ausnahmsweise 
auch  zwölf  Stunden  und  an  Sonn-  und  Festtagen, 
mit  Ausschluss  der  Zeit  des  Gottesdienstes,  während 
zehn  Stunden  Arbeiter  und  Arbeiterinnen  zu  be- 
schäftigen. — Der  Verein  will  dafür  sorgen,  dass  die 
Eingabe  mit  möglichst  vielen  Unterschriften  aus  dem  Herzog- 
thum versehen  werde. 

Es  wäre  wohl  praktischer,  wenn  der  Verein  bemüht 
wäre,  überhaupt  und  insbesondere  an  Sonnabenden  und 
Montagen  und  in  den  fünf  Arbeitsstunden  des  Sonntags 
möglichst  viele  Arbeiter  zu  beschäftigen.  Dadurch  würde 
der  angebliche  Schaden  von  400000  Mk.  bedeutend  ver- 
ringert werden  und  dem  Arbeiter  würde  die  Sonntagsruhe 
nicht  geraubt  werden. 

Beschäftigung  von  weiblichen  und  jugendlichen  Arbei- 
tern in  Gunmiifabrikeil.  In  den  soeben  erschienenen  „Jahres- 
berichten der  Königl.  Sächsischen  Gewerbeinspektoren  für 
1892“  (Dresden,  F.  Lommatzsch)  schreibt  der  Aufsichts- 
beamte für  Leipzig  S.  81  ff.  über  die  Verbesserungsbedürf- 
tigkeit der  Bestimmungen,  welche  die  Beschäftigung  weib- 
licher und  jugendlicher  Arbeiter  in  Gummifabriken  betreffen, 
Folgendes:  „Die  Bekanntmachung  vom  21.  Juli  1888  scheint 
dem  praktischen  Bedürfnisse  noch  nicht  ganz  zu  entsprechen. 
Es  hätte  zugleich  vorgeschrieben  werden  mögen,  dass  auch 
die  Betriebsräume  während  der  Anfertigung  von  Präser- 
vativs von  den  übrigen  Arbeitsräumen  vollständig  getrennt 
gehalten  sein  müssen,  sowie  dass  der  Weg  zu  den  Arbeits- 
räumen, in  denen  Präservativs  hergestellt  werden,  nicht 
durch  Lokale  führen  darf,  in  welchem  Arbeiterinnen  und 
jugendliche  Arbeiter  an  freigegebenen  Gummiartikeln  thätig 
sind.  Auch  sollte  die  gemeinsame  Verwendung  ein  und 
desselben  Arbeitsraumes,  selbst  wenn  die  Herstellung  des 
Präservativs  von  den  anderen  Gummiartikeln  zeitlich  ge- 
trennt ist,  nicht  gestattet  sein.  Die  erwähnte  Bekannt- 
machung möchte  dahin  ausgedehnt  werden,  dass  Arbeite- 
rinnen und  jugendliche  Arbeiter  überhaupt  von  dem  Be- 
triebe einer  Fabrik  auszuschliessen  sind,  sobald  für  die 
Herstellung  von  Präservativs  und  anderer,  gleichen  Zwecken 
dienender  Gegenstände  nicht  vollständig  getrennte  Räume 
zur  Verfügung  stehen.“  Der  Leipziger  Aufsichtsbeamte 
machte  im  Uebrigen  die  Beobachtung,  dass  nicht  einmal  die 
bestehenden  Bestimmungen  beachtet  und  stellenweise  weib- 
liche Arbeiter  direkt  mit  den  Vorarbeiten  zur  Flerstellung 
von  Präservativs  beschäftigt  wurden. 


338 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  28. 


Arbeiterversicherung. 

Vermehrung;  der  Zahl  der  nichtständigen  Mitglieder  des 
ReichsversicherilUgsanites.  Nach  der  Bestimmung  des  § 87 
des  Unfallversicherungsgesetzes  sollen  von  den  nichtstän- 
digen Mitgliedern  des  Reichsversicherungsamts 
je  zwei  von  den  Vorständen  der  Berufsgenossenschalten 
und  von  den  Vertretern  der  versicherten  Arbeiter  gewählt 
werden.  Ausserdem  sind  für  jedes  dieser  Mitglieder  zwei 
Stellvertreter  zu  wählen.  In  Folge  der  ausserordentlichen 
Ausdehnung  der  Geschäfte  des  Reichsversicherungsamts 
stellte  sich  bald  die  Unzulänglichkeit  dieser  Zahl  heraus. 
Die  Zeit  der  Gewählten  wurde  durch  die  Theilnahme  an 
den  Sitzungen  des  Reichsversicherungsamts  derartig  in 
Anspruch  genommen,  dass  die  Industriellen  ausser  Stande 
waren,  diese  Wirksamkeit  mit  ihrer  eigenen  Berufsthätig- 
keit  zu  vereinigen,  und  die  Arbeiter,  die  während  eines 
grossen  Theils  des  Jahres  ihrer  Werkstatt  entzogen  waren, 
von  ihren  Arbeitgebern  entlassen  wurden.  In  Folge  dieses 
Uebelstandes  beschloss  der  Reichstag  im  vorigen  Jahre  auf 
Antrag  der  Abgeordneten  Möller  und  Rösicke  eine  Ab- 
änderung des  Gesetzes  dahin,  dass  in  Zukunft  die  Zahl  der 
Stellvertreter  der  nichtständigen  Mitglieder  des  Reichs- 
versicherungsamts je  nach  Bedürfniss  vom  Bundesrath 
bestimmt  werden  solle,  und  dieser  Beschluss  hat  demnächst 
die  Zustimmung  der  verbündeten  Regierungen  gefunden. 
Auf  Grund  dieser  Vorschrift  liegt  gegenwärtig  dem  Bundes- 
rath der  Antrag  des  Reichsamts  des  Innern  vor,  die  Zahl 
der  stellvertretenden  Mitglieder,  die  in  Folge  eines  dringen- 
den Bedürfnisses  bereits  im  vorigen  Jahre  auf  fünf  erhöht 
werden  musste,  jetzt  bis  auf  Weiteres  auf  sechs  fest- 
zusetzen. Der  geschäftsführende  Ausschuss  des 
Deutschen  Berufsgenossenschaftstages  hat  nun  in 
seiner  letzten  Sitzung  beschlossen,  den  Bundesrath  dringend 
zu  bitten,  diesem  Anträge  nicht  zuzustimmen,  da  die  vor- 
geschlagene Zahl  nach  den  bisherigen  Erfahrungen  dem 
Bedürfnisse  bei  Weitem  nicht  entspricht.  Der  Ausschuss 
hält  eine  erhebliche  Vermehrung  der  stellvertretenden  Mit- 
glieder für  dringend  nothwendig,  wenn  nicht  der  sozial- 
politische Zweck,  der  durch  die  Zuziehung  des  Laienelements 
bei  der  Rechtsprechung  beabsichtigt  ist,  verfehlt  werden 
soll,  da  es  bei  der  Ueberlastung  der  Mitglieder  schon  jetzt 
kaunTfinöglich  ist,  geeignete  Bewerber  für  die  Besetzung 
der  Stellen  zu  finden,  andererseits  die  Betheiligung  einer 
grösseren  Zahl  von  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern  an 
der  Thätigkeit  des  Reichsversicherungsamts  dem  allgemeinen 
Interesse  an“der  Sache  nur  förderlich  sein  könnte.  Da  in 
kurzem  die  Neuwahlen  der  nichtständigen  Mitglieder  auf 
drei  Jahre  erfolgen  sollen,  so  würde  überdies  die  jetzige 
Beschränkung  der  Zahl  der  stellvertretenden  Mitglieder  auf 
sechs  zweifellos  in  Kürze  die  Nothwendigkeit  herbeiführen, 
den  schwerfälligen  Wahlapparat  zur  Vornahme  von  Nach- 
wahlen von  neuem  in  Bewegung  zu  setzen.  Man  hofft 
hiernach  in  berufsgenossenschaftlichen  Kreisen,  dass  der 
Bundesrath  die  Zahl  der  Stellvertreter  von  sechs  auf  zehn 
oder  zwölf  erhöhen  wird. 

Aus  den  Rechnuiigsergebnisseii  der  Knappschafts- 
Berufsgenossenscliaft  für  1892  kann,  nach  Feststellung  der 
Umlage,  Folgendes  mitgetheilt  werden.  Die  Jahresumlage 
beträgt  7 381  704,45  M.,  der  Reservefonds  erreichte  am 
Schlüsse  des  Berichtsjahres  die  Flöhe  von  17674698,37  M. 
Die  Durchschnittszahl  der  versicherten  Personen  befiel  sich 
auf  424440  gegen  421  137  im  Vorjahre,  sie  hat  sich  also  um 
3303  vermehrt.  Die  anrechnungsfähigen  Löhne  betrugen 
37972  Millionen  Mark,  sie  sind  gegen  das  Vorjahr  um 
97z  Millionen  Mark  zurückgeblieben.  Die  Gesammtunfall- 
kosten  berechnen  sich  durchschnittlich  auf  1 Person  zu 
17, -iq  M ; auf  100  M.  anrechnungsfähige  Lohnsumme  ent- 
fallen 1,95  M. 

Die  Verwaltungskosten  des  Genossenschaftsvorstandes 
und  der  Sektionen  einschliesslich  aller  Kosten  der  Unlall- 
untersuchungen, der  Feststellung  der  Entschädigungen,  so- 
wie der  Schiedsgerichts-  und  Unfallverhütungskosten  be- 
trugen in  Prozenten  der  Jahresumlage  für  1886  = 6,9  pCt., 
1887  = 5, 7pCt.,  1888  = 5, 5pCt.,  1889  = 5, 8pCt.,  1890  = 5, 6pCt., 
1891  = 6,3  pCt.  und  1892  = 5,9  pCt.  Wenn  hier  darauf  hin- 


gewiesen wird,  dass  dieser  geringe  Satz  sich  nur  auf  die 
einmalige  Jahresausgabe,  nicht  auf  den  Kapital- 
betrag der  Rente  bezieht,  so  geschieht  dies  deshalb,  um 
den  Gegnern  der  Berufsgenossenschaften  vor  Augen  zu 
führen,  wie  billig  sich  bei  der  Knappschafts-Berufsgenossen- 
schaft die  Verwaltung  stellt,  gegenüber  den  am  besten  ge- 
leiteten Privat-Versicherungsanstalten,  bei  welchen  die  Ver- 
waltungskosten bis  zu  30  pCt.  des  Kapitalbetrages  der 
Renten  erfordern. 

Unfallliäufigkeit  an  verschiedenen  Wochentagen.  Be- 
kanntlich sind  namentlich  die  Schweizer  Fabrikinspektoren 
durch  eingehende  Erhebungen  zu  dem  Ergebniss  gekommen, 
dass  die  Unfallhäufigkeit  in  den  Fabriken  gegen  Schluss 
der  Woche  mit  zunehmender  Abspannung  der  Arbeiter 
nicht  unbeträchtlich  steigt.  In  den  neuesten  Berichten  der 
sächsischen  Gewerbeinspektoren  für  1892  veröffentlicht  da- 
gegen der  Aufsichtsbeamte  für  Annaberg  i.  V.  (S.  178)  fol- 
gende Beobachtungen:  „Von  den  gemeldeten  196  Unfällen 

ereigneten  sich  an  Sonn-  und  Festtagen  13,  Montags  24, 
Dienstags  38,  Mittwochs  40,  Donnerstags  21,  Freitags  27 
und  Sonnabends  23  Unfälle,  und  es  kann  aus  diesen  Zahlen 
kaum  ein  Schluss  auf  die  Vermehrung  der  Häufigkeit  der 
Unfälle  an  gewissen  Tagen  gezogen  werden.“  Auffallend 
erscheine  uns  die  verhältnissmässig  hohe  Zahl  der  an  Sonn- 
und  Feiertagen  vorgekommenen  Unfälle,  von  denen  sich 
ein  Theil  bei  Nachtarbeit  zutrug.  Nun  würde  ja  eigentlich 
diese  letztere  Beobachtung  die  schweizerischen  Erfahrungen 
doch  bestätigen.  Immerhin  ist  aber  die  Abnahme  der  Un- 
fälle von  Donnerstag  ab  in  der  oben  mitgetheilten  Zahlen- 
reihe auffällig  und  vielleicht  aus  dem  geringen  Umfang  des 
Beobachtungsmaterials,  bei  welchem  Zufälligkeiten  einen 
zu  weiten  Spielraum  hatten,  zu  erklären.  Der  Annaberger 
Beamte  sollte  seine  Beobachtungen  einige  Jahre  fortsetzen 
und  seine  Kollegen  sollten  das  Gleiche  thun,  damit  die 
Kontroverse  auf  Grund  umfassender  Thatsachenerhebungen 
erledigt  werden  kann. 

Unfallverhütungsvorschriften  für  das  Baugewerbe.  Die 

Frankfurter  Bauarbeiter  haben  kürzlich  an  den  Vorstand 
der  Hessen-Nassauischen  Bauberufsgenossenschaft  das  Er- 
suchen gerichtet,  in  Ausführung  des  § 78  des  Unfallver- 
sicherungsgesetzes vom  6.  Juli  1884  folgende  Unfallver- 
sicherungsvorschriften zu  erlassen:  Bei  Neubauten  Zu- 
legung der  Stockwerke  nach  erfolgter  Balkenlage;  liegen 
bei  Um-  und  Reparaturbauten  die  Balkenlagen  frei,  gilt 
dieselbe  Vorschrift.  Lichtschächte  sind  mit  mindestens 
5 cm  dicken  Dielen  zuzulegen.  In  jedem  Bau  sind  sichere 
Nothtreppen  mit  ebensolchen  Geländern  anzubringen.  Nach 
erfolgtem  Aufbau  des  Parterrestocks  ist  über  diesem  ein 
Fanggerüst  anzubringen.  Dieses  muss  mindestens  3 m breit 
und  mit  einer  schräg  aufstehenden  Vorwand  von  1 nt  Höhe 
versehen  sein.  Vor  Beginn  der  Dacharbeiten  ist  1 m unter- 
halb des  Hauptgesimses  ein  Fanggerüst  von  2 m mit  einer 
schräg  aufstehenden  Vorwand  von  1 m Höhe  anzubringen. 
Auch  bei  Weissbindergerüsten  sind  solche  Fanggerüste  an- 
zubringen. Mauerstuhlgerüste  müssen  bis  an  die  Mauer  zu- 
gelegt sein  und  eine  schräg  aufstehende  Vorwand  von  1 m 
Höhe  haben.  Rahmengerüste  müssen  eine  Hinter-  und 
Vorwand,  je  x/2  m hoch,  haben.  Bei  kleineren  Dach- 
reparaturen sind  den  mit  diesen  Arbeiten  beauftragten 
Personen  seitens  ihres  Arbeitgebers  in  gutem  Zustand  be- 
findliche Sicherheitsgürtel  und  Fangleinen  mitzugeben.  An 
jeder  Baustelle  sind  an  einem  leicht  in’s  Auge  fallenden, 
jedem  dort  beschäftigten  Arbeiter  zugänglichen  Ort  diese 
Vorschriften  auszuhängen.  Auf  Grund  des  § 82  des  vor- 
genannten Gesetzes  sind  seitens  der  Genossenschaft  Per- 
sonen zu  bestimmen,  die  die  Ausführung  obiger  Vorschriften 
zu  kontroliren  haben.  Diese  müssen  möglichst  dem  Bau- 
arbeiterstande entnommen  sein.  — In  der  Begründung 
heisst  es:  „Diese  Vorschriften  liegen  nicht  allein  im  Interesse 
aller  Bauarbeiter,  das  ganze  Publikum  hat  ein  Interesse 
daran,  mit  weniger  Lebensgefahr  Baustellen  passiren  zu 
können.  Noch  niemals  hat  eine  Sache  in  der  öffentlichen 
Meinung  eine  solche  Sympathie  gefunden,  als  die  Agitation 
der  Bauarbeiter  zur  Erlangung  genügender  Unfallverhütungs- 
vorschriften. Zahlreiche  Artikel  der  hiesigen  Presse  ohne 
Unterschied  der  Parteirichtung  haben  anerkannt,  dass  unser 


No.  28. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


339 


Vorgehen  ein  berechtigtes  ist  und  dass  man  nicht  fragen 
soll,  wo  es  sich  um  Menschenleben  und  Familienglück 
handelt,  welche  Geldkosten  an  die  Erfüllung  dieser  Vor- 
schriften geknüpft  sind.  Die  Bauarbeiter  erwarten  daher 
von  dem  Vorstande  der  Hessen-Nassauischen  Bauberufs- 
genossenschaft, dass  er,  unbeirrt  durch  Vorstellungen 
seitens  der  durch  diese  Vorschriften  betroffenen  Unter- 
nehmer, durch  deren  Annahme  sich  den  Dank  des  weitaus 
grössten  Theiles  des  Publikums  erwirbt.“ 

Zur  Statistik  der  Deutschen  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherung. Bei  der  Invaliditäts-  und  Altersversicherungs- 
anstalt Berlin  sind  im  Laufe  des  Vierteljahres  vom  i.  Januar 
bis  31.  März  1893  einschliesslich  der  aus  dem  Vorjahre 
unerledigt  übernommenen  184  Ansprüche  auf  Altersrente 
und  183  Ansprüche  auf  Invaliditätsrente  erhoben  worden. 
Von  den  Ansprüchen  auf  Altersrente  wurden  100  bewilligt, 
36  abgesetzt  und  1 anderweit  erledigt,  während  47  am 
Quartalsschluss  noch  nicht  zur  Entscheidung  gelangt  waren. 
Von  den  Anträgen  auf  Invalidenrente  wurden  72  bewilligt, 
48  abgesetzt,  7 anderweit  erledigt  und  56  unerledigt  auf 
das  folgende  Quartal  übernommen.  Seit  dem  Inkrafttreten 
des  Gesetzes  bis  zum  31.  März  1893  sind  von  den  Alters- 
rentenempfängern durch  Ableben  174,  aus  andern  Gründen 
27,  insgesammt  also  201  ausgeschieden.  Am  1.  April  1893 
waren  noch  1701  Empfänger  vorhanden.  In  demselben 
Zeitraum  sind  an  Invaliditätsrentenempfänger  ausgeschieden 
durch  Ableben  26,  aus  anderen  Gründen  3,  insgesammt  29. 
Am  1.  April  er.  waren  249  Invalidenrentenempfänger  vor- 
handen. 

An  Anträgen  auf  Gewährung  von  Renten  sind  bei  der 
Hanseatischen  Versicherungsanstalt  eingegangen:  a)  an 

Altersrenten  im  Laufe  des  Jahres  1891:  1105,  1892:  404,  im 
Januar  1893:  36,  im  Februar  1893:  46,  im  März  1893:  35, 
zusammen  1626;  b)  an  Invalidenrenten  im  Laufe  des  Jahres 
1892:  181,  im  Januar  1893:  18,  im  Februar  1893:  22,  im 
März  1893:  18,  zusammen  239;  mithin  seit  Beginn  des  Jahres 
1891  an  Rentenanträgen  überhaupt  1865.  Von  den  Anträgen 
auf  Altersrente  entfallen  auf  das  Gebiet  der  freien  und 
Hansestadt  Lübeck  286,  Bremen  354,  Hamburg  986,  und  von 
den  Anträgen  auf  Invalidenrente  auf  das  Gebiet  von  Lübeck 
36,  Bremen  85,  Hamburg  118.  Von  den  Anträgen  auf 
Altersrente  sind  bis  Ende  März  d.  J.  erledigt  1589  Anträge, 
und  zwar  1392  durch  Rentengewährung,  172  durch  Ab- 
lehnung und  25  auf  sonstige  Weise,  Tod  etc.  Von  den 
Anträgen  auf  Invalidenrente  sind  bis  Ende  März  d.  J.  er- 
ledigt: 214  Anträge,  und  zwar  137  durch  Rentengewährung, 
63  durch  Ablehnung  und  14  aut  sonstige  Weise,  Tod  etc. 
Von  den  insgesammt  1529  Rentenempfängern  beziehen: 
180  Personen  eine  Altersrente  von  je  rund  106,30  M.  (Lohn- 
. klasse  I),  347  do.  135,00  M.  (Lohnklasse  II),  414  do.  163,20  M. 
(Lohnklasse  III),  451  do.  191,40  M.  (Lohnklasse  IV),  137  Per- 
sonen eine  Invalidenrente  von  rund  116,61  M.  Die  Jahres- 
summe der  bis  jetzt  gewährten  Renten  macht  insgesammt 
236400  M.  aus.  Nach  den  Berufszweigen  vertheilen  sich 
die  1529  Rentenempfänger  auf  folgende  Gruppen:  Land- 
wirthschaft  und  Gärtnerei  106,  Industrie  und  Bauwesen  631, 
Handel  und  Verkehr  237,  sonstige  Berufsarten  123,  Dienst- 
boten etc.  432  Rentenempfänger. 


Schulwesen. 

Der  Geschichtsunterricht  als  Vorbereitung  zur  Theil- 
nahme  am  Öffentlichen  Leben.  Die  durch  den  kaiserlichen 
Erlass  an  das  preussische  Staatsministerium  vom  1.  Mai  1889 
und  durch  die  Berliner  Schulkonferenz  zur  öffentlichen  Dis- 
kussion gestellte  Frage,  ob  bezw.  inwieweit  die  Schule  po- 
litisch vorbilden  und  sozialpolitisch  beeinflussen  soll,  be- 
schäftigt auch  die  für  den  5.  April  nach  München  einbe- 
rufene  Versammlung  von  Historikern.  Aus  den  bezüglichen 
Thesen  veröffentlichen  wir  die  folgenden:  Direktor  Martens 
nimmt  fast  die  gleiche  Stellung  ein,  die  im  Erlasse  des 
Kaisers  zum  Ausdrucke  kam.  „Der  kulturgeschichtliche 


Unterricht“,  so  lautet  die  betr.  These,  „berücksichtigt  be- 
züglich der  sozialpolitischen  Entwickelung,  indem  er 
die  einschlägigen  Thatsachen  aus  der  alten,  mittleren  und 
neueren  Geschichte  bewusst  unter  den  sozialpolitischen 
Gesichtspunkt  stellt,  die  wirthschaftlichen  Verhältnisse 
vornehmlich  des  deutschen  Volkes,  so  dass  nicht  nur  das 
Verständniss  für  die  soziale  Frage  der  Gegenwart 
geweckt,  sondern  auch  die  Mittel  und  Wege  zur  Be- 
kämpfung der  heutigen  Sozialdemokratie  auf  dem 
Grunde  des  verantwortungsvollen  Staatsbewusstseins  ge- 
zeigt werden.“  Demgegenüber  stellt  Prof.  Dove  folgende 
These  auf:  „Beim  Vortrage  der  neuesten,  für  die  oberste 
Schulstufe  bestimmten  Geschichte  ist  eine  kundige,  jedoch 
durchaus  objective,  von  aller  Tendenz  freie  Erläu- 
terung der  gegenwärtig  in  Staat,  Kirche,  Recht,  Volkswirth- 
schaft  u.  s.  w.  bestehenden  Ordnungen  und  Verhältnisse 
von  Seiten  des  Lehrers  angebracht  und  erwünscht.  Die- 
selbe wird  indessen  nur  dann  sichern  Nutzen  stiften,  wenn 
Studiengang  und  amtliche  Prüfung  der  künftigen  Lehrer 
der  neueren  Historie  ausdrücklich  auch  auf  das  Gebiet  der 
Staatswissenschaften  erstreckt  werden.“  Prof.  Kauf- 
mann formulirt  daneben  noch  folgende  Sätze:  „Bei  der 
Geschichte  der  neuesten  Zeit  ist  schon  auf  der  Mittelstufe 
Kenntniss  zu  geben  von  der  Verfassung  des  Reiches  und 
des  Landes.  Auf  der  Oberstufe  ist  diese  Kenntniss  zu  ver- 
tiefen und  durch  Vergleichung  mit  den  politischen  Ord- 
nungen anderer  moderner  Staaten  einerseits  und  des  Mittel- 
alters und  Alterthums  andererseits  zu  erläutern.“  „Die  an 
sich  wünschenswerthe  Einführung  in  mancherlei  Formen 
und  Pflichten  des  öffentlichen  Lebens  ist  nicht  Sache 
des  Geschichtsunterrichts.“  „Erkennt  man  das  Be- 
dürfniss  an,  so  ist  zu  erwägen,  ob  nicht  nach  dem  Muster 
anderer  Staaten  auf  der  Mittelstufe  eine  Stunde  für  bürger- 
liche Geschäftsaufsätze  und  Gesetzeskunde  einzuführen  sei.“ 
Schärfer  noch  als  Prof.  Dove  protestirt  endlich  Prof.  Kauf- 
mann gegen  jede  kirchliche  und  politische  Ten- 
denz im  Geschichtsunterricht.  Er  erklärt  sich  gegen 
jeden  Versuch,  die  Jugend  zu  bestimmten  Ansichten 
über  politische,  kirchliche  und  soziale  Fragen  und 
Parteien  zu  erziehen  und  verlangt  volle  Unabhängig- 
keit für  den  Lehrer  und  gemeinsamen  Geschichtsunter- 
richt für  die  verschiedenen  Konfessionen. 


Criminalität. 

Arbeitsverdienst  der  Gefängnissarbeiter.  Ueber  die  Ver- 
wendung des  Arbeitsverdienstes  der  gerichtlichen 
Gefangenen  sind  am  1.  April  neue  Bestimmungen  in  Kraft 
getreten,  die  der  Justizminister  durch  eine  allgemeine  Ver- 
fügung vom  22.  März  er.  bekannt  giebt.  Bisher  wurde  der 
Reinertrag  aus  der  Gefangenenbeschäftigung  derartig  ver- 
wendet, dass  ein  Drittel  den  Gefangenen  selbst  überwiesen 
wurde,  das  zweite  Drittel  zu  dem  allgemeinen  Staatsfonds 
eingezogen  wurde  und  aus  dem  letzten  Drittel  den  beim 
Arbeitsverdienst  thätig  gewesenen  Gefängnissbeamten  an- 
gemessene Remunerationen  bewilligt  wurden,  während  der 
Rest  zu  den  von  den  Oberlandesgerichten  verwalteten 
Provinzialwaisenfonds  abgeführt  wurde.  Nachdem  nunmehr 
der  Kaiser  durch  Erlass  vom  7.  September  1892  genehmigt 
hat,  dass  die  bisher  an  die  Provinzialwaisenfonds  ab- 
geführten Zuschüsse  aus  dem  Gefangenenarbeitsverdienst  vom 
1.  April  d.  J.  ab  zu  dem  allgemeinen  Staatsfonds  ab- 
geführt werden  sollen,  wogegen  der  in  den  Etat  eingestellte 
Betrag  für  Unterstützungen  der  verschiedenen  Beamten  wie 
der  Wittwen  und  Waisen  von  Beamten  erhöht  werden  soll, 
wird  der  Arbeitsverdienst  in  Zukunft  folgendermaassen  ver- 
theilt werden:  ein  Drittel  erhalten,  wie  bisher,  die  Ge- 
fangenen, ein  Sechstel  wird  zu  Remunerationen  der  Be- 
amten verwendet  und  der  übrige  Betrag  einschliesslich  der 
etwa  nicht  zur  Ausgabe  gelangenden  für  die  Gefangenen 
reservirten  Verdienstantheile  wird  zu  dem  allgemeinen 
Staatsfonds  eingezogen. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


17,500  Seiten  Text, 


340 


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5lllhrpfi>IT  r>r-’  9^eS*erun3§rat^>.  ©orfteßer  ber  Spejidfotnmiffion  ißofen, 
|jic  fjoiitcngütcrgefeßc  in  firnißen  com  27.  Juni  1890  unb 
7.  Juli  1891.  Septaugg.  mit  Slmnerfunaen.  ^art.  'Bf.  1,  poftfrei  9)7.  1,05. 

ititn  ‘Ärnftpht  Obersißräfibialratß,  §te  pegcorbmtng  für  bic  flronin? 
null  (gviniuft,  §ndjfrn  bom  11.  Juli  1891.  erläutert.  Äart.  9)7.  1,60, 
poftfrei  9)7.  1,70. 

Han  gnninbndi-f iripDeiiii,  lÄ 

2)urd)tüßrung  ber  Unfallberfüßerung  betßeiligten  Staatg*  unb  kommunal* 
beßörben.  Sreig  3)?.  4,  geb.  50?.  5,  poftfrei  je  937.  0,30  mehr. 

ttrtiT  4ßrmtrllttfrlr  ncucn  Srrußiftßcn  SenmUtungsgefeße. 

TUll  jjJt-imufUfltJ)  syjnc^  j,em  2-0jje  j,eg  sgerfafjerg  umgearbeitet,  fortgefüßrt 

unb  ßerauggegeben  ben  Stubt,  Dberpräfibent  ber  Sßrouin$  Söeftfalen, 
unb  Srautibeßreng,  ltnterftaatgfefretär  im  9J7inifterium  beg  Jnnern. 
Satib  I — IV.  ©eb.  je  937.  8,  jpoftfrei  937.  8,30. 

Dr-’  3tmtgricl>tetr  §ßs  ftrcußifdjc  Vereins-  mtb  Serfamtnlungs- 
ft  uu  ">  red)t,  unter  befonberer  Serücfficßtigung  beg  ©efeßeg  oom  11.  9J7är$ 
1850.  Ißreib  937.  1,  poftfrei  937.  1,10. 

flfintlYhi>rhimrtf>n  il£S  &öntgi.  ©benicnmtltungsgeridjts.  Tperaugg. 
\^/lU|ll)t  luiliuiut  uon  3eben§,  Senatgpräfibent  beg  Äonigl.  Dbetber» 

tbaltungggericßtg,  SBirtl.  ©eßeimer  £)berregierunggratß,  bon  507 eueren, 
Senatgpräfibent  beg  ^onigl.  Dßerbertbaltungggericßtg,  2Birfl.  ©eßeimer 
Dberregierunggratß,  unb  griebrießg,  Äonigl.  Dßerbertbaltungggericßtg* 
ratb-  Sb.  I— XXIII  je  937.  7,  geb.  9)7.  8,  poftfrei  je  937.  0,30  mehr, 
fjcutpt-flegißer  p Sb.  I— XX  937.  7,  geb.  937.  8,  poftfrei  je  937.  0,30  tneßr. 

JFlTtlffltfT  ®et>-  £)ber*3finanjratb,  Sß$  flreußtfdje  Q£inltoinmctt|leucrgefcß 
BOm  24.  guni  1891  u.  bie  Ülugfüßrunggamoeifung  bom  5. Slug.  1891 
mit  ©rläuterungen  unb  einer  ©inleitung:  ®ie  gefcßicßtlicße  entmicfelung 
beg  ißreuf;.  Stenerfpftemg  unb  fpftematifdje  IDarftellung  ber  ©infommem 
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JTiriftittrt  ®e^-  Ober=3inanjratb,  Sßß  flreußtfdje  ©enicrbc|tcuergcfeß  bom 
ijj  ui/tuu^  24.  gUni  1891  unb  bie  Slugfübrunggamueijungen  mit  ©rläute* 
rungen  unb  einer  einleitung:  Sie  gefcßicßtlicße  ©ntmicfelung  ber  getoerß* 
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mrnihrtlllVlT  51  - ^anbratf),  3ns  pcgcrcdjt  unb  bic  Pegener- 
WCilUU.,  ifuuftn,  urultung  in  firnißen  nebjt  ©rgänäunggßeft 
2 Sbe.  9)7.  18,50,  geb.  9)7.  21,  poftfrei  je  9)7.  0,50  meßr. 

SrtlltPtT  ®e^-  öber.97eg.=9iatß,  §ic  flrcußifdjc  gimbgcnteinbcurbnung  für 
bic  ficbcn  ößiidjen  flrooinjen  ber  ponnrdjie  bom  3.  Juli  1891. 
©rläutert.  ©eb.  937.  6,  poftfrei  9)7.  6,30. 

Jftprrfnrth  ©taatgminifter,  unb  $.  ftäU,  ®eß.  Dber=97egierungg=97atß, 
oJ***  Itu  gjommunnlabgubcngcfcß.  Smeitc  berm.  Stuft,  ©eb.  937.  5, 
poftfrei  937.  5,20. 

Pflhrnitn  &•>  97cgierunggratb , Sie  fTreußifdjen  S£«tcngutsgefeijn 
mjUUUl,  ^ 2>40t  poftfrei  937.  2,50.  _ __  _ 

Iftrtrtrto  Dber-97egierunggratß,  Sib  neueren  ffiefeße  nuf  bem  ffiebiete  bcs 
glMll  Sreuß.  ffgUfgfüluliuefrns.  937.  5,  geb.  9)7.  6,  poftfr.  je  937. 0,30  meßr. 

illtrlltPlllTT  I)l'-  8.,  ©eßeimer  97egierunggratß,  unb  Dr.  J#l.  ^ür|t,  ©eßeimer 
cVui'tti<tt)  ®ergratßi  ^us  Seidjsgefcß  betreffenb  bie  ©enierbegcridjtc. 
Sem  29.  Juli  1891.  ©eb.  937.  9,  poftfrei  9)7.  9,30. 


«Ifitllcö  iifiön» 

Sargcftcllt 

auf  ®rmii3  einer  uerlorcn  geglaubten 
fjaubfdjriften-Saimnlung 

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beut  Porträt  geleite  uoit  ^laroruitjaö 

Don 

frntt?  tum  fcttlutd) 

unb 

fmei  gfiefeit  in  ^nkfimile. 

8°,  XII  unb  188  Seiten. 

©eßeftet  $reig  907.  3,  gcbunbeti  sf3rei§  9)7.  4. 
3u  beließen  bureß 

Paul  §rf)fllcrü  lu^anbluttg  (|.  giiptnmntl)«) 

Scrliii  W.,  90?arfgrnfeuftr.  39/40. 


Sluliu^  ^ittenfeiö,  ^ßertiti  W. 

Beridit 

über  bte 

©cmcinbcomunüung  ber  gfnbt  ferlin 

in  kn  |ö|jrcit  1861—76. 

I.  Sßeil  4 937!.  II.  2ßeil  6 937f.  III.  Sßeil  5 937! 
gebunben  in  Seimnanb. 

Bericht 

über  bie 

lemtinbrnmnaüuug  hr  gtabt  Srrliii 
in  kn  laljfgn  1877—81. 

I.  big  III.  2ßeil  je  5 93?f. 
gebunben  in  Seimcanb. 

^3erid^t 

über  bie 

®eumnbruerinnltiiiig  kr  ^tnbtgrrlitt 
in  kn  göjjrcn  1882 — 88. 

1.111.  Sßeil  je  5 937 f.,  III.  Sßeil  4 93?f. 
gebunben  in  Seinmanb. 


Sdjriftcn  ber  (£entralftelle  für 
21rbciter--lDoljlfal]rtsetnnd)tungcn. 

<s^)/^E5^a 

97r.  1. 

|ie  Uerbelfenniß  ter  Pnljiiinipn. 

93?it  208  ?lbbilbungen  im  2ej;t. 

8°.  VI  unb  370  Seiten, 
ißreig  geßeftet  93?f.  8.—,  poftfrei  937f.  8.30. 
„ gebunben  937f.  9.—,  poftfrei  937f.  9.30. 

97r.  2. 

Die  ^edmtä^ige  Derroenbmig 

ber 

§nitntitgs-  uitö  feierieit. 

8°.  IV  unb  94  Seiten, 
ißreig  geßeftet  937f.  2.—,  poftfrei  937f.  2.10. 

(Karl  tjeijmami?  öcrlag  in  öcrltn  W., 

937auerftraße  44. 


Carl  Heymanns  Verlag  in  Berlin  W.,  Mauerstrasse  44.  — Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld  in  Berlin  W. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  17.  April  1893. 


Nummer  29. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 


Herausgeber : 


Erscheint  jeden  Montag. 

Zu  beziehen 

durch  alle  Buchhandlungen,  Spediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 

Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Anzeigenpreis  für  die  dreigespaltene  Colonelzeile 
40  Pfennig 


INHALT. 


Sozialpolitische  Maassregeln 
gegen  die  verbrecherische 
und  verwahrloste  Jugend. 
Von  Dr.  Ernst  Rosenfeld. 

Der  Stand  der  Vermögens- 
steuer in  Preussen.  Von 
Privatdozent  Dr.  J.  Jastrow. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  und 
Wirtlischaftsstatistik : 

Wirkungen  des  Alkohohnonopols 
in  der  Schweiz.  Von  Rechts- 
anwalt E.  Ramsperger. 

Handwerkerkammern  in  Deutsch- 
land. 

Zur  Handhabung  des  Arbeits- 
buches. 

Amtliche  Arbeits- Nachweisstellen 
in  Schlesien. 

Oeffentliche  Arbeits-Nachweisämter 
in  Ohio. 

Arbeiterzustände : 

Arbeitslosenstatistik. 

Abnahme  des  Fleischkonsums  in 
Nürnberg. 

Frauenarbeit  im  französischen 
Handels-  und  Verkehrsgewerbe. 


Zur  Lage  der  Minenarbeiter  in 
Grossbritannien. 

Gewerkschaftliche  Arbeiterbe- 
wegung : 

Zum  Strikeder  Dockarbeiter  in  Hüll. 

Arbeitersclmtzgesetzgebung : 

Schutz  der  Arbeiterinnen  in  der 
Schweiz. 

Zur  Reform  des  Arbeiterschutzes 
im  belgischen  Bergbau. 

Arbeiterversichernng : 

Unfallhäufigkeit  an  verschiedenen 
Wochentagen. 

Arbeiterversicherung  und  Armen- 
pflege in  Berlin. 

Criininalität : 

Versammlung  der  deutschen  Lan- 
desgruppe der  Internationalen 
Criminalistischen  Vereinigung. 

Schulwesen , Erziehungs-  und 
Bildungsfragen : 

Der  deutsche  Historikertag  und 
der  Geschichtsunterricht. 

Vermischtes: 

Zur  sozialpolitischen  Betrachtung 
des  Kartenspiels. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Sozialpolitische  Maassregeln  gegen  die  ver- 
brecherische und  verwahrloste  Jugend. 

Wenn  irgendwo  die  sozialpolitische  Auffassung  des 
Strafrechts  Aussicht  hat  sich  durchzusetzen,  so  ist  es  auf 
dem  Gebiet  der  Behandlung  verbrecherischer  und  verwahr- 
loster Jugend.  In  unwiderleglicher  Sprache  führen  uns  die 
Zahlen  der  Kriminalstatistik  den  von  Jahr  zu  Jahr  steigen- 
den Antheil  der  Jugendlichen  am  Verbrecherthum  und  da- 
mit die  Widersinnigkeit  unserer  staatlichen  Repression  vor 
Augen,  die  lediglich  die  abschreckende  Kraft,  welche  der 
Strafandrohung  vielleicht  noch  beiwohnte,  durch  den  Straf- 
vollzug unwiederbringlich  ertötet.  Um  das  Verbrechen  des 
Jugendlichen  zu  sühnen,  schickt  die  Gesellschaft  ihn  auf 
die  Hochschule  des  Lasters  und  verdient  an  dem  Fehlenden 
sich  wiederum  einen  Verbrecher.  Das  Kind,  „das  da  fällt, 
stossen  wir  noch“,  sobald  sein  Intellekt  fähig  war,  den 
simplen  Satz  aufzunehmen,  dass  Stehlen  etwas  Böses  ist. 

Unter  der  ungeheuren  Last  der  Schuld,  die  sie  stünd- 
lich vermehrt,  scheint  doch  das  Gewissen  der  Gesellschaft 
sich  zu  rühren.  Ein  Zeichen  dess  der  dumpfe  Widerwille, 


mit  dem  meist  in  unserer  Praxis  der  Richter  ein  auf  Strafe 
lautendes  Urtheil  gegen  einen  Jugendlichen  fällt,  weil  er  es 
fällen  muss;  — ein  Zeichen  dess  das  rege  Interesse,  mit 
dem  Fachleute  wie  Laien  der  Kommission  der  Internationalen 
kriminalistischen  Vereinigung  (Gruppe  Deutsches  Reich) 
ihre  Beiträge  zur  Frage  der  Behandlung  jugendlicher  Ver- 
brecher und  verwahrloster  Kinder  boten,  und  die  ängst- 
liche Sorgfalt,  mit  der  auch  pädagogische  und  theologische 
Konferenzen  diese  Frage  in  den  Vordergrund  schieben. 
Und  ein  ferneres  wichtiges  Zeichen  dafür  liegt  in  dem  Ver- 
lauf und  den  Ergebnissen  der  eben  abgeschlossenen  Ber- 
liner Versammlung  der  genannten  „Gruppe  Deutsches 
Reich“.  Gerade  aus  der  Lebhaftigkeit  und  Allgemeinheit 
des  Empfindens,  dass  unser  Thun  in  diesen  Dingen  nicht 
nur  Stückwerk,  sondern  von  Grund  aus  methodisch  verfehlt 
ist,  erklärt  sich  die  Geringwerthigkeit  der  Debatten,  deren 
Verlauf  keine  allzugrossen  Dissonanzen  innerhalb  der  Ver- 
sammlung enthüllen  konnte. 

Zu  Gunsten  des  bisherigen  Kriteriums  der  Strafmündig- 
keit, der  „zur  Erkenntniss  der  Strafbarkeit  erforderlichen 
Einsicht“,  erhob  sich  nicht  eine  Stimme.  Dieses  Erbstück 
aus  dem  französischen  Recht,  das  wir  nebst  manchem  an- 
deren Glaubensartikel  wissenschaftlicher  und  politischer 
Schulweisheit  übernahmen,  ohne  dass  es  historische  Wurzeln 
in  unserem  Kulturleben  vorfand,  wird  in  der  That  von  so 
wenigen  noch  vertheidigt,  dass  hierum  ein  ernstlicher  Kampf 
nicht  nöthig  war,  weil  von  hier  aus  ernstliche  Schwierig- 
keiten nicht  erwachsen  werden.  Die  Versammlung  war 
dahin  sich  einig,  dass  die  Straffähigkeit  sittliche  Reife 
voraussetzt,  dass  diese  vor  dem  vollendeten  14.  Lebensjahre 
jedenfalls  nie  vorhanden  ist,  und  dass  deshalb  ein  Kind 
unter  14  Jahren,  das  eine  strafbare  Handlung  begeht,  straf- 
rechtlich nicht  verfolgt,  wohl  aber  in  staatlich  überwachte 
Erziehung  genommen  werden  kann.  Zwischen  dem  14.  und 
18.  Lebensjahr  hat  der  Richter  jeden  Einzelfall  zu  prüfen 
und  je  nach  dem  Ergebnisse  auf  Strafe  oder  auf  Erziehung 
(oder  auf  beides)  zu  erkennen. 

Soweit  die  verbrecherische  Jugend.  Die  internationale 
kriminalistische  Vereinigung  ist  von  Anfang  an  viel  weiter 
gegangen.  Unter  sozialem  Gesichtspunkt  muss  es  unver- 
nünftig erscheinen,  wenn  man,  um  mit  der  Erziehung  ein- 
zusetzen, stets  warten  wollte,  bis  die  Gesellschaftsgefährlich- 
keit des  Jugendlichen  in  einer  Strafthat  sich  entladet.  Die 
Vereinigung  hat  daher  auch  die  verwahrloste  Jugend  in 
ihre  Betrachtung  einbezogen:  sie  verlangt,  dass  man  rück- 
sichtslos den  entarteten  Sprössling,  von  dem  man  fürchten 
muss,  dass  er  am  Lebensbaum  der  Gesellschaft  nur  schma- 
rotzen werde,  herausreisse  aus  dem  untüchtigen  Boden 
seiner  Familie  und  unter  die  Wartung  des  Staates  stelle. 
Die  Besorgniss  sittlicher  Verwahrlosung  soll  bei  Jugend- 
lichen unter  18  Jahren  zur  Verfügung  staatlich  überwachter 
Erziehung  genügen. 


342 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  29. 


Die  Diskrepanz  gegenüber  der  bisherigen  Auffassung 
elterlicher  Erziehungsrechte  leuchtet  ein  und  liess  prin- 
zipiellen Widerspruch  erwarten.  Doch  kam  er  nur  von 
Seiten  des  einen  Referenten,  der  in  einseitig  privatrecht- 
licher Auffassung  seine  Ueberzeugung  dahin  aussprach,  dass 
es  sich  hier  um  unveräusserliche  Rechte  des  Vaters  handle, 
deren  Ausübung  ihm  nur  ganz  ausnahmsweise  unter  völlig 
genauen  Begrenzungen  entzogen  werden  könne.  Der  Aus- 
druck freilich,  den  dieser  Widerstand  hier  erfuhr,  hätte  zur 
Auslösung  fruchtbarer  Debatten  in  seiner  Intensität  bedeu- 
tend vertieft  sein  müssen.  Bei  wirklicher  Durchführung 
aber  wird  der  Hauptvorstoss  der  Gegner  von  dieser  Seite 
kommen.  Instinktiv  ahnt  man  es,  dass  diese  Neuerung  ein 
gefährliches,  über  die  Jugendlichen  und  über  das  Strafrecht 
weit  hinausreichendes  Gefolge  haben  kann;  und  das  Schlag- 
wort, man  beschwöre  den  sozialistischen  Zukunftsstaat  her- 
auf, ist  bereits  gefallen. 

Mit  der  Durchführung  dieser  Sätze  hat  das  Strafrecht 
eine  gewaltige  Einbusse  zu  Gunsten  der  Sozialpolitik  zu 
erleiden.  So  diffizil  die  Scheidung  beider  sein  mag.  — ich 
meine,  es  lässt  sich  sagen,  dass  Verhängung  und  Vollzug 
aller  derjenigen  Maassregeln,  die  präventiv  zu  wirken  be- 
stimmt sind,  aus  dem  Gebiet  des  Strafrechts  herausfällt. 
Voraussetzung  ist  hier  nicht  eine  juristisch-logische  Ope- 
ration, sondern  ein  von  psychologischen  und  sozialen  Er- 
fahrungen berathenes  Taktgefühl.  Wo  wir  ein  Kind  nicht 
ins  Gefängniss,  sondern  in  die  Zwangserziehung  schicken, 
da  wirken  wir  vorbeugend : wir  wollen  den  seelischen  Nähr- 
boden zur  Aufnahme  weiterer  verbrecherischer  Keime  un- 
tauglich machen.  Wir  geben  somit  nach  den  Berliner  Be- 
schlüssen jeden  sittlich  unreifen  Jugendlichen  bis  zu  1 8 Jahren, 
der  eine  strafbare  Handlung  begangen  hat,  in  die  Hände 
des  Sozialpolitikers.  Unlogisch  wäre  es  aber,  Vorbeugung 
nur  da  eintreten  zu  lassen,  wo  zugleich  ein  bereits  mani- 
festes Uebel  zurückzudämmen  ist,  — wir  scheuen  auch  vor 
dem  letzten  Schritt  nicht  zurück:  die  Befürchtung  einer 
künftigen  Strafthat  genügt  uns.  Es  liegt  hier  vollends  auf 
der  Hand,  dass  nicht  einmal  der  Ausspruch  der  Er- 
ziehungsmaassregeln in  das  Fach  des  Strafrichters  hinein- 
fällt. 

In  energischer  Weise  fordern  die  Berliner  Beschlüsse 
ein  Reichsgesetz  zur  Ordnung  der  berathenen  Materie  und 
suchen  auf  dessen  Erlass  durch  eine  an  den  Reichskanzler 
und  an  den  Reichstag  zu  richtende  Petition  hinzudrängen. 
Zu  den  gesetzgeberischen  Vorarbeiten  wird  vor  allem  eine 
Enquete  zu  gehören  haben,  die  uns  ein  Bild  gewinnen 
lässt  von  dem  jetzt  kaum  übersehbaren  Umfang,  den  die 
vorgeschlagenen  Maassregeln  beanspruchen  werden,  und 
von  der  Grösse  der  Eingriffe,  die  sie  in  unsere  ge- 
sammten  sozialen  Verhältnisse  und  in  die  Beziehungen 
der  Familie  hineintragen  werden.  Nicht  nur  in  dem 
Nachwuchs  des  grossstädtischen  Proletariats  lassen  wir 
heute  eine  unermessliche  Fluth  gesellschaftlich  untüch- 
tiger und  gesellschaftsfeindlicher  Stoffe  stetig  anschwellen; 
auch  unter  der  ländlichen  Bevölkerung  bilden  alle  jene  Ver- 
hältnisse, die  ein  Fluktuiren  der  Arbeitermassen  schaffen, 
wie  die  Sachserigängerei,  eine  Quelle  der  Vereinsamung, 
Verödung,  Verkommenheit  der  Jugend. 

Eine  Enquete  würde  im  Gegensatz  zu  den  ungenügenden 
Anhaltspunkten  der  jetzigen  Rechtsstatistik  uns  das  ge- 
waltige Panorama  mit  grausamer  Deutlichkeit  entrollen. 
Die  alsdann  sich  zeigende  Grösse  trostloser  Verwahrlosung 
der  Jugend  würde  die  endlich  zur  Hilfe  sich  regende  Hand 
der  Gesellschaft  nicht  erlahmen  lassen,  im  Gegentheil  sie 
in  klarer  Erkenntniss  der  furchtbaren  Schuld,  die  sie  bisher 
auf  sich  geladen  hat,  emsiger  sich  regen  und  der  grossen 
Aufgabe  eine  Reklassirung  aller  Deklassirten  in  der  einzig 
wirksamen  Weise  Vorarbeiten  lassen. 

Halle  a.  S.  Ernst  Rosenfeld. 


Der  Stand  der  Vermögenssteuer  in  Preussen. 

Der  Kommissionsbericht  über  den  Gesetzentwurf,  welcher 
die  Vermögenssteuer  in  Preussen  einführen  soll,  ist  er- 
schienen. Die  Kommission  hat  nach  langen  und  eingehen- 
den Verhandlungen  nach  Durchberathung  förmlicher  Gegen- 
entwürfe schliesslich  doch  den  Entwurf  der  Regierung  zur 
Grundlage  genommen  und  nur  in  Einzelheiten  modifizirt. 

Um  nur  der  verhassten  Vermögenssteuer  zu  entgehen,  waren 
ihre  Gegner  bereit,  der  Regierung  die  Mittel  auf  andere 
Art  aufzubringen.  Indem  auf  der  einen  Seite  eine  (für 
diesen  Zweck  unbrauchbare)  Neugestaltung  der  Erbschafts- 
steuer, auf  der  andern  eine  „fundirte  Einkommensteuer“  - 
deren  Organisation  so  ungeheuerlich  wäre,  wie  ihr  Name '), 
vorgeschlagen  wurde:  ist  es  dem  Finanzminister  gleichwohl 
gelungen,  zwischen  Scylla  und  Charybdis  sein  Vermögens- 
steuer-Schifflein hindurchzusteuern. 

Es  ist  ein  nicht  geringer  Erfolg,  dass  zum  ersten  Mal 
in  einem  europäischen  Grossstaate  der  Gedanke,  das  Ver- 
mögen als  solches  zum  Steuerobjekt  zu  machen,  legislative 
Formen  anzunehmen  im  Begriff  steht.  Mag  nun  das 

Schicksal  der  Vorlage  sein,  welches  es  wolle,  für  eine 
sozialpolitische  Ausgestaltung  unserer  Steuerverfassung  kann 
es  nicht  ohne  Bedeutung  sein,  dass  der  Ausschuss  eines 
Parlaments,  welches  nichts  ist  als  eine  Vertretung  der  be- 
sitzenden Klassen,  sich  zu  dem  Eingeständniss  genöthigt 
gesehen  hat,  dass  für  die  Ergänzung  der  heutigen  Finanz- 
gesetzgebung der  Weg  der  Vermögenssteuer  der  beste,  ja 
der  einzig  richtige  ist. 

Dieser  Erfolg  wird  in  erster  Linie  der  wissenschaftlich 
umsichtigen  Art  verdankt,  mit  welcher  das  preussische 
Finanzministerium  seine  Vorlage  vertheidigt  hat.  Die  Re- 
gierungskommissare traten  gewappnet  in  die  Kommissions- 
verhandlungen ein.  Auf  jeden  Einwand  und  jeden  Gegen-  , 
entwurf  der  widerstrebenden  Kommissionsmitglieder  (und  t 
dies  wird  im  Anfang  die  entschiedene  Mehrheit  gewesen 
sein)  antworteten  sie  mit  voller  Sachkenntniss  und  mit  der 
geschickten  Illustration  an  Beispielen  des  täglichen  Lebens, 
welche  das  wirkungsvollste  Argument  in  den  Händen  ; 
theoretisch  gebildeter  Praktiker  ist.  So  musste  denn  gegen- 
über der  steuertechnischen  siegreichen  Abwehr  aller  Gegen- 
entwürfe die  Mehrheit  der  Kommission  sich  schliesslich  j 

gefangen  geben.  Und  sie  hat  es,  wie  man  anerkennen  1 

muss,  in  würdiger  Weise  gethan. 

Auch  der  Kommissionsbericht  ist  eine  wissenschaftlich 
werthvolle  Arbeit.  Je  öfter  wir  während  der  Dauer  der 
Berathungen  die  Mangelhaftigkeit  und  das  Widerspruchs- 
volle der  in  die  Oeffentlichkeit  gelangenden  Berichte 
bedauert  haben,  desto  mehr  müssen  wir  jetzt  an  dem 
vollendet  vorliegenden  Bericht  die  vollständige,  ausführ- 
liche und  klare  Auseinandersetzung  anerkennen.  Da  die 
Vermögenssteuer  in  der  Finanzentwickelung  der  europäischen 
Staaten  während  der  nächsten  Jahrzehnte  nicht  von  der 
Tagesordnung  verschwinden  wird,  da  Preussen  selbst  (wenn 
dieser  Entwurf  vielleicht  noch  im  letzten  Stadium  scheitert) 
und  die  anderen  europäischen  Staaten  dieselben  Fragen 
noch  wiederholt  diskutiren  werden,  so  lässt  sich  voraussehen, 
dass  dieser  Kommissionsbericht  unendlich  oft  zu  Rathe 
gezogen  werden  wird.  Sein  allgemeiner  Theil  giebt  einen 
kurzen  Ueberblick  über  die  Absichten  des  Regierungs- 
entwurfs, sowie  der  dagegen  eingegangenen  Petitionen,  und 
stellt  sodann  die  Gründe  für  und  wider  zusammen,  wie  sie 
während  der  Kommissionsberathungen  zu  Tage  gekommen 
sind.  Endlich  werden  die  Vorschläge  zu  einer  „fundirten 
Einkommensteuer“,  sowie  zu  einer  Veränderung  der  Erb- 
schaftssteuer im  Wortlaute  nebst  Begründung  der  Antrag- 
steller mitgetheilt  und  reichliches  vergleichendes  Material, 

J)  Vgl.  Sozialpolitisches  Centralblatt  No.  15 — 17  (S.  173  ff., 

187.  200). 


No.  29. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


343 


namentlich  aus  der  gegenwärtigen  Erbschaftssteuergesetz- 
gebung anderer  Länder  beigegeben. 

Im  Einzelnen  ist  das  Sozialpolitische  Centralblatt  den 
Arbeiten  der  Kommission,  soweit  die  bisherigen  Berichte 
es  gestatteten,  gefolgt.  Auf  die  Gefahr  einer  Wiederholung 
hin  ist  es  gleichwohl  nöthig,  jetzt,  wo  die  Commissions- 
arbeit im  Ganzen  vorliegt,  sie  noch  einmal  zu  besprechen, 
theils  weil  die  damaligen  Berichte  nicht  immer  genau  und 
in  sich  verständlich  waren,  theils  auch  weil  nur  der  zu- 
sammenhängende Ueberblick  die  richtige  Darstellung  giebt. 

Die  für  uns  wichtigsten  Aenderungen  können  wir  in 
drei  Gruppen  zusammenfassen.  Sie  betreffen  die  Bestimmung 
der  Vermögensobjekte,  den  Modus  der  Werthermittelung 
und  die  Stellung  zu  den  kleineren  Vermögen. 

Die  Aufzählung  der  einzelnen  Vermögensob- 
jekte hat  für  die  Frage,  welche  sozialen  Kreise  von  der 
Steuer  betroffen  oder  verschont  werden,  deswegen  eine 
gewisse  Bedeutung,  weil  das  Gesetz  eine  bindende  Be- 
griffserklärung für  das  Wort  Vermögen  nicht  aufstellt,  son- 
dern alles  Gewicht  auf  die  Einzelaufzählung  legt.  Renten 
hat  der  Entwurf  im  Allgemeinen  mit  ihren  Kapitalwerthen 
besteuert,  aber  erarbeitete  Pensionen,  sowie  Renten  aus 
der  gesetzlichen  Alters-  und  Invalidenversicherung  und  aus 
jeder  Kranken-  und  Unfallversicherung  frei  gelassen  (§  7c). 
An  anderer  Stelle  (§  15)  hat  der  Entwurf  Lebensversiche- 
rungsansprüche, welche  noch  nicht  fällig  sind,  mit  ihrem 
zeitigen  Kapitalswerth  herangezogen  und  bei  dieser  Ge- 
legenheit nochmals  die  Kassenansprüche  ausgenommen. 
Die  Kommission  hat  beide  Bestimmungen  vereinigt  und 
die  Fassung  präziser  gemacht.  Dieselbe  lautet  gegenwärtig: 

Die  Bestimmung findet  keine  Anwendung  auf 

Ansprüche  an  Wittwen-,  Waisen-  und  Pensionskassen,  auf 
Ansprüche  aus  einer  Kranken-  oder  Unfall-  oder  der  gesetz- 
lichen Invaliditäts-  und  Altersversicherung,  auf  Pensionen, 
welche  mit  Rücksicht  auf  ein  früheres  Arbeits-  oder  Dienst- 
verhältniss  gezahlt  werden,  sowie  auf  Renten,  welche  in 
letztwilligen  Verfügungen,  Personen  zugewendet  sind,  die  zum 
Hausstande  des  Erblassers  gehören  und  in  einem  Dienstver- 
hältniss  zu  demselben  gestanden  haben.  (§  7c.) 

In  Bezug  auf  Patent-  und  Verlagsrechte  ist  ein  nicht 
ganz  klarer  Rechtszustand  geschaffen.  Nach  § 4 gehören 
zum  steuerbaren  Vermögen:  „Niessbrauchs-  und  andere 
selbständigen  Rechte  und  Gerechtigkeiten,  welche  einen  in 
Geld  schätzbaren  Werth  haben.“  In  der  Kommission  wurde 
von  der  einen  Seite  behauptet,  dass  diese  Rechte  volks- 
wirtschaftlich nicht  zum  Vermögen  gehörten.  Es  sei  in 
ihnen  nur  erst  der  Weg  gegeben,  auf  welchem  Vermögen 
erworben  werden  könne;  sie  stellen  eine  Quelle  dar,  ähn- 
lich wie  beim  Arbeitseinkommen  die  persönliche  Qualifika- 
tion. Ein  anderes  Mitglied  meinte,  dass  Verlags-  und 
Patentrechte  jedenfalls  kein  fundirtes  Vermögen1)  repräsen- 
tirten,  da  sie  schnell  erlöschen  könnten  und  leicht  ihren 
Werth  verlören;  der  deutsche  Buchhandel  sei  über  den 
Werth  der  Verlagsrechte  durchaus  zweifelhaft.  Dem  gegen- 
über wurde  betont,  dass  der  Vermögenscharakter  von  Ver- 
lags- und  Patentrechten  sich  schon  darin  zeige,  dass  sie 
thatsächlich  als  Vermögensobjekte  behandelt  und  verkauft 
werden.  Der  Bericht  erinnert  in  dieser  Beziehung  an  das 
Aufführungsrecht  des  Lohengrin  und  an  die  Cotta’schen 
Verlagsrechte  bezüglich  der  Werke  von  Schiller  und  Göthe. 
Ob  ein  Patent-  oder  Verlagsrecht  einen  Werth  darstelle, 
sei  im  Einzelfalle  zu  prüfen.  Man  sieht,  welche  sozial- 
politisch wichtigen  Fragen  über  das  Verhältniss  von  Arbeit 
und  Kapital  in  diese  Fragen  der  Besteuerung  hineinspielen. 
Mir  scheint,  dass  hier  die  Kommissionsberathung  zu  wenig 
an  den  sozialen  Kreis  gedacht  hat,  dem  diese  Besteuerung 
gelten  soll.  Nach  dem  Bericht  hat  man  den  bestimmten 
Eindruck,  dass  Patent-  und  Verlagsrechte,  wenn  sie 


l)  sic!  — Giebt  es  auch  unfundirte  Vermögen? 


einen  Vermögenswerth  haben,  unter  die  Steuer  fallen 
sollen.  Aber  man  hat  den  ebenso  bestimmten  Eindruck, 
dass  die  Kommission  hierbei  nur  an  Rechte  gedacht  hat, 
welche  sich  im  Handel  befinden  oder  auf  dem  Sprunge 
stehen  in  den  Handel  zu  gelangen.  Die  grosse  Mehrzahl 
der  Verlagsrechte  aber  befindet  sich  nicht  im  Handel, 
sondern  in  den  Händen  der  Schriftsteller,  welche  theihveise 
gar  keine  Vorstellung  davon  haben,  dass  dieses  Objekt,  ab- 
gesehen von  dem  Einkommen,  welches  es  gewährt,  oder 
gewähren  kann,  auch  noch  einen  verkäuflichen  Vermögens- 
werth besitze.  Von  solchen  Autoren,  denen  die  Bewerthung 
ihres  Manuskripts  überhaupt  fern  liegt,  ganz  zu  geschweigen, 
auch  der  Verfasser  eines  gut  gehenden  Werkes,  welcher 
Jahr  für  Jahr  seine  neue  Auflage  bezahlt  bekommt,  denkt 
daran  nicht,  dass  er,  wenn  er  will,  auch  das  Verlagsrecht 
als  Ganzes  gegen  eine  einmalige  Zahlung  verkaufen  kann. 
Es  liegt  zwar  durchaus  kein  sozialpolitisches  Bedenken  vor, 
den  Besitzer  eines  solchen  Verlagsrechtes  zur  Vermögens- 
steuer heranzuziehen.  Es  liegt  aber  ein  sehr  starkes  sozial- 
politisches Bedenken  dagegen  vor,  die  Gesetze  so  zu  fassen, 
dass  der  soziale  Kreis,  für  den  die  einzelne  Bestimmung 
berechnet  ist,  sie  aus  ihr  gar  nicht  herauslesen  kann.  Will 
man  Patent  und  Verlagsrechte  zur  Vermögenssteuer  heran- 
ziehen, so  gehört  es  sich,  dies  im  Gesetz  zu  sagen  und  nicht 
sich  mit  der  Wiedergabe  von  Unterhaltungen  in  der  Kom- 
mission zu  begnügen. 

Der  Schwerpunkt  der  Kommissionsänderungen  liegt  in 
der  Bewertungsmethode.  Die  obligatorische  Vermögens- 
anzeige ist  gefallen.  Die  Befugniss  der  Veranlagungs- 
behörde zur  Vernehmung  von  Zeugen  ist  gestrichen  worden. 
Dies  sind  ohne  Zweifel  Verschlechterungen  der  Vorlage. 
Die  Einstimmigkeit,  mit  der  die  Ablehnung  der  obligatori- 
schen Vermögensanzeige  erfolgt  ist,  stellt  den  besitzenden 
Klassen  ein  übles  Zeugniss  aus.  Aber  in  der  gegenwärti- 
gen Sachlage  ist  zu  prüfen,  ob  der  übrig  bleibende  Rest 
für  die  Handhabung  der  Steuer,  wenn  auch  nur  knapp, 
ausreicht,  und  diese  Frage  ist  zu  bejahen.  Da  der  Beru- 
fungsinstanz das  Recht  der  Zeugenvernehmung  belassen 
ist,  so  bleibt  ja  auch  die  Möglichkeit,  flagrante  Fälle  so 
festzustellen,  dass  sie  als  wirkungsvolle  Abschreckungs- 
mittel, vielleicht  auch  als  Unterlage  für  eine  zukünftige  Re- 
form der  Gesetzgebung  gebraucht  werden  können. 

Die  Veranlagung  soll  nach  der  Kommission  seltener 
stattfinden,  als  die  Regierung  es  beabsichtigt  hatte.  Die 
Regierung  hatte  jährliche  Veranlagung  vorgeschlagen  und 
nur  dem  König  das  Recht  geben  wollen,  statt  dessen  Ver- 
anlagungsperioden von  zwei  oder  drei  Jahren  einzuführen. 
Die  Kommission  hat  umgekehrt  grundsätzlich  dreijährige 
Veranlagungsperioden  beschlossen.  Nur  die  erste  Veran- 
lagung (1895/96)  ist  auf  ein  Jahr  beschränkt,  und  in  der 
Uebergangszeit  1896/99  soll  die  Festsetzung  durch  könig- 
liche Verordnung  erfolgen.  Eine  Verlängerung  der  Perioden 
bedeutet  längere  Steuerfreiheit  neu  erworbener  Vermögen. 
Und  zwar  keineswegs  bloss  im  Verhältniss  der  Verlänge- 
rung, sondern  bedeutend  mehr.  Nachdem  die  obligatorische 
Vermögensanzeige  gestrichen  ist,  werden  die  Behörden 
zur  Abschätzung  auf  einen  Rückblick  über  die  Ver- 
mögenslage in  der  Vergangenheit  angewiesen  sein.  Aus 
dem  Dunkel  dieser  Vergangenheit  heben  sich  die  That- 
sachen  der  letzten  Veranlagungen  desto  eindi'ucksvoller  ab, 
je  seltener  das  Ereigniss  der  Veranlagung  eintritt.  Lange 
Veranlagungsperioden  bedeuten  ein  Einrosten  des  Ver- 
waltungsapparats. Auch  in  Rücksicht  auf  die  grosse  sozial- 
politische Wichtigkeit,  welche  eine  Vermögenssteuer  durch 
die  mit  ihr  verbundene  alljährliche  Messung  der  Vermögen 
und  namentlich  der  Vermögensvertheilung  und  -Verschiebung 
gewinnen  würde,  ist  die  Aenderung  der  Kommission  als  be- 
dauerlich anzusehen.  Wird  demgegenüber  auf  die  Kost- 
spieligkeit des  Veranlagungsgeschäfts  hingewiesen,  so  ist 


344 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  29. 


dem  Staatsinteresse  vollauf  damit  gedient,  wenn  durch 
königliche  Verordnung  die  Veranlagungsperiode  erweitert 
werden  darf;  aber  der  Verwaltung  direkt  die  alljährliche 
Veranlagung  zu  verbieten,  dazu  liegt  vom  Standpunkt  des 
Staatsinteresses  keine  Veranlassung  vor.  Dies  ist  eine  zu 
weit  gehende  Schonung  für  die  den  Besitzenden  aufzu- 
erlegende Unbequemlichkeit. 

Was  die  Grundsätze  der  Bewerthung  betrifft,  von 
denen  es  schliesslich  abhängt,  ob  die  vorhandenen  Ver- 
mögen mit  ihrem  wirklichen  Werthe  herangezogen  werden 
oder  nicht,  so  hatte  die  Regierung  vorgeschlagen,  „den 
gemeinen  Werth  zur  Zeit  der  Veranlagung“  zu  Grunde 
zu  legen,  Grundstücke  aber  nach  dem  Verkaufswert  he 
zu  veranschlagen,  „welcher  denselben  nach  den  bekannten 
für  gleichartige  Vermögensgegenstände  wirklich  erzielten 
Kaufpreisen  beizulegen  ist“.  Die  Kommission  hat  nach 
langen  Erörterungen  über  die  Art  der  Ermittelung  des 
Verkaufspreises  schliesslich  sich  für  die  gänzliche  Streichung 
der  Sonderbestimmung  über  die  Grundstücke  entschieden. 
Ich  hätte  lieber  gesehen,  dass  die  Entscheidung  umgekehrt 
allgemein  zu  Gunsten  des  Verkaufswerthes  gefallen  wäre. 
Ich  hatte  vor  Einbringung  der  Vorlage  in  einer  Arbeit  über 
die  zukünftige  Vermögenssteuer  che  Bestimmung  vorge- 
schlagen:1) „Als  Werth  der  Vermögensgegenstände  gilt 
der  Preis,  den  dieselben  zurZeit  der  Veranlagung  bei  frei- 
händigem ohne  Eile  vorgenommenen  Verkauf  finden  wür- 
den“. Trotz  aller  gegen  den  Verkaufswerth  vorgebrachten 
Bedenken  scheint  mir  noch  immer  diese  Werthbestimmung 
geeigneter  für  die  Praxis,  als  andere  Vorschläge,  welche 
zwar  durch  absichtliche  Unklarheit  sich  gewissen  Einwürfen 
entziehen,  es  schliesslich  aber  von  blossem  Gutdünken  ab- 
hängig machen,  was  als  Werth  betrachtet  werden  soll. 
Zwar  ist  der  „gemeine  Werth“  ein  unserem  Landrecht  ge- 
läufiger Begriff.  Allein  ein  Hinweis  auf  die  maassgebende 
Stelle  des  Landrechts  ist  in  der  Kommission  von  dem  Re- 
gierungsvertreter ausdrücklich  abgelehnt  worden.  Es  wird 
sich  also  ein  praktischer  Zustand  ergeben,  in  welchem  die 
Landrechts-Juristen  nach  ihren  Gewohnheiten  verfahren 
werden,  andere  Verwaltungsbeamte  aber  sich  unter  „ge- 
meinem Werth“  etwas  Anderes  denken  werden.  Die  Be- 
vorzugung der  verschwommenen  Definition  kann  schliesslich 
nur  dazu  ausschlagen,  die  Vorstellung,  als  ob  es  sich  um 
annähernd  genaue  Bezifferung  von  Werthen  handele,  zu 
Gunsten  einer  allgemein  hingeworfenen  „Schätzung“  in  den 
Hintergrund  zu  drängen.  Immerhin  bleibt  an  dem  Kom- 
missionsbeschluss richtig,  dass  Grundstücke  derselben  Be- 
werthung unterstellt  werden,  wie  alle  anderen  Vermögens- 
objekte. 

Für  die  Bewerthung  von  Werthpapieren  hatte  der  Re- 
gierungsentwurf, durch  die  Erfahrungen  der  schweizerischen 
Kantone,  sowie  durch  die  einschlägige  wissenschaftliche 
Litteratur  wohlberathen,  den  Kurs  eines  bestimmten  Tages 
an  einer  bestimmten  Börse  als  maassgebend  vorgeschlagen. 
Die  Kommission  will  statt  dessen  „Werthpapiere,  wenn 
dieselben  in  Deutschland  einen  Börsenkurs  haben,  nach 

diesem veranschlagen.“  Einen  Börsenkurs  ,,in 

Deutschland“  giebt  es  nicht,  da  der  Kurs  in  Berlin,  Frank- 
furt, München  u.  s.  w.  nicht  derselbe  ist.  Eine  Kursbestim- 
mung ohne  Angabe  des  Tages  kann  ebenfalls  nur  dazu 
führen,  den  Gedanken,  dass  es  sich  hier  um  möglichst  prä- 
zise Angaben  handele,  im  Bewusstsein  zu  verdunkeln.  Bei 
Aktien,  die  sich  ganz  oder  zum  grossen  Theil  in  den 
Händen  einer  oder  weniger  Personen  befinden,  besteht 
übrigens  die  Möglichkeit,  eigens  zum  Zwecke  der  Bewer- 
thung einen  niedrigen  Kurs  eintreten  zu  lassen;  wenngleich 
bei  dem  geringen  Steuerfuss  von  '/2  pro  Mille  diese  Mög- 
lichkeit etwas  fern  liegt. 


')  Vgl.  Conrads  lahrbiicher  für  Nationalökonomie  III.  Folge. 
Bd.  IV,  S.  201. 


Von  weittragender  Wichtigkeit  ist  der  von  der  Kom- 
mission eingeschobene  § 9a: 

Bei  Landwirthschafts-  und  Gewerbebetrieben,  bei  denen 
regelmässige  jährliche  Abschlüsse  stattfinden,  kann  bei  der 
Berechnung  und  Schätzung  des  steuerbaren  Vermögens  der 
Vermögensstand  am  Schlüsse  des  letzten  Wirthschafts-  oder 
Rechnungsjahres  zu  Grunde  gelegt  werden. 

Dazu  der  Kommissionsbericht  (Seite  41); 

. . . Sowohl  beim  Landwirth  als  bei  Gewerbetreibenden 
sei  der  Zeitpunkt  der  Veranlagung  (der  Monat  Januar)  für 
die  Vennögensberechnung  völlig  ungeeignet.  Man  müsse  die 
letzte  Bilanz  bezw.  den  Wirthschaltsabschluss  gelten  lassen, 
wenn  man  nicht  zu  falschen  Schlüssen  über  den  Vermögens- 
werth und  zu  doppelten  Berechnungen  und  Bilanzen  kommen 
wolle.  Auch  nach  dem  Einkommensteuergesetz  sei  der  Ab- 
schluss des  Wirthschaftsjahres  maassgebend. 

In  diesen  Ausführungen  gehen  zwei  verschiedene  Dinge 
durcheinander.  Dass  für  Betriebe  mit  geordneter  Buch- 
führung der  Zeitpunkt  des  letzten  Abschlusses  der  geeig- 
netste ist,  ist  zuzugeben.  Dass  aber  auch  die  Ziffern  dieses 
Abschlusses  bei  Berechnung  und  Schätzung  des  Vermögens 
zu  Grunde  zu  legen  seien,  ist  in  keiner  Weise  zuzugeben. 
Die  Bewerthung  in  der  kaufmännischen  Inventur  und  die 
Bewerthung  in  der  Steuerveranlagung  sind  ihrem  Zwecke 
und  ihrer  Praxis  nach  von  einander  gänzlich  verschieden. 
Eine  kaufmännische  Inventur  ist  gut,  wenn  sie  keinen 
Gegenstand  zu  hoch  bewerthet;  eine  Selbsteinschätzung 
zur  Steuer  ist  gut,  wenn  sie  keinen  Gegenstand  zu  niedrig 
bewerthet. 

Nun  glaube  man  ja  nicht,  dass  dieser  Unterschied  eine 
Doktorfrage  sei.  Gerade  die  soliden  Landwirthe  und  Ge- 
werbetreibenden nehmen  es  mit  jenem  Zwecke  der  Inventur 
sehr  genau.  Um  den  Vermögensstand  nur  ja  nicht  zu  hoch 
anzugeben,  werden  z.  B.  Werthsteigerungen  von  Grund- 
stücken, selbst  wenn  sie  in  die  Hunderttausende  gehen, 
vielfach  grundsätzlich  ignorirt,  werden  ferner  Objekte, 
deren  Werth  unsicher  ist,  nach  Möglichkeit  soweit  abge- 
schrieben, dass  sie  nur  noch  mit  einer  Mark  „zu  Buch 
stehen.“  Alle  diese  Unterschiede  kommen  für  die  Ein- 
kommensteuer verhältnissmässig  wenig  in  Betracht;  denn 
nach  dem  System  der  kaufmännischen  Buchführung  muss 
der  Gewinn,  wenn  er  in  dem  einen  Jahre  zu  klein  erscheint, 
sich  in  dem  nächsten  desto  grösser  gestalten.  Die  Werth- 
ziffern der  Inventur  aber  sind  in  solchen  Fällen  konstante 
und  absichtlich  niedrig  gehaltene  Grössen.  Jeder  erfahrene 
Kaufmann  wird  es  bestätigen,  dass  die  Inventur  für  die 
Ermittelung  von  Werthen  in  ihrer  ganzen  Höhe 
desto  weniger  zu  brauchen  ist,  je  solider  und  strenger  das 
Geschäft  verwaltet  wird.  Bei  dieser  Sachlage  ist  dem 
Gesetzgeber  ein  Versteckspielen  nicht  erlaubt.  Es  geht 
nicht  an,  dass  der  Gesetzgeber  blos  vom  Termin  des  Ab- 
schlusses spricht,  durch  seine  Ausdrucksweise  aber  den 
Betheiligten  nahe  legt,  ihn  so  zu  verstehen,  dass  auch  die 
Werthziffern  des  letzten  Abschlusses  maassgebend  sein 
sollen.  Es  muss  vielmehr  in  dem  Gesetz  ausdrücklich  ge- 
sagt werden,  dass  es  erlaubt  ist,  den  Termin,  dass  es  aber 
verboten  ist,  die  Werthziffern  maassgebend  sein  zu  lassen. 
Geschieht  dies  nicht,  beharrt  das  Plenum  bei  der  Kom- 
missionsfassung, so  ist  vorauszusehen,  dass  ein  grosser 
Theil  gerade  der  grössten  landwirtschaftlichen  und  ge- 
werblichen Vermögen  sich  der  Besteuerung  in  aller  Stille 
entziehen  werden. 

Zur  Schonung  der  kleinen  Vermögen  hatte  der 
Entwurf  drei  Einschränkungen  der  Steuer  vorgeschlagen. 
Vermögen  bis  6000  Mark  sollten  stets  steuerfrei  sein;  Ver- 
mögen bis  16000  Mark,  wenn  der  Besitzer  nicht  mehr  als 
900  Mark  Einkommen  hat;  ausserdem  sollen  Wittwen, 
Waisen  etc.  mit  Vermögen  bis  16000  Mark  selbst  dann 
steuerfrei  bleiben,  wenn  ihr  Einkommen  zwar  mehr  als  900, 
aber  nicht  mehr  als  1200  Mark  beträgt.  Die  Kommission 


No.  29. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


345 


hat  hier  statt  16000  Mark  in  beiden  Fällen  20000  Mark 
eingesetzt  und  ausserdem  folgenden  § 18  a eingefügt: 

Berücksichtigung  besonderer  Verhältnisse. 
Personen,  deren  Vermögen  30  000  Mark  nicht  übersteigt, 
werden,  wenn  sie  nicht  zur  Einkommensteuer  veranlagt  sind, 
mit  höchstens  3 Mk.  jährlich,  wenn  sie  zu  den  ersten  vier 
Stufen  derselben  veranlagt  sind,  höchstens  mit  einem  um 
zwei  Mark  unter  der  von  ihnen  zu  zahlenden  Einkommen- 
steuer verbleibenden  Betrage  zur  Ergänzungssteuer  heran- 
gezogen. 

Steuerpflichtigen,  welchen  auf  Grund  des  § 19  des  Ein- 
kommensteuergesetzes eine  Ermässigung  der  Einkommen- 
steuer gewährt  wird,  kann  bei  der  Veranlagung  auch  eine 
Ermässigung  der  Ergänzungssteuer  um  höchstens  zwei  Stufen 
gewährt  werden,  sofern  das  steuerpflichtige  Vermögen  nicht 
mehr  als  50  000  Mk.  beträgt. 

Die  Steuerbefreiung  der  kleinen  Vermögen  scheint  heut- 
zutage in  ihrer  sozialpolitischen  Bedeutung  überschätzt  zu 
werden.  Auch  der  kleine  Mann  mit  kleinem  Vermögen  ist 
steuerfähiger  als  der  kleine  Mann  ohne  kleines  Vermögen. 
Auch  personae  miserabiles  können  (wenn  man  ganze  Klassen 
als  solche  bezeichnen  will)  kaum  für  eine  Ausnahme  an- 
gesehen werden;  denn  auch  cMe  Wittwe  mit  kleinem  Ver- 
mögen ist  steuerfähiger  als  die  Wittwe  ohne  kleines  Ver- 
mögen. Da  die  Vermögenssteuer  im  Ganzen  doch  nur 
einen  sehr  kleinen  Beitrag  zu  den  Staatsbedürfnissen  liefern 
wird,  so  sollte  man  die  Frage  nicht  dahin  formuliren,  ob 
die  kleinen  Vermögen  geschont  werden  sollen,  sondern  ob 
das,  was  die  kleinen  Vermögen  auf  bringen  könnten,  lieber 
auf  die  kleinen  Leute  im  Ganzen  (Vermögende  und  Un- 
vermögende)  vertheilt  werden  solle.  Vollends  unberechtigt 
ist  die  Angst  davor,  dass  bei  Vermögen  bis  30000  Mark 
die  Ergänzungssteuer  (dies  ist  ja  der  offizielle  Name  der 
Vermögenssteuer)  unter  Umständen  höher  sein  könnte  als 
die  Einkommensteuer  selbst.  Die  Einkommensteuer  der 
unteren  Stufen  ist  in  Preussen  mit  Rücksicht  darauf  so 
niedrig  bemessen  worden,  dass  diese  Einkommen  meistens 
aus  persönlicher  Arbeit  herrühren.  Wo  dies  nicht  der  Fall 
ist,  wo  das  Einkommen  auf  den  unteren  Stufen  fundirt  ist, 
geniesst  es  nur  eine  ihm  nicht  zugedachte  Steuerermässigung. 
Wenn  auf  diesen  Stufen  die  Vermögenssteuer  im  Vergleich 
zur  Einkommensteuer  hoch  ist,  so  liegt  es  nicht  daran,  dass 
die  erstere  besonders  gross,  sondern  daran,  dass  die  letztere 
besonders  klein  ist.  Aber  solche  Rücksichtnahmen  haben 
übrigens  das  gemeinsame  sozialpolitische  Bedenken  gegen 
sich,  dass  sie  gegen  eine  ganz  winzige  Erleichterung  der 
Kleinen  (die  Vermögenssteuer  von  6000  Mark  beträgt  viertel- 
jährlich 75  Pfg.)  den  Grossen  die  Illusion  nahe  legt,  als  ob 
sie  nun  eine  Last  mehr  ausschliesslich  auf  die  eigenen 
Schultern  gelegt  hätten. 

Wir  erwähnen  zum  Schluss  noch  einige  Aenderungen 
inbetreff  der  Kontingentirung.  Die  Regierung  hatte  als  Norm 
das  Steuersoll  von  35  Millionen  Mark  für  das  Jahr  1895/6 
mit  einer  Steigerung  von  5 pCt.  von  Jahr  zu  Jahr  vor- 
geschlagen; je  nachdem  die  Veranlagung  der  Vermögens- 
steuer ein  Mehr  oder  Weniger  ergebe,  sollten  die  Steuer- 
sätze erniedrigt  oder  erhöht  werden.  Die  Kommission  hat 
dem  zwar  zugestimmt,  aber  gleichzeitig  eine  Abänderung 
des  Einkommensteuergesetzes  beschlossen.  Danach  sollen 
die  Ueberschiisse  der  Einkommensteuer  zu  einem  Fond  an- 
gesammelt werden.  Die  Zinsen  dieses  Fonds,  sowie  der 
Ueberschuss  selbst,  soweit  der  Ertrag  135  Millionen  Mark 
übersteigt,  sollen  in  erster  Linie  dazu  dienen,  die  Erhöhung 
der  Vermögenssteuer  abzuwenden,  in  zweiter  „zu  Beihülfen 
für  Volksschulbauten  oder  zu  anderweiten  Beihülfen  an 
unvermögende  Schulverbände.“  Diese  Bestimmung  hängt 
damit  zusammen,  dass  die  Schulbaulasten  auf  dem  Lande 
theilweise  von  den  Rittergutsbesitzern  zu  tragen  sind. 
Wenn  endlich  die  Kommission  beschlossen  hat,  dass  im 
Uebrigen  die  Sätze  der  Vermögenssteuer  nur  gleichzeitig 
mit  denen  der  Einkommensteuer  geändert  werden  dürfen, 


so  gehört  diese  mit  einer  gewissen  Feierlichkeit  ausge- 
sprochene Versicherung  zu  den  sogenannten  Monologen 
des  Gesetzgebers.  Immerhin  leistet  sie  einstweilen  den 
Dienst,  das  Geschrei  über  die  „Entwickelungsfähigkeit“  der 
Vermögenssteuer  etwas  zu  dämpfen,  und  diesen  Erfolg 
kann  man  gut  finden,  auch  wenn  man  das  Mittel  harmlos 
findet. 

Berlin.  J.  Jastrow. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Wirkungen  des  Alkoholmonopols  in  der  Schweiz. 

Im  Kampfe  gegen  den  Alkoholismus  konnte  in  der 
Schweiz  weder  die  gesetzliche  Prohibition  noch  Ver- 
breitung freiwilliger  gänzlicher  Abstinenz  genügend  wirken. 
Ersterer  wäre  die  Volksmeinung  entgegengestanden,  letzterer 
die  weit  überwiegende  Ansicht,  dass  der  nicht  übermässige 
Genuss  geistiger  Getränke  nichts  schade,  ja  sogar  unter 
Umständen  von  günstigem  Einfluss  sei.  Immerhin  hat  die 
Propaganda  z.  B.  des  Mässigkeitsvereins  vom  blauen  Kreuz 
wenigstens  die  Zahl  der  Mitglieder  von  32  im  Jahre  1877 
auf  5348  im  Jahre  1890  zu  steigern  verstanden.  Der  Krieg 
wider  den  Alkoholismus  wurde  mit  grossen  Mitteln  durch 
unsere  aus  dem  Jahre  1885  datirende  Alkoholmonopol- 
gesetzgebung eingeleitet  und  fand  nur  deshalb  die  konstitu- 
tionell nothwendige  Zustimmung  des  Volkes,  weil  er  sich 
nicht  gegen  den  Gebrauch  oder  Missbrauch  gegohrener  Ge- 
tränke (Wein,  Bier,  Obstwein)  richtet,  sondern  gegen  den 
Konsum  der  gebrannten  Wasser.  Die  Veränderungen  in 
den  industriellen  und  sozialen,  ja  selbst  in  den  bäuerlichen 
Verhältnissen  brachten  es  mit  sich,  dass  der  Arbeiter  sich 
mehr  als  früher  dem  Wirthshause  zuwendete  und  im  Alkohol 
nicht  bloss  Abspannung  der  Nerven,  sondern  oftmals  auch 
einen  gewissen  Ersatz  für  ungenügende  oder  schlecht  zu- 
bereitete Nahrung  fand.  „Vom  einfachen  Arbeiter“,  sagte 
Milliet,  der  Vorstand  des  schweizerischen  Alkoholmonopol- 
amtes, in  seiner  schon  1884  herausgegebenen  Schrift  ,Zur 
Alkoholfrage“,  „bis  zum  Millionär  ersetzt  der  Alkohol  in  dem 
raschen  Wechsel,  in  den  aufreibenden  Zeiten  des  sozialen, 
finanziellen  und  sanitären  Lebens  die  vielleicht  versagte 
Nahrung  und  Ruhe.“ 

Der  Umstand,  dass  für  die  Steigerung  des  Alkohol- 
genusses ganz  wesentlich  auch  die  zu  grosse  Zahl  der 
Wirthschaften  verantwortlich  gemacht  wurde,  zog  eine 
weitere  Aenderung  der  Bundesverfassung  nach  sich,  indem 
im  Widerspruch  mit  dem  — unter  Vorbehalt  gewisser  Be- 
fugnisse fiskalischer  und  polizeilicher  Natur  — die  Handels- 
und Gewerbefreiheit  proklamirenden  Art.  31  derselben  den 
Kantonen  das  Recht  eingeräumt  wurde,  das  Wirthschafts- 
gewerbe  gesetzlichen,  durch  das  öffentliche  Wohl  geson- 
derten Beschränkungen  zu  unterwerfen.  Immerhin  machten 
die  Kantone  von  dieser  Befugniss  weniger  Gebrauch,  als 
wohl  erwartet  werden  mochte.  Die  Bedürfnissfrage  blieb 
auch  jetzt  für  die  Bewilligung  einer  Wirthschaftskonzession 
nicht  überall  entscheidend,  indem  immer  noch  2/s  der 
schweizerischen  Bevölkerung  die  Schankstellen,  abgesehen 
von  fiskalischen  und  polizeilichen  Vorschriften,  unter  keine 
Ausnahmegesetze  stellen.  Es  mochte  da  wohl  die  Erwä- 
gung bestimmend  sein,  dass  die  Zunahme  des  Alkohol- 
genusses nicht  unter  allen  Umständen  im  Verhältnisse  der 
Zunahme  der  Wirthschaften  fortschreite,  sondern  dass 
namentlich  die  Branntweinpest  bei  anderen  Gelegenheiten 
gefördert  wird,  in  Privatwohnungen,  Werkstätten  etc. 

Wenn  sich  nun  nachweisbar  in  der  ganzen  Schweiz 
die  Zahl  der  Wirthschaften  in  den  Jahren  1882 — 1888  um 
625  vermehrt  hat,  so  ist  dieselbe  in  den  14  Kantonen,  in 
denen  die  Bedürfnissfrage  maassgebend  ist,  von  10237  auf 
10 144  gesunken,  während  sie  in  den  11  Kantonen  ohne 
Bedürfnissvorbehalt  von  10743  auf  10997  stieg. 

Die  schweizerische'"  Alkoholmonopolgesetzgebung  be- 
zweckt aber  die  Verdrängung  des  Alkoholgenusses  durch 
den  Genuss  von  Wein  und  Bier  und  überhaupt  durch  Ver- 
besserung der  Qualität  der  geistigen  Getränke.  Zu  diesem 


346 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  29. 


Ende  wurden  die  Branntweinpreise  durch  Auflage  eid- 
genössischer und  kantonaler  Steuern  gesteigert.  Ausser 
den  zu  Gunsten  der  Bundeskasse  bestehenden  Eingangs- 
zöllen wurden  alle  gebrannten  Wasser,  mit  Ausnahme  der 
in  der  Schweiz  aus  Wein,  Drusen,  Obst,  Obstabfällen  oder 
zuckerhaltigen  Beeren  und  Wurzeln  inländischer  Herkunft 
produzirten  Erzeugnisse  mit  Konsumsteuern  zu  Gunsten  des 
kantonalen  Fiskus  belegt.  Die  Monopolverwaltung  kauft 
sämmtlichen  in  der  Schweiz  aus  stärkemehlhaltigen  Stoffen 
erzeugten  Rohspiritus  an  und  verkauft  denselben  in  genü- 
gend reinem  Rohspiritus  oder  rektifizirtem  Sprit  zu  Monopol- 
preisen; auch  werden  aus  ausländischen  Rohstoffen  (Wein, 
Drusen,  Obst  etc.)  bereitete  Rohsprite  und  Brannt- 
weine Monopolgebühren  unterworfen.  Das  Recht  zum  Import 
aller  Sprite  und  Rohsprite  ging  an  die  Monopolverwaltung 
über  und  werden  die  durch  Private  eingeführten  Brannt- 
weine und  Liqueure  mit  Monopolgebühren  belastet.  Ande- 
rerseits soll  eine  Verbilligung  der  ausgegohrenen  Ge- 
tränke durch  Aufhebung  der  kantonalen  und  kommu- 
nalen Zölle  (Ohmgelder  und  Oktrois)  erzielt  werden.  Der 
Branntwein  darf  durch  die  Monopolverwaltung  nur  in  guter 
Qualität  in  den  Verkehr  gelangen;  ebenso  sorgen  kantonale 
Polizei-  und  Centralvorschriften  dafür,  dass  die  fertigen 
Branntweine  und  Liqueure  den  Anforderungen  der  Gesund- 
heitspflege entsprechen.  Für  Verbesserung  der  Qualität 
der  gegohrenen  Getränke  wirken  Bund  und  Kantone  durch 
Repressionsmaassnahmen,  Anlage  und  Unterstützung  von 
Versuchsstationen,  tüchtigere  Lebensmittelpolizei  namentlich 
in  den  Städten  etc.  — Der  Mindergenuss  von  Branntwein 
kann  nun  allerdings  mit  aller  Sicherheit  nicht  berechnet 
werden.  Immerhin  giebt  der  Geschäftsbericht  der  Monopol- 
verwaltung pro  1890  und  1891  folgende  Daten:  Brannt- 
weinkonsum in  Litern  50°  Branntweins  per  Kopf  der  Bevöl- 
kerung. 

1882  9,40  \ T ..  , „ , 

1885  10  26  I ^lter  vor  dem  Monopol 

1890  6,21  \ , , . 

1891  6 32  1 nach  dem  .Monopol. 

Nach  Schätzung  des  Direktors  Milliet  ist  die  effektive 
Reduktion  des  Branntweingenusses  auf  250/o  anzu- 
schlagen, während  umgekehrt  der  Konsum  von  Bier  sich 
in  demselben  Verhältnisse  (Bierverbrauch  pro  Kopf  für 
1885  36,  für  1890  45  Liter)  gesteigert  hat  und  derjenige 
von  Wein,  dessen  Preise  durch  die  nun  schon  seit  langer 
Zeit  anhaltenden  Fehljahre  zu  hoch  stehen,  sich  ungefähr 
gleich  geblieben  ist.  Man  kann  also  schon  jetzt  sagen, 
dass  die  schweizerische  Alkoholgesetzgebung,  welche 
einen  grossen  Widerstand  zu  besiegen  und  mit  vielen 
Schwierigkeiten  zu  kämpfen  hatte,  nicht  umsonst  ge- 
wesen ist. 

Frauenfeld.  E.  Ramsperger. 

Handwerkerkammern  in  Deutschland.  Nach  den 
bereits  aufgestellten  Grundzügen  für  ein  Gesetz  über  die 
Handwerkerkammern  sollen  nach  halbamtlichen  Mittheilungen 
diesen  folgende  obligatorische  Aufgaben  zugewiesen  werden : 
Erstattung  von  Gutachten  an  die  Behörden  über  gewerbliche 
Fragen,  Berichterstattung  über  die  Lage  des  Handwerks, 
Aufsicht  über  die  Durchführung  der  Vorschriften  über  das 
Lehrlingswesen  und  Mitwirkung  bei  Ueberwachung  der  auf 
den  Arbeiterschutz  bezüglichen  Gesetzesvorschriften.  Ferner 
sollen  die  Handwerkerkammern  folgende  fakultative  Befug- 
nisse haben:  Einreichung  von  Vorschlägen  zur  Förderung 
des  Kleingewerbes,  als  Wohlfahrtseinrichtungen,  Beschliessung 
von  Maassnahmen  zur  Förderung  'der  gewerblichen,  techni- 
schen und  sittlichen  Ausbildung  der  Gehilfen  und  Lehrlinge, 
Errichtung  von  Prüfungsausschüssen  für  Lehrlinge,  die  be- 
antragen, geprüft  zu  werden,  Erlass  von  Vorschriften  über 
das  Verhalten  der  Lehrlinge,  ihre  Ausbildung  und  ihre  Ver- 
wendung ausserhalb  des  Gewerbes,  Besuch  der  Fach-  und 
Fortbildungsschulen,  soweit  dieser  nicht  durch  Gesetz  oder 
Statut  geregelt  worden  und  über  Anmeldung  der  Lehrlinge, 
Gehilfen.  Was  die  Zusammensetzung  der  Handwerker- 
kammern betrifft,  denen  alle  Gewerbetreibenden  des  Bezirks, 
die  in  der  Regel  nicht  mehr  als  zehn  Arbeiter  beschäftigen, 
unterstellt  sind,  so  sollen  die  Mitglieder  aus  der  Zahl  der 
Gewerbetreibenden,  die  mindestens  25  Jahre  alt  und  zum 
Schöfilenamte  fähig  sein  müssen,  gewählt  werden.  Zum 


passiven  Wahlrecht  ist  ein  Lebensalter  von  30  Jahren  und 
ausserdem  eine  zweijährige  Ansässigkeit  erforderlich. 

Zur  Handhabung  des  Arbeitsbuches.  Vor  dem 

Mainzer  Gewerbegericht  hatte  sich  kürzlich  der  Eigen- 
thümer  einer  dortigen  Grossbrauerei  wegen  der  Aus- 
stellung eines  Zeugnisses  in  einem  Arbeitsbuch  zu  verant- 
worten. Als  nämlich  der  Ausstand  ausbrach,  hatte  der 
Brauereibesitzer  einigen  Arbeitern  das  Zeugniss  ausgestellt, 
dass  sie  seine  Brauerei  plötzlich  verlassen  und  dass  sie  sich 
zu  seinem  Bedauern  dem  Ausstande  angeschlossen  hätten. 
Wegen  dieser  Eintragung  strengten  die  Brauer  Klage  an, 
da  es  ihnen  in  Folge  dessen  nicht  möglich  sei,  eine  andere 
Stelle  zu  erlangen.  Das  Gewerbegericht  entschied  zu 
Gunsten  der  Brauer  und  verurtheilte  den  Brauereibesitzer 
zur  Abänderung  dieses  Zeugnisses  und  zur  Auszahlung 
des  Lohnes  der  vollen  vierzehn  Tage  des  Kündigungs- 
termins. 

Amtliche  Arbeitsnachweisstellen  in  Schlesien.  Wie 

bereits  in  No.  27  dieser  Zeitschrift  erwähnt  worden,  hat 
behufs  Einrichtung  amtlicher  Arbeitsnachweisstellen  der 
Regierungspräsident  in  Liegnitz  kürzlich  an  die  Magistrate 
der  Städte  über  10  000  Einwohner  eine  Verfügung  erlassen, 
deren  Wortlaut  wir  bei  der  Wichtigkeit  des  Gegenstandes 
hier  mittheilen  wollen: 

„Die  gegenwärtig  wieder  in  verstärktem  Maasse  zu 
Tage  tretende  Erscheinung,  dass  sich  in  den  Städten,  an- 
gezogen durch  die  in  diesen  sich  mehr  und  mehr  ent- 
wickelnde Industrie,  die  Arbeiterbevölkerung  ständig  ver- 
mehrt und  damit  auch  eine  weitere  Erhöhung  der  Zahl  der- 
jenigen Personen  verbunden  ist,  die  zwar  arbeitsfähig,  aber 
trotzdem  in  den  Wintermonaten  wegen  mangelnder  Arbeits- 
gelegenheit nicht  im  Stande  sind,  für  sich  und  ihre  An- 
gehörigen den  nothwendigen  Lebensunterhalt  zu  erwerben, 
veranlasst  mich,  die  Aufmerksamkeit  der  Magistrate  auf 
diesen  Gegenstand  hinzulenken.  Wenn  auch  eine  Ver- 
pflichtung der  Stadtgemeinden,  den  Arbeitslosen,  ins- 
besondere den  von  ausserhalb  angezogenen,  durch  Be- 
schäftigung mit  kommunalen  Arbeiten  zu  dem  nothwendigen 
Lebensunterhalt  zu  verhelfen,  nicht  besteht,  so  erachte  ich 
es  doch  für  eine  der  vornehmsten  Aufgaben  der  städtischen 
Behörden,  den  Personen,  die  fähig  und  willig  sind,  ihnen 
zu  übertragende  Arbeiten  zu  verrichten,  die  Möglichkeit  zu 
bieten,  sich  und  ihre  Familienangehörigen  ohne  Inanspruch- 
nahme der  öffentlichen  Armenkasse  zu  ernähren.  Dieses 
Ziel  wird  in  entsprechender  Weise  nur  dadurch  erreicht 
werden  können,  wenn  seitens  der  Stadtgemeinden  eine  oder 
mehrere  Arbeitsnachweisstellen  eingerichtet  werden,  durch 
die  den  Arbeit  suchenden  Personen  eine  Arbeitsgelegenheit 
unentgeltlich  nachgewiesen  wird.  Ich  verkenne  nicht,  dass 
der  erfolgreichen  Durchführung  einer  derartigen  Maassnahme 
Schwierigkeiten  erwachsen  werden  und  dass  in  dieser 
Hinsicht  insbesondere  der  passive  Widerstand  der  Arbeit- 
geber zu  überwinden  ist,  denen  durch  die  Anmeldung  zu 
vergebender  Arbeiten  Unbequemlickeiten  erwachsen,  ohne 
deren  Mitwirkung  aber  auf  einen  durchgreifenden  Erfolg 
nicht  gerechnet  werden  kann.  Ich  vertraue  aber,  dass  es 
dem  Einfluss  der  städtischen  Behörden,  vorzugsweise  den 
Magistratsdirigenten,  gelingen  wird,  diesen  Widerstand  zu 
besiegen  und  die  wohlhabenden  Bevölkerungsklassen  für 
die  Durchführung  dieser  Maassregel,  die  ihnen  keinerlei 
materielle  Opfer  auferlegt,  zu  interessiren.  Die  Magistrate 
weise  ich  hierbei  noch  darauf  hin,  dass  nach  der  Recht- 
sprechung des  Bundesamts  für  das  Heimathswesen  eine 
Hülfsbedürftigkeit  im  Sinne  des  § 1 des  Gesetzes  über  den 
Unterstützungswohnsitz  vom  6.  Juni  1870  auch  bei  einer 
Person  vorliegt,  die  zwar  an  sich  arbeitsfähig,  aber  aus 
äusseren  Gründen  (z.  B.  wegen  mangelnder  Arbeitsgelegen- 
heit) nicht  im  Stande  ist,  sich  und  ihren  Angehörigen  den 
nöthigen  Lebensunterhalt  zu  verschaffen,  und  dass  somit 
derartige  Personen  einen  Anspruch  auf  öffentliche  Armen- 
unterstützung haben,  durch  die  der  städtische  Etat  belastet 
wird.  Sollen  in  Zukunft  Beschwerden  solcher  Personen 
wegen  Verweigerung  von  Armenunterstützung  erhoben 
werden,  so  werde  ich  mich  nur  dann  noch  in  der  Lage 
sehen,  ihre  Abweisung  bei  dem  Bezirksausschuss  gemäss 
§ 41  des  Zuständigkeitsgesetzes  vom  1.  August  1883  zu  be- 


No.  29. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


347 


f'iirworten,  wenn  mir  seitens  der  Magistrate  der  Nachweis 
erbracht  wird,  dass  dem  Beschwerdeführer  durch  die 
städtischen  Behörden  eine  Arbeitsgelegenheit  nachgewiesen 
worden  ist,  dieser  aber  davon  keinen  Gebrauch  gemacht 
hat.  Die  Einrichtung  derartiger  Arbeitsnachweisstellen  wird 
endlich  auch  für  die  Polizeiverwaltungen  den  Vortheil  im 
Gefolge  haben,  dass  sie  künftig  in  der  Lage  sein  werden, 
von  den  Strafbestimmungen  der  §§  361  No.  8 und  § 362 
Absatz  2 des  Strafgesetzbuchs  wirksameren  Gebrauch  als 
bisher  zu  machen.“ 

Oeffentliche  Arbeits- Nachweisämter  in  Ohio.  Ein 

Versuch,  öffentliche  Arbeits-Nachweisämter  zu  gründen,  ist 
in  Ohio  gemacht  worden.  Der  Staat  übernimmt  alle  Aus- 
gaben, und  die  Gehälter  der  Beamten  werden  von  den 
betreffenden  Städten  gezahlt.  Die  Namen,  Adressen  und 
Berufe  jener,  die  Arbeit  suchen,  werden  in  einem  Buche 
vermerkt,  und  in  einem  anderen  Verzeichnisse  finden  sich 
die  Namen  von  Arbeitgebern,  die  Arbeiter  suchen.  Im 
Jahre  1891  suchten  34371  Stellenlose  Beschäftigung  und 
23208  Arbeitgeber  boten  Stellen  an.  15525  Personen 
erhielten  durch  diese  Aemter  Beschäftigung.  Vom  26.  Juni 
1890  bis  zum  1.  Januar  1893  wurden  die  Namen  von  81  464 
Stellensuchenden  eingetragen.  68564  Stellen  wurden  ange- 
boten  und  38358  Personen  erhielten  Beschäftigung. 


Arbeiterzustände. 

Arbeitslosen -Statistik.  Die  Gewerkschaftskommission 
in  Weimar  hat  versucht,  die  Zahl  der  Arbeitslosen  zu 
ermitteln.  Leider  war  gerade  über  die  Berufe,  in  denen 
die  Arbeitslosigkeit  am  meisten  aufgetreten  ist,  wie  z.  B. 
im  Baugewerbe,  nichts  Positives  zu  beschaffen,  da  die 
betr.  Arbeiter  in  Weimar  viel  zu  wenig  organisirt  sind, 
andererseits  das  Verständniss  für  den  Nutzen  statistischer 
Aufnahmen  noch  fehlt.  Im  ganzen  wurden  93  Arbeits- 
lose ermittelt,  und  zwar  37  Maler,  18  Schneider,  13  Buch- 
drucker, 12  Tischler,  5 Bildhauer  und  je  2 Glaser,  Töpfer, 
Schuhmacher  und  Müller.  Unter  diesen  93  Arbeitslosen 
befanden  sich  42  Verheirathete;  die  Zahl  ihrer  Kinder 
betrug  70.  Durchschnittlichen  Wochenverdienst  hatten  die 
betreffenden  Personen,  als  sie  noch  in  Arbeit  waren,  nicht 
mehr  als  10  M.  (Schuhmacher)  bis  22  M.  (Buchdrucker). 
Der  gewerkschaftlichen  Organisation  gehörten  47  Arbeits- 
lose an.  Die  93  Arbeitslosen  waren  insgesammt  634  Wochen 
5 Tage  ohne  Beschäftigung,  durchschnittlich  jeder  6 Wochen 
5 Tage.  Ermittelt  wurde  ferner  durch  die  Statistik,  die 
sich  auf  die  Zeit  von  Anfang  October  1892  bis  Ende  Januar 
1893  erstreckt,  dass  während  dieser  Zeit  476  reisende  Arbeiter 
Weimar  passirten. 

Aus  Dresden  liegen  Angaben  über  die  Arbeitslosig- 
keit im  Steinmetzgewerbe  auf  Grund  einer  für  die  Zeit  vom 
1.  Oktober  1891  bis  30.  September  1892  seitens  der  gewerk- 
schaftlichen Organisation  aufgenommenen  Statistik  vor. 

Von  den  337  Mann,  welche  die  Fragebogen  benützten, 
waren  218  Mann  insgesammt  11414  Tage  arbeitslos,  durch- 
schnittlich auf  den  Mann  52  2/3  Tage  (1889  waren  es  2473, 
1890  20  4/5  und  1891  51  (.2  Tage).  132  Arbeitslose  waren  ver- 
heirathet,  dieselben  waren  6394  Tage  arbeitslos,  im  Durch- 
schnitte somit  4872  läge.  Ledig  waren  86  Arbeitslose  mit 
zusammen  5020  arbeitslosen  Tagen  oder  pro  Mann  58  V2 
Tagen.  Im  Sommerhalbjahr  haben  von  den  Verheiratheten 
52  Mann  zusammen  769  arbeitslose  Tage  oder  pro  Mann 
15  Tage.  Im  Winterhalbjahr  hatten  124  Mann  5625  arbeits- 
lose Tage,  durchschnittlich  somit  45  x/3  Tage  pro  Mann. 
Von  den  Ledigen  haben  im  Sommerhalbjahr  27  Mann  431 
arbeitslose  Tage,  pro  Mann  demnach  19  73  Tage.  Im  Winter- 
halbjahr hatten  80  Mann  insgesammt  4589  arbeitslose  Tage, 
durchschnittlich  pro  Mann  57  2/3  Tage.  Es  waren  arbeitslos 
im  Winterhalbjahr: 


zu  10  Tagen 

23  Mann  gleich 

10,55  Proz 

..  20 

31  „ 

14,22  .. 

„ 30 

33  .. 

15,14  .. 

40 

13  ,. 

6,00  .. 

„ 50  „ 

26  .. 

12,00 

„ 60 

10  ,. 

4,59  ,. 

)is  zu  70 

'l  agen  6 Mann  gleich 

2,75  Pro 

..  ,.  80 

21 

9.63  .. 

..  ..  90 

13 

6,00  .. 

..  ..  100 

1 1 

5,00  .. 

..  .,  130 

13 

6,00 

,.  ..  150 

6 

2,75  .. 

..  180 

4 

1,84 

16  Mann  waren  krank  ohne  arbeitslos  zu  sein.  103  Mann 
hatten  arbeitslose  Tage  nicht  verzeichnet. 

Als  Wanderunterstützung  wurde  vom  1.  Oktober  1891 
bis  30.  September  1892  an  149  Mann  die  Summe  von  344  M. 
gezahlt. 

Abnahme  des  Fleischkonsums  in  Nürnberg.  Die 

Direktion  des  Nürnberger  Schlachtviehhofes  konstatirt  eine 
starke  Abnahme  des  Fleischkonsums  seit  1888.  Trotz  Zu- 
nahme der  Bevölkerung  um  30000  Seelen  wurde  im  Jahre 
1892  nicht  mehr,  sondern  weniger  Vieh  geschlachtet,  als 
im  Jahre  1888.  Auf  Grund  der  Durchschnittszahl  des  Ge- 
wichtes der  geschlachteten  Thiere  lässt  sich  für  1888  pro 
Kopf  der  Bevölkerung  noch  ein  Fleischkonsum  von  157,5 
Pfund  feststellen.  Im  Jahre  1890  sank  der  Konsum  auf 
132,1,  1891  auf  127,2,  1892  gar  auf  120,3  Pfund. 

Frauenarbeit  im  französischen  Handels-  und  Ver- 
kehrsgewerbe. Bis  1870  gab  es,  Lehrerinnen  abgerechnet, 
nur  5 — 6000  weibliche  Angestellte  in  Fi'ankreich.  Seither 
aber  haben  sich  diese,  wie  wir  der  Vossischen  Zeitung 
entnehmen,  auf  mehr  als  40000  vermehrt.  Gegenwärtig 
zählt  man  5353  Frauen,  die  kleinen  Post-  und  Telegraphen- 
ämtern vorstehen,  1060  Telegraphistinnen  sind  in  21  Städten 
angestellt.  In  69  Städten  haben  die  Sprechleitungen  745 
weibliche  Angestellte.  Die  Hauptverwaltung  der  Post  in 
Pai'is  beschäftigt  545  Frauen,  die  Hauptvei'waltung  der 
Sparkassen  425.  Beide  Verwaltungen  sind  gesonnen,  ihre 
weiblichen  Angestellten  noch  bedeutend  zu  vermehren,  sie 
überall  anzubringen,  wo  Männer  nicht  unumgänglich  noth- 
wendig  sind.  Die  weiblichen  Angestellten  haben  sich  vor- 
trefflich bewährt,  besonders  für  das  kleinere  Rechnungs- 
wesen und  Abschreiben.  Bei  der  Post  sind  im  ganzen 
schon  8128  Frauen  beschäftigt.  Die  Bahngesellschaften  sind 
ebenso  günstig  für  sie  gestimmt,  Die  Ostbahn  zählt  3082 
weibliche  Angestellte  bei  der  Hauptverwaltung,  an  den 
Schaltern  der  Bahnhöfe,  bei  der  Verwaltung  der  Zinsen 
und  Bahnpapiere,  Leitung  der  Bahnhofwirthschaften  und 
Beaufsichtigung  der  Haltestellen,  die  Nordbahn  zählt  2790; 
die  Paris-Lyon-Mittelmeerbahn  5728,  die  Westbahn  3508, 
alle  Bahnhofkassen  und  Schalter  sind  Frauen  anvertraut. 
Die  Paris-Orleansbahn  zählt  4358,  die  Südbahn  2502,  die 
Staatsbahn  2112.  Zusammen  also  24080  Frauen,  die  im 
Bahndienst  angestellt  sind.  Mit  den  8128  weiblichen  Ange- 
stellten der  Post  macht  dies  32208.  Nach  diesen  zählen  die 
meisten  weiblichen  Angestellten:  Französische  Bank,  Comptoir 
d'Escompte,  Credit  Lyonnais,  Credit  Foncier,  Stempel-  und 
Tabakverwaltung.  Viele  Geschäftshäuser  vertrauen  ihre 
Kasse  einer  Dame  an.  Buchführung  ist  indessen  weniger 
ihre  Sache. 

Zur  Lage  der  Minenarbeiter  in  Grossbritannien.  In 

einem  soeben  erschienenen  Blaubuch  werden  verschiedene 
interessante  statistische  Daten  über  die  Verhältnisse  der 
Bergarbeiter  im  Jahre  1892  veröffentlicht.  Die  Anzahl  der 
gesammten  Minenarbeiter  des  Vereinigten  Königreichs 
betrug  721808,  von  denen  6099  weibliche  Personen  waren, 
die  über  der  Erde  arbeiteten.  862  Unglücksfälle  kamen 
vor,  die  den  Tod  von  1034  Arbeitern  zur  Folge  hatten,  so 
dass  sich  gegen  das  Vorjahr  99  Unglücksfälle  weniger,  aber 
4 Todesfälle  mehr  ereigneten.  Im  vorigen  Jahre  kam  ein 
Todesfall  auf  679  Personen,  im  Jahre  1891  ein  solcher  auf 
668  Personen.  Die  Zahl  der  in  den  Kohlengruben  beschäftigten 
Arbeiter  stellte  sich  auf  664300,  davon  waren  4546  weib- 
liche über  der  Erde  beschäftigte  Personen;  der  Zuwachs 
der  Kohlenarbeiter  betrug,  mit  dem  Vorjahr  verglichen,  15850. 
Bei  den  Kohlenarbeitern  kam  auf  816  Personen  ein  Unfall, 
auf  676  ein  Todesfall.  Eine  der  statistischen  Aufstellungen 
in  dem  Blaubuche  ergiebt,  dass  seit  dem  Inkrafttreten  der 
ersten  Mining  Act  die  Beschäftigung  der  Minenarbeiter  eine 
gefahrlosere  geworden  ist.  Unter  diesem  Gesetze  kam 
auf  233 Arbeiter  durchschnittlich  ein  Todesfall;  als  die  Bestinr- 


348 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  29. 


n umgen  der  zweiten  Mining  Act  Geltung  erhielten,  kam  auf 
durchschnittlich  258  Arbeiter  ein  Todesfall,  unter  der  dritten 
Act  auf  durchschnittlich  312,  unter  der  vierten  auf  durch- 
schnittlich 466,  und  im  letzten  Jahre  auf  durchschnittlich  676. 
Zu  Tage  gefördert  wurden  in  1892  an  Mineralien  191954508  t, 
davon  waren  181786871  t Kohlen  und  5644486  t Eisenstein; 
es  stellt  dieser  Betrag  gegen  1891  eine  Abnahme  von 
5738684  t dar;  von  dieser  Abnahme  entfallen  3692255  t 
auf  Kohlen  und  1584664  auf  Eisenstein. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Zum  Strike  der  Dockarbeiter  in  Hüll.  Ueber  den 
grossen,  kürzlich  ausgebrochenen  Ausstand  der  Dockarbeiter 
in  Mull  entnehmen  wir  der  Vossischen  Zeitung  die  folgende 
vom  10.  April  datirte  Mittheilung:  Die  Zahl  der  ausstän- 
digen Dockarbeiter  beträgt  9000,  jedoch  sind  bis  heute 
schon  gegen  50000  Arbeiter,  die  befreundeten  Gewerk- 
vereinen angehören,  in  Mitleidenschaft  gezogen  worden. 
Die  Schiffsheizer,  Seeleute  und  Eisenbahnarbeiter  nament- 
lich weigern  sich,  für  die  gesperrten  Rheder  zu  arbeiten. 
Da  der  Dockarbeitergewerkverein  nur  über  eine  bescheidene 
Kasse  verfügt,  welche  die  Zahlung  von  Ausstandsgeldern 
höchstens  für  eine  Woche  erlaubt,  setzen  der  Londoner 
Alderman  Ben  Milet  und  der  sozialistische  Abgeordnete 
Havelock  Wilson  (nicht  zu  verwechseln  mit  dem  Schiffs- 
rheder und  Abgeordneten  Wilson,  gegen  den  sich  der  Aus- 
stand richtet)  alle  Hebel  in  Bewegung,  um  den  Ausstand 
als  einen  Vernichtungskampf  der  vereinigten  Kapitalisten 
gegen  die  Koalitionsfreiheit  der  Arbeiter  hinzustellen  und 
sämmtliche  Gewerkvereine  Englands  in  Bewegung  zu  setzen. 
Ein  Aufruf  um  Zuwendung  von  Geldunterstützungen  ist 
heute  erlassen  worden.  Der  Versuch  der  Geistlichkeit  in 
Hüll,  einen  Ausgleich  zu  vermitteln,  ist  gescheitert.  Der 
ganze  Streit  ist  von  höchster  grundsätzlicher  Bedeutung, 
da  die  Rheder  Gebrüder  Wilson  wiederholt  erklärt  haben, 
lieber  ihr  ganzes  Geschäft  bedingungslos  aufgeben  zu 
wollen,  als  unter  der  Diktatur  der  Gewerkvereinssekretäre 
weiter  zu  arbeiten.  Sie  besitzen  eine  Flotte  von  80  Dampfern 
und  verfügen  über  ein  Privatvermögen  von  40  Millionen 
Mark,  so  dass  sie  wohl  im  Stande  sind,  ihre  Drohung  aus- 
zuführen. Der  1889  gegründete  Dockarbeitergewerkverein 
hat  bisher  schon  nahezu  eine  halbe  Million  Mark  für  Aus- 
standszwecke verausgabt.  Unter  seinem  Einfluss  haben 
sich  die  Löhne  um  40  vom  Hundert  vermehrt,  während 
gleichzeitig  die  Arbeitsstunden  verkürzt  worden  sind.  Die 
Lohnfrage  kommt  aber  bei  dem  gegenwärtigen  Streit  gar 
nicht  in  Betracht.  Die  Gebrüder  Wilson  haben  sich  sogar 
trotz  des  gegenwärtigen  Niederganges  im  Rhedereigewerbe 
bereit  erklärt  — komme,  was  kommen  mag  — während 
der  nächsten  zwölf  Monate  unter  keinen  Bedingungen  eine 
Lohnermässigung  fordern  zu  wollen.  Ihre  einzige  Bedin- 
gung ist,  dass  sie  jeden  Arbeiter  beschäftigen  dürfen, 
einerlei  ob  er  dem  Gewerkverein  angehört  oder  nicht.  Sie 
verlangen  nicht  den  Austritt  aus  dem  Gewerkverein, 
sondern  nur  die  Duldung  der  freien  Arbeit  von 
Seiten  der  vereinigten  Arbeiter.  Bis  jetzt  scheinen  die 
Gebrüder  Wilson,  die  sämmtliche  Rheder  Englands  hinter 
sich  haben,  im  Vortheil  zu  sein,  aber  es  ist  die  Möglichkeit 
vorhanden,  dass  die  Sperre  weiter  um  sich  greift. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Schutz  der  Arbeiterinnen  in  der  Schweiz.  Der  Zentral- 
vorstand des  Schweizerischen  Arbeiterinnen-Vereins  in 
Basel  richtet  an  die  Bundesversammlung  das  wohlmotivirte 
Gesuch,  dass  zum  Schutze  aller  Arbeiterinnen,  welche  in 
Gewerbe  jeder  Art  beschäftigt  sind,  die  nicht  unter  das 
eidgenössische  Fabrikgesetz  fallen,  ein  eidgenössisches 
Gesetz  erlassen  werden  sollte. 


Ueber  den  Inhalt  dieses  Gesetzes  äussert  sich  die 
Petition  wie  folgt:  „Vor  allen  Dingen  soll  die  zehnstündige 
Arbeitszeit  vorgesehen  werden.  Es  ist  keine  Frage  mehr, 
dass  diese  Forderung  gesundheitlich  schon  längst  be- 
gründet ist  und  dass  auch  soziale  und  wirthschaftliche 
Beweggründe  hierfür  sprechen.  Am  Samstag  und  am  Tage 
vor  Feiertagen  soll  die  Arbeit  auf  9 Stunden  beschränkt 
werden.  Die  Gewerbe,  welche  diesem  Gesetze  unterstellt 
sind,  dürfen  keine  Lehrtöchter  annehmen,  welche  das 
16.  Lebensjahr  noch  nicht  erreicht  haben,  auch  soll  die 
Zahl  der  zulässigen  Lehrtöchter  zur  Zahl  der  Arbeiterinnen 
in  einem  Verhältniss  stehen,  wonach  die  Gefahr  einer  ge- 
werbsmässigen Lehrzüchterei  ausgeschlossen  bleibt.  An 
Sonntagen  soll  jede  Arbeit  ruhen.  Ueberzeitbewilligungen 
sind  zu  beschränken  und  nur  ausnahmsweise  durch  die 
kantonale  Vollziehungsbehörde  zu  bewilligen,  wobei  die 
Arbeitsverlängerung  nicht  für  länger  als  einen  Monat  gewährt 
werden  darf  und  die  Inhaber  der  Gewerbe  bekannt  gegeben 
werden  müssen.  Ueberzeitarbeit  ist  doppelt  zu  vergüten; 
für  Wöchnerinnen  ist  eine  Schonzeit  von  8 Wochen  ein- 
zuhalten. Die  Kündigungszeit  ist  eine  14  tägige,  besondere 
private  Abmachungen,  welche  dieser  Bestimmung  wider- 
sprechen, haben  keine  rechtliche  Gültigkeit.  Bussen  sollen 
nur  verhängt  werden  dürfen,  wenn  sie  in  einer  Arbeits- 
ordnung angedroht  sind;  sie  sollen  die  Hälfte  des  Tages- 
lohns der  Gebüssten  nicht  übersteigen  und  im  Interesse  der 
Arbeiterinnen  Verwendung  finden.  Lohnabzüge  für  ver- 
dorbene Arbeit  soll  nur  zulässig  sein,  wenn  der  Schaden 
aus  Vorsatz  oder  grober  Nachlässigkeit  entstanden  ist.  Die 
Arbeitsräume  sollen  geräumig  sein  und  den  hygienischen 
Anforderungen  der  Zeit  entsprechen.  Für  alle  Geschäfte 
sind  Arbeitsordnungen  zu  erlassen,  die  durch  gemeinsame 
Vereinbarungen  der  Arbeitgeber  und  Arbeiterinnen  fest- 
zusetzen sind.  Zur  Aufsicht  und  Kontrolle  sollen  die  be- 
stehenden Fabrikinspektoren  herangezogen  werden.  Gegen 
Uebertretungen  des  Gesetzes  sind  angemessene  Strafen 
vorzusehen.“ 

Zweifellos  werden  diese  Anregungen  bei  der  Berathung 
des  in  Aussicht  stehenden  schweizerischen  Gewerbegesetzes 
Berücksichtigung  finden. 

Zur  Reform  des  Arbeiterschutzes  im  belgischen  Berg- 
bau. In  Belgien  ist  durch  königliche  Erlasse  nun  auch  die 
Frauen-  und  Kinderarbeit  in  Bergwerken  und  sonstigen 
Montan-Anlagen  einer  Regelung  unterzogen  worden.  Wie 
die  Kölnische  Zeitung  meldet,  dürfen  Arbeiter  vom  12.  bis 
zum  vollendeten  16.  Jahre  und  Mädchen  unter  21  Jahren 
in  den  Bergwerken  zur  Tagesarbeit  nicht  während  mehr 
denn  io'/2  Stunden  (bis  Ende  dieses  Jahres  11  Stunden)  ; 
und  zur  Nachtarbeit  nicht  während  mehr  denn  10  Stunden 
angehalten  werden.  Kinder  unter  14  Jahren  dürfen  Nachts 
nicht  unter  Tage  beschäftigt  werden;  Frauen  und  Mädchen 
unter  21  Jahren  dürfen  überhaupt  nicht  mehr  unter  Tage 
arbeiten,  mit  Ausnahme  derjenigen,  die  vor  dem  Erlass  des 
Gesetzes  vom  3.  Dezember  1889  unter  Tage  arbeiten  durften, 
und  die,  jetzt  alle  über  16  Jahre,  nicht  länger  als  11  Stunden 
arbeiten  sollen.  Bei  der  Bemessung  der  Arbeit  unter  Tage 
gilt  das  An-  und  Ausfahren  als  solche;  die  Ruhepausen 
müssen  Vs  der  Arbeitsdauer  betragen.  Bei  Arbeiten  über 
Tage  sind  den  geschützten  Personen  Ruhepausen  von  einer 
Gesammtdauer  von  1 I/2  Stunden  zu  bewilligen.  Da  in  drei 
Kohlengruben  zu  Mariemont  die  Arbeit  von  5 Uhr  früh  bis 
Mitternacht  in  zwei  Schichten  zur  Erleichterung  der  Beleg- 
schaft stattfindet,  wird  verfügt,  dass  die  Nachtarbeit  für  die 
geschützten  Personen  um  Mitternacht  aufhören  muss  und 
die  ganze  Arbeitsdauer  für  sie  10  Stunden,  für  die  weib- 
lichen nur  9 Stunden,  nicht  übersteigen  darf.  In  den 
Steinbrüchen  über  Tage  dürfen  die  geschützten  Personen 
nicht  länger  als  10  Stunden,  in  den  Werkstätten,  wo  Steine 
geschnitten  und  behauen  werden,  nicht  über  8 Stunden 
arbeiten.  In  Hütten-Anlagen  mit  fortwährendem  Feuer  wird 
die  Arbeit  der  geschützten  Personen  auf  10  Stunden  mit 
wenigstens  1 y2  Stunden  Pause  bemessen;  sie  dürfen  alle 
zwei  Wochen  am  7.  Tage  beschäftigt  werden. 


No.  29. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


319 


Arbeiterversicherung. 

Unfallhäufigkeit  an  verschiedenen  Wochentagen.  Aus 

den  neuesten  Berichten  der  bayerischen  Gewerbeinspektoren 
für  1892  geht  hervor,  dass  der  Beamte  für  Schwaben  und 
Neuburg  dieselbe  Untersuchung  über  die  Unfallhäufigkeit 
an  Wochentagen  anstellte  (S.  213  und  231),  wie  der  sächsische 
Gewerbeinspektor  für  Annaberg  i.  V.  (vgl.  die  gleichnamige 
Notiz  in  No.  28  dieser  Zeitschrift),  aber  dabei  zu  dem  ent- 
gegengesetzten Ergebnisse  kam.  Dem  bayerischen  Beamten 
stand  ein  weit  umfangreicheres  Material  zu  Gebote,  als  dem 
sächsischen.  Seine  Feststellungen  ergaben,  dass  von  den 
564  im  Jahre  1892  im  Aufsichtsbezirk  zur  Anzeige  gekom- 
menen Unfällen  sich  nach  einer  beigegeben  graphischen 
Darstellung  ereigneten  am  Sonntag  (in  runden  Ziffern)  130, 
Montag  800,  Dienstag  und  Mittwoch  780,  Donnerstag  950, 
Freitag  940  und  Samstag  970  pro  Mille.  Sehr  richtig  be- 
merkt dazu  der  Beamte:  „Es  geht  daraus  hervor,  dass  in 

der  zweiten  Hälfte  der  Woche  die  meisten  Unfälle  vorge- 
kommen sind.  Infolge  der  geisttödtenden  Wochenarbeit 
mag  die  Aufmerksamkeit  eine  geringere  werden.  Die  Un- 
fälle, die  sich  an  den  Sonnabenden  ereigneten,  sind  durch- 
aus nicht  auf  Unvorsichtigkeit  zurückzuführen,  sondern  es 
scheinen  die  physischen  und  geistigen  Kräfte  der  Arbeiter 
nachgelassen  zu  haben.“  Vielleicht  setzt  der  sächsische 
Beamte  für  Annaberg  seine  Beobachtungen  fort,  um  sie 
nochmals  auf  Grund  eines  umfangreichen  Materials  mit 
denjenigen  seines  bayerischen  Kollegen  zu  vergleichen. 

Arbeiterversicherung  und  Armenpflege  in  Berlin. 

Ueber  die  bisherige  Einwirkung  des  Alters-  und  Invaliditäts- 
Versicherungsgesetzes  auf  die  Armenpflege  der  Stadt  Berlin 
ist  durch  die  Armendirektion  ermittelt  worden,  dass  von 
etwa  1950  Rentenempfängern  bei  25,  welche  rund  3670  M. 
Jahresrente  beziehen,  das  früher  gezahlte  Almosen  mit 
2820  M.  jährlich  abgeschätzt,  bei  83,  welche  10  800  M.  Jahres- 
rente beziehen,  das  Almosen  von  rund  14000  M.  auf  8600  M., 
also  um  5400  M.  ermässigt,  bei  42  mit  5780  M.  Jahresrente 
unverändert  in  Höhe  von  5800  M.  fortgezahlt,  bei  5 mit 
1060  M.  in  Höhe  von  636  M.  neu  bewilligt  ist.  Die  un- 
mittelbar erkennbare  Ersparniss  beträgt  daher  für  die 
Armenverwaltung  nur  etwa  8200  M.  jährlich.  Thatsächlich 
wird  die  Ersparniss  erheblich  grösser  sein,  weil  manche 
der  bisher  unterstützten  Rentenempfänger  wohl  der  Armen- 
pflege verfallen  wären,  wenn  sie  nicht  in  den  Genuss  der 
Rente  getreten  wären. 


Criminalität. 

Versammlung  der  deutschen  Landesgruppe  der 
Internationalen  Criminalistischen  Vereinigung. 

Im  Berliner  Rathhause  fanden  am  7.  und  8.  April  die  Verhand- 
lungen der  Internationalen  Criminalistischen  Vereinigung  (Landes- 
gruppe: Deutsches  Reich)  statt.  Zahlreiche  Criminalisten,  Richter, 
Staatsanwälte,  Rechtsanwälte,  Strafanstaltsbeamte,  Strafanstalts- 
Geistliche  u.  s.  w.  aus  allen  Theilen  des  Deutschen  Reichs,  ferner 
aus  Oesterreich,  Italien,  Russland  u.  s.  w.  waren  anwesend.  Den 
ersten  Gegenstand  der  Tagesordnung  bildete:  Die  Behandlung 
der  verwahrlosten  und  verbrecherischen  Jugend.  Der  Referent, 
Staatsanwalt  Dr.  Appelius  (Elberfeld)  äusserte  sich  in  Begründung 
der  von  ihm  zu  der  Frage  aufgestellten  Thesen  ungefähr  folgen- 
dermassen:  Die  Zahl  der  jugendlichen  Verbrecher  wachse  in  ge- 
radezu erschreckender  Weise.  Im  Jahre  1889  betrug  die  Zahl 
der  jugendlichen  Verbrecher  in  Preussen  36  000,  1890  bereits 
41  000.  Diese  Zahlen  entsprächen  keineswegs  der  Zunahme  der 
Bevölkerung.  Jedem  Menschen  und  Vaterlandsfreunde  müsse 
sich  angesichts  derartiger  Verhältnisse  die  Frage  aufdrängen:  Was 
ist  zu  thun,  um  diesen  Missständen  zu  steuern?  Jedenfalls  stehe 
soviel  fest:  die  heutigen  Strafbestimmungen  seien  nicht  geeignet, 
Besserung  zu  schaffen.  Wenn  auch  ein  Kind  die  zur  Strafbarkeit  er- 
forderliche Einsicht  besitze,  so  habe  es  doch  absolut  kein  ausreichen- 
des Verständniss  für  den  Begriff  Gefängniss.  Es  sei  doch  aber  auch 
erforderlich,  den  jugendlichen  Verbrecher  nicht  blos  zu  strafen, 
sondern  ihn  in  erster  Reihe  zu  bessern.  Die  Strafanstalts-Geist- 
lichen seien  darin  einig,  dass  das  Gefängniss  eine  seelische  Ein- 
wirkung zum  Besseren  auf  die  jugendlichen  Verbrecher  in  keiner 
Weise  bewirke.  Im  Gegentheil,  in  den  meisten  Fällen  werde  der 
jugendliche  Verbrecher  durch  das  Gefängniss  nur  noch  verstockter. 


Ein  weiterer  Uebelstand  sei,  dafs  die  aus  dem  Gefängniss  ent- 
lassenen Verbrecher  ansteckend  auf  ihre  Altersgenossen  wirken. 
Es  sei  eine  bekannte  Thatsache,  dass  die  jugendlichen  Straf- 
entlassenen von  ihren  Altersgenossen  in  den  niederen  Kreisen 
nicht  nur  nicht  gemieden,  sondern  im  Gegentheil  aufgesucht 
werden.  Eine  Absonderung  der  jugendlichen  Strafentlassenen  sei 
auch  gar  nicht  möglich,  da  die  Volksschule  diese  Elemente  nicht 
ausschliessen  könne.  Wenn  aber  der  Zunahme  der  verbrecheri- 
schen Jugend  gesteuert  werden  solle,  dann  sei  es  erforderlich, 
den  Schwerpunkt  auf  die  Besserung  und  Erziehung  zu  legen.  Er 
sei  der  Meinung,  dass  die  jugendlichen  Verbrecher,  ganz  be- 
sonders aber  deren  Eltern  die  Zwangserziehung  bedeutend  mehr 
fürchten  als  das  Gefängniss.  Allerdings  sei  es  nothwendig,  wenn 
das  Haus  nicht  ohne  Dach  bleiben  solle,  auch  die  verwahrloste 
Jugend  von  Staatswegen  der  Zwangserziehung  zu  überweisen. 

Die  Thesen,  die  der  Referent,  Staatsanwalt  Dr.  Appelius  be- 
fürwortete, haben  folgenden  Wortlaut: 

I.  1.  Es  empfiehlt  sich,  das  Alter  der  Strafmündigkeit  bis 
auf  das  vierzehnte  Lebensjahr  hinaufzurücken.  2.  Wer  bei  Be- 
gehung einer  strafbaren  Llandlung  das  vierzehnte  Lebensjahr 
nicht  vollendet  hat,  kann  daher  wegen  derselben  nicht  strafrecht- 
lich verfolgt  werden.  3.  Es  kann  jedoch  in  diesem  Falle  staatlich 
überwachte  Erziehung  eintreten. 

II.  1.  Gegen  Personen,  welche  bei  Begehung  der  strafbaren 
Handlung  das  vierzehnte,  aber  nicht  das  achtzehnte  Lebensjahr 
vollendet  haben,  kann  wegen  derselben  auf  Strafe  oder  auf  staat- 
lich überwachte  Erziehung  oder  auf  Freiheitsstrafe  und  Erziehung, 
oder  auf  Ueberweisung  an  die  Familie  erkannt  werden.  2.  Wird 
auf  Strafe  in  Verbindung  mit  staatlich  überwachter  Erziehung 
erkannt,  so  ist  in  dem  entscheidenden  Theile  des  Urtheils  zum 
Ausdruck  zu  bringen,  ob  die  Strafe  oder  die  Erziehung  voran- 
gehen soll.  3.  Die  Bestimmung  der  §§  56  und  57  des  Straf- 
gesetzbuchs, wonach  die  strafrechtliche  Verantwortlichkeit  eines 
Jugendlichen  davon  abhängig  ist,  dass  er  bei  Begehung  der 
That  die  zur  Erkenntniss  ihrer  Strafbarkeit  erforderliche  Einsicht 
besessen  hat,  ist  zu  beseitigen.  4.  Als  Strafmittel  sind  nur  zu- 
lässig: Gefängniss  und  Festungshaft  bis  zu  fünfzehn  Jahren,  Haft, 
Geldstrafe,  Verweis,  allein  und  in  Verbindung  mit  Ueberweisung 
zur  Schulzucht  und  zur  Zucht  der  staatlich  überwachten  Er- 
ziehung, Unfähigkeit  zur  Bekleidung  öffentlicher  Aemter.  Aus- 
geschlossen bleiben:  Todesstrafe,  Zuchthaus,  Aberkennung  der 
bürgerlichen  Ehrenrechte,  Ueberweisung  an  die  Landespolizei- 
behörde und  Polizeiaufsicht.  Von  der  Erkennung  auf  dauernde 
Unfähigkeit,  als  Zeuge  oder  Sachverständiger  eidlich  vernommen 
zu  werden,  kann  abgesehen  werden  (§  161  des  Strafgesetzbuchs). 
5.  Wird  an  erster  Stelle  auf  Freiheitsstrafe  erkannt,  so  ist  die- 
selbe bei  Gefängniss  nicht  unter  einem  Monat,  bei  Haft  nicht 
unter  zwei  Wochen  zu  bemessen.  6.  Für  die  Dauer  der  Freiheits- 
strafe ist,  abgesehen  von  Nr.  5,  im  allgemeinen  die  Strafandrohung 
der  ordentlichen  Strafgesetze  massgebend.  An  Stelle  von  zeitiger 
Zuchthausstrafe  tritt  regelmässig  Gefängnissstrafe  von  gleicher 
Dauer;  jedoch  in  allen  Fällen  mit  einem  Mindestmass  von  nur 
einem  Jahre  und  mit  einem  Höchstmasse  von  nicht  über  zehn 
Jahren.  7.  Gefängnissstrafe  von  mehr  als  zehn  Jahren  ist  nur 
zulässig  bei  den  mit  dem  Tode  oder  mit  lebenslänglicher  Frei- 
heitsstrafe bedrohten  Strafthaten.  8.  Wenn  Gefängnissstrafe  und 
Erziehung  verbunden  werden,  kann  die  Erstere  um  die  Hälfte 
herabgesetzt  werden.  9.  Es  ist  zu  empfehlen,  für  erste  Freiheits- 
strafen bis  zu  drei  Monaten  die  Aussetzung  des  Strafvollzugs 
einzuführen.  10.  Die  Vollstreckung  einer  Freiheitsstrafe  gegen 
eine  in  der  staatlich  überwachten  Erziehung  befindliche  Person, 
sowie  die  Vollstreckung  einer  Freiheitsstrafe,  welche  in  Verbin- 
dung mit  staatlich  überwachter  Erziehung  erkannt  ist  und  der- 
selben nachfolgen  soll,  kann,  sofern  die  Freiheitsstrafe  zwei  Jahre 
nicht  übersteigt,  von  dem  Erfolg  der  Erziehung  und  eventuell  der 
nachträglichen  Führung  abhängig  gemacht  werden, 

III.  Auch  ohne  das  Vorliegen  einer  strafbaren  Handlung 
sollen  jugendliche  Personen  bis  zum  sechszehnten  Lebensjahre  der 
staatlich  überwachten  Erziehung  überwiesen  werden, 

wenn  deren  sittliche  Verwahrlosung  festgestellt  oder  der  Ein- 
tritt derselben  nach  den  häuslichen  Verhältnissen  zu  be- 
fürchten ist, 

und  die  Massregel  erforderlich  erscheint,  um  die  Personen  vor 
sittlichem  Verderben  zu  bewahren. 

IV.  Die  staatlich  überwachte  Erziehung  findet  statt:  a)  in  der 
eigenen  Familie,  b)  in  einer  geeigneten  fremden  Familie,  c)  in  einer 
unter  staatlicher  Aufsicht  stehenden  Privaterziehungsanstalt,  d)  in 
einer  staatlichen  Erziehungsanstalt. 

V.  Es  empfiehlt  sich,  die  Entscheidung  der  Frage,  ob 
gegen  verbrecherische  oder  verwahrloste  Kinder  staatlich  über- 
wachte Erziehung  eintreten  soll,  den  Vormundschaftsgerichten  zu 
übertragen. 

VI.  1.  Die  Entscheidung  über  die  Art  und  die  Ausführung 
der  staatlich  überwachten  Erziehung  ist  in  die  Hände  besonderer 
Erziehungsämter  zu  legen.  2.  Es  bleibt  der  Landesgesetzgebung 
überlassen,  die  Erziehungsämter  in  den  bestehenden  Verwaltungs- 
organismus einzuordnen.  3.  Doch  ist  die  bestehende  getheilte 


350 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  29. 


Leitung  des  staatlichen  Erziehungswesens  zum  Theil  in  der 
Hand  von  Staatsbehörden,  zum  Theil  in  der  Hand  von  Kommunal- 
behörden mit  einer  erfolgreichen  Thätigkeit  auf  diesem  Gebiet 
unvereinbar. 

VII.  Die  Untersuchung  gegen  jugendliche  Verbrecher  vom 
vierzehnten  bis  achtzehnten  Lebensjahre  und  die  Aburtheilung 
liegt  den  nach  dem  Gerichtsverfassungsgesetz  zuständigen  ordent- 
lichen Strafgerichten  ob. 

VIII.  Die  Erziehung  verbrecherischer  und  verwahrloster 
Kinder,  sowie  die  Bestrafung  verbrecherischer  jugendlicher  Per- 
sonen muss  durch  ein  besonderes  Reichsgesetz  gemeinsam  ein- 
heitlich geregelt  werden. 

Der  zweite  Referent,  Amtsgerichtsrath  Schmölder  (Köln) 
wandte  sich  ganz  besonders  gegen  die  Absicht  des  Vorredners, 
die  jugendlich  Verwahrlosten  u.  s.  w.  einer  staatlichen  Zwangs- 
erziehung zu  überweisen  und  besondere  Erziehungsämter  zu  er- 
richten. Den  Schwerpunkt  der  Zwangserziehung  müsse  man  in 
die  Familie  legen.  Der  Redner  verlangte  in  den  von  ihm  aufge- 
stellten  Thesen,  dass  der  Vormund,  nicht  aber  der  Vater  einer 
ständigen  Kontrole  durch  das  Vormundschaftsgericht  unterstehen 
solle.  Im  weiteren  bemerkte  der  Redner,  dass  der  Zustand  der 
Strafmündigkeit  sich  nicht  an  den  Zustand  der  Strafunmündigkeit 
in  unmittelbarer  Folge  anreihe.  Es  schiebe  sich  vielmehr  zwischen 
beide  Zustände  ein  Zwischenzustand,  der  Zustand  der  beschränk- 
ten Strafmündigkeit,  ein.  Für  den  Zustand  der  beschränkten 
Strafmündigkeit  sei  ein  besonderes,  der  Eigenart  dieses  Zustandes 
entsprechendes  System  von  Strafmitteln  aufzustellen.  Diese 
Strafmittel  verdrängen  bei  allen  einzelnen  Strafthaten  die  dort 
vorgesehenen,  allgemein  gültigen  Strafmittel.  In  dieses  Straf- 
mittelsystem seien  aufzunehmen:  I.  der  Verweis,  2.  die  Geld- 
strafe, 3.  die  körperliche  Züchtigung,  4.  die  Ueberweisung  in  ein 
Besserungshaus.  — Der  dritte  Referent,  Geheimer  Ober-Finanzrath 
F uchs  ( Karlsruhe)  machte  Mittheilungen  über  das  Zwangserziehungs- 
wesen in  seiner  Heimath,  das  dort  zumeist  in  den  Händen  freier 
Vereine  liege  und  im  allgemeinen  gute  Resultate  gezeitigt  habe. 
— Geheimer  Regierungsrath  Dr.  Kessler  (Wabern)  erklärte  sich 
mit  den  Thesen  des  ersten  Referenten  einverstanden.  Er  habe 
ebenfalls  die  Erfahrung  gemacht,  dass  das  Gefängniss  nicht  ge- 
eignet sei,  erzieherisch  und  bessernd  zu  wirken.  - Amtsgerichts- 
rath Schmölder  (Köln)  erklärte,  die  erste  These  des  Staatsanwalts 
Dr.  Appelius  nicht  gutheissen  zu  können.  Er  halte  es  für  nothwendig, 
das  Alter  der  Strafmündigkeit  bis  auf  das  vierzehnte  Lebensjahr 
hinaufzurücken.  — Dr.  med.  Leppmann  (Berlin)  stimmte  dem 
Vorredner  bei.  Mit  dem  sechzehnten  Lebensjahr  beginne  die 
Pubertät  und  mit  dieser  erst  die  erforderliche  Einsicht.  Allerdings 
müsse  verhütet  werden,  dass  Kinder  unter  sechzehn  Jahren  nicht 
auf  diese  Straflosigkeit  rechnen;  diese  seien  daher,  sobald  sie 
ein  Verbrechen  begehen,  der  Zwangserziehung  zu  überweisen. 
Eventuell  würde  er  (Redner)  sich  mit  der  Hinaufrückung  der 
Strafgrenze  bis  zum  vierzehnten  Lebensjahre  begnügen:  jedenfalls 
aber  wünsche  er  eine  Absonderung  derjenigen,  die  nur  wegen 
Verwahrlosung  und  derjenigen,  die  eines  begangenen  Verbrechens 
wegen  der  Zwangserziehung  überwiesen  werden.  - Oekonomie- 
Rath  Jungk  (Berlin).  Pastor  D.  von  Koblynski  (Düsseldorf)  und 
Kaufmann  Bischoff  (Berlin)  sprachen  sich  für  die  Hinaufrückung 
der  Strafmündigkeit  bis  zum  vierzehnten  Lebensjahr  aus,  Letzte- 
rer befürwortete  diese  aus  dem  Grunde,  weil  bei  der  gegen- 
wärtigen Gesetzesbestimmung,  wo  die  Strafmündigkeit  mit  dem 
zwölften  Lebensjahre  beginne,  oftmals  ein  in  diesem  jugendlichen 
Alter  begangenes  Vergehen  dem  bestraften  Kinde  für  das  ganze 
Leben  anhafte  und  es  in  seinem  wirthschaftlichen  Fortkommen 
hindere.  — Pf ar  rer  Win  ekel  mann  (Halle)  und  Landrichter  Dr.  Felisch 
(Berlin)  sprachen  sich  ebenfalls  für  Hinaufrückung  der  Strafmündig- 
keit bis  zum  vierzehnten  Lebensjahre  aus,  Letzterer  bemerkte: 
Es  sei  erforderlich,  die  jugendlichen  Verbrecher  mit  Handarbeiten 
und  landwirthschaftlichen  Arbeiten  zu  beschäftigen.  Es  würde 
sich  auch  sehr  empfehlen,  jugendliche  Verbrecher  aus  den  grossen 
Städten  aufs  Land  abzuschieben.  Amtsgerichtsrath  Dr.  Schubert 
(Ebeleben  bei  Sondershausen)  trat  ebenfalls  für  Hinaufrücken  der 
Strafmündigkeit  bis  zum  vierzehnten  Lebensjahre  ein  und  betonte 
die  Noth  wendigkeit,  Einbruchsdieb  stähle  und  Sittlichkeitsverbrechen, 
die  von  Strafunmündigen  begangen  werden,  der  zuständigen  Ge- 
richtsbehörde anzuzeigen,  damit  diese  in  der  Lage  sei,  die  ver- 
brecherischen Kinder  und  auch  deren  Eltern  zu  warnen.  Der- 
artige Warnungen  würden  eine  grosse  Wirksamkeit  ausüben. 
Ausserdem  erachte  er  es  für  nothwendig,  die  jugendlichen  Ver- 
brecher in  den  Gefängnissen  gehörig  zur  Arbeit  anzuhalten.  Das 
Gefängniss  müsse  den  jugendlichen  Verbrechern  als  etwas 
Schreckliches  erscheinen.  Pfarrer  Müller  (Braunsdorf  in  Sachsen) 
bezeiehnete  das  Hinaufrücken  der  Strafmündigkeit  bis  zum 
14.  Lebensjahre  als  eine  dringende  Nothwendigkeit,  wenn  man 
bessernd  auf  die  verbrecherische  Jugend  wirken  wolle.  Auch 
die  Schule  habe  ein  Recht  zu  verlangen,  dass  ihre  Schüler  nicht 
ins  Gefängniss  gesteckt  würden.  — Staatsanwalt  Dr.  Stachow  I. 
und  Landgerichtsrath  Kronecker  (Berlin)  wandten  sich  gegen  den 
Antrag:  Strafunmündige  bei  jedem  von  diesen  begangenen  Ver- 
gehen der  Zwangserziehung  zu  überweisen.  — Nach  Schluss  der 


Debatte,  an  der  sich  noch  mehrere  andere  Redner  betheiligten, 
gelangten  die  Thesen  I 1 bis  3 des  Staatsanwalts  Dr.  Appelius  fast 
einstimmig  zur  Annahme.  — Zu  These  II  1 beantragte  Amts- 
gerichtsrath Schmölder  (Köln),  das  Wort  „Freiheitsstrafe“  zu 
streichen.  Geheimer  Regierungsrath  Dr.  Krohne  stimmte  dem 
Vorredner  im  allgemeinen  bei  und  trat  ganz  besonders  für  die 
These  II  3 ein.  Redner  bemerkte:  Man  stecke  jetzt  jugendliche 
Verbrecher  in  eine  Verbrecherschule.  Die  gegenwärtige  Gesell- 
schaft belaste  ihr  Schuldkonto  immer  mehr;  es  komme  ihm  vor, 
als  befolge  die  heutige  Gesellschaft  den  Grundsatz:  „Apres  nous 
le  deluge“.  - Nach  noch  längerer  Debatte  gelangten  die  Thesen 
11  I bis  3 mit  der  Aenderung  zur  Annahme,  dass  es  in  II  1 anstatt 
„Freiheitstrafe“  „Strafe“  heissen  soll.  — Von  dem  Geheimen  Re- 
gierungsrath Dr.  Krohne  war  ferner  folgender  Antrag  gestellt: 
„Gegen  jugendliche  Personen  im  Alter  vom  vollendeten  18.  bis 
zum  vollendeten  21.  Lebensjahre  finden  Todesstrafe  und  Zucht- 
hausstrafe. ferner  diejenigen  Nebenstrafen  keine  Anwendung, 
welche  auf  die  Erfüllung  der  militärischen  Dienstpflicht  von  Einfluss 
sind.  - - Dieser  Antrag  wurde  jedoch  nach  längerer  Debatte  ab- 
gelehnt. 

Die  Verhandlungen  des  zweiten  Tages  betrafen  zunächst 
die  Frage  der  Behandlung  der  nur  Verwahrlosten  in  Anschluss 
an  die  These  III  des  Dr.  Appelius,  welche  will,  dass  auch  ohne 
das  Vorliegen  einer  strafbaren  Handlung  jugendliche  Personen 
bis  zum  16.  Lebensjahr  der  staatlich  überwachten  Erziehung 
uberwiesen  werden,  a)  wenn  deren  sittliche  Verwahrlosung  fest- 
gestellt oder  der  Eintritt  derselben  nach  den  häuslichen  Ver- 
hältnissen zu  befürchten  ist,  und  b)  die  Maassregel  erforderlich 
erscheint,  um  die  Personen  vor  sittlichem  Verderben  zu  be- 
wahren. Hierzu  lagen  eine  Anzahl  Abänderungsanträge  vor. 
Amtsrichter  Köhne-Luckenwaldd  wünschte  den  Absatz  a,  Amts- 
richter Simonson- Berlin  den  Absatz  b gestrichen  zu  sehen, 
Landesrath  Forster-Merseburg  beantragte  die  staatlich  überwachte 
Erziehung  bis  zum  18.  Lebensjahr  auszudehnen.  Amtsgerichts- 
rath Schmölder-Köln  beantragte  folgenden  Zusatz:  „Bei  Kindern, 
welche  in  väterlicher  Gewalt  stehen,  greife  diese  Bestimmung 
nur  dann  Platz,  wenn  der  Vater  aus  einem  der  gesetzlich  zu 
fixirenden  Gründe  als  unwürdig  oder  unfähig  zu  erklären  ist.“  : 

Geh.  Ober-Finanzrath  Fuchs-Karlsruhe  wünschte  folgenden  Zu- 
satz: „Die  staatlich  überwachte  Erziehung  bezweckt  die  Besse- 
rung der  jugendlichen  Verwahrlosten  und  Bestraften,  namentlich 
durch  Befähigung  zu  selbständigem  Lebenserwerb  und  kann  bis  , 
zum  zurückgelegten  20.  Lebensjahr  fortdauern.“  Amtsrichter  < 
Aschrott-Berlin  ferner  wollte  die  staatlich  überwachte  Erziehung  * 
nur  über  jugendliche  Personen  bis  zum  vollendeten  14.  Lebens- 
jahr verhängt  sehen  und  zwar  dann,  wenn  bereits  Zeichen  der 
Verwahrlosung  hervorgetreten  sind  und  die  Erziehung  durch  die 
Zuchtmittel  der  Eltern  bezw.  des  Vormundes  und  der  Schule 
unzureichend  erscheinen,  um  die  Kinder  vor  sittlicher  Verwahr- 
losung zu  bewahren.  Prof.  Frank- Giessen  u.  A.  beantragten  ( 
„Zwangserziehung  ist  nicht  von  dem  Vorliegen  einer  strafbaren 
Handlung  abhängig  zu  machen,  dieselbe  kann  vielmehr  auch  ( 
unter  anderen  gesetzlich  näher  zu  formulirenden  Vosaussetzungen  < 
jedenfalls  dann  angeordnet  werden,  wenn  das  Kind  sittlich  ver-  ' 
wahrlost  ist  und  die  häuslichen  Verhältnisse  keine  Garantie  für  1 
Besserung  gewähren.“  Der  Kongress  beschloss:  „Es  sind  sittlich 
verwahrloste  jugendliche  Personen  auch  ohne  das  Vorliegen  einer 
strafbaren  Handlung  in  die  staatlich  überwachte  Erziehung  zu 
überweisen.“  Der  Kongress  erkannte  ferner  an,  dass  für  die 
staatlich  überwachte  Erziehung  eine  Altersgrenze  festgesetzt 
werden  soll  und  dass  diese  Altersgrenze  bis  zum  18.  Lebensjahr 
ausgedehnt  werde,  sowie  dass  die  überwachte  Erziehung  bis  zum 
20.  Lebensjahr  fortdauern  könne.  Der  Kongress  beschloss  end- 
lich noch  entsprechend  der  These  VIII  des  Dr.  Appelius  mit 
einer  vom  Landrichter  Aschrott-Berlin  beantragten  Abänderung: 
„Staatlich  überwachte  Erziehung  bezw.  die  Zwangserziehung  ver- 
brecherischer und  verwahrloster  Kinder,  sowie  die  Bestrafung 
verbrecherischer  jugendlicher  Personen  muss  durch  ein  beson- 
deres Reichsgesetz  gemeinsam  einheitlich  geregelt  werden.“  Der 
Vorstand  wurde  beauftragt,  den  Reichskanzler  und  den  Reichs- 
tag unter  Ueberreichung  des  Berichtes  über  die  Verhandlungen 
des  Kongresses  zu  ersuchen,  den  Erlass  eines  derartigen  Reichs- 
gesetzes zu  beantragen. 

Nach  kurzer  Pause  trat  man  in  die  Berathung  des  zweiten 
Punktes  der  Tagesordnung  ein,  in  die  Berathung  der  Frage: 
„Erscheinen  die  Bestimmungen  des  Reichsstrafgesetzbuches  über 
die  korrektioneile  Nachhaft  reformbedürftig?“  Der  Referent, 
Professor  Dr.  v.  Hippel-Strassburg,  dem  ein  reiches  statistisches 
Material  vorlag,  begründete  eingehend  die  lolgenden  12  Thesen: 

I.  Die  heute  bestehende  Nebenstrafe  des  Arbeitshauses  in  der 
Form  der  Ueberweisung  an  die  Landespolizeibehörde  ist  zu  be- 
seitigen. 2,  Das  Arbeitshaus  ist  als  Hauptstrafe  gegen  Bettel  im 
Rückfall  und  Landstreicherei  zu  verwenden,  wenn  diese  Delikte 
von  arbeitsfähigen  Personen  aus  Arbeitsscheu  begangen  werden. 

3.  Straflos  bleibt  das  Betteln  in  unverschuldeter  Noth  zur  Be- 
schaffung des  unbedingt  erforderlichen  Unterhalts.  4.  Im  Uebrigen 
sind  Bettel  und  Landstreicherei  mit  Haft  nicht  unter  einer  Woche, 


No.  29. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBI  ATT. 


351 


welche  geeignetenfalls  durch  hartes  Lager  und  Verbtissung  bei 
Wasser  und  Brot  geschärft  werden  kann,  zu  bestrafen,  der  heute 
zulässige  Arbeitszwang  während  der  Haftstrafe  ist  beizubehalten, 

5.  Gegen  jugendliche  Personen  unter  18  Jahren  ist  Arbeitshaus- 
strafe unzulässig.  6.  Die  Ausweisung  von  Ausländern  hat  erst 
nach  verbüsster  Arbeitshausstrafe,  nicht  an  Stelle  der  Einsperrung 
im  Arbeitshause  einzutreten.  7)  Für  den  Vollzug  der  Arbeits- 
hausstrafe sind  einheitliche  Grundsätze  unter  Ausscheidung  der 
Land-  und  Ortsarmen  aus  den  Arbeitshäusern  anzustreben.  8 Für 
Delikte,  bei  welchen  Einsperrung  im  Arbeitshause  zulässig  ist, 
ist  die  Anwendbarkeit  des  § 21 1 der  Strafprozessordnung  aus- 
zuschliessen,  welcher  lautet:  Vor  dem  Schöffengerichte  kann  ohne 
schriftliche  erhobene  Anklage  und  ohne  eine  Entscheidung  über 
die  Eröffnung  des  Hauptverfahrens  zur  Hauptverhandlung  ge- 
schritten werden,  wenn  der  Beschuldigte  entweder  sich  freiwillig 
stellt  oder  infolge  einer  vorläufigen  Festnahme  dem  Gerichte 
vorgeführt  oder  nur  wegen  Uebertretung  verfolgt  wird.  Der 
wesentliche  Inhalt  der  Anklage  ist  in  den  Fällen  der  freiwilligen 
Stellung  oder  der  Vorführung  in  das  Sitzungsprotokoll,  andern- 
falls in  die  Ladung  des  Beschuldigten  aufzunehmen.  Auch  kann 
der  Amtsrichter  in  dem  Falle  der  Vorführung  des  Beschuldigten 
mit  Zustimmung  der  Staatsanwaltschaft  ohne  Zuziehung  von 
Schöffen  zur  Hauptverhandlung  schreiten,  wenn  der  Beschuldigte 
nur  wegen  Uebertretung  verfolgt  wird  und  die  ihm  zur  Last 
gelegte  That  eingesteht.  Gegen  die  im  Laufe  der  Hauptverhand- 
lung ergehenden  Entscheidungen  und  Urtheile  des  Amtsrichters 
finden  dieselben  Rechtsmittel  statt,  wie  gegen  die  Entscheidungen 
und  Urtheile  des  Schöffengerichts.  9.  Es  sind  zu  beseitigen  die 
Nummern  5 und  8 des  § 361  Str.-G.-B.  (nach  denen  mit  Haft  be- 
straft wird,  wer  sich  dem  Spiel,  Trunk  oder  Müssiggang  dergestalt 
hingiebt,  dass  er  in  einen  Zustand  geräth,  in  welchem  zu  seinem 
Unterhalte  oder  zum  Unterhalte  derjenigen,  zu  deren  Ernährung 
er  verpflichtet  ist,  durch  Vermittlung  der  Behörde  fremde  Hilfe 
in  Anspruch  genommen  werden  muss,  und  wer  nach  Verlust  seines 
bisherigen  Unterkommens  binnen  der  ihm  von  der  zuständigen 
Behörde  bestimmten  Frist  sich  kein  anderweitiges  Unterkommen 
verschafft  hat  und  auch  nicht  nachweisen  kann,  dass  er  ein  solches 
der  von  ihm  angewandten  Bemühungen  ungeachtet  nicht  vermocht 
habe).  10.  Die  Nummer  7 des  § 361  des  Strafgesetzbuches 
(welcher  bestimmt,  dass  mit  Haff  bestraft  wird,  wer,  wenn  er  aus 
öffentlichen  Armenmitteln  eine  Unterstützung  empfängt,  sich  aus 
Arbeitsscheu  weigert,  die  ihm  von  der  Behörde  angewiesene, 
seinen  Kräften  angemessene  Arbeit  zu  verrichten)  ist  heute 
praktisch  werthlos.  An  ihrer  Stelle  wird  sich  eine  Bestimmung 
empfehlen,  welche  den  Armenverbänden  das  Recht  gewährt, 
arbeitsscheue  Arme  auch  wider  deren  Willen,  so  lange  der  Zu- 
stand der  Hilfsbedürftigkeit  andauert,  in  Armenhäuser  unterzu- 
bringen und  dort  bei  Vermeidung  von  Disziplinarstrafen  zu 
Arbeiten,  welche  ihren  Kräften  entsprechen,  anzuhalten.  1 1 . Im 
Falle  der  Annahme  eines  § 361  No.  5 a,  wie  ihn  die  Novelle  zum 
Unterstützungswohnsitzgesetz  enthält,  ist  das  Arbeitshaus  als 
Hauptstrafe,  eventuell  wahlweise  neben  Haft,  anzudrohen.  (Diese 
dem  Reichstage  am  I.  März  1893  zugegangene  Novelle  plant 
folgenden  Zusatz:  „Wer,  obschon  er  in  der  Lage  ist,  diejenigen, 
zu  deren  Ernährung  er  verpflichtet  ist,  zu  unterhalten,  sich  der 
Unterhaltungspflicht  trotz  der  Aufforderung  der  zuständigen  Be- 
hörde derartig  entzieht,  dass  durch  Vermittlung  der  Behörde 
fremde  Hilfe  in  Anspruch  genommen  werden  muss“.)  § 12.  „Die 
Behandlung  der  Prostitution  bedarf  einheitlicher  reichsgesetzlicher 
Regelung.  Eine  Besserung  der  Prostituirten  ist  von  der  Ein- 
sperrung derselben  im  Arbeitshause  regelmässig  nicht  zu  er- 
warten“. Der  Kongress  beschloss  mit  Rücksicht  auf  die  be- 
schränkte Zeit,  die  Berathung  dieser  Frage  auf  die  Tagesordnung 
der  nächsten  Versammlung  zu  setzen,  den  Referenten  zur  weite- 
ren Ausarbeitung  seines  Berichts  zu  veranlassen  und  einen  Aus- 
schuss zur  Aufstellung  von  Leitsätzen  zu  erwählen.  In  diesen 
Ausschuss  traten  der  Referent,  Landesrath  Vorster-Merseburg 
und  Professor  v.  Liszt-Halle,  in  den  Ausschuss  sollen  ausser- 
dem Leiter  von  Arbeitshäusern  und  Arbeiterkolonien  berufen 
werden.  Zum  Schluss  wurde  noch  mitgetheilt,  dass  der  nächste 
Kongress  der  Landesgruppe  voraussichtlich  in  Freiburg  statt- 
finden wird.  Vorher  aber,  und  zwar  in  den  Tagen  des  26.  bis 
28.  Juni  1893,  wird  der  internationale  Kongress  der  Vereinigung 
in  Paris  abgehalten  werden;  derselbe  wird  sich  mit  -3  Fragen 
beschäftigen:  1.  der  Einfluss  der  kriminal- soziologischen  und 

kriminal-  anthropologischen  Untersuchungen  auf  die  juristischen 
Grundbegriffe  des  Strafrechts;  2.  die  unbestimmten  Slrafurtheile; 
3.  die  Methode  einer  wissenschaftlichen  und  einheitlichen  Rück- 
fallstatistik. Am  Nachmittag  wurden  die  hiesigen  Strafanstalten 
besichtigt,  Abends  fand  zu  Ehren  des  Kongresses  eine  Ver- 
sammlung der  juristischen  Gesellschaft  statt,  in  der  Prof.  Hiller- 
Czernowitz  über  die  Bestrafung  der  Trunksucht  sprach. 


Schulwesen. 

Der  deutsche  Historikertag  und  der  Geschichtsunter- 
richt. Der  Historikertag  zu  München  hat  in  Betreff  der 
Frage  nach  der  Gestaltung  des  Geschichtsunterrichts  auf 
höheren  Schulen  folgenden  Antrag  des  Professors  Stieve 
mit  grosser  Majorität  angenommen:  Der  Geschichtsunterricht 
kann  und  soll  nicht  in  der  Weise  als  Vorbereitung  zur  Theil- 
nahme  an  den  Aufgaben  des  öffentlichen  Lebens  dienen, 
dass  er  in  systematischer  oder  auf  eine  bestimmte  Gesinnung 
hinzielender  Weise  für  dasselbe  vorbereitet;  er  hat  vielmehr 
zu  dem  fraglichen  Zwecke  lediglich  diejenigen  geschichtlichen 
Kenntnisse  zu  übermitteln,  welche  zur  späteren  Theilnahme 
am  öffentlichen  Leben  befähigen,  und  die  Neigung  zu  dieser 
Theilnahme  zu  entwickeln.“  DerSchlusspassus:  „insbesondere 
hat  er  (der  Geschichtsunterricht)  auch  die  Liebe  zum  Vater- 
lande und  ein  strenges  Pflichtbewusstsein  gegen  den  Staat 
zu  erwecken“  wurde  auf  Antrag  des  Professors  Quidde- 
München  abgelehnt. 


Vermischtes. 

Zur  sozialpolitischen  Betrachtung  des  Kartenspiels. 

In  einem  lesenswerthen  Aufsatz  von  Dr.  Paul  Barth  in  der 
Zukunft  vom  8.  April  findet  sich  folgende  Erörterung. 

„In  den  letzten  zehn  Jahren  sind  nach  dem  Statistischen 
Jahrbuch  für  das  Deutsche  Reich  in  Deutschland  versteuert, 
also  auch  verbraucht  worden  37  177  500  Kartenspiele  zu  je 
mindestens  36  Karten.  Und  zwar  ist  der  Verbrauch  von 
Jahr  zu  Jahr  gestiegen,  von  3370300  im  Jahre  1881  auf 
4 128  100  im  Jahre  1891,  d.  h.  weit  über  das  der  Volks- 
vermehrung entsprechende  Maass,  um  24,8  pCt.,  während 
die  Volkszahl  nur  um  9,3  pCt.  gewachsen  ist.  Dividiren 
wir  mit  der  letzten  Zahl  in  die  49  428  470  Seelen,  die  am 
1.  Dezember  1890  gezählt  wurden,  so  kommt  fast  auf  je 
12  Seelen  ein  verbrauchtes  Spiel.  Unter  diesen  12  Seelen 
sind  etwa  5 Kinder,  von  den  übrig  bleibenden  7 Erwachse- 
nen wiederum  die  Llälfte  Frauen,  deren  Betheiligung  am 
Spiel  immerhin  noch  gering  ist,  so  dass  fast  der  ganze 
Verbrauch  des  Spiels  auf  die  3V2  übrig  bleibenden  er- 
wachsenen männlichen  Seelen  fällt.  Wieviel  Seele  wird  in 
diesen  3 V2  Mannesseelen  noch  übrig  bleiben,  wenn  sie  im 
Jahre  ein  Spiel  Karten  zur  Unbrauchbarkeit  gedroschen 
haben!  Man  bedenke  nur,  wie  lange  die  Karten  mit  Staub 
und  Schweiss  imprägnirt  werden  müssen,  ehe  sie  dem 
Philister  ersatzbedürftig  scheinen!  Oder  fassen  wir  den 
Verlust  kollektiv:  4 128  100  Kartenspiele  im  Jahre  1891  ver- 
braucht! Um  in  so  kurzer  Zeit  dienstunfähig  zu  werden, 
muss  wohl  jedes  Spiel  täglich,  sagen  wir  3 Stunden,  gedient 
haben.  Das  ergiebt  schon  gegen  4^2  Milliarden  Lebens- 
stunden eines  Triumvirats  oder  Duumvirats  oder,  wenn  man 
auf  jedes  die  Hälfte  rechnet,  ior/4  Milliarden  Stunden  eines 
einzelnen  Menschen,  die  nach  dieser  sehr  niedrig  greifenden 
Schätzung  in  das  Nichts  versenkt  worden  sind.  Rechnet 
man  die  erwachsene  männliche  Bevölkerung  in  Deutschland 
zu  15  Millionen,  so  kommen  von  jenem  Gesammtverlust 
auf  jeden  etwa  684  Stunden  oder  — den  Normalarbeitstag 
zu  8 Stunden  gerechnet  — 85  J/2  Arbeitstage,  der  vierte 
Theil  des  Arbeitsjahres.  Und  diese  ungeheure  Zeit  wäre 
dann  durch  das  Kartenspiel  allein  vernichtet  worden.  Wo 
bleiben  die  übrigen  Zeitmordmaschinen?  Börne  konnte 
schon  fragen:  „Wenn  man  alle  die  Kraft  und  Leidenschaft, 
die  Seelenbewegungen  und  Anstrengungen,  die  Aengste 
und  Hoffnungen,  die  jährlich  in  Europa  an  Spieltischen 
vergeudet  werden,  wenn  man  dieses  Alles  zusammensparte, 
würde  es  nicht  ausreichen,  ein  römisches  Volk  und  eine 
römische  Geschichte  daraus  zu  bilden?“  Heute  würde  er 
mit  viel  grösserem  Rechte  fragen:  Wenn  man  die  Zeit  und 
die  Kraft,  die  alljährlich  den  Karten  oder  ähnlichem  Unsinn 
geopfert  wird,  zum  Nachdenken  über  soziale  Probleme  ver- 
wendete, könnte  man  dann  nicht  zu  dem  materiellen  Reich- 
thum unseres  Zeitalters  den  so  schmerzlich  vermissten 
sozialen  Fortschritt  und  damit  geistigen  und  sittlichen 
Reich thum  hinzufügen?“ 


Verantwortlich  für  die  Redaktion  u Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


352 


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‘Ällhrpfptt  Dr->  SfafliwungSrath,  S3orftef>er  ber  ©pejialfotnmiffion  ©ofen, 
^ yu|t  f pe  pntengütergefekc  in  $lrcu)jen  oom  27.  3uni  1890  unb 
7.  3uli  1891.  Sej'tauög.  mit  Slntnerfunaen.  Äart.  50?.  1,  poftfrei  5)?.  1,05. 

lim?  ‘ÄrttftpJlt  Ober=©räfibialrath,  pe  JUegeorbnuitg  für  bie  prooinj 
r»uu  cgviiouoi,  §nrijffn  com  11.  3uli  1891.  .erläutert.  Äart.  50?.  1,60, 
poftfrei  50?.  1,70. 

linit  dSflUmb fl riT-ßirill h ßittT  SteflierungSaff eff örT  W füfuUuer- 
imu  jmimUPUU)  fflUUJIJEUll,  plrijeruttg  ^anbbud)  für  bie  bei  ber 

^Durchführung  ber  llnfalloerfidjerung  beteiligten  ©taatS*  unb  kommunal» 
beworben.  ©rei§  50?.  4,  geb.  50?.  5,  poftfrei  je  50?.  0,30  mehr. 

ItiTIT  i^rmirlirtfrll  neuen  peußifdren  prumltungsgefeiie. 

11  & M**!**lt  5I?ach  bein  5£obe  beö  ©erfafferS  umgearbeitet,  fortgeführt 

unb  beraubgegeben  non  ©tubt,  Dberpräfibent  ber  ©rootni  Söeftfalen, 
unb  ©raunbehreuS,  UnterftaatSfefretür  im  50?iuiftertum  beb  3nnern. 
©aub  1— IV.  ©eb.  je  SD?.  8,  poftfrei  SD?.  8,30. 

«Vlin«  Dr-’  ^'tSricbter,  fns  $rieuf?ifdje  Vereins-  uni>  ferfnmmlungs- 
redjt,  unter  befonterer  söerücf fidftigung  beb  ©efejieS  oom  11.  SOtarj 
1850.  ©reib  50?.  1,  poftfrei  50?.  1,10. 

ÖltntfrlTpfhimfrPtt  0(5  #®nigl.  ©benternmltuugsgeridjts.  £erauSg. 
v^/iufujr tuuuijrn  uon  Gebens,  ©enatSpräfibent  beb  ^onigl.  Dberoer» 

maltungbgericbtb,  Sötrfl.  ©eheimerDberregierungSratf),  oon  SD? eueren, 
©enatbprafibent  beb  ^önigl.  DberoenoaltungSgerichtS,  SBirtl.  ©ebeiiner 
Dberregierungbratb,  unb  griebrichS,  Äonigt.  Dbcroenoaltung§gericht§= 
rate  I— XXIII  je  50?.  7,  geb.  50?.  8,  poftfrei  je  50?.  0,30  mehr. 
gjaupt-|5cgi|lcr  p ©b.  I— XX  50?.  7,  geb.  50?.  8,  poftfrei  je  50?.  0,30  mehr. 

JFlTtlfitTiT  ®eb-  £)ber=ginanjratb,  ^ns  Jlreuffifttjc  ffiinkommcnfieuergefelf 
BOm  24. 3uni  1891  u.  bie  Ülubfübrungbanmeifung  oom  5.31ug.  1891 
mit  ©rlauterungen  unb  einer  (Einleitung : 2)ie  gefcbid)tlid)e  ©ntmicfelung 
beb  ©reufj.  ©teuerfpftemb  unb  fpftematifcbe  ©arftellung  ber  6infommen= 
fteuer.  3meite  oerm.  unb  oerbeff.  Slufl.  ©eb.  50?.  14,  poftfrei  50?.  14,50. 

JÜttlftttfT  ©ef).  Dber=ginanjrate  flas  ©reulfifdjc  ©enicrbefteuergefeh  oom 
24.  Juni  i89i  unb  bie  lubfübrungbanmeifungen  mit  ©rläute= 
rungen  unb  einer  Einleitung : Sie  gefd)ict)tlicbe  ©ntmicfelung  ber  getoerb* 
licken  ©efteuerung  in  ©reuten  unb  fpftematifdje  ©arftellung  ber 
©emerbefteuer.  ©eb.  50?.  12,  poftfrei  50?.  12,50. 

Vanbratl),  §as  ptegeredit  unb  bie  pegeoer- 
nebft  ©rgänäungbt)eft. 


©ermerslinuftn,  *olt„„0 


2 ©be.  50?.  18,50,  geb.  50?.  21,  poftfrei  fe  50?.  0,50  mehr. 

'fl n I ll  PIT  ®ef?-  Ober-Steg.^atb,  pe  $Ir£U|?ifiljE  ganbgemeinbeorbnung  für 
c‘Uii  K*h  bie  ftobrn  öfüidjcn  prooin?en  ber  punnrdjie  oom  3.  3uli  1891. 
Erläutert,  ©eb.  50?.  6,  poftfrei  50?.  6,30. 

'ffifrrfiTrth  ©taatbminifter,  unb  $löU,  ©eb-  Dber=9?egierung§=9?ath, 
A fruui,  ^cnnnuiminijgflijjjtgcfjij.  ß^eite  oerm.  Slufl.  ©eb.  50?.  5, 
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Pnljmmt  ^e9ieru?3§ratjL'  P*  peufjifdjeti  pntengutsgcfeljc. 


0}?.  2,40,  poftfrei  50?.  2,50. 

Dber>3?egicrungbratb,  pe  neueren  ©efelje  nuf  bem  ©ebiete  bes 
1 peu|j.  gclksfriiulntefens.  50?.  5,  geb.  50?.  6,  poftfr.  fe  50?.  0,30  mehr. 


lltlllll  plltU  L)r-  ®-'  ©epimer  9?egierung§ratb,  unb  Dr.  p.  ^ür|t,  ©ebeimer 
U)  ©ergratb,  fns  ^eidjsgefeij  betreffenb  bie  ©eujcrbegeridjte. 
©om  29.  3uli  1891.  ©eb.  50?.  9,  poftfrei  50?.  9,30. 


dlTiiUcö  lf eiben 

SargefteHt 

auf  ®rmtb  einer  uerloreit  geglaubten 
4£)  anbfdjriften-Sammlung 

mit 

betn  ^Uörträt  ^elene  nnn  llacamibas 

uon 

©ran?  »e«  ^enbttdj 

unb 

jmei  ^riefen  in  ^nkfimile. 

8°,  XII  unb  188  ©eiten. 

©eljeftet  ©rei§  50?.  3,  gebunben  ©rei§  9J?.  4. 
3u  belieben  burdb 

pul  gdjellcrs  lu^aublunn,  (|.  |ii|irnmod)tt) 

gevlin  W.,  50?arfgrafenftr.  39/40. 

SCuIiu^  ^ittenfelb,  Berlin  W. 

Bericht 

über  bte 

Inntlniifomiinltunn  ber  §tnbt  §rrlin 

in  bat  gaijrat  1861—76. 

I.  Sb«!  ^ 50? f.  II.  2I)eiI  6 50?f.  III.  2beil  5 TH 
gebunben  in  Seinroanb. 

Bericht 

über  bie 

f tmeinbmrtunltung  brr  §taiit]|crlin 

in  i>at  |a|jren  1877—81. 

I.  bi§  III.  ©beit  F 5 3J?f- 

gebunben  in  Seimoanb. 

Bericht 

über  bie 

(^rmrinbrorrmaitung  brr  §tabt  grrliu 

in  ben  iaijeen  1882 — 88. 

VII.  Jbeil  ie  ö 50?!.,  III.  2f)eil  4 50?f. 
gebunben  in  Seimnanb. 


Schriften  ber  dentralftelle  für 
2lrbeiter=U)olfIfahrtseinnd)tuni5en. 

Sir.  1. 

®ie  ^erbelfermiß  Her  Poljmoip. 

50?it  208  SIbbilbungen  im  Sejt. 

8°.  VI  unb  370  ©eiten. 

©reis  geheftet  TH  8.—,  poftfrei  50?f.  8.30. 
„ gebunben  50?f.  9. — , poftfrei  50?f.  9.30. 

Sir.  2. 

Die  pedmtäfjigr  Dertrentiung 

ber 

pinttags-  unb  ©eierieit. 

8°.  IV  unb  94  ©eiten. 

©reis  geheftet  50?f.  2. — , poftfrei  50?f.  2.10. 

®arl  ilajmamt?  örrlog  in  öerliit  W., 

50?auerftrnfee  44. 


(Carl  Heymanns  Verlag  in  Berlin  W.,  Mauerstrasse  44.  — Gedruckt  bei  Julius  Sitteofeld  in  Berlin  W. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  26.  April  1893. 


Nummer  30. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Erscheint  jeden  Montag. 

Zu  beziehen 

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No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


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INHALT. 


Zur  F r a ge  der  gewerblichen 
Fachbildung  in  Deutsch- 
land. Von  Dr.  Karl  von 
Mangoldt. 

Soziale  Wirtschaftspolitik  und 
Wirthscliaftsstatistik : 

Die  Tragweite  der  deutschen  Wu- 
chergesetzvorlage. Von  Rechts- 
anwalt Dr.  Heinrich  Cohn. 

Die  deutsche  überseeische  Aus- 
wanderung im  Jahre  1 892. 

Pinanzfra^en : 

Die  Kommunalabgaben  der  Standes- 
herren in  Preussen.  Von  Privat- 
dozent Dr.  J.  Jastrow. 

Arbeiterzustände : 

Tagelöhne  und  Länge  des  Arbeits- 
tages im  Zimmerergewerbe  wäh- 
rend der  Sommermonate.  Von 
Zimmerer  August  Bring- 
m a n n. 

Politische  Arbeiterbewegung : 

Die  Ausstandsbewegung  in  Belgien. 

Programm  der  sozialdemokrati- 
schen Partei  Basel  für  Gross- 
raths- und  Regierungsrathswah- 
len. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbe- 
gung: 

Der  Dockarbeiterausstand  in  Hüll. 

Handwerkerfragen : 

Regelung  der  Sonntagsarbeit  im 
Berliner  Friseurgewerbe. 

Neuregelung  des  Lehrlingswesens 
in  Deutschland. 

Arbeiterversicherung : 

Die  Krankenversicherung  der  deut- 
schen Arbeiter  im  Jahre  1891. 

Zahl  der  Altersrentner  in  Schle- 
sien im  Verhältniss  zur  Bevöl- 
kerung. 

Gewerbegerichte : 

Zur  Statistik  des  Gewerbegerichts 
in  Hanau  a.  M. 

W ohlfahrtseinrichtungen : 

Konferenz  der  Zentralstelle  für  Ar- 
beiter-Wohlfahrtseinrichtungen. 

Schulwesen,  Bildungs*  und  Er- 
ziehungsfragen: 

Zum  Volksschulwesen  in  Preussen. 

Zulassung  der  Frauen  zu  pharma- 
zeutischen Studien. 

Die  Wiener  Volksbibliotheken. 

Kriminalität: 

Strafhausarbeit  in  Preussen. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Zur  Frage  der  gewerblichen  Fachbildung 
in  Deutschland. 


Es  ist  eine  Wahrheit,  die  beinahe  zu  banal  klingt,  um 
sie  noch  auszusprechen,  dass  je  besser  jemand  seinen 
Beruf  gelernt  hat,  er  desto  Tüchtigeres  in  ihm  leisten  wird. 
Wenn  für  unser  gewerbliches  Leben  hieraus  noch  nicht  die 
richtige  Nutzanwendung  gezogen  worden  ist,  so  liegt  das 
wohl  zum  Theil  an  der  Unkenntniss  von  dem  Mass  tüch- 
tiger Ausbildung,  das  selbst  für  die  „nur  handwerksmässige“ 
oder  „rein  mechanische  Thätigkeit“  des  Arbeiters  und  Hand- 
werkers in  der  grossen  Mehrzahl  der  Fälle  nothwendig  ist. 

Niemand  kann  bei  näherer  Ueberlegung  bestreiten,  dass 
der  heutige  Handwerker,  soweit  er  wirklich  noch  Hand- 
werker und  nicht  Händler,  kleiner  Fabrikant  oder  Hilfs- 
arbeiter einer  grösseren  Unternehmung  ist,  eine  sehr 
schwierige  Aufgabe  hat.  Die  mannigfaltigsten  Reparaturen 
sowohl  an  den  tausenderlei  Gegenständen  des  gewöhnlichen 
Gebrauches  wie  an  den  Maschinen  und  sonstigem  Inventar 
der  Fabriken  liegen  ihm  ob;  dazu  kommt  die  Ausführung 


jener  Gegenstände,  die  ein  besonderes  individuelles  Bedürf- 
nis befriedigen  sollen  wie  z.  B.  Schuhwerk,  Möbel,  Klei- 
dungsstücke, Schmucksachen  von  besonderen  Verhältnissen 
oder  besonderem  Geschmacke.  Zu  alledem  gehören  ein 
schnelles  Verständniss  der  Bedürfnisse  auf  den  verschie- 
densten Gebieten  eine  weitreichende  Kenntniss  der  zu 
verwendenden  Materialien,  vielseitige  technische  Geschick- 
lichkeit, ein  gebildeter  Geschmack  und  eine  sichere  kauf- 
männische Berechnung,  Dinge  zu  deren  Aneignung  der 
Lehrling  und  selbst  noch  der  Geselle  und  Meister  Jahre 
der  Anleitung  und  des  Lernens  braucht.  Aber  auch  die 
Thätigkeit  ausserhalb  des  Handwerks,  namentlich  die  in 
oder  für  Fabriken,  die  man  angesichts  der  Maschinen  und 
der  weitgetriebenen  Arbeitstheilung  gemeinhin  als  etwas  im 
Handumdrehen  zu  Erlernendes  betrachtet,  erfordert  mehr 
und  mehr  eine  sorgfältige  Ausbildung.  Zuzugeben  ist  frei- 
lich von  vornherein,  dass  es  immerhin  eine  grosse  Zahl 
vorwiegend  mechanischer,  keine  besondere  Vorbildung  be- 
anspruchender Thätigkeiten  giebt.  Indess  darf  man  diese 
Zahl  nicht  überschätzen.  Dass  fast  überall  Meister,  Werk- 
meister, Poliere,  Vorarbeiter  nothwendig  sind,  also  eine  be- 
sonders hochstehende  und  leistungsfähige  Klasse  von  Arbei- 
tern zur  Vertheilung  und  Abnahme  der  Arbeit,  zur  Anleitung 
und  Aufsicht  der  übrigen,  zur  Bewältigung  besonders  schwie- 
riger Aufgaben,  z.  B.  des  sog.  Musterschlagens  bei  dem 
Jacquardwebstuhl,  besonders  schwierigen  Satzes  in  Drucke- 
reien, bedarf  keiner  weiteren  Erläuterung.  Sodann  kom- 
men in  dem  Fabrikbetriebe  eine  Menge  Thätigkeiten,  wie 
z.  B.  die  der  Fabriktischler,  der  Maler,  der  Gürtler  vor,  die 
annähernd  dieselbe  technische  Geschicklichkeit  wie  das 
Handwerk  erfordern,  nur  dass  eben  infolge  der  Einfü- 
gung in  den  Fabrikorganismus  Selbstständigkeit  weder 
in  künstlerischer  noch  in  kaufmännischer  Beziehung  noth- 
wendig ist.  Ferner  muss,  auch  abgesehen  hiervon,  in 
industriellen  Betrieben  wie  im  Baugewerbe  ein  bedeutender 
Bruchtheil  der  Arbeiter  nach  Zeichnungen  arbeiten,  also 
mindestens  Zeichnungen  zu  verstehen  und  „auszuzeichnen“ 
im  Stande  sein.  Endlich  aber  ist  die  Bedienung  der  Maschine 
keineswegs  bloss  jene  rein  mechanische  Thätigkeit,  für  die 
man  sie  gewöhnlich  hielt.  Sie  erfordert  fast  immer  Auf- 
merksamkeit und  Gewandtheit,  sehr  vielfach  auch  Urtheils- 
kraft  und  technisches  Verständniss,  denn  der  Arbeiter  soll 
etwa  vorkommende  Fehler  im  Produkt  sofort  bemerken, 
und  angeben  können,  ob  und  in  wie  fern  dieselben  etwa 
auf  Fehler  im  maschinellen  Vorgänge  zurückzuführen  sind. 
Auch  im  Interesse  der  Herabminderung  der  Unfallgefahr 
ist  es  erforderlich,  nicht  dem  ersten  Besten,  sondern  nur 
dem  eine  Thätigkeit  zu  übertragen,  der  für  sie  besonders 
vorgebildet  ist.  So  enthält  der  amtliche  Auszug  aus  den 
Berichten  der  Fabrikinspektoren  für  1887,  der  sich  aus- 
führlich mit  der  Heranbildung  gelernter  Arbeiter,  Vor- 
arbeiter und  Werkmeister  beschäftigt,  u.  a.  folgende  Stelle: 


354 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  30. 


„Für  sehr  dringend  hält  der  Beamte  für  Köln  - Koblenz 
dieses  Bedürfniss  (nämlich  nach  Heranbildung  gelernter 
Arbeiter  u.  s.  w.  in  der  Industrie  der  Steine  und  Erden) 
mit  Rücksicht  auf  die  in  den  dortigen  Steinbruchs-  und 
Grubenbetrieben  bestehenden  Schwierigkeiten  und  Ge- 
fahren.“ Und  bei  der  geplanten  Einführung  des  Befähi- 
gungsnachweises im  Bergbau  scheint  ja  der  Wunsch,  durch 
bessere  Ausbildung  der  Arbeiter  die  Unfallgefahr  zu  ver- 
mindern, das  leitende  Motiv  zu  sein.  Noch  dringlicher 
wird  eine  gute  Ausbildung  des  Arbeiters  angesichts  der 
scharfen  Konkurrenz  und  der  Herrschaft  der  Mode,  die 
heute  den  und  morgen  jenen  Betrieb  vor  die  Nothwendig- 
keit  einer  technischen  Veränderung,  Verbesserung  stellen. 
Veränderte  Produktionsmethoden  und  neue  Maschinen  lassen 
sich  aber  nur  dann  mit  Erfolg  einführen,  wenn  man  eine 
allgemein  und  technisch  gut  gebildete  Arbeiterschaft  hat, 
die  fähig  und  gewillt  ist,  die  geplante  Aenderung  mit- 
zumachen. Wie  viele  Unternehmer  werden  ein  Lied  davon 
zu  singen  wissen,  wie  leicht  technische  Verbesserungen 
an  dem  passiven  Widerstande  der  Arbeiter,  an  ihrer  Ein- 
sichtslosigkeit und  Bequemlichkeit  scheitern,  die  wiederum 
Folgen  ihrer  mangelhaften,  allgemeinen  und  schlechten 
Bildung  sind!  Einige  hübsche  Beispiele  für  den  Werth 
guter  Fachbildung  in  dieser  Richtung  führt  die  amtliche 
Denkschrift  über  die  Entwickelung  der  gewerblichen  Fach- 
schulen und  Fortbildungsschulen  in  Preussen  vom  Jahre 
1891  auf  S.  35.  38,  40,  44  an. 

Wenn  es  für  die  Nothwendigkeit  einer  guten,  sorg- 
fältigen Fachausbildung  der  Handwerker  und  Arbeiter  neben 
den  bereits  herangezogenen  Beweisen  noch  eines  weiteren 
bedarf,  so  wird  er  in  den  ständig  wachsenden  Bemühungen 
aller  Industriestaaten  um  die  Vermehrung  und  Verbesserung 
wie  der  gewerblichen  Schulen  überhaupt,  so  auch  derjeni- 
gen niederer  Ordnung  zu  finden  sein.  England  ging  seit 
der  Weltausstellung  in  London  1851  voran,  Oesterreich 
folgte  ihm  mit  umfassenden,  gross  angelegten  Massnah- 
men; in  Württemberg,  Baden,  Sachsen  hat  das  gewerb- 
liche Bildungswesen  schon  längst  sorgfältige  Pflege  ge- 
funden und  Preussen,  das  auf  diesem  Gebiet  allerdings  noch 
immer  zurück  ist,  hat  doch  von  1888 — -1892  seine  Aus- 
gaben für  das  gewerbliche  Schul-  und  Fortbildungsschul- 
wesen (abgesehen  von  den  technischen  Hochschulen  und 
Bergschulen)  um  etwa  900  000  M.  gesteigert,  von  welcher 
Steigerung  ein  sehr  bedeutender  Theil  auf  die  Schulen 
niederer  Ordnung  fällt.  Der  Abend-  und  Sonntagsunter- 
richt der  1880  gegründeten  Handwerkerschule  in  Berlin 
wurde  im  Winter  1890/91  von  über  2000  Schülern  besucht 
und  bereits  ist  das  dringende  Bedürfniss  nach  einer  zweiten 
solchen,  ähnlich  grossen  Anstalt  anerkannt.  Zur  gleichen 
Zeit  besuchten  den  Abend-  und  Sonntagsunterricht  in  der 
erst  1887  eröffneten  Kunstgewerbe-  und  Handwerkerschule 
in  Magdeburg  1055  und  den  der  gar  erst  1890  begründeten 
Handwerker-  und  Kunstgewerbeschule  in  Hannover  1272 
Schüler.  Auch  die  sog.  Abendschule  der  Kunstgewerbe- 
schule in  Dresden  zeigt  immer  mehr  anschwellende  Besuchs- 
ziffern. Fügen  wir  noch  hinzu,  dass  auch  die  Arbeiter  selbst 
trotz  ihrer  schlechten  wirthschaftlichen  Lage  und  des  Man- 
gels jeder  Begünstigung  von  oben  vielfach  gewerbliche 
Forbildungsbestrebungen  betreiben,  so  wird  der  Beweis  für 
die  Behauptung  erbracht  sein,  dass  trotz,  ja  zum  Theil  ge- 
rade wegen  der  modernen  Technik  und  Arbeitstheilung  ein 
dringendes  Bedürfniss  des  grossen  und  kleinen  Gewerbes 
und  der  grossen  Mehrzahl  der  Arbeiter  nach  einer  guten 
Fachbildung  besteht.  Und  es  gilt  ja  nicht  bloss  die  jetzt 
bestehende  Arbeitstüchtigkeit  zu  erhalten,  sondern  jenen 
Grad  der  Leistungsfähigkeit  zu  erreichen,  der  eben  jetzt 
in  Folge  mangelhafter  Ausbildung  unmöglich  ist.  Die 
segensreichen  Folgen  einer  solchen  Steigerung  lassen  sich 
mit  einem  Blicke  gar  nicht  übersehen.  Aber  darauf  soll 
doch  hingewiesen  werden,  dass  bessere  fachliche  Bildung 


des  Arbeiters  jedenfalls  auch  schnelleren  technischen  Fort- 
schritt bedeuten  würde.  Denn  der  Arbeiter  z.  B.,  der  tag- 
täglich an  einer  bestimmten  Maschine  zu  arbeiten  und  sie 
auf  das  genaueste  zu  beobachten  hat,  ist  eigentlich  „der 
nächste  dazu“,  um  den  Anstoss  zu  maschinellen  Verbesse- 
rungen zu  geben. 

Fassen  wir  noch  einmal  zusammen:  Die  Thätigkeit  des 
Handwerkers  im  engeren  Sinne  sowohl  wie  die  des  Werk- 
meisters und  die  der  meisten  Maschinenarbeiter  erfordert 
zweifellos  eine  sorgfältige  Fachbildung;  überdies  kommen 
fast  in  allen  Industriezweigen  und  Gewerben  eine  grosse 
Zahl  Verrichtungen  vor,  die  gleichfalls  eine  besondere 
Fachbildung  verlangen;  endlich  macht  die  Rücksicht  auf 
Verminderung  der  Unfälle  und  leichtere  Bewerkstelligung 
von  Neuerungen  Fachbildung  für  sehr  weite  Kreise  der 
i Arbeiterschaft  wiinschenswerth.  In  dem  aber  immerhin 
sehr  bedeutenden  Rest  von  Fällen,  wo  die  Arbeit  derart  ein- 
förmig und  mechanisch  ist,  dass  sie  keine  besondere  Fach- 
bildung beansprucht,  sollten  wir  doppelt  bestrebt  sein, 
durch  Pflege  der  allgemeinen  Bildung  und  Kürzung  der 
Arbeitszeit  in  dem  Knechte  der  Arbeit  den  Menschen  wieder 
zum  Vorschein  zu  bringen. 

Suchen  wir  nun  gegenüber  dem  Bedürfniss  nach  ge- 
werblicher Ausbildung  noch  kurz  die  Frage  nach  dem 
thatsächlichen  Stande  derselben  bei  uns  zu  beantworten  — 
eine  Frage,  die  zum  Theil  mit  der  sogen.  Lehrlingsfrage 
zusammenfällt.  Die  Reformbedürftigkeit  der  Lehrlingsaus- 
bildung wird  eigentlich  von  Niemandem  mehr  bestritten; 
und  anerkannt  ist  auch,  dass  trotz  manches  lobenswerthen 
Ansatzes  im  einzelnen  das  Beste  auf  diesem  Gebiet  erst 
noch  gethan  werden  muss.  Das  Handwerk  bildet  zwar 
immer  noch  eine  grosse  Zahl  von  Lehrlingen  aus  und  viel- 
fach ohne  Zweifel  auch  nicht  schlecht;  aber  in  der  Mehrzahl 
der  Fälle  dürfte  doch  von  einer  wirklich  guten,  systema- 
tischen Ausbildung  keine  Rede  sein.  Jener  grosse  Theil 
der  Meister,  der  selbst  nicht  mehr  eigentlich  Handwerker, 
sondern  vorwiegend  Händler  oder  Hilfsarbeiter  grösserer 
Unternehmer  für  bestimmte  Spezialitäten  ist,  ist  hierzu  gar 
nicht  einmal  im  Stande:  denn  das  eigne  Können  ist  zu  be- 
schränkt und  es  kehrt  fast  immer  dieselbe  Arbeit  in  der 
Werkstatt  wieder.  Ein  anderer  Theil  der  Meister,  der  viel- 
leicht in  der  Lage  wäre,  Lehrlinge  gut  auszubilden,  wird 
durch  die  geringen  materiellen  Vortheile,  welche  die  auf  die 
Lehrlingsausbildung  aufgewendete  Zeit  und  Mühe  bringt, 
abgeschreckt  oder  er  greift,  was  noch  viel  schlimmer  ist, 
zu  der  gerade  in  kleineren  Werkstätten  so  vielfach  ange- 
troftenen  Lehrlingszüchterei.  Die  Unbotmässigkeit  der  Ju- 
gend, die  durch  die  Noth  begünstigte  Anschauung,  der  aus 
der  Volksschule  entlassene  Knabe  sei  nicht  in  erster  Linie 
zu  noch  weiterer  Erziehung,  sondern  zum  Geldverdienen 
da,  tragen  das  Ihrige  bei. 

Aber  immerhin  strebt  das  Handwerk  dem  Ziele  einer 
guten  Lehrlingsausbildung  doch  noch  nach,  und  in  zahl- 
reichen Fällen  mit  Erfolg.  Nahezu  ganz  scheint  sich  da- 
gegen der  Pflicht,  für  die  Heranbildung  des  gewerblichen 
Nachwuchses  zu  sorgen,  die  Industrie  entschlagen  zu  haben. 
Die  Berichte  der  Fabrikinspektoren  stimmen  darin  überein, 
dass  in  den  Fabriken  ein  geregeltes  Lehrlingswesen  nur 
ausnahmsweise  anzutreften  ist.  Der  Aufsichtsbeamte  für 
Mittel-  und  Oberfranken  fand  1889  ein  solches  nur  in  rund 
21  Proc.  der  besuchten  Betriebe;  an  einer  im  selben  Jahre 
in  Stuttgart  veranstalteten  allgemeinen  Ausstellung  von 
praktischen  Lehrlingsprüfungsarbeiten  betheiligten  sich  nur 
15  Proc.  Fabriklehrlinge.  Die  grosse  Mehrzahl  der  in- 
dustriellen Betriebe  behilft  sich  mit  den  theils  in  einzelnen 
anderen  Etablissements,  theils  im  Handwerk  ausgebildeten 
Kräften,  theils  endlich  mit  der  Leistungsfähigkeit,  welche 
die  Befähigteren  unter  den  Arbeitern  durch  eigenes  Streben 
erreichen.  Wie  lange  das  noch  angeht,  ohne  dass  eine 
bedenkliche  Herabminderung  des  Standes  der  allgemeinen 


No.  30. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


355 


Leistungsfähigkeit  eintritt,  ist  freilich  eine  andere  Frage. 
Vor  allem  dürfte  die  schon  jetzt  vorhandene  Schwierigkeit, 
«•eiernte  Arbeitskräfte  für  die  Industrie  aus  dem  Handwerk 
zu  entnehmen,  immer  grösser  werden,  je  schärfer  mit  der 
fortschreitenden  Entwickelung  der  Unterschied  zwischen 
Grossindustrie  und  Handwerk  wird.  Und  doch  ist  auch  in 
der  Industrie,  wie  das  Beispiel  der  Preussischen  Eisenbahn- 
werkstätten und  zahlreicher  industrieller  Werke,  wie  die 
Marienhütte  in  Kotzenau  und  die  Gasmotorenfabrik  in  Deutz, 
zeigt,  eine  gute,  geregelte  Lehrlingsausbildung  sehr  wohl 
möglich,  ja  von  etwas  weiterem  Gesichtspunkt  aus  sogar 
sehr  vortheilhaft.  Die  Neuheit  und  relative  Schwierigkeit 
der  Sache,  gewisse  Bestimmungen  der  Gesetzgebung  über 
die  jugendlichen  Arbeiter  und  die  Furcht,  nur  für  die 
Konkurrenz  zu  arbeiten,  mögen  mitwirken;  aber  immerhin 
zeigt  das  Verhalten  der  grossen  Mehrzahl  der  Industriellen 
in  dieser  Frage  einen  bedauerlichen  Mangel  an  Gemeinsinn. 
Sehr  zu  wünschen  wäre,  dass  die  Industriellen  ihre  zahl- 
reichen Verbände  nicht  bloss  zur  Abwehr  der  Forderungen 
der  Arbeiter  und  zur  Beeinflussung  der  Gesetzgebung  in 
einseitigem  Interesse,  sondern  auch  einmal  zur  Herbei- 
führung einer  geregelten  Lehrlingsausbildung  benutzten!  Sie 
würden  damit  sich  selbst,  den  Arbeitern  und  dem  Gemein- 
wesen einen  wahrhaft  grossen  Dienst  leisten. 

Weit  besser,  wenn  auch  noch  keineswegs  befriedigend, 
sieht  es  auf  dem  Gebiet  der  mehr  theoretischen  Fach- 
bildung aus.  Für  niedere  Fachschulen  und  gewerbliche 
Fortbildungsschulen  sind  bei  uns  der  Staat,  die  Gemeinde, 
Arbeitgeber  und  Arbeiter,  Vereine  und  Freunde  des  Ge- 
werbes in  steigenden  Maasse  eingetreten.  Besonders  ent- 
wickelt sind  sie  in  Württemberg  und  Sachsen.  Preussen 
besitzt  zwar  neben  zahlreichen  kleinen  einzelne  sehr  Be- 
deutendes leistende  Fachschulen  und  eine  grosse  Zahl  von 
gewerblichen  Fortbildungsschulen,  allein  bis  jetzt  ist  dem 
Bedürfniss  noch  keineswegs  genüge  geleistet  und  die 
neuesten  Vorgänge  (Vgl.  Sozialpolitisches  Centralblatt, 
II.  Jahrg.  No.  25,  S.  303)  lassen  sogar  eine  rückläufige  Be- 
wegung der  gewerblichen  Fortbildung  in  Preussen  be- 
fürchten. Letzteres  wird  in  dieser  Beziehung  von  Oester- 
reich arg  in  den  Schatten  gestellt,  das  schon  längst  ein 
gross  angelegtes  und  sorgfältig  durchgeführtes,  gewerb- 
liches Schulwesen  besitzt.  Zu  den  erwähnten  Fehlern  auf 
diesem  Gebiete  tritt  noch  die  völlig  ungenügende  Berück- 
sichtigung der  gewerblichen  Bildungsbestrebungen  der  Ar- 
beiter selbst  hinzu. 

Auf  dem  Gebiete  der  mehr  theoretischen  Fachbildung 
also  sieht  es  nirgends  in  Deutschland  ganz  und  nur  an 
einigen  Stellen  halbwegs  befriedigend  aus.  Der  Gesammt- 
eindruck  den  man  so  von  der  Betrachtung  des  Bedürf- 
nisses nach  gewerblicher  Ausbildung  einerseits  und  der 
Massnahmen  zu  seiner  Befriedigung  anderseits  gewinnt, 
ist  der,  dass  auf  diesem  Gebiete  baldige  und  gründliche 
Reformen  dringend  nothwendig  sind. 

Dresden.  Karl  von  Mangoldt. 


Soziale  Wirtschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Die  Tragweite  der  deutschen  Wuchergesetznovelle. 

Schon  dreimal  war  der  Reichstag  so  schwach  besucht, 
dass  eine  Abstimmung  über  die  Wuchergesetz  - Novelle 
nicht  stattfinden  konnte.  Und  doch  hätte  gerade  dieser 
Gesetzentwurf  die  Aufmerksamkeit  unserer  Parlamentarier 
in  hohem  Maasse  verdient. 

Die  unmittelbaren  wirtschaftlichen  Folgen  eines  Ge- 
setzes gegen  den  Wucher  dürfen  allerdings  nicht  über- 
schätzt werden.  Drückt  ja  doch  schon  die  Begriffs- 
bestimmung des  Wuchers  als  einer  Ausbeutung  der  Noth- 
lage  den  Gedanken  aus,  dass  der  Wucher  in  der  Regel 


die  Folge  einer  wirtschaftlichen  Krankheit  ist  und  nicht 
die  Ursache. 

Die  Bedeutung  eines  Gesetzes  erschöpft  sich  aber  nicht 
in  seinen  unmittelbaren  wirtschaftlichen  Ergebnissen;  es 
verdient  auch  Berücksichtigung  als  litterarische  Erscheinung. 
In  doppeltem  Sinne;  Passiv  als  Niederschlag  und  aktiv  als 
Faktor  von  Anschauungen  und  Meinungen.  Gerade  hierin 
liegt  die  Bedeutung  des  Entwurfs,  der  nicht  nur  ein  treffen- 
des Bild  herrschender  Anschauungen  bietet,  sondern  ge- 
eignet erscheint,  unsere  sozialpolitischen  Ideen  nachhaltig 
anzuregen  und  zu  beeinflussen. 

Wie  jedes  andere  Objekt  des  Geschäftsverkehrs  richtet 
sich  auch  der  Zins  nach  Angebot  und  Nachfrage.  Regelung 
des  Preises  durch  Angebot  und  Nachfrage  heisst  aber, 
dass  man  einen  Gegenstand  um  so  teurer  bezahlen  muss, 
je  nötiger  man  seiner  bedarf.  So  z.  B.  bezahlte  man  die 
Desinfektionsmittel  besonders  hoch  zur  Zeit  der  Cholera. 
Auf  das  Gebiet  der  Darlehnsverträge  angewendet  heisst  das, 
dass  man  um  so  mehr  Zinsen  zahlen  muss,  je  mehr  man 
ein  Darlehen  nötig  hat.  Vom  Standpunkte  des  freien 
Verkehrs  giebt  es  deshalb  auch  eigentlich  keinen  Wucher, 
im  „Wucherzins“  drückt  sich  vielmehr  die  Thatsache  aus, 
dass  auf  der  einen  Seite  intensives  Bedürfniss,  das  heisst 
starke  Nachfrage,  auf  der  anderen  wegen  der  geringen 
Kreditwürdigkeit  des  Dahrlehnsnehmers  geringes  Angebot 
herrscht.  Es  ist,  wenn  auch  nicht  gerade  ein  angesehenes, 
so  doch  ein  ganz  legitimes  Geschäft,  bei  welchem  der  hohe 
Zinsfuss  eine  Prämie  für  das  grössere  Risiko  bietet;  der 
preussische  Staat  erhält  ein  Darlehen  zu  anderen  Be- 
dingungen als  ein  Privatmann,  der  tief  in  Schulden  steckt. 

Es  war  daher  durchaus  folgerichtig  im  Sinne  einer 
Gesetzgebung,  die  den  Verkehr  im  Wesentlichen  nur  dem 
Gesetz  von  Angebot  und  Nachfrage  unterwerfen  wollte, 
dass  das  Gesetz  vom  14.  November  1867,  die  Höhe  der 
Zinsen  und  die  Höhe  und  Art  der  Vergütung  für  Darlehen 
und  andere  kreditirte  Forderungen  der  freien  Vereinbarung 
überliess.  Weniger  grundsätzlich  als  das  Gesetz  vom 
14.  November  1867  erschien  das  Gesetz  betreffend  den 
Wucher  vom  24.  Mai  1880.  Man  mochte  darin  eine  blosse 
Rückkehr  zu  den  älteren  Zinsbeschränkungen  sehen.  Die 
Zinsbeschränkungen  waren  ja  immer  die  Regel  gewesen, 
Zinsfreiheit  nur  eine  Ausnahme,  die  kurze  Zeit  bestanden 
hatte.  Inzwischen  ist  es  bei  diesem  Gesetz  nicht  geblieben. 
Der  Wucherer  verstand  das  Gesetz  zu  umgehen,  für  Kredit- 
geschäfte andere  Vertragsformen  zu  wählen. 

Auch  durch  andere  Geschäfte  als  Kreditgeschäfte  kann 
eine  Ausbeutung  stattfinden.  Unsere  Zeit  ist  aber  radikal, 
sie  neigt  zur  logischen  Durchführung  gesetzgeberischer 
Ideen.  Daher  wurde  bald  die  Frage  gestellt:  Weshalb  soll 

bei  anderen  Verträgen  erlaubt  sein,  was  beim  Darlehens- 
vertrage strafbar  ist? 

Aus  dieser  richtigen  Logik  heraus  ist  dem  Gesetze  vom 
24.  Mai  1880  der  Entwurf  eines  Gesetzes  betreffend  „Er- 
gänzung“ der  „Bestimmungen  über  den  Wucher“  vom 
23.  Dezember  1892  gefolgt. 

Der  Entwurf  enthält  zwei  Artikel.  Artikel  I des  Ent- 
wurfs giebt  dem  Artikel  302a  des  Strafgesetzbuchs  folgende 
Fassung : 

„Wer  unter  Ausbeutung  der  Nothlage,  des  Leichtsinns 
oder  der  Unerfahrenheit  eines  Anderen  mit  Bezug  auf  ein 
Darlehen  oder  auf  die  Stundung  einer  Geldforderung  oder 
auf  ein  anderes  zweiseitiges  Rechtsgeschäft,  welches  den- 
selben wirthschaftlichen  Zwecken  dienen  soll,  sich  oder 
einem  Dritten  Vermögensvortheile  versprechen  oder  ge- 
währen lässt,  welche  den  üblichen  Zinsfuss  dergestalt  über- 
schreiten, dass  nach  den  Umständen  des  Falles  die  Ver- 
mögensvortheile in  auffälligem  Missverhältniss  zu  der 
Leistung  stehen,  wird  . . . bestraft.“ 

und  fügt  neu  den  § 302c  ein,  welcher  lautet: 

„Dieselbe  Strafe  trifft  denjenigen,  welcher  mit  Bezug 
auf  ein  Rechtsgeschäft  anderer  als  der  im  § 302a  bezeichneten 
Art  gewerbs-  oder  gewohnheitsrnässig  unter  Ausbeutung  der 
Nothlage  des  Leichtsinns  oder  der  Unerfahrenheit  eines 
Anderen  sich  oder  einem  Dritten  Vermögensvortheile  ver- 
sprechen oder  gewähren  lässt,  welche  den  Werth  der 
Leistung  dergestalt  überschreiten,  dass  nach  den  Umständen 
des  Falles  die  Vermögensvortheile  in  auffälligem  Missverhält- 
niss zu  der  Leistung  stehen.“ 


356 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  30. 


Verträge,  welche  gegen  die  Vorschriften~der  "gedachten 
Paragraphen  verstossen,  sind  ungültig,  sämmtliche  von  dem 
Schuldner  oder  für  ihn  geleisteten  Vermögensvortheile 
müssen  zurückgewährt  und  vom  Tage  des  Empfanges  ver- 
zinst werden. 

1.  Ein  Wucher  kann  also  bei  Kreditgeschäften  schon  im 
einzelnen  Geschäft  liegen. 

2.  bei  anderen  Geschäften  muss  noch  das  Moment  des 
„Gewerbs-  oder  Gewohnheitsmässigen“  vorhanden  sein. 
Beim  „Sachwucher“  gehört  also  das  Moment:  „gewerbs- 

oder  gewohnheitsmässig“  zur  Begriffsbestimmung,  beim 
Kreditwucher  verschärft  es  nur  die  Strafe.  In  der  ersten  1 
Lesung  der  Kommission  wurden  die  Worte  „gewerbs-  oder 
gewohnheitsmässig“  gestrichen,  in  der  zweiten  Lesung  auf 
Antrag  der  Regierungsvertreter  wieder  eingefügt.  Zweifellos 
ist  eine  derartige  Begriffsbestimmung  nicht  glücklich.  Eine 
Anzahl  einzeln  nicht  strafbarer  Handlungen  wird  dadurch 
strafbar,  dass  sie  in  der  Mehrzahl  begangen  sind!  Noch 
schlimmer  sind  die  civilrechtlichen  Folgen.  Jemand  schliesst 
ein  Geschäft,  das  gültig  ist.  Gegen  Ende  der  Verjährungs- 
frist macht  er  mehrere  ähnliche  Geschäfte.  Dadurch  wird 
das  ältere  Geschäft,  das  längst  abgewickelt  ist,  ebenfalls 
ungültig!  Der  Regierungsvertreter  und  die  Mehrheit  der 
Kommission  hatten  an  dieser  Stelle  nicht  den  Muth,  kon- 
sequent zu  sein.  Aber  selbst  in  dieser  verkümmerten  Form 
einer  Beschränkung  auf  das  „Gewerbs-  oder  Gewohnheits- 
mässige“  enthält  die  Einbeziehung  des  Sachwuchers  in  das 
Gesetz  eine  ungeheure  grundsätzliche  Tragweite. 

Nach  dem  Wortlaut  des  Gesetzes  kann  jedes  zweiseitige 
Rechtsgeschäft  unter  den  Gesichtspunkt  des  Wuchers  fallen. 
Die  Einleitung  des  Kommissionsberichts  sagt  deshalb  richtig, 
der  Entwurf  wolle  den  für  Kreditgeschäfte  aufgestellten  Be- 
griff des  Wuchers  sinngemäss  auf  Rechtsgeschäfte  jeder 
anderen  Art  ausdehnen  — aber  er  fügt  zu  Unrecht  hinzu: 
„mithin  neben  dem  Kreditwucher  auch  den  Sachwucher  mit 
Strafe  bedrohen“.  Denn  eines  der  wichtigsten  Vertrags- 
gebiete, der  Arbeitsvertrag,  ist  hier  nicht  erwähnt,  obgleich 
er  durch  die  Textbestimmung  des  § 302  e sicherlich  ge- 
troffen wird  und  in  den  Verhandlungen  eine  besonders 
bedeutsame  Rolle  gespielt  hatte. 

Es  war  diesbezüglich  der  Antrag  3 in  der  Kommission 
gestellt  worden,  im  § 302a  hinter  „dienen  sollte“  die  Worte 
einzuschalten : 

oder  in  Bezug  auf  einen  Arbeitsvertrag. 

„Antragsteller  machte  geltend,  dass  die  Uebervortheilung  und 
Ausbeutung  des  Arbeiters  mit  Bezug  auf  den  Arbeitsvertrag 
eine  sich  täglich  wiederholende  Erscheinung  sei.  Redner 
betonte,  dass  namentlich  in  der  Festsetzung  hoher  Conventional- 
Strafen  dem  Arbeiter  gegenüber  ein  wucherisches  Gebahren 
erblickt  werden  müsse. 

Mehrseitig  fand  der  Antrag  in  der  Commission  Anklang. 
Es  wurde  aber  darauf  hingewiesen,  dass  derselbe  überflüssig 
sei.  Der  Arbeitsvertrag  sei  ein  zweiseitiges  Rechtsgeschäft, 
es  stehe  daher  ausser  Zweifel,  dass  der  Wucherbegriff  auch 
auf  Ausbeutungen  im  Arbeitsverhältniss  Anwendung  finde. 
Freilich  werde  nicht  § 302a  sondern  §302e  die  maassgebende 
Norm  zu  bilden  haben.“ 

Die  Verhandlungen  über  den  Arbeitsvertrag  wurden  des- 
halb folgerichtig  bei  der  Berathung  des  § 302  e wieder  auf- 
genommen. 

„Es  wurde  behauptet,  dass  in  der  heutigen  Gesellschafts- 
ordnung jeder  Arbeiter  ständig  bewuchert  werde.  Man  beute 
seine  Arbeitskraft  aus,  um  übermässige  Vermögensvortheile 
einzustecken.  Beispielsweise  bewuchere  eine  Aktiengesell- 
schaft. die  grosse  Gewinne  erziele,  den  Arbeiter,  wenn  sie 
ihm  lediglich  den  üblichen  Tagelohn  gebe.  Diesen  Ausführungen 
wurde  von  vielen  Seiten  entgegengetreten  und  darauf  hinge- 
wiesen, dass  nicht  der  Geschäftsgewinn  den  Maassstab  für  die 
Höhe  des  dem  Arbeiter  zu  gewährenden  Lohnes  bilde,  sondern 
es  sich  nur  darum  handle,  ob  der  den  Arbeiter  gewährte  Lohn 
der  normale  und  übliche  sei.  Lediglich  wenn  unter  Aus- 
beutung der  Nothlage  des  Arbeiters  der  normale  Lohn  ganz 
erheblich  unter  das  Niveau  herabgedrückt  werde '),  werde  von 
einem  wucherischen  Gebahren  die  Rede  sein  können.“ 

Diese  Einwendungen  sind  indessen  nicht  stichhaltig. 
Entscheidend  ist,  ob  in  Folge  der  Ausbeutung  einer  Nothlage 


')  Die  Stelle,  die  vielleicht  einen  Flüchtigkeits-  oder  Druck- 
fehler enthält,  giebt  keinen  klaren  Sinn.  Unter  welches  Niveau 
soll  der  normale  Lohn  gedrückt  sein? 


zwischen  Leistung  und  Gegenleistung  ein  Missverhältniss 
besteht.  Wenn  diese  Ausbeutung  so  allgemein  ist,  dass  ein 
ungenügender  Lohn,  der  nicht  im  Verhältniss  zum  Nutz- 
effekt der  Arbeit  steht,  üblich  und  allgemein  wird,  so  ändert 
das  an  der  Sache  nichts.  Im  Gegentheil,  gerade  darin 
besteht  ja  die  Nothlage,  dass  der  „übliche  und  normale“ 
Lohn  nicht  bestimmt  wird  durch  den  Effekt  der  Arbeit, 
sondern  die  Konkurrenz  der  Arbeiter,  das  Angebot  von 
Arbeitskräften.  Je  grösser  dieses  Angebot,  um  so  geringer 
der  „übliche  und  normale“  Lohn  — und  so  ergebe  sich  in 
concreto  das  wunderbare  Resultat,  dass  ein  Wucher  um  so 
weniger  vorliegt  — je  grösser  die  Nothlage  ist. 

Wenn  in  der  Kommission  die  Aehnlichkeit  zwischen 
dem  Kreditwucher  und  der  wucherischen  Ausbeutung  der 
menschlichen  Arbeitskraft  nicht  allgemein  erkannt  worden 
ist,  so  trägt  die  unklare  Bedeutung  des  Wortes  „üblich“ 
die  Schuld.  Es  erscheint  bei  oberflächlicher  Betrachtung 
unlogisch,  dass  beim  Arbeitsvertrag  schon  der  „übliche“ 
Lohn  eine  Ausbeutung  enthalten  soll,  beim  Kreditvertrag 
aber  erst  die  Abweichung  vom  „üblichen“  Zinsfuss.  Man 
vergisst  aber,  dass  dieser  „übliche“  Zinsfuss,  der  überall  in 
den  Berathungen  herumspukt,  und  im  § 302  a sogar  im 
Kontext  des  Gesetzes  erscheint,  eine  Fiction  — und  jedenfalls 
nur  in  bestimmten  Fällen  üblich  ist.  Der  gesetzliche 
Zinsfuss  ist  durchaus  nicht  der  „übliche“,  vielmehr  wechselt 
der  Zinsfuss  nicht  nur  nach  Zeit  und  Ort,  sondern  auch 
nach  der  Art  des  Geschäftes.  Wer  grössere  Summen 
braucht  und  zur  Sicherheit  Werthpapiere  hinterlegen  kann, 
erhält  Geld  zu  günstigeren  Bedingungen  als  Jemand,  der 
Personalkredit  beansprucht  und  in  schlechter  Vermögenslage 
ist.  Für  ihn  sind  „Wucherzinsen“  der  übliche  Zins.  Von 
den  Fällen  des  Leichtsinns,  der  Unerfahrenheit  und  der 
falschen  Scham  abgesehen,  die  wirthschaftlich  eine  unter- 
geordnete Rolle  spielen:  Wer  sein  Ivreditbedürfniss  ander- 
wärts billiger  befriedigen  kann , geht  doch  nicht  zum 
Wucherer.  In  Pfandleihanstalten  werden,  wie  in  der  Be- 
rathung hervorgehoben  wurde,  vielfach  ganz  enorme  Zinsen 
gefordert  (bisweilen  24  Prozent)  und  auch  die  öffentlichen 
Anstalten  machen  hiervon  keine  Ausnahme,  in  deren  Statuten 
und  Reglements  ein  sehr  hoher  Zinsbetrag  von  vorn  herein 
festgesetzt  wurde.  Der  Zins,  den  man  in  diesen  Anstalten 
bezahlt,  ist  gewiss  höher  als  der,  welchen  der  preussische 
Staat  für  Anleihen  entrichtet.  Aber  der  hohe  Zins  ist  für 
solcherlei  Geschäfte  üblich.  In  der  Kommission  wollte  man 
trotz  der  Ueblichkeit  — üblicher  als  reglementsmässig  kann 
doch  schliesslich  kein  Zinsfuss  sein  — hierin  einen  Wucher 
erblicken  — und  zwar  im  Sinne  des  Entwurfs  durchaus  mit 
Recht.  Der  Regierungsvertreter  meinte  allerdings: 

„Wenn  in  den  Reglements  der  öffentlichen  Anstalten 
ein  besonders  hoher  Zinsfuss  von  vorn  herein  vorgesehen 
sei,  so  werde  bei  Abschluss  von  Geschäften  gegen  diesen 
hohen  Zins  kaum  von  einer  Ausbeutung  die  Rede  sein 
können.“ 

Aber  für  diese  Auffassung  gewährt  der  Entwurf  keinen 
Anhalt. 

Es  ergiebt  sich  also,  dass  der  Begriff  des  Wuchers 
nicht  ausgeschlossen  ist,  wenn  in  Folge  einer  allgemeinen 
Nothlage  ein  Missverhältniss  zwischen  Leistung  und  Gegen- 
leistung als  übliches  besteht.  Der  Kognition  des  Richters 
unterliegt  daher  nicht  nur  die  Frage,  ob  das  Verhältniss 
von  Leistung  und  Gegenleistung  „üblich“,  sondern  auch  ob 
es  angemessen  ist.  Auch  das  „übliche“  Entgelt  kann  der 
Richter  für  wucherisch  erklären.  Das  Arbitrium  des  Richters 
kann  den  erklärten  Vertragswillen  der  Parteien  umstossen. 
Der  Kontraktbruch  ist  erlaubt,  wenn  Leistung  und  Gegen- 
leistung nach  der  Anschauung  des  Richters  nicht  in  rich- 
tigem Verhältniss  zu  einander  stehen.  Das  Verlassen  der 
Arbeit  während  der  Dauer  des  Vertrages,  der  „Kontraktbruch“ 
ist  durchaus  legitim,  falls  der  Arbeitsvertrag  unbillig  ist. 

Durchaus  logisch  war  deshalb  auch  folgender  gegne- 
rische Standpunkt  gegen  das  gesammte  Gesetz: 

„Dass  die  Hereinziehung  des  Arbeitsvertrages  in  das 
Gesetz  erkennen  lasse,  welche  unübersehbare  Tragweite 
dasselbe  habe.  Man  werde  schliesslich  zur  Einführung  von 
Arbeitstaxen  und  Preistaxen  gelangen  müssen,  um  das  An- 
wendungsgebiet des  Gesetzes  zu  beschränken.“ 

Ebenso  logisch  musste  gerade  aus  diesen  Gründen  der 
Entwurf  Freunde  finden.  Zwischen  beiden  Parteien  stehen 


No.  30. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


357 


diejenigen,  welche  den  Pelz  waschen  möchten,  ohne  ihn 
allzu  nass  zu  machen. 

Die  gesetzgeberische  Idee  des  Entwurfs  ist  als  Embryo 
auch  in  dem  bestehenden  Wuchergesetze  enthalten.  In 
diesem  erschien  sie  aber,  da  sie  nur  auf  Kreditgeschäfte 
angewandt  war,  nicht  als  eine  neue  Idee,  sondern  als  eine 
Auffrischung  älterer  Zinsbeschränkungen. 

Sie  betraf  auch  nur  einen  kleinen  Theil  des  wirthschaft- 
lichen  Verkehrs  und  eine  kleine  Anzahl  Personen;  — selbst 
um  Schulden  zu  machen,  muss  man  zu  einer  besser  situirten 
Minderheit  gehören.  Erst  jetzt  tritt  daher  der  Begriff  eines 
„Wuchergesetzes“  deutlich  hervor,  dass  nämlich  das  Ver- 
hältnis von  Angebot  und  Nachfrage  den  Preis  nur  in  den 
Grenzen  regeln  soll,  innerhalb  welcher  Leistung  und  Gegen- 
leistung angemessen  erscheinen. 

Im  Gesetz  von  1880  für  Creditgeschäfte  festgesetzt,  hat 
dieser  Grundsatz  in  der  Novelle  auf  alle  zweiseitigen  Ver- 
träge Ausdehnung  gefunden. 

Berlin.  Heinrich  Cohn. 

Die  deutsche  überseeische  Auswanderung  im  Jahre 
1892.  Aus  Deutschland  wanderten,  soweit  es  die  Reichs- 
statistik verfolgen  konnte,  im  Jahre  1892  1 12  271  Deutsche. 
Nur  in  sieben  Jahren  seit  1871  war  die  Auswanderung 
stärker,  sie  schwankte  zwischen  22898  (1877)  und  220902 
(1881),  sie  blieb  unter  30000  in  den  drei  Jahren  1876  bis 
1878,  betrug  30000 — 50000  in  den  drei  Jahren  1874.  1875 
und  1879,  überstieg  50000,  erreichte  aber  nicht  100000  in 
den  vier  Jahren  1871,  1886,  1889  und  1890,  überstieg  100000, 
erreichte  aber  die  Auswandererzahl  von  1892  nicht  in  den 
vier  Jahren  1873,  1885,  1887  und  1888.  In  den  übrigen 
Jahren  überstieg  sie  die  letzte  Auswandererzahl,  erreichte 
aber  in  den  vier  Jahren  1872,  1880,  1884  und  1891  nicht 
150000,  zwischen  150000  und  200000  betrug  sie  bloss  im 
Jahre  1883  und  überschritt  das  zweite  100000  in  den 
Jahren  1881  und  1882.  Unter  dem  22  jährigen  Durch- 
schnitte (1871  — 1892)  blieb  die  Auswanderung  in  8 Jahren. 

Während  des  ganzen  22jährigen  Zeitraumes  waren 
das  bevorzugteste  Auswranderungsziel  die  Vereinigten 
Staaten  von  Amerika.  -Im  Jahre  1881  wanderten  dahin 
206  189  Deutsche,  in  sieben  anderen  Jahren  überstieg  die 
Auswanderung  dahin  100000,  dagegen  wanderten  bloss  im 
Jahre  1873  etwas  mehr  als  5000  Deutsche  und  bloss  im 
Jahre  1890  etwas  über  4000  nach  Brasilien,  während  in 
zwei  Jahren  1871  und  1892  die  Auswanderung  dahin  nicht 
einmal  rooo  erreichte;  die  Auswanderung  nach  Britisch- 
Nordamerika  überschritt  bloss  im  Jahre  1892  1000  (1577) 
und  blieb  in  6 Jahren  unter  100.  Bloss  im  Jahre  1889 
wanderten  nach  anderen  Staaten  Amerikas  mehr  als 
2000  Deutsche,  in  12  Jahren  blieb  sie  unter  1000.  Als 
höchste  Auswandererzahl  nach  Afrika  wurden  750  im 
Jahre  1877  registrirt,  in  den  6 vorhergehenden  Jahren  er- 
reichte sie  noch  nicht  100.  Als  höchste  Auswandererzahl 
nach  Asien  wurden  262  im  Jahre  1889  registrirt,  in 
16  Jahren  erreichte  sie  noch  nicht  100;  stärker  ist  die 
Auswanderung  nach  Australien,  sie  erreichte  im  Jahre  1883 
2104  und  blieb  in  14  Jahren  unter  1000. 

Während  in  den  Jahren  1886 — 1890  die  englisch-irische 
Einwanderung  nach  den  Vereinigten  Staaten  stärker  war 
als  die.  deutsche,  überholte  sie  die  in  den  Jahren  1891  und 
1892;  sie  bildete  in  diesen  2 Jahren  mehr  als  den  fünften  Theil 
der  Gesammteinwanderung  der  nordamerikanischen  Union. 

Die  überseeische  Auswanderung  betrug  in  den  letzten 
6 Jahren  0,2  pCt.  der  Bevölkerung,  nahezu  ein  volles  Pro- 
zent der  Bevölkerung  erreichte  sie  1892  in  Westpreussen 
und  Posen,  den  beiden  Gebietstheilen,  die  auch  in  den  vor- 
hergehenden 5 Jahren  die  stärkste  Auswanderung  hatten. 
Ausserdem  wanderten  1892  5 — 10  °/o0  der  Bevölkerung  aus 
Pommern  und  Bremen,  2'^— 5 °/00  aus  Schleswig-Holstein, 
Hannover,  dem  linksrheinischen  Bayern,  Württemberg, 
Schwarzburg-Rudolstadt,  Oldenburg  und  Hamburg,  1 bis 
2V2  °/oo  aus  Ostpreussen,  Brandenburg  mit  Berlin,  Westfalen, 
Hessen-Nassau,  dem  Rheinlande,  dem  rechtsrheinischen 
Bayern,  Baden  und  Hessen,  Sachsen,  Sachsen-Weimar, 
Sachsen-Meiningen,  Reuss  ält.  L.  und  jüng.  L.,  den  beiden 
Mecklenburg,  Waldeck,  Lippe  und  Lübeck  aus.  Unter  '/z°/00 
der  Bevölkerung  blieb  im  verflossenen  Jahre  die  Aus- 
wanderung bloss  in  Braunschweig. 


Im  Durchschnitt  der  letzten  6 Jahre  überschritt  die 
Auswanderung  von  1892  in  West-  und  Ostpreussen,  Bran- 
denburg mit  Berlin,  Pommern,  Posen,  Schlesien,  Provinz 
Sachsen,  Hannover,  Westfalen,  dem  Rheinlande  und  Ge- 
sammtpreussen,  Baden,  Königreich  Sachsen,  den  thüringi- 
schen Staaten  und  zwar  Sachsen-Weimar,  Sachsen-Meinin- 
gen, Sachsen-Altenburg,  Schwarzburg-Rudolstadt,  den  beiden 
Reuss,  Mecklenburg-Schwerin,  Oldenburg,  Braunschweig  und 
Lippe. 

Auf  das  weibliche  Geschlecht  entfielen  44,4  pCt.  der 
Auswanderer,  deren  Geschlecht  ermittelt  wurde,  während 
51,0  pCt.  der  deutschen  Gesammtbevölkerung  weiblichen 
Geschlechtes  sind.  Noch  nicht  14  Jahre  alt  waren  28  462 
(25,4  pCt.  der  Auswanderer  gegen  33  pCt.  der  Gesammt- 
bevölkerung) und  über  50  Jahre  alt  waren  6324  Auswanderer 
(5,6  gegen  15,8  pCt.  der  Bevölkerung),  somit  entfielen  auf 
die  nicht  oder  nur  in  beschränktem  Maasse  produktiven 
Altersklassen  fast  ein  Drittheil  der  Auswanderer.  14  bis 
21  Jahre  alt  waren  22438  (20,0  pCt.  gegen  i3  7pCt.  der 
Bevölkerung),  21—30  Jahre  alt  32223  (28,7  gegen  14,4  pCt. 
der  Bevölkerung),  im  Alter  von  30 — 50  Jahren  standen 
22596  (20,1  gegen  23,1  pCt.  der  Bevölkerung.  Die  Aus- 
wanderer zerfielen  in  50761  Einzelpersonen  (und  zwar 
33554  männliche  und  17207  weibliche)  und  16  524  Familien 
mit  60653  Personen. 


Finanzfragen. 

Die  Kommunalabgaben  der  Standesherren  in  Preussen. 

Als  vor  zwei  Jahren  ein  Nachzügler  zum  preussischen 
Einkommensteuer-Gesetz  die  Entschädigungen  der  Standes- 
herren für  Uebernahme  der  Steuerpflicht  festsetzte,  da  hatte 
man  wohl  ein  Gefühl  für  das  Unwürdige,  das  in  dem  Geben 
und  noch  mehr  in  dem  Nehmen  solcher  Gelder  liegt;  allein 
man  tröstete  sich  damit,  dass  nun  endlich  dem  noch  un- 
würdigeren Zustande  der  Steuerfreiheit  reicher  Leute  ein 
Ende  gemacht  sei.  Von  der  Steuerfreiheit  einflussreicher 
Bevölkerungsklassen,  welche  Jahrhunderte  lang  bestanden 
hatte,  schien  nach  langem  Abbröckeln  nun  endlich  auch  der 
letzte  Rest  genommen;  und  im  Interesse  der  Sauberkeit 
unseres  Staatswesens  hielt  man  es  schon  für  richtig,  eine 
ungerechtfertigte  Gebühr  für  das  Auskehren  zu  zahlen , als 
jenen  letzten  Akt  noch  zu  verzögern. 

Da  erfuhr  man  plötzlich  bei  Vorlegung  des  Kommunal- 
abgaben-Gesetzes,  dass  es  doch  noch  immer  standesherr- 
liche Steuerprivilegien  in  Preussen  geben  solle.  Der  § 33 
dieses  Gesetzentwurfs  schliesst  mit  den  Worten: 

„Unberührt  bleiben  die  gesetzlichen  Bestimmungen  über 
die  Beitragspflicht  der  vormals  kurhessischen  Standesherren 
zu  den  Gemeindelasten." 

Ich  glaube  nicht,  dass  es  selbst  unter  den  Personen, 
die  in  preussischen  Steuersachen  Bescheid  wissen,  viele 
gegeben  hat,  die  nicht  erst  durch  diesen  Paragraphen  er- 
fuhren, dass  überhaupt  Befreiungen  kurhessischer  Standes- 
herren noch  existiren.  Es  scheint,  dass  die  Kommission 
des  Abgeordnetenhauses  über  die  nothwendigen  Kenntnisse 
ebenfalls  nicht  verfügte.  Denn  sie  setzte  eine  besondere 
Kommission  ein  „zur  näheren  Prüfung  der  Rechtsverhält- 
nisse der  betreffenden  Standesherren  an  sich  und  im  Ver- 
gleich mit  den  übrigen  Standesherren.“  Das  Ergebniss  der 
Prüfung  war,  dass  man  andere  Standesherren  nicht  schlech- 
ter stellen  wollte,  als  die  kurhessischen.  Auf  Vorschlag 
der  Unterkommission  wurde  eine  allgemeinere  Fassung  an- 
genommen, wonach  die  bestehenden  gesetzlichen  Bestim- 
mungen, gemäss  welchen  „Standesherren  und  deren  Fami- 
lien" von  Gemeindelasten  befreit  sind,  unberührt  bleiben. 

Angesichts  dieser  Erweiterung  der  Steuerprivilegien- 
Konservirung  fragt  man  sich,  ob  und  wo  es  denn  noch 
solche  standesherrlichen  Privilegien  giebt,  worin  sie  be- 
stehen, worauf  sie  sich  gründen. 

Der  Kommissionsbericht  druckt  hierüber  die  Erklärung 
eines  Regierungskommissars  ab.  Nach  derselben  sind  für 
Kurhessen  die  Verhältnisse  der  Standesherren  in  einem 
Edikt  vom  29.  Mai  1833  geregelt  worden,  nach  welchem  die 
Standesherren  nicht  Mitglieder  der  Gemeinde  sind  und  auch 


358 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  30. 


nicht  verpflichtet  werden  können,  es  zu  werden;  zu  Umlagen 
für  Gemeindezwecke  könnten  sie  nur  wegen  Grundeigenthums 
herangezogen  werden.  In  den  altländischen  Provinzen  seien 
die  Verordnung  vom  21.  Juni  1815  und  die  Instruktion  vom 
30.  Mai  1820  maassgebend,  welche  den  Standesherren  frei- 
steilen, ob  sie  aus  der  Gemeinde  ausscheiden  wollen.  Von 
den  beiden  hannoverschen  standesherrlichen  Häusern,  Bent- 
heim und  Arenberg,  habe  das  erstere  kein  Steuerprivileg 
mehr;  für  letzteres  aber  seien  die  Bestimmungen  der  han- 
noverschen Verfassung  vom  5.  September  1848  und  der 
hannoverschen  Gemeindegesetze  durch  das  preussische  Ge- 
setz vom  27.  Juni  1875  konservirt.  Für  Nassau  endlich  be- 
stimme das  Gemeindegesetz  von  1854,  dass  die  Standes- 
herren nicht  Gemeindebürger  seien. 

Zu  den  Ausführungen  des  Regierungskommissars  be- 
merkt der  Kommissionsbericht  (S.  55):  „Aus  dieser  Er- 

klärung ist  zum  grossen  Theil  schon  die  Begründung  der 
Vorschläge  der  Unterkommission  zu  entnehmen.  Hinzuzu- 
fügen ist  noch,  dass  man  grundsätzlich  in  Bezug  auf  die 
vorhandenen  Gemeinde-Einkommensteuer-Befreiungen  der 
kurhessischen  und  sonstigen  Standesherren  nichts  ändern 
wollte,  wobei  auch  erwogen  wurde,  dass  eine  etwaige  Ab- 
lösung dieses  Privilegs  in  Bezug  auf  seine  Durchführung 
besonderen  Schwierigkeiten  begegnen  würde,  weil  das  Pri- 
vileg den  Standesherren  in  jeder  einzelnen  Gemeinde 
des  betreffenden  Bezirks  zusteht  und  bei  Ablösung  Seitens 
einer  einzelnen  Gemeinde  gegenüber  den  sämmlichen  an- 
deren Gemeinden  bestehen  bleiben  würde.“ 

Diese  juristischen  Ausführungen  entsprechen  dem  ge- 
setzlichen Rechtszustande  nicht.  Das  Privilegium  der  Nicht- 
zugehörigkeit zur  Gemeinde  ist  mit  einem  Steuerprivilegium 
keineswegs  identisch.  Das  Kommunalabgaben-Gesetz  macht 
die  Verpflichtung  zum  Steuerzahlen  nicht  von  der  Mit- 
gliedschaft in  der  Gemeinde  abhängig.  Das  sogenannte 
Bürgerrecht,  wo  es  in  Preussen  überhaupt  noch  als  beson- 
deres Recht  besteht,  hat  mit  der  Beitragspflicht  zu  Kom- 
munalabgaben nichts  zu  thun.  Wer  seinen  Wohnsitz  in 
einer  Gemeinde  hat,  ist  daselbst  abgabenpflichtig,  mag  die 
Gemeinde  zu  andern  Zwecken  noch  Unterscheidungen 
zwischen  Bürgern  und  Nichtbürgern  machen  oder  nicht. 
Diese  Verpflichtung  ist  so  zweifellos,  dass  auch  der  vor- 
übergehende Aufenthalt  abgabenpflichtig  macht  und  dass 
das  Gesetz  sich  sogar  genöthigt  sieht,  hier  wenigstens  eine 
Minimalfrist  von  drei  Monaten  zu  setzen.  Wenn  also  jeder 
Ortsfremde,  der  sich  mehr  als  drei  Monate  in  einer  Ge- 
meinde aufhält,  daselbst  abgabenpflichtig  wird,  so  ist  nicht 
einzusehen,  wieso  ein  Standesherr,  der  in  einem  Orte 
wohnt,  aus  seiner  Gemeindefremdheit  ein  Privileg  der 
Steuerfreiheit  deduziren  soll.  Diese  Hineinmengung  des 
Privilegs  der  Nichtzugehörigkeit  zur  Gemeinde  dient  nicht 
zur  Aufklärung,  sondern  zur  Verdunkelung  des  Sachver- 
halts. — In  Betreff  Kurhessens  sind  die  bestehenden  Gesetze 
nicht  vollständig  aufgeführt.  Es  ist  nämlich  in  Kurhessen 
oder,  wie  es  nach  preussischem  Staatsrecht  heisst,  im  Regie- 
rungsbezirk Kassel,  ausser  den  zitirten  alten  Gesetzen  auch 
die  preussische  Verfassungsurkunde  eingeführt,  deren  Artikel  4 
mit  klaren  Worten  besagt:  „Alle  Preussen  sind  vor  dem 
Gesetze  gleich.  Standesvorrechte  finden  nicht  statt.“ 
Zwar  hat  das  Gesetz  vom  10.  Juni  1854  mit  Bezugnahme  auf 
diesen  Verfassungsartikel  gleichwohl  gestattet,  durch  könig- 
liche Verordnung  die  aufgehobenen  standesherrlichen  Rechte 
wieder  einzuführen,  aber  nur  für  diejenigen  Standesherren, 
welche  1815  oder  1850  dem  preussischen  Staate  einverleibt 
wurden.  Man  hätte,  nachdem  der  Geltungsbereich  der 
preussischen  Verfassungsurkunde  über  die  neuen  Provinzen 
ausgedehnt  war,  ein  entsprechendes  Gesetz  für  die  Standes- 
herren machen  können,  die  im  Jahre  1866  dem  Staate  ein- 
verleibt wurden.  Wenn  dies  geschehen  wäre,  so  könnte 
in  Frage  kommen,  inwieweit  das  Steuerprivileg  dieser 
Standesherren  „wiederhergestellt“  sei.  Da  es  aber  nicht 
eschehen  ist,  so  gilt  für  die  Vorrechte  der  kurhessischen 
tandesherren  der  glatte  Satz:  „Standesvorrechte  finden 
nicht  statt.“  Wenn  wirklich  die  kurhessischen  Standes- 
herren in  den  27  Jahren  seit  ihrer  Einverleibung  keine  Ge- 
meindesteuern bezahlt  haben,  so  folgt  daraus  nur,  dass  sie 
noch  nachträglich  zur  Steuer  heranzuziehen  sind,  soweit  es 
die  Verjährungsfristen  irgend  gestatten.  Völlig  zweifelsfrei 


wurde  der  Rechtszustand  endlich  durch  das  Eingangs  er- 
wähnte Gesetz  vom  18.  Juli  1892.  Dasselbe  bestimmt  in 
seinem  § 1 ausdrücklich: 

„Die  den  Häuptern  und  Mitgliedern  der  Familien  vor- 
mals unmittelbarer  Deutscher  Reichsstände,  sowie  der  gleich- 
gestellten Familien  noch  zustehende  Rechte  auf  Befreiung 
von  ordentlichen  Personalsteuern  oder  auf  Be- 
vorzugung hinsichtlich  desselben  werden  hierdurch  aufge- 
hoben.“ 

Hier  ist  von  sämmtlichen  ordentlichen  Personalsteuern 
die  Rede,  es  ist  nicht  mit  einem  Worte  angedeutet,  dass 
die  kommunalen  ausgenommen  werden  sollen.  In  den  Mo- 
tiven der  Regierung  heisst  es:  㤠 1 spricht  im  ersten  Absatz 
die  Aufhebung  der  mit  Bezug  auf  die  Personalbesteuerung 
noch  bestehenden  Vorrechte  der  standesherrlichen  Familien 
aus  und  beseitigt  dieses  Privileg  in  seinem  ganzen  Um- 
fange.“ Wenn  ein  Gesetz  ein  Privileg  in  seinem  ganzen 
Umfange  aufhebt,  so  ist  es  unzulässig,  zu  behaupten,  dass 
ein  Theil  des  Privilegs  noch  fortbestehe. 

Aber  von  den  juristischen  Gründen  ganz  abgesehen, 
auch  in  sachlicher  Beziehung  verkennen  die  Ausführungen 
des  Kommissionsberichts  die  Frage,  um  die  es  sich  handelt. 

In  alter  Zeit  bestanden  die  Gemeinden  in  der  That  blos  für 
ihre  Mitglieder.  Es  waren  in  der  Hauptsache  persönliche 
Vereine  für  gemeinschaftliche  Veranstaltungen  zur  Recht- 
sprechung, Armenpflege  etc.  In  jeder  grösseren  Ortschaft 
gab  es  Einwohner,  welche  nicht  Mitglieder  der  Gemeinde 
waren  und  eben  auch  an  ihren  Veranstaltungen  nicht  theil- 
nahmen.  Ganze  Stände,  wie  z.  B.  der  Adel,  die  Staats- 
beamten u.  a.  m.  wohnten  in  den  Städten,  ohne  zum  Bürger- 
thum zu  gehören.  Heutzutage  ist  die  Gemeinde  ein  ört- 
licher Bezirk.  Sie  erfüllt  ihre  Aufgaben  für  diesen  Bezirk 
und  für  Alle,  die  darin  wohnen.  Ihre  Sicherheitspolizei, 
ihre  Strassenpflasterung , ihr  Beleuchtungswesen  , ihre 
Wasserleitung , ihre  Kanalisation  , sind  Einrichtungen, 
welche  durch  die  Natur  der  Sache  Alle  mitgeniessen,  die 
innerhalb  des  Gemeindebezirks  wohnen.  Daher  hat  heut- 
zutage die  Unterscheidung  zwischen  Mitgliedern  und  Nicht- 
mitgliedern  der  Gemeinde  ihre  Bedeutung  verloren.  Wenn 
heutzutage  einzelne  Personen  noch  das  Recht  für  sich  in 
Anspruch  nehmen  wollen,  in  diesem  Bezirk  zu  wohnen, 
ohne  an  den  Lasten  theilzunehmen,  so  heisst  dies  nichts 
Anderes,  als  was  die  Studenten  mit  „Nassauern“  bezeichnen. 
Sehr  schön  sagt  die  Denkschrift  zur  Steuerreform,  dass  in 
den  Gemeinden  die  Steuervertheilung  beruhen  soll  auf  der 
Berücksichtigung  „von  Leistung  und  Gegenleistung,  von 
Last  und  Vortheil.“  Wenn  man  fragt,  ob  man  ein  Privileg 
aufheben  wolle  oder  nicht,  so  ist  dies  nicht  die  präzise  ; 
Form  der  Fragestellung.  Man  sollte  immer  fragen:  Ist  es 

richtig,  dass  die  Beiträge,  denen  sich  der  Eine  entzieht, 
Anderen  aufgebürdet  werden?  ln  dem  vorligenden  Falle 
heisst  die  Frage:  Ist  es  richtig,  dass  für  die  Mitbenutzung 
der  Gemeindeeinrichtungen  durch  die  Standesherren  die 
Beiträge  von  den  Bürgern  und  Bauern  bis  herab  zum 
Aermsten  aufgebracht  werden,  — oder  ist  es  richtig,  dass 
sie  ihre  Beiträge  selbst  bezahlen? 

Das  ist  der  Kernpunkt  der  Frage,  dass  die  Steuer- 
freiheit reicher  Leute  allen  sozialpolitischen  Rücksichten 
ins  Gesicht  schlägt.  Darum  halte  man  auch  die  Frage  nicht 
für  praktisch  unbedeutend.  Die  moderne  Sozialpolitik  will 
die  Reichen  zugunsten  der  Armen  belasten.  Dieses  Be- 
streben hat  mit  vielen  Schwierigkeiten  zu  kämpfen.  So 
lange  gar  noch  in  den  Gesetzen  des  Staates  eine  An- 
schauung Platz  findet,  welche  die  Armen  zugunsten  der 
Reichen  belasten  will,  so  lange  wirkt  dies  Gegengewicht, 
und  wenn  es  noch  so  klein  ist,  durch  sein  blosses  Vor- 
handensein. So  lange  es  noch  einen,  wenn  auch  noch  so 
kleinen  Stand  giebt,  der  es  sich  zur  Ehre  anrechnen  darf, 
steuerfrei  zu  sein,  so  lange  wird  in  diesen  Gesellschaftskreisen 
die  umgekehrte  Anschauung,  dass  es  Ehrenpflicht  des  Reich- 
thums ist,  mehr  und  immer  mehr  zu  leisten,  in  ihrem  Fort- 
schritt verlangsamt.  Die  kleinste  Last  wirkt  beim  Hebel, 
wenn  sie  recht  weit  vom  Stützpunkt  entfernt  ist! 

Darum  kann  auch  die  ganze  Art,  wie  die  Angelegen- 
heit in  der  Kommission  behandelt  worden  ist,  nicht  als 
dem  Ernst  der  Sache  entsprechend  bezeichnet  werden.  Die 


No.  30. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAlBLATT. 


359 


Bestimmung,  dass  ein  Privileg  der  kurhessischen  Standes- 
herren konservirt  werden  solle,  wird  einer  eigenen  Unter- 
kommission überwiesen.  Dieselbe  fördert  das  ganz  über- 
raschende Ergebniss  zu  Tage,  dass  sie  sogar  noch  eine 
Erweiterung  der  Privilegienkonservirung  über  die  ganze 
Monarchie  beantragt.  Kein  Wort  der  Begründung  von 
Seiten  der  Unterkommission  ist  beigefügt.  Statt  dessen 
erfolgt  die  Erklärung  eines  „Vertreters  des  Ministers  des 
Innern“,  nach  welcher  der  Kommissionsbericht  fortfährt: 
„Aus  dieser  Erklärung  ist  zum  grossen  Theil  schon  die 
Begründung  der  Vorschläge  der  Unterkommission  zu  ent- 
nehmen.“ Weswegen  begnügt  man  sich  mit  dem  „grossen 
Theil“  und  giebt  nicht  das  Ganze  der  Begründung?  In  der 
Regierungserklärung  werden  Oberverwaltungsgerichts  - Er- 
kenntnisse zitirt,  ohne  dass  ihr  Wortlaut  genannt,  ja  auch  nur 
das  Datum  angegeben  wird.  In  den  22  Bänden  gedruckter 
„Entscheidungen“  ist  nichts  Bezügliches  zu  finden.  Ob  also 
der  Regierungskommissar  diese  Erkenntnisse  richtig  verstan- 
den hat,  oder  nicht,  lässt  sich  nicht  früher  beurtheilen,  als 
bis  dieselben  vorgelegt  werden.  Schon  dass  der  Regierungs- 
entwurf keine  ordentliche  Aufzählung  der  Privilegirten  und 
ihrer  Privilegien  enthielt,  sondern  sich  mit  der  lakonischen 
Anführung  des  kurhessischen  Edikts  von  1833  begnügte, 
wich  sehr  unvortheilhaft  von  der  sonstigen  ernsten  Haltung 
der  Motive  ab.  Wenn  irgendwo,  so  ist  es  in  Steuersachen 
unzulässig,  bei  einer  Neuregelung  die  Konservirung  von 
Privilegien  zu  beantragen,  die  nicht  einmal  aufgezählt 
werden.  Dass  aber  bei  der  Durchberathung  nicht  etwa  eine 
Einengung,  sondern  sogar  noch  eine  Erweiterung  der  Kon- 
servirungsklausel,  wiederum  ohne  ausreichende  Spezialisi- 
rung,  vorgeschlagen  wird,  übersteigt  doch  vollends  alles 
Maass.  Die  ganze  Regierungserklärung  beweist  nichts, 
denn  die  Hauptfrage,  worauf  die  Steuerfreiheit  kurhessischer 
Standesherren  nach  Einführung  der  preussischen 
Verfassung,  sowie  nach  Erlass  des  Gesetzes  von 
1892  gestützt  wird,  ist  in  ihr  nicht  mit  einem  Worte  er- 
wähnt. Dieses  Schweigen  muss  einen  Grund  haben.  Be- 
stehen etwa  auch  hier  geheime  Verordnungen,  wie  sie  in 
Betreff  der  Staats-Einkommensteuer  der  Standesherren 
schliesslich  zu  Tage  getreten  sind? 

Wie  unerträglich  die  vorgeschlagene  Privilegien-Kon- 
servirung  sein  muss,  geht  wohl  am  besten  daraus  hervor, 
dass  selbst  die  privilegienfreundliche  Kommission  sich 
in  einem  Punkte  zu  einer  Einschränkung  genöthigt  ge- 
sehen hat.  Sie  hat  an  anderer  Stelle  einen  eigenen  § 17a 
eingeschoben: 

„Vorschriften,  welche  eine  Befreiung  von  Gewerbe- 
steuer in  sich  schliessen,  finden  auf  Gewerbe,  welche  nach 
Verkündigung  dieses  Gesetzes  in  Betrieb  gesetzt  werden, 
keine  Anwendung.“ 

„Die  Gemeinden  sind  berechtigt,  die  bestehenden  Be 
freiungen  durch  Zahlung  des  1373 fachen  Jahreswerthes  der- 
selben nach  dem  Durchschnitt  der  letzten  drei  Jahre  vor  dem 
1.  April  desjenigen  Rechnungsjahres,  in  welchem  die  Ab- 
lösung beschlossen  wird,  abzulösen.  Steht  ein  anderer  Ent- 
schädigungsmassstab fest,  so  hat  es  hierbei  sein  Bewenden.“ 

Wie  aus  dem  Bericht  (S.  55)  hervorgeht,  sind  mit  diesen 
Steuerbefreiungen  wiederum  die  der  Standesherren  gemeint. 
Nun  ist  es  zwar  sehr  löblich,  dass  die  Kommission  wenig- 
stens den  Standesherren  das  Recht  abschneiden  will,  zum 
Zwecke  ihres  Gewerbebetriebes  die  Gemeindeeinrichtungen 
über  das  bisherige  Maass  unentgeltlich  auszunutzen.  Aber 
ganz  abgesehen  von  der  Stipulirung  einer  Ablösungssumme, 
(welche  die  Gemeinden  zu  zahlen  nicht  verpflichtet  werden 
sollten,  und  welche  die  Standesherren  anständiger  Weise 
auch  nicht  annehmen  sollten),  ist  gegen  die  Neuformulirung 
von  Seiten  der  Kommission  auch  sonst  manches  einzu- 
wenden. Die  ursprüngliche  Bestimmung  des  Regierungs- 
entwurfs über  die  kurhessischen  Standesherren  befand  sich 
in  dem  Unterabschnitt  „Gemeinde-Einkommensteuer“  und 
wurde  stillschweigend  nur  auf  die  Gemeinde-Einkommen- 
steuer bezogen.  Indem  die  Kommission  unter  den 
„allgemeinen  Bestimmungen“  über  direkte  Gemeinde- 
steuern jene  andere  Bestimmung  über  die  Gewerbe- 
steuer traf,  sie  direkt  auf  die  Standesherren  bezog 
und  einen  bezüglichen  Hinweis  auch  in  die  Schluss- 


bestimmung des  § 33  aufnahm,1)  brachte  sie  erst  zu 
Tage,  dass  diese  Schlussbestimmung  sich  nicht  bloss 
auf  die  Gemeinde- Einkommensteuer,  sondern  auf  alle 
Gemeindeabgaben  beziehen  solle.  Er  enthält  also  neben 
einer  gewissen  Einengung  eine  ganz  schrankenlose  Erwei- 
terung des  Privilegs.  Denn  wenn  auch  die  dritte  der  drei 
grossen  Hauptsteuern,  die  Grundsteuer,  bereits  durch  den 
§ 17  der  Regierungsvorlage  gedeckt  ist  (Ablösung  mit  dem 
20  fachen  Jahreswerthe),  so  gehören  nach  dem  System  des 
ganzen  Kommunalabgaben-Gesetzes  zu  den  Abgaben  (Ge- 
meindelasten) auch  die  Gebühren  und  Beiträge,  welche  von  dem 
Entwurf  als  besonders  ausbildungsfähig  in  Aussicht  genommen 
sind.  Nach  der  Fassung  der  Kommission  kann  es  Vor- 
kommen, dass  ein  Standesherr  sich  weigert,  Gebühren  und 
Beiträge  für  die  Benutzung  der  Wasserleitung,  der  Gas- 
anstalt etc.  zu  bezahlen,  und  dass  man  sich  auf  einen 
Prozess  mit  ihm  über  den  Wortlaut  seiner  alten  Privilegien 
einlassen  muss.  Und  was  ist  Rechtens  in  Betreff  der  in- 
direkten Steuern?  Wenn  eine  Gemeinde  indirekte  Steuern 
auf  Lebensmittel  ausschreibt,  soll  man  da  auch  noch  erst 
in  eine  Untersuchung  darüber  eintreten.  ob  bei  uns  wirk- 
lich der  Rechtszustand  besteht,  dass  der  arme  Mann  seine 
Lebensmittel  versteuern  muss,  der  reiche  Standesherr  nicht? 
Nach  den  bisherigen  Proben  sind  wir  misstrauisch  geworden. 
Niemand  von  uns  hat  geahnt,  dass  solche  Zustände,  wie 
sie  die  Verhandlungen  aufgedeckt  haben,  bei  uns  noch 
bestehen.  Wir  sind  jetzt  nicht  sicher,  dass  nicht  andere 
und  noch  schlimmere  Befreiungen  uns  verborgen  worden 
sind.  Selbst  wer  sich  nicht  dazu  entschliessen  kann,  die 
Kommunalsteuer-Privilegien  der  Standesherren  durch  eine 
klare  Gesetzesbestimmung  nochmals  für  aufgehoben  zu 
erklären,  müsste  doch  mindestens  dafür  eintreten,  dass 
man  die  Privilegien,  welche  konservirt  werden  sollen, 
im  Gesetz  ausdrücklich  nennt  und  alle  nicht  genannten 
für  abgeschafft  erklärt.  Mag  man  zugunsten  von  Pri- 
vilegien untergegangener  Zeiten  anführen,  was  man  wolle: 
das  schickt  sich  sicherlich  nicht  für  die  Gesetzgebung  eines 
grossen  Staates,  vor  den  Trümmern  ehemaliger  Herrlich- 
lichkeit  so  viel  Respekt  zu  haben,  dass  er  sie  nicht  einmal 
durch  einen  Sicherheitskordon  von  Paragraphen  in  strenge 
Beobachtung  nehmen  will. 

Dass  dies  nicht  geschehen  ist,  dafür  ist  die  Minderheit 
in  der  Kommission  verantwortlich  zu  machen,  Unsere 
parlamentarischen  Sitten  sind  noch  nicht  so  tief  gesunken, 
dass  eine  Minderheit  (wenn  sie  auch  nur  aus  2 Stimmen 
gegen  26  besteht)  nicht  im  Stande  sein  sollte,  den  Minister 
zum  Reden  zu  bringen,  wo  er  lieber  schweigen  möchte. 
Bei  sachlich  geschickter  Vertretung  des  Verfassungs-Stand- 
punktes hätte  die  Minderheit  es  durchsetzen  müssen,  dass 
die  Beschlussfassung  ausgesetzt  wurde,  bis  wenigstens  ein 
vollständiger  Nachweis  der  behaupteten  Privilegien  vor- 
gelegt werde.  Das  Gesetz  hat  noch  zwei  Lesungen  im 
Plenum  zu  bestehen.  Noch  ist  Zeit,  das  Versäumte  nach- 
zuholen. 

Berlin.  J.  Jastrow. 


Arbeiterzustände. 


Tagelöhne  und  Länge  des  Arbeitstages  im  Zimmerer- 
gewerbe während  der  Sommermonate. 

Der  Verband  deutscher  Zimmerleute  hat  schon  öfter 
über  die  obige  Frage  Erhebungen  veranstaltet.  Die  Resultate 
lassen  sich  in  folgenden  Tabellen  wiedergeben: 


*)  Regierungsentwurf : 
Unberührt  bleiben  die  gesetz- 
lichen Bestimmungen  über  die 
Beitragspflicht  der  vormals  kur- 
hessischen Standesherren  zu 
den  Gemeindelasten. 


Kommissionsbeschluss ; 

Die  bestehenden  gesetzlichen 
Bestimmungen,  gemäss  welchen 
Standesherren  und  deren  Fa- 
milien von  Gemeindelasten  be- 
freit sind,  bleiben  — unbe- 
schadet der  Vorschriften 
in  den  §§  17,  17a  desjgegen- 
wärtigen  Gesetzes  — unbe- 
rührt. 


360 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  30. 


Tagelohn  in  den  verschiedenen  Orten: 


Jahr  der  Erhebungen 


T a g e 1 0 h n 

1885 

1887 

1888 

1889 

1890 

1 891 

Zahl 

der  betheiligten 

Orte 

unter  2, — M 

10 

5 

10 

7 

2—3  M 

88 

34 

76 

67 

57 

45 

3-4  „ 

33 

28 

43 

44 

81 

93 

4-5  „ 

2 

8 

9 

19 

25 

25 

5 M.  und  darüber  . . . 

1 

3 

3 

4 

15 

15 

Betheiligung  überhaupt  . 

134 

78 

141 

141 

178 

178 

Die  Zahlenreihen  unter  1888  und  1889  umfassen  immer 
dieselben  Orte,  die  Veränderung  der  einzelnen  Zahlen 
zeigt  die  entsprechenden  Veränderungen  des  Tagelohns  an. 


Länge  des  Arbeitstages  an  den  einzelnen  Orten: 


Jahr  der  Erhebungen 

Länge  des  Arbeitstages  in  Stunden 

1885 

1888 

1889 

1891 

Zahl  der  betheiligten 

Orte 

unter  10  

41 

2 

1 

' 

10—11 

7 

39 

69 

113 

11—12 

66 

47 

71 

64 

12  und  darüber  

20 



6 

3 

Betheiligung  überhaupt  . . . 

134 

88 

147 

180 

Unter  144  Orten  wurde  von  1 888  — 1889  der  Arbeitstag 
an  8 Orten  verkürzt  und  zwar  an  2 Orten  von  11  auf  10 x/2, 
an  4 Orten  von  11  auf  10,  an  2 Orten  von  icC/2  auf 
10  Stunden.  Von  1889 — 1890  wurde  unter  171  Orten  der 
Arbeitstag  in  41  Orten  verkürzt  und  zwar  an  einem  Ort  von 
12  auf  io‘/2,  an  3 Orten  von  12  auf  ii,  an  11  Orten  von  11 
auf  icH/s,  an  19  Orten  von  11  auf  10,  an  6 Orten  von  10 r/2 
auf  10  und  an  einem  Orte  von  10  auf  9*/*  Stunden.  Von 
1890  auf  1891  ist  überhaupt  keine  Verkürzung  des  Arbeits- 
tages bekannt  geworden. 

Der  höchste  Tages-  resp.  Wochenlohn  wird  dort  ge- 
zahlt, wo  die  Arbeitszeit  am  kürzesten  ist,  wie  die  folgen- 
den Einzelangaben,  die  sich  auf  180  Orte  beziehen,  zeigen:1) 

19361  Zimmerer  arbeiten  bis  60  Stdn.  erhalten  23,10  M.  Wochenlohn 


10135 

11 

11 

„ 66  „ 

11 

18,11  „ 

11 

529 

11 

11 

„ 72  „ 

11 

16.56  „ 

11 

5 

11 

11 

h 78  „ 

11 

14,82  „ 

11 

Von  55  Orten  lassen  sich  die  Einzelangaben  von  1891 
mit  denen  von  1885  vergleichen.  Demnach  betrug  die  Länge 
des  Arbeitstages: 

1885  1891 

10  — 11  Stunden  . . . an  28  Orten  . . 40  Orten 

11  Stunden  und  darüber  „ 27  „ . 15  „ 

Der  Tagelohn  stieg  an  allen  Orten  und  zwar  im  Durch- 
schnitt von  2,88  M.  auf  3,74  M.  also  86  Pf.  pro  Tag.  An 
23  Orten  beträgt  die  Steigerung  mehr  als  der  Durchschnitt 
und  dabei  zeigt  sich,  dass  an  diesen  Orten  auch  1885  die 
höchsten  Löhne  gezahlt  wurden.  Der  Durchschnittslohn  in 
diesen  Orten  betrug  1885  3,14  M.,  1891  4.39  M.,  demnach 
ist  die  Verbesserung  der  Löhne  in  dieser  Zeit  eine  bedeu- 
tende gewesen. 

Die  Ursache  dieser  Erscheinung  dürfte  hauptsächlich  in 
den  Betriebsformen  zu  suchen  sein;  die  Bauspekulation,  wie 
sie  im  letzten  Jahrzehnt  in  den  grossen  Städten  betrieben 
ist,  erleichtert  die  Lohnbewegungen  eimgermaassen.  In  der 
Stärke  der  Organisation  ist  die  Ursache  nicht  zu  suchen, 
das  beweisen  folgende  Zahlen:  In  23  Orten  arbeiteten 

durchschnittlich  14  015  Zimmerer,  3960  davon  waren  durch- 
schnittlich organisirt;  in  den  übrigen  32  Orten  arbeiten 
durchschnittlich  5021  und  davon  sind  1384  organisirt. 

Die  thatsächlichen  Verhältnisse  der  Zimmerer  an  den 


verschiedenen  Orten  lassen  sich  aus  Vorstehendem  aber 
noch  nicht  erkennen.  In  den  grösseren  Orten  ist  die 
Arbeitsgelegenheit  bedeutend  unsicherer  als  in  kleineren, 
in  ersteren  ist  der  Arbeitswechsel  so  stark,  dass  dort 
Zimmerer  oft  sogar  in  der  besten  Zeit  acht  verschiedene 
Arbeitgeber  im  Vierteljahr  haben.  Um  aber  einen  solchen 
zu  finden,  muss  regelmässig  die  Arbeit  einige  Tage  unter- 
bleiben; an  kleinen  Orten  hingegen  sind  die  Zimmerer  nicht 
selten  ihr  Lebelang  in  demselben  Zimmergeschäft.  Die 
Arbeitslosigkeit  im  Winter  ist  auch  an  den  einzelnen  Orten 
sehr  verschieden.  An  kleinen  Orten  besitzen  die  Zimmer- 
meister noch  vielfach  ein  grösseres  Holzlager,  das  von  den 
Zimmerleuten  mit  besorgt  wird,  auch  werden  einige  Artikel 
für  die  nächste  Bauperiode  auf  Vorrath  gefertigt;  an  grossen 
Orten  kommt  das  so  gut  wie  garnicht  vor.  Endlich  besitzen 
die  Zimmerer  an  kleinen  Orten  vielfach  ein  Wohnhaus,  ein 
Stück  Land,  zum  Theil  mästen  sie  sich  ein  Stück  Vieh  u.  s.  w. 
ln  welchem  Maassstabe  aber  diese  Einzelheiten  noch  vor- 
herrschend sind,  ist  bisher  nicht  festgestellt  worden.  In- 
dessen ist,  soweit  nach  persönlicher  Erfahrung  zu  urtheilen 
erlaubt  ist,  zu  konstatiren,  dass  darum  kein  grosser  Unter- 
schied in  der  Lebenshaltung  obwaltet.  Ich  habe  mit  meiner 
Familie,  die  fünf  Köpfe  zählt,  in  Quedlinburg  gewohnt  und 
hatte  dort  im  Sommer  2,50  M.,  in  Magdeburg  4,00  M.  und 
jetzt  wohne  ich  in  Hamburg  und  hier  beläuft  sich  der  Tage- 
lohn auf  6,00  M.;  meine  Lebensweise  hat  aber  darum  keine 
merkliche  Veränderung  zum  Besseren  genommen. 

Hamburg.  August  Bringmann. 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Die  Ausstandsbewegung  in  Belgien.  Der  zur  Durch- 
setzung des  allgemeinen  Wahlrechtes  unternommene  Ge- 
neralstrike  in  Belgien  hat,  ehe  er  zu  vollständiger  Ent-  , 
Wickelung  gelangte,  dadurch  seine  Beendigung  gefunden,  t 
dass  die  Kammer  den  Antrag  Nyssens  annahm,  durch  welchen  ! 
das  allgemeine  Wahlrecht  mit  der  Modification  eingeführt 
wird,  dass  unter  gewissen,  auf  Familienstand,  Alter,  Bildung 
oder  Besitz  begründeten,  Vorbedingungen  einem  Wähler 
zwei  oder  drei  Stimmen  gegeben  werden.  Ueber  den  Um- 
fang, den  die  Strike-Bewegung  bereits  angenommen  hatte,  ' 
fehlen  zuverlässige  Nachrichten.  Immerhin  dürften  die  folgen- 
den, mit  aller  Reserve  von  uns  wiedergegebenen  Zahlen  einen 
ungefähren  Begriff  von  der  Ausdehnung  und  dem  Ernst,  den 
der  Generalstrike  zu  nehmen  im  Begriff  war,  geben.  Diese  j 
Zahlen,  die  sich  auf  den  Stand  vom  16.  April  beziehen, 
entnehmen  wir  einem  Bericht  der  Frankfurter  Zeitung, 
welcher  die  Mittheilung  aus  den  Kreisen  der  Arbeiterpartei 
zugegangen  war. 


Ortschaft 

_ . . Zahl  der 

Strikenden 

Ortschalt  c , 

Strikenden 

Brüssel  .... 

. . . 7 000 

Bassin  des  Borinage 

25  000 

Gent 

Bassin  des  Centre  . . 

18  000 

Grammont  . . 

. . . 4 000 

Bassin  von  Charleroi 

Courtray.  Ninove. 

Rcnain  5 000 

(zur  Stunde  noch 

Antwerpen  . . 

...  700 

ungewiss,  approxi- 

Löwen  .... 

. . . 2 000 

mativ 

27  000 

Tubize  .... 

...  500 

Lüttich 

2 000 

Virginal  . . . 

...  500 

Verviers 

Summe 

22  000 
158  700 

Programm  der  sozialdemokratischen  Partei  Basel 
für  Grossraths-  und  Regierungsrathswahlen  1893.  Das  von 

den  Basler  Arbeitern  für  die  bevorstehenden  kantonalen 
Wahlen  aufgestellte  Programm  ist  ein  rein  praktisches 
Aktionsprogramm  und  als  solches  für  die  praktische  Sozial- 
politik von  grosser  Bedeutung.  Es  hat  folgenden  Wort- 
| laut: 

1.  Bekämpfung  der  Arbeitslosigkeit  und  Ausdehnung 
des  Arbeiterschutzes,  a)  Arbeitslosen-Versicherung.  b)  Mög- 
lichste Vermehrung  der  öffentlichen  Arbeiten;  Ausführung 
der  grossem  Staatsarbeiten  in  Regie  (Staatsbetrieb),  c)  Vor- 
zugsweise Beschäftigung  im  Kanton  Niedergelassener  bei 
Staatsarbeiten,  d)  Gesetzlicher  Schutz  der  Staatsarbeiter 
vor  willkürlicher  Behandlung  (Einsetzung  von  den  Arbeitern 


p „Der  Zimmerer“  1892.  No.  40. 


No..  30. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAL  BL  ATT. 


361 


selbst  zu  wählenden  Kommissionen  zur  Prüfung  von  Be- 
schwerden; Bestimmung  der  regelmässigen  Arbeitszeit  und 
des  Lohnminimums  durch  Gesetz),  e)  Einsetzung  eines  kan- 
tonalen Fabrikinspektorats.  2.  Staatliche  Fürsorge  für  Arme 
und  Alte.  Unentgeltliche  Krankenpflege,  a)  Gesetzliche 
Organisation  der  Armenpflege,  im  Sinne  der  Bekämpfung 
aller  konfessionellen  und  parteipolitischen  Nebenzwecke, 
b)  Staatliche  Altersversorgung  für  längere  Zeit  im  Kanton 
Niedergelassene.  c)  Pensionskasse  für  Staatsarbeiter. 

d)  Ausdehnung  der  Poliklinik  auf  weitere  Klassen  der  Be- 
völkerung und  bessere  Organisation  ihres  ärztlichen  Dienstes. 

e)  Verstaatlichung  des  Apothekenwesens.  3.  Verbesserung 
der  sanitarischen,  baulichen undVerkehrsverhältnisse  derStadt 

a)  Errichtung  von  Wohnungen  durch  den  Staat  auf  Staats- 
boden, zur  billigen  Vermiethung.  b)  Erlass  eines  Wohnungs- 
gesetzes mit  Ausschlussbestimmungen  über  ungesunde  Woh- 
nungen; ständige  Wohnungsinspektion,  c)  Vermehrung  der 
öffentlichen  Badeanstalten,  d)  Rationelle  Lösung  der  städti- 
schen Eisenbahnfragen,  im  Sinne  einer  möglichst  ungehin- 
derten Stadtentwicklung  und  energischen  Bekämpfung  der 
Sonderinteressen  von  Bahnen  und  Privaten,  e)  Betrieb  der 
Strassenbahnen  durch  den  Staat,  f)  Einführung  der  elek- 
trischen Kraftleitung  durch  den  Staat,  mittelst  dauernder 
Erwerbung  einer  Wasserkraft,  zum  Zwecke  der  Beleuchtung 
und  der  Kraftabgabe  an  Private.  4.  Reform  des  Hypothekar- 
wesens. Zunächst  vollständige  Durchführung  der  Liegen- 
schaftsenquete. 5.  Gründung  einer  kantonalen  Staatsbank, 
zur  Bekämpfung  des  der  persönlichen  Freiheit  der  Bürger 
nachtheiligen  Grosskapitals  und  als  Mittel  zur  finanziellen 
Kräftigung  des  Staates  für  seine  volkswirthschaftlichen  Auf- 
gaben. 6.  Erlass  einer  strengen  Börsengesetzgebung  zur 
Bekämpfung  des  volksausbeutenden  Spekulantenthums. 
7.  Hebung  der  Landwirthschaft,  durch  Staatsbeiträge  zur 
Förderung  der  Viehzucht,  des  Rebenbaues  und  der  landwirth- 
schaftlichen  Berufsbildung.  8.  Förderung  der  Statistik,  zur 
ständigen  Erforschung  der  volkswirthschaftlichen  und  so- 
zialen Zustände.  Insbesondere  Vornahme  von  Erhebungen 
über  die  Verhältnisse  der  ökonomisch  gedrückten  Volks- 
klassen, als  Grundlage  für  volkswirthschaltliche  und  soziale 
Verbesserungen.  9.  Reform  des  Schulwesens  und  der  Be- 
rufsbildung. a)  Schaffung  einer  einheitlichen  Volksschule 
für  alle  schulpflichtigen  Kinder  (bis  zum  14.  Altersjahr). 

b)  Abstufung  der  auf  die  ungetheilte  achtklassige  Volks- 
schule folgenden  Mittelschulen  in:  Fortbildungsschule,  Real- 
schule, Gymnasium,  Töchterschule,  c)  Strenge  Neutralität 
der  staatlichen  Schulen  in  konfessionellen  Angelegenheiten, 
d)  Genauere  Gesetzesbestimmungen  über  die  Lehrerbesol- 
dungen, im  Sinne  bessern  Schutzes  der  Lehrer  vor  will- 
kürlicher Normirung  der  Gehaltsansätze,  e)  Errichtung  von 
Kleinkinderschulen  (Kindergärten),  deren  Besuch  unentgelt- 
lich, durch  den  Staat,  f)  Staatliche  Fürsorge  für  Ernährung 
und  Bekleidung  armer  Schulkinder,  g)  Bekämpfung  der 
Uebelstände  im  Lehrlingswesen;  Errichtung  von  Lehrwerk- 
stätten. h)  Einführung  unentgeltlicher  Haushaltungs-  und 
Arbeitsunterrichtskurse  für  Töchter  durch  den  Staat.  10.  Re- 
form des  Gerichtswesens,  a)  Gesetzliche  Ausführung  des 
Verfassungsgrundsatzes  der  Volkswahl  der  Gerichtspräsi- 
denten und  Richter,  sowie  Reduktion  ihrer  Amtsdauer. 
Wahl  der  obern  Gerichtsbeamten  (Gerichtsschreiber  u.  dgl.) 
durch  den  Grossen  Rath,  b)  Oeffentlichkeit  der  Gerichts- 
berathungen. c)  Unentgeltlichkeit  der  Rechtspflege.  11.De- 
mokratisirung  der  Staatsverwaltung.  Erleichterung  der 
Stimmabgabe,  a)  Wahl  der  wichtigeren  Behörden  und  Be- 
amten (statt  durch  die  Regierung)  durch  das  Volk  oder  den 
Grossen  Rath,  b)  Vermehrung  der  Wahl-  resp.  Abstim- 
mungslokale. 12.  Reform  des  Steuerwesens,  zum  Zwecke 
der  Vermehrung  der  Staatseinnahmen  für  Hebung  der 
Yolkswohlfahrt,  ohne  Mehrbelastung  der  unbemittelten 
Klassen,  a)  Erhöhung  der  Erbschaftssteuer  und  der  Steuer 
für  anonyme  Erwerbsgesellschaften  (Aktiengesellschaften 
u.  s.  w.).  b)  Gesetzliche  Regelung  der  Beitragspflicht  der 
Grundbesitzer  an  den  durch  städtische  Opfer  hervorge- 
brachten Mehrwerth  von  Grund  und  Boden,  c)  Amtliche 
Inventarisation  in  allen  Todesfällen. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Der  Dockarbeiterausstand  in  Hüll.  Vor  wenigen  Tagen 
hatte  es  den  Anschein,  als  stünden  wir  vor  einer  gütlichen 
Beilegung  des  Dockarbeiterausstandes  in  Hüll.  In  einer 
am  17.  April  im  Hause  der  Gemeinen  stattgefundenen  Be- 
rathung  zwischen  dem  Präsidenten  des  Handelsamts,  Mundella, 
und  mehreren  an  dem  Hüller  Ausstande  interessirten  Unter- 
hausmitgliedern wurde  ein  Abkommen  entworfen,  von  dem 
man  meinte,  dass  es  als  Grundlage  für  die  Schlichtung  des 
Streites  dienen  würde.  Danach  sollte  die  Arbeitsbörse  des 
Rhederverbandes  durch  ein  unter  Aufsicht  des  Handelsamts 
zu  stellendes  Arbeitsbureau  ersetzt  werden.  Mit  Rücksicht 
auf  diesen  Vorschlag  wurde  in  der  am  Abend  des  17.  April 
in  London  abgehaltenen  Versammlung  der  Abgeordneten 
der  Arbeiterverbände  beschlossen,  den  geplanten  Massen- 
ausstandderDockarbeiter  in  London  und  anderen  Hafenstädten 
nicht  eintreten  zu  lassen.  Seitdem  stellte  aber  die  in  York 
tagende  Versammlung  des  Rhederei-Verbandes  in  ihrer  Ant- 
wort auf  die  von  dem  Präsidenten  des  Handelsamtes,  Mun- 
della, angeregten  Punkte  zur  Beilegung  des  Strikes  in  Hüll 
folgende  Forderungen  auf:  Die  Gewerkvereinler  willigen  ein, 
mit  Nicht-Unionisten  zusammen  zu  arbeiten;  die  Werkführer 
und  Kommis  dürfen  aus  dem  Dockarbeiter-Verein  austreten 
und  einen  eigenen  Verband  bilden;  die  Arbeiterbörse  bleibt 
offen,  bei  welcher  Rheder  die  Arbeiter,  gleichviel  ob  diese 
dem  Gewerkverein  angehören  oder  nicht,  nach  eigenem 
Gutdünken  auswählen  dürfen.  Die  Rheder  halten  also  alle 
ihre  früheren  Forderungen  aufrecht  und  das  Schicksal  des 
Strikes  in  Hüll  ist  darum  immer  noch  ungewiss,  doch  ist 
der  Ausbruch  eines  Strikes  in  London  und  anderen  Häfen 
unwahrscheinlich. 


Handwerkerfragen. 

Regelung  der  Sonntagsarbeit  im  Berliner  Friseur- 
gewerbe. Wie  wenig  bald  seitens  der  betheiligten  Kreise 
das  Inkrafttreten  der  Bestimmungen  über  die  Sonntagsruhe 
in  Handwerk  und  Industrie  erwartet  wird,  geht  wohl  aus 
dem  Umstande  hervor,  dass  die  Berliner  Barbier-,  Friseur- 
und  Perrückenmacher-Innung  in  ihrer  eben  stattgefundenen 
Quartalsversammlung  folgenden  Beschluss  gefasst  hat ; „Die 
Innungsversammlung  spricht  den  Wunsch  und  die  Erwartung 
aus,  dass  ihre  Mitglieder  an  Sonn-  und  Feiertagen  ihre 
Geschäfte  um  6 Uhr  schliessen.  Sie  spricht  zugleich  ferner 
die  Erwartung  aus,  dass  diejenigen  Fachgenossen,  welche 
unserer  Innung  nicht  angehören,  sich  diesem  Beschlüsse 
anschliessen.  An  das  geehrte  Publikum  richtet  sie  die 
Bitte,  ihre  in  das  Fach  schlagende  Bedürfnisse  bis  zu  dem 
angegebenen  Zeitpunkt  zu  befriedigen,  dagegen  diejenigen 
Geschäfte,  die  solchen  humanen  Bestrebungen  entgegen- 
treten, hierin  nicht  zu  unterstützen.“ 

Neuregelung  des  Lehrlingswesens.  Wie  verlautet,  ist 
man  im  Reichsamte  des  Innern  und  im  preussischen  Handels- 
ministerium schon  seit  einigen  Monaten  mit  einer  Neu- 
regelung des  Lehrlingswesens  beschäftigt.  Es  handelt  sich 
insbesondere  um  die  Fragen,  wer  berechtigt  sein  soll,  Lehr- 
linge zu  halten,  auf  welchen  Zeitraum  die  Lehrzeit  zu  be- 
messen ist,  ob  die  Befugniss  zur  Haltung  von  Lehrlingen 
entzogen  werden  kann,  wie  die  Stellung  der  Meister  zu  den 
Lehrlingen  zu  gestalten  ist  und  ob,  um  die  sogenannte 
Lehrlingszüchterei  zu  verhindern,  eine  Verhältnissziffer 
zwischen  Gesellen  und  Lehrlingen  festgestellt  werden  soll. 
Nach  § iooe  der  Gewerbeordnung  kann  den  einer  Innung 
nicht  angehörigen  Arbeitgebern  unter  anderem  das  Halten 
von  Lehrlingen  untersagt  werden  und  nach  § ioof  können 
solche  Arbeitgeber  und  deren  Gesellen  zu  gewissen  Kosten 
der  Innungen  herangezogen  werden.  Ueber  die  Aus- 
führung dieser  Vorschriften  sind  eingehende  Ermittelungen 
angestellt  worden,  insbesondere  darüber,  in  wie  vielen  Fällen 
Anträge  auf  Anwendung  des  § 100 e und  f der  Gewerbe- 
ordnung gestellt,  genehmigt  und  zurückgewiesen  werden 
und  wieviel  Lehrlinge  die  neu  errichteten  und  reorgani- 
sirten  Innungen  beschäftigt  haben.  Es  dürfte  in  der  Absicht 


362 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  30. 


liegen,  die  bisher  den  Innungen  zustehenden  Befugnisse 
aus  dem  § ioo  der  Gewerbeordnung,  soweit  sie  sich  über 
den  Kreis  der  Innungsmitglieder  erstrecken,  aufzuheben  und 
das  Halten  von  Lehrlingen  davon  abhängig  zu  machen,  dass 
der  Meister  ein  bestimmtes  Alter  erreicht  und  entweder  eine 
gewisse  Lehrzeit  in  dem  betreffenden  Gewerbe  zurückgelegt, 
oder  das  letztere  eine  gewisse  Zeit  betrieben  hat. 


Arbeiterversicherung. 

Die  Krankenversicherung  der  deutschen  Arbeiter  im 
Jahre  1891.  Die  Vierteljahrshefte  der  Statistik  des  Deutschen 
Reiches  publiziren  soeben  eine  vorläufige  Mittheilung  über 
die  Krankenversicherung  der  Arbeiter  im  Jahre  1891.  Nach 
derselben  waren  im  Deutschen  Reiche  in  Thätigkeit 
21  498  Krankenkassen  mit, 6 879  921  Mitgliedern,  u.  zw. 8 145  Ge- 
meindekrankenversicherungskassen mit  1 166  893  Mitgliedern 
(hiervon  4067  Kassen  mit  344  990  Mitgliedern  in  Bayern), 
4219  Ortskrankenkassen  mit  2900004  Mitgliedern  (hiervon 
2928  Kassen  mit  1871466  Mitgliedern  in  Preussen  und 
534  Kassen  mit  421  554  Mitgliedern  im  Königreich  Sachsen), 
6244  Betriebskrankenkassen  mit  1730303  Mitgliedern  (hier- 
von 3478  Kassen  mit  979620  Mitgliedern  in  Preussen  und 
81 1 mit  200  856  Mitgliedern  im  Königreich  Sachsen),  132  Bau- 
krankenkassen mit  27  293  Mitgliedern,  467  Innungskranken- 
kassen mit  78064  (hiervon  52253  in  Preussen  und  11  788 
im  Königreich  Sachsen)  Mitgliedern,  1841  eingeschriebene 
Hilfskassen  mit  838481  Mitgliedern  (hiervon  in  Hamburg 
41  Kassen  mit  205  849  Mitgliedern  und  endlich  450  landes- 
rechtliche Kassen  mit  138883  Mitgliedern.  Auf  eine  Kasse 
kamen  durchschnittlich  329,2  Mitglieder,  dagegen  in  Berlin 
2465.3,  im  Staate  Hamburg  1720,7,  am  wenigsten  Mitglieder 
kamen  auf  eine  Kasse  in  Mecklenburg-Schwerin  (132.5)  und 
im  rechtsrheinischen  Bayern  (137,1). 

Die  Zahl  der  Krankenkassen  stieg  von  19  357  im  Jahre 
1886  auf  21  498  im  Jahre  1891.  Während  dieses  Zeitraums 
wuchsen  die  Gemeindekranken-Versicherungsanstalten  von 
7170  auf  8145,  die  Ortskrankenkassen  von  3747  auf  4219, 
die  Betriebs-  (Fabrik-)  Krankenkasse  von  5658  auf  6244,  die 
Baukrankenkassen  von  127  auf  132,  die  Innungskranken- 
kassen von  289  auf  467,  es  ging  dagegen  zurück  die  Zahl 
der  eingeschriebenen  Krankenkassen  von  1876  auf  1841,  die 
der  landesrechtlichen  Hilfskassen  von  490  auf  450.  Die 
Zahl  der  Mitglieder  entwickelte  sich  während  dieses  sechs- 
jährigen Zeitraums  wie  folgt:  bei  den  Krankenkassen  über- 
haupt von  4 208  205  auf  6 329  828,  bei  der  Gemeindekranken- 
versicherung von  580451  auf  1 041  193,  bei  den  Ortskranken- 
kassen von  1 532  134  auf  2 563  132,  bei  den  Betriebskranken- 
kassen von  1 268  840  auf  1 693  517,  bei  den  Baukrankenkassen 
von  13  131  auf  10664  (dagegen  1889:  27657,  1890:  21423), 
bei  allen  Innungskrankenkassen  von  27  104  auf  61  875,  bei 
eingeschriebenen  Hilfskassen  von  741035  auf  819403,  bei 
den  landesrechtlichen  Kassen  von  145  510  auf  14036. 

Die  Zahl  der  Erkrankungsfälle  stieg  von  1 712654  auf 
2 397  826,  die  der  Krankheitstage  von  26  281  437  auf  4 079  862, 
die  der  Einnahmen  von  72966393  auf  120031986  M.,  dar- 
unter die  Beiträge  der  Arbeiter  und  Unternehmer  und  die 
Eintrittsgelder  von  62128540  M.  auf  96757627  M.,  und 
endlich  die  Ausgaben  ausschliesslich  der  Kapitalsanlagen 
von  58  745  488  M.  auf  98  825  659  M. 

Von  den  im  Jahre  1891  verausgabten  Krankheitkosten 
im  Betrage  von  89548781  M.  entfielen  17859712  M.  auf 
ärztliches  Honorar,  14894070  M.  auf  Arzenei  und  sonstige 
Heilmittel,  41858446  M.  auf  Krankengeld,  14  936  553  M.  auf 
Anstaltsverpflegung  und  Sterbegeld. 

Im  Durchschnitt  des  Jahres  1891  entfielen  auf  1 Mit- 
glied 0,3  (1890:  0,4)  Erkrankungsfälle,  6,0  (1890:  5,9)  Krank- 
heitstage und  13,02  (1890:  12,77)  M.  Krankheitskosten. 

Zahl  der  Altersrentner  in  Schlesien  im  Verhältniss 
zur  Bevölkerung.  Die  von  der  Invaliditäts-  und  Alters- 
Versicherungsanstalt  für  Schlesien  im  Jahre  1891  bewilligten 
Altersrenten  sind  daraufhin  geprüft  worden,  wie  sich  ihre 
Zahl  zu  der  Seelenzahl  der  65  Kreise  der  Provinz  verhält. 
Hierbei  haben  sich  Verhältnisszahlen  ergeben,  deren  Extreme 
ausserdordentlich  weit  auseinander  liegen.  Während  näm- 


lich auf  je  10000  Einwohner  im  Stadtkreise  Beuthen  O.-S. 
nur  5,83  Altersrentner  entfallen,  kommen  im  Kreise  Nams- 
lau  auf  je  10000  Einwohner  deren  95,06.  Nächst  dem 
Kreise  Namslau  hat  der  Kreis  Liegnitz  Land  relativ  die 
meisten  Altersrentner  nämlich  79,39  auf  10000  Einwohner. 
Am  anderen  Ende  der  Reihenfolge  stehen:  Beuthen  Land 
mit  9,38,  Breslau  Stadt  mit  8,98,  Zabrze  mit  7,73,  endlich 
Kattowitz  mit  7,28.  Von  den  Regierungsbezirken  der  Pro- 
vinz weist  der  industriearme  Liegnitzer  die  verhältniss- 
mässig  grösste  Zahl  von  Altersrentnern  auf,  nämlich  43,05 
auf  je  10000  Einwohner,  und  der  industriereiche  Oppelner 
die  verhältnissmässig  kleinste  Zahl,  nämlich  20,69;  der 
Breslauer  Bezirk  seht  mit  36,02  in  der  Mitte  und  nähert 
sich  mit  dieser  Zahl  der  Gesammtdurchschnittziffer  für  die 
ganze  Provinz,  32,04,  am  meisten.  Im  Liegnitzer  Regie- 
rungsbezirke haben  nur  vier  Kreise  weniger  als  30  Alters- 
rentner auf  je  10000  Einwohner;  es  sind  dies'  die  Kreise 
Liegnitz  Stadt,  Hoyerswerda,  Landeshut  und  Görlitz  Stadt, 
also  die  beiden  Stadtkreise  des  Bezirks  und  zwei  an  den 
Grenzen  des  Bezirks  liegende  Kreise,  von  denen  der  eine, 
Landeshut,  eine  nicht  unbedeutende  Industrie  besitzt.  Im 
Oppelner  Regierungsbezirke  kommen  mehr  als  30  Alters- 
rentner auf  je  10000  Seelen  nur  in  den  Kreisen  Kreuzburg, 
Neisse,  Falkenberg  und  Grottkau,  also  in  Kreisen  vor,  die 
nicht  zu  dem  Industriegebiete  Oberschlesiens  gehören.  Von 
den  vier  Stadtkreisen  der  Provinz,  nämlich  Liegnitz,  Gör- 
litz, Breslau  und  Beuthen,  erreicht  keiner  die  Verhältniss- 
zahl  30. 


Gewerbegerichte. 

Zur  Statistik  des  Gewerbegerichts  in  Hanau  a.  M. 

Im  Etatsjahr  1892/93  wurden  eingereicht,  bezw.  zu  Protokoll 
genommen  zusammen  64  Klagsachen,  worunter  55  gegen 
Arbeitgeber,  9 gegen  Arbeiter.  Durch  Sühnetermin  wurden 
hiervon  53  Fälle  erledigt,  und  zwar:  durch  Zurücknahme 
der  Klage  17  Fälle,  durch  Anerkennung  des  Klageanspruchs 
8 Fälle,  durch  Vergleich  27  Fälle  und  durch  Versäumniss- 
urtheil  1 Fall.  Es  fanden  im  Etatsjahr  1892/93  7 Sitzungen 
des  Gewerbegerichts  statt  und  kamen  in  denselben  11  Fälle 
zur  Verhandlung.  In  5 Fällen  wurde  eine  Einigung  erzielt, 
während  5 durch  Urtheil  und  1 Fall  durch  Zurücknahme 
der  Klage  im  Verhandlungstermin  zum  Abschluss  kamen. 
Von  den  Klagsachen  entfallen  bezüglich  des  Gewerbe-  > 
betriebs  auf:  Ausläufer  1 Fall,  Bäcker  4,  Barbier  1,  Bau- 
unternehmer 3,  Bijoutier  2,  Bierbrauer  4,  Brenner  1,  Cise- 
leur  1,  Dachdecker  2,  Dreher  1,  Fabrikarbeiter  4,  Fahr-  i 
bursch  x,  Kanalbauarbeiter  1,  Kellner  1,  Kettenfabrik  2, 
Kunstgärtner  2,  Küfer  6,  Lithograph  1,  Maler  3,  Maurer  1, 
Mechaniker  1,  Metzger  1,  Poliseuse  1,  Schlosser  3, 
Schneider  1,  Schreiner  6,  Schuhmacher  3,  Spengler  2, 
Steinmetz  1,  Weissbinder  1,  Wickelmacher  1 und  Zu- 
schneider 1 Fall,  zusammen  64  Fälle.  Im  Etatsjahr  1891/92 
betrug  die  Anzahl  der  beim  Gewerbegericht  anhängig  ge- 
machten Klagen  104,  also  40  mehr  als  im  abgelaufenen 
Etatsjahr.  Der  auf  dem  letzten  Geschäftsjahr  lastende 
wirthschaftliche  Druck  hat  sich  hier  also  auch  gewisser- 
massen  beim  Gewerbegericht  bemerkbar  gemacht,  da  durch 
die  obwaltenden  Verhältnisse  mancherlei  Reibungspunkten 
der  Boden  entzogen  war  und  Streitfälle  möglichst  zu  ver- 
meiden gesucht  wurden. 


Wohlfahrtseinrichtungen. 


Konferenz  der  Centralstelle  für  Arbeiter-Wohlfahrts- 
einrichtungen. Die  zweite  Konferenz  der  Centralstelle  für 
Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen  findet  am  21.  und  22.  d.  M. 
in  Berlin  im  Architektenhause  (Wilhelmstrasse  Nr.  92/93) 
statt.  Die  Verhandlungen  umfassen  folgende  Themata: 
„Hülfs-  und  Unterstützungskassen  für  Arbeiterfamilien“  und 
„Fürsorge  für  Kinder  und  Jugendliche“. 


No.  30. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


363 


Schulwesen. 


Zum  Volksschulwesen  in  Preussen.  Die  aus  West- 
preussen  kommenden  Klagen  über  einen  Ueberiluss  an 
Volksschullehrern  finden  in  folgenden  Zahlen,  die  wir  der 
Vossischen  Zeitung  vom  20.  d.  M.  entnehmen,  eine  sehr 
charakteristische  Beleuchtung,  ln  der  Provinz  sassen  bei 
der  letzten  statistischen  Erhebung  67295  Kinder  in  über- 
füllten Schulklassen  bis  zu  150  Kindern  in  einer  Klasse. 
Sollten  diese  Klassen  auf  ein  erträgliches  Maass  gebracht 
werden,  so  wären  dazu  nicht  weniger  als  ca.  450  Lehrer 
erforderlich.  Ausserdem  hatte  die  Provinz  für  4023  Schul- 
klassen nur  3400  Lehrer,  so  dass  623  Klassen  mitverwaltet 
werden  mussten.  Das  ergiebt  einen  Mangel  an  Lehrkräften 
(über  1000  Lehrer  fehlen !),  der  geradezu  unerhört  erscheint. 
Dass  dem  gegenüber  auch  nur  ein  einziger  Schulamts- 
kandidat unbeschäftigt  bleiben  kann,  ist  nur  möglich  durch 
das  für  die  Schule  verhängnissvolle  Gesetz  vom  26.  Mai 
1887.  Die  Regierung  ist  unter  diesem  Gesetze  auch  dann 
nicht  in  der  Lage,  neue  Lehrerstellen  zu  errichten,  wenn 
sie  vorläufig  die  Kosten  ganz  übernimmt.  Die  Kreisaus- 
schüsse verweigern  ihre  Zustimmung,  damit  sie  bei  einer 
späteren  Zurückziehung  der  Staatsbeiträge  nicht  etwa  in 
die  Lage  kommen,  neue  Gemeindeleistungen  gutheissen  zu 
müssen.  Wenn  noch  irgendwo  Zweifel  an  der  Verderb- 
lichkeit des  Schulleistungsgesetzes  bestehen  sollten,  so 
werden  sie  durch  vorstehend  gekennzeichnete  Verhältnisse 
beseitigt  sein.  Im  Landkreise  Thorn  werden  9720  Kinder 
von  100  Lehrern,  in  Schwetz  12321  Kinder  von  164  Lehrern, 
in  Könitz  8681  Kinder  von  103  Lehrern  unterrichtet,  so 
dass  in  drei  Landkreisen  ca.  200  Lehrer  angestellt  werden 
müssten,  wenn  man  die  am  stärksten  besetzten  Klassen  auf 
70  — 80  Kinder  bringen  wollte.  Hoffentlich  wird  die  Unter- 
richtsverwaltung bei  der  bevorstehenden  zweiten  Berathung 
der  Schulvorlage  den  Gegnern  der  Regierungsforderung 
mit  ähnlichen  Zahlen  auch  aus  anderen  Provinzen  auf- 
warten, da  Westpreussen  keineswegs  die  ungünstigsten 
Verhältnisse  aufweist,  und  so  den  Widerstand  gegen  die 
Vorlage  aus  den  schulfeindlichen  Parteien  unmöglich  zu 
machen. 

Zulassung  der  Frauen  zu  pharmazeutischen  Studien. 

Seit  Anfang  dieses  Jahres  sind  die  österreichischen  Apo- 
thekerkreise lebhaft  durch  die  Frage  der  Zulassung  der 
Frauen  zum  pharmazeutischen  Studium  bewegt.  Im  öster- 
reichischen Abgeordnetenhause  hatte  Graf  Kaunitz  dem 
Ministerium  eine  dahingehende  Anregung  gegeben,  veran- 
lasst durch  die  Erfolge  des  Mädchengymnasiums  in  Prag, 
dessen  oberste  Klasse  soeben  von  einer  grösseren  Anzahl 
solcher  Schülerinnen  verlassen  wird,  die  den  entschiedenen 
Wunsch  nach  einer  pharmazeutischen  Laufbahn  hegen.  Vor- 
läufig hat  sich  das  Ministerium  noch  nicht  geäussert,  doch 
haben  sich  die  Fachvereine  der  Apotheker  der  Frage  in 
vielfachen  Diskussionen  bemächtigt,  deren  Ergebniss,  wie 
zu  erwarten,  ein  ablehnendes  ist.  Doch  können  auch  diese 
Resolutionen  nicht  umhin,  die  entschiedenen  Qualifikationen 
des  weiblichen  Geschlechtes  gerade  für  den  Apothekerberuf 
und  die  mannichfachen  Vortheile  seiner  Zulassung  zu  diesem 
anzuerkennen:  vor  allem  würden  die  Frauen,  bei  ihren  ge- 
ringeren Ansprüchen,  sich  um  Apothekerkonzessionen  auch 
auf  den  verlorensten  Posten  bewerben,  und  so  die  vom 
Volke  vermisste  Errichtung  von  Apotheken  auch  in 
dünn  bevölkerten  Gegenden  ermöglichen.  Ueberhaupt 
habe  Oesterreich  einen  grossen  Mangel  an  absolvirten 
Pharmazeuten,  so  dass  mit  dem  Zuströmen  der  Frauen  that- 
sächlich  vorhandene  Lücken  ausgefüllt  würden.  Dem  gegen- 
über heben  die  Resolutionen  aber  weiter  hervor,  dass  durch 
die  Zulassung  der  Frauen  das  gesellschaftliche  Ansehen  des 
Apothekerstandes  geschädigt  werden  würde;  und  nament- 
lich bedrohe  die  auf  der  Tagesordnung  stehende  Verstaat- 
lichung des  Medizinalwesens  dieses  mit  so  grossen  Um- 
wälzungen, dass  man  es  nicht  noch  mehr  mit  einem  funda- 
mental neuer  Elemente  belasten  dürfe.  - — Diese  Gründe 
klingen  wie  blosse  Ausflüchte  der  Konkurrenzfurcht;  man 


scheint  indess  anzunehmen,  dass  die  Regierung  sich  die- 
selben zu  eigen  machen  und  so  eine  der  unfraglichsten, 
über  kurz  oder  lang  doch  unabweisbaren  Forderungen  der 
Frauenbewegung  wieder  eine  Zeitlang  hintanhalten  würde. 

Die  Wiener  Volksbibliotheken.  In  Wien  bestanden 
im  Jahre  1891  nach  Mittheilungen  E.  Reyer's  im  Central- 
blatt für  Bibliothekswesen  (X.  Jahrgang  S.  187  ff.)  i2Volks- 
bibliotheken,  welche  42  000  Bände  besassen  und  25ooooBände 
abgaben,  so  dass  5—10,  in  einem  Falle  sogar  12  Benutzungen 
auf  den  Band  entfielen.  Das  Budget  sämmtlicher  Biblio- 
theken beträgt  blos  16000  M.,  so  dass  auf  eine  Benutzung 
4 — 8 Pf.,  falls  die  Bibliothek  das  Lokal  unentgeltlich  erhält, 
dagegen  7 — 12  Pf.  kommen,  falls  das  Lokal  gemiethet  werden 
muss.  Diese  grossen  Leistungen  sind  nur  dadurch  möglich, 
weil  den  Bibliotheken  eine  grosse  Zahl  unentgeltlicher  und 
fast  unentgeltlicher  Hilfskräfte  zur  Verfügung  stehen,  und 
weil  sie  sich  zahlreicher  Leistungen  Privater  erfreut.  Leider 
leistet  die  Wiener  Kommune  fast  gar  nichts  für  die  Volks- 
bibliotheken. 


Criminalität. 

Strafhausarbeit  in  Preussen.  Nach  den  soeben  er- 
schienenen amtlichen  Ausweisen  für  1891/92  hatte  die  ge- 
werbliche Beschäftigung  der  Gefangenen  in  den  50  Straf-  und 
Gefangenenanstalten,  welche  dem  preussischen  Ministerium 
des  Inneren  unterstehen,  folgenden  Umfang.  Die  Zahl  der 
im  täglichen  Durchschnitt  detinirten  Gefangenen  mit  Arbeits- 
zwang (Zuchthaus-,  Gefängnissgefangenen  und  Gefangene  in 
geschärfter  Haft)  betrug  24  480,63,  wovon  6 42  pCt.  wegen 
Krankheit,  Arbeitsunfähigkeit,  Mangel  an  Arbeit,  wegen 
Theilnahme  am  Schul-  und  Religionsunterricht,  sowie  wegen 
Disziplinarbestrafung  unbeschäftigt  blieben.  Die  Beschäfti- 
gung fand  statt  a)  für  den  eigenen  Bedarf  der  Anstalt  mit 
523584  Köpfen  und  1619423  Arbeitstagen,  b)  für  eigene 
Rechnung  der  Anstalten  zum  Verkaufe  437,17  Köpfe  und 
144474  Arbeitstagen,  für  Dritte  gegen  Lohn  mit  17  109,09 
Köpfen  und  5 196,099  Arbeitstagen.  Die  Arbeiten  für 
den  eigenen  Bedarf  der  Anstalten  nahmen  in  Anspruch 
die  Verwaltung  und  Haushaltung,  sowie  die  eigene  Land- 
wirtschaft. Von  den  Gefangenen,  welche  für  eigene 
Rechnung  der  Anstalten  zum  Verkauf  beschäftigt  wurden, 
sind  Industrie-  und  andere  Arbeiten  betrieben  worden, 
welche  vorzugsweise  für  andere  Strafanstalten  im  Ressort 
des  Ministeriums  des  Inneren,  für  weitere  Zweige  der 
Staatsverwaltung , sowie  für  Reichsbehörden  verlangt 
wurden.  Seit  dem  Etatsjahre  1881/82  werden  sämmtliche 
Webestoffe  zu  den  Bekleidungs-  und  Lagerungsgegen- 
ständen, welche  für  die  Anstalten  nöthig  sind,  in  den 
Strafanstalten  zu  Wartenburg,  Insterburg,  Sonnenburg, 
Naugard,  Halle,  Celle,  Rendsburg  und  Brandenburg  durch 
Gefangene  angefertigt.  Die  Bestrebungen  der  Verwaltung 
sind  fortgesetzt  darauf  gerichtet,  die  für  die  Anstalten  er- 
forderlichen Arbeiten  thunlichst  durch  Gefangene  herstellen 
zu  lassen.  Für  Dritte  gegen  Lohn  waren  täglich  im 
Durchschnitt  beschäftigt  17  109,09  Gefangene  und  zwar  mit 
Industriearbeiten  16698,94  und  mit  landwirtschaftlichen  und 
sonstigen  gewöhnlichen  Tagelöhnerarbeiten  410,15  Personen. 
Von  den  für  Dritte  gegen  Lohn  beschäftigten  Gefangenen 
haben  durchschnittlich  täglich  580,78  Arbeiten  gemacht,  die 
von  Staats-  oder  Reichsbehörden  direkt  bestellt  sind.  Gegen 
das  Vorjahr  bedeutet  dies  eine  erhebliche  Zunahme.  In  der 
Zukunft  ist  eine  weitere  Steigerung  zu  erwarten,  da  nach 
den  mit  der  Heeres-  und  mit  der  Staatseisenbahnverwaltung 
getroffenen  Vereinbarungen  von  denselben  den  Straf-  und 
Gefangenenanstalten  fortan  grössere  Arbeitsaufträge  werden 
ertheilt  werden.  Der  Netto-Arbeitsverdienst  aller  Gefangenen 
mit  Arbeitszwang  betrug  2 827  286.75  M.  Es  entfällt  somit 
ein  Lohnreinertrag  pro  Kopf  und  Detentionstag  von  31,9  Pf., 
pro  Kopf  und  Arbeitstag  41,1  Pf.  (gegen  30,9  und  40,3  Pf. 
von  1890/91). 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  ür.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


364 


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ÜOH 

frnnt  nun  fettbadj 


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jmei  Briefen  in  gakfimile. 

8°,  XII  unb  188  ©eiten. 

©eljeftet  $rei§  99t.  3,  gebunben  jßrei§  99t.  4. 
3n  Beziehen  burdj 

Pnul  §djtlltrs  §urfjl)nnblung  ((§.  |n|itninai|ft) 

^erlitt  W.,  99?arfgrafenftr.  39/40. 


3Huliu£  Ritten  felb,  Berlin  W. 


Bericht 

über  bte 

@rmeiniieomunltung  irer  gtabt  |etlin 

in  ben  $nljmt  1861—76. 

I.  Sfjeil  4 99? t.  II.  Sljeil  6 99?f.  III.  Sfjeil  5 99?t. 
gebunben  in  Seimuanb. 

Bericht 

über  bte 

©emeinbeDermnltuug  bet  §tnbt  gerltn 

in  b?n  galjrcn  1877—81. 

I.  bi§  III.  2fjeil  je  5 99?f. 
gebunben  in  Seintoanb. 

Bericht 

über  bte 

^emeinbeumunltung  trer  Jitnlit  Berlin 

in  ben  |a|j«n  1882 — 88. 

I./II.  Sljeil  je  5 99?f.,  III.  S^eil  4 99?f. 
gebunben  in  Seinroanb. 


Schriften  ber  CentraljMe  für 
21rbeiter=U)olflfabrtseinnd?tungen. 

9hr.  1. 

|tt  UerltelTiiintg  Der  Poljiutngfii. 

9J?it  208  Slbbilbungett  im  Steji. 

8°.  VI  mtb  370  ©eiten. 
ißreiS  geheftet  99?f.  8. — , poftfrei  9J?f.  8.30. 
„ gebunben  99?t.  9.—,  poftfrei  2J?f.  9.30. 

fftr.  2. 

Die  pedraiäßfg?  Dermenbuug 

ber 

Sonntags-  ttitit  feierjeit. 

8°.  IV  unb  94  ©eiten, 
ißreis  geheftet  99?f.  2.—,  poftfrei  99?f.  2.10. 

Carl  ijrtjmattti?  Hering  in  öerlitt  W., 

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Carl  Heymanns  Verlag  in  Berlin  W.,  Mauerstrasse  44.  — Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld  in  Berlin  W 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  i.  Mai  1893. 


Nummer  31. 


SOZIALPOLITISCHES 


C ENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 

o 


Erscheint  jeden  Montag. 

Zu  beziehen 

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Einzelnummer  20  Pf. 

Anzeigenpreis  für  die  dreigespaltene  Colonelzeile 
40  Pfennig 


INHALT. 


Der  Kampf  gegen  die  Prosti- 
tution in  der  lex  Heinz e. 
Von  Dr.  Bruno  Schoenlank. 
Soziale  Wirthschaftspolitik  und 
Wirthschaftsstatistik : 
Reichsstatistik  und  Landesstatistik. 
Von  Unterstaatssekretär  z.  D. 
Dr.  Georg  von  Mayr. 

Der  Gesetzentwurf  betreffend  die 
Abzahlungsgeschäfte. 

Der  Berliner  Zentralverein  für  Ar- 
beitsnachweis. 

Finanzfragen : 

Die  Unzulässigkeit  der  Kurtaxen. 
Arbeiterzustände : 

Ein  Arbeitsamt  in  Oesterreich. 
Löhne  in  Oberbayern  von  1884 
bis  1892. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Die  Revision  der  Verfassung  in 


Belgien  und  die  Arbeiteragita- 
tionen. Von  Dr.  E.  Vinck. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Zum  Arbeiterschutz  im  englischen  ! 
Eisenbahnbetrieb. 

Arbeiterversicherung : 

Zur  Statistik  der  deutschen  Alters- 
und Invaliditätsversicherung. 

Zur  Arbeiterversicherung  in 
Schweden. 

Kriminalität: 

Herkunft  der  Insassen  von  Ge- 
fängnissen und  Armenhäusern  in 
den  Vereinigten  Staaten  von 
Amerika. 

Wohlfahrtseinrichtungen : 

Konferenz  der  Zentralstelle  für 
Arbeiter  - Wohlfahrtseinrichtun- 
gen. 

Eingesendete  Schriften. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Der  Kampf  gegen  die  Prostitution 
in  der  lex  Heinze. 

Mag  auch  die  Frage,  ob  unsere  Zeit  den  Beruf  für  Ge- 
setzgebung habe,  unentschieden  bleiben,  so  kann  über  den 
Beruf  unserer  Zeit  für  die  Gelegenheitsgesetzgebung 
kein  Zweifel  walten.  Die  Kunst,  den  Symptomen  nachzu- 
spüren und  an  den  Quellen,  woraus  diese  Symptome  ent- 
springen,  vorbeizugehen,  hat  sich  meisterlich  entwickelt. 

Ein  Muster  für  legislative  Thätigkeit  dieser  Art  ist  der 
Gesetzentwurf,  der  unter  dem  Passwort:  lex  Heinze  geht. 
Schon  das  Präambulum  der  Begründung !)  erscheint  typisch : 
„Der  kürzlich  vor  einem  Berliner  Schwurgericht  ver- 
handelte Mordprozess  gegen  die  Ileinze'schen  Eheleute  hat 
verbreitete  Missstände  hervortieten  lassen,  welchen  trotz 
allen  Anstrengungen  der  betheiligten  Behörden  auf  Grund 
der  bisherigen  Gesetze  nicht  hinlänglich  gesteuert  werden 
kann,  und  welche  daher  eine  Abänderung  und  Ergänzung 
der  letzteren  erforderlich  erscheinen  lassen.“ 

Die  „verbreiteten  Missstände“  „treten  hervor“  im  Mord- 
prozess Heinze.  Die  bestehenden  Gesetze  reichen  nicht 
aus.  Man  gebe  den  „betheiligten  Behörden  grössere  Voll- 
machten! Der  Entwurf  soll  „in  erster  Linie  eine  Einschrän- 
kung und  erfolgreichere  Beaufsichtigung  der  Prostitution, 

x)  Entwurf  eines  Gesetzes  über  Abänderung  von  Bestimmun- 
gen des  Strafgesetzes,  des  Gerichtsverfassungsgesetzes  und  des 
Gesetzes  vom  5.  April  1888,  betr.  die  unter  Ausschluss  der  Oeffent- 
lichkeit  stattfindenden  Gerichtsverhandlungen,  S.  5. 


sowie  ein  wirksames  Einschreiten  gegen  Kuppler  und  Zu- 
hälter ermöglichen.“  Um  diesen  Erfolg  zu  sichern,  werden 
strengere  Strafen,  ein  verschärfter  Strafvollzug,  eine  weitere 
Einschränkung  der  Oeffentlichkeit  des  Gerichtsverfahrens 
und  eine  sittenpolizeiliche  Kontrole  für  Kunst  und  Litteratur 
verlangt.  Die  occasio  legis,  ein  blindes  Ohngefähr,  bietet 
den  willkommenen  Anlass,  im  bunten  Durcheinander  ver- 
schiedenartige Forderungen  zu  häufen,  wie  sie  grade  im 
Geist  der  herrschenden  Richtung  begründet  sind. 

Als  der  Geist  unserer  Gesetze  aber  enthüllt  sich  das 
polizeiliche  Reglement.  Mit  Verwaltungsmassregeln  werden 
„verbreitete  Missstände“  bekämpft,  und  das  soziale  Bedürf- 
niss  erscheint  befriedigt,  wenn  das  soziale  Uebel  polizeilich 
verboten  wird.  Diese  Politik  geht  von  der  Voraussetzung 
aus,  dass  gesellschaftliche  Massenerscheinungen  sich  durch 
Polizeigesetze  bestimmen  lassen.  Deshalb  werden  die  wirt- 
schaftlichen Bedingungen,  unter  denen  die  Phänomene  zu 
Tage  treten,  sorgsam  ignorirt. 

Nachdem  einmal  heutzutage  die  Gelegenheit  Gesetz- 
geber macht,  so  hätte  der  Kernpunkt  des  Falles  Heinze 
ihnen  nicht  entschlüpfen  dürfen.  Der  Entwurf  würde  sozial- 
politisch weit  eher  diskutabel  sein,  krystallisirte  er  sich  um 
die  so  schlichte  wie  bedeutsame  Aussage  jener  alten  Lohn- 
dirne, der  Frau  Heinze,  die  vor  Gericht  erklärte: 

„Ich  musste  zur  Dirne  werden,  weil  ich  mit  der 

angestrengtesten  Arbeit  nur  vier  bis  fünf  Mark  wö- 
chentlich verdienen  konnte.“ 

Anstatt  des  reichen  Maasses  sittlicher  Empörung  über 
die  Verworfenheit  des  Lumpenproletariats,  wie  sie  in  dem 
Entwürfe  zum  Ausdruck  kommt,  ein  Weniges  mehr  ökono- 
mischer Einsicht,  und  der  Feldzugsplan  gegen  die  Pro- 
stitution hätte  ein  anderes  Gesicht  bekommen.  Aber  das 
Wesentliche  bleibt  unbeachtet,  fruchtbringende  Keime  werden 
zerstört.  So  war  es  1892,  so  schon  1887.  Warum  hat  die 
Erhebung  über  die  Lage  der  in  der  Wäschefabrikation  und 
Konfektionsbranche  beschäftigten  Arbeiterinnen  keinen  An- 
stoss  zum  gesetzgeberischen  Eingriffe  gegeben?  Trat  da- 
mals nicht  mit  erschreckender  Deutlichkeit  zu  Tage,  dass 
die  Prostitution  das  komplementäre  Gewerbe  war,  wozu 
die  Noth  jene  Arbeiterinnen  zwingt?  Verhehlen  wir  uns 
nicht,  dass  nicht  die  Sozialpolitik,  sondern  die  Kriminal- 
polizei, nicht  das  chronische  Elend  der  Masse,  sondern  die 
„Sitte“  die  lex  Heinze  hervorgerufen  haben. 

Indess  schränkte  man  auch  seine  Ansprüche  ein,  be- 
gnügte man  sich  mit  einem  Noth-  und  Polizeigesetz,  so  er- 
löste uns  dies  Zugeständniss  nicht  von  der  Verworrenheit 
der  Bestimmungen,  an  welchen  der  Entwurf  leidet,  so  blieben 
die  Motive  trotzalledem  noch  so  dürftig,  dass  ein  Gesetz 
auf  sie  begründet  ein  beklagenswerther  Missgriff  wäre.  In 
der  That,  wäre  die  Prostitution  eine  quantite  negligeable, 
sie  hätte  nicht  oberflächlicher  abgefertigt  werden  können, 
als  dies  in  der  amtlichen  Begründung  geschieht.  Wer  aber 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  31 


etwa  darin  sorgsam  durchgearbeitetes,  gutgesichtetes,  um- 
fassendes Material  sucht,  wird  gründlich  enttäuscht.  An 
Binsenwahrheiten  und  unbewiesenen  Behauptungen  fehlt  es 
nicht,  eine  zahlenmässig  belegte,  durch  sachliche  Ermitte- 
lungen gestützte  Darlegung  der  Verhältnisse  fehlt.  Denn  man 
wird  doch  nicht  ernstlich  annehmen,  dass  die  kümmerlichen 
Mittheilungen,  die  der  VIII.  Reichstagskommission  übergeben 
worden  sind,  zur  Erkenntniss  der  Materie  irgend  etwas  Er-  j 
liebliches  beitrügen?  Die  deutsche  Kriminalstatistik,  deren 
Erhebungsmethode  unhaltbar  und  in  jedem  Betracht  anfecht- 
bar ist,  liefert  in  den  Anlagen  (Kommissionsbericht  S.  37  ff.) 
eine  Uebersicht  über  die  Rückfälligen,  deren  Lückenhaftig- 
keit zugegeben  wird,  und  eine  Zusammenstellung  polizei- 
licher Gutachten  über  den  Stand  der  Rohheitsvergehen. 
Sind  Staatsanwaltschaften  und  Polizeibehörden  in  der  Lage 
und  berufen,  ein  unbefangenes  und  sachkundiges  Urtheil 
über  diese  Dinge  abzugeben?  Die  Untauglichkeit  der  Polizei 
zum  sozialpolitischen  Hilfsdienst  ergiebt  sich  aus  jedem 
neuen  Bericht  der  deutschen  Gewerberäthe,  und  der  öffent- 
liche Ankläger  ersetzt  nicht  den  sozialen  Statistiker. 

Hat  die  Regierung  darauf  verzichtet,  eine  methodologisch 
brauchbaren  Entwurf  vorzulegen,  hat  sie  es  unterlassen,  ehe 
sie  an  die  Ausarbeitung  des  Gesetzes  ging,  sich  die  für 
seine  Motivirung  nöthigen  Materialien  zu  verschaffen,  so  hat 
sie  eben  auch  diesmal  einen  schon  vor  Jahren  geäusserten 
Wunsch  des  Reichstages  nicht  erfüllt.  Als  die  Brückner'sche 
Petition  betreffend  die  Wiedereinführung  der  Bordelle  vom 
Reichstage  abgelehnt  wurde,  ersuchte  man  den  Reichskanzler, 
statistisches  Material  zur  Prostitutionsfrage  zu  sammeln.  Jahre 
sind  in’s  Land  gegangen,  die  Eisen-,  Tabak-,  Baumwoll- 
Enqueten  wurden  veranstaltet,  von  einer  Prostitutions-Enquete 
blieb  es  still.  War  aber  jemals  eine  solche  Erhebung  noth- 
wendig.  so  jetzt,  da  die  Regierung  das  Strafgesetz  revidiren 
will.  Nichts  von  alledem,  die  lex  Heinze  beweist,  wie  an- 
spruchslos das  offizielle  Deutschland  ist,  sobald  es  sich  mit 
der  sozialen  Statistik  zu  beschäftigen  hat. 

Hätte  sich  die  Regierung  begnügt  mit  dem  Verzicht  auf 
eine  neue  Arbeit,  so  durfte  sie  ihre  sozialpolitische  Askese 
doch  nicht  so  weit  treiben,  das  bereits  vorhandene  wichtige 
Thatsachenmaterial  in  der  Begründung  unbenutzt  zu  lassen. 
Verlohnte  es  sich  nicht,  die  vortrefflichen  Studien  eines 
Huppe  und  Schwabe  zu  benützen,  da  doch  diese  Forscher 
gerade  das  Sondergebiet,  worauf  der  Fall  Heinze  sich  abge- 
spielt hat,  das  weltstädtische  Berlin,  behandelt  haben?  Die 
Berliner  Polizei  führt  genaue  Register  über  die  kontrollirte 
Prostitution,  über  Zuhälter  und  Kuppler.  Warum  gibt  die 
Begründung  keine  aus  dieser  Quelle  geschöpfte  Statistik 
z.  B.  über  Zahl,  Zivilstand,  Beruf.  Alter  der  unter  sitten- 
polizeilicher Aufsicht  stehenden  Dirnen?  Welchen  Eindruck 
gewinnt  der  Fachmann,  wenn  er  sieht,  mit  was  für  unzu- 
länglichen Nothbehelfen  die  Reichstagskommission  sich  ab- 
müht? In  der  „Statistik  der  Rückfälligen“  (Anlage  5 des 
Kommissionsberichts  S.  43)  sind  die  Ziffern  für  England, 
Frankreich.  Italien,  Belgien  der  neuesten  Auflage  von 
Oettingen's  Moralstatistik  entnommen.  Diese  neueste  Auflage 
stammt  aus  dem  Jahre  1882.  Von  den  vielbeschäftigten 
Parlamentariern  kann  nicht  verlangt  werden,  dass  sie  auch 
noch  durch  Quellenstudien  die  Zahlen  bis  auf  die  neueste 
Zeit  ergänzen.  Aber  haben  wir  nicht  in  unseren  statistischen 
Aemtern  Arbeitskräfte  zur  Genüge,  denen  es  ein  Leichtes 
gewesen  wäre,  aus  den  offiziellen  Veröffentlichungen  Eng- 
lands u.  s.  w.  das  Nöthige  nachzutragen?  Der  Zug  einer 
vornehmen  Nonchalance  in  Allem,  was  das  Thatsächliche 
betrifft,  geht  durch  die  ganze  Vorlage. 

Grundsätzlich  berührt  sich  der  Entwurf  mit  den  An- 
sichten des  alten  Johann  Peter  Süssmilch,  der  vor  hundert- 
undzweiunddreissig  Jahren  es  aussprach:  „Daher  also  die 
Hurerey  und  der  Konkubinat  ganz  und  gar  nicht  ....  in 
einem  wohl  eingerichteten  Staat  geduldet  werden  sollten“, 
grundsätzlich  wurzelt  der  Entwurf  von  1892  in  demselben 


Boden  wie  die  Auffassung  Süssmilch’s.  da  1892  so  gut  wie 
1761  die  Prohibitivpolitik,  das  Gebot  und  das  Verbot,  als 
Heilmittel  gelten.  Nur  dass  die  geistigen  Nachfahren  des 
wackeren  und  wohlverdienten  Oberkonsistorialraths  sich  zu 
dem  Geständniss  bequemen  müssen  (Entwurf,  S.  7): 

„Da  die  Erfahrung  gezeigt  hat,  dass  eine  völlige  Aus- 
rottung der  Prostitution  im  Wege  der  strafrechtlichen 
und  polizeilichen  Repression  unausführbar  ist,  so  ist 
die  Gesetzgebung  genöthigt,  mit  den  in  dieser  Hinsicht  vor- 
handenen thatsäehlichen  Verhältnissen  zu  rechnen.“ 

Als  das  Ergebniss  dieses  Rechenexempels  stellt  sich 
die  lex  Heinze  dar,  deren  wesentlicher  Inhalt  eine  Reihe 
von  roh-mechanischen  Zwangsmaassregeln  ist.  So 
rächt  sich  der  Verzicht  auf  eine  sozialpolitische  Aktion:  die 
öffentliche  Gewalt  paktirt  mit  derselben  Prostitution,  : 
deren  Folgeerscheinungen  sie  durch  Richterspruch  und 
Polizeigewalt  zu  begegnen  hofft.  Der  Entwurf  der  Re- 
gierung findet  sich  ab  mit  dem  Kupplerwesen,  indem  er 
die  Kuppelei  mit  schärferen  Strafen  bedroht,  eine  bestimmte 
Gruppe  der  Kuppler  aber  von  Staatswegen  privilegirt.  Um 
die  Prostitution  zu  überwachen,  will  er  sie  kaserniren;  er 
konzessionirt  zwar  nicht  dem  Namen,  aber  der  Sache  nach 
die  Bordellwirthschaft.  Gegen  die  Zuhälter,  die  gewohn- 
heitsmässig  aus  der  Prostitution  ihren  Erwerb  ziehen, 
wendet  sich  die  Vorlage  mit  aller  Schärfe,  aber  sie  statuirt 
den  rechtlichen  Anspruch  hilfsbedürftiger  Angehöriger  auf 
eine  Alimentation  seitens  der  Prostituirten.  Der  Entwurf 
will,  wie  die  Begründung  ausdrücklich  besagt  (a.  a.  O.  S.  9), 
„das  Zuhälterthum  als  solches  verbieten“  und  giebt  selbst 
zu  (a.  a.  O.  S.  7),  dass  „die  heimliche  Prostitution  sich 
der  Möglichkeit  einer  örtlichen  Beschränkung  entzieht.“ 
Aber  wenn  die  Vorlage  mit  der  kasernirten  Prostitution 
eine  staatlich  zugelassene  „Louis“-Zunft,  die  Bordellhalter 
und  Bordellagenten,  in's  Leben  ruft,  bleibt  den  Bönhasen 
des  Zuhälterthums  die  Winkelprostitution , die  in  ewiger  1 
Bewegung,  unfassbar,  in  ruhelosem  Flusse  ist.  Man  könnte 
mit  eben  demselben  Erfolge  das  „Gaunerthum  als  solches“, 
das  „Einbrecherthum  als  solches“,  kurz  alle  verhängniss- 
vollen  Geschöpfe  gesellschaftlicher  Uebelstände  „verbieten“. 
Ja,  das  staatliche  Verbot  könnte  diese  Uebelstände  selber  t 
treffen.  Nur  wird  der  Erfolg  kein  anderer  sein,  als  wenn 
man  das  Meer  mit  Ruthen  peitschte.  Eine  positive  Wirth-  ' 
schaftspolitik  müsste  die  Uebelstände  beseitigen  oder  doch 
auf  ein  möglichst  geringes  Maass  zurückführen  und  nicht  ! 
den  Büttel,  sondern  die  Reform  als  Werkzeug  ihrer  Thätig- 
keit  benutzen.  Es  entspricht  dem  Gesammtcharakter  der 
Vorlage,  wenn  sie  durch  die  modernen  Strafrechtstheorien 
einen  Strich  zieht  und  im  Geiste  der  Karolina  den  Latten- 
arrest und  die  Wasser-  und  Brod-Kost  damit  rechtfertigt 
(a.  a.  O.  S.  13),  dass  „dasjenige,  was  er  nach  eingetretenem 
Vollzüge  vor  seinem  körperli chen  Zustand  empfindet,  für 
den  Verbrecher  „die  Strafe“  ist.“  Wobei  den  Verfassern 
der  Begründung  sich  übrigens  das  sozialpolitisch  nicht 
werthlose  Zugeständniss  von  den  Lippen  ringt  (a.  a.  O.  S.14): 
„Namentlich  gilt  dies  (die  angebliche  Unwirksamkeit  kurzer 
Haft),  wenn  diese  Freiheitsentziehung,  wie  es  jetzt  thatsäch- 
1 ich  meist  der  Fall,  mit  Unterkommen,  Nahrung  und 
Pflege  von  einer  so  genügenden  Beschaffenheit  ver- 
bunden ist,  wie  sie  die  ärmsten  Klassen  des  Volkes  in 
der  Freiheit  sich  nicht  immer  verschaffen  können.“ 
Man  erwarte  nicht,  dass  der  Kommissionsbericht 
von  grösseren  Gesichtspunkten  ausgehe  als  die  Regierungs- 
vorlage. Das  Ergebniss  der  Kommissionsverhandlungen  ist 
eine  Reihe  von  Aenderungen.  unter  denen  nur  wenige  ins 
Gewicht  fallen. 

Eine  bedeutsame  Differenz  zwischen  Regierungsvorlage 
und  Kommissionsbeschlüssen  ergiebt  sich  in  der  Frage: 
Lokalisation  der  Prostituirten.  Die  Vorlage  schlug 
vor,  die  Vermiethungen  von  Wohnungen  an  polizeilich  be- 
aufsichtigte Lohndirnen  straflos  zu  lassen,  wenn  sie  unter 


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367 


Beobachtung  der  hierüber  erlassenen  polizeilichen  Vor- 
schriften erfolgen.  Die  Praxis  des  Reichsgerichts  nämlich 
hat  den  Kuppelparagraphen  auf  das  Vermiethen  von 
Wohnungen  an  Prostituirte  ausgedehnt.  In  der  Kommission 
erklärte  dagegen  ein  Regierungsvertreter  ausdrücklich  (Kom- 
missionsbericht S.  4),  dass  die  vorgeschlagene  Bestimmung 
„den  Zweck  hat,  den  Vermiether,  welcher  die  polizeilichen 
Bestimmungen  beachtet,  auch  dann  straflos  zu  lassen,  wenn 
er  sich  des  unzüchtigen  Treibens  in  der  vermietheten 
Wohnung  bewusst  ist  und  dasselbe  durch  Fortsetzung  des 
Miethsverhältnisses  duldet.“ 

Die  Kommission  hat  den  Regierungsvorschlag  abge- 
lehnt und  an  dessen  Stelle  die  Bestimmung  vorgeschlagen : 
Das  Vermiethen  von  Wohnungen  an  Weibspersonen, 
welche  gewerbsmässig  Unzucht  treiben,  ist  nicht  als  Vorschub- 
leistung anzusehen,  sofern  nicht  das  Vermiethen  mit  Aus- 
beutung des  unsittlichen  Erwerbes  der  Mietherin  verbunden  ist.“ 
Der  Antragsteller  hob  hervor  (Kommissionsbericht  S.  6), 
„es  sei  ein  Postulat  der  öffentlichen  Ordnung  und  Sittlich- 
keit, dass  die  Venus  vulgivaga  von  den  Strassen  möglichst 
verscheucht  werde;  das  bezwecke  sein  Antrag.“  Der 
Kommissionsbeschluss  erklärt  demnach  das  Vermiethen  an 
Prostituirte  schlechthin  für  straflos,  ohne  die  sittenpolizei- 
liche Kontrolle  zu  bedingen.  „Die  einfache,  reelle  Ver- 
miethung,  welche  mit  keinerlei  Ausbeutung  der  miethenden 
Prostituirten  verbunden  ist,  solle  vor  Strafe  geschützt  werden“ 
(a.  a.  O.  S.  7),  führte  der  Antragsteller  aus.  Was  beab- 
sichtigt also  nach  seiner  eigenen  Erklärung  der  Gesetzgeber? 
Er  will  das  hon  nette  Publikum  vor  der  Strassenprosti- 
tution  schützen,  und  er  will  den  hon  netten  Hausbesitzer 
schützen  vor  einem  Kuppeleiprozess.  Daher  formulirt  er 
die  Freizügigkeit  der  Lohndirnen  umfassender  als  die 
Regierung  und  emanzipirt  die  Vermiether,  nicht  die  Lohn- 
dirnen von  der  Peinlichkeit  der  polizeilichen  Sittenkontrolle. 

Demnach  eximirt  der  Kommissionsbeschluss  die  Ver- 
miether von  dem  Kuppelparagraphen,  sofern  sie  eben  nur 
Vermiether  sind,  lässt  aber  sonst  alles  beim  Alten.  Bestehen 
bleibt  die  Scheidung  zwischen  eingeschriebenen  und  Winkel- 
dirnen, die  Prostitution  selbst  bleibt  unangetastet,  weil  sie 
eben  nicht  angetastet  werden  kann.  Zur  Wurzel  des  Uebels 
herabsteigen,  bedeutet  die  Erörterung  vom  polizeigesetz- 
lichen auf  das  sozialpolitische  Gebiet  hinüberspielen.  Und 
dort  müssten  die  ökonomischen  Bedingungen,  unter  denen 
die  Prostitution  zur  gesellschaftlichen  Massenerscheinung 
geworden  ist,  willig  oder  widerwillig  blossgelegt  werden. 
Geschähe  dies,  so  müsste  der  heutige  Staat  als  Ankläger 
wider  sich  selbst  auftreten.  Aber,  um  das  in  letzter  Zeit 
wieder  viel  gebrauchte  Kunstwort  einmal  anzuwenden,  die 
„Staatsraison“  erheischt  den  Fortbestand  der  Prostitution. 
Je  schneller  die  wirthschaftliehe  Entwickelung  die  Weiber- 
arbeit zum  nothwendigen  Bestandtheil  aller  gewerblichen 
rhätigkeit  macht,  je  schärfer  der  Wettbewerb  zwischen 
Mann  und  Frau  im  Kampfe  um  s Dasein  sich  zuspitzt,  um 
so  günstiger  werden  die  Daseinsbedingungen  der  Prosti- 
tution. Aul  der  einen  Seite  die  Besitzenden,  deren  Genuss- 
bedürfnisse immer  mehr  in  s Weite  schweifen,  deren  Lebens- 
gestaltung (höheres  Heirathsalter)  den  ausserehelichen 
Geschlechtsverkehr  in  wachsendem  Masse  beansprucht,  als 
die  Konsumenten,  auf  der  anderen  Seite  die  Proletarier 
als  Producenten  der  Prostitution.  Neben  der  sesshaften 
Prostitution,  die  sich  vor  allem  rekrutirt  aus  den  Schichten 
des  Lumpenproletariats,  die  ilottante  Prostitution,  welche  sich 
rekrutirt  aus  den  verschiedenen  Gruppen  der  Arbeiterinnen, 
mögen  sie  dem  Grossgewerbe,  dem  Handel,  der  Heim- 
arbeit oder  dem  Gesinde  angehören.  Dazu  kommt  der 
Niederschlag  der  bürgerlichen  Klassen,  Deklassirte  aller 
Art  (vgl.  meinen  Aufsatz:  Randglossen  zur  Prostitution,  in 
dieser  Zeitschrift,  Bd.  I,  S.  28  fg.). 

Die  Apologeten  der  Kontrolle  und  der  Bordelle  über- 
sehen, dass  nur  ein  sehr  kleiner  Bruchtheil  der  Lohndirnen 


kontrollirt  und  kasernirt  werden  kann,  dass  die  Winkel- 
prostitution auch  neben  diesen  Einrichtungen  fortbesteht 
und  sich  ausbreitet.  Sie  übersehen,  dass  sich  der  Kontrolle 
noch  zahlreiche  eingeschriebene  Dirnen  entziehen,  und  dass 
weder  die  Aufsicht  f)  noch  die  öffentlichen  Häuser  gegen  die 
Ausbreitung  der  Geschlechtskrankheiten  eine  Schutzwehr 
bilden.  Man  kann  sagen:  Jeder  Groschen , um  den  der 
Brod preis  steigt,  erhöht,  jeder  Groschen,  um  den 
der  Lohn  steigt,  senkt  die  Prostitutionsziffer; 
Arbeitsgelegenheit  und  Prostitutionsziffer  stehen 
im  umgekehrtenVerhältniss  zu  einander.  Diese  ewige 
Wechselbeziehung  zwischen  der  Prostitution  und  den  Sozial- 
zuständen tritt  scharf  zu  Tage  auch  in  der  Bewegung  der 
Syphilisziffer,  was  besonders  die  Prostitutionsdogma- 
tiker beachten  mögen,  denen  der  Schutz  vor  Ansteckung 
als  das  wichtigste  Moment  erscheint. 

An  der  Nothwendigkeit  der  Prostitution  als  einer  Massen- 
erscheinung ist  nicht  zu  zweifeln,  so  lange  die  kapitalistische 
Wirthschaftsweise  besteht,  uneingeschränkt  durch  tiefgehende 
soziale  Reformen.  Eben  deshalb  wird  auch  der  neue  Zu- 
hälterparagraph, wie  ihn  Entwurf  und  Kommissions- 
beschluss ziemlich  gleichlautend2)  bieten,  ein  Schlag  ins 
Wasser  sein.  Der  Zuhälter  verwandelt  sich  proteusartig, 
wenn  die  Gesetze  sich  ändern.  Um  Kleines  mit  Grossem 
zu  vergleichen,  die  Kartelle  werden  trotz  aller  Anti-Trust- 
gesetze fortbestehen,  weil  sie  ein  naturnothwendiges  Er- 
zeugniss  der  modernen  Entwickelung  sind.  So  auch  das 
Zuhälterthum.  Er  taucht  etwa  auf  als  „reeller  Vermiether“, 
er  wird,  wrenn  die  Prostitution  kasernirt  ist,  Bordellhalter 
oder  Bordellbediensteter,  er  passt  sich  schmiegsam  den 
Verhältnissen  an  und  trotzt  auch  den  härteren  Strafen,  die 
ihm  drohen,  weil  er  ein  out-law  ist.  So  wenig  Schaffott  und 
Zuchthaus  Mord  und  Einbruch,  schwere  Gewaltthat  und 
feinen  Betrug  verhindern,  so  lange  nur  der  soziale  Nähr- 
boden für  den  Verbrechensbazillus  vorhanden  ist,  so  wenig 
kann  man  trotz  der  apodiktischen  Gewissheit  des  Entwurfs 
„das  Zuhälterthum  verbieten“.  Härtere  Strafmittel  werden 
die  Vorsicht,  die  Schlauheit,  die  Brutalität  der  Zuhälter 
erhöhen;  die  Verkommenen,  aus  denen  sich  diese  verächt- 
liche Gilde  der  Lumpenproletarier  bildet,  werden  durch  die 
künstliche  Auslese  immer  rücksichtsloser,  immer  gewalt- 
thätiger,  immer  durchtriebener  werden.  Wie  sagt  doch 
die  Begründung  der  Vorlage  (S.  7)?  „Die  vereinzelt  wohnen- 
den, mancherlei  Angriffen  und  Beeinträchtigungen  ausge- 
setzten Dirnen  werden  durch  ein  natürliches  Schutz- 
bedürfniss  daraufhingewiesen,  sich  eine  Stütze  zu  suchen, 
welche  sie  in  dem  Zuhälter  finden.“  Unsere  Gesetzgeber 
erkennen  das  „natürliche  Schutzbedürfniss“  der  Dirne  an. 
Würden  sie  das  natürliche  Schutzbedürfniss  des 
arbeitenden  Weibes  anerkennen,  so  regulirte  ihre  legis- 
lative Kunst  nicht  die  Prostitution,  sondern  den  Arbeiter- 
schutz. 

Jedennoch  die  lex  Heinze  setzt  sich  auch  in  schroffen 
Widerspruch  zu  dem  Rechtsbewusstsein  der  Massen  durch 
den  neuen  von  der  Kommission  nicht  veränderten  § 181  der 
Vorlage.  Und  zwar  kommt  hier  in  Betracht  Absatz  2,  wo- 


')  Das  statistische  Material,  das  gemeiniglich  zu  Gunsten  der 
Aufsicht  vorgebracht  wird,  hält  methodologisch  nicht  Stich.  Wenn 
z.  B.  der  Kommissionsbericht  (S.  5/6)  auf  Frankfurter  Erfahrungen 
verweist,  wonach  auf  die  Kontroldirnen  1891  nur  17,  1892  nur 
12%  der  geschlechtlichen  Erkrankungen  trafen,  während  auf  die 
Prostitution  ohne  Kontrolwohnung  83  oder  88%  entfallen  seien, 
so  sind  hier  zwei  gar  nicht  vergleichbare  Grössen  zusannnen- 
gestellt.  Der  Frankfurter  Polizei  ist  zwar  die  Zahl  der  aktiven 
Kontroldirnen  bekannt,  nicht  aber  die  Ziffer  der  Winkeldirnen, 
die  in  die  polizeilichen  Register  nicht  eingetragen  sind.  So  lange 
aber  diese  letztere  Zahl  nicht  wenigstens  annähernd  ermittelt 
wird,  darf  man  Prozentberechnungen  dieser  Art  nicht  verwerthen. 

4)  Gestrichen  ist  nur  der  „anstössige“  Passus  der  ursprüng- 
j liehen  Vorlage,  wonach  die  männliche  Person,  die  einen  gesetz- 
lichen Anspruch  auf  Alimentation  hat.  nicht  unter  den  betreffen- 
den Paragraphen  fällt. 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  31. 


nach  „die  Kuppelei,  selbst  wenn  sie  weder  gewohnheits- 
mässig  noch  aus  Eigennutz  betrieben  wird“,  mit  Zuchthaus 
bis  zu  fünf  Jahren  zu  bestrafen  ist,  wenn 

„ . . . der  Schuldige  zu  der  verkuppelten  Person  in  dem 

Verhältniss  . . . von  Eltern  zu  Kindern,  von  Vormündern  zu 

Pflegebefohlenen  . . . steht.“ 

Wenn  auch  die  Moralisten  noch  so  strenge  darüber 
urtheilen,  der  aussereheliche  Geschlechtsverkehr  ist  ein- 
mal thatsäehlich  eine  unausrottbare  Volkssitte.  Jedoch  die 
lex  Heinze  reglementirt  ja  gerade  den  ausserehelichen  Ver- 
kehr, indem  sie  bestimmte  Vorschriften  erlässt  über  Pro- 
stituirte,  Kuppler  und  Zuhälter.  Sie  will  auch  gar  nicht 
diesen  Verkehr  treffen. 

Nicht  der  Verkehr  zwischen  der  Lohndirne  und  ihrem 
Klienten,  der  Geschlechtsverkehr  zwischen  dem  Liebhaber 
und  der  Geliebten,  zwischen  dem  Bräutigam  und  der 
■Verlobten  soll  getroffen,  die  „wilde  Ehe“  soll  bedroht 
werden.  Auf  dem  Lande  ist  der  Verkehr  vor  der  Ehe  in 
ganz  Deutschland  Volksbrauch.  Von  dem  oberbayerischen 
Bauernbuben,  der  zu  seiner  Liebsten  „fensterin“  geht,  bis 
zu  dem  masurischen  Landarbeiter,  der  bei  seinem  Mädchen 
schläft,  überall  diese  Einrichtung.  Wer  z.  B.  die  Land- 
arbeiter-Enquete des  Vereins  für  Sozialpolitik  sich  hierauf 
ansieht,  wird  mancherlei  Anziehendes  finden.  Nach  dem 
§ 1 8 1 Abs.  2 können  jetzt  die  Eltern  oder  Vormünder,  die 
bei  ihren  Kindern  oder  Pflegebefohlenen  das  zulassen,  was 
sie  selbst  vordem  geübt,  mit  Zuchthaus  bestraft  werden. 
Und  dies  trotzdem  durchgängig  die  Ehe  dem  vorehelichen 
Verhältniss  folgt.  In  erhöhtem  Masse  gilt  das  Gesagte  für 
die  städtische  Arbeiterbevölkerung.  Die  moderne  Industrie 
hat  die  urwüchsig-überkommene  Form  der  Familie  zerstört 
und  die  Ungebundenheit  des  gewerblichen  Verkehrs  erzeugt 
und  fördert  die  Ungebundenheit  des  geschlechtlichen  Ver- 
kehrs. Der  Industriearbeiter  hat  sich  von  der  Auffassung, 
die  zwar  den  Verkehr  mit  Dirnen  legalisirt,  den  ausser- 
ehelichen Verkehr  zwischen  Liebenden  aber  verdammt,  voll- 
ständig emanzipirt,  „die  wilde  Ehe“  ist  eine  feste  Institution 
geworden,  der  die  standesamtliche  Trauung  folgen  kann,  und 
wenn  Kinder  kommen,  zumeist  auch  folgt.  In  den  Bundes- 
staaten, die  durch  eine  rückständige  Ehegesetzgebung 
(so  in  Bayern)  den  Besitzlosen  das  Heirathen  erschweren, 
ist  der  Anreiz  zum  Konkubinat  noch  stärker.  Ganz  zu 
geschweigen  jenes  mächtigen  Hindernisses,  das  der  Grün- 
dung proletarischer  Hausstände  im  Wege  steht,  des  wirth- 
schaftlichen  Niedergangs.  Das  Auf  und  Ab  der  Eheziffer 
korrespondirt  ja  mit  dem  Auf  und  Ab  der  Konjunktur. 
Unsere  Gesetzgeber  fussen  auch  hier  wieder  auf  — Johann 
Peter  Süssmilch,  der  über  „die  Unordnung  der  Lüste  mit 
Personen“  klagt,  „die  man  auf  eine  kurze  oder  längere 
Zeit  geheyrathet  hat“,  was  „der  Fruchtbarkeit  und  der 
Bevölkerung  einen  ungemeinen  Schaden  zufüget.“  .... 

Wenn  die  lex  Heinze  durchgeht,  so  möge  man  wenig- 
stens für  einen  statistischen  Paragraphen  sorgen.  Man 
schreibe  vor,  dass  die  mit  der  Ueberwachung  der  Prosti- 
tution betrauten  Behörden  Buch  führen  über  die  sozial  be- 
deutsamen Erscheinungen  auf  diesem  Gebiet.  Man  halte  sie 
an,  die  Bewegung  der  Kontrolldirnen  und  so  weit  es  an- 
geht, die  Bewegung  der  flottanten  Prostitution  zahlenmässig 
zu  fixiren,  über  Alter,  Heimath,  Zivilstand,  Morbidität, 
Sterblichkeit,  über  den  früheren  Beruf  und  den  in  diesem 
Beruf  durchschnittlich  gewonnenen  Arbeitsverdienst  sorg- 
same Aufzeichnungen  zu  machen.  Man  registrire  die  Fälle, 
in  denen  die  Prostitution  komplementäre  Erwerbsweise  ist, 
man  beobachte  die  Zusammenhänge  zwischen  Konjunktur 
und  Prostitution,  das  Bordellwesen,  die  „freie“  Prostitution, 
das  Zuhälterthum.  Der  von  den  Behörden  gesammelte 
Rohstoff  wäre  dann  nach  sozialpolitischen  Gesichtspunkten 
zu  bearbeiten  und  jährlich  zu  veröffentlichen. 

Die  lex  Heinze,  in  dem  Regierungsentwurf  und  nach 
den  Kommissionsbeschlüssen,  bleibt  ein  Gelegenheitsgesetz. 


Sie  appellirt  an  die  Gewalt,  statt  an  die  positive  Sozial- 
politik und  sie  wird  wirkungslos  bleiben,  weil  sie  mit  reak- 
tionären Palliativen  tiefgehende  gesellschaftliche  Schäden 
heilen  will. 

Juristisch  gesprochen:  Ein  Versuch  mit  untaug- 

lichen Mitteln  an  einem  untauglichen  Objekt. 

Berlin.  Bruno  Schoenlank. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 


Reichsstatistik  und  Landesstatistik. 

Die  exakte  Massenbeobachtung  der  gesellschaftlichen 
Vorgänge  vollzieht  sich  in  der  Hauptsache  unter  Beihilfe 
staatlicher  Organe,  sei  es  nun,  dass  die  statistische  Be- 
obachtung in  erster  Linie  Selbstzweck  ist,  sei  es,  dass  sie 
sich  nur  in  sekundärer  Weise  an  sonstige  staatliche  Ver- 
waltungsthätigkeit  anlehnt.  Wenn  man  von  dem  besonderen 
Gebiet  der  Kommunalstatistik  absieht,  theilen  sich  bei  uns 
in  Deutschland  die  Organe  der  Reichsverwaltung  und 
Landesverwaltungen  in  die  Gesannntthätigkeit  auf  dem 
Gebiete  der  Statistik.  Dabei  können  wir  unterscheiden: 
die  unmittelbare  Reichstatistik,  die  mittelbare  Reichsstatistik, 
die  Landesstatistik. 

Zur  unmittelbaren  Reichsstatistik  gehören  vor 
Allem  diejenigen  Nachweise,  deren  Urmaterial  von  Reichs- 
wegen mittelst  eigener  Beobachtungsorgane  gewonnen  und 
die  dann  weiterhin  der  statistisch-technischen  Bearbeitung 
durch  allgemeine  oder  besondere  statistische  Organe  des 
Reichs  unterliegen.  Hierher  gehört  die  gesammte  sekundäre 
Statistik,  welche  an  die  verschiedenen  Zweige  der  Reichs- 
verwaltung, insbesondere  der  Post-  und  Telegraphenver-  ' 
waltung,  der  Finanzverwaltung,  der  Verwaltung  des  Arbeiter- 
versicherungswesens, sich  anschliesst.  Zur  unmittelbaren 
Reichsstatistik  sind  aber  weiterhin  auch  noch  jene  Zweige 
der  Statistik  zu  rechnen,  bei  welchen  die  Erhebungen  zwar 
nicht  durch  Reichsorgane,  sondern  durch  beauftragte  : 
Landesorgane  aber  mit  der  Maassgabe  erfolgen,  dass  das  j 
Erhebungsmaterial  zur  ungehinderten  statistisch-technischen 
Ausnützung  an  statistische  Organe  des  Reichs  gelangt. 
Hierher  sind  zu  rechnen  insbesondere  die  Kriminalstatistik  < 
und  die  Statistik  des  auswärtigen  Handels,  neuerdings  auch 
die  Versuche  auf  dem  Gebiete  der  Thatsachenbeobachtung 
von  Arbeiterverhältnissen,  denen  allerdings  wegen  ihrer 
Beschränkung  auf  Stichproben  der  Charakter  einer  wirklichen 

— auf  erschöpfende  Massenbeobachtung  beruhenden  — 
Arbeiterstatistik  meines  Erachtens  nicht  beigelegt  werden 
kann. 

Mittelbare  Reichsstatistik  liegt  da  vor,  wo  zwar 
von  Reichswegen  die  Vornahme  gewisser  Ermittelungen, 
sei  es  mit,  sei  es  ohne  spezielle  Anordnung  für  die  Ge- 
staltung der  Erhebungsformulare  vorgeschrieben  ist,  das 
Urmaterial  der  Erhebung  aber  nicht  an  statistische  Organe 
des  Reichs  zur  centralisirten  Bearbeitung  gelangt,  vielmehr 
bei  den  Landesverwaltungen  verbleibt  und  von  diesen  für 
die  Zwecke  der  Reichsstatistik  zu  bestimmten  vorgeschriebe- 
nen Uebersichten  zu  verarbeiten  ist.  So  bildet  zur  Zeit 
die  ganze  deutsche  Bevölkerungsstatistik,  dieses  Haupt- 
kapitel der  ganzen  Sozialstatistik,  einen  Bestandteil  der 
„mittelbaren“  Reichsstatistik,  und  zwar  mit  der  Maassgabe, 
dass  für  die  Ermittelung  des  Standes  der  Bevölkerung  durch 
die  Volkszählung  die  Art  der  Erhebung  genau  geregelt  und 
eine  ziemlich  ausgiebige  — keineswegs  aber  erschöpfende 

— Ausnützung  vorgeschrieben  ist,  während  bezüglich  der 
Bevölkerungsbewegung  (Geburten,  Sterbefälle,  Ehe- 
schliessungen) nur  ganz  summarische  tabellarische  Nach- 
weise für  Zwecke  der  Reichsstatistik  Seitens  der  einzelnen 


No.  31. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


369 


Bundesstaaten  zu  liefern  sind.  Auch  die  landwirtschaft- 
liche, die  Montan-  und  die  Verkehrsstatistik  sind  so  ein- 
gerichtet; eine  gewerbliche  Statistik  fehlt  überhaupt  seit 
längerer  Zeit;  leider  sind  die  darauf  bezüglichen  gelegent- 
lich der  jüngsten  Volkszählung  zur  Erscheinung  gekomme- 
nen Strebungen  erfolglos  geblieben.  Gleichfalls  zur  mittel- 
baren Reichsstatistik  sind  jene  Aufstellungen  zu  rechnen, 
welche  die  Landesorgane  der  Zoll-  und  Steuerverwaltung 
über  die  an  die  Reichssteuer-  und  Zollverwaltung  sich  an- 
schliessende Zoll-  und  Steuerstatistik  zu  liefern  haben. 

Was  nicht  zur  unmittelbaren  und  mittelbaren  Reichs- 
statistik gehört,  zählt  zur  partikularen  Landesstatistik 
im  engeren  Sinne.  Das  Ob  und  das  Wie  seiner  Pflege 
hängt  ganz  und  gar  von  den  auf  die  Werthschätzung  oder 
Verkennung  der  Statistik  bezüglichen,  wechselnden  Strö- 
mungen der  Bureaukratie  und  der  Volksvertretungen  ab. 
Eine  Gleichmässigkeit  der  einschlägigen  Beobachtungen  ist 
weder  in  geographischer  noch  in  zeitlicher  Hinsicht  gewähr- 
leistet. Gleichwohl  umfassen  die  von  der  Reichsstatistik 
ganz  ausgeschlossenen  Gebiete  partikularer  Landesstatistik 
sehr  bedeutungsvolle  Zweige  der  Statistik;  es  genügt  beispiels- 
weise an  die  Unterrichtsstatistik,  die  Armen-,  Wohlthätig- 
keits-  und  Stiftungsstatistik,  die  Verwaltungs-  und  Polizei- 
statistik, die  Statistik  der  Aktiengesellschaften,  Bank-  und 
Sparanstalten,  der  Genossenschaften,  die  Hypothekenstatistik, 
die  Versicherungsstatistik,  die  Preis-  und  Lohnstatistik,  die 
Landesfinanzstatistik  zu  erinnern. 

Soweit  wir  es  mit  unmittelbarer  Reichsstatistik  zu  thun 
haben,  befindet  sich  unsere  deutsche  Statistik  im  Allgemeinen 
in  gutem  Zustande.  Die  Bedenken  heben  aber  sofort  an, 
wenn  man  der  mittelbaren  Reichsstatistik  sich  zuwendet. 
Hier  bringt  die  Zurückhaltung  des  Urmaterials  bei  den 
Einzelstaaten  und  die  Beschränkung  der  Reichsstatistik  auf 
bestimmte  tabellarische  Uebersichten  eine  unerwünschte 
Beschränkung  der  reichsstatistischen  Klarlegung  auf  diesem 
Gebiete.  Diese  gilt  vor  Allem  von  der  Statistik  der  Be- 
völkerungsbewegung, welche  in  durchaus  ungenügender 
Weise  für  die  Zwecke  der  Reichsstatistik  ausgenützt  ist, 
so  dass  die  Buchführung  über  die  Menschenbewegung  — 
soweit  das  Interesse  der  Reichsstatistik  dabei  zum  Ausdruck 
kommt  — gegen  die  Buchführung  über  die  Waarenbewegung 
gewaltig  zurücksteht.  Es  wird  bald  an  der  Zeit  sein  zu  über- 
legen, ob  diesem  Missstand  durch  Centralisirung  des  ge- 
sammten  Urmaterials  der  Statistik  der  Bevölkerungsbewegung 
beim  Statistischen  Amt  des  Reichs  oder  wenigstens  durch 
eine  sorgsamere  Ausgestaltung  des  von  den  partikular- 
statistischen Organen  aufzustellenden  Tabellenwerks  zu  be- 
gegnen sein  wird. 

Noch  dringender  aber  scheinen  Maassnahmen  zu  sein, 
welche  darauf  abzielen,  dass  auch  für  jenen  Rest  der 
Partikularstatistik,  welcher  in  gar  keinen  Beziehungen 
zur  Reichsstatistik  steht,  eine  gewisse  Stetigkeit  und  Gleich- 
mässigkeit der  Ermittelung,  Bearbeitung  und  Veröffent- 
lichung gesichert  werde.  Im  Vordergründe  dürfte  dabei 
das  Bedürfniss  stehen,  die  Unterrichtsstatistik  und  die 
Staatsfinanzstatistik  in  das  Gebiet  der  mittelbaren  Reichs- 
statistik einzubeziehen,  Als  einen  vorbereitenden  Schritt 
zu  dieser  Ausgestaltung  der  deutschen  Statistik  möchte  ich 
empfehlen,  dass  das  im  Uebrigen  vortrefflich  eingerichtete 
Statistische  Jahrbuch  für  das  Deutsche  Reich  zunächst  dahin 
eine  Erweiterung  erfahre,  dass  es  grundsätzlich  die  der 
Partikularstatistik  vorbehaltenen  Gebiete  nicht  mehr  aus- 
schliesst,  sondern  dieselben  einbezieht  und  für  dieselbe  so 
viel  an  Nachweisen  giebt,  als  Seitens  der  Einzelstaaten  darauf 
Bezügliches  auf  Ersuchen  des  Statistischen  Amtes  geliefert 
werden  kann  und  hoffentlich  auch  bereitwilligst  geliefert 
werden  wird.  Eine  solche  Erweiterung  des  Jahrbuchs,  die 
beispielsweise  die  bis  jetzt  ungern  vermissten  Notizen  über 
den  Stand  des  gesammten  deutschen  Unterrichtswesens  und 
des  Staatshaushalts  in  den  Einzelstaaten  bringen  wird,  darf 


sicher  auf  allseitigen  Beifall  rechnen.  Zugleich  wird  sich 
nach  dem  Mass  der  Aufschlüsse,  welche  für  die  einzelnen 
Kapitel  der  Statistik  zu  erzielen  sind,  am  besten  beurtheilen 
lassen,  welche  Gebiete  der  Partikularstatistik  zunächst  zur 
Einbeziehung  in  die  mittelbare  Reichsstatistik  sich  eignen. 

Die  Partikularstatistik  hat  nicht  zu  befürchten,  dass  ihr 
mit  dieser  weiteren  Einbeziehung  einzelner  Gebiete  in  die 
Reichsstatistik  das  Feld  ihrer  Thätigkeit  beschränkt  werde. 
Im  Gegentheil;  erst  durch  diese  Einbeziehung  wird  die 
fragliche  Statistik  in  ihrer  Bedeutung  und  in  ihrem  Bestand 
gefestigt,  und  das,  was  sie  für  Erkenntniss  des  Landes 
leistet,  wird  dadurch  nicht  vermindert,  dass  es  zugleich  als 
höheres  Glied  der  Erkenntniss  für  das  Reich  im  Ganzen 
verwerthet  werden  kann.  Wie  wenig  überhaupt  die  neuere 
Ausbildung  der  Reichsstatistik  an  sich  an  dem  Rückgang 
der  Partikularstatistik  — wie  er  allerdings  vereinzelt,  z.  B. 
in  Bayern  bemerklich  ist  — Schuld  trägt,  zeigen  zwei  gerade 
in  der  Gegenwart  auf  dem  Gebiete  der  engsten  Partikular- 
statistik erschienene  Veröffentlichungen.  Die  eine  ist 
Kollmann’s  treffliche  Studie  über  die  wirthschaftliche  Ent- 
wickelung des  Herzogthums  Oldenburg  in  den  letzten  vierzig 
Jahren,  die  andere  ist  die  in  Angriff'  genommene  neue  Be- 
arbeitung der  württembergischen  Oberamtsbeschreibungen, 
von  denen  jene  für  die  Oberämter  Reutlingen  und  Ehingen 
in  trefflicher  Ausgestaltung  kürzlich  erschienen  sind.  Wer 
diese  Bücher  zur  Hand  nimmt,  wird  sich  leicht  überzeugen, 
dass  die  Blüthe  der  Partikularstatistik  durch  den  wünschens- 
werthen  weiteren  Ausbau  der  Reichsstatistik  nicht  wird  be- 
einträchtigt werden.  Dieser  Ausbau  wird  sich  meines  Erachtens 
zunächst  in  der  Art  entwickeln  müssen,  dass  man  anstrebt: 
Verbesserung  der  mittelbaren  Reichsstatistik,  Einbeziehung 
der  wichtigeren  Kapitel  der  Partikularstatistik,  auf  welche 
die  mittelbare  Reichsstatistik  sich  bisher  nicht  erstreckt  hat, 
und  zu  diesem  Zwecke  zunächst  vorbereitende  Erstreckung 
des  Inhalts  des  Statistischen  Jahrbuchs  des  Deutschen  Reichs 
auf  solche  Gebiete  der  reinen  Partikularstatistik. 

Strassburg.  Georg  v.  Mayr. 

Der  Gesetzentwurf  betr.  die  Abzahlungsgeschäfte. 

Der  in  der  Reichstagssitzung  vom  21.  Januar  1893  einer 
Kommission  von  ' 21  Gliedern  überwiesene  „Gesetzentwurf 
betr.  die  Abzahlungsgeschäfte“  ist  von  dieser  durchberathen 
worden  und  an  das  Plenum  zurückgelangt. 

Die  wichtigste  Aenderung,  die  von  der  Kommission 
angebracht  wurde,  besteht  in  der  Hinzufügung  einer  neuen 
Bestimmung: 

§ 5 a.  Wer  Lotterieloose,  Inhaberpapiere  mit  Prämien 
(Gesetz  vom  8.  Juni  1871,  R.-G.-Bl.  1871  S.  210)  oder  Bezugs- 
oder Antheilscheine  auf  solche  Loose  oder  Inhaberpapiere 
gegen  Theilzahlungen  verkauft  oder  durch  sonstige  aut  die 
gleichen  Zwecke  abzielenden  Verträge  veräussert,  wird  mit 
Geldstrafe  bis  zu  500  M.  bestraft. 

Es  begründet  keinen  Unterschied,  ob  die  Uebergabe  des 
Papiers  vor  oder  nach  der  Zahlung  des  Preises  erfolgt. 

Die  Kommission  beabsichtigte  damit,  jenen  unsoliden 
Praktiken  gewisser  „Banquiers“  entgegenzutreten,  die  als 
„Ratenloosschwindel“  bekannt  sind  und  auch  in  dieser  Zeit- 
schrift wiederholt  behandelt  und  dabei  ins  Einzelne  verfolgt 
wurden  (I.  Bd.,  S.  165,  178  und  262).  Die  in  weiten  Kreisen 
des  Volkes  in  derartigen  Dingen  herrschende  Unkenntniss 
und  die  weitverbreitete  Vorliebe  zum  Spielen  in  Loosen 
und  Prämienpapieren  liessen  — so  wurde  in  der  Kommission 
ausgeführt  — ein  gänzliches  Verbot  dieser  Spezialität  des 
Ratenhandels  sowohl  räthlich  als  nothwendig  erscheinen. 
Ein  weitergehender  Antrag,  den  abzahlungsweisen  Verkauf 
von  Gold-  und  Silberwaaren,  sowie  von  sämmtlichen  Staats- 
und anderen  Werthpapieren  unter  Strafe  zu  stellen,  wurde 
abgelehnt.  Eine  Menge  von  Anträgen  war  ferner  zu  den 
§§  1 und  2 des  Entwurfes  eingebracht  worden.  Diese  Pa- 
ragraphen erklären  die  sogenannte  Verwirkungsklausel  für 
ungültig  und  sprechen  aus,  was  dem  Verkäufer  nach  Aus- 
übung des  Rücktrittsrechts  gebührt  (Vergütung  für  die 
Nutzung  u.  s.  w.).  Es  fanden  aber  nur  unwesentliche 
materielle,  sowie  einige  redaktionelle  Aenderungen  die 


370 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  31. 


Zustimmung  der  Majorität  in  der  Kommission.  Namentlich 
wurde  ein  Antrag,  die  Ungiltigkeit  der  Verwirkungsklausel 
auf  den  fall  zu  beschränken,  dass  der  Käufer  ohne  sein 
Verschulden  oder  in  Folge  einer  Nothlage  in 
Zahlungsstockungen  gerieth,  abgelehnt.  Unverändert  blieb 
ferner  der  vielfach  angefochtene  (vgl.  No.  19  dieser  Zeit- 
schrift) § 3 Absatz  2 des  Entwurfes.  („Die  Abrede,  dass 
die  Nichterfüllung  der  dem  Käufer  obliegenden  Verpflich- 
tungen die  Fälligkeit  der  Restschuld  zur  Folge  haben  solle,  I 
kann  rechtsgiltig  nur  für  den  Fall  getroffen  werden,  dass 
der  Käufer  mit  mindestens  zwei  auf  einander  folgenden 
I heilzahlungen  ganz  oder  theilweise  im  Verzug  ist  und  der 
Betrag,  mit  dessen  Zahlung  er  im  Verzüge  ist,  mindestens 
dem  zehnten  I heile  des  Kaufpreises  gleichkommt.“)  Auch 
im  Uebrigen  wurden  nur  redaktionelle  Aenderungen  vor- 
genommen. 

Der  Berliner  Zentralverein  für  Arbeitsnachweis  hielt 
am  21.  April  Abend  unter  dem  Vorsitz  des  Magistrats- 
assessors Dr.  Freund  seine  Generalversammlung  im  Rath- 
haus ab.  Nach  dem  Geschäftsbericht  belief  sich  der  Kassen- 
bestand auf  125,07  Mk.  baar  und  10954  67  Mk.  in  Werth- 
papieren. Von  der  Stadtgemeinde  werden  jährlich  3000  Mk. 
Zuschuss  gewährt,  der  Magistrat  hat  in  dem  Etat  ausser- 
dem noch  3000  Mk.  für  die  Wärmhallen  aufgenommen.  Die 
Zahl  der  stellesuchenden  Arbeiter  betrug  im  Jahre  1892 
11 672  (gegen  13459  im  Jahre  1891);  die  Zahl  der  zu  be- 
setzenden Stellen  betrug  7949  (gegen  8011),  die  Zahl  der 
besetzten  Stellen  7552  (gegen  7376);  im  ganzen  hat  der 
Verein  bisher  seit  seinem  Bestehen  (Mitte  April  1883)  58803 
Stellen  vermittelt.  Beim  Arbeitsnachweis  für  weibliche  Per- 
sonen, der  erst  seit  wenigen  Jahren  eingerichtet  ist,  waren 
angebotene  Arbeitskräfte  vermerkt:  i960  (Juni — Dezember 
1891  888),  zu  besetzende  Stellen  1071  (690),  besetzte  Stellen 
998  (596).  In  den  Wärmehallen  wurden  in  der  Zeit  vom 
15.  November  1892  bis  Ende  Februar  1893  verabreicht: 
28711  lassen  U/4  Liter  Kaffee  mit  Milch  und  Zucker  (je  5 Pf.). 

1 G 5 7 3 lassen  V4  Liter  Vollmilch  (5  Pf.),  24602  trockene 
Schrippen  (2>A  Pf.),  2560  Schrippen  mit  Butter  (5  Pf.),  2986 
trockene  Stullen  (2 '/*  Pf.),  8753  Stullen  mit  Butter  (5  Pf.), 
58377  Portionen  3/4  Liter  Suppe  mit  Brot,  ausnahmsweise 
mit  Wurst  oder  Speck  (10  Pf.). 


Finanzfragen. 

Die  Unzulässigkeit  der  Kurtaxen  nach  der  Reichs- 
gesetzgebung haben  wir  ausführlich  in  No.  25  (S.  301)  dar- 
gelegt. rrotzdem  hat  das  preussische  Abgeordnetenhaus  in 
seiner  Sitzung  vom  22.  April  den  § 8a  des  Kommunal- 
abgabengesetzes angenommen.  „Meine  Herren!  Nur  noch 
einen  Paragraphen,  dann  ist  der  Abschnitt  fertig.“  So  hielt 
der  Präsident  die  zum  Aufbruch  bereiten  Mitglieder  zu- 
sammen. und  ohne  dass  auch  nur  eine  Debatte  stattfand, 
wurde  der  Paragraph  angenommen. 

Da  dieselbe  Angelegenheit  noch  einmal  bei  Gelegenheit 
des  § /4  zur  Berathung  gelangt,  so  machen  wir  auf  die 
rechtliche  Seite  der  Sache  nochmals  aufmerksam.  Steuern 
für  blossen  Aufenthalt  an  einem  Orte  zu  erheben,  ist  den 
Gemeinden  durch  Reichsgesetz  untersagt.  Wenn  sie  die- 
selben unter  dem  Vorwände  erheben,  dass  dieselben  „Ver- 
gütungen für  die  Herstellung  und  Unterhaltung  ihrer  zu  Kur- 
zwecken getroffenen  Veranstaltungen“  seien  (so  drückt  sich 
der  § 8a  aus),  so  ändert  dies  an  der  Sache  selbst  nichts.  Nur 
solcheKurtaxen,  weichewirklich  den  Charakter  derartiger  Ver- 
gütungen tragen  (dies  ist  aber  die  Minderzahl),  werden  das 
Privileg  gemessen,  dass  sie  ohne  Weiteres  im  Verwaltungs- 
Zwangsverfahren  beigetrieben  werden  können  (§  74).  Es 
kann  aber  nicht  gebilligt  werden,  dass  die  preussische  Ge-  1 
setzgebung  sich  in  derartigen  absichtlichen  Zweideutigkeiten 
gegenüber  der  Reichsgesetzgebung  bewege.  Die  Kurtaxen, 
wie  sie  heute  von  den  Gemeinden  erlassen  werden,  unter 
„Gebühren  und  Beiträge“  zu  bringen,  heisst  ein  Hinter- 
thürchen  öffnen,  nachdem  die  Reichsgesetzgebung  die  Vorder- 
thür verschlossen  hat.  Ein  böses  Beispiel  für  die  übrigen 
24  Gesetzgebungsapparate  des  deutschen  Reiches! 


Arbeiterzustände. 

Ein  Arbeitsamt  in  Oesterreich.  Der  Regierung  nahe- 
stehende Blätter  berichten,  dass  sich  das  Handelsministerium 
mit  der  Frage  der  Errichtung  eines  Arbeitsamtes  beschäftige 
und  dass  man  daselbst  das  bezügliche  Material  bereits  zu- 
sammenstelle. Wenn  sich  diese  Nachricht  bestätigen  sollte, 
dann  würde  die  Regierung  damit  nur  Anregungen  ent- 
sprechen, die  seit  Jahren  innerhalb  und  ausserhalb  des 
Parlaments  gemacht  wurden.  An  welches  ausländische 
Vorbild  sich  das  österreichische  Arbeitsamt  anlehnen  wird, 
ist  den  Meldungen  der  halbamtlichen  Zeitungen  nicht  zu 
entnehmen.  Es  wird  bloss  allgemein  angegeben,  dass  der 
Hauptzweck  des  Arbeitsamtes  die  Sammlung  und  Sichtung 
von  Behelfen  sei,  auf  deren  Basis  die  weitere  rationellere 
Entwickelung  der  sozialpolitischen  Gesetzgebung  zu  erfolgen 
hätte.  Es  habe  sich  nämlich  bei  der  bisherigen  Praxis  der 
schriftlichen  oder  mündlichen  Einholung  von  Informationen 
gezeigt,  dass  dieselben  dem  beabsichtigten  Zwecke  nicht  immer 
entsprechen.  — In  industriellen  Kreisen  schreibt  man  an- 
geblich dem  zu  kreirenden  Arbeitsamte  noch  eine  Ingerenz 
in  der  Richtung  zu,  auch  für  die  Kontinuität  der  Arbeit 
selbst  Vorsorge  zu  treffen.  So  begreiflich  und  berechtigt 
auch  dieser  Wunsch  offenbar  ist,  so  naiv  muss  er  erscheinen, 
wenn  man  bedenkt,  was  mit  dem  Wunsche  nach  „Konti- 
nuität“ der  Arbeit  dem  Arbeitsamte  eigentlich  zugemuthet 
wird.  Dem  Unternehmerthum  ununterbrochene  und  un- 
eingeschränkte Produktion  und  damit  der  arbeitenden  Be- 
völkerung dauernde  Beschäftigung  und  Lebensunterhalt  zu 
sichern,  ist  ein  Problem,  dessen  Lösung  von  einem  Arbeits- 
amte vielleicht  vorbereitet,  kaum  aber  ermöglicht  werden 
kann.  Selbst  die  blosse  Einflussnahme  auf  den  Arbeitsmarkt 
scheint  uns  bei  dem  absoluten  Mangel  jeglicher  Erfahrungen 
in  Oesterreich  bie  auf  Weiteres  ausgeschlossen  zu  sein, 
abgesehen  davon,  dass  dies  eine  organisatorische  und  ! 
administrativ -technische  Ausgestaltung  des  Arbeitsamtes 
erheischen  würde,  wie  sie  bisher  noch  in  keinem  Staate  . 
versucht  wurde.  Charakteristisch  für  die  herrschende  Un- 
klarheit ist  dieser  Wunsch  nach  „Kontinuität  der  Arbeit“ 
jedenfalls,  bezeichnend  aber  auch  für  die  empfundene  Noth- 
wendigkeit,  die  soziale  Gesetzgebung,  die  doch  nur  die 
wirthschaftlichen  Folgen  von  Unfall  und  Krankheit  mildert,  ; 
die  weit  schrecklicheren  der  Arbeitslosigkeit  aber  unberührt 
lässt,  entsprechend  auszugestalten  und  zu  vervollkommnen. 
Dieses  Bedürfniss  anerkennt  sogar  ein  Organ  der  Regierung.  \ 
indem  es  auf  die  gegenwärtige  Situation  hinweist,  „wo  in 
Wien  zahlreiche  Arbeiter  vergeblich  auf  Arbeit  warten,  wo 
eine  grosse  Anzahl  von  Fabriken  mit  reduzirten  Arbeits- 
kräften und  reduzirter  Arbeitszeit  arbeiten  müssen  und 
weitere  Arbeiterentlassungen  bevorstehen  . . .“ 

Löhne  in  Oberbayern  von  1884  bis  1892.  In  den  neue- 
sten Berichten  für  1892  der  bayrischen  Fabrik-  und  Gewerbe- 
inspectoren theilt  der  Beamte  für  Oberbayern  Seite  16  eine 
bemerkenswerthe  Zusammenstellung  über  die  Höhe  der 
Löhne  in  seinem  Bezirk  und  in  den  Jahren  1884  bezw.  1892 
mit.  Auf  Grund  amtlicher  Feststellungen,  welche  für  die 
Ausführung  der  Krankenversicherung  stattfanden,  giebt  der 
Inspektor  folgende  Uebersicht,  die  nach  ihm  „für  einen  sehr 
beträchtlichen  Theil  der  Arbeiterbevölkerung“  gilt;  es  be- 
trugen die  ortsüblichen  Tagelöhne  (in  Mark): 


für 

erwachsene  Arbeiter 

für 

jugendliche  Arbeiter 

männliche 

weibliche 

männliche 

weibliche 

von 

in 

S 

Mittel 

von 

S 

T3 

§ 

von 

c n 

'S 

Mittel 

von 

Ui 

13 

§ 

A.  in  den  Städten 
1884 

1.50 

2.30 

1.78 

1.00 

1.50 

1.32 

0 

öo 

0 

I.IO 

0.92 

0.70 

1.00 

0.80 

1892 

1.50 

2.30 

1.83 

1.00 

1.50 

1-32 

O 

00 

0 

I.IO 

0.92 

0.60 

1.00 

0.80 

B.  in  den  Bezirks- 
ämtern 1884 

1.30 

2.00 

1.6 1 

1.00 

1.50 

'•23 

0.60 

1.20 

O.9I 

,0.50 

1.00 

0.72 

1 892 

1.30 

2.00 

1.64 

1.00 

1.80 

1.26 

0.60 

1.20 

O.9I 

(0.50 

1.00 

0.73 

Es  ist  noch  sehr  zurückhaltend,  wenn  der  Beamte  hierzu 
nur  schreibt:  „Die  Zusammenstellung  lässt  darauf  schliessen. 
dass  bei  dieser  Arbeiterkategorie  eine  wesentliche  Erhöhung 


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der  Lohnsätze  seit  dem  Jahre  1884  nicht  eingetreten  ist; 
ferner  zeigt  sich  auf’s  Neue,  wie  die  Löhne  in  den  länd- 
lichen Bezirken,  wenigstens  bei  den  erwachsenen  männlichen 
Arbeitern,  hinter  den  in  den  Städten  üblichen  zurückstehen.“ 
Man  darf  wohl  hinzufügen,  dass  in  einem  derartigen  Gleich- 
bleiben der  Löhne  während  eines  Zeitraumes  von  acht 
Jahren  eine  Erscheinung  amtlich  festgestellt  ist,  die  sehr 
Viele  an  dem  Segen  der  fortschreitenden  Zivilisation  für 
für  die  Arbeiter  unter  dem  heutigen  Wirthschaftssystem 
zweifeln  lassen  wird. 


Politische  Arbeiterbewegung. 

Die  Revision  der  Verfassung  in  Belgien 
und  die  Arbeiteragitationen. 

Nach  unermüdlichem,  ein  Vierteljahrhundert  währenden 
Kampfe  ist  endlich  der  belgischen  radikalen  und  der  demo- 
kratischen Partei  der  Lohn  ihrer  Anstrengungen  geworden. 
Es  galt,  der  Arbeitermasse,  die  bisher  von  der  Leitung  der 
öffentlichen  Angelegenheiten  ausgeschlossen  war,  das  Wahl- 
recht zuzugestehen.  Die  fortschrittlichen  Liberalen  (Radi- 
kalen) erblickten  hierin  ein  Werk  der  Gerechtigkeit,  von 
dem  Gesichtspunkt  ausgehend,  dass,  wenn  die  Arbeiter  viel- 
fache Pflichten  hätten,  sie  auch  entsprechende  Rechte  haben 
müssten.  Die  Sozialisten,  welche  die  Frage  unter  dem 
gleichen  Gesichtspunkte  betrachteten,  sahen  in  jenem  Rechte 
zudem  das  von  Lassalle  empfohlene  Mittel,  auf  dem  Wege 
der  Erlangung  der  politischen  Gewalt  die  Verwirklichung 
ihrer  Ideen  durchzusetzen. 

Die  bisher  geltende  Bestimmung  der  belgischen  Ver- 
fassung, wie  sie  am  7.  Februar  1831  beschlossen  worden, 
lautete  folgendermassen : „Die  Kammer  der  Volksvertreter 
wird  gebildet  von  den  Abgeordneten,  welche  unmittelbar 
von  den  Bürgern  gewählt  werden,  die  den  vom  Gesetz  be- 
stimmten Steuersatz  zahlen;  derselbe  darf  weder  100  Florins 
direkter  Abgaben  überschreiten,  noch  weniger  als  20  Florins 
betragen.“  ( Der  Florin  ist  der  holländische  Gulden;  20  Flo- 
rins = 42,33  Francs.) 

Der  Steuersatz  blieb  bis  1848  ein  sehr  hoher.  In  diesem 
Jahre  machten  sich  in  Belgien  die  Wirkungen  der  französi- 
schen Revolution  fühlbar.  Es  wurde  eine  Revision  der  Ver- 
fassung oder  doch  zum  wenigsten  des  Wahlgesetzes  bean- 
tragt. Das  Kabinet  Frere-Orban,  welches  damals  die  Leitung 
hatte,  wollte  das  Stimmrecht  jeder  mit  einem  Diplom  ver- 
sehenen Person  zuerkennen.  ' Die  Kammer  indessen  ent- 
schied anders.  In  einer  einzigen  Sitzung  änderte  sie  das 
Wahlgesetz  und  setzte  den  Steuersatz  auf  das  von  der  Ver- 
fassung geforderte  Minimum  (von  20  Florins)  herab,  ohne 
den  mit  einem  Diplom  Versehenen  etwas  zuzugestehen.  Bei 
diesem  System  sind  von  6000000  Einwohnern  nur  130000 
wahlberechtigt.  Die  mittlere  Bourgeoisie  bildet  infolgedessen 
die  Grenze  zwischen  den  Wahlberechtigten  und  den  Nicht- 
Wahlberechtigten.  Die  in  Belgien  so  zahlreiche  Klasse  der 
Kleinbürger  und  die  Arbeiterklasse  wurden  ausgeschlossen. 

Die  Bewegung  zum  Zwecke  der  Beseitigung  dieser 
offenbaren  Ungerechtigkeit  begann  gegen  1870.  Die  in 
P.  Janson  und  E.  Feron  verkörperte  radikale  Fortschritts- 
partei unternahm  den  Kampf  und  zwar  gegen  die  verein- 
ten Parteien  der  Katholiken  und  gemässigt  Liberalen.  Ver- 
treter der  alten  Ideen,  der  philosophischen  Freiheitsideen, 
und  eine  äusserst  kleinliche  Politik  treibend , die  vor  allem 
an  dem  Fehler  leidet,  dass  sie  nicht  mit  den  Thatsachen 
rechnet,  sie  womöglich  geringschätzt,  nehmen  diese  beiden 
Parteien  gleichen  Äntheil  an  der  schweren  Verantwortlich- 
keit, nichts  irgendwie  Hervorragendes  gethan  zu  haben.  Die 
Mehrheiten,  über  welche  namentlich  die  liberale  Partei 
manchmal  verfügte,  hätten  gestattet,  eine  Menge  Fragen 
von  höchster  Wichtigkeit  zu  erledigen,  auf  deren  Lösung 
man  noch  jetzt  wartet:  die  Frage  des  Stimmrechts,  der 
Steuerreform,  die  Militärfrage  (Abschaffung  des  Loskau- 
fens),  die  so  wesentliche  Frage  des  Unterrichts  aller  Stufen 
und  vor  allem  des  höheren,  die  Schaffung  einer  Arbeiter- 
schutz-Gesetzgebung, welche  znr  Zeit  noch  sehr  armselig 
ist,  u.  s.  w.  u.  s.  w. 

Von  der  Arbeiterbewegung  unterstützt,  setzten  die  fort- 


schrittlichen Führer  ihren  Feldzug  unermüdlich  fort.  In  den 
letzten  23  Jahren  gab  es  ununterbrochen  Konferenzen,  Ver- 
sammlungen, Kongresse,  Manifestationen,  Petitionen.  Es  ist 
eine  höchst  bemerkenswerthe  Erscheinung,  dass  einige  that- 
kräftige,  mit  eisernem  Willen  begabte  Männer  es  verstanden 
haben,  einem  Parlament,  das  in  Wahrheit  die  Revision 
lediglich  begraben  wollte,  eine  Idee  aufzudringen,  welche 
die  Gerechtigkeit,  die  Billigkeit  und,  sagen  wir,  die  politi- 
sche Zweckmässigkeit  gebot.  Der  Kampf  um  die  Entschei- 
dung in  der  Revisionsfrage  war  bereits  ausserordentlich 
lebhaft.  Die  gesammte  Arbeiterbevölkerung  Belgiens  nahm 
an  ihm  theil  durch  Strikes  wie  durch  Manifestationen.  1892 
endlich  wurde  die  Revision  beschlossen.  Nach  Art.  131  der 
Verfassung  „hat  die  gesetzgebende  Gewalt  das  Recht,  zu 
erklären,  dass  die  Revision  der  Verfassungsbestimmung 
: eintreten  soll,  welche  sie  bezeichnet.  Nach  dieser  Er- 
klärung werden  die  Kammern  allen  Rechtens  aufgelöst. 
Hierauf  werden  neue  gewählt.  In  diesem  Falle  können  die 
Kammern  nicht  berathen,  wenn  nicht  mindestens  zwei  Drittel 
der  Mitglieder,  welche  jede  von  ihnen  bilden,  anwesend 
sind,  und  es  darf  keine  Aenderung  angenommen  werden, 
wenn  sich  bei  der  Abstimmung  nicht  mindestens  eine  Zwei- 
drittel-Mehrheit für  sie  ergiebt.“ 

Zwischen  der  liberalen  Partei  und  der  Arbeiterpartei 
kam  ein  Bündniss  zu  stände,  das  sog.  Brüsseler  Bündniss. 
Nach  den  Juniwahlen  des  Jahres  1892  zählte  die  Kammer 
der  Volksvertreter  30  Anhänger  des  allgemeinen  Stimm- 
rechtes und  122  Gegner  dieses  Systems;  einige  wären  sogar 
für  die  Beibehaltung  des  alten  Systems  eingetreten.  Es 
mussten  somit  jene  30  es  durchsetzen,  dass  das  Parlament 
die  Verfassung  in  einer  Weise  revidirte,  welche  der  Demo- 
kratie billige  Genugthuung  schaffen  würde.  Die  Aufgabe 
war  eine  schwere,  aber  sie  schüchterte  die  Leute,  welche 
seit  länger  als  20  Jahre  kämpften,  keineswegs  ein. 

Das  arbeitende  Volk,  welches  seinerseits  keine  Abge- 
ordneten ins  Parlament  zur  Entscheidung  über  das  allge- 
meine Stimmrecht  schicken  konnte,  bezeugte  seine  Wünsche, 
seinen  Willen  durchManifestationen,  Versammlungen,  Strikes. 
Die  Agitation  war  unerhört.  Die  Schwerfälligkeit  der  Kammern, 
die  thörichten  Reden  der  Doktrinäre,  welche,  für  alles  blind, 
was  geschah,  immer  wieder  sagten,  dass  das  belgische  Volk 
das  allgemeine  Stimmrecht  nicht  wolle,  alles  dies  trug  bei 
zur  Ueberreizung  der  Geister,  und  überall  lastete  Miss- 
behagen auf  dem  Lande. 

Die  Regierung  war  Willens  (wie  die  Ereignisse  be- 
wiesen haben),  den  Anforderungen  der  Gerechtigkeit  zu 
entsprechen.  Aber  wie  dies  erreichen?  Sie  war  selbst  aus 
der  katholischen  Rechten  hervorgegangen,  von  der  ein 
grosser  Theil  einer  entschiedenen  Wahlreform  abgeneigt 
war;  die  gemässigte  Linke  hatte  kein  Programm,  oder  es 
bestand  vielmehr  in  der  Annahme  des  alten  Systems  mit 
einigen  Abänderungen,  oder  eines  anderen  ebenso  schlechten 
und  anti-demokratischen.  Allein  die  radikale  Linke  trat  für 
das  allgemeine  Stimmrecht  ein;  sie  zählte  indessen  nur 
30  Mitglieder. 

Da  die  Doktrinäre  immer  und  immer  wiederholten,  dass 
die  Mehrheit  der  Belgier  das  allgemeine  Stimmrecht  nicht 
wolle,  machten  die  Fortschritts-  und  Arbeiterparteien  den 
Vorschlag,  ein  für  alle  Male  und  in  gesetzlicher  Weise 
sämmtliche  Bürger  zu  befragen,  und  zwar  durch  die  Organi- 
sation eines  Referendums  unter  der  Leitung  der  Kommunal- 
behörden. Es  war  dies  in  der  That  das  einzige  logische 
Mittel,  den  Willen  des  Volkes  kennen  zu  lernen,  den  man 
so  verschieden  deutete.  Die  Gemässigten  erklärten,  um  das 
Referendum  zu  hintertreiben,  dass  dasselbe  verfassungs- 
widrig sei,  und  die  Regierung  erliess  in  diesem  Sinne  eine 
Verordnung  an  alle  Kommunalbehörden.  Die  politischen 
Parteien  mussten  in  Folge  dessen  die  Sache  selbst  ins 
Werk  setzen.  An  verschiedenen  Orten  wurden  sie  von  der 
Kommunalbehörde  unterstützt.  Ueberall,  wo  sie  statt  hatte, 
erhielt  das  allgemeine  Stimmrecht  eine  überwältigende 
Mehrheit.  Wie  ernst  man  dieses  Referendum  nahm  und 
welche  Bedeutung  man  ihm  beimass,  das  beweist,  dass  der 
König  den  Vorsitzenden  des  Brüsseler  Bureaus  empfing, 
und  die  englische  Regierung  ihren  Vertreter  beauftragte, 
über  die  Befragung  Bericht  zu  erstatten. 

Es  beginnen  nunmehr  die  parlamentarischen  Verhand- 
lungen; zahlreiche  Anträge  werden  gestellt,  — das  allgemeine 


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Stimmrecht  mit  21  Jahren,  mit  25  Jahren,  das  System  desWohn- 
sitzes  der  politischen  Fähigkeit  u.  s.  w.  Währenddessen  setzt 
die  Arbeiterpartei  ihre  Agitation  fort.  Das  Centralkomite  und 
die  örtlichen  Kommissionen  machen  bekannt,  dass,  falls  das 
allgemeine  Stimmrecht  nicht  durchgehe,  dies  den  allge- 
meinen Strike  bedeuten  würde.  Donnerstag  den  6.  April 
versammelt  sich  der  Oberste  Rath  in  Brüssel.  Ein  Bünd- 
niss  von  Doktrinären  will  mittelst  einer  neuen  Fassung, 
die  als  Provisorium  ausgegeben  wird,  für  den  Fall  helfen, 
dass  alle  anderen  scheitern,  — • eine  Fassung,  von  welcher 
der  Kabinetschef  selbst  sagt,  dass  es  bedauerlich  wäre, 
wenn  die  Bemühungen  zweier  Jahre  mit  der  Annahme 
„eines  sogenannten  Provisoriums“  endigten,  „das  in  Wahr- 
heit ein  schmähliches  Definitivum  bedeutet.“  Angesichts 
dieses  traurigen  Bündnisses,  welches  der  Oberste  Rath  der 
Arbeiterpartei  als  eine  Herausforderung  ansieht,  bestimmt 
er,  „dass  es  für  die  Arbeitergruppen  gerathen  sei,  sich  für 
den  Fall,  dass  die  Regierung  und  das  Staatsoberhaupt  der 
Verfassung  gestatteten,  das  gegen  das  Volk  gerichtete 
Attentat  zu  verüben,  zum  Widerstande  vorzubereiten,  und 
beschliesst,  sich  Dienstag  den  11.  in  Brüssel  mit  den  Dele- 
girten  der  Provinzialverbände  zu  versammeln,  um  die  zu 
ergreifenden  Massregeln  festzusetzen“.  Am  11.  gerade 
wird  die  Kammer  über  die  verschiedenen  Systeme  ab- 
stimmen. Am  9.  April  findet  noch  eine  grosse  Versamm- 
lung in  Brüssel  statt.  Sie  erklärt,  dass  im  Falle  der  Ver- 
werfung des  allgemeinen  Stimmrechtes  das  Volk  alle 
Mittel,  die  ihm  zu  Gebote  ständen,  gebrauchen  werde,  um 
seine  Rechte  zu  erlangen. 

Auch  in  Lüttich  kommt  die  Bewegung  in  Fluss.  In- 
dessen lässt  sich  bereits  Vorhersagen,  dass  das  allgemeine 
Stimmrecht  in  seiner  reinen  Gestalt  nicht  durchgehen  werde. 
Nicht  einmal  einer  der  gestellten  Anträge  scheint  eine  ge- 
nügende Mehrheit  für  sich  zu  haben. 

Am  10.  April  heisst  es,  dass  ein  Antrag  auf  mehrfaches 
Stimmrecht  von  einem  Mitgliede  der  Rechten  eingebracht 
werden  wird,  dass  die  äusserste  Linke  ihn  unterstützen  wird 
und  dass  die  Regierung  ihn  annehmen  könne. 

Angesichts  des  11.  werden  der  Polizei,  der  Feuerwehr 
und  der  Gendarmerie  Verhaltungsmassregeln  ertheilt,  und 
der  Kriegsminister  ruft  eine  Anzahl  Milizen  unter  die  Waffen. 

Am  11.  verwirft  die  Kammer  das  allgemeine  Stimm- 
recht mit  21  und  mit  25  Jahren  mit  einer  starken  Mehrheit, 
ebenso  verschiedene  andere  Systeme.  Der  Oberste  Rath 
der  Arbeiterpartei  erklärt  den  allgemeinen  Strike. 

Sobald  die  Entscheidung  des  Brüsseler  Obersten  Rathes 
bekannt  wurde,  Hessen  die  Komite’s  von  Lüttich,  Ver- 
viers  u.  A.  Bekanntmachungen  anschlagen,  welche  den  Strike 
verkündeten.  Im  Kohlenbezirk  Borinage,  wo  seit  einiger 
Zeit  bereits  in  Folge  grossen  Elendes  Gefahr  drohte,  ver- 
lassen die  Arbeiter  ohne  Zögern  die  Arbeit.  Am  12.  wer- 
den sämmtliche  bisher  in  der  Kammer  gestellten  Anträge 
abgelehnt,  selbst  der  Regierungsvorschlag.  Hierauf  bringt 
Nyssens  (Rechte)  den  Antrag  des  mehrfachen  Stimmrechts 
ein.  Er  findet  anscheinend  die  Billigung  einiger  Mitglieder 
der  Rechten,  der  radikalen  Linken  und  der  Regierung.  Da 
man  aber  nicht  über  ihn  abstimmen  kann,  ohne  dass  die 
Parteien  Zeit  gehabt  hätten,  ihn  zu  diskutiren,  so  kommt 
man  dahin  überein,  am  nächsten  Dienstag  über  ihn  zu  be- 
schliessen. 

Der  Strike  gewinnt  an  Ausdehnung.  Indessen  scheinen 
die  Leiter  der  Arbeiterpartei  darin  einig  zu  sein,  dass  im 
Falle  der  Annahme  des  Nyssens’schen  Vorschlags  die  Ar- 
beitseinstellung aufhören  solle.  Dieser  Vorschlag  lautet: 
Eine  Stimme  den  Bürgern  im  Alter  von  25  Jahren,  welche 
einen  einjährigen  Wohnsitz  haben;  unter  welchen  Bedin- 
gungen der  Ausschluss  hiervon  eintritt,  wird  durch  Gesetz 
bestimmt. 

Eine  Zusatz  stimme  (vote  supplementaire)  den  Per- 
sonen, welche  die  folgenden  Bedingungen  vereinigen; 

1.  35  Jahre  alt,  verheirathet  oder  verwittwet,  mit  legi- 
timer Abkunft,  ferner  mindestens  5 Francs  direkte  Steuern 
zahlen; 

2.  25  Jahre  alt  und  Besitzer  von  Grundeigenthum  im 
Werthe  von  mindestens  2000  Frcs.  oder  eines  Einkommens 
von  gleichem  Betrage  sind,  eine  Rente  vom  Staate  oder 
von  der  Sparkasse  von  mindestens  100  Frcs.  beziehen; 


3.  Inhaber  sind  eines  Diploms  des  höheren  Unterrichts 
oder  eines  Zeugnisses  über  den  Besuch  der  Kurse  des  mitt- 
leren Unterrichts  höheren  Grades,  oder  solche,  von  denen 
Kraft  der  von  ihnen  bekleideten  Funktionen  angenommen 
werden  kann,  dass  sie  die  fraglichen  Kenntnisse  besitzen. 
Niemand  kann  mehr  als  drei  Stimmen  zusammen  haben.“ 

Bis  jetzt  ist  der  Erfolg  nicht  sicher,  da  die  Doktrinäre 
beider  Parteien  noch  Anträge  stellen.  In  der  zur  Prüfung 
des  Nyssens’schen  Entwurfes  und  der  anderen  Anträge  ein- 
gesetzten Kommission  ist  der  Kampf  äusserst  lebhaft.  Die 
Rechte  wird  nur  durch  die  energische  Haltung  der  Regie- 
rung gewonnen. 

Der  Strike  dehnt  sich  von  Tag  zu  Tag  aus;  in  Brüssel, 
Lüttich,  Mons,  Verviers,  Löwen,  Antwerpen,  Gent,  überall 
nimmt  die  Gährung  zu.  Viele  Zeitungen  tadeln  die  Ent- 
scheidung der  Arbeiterpartei. 

Am  Donnerstag  den  13.  April,  Abends,  nehmen  in 
Brüssel  die  Manifestationen  einen  beunruhigenden  Charakter 
an.  Es  werden  Vermögensbeschädigungen  verübt,  bei  Zu- 
sammenstössen  mit  der  Polizei  giebt  es  auf  beiden  Seiten 
Verwundete.  Einige  Sozialistenführer  werden  verhaftet, 
dann  aber  bald  wieder  entlassen.  Im  Borinage  verschlim- 
mert sich  die  Lage,  ebenso  in  Gent;  in  Charleroi  beginnt 
der  Strike,  nachdem  sich  das  Exekutiv-Komitee  der  Ritter 
der  Arbeit  für  ihn  entschieden. 

Ueberall  ergreifen  die  Behörden  polizeiliche  Mass- 
nahmen (selbst  in  den  grossen  Städten  ist  der  Bürgermeister 
Chef  der  Polizei).  Es  hat  sich  nun  aber  stets  bewahrheitet, 
dass  unter  derartigen  Umständen  Zwangsmassregeln  die 
Unruhen  nur  noch  vermehrten.  Namentlich  in  diesem 
Falle,  wo  die  Manifestanten  Gerechtigkeit  verlangten,  wo 
diejenigen,  welche  die  Ordnung  aufrecht  zu  erhalten  hatten, 
selbst  von  der  Wohlbegründetheit  der  Forderungen  des 
Volkes  überzeugt  waren,  hätte  man  die  Polizeimassregeln 
nach  Möglichkeit  einschränken  müssen. 

In  Mons  wurde  die  Bürgergarde  durch  eine  ungeheure 
Masse  aus  der  Umgegend  gekommener  Strikender  ange- 
griffen und  mit  Steinen  überschüttet,  worauf  sie  ohne  Kom- 
mando feuerte.  7 Strikende  wurden  getödtet,  zahlreiche  , 

verwundet.  Ebenso  fand  in  Antwerpen  mehrfach  blutiges  h 

Handgemenge  statt. 

Dienstag  den  18.  April  endlich  nimmt  die  Kammer  der 
Volksvertreter  den  Entwurf  Nyssens  mit  119  gegen  14 
Stimmen  an;  12  Abgeordnete  enthalten  sich  der  Abstim- 
mung. Bemerkenswerth  ist,  dass  in  dieser  letzten  Sitzung  < 

die  Doktrinäre,  welche  jederzeit  die  politische  Gleichheit  j 

bekämpften,  der  Nyssens’schen  Fassung  beizutreten  sich  < 

weigern,  weil  sie  behaupten,  dass  sie  eine  Ungleichheit  zum  * 

Gesetze  erhebe. 

Die  Nachricht  hiervon  wird  in  ganz  Belgien  freudig  be- 
grüsst.  Bringt  sie  auch  nicht  das  allgemeine  Stimmrecht  in 
seiner  reinen  Gestalt,  so  erklärt  sich  doch  die  Arbeiter 
partei  für  befriedigt,  denn  der  grosse  Schritt  ist  gethan:  er 
bedeutet  die  Anerkennung  der  politischen  Gleichheit  und 
das  Ende  des  alten  Censussystems.  Die  Arbeiter,  welche 
von  dem  neuen  Vorschlag  wenig  wussten  und  welche  die  1 
Komplizirtheit  desselben  abschreckte,  erkennen  allmählich 
seine  Vorzüge  und  überall  hören  die  Strikes  auf,  kehrt  die 
Ordnung  wieder. 

Werden  wir  uns  nunmehr  klar  über  die  Veränderung, 
welche  die  Nyssens’sche  Fassung  mit  sich  bringt.  Früher  gab 
es  130000  Wähler;  das  neue  System  wird  schaffen:  a)  1 200000 
von  25  Jahren,  b)  360000  Familienväter,  c)  240000,  welche 
5 Francs  directe  Steuern  zahlen,  d)  30000  mit  Diplomen 
versehene.  Offenbar  spricht  der  Unterschied  zwischen  den 
130000  Wählern  des  alten  Systems  und  den  1200000  im 
Alter  von  25  Jahren  ganz  zu  Gunsten  der  Demokratie. 

Nunmehr  bleiben  noch  übrig  die  Beschlussfassung  über 
das  Wahlgesetz,  die  Aenderung  der  Zusammensetzung  des 
Senats  und  einiger  anderen  Artikel  der  Verfassung.  Zur 
Vervollständigung  des  allgemeinen  Stimmrechts,  zur  Ver- 
hinderung der  Unterdrückung  der  Minderheiten,  sowie  der 
Parteipolitik,  welche  bisher  in  Belgien  ihre  Blüthen  trieb, 
werden  vorgeschlagen:  die  Proportional-Vertretung  (der 

Minderheiten),  welche  man  bereits  in  der  Schweiz  versuchte, 
die  Vertretung  der  Interessen  und  das  königliche  Referendum. 

Der  Senat  besteht  zur  Zeit  aus  Bürgern,  die  aus  der 
Klasse  derer  gewählt  wurden,  die  40  Jahre  alt  sind  und 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRAI  .BLATT. 


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1000  Florins  (2200  Francs)  direkte  Abgaben,  mit  Inbegriff 
der  Patentsteuer,  zahlen.  Auf  6000000  Einwohner  kommen 
600,  welche  Senatoren  werden  können.  Es  wird  der  Vor- 
schlag gemacht,  den  Betrag  der  nothwendigen  Steuern  auf 
500  Francs  herabzusetzen  und  ohne  Steuerzahlung  die  ge- 
sammte  Elite  der  liberalen  Berufe  zuzulassen.  Gewisse 
Vorschläge  wollen  auch,  dass  Senator  jeder  Arbeiter  werden 
kann,  der  einem  Gewerbegericht  oder  einem  Gewerbe-  und 
Arbeitsrath  zugehört. 

Belgien  ist  wieder  ruhig  geworden.  Man  ist  hierüber 
um  so  mehr  erfreut,  als  die  Gefahr  eine  wahrhaft  bedenk- 
liche war.  Das  belgische  Volk  hat  endlich  erreicht,  dass  es 
insgesammt  Theil  nehmen  kann  an  dem  politischen  Leben 
seines  Landes,  und  wie  sehr  die  Arbeiter  die  von  ihnen  so- 
eben erlangte  Revision  nach  ihrem  rechten  Werthe  wür- 
digen, bezeugt  folgender  Zug:  Bergleute  aus  der  Lütticher 
Gegend,  welche  an  einer  von  der  Arbeiterpartei  veranstal- 
teten Manifestation  anlässlich  des  Befreiungswerkes  theil- 
nahmen,  beschlossen,  dass  sie  nicht  nur  die  rothe  Fahne 
tragen  würden,  welche  jene  ihres  wirthschaftlichen  Glaubens 
sei,  sondern  auch  zum  ersten  Male  die  dreifarbige  belgische 
Fahne,  die  Fahne  der  Nation:  „Jetzt,“  sagten  sie,  „sind  wir 
Bürger  in  unserem  Lande,  und  jetzt  haben  wir  ein  Vater- 
land.“ 

Brüssel.  E.  Vinck. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Zum  Arbeiterschutz  im  englischen  Eisenbahnbetrieb. 

Dem  englischen  Unterhause  ist  eine  Regierungsvorlage  be- 
treffend die  Arbeitsstunden  der  Eisenbahnbediensteten  zuge- 
gangen. Bei  der  am  21  April  stattgefundenen  Berathung  bean- 
tragte Gorst,  dass  acht  Arbeitsstunden  für  Signalisten  und  zehn 
Stunden  für  die  anderen  Angestellten  prima  facie  als  über- 
trieben erklärt  werden  mögen.  Der  Präsident  des  Handels- 
amtes, Mundella,  bekämpfte  den  Antrag,  welcher  nach  längerer 
Debatte  mit  257  gegen  71  Stimmen  abgelehnt  wird.  Da- 
gegen wurde  die  Bill  der  Regierung  am  27.  April  in  dritter 
Lesung  angenommen. 


Arbeiterversicherung. 

Zur  Statistik  der  Alters-  und  Invaliditätsversicherung. 

Nach  den  im  Reichs-Versicherungsamt  angefertigten  Zu- 
sammenstellungen, welche  auf  den  von  den  Vorständen  der 
Versicherungsanstalten  und  der  zugelassenen  besonderen 
Kasseneinrichtungen  gemachten  Angaben  beruhen,  betrug 
am  ki.  März  1893  die  Zahl  der  seit  dem  Inkrafttreten  des 
Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetzes  erhobenen  An- 
sprüche auf  Bewilligung  von  Altersrente  bei  den  31  Ver- 
sicherungsanstalten und  den  9 vorhandenen  Kasseneinrich- 
tungen 235620.  Von  diesen  wurden  184 749  Rentenansprüche 
anerkannt  und  41252  zurückgewiesen,  4786  blieben  un- 
erledigt, während  die  übrigen  4833  Anträge  auf  andere 
Weise  ihre  Erledigung  gefunden  haben.  Von  den  erhobe- 
nen Ansprüchen  entfallen  auf  Schlesien  27098,  Ostpreussen 
21  712,  Brandenburg  18066,  Rheinprovinz  15639,  Hannover 
13&99\  Sachsen- Anhalt  13371,  Posen  12298,  Schleswig- 
Holstein  8991,  Westfalen  8897,  Westpreussen  887 1,  Pommern 
7913,  Hessen-Nassau  5153,  Berlin  2561. 

Auf  die  8 Versicherungsanstalten  des  Königreichs 
Bayern  kommen  23728  Altersrentenansprüche,  auf  das 
Königreich  Sachsen  9860,  Württemberg  5263,  Baden  4443, 
Grossherzogthum  Hessen  3907,  beide  Mecklenburg  4831,  die 
Thüringischen  Staaten  492^>  Oldenburg  852,  Braunschweig 
1648,  Hansestädte  1626,  Elsass-Lothringen  7010  und  auf  die 
9 zugelassenen  Kasseneinrichtungen  insgesammt  3255. 

Die  Zahl  der  während  desselben  Zeitraums  erhobenen 
Ansprüche  auf  Bewilligung  von  Invalidenrente  betrug  bei 
den  31  Versicherungsanstalten  und  den  9 Kasseneinrichtungen 
insgesammt  46901.  Von  diesen  wurden  25253  Renten- 
ansprüche anerkannt  und  13972  zurückgewiesen,  5335  blieben 
unerledigt,  während  die  übrigen  2341  Anträge  auf  andere 
Weise  ihre  Erledigung  gefunden  haben.  Von  den  geltend 
gemachten  Invalidenrentenansprüchen  entfallen  auf  Schlesien 


6535,  Rheinprovinz  3689,  Ostpreussen  3613,  Hannover  2474, 
Brandenburg  2292,  Sachsen-Anhalt  2050,  Westpreussen  2037, 
Posen  1718,  Westfalen  1692,  Pommern  1587,  Hessen-Nassau 
1014,  Schleswig-Holstein  694,  Berlin  661.  Auf  die  8 Ver- 
sicherungsanstalten des  Königreichs  Bayern  kommen  6036 
Invalidenrentenansprüche,  auf  das  Königreich  Sachsen  1625, 
Württemberg  1298,  Baden  1359,  Grossherzogthum  Hessen 
550,  beide  Mecklenburg  536,  die  Thüringischen  Staaten  803, 
Oldenburg  129,  Braunschweig  286,  Hansestädte  239,  Elsass- 
Lothringen  961  und  auf  die  9 Kasseneinrichtungen  ins- 
gesammt 3023. 

Unter  den  Personen,  die  in  den  Genuss  der  Invaliden- 
rente traten,  befanden  sich  795,  welche  bereits  vorher  eine 
Altersrente  bezogen. 

Zur  Arbeiterversicherung  in  Schweden.  Die  schwe- 
dische Regierung  hatte  kürzlich  eine  Kommission  ernannt, 
um  die  Frage  wegen  Einführung  einer  Arbeiterversicherung' 
zu  studiren.  Diese  Kommission  veröffentlicht  nun  ein  Gut- 
achten, in  welchem  sie  sich  für  eine  obligatorische  Arbeiter- 
versicherung ausspricht.  Die  Grundzüge  der  Vorlage  sind 
folgende : Die  Arbeiter  werden  in  drei  Klassen  getheilt.  Zu 
der  ersten  gehören  die  Arbeiter,  welche  eine  Einnahme  von 
500 — 1800  Kronen  jährlich  haben,  die  zweite  Klasse  umfasst 
die  Arbeiter,  deren  Einkommen  hauptsächlich  aus  Natural- 
leistungen bestehen,  und  zur  dritten  Klasse  gehören  die 
Arbeiterinnen.  Die  Arbeiter  werden  bei  einem  Durchschnitts- 
alter von  60  Jahren  pensionsberechtigt.  Nachdem  die  Ver- 
sicherung nach  Verlauf  von  50  Jahren  vollständig  durch- 
geführt worden  ist,  sollen  die  Pensionen  in  den  erwähnten 
drei  Klassen  250,  150  und  90  Kronen  betragen.  Die 

wöchentliche  Abgabe  an  die  Pensionsanstalt  beträgt  50  Oere 
(60  Pfg.)  in  der  ersten,  30  in  der  zweiten  und  20  in  der 
dritten  Klasse.  Von  diesen  Abgaben  bezahlt  der  Arbeit- 
geber die  eine  und  der  Arbeiter  die  andere  Hälfte.  Ausser- 
dem zahlt  der  Staat  jährlich  an  die  Pensionsanstalt  einen 
wachsenden  Betrag,  der  nach  Verlauf  von  80  Jahren  sein 
Maximum  erreichen  wird. 


Kriminalität. 

Herkunft  der  Insassen  von  Gefängnissen  und  Armen- 
häusern in  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika.  Ein 

vor  kurzer  Zeit  von  dem  Censusamt  der  nordamerikanischen 
Union  veröffentlichter  Bericht  bringt  eine  vergleichende 
Statistik  der  einheimischen  und  der  fremden  Elemente,  die 
sich  in  den  Gefängnissen  und  den  Armenhäusern  befanden. 
Von  den  82  329  Gefangenen  waren  bei  dem  letzten  Census 
57310  Weisse,  24277  Neger,  407  Chinesen,  13  Japanesen 
und  322  Indianer.  Von  den  114620  Eltern  der  weissen 
Gefangenen  waren  45  732  in  den  Vereinigten  Staaten  ge- 
boren, 60  153  waren  eingewandert,  die  Herkunft  von  8735 
war  unbekannt.  Abgesehen  von  den  letzteren  ist  der  Pro- 
zentsatz der  von  eingeborenen  Eltern  abstammenden  Ge- 
fangenen 43,19,  der  von  eingewanderten  Eltern  abstammen- 
den 56  81.  Von  den  73045  Insassen  der  Armenhäuser 
waren  66578  Weisse,  6418  Neger,  13  Chinesen  und  36  In- 
dianer. Von  den  133  156  Eltern  der  weissen  Armenhaus- 
bewohner waren  45  215  Eingeborene,  63587  Eingewanderte, 
von  24  354  war  die  Herkunft  unbekannt.  Letztere  abge- 
rechnet stellte  sich  der  Prozentsatz  der  ersten  Kategorie 
zur  zweiten  gleich  41.56  pCt.  zu  58.44  pCt. 


Wohlfahrtseinrichtungen. 

Konferenz  der  Zentralstelle  für  Arbeiter-Wohlfahrts- 
Einrichtungen.  Wie  im  vorigen,  so  fand  auch  in  diesem 
Jahre,  (am  21.  und  22.  April)  in  Berlin  eine  Konferenz  der 
Zentralstelle  für  Arbeiter -Wohlfahrts- Einrichtungen  statt. 
Der  Geist,  von  welchem  die  Verhandlungen  sich  erfüllt  zeigten, 
unterschied  sich  in  keiner  Weise  von  dem  der  vorange- 
gangenen Konferenz.  Wir  haben  denselben  bereits  wiederholt 
erörtert,  (vgl.  Sozialpolitisches  Centralblatt,  Jahrg.  I,  S.  232  fg. 
und  S.  247  fg.),  und  können  angesichts  der  letzten  Ver- 
handlungen nur  wiederholen,  was  wir  schon  einmal  ausge- 


374 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  31. 


sprochen:  Die  deutschen  Arbeiter  sind  dem  in  den  Kreisen 
der  Zentralstelle  und  auf  ihren  Konferenzen  überwiegend  herr- 
schenden System  der  Bevormundung  entwachsen,  sie  fühlen  i 
sich  als  Klasse  und  deshalb  wird  man  ihnen  nur  als  Klasse,  nicht 
aber  nach  Fabrikpersonalen  gesondert  nützen  können.  Nur 
unter  freier  Mitbethätigung  und  Selbstverwaltung  der  Arbeiter 
werden  Wohlfahrtseinrichtungen  für  die  Arbeiter  von  Nutzen 
sein.  Verfolgt  man  aber  mit  ihnen  Nebenzwecke,  über  die 
Arbeitszeit  hinausgehende  Beeinflussung  und  politische  oder 
religiöse  Bekehrungsversuche,  so  werden  die  Wohlfahrts- 
Einrichtungen  nicht  nur  den  sozialen  Frieden  nicht  anbahnen, 
sondern  steigende  Erbitterung  und  Misstrauen  erzeugen. 
Mit  dieser  Ansicht  stehen  wir  in  entschiedenem  Gegensatz 
zu  der  Konferenz,  von  der  wir  uns  daher  nur  eine  wenig 
erspriessliche  Wirkung  versprechen,  immerhin  halten  wir 
es  für  unsere  Pflicht,  über  den  Verlauf  ihrer  Verhandlungen 
zu  referiren,  und  thun  dies,  indem  wir  den  Bericht  des 
Reichsanzeigers  folgen  lassen: 

Auf  der  Tagesordnung  der  Konferenz  der  Centralstelle  für 
Arbeiter- Wohlfahrts- Einrichtungen  standen  folgende  Themata: 

I)  Hilfs-  und  Unterstützungskassen  für  Arbeiterfamilien,  Referent: 
Abg.  Oechelhäuser  (Dessau);  2)  Fürsorge  für  Kinder  und  Jugend- 
liche, Referent:  Kaplan  Drammer  (Köln  a.  Rh.).  Der  erste  Ab- 
schnitt „Hilfs-  und  Unterstützungskassen“  bewegte  sich  aus- 
schliesslich auf  Fabrikboden.  Es  sollte  zur  Darstellung  gebracht 
werden,  welche  Einrichtungen  im  Anschluss  an  die  gesetzlich 
bestehenden  Kassen  und  zu  ihrer  Ergänzung  zur  Verbesserung 
der  wirthschaftlichen  Lage  der  Arbeiterfamilien  von  Arbeitgebern 
getroffen  sind.  Die  Konferenz  beschäftigte  sich  zunächst  mit  den 
Kassen,  welche  die  vorübergehende  Nothlage  durch  Gewährung 
von  Darlehen  zu  erleichtern  bestrebt  sind.  In  zweiter  Linie 
standen  die  Unterstützungskassen  für  Erkrankungs-  und  besondere 
Nothfälle;  eine  Unterabtheilung  dieses  Kapitels  sollten  die  Hilfs- 
kassen im  engeren  Sinne  bilden.  In  dritter  Reihe  beschäftigte 
sich  die  Konferenz  mit  den  Unterstützungskassen  bei  Invalidität, 
Alter  und  Todesfall.  Der  Rahmen  des  zweiten  Themas  „Fürsorge 
für  Kinder  und  Jugendliche“  war  weiter  gefasst.  Hier  wurden 
neben  den  besonderen  Einrichtungen,  welche  Arbeitgeber  für 
ihre  Geschäftsangehörigen  ins  Leben  gerufen  haben,  auch  die 
allgemeinen  Veranstaltungen  der  privaten,  der  Vereins-  und  der 
öffentlichen  Wohlfahrtspflege  berücksichtigt.  Dieses  Thema 
zerfiel  in  drei  Theile,  von  denen  der  erste  sich  mit  den 
Kindern  bis  zum  vierzehnten  Jahre,  der  zweite  mit  den  jungen 
Mädchen,  der  dritte  mit  den  jungen  Burschen  beschäftigen 
sollte. 

Zu  der  Eröffnungssitzung  der  Konferenz  waren  der  Han- 
dels-Minister Freiherr  von  Berlepsch  und  im  Aufträge  des 
Kriegs-Ministers  der  Major  Bahn  erschienen.  Der  ständige  Vor- 
sitzende, Unterstaatssekretär  a.  D.  Herzog  eröffnete  die  Ver- 
sammlung mit  Worten  der  Begrüssung  und  theilte  mit,  dass  die 
Centralstelle  seit  der  vorjährigen  Konferenz  wesentliche  Fort- 
schritte zu  verzeichnen  habe.  Es  seien  bei  dem  Vorstand  eine 
grosse  Anzahl  Anfragen  über  Wohlfahrts  - Einrichtungen  für 
Arbeiter  eingegangen.  Die  vorjährige  Ausstellung  habe  zur  Er- 
richtung eines  ständigen  Museum  für  Arbeiter-Wohlfahrts-Ein- 
richtungen  geführt.  Das  Museum  sei  in  den  Räumen  des  Hygiene- 
Museums  in  der  Klosterstrasse  untergebracht.  Den  Ministern 
für  Handel  und  der  geistlichen  etc.  Angelegenheiten,  die  das 
Museum  durch  Beiträge  unterstützt  haben,  spreche  er  im  Auf- 
träge des  Vorstandes  besten  Dank  dafür  aus.  Auch  mehrere 
grosse  Arbeitgeber  hätten  das  Museum  unterstützt:  es  sei 

wünschenswerth,  dass  die  Arbeitgeber  diese  Unterstützungen 
durch  Zuweisung  von  Modellen,  Zeichnungen  etc.  fortsetzen. 
Geheimer  Regierungs-Rath  Dr.  Post  machte  alsdann  Mittheilung 
von  einer  Einladung  zur  Besichtigung  des  von  der  Frau  Ge- 
heimen Kommerziell -Rath  Heyl  in  Charlottenburg  errichteten 
Kinderheims.  In  diesem  Kinderheim  werden  schulpflichtige 
Kinder  mit  nützlichen  Arbeiten  beschäftigt.  Die  Theilnehmer 
der  Konferenz  wurden  ferner  eingeladen,  das  Museum  der  Cen- 
iralstelle,  das  von  dem  Kommerzien-Rath  Roesicke  errichtete 
Familienhaus  und  die  in  jüngster  Zeit  von  dem  Kriegs-Ministerium 
errichtete  Arbeiter-Kolonie  Haselhorst  bei  Spandau,  letztere  auf 
Einladung  des  Kriegs-Ministers,  zu  besuchen.  Major  Bahn  vom 
Kriegs-Ministerium  bemerkte  hierauf:  Die  Königliche  Militär- 

verwaltung habe  in  Spandau  sechs  grosse  Fabriken,  in  denen 
noch  bis  vor  kurzer  Zeit  16000  Arbeiter  beschäftigt  waren.  Es 
sei  selbstverständlich,  dass  infolge  dessen  die  Miethspreise  in 
Spandau  ungemein  gestiegen  seien.  Das  Kriegs-Ministerium  habe, 
um  sich  einen  guten  Stamm  von  Arbeitern  zu  erhalten,  die  Er- 
richtung einer  Arbeiterkolonie  beschlossen.  Es  seien  bisher 
sechs  Zwei-Familienhäuser,  sechs  Vier-Familienhäuser  und  acht 
Acht-Familienhäuser  erbaut  worden.  Zu  100  Wohnungen  hätten 
sich  360  Bewerber  gemeldet.  Die  unverheiratheten  Arbeiter  seien 
allerdings  weniger  geneigt,  nach  Haselhorst  zu  ziehen. 

In  der  ersten  Sitzung  am  21.  April  führte  zu  dem  ersten  ' 


Verhandlungsgegenstande  über  die  „Hilfs-  und  Unterstützungs- 
kassen für  Arbeiterfamilien“  der  Referent,  Geheime  Kommerzien- 
Rath  Oechelhäuser -Dessau  Folgendes  aus:  Es  handele  sich  bei 
der  Lösung  der  Frage  nicht  um  gesetzgeberische  Massnahmen, 
sondern  um  eine  freiwillige  I hätigkeit,  die  neben  der  gesetzlichen 
Fürsorge  noch  in  weitem  Umfange  wirken  könne.  Der  Redner 
entwickelte  alsdann  den  Gedanken  der  Gründung  freier  Hilfskassen, 
durch  die  es  möglich  werden  soll,  den  erkrankten  Arbeitern  den 
vollen  Lohn  zu  erstatten.  Abschliessend  bemerkt  der  Redner: 
Die  grossen  Versicherungsgesetze  trügen  die  ergänzenden  Hilfs- 
kassen in  ihrem  Schooss,  sie  hätten  sie  nicht  überflüssig,  sondern 
geradezu  nothwendig  gemacht.  Die  elementare  Gewalt  des  sozialen 
Fortschritts  würde  zur  allgemeinen  Einführung  der  ergänzenden 
Hilfskassen  führen.  Diese  Erkenntniss  müsse  sich  mit  der  Zeit 
immer  mehr  Bahn  brechen.  Unbekümmert  um  alle  Anfeindungen 
möge  man  den  eingeschlagenen  Weg  unverändert  fortschreiten. 
(Lebhafter  Beifall.)  Ober -Postrath  Sydow- Berlin  machte  ein- 
gehende Mittheilungen  über  die  Wohlfahrtseinrichtungen  in  der 
Reichsdruckerei.  Die  Haupteinrichtung  sei  die  Alters-  und  Invaliden- 
Pensionskasse.  Die  Werkmeister  erhalten  volle  Pension,  wie  sie 
jedem  Reichsbeamten  zustehe,  die  „gehobenen“  Arbeiter  erhalten 
3/4,  die  „gewöhnlichen“  Arbeiter  die  Hälfte  bis  2/3  her  Pension 
der  Reichsbeamten.  Gegenwärtig  werde  an  46  Personen  Pension 
gezahlt.  Den  „gehobenen“  Arbeitern  werde  eine  Pension  von 
214  bis  1989  Mk.  für  das  Jahr  im  Einzelfalle,  den  „gewöhnlichen“ 
Arbeitern  150  bis  999  Mk.  Pension  aufs  Jahr  im  Einzelfalle  ge- 
zahlt. Ausserdem  bestehen  in  der  Reichsdruckerei  Wittwen- 
und  Waisenkassen.  Es  sei  dort  die  effektive  Arbeitszeit  von 
8>/i  Stunden  täglich  eingeführt.  Diese  Einrichtungen  hätten  es 
bewirkt,  dass  der  grosse  Buchdruckerstrike  im  Jahre  1891  die 
Reichsdruckerei  in  keiner  Weise  berührt  habe,  dass  der  Andrang 
von  Arbeitern  zur  Reichsdruckerei  ein  ausserordentlich  grosser 
sei  und  dass  freiwillig  nur  in  den  seltensten  Fällen  ein  Arbeiter 
aus  der  Druckerei  ausscheide.  Fabrikbesitzer  Brandts  M. -Gladbach 
berichtete  über  die  Arbeiter -Wohlfahrtseinrichtungen  seiner 
Firma;  die  Firma  habe  eine  eigene  Familien-Krankenkasse;  sie 
gewähre  einen  Zuschuss  von  50  pCt.  der  von  den  Mitgliedern 
eingezahlten  Beiträge;  ausserdem  kämen  alle  Strafgelder  der 
Kasse  zu  Gute,  zu  deren  Zwecken  es  gehöre,  den  Mitgliedern 
Vorschüsse  zu  gewähren,  wenn  die  Nothwendigkeit  nachgewiesen 
werde,  einmalige  und  dauernde  Unterstützungen  an  Mitglieder 
und  ihre  Frauen  und  Kinder  zu  gewähren,  Anschaffungen  für 
die  Arbeiter  und  Engroseinkäufe  von  Lebensmitteln,  Kohlen  u.s.w., 
sowie  Anschaffungen  von  Büchern  und  Zeitschriften  zu  machen; 
ferner  können  aus  der  Kasse  für  Zwecke  der  Erholung  und 
Gesundheitspflege  Mittel  aus  der  Kasse  bewilligt  werden.  Direktor 
Meyer  von  der  Norddeutschen  Jutespinnerei  und  -Weberei  in 
Schiftbeck  bei  Hamburg  theilte  mit,  dass  in  seiner  Fabrik  eine 
sogenannte  Zwangssparkasse  bestehe.  In  den  Zeiten  günstiger 
Konjunktur,  wenn  die  Arbeiter  Lohnerhöhung  fordern,  werde 
die  gewährte  Lohnerhöhung  als  Sparkassengeld  verwendet. 
Ebenso  berichteten  Kommerzien-Rath  Adler- Buchholz,  Direktor 
Dr.  Braun-Harburg,  Kommerzien-Rath  Leyendecker-Köln  a.  Rh., 
Kommerzien-Rath  Bücklers-Düren  und  Direktor  Dr.  Möller- 
Brackwede  über  die  Wohlfahrts -Einrichtungen  in  ihren  Etablisse- 
ments. Alle  diese  Redner  konnten  mittheilen,  dass  die  Wohlfahrts- 
Einrichtungen  sich  vorzüglich  bewährt  haben.  Dr.  Möller  be- 
merkte, in  der  von  ihm  geleiteten  Fabrik  seien  die  meisten 
Arbeiter  Sozialdemokraten;  sogar  mehrere  sozialdemokratische 
Agitatoren  befänden  sich  unter  den  Arbeitern,  die  Verhält- 
nisse in  der  Fabrik  seien  aber,  dank  der  Wohlfahrts-Einrich- 
tungen, durchaus  befriedigende.  Werkmeister  Martin  - Berlin 
tadelte  es,  dass  das  neue  Gesetz  den  Arbeitern  aller  verwandten 
Berufe  den  Zutritt  zu  den  bestehenden  Gewerkschaftskassen  ge- 
statte. Die  Buchdruckerkasse  habe  z.  B.  dadurch  grossen  Schaden 
gehabt.  Im  übrigen  halte  er  es  für  falsch,  wenn  der  Arbeiter 
zu  den  Beiträgen  der  Unterstützungskassen  nicht  mit  heran- 
gezogen werde.  Die  Arbeiter  werde  man  durch  Befreiung  von 
den  genannten  Beiträgen  nicht  gewinnen,  da  sie  der  Meinung 
seien,  dass  das,  was  die  Arbeitgeber  thun,  den  Arbeitern  vom 
Lohne  abgezogen  würde.  Werkmeister  Länge-Berlin  sprach  den 
Wunsch  aus,  dass  die  in  der  Versammlung  erstatteten  Berichte 
in  die  weitesten  Arbeiterkreise  dringen  möchten.  Er  könne  be- 
kunden, dass  die  bestehende  Arbeiterpartei  immer  mehr  auf- 
höre, eine  wirkliche  Arbeiterpartei  zu  sein.  Die  Unzufrieden- 
heit unter  den  sozialdemokratischen  Arbeitern  werde  immer 
grösser.  Die  Arbeiter  verlangten,  dass  ihnen  für  ihre  langjährigen 
Leistungen  an  die  Parteikasse  endlich  auch  einmal  etwas  geboten 
werde.  Bisher  sei  aber  die  einzige  Leistung  der  sozialdemokra- 
tischen Partei  gewesen,  dass  sie  solche  Arbeiter,  die  noch  zu- 
frieden waren,  unzufrieden  gemacht  habe.  Für  wirkliche  Lei- 
stungen seien  die  Arbeiter,  auch  in  Berlin,  sofort  zu  gewinnen; 
deshalb  empfehle  es  sich,  die  Arbeiter  als  Beitragende  zu  den 
Arbeiter-Wohlfahrts-Einrichtungen  mit  heranzuziehen,  andernfalls 
würden  die  Arbeiter  die  von"  den  Arbeitgebern  dotirten  Unter- 
stützungskassen als  Armenkassen  betrachten.  Ganz  besonders 
empfehle  es  sich,  die  Strafgelder  für  die  Unterstützungskassen 
zu  verwenden.  Fabrikbesitzer  Heinrich  Frehse-Berlin  betonte 


No.  31. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTKALBLATT. 


375 


ebenfalls  die  Nothwendigkeit,  die  Arbeiter  zur  Verwaltung  der 
Unterstützungskassen  mit  heranzuziehen.  Abg.  Sombart-Erms- 
lcben  erachtete  es  als  die  grösste  Wohlfahrts-Einrichtung,  die 
Landarbeiter  zu  kleinen  Besitzern  und  damit  sesshaft  zu  machen. 
Direktor  Meyer-Schiffbeck  bei  Hamburg  hält  es  für  nothwendig, 
auch  die  Industriearbeiter  durch  höhere  Löhne,  gute  Kassen-  und 
Wohnungseinrichtungen  sesshaft  zu  machen. 

In  der  zweiten  Sitzung  der  Konferenz  am  22.  April  wurde 
über  die  Fürsorge  für  Kinder  und  Jugendliche  verhandelt.  Der 
Referent,  Pfarrer  Dr.  Drammer-Köln  a.  Rh.,  wies  darauf  hin,  dass 
die  Entartung  der  Jugend,  insbesondere  der  sogenannten  Arbeiter- 
jugend, schon  seit  langer  Zeit  in  der  Presse  aller  Parteien  eine 
stehende  Rubrik  einnehme.  Die  Verbrechen,  die  von  Jugend- 
lichen begangen  werden,  mehrten  sich  in  erschreckender  Weise. 
Die  Hauptursache  liege  in  dem  Familienleben  der  Arbeiter.  Die 
Eltern  seien  oft  gar  nicht  in  der  Lage,  sich  um  die  Erziehung 
ihrer  Kinder  zu  kümmern,  da  sie  vom  Morgen  bis  zum  späten 
Abend  ausserhalb  des  Hauses  arbeiten,  um  den  Unterhalt  für  die 
Familie  zu  erwerben.  Aber  auch  des  Sonntags  werde  das 
Familienleben  nicht  gepflegt.  Solche  Kinder  seien  dann  den 
destruktiven  atheistischen  Lehren  der  Sozialdemokratie  sehr  leicht 
zugänglich:  dem  gegenüber  bliebe  die  Thätigkeit  in  den  Schulen 
zumeist  unwirksam.  Die  Werkstätten  seien  oftmals  der  Herd  der 
sozialdemokratischen  Lehren;  hierin  müsse  Wandel  geschaffen 
werden;  Gemeinde,  Kirche  und  Arbeitgeber  müssten  gemeinsam 
Hand  anlegen.  Um  die  jungen  Arbeiter  zu  gottesfürchtigen, 
arbeitsamen  und  sparsamen  Menschen  zu  erziehen,  empfehle  es 
sich,  aller  Orten  Vereine  für  junge  Arbeiter  zu  errichten,  in  denen 
Gottesfurcht,  aber  auch  Geselligkeit,  körperliche  Uebungen  u.  s.  w. 
gepflegt  werden,  ln  diesen  Vereinen  müssten  Sparkassen  ein- 
gerichtet, Bibliotheken  unterhalten,  die  Fortbildung  gepflegt  werden. 
Auch  das  Vergnügen  müsse  dort  eine  Stätte  finden,  um  den 
jungen  Leuten  den  Besuch  der  Vereine  angenehm  zu  machen. 
Der  christliche  Verein  junger  Männer  in  Berlin  und  verschiedene 
katholische  Arbeiter-  bezw.  Gesellen -Vereine  leisteten  bereits 
Vorzügliches  auf  diesen  Gebieten.  Der  seit  zehn  Jahren  in  Köln 
bestehende  katholische  Lehrlingsverein  habe  die  schönsten  Früchte 
gezeitigt.  Etwa  3000  junge  Leute  seien  durch  diesen  Verein  ge- 
gangen. Soweit  dem  Vorstand  bekannt,  seien  alle  die  3000  jugend- 
lichen Arbeiter  ordentliche  gottesfürchtige  Leute  geworden,  die 
den  sozialdemokratischen  Verführungen  nicht  zugänglich  seien. 
Auch  der  weiblichen  Jügend  müsse  eine  ganz  besondere  Sorg- 
falt gewidmet  werden,  denn  sie  habe  den  grössten  Einfluss  auf 
die  heranwachsende  männliche  Jugend.  Es  sei  nothwendig,  die 
jungen  Mädchen  auf  ihren  erzieherischen  Beruf  als  Mütter  vor- 
zubereiten. Selbstverständlich  dürfe  man  in  das  Familienleben, 
wenn  nicht  dringende  Veranlassung  dazu  vorliege,  nicht  ein- 
greifen.  Fabrikdirektor  Dr.  Traun-Harburg  hält  es  für  erforderlich, 
den  Sonnabend  Nachmittag  den  Arbeitern  freizugeben;  die  gegen- 
wärtige Sonntagsruhe  gestatte  anderenfalls  den  Arbeitern  nicht, 
für  ihre  nöthigsten  Bedürfnisse  zu  sorgen.  Man  müsse  auch  dafür 
wirken,  dass  der  Arbeiter  Gelegenheit  habe,  des  Sonntags  die 
Kirche  zu  besuchen;  die  Erfahrung  habe  gelehrt,  dass  die  Arbeiter 
dadurch  in  ihrem  Verdienste  keineswegs  eine  Einbusse  erleiden. 
Er  habe  für  seine  jugendlichen  Arbeiter  eine  Fortbildungsschule 
eingerichtet,  deren  Besuch  obligatorisch  sei.  Die  jungen  Leute 
besuchen  aber  jetzt  mit  so  grossem  Vergnügen  die  Schule,  dass 
jeder  Zwang  überflüssig  geworden  sei.  Oberlehrer  Dr.  Reddersen- 
Bremen  hält  die  verschiedenen  Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen 
für  die  Arbeiterjugend  nur  für  Nothbehelfe.  Das  Hauptaugen- 
merk müsse  darauf  gerichtet  werden,  dass  die  Familie  der  Eck- 
pfeiler der  menschlichen  Gesellschaft  bleibe.  Man  müsse  sich 
daher  hüten,  die  Eltern  in  der  Vernachlässigung  ihrer  Pflichten 
noch  zu  bestärken.  Im  übrigen  scheiterten  oftmals  die  Be- 
strebungen, die  Jugend  zu  schützen,  an  der  gesetzlichen  Un- 
möglichkeit. die  verwahrlosten  Kinder  in  Zwangserziehung  zu 
nehmen.  Die  gesetzliche  Fürsorge  für  die  Jugend  bedürfe  über- 
haupt in  vieler  Beziehung  der  Ergänzung.  Rektor  Wenger- 
Elberfeld : Er  hebt  hervor,  dass  ganze  Ballen  von  Schriften 
destruktiver  Tendenz  mittels  jüdischen  und  sozialdemokratischen 
Geldes  nach  West-  und  Süddeutschland  gesandt  werden.  Es 
sei  deshalb  nothwendig,  wenn  der  christlich-deutsche  Geist  unserer 
Bevölkerung  erhalten  werden  solle,  dass  die  Bestrebungen  des 
Vereins  zur  Verbreitung  christlicher  Zeitschriften  eine  möglichst 
grosse  Förderung  erfahren.  Lehrer  Dr.  Kamp-Frankfurt  a.  M. 
bezeichnet  es  als  nothwendig,  die  weibliche  Jugend,  auch  die 
Landmädchen,  in  der  Haushaltung  zu  unterweisen,  zumal  die 
weibliche  Arbeiterjugend  nur  in  den  seltensten  Fällen  Gelegenheit 
finde,  den  Haushalt  zu  lernen.  Ferner  halte  er  es  für  noth- 
wendig, dass  evangelischerseits  die  Diakonie  ebenso  gepflegt 
werde,  wie  von  den  Katholiken.  Fabrikdirektor  Dr.  Möller- 
Brackwede  möchte  die  Schulen  für  die  weibliche  Arbeiter- 
jugend mit  Kochschulen  verbinden  und  für  die  diejenigen 
jungen  Leute,  die  keinen  Familienanhang  haben,  besondere 
Anstalten  schaffen.  Man  spreche  so  viel  für  die  Kasernirung 
der  Prostitution;  hier  sei  eine  gewisse  Kasernirung  am 


Platze,  denn  wenn  ein  junger  Mann  oder  ein  junges  Mäd- 
chen genöthigt  sei,  schon  vom  vierzehnten  Lebenjahre  ab  in 
Schlafstellen  zu  wohnen,  dann  sei  es  gar  kein  Wunder,  wenn  sic 
sittlich  verdorben  werden.  Sache  der  Arbeitgeber  wäre  es,  ganz 
besonders  in  dieser  Beziehung  Wandel  zu  schaffen.  Fabrik- 
besitzer Heinrich  Frehse  (Berlin)  bemerkte,  es  sei  bereits  betont 
worden,  dass  in  erster  Linie  die  Hebung  des  Familienlebens  ins 
Auge  gefasst  werden  müsse  Dies  könne  aber  am  ehesten  durch 
Verkürzung  der  Arbeitszeit  geschehen.  Er  habe  seit  länger  denn 
einem  Jahre  in  seiner  Fabrik,  in  der  er  150  Arbeiter  beschäftige, 
den  achtstündigen  Normalarbeitstag  durchgeführt  und  könne  mit- 
theilen, dass  sowohl  er  als  auch  die  Arbeiter  sich  sehr  gut  dabei 
stehen.  Abg.  Eisenbahn-Direktor  a D.  Schräder  (Berlin)  wünscht, 
dass  die  Frauen  und  Töchter  der  besseren  Stände  sich  der  Aus- 
bildung der  weiblichen  Jugend  widmen.  Eine  Erziehung  in  den 
Klöstern  oder  Diakonissen-Anstalten  könne  er  nicht  befürworten, 
da  die  Mädchen  in  diesen  Anstalten  einen  dogmatisch-religiösen 
Unterricht  erhalten  und  die  Schwestern  auch  wohl  nicht  die 
. nöthige  Ausbildung  in  den  Haushaltungsfächern  haben.  Abg. 
Kaplan  Hitze  (M. -Gladbach)  wünscht,  dass  mehr  die  unver- 
heiratheten  Töchter  der  besseren  Stände  sich  der  Mitarbeit  für 
Ausbildung  der  weiblichen  Arbeiterjugend  in  den  Haushaltungs- 
arbeiten widmen.  Dass  die  Klöster  und  Diakonissen-Anstalten 
hierzu  nicht  herangezogen  werden  sollen,  sei  ihm  unverständlich. 
Einmal  seien  die  Schwestern  in  diesen  Anstalten  vollkommen 
sachlich  ausgebildet,  und  andererseits  sei  es  doch  sehr  noth- 
wendig, wenn  Jeder,  Katholik,  Protestant  und  Jude,  in  seiner 
Religion  unterrichtet  werde.  Der  dogmatisch-religiöse  Unterricht 
sei  mithin  eine  Nothwendigkeit.  Direktor  Meyer  (Schiffbeck  bei 
Hamburg)  fürchtet,  dass  die  Bestrebungen,  die  Frauenarbeit  in 
den  Fabriken  zu  beseitigen,  an  den  wirthschaftlichen  Verhält- 
nissen scheitern  werden.  Deshalb  sei  es  selbstverständlich,  in 
erster  Reihe  auf  eine  Förderung  des  Familienlebens  bedacht  zu 
sein.  Wo  dies  aber  nicht  angehe,  wo  die  Kinder  sich  selbst 
überlassen  bleiben,  empfehle  sich  die  Schaffung  von  Kinder- 
heimen. Auch  empfehle  es  sich,  den  Fabrikschulen,  deren  erzieh- 
liche Bedeutung  nicht  gering  anzuschlagen  sei,  ein  grösseres 
Recht  von  Gesetzes  wegen  einzuräumen.  Privatgelehrter 
Dr.  Petong  (Berlin)  trat  für  obligatorische  Fortbildungsschulen 
ein.  Kommerzienrath  Ouistorp  (Stettin)  bemerkte,  er  kenne  für 
die  Beaufsichtigung  der  Kinder  in  den  Erziehungsanstalten  u.  s.  w. 
keine  geeigneteren  Damen  als  die  Schwestern  in  den  katholischen 
Klöstern  und  evangelischen  Diakonissen-Anstalten.  Er  bedaure, 
dass  letztere  Anstalten  immer  weniger  werden.  Das  Ideal  für 
die  Beaufsichtigung  der  Kinder  erblicke  er  allerdings  in  der 
Fabrikbesitzerin;  diese  müsste  Mutterstelle  an  den  verlassenen 
Kindern  der  Fabrikarbeiter  vertreten.  Pastor  Diestelkamp  (Berlin) 
kann  nach  seinen  Erfahrungen,  die  er  ganz  besonders  in  der  in 
der  Reinickendorfer  Strasse  belegenen  Arbeiterkolonie  gemacht 
habe,  mittheilen,  dass  die  religiöse  Gemeinde-  und  Jugendpflege 
evangelischerseits  ebenso  geübt  werde,  wie  von  katholischer 
Seite.  Die  religiöse  Unterweisung  dürfe  doch  in  keiner  Weise 
gering  angeschlagen  werden.  Der  Fortbildungsunterricht  sei 
sehr  gut,  man  müsse  aber  dafür  sorgen,  dass  die  Unterrichts- 
stunden nicht  in  die  Zeit  des  Gottesdienstes  gelegt  werden. 
Der  Redner  bezeichnete  es  im  weiteren  als  nothwendig,  dass  die 
Arbeitgeber  mehr  Interesse  für  die  sittliche  und  religiöse  Wahrung 
der  Arbeiterjugend  bezeigen.  Wenn  genügende  Lokale  in  Berlin 
vorhanden  wären,  dann  Hessen  sich  noch  eine  ganze  Anzahl 
solcher  Vereine  wie  der  „christliche  Verein  junger  Männer“ 
schaffen.  Der  dogmatische  Religionsunterricht  müsse  von  allen 
Konfessionen  gepflegt  werden.  Diejenigen,  die  sich  zur  Zeit  an 
den  Klosterstürmen  in  Moabit  betheiligt  haben,  seien  schliesslich 
sehr  froh  gewesen,  dass  Klosterschwestern  überhaupt  da  waren. 
Es  sprachen  noch  mehrere  andere  Redner;  von  einer  Beschluss- 
fassung wurde  Abstand  genommen.  Der  Vorsitzende,  Unter- 
Staatssekretär  a.  D.  Herzog  (Berlin)  schloss  hiei'auf  die  Konferenz, 
indem  er  der  Hoffnung  Ausdruck  gab,  dass  die  Verhandlungen 
zur  sittlichen  Hebung  und  materiellen  Besserstellung  des  Arbeiter- 
standes und  damit  zur  friedlichen  Lösung  der  sozialen  Frage 
beigetragen  haben  möchten. 


Eingesendete  Schriften : 

Hahn,  Julius,  Landrichter,  Das  Krankenversicherungsgesetz. 

Berlin,  1892.  Siemenroth  & Worms.  8o.  VI  und  236  S. 
Meisterhans,  Dr.  K.,  Die  Schweiz  und  die  öffentlichen 
Schiedsgerichte.  Eine  historische  Studie.  Zürich,  1892. 
Orell  Füssli.  8o.  39  S. 

Neulbnrg,  Dr.  C.,  Privatdozent  der  Staatswissenschaft  in  München. 
Goslars  Bergbau  bis  1552.  Hannover,  1892.  Hahnsche 
Buchhandlung.  8o.  V und  365  S. 

Oldenberg,  R.,  Die  heutige  Lage  der  Commis  nach  neuerer 
Litteratur.  S.-A.  aus  Schmoller’s  Jahrbuch  für  Gesetz- 
gebung etc.  Leipzig,  1892.  Duncker  u.  Humblot. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


376 


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No.  31. 


Mehr  als  950  Bildertafeln  und  Kartenbeilagen. 


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Buchhandlung. 

Verlag  des  Bibliographischen  Instituts,  Leipzig. 


LEX 


Ungefähr  10,000  Abbildungen,  Karten  und  Pläne. 


3n  meinem  2>erlag  ift  foeben  erfdjieneit  unb  in  jeher  23ud)hanblung  oorrätig: 

lt1ol)lfnl)rtsctnrid)tungcn 

über  flaiij  fratfdiliuiii 

burdfj 

gemtinnütgigt  smttftngtfenfdjaften 

ffiin  Stück  fojtaUr  Reform 

non 

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Stuttgart. 

Srittc  Auflage,  ^reiä  30  Pfennige. 

Ser  burd)  feine  Shätigfeit  in  ber  2Bohlfahrt§pfIege  unb  auf  ucriuanbten  ©ebieteu  tuohl= 
beFannte  23  er  f aff  er  entioirfelt  in  biefer  Schrift  pofitiue  SSorfdjIäge,  tuelche  barauf  abjielen,  bie 
Söfung  ber  fojialen  grage  S11  förbern  burd)  bie  Ütegelung  ber  2trbeitcr=2Bo[)nung§ner^äItniffe. 
@r  nertritt  mit  iiber^eugenber  23enicigführung  ben  Stanbpuntt,  baff  bie  Sefeitigung  ber  2Bof)= 
nungönot  ber  SIrbeiter  ah§  ber  2>?itteb=  unb  ?Iu§gang§pun!t  aller  3teformbeftrebungeu  angefeben 
merben  müffc,  nad)  beffen  Schaffung  erft  für  eine  erfpriefjlicfje  ?Ius$bchnung  ber  !JI)ätig!eit  auf 
meitere  ©ebiete  ber  2S>oblfafntespfIegc  ber  23obcn  geebnet  fei.  Sei  ber  ©röfje  ber  Aufgabe  ift  aber 
an  einen  glüeflidjen  ©rfotg  ohne  Fräftige  StaatShilfc  nidjt  51t  bcnt'en,  bie  fid)  übrigen^  auf  eine 
blojje  ©arantieleiftung  für  Kapital  unb  3in§  befdjränten  Fönnte. 

©3  wäre  bringenb  ju  toünfdjen,  baff  ben  als  praftifd;  unb  burdjführbar  anerfannten  23or= 
fdjlägen  nun  aud)  Sbatcn  folgen. 

Stuttgart.  p.  goljUjnmwci*. 


XialTallfö  Heften 

SargeftcIIt 

auf  ®runt>  einer  uerloren  geglaubten 
tEfanöfrijriften-Sammlung 

mit 

bent  -Porträt  geleite  oon  jKacomihas 

oon 

Ifratt?  wo«  £ntbnd) 

unb 

jmei  griefen  in  ^nkfimile. 

8°,  XII  unb  188  Setten. 

©ebeftet  $ßrei§  9K.  3,  gebunben  ißreiS  2R.  4. 
3u  bejieben  burdb 

Pani  grtjeUcrs  piidjljanlilunij  (f.  güftenmar^rt) 

gerlitt  ff.,  SJJarfgrafenftr.  39/40. 

Carl  gegmanns  gering,  gerlin  W. 

Sftaucrftrafje  44. 

Holksmittl||'d)afllid|(5  Üffdnuli 

jum 

inlerrltlitgptirttiiili 

Bearbeitet 

oon 

pa^raun 

SftegterungSratl). 

8«.  VIII  unb  96  Seiten, 
tßreis  Fartoti.  2)?f.  1,  poftfrei  21?!.  1,10. 

Sie 

PirtljftliaftUtlj-fogalcn  Aufgaben 

unfever  3?eit 


ffiarl  gcijmnmto  gering  in  gcrlttt  W.,  Pauer(trn^e  44. 

gie  gonntagsrulje  tm  ganiielsgeiucrbe 

auf  ©ruttb  ber 

©enterbcavbmtmj  fitr  tme  gteutfclje  iftetdj. 

|um  ^rbeaudje  für  $d)Srtifn,  fnuflcutr,  (goftrairtlje,  gaubtoerftet,  Meitgditr  nnb  $r&rtfneljtnft 

bargcftellt  oon 

Dr.  umt  ftnMgev,  3Jegierung§=  unb  ©emerberatf). 

3 c i t c u it t» eränberte  2(uflagc. 

8°.  VIII  unb  42  Seiten. 

<ßrei§  lartonnirt  2??.  1. — , poftfrei  21?.  1.10. 

Sng  prcuftifdic  Serciu§=  uttb  Scrfantntluugsrcd)t 

unter  befonberer  SSerüctfidjtigung  bc§ 

ttorn  11*  pUirj  1850, 

Sarge  ft  eilt  unb  erläutert 

DOU 

Dr.  jur.  gelt«©,  Amtsrichter  in  £amm  i./2B. 

8°.  VI  uttb  64  Seiten. 

23rei§  geheftet  2)?.  1.—,  poftfrei  37?.  1.10. 


<!i>amp 

@eE).  OberregtcrungSratfj. 

8°.  VI  unb  328  Seiten. 
ißreiS  geheftet  2)?!.  7,  poftfrei  37?f.  7,20. 

Schriften  ber  Centralftelle  für 
2lrbeiter=!Dohlfahrtseinrid}tungen. 

9?r.  1. 

Die  icrli(fratii0  ter  Potjimnoen. 

37?it  208  SIbbilbungen  im  Sejt. 

8°.  VI  unb  370  Seiten. 

$ßrei§  geheftet  21?!.  8. — , poftfrei  21?!.  8.30. 
„ gebunben  21?!.  9. — , poftfrei  2)?!.  9.30. 

9fr.  2. 

Die  ?tfletkmäjnge  Denoeniiung 

ber 

Ifonittiigs-  ltitb  dfrieru’it. 

8°.  IV  unb  94  Seiten. 

<ßrei§  geheftet  21?!.  2.-,  poftfrei  m.  2.10. 

@arl  {jcijmnmrs  bering  in  Berlin  W., 

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Curl  Heymann:»  Verlag  in  Berlin  W.:  Mauerstrasse  44.  — Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld  in  Berlin  W. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  8.  Mai  1893. 


Nummer  32 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Erscheint  jeden  Montag. 

Zu  beziehen 

durch  alle  Buchhandlungen,  Spediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Anzeigenpreis  für  die  dreigespaltene  Colonelzeile 
40  Pfennig. 


Die  Arbeitslosenstatistik  des 
letzten  Winters.  Von  Privat- 
dozent Dr.  Karl  Oldenberg. 

Finanzfragen : 

Zur  Besteuerung  der  Konjunkturen- 
gewinne an  Baustellen.  Von 
Dr.  L.  Pohle. 

Unternehmerverbände : 

Der  erste  Trust  im  Buchdruek- 
gewerbe. 

Arbeiterzustände : 

Verhältnisse  der  sächsischen  Berg- 
arbeiter. 

Lohnstatistik  der  Leipziger  Orts- 
krankenkasse. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Die  Maifeier. 

Die  Presse  der  Evangelischen  Ar- 
beitervereine. 

Zur  Arbeiterbewegung  in  Augsburg. 

Gewerkschaftliche  Arbeiterbewe- 
gung: 

Das  Submissionswesen  und  die 
Berliner  Gewerkschaften. 


Kongress  der  französischen  Eisen- 
bahnarbeiter und  -Angestellten. 

Der  italienische  Buchdruckerver- 
band. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Nachtarbeit  der  Frauen  in  Zei- 
tungsdruckereien. 

Achtstundengesetz  für  Bergleute 
in  England. 

Arbeiterversicherung : 

Mortalitäts-  und  Invaliditätsverhält- 
nisse der  österreichischen  Berg- 
und  Hüttenarbeiter. 

Die  Haftpflicht  in  England. 

Gewerbegerichte : 

Gewerbegerichte  in  Württemberg. 

Soziale  Hygiene : 

Zur  Kindersterblichkeit  in  Berlin. 

Schulwesen,  Erziehungs  - und 
Bildungsfragen : 

Populär-wissenschaftliche  V orträge 
für  Arbeiter. 


INHALT. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Arbeitslosenstatistik  des  letzten  Winters. 

— 

Am  21.  November  1892  theilte  das  Korrespondenzblatt 
der  Generalkommission  der  Gewerkschaften  Deutschlands 
mit,  dass  in  etwa  Dutzend  deutscher  Städte  die  Arbeiter 
sich  zur  Aufnahme  einer  Arbeitslosenstatistik  entschlossen 
hätten,  und  zwar  grösserentheils  auf  Grund  der  von  Dr.  A. 
Braun  im  Sozialpolitischen  Centralblatt  gegebenen  Anre- 
gung. Das  Korrespondenzblatt  warnte  aber  gleichzeitig  die 
Arbeiter  der  anderen  Städte,  nicht  voreilig  dem  Beispiele 
zu  folgen,  sondern  erst  abzuwarten,  ob  das  kostspielige 
Experiment  zu  irgend  brauchbaren  Ergebnissen  führen 
könne.  Bekanntlich  war  damals  die  Hamburger  Arbeits- 
losenstatistik (15.  Oktober)  missglückt;  man  war  dort  naiv 
genug  gewesen,  an  alle  Arbeiter,  arbeitende  und  arbeits-  1 
lose,  Fragebogen  zu  vertheilen  und  auf  die  Rücklieferung 
zu  warten.  Das  Korrespondenzblatt  gab  indess  in  seinen 
folgenden  Nummern  für  diejenigen  Arbeiterschaften,  die 
sich  nicht  zurückhalten  lassen  wollten,  eine  überaus  ein- 
gehende und  leicht  fassliche  Anleitung,  wie  die  Sache  an- 
zugreifen sei.  Von  dieser  Anleitung  ist  auch  fast  überall 
mehr  oder  weniger  Gebrauch  gemacht  worden.  Dagegen 
hat  die  Warnung  bei  den  Arbeitern  zahlreicher  Städte  nicht 
gefruchtet.  Das  Sozialpolitische  Centralblatt  hat  von  den 


dutzendweise,  namentlich  im  Januar  und  Februar  erfolgten 
Veröffentlichungen  von  Arbeitslosenzählungen  grossentheils 
schon  Kenntniss  genommen;  jetzt  soll  versucht  werden,  auf 
Grund  einer  möglichst1 * *)  vollständigen  Uebersicht  der  ge- 
wonnenen Resultate  zu  prüfen,  ob  die  Besorgniss  des  Ge- 
werkschaftsblatts gegründet  gewesen  sei.  Es  folgt  zunächst 
eine  Tabelle,  die  die  wichtigsten  Zahlen  zusammenstellt. 


Zahl 

Davon 

Zahl 

durchschnitt- 

Einwoh- 

Ort 

der 

ver- 

liehe  Wochen- 

nerzahl 

Arbeits- 

losen 

heirathet 

gehörigen 

zahl  der 
Arbeitslosigkeil 

am  1412. 
1890 

Leipzig  .... 

8 608 

5 227 

9 536 

145/7 

295  025 

Möckern  . . . 

160 

11 1 

280 

IO5/? 

4 369 

Wurzen  . . . 

190 

133 

276 

14  635 

Nürnberg  . . 

1 058 

— 

142  590 

Stuttgart  . . . 

2612 

1 148 

2 357 

6 J/3 

139817 

Cannstatt  . . 

203 

- 

— 

20  265 

Mannheim  . . 

1 072 

512 

1 177 

7 

79  058 

Ludwigshafen 

400 

— . 

— 

28  768 

Köln  mit  Vor- 

orten  .... 

8 851 

— 

— 

17  y7*) 

197081s) 

Barmen  .... 

1 320 

755 

1 678 

116  144 

Elberfeld  . . . 

1 889 

1 102 

2 730 

— 

125  899 

Dortmund  . . 

427 

179 

724 

— 

89  663 

Lüneburg  . . 

302 

204 

563 

5Vs 

20  665 

Hamburg  . . 

4 893 

2 658 

10  917 

569  260 

Wandsbeck  . 

511 

315 

1 161 

77/8 

20  571 

Harburg  . . . 

300 

— 

35  081 

Lübeck  .... 

430 

1 088 

13 

63  590 

Kassel  .... 

965 

543 

1 393 

72  477 

Gotha 

410 

— 

— 

— 

29134 

Vororte  Gothas  284 

167 

— 

Zeitz 

139 

71 

166 

71/* 

21  680 

Braunschweig 

1 403 

883 

2 038 

I3/7 

101  047 

Wolfenbüttel 

240 

149 

— 

8 

14  484 

Wernigerode 

120 

— 

— 

— 

9 966 

Halle 

1 002 

632 

1 710 

ID/7 

11 

101  401 

Giebichenstein 

352 

259 

746 

14  454 

Schkeuditz  . . 

117 

78 

156 

75/7 

5 020 

Eilenburg  . . 

209 

1 56 

362 

91/* 

12  447 

Stassfurt  . . . 

240 

108 

290 

9'A 

19  104 

Brandenburg 

408 

312 

940 

10Vs 

37  817 

Rixdorf  .... 

2 500 

— 

. 

35  702 

Zusammen 

41  615 

15  702 

40  288 

— 

2 437  214 

Es  sind  also  an  31  Orten  41  615  Arbeitslose  gezählt 
worden.  Die  31  Orte  hatten  zusammen  (ohne  die  Vororte 
Kölns  und  Gothas)  am  1.  Dezember  1890  2437214  Ein- 
wohner, zwei  Jahre  später  mit  einem  sechsprozentigen  Zu- 


’)  Mir  waren  in  den  meisten  Fällen  nur  die  im  Vorwärts 
veröffentlichten  Berichte  zugänglich;  ich  habe  angenommen,  dass 
diese  das  Wesentliche  präzis  wiedergeben. 

2)  Nur  für  das  Severinsviertel  berechnet,  in  dem  598  Arbeits- 

lose gezählt  wurden. 

3)  Nicht  alle  Vororte  einbegriffen. 


378 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  32. 


schlag  2 583  447.  Es  waren  ferner  bei  der  letzten  Berufs- 
zählung (1882)  in  den  Ortschaften  von  mehr  als  5000  Be- 
wohnern 23  pCt.  der  Bewohner  Arbeitnehmer.  Nach  diesem 
Verhältniss  hätten  die  obigen  31  Orte  594  193  Arbeitnehmer, 
und  die  unter  ihnen  gezählten  Arbeitslosen  würden  7 pCt.  be- 
tragen. Es  waren  unter  27  343  Arbeitslosen  an  22  Orten 
15  702  Verheirathete,  also  mehr  als  die  Hälfte;  und  die  an 
21  Orten  befindlichen  27  249  Arbeitslosen  hatten  40  288  An- 
gehörige zu  ernähren,  so  dass  im  Durchschnitt  auf  den 
Einzelnen  fast  i'/s  Angehörige  fallen.  In  diesem  Zahlen- 
verhältniss  zwischen  ledigen  und  verheiratheten  Arbeits- 
losen und  ihren  Angehörigen  weisen  die  einzelnen  Ort- 
schaften keine  sehr  erheblichen  Abweichungen  vom  Durch- 
schnitt auf;  die  wichtigste  Ausnahme  nach  der  günstigen 
Seite  bildet  Stuttgart  mit  einer  verhältnissmässig  grossen 
Zahl  alleinstehender  Arbeitsloser.  Die  Dauer  der  Arbeits- 
losigkeit bis  zum  Erhebungstage  war  abgesehen  von  Braun- 
schweig (i"/s  Wochen)  und  Lüneburg  (5 z/3  W.)  wieder  in 
Stuttgart  am  kürzesten  (ö1^  W.);  in  der  Regel  betrug  sie 
etwa  10  Wochen,  am  längsten  war  sie  im  Kölner  Severins- 
viertel (17V7  W.). 

Wohl  nahezu  alle  diese  Erhebungen  sind  von  Arbeitern 
ausgegangen,  besonders  häufig  von  dem  Gewerkschafts- 
kartell des  Orts;  nur  in  drei  Fällen  wird  ausdrücklich  der 
Oberbürgermeister,  der  Gemeindevorstand,  die  Armen- 
pflegerschaft als  Urheber  genannt  (Harburg,  Rixdorf,  Lud- 
wigshafen). 

Leider  muss  diese  ganze  Statistik  mit  sovielen  grana 
salis  verstanden  werden,  dass  sie  gänzlich  versalzen  ist. 
Wo  immer  wir  das  Material  angreifen,  es  hält  nirgend  Stich. 
Nehmen  wir  die  Dauer  der  Arbeitslosigkeit;  es  fehlt  last 
durchweg  die  Angabe  des  Zusammenhangs  der  Arbeits- 
losigkeit mit  Krankheit.  Welchen  Sinn  soll  es  aber  haben, 
die  Legionen  Kranker,  die  grossentheils  ihr  gesetzliches 
Krankengeld  beziehen,  als  arbeitslos  zu  zählen?  Dr.  A.  Braun 
und  das  Korrespondenzblatt  empfahlen  die  Fragestellung; 
„Ist  die  Arbeitslosigkeit  durch  Krankheit  verursacht?“ 
Besser  sollte  es  lauten:  „Wie  lange  waren  Sie  seit  Ihrer 

letzten  Stellung  völlig  arbeitskräftig?“  Jedenfalls  sind  bei 
gänzlicher  Ausserachtlassung  dieses  Gesichtspunktes  zahl- 
reiche Krankheitswochen  zu  Unrecht  dem  Arbeitsmangel 
zur  Last  gelegt  worden.1)  Ebenso  sind  wahrscheinlich  eine 
grosse  Zahl  Invaliden  und  Halbinvaliden  zu  den  Arbeits- 
losen gerechnet.  Wenn  Leute,  die  seit  100  Wochen  keine 
Lohnarbeit  angerührt  haben,  in  Mannheim,  seit  156  Wochen 
in  Halle,  seit  104  Wochen  in  Giebichenstein,  seit  26  Wochen 
in  Zeitz  und  Wurzen,  seit  41  Wochen  in  Hamburg,  ein 
77  jähriger  Greis  seit  313  Wochen  in  Brandenburg  und  ein 
73  jähriger  seit  104  Wochen,  d.  h.  2 Jahren  in  Lübeck, 
266  Leipziger  seit  mehr  als  1 Jahr,  — frischweg  für  diese 
ganze  Zeit  als  arbeitslos  notirt  werden,  so  darf  man  billig 
fragen,  wie  viele  von  diesen  arbeitsfähig  und  arbeits- 
willig und  ausschliesslich  auf  Lohnarbeit  ange- 
wiesen waren.  In  Dortmund  gab  ein  Bergmann  an,  dass 
er  seit  15.  November  1891  in  seinem  Berufe  keine 
Arbeit  mehr  hatte!  Schliesslich  spielt  unzweifelhaft  der 
Einfluss  der  Saisonarbeit  mit,  namentlich  der  im  Winter 
ruhenden  Bauthätigkeit.  Die  Bauarbeiter  sind  gewöhnt,  die 
Höhe  ihres  Sommerlohnes  damit  zu  motiviren,  dass  der- 
selbe auch  für  einen  Theil  des  Winters  hinreichen  müsse; 
es  ist  aber  illoyal,  zuerst  im  Sommer  eine  Extrazulage  zum 
Zurücklegen  zu  beanspruchen  und  nachher  die  todte  Saison 
schlechthin  als  „arbeitslos“  anzumelden.  Nun  findet  sich, 
soweit  die  Angaben  reichen,  unter  den  Arbeitslosen  neben 


*)  Stuttgart  mit  seinen  ausnahmsweise  günstigen  Arbeits- 
losenzahlen hat  weder  die  kranken  noch  die  durchreisenden 
Arbeitslosen  mitgezählt:  von  letzteren  wurden  in  den  Herbergen 
258  ermittelt,  die  durchschnittlich  seit  Wochen  nicht  mehr 
gearbeitet  hatten. 


d en  gleichfalls  überstark  vertretenen  „ungelernten“  Arbeitern 
durchweg  eine  unverhältnissmässig”  grosse  Zahl  von  Bau- 
handwerkern, zumal  wenn  man  die  Tischler,  Schlosser  u.  s.  w. 
hinzurechnet,  deren  Winter-Arbeitslose  vermuthlich  über- 
wiegend dahin  gehören.  So  finden  wir  in  Halle  unter 
1002  Arbeitslosen  140  Maurer,  47  Zimmerer,  41  Maler, 

36  Schlosser,  25  I ischler  etc.;  in  Cannstatt  unter  203  Ar- 
beitslosen 55  Bauarbeiter  im  engeren  Sinne;  in  Stuttgart 
unter  2870  Arbeitslosen  213  Maurer,  122  Zimmerleute  und 
wenigstens  143  Steinhauer,  69  Gipser  oder  Stuckateure, 
r94  Schreiner,  132  Maler,  40  Tapezierer,  87  Schlosser;  in 
Hamburg  (15.  Oktober)  von  4893  Arbeitslosen  293  Maurer, 

192  Zimmerer,  147  Bau-  und  Erdarbeiter,  267  Tischler, 

35  Töpfer  u.  s.  w. ; in  Schkeuditz  unter  117  Arbeitslosen 
49  Maurer;  in  Mannheim  unter  1072  Arbeitslosen  90  Maurer, 

73  Schlosser,  41  Tüncher,  36  Schreiner,  30  Gipser,  21  Ta- 
pezierer; im  Kölner  Severinsviertel  unter  598  Arbeitslosen 
45  Maurer  und  Stuckateure,  40  Maler,  39  Schreiner,  9 Stein- 
hauer etc.;  in  Braunschweig  unter  1403  Arbeitslosen  329  An- 
gehörige der  „Baugewerbe“,  120  der  „Holzindustrie“;  in 
Leipzig  unter  8608  Arbeitslosen  2876  „Bauhandwerker“, 

425  Angehörige  der  „Holz-  und  Glasindustrie“.1) 

Einige  weitere  Mängel  sind  vielleicht  theilweise,  aber 
sicher  nicht  nur,  der  summarischen  Berichterstattung  des 
Vorwärts  zur  Last  zu  legen.  Reichlich  die  Hälfte  der  Ar- 
beitslosen soll  verheirathet  sein;  aber  ein  kleiner  Theil  der 
Berichte  unterscheidet  zwischen  Ehemännern  und  Wittwern, 
ein  kleiner  I heil  unterscheidet  zwischen  Ehemännern  und 
Ehefrauen,  die  Mehrzahl  verschweigt,  ob  Ehefrauen,  Wittwen 
und  Wittwer  zu  den  Verheiratheten  gerechnet  seien.  Auf 
einen  Arbeitslosen  sollen  1 '/2  Angehörige  fallen.  Aber  einige 
Berichte  haben  nur  die  Zahl  der  Kinder  oder  gar  nur  der 
schulpflichtigen  declarirt,  andere  daneben  die  nicht  unbeträcht- 
lichen Zahlen  anderer  Angehöriger;  nicht  alle  haben  aus-  < 
drücklich  gesagt,  dass  sie  nur  die  erwerbslosen  Angehörigen 
zählen.  Nur  einzelne  haben  zwischen  denjenigen  Angehörigen 
unterschieden,  die  einen  Erwerb  und  die  keinen  haben,  und 
unter  ersteren  zwischen  den  augenblicklich  Beschäftigten 
und  den  Unbeschäftigten.  Ob  die  letzteren  in  die  Zahl 
der  Arbeitslosen  eingerechnet  sind,  ist  ein  Problem.  Ein- 
zelne Berichte  haben  nur  die  Angehörigen  der  verheirathe-  < 
ten  Arbeitslosen  angegeben,  andere  in  besonderer  Rubrik 
auch  die  der  Wittwer  und  Junggesellen. 

Eine  neuere  reichsdeutsche  oder  preussische  amtliche 
Statistik  ist  mir  nicht  bekannt,  die  annähernd  so  loddrig 
ausgeführt  wäre,  wie  diese  Arbeitslosenstatistik.  Gewiss 
ist  das  kein  Tadel  gegen  die  betheiligten  Arbeiter;  man 
durfte  mehr  von  ihnen  nicht  erwarten,  ihre  Leistung  mag 
subjektiv  eine  ausgezeichnete  sein;  aber  man  soll  darum 
auch  nichts  Unmögliches  unternehmen.  Wenn  selbst  die 
best  qualificirten  Arbeiter  wie  die  organisirte  obere  Schichte 
der  Handlungskommis  eine  einwandsfreie  Arbeitslosen- 
statistik nicht  liefern,  wie  soll  man  von  dem  unorganisirten 
Gemisch  des  gesammten  ortsanwesenden  Arbeitnehmer- 
personals etwas  erwarten?  Das  wird  ein  Blick  auf  die  bisher 
noch  nicht  besprochene  erste  Spalte  der  obigen  Tabelle 
weiter  verdeutlichen. 

41  615  Arbeitslose  sind  zu  wenig.  Es  scheint,  dass  in 
der  Regel  die  Arbeiter  durch  „Vertrauensmänner“  Haus 
für  Haus  nach  Arbeitslosen  haben  absuchen  lassen.  Aber 
viele  Arbeitslose  haben  die  Ausfüllung  der  Fragekarte,  an- 
scheinend auch  die  mündliche  Auskunft  verweigert.  Angst, 


*)  Nach  Feststellungen  des  Fachvereins  der  Hamburger 
Maurer  betrug,  wie  der  Grundstein  (1893  No.  11)  mittheilt,  die 
durchschnittliche  Arbeitslosigkeit  1884  74,3  Tage,  1885  73,8,  1887 
51,  1889  45,  1890  84,  1891/92  74,3  Tage.  Von  den  im  Ganzen 
73  539  arbeitslosen  Tagen  des  letzten  Jahres  wurden  angeblich 
38  337  wegen  Arbeitsmangels,  27  960  wegen  ungünstiger  Witte- 
rung, 7242  Krankheits  halber  gefeiert. 


No.  32. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


379 


falsche  Scham,  Egoismus,  Gleichgültigkeit  werden 
als  Motive  vermuthet;  ich  möchte  glauben,  dass  speciell  der 
sozialdemokratische  Ursprung  der  Befragung  („Angst“) 
manchen  zurückgehalten  hat.1)  Solange  die  Sozialdemokratie 
noch  nicht  über  eine  staatliche  Zwangsgewalt  verfügt,  wird 
sie  kein  anderes  Resultat  erwarten  dürfen. 

41615  Arbeitslose  sind  aber  auch  zu  viel.  Die  Mit- 
zählung der  Kranken,  der  Invaliden,  der  Saisonarbeitslosen 
wurde  vorhin  bei  der  Dauer  der  Arbeitslosigkeit  als  Fehler- 
quelle erwähnt;  sie  fälscht  aber  auch  die  Zahl  der  Arbeits- 
losen. Ferner:  von  Dr.  A.  Braun  und  vom  Korrespondenzblatt 
wurde  übereinstimmend  gefordert,  dass  die  Statistik  nicht 
vor  der  dritten  Januarwoche  aufgenommen  würde,  weil 
erst  dann  die  Inventuren  beendet  seien;  man  scheint  im 
grossen  Ganzen  der  Mahnung  gefolgt  zu  sein,  obwohl  z.  B. 
in  Stuttgart  die  zweite  Januarwoche  gewählt  wurde.  Be- 
denklicher ist,  dass  anscheinend  hier  und  da  die  Statistik 
sich  über  einen  längeren  Zeitraum  erstreckt  hat  (in  Köln 
16  Tage),  statt  sich  auf  einen  Tag  zu  konzentriren;  noch  be- 
denklicher, dass  fast  alle  Erhebungen  in  die  Zeit  eines  aus- 
nahmsweis starken  Frostes  fielen,  wo  viele  Arbeiten  durch 
Naturzwang  ruhten.  Nur  im  Vorbeigehen  sei  angemerkt, 
dass  die  Empfänger  regelmässiger  Armenunterstützung  viel- 
fach schlechthin  unter  die  Arbeitslosen  gebucht  zu  sein 
scheinen,  wie  denn  überhaupt  nach  den  Subsistenzmitteln 
der  Arbeitslosen  fast  nirgends  gefragt  worden  ist.  Haus- 
söhne, die  ihre  Lohnarbeit  unterbrachen,  weil  sie  im  Hause 
Beschäftigung  fanden  oder  weil  der  Lohn  ihnen  nicht  mehr 
hoch  genug  war,  ja  selbst  Handwerker,  die  vorübergehend 
auf  eigene  Rechnung  arbeiteten,  mögen  als  Arbeitslose  mit- 
gerechnet worden  sein;  wahrscheinlich  auch  arbeitslose 
Handwerksmeister;  will  man  letztere  in  die  Statistik  auf- 
nehmen, so  müsste  mindestens  unsere  obige  auf  7 pCt. 
Arbeitslosigkeit  hinauslaufende  Rechnung  modifizirt  werden. 
Aber  vor  allem:  die  ungezählte  Schaar  der  Arbeitsscheuen, 
der  Vagabunden,  Louis  und  Berufsverbrecher  figurirt  sicher 
mit  bedeutenden  Zahlen  in  den  Reihen  der  gezählten  Arbeits- 
losen. Eine  Kontrolle  durch  Nachfrage  beim  letzten  Arbeit- 
geber oder  auch  nur  durch  Vorweis  der  Altersversicherungs- 
karte scheint  nicht  stattgefunden  zu  haben.  Selbst  bei 
grösster  Personalkunde  und  aktivstem  Spürsinn  würde  die 
Vermeidung  des  Irrthums  menschliche  Kraft  übersteigen; 
der  sozialdemokratische  Vertrauensmann,  wenn  wir  ehrlich 
sein  wollen,  hat  aber  weder  die  Kunde,  noch  den  zu- 
reichenden Antrieb,  einen  Arbeitslosen  als  arbeitsscheu 
zu  entlarven.  Hat  doch  selbst  das  vorsichtige  Korrespondenz- 
blatt zur  Empfehlung  der  Statistik  gemeint,  geradeswegs 
hervorheben  zu  sollen,  dass  sie  nebenbei  ein  „ausgezeichne- 
tes Agitationsmittel“  sein  werde,  und  aus  demselben  Ge- 
sichtspunkte auch  die  Frage  nach  dem  etwaigen  Erwerb  der 
Kinder  von  Arbeitslosen  gerechtfertigt.  Ich  glaube  nicht, 
dass  ich  selbst,  in  die  Situation  des  sozialdemokratischen 
Vertrauensmannes  bei  dieser  Statistik  gestellt,  mit  derselben 
Energie  solchen  statistischen  (Fragestellungen  und  Zweifeln 
nachspüren  würde,  derenTendenz  dahin  geht,  die  resultirende 
Arbeitslosenzahl  zu  verringern,  wie  den  Fragestellungen, 
die  ein  agitatorisch  wirksames  Resultat  von  vornherein 
versprechen.  Wie  würde  man  eine  Enquete  von  Arbeit- 
gebern beurtheilen,  die  eine  schwierige,  heikle  Arbeiter- 
statistik unternehmen  wollten  mit  dem  ausdrücklichen  Be- 
wusstsein, das  Ergebniss  agitatorisch  verwerthen  zu  können? 
Schlimm  genug,  wenn  der  Staat  solche  heikle  Aufgaben  den 
Interessenten  überlässt. 

Zur  Illustration:  Von  den  1072  am  7.  Dezember  in 
Mannheim  gezählten  Arbeitslosen  meldeten  sich  am  7.  und  8.  De- 
zember nur  321,  später  selbst  in  den  kältesten,  arbeits- 
ärmsten Wochen  nur  1 — 200  auf  dem  städtischen  Arbeits- 

0 Vgl.  Vorwärts,  18.  März  1893:  „Die  hiesige  (Leipziger) 
bürgerliche  Presse  hatte  ihr  Möglichstes  gethan,  die  Arbeitslosen 
, zur  Nichtausfüllung  der  Zählkarten  zu  bewegen.“ 


nachweis;  unter  den  zuerst  Gemeldeten  fanden  sich  nach 
Angabe  der  Schutzmannschaft  nicht  wenige,  die  auch  im 
Sommer  nur  ausnahmsweise  zu  arbeiten  pflegen.  Die 
Strassburger  Stadtverwaltung  suchte  trotz  angeblich  grosser 
Arbeitslosigkeit  vergeblich  nach  500  Schneeschippern.  In 
Karlsruhe  erzählte  eine  Abordnung  der  Arbeitslosen  dem 
Oberbürgermeister  von  1300  Unbeschäftigten.  In  die  Liste 
der  Arbeitslosen  trugen  sich  jedoch  nicht  mehr  als  216  ein. 
Der  Sozialist  Kainbach  gab  zu,  dass  auf  dieser  Liste  Per- 
sonen ständen,  mit  denen  er  keine  Sympathie  haben  könne, 
und  dass  er  die  Arbeitslosigkeit  überschätzt  habe.  Von  den 
216  erwiesen  sich  42  als  unfindbar  (wahrscheinlich  Durch- 
reisende), 42  als  Empfänger  von  Armenunterstützung,  64 
als  alleinstehende  junge  Leute,  16  als  wegen  Arbeitsscheu 
Bestrafte,  9 als  nicht  voll  Arbeitsfähige.  Nach  Mittheilung 
mehrerer  Stadtverordneter  hätte  eine  grössere  Zahl  der  in 
die  Liste  Eingetragenen  die  Arbeit  verweigert,  und  hätten 
sich  auf  dem  Bureau  für  Arbeitsnachweis  nur  33  Personen 
gemeldet.  In  Stuttgart  (2086  Arbeitslose)  beschäftigte  die 
Stadt  235  Mann  mit  Nothstandsarbeit;  weitere  Arbeitsstellen 
wurden  angeboten,  aber  nicht  begehrt. 

Wir  kommen  so  zu  einem  glatten  non  liquet.  Wir 
erfahren  aus  dieser  Statistik  noch  nicht  einmal,  ob  auch 
nur  das  Normalmaass  winterlicher  Arbeitslosigkeit  erreicht 
wurde.  Wir  wissen  das  nur  aus  den  allgemeinen  Urtheilen 
über  die  Lage  einzelner  Industrien,  die  in  letzter  Linie 
fast  durchweg  aus  Unternehmerkreisen  stammen.  Man  muss 
freilich  auch  hier  zwischen  Lage  der  Industrie  (d.  h.  Preis- 
stand) und  Arbeitslosigkeit  unterscheiden;  immerhin  steht 
fest,  namentlich  auf  Grund  der  bisher  erschienenen  Handels- 
kammer- und  Fabrikinspectionsberichte,  dass  die  Zahl  der 
industriell  beschäftigten  Arbeiter  im  letzten  Winter,  nament- 
lich bis  Dezember,  im  Durchschnitt  eher  ab-  als  zugenommen 
hat,  während  gleichzeitig  die  moderne  Entwickelung  der 
Landwirthschaft  immer  grössere  Schaaren  von  Landleuten 
für  den  Winter  in  die  Industrie  treibt;  dass  namentlich  die 
Metallindustrie  und  zwar  vorzugsweise  im  Westen  zahl- 
reiche Arbeiter  entlassen  hat.  Auch  der  Bergbau,  der  aus- 
nahmsweise eine  Arbeiterstatistik  besitzt,  hat  in  der  ersten 
Hälfte  des  Winters  etwa  1 pCt.  Arbeiter  weniger  beschäf- 
tigt als  ein  Jahr  vorher.  Ueber  die  ungünstige  Lage  des 
Buchdruckergewerbes  hat  diese  Zeitschrift  neulich  berichtet, 
während  die  für  das  Handelsgewerbe  und  für  das  Brau- 
gewerbe in  dieser  Zeitschrift  mitgetheilten  Daten  günstiger 
lauten.  Unter  den  Berliner  Bäckern  soll  seitens  der 
Krankenkasse  eine  Arbeitslosigkeit  von  2500—3000  Per- 
sonen festgestellt  worden  sein,  und  auch  eine  grosse 
Münchener  Krankenkasse  berichtet  von  einem  starken  Rück- 
gang der  Mitglieder  durch  Arbeitslosigkeit.  Dagegen 
scheint  es  den  meisten  Branchen  der  Textilindustrie  gut  zu 
gehn;  so  wird  mir  vom  Verbände  Deutscher  Leinenindustrieller 
mitgetheilt,  dass  in  der  Leinenindustrie  von  Arbeitslosigkeit 
keine  Rede  sei.  Ich  habe  durch  eine  Anzahl  Stichproben 
mich  überzeugt,  dass  im  übrigen  brauchbare  statistische 
Daten  über  die  Lage  des  Arbeitsmarktes  auch  an  den 
Stellen,  wo  man  sie  erwarten  sollte,  fast  nirgend  vorhanden 
sind.  Indirekte  statistische  Symptome,  die  man  für  das  Vor- 
handensein eines  Nothstands  geltend  gemacht  hat,  wie  die 
Frequenz  der  Verpflegungsstationen,  sind  meist  von  zweifel- 
haftem Werthe,1)  und  ihnen  stehen  gegentheilige  Sym- 
ptome gegenüber.  Dass  die  Obdachlosenasyle  bei  anhal- 
tendem starken  Froste  sich  füllen  und  überfüllen,  ist  selbst- 
verständlich. Dass  in  den  Städten  die  Arbeitslosigkeit  (und 
bei  anhaltendem  Froste  auch  die  Vagabondage)  sich  kon- 
zentrirt,  dass  also  der  Arbeitslosenprozentsatz  in  den 
Städten  unverhältnissmässig  hoch  erscheinen  muss,  liegt  auf 
der  Hand. 


■)  Ich  verweise  beispielshalber  auf  die  eingehende  Erörterung 
im  Schwäbischen  Merkur,  4.  und  9.  Januar  1893. 


380 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  32. 


Von  kundigster  Seite  wurde  ich  darauf  hingewiesen, 
dass  aus  Betriebseinschränkungen  einzelner  Etablisse- 
ments nichts  gefolgert  werden  darf;  man  könne  nach  die- 
ser Seite  die  überraschendsten  statistischen  Erfahrungen 
machen.  Soweit  meine  Nachrichten  reichen,  trifft  das  völlig 
zu.  Während  in  Köln  Gewerbeinspektor  und  Arbeiter  um- 
fangreiche Entlassungen  feststellten,  ergab  eine  anscheinend 
um  Neujahr  angestellte  Ermittelung  des  Regierungspräsiden- 
ten, dass  die  Zahl  der  in  allen  Kölner  Fabriken  zusammen 
beschäftigten  Arbeiter  seit  dem  i.  October  sich  nicht  ver- 
mindert habe,  und  der  Oberbürgermeister  erklärte  Mitte 
Januar  in  der  Stadtverordnetenversammlung,  durch  den  Bau 
des  Hafens,  des  Postgebäudes,  des  Schlachthauses,  durch 
Wege-  und  Kanalbau  sei  ausserordentliche  Arbeitsgelegen- 
heit in  grösserem  Umfange  geboten  als  seit  Jahren;  nur 
durch  den  starken  Frost  seien  die  Arbeiten  unterbrochen. 
In  Mannheim  wurden  zwischen  Mitte  Oktober  und  Mitte 
November  aus  2 Fabriken  388  Arbeiter  entlassen,  aber  im 
November  wurden  in  sämmtlichen  Mannheimer  Fabriken 
9621  Arbeiter  gezählt,  während  es  im  Juli  9664  gewesen 
waren;  die  Tabakindustrie  hat  nämlich  im  Winter  ihre 
Saison  und  nimmt  die  Arbeitslosen  auf.  Unter  den  2500 
Rixdorfer  Arbeitslosen  waren  noch  nicht  1000  Fabrikarbeiter, 
und  diese  waren  wohl  zu  gutem  I heil  dadurch  arbeitslos 
geworden,  dass  eine  grössere  Fabrik  nach  auswärts  in  eine 
billigere  Gegend  übergesiedelt  war.  — 

Eins  lehrt  aber  die  Arbeitslosenstatistik  dieses  Winters 
doch.  Die  Entlassungslisten  der  beiden  Mannheimer  Fa- 
briken zeigen,  dass  ganz  überwiegend  unverheirathete  junge 
Leute  entlassen  worden  sind.  Es  entspricht  dies  einer 
Praxis,  die  in  der  Grossindustrie  eine  weite  Verbreitung 
zu  haben  scheint.  Von  den  gezählten  Arbeitslosen  war  da- 
gegen über  die  Hälfte  verheirathet  und,  soweit  ersichtlich, 
über  das  Jünglingsalter  hinaus.  Die  Inkongruenz  ist  so 
enorm,  dass  ich  annehmen  möchte,  die  Grossindustrie  sei 
bei  der  gezählten  Arbeitslosigkeit  relativ  wenig  betheiligt. 
Die  in  der  Grossindustrie  oder  vielmehr  in  der  Fabrik- 
industrie festgelegten  Kapitalien  sind  eine  Garantie  gegen 
Arbeiterentlassungen,  auch  können  die  grossen  Betriebe 
eher  auf  Lager  arbeiten  lassen  oder  doch  durch  Reduktion 
der  Arbeitszeit  sich  helfen,  wie  das  jetzt  vielfach  ge- 
schehen ist.1) 

Von  den  Fehlern  obiger  Statistik  lassen  sich  im  Wieder- 
holungsfälle wohl  einzelne  vermeiden,  aber  gerade  die 
schwersten  Fehler  nicht.  Eine  Arbeitslosenstatistik  duich 
die  Arbeiter  ist  eben  nur  im  Umkreise  einer  schon  vor- 
handenen enggeschlossenen  Organisation  möglich.  Weit 
mehr  kann  die  öffentliche  Behörde  leisten,  sei  es  im  Wege 
einer  polizeilichen  Zählung,  sei  es,  was  vorzuziehen,  im 
Wege  eines  umfassenden  Angebots  von  Nothstandsarbeit. 
Letzteres  ist  der  einzige  sichere  Weg,  die  Arbeitsscheuen 
auszuscheiden ; freilich  zählt  man  so  von  den  Arbeitswilligen 
nur  die  Nothleidenden,  auch  wäre  aus  naheliegenden  Grün- 
den eine  gesetzliche  Regelung  Vorbedingung.  Einen  andern 
Weg  zeigt  die  Statistik  der  Berufsgenossenschaften.  Die 
Bauberufsgenossenschaften  zählen  schon  jetzt  die  von  ihren 
Mitgliedern  geleisteten  Tagewerke , damit  ist  eine  Statisti k 
der  Beschäftigung  gegeben,  ein  negatives  Bild  der  Ar- 
beitslosigkeit. 

Berlin.  K.  Oldenberg. 


!)  Vgl.  auch  das  Verfahren  der  bayerischen  Spiegelglas 
fabrikanten,  das  in  dieser  Zeitschrift  I,  171  kurz  erwähnt  worden 
ist.  Im  Saargebiet  wurden  nach  Angabe  des  Handelsministers 
8000  Bergleute  vor  dem  Strike  über  das  von  der  Konjunktur  be- 
dingte Maass  hinaus  beschäftigt. 


Finanzfragen. 


Zur  Besteuerung  der  Konjunkturengewinne  an 
Baustellen. 

Es  hiesse  Eulen  nach  Athen  tragen,  wenn  ich  den 
Lesern  des  Centralblattes  die  sozialpolitische  Bedeutung 
einer  Besteuerung  der  grossen,  theilweise  ungeheueren  Ge- 
winne auseinandersetzen  wollte,  die  den  Besitzern  von 
Grund  und  Boden  dann  zufallen,  wenn  bisher  ausschliess- 
lich für  landwirtschaftliche  Zwecke  benutztes  Land  durch 
die  Entwickelung  der  städtischen  Verhältnisse  in  die  Kate- 
gorie der  Bauplätze  übergeht.  Ueber  die  Berechtigung  und 
das  Wünschenswerte  einer  solchen  Steuer  kann  für  den 
Sozialpolitiker  ja  kein  Zweitel  existiren.  Die  Frage  ist  nur 
die,  wie  dieser  Grundsatz  in  der  Praxis  am  zweckmässigsten 
auszuführen  ist,  und  ferner,  ob  etwa  schon  durch  die  be- 
stehende Steuergesetzgebung  eine  Handhabe  geboten  wird, 
Konjunkturgewinne  dieser  Art  mit  einer  angemessenen 
Steuer  zu  belegen. 

Interessant  und  vielversprechend  in  dieser  Beziehung 
erscheint  eine  Bewegung  in  der  Dresdener  Stadtverordneten- 
versammlung, die  die  Erreichung  dieses  Zieles  im  Rahmen 
des  gegenwärtigen  kommunalen  Grundsteuersystems  an- 
strebt. Die  erste  Anregung  zu  dieser  Bewegung  wurde 
durch  den  vor  Jahresfrist  eingebrachten , nunmehr  dem 
Rathe  zur  Erwägung  empfohlenen  Antrag  gegeben,  „eine 
Aenderung  der  Grundsteuer  dergestalt  in  Aussicht  zu 
nehmen,  dass  Baustellen  nicht  mehr  nach  ihrem  Ertrage, 
sondern  nach  ihrem  jeweiligen  Verkaufswerthe  zu  ver- 
steuern sind.“  ...  -n 

Die  bestehenden  Verhältnisse  sind  in  Dresden  in  aber 
Kürze  folgende.  Seit  der  1891  in  Kraft  getretenen  Ge- 
meindeanlagenordnung wird  die  Grundsteuer  in  Höhe  von 
1 Pfennig  auf  jede  Mark  des  jährlichen  Reinertrages  er- 
hoben. Als  Reinertrag  gelten  hierbei  7/io  des  ermittelten 
Ertrages.  Als  Ertrag  wird  bei  verpachteten  Grundstücken 
die  Gesammtsumme  der  Mieth-  und  Pachterträgnisse  an- 
gesehen. Hiernach  sind  nicht  verpachtete  oder  vermiethete 
und,  wie  wir  noch  sehen  werden,  auch  nicht  vom  Grund- 
besitzer selbst  benutzte  oder  anderen  ganz  oder  theilweise 
unentgeltlich  überlassene  Grundstücke  von  der  Giundsteuer 
ganz  ausgenommen.  Zu  dieser  Klasse  gehören  natürlich 
in  erster  Linie  alle  im  Stadtbezirk  gelegenen  Baustellen. 
Selbst  wenn  dieselben  aber  auch  zur  Grundsteuer  heran- 
gezogen werden  könnten,  weil  sie  etwa  noch  landwirt- 
schaftlich benutzt  werden,  so  würde  die  Steuei  belastung 
doch  geradezu  lächerlich  gering  sein  im  Verhältniss  zu  der 
rapiden  Werthsteigerung,  die  dieselben  durch  die  blosse 
Thatsache  erfahren,  dass  sie  auf  hören,  ausschliesslich  land- 
wirtschaftlich benutzbar  zu  sein,  und  in  die  Kategorie  der 
grossstädtischen  Bauplätze  einrücken. 

Die  Möglichkeit,  Grundstücke  dieser  Art,  die  entweder 
gar  keine  oder  eine  im  Verhältniss  zu  ihrem  Verkaufswerth 
minimale  Grundsteuer  entrichten,  in  anderer  Weise  für 
Steuerzwecke  heranzuziehen,  scheint  nun  durch  die  zweck- 
mässige Auslegung  und  Anwendung  der  Bestimmung  in 
& 5,  Absatz  3 der  Gemeindeanlagenordnung  geboten  zu 
sein.  Dort  wird  nämlich  zu  der  Regel,  dass  die  Veran- 
lagung der  Grundsteuer  nach  dem  Ertrage  zu  erfolgen  hat. 
die  wichtige  Einschränkung  hinzugefugt,  dass  in  den  Fällen, 
in  denen  der  Besitzer  ein  Grundstück  ganz  oder  theilweise 
unentgeltlich  oder  zu  einem  den  ortsüblichen  Sätzen  nicht 
entsprechenden  Miethzinse  an  andere  überlässt  oder  es 
selbst  benutzt,  an  Stelle  des  Pacht-  oder  Miethsertrages  die 
Veranlagung  nach  dem  Verpachtungs-  oder  Vermiethungs- 
werth  tritt.  Nicht  die  Thatsache  des  Ertrags,  sondern  die 
Möglichkeit  eines  solchen,  die  Ertragsfähigkeit  entscheidet 
also  in  diesem  Falle. 

Diesen  Grundsatz,  d.  h.  die  Auffassung  der  Ertrags- 
fähigkeit als  des  Prinzips  der  Grundsteuer,  wollen  nun  die 
Dresdner  Stadtverordneten  auch  auf  diejenigen  Grundstücke 
ausdehnen,  die  durch  Bebauung  ertragsfähig  gemacht  wer- 
den könnten.  Aus  welchen  Gründen  sollte  auch  die : Er- 
hebung der  Grundsteuer  davon  abhängig  gemacht  werden, 
ob  ein  Grundstück  thatsächlich  benutzt  wird  oder  nicht, 
speziell  ob  es  anderen  unentgeltlich  überlassen  oder  über- 
haupt nicht  benutzt  wird?  Die  Möglichkeit,  aus  Baustellen 


No.  32. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


381 


Ertrag  zu  erzielen,  ist  aber  unzweifelhaft  immer  vorhanden, 
wenn  der  Bebauung  keine  anderen  Hindernisse  entgegen- 
stehen, als  die  im  Willen  des  Besitzers  liegenden.  Ob  diese 
Möglichkeit  eine  mehr  oder  weniger  entfernte  ist,  kann 
keinen  Unterschied  begründen.  Es  genügt,  dass  diese  Mög- 
lichkeit thatsächlich  vorhanden  ist 

Die  Schwierigkeiten,  die  sich  gegen  die  praktische 
Durchführung  einer  derartigen  Steuer  erheben,  ergeben 
sich,  wenn,  wie  dies  dann  erforderlich  wird,  der  Begriff 
„Bauland“  festgestellt  werden  soll.  Der  Ausschuss,  dem  die 
Prüfung  dieses  Antrags  zugewiesen  war,  schlägt  zu  diesem 
Zwecke  vor,  als  Hauptmerkmal  des  Begriffs  „Bauland“ 
lediglich  die  Möglichkeit  der  Bebauung  mit  einem  Wohn- 
hause  festzusetzen.  Darauf  könne  es  bei  Auflage  dieser 
Steuer  nicht  ankommen,  ob  der  Besitzer  seinerseits  das  be- 
treffende Land  als  Baustelle  ansehe  und  behandle,  oder  ob 
er  dasselbe  nach  wie  vor  rein  landwirthschaftlich  benutze. 
Jedoch  würde  man  wieder  zu  weit  gehen,  wenn  man  die 
schliesslich  doch  für  jedes  Grundstück  vorhandene  rein 
technische  Möglichkeit,  darauf  ein  Gebäude  zu  errichten, 
entscheidend  sein  lassen  wolle. 

Als  naturgemässer  Mittelweg  zwischen  diesen  beiden 
Extremen  stellt  sich  die  Auffassung  dar,  nur  diejenigen 
Baustellen  der  Besteuerung  zu  unterwerfen,  bei  denen  un- 
mittelbar die  rechtliche  Möglichkeit  zu  bauen  vorliegt. 
Dazu  gehört,  dass  einerseits  die  Bebauungspläne  und 
andererseits  die  Strassen  und  Schleusen  für  das  betreffende 
Terrain  fertig  gestellt  sind.  Grundstücke,  die  einem  Be- 
bauungsverbot unterliegen,  würden  natürlich  von  der  Steuer 
ausgenommen  sein. 

Ueber  die  Modalitäten  der  Ausführung  einer  solchen 
Steuer  hat  der  Ausschuss,  wie  ganz  erklärlich,  keine  Vor- 
schläge im  Einzelnen  gemacht,  abgesehen  von  dem  Aus- 
druck des  Wunsches,  dass  die  dann  nöthig  werdenden 
Schätzungen  des  Verkaufswerthes  der  Baustellen  mit  Rück- 
sicht auf  die  rapiden  hiervorkommenden  Werthsteigerungen 
alljährlich  vorgenommen  werden  möchten.  Nachdem  die 
Stadtverordneten  so  ihren  theoretischen  Standpunkt  in  dieser 
Frage  präzisirt  und  ihre  Bereitwilligkeit  zur  Bewilligung 
einer  solchen  Steuer  erklärt  haben,  kommt  es  jetzt  dem 
Rathe  zu,  seinerseits  Vorschläge,  z.  B.  bezüglich  der  Höhe 
der  Steuer  u.  s.  w.,  zu  machen  und  auf  Einführung  dieser 
sozialpolitisch  wichtigen  Steuerart  hinzuwirken. 

Es  wäre  wohl  ganz  verfehlt,  wenn  jemand  von  der 
Durchführung  dieser  Steuer  grosse  und  einschneidende 
Wirkungen,  etwa  bezüglich  der  Einkommensvertheilung  oder 
der  Beschränkung  der  durch  Spekulation  auf  diesem  Ge- 
biete erzielbaren  Gewinne  erwarten  wollte.  Ich  zweifle 
sogar,  ob  die  von  dem  Stadtverordnetenausschuss  erwartete 
Wirkung  eintreten  wird,  dass  dadurch  nämlich  dem  Miss- 
brauche wirksam  vorgebeugt  werde,  den  die  Besitzer  durch 
Zurückhaltung  von  Bauplätzen,  die  zur  Entwicklung  der 
Stadt  nöthig  sind,  ausüben.  Die  Macht,  einen  solchen 
Missbrauch  zu  treiben,  steht  ja  den  Besitzern  zu,  da  für  sie 
in  Bezug  auf  diese  Bauplätze  ein  natürliches  Monopol  besteht, 
das  oft  mit  der  grössten  Rücksichtslosigkeit  ausgebeutet 
wird.  Wenn  man  glaubt,  dass  der  Anreiz  zu  solch  gemein- 
■ schädlichem  Missbrauch  durch  die  vorgeschlagene  Steuer 
einigermaassen  beseitigt  wird,  indem  jedermann  sich  eher 
1 entschliessen  werde,  ein  Objekt,  das,  ohne  einen  Ertrag 
oder  wenigstens  einen  seinem  Werthe  entsprechenden  Ertrag 
abzuwerfen,  jährlich  Kosten  verursacht,  zu  verkaufen  oder 
selbst  seiner  naturgemässen  Bestimmung  zuzuführen,  als 
‘wenn  ohne  Kostenaufwand  von  Jahr  zu  Jahr  höhere  Ge- 
winne damit  erzielt  werden  können,  so  vergisst  man  dabei, 
dass,  um  dies  Ziel  zu  erreichen,  die  vorgeschlagene  Steuer 
viel  höher  bemessen  werden  müsste,  als  sich  dies  im  Rahmen 
des  in  Dresden  bestehenden  Grundsteuersystems  thun  lassen 
wird.  Selbst  wenn  wir  den  sehr  günstigen  Fall  annehmen 
wollten,  dass  analog  dem  gegenwärtigen  Veranlagungsmodus 
der  Grundsteuer  etwa  4 — 5 pCt.  des  Verkaufswerthes  einer 
Baustelle  als  Reinertrag  derselben  angesehen  und  1 Pfennig 
auf  jede  Mark  hiervon  jährlich  erhoben  würde,  so  machte 
dies  doch  z.  B.  für  einen  Bauplatz  im  Werthe  von  100  000  Mk. 
jährlich  nur  einen  Betrag  von  40 — 50  Mk.  aus.  Diese 
Summe  kann  aber  gegenüber  den  oft  ganz  rapiden  Werth- 
| Steigerungen  gar  nicht  in  Betracht  kommen,  die  für  Grund- 
stücke an  der  Peripherie  von  Grossstädten  dann  eintreten, 

( 


wenn  sie  aufhören,  ausschliesslich  landwirthschaftlich  ver- 
werthbar  zu  sein  und  in  den  Kreis  der  grossstädtischen 
Baustellen  einrücken.  Beträgt  die  Werthsteigerung  für  das 
Grundstück  unseres  Beispiels  vielleicht  5000  Mk.  jährlich 
— das  Doppelte  bis  Vierfache  dieser  Annahme  dürfte  in 
Wirklichkeit  vielleicht  viel  häufiger  sein,  — so  werden  die 
40  — 50  Mk.  Grundsteuer,  die  hiervon  abgehen,  den  Besitzer 
wohl  schwerlich  veranlassen,  sein  Grundstück  eher  zu  ver- 
kaufen oder  zu  bebauen,  als  er  dies  sonst  gethan  haben 
würde.  Ein  einfaches  Rechenexempel  lehrt  ihn  ja,  dass  im 
ersteren  Falle  unter  Umständen  sein  Gewinn  immer  noch 
grösser  sein  wird,  als  wenn  er  baut  oder  verkauft.  Es  wird 
gut  sein,  sich  von  vornherein  keinen  übertriebenen  Hoff- 
nungen und  Erwartungen  bezüglich  der  Wirkung  der  vor- 
geschlagenen Steuer  nach  dieser  Richtung  hinzugeben. 

Die  wahre  Bedeutung  dieses  Antrages  liegt  vielmehr, 
glaube  ich,  auf  einem  ganz  anderen  Gebiete.  Wenn  die 
Forderung  einer  Besteuerung  der  Baustellen  nach  dem  Ver- 
kaufswerthe  zunächst  auch  im  Interesse  des  kommunalen 
Steuersäckels  erhoben  worden  ist,  weil  bei  dem  jetzigen 
Grundsteuersystem  in  einer  Stadt  wie  Dresden  viele  Millio- 
nen gut  rentirenden  Kapitals  steuerfrei  ausgehen,  und  wenn 
als  weiteres  Motiv  für  die  Antragsteller  das  Prinzip  der 
ausgleichenden  Gerechtigkeit  maassgebend  gewesen  ist,  das 
gerade  gegenüber  den  Besitzern  von  bebauten  Grundstücken 
die  Einführung  einer  Baustellensteuer  verlangt,  so  haben 
hier  doch  auch  last  not  least  noch  sozialpolitische  Gründe 
und  Erwägungen  eine  wesentliche  Rolle  gespielt.  Und  vor 
allem  dies  Letztere  scheint  mir  ein  interessantes  Zeichen  der 
Zeit.  Wer  die  Zusammensetzung  des  Dresdener  Stadtver- 
ordnetenkollegiums kennt,  in  dem  kein  als  Vertreter  der 
Arbeiterparteien  Gewählter  sitzt,  der  weiss  auch,  dass  nie- 
mand weiter  entfernt  sein  kann  von  sozialistischen  Neigungen 
und  Anschauungen  als  die  Stadtverordneten  Dresdens.  Um 
so  bemerkenswerther  ist  es,  wenn  ein  solches  Kollegium  in 
seiner  überwiegenden  Mehrheit  sich  zu  der  Anschauung 
bekennt,  dass  die  Werthsteigerungen  der  Grundstücke  den 
Grundbesitzern  ohne  ihr  Zuthun  in  den  Schooss  fallen, 
und  die  dadurch  bei  geschickter  Spekulation  erzielten  oft 
ganz  enormen  Gewinne  „sich  vom  Standpunkte  der  National- 
ökonomie als  unverdient  charakterisiren“,  und  wenn  es 
demgemäss  eine  angemessene  Besteuerung  derselben  be- 
antragt, da  eine  Steuer  auf  das  in  diesen  Werthsteige- 
rungen latent  enthaltene  Einkommen  „in  einer  Zeit,  in 
welcher  das  Einkommen  aus  noch  so  harter  Arbeit  in 
immer  schärferer  Weise  besteuert  werden  muss,  durchaus 
gerecht  erscheint“.  Der  Anlauf,  den  man  in  Dresden  ge- 
nommen, bedeutet  also  ein  Vorpostenscharmützel  in  dem 
grossen  Kampfe  zwischen  Arbeitseinkommen  und  arbeits- 
losem Einkommen,  der,  wenn  nicht  alles  trügt,  schliesslich 
mit  der  vollständigen  Niederlage  des  letzteren  enden  wird. 
Nach  dem  Satze,  dass  eine  wirtschaftliche  oder  politische 
Einrichtung,  die  aus  Vernunft  Unsinn,  aus  Wohlthat  Plage 
geworden  ist,  überall  zuerst  in  ihren  krassesten  Erscheinungs- 
formen als  verfehlt  und  würdig,  beseitigt  zu  werden,  erkannt 
werden  wird,  ehe  man  die  Fehlerhaftigkeit  und  Unzweck- 
mässigkeit des  Prinzips,  auf  dem  sie  selbst  beruht,  anerkennt, 
erscheint  von  den  verschiedenen  Kategorieen  des  arbeits- 
losen Einkommens  neben  der  Form  des  Dividendenein- 
kommens aus  dem  Besitz  von  Antheilscheinen  an  in- 
dustriellen Unternehmungen  besonders  die  Form  der  ohne 
eigene  Arbeit  erzielten  Gewinne  der  Grundbesitzer  infolge 
der  natürlichen  Steigerung  des  Bodenwerthes  als  unberech- 
tigt und  unseren  heutigen  sittlich-rechtlichen  Anschauungen 
widersprechend.  Bei  der  ersten  Form  äussert  sich  dies 
darin,  dass  schon  in  mehreren  Ländern  diese  Art  des  Ein- 
kommens trotz  allem  anfänglichen  Sträuben  der  Parla- 
mente einer  Doppelbesteuerung  unterworfen  worden  ist. 
Bei  der  zweiten  Form,  die  ihre  Einkommensnatur  bisher 
dem  Gesetzgeber  zu  verschleiern  verstand,  zeigt  es  sich 
dadurch,  dass  man  allmählich  zur  richtigen  Erkenntniss  des 
wahren  Wesens  dieser  Gewinne  als  einer  besonderen  Art 
des  arbeitslosen  Einkommens  gelangt  und  sie  demgemäss 
einer  angemessenen  Besteuerung  zu  unterwerfen  sucht,  der 
sie  sich  bisher  geschickt  zu  entziehen  wussten.  Ein  neuerer 
grösserer  Versuch  auf  diesem  Gebiete  ist  ja  noch  in  frischer 
Erinnerung.  Was  wird  wohl  der  Fortgang  und  das  Ende 
dieser  Bewegung  sein,  von  der  wir  nur  die  allerersten  An- 


1 


382 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  32. 


fange,  dem  leisen  Wellengekräusel  vergleichbar,  wahr- 
nehmen? Wer  will  das  sagen?  Jedenfalls  glaube  ich,  wird 
Jastrow  Recht  behalten,  wenn  er  prophetisch  sagt:  „Kein 

Theil  unserer  Eigenthumsordnung  ist  heute  bereits  so  er- 
schüttert wie  das  Eigenthum  an  der  Werthsteigerung  des 
Bodens  durch  den  zufälligen  Besitzer.  Wenn  durch  die 
Leistungen  der  Gesammtheit  der  Grund  und  Boden  im 
Werthe  steigt,  so  entspricht  es  nicht  den  Grundsätzen  der 
Gerechtigkeit,  dass  die  Steigerung  dem  augenblicklichen 
Besitzer,  in  dessen  Händen  sie  als  Verkaufsobjekt  von 
Generation  zu  Generation  bestehen  bleibt,  ganz  und  der 
Gesellschaft,  von  der  sie  ausgeht,  gar  nicht  zulalle.“ 
Leipzig.  L.  Pohle. 


Unternehmerverbände. 

Der  erste  Trust  im  Buchdruckgewerbe.  In  den  aller- 
nächsten Wochen  wird  in  Cincinnati  die  „Cincinnati  Job 
Printing  Association“,  eine  Vereinigung  der  grösseren 
Accidenz-,  Lithographie-  und  Gravurefirmen  mit  einem  Ka- 
pital von  ungefähr  10  Millionen  Dollars  in  Thätigkeit  treten. 
Zweck  dieses  Riesenmonopols  — es  umfasst  die  Hälfte  der 
175  Firmen  in  Cincinnati  — ist,  alle  einschlägigen  Offizinen 
unter  einer  Leitung  zu  führen,  allgemeine  Kostenersparniss, 
Beseitigung  aller  kleineren  Geschäfte,  Betrieb  von  nur  eini- 
gen der  grösseren  Druckereien  zur  Zeit  stillen  Geschäfts- 
ganges und  die  Regelung  von  Löhnen  und  Preisen,  denen 
sich  alle  fügen  müssen.  Durch  den  Trust  werden  mehrere 
hundert  Setzer  arbeitslos. 


Arbeiterzustände. 

Verhältnisse  der  sächsischen  Bergarbeiter.  Im  An- 
hang der  neuesten  Berichte  der  sächsischen  Gewerbe- 
inspektoren für  1892  findet  sich  auch  zum  ersten  Male  eine 
tabellarische  Zusammenstellung  der  weiblichen  und  jugend- 
lichen Arbeiter,  welche  1892  im  sächsischen  Bergbau  be- 
schäftigt waren.  Da  seltsamer  Weise  die  Ziffer  der  männ- 
lichen erwachsenen  Bergleute  nicht  mit  zusammengestellt 
ist.  so  musste  dieselbe  für  die  nachfolgende  Uebersicht  aus 
den  angefügten  Berichten  der  Berginspektionsbeamten  für 
1892  ergänzt  und  berechnet  werden,  wobei  zu  bemerken 
ist,  dass  über  den  Bezirk  Dresden  keine  Angabe  vorliegt 
und  die  übrigen  Angaben  Jahresdurchschnittsziffern  der 
ganzen  Belegschaft  darstellen,  von  welcher  die  Zahl  der 
weiblichen  und  jugendlichen  Arbeiter  abgezogen  wurde,  um 
die  Ziffer  der  erwachsenen  männlichen  Bergleute  zu  erhalten. 
Danach  wählten  im  Jahre  1892: 


Im  Berg- 
inspektionsbezirk 

die  erwachsenen 
Arbeiter 

die 

jugend- 

lichen 

Arbeiter 

die 

kind- 

lichen 

Arbeiter 

die 

Arbeiter 

über- 

haupt 

männl. 

weibl. 

zus. 

Freiberg  I 

1 283 

2 

1 285 

81 

43 

1 409 

Freiberg  II 

4 130 

10 

4 140 

198 

1 19 

4 457 

Dresden 

? 

158 

? 

20 

9 

? 

Chemnitz 

8 723 

279 

9 002 

320 

3 

9 325 

Zwickau 

10  164 

184 

10  348 

200 

10 

10  558 

zusammen 

(ausschliesslich 
der  erwachsenen 
männl.  Arbeiter  im 
Bezirk  Dresden) 

24  300 

633 

24  775 

819 

184 

25  749 

Die  stärkste  Beschäftigung  weiblicher  und  jugendlicher 
Arbeiter  hat  also  der  Bezirk  Chemnitz  aufzuweisen,  und 
zwar  der  dortige  Steinkohlenbergbau,  wie  aus  den  Einzel- 
heiten der  amtlichen  Mittheilungen  hervorgeht.  Hier  han- 
delt es  sich  um  nicht  weniger  als  602  schutzbedürftige 
Personen,  von  denen  die  grössere  Hälfte  jugendliche  Ar- 
beiter sind,  während  die  kindlichen  so  gut  wie  verschwinden, 
offenbar  in  Folge  der  neuen  Gewerbeordnungsbestimmungen. 
Darüber,  dass  die  weibliche  Arbeit  durch  das  neue  Ge- 


werbegesetz intensiver  geschützt  wird  als  früher,  stimmt 
der  begleitende  Bericht  folgendes  bewegliche  Klagelied  an: 
„Nach  den  gegenwärtig  geltenden  gesetzlichen  Bestim- 
mungen, nach  welchen  weibliche  Arbeiter  nur  noch  am 
Tage  beschäftigt  werden  dürfen,  wurde  die  Entlassung  der 
Arbeiterinnen  in  der  Aufbereitung,  sobald  letztere  Tag  und 
Nacht  im  Betrieb  ist,  erforderlich,  weil  männliche  Arbeiter 
nicht  ständig  Nachtschicht  haben  dürfen.  Die  Bestimmung 
ist  für  die  Steinkohlenwerke  in  so  fern  tief  einschneidend, 
weil  weibliche  Arbeiter  zum  Bergeauslesen  durch  ihre 
Fingerfertigkeit  allen  Invaliden  und  jugendlichen  Arbeitern 
unbedingt  vorzuziehen  sind.“  Die  sächsischen  Zechen- 
besitzer werden  sich  aber  doch  wohl  mit  dem  Gesetz  ab- 
finden  müssen,  dessen  kulturelle  Bedeutung  für  den  Schutz 
der  schwächeren  Arbeitskraft  gegen  übertriebene  Aus- 
nutzung in  den  amtlichen  Berichten  mit  keinem  Wort 
erwähnt  wird.  Der  Zwickauer  Beamte  stimmt  übrigens 
seinem  Chemnitzer  Collegen  bei;  nach  der  Neuerung 
der  Grubenverwaltungen  überträfen  die  Leistungen  weib- 
licher Personen  die  der  männlichen  Arbeiter  beim  Aus- 
lesen der  Kohlen  qualitativ  und  quantitativ,  sonst  würden 
„manche  Verwaltungen  geneigt  sein,  die  Frauenarbeit  ganz 
abzuschaffen.“  Nun  wurden  die  Arbeiterinnen  nach  den 
Berichten  aber  vielfach  sogar  mit  Verladen  der  Kohlen  be- 
schäftigt, und  auf  diese  schwere  Beschäftigung  treffen  die 
angeführten  Gründe  doch  sicher  nicht  zu.  Erfreulich  ist 
es  deshalb,  dass  wenigstens  der  Dresdener  Beamte  die 
Entlassung  von  Arbeiterinnen  billigt,  weil  die  Grubenver- 
waltungen von  der  Ansicht  ausgingen,  „dass  die  Frau 
eines  Bergarbeiters  genügende  Beschäftigung  in  der  Pflege 
ihres  Gatten  und  Besorgung  der  Häuslichkeit  finde.“  Frei- 
lich erfolgte  hier  die  Entlassung  von  wegen  — Einschrän- 
kung des  Betriebes.  Die  jugendlichen  Arbeiter  wurden 
nicht  allein  über,  sondern  auch  unter  Tage  beschäftigt; 
doch  sei  die  Arbeit  im  letzteren  Falle  gleicht“  und  un- 
bedenklich. Auch  hier  findet  sich  ein  Aufsichtsbeamter, 
derjenige  für  Freiberg  II,  der  die  neuen  Schutzvorschriften 
beklagt,  weil  sie  für  den  Unternehmer  den  „Nachtheil  < 
theurerer  Arbeit“  und  für  Arbeiter,  die  eine  zahlreiche  ; 
Familie  zu  ernähren  hätten,  einen  erheblichen  Verdienst- 
ausfall mit  sich  brächten.  Welches  Licht  aus  dieser  Mit- 
theilung auf  den  eigenen  Verdienst  verheiratheter  Berg- 
leute im  Bezirk  Freiberg  II  fällt,  hat  der  Beamte  wohl  nicht 
überlegt.  Als  Schichtlohn  für  die  Schulkinder  giebt  der  ' 
gleiche  Beamte  60—85  Pf.,  für  junge  Leute  70—100  Pf.  an; 
welche  „Vertheuerung“,  wenn  die  Grubenverwaltungen  statt 
die  ersten  die  letzteren  Sätze  zahlen  müssen!  Und  dass  ' 
sich  überhaupt  nicht  mehr  viel  junge  Leute  dem  Bergbau 
zuwenden,  dürfte  wohl  auch  seine  guten  Gründe  in  der 
Lage  der  Arbeiter  haben.  Aus  dem  Capitel  der  Unfälle 
ist  zu  erwähnen,  dass  weibliche  und  jugendliche  Arbeiter 
nicht  unerheblich  an  ihnen  betheiligt  sind;  im  Bezirk  Zwickau 
holte  sich  eine  Arbeiterin  bei  der  Arbeit  eine  Frühgeburt!! 

Es  wäre  sehr  zu  wünschen,  dass  die  Berichte  der  sächsi- 
schen Berginspektion  künftig  grösseres  sozialpolitisches 
Verständniss  zeigten  und  die  statistischen  Uebersichten  voll- 
ständiger geführt  würden. 

Lohnstatistik  der  Leipziger  Ortskrankenkasse.  Die 

aus  der  Krankenkassenbewegung  bekannte  Ortskranken- 
kasse zu  Leipzig  nimmt  alljährlich  am  15.  August  eine 
Zählung  ihrer  Mitglieder  und  eine  Aufnahme  ihrer  Lohn- 
verhältnisse vor. 

Soeben  wird  das  Ergebniss  dieser  Erhebung  für  1892 
veröffentlicht.  Danach  fanden  sich  in  den  verschiedenen 
Lohnklassen  folgende  Mitglieder: 


Wochenverdienst 

I.  über  21  M. 

II.  19»/*— 21  „ 

III.  15 — 19*/*  „ 

IV.  12-15 

V.  9-12 

VI.  6—9 

VII.  bis  zu  6 „ 
VIII.  Kinder: 


männliche 

14323  = 22,85  pCt. 
6387  = 10,19  „ 

17838  = 28,46  .. 

9183  = 14,65  „ 

6331  = 10,10  „ 

1420  = 2,27  „ 

7172  = 11,45  .. 

19  = 0,03  „ 

62673  = 100,00  pCt 


weibliche 

106  = 0,57  pCt. 
61  = 0,33  ,. 

374  = 2,02  „ 

819  = 4,42  .. 

5975  = 32,28  .. 

9885  = 53,40  ., 

1 284  = 6,94  ,. 

7 = 0,04  „ 

18511  = 100,00  pCt. 


Die  Erwachsenen  reichen  nach  der  Veröffentlichung 
nur  bis  Klasse  V bei  den  männlichen,  bis  Klasse  VI  bei 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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den  weiblichen  Versicherten;  im  Uebrigen  kommen  keine 
jugendlichen  Arbeiter  in  Betracht. 

Nichtsdestoweniger  sind  auch  in  den  ersten  Klassen 
die  Lohnverhältnisse  der  Leipziger  Arbeiter  durchaus  keine 
glänzenden.  Vor  Allem  nicht  bei  den  weiblichen  Arbeitern. 
Dass  hier  53,4  pCt.  nur  6 — 9 M.  oder  60  pCt.  unter  9 M. 
wöchentlich  verdienen,  ist  bei  dem  Umfang,  den  die  Frauen- 
arbeit gerade  in  Sachsen  annimmt,  ein  tieftrauriges  Ergeb- 
nis. Da  ein  Wochenverdienst  bis  zu  12  M.  für  weitere 
32,2  pCt.  festgestellt  wird,  so  ergiebt  sich  für  die  Gesammt- 
heit  der  Leipziger  Arbeiterinnen  ein  ausserordentlich  tiefer 
Lohnstand.  Wie  mag  es  da  im  sächsischen  Gebirge  aus- 
sehen?  Aber  die  männlichen  Arbeiter  stehen  verhältnis- 
mässig nicht  viel  besser.  Der  grösste  Prozentsatz  desselben 
verdient  15 — 19 l/2  M.  in  der  Woche,  weitere  25  pCt.  noch 
weniger,  also  volle  53  pCt.  bleiben  mit  ihrem  Wochenlohn 
zum  Theil  weit  unter  20  M.  Bekanntlich  kann  kaum  ein 
Arbeiter  jemals  auf  fortdauernd  sichern  und  gleichen  Ver- 
dienst im  Jahre  rechnen;  für  die  Mehrzahl  musste  also  in 
dem  Wochenverdienst  auch  der  Unterhalt  für  beschäftigungs- 
lose Zeiten  stecken.  Er  reicht  aber  in  der  festgestellten 
Höhe  für  Leipzig  eben  nur  aus,  um  den  nothdürftigsten 
Lebensunterhalt  zu  decken.  Das  sind  schlimme  Verhält- 
nisse, die  dadurch  nicht  ausgeglichen  werden,  dass  23.8  pCt. 
einen  Wochenverdienst  von  über  21  M.  hatten;  nur  10  pCt. 
erhielten  einen  solchen  von  19  — 21  M. 

Wenn  man  nun  vollends  einen  Vergleich  mit  einem 
Vorjahre  zieht,  so  erhält  man  folgendes  Zahlenbild: 


männ 

iche 

weibliche 

Wochen- 

1892 

1889 

1892 

1889 

Verdienst 

Mitgl.  pCt. 

Mitgl.  pCt. 

Mitgl.  pCt. 

Mitgl.  pCt. 

über  15  M. 

38548  = 61,5 

30628  = 51,3 

541  = 2,9 

191  = 1,2 

12 — 15  „ 

9183  = 14,7 

12670  = 21,2 

819=  4,4 

323=  2,1 

9—12  „ 

6331  =10,1 

8941  = 15,0 

5975  = 32,3 

2917  = 19,0 

bis  zu  9 „ 

861 1 = 13,7 

7458  = 12,5 

11  176  = 60.4 

1 1 933  = 77,7 

insgesammt 

62673  — 

59697 

18511 

15364  — 

Danach  würde  sich  höchst  bemerkenswerther  Weise 
bei  der  Entwickelung  der  Lohnverhältnisse  eine  ähnliche 
Konzentrationserscheinung  geltend  machten,  wie  bei  den 
Einkommens-  und  Vermögensverhältnissen  im  Allgemeinen: 
die  Zahl  der  Arbeiteraristokraten  mit  besserem  Verdienste 
nähme,  wenigstens  bei  den  männlichen  Beschäftigen,  zu, 
ebenso  die  Zahl  der  am  schlechtesten  Bezahlten,  die 
mittleren  Lohnklassen  aber  verlören  an  Stärke.  Bei  den 
weiblichen  Arbeitern  verschiebe  sich  das  Bild  insofern,  als 
hier  die  unterste  Klasse  eine  Abnahme  und  die  mittlere  die 
stärkste  Zunahme  zeigt.  Jedenlalls  ist  die  Lohnstatistik 
der  Leipziger  Ortskrankenkasse  ein  sehr  verdienstliches 
und  beachtenswerthes  Unternehmen,  es  sollte  von  anderen 
Krankenkassen  weit  mehr  nachgeahmt  werden. 


Politische  Arbeiterbewegung. 

Die  Maifeier. 

Im  Gegensätze  zum  vorigen  Jahre  kann  nicht  von  einer 
internationalen  Feier  des  I.Mai,  sondern  nur  von  einer 
internationalen  Maifeier  gesprochen  werden.  Im  verflossenen 
Jahre  fiel  der  I.  Mai  auf  einen  Sonntag,  so  dass  man  über- 
all an  diesem  Tage  für  den  Achtstundentag  und  andere 
Forderungen  der  Arbeiterklasse  demonstrirte,  in  diesem  Jahre 
wurde  der  Eindruck  der  internationalen  Demonstration  er- 
heblich durch  den  Umstand  abgeschwächt,  dass  die  Feier 
sich  auf  drei  I age  vertheilte,  auf  den  letzten  Sonntag  des 
April,  auf  den  ersten  Tag  und  ersten  Sonntag  des  Mai. 

Deutschland  zeigt  im  Kleinen  das  Bild  dieser  Zer- 
splitterung. Vielfach  fanden  Veranstaltungen  schon  am 
30.  April  statt,  in  grossen  Städten  wie  Hamburg  und 
München  werden  die  Arbeiter  erst  den  7.  Mai  festlich  be- 
gehen; das  Gros  der  Arbeiter  hatte  aber  gemäss  des  Be- 
schlusses des  sozialdemokratischen  Parteitages  und  des 
internationalen  Kongresses  an  der  Feier  des  1.  Mai  fest- 
gehalten. Das  Bild  der  Feste  war  überall  das  gleiche, 
starkes  Zusammenströmen  der  Arbeiter,  musikalische,  dekla- 
matorische, vereinzelt  auch  theatralische  Veranstaltungen, 
Vorführung  lebender  Bilder,  Festreden  und  zum  Schlüsse 


geselliges  Zusammensein  mit  1 anz  und  Massengesang. 
Diese  Aeusserlichkeiten  zeichnen  sich  selten  durch  einen 
originalen  Zug  aus:  bedeutungsvoller  aber  als  diese  war 
die  überall  zu  Tage  tretende  gehobene  Stimmung..  Nach 
übereinstimmenden  Berichten  waren  die  zu  den  Festfeiern 
zusammengeströmten  Massen  mit  Begeisterung  erfüllt, 
voll  des  Glaubens  an  ihre  Ideale.  Deshalb  sollen  aber 
manche  hässliche  Züge  nicht  verschwiegen  werden.  Viel- 
fach sah  man  in  Berlin  einen  freilich  nicht  erheblichen 
Bruchtheil  am  Skattische  sitzen,  sich  am  Billard  amüsiren 
und  so  das  Bild  einer  Festfeier  stören.  In  Berlin  und  an 
manchen  anderen  Orten  wurden  die  Feste  durch  die  Un- 
gunst der  Witterung  beeinträchtigt.  Die  grossen  Gärten, 
die  als  Festplatz  vorgesehen  waren,  konnten  vielfach  nicht 
benutzt  werden,  dagegen  waren  die  geschlossenen  Räume 
oft  zu  eng  für  die  andrängenden  Massen.  Eine  annähernde 
Feststellung  der  Zahl  der  sich  an  der  Maifeier  Betheiligen- 
den wird  naturgemäss  erst  nach  der  Feier  in  München  und 
Hamburg  am  7.  Mai  möglich  sein. 

Bemerkenswerth  ist,  dass  eine  nicht  gering  zu  schätzende 
Zahl  von  Arbeitern  am  1 . Mai  in  Deutschland  nicht  ge- 
arbeitet hat.  In  Berlin  fand  eine  überfülle,  allgemein  zu- 
gängliche und  eine  Reihe  gewerkschaftlicher  Versammlungen 
am  Vormittage  des  1.  Mai  statt,  auf  zahlreichen  Bauten  und 
in  vielen  Werkstätten  wurde  die  Arbeit  unterbrochen,  viel- 
fach scheint  sie  besonders  am  Nachmittage  des  proletari- 
schen Festtages  geruht  zu  haben,  waren  doch  in  Berlin  um 
4 Uhr  Nachmittags  schon  viele  Tausende  in  ihren  Fest- 
lokalen. Dass  in  Orten  wie  Leipzig,  Dresden,  Breslau, 
Frankfurt  a.  M.  und  anderen  Centren  der  Arbeiterbewegung 
viele  Tausende,  in  Leipzig  Zehntausende  sich  an  den  Ver- 
anstaltungen der  sozialdemokratischen  Partei  betheiligten, 
ist  weniger  bemerkenswerth,  als  die  Thatsache  dass  in  einer 
grossen  Zahl  kleiner  Orte,  zum  Theil  auch  mit  überwiegend 
ländlicher  Bevölkerung  in  diesem  Jahre  zum  ersten  Male 
der  „Weltfeiertag  der  Arbeit“  begangen  wurde.  Aus  zahl- 
reichen Orten  kam  die  Nachricht,  dass  ein  Theil  der  Ar- 
beiter die  Arbeit  ruhen  Hess;  darnach  scheint  sich  dieser 
Gedanke  in  Deutschland  trotz  aller  Abmahnungen  langsam 
immer  mehr  der  Verwirklichung  zu  nähern. 

Die  Blätter  der  sozialdemokratischen  Partei  erschienen 
fast  ausnahmlos  im  Festgewande  und  alle  widmeten  dem 
Festtage  ihrer  Partei  besondere  Artikel,  ausserdem  er- 
schienen besondere  Festblätter,  sowohl  seitens  der  illustrirten 
humoristischen  Organe  und  seitens  der  Parteileitung;  letzteres 
wurde  in  einer  Auflage  von  über  400000  Exemplaren  ver- 
breitet. Der  Inhalt  und  die  illustrative  Ausstattung  der 
Festzeitungen  war  besser  als  in  den  Vorjahren,  aber  der 
bildliche  Schmuck  hatte  nicht  so  wie  das  italienische  von 
der  Redaktion  der  Lotta  di  Classe  herausgegebene  Fest- 
blatt die  Schranken  der  Schablone  zu  durchbrechen  gewusst. 

Wie  bei  allen  bisher  begangenen  Feiern  des  1.  Mai 
haben  die  österreichischen  Arbeiter  die  grössten  Massen 
aufgeboten  und  die  Arbeitsruhe  am  vollkommensten  ein- 
gehalten. In  Wien  fanden  46  Versammlungen  gleich- 
zeitig statt,  120000  Arbeiter  betheiligten  sich  an  den  Massen- 
ausflügen, die  Arbeit  wurde  mit  Ausnahme  der  Staatswerk- 
stätten überall  ruhen  gelassen,  sämmtliche  Zeitungen  mit 
Ausnahme  zweier,  von  denen  eines  das  Regierungsorgan, 
erschienen  am  Morgen  des  folgenden  Tages  nicht.  Soweit 
Berichte  aus  Oesterreich  vorliegen,  wurde  die  Maifeier  auch 
sonst  grossartig  gefeiert,  so  in  Brünn  und  Prag  von  je 
30000  Arbeitern,  überall  wurde  die  Arbeitsruhe  durchgeführt 
und  auch  in  Graz  erschienen  die  Zeitungen  am  Morgen  des 
2.  Mai  nicht.  Für  die  österreichische  sozialistische  Presse 
und  das  in  grosser  Auflage  erschienene  offizielle  Festblatt 
gilt  das  von  Deutschland  Gesagte.  Bemerkenswerth  ist, 
dass  die  Christlich-sozialen  in  Wien  ohne  Erfolg,  in  Krakau 
nach  einer  telegraphischen  Meldung  mit  Erfolg  am  I.Mai 
gleichfalls  Versammlungen  veranstalteten,  welche  als  Gegen- 
demonstrationen gegen  die  sozialdemokratische  Machtent- 
faltung betrachtet  werden  sollten,  aber  ebensowenig  wie  die 
Sonderfeiern  der  deutschen  und  österreichischen  unab- 
hängigen Sozialisten  und  der  Anarchisten  den  beabsichtig- 
ten Eindruck  hervorriefen,  dass  ein  irgendwie  als  erheblich 
zu  betrachtender  Theil  der  politisch  sich  bethätigenden 
Arbeiterschaft  nicht  der  sozialdemokratischen  Partei  angehöre. 

Während  im  Jahre  1892  in  Budapest  sämmtliche  Ver- 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  32. 


anstaltungen  zur  Feier  des  1.  Mai  polizeilich  unterdrückt 
wurden,  konnten  in  diesem  Jahre  zahlreiche  Versammlungen 
stattfinden.  Vielfach  liess  man  die  Arbeit  ruhen,  in  grossem 
Maassstab  war  dies  der  Fall  in  der  kroatischen  Hauptstadt. 

In  Frankreich  war  die  Feier  in  Paris  unbedeutend,  da- 
gegen in  Marseille  und  Roubaix,  wo  sich  die  sozialistischen 
Municipalbehörden  an  die  Spitze  stellten,  von  grossem  Um- 
fange. 

Ein  ähnliches  Bild  zeigte  Belgien;  in  der  Hauptstadt  eine 
wenig  beachtete  Maidemonstration,  dagegen  in  einzelnen 
Provinzorten  Feiern  von  grosser  Ausdehnung,  so  Hessen 
z.  B.  in  Charleroi  32000  Arbeiter  die  Arbeit  ruhen.  In  der 
Schweiz,  Italien,  Spanien,  Rumänien  und  anderen  Ländern 
war  die  Feier  von  geringem  Umfange. 

Die  Presse  der  Evangelischen  Arbeitervereine  nimmt 
in  letzter  Zeit  an  Umfang  zu.  Bis  vor  Kurzem  war  der 
Evangelische  Arbeiterbote  das  einzige  Blatt  der  evangelischen 
Arbeitervereine.  Dazu  sind  im  Laufe  des  letzten  Jahres 
drei  neue  gekommen:  Die  Badische  Arbeiterzeitung,  das 
Organ  des  Badischen  Landesverbandes,  das  Hamburger 
Volksblatt,  das  Organ  des  Hamburger  Arbeitervereins,  und 
in  diesen  Tagen  die  Arbeiterzeitung,  Organ  des  Evangeli- 
schen Arbeitervereins  zu  Erfurt.  Der  Arbeiterbote  erscheint 
wöchentlich  zweimal,  das  Hamburger  und  Erfurter  Blatt 
wöchentlich  einmal,  das  Badische  alle  vierzehn  Tage. 
Nimmt  man  zu  diesen  vier,  den  evangelisch-sozialen  Be- 
strebungen dienenden  Blättern  die  Mittheilungen  des  evan- 
gelisch-sozialen Kongresses  hinzu,  so  zählt  die  evangelisch- 
soziale Bewegung  bereits  fünf  Zeitungen. 

Zur  Arbeiterbewegung  in  Augsburg.  Eine  von  der 
sozialdemokratischen  Partei  einberufene  Arbeiterversammlung 
vom  16.  April  wählte  eine  sechsgliedrige  Kommission,  welche 
alle  Beschwerden  der  Arbeiter  zu  prüfen  und  sie  dann  dem 
Fabrikinspektor  zu  unterbreiten  hat.  Anlass  dazu  hat  die 
Bemerkung  im  Berichte  des  Fabrikinspektors  von  Schwaben 
und  Neuburg  für  das  Jahr  1892  gegeben,  dass  Wünsche 
und  Beschwerden  von  den  Arbeitern  nicht  geltend  gemacht 
wurden.  Die  gleiche  Versammlung  beschloss,  dass  Zeug- 
nisse, in  denen  das  Wort  „ordnungsgemäss“  vorkomme, 
nicht  mehr  angenommen  werden  sollen.  Dieser  Beschluss 
bezieht  sich  auf  einen  Vorfall  vor  dem  hiesigen  seit  dem 
1.  März  d.  J.  bestehenden  Gewerbegericht.  Ein  Arbeiter 
klagte  gegen  seinen  vormaligen  Arbeitgeber  auf  Streichung 
des  Wortes  „ordnungsgemäss“  in  seinem  Zeugnisse,  da  er 
mit  demselben  nirgends  angenommen  worden  sei  und  ein 
Obermeister  ihm  schliesslich  erklärt  habe,  ein  Zeugniss  mit 
dem  Worte  „ordnungsgemäss“  sei  werthlos.  Er  musste 
mit  seiner  Klage  abgewiesen  werden,  da  das  Zeugniss  keine 
sichtbaren  Merkmale  enthielt. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Das  Submissionswesen  und  die  Berliner  Gewerk- 
schaften. Das  Submissionswesen,  dessen  Schäden  und 
Nachtheile  für  die  Arbeiter,  ist  z.  Z.  Gegenstand  von  Er- 
örterungen innerhalb  der  Berliner  Gewerkschaften.  Die 
Berliner  Gewerkschaftskommission  (ehern.  Strike-Kontroll- 
Kommission)  beschloss  in  einer  ihrer  letzten  Versammlungen, 
von  denjenigen  Gewerkschatten,  deren  Mitglieder  an  Sub- 
missionsarbeiten beschäftigt  waren  oder  werden,  Mittheilungen 
einzufordern  über  die  Dauer  der  Arbeitszeit,  die  Höhe  der 
Löhne,  die  Behandlung  der  Arbeiter  u.  s.  w. 

Ferner  sollen  die  Gewerkschaften  ihre  Erfahrungen 
über  die  Brauchbarkeit  des  verwendeten  Materials  oder  die 
Qualität  der  von  Privat-Unternehmern  hergestellten  Sub- 
missionsarbeiten ebenfalls  zur  Kenntniss  der  Gewerkschatts- 
kommission  gelangen  lassen.  Die  letztere  will  das  so  ge- 
wonnene Material  zu  einer  Brochüre  verarbeiten,  welche 
dann  als  Grundlage  für  die  Aufstellung  von  Forderungen 
der  Arbeiter  an  die  Behörden  bezgl.  des  Submissionswesens 
dienen  soll.  An  der  Vergebung  von  Submissionsarbeiten 
in  Berlin  sind  hauptsächlich  die  gesammten  Bauberufe  und 
Metallarbeiter,  theilweise  die  Buchdrucker  und  Gastwirths- 
gehülfen  interessirt.  Letztere  in  den  Lokalitäten,  welche 


Eigenthum  des  Magistrats  von  Berlin'7sind  und  von  dem- 
selben verpachtet  werden. 

Kongress  der  französischen  Eisenbahnarbeiter  und 
-Angestellten.  Vom  27.  bis  inclusive  30.  April  fand  in  der 
Pariser  Central-Arbeitsbörse  ein  Kongress  der  französischen 
Eisenbahnarbeiter  und  -Angestellten  statt.  Derselbe  war 
vom  Verband  der  Eisenbahnarbeiter  einberufen,  der  gegen- 
wärtig über  45  000  Mitglieder  zählt,  die  an  den  verschie- 
densten Eisenbahnen,  u.  A.  auch  an  der  Staatsbahn  ange- 
stellt sind,  bezw.  dort  beschäftigt  werden.  Bevor  in  die 
reichhaltige  Tagesordnung  eingegangen  wurde,  theilte  der 
Generalsekretär  des  Verbandes  mit,  dass  diesmal  sämmt- 
liche  Eisenbahndirektoren  den  Delegirten  den  ihnen  zum 
Besuche  des  Kongresses  nöthigen  Urlaub  gaben,  was,  wie 
hier  nebenbei  bemerkt  sei,  in  erster  Linie  der  Intervention 
des  Arbeitsministers  Viette  zu  danken  ist. 

Der  erste  wichtige  Punkt,  der  vom  Kongress  behandelt 
wurde,  betraf  den  Entwurf  einer  Pensionskasse,  der  nun 
allen  französischen  Eisenbahngesellschaften  unterbreitet 
werden  wird.  In  demselben  wird  einleitend  verlangt,  dass 
jeder  Arbeiter  oder  Angestellter,  ohne  Unterschied  des  Ge- 
schlechtes und  der  Beschäftigung,  längstens  nach  Ablauf 
eines  Jahres  fest  angestellt  werde.  Wird  er  während 
dieser  Zeit  entlassen,  so  ist  ihm,  vorausgesetzt  dass  er 
über  zwei  Monate  beschäftigt  worden  war,  ein  zweimonat- 
licher Gehalt  bezw.  Lohn  als  Entschädigung  zu  geben. 
Was  nun  die  Pension  selbst  anbelangt,  bestimmt  der  Ent- 
wurf, dass  nach  zwanzigjährigem  Dienste  jeder  Eisenbahn- 
beamte, bezw.  fix  Angestellte  auf  dieselbe  Anspruch  habe. 
Diejenigen,  deren  Pension  1800  Francs  oder  mehr  beträgt, 
sind  nach  Ablauf  dieser  Zeit,  welches  Alter  sie  auch  immer 
haben  mögen,  in  den  Pensionsstand  zu  versetzen.  Die 
Pension  hat  zwei  Drittel  des  Gehaltes  zu  betragen,  den  der 
Betreffende  in  dem  Jahre  erhalten  hat,  in  welchem  er  am 
höchsten  war.  In  keinem  Falle  darf  nach  zwanzigjährigem 
Dienste  die  Pension  weniger  als  1200  Francs  jährlich  be- 
tragen. Verlässt  ein  Angestellter  seinen  Dienst,  so  ist  ihm, 
gleichgültig  ob  er  dies  aus  eigenem  Anlasse  gethan  oder 
ob  er  von  der  Gesellschaft  entlassen  worden  ist,  eine  im 
Verhältniss  zu  seinen  Dienstjahren  bemessene  Pension  zu 
geben.  War  er  zehn  Jahre  und  mehr  im  Dienst,  so  ist  ihm 
seine  Pension  vom  Tage  des  Austritts  an  zu  zahlen,  an- 
derenfalls aber  erst  nach  Ablauf  von  zwanzig  Jahren,  vom 
Tage  des  Eintritts  an  gerechnet.  Im  Falle  einer  im  Dienste 
erworbenen  Arbeitsuntauglichkeit,  ist  ihm,  unbeschadet 
seiner  sonstigen  Entschädigungsansprüche,  die  volle  Pension 
auszuzahlen,  welches  auch  immer  seine  Dienstzeit  sei.  Bis 
zum  Tage,  wo  er  diese  Pension  erhält,  ist  ihm  der  volle 
Lohn  zu  zahlen.  Im  Falle  seines  Todes  ist  die  Pension 
seiner  Wittwe,  bezw.  seinen  unmündigen  Kindern  oder 
seinen  Eltern  auszuzahlen.  Für  den  Pensionsfonds  haben 
die  Eisenbahngesellschaften  aufzukommen.  Zum  Schlüsse 
verlangt  der  Entwurf,  dass  die  Gesellschaften  nur  in  den 
folgenden  Fällen  das  Recht  haben  sollen,  den  zwischen 
ihnen  und  ihren  Angestellten  bestehenden  Vertrag  zu 
lösen:  1.  wenn  der  Angestellte  einen  die  öffentliche  Sicher- 
heit berührenden  Posten  verlässt,  2.  wenn  derselbe  wegen 
einer  entehrenden  Handlung  verurtheilt  wird  und  3.  wenn 
er  sich  eine  augenscheinliche  Dienstvernachlässigung,  wie 
häufige,  nicht  gerechtfertigte  Abwesenheit,  zu  Schulden 
kommen  lässt.  Mit  Ausnahme  des  zweiten  Falles,  soll  die 
Entlassung  erst  nach  Anhörung  des  Betheiligten  und  der 
von  ihm  bezeichneten  Personen  erfolgen  dürfen. 

Von  den  übrigen  Forderungen,  die  der  Kongress  ge- 
stellt bezw.  behandelt  hat.  sind  zu  verzeichnen:  1.  Wieder- 
einstellung aller  wegen  Strike-  oder  Gewerkschaftsangelegen- 
heiten Entlassenen  in  ihre  frühere  Stellung,  2.  Minimallohn 
von  5 Francs  für  alle  Eisenbahnbediensteten  bis  zu  ihrer 
erfolgten  fixen  Anstellung  und  von  2^2  Francs  für  alle 
Eisenbahnwächterinnen,  3.  bei  gleicher  Arbeit  haben  die  in 
den  Bureaux  beschäftigten  Frauen  und  jungen  Leute  den- 
selben Gehalt  wie  die  Männer  zu  erhalten,  4.  achtstündiger 
Arbeitstag;  Ueberstunden  sind  nur  in  bestimmten  Fällen  zu 
machen,  bei  Unglücksfällen.  Schneeverwehungen  etc.,  5.  im 
Verlaufe  von  je  vierzehn  Tagen  zwei  Ruhepausen  von  zu- 
sammen 72  Stunden,  von  denen  nach  Ablauf  der  ersten 
Woche  eine  Ruhepause  von  24  Stunden  und  nach  Ablauf 


No.  32. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


385 


der  zweiten  eine  solche  von  48  Stunden  einzutreten  hat. 
Ueberdies  ist  jedem  Angestellten  jährlich  ein  vierzehn- 
tägiger Urlaub  zu  geben.  Dafür  sind  alle  Gratifikationen 
aufzuheben. 

Ausser  den  an  die  Eisenbahngesellschaften  gestellten 
Forderungen  hat  der  Kongress  auch  mehrere  Forderungen 
an  die  öffentlichen  Gewalten  gestellt.  Von  diesen  sind  her- 
vorzuheben: 1.  Uebernahme  aller  Eisenbahnen  durch  den 

Staat,  2.  Beseitigung  der  Eisenbahnkommissäre  und  deren 
Ersetzung  durch  eine  aus  Eisenbahnarbeitern  und  -Ange- 
stellten gebildete  Kontrollekommission,  3.  Schaffung  eines 
besonderen  Eisen bahn-Prud  hommesgerichtes. 

Zum  Schlüsse  sei  noch  erwähnt,  dass  der  Kongress 
beschlossen  hat,  das  bisher  alle  14  Tage  erscheinende  Ver- 
bandsorgan „Le  Reveil  des  Travailleurs  de  la  Voie  ferree“, 
von  nun  an  wöchentlich  erscheinen  zu  lassen.  Gleichzeitig 
hat  er  dem  Verbandsausschuss  den  Auftrag  ertheilt,  alle  Vor- 
bereitungen für  einen  im  nächsten  Jahre  in  Paris  abzuhalten- 
den internationalen  Eisenbahnarbeiter-Kongress  zu  treffen. 

Der  italienische  Buchdrucker-Verband  revidirt,  wie 
der  Correspondent  für  Deutschlands  Buchdrucker  mittheilt, 
soeben  seine  Statuten.  Der  Bund  wird  danach  vom  Central- 
komite  geleitet,  das  von  neun  von  den  Sektionen  bestimmten, 
am  Sitze  des  Konnte  wohnenden  Mitgliedern  überwacht 
wird.  An  Kassen  sind  vorgesehen:  a)  Obligatorische: 

1.  Tarif-  oder  Strikekasse,  20  Cts.  wöchentlich  in  den  Sek- 
tionen erster  Ordnung  (mit  40  und  mehr  Cts.  l'ausendpreis) 
und  15  Cts.  wöchentlich  in  den  übrigen  Sektionen.  Diese 
Kasse  allein  wird  vom  Centralkomite  verwaltet.  2.  Ivondi- 
tionslosenkasse.  Jede  Sektion  bestimmt  die  Höhe  der  Steuer 
nach  dem  Grundsätze,  dass  je  5 Cts.  wöchentlich  zu  einer 
wöchentlichen  Unterstützung  von  2,50  Eres,  berechtigen. 
3.  Viatikumskasse,  3 Cts.  wöchentlich.  Viatikum  5 Cts.  pro 
Kilometer;  den  Ausländern  die  keine  der  romanischen 
Sprachen  kennen,  1 Fr.  in  jeder  Sektion,  b)  Fakultative: 
Kranken-,  Invaliden-,  Witwen-  und  Waisenkassen ; für  diese 
werden  später  Reglements  gemacht.  Die  Lehrlinge  können 
nach  dem  zweiten  Lehrjahre  dem  Verband  als  Aspiranten 
beitreten,  die  die  halben  Steuern  bezahlen  und  die  halben 
Unterstützungen  gemessen.  Der  Tipografo  ist  obligatorisches 
Organ;  jedes  Mitglied  zahlt  wöchentlich  3 Cts.  dafür.  Wer 
30  Jahre  Mitglied  war,  zahlt  keine  Beiträge  mehr.  Dieser 
neue  Entwurl  wird  den  nächsten  Kongress  noch  beschäftigen. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Nachtarbeit  der  Frauen  in  Zeitungsdruckereien.  Ber- 
liner Zeitungsfalzerinnen  haben  sich  mit  einer  Petition  an 
den  Reichstag  und  einer  Immediateingabe  an  den  Kaiser 
gewendet,  um  die  Erlaubniss  für  ihre  fortdauernde  Nacht- 
beschäftigung in  Zeitungsdruckereien  zu  erbitten,  die  durch 
die  Gewerbenovelle  vom  i.  Juni  1891  verboten  ist  und 
seitens  des  Reichskanzlers  in  Gemässheit  des  § 139  der 
Gewerbeordnung  seither  ausnahmsweise,  aber  nunmehr  nur 
bis  31.  Mai  d.  J.  gestattet  sei.  Das  Ungewöhnliche  eines 
solchen  Vorgehens,  das  doch  nur  zum  Theil  durch  einen 
Druck  der  Unternehmer  erklärt  werden  kann,  muss  zu  einer 
näheren  Untersuchung  der  Frauenarbeit  im  Buchdruck- 
gewerbe veranlassen,  zumal,  da  die  Frauenarbeit  im  Allge- 
meinen nach  den  neuesten  Beobachtungen  industriell  in 
sehr  bemerkenswerthem  Vordringen  begriffen  ist.  Die 
neuen  Gewerbeinspektionsberichte  für  Bayern,  Sachsen, 
Baden  und  Württemberg  über  das  Jahr  1892  liefern  einiges 
Material.  Aus  demselben  ergiebt  sich  zunächst,  dass  die 
Auslührung  der  neuen  Schutzbestimmungen,  weil  sie  in  der 
Hand  der  Bundesstaaten  hegt,  auch  bezüglich  der  Arbeite- 
rinnen in  Druckereien  so  buntscheckig  wie  möglich  erfolgt. 
Einer  Nürnberger  Zeitungsdruckerei  (Berichte,  S.  152) 
gestattete  der  Reichskanzler  die  Nachtarbeit  von  Frauen 
von  8 — 11  Uhr  am  Sonnabend  Abend  bis  31.  März, 
den  Berliner  Zeitungsdruckereien  dagegen  bis  31.  Mai 
d.  J.,  also  länger,  obgleich  es  sich  in  den  Berliner  Unter- 
nehmungen um  eine  Beschäftigung  handelt,  die  erst 
12  Uhr  Nachts  beginnt  und  erst  3 Uhr  früh  endigt.  Einer 
Buchdruckerei  in  Oberbayern  aber  (Berichte.  S.  7/8 ) gelang 


es,  auf  einem  ganz  anderen  Wege,  auf  Grund  des  Art.  9 
Abs.  5 der  Gewerbeordnungsnovelle,  die  Nachtarbeit  der 
Frauen  durch  das  bayerische  Staatsministerium  sogar  bis 
zum  1.  April  1894  gestattet  zu  erhalten.  Diese  Bestimmung 
besagt,  dass  die  Nachtarbeit  der  Frauen  für  Betriebe,  welche 
sie  vor  Publikation  des  Gesetzes  anwendeten,  bis  1.  April 
1894  von  der  Landeszentralbehörde  erlaubt  werden  darf, 
„wenn  die  Fortführung  des  Betriebes  im  bisherigen  Umfange 
bei  Beseitigung  der  Nachtarbeit  Betriebsänderungen  bedingt, 
welche  ohne  unverhältnissmässige  Kosten  nicht  früher  her- 
gestellt werden  können.“  Ob  diese  Vorschrift  für  die 
Nachtarbeit  von  Frauen  in  Zeitungsdruckereien,  wo  doch 
sehr  schnell  Männer  ohne  erhebliche  Mehrkosten  eingestellt 
werden  können,  wie  z.  B.  die  Berliner  Nationalzeitung 
bezüglich  ihres  Betriebes  mittheilt,  ausgenutzt  werden  dürfte, 
erscheint  mindestens  sehr  zweifelhaft.  Der  Druckerei  in 
Oberbayern  ist  es  jedenfalls  gelungen,  den  Nürnberger  und 
Berliner  nicht,  und  auch  mehrere  Stellen  der  sächsischen 
Inspektionsberichte  (S.  12,  34,  36)  lassen  darauf  schliessen, 
dass  die  dortige  Landeszentralbehörde  die  Anwendung  des 
Art.  9 Abs,  5 verweigerte,  die  Druckereien  vielmehr  auf 
§ 139  und  den  Reichskanzler  verwies;  ob  sächsische  Drucke- 
reien in  letzterer  Hinsicht  Schritte  thaten  und  mit  welchem 
Erfolg,  darüber  ward  nichts  mitgetheilt.  Ein  buntes  Bild 
partikularistischen  Arbeiterschutzes  trotz  allen  „Reichs“ -Vor- 
schriften! Sollte  die  laxe  Auslegung  der  Gewerbeordnung 
die  Oberhand  gewinnen  und  die  Nachtarbeit  der  Frauen 
in  Druckereien  durch  weitere  Ausnahmen  begünstigt  werden, 
so  würde  es  sich  um  die  Verewigung  einer  gesundheitlich 
nicht  sehr  vortheilhaften  Beschäftigung  für  eine  ganz  er- 
hebliche Zahl  von  Arbeiterinnen  handeln.  Im  Königreich 
Sachsen  wurden  1892  nach  der  amtlichen  Zählung  nicht 
weniger  als  4091  erwachsene  Arbeiterinnen  in  den  poly- 
graphischen Gewerben  beschäftigt,  in  Bayern  2098,  in 
Württemberg  780,  in  Baden  241.  Die  Ziffern  der  übrigen 
Bundesstaaten  sind  noch  nicht  bekannt.  In  Sachsen  nahm 
die  Frauenarbeit  im  polygraphischen  Gewerbe  seit  1888  um 
32  pCt.,  diejenigen  der  männlichen  Arbeiter  aber  nur  um 
21  pCt.  zu;  in  Bayern  verfünffachte  sich  die  Frauenarbeit 
im  gleichen  Gewerbe  seit  1881.  Diese  Entwickelung  ist  an 
und  für  sich  schon  ungesund.  Wenn  nun  auch  Zeitungs- 
druckereien überall  nur  einen  Bruchtheil  der  oben  aufge- 
zählten Frauen  beschäftigen,  so  erscheint  doch  die  Ge- 
stattung der  Nachtarbeit  auch  für  diesen  Bruchtheil  in  keiner 
Weise  angezeigt,  weil  sonst  leicht  der  Anreiz  zur  Aus- 
dehnung der  Frauennachtarbeit  auchimübrigenBuchdruckerei- 
gewerbe  gegeben  wird.  Viele  Zeitungsdruckereien  haben 
die  Nachtarbeit  der  Frauen  längst  abgeschafft,  der  sächsische 
Aufsichtsbeamte  für  Leipzig  konstatirt  S.  81  seines  neuesten 
Berichtes,  dass  dieselbe  durch  Einführung  von  Rotations- 
maschinen in  einem  Betriebe  von  selbst  wegfiel.  Die  Ber- 
liner Arbeiterinnen-  (und  wohl  auch  Unternehmer-jEingabe 
klagt  darüber,  dass  den  betreffenden  Frauen  durch  das 
Verbot  der  Nachtarbeit  der  Unterhalt  genommen  und  die- 
selben in  die  Noth  gestossen  würden.  Wenn  aber  die 
Männer  an  die  Stelle  der  Frauen  treten  und  eine  Nacht- 
beschäftigung von  12 — 3 Uhr  für  die  schwächere  weibliche 
Konstitution  wegfällt,  so  bedeutet  dies  eine  allgemeine 
Hebung  der  Arbeiterlage,  für  welche  die  Arbeiterinnen  bei 
richtiger  Belehrung  die  augenblickliche  Einbusse  gern  in  den 
Kauf  nehmen  werden.  Was  verlangt  werden  muss,  ist  nur 
eine  gleichmässige  Anwendung  der  betreffenden  Be- 
stimmungen im  ganzen  Reiche,  ohne  Rücksicht  auf  bundes- 
staatliche Grenzen. 

Achtstundengesetz  für  Bergleute  in  England.  Am 

3.  Mai  fand  im  englischen  Unterhause  die  zweite  Lesung 
des  von  Storey,  Sir  Charles  Dilke  u.  A.  beantragten  Acht- 
stundengesetzes für  Bergleute  statt.  Die  hauptsächlichsten 
Bestimmungen  dieser  Bill  sind  die  folgenden: 

„Es  darf  niemand  innerhalb  eines  Tages  von  vierund- 
zwanzig Stunden  in  einem  Bergwerk  unterirdisch  mehr  als 
acht  Stunden  von  der  Zeit  an  beschäftigt  werden,  zu  welcher 
er  die  Oberfläche  des  Bodens  verlassen,  bis  zu  jener  seiner 
Auffahrt  zu  demselben,  wobei  Unfälle  ausgenommen  sind. 

Ein  Arbeitgeber  oder  der  Vertreter  eines  Arbeitgebers, 
welcher  jemand  im  Widerspruche  mit  dieser  Anordnung- 
beschäftigt  oder  zu  beschäftigen  gestattet,  unterliegt  einer 


386 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  32. 


Strafe  im  Höchstbetrage  von  vierzig  Schilling  für  jede 
Uebertretung,  welche  Strafe  in  derselben  Weise  beizutreiben 
ist,  in  welcher  die  Strafen  aus  dem  Gesetze  betreffend  Fa- 
briken und  Werkstätten  beigetrieben  werden.“ 

Der  Deputirte  D.  Thomas  beantragte  Verwerfung  der 
Bill.  Premierminister  Gladstone  erklärte,  diese  Frage  sollte 
nicht  als  Parteifrage  behandelt  werden.  Die  Regierung 
könne  als  Regierung  nicht  interveniren ; aber  die  Mehrheit 
der  Minister  werde  für  die  zweite  Lesung  stimmen.  Auch 
er  selbst  werde  dafür  stimmen,  weil  er  sich  überzeugt 
habe,  dass  eine  sehr  bedeutende  Mehrheit  der  Bergleute 
für  die  Vorlage  sei.  Die  Vorlage  müsse  jedoch  bei  der 
Einzelberathung  dahin  abgeändert  werden,  dass  das  Gesetz 
in  den  Distrikten,  in  welchen  die  Majorität  der  Bergleute 
gegen  dasselbe  sei,  nicht  in  Kraft  treten  solle,  und  ferner 
dahin,  dass  die  Geldstrafe  nicht  ausschliesslich  auf  die 
Arbeitgeber  angewendet  werde.  Andernfalls  könne  er  nicht 
für  die  dritte  Lesung  der  Bill  stimmen.  Das  Resultat  der 
Abstimmung  ergab  die  Annahme  der  Bill  in  zweiter  Lesung 
mit  279  gegen  201  Stimmen. 


Arbeiterversicherung. 

Mortalitäts-  und  Invaliditätsverhältnisse  der  öster- 
reichischen Berg-  und  Hüttenarbeiter.  Das  Beiblatt  zu 
den  „Amtlichen  Nachrichten  des  k.  k.  Ministeriums  des 
Innern“  betreffend  die  Bergwerksbruderladen  bringt  über 
die  Sterblichskeitsverhältnisse  der  Berg-  und  Hüttenarbeiter, 
ihrer  Frauen  und  Kinder,  sowie  der  Invaliden  eine  Statistik, 
der  wir  folgendes  entnehmen. 

Im  Erhebungsjahre  1891  wurden  im  Ganzen  368307  Per- 
sonen, und  zwar  118  385  aktive  Bruderladen-Mitglieder, 
11478  Invaliden  (Provisionisten),  91465  Frauen  und  146977 
Kinder  hinsichtlich  der  Sterblichkeit  der  einjährigen  Be- 
obachtung entzogen;  ferner  wurden  119141  aktive  Berg- 
und  Hüttenarbeiter  rücksichtlich  des  Eintritts  ihrer  dauern- 
den Invalidität  beobachtet.  Von  den  letzteren  sind  im 
Ganzen  1512  invalid  geworden,  und  zwar  war  in  112  Fällen 
eine  „Verunglückung  im  Dienste“  die  Ursache  der  einge- 
tretenen Invalidität,  während  bei  1400  aktiven  die  dauernde 
Dienstunfähigkeit  aus  anderen  Gründen  eintrat.  Für  das 
gesammte  in  derMontanindustrie  beschäftigte  Arbeiterpersonal 
berechnet  sich  demnach  pro  1891  die  Wahrscheinlichkeit, 
überhaupt  invalid  zu  werden,  auf  7001269,  d.  h.  unter  je 
100000  Aktiven  sind  im  Laufe  des  Erhebungsjahres  1269 
Invaliditätsfälle  eingetreten.  Bezüglich  der  Ursache  „Ver- 
unglückung im  Dienste“  ergab  sich  die  Wahrscheinlichkeit 
in  794  Fällen  auf  je  100000  aktive  Montanarbeiter.  Die 
Sterblichkeit  ergab  sich  mit  1104  Fällen  auf  100000  aktive 
Mannschaften  und  aus  der  Ursache  „im  Dienste  tödtlich  ver- 
unglückt“ mit  194  auf  100000  Arbeiter.  Die  Sterblichkeit 
unter  den  Provisionisten  (Invaliden)  stellte  sich  mit  1 Todes- 
fall auf  je  14  invalide  Montanarbeiter.  Für  die  Gesammtheit 
der  aktiven  und  invaliden  Montanarbeiter  stellt  sich  die 
Sterblichkeit  mit  1 Todesfall  auf  je  61  Männer.  Bei  den 
Frauen  ereignete  sich  1 Todesfall  auf  je  65  und  bei  den 
Kindern  1 Sterbefall  bei  je  31  Kindern  im  Allgemeinen, 
bezw.  unter  je  4 neugeborenen  Kindern. 

Die  Haftpflicht  in  England.  Bis  1880  galt  in  England 
bezüglich  der  Haftbarkeit  des  Unternehmers  das  gemeine 
Recht,  dem  die  englischen  Gerichte  folgende  eigenthümliche 
Auslegung  gaben:  Es  willige  der  Arbeiter  stillschweigend 
beim  Arbeitsvertrage  in  die  Uebernahme  des  ganzen  Risikos, 
das  mit  dem  betreffenden  Fabrikbetriebe  verbunden  sei. 
Insbesondere  begebe  er  sich  auch  freiwillig  in  die  Gefahr, 
die  ihm  etwa  seine  Mitarbeiter  bereiteten,  und  also  sei  der 
Unternehmer  für  die  aus  dieser  „Arbeitsgemeinschaft“ 
(common  employment)  entspringenden  Verletzungen  des  Ar- 
beiters nicht  haftbar.  Viel  wurde  durch  das  Gesetz  von 
1880  daran  nicht  geändert.  Man  hütete  sich  sorgsam,  an 
den  rechtlichen  Grundlagen  zu  rütteln,  und  suchte  nur 
innerhalb  der  gegebenen  Schranken  die  Haftbarkeit  zu 
regeln  und  soweit  als  möglich  auszudehnen.  So  machte 
man  den  Arbeitgeber  auch  für  die  Handlungen  seiner  Be- 
amten haftbar,  falls  er  direkt  dazu  Auftrag  gegeben  hatte. 

Trotzdem  hatte  die  Unternehmerwelt  von  jenem  Ge- 


setze das  grösste  Unheil  prophezeit.  Sie  sah  eine  Fluth 
von  Entschädigungsprozessen  herannahen,  die  ungeheure 
Summen  verschlingen  und  die  ganze  Industrie  gefährden 
würden.  Wie  man  heute  allgemein  zugiebt,  sind  jene 
schlimmen  Befürchtungen  nicht  wahr  geworden.  Im  Gegen- 
theil,  jenes  Gesetz  hat  sich  als  ein  sanftes  Ruhekissen  er- 
wiesen, indem  es  den  Unternehmern  gestattete,  sich  um 
einen  verhältnissmässig  billigen  Preis  von  allen  Verpflich- 
tungen loszukaufen,  so  dass  sie  „mit  einem  leichten  Herzen 
und  ruhigen  Gewissen  zu  Bett  gehen  konnten“,  wie  die 
„Industries“  sich  ganz  ernsthaft  ausdrückt. 

Diese  neue  Art  des  Handels,  welcher  durch  das  Ge- 
setz in  Blüthe  gebracht  wurde,  hatte  folgende  drei  Haupt- 
formen. i.  Man  verpflichtete  vertragsmässig  den  Arbeiter, 
auf  seine  Ansprüche  ganz  oder  theilweise  zu  verzichten, 
so  dass  der  Arbeitgeber  nur  bis  zu  einer  gewissen  Maxi- 
malsumme haftete.  2.  Man  profitirte  von  der  Selbsthülfe 
der  Arbeiter,  die  schon  früher  selber  Unfallversicherungs- 
kassen geschaffen  hatten.  Die  Bergarbeiter  insbesondere 
hatten  schon  1869  eine  solche  in’s  Leben  gerufen,  welche 
im  Jahre  1880  12000  Mitglieder  zählte  und  jährlich  über 
4000  £ veriügte.  Derartige  Kassen  nahmen  in  der  Folge 
ausserordentlich  zu,  so  dass  sie  1892  im  Bergbau  allein 
269  000  Mitglieder  zählten.  Die  Arbeitgeber  nun  erkauften 
sich  Indemnität  von  den  Arbeitern,  indem  sie  sich  ver- 
pflichteten, einen  bestimmten  Prozentsatz  des  Lohnes  in  eine 
solche  Kasse  zu  zahlen.  Man  hat  ermittelt,  dass  von  dem 
Gesammtbeitrag  zu  diesen  Kassen  höchstens  25  °/D  von  den 
Arbeitgebern  herrührte,  und  dass  deren  Antheil  sogar  bis 
auf  6 % herabsank.  3.  In  den  meisten  übrigen  Fällen  ver- 
sicherten die  Arbeitgeber  ihre  Arbeiter  bei  bestimmten 
Versicherungsgesellschaften  gegen  Prämien,  die  zwischen 
9 Penny  und  6 Shilling  von  100  £ des  Lohnes,  d.  i.  s/8  und 
3 pro  Mille,  schwankten.  Natürlich  erstreckte  sich  diese 
Versicherung  auch  nur  auf  einen  bestimmten  Betrag,  der 
im  Arbeitsvertrage  festgestellt  wurde.  Endlich  liess  es  der 
Rest  darauf  ankommen,  indem  er  entweder  hoffte,  dass  kein 
erheblicher  Unfall  sich  ereignen  würde,  oder  dass  die  Haft- 
barkeit sich  nicht  würde  gerichtlich  feststellen  lassen;  denn 
die  Praxis  zeigte  bald,  dass  gerade  die  grossen  Unter- 
nehmer, die  selten  oder  nie  unmittelbare  Aufträge  geben, 
meistens  nicht  haftbar  gemacht  werden  konnten.  Es  ist 
klar,  dass  es  sich  in  allen  Fällen  nur  um  eine  mehr  oder 
minder  geschickte  Umgehung  des  Gesetzes  handelte. 

Eine  neue  Gesetzesvorlage  will  nun  besonders  in  drei 
Punkten  eine  Aenderung  schaffen.  1.  Es  soll  der  Begriff  ( 
der  Arbeitsgemeinschaft  völlig  beseitigt  werden,  so  dass 
ein  von  Unfall  betroffener  Arbeiter  an  den  Arbeitgeber 
dieselben  Ansprüche  haben  soll  wie  irgend  ein  Fremder, 
der  durch  ihn  geschädigt  wird.  2.  Die  Freiheit  der  Ar- 
beiter, vertragsmässig  auf  ihre  Rechte  zu  verzichten,  soll 
wesentlich  beschränkt  werden.  Man  hatte  schon  früher  an 
eine  vollständige  Aufhebung  dieses  Rechtes  gedacht,  indem 
man  jeden  Vertrag,  in  welchem  ein  solcher  Verzicht  aus- 
gemacht war,  für  ungültig  erklärte.  Man  ist  davon  zurück- 
gekommen, weil  man  fürchtet,  dadurch  die  bestehenden 
Unterstützungsfonds  zu  gefährden.  Dies  ist  einer  der  an- 
greifbarsten Punkte  in  der  Gesetzesvorlage,  der  auch  ohne 
Zweifel  noch  im  Parlament  geändert  werden  wird.  3.  End- 
lich will  man  Aenderungen  treffen  im  Prozessverfahren, 
insbesondere  sollen  die  Verjährungsfristen  und  Beschrän- 
kungen der  Höhe  der  Entschädigungssumme  wegfallen. 

Die  Unternehmer  erheben  natürlich  wie  früher  ihre 
Warnungsrufe.  Wenn  sie  mit  ihren  ehemaligen  Befürch- 
tungen gegenüber  dem  Gesetz  von  1880  nicht  Recht  be- 
halten hätten,  so  habe  das  allein  seinen  Grund  in  der  Ver- 
tragsfreiheit, welche  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern  eine 
„weise“  Uebereinkunft  gestattete.  Die  Arbeiter  behaupten 
dagegen,  dass  ihr  Verzicht  keineswegs  freiwillig  gewesen 
sei,  aber  eben  deshalb  wünschen  offenbar  die  Arbeitgeber 
die  Freiheit;  denn  sie  haben  gefunden,  dass  je  mehr  der 
Arbeiter  auf  dem  Boden  freier  Uebereinkunft  mit  seinem 
Arbeitgeber  verkehre,  desto  mehr  habe  er  das  Bestreben, 
sich  mit  ihm  gut  zu  stellen  und  Konflikte  zu  vermeiden. 
Dass  die  Unternehmer  auch  den  schwachen  Punkt  der  Re- 
gierungsvorlage in  ihrem  Sinne  ausbeuten,  ist  selbstver- 
ständlich. Sie  finden  an  den  bestehenden  Verhältnissen 
nur  eines  zu  tadeln,  nämlich  dass  der  Preis,  um  den  die 


No.  32. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


387 


verschiedenen  Unternehmer,  selbst  in  einer  Branche,  ihre  j 
Verpflichtungen  los  werden,  ein  gar  zu  verschiedener  sei. 
Das  kann  die  Konkurrenz  nicht  dulden.  Die  „Uniform“  ist 
alles,  was  sie  vom  „militärischen“  deutschen  System  an- 
nehmen möchten,  das  ihnen  im  Uebrigen  wie  ein  Schreck- 
gespenst erscheint;  denn  es  sei  kostspielig  — so  kost- 
spielig, dass  viele  grosse  Unternehmungen  ihre  Dividen- 
den bedeutend  reduzirt  hätten,  wegen  der  schweren 
Lasten,  die  das  Gesetz  auferlegt. 


Gewerbegerichte. 


Gewerbegerichte  in  Württemberg.  Die  in  dieser  Zeit- 
schritt schon  mehrfach  anderweit  erwähnten  neuen  Berichte 
der  beiden  württembergischen  Gewerbeinspektoren  für  1892 
enthalten  auch  eine  sehr  verdienstliche  Zusammenstellung 
der  in  Württemberg  überhaupt  vorhandenen  Geweibe- 
gerichte,  sowie  deren  Thätigkeit  im  Jahre  1892.  Es  wäre 
sehr  erwünscht,  wenn  die  übrigen  deutschen  Bundesstaaten 
ebenfalls  alljährlich  solche  Uebersichten  amtlich  veröffent- 
lichten. Die  württembergischen  Angaben  ergeben  folgendes 
Bild  (für  1892): 


Sitz 

des  Gewerbegerichts 

Klagen 

der 

Unter- 

nehmer 

gegen 

Arbeiter 

Klagen 

der 

Arbeiter 

gegen 

Unter- 

nehmer 

Erledigt  wurden 

Uner- 

ledigt 

blie- 

ben 

Gesammtzahl  1 
der  anhängigen!! 
Klagen  | 

durch 

Ur- 

theil 

durch 

Ver- 

gleich 

durch 

Rück- 

nahme 

Stuttgart  .... 

101 

984 

315 

494 

215 

61 

■ 1085 

Cannstatt  . . . 

4 

83 

22 

45 

19 

1 

87 

Esslingen  . . . 

12 

46 

4 

48 

6 



58 

Heidenheim  . . 

2 

9 

2 

6 

3 



1 1 

Biberach  .... 

— 

12 

2 

7 

3 



12 

Göppingen  . . . 

19 

50 

10 

39 

20 

— 

69 

Ravensburg  . . 

4 

32 

4 

30 

2 

— 

36 

Ulm 

18 

104 

51 

42 

23 

6 

122 

Zusammen  in 

Württemberg  . 

160 

1320 

410 

711 

291 

68 

1480 

1.  Dezember  1892  für  Geisslingen  hinzu,  dasselbe  trat  je- 
doch während  dieses  Monats  noch  nicht  in  Aktion.  Dass 
bei  den  obigen  acht  Gerichten  im  Berichtsjahre  beinahe 
1500  Klagen,  davon  zwei  Drittel  natürlich  in  der  gewerbe- 
reichen Hauptstadt  anhängig  gemacht  wurden,  beweist,  dass 
die  Gewerbegerichte  ein  zweifelloses  Bedürfniss  befriedigen. 
Auch  die  Unternehmer  profitirten  von  der  reorganisirten 
Einrichtung;  dass  11  pCt.  der  angestellten  Klagen  von  ihnen 
stammten,  ist  ein,  wie  es  scheint,  Württemberg  eigenthüm- 
liches,  sonst  nicht  in  dieser  Höhe  beobachtetes  Verhältniss. 
Dem  Sinn  und  Zweck  der  aus  den  gewerblichen  Schieds- 
gerichten hervorgegangenen  Gewerbegerichte  entspricht  es 
in  sehr  erfreulicher  Weise,  dass  ungefähr  50  pCt.  aller 
Klagen  durch  Vergleich  erledigt  wurden,  und  nur  ca.  25  pCt. 
durch  Urtheil.  Der  Rest  entfällt  auf  zurückgezogene 
Klagen.  Wie  schnell  die  anhängig  gemachten  Sachen  er- 
ledigt wurden,  darüber  geben  uns  die  vier  letzten  Gerichte 
der  Liste  in  den  Inspektorenberichten  Auskunft.  Schon 
innerhalb  einer  Woche  nach  Erhebung  der  Klage  wurden 
nämlich  erledigt  in  Biberach  10  auf  12,  in  Ravensburg  36 
auf  36,  also  sämmtliche,  in  Göppingen  60  auf  69  und  in 
Ulm  64  auf  122  Klagen.  Besonders  prompt  konnten  be- 
greiflicher Weise  die  Gewerbegerichte  mit  kleinerem  Ge- 
schäftskreis arbeiten.  Wenn  von  den  sämmtlichen 
1480  Klagen,  welche  im  Jahre  1892  anhängig  gemacht 
waien,  nur  68,  also  ein  verschwindender  Prozentsatz,  in 
das  neue  Geschäftsjahr  mit  herüber  genommen  wurde,  so 
ist  dies  ebenfalls  ein  sehr  günstiges  Zeugniss  für  die 
rasche  Rechtsprechung  der  Gewerbegerichte  überhaupt  und 
der  württembergischen  insbesondere. 


Soziale  Hygiene. 

Kindersterblichkeit  in  Berlin.  Die  hohe  Kindersterb- 
lichkeit in  Berlin  ist  nach  dem  neuesten  polizeilichen  Sanitäts- 
bencht  theilweise  auf  die  Unzulänglichkeiten  des  Zieh-  und 


Haltekinderwesens  zurückzuführen.  In  dem  ganzen  Jahr- 
zehnt von  1881  — 1890  ist  der  Antheil,  den  in  Berlin  das 
Alter  vonO — 1 Jahr  an  der  Gesammtsterblichkeit  beansprucht, 
nur  einmal  (1885)  auf  unter  37  pCt.,  nämlich  36,79  pCt. 
herabgegangen,  während  es  in  der  Mehrzahl  dieser  Jahre 
um  38—40  pCt.  geschwankt  hat.  Im  Jahre  1889  starben  im 
ersten  Lebensalter  14000  Kinder  oder  40,63  pCt.  der  Ge- 
sammtsterblichkeit. 1890  12623  oder  37,80  pCt.,  1891  12923 
oder  37,86  pCt.  Diese  Zahlen  lassen  sich,  wie  der  Bericht 
betont,  kaum  als  Ausdruck  einer  bleibenden  Besserung  dieses 
so  viel  besprochenen  Uebelstandes  betrachten.  Dass  dieses 
Uebel  in  der  Eigenart  des  Zieh-  und  Haltekinderwesens 
seine  Wurzeln  hat,  ist  längst  erkannt  und  hat  zu  einer 
Reihe  von  Polizeimassregeln  geführt.  Diese  sind  aber  nicht 
im  Stande,  dem  Uebel  zu  steuern,  da  zu  dem  mangelhaften 
Interesse  an  dem  Gedeihen  des  jungen  Kindes  noch  viel 
ungünstige  Umstände  bei  den  Haitefrauen  hinzutreten:  zu 
niedrige  Pensionssätze,  Zusammenpferchen  der  kleinen  an- 
spruchsvollen Geschöpfe  in  eng  bemessenen  Räumen,  un- 
genügende Versorgung  der  Zimmer  mit  Luft  und  Licht, 
unzweckmässige  Betten,  Kleider  etc.  etc. 


Schulwesen. 

Populär-wissenschaftliche  Vorträge  für  Arbeiter.  Der 

Bildungsverein,  das  Organ  der  Gesellschaft  für  Ver- 
breitung von  Volksbildung  versendet  seit  einigen  Monaten 
einen  Aufruf  zur  Unterstützung  eines  von  Rheinland-West- 
falen ausgehenden  Unternehmens.  Dem  Verband  Rheinisch- 
Westfälischer  Bildungsvereine  hat  ein  Ungenannter  die 
Summe  von  2000 — 3000  Mark  jährlich  mit  folgender  Be- 
gründung zur  Verfügung  gestellt:  Er  gehe  von  dem  Grund- 
sätze aus,  dass  zur  Belehrung  der  minder  begünstigten 
Menschenklasse,  der  Arbeiter  und  ihrer  erwachsenen  Familien- 
mitglieder, noch  mehr  geschehen  müsse.  Leider  betheilige 
sich  der  gewöhnliche  Arbeiter  sehr  wenig  an  den  in  den 
Bildungsvereinen  gebotenen  belehrenden  Vorträgen,  sei  es, 
weil  die  letzteren  meist  dem  Auffassungsvermögen  des 
Arbeiters  nicht  genug  angepasst  sind,  da  ihm  die  Vor- 
kenntnisse fehlen,  den  Vorträgen  in  für  ihn  nutzbringender 
Weise  folgen  zu  können,  — sei  es,  dass  dieselben  Themata 
behandeln,  welche  ihm  entfernter  liegen,  d.  h.  die  engeren 
Gesichtspunkte  seines  täglichen  Lebens  zu  wenig  berühren. 
Solle  daher  dem  durch  den  Zufall  der  Geburt  in  der  Bildung 
minder  begünstigten,  aber  unstreitig  dessen  am  meisten  be- 
dürfen den  I heile  unserer  Mitmenschen  ebenfalls  die  Gelegen- 
heit geboten  werden,  sich  über  den  Menschen  und  die  ihn  um- 
gebende Natur  richtige  Ansichten  zu  bilden,  so  müssten  der- 
artige Vorträge  lediglich  für  diesen  weniger  begünstigten 
Iheil  unserer  Mitbürger  eingerichtet  und  gehalten  werden. 
— Der  Bildungsverein  wünscht  nun,  dass  zu  diesem  edlen 
Zwecke  die  Wohlhabenden  mit  Geldmitteln,  die  akademisch 
Gebildeten  durch  unentgeltliche  Mitwirkung  beisteuern. 
„Wohlstand  und  Bildung  verpflichten!“ 

So  sehr  wir  jedes  Arbeiterbildungsunternehmen  billigen, 
so  haben  wir  doch  gegen  das  hier  geplante  Vorgehen  ernste 
sozialpolitische  Bedenken  Wenn  jedes  derartige  gemeinnützige 
Unternehmen  sich  an  die  unentgeltliche  Mitwirkung  der 
Schriftsteller,  Gelehrten  etc.  wendet,  so  läuft  dies  im 
Wesentlichen  darauf  hinaus,  dass  die  Kosten  der  Volks- 
bildung den  studierten  Leuten  aufgebürdet  werden.  Schon 
jetzt  ist  die  materielle  Lage  derer,  die  von  ihrer  Feder 
leben  wollen,  durch  die  ungebührlich  grosse  Zahl  der  un- 
entgeltlichen oder  bloss  mit  symbolischem  Honorar  erwider- 
ten Dienste,  die  ihnen  „Ehren  halber“  zugemuthet  werden, 
über  alles  Mass  erschwert.  Jedes  neue  Unternehmen,  das 
sich  auf  diesem  Grundsatz  aufbauen  will,  macht  sich  zum 
Mitschuldigen  an  der  Abwälzung  der  Beitragspflicht  von 
den  „Wohlhabenden“  auf  die  „Gebildeten“.  Ganz  ab- 
weichend vom  „Bildungsverein“  sind  wir  der  Ansicht,  dass 
ein  solches  Unternehmen  nur  gedeihen  kann,  wenn  die 
Lehrkräfte  ausreichend  besoldet  werden.  Wir  betonen  dies 
um  so  mehr,  da  wir  uns  der  Hoffnung  hingeben,  dass  die 
Gesellschaft  für  Verbreitung  von  Volksbildung  auch  im 
Stande  sein  wird,  die  erforderlichen  Geldmittel  aufzubringen. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


388 


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No.  32. 


ehr  als  950  Bildertafeln  und  Kartenbeilagen. 


= Soeben  erscheint  = 

fünfter,  neubearbeiteter  und  vermehrter  Auflage: 

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Handbuch  der  sozialen  Gesetzgebung 

des  deutschen  Reichs. 

Für  jedermann  zum  praktischen  Gebrauch  herausgegeben  von 

II.  ISiiimecke 

(Verfasser  von:  „Der  Reichs-  und  Staatsdienst“). 

Enthält  alles  für  den  praktischen  Gebrauch  Nothwendige  aus  den  Gesetzen  betr.  die  Kranken-, 
Unfall-,  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  sowie  Schutzgesetzgebung  der  Arbeiter  und  ist  daher 
unentbehrlich  für  Gewerbetreibende,  Landwirthe,  Fabriken  und  Industrielle  Anlagen  aller  Art. 

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Tabakztg.  Deutsche  Fabrikantenztg.  — Allg.  Anzeiger  f.  Berg-,  Hütten-  u.  Maschinen- 
industrie. — Die  Werkstatt.  — Deutsche  Handwerkerztg.  — Uhlands  Verkehrsztg.  — 
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Verlag  von  Wilhelm  Violet  in  Leipzig. 


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Geschichte  des  Socialismus  und  Gommunismus  im  19.  Jahrhundert 

von 

Professor  Dr.  Otto  Warschauer. 

Bisher  erschien: 

Erste  Abteilung:  Saint- Simon  und  der  Saint  - Simonismns. 

Zweite  Abteilung:  Fourier,  seine  Theorie  und  Schule. 

Jede  Abteilung  bildet  ein  für  sich  abgeschlossenes  Ganze  und  ist  einzeln  für  2 Mark  käuflich. 


Sn  meinem  Verlag  i|t  foeben  erfdjienen  unb  in  jeher  Sncfjljanblung  oorrcitig : 

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S)er  burd)  feine  Sljcitigfeit  in  ber  2Bol)lfal)rtSpflcgc  ntib  auf  nertnanbten  ©ebieten  mof)l=  I 
befannte  SBerfaffer  cntroicfelt  in  biefer  ©djrift  pofitioe  SSorfdjtäge,  meldje  barauf  abjielen,  bie  ; 
Söfung  ber  fokalen  gragc  3U  förbern  burd)  bie  Siegelung  ber  2trbeiter=2Sol)nitng§Derfjältniffc. 
@r  oertritt  mit  überjeugeubcr  iöciociSfüIjruHg  ben  Staubpunft,  baf)  bie  ©efeitigung  ber  28ol)= 
nungSnot  ber  Arbeiter  als  ber  ®?ittcl=  unb  2luSgangSpuuft  aller  9tefonnbeftrebuugcu  angefeljen 
ro erben  müffe,  uad)  beffeu  ©Raffung  crft  für  eine  erfprie&lidje  2luSbef)nung  ber  2^ätigfeit  auf  ! 
meitere  ©ebiete  ber  28ol)lfaf)rtSpflege  ber  ißobeu  geebnet  fei.  Sei  ber  ©röjje  ber  Slufgabe  ift  aber 
an  einen  gliidlidjen  ©rfolg  ohne  fräftige  ©taatsljilfe  nid} t 31t  beuten,  bie  fid)  übrigens  auf  eine 
blofje  ©arantieleifiung  für  Kapital  unb  3in§  bcfd}räntcn  tonnte. 

©S  märe  bringenb  jtt  münfctjen,  bafj  ben  als  praf tifdj  unb  burdjfüljrbar  aucrtannten  23or= 
fdjlägen  nun  and}  Späten  folgen. 

(Stuttgart.  P.  $*lflljamiu*»\ 


lialTrtllfö  Jpfoen 

Sargcftctlt 

auf  ©raub  einer  oerloreit  geglaubten 
^nntifirfjriften-Samnilung 

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hem  Porträt  fjclm  non  ^aronnijas 

con 

fr««?  tn>«  jlrnbftd) 

unb 

jmei  ^riefen  in  ^akfimile. 

8°,  XII  unb  188  ©eiten. 

©efjeftet  ißreis  SR.  3,  gebunben  ißreiS  SR.  4. 
3u  bejieljcn  burdj 

|nul  ^ellcrs  gudjljoniilunri  (<§.  |ü|irnniDti)et) 

^rrlt»  TV.,  SRarfgrafenftr.  39/40. 

©arl  $jrpianns  Herlag,  § erlln  W. 

SRaucrftrafie  44. 

JWbinirll)fd)afllid)e5  i’rfrlntrlj 

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ißreis  farton.  SRf.  1,  pofifrei  SRf.  1,10. 

Sic 

Pirtjjfdjaftlith-fojtalen  Aufgaben 

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auf  inbujlritlktn  unb  lanbmittl)fd|aftli(|eui  ftbittt 

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@ef).  Dberregterimgävatf). 

8°.  VI  unb  328  ©eiten. 
ißreiS  gel}eftet  SRf.  7,  poftfrei  9P?f.  7,20. 

Schriften  ber  CentralfteQe  für 
2lrbeiter=IPol}lfal?rtseinrid)tungen. 

SRr.  1. 

|ie  |erti£|fraiii0  ter  Pnljiiinigeii. 

S02it  208  SRbbilbungen  im  £ejt. 

8°.  VI  unb  370  ©eiten. 
ißreiS  geljeftet  SRf.  8. — , poftfrei  SRf.  8.30. 

„ gebunben  SRf.  9.—,  poftfrei  SRf.  9.30. 

— 

9?r.  2. 

Die  ^roedmtäßige  Denuftthung 

ber 

Somit  ags-  unb  feieneit. 

8°.  IV  unb  94  ©eiten. 
ißreiS  geheftet  9KF.  2.—,  poftfrei  SRf.  2.10. 

Carl  fjnjtmuut?  Hering  in  Hcdin  W., 

SRaucrftrafee  44. 


Carl  Heymanns  Verlag  in  Berlin  W.,  Mauerstrasse  44.  — Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld  in  Berlin  W. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  15.  Mai  1893. 


Nummer  33. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 

Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf 

Anzeigenpreis  für  die  dreigespaltene  Colonelzeile 
40  Pfennig. 


Erscheint  jeden  Montag. 

Zu  beziehen 

durch  alle  Buchhandlungen,  Spediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


INHALT. 


Ein  Reformprogramm  für  die 
niedere  gewerbliche  Aus- 
bildung. Von  Dr.  Karl  v. 
Mangold  t. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  und 
Wirthschaftsstatistik : 

Zur  Frage  der  Gewinnbetheiligung. 
Anti-Pinkerton-Gesetze. 
Arbeiterzustände : 

Lohnverhältnisse  in  der  Industrie 
der  Feinmechanik  der  Stadt 
Berlin  im  Jahre  1891.  Von  Dr. 
Ernst  Hirsch  her  g. 

Die  Arbeitsordnung  der  Mainzer 
Möbelindustrie  vor  dem  Aus- 
schuss. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Die  Maifeier. 

Gewerkschaftliche  Arbeiterbewe- 
gung: 

Strikebewegungen  in  Wien. 
Kaufmännische  Bewegung : 

Der  Hamburger  Verein  für  Hand- 
lungskommis. 

Arbeiterschutzgesetzgebung  : 

Ein  französischer  Gesetzentwurf 


betr.  die  in  den  Handlungs- 
häusern beschäftigten  Frauen 
und  Kinder. 

Regelung  der  Arbeit  der  in  den 
französischen  Bergwerken  und 
sonstigen  Montananlagen  be- 
schäftigten Kinder  und  jungen 
Leute. 

Arbeiterversicherung : 

Die  Ausdehnung  der  Unfallver- 
sicherung in  Oesterreich. 

Zur  Statistik  der  Alters-  und  In- 
validenversicherung. 

Statistik  des  Allgemeinen  Knapp- 
schaftsvereins in  Bochum. 

Arbeitslosenversicherung  der  nie- 
derösterreichischen Buchdrucker. 

Schulwesen,  Erziehungs-  und 
Bildungsfragen : 

Zur  Lage  der  preussischen  Volks- 
schulen. 

Verlängerte  Besuchszeit  der  Ber- 
liner Museen. 

Armenwesen : 

Internationaler  Kongress  für  Ge- 
meinnützigkeit in  Chicago. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Ein  Reformprogramm  für  die  niedere 
gewerbliche  Ausbildung. 

Wer  helfen  will,  muss  die  Ursachen  des  Uebels  zu 
beseitigen  suchen.  Es  giebt  besondere  Ursachen  der 
schlechten  gewerblichen  Ausbildung  für  das  Handwerk  und 
besondere  für  die  Industrie;  aber  die  wichtigsten  sind  doch 
beiden  gemeinsam. 

Die  Einseitigkeit  der  Arbeit,  die  eine  Folge  der  Arbeits- 
theilung  ist,  die  Neuheit  der  Massregeln,  die  unter  der 
veränderten  technischen  Situation  zu  einer  guten  gewerb- 
lichen Ausbildung  nothwendig  wären  und  ihre  thatsäch- 
lichen  oder  vermeintlichen  Kosten,  die  Scheu  vor  der  Un- 
botmässigkeit  der  Jugend  und  die  Furcht  mit  der  Sorge 
für  eine  gute  gewerbliche  Ausbildung  mehr  für  die  Konkur- 
renz als  für  sich  selbst  zu  arbeiten,  endlich  das  Fehlen  gewisser 
gesetzlicher  Bestimmungen, — das  sind  Faktoren,  die  gleicher- 
weise im  Handwerk  wie  in  der  Industrie  hindernd  wirken. 
Dazu  kommt  beinahe  als  wichtigstes  Moment  in  beiden 
Fällen  der  Mangel  ernsten  nachdrücklichen  Strebens  seitens 
der  Arbeitgeber,  die  Lehrlingsausbildung  zu  bessern  und 
die  ungenügende  Vorsorge  des  Staates  und  der  Gemeinden 
für  den  theoretischen  Fachunterricht.  Auch  die  aus  der 


Unfertigkeit  der  technischen  Entwickelung  sich  ergebende 
Unsicherheit  wirkt  lähmend:  kann  doch  die  technische 

Kenntniss,  die  heute  nothwendig  erscheint,  vielleicht  morgen 
schon  entbehrlich  werden!  Endlich  ist  nicht  zu  vergessen, 
dass  sich  Rückschritte  in  der  gewerblichen  Ausbildung 
langsam  und  kaum  merklich  vollziehen,  sodass  erst  Ereignisse 
wie  Weltausstellungen  und  dergl.  die  ganze  Grösse  der 
eingetretenen  Veränderungen  erkennen  lassen. 

Gegen  manche  dieser  Ursachen,  so  gegen  die  aus  der 
technischen  Entwickelung  sich  ergebende  Unsicherheit  und 
gegen  die  Arbeitstheilung  an  sieh,  lässt  sich  überhaupt 
nichts  thun.  Aber  um  den  unheilvollen  Einfluss  der  Arbeits- 
theilung in  den  Fällen  zu  vermeiden,  in  denen  etwas  mehr 
als  ein  ganz  einseitiges,  mechanisches  Können  erreicht 
werden  soll,  giebt  es  allerdings  Mittel  und  Wege  und  diese 
Fälle  bilden  beinahe  die  Regel  wie  in  dem  Artikel  in  Jahrg. 
II,  Nr.  30  des  Sozialpolitischen  Centralblattes  gezeigt  wor- 
den ist. 

Man  kann  da  an  verschiedene  Massnahmen  denken. 
Wo  in  einem  Betriebe  die  wichtigsten  verschiedenen  Arbeiten 
eines  Faches  Vorkommen,  wird  es  genügen,  sie  durch  den 
Lehrling  systematisch  durchmachen  zu  lassen  und  nebenbei 
für  theoretische  Fachbildung  zu  sorgen.  Für  den  Besuch 
der  Fortbildungs-  und  Fachschulen  müssen  den  Lehrlingen 
allerdings  nicht  nur  die  letzten  erschöpften  Abendstunden, 
sondern  einzelne  Vor-  oder  Nachmittage  in  der  Woche 
ohne  Lohnabzug  freigegeben  werden.  Daran  werden  die 
Arbeitgeber  im  übrigen  Deutschland  ebensowenig  zu  Grunde 
gehen,  wie  sie  das  z.  B.  in  Gmünd.  Heilbronn  und  in 
anderen  Orten  gethan  haben.  In  den  Betrieben,  die  zu 
einseitig  sind,  um  eine  systematische,  praktische  Schulung 
zu  gewähren,  dürfte  eine  Lehrwerkstätte  zu  ergänzender 
oder  ausschliesslicher  Beschäftigung  der  Lehrlinge  die 
gewünschten  Dienste  leisten.  In  ihr  werden  die  Lehrlinge 
systematisch  mit  den  verschiedenen  Manipulationen,  Werk- 
zeugen, Maschinen  ihrer  Branche  bekannt  gemacht,  sie 
gemessen  gleichsam  einen  praktischen  Schulunterricht. 
Zahlreiche  gute  Erfolge  empfehlen  die  Lehrwerkstätten, 
und  es  erblickt  z.  B.  noch  in  dem  Fabrikinspektoratsbericht 
von  1892  der  Aufsichtsbeamte  für  Hamburg  in  ihrer  Errich- 
tung einen  ersten  Schritt  zur  bessernden  Umgestaltung  des 
Lehrlingswesens.  Es  scheint  nach  den  bisherigen  Erfahrun- 
gen nicht,  als  ob  solche  Einrichtungen  ernstlich  in  Betracht 
kommende  Kosten  verursachten,  ja  vielfach  wird  z.  B.  in  den 
Lehrwerkstätten  der  preussischen  Eisenbahnen  den  Lehrlingen 
schon  vom  ersten  Tage  an  ein  bescheidener  Lohn  gezahlt. 
Solche  Lohnzahlung  ist  allerdings  auch  unbedingt  noth- 
wendig. Zahlreiche  Eltern  würden,  sei  es  aus  Noth.  sei  es  aus 
Mangel  an  Opferfreudigkeit,  lieber  auf  die  gute  Ausbildung 
ihrer  Kinder  verzichten,  als  sie  nach  vollendetem  14.  Lebens- 
jahre noch  weiter  aus  ihrer  Tasche  unterhalten.  Der  Arbeit- 
geber muss  seine  jugendlichen  Arbeiter  ja  jetzt  auch 


390 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  33 


bezahlen  und  schliesslich  würden  Eltern  und  Kinder  in  der 
ärmeren  Bevölkerung  wohl  auch  mit  einem  geringen  Lohn 
zufrieden  sein,  wenn  damit  gleichzeitig  eine  bessere,  die 
Zukunft  mehr  sichernde  Ausbildung  verbunden  ist.  Würde 
man  derartig  energisch  die  fachliche  Ausbildung  der  Lehr- 
linge in  die  Hand  nehmen,  so  dürfte,  meinen  wir,  jenes 
Hinderniss,  das  man  immer  in  der  vielbeklagten  Zucht- 
losigkeit der  heutigen  Handwerker-  und  Arbeiterjugend 
erblickt,  schon  von  selbst  sehr  zusammenschrumpfen. 
Denn  nichts  erzieht  besser  als  Arbeit,  und  wenn  es 
unserer  gewerblichen  Jugend  bisher  auch  sicher  nicht  an 
Arbeit  gefehlt  hat,  so  doch  leider  vielfach  an  solcher,  die 
sie  liebgewinnen,  die  eine  sittliche  Wirkung  auf  sie  aus- 
üben konnte.  Im  übrigen  wird  man  das  Uebel  nur  dann 
an  der  Wurzel  treffen,  wenn  es  gelingt,  durch  eine  all- 
gemeine Hebung  der  unteren  Stände  auch  eine  Hebung 
des  Familienlebens  und  der  Erziehung  zu  erreichen.  Für 
diejenigen  Lehrlinge,  die  weder  beim  Meister  noch  bei  den 
Eltern  wohnen,  sind  insbesondere  noch  die  sog.  Lehrlings- 
heime zu  empfehlen,  das  sind  grosse,  von  gemeinnütziger 
Seite  geleitete  Kost-  und  Logishäuser,  in  denen  die 
betreffenden  Lehrlinge  Unterkunft  und  Ueberwachung  finden. 

Ein  Akt  der  Unbotmässigkeit  ist  es  vor  allem,  der  die 
gewerbliche  Ausbildung  störend  beeinflusst,  — das  ist  der 
Bruch  des  Lehrvertrages.  Es  giebt  in  der  That  kaum 
etwas,  das  einen  Arbeitgeber  mehr  abschrecken  könnte, 
Mühe  und  Kosten  auf  eine  gute  Ausbildung  seiner  Lehr- 
linge aufzuwenden,  als  wenn  ihm  diese  leichtsinnig  davon- 
laufen.  Deshalb  lässt  sich  auch  gegen  die  schon  1875  vom 
Verein  für  Sozialpolitik  verlangte,  aber  noch  immer  nicht 
eingeführte  Bestrafung  des  widerrechtlichen  Bruches  des 
Lehrvertrages  wirklich  nicht  viel  einwenden,  wenn  nur 
gleichzeitig  die  Interessen  der  Lehrlinge  den  Meistern  gegen- 
über hinlänglich  geschützt  werden.  Direkter  gesetzlicher 
Zwang  zu  schriftlicher  Abfassung  der  Lehrverträge  und 
Einregistrirung  derselben  bei  irgend  einer  behördlichen 
Stelle  sind  gleichfalls  alte  und  berechtigte  Forderungen  an 
die  Gesetzgebung  im  Interesse  des  Lehrlingswesens.  Der 
Lehrvertrag,  der  von  entscheidender  Wichtigkeit  für  das 
ganze  Leben  des  jungen  Menschen  ist,  muss  in  seiner  Be- 
deutung herausgestellt,  Zweifel  an  seinen  Bestimmungen  und 
egoistische  Ausbeutung  müssen  möglichst  verhindert  werden. 

Aber  so  nützlich  auch  alle  diese  Massnahmen  an  sich 
sein  möchten,  so  werden  sie  doch  nur  wenig  helfen,  wenn 
sie  nicht  von  dem  guten  Willen  der  Arbeitgeber  getragen 
werden.  Auf  sie  als  Träger  der  finanziellen  Lasten,  Lehr- 
herren und  oberste  Betriebsleiter  kommt  es  doch  in  erster 
Linie  an,  und  wenn  sich  auch  manches  erzwingen  lässt,  so 
ist  doch  die  Lehrlingsausbildung  etwas  so  schwer  kontrolir- 
bares  und  so  mannigfache  Gelegenheit  zu  Ausflüchten 
bietendes,  dass  kaum  viel  zu  erreichen  ist,  wenn  der  frei- 
willige Eifer  die  Hindernisse  zu  überwinden  fehlt.  Dieser 
Eifer  der  Arbeitgeber  scheint  vorderhand  nicht  gross  zu  sein; 
ihn  anzuregen  ist  eine  wichtige  Aufgabe  der  öffentlichen 
Meinung.  Es  kann  nicht  oft  und  nicht  laut  genug  ge- 
predigt werden,  dass  die  Frage  der  niederen  gewerblichen 
Ausbildung  eine  der  Grundfragen  unseres  nationalen 
Wohles  ist,  und  dass  die  Arbeitgeber  vor  anderen  dazu 
berufen  sind,  sie  einer  glücklichen  Lösung  entgegenzu- 
führen. Mehr  noch  als  von  dem  Druck  der  öffentlichen 
Meinung  ist  zu  hoffen  von  der  Schaffung  von  Berufsorgani- 
sationen. Der  einzelne  wird  sich  immer  noch  damit  ent- 
schuldigen können,  dass  es  nicht  seine  Sache  sei,  für  die 
Gesammtheit  Opfer  zu  bringen.  Die  Berufsorganisation,  die 
gerade  dazu  da  ist.  die  gemeinsamen  Interessen  zu  wahren, 
die  gemeinsamen  Pflichten  zu  erfüllen,  die  Ehre  des  Standes 
hochzuhalten,  ist  durch  ihre  ganze  Natur  dazu  berufen,  für 
eine  gute  Lehrlingsausbildung  als  etwas  allen  zugute  kom- 
mendes zu  wirken.  Man  kann  freilich  durch  Gesetz  keiner 
Organisation  innere  Lebenskraft  verleihen,  aber  man  kann 


doch  die  Möglichkeit  und  die  Anregung  für  die  Wirksam- 
keit einer  Organisation  geben.  Die  Reichsregierung  hat  eine 
Vorlage  zur  Schaffung  von  Handwerkerkammern  in  Aus- 
sicht gestellt;  angesichts  der  geringen  Fürsorge  gerade  der 
Industrie  für  die  Lehrlingsausbildung  ist  Ausdehnung  der 
Organisirung  auf  sie,  wenigstens  soweit  diese  dem  Lehrlings- 
wesen zum  Vortheil  gereichen  soll,  dringend  zu  fordern.  Die 
Frage,  wie  die  Organisation  beschaffen  sein  soll,  ist  sehr 
schwierig.  Nur  soviel  möchten  wir  hier  sagen,  dass  eine 
hinreichende  Vertretung  der  Arbeitnehmer  unbedingt  noth- 
wendig  ist  und  dass  man  auch  an  die  Beimischung  behörd- 
licher Elemente  denken  könnte.  Nur  mit  Hilfe  solcher 
Organisationen  lassen  sich  dann  auch  die  nothwendigen 
Zwangsmassregeln  durchführen.  Es  gilt  vor  allem  zu  ver- 
hindern, dass  die  Arbeitgeber  keine  oder  fast  keine  Lehr- 
linge mehr  einstellen,  sondern  nur  noch  „jugendliche  Ar- 
beiter“ und  dadurch  alle  Mühen  um  die  Lehrlingsausbildung 
fruchtlos  machen.  Ebenso  verlangt  das  entgegengesetzte 
Extrem,  die  Lehrlingszüchterei,  eine  energische  Abhilfe.  1 
Eine  Zwangsregelung  der  Lehrlingszahl  im  Verhältniss  zur 
Zahl  der  beschäftigten  erwachsenen  Arbeiter  ist  schon 
mehrfach  verlangt  worden.  Bei  der  Vielgestaltigkeit 
unseres  gewerblichen  Lebens  möchten  wir  indess  einen 
direkten  Zwang  nicht  empfehlen.  Wie  könnte  man  es  z.  B. 
von  einem  Betriebe  mit  besonders  schwerer  oder  gefahr- 
voller Arbeit  verlangen,  dass  er  junge  und  unerfahrene 
Personen  beschäftigen  soll?  Oder  wie  könnte  man  es  einem 
Unternehmer,  der  eine  Industrie  neu  in  eine  Gegend  ver- 
pflanzt, verwehren,  aussergewöhnlich  viel  Lehrlinge  zu  be- 
schäftigen, um  sich  einen  Stamm  gelernter  Arbeiter  heran- 
zuziehen? Es  bleibt  demnach  nur  übrig  einen  möglichst 
starken  Anreiz  für  die  Arbeitgeber  zu  schaffen,  das  richtige 
Zahlenverhältniss  zwischen  Lehrlingen  und  erwachsenen 
Arbeitern  herzustellen.  Vielleicht  liesse  sich  dieser  Anreiz  ’j 
durch  eine  Art  Besteuerung  schaffen.  Man  würde  sich  das 
etwa  folgendermassen  vorzustellen  haben.  Durch  Bundes- 
rathsverordnung wird  nach  Veranstaltung  einer  um- 
fassenden Enquete  für  alle  die  Gewerbe,  die  in 
grösserer  Zahl  gelernter  Arbeiter  bedürfen,  eine 
Minimal-  und  eine  Maximalgrenze  festgesetzt,  auf  wieviel  ;| 
erwachsene  Arbeiter  ein  Lehrling  kommen  soll.  Sämmt-  ■ 
liehen  Arbeitgebern  der  betreffenden  Gewerbe  wird  darauf  j 
eine  „Lehrlingsabgabe“  auferlegt,  die  sich  nach  der  Zahl  der 
beschäftigten  Arbeiter  richtet  und  sehr  mässig  zu  bemessen 
ist.  Sie  soll  nicht  den  Charakter  einer  Steuer,  sondern 
den  einer  Erziehungsmassregel  tragen.  Auf  Ansuchen 
werden  von  ihr  diejenigen  befreit,  die  1.  die  vorgeschriebene 
Zahl  von  Lehrlingen  beschäftigen  und  2.  nachweisen,  dass 
hinreichende  Vorsorge  für  eine  wirkliche,  fachliche  Aus- 
bildung dieser  Lehrlinge  getroffen  ist.  Gewiss  erheben  sich 
tausend  Bedenken  und  Unsicherheiten,  wie  es  im  einzelnen 
gehalten  werden  soll,  gegen  diesen  Vorschlag.  Wie  sollen 
z.  B.  diejenigen  behandelt  werden,  die  zwar  keine  Lehrlinge 
ausbilden,  aber  auch  keine  gelernten  Arbeiter  beschäftigen? 
Oder  die,  welche  keine  Lehrlinge  beschäftigen,  aber  nicht 
aus  persönlicher  Nachlässigkeit,  sondern  weil  ernste  Hinde- 
rungsgründe es  ihnen  unmöglich  machen?  Aber  doch  würde 
es  einer  solchen  Auflage  weder  an  einem  innern  recht- 
fertigenden  Grunde,  noch  an  einem  praktischen  Erfolge  j 
fehlen.  Wer  keine  Lehrlinge  ausbildet,  trotzdem  er 
selbst  gelernte  Arbeiter  braucht,  lebt  auf  Kosten  der 
Allgemeinheit;  es  ist  also  nur  billig,  dass  er  von  ihr  auch 
wieder  in  irgend  einer  Form  in  Anspruch  genommen  wird. 
Und  der  milde,  aber  ständige  Druck  würde  doch  die 
meisten  Arbeitgeber  allmählich  veranlassen,  der  Lehrlings- 
ausbildung wieder  grösseren  Eifer  zuzuwenden.  Die  Hand- 
habung der  Befreiungen,  die  nach  und  nach  die  Regel 
werden  sollen,  sowie  die  spätere  Revisionen  würde  in  der 
Hand  der  oben  erwähnten  Berufsorganisationen  liegen, 
und  eben  damit  nicht  zu  leicht  ein  einseitiger  Interessen- 


Verlag-  von  C.  L.  Hirsclifeld  in  Leipzig. 


Seit  Januar  1893  erscheint: 

ZEITSCHRIFT 

FÜR 

LITTERATUR  UND  GESCHICHTE 

DER 

ST  A ATS  W ISSEN  SCHÄFTEN. 

Unter  ständiger  Mitwirkung 
von 

Dr.  M.  Block,  membre  de  l’Institut  de  France  in  Paris,  Prof.  Dr.  H. 
Dietzel  in  Bonn,  Prof.  Dr.  C.  Ferraris  in  Padua,  Prof.  Dr.  W.  Hasbach 
in  Königsberg,  Prof.  Dr.  J.  Ingram  in  Dublin,  Dr.  J.  v.  Keussler  in 
St.  Petersburg,  Prof.  Dr.  J.  Lehr  in  München,  Prof.  Dr.  Cort  van  der 
Linden  in  Amsterdam,  Prof.  Dr.  B.  Morgenstierne  in  Christiania,  Prof. 
Dr.  A.  Oncken  in  Bern,  Prof.  Dr.  U.  Kabbeno  in  Bologna,  Staatsrat  A. 
Raffalovioh  in  Paris,  Prof.  Dr.  E.  Sax  in  Prag,  Prof.  Dr.  M.  Salva  in 
Madrid,  Prof.  Dr.  W.  Scharling  in  Kopenhagen  und  Prof.  Dr.  K. 
Freiherr  v.  Stengel  in  Würzburg 

herausgegeben  von 

Dr.  Kuno  Frankenstein, 

Dozenten  an  der  Humboldt-Akademie  in  Berlin. 


Die  Zeitschrift  erscheint  in  Heften,  von  denen  6 einen  Band  von  ca.  30  Bogen  bilden. 
Preis  für  den  Band  12  Mark.  — Jährlich  mindestens  ein  Band. 


Mit  der  zunehmenden  Bedeutung  der  Stellung  der  Staatswissen- 
schaften im  Kreise  der  Wissenschaften  überhaupt  ist  auch  die  staats- 
wissenschaftliche Litteratur  von  Jahr  zu  Jahr  immer  umfangreicher  ge- 
worden. Die  Beschäftigung  mit  allen  den  einzelnen  Fragen , die  das 
Gebiet  der  Volkswirtschaft,  Finanzwissenschaft,  Statistik,  des  Staats- 
und  Verwaltungsrechts  u.  s.  w.  berühren,  setzt  eine  Kenntnis  der  zeit- 
genössischen internationalen  Fachlitte ratur,  ein  Studium  der 
geschichtlichen  Entwickelung  der  Staats  Wissenschaften 
und  zweifellos  auch  eine  Beschäftigung  mit  der  Methodologie  staats- 
und  sozialwissenschaftlicher  Forschung  voraus.  Dieser  Voraussetzung  zu 
genügen,  stöfst  unter  den  gegenwärtigen  Verhältnissen  indessen  auf  die 
gröfsten  Schwierigkeiten,  zumal  da  sich  die  älteren  Fachzeitschriften 
aus  naheliegenden  Gründen  nicht  in  der  Lage  befinden,  zur  Beseitigung 
jener  Schwierigkeiten  vermittelnd  und  helfend  einzugreifen.  Es  schien 


daher  augezeigt,  eia  besonderes  literarisches  Organ  zu  begründen,  das 
als  seine  Aufgabe  betrachtete,  der  gesamten  deutschen  und  ausländischen 
Literatur  und  Geschichte  der  Staatswissenschaften  ausschliefslich  seine 
Aufmerksamkeit  zu  widmen.  t .... 

Wie  der  Herausgeber  zur  Einführung  der  „Zeitschrift  Ihr  Litte- 
ratur  und  Geschichte  der  Staatswissenschaften“  hervorhob, 
sollte  diese  in  erster  Linie  ein  literarischer  Mittelpunkt  für  alle  Forscher 
werden,  die  ihre  wissenschaftliche  Thätigkeit  der  Methodologie  und 
Literaturgeschichte  der  Staats-  und  Sozialwissenschaften,  wie  wiit- 
schaftsgescliichtlichen  Forschungen  zugewendet  haben,  aber  nicht  nur 
wissenschaftlichen  Bestrebungen,  auch  rein  praktischen  Bedüifnissen 
sollte  sie  dienen,  indem  sie  sich  die  Aufgabe  stellte,  dem  Fachmann  Lei 
dem  Studium  von  Spezialfragen  ein  Wegweiser  zu  sein. 

Wie  die  Zeitschrift  für  Litteratur  und  Geschichte  der 
Staatswissenschaften  ihre  Aufgaben  bisher  zu  lösen  versucht  hat, 
darüber  sollen  die  folgenden  Mitteilungen  Rechenschaft  ahlegen. 


INHALT  DES  1.  HEFTES. 

I.  Abhandlungen  und  Aufsätze:  , „ . ..  , , 

Dietzel , Prof.  Dr.  H.,  Bonn,  Beiträge  zur  Geschichte  des  Sozialismus  und  des 
Kommunismus  I. 

Onckeu,  Prof.  Dr.  A.,  Bern,  Ludwig  XYI.  und  das  physiokratische  System. 
Rabbeno,  Prof.  Dr.  U.,  Bologna.  Ein  neues  System  der  Sozialökonomie  1. 

II.  Kritiken  und  Referate. 

a.  Deutsche  Litteratur. 

Bruder,  Staatslexikon  (Dr.  K.  Frankenstein-Berlin). 

Engel,  Die  Philosophie  und  die  soziale  Frage  (Prof.  Dr.  G.  Adler-Freiburg). 
Wie  stelle  ich  mich  zur  sozialen  Frage?  (Dr.  R Grätzer-Berlin). 

Fuhr,  Strafrechtspflege  fand  Sozialpolitik  (Amtsrichter  W.  kulemann-Braun- 
SCllWGlg). 

Cäsar,  Die  Speisung  armer  Schulkinder  (Dr.  R.  Petong-Berlin). 

Schmidt,  Geschichte  des  Araberaufstandes  in  Ostafrika  (Dr.  K.  Kaerger- 

MiscMer^Handbuch  der  Yerwaltungsstatistik  (Dr.  E.  Hirschberg-Berlin). 
Westerkamp,  Staatenbund  und  Bundesstaat  (Prof.  Dr.  Freiherr  von  Stengel- 

Würzburb).  . • • 

Menzel,  Deutsches  Gesandtschaftswesen  im  Mittelalter  (Dr.  H.  Triepel-Leipzig). 
(j.  Italienische  Littevatui . B r t\  tt  t>  - v» 

Cossa,  Introduzione  alla  studio  delfl  economia  politica  (Prot.  Dr.  ü.  KaD- 

beno-Bologna).  . , _ , VVI 

Celli,  Silvestro  Gozzolini  di  Osimo,  economista  e finanziere  de!  Secolo  AVI 
(Prof.  Dr.  U.  Rabbeno-Bologna).  , ^ TT  _ uu  . 

Loria,  La  terra  e il  sistema  sociale  politica  (Prof.  Dr.U.  Rabbeno-Bologna). 
Ricca  Salerno,  Sullo  stato  presente  dell’  economia  (Prot.  Dr.  U.  Rabbeno- 
Bologna). 

c.  Skandinavische  Litteratur.  . 

Fahlbect,  Stand  och  Klassor  (Prof.  Dr.  B.  Morgenstierne-Christiama). 

d.  Niederländische  Litteratur.  , T • .1 

Quack,  Die  Sozialisten  — Personen  u.  Systeme  (Prof.  Dr.  Cort  v.  d.  Linden- 

Amsterdam). 

ITT.  Bibliographie  (1.  Oktober  bis  30.  November  1892). 


INHALT  DES  2.  UND  3.  HEFTES. 

I.  Abhandlungen  und  Aufsatze:  . (C, 

Rabbeno,  Prof.  Dr.  U„  Bologna.  Ein  neues  System  der  Sozialokonomie  (Schluss). 
Grätzer,  Dr.  R,,  Berlin.  Zur  Litteratur  der  Lehre  vom  Staatskredit. 

Földes  Prof.  Dr.  B. , Budapest.  Dogmengeschichtliches  zur  Frage  über  den 
Einfluss  der  Getreidepreise  auf  die  Arbeitslöhne. 


II.  Kritiken  und  Eeferate: 

a.  Deutsche  Litteratur : 

Feilbogen,  Smith  und  Turgot  (Syndicus  Dr.  Hatschek-Magdebure) 
Neuburg,  Goslars  Bergbau  bis  1552  (Prof.  Dr.  G.  von  Below-Münster) 

Die  soziale  krage  beleuchtet  durch  die  „Stimmen  aus  Maria-Laach“ 

2.  Heft : *****"- 

3.  Heft:  l’achtler,  Die  Ziele  der  Sozialdemokratie  und  die  literalen  Ideen. 

„ , j ™ x . (Cat-1  Jentsch-Neisse.) 

Schritten  der  Zentralstelle  für  Arbeiterwoblfahrtseinrichtuneen 

Nr.  1.  Die  Verbesserung  der  Wohnungen.  ° 

Nr.  2.  Die  zweckmässige  Verwendung  der  Sonntags-  und  Feierzeit. 

T-  T7"i  ■ . (Dr.  K.  Frankenstein-Berlin.) 

liaerger,  Kleinasien.  Ein  deutsches  Kolonisationsfeld  | ,A  ^ 

Menz,  Deutsche  Arbeit  in  Kleinasien  f (A-  2. -Berlin). 

Sonnenschein,  Die  finanzielle  Sicherstellung  des  Lokalbahnbaues  in  Oester- 
reich  (Prof.  Dr.  R.  van  der  Borght-Aachen). 

Gleim,  Das  Gesetz  über  Kleinbahnen  und  Privatanschlussbahnen  (Prof  Dr 
van  der  Borght-Aachen). 

Jerusalem,  Das  Gesetz  über  Kleinbahnen  und  Privatanschlussbahnen  Prof  Dr 
van  der  Borght-Aachen). 

Gerstner,  Internationales  Uebereinkommen  über  den  Eisenbahnfrachtver- 
kehr  (Prot.  Dr.  R.  van  der  Borght-Aachen). 

E,Cw-e!;VDiS  Rcichsgesetz  vom  l.  Mai  1889  betreffend  die  Erwerbs-  und 
lrtschaftsgenossenschaften  nebst  den  dazu  erlassenen  Ausführun^sbe- 
stimmungen  (Dr.  Hans  Crüger-ßerlin). 

Schenk,  Jahresbericht  für  1891  über  die  auf  Selbsthülfe  gegründeten  deutschen 
Erwerbs-  und  Wirtschaftsgenossenschaften  (Dr.  K.  Munding-Berlin) 
Grayenhoff,  Russlands  auswärtiger  Handel  und  der  neue  Zolltarif  (A.  Z -Berlin) 
Grotefend,  Lehrbuch  dos  preuss.  Verwaltungsrechts  (Prof.  Dr.  Freiherr  von 
btengel- Wurzburg). 

taÄtl-B^Hin1!f0rtalität  ^ Hamburg  in  d,’esem  Jahrhundert  (Regierungsrat 

Hirsch,  Die  Notwendigkeit  der  Staatshilfe  bei  Massenepidemien,  speziell 
der  Cholera  (Regierungsrat  Rahts-Berlin).  1 

^S<Rahts  Berlin)aatliClien  ReaiI^sRlltiSllDg  der  Irrenanstalten  (Regierungsrat 

Becker,  Der  Volkerfriede  (Dr.  Heinrich  Triepel-Leipzig). 

MeTriep1el1Lei^dg)SChWeiZ  Und  d'e  öffentlichen  Schiedsgerichte  (Dr.  Heinrich 

Stieda,  Sozialpolitik.  Christiani,  Versicherungspfiicht  und  freier  Unterhalt 
Jager,  Geschichte  und  Litteratur  des  Normalarbeitstags.  Klössel  Made 
in  Germany  ‘.  Arndt,  Allg.  Berggesetz  für  die  preuss.  Staaten  in 'seiner 
jetzigen  Fassung  nebst  kurzgefasstem  Kommentar  und  einem  Auszug  aus 
der  Gewerbeordnung.  Meineid  und  Sozialdemokrat!  e.  CIoss,  Ein 
Zukunftsbild  der  Menschheit.  Mollat,  Quellenbuch  zur  Geschichte  der 
deutschen  Politik  im  XIX.  Jahrhundert.  Schwerin,  Statistische  Tabellen 
^;Jm  ifCaniPT?nen  18b!/92  rd  1 890/9 1 . Caro,  Die  Judenfrage  eine 

Zur  Judenfraore-  Sahin,  Zwölf  Jahre 
deutscher  Parteikampfe.  Jastrow,  Drückt  die  Militärlast?  (Dr  K Franken- 
stem-Berlin).  “““ 

b.  Englische  Litteratur: 

B°Beriin)lfe  and  Lab°Ur  of  the  PeoPle  in  London  (Landrichter  Dr.  Aschrott- 

c.  Französische  Litteratur: 

politit|“e  * de  la  S“s,i<iue  <*•  K“» 

Molard,  Puissance  militaire  des  etats  de  l’Europe  (S.  S -Berlin) 

Foinsard,  Libre-echange  et  protection  (A.  Z. -Berlin). 

Beckmann,  Les  finances  de  la  Grece  (Dr.  J.  Ichenhaeuser- Berlin) 

«.  Italienische  Luter alur: 

Supino,  II  saggio  dello  sconto  (Prof.  Dr.  U.  Rabbeno-Bologna) 

Boccardo,  Sulla  questione  bancaria  (Prof  Dr.  U.  Rabbeno-Bologna) 

Xi™  irLa  c?°Perazionf  «eile  legge  patrie  (Prof.  Dr.  U.  Rabbeno-Bologna). 

^ U Rabben^Bolina0)8^0  ^ 6gg°  drCa  le  societa  C00Perative  (Prof  Dr. 
Cossa,  I fenomeni  defia  finanza  pubblica  etc.  (Prof.  Dr.  U.  Rabbeno-Bologna). 


PuTiani,  Sul  prodotto  ricostituente  nelP  industria  dei  fabbricati  (Prof.  Dr.  U. 
Rabbeno-Bologna). 

Ferraris,  Principii  di  Scienza  bancaria  (Prof.  Dr.  G.  S.  Salvioni- Bologna). 

III.  Bibliographie  (1.  Dezember  1892  bis  15.  Februar  1893). 

IV.  Kleine  Mittheilungen: 

Die  Gebestiftung  zu  Dresden  im  Geschäftsjahr  1891/92. 

Preisausschreiben  Körösi-Budapest. 

Personalien, 

Heft  4 wird  enthalten : 

Auf  dem  Wege  zur  Gewerbefreiheit.  (Nach  unveröffentlichtem  Material 
aus  dem  Kgl.  Preufs.  Geheimen  Staatsarchiv.)  Von  Regierungs-, 
assessor  von  Rohrscheidt  in  Merseburg. 

Studien  über  die  neuesten  Forschungen  auf  dem  Gebiete  der  politischen 
Ökonomie  in  Spanien.  I.  Von  Prof.  Dr.  Salva  in  Madrid. 

Aus  der  Reihe  der  gröfseren  Beiträge,  die  in  den  nächsten  Heften 
zum  Abdruck  gelangen  werden,  seien  folgende  genannt: 

Beiträge  zur  Geschichte  des  Sozialismus  und  Kommunismus.  II.  Von  Prof. 
Dr.  H.  Dietzel  in  Bonn. 

Zur  Geschichte  und  Litteratur  des  Hansgrafenamtes.  Von  Prof.  Dr. 
Eheberg  in  Erlangen. 

Zur  Geschichte  und  Kritik  des  Erfurter  Programms.  Von  Dr.  0.  Hammann 
in  Berlin. 

Zur  Methode  der  staatswissenschaftlichen  Forschung.  Von  Prof.  Dr. 
J.  Huber  in  Stuttgart. 

Zur  Geschichte  , und  Litteratur  der  neueren  Steuerreformen.  Von  Prof. 
Dr.  J.  Lehr  in  München. 

Das  Ideal  als  methodologisches  Moment.  Von  Prof.  Dr.  Cort  van  der 
Linden  in  Amsterdam. 

Der  Unterschied  zwischen  administrativem  Recht  und  administrativer 
Wissenschaft  in  der  jüngsten  italienischen  Litteratur.  Von  Prof. 
Dr.  Orlando  in  Palermo. 

Zur  Geschichte  des  Schutzzollsystems  in  den  Ver.  Staaten  von  Nord- 
amerika.  Von  Prof.  Dr.  U.  Rabbeno  in  Bologna. 

Abgesehen  von  diesen  gröfseren  Beiträgen  werden  die  Herren  Prof. 
Dr.  Rabbeno-Bologna,  Prof.  Dr.  Ingram-Dublin,  Prof.  Dr.  Salvä-Madrid 
imd  Dr.  von  Keussler-St.  Petersburg  in  den  nächsten  Heften  periodische 
Übersichten  über  die  neuen  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  staats- 
wissenschaftlichen Litteratur  Italiens,  Englands,  Spaniens  und  Rufslands 
veröffentlichen.  Auf  die  „Bibliographie“  wird  nach  wie  vor  die  gröfste 
Sorgfalt  verwandt  werden,  um  so  namentlich  den  praktischen  Be- 
dürfnissen eines  weiten  Kreises  von  Gebildeten,  insbesondere 
von  Politikern  und  Volkswirten,  Rechnung  zu  tragen. 
Leipzig,  Anfang  Mai  1893. 

Die  Verlagsbuchhandlung: 

C.  L.  Hirsclifeld. 


Druck  v.  HirschteTiI,  Leiptlg 


No.  33. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


391 


Standpunkt  von  diesen  eingenommen  würde,  ist  die  Theil- 
nahrne  der  Arbeitnehmer  und  eventuell  behördlicher  Ver- 
treter nothwendig.  Für  besonders  krasse  Fälle  des  Lehr- 
lingsmangcls  oder  der  Lehrlingszüchterei  müsste  der 
Organisation  bezw.  ihren  Organen  ferner  die  Befugniss  zu- 
stehen,'* direkt  durch  Verordnung  die  Zahl  der  Lehrlinge 
festzustellen  und  überhaupt  würde  sie  mit  dem  Aufsichts- 
recht über  die  Lehrlingsausbildung  im  Allgemeinen  betraut 
werden  müssen.  Andere  wichtige  Aufgaben  der  Organisa- 
tionen würden  die  Veranstaltung  freiwilliger  Lehrlings- 
prüfungon und  von  Ausstellungen  der  Lehrlingsarbeiten, 
sowie  die  Errichtung  und  Unterhaltung  gemeinsamer  Lehr- 
werkstätten und  Fachschulen  bilden.  Die  Kosten  dieser 
letzteren  Einrichtungen  würden  sich  für  den  einzelnen  auf 
diese  Weise  sehr  verringern. 

Ein  dem  Handwerk  eigenthtimliches  Hinderniss  guter 
gewerblicher  Ausbildung  besteht  in  dem  geringen  eigenen 
Können  vieler  Handwerksmeister.  Es  ist  zu  hoffen,  dass, 
je  mehr  und  mehr  sich  in  Folge  der  sonstigen  Massregeln 
die  gewerbliche  Ausbildung  hebt,  auch  dieses  Hinderniss 
verschwindet.  Die  Einführung  des  Befähigungsnachweises 
für  diejenigen,  die  Lehrlinge  halten,  ist  aus  denselben 
Gründen  abzulehnen,  die  gegen  den  Befähigungsnachweis 
überhaupt  sprechen.  Dagegen  würde  das  Verbot,  den 
Meistertitel  zu  führen,  wenn  man  nicht  vorher  eine  bestimmte 
fachliche  Prüfung  in  dem  betreffenden  Gewerbe  bestanden 
hat,  viele  bewegen  sich  eine  bessere  technische  Bildung  an- 
zueignen, ohne  dass  im  übrigen  beträchtliche  Schädigungen 
zu  fürchten  wären. 

Die  Industrie  speziell  fühlt  sich  in  der  Einstellung  von 
jungen  Leuten  und  damit  natürlich  auch  von  Lehrlingen 
mehrfach  beschränkt  durch  die  Vorschriften  über  die  ihnen 
zu  gewährenden  halbstündigen  Frühstücks-  und  Vesper- 
pausen. Es  lässt  sich  ja  begreifen,  dass  der  Betrieb  dadurch 
häufig  gestört  wird.  Der  Bremer  Fabrikinspektor  sagt 
hierzu  in  seinem  Bericht  für  1890:  „Mir  erscheint  diese  seit 
mehreren  Jahren  gemachte  Wahrnehmung  von  solcher  Be- 
deutung, dass  zu  überlegen  sein  möchte,  ob  nicht  in  Fällen, 
wo  es  sich  um  die  mehrjährige  Ausbildung  von  jugendlichen 
Leuten  in  Werkstätten  handelt,  eine  Frühstücks-  und  Vesper- 
pause von  */4  Stunde  genügt,  wenn  die  Mittagspause 
1 1/2  Stunden  und  im  Uebrigen  die  Arbeitszeit  nicht  mehr 
als  10  Stunden  beträgt.“  Wir  stellen  natürlich  die  Sorge 
für  die  Gesundheit  in  die  erste  Linie  und  wollen  hier  auf 
die  Frage  nach  der  nothwendigen  Länge  der  Pausen  nicht 
eingehen.  Aber  immerhin  verdient  der  Gedanke,  hier  ein 
weiteres  Mittel  zu  haben,  die  Arbeitgeber  zu  vermehrter 
Einstellung  wirklicher  Lehrlinge  zu  bewegen,  ernste  Be- 
achtung. 

Wir  haben  bisher  fast  ausschliesslich  von  den  Mitteln, 
die  praktische  Fachbildung  zu  verbessern,  gesprochen.  Die 
Mittel,  die  ja  ebenfalls  sehr  wichtige  und  sehr  verbesserungs- 
bedürftige theoretische  Fachbildung  zu  heben,  sind  bald 
genannt.  Zunächst  müssen  Staat  und  Gemeinde  mehr  für 
die  Zwecke  von  Fach-  und  gewerblichen  Fortbildungs- 
schulen thun,  als  bisher.  Was  Preussen  anlangt,  so  be- 
zeichnet schon  die  amtliche  Denkschrift  vom  Jahre  1891  über 
die  Entwickelung  der  gewerblichen  Fachschulen  und  der 
Fortbildungsschulen  eine  Erhöhung  des  Etats  der  letzteren 
— die  ja  doch  auch  direkt  oder  indirekt  der  gewerblichen 
Ausbildung  dienen  sollen  — um  160000  M.  vom  1.  April 
1892  ab  als  dringend  nöthig.  Aber  weder  der  Etat  für 
1892/93,  noch  der  neu  vorgelegte  für  1893/94  enthält  die 
Erfüllung  auch  nur  dieser  bescheidenen  Forderung.  Im 
Gegentheil  mussten  neuerdings  nach  Aufzehrung  der  von 
früher  her  vorhandenen  Bestände  die  staatlichen  Zu- 
schüsse an  die  Fortbildungsschulen  gekürzt  worden.  Auch 
der  privaten  Opferfreudigkeit  eröffnet  sich  hier  ein  weites 
Feld,  — ein  Feld,  auf  dem  man  dauernden  Nutzen  schafft, 
statt  wie  auf  dem  der  eigentlichen  Wohlthätigkeit  Sysiphus- 


arbeit  zu  verrichten.  Endlich  aber  muss  verlangt  werden,  dass 
mehr  als  bisher  die  nächsten  Interessenten  einer  guten  ge- 
werblichen Ausbildung,  die  Arbeiter  und  die  Arbeitgeber 
selbst,  mit  Rechten  und  Pflichten  auch  zu  dem  mehr  theore- 
tischen Theil  der  Ausbildung  herangezogen  werden. 

Wenn  man  diesen  zahlreichen  Reformen  näher  tritt, 
dürfte  sich  bald  das  Bedürfniss  nach  einer  Centralstelle  für 
das  gewerbliche  Ausbildungswesen  des  ganzen  Reiches,  die 
Spezialuntersuchungen  veranstaltet,  die  gemachten  Er- 
fahrungen sammelt,  Rath  und  Anleitung  ertheilt,  geltend 
machen.  Von  ihr  aus  würde  dann  auch  ein  Centralblatt  für 
die  gewerbliche  Ausbildung  Anregung  und  Belehrung  über- 
allhin tragen  können,  ähnlich  dem  Centralblatt  fin  das  ge- 
werbliche Unterrichtswesen  in  Oesterreich,  das  dort  im 
Aufträge  des  Unterrichtsministeriums  herausgegeben  wird. 
Es  genügt,  darauf  hinzuweisen,  dass  z.  B.  ein  Sachkenner 
wie  Eisenbahndirektor  Garbe  in  seinem  vortrefflichen  Buch 
„Der  zeitgemässe  Ausbau  des  gesammten  Lehrlingswesens 
(Berlin,  Dierig  & Siemens,  1888)  dieselbe  Forderung  stellt. 

Manchem  wird  es  angesichts  des  eben  entwickelten 
Reformprogramms  etwas  bange  werden,  und  er  wird  es  für 
genug  erklären,  wenn  dieses  oder  jenes  einzelne  geschieht. 
Diesen  Zauderern  möchten  wir  Vorhalten,  dass  wn  Deutsche 
es  in  unserm  schweren  industriellen  Wettkampfe  nicht  blos 
mit  der  alten  Welt,  sondern  auch  mit  Noidamenka  zu  thun 
haben.  Die  Nordamerikaner  übertreffen  uns  in  mehr  als 
einer  Beziehung,  in  der  wir  es  ihnen  kaum  gleichthun 
werden:  in  der  Grossartigkeit  der  Kapitalanlage,  der  Vor- 
züglichkeit der  technisch  - maschinellen  Einrichtung,  dem 
rücksichtslosen  Unternehmungsgeist.  Um  so  entschiedener 
sollten  wir  die  gewerbliche  Fachbildung  pflegen  als  ein  Ge- 
biet, auf  dem  wir  die  Stärkeren  sein  können. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 


Zur  Frage  der  Gewinnbetheiligung.  Die  französische 
Kammer  wird  sich,  vorausgesetzt,  dass  sie  nicht,  wie  jetzt 
vielfach  ventilirt  wird,  zu  einem  vorzeitigen  Abschluss  ge- 
langt, noch  in  dieser  Session  mit  der  Gewinnbetheiligung 
zu  beschäftigen  haben.  Die  Kommission,  die  sich  mit  einem 
bezüglichen  vom  Abgeordneten  Guillemet  eingebrachten 
Gesetzesantrag  zu  befassen  hatte,  hat  nämlich  soeben  ihre 
Arbeit  beendigt  und  ist  dabei  zu  dem  Schlüsse  gelangt: 
Der  Staat  solle  in  allen  seinen  gewerblichen  Anlagen,  wo 
dies  möglich,  die  Gew’innbetheiligung  einführen  und  sich 
auch  das  Recht  Vorbehalten,  in  allen  Pflichtenheften  der 
Bergwerks-  und  Eisenbahnkonzessionaire  die  Gewinnbetheili- 
gung von  einer  bestimmten  Höhe  des  Reingewinns  ab 
obligatorisch  zu  machen.  Zum  Referenten  wurde  Ab- 
geordneter Guillemet  ernannt. 

Anti  - Pinkerton  - Gesetze.  Bekannt  ist  die  Rolle, 
welche  die  Pinkerton  - Leute  bei  den  Homestead  - Unruhen 
spielten.  Der  Kongress  der  Vereinigten  Staaten  hatte  in 
Folge  der  Angriffe,  die  von  allen  Seiten,  nicht  nur  von 
Seiten  der  Arbeiter,  gegen  die  Verwendung  von  Pinkerton- 
Leuten  bei  ähnlichen  Anlässen  gerichtet  wurden,  eine  Kom- 
mission eingesetzt  zur  Beurtheilung  dieser  Frage.  Sieben 
Berichte  sind  ausser  einem  gemeinsamen  Bericht  aus  dieser 
Kommission  hervorgegangen  und  es  ist  für  amerikanische 
Rechtsverhältnisse  charakteristisch,  dass  alle  mit  einer  Aus- 
nahme das  Recht  der  Fabrikanten  statuiren,  Pinkerton- 
Leute  in  ihren  Dienst  zu  nehmen  und  durch  diese  im 
Nothfalle  Brandstifter  und  andere  Zerstörer  des  Eigenthums 
niederschiessen  zu  lassen. 

Anders  dagegen  stellen  sie  sich  zur  Frage  der  Zweck- 
mässigkeit dieser  Selbsthülfe,  und  es  ist  wohl  kaum  mög- 
lich, angesichts  der  schlimmen  Erfahrungen,  die  man  mit 
diesen  Privat- Polizisten  gemacht  hat,  sich  nicht  für  die 
Verwerfung  derselben  zu  entscheiden.  Gerade  weil  die 
Rechtmässigkeit  der  Verwendung  derselben  bestritten 


392 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  33. 


wurde,  war  mancher  Arbeiter,  welcher  der  anerkannten 
Staatsgewalt  keinen  Widerstand  entgegengesetzt  hätte,  zum 
Widerstand  gegen  die  Pinkerton-Leute  von  vornherein  ge- 
neigt. Dazu  kam  der  nicht  unbegründete  tiefe  Hass,  den 
sie  bei  verschiedenen  Gelegenheiten  auf  sich  geladen  hatten. 
Diese  gedungenen  Schutzleute  erschienen  als  eine  Ver- 
körperung der  Kapitalmacht  in  ihrer  rohesten  Form  und 
waren  daher  keineswegs  geeignet  der  Aufrechterhaltung 
des  Friedens  zu  dienen.  Ihr  blosses  Auftreten  erregte  Un- 
willen. 

Die  Kommission  ist  nun  zu  dem  Schluss  gekommen, 
dass  der  Kongress  zur  Beseitigung  dieser  Uebelstände 
nichts  thun  kann,  da  die  Ordnung  der  Polizei  nicht  zu 
seinen  Kompetenzen  gehöre.  Solange  die  Einzelstaaten 
nicht  die  Verwendung  von  Pinkerton-Leuten  verbieten, 
habe  Jeder  das  Recht  sein  Eigenthum  durch  dieselben 
schützen  zu  lassen.  Da  jedoch  die  öffentliche  Meinung  sich 
vielfach  gegen  dieses  Recht  ausgesprochen,  sei  es  noth- 
wendig,  dass  die  Gesetzgebung  der  Einzelstaaten  sich  die- 
sem Gegenstände  zuwende. 

Dieser  Anregung  entsprechend  haben  nun  eine  Reihe 
von  Staaten  Gesetze  erlassen,  die  bis  jetzt  alle  gegen  die 
Verwendung  privater  Polizei  gerichtet  waren.  Eines  dieser 
Gesetze,  am  31.  März  in  Wisconsin  angenommen,  lautet 
in  seiner  altväterlichen  Sprache  etwa  folgendermassen: 

„Die  Verwendung  oder  der  Gebrauch  von  Trupps  von 
Bewaffneten  als  Miliz  oder  Schutzleute,  welche  nicht  ge- 
setzlich autorisirt  oder  ermächtigt  sind  in  solcher  Eigen- 
schaft zu  dienen  unter  den  Gesetzen  dieses  Staates,  ist 
hiermit  verboten  und  als  gesetzwidrig  erklärt,  und  keine 
Person,  Firma,  Gesellschaft  oder  Korporation  soll  ferner 
solche  Trupps  von  Leuten  in  vorbemeldeter  Eigenschaft 
gebrauchen  oder  verwenden  zum  Schutze  von  Personen 
oder  Eigenthum  oder  zur  Unterdrückung  von  Strikes  in 
diesem  Staate,  einerlei  ob  solche  bewaffnete  Mannschaft 
Angestellte  von  (sogenannten)  Detektiv-Agenturen  oder  von 
irgend  wem  sonst  sind.  Jede  Person,  welche  als  Beamter 
oder  Agent  irgend  einer  Firma,  Gesellschaft  oder  Korpo- 
ration hilft  oder  beisteht  bei  der  Verwendung  von  solchen 
bewaffneten  Leuten,  soll  angesehen  werden  als  habe  sie 
dieselben  selbst  verwendet  im  Sinne  dieses  Gesetzes.  Jede 
Person,  welche  schuldig  befunden  wird,  die  Vorschriften 
dieses  Gesetzes  verletzt  zu  haben,  soll  als  des  Land- 
friedensbruches schuldig  erachtet  werden  und  soll  bestraft 
werden  mit  einer  Geldstrafe  die  1000  Pfd.  Sterl.  nicht  über- 
schreitet oder  mit  Einkerkerung  in  das  Staats-Gefängniss 
nicht  mehr  als  3 Jahre,  noch  weniger  als  1 Jahr  oder  mit 
Geldstrafe  und  Einkerkerung  gleichzeitig.“ 


Arbeiterzustände. 

Lohnverhältnisse  in  der  Industrie  der  Feinmechanik  der 
Stadt  Berlin  im  Jahre  1891. 

In  der  Nummer  1 7 dieser  Zeitschrift  vom  23.  Januar  waren 
die  Resultate  der  ersten,  aus  berufsgenossenschaftlichem 
Material  abgeleiteten  Lohnstatistik  mitgetheilt  worden.  Die- 
selben behandelten  die  chemische  Industrie  von  Berlin,  für 
welche  das  Statistische  Amt  der  Stadt  von  der  betreffenden 
Berufsgenossenschaft  die  nöthigen  Zählkarten  erhalten  hatte. 

Nunmehr  ist  (mit  No.  16  des  Gemeinde-Blattes)  eine 
weitere  Publikation  über  die  Industrie  für  Feinmechanik  er- 
schienen. Auch  hier  wurde  das  Material  in  der  Weise  be- 
schafft, dass  der  Berufsgenossenschaft  Zählkarten  übergeben 
wurden,  welche  dieselbe  mit  Bereitwilligkeit  ausfüllte.  Die 
Zählkarten  bezogen  sich  auf  den  einzelnen  im  Kataster  auf- 
geführten Arbeiter;  sie  enthielten: 

1.  Name  des  Arbeiters,  ob  männlich  oder  weiblich, 

2.  genaue  Bezeichnung  des  Betriebes, 

3.  ob  jugendlicher  Arbeiter,  Lehrling  u.  s.  w., 

4.  Alter, 

5.  Zahl  der  Arbeitstage, 

6.  gesammter  Jahres-Arbeitsverdienst  (einschl.  der  ab- 
geschätzten Naturalleistungen). 

Die  Berechnung  des  durchschnittlichen  Tagesverdienstes 
in  dem  betreffenden  Betriebe  (Division  der  Zahl  der  Tage 


in  die  Summe  des  im  Betriebe  verdienten  Lohnes)  wurde 
im  Statistischen  Amt  vor  Beginn  der  Auszählungen  ausge- 
führt. Wenn  der  Tagesverdienst  im  Folgenden  auch  Tage- 
lohn genannt  wird,  so  geschieht  dies  nur  der  Kürze  wegen ; 
in  Wirklichkeit  beruht  er  oft  nicht  auf  festem  Lohn,  sondern 
auf  Akkordarbeit. 

Die  Zählkarte  der  Feinmechanik  hatte  der  früheren,  bei 
der  chemischen  Industrie  angewandten  gegenüber  den  be- 
deutenden Vorzug,  das  Alter  zu  enthalten.  Dagegen  war 
das  wiederholte  Aufgeben  und  Annehmen  von  Arbeit  in 
demselben  Betriebe,  welches  bei  der  chemischen  Industrie 
eruirt  werden  konnte,  hier  nicht  zu  erhalten,  weswegen 
eine  entsprechende  Frage  auf  der  Zählkarte  unterblieb. 
Diese  Karten  müssen  eben  vorerst  noch  nach  der  Art  des 
bei  den  einzelnen  Berufsgenossenschaften  vorhandenen 
Materials  eingerichtet  werden. *)  Die  diesen  Erhebungen 
noch  anhaftenden  Mängel  bestehen  vorzugsweise  darin,  ■ 
dass  man  den  Verdienst  und  die  Beschäftigungszeit  nur  für 
ein  und  denselben  Betrieb  erfassen  kann.  Daher  wäre  es 
auch  nicht  richtig,  den  Jahresarbeitsverdienst  im  Betriebe 
überhaupt  als  Gesammtverdienst  des  Arbeiters  aufzufassen; 
und  es  empfiehlt  sich  die  Betrachtung  nach  Tagelohn- 
klassen beziehungsweise  die  gesonderte  Betrachtung  der 
das  Jahr  hindurch  in  ein  und  derselben  Fabrik  beschäf- 
tigt gewesenen  Personen. 

Die  Gesammtzahl  der  Karten,  welche  zur  Verfügung 
standen  — bei  der  chemischen  Industrie  1 1 844  — betrug 
bei  der  Feinmechanik  17  806,  worunter  2437  über  weibliche 
Arbeiter.  Die  Auszählungen  erfolgten  unter  besonderer 
Ausscheidung  a)  der  Metallschrauben-Fabriken,  b)  der  Näh- 
maschinen- und  Stickmaschinen  - Fabriken,  c)  der  Tele- 
graphen- und  Telephonbau  - Anstalten  und  zerlegten  die 
Karten  zunächst  nach  Tagelohnklassen  (bis  50  Pfennige,  . 
über  50 — 75,  über  75 — 100,  über  100 — 125  u.  s.  w.)  und  jede 
Tagelohnklasse  in  einer  Tabelle  nach  der  Beschäftigungs- 
dauer (1,  2,  3,  4,  5,  6 Tage,  7—12,  13—25,  26—50,  51—75 
u.  s.  w.),  in  einer  weiteren  nach  dem  Alter  (unter  14  Jahre,  ' 
14 — 16,  17 — 20,  21—25,  26 — 30  u.  s.  w.).  Leider  fehlte  bei  , 
421  Arbeitern  die  Angabe  des  Lohnes  und  bei  607  Arbeitern  < 
und  41  Arbeiterinnen  die  des  Alters.  Lässt  man  die  Arbeiter  ! 
ohne  nähere  Angabe  unberücksichtigt,  so  ergiebt  sich  bei 
gleichzeitigem  Vergleich  mit  der  chemischen  Industrie  das 
Folgende: 

Von  1000  männlichen  Arbeitern  gehörten  zur  neben- 
stehenden Tagelohnklasse: 


Tagelohn 

Chemische  In- 
dustrie 

Feinmechanik 

bis 

1,50 

49,41 

68,51 

über  1,50 

bis  1,75 

20,7 

19,6 

1,75 

„ 2,00 

24,6 

19,0 

2.00 

„ 2,25 

33,2 

433,4 

18.8 

248,6 

2,25 

„ 2,50 

54,2 

33,5 

2.50 

„ 2,75 

97,4 

33,9 

2,75 

„ 3,00 

1 53,9 

55,3 

3,00 

„ 3,25 

147,61 

64,6 

V 

3,25 

3,50 

„ 3,50 

„ 3,75 

125,0 

82,7 

■ 417,1 

90.0 

94.1 

337,5 

3,75 

„ 4,00 

61 ,8 

88,8 

4,00 

„ 4,25 

40,21 

76,3 

4,25 

„ 4.50 

23,5 

64,6 

4,50 

„ 4,75 

17.2 

54,5 

4,75 

„ 5,00 

18,2 

50,0 

5,00 

„ 5,25 

9,4 

149,5 

42,3 

413,9 

5.25 

„ 5,50 

8,0 

32,8 

5.50 

„ 5,75 

5,1 

24,2 

5,75 

„ 6,00  . 

7,0 

19,0 

V 

6,00 

20,9 

50,2  j 

Zusammen  . . . 

1000,0 

1000,0 

Diese  kleine  Tabelle  gewährt  einen  Einblick  in  die  Ver 


a H n li  pm  f rl^r  T n1invprhälfnic:QP 


/in  om^olnDn  In. 


dustriezweigen.  Zeigte  sich  bei  der  chemischen  Industrie, 


0 Dies  übersieht  Böhmert,  wenn  er  (in  der  Zeitschrift  des 
Königl.  Sachs.  Statistischen  Bureaus  XXXVIII,  S.  8)  in  der  von 
dem  Unterzeichneten  auf  der  Konferenz  der  Städtestatistiker  in 
Köln  vorgelegten  Zählkarte  verschiedene  Fragen  vermisst. 


No.  33. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAI  BLATT. 


393 


dass  43  pCt.  aller  Arbeiter  nur  einen  Tagelohn  bis  zu  3 M. 
vereinnahmten,  so  beträgt  bei  der  Feinmechanik  dieser 
Prozentsatz  nur  25;  war  dort  in  den  Klassen  von  3 bis  4 M. 
ein  Prozentsatz  von  42  zu  finden,  so  war  derselbe  hier  34, 
soclass  in  der  chemischen  Industrie  15,  in  der  der  Fein- 
mechanik 41  pCt.  aller  Arbeiter  einen  Tagelohn  von  über 
2 M.,  5 bezw.  1 7 einen  solchen  von  über  5 M.  und  2 bezw.  5 
einen  solchen  von  über  6 M.  aufwiesen. 

Die  -.Gründe  einer  solchen  Erscheinung  werden  zum 
Theil  in  dem  Umstande  zu  suchen  sein,  dass  in  chemischen 
Fabriken  die  Zahl  der  ungelernten  Arbeiter  weit  grösser 
sein  wird,  als  in  den  Werkstätten  der  Feinmechanik,  in 
welchen  in  der  Regel  sogar  eine  spezielle  technische  Fähig- 
keit verlangt  wird.  So  werden  z.  B.  nach  der  vorliegenden 
Statistik  in  den  Näh-  und  Stickmaschinen-Fabriken  51  pCt. 
der  Arbeiter  mit  über  4 M.  per  Tag  gelohnt,  in  den  Metall- 
schrauben-Fabriken  nur  41  pCt. 

Andere  Gründe  höheren  Lohns  können  u.  a.  noch  in 
der  Beschäftigungsdauer  und  dem  Alter  begründet  sein. 

Die  Beschäftigungsdauer  betrug  nur  bei  19  pCt.  aller 
Arbeiter  ein  volles  Arbeitsjahr  d.  h.  300  Tage  und  mehr, 
während  in  der  chemischen  Industrie  ein  Prozentsatz  von 
38  nachgewiesen  wurde.  Indessen  ist  in  der  Industrie  der 
Feinmechanik  gerade  die  Klasse  der  Beschäftigungsdauer 
von  276 — 300  Tagen  sehr  besetzt  (mit  21  pCt.);  rechnet  man 
bereits  276  Tage  als  Arbeitsjahr,  so  sind  in  der  Fein- 
mechanik 33,  in  der  chemischen  Industrie  44  pCt.  aller  Ar- 
beiter das  Jahr  hindurch  beschäftigt  gewesen.  Andererseits 
sind  bereits  nach  Ablauf  einer  Arbeitswoche  (von  6 Tagen) 
in  der  Feinmechanik  3.7,  in  der  chemischen  Industrie  4,8  pCt. 
nach  Ablauf  der  nächsten  Woche  (von  12  Tagen)  7 bezw.  7,5 
wieder  ausgeschieden.  Bei  den  nur  mit  bis  4 M.  per  Tag 
gelohnten  Arbeitern  war  der  Abgang  in  den  ersten  beiden 
Arbeitswochen  erklärlicher  Weise  grösser,  er  betrug  in  der 
Industrie  der  Feinmechanik  10,6,  in  den  chemischen  Fabriken 
9,5  pCt.,  und  noch  grösser  bei  den  mit  bis  3 M.  gelohnten, 
nämlich  13,8  bezw.  14,5  u.  s.  w.  Beschäftigungsdauer  und 
Lohn  stehen  in  Wechselwirkung  zu  einander:  bei  höheren 
Löhnen  wird  die  Beschäftigungsdauer  eine  längere  sein 
und  bei  längerer  Beschäftigungsdauer  der  Lohn  ein  höherer. 

Es  fragt  sich  nun,  wie  sich  die  Löhne  der  verschiedenen 
Altersklassen  stellen.  Im  Alter  von  14  bis  16  standen  1078,  über 
7 pCt.  Hier  geht  der  Tagesarbeits-Verdienst  bis  zu  3,75  M. 
pro  Tag,  aber  nur  in  einzelnen  Fällen.  Im  Ganzen  ist  das 
Maximum  2.50  M.,  bei  pCt.  dieser  Altersklasse;  etwa 
42 J/ 2 pCt.  verdiente  täglich  bis  zu  I M. 

Mit  der  folgenden  Altersklasse,  17 — 20  Jahre,  beginnt  die 
Zahl  der  erwachsenen  Arbeiter,  wobei  zu  bemerken  ist,  dass 
im  Ganzen  das  Jahrfünft  21 — 25  (mit  3665)  am  stärksten  be- 
setzt erscheint,  und  die  Jahre  17 — 21  und  26 — 30  nahezu 
gleich  stehen  (2670,  2641).  Im  Alter  von  61 — 70  wurden 
noch  82,  im  Alter  von  über  70  nur  9 Arbeiter  gezählt.  Von 
je  100  Arbeitern  der  nachstehend  aufgeführten  Altersklassen 
bezogen  den  oben  stehenden  Verdienst: 


Alter 

Tagesarbeits-Verdienst 

bis  3 M. 

bis  4 M. 

bis  5 M. 

bis  6 M. 

über  6 M. 

17  bis  20  . . 

55 

88 

98 

100 

0 

21  „25  . . 

17 

62 

88 

98 

2 

26  „30  . . 

11 

47 

79 

94 

6 

31  „35  . . 

7 

39 

72 

91 

9 

36  „40  . . 

6 

34 

68 

88 

12 

41  „45  . . 

8 

35 

68 

88 

12 

46  „50  . . 

7 

37 

68 

88 

12 

51  „60  . . 

15 

46 

71 

88 

12 

über  60  . . 

25 

59 

82 

92 

8 

Ueberhaupt  . 

25 

59 

84 

95 

5 

Man  sieht  hier  deutlich,  dass  der  Tagesverdienst  mit 
höherem  Alter  auch  ein  höherer  ist,  dass  dies  aber  nur 
etwa  bis  zum  50.  Lebensjahre  geht,  bereits  mit  höherem 
Alter,  namentlich  aber  seit  dem  60.  Jahre  sind  die  Antheile 
der  niedrig  gelohnten  wieder  höher. 


Zu  den  Arbeiterinnen  übergehend  findet  man 
folgende  Vertheilung  auf  die  einzelnen  Lohnklassen: 


Ta 

gelo  h n : M. 

Chemische  In- 
dustrie 

Feinmechanik 

bis 

0,75  . 

0,4  \ 

c:  ^ 

0,2) 

i n 

über  0,75  bis  1,00 

5,2  J 

0,0 

0,8 

1,0 

V 

1,00 

1,25 

, h25 

,1,50 

15,5) 

26,1 

■ 41,6 

3,0  I 20  8 

17,8  / 

V 

1,50 

1,75 

, 1,75 

, 2,00 

27,4) 
12,4  j 

■ 39,8 

31,7 

14,6 

• 46,3 

V 

2,00 

2,25 

, 2,25 

, 2,50 

6,2) 

3,1 

• 9,3 

10,31 

9,2 

■ 19,5 

2,50 

, 2,75 

2,5) 

2 9 

5,31 

7 5 

2,75 

, 3,00 

0,4 

2,2 

1 ’ 

3,00 

, 3,25 

0,1 

2,7 

3,25 

, 3,50 

0,2 

1,2 

3,50 

, 3,75 

0,1 

\ 0,8 

0,4 

4,9 

3,75 

, 4,00 

0,1 

0,4 

)) 

4,00 

0,3 

0,2 

Zusammen  . . . 

100,0 

100,0 

Auch 

hier  zeigt  sich  ein 

höherer 

Arbeitsverdienst  bei 

der 

Industrie  der  Leinmechanik  gegenüber  der  chemischen 

Industrie,  indem  dort  32  pCt.,  hier  nur  13pCt.  über  2 M. 
per  Tag  verdienten,  und  dort  22,  hier  47  sich  mit  höchstens 
1,50  M.  begnügen  mussten. 

Was  die  Beschäftigungsdauer  der  Arbeiterinnen  an- 
belangt, so  war  in  der  chemischen  Industrie  nur  der  fünfte 
Theil,  in  der  Industrie  der  Feinmechanik  nur  etwa  der 
vierzigste  300  Tage  und  länger  in  demselben  Betriebe  be- 
schäftigt gewesen;  276  Tage  und  länger  dort  30,  hier  nur 
13  pCt. 

Dem  Alter  nach  vertheilten  sich  die  2437  Arbeiterinnen 
folgendermassen : bis  16  Jahre  161,  17 — 20:  994.  21—25:  829, 
26—30:  282,  31—40:  108,  41—50:  21,  über  50:  1,  ohne  An- 
gabe 41,  zusammen  2437. 

Dabei  verdienten  über  2 M.  pro  Tag  von  der  Alters- 
klasse bis  16  Jahre:  6 pCt.,  17 — 20:  27,  21 — 25:  41,  26 — 30: 
38,  31 — 40:  44,  über  40  Jahre  36  pCt. 

Es  scheint  sonach  der  Antheil  der  besser  gelohnten 
Arbeiterinnen  in  den  mittleren  Altersklassen  ein  grösserer 
zu  sein,  dagegen  bei  den  höheren  Klassen  wieder  abzu- 
nehmen. Indessen  sind  hier  für  weitergehende  Schlüsse 
die  Zahlen  noch  zu  klein. 

Im  Ganzen  dürfte  wohl  auch  dieser  Beitrag  den  Nach- 
weis liefern,  dass  das  Material  der  Berufsgenossenschaften 
selbst  bei  höheren  Ansprüchen  gegenüber  statistisch  ver- 
werthbar  ist. 

Berlin.  E.  Hirschberg. 

Die  Arbeitsordnung  der  Mainzer  Möbelindustrie  vor 
dem  Ausschuss  des  Gewerbegerichts.  Der  Mainzer 
Möbelfabrikanten-  und  Meister -Verband  hatte  für  seine 
sämmtlichen  Betriebe  gleichlautende  Arbeitsordnungen  ein- 
geführt, welche  am  2.  Mai  1892  in  Kraft  traten.  Einzelne 
Bestimmungen  derselben,  besonders  aber  die  §§  12  und  13 
gaben  in  der  Praxis  Veranlassung  zu  Beschwerden  seitens 
der  Arbeiter  und  hatte  sich  in  zwei  Fällen  das  Gewerbe- 
gericht mit  aus  den  Auslegungen  dieser  Paragraphen  resul- 
tirenden  Klagesachen  zu  beschäftigen,  welche  zur  Ver- 
urtheilung  der  klagenden  Arbeiter  führten.  Die  betreffen- 
den Paragraphen  lauten:  „§  12.  Eine  übernommene  Akkord- 
arbeit kann  dem  betreffenden  Arbeit  entzogen  werden,  wenn 
eine  als  mangelhaft  erkannte  Arbeit  nicht  sofort  verbessert 
wird,  oder  wenn  der  Arbeiter  sich  ungewöhnlich  lange  an 
einer  Arbeit  aufhält;  ebenso  nachdem  er  länger  als  zwei 
Tage  gefehlt  hat.  § 13.  Wird  einem  Arbeiter  aus  einem 
der  besagten  Gründe  die  übernommene  Akkordarbeit  ent- 
zogen, so  erhält  derselbe  den  für  das  betreffende  ganze 
Stück  vereinbarten  Akkordlohn  nach  Abzug  der  Kosten, 
welche  durch  Vollendung  der  Arbeit  durch  einen  Anderen 
entstanden  sind.“  Die  interessirten  Arbeiter,  welche  weitere 
Nachtheile  von  diesen  Paragraphen  befürchteten,  wandten 
sich  an  die  Arbeitnehmer-Beisitzer  des  Gewerbegerichts, 
dieselben  auffordernd,  geeignete  Schritte  zur  Beseitigung 
oder  Umarbeitung  der  Anstoss  erregenden  Paragraphen  zu 


394 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  33. 


thun.  Letztere  wandten  sich  darauf,  unter  Klarlegung  der 
Verhältnisse  an  den  Grossherzoglich  Hessischen  Fabrik- 
inspektor der  Provinz  Rheinhessen,  welcher  in  einer  Zu- 
schrift erklärte,  hier  nichts  thun  zu  können,  weil  die  be- 
treffenden Paragraphen  nicht  gegen  die  Gewerbeordnung 
verstossen  und  überdies  die  Sanktion  der  Vorgesetzten 
Behörden  gefunden  hätten.  Nun  wurde  der  Vorsitzende 
des  Gewerbegerichts  auf  Grund  des  § 70  des  Gesetzes  be- 
treffend Gewerbegerichte  ersucht,  einen  Ausschuss  zur 
Prüfung  des  Streitobjekts  zu  bilden,  was  auch  geschah.  In 
zwei  Sitzungen  berieth  der  aus  je  zwei  Arbeitgeber-  und 
Arbeitnehmer-Beisitzern  (bis  auf  einen  ArbeitgeberAngehörige 
der  Möbelbranche)  zusammengesetzte  Ausschuss.  Die  beiden 
Arbeitnehmer  wiesen  nach,  zu  welchen  Unzuträglichkeiten 
die  beiden  Paragraphen  führen  könnten,  indem  in  den 
meisten  Fällen  der  Werkführer  derjenige  sei,  der  bestimme, 
ob  ein  Arbeiter  zu  lange  an  der  ihm  zugewiesenen  Arbeit 
zubringe  oder  dieselbe  mangelhaft  herstelle.  Wie  leicht 
könnte  es  sich  ereignen,  dass  ein  Arbeiter  sich  bei  seinem 
Vorgesetzten  Werkmeister  missliebig  mache  und  dieser  dann 
darnach  strebe,  den  ihm  unbequemen  Arbeiter  zu  entfernen, 
wozu  die  §§  12  und  13  genügende  Handhabe  böten.  In 
solchem  Falle  wird  dann  dem  betreffenden  Arbeiter  die 
ihm  zugewiesene  Arbeit  entzogen  und  habe  er  dann  noch 
für  die  Kosten  aufzukommen,  welche  durch  die  Fertig- 
stellung von  einem  anderen  Arbeiter  entstehen.  Wie  nun, 
wenn  der  nunmehr  zur  Fertigstellung  kommandirte  Arbeiter 
recht  langsam  arbeite,  dann  muss  der  erstere  die  ganze  auf- 
gewandte Zeit  seinem  Nachfolger  im  Stundenlohn  bezahlen. 
Der  unbequeme  Arbeiter  hat  ausserdem  sofort  die  Fabrik 
zu  verlassen,  ist  arbeitslos  und  erhält  weder  den  als  Kaution 
zurückbehaltenen  Wochenlohn,  noch  seinen  Restbetrag  von 
der  bereits  im  Akkord  hergestellten  Arbeit,  von  der  er 
seither  nur  eine  wöchentliche  Abschlagszahlung  erhielt.  Ist 
die  fragliche  Arbeit  vollendet,  dann  erst  werde  abgerechnet 
und  ihm  der  allenfalls  verbleibende  Restbetrag  ausbezahlt, 
wobei  oft  Wochen  verstreichen  könnten  bis  die  schwebende 
Angelegenheit  ihre  Erledigung  fände.  Diese  und  ähnliche 
Fälle  wurden  zur  Begründung  des  Antrags  auf  Beseitigung 
oder  Umänderung  der  betreffenden  Paragraphen  vorgebracht 
und  betont,  dass  der  § 123  der  Gewerbe-Ordnung  genug 
Handhabe  böte,  sich  vor  Benachtheiligung  durch  die  Ar- 
beiter zu  schützen.  Die  Arbeitgeber  führten  dem  gegen- 
über aus,  dass  sie  gar  keine  Veranlassung  hätten,  an  der 
Fassung  der  fraglichen  Arbeitsordnung  irgend  etwas  zu 
ändern.  Die  Arbeitsordnung  sei  der  in  der  Möbelindustrie 
Württembergs,  Badens  etc.  geltenden  entlehnt,  nur  habe 
man  noch  einige  Härten  dieser  Original-Arbeitsordnung  ge- 
mildert oder  ganz  weggelassen.  Weiter  wurden  die  von 
dem  Arbeitnehmer-Beisitzer  angeführten  Unzuträglichkeiten 
bestritten  und  betont,  dass  die  heutige  Produktionsweise 
und  Konkurrenzverhältnisse  prompte  Erledigung  über- 
nommener Verpflichtungen  nothwendig  mache  und  hierzu 
böten  die  angefeindeten  Paragraphen  die  meiste  Garantie. 
Der  Vorsitzende  des  Gewerbegerichts  meint,  dass  die 
streitigen  Paragraphen  auf  ihn  den  Eindruck  machten,  als 
ob  dieselben  zu  Ungerechtigkeiten  verleiten  könnten.  Es 
wirkten  da  bei  Beurtheilung  der  Leistungsfähigkeit  eines 
Arbeiters  durch  eine  Person  (meistens  den  Werkführer) 
menschliche  Schwäche,  Sympathie  und  Antipathie  zu  sehr 
mit.  Er  verkenne  durchaus  nicht,  dass  einem  Arbeitgeber 
durch  einen  nachlässigen  Arbeiter  Schaden  entstehen  könne, 
ob  aber  dies  immer  eine  Person  unfehlbar  zu  beurtheilen 
vermöge,  sei  mindestens  fraglich.  Hier  wäre  es  zweck- 
dienlich, wenn  Arbeiterauschüsse  vorhanden  seien,  denen 
derartige  Fälle  zur  Begutachtung  unterbreitet  würden.  Eine 
Einigung  der  Ansichten  beider  Parteien  war  nicht  zu  er- 
zielen und  wird  nunmehr  der  von  den  Arbeitnehmern  ge- 
stellte Antrag  aul  Beseitigung  der  §§  12  und  13  sammt  den 
Protokollen  über  die  zwei  stattgehabten  Ausschussitzungen 
dem  hiesigen  Kreisamt  als  zuständiger  Vorgesetzten  Behörde 
zur  Kenntnissnahme  eingesandt.  Dass  auch  hier  der  ge- 
stellte Antrag  keine  Unterstützung  findet,  darf  jetzt  schon 
als  sicher  angenommen  werden. 


Politische  Arbeiterbewegung. 

Die  Maifeier  Wo  die  Arbeiter  ihre  internationale 
Demonstration  nicht  am  I.  Mai  und  dem  vorangegangenen 
Sonntag  begingen,  wollten  sie  den  7.  Mai,  den  ersten 
Sonntag  des  Monats,  zum  Festtag  machen.  In  Deutschland 
kamen  vor  allem  die  bayrischen  und  die  See-Städte  für  die 
verspätete  Maifeier  in  Betracht,  aber  die  Ungunst  der 
Witterung  verhinderte  wie  vor  zwei  Jahren  die  Feier,  in 
Nürnberg  fiel  Schnee  und  auch  in  anderen  Städten  Bayerns 
liess  die  schlechte  Witterung  den  Aufenthalt  im  Freien  nicht 
zu.  Dagegen  fanden  sich  in  Mainz  3000,  in  Offenbach  3000, 
in  Strassburg  i.  Eis.  4000  Festtheilnehmer  zusammen.  Aus 
Norddeutschland  liegen  folgende  Angaben  vor:  In  Ham- 

burg versammelten  sich  auf  dem  Festplatze  mindestens 
120000  Personen.  Der  Festzug,  in  dem  sich  19  Musikchöre 
und  über  150  Fahnen,  Banner  und  Gewerkschaftsembleme 
befanden,  brauchte  zu  seinem  Aufmarsch  auf  den  Festplatz 
mehrere  Stunden,  obgleich  man  vorsichtshalber  Vorsorge 
getroffen  hatte,  dass  der  Festplatz  von  drei  Seiten  zugleich 
erreicht  werden  konnte.  Einen  besonders  günstigen  Ein- 
druck machte  in  dem  ca.  80000  Theilnehmer  zählenden 
I estzug  die  Abtheilung  der  Frauen,  die  über  4000  Köpfe 
stark  in  geschlossenen  Reihen  einhermarschirten ; ausserdem 
befanden  sich  zahlreiche  Frauen  im  Zuge  zerstreut.  In 
Altona  waren  10000,  in  Neumünster  1800,  in  Bergedorf  1200, 
in  Wandsbeck  4000,  in  Harburg  10000,  in  Lübeck  und 
Umgebung  20 — 25000,  in  Rostock  1700,  in  Oldenburg  800, 
in  Rathenow  1000,  in  Celle  800 — 1000,  in  Ohligs  bei 
Solingen  und  in  Solingen  selbst  3000,  in  Brandenburg  3500, 
in  Charlottenburg  2500  Anhänger  des  Achtstundentages 
versammelt.  Wir  führen  diese  Orte  blos  als  Beispiel  an, 
würde  doch  der  Raum  dieser  Zeitschrift  nicht  genügen,  um 
über  alle  Orte,  in  denen  die  Maifeier  begangen  wurde,  zu 
referiren. 

Zur  Feier  des  1.  Mai  in  Oesterreich  ist  berichtigend 
nachzutragen,  dass  die  Zahl  der  Festtheilnehmer  in  Prag 
auf  50000  geschätzt  wurde  und  dass  die  von  den  Christlich- 
Sozialen  einberufene  Versammlung  in  Krakau  von  sozial- 
demokratischer Seite  majorisirt  wurde. 

Die  Maifeier  in  London  übertraf  ihre  Vorgänger  in 
Bezug  auf  den  starken  Besuch.  Wie  in  früheren  Jahren 
sprachen  im  Hyde-Park,  wo  die  Demonstration  stattfand, 
die  Vertreter  der  sozialdemokratischen  Parteien  des  Aus- 
landes neben  englischen  Sozialisten  und  den  Führern  der 
Trades  Unions  zu  Gunsten  des  Achtstundentages.  In  London 
schätzt  man  die  Zahl  der  den  Gewerkvereinen  angehörigen 
Theilnehmer  an  der  Dempnstration  auf  nahezu  100000  und 
eingerechnet  die  übrigen  Arbeiter  und  das  sonstige  Publikum 
auf  mindestens  300000.  Trotz  der  ungeheueren  Menschen- 
menge fand  nicht  die  geringste  Störung  statt  und  die  Po- 
lizei konnte  sich  darauf  beschränken,  blos  den  Verkehr  zu 
regeln. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Strikebewegungen  in  Wien,  Seit  Ende  April  stehen 
in  Wien  1800  Zimmerergehilfen  im  Strike.  Sie  hatten  ihre 
Forderungen  bereits  am  30.  November  1892  den  Unterneh- 
mern zur  Kenntniss  gebracht  und  eine  Antwort  für  den 
I.  März  erbeten.  Diese  abgelehnten  Forderungen  lauten: 
I.  Einen  Minimallohn  von  fl.  2, — für  Gehilfen,  für  Hilfs- 
arbeiter fl.  1,30  pro  Tag;  II.  dass  die  Arbeitszeit  um  eine 
Stunde  pro  Tag  verkürzt  wird,  und  zwar  so,  dass  dieselbe 
um  7 Uhr  früh  beginnt  und  um  6 Uhr  Abends  endet.  Wäh- 
rend dieser  Zeit  sind  folgende  Ruhepausen  einzuhalten: 
von  9 — 91/*  Uhr  früh,  von  12 — 1 Uhr  Mittags  und  von  1IA 
bis  4 Uhr  Nachmittags.  III.  Abschaffung  der  Akkordarbeit, 
sowie  der  Ueberstunden  und  strenge  Einhaltung  der  Sonn- 
tagsruhe. Im  Falle  einer  öffentlichen  Verkehrsstörung  oder 
einer  Fabriksarbeit,  die  auf  die  Fabriksarbeiter  störend  ein- 
wirkt, sind  Ueberstunden  gestattet,  jedoch  ist  jede  Ueber- 
stunde  mit  30  kr.  zu  entlohnen.  Für  Sonntags-  und  Nacht- 
arbeit muss  der  doppelte  Tagelohn  bezahlt  werden.  Für 
Ueberstunden  an  Wochentagen  sind  die  Hilfsarbeiter  mit 


No.  33. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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15  kr.,  bei  Sonntags-  oder  Nachtarbeit  ebenfalls  doppelt  zu 
entlohnen.  IV.  Für  Arbeit,  welche  eine  Stunde  vom  Werk- 
platz entfernt  ist,  ist  eine  Zulage  von  10  kr.,  für  jede  weitere 
halbe  Stunde  eine  solche  von  5 kr.  zu  gewähren.  V.  An- 
schaffung des  Werkzeuges  durch  den  Meister  zur  unent- 
geltlichen Benützung  der  Gehilfen  und  Hilfsarbeiter.  Es 
ist  eine  Thatsache,  dass  in  Wien  alle  beim  Baugewerbe  be- 
schäftigten Arbeiter,  besonders  Zimmerleute  und  Maurer, 
einen  weit  niedrigeren  Lohn  als  ihre  Kollegen  in  Deutsch- 
land beziehen.  Die  Ursache  dieses  Verhältnisses  liegt 
nächst  der  seit  vielen  Jahren  darniederliegenden  Bauthätig- 
keit  in  einer  höchst  mangelhaften  Organisation  der  Arbeiter. 
Ein  grosser  Theil  nicht  nur  der  Maurer,  sondern  auch  der 
Zimmerleute  ist  in  der  Provinz,  insbesondere  in  Mähren  und 
Böhmen,  ansässig  und  kommt  nur  zur  Bausaison  nach  Wien. 
Es  ist  begreiflich,  dass  diese  Elemente  der  Organisation 
wenig  zugänglich  sind  und  auch  eine  weit  niedrigere  Lebens- 
haltung besitzen  als  die  Wiener  Arbeiter.  Trotzdem  schreitet 
in  der  letzten  Zeit  die  Organisation  der  Bauarbeiter  vor- 
wärts und  wird  insbesondere  durch  die  Aussicht  auf  ver- 
mehrte Bauthätigkeit  begünstigt,  welche  durch  die  Verkehrs- 
anlagen und  den  Steuernachlass  für  Neu-  und  Umbauten 
gefördert  wird.  Der  nun  ausgebrochene  Strike  der  Wiener 
Zimmerleute  ist  bereits  eine  Folge  der  vermehrten  Hoff- 
nungen und  der  verbesserten  Organisation  der  Bauarbeiter- 
schaft, und  sein  Ausgang  ist  für  die  nächste  Zeit  entschei- 
dend. Die  Arbeitslöhne  für  gelernte  Arbeiter  waren  bisher 
fl . 1.40  bei  1 1 stündiger  Arbeit,  zudem  wurden  Ueberstunden, 
Sonntag-  und  Nachtarbeit  ungenügend  entlohnt  und  die  Ar- 
beiter vielfach  zur  Anschaffung  der  Werkzeuge  gezwungen. 
Bisher  (10.  Mai)  ruht  die  Arbeit  auf  allen  Bauten  vollständig 
und  die  Unternehmer  scheinen  geneigt,  bezüglich  der  Ar- 
beitszeit eine  Konzession  zu  machen.  Die  Arbeiter  hingegen 
bestehen  auf  allen  ihren  Forderungen  und  lehnen  vorläufig 
jedes  Kompromiss  ab. 

Eigenartig  gestaltet  sich  der  erste  grössere  Strike  weib- 
licher Arbeiter,  den  Wien  zu  verzeichnen  hat.  Die  Klagen 
über  die  Verhältnisse  in  den  grossen  Appreturfabriken  in 
Wien  sind  alten  Datums;  insbesonders  wird  über  die  Aus- 
dehnung der  Arbeitszeit,  welche  sogar  über  die  gesetzliche 
Grenze  von  11  Stunden  hinaus  eine  12 — 14stündige  ist,  über 
Sonntagsarbeit,  Feiertagsarbeit  ohne  genügende  Entschädi- 
gung und  über  die  ungeheuerlichen  Temperaturen  in  den 
Arbeitsräumen  geklagt.  Es  wird  von  den  Arbeiterinnen 
glaubwürdig  berichtet,  dass  in  den  Spannereien  der  Fabriken 
gewöhnlich  eine  Temperatur  von  38°  R.  herrscht,  welche 
aber  sehr  häufig  auf  40°,  ja  50°  steigt.  Das  Eingreifen  des 
Gewerbe -Inspectors  in  diese  Verhältnisse  war  bisher  voll- 
ständig erfolglos;  dem  österreichischen  Gewerbe-Inspectorat 
fehlt  die  Executive,  und  die  Localbehörden  haben  weder 
Verständniss  noch  die  nöthige  Energie,  um  mit  der  erforder- 
lichen Raschheit  und  dem  nöthigen  Nachdruck  einzugreifen. 
Die  Löhne  der  Arbeiterinnen  - — es  sind  fast  ausschliesslich 
Arbeiterinnen  in  diesen  Fabriken  beschäftigt  — sind  schlecht 
genug  und  übersteigen  nirgends  70  kr.  per  Tag,  fallen  aber 
vielfach  unter  60  kr.  Jedoch  sind  gerade  die  Arbeitslöhne 
in  Wien  allgemein  so  niedrig,  dass  Lohnforderungen  von 
den  Arbeiterinnen  zunächst  nicht  gestellt  wurden.  Die  seit 
langer  Zeit  herrschende  Unzufriedenheit  mit  jenen  Zuständen 
brachte  es  bei  einem  ganz  zufälligen  Anlass  zum  Ausstande. 
In  einem  der  Geschäfte  (Heller)  wurde  eine  Arbeiterin,  die 
für  die  Arbeitsruhe  am  I . Mai  agitirt  hatte,  am  2.  Mai  ent- 
lassen. Sofort  erklärten  sich  sämmtliche  300  Colleginnen  mit 
ihr  für  solidarisch,  und  der  Ausstand  pflanzte  sich  in  den  zwei 
nächsten  Tagen  auf  die  anderen  Baumwollappreturen  fort, 
so  dass  seit  dem  5.  Mai  an  600  Arbeiterinnen  im  Strike  stehen. 
Ihre  Forderungen  sind  folgende:  1 . 10  ständige  Arbeitszeit  bei 
gleichem  Lohne  wie  bisher;  2. Abschaffung  derFeiertagsarbeit. 
In  dringenden  Fällen  verpflichten  sich  die  Beschäftigten,  bis 
Mittag  zu  arbeiten;  3.  Vor  Ablauf  von  6 Monaten  darf  vom 
Strikekomite  niemand  entlassen  werden.  4.  Wegen  Be- 
theiligung am  Strike  darf  überhaupt  niemand  vor  6 Monaten 
entlassen  werden.  5.  Wiederaufnahme  der  entlassenen  Ar- 
beiterinnen. - — Es  war  überraschend  zu  sehen,  dass  diese 
Arbeiterinnen,  welche  einer  festen  Organisation  bisher  nicht 
angehörten  und  auch  die  Leitung  von  erfahrenen  männ- 
lichen Kollegen  entbehrten,  sofort  in  der  besonnensten, 
zweckdienlichsten  und  energischsten  Weise  ihre  Sache 


führten.  Mehrfache  öffentliche  Vesammlungen,  deren  einer 
auch  der  Gewerbe-Inspektor  beiwohnte,  zeigten  ein  in  der 
Wiener  Arbeiterbewegung  bisher  noch  unbekanntes  Bild. 
Hunderte  von  Frauen  in  allen  Lebensaltern,  sämmtlich  in 
ärmlichster  Kleidung,  vielfach  mit  Kindern  auf  den  Armen, 
alle  abgezehrt,  vergrämt,  frühzeitig  gealtert,  lauschten  mit 
Aufmerksamkeit  und  verhaltener  Leidenschaft  den  in  deut- 
scher und  tschechischer  Sprache  gehaltenen  Reden.  Die 
ursprüngliche  Naivität  dieser  Proletarierschichte  kam  wieder- 
holt zum  drastischen  Ausdruck.  Ausserordentlich  bemerkens- 
werth  ist  auch,  dass  die  strikenden  Frauen  dem  unquali- 
fizirbaren  Benehmen  der  Sicherheitsbehörde  gegenüber  ein 
Mass  von  Festigkeit  und  Unbeugsamkeit  entgegen  brachten, 
welches  so  mancher  Organisation  männlicher  Arbeiter  zu 
wünschen  wäre.  Die  in  Frage  kommenden  Firmen  beant- 
worteten am  9.  Mai  die  Forderungen  mit  einer  theilweisen 
Konzession  und  bewilligten  eine  IO1/! ständige  Arbeitszeit. 
Eine  am  selben  Tag  stattfindende  Versammlung  lehnte  aber 
diesen  Vorschlag  einstimmig  ab,  und  der  Strike  dauert 
weiter.  Voraussichtlich  werden  die  Arbeiterinnen  ihre 
Forderungen  durchsetzen,  denn  die  sämmtlichen  Geschäfte 
sind  mit  dringenden  Aufträgen  versehen  und  ein  Zuzug  von 
auswärts  ist  absolut  ausgeschlossen.  — Auch  in  den  Seiden- 
appreturen bereitet  sich  eine  ähnliche  Bewegung  vor.  Es 
sind  über  600  Arbeiterinnen  gänzlich  in  3 Geschäften  kon- 
zentrirt,  welche  ihre  Forderung  des  zehnstündigen  Arbeits- 
tages überreicht  haben  und  zum  Ausstande  bereit  sind. 
Auf  jeden  Fall  werden  sie  warten,  bis  ihre  jetzt  schon  im 
Strike  stehenden  Kolleginnen  ihren  Kampf  zu  Ende  geführt 
haben. 


Kaufmännische  Bewegung. 

Der  Hamburger  Verein  für  Handlungscommis.  Kaum 
auf  einem  Gebiete  schreitet  der  Grossbetrieb  so  rapide 
vorwärts,  wie  auf  dem  des  Vereinswesens.  Dabei  ist  aller- 
dings Voraussetzung,  dass  die  grossen  Vereine  auch  etwas 
Praktisches  leisten. 

Unter  den  zahllosen  Vereinen  von  Handlungsgehülfen 
ist  der  Hamburger  „Verein  für  Handlungscommis  von  1858“ 
in  Deutschland  und  wohl  auch  auf  dem  Erdkreis  der  grösste. 
Er  ist  selbst  grösser  als  der  Verband  Deutscher  Handlungs- 
gehülfen in  Leipzig,  während  von  den  übrigen  gleichartigen 
Vereinen  in  Deutschland  keiner  auch  nur  annähernd  an 
seine  Mitgliederzahl  heranreicht.  Nach  seinem  neuesten 
Jahresbericht  hatte  er  am  1.  Januar  1892  34706,  am  1.  Ja- 
nuar 1893  aber  trotz  der  Hamburger  Cholera  38  792  und 
gegenwärtig  (Mitte  April)  über  42  000  Mitglieder,  wovon 
über  5000  etablirte  Kaufleute  und  2000  — 2500  Lehrlinge. 
Die  Mitgliedschaften  beschränken  sich,  wie  beim  Leipziger 
Verein,  nicht  auf  den  Domizilort,  sondern  erstrecken  sich 
über  ganz  Deutschland  und  weiter;  es  gab  Neujahr  1892 
177,  Neujahr  1893  223  Vereinsorte,  davon  169  deutsche, 
34  überseeische  und  20  andere  ausländische.  Der  Jahres- 
beitrag ist  6 M.,  nach  zehnjähriger  Mitgliedschaft  3 M.,  für 
die  ganze  Lehrzeit  6 M.  Die  Hauptthätigkeit  des  Vereins, 
der  er  auch  die  grosse  Zahl  auswärtiger  Mitglieder  wohl 
in  erster  Linie  verdankt,  ist  die  kostenfreie  Stellen- 
vermittelung. Die  Zahl  der  im  Jahre  nachgewiesenen 
Stellen  war  1892  grösser  als  in  irgend  einem  früheren;  am 
12.  Februar  wurde  die  39  0ooste  Stelle  besetzt,  am  9.  Mai 
die4ooooste,  am  22.  August  die4ioooste,  am  22.  November 
die  42oooste;  am  28.  Februar  1893  die  43oooste.  Etwa  ein 
Siebentel  waren  1892  Lehrlingsstellen,  über  die  Hälfte  be- 
finden sich  ausserhalb  Hamburgs.  Die  Zahl  der  nicht  be- 
friedigten Stellenbewerber  ist  allerdings  in  diesem  Jahre 
viel  schneller  gestiegen  als  die  der  befriedigten  (13  pCt. 
statt  1 V2  pCt.).  Dennoch  widerspricht  der  Jahresbericht 
den  Behauptungen  eines  ausserordentlichen  Nothstandes 
unter  den  Handlungsgehülfen  mit  aller  Entschiedenheit.  Es 
waren  nämlich  von  den  am  Monatsschluss  durchschnittlich 
vorgemerkten  3371  Bewerbern  nur  855  wirklich  stellungslos, 
mit  Einschluss  der  von  früheren  Monaten  übertragenen  und 
in  Aushülfestellungen  befindlichen  Bewerber,  und  er  glaubt, 
dass  mindestens  der  vierte  Theil  aller  deutschen  stellungs- 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  33. 


losen  wirklichen  Handlungsgehülfen  dem  Verein  angehöre. 
Viele  der  Beschäftigungslosen  fanden  schon  nach  kurzer 
Zeit,  oft  nach  wenig  Tagen  wieder  Arbeit,  bei  anderen 
schloss  sich  die  Stellungslosigkeit  an  die  Militärzeit  an, 
während  die  meisten  dauernd  Stellungslosen  entweder  schon 
etablirt  oder  mangelhaft  vorgebildet  oder  in  vorgeschritte- 
nem Alter  befindlich  waren.  Speziell  die  Nachfrage  nach 
tüchtigen  Verkäufern  und  gewandten  Reisenden  war  sogar 
stärker,  als  das  Angebot,  und  der  Durchschnitt  des  Anfangs- 
gehalts der  durch  den  Verein  vermittelten  Stellen  ist  hier 
gegen  das  Vorjahr  gestiegen.  — Die  am  i.  Juli  1886  er- 
richtete Pensionskasse  hatte  Neujahr  1892  3104,  Neujahr 
1893  4550,  Mitte  April  1893  47oo  Mitglieder  einschliesslich 
der  Ehefrauen;  das  Kassenvermögen  stieg  in  diesen  s/4  Jahren 
von  1,16  auf  1,7  Millionen  Mark,  die  übrigens  nicht  aus- 
schliesslich durch  Mitgliederbeiträge,  sondern  auch  durch 
verschiedene  Zuwendungen  zusammengebracht  worden  sind. 
Die  eingeschriebenen  Kranken-  und  Begräbnisskasse 
litt  erheblich  unter  der  Cholera  und  musste  1892  den  Re- 
servefonds in  einem  Betrage  von  etwa  9000  M.  angreifen; 
die  ganze  Ausgabe  betrug  103  593  M.  gegen  91  270  M.  im 
Vorjahre.  Auf  Grund  des  neuen  Krankenversicherungs- 
gesetzes hat  die  Kasse  sich  nicht  in  eine  Zuschusskasse 
verwandelt,  sondern  Beiträge  und  Leistungen  erhöht;  die 
Mitgliederzahl  scheint  im  Laufe  des  Jahres  etwas  gesunken 
zu  sein,  stieg  aber  vom  1.  Januar  bis  Mitte  April  1893  von 
4262  auf  mehr  als  6500,  wohl  in  erster  Linie  dank  dem 
Grundsatz  der  fast  unbeschränkt  freien  Aerztewahl  und 
dank  der  partiellen  Ausdehnung  des  Versicherungszwangs 
auf  die  Handlungsgehülfen.  Auch  die  Unterstützungskasse 
und  die  Kasse  für  nothleidende  Handlungsgehülfen  hatten 
erhebliche  Mehrausgaben:  4890  statt  3984  M.,  bezw.  11552 
statt  9209  M.,  welch  letztere  Summe  s/4  Jahre  umfasste.  Von 
andern  Vereinsleistungen  sind  hervorzuheben:  die  Handels- 
schule, Ende  1892  von  94  Commis  und  408  Lehrlingen  be- 
setzt, der  Vortragscyclus,  die  stattliche  Vereinszeitung 
(„HamburgerVereinsblatt“).  Letztere  giebt  einenUeberschuss, 
dagegen  wurden  für  Eortbildung  1947  M.,  für  Bibliothek  und 
Lesezimmer  über  1 1 000  M.  zugeschossen.  — Eine  an  den 
Reichstag  gerichtete  Eingabe  zu  Gunsten  der  einmonatigen 
Kündigungsfrist  kam  wegen  Sessionsschlusses  nicht  mehr 
auf  die  Tagesordnung.  Eine  Bitte  an  den  Hamburger 
Senat  um  Beschränkung  der  sonntägigen  Arbeitszeit  auf 
3 Stunden  blieb  erfolglos,  und  der  Verein  hat  daraufhin 
auf  dem  Jahrestage  des  Deutschen  Verbands  Kaufmännischer 
Vereine  empfohlen,  die  Agitation  in  dieser  Richtung  noch 
zu  verschieben.  Uebrigens  hat  er  seinen  Austritt  aus  diesem 
Verbände  angemeldet,  weil  dieser  ihm  eine  seiner  Mit- 
gliederzahl entsprechende  Vertretung  nicht  einräumt. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Ein  französischer  Gesetzentwurf  betreffend  die  in 
den  Handlungshäusern  beschäftigten  Frauen  und  Kinder. 

Die  Arbeitskommission  der  französischen  Kammer  hat  dieser 
Tage  einen  Gesetzentwurf  fertiggestellt,  der  darauf  abzielt, 
die  Arbeit  der  im  Handel  beschäftigten  Frauen,  Mädchen 
und  Kinder  in  ähnlicher  Weise  festzusetzen,  wie  dies  das 
Gesetz  vom  2.  November  1892  in  Bezug  auf  die  in  der  In- 
dustrie beschäftigten  Frauen  etc.  thut.  Danach  sollen  die 
Frauen,  Mädchen  und  Kinder  nicht  länger  als  I 1 Stunden 
täglich  und  nicht  mehr  als  6 Tage  pro  Woche  beschäftigt 
werden  dürfen.  Welcher  Tag  als  wöchentlicher  Ruhetag 
angenommen  wurde,  ist  in  den  Etablissements  mittelst  An- 
schlags zu  verzeichnen.  Die  Nachtarbeit  ist  verboten.  Als 
solche  gilt  jede  Arbeit  zwischen  9 Uhr  Abends  und  5 Uhr 
Morgens.  Für  Frauen  und  Mädchen  von  über  18  Jahren 
ist  es  indessen  gestattet,  die  Arbeitszeit  zu  gewissen  Zeiten 
bis  1 1 Uhr  Abends  auszudehnen,  jedoch  nur  für  die  Gesammt- 
dauer  von  60  Tagen  innerhalb  eines  Jahres,  und  darf  der 
effektive  Arbeitstag  in  keinem  Falle  12  Stunden  übersteigen. 
Kinder  unter  13  Jahren  dürfen  in  kommerziellen  Anlagen 
nicht  beschäftigt  werden,  indessen  können  solche,  die  ein 
Reifezeugniss  (certificat  d'etudes  primaires)  haben,  schon 
mit  ihrem  12.  Jahre  zugelassen  werden. 


Regelung  der  Arbeit  der  in  den  französischen  Berg- 
werken und  sonstigen  Montan-Anlagen  beschäftigten 
Kinder  und  jungen  Leute.  In  Ausführung  des  französi- 
schen Schutzgesetzes  vom  2.  November  1892  ist  soeben 
eine  Verordnung  erschienen,  welche  die  Arbeit  der  in  den 
Bergwerken,  Gruben  und  Steinbrüchen  beschäftigten  Kinder 
und  jungen  Leute  männlichen  Geschlechts ^ — das  ange- 
führte Gesetz  lässt  weibliche  Arbeiter,  Mädchen  wie  Frauen, 
überhaupt  nicht  zu  unterirdischen  Arbeiten  zu  — folgender- 
maassen  regelt:  Die  effektive  Arbeitszeit  der  Kinder  unter 
16  Jahren  darf  in  den  unterirdischen  Gallerien  nicht  mehr 
als  8 Stunden  täglich,  die  der  jungen  Leute  von  16  bis 
18  Jahren  nicht  mehr  als  10  Stunden  täglich  und  nicht 
mehr  als  54  Stunden  wöchentlich  betragen.  In  diese  Arbeits- 
zeit ist  weder  die  Zeit  des  Ein-  und  Ausfahrens  einzurechnen, 
noch  die  der  Ruhepausen,  die  täglich  zusammen  nicht  we- 
niger als  eine  Stunde  betragen  dürfen.  Was  ihre  Be- 
schäftigung anbelangt,  können  die  Kinder  und  jungen  Leute 
zur  Handscheidung  und  Ladung  der  Erze,  zum  Rollen  der 
Hunde  (kleine  zur  k ortschafitung  der  Erze  bestimmte  Wagen), 
zur  Aufsicht  und  Handhabung  der  Lüftungsthüren  und 
Handventilatoren,  sowie  zu  sonstigen,  ihre  Kräfte  nicht 
übersteigenden  Hülfsarbeiten  verwendet  werden.  Bei  den 
Ventilatoren  dürfen  sie  nicht  länger  als  einen  halben  Arbeits- 
tag beschäftigt  werden  und  hat  innerhalb  desselben  min- 
destens eine  halbstündige  Ruhepause  einzutreten.  Zur 
eigentlichen  Bergwerksarbeit  können  junge  Leute  von  16 
bis  18  Jahren  nur  als  Gehilfen  oder  Lehrlinge  verwendet 
werden  und  auch  das  nur  für  eine  Maximaldauer  von 
5 Stunden  täglich.  Ausser  den  obenbezeichneten  Ausnahmen 
ist  den  Kindern  und  jungen  Leuten  in  den  unterirdischen 
Gallerien  jede  Arbeit  untersagt. 


Arbeiterversicherung. 

Die  Ausdehnung  der  Unfallversicherung  in  Oesterreich.  ! 

Am  13.  März  wurde  dem  österreichischen  Abgeordneten- 
hause der  Bericht  des  Gewerbeausschusses  über  das  Aus- 
dehnungsgesetz zur  Unfallversicherung  vorgelegt;  damit  ist 
der  österreichischen  Gesetzgebung  die  Gelegenheit  ge-  ; 
boten,  auf  dem  Gebiete  der  Arbeiterversicherung  endlich  i 
einen  kleinen  Schritt  nach  vorwärts  zu  machen. 

Die  Grundlagen  des  Gesetzes  vom  28.  Dezember  1887  ; 
erfahren  durch  den  Entwurf  keinerlei  Abänderung,  derselbe 
stellt  sich  vielmehr  als  blosse  Erweiterung  des  Wirkungs- 
kreises  des  bestehenben  Gesetzes  dar. 

Die  Zahl  der  Personen,  welche  der  obligatorischen  Un- 
fallversicherung zugeführt  werden  sollen,  wird  vom  Ge- 
werbeausschusse  auf  rund  150000  geschätzt,  wobei  mit  nur 
zu  begründetem  Bedauern  konstatirt  wird,  dass  mangels 
einer  verlässlichen  Gewerbestatistik  eine  genauere  Angabe 
nicht  möglich  sei. 

Der  Bericht  des  Gewerbeausschusses  zerfällt  in  zwei 
Theile;  im  ersten  wird  über  die  Ergebnisse  der  Be- 
rathungen, die  der  Gewerbeausschuss  über  die  Regierungs- 
vorlage abhielt,  referirt;  im  zweiten  die  Frage  der  Revision 
des  geltenden  Unfallversicherungsgesetzes  erörtert.  Uns 
interessirt  hier  vorläufig  bloss  der  erste  Theil  des  Berichts, 
der  sich  mit  der  Erweiterung  der  Unfallversicherung  be- 
fasst. 

Der  vom  Gewerbeausschuss  zum  Theil  abgeänderte 
Regierungsentwurf  bezweckt  vor  allem  die  Einbeziehung 
des  gesammten  Eisenbahnbetriebes.  Nach  dem  gegen- 
wärtig in  Kraft  befindlichen  Gesetze  sind  nur  die  beim 
Eisenbahnbau,  in  den  Werkstätten  und  sonstigen  Neben- 
anlagen des  Bahnbetriebes  beschäftigten  Personen  gegen 
Unfall  versichert,  während  das  Fahrpersonal  dem  Haft- 
pflichtgesetze unterstellt  ist.  Im  Entwürfe  der  Regierung 
war  nun  mit  Rücksicht  auf  die  zu  befürchtenden  Schwierig- 
keiten, mehr  aber  noch  in  Würdigung  der  Wünsche  der 
Eisenbahnunternehmungen  bloss  die  freiwillige  Ver- 
sicherung des  Eisenbahn-Fahrpersonals  in  Aussicht  ge- 
nommen; der  Gewerbeausschuss  jedoch  unterwarf  die  Ver- 
kehrsbediensteten der  Eisenbahnen  dem  Versicherungs- 
zwange, von  dem  richtigen  Gesichtspunkte  ausgehend,  dass 


No.  33. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


397 


die  etwaigen  Schwierigkeiten,  die  sich  der  obligatorischen 
Versicherung  entgegenstellen,  auch  bei  der  freiwilligen 
Versicherung  obwalten.  Ueberdies  konnte  sich  der  Ge- 
werbeausschuss nicht  derThatsache  verschliessen,  dass  die 
erwartete  wohlthätige  Wirkung  des  Haftpllichtgesetzes  in 
Wirklichkeit  nicht  eintrat,  und  dass  das  Prinzip  der  persön- 
lichen Verpflichtung  des  Unternehmers  ,,mit  der  ethisch- 
sozialen Auffassung,  wie  sie  der  Arbeitergesetzgebung  in 
Oesterreich  glücklicherweise  dermalen  zugrunde  liegt,  im 
Widerspruche“  steht.  Nach  dem  Entwürfe  des  Gewerbe- 
ausschusses sollen  ferner  diejenigen  Betriebsbeamten  und 
Arbeiter,  welche  in  Ungarn  oder  im  Auslande  oder  in 
Grenzstationen  dauernd  beschäftigt  und  nach  der  Gesetz- 
gebung des  fremden  Landes  gegen  Unfall  versichert  sind, 
der  berufsgenossenschaftlichen  Anstalt  der  Eisenbahnen  an- 
gehören. Dass  diese  Maassregel  in  dem  so  vielbeliebten, 
und  wie  es  scheint,  in  Oesterreich  unentbehrlichen  Verord- 
nungswege erfolgen  soll,  scheint  darauf  hinzudeuten,  dass 
sich  auch  der  Gewerbeausschuss  von  gewissen  Rücksichten 
gegen  die  Eisenbahnunternehmungen  nicht  frei  machen 
konnte. 

Eine  Begünstigung  der  Eisenbahnbediensteten  gegen- 
über den  übrigen  Versicherten  liegt  in  der  Bestimmung, 
dass  für  erstere  der  Jahresarbeitsverdienst  nicht  auf  1200  fl. 
beschränkt,  sondern  das  volle  Jahreseinkommen  in  die  Ver- 
sicherung einbezogen  werden  soll,  sowie  dass  für  sie  der 
Unternehmer  die  gesammte  Prämienlast  zu  übernehmen  hat. 

Die  durch  die  Berichte  des  Schifffahrts-  Gewerbe- 
inspektors bestätigte  hohe  Unfallsgefährlichkeit  des  Schiff- 
fahrtsbetriebes veranlasste  den  Gewerbeausschuss  auch  den 
Binnenschifffahrtsbetrieb  der  obligatorischen  Unfall- 
versicherung zu  unterwerfen;  die  den  Seegesetzen  unter- 
liegenden Schifffahrtsbetriebe  sind  nach  wie  vor  ausge- 
nommen. 

Von  den  Transportgewerben  wurden  ferner  die  Spe- 
ditions-  und  Fuhrwerksunternehmungen  der  obliga- 
torischen Versicherung  gegen  Unfall  eingefügt.  Die  von 
der  Regierung  bezüglich  der  Ausdehnung  der  Unfallver- 
sicherung auf  die  Betriebe  der  Post-  und  Telegraphenver- 
waltung geltend  gemachten  technischen  Bedenken  schienen 
dem  Gewerbeausschusse  so  gewichtiger  Natur,  dass  er  sich 
zur  sofortigen  Subsummirung  unter  das  Gesetz  vom 
28.  Dezember  1887  nicht  entschliessen  konnte;  er  begnügte 
sich  vielmehr  mit  einem  Resolutionsantrag,  durch  welchen 
der  Regierung  empfohlen  wird,  die  Ausdehnung  des  Ge- 
setzes auf  den  Betrieb  der  Post-  und  Telegraphenverwaltung 
bei  Beginn  des  nächsten  Sessionsabschnittes  vorzunehmen. 

Ausser  den  bisher  genannten  Betrieben  sollen  noch 
folgende  der  Unfallversicherung  unterworfen  werden:  Die 

Baggereien,  die  Gewerbe  der  Strassen-  und  Gebäude- 
säuberung, die  der  Kanalräumer  und  Rauchfangkehrer, 
Waarenlagerunternehmungen,  die  Holz-  und  Kohlenlager- 
unternehmungen, die  „im  Grossen“  betrieben  werden,  die 
ständigen  I heater,  auch  wenn  dieselben  nicht  das  ganze 
Jahr  hindurch  geöffnet  sind,  sowie  die  Berufsfeuerwehren. 

In  diesem  Theile  lehnt  sich  der  Entwurf  an  das  reichs- 
deutsche  Ausdehnungsgesetz  vom  Jahre  1885  an,  über 
welches  jedoch  das  österreichische  Gesetz  durch  die  Ge- 
staltung der  freiwilligen  Versicherung  hinausgeht.  Letztere 
wurde  hauptsächlich  mit  Rücksicht  auf  die  grosse  Anzahl 
der  freiwilligen  Feuerwehren  eingeführt,  von  denen  es 
Ende  1890  nicht  weniger  als  5561  mit  rund  einer  halben 
Million  Mitglieder  gab.  Bei  dem  Umstande  als  die  Unfalls- 
gefahr bei  den  freiwilligen  Feuerwehren  in  Folge  der  ge- 
ringeren Schulung  der  Mannschaft  eine  grössere  ist  als  bei 
den  Berufsfeuerwehren,  erscheint  die  freiwillige  Unfallver- 
sicherung als  eine  nicht  unwesentliche  und  nothwendige 
Erweiterung  der  sozialen  Fürsorge.  Durch  die  Einführung 
der  freiwilligen  Versicherung  für  Feuerwehrvereine  wird 
zwar  die  wirthschaftliche  Grundlage  der  Unfallversicherung 
alterirt;.  aber  dadurch,  dass  das  Lohnverhältniss  aufhört 
die  Basis  der  Unfallversicherung  zu  sein,  ist  auch  die  Mög- 
lichkeit gegeben,  Lehrwerkstätten  und  Strafgefangene, 
welche  bei  Privatunternehmern  in  Arbeit  stehen,  und 
andere  Unternehmungen  der  Unfallversicherung  zuzuführen, 
indem  für  sie  der  Versicherung  fingirte  Jahreslohnsätze 
unterlegt  werden.  Der  Gewerbeausschuss  spricht  die  Er- 
wartung aus,  dass  von  der  fakultativen  Versicherung  nicht 


nur  die  Unternehmer  versichcrungspflichtiger  Betriebe  für 
ihre  nichtversicherungspflichtigen  Arbeiter  und  Betriebs- 
beamten, sondern  auch  die  Inhaber  nichtversicherungs- 
pflichtiger Gewerbe  für  sich  und  ihre  Hilfsarbeiter  Ge- 
brauch machen  werden  auch  in  Fällen,  „in  welchen  die 
materielle  Lage  des  Unternehmers  von  der  seiner  Hilfs- 
arbeiter sich  nur  wenig  unterscheidet.“  Erinnert  man  sich 
der  mannigfachen  Schwierigkeiten,  denen  die  Durchführung 
des  geltenden  Gesetzes  gerade  seitens  der  widerstrebenden 
kleinen  Gewerbsinhaber  begegnet,  und  des  Umstandes,  dass 
der  Sinn  für  den  Werth  der  sozialen  Versicherung  in 
Oesterreich  gegenwärtig  noch  ausserordentlich  wenig  ent- 
wickelt ist,  dann  wird  man  nicht  umhin  können,  die  Hoffnung 
des  Gewerbeausschusses  eine  allzu  optimistische  zu  nennen. 
Die  Einführung  der  freiwilligen  Versicherung  ist  denn  auch 
in  der  That  nichts  anderes  als  ein  Verlegenheitsmittel,  das 
seine  Wirkung  umsomehr  versagen  muss,  als  der  Gewerbe- 
ausschuss selbst  aus  den  angeführten  Gründen  vor  der  so- 
fortigen Unterstellung  des  Kleingewerbes  unter  die  obliga- 
torische Versicherung  zurückschreckt.  Denn  um  letzteres 
vorzugsweise  handelt  es  sich  hier,  und  diese  Frage  ist  es, 
hinsichtlich  welcher  im  Schoosse  des  Gewerbeausschusses 
Meinungsverschiedenheiten  zu  Tage  traten,  die  auch  im 
Abgeordnetenhause  selbst  vorhanden  sind. 

Um  der  Eventualität  spekulativer  Abschlüsse  von  Ver- 
trägen zwischen  privaten  Assekuranzgesellschaften  und  durch 
die  Novelle  für  versicherungspflichtig  erklärten  Unter- 
nehmungen vorzubeugen,  hat  der  Gewerbeausschuss  im 
Artikel  II  eine  entsprechende  Bestimmung  aufgenommen, 
wonach  der  zweite  Absatz  des  § 61  des  Unfallversicherungs- 
gesetzes vom  28.  Dezember  1887  analog  anzuwenden  ist. 

Die  in  der  Regierungsvorlage  getroffene  Abänderung 
des  § 18  des  alten  Gesetzes,  durchweiche  im  gemeinsamen 
Reservefond  der  Anstalten  eine  Art  Rückversicherung  ge- 
schaffen werden  sollte,  wurde  vom  Gewerbeausschusse  mit 
Recht  als  inopportun  erklärt  und  daher  beseitigt.  Abgesehen 
davon,  dass  über  den  Zweck  des  gemeinsamen  Reserve- 
fonds die  Meinungen  der  Fachleute  sowohl,  wie  der  inter- 
essirten  Faktoren  auseinandergehen,  und  dass  durch  die 
strengen  Bestimmungen  bezüglich  der  Reserven,  Deckungs- 
kapitalien und  des  Prämientarifes  den  Anstalten  genügende 
Kautelen  gegeben  sind,  zwingen  die  ungünstigen  Ge- 
bahrungsergebnisse  der  Anstalten,  von  einer  Aenderung  des 
§ 15  Unfallversicherungsgesetzes  abzusehen. 

Durch  die  Eliminirung  dieser  Aenderung  aus  dem  Re- 
gierungsentwurfe  bleibt  der  Charakter  derselben  als  reines 
Ausdehnungsgesetz  gewahrt,  damit  ist  aber  auch  gleichzeitig 
die  sozialpolitische  Tragweite  des  Gesetzentwurfes  bedeutend 
herabgemindert. 

Auch  die  Rücksichtnahme  auf  die  Verhältnisse  des 
Kleingewerbes  macht  den  Gewerbeausschuss  zaghaft  und 
bedenklich.  Aus  diesem  Grunde  bleibt  leider  die  Frage 
der  Ausdehnung  der  Versicherungspflicht  auf  die  Werk- 
stättenarbeiter bei  den  Baugewerben,  insbesondere  bei 
den  baulichen  Nebengewerben,  im  Gewerbeausschusse  aber- 
mals ungelöst,  obwohl  die  Anstalten,  der  Versicherungs- 
beirath  und  die  betheiligten  Arbeiterkategorien  die  Ein- 
beziehung aller  im  Baugewerbe  beschäftigten  Personen  als 
unausweislich  darstellen.  Selbst  die  Rücksicht  auf  die 
Prosperität  der  Versicherungsanstalten,  die  durch  die  theil- 
weise  Versicherung  der  Baugewerbe  ganz  unverhältnissmässig 
belastet  werden,  vermochte  nicht,  eine  Majorität  des  Ge- 
werbeausschusses für  die  Einbeziehung  der  gesammten 
Baugewerbe  zu  Stande  zu  bringen.  Lediglich  die  Gewerbe- 
kategorien der  Zimmerleute,  Brunnenmacher,  Pflasterer  und 
Eisenkonstrukteure  wurden  zur  sofortigen  Versicherung 
gegen  Unfall  herangezogen. 

So  bleibt  die  Unfallversicherung  des  eigentlichen  Klein- 
gewerbes in  Anbetracht  der  „Schwierigkeiten“,  d.  h.  der 
ökonomischen  Lage  des  Kleingewerbes  vorläufig  in  der 
Schwebe,  hoffentlich  aber  nicht  für  die  Dauer  in  dieser 
Lage. 

Zur  Statistik  der  Alters-  und  Invaliden -Versicherung. 

An  Anträgen  auf  Gewährung  von  Renten  sind  bei  der 
Hanseatischen  Versicherungsanstalt  eingegangen:  a)  an 

Altersrenten  im  Laufe  des  Jahres  1891:  1105,  1892:  404,  im 
Januar  1893:  36,  im  Februar  1893:  46,  im  März  1893;  35, 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  33. 


im  April  1893:  24,  zusammen  1650;  b)  an  Invalidenrenten 
im  Laufe  des  Jahres  1892:  181,  im  Januar  1893:  18.  im 
Februar  1893:  22,  im  März  1893:  18,  im  April  1893:  15,  zu- 
sammen 254;  mithin  sind  seit  Beginn  des  Jahres  1891  bei 
der  Hanseatischen  Versicherungsanstalt  an  Rentenanträgen 
eingegangen  1904.  Von  den  Anträgen  auf  Altersrente 
entfallen  auf  das  Gebiet  der  freien  und  Hansestadt  Lübeck 
291,  Bremen  359,  Hamburg  1000.  und  von  den  Anträgen 
auf  Invalidenrente  auf  das  Gebiet  von  Lübeck  38,  Bremen  86, 
Hamburg  130. 

Von  den  Anträgen  auf  Altersrente  wurden  bis  Ende 
April  d.  J.  erledigt:  1623  Anträge,  und  zwar  1420  durch 
Rentengewährung,  178  durch  Ablehnung  und  25  auf  sonstige 
Weise,  Tod  etc.  Auf  die  Gebiete  der  freien  Hansestädte 
vertheilen  sich  diese  erledigten  Anträge  folgendermassen : 
Es  entfallen  auf  das  Gebiet  von  Lübeck  246  Renten- 
gewährungen, 33  Ablehnungen,  3 sonst  erledigte,  Bremen 
319  Rentengewährungen,  31  Ablehnungen,  7 sonst  erledigte, 
Hamburg  855  Rentengewährungen,  1 14  Ablehnungen,  15  sonst 
erledigte. 

Von  den  Anträgen  auf  Invalidenrente  sind  bis  Ende 
April  d.  J.  erledigt:  232  Anträge,  und  zwar  148  durch 
Rentengewährung,  70  durch  Ablehnung  und  14  auf  sonstige 
Weise,  Tod  etc. 

Von  den  erledigten  Anträgen  entfallen  auf  das  Gebiet 
von  Lübeck  28  Rentengewährungen,  7 Ablehnungen,  Bremen 
60  Rentengewährungen,  19  Ablehnungen,  4 sonst  erledigte, 
Hamburg  60  Rentengewährungen,  44  Ablehnungen,  10  sonst 
erledigte. 

Von  den  insgesammt  1568  Rentenempfängern  beziehen: 
180  Personen  eine  Altersrente  von  je  rund  106,80  M.  (Lohn- 
klasse I),  358  do.  135,00  M.  (Lohnklasse  II),  420  do.  163,20  M. 
(Lohnklasse  III),  462  do  191 ,40  M.  (Lohnklasse  IV),  148  Per- 
sonen eine  Invalidenrente  von  rund  I 16,72  M.,  zusammen 
1568  Personen. 

Die  Jahressumme  der  bis  jetzt  gewährten  Renten  macht 
insgesammt  241  800  M.  aus. 

Nach  den  Berufszweigen  vertheilen  sich  die  1568  Renten- 
empfänger auf  folgende  Gruppen:  Landwirthschaft  und 

Gärtnerei  109,  Industrie  und  Bauwesen  646,  Handel  und 
Verkehr  240,  sonstige  Berufsarten  125,  Dienstboten  etc. 
448  Rentenempfänger. 

Statistik  des  Allgemeinen  Knappschaftsvereins  in 

Bochum.  Nach  der  Rechnungs-  und  Vermögensübersicht 
des  Allgemeinen  Knappschaftsvereins  hat  die  Pensionskasse 
desselben  6644670,04  M.  eingenommen  und  5796468,22  M. 
verausgabt.  Der  Ueberschuss  beträgt  848210,82  M.  Von 
der  Ausgabe  haben  12174  Invaliden  28851 77,48  M.  erhalten. 
Es  hat  demnach  ein  Invalide  durchschnittlich  237,81  M.  er- 
halten. An  9434  Wittwen  sind  1423704,61  M.  ausgezahlt 
worden.  Bei  der  Krankenkasse  belief  sich  die  Einnahme 
auf  4280067,10  M.  und  die  Ausgabe  auf  3997687  06  M.,  mit- 
hin ist  hier  ein  Ueberschuss  von  282880,4  M.  vorhanden. 
Für  82092  Krankheitsfälle  sind  2572774,40  M.,  für  Aerzte 
395677,58  M.,  für  Arzneikosten  inclusive  Verbandstoffe 
465772,84  M.,  für  Krankenhauspflege  364067,82  M.  etc.  ver- 
ausgabt. Der  reine  Ueberschuss  der  Knappschaftskasse 
beträgt  1429998,14  M.  Das  Vermögen  betrug  Ende  1891 
rund  7594273,28  M.  Mit  dem  vorerwähnten  Ueberschusse 
ist  dasselbe  auf  9024271 ,42  M.  gestiegen.  Die  Hauptkassen- 
Abtheilung  für  Invaliden-  und  Altersversicherung  hat  eine 
Einnahme  von  2128571,79  M.  und  eine  Ausgabe  von 
137  135,34  M,  zu  verzeichnen.  Der  Ueberschuss  beläuft  sich 
hierbei  auf  1991436,45  M. 

Arbeitslosenversicherung  der  niederösterreichischen 
Buchdrucker.  Der  niederösterreichische  Buchdrucker-  und 
Schriftgiesserverein  sorgt  in  mannigfacher  Weise  für  die 
ihm  angehörigen  Arbeitslosen.  Er  hat  eine  Stellenvermitte- 
lung eingerichtet,  gewährt  durch  seine  Gegenseitigkeits- 
verträge in  den  meisten  Staaten  Europas  Reiseunterstützung, 
ferner  Invalidenunterstützung  und  Pensionen,  ausserdem  aber 
noch  besondere  Arbeitslosenunterstützungen.  Für  dieselbe 
sind  seit  i.  Januar  1893  folgende  Bestimmungen  massgebend : 
Nach  52 wöchentlicher  Mitgliedschaft  in  den  gegenseitigen 
österreichischen  Vereinen  60  kr.  pro  Tag  (fl.  4,20  proWoche) 
durch  91  Tage;  Mitglieder,  welche  vor  Eintritt  der  Kon- 


ditionslosigkeit  im  Gebiete  des  Niederösterreichischen  Buch- 
drucker- und  Schriftgiesservereines  52  Wochen  conditionirt 
und  ihre  Wochenbeiträge  leisteten,  wird  diese  Unterstützung 
in  jedem  Kalenderjahre  durch  12  Wochen  auf  fl.  6 proWoche 
ergänzt.  — Wird  der  Bezug  der  Arbeitslosenunterstützung 
durch  Kondition,  die  mindestens  13  Wochen  beträgt,  unter- 
brochen, so  beginnt  die  Unterstützung  aufs  neue.  — Aus- 
gesteuerte Mitglieder  werden  erst  dann  wieder  bezugsbe- 
rechtigt, wenn  sie  26  Wochen  konditionirt  und  die  Beiträge 
geleistet  haben.  — Vom  Militär  zurückkehrende  Mitglieder 
erhalten,  sofern  sie  bezugsberechtigt  waren,  sofort  eine 
Unterstützung  in  der  Dauer  von  42  Tagen,  — Mitglieder 
ausländischer  gegenseitiger  Vereine  müssen  vor  Inanspruch- 
nahme der  Unterstützung  — vorausgesetzt,  dass  sie  zu  einer 
solchen  schon  in  ihrem  Muttervereine  berechtigt  wären  — 
im  Gebiete  der  gegenseitigen  Vereine  Oesterreichs  (vor 
Inanspruchnahme  der  erhöhten  Unterstützung  im  Gebiete 
des  niederösterreichischen  Vereines)  aufs  neue  26  Wochen 
gesteuert  und  während  dieser  Zeit  auch  konditionirt  haben. 
— Die  Abreiseunterstützung  wurde  mit  1.  Januar  1893  auf- 
gehoben. Ausserdem  erhalten  abreisende  konditionslose 
Familienväter  sowie  konditionslose  Mitglieder,  welche  die 
Ernährer  von  Familienangehörigen  (Eltern,  Geschwister  etc.) 
sind  und  als  solche  einen  selbstständigen  Haushalt  führen, 
sofern  sie  bezugsberechtigt  sind,  einen  Uebersiedelungs- 
kostenbeitrag  bis  zur  Höhe  einer  fünfwöchentlichen  Unter- 


stützung. 

Als  Kontrollmassregel  ist  Folgendes  vorgesehen:  Beim 
Austritte  aus  der  Kondition  hat  das  Mitglied  dem  Kassierer 
das  Austrittsblanquet,  welches  die  Ursache  des  Austrittes 
enthalten  und  vom  Offizinskassirer  und  einer  vertrauens- 
würdigen zweiten  Person  der  Offizin  durch  deren  Unter- 
schrift beglaubigt  sein  muss,  binnen  3 Tagen  einzuhändigen. 

Die  unterstützungsberechtigten  Konditionslosen  haben 
sich  während  der  Dauer  der  Unterstützung  jede  Woche, 
und  zwar  am  Donnerstag  von  7 — 8 Uhr  Abends,  bei  dem 
zu  dieser  Funktion  berufenen  Ausschussmitgliede  mit  dem 
Arbeitsbuche  zur  Unterstützung  vormerken  zu  lassen.  Sollte 
auf  diesen  Tag  ein  Feiertag  fallen,  so  hat  die  Anmeldung 
am  Tage  vorher  zu  geschehen, 

Ausgesteuerte  oder  noch  nicht  bezugsberechtigte  Kon- 
ditionslose haben  sich  mindestens  von  3 zu  3 Wochen  beim 
Rechnungsführer  zu  melden,  da  sie  sonst  ihrer  Mitglied- 
schaft verlustig  werden  können. 

Alle  konditionslosen  Mitglieder  haben  in  einem  in  der 
Vereinskanzlei  aufliegenden  Buche  Namen,  Beruf  (den  Fähig- 
keiten nach  spezifizirt),  sowie  ihren  jeweiligen  Wohnungs- 
ort einzutragen,  um  bei  Konditionsangeboten  berücksichtigt 
werden  zu  können. 

Bei  einem  durchschnittlichen  Mitgliederstande  von 
ca.  1900  Mitgliedern  im  Jahre  1892  wurden  247  Vereins- 
mitglieder in  406  Fällen  von  Arbeitslosigkeit  unterstützt, 
in  154  Fällen  ohne  Unterbrechung,  in  51  mit  zweimaliger, 
in  24  mit  dreimaliger,  in  13  mit  viermaliger,  in  4 mit  fünf- 
maliger und  in  einem  Falle  mit  sechsmaliger  Unterstützung. 

Die  am  Orte  gebliebenen  223  Konditionslosen  erhielten 
für  zusammen  9429  Unterstützungstage  9429  fl.  ö.  W.  aus- 
bezahlt. Von  diesen  Konditionslosen  waren  172  Setzer, 
11  Drucker,  22  Maschinenmeister  und  18  Giesser. 

Die  Zahl  der  Unterstützten  war  am  niedrigsten  (24)  im 
Januar  und  stieg  fast  ununterbrochen  bis  zum  Juli  (84)  um 
von  da  an  stetig  bis  zum  Dezember  (48)  abzunehmen,  24 
Konditionslose  reisten  mit,  13  ohne  Abreisegeld  während 
der  Dauer  der  Unterstützung  am  Orte  ab.  Ausgesteuert 
waren  64. 

Die  durchschnittliche  Länge  der  Konditionslosenunter- 
stützung,  nicht  der  Arbeitslosigkeit  war  42  Tage.  Für 
2 — 10  Tage  erhielten  31  Bezugsberechtigte  Unterstützung 
für  zusammen  204  Tage,  für  11-20  Tage  erhielten  diese 
32  für  zusammen  504  Tage,  für  21 — 30  Tage  erhielten  32 
für  835  Tage  Unterstützung,  je  31—40  Tage  waren  20  be- 
zugsberechtigte Mitglieder  zusammen  722  Tage  arbeitslos, 
je  41 — 50  Tage  waren  10  zusammen  449  Tage,  51  — 60  Tage 
waren-  15  zusammen  856  Tage,  je  61 — 70  Tage  waren  20 
unterstützungsberechtigte  Mitglieder  zusammen  1329  Tage; 
und  endlich  71 — 74  Tage  waren  63  derselben  zusammen 
4535  Tage  arbeitslos. 

Leider  geben  diese  Daten  nur  ein  Bild  der  wichtigsten 


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Leistungen  des  Vereins  im  Interesse  der  Arbeitslosen,  sie 
lassen  aber  keine  Rückschlüsse  auf  die  Ausdehnung  der 
Arbeitslosigkeit  im  niederösterreichischen  Buchdrucker- 
gewerbe zu,  weil  sowohl  die  Zahl  der  überhaupt  Arbeits- 
losen. als  auch  die  der  arbeitslosen  Vereinsmitglieder,  als 
endlich  die  Zahl  der  zum  Bezüge  der  Konditionslosenunter- 
stützung  berechtigten  im  Vereinsberichte  fehlen. 

Zu  den  vorangeführten  223  Konditionslosen  sind  noch 
24  Mitglieder  zuzurechnen,  welche  Abreiseunterstützung  ge- 
nommen, wofür  der  Betrag  von  fl.  432  zur  Ausgabe  gelangte. 
Dieses  Abreisegeld  wurde  mit  Einführung  der  zentralisirten 
Konditionslosen  Unterstützung  aufgehoben. 

Ein  Beitrag  zu  den  Uebersiedelungskosten  wurde 
3 Mitgliedern  mit  zusammen  fl.  67  gewährt. 

Somit  hat  der  Verein  ca.  10000  fl.  für  direkte  Kondi- 
tionslosenunterstützung verausgabt,  hierher  kommen  noch 
4746  fl.  83  kr.  für  Reiseunterstützung.  10865  fl.  für  Invaliden- 
unterstützung und  910  fl.  Pensionen  an  greise  Mitglieder, 
so  dass  diese  ausbezahlten  Unterstützungen  (59356  fl.  18  kr.) 
betrugen.  Daneben  hatte  der  Verein  noch  für  Bildung  und 
Organisationszwecke  5089  fl.  49  kr.  verausgabt. 


Schulwesen. 

Zur  Lage  der  preussischen  Volksschulen.  Die  stati- 
stische Erhebung  über  das  Volksschulwesen  in  Preussen  hat 
u.  A.  auch  über  die  ungenügenden  Volksschulbauten  und 
die  dringende  Nothwendigkeit  ihrer  Vermehrung  Licht  ver- 
breitet. Den  Mittheilungen  der  Statistischen  Korressondenz 
entnehmen  wir  darüber  das  Folgende:  Von  den  72921  vor- 
handenen Klassenräumen  waren  2357  in  gemietheten  Räumen 
untergebracht;  ebenso  befanden  sich  von  den  44189  Dienst- 
wohnungen der  Lehrer  1 279  in  gemietheten  Räumen.  Auf  dem 
Lande  waren  1141  Schulklassen  (2,57  pCt.)  und  1072  Lehrer- 
wohnungen (2,70pCt)  nicht  im  Schulgebäude  untergebracht, 
was  um  so  dringender  auf  ein  Bedürfniss  nach  Neubauten 
hinweist,  als  auf  dem  Lande  geeignete  Miethsräume  zu  Schul- 
zwecken und  Lehrerwohnungen  oft  nur  mit  Schwierigkeit 
zu  beschaffen  sind.  Auch  bei  den  im  eigenen  Schulgebäude 
untergebrachten  Schul-  und  Wohnungsräumen  wird  das 
Baubedürfniss  in  nicht  wenigen  Fällen  ebenfalls  vorhanden 
sein;  musste  doch  wegen  Ueberfüllung  der  Schulräume  im 
Jahre  1891  noch  3239  Kindern  (davon  2927  auf  dem  Lande) 
die  Aufnahme  in  die  öffentliche  Volksschule  versagt  werden. 
Ferner  beweist  der  Umstand,  dass  in  dem  genannten  Jahre 
noch  217389  Schulkinder  (davon  197145  auf  dem  Lande) 
einen  Schulweg  von  mehr  als  2,5  Kilom.  zurückzulegen  hatten, 
die  Unzulänglichkeit  der  vorhandenen  Schulen.  Das  Bedürf- 
niss nach  Begründung  und  Eröffnung  neuer  Volksschulen 
hat  aber  weitere  Schulbauten  und  zwar  in  nicht  unbeträcht- 
licher Anzahl  zur  Voraussetzung.  Daraus  ergiebt  sich  die 
wohl  auch  nicht  bestrittene  Nothwendigkeit,  für  Volksschul- 
bauten in  den  nächsten  Jahren  auskömmliche  Mittel  bereit 
zu  stellen.  Auskömmlich  werden  diese  aber  nur  sein,  wenn 
sie  den  Betrag  der  jährlichen  Aufwendungen  der  letzten 
15  bis  18  Jahre  übersteigen;  denn  diese  haben  bisher  nicht 
ausgereicht,  obwohl  sie  seither  schon  nicht  unbeträchtlich 
waren.  Die  Kosten  der  Volksschulbauten,  durch  die  den 
Gemeinden  eine  Bauschuldenlast  von  83534040  Mark  nach 
dem  Stande  von  1891  aufgebürdet  ist.  betrugen  im  Durch- 
schnitt der  drei  Jahre  1889  bis  1891  jährlich  21  820194  Mark, 
wovon  20881  122  M.  von  den  Verpflichteten  und  933072  M. 
durch  Staatsbeihilfen  bestritten  wurden.  Dafür  wurden  in 
diesen  drei  Jahren,  von  Reparaturbauten  abgesehen,  aus- 
geführt 7444  (darunter  auf  dem  Lande  6606)  Neubauten  und 
2936  (2539)  Erweiterungsbauten. 

Verlängerte  Besuchszeit  der  Berliner  Museen.  Er- 
freulicherweise ist  endlich  den  oft  wiederholten  Forderungen 
nach  einer  Verlängerung  der  Besuchszeit  der  Museen  einiger- 
maassen  Rechnung  getragen  und  damit  weiteren  Kreisen 
des  Volkes  die  Benutzung  eines  werthvollen  Bildungsmittels 


zugänglich  gemacht  worden.  Die  Besuchszeit  der  König- 
lichen Museen  und  zwar  des  Alten  und  Neuen  Museums, 
des  Museums  für  Völkerkunde  und  des  Kunstgewerbe-Mu- 
seums ist  vom  7.  Mai  ab  an  den  Sonntagen  und  dement- 
sprechend an  den  zweiten  Feiertagen  des  Oster-,  Pfingst- 
und  Weihnachtsfestes  bis  auf  weiteres  wie  folgt  festgesetzt: 

In  den  Monaten  April — September  von  12 — 6 Uhr, 

„ „ „ October  und  März  von  12 — 5 Uhr, 

„ „ „ November  und  Februar  von  12 — 4 Uhr, 

„ „ „ Dezember  und  Januar  von  12 — 3 Uhr. 


Armenwesen. 

Internationaler  Kongress  für  Gemeinnützigkeit  in 
Chicago.  Von  den  sieben  Abtheilungen  des  internationalen 
Kongresses  für  Gemeinnützigkeit  (the  international  congress 
of  Charities,  Correction  and  Philanthropy),  welcher  vom 
12.  zum  17.  Juni  1893  in  Chicago  abgehalten  werden  wird, 
dürfte  besonders  die  sechste  das  Interesse  der  Fachleute 
auf  dem  Gebiet  von  Armenpflege  und  Wohlthätigkeit  er- 
wecken. Diese  sechste  Abtheilung  wird  sich  mit  der 
Organisation  und  der  Anwendung  der  Wohlthätigkeitsver- 
anstaltungen  in  Ländern,  Provinzen,  Grossstädten,  Mittel- 
städten und  Dörfern  und  mit  der  vorbeugenden  Armen- 
pflege (the  Organisation  and  application  of  Charities  in 
Countries,  States,  Cities,  Towns  and  Villages,  and  Preven- 
tive  work  among  the  Poor)  beschäftigen  und  den  ihr  zu- 
gewiesenen reichhaltigen  Stoff  in  fünf  Sitzungstagen,  vom 
12.  bis  15.  Juni  und  vom  17.  Juni  1893  erledigen.  Als 
Hauptverhandlungsgegenstände  für  die  vier  ersten  Sitzungs- 
tage kommen  in  Betracht:  1.  die  Abgrenzung  des  Feldes 
der  freiwilligen  (nichtamtlichen)  Wohlthätigkeit.  2.  das 
Aufsuchen  der  Armen  in  ihren  Wohnungen  durch  frei- 
willige Helfer  (friendly  visiting),  3.  die  Unterstützung  durch 
Arbeitsgewährung,  die  Arbeitsstätten,  4.  die  Beförderung 
des  Sparens.  Die  fünfte  Sitzung  wird  wahrscheinlich  mit 
der  Schlussberathung  über  die  Verhandlungsgegenstände 
der  vier  ersten  Sitzungstage  ausgefüllt  werden.  Als  die- 
jenigen Richtungen,  nach  welchen  die  einzelnen  Themata 
hauptsächlich  behandelt  werden  sollen,  sind  für  das  erste 
Thema  in  Aussicht  genommen:  Wirkungskreis  und  Ziele 
A.  der  nichtamtlichen  Wohlthätigkeitsgesellschaften,  B.  der 
kirchlichen  Liebesthätigkeit,  C.  der  Einzelwohlthätigkeit  und 
D.  die  gegenseitigen  Beziehungen  dieser  Organe  der  Ge- 
meinnützigkeit, wie  sie  in  der  organisirten  Wohlthätigkeit 
zum  Ausdruck  gelangen:  für  das  zweite  Thema:  A.  der 

Nutzen  der  Armenbesuche  innerhalb  der  organisirten  Wohl- 
thätigkeit, B.  die  Auswahl  der  Armenbesucher  (Helfer)  mit 
Hinblick  auf  die  einzelnen  Verarmungsfälle,  C.  die  Ver- 
theilung  der  Armenbesuche  nach  Armendistrikten,  D.  die 
Armenbesuche,  eine  bürgerliche  Pflicht;  für  das  dritte  Thema: 

A.  Inoffizielle  Arbeitskolonien,  B.  Arbeitstätten  in  Städten 
(Holzspaltereien  etc.  für  Männer,  Waschanstalten  etc.  für 
Frauen),  C.  die  Hilfe  durch  Verschaffung  von  Arbeit,  D.  die 
Verschaffung  von  Beschäftigung  in  Zusammenhang  mit  der 
Thätigkeit  des  Armenbesuchers  (friendly  visitor);  für  das 
vierte  Thema:  A.  Sparbanken  und  Spargenossenschaften, 

B.  das  System  der  Sparmarken,  C.  Systeme,  Methoden  und 
Ergebnisse  bei  Darlehnsbeschaffungen  , D.  der  Helfer 
(friendly  visitor)  als  Erzieher  des  Verarmten  zur  Wirth- 
schaftlichkeit.  Uebersichten  oder  Auszüge  der  Vorträge 
(papers)  über  die  im  vorstehenden  aufgeführten  Gegen- 
stände, welche  auf  dem  Kongresse  gehalten  oder  bei  Ab- 
wesenheit des  Verfassers  verlesen  werden  sollen,  müssen 
bis  zum  1.  Mai  1893  in  den  Händen  des  Sekretärs  der 
sechsten  Abtheilung  (Richmond  Mayo  Smith,  Columbia 
College,  New-York)  sein,  damit  sie  vor  Beginn  des  Kon- 
gresses gedruckt  und  unter  die  Theilnehmer  vertheilt  wer- 
den können. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin  W..  Victoriastrasse  16. 


400 


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No.  33. 


Soeben  erfdjien  mit)  ift  in  allen  23udjljanblungen  gu  Ijaben: 

„Sie  «Bett  atö  ÜBcrfftatt" 

^ocialpoütifdjc  gln|tdjt£« 

be§  §errtt 

UHUjelm  ßdjmamt 

Sifdjlermeifter  a.  ®. 

|tUei»Ptr0erdjv*ieben  tron 

:ßrtttfd). 

8°.  6 SBogen  in  ithiftrirtem  Untfdjlag  ißreis  1 Dtarf. 

e§  ift  ein  eigenartiges  Südflein,  ba®  unter  obigem  (Eitel  im  unterjetdjneten  Serlage  (oebett  erfdjietten  ift. 
(Sine  Julie  reidjee  unb  anregenber  (Scbanfeu  über  imferc  focinlcit  SBerljältntffc,  mancl)  ernfteS  iDlafjnroort  an  bie 
„Sefitienben",  ntandj  be^erstgenSroertfier  SHatfj  an  alle  Siejenigen,  bie  e8  ©rnft  meinen  mit  bem  focialen  Jrieben 
nuferer  unb  oor  allem  ber  jutünfttgen  3eit,  treten  in  biefem  iüidjleln  im  ©eioanbe  einer  humovtmllcn  ^ar= 
ftetluitg  an  beit  £efer  getan.  «Dian  glaubt  iljit  fprecfjen  ju  gören,  ben  bieberett  nerftcinbigeit  SKann  au§  bem 
Solle,  ber  in  feiner  treufjerjigen  Slrt  unb  mit  feinem  berliner  Stalccl  fo  cinbringlidj  unb  überjeugenb  ju 
reben  »erftegt. 

Stilen  ^ttbetiaeberit,  attett  £3d)örbett « %5orftmtbett  fet 
btefe3  SBiicfHeitt  Umritt  cmyfolilcm 

^erCag  t>ort 

A.  Hofmann  & Comp.,  Berlin  W.  41. 


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272  Hefte 

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17  Bände 

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17  Bände 


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Ungefähr  10,000  Abbildungen,  Karten  und  Pläne. 


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auf  ©ritnö  einer  oerloren  geglaubten 
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bem  Porträt  geleite  ttoit  |tarotuiijas 

oon 

»im  gfitbadj 

unb 

jmei  ^riefen  in  ^ahfimtle. 

8°,  XII  unb  188  Seiten. 

©efjeftet  ißreiS  21?.  3,  gebunben  ißreiS  21?.  4. 
3u  belieben  burdj 

pul  gdjcUcrs  |iid)I)nnblung  (|.  f ii|trnntad)i:r) 

^erlitt  W.,  2I?arfgrafenfir.  39/40. 

Carl  fjetjmanns  gering,  $erlht  W. 

2J?auerftrafje  44. 

0altamirtl)|it)nfllitl)t5  fefclniil) 

jum 


Bearbeitet 

001t 

Paljrattu 

5Regterung?ratf> 

8o.  VIII  unb  96  Seiten. 

2$reiS  tarton.  2l?f'.  1,  poftfrei  2J?f.  1,10. 

2>ie 

PirtljfdiaftlidKojinlfii  Aufgaben 

uttfevev  JJjeit 

auf  inhjtriflltin  unb  laniuuid^fdjnftlidjcm  lebittt 

oon 

©um  p 

@eg.  DberregierungSratf). 

8°.  VI  unb  328  Seiten. 


3n  meinem  2$erlag  ift  foeben  erfdjienen  unb  in  jeher  83ud)fjanblung  uorrcitig: 

fflotjlfaljrtkinridjtmigen 

ler  p]  Uratllal 

burcf) 

gemeinnütjigr  Stfctiengefellfiijaften 

©in  cStürk  loyaler  Reform 

oon 

Jfattl  gedj ler 

Stuttgart. 

®ritte  Sluflage.  33rei§  30  Pfennige. 

®er  burtf)  feine  S^ätigfeit  in  ber  2BoljlfatjrtSpfIege  unb  auf  oerraanbten  ©ebieten  roof)I= 
betannte  SSerfaffer  entmidelt  in  biefer  Schrift  pofitioc  25or[d)läge,  meiere  barauf  abjielen,  bie 
Söfung  ber  fojialen  grage  gu  förbern  burcf)  bie  Regelung  ber  2trbeiter=2BoBnungSoerI)äItntffe. 
©r  oertritt  mit  üBerjeugenber  SäeroeiSfüIjrung  ben  Stanbpunft,  baff  bie  Beteiligung  ber  2Bofj= 
nungSnot  ber  Arbeiter  als  ber  2J?itteI=  unb  SluSgangSpunft  aller  3teformbeftrebungen  atigcfeBen 
roerben  muffe,  nach  beffen  Schaffung  erft  für  eine  erfprie&Iidje  SluSbefjnung  ber  S^ätigtcit  auf 
meitere  ©eBiete  ber  2Bo£)Ifa^rtSpffege  ber  Boben  geebnet  fei.  Sei  ber  ©röjje  ber  Aufgabe  ift  aber 
an  einen  glüdlidfcn  ©rfolg  ohne  fräftige  StaatSbilfc  nidjt  ju  beuten,  bie  fidj  übrigens  auf  eine 
blofje  ©arantieleiffung  für  Kapital  unb  3inS  befdjränfen  tonnte. 

©S  märe  bringenb  ju  loünfdjen,  baff  ben  als  praftifdj  nnb  burdjfütjrbar  anertannten  Bor» 
fdjlägen  nun  aud)  Saaten  folgen. 

Stuttgart.  P.  ßol)U|rtmmrr. 


ißreiS  geheftet  S?f.  7,  poftfrei  3)tt.  7,20. 

Schriften  ber  Centralftellc  für 
Arbeiter--  tDo^lfa^rtseinridjtungcn. 


9Jr.  1. 

|it  Itrlpnitig  itr  pjftrapn. 

Sftit  208  SlbBilbungen  im  Sejt. 

8°.  VI  unb  370  Seiten. 

SßreiS  geljeftet  Stt.  8. — , poftfrei  332t.  8.30. 
„ gebunben  9ftf.  9.—,  poftfrei  9Jtf.  9.30. 

«Rr.  2. 

Die  ^uiednnÄ^ige  Dertoenbmtg 

ber 

öitmitags-  uiiö  feietffit. 

8°.  IV  unb  94  Seiten. 
ißrciS  geheftet  SKt.  2.—,  poftfrei  2Ut.  2.10. 

Carl  ijcijmami?  Erring  in  öcrlin  W., 

Slauerftrafee  44. 


mr  §iergu  eine  (Sjtrabeilage  ber  23erlag§budjf)anölung  ©.  in  gripjig. 


Carl  Heymanns  Verlag  in  Berlin  W.,  Mauerstrasse  44-  — Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld  in  Berlin  • 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  22.  Mai  1893. 


Nummer  34. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 


Erscheint  jeden  Montag. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 

Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 


Zu  beziehen 

durch  alle  Buchhandlungen,  Spediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


Einzelnummer  20  Pf 

Anzeigenpreis  für  die  dreigespaltene  Colonelzeile 
40  Pfennig. 


INHALT. 


Zur  Dienstbotenfrage.  Von 
J.  Silbermann. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  und 
Wirthschaftsstatistik : 

Statistik  der  jugendlichen  und  weib- 
lichen Arbeiter  in  Bayern. 

Zur  Statistik  des  Arbeitsnachweises 
in  Stuttgart. 

Die  überseeische  Auswanderung 
über  deutsche  Häfen  im  April 
1893. 

Zur  Zwangserziehung  verwahr- 
loster Kinder  in  Preussen. 

Landwirthschaftliche  Arbeit  in  den 
Vereinigten  Staaten  von  Amerika. 

Arbeiterzustände : 

Zur  Methodologie  der  Haushalts- 
statistik. Von  Pfarrer  Dr.  E. 
Hofmann. 

Arbeitslosigkeit  im  Münsterlande. 
Von  Privatdozent  Dr.  Karl 
Oldenberg. 

Der  durchschnittliche  Jahresarbeits- 
verdienst erwachsener  land-  und 
forstwirthschaftlicher  Arbeiter  in 
Deutschland. 

Städtische  Arbeiterverhältnisse  in 
Mainz. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Zur  sozialdemokratischen  Bewe- 
gung in  England. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewe- 
gung: 

Strikebewegungen  in  Wien. 

Englische  Gewerkschaftsstatistik. 

Ende  des  Dockarbeiterstrikes  in 

Hüll. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Zur  Beschränkung  der  Arbeit 
jugendlicher  Arbeiter  und  Frauen 
in  Oesterreich. 

Zur  Beschäftigung  schulpflichtiger 
Kinder  bei  öffentlichen  Vor- 
stellungen. 

Arbeiterversicherung : 

Zur  Arbeitslosenversicherung  in 
Zürich. 

Frauenfrage: 

Die  Berufsverhältnisse  der  russi- 
schen Frauen.  Von  S.  Wer- 
blu  nsk  i. 

Frauentag  in  Wiesbaden. 

Wohnungsfrage  und  Wohnungs- 
gesetzgebung : 

Bauordnungen  für  städtische  In- 
und  Aussenbauten. 

Gesetzentwurf  betr.  die  Woh- 
nungspflege in  Hamburg. 

Schulwesen,  Erziehungs-  und 
Bildungsfragen: 

Ueber  Zustände  der  Schulverwal- 
tung in  Preussen. 

Litteratur: 

Jastrow,  Drückt  die  Militärlast 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Zur  Dienstbotenfrage. 


In  der  letzten  Generalversammlung  des  Vereins  für 
Sozialpolitik  wurde  von  einem  Redner  im  Anschluss  an 
eine  Besprechung  der  ländlichen  Arbeiterverhältnisse  eine 
Aenderung  unserer  Gesindeordnung  angeregt.  Leider  fand 
eine  eingehende  Diskussion  über  diese  Frage  nicht  statt, 
was  umsomehr  zu  bedauern  ist,  als  die  Commission  für 
das  bürgerliche  Gesetzbuch  sich  mit  dieser  Materie  nicht 
beschäftigt  hat  und  es  doch  feststeht,  dass  ohne  Anregung 
und  Drängen  von  aussen  die  Regierungen  der  Einzelstaaten 
keinen  Schritt  in  der  angedeuteten  Richtung  thun  werden. 

Man  bezeichnet  die  Verschiedenheit  der  Gesinde-Ord- 
nungen, deren  es  in  Deutschland  über  zwei  Dutzend  giebt, 
als  unüberwindliches  Hinderniss  für  ihre  einheitliche  Um- 
gestaltung im  Deutschen  Reich.  Dazu  wäre  zunächst  zu 
bemerken,  dass  die  Verschiedenheit  durchaus  nicht  so  gross 
ist,  und  dass  die  preussische  Gesindeordnung  von  1810 


gewissermaassen  den  Typus  aller  Gesindeordnungen  dar- 
stellt. Im  Jahre  1844  wurde  für  die  Rheinprovinz  eine  neue 
Gesindeordnung  eingeführt,  die  sich  an  diejenige  von  1810 
stark  anlehnt,  obwohl  allerdings  einige  besonders  harte,  an 
die  Zeit  der  Hörigkeit  erinnernde  Bestimmungen  wegge- 
fallen sind.  Wenn  nun  Preussen  schon  in  jener  Zeit  sich 
zu  solchen  Milderungen  für  den  Westen  gezwungen  sah, 
so  ist  es  seine  Pflicht,  heute  nach  mehr  als  40  Jahren, 
nachdem  die  politischen  und  wirthsehaftlichen  Verhältnisse 
sich  so  sehr  geändert  haben,  dieselbe  Vergünstigung  auch 
dem  Osten  zuzuwenden,  und  damit  wäre  ein  Schritt  weiter 
gethan,  um  eine  einheitliche  Regelung  der  Gesetzgebung 
für  das  ganze  Reich  vorzubereiten.  Die  Erfüllung  dieser 
Pflicht  kann  der  preussischen  Regierung  umso  leichter  wer- 
den, als  sie  mit  einer  freiheitlichen  Umgestaltung  der  Ge- 
sindeordnung nur  den  thatsächlichen  Verhältnissen  gesetz- 
lichen Ausdruck  gäbe.  Denn  die  Freizügigkeit  und  die 
Gewerbefreiheit  haben  es  mit  sich  gebracht,  dass  die  Dienst- 
boten, satt  einer  sozialen  und  rechtlichen  Inferiorität,  sich 
anderen  Berufszweigen  zuwenden.  Das  immer  steigende 
Bedürfniss  nach  Gesinde  auf  dem  Lande  und  in  der  Stadt 
kann  infolge  dessen  nicht  befriedigt  werden,  und  der  Ge- 
sindemangel führt  namentlich  in  den  Städten  zu  einer  viel 
besseren  Behandlung  des  Gesindes,  als  es  nach  Vorschrift 
des  Gesetzes  zulässig  ist. 

Die  Stellung  des  Gesindes  innerhalb  der  Familie  hat 
insbesondere  in  den  Städten  eine  gründliche  Aenderung 
erfahren,  dergestalt,  dass  man  heute  von  Gesinde  überhaupt 
kaum  noch  sprechen  kann.  Denn  die  Eigenschaft  als  Ge- 
sinde bedingt  die  Zugehörigkeit  zur  Familie,  und  die  preussi- 
schen Gesindeordnungen,  die  der  „Herrschaft“  eine  wenig 
beschränkte  Disziplin  über  die  Dienstboten  auch  ausserhalb 
des  Hauses  einräumen,  gehen  von  diesem  Grundsätze  der 
Zugehörigkeit  aus.  Das  patriarchalische  Verhältniss,  das 
neben  strammer  Zucht  auch  liebevolle  Fürsorge  zur  Vor- 
aussetzung hat,  besteht  kaum  noch  irgendwo.  Die  Mieths- 
fristen  werden  immer  kürzer,  weder  Herrschaft  noch  Dienst- 
boten wollen  sich  an  lange  Zeiten  binden.  Die  Grund- 
besitzer, mögen  sie  nun  Rittergutsbesitzer  oder  Bauern 
sein,  suchen  sich  der  Dienstleute  zu  entledigen,  noch  bevor 
die  Frist  zur  Erlangung  des  Unterstützungswohnsitzes  ab- 
gelaufen ist.  Der  Dienstbote  ist  heute  nichts  anderes  als 
eine  zu  bestimmten  Dienstleistungen  in  Haus  und  Wirth- 
schaft  gegen  entsprechendes  Entgelt  angenommene  Person, 
die  zu  der  Familie  selbst  in  gar  keine  innigeren  Beziehungen 
tritt.  Er  unterscheidet  sich  vom  Fabrikarbeiter  nur  darin, 
dass  seine  Löhnung  vorzugsweise  eine  Naturallöhnung  ist 
und  er  jederzeit,  Tag  und  Nacht,  die  Befehle  der  Herr- 
schaft auszuführen  hat.  Mag  auch  die  Naturallöhnung 
unter  gewissen  Umständen  vortheilhaft  und  für  gewisse 
Dienstverhältnisse  nothwendig  sein,  die  Unfreiheit,  die  Un- 
möglichkeit über  die  eigene  Person  nach  Belieben  zu  ver- 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  34. 


lügen,  bildet  eine  Fessel,  die  je  länger  je  mehr  schmerzlich 
empfunden  wird.  Daher  kommt  es  auch,  dass  die  Kategorie 
des  Dienstbotenstandes  sich  nicht  aus  dem  eigentlichen, 
völlig  besitzlosen  Proletariat,  sondern  aus  dem  kleinen 
Bauern-  und  Handwerkerstande  rekrutirt.  Die  Tochter  des 
Fabrikarbeiters  vermag  nicht  so  leicht,  sich  freiwillig  in  eine 
gänzliche  Unfreiheit  zu  begeben.  Aber  selbst  in  den 
Mädchen  aus  dem  städtischen  Handwerkerstande  sehen  wir 
das  Freiheitsgefühl  sich  immer  mehr  Bahn  brechen,  und 
überblicken  wir  die  Inseratenspalten  grosser  Tagesblätter, 
so  finden  wir  eine  wachsende  Zahl  von  Angeboten  junger 
Mädchen  zu  Dienstbotenstellung  für  einen  bestimmten  Tages- 
zeitraum. Von  denjenigen  Mädchen,  die  vom  Lande  her 
oder  aus  dem  kleinen  Handwerkerstande  sich  als  Dienst- 
boten vermiethen,  geht  ein  grosser  Theil  nach  mehrjähriger 
Thätigkeit  zu  einem  freieren  Beruf  über;  diese  Mädchen 
werden  Putzmacherinnen,  Schneiderinnen,  Plätterinnen, 
Fabrikarbeiterinnen,  und  es  ist  heute  sogar  schon  ein  ge- 
wisser Klassenhass  zwischen  den  Arbeiterinnen  im  engen 
Sinne  des  Wortes  und  den  Dienstboten  vorhanden.  Die 
männlichen  Dienstboten  betrachten  ihre  Stellung  in  der 
Regel  nur  als  ein  Uebergangsstadium  bis  zur  Erlangung  eines 
selbständigen  Berufes. 

Die  Nachtheile  des  Dienstbotenstandes  sollen,  wie  oft 
entgegnet  wird,  durch  eine  bessere  Bezahlung  ausgeglichen 
werden.  Diese  Behauptung  ist  nicht  ganz  richtig.  Einen 
Vortheil  hat  heute  der  Dienstbote  vor  der  Arbeiterin  aller- 
dings voraus.  Bei  dem  herrschenden  Dienstbotenmangel 
geräth  er  nicht  so  leicht  in  Gefahr  hungern  zu  müssen  und 
ist  eher  in  der  Lage  seiner  Herrschaft  gewisse  Bedingungen 
zu  stellen,  die  wohl  thatsächlich  aus  Furcht  erfüllt  werden, 
auf  die  der  Dienstbote  aber  kraft  der  Gesindeordnung  einen 
rechtlichen  Anspruch  nicht  hat,  so  z.  B.  betreffs  des  freien 
Sonntagnachmittags.  Der  Lohn  an  sich  aber  ist  ein  relativ 
niedriger.  Nehmen  wir  Berliner  Verhältnisse,  die  als  ver- 
hältnissmässig  günstige  zu  bezeichnen  sind,  so  finden  wir 
folgendes:  Der  weibliche  Dienstbote  erhält  freie  Kost, 

Schlafstelle  und  nach  etwa  zweijähriger  Thätigkeit  einen 
Baarlohn  von  120—180  M.  Dazu  kommt  das  Weihnachts- 
geschenk und  eventuell  ein  Geburtstagsgeschenk  im  Höchst- 
betrage von  30  M.  in  baar  oder  Werthgegenständen.  Die 
Kost  ist  ja  in  verschiedenen  Familien  recht  verschieden, 
muss  aber  selbstverständlich,  da  es  auf  die  thatsächlichen 
Ausgaben  ankommt,  nach  ihrem  Werthe  für  die  Herrschaft 
bemessen  werden.  Dieser  Werth  dürfte  hochgerechnet 
1 M.  für  den  Tag  betragen,  da  Leute  aus  dem  Mittelstände, 
wenn  sie  ins  Bad  reisen  und  den  Dienstboten  allein  zu 
Hause  lassen,  im  Höchstfälle  diesen  Betrag  zur  Bekösti- 
gung gewähren.  Eine  Ausgabe  für  die  Schlafstelle  ist  kaum 
in  Anrechnung  zu  bringen,  da  die  Wohnungen  meistentheils 
schon  so  gebaut  sind,  dass  ein  Raum  für  den  Dienstboten 
frei  bleibt;  er  ist  auch  gewöhnlich  so  ungesund  und  schlecht, 
dass  ihm  ein  Werth  gar  nicht  beigemessen  werden  kann; 
rechnen  wir  nun  dazu  noch  für  Wäsche  etwa  3 M.  monat- 
lich. Das  giebt  alles  zusammen,  wenn  wir  für  den  Baarlohn 
einen  Durchschnitt  von  150  M.  nehmen,  einen  Betrag  von 
jährlich  548  M.,  oder  etwa  45  M.  monatlich.  Da  der  Dienst- 
bote in  der  Regel  von  7 Uhr  früh  bis  10  Uhr  abends,  ab- 
gesehen von  mancherlei  Störungen  in  der  Nacht,  beschäf- 
tigt ist,  am  Sonntag  etwa  die  Hälfte  der  Zeit,  so  ergiebt 
sich  für  die  Stunde  eine  Bezahlung  von  io3/4  Pfennigen. 
Diese  Zahl  reduzirt  sich  aber  bedeutend,  wenn  man  erwägt, 
wie  oft  der  Dienstbote  über  10  Uhr  abends  hinaus  thätig 
sein  muss  und  wie  oft  er,  z.  B.  in  Krankheitsfällen  oder  ■ 
bei  minder  wichtigen  Anlässen,  der  nothwendigen  Nacht- 
ruhe beraubt  wird. 

Zu  dieser  gedrückten  gesellschaftlichen  und  wirthschaft- 
lichen  Stellung  kommt  eine  Rechtsungleichheit,  die  den 
Dienstboten  gesetzlich  zu  Staatsbürgern  zweiter  Klasse 
stempelt.  Der  gesetzlich  gemachte  Unterschied  zwischen 


Arbeitern  und  Dienstboten  ist  aber  einer  der  wundesten 
Punkte  an  unserem  Staatskörper.  Die  Verpflichtung  zur 
Führung  von  Gesindebüchern  auch  für  den  nicht  mehr 
jugendlichen  Theil  der  Dienstboten,  die  Vermittelung  der 
Polizei  bei  Streitigkeiten  zwischen  Dienstboten  und  Herr- 
schaft sowie  überhaupt  die  polizeilichen  Zwangsmittel  bei 
Kontraktbruch,  das  Züchtigungsrecht  der  Herrschaft,  Ersatz 
für  angerichteten  Schaden  durch  persönliche  Dienst- 
leistungen (§  69  der  Gesindeordnung  von  1810),  das  Strike- 
verbot  bilden  recht  merkwürdige  Unterschiede  zwischen 
Gesindeordnung  und  Gewerbeordnung.  Man  sehe  sich 
ferner  die  Gründe  an,  aus  denen  die  Herrschaft  den  Dienst- 
boten ohne  vorherige  Aufkündigung  entlassen  kann,  und 
vergleiche  sie  mit  den  Gründen,  aus  denen  der  Dienstbote 
seine  Stellung  ohne  Weiteres  verlassen  kann!  Für  die 
Herrschaft  sind  19  für  den  Dienstboten  nur  7 Gründe  auf- 
geführt. Die  Gesindeordnung  trägt  den  Charakter  eines 
Schutzes  der  Dienstherrschaft  gegen  Uebergriffe  des  Dienst- 
boten, während  der  gesetzliche  Schutz  des  letzteren  nur 
ein  minimaler  ist.  Wie  das  häufig  gebrauchte  Wort 
„Miethe“  beweist,  wird  der  Dienstbote  rechtlich  als  eine 
Sache  betrachtet,  die  zu  beliebigem  Gebrauch  verwendet 
werden  kann.  Wie  wäre  sonst  ein  Paragraph  möglich, 
dass  Gesinde,  welches  zu  gewissen  Arbeiten  oder  Diensten 
angenommen  ist,  dennoch  auf  Verlangen  der  Herrschaft 
andere  häusliche  Verrichtungen  mit  übernehmen  muss, 
wenn  das  dazu  bestimmte  Nebengesinde  durch  Krankheit 
oder  sonst  auf  eine  zeitlang  daran  verhindert  wird!  Wie 
wäre  sonst  eine  Bestimmung  möglich,  wonach  auch  solche 
Ausdrücke  oder  Handlungen,  die  zwischen  anderen  Per- 
sonen als  Zeichen  der  Geringschätzung  anerkannt  sind, 
gegen  die  Herrschaft  noch  nicht  die  Vermuthung  begrün- 
den, dass  sie  die  Ehre  des  Gesindes  dadurch  habe  kränken  ! 
wollen?  Das  bedeutet  doch  nichts  anderes  als  die  gesetz- 
liche Ivonstatirung  der  sozialen  Minderwerthigkeit  des  Ge- 
sindes. Die  ungleiche  Behandlung  von  Herrschaft  und 
Dienstboten  geht  auch  aus  folgenden  Bestimmungen  her- 
vor. Wenn  die  Herrschaft  den  Dienstboten,  der  den  Dienst 
zwar  widerrechtlich  verlassen  hat  aber  doch  wieder  zurück- 
kommen möchte,  nicht  mehr  annehmen  will,  so  ist  sie  be-  ! 
rechtigt,  einen  anderen  Dienstboten  zu  miethen,  und  der  ' 
ausgetretene  Dienstbote  hat  nicht  nur  die  dadurch  verur- 
sachten Mehrkosten  zu  erstatten,  sondern  verfällt  überdies 
in  eine  Strafe  von  6 bis  30  Mk.  Wenn  dagegen  die  Herr- 
schaft den  Dienstboten  unrechtmässig  entlässt,  dann  ihn 
aber  wieder  aufnehmen  will,  der  Dienstbote  sich  aber  an- 
zutreten weigert,  so  hat  letzterer  keine  Vergütung  zu 
fordern;  in  eine  Strafe  verfällt  die  Herrschaft  natürlich 
nicht.  Recht  mittelalterlich  muthet  uns  § 64  der  Gesinde- 
ordnung  von  1810  an:  Das  Gesinde  ist  schuldig,  seine 
Dienste  treu,  fleissig  und  aufmerksam  zu  verrichten.  Die 
neue  Gewerbeordnung  enthält  die  Bestimmung,  dass  der 
Arbeitgeber  den  Lohn  bis  zum  Höchstbetrage  des  Wochen- 
lohnes im  Falle  eines  Kontraktbruchs  einhalten  kann;  diese 
Bestimmung,  so  anfechtbar  sie  ist,  enthält  nur  eine  Schadlos- 
haltung. Das  Gesinde  verwirkt  in  gleichem  Falle  eine 
Geldstrafe  bis  zu  5 Thalern  oder  3 Tage  Gefängniss,  ja 
diese  Strafe  tritt  schon  bei  „hartnäckigem  Ungehorsam“ 
oder  „Widerspenstigkeit  gegen  die  Befehle  der  Herrschaft“ 
ein.  Neulich  ging  ja  eine  Notiz  durch  die  Zeitung,  wonach 
3 Dienstboten,  die  sich  vom  Verwalter  beleidigt  hielten  und 
beim  Gutsherrn  sich  beklagten,  mit  Strafe  belegt  wurden, 
weil  sie  der  Aufforderung  des  Gutsherrn,  sich  sofort  wieder 
an  die  Arbeit  zu  begeben,  nicht  Folge  leisteten. 

Kann  man  sich  angesichts  der  sozialen,  wirthschaft- 
lichen  und  rechtlichen  Verhältnisse  des  Gesindes  noch 
wundern,  dass  der  Kontraktbruch  überhand  und  der  Dienst- 
botenmangel zunimmt?  Je  mehr  die  Einsicht  dieser  Arbeiter- 
kategorie wächst,  desto  grösser  werden  die  Uebelstände 
werden,  Uebelstände  für  beide  Theile.  Die  sozialen  und 


No.  34. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAI  .BLATT. 


403 


wirthschaftlichen  Verhältnisse  lassen  sich  durch  Gesetz  mit 
einem  Schlage  nicht  ändern;  aber  die  rechtlichen  Verhält- 
nisse können  sehr  wohl  anders  geregelt  werden  und  müssen 
eine  Regelung  erfahren,  weil  schon  heute  die  thatsächlichen 
Verhältnisse  in  Widerspruch  stehen  mit  der  Gesetzgebung. 
Es  ist  zu  verlangen:  einheitliche  Regelung  des  Dienstboten- 
wesens für  ganz  Preussen  im  Anschluss  und  unter  aus- 
giebiger Berücksichtigung  der  Reichs- Gewerbeordnung. 
Ferner  wäre  eine  Unterscheidung  zwischen  jugendlichen 
und  erwachsenen,  männlichen  und  weiblichen  Personen  nach 
der  täglichen  Beschäftigungsdauer,  sowie  die  Festsetzung 
eines  Höchstmasses  für  Sonntagsarbeit  sehr  wohl  am  Platze. 
Denn  dieselben  Gründe,  die  für  die  betreffenden  gesetz- 
lichen Massnahmen  in  Bezug  auf  Fabrikarbeiter  geltend 
gemacht  werden  können,  sind  auch  für  Dienstboten  mass- 
gebend. Die  Beschäftigung  der  ländlichen  Arbeiter  während 
der  Ernte  wäre  gemäss  den  Bestimmungen  der  Reichs- 
Gewerbeordnung  über  die  Saisonarbeit  zu  regeln.  Die 
polizeiliche  Intervention  müsste  wegfallen,  da  sie  dem 
Grundsatz  der  Rechtsgleichheit  widerspricht.  Das  Züchti- 
gungsrecht muss  der  Herrschaft  unter  allen  Umständen 
abgesprochen  werden,  damit  endlich  in  diese  viel  erörterte 
Materie  volle  Klarheit  gebracht  werde;  der  Schadenersatz- 
anspruch der  Herrschaft,  der  in  beschränktem  Umfange 
bestehen  bleiben  könnte,  bietet  ja  genügende  Gewähr  für 
Verluste,  die  durch  Ungehorsam  u.  dgl.  entstehen.  Endlich 
muss  mit  dem  Strikeverbote  aufgeräumt  werden,  da  ein 
Ausstand  des  Gesindes  für  die  Oeffentlichkeit  gar  keine 
Gefahr  bringt.  Es  ist  kein  Grund  vorhanden,  warum  der 
Dienstbote  in  diesem  Punkte  schlechter  behandelt  werden 
soll,  als  der  gewerbliche  Arbeiter.  Eine  Aufhebung  des 
Strikeverbotes  würde  sogar  vielleicht  den  Erfolg  haben, 
dass  die  Fälle  von  Kontraktbruch  abnähmen.  Die  Umge- 
staltung der  Gesindeordnung  in  dieser  Richtung  ist  nicht 
bloss  eine  Forderung  der  Humanität,  sondern  auch  des 
gesunden  Menschenverstandes. 

Berlin.  J-  Silbermann. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 


Statistik  der  jugendlichen  und  weiblichen  Arbeiter  in 
Bayern.  Aus  den  kürzlich  erschienenen  ,, Jahresberichten  der 
Königlich  Bayerischen  Fabriken-  und  Gewerbeinspektoren 
für  das  Jahr  1892,  im  Aufträge  des  Königlichen  Staats- 
ministeriums des  Inneren,  Abtheilung  für  Landwirthschaft, 
Gewerbe  und  Handel,  veröffentlicht“  (München,  Th.  Acker- 
mann, 1893,  VI  und  256  Seiten)  ist  es  bei  der  in  Folge  des 
Mangels  jeder  orientirenden  Zusammenstellung  für  das  ganze 
Königreich  uns  sehr  schwer,  einen  Ueberblick  über  die  Be- 
schäftigung jugendlicher  und  weiblicher  Arbeiter  zu  erlangen. 
Es  muss  bereits  als  Fortschritt  gelten,  dass  überhaupt  (in 
Folge  der  neuen  Gewerbeordnungsvorschriften)  eine  Zählung 
der  weiblichen  Arbeiter  stattfand,  die  seit  1881  nicht  mehr 
vorgenommen  worden  war.  Aber  es  fehlen  die  Zahlen  der 
erwachsenen  Arbeiter  zum  Vergleich,  und  die  Ziffern  der 
jugendlichen  sowie  weiblichen  Arbeiter  sind  unbegreiflicher 
Weise  für  jeden  der  im  Berichtsjahr  neu  eingerichteten 
acht  Bezirke  gesondert  mitgetheilt,  so  dass  der  Leser 
erst  die  Addition  jeder  Rubrik  für  ganz  Bayern  vornehmen 
muss!  Ein  Eingehen  auf  die  einzelnen  Gewerbegruppen, 
das  eine  endlose  Reihe  von  Additionsexempeln  nothwendig 
machen  würde,  vor  denen  man  sich  im  bayerischen  Ministe- 
rium offenbar  scheute,  ist  also  vorläufig  gar  nicht  möglich, 
man  muss  froh  sein,  den  Gesammtüberblick  hergestellt  zu 
haben.  Dass  Zahlen  aus  den  Vorjahren  nicht  mitgetheilt 
sind,  ist  für  jeden  Kenner  der  bayerischen  Berichte  selbst- 
verständlich; dafür  kehren  die  irreführenden  Uebersichten 
für  jeden  der  Inspektionsbezirke  wieder,  welche  eine  weit- 
läufig aufgemachte  Statistik  aller  Arbeiterkategorien  der 
im  Berichtsjahre  inspizirten  Betriebe  betreffen,  aber  in  Folge 


des  einfachen  Umstandes,  dass  die  inspizirten  Betriebe  jedes 
Jahr  variiren,  sozialpolitisch  einen  sehr  geringen  Werth 
haben,  zumal  niemals  das  Verhältnis  angegeben  ist,  in 
welchem  die  Zahl  der  inspizirten  Betriebe  und  Arbeiter  zu 
derjenigen  des  überhaupt  vorhandenen  steht.  In  allen 
diesen  schwer  erklärlichen  Mängeln  der  bayerischen  Ar- 
beiterstatistik in  der  Fabrikinspektoren -Berichten , ist  es 
begründet,  dass  bei  aller  Mühe,  die  wir  auf  die  Herbei- 
ziehung früherer  Daten  verwendeten,  doch  nur  folgende 
Uebersicht  über  die  jugendlichen  Arbeiter  gegeben  werden 
kann,  die  übi'igens  kein  bayerischer  Berichtsband  noch  ent- 
halten hat.  Es  betrug  die  Anzahl  der 


im  Jahre 

Anlagen 

mit 

jugendl. 

Arbeitern 

jugendlichen  Arbeiter 
von  14  — 16  Jahren 

kindlichen  Arbeiter 
von  12  bezw.  13  Jabren 

männl. 

weibl. 

zus. 

männl. 

weibl. 

ZUS. 

1881 

? 

4 186 

2880 

6 996 

733 

330 

1053 

1882 

933 

4 228 

2749 

6 977 

530 

305 

835 

1881 

1 177 

5 225 

3433 

8 658 

773 

387 

1160 

1886 

1357 

5 677 

3658 

9 335 

761 

299 

1060 

1S88 

1609 

7 526 

4217 

1 1 743 

1229 

368 

1597 

1890 

2155 

9 057 

5703 

14  760 

1590 

550 

2140 

1892 

2487 

10  115 

5304 

15419 

1239 

403 

1642 

Da  beim  Fehlen  der  Ziffern  männlicher  erwachsener 
Arbeiter  sozialpolitisch  werthvolle  Schlussfolgerungen  aus 
der  Entwickelung  dieser  Zahlenreihen  während  eines  Jahr- 
zehntes nicht  gezogen  werden  können,  so  bleibt  als  be- 
merkenswerth  nur  festzustellen,  dass  sich  die  Wirkung  der 
Gewerbenovelle  von  1891  wie  vorauszusehen  für  Bayern  in 
weit  schwächerem  Maasse  bei  der  Kinderarbeit  geltend  ge- 
macht, als  in  Sachsen  und  Baden.  Bayern  entlässt  bekannt- 
lich seine  Kinder  schon  mit  13  Jahren  aus  der  Volksschule, 
die  Gewerbenovelle  aber  gestattet  die  Fortbeschäftigung 
ißjähriger  Kinder,  die  ihrer  Volksschulpflicht  genügt  haben. 
Und  so  hat  Bayern  das  sozialpolitisch  wohl  wenig  be- 
neidenswerthe  Privilegium,  auf  eine  nur  sehr  schwache  Ab- 
nahme der  Kinderarbeit  in  seinen  Fabriken  von  1891  auf 
1892  zurückzublicken.  Die  Zahl  der  jugendlichen  Arbeiter 
von  14  — 16  Jahren  vollends  stieg  trotz  der  Krisenzeit, 
welche  auch  die  bayerische  Fabrikindustrie  durchmachte, 
weiter,  wenn  auch  nicht  ganz  in  so  starkem  Maasse  wie 
in  den  Vorjahren;  die  Anlagen  mit  jugendlichen  Arbeitern 
zeigen  die  seit  Jahren  beobachtete  regelmässige  Steigerung. 
Für  die  Einzelbezirke  bestätigt  namentlich  der  Beamte  für 
Mittelfranken  die  regelmässige  Zunahme  der  jugendlichen 
Arbeiter  in  allen  Branchen. 

Die  Zählung  der  weiblichen  erwachsenen  Arbeiter 
ergab  für  ganz  Bayern  die  Ziffer  von  50104  (gegen  25537 
im  Jahre  1881).  Das  würde  eine  relativ  und  äusserlich  sehr 
erhebliche  Ausbreitung  der  Frauenarbeit  bedeuten;  man 
muss  bedenken,  dass  Baden  zur  gleichen  Zeit  nur  35  389 
und  Württemberg  nur  27  719  erwachsene  Arbeiterinnen  in 
Fabriken  beschäftigte.  Aber  auch  diese  Ziffern  werden  erst 
dann  wirklichen  sozialpolitischen  Werth  gewinnen,  wenn 
sich  Bayern  und  Württemberg,  ebenso  wie  Sachsen  und 
Baden  entschliessen,  endlich  aus  dem  elementaren  Zustand 
ihrer  Fabrik- Arbeiterstatistik  herauszukommen  und  alle 
Arbeiterkategorien  alljährlich  numerisch  vollständig  und 
zuverlässig  festzustellen. 

Zur  Statistik  des  Arbeitsnachweises  in  Stuttgart.  Das 

„Bureau  für  Arbeitsnachweis“  in  Stuttgart  besteht  schon 
seit  28  Jahren,  es  betreibt  die  Arbeitsvermittelung  nicht 
nur  innerhalb  Stuttgarts,  sondern  auch  nach  auswärts.  Seit 
seiner  im  Jahre  1865  erfolgten  Gründung  hat  das  Bureau 
bis  Ende  des  Jahres  1892  zusammen  479450  gebuchte  Ver- 
mittelungen aufzuweisen  und  in  dieser  Zeit  14107  Arbeiter 
in  auswärtige  Stellungen  gewiesen.  Der  Bericht  des  letzten 
Geschäftsjahres  hebt  ganz  besonders  den  Nutzen  dieser 
Arbeitsvermittelung  nach  auswärts,  die  in  679  Fällen  statt- 
gefunden hat,  für  das  Jahr  1892  hervor,  insofern  die  Aus- 
dehnung, welche  der  Geschäftskreis  des  Bureaus  im  In- 
und  Auslande  gefunden  hat,  den  Arbeitsuchenden  bei  der 
grösseren  Schwierigkeit  ihrer  Unterbringung  am  Platze 


404 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  34. 


besonders  zu  statten  kam.  Gesuche  von  Arbeitgebern 
gingen  im  Jahre  1892  insgesammt  6539  ein,  von  Arbeit- 
nehmern 8443,  am  Schlüsse  des  Jahres  1892  waren  noch 
zur  Erledigung  vorgemerkt  66  Gesuche  von  Arbeitgebern. 
Aus  der  in  dem  Bericht  dargelegten  Vertheilung  der  Gesuche 
auf  die  einzelnen  Gewerbe  geht  hervor,  dass  sich  der 
Arbeitsnachweis  nicht,  wie  z.  B.  beim  Centralverein  für 
Arbeitsnachweis  in  Berlin,  in  der  Hauptsache  auf  ungelernte 
Arbeiter  beschränkt;  es  ist  vielmehr  der  überwiegende 
1 heil  der  Arbeitsvermittelungen  für  gelernte  Arbeiter  erfolgt. 
Der  Arbeitsnachweis  für  Arbeiterinnen  scheint  in  dem 
Stuttgarter  Bureau  nicht  gehandhabt  zu  werden.  Das 
Bureau  hat  für  Rechnung  verschiedener  Vereine  und  Ge- 
werbe im  ganzen  an  1211  Durchreisende  Reiseunter- 
stützungen mit  zusammen  1854,68  M.  vertheilt  und  wendet 
endlich  auch  der  Vermittelung  von  Lehrstellen  eine  besondere 
Sorgfalt  zu. 

Die  überseeische  Auswanderung  über  deutsche  Häfen 
und  Antwerpen  stellte  sich  nach  den  Ermittelungen  des 
Kaiserlichen  Statistischen  Amts  im  April  1893  und  im 
gleichen  Zeitraum  des  Vorjahres  folgendermassen: 

Es  wurden  befördert  im  April 


über  1893  1892 

Bremen 5577  10793 

Hamburg 5055  5293 

andere  deutsche  Häfen  (Stettin)  — 363 

deutsche  Häfen  zusammen  . . 10632  16449 

Antwerpen 1621  3519 

Ueberhaupt  . . 12253  ?9968 


Aus  deutschen  Häfen  wurden  im  April  d.  J.  neben  den 
vorgenannten  10632  deutschen  Auswanderern  noch  15234 
Angehörige  fremder  Staaten  befördert.  Davon  gingen  über 
Bremen, 98 18,  über  Hamburg  5416. 

Zur  Zwangserziehung  verwahrloster  Kinder  in 
Preussen.  Die  Zahl  derjenigen  erwahrlosten  Kinder,  welche 
in  der  Zeit  vom  1.  Oktober  1878  (dem  Tage  des  Inkraft- 
tretens des  Gesetzes  vom  13.  März  1878)  bis  zum  31.  März 
1891  überhaupt  in  Zwangserziehung  untergebracht  wurden, 
beträgt  18480.  (Im  Jahre  1890/91  fand  ein  Zuwachs  von 
1516  oder  9 pCt.  statt).  Davon  wurden  inzwischen  wider- 
ruflich entlassen  679,  unwiderruflich  entlassen  1430,  es  ver- 
starben  484,  es  kamen  anderweit,  insbesondere  durch  Ein- 
tritt des  Endtermins  der  Zwangserziehung  in  Abgang  5191. 
Die  Zahl  der  am  31.  März  d.  J.  in  Zwangserziehung  ver- 
bliebenen Kinder,  betrug  10696.  Von  diesen  waren  zu 
derselben  Zeit  untergebracht  in  Familien  5629,  in  Staats- 
anstalten 9,  in  den  vom  Konnnunalverbande  eingerichteten 
Anstalten  1090,  in  Privatanstalten  3968.  Die  Kosten,  welche 
aus  der  Pflege  aller  in  Zwangserziehung  befindlichen  Kinder 
im  letztverflossenen  Etatsjahr  erwachsen  sind,  betrugen 
für  die  Kommunalverbände  699858,9  M.,  für  den  Staat 
699476,63  M.,  der  Gesammtbetrag  derjenigen  Kosten,  welche 
aus  der  Verpflegung  der  Kinder  bis  zum  31.  März  d.  J. 
überhaupt  erwachsen  sind , bezifferte  sich  für  die 
Kommunalverbände  auf  6670557,78  M.,  für  den  Staat  auf 
6644043,27  M. 

Landwirthschaftliche  Arbeit  in  denVereinigten  Staaten 
von  Amerika.  In  einem  Bericht  an  die  englische  Regie- 
rung über  „Arbeiterfrage  in  der  nordamerikanischen  Union“ 
bemerkt  Mr.  Drage,  dass,  obgleich  die  Preise  der  Erzeug- 
nisse der  Landwirtschaft  gefallen  sind,  das  gleiche  nicht 
von  den  Löhnen  der  landwirthschaftlichen  Arbeiter  gesagt 
werden  kann.  Innerhalb  der  letzten  50  Jahre  haben  sich 
diese  Löhne  verdoppelt;  sie  werden  — von  Australien  ab- 
gesehen — von  denjenigen  keines  anderen  Landes  erreicht. 
Der  Durchschnittslohn  des  landwirthschaftlichen  Arbeiters 
beträgt  in  den  Vereinigten  Staaten  jährlich  282  Dollars 
gegen  150  in  Grossbritannien,  125  in  Frankreich,  100  in 
Holland,  90  in  Deutschland,  60  in  Russland,  50  in  Italien 
und  30  Dollars  in  Indien.  Die  Höhe  des  Lohnes  in  den 
Vereinigten  Staaten  ist  zum  grössten  Theile  dem  Umstande 
zuzuschreiben,  dass  es  in  vielen  Theilen  der  grossen  Re- 
publik an  genügenden  Arbeitskräften  für  die  Landwirt- 
schaft fehlt.  In  den  verschiedenen  Gegenden  der  Union 


wechselt  die  Höhe  der  Arbeitslöhne  sehr.  Am  höchsten 
sind  sie  an  der  Pacific-Küste,  wo  der  Durchschnittslohn 
monatlich  36  Doll.  15  Cts.  beträgt,  ohne  Verpflegung;  wo 
die  Verpflegung  durch  den  Unternehmer  erfolgt,  stellt  sich 
der  monatliche  Arbeitslohn  auf  24  Doll.  25  Cts.  Es  kommen 
dann  die  Mountain  States,  hierauf  die  Neu-England-Staaten. 
Am  niedrigsten  sind  die  Löhne  für  die  landwirthschaftliche 
Arbeit  in  den  Südstaaten;  sie  betragen  dort  14 — 10  Doll, 
für  den  Monat.  Es  muss  dabei  bemerkt  werden,  dass  im 
Süden  die  Unterhaltungskosten  am  niedrigsten  sind.  Die 
niedrigen  Löhne  im  Süden  repräsöntiren  die  an  Farbige 
gezahlten. 

Eine  Vergleichung  der  Kosten  des  Lebensunterhaltes 
in  1866  mit  denjenigen  in  1892  zeigt,  dass  sie  überall  nie- 
driger geworden  sind,  ausgenommen  in  den  Mountain 
States,  wo  sie  in  den  letzten  Jahren  sogar  eine  Steigerung 
erfahren  haben.  In  New-Hampshire  variiren  die  Arbeits- 
löhne für  geschickte  Arbeiter  von  20 — 25  pro  Monat;  die 
Arbeitszeit  ist  hier  kürzer  als  in  den  übrigen  Theilen  von 
Neu-England.  In  Kalifornien  werden  weisse  Arbeiter  mit 
durchschnittlich  25  Doll,  pro  Monat  bezahlt;  sie  erhalten 
dazu  noch  Verpflegung  und  haben  für  zwei  Drittel  des 
Jahres  Arbeit.  Auf  den  dortigen  Farmen  werden  vielfach 
chinesische  Arbeiter  verwandt;  diese  erhalten  monatlich 
20  Dollars  ohne  Verpflegung.  In  den  südlichen  Staaten 
weisen  die  Zustände  der  landwirthschaftlichen  Arbeiter 
manche  Eigenthümlichkeiten  auf.  Bei  einem  Lohnsätze  von 
10 — 12  Dollars  monatlich  erhalten  sie  noch  Verpflegung, 
Wohnung  und  Gartenland.  Für  eine  grosse  Anzahl  von 
Arbeitern  erfolgt  die  Lohnzahlung  in  der  Form  von  Be- 
theiligung am  Gewinn.  Der  Grundherr  liefert  das  Gespann, 
die  Werkzeuge  u.  s.  w.  und  der  Ernteertrag  wird  zu 
gleichen  Theilen  zwischen  ihm  und  dem  Arbeiter  getheilt. 

In  vielen  Fällen  bearbeitet  der  Arbeiter  das  Land  allein 
ohne  irgend  welche  Beihilfe  des  Grundherrn ; ersterer  liefert 
dafür  an  letzteren  eine  gewisse  Anzahl  von  Ballen  Baum- 
wolle. Oft  überlässt  der  Eigenthümer  dem  Arbeiter  eine 
gewisse  Ackerfläche  zum  Anbau  von  Korn,  Heu  und  Kar- 
toffeln und  bedingt  sich  eine  Rente  dafür  in  einem  Betrage 
aus,  den  der  Arbeiter  zahlen  kann:  bei  dem  für  die  Kultur 
von  Baumwolle  geeigneten  Boden  wird  das  Gewinnbethei- 
ligungssystem zur  Anwendung  gebracht.  Frauenarbeit  wird 
mit  5 — 6 Doll  pro  Monat  bezahlt. 

Die  Arbeitszeit  für  die  landwirthschaftlichen  Arbeiter 
in  der  nordamerikanischen  Union  ist  eine  sehr  ausgedehnte; 
sie  währt  meistens  von  Sonnenaufgang  bis  zu  Sonnen-  1 
Untergang. 


Arbeiterzustände. 

Zur  Methodologie  der  Haushaltsstatistik. 

Obwohl  die  Erforschung  des  Haushalts  der  arbeitenden 
Klassen  schon  längst  als  eine  der  wichtigsten  Aufgaben  der 
Sozialstatistik  betrachtet  wurde,  hat  sich  doch  erst  in  letzter 
Zeit  auf  diesem  Forschungsgebiet  der  Umschwung  vollzogen, 
welcher  schon  lange  als  die  nothwendige  Bedingung  einer 
gedeihlichen  Fortentwickelung  dieses  Forschungszweiges  an- 
erkannt wurde.  An  die  Stelle  der  „schätzungsweisen  Me- 
thode“ nämlich,  bei  welcher  die  subjektive  Anschauung 
allzusehr  in  die  Wagschale  fiel  und  die  deshalb  auch  höchst 
unzuverlässige  und  verschiedenartige  Resultate  zu  Tage 
förderte,  ist  eine  andere  getreten,  welche  sich  auf  Haus- 
haltungsbücher, welche  mindestens  ein  Jahr  lang  genau  und 
gewissenhaft  geführt  wurden,  stützt.  Die  Vorzüge  dieser 
Methode  treten  dann  auch  an  den  sie  befolgenden  Arbeiten1) 
so  deutlich  hervor,  dass  dieselbe  nun  wohl  dauernd  ihre 
Stellung  behaupten  wird. 

Mit  der  Anerkennung  dieses  Grundsatzes  betreffend  die 


J)  Frankfurter  Arbeiterbudgets.  Veröffentlicht  und  erläutert 
von  Mitgliedern  der  Volkswirthschaftlichen  Sektion  des  Freien 
Deutschen  Hochstifts.  Bevorwortet  im  Aufträge  der  Sektion  vom 
Stadtrath  Dr.  Karl  Flesch  und  Carl  Landolt,  10  Basler  Arbeiter- 
haushaltungen. Zeitschrift  für  Schweiz.  Statistik.  Jahrgang  1891, 
S.  281  ff. 


No.  34. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


405 


Aufnahme  von  Haushaltungsbudgets  ist  der  Wunsch  nach 
Vergleichbarkeit  der  bezüglichen  Resultate  seiner  Verwirk- 
lichung nahe  gerückt,  besonders  wenn  aul  dieser  Grundlage 
nach  gleichmässiger  Methode  weiter  gebaut  wird.  Zwar  sind 
die  früheren  Ansätze  zur  Methodologie  auf  diesem  Gebiete 
veraltet,  weil  sie  meist  ausschliesslich  die  schätzungsweise 
Beschaffung  des  Rohmaterials  im  Auge  hatten,  während 
neuere  Versuche  hierzu  recht  selten  sind.  Es  sind  hier  zu 
nennen:  Schnapper-Arndts  Gutachten  über  den  Antrag  der 
volkswirtschaftlichen  Sektion  in  den  , Anlagen'  zu  den  be- 
reits erwähnten  Frankfurter  Arbeiterbudgets,  Emanuel 
Wurm’s  Formular  eines  Fragebogens*  *)  und  Carl 
Landolt's  Anleitung  zur  Aufnahme  von  sogenannten  Ar- 
beiterbudgets (Basel  1889)  sowie  die  Directions  sur  la 
maniere  de  dresser  les  budgets  d’ouvriers  industriels  et 
d’artisans2)  desselben  Verfassers. 

Der  letztere  theilt  die  arbeitenden  Klassen  nach  der 
Art  ihrer  Einnahmen  in  drei  Kategorien  ein.  Zur  ersten 
Kategorie  zählen  die  Familien,  welche  ihre  Einnahmen  in 
Bargeld  beziehen,  zur  zweiten  die,  welchen  aus  dem  Betrieb 
von  Ackerbau  und  Viehzucht  wesentliche  Nebeneinnahmen 
zufliessen,  während  die  Angehörigen  der  letzten  Klasse  ihre 
Einnahmen  in  natura  beziehen.  Für  die  Aufnahme  von 
Haushaltungsbudgets  von  Angehörigen  der  ersten  Klasse 
stellt  der  Verfasser  eine  Reihe  von  Grundsätzen  auf,  die 
ihrer  theoretischen  Richtigkeit  und  ihrer  praktischen  Durch- 
führbarkeit wegen  wohl  zu  beherzigen  sind  und  die  darum 
im  Folgenden  kurz  besprochen  werden  sollen. 

Bei  der  Aufnahme  eines  Inventars,  die  in  jeder  Familie 
stattzufinden  hat,  welche  sich  zur  genauen  und  gewissen- 
haften Führung  eines  Haushaltungsbuches  bereit  erklärt, 
sind  zu  berücksichtigen:  1.  Immobilien,  2.  Mobilien,  3.  Speise- 
vorräthe,  4.  Brennmaterialien,  5.  Guthaben,  6.  Bargeld, 
7.  Schulden.  Die  Aufnahme  selbst  soll  nach  beistehendem 
Formular  vor  sich  gehen. 


Stück- 

zahl 


1. 


Be- 

nennung 

des 

Inventar- 

stücks 

2. 

Herkunft 
oder  Art 
des 

Erwerbs 

des 

Objekts 

3. 

An- 

kaufs- 

preis 

4. 

Seit  wie  viel 
Jahren  ist 
das  Stück  im 
Besitz  der 
Familie? 

5. 

Werth 
des 
Stücks 
am  Tage 
der 

Inventur 

6. 

Repara- 

turkosten 

7. 

Die  Aufnahme  eines  derartigen  Inventars  ist  unverkenn- 
bar höchst  werthvoll.  Spiegeln  sich  ja  darin  die  wirt- 
schaftlichen Verhältnisse  einer  Familie  meist  mit  grosser 
Deutlichkeit  und  bildet  dasselbe  eine  wesentliche  Ergänzung 
zu  dem  aus  der  Beobachtung  der  Einnahmen-  und  Aus- 
gabenwirthschaft  gewonnenen  Bilde.  Immerhin  ist  aber 
nicht  zu  vergessen,  dass  damit  die  von  Schnapper-Arndt  in 
seinen  Anmerkungen  über  die  Methode  der  Anordnung 
von  Haushaltungsbudgets  3)  angedeutete  Schwierigkeit, 
„dass  die  meisten  Budgets  so  nicht  Budgets  eines  be- 
stimmten Jahres  ohne  zugleich  diejenigen  eines  einjährigen 
Durchschnitts  aus  einer  bestimmt  abgegrenzten  Reihe  von 
Jahren  zu  werden“,  nicht  überbrückt  ist,  wie  der  Verfasser 
dies  anzunehmen  scheint.  Die  Aufstellung  eines  Schluss- 
inventars am  Ende  der  Berichtsperiode  und  die  Abschrei- 
bung eines  bestimmten  Prozentsatzes  für  Abnützung  ist  zur 
getreuen  Spiegelung  des  jeweiligen  Besitzstandes  und  der 
ökonomischen  Entwickelung  der  beobachteten  Familien  un- 
bedingt erforderlich.  Allerdings  ist  zuzugeben,  dass  dies 
namentlich  bei  bloss  einjähriger  Dauer  der  Berichtsperiode 
leicht  auf  Spitzfindigkeiten  hinauslaufen  könnte,  vor  denen 
der  Verfasser  nach  bewährtem  Rathe  warnen  möchte. 


*)  Die  Lebenshaltung  der  deutschen  Arbeiter,  ihre  Ernährung 
und  Wohnung,  Einkommen,  indirekte  Besteuerung,  Erkrankung 
und  Sterblichkeit.  Dresden  1892,  S.  83  ff. 

*)  Extrait  du  bulletin  de  l’institut  international  de  statistique, 
Tome  VI,  2|r>e  lfvraison  (Rome,  imprimerie  nationale  de  G.  Bertero). 

3)  Fünf  Dorfgemeinden  auf  dem  Hohen  Taunus.  (Leipzig 
1883),  S.  274. 


Allein  bei  längerer  Dauer  der  Berichtsperioden, ‘)  die  über- 
haupt noch  manche,  hier  nicht  näher  zu  erörternde  Vor- 
züge aufweist,  dürften  dieselben  leicht  zu  vermeiden  sein. 

Voni'  Tage  der  Inventuraufnahme  an  ist  ein  Haus- 
haltungsbüch zu  führen,  in  das  einzutragen  sind:  1.  alle 
Einnahmen  mit  genauer  Angabe  des  Erwerbers,  Geschenke, 
Entliehenes,  Unterstüzungen  bei  Strikefällen,  sowie  die  Er- 
zeugnisse des  Gartenbaues  mit  Angabe  deä  ungefähren 
Werthes  der  betreffenden  Artikel,  2.  alle  Ausgaben  mit 
genauer  Angabe  der  Quantität  des  erworbenen  Guts, 
3.  Arbeitszeit  (Ueberstunden  bei  Fabrikarbeitern,  täg- 
liche Arbeitszeit  bei  Hausarbeitern),  4.  Arbeitslosigkeit, 
„überhaupt  alle  Ereignisse,  die  auf  die  Gestaltung  der  Ein- 
nahmen oder  Ausgaben  irgend  einen  Einfluss  haben,  oder 
auch  nur  haben  könnten“,  5.  Die  Bilanz,  welche  jeden  Monat 
zu  ziehen  ist,  sowie  der  sich  jeweils  hierbei  ergebende 
Barvorrath.  Diese  Art  des  Vorgehens  dürfte  wohl  die 
richtige  sein,  wie  Landolt  in  seinen  10  Baseler  Arbeiter- 
haushaltungen bewiesen  hat.  Hierbei  ist  auch  die  Frage 
nicht  zu  vergessen,  welche  Haushaltungsbücher  sich  am 
besten  zu  derartigen  Aufzeichnungen  eignen.  Landolt 
empfiehlt  einfache  Büchlein  mit  einer  doppelten  Kolonne 
auf  der  linken  Seite,  in  welche  Einnahmen  — durch  Unter- 
streichen der  Summe  ausgezeichnet  — und  Ausgaben  in 
richtiger  Reihenfolge  notirt  werden.  Ebenso  verwirft 
Schnapper-Arndt  in  seinem  bereits  erwähnten  Gutachten 
die  im  Handel  befindlichen,  bereits  bestimmte  Verbrauchs- 
rubriken enthaltenden  Bücher  für  diesen  Zweck  und  empfiehlt 
ein  Quart-  oder  Querformat,  auf  dem  der  Ausgabetitel  mit 
folgendem  Kopf  versehen  ist: 

Monat: 


Tag 


Bezeichnung 

Quantität 

Preis  der 

Summa 

der  Ausgabe 

Einheit 

Jt  |4 

Bemerkungen 


Meine  günstigen  Erfahrungen,  die  ich  allerdings  erst  in 
letzter  Zeit  mit  dem  vom  schweizerischen  Verein  für  Ver- 
breitung guter  Schriften  herausgegebenen  Haushaltungs- 
buch gemacht,  scheinen  mir  zu  beweisen,  dass  man  hierin 
füglich  noch  etwas  weitergehen  könnte.  Ein  richtig  ent- 
worfenes Formular  eines  Haushaltungsbuches  müsste  die 
Führung  derartiger  Bücher  mächtig  fördern  und  deren 
wissenschaftliche  Aufbereitung  ganz  bedeutend  erleichtern. 
Als  Ergänzung  zu  dem  durch  die  Aufnahme  des  Inventars 
und  die  Führung  des  Haushaltungsbuches  gewonnenen  Ma- 
terial tritt  sodann  noch  die  Beantwortung  einer  Anzahl  von 
Fragen  hinzu,  für  welche  ein  Fragebogen  vorgeschlagen 
wird,  der  sich  in  einer  Reihe  von  Detailfragen  über  folgende 
Punkte  verbreitet:  I.  Civilstand:  Mann,  Frau,  Kinder,  welch 
Letztere  in  noch  nicht  Schulpflichtige,  Schulpflichtige  und 
nicht  mehr  Schulpflichtige  unterschieden  werden,  Anver- 
wandte, die  in  der  Haushaltung  leben  und  endlich  Kost- 
und  Schlafgänger;  II.  Arbeit,  Arbeitszeit,  Arbeitsraum,  Ge- 
sellen, Lehrlinge;  III.  Wohnung,  Miethzins,  Stockwerke, 
bewohnbare  und  bewohnte  Räume,  Beschaffenheit  der 
Wohnung  und  des  Hauses,  Höhe,  Breite  und  Länge  der 
einzelnen  Zimmer,  Küche,  Aftervermiethung  etc.;  IV.  Ge- 
sundheitszustand; V.  Für-  und  Vorsorge:  Lebensversicherung, 
Kranken-,  Invaliden-  und  Sterbekassen  und  Unfallversiche- 
rung; VII.  Geschichte  des  Familienvaters;  VII.  Nahrung. 

Obwohl  dieses  Frageschema  mit  seiner  grossen  Anzahl 
von  Fragen  auf  den  ersten  Blick  äusserst  komplizirt  er- 
scheint, ist  die  Anordnung  desselben  doch  so  durchsichtig 
und  logisch,  die  Fragestellung  so  einfach  und  klar,  dass 
selbst  einfache  Arbeiter  ohne  jegliche  Beihülfe  dieselben 
mühelos  richtig  zu  beantworten  vermögen. 

Die  internationale  Organisation  der  Aufnahme  von 
Haushaltungsbudgets  durch  Schaffung  eines  mit  der  Leitung 
dieser  Arbeit  betrauten  Centralbureaus  wird  wohl  noch  lange 
ein  frommer  Wunsch  bleiben,  obwohl  wir  Landolt  bei- 
pflichten, wenn  er  unter  anderem  zur  Begründung  seiner 
Anregung  sagt,  dass  sich  in  allen  Ländern  genug  Leute 
finden  dürften,  die  zu  derartigen  Aufnahmen  fähig  und  bereit 
wären. 

Stettfurt  (Schweiz).  Emil  Hofmann. 


*)  Vergl.  hierzu  meinen  Aufsatz:  2 Haushaltungsbudgets  über 
einen  zwanzigjährigen  Zeitraum.  Archiv  für  soziale  Gesetzgebung 
und  Statistik.  Jahrgang  1893,  S.  51  ff. 


406 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  34. 


Arbeitslosigkeit  im  Münsterlande. 

Bei  den  mannigfachen  Nachrichten,  die  über  städtische 
und  namentlich  grossstädtische  Arbeitslosigkeit  einlaufen, 
ist  es  nicht  ohne  Interesse,  einmal  die  Zustände  in  einem 
überwiegend  ländlichen,  gemischt  landwirthschaftlichen  und 
industriellen  Gebiet  kennen  zu  lernen.  Die  folgenden  An- 
gaben beruhen  fast  ausschliesslich  auf  schriftlichen  Mit- 
theilungen der  Vorstände  von  29  Aemtern  und  Bürger- 
meistereien des  Bezirks  Münster,  die  zwischen  Mitte 
Januar  und  Mitte  Februar  abgegeben  wurden,  und  beziehen 
sich  auf  die  zwei  Winter  1891/92  und  1892/93. 

ln  dem  für  diese  Enquete  in  Betracht  kommenden  weit- 
aus grösseren  Theil  des  Regierungsbezirks,  mit  460000  Ein- 
wohnern, ist  neben  der  Landwirthschaft  hauptsächlich  der 
Bergbau  mit  14000  Arbeitern  und  die  Textilindustrie  mit 
12000  Arbeitern  vertreten;  in  viel  geringerem  Maasse  die 
Metallindustrie,  I abakindustrie,  Steinbrüche,  Dampfziegeleien, 
Brennereien,  Brauereien. 

Die  landwirthschaftliche  Bevölkerung  hat  durchweg 
Arbeit  gehabt.  So  wird  vom  Amte  Drensteinfurt  mitgetheilt, 
dass  ländliche  Tagelöhner,  soweit  sie  zur  Miethe  wohnen, 
von  den  Gutsbesitzern  Sommer  und  Winter  gleichmässig 
beschäftigt  werden,  während  Häusler  zwar  im  Winter  auf 
dem  Gute  nicht  arbeiten,  dafür  aber  entweder  in  der  Nach- 
barschaft oder  bei  der  Eisenbahn  oder  in  Hamm,  wo  sie 
stets  ankommen,  Beschäftigung  finden. 

Von  den  industriellen  und  gewerblichen  Arbeitern  wird 
im  allgemeinen  dasselbe  günstige  Beobachtungsresultat  ge- 
meldet; gelegentliche  Unterbrechungen  der  Lohnarbeit  (und 
Kundenarbeit)  konnten  in  der  Regel  durch  Beschäftigung 
in  der  eigenen  Landwirthschaft  ausgefüllt  werden.  Es 
findet  so  eine  glückliche  gegenseitige  Ergänzung  zwischen 
Landwirthschaft  und  Industrie  statt,  die  wohl  hauptsächlich 
dem  Ineinandergreifen  der  Saisons  von  Land-  und  Berg- 
bau verdankt  wird.  Gerade  im  Bergbau  sollte  man  nach 
den  statistischen  Daten,  die  unlängst  (9.  Februar)  der  Staats- 
anzeiger veröffentlichte,  wenigstens  für  den  letzten  Winter 
einige  Arbeitslosigkeit  erwarten;  der  Steinkohlenbau  be- 
schäftigte hiernach  Arbeiter: 


1.  Quart. 

2.  Ouart. 

3.  Quart. 

4.  Quart. 

im  preussischen  ) 

1 1891 

246629 

245570 

251  714 

262323 

Staate  J 

( 1892 

261  240 

254492 

255  246 

259567 

Im  Oberbergsamts- ) 

1 1891 

134642 

135270 

138888 

145604 

bezirk  Dortmund  J 

I 1892 

144014 

139754 

140694 

144328 

Dennoch  kam  in  den  Bergbau  treibenden  Gemeinden 
des  Bezirks  Arbeitslosigkeit  entweder  gar  nicht  vor  (Reck- 
linghausen, Gladbeck)  oder  nur  ganz  vereinzelt  (Dorsten, 
Osterfeld);  aus  Bottrop  wird  gemeldet,  dass  einheimische 
Arbeiter  unter  Arbeitslosigkeit  „nicht  zu  leiden  hatten.“ 

Auch  die  textil-  und  tabakindustriellen  Ortschaften  be- 
richten überwiegend  Günstiges.  In  Neuenkirchen,  Stadtlohn 
und  Greven  wurde  Arbeitslosigkeit  überhaupt  nicht  beob- 
achtet In  Coesfeld,  Rheine,  Vreden,  Warendorf  war  sie 
unerheblich.  In  Ahaus  bot  sich  im  letzten  Winter  volle 
Beschäftigung,  während  im  Winter  1891/92  einige  Arbeiter- 
entlassungen vorkamen  und  in  einer  Fabrik  die  Arbeiter 
nicht  immer  voll  beschäftigt  waren ; der  schuldige  Theil  ist 
vermuthlich  die  Tabakindustrie,  die  laut  Handelskammer, 
bericht  1891  darniederlag.  Die  hinterbliebenen  Arbeiter 
der  1891  eingestellten  Strontianitindustrie  sollen  unschwer 
andere  Beschäftigung  gefunden  haben.  Die  Arbeiter  der 
Cementfabriken  mussten  letzten  Winter  Reparaturen  halber 
einige  Wochen  feiern;  ob  sie  andere  Beschäftigung  fanden, 
wird  nicht  gesagt. 

Weit  ungünstiger  lauten  die  Nachrichten  über  die 
Bau-  und  Steinbruch -Arbeiter.  Nach  den  Angaben  aus 
Oelde,  Werne,  Beckum  waren  sie  namentlich  im  letzten 
Winter  durch  den  Frost  zu  mehrwöchentlichem  Feiern  ge- 
nöthigt.  Nur  ein  Theil  fand  andern  Erwerb,  z.  B.  durch 
Schweineschlächterei  auf  dem  Lande,  die  bei  der  im  Münster- 
lande verbreiteten  Schweinemast  eine  Rolle  spielt  und  ge- 
rade in  die  kälteste  Zeit,  nämlich  zwischen  Martini  und 
Lichtmess  fällt. 

Ein  ausgesprochener  Arbeitsmangel  entwickelte  sich 
dagegen  unter  den  fremden,  wandernden  Arbeitern.  Die 
Berichte  der  Herbergen  und  Verpflegungsstationen,  die 
Klagen  der  Bewohner  über  zunehmenden  Hausbettel,  der 
Reisenden  über  Arbeitsmangel  sind  so  übereinstimmend, 


dass  an  einem  Ueberangebot  von  Händen  kaum  gezweifelt 
werden  kann.  „Es  ist  ein  wahrer  Menschenstrom,“  wird 
aus  Dorsten  berichtet,  „der  Tag  für  Tag  nach  allen  Rich- 
tungen der  Windrose  sich  ergiesst  und  jeden  Abend  durch 
andere  Personen  ersetzt  wird.“  Eine  Zunahme  vom  vor- 
letzten zum  letzten  Winter  kann  jedoch  nicht  allgemein  be- 
hauptet werden.  Auch  ist  zu  beachten,  dass  die  Zu-  und 
Abnahme  der  Arbeitsreisenden  nach  den  Verhältnissen 
eines  einzelnen  Bezirks  nicht  beurtheilt  werden  darf. 

Selbstverständlich  sammelten  sich  die  arbeitslosen  Ele- 
mente am  dichtesten  in  der  50000  Einwohner  zählenden 
Stadt  Münster.  Die  im  Winter  1891/92  dort  eingerichtete 
Suppenanstalt  hat  damals  täglich  1500  Literportionen  an 
etwa  2200  Personen  (Erwachsene  und  Kinder)  mit  einem  aus 
freiwilligen  Gaben  gedeckten  Aufwande  von  etwa  10000  M. 
verabreicht,  auch  wurden  für  5000  M.  Kohlen  vertheilt. 

Im  letzten  Winter  kam  die  Einrichtung  nicht  wieder  zu  stände. 

Man  darf  nicht  übersehen,  dass  die  vorstehenden  An- 
gaben von  Kommunalvorstehern  herrühren,  von  denen 
einige  das  Vorkommen  von  Arbeitslosigkeit  überwiegend 
nach  den  Erfahrungen  der  öffentlichen  Armenpflege  be- 
urtheilt haben  mögen.  Immerhin  sind  sie  als  Gegenstück 
zu  den  grossstädtischen  Berichten  von  Werth. 

Berlin.  K.  Oldenberg. 

Der  durchschnittliche  Jahresarbeits  - Verdienst  er- 
wachsener land-  und  forstwirthschaftlicher  Arbeiter  in 
Deutschland.  Bekanntlich  haben  nach  § 6 des  Reichs- 
gesetzes vom  5.  Mai  1886  die  höheren  Verwaltungsbehörden 
nach  Anhörung  der  Gemeindebehörden  den  durchschnitt- 
lichen Jahresarbeitsverdienst  land-  und  forstwirthschaftlicher 
Arbeiter  festzustellen,  welcher  der  Berechnung  der  Unfall- 
rente zu  Grunde  zu  legen  ist.  Offenbar  bieten  Feststellungen 
dieser  Art  gerade  für  die  landwirthschaftlichen  Arbeiter 
mit  ihren  oft  schwer  abzuschätzenden  Nebeneinkünften  an 
Naturalien  und  Nutzungen  aller  Art  der  persönlichen  Auf-  , 
fassung  einen  ziemlich  weiten  Spielraum,  woraus  sich  ein- 
zelne besonders  auffällige  Ziffern  unter  den  später  anzu- 
gebenden ohne  Weiteres  erklären  dürften.  Immerhin  aber 
ist  die  kürzlich  darüber  gelieferte  Zusammenstellung  für 
das  Deutsche  Reich1)  von  Interesse.  Nach  dieser  Quelle 
finden  sich,  wie  die  Statistische  Korrespondenz  ausführt,  im 
östlichen  Deutschland  (rechts  von  der  Elbe  ohne  Schleswig- 
Holstein)  67  preussische  Landkreise,  in  welchen  sich  der 
amtlich  ermittelte  Jahresarbeitsverdienst  in  den  Grenzen 
von  200  und  300  M.  bewegt;  davon  entfallen  auf  Schlesien  44, 
auf  Ostpreussen  13,  auf  Westpreussen  10  Kreise.  Im  west- 
lichen Deutschland  erreichen  die  niedrigste  Einkommens- 
grenze von  300  M.  nur  das  Herzogthum  Coburg  sowie  die 
Kreise  Adenau  (am  Hunsrück),  Eckartsberga  und  Nord- 
hausen. Den  höchsten  Jahresarbeitsverdienst  finden  wir  im 
Osten,  von  den  um  Berlin  liegenden  Ortschaften  abgesehen, 
im  Kreise  Neustadt  in  Westpreussen  mit  550  M.;  diesen 
erreichen  fast  die  Grossherzogthfimer  Mecklenburg-Schwerin 
und  Mecklenburg-Strelitz  mit  540  M.;  ihm  nähern  sich  West- 
havelland mit  500.  sowie  zwei  weitere  Kreise  des  Danziger 
Bezirks  (Putzig  und  Preuss.  Stargard)  mit  465  M., 

während  sonst  in  der  Mehrzahl  der  östlichen  Landkreise 
der  jährliche  Verdienst  zwischen  300  und  360  M.  schwankt. 
Die  pommerschen  und  brandenburgischen  Kreise  zwischen 
Elbe  und  Oder  weisen  meist  günstigere  Zahlen  auf.  Als 
sehr  günstig  muss  der  Verdienst  für  die  landwirthschaft- 
lichen Arbeiter  in  Schleswig-Holstein  bezeichnet  werden, 
wo  er  für  den  Kreis  Eiderstedt  auf  630,  für  Husum  auf  625, 
für  Norderdithmarschen,  Kiel  und  grosse  Theile  der  Kreise 
Rendsburg,  Süderdithmarschen  Steinburg,  Stormarn  auf  550 
bis  650  M.  festgestellt  ist.  Die  unterste  Einkommensgrenze 
zeigt  in  Schleswig-Holstein  ein  Theil  des  Kreises  Plön  mit 
440  M.  Im  westlichen  Deutschland  bewegt  sich  der  Verdienst 
innerhalb  der  Grenzen  von  370  und  450  M.;  unter  dem 
Satze  von  370  M.  bleiben  grosse  Theile  der  Regierungsbezirke 
Oberfranken,  Oberpfalz  und  Niederbayern,  einige  Kreise 
am  Spessart,  Rhöngebirge  und  Thüringerwalde,  sowie  neun 
Landkreise  der  Regierungsbezirke  Aurich  und  Minden.  In 
der  Nähe  grosser  Industrie-  und  Handelsbezirke  erreicht 


J)  Vergl.  Götze's  Taschenkalender  zum  Gebrauch  bei  Hand- 
habung der  Arbeiterversicherungsgesetze,  Th.  III,  Berlin  1893. 


No.  34. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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der  Verdienst  die  Höhe  von  660  M.,  so  z.  B.  in  den  Kreisen 
Altena,  Remscheid  und  Hattingen;  für  die  Landkreise  Bo- 
chum, Gelsenkirchen,  Hagen  und  Schwelm  ist  er  auf  630  M. 
festgestellt,  für  die  diesen  benachbarten  Kreise  der  Regie- 
rungsbezirke Düsseldorf  und  Arnsberg  auf  540  bis  600  M. 
Im  Königreich  Sachsen  gestaltet  sich  — abgesehen  von  der 
Oberlausitz  — der  Arbeitsverdienst  ziemlich  gleichartig;  er 
schwankt  innerhalb  der  Landkreise  zwischen  450  und  540  M., 
in  der  sächsischen  Oberlausitz  zwischen  420  und  450  M. 
Verhältnissmässig  günstige  landwirtschaftliche  Löhne  wer- 
den in  Elsass-Lothringen,  in  den  Regierungsbezirken  Trier 
und  Wiesbaden,  in  der  Provinz  Sachsen  (links  der  Elbe), 
im  Herzogthum  Braunschweig,  sowie  im  nördlichen  Theil 
des  Grossherzogthums  Oldenburg  gewährt. 

Städtische  Arbeitsverhältnisse  in  Mainz.  In  Mainz 
sollen  neue  Bestimmungen  über  die  Arbeits-  und  Lohn- 
verhältnisse der  in  den  städtischen  Betrieben  beschäftigten 
Taglohnarbeiter  getroffen  werden.  Es  wird  dadurch  die 
Arbeitsdauer  auf  zehn  Stunden  festgesetzt,  die  in  zwölf 
aufeinander  folgenden  Stunden  abzuleisten  ist.  Essenszeit 
wird  nicht  als  Arbeitszeit  gerechnet.  Für  eine  Ueber- 
stunde  wird  nur  der  übliche  Stundenlohn,  für  längere  Zeit, 
sowie  für  Nacht-  und  Sonntagsarbeit  25  Prozent  Zuschlag 
gewährt.  Die  vierzehntägige  Kündigung  wird  beiderseits 
Vorbehalten.  Die  konfessionellen  Feiertage  (Frohnleichnam, 
Mariä  Himmelfahrt,  Allerheiligen  und  Charfreitag)  werden 
als  gesetzlich  anerkannt;  an  „politischen“  Feiertagen  (d,  h. 
den  Geburtsfesten  von  Kaiser  und  Grossherzog)  soll  die 
Arbeit  nicht  ruhen.  Alle  Arbeiter  werden  in  elf  Lohn- 
klassen eingetheilt.  Der  Stadt  erwächst  aus  der  begrüssens- 
werthen  Neuordnung  eine  Mehrausgabe  von  22297  M. 


Politische  Arbeiterbewegung. 

Zur  sozialdemokratischen  Bewegung  in  England. 

Die  drei  englischen  sozialistischen  Vereinigungen:  die  so- 
zialdemokratische Federation,  die  sozialistische  Liga  und 
die  Gesellschaft  der  Fabier,  die  mit  einander  in  Zwietracht 
waren,  haben  sich  vereinigt  und  gemeinsam  einen  Aufruf 
erlassen,  in  dem  sie  acht  Punkte  als  die  nächsten  Ziele  des 
englischen  Sozialismus  bezeichnen.  Diese  umfassen  die 
folgenden  Punkte:  einen  gesetzlichen  Achtstundentag,  Ver- 
bot jeglicher  Lohnarbeit  jugendlicher  Arbeiter,  freien  Unter- 
halt aller  bedürftigen  Kinder,  gleichen  Lohn  für  Frauen  und 
Männer  für  gleiche  Arbeit,  einen  angemessenen  Minimal- 
lohnsatz für  alle  vom  Staat  und  den  Gemeinden  beschäftig- 
ten Arbeiter,  Verbot  des  Kontraktsystems,  allgemeines 
Wahlrecht  und  Vergütung  für  alle  Dienste  zum  Besten  des 
Gemeinwesens.  Der  Aufruf  ist  von  den  Führern  der  drei 
Gruppen  Mr.  Hyndmann  (Federation),  William  Morris  (Liga) 
und  Bernhard  Shaw  (Fabier)  erlassen  worden. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Strikebewegungen  in  Wien.  Die  in  der  vorigen  Nummer 
geschilderte  Lohnbewegung  der  weiblichen  Arbeiter  der  Ap- 
preturfabriken hat  mit  ihrem  Siege  geendigt.  Die  Seiden- 
appreturen haben  die  Forderungen  der  Arbeiterinnen  be- 
willigt, ohne  es  erst  auf  einen  Strike  ankommen  zu  lassen; 
und  am  16.  Mai  fand  auch  nach  einer  Dauer  von  mehr  als 
zwei  Wochen  der  Ausstand  in  den  Baumwollappreturen  sein 
Ende.  Es  wurde  den  Arbeiterinnen  sowohl  die  zehnstündige 
Arbeitszeit  und  Bezahlung  der  Ueberstunden , als  auch  die 
Wiederaufnahme  der  entlassenen  Arbeiterinnen  bewilligt. 
Anstatt  einer  zehnprozentigen  Lohnerhöhung,  wie  sie  in 
einzelnen  Fabriken  gefordert  wurde,  begnügten  sie  sich  mit 
der  Festsetzung  eines  Wochenlohnminimums  von  4 fl.  Der 
Erfolg,  den  die  Wiener  Arbeiterinnen  gleich  bei  ihrem  ersten 
Anlauf  zu  verzeichnen  haben,  ist  nächst  der  günstigen  Ge- 
schäftskonjunktur, der  bereitwilligen  Unterstützung  von 
Seite  der  Arbeiter  aller  Branchen,  vor  allem  der  ausge- 
zeichneten Disciplin  zuzuschreiben.  Von  600  Arbeiterinnen 
fanden  sich  nur  zehn  Strikebrecherinnen,  und  die  Entrüstung 
war  nicht  nur  unter  ihren  Kolleginnen,  sondern  bemerkens- 


werther  Weise  auch  im  Publikum  eine  so  grosse,  dass  es  der 
betreffende  Fabrikant  vorzog,  am  zweiten  l ag  seinen  Betrieb 
vollständig  stehen  zu  lassen.  Ueberhaupt  ist  es  eine  der 
wenigen  Lohnbewegungen  in  Oesterreich,  welche  sich  einer 
verhältnissmässig  grossen  Sympathie  auch  unter  dem 
weiteren  Publikum  zu  erfreuen  hatte.  Für  die  österreichische 
Arbeiterinnenbewegung  ist  dieser  erste  Erfolg  von  grosser 
Bedeutung,  und  wird  wohl  den  Anstoss  zu  einer  besseren 
gewerkschaftlichen  Organisation  geben. 

Es  ist  bemerkenswerth,  dass  die  Ausgleichsverhandlungen 
unter  dem  Vorsitz  des  Gewerbe  - Inspektors  ktattfanden. 
Es  wurde  konstatirt,  dass  die  Fabrikanten  die  Arbeitsbücher 
der  Entlassenen  mit  dem  Vermerk  versehen  hatten:  „Wegen 
Strikes  entlassen.“  Auch  kam  eine  ganze  Reihe  von  Uebel- 
ständen,  welche  sich  hauptsächlich  auf  die  sanitäre  Beschaffen- 
heit der  Arbeitslokale  bezogen,  zur  Spräche.  Es  ist  abzu- 
warten, ob  nun  nach  diesem  Sieg  der  Arbeiterinnen  das 
Gewerbe-Inspektorat  die  Energie  und  die  nöthige  Unter- 
stützung der  Gewerbebehörden  finden  wird,  um  auch  in 
dieser  Beziehung  Ordnung  zu  schaffen,  und  was  noch  weit 
wichtigerer  ist,  sie  zu  halten. 

Englische  Gewerkschaftsstatistik.  Der  Jahresbericht 
über  die  Trades-Unions  für  das  Jahr  1891  wurde  soeben 
vom  Arbeitsdepartement  des  Handelsamtes  ausgegeben.  Im 
allgemeinen  Theil  berichtet  Burnett,  dass  sich  in  236  Unionen, 
welche  für  die  beiden  Jahre  1890  und  1891  Angaben  machten, 
die  gesammte  Mitgliederzahl  im  Jahre,  1891  auf  847956,  im 
Jahre  1891  auf  843872  belief;  also  eine  Abnahme  von  4084 
Mitgliedern  zeigte.  Die  Kassenbewegung  dieser  236  Vereine 
weist  für  das  Jahr  1890  an  Einnahmen  £ I 153815,  an  Aus- 
gaben £ 853127  auf,  für  das  Jahr  1891  £ 1222484  Ein- 
nahmen und  £ 1037253  Ausgaben.  Die  Einnahmen  sind 
also  um  £ 68669,  die  Ausgaben  um  £ 184126  gestiegen. 

Im  Jahre  1890  gaben  an  Arbeitslosenunterstützung,  mit 
Einschluss  der  Reiseunterstützung  129  Vereine  £ 145009 
aus;  im  Jahre  1891  133  Vereine  £ 205583.  Die  I 19  Unionen, 
welche  für  beide  Jahre  Bericht  erstatten,  verbrauchten  für 
Arbeitslosenunterstützung  im  Jahre  1890  £ 143193,  im  Jahre 
1891  £ 194193,  also  für  diese  119  Vereine  ein  Mehr  von 
£ 51000. 

Die  Strikesunterstützungen  machten  im  Jahre  1890  eine 
Auslage  von  £ 124801  nöthig  bei  96  Vereinen,  und  im  Jahre 
1891  von  £ 161334  bei  123  Vereinen.  86  Vereine,  welche 
für  beide  Jahre  berichten,  gaben  aus  im  Jahre  1890  £ 123658, 
im  Jahre  1891  £ 148463,  also  mehr  um  £ 24805. 

An  Krankenunterstützung  und  ärztliche  Hilfe  gaben  95 
Vereine  im  Jahre  1890  aus:  £ 171564,  im  Jahre  1891:  98 
Vereine  £ 197  131.  Bei  jenen  92  Vereinen,  die  in  beiden 
jahren  berichten,  steigen  die  Ausgaben  von  £ 171422  auf 
£ 195503,  also  um  £ 24081. 

An  Unfallunterstützungen  verbrauchten  im  Jahre  1890 
39  Vereine  £ 13771,  im  Jahre  1891  38  Vereine  £ 17469. 

Bei  jenen  31  Vereinen,  die  in  beiden  Jahren  berichten, 
steigen  die  Auslagen  von  £ I 1601  auf  £ 12272. 

An  Altersversorgungsbeiträgen  bezahlten  44  Vereine 
im  Jahre  1890  £ 87414,  im  Jahre  1891  £ 91244. 

An  Beerdigungskosten  wurde  ausgegeben  im  Jahre  1890 
von  154  Vereinen  £ 59813,  im  Jahre  1891  von  158  Vereinen 
£ 67290.  Bei  den  142  Vereinen,  bei  denen  ein  Vergleich 
möglich  war,  stiegen  die  Auslagen  von  £ 57743  auf 
£ 64556. 

Die  grösste  Zunahme  zeigten  bemerkenswerther  Weise 
die  Ausgaben  für  Arbeitslosenunterstützung,  welche  vom 
Jahre  1889  bis  1890  einen  Zuwachs  von  £ 5735  zeigten, 
vom  Jahre  1890  bis  1891  aber  einen  Zuwachs  von  £ 60573 
aufweisen.  Freilich  muss  in  Rücksicht  gezogen  werden, 
dass  in  den  vorhergehenden  Berichten  blos  I 1 7 Vereine, 
jetzt  aber  130  Vereine  verzeichnet  waren.  So  gross  diese 
verschiedenen  Auslagen  waren,  zeigt  das  Guthaben  der 
236  Unionen  am  Ende  des  Berichtsjahres  einen  Zuwachs 
von  nicht  weniger  als  £ 176732,  und  ihre  Bilanz  schloss  für 
1890  mit  £ 1369167,  für  das  Jahr  1891  mit  £ 1545899. 

Es  ist  bemerkenswert!!,  dass  im  Jahre  1892  die  Zahl 
der  Unionen,  welche  an  das  Arbeitsamt  berichteten,  bedeu- 
tend gestiegen  ist,  so  dass  der  nächste  Bericht  431  Vereine 
mit  einer  Mitgliederzahl  von  I 109014  und  einem  Capital 
von  £ I 723480  verzeichnen  wird. 


408 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  34. 


Burnett  spricht  die  Hoffnung  aus,  dass,  wenn  diese 
Ziffern  zunächst  einen  Vergleich  nicht  zulassen  werden, 
doch  in  wenigen  Jahren  eine  vollständige  Uebersicht  erreicht 
werden  wird, 

Ende  des  Dockarbeiter-Strikes  in  Hüll.  Der  Dock- 
arbeiter-Strike  in  Hüll,  der  von  den  gewerkschaftlich  organi- 
sirten  Arbeitern  mit  ebensoviel  Zähigkeit  als  Erbitterung 
geführt  wurde,  hat  endlich  seinen  Abschluss  gefunden,  und 
zwar  auf  dem  Wege  eines  Vergleichs,  der  keine  der  beiden 
Parteien  als  Siegerin  und  keine  als  Besiegte  erscheinen 
lässt.  Zwischen  dem  Rhederbunde,  der  am  liebsten  der 
gewerkschaftlichen  Organisation  der  Dockarbeiter  ein  Ende 
gemacht  hätte,  und  der  Gewerkschaft,  deren  Bestreben  es 
war,  die  freien  Arbeiter,  die  black  legs,  aus  den  Docks 
ganz  zu  verdrängen,  ist  ein  Abkommen  getroffen  wor- 
den, das  die  beiden  Arbeiter  - Kategorien  vollkommen 
gleichstellt.  Die  Rheder  verzichten  also  auf  die  soge- 
nannte Vorzugsklausel,  d.  h.  auf  den  Versuch,  eine  mög- 
lichst grosse  Zahl  nicht  inkorporirter  Arbeiter  in  ihren 
Betrieben  zu  beschäftigen  und  die  Gewerkschaftler  all- 
gemach zu  entlassen,  während  die  letzteren  sich  anheischig 
machen,  mit  ihren  freien  Genossen  in  Ruhe  und  Frieden 
zusammen  zu  arbeiten. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Zur  Beschränkung  der  Arbeit  jugendlicher  Arbeiter 
und  Frauen  in  Oesterreich.  Unter  Berufung  auf  den  Be- 
schluss der  Berliner  internationalen  Arbeiterschutzkonferenz 
bereitet  das  österreichische  Handelsministerium  eine  Ver- 
ordnung vor,  welche  jene  gefährlichen  oder  gesundheits- 
schädlichen gewerblichen  Vorrichtungen  bezeichnen  soll, 
bei  welchen  jugendliche  Hilfsarbeiter  oder  Frauenspersonen 
gar  nicht  oder  nur  bedingungsweise  verwendet  werden 
dürfen.  Vorschläge  hierzu  sind  dem  Handelsministerium 
als  Ergebniss  der  am  8.,  9.  und  10.  Mai  1891  abgehaltenen 
Konferenz  der  Gewerbeinspektoren  unterbreitet  worden.  Der 
§ 94  Abs.  4 der  Gewerbeordnung  ermächtigt  die  Regierung, 
eine  derartige  Verordnung  nach  Anhörung  der  Handels-  und 
Gewerbekammern  zu  erlassen.  Die  gutachtliche  Aeusserung 
dieser  Körperschaften  ist  mit  einem  Erlasse  vom  28.  April 
1893  eingeleitet  worden,  so  dass  die  ernste  Absicht,  eine 
derartige  Verordnung  zu  erlassen,  nunmehr  zu  bestehen 
scheint.  Die  Anträge  der  Gewerbeinspektoren  nehmen  auf 
die  erhöhte  Unfallsgefahr,  vermehrte  Verantwortung,  gesund- 
heitsschädlichen Staub,  Gase  und  Dämpfe,  Bleivergiftung, 
Schwere  der  Arbeit,  Sittlichkeitsrücksichten,  Zustand  der 
Schwangerschaft  u.  a.  m„  Rücksicht.  Bei  den  jugendlichen 
Hilfsarbeitern  wird  als  Altersgrenze  das  vollendete  15.  Jahr 
festgesetzt. 

Zur  Beschäftigung  schulpflichtiger  Kinder  bei  öffent- 
lichen Vorstellungen.  In  Gotha  besteht  eine  nachahmens- 
werthe  Polizeiverordnung  über  die  Beschäftigung  schul- 
pflichtiger Kinder  bei  theatralischen  und  ähnlichen  Vor- 
stellungen, deren  wichtigste  Bestimmungen  die  folgen- 
den sind: 

Schulpflichtige  Kinder  dürfen  bei  theatralischen  und 
sonstigen  öffentlichen  Vorstellungen  nur  beschäftigt  werden, 
wenn  und  insoweit  der  Leiter  derjenigen  Schulanstalt, 
welcher  die  Kinder  angehören,  die  Erlaubniss  dazu  schrift- 
lich ertheilt  hat. 

Die  Unternehmer  der  bezeichneten  öffentlichen  Vor- 
stellungen, welche  schulpflichtige  Kinder  beschäftigen,  haben 
die  Erlaubnissscheine  aufzubewahren  und  den  kontrolirenden 
Polizeibeamten  auf  Erfordern  vorzuzeigen. 

Die  Erlaubniss  schliesst  ohne  Weiteres  nur  die  Befug- 
niss  ein,  das  fragliche  Kind  bis  spätestens  10  Uhr  Abends 
beschäftigen  zu  dürfen,  giebt  nicht  das  Recht,  dasselbe 
unter  dem  Vorwände  von  Proben,  Uebungen  u.  s.  w.  dem 
regelmässigen  Schulbesuch  zu  entziehen  und  ist  jederzeit 
widerruflich. 

Unternehmer  öffentlicher  Vorstellungen,  welche  diesen 
Vorschriften  zuwiderhandeln,  verwirken  für  jeden  Fall  der 


Zuwiderhandlung  eine  Geldstrafe  bis  zu  30  M.,  an  deren 
Stelle  bei  Unvermögen  des  Bestraften  eine  verhältniss- 
mässige  Haftstrafe  tritt. 


Arbeiterversicherung. 

Zur  Arbeitslosen-Versicherung  in  Zürich.  Nachdem 
die  organisirte  Arbeiterschaft  in  Bern  und  St.  Gallen  mit 
der  Versicherung  gegen  Arbeitslosigkeit  vorangegangen, 
folgt  nun  auch  Zürich  nach.  Die  dortige  Arbeiter-Union 
(lokaler  Centralverband  der  Gewerkschaften  und  politischen 
Organisationen)  hat  eine  Kommission  bestellt  zur  Erledigung 
der  Vorarbeiten,  welche  folgenden  Plan  vorgelegt  hat:  Die 
Organisation  besorgt  die  Arbeiter-Union;  der  Beitritt  steht 
aber  jedem  Arbeiter  offen.  Die  Organe  der  Versicherung 
sind:  a)  die  Delegirten -Versammlung  der  Arbeiter-Union; 
b)  das  von  derselben  zu  wählende  Komite  mit  folgenden 
Abtheilungen : Kassenverwaltung,  Naturalverpflegung,  Arbeits- 
beschaffung. Die  monatlichen  Beiträge  betragen  50  Cts. 
(=  40  Pf.)  pro  Mitglied.  Die  Unterstützungen  werden  in 
Geld  oder  Naturalien  verabfolgt.  Diejenigen  Mitglieder  der 
Versicherung,  welche  Arbeitervereinen  angehören,  können 
ihre  Beiträge  in  letzteren  entrichten.  Für  die  Nichtorgani- 
sirten  werden  in  den  Quartieren  nach  Bedarf  Zahlstellen 
errichtet.  Unterstützungsberechtigt  ist  der,  wer  vor  dem 
1.  August  der  Versicherung  beigetreten  ist.  Die  Kasse  der 
Versicherung  wird  gespeist:  a)  durch  Beiträge  der  Ver- 
sicherten; b)  durch  einen  Beitrag  der  Stadt  Zürich;  c)  durch 
freiwillige  Beiträge  von  Unternehmern,  Vereinen,  Privaten 
etc.  Der  Stadt  wird  Antheilnahme  an  der  Verwaltung  ein- 
geräumt, je  nach  Uebereinkunft.  Die  einbezahlten  Beiträge 
werden  durch  Abgabe  von  Marken  quittirt.  — Dieser  Ent- 
wurf wird  den  Vereinen  zur  Diskussion  unterbreitet. 


Frauenfrage. 


Die  Berufsverhältnisse  der  russischen  Frauen. 

Einen  seltsamen  zugleich  aber  auch  lehrreichen  Gegen- 
satz zu  der  rückschrittlichen  Bewegung  des  gegenwärtigen 
Russlands  auf  politischem  sowie  sozialem  Gebiete  bilden  die 
Bestrebungen  der  russischen  Frauen  seit  jeher  und  auch 
heute  noch.  Während  die  gesammte  männliche  Bevölkerung 
des  Zarenreichs  sich  dem  Druck  der  bösen  Zeiten  wohl 
oder  übel  fügt,  giebt  sich  das  weibliche  Geschlecht  ohne 
Unterschied  des  Ranges  und  Standes  nicht  zufrieden,  beharrt 
in  der  energischen  Vertheidigung  seiner  Rechte  und  seiner 
Interessen  und  hat  denn  auch  in  der  jüngsten  Zeit  nahm- 
hafte  Erfolge  zu  verzeichnen. 

Es  muss  aber  von  vornherein  bemerkt  werden,  dass 
man  es  bei  den  Bestrebungen  der  russischen  Frauenwelt 
keineswegs  mit  ähnlichen  Erscheinungen  wie  im  übrigen 
Europa  zu  thun  hat,  wo  die  angestrebte  Frauenemanzipation 
vor  allem  die  politische  Gleichberechtigung  des  weiblichen 
Geschlechts  bezweckt.  Die  Bestrebungen  der  russischen 
Frauen  liegen  keineswegs  auf  politischem  Gebiete,  vielmehr 
suchen  dieselben  ihren  Kampf  fast  ausschliesslich  auf  sozialem 
und  wirthschaftlichem  Gebiete  auszufechten.  Die  Erweiterung 
ihres  Berufs-  und  Erwerbskreises,  ihre  Zulassung  zu  den 
verschiedenartigsten  Zweigen  der  gewerblichen  Thätigkeit, 
gleichviel  ob  geistiger  oder  körperlicher  Art,  und  die 
Regelung  ihrer  Berufsverhältnisse  überhaupt,  — das  ist  die 
Lösung,  welche  die  russischen  Frauen  der  Neuzeit  auf  ihre 
Fahne  geschrieben  haben. 

Die  ersten  Anfänge  dieser  Bestrebungen  der  russischen 
Frauenwelt  liegen  auf  dem  Gebiete  der  Medizin.  Es  war 
in  der  ersten  liberalen  Regierungszeit  Kaisers  Alexander  II. 
als  die  späterhin  zur  grossen  Berühmtheit  gelangten 
„Höheren  Frauenkurse“  an  den  russischen  Universitäten 
eröffnet  wurden,  welche  dem  weiblichen  Geschlecht  die 
höhere  akademische  Bildung  zugänglich  machen  sollten. 
Obwohl  hier  auch  einige  physikalische  und  medizinische 
Disziplinen  gelehrt  wurden,  so  war  doch  das  Lehrprogramm 
für  einen  vollständigen  ärztlichen  Kursus  nicht  ausreichend. 
Die  russischen  Frauen,  welche  sich  aber  schon  damals  das 


No.  34. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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medizinische  Studium  und  die  ärztliche  Praxis  zum  Ziele 
gewählt  hatten,  mussten  zu  diesem  Zwecke  das  Ausland  auf- 
suchen. Späterhin  wurden  die  Höheren  Frauenkurse 
geschlossen,  um  erst  im  Jahre  1889  wieder  eröffnet  zu 
werden,  mit  dem  medizinischen  Studium  indessen  blieb  es 
nach  wie  vor,  und  die  russischen  Frauen  mussten  und 
müssen  noch  heute  zur  Absolvirung  dieses  Studiums  und 
zur  Erlangung  des  Doktortitels  eine  derjenigen  ausländischen 
Universitäten  aufsuchen,  am  welchen  weibliche  Zuhörerinnen 
geduldet  werden.  Nach  deren  Rückkehr  aus  dem  Auslande 
und  mit  einem  Doktordiplom  versehen,  nehmen  die  russi- 
schen akademischen  Behörden  keinen  Anstand,  die 
Doktorandinnen  zum  russischen  Staatsexamen  zuzulassen, 
und  wenn  sie  dasselbe  bestanden,  ihnen  ein  Doktordiplom 
und  das  Recht  zur  ärztlichen  Praxis  zu  ertheilen.  Auf  diese 
Weise  sind  die  weiblichen  Aerzte  in  Russland  keine 
seltene  Erscheinung  mehr. 

Nach  den  bestehenden  gesetzlichen  Bestimmungen  ist 
den  Frauen  in  Russland  das  volle  Recht  zur  Ausübung  des 
ärztlichen  Berufs  gewährleistet,  wie  dem  männlichen 
Geschlecht,  indessen  dürfen  sie  in  öffentlichen  Anstalten, 
wie  Krankenhäusern,  Schulen,  Asylen  und  dergl.  nur  auf 
dem  Gebiete  der  Frauen-  und  Kinderkrankheiten  thätig  sein. 
Zugänglich  ist  ihnen  der  Dienst  bei  der  Sittenpolizei,  soweit 
er  die  sanitären  Verhältnisse  betrifft,  sowie  überhaupt  bei 
der  ärztlichen  Ueberwaehung  der  Prostitution,  ebenso  die 
Verwaltung  der  Sanitätsbezirke  der  Landschaftsämter 
(Semstwo).  Völlig  ausgeschlossen  bleibt  die  Zulassung  der 
weiblichen  Aerzte  zu  den  einschlägigen  amtlichen  Functionen 
bei  der  Militäraushebung  und  der  gerichtlichen  Medizin, 
ebensowenig  dürfen  sie  als  Direktoren  oder  Verwalter  von 
Krankenhäusern  und  sonstigen  Heilinstituten  angestellt, 
noch  für  den  Wachtdienst  in  denselben  verwendet  werden. 
Indessen  beziehen  sich  diese  Einschränkungen  des  Dienstes 
in  den  Krankenhäusern  allein  auf  die  Städte,  auf  dem 
flachen  Lande  dagegen  und  unter  der  bäuerlichen  Bevöl- 
kerung kommen  diese  Einschränkungen  in  Wegfall,  und  das 
russische  Landvolk  hat  guten  Grund,  darüber  froh  zu  sein, 
was  dasselbe  auch  keineswegs  verhehlt.  Eine  gewisse 
Zurückstellung  gegenüber  ihren  männlichen  Kollegen  müssen 
sich  somit  die  weiblichen  Aerzte  in  Russland  immerhin 
gefallen  lassen,  Hauptsache  ist  und  bleibt  aber  dabei,  dass 
ihnen  die  Vorrechte  und  die  Vortheile  des  Staatsdienstes, 
in  deren  Genuss  die  männlichen  Aerzte  stehen  und  welche 
im  öffentlichen  Leben  in  Russland  von  so  wichtiger  Bedeu- 
tung sind,  gänzlich  vorenthalten  bleiben. 

Seit  einiger  Zeit  stehen  die  weiblichen  Aerzte  in  Russ- 
land nicht  mehr  allein,  vielmehr  ist  dort  auch  die  Zulassung 
der  Frauen  zur  veterinären  oder  thierärztlichen 
Praxis  vor  Kurzem  zur  Thatsache  geworden,  so  dass  von 
jetzt  ab  auch  weibliche  Thierärzte  vorhanden  sein 
werden.  Auch  in  diesem  Falle  müssen  die  russischen 
Frauen  die  thierärztlichen  Hochschulen  des  Auslandes, 
vornehmlich  der  Schweiz  aufsuchen  und  dort  ihre  Studien 
absolviren,  sie  werden  aber  bei  ihrer  Rückkehr  zum  Staats- 
examen zugelassen  und  erhalten  auch  das  Diplom  als  Thier- 
ärzte. Vorläufig  ist  die  Zahl  der  weiblichen  Thierärzte 
eine  sehr  geringe,  da  diese  Anstellung  erst  in  allerjüngster 
Zeit  seitens  der  russischen  Frauen  angestrebt  wird.  Auch 
hier  ist  es  wiederum  das  flache  Land,  welches  sich  beeilte, 
die  weiblichen  Thierärzte  anzustellen.  Es  unterliegt  keinem 
Zweifel,  dass  diese  von  den  russischen  Frauen  ergriffene 
Berufsthätigkeit  von  äusserst  vortheilhaften  Folgen  für  den 
Ackerbau  und  die  Landwirtschaft  in  Russland  sich  erwei- 
sen wird,  welche  so  sehr  auf  die  Viehzucht  und  seinen 
Viehbestand  angewiesen  ist.  Unter  den  obwaltenden  Um- 
ständen treten  die  fortwährenden  Viehseuchen  und  die 
sonstigen  verschiedenartigen  Viehkrankheiten  Jahr  ein  Jahr 
aus  als  eine  wahre  Landplage  auf;  die  russische  Frau  als 
Thierarzt  findet  daher  ein  ausgiebiges  Arbeitsfeld,  dessen 
Bearbeitung  dem  Wohlstand  des  Landes  zum  Segen 
gereichen  muss,  ihr  aber  einen  neuen  Erwerbszweig  er- 
öffnet. 

Eine  wesentliche  Erweiterung  hat  auch  in  letzter  Zeit 
die  Verwendung  der  Frauen  beim  Telegraphen-  und 
Eisenbahn  dienst  in  Russland  gefunden.  Es  ist  nicht  mehr, 
wie  im  übrigen  Europa  das  Bureau,  der  Billetverkauf  und 
der  übrige  innere  Dienst,  bei  welchem  allein  die  Frauen 


angestellt  werden,  sondern  auch  in  den  verschiedenen 
Zweigen  des  beschwerlichen  und  nicht  selten  gefährlichen 
äussern  Dienstes,  vornehmlich  der  Eisenbahnen,  sind  viele 
weibliche  Angestellte  anzutreffen. 

Sie  bekleiden  zuweilen  die  verantwortlichsten  Posten 
im  Signaldienst,  in  der  Weichenstellung,  den  Dampf-  und 
elektrischen  Betrieben  und  den  sonstigen  technischen  Vor- 
richtungen des  Eisenbahnwesens.  Die  Rolle  und  die  Arbeits- 
summe, welche  die  russischen  Frauen  von  heute  mithin  im 
Verkehrswesen  des  Landes  ausfüllen,  steht  in  vielen  Fällen 
den  Leistungen  des  männlichen  Geschlechts  fast  um  nichts 
nach;  dagegen  aber  bleiben  die  von  ihnen  bezogenen 
Löhne  hinter  denjenigen  der  Männer  wesentlich  zurück. 
Die  nach  der  Erweiterung  ihrer  Berufsthätigkeit  strebenden 
Frauen  lassen  sich  indessen  durch  diese  Missgunst  der 
obwaltenden  Umstände  nicht  beirren,  denn  sie  wissen  wohl, 
dass  sie  an  eine  Anstellung  in  diesem  oder  jenem  Erwerbs- 
zweig, mithin  auf  eine  erfolgreiche  Konkurrenz  mit  den 
Männern  nicht  rechnen  dürfen,  wenn  sie  nicht  zu  einem 
bedeutend  billigeren  Lohn  arbeiten  wollen,  als  jene.  In 
dieser  Beziehung  gleichen  die  einschlägigen  Verhältnisse 
in  Russland  denjenigen  des  übrigen  Europas,  wo  ebenfalls 
die  weibliche  Arbeit  ihren  Wettbewerb  mit  der  männlichen 
nur  unter  der  Bedingung  niedrigerer  Löhne  aufrecht 
erhalten  kann. 

Verfolgen  wir  diesen  sozial-wirthschaftlichen  Kampf 
der  russischen  Frauen  auf  seinem  Weg  weiter,  so  begegnen 
wir  auch  Erscheinungen,  die  einen  etwas  drastischen 
Charakter  haben.  Als  eine  solche  Erscheinung  darf  es 
wohl  bezeichnet  werden,  wenn  in  einigen  Städten  Russ- 
lands in  letzter  Zeit  von  der  Einrichtung  weiblicher 
Dienstmänner  zu  hören  ist.  In  Warschau  und  anderen 
Grossstädten  soll  damit  bereits  der  Anfang  gemacht  worden 
sein.  Es  werden  mithin  in  Zukunft  auf  allen  Plätzen  und 
an  den  belebtesten  Strassenecken  weibliche  Expressboten 
zur  Verfügung  des  Publikums  stehen ; sie  werden  mit  Blech- 
schild und  Nummer  ausgestattet  sein,  ähnlich  den  Mit- 
gliedern eines  beliebigen  Dienstmanns-Instituts,  auch  werden 
sie  gleich  diesen  ihre  Dienste  na-ch  einem  festgesetzten 
Tarif  zur  Verfügung  stellen,  nur  wird  dieser  Tarif  ein 
wesentlich  billigerer  sein,  als  derjenige  der  männlichen 
Expressboten. 

Paradox  klingt  die  Thatsache,  dass  in  einigen  Städten 
Russlands  weibliche  Barbiere  zu  finden  sind.  Der  Anfang 
damit  ist  in  der  Stadt  Woronesh  gemacht  worden,  wo  bereits 
eine  Dame  in  ihrem  in  einer  der  belebtesten  Strassen  der 
Stadt  belegenen  Barbier-  und  Rasirladen  ihrem  Berufe  ob- 
liegt. Da  in  dem  Laden  meist  nur  rasirt  wird,  so  fehlt  es 
dem  weiblichen  Barbier  selbstverständlich  an  Kundinnen 
gänzlich  und  sie  hat  nur  männliche  Kunden.  Das  stört  sie 
aber  in  ihrem  Erwerb  ebensowenig,  wie  die  schaulustige 
Menge,  welche  nach  Meldungen  der  dortigen  Blätter  den 
Barbierladen  umsteht  und  sich  an  dem  noch  ungewohnten 
Anblick  ergötzt. 

Es  wäre  durchaus  verfehlt,  wegen  dieser  eigenartigen 
Erscheinungen,  welche  der  Vollständigkeit  halber  nicht 
verschwiegen  werden  dürfen,  den  Ernst  und  die  Bedeutung 
der  in  Rede  stehenden  Bestrebungen  der  russischen  Frauen 
auch  nur  einen  Augenblick  in  Frage  zu  stellen.  Der  stetig 
wachsende  Kreis  der  Berufsthätigkeit  der  weiblichen  Bevöl- 
kerung in  Russland  darf  entschieden  als  eine  wichtige 
Erscheinung  aufgefasst  werden,  und  zwar  auf  sozialpoli- 
tischem Gebiete  nicht  minder  wie  auf  rechtlichem.  Ausser 
der  Betheiligung  der  russischen  Frauen  an  dem  ärztlichen 
und  thierärtzlichen  Beruf,  sowie  auf  einigen  Gebieten  des 
Staatsdienstes  haben  sie  in  letzter  Zeit  grosse  Fortschritte 
und  bedeutende  Erfolge  in  der  Handfertigkeit  und  in  der 
Erzeugung  kunstgewerblicher  Gebrauchsgegenstände,  wie 
sie  nur  eine  hochentwickelte  Kunstindustrie  aufzuweisen 
vermag,  sich  gezeigt. 

Damit  berühren  wir  ein  sehr  ausgedehntes  Gebiet  der 
Erwerbsthätigkeit  der  russischen  Frauen,  welches  eine 
besondere  eingehende  Schilderung  verdient. 

S.  Werblunski. 

Frauentag  in  Wiesbaden.  In  den  Tagen  vom  5.  bis 

7.  Juni  findet  in  Wiesbaden  die  diesjährige  Generalversamm- 
lung des  Vereins  Frauenbildungs-Reform  statt.  Die  Vor- 


410 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  34. 


mittage  sind  geschlossenen  Sitzungen  des  Vereins  gewidmet, 
während  die  Abende  öffentlichen  (Jedermann  zugänglichen) 
Vorträgen  Vorbehalten  bleiben.  Die  Generalversammlung 
verspricht  insofern  von  besonderem  Interesse  zu  werden, 
als  das  Mädchen  - Gymnasium,  das  der  Verein  im  Sep- 
tember zu  Karlsruhe  eröffnen  will,  einen  I lauptgegenstand 
der  Mittheilungen  bilden  wird. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung. 

Bauordnungen  für  städtische  Innen-  und  Aussen- 
bezirke.  Ueber  das  vorstehende  Thema  werden  auf  der 
18.  Versammlung  des  D.  Vereins  für  öffentliche  Gesundheits- 
pflege, die  am  25.  bis  28.  Mai  d.  J.  in  Würzburg  stattfindet, 
Oberbürgermeister  Adickes  (Frankfurt  a.  M.)  und  Oberbaurath 
Professor  Baumeister  (Karlsruhe)  referiren.  Sie  haben  dafür 
eine  Reihe  von  Leitsätzen  aufgestellt,  die  jedoch  nicht  zur 
Abstimmung  bestimmt  sind.  Nachstehend  seien  die  wesent- 
lichsten angeführt:  1.  Die  rasche  Bevölkerungszunahme  der 
meisten,  namentlich  der  grösseren  deutschen  Städte,  und  die 
ausserordentliche  Bedeutung  guter  Wohnverhältnisse  für 
die  gesammte  soziale  Entwicklung  lassen  eine  zweckent- 
sprechende bauliche  Anlage  der  neuen  Stadttheile  als  eine 
Angelegenheit  von  grösster  Wichtigkeit  erscheinen.  2.  Die 
für  die  meist  engbebauten  älteren  Stadttheile  erlassenen  oder 
zu  erlassenden  baupolizeilichen  Bestimmungen  können  natur- 
gemäss  wegen  der  nothwendigen  Rücksichtnahme  auf  die 
einmal  vorhandenen  hohen  Grundwerthe  den  Anforderungen 
der  Gesundheitspflege  und  Sozialpolitik  nur  in  sehr  be- 
schränkter und  bedingter  Weise  gerecht  werden  und  sind 
daher  an  sich  nicht  geeignet,  auf  die  neuen  Stadttheile  An- 
wendung zu  finden,  in  denen  es  sich  zum  grössten  Theil 
noch  um  reines  Ackerland  oder  unfertiges  Baugelände,  im 
Uebrigen  aber  um  dünner  bebaute  Grundstücke  handelt. 
3.  Die  in  fast  allen  Städten  herrschende  gleiche  Behandlung 
der  Altstadt  und  der  neuen  Stadttheile  hat  zugleich  mit  einer 
weit  über  das  sozialpolitisch  zulässige  Mass  hinausgehenden 
Zusammendrängung  der  Bevölkerung  die  äusserste  Aus- 
nutzung des  Baugeländes  und  — da  die  Bodenpreise 
wesentlich  durch  das  polizeilich  zugelassene  Mass  der 
baulichen  Ausnutzung  mitbestimmt  werden  — eine  durchaus 
ungesunde  Steigerung  der  Bodenpreise  zur  Folge  gehabt, 
welche  alle  Versuche  einer  im  allgemeinen  Interesse  dringend 
zu  fordernden,  weiträumigeren  Gestaltung  der  neuen  Bau- 
quartiere auf  das  Aeusserste  erschwert.  Ausserdem  wird 
durch  die  einfache  Uebertragung  der  altstädtischen  Be- 
stimmungen eine  den  verschiedenen  Anbaubedürfnissen 
(grössere  und  kleinere  Wohnungen,  Fabriken  und  kleinere 
gewerbliche  Anlagen)  entsprechende  Eintheilung  und  Aus- 
gestaltung der  neuen  Stadttheile  gehindert.  4.  Die  an 
manchen  Orten  sich  findenden  Sonderbestimmungen  über 
a)  sehr  dicht  bebaute  ältere  Grundstücke,  b)  Grundstücke, 
welche  nicht  an  regulirten  und  kanalisirten  Strassen  liegen, 

c)  bisher  schon  bebaute  Plätze  im  Vergleich  zu  leeren, 

d)  Fabrikbezirke,  e)  Bezirke  mit  offener  Bauweise  genügen 
nicht,  um  der  Bevölkerung  der  neuen  Stadttheile,  namentlich 
den  Unbemittelten,  gute  Wohnungsverhältnisse  zu  sichern; 
vielmehr  bedarf  es  umfassender,  zu  einem  einheitlichen 
Ganzen  verbundener  Sonderbestimmungen  für  die  neuen 
Stadttheile,  um  durch  dieselben  im  Anschluss  an  die  Be- 
bauungspläne und  die  von  der  Stadterweiterung  nach  Lage 
der  örtlichen  Verhältnisse  zu  lösenden  Aufgaben,  allen  Be- 
völkerungsklassen ein  weiträumiges  und  gesundes  Wohnen  zu 
sichern,  und  den  verschiedenen  Anbaubedürfnissen  * — - soweit 
die  Verhältnisse  dies  gestatten  - — • in  fest  abgegrenzten  Be- 
zirken (Wohn-,  Fabrik-,  gemischten  Vierteln)  Rechnung  zu 
tragen.  5.  Insbesondere  bedarf  es  energischer  Vorschriften 
zur  dauernden  Verhinderung  der  übermässigen  Ausnutzung 
der  Baugrundstücke,  sowohl  durch  angemessene  Beschrän- 
kung der  Gebäudehöhen,  als  durch  Festhaltung  genügender 
freier  Hofräume  und  unter  Umständen  auch  freier  Räume 
zwischen  Gebäuden  (Bauwich),  und  zwar  sollte  der  Flächen- 
raum der  unbebaut  zu  lassenden  Grundstückstheile  auch 
von  der  Zahl  und  Beschaffenheit  der  auf  dem  Grundstück 


anzulegenden  Wohnungen  abhängig  gemacht  werden,  wobei 
unter  Umständen  Vorgärten  und  auch  Theile  breiterer 
Strassen  mit  zur  Anrechnung  gebracht  werden  könnten. 

6.  Die  durch  die  Verhältnisse  gebotenen  Unterschiede  in 
Bezug  auf  den  Grad  der  zulässigen  Baudichtigkeit  lassen 
sich  in  der  Regel  nur  mittelst  fester  Grenzen  zwischen  be- 
stimmten Zonen  oder  Bezirken  sichern,  wobei  nach  Um- 
ständen Uebergangsbestimmungen  für  gewisse  schon  in  die 
Bebauung  hineingezogene  Grundstücke  vorzusehen  sind. 

7.  Unter  neuen  Stadttheilen  im  Sinne  dieser  Leitsätze  ist 
nicht  nur  das  augenblicklich  zur  städtischen  Gemarkung  ge- 
hörige Gelände  zu  verstehen;  vielmehr  müsste  alsbald  das 
gesammte,  in  absehbarer  Zeit  in  städtische  Verhältnisse 
eintretende  Gebiet  von  einheitlichen  Gesichtspunkten  aus, 
und  zwar  insoweit  eine  entsprechende  Erweiterung  der 
städtischen  Gemarkung  unthunlich  ist.  vermittelst  Zusammen- 
wirkens aller  zuständigen  Behörden,  den  vorerwähnten  bau- 
polizeilichen Beschränkungen  unterworfen  werden.  8.  Die 
hier  geforderten  Sonderbestimmungen  für  die  neuen  Stadt- 
theile sind  nach  Massgabe  des  Landesrechtes  durch  Gesetz, 
Verordnung  oder  Ortsstatut  herbeizuführen.  Landesgesetz- 
liche Ausführungsbestimmungen  zur  Gewerbeordnung  (§  233) 
würden  zwar  in  einigen  Beziehungen  den  Erlass  von  Vor- 
schriften über  Fabrikviertel  erleichtern,  sind  aber  keine  Vor- 
bedingung für  Einführung  dieser  Sonderbestimmungen  durch 
Polizei -Verordnung. 

Gesetzentwurf  betr.  die  Wohnungspflege  in  Hamburg. 

Der  Senat  hat  der  Bürgerschaft  einen  Gesetzentwurf  vor- 
gelegt, der  eine  Ergänzung  zu  der  im  Werk  befindlichen 
Revision  der  baupolizeilichen  Gesetzgebung  darstellt  und 
eine  Ueberwachung  der  späteren  Benutzung  der  Räume 
regeln  soll.  Dem  Gesetzentwurf  ist  eine  Motiviruug  bei- 
gegeben, aus  der  wir  Folgendes  entnehmen:  Die  Senats- 

und Bürgerschafts-Kommission  für  die  Prüfung  der  Gesund- 
heitsverhältnisse Hamburgs  hat  in  ihrem  ersten  Berichte 
vom  27.  Januar  d.  J.  den  Erlass  eines  Wohnungsgesetzes 
angeregt  und  für  dessen  Inhalt  bestimmte  Direktiven  auf- 
gestellt. Das  Zutreffende  der  in  dieser  Richtung  von  der 
Kommission  geltend  gemachten  Erwägungen  hat  der  Senat 
anerkannt.  Neben  der  erforderlichen  Revision  unserer  bau- 
polizeilichen Gesetzgebung,  welche  bereits  in  die  Wege 
geleitet  ist,  wird  unzweifelhaft  die  Organisirung  einer 
Wohnungspflege  geeignet  sein,  eine  Lücke  in  der  öffent- 
lichen Fürsorge  für  die  Gesundheitsverhältnisse  unserer 
Stadt  auszufüllen. 

Das  Baupolizei-Gesetz,  welches  sich  im  Wesentlichen 
nur  mit  der  Errichtung  der  Wohngebäude  und  Wohnungen 
und  nur  in  ganz  vereinzelten  Punkten  mit  der  Benutzung 
dieser  Gebäude  und  Wohnungen  und  ihrer  einzelnen  Theile 
befasst,  geht  auch  mit  den  in  §§  32,  34,  35,  36  enthaltenen 
Vorschriften  nicht  soweit,  die  Ueberwachung  der  späteren 
Benutzung  der  Räume  zu  regeln,  indem  es  sich  vielmehr 
auf  die  Forsorge  beschränkt,  dass  der  Bau  der  in  Aussicht 
genommenen  Benutzung  entsprechend  ausgeführt  werde. 

Ob  aber  ein  Gebäude  oder  eine  Wohnung  nach  der 
Fertigstellung  auch  so  benutzt  werden,  wie  bei  der  Erbau- 
ung angenommen  worden  war,  ob  nicht  eine  Ueberfüllung 
der  Räume  eintritt,  ob  die  im  gesundheitlichen  Interesse 
so  wichtigen  Entwässerungsanlagen  in  gutem  und  brauch- 
barem Zustande  erhalten  werden,  ob  der  Vermiether  das 
Seinige  zur  Beförderung  des  gesunden  Wohnens  thut  und 
ob  nicht  etwa  der  Miether  durch  seine  Art  des  Bewohnens 
gesundheitsschädliche  Zustände  hervorruft,  lässt  sich  nur 
durch  eine  fortlaufende  Kontrolle  und  durch  gesetzlich  zu 
einer  solchen  befugte  Organe  feststellen. 

Dass  bei  dem  bisherigen  baupolizeilichen  Verfahren, 
nach  welchem  Niemand  der  Behörde  genaue  Auskunft  über 
den  beabsichtigten  Bau  schuldig  war,  eine  spätere  Kontrolle 
über  die  Benutzung  der  Bauten  ausserordentlich  schwierig 
war,  liegt  auf  der  Hand.  Um  eine  wirkliche  Kontrolle  zu 
ermöglichen,  hat  es  sich  somit  als  nöthig  erwiesen,  für  neu- 
entstehende Bauten  aktenmässig  festzustellen,  welche  Räume 
dieselben  enthalten  und  wie  diese  Räume  benutzt  werden 
sollen.  An  der  Hand  dieser  Feststellung  wird  dann  eine 
Kontrolle  darüber  ausgeübt  werden  können,  ob  eine  gesetz* 
widrige  Benutzung  eingetreten  ist. 

Die  zu  diesem  Zwecke  erforderliche  Einreichung  genauer 


No.  34. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


411 


Baupläne  ist  in  Ergänzung  der  Vorschriften  des  § 11  des 
Baupolizei-Gesetzes  durch  die  Novelle  vom  28.  April  d.  J. 
gesetzlich  angeordnet  worden.  Der  Gesetzentwurf  für  die 
Wohnungspflege  selbst  enthält  in  den  §§  I bis  4 Bestim- 
mungen über  die  Einrichtung  der  mit  der  Wohnungspflege 
zu  beauftragenden  Organe  und  über  die  Rechte  und  Pflichten 
der  Vorsteher  und  Wohnungspfleger,  im  § 5 eine  Bestim- 
mung über  die  Mitwirkung  der  Beamten  der  Baupolizei,  im 
§ 6 die  Erfordernisse  für  die  Verwendbarkeit  der  Gelasse 
und  Räume  zum  dauernden  Aufenthalte  von  Menschen,  im 
§ 7 das  Verfahren  bei  dem  Verbot  der  Benutzung  unge- 
setzlicher und  gesundheitsschädlicher  Räume,  und  im  Schluss- 
paragraphen 8 Bestimmungen  über  Beschwerden. 


Schulwesen. 


Ueber  Zustände  der  Schulverwaltung  in  Preussen 

machte  der  Kultusminister  Dr.  Bosse  gelegentlich  der  Be- 
rathung  des  Schuldotationsgesetzes  im  Abgeordnetenhause 
Mittheilungen,  welche  auch  sozialpolitisch  von  nicht  geringer 
Bedeutung  sind.  Der  Hauptzweck  des  Gesetzentwurfes 
ist:  Die  Regierung  in  ihren  Bestrebungen  zur  Ver- 

besserung der  Volksschule  von  der  Allgewalt  der  Selbst- 
verwaltungskörper zu  befreien,  in  denen  gegenwärtig  viel- 
fach namentlich  auf  dem  Lande , das  bildungsfeindliche 
Element  die  Oberhand  hat.  Wie  wehrlos  seit  dem 

Gesetz  von  1887  die  Regierung  in  dieser  Beziehung 
dasteht,  und  wie  weit  die  Machtäusserungen  der  Selbst- 
verwaltungskörper gehen,  zeigte  der  Minister  an  meh- 
reren besonders  drastischen  Beispielen.  Einzelne  Kreis- 
ausschüsse haben  sich  veranlasst  gesehen,  bei  Anerken- 
nung des  Bedürfnisses  einer  Schulerweiterung  zu  bestim- 
men, dass  statt  eines  verheiratheten  Lehrers  ein  unver- 
heiratheter  oder  statt  eines  Lehrers  eine  Lehrerin  anzu- 
stellen sei.  Ein  Kreisausschuss  bestreitet  im  Gegensatz 
zur  Schulaufsichtsbehörde  die  Nothwendigkeit  der  Be- 
schaffung von  Unterrichtsmitteln,  wie  z.  B.  Wandkarten; 
ein  anderer  Kreisausschuss  glaubt  hinsichtlich  der  Zahl  der 
von  einem  Lehrer  zu  unterrichtenden  Kinder  von  den 
reglementsmässigen  Vorschriften  vollkommen  abweichen  zu 
können.  So  hat  z.  B.  ein  Kreisausschuss  entschieden,  dass 
für  340  Kinder  3 Lehrkräfte  vollkommen  genügen  (Der 
stenographische  Bericht  verzeichnet  „Heiterkeit“).  Ein  Pro- 
vinzialrath erkennt  zwar  an,  dass  mehr  als  300  Kinder  von 
3 Lehrern  nicht  mit  Erfolg  unterrichtet  werden  können,  und 
dass  die  Anstellung  eines  vierten  Lehrers  gerechtfertigt 
sei;  er  sieht  aber  einstweilen  von  der  Anstellung  ab,  weil 
3 Lehrer  doch  „zur  Noth“  als  ausreichend  angesehen 
werden  können.  Ein  Kreisausschuss  hat  der  Aufbesserung 
einzelner  Lehrer  sich  dadurch  entzogen,  dass  er  die  in  un- 
mittelbarer Nähe  der  als  besonders  theuer  geltenden  grossen 
Bezirkshauptstadt  gelegenen  Orte  für  die  Zwecke  des  Be- 
soldungsmassstabes einfach  zu  den  billigen  Orten  rechnete. 
Ein  anderer  hat  im  Jahre  1890  an  einer  vierklassigen  Schule, 
deren  einzelne  Klassen  mit  106,  mit  92,  mit  93,  mit  83  Kindern 
besetzt  gewesen  waren,  die  Anstellung  eines  vierten  Lehrers 
zunächst  ausgesetzt,  also  abgelehnt,  obwohl  eine  Wohnung 
für  einen  vierten  Lehrer  und  ein  viertes  Klassenzimmer 
vorhanden  waren,  und  die  Regierung  sich  zu  Bei- 
trägen an  die  Gemeinde  bereit  erklärt  hatte,  und 
er  führt  für  seine  Weigerung  als  Grund  an,  dass  die  Zahl 
der  Kinder  in  den  einzelnen  Klassen  ja  nicht  so  erheblich 
sei,  dass  die  Errichtung  einer  vierten  Klasse  unbedingt 
geboten  erscheine,  und  dass  auf  die  Gemeinde,  welche  noch 
an  den  Folgen  einer  vor  Jahren  stattgefundenen  Hochfluth 
des  benachbarten  Flusses  gelitten  habe,  Rücksicht  zu 
nehmen  sei.  Bei  der  Erweiterung  einer  evangelischen 
Schule  in  einer  der  östlichen  Provinzen  hat  der  Provinzial- 
rath in  Uebereinstimmung  mit  dem  Kreisausschuss  die 
Leistung  eines  Beitrages  von  300  Mark  zur  Besoldung  eines 
zweiten  Lehrers  wegen  Leistungsunfähigkeit  der 
Schulgemeinde  abgelehnt,  obwohl  in  den  betheiligten 
Gemeinden  bei  einem  Klassensteuersoll  von  395  M.  nur 
69,95  M.  jährlich  zu  Schulabgaben  aufzubringen  sind.  Der 


Minister  beklagt  die  unzulängliche  Geschäftsführung  der  nur 
selten  zusammentretenden  Ausschüsse.  Lehrer,  die  wegen 
Krankheit  vertreten  werden  mussten,  sind  darüber  hingestor- 
ben, ehe  nur  überhaupt  ein  Beschluss  von  den  Beschlussbe- 
hörden darüber  herbeigeführt  werden  konnte,  ob  einzutreten 
sei  oder  ob  die  Gemeinde  in  der  Lage  sei,  die  Vertretungs- 
kosten  aufbringen  zu  können.  Die  Ausschüsse  sagen  der 
Regierung:  selbst  wenn  ihr  die  Leistungsunfähigkeit  der 
Gemeinden  anerkennt,  so  dürft  ihr  eine  neue  Schule  nicht 
gründen;  denn  mit  der  neuen  Schule  würde,  auch  wenn 
die  Regierung  allein  die  ganze  Last  auf  staatliche 
Mittel  übernimmt,  doch  die  rechtliche  Verpflichtung  für 
die  Gemeinden  entstehen  für  die  Pensionen  etc.  demnächst 
aufzukommen  und  unter  diesen  Umständen  versagen  wir 
die  Genehmigung. 

Trotz  dieser  eindringlichen  Schilderung  hat  das  Ab- 
geordnetenhaus sich  geweigert,  den  Entwurf  auch  nur  einer 
Kommission  zu  überweisen.  Aus  rein  formalen  Gründen 
wird  vielleicht  noch  eine  dritte  Lesung,  jedenfalls  aber  die 
Ablehnung  der  Vorlage  stattfinden. 


Litteratur. 


Jastrow,  Privatdozent  Dr.  J.,  Drückt  die  Militärlast?  Eine  zeitge- 
mässe  Frage.  Leipzig,  1893,  Hirschfeld. 

Die  vorliegende,  das  sozialpolitische  Gebiet  mehrfach  strei- 
fende Schrift  Jastrows  erörtert  die  Frage,  ob  die  Militärlast  eine 
drückende  sei,  unter  zwei  Gesichtspunkten.  Zunächst  unter  dem 
finanziellen.  Jastrow  bestreitet,  dass  Deutschland  in  finanzieller 
Hinsicht  eine  besonders  hohe  Militär-  und  Steuerlast  zu  tragen 
habe  und  sucht  dies  durch  verschiedene  finanzstatistische  Ver- 
gleiche zu  beweisen.  Er  stellt  die  Kosten  für  Armee.  Marine 
und  Schuldenzinsen  in  Frankreich,  England,  Italien  und  Deutsch- 
land neben  einander  und  constatirt,  dass  unter  den  genannten 
Ländern  die  Belastung  pro  Kopf  der  Bevölkerung  in  Deutschland 
die  relativ  niedrigste  ist  Zu  demselben  Ergebniss  gelangt  er 
hinsichtlich  der  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  entfallenden 
Reichs-  und  Landessteuern  jener  Länder. 

Uns  will  scheinen,  als  ob  diese  Betrachtungsweise  eine 
unhaltbare  ist.  Ganz  abgesehen  davon,  dass  es  wenig  Zweige 
der  Statistik  giebt,  die  komplizirter  sind  und  in  der  Ver- 
gleichung scheinbar  gleichartiger,  in  Wirklichkeit  aber  sehr 
heterogener  Elemente  leichter  zu  irreführenden  Schlussfolge- 
rungen verleiten,  wie  die  Finanzstatistik,  heisst  es  doch 
bei  der  Beurtheilung  der  wirthschaftlichen  Leistungsfähigkeit 
eines  Volkes  nicht  weniger  als  alle  entscheidenden  Faktoren 
ignoriren,  wenn  man  sich  auf  eine  Vergleichung  der  Budgets 
verschiedener  Länder  beschränkt.  Ueber  die  physische  Leistungs- 
fähigkeit mehrerer  Menschen  werde  ich  aus  der  Thatsache  allein, 
dass  ihnen  bestimmte  Lasten  aufgenöthigt  werden,  die  sie  eine 
Weile  gezwungen  tragen,  nicht  viel  erfahren,  und  noch  weniger 
werde  ich  aus  jener  blossen  Thatsache  und  aus  der  Verglei- 
chung der  Grössenverhältnisse  der  Lasten  jedes  Einzelnen  die 
Wirkungen  zu  erkennen  vermögen,  die  sie  auf  den  Organismus 
jener  Personen  üben  müssen.  Selbst  wenn  also  die  Ziffern,  die 
Jastrow  anführt,  richtig  und  genau  vergleichbar  wären,  würde 
ohne  eine  grosse  Zahl  von  sehr  wichtigen,  hinzuzuziehenden 
Momenten  sich  kein  irgendwie  maassgebender  Schluss  aus  jener 
finanzstatistischen  Betrachtung  ergeben  können. 

Dagegen  ist  der  zweite  Gesichtspunkt,  unter  dem  Jastrow 
seine  Frage  behandelt,  ein  sehr  beachtenswerter.  Jastrow  zeigt 
in  scharfer  und  nachdrücklicher  Kritik,  (und  hier  erweist  sich 
der  Verfasser  als  einer  der  geistvollsten  und  selbständigsten 
unter  den  jüngeren  Nationälökonomen,  als  den  ihn  auch  die 
Leser  des  Sozialpolitischen  Centralblattes  kennen  gelernt  haben), 
dass  ein  wesentlicher  Grund  des  Unmuths  über  die  hohen 
und  immer  steigenden  Militärlasten  darin  zu  suchen  sei,  dass 
die  militärischen  Interessen  bei  uns  angefangen  haben,  alle 
Kulturinteressen  zu  absorbiren,  und  schliesst  seine  Erörterung 
mit  folgenden  nur  allzu  beherzigenswerthen  Bemerkungen:  Ein 
Staat  mit  einem  Schulwesen,  das  nicht  genügend  fortschreitet, 
mit  einer  Verwaltung  von  Handel  und  Industrie,  welche  den 
Ideen  der  Neuzeit  sich  nicht  mit  ausreichender  Energie  zuwendet, 
mit  einer  Justiz,  welche  dem  Bürger  das  Vertrauen  zu  dem  Arme 
der  Gerechtigkeit  erschüttert,  mit  einer  Sanitätsverwaltung,  welche 
ihren  wichtigsten  Aufgaben  nicht  gewachsen  ist  — ein  solcher 
Staat  wird  auf  die  Dauer  nicht  den  Boden  abgeben,  auf  dem 
eine  siegreiche  Armee  gedeihen  kann.  Und  wenn  die  Armee  die 
zentrale  Stellung,  in  der  sie  sich  gegenwärtig  befindet,  dazu  ge- 
braucht, das  Interesse  für  die  gute  Verwaltung  der  anderen 
Ressorts  zu  absorbir  en.  so  sägt  sie  den  Ast  ab,  auf  dem  sie  sitzt. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin,  W„  Victoriastrasse  16. 


412 


ANZEIGEN 


No.  34. 


Soeben  erfcfjicn  unb  ift  in  allen  Sudjfjanblungeu  51t  haben: 

„Sie  2Mt  alC'  Söerfftatt" 

^octalpalttijcbe  glnftdjtett 

be§  §crrtt 

lüilljrlm  Bcljmami 

Sifd)  lernt  ei  fter  a.  S. 

|Uet»df0epiij^tcl,vrt  uott 
$lratfrlj. 

8°.  6 SBogeti  in  iHuftrirtem  ilmfrf)lag  fßreiS  1 sDtarf. 

ift  eilt  eigenartige?  Sücfjlein,  ba?  unter  obigem  $ttel  im  untcrjetchnetcn  äicrlage  foeben  crfcglenen  Ift. 
(Sine  3üQe  reidjer  unb  antegenber  ©ebanfen  über  unfere  focinleit  SSerfjältniffe,  rnand)  ernfte?  Siahnroort  an  bie 
„Sefifienben",  manch  befjerjtgcnäioertfjer  Statt)  an  alle  Siejenigen,  bie  e?  Srnft  mellten  mit  bem  fodaien  grieben 
unferer  unb  oor  altem  ber  jufünfttgen  3eit,  treten  in  biefem  öüctjlein  im  ©eroanbe  einer  buiiuu  noKcn 
ftellung  an  ben  Sefcr  heran.  'Dtau  glaubt  ihn  fprcchen  ju  hören,  ben  bieberen  oerftänbigeu  SBtann  au?  bem 
SBotfe,  ber  in  feiner  treuherjigen  Slrt  unb  mit  feinem  Berliner  Sialect  fo  einbringlict}  unb  überäeugenb  ju 
reben  uerfteht. 

Sitten  5Mrbeitflel>erit,  allen  ^efiörbeit  * ^orftänben  fei 
btefe3  jöiirlttetit  tu  arm  etnftfoQlem 

r»on 

A.  Hofmann  & Comp.,  Berlin  W.  41. 

SargefieHt 

auf  ©rmtb  Einer  öerloren  geglaubten 
^anbfdjriften-Sammlung 

mtt 

beut  ftarträt  fjelene  non  $tatmtjHjas 

oon 


frnn?  won  Jfcutmdj 

unb 


jmet  ^riefen  in  ^akfiinile. 

8°,  XII  unb  188  ©eiten. 

©efjeftet  ißrei?  9JJ.  3,  gehunben  ißreiS  9ft.  4. 
3«  bejiefjcn  burd) 

pul  ^djcllcts  Sudjljiinlilunj  (f.  lüftcnmadjcr) 

Berlin  W.,  Sftarfgrafenfir.  39/40. 

®arl  ijepiaitns  Verlag,  ^erlitt  W. 

SDtaucrftrajfe  44. 


JJolksinirtlj^nfUic^es  fefttnid) 


3um 

llutortiljtsfleljraiulj 

bearbeitet 


MEYERS 


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über  ßDTtj  |rat|tt)lnnii 

burcf) 

gcnicinnütjigc  5Uit(engefcllfcljnftcn 

©in  i&’tiirk  (oktaler  Urform 

uon 

Jlrtul 

Stuttgart. 

Sritte  Sluftage.  ^3rei§  30  ^Pfennige. 

®er  burd)  feine  Shätigf'eit  in  ber  SßohlfahrtSpflegc  unb  auf  oermaubteu  ©ehietcu  mofy* 
hefanute  SSerfaffer  critraicfelt  in  biefer  Schrift  pofitiue  Sßorfdjlcige,  tueldfe  barauf  abjielen,  bie 
Söfung  ber  fokalen  gragc  3a  förbcrn  burd)  bie  Siegelung  ber  2lrbeiter=2Bohnung§oerhä[tmffe. 
©r  ucrtritt  mit  über^eugenber  23enm§führung  ben  Stanbpuuft,  baff  bie  Sefeitigung  ber  2Boh= 
nungSnot  ber  SIrbeitcr  als  ber  SUittel«  unb  2lu§gang§pnnft  aller  Steformbeftrebungen  angefehen 
merben  müffe,  nadj  beffen  Schaffung  crft  für  eine  erfpriefelidje  2Iu§behnung  ber  SÜjätigfcit  auf 
weitere  ©ebiete  ber  2BobIfafjrt§pfIege  ber  23oben  geebnet  fei.  Sei  ber  ©röfie  ber  Stufgabe  ift  aber 
an  einen  gliicflidjcn  ©rfolg  ohne  fräftige  Staat§t)ilfc  nidjt  ju  benfen,  bie  fid)  übrigens  auf  eine 
blo&e  ©arantielciftung  für  Kapital  unb  3in§  befdjränfen  tonnte. 

©3  märe  bringenb  511  nüinfdjeu,  bap  ben  als  praftifdj  unb  burdjfüfjrbar  anerfannten  23or= 
fdjlägcn  nun  aud)  flljaten  folgen. 

Stuttgart.  |0. 


Schriften  öcr  Centralftelle  für 
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5Rr.  1. 

|it  Itrlitpriing  Ber  Polpiinpi. 

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8°.  VI  unb  370  Seiten. 

5ßrei§  geheftet  9JII.  8. — , poftfrei  2JIf.  8.30. 
„ gebuttben  2)2f.  9. — , poftfrei  9ftf.  9.30. 

9ir.  2. 

Die  benoenöuug 

ber 

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8°.  IV  unb  94  Setten. 
ißrci§  geheftet  9Kt.  2.—,  poftfrei  2Hf.  2.10. 

®itrl  ijnjmnmi?  örrlitg  in  Berlin  W., 

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^ier^u  eine  (Extrabeilage  ber  23erlag§bucf)l)anblung  ©.  g«  $irf4jf*ll»  in  geizig. 


Carl  Heymanns  Verlag  in  Berlin  W.,  Mauerstrasse  44.  — Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld  in  Berlin  W. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  29.  Mai  1893. 


Nummer  35. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Erscheint  jeden  Montag. 

Zu  beziehen 

durch  alle  Buchhandlungen,  Spediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf 

Anzeigenpreis  für  die  dreigespaltene  Colonelzeile 
40  Pfennig. 


INHALT. 


Kinderarbeit  u.  Kinderschutz 
in  Italien.  Von  Werner 
Sombart. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  und 
Wirthschaftsstatistik : 

Evangelisch-sozialer  Kongress. 

Koalition  von  Kleinbetrieben. 

Eine  ackerbautreibende  Genossen- 
schaft in  Italien. 

Die  italienische  Auswanderung. 

Arbeiterzustände : 

Die  Ergebnisse  der  neuesten  säch- 
sischen Fabrikarbeiterzählung  für 
das  Jahr  1 892.  Von  MaxQuarck. 

Arbeitslosigkeit  im  Berliner  Brau- 
gewerbe. Von  Privatdozent  Dr. 
Karl  Oldenberg. 

Die  Arbeitszeitung  (Labour  Gazette) 
des  englischen  Arbeitsamts. 

Lohnzahlungs-  und  Trucksystem  in 
den  Verein.  Staaten  von  Amerika. 


Politische  Arbeiterbewegung : 

Die  evangelischen  Arbeitervereine. 

Gewerkschaftliche  Arbeiterbewe- 
gung: 

Internationaler  Schuhmacher  - Kon- 
gress. 

Arbeiterversicherung : 

Zur  Ausführung  des  Invaliditäts- 
und Altersversicherungsgesetzes. 

Schulwesen,  Erziehungs-  und 
Bildungsfragen : 

Der  Verband  deutscher  Gewerbe- 
schulmänner. 

Litteratur : 

Schall,  Eduard,  Die  Sozialdemo- 
kratie. 

Lotmar,  Ph.,  Vom  Rechte,  das  mit 
uns  geboren. 

Eingesendete  Schriften. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Kinderarbeit  und  Kinderschutz  in  Italien. 


Es  sind  verhältnissmässig  viele  Nachrichten  über  die 
Kinderarbeit  in  der  italienischen  Industrie  auch  ausser 
Landes  gedrungen.  Man  weiss  in  den  interessirten  Kreisen 
Deutschlands,  welchen  Umfang  die  Kinderarbeit  jenseits  der 
Alpen  hat  und  auch  welcher  Art  sie  in  den  wichtigsten 
Produktionszweigen  ist.  Die  Leser  des  Handwörterbuchs 
der  Staatswissenschaften  finden  neuerdings  die  einschlägigen 
Zahlen  unter  dem  Stichwort  „Jugendliche  Arbeiter“  im 

4.  Bande  gesammelt  und  mögen  sie  dort  nachlesen.  Hier 
sei  nur  daran  erinnert,  dass  jedenfalls  mehrere  Hundert- 
tausend Kinder  unter  14  Jahren  in  Italien  gewerblich  thätig 
sind;  nach  der  Berufszählung  des  Jahres  1881  sind  es 
149  964  männliche  und  159  413  weibliche,  allerdings  ein- 
schliesslich der  Lehrlinge  in  den  Handwerken.  Einen  be- 
sonders starken  Prozentsatz  der  gesammten  Arbeiterschaft 
bilden  die  Kinder  in  der  italienischen  Seidenindustrie,  wo 
sie  beispielsweise  in  der  Seidenspinnerei  1881  1f5  aller  be- 
schäftigten Personen  (28  175  von  146  514)  betrugen,  während 
nach  einer  Statistik  der  Mailänder  Gesellschaft  für  Seiden- 
handel und  Seidenindustrie  in  der  Lombardei  gar  45  pCt. 
der  Seidenspinnerinnen  jünger  als  15  Jahre  waren.  Stark 
vertreten  sind  die  Kihder  ferner  auch  im  Schwefelbergbau ; 
hier  sollen  nach  einer  Erhebung,  die  Bodio  im  Jahre  1888  ver- 
anstaltet hat,  unter  27  897  insgesammt  beschäftigten  Arbeitern 
6753,  d.  h.  24,1  pCt.  im  jugendlichen  Alter  unter  15  Jahren  ge- 
standen haben.  Bekannt  ist  auch,  in  welch'  schamloser  Art 
I 


der  junge  Kapitalismus  in  Italien  die  unreifen  Arbeitskräfte 
auszubeuten  verstand,  ehe  ihm  gesetzliche  Schranken  ge- 
zogen wurden.  Ueberall  hören  wir  von  einer  langen 
Arbeitszeit,  ungesunder  Beschäftigung  und  dgl.  Letztere 
erreicht  ihren  Höhepunkt  in  der  oft  beklagten  Verwendung 
gerade  der  Kleinsten  zum  Herausschleppen  des  Schwefels  auf 
steilen,  hohen  Leitern  aus  den  Schwefelgruben.  Alle  Miss- 
stände, die  in  den  englischen  Children  Employment  Reports 
am  Anfang  dieses  Jahrhunderts  der  erstaunten  Welt  zum 
ersten  Male  verkündet  wurden,  waren  in  der  italienischen 
Industrie  wiederum  mit  dem  Vordringen  des  Kapitalismus 
zu  Tage  getreten  und  nöthigten  die  Regierung  in  Rom  zu 
einem  ersten  — und  bis  jetzt  dem  einzigen  — Schritte  aut 
der  Bahn  des  Arbeiterschutzes.  Dieser  Schritt  wurde  gethan 
mit  dem  Gesetz  betreffend  die  Kinderarbeit  vom  II.  Februar 
1886,  von  dessen  Existenz  auch  in  Deutschland  oft  gesprochen 
ist.  Die  Bestimmungen  des  Gesetzes  sind  ebenso  milde  wie 
komplizirt  — beide  Eigenschaften  pflegen  in  den  Anfängen 
des  Arbeiterschutzes  meist  vereint  zu  sein.  Sein  wichtigster 
Inhalt  ist  in  Kürze  folgender: 

1.  Die  Beschäftigung  von  Kindern  unter  9 Jahren  ist 
verboten  in  „industriellen  Anlagen“  (d.  h.  in  allen  Motoren- 
betrieben und  in  denjenigen  motorlosen  Betrieben,  die  mehr 
als  10  Arbeiter  in  geschlossenen  Räumen  beschäftigen), 
ferner  in  Steinbrüchen  und  Bergwerken;  für  die  Arbeit 
unter  Tage  beträgt  die  Altersgrenze  10  Jahre. 

2.  Die  Beschäftigung  von  Kindern  zwischen  9 und 
15  Jahren  ist  nur  gestattet,  wenn  durch  ärztliches  Attest 
gesunde  und  kräftige  Konstitution  nachgewiesen  wird. 

3.  Die  Beschäftigung  von  Kindern  zwischen  9 und 
12  Jahren  darf  die  Dauer  von  8 Stunden  täglich  nicht  über- 
schreiten. 

4.  Nachtarbeit  ist  verboten  für  Kinder  unter  12  Jahren 
und  darf  bei  Kindern  zwischen  12  und  15  Jahren  nicht  mehr 
als  6 Stunden  dauern. 

5.  Die  Beschäftigung  von  Kindern  unter  15  Jahren  in 
gefährlichen  und  ungesunden  Betrieben  ist  verboten. 

Zu  diesen  sachlichen  Bestimmungen  sind  dann  durch 
das  Reglement  vom  17.  September  1886  noch  eine  Reihe  for- 
maler Ausführungsbestimmungen  erlassen,  deren  wichtigste 
folgende  sind  : 

6.  Die  Beschäftigung  von  Kindern  darf  nur  stattfinden, 
bezw.  von  der  Ortsbehörde  nur  gestattet  werden  auf  Grund 
eines  von  dieser  und  dem  untersuchenden  Arzte  Unter- 
zeichneten Attestes  (libretto  d’ammissione  al  lavoro). 

7.  Jeder  Unternehmer,  der  Kinder  in  seinem  Betriebe 
beschäftigt,  ist  zur  Erstattung  einer  Anzeige  (denunzia 
d'esercizio)  verpflichtet;  er  ist  ferner 

8.  verpflichtet,  einen  sichtbaren  Anschlag,  der  Zahl, 
Alter  etc.  der  beschäftigten  Kinder  enthält,  in  seinen  Fabrik- 
räumen anzubringen. 


414 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


Wie  ist  dieses  Gesetz  während  der  6 Jahre,  die  seit 
seinem  Erlass  verflossen  sind,  durchgeführt  worden,  das  1 
ist  die  Frage,  aul  die  der  Minister  für  Ackerbau,  Industrie 
und  Mandel  dem  Parlamente  von  3 zu  3 Jahren  Antwort  zu 
ertheilen  hat.  Die  Ministerialberichte,  in  denen  diese  Antwort  I 
niedergelegt  ist.  gewähren  interessante  Aufschlüsse  über  die  j 
Schicksale,  denen  eine  junge  Arbeiterschutzgesetzgebung 
ausgesetzt  ist,  und  verdienen  daher  auch  über  die  Grenze 
Italiens  hinaus  bekannt  gemacht  zu  werden.  Bisher  liegen 
zwei  Berichte  vor,  einer  aus  dem  Jahre  1 890 1),  einer  aus 
den  letzten  Monaten  dieses  Jahres2).  Diese  Berichte,  ins- 
besondere der  zweite  unlängst  erschienene  Bericht,  sollen 
im  Folgenden  ihrem  wesentlichen  Inhalte  nach  mitgetheilt 
werden. 

Da  selbstredend  der  Minister  nicht  auf  Grund  einer 
umfassenden  Specialenquete  berichtet,  so  muss  er  seine 
Kenntnis?  aus  den  Quellen  schöpfen,  die  bei  normaler 
Handhabung  des  Gesetzes  fliessen.  Deren  giebt  es  zwei: 
Die  Anzeigen  der  Unternehmer,  bezw.  die  Ausstellung  der 
Attestbücher  seitens  der  Behörden  und  die  Berichte  des 
Aufsichtspersonals.  Beide  Quellen  zusammen  geben  natur- 
gemäss  noch  kein  vollständiges  Bild  der  Sachlage,  sondern 
gestatten  nur  Rückschlüsse.  Was  die  erste  der  genannten 
Quellen  anbetriflft,  so  ergiebt  sich  aus  ihr  wesentlich  nur 
die  negative  Erkenntniss  mit  Sicherheit:  in  welchem  Um- 
fange wichtige  Vorschriften  des  Gesetzes  bislang  nicht 
befolgt  sind;  das  sind,  so  darf  wohl  geschlossen  werden, 
alle  diejenigen  Fälle,  in  denen  der  Unternehmer,  trotz  seiner 
Anzeigepflicht,  keine  Anzeige  erstattet  hat  und  diejenigen, 
in  denen  Kinder  ohne  Libretto  beschäftigt  werden.  Beiderlei 
Gesetzesübertretungen  sind  nun,  wie  der  Minister  (S.  7 — 21) 
klagt,  noch  sehr  häufig.  Die  Anzeigen  der  Unternehmer 
sind  auch  nicht  annähernd  vollständig.  Bei  Abfassung  des 
ersten  Berichts,  d.  h.  bis  zum  30.  Juni  1889,  waren  3928 
Denunzie  eingelaufen;  nach  diesem  Termine  hörten  auf- 
fallenderweise die  Anmeldungen  mit  einem  Male  fast  ganz 
auf;  im  2.  Semester  1889  erfolgten  35,  im  Jahre  1890=  115, 
im  Jahre  1891  = 44,  im  I.  Semester  1892  = 3.  Daraufhin 
erliess  der  Minister  am  I.  October  1892  neue  Instruktionen 
an  die  Präfekten  mit  einer  energischen  Aufforderung  zur 
Erstattung  der  Anzeigen.  Der  Erfolg  blieb  nicht  aus:  im 
2.  Semester  1892  liefen  plötzlich  noch  1870  neue  Anmeldungen 
ein,  sodass  deren  Zahl  jetzt  5995  erreicht.  Auch  diese  darf 
aber  durchaus  nur  als  ein  Bruchtheil  aller  anzeigepflichtigen 
Fälle  angesehen  werden.  So  waren  beispielsweise  im  Be- 
zirk Caltanisetta  bis  zuletzt  nur  61  Anmeldungen  einge- 
laufen,  während  die  Zahl  der  Kinder  beschäftigenden  Schwefel- 
gruben sich  dort  auf  mehrere  hundert  beziffert.  Der  Minister 
kommt  denn  auch  zu  dem  Schlüsse  (S.  15),  dass  die  Ver- 
pflichtung zur  Anzeigeerstattung  ohne  genügende  Wirkung 
geblieben  sei.  Ueber  die  Zahl  der  ausgestellten  Atteste 
enthält  der  letzte  Bericht  keine  neueren  Angaben.  Der 
Minister  beklagt  sich  nur  im  Allgemeinen  bitter  über  die 
geringe  Unterstützung,  die  er  bei  den  unteren  Behörden 
finde,  auf  deren  Mitwirkung  er  angewiesen  ist,  und  die  ins- 
besondere über  die  Ertheilung  der  Atteste  zu  wachen  haben. 
Er  entschuldigt  die  betreffenden  Behörden  mit  der  Ueber- 
lastung  mit  anderen  Geschäften.  (S.  6.)  Mit  Sicherheit  lässt 
sich  jedenfalls  behaupten,  dass  nicht  annähernd  jedes  attest- 
pflichtige Kind  ein  Libretto  besessen  habe,  weshalb  der 
Minister  (S.  20)  sich  veranlasst  sieht,  den  Kommunen 

')  Relazione  sulf  applicazione  della  legge  II.  II.  86  sul  lavoro 
dei  fanciulli  dal  18.  VIII.  86  fino  al  30.  VI.  89,  pres.  dal  Ministro 
di  Agra  ec.  nella  seduta  8.  II.  90,  Cam.  Dep.  Atti.  XVI  Leg.  4a 
sess.  1889,  No.  XIX  (Doc.). 

*)  Relazione  ec  ...  . (wie  oben)  dal  I.  VII.  89  fino  al  31.  XII.  92 
Atti.  XVIII.  Leg.  D sess.  1892—93.  No.  IX  (Doc.);  Roma  1893.  j 
Lol.  lo2  pag.  Dieser  Bericht  enthält  als  Anhang  eine  Uebersicht  I 
über  die  gesetzlichen  Bestimmungen  betr.  den  Kinderschutz  in 
den  übrigen  Ländern. 


grössere  Gewissenhaftigkeit  einzuschärfen.  Im  Jahre  1887,  | 
wie  aus  früheren  Mittheilungen  zu  entnehmen  ist,  hatten  | 
überhaupt  1640  Gemeinden  zusammen  82 103  Libretti  ausge-  : 
stellt,  6617  gar  keine. 

Offenbar  besagt  diese  schlechte  Beobachtung  der  For- 
malitäten, die  das  Kinderschutzgesetz  fordert,  noch  nicht 
ohne  weiteres  eine  Nichtausführung  der  materiellen  Vor- 
schriften, wenngleich  sie  mit  ziemlicher  Wahrscheinlichkeit 
darauf  schliessen  lässt,  ln  der  That  entnimmt  denn  auch 
der  Minister  aus  seiner  zweiten  Quelle,  den  Berichten  der 
Aufsichtsbeamten,  die  wenig  erfreuliche  Ueberzeugung,  dass 
von  einer  allgemeinen  Durchführung  der  mate- 
riellen Gesetzesbestimmungen  auch  noch  gar  keine 
Rede  sein  kann.  Die  Umgehung  bezw.  Nichtbefolgung 
des  Gesetzes  stuft  sich  in  verschiedenen  Graden  ab,  theils, 
wie  es  scheint,  nach  den  Landestheilen,  so  dass  mehr  nach 
dem  Süden  zu  die  Nichtbeachtung  zunimmt,  theils  nach 
den  einzelnen  Vorschriften  des  Gesetzes,  so  dass  die  Be-  j! 
Stimmungen  über  die  Minimalaltersgrenze,  über  die  Gesund- 
heits-  bezw.  Kraftatteste  besser,  diejenigen  über  die  Ar- 
beitsdauer, sei  es  bei  Tage  oder  Nacht,  sowie  über  die  dem  j 
Ermessen  des  Unternehmers  überlassenen  Maassnahmen  (hy- 
gienische, Schutzvorrichtung  etc.),  wie  der  Bericht  erläuternd 
hinzufügt,  „kurz  alles,  was  irgend  welche  Aenderung  im  Be- 
triebe bedingt“  (S.  57)  schlechter  ausgeführt  werden. 

Die  Unternehmer,  die  das  Gesetz  nicht  zur  Ausführung 
bringen,  und  das  ist  offenbar  die  erdrückende  Mehrheit, 
lassen  sich  füglich  in  verschiedene  Kategorien  zerlegen.  Da  . 
sind  zunächst  die  Naiven;  das  sind  jene,  die  überhaupt 
von  einem  Gesetz,  das  sie  betrifft,  nichts  wissen.  Ich  halte 
es  nicht  für  ausgeschlossen  bei  den  zum  Theil  noch  ganz  ,1 
unentwickelten  Industrieverhältnissen  Italiens,  dass  hier  ehr- 
liche Unkenntniss  vorliegt.  So  berichtet  der  Minister  selbst 
(S.  20),  Industrielle  hätten  ihm  geschrieben,  sie  wüssten  ab- 
solut nicht,  was  ein  „libretto“  im  Sinne  des  Gesetzes  sei;  j 
ferner  sagt  der  Aufsichtsbeamte  über  die  Provinz  Florenz, 
in  manchen  Kommunen  sei  das  Gesetz  völlig  unbekannt  (del 
tutto  ignorata,  S.  44),  ebenso  lauten  die  Nachrichten  aus  den 
Provinzen  Bari  (S.  47),  Palermo,  Syrakus  (S.  48).  Zahl-  ' 
reicher  als  die  naiven  sind  die  — nicht  naiven  Gesetzes-  ; 
Übertreter  unter  den  Unternehmern.  Hier  sind  zu  unter-  ■ 
scheiden  die  Kecken  und  die  Schlauen;  erstere  kümmern 
sich  um  gar  nichts,  sondern  lassen  es  einfach  auf  den  Ver-  ; 
such  ankommen,  ob  man  sie  erwischt;  letztere  befolgen  Vor- 
sichtsmaassregeln, um  den  Schein  zu  erwecken,  sie  führten 
das  Gesetz  aus:  so  bringen  sie  Aushängetafeln  an,  auf  de- 
nen „alles  in  Ordnung“  ist,  während  in  Wirklichkeit  alles 
anders  geschieht;  sie  befolgen  das  Gesetz  „scheinbar“, 
„apparentemente“,  und  sie  bilden,  z.  B.  was  die  Nachtarbeit 
der  Kinder  anbelangt,  nach  Ansicht  des  Ministers  die  Mehr- 
zahl (S.  30).  Weniger  harmlos  sind  schon  diejenigen  Fa- 
brikanten, die  auf  Grund  falscher  Atteste  Kinder  vorschrifts- 
widrig in  Arbeit  nehmen.  Deren  wurden  aber  eine  ganze 
Reihe  gefunden;  der  Minister  berichtet  (S.  19)  von  Libretti 
ohne  die  Bescheinigung  des  Arztes,  von  solchen  mit  einem 
ungünstigen  Atteste,  von  solchen,  die  für  9,  8.  7jährige 
Kinder,  die  in  Bergwerken  beschäftigt  wurden,  ausgestellt 
waren!  Was  inbesondere  der  Minister  hierbei  schmerzlich 
empfindet  (S.  21 — 24)  ist  das:  dass  auf  die  Aerzte  kein  Ver- 
lass ist  — dasselbe,  was  aus  den  frühen  Zeiten  des  eng- 
lischen Arbeiterschutzes  berichtet  wird;  er  will  zur  Kon- 
trolle der  Orts-  bezw.  Kreisphysiker,  denen  die  Aufsicht  ob- 
liegt. die  Medizinalbehörde  der  Provinz  heranziehen  (S.  24). 

Endlich  fehlt  auch  in  der  Geschichte  des  italienischen 
Arbeiterschutzes  diejenige  Kategorie  schlauer  Unternehmer 
nicht,  welche  das  Gesetz  dadurch  übertreten,  dass  sie  es 
buchstäblich  befolgen,  nur  seinem  Sinne  zuwiderhandeln. 
Alle  die  Kniffe,  die  wir  aus  den  alten  englischen  Fabrik- 
insepktionsberichten  kennen,  kehren  wieder:  Ablösungs-, 
Relaissystem  u.  s.  w.  So  schreibt  das  Gesetz  vor,  dass 


No.  35. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


415 


Kinder  zwischen  12  und  15  Jahren  nur  6 Stunden  Nacht- 
arbeit verrichten  dürfen.  Gut,  sagt  der  Unternehmer,  aber 
ausserdem  noch  6 Stunden  Tagesarbeit  — das  verbietet 
das  Gesetz  ja  nicht;  solcherart  „kombinirte“  Arbeitszeiten 
konstatirt  der  Bericht  z.  B.  Seite  28. 

Die  Auszüge  aus  den  Berichten  der  Aufsichtsbeamten, 
die  der  Minister  S.  31 —49  mittheilt,  enthalten  in  monotoner 
Weise  die  Bemerkung:  das  Gesetz  wurde  nicht  vollständig 
ausgeführt,  blieb  fast  unausgeführt,  war  todter  Buchstabe. 
In  Summa:  das  Ergebniss  ist  ein  wenig  erfreuliches.  Besten- 
falls, meint  der  Minister  — obgleich  auch  gegen  diese  An- 
nahme sich  berechtigte  Bedenken  geltend  machen  lassen  — 
wird  das  Gesetz  soweit  ausgeführt,  dass  keine  Kinder  unter 
9 Jahren  mehr  beschäftigt  werden;  die  Fälle,  in  denen 
jüngere  Kinder  angetroffen  wurden,  waren  selten;  was  da- 
gegen das  Gesetz  an  Schutzvorschriften  für  Kinder  zwischen 
9 und  12  Jahren  enthält,  ist  der  Regel  nach  auf  dem  Papier 
geblieben. 

Und  das  wird  niemand  in  Verwunderung  versetzen, 
wenn  er  die  geringen  Mittel  sieht,  die  der  Regierung  zur 
Durchführung  des  Gesetzes  zur  Verfügung  stehen.  Von 
der  Unzuverlässigkeit  der  unteren  ordentlichen  Behörden 
und  der  Aerzte  war  schon  die  Rede. 

Bleibt  die  Fabrikeninspektion!  Sie  trägt  nun  durch- 
aus das  Gepräge  dieses  Instituts  in  den  Anfängen  des 
Arbeiterschutzes:  sie  hat  einfach  nur  eine  dekorative  Be- 
deutung. Es  giebt  zweierlei  Aufsichtspersonal  in  Italien; 
die  Bergwerkinspektoren  zur  Kontrolle  über  die  Minen- 
industrie und  die  eigentlichen  Fabrikinspektoren  zur  Beauf- 
sichtigung aller  übrigen  Betriebe. 

Das  Personal,  dem  die  Aufsicht  über  die  Bergwerke 
und  Steinbrüche  obliegt,  ist  verhältnissmässig  zahlreich,  es 
waren  1890  38  Personen,  davon  im  Distrikt  Caltanisetta 
(Sizilien)  II,  Iglesias  (Sardinien)  8. 

Um  so  kümmerlicher  sieht  es  mit  den  eigentlichen 
Fabrikinspektoren  aus;  davon  funktionirten  in  ganz  Italien 
1889,  1890  = 2 

1891  = 4 

1892  = 3. 

Diese  konnten  aber,  da  sie  von  Hause  aus  Gewerbe- 
schulinspektoren sind,  auch  nur  höchstens  3 Monate  im 
Jahre  gewerbliche  Betriebe  besichtigen  (a.  a.  O.  S.  38).  So 
wurden  denn  auch  in  dem  Zeitraum  vom  I.  Juli  1889  bis 
31.  Dezember  1892,  also  in  3 ’/2  Jahren,  im  Ganzen  544  Be- 
sichtigungen ausgeführt,  150 — 160  im  Jahre,  während,  wie 
wir  oben  sahen,  angemeldet  schon  6000  unter  das  Gesetz 
fallende  Betriebe  sind.  Was  also  vor  allem  noth  thut,  ist 
eine  Vermehrung  des  Aufsichtspersonals,  ohne  die,  wie 
unser  Bericht  mit  Recht  hervorhebt,  eine  irgendwie  be- 
friedigende Ausführung  des  Gesetzes,  das  einstweilen  noch 
vorwiegend  auf  dem  Papier  steht,  nicht  zu  erhoffen  ist. 
Ausser  dieser  Vermehrung  des  Aufsichtspersonals,  einer 
schärferen  Heranziehung  der  unteren  Behörde,  einer  besseren 
Kontrole  der  Aerzte  hält  dann  der  Minister  des  weiteren 
noch  eine  Gesetzesänderung  des  Inhalts  für  erforderlich, 
dass  jene  t heil  weise,  verklausulirte  Zulassung  von  Kindern 
über  9 Jahre  beseitigt  wird,  vor  allem  aus  dem  Grunde, 
weil  die  Nichtbeachtung  der  betreffenden  Klauseln  sich  jeder 
Kontrole  entziehe.  Mir  scheint  dieser  Standpunkt  nicht 
unrichtig  zu  sein.  Alle  Vorschriften,  die  „Halbzeitler“ 
schaffen,  bleiben  entweder  unbeachtet  oder  — der  günstige 
Fall  — sie  haben  die  Abstossung  der  Halbzeitler  zur  Folge 
bezw.  eine  Anpassung  der  Arbeitsbedingungen  aller  Ar- 
beiter an  die  der  beschränkt  zugelassenen.  Das  wird  man 
jetzt  auch  in  Deutschland,  nach  Einführung  des  Maximal- 
arbeitstages für  Frauen,  beobachten  können.  Kein  Betrieb 
ist  aber  in  der  Lage,  dauernd  mit  verschieden  verwendbaren 
Arbeitskräften  zu  operiren. 

Wie  mangelhaft  es  heute  noch  mit  der  Durchführung 
des  Kinderschutzgesetzes  in  Italien  bestellt  ist,  geht  aus 


dem  Gesagten  hervor.  In  Anbetracht  dieser  Sachlage  scheint 
es  auch  z.  Z.  noch  verfrüht,  von  einer  Wirkung  des  Ge- 
setzes zu  sprechen.  Wenn  dieser  Bericht  (S.  18)  den  Nach- 
weis zu  führen  versucht,  dass  in  der  Bergwerksindustrie 
das  Durchschnittsalter  der  beschäftigten  Kinder  unter  dem 
Einfluss  des  Gesetzes  hinaufgegangen  sei,  so  kann  ich  dem 
nicht  zustimmen  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  die  Zahlen 
des  Jahres  1887  nicht  dieselben  sind  wie  die  des  Jahres 
1892,  die  mit  ihnen  verglichen  werden.  Auch  darf  die  That- 
sache  nicht  übersehen  werden,  dass  in  den  Jahren  1881 — 88 
die  Gesammtzahl  der  in  den  Schwefelgruben  beschäftigten 
Kinder  unter  15  Jahren  nachweislich  stark  gewachsen  ist 
(von  4514  auf  6753),  seitdem  wahrscheinlich  noch  weiter. 
Eher  schon  lassen  sich  die  Zahlen,  welche  über  die  Kinder- 
arbeit in  der  Seidenindustrie  ermittelt  sind,  zum  Beweis  der 
Thatsache  verwenden,  dass  seit  Erlass  des  Kinderschutz- 
gesetzes die  Anzahl  der  überhaupt  beschäftigten  Kinder 
zurückgegangen  sei.  Wie  eingangs  schon  berichtet  wurde, 
zählte  man  1887  auf  100  Arbeiterinnen  in  der  Seidenindu- 
strie 45  Kinder  unter  15  Jahren  und  zwar  11  von  9 — 10, 
15  von  10 — 12,  19  von  12 — 15  Jahren.  Nach  neueren  Er- 
mittelungen betrug  die  Zahl  der  Kinder  in  der  Seiden- 
spinnerei 32507,  die  der  Erwachsenen  116170;  auf  hundert 
Arbeiterinnen  kamen  danach  neuerdings  nur  29,8  Kinder. 
Vorausgesetzt,  dass  die  Zahlen  vergleichbar  sind,  fügt 
Bodio,  wo  er  sie  mittheilt  (Industria  della  Seta,  1891,  pag.  33), 
vorsichtig  hinzu,  würde  daraus  eine  Abnahme  der  Kinder- 
arbeit zu  folgern  sein.  Immerhin  ist  es  nicht  ausge- 
schlossen, dass,  wo  das  Gesetz  überhaupt  ausgeführt  wird, 
es  eine  allmälige  Abstossung  der  Kinder  wenigstens  unter 
12  Jahren  bewirkt.  Dafür  macht  unser  Bericht  schon  jetzt 
einzelne  Fälle  namhaft. 

Im  Ganzen  bestätigt  das  Schicksal  des  italienischen 
Kinderschutzgesetzes,  was  uns  die  Erfahrung  in  anderen 
Ländern  gelehrt  hat:  dass  die  Durchführung  jeder  Arbeiter- 
schutzgesetzgebung im  Kampfe  ertrotzt  werden  muss,  dass 
folglich  eine  Arbeiterschutzgesetzgebung  nur  papiernen 
Werth  hat,  so  lange  die  Mittel  zu  ihrer  Durchführung,  deren 
wichtigstes  die  Fabrikaufsicht  ist,  der  Regierung  nicht  in 
die  Hand  gegeben  worden.  Die  weitgehende  Ueberein- 
stimmung  in  der  modernen  sozialen  Entwicklung  findet 
durch  jedes  Dokument,  wie  den  hier  zur  Sprache  gebrach- 
ten Ministerialbericht,  eine  eklatante  Bestätigung. 

Breslau.  Werner  Sombart. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Evangelisch-sozialer  Kongress.  Der  zum  vierten  Mal 
zusammentretende  Evangelisch-soziale  Kongress  findet  am 
31.  Mai,  I.  und  2.  Juni  in  Berlin  statt.  Für  seine  öffentlichen 
Verhandlungen  ist  folgende  Tagesordnung  festgesetzt.  Für 
den  1.  Juni:  1.  Eröffnung  des  Kongresses  durch  den  Vor- 
sitzenden, Landesökonomierath  Nobbe-Berlin ; 2.  Jahres- 

bericht des  Generalsekretärs  Göhre-Berlin;  3.  Referat  des 
Professors  D.  Kaftan-Berlin  über  Christenthum  und  Wirth- 
schaftsordnung;  4.  Referat  des  Pastors  Cronemeyer-Bremer- 
haven  über  Heimathkolonien.  — Für  den  2.  Juni:  1.  Referat 
des  Hofpredigers  Dr.  Braun-Stuttgart  über  die  Annäherung 
der  Stände  in  der  Gegenwart;  2.  Referat  des  Hofpredigers 
a.  D.  Stöcker-Berlin  über  das  Sonntagsgesetz  und  seine 
Konflikte  im  Volksleben.  (Ueber  die  mit  dem  Kongress 
verbundene  Arbeitervereins-Sitzung  vgl.  unten.) 

Koalition  von  Kleinbetrieben.  In  Pirmasens  in  der 
bayerischen  Rheinpfalz,  dem  bekannten  Schuhindustrie- 
städtchen, hat  sich  ein  wirthschaftlicher  Akt  vollzogen,  der 
einer  besonderen  Beachtung  werth  ist  und  der  sicher  auch 
in  der  Theorie  und  Praxis  oft  citirt  werden  wird.  Die 
Fabrikanten  d.  h.  die  Inhaber  der  61  Schuhfabriken  haben 


416 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  35. 


sich  dahin  verständigt,  ihre  sämmtlichen  Geschäfte  zu  ver- 
einigen und  in  eine  grosse  Aktienschuhfabrik  zu  verwandeln. 
Das  Aktienkapital  (175  000  Aktien  ä 1000  M.)  beträgt 
1 7*/2  Millionen  und  wird  von  den  bisherigen  Einzelfabrik- 
besitzern übernommen.  Die  bisherigen  Geschäftsinhaber 
übernehmen  die  Geschäftsleitung  und  wählen  aus  ihrer 
Mitte  Direktoren  und  Aufsichtsräthe.  Die  seither  be- 
schäftigten 8723  Arbeiter  werden  weiter  beschäftigt.  Frei 
werden  hingegen  ein  grosser  Theil  der  kaufmännischen 
Hilfsarbeiter  und  ganz  besonders  der  Theil,  welcher  den 
Verkauf  besorgte:  die  Reisenden.  Es  waren  in  den  61  Fa- 
briken 321  Reisende  angestellt;  aber  man  beabsichtigt  künftig 
nur  12  und  eine  Anzahl  Agenten  an  grossen  Handels- 
plätzen zu  beschäftigen.  Die  Minderausgabe  für  den  Vertrieb 
der  Fabrikate  wird  allein  durch  Einziehen  der  vielen  Ge- 
hälter und  Spesen  für  Reisende  auf  eine  Million  geschätzt. 
Die  Leistungsfähigkeit  soll  insbesondere  dadurch  erhöht 
werden,  dass  künftig  jede  Fabrik  eine  Spezialität  liefert; 
eine  nur  dieses,  die  andere  nur  jenes  Leder  und  andere  nur 
den  oder  jenen  Stoff  verarbeitet,  dass  in  einzelnen  Fabriken 
nur  Herrenschuhe,  in  anderen  nur  Frauenschuhe,  in  anderen 
nur  Kinderschuhe  etc.  etc.  hergestellt  werden.  Nach  und 
nach  hofft  man  auch  räumlich  die  Fabriken  zusammen  zu 
legen  und  dadurch  zwiefache  Ersparnisse  zu  ermöglichen; 
ganz  besonders  aber  durch  Einziehung  der  vielen  Aufseher- 
und Meisterstellen.  Die  Zahl  der  Einziehungen  schätzt  man 
auf  über  250. 

Dieser  letztere  Umstand  wird  daher,  auch  wenn  die 
Verminderung  der  Arbeiterzahl  oder  eine  Verschlechterung 
der  Löhne  beim  Aufhören  der  örtlichen  Konkurrenz  (wie 
sie  von  Arbeitern  befürchtet  wird)  nicht  eintreten  sollte, 
schon  ein  erhebliches  Interesse  für  die  Arbeiter  haben, 
denen  bisher  ein  Vorrücken  in  Meister-  und  Aufseher- 
stellen in  Aussicht  stand.  Dass  die  vereinigten  Fabriken 
durch  Ersparnisse  und  Verbesserungen  verschiedener  Art 
einen  höheren  Reingewinn  erzielen  als  die  61  Einzelfabriken 
bisher  zusammen,  ist  keine  Frage,  und  es  wird  sich  nun 
zeigen  müssen,  ob  die  Besitzer  nur  für  sich  Gewinn  suchen 
und  den  Mehrgewinn  allein  einstreichen,  oder  ob  sie  durch 
Lohnerhöhungen  auch  ihren  Arbeitern  einen  Antheil  daran 
gewähren.  Jedenfalls  handelt  es  sich  um  einen  Vorgang, 
über  den  detaillirtere  Aufklärung  dringend  erwünscht  ist. 

Eine  ackerbautreibende  Genossenschaft  in  Italien  be- 
steht seit  dem  Jahre  1891  unter  dem  Namen  der  „Coope- 
rativa  Agricola  Italiana“.  Wenn  ihre  Leistungen  bisher 
auch  nicht  bedeutend  sein  konnten,  so  hat  sie  sich  doch 
noch  immer  über  Wasser  gehalten  und  an  Mitgliederzahl, 
sowie  Vermögen  beständig  zugenommen.  Ihr  Anwachsen 
geht  aus  folgenden  Ziffern  hervor: 

am  1.  Juli  1891  betrug  die  Zahl  der  Mitglieder  154  mit  179Antheilen 
zu  540  L.,  also  das  Kapital  96  660  L.;  seitdem 
traten  hinzu 


Jan. 

1892 

71  Mitgl. 

mit  79  Antheilen,  d. 

h.  42  660  L.  Kapital; 

April 

. 1892 

38  „ 

„ 40 

„ 21  600  „ 

Juli 

1892 

47  „ 

„ 50  „ „ 

„ 27  000  „ 

Okt. 

1892 

22  „ 

„ 26 

„ 14  040  „ 

Jan. 

1893 

27  ., 

„ 46 

„ 24  840  „ 

Das  Grundkapital  beträgt  somit,  nach  Abzug  der  durch 
Austritt  verlorenen  Antheile,  z.  Z.  201  960  L.  Freilich  steht 
diese  Summe  vorerst  nur  auf  dem  Papier;  die  letzte  Bilanz, 
die  in  der  Generalversammlung  zu  Mailand  am  23.  April  1893 
Vorgelegt  wurde,  stellt  dem  Passivum  des  gezeichneten 
Grundkapitals  ein  Aktivum  von  187  584  L.  noch  nicht  ein- 
bezahltes Kapital  gegenüber.  Ueber  die  Leistungsfähigkeit 
der  Genossenschaft  lässt  sich  z.  Z.  noch  kein  abschliessen- 
des Urtheil  fällen.  Sie  bewirthschaftet  einstweilen  das  Gut 
Surigheddu,  jedoch  erst  seit  Oktober  vorigen  Jahres,  sodass 
bislang  Ueberschüsse  nicht  erzielt  werden  konnten. 

Die  italienische  Auswanderung.  Auf  Grund  der 

neuesten  amtlichen  italienischen  und  amerikanischen,  sowie 
privater  Publikationen  entwirft  E.  v.  Philippovich  im  letzten 
Hefte  von  Schmoller’s  Jahrbuch  (N.  F.  XVII.  Band 
S.  203 — 216)  ein  anschauliches  Bild  der  italienischen  Aus- 
wanderung. Wir  theilen  aus  dessen  Aufsatz  die  wichtigsten 
Daten  hier  mit.  Die  italienische  Auswanderung  unter- 


scheidet sich  von  der  der  übrigen  europäischen  Nationen 
dadurch,  dass  ein  grosser  Theil  der  Italiener,  die  ihre 
Heimath  verlassen,  um  in  anderen  Ländern  dem  Erwerbe 
nachzugehen,  von  vorneherein  die  Absicht  hat,  nach  einem 
kürzeren  Zeitraum  wieder  in  die  Heimath  zurückzukehren. 
Seit  einigen  Jahren  tritt  diese  „zeitweilige  Auswanderung“ 
zwar  nicht  absolut,  aber  doch  relativ  zurück  hinter  jene 
Wanderbewegung,  die  einen  Theil  des  italienischen  Volkes 
dauernd  von  dem  Mutterlande  abzweigt  und  zur  Gründung 
italienischer  Niederlassungen  in  der  Fremde  bezw.  zu  ihrer 
Vermehrung  und  Ausdehnung  beiträgt.  Den  Wendepunkt 
bildete  das  Jahr  1886.  Während  bis  dahin  die  zeitweilige 
Auswanderung  der  dauernden  an  Grösse  stets  überlegen 
war,  umfasst  die  letztere  in  dem  genannten  Jahre  85  355 
Personen  gegen  82474  der  zeitweiligen.  Im  Jahre  1891  war 
die  dauernde  amtlich  in  Italien  konstatirte  Auswanderung 
auf  175  520  Köpfe  hinaufgeschnellt,  die  Statistik  der  Aus- 
wandererhäfen wies  sogar  229  582  italienische  Auswanderer 
auf,  die  zeitweise  Auswanderung  betrug  hingegen  bloss 
1 18  m Personen. 

Die  amtlich  konstatirte  dauernde  Auswanderung  stieg 
demnach  um  105,63  pCt.,  während  die  temporäre  bloss  eine 
Steigerung  von  43,12  pCt.  aufwies. 

Während  die  deutsche  Auswanderung  ihr  Hauptziel 
ununterbrochen  in  den  Vereinigten  Staaten  findet  und  dort 
bloss  mit  England  konkurrirt,  richtet  sich  die  italienische 
und  sonstige  romanische  hauptsächlich  nach  Südamerika. 
Aber  ein  Umschwung  scheint  sich  vorzubereiten.  Die 
italienische  Auswanderung  nach  Argentinien  ist  seit  1889, 
wo  sie  den  Höhepunkt  erreichte,  sehr  stark  zurückgegangen, 
wohl  hauptsächlich  wegen  der  wirthschaftlich  zerfahrenen 
Zustände  des  Landes,  die  Einwanderung  nach  Brasilien  er- 
reichte 1891  ihren  Höhepunkt,  ununterbrochen  gestiegen  ist 
die  italienische  Einwanderung  nach  denVereinigten  Staaten. 

Ueber  die  italienische  Einwanderung  nach  Amerika  im 
Jahre  1891  giebt  die  folgende  Tabelle  Aufschluss.  Die 
Differenzen  erklären  sich  hauptsächlich  aus  dem  Umstande, 
dass  die  italienische  Auswanderungsstatistik  eine  Pass- 
statistik, die  Einwanderungsstatistik  die  thatsächlich  erfolgte 
Einwanderung  darstellt,  aber  zahlreiche  zeitweilige  Aus- 
wanderer auch  mitanführt. 

Es  wanderten  1891  aus 


nach 

Italienische 

Einwanderungs- 

Statistik 

Statistik 

den  Vereinigten  Staaten 

. . 44  359 

69  297 

Canada  

. . 163 

? 

Centralamerika  .... 

. . 2 036 

? 

Brasilien 

. . 108  414 

116561 

Argentinien  ) 

15511 

Uruguay  > . . . . 

. . 27  542 

4 559 

Paraguay  J 

? 

Chile  und  Peru  . . . 

. . 896 

? 

Amerika  ohne  weitere 

Be- 

Zeichnung 

. . 3 062 

— 

Weit  mehr  als  in  Deutschland  überwiegt  in  Italien  die 
männliche  Auswanderung.  Unter  den  Auswanderern  waren 
1890  71,99,  1891  66,1  pCt.  Männer.  Landwirthe  waren  64,14, 
Erdarbeiter,  Tagelöhner  und  dgl.  14,57,  Maurer  und  Stein- 
metze 6,15,  Handwerker  7,59  pCt. 

Ueber  das  Verhältniss  der  italienischen  zur  britisch- 
irischen und  deutschen  Auswanderung  giebt  folgende 
Tabelle  Aufschluss.  Es  kamen  auf  1000  Einwohner  Aus- 
wanderer: 

1887  1888  1889  1890  1891 

Italien 4,50  6.98  4,20  3,88  6,29 

Grossbritannien  und  Irland  . 7,67  7,55  6,78  5,77  5,77 

Deutschland 2,22  2,19  2,00  2,02  2,33 

Die  in  überseeischen  Gebieten  lebenden  Italiener  werden 
— allem  Anscheine  nach  zu  niedrig  — folgendermaassen 
geschätzt:  Brasilien  290000,  Argentinien  253  000,  Vereinigte 
Staaten  180000  (Stadt  New-York  70000),  Uruguay  84000, 
Egypten  22 — 24000,  Tunis  18 — 19000,  Chile  und  Peru  12000, 
Paraguay  23  000. 


No.  35, 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


417 


Arbeiterzustände. 

Die  Ergebnisse  der  neuesten  sächsischen  Fabrikarbeiter- 
zählung für  das  Jahr  1892. 

Ein  Lustrum  zuverlässiger  und  vergleichbarer  Arbeiter- 
statistik wird  durch  die  Aufnahme  der  sächsischen  Fabrik- 
arbeiter abgeschlossen,  die  am  2.  Mai  1892  wie  in  den  Vor- 
jahren amtlich  vorgenommen  wurde  und  in  den  vor  einigen 
Tagen  erschienenen  „Jahresberichten  der  Königlich  Sächsi- 
schen Gewerbe-Inspektoren  für  1892“  (Dresden,  F.  Lom- 
matzsch, 1893,  VIII.  und  345  Seiten)  zuerst  veröffentlicht 
ist.  Bis  zum  Jahre  1892  hatte  Sachsen  das  Verdienst,  der 
einzige  deutsche  Bundesstaat  zu  sein,  der  seiner  Gewerbe- 
itlspection  durch  eine  zuverlässige,  sich  alljährlich  Anfangs 
Mal  wiederholende  Fabfikarbeiterzählung  eine  solide  und 
Unentbehrliche  Unterlage  gab  und  damit  die  Sozialstatistik 
Wirksam  pflegte.  In  No.  15  des  I.  Jahrganges  dieser  Zeit- 
schrift vom  li.  April  v.  J.  hat  der  Verfasser  die  Vor- 
geschichte dieser  periodischen  Aufnahme  dargestellt  und 
gleichzeitig  erläutert,  Weshalb  die  Ergebnisse  derselben  erst 
vom  Jahre  1888  ab  zuverlässig  und  vergleichbar  sind.  Auf 
diese  Ausführungen  muss  hier  verwiesen  werden.  Seit  1892 
hat  das  Grossherzogthum  Baden  als  zweiter  deutscher 
Bundesstaat  das  sächsische  Verfahren  aufgenommen,  zweifel- 
los hauptsächlich  unter  dem  Einflüsse  seines  verdienstvollen 
Aufsichtsbeamten  Dr.  Woerishoffer.  Wie  lange  wird  es 
noch  dauern,  bis  endlich  Preussen,  Bayern,  Württemberg 
und  die  kleineren  Staaten  folgen?  . . . Die  partikularistische 
Organisation  der  deutschen  Gewerbeaufsicht  äussert  da  ihre 
schädlichen  Wirkungen;  sie  ist  auch  wieder  in  der  Bunt- 
sdheckigkeit  zu  erkennen,  mit  welcher  in  den  neuesten  Be- 
richten Baden  und  Bayern  vollständige  Ausweise  über  die 
Ueberzeitbewilligungen  für  Frauenarbeit  im  Jahre  1892,  Sachsen 
und  Württemberg  aber  nichts  dergleichen  bringen.  Sollte 
es  nicht  wenigstens  an  der  Zeit  sein,  dass  wieder  einmal 
ein  grosser  Staat  im  Bundesrath  die  gleichmässigere  Be- 
handlung dieser  Dinge  anregte,  ähnlich,  wie  man  sich  1879 
über  gemeinsame  „Normen“  für  die  Dienstanweisungen  der 
Inspektoren  einigte?  Einstweilen  muss  der  Sozialstatistiker 
den  Partikularismus  nothgedrungen  mitmachen  und  sich  auf 
die  Einzelbetrachtung  bundesstaatlicher  Aufsichtsergebnisse 
beschränken.  Die  J Resultate  jj  , der  neuesten  sächsischen 
Fabrikarbeiterzählung  sind  ja^interessant  genug  und  wahr- 
scheinlich sogar  massgebend  für  die  Entwickelung  auch 
ausserhalb  Sachsens.  Voraussetzung  ihrer  richtigen  Aus- 
legung ist  freilich,  dass  sich  der  Bearbeiter  die  Mühe  nicht 
verdriessen  lässt,  sämmtliche  korrespondirende  Zahlen  aus 
den  Vorjahren  selbst  zusammenzutragen,  zu  gruppiren,  ja 
theilweise  erst  zu  addiren.  Die  im  sächsischen  Ministerium 
des  Innern  gefertigte  Zusammenstellung  verschmäht  nämlich 
noch  immer  jede  Vergleichung  mit  den  Vorjahren;  ihre  Ur- 
heber scheinen  sich  noch  nicht  davon  überzeugt  zu  haben, 
dass  sie  damit,  natürlich  ohne  es  zu  wollen,  den  Hauptwerth 
der  periodischen  Arbeiteraufnahmen  in  Sachsen  in  unver- 
dienten Schatten  stellen. 

Das  erste  Lustrum  sächsischer  Arbeiterstatistik  gestattet 
zunächst  einen  sehr  bemerkenswerthen  Einblick  in  die 
Betriebsentwickelung  eines  der  grössten  deutschen 
Industriegebiete.  Es  betrug  die  Zahl  der  sächsischen  Fabrik- 
anlagen 


im  Jahre 

mit 

Dampfbetrieb 

mit  sonstigen 
Motoren 

ohne 

Motoren 

insgesammt 

1888 

4 571 

4 784 

3 576 

12  981 

1889 

4 750 

4 757 

3 456 

12  963 

1890 

5 039 

4 855 

3 492 

13  386 

1891 

5 222 

4 980 

3 504 

13  706 

1892 

5 301 

5139 

3 366 

13  806 

Diese  Uebersicht  zeigt  Zweierlei:  eine  regelrechte 

Expansion  der  sächsischen  Fabrikindustrie,  auch  nach  Ein- 
führung der  neuen  Arbeiterschutzvorschriften  im  letzten 
Jahre,  womit  alle  Redensarten  von  dem  „schädlichen“  Ein- 
fluss dieser  Schutzmassnahmen  ad  absurdum  geführt  sind ; 


sodann  aber  innerhalb  dieser  Expansion  das  sieghafte  Vor- 
dringen des  Grossbetriebs  mit  Dampfmaschinen,  das  sich 
mit  klassischer  Deutlichkeit  abspiegelt.  Die  kapitalistische 
Stufenleiter  der  Entwickelung  ist  unverkennbar:  eine  Ab- 
nahme der  Betriebe  ohne  Motoren  von  3576  auf  3366,  eine 
mässige  Zunahme  der  Betriebe  mit  „sonstigen  Motoren“ 
von  4784  auf  5139,  und  das  stärkste  Wachsthum  bei  den 
Betrieben  mit  Dampfmaschinen  von  4571  auf  5301,  und  dies 
Alles  bereits  innerhalb  der  fünf  Jahre  von  1888  bis  1892! 
Dieses  Vorschreiten  des  Grossbetriebes  erscheint  so  wichtig, 
dass  eine  Betrachtung  der  einzelnen  Gewerbegruppen 
bezüglich  ihres  Verhaltens  zu  dieser  Entwickelung  wohl 
gerechtfertigt  ist. 

Hier  betrug  die  Anzahl  der  Anlagen 


mit 

mit 

ohne 

Motoren 

in  der  Gruppe 

Dampf- 

sonstigen 

insgesammt 

betrieb 

Motoren 

IV.  Industrie  der  1 

1888 

280 

62 

1 114 

1 456 

1V' 

Steine  und  Erden  \ 

1892 

407 

68 

1 092 

1 567 

V.  Metallbearbeitung  j 

1888 

1892 

278 

320 

128 

235 

136 

127 

5421 

682 

(V. 

VI.  Maschinen, Werk- 
zeuge,  Instrumente  < 
und  Apparate  ( 

1888 

1892 

499 

584 

158 

245 

198 

190 

855] 
1 019 

h- 

VII.  Chemische  In-  I 

1888 

87 

77 

73 

237 

• VII. 

dustrie  \ 

1892 

101 

82 

80 

263 

VIII.  Heiz- u.  Leucht-  / 

1888 

95 

124 

234 

453  1 

. VIII. 

Stoffe  \ 

1892 

111 

142 

206 

459 

IX.  Textilindustrie  j 

1888 

1892 

1 401 
1 591 

410 

496 

546 

507 

2 357 
2 594 

[IX. 

X.  Papier  und  Leder  | 

1888 

1892 

260 

282 

334 

371 

507 

451 

1 101 
1 104  J 

[X. 

XI.  Holz-  u.  Schnitz-  f 

1888 

398 

825 

150 

1 373  ) 

[XI. 

Stoffe  \ 

1892 

553 

848 

155 

1 556  J 

XII.  Nahrungs-  und  I 

1888 

965 

2 503 

211 

3 679 

XII. 

Genussmittel  \ 

1892 

1 070 

2 378 

211 

3 659  J 

XIII.  Bekleidung  u.  I 

1888 

131 

18 

328 

477  1 

XIII. 

Reinigung  \ 

1892 

123 

28 

318 

469  J 

XV.  Polygraphische  I 

1888 

124 

131 

31 

286) 

XV 

Gewerbe  \ 

1892 

143 

219 

18 

380  J 

Die  Einblicke,  welche  diese  Uebersicht  gewährt,  sind 
so  lehrreich  als  möglich,  auch  vom  praktischen  gewerbe- 
politischen Standpunkt  aus.  Nur  zwei  Gewerbegruppen,  die 
der  Nahrungs-  und  Genussmittelfabrikation,  sowie  die  Be- 
kleidung und  Reinigung,  haben  kleine  Verluste  in  der  Ziffer 
der  überhaupt  vorhandenen  Anlagen  während  des  Lustrums 
von  1888  bis  1892  zu  verzeichnen,  und  auch  von  diesen 
Gruppen  hat  die  erste  eine  Zunahme  der  Dampfbetriebe, 
die  zweite  eine  solche  der  Betriebe  mit  sonstigen  Motoren 
aufzuweisen,  während  bei  beiden  die  Betriebe  ohne  Motoren 
stationär  blieben  oder  abnahmen.  Das  Gesetz  der  Ueber- 
legenheit  des  Maschinenbetriebes  setzte  sich  also  auch  bei 
ihnen  durch.  Im  Uebrigen  entwickeln  sich  sämmtliche 
sächsische  Gewerbegruppen  mit  erstaunlicher  Konsequenz 
zum  Grossbetrieb  mit  Motoren  und  Dampf:  während  die 
Zahl  der  Gesammtbetriebe  konstant  zunimmt,  fällt  die  Ziffer 
der  Betriebe  ohne  Motoren,  und  es  steigt,  theilweise  sehr 
rasch,  diejenige  der  Dampfbetriebe.  In  letzterer  Hinsicht 
zeichnete  sich  besonders  aus  in  dem  vorliegenden  Lustrum 
die  Industrie  der  Steine  und  Erden  und  der  Holz-  und 
Schnitzstoffe:  in  beide  Industrien,  von  denen  die  letztere 
bisher  vorwiegend  hausindustriell,  die  erstere  mit  Hand- 
betrieb arbeitete,  dringt  die  Maschine  mit  revolutionärer 
Gewalt  ein,  und  mit  ihr  alle  grossindustriellen  Folgezustände. 
Es  kann  keine  drastischeren  Belege  für  die  kollektivistische 
Entwicklung  des  modernen  Gewerbewesens  geben,  als  diese 
Zahlen! 

Und  nun  die  Verschiebungen  in  der  Arbeiterschaft,  die 
unter  dem  Drucke  dieser  Betriebsveränderungen  und  der 
ihnen  freilich  im  Schneckentempo  folgenden  staatlichen 
Arbeiterschutzvorschriften  vor  sich  gehen ! Sie  spiegeln  sich 
in  folgender  Uebersicht,  nach  welcher  im  Königreich  Sachsen 
vorhanden  waren: 


418 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  35. 


>•  J. 

erwachsene 

Arbeiter 

jugendliche 

Arbeiter 

kindliche 

Arbeiter 

männl. 

weibl.  I zus. 

männl. 

weibl.  |j  zus. 

männl. 

weibl. 

ZUS. 

1888 

191  434 

92  134  283  568 

15  141 

11911  27  052 

6868 

4144 

11  009 

1889 

204  108 

97  878  301  986 

15  391 

11  752  27  143 

7203 

4166 

1 1 369 

1890 

220  706 

105  492  326  198 

17  344 

13  268  30  612 

7846 

4602 

12  448 

1891 

222  716 

107  756  330  472 

17  568 

12  833  30  401 

6770 

3898 

10  668 

1892 

221  083 

110  222  331  305 

16  544 

1 1 543  28  087 

3461 

1783 

5 244 

Aus  dem  Steigen  und  Fallen  dieser  Ziffern  innerhalb 
eines  für  die  sächsiche  Industrie  höchst  bedeutungsvollen 
Zeitraumes,  in  welchem  sich  die  Wirkungen  einer  Wirth- 
schaftskrisis  mit  denjenigen  neuer  Arbeiterschutzvorschriften 
vom  i.  April  1892  ab  mischen,  schält  sich  eine  Thatsache  vor 
allen  anderen  heraus:  die  Fabrikarbeit  der  erwachse- 
nen Frau  ist  in  unaufhaltsamem  Vordringen  be- 
griffen, ebenso  wie  die  Dampfmaschine  und  mit  derselben! 
In  den  einzelnen  Jahren  des  vorliegenden  Lustrums  blieben 
die  Zahlen  der  erwachsenen  männlichen  Arbeiter,  der 
jugendlichen  und  kindlichen  theilweise  stationär,  theilweise 
nahmen  sie  nur  sehr  langsam  zu  und  im  letzten  Jahre 
nahmen  sie  alle  ab  — die  Ziffer  der  beschäftigten  er- 
wachsenen Frauen  stieg  unaufhörlich  und  regelmässig; 
sie  stieg  unaufhaltsam  auch  im  Jahre  1892  trotz  dem  elf- 
stündigen  Maximalarbeitstage  und  dem  Verbot  der  Nacht- 
arbeit, die  freilich  bis  zur  Unkenntlichkeit  durchlöchert 
wurden  von  den  im  sächsischen  Berichtsband  leider  nicht 
in  wünschenswerter  Uebersichtlichkeit  aufgezählten  Aus- 


nahmen. Diese  Feststellung  ist  von  höchster  sozialer  Be- 
deutung: sie  lässt  die  Frau  als  überwiegenden  Fabrik- 
arbeiter der  Zukunft  erkennen,  wenn  die  Gesetzgebung 
nicht  sehr  bald  weitere  Schranken  zieht.  Zum  ersten  Mal 
im  Jahre  1892  stellen  die  Frauen  für  sächsische  Fabriken 
gerade  soviel  Arbeitskräfte,  als  die  Hälfte  der  arbeitenden 
Männer  beträgt,  genau  ein  Drittel  aller  Erwachsenen. 
Dieses  Moment  giebt  der  neuesten  sächsischen  Arbeiter- 
statistik seine  Signatur.  Erst  in  zweiter  Linie  kommen 
dann  die  Wirkungen,  welche  die  Schutzvorschriften  für 
jugendliche  und  kindliche  Arbeiter  ausübten.  Sie  waren  in 
Sachsen,  wo  die  Schulpflicht  bis  zum  14.  Jahre  reicht,  aus- 
giebig genug,  um  bei  den  kindlichen  Arbeitern  eine  Re- 
duktion um  die  Hälfte  zu  bewirken;  bei  den  jugendlichen 
Arbeitern  ist  dagegen  schon  eine  weit  schwächere  Ab- 
nahme zu  bemerken.  Beide  Erscheinungen  hatten  sich 
übrigens  schon  im  Jahre  1891  vorbereitet,  wie  die  Tabelle 
zeigt,  wohl  eine  Art  Vorwirkung  der  Arbeiterschutzgesetze. 
Wenn  nur  die  leider  noch  immer  mangelhafte  Aufsicht 
auch  eine  Gewähr  dafür  böte,  dass  die  für  die  Statistik 
gemachten  Angaben  überall  und  immer  in  die  Wirklichkeit 
übersetzt  und  die  danach  übrig  bleibenden  Kinder  und 
jugendlichen  Arbeiter  auch  aller  Wohlthaten  der  Schutz- 
gesetze theilhaftig  würden!  Viele  Berichtsstellen  lassen 
errathen,  dass  es  damit  im  Argen  liegt  und  die  Ueber- 
wachung  durch  die  Arbeiter  noch  das  Beste  wird  mitthun 
müssen. 

Es  erübrigt  nun,  die  Gestaltung  der  Frauen-  und  Kinder- 
arbeit in  die  einzelnen  Gewerbegruppen  zu  verfolgen.  Hier 
betrug  die  Zahl 


der  An- 

in  der 

Gruppe 

lagen  mit 
jug.  Ar- 

der  kindlichen  Arbeiter 

der  jug 

endlichen 

Arbeiter 

der  erwachsenen 

Arbeiter 

beitern 

m. 

W. 

ZUS. 

m. 

W. 

ZUS. 

in. 

w. 

ZUS. 

IV. 

/ 1891 

623 

641 

72 

713 

1 910 

188 

2 098 

29  589 

3 599 

33188 

}IV- 

X 1892 

549 

432 

32 

464 

1 625 

153 

1 778 

29  699 

3 901 

33  600 

V. 

( 1891 

495 

483 

71 

554 

1 890 

380 

2 270 

15  035 

2 408 

17  443 

X 1892 

484 

249 

23 

252 

1 796 

285 

2 081 

15  394 

2 539 

17  933 

VI. 

( 1891 

731 

308 

22 

330 

3 734 

169 

3 903 

39  929 

1 335 

41  264 

}v,. 

X 1892 

690 

191 

4 

195 

3 360 

138 

3 798 

39  521 

1 352 

40  873 

VII. 

( 1891 

41 

54 

16 

70 

48 

62 

110 

2 560 

937 

3 497 

} VII. 

\ 1892 

34 

23 

14 

37 

57 

67 

124 

2 742 

975 

3717 

VIII. 

(1891 

38 

18 

5 

23 

51 

17 

68 

2 958 

262 

3 220 

} VIII. 

X 1892 

36 

20 

2 

22 

27 

32 

59 

2 740 

213 

2 953 

IX. 

f 1891 

1 852 

2 782 

2 499 

5 281 

4 840 

8 452 

13  252 

60  696 

68  120 

128816 

},x. 

\ 1892 

1 739 

1 295 

1 188 

2 483 

451 1 

7 705 

12216 

60  861 

70  607 

131  468 

X. 

( 1891 

420 

459 

161 

620 

1 075 

664 

1 739 

16615 

6 966 

23  581 

}x. 

\ 1892 

422 

245 

68 

313 

1 025 

598 

1 623 

16391 

6 934 

23  325 

XI. 

( 1891 

555 

596 

120 

716 

1 207 

235 

1 442 

17  990 

2 232 

20  222 

}x,. 

X 1892 

540 

314 

76 

390 

1 181 

262 

1 443 

16  943 

2 204 

19147 

XII. 

(1891 

634 

884 

457 

1 341 

904 

659 

1 563 

14  904 

7 669 

22  573 

}xn. 

X 1892 

617 

417 

158 

575 

878 

535 

1 413 

14  538 

7 505 

20  043 

XIII. 

( 1891 

339 

309 

429 

838 

399 

1 442 

1 841 

7173 

10  308 

17  481 

J XIII. 

X 1892 

307 

132 

194 

326 

332 

1 301 

1 633 

6 656 

9 824 

16  480 

XV. 

/ 1891 

354 

213 

46 

259 

1 193 

564 

1 737 

9 777 

3 840 

13617 

} XV. 

X 1892 

380 

131 

24 

155 

1 456 

467 

1 923 

10  065 

4 091 

14  156 

Durchmustert  man  an  der  Hand  dieser  Uebersicht,  die 
sich  auf  die  Jahre  1891  und  1892  beschränkt,  weil  diese  für 
die  Einwirkung  der  neuen  Arbeiterschutzgesetze  allein  in 
Betracht  kommen,  zunächst  den  Antheil  der  Frauenarbeit 
an  der  Beschäftigung  Erwachsener  in  den  einzelnen  Gruppen, 
so  gewahrt  man  bei  der  Industrie  der  Heiz-  und  Leuchtstoffe, 
von  Papier  und  Leder,  der  Holz-  und  Schnitzstoffe,  Nahrungs- 
und Genussmittel,  sowie  der  Bekleidung  und  Reinigung 
gleichzeitig  eine  Abnahme  der  männlichen  und  weiblichen 
erwachsenen  Arbeiter,  also  eine  Krisenerscheinung  ohne 
Bedeutung  für  die  Verschiebungen  zwischen  den  Arbeiter- 
kategorien. Die  übrigen  Gewerbegruppen  müssen  aber  nun 
eine  desto  auffälligere  Zunahme  der  Frauenarbeit  aufzuweisen 
haben,  damit  das  oben  besprochene  Allgemeinergebniss  zu 
Stande  kommen  konnte.  Und  so  verhält  es  sich  thatsäch- 
lich.  Mit  Ausnahme  der  Maschinenindustrie,  in  der  sich 
schon  von  1890  auf  1891  eine  Verminderung  der  Männer- 
arbeit und  eine  Vermehrung  der  Frauenarbeit  vollzog  und 
auf  1892  nur  ein  leichter  Rückschlag  eintrat,  vermehrten 


alle  übrigen  Gewerbegruppen  ihr  Personal  erwachsener 
Arbeiterinnen,  voran  die  Textilindustrie,  die  polygraphischen 
Gewerbe,  die  Industrie  der  Steine  und  Erden,  und  zwar 
mehrfach  stärker,  als  ihr  Männerpersonal.  Hier  ist  also  der 
Sitz  jener  ungesunden  Entwickelung,  welche  die  höchste 
Beachtung  aller  Berufenen  verdient.  Hätte  die  sächsische 
Gewe'rbeaufsicht  eine  zielbewusste  Centralleitung,  so  wäre 
in  der  Spezialbeobachtung  des  Vordringens  der  Frauen- 
arbeit bei  diesen  Gewerbegruppen  diejenige  Aufgabe  ge- 
geben, welche  den  Einzelinspektionen  für  die  nächsten 
Jahre  nahegelegt  werden  müsste. 

Aber  auch  bezüglich  der  jugendlichen  und  Kinderarbeit 
lassen  sich  der  Uebersicht  einige  wichtige  Spezialbeobach- 
tungen entnehmen.  Die  Zahl  der  Anlagen,  welche  jugend- 
liche Arbeiter  beschäftigen,  ist  durchaus  nicht  in  allen 
sächsischen  Gewerbegruppen  gefallen,  auch  nicht  die 
Ziffer  der  jugendlichen  Arbeiter  selbst,  trotz  den  neuen 
Schutzbestimmungen.  Die  erstere  ist  gestiegen  in  der 
chemischen  Industrie,  der  Papier-  und  Lederbranche  und 


No.  35. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


419 


bei  den  polygraphischen  Gewerben,  die  Zahl  der  jugend- 
lichen Arbeiter  von  14  — 16  Jahren,  allerdings  nur  unwesent- 
lich bei  der  Industrie  der  Holz-  und  Schnitzstoffe,  nicht 
unbedeutend  dagegen  in  den  polygraphischen  Gewerben. 
Diese  Industrien  haben  sich  in  ihrem  Bestreben,  jugendliche 
Kräfte  steigend  zur  Ausnutzung  heranzuziehen,  also  bereits 
mit  den  neuen  Schutzbestimmungen  ausgesöhnt.  Es  müsste 
sich  von  selbst  verstehen,  dass  die  Aufsichtsbeamten  auf 
diese  Verhältnisse  im  nächsten  Jahre  ihre  besondere  Auf- 
merksamkeit lenkten.  Ob  es  geschehen  wird?  . . . Und 
doch  eröffnen  diese  Einzelbeobachtungen  die  Perspektive, 
dass  sich  auch  andere  Unternehmer  vielleicht  schneller,  als 
man  ahnt,  mit  den  schärferen  Schutzbestimmungen  abfinden 
und  die  Ausnutzung  jugendlicher  Kräfte  mit  steigender  Kon- 
junktur auch  wieder  in  steigende  Bewegung  geräth.  Bezüg- 
lich der  Kinderausbeutung  steht  ja  zu  hoffen,  dass  in  Sachsen 
wenigstens  bei  strenger  Anwendung  des  Gesetzes  auch  die 
5000  kleinen  Wesen  von  12  und  13  Jahren,  die  man  1892 
noch  zählte  und  die  in  Folge  einer  Uebergangsbestimmung 
fortbeschäftigt  werden  durften,  aus  der  Industrie  endgiltig 
verschwinden. 

Die  Bearbeitung  der  neuesten  sächsischen  Fabrik- 
arbeiterzählung, wie  sie  im  Vorstehenden  versucht  wurde, 
gestattet  also,  dies  darf  wohl  gesagt  werden,  eine  Reihe 
wichtiger  Einblicke  in  die  sozialpolitische  Entwickelung 
eines  der  hervorragendsten  deutschen  Industriegebiete,  Ein- 
blicke, die  sonst  unmöglich  sind.  Die  beste  Wirkung  dieser 
Privatbearbeitung  mit  allen  ihren  Unvollkommenheiten  be- 
stände aber  im  Sinne  des  Verfassers  darin,  dass  sie  schon 
nächstes  Jahr  durch  eingehende  amtliche  Zusammen- 
stellungen im  kommenden  Berichtsbande  der  sächsischen 
Gewerbeinspektoren  überflüssig  gemacht  würde. 

Frankfurt  a.  Main.  Ma  x Quarck. 

Arbeitslosigkeit  im  Berliner  Braugewerbe. 

Die  Brauerei  hat  ihre  Saison  im  Winter.  Im  Sommer 
muss  die  Mälzerei  der  Temperatur  wegen  pausiren  und  ein 
Theil  der  Arbeiter  wird  entlassen,  die  Arbeitslosigkeit  ver- 
dreifacht sich.  Für  Berlin  giebt  die  mir  gütigst  mitgetheilte 
Statistik  des  „Arbeitsnachweises  für  Brauergesellen“  zur 
Abschätzung  des  Umfanges  der  Arbeitslosigkeit  einen  um 
so  brauchbareren  Anhalt,  als  der  Verein  der  Brauereien 
Berlins  und  Umgegend  die  Verpflichtung  eingegangen  ist, 
(Mai  1890)  'nur  hier  seinen  Bedarf  an  Arbeitskräften  zu 
decken.  Der  im  April  1890  gegründete  Verein  umfasst 
sämmtliche  Berliner  Lagerbierbrauereien.  Nur  einen  ge- 
wissen Bruchtheil  ihrer  Vakanzen  darf  jede  Brauerei  ander- 
weitig besetzen;  thatsächlich  dürfte  etwa  bei  einem  Sechstel 
aller  Vakanzen  von  diesem  Rechte  Gebrauch  gemacht 
werden.  Der  mit  dem  Brauergesellenverein  gemeinschaftlich 
verwaltete  Nachweis  besetzt  jährlich  etwa  300  Stellen,  davon 
250  im  Herbst,  wenn  die  Mälzerei  wieder  beginnt;  die 
Meldungen  (Einschreibungen)  von  Stellensuchern  liegen 
natürlich  etwas  früher  aus,  so  haben  sich  alleinim  Mai  und 
Juni  vorigen  Jahres  mehr  als  100  Bewerber  eintragen  lassen. 
Da  die  Statistik  nur  die  Eintragungen  in  den  beiden 
Hälften  des  Kalenderjahres  ohne  weitere  Untertheilung 
nachweist,  so  kommt  der  Kontrast  zwischen  stiller  und 
lauter  Saison  in  diesen  Zahlen  nicht  zum  Ausdruck;  sie 
entbehrt  aber  darum  doch  nicht  des  Interesses,  namentlich 
sofern  sie  einen  Vergleich  zwischen  denselben  Jahreszeiten 
verschiedener  Jahre  erlaubt. 

Es  wurden  im  Arbeitsnachweis  Brauergehilfen 


eingeschrieben 

gestrichen 

Differenz 

1.  Halbjahr  1892 

358 

132 

226 

2.  Halbjahr  1892 

287 

100 

187 

2.  Halbjahr  1891 

412 

218 

194 

Zur  Erläuterung  sei  bemerkt,  dass  jeder  eingeschriebene 
Stellenbewerber  verpflichtet  ist,  sich  allwöchentlich  im  Nach- 
weislokale zu  melden;  wer  dies  dreimal  versäumt,  wird  ge- 
strichen. Es  handelt  sich  bei  den  Gestrichenen  meist  um 
Abgereiste.  — Die  obigen  Zahlen  ergeben,  dass  im  zweiten 
Halbjahr  1892  die  Zahl  der  Meldungen  gegen  das  Vorjahr 
enorm  und  auch  die  Zahl  der  nicht  gestrichenen  Bewerber 
etwas  abgenommen  hat.  Das  Resultat  ist  um  so  bemerkens- 
werther,  als  vor  einigen  Monaten  einer  der  ersten  Berliner 
Fachmänner  (Arbeitgeber)  es  als  „wohl  zweifellos“  hinstellte, 


dass  das  Angebot  von  Braugehülfen  zugenommen  habe 
wobei  er  ausdrücklich  hervorhob,  dass  ausser  den  (ihm 
damals  wohl  nicht  vorliegenden)  Zahlen  des  Arbeitsnach- 
weises statistische  Daten  von  Belang  nicht  aufzutreiben  sein 
würden.  Es  ist  das  wieder  dafür  ein  Zeugniss,  dass  man 
sich  in  statistischen  Fragen  und  speziell  beim  Thema 
Arbeitslosigkeit  auf  allgemeine  Schätzungen  Sachverstän- 
diger nicht  unbedingt  verlassen  darf. 

Es  muss  allerdings  bemerkt  werden,  dass  in  der  Ab- 
nahme der  Stellenbewerber  der  Umfang  der  Arbeitsge- 
legenheit nicht  rein  zum  Ausdruck  kommt.  Es  soll  nämlich 
noch  vor  2 bis  3 Jahren  der  leichtsinnige  Stellenwechsel 
viel  verbreiteter  als  heute  gewesen  sein,  theils,  weil  es  da- 
mals noch  beträchtlich  mehr  unverheirathete  Gehülfen  gab 

— die  Zahl  der  verheiratheten  wird  jetzt  von  dem  einen 
Sachverständigen  auf  2/3,  von  dem  andern  auf  x/3  geschätzt 

— theils  weil  der  Arbeitsnachweis  es  den  Veränderungs- 
lustigen ad  oculos  demonstrirt,  dass  jeder  Stellenwechsel 
12  — 13 wöchige  Arbeitslosigkeit  kostet;  beim  Arbeitsnach- 
weis wird  nämlich  die  Reihenfolge  der  Meldungen  streng 
innegehalten,  während  früher  das  schnelle  Finden  einer 
neuen  Stelle  vom  Glück,  auch  von  der  Protektion  durch 
gute  Freunde  abhing.  Ist  auch  der  Arbeitsnachweis  nicht 
erst  seit  1892  in  Wirksamkeit,  so  kann  es  doch  sein,  dass 
seine  Wirkung  auf  den  Stellenwechsel  sich  erst  allmählich 
fühlbar  macht.  Immerhin  wird  man  diesen  Momenten  kaum 
eine  Bedeutung  beilegen  wollen,  die  den  Rückgang  der  Be- 
werbungen von  412  auf  287  erklärt. 

Zur  Charakteristik  des  Vereins  Berliner  Brauereien  sei 
noch  mitgetheilt,  dass  derselbe  den  obligatorischen  zehn- 
stündigen Normalarbeitstag  bei  seinen  Mitgliedern  durch- 
geführt hat.  Es  geschah  das  schon  durch  einen  Beschluss 
vom  Mai  1890,  so  dass  von  einem  Einfluss  dieser  Mass- 
nahme auf  die  heutige  Arbeitslosigkeit  nicht  die  Rede  sein 
kann. 

Berlin.  Karl  Oldenberg. 

Die  Arbeitszeitung  (Labour  Gazette)  des  englischen 
Arbeitsamts.  Am  15.  Mai  erschien  die  erste  Nummer  einer 
ebenso  wichtigen  wie  interessanten  Publikation.  Bekannt- 
lich hat  das  englische  Arbeitsamt  eine  gründliche  Reorga- 
nisirung  erfahren.  Es  wurde  eine  ganze  Anzahl  von  Korre- 
spondenten des  Amtes  mit  dem  Sitz  sowohl  in  London  als 
in  allen  wichtigeren  Industriestädten  ernannt,  so  dass  in 
Folge  dieser  Maassregel  und  einer  sehr  weitgehenden  Cen- 
tralisation,  das  englische  Arbeitsamt  mehr  als  jede  ähnliche 
Einrichtung  anderer  Länder  in  der  Lage  ist,  umfassende 
und  kritisch  gesichtete  Nachrichten  zu  liefern.  Neben  den 
bekannten  in  dieser  Zeitschrift  wiederholt  erwähnten  Jahres- 
berichten über  Strikes  und  Lockouts,  über  Trade-Unions, 
neben  den  Berichten  über  den  Arbeitsmarkt,  die  bisher  im 
Board  of  Trade  Journal  veröffentlicht  wurden,  unternimmt 
das  Arbeitsamt  nun  eine  eigene  ausdrücklich  den  Arbeitern 
gewidmete  Zeitschrift.  Dass  dabei  vor  allem  beabsichtigt 
wird,  einen  Leserkreis  innerhalb  der  Arbeiterschaft  zu  er- 
werben, geht  schon  daraus  hervor,  dass  die  24  Folioseiten 
in  bester  Ausstattung  um  I Penny  (8  Pf.)  abgegeben  werden. 
Es  ist  also  direkt  auf  eine  Massenverbreitung  abgesehen.  Das 
erste  Heft  dieser  Zeitschrift,  auf  welche  wir  noch  wieder- 
holt zurückzukommen  Gelegenheit  haben  werden,  enthält 
vor  allem  einen  ausführlichen  Bericht  über  den  englischen 
Arbeitsmarkt  und  Berichte  der  Lokalkorrespondenten. 
Ebenso  nehmen  Mittheilungen  über  wichtige  Vorgänge  auf 
den  Arbeitsmärkten  des  Auslandes  und  der  Kolonieen  einen 
grossen  Theil  des  Blattes  ein.  Ueber  Einrichtung,  Inhalt  und 
Tendenz  des  Blattes  giebt  am  Besten  die  Vorrede  Auskunft, 
welche  wir  folgen  lassen.  Mögen  auch  im  Einzelnen  an 
der  Durchführung  des  Programms  manche  Ausstellungen 
zu  machen  sein,  soviel  ist  sicher,  dass  kein  anderes  Land 
bis  heute  über  eine  ähnliche  Publikation  verfügt.  Die  Vor- 
rede lautet: 

Die  Labour  Gazette  ist  ein  Blatt  für  die  Arbeiter  und  für 
alle,  welche  daran  interessirt  sind,  prompte  und  genaue  In- 
formationen über  Gegenstände,  welche  die  Arbeit  speziell  be- 
treffen, zu  erhalten.  Sie  beabsichtigt,  zu  Fragen  der  Arbeit  im 
selben  Verhältniss  zu  stehen,  wie  das  Board  of  Trade  Journal 
zu  Fragen  des  Handels  und  Gewerbes.  Mit  anderen  Worten, 
die  offiziellen  Informationen,  die  sich  auf  die  Interessen  der 


420 


SOZIAT -POLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  35. 


Arbeit  beziehen,  sollen  für  den  allgemeinen  Gebrauch  geeignet 
gemacht  und  veröffentlicht  werden,  mit  Einschluss  jener  In- 
formationen, Welche  das  Arbeitsdepartement  reichlich  von  seinen 
Korrespondenten  zur  Veröffentlichung  erhält, 

Mit  blossen  Fragen  der  Meinung  wird  sich  das  Blatt  nicht 
beschäftigen.  Der  Zweck  des  Departements  bei  dieser  Ver- 
öffentlichung ist,  eine  gesunde  Grundlage  für  die  Bildung  von 
Meinungen  zu  schaffen,  nicht  aber  Meinungen  Ausdruck  zu 
geben.  Bei  der  Durchführung  dieser  Aufgabe  sind  drei  Klassen 
Von  Materialien  zu  unterscheiden.  Erstens  giebt  es  Nachrichten, 
die  sich  auf  die  Arbeit  beziehen,  Welche  bereits  periodisch  Von 
den  verschiedenen  Regiert! ngsämterti  gesammelt  und  Veröffent- 
licht werden,  aber  bisher  nicht  der  grossen  Masse  der  Arbeiter 
sofort  zugänglich  Waren,  entweder  weil  sie  in  grossen  und 
theuren  Publikationen  vergrabeh  sind,  oder  Weil  die  Arbeiter  in 
der  Regel  nicht  die  Mittel  haben,  zu  erfahren,  Wann  Und  Wie 
sie  erlangt  werden  können.  Weiter  Werden  Viele  nützliche 
Nachrichten  von  ausländischen  Regierungen  veröffentlicht,  die 
aus  denselben  Gründen  den  englischen  Arbeitern  Unzugänglich 
sind.  Wozu  noch  die  Schwierigkeit  einer  fremden  Sprache 
kommt.  Es  wird  beabsichtigt,  diese  Informationen  Zu  sammeln 
Und  ZU  sichten,  und  sie  Monat  für  Monat  soweit  als  möglich 
in  der  Gazette  zu  veröffentlichen,  aüsserdem  Auskünfte  hinzu- 
zufügen. In  der  vorliegenden  Nummer  sind  Monatsberichte 
Über  den  Stand  der  Beschäftigten,  Berichte  über  Auswanderung 
Und  Einwanderung,  Auszüge  aus  verschiedenen  englischen  und 
auswärtigen  Berichten,  sowie  aus  dem  neuesten  Jahresbericht 
über  Strikes  und  Aussperrungen,  Trades-Unions  und  andere 
Gegenstände  enthalten. 

Zweitens  giebt  es  viele  Informationen,  die  bereits  durch 
verschiedene  offizielle  Kanäle  zu  erlangen  sind,  aber  bisher  ent- 
weder überhaupt  nicht  oder  so  spät  veröffentlicht  wurden,  dass 
das  öffentliche  Interesse  an  den  Gegenständen  bis  dahin  auf- 
gehört hat.  Das  Arbeitsamt  ist  durch  das  Entgegenkommen 
verschiedener  Regierungsämter  zum  ersten  Mal  in  der  Lage, 
monatliche  oder  vierteljährliche  Berichte  über  Dinge  zu  bringen, 
die  bisher  Gegenstand  von  weit  weniger  vollständigen  oder 
weit  weniger  häufigen  Berichten  waren.  Als  Beispiel  solcher 
Angaben  in  der  gegenwärtigen  Nummer  möge  erwähnt  sein: 
die  Liste  der  Trades-Unions,  der  Kooperativ-  und  Unterstützungs- 
Gesellschaften,  die  im  April  registrirt  wurden  oder  sich  auf- 
lösten; dann  weiter  die  Berichte  über  das  Armenwesen  in  den 
wichtigsten  Industriebezirken  des  Königreichs,  über  die  Ver- 
urtheilungen  betreffend  das  Fabrik-  und  Werkstättengesetz, 
über  Unfälle  der  Eisenbahnbediensteten  und  in  Fabriken. 

In  dritter  Reihe  giebt  es  eine  Anzahl  von  wichtigen  Dingen, 
über  welche  eine  genaue  Information  bisher  überhaupt  nicht 
eingeholt  oder  mindestens  nicht  offiziell  zusammengestellt 
wurden.  Einige  dieser  Fragen  werden  wahrscheinlich  immer 
eine  genaue  Untersuchung  ausschliessen.  Viele  andere  werden 
nothwendiger Weise  zum  Gegenstand  von  Spezialuntersuchungen 
gemacht  werden  müssen,  bevor  sie  für  eine  genaue  Behandlung 
in  einem  Monatsblatt  reif  sind.  Immerhin  giebt  es  aber  eine 
Anzahl  von  Fällen,  in  welchen  beabsichtigt  wird,  sofort  auf 
bisher  unbebautem  Gebiete  Fuss  zu  fassen.  So  ist  es  in  der 
vorliegenden  Nummer  möglich  gewesen,  mit  Hilfe  der  Lokal- 
korrespondenten des  Amtes,  die  meistens  mit  den  grössten 
gewerkschaftlichen  Organisationen  in  Verbindung  stehen,  eine 
Reihe  von  Angaben  über  die  Arbeitsbedingungen  vom  Stand- 
punkte der  Arbeiter  in  den  hauptsächlichsten  Industriecentren 
vorzulegen.  Mit  Bezug  auf  eine  wichtige  Gruppe  von  unregel- 
mässig beschäftigten  Arbeitern  in  dem  Hafen  von  London  sind 
die  täglichen  Veränderungen  in  dem  Ausmaass  der  Beschäfti- 
gung in  einer  graphischen  Darstellung  gezeigt,  die,  obwohl  sie 
sich  nur  auf  einen  kleinen  Theil  der  minderqualifizirten  Arbeiter 
Londons  bezieht,  trotzdem  einigermaassen  als  ein  brauchbares 
Barometer  der  Beschäftigung  dienen  kann,  soweit  die  Ver- 
kehrsindustrie im  Hafen  in  Betracht  kommt.  Das  Amt  würde 
sehr  gern  seine  Nachrichten  auf  die  Hafenarbeit  und  andere 
Arbeit  in  anderen  Distrikten  ausdehnen  und  jede  Anregung  in 
dieser  Beziehung  willkommen  heissen. 

Die  Gazette  referirt  über  die  wichtigsten  Lohnkämpfe  und 
Veränderungen  in  der  Höhe  der  Löhne  und  Arbeitszeit,  soweit 
darüber  im  abgelaufenen  Monat  Berichte  einliefen.  Bei  der 
Vorbereitung  dieser  Tabellen  wurden  werthvolle  Aufschlüsse 
benutzt,  die  durch  Gewerkschaften,  einzelne  Unternehmer  und 
Unternehmerassoziationen  geliefert  wurden.  Es  wurden  auch 
Vorkehrungen  getroffen,  dass  über  wichtige  Lohnkämpfe  und 
über  andere  Gegenstände,  wie  Schiedssprüche,  Einigungen,  ver- 
schiedene Art  der  Lohnzahlung  und  über  die  Durchführung  der 
verschiedenen  Gesetze,  die  sich  auf  die  Arbeit  beziehen,  spe- 
ziell kurze  Artikel  veröffentlicht  werden  können.  In  der  vor- 
liegenden Nummer  wurde  in  dieser  Weise  der  Ausstand  der 
Baumwollarbeiter  in  Lancashire  und  der  Schifferstrike  in  Hüll 
behandelt.  Das  Amt  ist  auch  bestrebt,  hauptsächlich  durch  die 
Organisation  der  Kooperativgesellschaften  über  die  durch- 
schnittlichen Detailpreise  der  hauptsächlichsten  Konsumartikel 


der  Arbeiter  Üebersichten  Zu  erlangen,  die  auf  Berichte  über 
die  thätsächlichen  Verkaufspreise  gegründet  sind.  In  dieser 
Nummer  liegt  eine  derartige  Tabelle  vor,  welche  periodisch 
wiederholt  werden  soll.  Ausserdem  verdankt  das  Amt  den 
Distriktssekretären  der  Kooperativgesellschaften  die  Ueber- 
lassung  von  Material  zu  Monatsberichten  über  die  Kooperationen. 

Dank  dem  Entgegenkommen  des  Ministeriums  des  Aeussercn 
wird  das  Departement  in  der  Lage  sein,  einen  regelmässigen 
Bericht  über  den  Arbeitsmarkt,  über  Strikes,  Aenderungen  in 
der  Lohnhöhe  und  über  die  Arbeitergesetzgebung  in  den  wichtig- 
sten fremden  Ländern  zu  geben,  die  speziell  zu  diesem  Zweck  von 
den  englischen  Gesandtschaften  und  Konsulaten  eingeholt  werden. 
Ebenso  entgegenkommend  hat  das  Kolonialamt  mit  dem  Arbeits- 
amt eine  Vereinbarung  betr.  Nachrichten  über  Auswanderung 
getroffen.  Bereits  seit  längerer  Zeit  Wurde  über  Nachfrage 
nach  Arbeit  und  über  die  Bedingungen  der  Beschäftigung  in  den 
wichtigsten  britischen  Kolonien  Material  gesammelt,  uiil  sd  den! 
Arbeitsamt  das  Material  für  seine  Monatsberichte  zu  liefern, 
deren  erster  in  vorliegender  Nummer  erscheint. 

LohnZahlungs-  und  Trucksystem  in  den  Vereinigten 
Staaten  von  Amerika,  In  dem  letzter!  Berichte  defi  erig- 
lischen  „Royal  Commission  of  Labour“  finden  sich  verschie- 
dene interessante  Mittheilungen  über  die  Art  und  Weise  der 
Lohnzahlungen  an  die  Arbeiter.  Es  wird  in  dem  Berichte 
darauf  hingewiesen,  dass  eine  grosse  Anzahl  von  Arbeitern 
sich  darüber  beklagen,  dass  die  Lohnzahlungen  nicht  alle 
14  Tage  oder  monatlich  stattfinden.  Nach  den  in  den 
Staaten  New-York,  Massachusetts  und  Connecticut  geltenden 
gesetzlichen  Bestimmungen  sind  Korporationen  zu  wöchent- 
lichen, in  den  Staaten  Maine  und  Pennsylvania  zu  vierzehn- 
tägigen Lohnzahlungen  verpflichtet.  Die  Frage  der  Lohn- 
zahlungen hat  in  diesen  Staaten  bezüglich  der  Einzelunter- 
nehmer keine  gesetzliche  Regelung  gefunden. 

So  erklärte  nach  dem  in  dem  oben  erwähnten  Berichte 
ein  Granitschneider,  dass  er  für  die  am  1.  Juli  begonnene 
Arbeit  erst  am  25.  August  Bezahlung  erhalten  habe.  Ein 
Weber  aus  Rhode -Island  theilte  mit,  dass  er  nur  alle  zwei 
Monate  seinen  Lohn  empfange.  Die  Korporationen,  die 
gesetzlich  zur  Innehaltung  von  bestimmten  Lohnauszahlutlgs-  i 
terminen  verpflichtet  sind,  finden  Mittel  und  Wege,  um  die 
betreffenden  Bestimmungen  zu  umgehen.  Nach  den  von 
dem  New-Yorker  Eabrikirtspektor  gemachten  Mittheilungen 
besteht  eine  der  gebräuchlichsten  Praktiken  darin,  den  Ar- 
beitern bekannt  zu  geben,  dass  sie,  wenn  die  Gesellschaft 
direkt  darum  ersucht  wird,  ihren  Lohn  wöchentlich  ausge- 
zahlt erhalten  können;  es  wird  aber  zugleich  dabei  bemerkt, 
dass  die  Gesellschaft  derartige  Ansuchen  nicht  gern  sehe. 
Wenn  in  Folge  dessen  die  Lohnauszahlung  an  dem  gesetz- 
lich festgestellten  Termine  unterbleibt  und  der  Fabrik-  j 
inspektor  sich  nach  der  Ursache  dieser  Erscheinung  erkun- 
digt, so  wird  ihm  mitgetheilt,  die  Arbeiter  wünschten  die 
wöchentliche  Lohnzahlung  nicht.  Das  Gesetz  wird  auch  in 
der  Weise  umgangen,  dass  die  Gesellschaften  einen  Kon- 
trakt mit  einem  Aufseher  oder  Vorarbeiter  abschliessen, 
der  die  Arbeiter  als  Privatmann  unter  von  ihm  festgesetzten 
Bedingungen  engagirt.  Vielfach  werden  in  den  Vereinigten 
Staaten  die  Arbeiter  nicht  in  baarem  Gelde,  sondern  mit 
Waaren  bezahlt,  welch'  letztere  sie  aus  den  Läden  der 
Unternehmer  entnehmen  müssen.  Seitens  der  Arbeiter 
vieler  Staaten  wird  über  diese  Art  der  Lohnauszahlung 
häufige  Klage  geführt.  Im  Staate  Illinois  kommt  das  Truck- 
system hauptsächlich  bei  den  Bergarbeitern  zur  Anwen- 
dung, die  zu  schlecht  organisirt  sind,  als  dass  sie  sich  da- 
gegen auflehnen  könnten.  In  diesem  Staate  werden  6 % 
der  Arbeiter  mit  Waaren  bezahlt.  In  Rhode -Island,  Maine 
und  Pennsylvania  hat  das  Trucksystem  einen  weiten  Spiel- 
raum, namentlich  leiden  auch  dort  die  Bergarbeiter  darunter. 
Eine  in  den  Kohlendistrikten  Pennsylvaniens  angestellte 
Untersuchung  hat  ergeben,  dass  eine  grosse  Anzahl  von 
Arbeitern  ganz  und  gar  keinen  Lohn  in  Geld  ausgezahlt 
erhielt;  das  gleiche  war  in  der  Bergwerksindustrie  des 
Staates  Ohio  der  Fall.  Von  den  Preisen  der  Waaren,  mit 
welchen  die  Arbeiter  bezahlt  werden,  wird  vielfach  be- 
hauptet, dass  sie  noch  höher  seien,  als  die  gewöhnlichen 
Marktpreise.  Von  einzelnen  Arbeitern  wird  angegeben,  sie 
seien  20 — 25  % höher;  meistens  werden  sie  — u.  a.  auch 
von  dem  Generalsekretär  der  Knights  of  Labour  — um 
10  % höher  bezeichnet.  In  den  Bergwerksgegenden  hausen 
die  Arbeiter  gewöhnlich  in  Wohnungen,  die  den  Unter- 


No.  35. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


421 


nehmern  gehören.  Die  Wohnungen  sind  oft  in  einem  so 
schlechten  Zustande,  dass  sie  jeder  Beschreibung  spotten. 
Dazu  kommt,  dass  die  Räume  überfüllt  sind,  so  dass  die 
Arbeiter  gezwungen  sind,  unter  den  ungesundesten  Bedin- 
gungen in  denselben  zu  leben.  Wenn  die  Häuser  in  bes- 
serem Zustande  sich  befinden,  sind  die  Miethen  sehr  hoch. 
Wenn  ein  Strike  ausbricht,  so  müssen  die  Arbeiter  ent- 
weder die  Wohnungen  sofort  räumen  oder  sie  können 
wohnen  bleiben.  Im  letzteren  Falle  wird  ihnen  dann  die 
Miethe  nach  Wiederaufnahme  der  Arbeit  vom  Arbeitslöhne 
abgezogen. 


Politische  Arbeiterbewegung. 

Die  evangelischen  Arbeitervereine.  Zugleich  mit  den 
für  den  31.  Mai,  1.  und  2.  Juni  anberaumten  Verhandlungen 
des  evangelisch-sozialen  Kongresses  (vgl.  oben)  soll  eine 
Ausschusssitzung  der  evangelischen  Arbeitervereine  in  Berlin 
stattfinden. 

Den  Mittelpunkt  der  Verhandlungen  wird  die  Berathung 
eines  Programms  bilden,  für  das  zwei  Entwürfe  vorliegen. 
Der  eine  rührt  vom  Lic.  Weber  her,  der  andere  hat  Paul 
Göhre  zum  Verfasser.  Wir  lassen  den  letzteren  Programm- 
entwurf im  Wortlaut  folgen: 

„Die  evangelischen  Arbeitervereine  stehen  auf  dem 
Grunde  des  evangelischen  Christenthums.  Sie  bekämpfen 
darum  die  materialistische  Weltanschauung,  wie  sie  sowohl 
zu  den  Ausgangspunkten  als  zu  den  Agitationsmitteln  der 
Sozialdemokratie  gehört.  Ausgangspunkt  und  Quelle  ihrer 
sozialen  Arbeit  ist  vielmehr  das  Evangelium  von  dem  schon 
im  Diesseits  kommenden,  im  Jenseits  vollendeten  Reiche 
Gottes,  ihr  Ziel  seine  allmähliche  grösstmögliche  Verwirk- 
lichung. Die  Vereine  sind  der  Ueberzeugung,  dass  dieses 
Ziel  nicht  schon  erreicht  werden  kann  durch  eine  nur  zu- 
fällige Verknüpfung  von  allerhand  christlichen  und  sozialen 
Gedanken,  sondern  allein  durch  eine  organische  Umgestal- 
tung aller  Verhältnisse  gemäss  den  im  Evangelium  ent- 
haltenen und  daraus  zu  entwickelnden  sittlichen  Ideen.  In 
diesen  allein  finden  sie  den  unverrückbaren  Massstab  rück- 
sichtsloser Kritik  an  den  heutigen  Zuständen,  wie  kraft- 
volle Handhaben,  um  bestimmte  Neuorganisationen  im  wirt- 
schaftlichen Leben  zu  fordern.  Sie  werden  danach  streben, 
dass  diese  Organisationen  bei  ihrerDurchführung  in  gleichem 
Maasse  sittlich  erzieherisch  wirken,  wie  technisch  leistungs- 
fähig und  für  alle  Betheiligten  nach  dem  Maasse  ihrer 
Leistung  wirtschaftlich  rentabel  sind.  Die  Vereine  ver- 
meiden es,  ihre  Forderungen  aus  irgend  einer  einzelnen 
national-ökonomischen  Theorie  herzuleiten.  Dagegen  er- 
kennen sie  eine  ihrer  Hauptaufgaben  darin,  ihre  Mitglieder 
vollständig  und  vorurtheilslos  über  die  schwebenden  wirth- 
schaftlichen  Probleme  aufzuklären.  Ihre  Forderungen  werden 
sie  formuliren  von  Fall  zu  Fall,  nach  dem  Maasse  ihrer 
wachsenden  Erkenntniss.  Zur  Zeit  stellen  sie  im  einzelnen 
folgende  auf: 

I.  Für  den  Grossbetrieb: 

Die  Vereine  erkennen  die  Fortschritte  der  Technik  und 
die  dadurch  hervorgerufene  Grossindustrie  als  gottgewollte 
Notwendigkeit  an  und  halten  es  darum  für  ihre  Pflicht, 
die  im  Grossbetrieb  beschäftigten  Arbeiter  im  Kampfe  um 
die  Erhöhung  und  Veredelung  ihrer  Lebenshaltung,  um 
grössere  ökonomische  Sicherheit  und  den  Schutz  ihrer  per- 
sönlichen Güter  in  Leben  und  Gesundheit,  Sittlichkeit  und 
Familienleben  zu  unterstützen. 

Als  Stärkungsmittel  sehen  sie  an: 

1.  die  bisherige  staatliche  Arbeiterversicherung,  deren 

Vereinfachung  sie  wünschen; 

2.  die  bisherige  staatliche  Arbeiterschutzgesetzgebung, 

deren  Ausgestaltung  sie  fordern  in  Bezug  auf: 

a)  angemessene  Regulirung  der  Arbeitszeit, 

b)  Einführung  einer  Sonntagsruhe  von  mindestens 
36  Stunden, 

c)  gesunde  Arbeitsräume, 

d)  Einschränkung  aller  dem  Familienleben,  der  Ge- 
sundheit und  Sittlichkeit  schädlichen  Frauen-  und 
Kinderarbeit, 

e)  Verbot  der  Nachtarbeit  ausser  für  solche  In- 
dustriezweige, die  ihrer  Natur  nach  oder  aus 


Gründen  der  öffentlichen  Wohlfahrt  Nachtarbeit 
nöthig  machen ; 

3.  die  Einführung  gesetzlich  anerkannter  Gewerk- 
schaften; 

4.  die  Sicherung  des  vollen  Koalitionsrechtes  der  Ar- 
beiter; 

5.  die  Einführung  einer  konstitutionellen  Fabrikverfassung 
(Arbeitervertretungen) : 

6.  die  Umgestaltung  der  Staatsbetriebe  in  Muster- 
betriebe in  besonders  arbeiterfreundlichem  Sinne 
bei  Gewährleistung  der  vollen  Freiheit  der  Arbeiter. 

II.  Für  den  Kleinbetrieb: 

Die  Vereine  sind  nicht  der  Meinung,  dass  der  ge- 
sammte  Kleinbetrieb  dem  Untergange  verfallen  ist.  Sie 
treten  daher  für  ihn  ein,  soweit  er  sich  durch  Ansätze 
energischer  Selbsthilfe  als  lebensfähig  erweist.  Siefordern: 

1.  für  das  Handwerk  die  Begründung  und  Förderung 
genossenschaftlicher  Vereinigungen ; 

2.  für  den  redlichen  Handel  und  Gewerbebetrieb  Schutz 
durch  Beschränkung  und  Beaufsichtigung  des  Hausir- 
handels  und  der  Abzahlungsgeschäfte,  sowie  durch 
Beseitigung  der  Wanderlager,  Wanderauktionen  und 
Schleuderbazare ; 

3.  eine  Börsenordnung,  durch  die  alle  Börsengeschäfte 
soweit  als  möglich  wirksamer  staatlicher  Aufsicht 
unterstellt  werden  und  durch  die  besonders  dem 
Missbrauch  der  Zeitgeschäfte  als  Spielgeschäfte, 
namentlich  in  den  für  die  Volksernährung  wichtigen 
Artikeln,  entgegengetreten  wird. 

III.  Sonstige  Forderungen. 

1.  Die  Vereine  suchen  mit  allen  Kräften  das  Familien- 
leben zu  fördern.  Sie  treten  darum  nachdrücklich 
für  Schaffung  ausreichend  grosser,  freundlicher,  ge- 
sunder und  billiger  Wohnungen  ein.  Sie  fordern 
insbesondere  die  Unterstützung  von  Arbeiterbau- 
genossenschaften durch  die  Mittel  des  Staates,  der 
Kommunen  und  reicher  Kirchengemeinden. 

2.  Die  Vereine  nehmen  sich  auch  der  zeitweiligen  wirth- 
schaftlichen  Nothstände  ihrer  Mitglieder  an  durch 
Einführung  von  Darlehnskassen,  Unterstützungskassen 
in  Krankheits-  und  Sterbefällen,  Arbeitsnachweisen, 
Arbeitslosenversicherung  u.  s.  w.  Diese  Einrichtungen 
werden  möglichst  von  Arbeitern  selbst  geleitet  und 
sollen  zugleich  als  Mittel  dienen,  sie  in  ihrem  wirt- 
schaftlichen Urtheil  zu  schulen. 

3.  Die  Vereine  haben  und  fordern  Anhänglichkeit  an 
Kaiser  und  Reich,  Fürst  und  Vaterland. 

4.  Die  Vereine  suchen  die  geistige  Bildung  ihrer  Mit- 
glieder zu  heben. 

5.  Sie  wollen  eine  edle  Geselligkeit  pflegen. 

6.  Sie  suchen,  so  sehr  es  ihre  Arbeit  zunächst  mit  Zu- 
ständen und  Massen  zu  thun  hat,  zugleich  auch  die 
sittliche  Tüchtigkeit  ihrer  Mitglieder  zu  fördern. 
Denn  sie  halten  diese  nach  wie  vor  für  die  Grund- 
bedingung einer  Besserung  auch  der  sozialen  Ver- 
hältnisse wie  der  Herbeiführung  wahrer  Zufrieden- 
heit. Sie  nehmen  deshalb  auch  den  Kampf  gegen 
die  sittliche  Verwilderung  jeder  Art  als  selbstver- 
ständliche Pflicht  in  ihr  Programm  auf. 

7.  Die  Vereine  erwarten  die  Durchführung  ihrer  For- 
derungen weder  von  rein  kirchlicher  Thätigkeit  noch 
auch  allein  von  einzelner  Liebesthätigkeit,  sondern 
von  allen  denen,  die  mit  ihnen  das  Evangelium  Jesu 
von  dem  schon  im  Diesseits  beginnenden  Reiche 
Gottes  durch  die  That  verkündigen  wollen.  — 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Internationaler  Schuhmacher -Kongress.  Der  inter- 
nationale Schuhmacher-Kongress  soll  am  6.  und  7.  August 
in  Zürich  zusammentreten.  Die  provisorische  Tagesordnung 
lautet  folgendermaassen:  1.  Landesbericht,  2.  Gründung 

eines  internationalen  Sekretariats,  3.  Statistisches,  4.  Rege- 
lung des  Unterstützungswesens,  5.  Stellungnahme  bei 


422 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  35. 


Strikcs,  6.  Fachpresse,  7.  Einführung  einer  normalen  Arbeits- 
zeit und  Abschaffung  der  Stückarbeit,  8.  Die  Frauenarbeit 
in  unserer  Industrie,  9.  Bessere  Verbindung  der  Hand-  und 
Fabrikarbeiter,  10.  Regelung  des  Arbeitsnachweises  und 
Herbergswesens,  11.  Herausgabe  eines  Adressverzeichnisses 
sämmtlicher  Berufsorganisationen. 


Arbeiterversicherung. 

Zur  Ausführung  des  Invaliditäts-  und  Altersversiche- 
rungsgesetzes. Die  Frage,  was  Rechtens  ist,  wenn  ein  ver- 
sicherungspflichtiger Arbeiter  eine  Karte  zum  Einkleben  der 
Marjcen  nicht  besitzt,  behandelt  § 101  des  Reichsgesetzes 
betr.  die  Invaliditäts-  und  Altersversicherung.  Danach  ist 
der  Arbeitgeber  berechtigt,  eine  Karte  für  Rechnung  des 
Versicherten  anzuschaffen.  In  einem  Spezialfall  hat  das 
Reichsversicherungsamt  entschieden,  dass  eine  Verpflich- 
tung des  Arbeitgebers  zur  Beschaffung  der  fehlenden  Karte 
hieraus  nicht  abgeleitet  werden  könne.  Infolge  dieser  Ent- 
scheidung hat  sich  die  Ansicht  verbreitet,  dass  bei  fehlender 
Karte  der  Arbeitgeber  keine  Marken  zu  kleben  brauche  und 
straffrei  bleibe.  Dem  ist  das  Reichsversicherungsamt  in 
einer  neueren  Entscheidung  vom  29.  März  d.  J.  entgegen- 
getreten. Unter  Aufgebung  des  früheren  Standpunktes  er- 
klärt das  Reichsversicherungsamt  nunmehr  die  unterlassene 
Beitragsleistung  für  einen  nicht  mit  einer  Quittungskarte 
versehenen  Versicherten  für  strafbar  „sobald  der  Arbeit- 
geber es  an  der  nöthigen  Sorgfalt  zur  Erfüllung  der  ihm 
obliegenden  Versicherung  hat  fehlen  lassen",  und  nimmt 
einen  solchen  Mangel  an  Sorgfalt  ausdrücklich  auch  in  dem 
Falle  an,  wenn  der  Arbeitgeber  die  ihm  selbst  ohne  Schwie- 
rigkeit mögliche  Beschaffung  einer  Quittungskarte  für  den 
Versicherten  verabsäumt  hat. 

Im  „Sprechsaal“  der  „Deutschen  landwirthschaftlichen 
Presse“  knüpft  ein  Landwirth  an  die  Bekanntmachung  dieses 
Beschlusses  durch  die  Versicherungsanstalt  Ostpreussen 
einige  Fragen  und  Bemerkungen,  die  für  die  Stimmung 
charakteristisch  sind,  die  in  weiten  Kreisen  der  Arbeitgeber 
dem  Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetz  gegenüber 
vorherrscht. 

„1.  Ist  es  gesetzlich  richtig  und  zulässig,  dass  das 
Reichsversicherungsamt  den  am  23.  Februar  1892  inne- 
gehabten Standpunkt  am  29.  März  1893  hat  völlig  verlassen 
können,  sodass  das,  was  nach  dem  Urtheil  vom  23.  Fe- 
bruar 1892  straffrei  war,  jetzt  nach  dem  Urtheil  vom  29.  März 
1893  straffällig  ist? 

2.  Ist  es  ebenso  zulässig,  obgleich  im  Invaliditäts-  und 
Altersversicherungsgesetz  § 101  ausdrücklich  und  klar  steht: 
„Ist  der  Versicherte  mit  einer  Quittungskarte  nicht  versehen, 
so  ist  der  Arbeitgeber  „„berechtigt““,  für  Rechnung  des 
Versicherten  eine  solche  anzuschaften“,  dafür  nun  zu  setzen 

- denn  etwas  anderes  ist  doch  aus  der  oben  abgedruckten 
Bekanntmachung  nicht  herauszulesen  — „so  ist  der  Arbeit- 
geber „„verpflichtet““? 

3.  Wie  ist  in  der  Bekanntmachung  der  Passus  zu 
verstehen:  „Wenn  der  Arbeitgeber  die  ihm  selbst  ohne 
Schwierigkeit  mögliche  Beschaffung  einer  Quittungskarte 
verabsäumt  hat?“ 

Da  unter  uns  Landwirthen  darüber  wohl  nur  eine 
Stimme  herrscht,  dass  das  Klebegesetz  uns  ausser  zum  Theil 
ganz  ungerechtfertigt  vertheilter  Geldabgabe  eben  durch 
das  Kleben  der  Marken  sehr  viel  Umstände,  Arbeit  und 
Verdruss  macht,  und  wohl  auf  keine  andere  Art  an  eine 
baldige  Aenderung  des  Gesetzes  gedacht  werden  kann, 
wenn  nicht  ein  grösserer  Geldausfall,  hervörgerufen 
durch  das  unterlassene  Kleben  ganzer  Landes- 
theile,  die  eben  diese  Eücke  im  Gesetz  benutzen, 
die  Regierung  dazu  zwingt,  so  glaube  ich,  im  Interesse 
aller  Landwirthe  gehandelt  zu  haben,  wenn  ich  obiges  zur 
Sprache  bringe,  und  bitte  deshalb  um  möglichst  ausführliche, 
vor  der  Behörde  auch  Geltung  habende  Beantwortung  der 
gestellten  Fragen.“ 


Schulwesen. 

Der  Verband  deutscher  Gewerbeschulmänner  hielt 

am  22.  Mai  in  Cassel  seine  6.  Wanderversammlung  ab.  Auf 
dieser  kam,  wie  die  „Frankfurter  Zeitung“  berichtet,  auch 
die  traurige  Lage  des  gewerblichen  Unterrichts  in  Preussen 
zur  Sprache.  Im  Februar  v.  J.  hat  der  Vorstand  eine  Pe- 
tition an  den  Landtag  gerichtet  und  auch  die  einzelnen 
korporativen  Mitglieder  des  Vorstandes  zu  gleichem  Vor- 
gehen veranlasst.  Von  den  in  der  Denkschrift  vom  April 
1891  in  Aussicht  gestellten  neuen  acht  Fachschulen  sei  nur 
eine  ins  Leben  getreten.  1892  hätten  nicht  weniger  als 
1585  Schüler,  welche  um  Fortbildungsunterricht  nachsuchten, 
zurückgewiesen  werden  müssen.  Für  diese  allein  hätte 
man  13  neue  Schulen  nöthig  gehabt.  Ebenso  sei  die  er- 
wartete Aufbesserung  der  Lehrergehälter  und  Herabsetzung 
des  Schulgeldes  ausgeblieben.  Im  Gegentheil  seien  statt 
Erhöhung  und  Vermehrung  der  Leistungen  für  den  ge- 
werblichen Unterricht  die  Zuschüsse  des  Staates  für  den- 
selben um  10  pCt.  herabgemindert  worden.  Diese  be- 
trübende, aus  den  Landtagsverhandlungen  bereits  bekannte, 
Thatsache  habe  weiter  nachtheilig  auf  die  Gewerbeschul- 
verhältnisse mancher  Orte  eingewirkt.  Man  verlange  jetzt 
eine  nothwendige  Stärkung  unserer  Wehrkraft.  Die  Stärkung 
der  Erwerbskraft  unseres  Volkes  sei  ebenso  wichtig  und 
nothwendig. 

In  der  auf  den  Vorstandsbericht  folgenden  Debatte 
nahm  auch  Herr  Geh.  Oberregierungsrath  Lüders,  Decer- 
nent  für  den  gewerblichen  Unterricht  im  preussischen  Handels- 
ministerium, wiederholt  das  Wort.  Er  betonte,  dass  die 
augenblickliche  Lage  der  preussischen  Finanzen  der  Ent- 
wickelung des  gewerblichen  Unterrichts,  für  die  übrigens 
in  der  Denkschrift  vom  April  1891  nur  ein  nach  und  nach 
auszuführendes  Programm  gegeben  sei,  Schwierigkeiten 
bereite,  welche  alle  Instanzen  gleich  sehr  bedauerten.  Von  : 
verschiedenen  Rednern  aber  wurde  die  grosse  Missstimmung 
hervorgehoben,  welche  die  Herabsetzung  der  staatlichen 
Zuschüsse  hervorgei  ufen. 

Die  Debatte  endete  mit  der  Annahme  des  folgenden 
von  Oberlehrer  Lautz-Wiesbaden  gestellten  Antrags: 

„Die  Versammlung  spricht  ihr  tiefstes  Bedauern 
darüber  aus,  dass  in  einem  grossen  Theil  Deutschlands 
den  gewerblichen  Fortbildungsschulen  von  Staatswegen  , 
nicht  ausreichende  Mittel  zur  Verfügung  gestellt  und 
diese  Anstalten  dadurch  gehindert  werden,  das  zu  leisten,  . 
was  das  deutsche  Gewerbe  von  ihnen  verlangt  und  ver- 
langen muss.  Sie  ersucht  deshalb  den  Vorstand,  bei 
den  Stadt-  und  Schulvorständen  die  Anregung  zu  geben,  ' 
an  die  maassgebenden  Factoren  entsprechende  Eingaben 
zu  richten.“ 

In  der  zweiten  Sitzung  wurde  über  die  Bestimmung  der 
Gewerbeordnung  berathen,  nach  welcher  der  Fortbildungs- 
unterricht während  des  sonntäglichen  Gottesdienstes  ver- 
boten ist.  Die  Versammlung  beklagte  die  schwere  Schädi- 
gung, welche  der  Fortbildungsunterricht  durch  dieses  Ver- 
bot erfahre,  und  beauftragte  den  Vorstand,  eine  Petition  in 
demselben  Sinne  an  den  Reichskanzler  und  an  den  Reichs- 
tag zu  richten. 


Litteratur. 

Schall,  Eduard,  luth.  Pastor  zu  Bardorf,  die  Sozialdemokratie  in 
ihren  Wahrheiten  und  ihren  Irrthümern  und  die  Stellung  der 
protestantischen  Kirche  zur  sozialen  Frage.  Berlin  1893.  Elwin 

Staude.  8°,  XI  und  372  S. 

Seit  Todt’s  Buch  „Der  radikale  deutsche  Sozialismus  und 
die  christliche  Gesellschaft"  ist  ausser  dem  hier  angezeigten 
Werke  kein  anderer  gleich  ehrlicher  und  ernsthafter  Versuch, 
der  Sozialdemokratie  gerecht  zu  werden,  seitens  eines  Vertreters 
der  evangelischen  Kirche  erschienen.  Im  allgemeinen  genügend 
vorbereitet,  ziemlich  frei  von  Vorurtheilen,  wandte  sich  Schall 
seiner  Aufgabe  zu.  „Erkenne  Deinen  Gegner“  setzt  er  an  die 
Spitze  seines  Werkes.  Dass  er  dies  zu  thun  bemüht  war,  geht 
aus  der  für  den  Oekonomen  selbstverständlichen,  beim  Geist- 
lichen aber  besonders  anzuerkennenden  Erkenntniss  hervor,  dass 


No.  35. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


423 


er  in  der  Sozialdemokratie  eine  notli wendige  Konsequenz  der 
grossartigen  industriellen  Revolution  sieht. 

Nicht  nur  wie  viele  aridere  nicht  auf  dem  Manchesterstand- 
punktestehende Kritiker  des  Sozialismus  folgt  Schall  zustinunend 
der  gegen  die  kapitalistische  Wirthschaftsordnung  sich  richtenden 
Kritik  des  reinen  Sozialismus,  er  erkennt  auch  warm  die  Ver- 
dienste der  Sozialdemokratie  um  die  Besserung  der  Lage  der 
Arbeiter  an.  er  sympathisirt  mit  ihren  auf  dem  Boden  der  herr- 
schenden Wirthschaftsordriung  zur  Verbesserung  der  gegen- 
wärtigen Lage  der  Arbeiter  gerichteten  Forderungen,  er  begreift 
die  Taktik  der  Sozialdemokratie,  ihre  Internationalität,  er  zeigt, 
wie  unrichtig  es  ist  zu  meinen,  dass  man  die  Sozialdemokratie 
wirksam  bekämpft,  wenn  man  ihr  beweist,  dass  sie  die  Gestalt 
der  von  ihr  erstrebten  Wirtbschafts-  und  Gesellschaftsordnung 
nicht  im  Einzelnen  darlegen  will  und  kann. 

Den  ersten  255  Seiten,  welche»  die  Abschnitte  über  die 
Produktionsweise  der  Gegenwart  und  ihre  nothwendigen  Folgen, 
über  die  verschiedenen  früheren  Versuche,  diesen  übelen  Folgen 
abzuhellen  und  über  die  Sozialdemokratie  1 — III  enthalten,  wird 
man  trotz  mancher  kleiner  Irrthiimer  und  Mängel  der  Disposition 
gerne  zustimmen. 

Auf  Seite  257  ff.  behandelt  Schall  den  „Irrthum  der  Sozialdemo- 
kratie“. Er  fasst  (S.  259)  die  Irrthiimer  dieser  Partei  zusammen  in 
ihrer  Stellung  zur  Religion,  zum  Judenthume.  zur  Sittenlehre  und  zu 
ihren  eigenen  sozialdemokratischen  Prinzipien.  Eine  Kritik  dieser 
Ausführungen  würde  zum  weitaus  grössten  Theile  den  dieser 
Zeitschrift  gesteckten  Rahmen  überschreiten.  Auch  in  der  Be- 
ti  achtung  des  Verhältnisses  der  Sozialdemokratie  zur  Religion 
erweist  der  Autor  seine  Fähigkeit  der  Objektivität  in  verhältniss- 
mässig  hohem  Grade,  er  erkennt  an,  dass  die  Religionsfeindschaft 
der  Sozialdemokraten  nicht  etwas  spezifisch  sozialistisches  ist, 
dass  aus  vielen  anderen  Parteien  und  Gedankenkreisen  gleiche, 
auch  viel  schroffere  und  hässlichere  Angriffe  gegen  die  Religion 
vorgekommen  sind.  Er  unterschätzt  aber  die  offizielle  Erklärung 
der  Sozialdemokratie,  dass  Religion  Privatsache  sei.  die  trotz 
aller  hiergegen  aus  den  Kreisen  der  Partei  gerichteten  Angriffe 
festgehalten  wurde,  er  irrt  endlich,  wenn  er  den  Hass  gegen  die 
Religion  räthselhaft  und  unmotivirt  findet:  ist  er  doch  historisch 
ein  von  vielen  Sozialdemokraten,  nicht  von  der  Sozialdemo- 
kratie übernommenes  Erbstück  der  philosophischen  Aufklärungs- 
bewegung des  vorigen  Jahrhunderts,  speziell  des  französischen 
und  des  Rationalismus  und  der  kritischen  Anschauungen  des 
Liberalismus.  Die  feindliche  Haltung  vieler  Sozialdemokraten 
gegen  die  Kirche  hat  ihre  zweite  Wurzel  in  der  Stellung  des 
Klerus  aller  Konfessionen  zum  Kampfe  zwischen  den  Interessen 
der  Arbeiter  und  der  Kapitalisten.  Die  Verbannung  der  Be- 
strebungen der  Sozialdemokratie,  der  Mangel  an  Neutralität  und 
Objektivität,  ja  die  einseitige  Stellungnahme  für  die  Unternehmer- 
interessen seitens  der  Geistlichkeit  aller  Konfessionen  hat  immer 
mehr  Sozialdemokraten  zu  einer  entschiedenen  Stellungnahme 
gegen  die  Religion,  statt  richtiger  gegen  die  Geistlichkeit  geführt, 
wo  diese  Stellungnahme  der  Geistlichkeit  nicht  die  gleiche  ist 
wie  in  Deutschland,  so  z.  B.  in  einigen  Theilen  der  Schweiz,  in 
England  und  Amerika  haben  die  Sozialdemokraten  eine  weit 
weniger  schroffe  Haltung  gegen  die  Religion  eingenommen. 
Sicher  trägt  die  Geistlickeit  einen  Theil  der  Schuld  an  der  von 
Schall  beklagten  Stellung  der  Sozialdemokratie  zur  Religion. 

Auch  die  deutschen  Sozialdemokraten  würden  viel  weniger 
Eifer  auf  die  Betonung  antireligiöser  Standpunkte  legen,  wäre  die 
Mehrzahl  der  Geistlichkeit  von  dem  Geiste  beseelt,  der  Schall  s 
Buch  erfüllt:  würden  sie  mit  soviel  Verständniss  und  so  viel 
Redlichkeit  bemüht  sein,  die  soziale  Bewegung  unserer  Tage  zu 
begreifen,  wie  er,  so  manche  Berührungspunkte  zwischen  der- 
artigen Vertretern  des  Christenthums  und  den  auf  dem  Boden 
der  Sozialdemokratie  stehenden  Arbeitern  hätten  sich  wohl  ge- 
funden. Dass  es  die  Geistlichkeit  an  diesem  Eifer  fehlen  Hess, 
weiss  Schall,  die  Ursachen  hierfür  dürften  ihm  auch  nicht  ver- 
borgen bleiben.  Es  sind  Anzeichen  vorhanden  für  eine  ver- 
ständigere und  christlichere  Stellung  der  Geistlichkeit  zu  den 
sozialen  Kämpfen  der  Gegenwart.  Ob  diese  aber  in  absehbarer 
Zeit  zu  einer  Aenderung  der  Stellung  der  Sozialdemokraten  zur 
Religion  führen  kann,  wagen  wir  nicht  zu  entscheiden. 

Ph.  Lotmar,  Prof,  an  der  Universität  in  Bern.  Vom  Rechte,  das  mit 
uns  geboren  ist.  Die  Gerechtigkeit.  Zwei  Vorträge.  1893.  95  S. 

Der  erste  dieser  beiden  Vorträge  behandelt  den  Gegensatz 
zwischen  dem  positiven  von  irgend  einer  Staatsgewalt  zur  Geltung 
gebrachten  Rechte  und  dem  idealen,  gedachten  Rechte,  das  „mit 
uns  geboren  ist“,  das  sonst  auch  Naturrecht  genannt  wird,  das 
gar  kein  Recht  ist,  wenn  man  darunter  nur  das  mit  dem  Schwerte 
der  vollziehenden  Gewalt  ausgerüstete  System  versteht.  Nur  das 
erstere  weist  Lotmar  der  Rechtswissenschaft  zu,  das  letztere  der 
Politik.  So  einfach  und  fast  selbstverständlich  diese  Scheidung 
ist.  so  wenig  ist  sie  überflüssig,  da  die  Juristen  — selbst  Rechts- 
philosophen wie  R.  Ihering  nicht  ausgenommen  geneigt  sind, 
das  Recht,  mit  dem  sie  sich  gerade  beschäftigen,  für  das  Recht 


schlechthin  zu  erklären,  während  cs  nur  eines  von  vielen  denk- 
baren Rechtssystemen  ist,  gefolgt  auf  ein  früheres  System  und 
I bestimmt,  einem  künftigen  System  zu  weichen. 

Zu  dieser  Erkenntniss  wäre  freilich  eine  andere,  ihr  voran- 
j gehende  nöthig,  dass  nämlich  das  Recht  eine  Funktion  der  Ge- 
| Seilschaft  mit  der  Veränderung  der  Organisation  dieser  auch 
selbst  der  Veränderung  unterworfen,  die  Rechtswissenschaft  also 
ein  Theil  der  Gesellschaftswissenschaft,  der  Soziologie  ist,  einer 
neuen  Wissenschaft,  der  aber  die  Juristen  (z.  B.  neuestens 
K.  Bergbohm,  Jurisprudenz  und  Rechtsphilosophie,  Leipzig  1892, 
S.  51 ) anstatt  Neigung  zu  fördernder  Mitarbeit  eine  schwer  zu 
erklärende  Abneigung  entgegenbringen. 

Wie  der  Inhalt  des  positiven  Rechts,  so  variirt  auch  der 
Inhalt  des  ihm  als  Ideal  entgegengesetzten  mit  uns  geborenen 
Rechts.  Ein  Theil  dieses  Inhalts  bleibt  im  Stadiüm  der  Gedacht- 
heit.  z.  B.  von  den  „Menschenrechten“  der  französischen  Revolu- 
. ’tion  das  Recht  auf  Eigenthum  und  das1  Recht  auf  Arbeit,  ein 
anderer  Theil  wird  positives  Recht,  z.  B.  das  Recht  der  Frei- 
zügigkeit. Bei  der  Aufzählung  der  mannigfachen  mit  uns  ge- 
borenen Rechte  lässt  Lotmar  nur  eins  vermissen,  das  im  engsten 
Sinne  sogenannte  „erworbene  Recht“,  das  recht  eigentlich  mit 
uns  geboren  ist,  insofern  es  nichts  anderes  enthält,  als  dass  unser 
Wille  nicht  durch  Rückwirkung  von  Gesetzen,  wie  Lassalle  sägt, 
„denaturirt“,  ihm  ein  anderer  als  der  thatsächliche  Charakter 
untergeschoben,  z.  B.  nicht  eine  zur  Zeit  der  Ausführung  erlaubte 
und  in  dieser  Voraussetzung  ausgeführte  Handlung  durch  Rück- 
wirkung eines  neuen  Gesetzes  als  unerlaubte  bestraft  werde.  Auch 
dieses  Recht  ist  ein  ideales,  oder  wenigstens,  da  es'  nicht  immer 
anerkannt  wurde,  ein  ideales  gewesen. 

Der  zweite  Vortrag,  der  „die  Gerechtigkeit“  defmiren  will, 
ist  eine  Ergänzung  des  ersten,  da  die  Gerechtigkeit  ja  das 
Prinzip  der  Ableitung  idealer  Rechte  ist.  Der  Verfasser  weist 
zunächst  verschiedene  Definitionen  zurück,  die  berühmte  Tauto- 
logie Ulpians,  ebenso  die  „Zutheilung  des  suum  cuique“  und 
die  „Zutheilung  des  Gebührenden“.  Hierbei  hätte  er  vielleicht 
mit  Interesse  das  erste  Buch  der  platonischen  Politie  vergleichen 
können.  Dann  stellt  er  mit  J.  St.  Mill  fest,  dass  vieles,  was  uns 
aus  dem  Prinzip  der  Gerechtigkeit  zu  folgen  scheint,  sich  nur 
aus  dem  Interesse  der  Gesellschaft  ableiten  lässt  und  weist  nach, 
dass  für  die  Gerechtigkeit  nur  ein  formales  Prinzip  übrig  bleibt, 
die  verhältnissmässige  (nicht  äusserliche,  arithmetische)  Gleichheit, 
die  Aristoteles  als  das  Wesen  derselben  definirte.  Worauf  aber 
dieses  Prinzip  angewendet  wird,  welche  und  wie  viele  Handlun- 
gen. welche  und  wie  viele  Zustände  innerhalb  der  Gesellschaft 
nach  ihm  zu  einander  in  Beziehung  gesetzt  werden,  das  hängt 
j ab  von  der  jeweiligen  Kulturstufe  und  der  jeweiligen  Organisa- 
j tion  der  Gesellschaft.  Diesen  Zusatz  hätte  der  Verfasser  in  dieser 
] allgemeineren  Form,  nicht  blos  in  der  Spezialisirung  auf  die  Strafe 
| noch  machen  können. 

Die  Literatur  der  Rechtsphilosophie  ist  sonst  eine  unerfreu- 
liche Sammlung  von  Halbschürigkeiten.  Die  Juristen  können  nicht 
weit  und  abstrakt  genug,  nicht  philosophisch  genug  denken,  und 
die  Philosophen  entbehren  meist  der  konkreten  historischen  und 
technischen  Beispiele.  Die  vorliegende  kleine  Schrift  macht  nach 
Form  und  Inhalt  eine  anerkennenswerthe  Ausnahme.  Glücklicher- 
weise wendet  Lotmar  auch  die  sonst  gegenwärtig  so  sehr  miss- 
brauchte materialistische  Geschichtstheorie  mit  Vorsicht  an. 

Leipzig.  Paul  Barth. 


Eingesendete  Schriften: 

Cless,  Alfred.  Ein  Zukunftsbild  der  Menschheit.  Zürich, 
Verlagsmagazin  (J.  Schabelitz).  8«.  20  S. 

(Jerecke,  Adolf.  Die  Aussichtslosigkeit  des  Moralismus. 
Zürich.  Verlagsmagazin  (J.  Schabelitz).  8o.  XIII  u.  226  S. 

Horowitz,  E.  R.  v..  Die  Bezirks  - Un  ter  stü  tzungsf  ond s in 
Bosnien  und  der  Herzegowina.  Wien.  W.  Frick.  8o.  104  S. 

v.  Kanlorff-Wabnilz,  Landrath,  und  Schwerin -Löwitz,  Grat  v.. 
Die  Forderungen  der  deutschen  Land wirth schaft  in 
Konsequenz  der  jüngsten  wirthschaftspolitischen 
Massnahmen.  Berlin.  Walter  & Apolant.  8°.  43  S. 

Neukainp,  Ernst.  Amtsrichter  in  Bochum.  Die  Reichsgewerbe- 
ordnunginihrer  neuesten  Gestalt  nebstAusführungs- 
vorschriften.  Berlin.  Siemenroth  & Worms.  X und  366  S. 

Saiiop,  J . PhysikaHseh  - ökonomische  Studien.  Die  Be- 
leuchtung der  Elektrizität  für  das  soziale  Leben.  Konstanz. 
Ernst  Ackermann.  8o.  60  S. 

Scheiiipllug,  Dr.  K.,  Ueber  die  s-ozialpoli tische  Bedeutung 
des  Clearing.  S.-A.  aus  Monatsschrift  für  christliche  Sozial- 
reform. Wien.  Selbstverlag.  8o.  58  S. 

, Referat,  betr.  den  Wucher  im  modernen  Geldwesen 

und  Geldverkehr.  Als  Manuskript  gedruckt.  8o.  46  S. 


Verantwortlich  fiir  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin,  W.,  Victoriastrasse  16 


424 


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No.  35. 


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wird  zur  Unterstützung  des  Redakteurs  ein 
akademisch  gebildeter  junger  Mann  für  2—3 
Stunden  des  Tages  gesucht.  Stenographen  be- 
vorzugt. Offerten  mit  Angabe  des  Bildungs- 
ganges und  der  politischen  Richtung  unter 
V.Z.93  Berlin,  Postamt  Passage,  postlagernd. 


Carl  Jjegmantts  Hering,  Berlin  W. 

5Waucrftraf3e  44. 


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3um 

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bearbeitet 

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SRegterungSratlj. 

8°.  VIII  unb  96  ©eiten. 

2kei§  farton.  SKf.  1,  poftfrei  9Jtf.  1,10. 


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©oebcn  erfcfjien  unb  ijt  in  aHen  Sucfjbanblungen  ju  gaben: 

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8°.  6 Sogen  in  illuftrirtem  Umfdjlag  ißrei§  1 9J?arf. 


G8  ift  ein  eigenartiges  Büdjletn,  baS  unter  obigem  Xttel  tm  unteräetdineten  Berlage  foebeit  erlittenen  tft. 
Gtne  SüBe  retdjer  unb  anregenber  ©ebanfen  über  unfere  (ociaten  SBerfiättntffe,  mantf)  entfieä  tDlatjnroort  an  bte 
„Sefifienben",  rnanrf)  beijerstgenSiuertfier  Statt)  an  atte  Stejentgen,  bie  eS  ernft  meinen  mtt  bem  focialen  grteben 
uitferer  unb  oor  allem  ber  sutünfttgen  3cd,  treten  in  btefem  Siidjteln  int  ©eroanbe  einer  fmtnorboflen  ®nr= 
ftcllmtg  an  ben  fiefer  f)tton.  SDtan  glaubt  ifjn  fpreeijen  ju  i)ören,  ben  bteberen  nerftänbtgen  SDiaitn  aus  bem 
Soife,  ber  in  feiner  treufjerjtgen  Hrt  unb  mtt  feinem  Berliner  Sialect  fo  etnbringltcf)  unb  überjeugenb  su 
reben  nerftefjt. 


^lHctt  s3tvbcitflcbcrti,  gdeit  ^Be^rbeit » ^orfiöitbeit  jei 
btefet?  s4>itri)lctn  Umnii  empfohlen, 

^JlerCctg  r>ott 


A.  Hofmann  & Comp.,  Berlin  W.  41. 


SargcftcIIt 

auf  ©ntnb  einer  uerloreit  geglaubten 
^anbjjdjriften-Sammlmtg 

mtt 

beut  ftorträt  Helene  non  jUnnnmljas 

0011 

4fran|  tum  Ceitbitri) 

unb 

jroet  ^ r i p f e n in  ^akfimtle. 

8°,  XII  unb  188  ©eiten. 

©efjeftet  3,  gebunbeu  $rei§  SU.  4. 

3u  bejtegcn  burd) 

faul  §d)cllrrs  iud)l)flnbluii5  (|.  ßäftrnmnrfjnr) 

^erlitt  W.,  Slarfgrafenftr.  39/40. 


MEYERS 


Mehr  als  950  Bildertafeln  und  Kartenbeilagen. 


- 272  Hefte 


— Soeben  erscheint  — 

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Buchhandlung. 

Verlag  des  Bibliographischen  Instituts,  Leipzig. 


Ungefähr  10,000  Abbildungen,  Karten  und  Pläne. 


3>a§  s43rcuf?ifd)c 

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unter  befouberer  23erücffi(f)tigung 

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Dr.  jur.  Jdtitö 

3Imt§ricgter  in  §autm  i.  23. 

§§ ; 

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— *-i-  8°.  VI  u.  64  Seiten.  ■ 

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$rei§  geheftet  SO1?.  1,—,  poftfrei  SO?.  1,10. 

§§§  : 

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(£av(  <pet)mamt£  Vertag  tu  ^Berlin  W.,  sDlauerftra|)c  44* 

Carl  Heymanns  Verlag  in  Berlin  W.,  Mauerstrasse  44.  — Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld  in  Berlin  W. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  5.  Juni  1893. 


Nummer  36. 


SOZIALPOLITISCHES 

C ENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Erscheint  jeden  Montag. 

Zu  beziehen 

durch  alle  Buchhandlungen,  Spediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf 

Anzeigenpreis  für  die  dreigespaltene  Colonelzeile 
40  Pfennig. 


INHALT. 


DieSteuerrelationim  preussi- 


schen  K o m m u n alab gäbe n- 
Entwurf.  Von  Privatdozent 
Dr.  J.  Jastrow. 
Arbeiterzustände : 

Arbeitslosigkeit  im  Kanalbau.  Von 
Privatdozent  Dr.  Karl  Olden- 
berg. 

Bergarbeiterverhältnisse  in  der 
argentinischen  Republik. 

Gewerkschaftliche  Arbeiterbewe- 
gung: 

Internationaler  Bergarbeiterkon- 
gress. 

Zur  Achtstundenbewegung  unter 
den  Bergarbeitern  Böhmens. 
Unternehmerverbände : 

Rheinisch  - westfälische  Wollgarn- 
spinnereien. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Zur  Vorbereitung  der  gewerblichen 
Sonntagsruhe  im  Deutschen  Reich. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist 


Zur  Sonntagsruhe  im  Handel. 

Regelung  der  Frauen-  und  Kinder- 
arbeit in  Frankreich. 

Arbeiterversicherung : 

Der  ärztliche  Stand  und  die  Ar- 
beiterversicherung. Von  Dr.  E. 
Lange  in  Berlin-Friedenau. 

Verbesserungen  im  Krankenkassen- 
wesen in  Heidelberg. 

Schulwesen,  Unterrichts-  und 
Erziehungsfragen : 

Zur  Ausstellung  in  Chicago. 

Litteratur: 

Pfafieroth,  C.,  Belehrung  über 
den  Wucher. 


Gesammtverband  der  evangelischen 
Arbeitenvereine  und  evangelisch- 
sozialer Kongress. 


Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet 


jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Steuerrelation  im  preussischen  Kommunal- 
abgaben-Entwurf. 

Einen  sprechenden  Beweis  für  den  sozialen  Charakter 
aller  Steuerfragen  in  unserer  Zeit  liefern  die  Kommissions- 
Verhandlungen  über  die  Paragraphen  des  Kommunalabgaben- 
Entwurfs,  welche  unter  der  Ueberschrift  „Vertheilung  des 
Steuerbedarfs  auf  die  verschiedenen  Steuerarten“  zusammen- 
gefasst sind.  Nicht  weniger  als  13  verschiedene  Fassungen 
wurden  in  der  Kommission  neben  der  Regierungsvorlage 
als  vierzehnter  vorgeschlagen,  und  schliesslich  wurde  keine 
von  diesen  allen,  sondern  eine  fünfzehnte  angenommen, 
welche  als  Kommissionsbeschluss  der  weiteren  Berathung 
durch  das  Plenum  unterbreitet  wurde. 

Es  handelt  sich  in  den  §§  45  und  46,  welche  den  Haupt- 
gegenstand des  Streites  bilden,  um  die  Frage,  in  welchem 
Maasse  die  Grund-,  Gebäude-  und  Gewerbesteuer  (die  so- 
genannten „Realsteuern“)  einerseits,  die  allgemeine  Ein- 
kommensteuer andrerseits  zu  den  Kosten  der  Gemeinde- 
verwaltung herangezogen  werden  sollen. 

Sozialpolitische  Gesichtspunkte  sind  hierbei  nach  drei 
Richtungen  hin  zu  wahren. 

Erstens  ist  die  Einkommensteuer  eine  allgemeine  Steuer, 
während  die  Realsteuern  nur  zwei  soziale  Kreise,  die  Grund- 
besitzer und  die  Gewerbetreibenden,  belasten.  Es  ist  eine 
i anerkannte  Ehatsache,dass  durch  die  kommunalen  Leistungen 


der  Grundbesitz  in  seinem  Werthe  bedeutend  erhöht,  der 
Gewerbebetrieb  wenigstens  mächtig  befördert  wird.  Wenn 
gleichwohl  die  Kosten  dieser  Verwaltung  in  vielen  preussi- 
schen Gemeinden  bisher  ganz  oder  überwiegend  im  Wege 
der  Einkommensteuer  aufgebracht  wurden,  so  hiess  das: 
die  Gesammtbevölkerung  bis  herab  zu  den  Aermsten  (denn 
die  Gemeindesteuern  machen  nicht  wie  die  staatlichen  vor 
den  Einkommen  unter  900  M.  Halt)  zum  Vortheil  der  obersten 
sozialen  Schichten  belasten. 

Zweitens  erhalten  durch  die  Steuerreform  als  Ganzes 
die  Grundbesitzer  und  Gewerbetreibenden  gegenwärtig  einen 
bedeutenden  Vortheil,  da  der  Staat  seinerseits  auf  die  Er- 
hebung seiner  bisherigen  Grund-  und  Gewerbesteuern  ver- 
zichten will.  Das  Ungehörige  dieses  Verzichts,  namentlich 
soweit  er  die  Grundsteuer  im  engeren  Sinne  betrifft,  haben 
wir  bereits  wiederholt  betont.  Wird  aber  dieser  Verzicht 
damit  motivirt,  dass  Grundbesitz  und  Gewerbebetrieb  als 
Steuerquelle  für  die  Kommunen  frei  gemacht  werden  müssen, 
so  ziemt  es  sich,  bei  der  Neuordnung  der  Kommunalabgaben 
dafür  zu  sorgen,  dass  die  dort  befreiten  sozialen  Schichten 
hier  desto  stärker  herangezogen  wurden. 

Drittens  sind  Grundbesitzer  und  Gewerbtreibende  die 
maassgebenden  sozialen  Kreise  für  die  gegenwärtige  Zu- 
sammensetzung der  kommunalen  Vertretungen  in  Stadt  und 
Land.  Es  giebt  in  Preussen  keine  Stadtverordneten-Ver- 
sammlung  und  keine  Dorfversammlung,  in  welcher  nicht  die 
Grundbesitzer  die  Mehrheit  hätten:  Grundbesitzer  und 

Gewerbtreibende  zusammengenommen  haben  aber  überall 
eine  so  erdrückende  Mehrheit,  dass  ihnen  gegenüber  die 
anderen,  namentlich  die  tiefer  stehenden,  sozialen  Schichten 
als  fast  unvertreten  betrachtet  werden  können.  Daher  das  In- 
teresse der  oberen  sozialen  Schichten,  bei  der  Festsetzung 
der  Steuerrelationen  den  kommunalen  Vertretungen  mög- 
lichst freie  Hand  zu  lassen  und  die  Rechte  der  Staats- 
behörden nach  Möglichkeit  einzuengen.  Der  Kampf  um  die 
Steuerrelation  ist  gleichzeitig  ein  Kampf  für  das  Unter-sich- 
sein  der  sozialen  Kreise,  die  gegenwärtig  in  den  Kommunen 
das  Scepter  fuhren. 

Diese  drei  sozialpolitischen  Rücksichten  waren  in  der 
Regierungsvorlage  vertreten,  allerdings  nur  in  geringem 
Maasse.  Die  Kommission  hat  dieses  geringe  Maass  aber  noch 
herabgemindert.  Und  zwar  sind  hier  nicht  sowohl  die  posi- 
tiven Aenderungen  in  der  Relation  von  Wichtigkeit,  als  die 
stilistische  Umgiessung  der  Ausdruckswmise.  Durch  konse- 
quente Aenderung  des  Ausdruckes  und  Umstellung  der 
Sätze  ist  den  Paragraphen  nunmehr  ein  Gepräge  gegeben, 
in  welchem  sie  sehr  wohl  geeignet  sind,  den  ausführenden 
Organen  die  entgegengesetzte  Direktive  zu  geben,  als  ur- 
sprünglich beabsichtigt  war.  Es  lässt  sich  dies  bis  in's 
Einzelne  für  die  drei  oben  hervorgehobenen  sozialpolitischen 
Gesichtspunkte  nachweisen. 


426 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  36. 


In  Rücksicht  darauf,  dass  von  allen  Gemeindeeinrich- 
tungen der  Hauptvortheil  für  Grundbesitzer  und  Gewerb- 
treibende  abfällt,  hatte  es  die  Regierungsvorlage  dahin- 
gestellt sein  lassen,  ob  es  überhaupt  nöthig  seil  eine  all- 
gemeine Einkommensteuer  zu  erheben  und  hatte  nur  für 
den  Fall,  dass  eine  solche  erhoben  wird,  vorgeschrieben, 
dass  dann  wenigstens  die  Realsteuern  nothwendigerweise 
herangezogen  werden  müssten;  andrerseits  sollte,  wenn 
die  Realsteuern  150pCt.  erreichten,  die  Einkommensteuer 
obligatorisch  werden.  — Die  Kommission  hat  nun  zunächst 
die  letztgenannten  l50pCt  auf  lOOpCt.  herabgesetzt  und 
dann  zu  weiterem  Schutz  der  Realsteuern  noch  eine  neue 
Bestimmung  hinzugefügt,  wonach  sie  nie  mehr  als  200pCt. 
betragen  sollen.  Dann  aber  hat  sie  eine  Umstellung  der 
Sätze  vorgenommen,  sodass  jetzt  der  Gedanke,  die  Kosten 
des  Gemeinwesens  durch  Realsteuern  allein  zu  decken,  in 
den  Hintergrund  gedrängt  und  dem  Paragraphen  der  Cha- 
rakter eines  Garantiegesetzes  zur  Schonung  der  Realsteuern 
aufgeprägt  ist.  Die  blosse  Nebeneinanderstellung  der  beiden 
Fassungen  ist  der  anschaulichste  Beweis  hierfür. 

Kommissionsfas  su  ng. 

§ 45. 


Die  vom  Staate  veranlagten 
Realsteuern  sind  in  der  Regel 
mindestens  zu  dem  gleichen 
und  höchstens  zu  einem  um  die 
Hälfte  höheren  Prozentsätze  zur 
Kommunal. Steuer  heranzuziehen, 
als  Zuschläge  zur  Staatsein- 
kommensteuer  erhoben  werden. 

So  lange  die  Realsteuern  100 
Procent  nicht  übersteigen,  ist 
die  Freilassung  der  Einkommen- 
steuer oder  eine  Heranziehung 
derselben  mit  einem  geringeren 
als  dem  im  ersten  Absätze  be- 
zeichneten  Procentsatze  zulässig. 

Werden  mehr  als  150  Procent 
der  staatlich  veranlagten  Real- 
steuern erhoben  und  ist  die 
Staatseinkommensteuer  mit  150 
Procent  belastet,  so  können  von 
dem  Mehrbeträge  für  jedes  Pro- 
cent der  staatlich  veranlagten 
Real  steuern  2 Procent  der 
Staatseinkommensteuer  erhoben 
werden. 

Mehr  als  200  Procent  der 
Realsteuern  dürfen  in  der  Regel 
nicht  erhoben  werden. 

Die  Rücksicht  ferner  auf  den  Erlass  der  Staatssteuern 
hatte  die  Regierungsvorlage  in  § 46,  Abs.  2 an  die  Spitze 
gestellt:  „Bei  der  Vertheilung  sind  insbesondere  die  Er- 
leichterungen zu  berücksichtigen  , welche  den  Steuer- 
pflichtigen einer  Gemeinde  durch  den  Erlass  der  Staats- 
Realsteuern  zu  Theil  geworden  sind.“  Der  Satz  hat  eine 
etwas  bescheiden  akademische  Fassung.  Er  war  in  seiner 
Bedeutung  desto  harmloser  geworden,  da  die  Kommission 
ja  für  diese  „Berücksichtigung“  schon  im  Voraus  durch  die 
veränderte  Prozentbestimmung  in  § 45  eine  Schranke  ge- 
zogen hatte.  In  der  Kommission  machte  sich  in  der  That 
einmal  eine  Stimme  geltend,  welche  verlangte,  mit  der 
Rücksicht  auf  den  Erlass  der  Staatssteuern  Ernst  zu  machen 
und  wenigstens  vorzuschreiben,  dass  die  Beschenkten  die 
Hälfte  ihres  Geschenks  vorab  auf  dem  Gemeindetische 
niederzulegen  hätten,  bevor  man  überhaupt  daran  denke, 
andere  Steuern  zu  erheben.  Aber  diese  Stimme  fand  selbst- 
verständlich kein  Gehör.  Man  gönnte  der  stumpf  ge- 


Regierungsvorlage. 

§ 45. 

Die  Vertheilung  des  Steuer- 
bedarfs auf  die  Einkommen- 
steuer und  auf  Realsteuern  ist 
nach  Maassgabe  folgender  Be- 
stimmungen zu  bewirken: 

Werden  Zuschläge  zur  Staats- 
einkommensteuer erhoben,  so 
sind  mindestens  gleichhohe, 
höchstens  um  die  Hälfte  höhere 
Procente  der  vom  Staate  ver- 
anlagten Realsteuern  (Grund-, 
Gebäude-  und  Gewerbesteuer) 
zu  erheben. 

Werden  Zuschläge  nur  zu  den 
veranlagten  Realsteuern  er- 
hoben, so  dürften  dieselben 
höchstens  150  Procent  dieser 
Steuern  betragen. 


wordenen  Waffe  nicht  einmal  den  wirkungsvollen  Platz  an 
der  Spitze  des  Absatzes,  sondern  rückte  ihn  ans  Ende  und 
gab  ihm  durch  den  Einschub  „in  entsprechender  Weise“ 
noch  eine  Abschwächung,  welche  für  die  Betheiligten  ver- 
ständlich genug  sein  wird. 


Nachdem  so  die  Regeln  der  Steuerrelation  den  'Real- 
steuern möglichst  günstig  gestaltet  waren,  wäre  es  um  so 
wichtiger  gewesen,  wenigstens  die  Abweichungen  zu*  er- 
leichtern. Statt  dessen  hat  die  Kommission  auch  hier  die 
Regierungsvorlage  in  demselben  Sinne  umgemodelt.  Die 
Regierung  hatte  vorgeschlagen:  „Abweichungen  von  den  in 
§ 45  enthaltenen  Vorschriften,  sowie  Zuschläge  über  den 
vollen  Satz  der  Staats-Einkommensteuer  hinaus,  sind  nur 
aus  besonderen  Gründen  gestattet  und  bedürfen  der  Ge- 
nehmigung.“ Die  Regierung  betrachtete  bei  einem  Mehrbedarf 
der  Gemeinden  als  nächsten  Ausweg  eine  Veränderung 
der  Steuerrelation  — was  unter  Umständen  eine  schärfere 
Heranziehung  [der  Realsteuern  bedeuten  kann  — erst  als 
fernerliegenden  eine  Heranziehung  der  Einkommensteuer 
über  100  pCt.  hinaus.  Statt  dessen  hat  die  Kommission 
fund  der  Kommissionsbericht  ist  ehrlich  genug,  auf  die 
Bedeutung  der  Sache  ausdrücklich  aufmerksam  zu  machen) 
diese  beiden  AuswegeTumgestellt  und  also  die  schärfere 
Heranziehung  der  Einkommensteuer  als  den  näher 
liegenden  Ausweg  bezeichnet.  Während  die  Regierung 
beide  Auswege  nur  „aus  besonderen  Gründen“  gestatten 
wollte,  hat  die  Kommission  das  Erforderniss  besonderer 
Gründe  für  die  Erhöhung  der  Einkommensteuer  über  100  pCt. 
hinaus  gestrichen,  für  die  Abweichungen  von  der  Steuer- 
relation aber  bestehen  lassen.  Für  die  ganze  zukünftige 
Handhabung  des  Kommunalabgaben-Gesetzes  ist  es  von  der 
grössten  Bedeutung,  dass  hier  die  Erhöhung  der  Ein-  1 
kommensteuer  auch  ohne  „besondere“  Gründe  gewisser- 
maassen  nahe  gelegt  wird,  während  eine  Verletzung  der  . 
Steuerrelation  als  vermeidenswerthe  Ausnahme  hingestellt 
ist.  — Der  Regierungsentwurf  enthielt  den  positiven  Satz: 
„Auch  müssen  . . . Aufwendungen  der  Gemeinde,  welche 
in  überwiegendem  Maasse  dem  Grundbesitze  und  dem  Ge- 
werbebetrieb zum  Vortheile  gereichen,  insoweit  in  der 
Regel  durch  Realsteuern  gedeckt  werden.“  Die  Kommission 
hat  aus  diesem  Hauptsatz  einen  Nebensatz  mit  „dass“  ge-  ■ 
macht,  welcher  von  einem  mässigenden  „In  beiden  Fällen 
ist  davon  auszugehen“  abhängt  (auch  auf  diese  stilistische 
Nuance  macht  der  Kommissionsbericht  aufmerksam).  Gleich- 
zeitig ist  hiermit  aber  auch  eine  fernere  Aenderung  des 
Sinnes  verbunden.  Die  Regierungsvorlage  stellte  ihren 
Satz  allgemein  auf;  der  Kommissionsbericht  bezieht  ihn  nur 
auf  die  beiden  in  § 46  besprochenem  Fälle;  wo  also  weder 
die  Zuschläge  zur  Einkommensteuer  mehr  als  100  pCt.  be- 
tragen, noch  von  der  gesetzlichen  Relation  abgewichen 
wird,  soll  nach  Ansicht  der  Kommission  die  Deckung  von 
Ausgaben  zu  Gunsten  des  Grundbesitzes  und  des  Gewerbebe- 
triebes durch  Realsteuern  nicht  obligatorisch  gemacht  sein. 

Zum  Zweck  grösserer  Anschaulichkeit  stellen  wir  auch 
vom  § 46  die  beiden  Fassungen  nebeneinander. 


R e g i e r u rig  s v o r 1 a g e. 

§ 46. 

Abweichungen  von  den  im 
§ 45  enthaltenen  Vorschriften, 
sowie  Zuschläge  über  den  vollen 
Satz  derStaatseinkommensteuer 
hinaus,  sind  nur  aus  besonderen 
Gründen  gestattet  und  bedürfen 
der  Genehmigung. 

[Bei  der  Vertheilung  sind  ins- 
besondere die  Erleichterungen 
zu  berücksichtigen,  welche  den 
Steuerpflichtigen  einer  Ge- 
meinde durch  den  Erlass  der 


Kommissionsfassung. 

§ 46. 

Zuschläge  über  den  vollen 
Satz  derStaatseinkommensteuer 
hinaus,  sowie  Abweichungen 
von  den  im  § 45  enthaltenen 
Vorschriften  bedürfen  der  Ge- 
nehmigung; die  Abweichungen 
sind  nur  aus  besonderen  Grün- 
den zu  gestatten. 

In  beiden  Fällen  ist  davon 
auszugehen,  dass  Aufwendun- 
gen der  Gemeinde,  welche  in 
überwiegendem  Maasse  dem 
Grundbesitze  und  dem  Gewerbe- 


No.  36. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


427 


betriebe  zum  Vortheile  ge- 
reichen, insoweit  in  der  Regel 
durch  Realsteuern  gedeckt  wer- 
den sollen,  sofern  die  Ausglei- 
chung nicht  nach  §§  4,  7 oder 
16  erfolgt.  Zu  solchen  Aufwen- 
dungen gehören  namentlich  die 
Ausgaben  für  den  Bau  und  die 
Unterhaltung  von  Strassen  und 
Wegen,  für  Ent-  und  Bewässe- 
rungsanlagen, sowie  für  die 
Verzinsung  und  Tilgung  der  zu 
derartigen  Zwecken  aufgenom- 
menen Schulden.  [Ausserdem 
ist  dabei  in  entsprechender 
Weise  die  Erleichterung  zu  be- 
rücksichtigen, welche  den  Steuer- 
pflichtigen einer  Gemeinde  durch 
die  Ausserhebungsetzung  der 
staatlichen  Realsteuern  zu  Theil 
geworden  ist.] 

In  der  veränderten  stilistischen  Färbung  erscheinen  nun 
auch  die  positiven  Aenderungen  der  Kommission  in  ver- 
stärkter Bedeutung.  Was  die  Kommission  zu  Gunsten  der 
Realsteuern  beschlossen  hat,  steht  jetzt  nicht  mehr  wie  im 
Regierungsentwurf  als  eine  äusserliche  Schranke,  sondern 
als  eine  Normativregel  da.  Grundbesitzer  und  Gewerbe- 
treibende zahlen  gegenwärtig  an  den  Staat  100  pCt.  Real- 
steuern. Wenn  der  Staat  diese  nicht  mehr  erhebt  und  die 
Kommune  statt  dessen  100  pCt.  erhebt,  so  bedeutet  dies 
eben  gegen  den  heutigen  Zustand  gar  keine  Mehrbelastung. 
Darum  hatte  es  seinen  guten  Sinn,  wenn  der  Regierungs- 
entwurf die  völlige  Einkommensteuer- Freiheit  wenigstens 
zulassen  wollte,  bis  die  Realsteuern  150  pCt.  betrügen. 
Indem  die  Kommission  statt  150  die  Zahl  100  eingesetzt 
hat,  hat  sie  nicht  blos  eine  Ziffer  mit  einer  niedrigeren 
vertauscht,  sondern  sie  hat  das  gegentheilige  Prinzip 
eingesetzt:  es  sollen  die  Kosten  eines  Gemeinwesens  nicht  blos 
aus  Realsteuern  bestritten  werden,  sobald  dieselben  auch 
nur  ein  einziges  Prozent  mehr  betragen,  als  der  Staat  den 
Pflichtigen  gegenwärtig  erlässt.  — Und  einen  ähnlichen 
Sinn  hat  die  von  der  Kommission  hinzugefügte  Maximirung 
auf  200  pCt.  Für  alle  Gemeinden,  in  denen  schon  jetzt 
ebensoviel  Realsteuern  an  die  Gemeinde  bezahlt  wird  wie 
an  den  Staat,  bedeutet  diese  Maximirung  einen  absoluten 
Schutz  gegen  jede  Steigerung  der  Reallasten.  Da  in  den 
gegenwärtigen  Debatten  über  die  Steuererlasse  dieses 
Verhältniss  unaufhörlich  verdunkelt  wird,  da  die  Sache 
immer  von  Neuem  so  dargestellt  wird,  als  ob  mit  dem 
Erlass  der  Staats-Realsteuern  eine  Erhöhung  der  Gemeinde- 
Realsteuern  verbunden  sei,  so  ist  stets  aufs  Neue  dem 
entgegenzuhalten,  dass  dies  nur  dann  richtig  gewesen  wäre, 
wenn  das  Kommunalabgaben-Gesetz  eine  entsprechende 
wirkungsvolle  Fassung  bekommen  hätte. 

Wir  sind  im  Vorstehendem  bemüht  gewesen,  die  Kom- 
missionsbeschlüsse von  dem  Standpunkte  aus  zu  kritisiren, 
der  nun  einmal  die  Grundanschauung  des  Kommunal- 
abgaben-Gesetzes  bilden  soll.  Wir  würden  aber  an  der 
sozialpolitischen  Kritik  die  Hauptsache  unterlassen,  wenn 
wir  nicht  auch  hier  betonen  würden,  dass  gerade  diese 
Grundlage  das  sozialpolitisch  Bedauerlichste  ist.  Diese 
Grundlage  ist,  man  kann  es  kurz  bezeichnen,  die  Fiktion, 
dass  die  Grundsteuer,  Gebäudesteuer  und  Gewerbesteuer 
drei  „Realsteuern“  seien.  Wir  haben  in  einer  Reihe 
früherer  Aufsätze1)  unsere  Leser  (namentlich  die  nicht- 
preussischen)  darüber  aufzuklären  gesucht,  dass  hier  Dinge 
gleich  gesetzt  werden,  die  nichts  mit  einander  gemein  haben, 
als  einen  ihnen  fälschlich  beigelegten  gemeinsamen  Namen. 
Für  die  Regelung  der  Gemeindefinanzen  ist  wohl  die  heutige 
Gewerbesteuer,  einigermaassen  auch  die  Gebäudesteuer, 


aber  ganz  und  gar  nicht  die  staatliche  Grundsteuer  zu 
brauchen,  bei  welcher  es  geradezu  gesetzlich  verboten  ist, 
nach  dem  wahren  Ertrage  einzuschätzen.  Während  von 
den  Meliorationsarbeiten  der  Gemeindeverwaltung  der 
Grundbesitz  einen  sofort  im  Mehrwerth  ausgedrückten  ver- 
käuflichen Vortheil  hat,  der  Vortheil  der  Gewerbetreiben- 
den hingegen  nur  ein  indirekter  und  langsamer  ist,  sollen 
die  Gewerbetreibenden  durch  die  jährliche  Veranlagung 
der  Gewerbesteuer  scharf  herangezogen,  die  Hausbesitzer 
hingegen  den  Vortheil  15  Jahre  lang  geniessen,  bis  eine 
Neueinschätzung  erfolgt,  die  ländlichen  Grundbesitzer  aber 
für  ewige  Zeiten  von  der  Neueinschätzung  befreit  sein. 
Dass  es  nach  dem  Kommunalabgaben-Gesetz  gestattet 
sein  wird,  eine  andere  Grundsteuer  als  die  staatliche  ein- 
zuführen, diese  Vorschrift  ist  so  lange  werthlos,  als  es 
keine  Mittel  giebt,  die  kommunalen  Vertretungen  zu 
zwingen,  von  dieser  Erlaubniss  auch  Gebrauch  zu  machen. 
Als  Grund  für  die  Schonung  der  Realsteuerpflichtigen  ist 
in  der  Kommission  auch  von  mehreren  Seiten  geltend  ge- 
macht worden,  die  Grundsteuer  treffe  Verschuldete  und 
Unverschuldete  gleichmässig;  daher  sei  eine  gewisse 
Grenze  in  deren  Heranziehung  im  Interesse  der  Ver- 
schuldeten nothwendig.  Hier  zeigt  sich,  was  für  den 
Kundigen  von  Anfang  an  zu  sehen  war,  dass  eine  wirk- 
same Belastung  der  Grundbesitzer  mit  der  alten  staat- 
lichen Grundabgabe,  welche  gar  keinen  Steuercharakter 
trägt,  niemals  möglich  sein  wird.  — Dass  es  endlich  für 
die  Belastung  des  Grundbesitzes  in  sozialpolitischer  Be- 
ziehung noch  einen  ganz  anderen  Gesichtspunkt  giebt, 
nämlich  den,  dass  die  Gemeinde  völlig  ohne  Rücksicht  auf 
ihre  Bedürfnisse  allein  unter  dem  Gesichtspunkte  des 
Eigenthums  bei  grossen  kommunalen  Verbesserungen  den 
Theil  der  Werhsteigerung,  den  sie  durch  ihre  An- 
lagen produzirt  hat,  auch  für  sich  nehmen  müsste, 
dieser  sozialpolitische  Gedanke  der  Zukunft,  und  zwar  der 
nächsten  Zukunft,  hat  selbstverständlich  in  den  Berathungen 
gar  keinen  Platz  gefunden.  — — — 

Derartige  Kommissionsbeschlüsse  gaben  den  Plenar- 
berathungen  ihre  Direktive.  Es  wagten  sich  wirklich  Anträge 
hervor,  die  den  Grundbesitzer  noch  günstiger  stellen  wollten, 
und  wenn  die  Mehrheit  ihnen  gegenüber  an  der  Kommissions- 
fassung festhielt,  so  erschien  dies  schon  als  sozialpolitisch- 
volksfreundlich. Nur  jener  hin-  und  hergestossene  Satz, 
welcher  für  die  Steuergeschenke  an  die  Grundbesitzer  etc. 
eine  Kompensation  verlangte  (wir  haben  ihn  oben  durch 
eckige  Klammern  bezeichnet),  wurde  aus  seinem  letzten  be- 
scheidenen Plätzchen  verdrängt.  Aus  einem  Kommunal- 
abgabengesetz, welches  als  ein  Äquivalent  gegen  den  Erlass 
der  Grundsteuern  angekündigt  war,  hat  das  Abgeordneten- 
haus eine  Schutzmauer  für  die  Grundbesitzer  gemacht. 
Jetzt  unterliegt  das  Gesetz  der  Berathung  des  Herrenhauses. 
Q.  D.  B.  V.! 

Berlin.  _______  J.  Jastrow. 

Arbeiterzustände. 


Arbeitslosigkeit  im  Canalbau. 

Der  preussische  Staat  giebt  die  Arbeiten  zur  Herstellung 
des  Dortmund-Emshäfen-Canals  an  Unternehmer  aus.  Die 
folgenden  Daten,  welche  amtlichen  Feststellungen  entnommen 
sind,  zeigen,  in  welchem  Maasse  diese  Unternehmer  bei  ein- 
tretendem Froste  mit  Arbeiterentlassungen  Vorgehen. 

Der  Umfang  der  Entlassungen  war  je  nach  den  ört- 
lichen Verhältnissen,  insbesondere  nach  der  Bodenbeschaffen- 
heit verschieden.  Auf  Strecke  Datteln  wurden  von  220  Ar- 
beitern 88  entlassen,  die  verbleibenden  beim  Lösen  und 
Verbauen  von  Mergelmassen  weiter  verwendet;  von  den 
Entlassenen  kehrten  etwa  iIj2  Dutzend,  vorwiegend  Polen, 
in  die  Heimath  zurück.  Auf  Strecke  Lippeübergang  wurden 
bis  Weihnachten  35,  bis  Mitte  Januar  noch  90,  bis  Ende 
Januar  noch  165  Arbeiter  entlassen.  Auf  Strecke  Stever- 


Staatsrealsteuern  zu  Theil  ge- 
worden sind.]  Auch  müssen,  so- 
fern die  Ausgleichung  nicht 
nach  § 7 oder  § 16  erfolgt, 
Aufwendungen  der  Gemeinde, 
welche  in  überwiegendem 
Maasse  dem  Grundbesitze  und 
dem  Gewerbebetriebe  zum  Vor- 
theile gereichen,  insoweit  in  der 
Regel  durch  Realsteuern  gedeckt 
werden.  Zu  solchen  Aufwen- 
dungen gehören  namentlich  die 
Ausgaben  für  den  Bau  und  die 
Unterhaltung  von  Strassen  und 
Wegen,  für  Ent-  und  Bewässe- 
rungsanlagen, sowie  für  die 
Verzinsung  und  Tilgung  der  zu 
solchen  Zwecken  aufgenomme- 
nen Schulden. 


*)  Sozialpol.  Centralbl.  No.  21  (auch  früher  No.  3,  12,  13). 


428 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  36. 


Übergang  wurden  von  260  Arbeitern  bis  gegen  Ende  De- 
zember 110,  bis  Mitte  Januar  der  Rest  entlassen.  Auf 
Strecke  Lüdinghausen  wurden  Anfang  Dezember  100, 
10.  December  280,  17.  December  50,  Mitte  Januar  noch 
20  Mann  abgelöhnt.  Auf  Strecke  Senden,  im  Venner  Moor, 
würde  es  einer  Unterbrechung  der  Arbeiten  nicht  bedurft 
haben,  wenn  nicht  ein  Theil  der  Leute  des  Frostes  wegen 
freiwillig  die  Arbeit  eingestellt  hätte.  Auf  Strecke  Greven 
waren  Anfang  Dezember  184,  Mitte  Januar  15,  Mitte  Fe- 
bruar 82  Arbeiter  beschäftigt;  von  den  Entlassenen  kehrte 
ein  grosser  Theil  in  die  holländische  Heimath  zurück.  Auf 
Strecke  Saerbeck  wurden  von  716  Arbeitern  bis  Neujahr 
286,  bis  Ende  Januar  noch  etwa  380  entlassen.  Auf  einem 
Theil  der  Strecke  Venhaus  wurden  seit  20.  Januar  44  Ar- 
beiter entlassen. 

Das  Schicksal  der  Entlassenen  wird  durch  die  Berichte 
der  Naturalverpflegungs-Stationen  beleuchtet.  Die  Stationen 
Drensteinfurt,  Appelhülsen,  Dorsten,  Lengerich  und  die 
beiden  des  Kreises  Tecklenburg  wurden  durch  Kanalarbeiter 
nicht  erheblich  in  Anspruch  genommen.  Dagegen  wurden 
auf  Station  Beckum  80 — 100  Kanalarbeiter  mit  einem  vom 
Kreise  geleisteten  Zuschuss  von  72  — 90  M.  verpflegt,  auf 
Station  Münster  450  Kanalarbeiter  mit  500  M.,  auf  Station 
Telgte  (Nebenstation,  die  nicht  volle  Verpflegung  gewährt) 
etwa  51  Kanalarbeiter  mit  10,20  M.,  auf  Station  Ibbenbüren 
37  Kanalarbeiter  mit  32.80  M.  Auch  die  340  auf  Station 
Warendorf  mit  einem  Aufwand  von  etwa  275  M.  verpflegten 
Leute  mögen  zum  grössten  Theil  Kanalarbeiter  gewesen 
sein.  Die  Nebenstation  Greven  hat  gleichfalls  einen  ziem- 
lich zahlreichen  Besuch  dieser  Art  gehabt;  ein  Theil  musste 
in  Arrestlokalen  untergebracht  werden,  der  Stationshalter 
gab  durchschnittlich  für  15  Mann  Nachtquartier  her;  die 
Leute  schliefen  im  Stroh  und  zahlten  dafür  5 Pfennige;  für 
etwa  23  Mann  im  Laufe  jedes  Monats,  die  kein  Geld  hatten, 
zahlte  die  Ortspolizei  ein  Schlaf-  und  Verpflegungsgeld  von 
je  30  Pf.  Nach  dem  Urtheil  des  Amtmanns  zu  Greven  ist 
ohne  erhebliche  Mehrkosten  eine  weitergehende  Fürsorge 
für  die  Kanalarbeiter  auch  in  Zukunft  ausgeschlossen.  Alle 
diese  Angaben  reichen  bis  Ende  Februar. 

Ein  amtlicher  Bericht  hebt  ausdrücklich  hervor,  dass 
die  Unternehmer  „zum  Theil  nicht  ohne  erheblichere  Geld- 
opfer“ die  Bauthätigkeit  im  Interesse  ihrer  Arbeiter  so  lange 
als  möglich  im  Gange  erhalten  haben,  Unter  dem  Drucke 
der  Submissionspreise  werden  sie  vermuthlich  nicht  mehr 
leisten  können.  Es  bleibt  aber  zu  erwägen,  ob  es  nicht 
Aufgabe  des  Staates  sei,  für  die  in  seinem  Aufträge 
beschäftigten  Arbeiter  zur  Frostzeit  irgendwie  zu  sorgen, 
statt  den  Kommunalverbänden  einen  Theil  seiner  Ein- 
nahmen zu  überweisen,  damit  diese  sie  nothdürftig  am  Leben 
erhalten. 

Berlin.  Karl  Oldenberg. 

Bergarbeiterverhältnisse  in  der  Argentinischen  Re- 
publik. Dr.  L.  Brackebusch  in  Cordoba  macht  in  einem 
Aufsatze  „Die  Bergwerksverhältnisse  in  der  Argentinischen 
Republik“  (Zeitschrift  für  das  Berg-,  Hütten-  und  Salinen- 
wesen XLI.  Band  1893  S.  157  fg.)  die  folgenden  Mittheilungen 
über  das  Leben  der  argentinischen  Bergleute:  Der  gewöhn- 
liche argentinische  Bergmann  ist  ein  ungemein  fleissiger 
und  ausdauernder  Mensch.  Die  Entbehrungen,  die  er  in 
seinem  abgelegenen  Grubenviertel  zu  ertragen  hat,  die 
schwere  Arbeit,  die  allen  Einflüssen  der  Atmosphäre  aus- 
gesetzte Lebensweise,  die  schmale  Kost,  der  bei  den  hohen 
Preisen  aller  Waaren  verhältnissmässig  geringe  Verdienst 
prägen  ihm  den  Stempel  der  Genügsamkeit  auf.  Der  durch- 
schnittliche monatliche  Verdienst  eines  argentinischen  Berg- 
mannes stellt  sich  folgendermassen,  wobei  die  höheren 
Sätze  für  die  ungünstiger  gelegenen  Gruben  gelten:  Häuer 
45 — 90  M,,  Schlepper  und  Haldenarbeiter  30  — 60  M.,  Auf- 
seher 90—120  M.  Die  Kost  wird  fast  überall  frei  geliefert 
sie  besteht  je  nach  den  Gegenden  aus  zuweilen  frischen, 
meist  aber  getrocknetem  Fleisch,  Mais,  Mehl,  auch  wohl 
Feigen,  Kartoffeln,  Weizen  u.  s.  w.  Sprengmaterial,  Ge- 
leucht, Gezähe  gehen  auf  Rechnung  der  Bergleute,  doch 
müssen  sie  diese  Materialien  von  der  Administration  be- 
ziehen. Holz  wird  vielerorts  auch  für  gemeinschaftliches 
Feuer  zur  Verfügung  gestellt.  In  den  Kramläden,  welche 
von  den  Gruben-  und  Hüttenbesitzern  gehalten  werden, 


erhält  der  Arbeiter  für  gewisse  Zeit  Lebensbedürfnisse  auf 
Kredit.  Die  Schuld  wird  dann  bei  der  Löhnung  nach  und 
nach  abgezogen.  Auf  diese  Kramläden  scheinen  die  Ar- 
beiter der  argentinischen  Republik  einzig  und  allein  ange- 
wiesen zu  sein.  Diese  Läden  sind  die  Quelle  eines  argen 
Tauschsystems,  verkaufen  die  Waaren  zu  hohen  Preisen  an 
die  Arbeiter  und  verschaffen  den  Bergwerksbesitzern  eine 
bedeutende  Nebeneinnahme. 

Der  argentinische  Bergmann  trägt  dieselbe  Kleidung, 
wie  der  Landbewohner.  Eine  eigentliche  Bergmannstracht 
fehlt  ebenso  wie  besondere  Abzeichen  (Schlägel  oder  Eisen) 
oder  ein  besonderer  Bergmannsgruss. 

Traurig  ist  das  Dasein  des  Bergmannes  auf  den  Gruben 
jenes  Landes.  Einsam  sitzt  er  da,  wenn  seine  Arbeitszeit 
abgelaufen  ist;  dem  Weibe  und  den  Kindern  ist  auf  den 
rauhe  Höhen  kein  Heim  vergönnt;  wehmüthig  bereitet  er 
sich  selbst  seine  einfache  Speise,  die  meist  nur  aus  einer 
Fleischbrühe,  einem  auf  Kohlen  gerösteten  Stücke  Fleisch 
und  einem  Maisgerichte  besteht.  Kein  Hausthier,  weder 
Kuh,  noch  Ziege,  noch  Katze  bringt  eine  Abwechselung  in 
das  ewige  Einerlei  seiner  Mahlzeiten.  Kein  Wohnhaus  bietet 
ihm  Schutz  vor  Frost,  Sturm  oder  Regen;  ein  zu  einem 
Ringe  zusammengelegter  Haufen  roher  Steine  ohne  Dach 
bilden  seine  Wohn-  und  Schlafstätte,  Sattelzeug  und  ein 
Paar  alter  Decken  oder  Lumpen  bilden  sein  Bett.  Die 
meisten  deutschen  Bergleute,  die  durch  glänzende  Ver- 
sprechungen nach  Argentinien  gezogen  wurden,  haben  das 
einsame,  unwirthliche  und  wenig  erträgliche  Leben  des 
Bergmanns  bald  mit  einer  erträglicheren  Beschäftigung 
zu  vertauschen  gesucht,  die  sie  unter  Menschen  bringt  und 
ihnen  gestattet,  ein  wohnliches  Heim  in  bewohnter  Gegend 
zu  gründen  ; ein  Theil  ist  verkommen  und  blos  die  wenig- 
sten sind  ihrem  alten  Berufe  treu  geblieben. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Der  internationale  Bergarbeiterkongress,  welcher  vom 
22. — 25.  Mai  in  Brüssel  versammelt  war,  zeigte  in  mancher 
Beziehung  ein  anderes  Bild,  als  seine  drei  Vorgänger.  Er- 
hielten einerseits  die  Verhandlungen  durch  die  Zuspitzung 
auf  ein  bestimmtes  Thema,  das  des  Achtsundentages, 
ein  besonders  konkretes  Gepräge,  und  wurde  durch  den 
eben  vorangegangenen  Umschlag  im  englischen  Parlament 
zu  Gunsten  des  Achtstundentages  der  praktisch  bedeutsame 
Charakter  der  Verhandlungen  noch  wesentlich  erhöht:  so 
trug  andrerseits  die  Haltung  eines  Theiles  der  englischen 
Arbeiterschaft,  sowie  der  Zwischenfall  mit  der  Ausweisung 
der  französischen  Delegirten  doch  wiederum  ein  störendes 
Element  hinein. 

Die  von  Bailey  (Nottinghamshire)  beantragte  Resolution 
lautete: 

„Der  Kongress  erklärt  sich  für  das  Princip  eines  ge- 
setzlichen Achtstundentages  mit  Einschluss  der  Ein-  und 
Ausfahrt,  und  räth  allen  Nationen,  an  der  Durchsetzung  des- 
selben mit  allen  gesetzlich  erlaubten  Mitteln  zu  arbeiten.“ 
Die  von  Hugh  Bayle-Northumberland  beantragte  Ge- 
gen-Resolution  hatte  folgenden  Wortlaut: 

„In  Anbetracht  der  grossen  Verschiedenheit  der  na- 
türlichen Bedingungen,  welche  die  verschiedenen  Länder 
darbieten,  hält  der  Kongress  es  nicht  für  wünschens- 
werth,  einem  gesetzgebenden  Körper  die  Macht  oder  das 
Recht  zu  überlassen,  die  Zahl  der  Stunden  zu  bestimmen, 
welche  erwachsene  Männer  im  Bergwerk  arbeiten  sollen. 
Hingegen  fordert  der  Kongress  jedes  Land  und  jeden 
Bezirk  dringend  auf,  jede  sich  darbietende  Gelegenheit 
zu  ergreifen,  um  die  Arbeitsstunden  soweit  herabzusetzen, 
als  dies  möglich  ist,  ohne  sich  selbst  zu  schädigen.“ 
Während  die  erstgenannte  Resolution  den  Wunsch  der 
englischen  Mehrheit  zum  Ausdruck  brachte,  war  die  zweite 
der  getreue  Ausdruck  einer  englischen  Bergarbeiter- Aristo- 
kratie, welche,  aus  den  Häuern  und  gut  bezahlten  Arbeitern 
Northumberlands  bestehend , sich  bereits  im  gesicherten 
Besitze  einer  7 — V^stündigen  Arbeitszeit  befindet  und  die- 
selbe gefährdet  glaubt,  wenn  das  Förderpersonal  ihres  Be- 
zirkes von  seiner  gegenwärtig  10 — 12stündigen  Arbeitszeit  zu 


No.  36. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


429 


einer  achtstündigen  gelangt;  diese  Gruppe  hat  ihre  Orga- 
nisation in  dem  Gewerkverein  der  Miners  Association, 
welcher  auch  der  Antragsteller  Hugh  Bayle,  sowie  der  Be- 
fürworter des  Antrages  J.  Cairns  angehören. 

Der  Zwiespalt  der  Engländer  legte  die  Entscheidung  in 
die  Iland  der  continentalen  Nationen.  Bei  diesen  fand  die  ge- 
werkvereinliche  Gegenresolution  kein  Verständniss.  Während 
die  Deligirten  von  NorthumSerland  sich  zum  Theil  auch  auf 
wissenschaftliche  Bedenken  stützten,  erwiderte  ihnen  der 
westfälische  Delegirte  Schröder,  dass  die  Bergleute  um  die 
angeblichen  Gesetze  der  Nationalökonomie  sich  nicht 
kümmern,  wenn  diese  ihnen  nicht  erlauben,  anständig  zu 
leben.  Namentlich  die  Delegirten  von  Deutschland,  Oester- 
reich und  Belgien  waren  mit  voller  Entschiedenheit  für  die 
Aehtstunden-Resolution.  Um  das  Gewicht  dieser  drei  Na- 
tionen zu  mindern,  versuchten  die  Northumberländer  eine 
Aenderung  des  Abstimmungsmodus  durchzusetzen.  Bisher 
war  es  üblich  gewesen,  nach  der  Zahl  der  vertretenen  Berg- 
leute zu  stimmen.  Es  wurden  auf  diesem  Kongress  durch 
die  38  Delegirten  als  vertreten  angesehen: 

650  000  englische  Bergarbeiter 

92  000  französische  „ 

69  000  belgische  „ 

183  000  deutsche  „ 

100  000  österreichische  „ 

zusammmen  1 09+000  Bergarbeiter. 

Gegenüber  diesen  Zahlen,  welche  die  Bedeutung  des 
belgischen,  deutschen  und  österreichischen  Bergbaues  zum 
Ausdruck  bringen,  beantragten  die  Delegirten  der  Miners 
Association,  dass  die  Stimmen  nicht  nach  der  Zahl  der 
Bergarbeiter,  sondern  nach  der  Kopfzahl  der  Nationen  ge- 
zählt werden  sollten.  Der  Vorsitzende  Woods  (Mitglied 
des  englischen  Unterhauses)  entschied  jedoch  zu  Gunsten 
der  Abstimmung  nach  der  Zahl  der  Vertretenen.  Bei  der 
so  erfolgenden  Abstimmung  gelangte  die  Resolution  Bailey 
mit  allen  gegen  die  Stimmen  der  Miners  Association  zur 
Annahme.  Da  man  die  letzteren  auf  blos  100  000  Mann 
schätzt,  so  ist  das  entsprechende  Stimmen  verhältniss 
994  000:100000  oder  rund  10:1. 

Nach  leidenschaftlichen  Aufregungen  über  die  mitten 
in  den  Verhandlungen  bekannt  gewordene  Ausweisung 
zweier  französischer  Delegirten  durch  die  belgische  Re- 
gierung und  nach  Annahme  einer  Resolution,  welche  die 
übrigen  französischen  Delegirten  Von  der  geplanten  frei- 
willigen Abreise  eindringlich  abmahnte,  ging  man  zu  der 
Berathung  der  Mittel  über,  durch  welche  die  Achtstunden- 
schicht zu  erlangen  sei.  Der  englische  Delegirte  Weyr  be- 
antragte als  ein  solches  Mittel  den  Generalstreik,  wenn 
derselbe  in  Folge  des  Widerstandes  der  Parlamente  noth- 
wendig  werden  sollte.  Wie  gegen  das  Prinzip,  so  erklärten 
sich  auch  gegen  das  Mittel  die  Vertreter  der  Miners  Asso- 
ciation, diesmal  durch  einen  ihrer  Landsleute  verstärkt.  Im 
Ganzen  war  die  Majorität,  welche  sich  für  den  eventuellen 
Generalstreik  aussprach,  dieselbe  wie  bei  Annahme  der 
Aehtstunden-Resolution.  Mehr  aber  als  der  allgemeine 
Gedanke,  dass  bei  hartnäckigem  Widerstand  der  Parlamente 
das  geeignete  Mittel  zu  dessen  Bekämpfung  sei,  ist  in  den 
Mehrheitsbeschlüssen  nicht  enthalten.  Namentlich  ist  die 
Zeitungsnachricht,  es  sei  der  Generalstreik  für  einen  be- 
stimmten Termin  und  zwar  schon  für  den  nächsten  Herbst 
angekündigt  worden,  unrichtig. 

Von  allen  Meinungsverschiedenheiten  frei  war  die  Be- 
rathung über  das  Verbot  der  Frauenarbeit.  Der 
Kongress  sprach  sich  einstimmig  dahin  aus,  dass  die 
Frauenarbeit  in  Bergwerken,  sowohl  unter  Tage  als  über 
Tag,  in  allen  Ländern  der  Welt  zu  verbieten  sei. 

Zur  Bergwerksinspektion  beantragte  Glover- 
Lancashire,  zu  erklären: 

dass  die  gegenwärtige  Inspektion  der  Gruben  ungenügend, 
eine  weit  grössere  Anzahl  von  Inspektoren  nothwendig 
sei  und  dass  zum  Amt  von  Inspektoren  Leute  berufen 
werden  sollten,  die  in  Gruben  arbeiten  oder  gearbeitet 
haben. 

Die  französischen  Delegirten  machten  auf  den,  wenn 
auch  ungenügenden,  Antheil  aufmerksam,  den  die  Gruben- 
arbeiter Frankreichs  schon  jetzt  an  der  Inspektion  hätten; 


allerdings  seien  gleichwohl  auch  bei  ihnen  die  Bergwerks- 
inspektoren von  dem  Unternehmerthum  abhängig.  Die  bel- 
gischen Delegirten  beantragten  einen  Zusatz:  dass  die  In- 
spektoren vom  Staat  bezahlt,  aber  von  den  Arbeitern  ge- 
wählt werden  sollten.  Die  englischen  Delegirten  suchten 
das  Amendement  zuerst  durch  eine  Geschäftsordnungs- 
debatte  beiSeite  zu  schieben,  und  nachdem  dies  misslungen, 
es  auf  die  Form  herabzumindern,  dass  der  Staat  die  In- 
spektoren „auf  Empfehlung  der  Arbeiter“  anstellen  solle. 
Nach  langer  Debatte  wurde  dem  Amendement  die  Form 
gegeben,  dass  die  Inspektion  „durch  Wahl  von  Arbeitern 
zu  staatlich  bezahlten  Inspektoren“  verbessert  werden  solle. 
Aber  auch  in  dieser  Form  hatte  das  Amendement  sämmt- 
liche  englische  Stimmen  gegen  sich.  Da  die  englischen 
Stimmen,  wenn  geschlossen  abgegeben,  650000  Bergleute 
gegenüber  424000  kontinentalen  darstellten,  so  ergab  sich 
daraus  die  Ablehnung  des  Amendements.  Nach  erfolgter 
Ablehnung  war  die  Versammlung  einig  in  der  einstimmigen 
Annahme  der  Resolution  Glover. 

Dieser  Gegensatz  zwischen  Engländern  und  Kontinen- 
talen durchzog  auch  die  Berathungen  über  den  Antrag 
Calvignac: 

in  Bezug  auf  die  Länge  der  Arbeitszeit  keinen  Unter- 
schied zwischen  Arbeit  über  Tage  und  unter  Tage 
zu  machen. 

Die  Engländer  machten  dagegen  geltend,  dass  gerade 
ihre  Achtstundenbill  für  Arbeiten  unter  Tage  gefährdet 
würde,  wenn  man  die  Arbeit  über  Tage,  die  nichts  wesent- 
lich anderes  sei,  als  jede  andere  Art  der  Arbeit  in  son- 
stigen Gewerben,  mit  einschlösse.  Die  Kontinentalen  er- 
klärten, dass  der  Achtstundentag  eine  allgemeine  Arbeiter- 
forderung sei  und  als  solche  festgehalten  werden  müsse, 
Schliesslich  stimmten  zwar  von  den  Engländern  nur  7 gegen 
die  Resolution.  Ihnen  schlossen  sich  aber  einige  dissen- 
tirende  Belgier  an,  und  das  Gros  der  Engländer  enthielt 
sich  der  Abstimmung.  Die  Resolution  wurde  angenommen 
(299000  gegen  100000). 

Die  Achtstundenbewegung  unter  den  Bergarbeitern 
Böhmens.  Die  Organisation  der  böhmischen  Gruben- 
arbeiter ist  ziemlich  weit  vorgeschritten,  ist  aber  vorläufig 
noch  wenig  zentralisirt.  Im  Vordergründe  ihrer  Forde- 
rungen steht  wie  überall  die  Achtstundenschicht.  Gegen- 
wärtig wird  eine  Art  von  Urabstimmung  ins  Werk  gesetzt. 
Jede  Grube  besitzt  zwei  Vertrauensmänner;  diese  fertigen 
Listen  der  gesammten  Mannschaft  an,  auf  welchen  sich  die 
Arbeiter  eigenhändig  für  oder  wider  die  gesetzliche  Acht- 
stundenschicht zu  erklären  haben.  Es  wird  beabsichtigt, 
das  Resultat  dieser  Abstimmung  dem  Parlament  vorzulegen. 


U nternehmerverbände. 


Die  rheinisch-westfälischen  Wollgarnspinnereien  be- 
absichtigen die  Begründung  eines  Verbandes  zur  Wahrung 
der  Interessen  ihrer  Branche.  Nach  dem  Vorwärts  soll  die 
Hauptaufgabe  des  Verbandes  sein,  „Milderungen“  der 
Vorschriften  der  Arbeiterschutgesetzgebung  zu  erwirken. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Zur  Vorbereitung  der  gewerblichen  Sonntagsruhe 
im  Deutschen  Reich. 

Von  den  Bestimmungen  der  Novelle  zur  Gewerbeord- 
nung für  das  Deutsche  Reich  treten  die  über  die  Sonntags- 
ruhe erst  dann  in  Kraft,  wenn  sie  durch  kaiserliche  Ver- 
ordnung ganz  oder  theilweise  ausdrücklich  in  Kraft  gesetzt 
werden.  Bis  jetzt  ist  eine  solche  Inkraftsetzung  nur  für 
den  Handel  erfolgt  (§  105  b Abs.  2),  während  die  Bestim- 
mungen über  Sonntagsruhe  in  Fabriken,  Werkstätten,  Berg- 
werken etc.  (§  105  b Abs.  1)  einstweilen  noch  genaueren 
Erhebungen  über  die  nothwendigen  Ausnahmen  unterliegen. 
Der  preussische  Handelsminister  hat  hierüber  Berichte  der 
Regierungspräsidenten  eingefordert.  Dieselben  sind  jedoch 


430 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  36. 


so  wenig  zweckentsprechend  ausgefallen,  dass  der  Minister 
ein  neues  Rundschreiben  für  erforderlich  erachtet  hat.  Das- 
selbe zählt  zur  Vermeidung  von  Missverständnissen  einer- 
seits die  Betriebsarten  auf,  die  mit  den  Bestimmungen  über 
Sonntagsruhe  nichts  zu  thun  haben,  (weil  sie  z.  B.  wie  die 
Landwirthschaft  garnicht  der  Gewerbeordnung  unterliegen), 
und  macht  andrerseits  auf  solche  Betriebe  aufmerksam, 
die  nach  der  Absicht  der  Gewerbenovelle  in  deren  Bereich 
fallen  sollen.  Insbesondere  soll  der  Begriff  der  Werkstätte 
im  weitesten  Sinne  verstanden  werden.  „Er  ist  nicht  auf 
die  Gewerbe  beschränkt,  in  denen  gewerbliche  Arbeiter  die 
Herstellung  von  Erzeugnissen  zum  Verkauf  vornehmen ; er 
umfasst  vielmehr  zweifellos  auch  die  Geschäftsräume  der 
Barbiere  und  Friseure  und,  wie  bis  auf  weiteres  anzunehmen 
ist,  auch  die  Badeanstalten,  mögen  sie  Bäder  zu  Heil-  oder 
zu  Erfrischungszwecken  verabfolgen.  Das  Gebot  der  Sonn- 
tagsruhe erstreckt  sich  ferner  nicht  nur  auf  die  Thätigkeit 
in  den  Werkstätten,  sondern  trifft  auch  diejenigen  Arbei- 
ten, welche  „im  Betriebe  des  Gewerbes"  ausserhalb  der 
Werkstätten  verrichtet  werden.  So  dürfen  z.  B.  Barbier- 
gehilfen während  der  nicht  freigegebenen  Zeit  auch  ausser- 
halb der  Geschäftsräume  zur  Bedienung  der  Kunden  nicht 
verwendet  werden.“ 

Nach  den  allgemeinen  Ausführungen  über  den  Sinn  der 
gesetzlichen  Bestimmungen  geht  der  Minister  zu  der  Frage 
über,  welche  Ausnahmen  in  den  einzelnen  Gewerben  auf 
Grund  der  §§  1 05 d und  105e  zuzulassen  seien.  In  der  Kunst- 
lind  Handelsgärtnerei  sollen  Ausnahmen  nur  für  die 
Personen  zugelassen  werden,  die  mit  der  Blumenbinderei 
beschäftigt  sind,  und  zwar  nur  während  derselben  Stunden, 
die  für  den  Verkauf  von  Blumen  freigegeben  sind.  Wenn 
die  Arbeit  länger  als  drei  Stunden  dauert,  oder  die  Ar- 
beiter vom  Gottesdienst  fernhält,  so  muss  jeder  Arbeiter 
die  gesetzlichen  Ersatzsonntage  erhalten:  entweder  an  jedem 
dritten  Sonntage  volle  36  Stunden  oder  an  jedem  zweiten 
Sonntage  mindestens  in  der  Zeit  von  6 Uhr  Morgens  bis 
6 Uhr  Abends.  — Bei  Wasserversorgungsanstalten 
ist  namentlich  bei  dem  vermehrten  Wassergebrauch  im 
Sommer  der  Betrieb  der  Pumpen  an  Sonn-  und  Festtagen 
erforderlich.  Die  Zulassung  der  Ausnahme  wird  hier  von 
der  Bedingung  abhängig  zu  machen  sein,  dass  die  Ruhe- 
zeit der  Arbeiter  an  jedem  zweiten  Sonntage  mindestens 
24  Stunden,  für  zwei  aufeinanderfolgende  Sonn-  und  Fest- 
tage ununterbrochen  mindestens  30  Stunden  betragen  muss, 
und  dass  die  Dauer  der  Wechselschichten  18  Stunden  nicht 
übersteigen  darf.  — Konditoreien  sollen  nicht  ohne 
Weiteres  mit  Bäckereien  auf  eine  Stufe  gestellt,  nament- 
lich ihnen  nicht  ebenso  wie  jenen,  die  Nachtarbeit  gestattet 
werden.  — Für  die  Fleischerei  hat  die  Mehrzahl  der 
Berichte  eine  drei-  bis  fünfstündige  Arbeitszeit  bis  10  Uhr 
Morgens  befürwortet.  Der  Minister  empfiehlt,  zwischen 
Arbeiten,  die  mit  dem  Verkauf  des  Fleisches  in  Verbin- 
dung stehen,  einerseits  und  den  eigentlich  gewerblichen 
Arbeiten  (Wurstmachen  etc.)  andrerseits  zu  unterschei- 
den, erstere  mit  der  Handelsthätigkeit  auf  gleichem  Fuss 
zu  behandeln,  letztere  von  einer  detaillirten  Ausnahme- 
zulassung abhängig  zu  machen.  — Für  Barbiere  und  Fri- 
seure will  die  Mehrzahl  der  Berichte  eine  fünfstündige 
Arbeitszeit  zulassen.  Der  Minister  stellt  zur  Erwägung,  ob 
solchen  Betrieben,  die  nur  einen  Gehülfen  beschäftigen, 
gestattet  werden  soll,  statt  der  vollen  Ersatzruhe,  an  jedem 
zweiten  oder  dritten  Sonntag  lieber  einen  Ruhetag  in  der 
Woche  zu  gewähren  (§  105c,  Schlusssatz).  — Für  Bade- 
anstalten wird  die  Offenhaltung  theilweise  bis  2 Uhr  Nach- 
mittags, theilweise  für  den  ganzen  Tag  gefordert.  Da  es 
aus  sanitären  und  kulturellen  Rücksichten  erwünscht  ist, 
die  Gelegenheit  zum  Baden  nach  Möglichkeit  zu  fördern, 
findet  der  Minister  es  nicht  wohl  angängig,  für  den  Betrieb 
der  Badeanstalten  allgemein  eine  weitere  Beschränkung 
festzusetzen  als  die,  dass  sie  während  der  Zeit  des  Haupt- 
gottesdienstes geschlossen  sein  und  dass  die  Vorschriften 
des  § 105  e Absatz  3 beobachtet  werden  müssen.  — Im 
Buchdruck  wird  Sonntagsarbeit  für  Zeitungsdruckereien 
und  für  sogenannte  Accidenzdruckereien  gewünscht.  Be- 
züglich der  Zeitungsdruckereien  wird  mehrfach  hervor- 
gehoben, dass  gerade  am  Sonntag  ein  grösseres  Lese- 
bediirfniss  des  Publikums  hervortrete,  sodass  die  Sonn- 
und  Festtagsnummern  umfangreicher  hergestellt  werden 


müssten  und  eine  Arbeit  auch  während  der  Nacht  von 
Sonnabend  auf  Sonntag  erforderten.  Für  die  Vor- 
bereitung der  Sonn-  und  Festtagsmorgennummer  erscheine 
nach  den  vorliegenden  Berichten  eine  höchstens  fünf- 
stündige Sonntagsarbeit  an  allen  Sonn-  und  Festtagen  mit 
Ausnahme  der  zweiten  Feiertage  der  grossen  Feste  aus- 
reichend. Dagegen  könne  ein  besonderes  Bedürfniss  des 
Publikums  nach  einer  Montags-Morgenausgabe  nicht  aner- 
kannt werden,  wie  denn  auch  ein  grosser  Theil  der  Tages- 
zeitungen eine  solche  Ausgabe  schon  jetzt  nicht  herstelle. 
Es  werde  sich  empfehlen,  die  Sonntagsarbeit  zur  Herstellung 
der  Sonntagsausgabe  von  der  Bedingung  abhängig  zu 
machen,  dass  die  spätestens  von  Sonntag  Vormittag  5 Uhr 
an  zu  gewährende  Ruhe  ununterbrochen  mindestens24  Stunden 
betragen  muss.  Für  Accidenzdruckereien  wird  zwar  mehr- 
fach die  Zulassung  der  Beschäftigung  während  der  ganzen 
Dauer  der  Sonn-  und  Festtage  zur  Herstellung  von  Familien- 
anzeigen und  anderen  eiligen  Anzeigen  und  Bekannt- 
machungen gefordert.  Für  Berlin  wird  Sonntagsarbeit 
namentlich  für  die  die  öffentlichen  Anschläge  verfertigenden 
Buchdruckereien  gewünscht.  Indessen  dürfte  hier  dem 
wirklichen  Bedürfnisse  insoweit  z.  B.  die  Drucklegung  von 
Bekanntmachungen  betreffend  Hochwasser,  Eisgang  u.  dergl., 
sowie  von  Todesanzeigen,  plötzlichen  Abänderungen  von 
Theatervorstellungen  und  anderen  Lustbarkeiten,  sowie  von 
Versammlungen  handelt,  durch  die  Vorschrift  im  § 105  c 
Absatz  I Ziffer  1 genügend  Rechnung  getragen  sein.  Da- 
gegen werde  andrerseits  durch  die  Verweisung  der  Buch- 
druckereien auf  diese  Vorschrift  verhindert,  dass  der  Begriff 
der  eiligen  Drucksachen  allzuweit  ausgedehnt  werde.  — 
Gegenüber  den  Forderungen  photographischer  An- 
stalten auf  Freigebung  des  ganzen  Sonntags  hält  der 
Minister  eine  fünfstündige  Arbeitszeit  für  ausreichend;  das 
Publikum  müsse  auch  hier  an  die  Benutzung  anderer  Tage 
als  des  Sonntags  gewöhnt  werden.  - — Für  Molkerei  und 
Eisfabrikation  hält  der  Minister  besondere  Ausnahme- 
bestimmungen nicht  für  erforderlich,  da  die  wirklich  noth- 
wendigen  Arbeiten  sich  bereits  unter  die  gesetzlichen  Aus- 
nahmen subsumiren  Hessen. 

Wir  haben  im  Vorstehenden  den  Inhalt  des  ministe- 
riellen Rundschreibens,  soweit  er  durch  die  Tagesblätter  be- 
kannt geworden  ist,  mit  einiger  Ausführlichkeit  wieder- 
gegeben, obgleich  es  irgendwelche  erheblichen  neuen 
Gesichtspunkte  für  Sonntagsruhe  und  Sonntagsarbeit  nicht 
vorbringt.  Ja,  gerade  um  dessentwillen  ist  das  Rund- 
schreiben bemerkenswert!!.  In  den  Jahren  1885 — 1887  hat 
die  berühmte  „Sonntags-Enquete“  stattgefunden.  Ihr  Ergeb- 
nis bestand  in  einigen  Foliobänden,  welche  Branche  für 
Branche  die  Frage  der  nothwendigen  Ausnahmen  bis  in  die 
Einzelheiten  erörterten.  Nachdem  durch  diese  Enquete  die 
Einführung  der  gesetzlichen  Sonntagsruhe  damals  hinter- 
trieben war,  erfolgte  endlich  im  Mai  1890  die  Vorlegung 
der  Gewerbenovelle  mit  Einführung  der  Sonntagsruhe.  Ein 
Schwarm  von  Petitionen  aus  Unternehmerkreisen  wieder- 
holte die  Nothwendigkeit  von  Ausnahmen,  ein  Jeder  für  sein 
Gewerbe.  Ueber  ein  Jahr  dauerte  es,  bis  die  Novelle  unter 
dem  1.  Juni  1891  als  Gesetz  verkündet  werden  konnte.  Es 
war  gelungen,  in  ihr  das  Prinzip  der  Sonntagsruhe  auszu- 
sprechen. Aber  eine  Anzahl  höchst  verschiedenartig  ge- 
stalteter Ausnahmen  wurde  theils  im  Gesetz  selbst  for- 
mulirt,  theils  den  unteren,  den  höheren  oder  den  Central- 
behörden überlassen.  Ausserdem  aber  that  das  Gesetz 
nichts,  um  eine  Garantie  dafür  zu  schaffen,  dass  diese  Be- 
stimmungen auch  in  Kraft  träten.  Sie  wurden  vielmehr 
von  der  Geltung  ausdrücklich  ausgenommen,  und  diese, 
wie  bereits  bemerkt,  vom  Erlass  einer  kaiserlichen  Ver- 
ordnung abhängig  gemacht.  Kein  noch  so  weit  hinaus- 
geschobener Termin  wurde  bestimmt,  an  dem  das  Gesetz 
in  Kraft  treten  müsste.  Wenn  das  Jahrhundert  zu  Ende 
geht  und  die  Verordnung  nicht  erschienen  ist,  so  ist  die 
Sonntagsruhe  verkündetes  und  doch  ungültiges  Gesetz. 
Nachdem  von  dem  Gesetz  ein  halber  Paragraph,  der  auf 
den  Handel  bezügliche,  in  Kraft  gesetzt  ist,  wiederholt 
sich  während  der  Vorbereitung  der  Verordnung  über  das 
Gewerbe  zum  dritten  Mal  die  Berathung  über  die  noth- 
wendigen Ausnahmen;  und  nachdem  der  Minister  durch 
Rundschreiben  die  Gutachten  sämmtlicher  Regierungspräsi- 
denten erhalten  hat,  erklärt  er  dieselben  für  ungenügend 


No.  36. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


431 


und  wiederholt  die  dreimalige  Verhandlung  des  Gegen- 
standes ein  viertes  Mal.  Ja,  es  soll1)  in  dem  neuen  Erlass 
der  ausdrückliche  Wunsch  ausgedrückt  sein,  „dass  die 
betheiligten  Kreise  ausgiebiger  (!)  gehört  werden.“ 

Ist  aus  der  gesammten  Geschichte  unserer  Gesetzgebung 
ein  ähnlicher  Fall  bekannt?  Wem  die  Mächte,  welche  das 
Zustandekommen  eines  Gesetzes  über  die  Sonntagsruhe  bis 
zum  Jahre  1891  hintertrieben  haben,  nunmehr  im  Stande 
sind,  aus  Vorbereitungen  für  die  Inkraftsetzung  eine  Vor- 
bereitung der  Vereitelung  zu  machen,  so  ist  die  Ausführung 
des  Gesetzes  nicht  den  richtigen  Organen  anvertraut.  Hat 
der  preussische  Handelsminister  gezeigt,  dass  er  nicht  der 
Mann  ist,  der  die  vorhandenen  Widerstände  zu  überwinden 
weiss,  so  ist  es  nunmehr  doppelte  und  dreifache  Pflicht  des 
Reichskanzlers,  für  die  Ausführung  des  Gesetzes  selbst  zu 
sorgen.  Dass  der  Reichskanzler  dieser  Pflicht  nicht  genügt, 
ist  ein  neuer  Beweis  der  mangelhaften  Ausstattung  unserer 
Reichsbehörden  für  sozialpolitische  Angelegenheiten.  Das 
Schicksal  der  Sonntagsruhe  wäre  unmöglich,  wenn  wir  ein 
rationell  zusammengesetztes  Reichsarbeitsamt  besässen. 

Zur  Sonntagsruhe  im  Handel  (die  im  Unterschied  von 
der  allgemein  - gewerblichen  bereits  in  Kraft  getreten  ist, 
vergl.  oben)  liegen  mehrere  behördliche  Aeusserungen  vor, 
welche  sich  auf  die  gleichmässige  Durchführung  beziehen.  Der 
„Geschäftsfreund“,  ein  in  Berlin  erscheinendes  Blatt  der  Kon- 
fektionsbranche, hatte  sich  an  die  zuständigen  preussischen 
Ministerien  mit  der  Bitte  gewandt,  den  verschiedenen  An- 
ordnungen der  Behörden  über  die  Ofifenhaltung  von  Schau- 
fenstern durch  eine  maassgebende  Interpretation  ein  Ende 
zu  machen.  In  Aachen  sei  das  Ofifenhalten  der  Schau- 
fenster an  Sonntagen  gerichtlich  für  strafbar  erklärt  worden; 
in  Cöln  sei  dasselbe  erlaubt;  in  Breslau  werde  die  Verhän- 
gung der  Schaufenster  ebenfalls  nur  während  der  Kirchen- 
stunden verlangt.  Vom  Handelsministerium  ist  auf  die  Ein- 
gabe der  Bescheid  ergangen,  dass  die  Vorschriften  über 
die  äussere  Sonntagsheiligung  durch  die  Reichsgesetz- 
gebung nicht  berührt  werden,  dass  eine  Revision  der  be- 
stehenden preussischen  Vorschriften  vorbereitet  und  vor- 
aussichtlich zu  einer  grösseren  Gleichmässigkeit  führen 
werde. 

Aus  der  Tabaksbranche,  welche  unter  den  Klageführern 
über  die  Sonntagsruhe  an  der  Spitze  steht,  waren  die  ver- 
einigten Deputationen  von  vier  Interessentenvereinen  bei 
dem  Stellvertreter  des  Reichskanzlers , Staatsminister 
von  Bötticher,  erschienen.  Auch  sie  klagten  über  die  Un- 
gleichmässigkeit  in  der  Anwendung  der  Sonntagsruhe  auf 
die  Cigarrenläden.  Sie  überreichten  eine  Petition,  welche 
dip  Ausfälle  in  den  Jahreseinnahmen  der  Tabaksgeschäfte, 
wie  es  in  den  Zeitungsberichten  heisst,  „ziffermässig“  zur 
Darstellung  brachte  und  um  ausgiebigere  Bemessung  der 
Verkaufszeit  bis  5 Uhr  Nachmittags  bat.  Der  Minister 
glaubte  in  absehbarer  Zeit  eine  Abänderung  des  Gesetzes 
nicht  in  Aussicht  stellen  zu  können,  vielleicht  aber  (wenn 
die  Prüfung  der  Sachlage  im  Sinne  der  Petition  ausfiele) 
eine  Vereinbarung  der  Landesregierungen  zu  einer  gleich- 
mässigen  Interpretation  des  § I05e  der  Gewerbeordnung, 
sodass  die  Auffassung  von  Bayern,  Württemberg  und  Baden, 
wonach  der  I abak  zu  den  „unentbehrlichen  Genussmitteln“ 
gerechnet  werde,  zu  allgemeiner  Annahme  gelange. 

Die  beiden  behördlichen  Aeusserungen  neben  einander 
gehalten  zeigen  deutlich,  wieviel  grösseres  Gewicht  bei  uns 
noch  immer  auf  die  Sonntagsheiligung  als  auf  die  Sonntags- 
ruhe gelegt  wird.  Die  frage,  ob  Schaufenster  verhängt 
oder  offen  sein  sollen,  ist  wichtig  genug,  um  einer  plan- 
mässigen  Revision  der  bestehenden  Vorschriften  Vorbehalten 
zu  werden;  die  Frage,  ob  Menschen  angestrengt  oder  ge- 
schont werden  sollen,  soll  im  Wege  der  „gleichmässigen 
Interpretation“  zu  ungunsten  der  Sonntagsruhe  entschieden 
werden.  Vom  Standpunkt  der  Sozialpolitik  aus  ist  dies  nicht 
zu  billigen.  Aber  auch  vom  bloss  juristischen  Standpunkt 
ist  diese  Anwendung  der  Interpretationskunst  zu  beanstanden. 
Wenn  die  Regierungen  die  Entscheidung  der  Frage,  ob  der 
Tabak  ein  unentbehrliches  Genussmittel  ist,  davon  abhängig 
machen,  ob  die  Angaben  über  die  Geschäftsausfälle  richtig 


')  Eine  amtliche  Publikation  des  Wortlautes  ist  unterblieben. 


sind,  so  gebrauchen  sie  das  Recht  der  Gesetzesinterpreta- 
tion zu  einem  Zwecke,  zu  welchem  es  ihnen  nicht  ge- 
geben ist '). 

Regelung  der  Frauen-  und  Kinderarbeit  in  Frank- 
reich. In  Ausführung  des  Schutzgesetzes  vom  2.  November 
1892,  wonach  alle  die  Gesundheit  und  Sittlichkeit  schädi- 
genden Arbeiten,  die  den  Frauen  und  Kindern  zu  verbieten 
sind,  im  Verordnungswege  festgestellt  werden  sollen,  ist  neuer- 
lich eine  weitere  Verordnung  (vgl.  No.  33)  erschienen,  welche 
in  ihren  Plauptztigen  Folgendes  bestimmt. 

Es  ist  verboten:  1.  Kinder  unter  18  Jahren,  sowie 
Frauen  und  Mädchen  zum  Schmieren,  Reinigen,  Unter- 
suchen oder  Repariren  von  in  Bewegung  befindlichen  Ma- 
schinen zu  verwenden;  2.  dieselben  Personen  in  Räumen 
zu  beschäftigen,  wo  sich  Maschinen  befinden,  deren  gefähr- 
liche Bestandtheile  nicht  sicher  eingefriedet  bez.  mit  Schutz- 
vorrichtungen versehen  sind;  3.  Kinder  unter  18  Jahren  zum 
Treiben  von  Tritträdern  sowie  horizontalen  Rädern  zu  ver- 
wenden; 4.  Kinder  unter  16  Jahren  zum  Treiben  von  verti- 
kalen Rädern  länger  als  einen  halben,  durch  eine  mindestens 
halbstündige  Ruhepause  zu  trennenden  Arbeitstag  zu  ver- 
wenden; 5.  Kinder  unter  16  Jahren  an  Rund-  oder  an  Band- 
sägen zu  beschäftigen;  6.  sie  bei  Arbeiten  mechanischer 
Scheren  oder  sonstiger  mechanischer  Schneidewerkzeuge 
zu  verwenden:  7.  Kinder  unter  13  Jahren  in  Glashütten  zum 
Ausheben  der  Glasmasse  oder  als  Glasbläser  zu  verwenden, 
wobei  noch  zu  bemerken  ist,  dass  Kinder  von.  13  bis  16 
Jahren  nur  Glasmassen  im  Höchstgewicht  von  1 Kilo  aus- 
heben dürfen  und  Kinder  unter  16  Jahren  nicht  als  Glasbläser 
beschäftigt  werden  können;  8.  Kinder  unter  16  Jahren  zum 
Dienst  bei  Dampfhähnen  zu  verwenden;  9.  Kinder  unter 
16  Jahren  in  Walzwerken  bei  den  Streckmaschinen  zu  ver- 
wenden, es  sei  denn,  dass  ihre  Arbeit  durch  Schutzvor- 
richtungen geschützt  sind;  10.  Kinder  unter  16  Jahren  zu 
Arbeiten  zu  verwenden,  die,  wie  das  Renoviren  und  Reini- 
gen von  Gebäuden,  auf  Fluggerüsten  ausgeführt  werden; 
II.  Knaben  unter  14  Jahren  Lasten  von  mehr  als  10  Kilo- 
gramm, Knaben  von  14 — 18  Jahren  von  mehr  als  15  Kilo- 
gramm, Mädchen  unter  16  Jahren  von  mehr  als  5 Kilo- 
gramm und  Mädchen  von  16 — 18  Jahren  von  mehr  als 

10  Kilogramm  tragen  zu  lassen;  12.  Mädchen  unter 
16  Jahren  an  Nähmaschinen  zu  beschäftigen,  die  mit  dem 
Fusse  in  Bewegung  gesetzt  werden;  13.  Kinder,  Mädchen 
und  Frauen  zur  Herstellung  von  Drucksachen,  Bildern  und 
sonstigen  Gegenständen,  deren  Verkauf,  Ausstellung  oder 
Vertheilung  als  gegen  die  guten  Sitten  verstossend,  gesetz- 
lich verboten  sind,  oder  Kinder  von  unter  16  Jahren,  sowie 
minderjährige  Mädchen  zur  Herstellung  von  Drucksachen, 
Bildern  etc.  zu  verwenden,  die,  wenn  auch  gesetzlich  nicht 
strafbar,  nichts  desto  weniger  geeignet  sind,  ihre  Sittlichkeit 
zu  verletzen. 


Arbeiterversicherung. 

Der  ärztliche  Stand  und  die  Arbeiterversicherung. 

Kurz  nach  dem  Inkrafttreten  des  Unfallversicherungs- 
gesetzes äusserte  ein  jüngerer  Arzt  zu  dem  Unterzeichneten, 
die  Arbeiterversicherungs-Gesetzgebung  würde  den  ärztlichen 
Stand  auf  das  ärgste  schädigen.  Mir  schien  diese  Ansicht 
damals  völlig  unbegründet;  denn  es  war  ja  klar,  dass  gerade 


1 ) Inzwischen  ist  am  29.  Mai  in  Mannheim  folgende  Resolution 
beschlossen  worden:  „Die  in  Mannheim  tagende  Generalver- 

sammlung des  Deutschen  Tabakvereins,  der  in  ganz  Deutschland 
mehr  als  1000  Interessenten  mit  über  100000  Arbeitern  zu  seinen 
Mitgliedern  zählt,  spricht  denjenigen  hohen  deutschen  Bundes- 
regierungen, ganz  besonders  dem  Präsidium  des  bayr.  Reg. -Bez. 
Pfalz,  welche  die  Bestimmungen  der  Deutschen  Gewerbe-Ordnung 
über  Sonntagsruhe  in  einer  den  bestehenden  Bedürfnissen 
entsprechenden  Weise  ausgelegt  und  den  Verkauf  von 
Tabakerzeugnissen  in  erweitertstem  Umfange  zugelassen 
haben,  ihren  wärmsten  Dank  aus,  giebt  aber  zugleich  der  Er- 
wartung Ausdruck,  dass  auch  alle  anderen  deutschen  Staats- 
regierungen ihren  Angehörigen  die  gleichen  Zugeständnisse  ge- 
währen, und  dass  dadurch  gleiches  Recht  für  alle  Tabakinter- 
essenten im  Deutschen  Reiche  herbeigeführt  werde.“ 


432 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  36. 


durch  die  Zwangsversicherung  viele  Kranke  der  ärztlichen 
Behandlung  zugeführt  werden  würden,  die  ihrer  sonst  ganz 
entbehrt  hätten,  dass  also  die  ärztliche  Thätigkeit  an  Aus- 
dehnung gewinnen  würde  — was  doch  nur  dem  ärztlichen 
Stand  zu  Gute  kommen  könnte.  Inzwischen  ist  mir  mehr 
und  mehr  deutlich  geworden,  wie  jener  Ausspruch  aufgefasst 
sein  will  und  wie  sehr  er  berechtigt  ist.  Ein  Vorkommniss 
der  allerneuesten  Zeit  ist  recht  geeignet,  auch  den  diesen 
Dingen  ferner  Stehenden  die  Augen  hierüber  zu  öffnen, 
Der  Inhaber  eines  neuen  ärztlichen  Instituts,  das  in  erster 
Linie  lür  die  Behandlung  von  Personen,  die  durch  Unfälle 
verletzt  sind,  gegründet  ist,  wendet  sich  an  die  Berufsge- 
nossenschaften mit  einem  Prospekt,  in  dem  es  heisst: 
„Wird  durch  die  Behandlung  kein  Erfolg  erzielt,  so  wird 
für  dieselbe  nicht  liquidirt,  sondern  nur  die  Kosten  für 
Wohnung  und  Verpflegung  in  Anrechnung  gebracht.  Ein 
Drittel  der  Reisekosten  wird  vom  Institute  aus  ver- 
gütet.“ Das  erinnert  doch  allzu  lebhaft  an  den  Ton,  in 
dem  Besitzer  von  Jahrmarktsschaubuden  ihre  Institute  an- 
zupreisen pflegen,  um  einer  ärztlichen  Anstalt  würdig  zu 
sein.  Doch  davon  ganz  abgesehen:  müssen  die  behandelten 
Arbeiter  nicht  von  Misstrauen  gegen  eine  Behandlung  erfüllt 
werden,  die  unter  solchen  Bedingungen  übernommen  wird? 
Können  sie  noch  darauf  vertrauen,  dass  ihr  Zustand  nach 
der  Entlassung  aus  der  Anstalt  objektiv  beurtheilt  werde, 
wenn  für  den  Fall,  dass  kein  Erfolg  festgestellt  wird,  der 
Arzt  sein  Honorar  verliert?  Das  grösste  Misstrauen  ist  un- 
ausbleiblich und  als  Folge  davon  Berufungen  und  Miss- 
helligkeiten aller  Art.  So  wird  denn  mit  der  gerügten  Praxis 
weder  dem  Interesse  der  Verletzten,  noch  der  Berufsge- 
nossenschaften gedient;  die  ärztliche  Thätigkeit  aber  wird 
auf  das  Niveau  rein  geschäftlicher  Ramschunternehmungen 
hinabgedrückt. 

Sicherlich  werden  solche  Fälle,  in  denen  die  grobe 
Spekulation  auf  den  Eigennutz  der  Versicherungsverbände 
und  die  Zwangslage  der  Versicherten  so  klar  zu  Tage  liegt, 
nicht  allzu  oft  Vorkommen.  Ein  interessantes  Symptom  für 
die  Auffassung,  die  manche  Aerzte  von  der  Würde  ihres 
Berufs  haben,  bleibt  ein  solcher  krasser  Fall  immerhin. 

Nicht  minder  unerfreulich  ist  das,  was  die  Kranken- 
versicherung auf  diesem  Gebiete  vielfach  gezeitigt  hat.  Die 
Stellen  der  Krankenkassenärzte  werden  nicht  selten  gerade- 
zu an  den  Mindestfordernden  abgegeben.  Die  Behandlung 
der  Kranken  ist  dann  natürlich  oft  dem  erbärmlichen  Hono- 
rar angemessen  zum  Schaden  der  Kranken,  der  Kassen  und 
vor  Allem  des  ärztlichen  Standes.  Dieser  schon  oft  be- 
sprochene Uebelstand  braucht  an  dieser  Stelle  nicht  weiter 
dargelegt  zu  werden. 

Eine  neue  Gefahr  für  die  Aerzte  ist  indess  jetzt  wieder 
im  Anzuge.  Die  Novelle  zum  Krankenversicherungs- Gesetz 
giebt  bekanntlich  den  Berufsgenossenschaften  das  Recht, 
die  Fürsorge  für  die  durch  Unfall  Verletzten  schon  inner- 
halb der  13 wöchigen  Wartezeit  jeder  Zeit  den  Kranken- 
kassen abzunehmen  und  auf  eigene  Rechnung  zu  übernehmen. 
Es  ist  nun  im  Uebereifer  vorgeschlagen  worden,  dass  die 
Berufsgenossenschaften  sich  in  allen  wichtigen  Orten  und 
Bezirken  sogenannte  „Vertrauensärzte“  anstellen  möchten, 
denen  die  Aufgabe  obliegen  würde,  zu  prüfen,  ob  die  Ver- 
letzten den  behandelnden  Aerzten  abgenommen  werden 
sollen  oder  nicht.  Hier  und  da  ist  auch  in  der  That  schon 
nach  diesem  Vorschläge  gehandelt  worden.  Es  liegt  auf 
der  Hand,  in  welche  üble  Lage  die  zuerst  behandelnden 
Aerzte  hierdurch  gesetzt  werden  - — zumal  der  berufs- 
genossenschaftliche „Vertrauensarzt“  dann  vielfach  die 
weitere  Behandlung  übernehmen  wird.  Sollte  dieses  Ver- 
fahren unter  den  Berufsgenossenschaften  allgemeiner 
werden,  so  werden  sich  auch  bald  Fälle  einstellen,  in  denen 
heut  der  Arzt  A.  als  Vertrauensarzt  der  Berufsgenossen- 
schaft X.  dem  behandelnden  Arzt  B.  gegenübersteht  und 
morgen  B.  als  Vertrauensarzt  der  Berufsgenossenschaft  Y. 
dem  behandelnden  Arzt  A.  Wie  ist  es  da  noch  möglich, 
dass  der  Arzt  das  bleibt,  was  er  vor  Allem  sein  soll,  näm- 
lich der  Vertrauensarzt  des  Patienten? 

Genug,  es  ist  in  der  That  nothwendig,  dass  sich  die 
ärztlichen  Standesvertretungen  ernstlich  mit  diesen  Fragen 
beschäftigen  und  vor  allen  Dingen  dahin  streben,  dass  sich 
jeder  Arzt,  sobald  er  seinen  Beruf  praktisch  ausübt,  unab- 
hängig von  allen  Versicherungsverbänden  hält.  Das  Institut 


der  Vertrauensärzte  in  dem  eben  angegebenen  Sinne  müsste 
von  den  Aerzten  selbst  energisch  bekämpft  werden.  Es  ist 
gewiss  richtig  und  nothwendig,  dass  jede  Berufsgenossen- 
schaft einen  Vertrauensarzt  oder  auch  mehrere  hat,  deren 
Rath  sie  bei  der  Feststellung  der  Entschädigungen  einholt 
und  denen  sie  auch  einzelne  Fälle  zur  Beurtheilung  der 
Behandlung  vorlegt.  Jedoch  sollten  diese  niemals  ohne 
Berathung  mit  den  behandelnden  Aerzten  praktisch  ein- 
greifen  und  sich,  sobald  sie  dies  thun,  stets  darüber  klar 
sein,  dass  sie  damit  über  ihre  eigentlichen  Befugnisse  als 
„Vertrauensärzte“  hinausgreifen  und  für  die  Behandlung 
der  Patienten  der  Berufsgenossenschaft  genau  so  frei  gegen- 
überstehen wie  jeder  andere  Arzt.  So  allein  bewahren  sie 
sich  die  der  Würde  ihres  Berufs  entsprechende  Stellung 
den  Patienten,  den  Versicherungsverbänden,  den  Gerichten 
und  Behörden  gegenüber.  Und  auch  alle  sonstigen  Be- 
theiligten sollten  den  höchsten  Werth  darauf  legen,  dass 
der  Arzt  stets  der  über  den  widerstreitenden  Interessen 
stehende  Sachverständige  bleibt. 

Die  Besorgniss  des  anfangs  erwähnten  Arztes  war  also 
wohl  begründet.  Aber  es  liegt  in  der  Hand  der  Aerzte 
selbst,  dem  Uebel  zu  steuern;  und  man  darf  wohl  hoffen, 
dass  es  alle  Aerzte,  die  in  ihrem  Berufe  noch  etwas  mehr 
als  nur  ein  Geschäft  sehen,  an  den  nöthigen  Bemühungen 
nicht  fehlen  lassen  werden. 

Berlin -Friedenau.  E.  Lange. 

Verbesserungen  im  Krankenkassenwesen  in  Heidel- 
berg. Zu  den  wenigen  Ortskrankenkassen,  die  eine  Unter- 
stützungsdauer von  einem  vollen  Jahre  in  ihren  Satzungen 
aufgenommen  haben,  gehört  die  Ortskrankenkasse  Heidel- 
berg, die  im  Jahre  1892  durchschnittlich  4811  Mitglieder 
zählte.  Das  Jahr  1892  war  das  erste,  in  dem  anstatt  bisher 
halbjähriger  Unterstützungsdauer  ganzjährige  getreten  ist. 

In  1 1 Fällen  wurde  von  der  Neuerung  Gebrauch  gemacht. 
Der  Jahresbericht  sagt,  dass  die  Mehrausgabe  zu  dem 
segensreichen  Wirken  in  diesen  11  Fällen  in  keinem  Ver- 
hältniss  stehe  und  die  Zahlen  ergeben  auch,  dass  von. einer  ; 
erheblichen  Lasterhöhung  nicht  die  Rede  war.  Die  Beiträge 
waren  ohnehin  mehr  als  ausreichend,  so  dass  dem  Reserve- 
fond 5000  M.  mehr  zugeführt  wurde  als  nöthig  war,  um 
ihn  auf  seinen  satzungsmässigen  Höchstbetrag  zu  bringen. 
Krankengelder  und  Verpflegungskosten  sowie  Heilmittel  ; 
stellten  sich  gegen  das  Vorjahr  pro  Kopf  um  34  Pf.  — 

33  Pf.  und  24  Pf.  höher,  während  Aerztehonorar  dagegen  ' 
sogar  um  12  Pf.  pro  Kopf  niedriger  gewesen  ist.  Die  Ge-  ;| 
sammtausgaben  pro  Kopf  betrugen 

1891:  15,24  M„  1892:  16,38  M. 
und  die  Beiträge  ergaben  1891:  19,40  M.,  1892:  19,79  M.  • 

Die  Kasse  hat  im  laufenden  Jahre  wieder  eine  Ver- 
besserung eingeführt,  die  sich  ebenfalls  bewährt  und  bei 
den  Mitgliedern  Anerkennung  findet.  Auf  Anordnung  der 
Aerzte  lässt  sie  Kranken  und  Genesenden  einen  guten 
Mittagstisch  und  je  nach  Verordnung  Roth-  oder  Weisswein 
gratis  verabreichen,  was  nicht  nur  wie  eine  direkte  Er- 
höhung der  Krankengelder  wirkt,  sondern  namentlich 
in  gesundheitlicher  Hinsicht  von  grosser  Bedeutung  sein 
dürfte. 


Schulwesen. 


Zur  Ausstellung  in  Chicago  hat  das  preussische  Unter- 
richtsministerium eine  Anzahl  Schriften  veranlasst,  welche 
sich  über  das  Unterrichtswesen  ganz  Deutschlands  ver- 
breiten. Eine  grosse  Zahl  von  Universitätslehrern  ist  unter 
der  Leitung  des  Göttinger  Nationalökonomen  Lexis  dafür 
gewonnen  worden,  den  Betrieb  ihres  Faches  in  Lehre  und 
Wissenschaft  in  selbständig  abgerundeten  Aufsätzen  zur 
Darstellung  zu  bringen:  so  Volkswirthschaftslehre  und 

Finanzwissenschaft  von  Dietzel-Bonn,  Wirtschaftsgeschichte 
von  Gothein-Bonn.  Das  Studium  der  Statistik  hat  der 
Herausgeber  selbst  dargestellt.  Die  Hygiene  hat  (unter 
„medizinische  Fakultät“)  Flügge-Breslau  bearbeitet,  die  Dis- 
ciplinen  des  öffentlichen  Rechts  G.  Meyer  - Heidelberg, 
v Martitz  - Tübingen,  v.  Bar  - Göttingen.  In  einem  „all- 
gemeinen Teil“  behandelt  Paulsen-Berlin  „Wesen  und  ge- 
schichtliche Entwickelung  der  deutschen  Universitäten  , 


No.  36. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


433 


während  Conrad-Halle  eine  „Statistik  der  deutschen  Uni- 
versitäten bietet.  („Die  deutschen  Universitäten“,  heraus- 
geben von  W.  Lexis.  Berlin,  A.  Ascher  & Co.,  2 Bände.) 

Zwei  kleinere  Publikationen  behandeln  das  höhere 
Schulwesen.  Die  eine,  den  höheren  Unterrichtsanstalten 
für  das  männliche  Geschlecht  gewidmet,  hat  Professor 
Conr.  Rethwisch,  den  Herausgeber  der  pädagogischen  Jahres- 
berichte, zum  Verfasser.  Vielfach  von  den  Mitarbeitern  bei 
seinem  periodischen  Unternehmen  fachmässig  unterstützt, 
hat  der  Verfasser  nicht  nur  einen  Ueberblick  über  die 
historische  Entwickelung  und  den  allgemeinen  heutigen 
Charakter  der  Gymnasial-  und  Realbildung  gegeben,  sondern 
auch  die  Didaktik  aller  einzelnen  Gegenstände  darzulegen 
vermocht.  Als  Pendant  dazu  ist  che  Schrift  von  Helene 
Lange  „über  das  höhere  Mädchenschulwesen“  anzusehen. 
Dass  der  Inhalt  desselben  bedeutend  dürftiger  ist,  ist  nicht 
Sehuld  der  Verfasserin,  sondern  Schuld  der  Thatsachen. 
(Berlin,  R.  Gaertner’s  Verlag,  PI.  Heyfelder). 

Dem  preussischen  Volksschulwesen  endlich  ist  eine 
ausführliche  statistische  Darstellung  gewidmet  worden, 
welche  als  120.  Heft  der  „preussischen  Statistik“  erschienen 
ist.  (Berlin,  Verlag  des  königl.  Statistisichen  Bureaus).  Eine 
einleitende  Denkschrift,  verfasst  von  K.  Schneider,  dem  Volks- 
schuldezernenten im  Ministerium,  und  A.  Petersilie,  Mitglied 
des  Statistischen  Bureaus,  verbreitet  sich  nicht  blos  über 
die  Verwaltung  der  preussischen  Volksschule,  sondern  er- 
gänzt das  BiJd  auch  durch  statistische  Mittheilungen  über 
die  höheren  Schulen  Preussens  und  durch  Nachrichten 
über  das  Volksschulwesen  der  anderen  deutschen  Staaten. 

Die  drei  Werke  zusammengenommen  haben  eine  über 
ihre  augenblickliche  Veranlassung  hinausgehende  Bedeutung. 
Sie  gewähren  zum  ersten  Mal  dem  der  Schule  ferner  Stehen- 
den die  Möglichkeit,  sich  von  unsern  Schulzuständen  ein 
einigermaassen  klares  Bild  zu  machen.  Dass  in  der  Sozial- 
politik der  Gegenwart  die  Schule  auch  nicht  annähernd  die 
Rolle  spielt,  welche  ihr  zukommt,  liegt  zum  Theil  daran, 
dass  es  an  Werken  fehlt,  die  dem  praktischen  Verwaltungs- 
mann, dem  gelehrten  Nationalökonomen,  den  sozialpolitischen 
Schriftstellern  das  Studium  dieses  Verwaltungszweiges  er- 
möglichen. Darum  begrüssen  wir  das  Erscheinen  dieser 
Werke  mit  Freude,  obgleich  die  Zufriedenheit  mit  den 
eigenen  Erfolgen,  die  mit  solchen  Werken  fast  nothwendig 
verbunden  ist,  mit  den  Anforderungen,  die  der  Sozial- 
politiker an  unser  Unterrichtswesen  und  namentlich  an 
unsere  Volksschule  stellen  muss,  nicht  im  Einklang  steht. 


Litteratur. 


Pfafferoth,  C.,  Kanzleirath  im  Reichs-Justizamt.  Belehrung  über 
den  Wucher.  Ein  Schutz  gegen  Schädigung  mit  Fingerzeigen 
für  Jedermann.  Nach  der  neuesten  Reichs-Gesetzgebung  be- 
arbeitet. Berlin,  J.  J.  kleines  Verlag.  8°.  38  S. 

Das  kleine  Schriftchen  behandelt  den  hauptsächlichsten  In- 
halt des  vom  letzten  Reichstage  beschlossenen  Wuchergesetzes 
in  1 1 kleinen  Abschnitten,  deren  Ueberschriften  der  Verfasser 
die  Form  von  Fragen  gegeben  hat:  Wann  liegt  strafbarer 

Wucher,  insbesondere  sogenannter  Kreditwucher  vor?  Wodurch 
erhöht  sich  die  Strafbarkeit  des  Wuchers?  Wie  verhält  es  sich 
mit  dem  Sachwucher?  Wer  gilt  als  Mitschuldiger  beim  Wucher? 
Wie  wird  der  Wucher  bestraft?  Wie  wird  die  Bestrafung  herbei- 
geführt und  wie  schützt  man  sich  dagegen?  Wann  verjährt  die 
Strafverfolgung?  Wie  sind  die  Verhältnisse  der  Pfandleiher  und 
Rückkaufs  ändler?  Welche  vermögensrechtliche  Folgen  hat  der 
Wucher?  Wie  macht  man  seine  Vermögensrechte  beim  Wucher 
geltend?  Was  ist  wegen  der  jährlichen  Mittheilung  von  Rech- 
nungsauszügen vorgeschrieben  ? 

Die  Darstellung  ist  meistens  einfach  und  leicht  verständlich. 
Das  Schriftchen  dürfte  seinem  Zwecke,  den  Inhalt  des  be- 
schlossenen Gesetzes  populär  zu  machen  und  dadurch  zum 
Schutz  vor  Auswucherung,  sowie  zum  Schutz  redlicher  Ge- 
schäftsleute etwas  beizutragen,  entsprechen.  Allerdings  ist  dar- 
auf aufmerksam  zu  machen,  dass  eine  Publikation  des  Gesetzes 
bis  jetzt  noch  nicht  stattgefunden  hat. 


Gesammtverband  der  evangelischen  Arbeitervereine 

und 

Evangelisch -sozialer  Kongress. 

ln  der  vorigen  Nummer  haben  wir  die  Vorlagen  sowohl  für 
den  Kongress  (S.  415),  als  auch  für  die  Arbeitervereine  (S.  420) 
mitgetheiit.  Beide  Versammlungen  haben  im  Berliner  Stadt- 
missionshause (am  Johannistisch)  stattgefunden. 

Der  Eröffnung  des  Kongresses  ging  am  31.  Mai  die  Ge- 
sammtausschusssitzung  der  evangelischen  Arbeiterver- 
eine voran.  Der  Schriftführer,  Lic.  Weber -M. Gladbach,  hob  in 
seinem  Geschäftsbericht  die  Immediateingabe  des  Vorstandes  um 
Beschränkung  und  schärfere  Beaufsichtigung  der  Schankstätten 
hervor.  Bis  jetzt  sei  darauf  nur  eine  vertrauliche  Mittheilung  er- 
folgt, des  Inhalts,  dass  im  Reichsamt  des  Innern  zur  Zeit  noch 
Berathungen  darüber  schweben,  ob  die  niederländische  Normi- 
rung  — eine  Schankstätte  auf  400  Seelen  — sich  zur  Einführung 
in  Deutschland  eigne.  Die  vom  Gesammtvorstand  nachgesuchte 
Audienz,  um  dem  Kaiser  persönlich  die  Abhülfe  des  Arbeiter- 
wohnungs-Elendes  im  Sinne  der  Vorschläge  von  Bodelschwingh 
und  Lechler  ans  Herz  zu  legen,  habe  bis  jetzt  nicht  gewährt 
werden  können,  da  sich  der  Kaiser  zur  Zeit  nicht  in  Berlin  be- 
finde. Fortschritte  des  evangelischen  Vereinslebens  haben  sich 
im  letzten  Jahre  hauptsächlich  in  Hannover  gezeigt.  Im  Herzog- 
thum Braunschweig  hingegen  könne  dasselbe  in  der  von  der 
Sozialdemokratie  beherrschten  Arbeiterschaft  nicht  Boden  fassen. 
In  Bayern  bestehen  bereits  57  Vereine  mit  12000  Mitgliedern. 
Den  Versuch,  den  Referent  am  Schlüsse  seiner  Rede  machte,  die 
evangelischen  Arbeitervereine  zum  Eintreten  für  die  Militärvor- 
lage bei  den  Wahlen  zu  verpflichten,  wiesen  in  der  Debatte 
mehrere  Redner  ab.  Ebenso  brachte  sich  in  der  Berathung  des 
Programmentwurfs  die  Richtung  zur  Geltung,  alles  Parteipolitische 
zu  vermeiden,  was  zur  Folge  haben  könnte,  dass  die  evangelischen 
Arbeitervereine  als  politische  Vereine  im  Sinne  des  Vereins- 
gesetzes behandelt  und  in  ihrer  gemeinsamen  Thätigkeit  gefährdet 
werden.  Auch  ein  Antrag,  im  Eingang  des  Programms  aus- 
drücklich zu  erklären,  dass  man  auf  dem  Boden  des  „posi- 
tiven“ evangelischen  Christenthums  stehe,  wurde  zurückgezogen, 
um  nicht  solche  Elemente  herauszudrängen,  welche  unter  das 
zum  Parteinamen  gewordene  Wort  „positiv“  sich  nicht  mitzählen 
lassen  wollen.  Professor  Adolf  Wagner  warnte  davor,  allgemein 
gegen  die  Streiks  Stellung  zu  nehmen.  Der  Eingang  des  Pro- 
gramms, wie  er  auf  Grund  der  Weber’schen  Vorschläge  be- 
schlossen wurde,  besagt  im  Wesentlichen  dasselbe,  wie  der  von 
uns  mitgetheilte  Goehre’sche  Entwurf.  In  die  ferneren  Theile  des 
Programm  aber  wurde  eine  Erklärung  gegen  die  Konzentration 
des  Kapitals  in  wenigen  Händen  aufgenommen,  welcher  der  Staat 
namentlich  auch  auf  dem  Wege  der  Steuergesetzgebung  entgegen 
wirken  müsse.  Zu  dem  Passus:  „Angemessene  Kürzung  [nicht: 
Regulirung]  der  Arbeitszeit  (Maximalarbeitstag)'1  beantragte  Kand. 
E b e r t - Hamburg  zu  setzen  „Achtstundentag“.  Von  Fabrikbes. 
Dietrich-Eberswalde  u.  A.  wurde  umgekehrt  die  Streichung  des 
Passus  gewünscht,  da  man  dadurch  die  sozialdemokratische  For- 
derung für  berechtigt  erkläre  und  selbst  wohlmeinende  Arbeitgeber 
herausdränge.  Der  Passus  wurde  angenommen.  Zu  der  „Ein- 
führung einer  Sonntagsruhe  von  mindestens  36  Stunden“ 
bemerkte  Pfarrer  Naumann-Frankfurt,  dass  im  Reichstage  ledig- 
lich die  Sozialdemokraten  für  diese  Forderung,  alle  bürgerlichen 
Parteien  geschlossen  dagegen  gestimmt  haben.  Wenn  die  An- 
wesenden sich  heute  dafür  erklärten,  so  werde  dies  eine  deutliche 
Antwort  auf  die  Reichstagsabstimmung  sein.  Der  Passus  wurde 
einstimmig  genehmigt.  Die  „konstitutionelle  Fabrikverfassung“ 
des  Goehre’schen  Entwurfs  erscheint  in  den  Beschlüssen  unter 
der  Form:  „Einführung  von  Arbeitervertretungen  oder  Ael- 
testenkollegien  in  den  Einzelfabriken“.  Den  formulirten  Be- 
schlüssen wurde  die  Ueberschrift  gegeben:  „Grundlinien  für  ein 
eventuelles  sogen.  Programm  als  Anhalt  für  Vorträge  und  Dis- 
kussionen in  den  evangelischen  Arbeiter-Vereinen“. 

Der  Ausschuss  beschloss  ferner,  die  Lechler’schen  Vorschläge 
(Wohlfahrtseinrichtungen  über  ganz  Deutschland  durch  gemein- 
nützige Aktiengesellschaften)  zu  unterstützen,  sowie  (dies  auf  An- 
trag des  Kasseler  Vereins)  „die  Wohnungsfrage  in  den  Vereinen 
zu  diskutiren  und  die  erforderlichen  Gelder  zum  Bau  von  ge- 
sunden Arbeiterwohnungen  den  Arbeiter-Baugenossenschaften  zur 
Verfügung  zu  stellen“  Endlich  wurde  auf  den  Antrag  des  Kan- 
didaten Ebert-Hamburg  eine  Petition  beschlossen:  „dass  die  In- 
validitätsversicherungs-Gelder  zum  Bau  von  Arbeiterwohnungen 
leihweise  zur  Verfügung  gestellt  werden“. 

Der  Vorstand  des  Ausschusses  wurde  für  das  nächste  Jahr, 
wie  folgt,  konstituirt:  Pfarrer  Lic.  Weber  (M. -Gladbach),  Pfarrer 
Werth  (Schalke),  Pfarrer  Günther  (Breslau),  Pfarrer  Arndt  (Vol- 
marstein), Professor  Krieg  (Kaiserslautern),  Werklührer  Kühn 
(Dortmund),  Agent  Fischer  (Gelsenkirchen),  Werkführer  Ullrich 
(Leipzig),  Handwerksmeister  Walther  (Mannheim),  Betriebs- 
Sekretär  Schulze  (Kassel),  Schreinermeister  Röhrig  (Altona), 
Pfarrer  Wagner  (Darmstadt)  und  Pfarrer  Naumann  (Frankfurt  a.  M.). 


434 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  36. 


Ein  wesentlich  anderes,  mehr  theoretisches  Bild  boten  die 
Verhandlungen  des  vierten  evangelisch-sozialen  Kongresses, 
welche  am  Donnerstag,  den  1.  Juni  eröffnet  wurden. 

Aus  dem  Jahresbericht  des  Generalsekretärs  Paul  Göhre  ist 
vor  allem  die  Enquete  hervorzuheben,  die  seitens  des  Aktions- 
komites  im  vergangenen  Jahre  über  die  Lage  der  landwirt- 
schaftlichen Arbeiter  veranstaltet  wurde.  Die  Enquete  des 
Vereins  für  Sozialpolitik  (vgl.  Centralblatt  No.  18)  habe  fast 
immer  nur  wirtschaftliche  Fragen  wie  Lohn,  Arbeitszeit,  Kon- 
traktbruch, Arbeitsverhältniss  und  dergl.  betroffen  und  sei  mit 
Hülfe  der  Arbeitgeber  zu  Stande  gekommen.  Die  Enquete  des 
Aktionskomites  solle  eine  Kontrole  der  wirthschaftlichen  Angaben 
jener  Enquete  ergeben:  man  habe  mit  Hülfe  der  Geistlichen, 
Aerzte,  Lehrer  die  Arbeiter  selbst  befragt.  Sie  solle  zur  Er- 
gänzung jener  ersten  Enquete  dienen,  mehr  die  psychologischen, 
geistigen  und  sittlichen  Momente  berücksichtigen,  die  Lage  der 
Landarbeiter  klarstellen,  gleichzeitig  aber  auch  Aufklärung 
schaffen  über  die  Gesinnung  der  Leute,  die  eigene  Auffassung 
ihrer  Lage;  sie  solle  ihre  eben  so  sehr  durch  die  sozialen  Ver- 
hältnisse wie  durch  Geburt  und  Erziehung  bedingte  psychische, 
moralische  und  religiöse  Verfassung  aufhellen  und  ihre  eigenen 
Wünsche  und  Bestrebungen  herausholen.  Befähigt  für  Aus- 
füllung solcher  Fragebogen  seien  natürlich  nicht  die  ländlichen 
Arbeiter  selbst,  sondern  allein  Geistliche,  Aerzte,  Lehrer.  Den 
Geistlichen  selbst  sei  eine  solche  Enquete  von  Nutzen:  ein 

Hauptziel  des  Kongresses  sei  es  ja,  den  Schutz  der  Schwachen 
den  evangelischen  sozial  gerichteten  Kreisen  zu  ermög- 
lichen. Das  beste  Mittel  für  diesen  Zweck,  für  Erkenntniss 
dessen,  worauf  es  ankommt  sei  die  Bearbeitung  des  Fragebogens. 
In  ganz  Deutschland  habe  man  15000  Fragebogen  verschickt  und 
dabei  betont,  dass  immer  die  Arbeiter  selbst  zu  befragen  seien. 
Die  Anfrage  habe  theihveise  Entsetzen,  Anfeindung,  Verdächtigung 
und  feindselige  Agitation  hervorgerufen , auch  in  kirchlichen 
Blättern;  vielfach  habe  man  die  Sache  stillschweigend  ignorirt. 
Andererseits  fand  man  lebhafte  Zustimmung,  Unterstützung  in  der 
Presse,  in  Pfarrerkränzchen,  Pfarrervereinen,  auf  Diözesan-  und 
anderen  Versammlungen.  Etwa  1000  Antworten  sind  bisher  ein- 
gelaufen: sie  geben  nach  dem  Urtheile  der  Sachverständigen  ein 
glänzendes  Resultat  der  Enquete  hinsichtlich  der  Qualität  und  des 
Details  des  Inhaltes.  Die  meisten,  und  sehr  gut  beantwortete, 
Fragebogen  sind  aus  der  Provinz  Sachsen  eingegangen:  141:  95 
aus  Brandenburg,  72  aus  Hannover-Oldenburg,  92  aus  Württem- 
berg, 70  aus  dem  Grossherzogthum  Hessen,  58  aus  Schlesien,  54 
vom  Königreich  Sachsen,  52  wenig  umfangreiche  aus  Bayern,  50 
von  Pommern,  48  aus  Thüringen,  46  wenig  umfangreiche  von 
Hessen-Nassau,  43  aus  Baden,  32  sehr  umfangreiche  aus  Ost- 
preussen,  14  aus  Westpreussen,  24  aus  Schleswig-Holstein  u.  s.  w. 
— Ein  weiteres  wichtiges  Unternehmen  sei  die  Vorbereitung  von 
Kursen  über  sozialkirchliche,  sozialethische,  sozial- 
politische und  sozialdemokratische  Themata  im 
evangelisch  - christlichen  Sinne.  Der  katholisch-soziale  Kursus 
in  Elberfeld  wäre  nur  2*/i  Tage,  der  in  Breslau  nur  I Tag:  die 
evangelisch-sozialen  Kurse  sollen  10  Tage  dauern,  vom  1Ö.— 20. 
Oktober.  Wenn  die  Kongresse  die  Durcharbeitung  evangelisch- 
sozialer Gedanken  bezwecken  und  Impulse  geben,  so  sollen  die 
Kurse  Informationen  bieten,  vorbereiten  für  die  Arbeit  auf  den 
Kongressen  und  für  die  soziale  Arbeit  daheim,  vor  allem  Orien- 
tirung  bieten.  Wie  in  einer  Universitätsvorlesung  soll  auch 
jedesmal  ein  Abriss  über  die  Litteratur  gegeben  werden;  auch 
werden  Besprechungen  und  Exkursionen  stattfinden.  Vortragen 
werden  die  Professoren  Adolf  Wagner  „Elemente  der  National- 
ökonomie" (8  Stunden),  Elster  „System  der  Volkswirtschaft“  (4  St.), 
Sering  „Agrarpolitik“  (8  St.),  Stieda  „Gewerbepolitik“  (8  St.), 
ferner  DrWeber  „Handel“  (4  St.),  Dr.  Oldenberg  „Die  Deutsche  Ar- 
beiterbewegung“ (4  St.),  Kulemann  „Die  deutsche  Sozialgesetz- 
gebung“ (2  St.),  P.  Schäfer  „Die  soziale  Bedeutung  der  inneren 
Mission“  (2  St.),  Generalsekretär  Göhre  „Kirchlich-soziale  Bestre- 
bungen“. — Die  Einnahmen  setzten  sich  im  letzten  Jahre  aus 
Beiträgen  von  5 — 200  Mark  zusammen  und  betrugen  im  Ganzen 
3000  Mark,  dazu  kam  der  Bestand  vom  Jahre  vorher  mit  1000  Mark; 
die  Ausgaben  beliefen  sich  auf  5000  Mark,  so  dass  die  Finanzen 
ein  Defizit  von  1000  Mark  ergeben. 

Ueber  „Christenthum  und  Wirthschaftsordnung“ 
sprach  sodann  Prof.  D.  Kaftan-Berlin.  Seine  Ausführungen  fasst 
er  in  folgenden  Sätzen  zusammen: 

I.  1.  Christliche  Religion  und  wirthschaftliches  Leben  sind 
an  und  für  sich  getrennte  Gebiete.  Mit  jener  ist  es  auf  das 
ewige  Leben  in  Gott,  mit  diesem  auf  die  zweckmässige  Befrie- 
digung zeitlicher  Bedürfnisse  abgesehen.  — 2.  Das  Christenthum 
ist  unabhängig  von  der  Wirthschaftsordnung  und  mit  jeder 
Form  des  wirthschaftlichen  Lebens  verträglich.  Wiederum  trägt 
dieses  seine  eigenen  Gesetze  in  sich,  durch  die  es  dem  Christen- 
thum selbstständig  gegenübersteht. 

II.  1.  Christliche  Religion  und  wirthschaftliche  Arbeit  treten 
auf  dem  Boden  des  sittlichen  Lebens  nothwendig  in  innere  Be- 
rührung und  Wechselwirkung  miteinander.  Nach  christlichem 
Verständniss  giebt  es  kein  ewiges  Leben  in  Gott  ohne  sittliche 
Erziehung  und  sittliche  Bethätigung,  während  die  Ordnungen 


des  wirthschaftlichen  Lebens  ihrerseits  das  sittliche  Handeln 
sowohl  bedingen  als  dadurch  bedingt  werden.  — 2.  Es  ist 
Christenpflicht,  die  Wirthschaftsordnung  so  zu  gestalten,  dass 
sie  eine  Grundlage  für  die  Pflege  der  sittlichen  Ideale  des 
Christenthums  bietet.  — 3.  Gegenüber  der  heute  bestehenden 
Wirthschaftsordnung  führt  diese  Pflicht  sowohl  zur  Vertheidi- 
gung  ihrer  wesentlichen  Grundgedanken  gegen  Umsturzgelüste 
als  zu  einschneidenden  Forderungen  mit  Bezug  auf  ihre  Um- 
gestaltung. 

In  der  Vertheidigung  dieser  Sätze  plädirte  der  Redner  für 
äusserste  Vorsicht  bei  Aufstellung  wirthschaftlicher  Forderungen 
im  Namen  des  Christenthums.  Allerdings  müsse  auch  vom  christ- 
lich-religiösen Standpunkt  aus  Stellung  zu  den  Fragen  der  Wirth- 
schaftsordnung genommen  werden,  und  zwar  trete  er  von  diesem 
Standpunkt  aus  für  die  Grundgedanken  dieser  Ordnung  ein:  für 
das  Privateigenthum  und  die  Gliederung  in  Berufsstände.  Sozia- 
listische Utopieen  seien  zu  bekämpfen,  aber  alles  Mögliche  müsse 
gethan  werden,  um  den  „intellektuellen  Hunger“  in  den  arbei- 
tenden Klassen  zu  befriedigen,  ihr  Bildungsniveau  zu  heben. 
Die  Erfüllung  dieser  Pflicht  könne  dem  Glauben  nicht  schaden. 
Man  müsse  die  Kunst  lernen,  jeder  Bevölkerungsklasse  die  ihren 
Bedürfnissen  entsprechende  Bildung  zuzuführen.  Die  Wirth- 
schaftsordnung sei  um  des  Menschen  willen  da,  nicht  der  Mensch 
um  der  Wirthschaftsordnung  willen.  Darum  dürfe  die  geistige 
und  sittliche  Persönlichkeit  des  Menschen  nicht  ein  Opfer  der 
Wirthschaftsordnung  werden.  Es  sei  nicht  nothwendig,  dass  wir 
existiren;  das  aber  sei  nothwendig,  dass  die  von  Gott  geschaffene 
Menschenwürde  nicht  verletzt  werde.  — In  der  Debatte  suchte 
Pastor  Naum  ann  - Frankfurt  a./M.  die  Sozialdemokratie  vom 
Standpunkte  der  Kirchengeschichte  zu  erklären  und  bezeichnete 
dieselbe  als  einen  innenweltlichen  Chiliasmus,  gleichzeitig  als  eine 
Häresie,  die  speziell  aus  der  christlichen  Kirche  herausgewachsen 
sei.  In  anderen  Religionen  kenne  man  eine  Sozialdemokratie 
nicht:  „Christus  aber  ging  mit  den  Armen,  und  das  ist  die  Haupt- 
sache.“ Auch  in  der  Urgemeinde  des  Christenthums  bestand  die 
Opferfreudigkeit:  man  gab  Jedem,  damit  Niemand  Noth  leide. 
Der  innenweltliche  Chiliasmus  sei  für  den  Christen  freilich  be- 
seitigt durch  das  Wort  „Sünde“:  Christen  müssen  aber  den- 

noch an  den  Fortschritt  glauben  und  nicht  mit  den  Stiefeln 
in  dem  Sumpfe  der  alten  Gesellschaft  stecken  bleiben:  der 
christlich  - soziale  Gedanke  müsse  eine  Idee  im  Kopfe  der 
Menschen  bedeuten.  Die  christlich-soziale  Bewegung  müsse  an- 
knüpfen an  die  alten  Ideen,  an  den  Idealzustand  der  Gemein- 
schaft der  Güter,  vor  allem  aber  an  den  Gedanken  des  Zinsver- 
bots der  mittelalterlichen  Kirche.  Auch  Luther  habe  gegen  das 
Zinsennehmen  geeifert.  Von  mehr  oder  weniger  theologischen 
Ausführungen  (u.  a.  auch  gegen  die  „Häresie“  der  Sozialdemo- 
kraten) leitete  Hofprediger  a.  D.  Stöcker  wieder  zu  sozialpoliti- 
schen über.  Christus  wäre  nicht  so  schnell  gekreuzigt  worden, 
wenn  er  nicht  ein  sozialer  Revolutionär  gewesen  wäre.  Bei 
Luther  sei  es  ebenso.  Aus  Württemberg  habe  ihm  letzthin  ein 
Arbeiter  geschrieben:  Christus  sei  ihm  der  Repräsentant  der 
sozialen  Idee.  Christenthum  und  Sozialismus  seien  wirklich  eins. 
Nachdem  Kand.  Ebert  mit  Bezugnahme  auf  einen  Hamburger 
Rechtsanwalt,  gegen  das  römische  Recht  und  den  römischen 
Eigenthumsbegriff  polemisirt  hatte,  warnt  Prof.  Ad.  Wagner  vor 
der  gegenwärtigen  Strömung  in  unseren  jüngeren  theologischen 
Kreisen,  welche  aus  sozialdemokratischen  Anschauungen  stammen; 
er  wolle  ein  wenig  „abwinken“,  man  möge  nicht  Forderungen 
aufstellen,  ohne  zu  sagen,  wie  sie  verwirklicht  werden  sollen. 
Im  Allgemeinen  stehe  er  auf  dem  Standpunkte  Kaftans,  hebe 
dabei  aber  das  Bibelwort  hervor:  „Und  führe  uns  nicht  in  Ver- 
suchung!“ Die  heutige  wirthschaftliche  Lage  bevorzugt  zu  sehr 
den  unreellen  Erwerb:  heute  verdienen  mühelos  Viele  riesige  Ver- 
mögen ohne  zu  arbeiten,  Andere  arbeiten  viel  und  hungern.  Nach 
dieser  Seite,  gegen  den  unreellen  Erwerb,  sei  vom  christlichen 
Standpunkte  aus  Stellung  zu  nehmen.  Schliesslich  werden  die 
Leitsätze  des  Referenten  von  der  Versammlung  im  Ganzen  als 
der  Meinungsausdruck  des  Kongresses  erklärt. 

Ueber  „Heimatkolonien“  spricht  sodann  Pastor  Crone- 
m ey er-Bremerhaven  auf  Grund  folgender  Thesen: 

1.  Sollen  die  Arbeiterkolonien  an  der  Heilung  des  grossen 
sozialen  Schadens,  durch  den  sie  ins  Leben  gerufen  wurden, 
mit  Nachdruck  und  Erfolg  arbeiten,  so  bedürfen  sie  zu  ihrer 
nothwendigen  Ergänzung  der  Heimathkolonien. 

2.  Die  wirthschaftliche  Existenzfähigkeit  der  Heimathkolo- 
nien ist  festgestellt. 

3.  Da  als  Insassen  der  Heimathkolonien  (mit  und  ohne 
ihr  Verschulden)  arbeits-  und  erwerbslos  gewordene  Männer  in 
Aussicht  genommen  sind,  so  bedarf  es  verschiedener  Klassen, 
in  denen  sie  für  ihren  zukünftigen  Beruf  ausgebildet  werden. 

4.  Der  zur  Heimathkolonie  gehörende  Grund  und  Boden 
bleibt  unveräusserliches  Eigenthum  der  Gesammtheit;  die  ein- 
zelnen Insassen  erhalten  ihr  Kolonat  in  Dauerpacht. 

5.  Den  Heimathkolonisten  ist  in  umfassender  Weise  Ge- 
legenheit geboten,  sich  die  Vortheile  der  Association  für  Ver- 
brauch und  Erwerb  zu  eigen  zu  machen. 


No.  36. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


435 


Seine  Versuche,  zu  Friedrich- Wilhelmsdorf  für  die  Moor- 
kultur arbeits-  und  erwerbslos  gewordene  Leute  zu  Kolonen 
heranzubilden  und  so  sesshaft  zu  machen,  betrachtet  der  Vor- 
tragende als  durchaus  gelungen.  Vor  den  Arbeitsscheuen  müsse 
man  besser  geschützt  werden.  Der  Strafvollzug  müsse  anders 
gehandhabt  werden.  Vor  allem  sei  eine  Trennung  der  besseren 
Elemente  von  den  schlechteren,  gesonderte  Räume  für  diejenigen 
erforderlich,  welche  sich  gut  geführt  haben.  Die  besseren  Leute 
beschäftige  man  im  landwirthschaftlichen  Betriebe.  Dann  erlangen 
hier  in  zwei  Jahren  die  nothwendigen  Kenntnisse  in  der  Moor- 
wirthschaft,  im  Gartenbau  und  der  Viehzucht.  Haben  sich  Mann 
und  Frau  gut  geführt,  so  wird  ihnen  nach  2-  3 Jahren  ein  eigenes 
Kolonat  gegeben;  andernfalls  werden  sie  von  Friedi ich-Wilhelms- 
dorf  fortgeschickt,  damit  sie  dort  nicht  Heimathsrechte  erwerben. 
Jeder  Kolone  geniesst  die  Früchte  seines  Kolonats;  keiner  wird 
Eigenthümer;  anfangs  habe  Herr  Cronemeyer  beabsichtigt,  den 
Kolonen  zum  Eigenthümer  werden  zu  lassen,  sei  später  aber  von 
■diesem  Gedanken  abgekommen.  Bei  der  Erbtheilung  muss  der 
Aelteste  entweder  auszahlen  oder  es  entstehen  Zweigwirt- 
schaften; bald  würde  sich  die  Spekulation  der  jungen  Moorkultur 
bemächtigen  und  so  geht  dann  leicht  das  Gut  in  andere  Hände 
über,  deshalb  habe  man  vom  freien  Eigenthum  abgesehen,  bei 
dem  der  Bauernstand  zu  60  pCt.  verschuldet  sei,  bis  zu  */3  des  Guts- 
werths  und  darüber;  man  habe  das  System  der  Dauerpacht  ge- 
wählt, bei  dem  der  Kölone  glücklicher  sein  werde,  als  der  seinem 
Gläubiger  tributpflichtige  Bauer.  Wird  die  Pacht  gezahlt  und 
hält  der  Kolone  seine  Wirtschaft  gut,  so  ist  eine  Kündigung  der 
Pacht  ausgeschlossen.  Genossenschaftliche  Einrichtungen,  deren 
Benutzung  in  das  freie  Belieben  gestellt  ist,  helfen  in  Nothlagen, 
erleichtern  den  Verkauf  der  Produktion  u.  s.  w. 

Nach  längerer,  zum  Theil  von  dem  Gegenstand  abschwei- 
fender Debatte  wurde  schliesslich  folgender  Antrag  genehmigt; 

„Der  Kongress  nimmt  mit  Interesse  Kenntniss  von  den 
Leitsätzen  des  Herrn  Referenten  und  würde  in  dem  wirth- 
_ schaftlichen  Gedeihen  der  Heimathkolonien  eine  werthvolle 
Ergänzung  der  Arbeiterkolonien  erblicken.“ 

In  der  Freitags-Sitzung  sprach  Hofprediger  Dr.  Braun  über 
die  Annäherung  der  Stände  in  der  Gegenwart  und  zwar 
im  Anschluss  an  folgende  Thesen ; 

I.  Thatsächlich  vollzieht  sich  in  der  Gegenwart  — im  Anschluss 
an  die  rechtliche  Gleichstellung  und  vermehrte  persönliche  Berüh- 
rung eine  Annäherung  der  verschiedenen  Stände  auf  den  Gebieten 
der  allgemeinen  Geistesbildung  und  der  äusseren  Lebenshaltung. 

'2.  Aber  diese  Annäherung  bleibt,  wenn  sie  nicht  auf  festere 
und  tiefere  Grundlagen  gestellt  wird,  eine  ungenügende  und 
widerspruchsvolle  und  hindert  nicht  die  innere  Entfremdung 
zwischen  den  Ständen  und  die  Schärfung  des  Klassenbewusstseins. 

3.  Eine  wirklich  weithvolle  und  fruchtbare  Annäherung 
der  verschiedenen  Stände  hat  zu  nothwendigen  Voraussetzungen: 
a)  eine  derartige  Gestaltung  der  materiellen  Lage  für  die  Glieder 
aller  Stände,  dass  jedem  ein  Gefühl  der  Sicherheit  und  Befriedi- 
gung ermöglicht,  und  dem  Neid  wie  dem  Uebermuth  der  Boden 
entzogen  wird;  b)  den  innerlich  verbindenden  Besitz  idealer,  ins- 
besondere religiöser  Güter  und  Interessen;  c)  Achtung  und  Ver- 
trauen als  Grundton  aller  persönlichen  Beziehungen. 

4.  Hiernach  wird  der  Annäherung  der  Stände,  wenn  auch 
nur  mittelbar,  so  doch  um  so  gründlicher  gedient:  a)  durch 
energische  Thaten  der  sozialen  Reform;  b)  durch  Pflege  der 
idealen  Faktoren  in  allen  Ständen,  insbesondere  kraftvolle  Be- 
thätigung  der  christlichen  Kirche  und  Seelsorge;  c)  durch  reich- 
liche Anknüpfung  und  warme  unermüdliche  Pflege  persönlicher  Be- 
ziehungen, wie  sie  sich  ungezwungen  im  täglichen  Leben  ergeben. 

5.  In  zweiter  Linie  haben  auch  besondere  Veranstaltungen, 
die  unmittelbar  eine  Annäherung  grösserer,  den  verschiedenen 
Ständen  angehöriger  Kreise  herbeiführen  und  zunächst  auf  ge- 
selligem Boden  (durch  Zusammenkünfte,  Vereine,  Feste)  verwirk- 
lichen wollen,  ihren  Werth  — insbesondere  als  Gegengewicht 
gegen  Vereinsbildungen  auf  einseitiger  Standesgrundlage  — aber 
nur  wenn  ihre  Haltung  von  den  in  These  3 und  4 gezeichneten 
Gesichtspunkten  bestimmt  ist.  und  wenn  alles  Erkünstelte  und 
innerlich  Unwahre  und  alle  übermässige  Betonung  ihrer  sozialen 
Bedeutung  vermieden  wird. 

6.  In  Bezug  auf  die  Annäherung  der  Stände  wie  alle  sozialen 
Aufgaben  der  Gegenwart  haben  wir  ohne  Rücksicht  auf  den  Er- 
folg unentwegt  zu  arbeiten  in  Pflichtgefühl  und  brüderlicher  Liebe. 

An  der  Debatte  betheiligten  sich  Reiseprediger  Wagner 
(Darmstadt),  Pastor  Naumann,  Schriftsteller  Paul  Dehn,  Prof. 
Adolf  Wagner,  Amtsgerichtsrath  Kuhlemann.  Hofprediger  a.  D. 
Stöcker,  Prediger  Alfred  Eckert,  Diakonus  Küntzel-Breslau. 

Ebenso  interessant  wie  traurig  war  sodann  die  Schilderung  der 
Erlebnisse,  welche  Kandidat  Wangemann,  der  Sohn  des  bekannten 
Missionsdirektors,  durchgemacht  hat.  Als  Handwerksbursche  hat 
derselbe  3 Monate  lang  alle  Leiden  eines  Arbeitslosen  an  sich 
selbst  erfahren;  wo  er  um  Arbeit  ansprach,  wurde  er  abgewiesen, 
und  von  den  Geistlichen,  an  deren  Thüren  er  als  Bittender  erschien, 
wurde  er  sehr  häufig  hinausgeworfen,  so  in  Hamburg  und  an 
vielen  anderen  Orten.  Als  er  sich  in  Oldenburg  krank  mit  40° 


Fieberhitze  einem  Sanitätsrath  vorstellte,  nahm  sich  derselbe  nicht 
einmal  die  Mühe,  das  Thermometer  in  seine  Achselhöhe  zu  legen. 
Für  die  von  allen  Mitteln  entblössten  Arbeitslosen  erbat  er  das 
Interesse  und  die  Theilnahme  der  Versammlung.  Zu  den  Her- 
bergen der  Heimath  gehen  die  Handwerksburschen  nicht  gerade 
deshalb,  weil  es  dort  bessere  Betten,  billigeres  oder  besseres 
Essen  giebt,  sondern  weil  sie  dort  freundlich  behandelt  werden. 
Ganz  entsetzlich  schroff  sei  sehr  häufig  die  Art  und  Weise, 
wie  die  Polizeibeamten  den  Leuten  begegnen.  Auf  die  Art  ddr 
Behandlung  legen  auch  jene  Armen  das  meiste  Gewicht,  und  schwer 
empfinden  sie  Handlungen,  in  denen  sich  Missachtung  gegen  sie 
ausdrückt.  In  einer  Herberge  der  Heimath  bestellte  sich  einer 
der  Genossen  des  freiwilligen  Wanderburschen  ein  Glas  echtes  Bier; 
als  man  ihm  verweigerte,  Was  anderen  Leuten  verkauft  wird,  ver- 
liessen  er  und  8 seiner  Collegen  sofort  die  Herberge  und  schwuren, 
dass  sie  niemals  wieder  eine  Herberge  zur  Heimath  aufsuchen 
würden.  Im  Allgemeinen  stehen,  diese  Herbergen  aber  in  jenen 
Kreisen  in  gutem  Ansehen,  und  der  Name  des  Pfarrer  v.  Bodel- 
schwingh  hat  in  jenen  Kreisen  der  Arbeiterwelt  einen  guten  Klang. 

Immer  deutlicher  kamen  die  Gegensätze  der  „Jungen“,  ver- 
treten vor  allem  durch  Pastor  Naumann  und  der  „Alten“,  zu  denen 
der  Referent,  weiter  Ad.  Wagner,  Stöckerauch  Kuhlemann  zählen, 
zur  Geltung,  wenn  auch  Pastor  Naumann  in  persönlicher  Bemer- 
kung beim  Schluss  der  Debatte  hervorhob,  dass  ein  innerer  und 
persönlicher  Gegensatz  zwischen  „Alten“  und  „Jungen“  nicht  be- 
stehe. Schliesslich  wurde  folgende  Resolution  angenommen  : 

„Der  evangelisch  - soziale  Kongress  erblickt  in  den  vom 
Referenten  aufgestellten  Gedanken  werthvolle  Mittel,  um  den 
durch  unsere  Zeit  hindurch  gehenden  sozialen  Konflikt  nicht 
in  revolutionärer,  sondern  in  friedlicher  Weise  zu  lösen.“ 

Gegen  3 Uhr  trat  die  Versammlung  in  den  letzten  Gegen- 
stand der  Tagesordnung  ein : „Das  Sonntagsgesetz  und  seine 
Konflikte  im  Volksleben.“ 

Der  Ref.  Hofpred.  a.  D.  Stöcker  stellte  folgende  Thesen  auf: 

1.  Die  Sonntagsruhe  in  ihrer  neuesten  gesetztlichen  Gestalt 
bedeutet  einen  Fortschritt  gegen  früher,  aber  noch  nicht  den  nor- 
malen Zustand,  welcher  erst  mit  der  Befreiung  des  Feiertages 
von  aller  nicht  unumgänglich  nothwendigen  Arbeit  vorhanden  ist. 

2.  Die  aus  dem  gegenwärtigen  Zustande  im  Handelsgewerbe 
entstandenen  Schwierigkeiten  haben  ihren  Grund  zum  Theil  nicht 
in  der  zu  grossen  Schärfe,  sondern  in  der  Milde  der  geltenden 

| Bestimmungen  und  werden  mit  der  Gewöhnung  des  Volkes  all- 
mälig  auf  hören.  Eine  Abänderung  ist  nur  dann  erwünscht,  wenn 
sie  die  Geschäfts-  und  Arbeitszeit  beschränkt.  Die  gesetzlich  er- 
laubten Ausnahmen  sind  knapp  zu  bemessen. 

3.  Die  landesgesetzlichen  Verordnungen  für  die  Sonntagsruhe 
in  Industrie  und  Handwerk  sind  möglichst  bald  zu  erlassen  und 

| bei  den  dazu  erforderlichen  Ermittelungen  von  den  Staatsbehörden 
j ebenso  die  Arbeiter  wie  die  Unternehmer  heranzuziehen. 

4.  Die  Verordnungen  in  Betreff  der  Sonntagsruhe  im  Han- 
delsgewerbe entsprechen  nur  dann  dem  Geist  der  Gesetzgebung, 
wenn  sie  dem  Handlungsgehilfen  den  Sonntag  Nachmittag  frei 
lassen  und  am  Morgen  die  Arbeitszeit  mindestens  eine  halbe 
Stunde  vor  Beginn  des  Gottesdienstes  schliessen. 

5.  Die  Ortsstatute  in  Stadt  und  Land  sollen  die  Sonntagsruhe 
des  Nachmittags  nicht  beeinträchtigen.  Die  Grossstädte,  Berlin 
voran,  verkennen  ihre  soziale  Aufgabe,  wenn  sie  im  Handels- 
gewerbe die  gesetzlich  gestattete  Arbeitszeit  von  5 Stunden  be- 
stehen lassen.  Sie  vor  allen  haben  die  Initiative  zu  ergreifen 
und  Statute  zu  erlassen,  welche  die  gesammte  Arbeitszeit  mög- 
lichst vor  den  Beginn  des  Gottesdienstes  verlegen. 

6.  Die  Staatsbetriebe  haben,  wie  überhaupt,  so  auch  in  der 
Sonntagsruhe  eine  vorbildliche  Aufgabe  zu  erfüllen.  Insbesondere 
ist  dem  Fahren  der  Gepäckwagen  im  Postbetrieb  während  der 
gottesdienstlichen  Zeit  und  darüber  hinaus  ein  Ende  zu  machen, 
weil  dadurch  öffentlich  der  Sonntagsfriede  gestört  wird. 

7.  Das  Verkehrs-  und  Schankgewerbe  kann  nicht  dauernd 
ohne  gesetzliche  Regelung  der  Sonntagsruhe  bleiben.  Den  darin 
Angestellten  muss  mindestens  der  dritte  Sonntag  völlig  frei  sein. 

Der  Vortragende  führte  aus,  dass  eigentlich  auch  der  Sonn- 
abend Nachmittag  den  Arbeiterfamilien  frei  gelassen  werden 
müsse,  wie  es  in  England  der  Fall  sei:  jetzt  aber  machen  sich 
wieder  Bestrebungen  geltend,  auch  nur  den  jetzigen  Sonntag  dem 
deutschen  Volke,  insbesondere  den  Handlungsgehilfen  wieder  zu 
nehmen.  Ein  Hinausschieben  der  Ruhe  in  den  Sonntag  Nach- 
mittag wäre  ein  Rückschritt.  Freilich  könne  man  nicht  füglich  bei 
Geschäftsleuten  eine  Freudigkeit  für  dies  Gesetz  erwarten,  wenn 
die  kaiserlichen  Postwagen  selbst  während  der  Zeit  des  Gottes- 
dienstes bis  in  den  Nachmittag  auf  den  Strassen  dahinrollen.  In 
Kellnerkreisen  herrscht  ein  guter  Geist,  ein  Geist  des  Patriotismus! 
auch  für  sie  müsse  gesorgt  werden  und  mindestens  jeder  dritte 
Sonntag  frei  bleiben.  An  der  Debatte  betheiligten  sich  Reise- 
prediger Wagner- Darmstadt,  Pfarrer  Franz -Neumark,  Pfarrer 
Schall-Braunschweig.  Der  Kongress  erklärte  seine  Ueberein- 
stimmung  mit  den  Thesen  des  Redners. 

Damit  war  die  Tagesordnung  erschöpft,  und  der  Kongress 
wurde  geschlossen. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin,  W.,  Victoriastrasae  16. 


436 


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Carl  Heymanns  Verlag  in  Berlin  W.,  Mauerstrasse  44.  — Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld  in  Berlin  W. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  12.  Juni  1893. 


Nummer  37. 


SOZIALPOLITISCHES 

C ENTRALBLATT. 


Erscheint  Jeden  Montag. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 

Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 


Zu  beziehen 

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Einzelnummer  20  Pf 

Anzeigenpreis  für  die  dreigespaltene  Colonelzeile 
40  Pfennig. 


INHALT. 


Die  Rückerstattung  gezahl- 
ter Renten. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  und 
Wirthschaftsstatistik : 

Katholischer  Kursus  über  prak- 
tische Sozialpolitik. 

Arbeiterzustände : 

Zur  Lohnstatistik  in  Oesterreich. 

Gewerkschaftliche  Arbeiterbewe- 
gung: 

Die  Gewerkschaftsbewegung  in 
Ost-  und  Westpreussen.  Von 
Br.  Po  er  sch. 

Armenwesen: 

Armenpflege  und  Miethszinszah- 
lung.  Von  Max  May. 

Deutscher  Verein  für  Armenpflege 
und  Wohlthätigkeit. 


Elberfelder  System  in  Reichenberg. 

Almosen  und  Wahlrecht. 

Soziale  Hygiene: 

Die  Maassregeln  gegen  die  Cholera. 

Volksschulbäder  in  Hanau.  Von 
Handelskammersekretär  Rud. 
Boedicker. 

Deutscher  Verein  für  öffentliche 
Gesundheitspflege. 

A rbeitshygienische  Untersuchungen 
in  England. 

Fürsorge  für  Genesende. 

Preisausschreiben  betr.  Mässig- 
keitsbestrebungen. 

Wohlfahrtseinrichtungen : 

Studienreise. 

Gewinnbetheiligungs  - Projekt  in 
Algier. 

Eingesendete  Bücher. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Rückerstattung  gezahlter  Renten. 


Die  von  uns  früher  bereits,  Band  II,  Nr.  12  dieser  Zeit- 
schrift, kurz  skizzirte  Revisionsentscheidung  des  Reichs- 
versicherungsamts vom  5.  November  1892  ist  nunmehr  erst 
mit  ausführlicher  Begründung  bekannt  gemacht.  (Amtl. 
Nachr.  Nr.  8 v.  15.  April  er.  S.  73  ff.)  Bei  der  grossen  Be- 
deutung, welche  die  Frage  der  Rentenerstattung  für  sich 
beanspruchen  darf,  mag  es  uns  gestattet  sein,  dieselbe  noch 
einmal  an  der  Hand  dieser  Entscheidung  kurz  zu  erörtern. 
Formell  drehte  sich  der  Streit  nur  darum  — und  so  ist  er 
denn  auch  nur  entschieden  — ob  beim  Tode  des  Renten- 
klägers vor  rechtskräftig  beendetem  Verfahren  dessen  Erben 
zum  Eintritt  in  den  Prozess  und  zur  Fortführung  desselben 
aktiv  und  passiv  legitimirt  sind.  Die  Frage  aber,  welche 
bei  dieser  Gelegenheit  von  dem  Herrn  Staatskommissar 
aufgeworfen  und  demgemäss  denn  auch  von  dem  Gerichts- 
höfe mit  behandelt  worden  ist,  geht  darüber  weit  hinaus 
und  lautet:  Ist  es  zulässig,  eine  Rente,  welche  auf  Grund 

eines  vorläufig  vollstreckbaren  Urtheils  gezahlt  worden  ist, 
nach  dem  Tode  des  Empfängers  von  dessen  Erben  zurück- 
zufordern, wenn  jenes  Urtheil  in  der  höheren  Instanz  auf- 
gehoben worden  ist?  Und  auch  so  ist,  was  übrigens  der 
Herr  Staatskommissar  nicht  verkennt,  die  Frage  noch  nicht 
weit  genug  gefasst,  sie  muss  vielmehr  lauten:  Ist  eine 

solche  Rückforderung  überhaupt,  auch  dem  Empfänger 
selbst  gegenüber,  zulässig?  Für  das  erkennende  Gericht 
kam  zudem  die  Zulässigkeit  nur  in  dem  Sinne  in  Betracht, 
ob  das  gegenwärtige  Gesetz  die  Rückforderung  gestattet. 
Damit  kann  aber  die  Sache  nicht  abgethan  sein.  Ist  in 


diesem  Sinne  die  Frage  zu  bejahen,  so  wird  vielmehr 
weiter  geprüft  werden  müssen,  ob  dieser  Zustand  den  Grund- 
sätzen der  Billigkeit  entspricht,  oder  ob  eine  Abänderung 
desselben  verlangt  und  erstrebt  werden  muss. 

Wir  werden  zunächst  mit  ein  Paar  Worten  den  Streitfall 
zu  rekapituliren  haben.  Das  Schiedsgericht  hat  einer  alten 
Frau  die  Altersrente  zugesprochen.  Gegen  diese  Entschei- 
dung legen  die  Versicherungsanstalt  und  der  Staatskommissar 
Revision  ein,  indem  sie  die  Versicherungspflichtigkeit  und 
damit  die  Berechtigung  zum  Rentenempfange  grundsätzlich 
bestreiten.  Nach  der  bisherigen  Rechtsprechung  des  Reichs- 
versicherungsamtes kann  es  von  vorne  herein  gar  keinem 
Zweifel  unterliegen,  dass  die  Revision  für  begründet  er- 
achtet, der  Klägerin  die  Rente  entzogen  werden  wird. 
Vor  der  Verhandlung  in  der  Revisionsinstanz  stirbt  die 
Klägerin.  Die  Versicherungsanstalt  beantragt  Fortsetzung 
des  Verfahrens  gegen  die  Erben.  Dagegen  erklärt  der 
Staatskommissar:  Ich  wollte  mit  meiner  Revision  nur  er- 

reichen, dass  der  Frau  die  Rente,  die  ihr  nicht  gebührt, 
nicht  weiter  gezahlt  werden  sollte.  Davon  ist  nun  ohnehin 
keine  Rede,  denn  mit  dem  Tode  ist  die  Rentenzahlung 
natürlich  eingestellt.  Für  mich  ist  die  Sache  also  erledigt. 
Die  Rückforderung  der  inzwischen  infolge  des  schieds- 
gerichtlichen Urtheils  gezahlten  Rentenbeträge  war  es  nicht, 
was  ich  beabsichtigte,  und  um  etwas  Anderes  kann  es  sich 
jetzt  nicht  mehr  handeln.  Deshalb  nehme  ich  meine  Re- 
vision zurück.  Ich  halte  aber  auch  eine  solche  Rückforde- 
rung bona  fide  empfangener  und  verbrauchter  Renten- 
beträge von  Leuten,  die  sie  überhaupt  nicht  erhalten  und 
nichts  davon  gehabt  haben,  für  unzulässig.  Desshalb  bean- 
trage ich  die  Abweisung  der  von  der  Versicherungsanstalt 
aufrecht  erhaltenen  Revision. 

Das  Reichsversicherungsamt  hat  diesem  Anträge  nicht 
stattgegeben  , vielmehr  die  Fortsetzung  des  Verfahrens 
gegen  die  Erben  für  zulässig  erklärt  und  dahin  erkannt, 
dass  der  Rentenanspruch  unbegründet,  demzufolge  das 
schiedsgerichtliche  Urtheil  aufzuheben  und  der  abweisende 
Bescheid  wieder  herzustellen  sei.  Weiter  hatte  es  nichts 
zu  erkennen.  Vielmehr  wird  ausdrücklich  in  der  Begrün- 
dung darauf  hingewiesen,  dass  die  weitere  Frage,  was  nun 
mit  den  überhobenen  Rentenbeträgen  zu  geschehen  habe, 
ob  dieselben  zurückzufordern  seien,  von  wem  und  in 
welchem  Verfahren  , gärnicht  hier  zu  entscheiden,  son- 
dern ein  rein  privatrechtlicher  Anspruch,  daher  im  Streitfälle 
im  ordentlichen  Prozess  vor  dem  Civilrichter  zum  Austrag 
zu  bringen  sei. 

Den  vom  Reichsversicherungsamt  eingenommenen 
Standpunkt  halten  wir,  wie  wir  vorausschicken  wollen,  für 
juristisch  ganz  unanfechtbar,  und  seine  Begründung  für 
durchaus  zutreffend.  Wir  können  uns  mit  einem  ganz 
kurzen  Auszuge  aus  den  Gründen  begnügen. 


438 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  37. 


Die  Frage  ist  zunächst  eine  prozessrechtliche.  Das 
Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetz  und  die  zur  Re- 
gelung  des  Verfahrens  erlassenen  Kaiserlichen  Verordnungen 
enthalten  keine  Vorschrift  hierüber.  Es  ist  sonach  auf  die 
Bestimmungen  der  Civilprozessordnung  zurückzugehen,  so- 
weit dieselben  nicht  in  Besonderheiten  des  bürgerlichen 
Prozesses  ihren  Grund  haben.  Nach  diesen  Bestimmungen 
(§§  217  ff.)  tritt  im  Falle  des  Todes  einer  Partei  eine  Unter- 
brechung des  Verfahrens  bis  zur  Wiederaufnahme  durch 
die  Rechtsnachfolger  ein;  erfolgt  eine  solche  nicht,  so  kann 
der  Gegner  die  Rechtsnachfolger  zur  Aufnahme  und  zu- 
gleich zur  Verhandlung  in  der  Hauptsache  laden,  und  es 
kann  demnächst  auf  Antrag  von  dem  Gerichte  erkannt 
werden,  dass  das  Verfahren  von  den  Rechtsnachfolgern 
aufgenommen  sei.  Diese  Prozessregeln  auch  auf  das  Ver- 
fahren vor  den  Schiedsgerichten  und  dem  Reichsver- 
sicherungsamt anzuwenden,  kann  keinem  Bedenken  unter- 
liegen. 

Freilich  setzt  diese  Anwendung  voraus,  dass  es  sich 
um  einen  Anspruch  handelt,  in  welchen  überhaupt  eine 
Rechtsnachfolge  stattfindet.  Gerade  das  bestreitet  der 
Staatskommissar,  aber  mit  Unrecht.  Das  Gegentheil  folgt 
weder  aus  der  höchst  persönlichen  Natur  des  Renten- 
anspruchs, noch  daraus,  dass  es  sich  hier  um  dem  Gebiete 
des  öffentlichen  Rechts  angehörige  Rechtsverhältnisse 
handelt.  Dass  freilich  der  Rentenanspruch  insofern  ein  rein 
persönlicher  ist.  als  er  mit  dem  Tode  des  Berechtigten  er- 
lischt, ist  ohne  weiteres  zuzugeben  und  im  ganzen  Gebiete 
der  Arbeiterversicherung  niemals  streitig  gewesen.  Auch 
die  Hinterbliebenen-Renten  im  Gebiete  der  Unfallversiche- 
rung beruhen  keineswegs  auf  einer  Rechtsnachfolge,  sondern 
auf  einem  eigenen,  den  Hinterbliebenen  beigelegten  Rechts- 
anspruch. Stirbt  ein  im  Genuss  der  Unfallrente  befind- 
licher Verletzter  nachträglich  an  den  Folgen  des  Unfalls, 
so  beziehen  die  Hinterbliebenen  nicht  etwa  seine  Rente 
weiter,  sondern  es  wird  für  sie  eine  neue  Rente  nach 
anderen  Grundsätzen  festgestellt.  Und  stirbt  derselbe 
nicht  an  den  Folgen  des  Unfalls  , sondern  aus  einer 
anderen  Ursache,  so  bekommen  die  Hinterbliebenen  über- 
haupt nichts. 

Aber  nicht  um  eine  solche  Rechtsnachfolge  handelt  es 
sich  hier,  sondern  um  eine  ganz  andere.  Das  Recht  zum 
Rentenbezuge  kann  nicht  auf  einen  Anderen  übergehen, 
sondern  stirbt  mit  dem  Inhaber.  Davon  durchaus  ver- 
schieden ist  aber  der  Anspruch  auf  Auszahlung  der  ein- 
zelnen fällig  gewordenen  Rentenbeträge.  Dieser  Anspruch 
ist  ein  rein  vermögensrechtlicher,  auf  Zahlung  einer  Geld- 
summe gerichteter.  Soweit  er  bei  Lebzeiten  des  Renten- 
berechtigen  bereits  entstanden,  aber  noch  nicht  befriedigt 
war,  gehört  er  zu  seinem  Vermögen,  bildet  einen  Theil 
seines  Nachlasses  und  geht  mit  diesem  auf  die  Erben  über. 
Hieran  kann  auch  dadurch  nichts  geändert  werden,  dass 
der  Anspruch  noch  zweifelhaft,  bestritten  ist  oder  den 
Gegenstand  eines  Prozesses  bildet.  Es  kann  also  keinem 
Bedenken  unterliegen,  zunächst  die  Aktivlegitimation  der 
Erben  zum  Eintritt  in  einen  schwebenden  Rentenprozess, 
selbstverständlich  nur  bezüglich  der  bei  Lebzeiten  des  Erb- 
lassers fällig  gewordenen  Rentenbeträge,  anzuerkennen. 
Ihnen  die  nachträgliche  Geltendmachung  des  Anspruchs  zu 
verwehren,  nur  weil  der  Rentenberechtigte  dessen  end- 
giltige  Feststellung  nicht  mehr  erlebt  hat,  würde  auch  den 
Grundsätzen  der  Billigkeit  nicht  entsprechen.  Und  es  würde 
durchaus  unzweckmässig  sein,  schon  weil  es  die  Ver- 
sicherungs-Anstalten in  den,  wenn  auch  ganz  ungerecht- 
fertigten Verdacht  bringen  würde,  die  Rentenfestsetzung 
thunlichst  zu  verzögern,  weil  der  Berechtigte  inzwischen 
sterben  und  sie  dadurch  von  der  Zahlungspflicht  befreien 
könnte.  Das  aber  müsste  natürlich  dazu  beitragen,  das 
Verhältniss  zwischen  den  Anstalten  und  den  Versicherten 
in  sehr  unerwünschter  Weise  durch  Misstrauen  zu  ver- 


giften. — Nun  liegt  aber  gar  keine  Veranlassung  vor,  den 
anderen  Fall,  dass  der  Prozess  beim  Tode  des  Renten- 
klägers sich  zufällig  in  einem  Stadium  befand,  in  welchem 
dieser  die  passive  Rolle  des  sich  Vertheidigenden  zu  spielen 
hatte,  rechtlich  anders  zu  beurtheilen.  Geht  der  Renten- 
anspruch — d.  h.  immer  der  Anspruch  auf  diejenigen 
Rententermine,  welche  der  Erblasser  noch  erlebt  hat  — 
überhaupt  auf  die  Erben  über,  so  muss  er  auch  in  der 
Lage  übergehen,  in  welcher  er  sich  zur  Zeit  des  Todes 
und  Erbanfalles  befand,  und  die  Erben  müssen  auch  ge- 
nöthigt  werden  können,  wider  ihren  Willen  in  den  schweben- 
den Prozess  als  Instanzbeklagte  einzutreten.  Inwieweit  sie 
damit  die  Verpflichtung  zur  Zurückerstattung  bereits  er- 
hobener Renten  überkommen,  wertn  der  Prozess  schliess- 
lich verloren  wird,  ist  eine  ganz  andere,  hier  nicht  zu  ent- 
scheidende Frage. 

Gerade  auf  diese  andere  Frage  kommt  es  uns  wesent- 
lich an.  Sie  ist  von  dem  ordentlichen  Prozessrichter  nach 
privatrechtlichen  Grundsätzen  zu  entscheiden,  und  es  kann 
kaum  zweifelhaft  sein,  dass  sie  zu  der  Erben  Ungunsten 
entschieden  werden  muss,  wofern  diese  nicht  etwa  der 
Erbschaft  entsagt  oder  dieselbe  cum  beneficio  inventarii  an- 
getreten haben, — Schutzmittel,  die  allerdings  Jedem  gegeben 
sind,  auf  die  man  aber  gleichwohl  in  Berücksichtigung  der 
Volksklassen,  die  hier  fast  ausschliesslich  in  Betracht  kommen, 
nicht  wird  verweisen  dürfen  — , und  wofern  feststeht,  dass 
der  Rentenempfänger  selbst  zur  Rückerstattung  verpflichtet 
gewesen  wäre.  Darüber,  dass  das  der  Fall  ist;  besteht 
aber  so  wenig  rechtlich,  als  in  der  Praxis  ein  Zweifel. 
Unter  den  Einnahmen  der  Versicherungsanstalten,  welche 
die  Zusammenstellung  des  Reichsversicherungsamts  für  das 
Jahr  1891  ausweist,  befinden  sich  auch  gegen  8000  M. 
zurückerstattete  Renten.  Dies  ist  an  sich  kein  hoher  Betrag. 
Aber  er  setzt  sich  aus  einer  Zahl  ganz  geringfügiger 
Summen  zusammen,  da  ja  die  Renten  an  sich  niedrig 
sind,  und  es  sich  doch  immer  nur  um  die  Zeit  zwischen 
dem  schiedsgerichtlichen  und  dem  Revisionsurtheil  handeln 
kann.  Diese  Geringfügigkeit  aber  ändert  nichts  daran,  dass 
die  Beträge  für  den,  der  sie  erhält,  recht  sehr  ins  Gewicht 
fallen.  Das  Reichsversicherungsamt  hat  nichts  anderes 
thun  können,  als  die  in  der  Rückforderung  unbedingt 
liegende  Härte  dadurch  -zu  mildern,  dass  es  im  Gebiete  der 
Unfallversicherung  die  Berufsgenossenschaften,  hier  die 
Versicherungsanstalten  angewiesen  hat,  überhobene  Renten- 
beträge nicht  etwa  auf  einmal  einzuziehen,  auch  nicht  in 
der  Form  einzubringen,  dass  die  Zahlung  der  etwa  herab- 
gesetzten Renten  so  lange  ganz  eingestellt  wird,  bis  die 
Differenz  ausgeglichen  ist,  sondern  die  Abzüge  nur  in  an- 
gemessenen kleineren  Raten  zu  machen.  Mehr  konnte  das 
Reichsversicherungsamt  nicht  thun,  und  es  ist  schon  sehr 
anzuerkennen,  dass  es  das  gethan  hat;  denn  im  Gesetz  steht 
davon  nichts,  nach  privatrechtlichen  Grundsätzen  ist  die 
Schuld  durch  Aufrechnung  der  Gegenforderung  aus  früheren 
Ueberhebungen  getilgt.  Der  ordentliche  Richter  würde 
also  nicht  einmal  solche  Rücksichten  nehmen  können. 

Aber  was  das  Reichsversicherungsamt  nicht  kann,  das 
kann  und  das  soll  der  Gesetzgeber.  Wir  meinen,  dass  die 
ganze  Frage  dadurch,  dass  sie  der  Staatskommissar,  wenn 
auch  in  wohlmeinendster  und  durchaus  dankenswerther 
Absicht,  mit  den  zuvor  erörterten  Gesichtspunkten  vermischt 
hat,  etwas  verschoben  ist.  Die  Rechtssuccession  der  Erben  in 
den  Rentenanspruch  soll  garnicht  bestritten  werden.  Hier 
einzusetzen,  ist  schon  deshalb  falsch,  weil  man  damit  zu 
allererst  auch  das  Recht  der  Erben,  rückständig  gebliebene 
Rentenbeträge  nachzufordern,  negiren  müsste.  Und  dazu 
liegt  doch  durchaus  kein  Grund  weder  der  Billigkeit  noch 
des  Rechts  oder  der  Sozialpolitik  vor.  Was  in  dieser  Be- 
ziehung das  Reichsversicherungsamt  ausführt,  können  wir 
nur  Wort  für  Wort  unterschreiben.  In  etwas  Anderem  liegt 
die  Unbilligkeit,  nämlich  in  der  Rückforderung  gezahlter 


No.  37. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


439 


Renten  an  sich,  und  zwar  ganz  allgemein,  mag  es  sich  um 
Unfall-,  Alters-  oder  Invalidenrenten  handeln,  mag  der  Er- 
stattungsanspruch gegen  den  Rentenempfänger  selbst  oder 
gegen  dessen  Rechtsnachfolger  gerichtet  sein. 

Hier  verlangen  wir  Abhilfe.  Und  wir  verlangen  sie 
mit  dem  vollen  Bewusstsein,  dass  das,  was  wir  fordern,  mit 
den  herrschenden  Grundsätzen  des  Privatrechts  nicht  ver- 
einbar ist,  dass  wir  eine  Ausnahmebestimmung,  ein  Privileg 
begehren.  Aber  wir  begehren  dasselbe  zum  Ausgleich  einer 
unerträglichen  Härte,  um  einem  Gedanken  zur  vollen  An- 
erkennung zu  verhelfen,  der  schon  in  den  gegenwärtigen 
gesetzlichen  Bestimmungen  angedeutet,  wenn  auch  nicht 
konsequent  durchgeführt  ist.  Da  sämmtliche  Renten  dazu 
bestimmt  sind,  zum  Lebensunterhalt  sofort  verbraucht  zu 
werden,  da  sie  ohnehin  wahrlich  knapp  genug  bemessen 
sind  und  nur  gewährt  werden,  wo  die  Erwerbsfähigkeit  des 
Empfängers  entweder  verschwunden  oder  wesentlich  herab- 
gemindert ist,  da  es  sich  hier  also  darum  handelt,  zur  Be- 
seitigung der  Noth  nur  das  Unentbehrlichste  zu  geben,  so 
ist  die  Hauptsache,  dass  rasch  und  prompt  die  Entschädi- 
gung festgestellt  und  gezahlt  wird  Dagegen  kommt  es 
garnicht  darauf  an,  wenn  wirklich  hier  und  da  einmal  ein 
kleiner  Betrag  zu  viel  gezahlt  wird.  Deshalb  hat  man  die 
Schiedsgerichtsurtheile  für  sofort  vollstreckbar  erklärt,  wie- 
wohl man  sich  sagen  musste,  dass  bei  späterer  Wieder- 
aufhebung der  Rente  das  Gezahlte  in  sehr  vielen  Fällen 
nicht  mehr  zurück  zu  erlangen  sein  wird.  Das  hat  man 
mit  vollem  Rechte  für  bedeutungslos  gehalten.  Und  wir 
meinen,  der  Staatskommissar  hat  nicht  minder  Recht,  wenn 
er  einen  Schritt  weiter  geht  und  fordert,  man  solle  nun 
auch  die  Rückforderung  ganz  allgemein  verbieten.  Dass 
dabei  leicht  Härten  Vorkommen  können,  ist  ja  garnicht  zu 
bestreiten.  Und  der  Trost,  den  das  Reichsversicherungs- 
amt darin  findet,  dass  die  Anstaltsvorstände  von  ihrem 
Rechte  nur  dann  Gebrauch  machen  werden,  wenn  sie  „im 
Hinblick  auf  die  Verhältnisse  des  Erblassers  oder  der 
Erben  nach  pflichtmässigem  Ermessen  einen  dringenden 
Grund  dazu  zu  haben  meinen“  — dieser  Trost  genügt  uns 
nicht.  Nicht,  weil  wir  an  dem  guten  Willen  und  dem 
Billigkeitsgefühl  der  Vorstände  zweifeln,  sondern  weil  wir 
meinen,  dass  dieselben  unmöglich  überall  die  Verhältnisse 
zuverlässig  übersehen  können  und  weil  wir  auch  die  Möglich- 
keit ausschliessen  wollen,  dass  die  Rückforderung  einmal 
geltend  gemacht  werden  könnte,  wo  das  drückend  wirkt 
und  dem  Sinne,  wenn  auch  nicht  dem  Wortlaut  des  Ge- 
setzes zuwiderläuft.  Um  einen  solchen  Fall  zu  verhüten, 
wollen  wir  es  uns  gern  gefallen  lassen,  dass  in  zehn 
anderen  Fällen,  von  der  Rückforderung  Abstand  genommen 
wird,  wie  wohl  sie  vielleicht  durchführbar  gewesen  wäre 
ohne  den  zur  Rückzahlung  Genöthigten  geradezu  wirthschaft- 
lich  zu  ruiniren.  Deshalb  fordern  wir,  dass  allgemein  der 
Grundsatz  aufgestellt  werde:  Eine  Rente,  die  mit  der  aus- 
drücklichen Bestimmung  gewährt  wird,  alsbald  zum  Lebens- 
unterhalt verbraucht  zu  werden,  darf  nicht  zurückgefordert 
werden,  wenn  sich  demnächst  herausstellt,  dass  der  Gebende 
nicht  verpflichtet  gewesen  ist,  sie  zu  gewähren. 

Man  kann  dagegen  höchstens  einwenden,  dass  es  un- 
zulässig sei,  mit  den  Rentenfonds,  zu  welchen  ja  auch  die 
Arbeiter  beizutragen  haben,  derart  freigebig  umzugehen.  Aber 
der  Einwand  hat  eine  sehr  geringe  Bedeutung.  In  der  Unfall- 
versicherung gar  keine,  weil  Arbeiterbeiträge  nicht  erhoben 
werden.  Auch  hiervon  abgesehen,  handelt  es  sich  immer  um  Be- 
träge, die  für  die  Gesammtheit  garnicht,  für  den  einzelnen 
Betheiligten  dagegen  sehr  schwer  ins  Gewicht  fallen.  Ob 
die  Versicherungsanstalten  im  Jahre  8000  M.  — wovon  also 
die  Versicherten  insgesammt  4000  M.  aufzubringen  haben  — 
mehr  ausgeben,  macht  nichts  aus.  Für  den  einzelnen  Ar- 
beiter ist  es  dagegen  ein  sehr  wesentlicher  Unterschied,  ob 
ihm  30  oder  50  M.,  die  er  in  gutem  Glauben  nach  und  nach 
überhoben  und  verbraucht  hat,  wieder  abgezogen  werden 


oder  nicht,  oder  ob  er,  falls  ihm  die  Rente  ganz  entzogen 
wird,  ausserdem  noch  zu  gewärtigen  hat,  wegen  des  bereits 
Erhaltenen  verklagt  und  exequirt  zu  werden. 

Auf  weitere  Details  brauchen  wir  einstweilen  nicht 
einzugehen.  Wir  haben  die  Frage  nur  anregen  und 
erneut  zur  Diskussion  stellen  wollen.  Nur  das  sei 
schliesslich,  um  Missdeutungen  vorzubeugen,  noch  erwähnt, 
dass  auf  betrügerische  Erschleichung  der  Rente  diese 
Grundsätze  natürlich  keine  Anwendung  finden  können.  Die 
unrechtmässig  erworbene  Bereicherung  muss  herausgegeben 
werden;  von  dem  Empfänger  selbst  unbedingt,  soweit  nicht 
seine  Zahlungsunfähigkeit  das  unmöglich  macht,  von  den 
Erben  wenigstens  nach  Kräften  des  in  ihren  Besitz  gelangten 
Nachlasses. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 


Der  katholische  Kursus  über  praktische  Sozialpolitik 

hat,  wie  uns  zu  der  gelegentlichen  Erwähnung  im  evange- 
lisch-sozialen Kongress  (vorige  Nummer,  S.  434)  berichtigend 
und  ergänzend  mitgetheilt  wird,  in  Märkisch-Gladbach  statt- 
gefunden und  volle  10  Tage  vom  20. — 30.  September  ge- 
dauert. Unter  dem  Namen  „praktisch  sozialer  Kursus“  war 
derselbe  zunächst  für  die  Praxis  berechnet;  zugleich  sollten 
jedoch  die  Prinzipien,  der  innere  Zusammenhang  der  ver- 
schiedenen Fragen,  die  leitenden  Gesichtspunkte  lür  die 
soziale  Gesetzgebung  ihre  Berücksichtigung  finden.  Jeden 
Vormittag  fanden  drei  Vorträge  von  1 Stunde  statt.  Es 
trugen  vor:  Dr.  Brüll:  Päpstl.  Encyclica  über  die  Arbeiter- 
frage (1  Std.) ; Prof.  Dr.  Schäfer:  Klerus  und  soziale  Frage 
(1  Std);  Prof  Pesch:  Der  Sozialismus,  Geschichte  der 

sozialen  Bewegung  (3  Std.);  Dr.  Braun:  Die  sittlichen  Be- 
griffe in  der  sozialdemokratischen  Bewegung  (1  Std.);  Dr. 
Oberdörffer:  Aufgaben  des  Klerus  gegenüber  der  Sozial- 
demokratie; Organisation  der  Berufsstände  (3  Std.);  Prof. 
Cathrein:  Aufgaben  der  Staatsgewalt  (1  Std.);  Dr.  Jäger: 
Agrarfrage  (1  Std.);  Dr.  Strauven:  Bauernvereine,  Dar- 
lehnskassen (2  Std.);  Generalsekretär  Hitze:  Handwerker- 
frage (1  Std.),  Arbeiterschutz,  Arbeiterversicherung,  -wohl- 
fahrtseinrichtungen,  -Wohnungen  (7  Std.);  Dr.  Brüel:  Ge- 
werkvereine (1  Std.);  Mehler:  Lehrlingsvereine  und  -an- 
stalten  (Dom  Bosco)  (2  Std.);  Schäffer:  Gesellenvereine 
(I  Std.);  Dr.  Schmitz:  Arbeiterinnenvereine  (1  Std.);  Prof. 
Lehmkuhl:  Arbeitsvertrag  und  Strike  (I  Std.);  Dr.Ba ehern: 
Gewerbegerichte  (1  Std.);  Landesrath  Brandts:  Charitas 
und  Armenpflege;  Fürsorge  für  die  verwahrlose  Jugend 
(2  Std  ). 

Nachmittags  fanden  Diskussionen  statt.  Die  Gegenstände 
der  Debatte  waren  den  verschiedensten  Gebieten  der  Sozial- 
politik entnommen:  Sonntagsruhe,  Schutzzölle,  Lehrlings- 
vereine und  -anstalten,  Fürsorge  für  die  verwahrloste 
Jugend,  Klerus  und  Sozialdemokratie.  Abwechselnd  wurden 
Nachmittags  auch  Besichtigungen  von  Wohlfahrtseinrichtungen 
in  Fabriken,  Arbeiterwohnungen,  -vereinen  und  -hospizen 
vorgenommen.  Unter  den  582  Theilnehmern  des  Kursus 
befanden  sich  418  auswärtige,  aus  ganz  Deutschland,  sowie 
einzelne  aus  Oesterreich,  Schweiz,  Frankreich,  Belgien,  Däne- 
mark. Neben  249  Geistlichen  waren  anwesend:  51  Lehrer, 
14  Rechtsanwälte,  8 Aerzte,  20  Redakteure,  76  Studenten, 
meist  Theologen,  16  Staats-  und  Kommunalbeamte,  130  Fa- 
brikanten, Kaufleute,  Private  u.  s.  w.  Gedruckte  Skizzen 
der  Vorträge  kamen  zur  Vertheilung. 

Ein  anderer  katholisch-sozialer  Kursus,  als  dieser  in 
Märkisch-Gladbach,  hat  bisher  nicht  stattgefunden.  Im 
laufenden  Jahre  sind  für  den  Spätsommer  zwei  Kurse  von 
je  6 Tagen  in  Aussicht  genommen,  der  eine  in  Neisse,  der 
andere  in  Bamberg.  Nach  dem  gleichen  Plane  angelegt, 
werden  sie  mehr  die  praktischen  Fragen  behandeln.  Näheres 
ist  z.  Z.  noch  nicht  festgestellt. 


440 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  37 


Arbeiterzustände. 

Zur  Lohnstatistik  in  Oesterreich.  Der  offizielle  Bericht 
des  Ministeriums  des  Innern  über  die  Gebahrung  und  die 
Statistik  der  Arbeiter- Unfallversicherungsanstalten  theilt 
unter  vielen  — leider  nur  zu  begründeten  — Vorbehalten 
einige  lohnstatistische  Daten  mit,  die  wir  in  nachstehender 
Zusammenstellung  wiedergeben. 


Durchschnittlicher,  bei  der  Verrechnung  des 
Versicherungsbeitrages  angerechneter  Taglohn 
des  Versicherten  (in  fl.  ö.  W.)  im  Bezirke 
der  Anstalt 

Betriebsgruppe 

Berufsgenoss. 
Arb.  d.  Eisenb. 

Wien 

Salzburg 

Graz 

Triest 

Prag 

Brünn 

Lemberg 

Alle  Anstalten 

1.  Maschinen,  Werk- 
zeuge   

1.54 

1.77 

2.15 

1,68 

1,52 

1,59 

1,35 

1,08 

1,69 

2.  Eisenbahnbetriebe  . 

1,59 

1.64 

1,49 

— 

1,58 

— 

— 

— 

1,59 

3.  Hüttenwerke  . . . 



1.71 

1,33 

1,64 

1.01 

1.46 

1,54 

0,88 

1,57 

4.  Polygraph. Gewerbe 

1,64 

1,77 

1,43 

1,66 

0.79 

1,38 

1,28 

1,14 

1,54 

5.  Metallverarbeitung . 

— 

1,41 

1,30 

1,34 

1,08 

1,20 

1,11 

0,84 

m 

6.  Heiz- u.  Leuchtstoffe 

1,62 

1,52 

1,40 

1.20 

1,28 

1,18 

1,10 

0,84 

1,30 

7.  Baugewerbe  . . . 

1,71 

1,37 

1,14 

1,07 

1,06 

0,94 

0,84 

0,57 

1,03 

8.  Chemischelndustrie 

— 

1,30 

0,99 

0,88 

0.96 

0,95 

0,90 

0,72 

0,99 

9.  Papier  , Leder, 

Gummi 

1,15 

1,08 

0,91 

0,73 

0.94 

0,87 

0,53 

0,98 

10.  Steine  u.  Erden.  . 

1,04 

1,10 

1.20 

0,97 

1,05 

0,97 

0,88 

0,61 

0,96 

1 1 . Bekleidung  u.  Rei- 
nigung   

1,17. 

1,02 

1,12 

1,27 

0,46 

0,85 

1,02 

0,59 

0,95 

12.  Holz- u. Schnitzstoffe 

1,08 

1,25 

1.05 

0.88 

0,77 

0.93 

0.78 

0,74 

0,91 

13.  Mühlen 

— 

1,28 

0,95 

0,79 

0,93 

0,80 

0,86 

0,58 

0,84 

14.  Textil-Industrie  . . 

— 

1,07 

0,86 

0.77 

0,62 

0,82 

0,80 

0,76 

0,84 

15.  Nahrungs-  und  Ge- 
nussmittel .... 



1,07 

0.86 

0,86 

0.77 

0.86 

0,78 

0,53 

0,81 

Zusammen  . 

1,57 

i,n 

1,19 

1,U 

1,01 

0,94 

0,86 

0,65 

1,03 

In  dieser  Zusammenstellung,  die  nach  der  Grösse  der 
Summenzahlen  geordnet  ist,  erscheinen  nur  die  gewerblichen 
Betriebe  berücksichtigt,  weil,  wie  der  amtliche  Bericht  sagt, 
die  bezüglichen  Lohnangaben  der  Unternehmer  hier  weniger 
unverlässlich  sind,  als  bei  den  Lohnfatirungen  der  landwirt- 
schaftlichen Betriebsinhaber;  ein  Eingeständniss,  welches 
gewiss  vielsagend  ist  und  die  Erfüllung  sozialpolitischer 
Pflichten  durch  das  österreichische  Unternehmerthum  in 
trübem  Lichte  erscheinen  lässt.  Mit  Offenherzigkeit  gesteht 
übrigens  der  offizielle  Bericht,  dass  die  Arbeitsverdienste 
der  land-  und  forstwirthschaftlichen  Arbeiter  hinter  den 
Löhnen  gewerblicher  Arbeiter  bedeutend  Zurückbleiben. 

Was  nun  die  Löhne  der  industriellen  Arbeiter  anlangt, 
so  ist  zu  berücksichtigen,  dass  für  Lehrlinge,  Volontaire  und 
Praktikanten  ein  höherer  als  der  faktische,  für  Betriebs- 
beamten mit  mehr  als  1200  fl.  Jahresarbeitsverdienst  nur 
dieser  Betrag  bei  der  Versicherung  zur  Anrechnung  gelangt. 
Hierzu  kommt,  wie  bereits  erwähnt,  der  sehr  begründete 
Zweifel  hinsichtlich  der  Richtigkeit  der  von  den  Betriebs- 
inhabern fatirten  Lohnsummen;  Umstände,  durch  welche 
sich  der  sozialpolitische  Werth  der  amtlichen  Lohnangaben 
nahezu  ganz  verflüchtigt. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Die  Gewerkschaftsbewegung  in  Ost-  und  Westpreussen. 

Während  die  Arbeiter  der  westlichen  Provinzen 
Deutschlands  sich  schon  längst  gewerkschaftlich  organisirt 
haben,  um  eine  Verbesserung  ihrer  gesammten  wirt- 
schaftlichen und  geistigen  Lage  zu  erkämpfen  und  man 
infolgedessen  immer  wieder  und  wieder,  aus  diesen  Gegen- 
den von  Strikes,  Boykotts  etc.  hört,  ist  von  allen  diesen 
Dingen  in  den  östlichen  Provinzen  Deutschlands,  nament- 
lich in  Ost-  und  Westpreussen  bisher  noch  garnichts,  oder 
doch  nur  äusserst  wenig  zu  hören  gewesen. 

Zwar  bestehen  auch  hier  schon  in  den  grösseren  und 
mittleren  Städten  seit  einer  Reihe  von  Jahren  gewerkschaft- 


liche Organisationen;  jedoch  vegetiren  dieselben  fast  überall 
nur  kümmerlich  und  haben  auf  wirtschaftlichem,  sowie 
auch  auf  geistigem  Gebiete  so  gut  wie  noch  nichts  erreicht. 

In  Königsberg  sind  organisirt:  die  Bildhauer,  Böttcher, 
Buchdrucker,  Drechsler,  Glaser,  Hutmacher,  Kupferschmiede, 
Maler,  Maurer,  Metallarbeiter,  Sattler,  Schneider,  Schuh- 
macher, Steinsetzer,  Tischler,  Töpfer  und  Zimmerer.  In 
Danzig:™  die  Böttcher,  Buchdrucker,  Hutmacher,  Kupfer- 
schmiede, Lithographen,  Maler,  Maurer,  Metallarbeiter, 
Schmiede,  Schneider, ^Schuhmacher,  Tabakarbeiter,  Tischler, 
Töpfer  und  Zimmerer.  In  Thorn:  nur  die  Zimmerer,  in 
Bromberg''[(um  [diese  benachbarte  Stadt  mit  zu  nennen): 
die  Maurer.  In  Insterburg  sind  die  Buchdrucker,  in 
Tilsit  die  Schuhmacher,  Tischler  und  Zimmerer,  in 
Memel  die  Bauarbeiter  und  Maurer  organisirt.  Auch  be- 
steht an  letzterem  Orte  eine  gemeinschaftliche  Organisation 
sämmtlicher  Handwerksgesellen.  Weiter  bestehen  noch  in 
Elbing  einige  gewerkschaftliche  Organisationen. 

Die  Mitgliederzahl  dieser  Organisationen  ist  überall  eine 
so  geringe,  dass  dieselben  nicht  imstande  sind,  auch  nur 
den  geringsten  Druck  auf  das  Unternehmerthum  auszuüben. 

In  Königsberg  sind  z.  B.  von  3000  Metallarbeitern  nur  60 
organisirt,  trotzdem  die  Organisation  schon  Jahre  besteht 
und  tüchtige  Leute  an  der  Spitze  derselben  stehen.  Fast 
ebenso  verhält  es  sich  mit  allen  anderen  Organisationen.  — 
Eine  Statistik  über  die  Stärke  der  einzelnen  Organisationen 
aufzustellen  ist  mir  nicht  gelungen,  da  einzelnen  Gewerk- 
schaftsführern noch  das  nöthige  Verständniss  hierfür  fehlt. 
Auch  mangelt  es  den  Leitern  der  Gewerkschaften  vielfach 
noch  an  jedem  Solidaritätsgefühl,  sie  sind  noch  in  dem 
Glauben  befangen,  dass  sie  auf  einer  höheren  Gesellschafts- 
stufe ständen,  als  die  Arbeiter  anderer  Branchen  und  sind 
ferner  der  Meinung,  dass  sie  mit  diesen  keine  gemeinsamen 
Interessen  hätten. 

Wenn  wir  nun  fragen,  woher  es  kommt,  dass  die  ge- 
werkschaftliche Bewegung  in  diesen  Provinzen  keine  Fort-  , 
schritte  gemacht  hat,  so  werden  wir  die  Ursache  schliesslich 
in  den  wirthschaftlichen  Zuständen  dieser  Provinzen  zu 
suchen  haben.  Die  östlichen  Provinzen  besitzen  einen  ' 
überwiegend  landwirtschaftlichen  Charakter.  Die  zu- 
nehmende Industrie  und  der  Handel  brauchen  neue, 
brauchen  mehr  Arbeitskräfte.  Da  nun  aus  den  westlichen 
Provinzen  so  gut  wie  gar  kein  Zuzug  zu  verzeichnen  ist, 
weil  die  Arbeiter  jener  Provinzen  sich  in  einer  viel  besseren 
wirthschaftlichen  Lage  befinden  als  die  Arbeiter  dieser 
Provinzen  und  deshalb  diese  meiden,  so  rekrutiren  sich  j 
diese  Arbeitskräfte  grösstentheils  aus  der  ländlichen 
Arbeiterklasse,  die  mit  den  ländlichen  Arbeitsverhältnissen  , 
unzufrieden  geworden  sind  und  deshalb  Beschäftigung  in 
der  Industrie  oder  im  Handel  suchen.  Diesen  Leuten  nun, 
die  bisher  keine  persönliche  Freiheit  gekannt  haben,  die 
die  „Herrschaft“  um  Erlaubniss  bitten  mussten,  wenn  sie 
ausgehen  wollten,  die,  laut  der  geltenden  Gesindeordnung, 
mit  gesetzlichem  Rechte  gezüchtigt  worden  sind,  erscheinen 
die  elendiglichen  wirthschaftlichen  Verhältnisse,  die  hier  in 
der  Industrie  und  im  Handel  herrschen,  kurz  ihre  jetzige 
Lage,  als  eine  wahrhaft  paradiesische,  da  sie  ja  jetzt  nach 
Beendigung  ihrer  Tagesarbeit  nicht  mehr  um  Erlaubniss  zu 
bitten  brauchen,  wenn  sie  einmal  spazieren  gehen  wollen, 
da  sie  jetzt  nicht  mehr  mit  „Du“  sondern  mit  „Sie“  ange- 
redet werden  und  keinem  gesetzlichen  Züchtigungsrecht 
mehr  unterliegen.  Was  in  unseren  Augen  als  menschenun- 
würdig gilt,  ist  über  ihr  früheres  Loos  so  hoch  erhaben, 
dass  ihnen  der  Gedanke  einer  Vereinsgründung  zur  Ver- 
besserung der  Lage  der  Arbeiter  ganz  fern  liegt. 

Dann  aber  spielt  das  niedere  Bildungsniveau  dieser 
Arbeiter  eine  grosse  Rolle.  Auf  dem  Lande  liegt  die 
Schule  in  den  Händen  der  Grossgrundbesitzer,  und  die 
Kinder  werden  infolgedessen  mehr  zur  Arbeit  als  zum 
Schulbesuch  angehalten.  Die  Schulbildung  hier  im  Osten 
ist  gering.  Die  Leute  können  kaum  lesen,  der  grösste 
Theil  muss  mühsam  jedes  Wort  zusammenbuchstabiren; 
zu  schreiben,  wenigstens  einigermaassen  leserlich,  ist  nur 
der  kleinste  Theil  befähigt. 

Ein  grosser  Theil  der  Arbeiterbevölkerung,  namentlich 
der  intelligentere,  verlässt  diese  Provinzen,  um  in  den  west- 
lichen Gegenden  Beschäftigung  zu  suchen  und  kehrt  nie 
wieder  zurück,  weil  die  Arbeitsverhältnisse  dort  viel  bessere 


No.  37. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


441 


sind.  Dadurch  gehen  diesen  Provinzen  gerade  die  zur  Füh- 
rung befähigten  Elemente  verloren.  Weiter  haben  wir  mit 
eingreifenden  Maassregelungen  zu  rechnen.  Für  die  Ge- 
maassregelten  ist  es  in  diesen  Provinzen  viel  schwerer  wieder 
Beschäftigung  zu  finden,  da  die  Industrie  noch  in  den  Kinder- 
schuhen steckt.  Dann  aber,  glauben  wir,  trägt  der  über- 
mässige Alkoholgenuss  der  Arbeiter  dieser  Provinzen  wohl 
auch  zu  der  mangelhaften  gewerkschaftlichen  Organisation 
etwas  bei.  Schnaps  wird  hier  von  den  Arbeitern  in  riesigen 
Mengen  konsumirt,  dagegen  Bier  viel  weniger.  Eine  Folge 
hiervon  ist,  dass  die  Arbeiter  keine  Säle  zu  ihren  Ver- 
sammlungen erhalten,  da  die  Inhaber  dieser  Lokalitäten 
keinen  Branntweinausschank  haben. 

Alle  diese  Faktoren  wirken  zusammen,  um  die  gewerk- 
schaftliche Organisation  der  Arbeiter  dieser  Provinzen  zu 
einer  äusserst  schwierigen  zu  machen,  so  dass  die  Arbeiter 
in  absehbarer  Zeit  es  wohl  kaum  zu  ordentlichen  Gewerk- 
schaftsorganisationen bringen  werden,  wenn  sie  nicht  von 
den  Arbeitern  des  Westens,  namentlich  in  pekuniärer  Hin- 
sicht, Unterstützung  erhalten.  Bekanntlich  hat  ja  nun  der 
Halberstädter  Gewerkschaftskongress,  der  im  vorigen  Jahre 
stattfand,  den  Beschluss  gefasst  (wohl  hauptsächlich  aus 
dem  Grunde,  weil  die  Arbeiter  der  östlichen  Provinzen 
es  sind,  die  den  Unternehmern  des  Westens  bei  jedem 
Strike  als  Strikebrecher  dienen):  dass  die  General- 

kommission der  Gewerkschaften  Deutschlands  die  Agita- 
tion in  denjenigen  Gegenden,  Industrien  und  Berufen  zu 
betreiben  hat,  deren  Arbeiter  noch  nicht  organisirt  sind. 
Zu  diesen  Gegenden  gehören  aber  in  aller  erster  Linie 
Ost-  und  Westpreussen.  Die  Generalkommission  der  Ge- 
werkschaften Deutschlands  hat  freilich  jetzt  auf  diesem 
Gebiete  noch  nicht  viel  thun  können,  da  sie  noch  immer 
mit  pekuniären  Schwierigkeiten  arbeitet,  welche  durch 
den  grossen  Hamburger  Tabakarbeiterstrike  hervorge- 
rufen sind.  — ■ Im  Sommer  des  vorigen  Jahres  gab  obige 
Kommission  ein  Flugblatt  in  deutscher  und  polnischer 
Sprache  an  die  Arbeiter  der  östlichen  Provinzen  Deutsch- 
lands heraus,  in  welchem  die  Arbeiter  zur  gewerkschaft- 
lichen Organisation  aufgefordert  wurden  und  auch  mit- 
getheilt  wurde,  dass  auf  Wunsch  Redner  zur  Abhaltung 
von  Versammlungen  gesandt  werden  würden.  Jedoch  sind 
an  die  Generalkommission  dieserhalb  nur  sehr  wenige  Auf- 
forderungen ergangen.  Im  Monat  Februar  d.  J.  war  ein 
Vertreter  der  Generalkommission  in  Ost-  und  Westpreussen, 
um  die  Vorarbeiten  zur  weiteren  Agitation  in  diesen  Pro- 
vinzen auszuführen,  resp.  um  mit  den  schon  bestehenden 
Gewerkschaften  die  Pläne  für  das  weitere  Vorgehen  auszu- 
arbeiten. Aus  dieser  Veranlassung  wurden  sogenannte  Ge- 
werkschafts-Kartelle in  Königsberg,  Danzig  und  Thorn  (in 
letzterer  Stadt  ist  dasselbe  noch  im  Entstehen  begriffen)  in’s 
Leben  gerufen.  In  Königsberg  und  Danzig  sind  in 
öffentlichen  Gewerkschaftsversammlungen  aller  Branchen 
Agitationskommissionen  gewählt  worden,  die  die  gewerk- 
schaftliche Agitation  in  den  Provinzen  betreiben  sollen. 
Hierzu  erhalten  sie  dauernde  Geldmittel  von  der  General- 
kommission. Zwar  sind  schon  früher  derartige  oder  ähn- 
liche Kommissionen  vorhanden  gewesen,  doch  scheiterten 
die  früheren  Versuche  an  der  Geldfrage;  da  diese  Schwierig- 
keit jetzt  so  gut  wie  beseitigt  ist,  so  ist  zu  erwarten,  dass 
auch  hier  im  fernen  Osten  die  gewerkschaftliche  Arbeiter- 
bewegung allmählich  Fortschritte  mache. 

Königsberg^.  Pr.  Br.  Poersch. 


Armenwesen. 

Armenpflege  und  Miethszinszahlung. 

Eine  Bekanntmachung  der  Wormser  Armenverwaltung 
wendet  sich  in  erster  Reihe  an  Vermiether  vonWohnungen 
für  ärmere  Familien,  speziell  auch  an  die  Hauswirthe  der 
Personen,  die  Unterstützungen  aus  städtischen  Mitteln  er- 
halten. Es  wird  darin  gebeten,  künftig  an  solche  Personen 
oder  Familien  nur  wochenweise  zu  vermiethen  oder  min- 
destens wochenweise  Zahlung  des  Miethszinses  zu  bedingen, 


weil  die  Stadt  ihre  Unterstützungen  wochenweise  gewähre. 
Die  Armenverwaltung  ist  zu  dieser  Aufforderung  gekommen 
durch  den  Umstand,  dass  Unterstützte,  die  wochenweise 
das  Geld  für  Miethszinszahlung  erhielten,  dasselbe  veraus- 
gabten und  dann  nach  Ablauf  der  vertragsmässigen  Zahlungs- 
frist U/4  Jahr)  nicht  in  der  Lage  waren,  den  Miethszins  zu 
zahlen.  Die  Vermiether  haben  sich  öfters  dieserhalb  an  die 
Armenverwaltung  gewendet,  mussten  aber  mit  ihrem  Er- 
suchen um  Zahlung  abgewiesen  werden  und  sind  so  ent- 
weder in  Schaden  gekommen  oder  haben  auch  den  aller- 
letzten Rest  der  pfändbaren  Habe  ihrer  Miether  zur  Deckung 
genommen  und  die  betreffenden  Familien  oder  Personen  aus 
den  Wohnungen  entfernt. 

Dass  die  Armenkasse  nicht  nochmals  gegenüber  dem 
Vermiether  wegen  rückständigen  Miethszinses  aufkommen 
kann,  ist  jedenfalls  richtig;  aber  es  ist  unbegreiflich,  warum 
sie  sich  des  vorerwähnten  Ausschreibens  bedienen  musste, 
um  die  künftigen  Beschwerden  zu  verhüten.  Man  kann  doch 
die  wochenweise  Unterstützung  direkt  an  die  Vermiether 
abgeben  lassen,  wie  es  bei  vielen  Armenverwaltungen 
Brauch  ist,  Miethszinsbeihilfen  oder  den  ganzen  Zins  direkt 
an  den  Vermiether  zu  zahlen. 

Was  jedoch  Veranlassung  giebt,  dieser  lokalen  Frage 
zu  gedenken,  ist  lediglich  der  Umstand,  dass  einerseits  zu 
wenig  geschieht,  um  pünktliche  Miethszinszahlungen  zu 
sichern,  und  andrerseits  zu  wenig,  um  die  Unglücklichen, 
die  Miethzinsschulden  haben,  vor  der  Pfändung  auch  der 
letzten  Habe  zu  schützen.  Es  ist  wiederholt,  namentlich 
von  dem  Frankfurter  Stadtrath  Dr.  Flesch,  darauf  hin- 
gewiesen worden,  dass  das  zu  weit  gehende  Retentions- 
recht der  Vermiether  nicht  nur  den  Armen  um  seine  letzte 
Habe  bringt,  sondern  dass  auch  Familien,  welche  einmal 
exmittirt  und  gepfändet  wurden,  sich  in  bessern  Tagen 
schwer  entschliessen , wieder  entsprechende  Mobiliar- 
anschaffungen zu  machen.  Die  Wohnung  mancher  solcher 
Armen  ist  und  bleibt  dadurch  unwohnlich  und  führt  zu 
einem  Wirthshausleben  der  Männer  oder  doch  mindestens 
zu  erheblich  vermindertem  Familienglück. 

Gegenüber  den  Forderungen  auf  eine  Beschränkung 
des  Retentionsrechtes  macht  man  geltend,  dass  dadurch 
den  ärmeren  Klassen  die  Beschaffung  vonWohnungen  noch 
mehr  erschwert  würde,  weil  der  Vermiether  keine  Sicherheit 
für  die  Erlangung  des  Miethzinses  hat.  Auf  solche  Sicherung 
der  Vermiether  ist  auch  das  Ausschreiben  der  Wormser 
Armenbehörde  gerichtet,  und  die  Empfehlung,  nur  wochen- 
weise (oder  doch  auf  ganz  kurze  Fristen)  zu  vermiethen, 
den  Miethzins  in  solchen  Perioden  einzufordern  und  im 
Nichtzahlungsfall  die  Entziehung  der  Wohnung  vorzunehmen, 
hat  nur  die  Rechte  der  Vermiether  im  Auge,  nicht  aber 
die  durch  Arbeitslosigkeit  oder  wie  sonst  eingetretene  Un- 
möglichkeit der  Miethzinszahlung  von  Seiten  des  armen 
Miethers.  Es  muss  schon  qualvoll  genug  sein,  wenn  der 
arme  Familienvater,  der  nur  monatsweise  miethen  und 
zahlen  kann,  vor  der  Kündigung,  dem  Umzug  und  der  vielfach 
erfolglosen  Wohnungssuche  steht;  wieviel  mehr  muss  das 
der  Fall  sein,  wenn  nur  wochenweise  vermiethet  wird. 

Es  ist  da  und  dort  Sache  privater  gemeinnütziger  Thätig- 
keit  gewesen,  Miethzinssparkassen  zu  schaffen  und  zu  er- 
halten und  sie  haben  sich  auch  durch  Prämien  zu  erhalten 
gewusst.  Jedoch,  wenn  man  nur  mit  Prämien  derartige 
wirthschaftliche  Ordnung  erreichen  kann,  dann  ist,  so  ver- 
dienstlich die  Sache  an  sich  auch  sein  mag,  keine  allgemeine 
Empfehlung  derselben  möglich.  Man  erleichtere  den  ärme- 
ren Klassen,  speziell  den  Lohnarbeitern,  die  Miethszinszahlung 
durch  kurze,  ihren  Löhnungsperioden  entsprechende  Zah- 
lungsfristen, wenn  es  auch  dem  Vermiether  etwas  mehr 
Mühe  macht;  aber  man  verschone  sie  vor  kurzen, 
allzu  kurzen  Kündigungsfristen  oder  gar  wochen- 
weise m Miethen  ihrer  Wohnungen!  Werden  solche 
leichter  einzuhaltende  Zahlungsbedingungen  eingeführt,  dann 
wird  man  auch  getrost  zur  Einschränkung  des  Retentions- 
rechtes schreiten  können,  ohne  auf  den  bisherigen  Wider- 
spruch von  Vermiethern  zu  stossen  und  ohne  befürchten 
zu  müssen,  dass  die  Wohnungssuche  den  Armen  noch 
schwieriger  gemacht  werde,  als  sie  bisher  schon  viellach 
war  und  ist. 

Heidelberg.  Max  May. 


442 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  37. 


Der  Deutsche  Verein  für  Armenpflege  und  Wohlthätig- 
keit  hielt  am  25.  und  26.  Mai  in  Görlitz  seine  13  Jahresver- 
sammlung ab.  Dem  Verein  gehören  180  (d.h.  fast  alle)  deutsche 
Gemeinden  über  20000  Einwohner,  an,  sowie  25  Landarmen- 
verbände, 46  Vereine,  181  einzelne  Personen.  Der  Verein 
hatte  eine  Kommission  zur  Prüfung  der  Frage  eingesetzt,  in 
welcherWeise  die  neuere  soziale  Gesetzgebung  auf 
die  Aufgaben  der  Armengesetzgebung  und  Armen- 
pflege einwirkt.  In  Behinderung  des  Dr.  Freund-Berlin 
theilte,  wie  wir  der  Vossischen  Zeitung  entnehmen,  Freiherr 
von  Reitzenstein  mit,  dass  die  Kommission  es  zunächst  sich 
zur  Aufgabe  gemacht  habe,  zuverlässiges  Material  über  die  bis- 
herigen Verhältnisse  unter  Zugrundelegung  der  Ergebnisse 
der  Armenverwaltungen  zu  gewinnen;  letztere  sind  gebeten 
worden,  sich  über  die  Einwirkung  der  neueren  sozialen  Gesetz- 
gebung in  Monographien  zu  äussern  und  das  zur  Begründung 
der  in  dieser  Arbeit  enthaltenen  Beurtheilung  erforderliche 
Material  in  Formulare  einzutragen ; besonders  sollen  alle  als 
typisch  geltenden  Armenverwaltungen  um  ihre  Ansicht  befragt 
werden,  ferner  alle  grösseren  Gemeinden  über  50000  Ein- 
wohner. Gewünscht  wurde  von  der  Kommission,  dass  die 
Armenverwaltungen  für  die  Folge  nach  dem  jetzt  entworfe- 
nen Formular  die  Angaben  fortschreiben,  um  unter  einander 
vergleichbare  Daten  zu  gewinnen.  Zum  Bedauern  der 
Kommission  wurde  mitgetheilt,  dass  über  die  Fortsetzung 
der  armenstatistischen  Erhebungen  von  1885  von  der  Reichs- 
regierung bisher  kein  Beschluss  gefasst  sei;  die  Kommission 
ersuchte  daher  den  Kongress,  bei  der  Reichsregierung 
die  Wiederholung  einer  solchen  Erhebung  befürworten  zu 
wollen. 

Bürgermeister  Lange  - Bochum  berichtete  über  die 
Fürsorge  für  Obdachlose  und  zwar  besonders  über  die 
Fürsorge  für  dauernd.  Obdachlose.  Behufs  Erlangung  eines 
anschaulichen  Bildes  über  die  vorhandenen  Einrichtungen 
hat  er  einen  umfangreichen  Fragebogen  an  alle  Ortschaften 
im  Deutschen  Reiche  über  15000  Einwohner  versendet;  aus 
den  Antworten  hat  sich  vielfach  ergeben,  dass  im  allgemeinen 
die  Obdachlosigkeit  eine  nur  mässige  war,  und  dass  an  den 
meisten  Orten  eine  ausreichende  Fürsorge,  die  ausschliess- 
lich als  Verpflichtung  der  Armenverwaltungen  gelten  müsse, 
getroffen  sei.  Der  Berichterstatter  empfahl  besonders,  nach 
dem  Vorbilde  von  Bochum,  den  Bau  von  Baracken  zur 
Unterbringung  von  Obdachlosen,  weil  solche  nicht  zu  grosse 
Kosten  verursachen,  sodann  auch  weil  sich  das  Anlage- 
kapital durch  die  nach  strengen  Grundsätzen  eingezogenen 
Miethen  vollkommen  rentiren;  es  werde  nämlich  in  Bochum 
von  denjenigen,  die  nicht  in  dauernder  Armenpflege  sind, 
für  die  Dauer  der  Aufnahme  pro  Woche  eine  Mark  ein- 
gezogen; wer  böswillig  mit  der  Zahlung  der  Miethe  im 
Rückstände  bleibt,  muss  eine  Arbeitsleistung,  die  mit  1,50  M. 
pro  Tag  berechnet  und  die  auf  die  rückständige  Miethe 
angerechnet  wird,  verrichten.  Um  im  allgemeinen  der  Obdach- 
losigkeit zu  steuern,  die  vielfach  in  der  Höhe  der  Miethen 
ihren  Grund  habe,  wünschte  der  Redner  die  Unterstützung 
des  Staates,  der  Gemeinden  und  privater  Personen,  um  ge- 
meinnützigen Baugesellschaften  in  grossem  Umfange  eine 
segensreiche  Thätigkeit  in  der  Schaffung  guter  und  billiger 
Arbeiterwohnungen  zu  ermöglichen.  — Der  Korreferent  Frei- 
herr von  Reitzenstein  verbreitete  sich  über  den  Begriff  und 
die  Erscheinungsformen  der  Obdachlosigkeit,  die  Auffassung 
der  Aufgabe  in  den  verschiedenen  Iremden  Staaten,  nament- 
lich Frankreich  und  England  und  ging  dann  auf  die  Fürsorge 
für  wandernde  Obdachlose  in  Deutschland  über.  Er  hob 
besonders  die  Anstalten  für  obdachlose  Familien  und  Einzel- 
stehende in  Berlin  hervor;  namentlich  empfehle  sich  auch 
in  dieser  Angelegenheit  die  richtige  Abgrenzung  zwischen 
öffentlicher  und  privater  Fürsorge,  verbunden  mit  einem 
lebendigen  Ineinandergreifen  aller  betheiligten  Organe. 

Die  zweite  Sitzung  begann  mit  Verhandlungen  über 
Zwangsmaassregeln  gegen  arbeitsfähige  Personen, 
die  ihre  Angehörigen  der  Armenpflege  anheim- 
fallen  lassen.  Der  Referent,  Abg.  Seyffardt,  empfahl 
folgende  Thesen  zur  Annahme: 

„Der  deutsche  Verein  für  Armenpflege  und  Wohl- 
thätigkeit  hält  an  seiner  in  der  Versammlung  von  1881 
und  seitdem  wiederholt  ausgesprochenen  Auffassung  mit 
der  Maassgabe  fest,  dass  das  Bedürfniss  anerkannt  wird, 
gesetzliche  Bestimmungen  zu  erlassen,  beziehentlich  bei- 


zubehalten, mittelst  deren  es  den  Behörden  zusteht,  arbeits- 
fähigen Personen,  welchen  zum  Unterhalte  ihrer  Familien- 
angehörigen öffentliche  Unterstützung  gewährt  werden 
muss,  ohne  vorgängiges  gerichtliches  Verfahren  durch  ein 
Verwaltungszwangsverfahren,  welches  mit  den  Bürg- 
schaften des  Schutzes  gegen  etwaige  Willkür  ausgerüstet 
ist,  zur  Arbeit  innerhalb  oder  ausserhalb  des  Arbeits- 
hauses anzuhalten.  Der  Vorstand  wird  ersucht,  diese 
Auffassung  des  Vereins  dem  Herrn  Reichskanzler  mitzu- 
theilen  unter  dem  Hinzufügen,  dass  die  in  der  jetzigen 
bezüglichen  Gesetzesvorlage  vorgeschlagene  Strafvorschrift 
gegen  die  Beiseitesetzung  der  Nährpflicht  nur  dann  den 
vorhandenen  Bedürfnissen  ausreichend  begegnen  könne, 
wenn  neben  derselben  für  die  vorbezeichneten  besonders 
gearteten  Fälle  der  Zuwiderhandlung  gegen  die  Nährpflicht 
das  vorerwähnte  Verwaltungszwangsverfahren  zugelassen, 
beziehentlich  beibehalten  werde,  und  dass  es  der  Er- 
wägung anheimgestellt  werde,  ob  nicht  ein  auf  die  Be- 
fugniss  der  Einzelstaaten  zum  Erlass  der  Vorschriften 
letzterer  Art  sich  beziehender  Vorbehalt  in  der  vor- 
geschlagenen Strafvorschrift  selbst  oder  sonstwie  zum 
Ausdruck  zu  bringen  sei.“ 

Frhr.  von  Reitzenstein  empfahl,  in  die  These  nach  den 
Worten  „dem  Herrn  Reichskanzler“  einzufügen  „auch  den 
sämmtlichen  deutschen  Landesfürsten“,  um  eventuelle  landes- 
gesetzliche Regelung  der  Angelegenheit  herbeizuführen. 
Mit  dieser  Aenderung  wurde  die  These  angenommen. 

Auch  zu  dem  nächsten  Gegenstände  der  Tagesordnung, 
„vormundschaftliche  Befugnisse  der  Armenbehör- 
den“ gelangten  die  Thesen  des  Referenten,  Stadtrath 
Ludw.  Wolff-Leipzig,  zur  Annahme: 

1.  Der  Verein  erkennt  in  der  im  Königreiche  Sachsen 
in  verschiedenen  Gemeinden  bereits  eingeführten  General- 
(Offizial-) Vormundschaft  ein  wesentliches  Mittel  zur  Er- 
füllung der  Aufgaben,  welche  die  kommunale  Kinder- 
fürsorge in  ihren  verschiedenen  Zweigen  den  Gemeinden 
stellt; 

2.  er  empfiehlt  deshalb  den  Gemeinden,  diese  Ein- 
richtung durch  weitere  Versuche  zu  erproben; 

3.  er  hält  es  für  erforderlich,  dass  die  Bestimmungen 
unseres  künftigen  Deutschen  Bürgerlichen  Gesetzbuches 
eine  solche  Fassung  erhalten,  dass  durch  sie  das  Ent- 
stehen und  Bestehen  derartiger  Einrichtungen  nicht  un- 
möglich gemacht  werde. 

Ueber  den  letzten  Gegenstand,  Fürsorge  für  ent- 
lassene  Sträflinge,  hatte  Rechtsanwalt  Herse- Posen  ! 
das  Referat.  Redner  wies  nach,  von  welcher  weittragenden 
Bedeutung  gerade  die  Fürsorge  für  entlassene  Sträflinge  ' 
für  unsere  sozialen  Verhältnisse  sei,  wie  auch  die  öffent- 
liche Armenpflege  mit  berufen  sei,  helfend  einzutreten,  und 
wie  dies  im  Bund  mit  der  privaten  Vereinsthätigkeit  zu 
geschehen  habe.  Ohne  Mitwirkung  des  Staates  dürfte  aber 
nur  wenig  erreicht  werden;  vor  allem  sei  ein  Reichsgesetz 
betreffend  die  Umgestaltung  des  Vollzuges  der  Freiheits- 
strafen erforderlich,  damit,  was  England  mit  Recht  von  sich 
sagen  könne,  auch  für  Deutschland  gelte:  dass  kein  ent- 
lassener Sträfling,  der  zu  irgend  einer  Arbeit  willig  und 
geschickt  sei,  irgend  eine  Entschuldigung  mehr  habe  für 
einen  Rückfall  ins  Verbrechen.  — Der  Korreferent,  Pfarrer 
Schlosser-Giessen,  betonte,  dass  Zufluchtstätten  für  ent- 
lassene Gefangene,  auch  für  arbeitsfähige  Erwachsene  zwar 
nur  ein  Nothbehelf  seien,  dessen  Anwendung  man  in  thun- 
lichst  geringem  Umfange  zu  halten  habe:  sie  seien  aber 
unter  den  gegebenen  Verhältnissen  nicht  zu  entbehren. 
Was  die  Thätigkeit  der  Gefängnissvereine  betreffe,  so  sei  es 
nöthig,  dass  die  vielfach  bureaukratische  Art  der  Behand- 
lung, indem  alles  durch  besoldete  Beamte  geschehe,  be- 
seitigt werde;  die  Mitwirkung  von  Männern  und  Frauen, 
die  in  uneigennütziger  Weise  hier  helfend  eintreten,  sei 
dringend  zu  wünschen  und  in  immer  grösserem  Umfange 
anzustreben.  Die  beiden  Referenten  hatten  sich  über 
folgende  Thesen  geeinigt,  die  sie  dem  Verein  zur  Annahme 
empfahlen: 

A.  1.  Die  Fürsorge  für  entlassene  Gefangene  hat  zum 
Zweck,  den  aus  den  Strafanstalten  Entlassenen  die  Rück- 
kehr zu  einem  ehrbaren,  sittlichen  und  bürgerlichen  Leben 
und  zu  geordneten  wirthschaftlichen  Verhältnissen  zu  er- 


No.  37. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAI  .BLATT. 


443 


möglichen  oder  zu  erleichtern.  2.  Sie  ist  eben  so  sehr 
eine  Forderung  der  Religion  und  der  Humanität,  wie  sie 
im  wohlverstandenen  Interesse  des  Staates  und  der  Ge- 
sellschaft liegt.  3.  Eine  Grundbedingung  für  eine  allseitig 
erfolgreiche  Thätigkeit  ist  das  geordnete  Zusammenwirken 
aller  betheiligten  Faktoren:  des  Staates,  der  Gesellschaft, 
der  bürgerlichen  und  der  kirchlichen  Gemeinde.  Grund- 
sätzlich zu  fordern  ist  die  individuelle  Behandlung  jedes 
einzelnen  Falles. 

B.  1 . Die  materielle  Fürsorge  für  diejenigen  entlassenen 
Sträflinge,  die  arbeitsunfähig  oder  in  ihrer  Arbeitsfähig- 
keit beschränkt  sind,  ist  Aufgabe  der  öffentlichen  Armen- 
pflege. Sie  ist  mit  besonderer  Sorgfalt  zu  üben,  damit 
die  Strafentlassenen  nicht  durch  eine  unzureichende  und 
ungeeignete  Unterstützung  zum  Rückfall  gedrängt  werden. 
2.  Idioten,  schwachsinnige  und  Epileptiker  sind  von  den 
zur  Armenpflege  Verpflichteten  in  die  zur  Verwahrung 
derartiger  Gebrechlicher  bestimmten  Anstalten  überzu- 
führen. 

C.  1.  Die  Fürsorge  für  erwerbsfähige  Strafentlassene 
ist  vor  allem  Sache  der  Privatwohlthätigkeit.  Sie  kann 
von  freien  Vereinen  oder  Organen  der  kirchlichen  Ge- 
meinde ausgeübt  werden.  2.  Hauptaufgabe  für  sie  ist 
die  Beschaffung  von  Arbeit  und  Erwerb.  Zuwendungen 
an  Geld  sind  in  der  Regel  nur,  insoweit  sie  zur  Erreichung 
dieses  Zweckes  dienen,  und  thunlichst  darlehensweise  zu 
gewähren.  3.  Dort,  wo  allgemeine  Veranstaltungen  zur 
Beschäftigung  Arbeitsloser  und  zur  Arbeitsvermittelung 
nicht  bestehen  oder  nicht  ausreichen  und  die  Beschaffung 
von  Arbeit  auf  andere  Weise  dauernd  auf  Schwierigkeiten 
stösst,  sind  Arbeitsstätten  und  Arbeitsnachweisestellen 
einzurichten.  Fürsorgliche  Zufluchtsstätten  zur  vorläufigen 
Unterbringung  männlicher  Strafentlassener  bis  zur  Er- 
langung eines  Erwerbes  sind  grundsätzlich  nicht  zu  ver- 
werfen, für  weibliche  dringend  zu  empfehlen.  4.  Jugend- 
liche Strafentlassene  sind,  soweit  sie  nicht  der  Fürsorge 
des  Staates  oder  der  Gemeinde  unterliegen,  zur  Nach- 
erziehung in  Anstalten,  und  wenn  dazu  kein  Bedürfniss 
oder  keine  Möglichkeit  vorliegt,  in  geeigneten  Lehr-, 
Dienst-  oder  Arbeitsstellen  unterzubringen.  5.  In  vielen 
Fällen  kann  die  Fürsorge  für  Entlassene  durch  Bestellung 
eines  Pflegers  (Beistand,  Patron)  wirksam  unterstützt 
werden.  Das  gilt  ausnahmslos  von  Jugendlichen.  Für 
weibliche  Entlassene  sollte  dazu  die  Mitwirkung  von  Frauen 
herangezogen  werden.  Wenn  Erwachsene  unter  Pfleg- 
schaft gestellt  werden,  so  ist  sie  mit  besonderer  Vorsicht 
und  Zurückhaltung  zu  üben. 

D.  Die  Fürsorge  für  die  Familien  der  Strafentlassenen 
ist  nicht  ausschliesslich  der  öffentlichen  Armenpflege 
überlassen.  Die  freien  Vereine  und  die  Organe  der 
Kirchengemeinden  sind  namentlich  dann  berufen,  sie  ganz 
oder  theilweise  zu  übernehmen,  wenn  durch  sie  die 
wünschenswerthe  Erhaltung  des  Familienlebens  des  Ge- 
fangenen nach  seiner  Entlassung  erhofft  werden  kann.“ 

Geh.  Rath  Blenck-Berlin  sprach  die  Ansicht  aus,  dass 
eine  besondere  Fürsorgepflicht  gegenüber  denjenigen  Per- 
sonen geboten  erscheine,  die  lediglich  durch  die  Macht  der 
Verhältnisse  auf  die  Bahn  des  Verbrechens  getrieben  seien. 
Pastor  v.  Koblinsky- Düsseldorf  wendete  sich  gegen  die 
Ausführungen  des  Vorredners,  als  zu  wenig  speziell,  um  für 
die  praktische  Durchführung  geeignet  zu  erscheinen.  Stadt- 
rath Jackstein-Potsdam  suchte  die  Lösung  der  Frage  mehr 
auf  dem  Wege  der  Vorbeugung.  Vor  allem  sei  der  Ver- 
rohung der  Massen  entgegen  zu  arbeiten;  das  Gesetz  von 
1871  betreffend  die  Zwangserziehung  bedürfe  hierzu  einer 
Erweiterung  hinsichtlich  der  Hinausschiebung  des  Alters 
bis  zu  dem  die  Zwangserziehung  auszudehnen  sei.  v.  Massow 
hob  hervor,  dass  es  wichtig  sei,  die  Ehrlichkeit  nicht  etwa 
zu  verleiden  durch  zu  grosse  Fürsorge  für  die  Unehrlichen; 
was  die  Thesen  betreffe,  so  wolle  er  (Redner)  nicht  gegen 
dieselben  sein,  doch  komme  es  bei  der  ganzen  Frage  in 
erster  Linie  auf  ein  warmes  Herz,  Verständniss  und  that- 
kräftiges  Vorgehen  an. 

Nach  einem  kurzen  Schlusswort  des  Pfarrers  Schlosser 
gelangten  die  Thesen  zur  Annahme. 


Elberfelder  System  in  Reichenberg.  In  der  Stadt 
Reichenberg  in  Böhmen  ist  mit  dem  I.  Januar  1892  die 
Armenpflege  nach  Elberfelder  System,  beruhend  auf  dem 
Prinzip  der  Individualisirung,  eingeführt  worden.  Ueber 
die  Erfahrungen  des  ersten  Jahres  berichtet  die  dort  er- 
scheinende Zeitschrift  „Humanität“.  Der  Einführung  des  neuen 
Systems  hatten  sich  in  Reichenberg  grosse  Schwierigkeiten 
entgegengestellt.  Im  September  1888  war  der  erste  Antrag 
im  Stadtverordneten-Kollegium  gestellt  worden.  Erst  im 
Oktober  1889  folgte  ein  Aufruf  an  die  Bürgerschaft,  sich 
zur  Uebernahme  von  Armenpflegeämtern  zu  melden,  und 
erst  nach  abermaliger  langer  Pause  gelang  es  einer  energi- 
schen Weisung  des  damaligen  Bürgermeisters  Dr.  Schücker, 
das  endliche  Inkrafttreten  zu  Neujahr  1892  durchzusetzen. 
Die  Befürchtung,  dass  die  Durchführung  an  dem  Mangel 
genügender  freiwilliger  Kräfte  scheitern  würde,  hatte  sich 
nicht  bewahrheitet.  Ohne  besondere  Schwierigkeit  war  es 
gelungen,  die  10  Bezirksvorsteherposten  und  die  100  Armen- 
pflegerstellen aus  der  Mitte  der  Bürgerschaft  zu  besetzen. 
Hingegen  hatte  die  neue  Einrichtung  mit  einem  weitgehen- 
den Mangel  an  Vertrauen,  sowohl  auf  Seite  der  Bürger- 
schaft, als  namentlich  auf  Seite  der  Unterstützungsbedürf- 
tigen zu  kämpfen.  In  Folge  der  ernsten  und  liebevollen 
Wirksamkeit  der  Funktionäre  gelang  es  aber  schon  im 
Laufe  von  drei  Monaten,  alle  Betheiligten  davon  zu  über- 
zeugen, dass  in  dem  neuen  System  für  wirkliche  Bedürf- 
nisse weit  besser  als  in  dem  alten  gesorgt  werde.  Die 
Ausgaben  für  offene  Armenpflege  stellten  sich  in  diesem 
Jahre  im  Vergleich  zu  denj  vorangegangenen  vier  Jahren 
in  Gulden  und  Kreuzern  wie  folgt: 


1888 

1889 

1890 

1891 

1892 

1.  Regelmässige 
Unterstützun- 
gen. 

a)  durch  die 

Pfleger  . . . 

12  088 

82 

11  117 

50 

10  890 

98 

10  752 

33 

12  227 

72 

b)durchd.  Stadt- 
rechnungsfüh- 
rung   

2.  Einm.  Unter- 
stützung . . . 

2 664 

02 

3 391 

43 

3 344 

13 

3 450 

58 

1 265 

48’/* 

443 

81 

394 

14 

399 

64 

197 

33 

223 

14 

3.  Für  in  aus- 
wärt. Anstalt, 
untergebr.  Ge- 
meinde-Ange- 
hörige   

416 

95 

481 

59 

572 

99 

668 

75 

587 

70 

4.  Arzneien  für 
die  Armen  . . 

1 726 

87 

1 393 

78 

1 146 

21 

1 102 

88 

714 

777* 

5.  Für  Bäder  u. 
therapeutische 
Behelfe  (Bruch- 
bänder etc.)  . . 

12 

20 

39 

1 18 

55 

108 

78 

60 

6.  Beerdigungs- 
auslagen . . . 

79 

50 

114 

85 

83 

35 

64 

53 

75 

70 

Summa  . . 

17  432  17 

16  932  29 

16555 

85 

16  344 

40 

15673  12 

Werden  noch  die  unter  Post  3 aufgerechneten  Auslagen  für 
in  auswärtigen  Anstalten  untergebrachte  Gemeindeangehörige  als 
nicht  hierher  gehörig  in  Abzug  gebracht,  so  ergiebt  sich  ein  effek- 
tiver Aufwand  der  Armenpflege 

von | 17  0 1 5 22|  16  4507o|  15  982|86|  1 5 675  6s|  15  085|42 

Die  regelmässigen  Unterstützungen  durch  die  Pfleger  sind 
also  in  keinem  Jahre  so  hoch  gewesen,  wie  in  dem  letzten. 
Dagegen  sind  in  Folge  der  strengeren  Kontrole  die  Aus- 
gaben für  Arzneien  bedeutend  gesunken  und  eine  noch 
grössere  Ersparniss  bei  den  Unterstützungen  durch  die 
Stadtrechnungsführung  erreicht.  Von  Seiten  der  neuen 
Armenverwaltung  ist  auch  die  übliche  Massenbescheerung 
zu  Weihnachten  reformirt  und  dahin  umgewandelt  worden, 
dass  die  den  Kindern  zugedachten  Geschenke  den  Eltern 
übergeben  und  so  die  Bescheerung  in  die  Familie  gelegt 
wurde.  Statt  auf  die  Beschenkung  einer  möglichst  grossen 
Zahl  wurde  das  Hauptgewicht  darauf  gelegt,  dass  die 
Beschenkten  ausgiebig  mit  Winterkleidung  versorgt 
wurden.  Auch  bei  der  Vertheilung  von  ausserordent- 
lichen Spenden  bewährte  sich  das  neue  System  durch  ge- 
wissenhafte Prüfung  der  Bedürftigkeit,  während  es  früher 
bei  solchen  Vertheilungen  an  sorgfältiger  Auswahl  fehlte. 


444 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  37. 


So  weit  der  uns  vorliegende  Bericht.  Was  derselbe 
über  bessere  Individualisirung  und  liebevollere  Behandlung 
anführt,  entzieht  sich  der  Nachprüfung.  Die  Statistik, 
welche  der  Bericht  bietet,  lässt  mit  Deutlichkeit  nur  Eines 
erkennen:  den  Rückgang  des  Aufwandes  für  die  Armen- 
pflege. Wieso  gerade  die  Ausgaben  für  Arzneien  „in 
Folge  der  strengeren  Kontrolle“  sinken  konnten,  ist  nicht 
ersichtlich;  es  dürfte  schwerlich  irgend  eine  Form  der 
Armenunterstützung  geben,  die  bei  milder  Kontrolle  we- 
niger einem  Missbrauch  ausgesetzt  wäre,  als  gerade  die 
unentgeltliche  Verabfolgung  von  Arzneimitteln.  Die  Er- 
sparnis bei  der  Stadtrechnungsprüfung  bezeichnet  der  Ver- 
fasser als  „erfreulich“.  Wenn  damit  auf  Missstände,  die 
einem  lokalen  Feserkreise  bekannt  sind,  angespielt  sein  soll, 
so  mag  dies  für  diese  verständlich  sein.  Für  den  Ferner- 
stehenden ist  es  nicht  verständlich,  wieso  eine  Ersparniss 
in  einem  einzelnen  Zweige  der  Armenpflege  erfreulich  sein 
soll,  wenn  nicht  dieser  Zweig  und  seine  etwaigen  Miss- 
bräuche näher  charakterisirt  werden.  Allenfalls  könnte  man 
über  eine  solche  Begründung  noch  hinwegsehen,  wenn  das 
Minus  in  der  einen  Art  der  Armenpflege  durch  ein  desto 
grösseres  Plus  in  anderen  Zweigen  überboten  würde.  Allein 
— und  darüber  geht  der  Bericht  mit  Stillschweigen  hin- 
weg — das  Plus  in  zwei  Posten  ist  im  Vergleich  zum 
Minus  in  den  andern  ganz  unbedeutend,  sodass  das  schliess- 
liche  Ergebniss  eine  Verringerung  der  Armenpflege  ist. 
Im  Durchschnitt  der  Jahre  von  1888—1891  haben  die  Kosten 
der  Reichenberger  Armenpflege  Fl.  16816,18  betragen,  im 
Jahre  des  Elberfelder  Systems  (1892)  Fl.  15673,12*),  d.  h. 
6,8%  weniger.  Nimmt  man  die  Zahlen,  wie  der  Bericht 
es  vorschlägt,  mit  Ausschluss  der  Kosten  für  Gemeinde- 
angehörige in  auswärtigen  Anstalten,  so  erhält  man 


Durchschnitt  der  Jahre  1888/91  . . Fl.  16281,11 

Jahr  des  Elberfelder  Systems  (1892)  „ 15085,42*) 

also  Ersparniss 7,3  °/0. 


Nun  soll  es  selbstverständlich  nicht  als  unmöglich  be- 
zeichnet werden,  dass  durch  ein  gutes  System  auch  mit 
geringeren  Mitteln  grössere  Erfolge  erzielt  werden  können. 
Allein  solange  kein  genauerer  Bericht  die  grösseren  Erfolge 
substantiirt  aufführt,  wird  man  die  Ersparniss  an  Mitteln  als 
das  einzige  in  die  Augen  fallende  Ergebniss  betrachten 
müssen.  Zur  Empfehlung  eines  Armenpflegesystems  kann 
es  aber  nicht  beitragen,  wenn  die  Verringerung  der  Lasten 
für  die  Wohlhabenden  als  sein  einziges  statistisch  fass- 
bares Ergebniss  erscheint.  , 

Almosen  und  Wahlrecht.  In  Schöneberg  sind  eine 
Anzahl  Wähler  aus  den  Listen  gestrichen  worden,  weil  sie 
an  der  Vertheilung  von  Presskohlen  an  Arbeitslose  im  ver- 
gangenen Winter  theilgenommen  hatten.  Wie  dem  „Vor- 
wärts“ mitgetheilt  wird,  soll  bei  der  damaligen  Vertheilung 
ausdrücklich  erklärt  worden  sein,  dass  diese  Beihülfe  nicht 
als  Armenunterstützung  auf  Kosten  des  Wahlrechts  be- 
trachtet werden  solle.  — Mag  man  über  die  geltende  Be- 
stimmung, dass  der  Almosenempfänger  bis  zur  Rückzahlung 
des  Empfangenen  sein  Wahlrecht  verliere,  denken  wie  man 
wolle:  jedenfalls  enthält  es  eine  arge  Unzulässigkeit,  beim 
Ambieten  einer  Unterstützung  die  Schmälerung  des  Wahl- 
rechts auszuschliessen  und  sie  nachher  dennoch  zu  ver- 
suchen. Vermuthlich  wird  von  den  Betroffenen  der  Weg 
ordnungsmässigen  Einspruchs  gegen  die  Wählerliste  be- 
schritten worden  sein. 


Soziale  Hygiene. 

Die  Maassregeln  gegen  die  Cholera. 

Die  Beschlüsse  der  Dresdener  Konferenz  sind  dem 
deutschen  Bundesrath  zur  Ratification  zugegangen  und 
nebst  der  „Denkschrift“  der  Reichsregierung  im  Reichs- 
anzeiger veröffentlicht.  Von  den  vier  Punkten,  welche  der 
Konferenz  unterbreitet  waren,  sind  zwei  (Maassregeln  bei 
Konstatirung  eines  Choleraherdes,  Maassregeln  an  der 
Donaumündung)  erledigt,  während  über  die  beiden  anderen 

*)  Die  wirkliche  Summirung  ergäbe  noch  500  fl.  weniger; 
doch  scheint  der  Druckfehler  in  einem  der  Posten  zu  liegen. 


(Reform  des  Sanitätsraths  in  Konstantinopel,  Sanitätswesen 
in  Persien)  keine  Einigung  erzielt  werden  konnte.  Das 
Schlussprotokoll  ist  von  zehn  Staaten  unterzeichnet  worden: 
Deutschland,  Oesterreich-Ungarn,  Belgien,  Frankreich,  Italien, 
Luxemburg,  Montenegro,  Niederlande,  Russland,  Schweiz; 
fast  alle  haben  sich  bereit  erklärt,  die  vereinbarten  Maass- 
regeln, wenn  innerhalb  der  Ratifikationsfrist  (15.  Oktober!) 
bei  ihnen  die  Cholera  aufträte,  schon  zu  befolgen. 

Die  vereinbarten  Bestimmungen  beschäftigen  sich  in 
sehr  ausführlicher  Weise  mit  dem  Umfange,  in  welchem 
Absperrungsmaassregeln,  Desinfektionen,  Einfuhrverbote 
u.  s,  w.  zulässig  sein  sollen.  Allein  an  positiven  Maassregeln 
zur  Abwehr  der  Cholera  ist  nur  eine  einzige  verabredet 
worden:  die  Verpflichtung  jeder  Regierung,  das  Vorhanden- 
sein eines  Choleraherdes  durch  Mittheilung  an  die  anderen 
zu  veröffentlichen.  Nun  ist  es  ohne  Zweifel  wünschenswerth, 
das  Publikum  gegen  übertriebene  und  nutzlose  Absperrungen 
zu  schützen.  Allein  vom  Standpunkt  sozialer  Gesundheits- 
pflege hatte  man  bei  Einberufung  einer  Cholerakonferenz 
in  erster  Linie  doch  an  Maassregeln  zum  Schutz  der  Ge- 
sundheit und  erst  in  zweiter  an  Maassregeln  zum  Schutze 
des  Besitzes  gedacht.  Jetzt  ist  der  zweite  Gesichtspunkt 
ganz  in  den  Vordergrund  getreten.  Sehr  charakteristisch 
hierfür  ist  der  Eingang  der  Denkschrift: 

„Die  schweren  Schädigungen,  welche  die  aus  Anlass 
der  vorjährigen  Cholera -Epidemie  in  Deutschland  von 
einzelnen  fremden  Regierungen  angeordneten  weitgehen- 
den Sperrmaassregeln  für  unser  gesammtes  Erwerbsleben 
zur  Folge  gehabt  haben,  mussten  der  Kaiserlichen  Re- 
gierung die  Erwägung  der  Frage  nahe  legen,  ob  nicht 
durch  eine  internationale  Verständigung  über 
das  Maass  der  beim  Auftreten  der  Cholera  zu- 
lässigen Verkehrsbeschränkungen  der  Wieder- 
kehr ähnlicher  Unzuträglichkeiten  für  die  Zu- 
kunft vorgebeugt  werden  könne  . . . Wenn  somit 
den  Anlass  zu  dem  Gedanken  der  Einberufung  einer  : 
internationalen  Konferenz  das  Bestreben  bot,  im  Falle 
des  Wiederausbruchs  der  Cholera  die  Opfer,  welche  die 
Krankheit  fordert,  nicht  noch  durch  eine  Störung  der 
wirthschaftlichen  Beziehungen  vermehrt  zu  sehen,  so 
konnte  sich  doch  dieses  Bestreben  selbstverständlich  nur 
insoweit  bethätigen,  als  durch  die  von  der  Konferenz  zu 
fassenden  Beschlüsse  den  einzelnen  Staaten  die  Mög- 
lichkeit gelassen  werden  musste,  sich  gegen  das 
Eindringen  der  Cholera  in  ihr  Gebiet  an  den 
Grenzen  in  wirksamer  Weise  zu  schützen.  Eben- 
sowenig wie  die  Kaiserliche  Regierung  gesonnen  ist,  im 
Fall  des  Auftretens  der  Cholera  in  einem  fremden  Lande 
von  der  Anwendung  der  als  nothwendig  erkannten  Vor- 
sichtsmaassregeln abzusehen,  war  bei  den  übrigen  Staaten 
eine  derartige  Neigung  vorauszusetzen.“ 

liier  wird  als  der  eigentliche  Zweck  der  Konferenz  der 
Schutz  gegen  die  Sanitätspolizei  angesehen;  nur  soll 
derselbe  nicht  soweit  getrieben  werden,  dass  dadurch  der 
Schutz  gegen  die  Cholera  unmöglich  gemacht  würde. 

Dem  entspricht  auch  die  Vertheilung  der  Energie  auf 
die  beiden  Gruppen  der  vereinbarten  Maassregeln.  Was 
die  Polizei  nicht  thun  darf,  wird  genau  bestimmt;  was  sie 
thun  soll,  wird  mehr  allgemein  angedeutet.  Es  wird  ver- 
boten, andere  Waaren  als  Kleidungsstücke  und  Lumpen 
anzuhalten;  es  wird  sogar  detaillirt  vereinbart,  dass  neue 
Fabrikabfälle  und  Kunstwolle  nicht  als  Lumpen  gelten 
sollen.  Inbezug  auf  die  Einführung  der  ärztlichen  Anzeige- 
pflicht heisst  es  aber  nur,  dass  sie  den  Vertragsstaaten 
„nicht  genug  empfohlen  werden“  könne;  für  die  gesund- 
heitliche Regelung  der  Flussläufe  werden  „die  im  Jahre  1892 
erlassenen  deutschen  Reglements  empfohlen,  deren  An- 
wendung günstige  Ergebnisse  gehabt  hat.“ 

Damit  steht  in  Uebereinstimmung  die  Ausscheidung 
des  halben  ursprünglichen  Programms.  Die  türkische  und 
die  persische  Frage  sind  wirkliche  Sanitätsfragen  und  lagen 
also  ausserhalb  des  Schwerpunkts  der  Konferenzen.  Auch 
die  Behandlung  der  Schiffe  an  der  Donaumündung  hat  es 
nur  bis  zu  einem  Beschluss  von  rein  formaler  Bedeutung 
gebracht;  ihr  Inkrafttreten  muss,  wie  die  Denkschrift  aus- 
drücklich bemerkt,  einstweilen  dahingestellt  bleiben,  da  es 
von  ferneren  Vereinbarungen  aller  Uferstaaten  abhängt.  So 
bleiben  also  an  wirklichen  Beschlüssen  nur  die  über  den 


No.  37. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


443 


ersten  Programmpunkt  übrig,  die  den  oben  bezeichnten 
Charakter  einer  internationalen  Vereinbarung  zum  Schutze 
gegen  übertriebene  Sanitätsmaassregeln  tragen. 

Dadurch  wird  nun  auch  die  einzige  positive  Sanitäts- 
bestimmung, die  Verpflichtung  zu  internationalen  Mit- 
theilungen über  Ausbruch  und  Verlauf  einer  Cholera- 
epidemie, in  ihrem  Werthe  ziemlich  illusorisch.  Eine 
solche  Bestimmung  wäre  von  praktiscli  bedeutendem 
Werthe,  wenn  sie  als  eine  unter  vielen  Maassregeln  zum 
Zweck  des  Erkennens  und  Be  kämpfen  s der  Cholera  da- 
stände; als  einzige  derartige  kann  sie  kaum  mehr  als 
einen  dekorativen  Charakter  für  sich  in  Anspruch  neh- 
men. Schon  heute  wird  kein  Staat  zugeben,  dass  er  die 
Existenz  eines  Choleraherdes  verheimlicht  habe;  die  Nicht- 
veröfifentlichung  wird  er  immer  darauf  zurückführen,  dass 
die  betreffenden  Fälle  unbekannt  geblieben  wären,  oder  dass 
die  Aerzte  nicht  die  Diagnose  auf  asiatische  Cholera  ge- 
stellt hätten.  Solange  also  die  Staaten  sich  nicht  zu  Maass- 
regeln verpflichten,  die  das  rechtzeitige  Erkennen  garantiren, 
bedeutet  die  internationale  Mittheilungspflicht  wenig  mehr, 
als  dass  die  Staaten  im  Wege  der  diplomatischen  Note  sich 
so  viel  kundzugeben  verpflichten,  wie  sie  nach  dem  Maasse 
ihrer  bisherigen  Verwaltungspraxis  im  Wege  der  Bekannt- 
machung verlautbaren  Hessen.  Der  einzige  Fortschritt,  den 
wir  hier  zu  erkennen  vermögen,  besteht  darin,  dass  der 
Gedanke  internationaler  Maassregeln  gegen  die  Cholera  in 
einem  europäischen  Dokument  Platz  gefunden  hat.  Der 
Verwirklichung  dieses  Gedankens  kann  aber  nichts 
gefährlicher  werden  als  der  Glaube,  dass  er  schon  ver- 
wirklicht sei. 

Für  das  geringe  Verständniss,  das  der  sozialpolitischen 
Bedeutung  der  öffentlichen  Gesundheitspflege  bei  uns  ent- 
gegengetragen wird,  ist  es  überaus  bezeichnend,  dass  die 
Ablenkung  von  dem  eigentlichen  Programm  der  Konferenz- 
verhandlungen in  der  öffentlichen  Meinung  kaum  bemerkt 
worden  ist.  Die  Konferenz  wird  allgemein  gerühmt,  dass 
sie  übertriebenen  Verkehrsbeschränkungen,  namentlich  Im- 
porthinderungen, ein  Ende  mache  und  also  ihren  Zweck 
erreicht  habe.  Hierin  hat  das  Schicksal  der  Cholerakonfe- 
renz eine  verzweifelte  Aehnlichkeit  mit  dem  Schicksal  der 
Sonntagsruhe,  wie  wir  es  in  der  vorigen  Nummer  zu  skiz- 
ziren  hatten.  Wie  in  der  Sonntagsruhe  die  Behörden  be- 
lobigt werden,  wenn  sie  recht  viele  „Milderungen“  zulassen, 
wie  man  sich  hier  zuletzt  schon  daran  gewöhnt  hat,  gar 
nicht  mehr  die  Durchführung  der  Sonntagsruhe,  sondern 
die  gewissenhaftesten  und  sorgfältigsten  Erhebungen  über  ihre 
wünschenswerthen  Schranken  als  Hauptaufgabe  der  Behörden 
zu  betrachten:  so  ist  man  hier  dazu  fortgeschritten,  als 
hauptsächlichen  Zweck  einer  Cholerakonferenz  die  Be- 
schränkung der  Sanitätsmaassregeln  anzusehen. 

Wir  sind  weit  entfernt  zu  verkennen,  dass  unter  der 
Uebertreibung  der  Sperrmaassregeln  das  Publikum  leidet. 
Auch  halten  wir  die  Beschränkung  der  Sperren  für  einen 
Gegenstand,  der  sich  zu  internationalen  Vereinbarungen 
sehr  wohl  eignet.  Aber  aus  ihm  die  Hauptsache  machen  und 
über  den  Schranken  der  Sanitätsmaassregeln  diese  selbst 
hintansetzen,  heisst:  das  Wesen  der  öffentlichen  Gesund- 
heitspflege als  eines  Gegenstandes  der  Staatsverwaltung 
völlig  verkennen. 

Unter  der  Uebertreibung  der  Sperrmaassregeln  leiden 
wesentlich  die  Besitzenden;  unter  dem  Mangel  einer  geord- 
neten Sanitätspolizei  leiden  Alle.  Daher  betont  der  Sozial- 
politiker die  Sanitätspolizei,  während  die  heutigen  Ver- 
waltungen noch  immer  auf  dem  Standpunkte  stehen,  dass 
auch  hier  der  Schutz  des  Besitzes  das  Erste  und  Wich- 
tigste sei. 

Es  fehlt  bei  uns  für  die  Fragen  der  öffentlichen  Ge- 
sundheitspflege (auch  darin  ein  Analogon  der  Sonntags- 
ruhe!) an  einem  staatlichen  Organ,  welches  die  Interessen 
der  Gesundheitserhaltung  genau  so  von  Fach  wegen  zu 
wahren  hat,  wie  der  Kriegsminister  die  Interessen  des 
Heeres,  der  Finanzminister  die  Interessen  der  Staatskasse. 
Es  giebt  heute  im  Deutschen  Reich  wohl  keine  Stadt,  die 
im  Laufe  eines  Jahres  so  bedeutende  Fortschritte  in  der 
Sanitätsverwaltung  gemacht  hat,  wie  Hamburg.  Die  Ver- 
sorgung Hamburgs  mit  filtrirtem  Wasser  wurde  mit  der 
ganzen  Schleunigkeit  ins  Werk  gesetzt,  welche  die  Reue 


in  Verbindung  mit  der  Angst  erzielt.  Die  Baudeputation, 
welche  den  gänzlichen  Ausschluss  alten  nichtfiltrirten 
Wassers  für  Ende  Mai  in  Aussicht  genommen  hatte,  machte 
vorher  bekannt,  dass  die  Erreichung  des  Zieles  von  einer 
Beschränkung  des  Konsums  abhängig  sei.  Nun  ist  es  eine 
bekannte  Erfahrung,  dass  solche  Beschränkungen  nur  im 
Wege  allmählicher  Gewöhnung  des  Publikums  zu  er- 
reichen sind.  Der  Gärtner  setzt  den  Rasensprenger  nicht 
auf  einmal  ausserGebrauch,  die  Köchin  betrachtet  das  Wasser- 
laufenlassen über  dem  Ausguss  nicht  auf  einmal  als  ver- 
boten. Wenn  Wohl  und  Wehe  einer  Stadt  davon  abhängt, 
dass  sie  Ende  Mai  imstande  sei,  mit  dem  Quantum  guten 
Wassers,  das  ihr  geboten  wird,  auszukommen,  so  hängt  ihr 
Wohl  und  Wehe  auch  davon  ab,  dass  sie  rechtzeitig  vorher 
mit  der  Nothwendigkeit  des  Maasshaltens  vertraut  gemacht 
werde,  dass  die  führenden  Kreise  mit  dem  Beispiel  vor- 
angehen, der  Nachbar  den  Nachbarn  beeinflusse,  die  Volks- 
gewöhnung übernehme,  was  der  behördliche  Befehl  nun 
einmal  nicht  erreichen  kann.  Aber  die  Bekanntmachung 
der  Hamburger  Baudeputation,  „Sektion  für  die  Stadt- 
wasserkunst“, trägt  das  Datum  des  19.  Mai.  In  Hamburger 
Zeitungen  haben  wir  sie  am  28.  Mai  mit  eindringlichen  Er- 
mahnungen abgedruckt  gesehen. 

Gewiss  „ist  so  etwas  nur  in  Hamburg  möglich.“  In 
Preussen  stand  am  30.  Mai  eine  Interpellation  auf  der 
Tagesordnung  des  Abgeordnetenhauses  mit  der  Anfrage, 
„welche  Maassregeln  die  Regierung  der  Choleragefahr 
gegenüber  zu  ergreifen  gedenke“.  Die  Interpellation  wurde 
von  der  Tagesordnung  abgesetzt,  weil  der  Minister  für 
geistliche,  Unterrichts-  und  Medizinalangelegenheiten  ver- 
reist war.  Das  Abgeordnetenhaus  wird  seine  Sitzungen 
Ende  Juni  wieder  aufnehmen.  Die  „Veröffentlichungen  des 
Kaiserlichen  Gesundheitsamts“  meldeten  aus  der  Woche  vom 
21.  bis  27.  Mai  den  ersten  diesjährigen  Cholerafall  in 
Hamburg. 

Volksschulbäder  in  Hanau.  Schon  vor  längeren 
Jahren  hatte  man  sich  im  Schoosse  der  städtischen  Be- 
hörden in  Hanau  mit  der  Absicht  getragen,  in  den  Volks- 
schulen Bäder  für  die  Schulkinder  einzurichten,  da  man 
sich  von  einer  derartigen  Einrichtung  einen  förderlichen 
Einfluss  auf  das  körperliche  Gedeihen  der  Kinder  versprach. 
Die  Absicht  konnte  aber  erst  vor  etwa  D/2  Jahren 
zur  That  werden,  als  die  neue  Druckwasserleitung  der 
Stadt  Hanau  fertiggestellt  war,  da  ohne  eine  Wasserleitung 
die  Ausführung  des  Projektes  unverhältnissmässige  Kosten 
verursacht  hätte. 

Unmittelbar  nach  Eröffnung  der  neuen  städtischen 
Wasserleitung  wurde  denn  auch  von  den  städtischen 
Körperschaften  ein  Verlag  von  4500  M.  verwilligt,  um  für 
die  Knaben-  und  für  die  Mädchenvolksschule  je  eine  Bade- 
einrichtung zur  Abgabe  von  Brausebädern  herzustellen. 

Das  Schuibad  befindet  sich  in  einem  zu  ebener  Erde 
gelegenen  Zimmer  des  betreffenden  Schulhauses  und  besteht 
aus  A.  einem  Vorraum,  B.  einem  Aus-  und  Ankleideraum, 
C.  einem  Baderaum.  Die  Scheidewände  dieser  Räume 
sind  zwei  Meter  hoch  und  gestatten  in  der  kälteren  Jahres- 
zeit eine  ziemlich  gleichmässige  Erwärmung  der  drei  unter 
sich  getrennten  Räume  von  einem  im  Vorraum  A.  stehenden 
Meidinger  Ofen  aus.  Der  Raum  B.  ist  mit  Bänken  und 
Kleiderhaken  ausgestattet,  damit  sich  die  Kinder  bequem 
entkleiden  können  und  Gelegenheit  zur  Aufbewahrung  ihrer 
Sachen  haben.  In  dem  Raum  C.  befinden  sich  acht  zinkene 
Badewannen  von  je  I Meter  Länge,  0,80  Meter  Breite  und 
0,28  Meter  Höhe.  Die  Wannen  sind  so  aufgestellt,  dass 
sie  unter  sich  durch  einen  herabhängenden  Vorhang  von 
ungebleichtem  Leinen  getrennt  werden,  so  dass  die  Kinder 
sich  nicht  gegenseitig  bespritzen  können  und  auch  dem 
Schamgefühl  Rechnung  getragen  ist.  Die  über  den  Bade- 
wannen befindlichen  Brausen  werden  von  einer  Central- 
stelle aus  geöffnet  und  erhalten  das  auf  30  Grad  Reaumur 
erwärmte  und  sich  nach  und  nach  auf  20  bis  22  Grad  ab- 
kühlende Wasser  von  einem  Gasbadeofen,  der  wiederum 
von  einem  darüber  befindlichen  Reservoir  gespeist  wird. 
Der  P'ussboden  des  Baderaums  ist  wasserdicht  betonirt,  hat 
starkes  Gefälle  und  ist  mit  gehobelten  und  imprägnirten 
breiten,  auf  ihrer  Oberfläche  abgerundeten  Latten  ab- 
gedeckt. 


446 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  37. 


Die  Kosten  der  ersten  Einrichtung  der  Baderäume  be- 


trugen für  beide  Schulen: 

1.  Baukosten 1817  M. 

2.  Inventar 443  „ 

3.  Apparate 1878  „ 

4.  Zuführung  von  Gas  und  Wasser  . 359  , 

Summa  4497  M., 


also  2248,50  M.  für  jede  Schule. 

Handtücher  und  Badehosen  für  die  Knaben,  ebenso  die 
Handtücher  und  Badeschürzen  für  die  Mädchen  liefert  die 
Stadt.  Das  Reinigen,  Waschen  und  Plätten  dieser  Gegen- 
stände wird  ebenfalls  auf  Kosten  der  Stadt  durch  eine 
chemische  Waschanstalt  besorgt. 

Die  eigentlichen  Betriebskosten  stellen  sich  für  jedes 
Schulbad  — das  Wasser  wird  besonders  vergütet  — auf 
750  M.  pro  Jahr,  nämlich  für  Seife,  Wäschekosten,  Wasch- 
lappen ca.  250  M.,  für  Gas-  und  Ofenheizung,  sowie  sonstige 
Erfordernisse  ca.  500  M.  Der  Wasserverbrauch  stellt  sich 
pro  Wanne  und  Bad  auf  25  Liter. 

Die  Aufsicht  über  die  Schulbäder  führt  der  Schuldiener 
bezw.  die  Schuldienerin,  welche  hierfür  eine  besondere  Ver- 
gütung Terhalten. 

Das  Baden  der  Schulkinder  findet  an  jedem  Freitag 
Vormittags  von  8 — 12,  Nachmittags  von  2—4  Uhr  statt. 

Da  sowohl  die  Knaben-,  als  auch  die  Mädchenvolks- 
schule je  900  Kinder  besuchen,  während  etwa  50  Kinder 
in  jedem  Schulbad  an  einem  Tage  baden  können,  so  erhält 
also  jedes  Schulkind  regelmässig  im  Sommer  und  Winter 
alle  14  Tage  ein  Bad. 

Die  jährlichen  Kosten  berechnen  sich  wie  folgt: 

1.  41/2°/o  Zinsen  des  Anlagekapitals  von  2250  M.  = 101  M. 


2.  Betriebskosten = 750  „ 

3.  Schuldiener-Vergütung = 130  „ 

4.  Wassergeld  450  cbm  ä 0,15  M = 68  „ 

5.  Sonstiges = 51  „ 


Summa  1100  M. 

dies  ergiebt  rund  6 Pfg.  pro  Kopf  und  Bad. 

Die  Einrichtung  der  Volksschulbäder  hat  sich  in  Hanau 
vorzüglich  bewährt,  die  Kinder  baden  gern  und  die  regel- 
mässige Körperpflege  gereicht  ihnen  zu  sichtlichem  Vor- 
theil. 

Wir  sind  überzeugt,  dass  die  Errichtung  von  Schul- 
bädern, die  bis  jetzt  erst  in  wenigen  Städten  stattgefunden 
hat,  in  überaus  zahlreichen  Gemeinden  einem  dringenden 
Bedürfniss  abhelfen  würde,  und  können  nach  den  hier  ge- 
machten günstigen  Erfahrungen  die  Schaffung  derartiger 
gemeinnütziger  Anstalten  nur  empfehlen. 

Hanau  a.  M.  R.  Boedicker. 

Der  deutsche  Verein  für  öffentliche  Gesundheitspflege 

beschäftigte  sich  auf  seiner  18.  Versammlung,  welche  vom 
25.  bis  27.  Mai  in  Würzburg  stattfand,  ganz  überwiegend 
mit  Gegenständen  weittragenden  sozialpolitischen  Inhalts. 
Den  ersten  Gegenstand  der  Tagesordnung,  „die  unter- 
schiedliche Behandlung  der  Bauordnung  für  das 
Innere,  die  Aussen  bezirke  und  die  Umgebung  von 
Städten“,  leitete  Oberbürgermeister  Adickes- Frankfurt 
mit  einem  Referat  ein,  welches,  wie  wir  dem  Bericht  der 
Frankfurter  Zeitung  entnehmen,  auf  die  rasche  Bevölkerungs- 
zunahme in  den  Grossstädten  und  die  dadurch  bedingte 
ausserordentliche  Bedeutung  guter  Wohnverhältnisse  für 
die  gesammte  soziale  Entwickelung  das  Hauptgewicht  legte. 
Die  Bauordnungen  für  die  älteren  Stadttheile  seien  überall 
durch  Rücksichtnahme  auf  die  theuren  Bodenpreise  einge- 
engt, würden  dadurch  den  Anforderungen  der  Gesundheits- 
pflege und  der  Sozialpolitik  nur  in  sehr  beschränktem 
Maasse  gerecht  und  eigneten  sich  nicht  zur  Uebertragung 
auf  neu  entstehende  Stadttheile.  Gleichwohl  habe  man 
bisher  fast  überall  für  alte  und  neue  Stadttheile  dieselbe 
Bauordnung  erlassen;  nur  in  Dresden,  Frankfurt  a.  M.  und 
in  den  Berliner  Vororten  sei  man  neuerdings  von  dieser 
Gleichmässigkeit  abgewichen.  Die  durch  die  Bauordnung 
zugelassene  Zusammendrängung  der  Bevölkerung  habe  auch 
in  den  neuen  Stadttheilen  die  Bodenpreise  in  die  Höhe 
getrieben  und  dadurch  im  Wege  der  Wechselwirkung  die 
Zusammenpressung  noch  mehr  befördert.  Statt  bei  Anlegung 
neuer  Stadttheile  solche  bauliche  Bestimmungen  zu  treffen, 


welche  ein  gesundheitsgemässes  Wohnen  ermöglichen,  habe 
man  die  gesundheitswidrigen  Einflüsse  und  das  soziale 
Elend  der  Miethskasernen  stets  wieder  auf  neuen  jungfräu- 
lichen Boden  verpflanzt.  Eine  eingehende  Kritik  der  be- 
stehenden städtischen  Bauordnungen  führte  den  Referenten 
zu  dem  Ergebniss,  dass  sie  schon  um  deswillen  unzureichend 
seien,  weil  es  gegenwärtig  nicht  vereinzelter,  sondern  um- 
fassender, zu  einem  einheitlichen  Ganzen  verbundener  Be- 
stimmungen für  die  neuen  Stadttheile  bedürfe,  um  allen 
Bevölkerungsklassen  ein  weiträumiges  und  gesundes  Wohnen 
zu  sichern  und  den  verschiedenen  Anbaubedürfnissen  in 
fest  abgegrenzten  Bezirken  (Wohn-,  Fabrik-,  gemischten 
Vierteln)  Rechnung  zu  tragen.  Während  einerseits  die  Rechte 
der  Grundbesitzer  Berücksichtigung  erheischen,  werde  es 
sich  andererseits  darum  handeln,  durch  baupolizeiliche  Vor- 
schriften es  den  Bauspekulanten  unmöglich  zu  machen,  durch 
übermässige  Ausnutzung  des  Grund  und  Bodens,  d.  i.  durch 
allzudichte  Bebauung  ihrer  Grundstücke,  hygienische  Miss- 
stände zu  schaffen  und  zugleich  den  Preis  des  Grund  und 
Bodens  in  ungesunder  Weise  zu  steigern.  — Der  Kor- 
referent Professor  Baumeister  schloss  sich  diesen  Aus- 
führungen im  Wesentlichen  an.  Die  weitere  Frage,  ob  es 
rathsam  sei,  dass  die  Städte  unter  Zuhilfenahme  des  Ent- 
eignungsverfahrens  alles  Terrain,  welches  in  absehbarer 
Zeit  zur  Bebauung  kommen  wird,  in  ihren  Besitz  bringen, 
bejahte  der  Korreferent,  erklärte  aber  eine  Genehmigung 
seitens  der  Gesetzgebung  und  eine  Mitwirkung  der  staat- 
lichen Autoritäten  für  nothwendig.  — In  der  Diskussion  be- 
sprach Stadtrath  Getschel  die  in  Dresden  mit  dem  „Zwei- 
zonensystem“ gemachten  günstigen  Erfahrungen,  während 
Oberbürgermeister  Merkel  die  Vortheile,  welche  der  Ankauf 
des  benachbarten  ländlichen  Bebauungsareals  den  Städten 
biete,  an  der  Hand  seiner  Göttinger  Erfahrungen  besprach. 
Oberbürgermeister  Fritsche  - Charlottenburg,  den  Plänen 
kühler  gegenüberstehend,  betonte  als  Hinderniss  unter  An- 
derem auch  den  gewaltigen  Einfluss  der  Grundbesitzer  in 
den  städtischen  Körperschaften.  Auf  Antrag  der  beiden 
Referenten  fasste  der  Verein  seine  Ansicht  in  folgendem 
Beschluss  zusammen: 

„Der  deutsche  Verein  für  öffentliche  Gesundheits- 
pflege erkennt  die  unterschiedliche  Behandlung  der  Bau- 
ordnungen für  das  Innere,  die  Aussenbezirke  und  die 
Umgebung  von  Städten  als  ein  dringendes  Bedürfniss 
an  und  empfiehlt  den  betheiligten  Staats-  und  Gemeinde- 
behörden von  diesem  Gesichtspunkte  aus  eine  baldige 
Aenderung  der  bestehenden  Bauordnungen  vorzunehmen.“ 

Aus  den  Verhandlungen  über  „Reformen  auf  dem 
Gebiete  der  Brodbereitung“  heben  wir  die  Ausführun- 
gen über  das  gegenwärtige  städtische  und  ländliche  Brod 
hervor.  Professor  K.  B.  Lehmann  fand  auf  Grund  chemi- 
scher Untersuchungen  das  erstere  verhältnissmässig  rein  und 
gleichmässig,  während  das  ländliche  Schrotbrod,  aus  un- 
gereinigtem Getreide  hergestellt,  vielfach  die  verunreinigend- 
sten  Beisätze  enthalte. 

Ueber  „die  Grundsätze  richtiger  Ernährung  und 
die  Mittel,  ihnen  bei  der  ärmeren  Bevölkerung 
Geltung  zu  verschaffen“  referirte  Dr.  Pfeiffer-München. 
Während  dieser  die  Bedeutung  einer  rationellen  Ernährung 
für  die  Leistungsfähigkeit  des  Organismus  darlegte,  wurde 
von  dem  Korreferenten,  Stadtrath  Kalle-Wiesbaden,  die 
Frage  erörtert,  wie  man  den  Grundsätzen  richtiger  Ernäh- 
rung bei  der  arbeitenden  Bevölkerung  am  besten  Eingang 
verschaffen  könne.  In  Folge  der  ungenügenden  Ernährung 
der  arbeitenden  städtischen  Bevölkerung  habe  sich  der 
Prozentsatz  der  zum  Militärdienst  tauglichen  Personen 
innerhalb  der  letzten  Jahrzehnte  allmählich  vermindert. 
Während  in  den  ländlichen  Distrikten  von  den  zur  Aus- 
hebung sich  stellenden  jungen  Leuten  durchschnittlich  9/io 
diensttauglich  befunden  wurden,  mussten  in  den  Industrie- 
hezirken,  wo  die  im  Allgemeinen  mangelhaft  ernährte  Ar- 
beiterbevölkerung wohnt,  durchschnittlich  3/io — 4/io  der 
Konskribirten  als  dienstuntauglich  ausgeschieden  werden. 
Ein  Anfang  zur  Besserung  müsse  zunächst  bei  den  Per- 
sonen gemacht  werden,  denen  die  Nahrung  fertig  geliefert 
werde.  In  Kasernen  und  Gefängnissen  könne  der  Staat, 
in  Arbeitermenagen  und  Volksküchen  Private  viel  thun. 
Von  allergrösster  Wichtigkeit  sei  die  Erleichterung  und 
Verbilligung  der  Beschaffung  von  gesunden,  nährkräftigen 


No.  37. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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Lebensmitteln,  insbesondere  von  Seefischen,  von  Mager- 
milch und  anderen  Produkten  der  Milchwirthschaft,  sowie 
von  leichtverdaulichen,  proteinreichen  vegetabilischen 
Nahrungsmitteln.  Der  Konsum  von  Seefischen  lasse  sich 
•am  leichtesten  durch  Besserung  und  Verbilligung  des  Trans- 
portes heben,  durch  dessen  Steigerung  wiederum  der  Staat, 
der  Inhaber  der  Transportmittel,  Vortheil  habe.  Redner 
bespricht  mehrere  neu  erfundene  Volksernährungs-Präpa- 
rate  und  empfiehlt,  zur  Aufklärung  der  Bevölkerung  über 
den  Werth  guter  Ernährung  mehr  als  bisher  zu  thun. 
„Wander-  Kochschulen“  und  „hauswirthschaftliche  Fort- 
bildungsschulen“, wie  sie  in  einzelnen  Städten  bereits  be- 
stehen, seien  voraussichtlich  berufen,  bei  der  Lösung  des 
Volksernährungs-Problems  eine  wichtige  Rolle  zu  spielen. 
Im  Interesse  der  Kommunen  liege  es,  derartige  Bestrebungen 
nach  Kräften  zu  unterstützen,  ln  Belgien  habe  man  den 
Haushaltungs-  und  Kochunterricht  bereits  in  die  Volks- 
schulen eingeführt.  — 

Die  Berathungsgegenstände  der  letzten  Sitzung  bildeten 
die  „Vorbeugungsmaassregeln  gegen  Wasservergeudung“ 
(ein  Thema  das  augenblicklich,  angesichts  der  Choleragefahr 
von  aktueller  Bedeutung  ist;  vgl.  oben  S.  445)  und  die 
„Verwendung  des  Fleisches  kranker  bezw.  getödteter  und 
gefallener  Thiere.“ 

Arbeitshygienische  Untersuchungen  in  England.  Die 

Labour  Gazette  erhält  vom  Home  Office  folgende  Mit- 
theilung; Der  Staatssekretär  für  das  Innere  hat  es  für 
wünschenswerth  erachtet,  Spezialuntersuchungen  über  ge- 
wisse Beschäftigungen  und  Betriebe  anzustellen,  bei  welchen 
ausreichender  Grund  zu  der  Annahme  vorliegt,  dass  die 
dort  vorgenommenen  Hantirungen  der  Gesundheit  der 
Arbeiter  gefährlich  seien.  Diese  Untersuchungen  beziehen 
sich  auf:  1.  die  verschiedenen  Prozesse,  bei  welchen  Blei, 
insbesondere  Bleiweiss  verwendet  wird;  2.  Töpfereien; 
3.  Chemische  Fabriken;  4.  Steinbrüche.  Die  Untersuchungen 
werden  durch  einige  Fabrikinspektoren  in  Verbindung  mit 
medizinischen  und  sonstigen  Sachverständigen  geführt  wer- 
den. Sowohl  Vertreter  der  Unternehmerschaft  als  der  Arbeiter 
werden  zugezogen.  Hauptzweck  der  Untersuchungen  ist, 
das  Amt  in  die  Lage  zu  setzen,  Spezialverordnungen  im 
Rahmen  des  Fabrikgesetzes  von  1891  herauszugeben:  aber 
jedes  einzelne  Untersuchungskomite  hat  Befugnisse,  die 
weit  genug  sind,  um  ihm  zu  erlauben,  darüber  hinaus 
Untersuchungen  zu  führen  und  Anregungen  zu  geben. 

Die  Fürsorge  für  Genesende  befindet  sich  bei  uns 
noch  kaum  in  den  Anfängen.  Selbst  wo  für  Krankenhäuser 
genügend  gesorgt  ist,  ist  der  aus  dem  Krankenhause  ent- 
lassene Patient  in  der  Regel  hilflos.  Der  verstorbene 
Direktor  des  Krankenhauses  Moabit,»  Dr.  Guttmann,  hat  die 
Zinsen  eines  Legates  von  10  000  Mark  für  die  Unterstützung 
von  bedürftigen  Kranken  bestimmt,  welche  aus  dem  Kranken- 
hause entlassen  werden. 

Preisausschreiben  betr.  Mässigkeitsbestrebungen. 

Der  Deutsche  Verein  gegen  den  Missbrauch  geistiger  Ge- 
tränke stellt  folgende  Preisfrage;  ,,Was  kann  die  Schule 
und  besonders  der  Lehrer  zur  Förderung  der  Mässigkeits- 
sache  thun?“  Zur  Bewerbung  sind  alle  Volksschullehrer 
des  Reichs  eingeladen.  Der  Preis  beträgt  300  M.;  doch  ist 
den  Preisrichtern  gestattet,  denselben  nach  Befinden  zu 
theilen.  Es  wird  eine  kürzere  Arbeit  gewünscht,  die  sich 
zur  Massenverbreitung  eignet.  Die  preisgekrönten  Arbeiten 
werden  Eigenthum  des  Vereins.  Die  Arbeiten,  die  bis  zum 
15.  Februar  1894  einzuliefern  sind,  haben  nicht  den  Namen 
des  Verfassers,  sondern  ein  Motto  zu  tragen;  in  einem 
Umschläge,  der  das  gleiche  Motto  trägt,  ist  die  Adresse 
des  Verfassers  zu  verschliessen.  Das  Preisrichteramt  haben 
übernommen  die  Herren  Abg.  L.  F.  Seyffardt  in  Krefeld, 
Lehrer  und  Redakteur  Helmcke  in  Magdeburg,  Schuldirektor 
O.  Pache  in  Leipzig-Lindenau,  General-Sekretär  j.  Tews  in 
Berlin  und  der  Geschäftsführer  des  genannten  Vereins, 
Dr.  W.  Bode  in  Hildesheim,  an  den  die  Arbeiten  ein- 
zusenden sind.  Der  Preis  wird  am  15.  April  1894  ertheilt. 


Wohlfahrtseinrichtungen. 

Studienreise.  Eine  Anzahl  Beamte  derjenigen  preussi- 
schen  und  Reichsressorts,  die  praktisch  bei  der  Förderung 
von  Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen  betheiligt  sind  (Han- 
delsministerium, Reichsversicherungsamt,  Reichsamt  des 
Innern  etc.),  haben  unter  Führung  des  Geheimraths  Post 
eine  Studienreise  nach  Westdeutschland  zur  Besichtigung 
der  bemerkenswerthesten  derartigen  Einrichtungen  unter- 
nommen. Wie  der  Frankfurter  Zeitung  gemeldet  wird, 
wurden  die  Wohlfahrtseinrichtungen  der  Firma  David  Peters 
& Co.  in  Neviges  (Kr.  Elberfeld)  in  Augenschein  genommen 
und  ist  u.  A.  auch  ein  Ausflug  nach  Delft  in  Holland  ge- 
plant, wo  ähnliche  Einrichtungen  in  besonders  interessanter 
Art  von  einem  Grossindustriellen  begründet  sein  sollen. 

Gewinnbetheiligungs-Projekt  in  Algier.  Im  Departe- 
ment Öran  besteht  ein  französischer  Arbeiterbund  (Ligue 
de  travailleurs  francais).  Derselbe  hat  der  Senatskommission 
für  Studien  über  Algier  eine  Denkschrift  überreicht,  die  das 
System  der  Gewinnbetheiligung  des  gesammten  Personals 
auf  Kolonisationsunternehmungen  anwenden  will.  Wenn  der 
Staat  bestehenden  Unternehmungen  diese  Form  der  ge- 
schäftlichen Organisation  nicht  aufdrängen  könne,  so  habe 
er  doch  die  Pflicht,  für  diese  Forderung  der  Gerechtigkeit 
einzutreten,  sobald  er  einer  Gesellschaft  ein  Privileg  gewähre. 
Die  Denkschrift  schliesst  mit  dem  vollständigen  Statuten- 
entwurf für  eine  derartige  Gesellschaft  unter  dem  Namen 
„L'avenir  colonial“. 


Eingesendete  Schriften: 

Flesch,  Stadtrath  Dr.,  Soziale,  kommunale  und  staatliche 
Anforderungen  an  das  Bestattungswesen.  Separat- 
abdruck aus  dem  Phönix.  Wien,  Verlag  des  Vereins  der 
Freunde  der  Feuerbestattung  „Die  Flamme“.  8°.  17  S. 

Heinecke,  Otto,  Ingenieur  und  Fabrikdirektor.  Der  Valuten- 
ausgleichszoll. Ein  Beitrag  zur  Lösung  der  Währungs-  und 
Schutzzoll-Frage.  Leipzig,  Rossberg'sche  Hof-Buchhandlung. 
8°.  27  S. 

Henschel,  Hermann.  Allgemeine  Staats-Lehre.  Als  Ein- 
leitung in  das  Studium  der  Rechtswissenschaft.  Erste  und 
zweite  Lieferung.  Berlin,  Siemenroth  & Worms.  4°.  232  S. 

Jacobi,  E.  Der  Völkermord.  Neuwied  und  Leipzig.  August 
Schupp.  8°'  58  S. 

Jahresbericht  der  Handels-  und  Gewerbekammer  für  Ober- 
bayern 1892.  München.  C.  Wolf  & Sohn.  8°.  XIV  und  291  S. 

Krebs,  Werner,  Zum  Schutze  des  Kleingewerbes  gegen 
die  Auswüchse  und  U ebelstände  im  Handel  und 
Kreditverkehr.  (Gewerbliche  Zeitfragen.  Heft  VIII.)  Im 
Aufträge  des  Centralvorstandes  des  Schweizerischen  Gewerbe- 
vereins bearb.  Zürich,  Verlag  des  Schweizerischen  Gewerbe- 
vereins. (In  Kommission  bei  Michel  & Büchler  in  Bern.)  8°. 
48  S. 

Der  Militarismus  im  Deutschen  Reich.  Eine  Anklage-Schrift 
von  einem  Deutschen  Historiker.  Stuttgart.  Robert  Lutz. 
8°.  61  S. 

Richter,  Dr.  M.  M.  Die  Benzinbrände  in  den  chemischen 
Wäschereien.  Berlin,  Rob.  Oppenheim  (Gustav  Schmidt). 
8°.  55  S. 

Die  Socialdemokratische  Gesellschaft,  was  sie  kann  und  was 
sie  nicht  kann.  Von  einem  früheren  deutschen  Studenten. 
München,  M.  Poessl.  8°.  86  S. 

Tyche,  Julian  v.,  Die  Todsünde  der  modernen  Gesellschaft. 
Ein  Protest  gegen  die  bestehende  Wirthschaftsordnung  und 
ihre  Folgen.  3.  Aull.,  9.  Tausend.  Wien,  Jacob  Dirnböcks 
Buchhandlung.  8°.  99  S. 

Wacker,  Theodor,  Mitglied  der  zweiten  badischen  Kammer.  Zur 
Geschichte  des  Branntweinsteuer-Gesetzes.  (1885-1887) 
Freiburg  i.  B.,  Herder'sche  Verlagsbuchhandlung.  8°.  62  S. 

Weisbach,  Valentin,  Normalmiethshäuser  mit  kleinen  Woh- 
nungen. Ein  Beispiel  - Projekt  für  Berlin.  Mit  zwei  litho- 
graphirten  Plänen.  Technisch  bearbeitet  von  A.  Messel,  Re- 
gierungsbaumeister. Berlin,  Verlag  von  Leonhard  Simion. 
4°.  22  S. 

Werner,  J„  Dr.  med.  Der  Alkohol  und  der  menschliche 
Organismus.  (Aus  geistigen  Werkstätten.  Sammlung 
gemeinnütziger  und  Volksbildender  Vorträge.  Heft  5.)  Berlin, 
Richard  Lesser.  8°.  26  S. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin,  W.,  Victoriastrasse  16. 


448 


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II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  19.  Juni  1893. 


Nummer  38. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Erscheint  jeden  Montag. 

Zu  beziehen 

durch  alle  Buchhandlungen,  Spediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf 

Anzeigenpreis  für  die  dreigespaltene  Colonelzeile 
40  Pfennig. 


INHALT. 


Jugend-  und  Volksspiele  in 
ihrer  sozialen  Bedeutung. 
Von  Prof.  Dr.  E.  v.  Philippo- 
vich. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  und 
Wirthschaftsstatistik : 

Die  europäische  Auswanderung. 

Oesterreichische  Gewerbeexpertise. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Zur  Sonntagsruhe  in  Industrie  und 
Handwerk. 

Gewerbeinspektion : 

Die  österreichische  Gewerbeinspek- 
tion im  Jahre  1892.  Von  Prof. 
Dr.  Ernst  Mischler. 

Eine  Maassregelung  im  österreichi- 
schen Gewerbeinspektorat. 

Arbeiter  Versicherung : 

Zur  Statistik  der  österreichischen 
Arbeiter  - Unfallversicherungsan- 
stalten  im  Jahre  1891. 


Entscheidungen  des  Reichsversiche- 
rungsamts. 

Obergutachten  in  Unfallsachen. 

Gebrochene  Gefahrenklassen. 

Wohnungszustände  und  Woh- 
nungsgesetzgebung : 

Normalmiethshäuser  mit  kleinen 
Wohnungen  in  Berlin. 

Arbeiterwohnungen  in  der  Kasse- 
ler Lokomotivfabrik. 

Deutsche  Volksbaugesellschaft. 

Schulwesen,  Unterrichts-  und 
Erziehungsfragen : 

Die  hauswirthschaftliche  Ausbil- 
dung des  weiblichen  Geschlechts 
in  der  Schweiz.  Von  Pfarrer 
Dr.  Emil  Hof  mann. 

Plan  einer  Webeschule  in  Reichen- 
bach. 

Schulunterricht  und  Rübenbau  in 
Aschersleben. 

Eingesendete  Schriften. 


und  Zeitschriften  gestattet 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen 

jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Jugend-  und  Volksspiele  in  ihrer  sozialen 
Bedeutung. 

Das  Ebemnaass  körperlicher  und  geistiger  Entwickelung 
im  Einzelleben  zu  wahren,  bleibt  ein  Ideal,  dem  sich  nur 
wenige  Menschen  annähern  können.  Die  ganze  Volks- 
erziehung aber  auf  diesen  Grundsatz  zu  stellen,  hat  noch 
kein  Volk  vermocht  und  in  der  Gegenwart  auch  kaum  ver- 
sucht. In  den  unteren  Klassen  werden  die  körperlichen 
Kräfte  frühzeitig  entwickelt,  um  schon  vom  jugendlichen 
Alter  an  ganz  in  den  Dienst  des  Erwerbes  gestellt  zu  wer- 
den — ein  Uebermaass  einseitiger  körperlicher  Arbeit  ohne 
jedwede  veredelnde  Wirkung:  in  den  oberen  Klassen  ist 
der  Zweck  der  Erziehung  ausschliesslich  geistige  Bildung 
und  die  Lebensaufgabe  fortdauernde  Anspannung  der 
geistigen  Kräfte  — : ein  Uebermaass  der  Kopfarbeit,  dem 
das  Gegengewicht  fehlt.  Die  natürliche  Folge  ist,  dass 
dort  die  geistige  und  hier  die  körperliche  Arbeit  gering 
geschätzt  wird  und  dass  zu  den  vielen  die  Klassen  trennen- 
den Lebensverhältnissen  ein  neues  hinzukommt.  Wie  man 
mit  Fortbildungsschulen,  Gewerbeschulen,  Volksbibliotheken, 
Lesevereinen  u.  s.  w.  dort  der  einseitig  körperlichen  Aus- 
bildung entgegenwirken  will,  so  wird  hier  durch  ein  dem 
Lehrplan  lose  angeklebtes  System  des  Turnunterrichtes  und 
durch  freiwillige  Sportübungen  der  Versuch  gemacht,  dem 


Uebel  wenigstens  die  schärfsten  Spitzen  abzubrechen.  Aber 
wie  weit  sind  wir  davon  entfernt,  dass  eine  gleiche  Berück- 
sichtigung der  körperlichen  und  geistigen  Durchbildung  der 
ganzen  Nation  oder  auch  nur  einem  grösseren  Bruchtheil 
der  Klassen  zu  gute  kommt!  Das  ist  aus  vielen  Gründen  zu 
( beklagen.  Denn  unter  jenen  Kräften,  welche  auf  der  Grund- 
lage der  Sicherung  der  materiellen  Existenz  das  Gebäude 
reineren  Lebensglückes  aufzurichten  vermögen,  ist  neben  der 
Bildung  des  Gemüthes  die  Harmonie  körperlicher  und 
geistiger  Gesundheit  die  wirksamste.  Und  wenn  der  tiefere 
Gedanke  aller  Sozialpolitik  der  ist,  dass  die  materielle  Ver- 
besserung der  Lage  der  unteren  Klassen,  wie  der  gesamm- 
ten  wirthschaftlichen  Organisation  das  Mittel  eines  gehobe- 
nen und  geläuterten  Lebensgenusses  sein  soll,  dann  wird 
man  vom  sozialpolitischen  Standpunkte  alle  Bestrebungen 
mit  Aufmerksamkeit  verfolgen  müssen,  welche  diese  Kräfte  zu 
wecken  im  Stande  sind.  Dazu  gehören  auch  jene,  welche 
der  körperlichen  Erziehung  des  Volkes  einen  grösseren 
Raum  gewidmet  sehen  wollen  und  zwar  nicht  etwa  bloss 
als  einem  Mittel  physischer  Stärkung,  sondern  vor  allem 
I als  einer  Quelle  der  Lebensfreude  und  der  Erquickung  im 
geselligen  Verkehr. 

Seit  Jahrzehnten  hat  sich  in  dieser  Richtung  das  Turn- 
wesen  Boden  geschaffen.  Wer  in  den  deutschen  Turnver- 
einen verkehrt,  wird  leicht  die  Beobachtung  machen  können, 
dass  das  Bedürfniss  nach  solcher  geselliger  Bethätigung  der 
körperlichen  Kraft  auch  in  jenen  Kreisen  gross  ist,  denen 
es  an  Uebung  des  Körpers  in  ihrem  Berufe  sicherlich  nicht 
fehlt.  Junge  Arbeiter  und  Gewerbetreibende  stellen  die 
grosse  Masse  der  Mitglieder  unserer  Turnvereine.  Das 
Turnen  ist  hier  nicht,  wie  in  vielen  Fällen  der  oberen 
Klassen  oder  bei  den  meisten  Erwachsenen  eine  vom  Arzt 
verordnete  Heilgymnastik,  sondern  der  Ausdruck  einer  frisch 
pulsirenden  Lebenskraft,  deren  Träger- in  fröhlichem  Wett- 
kampf ihr  Können  messen  wollen  und  in  der  Kraft,  Ge- 
wandtheit und  zähen  Ausdauer  Eigenschaften  erblicken,  die 
zu  erwerben  sich  der  Mühe  lohnt.  Es  ist  nicht  das  gym- 
nastische Virtuosenthum  oder  die  athletische  Kraftanstren- 
gung, die  angestrebt  wird,  denn  diese  sind  von  Wenigen 
zu  erreichen.  Die  Grundlage  unserer  Turnvereine  ist  die 
Freude  an  der  Körperübung  im  geselligen  Verein,  an  die 
sich  Wetteifer,  Scherz  und  Erheiterung  anschliessen  und 
dies  Alles  im  Rahmen  einer  freien,  sich  selbst  verwalten- 
den Organisation.  Niemand,  der  das  Leben  in  diesen  Turn- 
vereinen mitgemacht  hat,  wird  verkennen,  dass  hier  viel 
Nützliches  und  Schönes  geleistet  wird,  sowohl  in  der  Aus- 
bildung körperlicher  Tüchtigkeit,  wie  in  der  Disziplinirung 
der  Mitglieder,  in  der  freien  Unterordnung  unter  die  aner- 
kannten Satzungen  und  selbst  bestellten  leitenden  Persön- 
lichkeiten. Es  ist  auch  nicht  zu  verkennen,  dass  die 
Mischung  sozialer  Gruppen  und  verschiedener  Bevölkerungs- 
schichten  innerhalb  dieser  Turnvereine  auf  dem  festen  Grunde 


450 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  38. 


gemeinsamer  und  gleichartiger  Bethätigung  vor  sich  geht  und 
durch  den  persönlichen  Verkehr  und  die  gewährte  gegen- 
seitige Anerkennung  ein  werthvolles  Element  sozialer  An- 
näherung bildet.  Seit  einiger  Zeit  aber  tritt  in  Deutschland 
neben  das  Turnen  eine  Bewegung,  die  mir  für  den  oben 
angedeuteten  Zweck  der  Volkserziehung  eine  noch  grössere 
Bedeutung  zu  besitzen  scheint,  die  Bewegung  zur  Förderung 
der  Jugend-  und  Volksspiele. 

Bis  vor  wenigen  Jahren  hat  das  Jugendspiel,  namentlich 
das  Ballspiel  in  seinen  unendlich  verschiedenen  Formen, 
nur  in  der  Stille  und  im  Verborgenen  geblüht,  aus  dem 
unauslöschlichen  Triebe  der  lebensfrohesten  Jahre  heraus 
immer  von  Neuem  geboren,  aber  als  ein  Pflänzchen  von 
kurzer  Febenszeit,  das  nach  wenigen  Jahren  abstarb  und 
schon  in  den  späteren  Jünglingsjahren  keinen  Boden  mehr 
für  sein  Gedeihen  fand.  Einer  eingehenden  Pflege  hatte 
es  sich  bei  uns  von  keiner  Seite  zu  erfreuen.  Dies  ist  seit 
einiger  Zeit  anders  geworden.  Vor  mir  liegt  der  2.  Jahr- 
gang des  Jahrbuches  des  Centralausschusses  zur  Förderung 
der  Jugend-  und  Volksspiele  in  Deutschland1),  der  neben 
vielen  lesenswerthen  Berichten  über  die  praktische  Aus- 
übung des  Jugendspieles  in  deutschen  Städten,  sowie  über 
die  Verhandlungen  und  Vorträge  in  den  Sitzungen  des 
Centralausschusses  auch  die  Ergebnisse  einer  Umfrage  ent- 
hält, die  im  Jahre  1892  über  das  Vorhandensein  und  den 
Betrieb  des  Jugend-  und  Volksspiels  in  den  deutschen 
Städten  mit  über  5000  Einwohnern  angestellt  wurde.  Von 
den  in  Betracht  kommenden  über  700  Städten  hatten  587 
Berichte  eingeschickt  und  nach  diesen  ist  in  376  Städten 
das  Jugendspiel  eingeführt.  Das  ist  mit  Rücksicht  darauf, 
dass  es  sich  um  eine  bis  vor  Kurzem  ganz  unorganisirte 
Bewegung  handelt,  ein  verhältnissmässig  günstiges  Ergebniss. 
Die  Regel  ist  die,  dass  in  den  Schulen  die  Turn-  oder 
Klassenlehrer  mit  ihren  Schülern  den  Spielplatz  besuchen, 
der  entweder  von  der  Stadt  oder  von  Vereinen  zur  Ver- 
fügung gesfellt  ist,  seltener  in  unmittelbarer  Verbindung 
mit  der  Schule  oder  Turnanstalt  steht.  Häufig  wurde  auch 
seitens  der  militärischen  Behörden  der  Exerzierplatz  zur 
Verfügung  gestellt.  In  keinem  Falle  fehlte  es  an  der  Mög- 
lichkeit, den  Raum  für  die  Spieler  zu  gewinnen.  Die  Kosten 
für  die  nothwendigsten  Spielgeräthe  sind  verhältnissmässig 
geringe  und  kommen  bei  der  Frage  der  Spielorganisation 
gar  nicht  in  Betracht,  da  sie  mit  Leichtigkeit  von  jeder 
Spielergruppe  getragen  werden  können.  Das  Entscheidende 
liegt  demnach  darin,  die  Zeit  für  die  Abhaltung  der  Spiele 
und  die  entsprechende  Leitung  zu  gewinnen,  um  den 
Spielenden  jene  Schulung  beizubringen,  welche  der  Spiel- 
übung erst  ihren  Werth  und  den  Spielern  die  Freude  an 
der  Bethätigung  verleiht.  Das  sind  zwei  Fragen,  mit  denen 
sich  infolge  des  Interesses,  das  die  Jugendspiele  auf  sich  ge- 
zogen haben,  heute  bereits  die  Schulverwaltungen  be- 
schäftigen müssen.  Denn  die  Agitation  und  auch  die  that- 
sächliche  Ausbreitung  der  Jugendspiele  hat  wesentlich 
auf  dem  Boden  der  Schule  und  zwar  vor  Allem  der  Mittel- 
schulen (Gymnasium  und  Realschule)  stattgefunden.  Sie 
wird,  ohne  das  Turnen  zu  schädigen,  noch  weitergehen 
dürfen  und  müssen,  bis  an  allen  Schulen  neben  der  metho- 
dischen Muskel-  und  Körperübung  des  Turnens  das  den 
ganzen  jungen  Menschen  mit  Körper  und  Sinn  erfassende 
Bewegungsspiel  im  Freien  eine  anerkannte  Einrichtung  ge- 
worden ist.  Das  Turnen  ist  die  strengere  Körperübung, 
aber  eben  darum  nicht  in  dem  Maasse  Allen  zugänglich, 
wie  das  Jugendspiel,  und  durch  das  Letztere  wird  daher 
eine  grosse  Zahl  von  Knaben  und  Mädchen  zur  Körper- 
übung herangezogen  werden  können,  die  ohne  das  Spiel 
darauf  verzichtete. 

Aber  die  grössere  Bedeutung  des  Jugendspiels  liegt 


*)  Herausgegeben  von  E.  v.  Sehenkendorff  und  Dr.  med. 
F.  A.  Schmidt,  Hannover-Linden  1893,  193  S.,  Preis  2.50  M. 


darin,  dass  es  über  die  Schulen  hinaus  als  ein  Mittel  der 
körperlichen  Erziehung  des  Volkes  benutzt  werden  kann. 

Die  Bethätigung  im  Zusammenwirken  einer  grösseren  Zahl, 
die  Erweiterung  des  Kreises  der  Thätigen  durch  die  Mög- 
lichkeit verschiedener  Altersklassen  und  Kräfte  zusammen- 
zufassen, die  Nothwendigkeit  im  Freien  unter  Beobachtung 
und  Theilnahme  von  Zuschauern  zu  üben  sind  Momente, 
welche  ganz  abgesehen  von  der  Technik  des  Betriebes 
selbst  das  Bewegungsspiel  gegenüber  dem  Turnen  charak- 
terisiren  und  es  von  vorne  herein  auf  eine  viel  breitere 
Grundlage  stellen.  An  solchen  Spielen  vermag  sich  — wir 
brauchen  nur  an  England  zu  erinnern  — eine  allgemeine 
Theilnahme  des  Volkes  zu  entzünden.  Sie  greifen  in  viel 
höhere  Altersklassen  herein  und  erwecken  auch  in  dem 
Zuschauer  ein  lebendiges  Interesse,  das  sich  in  der  Folge 
auf  die  Fürsorge  für  körperliche  Thätigkeit  überhaupt  über- 
trägt. Sie  haben  neben  der  Anmuth  und  Frische  der  kör- 
perlichen Bewegung  den  Reiz  des  freien  Zusammenwirkens 
innerhalb  bestimmter  Regeln,  den  des  Verlustes  oder  Sieges 
für  sich.  In  höherem  Maass  als  bei  dem  schulmässigen, 
den  Einzelnen  stets  zu  genau  umschriebener  Aufgabe  her- 
anziehenden Turnen  ist  die  Freiheit  der  Uebenden  gewahrt 
und  die  mannigfachen  Wechselfälle  des  Spieles  wecken  eine 
unschuldige  Freude  und  Heiterkeit,  die  selbst  bereits  Be- 
friedigung gewährt.  Nach  den  Erfahrungen  anderer  Völker 
bleibt  die  thätige  Theilnahme  an  den  Bewegungsspielen 
länger  rege  als  die  an  dem  anstrengenderen  Turnen,  und 
nur  bei  einer  solchen  in  die  Höhe,  wie  in  die  Breite 
gehenden,  viele  Altersklassen  und  grosse  Bevölkerungs- 
kreise umfassenden  Bewegung  ist  zu  erwarten,  dass  sie 
wirklich  allmählich  das  ganze  Volk  umfasst  und  hierdurch 
die  feste  Sitte  und  Lebensgewohnheit  ausprägt,  welche 
schliesslich  die  Fürsorge  für  körperliche  Tüchtigkeit  ebenso 
selbstverständlich  erscheinen  lässt,  wie  es  heute  die  für 
Reinlichkeit  oder  für  die  Erwerbung  der  elementaren  Kennt- 
nisse ist. 

Gegenwärtig  ist  thatsächlich  die  einzige  das  ganze  Volk 
umfassende  Schule  für  körperliche  Ausbildung  das  Heer. 

Ihm  zur  Seite  wirkt,  auf  einen  — im  Verhältniss  zum  ganzen 
Volke  betrachtet  — kleinen  Kreis  beschränkt,  die  deutsche  ' 
Turnerschaft  mit  ihrer  feineren  Verästelung  in  die  einzelnen 
Zweige  des  Schulwesens.  Zwischen  der  Schule  und  dem 
Heer  und  nach  dem  Austritt  aus  dem  Heer,  hört  für  die 
grosse  Masse  derer,  die  nicht  zu  den  Turnvereinen  gehören, 
die  regelmässige  und  allseitige  Körperpflege  im  Interesse 
der  Gesundheit  und  der  Erfrischung  auf.  Hier  liegt  das 
weite  Feld,  das  sich  die  Spielbewegung  zu  erobern  hat. 
Den  natürlichen  Ausgangspunkt  bildet  die  Turnerei,  die 
ihren  Aufgabenkreis  erweitert,  indem  sie  den  von  ihr  bislang 
zurückgestellten  Bewegungsspielen  grössere  Aufmerksam- 
keit schenkt  und  dadurch  die  Betheiligung  an  den  Turn- 
vereinen erhöht.  Weiters  treten  die  Schulen  hinzu,  indem 
sie  neben  dem  Turnen  die  Spiele  pflegen  und  so  in  einigen 
Jahren  Tausende  von  geschulten  Spielern  in  die  oberen 
Jahrgänge  der  Jugend  abgeben,  die  dann  in  Fortführung 
liebgewonnener  Uebungen  für  die  Ausbreitung  der  Bewe- 
gungsspiele sorgen  werden.  Dazu  muss  aber  eine  kräftige 
Förderung  des  Jugendspieles  innerhalb  jener  Klassen  treten, 
welche  weder  mit  den  Schulen,  noch  mit  der  Turnerschaft 
in  Verbindung  stehen.  Dies  wird  nur  durch  selbstständige 
Organisation  von  Spielvereinen  oder  dadurch  geschehen 
können,  dass  die  Gemeinden,  die  Gewerbevereine,  Arbeiter- 
bildungs-  oder  sonstige  Arbeitervereine  die  Angelegenheit 
in  die  Hand  nehmen  und  sich  bemühen,  der  gewerblichen, 
für  das  Turnen  nicht  zu  gewinnenden  Jugend  die  Freude 
am  Bewegungsspiel  beizubringen.  Zunächst  wird  die  natür- 
liche Gelegenheit  zur  Bethätigung  der  frei  gewordene  Sonn- 
tag sein,  da  die  Länge  der  Arbeitszeit  während  der  Woche 
nur  die  späteren  Abendstunden  freilässt.  Immerhin  lässt 
sich  damit  schon  Einiges  anfangen  und  man  braucht  sich 


No.  38. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAI  .BLATT. 


451 


nur  einmal  auf  grünem  Plan  mit  einer  solchen  Gruppe 
jugendlicher  Arbeiter  herumgetummelt  zu  haben,  um  zu 
sehen,  wieviel  Freude  und  Erholung  man  mit  geringen 
Mitteln  dabei  bereiten  kann.  Hier  ist  ein  offenes  Gebiet 
für  alle  Jene,  die  Elemente  gleichartiger  Entwickelung  in 
der  Nation  fördern  wollen.  Hier  ist  ein  Boden  herzustellen, 
auf  dem  sich  die  verschiedensten  Schichten  der  Gesellschaft 
zu  begegnen  und  an  gleichem  Maasse  zu  messen  vermögen. 
In  der  Pflege  und  Uebung  der  Turnkunst  wie  der  Bewe- 
gungsspiele sind  soziale  Gegensätze  undenkbar.  Aber  noch 
wichtiger  für  den  Gesammterfolg  ist  es,  dass  in  den  Be- 
wegungsspielen ein  Mittel  gegeben  ist,  das  in  gleicher 
Weise  der  Kräftigung  und  körperlichen  Gesundheit,  wie 
dem  höheren  Zwecke  dient,  an  die  Stelle  fortdauern- 
der Unterordnung  unter  den  Druck  des  Erwerbes  und 
der  Berufsarbeit  einen  heiteren  und  erfrischenden  Le- 
bensgenuss zu  setzen.  Aus  der  Freude  am  Spiel  und  an 
der  Körperübung  wird  die  Lust  zur  Bethätigung,  aus 
dieser  die  körperliche  Kraft  und  Gesundheit  geboren,  die 
ihrerseits  wieder  eine  Quelle  der  Zufriedenheit  und  der 
Leistungsfähigkeit  wird.  Werden  wir  einmal  so  weit  kommen, 
dass  diesem  Gedankenkreis  die  thatsächliche  Ordnung  des 
Lebens  nicht  blos  weniger  Bevorzugter,  sondern  aller 
Klassen  der  Bevölkerung  entspricht? 

Freiburg  i.  B.  E.  v.  Phi  lip  povich. 


Lehrreich  ist  es,  die  zahlenmässige  Entwickelung  der 
Auswanderung  aus  den  einzelnen  Ländern  zu  verfolgen. 
Leider  reichen  die  zuverlässigen  amtlichen  Zahlenangaben 
hier  bis  zu  ganz  verschiedenen  Zeitepochen  zurück.  Die 
norwegische  und  grossbritannische  Auswanderung  wird  bis 
1853,  die  französische  bis  1865,  die  schwedische  bis  1866, 
die  Mehrzahl  der  übrigen  wenigstens  bis  in  den  Anfang 
der  1870  er  Jahre  zurückverfolgt.  Wir  können  unterscheiden 
Länder  mit  alter,  konstanter  und  solche  mit  verhältniss- 
mässig  junger  und  meist  rasch  anwachsender  Auswanderung. 
So  haben  seit  Jahren  annähernd  konstante  Auswanderungs- 
zififern:  Frankreich  (1865  = 4715,  1891=6217;  nur  1887 — 1890 
beobachten  wir  ein  Anschwellen);  Grossbritannien  (1853  = 
278  129);  auch  Deutschland  (1871  =76  224;  1872=  128  152). 
Dagegen  ist  die  Auswanderung  erst  in  den  letzten  15 — 20 
Jahren  zu  ihrem  jetzigen  Umfange  angeschwollen,  z.  B. 
aus  Italien  (1876  = 22  392),  Ungarn  (1871  = 294),  Russland 
während  der  allerletzten  Jahre. 

Besonderes  Interesse  gewähren  die  Relativzahlen,  in 
denen  das  Verhältniss  der  Auswanderung  zur  Bevölkerung 
und  zur  Bevölkerungszunahme  und  somit  erst  die  Bedeutung 
der  Auswanderung  für  das  einzelne  Land  zum  Ausdruck 
kommt.  Auch  hier  variiren  selbstredend  die  Zahlen  für  die 
einzelnen  Jahrgänge.  Unsere  Publikation  berechnet  die 
Relativzahlen  für  die  Jahre  1887 — 1891  bezw.  1892.  Wir 
wählen  wiederum  zur  Mittheilung  das  Jahr  1890,  weil  es 
das  jüngste  der  vollständigen  ist. 

Es  betrug  (1890)  auf  1000  Einwohner: 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Die  europäische  Auswanderung.  In  sehr  dankens- 
werther  Weise  stellt  eine  neue  Publikation  des  italienischen 
statistischen  Amts  die  amtlichen  Ziffern  über  die  Aus- 
wanderung aus  sämmtlichen  europäischen  Staaten,  sowie 
über  das  Ziel  der  Auswanderer  übersichtlich  und  mit  den 
nöthigen  Erläuterungen  zusammen.  Das  Heft  führt  den  Titel: 
„Appunti  di  Statistica  comparata  dell’  emigrazione  dall' 
Europa  e dell’  immigrazione  in  America  e in  Australia“,  und 
bildet  einen  Anhang  zu  dem  statistischen  Werk  über  die 
italienische  Auswanderung  im  Jahre  1891.  Wir  entnehmen 
ihm  folgende  Angaben: 

Im  Jahre  1890,  für  welches  sämmtliche  Zahlen  voll- 
ständig vorliegen,  verliessen  723  162  Personen  Europa.  An 
dieser  Summe  waren  die  einzelnen  15  Staaten,  auf  die  sich 
die  Angaben  beziehen,  wie  folgt,  betheiligt.  Es  wanderten 
(1890)  Personen  aus: 

Grossbritannien  und  Irland  . . . . 218  116 


und  zwar  aus:  England  und 


Italien  . . . 

Wales  . 
Schottland 
Irland  . . 

. 139  979 
. 20  653 
. 57  484 

115  595 

Deutschland 

97  103 

Russland  . . 

85  548 

Spanien  . . . 

37  025 

Schweden  . . 

30  128 

Portugal  . . . 

28  945 

Oesterreich 

28  236 

Ungarn  . . . 

27  422 

Frankreich  . . 

20  560 

Norwegen  . . 

10  991 

Dänemark  . . 

10  298 

Schweiz  . . . 

6 693 

Niederlande 

3 526 

Belgien  . . . 

2 976 

Selbstverständlich  variiren  diese  Ziffern  in  den  ver- 
schiedenen Jahren,  sodass  die  Reihenfolge  der  Staaten 
ebenfalls  von  Jahr  zu  Jahr  Aenderungen  unterliegt.  Doch 
bleibt  die  Reihe  insofern  immer  konstant,  als  die  höchsten 
Auswanderungsziffern  schon  seit  mehreren  Jahren  aufweisen  : 
Grossbritannien,  Italien,  Deutschland. 


In 

die  Anzahl  ausge- 
wanderter  Personen 

der  Geburten- 
überschuss 

Grossbritannien  u.  Irland 

5,77 

9,85 

u.  zwar:  England  u. Wales 

4,82 

10,69 

Schottland.  . 

5,07 

12,15 

Irland  ... 

12,15 

4,1 1 

Norwegen 

5,53 

12,27 

Schweden 

5,34 

10,83 

Dänemark 

4,79 

1 1,51 

Italien 

3,88 

9,52 

Schweiz 

2,28 

5,67 

Deutschland 

2,02 

11,38 

Ungarn 

1,79 

7,94 

Oesterreich 

1,18 

7,28 

Frankreich 

0,54 

— 1,00 

Danach  geht  von  sämmtlichen  Ländern  einer  Ent- 
völkerung durch  Auswanderung  nur  Irland  entgegen,  wäh- 
rend in  Frankreich  die  natürliche  Entvölkerung  durch  die 
Auswanderung  beschleunigt  wird. 

Endlich  seien  noch  die  Einwanderungszififern  der 
überseeischen  Staaten  mitgetheilt.  Sie  ergeben  stets  eine 
grössere  Summe  als  die  europäischen  Auswanderungszahlen, 
was  sich  theilweise  aus  der  Art  der  Erhebung,  theils  aus 
dem  Umstande  erklärt,  dass  in  den  Einwanderungszififern 
auch  die  nichteuropäischen  Einwanderer  einbegriffen  sind. 
Im  Jahre  1890  wanderten  ein  nach: 


den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika 

Canada  

Brasilien 

Argentinien 

Uruguay  

Paraguay  (1891) 

Australien  und  Neuseeland  . . . . 


515  892  Personen 


75  067 
85  172 
110  594 
24117 
1 149 
232  670 


)) 

)) 

)) 


)) 


Unter  diesen  wichtigsten  Einwanderungsländern  können 
wir  ebenfalls  zwei  Kategorien  unterscheiden:  solche,  die 
seit  einer  langen  Reihe  von  Jahren  und  Jahrzehnten  gesuchte 
Wanderziele  sind,  die  daher  eine  konstante  oder  ver- 
hältnissmässig  nur  langsam  wachsende  Einwanderungsziffer 
haben,  und  solche,  die  erst  in  letzter  Zeit  bedeutende  und 
rasch  wachsende  Menschenzufuhr  erhalten  haben.  Ver- 
gleichen wir  die  Einwanderungsziffern  für  die  Jahre  1870 
und  1890,  so  gehören  zu  den  Ländern  der  ersten  Kate- 
gorie: die  Vereinigten  Staaten  (1870:  378  796),  Uruguay 
(1870;  21148);  zu  der  letzteren  dagegen:  Brasilien  (1870: 
4556),  Australien  (1870:  18  395),  auch  Argentinien  (1870: 
39  967). 


452 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  38 


Eine  österreichische  Gewerbeexpertise.  Die  dem 

österreichischen  Abgeordnetenhause  vorliegenden  Anträge 
auf  Abänderung  der  Gewerbeordnung  sind  Gegenstand 
einer  Enquete  geworden,  welche  der  auch  während  der 
Parlamentsferien  tagende  Gewerbeausschuss  abhalten  wird. 
Die  erwähnten  Anträge  bewegen  sich  vorwiegend  in  zünft- 
lerischen  Geleisen  und  bezwecken  den  Ausbau  der  Zwangs- 
genossenschaften, Einführung  des  Befähigungsnachweises 
für  Handelsgewerbe  etc.  Aber  auch  andere  Fragen  werden 
Gegenstand  der  Enquete  sein;  so  die  der  Ausdehnung  der 
Arbeiterschutzbestimmungen  auf  die  Taglöhner  und  die  des 
Maximalarbeitstages  auf  das  Kleingewerbe.  Der  Umstand, 
dass  die  erwähnten  Anträge  auch  das  Verbot  des  Sitz- 
gesellenwesens verlangen,  wird  voraussichtlich  zu  einer 
eingehenden,  die  Hausindustrie  überhaupt  umfassenden 
Expertise  führen,  deren  Plan  noch  nicht  endgiltig  festgestellt 
ist.  Auf  Antrag  des  Abgeordneten  Pernerstorfer  wurden 
in  den  Fragebogen  der  Expertise  zwei  Fragen  aufgenommen, 
welche  ihre  Bedeutung  für  den  Ausbau  des  Arbeiterschutzes 
sehr  beträchtlich  erhöhen,  nämlich:  erstlich  die  Frage,  ob 
das  Arbeitsbuch  sich  als  nützlich  erwiesen  habe  und  ferner- 
hin beizubehalten  sei;  zweitens  aber  als  wichtigster  Punkt, 
ob  die  von  der  Gewerbeordnung  festgesetzte  Maximal- 
arbeitsdauer von  I I Stunden  noch  den  Verhältnissen  ent- 
spreche, oder  aber  weiter  herabzusetzen  sei.  Die  Zahl  der 
Experten,  die  vom  permanenten  Gewerbe- Ausschüsse  ver- 
nommen werden  sollen,  dürfte  sich  auf  180 — 200  belaufen. 
Es  sind  Handelskammern,  Unternehmerverbände,  Genossen- 
schaften und  Arbeitervereine  eingeladen  worden,  ihre  Ver- 
treter zu  nominiren. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Zur  Sonntagsruhe  in  Industrie  und  Handwerk.  Das 

in  No.  36  erwähnte  Rundschreiben  des  preussischen  Handels- 
ministers ist  jetzt  durch  den  Regierungspräsidenten  in  Frank- 
furt a.  O.  bekannt  geworden.  Derselbe  hat  seiner  Zirkular- 
verfügung an  die  Landräthe  etc.  seines  Bezirks  das  Rund- 
schreiben im  Wortlaute  beigegeben  und  Beides  in  einer 
Extrabeilage  zu  No.  23  des  dortigen  Amtsblatts  veröffent- 
licht. Der  Wortlaut  des  Rundschreibens  stimmt  mit  den 
von  uns  wiedergegebenen  Nachrichten  im  Ganzen  überein. 
Um  so  weniger  ist  einzusehen,  weshalb  von  Seiten  des  Mi- 
nisteriums dieser  für  die  weitesten  Kreise  wichtige  Erlass 
zunächst  geheim  gehalten  wurde. 

Als  die  betheiligten  Kreise,  welche  in  noch  ausgiebigerer 
Weise  gehört  werden  sollen,  sind  in  dem  Wortlaute  des  Er- 
lasses allerdings  ausdrücklich  „Arbeitgeber  und  Arbeiter“ 
bezeichnet.  Da  aber,  wie  nun  schon  eine  längere  Erfahrung 
zeigt,  auf  Grund  solcher  allgemeiner  Aufforderungen  die 
Arbeitgeber,  wo  sie  Gegner  der  Sonntagsruhe  sind,  sich  in 
genügend  „ausgiebiger“  Weise  Gehör  zu  verschaffen  wissen, 
während  die  Arbeiter  ihre  auf  Sonntagsruhe  gerichteten 
Wünsche  nicht  in  gleicher  Weise  den  Behörden  nahe  zu 
legen  wissen,  so  hat  die  blosse  Erwähnung  der  Arbeiter 
in  dem  ministeriellen  Rundschreiben  kaum  einen  praktischen 
Werth.  So  lange  der  Minister  nicht  Anordnungen  trifft, 
welche  die  Beamten  verpflichten,  gegenüber  den  Wün- 
schen der  Arbeitgeber  auch  die  Wünsche  der  Arbeiter 
zu  ermitteln,  so  lange  werden  die  letzteren  nicht  in  aus- 
reichendem Maasse  zur  Kenntniss  der  Behörden  kommen. 
Wenn  ein  seit  zwei  Jahren  erlassenes  Gesetz  nicht  in 
Kraft  gesetzt  wird,  weil  grosse  Unternehmerkreise  es 
zu  vereiteln  bestrebt  sind,  und  wenn  die  Behörden  über 
die  Wünsche  der  „betheiligten  Kreise“  berichten  sollen, 
so  ist  es  doch  am  Ende  nicht  zu  viel  verlangt,  dass  keine 
Behörde  einen  Wunsch  von  Arbeitgebern  zu  Gunsten  der 
Sonntagsarbeit  dem  Ministerium  unterbreiten  soll,  ohne 
gleichzeitig  auch  darüber  zu  berichten,  wie  die  Arbeiter 
über  die  vorgebrachten  Gründe  denken.  Der  Frankfurter 
Regierungspräsident  hat  gleichzeitig  mit  den  Iandräthlichen 
und  städtischen  Polizeiverwaltungen  auch  an  die  Gewerbe- 
inspektoren und  die  Gewerbegerichte  eine  Verfügung  er- 
lassen. Diese  Verfügung  ist  aber  nicht  veröffentlicht,  und 
wir  vermögen  nicht  zu  beurtheilen,  inwieweit  diese  Organe 


angewiesen  werden,  sich  von  Amtswegen  mit  Arbeiter- 
vereinen in  Verbindung  zu  setzen.  Noch  weniger  wissen 
wir,  ob  andere  Regierungspräsidenten  auch  nur  soweit 
gehen,  an  die  Gewerbeinspektoren  und  Gewerbegerichte 
eine  besondere  Verfügung  zu  richten. 

« . Das  ganze  Verfahren  macht  den  Eindruck,  dass  es  in 

dem  neuen  Rundschreiben  sich  darum  handelt,  den  Be- 
denken gegen  die  Sonntagsruhe  einen  noch  grösseren  Re- 
sonanzboden als  bisher  zu  gewähren.  Wenn  das  preussi- 
sche  Ministerium  seine  vorbereitenden  Arbeiten  in  einer 
solchen  Weise  leitet,  dass  sie  weniger  zur  Vorbereitung 
als  zur  Vereitelung  des  Inkrafttretens  eines  Reichsgesetzes 
beitragen,  so  wiederholen  wir,  dass  es  Pflicht  des  Reichs- 
kanzlers ist,  seinerseits  die  kaiserliche  Verordnung  vorzu- 
bereiten, welche  in  Art.  9 der  Gewerbenovelle  verheissen  ist. 


Gewerbeinspektion. 

Die  österreichische  Gewerbe-Inspektion  im  Jahre  1892. 

ln  die  in  Oesterreich  ursprünglich  ausschliesslich  terri- 
torial angelegte  Inspektion  des  Gewerbes  scheint  allmählich 
der  Gedanke  von  Fachgruppen  Eingang  zu  finden;  wenig- 
stens deutet  darauf  hin,  dass  im  Jahre  1892  zu  der  schon 
bestehenden  Inspektion  des  Schiffergewerbes  eine  zweite 
fachlich  begrenzte  hinzukam,  jene  für  die  Wiener  öffent- 
lichen Verkehrsanlagen,  resp.  die  hierbei  in  Betracht 
kommenden  wirthschaftlichen  Unternehmungen  und  Per- 
sonen. Auch  die  Einrichtung  der  den  Inspektoren  bei- 
gegebenen Assistenten  dient  zu  steten  Personal-  und  damit 
Kräftevermehrungen;  im  Jahre  1892  hatten  von  den  17  be- 
stehenden Inspektoren  12  einen  oder  mehrere  dieser  Hilfs- 
kräfte zur  Verfügung.  Ueberdies  soll  im  laufenden  Jahre 
ein  neuer  Inspektionsbezirk,  und  zwar  in  Böhmen  errichtet 
werden.  Mit  Rücksicht  auf  diesen  ununterbrochenen  Aus- 
bau der  Institution  ist  es  möglich,  dass  die  Thätigkeit  und 
die  Leistungen  sich  in  stets  aufsteigender  Richtung  be- 
wegen, und  dass  namentlich  die  eigentlich  erhebliche  und 
wesentlich  persönliche  Inspektion,  welche  vor  Einführung 
der  Assistenten  beträchtlich  eingeschränkt  worden  war, 
durch  die  immer  wachsende  Fülle  der  Kanzleigeschäfte 
nicht  in  ungünstigem  Sinne  beeinflusst  wird.  Einige  Haupt- 
zififern  mögen  dies  erhärten  und  gleichzeitig  zeigen,  wie 
sich  die  Inspektion  immer  und  mehr  und  mehr  auch  den 
kleingewerblichen  Betrieben  zuwendet. 


1892 

1891 

1887 

Inspizirte  Betriebe  .... 

7,700 

6,184 

4,190 

Davon  ohne  Motoren  . . . 

3,458 

2,622 

1,520 

Arbeiter  in  den  inspizirten 
Betrieben 

369,540 

316.834 

260,064 

Durchschnittszahl  der  Ar- 
beiter eines  insp.  Betriebes 

48 

52 

62 

Von  dieser  gleichsam  quantitativen  Zunahme  der  In- 
spektionsthätigkeit,  welche  gewissermaassen  nur  in  derselben 
Richtung  fortschreitet,  ist  eine  qualitative  Änderung  des 
Thätigkeitskreises  verschieden,  deren  Bedeutsamkeit  uns 
zum  ersten  Male  im  vorliegenden  Berichte  für  1892  entgegen- 
tritt. Während  nämlich  bisher  das  eigentliche  Arbeits- 
gebiet durch  den  Rahmen  der  Arbeiterschutzgesetzgebung 
gegeben  war,  erweitert  es  sich  nunmehr  durch  die  Arbeiter- 
versicherung gegen  Unfall  und  Krankheit,  sowie  durch 
andere  Spezialfragen  der  Sozialpolitik,  welche  gegenwärtig 
Regierung  und  Reichsrath  beschäftigen,  wie  z.  B.  die  An- 
gelegenheit der  Arbeiterausschüsse.  Namentlich  in  erst- 
genannter Hinsicht  ist  die  Arbeitslast  durch  die  Hilfsagenden 
Rathschläge,  Interventionen  etc.  bei  der  Versicherung  ganz 
enorm  gestiegen.  Stellt  dies  schon  eine  neue  Schwierigkeit 
dar,  welche  aber  allenfalls  durch  eine  Vermehrung  der 
Hilfskräfte  behoben  werden  kann,  so  taucht  damit  eine  weit 
wichtigere  Frage  auf,  welche  nur  durch  eine  prinzipielle 
Aenderung  in  der  Stellung  der  Gewerbe-Inspektoren  be- 
hoben werden  kann. 

Es  ist  nämlich  der  Personenkreis,  welcher  gemäss  dem 
Gesetze  über  die  Gewerbe-Inspektion  der  eigentlichen  bis- 
herigen Inspektions-Thätigkeit  unterliegt,  auch  im  Grossen 
und  Ganzen  jener,  auf  den  sich  die  Arbeiterschutzgesetz- 


No.  38. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


453 


gebung  bezieht.  Dagegen  kommen  mit  der  Unfallversiche- 
rung sofort  Personen  und  Angelegenheiten  ln  Betracht, 
welche  ausserhalb  des  für  die  Thätigkeit  der  Inspektoren 
maassgebenden  Gesetzes  liegen,  so  z.  B.  die  bei  landwirth- 
schaftlichen  Betrieben  mit  Motoren  beschäftigten  Personen. 
Die  Inspektoren  empfinden  diese  Divergenz  sehr  genau  und 
geben  ihi  auch  an  mehreren  Stellen  der  Berichte  deutlichen 
Ausdruck,  indem  sie  bemerken,  dass  sie  solchermaassen 
eigentlich  über  den  Rahmen  ihrer  Kompetenz  hinausgehen 
müssen,  wenn  sie  zwischen  unentschieden  bleibenden  ver- 
schiedenen gesetzlichen  Bestimmungen  wählen  oder  die 
Anforderungen  der  Sozialpolitik  über  jene  einer  juristischen 
Gesetzes-Interpretation  stellen  wollen.  Dabei  ist  nur  er- 
freulich, dass  sie  dies  letztere  allgemein  auch  thatsächlich 
thun.  So  ist  auch  der  Begriff  „Arbeiter“  nach  dem  Kranken- 
versicherungsgesetz ein  anderer  als  nach  der  Gewerbe- 
ordnung. Ueberdies  ist  zu  bemerken,  dass  zu  den  ohnehin 
schon  bestehenden  Schwierigkeiten,  die  sich  aus  dem  Um- 
stande bestehender  doppelter  Organe,  nämlich  der  Inspekto- 
ren einerseits  und  der  Gewerbebehörden  andererseits  er- 
geben, nun  noch  die  eines  dritten  sozialpolitischen  Organes, 
nämlich  der  Unfallsversicherungsanstalten  resp.  der  Kranken- 
kassen hinzutritt,  zwischen  welchen  allen  dreien  die  Grenz- 
linien nicht  immer  streng  gezogen  sind,  und  für  welche  jeden- 
falls ein  fester  Einheitspunkt  fehlt.  So  hat  z.  B.  eine  Unfall- 
versicherungsanstalt einem  Gewerbe-Inspektor  mitgetheilt, 
dass  es  nicht  seine  Aufgabe  sei,  die  Angelegenheiten  der 
Arbeiter  hinsichtlich  der  Durchführung  der  Unfallversiche- 
rung zu  vertreten.  Desgleichen  wird  in  den  Berichten 
betont,  dass  z.  B.  in  dem  Erhebungsverfahren  bei  Unfalls- 
anzeigen der  jetzige  Vorgang  undurchführbar  sei  und  die 
Erhebungen  an  den  Gewerbe-Inspektor  im  Verein  mit  dem 
Arzte  übergehen  sollten.- 

Dazu  kommt  endlich  noch,  was  auch  in  dem  Berichte 
des  Jahres  1892  ausdrücklich  betont  wird,  dass  die  sozial- 
politische Verwaltung  ohne  genügende  statistische  Grund- 
lagen und  auch  ohne  jene  Verwaltungs -Akten,  welche 
statistisches  Urmaterial  darstellen,  wie  z.  B.  Unfallanzeigen, 
Lohnlisten  und  dergl.  wohl  nicht  durchführbar  ist.  Nun  geht 
aber  das  wenige,  was  wir  in  Oesterreich  von  Sozialstatistik 
haben,  doch  fast  ganz  von  den  Gewerbe-Inspektoren  aus, 
und  ist  andererseits  eine  grosse  Kräftezersplitterung  dadurch 
gegeben,  dass  dieselben  Verhältnisse,  wie  Löhne,  Unfälle 
und  dergl.  vervielfacht  von  mehreren  sozialpolitischen  Or- 
ganen zur  Erhebung  gelangen  sollen. 

Mit  Rücksicht  auf  diese  wichtigen,  aus  dem  diesjährigen 
Berichte  so  recht  in  die  Augen  springenden  Punkte  — auf 
deren  unausweichlichen  Eintritt  ich  überdies  in  meinen  bis- 
herigen Besprechungen  der  Inspektorenberichte  im  Archiv 
für  soziale  Gesetzgebung  und  Statistik  unablässig  hinge- 
wiesen habe,  und  welche  auch  von  Dr.  W.  Schiff  im  fünften 
Hefte  der  Deutschen  Worte  (1893)  und  im  Allgemeinen 
Statistischen  Archiv  (III.  Jahrg.  1 . Halbband)  mit  Nach- 
druck hervorgehoben  werden  — glaube  ich,  dass  nun- 
mehr der  Zeitpunkt  entschieden  gekommen  ist,  um  an 
die  Schaffung  eines  einheitlichen  sozialpolitischen 
Organen-Systems  zu  gehen  und  einerseits  die  dersel- 
ben Hoheitsgewalt  unterworfenen  Behörden  zusammenzu- 
schliessen,  andererseits  eine  Verbindung  mit  den  Organen 
der  anderen  Hoheitsgewalten  herzustellen,  womit  neben  der 
Verwaltung  auch  die  Sozialstatistik  zur  Ausgestaltung  ge- 
langen müsste.  In  diesem  Sinne  möchte  ich  dem  einleiten- 
den Berichte  des  Central-Gewerbe-Inspektors  einen  Vorwurf 
machen,  dass  er  dieser  organischen  Fortbildungnothwendig- 
keit  mit  keinem  Worte  gedenkt.  — 

Die  Berichte  über  die  einzelnen  Thätigkeits- 
gebiete  werden  vom  Sozialpolitischen  Centralblatt  ohnedies 
in  seinen  Rubriken  berührt;  es  sollen  daher  nur  einzelne 
Punkte  herausgegriffen  werden.  In  Betreff  des  Arbeiter- 
schutzes finden  wir  werthvolle,  die  Fortbildung  der 
Gesetzgebung  oder  deren  Ausbau  und  Präzisirung  durch 
Verordnung  und  Entscheidungen  beabsichtigende  Bemerkun- 
gen, von  denen  wenigstens  einige  hervorgehoben  werden 
sollen.  Im  Berichte  für  Wien  wird  u.  A.  die  Frage  aufgeworfen, 
wer  für  die  Sicherheitsvorkehrungen  verantwortlich  sei 
im  Falle  der  Dampfvermiethungsanstalten  oder  Miethfabriken? 
In  der  That  scheint  eine  Regelung  dieser  Frage  wichtig, 
da  die  Fälle  des  Vorkommens  häufig  sind  und  jeder  der 


beiden  Parteien,  Vermiether  und  Miether,  gern  der  anderen 
die  Herstellung  der  betreffenden  Anlagen  zuschiebt.  Ebenso 
dringlich  scheint  es  mir,  dass  die  Stellung  des  Aufsichts- 
personales in  geeigneter  Weise  präzisirt  werde;  über- 
sieht man  die  Strikeursachen  resp.  Forderungen  anlässlich 
von  Ausständen,  so  stellten  sich  Reibungen  in  Folge  von 
Uebergriffen  dieser  Personen  ganz  vornehmlich  in  den 
Vordergrund.  Ferner  stellt  sich  eine  Aenderung  der  ge- 
setzlichen Bestimmungen  über  die  Arbeitsordungen  als 
nothwendig  heraus.  Nach  § 88a  der  Gewerbeordnung  m uss 
nämlich  die  Arbeitsordnung  behördlich  vidirt  werden,  wenn 
sie  nichts  gesetzwidriges  enthält;  nun  werden  aber  zumeist, 
abgesehen  von  den  Bestimmungen  a — h des  § 88  a,  welche 
nothwendigerweise  in  der  Ordnung  enthalten  sein  müssen, 
vielfach  und  ganz  überwiegend  nur  solche  Bestimmungen 
des  „freien  Uebereinkommens“  aufgenommen,  welche  Rechte 
des  Unternehmers  und  Pflichten  der  Arbeiter  involviren; 
dies  ist  eben  nichts  „gesetzwidriges“.  Der  Unternehmer 
sträubt  sich  aber,  und,  im  Instanzenzug  mit  Erfolg,  gegen 
die  Aufnahme  solcher  gesetzlicher  Bestimmungen,  welche 
nicht  im  § 88  a,  litt,  a — h,  enthalten  sind  und  etwa  umge- 
kehrt seine  Pflichten  und  die  Rechte  der  Arbeiter  formu- 
liren.  Selbstverständlich  ist  es  der  Sinn  des  § 88a,  nur  einige 
wichtige  Punkte  als  unbedingt  aufzunehmende  zu  bezeichnen, 
wie  das  Wort  „insbesondere“  genügend  klar  macht.  Ich  glaube 
daher,  dass  es  gefehlt  ist,  die  Gewerbsbehörde  zur  Vidirung 
der  Arbeitsordnungen  unter  der  Voraussetzung  zu  zwingen, 
dass  sie  nichts  gesetzwidriges  enthalten;  sie  sollte  vielmehr 
die  Berechtigung  haben,  die  Vidirung  davon  abhängig  zu 
machen,  ob  das  „freie  Uebereinkommen“  thatsächlich  Grund- 
lage der  Ordnung  ist,  und  zwar  insoweit  als  dasselbe  auf 
gesetzlicher  Basis  beruht.  Allerdings  müsste  sie  dann  ein 
mehr  diskretionäres  Vorgehen  einhalten  dürfen,  was  aber 
ihrem  Wesen  vollkommen  entspricht.  Ebenfalls  abzuändern 
wären  die  Bestimmungen  über  Kantinen,  namentlich  bei 
Bauten,  Ziegeleien  und  dergl.  Die  bezüglichen  spärlichen 
Vorschriften  der  Gewerbeordnung  werden  hinsichtlich  der 
eigentlichen  Kantinen  nicht  befolgt  und  umgangen;  sie  sind 
wirkungslos.  Andererseits  drängen  die  Uebelstände  des 
Kantinenwesens  gebieterisch  nach  Abhülfe.  Selbst  die 
immer  ruhige  und  glatte  Diktion  des  Einleitungsberichtes 
des  Central-Gewerbe-Inspektors  erhebt  sich  hier  zu  einer 
ganz  auffallend  scharfen  Stelle,  indem  es  (p.  22)  heisst: 
„Freilich  wird  vorausgesetzt,  dass  der  gute  Wille  vorhanden 
ist,  dem  Gesetze  die  gebührende  Achtung  zu  schenken.“ 
Nicht  minder  wichtig  scheint  eine  Regelung  der  Lohn- 
zahlungen hinsichtlich  der  so  weit  verbreiteten  und  ver- 
derblich wirkenden  Vorschüsse,  welche  namentlich  dort 
üblich  sind,  wo  die  Lohnzahlungstermine  länger  als  eine 
Woche  sind;  doch  kann  ich  diesen  Punkt  hier  nicht  weiter 
verfolgen.  Dafür  möchte  ich  schliesslich  noch  darauf  hin- 
weisen,  dass  die  Bestimmungen  über  Arbeitsbücher 
mehrere  Lücken  aufweisen.  So  findet  sich  darüber,  was 
mit  den  Arbeitsbüchern  zu  geschehen  habe,  welche  austre- 
tende Arbeiter  beim  Unternehmer  zurücklassen,  keine  Aus- 
kunft; desgleichen  wäre  es  wünschenswerth,  die  Qualität 
der  Bücher  als  Pfandobjekte  ins  Auge  zu  fassen;  überdies 
ist  es  ein  von  den  Arbeitern  sehr  schwer  empfundener 
Umstand,  dass  sie  bei  Zurückbehaltung  der  Bücher  durch 
die  Arbeitsgeber  schwer  eine  andere  Beschäftigung  finden; 
endlich  dürfte  es  sich  mit  Rücksicht  auf  die  nicht  endigenden 
Behauptungen,  dass  die  Arbeitsbestätigung  zu  geheimen 
Zeichen  benützt  werde,  empfehlen  eine  gründliche  Abhülfe, 
etwa  durch  Einführung  einer  feststehenden  Formel,  des 
Druckes  mittels  einer  Stampiglie  etc.  einzuführen.  — Ich 
habe  hier  aus  dem  reichen  Inhalte  der  Berichte  nur  einiges 
herausgegrifien,  und  doch  ist  leicht  zu  ersehen,  wie  gross 
die  Bedeutung  der  Bemerkungen  und  Winke  ist,  welche 
die  trefflichen  Einzelberichte  über  den  Ausbau  der  So- 
zialgesetzgebung geben.  — 

Und  nun  soll  noch  ein  Blick  auf  die  soziale  Lage  ge- 
worfen und  die  Frage  beantwortet  werden,  wie  es  im  Be- 
richterstattungsjahre mit  der  Befolgung  der  Arbeiter- 
schutzgesetze bestellt  gewesen  ist.  Da  zeigt  sich  vor 
allem  die  überall  und  immer  auftretende  Wahrnehmung, 
dass  die  Grossindustrie  bessere  Zustände,  ja  hier  und  da 
sogar  gute  aufzuweisen  hat,  während  das  Kleingewerbe  zwar 
allgemein  viel,  häufig  aber  alles  zu  wünschen  übrig  lässt. 


454 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  38. 


Die  Beschaffenheit  der  Betriebsstätten  und  Wohnungen 
wird  in  Neubauten  immer  entsprechender;  mit  den  bestehen- 
den älteren  Anlagen  ist  es  allerdings  schlecht  bestellt.  Im 
Berichterstattungsjahr  veranlasste  die  drohende  Cholera 
ausserordentliche  Verwaltungsmaassnahmen,  und  es  wurde 
behördlicherseits  die  desolate  Lage  der  Wohnverhältnisse 
ausdrücklich  zugegeben,  um  die  sanitären  Maassnahmen  zu 
begründen.  Allerdings  bestanden  diese  in  grossem  Maass- 
stabe in  Delogirungen,  auf  welche  nach  Verlauf  der  gefähr- 
lichsten Zeit  wohl  wieder  die  früheren  Wohnzustände 
folgten.  — Gut  steht  es  im  allgemeinen  mit  jenen  Be- 
stimmungen der  Gewerbeordnung,  welche  klare  unausweich- 
liche Normen  darstellen  und  mit  festen  Begriffen  operiren, 
dagegen  sind  die  Vorschriften  dehnbarer  Natur  auch  selten 
von  Erfolg.  So  steht  es  z.  B.  hinsichtlich  der  Arbeit  von 
Kindern  und  Jugendlichen  im  allgemeinen  gut,  obgleich 
die  Zustände  bei  den  Bäckern,  im  Kleingewerbe  und  Handel, 
in  Ziegeleien  und  Steinbrüchen  nicht  entsprechend  sind,  und 
auch  die  Verwendung  von  Jugendlichen  bei  Dampfkesseln 
und  zum  Reinigen  von  gefährlichen  Maschinen  vielfach  zu 
rügen  war;  es  wurden  verwendet  in  den  inspizirten  Be- 
trieben : 


Arbeiter  männliche 

von  10 — 12  Jahren  . . 1 

,,  12 — 14  „ . . 218 

„ 14—16  „ . . 19113 

„ mehr  als  16  Jahren  235  711 

zusammen  . . 255  043 


weibliche  zusammen 

1 

85  303 

11075  30  188 

103  337  339  048 

114  497  369  540 


Dagegen  ist  es  mit  der  Frauenarbeit  schlechter  be- 
stellt, weil  die  Auffassungen  über  das,  was  „gefährlich“  oder 
„gesundheitsschädlich“  ist,  eben  weit  auseinandergehen.  Die 
Normen  über  die  Arbeitszeit  sind  ebenfalls  klar  und  wer- 
den besser  beachtet,  namentlich  in  der  Grossindustrie,  wo 
der  1 1 Stundentag  die  Regel  bildet.  Der  einleitende  Be- 
richt giebt  zu,  dass  die  Einführung  von  10  und  9 stündiger 
Arbeitszeit  ohne  Gefährdung  des  Arbeitsquantums  zunimmt 
und  konstatirt  auch  8 Stundenarbeit  als  ganz  vereinzelte 
Erscheinung.  Allerdings  blieben  die  Bemühungen  der  Ar- 
beiter im  Wege  der  Ausstände  entscheidende  Herab- 
setzungen der  Arbeitszeit  herbeizuführen  im  Bericht- 
erstattungsjahr zumeist  ohne  Erfolg.  Ueberstunden  wurden 
in  638  Fällen  für  518  Etablissements  (315  in  der  Textil-, 
100  in  der  Maschinenfabrikation)  bewilligt,  was  wohl  als  zu 
weitgehend  erscheint  und  zwar  auch  deshalb,  weil  nicht 
selten  schon  zu  Beginn  des  Kalenderjahres  eine  gewisse 
Anzahl  Ueberstunden  zu  sichern  gesucht  wird,  und  Unter- 
nehmungen mittels  bewilligter  Ueberstunden  ein  Arbeits- 
quantum herbeiführen  wollen,  welches  die  Grenzen  der  nor- 
malen Leistungsfähigkeit  der  Betriebsanlage  gleichsam 
dauernd  erweitern  soll,  mithin  um  diese  Verlängerung  der 
Zeit  immer  wieder  angesucht  wird.  Die  Anordnung  der 
Schichtenwechsel  stösst  insofern  auf  Schwierigkeiten,  als 
die  Arbeiter  die  Sonntagsruhe  nicht  beeinträchtigen 
lassen  wollen;  mit  dieser  ist  es,  wieder  abgesehen  vom  Klein- 
gewerbe (Lehrlinge!)  Schneidereien,  Bäckern  etc.,  verhält- 
nissmässig  gut  bestellt,  wogegen  die  Bestimmung  hinsichtlich 
der  Feiertage,  dass  nämlich  den  Arbeitern  Zeit  zur  Er- 
füllung der  religiösen  Pflichten  gelassen  werden  müsse,  nicht 
eingehalten  wird. 

Fassen  wir  nun  zusammen,  was  die  Berichte  über  die 
Einhaltung  der  Sozialgesetzgebung  und  deren  Beurtheilung 
feststellen,  so  ist  zu  sagen,  dass  sich  die  Vorschriften 
allerdings  wieder  etwas  mehr  eingelebt  haben,  dass  aber 
auch  damit  die  gesetzlichen  Lücken  oder  Mängel  um  so 
schärfer  hervorgetreten  sind  und  dringend  Abstellung 
heischen.  Jedenfalls  ist  aber  auch  das  Institut  der  Gewerbe- 
inspektion wieder  um  einen  gewichtigen  Schritt  auf  seiner 
Bahn  fortgeschritten,  und  hat  sich  nach  allen  Richtungen 
hin  trefflich  bewährt.  Allerdings  wird  es  immer  noch  nicht 
entsprechend  aufgefasst  und  von  den  Arbeitern  immer  noch 
unterschätzt,  wenn  auch  die  ursprüngliche  Indolenz  oder 
gar  das  Misstrauen  wohl  geschwunden  sind.  Im  Jahre  1892 
nahmen  in  5254  Fällen  die  Arbeiter  und  in  1667  die  Unter- 
nehmer die  vermittelnde  Thätigkeit,  die  Inspektoren  in  An- 
spruch, und  es  waren  die  erstgenannten  Vermittelungen  in 
43  pCt.  (1891:  nur  in  30  pCt.)  der  Fälle  von  Erfolg  begleitet. 
Die  aufopfernde  Thätigkeit  die  aus  den  Schilderungen  der 
Einzelberichte  durchleuchtet  und  nur  als  selbstverständliche 


Pflicht  angesehen  wird,  ist  bewundernswerth,  und  auch  eine 
Anzahl  der  Berichte  selbst  sind  treffliche  Leistungen,  wo- 
gegen einige  andere  allerdings  etwas  stark  abfallen;  doch 
soll  ja  der  Gewerbeinspektor  schliesslich  nicht  in  erster 
Linie  sozialpolitischer  Schriftsteller,  sondern  sozialpolitisches 
Organ  sein. 

Prag.  E.  Mischler. 

Eine  Maassregelung  im  österreichischen  Gewerbe- 
inspektorat.  Ein  Fall,  der  in  der  Geschichte  der  Fabrik- 
inspektion wohl  ziemlich  vereinzelt  dasteht,  macht  gegen- 
wärtig viel  Aufsehen  in  Oesterreich.  Der  Gewerbeinspektor 
des  13.  Aufsichtsbezirks,  Herr  Malek,  wurde  seines  bisherigen 
Postens  enthoben  und  dem  Handelsministerium  zum  inneren 
Dienst  zugetheilt.  Zum  Verständniss  des  Vorfalles  ist  noth- 
wendig  zu  wissen,  dass  Herr  Malek  vor  drei  Jahren  von 
Reichenberg  nach  Olmütz  versetzt  wurde.  Die  bürgerliche 
Presse  verzeichnet  den  Vorfall  mit  grosser  Genugthuung 
und  erklärt  ihn  durch  allerlei  Verstösse  gegen  den  „gebote- 
nen Takt“,  welche  Herr  Malek  begangen  haben  soll.  In 
Wirklichkeit  aber  ist  derselbe  einfach  das  Opfer  seiner 
sehr  strengen  Pflichterfüllung.  Er  war  unstreitig  einer  der 
sachkundigsten  und  gewiss  der  energischste  Gewerbeinspek- 
tor Oesterreichs.  Auch  im  Auslande  haben  seine  Berichte, 
insbesondere  während  seiner  Thätigkeit  in  Reichenberg  viel- 
fache Würdigung  erfahren,  obwohl  die  Einzelberichte  der 
österreichischen  Gewerbeinspektoren  im  Bureau  des  Cen- 
tral-Gewerbeinspektors  einer  sehr  einschneidenden  Redaktion 
unterliegen.  Herr  Malek  hat  das  geringe  Maass  von  Initia- 
tive und  Executive,  welches  dem  österreichischen  Gewerbe- 
Inspektor  zu  Gebote  steht,  zur  Durchführung  des  Arbeiter- 
schutzes voll  ausgenützt  und  wurde  deshalb  den  Fabrikanten 
missliebig.  Ihrem  Einfluss  ist  es  zuzuschreiben,  dass  er 
weichen  musste.  Höchst  bedauerlich  ist  es,  dass  das  An- 
sehen der  Gewerbeinspektoren  und  das  Vertrauen  der 
Arbeiter  zu  dieser  Einrichtung  durch  diesen  Vorgang 
Schaden  leidet. 


Arbeiterversicherung. 


Zur  Statistik  der  österreichischen  Arbeiter-Unfall- 
versicherungsanstalten im  Jahre  1891. 

Das  zweite  Berichtsjahr  der  Unfallversicherungsanstalten 
zeigt  allenthalben  eine  Erweiterung  des  Wirkungskreises 
derselben.  Nicht  nur  hat  die  Zahl  der  versicherten  Be- 
triebe und  Personen  eine  Steigerung  (von  10,6  pCt.,  bezw.  ! 
1 1 ,2  pCt.)  erfahren,  auch  die  Zahl  der  angemeldeten  und 
der  entschädigten  Unfälle  hat  sich  bedeutend  (um  34,8  pCt., 
bezw.  30,8  pCt.)  vermehrt.  Nur  die  Leistungen  der  An- 
stalten hielten  sich  auf  der  gleichen  Höhe  wie  im  Vorjahre, 
wenngleich  sie  sich  vervielfacht  haben. 

Der  Zuwachs  in  der  Zahl  der  gewerblichen  Betriebe 
(9,8  pCt.)  beschränkt  sich  fast  ausschliesslich  auf  die  Klein- 
industrie, bei  welcher  die  Durchführung  des  Gesetzes  grossen 
Schwierigkeiten  begegnet. 

Die  Vermehrung  der  Unfallsanzeigen,  welche  ein  Ent- 
schädigungsrecht begründeten,  betrifft  hauptsächlich  Unfälle 
mit  nachfolgender  dauernder  theilweiser  (37  pCt.)  und  vor- 
übergehender Erwerbsunfähigkeit  (31,9  pCt). 

Die  relativ  grössere  Unfallsgefahr  der  landwirthschaft- 
lichen  Maschinenbetriebe  zeigt  sich  auch  im  Berichtsjahre 
1891.  Es  entfielen  auf  je  10000  „Vollarbeiter“  — das  sind 
solche,  die  unter  300 tägiger  Beobachtung  gestanden  — bei 


gewerblichen  Betrieben 


landwirthschaftlichen 

Betrieben 


Todesfälle.  ...  6,5  10,2 

gänzlich  Invalide  1,1  5,3 

theilweise  „ 22,3  76,5 

Die  hohe  Unfallgefahr  sowie  die  niedrigen  Prämien 
erklären  die  finanzielle  Passivität  der  landwirthschaftlichen 
Betriebe,  bei  welchen  die  Belastung  durch  Unfälle  die 
Beitragsleistung  um  nicht  weniger  als  177  pCt.  (162025  fl. 
gegen  58402  fl.)  übersteigt. 

Dasselbe  gilt  von  einigen  anderen  Betriebsgattungen, 
insbesondere  von  den  Baugewerben,  deren  Defizit  diemangel- 


No.  38. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


455 


hafte  Anmeldung  der  Betriebe  sowie  ungenaue Lo'hnfatirungen 
verschulden. 


Versicherungsbeitrag 

Gesammtbelastung 
durch  Unfälle 
des  Jahres 

1890 

1891 

1890 

1891 

Bau  - Unternehmungen 
(Brücken-,  Kanal-,  Eisen- 
bahn-, Hoch-,  Strassen- 
bau  etc.) 

372  935 

436  915 

256  705 

410  006 

Baugewerbe  (Dachdecker, 
Maurer,  Zimmerer)  . . 

95  028 

106  747 

99  686 

172  594 

Bauliche  Nebengewerbe 
(Anstreicher , Glaser, 

Schlosser  etc.)  .... 

32  567 

34  955 

26  125 

52  916 

500  530 

578  617 

382  516 

635  516 

Das  Gesammtergebniss  der  Gebahrung  ist  in  folgender 
Tabelle  zusammengefasst. 


1890 

1891 

Zunahme 
in  pCt. 

Betriebe: 

Gewerbliche 

53193 

58  386 

9,8 

Land-  u.  Forstwirthsch. 

78133 

86  923 

1 1,3 

Zusammen  . . 

131  326 

145  309 

10,6 

Versicherte  Personen  (im 
Durchschnitte)  bei  den 

gewerblichen  .... 

893  324 

957  525 

7,2 

land-  u.  forstwirthsch. 

338  494 

412  238 

21,8 

Betrieben. 

Zusammen  . . 

1 231  818 
Gulden 

1 369  763 
Gulden 

11,2 

Versicherte  Lohnsumme  bei 

den  gewerblichen  .... 

235  264  1 77 

257  933  738 

9,6 

land-  u.  forstwirthsch. 

1 682  228 

2 743  117 

63,1 

Betrieben. 

Zusammen  . . 

236  946  405 

260  676  855 

10,0 

Gesammt-Einnahmen  . . 

3 854  831 

6 984  521 

81,2 

Gesammt-Ausgaben.  . . 

3 290  365 

6 815  801 

107,1 

Gebahr ungsüberschüsse. 

564  466 

168  720 

-70.1 

Ueber  den  Umfang,  in  welchem  das  Unfallversicherungs- 
gesetz Anwendung  findet,  giebt  nachstehende  Tabelle  Auf- 
schluss. Um  die  Antheile  der  einzelnen  Industriegruppen 
an  der  Unfallversicherung  zu  vergleichen,  sind  dieselben 
nach  der  Zahl  der  Versicherten  geordnet. 


Industriegruppe 

Anzahl 
der  ver- 
sichert. 
Per- 
sonen 
(im 

Durch- 

schnitt) 

In  pCt.  der 
Gesammtsumme 

Lohn- 

summe 

In  pCt.  der 
Gesammtsumme 

An- 

zahl 

der 

Be- 

triebe 

Auf  Be- 
trieb ent- 
fallende 

Personenzahl 

Lohn- 
511  m me 

IX.  Textilindustrie. 

228  522 

23,9 

56  078  572 

21,7 

2 555 

89 

21 949 

XIV.  Baugewerbe  . . 

155  662 

16,2 

26  473  849 

10,3 

14  627 

1 1 

1 810 

XII.  Nahrungs-  und 

Genussmittel . . 

122  460 

12,8 

30  657  395 

1 1,9 

3 826 

32 

8013 

IV.  Steine  u.  Erden 

116  970 

12,2 

25  277  017 

9,8 

10  269 

11 

2 461 

VI.  Maschinen, 

Werkzeuge  etc. 

66710 

7,0 

32  305  815 

12,5 

1 222 

55 

26  437 

V.  Metallverarbtg. 

49J932 

5.2 

18  251  385 

7,1 

2 083 

24 

8 762 

X.  Papier,  Leder  u. 

Gummi 

43  963 

4,6 

13  282  769 

5,1 

1 386 

32 

9 584 

XI.  Holz-u. Schnitz- 

Stoffe 

43  296 

4,5 

10  005  073 

3,9 

6 089 

7 

1 643 

Ib.  Mühlen 

25  660 

2,7 

5 291  955 

2,1 

12  659 

2 

418 

II.  Eisenbahnen  . . 

25  448 

2,6 

10  868  743 

4,2 

1 482 

17 

7 334 

XIII.  Bekleidung  und 

Reinigung  . . . 

18  059 

1,9 

5 038  414 

2,0 

438 

41 

11  503 

V 11.  Chem.  Industrie 

17810 

1,9 

5 191  989 

2,0 

588 

30 

8 832 

III.  Hüttenwerke . . 

16  037 

1,7 

7 341  855 

2.8 

111 

144 

66  143 

XV.  Polygraphische 

Gewerbe  . . . . 

15  500 

1,6 

7 273  293 

2,8 

439 

35 

16  568 

VIII.  Heiz-  u.  Leucht- 

Stoffe 

1 1 496 

1,2 

4 595  6H 

1,8 

612 

19 

7 509 

Zusammen 

|957  525|  1 00,o|257  933  738|  100.0 

58  386 

| 16j  4418 

In  dieser  Zusammenstellung  tritt  der  grossindustrielle 
Charakter  der  Hüttenwerke,  sowie  der  Textil-  und  der 
Maschinenfabriken  deutlich  zu  Tage;  ebenso  interessirt  die 
Erscheinung,  dass  fast  ein  Viertel  aller  Versicherten  der 
Textilbranche  angehört  und  dass  das  Baugewerbe  die 
meisten  Betriebe  umfasst. 

Im  Gesammtdurchschnitte  aller  gewerblichen  Betriebe 
waren  unter  je  1000  versicherten  Arbeitern: 


Erwachsene 


männliche  Personen 
weibliche 


, ,,■  , f männliche 

Jugendliche  ( wei5Hche 


1891 

1890 

688 

680 

247 

254 

53 

54 

12 

12 

1000 

1000 

Der  durch  den  Betrieb  von  Motoren  hervorgerufenen 
Gefahr  unmittelbar  ausgesetzt  waren  Personen  per  Mille 


1891 

1890 

6,9 

7,4 

Bei  Arbeitsmaschinen  beschäftigt  . 

32,0 

32,9 

Durch  Explosionsgefahr  bedroht  . . 

0,7 

0,8 

Arbeiter  im  Handbetriebe 

57,3 

55,7 

Transport-  und  Magazinarbeiter  . . 

3,1 

3,2 

100,0 

100,0 

Auf  10  000  „Vollarbeiter“  entfielen 

Unfallsanzeigen 

248,6 

194,9 

Unfälle  mit  vorübergehender  . . . 

Unfälle  mit  dauernder  Erwerbs- 

70,8 

55,9 

Unfähigkeit 

25,1 

19,3 

Mit  tödtlichem  Ausgange 

6,6 

6.7 

Im  Gesammtdurchschnitte  aller  gewerblichen  Betriebe 
entfielen  zu  entschädigende  Unfälle  auf  je  10000  Versicherte 


erwachsene 

männliche 

Personen  . 

1891 

115 

1890 

95 

weibliche 

fj 

24 

20 

jugendliche 

männliche 

ft  * 

79 

61 

ft 

weibliche 

ft 

60 

61 

Ferner  entfielen  auf  je  10  000  versicherte 


männliche 


weibliche 


1891 

1890 

1891 

1890 

7,6 

7,7 

0,7 

1,3 

25,5 

20,1 

7,7 

6,6 

79,1 

64,5 

17,4 

14,4 

Personen 

Unfälle,  welche  zur  Folge  hatten  1891 

Tod 

Invalidität 

Vorübergeh.  Erwerbsunfähigkeit  79,1  64,5 

Von  besonderem  Interesse  ist  die  Zusammenstellung, 
aus  welcher  die  Verschiedenheit  in  der  Grösse  der  Unfalls- 
gefahr, denen  die  Arbeiter  der  einzelnen  Industriezweige 
ausgesetzt  sind,  ersichtlich  wird.  Wir  setzen  nur  die 
Ziffern  her,  welche  die  Maxima  und  Minima  angeben. 

Es  kamen  auf  10000  „Vollarbeiter“  Todesfälle  bei  den 

Dachdeckern 87,5 

Tuch-  u.  Schafwollwebereien  u.  Fabriken  0.5 

Fälle  dauernder  Invalidität  bei  den 

Cirkular-  und  Bandsägen 240,0 

Tabakfabriken 0,6 

Fälle  vorübergehend  er  Erwerbsunfähigkeit  bei  den 

Cirkular-  und  Bandsägen 310.0 

Tabakfabriken 3,4 

Entscheidungen  des  Reichsversicherungsamts.  In  der 

Sitzung  der  erweiterten  Spruchkammer  des  Reichsver- 
sicherungsamts vom  31.  Mai  er.  wurden  einige  Streitfälle 
von  grundsätzlicher  Bedeutung  entschieden: 

I.  Die  Versicherungsanstalt  Berlin  verweigerte  einem 
Schuhmacher  die  Altersrente,  weil  er  bis  zum  Jahre  1891 
nicht  gewerblicher  Arbeiter,  sondern  Hausgewerbe- 
treibender gewesen  sei.  Das  Schiedsgericht  hatte  fest- 
gestellt, dass  der  Kläger,  weil  in  der  Werkstatt  kein  Raum 
für  ihn  war,  sich  Morgens  die  Arbeit  nach  Hause  geholt 
und  dieselbe  Abends  abgeliefert  habe;  hinsichtlich  der  Be- 
zahlung, sowie  hinsichtlich  der  Kündigungsfrist  sei  er  den 
in  der  Werkstatt  arbeitenden  Gesellen  gleichgestellt,  auch 
sei  ihm  untersagt  gewesen,  für  andere  Meister  Arbeit  an- 
zunehmen. Hiernach  nahm  das  Schiedsgericht  an,  dass  ein 
Arbeitsverhältniss  Vorgelegen  habe,  und  verurtheilte  die 


456 


SOZIALPOLITISCHES  CENTR ALBL ATT. 


No.  38. 


Versicherungsanstalt  zur  Zahlung  der  Rente.  Die  von 
dieser,  sowie  von  dem  Staatskommissar  eingelegte  Revision 
wies  das  Reichsversicherungsamt  zurück.  Dasselbe  erachtete 
für  zu  Gunsten  des  Klägers  ausschlaggebend  einerseits  die 
Kündigungsabrede,  die  gerade  für  den  gewerblichen  Ar- 
beitsvertrag charakteristisch  sei,  andererseits  der  Umstand, 
dass  der  Kläger  erwiesenermassen  vorher  sowohl  als  nach- 
her bei  anderen  Meistern  in  der  Werkstatt  gearbeitet  hatte, 
so  dass  es  feststand,  dass  er  von  Beruf  Schuhmacher- 
geselle war. 

2.  Die  Versicherungsanstalt  der  Rheinprovinz  hatte 
einem  im  Jahre  1820  geborenen  Arbeiter  die  Altersrente, 
die  derselbe  erst  im  Frühjahr  1892  beantragt  hatte,  auch 
erst  vom  1.  März  1892  bewilligt;  der  Bescheid  war  rechts- 
kräftig geworden.  Nachdem  durch  mehrfache  Entschei- 
dungen des  Reichsversicherungsamts  festgestellt  war,  dass 
in  solchen  Fällen  die  Rente  nicht  erst  von  der  Antrag- 
stellung ab,  sondern  vom  1.  Januar  1891  zu  gewähren  sei, 
fragte  jener  Arbeiter  an,  ob  nicht  auch  ihm  schon  von 
diesem  Zeitpunkte  ab  die  Rente  zustehe.  Die  Versiche- 
rungsanstalt verneinte  das  unter  Hinweis  auf  die  formelle 
Rechtskraft  des  Bescheides.  Der  Arbeiter  legte  Berufung 
ein,  welche  trotz  des  Protestes  der  Versicherungsanstalt 
von  dem  Schiedsgerichte  zugelassen  und  für  begründet  er- 
achtet und  demgemäss  die  Versicherungsanstalt  zur  Nach- 
zahlung der  Rente  verurtheilt.  Dieselbe  legte  hiergegen 
Revision  ein,  indem  sie  geltend  machte:  wenn  es  für  zu- 
lässig erachtet  werde,  jedes  beliebige  Schreiben  von  ihr 
zum  Ausgangspunkte  eines  schiedsgerichtlichen  Verfahrens 
zu  machen,  so  werde  sie  in  Zukunft  überhaupt  jede  Korre- 
spondenz über  bereits  festgestellte  Renten  ablehnen  müssen. 
Das  Reichsversicherungsamt  erkannte  auf  Aufhebung  des 
schiedsgerichtlichen  Urtheils  und  Abweisung  der  Berufung, 
da  ein  berufungsfähiger  Bescheid  überhaupt  nicht  ergangen 
sei.  So  gewiss  die  Versicherungsanstalt  materiell  im  Un- 
recht sei,  und  der  Nachzahlungsanspruch,  wenn  rechtzeitig 
geltend  gemacht,  begründet  sein  würde,  ebenso  gewiss 
habe  sie  formell  das  Recht,  eine  weitere  Verhandlung  über 
die  durch  rechtskräftigen  Bescheid  erledigte  Sache  abzu- 
lehnen. 

3.  In  einer  Streitsache  gegen  die  Versicherungsanstalt 
Westfalen  entschied  das  Reichsversicherungsamt,  dass  eine 
in  der  vorgesetzlichen  Zeit  verbüsste  Freiheitsstrafe  auf  die 
vorgeschriebene  Beschäftigungszeit  nicht  anzurechnen  sei. 
Es  fehle  an  einer  gesetzlichen  Bestimmung,  welche  solche 
Anrechnung  gestatte.  Die  in  der  Strafanstalt  selbst  ver- 
richtete Arbeit  könne  aber  als  versicherungspflichtige  Be- 
schäftigung nicht  in  Betracht  kommen,  da  das  Gesetz  hier- 
unter stets  nur  die  Arbeit  freier  Arbeiter  auf  Grund  eines 
Arbeitsvertrages  verstehe,  und  die  Gefangenenarbeit  grund- 
sätzlich dem  nicht  gleichgestellt  werden  könne. 

Obergutachten  in  Unfallsachen.  Das  Reichsver- 
sicherungsamt hat  sich  neuerdings  an  die  Vorstände  der 
Aerztekammern  gewandt,  um  dieselben  zur  Mitwirkung  bei 
Erstattung  von  Obergutachten  in  Unfallsachen  zu  ver- 
anlassen. Diese  Vermittelung  soll  erfolgen  auf  Antrag  der 
Vorstände  der  Berufsgenossenschaften  oder  der  Schieds- 
gerichte oder  auf  ein  etwaiges  Ersuchen  des  Reichsver- 
sicherungsamtes. Ob  es  in  allen  Fällen  der  Bildung  eines 
Gutachterkollegiums  bedarf,  oder  ob  etwa  auch  die  Be- 
nennung eines  einzelnen  Arztes  zur  Erstattung  des  Ober- 
gutachtens genügt,  wird  innerhalb  der  Organisation  der 
einzelnen  Standesvertretungen  näher  zu  erörtern  sein.  Das 
Reichsversicherungsamt  selbst  giebt  die  Anregung,  die  Aus- 
wahl der  als  Obergutachter  zu  berufenden  Aerzte  in  nicht 
zu  geringer  Zahl  vorzunehmen  und  sie  innerhalb  des  Be- 
zirks der  einzelnen  Standesvertretungen  räumlich  zu  ver- 
theilen. 

Gebrochene  Gefahrenklassen.  Nach  § 78  des  Unfall- 
versicherungesetzes sind  die  Genossenschaften  befugt,  über 
die  von  ihren  Mitgliedern  zur  Verhütung  von  Unglücks- 
fällen zu  treffenden  Einrichtungen  Vorschriften  zu  erlassen  ! 
und  die  Zuwiderhandelnden  mit  Einschätzung  ihrer  Betriebe  j 
in  eine  höhere  Gefahrenklasse  zu  bedrohen.  Diese  Maass- 
regel hat,  wie  der  Vorstand  der  Ziegelei-Berufsgenossen- 
schaft meint,  viellach  zu  Härten  geführt,  indem  selbst  bei 


geringfügigen  Unterlassungen  z.  B.  der  Versäumniss,  die 
Unfallverhütungsvorschriften  durch  Aushang  zu  Kenntniss 
der  versicherten  Personen  zu  bringen,  die  Versetzung  in 
die  nächsthöhere  Gefahrenklasse  verhängt  werden  musste, 
was  unter  Umständen  einer  Geldstrafe  von  150  M.  „und 
mehr“  gleichkommen  könne.  Der  Vorstand  hat  sich  des- 
halb an  das  Reichsversicherungsamt  gewandt  mit  dem  An- 
suchen, bei  Verstössen  gegen  die  Unfallverhütungsvor- 
schriften auch  „Bruchtheile  einer  höheren  Klasse“  verhängen 
zu  dürfen,  also  beispielsweise  einen  Reaten  aus  der  4ten  in  die 
4x/4te  Klasse  zu  versetzen.  Auffallenderweise  hat  das  Reichs- 
versicherungsamt unter  dem  1.  April  d.  J.  diesem  sonder- 
baren Ansuchen  Folge  gegeben  und  dem  Genossenschafts- 
vorstande  erklärt,  dass  der  Einschätzung  der  Betriebe  unter 
Auferlegung  eines  Zuschlages  zur  normalen  Gefahrenziffer 
in  Höhe  eines  gewissen  Prozentsatzes  Bedenken  nicht  ent- 
gegenstehen. 

Uns  scheint  der  Begriff  einer  gebrochenen  Klasse  einen 
Widerspruch  in  sich  selbst  zu  enthalten.  Wenn  das  Gesetz 
statt  des  üblichen  Systems  der  Geldstrafen  die  Versetzung 
in  eine  höhere  Gefahrenklasse  als  Strafe  bestimmt,  die 
Interpretation  aber  zwischen  einer  Klasse  und  der  nächst- 
höheren Zwischenstufen  fingirt,  die  gar  nicht  vorhanden 
sind  (4x/3  te  Klasse,  4*/4te  Klasse  etc.),  so  wird  die  Inter- 
pretation dazu  gebraucht,  genau  das  System  einzuführen, 
welches  das  Gesetz  ausschliessen  will. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung. 

Normalmiethshäuser  mit  kleinen  Wohnungen.  Im 

Unterschiede  von  den  Bestrebungen,  der  grossstädtischen 
Arbeiterbevölkerung  Wohnungen  ausserhalb  der  Gross- 
stadt zu  beschaffen,  geht  der  Verein  zur  Verbesserung  der 
kleinen  Wohnungen  in  Berlin  von  der  erfahrungsmässig 
festgestellten  Thatsache  aus,  dass  ein  grosser  Theil  der 
Arbeiterbevölkerung  nach  solchen  halbländlichen  Woh- 
nungen kein  Verlangen  trägt  und  sich  auf  die  städtische 
Miethswohnung  angewiesen  betrachtet.  Der  Verein  macht 
sich  daher  die  bestmögliche  Gestaltung  des  Miethshauses 
für  kleine  Wohnungen  in  Berlin  selbst  zur  Aufgabe.  Um 
die  theoretisch  oft  erörterte  Frage  praktisch  zu  fördern, 
hat  ein  Vorstandsmitglied,  der  frühere  Bankier  Valentin 
Weisbach  im  Juni  1891  ein  Terrain  von  13  000  Quadrat- 
meter Inhalt  im  Osten  der  Stadt  zwischen  der  Landsberger 
und  der  Frankfurter  Allee  angekauft  und  hält  es  zum  da- 
maligen Selbstkostenpreise  zur  Verfügung,  sodass  die  Er- 
örterungen über  die  beste  Art  der  Bebauung  ohne  den 
überhastenden  Druck  der  Furcht  vor  dem  Steigen  des 
Bodenpreises  gepflogen  werden  konnten. 

Diese  Erörterungen  sucht  jetzt  Weisbach  selbst  durch 
ein  von  ihm  in  Gemeinschaft  mit  dem  Regierungsbaumeister 
Messel  ausgearbeitetes  „Beispielprojekt“  zum  Abschluss  zu 
bringen.  (Berlin,  Verlag  von  Leonhard  Simion.)  Die  kleine 
Schrift,  in  der  dies  geschieht,  geht  ziemlich  tief  auf  volks- 
wirtschaftliche Erwägungen  zurück.  Der  Verfasser  be-  j 
trachtet  offenbar  die  Wohnungsfrage  überwiegend  von  dem 
Standpunkte  der  Finanzthätigkeit,  in  welcher  er  seine 
Lebenserfahrungen  gesammelt  hat.  Er  erblickt  die  Wurzel 
der  Wohnungsfrage  in  den  Ausschreitungen  der  Bau- 
spekulation. Er  erhebt  Widerspruch  gegen  die  Anschauung, 
als  ob  die  Bodenpreise  nichts  weiter  wären  als  der  Aus- 
druck des  jedesmaligen  Verhältnisses  von  Angebot  und 
Nachfrage.  „Wenn  das  Angebot  von  Gelände  in  finanziell 
starken  Händen  liegt,  und  die  Nachfrage  nur  von  den 
schwachen  Händen  ausgeht,  so  bestimmt  der  kapitalkräftige 
Besitz,  obwohl  er  anbietend  ist,  meist  nicht  nur  den  Preis, 
sondern  auch  die  Qualität  des  Angebotenen.  Das  Bau- 
gewerbe, welches  sich  mit  der  Erbauung  von  Häusern  mit 
kleinen  Wohnungen  beschäftigt,  liegt  nun  aber  vorwiegend 
in  unbemittelten  Kreisen.  Diese  haben  zeitweise  nicht  nur 
jeden  geforderten  Preis  bewilligt  und  hierdurch  an  der 
steten  Steigerung  der  Grundpreise  mitgewirkt,  sondern 
schliesslich  in  Selbstüberbietung,  nur  um  zu  bauen,  auch  für 
ungünstig  zugeschnittenes,  rohes  Baugelände  oft  Preise 


No.  38. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


457 


gezahlt,  welche  durchaus  nicht  mehr  ein  richtiges  Verhält- 
niss  zu  der  aus  den  Neubauten  zu  erzielenden  Netto-Rente 
darstellten.“  Dieser  oft  ganz  urtheilslosen  Bewilligung 
schreibt  Weisbach  einen  bis  in  die  amtliche  Taxation 
hineinreichenden  Einfluss  zu.  Ausser  dieser  Entwickelung 
der  Bodenpreise  habe  aber  die  schablonenmässige  Art,  in 
der  das  Baugewerbe  seine  Thätigkeit  ausgeübt  habe,  eben- 
falls die  Folge  gehabt,  dass  das  Bedürfniss  nach  kleinen 
Wohnungen  nicht  zur  Befriedigung  gelangte.  Dem  Umstande, 
dass  die  Bevölkerungszunahme  zum  weit  überwiegenden 
Theile  in  den  Kreisen  der  unbemittelten  Klasse  statt- 
findet, sei  bei  den  Wohnungseintheilungen  erst  in  den 
letzten  8 — 10  Jahren  einigermaassen  Rechnung  getragen 
worden1).  „Ein  grosser  Theil  der  durchaus  noch  nicht  sehr 
alten  Häuser  hat  die  bekannten  unrationellen  Raum- 
eintheilungen.  In  den  Vorderhäusern  befinden  sich  fast  nur 
grössere  Wohnungen  und  da  diese  nicht  mehr  zu  ver- 
miethen  sind,  weil  nur  kleinere  gesucht  werden,  so  werden 
dieselben  unabgetheilt  an  eine  Reihe  verschiedener  Familien, 
welche  meist  wiederum  Aftermiether  haben,  vermiethet. 
Diese  thatsächlichen  Verhältnisse  bergen  die  erheblichsten 
sozialen  Schäden.  Aber  auch  bei  den  in  den  letzten  Jahren 
gebauten  Häusern,  in  welchen  allerdings  abgeschlossene 
kleine  Wohnungen,  meist  aus  Stube  und  Küche  bestehend, 
vorhanden  sind,  finden  sich,  durch  ungünstige  Grundstücks- 
Formationen  erzwungene,  sehr  häufig  ungeeignete  Grundriss- 
Dispositionen,  aus  welchen  schlechte  Wohnungen  entstanden 
sind.  Diese  Verhältnisse  haben  ihre  Begründung  darin,  dass 
das  Baugewerbe  in  den  meisten  Fällen  von  den  angebotenen, 
schon  zugeschnittenen  Parzellen  nur  einige  oder  vielleicht 
wenige  zu  erwerben  vermochte.  Aus  finanziellen  Gründen 
konnte  dann  meist  nur  jede  Parzelle  einzeln  bebaut  werden, 
und  nur  hin  und  wieder  war  es  möglich,  dass  sich  eine 
Reihe  von  Nachbarn,  insbesonders  die  rückwärts  Anstossen- 
den,  bezüglich  einer  einheitlichen  Bebauung  vereinigen 
konnten,  um  nicht  durch  Seiten-  und  Quergebäude  die  Zu- 
führung von  Luft  und  Licht  gegenseitig  zu  hemmen.  Jeder 
einzelne  Bauunternehmer  konnte  daher  meist  nur  in  der 
Weise  bauen,  wie  er  glaubte,  seine  eigene  Baustelle  am 
vortheilhaftesten  verwerthen  zu  können.  Die  an  und  für 
sich  schon  vielfach  ungünstig  zugeschnittene  Baustelle  wurde 
dann  aber  durch  ungenügende  Sachkenntniss  oft  noch  auf 
das  mangelhafteste  eingetheilt,  und  sind  aus  der  Viel- 
gestaltigkeit der  Grundstücks-Formationen  häufig  Grundrisse 
entstanden,  durch  welche  eine  Reihe  von  Räumen  ganz 
ungleichmässig  gestaltet  sind,  die  hierdurch  in  Bezug  auf 
Zuführung  von  Licht  und  Luft  die  ungünstigsten  Verhält- 
nisse haben  und  deren  Miethspreise  in  Vergleich  zu  den 
unrationellen  Abmessungen  derRäume  willkürlich  schwankende 
sind.  Weiterhin  sind  solche  Bauten  häufig  in  ungenügendem 
Material  und  aus  Geldmangel  vielfach  überhastet  ausgeführt ; 
durch  grosse  Provisionen  und  Zwischenlasten  sind  sie  dann 
noch  erheblich  vertheuert  worden,  so  dass  nach  Fertig- 
stellung der  Wohngebäude  oft  so  hohe  Lasten  darauf  ruhten, 
dass  selbst  ungünstig  gelegene  Wohnungen  nur  zu  ver- 
hältnissmässig  hohen  Preisen  vermiethet  werden  konnten, 
weil  die  Bauunternehmer  behufs  des  eventuellen  Verkaufs 
des  Neubaues  eine  herauszuwirthschaftende  hohe  Rente 
nachweisen  mussten.  Die  in  den  ersten  Jahren  nach- 
gewiesene hohe  Miethsrente  wird  aber  meist  bald  illusorisch. 
Die  Schäden  der  ungenügenden  Bauart  treten  zu  Tage  und 
erfordern  nun  dauernd  hohe  Kosten  für  Hausreparaturen, 
welche  die  Rente  erheblich  schmälern.  Am  schlimmsten 
sind  aber  die  Verhältnisse,  wenn  solche  Häuser  in  Hände 
kommen,  welche  alle  Reparaturen  unterlassen  und  trotzdem 
in  wucherischer  Ausbeutung  die  hohen  Miethen  weiter  er- 
heben. Dann  verfallen  solche  Häuser  aussen  und  innen 
sichtlich  schnell  und  werden  sehr  häufig  Zufluchtsorte  und 
Schlupfwinkel  der  schlechtesten  Gesellschaftsklassen  und 
hiermit  Horte  der  schwersten  hygienischen  und  sittlichen 
Schäden.  Alle  diese  Verhältnisse  bilden  die  Unterlage  für 
die  sogenannte  Wohnungsfrage.“ 

Aus  diesen  Gründen  erscheint  dem  Verfasser  als  eines 
der  nächsten  praktischen  Ziele:  grössere  Bauterrains  so  zu 
parzelliren  und  die  Strassen  so  anzulegen,  dass  sie  nur 


1)  Vgl.  hierzu  die  Verhandlungen  des  Vereins  für  öffentliche  Ge- 
sundheitspflege, in  voriger  Nummer,  S.  446. 


flache  Häuser  fassen  können  und  somit  der  weitgehenden 
Bauspekulation,  welche  sich  darauf  legt,  tiefe  Häuser  mit 
grossen  Wohnungen  zu  bauen,  zu  entziehen.  Von  den 
beiden  Projecten,  welche  Weisbach  und  Messel  ausgear- 
beitet haben,  ist  das  Project  A das  bemerkenswertheste. 
28  aneinandergereihte  kleine  Parzellen  lassen  nach  Ab- 
trennung der  Bebauungsfläche  und  der  I Iofräume  in  der 
Mitte  noch  einen  freien  Raum  von  über  400  Quadratmeter, 
ein  „Square“,  dessen  Bebauung  durch  Eintragung  ins  Grund- 
buch ausgeschlossen  und  dessen  Fläche  zum  Turnplatz, 
Badehaus  etc.  dienen  soll.  Alle  Wohnräume  liegen  an  der 
Strassenfront.  Jede  Wohnung  umfasst  ausser  Stube  und 
Küche  noch  einen  Raum  mehr  (Kammer)  und  soll  zu  dem- 
selben Preise  hergestellt  werden  können,  wie  die  jetzt 
übliche  Wohnung  von  Stube  und  Küche.  Vor  der  Küche 
liegt  ein  kleiner  Balkonraum  („Austritt“),  mit  Aussicht  auf 
den  Square.  Jede  Wohnung  hat  ihr  eigenes  Kloset. 

Soll  das  Projekt  in  grösserem  Maassstabe  durchgeführt 
werden,  so  erwartet  der  Verfasser  in  der  ersten  Entwicke- 
lungsperiode eine  Mitwirkung  der  Kommune  durch  den 
Erlass  geeigneter  Bauordnungen,  welche  ganze  Stadttheile 
zur  Bebauung  in  dieser  Weise  festlegen,  sowie  auch  durch 
die  Gewährung  von  Grunderwerbs-  und  Baugeldern  zu 
massigem  Zinsfuss;  letzteres  ist  aber  auch  von  Seiten  der 
Invaliditäts-  und  Altersversicherungs-Anstalten  zu  erwarten, 
welche  einen  Theil  ihrer  Kapitalien  zur  Beförderung  guter 
Arbeiterwohnungen  in  dieser  Weise  anzulegen,  gesetzlich 
befugt  sind. 

Dem  Schriftchen  sind  Baurisse  von  Messel,  übersicht- 
liche Finanzberechnungen  von  Weisbach  beigegeben.  Letztere 
rechnen  eine  Wohnung,  bestehend  aus  Stube,  Kammer  und 
Küche,  auf  230 — 240  Mk. 

Wir  haben  Plan  und  Begründung  unsern  Lesern  aus- 
führlich mitgetheilt,  weil  beides  gegenwärtig  bei  Feststel- 
lung der  neuen  Bauordnung  für  die  Umgebung  Berlins  von 
Wichtigkeit  ist. 

Ueber  Arbeiterwohnungen  in  der  Kasseler  Lokomotiv- 
fabrik  berichtet  der  Reichs-Anzeiger.  Die  Fabrik  besitzt 
136  Arbeiterwohnungen,  hat  zu  denselben  36  weitere  so- 
eben eröffnet  und  beabsichtigt  noch  fernere  30  Wohnungen 
im  Jahre  1894  fertig  zu  stellen.  Jedes  Haus  enthält  drei 
Stockwerke  zu  je  zwei  Wohnungen.  Jede  Wohnung  be- 
steht aus  drei  heizbaren  Zimmern,  Küche  mit  Wasserleitung, 
Wasserkloset,  verschlossenem  Korridor  und  Nebengelass 
(Bodenraum,  Keller).  Ein  Hofraum  von  40  qm  mit  Bleich- 
platz hinter  dem  Hause  dient  den  6 Miethern  gemeinschaft- 
lich. Das  grösste  Zimmer  hat  eine  Grundfläche  von 
4,71x4,43  m,  das  kleinste  4,43x2,50  m.  Die  Herstellungs- 
kosten eines  Hauses  berechnen  sich  auf: 

1 540  M.  für  den  Bauplatz, 

11 90  „ „ Strassenanlagen, 

25  400  „ „ den  Bau, 

zus!  28130  M. 

An  Miethe  wird  jährlich  für  jedes  Haus  953  M.  erhoben. 
Nach  Abzug  von  1 pCt.  der  Bausumme  für  Unterhaltung 
und  Amortisation  (254  M.),  sowie  der  Ausgaben  für  Ge- 
bäudesteuer, Versicherung  etc.  (90  M.)  bleiben  von  der 
Hausmiethe  609  M.  übrig,  was  einer  Verzinsung  des  auf- 
gewendeten Kapitals  mit  21/ & pCt.  entspricht.  Die  Miethe 
ist  billig  berechnet  und  beträgt  nicht  ganz  zwei  Drittel  der 
ortsüblichen  Preise.  Es  sind  deshalb  diese  Wohnungen 
sehr  begehrt  und  stets  bewohnt.  Die  mittlere  Kopfzahl  der 
in  einem  Hause  wohnenden  Personen  beträgt  28,  es  ent- 
fallen somit  auf  den  Kopf  16  qm  Wohnraum  und  34  M. 
Wohnungsmiethe. 

Die  deutsche  Volksbaugesellschaft  hat  in  ihrer  Kolonie 
Lichterfelde-Giesensdorf  bei  Berlin  gegenwärtig  60  Anwesen 
fertig  gestellt;  10  weitere  sind  im  Bau  begriffen,  25  — 30 
sollen  während  des  Jahres  in  Angriff  genommen  werden. 
Die  Gesellschaft  hat  der  Anhalter  Bahn  das  Terrain  zu  einem 
Bahnhof  unentgeltlich  abgetreten.  Die  Eröffnung  der  Station 
unter  dem  Namen  Gross  - Lichterfelde  - Süd  ist  für  den 
1 . Juli  in  Aussicht  genommen. 


458 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  38. 


Schulwesen. 

Die  hauswirthschaftliche  Ausbildung  des  weiblichen 
Geschlechts  in  der  Schweiz.1) 

Zu  den  Mittelchen  für  die  Lösung  der  sozialen  Frage  sind 
im  letzten  Jahrzehnt  auch  in  der  Schweiz  die  Haushaltungs- 
schulen und  Kurse  getreten.  Die  Stimmen  über  die  höchst 
ungenügenden  Ernährungsverhältnisse  eines  grossen  Theils 
der  schweizerischen  Arbeiterbevölkerung  konnten  nicht  mehr 
länger  ungehört  verhallen.  Der  Ruf  um  Abhülfe  dieser 
schreienden  Uebelstände  begann  allmählich  fruchtbaren 
Boden  zu  finden.  Von  verschiedenen  Seiten  gab  man  sich 
das  Wort,  an  die  Lösung  dieser  höchst  wichtigen  Frage 
mit  allem  Eifer  heranzutreten.  Allein  zur  Heilung  einer 
Krankheit  gehört  vor  allem  die  Erkenntniss  ihrer  Ursache. 
Fehlt  diese,  so  werden  naturgemäss  auch  die  Heilmittel 
entweder  verkehrte  oder  nur  halbe  sein  können.  Erblickt  man 
die  Ursachen  der  schlechten  und  ungenügenden  Ernährungs- 
verhältnisse in  der  mangelhaften  hauswirthschaftlichen  Aus- 
bildung der  Arbeiterfrauen,  so  ist  die  Gründung  von  Haus- 
haltungs-  oder  Kochschulen  und  -kurse  die  nothwendige 
Folge  dieser  Einsicht  der  Gemeinnützigkeit.  Allerdings 
scheint  dabei  vielfach  vergessen  zu  werden,  dass  es  den 
schweizerischen  Arbeiterfrauen  nicht  nur  an  der  nöthigen 
hauswirthschaftlichen  Ausbildung  und  Uebung  sondern  auch 
besonders  am  nöthigen  Geld  zu  einer  ausreichenden 
und  rationellen  Ernährung  ihrer  Familien  fehlt.  Eine  That- 
sache,  die  aus  den  die  alte  Frage  „wie  nährt  man  sich  gut  und 
billig“,  behandelnden  Schriften  von  Fachmännern2)  mit 
erschreckender  Deutlichkeit  hervorgeht. 

Immerhin  ist  der  Gründung  derartiger  Schulen  und 
Kurse,  schon  weil  sie  als  Zeichen  der  Zeit  aufzufassen  ist, 
eine  nicht  zu  unterschätzende  Bedeutung  beizumessen.  Die- 
selben werden  in  ihrer  Weise  viel  Gutes  wirken,  nament- 
lich wenn  ihre  Organisation  derart  ist,  dass  der  Arbeiter- 
bevölkerung der  Besuch  ermöglicht  wird.  Gut  geleitete  Haus- 
haltungsschulen, welche  von  den  Schülerinnen  keine  grossen 
Opfer  an  Zeit  und  Geld  erfordern,  sind  gewiss  im  Stande, 
einen  wesentlichen  Anstoss  zur  rationellen  Gestaltung  der 
Volksernährung  zu  geben,  indem  sie  ihre  Zöglinge  in  die 
Lage  versetzen  dürften,  mit  den  ihnen  später  als  Hausfrauen 
zur  Verfügung  stehenden  Mitteln  möglichst  rationell  zu 
wirthschaften.  Weshalb  eine  kurze  Besprechung  der  bis 
zum  letzten  Jahre  in  der  Schweiz  gegründeten  hauswirth- 
schaftlichen Schulen  und  Kurse  nicht  ohne  Interesse  sein 
dürfte. 

Neben  14  Haushaltungs-  und  Kochschulen,  welche  1892 
in  der  Schweiz  gezählt  wurden,  beschäftigten  sich  14  gleiche 
Kurse,  13  Fortbildungs-,  6 Handarbeits-  und  3 Dienstboten- 
schulen mit  der  hauswirthschaftlichen  Ausbildung  der  weib- 
lichen Bevölkerung.  Dieselben  vertheilen  sich  auf  die 
Kantone  wie  folgt: 


Kantone 

Fort- 

bil- 

dungs- 

Hand- 

arbeits- 

Haush. - 
und 
Koch- 

Dienst- 

boten- 

Haush. - 
und 
Koch- 
Kurse 

Sch 

ulen 

Zürich 

5 

1 

1 

2 

Bern 

— 

— 

2 

1 

2 

Luzern  

— 

— 

2 

— 

2 

Glarus  

2 



— 

— 

1 

Solothurn 

1 



1 

— 

— 

Baselstadt 

— 

— 

1 

1 

Baselland 

— 

— 

— 

1 

St.  Gallen 

3 

5 

1 

— 

1 

Graubünden  

— 

— • 

1 

— 

1 

Aargau 

— 

— 

3 

1 

2 

Thurgau 

2 

2 

1 

Waad 

i 

13 

6 

14 

3 

14 

')  Vergl.  hierzu:  Rud.  Dietrich,  „Die  schweizerischen  Schulen 
und  Kurse  für  allgemeine,  hauswirthschaftliche  und  berufliche 
Fort-  oder  Ausbildung  des  weiblichen  Geschlechts  nach  Er- 
hebungen in  den  Jahren  1891  und  1892“,  in  Schweizerische  Zeit- 
schrift für  Gemeinnützigkeit.  XXXI,  Jahrgang.  IV.  Heft,  S.  251  fF. 

*)  Wie  nährt  man  sich  gut  und  billig?  Ein  Beitrag  zur  Er- 


Von  den  14  Haushaltungsschulen  sind  zwar  5 ausdrück- 
lich für  die  Angehörigen  der  Arbeiterklasse  gegründet.  Aber 
schon  die  Dauer  der  Schulzeit,  welche  zwischen  7 Wochen 
und  I Jahr  schwankend,  durchschnittlich  3 — 4 Monate  be- 
trägt, bedeutet  für  die  Arbeiterbevölkerung  ein  grosses 
Opfer,  zu  welchem  sich  die  wenigsten  Familien  entschliessen 
können.  Denn  das  Eintrittsalter  für  diese  Schulen  fällt 
gerade  in  den  Zeitabschnitt  im  Leben  einer  Haushaltung, 
in  welchem  die  Eltern  meist  des  Arbeitsverdienstes  ihrer 
älteren  Kinder  unbedingt  bedürfen  und  sehr  selten  in  der 
Lage  sind,  darauf  nur  für  einige  Monate  zu  verzichten. 
Dazu  kommt  das  Schul-  oder  Kostgeld,  welches  an  diesen 
Schulen  zu  bezahlen  ist.  Allerdings  übersteigt  dasselbe 
bei  keiner  einzigen  dieser  Schulen  die  Summe  von  80  Frcs. 
und  haben  alle  diese  Anstalten  Stipendien  oder  Schulgeld- 
erlass für  Arme  und  Unbemittelte.  Der  Grundsatz  der  Un- 
entgeltlichkeit sollte  aber  gerade  für  diese  Schulen  als  eine 
Nothwendigkeit  betrachtet  werden.  Die  Einbürgerung  neuer 
Einrichtungen  und  Schulen  stösst  ja  überall  auf  Widerstand. 
Weshalb  es  als  verfehlt  anzusehen  ist,  wenn  die  Töchter 
der  Arbeiterfamilien  mit  der  einen  Hand  gleichsam  zu  diesen 
Schulen  herbeigelockt,  mit  der  andern  aber,  die  sich  zum 
Empfang  des  Schul-  oder  Kostgeldes  ausstreckt,  zurück- 
gestossen  werden.  Durch  Reduzirung  oder  Erlass  des  Schul- 
geldes, sowie  durch  Gewährung  von  Stipendien  dürfte 
dieses  Verhältnis  nur  höchst  schwach  gemildert  werden. 

Dasselbe  gilt  auch  von  den  3 schweizerischen  Dienst- 
botenschulen, wovon  diejenige  in  Winterthur  bei  einer 
Schulzeit  von  4 Monaten  80  Frcs.  Schul-  und  Kostgeld  ver- 
langt, während  sich  diese  Schulen  in  Lenzburg  und  Bern 
für  einen  3 Monate  dauernden  Curs  mit  60  Frcs.  entschä- 
digen lassen.  Es  wäre  sehr  zu  begrüssen,  wenn  Bund, 
Kantone  und  Gemeinden  diesen  Anstalten,  welche  meist 
von  gemeinnützigen  Vereinen  und  Gesellschaften  gegründet 
sind,  thatkräftigere  finanzielle  Unterstützung  angedeihen 
Hessen.  Der  Bund  hat  nämlich  in  dieser  Hinsicht  noch 
nichts  geleistet,  während  sich  die  Unterstützungen  von  Ge- 
meinden und  Kantonen  für  diese  Anstalten  folgenderweise 
vertheilten: 


Fort- 

Hand- 

Haush.- 

Dienst- 

Haush.- 

Es  empfingen  Unter- 

bil- 

und 

Stützungen 

dungs- 

arbeits- 

Koch- 

boten- 

Koch- 

Kurse 

bchulen 

von  Gemeinden  . . . 

9 

6 

3 

3 

5 

„ Kantonen  .... 

10 

6 

7 

3 

4 

Unserer  Ansicht  nach  ist  — entgegen  der  in  der 
Schweiz  herrschenden  Meinung  — den  Kursen,  welche  die 
Schülerinnen  bloss  einige  wenige  Stunden  während  des 
Tages  in  Anspruch  nehmen,  entschieden  ein  grosser  Vorzug 
gegenüber  den  Schulen  zuzusprechen,  soweit  dieselben 
wenigstens  der  Arbeiterbevölkerung  zu  dienen  bestimmt  sind. 
Die  Einrichtung  solcher  Kurse  in  Verbindung  mit  Volks- 
oder Fabrikküchen  und  Speiseanstalten  würde  keine  grossen 
Schwierigkeiten  verursachen. 

Ferner  würden  sich  die  Arbeiterfamilien  viel  leichter 
entschliessen,  ihre  Töchter  an  einem  Haushaltungskurse 
theilnehmen  zu  lassen,  der  von  ihnen  nur  ganz  geringe 
Opfer  an  Zeit  erfordert  und  ihnen  gestattet,  an  ihrem 
Wohnorte  der  gewohnten  Erwerbsthätigkeit  obzuliegen. 
Auf  diese  Weise  könnte  also  eine  viel  grössere  Anzahl 
von  Arbeiterinnen  der  Wohlthat  entsprechender  hauswirth- 
schaftlicher  Ausbildung  theilhaftig  werden.  Derartige  Ver- 
suche, von  denen  das  badische  Fabrikinspektorat  zu  be- 
richten weiss,  verdienen  überall  Nachahmung.1) 

Natürlich  ist  über  den  Einfluss  dieser  Haushaltungs- 
schulen- und  Kurse  noch  kein  endgültiges  Urtheil  abzugeben, 


nährungsfrage  von  Dr.  C.  A.  Me  inert.  Preisgekrönt  durch  den 
Verein  Concordia;  — und  Dr.  J.  Wolf,  Sozialismus  und  kapitalis- 
tische Gesellschaftsordnung,  Stuttgart  1892.  S.  326  (Wie  nährt 
man  sich  am  billigsten?)  etc. 

*)  Jahresbericht  der  grossherzoglich  badischen  Fabrikinspek- 
tion für  das  Jahr  1891.  Herausgegeben  im  Aufträge  des  gross- 
herzoglichen Ministeriums  des  Innern.  Karlsruhe  1892.  S.  24. 


No.  38. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


459 


da  die  meisten  derselben  auf  eine  nur  wenige  Jahre  um- 
fassende Wirksamkeit  zurückblicken  können  und  mit  Bezug 
auf  Lehrpersonal  und  Organisation  noch  manche  Aenderung 
und  Verbesserung  einzuführen  sein  dürfte.  So  ergeben 
diese  Schulen  und  Kurse  nach  der  Zeit  ihrer  Gründung 
oder  ersten  Veranstaltung  folgendes  Bild: 


Fort- 

bildungs- 

Hand- 

arbeits- 

Haushai  t.- 
und  Koch- 

Dienst- 

boten- 

Haushalt. - 
und  Koch- 
Kurse 

Schulen 

Vor  1880  . . 

5 

1 



1880  1884  . . 

3 

2 

2 

— 

1 

1885—1889  . . 

5 

2 

5 

1 

3 

1890-1892  . . 

1 

7 

2 

10 

13 

6 

14 

3 

14 

Das  Lehrpersonal,  welches  an  diesen  Schulen  und 
Kursen  thätig  ist,  besteht  zum  Theil  aus  Primär-  und  Real- 
lehrern und  -lehrerinnen,  Aerzten,  Aerztinnen  und  Geist- 
lichen, zum  Theil  aus  Lehrerinnen,  welche  sich  für  die 
Fächer  der  Haushaltungs-  und  Kochkunde  eine  spezielle 
Berufsbildung  erworben  haben.  Die  meisten  dieser  Lehre- 
rinnen haben  die  Vorbildung  zu  ihrem  Berufe  in  der  Schweiz 
erhalten.  Vor  fünf  Jahren  veranstaltete  nämlich  die  schweize- 
rische gemeinnützige  Gesellschaft  den  ersten  Kursus  zur 
Ausbildung  von  10  Lehrerinnen  in  den  Fächern  der  Koch- 
und  Haushaltungskunde.  Die  zahlreichen  Gründungen  von 
Haushaltungsschulen  und  -kursen,  sowie  die  sich  steigernde 
Anerkennung  des  Bedürfnisses  der  hauswirthschaftlichen 
Ausbildung  des  weiblichen  Geschlechts  gaben  Veranlassung 
zu  einem  zweiten  derartigen  Kursus.  Dieser  fand  im  März 
dieses  Jahres  seinen  Abschluss  und  verschaffte  6 Schüle- 
rinnen nach  einjähriger  Lehrzeit  das  Diplom  als  Lehrerin 
der  Koch-  und  Haushaltungskunde. 

Die  hauswirthschaftliche  Ausbildung  in  Bezug  auf 
Nähen,  Flicken,  Stricken  und  Sticken  etc.  wird  in  den 
meisten  schweizerischen  Kantonen  in  sogenannten  Näh- 
oder Arbeitsschulen  durch  speziell  hierfür  angestellte  und 
besoldete  Lehrerinnen  in  besonderen  Stunden  nach  gesetz- 
lich fixirtem  Lehrplane  vermittelt.  Der  Besuch  dieser 
Stunden  ist  in  vielen  Kantonen  obligatorisch.  Der  Unter- 
richt wird  überall  unentgeltlich  ertheilt. 

Die  Lehrerinnen  dieser  Arbeitsschulen  sind  meistens 
gelernte  Näherinnen,  welche  in  einem  oder  in  mehreren 
gewöhnlich  einige  Wochen  dauernden  Kursen  noch  etwelche 
Vorbildung  für  den  Lehrberuf  erhalten  haben.  Etwa 
60  weibliche  Fortbildungs-,  Frauenarbeits-  und  Handarbeits- 
schulen suchen  diese  durch  die  Volksschule  vermittelten 
hauswirthschaftlichen  Kenntnisse  und  Fertigkeiten  zu  er- 
gänzen und  zu  vermehren.  Zu  dem  gleichen  Zwecke  werden 
an  9 Orten  periodische  Näh-,  Flick-  und  Glättekurse  ver- 
anstaltet. Endlich  sind  hier  die  Samariterkurse  lür  das 
weibliche  Geschlecht  zu  erwähnen.  Dieselben  erfreuen  sich 
einer  regen  Betheiligung  aus  allen  Kreisen  der  Bevölkerung. 
Erfreulicher  Weise  ist  bei  den  Schulen  und  Kursen  dieser 
Art  der  Grundsatz  der  Unentgeltlichkeit  des  Unterrichts 
fast  überall  durchgeführt. 

Obwohl  wir  der  hauswirthschaftlichen  Ausbildung  des 
weiblichen  Geschlechts  nicht  die  Tragweite  beizulegen  ver- 
mögen, welche  derselben  von  der  sie  fördernden  Gemein- 
nützigkeit mancherorts  zugesprochen  wird,  so  drängt  sich 
doch  dem  unbefangenen  Beobachter  dieser  Verhältnisse 
unwiderstehlich  die  Thatsache  auf,  dass  die  in  der  Schweiz 
gegenwärtig  hierfür  aufgewendeten  Opfer  im  Verhältnis 
zu  dem  bestehenden  und  allseitig  anerkannten  Bedürfnis 
nur  ein  Tropfen  auf  einen  heissen  Stein  sind. 

Stettfurt  (Schweiz).  Emil  Hofmann. 

Plan  einer  Webeschule  in  Reichenbach.  Die  Ver- 
handlungen über  das  Projekt  sind  ins  Stocken  gerathen, 
weil  die  Regierung  an  die  Gemeinde  Reichenbach  Forde- 
rungen stellt,  welche  diese  für  unerfüllbar  erklärt.  Der 
neueste  Jahresbericht  der  Schweidnitzer  Handelskammer 
spricht  sich  darüber  mit  grossem  Bedauern  aus:  „Wir 
bitten  dringend,  das  Projekt  nicht  scheitern  zu  lassen,  da 


die  Webeschulc  die  einzige  staatliche  Unterstützung  von 
einiger  Bedeutung  für  die  Nothlage  einer  zahlreichen  Be- 
völkerung ist.  Wenn  zur  Zeit  die  Verhältnisse  der  Iland- 
weber  sich  auch  etwas  gebessert  haben,  so  werden  die 
Nothstände  doch  sicher  wiederkehren,  wenn  staatlicherseits 
nirgends  ein  Hebel  angesetzt  wird,  sie  allmählich  zu  be- 
seitigen. Wir  können  ein  schmerzliches  Gefühl  nicht  unter- 
drücken, wenn  wir  sehen,  wie  in  den  Nachbarländern 
Oesterreich  und  Sachsen  staatlicherseits  die  Gewerbethätig- 
keit  durch  vielfache  Fachschulen  mit  Erfolg  gefördert  wird, 
während  bei  uns  grosse  gewerbliche  Bezirke  derselben  ganz 
entbehren.“ 

Schulunterricht  und  Rübenbau  in  Aschersleben.  Die 

Lehrerschaft  der  Stadt  Aschersleben  hat  bei  der  Regierung 
zu  Magdeburg  die  Missstände  zur  Sprache  gebracht,  welche 
durch  die  Verwendung  der  Schulkinder  bei  den  Rüben- 
arbeiten entstehen.  Ueber  den  Erfolg  dieses  Schrittes  ist 
bis  jetzt  nichts  bekannt  geworden.  Hingegen  meldet  die 
Frankfurter  Zeitung,  dass  der  Magistrat  von  Aschersleben 
in  Rücksicht  darauf,  dass  städtische  Kinder  vielfach  in  be- 
nachbarten Fluren  Arbeit  suchen,  während  die  Landwirthe 
daheim  Mangel  an  Arbeitskräften  haben,  die  Schulinspek- 
toren ersucht  habe,  dass  sie  die  Lehrer  veranlassen  mögen, 
den  Kindern  die  Annahme  von  Lohnarbeit  auf  andern  als 
städtischen  Grundstücken  zu  untersagen.  Die  Schul- 
inspektoren sollen  zumeist  der  Aufforderung  keine  Folge 
gegeben  haben,  da  eine  Beschränkung  in  der  Verwerthung 
von  Arbeitskräften  nicht  Sache  der  Schule  sein  könne. 

Wenn  die  Zeitungsnachrichten  korrekt  sind,  so  halten 
wir  diese  Weigerung  der  Schulinspektoren  für  vollkommen 
berechtigt.  Denn  wenn  Schulkinder  überhaupt  auf  Arbeit 
gehen,  so  liegt  für  die  Schule  nicht  der  geringste  Anlass 
vor,  sie  daran  zu  hindern,  ihre  Arbeit  da  zu  suchen,  wo 
sie  ihnen  am  besten  bezahlt  wird.  Die  Schule  hat  sich  nur 
um  die  Interessen  des  Unterrichts  und  der  Erziehung  zu 
kümmern.  — Diese  Interessen  erfordern  zwar  auch  ein 
Einschreiten,  aber  nicht  an  dem  Punkte,  an  welchem  der 
Magistrat  von  Aschersleben  nach  den  Zeitungsberichten 
eingesetzt,  sondern  an  dem  Punkte,  welchen  die  dortige 
Lehrerschaft  bei  der  Magdeburger  Regierung  zur  Sprache 
gebracht  hat.  Die  vielfachen  Beschränkungen  des  Schul- 
unterrichts in  der  Sommerszeit,  namentlich  das  massenweise 
Bestehen  von  Halbtagsschulen,  welches  auf  dem  Lande 
damit  motivirt  wird,  dass  man  den  Kindern  der  armen 
Leute  die  Gelegenheit  zu  einem  kleinen  Verdienst  in  land- 
wirthschaftlicher  Arbeit  nicht  nehmen  wolle,  ist  vielfach 
nichts  anderes  als  eine  Konnivenz  der  Unterrichtsverwaltung 
gegen  das  Begehren,  die  billige  jugendliche  Arbeitskraft 
auf  Kosten  der  Schulbildung  auszunutzen.  Da  die  Halbtags- 
schule ausserdem  billiger  ist  als  die  Volksschule,  so  gewährt 
der  mangelhafte  Schulunterricht  den  leitenden  Kreisen  länd- 
licher Gemeinden  vielfach  gleichzeitig  den  doppelten  Vor- 
theil billiger  Arbeitskräfte  und  billiger  Schulverwaltung, 
wozu  hier  und  da  als  drittes  Moment  noch  die  Freude  über  das 
Zurückdrängen  der  Volksbildung  überhaupt  kommt.  Diese 
Zustände  haben  bei  uns  eine  Ausdehnung,  welche  die  Auf- 
sichtsbehörden der  Unterrichtsverwaltung  gut  thäten,  nicht 
bloss  mit  wachsamem  Auge,  sondern  auch  mit  starkem 
Arme  zu  verfolgen.  Diese  Angelegenheit  lokaler  Regelung 
überlassen  heisst  meistens,  sie  dem  Einflüsse  derjenigen 
sozialen  Kreise  preisgeben,  die  an  einer  schlechten  Rege- 
lung das  grösste  Interesse  haben. 


Eingesendete  Schriften: 

Leipart,  Th.,  Zur  Lage  der  deutschen  Drechslerarbeiter. 
Ein  Beitrag  zur  deutschen  Arbeiterstatistik.  Nach  statistischen 
Erhebungen  aus  dem  Jahre  1892  im  Aufträge  des  Central- 
vorstandes der  Vereinigung  der  Drechsler  und  Berufsgenossen 
Deutschlands  zusammengestellt  und  bearbeitet.  Hamburg, 
Th.  Leipart.  8 °.  32  S. 

Herzog,  A.,  Arbeits-Statistik  aufgestellt  in  den  Ortsvereinen 
des  Gewerbevereins  der  deutschen  Schneider  und  verwandten 
Berufsgenossen  am  Ende  des  Jahres  1892.  Nach  den  Angaben 
der  einzelnen  Ortsvereine  zusammengestellt  und  bearbeitet 
Anfang  des  Jahres  1893.  (Potsdam,  1893.) 


Verantwortlich  für  die  Redaktion;  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin,  W.,  Victoriastrasse  16. 


ANZEIGEN. 


Schriften  öer  Centralfteüe  für 
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9?r.  1. 

fic  |£tk|[raiii0  te  Poliimiigtn. 

SKit  208  SUBBilbnngen  im  £ejt. 

8°.  VI  unb  370  ©eiten. 

SßreiS  gcFjcftct  SKf.  8.—,  pofifrei  SKf.  8.30. 
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8°.  IV  unb  94  ©eiten. 

Sßreiö  geheftet  SKf.  2.—,  pofifrei  SKf.  2.10. 

Curl  ijrijmnmts  Erring  in  Berlin  W. 

SKaucrftrafje  44. 


JlnlMes  Jidten 

SDargeffcIIt 

auf  ©ntnb  einer  nerloreit  geglaubten 
^anbfdjrtften-Samnüung 

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jmei  Briefen  tu  ^ahftmile. 

8°,  XII  unb  188  ©eiten. 

©cfjcf tet  Sßrci!?  SK.  3,  gcbunben  SßreiS  SK.  4. 
3u  Bejiefjcn  burcE) 

Paul  «Srljrllcrs  Öudjljonblung  (|.  f üprnmndfrr) 

^erlitt  W.,  SKarfgrafenftr.  39/40. 


Soeben  erfcfjien  im  SBcrlage  non  Itidiarb  fefTer,  iSevliu  W.  57: 

Sic Codierungen  Der  §|uljggienc.  S5°"  *“"»• 

Ser  Mol)  ol  uni)  Der  menfstjli'ije  ÖrgoniDnino/  U'™"7 

llr|fl:tien  unb  Siele  Der  frnuenfiemegung.  8Son  f;eifrÄ*  ‘ ***"'• 
Sie  Biegungen  Der  3olf§f$|ule  >ur  fokalen  frage.  *“$«?,•  I'lf*- 

=====  3»  Belieben  burefj  alle  S8ud)f)anblungen,  fomie  bireft  ooit  ber  93erlag§f)anblung  == 
gegen  Sinfenbung  bc§  SBctrageS  in  SBricfmarfen. 

gjctjmctnno  gering  in  fjScrltit  W.,  ptauerprnfje  44. 

Pe  Stmmtagsrulje  tut  fianbelsgeiucrbe 

auf  ©raub  ber 

© enterb  eorbttmtii  fitr  int©  gJeutfdje  igieidj. 

|um  ®fbtniid)t  für  ßcljörben,  fiaufleutr,  f nftinirtlje,  gnnbraerfeer,  ^tbeilgtiet  nnb  JUbtitntf)nttt 

bargefteßt  oon 

Dr.  uon  |titi»igct\  9iegierung§=  unb  ©einerberatf). 

3toeitc  uut) cvänbcrte  Slitflage. 

8°.  VIII  nnb  42  ©eiten. 

SßreiS  fartonnirt  SK.  1.—,  pofifrei  SK.  1.10. 

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fßreiS  geheftet  90?.  1,—,  poftfrei  Eft.  1,10. 

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(Sari  Sxijtnamtö  Verlag  in  Berlin  W.,  $tauerftraj*e  44* 

Carl  Heymanns  Verlag  in  Berlin  W.,  Mauerstrasse  44  — Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld  in  Berlin  W. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  26.  Juni  1893. 


Nummer  39. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 

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Erscheint  jeden  Montag. 

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INHALT. 


Das  Ergebniss  der  amtlichen 
Erhebungen  über  die  Ar- 
beiterverhältnisse im  deut- 
schen Handelsgewerbe.  Von 
Dr.  Max  Quarck. 

Soziale  Wirtschaftspolitik  und 
Wirthschaftsstatistik : 

Der  Höfeschluss  und  das  Höfe- 
recht in  Oesterreich.  Von  Land- 
wirth  Heinrich  Adler. 

Zur  Statistik  der  deutschen  über- 
seeischen Auswanderung. 

Genossenschaftswesen  in  England. 
Arbeiterzustände : 

Ergebnisse  der  Arbeitslosenstatistik 
in  Zürich.  Von  Rechtsanwalt 
Otto  Lang. 

Arbeiterstatistik  des  Grossherzog- 
thums Hessen. 

Maschinelles  Verfahren  bei  der 
Lohnberechnung. 

Gewerkschaftliche  Arbeiterbewe- 
gung : 

Gewerkschaftskartelle  in  Deutsch- 
land. 


Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Die  Sonntagsruhe  in  den  Cigarren- 
läden. 

Ortsstatut  über  Lohnzahlung  an 
Minderjährige. 

Gewerbegerichte,  Einigungsämter 
und  Arbeiterausschüsse: 

Vereinigung  der  Gewerbegerichte 
Deutschlands. 

Haftpflicht  in  England. 

Englische  Bill  über  Einigungs- 
ämter. 

Wohnungszustände  und  Woh- 
nungsgesetzgebung : 

Die  Wohnqualität  der  Leipziger 
Arbeiterbevölkerung. 

Schulwesen,  Erziehungs-  und  Bil- 
dungsfragen : 

Erziehungswesen  in  den  Vereinig- 
ten Staaten. 

Litteratur: 

Allgemeines  Statistisches  Archiv. 
Herausgegeben  von  Dr.  G v. 
May  r. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Das  Ergebniss  der  amtlichen  Erhebungen 
über  die  Arbeitsverhältnisse 
im  deutschen  Handelsgewerbe. 

Die  Methode,  welche  die  seit  Jahresfrist  in  Thätigkeit 
befindliche  Reichskommission  für  Arbeiterstatistik  im  Deut- 
schen Reiche  für  die  im  verflossenen  Jahre  vorgenommenen 
Sozialenqueten  guthiess,  ist  an  dieser  Stelle  schon  mehr- 
fach vom  H-erausgeber,  und  mit  Bezug  auf  die  sog.  Handels- 
enquete im  Besonderen  vom  Verfasser  dieses  in  No.  38, 
I.  Jahrgang  dieser  Zeitschrift  kritisch  besprochen  worden. 
Das  Hauptergebniss  dieser  Kritiken  war  jedesmal,  dass  man 
sich  von  einem  gewissen  bureaukratischen  Zug,  der  durch 
alle  Arbeiten  der  Reichsbehörden  auch  auf  sozialpolitischem 
Gebiete  geht,  noch  immer  nicht  losmachen  könne  und  des- 
halb durch  Steifheit  und  Ungelenkigkeit  des  Erhebungs- 
verfahrens selbst  auf  beschränkten  Gebieten  regelmässig 
ungenügende  Resultate  erziele.  Es  kann  also  bezüglich  des 
Allgemeinen  auf  jene  Besprechungen  verwiesen  werden, 
wenn  es  heute  gilt,  hier  die  neueste  Drucksache  der  Reichs- 
kommission für  Arbeiterstatistik  zu  ’analysiren:  die  „Er- 
hebung über  Arbeitszeit,  Kündigungsfristen  und 
Lehrling’sverh  äl  t n iss  e im  Handelsgewerbe.  Ver- 
anstaltet im  September  und  Oktober  1892.  Be- 


arbeitet im  Kaiserlichen  Statistischen  Amt.“1)  Die 
materiellen  Ergebnisse  dieser  Erhebung  über  die  Arbeits- 
verhältnisse deutscher  Handlungsgehülfen,  über  die  erst  in 
den  letzten  Jahren  einigermaassen  Licht  verbreitet  worden 
ist  und  die  wegen  ihrer  Originalität  dem  Forscher  einen 
ganz  besonderen  Reiz  bieten,  beanspruchen  so  hohes  In- 
teresse, dass  bezüglich  der  Methodologie  nur  Einiges  her- 
vorgehoben werden  soll,  was  die  früheren  Kritiken  in  über- 
raschender Weise  bestätigt. 

Zunächst  hat  sich  die  volle  Berechtigung  der  Haupt- 
rüge herausgestellt,  dass  man  wiederum  die  Form  der 
schriftlichen  Befragung  wählte  und  die  Hauptbetheiligten, 
die  Handlungsgehülfen,  die  Prinzipale  und  ihre  Organisationen, 
bei  der  Abfassung  und  Vertheilung  des  Fragebogens,  sowie 
bei  der  Kontrolle  der  Antworten  gänzlich  unbeachtet  liess. 
Die  Schriftlichkeit  des  Verfahrens  brachte  es  mit  sich,  dass 
die  Antworten  theilweise  sehr  unvollständig  ausfielen.  Im 
Ganzen  wurden  13  629  Fragebogen  an  die  Bundesstaaten 
zur  Vertheilung  an  ca.  10  pCt.  der  Ladengeschäfte  mit  Ge- 
hülfen  gesandt.  Denn  nur  um  Ladengeschäfte  mit  Gehülfen 
handelte  es  sich  bei  der  Erhebung,  und  der  oben  angeführte 
Titel  des  amtlichen  Enqueteberichts  lautet  deshalb  zu  all- 
gemein. Ausgegeben  wurden  von  den  Bundesregierungen 
durch  Polizei-  und  Verwaltungsbehörden  10  040  Fragebogen 
in  389  Orten.  Wohin  die  3589  fehlenden  Fragebogen  ge- 
riethen,  darüber  liegt  keine  Auskunft  vor.  Dies  fällt  um 
so  mehr  auf,  als  man  z.  B.  in  Preussen  offenbar  nicht  ein- 
mal mit  den  7950  Fragebogen  reichte,  die  nach  der  ersten 
Vertheilung  und  Nachlieferung  auf  diesen  Bundesstaat  ent- 
fielen. Man  half  sich  auf  folgende  originelle  Weise:  es 
„wurde,  um  den  Umfang  der  Erhebung  innerhalb  des  König- 
reichs nicht  unverhältnissmässig  zu  steigern,  die  Nachfor- 
derung von  Fragebogen  dadurch  beschränkt,  dass  man  die 
Umfrage  in  einer  Provinz  (Posen)  auf  ein  Minimum  redu- 
zirte  und  die  so  erübrigten  Fragebogen  in  anderen  Pro- 
vinzen verwendete.“  So  ist  wörtlich  Seite  6 des  Berichts 
zu  lesen!  Nach  dieser  „Methode“  erhielt  die  ganze  Pro- 
vinz Posen  23  Fragebogen.  In  Schlesien  wurden  z.  B.  Bres- 
lau und  Görlitz,  in  der  Rheinprovinz  Elberfeld  und  Barmen, 
in  Bayern  Nürnberg,  in  Baden  Mannheim,  regelmässig  also 
Handelsstädte  mit  sehr  lebhaftem  Ladenverkehr  übergangen, 
von  der  Vertheilung  in  den  Kleinstaaten  und  ihren  Merk- 
würdigkeiten gar  nicht  zu  reden.  „Ein  unerwarteter  Zu- 
wachs“ an  Fragebogen  kam  aus  Frankfurt  a.  M.,  wo  Kauf- 
männischer Verein  und  Handelskammer  noch  623  Frage- 
bogen beantwortet  verschafften,  während  die  Reichs- 
enquete nur  151  erzielt  hatte;  von  den  623  wurden  291  mit 
in  der  Reichsenquete  verarbeitet.  Von  den  vertheilten 
10  040  Fragebogen  gingen  9500  beantwortet  ein;  davon 

*)  Berlin  1893,  gedruckt  in  der  Buchdruckerei  W.  Koebke, 
Alexandrinenstr.  99.  95  Seiten  in  Folio. 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  39. 


konnten  8235  verarbeitet  werden,  die  zu  4157  von  Prinzipalen, 
zu  4078  von  Geholfen  stammten  (aus  374  Orten,  nämlich 
13  Gross-,  24  Mittel-,  109  Klein-,  98  Landstädten  und  130 
Orten  mit  weniger  als  2000  Einwohnern).  Norddeutschland 
ist  mit  6032  Fragebogen.  Mittel-  und  Süddeutschland  nur 
mit  2203  vertreten.  39  pCt.  der  befragten  Betriebe  gehören 
der  Lebensmittelbranche,  38  pCt.  der  Bekleidungsbranche 
an,  3 pCt.  handeln  mit  Tabak  und  Cigarren,  20  pCt.  mit 
anderen  Gegenständen.  In  den  8235  Geschäften  waren 
16  845  Geholfen  (8211  männl.,  8634  weibl.),  sowie  6880  Lehr- 
linge beschäftigt.  Ueber  die  regelmässige  Ladenzeit  gaben 
noch  sämmtliche  der  oben  genannten  8235  Fragebogen  aus 
ebensoviel  Geschäften  Auskunft;  auch  die  4636  Geschäfte 
mit  männlichen  und  die  4103  mit  weiblichen  Geholfen,  in 
welche  jene  Anzahl  zerfällt,  beantworteten  noch  vollzählig 
die  Fragen  Ober  die  Arbeitszeit  dieses  Personals;  dagegen 
gaben  von  den  4088  Geschäften  mit  Lehrlingen  bereits  nur 
3086  hinreichende  Auskunft  über  die  Lehrlingsverhältnisse. 
Ueber  Kündigungsfristen  berichten  nur  7576  Geschäfte  von 
den  8235.  Die  Schlussfragen  des  unverständlichen  schrift- 
lichen Questionnäres  wurden  offenbar  nicht  mehr  mit 
derselben  Sorgfalt  beantwortet,  wie  die  an  erster  Stelle 
stehenden.  Und  dabei  ist  noch  die  wichtige  Gehaltsfrage 
ganz  unerörtert  geblieben. 

Vertreter  oder  Organisationen  der  Prinzipale  und  Geholfen 
wurden  nirgends  bei  der  Erhebung  zugezogen,  obgleich  die 
Anweisung  an  die  Regierungen  die  Zuziehung  derselben 
zur  Vertheilung  empfiehlt;  das  amtliche  Aktenstück  geht 
hierüber  mit  völligem  Stillschweigen  hinweg.  Es  vergisst 
auch,  zu  erwähnen,  dass  die  bekannte  Denkschrift  des 
„Deutschen  Verbandes  Kaufmännischer  Vereine“  vom  12. 
Dezember  1890  die  erste  Anregung  zu  der  Erhebung  gab, 
und  es  hat  endlich  versäumt,  die  Denkschrift  des  Kauf- 
männischen Vereins  Frankfurt  a.  M.  mit  ihren  charakte- 
ristischen Daten  über  das  Verfahren  in  dieser  Stadt  we- 
nigstens im  Anhang  abzudrucken,  eine  Denkschrift,  die  den 
623  Frankfurter  Zusatzantworten  beigefügt  war  und  in  den 
„Mittheilungen“  der  dortigen  Handelskammer  veröffentlicht 
worden  ist.  Neben  diesen  Lücken  ist  lobend  eine  sehr 
erfreuliche  Bereicherung  der  amtlichen  Druckschrift  zu  er- 
wähnen: ein  Anhang,  in  welchem  mit  grossem  Fleiss  und 
anerkennenswerther  Sachkenntniss  die  bisherige  Litteratur 
über  Arbeitsverhältnisse  im  Handelsgewerbe  zusammen- 
gestellt ist.  Nur  in  der  Rubrik  „Fachzeitschriften“  enthält 
diese  Uebersicht  einige  wesentliche  Irrthümer  und  Lücken. 
Die  „Kaufmännische  Reform“  in  Leipzig  erschien  nicht 
später  unter  dem  Titel  „Verbandsblätter“,  sondern  erscheint 
gleichzeitig  unter  beiden  Titeln.  Die  „Kaufmännische  Rund- 
schau“ in  Berlin  ist  eingegangen  und  an  deren  Stelle  nach 
längerer  Pause  „Der  Handelsangestellte“  getreten.  Neben 
der  Frankfurter  „Kaufmännischen  Presse“,  welche  Verbands- 
organ der  deutschen  Kaufmännischen  Vereine  ist,  fehlt  das 
„Hamburger  Vereinsblatt“,  neben  den  „Kaufm.  Blättern“  in 
Wien  die  dortige  „Kaufm.  Zeitschrift“,  und  auch  der  Züricher 
„Fortschritt“  als  Organ  des  schweizerischen  Vereinsver- 
bandes hätte  wohl  genannt  werden  dürfen. 

Die  materielle  Darstellung  der  Denkschrift  beginnt,  der 
Anordnung  des  Fragebogens  entsprechend,  mit  der  regel- 
mässigen Ladenzeit  der  befragten  Geschäfte.  Von  hier 
ab  muss  sich  der  Leser  vor  Augen  halten,  dass  alle  Angaben 
der  Statistik  auf  einseitigen  Auskünften  entweder  nur  des 
Prinzipals,  oder  nur  eines,  in  den  meisten  Fällen  dem  Prin- 
zipal nahestehenden  Gehilfen  aus  jedem  Geschäft  beziehen, 
dass  keine  Ueberprüfung  durch  kontradiktorische  Verhand- 
lung stattgefunden  hat  und  die  Mehrzahl  der  Daten  also 
eher  schön  als  schwarz  gefärbt  ist.  Die  Ladenzeit  oder 
Geschäftszeit  wird  in  der  gesetzlichen  Regelung  der  kauf- 
männischen Arbeitsverhältnisse  noch  ihre  Rolle  spielen. 
Sie  ist  die  äusserlich  am  leichtesten  erkennbare  und  deshalb 
am  sichersten  zu  kontrolirende  Begrenzung  der  Arbeit  im 


Ladengeschäft , der  Zeitraum  zwischen  Oeffnung  und 
Schliessung  des  Ladens.  Die  Arbeitszeit  des  Personals  und 
des  Prinzipals  kann  daneben  in  den  Innenräumen  des  Ge- 
schäfts länger  oder  kürzer  dauern,  sie  ist  schwerer  festzu- 
stellen und  zu  regeln.  Weite  Kreise  der  Handlungsgehilfen 
wünschen  deshalb  schon  heute  eine  gesetzliche  Regelung 
ihrer  Arbeitszeit  nicht  durch  blosse  Festsetzung  einer 
Maximalzahl  von  täglichen  Beschäftigungsstunden,  mit  der 
sie  ja  bereits  bei  der  Sonntagsruhe  so  schlechte  Erfahrungen 
gemacht  haben,  sondern  durch  Festsetzung  der  äusserlich 
leichter  erkennbaren  Laden-  oder  Geschäftszeit  z.  B.  von 
8 Uhr  Morgens  bis  8 Uhr  Abends  mit  entsprechenden 
Pausen.  Einstweilen  ist  die  Ladenzeit  freilich  um  ein  Be- 
trächtliches länger.  Von  den  8235  Geschäften,  welche  für 
die  Reichsenquete  in  Betracht  kommen,  gaben  nicht  weniger 
als  3750  (also  45  pCt.)  ihre  Ladenzeit  mit  14,  15,  16  und 
mehr  Stunden  an.  Wenn  sich  daneben  ergiebt,  dass  nur 
42  pCt.  den  Zeitpunkt  ihrer  Oeffnung  vor  7 Uhr  Morgens 
(im  Sommer!)  und  nur  38  pCt.  ihren  Schluss  nach  9 Uhr 
Abends  angeben,  so  gewahrt  man  eben,  dass  die  schriftliche 
Form  der  Enquete  eine  ganze  Reihe  ungelöster  Widersprüche 
zu  Tage  förderte.  Was  die  Mittagspause  anbetrifft,  so 
wurde  geantwortet,  dass  in  3700  oder  45  pCt.  der  befragten 
Geschäfte  die  Mehrzahl  des  Personals  keine  bestimmte,  oder 
nur  eine  weniger  als  halbstündige  geniesst.  Aber  selbst 
für  die  55  pCt.  der  Geschäfte  mit  bestimmter  Mittagspause 
gilt  nach  den  begleitenden  Bemerkungen  der  Betheiligten 
die  Thatsache,  dass  immer  nur  ein  Theil  des  Personals  die 
bestimmte  längere  Mittagspause  zur  regelrechten  Mittags- 
zeit hat,  während  der  andere  Theil  den  Laden  versieht.  Wo 
das  Personal  freie  Station  im  Hause  hat,  und  das  ist  z.  B. 
bei  mehr  als  drei  Vierteln  der  Kolonialwaarengeschäfte 
der  Fall,  da  erscheint  die  Ladenzeit  besonders  ausgedehnt; 
kein  Wunder,  dass  die  Vorliebe  des  Personals  für  diese 
Art  „patriarchalischen“  Arbeitsverhältnisses  sehr  im  Schwin- 
den begriffen  ist.  Unrichtig  ist  der  Zusatz  des  Statistischen 
Amtes,  dass  „regelmässig  im  Sommer  die  Geschäftsstunden 
weiter  ausgedehnt  sind  als  im  Winter“.  Theilweise  ist  das 
gerade  Gegentheil  der  Fall,  theilweise  ist  nach  unseren  Er- 
fahrungen die  winterliche  Ladenzeit  der  sommerlichen  gleich; 
der  Anreiz,  den  im  Sommer  der  frühere  Beginn  und  das 
spätere  Ende  der  natürlichen  Tagesbeleuchtung  giebt,  wird  i 
im  Winter  durch  den  vielfach  vermehrten  Geschäftsandrang 
wenigstens  in  den  Städten  mehr  als  ersetzt.  Den  Angaben 
über  verlängerte  Ladenzeit  aus  Zeiten  besonderen  Geschäfts- 
andranges steht  der  Verfasser  ziemlich  skeptisch  gegenüber. 
Beinahe  selbstverständlich  ist  ja  das  Ergebniss,  dass  ver- 
längerte Ladenzeit  je  weniger  vorkommt,  je  länger  die  ge- 
wöhnliche Ladenzeit  ist.  Wenn  dann  aber  angegeben  ist, 
dass  nur  3000  oder  36  pCt.  aller  befragten  Geschäfte  eine 
solche  Verlängerung  kennen,  wenn  ein  Theil  dieser  Ge- 
schäfte auffällig  genau  bekundet  hat,  dass  im  Jahre  nur  an 
weniger  als  15  Tagen,  an  15  bis  29  Tagen  u.  s.  w.  und  nur 
in  2 pCt.  an  einer  unbestimmten  Zahl  von  Tagen  Ueber- 
arbeit  geleistet  werde,  so  will  dies  mit  der  sonst  beobachte- 
ten Regellosigkeit  und  Willkürlichkeit  der  Ladenzeit  in  den 
meisten  Verkaufsgeschäften  schlecht  übereinstimmen. 

Die  Arbeitsze  i t der  männli  chen  Gehilfen,  die  wie 
oben  dargethan,  von  der  Ladenzeit  völlig  verschieden  ist, 
wird  aus  4636  Geschäften  statistisch  geschildert.  Der  Enquete- 
bericht steht  auf  dem  Standpunkte,  dass  die  Daten  des 
Materials  zuträfen,  nach  welchen  die  Arbeitszeit  des  Per- 
sonals in  der  Hauptsache  mit  der  Ladenzeit  zusammenfällt, 
theilweise  sogar  kürzer  ist,  weil  täglich  oder  wöchentlich 
oder  14  tägig  einem  Theil  der  Gehüllen  Einzelfreistunden 
oder  früherer  Schluss  ihrer  Thätigkeit  gewährt  werde.  Im 
Uebrigen  sei  „eine  regelmässige  Ausdehnung  der  Arbeits- 
zeit über  den  Ladenschluss  hinaus  nicht  häufig“,  nur  „bei 
ausserordentlichen  Gelegenheiten  ist  in  vielen  Geschäften 
Ueberarbeit  von  oft  mehrstündiger  Dauer  nach  Schluss  des 


No.  39. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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Ladens  zu  erledigen“.  Nach  Ansicht  des  Verfassers  dürfte 
auch  an  diesem  heiklen  Punkte  die  schriftliche  Methode  der 
Erhebung  Schiffbruch  gelitten  haben;  so  verwickelte  Ver- 
hältnisse, über  deren  Umfang  sich  die  Betheiligten  in  Folge 
der  langen  Gewohnheit  vielfach  selbst  gar  nicht  klar  sind, 
lassen  sich  nicht  durch  einseitige  schriftliche  Befragung, 
sondern  nur  durch  kontradiktorische  Verhandlung  auf- 
hellen; überdies  richtet  sich  ein  grosser  Theil  der  Klagen 
des  kaufmännischen  Personals  gerade  gegen  die  gewolm- 
heitsmässige  Nacharbeit  hinter  verschlossenen  Ladenthüren. 
Endlich  kommt  als  sehr  wichtiger  Punkt  in  Betracht,  dass 
der  amtliche  Fragebogen  die  Frage  nach  verlängerter 
Arbeitszeit  (neben  verlängerter  Ladenzeit)  völlig  vergessen 
hat!  Das  zahlenmässige  Ergebniss  der  Enquete  bezüglich 
der  so  aufgefassten  Arbeitszeit  ist  ja  trotzdem  ein  tief- 
trauriges: selbst  nach  Abzug  aller  Pausen,  deren  Regel- 
mässigkeit beim  Ladengeschäft  stets  in  Zweifel  gezogen 
werden  muss,  figuriren  nicht  weniger  als  26  pCt.  der  be- 
fragten Betriebe  mit  einer  mehr  als  15  ständigen,  13  pCt.  mit 
einer  14 — 15stündigen,  12  pCt.  mit  einer  13 — 14stündigen 
Arbeitszeit,  und  nur  die  kleinere  Hälfte  bleibt  mit  der  Ar- 
beitszeit für  männliche  Gehilfen  unter  13  Stunden.  Ueber- 
dies  haben  47  pCt.  der  betheiligten  Gehülfen  keine  be- 
stimmte oder  nur  eine  weniger  als  halbstündige  Mittagspause. 

Die  Arbeitszeit  der  weiblichen  Gehilfen  erscheint 
dagegen  nach  der  Enquete  relativ  günstig.  Hier  be- 
schäftigten nur  22  Prozent  der  befragten  Betriebe  ihr  weib- 
liches Personal  regelmässig  länger  als  14  Stunden,  12  Pro- 
zent 13 — 14  Stunden,  die  überwiegende  Mehrzahl  kürzere 
Zeit.  Auch  die  bestimmte  oder  länger  als  eine  halbe  Stunde 
dauernde  Mittagspause  entbehrten  nach  diesen  Feststellungen 
nur  37  Prozent  der  Ladenmädchen.  Das  „Nur“  gilt  hier 
natürlich  lediglich  für  den  Vergleich  mit  den  männlichen 
Gehilfen;  an  und  für  sich  sind  ja  auch  diese  Feststellungen 
traurig  genug.  Eine  vorläufige  Erläuterung  dieser  Ziffern 
kann  nur  durch  die  Thatsache  gegeben  werden,  dass  die 
Mehrzahl  der  Ladenmädchen  Angestellte  der  Bekleidungs- 
geschäfte sind,  in  denen  die  11- — 12  ständige  Arbeitszeit 
vorwiegt,  während  bei  den  männlichen  Gehilfen  die  grosse 
Zahl  Angestellter  in  Kolonial-  und  Materialwaarengeschäften 
mit  übermässiger  Arbeitszeit  den  Ausschlag  giebt. 

In  den  Arbeitsverhältnissen  der  Lehrlinge  und 
Lehrmädchen  hat  die  Reichsenquete  trotz  ihrer  mangel- 
haften Methode  wohl  die  dunkelste  Seite  der  sozialen  Zu- 
stände im  Handelsgewerbe  aufgedeckt.  Sie  ergiebt,  dass 
8 Prozent  der  Geschäfte  ihre  Lehrlinge  mehr  als  16  Stunden, 
26  Prozent  15 — 16  Stunden  und  16  Prozent  14 — 15  Stunden 
täglich  abrackerten  (mit  Einschluss  der  Pausen,  die  hier  noch 
weniger  abgesetzt  werden  können,  als  bei  den  Gehilfen). 
In  54  Prozent  der  Geschäfte  haben  die  beklagenswerthen 
Wesen  von  Lehrlingen  keine  feste  oder  eine  geringfügige 
Mittagspause.  Das  sind  fürchterliche  Zustände,  namentlich 
wenn  man  bedenkt,  dass  es  sich  beinahe  zur  Hälfte  um 
Jungen  von  unter  16  Jahren  handelt.  Dabei  dauert  die 
Lehrzeit  in  40  pCt.  der  Geschäfte  mehr  als  3 Jahre!  Und 
nur  30  pCt.  der  Prinzipale  schicken  ihre  Lehrlinge  in  eine 
Fach-  oder  Fortbildungsschule.  Auch  hier  erfreuen  sich 
die  Lehrmädchen  relativ  günstigerer  Verhältnisse  — wenn 
die  schriftliche  Enquete  Recht  hat.  Nur  ca.  17  pCt.  der 
Geschäfte  mit  Lehrmädchen  hätten  danach  eine  längere  als 
Hstündige  Arbeitszeit  für  dieselben,  das  Gros  12-13  Stunden 
und  weniger;  eine  bestimmte  und  ausreichende  Mittags- 
pause für  ihre  Lehrmädchen  würden  ca.  75  pCt.  der  in  Be- 
tracht kommenden  Geschäfte  gewähren. 

Das  Kapitel  der  Kündigungsfristen  endlich  ist  das 
einzige,  zu  welchem  die  Angaben  nicht  nur  in  Bausch  und 
Bogen  nach  Geschäften,  sondern  auch  nach  der  Kopfzahl 
des  Personals  gemacht  und  verarbeitet  sind  — ein  Ver- 
fahren, das  bezüglich  der  Arbeitszeit  u.  s.  w.  ebenfalls 
hätte  angewendet  werden  müssen.  Die  althergebrachte 


Quartalskündigung  mit  dem  6 wöchigen  Präklusivtermin, 
die  dem  kaufmännischen  Personal  eine  kleine  Sicherheit 
gegen  allzuhäufige  Stellenlosigkeit  gewährte,  ist  zum  Theil 
bereits  durch  kurze  Kündigungsfristen  verdrängt.  Von 
7576  befragten  Betrieben  waren  nicht  ganz  3000  (37  pCt.) 
von  der  alten  Quartalskündigung  abgegangen,  jedoch  stellt 
sich  die  Sachlage  für  männliche  und  weibliche  Gehilfen 
ganz  verschieden.  Von  821 1 männlichen  Gehilfen  haben 
26  pCt.,  von  8634  weiblichen  dagegen  45  pCt.  kürzere 
Kündigungsfristen,  sodass  also  hier  das  Weib  im  Nachtheil 
gegen  den  Mann  ist.  Die  am  meisten  vorkommende  kürzere 
Kündigungsfrist  ist  auf  beiden  Seiten  die  vierwöchige;  die- 
selbe würde  sich  demgemäss  als  Minimalkündigungsfrist 
besonders  eignen.  Uebrigens  kommen  auch  schon  ein- 
wöchentliche und  eintägige  Kündigungsfristen  vor. 

Der  amtliche  Bericht  hat  obige  Daten,  die  wir  bisher 
immer  für  das  ganze  Reich  gaben,  verdienstlicher  Weise 
auch  nach  Ortsklassen,  nach  Grö ssenklassen  der  Be- 
triebe und  nach  Geschäftszweigen  bearbeitet.  Das 
Resultat  dieser  Bearbeitung  bietet  einen  neuen  Beitrag  zur 
Lehre  von  den  Vorzügen  des  kollektivistischen  Betriebes: 
die  Grossstädte  und  die  Grossbetriebe  weisen  die  relativ 
günstigsten  Arbeitsverhältnisse  auch  für  das  Ladenpersonal 
auf,  und  je  kleiner  der  Ort,  je  kleiner  der  Betrieb  wird, 
um  den  es  sich  handelt,  desto  ungünstiger  gestalten  sich 
die  sozialen  Zustände  in  den  Verkaufsgeschäften.  Nur  einige 
Proben  als  Belege!  Eine  mehr  als  löstündige  Ladenzeit 
hatten  in  den  Grossstädten  5,8,  in  den  Landstädten  14  pCt. 
der  Betriebe,  oder  nach  Grössenklassen  der  Betriebe  solche 
mit  nur  1 Hilfsperson  zu  8 pCt.,  mit  4 — 9 Hilfspersonen  zu 
3 pCt.,  mit  10  und  mehr  Hilfspersonen  gar  nicht.  Nur  bei 
den  Kündigungsfristen  ergiebt  sich  das  Gegentheil:  hier 
überwiegen  in  den  kleineren  Orten  die  Betriebe  mit  län- 
geren, dagegen  in  den  Grössenklassen  die  Grossgeschäfte 
mit  kürzeren  Fristen.  Die  dankbare  Bearbeitung  dieser 
sozial  hochwichtigen  Unterschiede  muss  einer  speziellen 
Darstellung  überlassen  bleiben.  Unter  den  Geschäftszweigen 
zeichnet  sich  der  Colonial-  und  Materialwaarenhandel  durch 
ungünstige  Arbeitsverhältnisse  vor  allen  anderen  aus. 

Soweit  es  der  knappe  Raum  dieser  Zeitschrift  zuliess, 
sind  hiermit  die  Flauptergebnisse  der  Reichsenquete  wieder- 
gegeben. Schon  in  ihrer  jetzigen  unvollkommenen  Gestalt 
sind  sie  ein  einziger  Schrei  nach  Besserung  ganz  unhalt- 
barer Zustände,  ein  flammender  Protest  gegen  jede  Ver- 
schlechterung der  ohnedies  gänzlich  ungenügenden  kauf- 
männischen Sonntagsruhe,  die  noch  immer  mit  unbegreif- 
licher Unterstützung  der  Behörden  versucht  wird.  Die  so- 
zialen Schwierigkeiten,  auf  welche  man  bei  der  schriftlichen 
Erhebung  hier  zum  ersten  Mal  besonders  auffällig  stiess 
(S.  10  der  amtlichen  Veröffentlichung),  die  groben  Fehler 
in  der  Vertheilung  der  schriftlichen  Fragebogen,  die  man 
infolge  des  Mangels  jeder  Fühlung  mit  den  Interessenten- 
kreisen machte,  endlich  die  komische  Schönfärberei  bezüg- 
lich der  Ausnutzung  des  Personals,  deren  sich  die  Prinzi- 
pale (S.  78)  befieissigten,  da  sie  keinen  Widerspruch  der 
Gehülfen  zu  gewärtigen  hatten,  scheinen  ihren  Eindruck 
auch  auf  amtliche  Kreise  nicht  verfehlt  zu  haben;  denn 
es  ist  erfreulich  zu  sehen,  wie  in  halbamtlichen  Aeusse- 
rungen  die  vorliegende  Erhebung  nur  als  ein  Provisorium 
bezeichnet  und  als  naturgemäss  der  Vervollständigung  be- 
dürftig charakterisirt  wird.  Das  ist  immerhin  ein  Fort- 
schritt, und  es  wird  nunmehr  darauf  ankommen,  wenigstens 
bei  der  Fortsetzung  der  Erhebung,  und  zwar  schon  bei 
ihrer  Vorbereitung,  die  berechtigten  Wünsche  der  Inter- 
essenten zu  berücksichtigen,  wie  sie  der  Deutsche  Vor- 
stand Kaufmännischer  Vereine  in  seinen  Görlitzer  Be- 
schlüssen kürzlich  von  Neuem  formulirt  hat.  Die  tiefe  Nacht, 
in  denen  die  sozialen  Zustände  des  Handelsgewerbes  liegen, 
bedarf  einer  sehr  gründlichen  und  nachhaltigen  Aufhellung. 

Frankfurt  a.  M.  Max  Quarck. 


464 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  39. 


Soziale  Wirtschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 


Der  Höfeschluss  und  das  Höferecht  in  Oesterreich. 

Nach  vierjährigem  Schlummer  ist  das  Höferechtsgesetz 
in  Oesterreich  wieder  zum  Leben,  wenigstens  zu  einem 
Scheinleben,  erwacht.  Im  Jahre  1889  nahm  der  öster- 
reichische Reichsrath  ein  Gesetz  „zur  Einführung  beson- 
derer Erbtheilungsvorschriften  für  landwirtschaftliche  Be- 
sitzungen mittlerer  Grösse“  an.  Es  war  nur  ein  sog.  „Rahmen“- 
Gesetz,  wie  es  die  Mannigfaltigkeit  der  provinzialen  Ver- 
hältnisse in  Oesterreich  so  oft  begründet  und  rechtfertigt; 
die  Einzelbestimmungen  über  die  „Neugestaltung  des 
bäuerlichen  Erbrechtes  wurden  in  diesem  Gesetze  der 
Legislative  der  einzelnen  Königreiche  und  Länder  Vorbe- 
halten. Die  Konservativen  in  Reichsrath  und  Ministerium 
legten  grössten  Werth  auf  das  Zustandekommen  dieses 
Höferecht-Gesetzes,  von  da  aus  sollte  der  leidenden  Land- 
wirthschaft  wieder  Heil  und  Rettung  kommen.  Trotz  dieser 
Hoffnungen  liess  man  dieses  Universalmittel  indess  seit 
dem  Jahre  1889  unbenutzt  liegen,  statt  es  in  Gestalt  von 
Landesgesetzen  sofort  in  die  staatliche  Wirklichkeit  über- 
zuführen. So  wurden  denn  erst  vor  Kurzem  in  den 
Landtagen  Mährens,  Salzburgs  und  Niederösterreichs  die 
einschlägigen  Vorlagen  eingebracht.  Speziell  in  Nieder- 
österreich dürfte  das  Anerbenrecht,  wenn  überhaupt 
irgendwo  in  Oesterreich,  zuerst  thatsächliche  Geltung  er- 
langen, so  widersinnig  dies  erscheinen  mag.  Denn  gerade 
die  Landwirthschaft  Niederösterreichs  zeigt  sehr  wenig 
Bedürfniss  danach,  dazu  ist  dieses  Kronland  viel  zu  sehr 
der  hauptstädtischen  Industrie  tributär.  Dass  die  Vorlagen 
trotzdem  gerade  in  dieser  Provinz  mehr  Aussicht  auf  Annahme 
haben,  beruht  auf  den  Parteiverhältnissen  des  Landtages. 

Die  Regierungsvorlagen  über  die  Beschränkung  der 
Theilbarkeit  und  Vereinigung  bäuerlichen  Grundbesitzes 
und  über  die  Einführung  des  Anerben-(Höfe-)Rechtes  für 
gewisse  Kategorien  des  bäuerlichen  Grundbesitzes,  wie  sie 
gegenwärtig  in  Mähren,  Salzburg  und  Niederösterreich  zur 
Berathung  vorliegen,  überbieten  das  vorerwähnte  Reichs- 
gesetz an  sachlichen  und  formellen  Mängeln.  Wenn  mit 
ihnen  der  Beweis  wieder  einmal  erbracht  werden  sollte, 
dass  unsere  Zeit  kein  Geschick  zur  Gesetzgebung  habe,  so 
wurde  dieser  Beweis  mit  ihnen  in  glücklichster  Weise  ge- 
liefert. Sie  bieten  nach  der  einen  Seite  zu  viel,  nach  der 
anderen  zu  wenig,  keine  Partei  kann  sich  mit  ihnen  be- 
freunden. Erwähnen  wir  dazu  die  vielfach  unglückliche, 
kaum  verständliche  Textirung  der  Vorlagen,  so  begreift  man, 
dass  sie  eigentlich  auch  bei  den  Freunden  dieser  Agrar- 
reform“ mit  nur  sehr  gemischten  Gefühlen  begrüsst  wurden. 
Der  niederösterreichische  Landtagsausschuss  beschloss  so- 
gar, noch  eine  grosse  Enquete  über  die  neueren  Wand- 
lungen im  Grundbesitze  zu  veranstalten  und  sich  zunächst 
über  die  Wirkungen  des  Höferechtes  in  jenen  Staaten,  die 
es  besitzen,  zu  unterrichten.  Alles  dies  bedingt  wieder 
eine  beträchtliche  Verzögerung  der  Entscheidung,  und  so 
muss  die  Landwirthschaft  Niederösterreichs  sich  in  Geduld 
fassen,  wenn  sie  auf  Rettung  durch  den  Höfeschluss  und 
durch  das  Höferecht  wirklich  rechnet. 

Die  Vorlage,  mit  der  dem  heute  noch  freien  Verkehr 
des  „mittleren“  bäuerlichen  Grundbesitzes  Fesseln  angelegt 
werden  sollen,  ist  viel  wichtiger  als  der  Anerbenrechts- 
Entwurf.  Dieser  letztere  betrifft  den  Grundbesitzer  nur  im 
Todesfälle  und  auch  nur  dann,  wenn  er  kein  Testament 
hinterlässt  oder  sich  dem  Anerbenrechte  freiwillig  unter- 
wirft. Die  erstere  Vorlage  trifft  dagegen  auch  den  „leben- 
den“ Bauer,  sie  hemmt  ihn  in  der  Vergrösserung,  wie  in 
der  Verkleinerung  seines  Besitzes.  Behördliche  Kommissio- 
nen sollen  ermitteln,  welche  Höfe  eine  „mittlere“  Grösse 
besitzen,  d.  h.  genug  Reinertrag  zum  Lebensunterhalte  von 
5 — 20  Personen  abwerfen.  Es  ist  im  Leben  oft  sehr  schwer, 
die  rechte  Mitte  zu  finden  und  einzuhalten,  so  wird  auch 
die  Feststellung  der  Höfe  „mittlerer“  Grösse  sehr  schwierig 
werden,  wenn  dazu  auch  der  ganze  Bureaukratismus,  dessen 
Vertreter  von  der  Landwirthschaft  doch  recht  wenig  ver- 
stehen, aufgeboten  wird.  Höfe,  die  nur  vier  oder  einund- 
zwanzig Personen  zu  ernähren  vermögen,  unterliegen  den 


Bestimmungen  dieses  Gesetzes  also  nicht.  Sie  können  dem- 
nach, wie  bisher,  getheilt,  dismembrirt  oder  auch  mit  an- 
derem Besitze  vereinigt  werden.  Ihnen  wendet  die  Ge- 
setzgebung ihre  Fürsorge  nicht  zu,  während  bei  den  Höfen 
mittlerer  Grösse  dem  Bodenverkehr  alle  erdenklichen 
Fesseln  zugedacht  sind.  Der  Hof  mittlerer  Grösse  soll  „in 
der  Regel  untrennbar  sein,  die  Absonderung  von  Bestand- 
theilen  eines  solchen  Hofes  kann  ausser  den  Fällen  der 
Enteignung  nur  mit  Consens  der  politischen  Behörde  er- 
folgen. (!)  Dagegen  ist  die  Theilung  solcher  Höfe  nach  im 
Verhältnisse  zum  Ganzen  bestimmten  ideellen  Antheilen, 
z.  B.  zur  Hälfte,  zu  einem  Drittel,  nicht  unzulässig“  (§  35). 
Wir  citirten  hier  absichtlich  den  Wortlaut,  um  die  ganze 
Mangelhaftigkeit  des  Entwurfes  auch  nach  der  formell  sty- 
listischen  Seite  zu  zeigen.  Da  liest  man  in  Einem  Para- 
graph von  „Trennung“,  „Absonderung“  und  „Theilung“  in 
verschiedener  Anwendung,  obwohl  diese  Begriffe  schliesslich 
in  der  Hauptsache  doch  von  identischer  Bedeutung  sind. 
Und  wie  vieldeutig,  dehnbar  und  wieder  nichtssagend  ist 
dieses  „in  der  Regel“  und  dieses  „nicht  unzulässig"!  Wir 
erwähnten  schon,  dass  sowohl  die  Theilung,  wie  die  Ver- 
grösserung der  künftig  geschlossen  geplanten  Höfe, 
durch  Auflegung  zahlreicher  Formalitäten  erschwert  werden 
soll.  So  bestimmt  denn  auch  § 40,  dass  „die  Verschmel- 
zung zweier  oder  mehrerer  Höfe  mittlerer  Grösse  zu  einem 
Hofe  unzulässig“  sein  soll.  Scheinbar  soll  damit  der  Auf- 
saugung des  bäuerlichen  Besitzes  durch  den  Grossbesitz 
vorgebeugt  werden,  indess  wirklich  nur  scheinbar!  Der 
Grossgrundbesitzer  wird,  wie  sich  aus  dem  Wortlaute 
des  Entwurfes  klar  ergiebt,  eben  nur  an  der  Zusammen- 
legung zweier  oder  mehrerer  solcher  Höfe  mit  seinem 
Gute  verhindert,  wenn  überhaupt.  Nichts  im  Gesetze  hemmt 
ihn  aber,  immer  nur  Einen  solchen  Hof  seinem  Besitze 
einzuverleiben ! Man  wird  zugeben,  dass  dieses  Gesetz, 
so  wie  es  heute  vorliegt,  nicht  einmal  dort  Abhülfe  ver- 
spricht, wo  sie  wirklich  erforderlich  ist;  der  Grossgrund- 
besitz wird  auch  fernerhin  unangefochten  Bauerngriinde  in 
den  Alpenländern  Oesterreichs  zusammenkaufen  und  sie  i 
zum  — Jagdrevier  machen  können,  wie  bisher! 

Indem  die  Giltigkeit  dieses  Gesetzes  auf  die  Höfe 
„mittlerer“  Grösse  beschränkt  wird,  muss  sich  indess  noch 
ein  anderer  Missstand  ergeben.  Die  Fesseln,  die  da  spe- 
ziell Einer  Besitzkategorie  zugedacht  sind,  während  sie  allen 
übrigen  Besitzständen  erspart  bleiben  sollen,  müssen  auf  : 
die  erstere  entwerthend,  auf  diese  letzteren  dagegen  werth- 
erhöhend wirken.  Man  wird,  falls  die  Vorlagen  thatsäch- 
lieh  Gesetzeskraft  erlangen,  künftig  vor  dem  Ankäufe  eines 
„mittleren“  Hofes  zurückschrecken  und  dafür  lieber  Besitz 
unter  oder  über  dem  vielerwähnten  „Mittel“  erwerben.  Und 
das  ist  eine  Konsequenz,  die  wohl  auch  den  Freunden 
dieser  Agrarreform  nicht  sehr  erwünscht  sein  dürfte.  Be- 
merkenswerth ist  es  ferner,  dass  bei  der  Annahme  des  An- 
erbengesetzes im  Reichsrathe,  also  schon  im  Jahre  1888 
die  Regierung  zur  Erwägung  aufgefordert  wurde,  ob  und 
welche  Begünstigungen  für  Parzellirung  von  Latifundien 
zu  Kolonisirungszwecken  staatlicherseits  einzuräumen 
wären.  Böhmen,  Mähren  und  Galizien,  die  Hochburgen 
des  österreichischen  Latifundienbesitzes,  haben  von  dieser 
Resolution  bisher  indess  noch  gar  keine  Behelligung  er- 
fahren. Die  neuere  Kolonisation,  wie  wir  sie  im  Deutschen 
Reiche,  in  Italien  (Kirchengüter),  in  Grossbritannien  und  in 
Rumänien,  ja,  in  allerletzter  Zeit  auch  in  Ungarn  einge- 
leitet sehen,  hat  in  Oesterreich  noch  kein  Heim  gefunden. 
Und  doch  wäre  sie  gerade  dort  am  Platze  zur  Bindung 
der  ländlichen  Bevölkerung,  die  vor  den  niedrigen  Lohn- 
sätzen des  Grossgrundbesitzes  ihr  Heil  immer  zunehmend 
in  — Brasilien  sucht! 

Ueber  den  Anerbenrechtsentwurf  können  wir  uns  kürzer 
fassen.  Er  trifft,  wie  gesagt,  nur  für  die  Intestaterbfolge 
derart  Vorsorge,  dass  in  diesem  Falle  der  Hof  nur  Einem 
Erben  zu  übergeben  ist,  also  die  reale  Theilung  vermieden 
wird.  Die  übrigen  Erbberechtigten  sollen  mit  Geldguthaben 
abgefunden  werden,  die  auf  Verlangen  der  Erben  nach 
längstens  drei  Jahren  zur  Auszahlung  gelangen  müssen. 
Das  „Voraus“  (Präzipuum)  des  Anerben  ist  so  zu  bemessen, 
dass  — wie  es  auch  schon  im  alten  tiroler  Edikte  heisst  — 
der  Anerbe  „wohl  bestehen  kann“.  So  dürfte  die  Boden- 
belastung durch  Erbforderungen  mit  diesem  Höferechte  erst 


No.  39. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


465 


recht  gesteigert,  also  das  heute  so  Gefürchtete-  noch  ver- 
stärkt werden,  die  Abhängigkeit  des  Bodenbesitzes  vom 
mobilen  Kapital!  Wir  wollen  die  alten  Einwendungen  gegen 
die  ungleiche  Erbtheilung,  wie  sie  das  Anerbenrecht  mit 
sich  bringt,  nicht  wiederholen  und  nicht  auf  die  drohende 
Proletarisirung  der  übrigen  Erbberechtigten  noch  näher 
hinweisen.  Das  aber  ist  klar,  der  Gesetzentwurf  bietet  nur 
Halbes,  Unfertiges.  Zwingt  er  den  Anerben  zur  Auszahlung 
der  Erbabfindungen  binnen  wenigen  Jahren  — 3 Jahre!  — 
dann  sollte  dem  Anerben  dies  auch  gefahrlos  ermöglicht 
und  möglichst  erleichtert  werden.  Das  Höferecht  in  der 
hier  voi  liegenden  Form  müsste  also,  wenn  es  schon  einge- 
führt wird,  zumindest  auf  öffentliche  Kreditorganisationen 
gestützt  werden,  die  das  Elbguthaben  auszahlen  und  zu 
billigem  Zinsfusse  selbst  übernehmen.  Andernfalls  dürfte 
dem  Anerben  kein  sehr  beneidenswerthes  Geschick  zu  Theil 
werden. 

Wien.  Heinrich  Adler. 

Zur  Statistik  der  deutschen  überseeischen  Auswan- 
derung. Die  deutsche  Auswanderung  über  deutsche  Häfen 
und  Antwerpen  stellte  sich  nach  den  Ermittelungen  des 
Kaiserlichen  Statistischen  Amts  im  Mai  1893  und  im  gleichen 
Zeitraum  des  Vorjahres  folgendermaassen : 


Es  wurden  befördert  im  Mai 

über  1893  1892 

Bremen 5844  9034 

Hamburg 3877  5053 

andere  deutsche  Häfen  (Stettin)  — 329 

deutsche  Häfen  zusammen  . 9711  14416 

Antwerpen 2258  2520 

Ueberhaupt  . .11969  16936 


Aus  deutschen  Häfen  wurden  im  Mai  d.  J.  neben  den 
vorgenannten  9711  deutschen  Auswanderern  noch  15  938 
Angehörige  fremder  Staaten  befördert.  Davon  gingen  über 
Bremen  11  551,  Hamburg  4387,  Stettin  — . 

Genossenschaftswesen  in  England.  In  einem  Bericht 
der  Labour  Gazette,  welcher  das  Genossenschaftswesen  be- 
handelt. werden  neben  den  Aenderungen,  die  der  Monat 
April  gebracht  hat,  auch  einige  Beobachtungen  allgemeiner 
Natur  mitgetheilt.  Es  wird  constatirt,  dass  in  London  die 
gewöhnlichen  genossenschaftlichen  Niederlagen  (co-operative 
Stores)  in  grösserem  Umfange  nicht  Wurzel  fassen  konnten. 
Es  scheint,  dass  Konsumvereine  nach  dem  Rochdaletypus 
meist  nur  in  Fabrikdistrikten  blühen,  und  die  einzigen 
Unternehmungen  dieser  Art,  die  in  der  Umgebung  von 
London  sehr  erfolgreich  waren,  befinden  sich  in  der  un- 
mittelbaren Nähe  des  Woolwicher  Arsenals  und  der  Strat- 
ford  - Eisenbahnwerkstätten.  Der  Genossenschaftsverband 
(Co-operative  Union)  veröffentlichte  eine  Statistik,  welche 
zeigt,  dass  im  Distrikt  London  nur  ungefähr  sechs  Ge- 
nossenschafter auf  1000  Einwohner  kommen,  während  für 
ganz  Grossbritannien  die  entsprechende  Zahl  36  ist.  Die 
Hälfte  des  Geschäftes  im  Londoner  Distrikt  wird  von  zwei  Ge- 
sellschaften in  Aussenbezirken  (Stratford  und  Woolwich)  be- 
sorgt, während  sich  der  Rest  auf  72  Gesellschaften  vertheilt, 
von  denen  die  grosse  Mehrzahl  ausserhalb  des  eigentlichen 
London  ihren  Sitz  hat.  Es  wird  nunmehr  versucht,  in  den 
Londoner  Konsumvereinen  Läden  zu  errichten,  welche 
nominell  von  einer  neuen  Gesellschaft,  der  People  co-ope- 
rative  society  unternommen  werden,  die  aber  praktisch 
unter  der  Garantie  und  der  Kontrole  der  alten  Co-operative 
Wholesale  society  steht.  Den  Umfang  des  Geschäftes  in 
dieser  letzteren  kann  man  daraus  ersehen,  dass  sich  im 
letzten  Quartal  1892  der  Werth  der  erzeugten  Waaren  auf 
215  396  Pfd.  Sterl.  belief,  wobei  nach  Abzug  der  Kapital- 
zinsen, der  Abschreibungen  und  aller  anderen  Auslagen  ein 
Nettoprofit  von  3508  Pfd.  Sterl.  gemacht  wurde.  Waaren 
im  Werthe  von  45  722  Pfd.  Sterl.  hatte  die  Gesellschaft  von 
anderen  Produktivassoziationen  angekauft. 

Die  schlechte  Geschäftskonjunktur  und  die  damit  ver- 
bundene Arbeitslosigkeit,  sowie  die  grossen  Strikes  der 
letzten  Monate  haben  auf  die  Geschäftserfolge  der  Konsum- 
vereine eine  starke  Einwirkung  gemacht.  So  hatte  die 
Newcastle-on-Tyne  co-operative  society  im  letzten  Jahre  an 
Rückzahlungen  an  Kapital  und  Gewinn  nicht  weniger  als 


71  459  Pfd.  Sterl.  zu  machen.  Ebenso  hat  der  Strike  der 
Baumwollarbeitcr  auf  alle  Genossenschaften  des  Distriktes 
Lancashire  eingewirkt.  In  dem  Quartal,  welches  mit  dem 
9.  März  endete,  hat  die  Oldham  Industrial  um  10  321  Pfd. 
Sterl.,  und  die  Oldham  Equitable  um  5449  Pfd.  Sterl.  weniger 
Waaren  verkauft  als  im  entsprechenden  Viertel  des  Vor- 
jahres. Trotzdem  haben  die  genannten  Gesellschaften 
während  dieser  Zeit  2500  Pfd.  Sterl.  an  Unterstützungen 
für  die  Familien  der  Ausständigen  verausgabt. 


Arbeiterzustände. 

Ergebnisse  der  Arbeitslosenstatistik  in  Zürich. 

Als  bei  der  anhaltenden  Kälte  des  letzten  Winters  die 
Arbeitslosigkeit  einen  bedrohlichen  Umfang  annahm,  bildete 
sich  aus  dem  Schooss  der  organisirten  Arbeiterschaft  eine 
Kommission,  welche  auf  Mittel  und  Wege  zur  Linderung  der 
Noth  bedacht  sein  sollte.  Dieselbe  wendete  sich  an’s  Publi- 
kum mit  dem  Gesuch  um  Zuwendung  von  Geld,  Lebens- 
mitteln und  Arbeitsgelegenheiten.  In  kurzer  Zeit  gingen 
bei  ihr  ca.  14  000  Eres,  ein  und  die  Stadt  eröfihete  ihr  einen 
Kredit  bis  auf  die  Höhe  von  5000  Frcs.  Die  Kommission 
errichtete  ein  ständiges  Bureau,  welches  nach  bestimmten 
Grundsätzen  die  Unterstützung  der  Arbeitslosen  und  die  Zu- 
theilung  von  Arbeit  zu  besorgen  hatte.  Jeder  Unterstützung 
suchende  Arbeitslose  hatte  unter  Anleitung  eines  Kommis- 
sionsmitgliedes einen  Fragebogen  auszufüllen,  der  über  die 
Civilstands-  und  Arbeitsverhältnisse  Auskunft  verlangt.  Um 
eine  systematische  und  umfassende  Arbeitslosen -Statistik 
handelt  es  sich  also  nicht.  Nur  ein  Bruchtheil  aller  Arbeits- 
losen hat  die  Unterstützung  in  Anspruch  genommen,  dessen 
Verhältniss  zur  Gesammtzahl  der  Arbeitslosen  sich  nicht  be- 
rechnen, ja  kaum  vermuthen  lässt.  Aber  das  auf  die  be- 
schriebene Art  gewonnene  Material  gewährt  doch  über  die 
Berufs-  und  Lebensverhältnisse  -eines  Theils  der  Arbeitslosen 
einige  nicht  uninteressante  Aufschlüsse,  die  um  so  mehr  Be- 
achtung verdienen,  als  die  Annahme  erlaubt  ist,  dass  die 
konstatirten  Verhältnisse  für  die  hiesigen  Arbeitslosen  un- 
bedingt typisch  sind. 

Im  ganzen  haben  sich  1655  Arbeitslose  einschreiben 
lassen.  1 )avon  sind  887  = 54  pCt.  verheirathet,  768  = 46  pCt. 
ledig;  Inländer  I 122,  Ausländer  533  (294  Deutsche).  Ver- 
theilt man  alle  Arbeitslosen  auf  die  Hauptkategorien  der 
Berufsarten,  so  entfallen:  auf  die  Taglöhner  627  = 38  pCt. ; 
die  Bauarbeiter  426  = 25,6  p C t . ; die  Metallarbeiter  153  — 
9,2  pCt. ; die  I lolzarbeiter  133  = 8,1  pCt.  und  auf  die  übrigen 
Berufe  316  = 19,1  pCt.  In  einem  Alter  bis  zu  25  Jahren 
stehen  400  = 24  pCt.;  26 — 40  Jahre  zählen  677  = 41  pCt. ; 
41 — 50  Jahre  327  = 20  pCt.  und  älter  als  50  Jahre  sind 
253  ==  15,5  pCt.  Beachtenswerth  ist,  dass  von  den  Unter- 
stützten nur  wenige  der  fluktuirenden  Bevölkerung  angehören. 
Die  meisten  sind  angesessen  und  bemessen  ihren  Aufenthalt 
in  Zürich  nach  Jahren.  Das  gilt  auch  von  den  Ausländern. 
Bei  Weglassung  der  ledigen  Arbeitslosen,  für  die  ein 
Wechsel  des  Wohnortes  nahe  liegt,  und  meistens  ohne 
grössere  Beschwerde  ist,  ergiebt  sich  für  586Verheirathete, 
bezüglich  deren  genaue  Angaben  vorliegen,  folgendes:  Erst 
seit  12  oder  weniger  Monaten  halten  sich  von  den  586  ver- 
heiratheten  nur  57  = 10  pCt.  hier  auf;  seit  2 Jahren  sind 
67  = 1 1 pCt.  hier  ansässig;  seit  3,  4 und  5 Jahren  100  = 
17  pCt.  und  seit  mehr  als  5 Jahren  362  = 62  pCt. 

Von  den  verheiratheten  Arbeitslosen  haben  781  Angaben 
über  die  Höhe  ihres  Verdienstes  gemacht.  416  = 53  pCt. 
verdienen  monatlich  nicht  mehr  als  80  Frcs;  353  = 45  pCt. 
80 — 120  Frcs.,  nur  12  mehr  als  120  Frcs.  Von  diesen  Per- 
sonen bezahlen  etwa  die  Hälfte  einen  jährlichen  Miethszins 
von  weniger  als  240  Frcs.;  d.  h.  bei  den  theuren  Wohnungs- 
preisen, dass  soviele  Haushaltungen  sich  mit  einem  einzigen 
Zimmer  und  Antheil  an  einer  Küche  begnügen  müssen. 

Die  Erhebung  über  die  Dauer  der  Arbeitslosigkeit  hat 
Folgendes  ergeben.  Von  den  1477  Arbeitslosen,  auf  welche 
dieselbe  sich  erstreckt,  waren  99  = 6,6  pCt.  weniger  als 
30  Tage  arbeitslos;  799  = 54  pCt.  30 — 60  Tage;  354  = 24  pCt. 
60  — 90  Tage,  145  = 10  pCt.  90 — 120  Tage  und  89  = 6 pCt. 
mehr  als  120  Tage.  Die  durchschnittliche  Dauer  der  Ar- 


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beitslosigkeit  beträgt  66  Tage,  sie  übersteigt  aber  diesen 
Durchschnitt  namentlich  in  den  höheren  Altersklassen  (vom 
40.  Lebensjahre  an)  und  beträgt  für  die  55  und  mehr  Jahre 
alten  Arbeitslosen  etwa  80  Tage.  Diese  Angaben  beruhen 
freilich  nur  zum  Theil  auf  Beobachtung,  zum  andern  Theil 
auf  Schätzung,  weil  für  Manche  zur  Zeit  unserer  Erhebung 
die  Arbeitslosigkeit  noch  nicht  beendet  war.  Mit  ziemlicher 
Sicherheit  liess  sich  aber  doch  Folgendes  berechnen: 

Von  585  verheiratheten  Arbeitslosen  liegen  ziemlich 
genaue  Angaben  über  den  durchschnittlichen  Verdienst  und 
die  Dauer  der  Arbeitslosigkeit  vor.  Aus  ihnen  ergiebt  sich, 
dass  sie  bei  ununterbrochener  Beschäftigung  zusammen 
während  300  Arbeitstagen  575  000  Frcs.  verdient  haben 
würden,  dass  sie  aber  nun  bei  39  195  arbeitslosen  Tagen 
einen  Lohnausfall  von  insgesammt  128167  Frcs.,  oder  auf 
den  einzelnen  verheiratheten  Arbeitslosen  berechnet  (bei 
einer  durchschnittlichen  Arbeitslosigkeit  von  66  Tagen)  von 
219  Frcs.  zu  verzeichnen  haben. 

Berechnet  man  an  der  Hand  dieser  ziemlich  sorg- 
fältig erhobenen  Angaben  den  Gesammtbetrag  des  wirth- 
schaftlichen  Schadens,  den  die  1655  eingeschriebenen  Ar- 
beitslosen durch  die  Arbeitslosigkeit  des  letzten  Winters 
mögen  erlitten  haben,  so  kommt  man  auf  einen  Betrag  von 
circa  350  000  Frcs.  Dieser  Summe  gegenüber  bedeuten  die 
17  000  Frcs.,  die  der  Arbeitslosenkommission  zur  Unter- 
stützung der  Arbeitslosen  zugeflossen  sind,  wenig  genug. 

Es  sind  nun  noch  Erhebungen  darüber  gemacht  worden: 
wie  viele  Arbeitslose  einer  Arbeiterorganisation  angehören 
und  wie  viele  von  ihnen  anderweitige  Unterstützung  be- 
zogen. Wir  entnehmen  ihnen  folgendes: 

Angaben  in  der  angedeuteten  Richtung  liegen  von  585 
Arbeitslosen  vor:  darunter  sind  nur  84  Mitglieder  von  Ar- 
beitervereinen. Einer  Kranken-  oder  ähnlichen  Kasse  ge- 
hören 143  an  (24  pCt.).  Die  anderen  stehen  jeder  Or- 
ganisation fern  und  sind  zweifelsohne  auch  politisch  durch- 
aus gleichgiltig.  Dagegen  wird  von  diesen  585  Personen 
beinahe  die  Hälfte  anderweitig  unterstützt.  Und  zwar  pro- 
fitiren  231  von  der  privaten  und  47  von  der  staatlichen 
Armenpflege. 

Die  Ergebnisse  dieser  Arbeitslosenstatistik  wurden  in 
der  Sitzung  des  Grossen  Stadrathes  vom  11.  März  disku- 
tirt.  Die  Diskussion  führte  zur  Annahme  folgenden  Be- 
schlusses: „Der  Stadtrath  (städtische  Verwaltungsbehörde) 

wird  eingeladen  zu  untersuchen  und  darüber  Bericht  zu 
erstatten,  in  welcher  Weise  für  die  Zukunft  der  Arbeits- 
losennoth  gesteuert  werden  kann.“  Ueber  die  Vorschläge, 
die  der  Stadtrath  zu  machen  gedenkt,  ist  bis  jetzt  noch 
nichts  bekannt  geworden. 

Zürich.  Otto  Lang. 

Arbeiterstatistik  des  Grossherzogthums  Hessen.  Mit 

Hilfe  des  vor  Kurzem  erschienenen  Jahresberichts  für  1892 
der  beiden  hessischen  Fabrikinspektoren  und  früherer  Re- 
ferate dieser  Aufsichtsbeamten  lässt  sich  für  die  letzten  sechs 
Jahre  eine  Uebersicht  über  die  Entwickelung  der  Arbeits- 
verhältnisse im  Grossherzogthum  Hessen  zusammenstellen. 
Dieses  Land  theilt  nämlich  mit  Sachsen,  neuerdings  Baden 
und  einigen  Kleinstaaten  das  Verdienst,  eine  regelmässige 
Arbeiterstatistik  zu  Zwecken  der  Fabrikinspektion  zu  führen. 
Nach  unseren  Zusammenstellungen,  die  bis  1886  zurück- 
reichen, zählte  Hessen  damals  38396  Fabrikarbeiter,  im 
Jahre  1892  aber  53988;  auch  dort  macht  also  die  industrielle 
Entwickelung  Riesenschritte.  Die  Zahl  der  Fabrikanlagen 
überhaupt  stieg  im  gleichen  Zeitraum  von  1054  auf  1592, 
darunter  merkwürdiger  Weise  relativ  am  stärksten  diejenige 
der  Anlagen  mit  Motoren  ohne  Dampf,  die  Zahl  der  An- 
lagen mit  Dampfbetrieb  von  665  auf  862,  sodass  also  mehr 
als  die  Hälfte  aller  Anlagen  mit  Dampf  arbeitet.  Die  Ver- 
schiebungen in  den  einzelnen  Arbeitskategorien  gestalteten 
sich  folgendermaassen : 


Erwachsene 

jugendliche 

kindliche  Arbeiter 

männl. 

weibl. 

zus. 

männl. 

weibl. 

zus. 

männl. 

weibl. 

zus. 

1886 

26  807 

7 790 

34  597 

2194 

1 500 

3 694 

66 

39 

105 

1888 

31  624 

8216 

39  840 

2 868 

1 406 

4 274 

63 

23 

86 

1890 

35  993 

9 547 

45  540 

3 151 

2 097 

5 248 

45 

58 

103 

1892 

38  594 

10  357 

48  951 

3 166 

1 832 

4 998 

18 

21 

39 

Im  Ganzen  und  Grossen  ist  dies  eine  ziemlich  normale 
Entwickelung:  Weder  die  Frauenbeschäftigung,  noch  die 

jugendliche  Arbeit  nahm  auf  Kosten  derjenigen  erwachsener 
männlicher  Arbeiter  unverhältnissmässig  zu,  und  die  Kinder- 
beschäftigung, die  schon  vorher  nicht  ausgedehnt  stattfand, 
fiel  1892  in  Folge  der  Bestimmungen  der  neuen  Gewerbe- 
ordnung ganz  beträchtlich;  hoffentlich  verschwindet  sie  für 
1894  vollständig.  Freilich  ist  eine  erschöpfende  Beurthei- 
lung  der  Entwickelung  erst  dann  möglich,  wenn  die  hessi- 
sche Arbeiterstatistik  nach  Berufsgruppen  getrennt  bearbeitet 
und  verglichen  wird;  vielleicht  geben  diese  Zeilen  die  An- 
regung dazu,  dass  dies  künftig  amtlich  geschieht. 

Maschinelles  Verfahren  bei  der  Lohnberechnung  in 
der  Wormser  Lederindustrie.  Ueber  eine  sehr  inter- 
essante Art  der  Lohnberechnung,  welche  das  Verfahren 
ausserordentlich  beschleunigt  und  vereinfacht,  berichtet  der 
Fabrikinspektor  Kraus  des  II.  hessischen  Aufsichtsbezirks 
in  seinem  neuen  Jahresbericht  für  1892  folgendermaassen: 
„In  einzelnen  Betrieben  des  Hauses  Cornelius  Heyl  in 
Worms  ist  seit  einiger  Zeit  ein  neues  Lohnverrechnungs- 
system probeweise  eingeführt,  welches  so  einfach  und  über- 
sichtlich arbeitet,  und  dabei  dem  Arbeiter  eine  so  absolut 
sichere  und  rasche  Kontrolle  seiner  zur  Verrechnung  no- 
tirten  Arbeitsleistung  ermöglicht,  dass  dieses  System  auch 
für  andere  industrielle  Kreise  von  Interesse  sein  dürfte. 
Die  Arbeiter  der  genannten  Firma  arbeiten  zum  weitaus 
grössten  Theil  in  Akkord  und  ist  die  Höhe  des  Lohnsatzes 
abgeleitet  von  der  Grösse  der  zu  bearbeitenden  Waare; 
es  werden  mehrere  Arbeitsgrössen  mit  gesonderten  Tarifen 
unterschieden.  An  der  Ausgabestelle  erhalten  nun  die  Ar- 
beiter die  zu  bearbeitende  Waare  in  Packeten,  welche  für 
die  verschiedenen  Arbeitsgrössen  mehr  oder  weniger  Stück- 
zahl enthalten,  immer  aber  so  viel,  dass  der  Lohn  füi  die 
Bearbeitung  ein  Mehrfaches  von.  10  Pf.  beträgt.  Mit  jedem 
Packet  wird  ein  kleiner,  fortlaufend  nummerirter  Zettel, 
ähnlich  den  Pferdebahnbillets,  verausgabt.  Dieser  Zettel 
enthält  die  Bezeichnung  der  zu  leistenden  Arbeit,  die  Stück- 
zahl des  Packets  und  die  Lohn-Einheiten  (10  Pf.),  welche 
nach  geleisteter  Arbeit  zur  Verrechnung  zu  kommen  haben. 
Ist  die  Waare  in  der  Werkstätte  bearbeitet,  dem  Aufseher 
zur  Durchsicht  vorgelegt  und  richtig  befunden  worden,  so 
wirft  dieser  den  Zettel  in  eine  Blechbüchse,  welche  den 
Namen  des  abliefernden  Arbeiters  trägt  und  setzt  den  Hebel 
eines  kleinen  Zählwerks,  welches  zur  Büchse  gehört,  so  oft 
in  Bewegung,  als  Lohneinheiten  auf  dem  Zettel  verzeichnet 
sind.  Im  Laufe  der  Woche  kommt  auf  diese  Weise  der 
Bruttolohn  eines  jeden  Arbeiters,  ausgedrückt  in  Zehn- 
pfennig-Einheiten in  das  ihm  zugehörige  Zählwerk  und  die 
betreffenden  Zettel  als  Belegstücke  zur  etwaigen  Kontrolle 
in  die  Blechbüchse.  Die  Büchsen  und  Zählwerke  sind  über- 
sichtlich in  einem  hübsch  ausgestatteten,  dicht  an  dem  Auf- 
sehertische stehenden,  sogenannten  Lohnschrank,  etwa  wie 
der  Billetschalter  einer  Eisenbahnstation  zusammengestellt. 
Die  Notirung  geht  rasch  vor  sich,  indem  der  Aufseher  den 
rechten  Arm  hebt  und  die  vorstehende  Taste  des  Zähl- 
werks in  Bewegung  setzt.  Der  Arbeiter  überzeugt  sich, 
dass  der  Apparat  von  dem  Aufseher  richtig  bedient  wird. 
Entstehen  Meinungsverschiedenheiten  über  die  Höhe  der 
Zahl  im  Zählwerk,  so  wird  der  Widerspruch  durch  den 
kontrollirenden  Beamten,  der  täglich  einmal  die  Werkstätte 
besucht,  aufgeklärt,  indem  dieser  die  Vorderwand  des 
Schrankes  heraushebt  (wozu  er  allein  den  Schlüssel  besitzt) 
und  die  Zahl  der  in  der  Büchse  Vorgefundenen  Zettel,  be- 
ziehungsweise der  auf  ihnen  aufgedruckten  Lohn-Einheiten, 
mit  der  Zahl  im  Zählwerk  vergleicht.  Der  Schrank  hat 
Glasthüren,  so  dass  jeder  Arbeiter  nicht  allein  seinen 
eigenen  bis  zur  Stunde  verdienten  Bruttolohn,  sondern  auch 
die  Löhne  aller  seiner  Mitarbeiter  übersehen  kann.  Es  ist 
die  Erfahrung  gemacht  worden,  dass  diese  offene  Buch- 
führung ungemein  erzieherisch  wirkt;  lässige  Leute  werden 
aufgerüttelt  und  durch  das  Besprechen  und  den  ständigen 
Vergleich  der  Verdienste  in  der  Werkstätte  wird  ein  reger 
Wetteifer  wachgerufen.  Während  bei  dem  früheren  Ver- 
rechnungswesen, wobei  der  Aufseher  den  Leuten  die  ab- 
gelieferte Stückzahl  aufschrieb  und  diese  tag-  und  wochen- 
weise zusammenstellte,  es  nicht  möglich  war,  alle  acht  Tage 
abzurechnen  und  aus  Verwaltungsrücksichten  Htägige  Ab- 


No.  39. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


467 


rechnungsperioden  mit  zwischenliegenden  Abschlagszahlun- 
gen gewählt  werden  mussten,  ist  das  Haus  bei  diesem 
System  im  Stande,  jede  Woche  abzurechnen.  Wochen- 
schluss ist  Freitag  Abends  5 Uhr,  Zahltag  Samstag  Vor- 
mittags. Die  Zahlungsliste  wird  in  der  Werkstätte  am  Lohn- 
schrank aufgestellt,  die  ßureauarbeit  beschränkt  sich  auf 
das  Vorschreiben  der  Namen.  Der  aufnehmende  Fabrik- 
schreiber, der  Aufseher  der  Werkstätte  und  zwei  von  den 
Arbeitern  gewählte  Vertrauenspersonen  treten  an  den  Lohn- 
schrank, der  Aufseher  liest  ab,  der  Beamte  schreibt  und 
die  Vertrauensleute  überwachen  richtige  Ablesung  und 
Niederschrift.  Ist  so  der  verdiente,  im  Zählwerk  ablesbare 
Bruttolohn  in  die  Zahlungsliste  eingesetzt,  so  werden  mit 
Hülfe  einer  Tabelle  diese  Löhne  um  die  Beiträge  zu  den 
bestehenden  Kassen,  der  Betriebskrankenkasse,  der  frei- 
willigen Krankenkasse,  sowie  um  die  Beiträge  der  Invalidi- 
täts-  und  Altersversicherung  gekürzt.  Um  dies  ohne  Zeit- 
verlust thun  zu  können  und  um  nicht  nöthig  zu  haben,  für 
jeden  einzelnen  Arbeiter  diese  Beiträge  in  die  Zahlungs- 
liste einzuführen,  und  um  Rechnungsarbeit  zu  sparen,  sind 
die  sogenannten  Versicherungsklassen  gebildet;  d.  h.  alle 
Arbeiter  sind  klassenweise  zusammengefasst,  die  gleiche 
Beiträge  in  die  verschiedenen  Kassen  einzuzahlen  haben. 
Beispielsweise  gehören  verheirathete  Männer  mit  hohen 
Löhnen,  welche  Mitglieder  aller  Kassen  sind  und  die  höchsten 
Stufen  zu  zahlen  haben,  zur  ersten  Versicherungsklasse; 
jugendliche  Arbeiter  unter  16  Jahren,  welche  gesetzlich 
der  Betriebskrankenkasse,  aber  noch  nicht  der  Invaliditäts- 
und Altersversicherung  angehören  und  ausserdem  nicht 
Mitglieder  der  freiwilligen  Krankenkasse  sind,  zur  letzten 
Versicherungsklasse.  Die  oben  angeführten  Tabellen,  welche 
bei  Aufstellung  der  Zahlungslisten  von  dem  Aufseher  und 
den  beiden  Vertrauensleuten  gehandhabt  werden,  sind  so 
eingerichtet,  dass  jede  Seite  derselben  eine  Versicherungs- 
klasse darstellt.  In  Hauptspalten  von  10  zu  10  Pfennigen 
weiterspringend,  sind  die  Löhne  von  10  Pf  bis  40  Mk.  ent- 
halten und  in  Nebenspalten  der  entsprechende  Lohn  nach 
Abzug  aller  die  jeweilige  Versicherungsklasse  umfassenden 
Beiträge  für  die  genannten  3 Kassen.  Hat  nun  bei  Auf- 
stellung der  Zahlungsliste  am  Freitag  Abend  die  Ablesung 
und  Niederschrift  des  Bruttolohnes  stattgefunden,  so  wird 
von  dem  Beamten  der  Reihenfolge  nach  dieser  Bruttolohn 
und  die  Versicherungsklasse  eines  jeden  Arbeiters  aufge- 
rufen und  von  den  Vertrauensleuten  aus  den  Tabellen  der 
zugehörige  Netto-Verdienst  genannt.  Diese  Arbeit  geht  so 
rasch  von  statten,  dass  in  einer  Viertelstunde  die  Zahlungs- 
liste einer  Werkstätte  von  30 — 40  Personen  vollendet  ist. 
Stattgehabte  Baar-Vorschüsse  werden  in  diesen  Listen  nicht 
getilgt,  Rückzahlungen  erfolgen  in  baar  nach  der  Lohn- 
zahlung am  Samstag  an  einen  einkassirenden  Beamten. 
Dieses  Verrechnungssystem  hat  sich  in  kürzester  Zeit  durch 
seine  Einfachheit  und  Klarheit  bei  den  Arbeitern  sehr  be- 
liebt gemacht,  denn  durch  die  Heranziehung  von  Arbeitern 
zur  Mithülfe  bei  Feststellung  des  Arbeitslohnes,  bei  der  ab- 
soluten Sicherheit  der  Zahlen  und  der  Leichtigkeit  der 
Kontrolle,  ist  die  anstandslose  Löhnung  grosser  Arbeits- 
betriebe gewährleistet.  Die  Kosten  des  Lohnschranks  und 
der  Drucksachen  werden  reichlich  aufgewogen  durch  die 
Entlastung  und  Vereinfachung  des  Aufsichts-  und  Verwal- 
tungs-Apparats.“ 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Gewerkschaftskartelle  in  Deutschland.  Eine  Anleitung 
zur  Bildung  örtlicher  Gewerkschaftskartelle,  welche  die  ge- 
meinsamen Angelegenheiten  der  Gewerkschaften  verschie- 
dener Branchen  in  einer  Stadt  berathen  und  regeln  sollen, 
veröffentlicht  nach  Hamburger  Muster  das  Korrespondenz- 
blatt der  gewerkschaftlichen  Generalkommission  in  Hamburg. 
Vorausgeschickt  wird,  dass  die  Errichtung  von  Gewerkschafts- 
kartellen in  Bundesstaaten  mit  rückständigem  Vereinsrecht 
und  in  solchen  mit  liberalerer  Vereinsgesetzgebung  ver- 
schieden erfolgen  muss.  Dort  können  die  Fachgewerk- 
schaften nur  Delegirte  ernennen,  zu  einer  Kommission  zu- 
sammentreten und  ihrerseits  einen  Vertrauensmann  als  Spitze 


wählen;  sie  dürfen  sich  nur  mit  rein  gewerkschaftlichen 
Fragen  beschäftigen.  Hier  ist  eine  grössere  Bewegungs- 
freiheit gegeben,  das  Kartell  kann  sich  als  Verein  mit  be- 
sonderen Statuten  konstituiren  und  den  Kreis  seiner  Thätig- 
keit  weiter  ziehen.  Zweck  der  Kartelle  soll  sein,  für  die 
Ausbreitung  und  Kräftigung  der  Gewerkschaften  zu  wirken, 
über  Ausstände  und  deren  Unterstützung  zu  entscheiden, 
für  Errichtung  gemeinsamer  Verkehrslokale  und  Auskunfts- 
bureaux  zu  sorgen,  den  Verkehr  mit  den  Gewerbegerichten 
(nicht  auch  mit  der  Fabrikinspektion?  D.  Red.)  zu  befördern, 
statistische  Lokalaufnahmen  durchzuführen,  das  Herbergs- 
wesen und  den  Arbeitsnachweis  zu  regeln  u.  s.  w.  Die 
Gewerkschaften  sind  eventuell  nach  einer  Urabstimmung  an 
die  Beschlüsse  des  Kartells  gebunden.  Die  Kosten  des 
Kartells  werden  in  Hamburg  durch  einen  Beitrag  von  5 Pfg. 
gedeckt,  den  jede  Gewerkschaft  vierteljährlich  pro  Mitglied 
entrichtet.  Strikeunterstützungen  werden  durch  Extra- 
sammlungen, Darlehen  u.  s.  w.  beschafft.  In  den  meisten 
grösseren  Städten  des  Reichs  bestehen  bereits  solche  Ge- 
werkschaftskartelle. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Die  Sonntagsruhe  in  Deutschland  und  die  Cigarrenläden. 

Die  Inhaber  von  Cigarrengeschätten  haben  seit  Ein- 
führung der  kaufmännischen  Sonntagsruhe  ganz  besonders 
über  Schädigung  ihrer  geschäftlichen  Interessen  durch  die 
Beschränkung  der  sonntäglichen  Geschäftszeit  auf  5 Stunden 
geklagt.  Gegenwärtig  wird  eine  ausführliche  Darstellung 
dieser  Schädigungen  auf  statistischer  Unterlage  in  den 
Zeitungen  verbreitet.  Ein  Vergleich  der  Sonntagseinnahmen 
nach  und  vor  Einführung  der  kaufmännischen  Sonntags- 
ruhe ergebe  einen  durchschnittlichen  Rückgang  von  30  M. 
Je  nach  dem  Umfange  der  Geschäfte  bedeute  dies  einen 
Ausfall  von  13y2 — 50  pCt.  Rechnet  man  60  Sonn-  und  Fest- 
tage im  Jahre,  so  mache  der  durchschittliche  Einnahme- 
ausfall 60x30=  1800  M.  Einen  solchen  Ausfall  könne  ein 
mittleres  Cigarrengeschäft  in  Berlin  nicht  ertragen.  Da  die- 
selben ihre  Miethsverträge  auf  längere  Zeit  abgeschlossen 
hätten,  so  befänden  sie  sich  in  einer  äusserst  bedrängten 
Lage.  Aber  diese  Bedrängniss  habe  weitergreifende  Folgen. 
Rechnet  man  den  Durchschnittspreis  der  Cigarre  auf  lünf 
Pfennig,  so  bedeute  der  durchschnittliche  Jahresrückgang 
von  1800  M.  in  einem  Geschäft  einen  Rückgang  im  Verkauf 
von  36000  Stück  Cigarren;  dies  ergebe  bei  den  2000  Ber- 
liner Cigarrenhändlern  für  Berlin  allein  einen  Minderverkauf 
von  72  Millionen  Cigarren.  Rechnet  man  selbst,  dass  da- 
von durch  die  Gastwirthe  verkauft  würde,  so  bleibt  immer 
noch  ein  Minderconsum  von  60  Millionen  Cigarren.  Da  in 
einer  Cigarrenfabrik  pro  Tag  und  Arbeiter  250  Cigarren 
hergestellt  würden,  so  käme  dieser  Ausfall  auf  eine  Minder- 
beschäftigung von  800  Arbeitern  hinaus,  die  also  dadurch 
brodlos  würden.  In  der  Vermehrung  der  sozialdemokra- 
tischen Stimmen  findet  das  Berliner  Tageblatt  den  Rück- 
schlag der  Missstimmung  aller  derer,  die  durch  die  Sonn- 
tagsruhe in  ihrer  Existenz  vernichtet  sind  oder  der  Ver- 
nichtung entgegengehen.  Endlich  steckt  in  den  60  Millionen 
Cigarren  ein  Minderbedarf  von  9000  Centner  Tabak.  Da- 
durch erleide  (in  Berlin  allein)  die  Reichskasse  einen  Aus- 
fall von  315000  M.  an  Tabakszoll,  und  die  Landessteuer- 
kassen würden  durch  die  verminderte  Steuerkraft  der 
Cigarrenhändler  ebenfalls  in  Mitleidenschaft  gezogan. 

Im  „Urbild  des  Tartüfte“  setzt  ein  Arzt  auseinander, 
welche  Folgen  es  haben  würde,  wenn  man  Molieres  Satiren 
gegen  die  Aerzte  auf  die  Bühne  zu  bringen  gestatten  würde. 
Das  Publikum  würde  das  Vertrauen  zu  den  Aerzten  ver- 
lieren und  ihre  Kunst  verschmähen;  die  Menschen  würden 
hinsterben  wie  die  Fliegen;  die  Wehrkraft  des  Landes 
würde  zurückgehen,  und  der  König  würde  keine  Armee 
mehr  auf  die  Beine  bringen. 

Auf  derselben  Höhe  der  Beweisführung  stehen  jene 
Ausführungen  der  Cigarrenhändler.  Die  auf  Erregung  des 
Mitleids  berechneten  Klagen  über  geschäftliche  Schädigung 
lassen  nirgends  erkennen,  ob  denn  nicht  der  Rückgang  des 
Einzelverkaufs  am  Sonntage  durch  eine  Zunahme  des 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  39. 


Kistchenverkaufs  während  der  Woche  zum  Theil  ausge- 
glichen würde.  Solange  nicht  eine  Uebersicht  über  die 
Gesammtlage  der  Geschäfte  gegeben  wird,  ist  über  den 
Umfang  der  geschäftlichen  Schädigung  nichts  zu  ersehen. 
— Was  ferner  den  Einflufs  auf  den  Rückgang  der  Tabaks- 
fabrikation betrifft,  so  stehen  diese  Schwarzmalereien  in 
Widerspruch  zu  einer  andern  Klage,  die  von  den  Cigarren- 
händlern ganz  besonders  betont  wird.  Sie  beschweren  sich 
mit  besonderem  Nachdruck,  dass  es  den  Gastwirthen,  die 
während  des  ganzen  Sonntags  ihre  Lokale  offen  haben, 
nicht  verwehrt  sei,  an  ihre  Gäste  Cigarren  zu  verkaufen, 
und  dass  so  am  Sonntag  das  Cigarrengesehäft  einfach  in 
die  Kneipe  wandere.  Wie  es  mit  der  unaufhörlichen  starken 
Betonung  dieser  Klage  zu  vereinbaren  sein  soll,  dass  die 
Gastwirthe  nur  1/e  der  Cigarren  absetzen,  die  früher  in  den 
Läden  verkauft  würden,  ist  nicht  recht  einzusehen.  Dass 
durch  Verminderung  der  Kaufgelegenheit  der  Konsum  ab- 
nimmt, wird  nicht  zu  bestreiten  sein.  Dass  aber,  wenn  die 
Kaufgelegenheit  noch  so  reichlich  bleibt,  wie  es  bei  der 
Menge  der  Berliner  Gastwirthschaften  der  Fall  ist,  diese 
(zusammengenommen  mit  Vorrathseinkäufen  in  der  Woche) 
nicht  ausreichen  sollte,  um  den  Konsum  annähernd  auf 
seiner  Höhe  zu  halten,  ist  in  keiner  Weise  zuzugeben. 

Die  menschenfreundliche  Rücksicht  auf  die  brodlos 
werdenden  Tabaksarbeiter,  sowie  auf  die  Rückgänge  der 
Reichs-  und  Staatseinnahmen  scheidet  einstweilen  aus  der 
Verhandlung  des  Gegenstandes  aus.  Die  Unannehmlichkeit, 
die  darin  liegt,  die  Kunden  an  Vorrathseinkäufe  während 
der  Woche  zu  gewöhnen,  theilen  die  Cigarrenläden  mit 
allen  andern  Geschäften.  Auch  sie  werden  ein  oder  zwei 
Jahre  warten  müssen,  bis  sie  nach  den  Jahresabschlüssen 
werden  beurtheilen  können,  in  wie  weit  die  Sonntagsruhe 
dem  Wochentagsgeschäft  zu  Gute  gekommen  ist.  Die  ein- 
zige Beschwerde  der  Cigarrenverkäufer,  die  etwas  Indivi- 
duelles hat,  ist  die  Ungleichmässigkeit,  die  darin  liegt,  dass 
der  Handel  mit  derselben  Waare  dem  Gastwirth  erlaubt  ist, 
während  sie  dem  Kaufmann  verboten  wird.  Allein  diese 
Ungleichmässigkeit  ist  darum  noch  keine  Ungerechtigkeit. 
Das  Verbot  der  Sonntagsarbeit  ist  im  Interesse  der  arbei- 
tenden Bevölkerung  ergangen.  Die  Ausnahme  von  dem 
Verbot,  das  Offenhalten  der  Gastwirthschaften,  ist  ebenfalls 
im  Interesse  der  Bevölkerung  gestattet.  So  wenig  wie  die 
Gastwirthsausnahme  aus  besonderer  Rücksicht  auf  die  Ge- 
schäftsinteressen des  Gastwirthschaftsbetriebes  entsprungen 
ist,  so  wenig  kann  eine  neue  Cigarrenausnahme  aus  Schonung 
für  die  Cigarrenverkäufer  eingeführt  werden.  Jeder  Betrieb 
muss  sich  den  Beschränkungen  unterwerfen,  die  im  Interesse 
der  Gesammtheit  nothwendig  sind. 

Die  Beförderung  der  Sonntagsruhe  ist  die  gemeinsame 
Angelegenheit  aller  sozialpolitischen  Richtungen.  Am  ent- 
schiedensten wird  dieselbe  betrieben  von  der  radikalsten 
sozialpolitischen  Partei,  nämlich  von  der  Sozialdemokratie. 
Wie  ein  Wähler  seinem  Missmuth  über  die  Sonntagsruhe 
dadurch  Ausdruck  geben  könne,  dass  er  für  den  radikalsten 
Vertreter  der  Sonntagsruhe  stimmt,  — das  ist  unerklärlich. 

Die  Sonntagsruhe  ist  Gesetz  im  Deutschen  Reich.  Es 
ist  aber  nachgerade  soweit  gekommen,  dass  Jeder,  der 
gegen  dieses  Gesetz  hetzt,  das  Recht  zu  haben  glaubt,  sich 
darum  als  eine  Stütze  des  Staates  zu  betrachten.  An  dieser 
Hetze  sind  keineswegs  bloss  die  Parteien  schuld,  die  auch 
jetzt  noch  naiv  genug  sind,  zu  meinen,  dem  „Volke“  einen 
Dienst  damit  zu  erweisen,  sondern  in  erster  Linie  die  Reichs- 
und Staatsbehörden,  welche  diese  herabwürdigende  Behand- 
lung einer  gesetzlichen  Institution  protegiren.  Wir  haben 
die  Art,  wie  den  Beschränkungen  der  kaufmännischen 
Sonntagsruhe  und  der  Vereitelung  der  Sonntagsruhe  in  In- 
dustrie und  Handwerk  Vorschub  geleistet  wird,  bereits 
wiederholt  gekennzeichnet.  Dieser  Tage  soll  in  Hannover 
einer  Deputation  von  Handlungsgehülfen  gegenüber  der 
preussische  Handelsminister  v.  Berlepsch  sich  als  Anhänger 
der  strikten  Durchführung  der  Sonntagsruhe  bekannt  und 
gerade  als  Beispiel  unzulässiger  Ausnahme  die  Cigarren- 
geschäfte genannt  haben,  da  eine  Ausnahme  eine  andere 
nach  sich  ziehe  und  schliesslich  die  ganze  Sonntagsruhe 
zu  Fall  bringen  würde.  Wir  wollen  ernstlich  hoffen,  dass 
diese  Nachricht  sich  in  vollem  Umfange  bewahrheite.  Aber 
wir  können  den  Zweifel  darüber  nicht  unterdrücken,  dass 
in  diesen  Worten  wirklich  die  Richtschnur  für  die  Weiter- 


entwicklung der  Sonntagsruhe  gegeben  sei.  Jedenfalls  ist 
ein  Zustand  unhaltbar,  in  welchem  von  Seiten  der  höchsten 
Behörde  einer  Deputation  der  Tabaksinteressenten  in  Aus- 
sicht gestellt  wird,  „im  Wege  gleichmässiger  Interpretation“ 
überall  im  Deutschen  Reiche  der  Tabak  für  ein  unentbehr- 
liches Genussmittel  zu  erklären  und  ein  Paar  Wochen  später 
einer  Deputation  von  Gehülfen  das  Gegentheil  in  Aussicht 
gestellt  wird. 

Ortsstatute  über  Lohnzahlung  an  Minderjährige. 

Durch  eine  soeben  ergangene  Verfügung  ersucht  jetzt  der 
preussische  Minister  für  Handel  und  Gewerbe  die  Regierungs- 
präsidenten, ihm  zu  berichten,  ob  und  in  welchem  Umfange 
Gemeinden  oder  weitere  Kommunalverbände  von  der  durch 
§ 119a  Abs.  2 Ziffer  2 und  3 der  Gewerbeordnung  ihnen 
beigelegten  Befugniss  zum  Erlass  statutarischer  Bestimmungen 
betreffend  die  Auszahlung  des  von  minderjährigen  Arbeitern 
verdienten  Lohnes  an  deren  Eltern  oder  Vormünder  Ge- 
brauch gemacht  und  wie  solche  Bestimmungen  sich  bewährt 
oder  aus  welchen  Gründen  sie  sich  nicht  bewährt  haben. 
Dabei  sei  gegebenen  Falles  eingehend  darzulegen,  welche 
Bedenken  einem  Vorgehen  der  Gemeinden  oder  weiteren 
Kommunalverbände  auf  diesem  Gebiet  etwa  entgegen- 
gestanden haben.  Unseres  Erachtens  müsste  eine  solche 
Umfrage  für  das  Gebiet  des  ganzen  Deutschen  Reichs; 
für  welches  der  § 119a  der  Gewerbe-Ordnung  gilt,  unter 
nommen  werden.  Dann  könnten  die  Verwaltungsbehörden 
aus  Sachsen  berichten,  dass  die  Gewerbetreibenden  von 
Glauchau -Meerane  kürzlich  solche  Bestimmungen  über 
Lohnzahlung  an  Minderjährige  abgelehnt  haben,  während 
umgekehrt  in  Baden  nach  dem  Vorgehen  der  Ortsbehörden 
in  Weinheim  von  oben  auf  das  Zustandekommen  derartiger 
Ortsstatute  hingewirkt  wird.  Uebrigens  haben  auch  in 
Preussen  die  Ortsbehörden  von  Königsberg,  sowie  die 
Kreisverwaltung  von  Merzig  den  Erlass  solcher  Be- 
stimmungen abgelehnt.  Das  Ganze  ist  eine  schlagende 
Illustration  zur  Buntscheckigkeit  der  Ausführung  der  neuen 
Gewerbeordnung  in  den  verschiedenen  Bundesstaaten. 


Gewerbegerichte,  Einigungsämter  und 
Arbeiterausschüsse. 

Vereinigung  der  Gewerbegerichte  Deutschlands.  Die  j 

Herren  Bürgermeister-Beigeordneter  Dr.  Gassner,  Vorsitzen- 
der des  Gewerbegerichts  von  Mainz,  und  Stadtrath  Dr.  Elesch, 
Vorsitzender  des  Gewerbegerichts  von  Frankfurt  a.  M.,  haben 
sich  bemüht,  im  Interesse  der  Rechtsorganisation,  wie  die- 
selbe in  dem  Reichsgesetz  vom  29.  Juli  1890  geschaffen 
wurde,  eine  Verbindung  aller  in  Deutschland  bestehenden 
Gewerbegerichte  anzubahnen.  In  dem  betreffenden  Ein- 
ladungsschreiben an  die  Gewerbegerichtsvorsitzenden  einer 
Anzahl  Städte  wurde  zunächst  darauf  hingewiesen,  dass 
das  praktische  summarische  Verfahren  der  Gewerbegerichte, 
sowie  die  Theilnahme  der  unbemittelten  Bevölkerung  an 
der  Rechtsprechung  immer  mehr  anerkannt  werde;  ebenso 
sei  auch  ihr  fortschreitender  Einfluss  auf  das  Verhältniss 
zwischen  Unternehmer  und  Arbeiter  und  auf  das  wirth- 
schaftliche  Leben  überhaupt  unverkennbar.  Um  nun  einen 
gegenseitigen  Austausch  der  gemachten  Erfahrungen,  vor 
wichtigen  Urtheilen,  Schiedssprüchen,  in  Einigungssachen, 
Jahresberichten,  Statistiken  etc.  zu  ermöglichen,  wäre  eine 
Verbindung  von  Werth.  Ehe  man  jedoch  dazu  überging, 
sämmtliche  Gewerbegerichte  des  Reichs  für  diese  Ver- 
bindung zu  interessiren,  wollte  man  zunächst  eine  Basis 
schaffen,  auf  der  man  weiter  zu  bauen  beabsichtigt,  und 
hatte  zu  diesem  Behufe  eine  Anzahl  Interessenten  benach- 
barter Städte  auf  Sonntag,  11.  Juni  zu  einer  Besprechung 
nach  Mainz  eingeladen.  Diese  Konferenz  fand  zur  fest- 
gesetzten Zeit  in  dem  geräumigen  Sitzungssaal  des  Gewerbe- 
gerichts statt  und  waren  Vertreter  von  Gewerbegerichten 
folgender  Städte  erschienen:  Mainz,  Frankfurt  am  Main, 
Karlsruhe,  Mannheim,  Wetzlar,  Hanau,  Wiesbaden,  Cann- 
statt, Stuttgart,  Kastei,  Biebrich-Mosbach,  Offenbach  und 
Kreuznach.  Heidelberg,  Ludwigshafen,  Bonn  und  Koblenz 
hatten  schriftlich  ihr  Ausbleiben  entschuldigt  und  ihre  Zu- 


No.  39. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


469 


Stimmung  erklärt.  Die  Verhandlung  zeigte,  dass  alle  An- 
wesenden die  angeregte  Verbindung  als  nothwendig  an- 
erkannten und  nur  in  unwesentlichen  Dingen  eine  Ab- 
weichung der  Ansichten  sich  ergab.  Einstimmig  sprach 
man  sich  für  die  geplante  Vereinigung  der  Gewerbegerichte 
Deutschlands  aus.  Zur  Leitung  der  Geschäfte  wurde  ein 
Ausschuss  von  vier  Personen  gewählt  und  in  denselben 
die  Herren  Dr.  Gassner-Mainz  für  Hessen,  Stadtrath 
Dr.  Flesch-Frankfurt  für  Preussen,  Bürgermeister  Boekh- 
Karlsruhe  für  Baden  und  Bürgermeister  Lautenschläger- 
Stuttgart  für  Württemberg  bestimmt.  Ein  Vertreter  für 
Bayern  soll  später  gewählt,  ebenso  wird  der  Ausschuss  nach 
Bedürfniss  eine  Erweiterung  erfahren.  Weiter  wurde  be- 
schlossen, der  geschaffenen  Vereinigung  eine  zu  grosse 
Ausdehnung  vorerst  nicht  zu  geben,  sondern  dieselbe  zu- 
nächst nur  auf  Mittel-  und  Süddeutschland  auszudehnen, 
doch  wurde  die  Erwartung  ausgesprochen,  dass  es  gelingen 
werde,  auch  alle  anderen  Gewerbegerichte  zu  der  Ver- 
bindung heranzuziehen.  Dieselbe  umfasst  bis  jetzt  die 
Gewerbegerichte  folgender  21  Städte:  Bonn,  Biebrich- 

Mosbach,  Cannstatt,  Coblenz,  Frankfurt  a.  M.,  Hanau, 
Heidelberg,  Höchst,  Karlsruhe,  Kastei,  Kaiserslautern, 
Kreuznach,  Ludwigshafen,  Mainz,  Mannheim,  Monrbach, 
Offenbach,  Pforzheim,  Stuttgart,  Wetzlar  und  Wiesbaden, 
Als  Organ  der  Vereinigung  wurden  die  in  Frankfurt  er- 
scheinenden Blätter  für  soziale  Praxis  gewählt.  Es  ist  so- 
mit eine  Vereinigung  verschiedener  Gewerbegerichte  ge- 
schaffen, welche  unverkennbaren  Vortheil  bieten  wird,  wenn 
dieselbe  sich  frei  hält  von  jenem  bureaukratischen  Zuge, 
der  ähnlichen  Verbindungen  anhaftet. 

Haftpflicht  in  England.  Wir  hatten  in  No.  32  (S.  386) 
dieser  Zeitschrift  auf  denjenigen  Punkt  des  neuen  englischen 
Haftpflichtgesetzes  aufmerksam  gemacht,  der  voraussichtlich 
zuDebattenVeranlassung  geben  würde:  die  Frage,  ob  ein  Kon- 
trakt „ausserhalb  des  Gesetzes“,  d.  h.  unterVerzicht  auf  die  ge- 
setzliche Entschädigung  seitens  des  Unternehmers,  zulässig 
sein  solle.  Am  1.  Juni  stand  in  der  Kommission  diese 
Frage  zur  Berathung.  Mc.  Lärm  hatte  den  Antrag  gestellt, 
dass  eine  Ausnahme  vom  allgemeinen  Prinzip  dann  zu- 
gelassen werden  solle,  wenn  die  betreffenden  Arbeiter 
Mitglieder  einer  von  den  Unternehmern  unterstützten  Unfall- 
versicherungskassen seien.  Die  Arbeiter  eines  Geschäftes 
sollten  dann  durch  Ballotement  sich  entscheiden,  ob  sie 
ihre  Ansprüche  an  diese  Kasse  oder  ihre  Rechte  auf  Ent- 
schädigung durch  den  Arbeitgeber  aufgeben  wollten.  Der 
Staatssekretär  des  Innern  machte  auf  die  Missbräuche  auf- 
merksam, welche  aus  dieser  Ausnahme  entstehen  könnten, 
indem  er  andererseits  zugleich  lebhaft  den  Schaden  be- 
dauerte, den  die  freiwilligen  Ilülfskassen  im  Falle  der  Nicht- 
zulassung von  Ausnahmen  nehmen  würden.  Der  Antrag 
wurde  mit  27  gegen  7 Stimmen  abgelehnt. 

Englische  Bill  über  Einigungsämter.  Nach  mancherlei 
vergeblichen  Anläufen  ist  nunmehr  vom  Präsidenten  des 
Handelsgerichtes  Mundelia,  der  schon  früher  um  die  Eini- 
gung in  Streitigkeiten  zwischen  Arbeitern  und  Arbeitgebern 
nicht  ohne  Erfolg  bemüht  war,  ein  Gesetzentwurf,  betreffend 
Einigung  und  Schiedsgericht  (conciliation  and  arbitration) 
in  solchen  Streitfällen,  eingebracht  worden.  Derselbe  wird 
von  Burt  und  Asquith  (Staatssekretär  des  Innern)  als  Re- 
gierungsvertretern unterstützt. 

Der  Inhalt  der  Bill  lautet  in  der  Hauptsache  folgender- 
maassen: 

1.  Das  Handelsgericht  soll  ermächtigt  werden,  auf 
Antrag  eines  Arbeitgebers  oder  Arbeiters  einen  Vermittler 
oder  ein  Einigungsamt  einzusetzen,  um  die  Ursachen  des 
Streites  durch  Vernehmung  der  Parteien  oder  sonstwie 
zu  ermitteln  und  eine  friedliche  Beilegung  des  Streites 
zu  versuchen. 

2.  Es  soll  ferner  ermächtigt  werden,  in  jedem  Distrikt 
oder  Gewerbe,  in  welchem  Streitigkeiten  häufiger  Vor- 
kommen und  wo  es  an  geeigneten  Mitteln,  ein  lokales 
Einigungsamt  zu  Stande  zu  bringen,  fehlt,  Personen  zu 
ernennen,  welche  die  Lage  des  Gewerbes  zu  untersuchen 
und  mit  Arbeitgebern  und  Arbeitern  zu  verhandeln  haben 
zum  Zwecke,  ein  Schiedsgericht,  zusammengesetzt  aus 
Vertretern  beider  Parteien,  zu  bilden. 


3.  Es  soll  bei  passender  Gelegenheit  ein  Verzeichniss 
über  diese  Einigungsämter  und  Schiedsgerichte  auf- 
genommen und  vom  Handelsgericht  fortgeführt  werden. 

4.  Endlich  sollen  Berichte  über  dieselben  publizirt 
und  dem  Parlament  vorgelegt  werden. 

Das  wesentlich  Neue  an  dieser  Bill  ist,  dass  die  Initia- 
tive, die  bisher  in  Händen  von  Privaten  lag,  dem  I Iandels- 
gericht  übertragen  wird.  Der  allgemeinen  Tendenz  der 
englischen  Gesetzgebung  in  diesen  Dingen  folgend,  be- 
mühte man  sich  bisher,  Alles  auf  den  Arbeitsvertrag  zu  be- 
gründen und  strebte  dahin,  dass  in  diesem  die  gegenseitige 
Verpflichtung,  bei  Streitfällen  das  Urtheil  von  Schiedsgerich- 
ten anzurufen  und  sich  deren  Entscheidung  zu  unterwerfen, 
aufgenommen  würde.  Ob  dieses  geschehen  ist  oder  nicht, 
darüber  setzt  sich  der  neue  Gesetzentwurf  hinweg. 

Von  mehreren  Seiten  macht  man  der  Bill  den  Vorwurf, 
dass  sie  geflissentlich  ihre  Vorgänger  ignorire  und  sich 
nicht  darüber  ausspreche,  ob  und  wieweit  die  früheren,  den- 
selben Gegenstand  betreffenden  Gesetze  — die  mit  juristi- 
scher Gelehrsamkeit  von  den  Zeiten  Jakobs  I.  an  alle  auf- 
gezählt werden  — Gültigkeit  behalten  sollen.  Da  thatsäch- 
lich  ein  Konflikt  mit  älteren  Gesetzen  kaum  zu  befürchten 
ist,  so  scheint  uns  dieser  Vorwurf  weniger  berechtigt  als 
ein  anderer,  der  nicht  gemacht  wird:  es  war  seit  je  eine 
Streitfrage,  ob  die  Unterwerfung  unter  einen  Schiedsspruch 
rechtlich  erzwungen  werden  könne  (insbesondere  ob  hier 
5 George  IV.  c.  96  vom  Jahre  1824  anwendbar  sei).  Es  wäre 
zu  wünschen,  dass  das  neue  Gesetz  sich  über  diesen  Punkt 
unzweideutig  ausspräche. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung. 

Die  Wohnqualität  bei  der  Leipziger  Arbeiterbevölkerung . 

Wie  alljährlich,  so  enthält  auch  heuer  der  Verwaltungs- 
tungsbericht  des  Rathes  der  Stadt  Leipzig  (für  das  Jahr 
1891;  Leipzig,  Duncker  & Humblot,  1893,  906  S.)  unter 
anderen  werthvollen  Mittheilungen  ganz  ausgezeichnete  Bei- 
träge aus  dem  städtischen  statistischen  Amte.  In  dem  vor- 
liegenden Jahrgange  bringt  der  Direktor,  Prof.  Hasse, 
namentlich  im  IV.  Abschnitt  („Bevölkerung“)  eine  höchst 
charakteristische  Darstellung  der  Wohnqualität  der  Be- 
völkerung, d.  h.  der  Art  und  Weise  des  familienhaften  und 
familienfremden  Wohnens,  letzteres  geschieden  nach  dem 
Wohnen  beim  Meister,  als  Miether  und  als  Schlafperson, 
und  zwar  hinsichtlich  der  einzelnen  Berufsarten  im  Einzelnen. 
Aus  den  beiden  Tabellen  102  und  103,  welche  sich  mit 
dieser  Frage  befassen,  geben  wir  in  folgendem  2 Auszüge, 
von  denen  sich  der  erste  auf  die  männliche  und  der  zweite 
auf  die  weibliche  Bevölkerung  bezieht;  bezüglich  der  Stellung 
zum  Berufe  kommt  hierbei  nur  die  Kategorie  c (Gesellen, 
Gehilfen,  Lehrlinge,  Fabriks-,  Lohn-  und  Tagearbeiter,  ein- 
schliesslich der  im  Gewerbe  thätigen  Familienangehörigen 
und  Dienenden)  in  Betracht  und  möge  kurzweg  mit  der 
Bezeichnung  „Arbeiter“  resp.  „Arbeiterin“  versehen  werden. 
Den  Angaben  sind  Volkszählungsergebnisse  vom  Jahre  1890 
zu  Grunde  gelegt. 

(Vgl.  die  Tabelle  I auf  der  folgenden  Seite.) 

Die  Sitte,  dass  der  Gehilfe,  namentlich  der  Geselle 
und  Lehrling  beim  Meister  wohne,  besteht  nicht  mehr  (nur 
8pCt.  der  Arbeiter  wohnen  beim  Arbeitgeber).  Als  letzte 
Ueberreste  finden  wir  die  Zustände  bei  den  Schneidern, 
Schuhmachern  und  in  sonstigen  Bekleidungsgewerben,  wo 
der  Prozentsatz  immerhin  auf  10 — 25  steigt,  während  er 
sonst  allgemein  ganz  verschwindend  ist  und  1 — 3 beträgt. 
Dagegen  ist  eine  andei'e  Ursache  des  Wohnens  beim  Arbeit- 
geber eingetreten,  nämlich  die  Anforderung  des  Ge- 
werbes. Dort,  wo  der  Arbeiter  heute  im  Hause  des 
Arbeitgebers  wohnt,  wohnt  er  nicht  beim  Unternehmer, 
sondern  beim  Unternehmen;  so  in  der  Hälfte  der  ge- 
sammten  zugehörigen  Arbeiterzahl  in  den  Restaurants, 
Schänken,  Hotels  u.  dgl.,  dann  zu  4/s  der  Zahl  in  der 
Nähe  der  Backstuben.  Welche  Wohnqualität  an  Stelle 
dieser  alten  Gewerbsgewohnheit  getreten  ist,  kann  leicht 
aus  der  Kolonne  „Schlafleute“  entnommen  werden.  Während 


470 


ZSOIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  39. 


I.  Arbeiter 


c 

O» 

Von  je 

100  Arbeitern  wohnen 

Berufsarten 

a> 

tr 

& 

c 

in  fremd.  Haushal- 
tungen u.  zwar  als 

> 
3 “ 

> 

*-! 

er 

2. 

oT 

Gewerbs- 

gehilfen 

Zimmer- 

miether 

; Schlafleute 

Familien- 

tglieder 

Näherei,  Schneidererei,  Kon- 
fektion   

2 021 

10,9 

7,4 

36,3 

45,4 

Schuhmacherei 

1 306 

19.5 

4,2 

43,2 

33,1 

Sonstige  Bekleidungs-  und 
Reinigungsgewerbe  . . . 

1 263 

25,1 

3,5 

12.6 

58,8 

Baugewerbe 

12  087 

1,1 

2,7 

26,0 

70,2 

Polygraphische  Gewerbe  . . 

5 465 

0,3 

5.8 

12,7 

81,2 

Schlosserei 

3 953 

3,3 

4.0 

27,6 

65,1 

Sonstige  Eisenverarbeitung  . 

1 750 

4,5 

2,9 

27,9 

64,7 

Maschinenfabriken  .... 

2 245 

0,3 

2,3 

19,4 

78.0 

Schiffsbau  etc 

1 595 

2.1 

4,1 

21,2 

72,6 

Spinnerei  und  Weberei,  Blei- 
cherei , Appretur  (fabrik- 
mässig) 

1 136 

0,8 

2.6 

24,5 

72,1 

Buchbinder  und  Kartonage- 
waarenfabriken 

2 237 

1,7 

4,5 

25.1 

68,7 

Tischlerei 

2 949 

4,7 

3,3 

23,3 

66,7 

Bäckerei  und  Konditorei  . . 

1 403 

73,3 

1,3 

9.0 

16,4 

Warenhandel 

4 278 

7,7 

8,8 

17.0 

66,5 

Post-,  Eisenbahn-  und  Land- 
verkehr   

5 118 

4,5 

4,2 

16,2 

75,1 

Beherbergung  u.  Erquickung 

2 1 16 

48,5 

4,7 

16,9 

29.9 

Lohnarbeit  wechselnder  Art 

221 1 

1.8 

3,4 

16.3 

78,5 

Alle  Arbeiter  überhaupt  auch 
in  den  hier  nicht  genannten 
Berufen 

65  550 

8,1 

4,2 

21,3 

66,4 

nur  noch  8 pCt.  der  Arbeiter  beim  Arbeitgeber  wohnen, 
sind  es  im  allgemeinen  Durchschnitt  über  20pCt.,  die  als 
Schlafleute  ihr  Unterkommen  finden.  Deren  Antheil  steigt  in 
den  schlechter  situirten  Klassen,  wie  bei  den  Schneidern  und 
Schustern  auf  ’/3  und  fast  auf  I/2  der  Gesammtzahl  an, 
während  er  in  anscheinend  gleichem  Verhältniss  der  Zahl 
sich  in  den  beiden  Grenzen  20 — 30  pCt.  und  10— 20pCt.  be- 
wegt, wobei  aber  ein  Herabsinken  unter  16  sehr  selten  ist. 
Das  ist  somit  der  heutige  Typus  des  Wohnens  städtischer 
Arbeiter  dann  , wenn  sie  nicht  in  der  eigenen  Familie 
wohnen,  was  im  Durchschnitte  in  2/3  der  Gesammtfälle  vor- 
kommt. 

Die  analogen  Verhältnisse  beim  weiblichen  Geschlechte 
zeigt  die  folgende  Uebersicht. 

II.  Arbeiterinnen. 


Von  je  1 00  Arbeiterinn.  wohnen 

Ueber- 

haupt 

in  fremden  Haus- 
haltungen u.  zwar  als 

als 

Berufsarten 

Ar- 

beite- 

rinnen 

Gewerbs- 

gehilfinnen 

Zimmer- 

mietherinnen 

Schlafleute 

Fa- 

milien- 

glieder 

Spinnerei  und  Weberei  (fabrik- 
mässig) 

1 970 

0,1 

81,2 

41,1 

50,6 

Buchbinderei  und  Kartonage- 
waarenfabrikation 

1 332 

_ 

6.5 

26,4 

67,1 

Näherei,  Schneiderei,  Konfektion 

2 209 

0,3 

11,7 

23,9 

64,1 

Sonstige  Bekleidungs  - und 
Reinigungsgewerbe  .... 

1 172 

1,5 

9,6 

18,7 

70,2 

Polygraphische  Gerwerbe  . . 

1 497 

0,2 

7,0 

26.8 

66,0 

Waarenhandel 

1 166 

9,5 

10,9 

1 1,7 

67,9 

Beherbergung  und  Erquickung 

1 221 

83.2 

2,4 

5,7 

8,7 

Alle  Arbeiterinnen  überhaupt, 
auch  in  den  hier  nicht  ge- 
nannten Berufen 

14  683 

9,0 

8,3 

25,2 

57,5 

Auch  hier  sind  es  im  allgemeinen  dieselben  Antheile 
bezüglich  der  beim  Arbeitgeber  Wohnenden,  welche  9 pCt. 
der  Gesammtzahl  betragen.  Da  von  einer  alten  Sitte,  wie 
bezüglich  der  Arbeiter  die  Rede  nicht  sein  kann,  so  sind  es 
ausschliesslich  die  Anforderungen  des  Unternehmens,  welche 


da  in  Betracht  kommen.  Die  weiblichen  Bediensteten  im  Gast- 
gewerbe, die  Schank-  und  Hötelmädchen  etc.  wohnen  fast 
alle  in  den  Räumen  des  Geschäftes  (83,2  pCt.)  und  auch  im 
Waarenhandel  ist  die  Zahl  ziemlich  hoch  (9  pCt.);  sonst 
bewegt  sie  sich  um  0.  Auch  der  Antheil  der  weiblichen 
Schlafleute  ist  ein  grösserer  und  zwar  erheblich  grösserer 
als  jener  der  männlichen;  sind  es  dort  J/s,  so  sind  es  hier 
'/ 4 aller,  welche  in  Betracht  kommen  und  zwar  namentlich 
in  der  Textilindustrie,  wo  bald  die  Hälfte  aller  Arbeiterinnen 
als  Schlafpersonen  gezählt  wurden.  Sonst  gelten  so  ziem- 
lich dieselben  Verhältnisse  wie  beim  männlichen  Geschlecht. 
Ein  erheblicher  Unterschied  liegt  jedoch  in  der  grösseren 
Häufigkeit  der  Arbeiterinnen,  welche  als  Mietherinnen  in 
Betracht  kommen  (männliche  4,2  pCt.,  weibliche  8,3  pCt.). 
Das  gilt  namentlich  bezüglich  der  Konfektionärinnen  resp. 
Schneidermädchen  (12  pCt.)  und  der  Verkäuferinnen  resp. 
Ladenmädchen  etc.  (11  pCt.).  Was  hier  die  Ursache  sein 
mag,  ob  eine  bessere  Situation,  mehr  Vorliebe  für  ein 
eigenes  Heim  oder  andere  Verhältnisse,  kann  schwer  gesagt 
werden.  Endlich  möchte  ich  noch  bemerken,  was  ent- 
schieden als  auffallend  und  vielleicht  nicht  gerade  als 
günstige  Erscheinung  in  Betracht  kommt,  dass  der  Antheil 
der  in  der  Familie  wohnenden  weiblichen  Arbeiter  (57,5  pCt.) 
bedeutend  kleiner  ist  als  jene  der  männlichen  (66,4).  Aller- 
dings liegt  dieser  Depression  der  Durchschnittszahl  einer- 
seits das  enorm  hohe  Prozent  der  in  Gasthäusern  aller  Art 
wohnenden  Frauenspersonen  und  der  hohe  Antheil  der 
Schlafleute  bei  den  Textilarbeiterinnen  zu  Grunde,  welche 
beide  Gruppen  überdies  absolut  stark  besetzt  sind.  Ab- 
gesehen davon,  dürfte  das  Wohnen  ausserhalb  der  Familie 
vielleicht  annähernd  ebenso  häufig  bei  den  weiblichen,  wie 
bei  den  männlichen  Arbeitern  anzutreffen  sein,  ein  Beweis, 
welch  gründliche  Umwälzung  in  der  Stellung  des  arbeiten- 
den Weibes  in  sozialer  Hinsicht  vor  sich  gegangen  ist. 


Schulwesen. 

Erziehungswesen  in  den  Vereinigten  Staaten. 

Eine  durch  viele  Detailangaben  interessante  Darstellung 
dieses  Gegenstandes  bringt  der  Economiste  Francais  vom 
10.  Juni.  Die  hier  mitgetheilten  Daten  sind  dem  Rapport  ent- 
nommen, welchen  Herr  Passy,  der  vom  französischen  Unter- 
richtsminister zum  Studium  des  amerikanischen  Erziehungs- 
wesens über  den  Ozean  gesendet  worden  war,  1885  ver-  ; 
öffentlichte,  ferner  dem  Censusberichte  von  1890  und  dem 
Buche  eines  katholischen  Schriftstellers,  de  Meaux  ,,1’eglise 
catholique  et  la  liberte  aux  Etats  - Unis“.  Die  Energie,  mit 
welcher  das  Schulwesen  in  den  Vereinigten  Staaten  ent- 
wickelt wird,  erscheint  bewunderungswürdig.  Würde  nicht 
merkwürdiger  Weise  noch  immer  der  Schulzwang  fehlen 
(der  übrigens  bei  der  ökonomisch  besseren  Stellung  der 
amerikanischen  Arbeiter  dort  vielleicht  nicht  eben  so  drin- 
gend nothwendig  wie  in  Europa  ist),  dann  marschirten 
zweifellos  auch  in  dieser  Beziehung  die  Vereinigten  Staaten 
bereits  an  der  Spitze  der  Zivilisation;  die  Schulverhältnisse 
Preussens  und  Deutschlands,  das  zu  Gunsten  des  Militarismus 
dem  Schulwesen  durchaus  unzulängliche  Mittel  darbietet, 
die  Lehrer  jämmerlich  besoldet  und  nach  amtlicher  Fest- 
stellung nahezu  2 Millionen  preussische  Kinder  in  überfüllten 
Schulklassen  unterrichten  lässt,  erscheinen,  an  dem  ameri- 
kanischen Maassstab  gemessen,  ganz  besonders  kümmerlich. 
Eine  irgendwie  ernsthafte  Sozialreform  müsste  vor  allen 
Dingen  auch  an  diesem  Punkte  den  Hebel  einsetzen. 

Ein  charakteristisches  Merkzeichen  des  amerikanischen 
Schulwesens  ist  die  vollkommene  Decentralisation.  Die 
Vereinigten  Staaten  besitzen  überhaupt  kein  Ministerium  des 
öffentlichen  Unterrichts;  die  Centralgewalt  beschränkt  sich 
auf  ein  Bureau  für  Kontrolle,  Oberaufsicht  und  Statistik  in 
Washington,  auf  Inspektoren,  welche  die  verschiedenen 
Staaten  zu  besuchen  und  an  den  Kongress  über  den  Stand 
des  Schulwesens  daselbst  Bericht  zu  erstatten  haben,  endlich 
auf  eine  Anzahl  von  Musterschulen,  die  vom  Staate  unter- 
halten werden  und  zu  denen  freier  Zutritt  gestattet  ist. 
Alle  übrigen  Funktionen  fallen  den  einzelnen  Staaten,  den 
Counties,  Städten  und  Gemeinden  anheim.  Der  Zug  der 


No.  39. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


471 


öffentlichen  Meinung  geht  überdies  dahin,  den  unmittelbaren 
Einfluss  der  Städte  und  Gemeinden  mehr  und  mehr  zu  er- 
höhen. Hier  in  den  Städten  und  Gemeinden  wählt  die  Be- 
völkerung, die  Frauen  oft  mit  einbegriffen,  Lehrer,  Lehre- 
rinnen und  Schulbeamten  selbst,  so  dass  dieses  wichtige 
Gebiet  dem  Parteigetriebe  entzogen  ist. 

Trotz  dieser  weitgehenden  Dezentralisation  herrscht 
nach  dem  Berichte  Passy's  eine  genügende  Gleichmässig- 
keit  des  Unterrichts;  der  nationale,  öffentliche  freilich,  wie 
bereits  hervorgehoben,  nicht  obligatorische  Unterricht  findet 
in  den  ungraded  und  den  graded  schools  statt.  Die  ersteren, 
noch  recht  primitiv  eingerichtet,  sind  vor  allem  natürlich  in 
den  entlegenen  Gegenden  des  Westens  vertreten.  Sie  be- 
stehen nur  je  aus  einer  einzigen,  Mädchen  wie  Knaben  um- 
fassenden Klasse,  die  von  einem  einzigen  Lehrer  oder  einer 
Lehrerin  unterrichtet  wird.  Der  Unterricht  dauert  nicht 
länger  als  sechs  Monate  pro  Jahr.  Weit  höher  stehen  die 
graded  schools,  die  sich  aus  vier  Abtheilungen,  den  Kinder- 
schulen, den  primary,  grammar  und  high  schools  zusammen- 
setzen. In  den  drei  letzten  Abtheilungen  dauert  der  Kursus 
je  vier  Jahre,  so  dass  der  Gesammtkursus,  von  den  Kinder- 
schulen abgesehen,  sich  auf  12  Jahre  erstreckt.  Im  ersten 
dieser  Kurse  wird  Schreiben,  Lesen,  Rechnen,  Englisch, 
Deutsch,  Zeichnen,  Singen,  Geographie  und  Moral  gelehrt; 
im  zweiten  treten  als  neue  Unterrichtsgegenstände  Ge- 
schichte, Arithmetik,  Algebra  und  Naturkunde  hinzu;  im 
dritten  ausserdem  noch  Nationalökonomie  , Naturwissen- 
schaften, Logik,  Griechisch,  Latein  und  ein  paar  andere 
Fächer.  Doch  wechseln  die  Gegenstände  innerhalb  gewisser 
Grenzen  je  nach  den  verschiedenen  Staaten.  So  wird  z.  B. 
im  Süden  statt  des  Deutschen  Französisch  und  Spanisch 
unterrichtet,  doch  ist  das  Deutsche  gegen  sie  im  Vordringen. 
Der  ganze  Unterricht  in  den  ungraded  wie  den  graded 
schools  ist,  wenn  auch  nicht  obligatorisch,  so  doch  unent- 
geltlich. Eine  Staatsprüfung  findet  nicht  statt.  Je  nach 
dem  Belieben  und  den  ökonomischen  Verhältnissen  der 
Eltern  treten  die  Kinder  nach  dem  ersten,  dem  zweiten 
oder  dem  dritten  Kursus  aus  der  Schule  aus.  Wie  schon 
aus  dem  mitgetheilten  Lehrplane  ersichtlich,  sind  die  Schulen 
konfessionslos,  obgleich  ein  gewisser  allgemeiner  Moral- 
unterricht im  christlichen  Sinne  ertheilt,  die  Bibel  gelesen 
und  auch  gebetet  wird;  Knaben  und  Mädchen  werden  zu- 
sammen unterrichtet,  eine  Einrichtung,  die  sich  sehr  gut 
bewährt  hat;  Arbeiter-  wie  Kapitalistenkinder  sitzen  auf  der 
Schulbank  friedlich  zusammen,  während  bei  uns  die  wider- 
wärtigen Klassenunterschiede  schon  in  der  Trennung  der 
Schulen  zum  Ausdruck  kommen  und  bereits  das  Kindes- 
alter auseinanderreissen.  Bei  der  vollständigen  Schulfrei- 
heit, welche  herrscht,  fehlt  es  natürlich  auch  nicht  an  Re- 
aktionen gegen  die  Konfessionslosigkeit  des  Unterrichtes. 
So  errichten  Sekten,  wenn  sie  an  einem  Orte  zahlreich 
genug  vertreten  sind,  für  ihre  Angehörigen  öfters  besondere 
Schulen  mit  streng  konfessionellem  Charakter. 

Ergänzt  werden  die  graded  und  ungraded  schools  durch 
233  Normalschulen,  welche  private  Assoziationen  unter- 
halten. Von  1871 — 1882  hat  sich  die  Zahl  dieser  Anstalten 
allein  von  65  mit  10  922  auf  233  mit  51  132  Schülern  ge- 
hoben. Die  Gesammtschülerzahl  in  der  Union  dagegen  be- 
lief sich  im  Jahre  1888  auf  13  Millionen,  von  denen  im 
Durchschnitt  immer  9 Millionen  präsent  waren,  die  Zahl 
der  Lehrer  betrug  128  000,  die  der  Lehrerinnen  219  000. 
Immerhin  blieb  ein  Rest  von  2 000  000  ohne  Unterricht. 

Das  anschaulichste  Bild  von  der  Bedeutung  des  amerika- 
nischen Schulwesens  giebt  indess  ein  Blick  auf  die  soliden 
ökonomischen  Grundlagen  desselben.  Die  Gesammtausgabe 
für  alle  öffentlichen  Schulen  belief  sich  im  Jahre  1890/91 
auf  148  724  647  Millionen  Dollars,  eine  kolossale  Summe, 
die  aber  trotzdem  ohne  jeden  merklichen  Steuerdruck  auf- 
gebracht wird.  Zum  grösseren  Theil  fliesst  nämlich  das 
Geld  aus  dem  Grundbesitz  der  Schulen,  der  ihnen  durch 
Gesetze  vom  Jahre  1785  und  1787  zugetheilt  worden  ist. 
Es  wurde  damals  festgesetzt,  dass  der  36.  Theil  der  öffent- 
lichen Ländereien  Eigenthum,  und  zwar  unveräusser- 
liches Eigenthum  der  Schulen  sein  sollte.  In  den 
nach  1848  zugekommenen  Staaten  ist  sogar  der  18.  Theil 
der  Ländereien  dem  Schulfonds  zugetheilt.  Auf  diese 
Weise  verfügt  die  amerikanische  Schule  jetzt  über  einen 


Grundbesitz  von  75  Millionen  Hektar,  d.  h.  über  ein  Gebiet, 
das  etwa  1 lj2  mal  so  gross  wie  das  moderne  Frankreich 
ist.  Die  Verwaltung  desselben  kommt  gleichfalls  nicht  dem 
Staate  zu,  sondern  ist  lokal  organisirt.  Neben  dieser  un- 
erschöpflichen Reichthumsquelle  sind  ferner  den  Schulen 
noch  Erträge  aus  der  Getränkesteuer  sowie  aus  staatlichen 
und  lokalen  Sondertaxen  zugewiesen.  Auch  sind  die  Privat- 
gaben und  Stiftungen  für  Schulzwecke  oft  ganz  enorm,  die 
Dotation  Peabody's  z.  B.  repräsentirt  allein  eine  Revenüe 
von  2 Millionen  Dollars.  Wie  mächtig  die  Schulausgaben 
von  Jahr  zu  Jahr  wachsen,  geht  auch  daraus  hervor,  dass 
Passy  sie  für  das  Jahr  1882  erst  auf  91  Millionen  schätzte, 
während  sie  sich  für  1890/91,  wie  bereits  gesagt,  auf  148 
Millionen  und  mehr  belaufen. 

Zu  diesen  öffentlichen  und  unentgeltlichen  Schulen 
kommt  dann  noch  der  höhere  und  spezielle  Unterricht,  der 
ebenfalls  vom  Staate  unabhängig  ist  und  sich  auf  ausser- 
ordentlich reiche  Stiftungen  stützt:  430  Colleges  und  Uni- 
versitäten, Handels-  und  Industrieschulen  (de  Meaux  be- 
ziffert die  letzteren  allein  auf  56),  27  Landwirthschafts- 
schulen  (5900  Schüler,  971  Schülerinnen),  endlich  die  theo- 
logischen, medizinischen  (diese  allein  von  16  521  Studirenden 
besucht),  juristischen  Institute  und  die  speziell  für  Mädchen 
bestimmten  Collegs. 

Die  Basis  des  Ganzen  aber,  aus  dem  die  Entwickelung 
immer  neue  Kraft  schöpft,  ist  offenbar  der  Grundbesitz  der 
Schulen;  er  ermöglicht  jenes  Riesenbudget  des  Unterrichts, 
hinter  dem  alle  europäischen  Staaten  weit  Zurückbleiben:  ein 
kostbares  Erbe  aus  den  ersten  Zeiten  der  jungen  Republik. 


Litteratur. 

Allgemeines  Statistisches  Archiv.  Herausgegeben  von  Dr. 

Georg  von  Mayr,  Kaiserl.  Unterstaats -Sekretär  z.  D.  und 

Privat-Dozent  an  der  Kaiser  Wilhelms-Universität  Strassburg. 

II.  Jahrg.  1891/92.  II.  Halbband.  Tübingen  1892.  II.  Laupp. 

8°.  cc.  400  Seiten. 

Auch  der  jüngste  Band  des  trefflichen  Mayr'schen  Allge- 
meinen statistischen  Archives  beweist  nicht  nur,  dass  die 
Literatur  einer  solchen  statistischen  Zeitschrift  dringend  bedurfte, 
sondern  auch,  dass  gerade  die  Gestalt,  welche  sie  durch  den 
Herausgeber  erhalten  hat,  die  eben  erforderliche  gewesen  ist. 
Eine  Zeitschrift  für  Statistik  muss  umsomehr  die  Interessen  der 
verschiedenartigsten  Wissens-  und  Thätigkeitsgebiete  gerecht 
werden,  als  die  Statistik  in  ihrer  methodischen  Bedeutung  in 
immer  weiterem  Umfange  anerkannt  wird.  Ein  Blick  auf  den 
Inhalt  des  vorliegenden  Bandes  zeigt,  dass  das  Archiv  diesen 
universellen  Charakter  bei  aller  Einheitlichkeit  aufrecht  zu  halten 
versteht.  Dem  Bedürfnisse  nach  rein  theoretischen  Untersuchun- 
gen auf  dem  Gebiete  der  Bevölkerungswissenschaft  entspricht 
die  durch  die  Aufnahme  ins  Archiv  und  die  Uebersetzung  nun- 
mehr allgemein  zugängliche  Abhandlung  Körösi’s  über  die  wissen- 
schaftliche Stellung  der  Demologie.  Prof  Bücher  giebt  einen  seiner 
Vorträge  wieder,  welche  zumeist  grosse  Probleme  lichtvoll  und 
einfach  erfassen,  und  zwar  beschäftigt  er  sich  diesmal  mit  der 
Sexualvertheilung  der  Bevölkerung  der  Welt.  Die  Praktiker  der 
Statistik,  welche  heute  so  im  Vordergründe  stehen,  werden  sich 
namentlich  für  die  beiden  Studien  von  A.  Geissler  über  die 
Verwendung  von  „perzentilen  Graden“  und  von  G.  Mayr  über 
die  Publikationstechnik  interessiren , während  die  Kommunal- 
statistiker und  städtischen  Behörden  noch  die  ganz  neue  Unter- 
suchung E.  Hasse' s über  die  Intensität  grossstädtischer  Menschen- 
anhäufungen und  die  Arbeit  J.  Bert  hold 's  über  die  Wohnver- 
hältnisse der  ärmeren  Klassen  in  Berlin  mit  besonderem  Interesse 
lesen  werden.  Die  ausführliche  und  eingehende,  in  diesem  Bande 
fortgesetzte  Schrift  O.  Merten’ s über  die  Bedeutung  Russlands 
für  den  Weltgetreidemarkt  für  alle  wirthschaftlichen  Kreise  her- 
vorragende Wichtigkeit.  Der  Rest  des  Halbbandes,  und  zwar  ein 
sehr  ansehnlicher  Theil  desselben,  zielt  auf  die  medizinischen 
Fachkreise  ab.  Dies  gilt,  neben  den  Ausführungen  von 
Uhlitzsch  über  „Anthropometrische  Messungen  und  deren  prak- 
tischen Werth“,  namentlich  hinsichtlich  der  vorzüglichen,  jedem 
Statistiker  unentbehrlichen  „Geordneten  Bücherschau“  des  Heraus- 
gebers, resp.  hinsichtlich  ihrer  Partie:  Medizinalstatistik.  Diese 
Bücherschau  ersetzt  den  Fachkreisen  die  ihnen  meist  unmögliche 
eigene  Lectüre  der  Ouellenwerke,  und  weist  sie  auf  jene  spe- 
ciellen  Fragen  hin,  welche  sie  etwa  eingehender  zu  verfolgen 
beabsichtigen.  — Den  Beschluss  des  Halbbandes  bilden  Angaben 
über  die  deutschen  kommunalstatistischen  Aemter  etc.  und  ein 
ausführliches  Sachregister  zum  II.  Jahrgang  des  Archives. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin,  W.,  Victoriastrasse  16. 


472 


ANZEIGEN 


No.  39. 


Schriften  ber  CentralfMe  für 
2lrbeiter4Dol}Ifal?rtseitmd}tungen. 


9?r.  1. 

pt  prtiE([Ernng  öer  Potjiinnp. 

STOit  208  Slbbilbungcn  im  ©ejt. 

8°.  YI  unb  370  ©eiten. 

$rei§  geheftet  2>?f.  8.—,  poftfrei  SKf.  8.30. 
„ gebutiben  S3ff.  9. — , poftfrei  ÜDif.  9.30. 


Dir.  2. 

Die  ^ttiedunäfjige  Dermenimng 


ber 


Sonntags-  nnö  Sfeicoeit. 

8°.  IV  unb  94  ©eiten. 
ißreiS  geheftet  HJtf.  2.—,  poftfrei  9D?F.  2.10. 

(Earl  {jeijmamps  Öcrlitg  itt  Berlin  W. 

iDJauerftrafee  44. 


«Dalles  Ii eilte« 


©argefteHt 

auf  ©rnitö  einer  uerloren  geglaubten 
f.jaubl'rljriften-S'ammlung 

mtt 

item  florträt  fjelette  non  llaettmifjas 

oon 

tum  fcnlmdj 

unb 

jmet  fBriefett  in  ^akfimüe. 

8°,  XII  unb  188  ©eiten. 

©efjeftet  Sßrei§  Sü.  3,  gebutiben  ißrei§  4. 
3u  belieben  burdj 

Paul  Sdjüütrs  pudjljnnblung  (|.  Süftcnmadjer) 

Berlin  W.,  ÜTOarfgrafenftr.  39/40. 


Carl  ^epmann*j  ©erlag  ln  Berlin  W.,  Äiiictftr.  44. 


Soeben  gelangte  gur  Sluägabe: 

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©enterbe-  mtii  Irbeiterredjts. 

3um  täglichen  ©eltrancfje  bearbeitet 


oon 

©corg  (Enert 

SJtegienmgSratf). 


80.  VIII  n.  101  ©eite. 
Ureis  p,  2,  poftfrei  p.  2,10. 


© r ft  e r % t)  e i I. 

©cmerltcrcdjt. 

©emerbe  unb  ©emcrberccbt  im  91  H= 
gemeinen. 

©etoerbebebörben,  3uftänbigfeit  unb 
Verfahren. 

©ie  ©emerbefreiljeit. 

SBefonbere  ißefcbräufitngen  ber  ©e= 
roerbefreibeit. 

©er  ©eroerbebetrieb  im  Umberjieben. 

©a§  SnnungSioefcn. 

©eiücrblidEje 21rbeiter  im9IHgemeincn; 
Segriff  ber  gabrif. 

©er  gemerblicbe  StrbeitSocrtrag  im 
91  [(gemeinen. 

©er  ©djub  be§  9lrbcit^Iobn§;  ba§ 
„2ruf!fpftem". 

©er  Sontraftbruib;  fefte  @ntfcbäbi= 
gütigen,  Sobuoerroirfungen,  2obn= 
einbcbaltnngen. 

$ie  befonberen  SBorfcfj  rif  ten  für 

minberjäbrige  Arbeiter  u.Sebrlinge. 


alt. 

XII. 


XIII. 

XIV. 


XV. 


XVI. 

XVII. 


3raeiter  ©be'b 

$te  SttrBetterüerfidbetuttg. 

A.  ©ie  Äranlenoerfidjerung. 

B.  ©ie  UnfaHoerficberung 

C.  ©ie  3noalibität§=u. 2l.  er§oerfi(berung. 


Äntjang.  I.  ©a§  ©efinbere^t.  II.  9tlpba= 
betifebe  Ueberfid^t  ber  nndjtigften 
bauäroirt^fdfiaftlicüen  fragen  ber 
3nualibität§=  n.  9lIter§oerfidjermig. 


©ebub  für  Sebeit,  ©efunbbeit  unb 
©iitlidjfeit  ber  SIrbeiter  im  ©e* 
roerbebetriebe. 

©ie  @onntag§rube. 
9lrbeit§orbnungen  unb  9Irbeiterau§= 
febüffe. 

SBefonberer  ©djub  ber  grauen  unb 
Äinber  in  gabrifen  unb  gleicb= 
gefteUten  9lnlagen. 
©eroerbegeriebte  u.  ©inigungSämter. 
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§f§ 

$rei§  geheftet  SD?.  1,—,  poftfrei  SD?.  1,10. 

Ht 

£arl  £et)tnanu§  Verlag  in  ^Berlin  W.,  SDlanerftrafte  44* 

Carl  Heymanns  Verlag  in  Berlin  W.,  Mauerstrasse  +4.  — Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld  in  Berlin  W. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  3.  Juli  1893. 


Nummer  40. 


SOZIALPOLITISCHES 


C ENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Erscheint  jeden  Montag. 

Zu  beziehen 

durch  alle  Buchhandlungen,  Spediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


Preis  vierteljährlich  2 Jlark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf 

Anzeigenpreis  für  die  dreigespaltene  Colonelzeile 
40  Pfennig. 


INHALT. 


Sozialpolitische  Bemerkun- 
gen zu  den  Reichstags- 
wahlen. Von  Dr.  Heinrich 
Braun. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  und 
Wirthschaftsstatistik : 

Deutsche  Konkursstatistik  für  1892. 

Zur  Frage  der  Gewinnbetheili- 
gung. 

Bergarbeiterstatistik  für  Westfalen. 

Maassnahmen  gegen  die  Arbeits- 
losigkeit in  Zürich 

Landwirthschaft : 

Bäuerliches  Erbrecht  in  Baden. 

Lage  der  Domanialbauern  in  Meck- 
lenburg-Schwerin. 
Arbeiterzustände : 

Erhebungen  über  Lohnverhältnisse 
in  Preussen 

Lohnfristen  im  städtischen  und 
Privatbetrieb. 

Statistik  über  Arbeits-  und  Wohn- 
verhältnisse im  Bäckergewerbe 
Wiens. 

Die  Lohnsätze  in  den  Baumwoll- 
spinnereien Ober-Italiens. 


Handwerkerfragen : 

Innungen  im  Grosserzogthum 
Hessen. 

Gewerkschaftliche  Arbeiterbewe- 
gung: 

Die  Arbeiterausstände  in  Oester- 
reich im  Jahre  1892.  Von  Prof. 
Dr.  Ernst  Mischler. 

Der  Kampf  gegen  die  Pariser  Ar- 
beitsbörse. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Internationaler  sozialistischer  Ar- 
beiterkongress. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Zur  Sonntagsruhe  in  Hessen. 

Arbeiterversicherung : 

Zur  Reform  der  deutschen  Unfall- 
versicherung. 

Deutscher  Berufsgenossenschafts- 
tag. 

Soziale  Hygiene: 

Ueber  Schulbäder.  Von  Dr.  R. 
E h ren  b er  g. 

Kriminalität : 

Kongress  der  Internationalen  Kri- 
minalistischen Vereinigung. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Sozialpolitische  Bemerkungen  zu  den 
Reichstagswahlen. 

Zum  neunten  Male  seit  der  Begründung  des  Deutschen 
Reiches  haben  die  Wahlen  zum  Reichstag  stattgefunden. 
Diese  gewaltige  Kundgebung  des  Volkswillens  hat  wohl 
in  keinem  der  früheren  Fälle  ein  stärkeres  Interesse 
gerade  für  die  sozialpolitische  Betrachtung  dargeboten,  als 
diesmal.  Bei  der  Zersplitterung  unseres  Parteiwesens,  die 
in  180  von  397  Bezirken  zu  Stichwahlen  führte,  knüpft 
sich  jenes  Interesse  viel  weniger  an  das  durch  die  frag- 
würdigsten Bündnisse  erzielte  endgültige  Ergebniss  und 
die  Gruppirung  der  Parteien  im  Reichstage,  als  an  die  in 
den  ersten  ordentlichen  Wahlen  abgegebenen  Stimmen. 
Diese  sind  es  vornehmlich,  welche  uns  die  Richtung  und 
die  Stärke  der  sozialen  Strömungen  erkennen  lassen. 

Eine  genaue  Statistik  der  Wahlen  liegt  gegenwärtig 
noch  nicht  vor,  obwohl  es  dem  Reichsamt  des  Innern 
möglich  gewesen  wäre,  die  Ergebnisse  für  jeden  einzelnen 
Bezirk  ohne  Zögern  zu  veröffentlichen.  Aber  immerhin 
steht  Eines  ausser  Zweifel:  die  bedeutende  Steigerung  der 
sozialdemokratischen  und  das  vielleicht  noch  bedeutsamere 


Anwachsen  der  antisemitischen  Stimmen.  Und  das  Mo 
ment  ist  es,  was  den  letzten  Wahlen  in  sozialpolitischer 
Hinsicht  das  eigentliche  Gepräge  verleiht.  Die  sozial- 
demokratischen Stimmen  sind  in  der  amtlichen  Statistik 
des  Deutschen  Reiches  für  die  verflossenen  acht  Legislatur- 
perioden festgestellt,  während  die  antisemitischen  Stimmen 
nur  in  der  7.  und  8.  Legislaturperiode  (1887  und  1890) 
gesondert  aufgeführt  werden;  bis  dahin  wurden  sie  als  ein 
Bestandteil  der  konservativen  Partei  gezählt  und  in  den 
Ergebnissen  nicht  geschieden.  Von  den  in  den  ersten 
öffentlichen  Wahlen  gültig  abgegebenen  Stimmen  kamen 
auf  die  Kandidaten  der  Sozialdemokratie 


im  Jahre  1871 


)} 


V 


V 


1874  . 

1877  . 

1878  . 
1881  . 
1884  . 
1887  . 
1890  . 


124  700  Stimmen 

352  000 

» 

493  300 

437  100 

)) 

312  000 

V 

550  000 

J) 

763  100 

V 

427  300 

V 

Nach  den  bisherigen  Schätzungen  (die  uns  in  den  Be- 
rechnungen des  Hamburgischen  Korrespondenten  und  der 
Kölnischen  Zeitung  zu  Gebote  stehen)  schwankt  die  Zahl, 
um  die  die  sozialdemokratischen  Stimmen  zugenommen 
haben,  zwischen  einem  Mehr  von  290  000  und  372  000 
Stimmen.  Danach  wären  bei  den  ersten  ordentlichen 
Wahlen  dieses  Jahres  nach  der  niedrigeren  I 717  300,  nach 
der  höheren  Schätzung  1 799300  sozialdemokratische  Stimmen 
abgegeben  worden. 


Die  Antisemiten  zählten 


im  Jahre  1887  ....  1 1 600  Stimmen 
„ ^ „ 1890  . . . .47  500 

nach  der  amtlichen  Statistik.  Ihr  Zuwachs  im  ersten  Gange 
der  letzten  Wahlen  muss  nach  den  obigen  Quellen  auf 
mindestens  240  000  und  höchstens  442  500  Stimmen  geschätzt 
werden,  so  dass  sich  die  Stimmenzahl  der  Antisemiten  auf 
287  500  oder  490  000  Stimmen  bezifferte. 

Welche  von  diesen  Annahmen  auch  dem  Sachverhalt 
am  nächsten  kommen  mag,  fest  steht,  dass  sowohl  Sozial- 
demokraten wie  Antisemiten  in  einer  ungeheueren  Pro- 
gression gewachsen  sind,  und  dass  dem  gegenüber  die 
anderen  Parteien  entweder  nur  eine  absolut  und  relativ 
geringfügige  Vermehrung  oder  aber  eine  ungeheure  Vermin- 
derung ihrer  bisherigen  Stimmen  zu  verzeichnen  haben. 

Man  wird  nicht  fehlgehen,  wenn  man  annimmt,  dass 
obendrein  die  Verbreitung  der  Sozialdemokratie  im  Volke 
in  dem  Resultat  der  letzten  Wahlen  ziffernmässig  nur  unvoll- 
ständig zu  Tage  tritt. 

Mancherlei  unterstützt  diese  Vermuthung.  Zunächst 
unterliegt  es  keinem  Zweifel,  dass  der  Sommer  der  für  die 
Sozialdemokraten  ungünstigste  Wahltermin  ist.  Ihr  Kon- 


474 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  40. 


tingent  rekrutirt  sich  zum  überwiegenden  Theil  aus  den 
Kreisen  der  industriellen  und  landwirthschaftliehen  Arbeiter. 
Dieses  ohnedies  fluktuirende  Element  ist  in  manchen 
seiner  Schichten  gerade  im  Sommer  in  der  stärksten  Bewe- 
gung. Die  Schiffer  von  den  Meeresküsten,  wie  diejenigen  der 
Binnengewässer  sind  auf  der  Fahrt  begriffen,  die  Bauhand- 
werker und  zahlreiche  Angehörige  anderer  Gewerbe  gehen 
während  des  Sommers  der  Arbeit  vielfach  ausserhalb  ihres 
Wohnsitzes  nach,  die  Sachsengänger  sind  gleichfalls  wäh- 
rend dieser  Jahreszeit  aus  ihrer  Heimath  fortgewandert. 

Ein  grosser  Bruchtheil  dieser  Arbeiterkategorien,  die 
grossentheils  für  sozialdemokratische  Kandidaten  stimmen 
dürften,  konnten  an  der  letzten  Wahl  nicht  theilnehmen, 
und  zehntausende  von  Stimmen  mögen  so  der  Sozialdemo- 
kratie entgangen  sein.  Es  kommt  hinzu,  dass  die  Arbeits- 
losigkeit im  verflossenen  Winter  sehr  viele  Arbeiter 
zwang,  eine  Armenunterstützung  anzunehmen,  und  dass 
die  Behörden  deshalb  viele  Arbeiter  aus  den  Wähler- 
listen strichen.  Man  berichtet  beispielsweise  aus  Leip- 
zig, dass  dort  allein  2000  Arbeiter  ihr  Wahlrecht 
auf  diese  Weise  verloren  haben.  In  Hamburg  wiederum 
hat  die  Cholera  im  vorigen  Jahre  eine  sehr  grosse 
Zahl  von  Arbeitern  hinweggerafft,  was  auf  die  dort  für  die 
Sozialdemokratie  abgegebene  Stimmenzahl  nicht  ohne  Ein- 
fluss blieb.  Nicht  zu  vergessen  sind  hier  die  nicht  scharf 
genug  zu  verurtheilenden  Beeinflussungen  ländlicher  und 
städtischer  Wähler  durch  die  Unternehmer  u.  dgl.,  die  dies- 
mal wie  bei  jeder  Wahl  aus  den  verschiedensten  Theilen 
Deutschlands  gemeldet  wurden,  und  neben  der  Erbitterung 
die  sie  erzeugten,  wohl  in  vielen  Fällen  den  Ausdruck  der 
sozialdemokratischen  Gesinnung,  gewiss  aber  nicht  diese 
seihst  verhinderten.  Diese  verschiedenen  Momente  lassen 
den  Schluss  zu,  dass  der  bedeutende  Wahlerfolg  der  Sozial- 
demokratie immer  noch  hinter  der  in  Wirklichkeit  viel 
grösseren  Ausbreitung  der  Partei  zurückgeblieben  sein  mag. 

Ueber  die  antisemitischen  Wahlergebnisse  lässt  sich 
nicht  mit  der  gleichen  Bestimmtheit  urtheilen,  wie  über  die 
sozialdemokratischen.  Einmal  ist  die  Entwicklung  der  anti- 
semitischen Partei  von  viel  kürzerer  Dauer.  Mit  einer  über- 
raschenden Plötzlichkeit  ist  die  Grösse  der  Bewegung  zu 
Tage  getreten;  es  kommt  hinzu,  dass  die  Zusammensetzung 
der  Partei  wie  der  Inhalt  ihrer  Bestrebungen  einen  sehr 
gemischten  und  schwankenden  Charakter  hat.  Indessen 
sind  die  Bestandtheile,  aus  denen  die  antisemitische  Partei 
sich  zusammensetzt,  doch  so  klar  zu  durchschauen,  dass 
man  zu  einem  Lh'theil  über  ihre  sozialpolitische  Bedeutung 
wohl  gelangen  kann. 

Man  wird  die  soziale  Tragweite  des  Antisemitismus  viel 
richtiger  abzuschätzen  vermögen,  wenn  man  ihn  nicht  als 
eine  von  festen  einheitlichen  Prinzipien  getragene  Partei, 
sondern  als  eine  mächtige,  durch  verschiedene  Zuflüsse  ge- 
schwellte soziale  Strömung  betrachtet.  In  ihm  vereinigen 
sich  aus  den  zerbröckelnden  alten  Parteien  die  verschie- 
densten Elemente,  in  erster  Linie  die  gegenüber  den  libe- 
ralen wie  konservativen  Parteien  gleichmässig  misstrauisch 
gewordenen  Handwerker  und  Kleinbürger  aller  Art:  er 
führt  aber  insbesondere  ein  Element  in  das  politische  Leben 
ein,  das  bisher  nur  als  ein  Anhängsel  der  konservativen 
Parteien  erschien  und  nun  ein  selbständiges  und  sehr  reso- 
lutes Dasein  äussert:  den  Bauer.  Und  man  beachte  wohl: 
die  Schaaren,  die  massenhaft  dem  Antisemitismus  Zuströmen, 
treibt  Unzufriedenheit,  soziale  Verbitterung,  wirtschaftliche 
Verzweiflung  ihm  zu.  Man  lasse  sich  nicht  täuschen  durch 
das  Verworrene  und  Widerspruchsvolle  seiner  Ansichten, 
durch  das  Reaktionäre  seiner  Bestrebungen,  das  ist  zum  Theil 
die  Folge,  geistiger  Unreife,  die  mit  fortschreitender  Ent- 
wicklung verschwindet,  zum  Theil  Beiwerk,  zum  nicht  ge- 
ringen Theil  Deckmantel.  Die  eigentliche  Triebkraft  des 
Antisemitismus,  wenigstens  seiner  von  den  grössten  Erfolgen 
gekrönten  Spielart,  ist  sein  Radikalismus,.  sein  energischer 


Kampf  gegen  die  kapitalistische  Ausbeutung,  bei  der  Gross- 
grundbesitzer und  Grossindustrielle  gleich  nach  dem  Juden 
kommen.  Darin  liegt  seine  Stärke  und  diese  wird  sich  immer 
mehr  entwickeln.  Der  Antisemitismus  erweist  sich  als  ein 
gewaltiger  Minirer  und  Zerstörer.  Theile  der  Bevölkerung, 
die  der  sozialdemokratischen  Agitation  relativ  unzugänglich 
bleiben,  wie  die  Bauern,  aber  auch  manche  Schichten  des 
Handwerks,  der  kleineren  und  mittleren  Bourgeoisie  ver- 
steht er  mit  plumpen  und  nicht  selten  stupiden,  aber  hand- 
greiflichen Mitteln  in  die  leidenschaftlichste  soziale  Erregung 
zu  versetzen. 

Gerade  die  niedrigen  Behelfe  seiner  Propaganda  er- 
weisen sich  ihm  heute  noch  von  der  stärksten  Wirkung, 
und  allem  Anscheine  nach  ist  der  enorme  Aufschwung,  den 
er  bisher  genommen,  nur  der  Anfang  einer  noch  viel  glänzen- 
deren äusseren  Entwickelung,  die  freilich  nothgedrungen, 
je  mehr  der  Radikalismus  der  antisemitischen  Bewegung  zu 
klarem  Bewusstsein  gedeiht , in  die  Sozialdemokratie 
münden  muss  .... 

So  stellt  sich  das  sozialpolitisch  entscheidende 
Ergebniss  der  letzten  Reichstagswahlen  dar,  dem  gegen- 
über alles  Andere  von  untergeordneter  Bedeutung  ist.  Die 
Situation  wird  beherrscht  durch  das  mächtige  Anwachsen 
der  zielbewusst  in  mächtiger  Steigerung  vorwärts  schreiten- 
den Sozialdemokratie  auf  der  einen  Seite  und  des  ein 
völlig  klares  Programm  entbehrenden,  aber  dennoch  einen 
immer  grösseren  Theil  der  Bevölkerung  für  sich  gewinnen- 
den Antisemitismus  auf  der  anderen  Seite. 

Und  die  Aussicht  für  die  Zukunft?  Der  Antisemitismus  ' 
mag  sich  ändern;  aber  wenn  das  geschieht,  wird  nur  seine 
Auffassung  von  der  Natur  unserer  Gesellschaft  und  seine 
Anschauung  über  die  Bedingungen  der  sozialen  Weiter- 
entwickelung eine  Wandlung  erfahren,  seine  radikale  Op- 
position wird  sich  dann  nur  verstärken,  und  die  von  ihm  , 
ausgehende  Gefahr  für  den  stetigen  Kulturfortschritt  wird  = 
wachsen.  Eine  grundsätzliche  Aenderung  der  Sozialdemo- 
kratie, an  die  Mancher  denken  mag,  ist  aber,  wie  ich  glaube, 
am  wenigsten  zu  erwarten.  Es  heisst  die  Natur  dieser  Be- 
wegung in  ihrem  innersten  Wesen  verkennen,  wenn  man 
sich  der  Hoffnung  hingiebt.  die  Sozialdemokratie  könnte 
den  prinzipiellen,  auf  neue  Grundlagen  der  Gesellschaft  hin-  , 
drängenden  Theil  ihres  Programms  bei  Seite  setzen  und  sich 
allein  darauf  beschränken,  als  eine  Reformpartei  im  Rahmen 
der  heutigen  Staatsordnung  eine  energische  Thätigkeit  zu 
entfalten.  Diese  Hoffnung  hat  um  so  weniger  Aussicht  auf 
Erfüllung,  als  die  Sozialdemokratie  damit  sich  völlig  des 
Einflusses  berauben  würde , den  sie  heute  besitzt. 
Ihre  Macht  und  den  faszinirenden  Einfluss  auf  die 
Massen  verdankt  sie  allein  dem  Umstande,  dass  sie 
eine  von  grossen  Prinzipien  getragene  Bewegung  reprä- 
sentirt,  dass  sie  den  ganzen  Menschen  erfasst  und  ihn 
mit  seinem  Denken  und  Fühlen  im  Innersten  ergreift. 
Die  Sozialdemokratie  ist  eine  Volksbewegung,  wie  sie  in 
solcher  Stärke  seit  der  Reformation  in  Deutschland  nie 
wieder  vorhanden  war,  eine  Bewegung,  die  von  ihrem  Höhe- 
punkt noch  weit  entfernt  scheint.  Will  sie  an  Stärke  ge- 
winnen, statt  sie  einzubüssen,  so  wird  sie  ganz  im  Gegen- 
theil  gerade  die  Seiten  pflegen  und  in  sich  selbst  zu  rei- 
cherer Entfaltung  bringen  müssen,  welche  den  Enthusiasmus 
der  Volksmassen  erregen,  und  das  sind  gerade  die  grossen 
Ziele  einer  auf  neuen  Grundlagen  ruhenden  Gesellschaft. 
Die  Sozialdemokratie  wird  auch  nicht  aufhören,  eine  revo- 
lutionäre, d.  h.  eine  die  durchgreifende  Umgestaltung  der 
Wirthschaftsweise  anstrebende  Partei  zu  sein,  und  alle 
Hoffnungen,  die  der  heutige  Staat  auf  eine  Umwandlung 
dieser  Partei  setzt,  werden  sich  als  eitel  erweisen. 

Die  drohenden  Gefahren  sind  unabweisbar  und  die  Vor- 
gänge der  letzten  Wahlen  predigen  ihre  Realität  auf  das 
eindringlichste.  Hier  heisst  es,  endlich  den  Thatsachen  mit 
klarem  Bewusstsein  in  s Auge  sehen  und  Maassnahmen  er- 


No.  40. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTR ALBT. ATT. 


475 


greifen,  die  eine  friedliche  Weiterentwicklung  unserer  Ge- 
sellschaft garantiren.  Man  hüte  sich  vor  Allem  vor  der 
Illusion,  als  könnte  eine  Wiederholung  der  Repressions- 
politik, wie  sie  etwa  ein  noch  verschärftes  Sozialistengesetz 
darbietet,  die  Gefahr  beschwören.  Einer  solchen  Politik  ist 
mit  dem  verächtlichen  Achselzucken,  das  ihr  die  Sozial- 
demokratie bezeigt,  vielleicht  noch  zu  viel  der  Ehre  er- 
wiesen. Es  giebt  nur  Eines,  was  Bürgschaft  böte  für  einen 
ungestörten  Fortschritt  der  Gesellschaft:  dass  man  den  durch 
die  geschichtliche  Entwicklung  unabweisbar  gebotenen  so- 
zialen Reformen  mit  ernster  Entschlossenheit  freie  Bahn 
eröffnet;  dass  der  Staat  sich  endlich  aufrafft  und  auf  diesem 
Gebiet  seine  Pflicht  voll  erfüllt.  Das  riesige  Wachsthum 
der  Sozialdemokratie  wie  des  Antisemitismus  ist  eine  War- 
nung, die,  wenn  man  sie  nicht  verstehen  will,  zu  gesell- 
schaftlichen Katastrophen  von  unberechenbarer  Tragweite 
führen  muss.  Discite  moniti! 

Berlin.  Heinrich  Braun. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 


Deutsche  Konkursstatistik  für  1892.  In  dem  kürzlich 
erschienenen  amtlichen  statistischen  Jahrbuch  für  das 
Deutsche  Reich  findet  sich  eine  auf  das  Jahr  1892  bezüg- 
liche Konkursstatistik.  Die  Hauptzahlen  derselben  sind  die 
folgenden : 

Die  Zahl  der  Konkurseröffnungen  betrug  7684  gegen 
7623  im  Jahre  1891.  Auf  Preussen  entfallen  3744  (1891: 
3679)  Konkurse,  auf  Sachsen  1098  (1206),  Bayern  833  (848), 
Württemberg  398  (360),  Baden  323  (305),  Elsass-Lothringen 
270  (260),  Hamburg  173  (192)  und  Hessen  149  (130)  Kon- 
kurse. Von  den  preussischen  Provinzen  hatte  nächst 
Berlin,  wo  322  (1891:  294)  Konkurseröffnungen  stattfanden, 
das  Rheinland  mit  561  (1891:  567)  Konkursen  die  grösste 
Zahl;  dann  folgen  Schlesien  mit  392  (1891  noch  474),  West- 
falen mit  362  (267)  und  Sachsen  mit  348  (337).  Die  Ab- 
nahme in  Schlesien  und  die  Zunahme  in  Westfalen  sind 
auffällig.  Auch  in  Ostpreussen  hat  eine  sehr  erhebliche 
Abnahme  (von  303  4uf  222)  stattgefunden.  Im  Vergleich 
zur  Einwohnerzahl  hatte*  wie  schon  1891,  Bremen  die 
meisten  Konkurse,  nämlich  J5,0  (1891:  45,6)  auf  100000  Ein- 
wohner, demnächst  folgen  Reuss  ä.  L.  mit  38,4  (51,9)  und 
Königreich  Sachsen  mit  30,4  (34,1).  In  Württemberg  kamen 
auf  100000  Einwohner  19,4  (1891:  17,6),  in  Bayern  14,7 
(15,1)  und  in  Preussen  12,3  (12,2)  Konkurse.  Von  den 
preussischen  Provinzen  hatte  in  beiden  Jahren  Schleswig- 
Holstein  verhältnissmässig  die  meisten  Konkurse,  nämlich 
im  Jahre  1892:  22,3,  1891:  20,2  auf  100000  Einwohner. 
Dann  kamen  Berlin  mit  19,4  (18,3),  Westfalen  mit  14,4 
(10,9)  und  Sachsen  mit  13,2  (13,0),  Die  amtliche  Statistik 
beschäftigt  sich  auch  mit  dem  Berufe  der  in  Konkurs  ge- 
ratenen Personen.  Die  Schwierigkeiten,  die  sich  hierbei 
einer  genauen  Statistik  entgegenstellen,  sind  sehr  gross, 
da  in  den  amtlichen  Bekanntmachungen  der  Gerichte 
einerseits  sehr  oft  der  Beruf  der  Kridatare  gar  nicht  oder 
ganz  unbestimmt  angegeben  ist,  andererseits  mehrfache 
Berufe  eines  und  desselben  Kridatars  genannt  werden.  Wie 
die  amtliche  Erhebung  diese  Schwierigkeiten  überwunden 
hat,  geht  aus  der  Veröffentlichung  nicht  hervor,  die  sich 
darauf  beschränkt,  die  in  Konkurs  gerathenen  Personen 
nach  den  Berufsgruppen  der  Berufsstatistik  von  1882  zu- 
sammenzustellen. Den  Ilauptantheil  hat  natürlich  das 
Handelsgewerbe  mit  3554  (1891:  3511)  Konkursen,  dann 
folgt  die  Industrie  der  Nahrungs-  und  Genussmittel  mit 
684  (681),  die  Bekleidung  und  Reinigung  mit  659  (729),  die 
Land-  und  Forstwirtschaft  mit  473  (406)  und  die  Metall- 
verarbeitung, Maschinen-Industrie  etc.  mit  433  (376).  Von 
den  einzelnen  Gewerben  etc.  hatten  die  meisten  Konkurse 
die  Gastwirthe  mit  367  (1891:  390),  Bäcker  und  Konditoren 
mit  297  (318),  Schuhmacher  mit  289  (324),  Schneider  mit 
205  (244),  Gutsbesitzer  und  Pächter  mit  155  (97),  Brauer 


mit  112  (106),  Mühlenbesitzer  mit  109  (92),  Zimmerer  und 
Maurer  mit  107  (89),  Schlächter  mit  101  (100),  Bauunter- 
nehmer mit  96  (53),  Hutmacher  und  Kürschner  mit  79  (80), 
Uhrmacher  mit  74  (70)  und  Klempner  mit  65  (73).  Beamte 
geriethen  60  (1891:  88),  Rentiers  37  (22)  und  Aerzte  9 
(10)  in  Konkurs. 

Zur  Frage  der  Gewinnbetheiligung.  Die  Hallesche 
Maschinenfabrik  und  Eisengiesserei,  Aktiengesellschaft,  hat 
vor  4 Jahren  die  Gewinn-Betheiligung  ihrer  Arbeiter  ein- 
geführt. Am  30.  Juni  vertheilte  sie  zum  vierten  Male  die 
entfallenden  Antheile.  Es  sind  diesmal  42350  M.,  die  die 
Gesellschaft  nur  an  die  Arbeiter  (ohne  die  Tantiemen  und 
Gratifikationen  der  Beamten)  vertheilt.  Der  Antheil  richtet 
sich  nach  der  Zeit  der  Arbeitsdauer  in  der  Fabrik  und  der 
Höhe  der  Dividende.  Auf  jedes  Prozent  an  die  Aktionäre 
vertheilter  Dividende  erhalten  die  Arbeiter,  die  mindestens 
3 Jahre  in  der  Fabrik  gearbeitet  haben,  3 M.  Da  die  Ge- 
sellschaft für  1892  wieder  35  pCt.  Dividende  vertheilt,  er- 
halten die  Arbeiter  in  Gruppe  I je  105  M.,  in  Gruppe  II 
(2  Jahre)  je  70  M.,  in  Gruppe  III  (1  Jahr)  je  35  M.,  in 
Grupp  IV  (unter  einem  Jahre  Arbeitszeit)  je  17,50  M.  Auch 
die  Lehrlinge  erhalten  Gratifikationen.  Die  Gesellschaft 
will  mit  dieser  Einrichtung  die  „Anhänglichkeit“  der  Ar- 
beiter an  die  Fabrik  fördern  und  die  Leute  zu  besonnener 
Handhabung  des  Materials,  des  Werkzeugs  und  der  Ma- 
schinen veranlassen.  Wie  dies  wirkt,  ergiebt  sich  daraus, 
dass  jetzt  schon  3/4  der  Arbeiter  den  Höchstbetrag  des  Ge- 
winnanteils erhalten. 

Bergarbeiterstatistik  für  Westfalen.  Dem  vor  kurzem 
im  Essener  Glückauf  veröffentlichten  Sitzungsprotokoll  des 
Vorstandes  des  Vereins  für  die  bergbaulichen  Interessen 
im  Oberbergamtsbezirk  Dortmund  vom  19.  Mai  d.  Js.  ist 
folgende  befremdende  Thatsache  zu  entnehmen.  Das  König- 
liche Oberbergamt  in  Dortmund  hat  auf  die  Notwendigkeit 
der  Beschaffung  „einer  ausreichenden  Statistik  über  die 
Bergarbeiterverhältnisse“  des  Bezirks  hingewiesen;  es  bittet 
behufs  Beschaffung  dieser  Statistik  um  die  Unterstützung 
des  Bergbauvereins,  sowie  um  Deckung  der  Kosten  (!);  es 
empfiehlt  zufolge  der  in  anderen  Bezirken  gemachten  Er- 
fahrungen nach  Art  der  Volkszählungen  vorzugehen  und 
das  statistische  Material  auf  den  Zechen  durch  Fragebogen 
zu  sammeln  und  dann  in  geeigneter  Weise  zusammen  zu 
stellen.“  Ueber  die  Ausführung  dieser  Statistik  und  ihre 
Einzelheiten  sollen  noch  mündliche  Besprechungen  statt- 
finden. Die  Zechen  sind  natürlich  höchst  bereitwillig  auf 
den  Vorschlag  eingegangen,  haben  Delegirte  zur  mündlichen 
Verhandlung  mit  dem  Oberbergamt  ernannt  und  wollen  da- 
für sorgen,  dass  auf  einer  weiteren  Versammlung  des  Berg- 
bauvereins den  einzelnen  Unternehmern  die  Bedeutung  der 
geplanten  Statistik  „namentlich  auch  vom  sozialpolitischen 
Standpunkte“  nahe  gelegt  wird.  Sonach  existirt  für  die 
Bergarbeiter  die  Reichskommission  für  Arbeiterstatistik 
nicht,  und  nicht  einmal  der  Staat  und  seine  Verwaltung 
halten  darauf,  die  sozialen  Erhebungen  über  Bergarbeiter- 
verhältnisse als  unparteiische  Instanz  auszuführen.  Aus- 
führung und  — Bezahlung  der  Statistik  wird  einfach  den 
Zechen  überlassen,  gewiss  der  bequemste,  aber  auch  der 
merkwürdigste  Weg.  Man  glaubt  in  die  Zeiten  vor  Süss- 
milch zurückversetzt  zu  sein. 

Maassnahmen  gegen  die  Arbeitslosigkeit  in  Zürich. 

Der  Züricher  Arbeitersekretär  Greulich  hat  im  Grossen 
Stadtrath  folgenden  Antrag  eingebracht:  I.  Die  Vorstände  der 
verschiedenen  Dienstabtheilungen  sind  darauf  aufmerksam 
zu  machen,  dass  bei  Anstellungen  vorzugsweise  Schweizer- 
bürger zu  berücksichtigen  seien  und  dass  in  Folge  dessen 
bei  Beendigung  von  Arbeiten  namentlich  ledige  landesfremde 
Arbeiter  vor  den  einheimischen  zu  entlassen  seien.  2.  In 
Ausführung  der  Gemeindeordnung  und  unter  Hinweis  auf 
den  Umstand,  dass  arbeitslose  Schweizerbürger  vorhanden, 
sind  die  mit  städtischen  Arbeiten  betrauten  Unternehmer 
anzuhalten  und  die  übrigen  Bauunternehmer  im  Stadt- 
gebiete dringend  anzugehen,  bei  Anstellungen  vorzugsweise 
Schweizerbürger  zu  berücksichtigen.  3.  Bei  Vergebung  von 
Bauarbeiten  an  Unternehmer  auf  dem  Gebiete  der  Stadt 
Zürich  ist  dem  Pflichtenheft  eine  Vorschrift,  die  obigen  Be- 


476 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  40. 


Stimmungen  entspricht,  beizufügen.  In  der  Sitzung  des 
Grossen  Stadtraths  vom  24.  Juni  wurde  der  Antrag  Greulich 
abgelehnt  und  auf  den  Vorschlag  Curti's  eine  Tagesordnung 
angenommen,  wonach  der  Rath  sich  mit  dem  Stadtraths- 
beschluss begnügt,  welcher  die  Beschäftigung  schweizerischer 
Arbeiter  in  Aussicht  nimmt. 


Landwirthschaft. 

Bäuerliches  Erbrecht  in  Baden.  In  seiner  Sitzung 
vom  31.  v.  M.  beschäftigte  sich  der  badische  Landwirth- 
schaftsrath  mit  der  Reform  des  bäuerlichen  Erbrechts,  über 
welche  aus  Baden  in  dieser  Zeitschrift  schon  öfter  berichtet 
worden  ist.  Landwirthschaftsinspektor  Schmid -Tauberbi- 
schofsheim erstattete  Bericht  über  das  bäuerliche  Erbrecht 
in  Baden  im  Hinblick  auf  die  Reichsgesetzgebung.  Der 
Berichterstatter  fasste  seine  Darlegungen  in  folgenden  Ge- 
sichtspunkten zusammen:  1.  Wenn  mit  Einführung  eines 
bürgerlichen  Gesetzbuches  für  das  ganze  Deutsche  Reich 
unsere  durch  Edikt  und  kraft  bestehender  Sitte  geschaffenen 
Erbrechtszustände  so  wie  so  auf  gesetzlichem  Wege  neu 
geregelt  werden  müssen,  dann  erscheint  im  Hinblick  auf 
das  in  § 3 des  Gesetzentwurfes  dem  Erblasser  jeder  Zeit 
zustehende  Recht  der  vorliegende  Gesetzentwurf  nach  vor- 
ausgegangenen unten  näher  bezeichneten  Zusätzen  und  Ab- 
änderungen annehmbar,  doch  muss  mit  der  grössten  Sorg- 
falt darauf  Bedacht  genommen  werden,  dass  das  Gesetz  den 
bestehenden  Verhältnissen  und  Gewohnheiten  in  den  ver- 
schiedenen Landestheilen  thunlichst  angepasst  wird.  Dabei 
wäre  von  den  in  Ziffer  2 zu  § 1 des  Entwurfs  genannten 
sonstigen  landwirtschaftlichen  Wohnungen  einschliesslich 
Scheuer,  Stallung,  Hof  und  Hausgärten  gänzlich  abzusehen, 
vielmehr  der  Gesetzesschutz  lediglich  auf  die  geschlossenen 
Hofgüter  und  auch  auf  diejenigen  landwirthschaftlichen  An- 
wesen auszudehnen,  welche  schon  kraft  bestehender  Sitte 
ebenfalls  ungetheilt  an  einen  Erben  überzugehen  pflegen. 
Letzteres  lässt  sich  aus  den  Grundbüchern  feststellen.  2.  In 
Bezug  auf  die  einheitliche  Bestimmung,  welcher  Erbe  beim 
Anerbenrecht  in  Betracht  zu  kommen  habe,  ist  Rücksicht 
darauf  zu  nehmen,  dass  nicht  ausschliesslich  das  Minorat, 
sondern  jeweils  der  herkömmlichen  Sitte  entsprechend,  so- 
wohl das  Minorat  wie  auch  das  Majorat  als  gesetzlich  be- 
rechtigt anerkannt  wird.  3.  Es  soll  bei  der  Gutsabschätzung 
dem  Anerben  nicht  der  Kaufwerth,  sondern  der  Ertrags- 
werth angerechnet  werden,  auch  sollen  bei  Auflösung  einer 
ehelichen  Gütergemeinschaft  erwachsene  Söhne  der  Ehe- 
frau in  der  Berechtigung,  die  Uebergabe  des  Gutes  zu  ver- 
langen, vorgezogen  werden.  Die  zu  dem  Gesetze  vorge- 
schlagenen Abänderungen  wurden  zumeist  den  Anträgen 
der  Referenten  gemäss  genehmigt.  Der  Korreferent  hatte 
noch  eine  weitere  einschlägige  Frage  zur  Diskussion  ge- 
stellt, dahin  lautend:  „Empfiehlt  es  sich,  den  Anerben  hin- 
sichtlich des  Verkaufes  des  Gutes  in  der  Weise  zu  be- 
schränken, dass  den  Miterben  ein  Vorkaufsrecht  oder  bei 
Verkauf  binnen  einer  gewissen  Frist  — eventuell  welcher  — 
ein  Recht  auf  Vertheilung  des  Mehrerlöses  über  den  An- 
schlag hinaus  eingeräumt  wird?“  Auch  diese  Frage  wurde 
von  der  Versammlung  bejahend  beantwortet. 

Lage  der  Domanialbauern  in  Mecklenburg-Schwerin. 

Es  sind  jetzt  25  Jahre  verflossen,  seitdem  die  Regierung 
von  Mecklenburg-Schwerin  sich  entschloss,  rund  4000  Bauern- 
stellen der  Domanialgüter  in  freie  Erbpacht  zu  geben. 
Eine  offizielle  Statistik  theilt  nun  näheres  über  das  Schick- 
sal der  4000  Erbpächter  in  dem  verflossenen  Vierteljahr- 
hundert mit.  Danach  sind  von  den  ca.  4000  Erbpächtern, 
welche  selbst  oder  deren  Väter  schon  ihre  Hufen  als  Zeit- 
pächter zu  Bauernrecht  besassen  und  dieselben  darauf  als 
Erbstand  erwarben,  seit  dem  Uebertritt  zur  Vererbpachtung 
in  diesen  25  Jahren  im  Ganzen  ca.  600  Erbpächter  durch 
Verkauf  aus  dem  Gehöftsbesitze  geschieden.  Meistens 
wurden  die  Hufen  an  Schwiegersöhne,  Seitenverwandte 
oder  Leute  bäuerlicher  Abstammung  verkauft.  In  die 
Hände  von  Ausländern  gingen  in  dieser  Zeit  ungefähr 
50  Stellen  über.  Von  den  600  Verkäufen  geschehen  un- 


freiwillig im  Wege  der  Zwangsvollstreckung  nur  32  und 
bei  manchen  von  diesen  Fällen  waren  frühere  Verschuldung 
und  schlechte  Wirthschaft  die  Ursachen,  so  dass  der  Kon- 
kurs auch  ohne  Uebergang  auf  Erbpacht  unvermeidlich  ge- 
wesen wäre.  Den  besten  Beweis,  dass  die  Bauern  durch 
die  Vererbpachtung  nicht  ruinirt,  sondern  durch  die  damit 
verbundene  freiere  Bewirthschaftung  ihrer  Hufen  besser  ge- 
stellt sind.findeman  in  derpromptenZahlung  an  denDomanial- 
Kapitalfonds  und  den  vielfachen  Abtrag  der  Erbpachtschuld, 
nicht  durch  Amortisation,  sondern  durch  direkte  Kapital- 
zahlung. Auf  diese  Weise  sind  jetzt  schon  4 z/a  Millionen 
Mark  von  den  Erbpächtern  ausgezahlt  worden. 


Arbeiterzustände. 

Erhebungen  über  Lohnverhältnisse  in  Preussen.  Aus 

Hannover  wird  berichtet,  der  dortige  Magistrat  sei  „höheren 
Orts“  veranlasst,  „eingehenden  Bericht  über  den  gegen- 
wärtigen Stand  der  Löhne“  in  dieser  Stadt,  und  zwar  bei 
Industrie  und  Handwerk,  zu  erstatten.  Zur  Erledigung 
dieses  Auftrages  hat  nun  der  Magistrat  von  Hannover 
folgenden  Fragebogen  versandt:  „Welches  ist  der  höchste 
Lohnsatz,  der  gegenwärtig  an  Gesellen  (Gehilfen)  Ihres 
Handwerks  wöchentlich  gezahlt  wird?  2.  Welches  ist  der 
niedrigste  Lohnsatz,  der  gegenwärtig  an  die  genannten 
Personen  wöchentlich  gezahlt  wird?  3.  Erhalten  die  Gesellen 
(Gehilfen)  neben  dem  Lohne  in  baarem  Gelde  regelmässig 
Kost  und  Wohnung  bei  dem  Handwerksmeister?  4.  Wie 
viel  verdienen  die  Gesellen  (Gehilfen),  wenn  sie  nicht  in 
festem  Lohne  stehen,  sondern  in  Akkord  arbeiten,  und  zwar: 
die  geschickteren  und  die  weniger  geschickten?  5.  Be- 
kommen die  Lehrlinge  nach  einer  gewissen  Lehrzeit  einen 
wöchentlichen  oder  täglichen  Lohn,  eventuell  in  welchem 
Betrage?  6.  Welches  ist  der  höchste  Lohnsatz,  den  in 
Ihrem  Handwerk  beschäftigte  gewöhnliche  Handarbeiter 
täglich  bekommen?  (Es  sind  solche  Personen  gemeint,  die 
für  das  Handwerk  nicht  technisch  vorgebildet  sind  — 
Arbeitsmänner  — .)  7.  Welches  ist  der  niedrigste  Lohn- 

satz, den  diese  Personen  bekommen?  8.  Sind  die  Löhne  in 
Ihrem  Handwerk  seit  dem  1.  Juli  v.  J.  im  Allgemeinen,  d.  h. 
für  alle  die  genannten  Arbeiterkategorien,  gestiegen  oder 
gefallen,  oder  sind  sie  etwa  für  nur  einzelne  jener  Kate- 
gorien (für  Gesellen?  oder  für  die  gewöhnlichen  Hand-  < 
arbeiter?)  gestiegen  oder  gefallen?  oder  sind  die  Löhne 
dieselben  geblieben,  wie  in  der  Zeit  vom  1.  Juli  1891  bis 
dahin  1892?  9.  Wenn  die  Löhne  gestiegen  oder  gefallen 
sind:  in  welchem  Grade  hat  ein  Steigen  oder  Fallen  der 
Löhne  stattgefunden?“ 

Die  Beantwortung  soll  bis  zum  10.  Juli  erfolgen.  Es 
wäre  interessant,  zu  erfahren,  ob  solche  Erhebungen  auch 
in  anderen  preussischen  Städten  stattfinden,  oder  ob  sie 
auf  Hannover  beschränkt  sind,  und  welchem  Zwecke  sie 
dienen  sollen.  Bekanntlich  beräth  die  Reichskommission 
für  Arbeiterstatistik  gegenwärtig  ebenfalls  lohnstatistische 
Erhebungen. 

Lohnfristen  im  städtischen  und  Privatbetrieb.  Der 

Ausschuss  des  Gewerbegerichts  von  Frankfurt  a.  M.  hat 
jetzt  an  den  Magistrat  der  Stadt  folgende  Anträge  gerichtet: 

„I.  Die  Stadt  Frankfurt  soll  bei  allen,  bei  ihr  in  Thätigkeit 
stehenden  Arbeitern  keine  längere  als  achttägige  Löhnungs- 
fristen  beibehalten,  und  zwar  soll  nicht  etwa  bei  diesen 
Lohnperioden  nur  ein  Theil  des  wöchentlichen  Verdienstes 
als  Abschlagszahlung  gegeben,  sondern  immer  der  ganze 
Verdienst  einer  Woche  ausgezahlt  werden.  II.  Die  Lohn- 
zahlung selbst  am  Freitag  Nachmittag  vorzunehmen.  III.  Die 
Stadt  Frankfurt  soll  bei  allen  durch  sie  zu  vergebenden 
Submissionsarbeiten  und  Arbeiten  überhaupt,  zur  Bedingung 
machen,  dass  allen  bei  diesen  Arbeiten  beschäftigten  Ar- 
beitern, bezw.  Arbeiterinnen  achttägige  Lohnperioden  seitens 
der  betreffenden  Unternehmer  gewährt  werden.“  Nach  ein- 
gehender Begründung  dieser  Forderungen  heisst  es  in  dem 
Antragschreiben:  „Es  unterliegt  ja  wohl  keinem  Zweifel, 

dass  wir  das  Recht  gehabt  hätten,  noch  weiter  zu  gehen 
und  gleich  zu  beantragen,  die  Stadt  möge  von  dem  ihr  zu- 


No.  40. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


477 


stehenden  Recht  Gebrauch  machen  und  auf  Grund  der  Ge- 
werbeordnung, § 119,  ein  Ortsstatut  erlassen,  wonach  für 
alle  Gewerbetreibenden  die  achttägige  Lohnzahlung  an  ihre 
Arbeiter  bestimmt  wird.  Wenn  wir  für  diesmal  von  diesem 
Recht  keinen  Gebrauch  machten,  so  haben  wir  uns  des- 
selben damit  keineswegs  für  die  Zukunft  begeben.  Für 
diemal  handelt  es  sich  für  uns  darum,  von  der  Stadt  die 
für  sie  sehr  leicht  durchführbare  Maassregel  zu  verlangen, 
den  Kern  unserer  Anträge  in  ihre  Submissionsbedingungen 
aufzunehmen.  Für  die  Stadt  wird  nicht  die  mindeste 
Schwierigkeit  bei  Vergebung  ihrer  Arbeiten  daraus  er- 
wachsen, das  umsoweniger,  als  sie  jeden  Augenblick  in  der 
Lage  ist,  bei  ungerechtfertigten  Schwierigkeiten  ihre  Ar- 
beiten in  eigener  Regie  ausführen  zu  lassen  und  den  be- 
rechtigten Anforderungen  der  Arbeiter  dadurch  zur  An- 
erkennung zu  verhelfen.  Für  das  Erlassen  eines  Orts- 
statuts im  Sinne  der  Gewerbeordnung  für  achttägige  Lohn- 
zahlung hat  sich  sogar  einer  der  gehörten  Arbeitgeber  aus- 
gesprochen, aber  seine  Begründung  war  keine  stichhaltige, 
und  war  vielleicht  der  Vorschlag  überhaupt  nur  gemacht, 
um  das  Ganze  desto  sicherer  zu  Falle  zu  bringen.  Wir 
würden  es  allerdings  mit  Freuden  begrtissen,  wenn  die  Ar- 
beitgeber, soweit  sie  noch  nicht  achttägig  lohnen,  dies  aus 
freiem  Antriebe  thun  würden.  Sie  würden  dadurch  uns  und 
die  Stadt  die  Arbeit  zur  gesetzlichen  Einführung  dieser 
Maassregel  ersparen.  Bei  der  eingehenden  Besprechung 
über  die  Lohnperioden  der  Stadt  ergab  sich  als  ziemlich 
sicher,  dass  bei  ihr  eigentlich  bis  auf  geringe  Ausnahmen 
die  achttägige  Lohnperiode  durchgeführt  ist.  Nur  ist  der 
Zahlungsmodus  selbst  noch  verbesserungsbedürftig.  Durch 
die  Art  der  Auszahlung,  die  von  einer  Stelle  aus  an  ver- 
schiedenen Tagen  bei  den  verschiedenen  Gruppen  vor- 
genommen wird,  kommen  zuweilen  für  einzelne  Gruppen 
längere  als  achttägige  Lohnperioden  zu  Stande.  Es  dürfte 
ein  Leichtes  sein,  fast  ohne  jeglichen  Kostenaufwand  sämmt- 
liche  Lohnzahlungen  am  Freitag  Nachmittag  vorzunehmen.“ 
In  der  That  sind  solche  Reformen  weit  nützlicher,  als  die 
Beschränkung  der  Lohnzahlung  an  Minderjährige  durch 
Ortsstatut  und  Aehnl. 


Gas  brennen  muss.  Die  Schlafstellen  sind  fast  durchwegs 
elend,  vielfach  findet  sjch  die  Anmerkung,  dass  zwei  Ge- 
hilfen in  einem  Bett  schlafen  müssen;  auch  an  Ungeziefer 
fehlt  es  nicht.  Die  beste  Uebersicht  aber  erhält  man  aus 
der  Statistik  über  die  Arbeitszeit.  Daraus  ist  vor  allem 
folgende  Konstatirung  bemerkenswerth : „Die  Sonntagsruhe 
/wird  in  einer  einzigen  Wiener  Bäckerei  eingehalten.“  Das 
Verlangen  der  Bäckermeister  geht  nun  dahin,  den  heutigen 
anarchischen  Zustand  zum  gesetzlichen  zu  machen.  Es  soll 
nach  ihrem  Wunsch  dem  freien  Uebereinkommen  mit  je- 
dem einzelnen  Gehilfen  überlassen  werden,  wann  die  Sonn- 
tagsruhe zu  beginnen  und  wann  sie  zu  enden  hat,  und 
zwar  soll  sich  dieselbe  auf  12  Stunden  belaufen.  Die 
Statistik  der  Arbeitszeit  ist  nach  zwei  Gesichtspunkten 
zusammengestellt,  mit  Abzug  der  Pausen  und  ohne  Abzug 
der  Pausen.  Wenn  wir  zunächst  die  Gesammtarbeitszeit 
in’s  Auge  fassen,  so  ergiebt  sich,  dass  eine  Arbeitsdauer 
unter  17  Stunden,  wobei  man  eine  Mittagspause  von  einer 
Stunde  einzurechnen  hat,  24,58  pCt.  aller  Arbeiter  haben. 
6,84  pCt.  der  Arbeiter  haben  eine  über  17stündige  Arbeits- 
zeit, so  dass  über  zwei  Drittel  aller  Arbeiter  eine  Arbeits- 
zeit zwischen  12  und  17  Stunden  haben.  Da  nun  vielfach 
die  Abkürzung  der  Arbeitszeit  abgelehnt  wird  mit  dem  Hin- 
weis auf  die  vielfach  bei  dem  Betriebe  stattfindenden  Ruhe- 
pausen, die  sich  einer  Regel  nicht  unterwerfen  lassen,  würde 
auch  die  Dauer  der  Arbeitszeit  mit  Abzug  der  Pausen  er- 
hoben. Dabei  ergiebt  sich,  dass  das  Bild  dasselbe  bleibt. 
Eine  effective  Arbeitszeit  von  10  Stunden  und  weniger  haben 
nur  16,9  pCt.  Dagegen  beträgt  bei  8,88  pCt.  die  effektive 
Arbeitszeit  über  16  Stunden.  Die  Hauptmasse  vertheilt 
sich  in  folgender  Weise: 

effektive  Arbeitszeit 
von 

10 — II  Stunden  haben 


10,33  pCt. 
20,22  „ 
11,92  „ 
13,07  „ 
10,01  „ 
8,57  „ 


Statistik  über  Arbeits-  und  Wohnungsverhältnisse 
im  Bäckergewerbe  Wiens.  Die  Gewerkschaft  der  Bäcker- 
arbeiter Nieder-Oesterreichs  hat  im  Jahre  1892  nach  vielen 
erfolglosen  Versuchen  eine  sehr  interessante  Lohnstatistik1) 
zuwege  gebracht.  Mit  welchen  Schwierigkeiten  die  Arbeiter 
Oesterreichs  bei  solchen  Erhebungen  zu  kämpfen  haben, 
geht  daraus  hervor,  dass  der  Vorläufer  der  genannten 
Gewerkschaft,  der  Fachverein  der  Bäckerarbeiter,  im  Jahre 
1888  polizeilich  sistirt  wurde,  weil  „der  Verein  durch  die 
Aussendung  der  Fragebogen  sich  eine  Autorität  in  einem 
Zweige  der  exekutiven  Gewalt  im  Sinne  des  § 20  des 
Vereinsgesetzes  anzumassen  suchte“  . . . Die  Erhebungen 
von  1888  blieben  in  Folge  der  polizeilichen  Maassregelung 
vollständig  resultatlos.  Die  nun  vorliegende  Arbeit  bezieht 
sich  auf  ein  ziemlich  umfassendes  Material.  Es  bestehen 
in  den  19  Bezirken  von  Wien  640  Bäckereien  mit  3910 
männlichen  und  251  weiblichen  Arbeitern.  Von  diesen  sind 
aus  nicht  weniger  als  543  Bäckereien  mit  2897  männlichen 
und  225  weiblichen  Arbeitern  (832  Lehrlingen)  ausgefüllte 
Fragebogen  eingelaufen,  welche  die  Grundlage  der  vor- 
liegenden Arbeit  bilden.  Die  Fragen  beziehen  sich  auf  die 
Anzahl  der  verschiedenen  Kategorien  von  Arbeitern,  auf 
die  Arbeitszeit,  die  Pausen,  den  Arbeitslohn,  den  Lohn- 
auszahlungstag, die  Kündigungsfrist,  die  Beschaffenheit  der 
Arbeits-  und  der  Schlafräume.  In  einer  besonderen  Rubrik 
sind  Anmerkungen  über  die  Beschaffenheit  der  Kost  u.  dgl. 
enthalten. 

Wie  überall  sind  auch  in  Oesterreich  die  Zustände  der 
Bäckerarbeiter  die  allerschlechtesten.  Ueber  die  Arbeits- 
Jokale  wird  erzählt,  dass  sie  grösstentheils  unterirdisch  sind, 
dass  Luft  und  Licht  fehlt,  und  dass  vielfach  auch  bei  Tag 


*)  Statistische  Zusammenstellung  über  die  Arbeits-  und 
Lohnverhältnisse  im  Bäckergewerbe  in  den  19  Gemeindebezirken 
Wiens.  Nebst  einem  Anhang  über  die  Verhältnisse  von  Kloster- 
neuburg und  Umgebung,  Linz  und  Urfahr,  Salzburg,  Innsbruck, 
Villach.  (Wien,  1893.) 


Es  tagt  gegenwärtig  eine  parlamentarische  Enquete  über 
die  Reform  der  Gewerbe-Ordnung,  welcher  auch  die  Frage 
der  Einbeziehung  des  Kleingewerbes  unter  die  Bestimmungen 
der  Maximalarbeitszeit  vorliegt.  Es  giebt  nicht  leicht  ein 
triftigeres  Argument  für  die  Nothwendigkeit  einer  solchen 
Maassregel  als  die  angeführte  Tabelle.  Dabei  ist  zu  be- 
denken, dass  diese  ungeheuerliche  Arbeitszeit  zum  grössten 
Theil  Nachtarbeit,  und  von  irgend  einer  Regelmässigkeit 
keine  Spur  ist. 

Bei  den  Arbeitslöhnen  fällt  ins  Gewicht,  dass  ein  ge- 
wisser Theil  der  Arbeiter,  309,  noch  die  Kost  beim  Meister 
erhalten.  Zwei  Drittel  dieser  Arbeiter  beziehen  zur  Kost 
einen  Lohn,  der  die  Höhe  von  fünf  Gulden  nicht  erreicht. 
Es  wurde  der  Lohn  von  2345  Arbeitern  erhoben,  die  keine 
Kost  erhalten.  Von  ihnen  beziehen  40,71  pCt.  einen  Lohn 
von  10  fl.  und  darunter,  8,59  pCt.  über  14  fl.,  über  die 
Hälfte  der  Arbeiter  also  zwischen  10  und  14  fl.  Leider 
geht  aus  der  Zusammenstellung  nicht  hervor,  in  welchem 
Verhältniss  der  Arbeitslohn  zur  Arbeitszeit  steht.  Aber  so 
viel  man  aus  den  abgedruckten  Tabellen  ersehen  kann,  ist 
auch  hier  der  Lohn  um  so  geringer,  je  länger  die  Arbeits- 
zeit ist.  Die  Herausgeber  der  Statistik  haben  berechnet, 
dass  für  Helfer,  Mischer  und  Schwarzmischer,  also  Arbeiter, 
welche  eine  grosse  Verantwortung  zu  tragen  haben,  ein 
Arbeitslohn  von  circa  14  kr.  pro  Stunde  entfällt,  für 
Ausschütter,  Vicemischer  und  Kübler,  noch  immer  qua- 
lificirte  Arbeiter,  12  kr.,  für  niedere  Arbeiter  nicht  ein- 
mal 10  kr.,  ja  selbst  8 kr.  pro  Stunde.  Die  Gewerbebehör- 
den sind  gegenüber  den  anerkanntermaassen  und  auch 
wieder  durch  diese  Arbeit  zu  Tage  tretenden  entsetzlichen 
Verhältnissen  vollständig  machtlos.  Die  Arbeiter  selbst  sind 
in  ihren  Bestrebungen  gelähmt,  da  sie  mit  einem  sehr  hohen 
Procentsatz  von  Arbeitslosen  (sie  werden  auf  33  pCt.  der 
in  Wien  Anwesenden  geschätzt)  zu  rechnen  haben.  Die 
Verpflichtung  der  Gesetzgeber,  hier  entschieden  einzugreifen, 
erscheint  durch  die  Enthüllungen  der  vorliegenden  Statistik 
von  der  grössten  Dringlichkeit. 


478 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  40. 


Die  Lohnsätze  in  den  Baumwollspinnereien  Ober- 
Italiens  sind  denkbar  niedrigst.  Der  österreichisch-ungarische 
General-Konsul  in  Venedig  hebt  in  seinem  soeben  er- 
schienenen Jahresberichte  pro  1892  denn  auch  hervor,  dass 
die  dortigen  Lohnverhältnisse  der  Industrie  „günstig“  sind. 
Wie  dies  zu  verstehen  ist,  erhellt  aus  den  Angaben  dieses 
Gewährsmannes,  wonach  eine  Spinnerei,  die  auf  die  Durch- 
schnitts-Garnnummer 24  eingerichtet  ist,  Tageslöhne  von 
1,15 — 1.25  Lire,  sowohl  an  Erwachsene  als  an  jugendliche 
Arbeiter  zahlt.  Etablissements,  die  für  gröbere  Gespinnste, 
für  No.  10,  eingerichtet  sind,  zahlen  1,35  — 1,45  Lire  durch- 
schnittlich pro  Tag.  Nur  wenige  „schlecht  situirte“  — lautet 
der  Konsulatsbericht  — Fabriken  müssen  mit  einem  Zu- 
schlag von  3 — 7 pCt.  rechnen.  Dabei  gemessen  die  italieni- 
schen Spinnereien  das  Recht  des  ununterbrochenen, 
24stündigen  Betriebes,  und  speziell  die  Grobspinnereien 
nützen  diesen  Vortheil  in  weitestem  Maasse  aus.  Die  Niedrig- 
keit der  Löhne  ist  denn  auch  nächst  den  Zollschranken  für 
zahlreiche  grosse  Baumwoll-Etablissements  der  Schweiz, 
Oesterreichs  und  anderer  Staaten  Veranlassung  zur  Er- 
richtung von  Zweigbetrieben  auf  italienischem  Gebiete  ge- 
worden und  Italien  bezieht  demnach  aus  dem  Auslande 
heute  nur  noch  feine  Garne  und  Zwirne  hoher  Nummer. 


Handwerkerfragen. 

Innungen  im  Grossherzogthum  Hessen.  Das  Gewerbe- 
blatt für  das  Grossherzogthum  Hessen  bringt  eine  Statistik 
der  bestehenden  Innungen,  der  wir  folgende  Angaben  ent- 
nehmen: Am  1.  März  1893  bestanden  im  Grossherzogthum 

Hessen  33  Innungen  mit  1291  Mitgliedern;  dieselben  ver- 
theilten sich  auf  folgende  Gewerbe: 


Zahl 

der 

] 

Fleischer 

nnungen 

Mitglieder 

5 

373 

Bäcker  

Barbiere,  Friseure,  Heilgehiilfen , 

7 

363 

Perrückenmacher 

8 

189 

Schlosser  

2 

65 

Schuhmacher  . . . , 

2 

63 

Schornsteinfeger 

1 

44 

Schmiede 

1 

33 

Schreiner  (Tischler) 

27 

Wagner 

1 

25 

Glaser 

1 

7 

Spengler  (Klempner) 

1 

letztgenannte  Innung  der  Spengler 

besteht 

nur  noch 

dem  Namen  nach;  bei  den  übrigen  32  schwankt  die  Zahl 
der  Mitglieder  zwischen  7 und  146.  Ihrem  Wirkungskreise 
nach  erstreckt  sich  I Innung  (Schornsteinfeger)  über  das 
Grossherzogthum,  1 umfasst  4 einer  Provinz  angehörige 
Kreise,  1 Innung  begreift  2 Kreise  als  zur  Innung  gehörig, 
13  Innungen  haben  als  Bezirk  ihrer  Thätigkeit  den  betref- 
fenden Kreis  gewählt,  2 Innungen  theilen  sich  in  einen 
Kreis,  bei  1 Innung  ist  ausser  dem  Stadtbezirk  noch  die 
Umgebung  zugezogen,  während  14  Innungen  sich  auf  den 
Stadtbezirk  beschränken.  An  8 Innungen  sind  die  in  § lOOe 
und  an  .2  die  in  § lOOf  der  Gewerbeordnung  bezeichnten 
Rechte  (Regelung  der  Lehrlingsverhältnisse,  Beitragsver- 
pflichtung von  Nichtinnungsmitgliedern)  verliehen  worden. 
Innungsausschüsse  bestehen  im  Grossherzogthum  nicht. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Die  Arbeiterausstände  in  Oesterreich  im  Jahre  1892. 

Mit  der  Organisirung  einer  Sozialstatistik  will  in  Oester- 
reich durchaus  nicht  der  Anfang  gemacht  werden.  Der 
Antrag  Neuwirth  im  österr.  Abgeordnetenhause,  der  auf 
Errichtung  eines  arbeitsstatistischen  Bureaus  abzielte,  ruht 
bis  auf  weiteres,  und  es  wurde  jüngst  ziemlich  deutlich  von 
anscheinend  autoritativer  Seite  in  Abrede  gestellt,  dass 
seitens  der  Regierung  ein  solcher  Schritt  beabsichtigt  werde. 
Vorderhand  sind  es  immer  wieder  die  alljährlich  erschei- 


nenden Berichte  der  Gewerbe-Inspektoren,  welche  als  ein- 
zige sozialstatistische  Quelle  in  Betracht  kommen.  Und  in 
der  That,  jeder,  der  die  Einzelberichte  von  diesem  Ge- 
sichtspunkte aus,  d.  h.  vom  Standpunkte  der  Anforderungen 
der  Sozialstatistik,  ins  Auge  fasst,  muss  auf  den  ersten 
Blick  erkennen,  wie  vortrefflich  sie  im  Grossen  und  Ganzen 
nach  dieser  Seite  ihre  Aufgabe  erfassen.  Nun  sollte  man 
da  doch  meinen,  dass  der  einleitende  Bericht  des  Central- 
Gewerbe-Inspektors,  der  Jahr  für  Jahr  an  Ausführlichkeit 
gewinnt,  sich  diese  statistische  Qualität  der  Einzelberichte 
zu  Nutzen  machen  und  Hauptübersichten  über  Strikes,  Ar- 
beitsdauer, Ueberstunden,  Wohnverhältnisse,  Haushaltungs- 
budgets u.  dergl.  verfassen  werde.  Dem  ist  aber  nicht  so; 
speziell  bezüglich  der  Strikes  des  Jahres  1892  erfahren  wir 
nichts  anderes  als  deren  Zahl,  insoweit  es  auf  ziffermässig 
fassbare  Erscheinungen  ankommt. 

Nun  möchte  ich  darin  entschieden  einen  Mangel  des 
allgemeinen  Berichts  erblicken.  Da  aber  demgegenüber 
leicht  der  Einwand  gemacht  werden  könnte,  dass  ein  solcher 
Versuch  statistischer  Zusammenfassung  nicht  durchführbar 
sei,  so  soll  in  folgendem  an  dem  Beispiel  der  Arbeiteraus- 
stände bewiesen  werden,  wie  leicht  sich  die  Durchführung 
jetzt  schon  herausstellt  und  noch  mehr  herausstellen  würde, 
wenn  sich  alle  Inspektoren  einer  solchen  Genauigkeit  be- 
fTeissigen  möchten,  wie  dies  einzelne  Berichte  thun  und  alle 
thun  können  und  auch  thun  würden,  wenn  hier  ganz  be- 
stimmte Direktiven  gegeben  wären. 

Ein  solcher  Versuch  hat  aber  weit  über  den  Rahmen 
der  Anordnung  der  österreichischen  Gewerbe-Inspektoren- 
Berichte  hinaus  Interesse,  indem  es  ja  genugsam  bekannt 
ist,  wie  vag  im  allgemeinen  die  Angaben  über  Strikes  sind 
und  wie  wenige  statistische  Bureaux  sich  mit  diesem  Spe- 
zialgebiete der  Statistik,  speziell  der  Sozialstatistik  befassen. 
Und  doch  scheint  hier  jeder  neue  Beitrag  von  Wichtigkeit, 
weil  die  Strikes  der  Sozialgesetzgebung  eine  Fülle  von 
Material  darbieten.  So  seltsam  es  erscheint,  so  ist  es  doch 
unleugbar  richtig,  dass  durch  die  Strikes  in  vielen  Fällen 
Unternehmer,  eventuell  auch  durch  Mitwirkung  der  Ge- 
werbebehörden und  der  Gerichte,  zur  Erfüllung  ihrer  ge- 
setzlichen Verpflichtungen  angehalten  werden;  dagegen 
ist  es  wohl  mehr  bekannt,  dass  im  Falle  des  Unterliegens 
die  Arbeiter  die  Kriegskontribution  häufig  genug  — ausser 
anderem  — auch  in  Arreststrafen  leisten  müssen,  welche 
sie  abzubüssen  haben.  Es  zeigt  sich  aus  dem  vorliegenden 
Berichte  der  österreichischen  Gewerbe  - Inspektoren  für 
1892,  dass  die  Behörden  sich  häufig  genug  auf  Seite  der 
Arbeiter  stellten,  und  dass  verschiedene  wichtige  Anhalts- 
punkte zum  Ausbau  oder  zur  Reform  der  Arbeiterschutz- 
gesetzgebung den  sich  stets  gleichmässig  wiederholenden 
Arbeiter-Forderungen  anlässlich  der  Ausstände  entnommen 
werden  können. 

Das  Jahr  1892  brachte  in  Oesterreich  nicht  gerade 
viele  Arbeiterausstände,  insoweit  dieselben  aus  den  Inspek- 
toren-Berichten  entnommen  werden  können.  Allerdings 
dürften  da  die  Berichte  ziemlich  vollständig  sein,  doch  haben 
einige  Inspektoren  die  nicht  zutreffende  Gepflogenheit,  nur 
jene  Strikes  mitzutheilen  oder  ihrer  Beachtung  zu  unter- 
ziehen, bei  welchen  sie  intervenirt  haben.  Andererseits  ist 
es  häufig  schwierig,  vereinzelte  Arbeitseinstellungen  resp. 
von  Austritten  gefolgte  Arbeitseinstellungen  Einzelner  von 
eigentlichen  Strikes  zu  unterscheiden,  bei  welchen  eben 
doch  eine  grössere  Arbeiterzahl  und  eine  Gemeinschaft- 
lichkeit der  Einstellung,  sowie  eine  Willensübereinstimmung 
der  Arbeiter  vorliegen  muss.  Deshalb  sprechen  auch 
manche  Berichte  nur  von  den  „grösseren“  Ausständen. 

In  der  folgenden  Tabelle  1 ist  nun  zunächst  eine  all- 
gemeine Uebersicht  der  Ausstände  nach  Inspektionsbezirken 
versucht,  welche  sich  ungeachtet  einiger  Lücken  doch 
immerhin  als  durchführbar  herausgestellt  hat. 


No.  40. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAI  .BLATT. 


479 


Tabelle  I.  Haupt  üb  er  sieht 
der  Strikes  nach  Gewerbe-Inspektions-Bezirken. 

i 


(O 

<v 

die  Arbeiter 

hatten 

ä u 

i £ c 

Gewerbe-Inspektions- 

Bezirke 

mit  dem  Sitz  in 

’u  , 

Ün 

u 

<u 

'V 

"ÖS 

N 

Erfolg  in 
.Strikefällen 

keinen  Erfolg 
in  Strikefällen 

unbekannten 

Erfolg 

in  Strikefällen 

Zahl  der  strike 
den  Arbeite 

Zahl  der  ang 
drohten  aber  ni 
ausgebroch.  S 

I.  Wien  . . . 

24 

12 

12 

1550 



11.  Wiener  Neustadt 

4 

2 

2 

__  ' 

')  85 

— 

HI.  Linz  ...... 

;. 

1 . • , 

, r._j : : 

. ’ ' ■ 

IV.  Graz  . . . 

2 

. 

. 

2 

3 

3 

V.  Klagenfurt  . . . 

VI.  Triest  , 

3 

1 

2 

. _ 

*)  12 

1 

_ 

/ 





_ 

VII.  Innsbruck  . . 

— 







— 

— 

VIII.  Prag 

3 

2 

1 

: 

3)  264 



IX.  Reichenberg  . 

18 

9 

6 

3 

4)  2596 

— 

X.  Pilsen  .... 

XI.  Budweis  . . 

XII.  Brünn  .... 

2 

19 

2 

10 

8 

7)  1 

120 

1129 

1 

XIII.  Olmütz  .... 

7 

3 

2 

2 

8)  1360 

1 

XIV.  Troppau  . . . 

2 

— 

2 

— 

29 

— 

XV.  Lemberg  . . 

1 

1 

— 

— 

100 

Schiffiährtsgewerbe  . 

— 

— 

— 

— 

— 

Zusammen  1892 

85 

42 

35 

8 

9)  7248 

6 

Die  Zahl  der  Strikes,  85,  ist  somit  eine  verhältniss- 
mässig  mittlere,  eher  geringe,  auch  mit  Rücksicht  darauf, 
dass  nur  etwa  7 — 8000  Arbeiter  im  Ausstand  begriffen 
waren;  allerdings  ist  hierbei  zu  bemerken,  dass  die  Angaben 
für  die  Arbeiterausstände  auf  den  zahlreichen  Bauplätzen 
in  Prag  und  dessen  Vorstädten  fehlen,  bei  welchen  der 
Gewerbe-Inspektor  eben  „nicht  intervenirte“.  Die  Ein- 
beziehung dieser  Arbeiter  würde  die  Ziffern  der  ausständi- 
gen Arbeiter  bedeutend  erhöhen.  (Diese  eben  genannten 
Ausstände  bezweckten  die  Verlegung  des  Arbeitsbeginns 
von  6 Uhr  früh  auf  7 Uhr,  bei  sonstiger  gleicher  Stunde 
für  den  Schluss  und  hatten  theilweisen  Erfolg.)  — Aus  der 
vorstehenden  Tabelle  entnimmt  man  auf  den  ersten  Blick, 
dass  eigentlich  nur  die  Industriegebiete  Reichenberg  (an 
2600  strikende  Arbeiter),  Mähren  resp.  Brünn  und  Olmütz 
(2500)  und  Wien  (1550  strikende  Arbeiter)  ins  Gewicht 
fallen,  und  alle  anderen  Bezirke  gar  nicht  oder  sehr  wenig 
in  Betracht  kommen;  Prag  käme,  wie  gesagt,  ebenso  in 
Betracht,  wenn  die  Zahl  der  ausständig  gewesenen  Bau- 
arbeiter bekannt  wäre. 

Was  den  Erfolg  der  Strikes  anbelangt,  so  war  derselbe 
in  der  Hälfte  der  Fälle  für  die  Arbeiter,  dagegen  in  40  pCt. 
der  fälle  gegen  sie,  während  für  einige  Ausstände  der 
Ausgang  nicht  ersichtlich  ist.  Jedenfalls  scheint  im  allge- 
meinen der  Effekt  mehr  zu  Gunsten  der  Arbeiter  zu  neigen. 
Es  wird  nun  möglich  sein,  über  diesen  Rahmen  hinaus  ein- 
gehendere Einblicke  zu  gewinnen,  wenn  wir  zunächst  die 
drei  wichtigsten  Strikegebiete  einzeln  ins  Auge  fassen,  und 
zwar  zunächst  in  Tabelle  II  die  Ausstände  in  Wien. 

Von  den  24  Stri  kes  (von  welchen  die  Tabelle  I die 
genaueren  Daten  für  23  enthält)  fanden  19  in  Einzelbetrieben 
statt  und  5 betrafen  ganze  Gewerbegruppen.  Von  diesen 
letztgenannten  wurden  alle,  mit  Ausnahme  des  Kutscher- 
strikes,  in  der  Absicht,  eine  zehnstündige  (resp.  noch  kürzere) 
Arbeitszeit  herbeizuführen,  unternommen;  der  Kutscher- 
strike  dagegen  fand  in  Folge  einer  Verfügung  der  Behörde 


')  Für  zwei  Etablissements  fehlen  die  Angaben.  —  *  2)  Für 
ein  Etablissement  (Buchdruckerei)  fehlen  die  Angaben.  — J)  Ohne 
die  strikenden  Bauarbeiter,  deren  Zahl  sehr  gross  war.  — 5)  Für 
drei  Etablissements  fehlen  die  Angaben.  — ~ 6)  Für  ein  Etablisse- 
ment desgl.  — 7)  Der  Strike  dauerte  in,  das  Jahr  1893  hinein.  — 

8)  Für  zwei  Etablissements  fehlen  die  Angaben.  — 9)  Für  neun  i 
Etablissements  und  die  strikenden  Bauarbeiter  in  und  um  Prag 
lehlen  die  Angaben. 


Tabelle  II.  Die  Ausständc  in  Wien. 


Betriebe 

Zahl  der 
betroffenen 
Unter- 
nehmun- 
gen 

Zahl  der 
Arbeiter 
in 

denselben 

Zahl  der 
strikenden 
Arbeiter 

Dauer  der 
Strikes  in 
Tagen 

1)  Partielle  Strikes 
in  einzelnen 
Betrieben. 

Metalllampenfabriken  . . 

2 

950 

45 

42,  3 

Broncelustrefabrik  . . . 

1 

70 

6 

7 

Wäschefabriken  .... 

3 

510«) 

123 

9,  1,  6 

Taschner 

1 

19 

10 

6 

Pfeifenschneider . . 

1 

18 

11 

2 

Stockfabrik 

1 

23 

15 

49 

Zusammen  . . . 

9 

1590 

210 

— 

2)  V ollständigeStrikes 
in  einzelnen 
Betrieben. 

Kunstgiesserei  .... 

1 

12 

12 

8 

W erkzeugmasch  i nen  fabr . 

1 

40 

40 

2 

Tischler 

2 

17 

17 

8,  7 

Kartonnagewaarenfabrik . 

2 

111 

111 

2,2 

Stockfabrik 

1 

27 

27 

8 

Kassenfabrik 

1 

19 

19 

16 

Celluloidwäschefabrik . . 

1 

14 

14 

11 

Zusammen  . . 

9 

240 

240 

, ■ 

3)  S.trikes  ganzer 
Gewerbekategorien. 

Feilenhauer 

? 

? 

160 

24 

Kutscher 

? 

? 

? 

3 

Kistentischler 

? 

? 

180 

9 

Holzdrechsler. 

? 

? 

600 

7—21 

Rohrdrechsler  .... 

? 

? 

160 

13 

Zusammen  . . . 

? 

? 

1 1002) 

— 

(wegen  Beistellung  geschlossener  Wagen  zu  den  Bahnhöfen) 
statt.  In  10  Fällen  von  24  war  als  Erfolg  die  Erreichung 
aller,  in  2 Fällen  jene  einzelner  Arbeiterforderungen  zu  ver- 
zeichnen, während  genau  die  Hälfte  der  Fälle  mit  einer 
Niederlage  der  Arbeiter  endigte.  Dabei  fanden  bei 
7 Strikes  Arbeiterentlassungen  und  Ersatz  derselben  durch 
Andere  statt.  Jedoch  bemerkt  der  Bericht,  dass  es  sich  im 
allgemeinen  als  undurchführbar  herausstellte,  fremde  Ar- 
beiter zum  Ersätze  heranzuziehen  und  da.ss  auch  Zuzüge 
aus  dem  Deutschen  Reiche  nicht  in  Betracht  kommen  konnten. 
Fanden  dieselben  doch  statt,  so  konnten  sich  die  fremden 
Arbeiter  zumeist  nicht  behaupten.  Als  Strikeursachen  resp. 
Forderungen,  welche  im  einzelnen  aus  dem  Berichte  nicht 
ersehen  werden  können,  werden  nichtbewilligte  Lohn- 
erhöhungen als  an  erster  Stelle  stehend  bezeichnet;  doch 
stehen  mit  dieser  Behauptung  die  Angaben  der  Berichte 
der  anderen  Bezirke  nicht  in  Uebereinstimmung,  und  es 
wäre  überhaupt  gefehlt,  wollte  man  die  Strikes,  wie  es  so 
häufig  geschieht,  schlechthin  als  ein  Mittel  zur  Erlangung 
höherer  Löhne  bezeichnen.  Es  soll  auf  diesen  Punkt  noch 
einmal  zurückgegriften  werden. 

Die  Tabelle  III  giebt  das  Detail  für  die  18  Ausstände, 
welche  im  wichtigen  Industriegebiete  des  Reichenberger 
Aufsichtsbezirkes  vorfielen,  und  zwar  ist  es  dabei  auch 
möglich,  die  Erfolge  jedes  einzelnen  dieser  Strikes  zu  ver- 
zeichnen. 

Es  wären  immerhin  schon  bedeutsame  Kämpfe,  die 
sich  hier  abspielten,  und  Zwar  betrafen  sie  die  ureigenste 
Industriegattung  des  nordböhmischen  Industriezentrums,  die 
Webereien  und  Spinnereien.  Im  allgemeinen  dauerten  die 
Ausstände  nach  Wochen  und  nicht  nur  nach  Tagen;  es 
sind  Strikes  von  1,  von  2—5  Wochen.  Dabei  ist  es  eine 
deutlich  hervortretende  Erscheinung,  die  auch  anderwärts 

0 Weibliche  Arbeiter. 

2)  Ohne  die  Kutscher. 


480 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  40. 


Tabelle  111.  Die  Ausstände  im  Reichenberger  Bezirke. 


Zahl  der 

Dauer  der 

die  Arbeiter  erzielten 

Betriebe 

strikenden 

Arbeiter 

Strikes 
in  Tagen 

Erfolge 

keine 

Erfolge 

Baumwollspinnerei . . . 

) 

10 

1 

Mechanische  Weberei . . 

} 1500 

7 

1 

• — • 

i 

7 

1 

r-r.  . 

„ „ . . 

520 

kurz 

1 

. . — t 

250 

14 

1 

“ 

„ „ drei- 

mal 

? 

kurz 

? 

? 

Mechanische  Weberei . . 

? 

35 



i 

Baumwollspinnerei . . . 

43 

kurz 

1 — 

1 

,,  zwei- 

mal 

? 

3,6 

1 

1 

Baumwollspinnerei . . . 

30 

2 

— 

1 

Seidenweberei  .... 

23 

10 

1 

— 

Handseidenweberei  . . 

55 

10 

1 

— 

Tuchfabrik 

120 

21 

— 

1 

Schuhwaarenfabrik . . . 

40 

kurz 

1 

— 

Porzellanfabrik  .... 

15 

21 

1 

Zusammen  18  Strikes 

2596-) 

9 

6 

bestätigt  wird,  dass  es  nicht  gerade  die  langandauernden 
Ausstände  sind,  welche  dem  Arbeiter  zum  Siege  verhelfen. 
Es  scheint,  dass  der  Erfolg  des  Strikes  im  umge- 
kehrten Verhältnisse  zu  dessen  Dauer  steht.  Die 
Strikes  von  5 und  3 Wochen  endigten  alle  mit  einer 
Niederlage  der  Arbeiter;  dagegen  hatten  gerade  kürzere, 
ja  wie  aus  anderen  Berichten  ersichtlich  ist,  ganz  kurze, 
oft  nur  nach  Stunden  zählende  Strikes  einen  Effekt.  Es 
kommt  eben  nicht  auf  die  Dauer  an,  welche  dem  Arbeiter 
weit  mehr  gefährlich  ist  als  dem  Unternehmer,  sondern 
das  geschlossene  Auftreten,  die  weite  Ausdehnung  über 
ganze  Unternehmungsgruppen  sowie  die  Wahl  des  rich- 
tigen Zeitpunktes  sind  die  richtigen  taktischen  Mittel.  Ferner 
ist  es  ganz  charakteristisch,  dass  die  Ausstände  in  mechani- 
schen Webereien  fast  durchweg  zum  Ziele  führten,  während 
die  in  Spinnereien  unternommenen  ohne  Effekt  verliefen. 

Ein  ganz  anderes  Bild  geben  die  Strikes  im  öster- 
reichischen Manchester,  in  Brünn  und  seinen  Bezirken,  wie 
die  Tabelle  IV  beweist. 


Tabelle  IV.  Die  Ausstände  im  Brünner  Bezirke. 


Betriebe 

Zahl  der 
strikenden 
Arbeiter 

Dauer  der 
Strikes 
in  Tagen 

die  Arbeite 
Erfolge 

:r  erzielten 

keine 

Erfolge 

Buntweberei 

23 

2 

1 

• _ 

Wollwaarenfabrik  . . . 

«)  26 

1A 

1 

— 

„ zweimal 

*)  50 

7? 

2 

— 

,,  ... 

*)  52 

14 

— 

1 

,,  ... 

20 

•) 

— 

1 

,,  ... 

*)  203) 

•) 

1 

— 

Schafwollwaarenfabrik 

5 

V* 

— 

1 

Spinnerei4) 

»)  25 

*) 

— 

1 

Handweberei 

»)  56 

42 

— 

1 

Blechgeschirrfabrik . . . 

35 

2) 

1 

Maschinenfabrik  .... 

i)  430 

7 

1 

— 

„ .... 

140 

5) 

5) 

5) 

Thonwaarenfabrik  . . . 

')  64 

1 

1 

— 

Lederfabrik 

8 

1 

. 

1 

Eisenwerk  

*)  140 

2 

1 

. > __ 

Weicheisengiesserei  . . 

«)  21 

.4  ■ 

1 

— 

Anstreicher 

9 

5) 

— 

1 

Steinmetzer 

5 

5 

1 

— 

Zusammen,  19  Strikes 

1129 

. 10 

8 

*)  Für  drei  Etablissements  fehlen  die  Ziffern. 

')  Die  Bezeichnung  der  Zahlen  der  strikenden  Arbeiter  mit  J) 
drückt  aus,  dass  sämmtliche  Arbeiter  einer  bestimmten  Arbeits- 
kategorie des  Etablissements  die  Arbeit  einstellten. 
a)  Definitiver  Austritt  der  Arbeiter. 

3)  Weibliche  Arbeiter. 

+)  Allgemeine  Bewegung  unter  den  Nachtschroblern. 

5)  Der  Strik  zog  sich  ins  Jahr  1893  hinüber. 


Auch  hier  ist  es  die  Textilindustrie,  welche  das  grösste 
Kontingent  der  Strikes,  jedoch  nicht  die  grössten  derselben 
beistellt.  Dabei  tritt  uns  ferner  die  charakteristische  Er- 
scheinung entgegen,  wie  geschult  die  Strikenden  waren;  in 
der  grösseren  Zahl  der  Fälle  traten  stets  die  gesammten 
Arbeiter  einer  bestimmten  Arbeitskategorie  des  Unternehmers 
in  Ausstand,  wodurch  ihre  Forderungen  naturgemäss  an 
Gewicht  gewannen.  Dass  die  lang  andauernden  Striks  zu- 
meist keinen  Effekt  haben,  ersieht  man  auch  hier  ungemein 
klar  und  deutlich;  die  grossen  Striks  von  2 und  7 Wochen 
endigten  mit  einer  Niederlage,  die  ganz  kurzen  von  */2 
bis  7 Tage  zumeist  mit  einem  Siege  der  Arbeiter,  Dort, 
wo  die  Arbeiter  ganzer  Arbeitsgruppen  geschlossen  auf- 
traten, d.  i.  in  10  Fällen,  errangen  sie  fast  immer,  nämlich 
in  8 Fällen  den  Sieg.  Während  so  auf  der  einen  Seite  der 
Strikekampf  entschieden  taktisch  und  disziplinirt  geführt 
wurde,  so  entsprachen  dem  regelrechten  Kampfe  auch  die 
Folgen  der  Niederlage;  5 der  8 Niederlagen  der  Arbeiter 
mussten  mit  endgültigem  Austritt,  mit  Entlassungen  oder 
Arrest  bezahlt,  und  auch  ein  1 Sieg  konnte  nur  durch  end- 
gültigen Austritt  errungen  werden:  es  giebt  eben  auch 
Pyrrhussiege,  bei  welchen  die  Arbeiter  zwar  ihre  Forde- 
rungen erfüllt  erhalten,  aber  doch  die  Arbeit  definitiv  auf- 
geben, weil  sie  ihre  Forderungen  nicht  mit  steten  Kämpfen 
erringen  wollen. 

Werfen  wir  nun  kurz  einen  Blick  auf  die  anderen  In- 
spektionsgebiete, so  ist  zunächst  zu  konstatiren,  dass  in 
jenen  von  Linz,  Triest,  Innsbruck,  Pilsen  und  im  Schiffer- 
gewerbe solche  überhaupt  nicht  vorkamen. 

Für  Niederösterreich  (ausser  Wien)  liegen  nur  mangel- 
hafte Anhaltspunkte  vor;  charakteristisch  ist,  dass  ein  Strike 
in  einer  Eisengiesserei  direkt  auf  die  Abstellung  von  , 
Gesetzwidrigkeiten  gerichtet  war,  was  auch  unter  Inter- 
vention der  Behörde  gelang.  Auch  im  Grazer  Bezirk  waren 
die  Ausstände  nicht  so  zahlreich  und  scharf  wie  sonst,  und  , 
es  gelang  dem  Inspektor  den  Ausbruch  von  3 Ausständen 
durch  sein  Dazwischentreten  zu  verhindern.  Im  Klagen- 
furter Bezirke  scheinen  die  Ausstände  etwas  leichtsinnig 
angefangen  worden  zu  sein;  sie  mussten  dem  zu  Folge  in 
2 von  3 Fällen  mit  einer  Niederlage  und  Arreststrafen 
gebüsst  werden.  Dagegen  war  der  in  Prag  in  den  Werk- 
stätten von  56  Wagenmeistern  von  86  Arbeitern  resp.  Ge- 
hilfen inszenirte  Strike,  ebenso  wie  ein  bei  einer  Aussiger 
Stückfärberei  von  240  männlichen  und  weiblichen  Arbeitern 
durch  4 Tage  durchgeführter  Strike  von  Erfolg  begleitet. 
Dasselbe  gilt  für  die  2 Ausstände  im  Budweiser  Gebiet 
(1  Glasschleiferei  und  1 Seidenwaarenfabrik);  allerdings  war 
in  diesen  beiden  Fällen  das  Recht  in  eklatanter  Weise  aul 
Seite  der  Arbeiter  und  wurde  ihnen  unter  Intervention  der 
politischen  Behörde  und  des  Inspektors,  indem  es  sich  um 
Abstellung  von  Misshandlungen , unberechtigten  Lohn- 
abzügen etc.  handelte.  In  Olmütz  strikten  über  1400  Ar- 
beiter, davon  1100  in  einer  nicht  weiter  bezeichneten 
„Fabrik“,  und  auch  hier  zeigten  sich  ganz  krasse  Fälle  von 
Kantinenunwesen,  brutaler  Behandlung,  Lohnzurückhaltungen 
u.  dergl.,  so  dass  mehrere  Bestrafungen  der  Unternehmer 
und  gerichtliche  Schritte  gegen  sie  nöthig  wurden.  In  Schlesien 
unterlagen  die  Weber  beide  Male,  während  die  Talesweber 
in  Kolomea,  welche  100  an  der  Zahl  gleichzeitig  bei  11  Unter- 
nehmungen ausstanden,  zwar  einen  Sieg  errangen,  dessen 
aber  nicht  lange  froh  werden  konnten.  Es  sind  dies  orthodox- 
jüdische Weber  von  rituellen  Gebettüchern,  welche  dadurch 
in  eine  schwierige  Lage  gebracht  werden,  dass  sie  sowohl 
am  Sabbath,  da  aus  rituellen  Gründen,  als  auch  am  Sonntag 
sich  der  Arbeit  enthalten  müssen,  somit  nur  5 Arbeitstage 
in  der  Woche  haben. 

Leider  ist  es  mit  Hülfe  der  vorliegenden  Berichte  nicht 
möglich,  auch  die  anlässlich  der  Strikes  gestellten  Forde- 
rungen der  Arbeiter  in  eine  übersichtliche  Darstellung  zu 
bringen,  obgleich  dies  bei  anderer  Anordnung  ganz  leicht 


No.  40. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


481 


anginge.  Jedenfalls  aber  erhält  man,  wie  schön  oben  be- 
merkt, den  entschiedenen  Gesammteindruck,  dass  die  Strikes 
durchaus  nicht  ausschliesslich,  und  vielleicht  auch 
nicht  in  erster  Linie  auf  Lohnerhöhungen  gerichtet 
sind.  Eher  noch  sollen  angekündigte  Lohnerniedrigungen 
verhindert  oder  die  Arbeitszeit  ermässigt  werden.  Dagegen 
sind  die  Fälle  ungemein  häufig,  in  denen  geradezu  Gesetz- 
widrigkeiten oder  grosse  Unbilligkeiten  zu  Grunde 
liegen  und  mit  diesem  Kampfesmittel  abgestellt  werden 
sollen.  Dabei  ist  nun  die  Haltung  der  Gewerbe-Inspektoren 
an  sich  schon,  aber  auch  jene  der  politischen  als  Gewerbe- 
behörden zu  loben,  welche  mit  grosser  Objektivität  ent- 
scheiden. Eben  so  gut  trifft  die  Unternehmer  die  Ahndung 
des  Gesetzes  wie  die  Arbeiter;  allerdings  betrifft  sie  die 
letzteren  weit  mehr  als  die  ersteren,  denn  die  Arbeiter 
büssen  mit  Arrest,  die  Unternehmer  mit  Warnungen,  mit 
Geldstrafen  oder  einfach  dadurch,  dass  sie  zur  Abstellung 
von  Gesetzwidrigkeiten  und  Unbilligkeiten  verhalten  werden. 
Sehr  zahlreich  sind  dabei  die  Fälle,  in  denen  ganze  Ar- 
beiterpartien entlassen  resp.  nicht  wieder  aufgenommen 
werden,  oder  in  denen  sie  im  Gefühle,  dass  ein  dauernder 
befriedigender  Zustand  doch  nicht  zu  erwarten  sei,  auf  diese 
Arbeit  endgültig  verzichten. 

Aus  den  vorstehenden  Ausführungen  dürfte  zur  Genüge 
erhellen,  dass  es  möglich  ist,  eine  Statistik  der  Arbeiter- 
Strikes  zu  geben,  und  dass  die  Gewerbe-Inspektoren  hierfür 
vortrefflich  geeignete  Organe  sind.  Es  wäre  auf  das 
Freudigste  zu  begrüssen,  wenn  der  nächstjährige  einleitende 
Bericht  des  Centralgewerbe-Inspektors  auf  die  hiermit  ge- 
gebene Anregung  Bezug  nehmen  und  demzufolge  die  ent- 
sprechenden vorbereitenden  Schritte  bei  den  einzelnen 
Inspektoren  in  dieser  Richtung  machen  würde. 

Prag.  Ernst  Mischler. 

Der  Kampf  gegen  die  Pariser  Arbeitsbörse.  Es  ist 

merkwürdig,  dass  gerade  immer  diejenigen,  die,  wenn  es 
sich  um  eine  Intervention  zu  Gunsten  der  Arbeiter  handelt, 
stets  das  Laissez-faire,  laissez-passer  als  die  höchste  Re- 
gierungsweisheit proklamiren,  auch  stets  immer  die  Ersten 
und  Lautesten  sind,  die  nach  der  Regierung  rufen,  wenn 
es  sich  darum  handelt,  gegen  die  Arbeiter  vorzugehen. 
Das  zeigt  sich  wieder  in  dem  Kampfe  gegen  die  Pariser 
Arbeitsbörse,  der  Centralverbindung  der  Arbeitersyndikate 
des  Seinedepartements.  Sind  den  Doktrinär-Liberalen  die 
Gewerkvereine  überhaupt  ein  Gräuel,  so  die  von  Paris 
wegen  deren  stetigen  Ausbreitung  und  regen  Thätigkeit 
ganz  besonders.  Doch  wie  diesen  ernstlich  zu  Leibe  rücken? 
Sie  hatten  es  Jahre  lang  versucht,  die  Berufssyndikate  da- 
durch in  Misskredit  zu  bringen,  dass  sie  sie  auf  gleichen  Fuss 
mit  den  ehemaligen  Zünften  stellten  und  sie  als  im  Wider- 
spruch mit  den  „Prinzipien  von  1789“  stehend,  erklärten. 
Aber  konnte  man  denn  das  so  schwer  errungene  Gesetz 
vom  21.  März  1884,  das  den  Arbeitern  gestattet,  sich  frei 
zu  Gewerkschaften  zu  konstituiren,  ohne  erst  die  Genehmi- 
gung der  Regierung  einholen  zu  müssen  (se  constituer 
librement,  sans  l'autorisation  du  Gouvernement)  so  leichter- 
dings  wieder  umstossen?  Nicht  minder  fehl  schlug  ihr 
Versuch,  die  Arbeiter  selbst  gegen  die  Syndikate  aufzu- 
bringen. Sie  sprachen  wohl  zu  diesem  Behufe  stets  von 
der  „Tyrannei  der  Syndikate“ ; je  mehr  sie  sich  aber  der 
Gewerkschaftsbewegung  entgegenstemmten  , desto  mehr 
Arbeiter  schlossen  sich  ihr  an.  Da  kamen  sie  auf  den 
nicht  schlecht  ausgeklügelten  Plan,  das  Syndikatsgesetz 
selbst  als  AngrifTswaffe  zu  gebrauchen.  Der  Art.  4 dieses 
Gesetzes  besagt  nämlich,  dass  die  Gründer  eines  jeden 
Syndikats  die  Statuten  über  die  Namen  derjenigen,  die 
unter  irgend  einem  Titel  mit  der  Verwaltung  der  Leitung 
betraut  sind,  bei  dem  Bürgermeisteramt  desjenigen  Ortes, 
wo  sich  das  Syndikat  befindet,  in  Paris  bei  der  Seine- 
präfektur, zu  hinterlegen  haben;  dass  diese  Hinterlegung 
bei  jeder  Direktions-  oder  Statutenänderung  zu  erneuern 
ist  und  dass  sämmtliche  Verwaltungs-  oder  Direktionsmit- 
glieder Franzosen  und  im  Genüsse  ihrer  bürgerlichen 
Rechte  sein  müssen.  Nun  giebt  es  thatsächlich  eine  An- 


zahl von  Syndikaten,  von  denen  der  Arbeitsbörse  unge- 
fähr die  Hälfte,  die  diesen  Bestimmungen  nicht  nachge- 
kommen sind  und  prinzipiell  auch  nicht  nachzukommen  ge- 
denken. Sie  finden  es  nämlich  ungebührlich,  dass  man  die 
Syndikate  verhalte,  den  Bürgermeistern,  die,  wenn  sie  auch 
nicht  immer  selber  Unternehmer  sind,  so  doch  mit  solchen 
in  Verbindung  stehen,  die  Namen  ihrer  Ausschussmitglieder 
bekannt  zu  geben,  was,  wie  die  Erfahrung  lehrt,  nicht 
selten  zu  deren  Maassregelung  führt,  und  sie  sehen  auch 
nicht  ein,  warum  sie  sonst  tüchtige  Mitglieder,  weil  die- 
selben nicht  auf  französischem  Boden  geboren  wurden, 
nicht  in  den  Ausschuss  sollen  wählen  dürfen.  Die  Gründe, 
warum  diese  Syndikate  nicht  den  Bestimmungen  des  Art.  4 
nachkommen,  sind  aber  hier  nebensächlich  und  man  kann 
doch  wohl  denen,  die  eine  Befolgung  des  Gesetzes  ver- 
langen, vom  rechtlichen  Standpunkt  aus,  kaum  einen  Vor- 
wurf daraus  machen.  Der  Angriffsplan  war  also  ganz 
schulgerecht.  Nur  muss  man  sich  fragen,  warum  erst  jetzt 
gegen  diese  Syndikate  vorgegangen  wird,  da  doch  deren 
Vorhandensein  bisher  Niemandem  ein  Geheimniss  war  und 
der  Regierung  am  allerwenigsten  unbekannt  sein  durfte, 
als  doch  das  „Annuaire  des  Syndicats  professionnels“, 
das  noch  zudem  vom  Handelsministerium  herausge- 
geben wird,  die  Zahl  der  nicht  dem  Gesetze  vom 
21.  März  1884  nachgekommenen  Syndikate  seit  Jahren 
regelmässig  verzeichnet.  Und  will  man  schon  diese  Syndi- 
kate mit  einem  Male  gesetzlich  verfolgen,  warum  dann  ge- 
rade diejenigen  herausgreifen,  die  in  der  Arbeitsbörse  ihren 
Sitz  haben?  Dies  ist  aber  geschehen.  Der  Seinepräfekt 
hat  nämlich  in  der  Arbeitsbörse  mittelst  Anschlages  bekannt 
geben  lassen,  dass  die  Syndikate,  die  nicht  bis  zum  5.  Juli 
den  Bestimmungen  des  Art.  4 des  Gesetzes  vom  21.  März 
1884  nachgekommen  sind,  von  diesem  Tage  ab  nicht  mehr 
in  der  Arbeitsbörse  verbleiben  dürfen.  Es  ist  offenbar,  dass 
man  mit  diesen  Syndikaten  zugleich  und  zwar  vornehmlich 
die  Pariser  Arbeitsbörse  treffen  wollte,  die  einen  immer 
grösseren  Einfluss  auf  die  ganze  gewerkschaftliche  Be- 
wegung Frankreichs  gewinnt.  Hätte  nicht  ganz  besonders 
die  Arbeitsbörse  getroffen  werden  sollen,  dann  würde  man 
sicherlich  nicht  blos  gegen  die  daselbst  befindlichen,  son- 
dern gegen  alle  dem  Art.  4 nicht  nachgekommenen  Syndi- 
kate vorgegangen  sein,  und  zwar  nicht,  wie  dies  hier  der 
Fall  ist,  auf  administrativem  Wege,  sondern  auf  gericht- 
lichem. Nach  Art.  9 des  angezogenen  Gesetzes  können 
nämlich  die  Leiter  oder  Verwalter  der  den  obenbezeichne- 
ten  Bestimmungen  nicht  nachgekommenen  Syndikate  gericht- 
lich verfolgt  und  zu  einer  Geldstrafe  von  16 — 200  frcs.  ver- 
urtheilt  werden.  Gleichzeitig  kann  von  den  Gerichten  die 
Auflösung  der  betreffenden  Syndikate  ausgesprochen 
werden.  Ehe  man  also  die  nicht  dem  Syndikatgesetze 
nachgekommenen  Gewerkvereine  rechtlich  aus  der  Arbeits- 
börse weisen  könnte,  müssten  erst  die  Leiter  oder  Ver- 
walter gerichtlich  bestraft  und  die  Vereine  selbst  gericht- 
lich aufgelöst  werden.  Man  sieht  daraus  zu  deutlich,  dass 
der  ganze  Kampf  der  Pariser  Arbeitsbörse  gilt.  Das  hat 
denn  auch  das  Generalkomitee  der  Arbeitsbörse,  das  ist 
die  Vertretung  sämmtlicher  daselbst  befindlichen  Syndikate 
— 270  an  der  Zahl  — sowie  der  Pariser  Gemeinderath, 
dem  die  Errichtung  der  Arbeitsbörse  in  erster  Linie  zu 
danken  ist , von  vornherein  erkannt.  Der  Generalrath 
hat  sich  darum  mit  den  aus  der  Arbeitsbörse  auszuweisenden 
Syndikaten  solidarisch  erklärt,  während  der  Gemeinderath 
einen  von  Vaillant  ausgegangenen  Antrag  angenommen  hat, 
der  seinem  Willen,  die  Syndikate  in  der  Arbeitsbörse  in 
voller  Freiheit  zu  belassen,  Ausdruck  verleiht,  das  General- 
komitee zu  dessen  Verhalten  beglückwünscht,  sich  dessen 
Bemühungen,  die  Existenz  und  Freiheit  der  Arbeitersyndi- 
kate und  der  Arbeitsbörse  zu  vertheidigen,  anzuschliessen 
erklärt  und  schliesslich  das  Parlament  anruft,  den  Art.  4 
des  Syndikatsgesetzes  unverzüglich  aufzuheben.  Man  sieht, 
dass  der  Kampf  gegen  die  Arbeitsbörse  sich  zu  einem 
Kampfe  mit  dem  Gemeinderath  zuspitzt,  und  es  sollte  uns 
nicht  wundern,  wenn  schliesslich  der  Gemeinderath  Recht 
behielte  und  Art.  4 des  Gesetzes  vom  21.  März  1884  auf- 
gehoben würde.  Denn  es  ist  wohl  kaum  anzunehmen,  dass 
die  Regierung,  so  sehr  sie  sich  auch  befleissen  möge,  den 
oberen  Kreisen  angenehm  zu  sein,  es  wagen  werde,  alle 
nicht  den  Bestimmungen  des  Art.  4 nachgekommenen  Syndi- 


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kate  gerichtlich  verfolgen  zu  lassen,  und  zwar  um  so 
weniger,  als  sie,  nach  dem  Vorgänge  des  Generalkomitees 
der  Pariser  Arbeitsbörse  zu  urtheilen,  in  diesem  Falle  nur 
allzubald  sämmtliche  Arbeitersyndikate  zu  verfolgen  hätte. 
Und  Frankreich  zählt  deren  gegenwärtig  nahezu  2000! 


Politische  Arbeiterbewegung. 

Internationaler  sozialistischer  Arbeiterkongress.  In 

der  Zeit  vom  6.  bis  zum  12.  August  findet  in  Zürich  der 
internationale  sozialistische  Arbeiterkongress  statt.  Die 
provisorische  Tagesordnung,  die  das  Organisationskomite 
vorschlägt,  enthält  die  folgenden  Punkte:  1.  Maassregeln 

zur  internationalen  Durchführung  des  Achtstundentages, 
2.  gemeinsame  Bestimmungen  über  die  Maifeier,  3.  die  poli- 
tische Taktik  der  Sozialdemokraten,  4.  Stellung  der  Sozial- 
demokratie im  Kriegsfälle,  5.  Schutz  der  Arbeiterinnen, 
6.  nationale  und  internationale  Ausgestaltung  der  Gewerk- 
schaften, 7.  internationale  Organisation  der  Sozialdemo- 
karten, 8.  Verschiedenes. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Zur  Sonntagsruhe  in  Hessen.  Eine  ministerielle  Ver- 
ordnung, die  in  diesen  Tagen  veröffentlicht  wurde,  trifft 
eine  Abänderung  der  Bestimmungen  über  die  Handhabung 
der  Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe.  Danach  darf  der 
Verkauf  von  Cigarren  und  Tabak  sowohl  im  Sommer  wie 
im  Winter  nur  in  der  Zeit  von  I 1 Uhr  Vormittags  bis  7 Uhr 
Abends  stattfinden,  der  Verkauf  von  Back-  und  Konditor- 
waaren  ist  im  Sommer  von  5 Uhr  Morgens  bis  3 Uhr  Nach- 
mittags, im  Winter  bis  4 Uhr  Nachmittags  gestattet.  Blumen 
und  Kränze  dürfen  im  Sommer  von  6 bis  9 Uhr  Vor-  und 
von  1 1 bis  4 Uhr  Nachmittags,  im  Winter  von  7 bis  9 Uhr  Vor-, 
und  von  1 1 bis  4 Uhr  Nachmittags  verkauft  werden.  Der  Ver- 
kauf von  Zeitungen  und  Druckschriften  auf  den  Bahnhöfen 
ist  im  Sommer  von  6 Uhr  Morgens  bis  Mittag  1 Uhr  und 
im  Winter  bis  Mittags  2 Uhr  gestattet,  im  Uebrigen  können 
Zeitungsexpeditionen  von  4 bis  9 Uhr  im  Sommer  und 
Winter  offen  halten.  Die  sonstigen  Veränderungen  sind 
ganz  unwesentlich. 


Arbeiterversicherung. 

Zur  Reform  der  deutschen  Unfallversicherung.  Hierzu 
schreibt  der  Fabrikinspektor  des  II.  Aufsichtsbezirks  im 
Grossherzogthum  Hessen,  Herr  Krauss,  in  seinem  kürzlich 
erschienenen  Jahresbericht  für  1892:  „Meiner  Ansicht  nach 
wäre  die  Organisation  der  Unfallversicherung  durch  Bil- 
dung räumlicher  Bezirke  praktischer  und  die  Verwaltung 
dann  einfacher  und  billiger,  denn  die  Eintheilung  der  ein- 
zelnen Betriebe  in  Berufsgenossenschaften  ist  in  sehr  vielen 
Fällen  keine  reine;  die  reine  Durchführung  dieser  Eintheilung 
ist  überhaupt  unmöglich.“  Das  deckt  sich  ganz  mit  den  Vor- 
schlägen und  Aussetzungen,  die  auch  in  dieser  Zeitschrift 
wiederholt  gemacht  wurden.  Organisirt  man  aber  die  Un- 
fallversicherung räumlich,  dann  kommt  man  auch  zum  An- 
schluss derselben  an  die  Krankenkassen. 

Deutscher  Berufsgenossenschaftstag.  Der  siebente 
ordentliche  Berufsgenossenschaftstag  wurde  am  27.  d.  M. 
unter  dem  Vorsitz  des  Abgeordneten  Roe sicke  in  Stutt- 
gart abgehalten.  Direktor  Landmann-Berlin  referirte  über 
den  Stand  der  Kommissionsarbeiten  für  den  Erlass  von 
Normal-Unfallverhütungs-Vorschriften.  Dr.  Lachmann  und 
Direktor  Max  Schlesinger-Berlin  berichteten  über  das 
seitens  der  Berufsgenossenschaften  bezüglich  der  Ueber- 
nahme  der  Kosten  des  Heilverfahrens  in  den  ersten  13 
Wochen  einzuschlagende  Verfahren.  Weiter  referirte 
Direktor  Riese-Berlin  über  die  bei  den  Berufsgenossen- 
schaften getroffenen  Einrichtungen  bezüglich  der  ersten 
Hilfeleistung  bei  Unfällen.  Direktor  Wenzel-Berlin  be- 


richtete über  die  Arbeitsvermittelung  für  invalide  Arbeiter 
und  gab  eine  Uebersicht  über  die  gegenwärtige  Gestaltung 
dieser  Frage.  Er  hält  die  Uebertragung  der  Arbeitsver- 
mittelung auf  die  Berufsgenossenschaften  für  unzweckmässig. 
Kommerzienrath  Kettner-Berlin  berichtete  über  die  seitens 
der  Berufsgenossenschaften  zu  unternehmenden  Schritte, 
welche  den  ersteren  eine  Einwirkung  auf  die  Gestaltung 
der  Novelle  zum  Unfallversicherungsgesetz  verschaffen 
sollen. 


Soziale  Hygiene. 

Ueber  Schulbäder. 

Erst  in  der  Mitte  dieses  Jahrhunderts  begann  im  Unter- 
schied zu  den  Gewohnheiten  früherer  Zeiten  in  England  die 
Aufmerksamkeit  sich  dem  öffentlichen  Badewesen  zuzuwen- 
den, und  auch  in  Deutschland  hat  sich  seit  zehn  Jahren  das 
allgemeine  Interesse  dieser  vornehmsten  Förderung  der  Ge- 
sundheitspflege angenommen.  Zunächst  sollte  dem  Volke 
die  Annehmlichkeit  des  Badens  durch  Errichtung  von  Volks- 
badeanstalten zugänglich  gemacht  werden.  Trotz  aller  An- 
strengungen, die  von  wohlmeinender  Seite  gemacht  wurden, 
stiessen  diese  Einrichtungen  auf  eine  bedauerliche  Gleich- 
giltigkeit. Es  schien,  als  ob  das  Volk  sich  entwöhnt  hätte, 
etwas  für  die  Pflege  seines  Körpers  zu  thun.  Diesem 
Uebelstande  gegenüber  gab  es  nur  ein  Mittel,  nämlich  die 
heranwachsende  Jugend  zum  Baden  zu  erziehen,  in  der 
Kinderseele  schon  frühzeitig  den  Sinn  für  Sauberkeit  und 
Reinlichkeit  wach  zu  halten  und  zu  fördern. 

Es  war  daher  ein  zeitgemässer  Gedanke,  dem  der 
Bürgermeister  Merkel  in  Göttingen  im  Jahre  1886  Form  und 
Gestalt  gab,  als  er,  angeregt  durch  Prof.  Flügge,  in  der 
Volksschule  sogenannte  Brausebäder  einrichtete.  Letztere 
schienen  in  mancher  Weise  vor  den  Wannenbädern  den 
Vorzug  zu  verdienen.  Einmal  wurde  der  Gebrauch  an 
Wasser  dabei  der  sparsamste,  andererseits  aber  konnte  das  . 
Wasser  sehr  schnell  wieder  ersetzt,  möglichst  rein  und 
frisch  erhalten  werden.  Zunächst  wurde  diese  Einrichtung 
nur  in  einer  Schule  versucht,  und  nachdem  man  sich  von 
dem  Werth  derselben  bald  überzeugt  hatte,  wurde  sie  nicht 
nur  in  anderen  Schulen  Göttingens,  sondern  auch  in  denen 
vieler  anderer  Städte  Deutschlands  nachgeahmt.  So  ent-  ; 
standen  Schulbrausebäder  nach  und  nach  in  München,  Bres- 
lau, Weimar,  Karlsruhe,  Frankfurt  a.  M.,  Nürnberg,  Barmen,  ; 
Magdeburg,  Bonn,  Altona,  Mannheim,  Salzungen,  Hannover, 
Kassel,  Braunschweig,  Bremen,  Drontheim,  Basel,  Zürich 
und  im  vergangenen  Jahre  auch  in  Berlin.  Soweit  uns  die 
Berichte  hierüber  vorliegen,  lauten  sie  über  die  durch  diese 
Bäder  erzielten  Erfolge  durchaus  günstig.  Es  weiss  ja 
Jeder,  wie  wohlthuend  und  erfrischend  Bäder  wirken.  Mit 
der  mehr  und  mehr  angeregten  Blutzirkulation  werden  alle 
Organe  zu  grösserer  Thätigkeit  gereizt;  die  Verdauung, 
die  Athmung,  die  Geistesthätigkeit  wird  lebhafter,  schneller, 
leichter,  und  so  bemächtigt  sich  des  Körpers  und  Geistes 
ein  Gefühl  von  Behaglichkeit  und  Frische,  das  ihn  in  den 
Stand  setzt,  Anstrengungen  und  Mühen  leichter  zu  ertragen. 
Der  Körper  wird  so  widerstandsfähiger  gegen  Krankheiten, 
der  Geist  aber  empfänglicher  für  die  Aufgaben,  die  die 
Schule  an  ihn  stellt.  So  entwickelt  sich  hieraus  ein  anderer 
Vortheil  für  Schüler  und  Lehrer.  Die  Kinder  werden  leichter 
und  schneller  gefördert,  sie  empfinden  die  Arbeit  nicht 
mehr  als  Last  und  kommen  weiter,  wofern  der  Lehrer  nur 
ein  wenig  sich  seiner  Zöglinge  annimmt.  Dies  ist  aber 
nicht  der  einzige  Vorzug  dieser  Einrichtung.  Indem  die 
Kinder  zur  Reinlichkeit  und  Sauberkeit  angehalten  werden, 
erwächst  auch  in  ihnen  die  Liebe  zu  diesen  für  die  Gesund- 
heit so  wesentlichen  Bedingungen,  sie  bekommen  das  Ver- 
ständnis für  Ordnung  und  Reinlichkeit  und  wie  sie  selbst 
nach  dieser  Richtung  hin  weiter  fortschreiten,  so  wirken 
sie  auch  bildend  und  fördernd  auf  ihre  Umgebung  ein.  Es 
ist  damit  ein  nicht  zu  unterschätzender  Vortheil  für  die 
Eltern  und  die  Familie  der  Kinder  gegeben.  Da  die  Schüler 
sich  schämen  beim  Auskleiden  in  schmutziger  Wäsche  zu 
erscheinen,  so  halten  sie  die  Eltern  an,  für  ganze  und 
reine  Leibwäsche  zu  sorgen,  und  diese  Anregung  von  Seiten 
der  Kinder  wirkt  gewiss  mächtiger,  als  alle  sonstigen  Be- 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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lehrungen.  die  die  Eltern  anderswoher  empfangen.  Diese 
grossen  Vorzüge  können  nicht  durch  die  Bedenken  aus- 
geglichen werden,  welche  gegen  die  Einrichtung  der  Volks- 
bäder geltend  gemacht  sind.  Es  ist  davor  gewarnt  worden, 
der  Schule  zuviel  zuzumuthen.  Dass  man  in  diesem  Punkte 
nicht  zu  weit  gehen  dürfe,  geben  wir  zu;  allein  man  sollte 
doch  andererseits  verlangen,  dass  für  die  grossen  Anforde- 
rungen die  die  Schule  an  die  geistige  Kraft  des  Kindes 
stellt,  auch  ein  Gleichgewicht  durch  geeignete  Körperpflege 
geschaffen  werde.  Auch  sind  wir  der  Ansicht,  dass  die 
Schule  nicht  nur  den  Zweck  hat,  Moral  und  Wissen  dem 
Kinde  beizubringen,  sondern  sie  soll  auch  die  Pflege  des 
Körpers,  die  Entwickelung  des  Schönheitsinnes  als  ihre 
ideale  Aufgabe  betrachten.  Wie  das  Turnen,  Zeichnen 
und  der  Gesang  heute  als  wesentlicher  Bestandteil  des 
Unterrichts  angesehen  werden,  so  sollte  auch  das  Ba- 
den und  das  damit  verbundene  Streben  nach  Sauberkeit 
und  Ordnung  in  der  Schule  gepflegt  werden.  Dagegen 
wurde  von  anderer  Seite  behauptet,  die  Bäder  sollten  die 
Aufmerksamkeit  der  Schüler  ablenken,  den  Unterricht  stören 
u.  dgl.  m.  Gewiss  dürften  sich  im  Anfänge  noch  manche 
Mängel  zeigen,  aber  wir  sind  überzeugt  und  alle  bis  jetzt 
gemachten  Erfahrungen  haben  das  bewiesen,  dass  nach  und 
nach  diese  Uebelstände  durch  verständige  Aufsicht  sowie 
zweckmässige  Anlage  und  Einrichtung  leicht  überwunden 
werden  können. 

Die  finanzielle  Frage  endlich  bietet  kein  ernstes  Ilinder- 
niss,  denn  die  Kosten  für  diese  Brausebäder  sind  sehr  ge- 
ringe. In  Weimar,  wo  24  Klassen  (12  Knaben-  und  12 
Mädchenklassen)  mit  je  72  Schülern  baden,  kostete  die 
ganze  Einrichtung  1556  M. 

Dort  bestand  die  Anlage  aus  8 Brausen,  von  denen 
jedoch  gewöhnlich  nur  7 von  je  3 Kindern  in  Gebrauch 
genommen  wurden. 

In  Frankfurt  a.  M.,  wo  nur  5 Brausen  waren,  kostete 
die  Anlage  1800  M.  Dort  betheiligten  sich  ca.  900  Schüler 
an  der  Einrichtung,  es  betrugen  daher  die  Einrichtungs- 
kosten pro  Kopf  2 M.,  während  die  Betriebskosten  pro 
Kopf  und  Bad  auf  ca.  3 Pf.  geschätzt  wurden.  In  München 
endlich  sollen  die  Herstellungskosten  sich  auf  1900  M.  be- 
laufen haben.  Wir  können  mithin  annehmen,  dass  für  die 
Einrichtung  solcher  Volksschulbäder  1500 — 2000  M.  nöthig 
sein  werden.  Freilich  wird  man  hierbei  jeden  Luxus  und 
Comfort  zu  meiden  haben,  und  so  weit  wir  unterrichtet 
sind,  tragen  alle  derartigen  Anlagen  den  Stempel  der  Ein- 
fachheit und  Solidität.  Meistens  befinden  sie  sich  im  Keller- 
geschoss und  bestehen  aus  2 Räumen,  erstens  einem  An- 
und  Auskleideraum  und  zweitens  einem  Baderaum.  In  dem 
ersteren  befindet  sich  ein  Mantelofen,  an  jeder  Längsseite 
einfache  Bänke  und  darüber  Haken  zum  Aufhängen  der 
Kleider  in  einer  Anzahl,  die  der  Zahl  der  jedesmal  Baden- 
den entspricht.  Es  ist  demnach  möglich,  dass  die  bereits 
gebadeten  Kinder  sich  anziehen,  während  ein  anderer  Theil 
sich  auszieht 

Aus  dem  Ankleideraum  gelangen  die  Kinder  in  den 
Baderaum. 

Hier  sind  eine  Anzahl  von  Wannen  aus  Zinkblech  oder 
Zinkteller  mit  stark  umgebogenem  Rande  und  Ablassventil 
von  1 — 1,25  m Durchmesser. 

In  diesen  Wannen  können  mehrere  Kinder  (3—4)  gleich- 
zeitig abgebraust  und  gebadet  werden.  Ueber  jeder  Wanne, 
deren  Anzahl  je  nach  der  Anzahl  der  Badenden,  verschieden 
ist,  findet  sich  eine  Brause,  die  aus  einem  Mischapparat 
gespeist  wird,  in  welchem  warmes  Wasser  von  ca.  50°  mit 
kaltem  zu  einem  auf  höchstens  26°  temperirten  Badewasser 
vermengt  wird.  Alle  Brausen  werden  gewöhnlich  durch 
einen  Krahn  geöffnet,  oder  es  ist  doch  wenigstens  wie 
z.  B.  in  Weimar  und  München  so  eingerichtet,  dass  mehrere 
durch  einen  Hahn  in  Betrieb  gesetzt  werden  können. 

Der  Badeakt  ist  nun  von  einzelnen  kleinen  Abweichungen 
abgesehen,  allgemein  folgender:  Nachdem  sich  die  Kinder 
ausgezogen  haben,  begeben  sie  sich  in  den  Baderaum  und 
stellen  sich  zu  3 — 4 in  die  Badewanne.  Dann  giebt  der 
die  Aufsicht  führende  Badewärter,  gewöhnlich  der  Schul- 
diener, ein  Zeichen,  um  die  Kinder  nicht  zu  erschrecken 
und  öffnet  die  Brausen,  aus  welchen  das  Wasser  etwa  eine 
Minute  lang  herniederfliesst.  Nach  Verlauf  dieser  Zeit 


wird  der  Hahn  geschlossen  und  die  Kinder  setzen  sich 
nieder,  seifen  und  waschen  sich  gehörig  ab,  wozu  meistens 
5 Minuten  Zeit  erforderlich  sind.  Nun  lässt  der  Kastellan 
die  Kinder  aufstehen  und  überrieselt  sie  nochmals  eine 
Minute  lang  mit  etwas  kälterem  Wasser,  etwa  von  20  Grad. 
Danach  begeben  sich  die  Kinder  in  den  anliegenden  An- 
kleideraum und  kehren  von  dort  in  ihre  Klasse  zurück. 
Wenn  die  Abtheilungen  rechtzeitig  antreten,  so  dass  sie 
bereits  ausgekleidet  sind,  wenn  die  vorhergegangene  Parthie 
aus  dem  Bade  herauskommt,  so  nimmt  der  ganze  Badeakt 
nur  höchstens  20  Minuten  in  Anspruch.  In  Magdeburg,  wo 
sich  vier  Brausen  im  Baderaum  befinden,  können  zu  gleicher 
Zeit  12  grosse  resp.  16  kleine  Kinder  baden.  Wenn  man 
bedenkt,  dass  die  älteren  Kinder  sich  schneller  an-  und 
auskleiden  als  die  jüngeren,  so  können  in  1 Stunde  5x12 
also  60  grosse  oder  4x16  also  64  kleine  Schüler  baden; 
es  kommen  auf  jede  Badeabtheilung  12—15  Minuten,  so  dass 
in  einer  Stunde  bequem  eine  ganze  Klasse  abgebadet 
werden  kann.  In  Hanau  können  in  einem  Schulbad  etwa 
500  Kinder  — nicht  blos  50,  wie  es  in  No.  37,  S.  446  dieser 
Zeitschrift  hiess  — an  einem  Schultage  baden. 

Die  Badezeit  ist  gewöhnlich  in  diejenige  Schulstunde 
verlegt,  in  welcher  der  Unterricht  am  wenigsten  gestört 
wird,  also  in  die  Schreib-,  Zeichen-  oder  Lesestunde. 

Die  Aufsicht  beim  Baden  übernimmt  gewöhnlich  ein 
Lehrer  resp.  Lehrerin,  während  die  Bedienung  der  Feuerung, 
das  Oeffnen  und  Schliessen  der  Ventile  durch  den  Schul- 
wärter bezw.  durch  die  Wärterin  besorgt  wird. 

Von  kleinen  Verschiedenheiten  abgesehen,  verhalten 
sich  die  Anlagen  und  der  Betrieb  der  Brausebäder  in  der 
geschilderten  Weise.  Gewiss  wird  eine  reichere  Erfahrung 
auch  hier  noch  manchen  Mangel  zu  beseitigen,  manchen 
Uebelstand  zu  bessern  vermögen. 

Aber  nach  den  heute  schon  reichlich  vorliegenden 
günstigen  Berichten  ist  zu  hoffen,  dass  bald  keine  neue 
Volksschule  ohne  derartige  Einrichtung  gebaut  werden  wird, 
und  wir  sind  überzeugt,  dass  hiermit  ein  wesentlicher  Fort- 
schritt gezeitigt  wird  zur  Hebung  und  Kräftigung  des 
kommenden  Geschlechts. 

Stettin.  R.  Ehrenberg. 


Kriminalität. 

Kongress  der  Internationalen  Kriminalistischen  Ver- 
einigung in  Paris.  Am  26.  Juni  begannen  in  der  Pariser 
Sorbonne  die  Verhandlungen  des  Kongresses  der  Inter- 
nationalen Kriminalistischen  Vereinigung.  Der  französische 
Justizminister  Guerin  begrüsste  die  Kongresstheilnehmer. 
Namens  der  letzteren  dankte  Professor  Prins  (Brüssel)  dem 
Justizminister.  Letzterer  entwickelte  in  kurzer  Rede,  oft- 
mals vom  Beifall  der  Anwesenden  unterbrochen,  die  Ziele 
der  Vereinigung.  Er  betonte  insbesondere,  dass  nicht  straf- 
rechtliche Maassregeln  allein  zum  Ziele  führen,  dass  viel- 
mehr einerseits  soziale  Maassregeln,  andererseits  gewissen- 
haftes anthropologisches  und  medizinisches  Studium  der 
Degenerirten  nothwendig  sei. 

Der  Präsident  Professor  Dr.  Leveiller  (Paris)  schlug 
alsdann  folgende  Tagesordnung  vor: 

I.  Die  Frage  der  unbestimmten  Strafurtheile.  Bericht- 
erstatter: Professor  Dr.  Prins  (Brüssel),  Professor  Dr.  v. 
Hamei  (Amsterdam)  und  Dr.  Brockray,  Direktor  der  grossen 
Reformatery,  d.  h.  des  Straf-  und  Besserungshauses  von 
Elmira  in  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika.  2.  Die 
Maassregeln  gegen  Bettelei  und  Vagabondage.  Referenten: 
Pastor  Robin  und  General-Staatsanwalts-Substitut  Drioux. 
3.  Die  Methode  einer  wissenschaftlichen  Rückfall-Statistik. 
Als  erster  Berichterstatter  hierüber  wird  Dr.  Köbner  (Berlin) 
fungiren.  Professor  Dr.  v.  Hamei  (Amsterdam)  wird  als- 
dann die  Diskussion  einleiten.  Endlich  wird  der  Kongress 
über  den  Einfluss  soziologischer  und  anthropologischer 
Untersuchungen  auf  die  juristischen  Grundbegriffe  des 
Strafrechts  berathen.  Die  Professoren  Dr.  v.  Liszt  (Halle) 
und  Dr.  Ganckler  (Caen)  und  der  Gerichtspräsident  Frei- 
herr v.  Garofalo  (Neapel)  werden  die  Diskussion  hierüber 
einleiten.  Wir  werden  in  der  nächsten  Nummer  auf  die 
Verhandlungen  zurückkommen. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin,  W.,  Victoriastrasse  16. 


484 


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No.  40. 


Cttrl  {jrijmnmta  örrlttg  in  Berlin  W. 

SJiauerftrafjje  44. 

Soeben  crfcfjien : 

Die  ttludifnjcJ'djc 

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Safdjenformat  VI  u.  53  Seiten. 

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Soeben  gelangte  jnr  Ausgabe: 

^ard)ertßud? 


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3um  täglichen  ©ebrnudje  bearbeitet 


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80.  VIII  u.  101  Seite. 

Preis  1«.  2,  zollfrei  p.  2,10. 


lifllbtllcs  Ü eiben 

SargeffeHt 

auf  ©ritiib  einer  nerloren  geglaubten 
^anbfrijriften-.Sanunlnng 

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i»ent  fiorträt  geleite  non  ;Kflnnütijas 

oon 

von  Cenbndi 

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jinet  grtefcit  in  ^flkfiuttte. 

8°,  XII  unb  188  Seiten. 

©ebeftet  $rci§  TI.  3,  gebünben  ißreiS  TI.  4. 
3u  besieben  burdf) 

pul  Sd)dlrr5  §udjl)anblung  (|.  f üftenmadjer) 

Berlin  W.,  Alarfgrafenftr.  39/40. 


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G r ft  er  £ tj  e i I. 

©eiucrbercdjt. 

I.  ©emerbe  unb  ©eiuerberccfjt  im  2111= 
gemeinen. 

II.  ©emerbebebörben,  3uffänbigfcit  unb 

SBerfabrcn. 

III.  Sie  ©emerbefreibeit. 

IV.  SBefonbcre  fBcfdjränf'nngen  ber  ©e= 

ro  erb  ef  reib  eit. 

V.  Ser  ©cmcrbebciricb  im  Umberjieben. 

VI.  Sa§  gnmmgäiuefeu. 

VII.  ©emerblicbe  Arbeiter  im  Allgemeinen ; 

^Begriff  ber  gabrif. 

VIII.  Ser  geiuerblicfje  Arbeitsertrag  im 
Allgemeinen. 

Ser  Sdjub  bc3  Arbeitslohns»;  ba§ 
„Srucfftjftem". 

Ser  Sontraftbrucb;  feffe  Gntfdbäbi= 
gungen,  Sobnocriuirfungeu,  2obu= 
einbebaltungen. 

XI.  Sie  bei'onberen  SBorfcbrifteu  für 
minbcrjäbrige  Arbeiter  u.2ebrlinge. 


IX. 

X. 


alt, 

XII. 


XIII. 

XIV. 

XV. 


XVI. 

XVII. 


@<f)ub  für  Scben,  ©efuubbcit  unb 
Sittlidfjfeit  ber  Arbeiter  im  ©c= 
roerbebetriebe. 

Sie  Sonntagsruhe. 
Arbeiteorbnungen  unb  Arbeiterau§= 
fdbüffe. 

SBefonberer  S<fmb  ber  grauen  unb 
Stinber  in  gabrifen  unb  gleich* 
geftcHten  Anlagen. 

©emerbegeriebte  u.  ©iuignngäämter. 
Sa§  Soalitiongredjt. 


3roeiter  Sbeil. 

$ie  Sfrbettemerftdberung. 

A.  Sic  Sranfenoerficberung. 

B.  Sic  llnfaHoerficberung. 

C.  Sic  gnoalibitcitäm.  AIter3oerficberung. 

tAnljang.  I.  Sa§  ©efinberetbt.  II.  2IIpba= 
betifdje  Ueberficbt  ber  lüicfjtigftcn 
bau§mirtbfcbaftltcben  gragen'  ber 
gnoalibität§=  u.  AlterSoerficberung 


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unter  befouberer  53erüdficf)tigung 

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Dr.  jur.  §|dtnö 

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Amtsrichter  in  §amm  i.  SS. 

— 8°.  VI  u.  64  ©eiten,  — 

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$rei§  geheftet  9}?.  1,—,  poftfret  9W.  1,10. 

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y'DdK  : 

(£arl  Jpet)tttamt3  Verlag  in  Berlin  W.,  sJJlanerftra|)c  44* 

Carl  Heymanns  Verlag  in  Berlin  W\,  Mauerstrasse  44.  — Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld  in  Berlin  W. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  10.  Juli  1893. 


Nummer  41. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Erscheint  jeden  Montag. 

Zu  beziehen 

durch  alle  Buchhandlungen,  Spediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Anzeigenpreis  für  die  dreigespaltene  Colonelzeile 
40  Pfennig. 


INHALT. 


Der  Abschluss  der  preussi- 
schen  Steuerreform.  Von 
Privatdozent  Dr.  J.  Jastrow. 

Landwirthschaft : 

Zur  Frage  der  grundbücherlichen 
Priorität  der  Meliorationsdar- 
lehen in  Oesterreich.  Von  Dr. 
Moriz  Ertl. 

Arbeiterzustände : 

Kommission  für  Arbeitsstatistik. 

Die  Reichsenquete  über  die  Ar- 
beitsverhältnisse im  Handels- 
gewerbe. 

Gewerkschaftliche  Arbeiterbewe- 
gung: 

Der  Kampf  gegen  die  Pariser  Ar- 
beitsbörse. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Hygienische  Bestimmungen  für 
Cigarrenfabriken. 


Vorschriften  betr.  die  Einrichtung 
und  den  Betrieb  der  Bleifarben 
und  Bleizuckerfabriken. 
Ortsstatute  über  Lohnzahlung. 

Arbeiterversicherung : 

Zur  Statistik  der  Alters-  und  In- 
validitätsversicherung. 
Gesetzesvorschlag  betr.  Pensioni- 
rung  invalid  gewordener  Acker- 
bauarbeiter in  Frankreich. 
Gewerbegerichte: 

Zur  Statistik  der  deutschen  Ge- 
werbegerichte. 

Soziale  Hygiene : 

Oefifentliche  Gesundheitspflege  und 
Eigenthumsrecht. 

Kriminalität: 

Kongress  der  internationalen  kri- 
minalistischen Vereinigung. 
Strafhausarbeit  in  Preussen. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Der  Abschluss  der  preussischen  Steuerreform. 

Die  preussischen  Steuergesetze  haben  das  Stadium  der 
Beratung  hinter  sich..  Noch  ist  die  Verkündung  in  der  Ge- 
setzsammlung zwar  nicht  erfolgt;  aber  in  amtlichen  Erlassen 
ist  bereits  von  dem  gelungenen  Abschluss  der  Steuer- 
reform als  vollendeter  Thatsache  die  Rede.  Trotz  der  sieben 
Monate,  durch  die  sich  die  Beratung  hingezogen  hat,  hatte 
man  bei  den  wichtigsten  Punkten  den  Eindruck  kurierzugmässi- 
ger  Eile.  Und  mochte  die  Beratung  langsamer  oder  schneller 
vor  sich  gehen,  das  Publikum  ist  ihr  gleichwenig  gefolgt. 
Obgleich  die  Beratungen  sich  in  ziemlich  gerader  Linie 
entwickelten,  ist  doch  der  Inhalt  der  neuen  Gesetze  ver- 
hältnissmässig  wenig  bekannt,  und  wir  laufen  kaum  Gefahr, 
unsere  Leser  zu  langweilen,  wenn  wir  in  kurzem  Rück- 
und  Ueberblick  das  Wesentlichste  des  Reformwerks  noch- 
mals zusammenstellen. 

Die  Vorlagen,  welche  Anfang  November  an  das  Abge- 
ordnetenhaus gelangten,  bestanden  aus  drei  Gesetzen.  Das 
erste  ordnete  an,  dass  die  Grund-,  Gebäude-  und  Gewerbe- 
steuer als  Staatssteuern  ausser  Hebung  gesetzt,  die  Berg- 
steuer aufgehoben  werde.  Das  zweite  führte  als  neue  Staats- 
Steuer  neben  der  Einkommen-  eine  Vermögenssteuer  („Er- 
gänzungssteuer“) ein.  Das  dritte  regelte  die  Communalab- 
gaben  und  war  dazu  bestimmt,  bei  dieser  Gelegenheit  die 
Steuerquellen,  welche  der  Staat  frei  liess,  den  Communen 
zu  überweisen. 

Von  den  drei  Theilen  des  Reformwerkes  wurde  der 
erste  vom  Abgeordnetenhause  mit  einer  Eleganz  erledigt. 


die  in  der  Geschichte  unserer  Parlamente  ohne  Gleichen 
dasteht.  Für  ein  Finanzgesetz,  das  über  Staatseinnahmen 
von  mehr  als  100  Millionen  jährlich  verfügt,  brauchte 
die  Kommission  nur  wenige  Stunden.  Der  Einwand, 
dass  die  preussische  Grundsteuer  keine  wirkliche  Steuer,  dass 
nach  übereinstimmender  Ansicht  aller  Nationalökonomen 
der  Erlass  einer  stabilen  Grundsteuer  überhaupt  nicht 
möglich  ist,  ohne  zum  Geschenk  an  die  bisherigen  Pflichti- 
gen zu  werden,  gelangte  kaum  zu  nennenswerther  Be- 
achtung. Wenn  die  Grundsteuer  in  Preussen  aufgehoben 
wird,  so  hätten  alle  Grundbesitzer  den  kapitalisirten  Betrag 
an  den  Staat  herauszahlen  müssen.  Am  deutlichsten  trat 
diese  Forderung  in  die  Erscheinung  gegenüber  den  Gütern, 
deren  Grundsteuerfreiheit  im  Jahre  1861  durch  Entschädi- 
gungsgelder abgelöst  worden  war.  In  der  That  verlangte 
die  Regierung,  dass  diese  Entschädigungen  nunmehr  wenig- 
stens dann  zurückgezahlt  werden  sollten,  wenn  sich  das 
Gut  in  den  Händen  derselben  Familie  gehalten  hatte.  Auf 
diese  Art  wäre  bei  den  Fideikommissgütern  der  ganze 
Betrag,  bei  den  andern  etwa  z/3  der  Entschädigungsgelder 
an  die  Staatskasse  zurückgeflossen.  Indem  das  Abgeordneten- 
haus die  Rückzahlungspflicht  auf  den  Theil  des  Gutes 
beschränkt  hat,  der  durch  Erbschaft  (nicht  durch  Auskaufen 
von  Miterben)  in  die  Hand  des  gegenwärtigen  Besitzers 
gekommen  ist,  ist  das  Verhältniss  umgekehrt:  abgesehen 
von  den  Fideikommissgütern  ist  der  Verfall  der  Ent- 
schädigungsgelder die  Regel,  die  Rückzahlung  die  Aus- 
nahme. Die  ganze  Rückzahlungspflicht  erscheint,  wie  man 
offen  eingestehen  muss,  als  eine  grosse  Härte  gegen  die 
Wenigen,  von  denen  man  eine  Kapitalzahlung  verlangt,  die 
eigentlich  von  allen  Grundbesitzern  des  Landes  ver- 
langt werden  müsste.  Die  Zurückzahlung  der  Entschädi- 
gungsgelder ist  keineswegs  eine  Forderung  der  Gerechtig- 
keit, sondern  eine  Forderung,  welche  zur  Verschleierung 
der  Ungerechtigkeit  dienen  soll,  die  in  der  unentgeltlichen 
Weggabe  der  Grundsteuer  liegt.  — Eine  kleine  Schwierig- 
keit bereiteten  der  Kommission  die  Bergabgaben.  Auch  die 
Bergabgaben  sind  keine  Steuer.  Sie  sind  der  letzte  Ueber- 
rest  des  staatlichen  Eigenthums  an  den  Bergwerken.  Der 
beste  Beweis  dafür  liegt  darin,  dass  die  Bergabgaben  garnicht 
einmal  an  den  Staat,  sondern  in  manchen  Gegenden  an 
einen  privaten  Regalherrn  gezahlt  werden.  In  diesen  Regal- 
ordnungen ist  zuweilen  ausdrücklich  gesagt,  dass  der 
Prozentsatz  der  Privatregalabgaben  niemals  die  Höhe 
der  staatlichen  Bergabgaben  überschreiten  dürfe.  Wenn 
unn  der  Staat  die  Bergabgaben  aufhob,  so  kamen  die 
privaten  Regalherren  in  Gefahr , auch  ihre  Einnahmen 
auf  Null  gesetzt  zu  sehen.  Die  Kommission  des  Abge- 
ordnetenhauses wusste  einen  Ausweg.  Sie  hob  die  Berg- 
abgaben nicht  auf,  sondern  setzte  sie  wie  die  drei  ersten 
Steuern  „ausser  Hebung“.  So  ist  für  die  Bergwerksbesitzer 
gesorgt,  dass  sie  ihre  Abgaben  an  den  Staat  nicht  zu  zahlen 


486 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  41. 


brauchen  und  für  die  Privatregalherren  (wie  man  meint), 
dass  sie  ihre  Regaleinnahmen  nicht  verlieren ; für  diejenigen 
aber,  die  Beides  in  einer  Person  sind,  ist  doppelt  gut 
gesorgt. 

Die  Schicksale  der  Vermögenssteuer  haben  wir  be- 
reits früher  besprochen. r)  Die  Regierung  hat  sich  zu 
Gunsten  der  kleinen  Vermögen  Einiges  abhandeln  lassen: 
bei  Einkommen  bis  900  Mark  sind  Vermögen  bis  20000 
Mark  (nicht  blos  bis  16OOO  Mark)  steuerfrei,  Wittwen  und 
Waisen  geniessen  diese  Vergünstigung  zuweilen  auch  bei 
etwas  grösseren  Einkommen;  für  Vermögen  bis  30000  Mark 
sind,  wenn  das  Einkommen  gering  ist,  die  Vermögenssteuer- 
sätze herabgesetzt  worden,  und  für  Vermögen  bis  50000 
Mark  eine  kleine  Ermässigung  aus  besonderen  Gründen  ge- 
stattet. Im  Grossen  und  Ganzen  aber  ist  der  Tarif  stehen 
geblieben,  welcher  die  Vermögenssteuer  etwa  im  Betrage 
von  »/,  pro  mille  ansetzt.  Im  Veranlagungsverfahren  ist 
aus  der  obligatorischen  Vermögensanzeige  eine  blos  facul- 
tative  gemacht  worden;  den  Veranlagungsbehörden  sind  aber 
immerhin  genügende  Mittel  gelassen,  um  im  Nothfalle  einen 
Druck  zur  Ermittelung  der  Wahrheit  üben  zu  können.  Die 
Veranlagung  erfolgt  das  erste  mal  für  das  Rechnungsjahr 
vom  1.  April  1895/96.  Während  der  nächsten  drei  Jahre 
wird  die  Veranlagungsperiode  durch  königliche  Verordnung 
festgesetzt.  Von  da  ab  soll  sie  nur  alle  drei  Jahre  er- 
folgen. 

Dem  Kommunalabgaben-Gesetz  waren  in  sozial- 
politischer Beziehung  hauptsächlich  zwei  Aufgaben  gestellt; 
die  richtige  Vertheilung  der  Steuerlast  auf  die  verschiedenen 
sozialen  Schichten  im  Allgemeinen  und  die  Heranziehung 
der  vom  Staate  freigelassenen  Steuerquellen  insbesondere. 
Beides  sollte  von  dem  Regierungsentwurf  vereinigt  erreicht 
werden  durch  die  Reihenfolge,  in  welcher  man  sich  die 
Heranziehung  der  verschiedenen  Steuerformen  für  die  Ge- 
meindebedürfnisse dachte:  zuerst  die  Erhebung  von  „Ge- 
bühren oder  Beiträgen“  von  denen,  die  an  einer  Gemeinde- 
leistung ein  spezielles  (so  zu  sagen  privates)  Interesse 
haben;  sodann  die  Präcipualbelastung  von  Grundbesitzern 
und  Gewerbetreibenden  vermittelst  der  Grund-,  Gebäude- 
und  Gewerbesteuer:  erst  nach  diesen  beiden  die  Heran- 
ziehung des  Gros  der  Einwohner  vermittelst  der  Einkommen- 
steuer, welche  Alle  trifft. 

Der  Abschnitt  über  Gebühren  und  Beiträge  ist  so  ge- 
regelt, dass  er  in  der  That  die  verschiedensten  Handhaben 
bietet,  um  der  unentgeltlichen  Ausnutzung  der  Gemeinde- 
einrichtungen ein  Ende  zu  machen.  Für  die  Heranziehung 
der  Grundbesitzer  bei  Anlegung  einer  neuen  Strasse  sind 
auch  andere  Massstäbe,  als  die  Frontlänge  gestattet,  nament- 
lich auch  der  Massstab  der  Bebauungsfläche.  Dass  das 
Parlament  bei  Erhebung  von  Beiträgen  ein  Verfahren  mit 
öffentlicher  Auslegung  der  Listen  vorgeschrieben  hat,  ist 
im  Interesse  der  Pflichtigen  von  Vortheil  und  für  die 
Uebrigen  zum  mindesten  unschädlich.  Dass  das  Parlament 
die  reichsgesetzlich  verbotene2)  Aufenthaltssteuer,  welche 
in  Badeörtern  unter  dem  Namen  einer  Kurtaxe  missbräuch- 
lich erhoben  wird,  unter  der  Ueberschrift  „Gebühren  und 
Beiträge“  in  das  Gesetz  eingeschmuggelt  hat,  ist  bedauer- 
lich, trifft  aber  schliesslich  nur  einen  vereinzelten  Punkt 
von  untergeordneter  Bedeutung.  Allein  von  ausschlag- 
gebender Bedeutung  ist,  dass  die  Festsetzung  von  Gebühren 
und  Beiträgen  in  erster  Linie  in  den  Händen  der  heutigen 
kommunalen  Vertretungen  liegt,  d.  h.  in  den  Händen  der 
sozialen  Schichten,  gegen  deren  Interesse  eine  sozial- 
politisch richtige  Anwendung  der  hier  gegebenen  Voll- 
machten verstösst. 

ij  Sozialpolitisches  Centralblatt  No.  29.  S.  342-  345. 

4)  Vgl.  Sozialpolitsches  Centralblatt  No.  25,  S.  301  —303: 
No.  31,  S.  370. 


Die  Aufgaben,  die  vom  Staate  freigelassenen  Steuer- 
quellen zur  Präcipualbelastung  von  Grundbesitzern  und 
Gewerbtreibenden  zu  benutzen,  hat  das  Kommunalabgaben- 
Gesetz  nicht  gelöst  und  konnte  es  nicht  lösen.  Es  handelt 
sich  hier  um  einen  „Versuch  mit  untauglichen  Mitteln“. 

Mag  die  Gewerbesteuer,  welche  jährlich  neu  veranlagt  wird, 
trotz  ihrer  Mängel  zur  kommunalen  Besteuerung  des  Ge- 
werbes geeignet  sein;  die  Gebäudesteuer,  die  nur  alle 
15  Jahre  und  auch  dann  nur  unvollkommen  nach  den  Er- 
trägen eines  abgelaufenen  Jahrzehnts  veranlagt  wird,  ist 
gewiss  nicht  geeignet,  als  Maassstab  zur  Heranziehung  der 
Gebäudebesitzer  zu  dienen;  und  die  Grundsteuer,  welche 
in  ihrer  bisherigen  Verfassung  eine  Neueinschätzung  über- 
haupt nicht  kennt,  ist  hierzu  gänzlich  ungeeignet.  Dadurch, 
dass  man  den  drei  völlig  verschiedenen  Abgaben  den  ge- 
meinsamen Namen  der  „Realsteuern“  beilegt,  wird  an  dem 
Sachverhalt  nichts  geändert.  Die  Einführung  neuer  Grund-, 
Gebäude-  und  Gewerbesteuern  hat  das  Gesetz  den  städti- 
schen Vertretungen  gestattet,  aber  nicht  befohlen,  d.  h. 
verhindert. 

Die  Gemeinde-Einkommensteuer  wird  in  der  Form  von 
Zuschlägen  zur  Staats-Einkommensteuer  erhoben.  Die  Re- 
gierungsvorlage kannte  eine  Bemessung  der  Zuschläge  in 
verschiedener  Form,  sodass  die  unteren  Klassen,  welche 
im  Staatssteuertarif  entlastet  sind,  im  Kommunalsteuertarif 
durch  höhere  Zuschläge  wieder  verhältnissmässig  höher 
belastet  werden  konnten.  Das  Abgeordnetenhaus  hat  den 
betreffenden  Passus  gestrichen.  Aber  dies  hat  nur  eine 
formale  Bedeutung,  da  „besondere  Gemeinde-Einkommen- 
steuern“ im  weitesten  Umfange  zugelassen  sind.  Mit  Ge- 
nehmigung der  Vorgesetzten  Behörde  ist  es  nicht  nur 
möglich,  die  Zuschläge  zu  den  unteren  Klassen  so  hoch 
zu  steigern,  dass  die  Degression  des  staatlichen  Steuertarifs 
vollständig  verschwindet,  sondern  wo  heute  eine  Gemeinde- 
einkommen-Steuer besteht,  die  eine  Progression  nach  unten 
(eine  stärkere  Belastung  der  Armen!!)  enthält,  da  kann  die- 
selbe auch  fortbestehen ; in  den  Verhandlungen  hat  die  Re- 
gierung erklärt,  dass  die  einzige  derartige  Gemeinde  Altona 
sei,  Zuschläge  zur  Vermögenssteuer  sind  verboten.  Ueber 
die  Vorrechte  der  Beamten  ist  ein  besonderes  Gesetz  ver- 
heissen;  bis  zum  Erlass  desselben  bleiben  diese  Vorrechte 
nach  Maassgabe  der  Verordnung  für  die  neuen  Landestheile 
(vom  23.  September  1867)  in  er  ganzen  Monarchie  bestehen. 

In  den  Beziehungen  der  Real-  und  der  Einkommen- 
steuer zu  einander  ist  durch  zwei  Parlamentsbeschlüsse  eine  ; 
ganz  bedeutende  Aenderung  eingetreten.  Die  Maximirung 
der  Realsteuerzuschläge1)  auf  200  pCt.  bedeutet  für  alle 
Gemeinden,  in  denen  schon  heute  100  pCt.  Realsteuern 
erhoben  werden,  eine  gesetzliche  Garantie  dafür,  dass 
Grundbesitzer  und  Gewerbetreibende  eine  Mehrbelastung 
durch  das  neue  Kommunalabgabengesetz  nicht  zu  befürchten 
haben.  Die  Regierung  hatte  ferner  die  Bestreitung  der 
Gemeindebedürfnisse  bloss  aus  Realsteuern  bis  zu  150 
pCt.  gestattet.  Indem  das  Parlament  statt  150  die  Zahl 
100  gewählt  hat,  hat  es  nicht  bloss  eine  andere  Zahl,  sondern 
ein  anderes  Prinzip  eingesetzt:  die  ausschliessliche  Deckung 
der  Gemeindebedürfnisse  durch  Realsteuern  soll  überall 
unmöglich  gemacht  werden,  wo  die  Realsteuerpflichtigen 
auch  nur  einen  Pfennig  mehr  zu  zahlen  hätten,  als  ihnen 
gegenwärtig  vom  Staate  geschenkt  wird. 

Das  Verhältniss  der  Realsteuern  zur  Einkommensteuer 
ist  die  partie  honteuse  des  Kommunalabgabengesetzes,  durch 
das  Feigenblatt  einer  fast  unverständlichen  Gesetzessprache 
nothdürftig  bedeckt.  Wenn  man  das  Gesetz  liest,  so  hat 
man  den  Eindruck,  als  ob  es  wirklich  dazu  diene,  die  Lasten 


0 Da  der  Staat  die  „Realsteuern“  weiter  verlangt,  aber  nicht 
mehr  erhebt,  so  sind  die  Erhebungen  der  Kommune  „Zuschläge“ 
zu  Staatssteuern,  die  bloss  auf  dem  Papier  stehen.  Zum  fol- 
genden vgl.  Sozialpolitisches  Centralblatt  No.  36,  S.  425  — 427. 


No.  41. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAL  BL  ATT. 


487 


der  Kommunalverwaltung  mehr  auf  Grundbesitzer  und  Ge- 
werbtreibende  zu  legen;  wenn  man  es  studirt,  so  sieht  man, 
dass  es  hauptsächlich  ein  Mittel  ist,  die  Lasten  von  ihnen 
fern  zu  halten.  In  grossen  Städten  und  überall  sonst,  wo 
es  eine  starke  öffentliche  Meinung  giebt,  wird  es  gleich- 
wohl gelingen,  die  Ausführung  des  Gesetzes  in  sozialpoli- 
tisch richtige  Bahnen  zu  drängen.  In  Kleinstädten  und  auf 
Dörfern  wird  vielfach  dasGegentheil  der  Fall  sein.  In  den  Guts- 
bezirken vollends  wird  das  Gesetz  keine  andere  Wirkung 
haben,  als  dass  der  Gutsbesitzer  die  vom  Staate  freige- 
lassene  Grundsteuer  in  die  eigene  Tasche  fliessen  lässt, 
ohne  darum  etwas  Erhebliches  mehr  für  die  kommunalen 
Zwecke  seines  Gutsbezirks  zu  thun. 

In  die  oben  genannte  Folge  der  Gemeindesteuern  schob 
der  Regierungsentwurf  auch  die  indirekten  Gemeindesteuern 
ein  und  zwar  an  hervorragender  Stelle.  Sozialpolitisch 
nahm  sich  diese  Bevorzugung  einer  Steuerreform,  welche 
hauptsächlich  auf  den  unteren  Bevölkerungsklassen  lastet, 
sehr  sonderbar  aus.  Nachdem  das  Parlament  aber  die 
Steuerrelation  so  umgearbeitet  hat,  war  diesen  Bestimmungen 
eine  angemessene  Umgebung  gesichert.  Nur  fehlt  es,  solange 
das  Reich  die  Belastung  fast  aller  geeigneten  Gegenstände 
für  sich  allein  in  Anspruch  nimmt,  an  den  genügenden 
Handhaben,  um  den  Gemeinden  indirekte  Steuern  zuzu- 
führen. Daher  denn  in  beiden  Häusern  des  Landtages  eine 
Resolution  gefasst  worden  ist,  welche  die  Regierung  auf- 
fordert, solche  Handhaben  zu  schaffen.  Gemeint  können 
hier  nur  Getränkesteuern  sein.  Wie  man  sich  aber  vorstellt, 
dass  die  Getränke,  die  das  Reich  mit  Zöllen  und  Verbrauchs- 
abgaben besteuert,  denen  der  Staat  soeben  neben  der 
Gewerbesteuer  eine  besondere  Betriebssteuer  aufgelegt  hat, 
um  sie  alsbald  den  Gemeinden  zu  überweisen,  jetzt  ausser- 
dem noch  eine  besondere  Getränkesteuer  tragen  sollen,  das 
ist  schwer  zu  begreifen. 

Je  weniger  die  heutigen  Gemeindeorgane  in  Preussen 
als  geeignete  Träger  einer  sozialpolitisch  richtigen  Steuer- 
vertheilung  gelten  können,  desto  wirkungsvoller  ist  eine 
kräftige  Ausbildung  der  Staatsaufsicht.  Die  „Eingriffe  in 
die  Selbstverwaltung"  sind  so  ziemlich  der  einzige  Punkt, 
der  auch  ausserhalb  des  Parlaments  von  sich  Redens  gemacht 
hat,  und  gerade  über  diesen  Punkt  ist  das  Publikum  falsch 
unterrichtet  worden.  Die  Aufsichtsbehörden,  die  der  Entwurf 
kennt,  sind  nur  zum  Theil  Staatsbehörden,  zum  anderen 
Theil  wiederum  Selbstverwaltungskörper  in  Kreis,  Bezirk 
und  Provinz.  Und  selbst  wo  die  Aufsichtsbefugnisse  in  die 
Hände  der  Minister  gelegt  sind,  da  ist  es  falsch,  von  einer 
Beschränkung  der  „Freiheit“  zu  sprechen,  wo  es  sich  um 
den  Schutz  der  Bevölkerung  gegen  die  kleinen  sozialen 
Kreise  handelt,  welche  heute  ihre  Hand  auf  die  Gemeinde- 
vertretungen gelegt  haben.  Man  mag  diesen  Schutz  im 
Aufsichtswege  für  ein  sehr  unvollkommenes  Mittel  halten; 
man  mag  stets  aufs  Neue  betonen,  dass  durch  eine  Reform 
des  kommunalen  Wahlrechts  die  Bevölkerung  in  den  Stand 
gesetzt  werden  müsse,  sich  selbst  zu  schützen,  — allein,  so 
lange  das  nicht  geschieht,  ist  dies  unvollkommene  Schutz- 
mittel immer  noch  besser  als  die  völlig  schutzlose  Aus- 
lieferung der  Gesammtbevölkerung  an  die  Vertretung  der 
Besitzenden,  die  den  Namen  kommunaler  Vertretungen  führt. 

Von  den  Einzelfragen  der  Kommunalbesteuerung  heben 
wir  zwei  hervor:  Die  eine,  weil  über  sie  sehr  viel  ver- 

handelt worden  ist;  die  andere,  weil  sie  fast  ohne  jede 
Verhandlung  in  den  Wortlaut  des  Gesetzes  hineingeglitten 
ist.  Jenes  ist  die  Besteuerung  der  Aktiengesellschaften; 
dieses  das  Kommunalsteuer-Privileg  der  Standesherren.  Die 
Aktiengesellschaften  beklagen  sich  darüber,  dass  ihr  Gewinn 
von  der^Gemeinde,  in  der  ihr  Gewerbebetrieb  liegt,  als 
Gesellschaftsgewinn,  ausserdem  aber  von  den  Gemeinden, 
in  denen  die  Aktionäre  wohnen,  als  deren  persönliches  Ein- 
kommen herangezogen  wird.  Bei  der  Staats-Einkommen- 
steuer ist  dieses  Verhältniss  dadurch  gemildert,  dass  bei 


der  Gesellschaftsbesteuerung  die  Dividende  nur  soweit 
herangezogen  wird,  als . sie  3'/2  pCt.  übersteigt.  Bei  der 
Gemeindebesteuerung  ist  dieses  Auskunftsmittel  nicht  mög- 
lich, da  der  Betriebsgemeinde  nicht  ein  Verzicht  aus  Rücksicht 
auf  eine  persönliche  Einkommensteuer  zugemuthet  werden 
kann,  deren  Erträge  in  die  Kassen  anderer  Gemeinden 
fliessen;  dass  das  Einkommen  aus  Gewerbebetrieb  der  Be- 
steuerung in  der  Betriebsgemeinde  unterliegt,  ist  allgemein 
geltender  Grundsatz.  Im  Abgeordnetenhause  tauchte  daher 
der  Vorschlag  auf,  diesem  Grundsätze  entsprechend,  das 
Einkommen  bei  den  Aktionären  gemeindesteuerfrei  zu  lassen. 
Demgegenüber  erscholl  der  Nothschrei  einer  Anzahl  Ge- 
meinden, welche  nachwiesen,  dass  ihre  wohlhabenden  Ein- 
wohner ihr  Vermögen  fast  durchweg  in  Aktien  angelegt 
haben;  würden  diese  der  Gemeindebesteuerung  entzogen, 
so  würde  hier  die  Gemeindeeinkommensteuer  ausschliess- 
lich auf  den  armen  Leuten  lasten.  Man  einigte  sich  schliess- 
lich dahin,  die  halbe  Dividende  freizulassen.  Das  Herren- 
haus hat  aber  die  so  modifizirte  Bestimmung  vollends  ge- 
strichen, und  das  Abgeordnetenhaus  hat  sich  gefügt.  Das 
Ergebniss  der  langen  Verhandlungen  ist  also:  dass  Alles 
beim  alten  bleibt.  Und  das  ist  nur  zu  billigen.  Dass  die 
heutige  Besteuerung  der  Aktiengesellschaften  in  Preussen 
auf  unhaltharen  Prinzipien  beruht,  ist  richtig.  Diesem 
Uebelstande  kann  aber  nur  dadurch  abgeholfen  werden 
dass  man  die  Besteuerung  auf  haltbare  Prinzipien  stellt. 
Die  Art,  wie  man  unlogische  Härten  durch  unlogische  Pri- 
vilegien wettmachen  will,  führt  auf  die  Dauer  nur  dazu, 
dass  die  Härten  beseitigt,  die  Privilegien  aber  gleichwohl 
konservirt  werden.  Hier  haben  die  Gemeinden  sich  besser 
zu  schützen  gewusst  als  der  Staat,  der  auf  die  vielbeklagte 
Doppelbesteuerung  als  Pflaster  die  Vermögenssteuerfreiheit 
der  Aktiengesellschaften  gelegt  hat.  Die  Klagen  über  die 
Doppelbesteuerung  werden  gleichwohl  nicht  aufhören,  und  bei 
Beseitigung  derselben  wird  der  Staat  seine  liebe  Noth  haben, 
dann  wenigstens  das  Vermögenssteuer-Privileg  aufzuheben. 
— Dass  die  Kommission  des  Abgeordnetenhauses  aus  einer 
Bestimmung  über  die  kurhessischen  Standesherren  eine  all- 
gemeine Konservirung  der  standesherrlichen  Kommunal- 
steuerfreiheit gemacht  hat,  haben  wir  seiner  Zeit  unseren 
Lesern  berichtet.1)  Sonst  ist  die  Angelegenheit  kaum  be- 
achtet worden.  So  wenig  eine  derartige  Behandlung  von 
Privilegien,  namentlich  wenn  sie  die  Steuerfreiheit  der 
reichsten  Familien  des  Landes  betreffen,  mit  dem  Ernst  der 
Sache  zu  vereinbaren  ist,  so  ist  doch  der  dadurch  ange- 
richtete Schaden  noch  nicht  als  definitiv  anzusehen.  Dies 
Gesetz  konservirt  ,,die  bestehenden  gesetzlichen  Bestim- 
mungen. gemäss  welchen  Standesherren  und  deren  Familien 
von  Gemeindelasten  befreit  sind-1.  Da  nun  aber  solche 
gesetzlichen  Bestimmungen  nicht  bestehen,  weil  sie  aufge- 
hoben sind,  so  bleibt  es  den  Gemeinden  unbenommen,  die 
Standesherren  zu  veranlagen  und  es  auf  eine  Entscheidung 
des  Oberverwaltungsgerichts  ankommen  zu  lassen. 

Für  die  Staatsfinanzen  sind  bei  der  Neuregelung  der 
Kommunalabgaben  nebenbei  noch  zwei  Vortheile  abgefallen. 
Die  sogen.  Ueberweisungen  aus  den  landwirthschaftlichen 
Zöllen  (lex  Huene)  fallen  in  Zukunft  fort,  sodass  der  Staat  die 
Rückzahlungen  des  Reichs  aus  den  Zöllen  im  vollen  Umfange 
für  sich  behält.  Die  Tantiemen,  welche  der  Staat  bisher  für  die 
Mitwirkung  der  Gemeinden  bei  Veranlagung  und  Erhebung 
staatlicher  Steuern  zahlte,  sollen  ebenfalls  in  Fortfall  kommen: 
die  vom  Staate  so  reich  beschenkten  Gemeinden  werden 
diese  Dienste  in  Zukunft  unentgeltlich  thun.  Die  beiden 
Ersparnisse  betragen  zusammen  24  3 = 27  Millionen  Mark. 

Da  der  Staat  die  Mehrerträge  der  neuen  Einkommensteuer 
mit  40  Millionen  Mark  (in  Abänderung  der  früheren  Fest- 
legungsbestimmungen) in  den  Etat  einstellt,  so  genügt  ein 
Ertrag  der  Vermögenssteuer  von  rund  35  Millionen  Mark. 


*)  Sozialpolitisches  Centralblatt  No.  30.  S.  357 — 359. 


*188 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  41. 


um  den  Staat  für  die  Aufgabe  von  mehr  als  100  Millionen 
Mark  „Realsteuern“  zu  entschädigen.  Wenn  die  Vermögens- 
steuer mehr  oder  weniger  als  35  Millionen  Mark  bringt,  so 
ist  eine  Herabsetzung  oder  Erhöhung  der  Tarifsätze  vor- 
gesehen. Im  Uebrigen  will  das  Gesetz  eine  Veränderung 
des  Vermögenssteuertarifs  „nur  bei  gleichzeitiger  und  ver- 
hältnissmässiger  Abänderung  der  Einkommensteuersätze“ 
zulassen. 

Als  Termin  des  Inkrafttretens  ist  für  die  drei  Gesetze 
gleichmässig  der  1.  April  1895  bestimmt. 

•X-  "X* 

Wir  haben  an  den  drei  Gesetzen  viel  zu  tadeln  und 
manches  zu  loben.  Wollen  wir  aber  zu  einem  Gesammt- 
urtheil  gelangen,  so  dürfen  wir  uns  nicht  damit  begnügen, 
das  Quantum  unserer  Zustimmung  und  unserer  Ablehnung 
mit  einander  zu  vergleichen  und  daraus  das  Fazit  zu  ziehen. 
Bei  politischen  Gesammturtheilen  darf  man  niemals  ver- 
gessen, dass  Gesetze  nicht  für  die  Vergangenheit,  sondern 
für  die  Zukunft  gegeben  werden.  Alles  Unmoralische,  das 
mit  diesem  Gesetzgebungswerk  verbunden  war,  gehört 
schliesslich  der  Vergangenheit,  die  neuen  Handhaben,  die 
es  der  Finanzhoheit  des  Staates  giebt,  gehören  der  Zukunft 
an.  Man  mag  über  die  Aussichten  einer  sozialpolitischen 
Gesetzgebung  unter  unseren  heutigen  Zuständen  denken  wie 
man  wolle;  soweit  die  Sozialpolitik  in  das  Gebiet  der  Fi- 
nanzen fällt,  wird  der  preussische  Staat  sich  ihr  nicht  ent- 
ziehen. Denn  kein  preussischer  Finanzminister  wird  das 
Geld  anderswoher  nehmen  können,  als  von  da,  wo  es  ist, 
und  das  heisst:  von  da,  wo  die  Sozialpolitik  es  zu  nehmen 
vorschreibt.  Da  für  die  steigenden  Bedürfnisse  des  Staates 
die  Erträge  nicht  anders  aufzubringen  sind,  als  durch  eine 
steigende  Belastung  der  Besitzenden,  so  ist  das  Steigen  der 
Staatsbedürfnisse  eine  sichere  Garantie  für  das  fort- 
gesetzte Durchdringen  sozialpolitischer  Gesichtspunkte 
in  der  Steuergesetzgebung.  Sobald  erst  auf  Grund  des 
Vermögenssteuergesetzes  ein  leidlich  brauchbarer  Ver- 
mögenskataster aufgestellt  ist,  so  wird  keine  zukünftige 
Finanzgesetzgebung  der  Versuchung  widerstehen,  die 
grossen  Vermögen  noch  ganz  anders  als  mit  dem  gleich- 
mässigen  Satze  von  */„  pro  Mille  heranzuziehen.  Wenn 
der  Gesetzgeber  das  Gelübde  gethan  hat,  den  Vermögens- 
steuertarif nie  anders  als  „bei  gleichzeitiger  und  verhältniss- 
mässiger  Abänderung  der  Einkommensteuersätze“  abzu- 
ändern, so  hat  selbstverständlich  ein  solches  Gelübde 
keinerlei  bindende  Wirkung  (könnte  übrigens  dadurch 
befolgt  werden,  dass  die  obersten  Einkommensteuerstufen 
ebenso  erhöht  werden,  wie  die  obersten  Vermögenssteuer- 
stufen). Vor  Allem  aber  haben  die  Kreise,  die  über  die 
Steuerreform  am  meisten  frohlocken,  eines  übersehen.  Es 
hat  noch  nie  eine  Steuerverfassung  gegeben,  welche  darauf 
verzichtet  hätte,  das  unbewegliche  Vermögen  stärker  zu 
belasten  als  das  bewegliche.  Alle  Erfahrung  spricht  dafür, 
dass  die  preussische  Steuerverfassung  den  Weg  gehen 
wird,  den  sie  gekommen  ist.  Und  dann  wird  man  sich 
sehr  wohl  erinnern,  dass  die  Grundsteuer  als  Staatsabgabe 
keineswegs  abgeschafft,  sondern  ja  nur  „ausser  Hebung 
gesetzt“  ist.  Den  ganzen  Veranlagungsapparat  behält  der 
Staat  in  Händen;  ein  Federstrich  des  Gesetzgebers  genügt, 
um  die  Steuer  für  die  tausend  grössten  Güter  der  Monarchie 
wieder  „in  Hebung“  zu  setzen. 

Für  die  ganze  Fortentwickelung  der  Vermögenssteuer 
wird  es  von  der  grössten  Bedeutung  sein,  dass  sie  gerade 
von  diesem  Parlamente  angenommen  wurde.  Das  preussi- 
sche Herrenhaus  ist  im  Wesentlichen  eine  Vertretung  der 
grossgrundbesitzenden  Familien,  und  in  dem  Abgeordneten- 
haus, das  soeben  seine  Tage  beschlossen  hat,  war  nicht 
das  Volk,  sondern  nur  seine  besitzenden  Klassen  vertreten. 
So  genau  deckten  sich  die  Atmosphären  der  beiden  Häuser 
des  Landtages,  dass  nach  der  Berathung  des  Abgeordneten- 
hauses dem  Herrenhaus  zu  thun  fast  nichts  mehr  übrig 


blieb.  Wenn  ein  solches  Parlament  im  Stande  war,  das 
Prinzip,  dass  der  Besitz  als  solcher  steuerpflichtig  ist,  in 
die  Gesetzgebung  neu  einzuführen,  so  hat  dies  für  die  Fort- 
entwickelung eine  ganz  andere  Bedeutung,  als  wenn  der 
Beschluss  von  einer  sozial  angehauchten  Volksvertretung 
gefasst  worden  wäre. 

Die  Gier  nach  der  Grundsteuer  hat  die  preussischen 
Grundbesitzer  blindlings  in  eine  gute  That  hinein  getrieben. 
Ein  späterer  Geschichtsschreiber  wird  in  den  Steuergesetzen 
von  1893  nicht  den  „Abschluss“,  sondern  den  Beginn  einer 
Steuerreform  zu  verzeichnen  haben. 

Berlin.  J.  Jastrow. 


Landwirthschaft. 

Zur  Frage  der  grundbücherlichen  Priorität  der 
Meliorationsdarlehen  in  Oesterreich. 

Wir  brauchen  es  hier  wohl  nicht  zu  unternehmen,  die 
hervorragende  Wichtigkeit  des  Meliorationswesens  im  Rahmen 
der  „landwirthschaftlichen  Frage“  zu  schildern.  Vielleicht 
aber  ist  es  gestattet,  aus  dem  System  des  Bodenver- 
besserungswesens den  Meliorationskredit  herauszugreifen 
und  bei  einem  Probleme  desselben  kurz  zu  verweilen,  dessen 
soziale  Bedeutung  nicht  zu  verkennen  ist. 

Wenn  wir  bangen  Herzens  das  Schicksal  der  europäi- 
schen Landwirthschaft  seit  Dezennien  verfolgen,  so  haben 
wir  uns  daran  gewöhnt,  einen  gewissen  Trost  in  dem  Um- 
stande zu  finden,  dass  die  landwirthschaftliche  Produktion, 
welche  bekanntlich  im  Gegensätze  zur  gewerblichen  und  , 
industriellen  durch  ihre  Projektion  auf  die  umschriebene 
Fläche  landwirthschaftlichen  Bodens  naturgemäss  für  die 
Schaffung  ihrer  Werthe  enge  Schranken  gezogen  findet, 
noch  lange  nicht  die  äusserste  Grenze  ihrer  Expansions- : 
fähigkeit  erreicht  hat,  und  zwar  sowohl  hinsichtlich  der 
Urbarmachung  unproduktiver  Flächen  als  auch  hinsichtlich , 
der  Ertragssteigerung  bereits  bebauter  Ländereien.  Jedes 
Kilogramm  Kunstdünger,  welches  in  die  Erde  wandert,  jeder 
Quadratmeter  Landes,  welcher  vor  der  Schotterverheerung 
eines  Wildbaches  gerettet  oder  dem  Inundationsgebiete 
eines  Flusses  abgerungen  wird,  jedes  Drainagerohr,  welches 
der  Landwirth  in  seine  versumpfte  Wiese  legt,  bedeutet  in ; 
diesem  Sinne  ein  Stück  Hoffnung  in  dem  Existenzkämpfe 
unserer  Landwirthschaft.  j 

Während  jedoch  der  mittlere  und  kleine  Besitz  be- 
züglich der  Melioration  im  weitesten  Sinne  des  Wortes, 
sofern  es  sich  um  die  Grundfläche  selbst  und  ihren  Ertrag 
handelt,  noch  lange  keine  Spur  von  „Sättigung“  zeigt,  tritt 
uns  eine  solche  auf  dem  zweiten  Gebiete  der  Lebensführung 
dieses  Grundbesitzes  in  erschreckenderWeise  entgegen:  im 
Grundbuche.  Der  mittlere  und  kleine  landwirthschaftliche 
Besitz  ist  heute  mit  Hypothekarschulden  — und  zwar 
grösstentheils  unproduktiven  — in  einem  Maasse  gesättigt, 
dass  für  den  Meliorationskredit  kein  Platz  erübrigt  werden 
kann. 

In  einem  solchen  Augenblicke  wird  es  die  Aufgabe  der 
landwirthschaftlichen  Verwaltung  des  Staates  sein  müssen, 
diesen  Widerspruch  aufzuheben,  welcher  sich  zwischen  der 
physischen  und  der  rechtlichen  Aufnahmsfähigkeit  des 
kleineren  Grundbesitzes  für  Meliorationen  ergiebt.  Es  ist 
klar,  dass  damit  auch  das  Problem  der  Melioration  zum 
Gegenstände  der  sozialen  Verwaltung  wird. 

Auch  in  Oesterreich  ist  sich  die  Verwaltung  seit  ge- 
raumer Zeit  dieser  Aufgaben  bewusst  geworden.  Bisher 
hat  man  jedoch  fast  ausschliesslich  jenen  „Meliorationen“  j 
das  Augenmerk  zugewendet,  welche  in  einer  Abwehr 
schädlicher,  mehr  oder  minder  regelmässig  eintretender 
Einflüsse  der  fliessenden  Gewässer  bestehen,  sowie  auch 
den  Ent-  und  Bewässerungen,  wenn  sie  sich  als  grössere, 
im  öffentlichen  Interesse  gelegene  Unternehmungen  dar- 
stellen.1) Die  Sorge  für  die  eigentliche  „Melioration“  des 

J)  Gesetz  vom  30.  Juni  1884  R -G.-Bl.  No.  116  betreffend  die 
Förderung  der  Landeskultur  auf  dem  Gebiete  des  Wasserbaues 
und  Gesetz  vom  30.  Juni  1884  R. -G.-Bl.  No.  117  betreffend  Vor- 
kehrungen zur  unschädlichen  Ableitung  von  Gebirgswässern. 


No.  4L 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


489 


kleinen  Landwirthes  blieb  dem  Einzelnen  insofern  über- 
lassen, als  man  es  unterliess,  öffentliche  Einrichtungen 
oder  gesetzliche  Bestimmungen  zu  schaffen,  welche  im 
Stande  gewesen  wären,  die  Chancen  des  Meliorationskredites 
wesentlich  umzugestalten. 

Allerdings  fehlte  es  nicht  an  Bestrebungen,  welche  die 
Hebung  des  eigentlichen  Meliorationskredits  zum  Gegen- 
stände hatten.  So  wurde  im  Jahre  1881  im  Vorarlberger 
Landtage  von  R.  v.  Tschavoll  ein  Entwurf  über  Landes- 
kulturrentenbanken als  Mittel  zur  Hebung  der  Bodenkultur 
nach  preussischem  Muster  eingebracht.1)  Dieser,  sowie  der 
vom  steiermärkischen  Landesausschusse  im  Jahre  1882  nach 
sächsischem  Muster  ausgearbeitete  Entwurf2 3)  und  die  im 
Jahre  1887  vom  mährischen  Landtage  gefasste  Resolutions) 
hatten  keinen  Erfolg.  Der  § 7 des  neuen  Statuts  der  mähri- 
schen Hypothekenbank  (vom  26.  Juni  1890),  nach  welchem 
die  Hälfte  des  Reservefonds  zu  Baardarlehen  an  Gemeinden, 
Strassenausschüsse  und  Wassergenossenschaften  gegeben 
werden  kann,  genügt  dem  Bedürfnisse  nach  eigentlichem 
Meliorationskredite  ebenso  wenig  wie  die  der  galizischen 
Landesbank  statutengemäss  eingeräumte  Befugniss,  Meliora- 
tionsdarlehen  zu  gewähren,  wofür  jedoch  kein  besonderes 
Regulativ  besteht.  Soweit  diese  Institute  sowie  die  übrigen 
österreichischen  Landeshypothekenbanken  sich  überhaupt 
mit  dem  Meliorationskredite  befassen,  genügen  sie  nur  jenen 
Kreditbedürftigen,  deren  Bodenverschuldung  die  statuten- 
mässige  Sicherheitsgrenze  des  Kreditinstitutes  noch  nicht 
erreicht  hat.  Am  besten  steht  in  dieser  Hinsicht  noch  die 
im  Jahre  1889  geschaffene  böhmische  Landesbank  da,  welche 
mit  speziellen  Einrichtungen  für  den  Meliorationskredit  aus- 
gestattet ist. 

Es  ist  klar,  dass  alle  diese  Versuche  zu  keinem  Re- 
sultate führen,  insolange  nicht  der  Weg  gefunden  wird, 
wodurch  der  Meliorationskredit  trotz  der  heutigen  Ver- 
schuldung des  Landesgrundbesitzes  Raum  findet. 

Die  Lösung  der  Aufgabe,  welche  hiernach  für  die  land- 
wirthschaftliche  Verwaltung  erwächst,  scheint  an  sich  eine 
sehr  einfache.  Es  ist  vom  Standpunkte  der  Landeskultur- 
technik kein  Zweifel  darüber,  dass  sich  der  Erfolg  gewisser 
einfacherer  Meliorationsarten  (Ent-  und  Bewässerungen) 
und  das  Ausmaass  der  durch  dieselben  zu  schaffenden 
Werthvermehrung  mit  annähernder  Genauigkeit  voraus- 
berechnen lässt.  Nachdem  nun  der  gegenwärtige  Werth 
von  Grund  und  Boden  grossentheils  bis  zu  der  durch  die 
Statuten  unserer  Hypothekeninstitute  vorgeschriebenen 
Sicherheitsgrenze  und  darüber  belastet  ist,  wird  es  sich 
einfach  um  die  Organisation  des  Meliorations- 
kredites auf  Grundlage  des  durch  die  Melioration 
zu  schaffenden  höheren  Bodenwerths  handeln. 

Andererseits  ist  es  Thatsache,  dass  die  bisherigen 
Tabulargläubiger  des  zu  meliorirenden  Grundstücks  durch 
die  Melioration  ein  besseres  Pfand  und  dadurch 
eine  erhöhte  Sicherheit  ihrer  Deckung  erhalten  sollen,  Vor- 
theile, welche  ihnen  in  gewissem  Sinne  unberechtigter 
Weise  in  den  Schooss  fallen  würden.4)  Diese  „Besserung 
der  Hypothek“,  zusammengehalten  mit  der  Erwägung,  dass 
das  Grundbuch  für  den  Meliorationskredit  unter  den  heuti- 
gen Verhältnissen  nahezu  geschlossen  ist,  hat  zu  dem  ge- 
führt, was  wir  die  Frage  der  grundbücherlichen 
Priorität  von  Meliorationsdarlehen  nennen. 

In  den  verschiedenen  Staaten  ist  diese  Frage  in  sehr 
verschiedener  Weise  gelöst  und  in  einigen  auch  unseres 
Erachtens  durch  die  Vermengung  mit  einer  ganz  anderen 
Frage  gänzlich  vergriffen  worden.  Es  sei  gestattet,  an  den 
Stand  der  Gesetzgebung,  wie  ihn  im  Wesentlichen  auch 
Bräf5),  jedoch  ohne  Hervorhebung  der  beiden  gänzlich 

*)  Vgl.  hierüber,  sowie  über  die  ausserösterreichischen  Ver- 
hältnisse die  Arbeit  von  Bräf  „Ueber  Meliorationskredit  mit  beson- 
derer Rücksicht  auf  Oesterreich“  in  der  österreichischen  „Zeit- 
schrift für  Volkswirtschaft,  Sozialpolitik  und  Verwaltung“  I.  Bd. 
II.  Heft. 

*)  V.  Landtagsperiode  IV.  Session  Beilage  No.  19  ex  1882. 

3)  Mährischer  Landtagsbericht  von  1887  Z.  409  und  726. 

4)  Daher  auch  der  unklare  und  unfruchtbare  Vorschlag  von 
Knies  („Kredit“  II.  Berlin  1879  S.  312),  „die  gleiche  und  volle 
Parität  des  alten  und  des  neuen  Gläubigers  bezüglich  ihrer  hypo- 
thekarischen Sicherung“  zu  setzen. 

5)  a.  a.  O. 


verschiedenen  Gesichtspunkte,  darstellt,  in  Kürze  zu  er- 
innern. 

In  England,  dem  Mutterlande  der  Melioration,  ist  für 
die  Bemessung  des  zu  gewährenden  Meliorationsdarlehens 
die  allgemeine  Erwägung  maassgebend,  ob  die  von  der 
Melioration  erhoffte  Erhöhung  des  Jahresertrages  eine 
höhere  Summe  verspricht,  als  die  Verzinsungs-  und 
Tilgungsquote  des  Darlehens  beträgt.  Die  Landkommission 
entscheidet  dies  nach  freiem  Ermessen.  Es  wird  zuerst 
der  provisorische  Titel  auf  das  nach  Genehmigung  der 
ausgeführten  Melioration  zu  gewährende  Pfandrecht  (provi- 
sional  ordre)  verliehen,  welcher  Titel  auch  durch  Indossa- 
ment übertragbar  ist.  Nach  durchgeführtem  Ediktalverfahren, 
worin  die  Gläubiger  vernommen  werden,  und  nach  Voll- 
endung der  Melioration  wird  in  der  „absolute  ordre“  der 
definitive  Betrag  der  Last  festgesetzt,  welche  — und  zwar 
als  Kapitalsbetrag  — mit  privilegirtem  Range  auf  die  Reali- 
tät gelegt  wird.  Voraus  gehen  nur  Zehent-  und  Lehens- 
ablösungsrenten sowie  staatliche  Forderungen  nach  der 
Public  Monay  Drainage  Act  vom  Jahre  1846.  Die  Land- 
Kommission  nimmt  nicht  nur  die  Prüfung  der  Projekte, 
sondern  auch  die  Beaufsichtigung  der  Ausführung,  Collau- 
dirung  ausgeführter  Theile  behufs  Anweisung  von  Darlehens- 
quoten und  die  Schlusscollaudirung  vor.  Die  Darlehen 
können  sowohl  von  gewissen  Meliorationsgesellschaften  als 
auch  vom  Privatkapital  gewährt  werden. 

Ebenso  wird  in  Frankreich  den  Meliorationsdarlehen 
die  Priorität  eingeräumt.  Doch  wurde  die  Darlehens- 
gewährung an  den  Credit  foncier  geknüpft  und  die  Ge- 
nehmigung der  Projekte  dem  Ministerium  des  Innern  über- 
tragen, welches  auch  die  Ausführung  überwacht  und  das 
schwerfällige  Verfahren,  in  welchem  hier  die  Sicherung  der 
Gläubiger  gelegen  ist,  durchführt.  Der  Credit  foncier  giebt 
die  obligations  du  drainage  aus. 

In  Italien  dürfen  gewisse  Gesellschaften,  deren  staat- 
liche Ueberwachung  sehr  weit  geht,  begünstigte  Meliorations- 
darlehen gewähren  und  carteile  agrarie  emittiren.  Die 
Forderung  hat  bis  zum  Betrage  der  Wertherhöhung  privi- 
legirten  Rang.  Diese  wird  durch  zwei  gerichtliche 
Schätzungen  (vor  und  nach  Ausführung  der  Melioration) 
bestimmt.  Die  Gläubiger  haben  in  einem  Ediktalverfahren 
ein  Einspruchsrecht  gegen  die  Schätzung  (jedoch  nicht 
gegen  die  Gewährung  des  Darlehens  oder  gegen  die 
Priorität). 

Wir  sehen,  dass  in  diesen  drei  Ländern,  in  welchen 
es  entweder  Grundbücher  nach  unserer  Art  gar  nicht  giebt 
oder  das  Prinzip  der  Priorität  vielfach  durchbrochen  ist,  die 
Lösung  in  einem  „Verfahren“  gesucht  wird.  Dieses  führt 
in  Frankreich  überhaupt  zu  einer  geringen  Benutzung  des 
Meliorationsvorranges.  In  England  sind  die  Schattenseiten 
jedes  Ediktalverfahrens,  dessen  Ziel  jeder  kleine  Gläubiger 
muthwillig  zu  vereiteln  im  Stande  wäre,  durch  das  weit- 
gehende Recht  der  Landkommission  glücklich  vermieden, 
während  sich  in  Italien  scheinbar  einVersuch  zum  Schutze  der 
erworbenen  Prioritätsrechte,  im  Grunde  genommen  jedoch 
eine  vollständige  Verwechselung  des  Rechts  auf  Logirung 
innerhalb  des  Mehrwerthes  mit  dem  Prioritätsrechte  selbst 
zeigt. 

In  Deutschland,  wo  bekanntlich  die  Landeskultur- 
rentenbanken in  einigen  Ländern  bestehen,  sind  die  Grund- 
sätze sehr  verschiedenartig  normirt. 

In  Sachsen  begnügt  man  sich  mit  dem  Grundsätze, 
dass  die  Höhe  des  zu  gewährenden  Darlehns  der  zu  be- 
wirkenden Ertragssteigerung  entsprechen  muss.  Die  Frage 
der  Priorität  ist  daher  nicht  nur  nicht  gelöst,  sondern  mit 
Rücksicht  auf  die  strenge  Auffassung  des  deutschen  Grund- 
buchsrechtes geradezu  ignorirt.  Es  ist  sozusagen  nur 
dafür  gesorgt,  dass  die  Bäume  nicht  in  den  Himmel 
wachsen. 

Ebenso  wird  der  Landeskulturrente  weder  in  Bayern  *), 
noch  in  Hessen  und  Schlesien  und  ebensowenig  den  Me- 
liorationsdarlehen der  Bodenkreditanstalt  in  Oldenburg  die 
gesetzliche  Priorität  eingeräumt.  In  Bayern  wird  vor- 
geschrieben, das  Darlehen  dürfe  nicht  grösser  sein,  als  der 


q In  manchen  Theilen  Bayerns  ist  allerdings  ein  Aufforde- 
rungsverfahren gestattet,  wobei  die  Priorität  bewilligt  wird,  wenn 
binnen  bestimmter  Frist  kein  Widerspruch  erfolgt. 


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sozialpolitisches  centralblatt. 


No.  41. 


Betrag  der  vorausgesetzten  Wertherhöhung,  bezw.  der 
Meliorationskosten,  wenn  diese  geringer  sind  als  jene.  Doch 
muss  das  Darlehen  in  die  erste  Hälfte  des  gegenwärtigen 
Werthes  der  Liegenschaft  fallen.  Ebenso  ist  es  in  Hessen; 
und  trotz  dieser  enggezogenen  Sicherheitsgrenze  verlangen 
beide  Staaten  für  ihre  Landeskulturrente  die  erste  Hypo- 
thek, ohne  für  die  Ermöglichung  dieser  Priorität  das  Ge- 
ringste vorzukehren.  Die  Fürsorge  für  die  Sicherung  der 
Institute  wird  hier  in  augenfälliger  Weise  mit  der  Fürsorge 
für  die  Kreditfähigkeit  des  Darlehnswerbers  verwechselt. 
In  Oldenburg  ist  für  gewöhnliche  Hypothekardarlehen 
der  Bodenkreditanstalt  die  Sicherheitsgrenze  mit  der  Hälfte 
des  gegenwärtigen  Werthes  festgesetzt.  Meliorationsdar- 
lehen dürfen  überdies  bis  zur  Hälfte  des  abgesondert  zu 
berechnenden  Werthzuwachses  gewährt  werden1),  wobei 
der  innerhalb  der  Hälfte  des  gegenwärtigen  Werthes 
stehende  Darlehensantheil  sofort,  der  Rest  nach  Maassgabe 
des  Fortschreitens  der  Arbeiten  gezahlt  wird,  — eine  ge- 
wiss sehr  gute  und  jedenfalls  dem  Wesen  des  Meliorations- 
kredites schon  weitaus  besser  angepasste  Bestimmung.  Aber 
was  nützt  sie  bei  stark  verschuldeten  Gütern?  Die  wich- 
tigste Frage  bleibt  dabei  ungelöst. 

In  Preussen  sind  die  Kosten  auf  alle  Fälle  das  Maxi- 
malausmaass  Die  Sicherheit  für  die  Landeskulturrente 
gilt  als  vorhanden,  wenn  das  Darlehen  innerhalb  des  25- 
fachen  Katastralreinertrages  oder  innerhalb  der  ersten  Hälfte 
des  durch  ritterschaftliche,  landschaftliche  oder  besondere 
Taxe  der  Landeskultur-Rentenbank  zu  ermittelnden  Werthes 
liegt.  Das  Darlehen  kann  darüber  hinaus  bis  zur  Hälfte 
des  zu  erzielenden  Werthzuwachses  gewährt  werden,  und 
zwar  in  der  Regel  nur,  wenn  das  Werk  vollendet  ist;  bei 
Drainage-,  Bewässerungs-,  Wegregulirungs-  und  Wald- 
kultur-Darlehen sogar  bis  3/4  des  zu  erzielenden  Werthzu- 
wachses. 

Bei  Darlehen  zu  Drainagezwecken  kann  das 
Vorzugsrecht  für  die  Rente  begehrt  werden.  Es 
wird  dann  ein  Aufforderungsverfahren  eingeleitet,  wo- 
bei jeder  Tabulargläubiger  innerhalb  einer  gewissen  Frist 
die  Einräumung  der  Priorität  verhindern  kann.  Hier  ist 
bezüglich  der  Sicherheitsgrenze  dem  erwarteten  Meliora- 
tions-Mehrwerthe  Rechnung  getragen  und  andererseits  auch 
an  die  „Besserung  der  Hypothek“  gedacht.  Das  Auffor- 
derungsverfahren wahrt  allerdings  sehr  strenge  den  Grund- 
satz der  Priorität  im  Grundbuchsrechte,  verhindert  aber 
oft  die  Einräumung  des  Vorzuges,  da  von  dem  Wider- 
spruchsrechte ganz  wacker  Gebrauch  gemacht  wird,  insbe- 
sondere von  Instituten,  welche,  wie  die  landschaftlichen, 
dazu  statutenmässig  genöthigt  sind. 

Ganz  beispiellos  stehen  die  Verhältnisse  in  Ungarn 
da.  Von  dem  dortigen  Bodenkreditinstitute  können  die 
Darlehen  für  Bodenmeliorationen  bis  zum  sechsfachen2) 
Betrage  des  Katastralreinertrages  des  ganzen  Grundbuchs- 
körpers, auf  welchem  das  Pfandrecht  haftet,  gewährt 
werden.  Die  laufenden  Zinsen  und  Annuitäten  bilden  eine 
Reallast  mit  privilegirtem  Range  gleich  nach  den  landes- 
fürstlichen und  Kommunalabgaben  und  Flussregulirungs- 
anlehen.  Bei  der  exekutiven  Feilbietung  haben  die,  drei 
Jahre  von  dem  Feilbietungstage  zurückgerechneten  Annui- 
täten, die  Priorität  Das  Gut  wird  mit  der  Reallast  der 
bevorzugten  Priorität  der  Annuitäten  verkauft. 

Hier  scheint  in  augenfälliger  Weise  die  Frage  der 
Sicherung  der  Kredit  gewährenden  Anstalt  (sechsfacher 
Katastralreinertrag  als  Grenze  der  Darlehenshöhe)  mit  der 
Frage  des  Schutzes  der  Tabulargläubiger  verwirrt.  Diese 
haben  keinerlei  Einspruchsrecht  und  können  daher  trotz 
des  abnorm  niedrig  bemessenen  Multiplums  des  Katastral- 
reinertrages für  die  Darlehnsgewährung  in  ihren  Rechten 
geschädigt  werden. 

In  Oesterreich  hat  die  ganze  Frage  dadurch  ein  aktu- 
elles Interesse  gewonnen,  dass  in  der  Sitzung  des  Abge- 


')  ln  ähnlicher  Weise  gilt  bei  den  Meliorationsdarlehen  der 
böhm.  Landesbank  die  Sicherheit  als  vorhanden,  wenn  das  Me- 
liorationsdarlehcn  und  die  bereits  bestehenden  Ilypothekarschulden 
nicht  grösser  sind,  als  2/3  des  24-fachen  (bei  Waldbestand  des 
20-fachen)  Katastralreinertrages  zuzüglich  der  Hälfte  der  in  sach- 
verständiger Weise  ermittelten  Wertherhöhung. 

*)  Bräf  spricht  vom  16-fachen. 


ordnetenhauses  vom  25.  Januar  1892  die  Abgeordneten 
R.  v.  Struszkiewicz  und  Genossen  folgenden  Resolutions- 
antrag eingebracht  haben:  „Die  k.  k.  Regierung  wird  auf- 

gefordert, eine  Gesetzesvorlage  einzubringen,  welche  einer- 
seits den  Meliorationskredit  der  Grundeigenthümer  zu  för- 
dern geeignet  wäre,  andererseits  Bedingungen  festsetzen 
würde,  unter  welchen  einem  solchen  Kredite  die  hypotheka- 
rische Priorität  gewährt  werden  könnte.“ *  *) 

Es  ist  nicht  bekannt,  welchen  Standpunkt  die  öster- 
reichische Regierung  bei  Einbringung  eines  derartigen  Gesetz- 
entwurfes einzunehmen  gedenkt.  Wenn  für  ein  derartiges 
Gesetz  die  ausländischen  Vorbilder  in  Betracht  gezogen 
werden,  wird  man  sich  vor  Allem  davor  hüten  müssen,  die  zwei 
mehrerwähnten  Gesichtspunkte  in  ähnlicher  Weise  wie  die 
ausländischen  Gesetzgebungen  zu  konfundiren.  Ein  Gesetz, 
welches  den  Meliorationskredit  fördern  will,  wird  unseres 
Erachtens  den  Gesichtspunkt  der  Sicherheitsgrenze  für  den 
Kreditgeber  ganz  von  jenem  des  Schutzes  der  Hypothekar- 
gläubiger zu  trennen  haben.  Für  die  Sicherung  des 
Meliorationsdarlehens  selbst  ist  durch  die  Statuten  der 
Hypothekeninstitute  Vorsorge  getroffen , und  das  zu 
schaffende  Gesetz  wird  kein  Interesse  daran  haben,  diese 
Sicherheitsgrenze  zu  verengern,  sondern  es  muss  im  Ge- 
gentheil  für  eine  Erweiterung  derselben  durch  Berücksich- 
tigung des  zukünftigen  Bodenwerthes  sorgen. 

Andererseits  wird  das  Gesetz  über  die  Frage  der 
Priorität  selbst  nicht  hinwegkommen  können.  Wenn  Bräf 
der  Ansicht  ist,  dass  die  Einräumung  der  Priorität  für  das 
Meliorationsdarlehen  entbehrlich  und  durch  andere  Maass- 
regeln (wie  die  staatliche  Garantie  der  Rentenbriefe)  zu 
ersetzen  sei,  so  beruht  diese  Ansicht  wohl  hauptsächlich 
darauf,  dass  er  für  den  Meliorationskredit  in  erster  Linie 
die  Wohlfeilheit  erreichen  will.  Man  kann  aber  ruhig  be- 
haupten, dass  heute  in  Oesterreich  die  Landwirthe  nicht 
deshalb  den  Meliorationskredit  nicht  in  Anspruch  nehmen, 
weil  er  zu  kostspielig  ist,  sondern  hauptsächlich  deshalb, 
weil  sie  überhaupt  ohne  Priorität  kein  Meliorationsdarlehen 
bekommen.  Dagegen  müssen  wir  Bräf  zustimmen,  wenn 
er  das  Prinzip  der  Priorität  in  unserm  Grundbuchswesen 
für  so  wichtig  hält,  dass  in  dasselbe  nicht  Bresche  gelegt 
werden  darf.  Der  Schutz  der  Tabulargläubiger  wird  aber 
unseres  Erachtens  nicht  dadurch  erreicht,  dass  man  die 
Grenze  der  Belehnbarkeit  des  Grundstückes  für  Meliora- 
tionen wie  in  Ungarn  in  einem  ganz  willkürlich  gewählten 
Ausmaasse  herabdrückt.  Wir  glauben  vielmehr,  dass  sich 
auch  bei  voller  Wahrung  der  Rechte  der  Hypothekar- 
gläubiger die  Einräumung  der  Priorität  für  das  Meliora- 
tionsdarlehen konstruiren  lässt  und  zwar  in  folgender  Weise. 

Es  sei  beispielsweise  der  Werth  eines  Gutes  mit  W. 
= 16000  und  die  Belastung  durch  die  Gläubiger  A,  B.  und 
C.  mit  4000,  3000  und  2000  (oder  auch  mit  2000,  3000  und 
4000)  angenommen.  Das  Prinzip  der  Priorität  im  Grund- 
buchsrechte bedeutet  für  die  Gläubiger  A..  B.  und  C.  nichts 
anderes  als  das  Recht,  wenn  es  zur  exekutiven  Feilbietung 
des  Gutes  kommt  und  der  Erlös  mindestens  9/^  des 
Werthes  W.  beträgt,  mit  ihrer  Forderung  noch  voll  zum 
Zuge  zu  kommen  und  zwar  als  der  Drittletzte  bezw.  vor- 
letzte, bezw.  letzte  Bewerber. 

Dieses  Recht  muss  nach  der  Melioration  in  der  Weise 
aufrecht  bleiben,  dass  die  Gläubiger  A.,  B.  und  C.  — wenn- 
gleich vor  ihnen  noch  der  Gläubiger  Ar  (Kreditinstitut, 
welches  den  Meliorationskredit  gewährt)  zu  stehen  kommt 
— das  Recht  behalten,  sobald  es  zur  exekutiven  Feilbietung 
kommt  und  der  Erlös  noch  9/i6  des  durch  die  Melioration 
erhöhten  Werthes  W1  beträgt,  noch  voll  befriedigt  zu 
werden  und  zwar  als  der  drittletzte,  bezw.  vorletzte,  bezw. 
letzte  Bewerber.  Wenn  die  durch  die  Melioration  erwartete 
Wertherhöhung  8000  und  daher  der  neue  Werth  W1 
24000  beträgt,  so  ist  9 jl6  von  W1  = 13500,  d.  h.  der 
Gläubiger  A1  darf  mit  4500  vor  dem  Gläubiger  A.  die 
Priorität  erhalten,  ohne  dass  die  Rechte  der  bisherigen 
Gläubiger  irgendwie  geschädigt  werden. 

Oder  mit  anderen  Worten:  der  mit  der  Priorität  zu 
intabulirende  Betrag  des  Meliorationsdarlehens  darf  so 
gross  sein,  dass  die  Summe  der  auf  der  Liegenschaft  heute 


J)  No.  360  der  Beilage  zu  dem  stenogr.  Protokoll  des  Abge- 
ordnetenhauses. 


No.  41. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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haftenden  Hypothekarschulden  zum  gegenwärtigen  Werthe 
der  Liegenschaft  im  gleichen  Verhältnisse  steht,  wie  die 
gegenwärtigen  Hypothekarschulden  (zuzüglich  der  mit  dem 
Prioritätsrechte  ausgestatteten  Meliorationsschuld)  zu  dem 
durch  die  Melioration  erhöhten  Werthe  der  Liegenschaft. 

Das  Darlehen  kann  also  bis  zu  einem,  nach  den  Grund- 
sätzen der  Sicherheit  des  Kreditinstitutes  zu  berechnenden 
Maximalausmaasse,  das  Prioritätsrecht  für  dasselbe  jedoch 
nur  bis  zu  dem  eben  entwickelten  Maximalausmaasse  ge- 
währt werden. 

Dabei  könnte  noch,  um  die  Gefahr  zu  vermeiden,  welche 
den  Gläubiger  im  Falle  der  Exekution  vor  vollendeter  oder 
erfolgbringender  Melioration  treffen  kann,  der  Grundsatz 
aufgestellt  werden,  dass  das  Prioritätsrecht  bis  zu  dem 
Augenblicke  der  erfolgreichen  Vollendung  der  Melioration 
nur  vorgemerkt  wird  und  erst  dann  zur  Intabulation  gelangt, 
was  eine  Anlehnung  an  das  in  England  geltende  Recht  be- 
deuten würde. 

Dass  ein  wesentliches  Moment  für  die  ganze  Frage  in 
einer  wirksamen  Ueberwachung  der  Ausführung  und  Er- 
haltung der  Meliorationsanlagen  gelegen  ist,  scheint  selbst- 
verständlich. Dieser  Gesichtspunkt  berührt  jedoch  unser 
spezielles  Problem  nicht,  er  wird  bei  jeder  Art  der  Lösung 
desselben  in  Frage  kommen.  Dass  wir  zu  einer  wirksamen 
Ueberwachung  der  Darlehensverwendung  der  Genossen- 
schaft nur  schwer  entrathen  können,  haben  wir  schon  von 
Schäffle  gelernt. 

Es  wäre  zu  wünschen,  dass  in  Oesterreich  zur  Lösung 
der  wichtigen  Frage  ein  Schritt  gemacht  würde,  welcher  im 
Stande  wäre,  die  arg  bedrückten  kleinen  Landwirthe 
in  ihrem  Kampf  um  die  Existenz  zu  unterstützen. 

Wien.  Moriz  Ertl. 


Arbeiterzustände. 

Die  Kommission  für  Arbeiterstatistik  trat  am  30.  Juni 
unter  dem  Vorsitz  des  Unter-Staatssekretärs  Dr.  von 
Rottenburg  im  Reichstagsgebäude  zu  mehreren  Sitzungen 
zusammen.  Wir  geben  in  Folgendem  die  Berichte  des 
Reichsanzeigers  über  die  Verhandlungen  der  Kommission 
und  müssen  das  Bedauern  aussprechen,  dass  dieselben  noch 
dürftiger  ausgefallen  sind,  als  die  Referate  über  die  vorher- 
gegangenen Tagungen.  Das  ist  um  so  empfindlicher,  als 
das  im  übrigen,  nach  den  bisherigen  zu  schliessen,  auch 
nicht  einwandsfreie  offizielle  Protokoll  sehr  spät  erscheint 
und  schwer  zugänglich  ist.  Bei  der  Bedeutsamkeit,  die  die 
Kommission  für  Arbeiterstatistik  trotz  ihrer  Mängel  hat, 
erscheint  es  nur  als  bescheidener  Wunsch,  dass  die  Ver- 
handlungen auf  Grund  stenographischer  Aufnahmen 
möglichst  ausführlich  protokollirt  und  mit  den  Erhebungen 
der  Kommission  zu  ganz  niedrigem  Preise  im  Wege  des 
Buchhandels  der  Oeffentlichkeit  übergeben  werden.  Die 
Berichte  des  Reichsanzeigers  lauten: 

Die  Zusammensetzung  der  Kommission  hat  seit  ihrer 
letzten,  im  Februar  d.  J.  abgehaltenen  Sitzung  keine  Aende- 
rung  erfahren.  Den  Verhandlungen  wohnen  Kommissare 
des  Reichskanzlers,  des  Ministers  für  Handel  und  Gewerbe 
und  des  Senats  der  freien  Stadt  Hamburg  bei. 

Die  Tagesordnung  ist  folgende:  1.  Eingänge  und  ge- 
schäftliche Mittheilungen.  2.  Untersuchung  über  die  Ver- 
hältnisse der  in  Gast-  und  Schankwirthschaften  beschäftigten 
Personen.  3.  Untersuchung  über  Arbeitszeit  im  Handels- 
gewerbe. 4.  Antrag  Siegle:  Fortlaufende  Erhebungen  über 
die  Löhne  und  die  Arbeitszeiten  aller  Arbeiter,  welche  den 
gewerblichen  Berufsgenossenschaften  angehören. 

Nach  Erledigung  der  ersten  Nummer  der  Tagesordnung 
wurde  die  Berathung  über  den  zweiten  Gegenstand  bis  zum 
Erscheinen  von  Auskunftspersonen,  welche  bei  der  Fest- 
stellung des  auszugebenden  Fragebogens  gehört  werden 
sollen,  zurückgestellt.  Sodann  berichtete  Ober-Staatsanwalt 
Dr.  Hartmann  über  das  in  der  Denkschrift  „Erhebung  über 
Arbeitszeit,  Kündigungsfristen  und  Lehrlingsverhältnisse  im 
Handelsgewerbe“  niedergelegte  Ergebniss  der  nach  den 
Vorschlägen  der  Kommission  vorgenommenen  Enquete.  Im 
Anschluss  an  die  Ausführungen  des  Referenten  und  der 


Korreferenten  gab  die  Kommission  ihrer  Ueberzeugung 
dahin  Ausdruck,  dass  das  durch  die  angestellten  Erhebungen 
gewonnene  Material  als  eine  vertrauenswürdige  Grundlage 
für  die  weiteren  Erwägungen  über  etwa  zu  treffende  Maass- 
regeln angesehen  werden  könne. 

Die  Kommission  für  Arbeiterstatistik  erörterte  weiterhin 
die  Frage,  inwieweit  das  ihr  vorgelegte  statistische  Material 
über  Arbeitszeit,  Kündigungsfristen  und  Lehrlingsverhält- 
nisse im  I Iandelsgewerbe  der  Ergänzung  bedürfte,  und  auf 
welchem  Wege  diese  Ergänzung  zu  beschaffen  wäre.  Man 
einigte  sich  dahin,  dass  durch  weitere  Ermittelungen  klar 
gestellt  werden  müsste,  inwieweit  die  nach  dem  Ergebniss 
der  Statistik  gegenwärtig  übliche  Arbeitszeit  der  Verkäufer 
in  Ladengeschäften  eine  übermässige  wäre,  und  inwieweit 
eine  gesetzliche  Beschränkung  der  Ladenzeit  oder  der  Arbeits- 
zeit des  Ladenpersonals  ohne  Gefährdung  der  wirthschaft- 
lichen  Lage  der  Betheiligten  und  der  berechtigten  Interessen 
des  kaufenden  Publikums  durchgeführt  werden  könnte,  so- 
wie ob  die  Einführung  einer  gesetzlichen  Minimalkündigungs- 
frist sich  empfehle.  Die  zur  Beantwortung  dieser  kragen 
erforderlichen  Unterlagen  werden  nach  Ansicht  der  Kom- 
mission durch  Vernehmung  von  Auskunftspersonen  und 
durch  Befragung  von  Interessenten -Vereinigungen  zu  be- 
schaffen sein.  Die  Gegenstände  der  Vernehmung  und  Be- 
fragung näher  festzustellen,  wurde  einem  Ausschüsse  über- 
tragen. 

Infolge  einer  Eingabe  von  Hausdienern,  Packern  etc. 
aus  Berliner  Handelsgeschäften  beschloss  die  Kommission, 
auch  die  Verhältnisse  der  kaufmännischen  Bediensteten 
dieser  Art  bei  den  Vernehmungen  zu  berücksichtigen.  Es 
wurde  ferner  Mittheilung  über  die  Lage  der  übrigen  von  der 
Kommission  beschlossenen  Erhebungen  gemacht.  Danach 
haben  die  Vernehmungen  von  Auskunftspersonen  und  die 
Befragung  von  Interessentenvereinigungen  zur  Fortsetzung 
der  Bäckerenquete  stattgefunden:  die  Protokolle  und  Gut- 
achten sind  zum  grössten  Theil  eingegangen.  Die  Frage- 
bogen zur  Erforschung  der  Arbeitszeit  in  Getreidemühlen 
sind  ausgegeben,  zu  einem  guten  Theil  auch  bereits  wieder 
eingegangen. 

Auf  die  von  der  Kommission  angeregten  Erhebungen 
über  die  Verhältnisse  der  jugendlichen  und  weiblichen  Ar- 
beiter und  die  Arbeitszeit  der  erwachsenen  Männer  in  der 
Hausindustie  hat  der  Reichskanzler  beschlossen  einzugehen 
und  Vorbereitungen  für  die  Einleitung  solcher  Erhebungen 
bereits  in  Angriff  nehmen  lassen. 

Die  Sitzung  vom  1.  d.  M.  war  der  Berathung  eines 
Fragebogens  zur  Erforschung  der  Verhältnisse  der  in  Gast- 
und  Schankwirthschaften  beschäftigten  Personen  gewidmet. 
Der  vorgelegte  Entwurf  fand  mit  einigen  Abänderungen  die 
Zustimmung  der  Kommission.  Einen  grösseren  Raum  in 
der  Berathung,  zu  welcher  mehrere  Wirthe  und  Kellner  als 
Auskunftspersonen  zugezogen  wurden,  nahm  die  Erörterung 
der  Fragen  ein,  ob  auch  die  Beschaffenheit  der  den  Kellnern 
etc.  vom  Prinzipal  angewiesenen  Wohnungen  mit  Hilfe  des 
Fragebogens  erforscht  werden  sollte,  und  ob  die  ganze 
Erhebung  auf  Kellner  zu  beschränken  oder  auch  auf  andere 
Bedienstete  der  Gast-  und  Schankwirthschaftsbetriebe  thätige 
Personen  — insbesondere  das  Küchenpersonal  — zu  er- 
strecken wäre.  Die  erste  Frage  wurde  verneint,  da 
man  es  für  unmöglich  hielt,  über  die  Beschaffenheit  von 
Wohnungen  auf  schriftlichem  Wege  Klarheit  zu  gewinnen; 
die  zweite  Frage  wurde  zunächst  einem  Ausschuss  zur 
Prüfung  überwiesen. 

Die  Commission  für  Arbeiterstatistik  beschäftigte  sich 
in  ihrer  Sitzung  vom  3.  d.  M.  zunächst  mit  dem  Antrag 
Siegle  auf  Vornahme  einer  Lohnstatistik.  Der  zur  Vor- 
berathung  dieses  Antrags  eingesetzte  Ausschuss  befürwor- 
tete, sich  zunächst  auf  den  Versuch  zu  beschränken,  in 
einer  oder  zwei  Berufsgenossenschaften  eine  Lohnstatistik 
zu  erheben.  Die  Mehrheit  der  Kommission  war  jedoch  der 
Meinung,  dass  man  dem  Antrag  Siegle  überhaupt  keine 
Folge  geben  dürfte,  da  man  mit  der  Erledigung  anderer 
wichtiger  Aufgaben  vollauf  zu  thun  hätte  und  sich  nicht  auf 
Untersuchungen  einlassen  könnte,  deren  praktische  Ver- 
werthbarkeit  für  die  Gesetzgebung  sehr  zweifelhaft  wäre. 

Auch  der  zweite  Antrag  des  Abg.  Siegle,  betreffend 
Ermittelungen  über  die  Benutzbarkeit  der  vorhandenen 
Arbeitsnachweisstellen  zur  Klärung  der  Frage  der  Arbeits- 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  41. 


losigkeit.  wurde  abgelehnt,  da  die  Mehrheit  der  Kommission 
schon  aus  den  Mittheilungen  des  Referenten  — Ober- 
Regierungs-Raths  Dr.  WörishofFer  — die  Ueberzeugung 
gewann,  dass  die  Arbeitsnachweisstellen  zur  Zeit  noch  nicht 
mit  genügender  Zuverlässigkeit  zu  dem  gedachten  Zweck 
benutzt  werden  könnten. 

Der  Ausschuss  für  die  Kellner-Enquete  legte  sodann 
den  von  ihm  aufgestellten  Zusatz-Fragebogen  für  das  Küchen- 
personal vor.  Die  Aufnahme  desselben  wurde  jedoch  ab- 
gelehnt, da  man  fürchtete,  durch  Berücksichtigung  der  zahl- 
reichen in  der  Küche  beschäftigten  Personenkategorien  die 
Erhebung  zu  sehr  zu  kompliziren.  Die  Kommission  hielt 
es  für  zweckmässig,  däs  System  der  Stichproben  sowie  das 
bei  der  Bäcker-  und  Handelsgehilfen-Enquete  beobachtete 
Verfahren  auch  für  diese  Erhebung  beizubehalten. 

Zur  Fortsetzung  der  Untersuchung  über  Arbeitszeit  etc. 
im  Handelsgewerbe  wird  nach  dem  Vorschläge  der  Kom- 
mission das  durch  die  Fragebogen-Erhebung  gewonnene 
statistische  Material  durch  mündliche  Vernehmung  einer 
grösseren  Zahl  einzelner  Auskunftspersonen  und  durch  Be- 
fragen von  Interessenten-Vertretungen  zu  ergänzen  sein. 
Die  zu  diesem  Zwecke  von  einem  Ausschüsse  ausgearbeiteten 
Fragebogen  fanden  die  Zustimmung  der  Kommission. 

Reichsenquete  über  die  Arbeitsverhältnisse  im  Handels- 
gewerbe und  Eingabe  des  Deutschen  Verbandes  kauf- 
männischer Vereine,  Zu  den  oben  mitgetheilten  Ver- 
handlungen der  Reichskommission  für  Arbeiterstatistik 
vom  30.  Juni  bis  3.  Juli  d.  J.  war  eine  Eingabe  des 
„Deutschen  Verbandes  Kaufmännischer  Vereine“  einge- 
laufen, welche  die  Beschlüsse  des  letzten  Verbandstages 
dieser  Organisation  ausführte  und  für  die  Fortsetzung  der 
Handelsenquete  statt  des  bisher  angewendeten  schriftlichen 
Verfahrens  ein  mündliches  vorschlug,  für  welches  ein 
fertiges  Programm  unterbreitet  wurde.  Der  „Deutsche  Ver- 
band Kaufmännischer  Vereine“  wollte  durch  seine  Eingabe 
im  Interesse  der  Handlungsgehilfen  vermieden  sehen,  dass 
die  Feststellung  der  Thatsachen  bereits  abgeschlossen 
werde  und  dass  die  Betheiligten  wie  bei  der  Bäckerenquete 
nur  noch  zu  „Gutachten“  über  die  gesetzgeberische  Ver- 
wendbarkeit mangelhafter  schriftlicher  Erhebungen  zugezogen 
würden,  auf  welche  sie  nicht  den  geringsten  Einfluss  gehabt 
hatten.  Die  Petita  der  vom  27.  Juni  d.  J.  datirten  Eingaben 
gingen  deshalb  dahin:  „1.  Die  Reichskommission  für  Ar- 

beiterstatistik möge  vor  Feststellung  des  endgültigen  Pro- 
grammes für  weitere  Erhebungen  über  die  Arbeitsverhält- 
nisse im  Handelsgewerbe  (Ladengeschäfte)  eines  ihrer  Mit- 
glieder als  Kommissar  (§  9 ihres  Regulativs)  beauftragen, 
den  Vorstand  des  Deutschen  Verbandes  Kaufmännischer 
Vereine  über  seine  Wünsche  und  Vorschläge  mündlich  zu 
hören;  2.  die  Reichskommission  für  Arbeiterstatistik  möge 
bei  Feststellung  des  endgültigen  Programms  dem  Herrn 
Reichskanzler  für  die  weitere  Erhebung  eine  mündliche  Ver- 
nehmung von  Prinzipalen  und  Gehilfen  durch  die  Gewerbe- 
gerichte in  Vorschlag  bringen.“  Aus  der  Begründung  des 
letzten  , wichtigsten  Punktes  der  Eingabe  theilen  wir 
folgende  allgemein  interessirende  Ausführungen  mit,  die 
hoffentlich  auch  für  künftige  Reichsenqueten  nachwirken: 
„Bezüglich  der  Ausführung  der  weiteren  Erhebung  haben 
die  80  000  im  Deutschen  Verband  Kaufmännischer  Vereine 
organisirten  Kaufleute  seit  jeher  den  grössten  Werth 
auf  das  mündliche  Verfahren  gelegt.  Nach  ihrer  An- 
nahme, die  in  den  Erfahrungen  bei  früheren  deutschen  In- 
dustrie-Enqueten und  bei  englischen  Erhebungen  ihre  Be- 
stätigung findet,  bringt  erst  die  mündliche  Befragung  die 
wünschenswerte  Ergänzung  der  dankenswerthen  Zahlen- 
grundlagen, welche  durch  die  vorliegende  erste  Erhebung 
über  das  Handelsgewerbe  geschaffen  worden  sind.  Die 
Ergebnisse  der  mündlichen  Befragung  liefern  gewisser- 
massen  Fleisch  und  Blut  zur  Umkleidung  des  Zahlen- 
gerippes und  helfen  voraussichtlich  viele  Schwierigkeiten 
des  etwaigen  späteren  gesetzgeberischen  Vorgehens  von 
vornherein  beseitigen.  Zudem  sind  die  Zusammenhänge 
zwischen  Ladenzeit  und  Arbeitszeit,  verlängerter  Ladenzeit 
und  verlängerter  Arbeitszeit,  zwischen  Wochenarbeit  und 
Sonntagsruhe,  Lehrlingsarbeit  und  Gehilfenarbeit,  zwischen 
diesen  Verhältnissen  und  den  Kündigungsfristen,  der  Ge- 
haltsfrage, der  Beschaffenheit  der  Arbeitsräume  und  vielen 


anderen  wichtigen  Dingen  gerade  beim  Handelsgewerbe  so 
ausschlaggebend,  wie  kaum  bei  einem  anderen  Gewerbe, 
gleichzeitig  aber  kaum  anderswo  noch  so  wenig  durch 
authentische  Feststellungen  aufgeklärt.  Diese  Aufklärung 
dürfte  auf  einem  anderen  Wege,  als  dem  der 
mündlichen  Befragung,  kaum  zu  erreichen  sein, 
aber  auch  in  der  vom  Deutschen  Verband  Kaufmännischer 
Vereine  gewünschten  Weise  nennenswerthe  Schwierigkeiten 
nicht  machen.  Nachdem  nämlich  der  Vorstand  des  Deut- 
schen Verbandes  Kaufmännischer  Vereine  durch  ein  Mit- 
glied der  Reichskommission  gehört  und  das  weitere  Er- 
hebungsprogramm durch  die  letztere  festgestellt  ist,  könnten 
die  vereinbarten  Fragebogen  durch  die  hohe  Reichs- 
regierung an  die  Regierungen  der  Bundesstaaten  weiter- 
gegeben und  diese  ersucht  werden,  in  den  von  der  Reichs- 
kommission zum  Vorschlag  zu  bringenden  Städten  die 
dortigen  Gewerbegerichte  mit  der  Ausführung  der 
Erhebung  zu  betrauen.  Die  Gewerbegerichte  sind  be- 
reits für  die  preussischen  Erhebungen  über  die  Sonntags- 
ruhe im  Handwerk  vom  preussischen  Herrn  Handelsminister 
unter  allgemeiner  Zustimmung  als  die  geeigneten  Organe 
ausgewählt  worden.  Die  deutschen  Kaufleute  wünschen 
seit  langem  die  Einführung  kaufmännischer  Schiedsgerichte 
nach  dem  Muster  der  Gewerbegerichte.  So  lange  jedoch 
dieser  Wunsch  noch  nicht  erfüllt  ist,  bringen  sie  auch  den 
Gewerbegerichten  das  höchste  Interesse  und  Vertrauen  ent- 
gegen. Die  Zahl  der  Gewerbegerichte,  die  in  jedem  Bundes- 
staate mit  der  Erhebung  zu  betrauen  wären,  müsste  nicht 
sehr  gross  sein.  Für  Preussen  würden  etwa  zehn  Gewerbe- 
gerichte der  grösseren  Handels-  und  Verkehrstädte,  für  alle 
übrigen  Bundesstaaten  etwa  zwanzig  als  Erhebungsbehör- 
den in  Betracht  kommen.  Diese  Gewerbegerichte  hätten 
nach  Anhörung  der  Handelskammern  und  des  Kaufmännischen 
Vereins  ihres  Bezirks  eine  Anzahl  Prinzipale  und  Gehülfen 
ihrer  Stadt,  sowie  der  umliegenden  Landorte,  im  ganzen 
vielleicht  je  zwanzig  Prinzipale  und  .zwanzig  Gehülfen,  als 
Auskunftspersonen  mündlich  zu  vernehmen,  die  Aussagen 
derselben  niederzuschreiben  und  mit  einem  Gesamtbericht 
an  ihre  Landesregierung  abzuliefern.  Auf  diese  Weise 
würde  bei  der  hohen  Reichsregierung  und  bei  der  Reichs- 
kommission für  Arbeiterstatistik  in  verhältnissmässig  kurzer 
Zeit  und  mit  verhältnissmässig  geringem  Aufwand  an  Arbeit 
und  Kosten  ein  Material  zusammenlaufen,  das  zusammen  mit 
der  schon  vorliegenden  Statistik  eine  gründliche  Orientirung 
über  die  Arbeitsverhältnisse  in  deutschen  Ladengeschäften, 
sowie  über  die  Möglichkeit  einer  gesetzlichen  Regelung 
derselben  böte.“  Soweit  die  Vorschläge  der  Eingabe  des 
„Deutschen  Verbandes  Kaufmännischer  Vereine“.  Wenn  es 
auch  seltsam  genug  ist,  dass  sich  in  Deutschland  die  Berufs- 
organisationen ihre  Zuziehung  zu  staatlichen  Erhebungen 
immer  gewissermassen  erst  erkämpfen  müssen,  so  kann  doch 
lobend  anerkannt  werden,  dass  die  Reichskommission,  soweit 
sich  aus  den  bis  jetzt  vorliegenden,  sehr  unvollständigen 
Berichten  ersehen  lässt,  wenigstens  nachträglich  den  Haupt- 
theil  der  Wünsche  obiger  Gehilfeneingabe  berücksichtigt  zu 
haben  scheint  und  daher,  nähere  Besprechung  nach  Ver- 
öffentlichung des  amtlichen  Protokolls  Vorbehalten,  nunmehr 
gegründete  Hoffnung  darauf  vorhanden  sein  dürfte,  dass  das 
deutsche  Reich  endlich  einmal  mündliche  Erhebungen  über 
Arbeiterverhältnisse  unter  geordneter  Zuziehung  der  Berufs- 
organisationen vornimmt. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Der  Kampf  gegen  die  Pariser  Arbeitsbörse.  Die 

Exekutivkommission  der  Pariser  Arbeitsbörse  hat  gegen- 
über den  gegen  diese  Institution  gerichteten  Maassnahmen 
der  Regierung  eine  Erklärung  abgegeben,  die  im  Wesent- 
lichen mit  unseren  in  voriger  Nummer  gemachten  Ausfüh- 
rungen übereinstimmen.  Nachdem  sie  nämlich  nachweist, 
dass  im  Sinne  des  Gemeinderathes  und  mit  Wissen  der  Re- 
gierung die  meist  nicht  regelmässig  konstituirten  Berufs- 
verbindungen gleich  den  dem  Gesetze  vom  21.  März  1884 
nachgekommenen  Syndikaten  ein  Anrecht  auf  die  Arbeits- 
börse haben,  führt  sie  aus,  dass  die  Artikel  1 und  2 des 


No.  41. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


493 


Syndikatsgesetzes  die  absolute  Freiheit  der  Berufsvereini- 
gungen aussprechen  und  alle  sie  beschränkenden  Gesetze 
aufgehoben  haben.  Wie  keine  administrative  Erlaubniss  zur 
Gründung  dieser  Vereine  nothwendig  sei,  könne  auch  keine 
administrative  Intervention  sie  auflösen.  Wohl  lege  das 
Gesetz  ihnen  gewisse  Bedingungen  auf,  die  nicht  von  allen 
Syndikaten  erfüllt  wurden.  Aber  in  diesem  Falle  sei  auf 
Grund  des  Art  9 des  Gesetzes  vorzugehen,  wonach  die 
Leiter  und  Vertreter  der  betreffenden  Syndikate  zu  ver- 
folgen und  mit  einer  Geldbusse  von  16  bis  200  frcs.  zu  be- 
strafen seien  und  nur  die  Gerichte  die  Auflösung  der  Syn- 
dikate aussprechen  können.  Die  gerichtlichen  Behörden 
seien  darum  allein  kompetent,  die  juridische  Lage  der  Ge- 
werkschaften zu  beurtheilen  und  besitzen  allein  das  Recht, 
deren  Ungesetzlichkeit  zu  konstatiren  und  Strafanträge  zu 
stellen.  Bevor  sich  aber  das  Gericht  nicht  ausgesprochen 
habe,  sei  jeder  administrative  Akt  machtlos  und  ohne 
Rechtsgültigkeit.  Dieser  Ansicht  pflichtet  die  Regierung 
nicht  bei,  denn  sie  hat  zwar  gerichtliche  Schritte  gegen  die 
Leiter  einzelner  dem  Gesetze  vom  21.  März  1884  nicht 
nachgekommenen  Syndikate  einleiten  lassen,  aber  zugleich 
die  Schliessung  der  Arbeiterbörse  verfügt.  Nach  den  — 
bis  zum  7.  d.  M.  — vorliegenden  Nachrichten  scheinen 
die  Arbeitersyndikate  diese  Maassregel  mit  einem  allge- 
meinen Strike  beantworten  zu  wollen. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Hygienische  Bestimmungen  für  Cigarrenfabriken.  In 

Folge  der  Gewerbe  - Ordnungs-Novelle  vom  I.  Juni  1891, 
sowie  in  Folge  des  Umstandes,  dass  bei  Zuwiderhandlungen 
gegen  die  Bundesraths-Verordnungen,  welche  die  Einrich- 
tung und  den  Betrieb  der  zur  Anfertigung  von  Cigarren 
bestimmten  Anlagen  betreffen,  in  letzter  Instanz  ein  frei- 
sprechendes Urtheil  ergangen  ist,  ist  Anlass  gegeben,  diese 
Vorschriften  unter  Aufhebung  der  betreffenden  Verordnung 
vom  9.  Mai  1888  auf  Grund  der  §§  120e  und  138a  neu  zu 
zu  erlassen;  das  Plenum  des  Bundesraths  hat  hierzu  seine 
Zustimmung  gegeben: 

Im  wesentlichen  gehen  diese  neuen  Bestimmungen  dahin, 
dass  das  Abrippen  von  Tabak  und  Sortiren  der  Cigarren 
in  Kellerräumen  und  Bodenräumen,  welche  unter  nicht  ver- 
schalten Dächern  liegen,  in  Wohn-,  Schlaf-,  Koch-  oder 
Vorrathsräumen  oder  auch  in  Lager-  und  Trockenräumen 
verboten  sein  soll.  Alle  Arbeitsräume  müssen  mit  einem 
festen  und  dichten  Fussboden  versehen  sein,  eine  Höhe  von 
mindestens  3 Metern  haben,  und  mit  Fenstern  versehen 
sein,  welche  geöffnet  werden  können.  Auf  jede  beschäftigte 
Person  haben  mindestens  7 Kubikmeter  Luftraum  zu  ent- 
fallen. In  den  Arbeitsräumen  dürfen  Vorräthe  von  Tabak 
und  Halbfabrikaten  nur  insoweit  gelagert  werden,  als  die- 
selben zur  Tageszeit  erforderlich  sind.  Das  Trocknen  von 
Tabak  etc.  ist  in  diesen  Räumen  auch  ausserhalb  der  Ar- 
beitszeit untersagt.  Während  der  Mittagspause  und  nach 
Beendigung  der  Arbeit  müssen  die  Arbeitsräume  durch 
vollständiges  Oeffnen  der  Fenster  gelüftet  und  die  Fuss- 
böden  und  Arbeitstische  mindestens  täglich  einmal  vom 
Staube  gründlich  gereinigt  werden.  Die  Kleidungsstücke 
der  Arbeiter  dürfen  nur  innerhalb  der  Arbeitsräume  auf- 
bewahrt werden,  wenn  dies  in  ausschliesslich  dazu  be- 
stimmten verschliessbaren  Schränken  geschieht.  In  beson- 
deren Fällen  kann  die  höhere  Verwaltungsbehörde  auf  An- 
trag des  Unternehmers  in  Bezug  auf  das  Lüften  der  Arbeits- 
räume Abweichungen  gestatten,  wenn  anderweitig  für  eine 
ausreichende  Ventilation  gesorgt  ist.  In  Bezug  auf  die  Be- 
schäftigung von  Arbeiterinnen  und  jugendlichen  Arbeitern 
wird  bis  zum  1.  Mai  1903  bestimmt,  dass  die  genannten 
beiden  Kategorien  in  unmittelbarem  Arbeitsverhältniss  zum 
Unternehmer  stehen  müssen,  durch  andere  Arbeiter  weder 
angenommen,  noch  abgelohnt,  noch  für  Rechnung  anderer 
Arbeiter  beschäftigt  werden  dürfen,  sofern  dieselben  nicht 
im  Verhältniss  von  Ehegatten,  Geschwistern  und  Deszen- 
denten und  Aszendenten  stehen.  Für  männliche  und  weib- 
liche Arbeiter  müssen  getrennte  Aborte  und  getrennte  Aus- 
und  Ankleideräume  vorhanden  sein,  wenn  über  10  Personen 
beschäftigt  werden.  Die  vorstehenden  Vorschriften  betreffen 


alle  Anlagen,  in  welchen  Personen  der  Cigarrenfabrikation 
beschäftigt  werden,  welche  nicht  zu  den  Familienmitgliedern 
des  Unternehmers  gehören. 

Die  Vorschriften  betr.  die  Einrichtung  und  den  Be- 
trieb der  Bleifarben-  und  Bleizucker-Fabriken  vom  12. 

April  1886  haben  insofern  eine  Aenderung  erfahren,  als  der 
§ 7 der  gedachten  Vorschriften  nunmehr  besagt,  dass  ju- 
gendliche Arbeiter  in  solchen  Anlagen  bis  zum  I.  Mai  1903 
nicht  beschäftigt  werden  dürfen  und  dass  Arbeiterinnen  bis 
zum  gleichen  Zeitpunkt  in  solchen  Anlagen  nur  zugelassen 
werden  dürfen,  wenn  sie  mit  bleihaltigen  Produkten  nicht 
in  Berührung  kommen.  Den  Arbeitgebern  soll  aufgegeben 
werden,  zu  den  nach  § 17  der  oben  angeführten  Verord- 
nung zu  erlassenden  Vorschriften,  wonach  Arbeiter  Brannt- 
wein, Bier  und  andere  geistige  Getränke  nicht  in  die  An- 
lage bringen  dürfen,  hinzuzufügen,  dass  die  Arbeiter  im 
Falle  der  Zuwiderhandlung  gegen  diese  Vorschrift  vor  Ab- 
lauf der  vertragsmässigen  Zeit  und  ohne  Kündigung  ent- 
lassen werden  können. 

Ortsstatute  über  Lohnzahlung.  Aehnlich  wie  der 
preussische  Handelsminister  (vgl,  No.  39  dieser  Zeitschrift) 
hat  auch  die  Grossherzoglich  Hessische  Centralstelle  für 
Handel  und  Gewerbe  jetzt  eine  Umfrage  an  die  Orts- 
gewerbevereine darüber  gerichtet,  wie  sich  dieselben  zur 
Ausführung  des  § 119a  der  Gewerbeordnung  und  der 
Einführung  von  Örtsstatuten  über  die  Lohnzahlung  an 
minderjährige  Arbeiter  zur  „Stärkung  der  elterlichen 
Autorität“  stellen.  Bei  dieser  Gelegenheit  ist  zu  unserer 
letzten  Notiz  berichtigend  zu  bemerken,  dass  der  Erlass 
eines  Statuts  in  Penig  (Sachsen)  abgelehnt  worden  ist,  nicht 
in  Glauchau -Meerane,  wo  dasselbe  vielmehr  funktionirt. 
Ausserdem  bestehen  solche  Statuten  in  Münden  (Hannover), 
Gera  und  Mayen.  In  Mühlheim  bei  Cöln,  Hannover  und 
Aachen  haben  sich  dagegen  die  betheiligten  Kreise  bisher 
mehr  oder  weniger  ablehnend  zur  Einführung  gestellt. 


Arbeiterversicherung. 

Zur  Statistik  der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung. 

An  Anträgen  auf  Gewährung  von  Renten  sind  bei  der 
Hanseatischen  Versicherungsanstalt  eingegangen:  a)  an  Al- 
tersrenten im  Laufe  des  Jahres  1891  1105,  des  Jahres  1892 
404,  im  Jahre  1893  vom  1.  Januar  bis  Ende  Juni  209. 
Summa  1718,  b)  an  Invalidenrenten  im  Laufe  des  Jahres 
1892  181,  im  Jahre  1893  vom  1.  Januar  bis  Ende  Juni  116, 
Summa  297.  Mithin  sind  seit  Beginn  des  Jahres  1891  bei 
der  Hanseatischen  Versicherungsanstalt  an  Rentenanträgen 
eingegangen  20 1 5. 

Von  den  Anträgen  auf  Altersrente  entfallen  auf  das 
Gebiet  der  freien  und  Hansestadt  Lübeck  296,  Bremen  374, 
Hamburg  1048  und  von  den  Anträgen  auf  Invalidenrente 
auf  das  Gebiet  von  Lübeck  43,  Bremen  107,  Hamburg  147. 

Von  den  Anträgen  auf  Altersrente  waren  bis  Ende 
Juni  d.  J.  erledigt  1676  Anträge,  und  zwar  1478  durch 
Rentengewährung,  1 73  durch  Ablehnung  und  25  auf  sonstige 
Weise,  Tod  etc. 

Auf  die  Gebiete  der  drei  freien  Hansestädte  vertheilen 
sich  diese  erledigten  Anträge  folgendermaassen:  Es  ent- 
fallen aul  das  Gebiet  von  Lübeck  253  Rentengewährungen, 
36  Ablehnungen,  3 sonst  erledigte,  Bremen  328  Renten- 
gewährungen, 29  Ablehnungen,  7 sonst  erledigte,  Hamburg 
897  Rentengewährungen,  108  Ablehnungen,  15  sonst  er- 
ledigte. 

Von  den  Anträgen  auf  Invalidenrente  sind  bis  Ende 
Juni  d.  J.  erledigt  269  Anträge  und  zwar  173  durch 
Rentengewährung,  82  durch  Ablehnung  und  14  auf  sonstige 
Weise,  Tod  etc. 

Von  den  erledigten  Anträgen  entfallen  auf  das  Gebiet 
von  Lübeck  31  Rentengewährungen,  10  Ablehnungen,  — sonst 
erledigte,  Bremen  71  Rentengewährungen,  20  Ablehnungen, 
4 sonst  erledigte,  Hamburg  71  Rentengewährungen,  52  Ab- 
lehnungen, 10  sonst  erledigte. 

Von  den  insgesammt  1651  Rentenmpfängern  beziehen 
193  Personen  eine  Altersrente  von  je  rund  106,80  M.  (Lohn- 


494 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  41 


klasse  I),  366  von  135,00  M.  (Lohnklasse  II),  437  von 
163,20  M.  (Lohnklasse  III),  482  von  191,40  M.  (Lohn- 
klasse IV),  173  Personen  Invalidenrente  von  je  rund 
117,08  M. 

Die  Jahressumme  der  bis  jetzt  gewährten  Renten  macht 
insgesammt  253  900  M.  aus. 

" Nach  den  Berufszweigen  vertheilen  sich  die  1651  Renten- 
empfänger auf  folgende  Gruppen:  Landwirtschaft  und  Gärt- 
nerei 115  Rentenempfänger,  Industrie  und  Bauwesen  667 
Rentenempfänger,  Handel  und  Verkehr  263  Rentenempfänger, 
sonstige  Berufsarten  132  Rentenempfänger,  Dienstboten  etc. 
474  Rentenempfänger. 

Gesetzvorschlag  auf  Pensionirung  invalid  gewordener 
Ackerbauarbeiter  in  Frankreich.  In  der  französischen 
Kammer  wurde  seitens  des  Abgeordneten  Clament  ein 
Gesetzesvorschlag  eingebracht,  der  darauf  abzielt,  den  alten, 
arbeitsuntauglich  gewordenen  Ackerbauarbeitern  eine  Jahres- 
unterstützung von  100  Francs  zu  sichern.  In  den  Motiven 
hierzu  wird  gesagt:  „Die  Republik  müsse  sich  um  die  Feld- 
arbeiter bekümmern,  die  durch  eine  anstrengende  tägliche 
Arbeit  der  Agrikultur  erlaubt  haben,  trotz  der  durchge- 
machten Krisen  zu  blühen  und  zu  gedeihen.  Es  sei  die 
dringende  Pflicht  einer  demokratischen  Regierung,  sich  zu 
fragen,  was  aus  diesen  arbeitsamen  Leuten,  welche  die 
wahrhaften  Produzenten  sind,  werde,  wenn  sie  altersschwach 
geworden  sind  und  von  Krankheiten  heimgesucht  werden. 
Trotz  ihrer  Sparsamkeit  und  Thätigkeit  können  diese 
Ackerbauer  nichts  als  ihr  tägliches  Brod  gewännen,  und  am 
Ende  ihrer  Laufbahn,  fallen  sie  ihren  Kindern  zur  Last, 
die  nicht  für  den  Unterhalt  ihrer  alten  Eltern  aufkommen 
können,  welche,  einem  grausamen  aber  richtigen  Ausdrucke 
zufolge,  in  dem  unerbittlichen  Kampf  ums  Dasein  nichts  als 
unnütze  Mäuler  sind.“  Zum  Schlüsse  heisst  es,  mit  einem 
allerdings  recht  hinkenden  Vergleich  mit  den  Soldaten,  die 
wenn  sie  verwundet  werden,  Anspruch  auf  eine  Pension 
haben,  dass  es  nicht  mehr  als  billig  sei,  die  Soldaten  der 
Agrikultur  in  ihren  alten  Tagen,  wo  sie  Invaliden  der  Arbeit 
werden,  vor  dem  Elend  zu  schützen.  Dem  Antrag  gemäss 
soll  die  Jahresunterstützung  von  100  frs.  nur  den  bedürftigen 
und  siechen  Ackerbauern  gewährt  werden,  die  mindestens 
das  60.  Lebensjahr  erreicht  haben  und  jedes  Gesuch  darum 
von  dem  betreffenden  Generalrath  geprüft  und  von  dem 
Präfekten  dem  Minister  des  Innern  unterbreitet  werden. 
Wir  glauben  nicht,  dass  dieser  Antrag,  so  wohl  gemeint  er 
vielleicht  auch  sein  mag,  jemals  zum  Gesetz  erhoben  wird; 
man  wird  nur  höchstens,  wenn  einmal  eine  allgemeine  Ar- 
beiter-Altersversicherung von  der  Kammer  zur  Berathung 
gelangt,  u.  A.  auch  auf  den  Clament'schen  Antrag  hin- 
weisen  können. 


Gewerbegerichte. 

Zur  Statistik  der  deutschen  Gewerbegerichte.  Nach 
einer  von  den  Blättern  für  soziale  Praxis  im  Auszuge  mit- 
getheilten  Statistik  der  deutschen  Gewerbegerichte  bestehen 
gegenwärtig  auf  Grund  des  neuen  Gewerbegerichtsgesetzes 
vom  29.  Juni  1890  in  den  sechs  grössten  deutschen  Staaten 
179  Gewerbegerichte,  nämlich  133  in  Preussen,  13  in  Bayern, 
13  in  Sachsen,  9 in  Württemberg,  7 in  Baden  und  4 in 
Hessen;  die  Reichslande  besitzen  noch  kein  einziges  Ge- 
werbegericht, trotz  ihrer  hochindustrielleu  Entwickelung. 
Auffällig  ist  ferner,  dass  Sachsen  nur  ebenso  viel  Gewerbe- 
gerichte hat  wie  Bayern,  obgleich  es  weit  stärker  mit  In- 
dustrie durchsetzt  ist.  So  kommt  z.  B.  die  Mehrzahl 
der  preussischen  Gewerbegerichte  auf  den  gewerbreichen 
Westen.  Die  ostelbischen  Provinzen  des  Königreichs  haben, 
wenn  man  die  Regierungsbezirke  Potsdam  und  Schleswig 
ausschliesst,  nur  52  Gewerbegerichte,  die  westelbischen  da- 
gegen einschliesslich  Potsdam  und  Schleswig  den  Rest 
von  81.  Von  den  Regierungsbezirken  fallen  durch  die 
grosse  Zahl  der  in  ihnen  errichteten  Gewerbegerichte  auf 
Potsdam  und  Posen  mit  7,  Liegnitz  mit  8,  Breslau  mit  9, 
Düsseldorf  mit  11  und  Arnsberg  mit  13  Gewerbegerichten, 
von  denen  allerdings  9 abgezweigte  Spruchkammern  des 
Kreisgewerbegerichtes  Altena  sind.  Es  wäre  zu  wünschen, 
dass  diese  Statistik  noch  durch  diejenige  der  kleineren 
deutschen  Staaten  vervollständigt  würde. 


Soziale  Hygiene. 

Oeffentliche  Gesundheitspflege  und  Eigenthumsrecht. 

Man  mag  sich  erstaunt  fragen,  was  denn  das  Eigenthums- 
recht mit  der  Gesundheitspflege  gemein  haben  könne.  Wer 
aber  der  in  der  französischen  Kammer  stattgehabten  Sitzung 
vom  26.  Juni  gefolgt  ist,  wird  leicht  eine  Antwort  darauf 
finden.  In  dieser  Sitzung  gelangte  nämlich  ein  Gesetzent- 
wurf, betreffend  den  Schutz  der  öffentlichen  Gesundheit,  zur 
ersten  Lesung,  die  aber  nicht  zu  Ende  geführt  werden 
konnte,  weil,  wie  es  scheint,  die  Kommission,  die  den  Ent- 
wurf ausgearbeitet  hat,  zu  wenig  Achtung  für  das  Eigen- 
thumsrecht zeigte.  Diese  Missachtung  besteht  darin,  dass 
sie  u.  A.  bestimmt  hat,  dass,  falls  die  Sanitätskommission 
oder  der  Gesundheitsrath  die  Sanirung  einer  Liegenschaft 
oder  Theile  derselben  für  unmöglich  erklärt,  der  Bürger- 
meister die  Bewohnung  oder  den  Gebrauch  derselben  zu 
untersagen  habe,  die  Dawiderhandelnden  hingegen  strafge- 
richtlich zu  verfolgen  und  zu  einer  Geldbusse  in  der  Höhe 
des  Miethswerthes  der  betreffenden  Liegenschaften  oder 
Theile  derselben  zu  verurtheilen  seien.  Dies  verstiess  zu 
sehr  gegen  den  Geist  der  Kammermajorität.  Diese  fand  es 
nicht  nur  ungeheuerlich,  dass  ein  Hauseigentümer  wegen 
Nichtbefolgung  eines  Sanitätsgesetzes  strafgerichtlich  ver- 
folgt und  verurteilt  werden  soll,  sondern  noch  mehr,  dass 
man  ihn  zwingen  wolle,  das  Gesetz  zu  befolgen,  ohne  ihm 
in  diesem  Falle  eine  Entschädigung  zuzusprechen.  Die  Ab- 
geordneten, welche  gegen  diese  Bestimmung  Partei  ergriffen, 
sprachen  geradezu  so,  als  wäre  es  im  Eigenthumsrecht  mit 
inbegriffen,  einen  für  die  öffentliche  Gesundheit  schädlichen 
Zustand  aufrecht  zu  erhalten  und  fortzupflanzen,  zumal 
wenn  dies  den  Privatinteressen  des  Eigenthümers  entspricht. 
Der  Ministerpräsident  hat  ihnen  zwar  trefflich  geantwortet, 
ohne  indess  die  Majorität,  insbesondere  die  Rechte  des 
Hauses,  für  seine  Ansichten  zu  gewinnen.  Er  führte  näm- 
lich aus:  „Sobald  die  Rede  davon  sei,  den  Eigentümern  : 
Vorsichtsmaassregeln  aufzunöthigen,  werden  diejenigen,  die 
diese  Maassregeln  Vorschlägen,  gleich  angeklagt,  die  Heilig- 
keit des  Eigensthumsrechtes  zu  verletzen.  Und  für  dieselben 
Eigenthümer  fordere  man  Schadenersatz.  Es  sei  dies,  wie 
wenn  man  sagte,  man  müsse  einen  Eigenthümer  entschädigen, 
weil  er  bei  sich  einen  Seuchenherd  unterhalte,  der  die 
ganze  Nachbarschaft  infizire.  Wenn  irgendwo  ein  An- 
steckungsherd bestehe,  habe  man  nicht  das  Recht,  unter  . 
dem  Vorwände  des  Eigenthumsrechtes  oder  der  zu  schonen-  , 
den  persönlichen  Interessen  diesen  Herd  aufrecht  zu  er- 
halten  und  den  im  Interesse  der  Gesammtheit  gegebenen  ! 
Aufforderungen  Widerstand  zu  leisten.  Man  werde  erst 
ein  Gesetz  über  die  Hygiene  schaffen,  wenn  man  nicht  von 
der  Ansicht  durchdrungen  sei,  dass  es  der  Ausdruck  des 
allgemeinen  Interesses  sein  müsse.  Die  Fragen  der  Ge- 
sundheitspflege laufen  darauf  hinaus:  denjenigen,  die  ein 
genügendes  Solidaritätsgefühl  besitzen,  dieses  Gefühl  selbst 
durch  die  Macht  des  Gesetzes  beizubringen.“  Der  Gesetzent- 
wurf wurde  nichts  desto  weniger  an  die  Kommission  zu- 
rückverwiesen. Es  ist,  als  wollte  die  Kammer  den  Aus- 
spruch Linguet’s:  „L’esprit  des  lois,  c'est  la  propriete,  — 
der  Geist  der  Gesetze  ist  das  Eigenthum  — ein  Jahrhundert 
nach  seinem  Tode  aufs  neue  bekräftigen. 


Kriminalität. 

Kongress  der  Internationalen  Kriminalistischen  Ver- 
einigung in  Paris.  Die  Verhandlungen  des  Kongresses, 
von  denen  wir  in  der  vorigen  Nummer  des  Sozialpolitischen 
Centralblattes  kurz  Notiz  genommen  haben,  hatten  folgen- 
den Verlauf: 

Den  ersten  Berathungsgegenstand  bildeten  die  un- 
bestimmten Strafurtheile.  Die  Vereinigung  hat  sich  die 
energische  Bekämpfung  der  unverbesserlichen  Rückfälligen 
zur  Aufgabe  gestellt  und  ist  in  früheren  Beschlüssen  nicht 
vor  der  äussersten  Konsequenz  zurückgeschreckt,  welche  in 
der  grundsätzlichen  Entfernung  der  Unverbesserlichen  aus 
der  Gesellschaft,  also  gegebenen  Falls  in  deren  Ein- 
schliessung auf  Lebenszeit  besteht.  In  ähnlicher  Richtung 
bewegt  sich  der  Gedanke  des  unbestimmten  Strafurtheils. 


No.  41. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTKALB LATT. 


495 


Referent  van  Hamei- Amsterdam  will  die  Kategorie  der 
Jugendlichen,  bei  welchen  zu  Besserungszwecken  das  un- 
bestimmte Strafurtheil  gleichfalls  anwendbar  und  thatsäch- 
lich  auch  in  Nordamerika  zuerst  angewendet  worden  ist- 
bei  Seite  lassen. 

Bei  den  gemeingefährlichen,  rückfälligen  Verbrechern 
soll  der  Richter  gegebenen  Falls  nicht  bloss  die  der  jüngsten 
Strafthat  angemessene  allgemeine  Strafe  aussprechen,  son- 
dern als  Beistrafe  die  nachher  Platz  greifende  Gefangen- 
haltung auf  unbestimmte  Zeit  verhängen.  Von  Zeit  zu  Zeit 
soll  alsdann  neuerliche  Erwägung  darüber  Platz  greifen,  ob 
der  Gefangene  vorläufig  zu  entlassen  oder  definitiv  freizu- 
geben ist.  Maassgebend  dafür  soll  sein,  ob  nach  den  ge- 
gebenen Umständen,  insbesondere  nach  dem  gesanmiten 
Verhalten  des  Sträflings,  die  entschiedene  Vermuthung 
dafür  besteht,  dass  er  ohne  Gefahr  in  die  Gesellschaft  zu- 
rücktreten könne.  Verschiedenartigkeit  der  Auffassungen 
besteht  noch  darüber,  ob  nur  eine  Gerichtsbehörde  diese 
etappenweisen  Entscheidungen  treffen  soll,  oder  ob  Or- 
gane der  Verwaltung  oder  gemischte  Behörden  beschliessen 
sollen. 

In  Opposition  gegen  diesen  Standpunkt  sehen  die  fran- 
zösischen Juristen  die  Hinausschiebung  der  endgültigen 
Entscheidung  für  höchst  bedenklich  an.  Dabei  ist  nicht 
ausser  Betracht  zu  lassen,  dass  man  französischerseits  im 
Hinblick  auf  das  Institut  der  Relegation  in  die  Kolonieen, 
wodurch  man  sich  fortwährend  der  schlimmsten  Elemente 
des  Mutterlandes  entledigt,  weniger  Interesse  für  die  mög- 
liche Unschädlichmachung  der  Unverbesserlichen  hat.  Mit 
der  Befürwortung  des  bedingten  Strafurtheils  für  Unver- 
besserliche _ vertreten  van  Hamei,  v.  Liszt  und  v.  Mayr  nur 
eine  Minorität.  In  dem  Schlussreferat  musste  desshalb  kon- 
statirt  werden,  dass  die  Vereinigung  die  Frage  der  unbe- 
stimmten Strafurtheile  noch  nicht  für  reif  erachte  und  weitere 
Erwägung  derselben  Vorbehalten  müsse.  — Den  Berathungs- 
gegenstand  des  zweiten  I ages  bildete  die  Bekämpfung  des 
Bettels  und  der  Landstreicherei.  Da  in  Frankreich  in  dieser 
Hinsicht  nur  wenig  geschehen  ist.  handelt  es  sich  für  die 
französischen  Mitglieder  um  eine  brennende  Frage.  Staats- 
rath Petit-Paris  empfiehlt  zur  Abhülfe:  Unterstützung  der 
Schwachen  , Arbeitsgelegenheit  für  die  Arbeitsfähigen, 
Zwangsarbeit  für  die  Arbeitsscheuen.  Der  belgische  Justiz- 
minister Lejeune  theilte  Erfahrungen  mit,  die  Belgien  auf 
diesem  Gebiete  gemacht  hat.  Die  deutschen  Verhältnisse 
schilderte  Prof.  v.  Liszt,  der  namentlich  den  grossen  Werth 
der  betreffs  der  Kinder  und  Jugendlichen  zu  treffenden 
vorbeugenden  Massnahmen  hervorhob.  Holland  hat,  wie 
Prof,  van  Hamel-Amsterdam  darlegt,  sehr  gute  Anstalten, 
die  eine  Kombination  anderer  Systeme  sind;  doch  sind  die 
Strafen  gegen  Gewohnheitsverbrecher  nicht  scharf  genug. 
Die  Zustände  in  der  Schweiz  sind,  wie  Prof.  Gautier-Genf 
des  Längeren  begründet,  um  deswillen  sehr  eigenartig,  weil 
die  Schweiz  das  Durchgangsland  für  Gesindel  und  Ver- 
brecher aller  Art  ist  und  es  dort  noch  an  einem  einheit- 
lichen Gesetzbuche  fehlt. 

Eine  Abstimmung  über  einzelne  Thesen  fand  nicht  statt. 
Den  Gegenstand  der  letzttägigen  Berathung  bildete  die 
Methode  einer  wissenschaftlichen  und  einheitlichen  Rück- 
fallsstatistik. Referent  Dr.  Köbner-Berlin  legt  seinem  Gut- 
achten die  Gefängniss-  und  Kriminalstatistik  von  21  Ländern, 
die  solche  besitzen,  zu  Grunde.  Sie  leiden  an  dem  gleichen 
Fehler,  keine  Uebersicht  über  die  Wirksamkeit  des  Straf- 
systems zu  geben  und  darum  für  die  Zwecke  der  Soziologie 
zu  versagen.  Es  fehlt  jede  Kriminalstatistik  über  die  ein- 
zelnen Persönlichkeiten,  und  es  werden  irrigerweise  nicht 
zusammengehörige  Zahlen,  namentlich  einander  gar  nichts 
angehende  Jahreskontingente,  zu  einander  in  Beziehung  ge- 
bracht. Zur  Abhülfe  der  vorhandenenen  Mängel  muss  dem 
Verbrecher  auf  seiner  Laufbahn  von  Strafthat  zu  Strafthat 
gefolgt  werden.  In  Verbesserung  der  hierzu  in  Frankreich 
vorhandenen  Ansätze  muss  man  die  Strafregister  für  die 
Zwecke  der  Rückfallstatistik  ausnutzen.  Die  Kriminalkarriere 
des  einzelnen  Verbrechers  muss  zusammengestellt  und  hier- 
aus unter  Zusammenbringung  der  zu  einander  gehörigen 
Gruppen  der  Rückfallsfähigen  und  der  Rückfälligen  auf 
Grund  strengster  Individualisirung  eine  wirklich  wissen- 
schaftliche Rückfallsstatistik  gewonnen  werden.  Die  Re- 


gister dürfen  sich  jedoch  nicht  auf  die  eigentlichen  krimi- 
nellen beschränken,  sondern  müssen  auch  die  damit  in  Zu- 
sammenhang stehenden  halbkriminellen  Zustände,  Betteln, 
Vagabondage,  Arbeitsscheu,  Trunksucht,  Prostitution  etc’ 
vor  Augen  führen;  das  ergiebt  erst  den  sozialen  Habitus 
des  Verbrecherthums.  Die  deutschen  Zählkarten,  die  einen 
bedeutsamen  Fortschritt  auf  diesem  Gebiete  'darstellen, 
können  hierzu  sehr  wohl  die  Grundlage  bieten,  so  dass 
keine  vollständige  Neugestaltung  erforderlich  ist. 

Nach  längerer  Debatte,  an  der  eine  grössere  Zahl  von 
Mitgliedern  sich  betheiligten,  wurde  auf  Antrag  Dr.  Köb- 
ner’s  und  Prof.  Dr.  Prins  (Brüssel)  beschlossen,  eine  Kom- 
mission einzusetzen,  die  einen  an  alle  Regierungen  der 
Kulturstaaten  einzureichenden  Vorschlag  einer  einheitlichen 
Methode  der  Rückfallsstatistik  als  Grundlage  einer  wissen- 
schaftlichen Kriminalstatistik  ausarbeiten  solle.  In  diese 
Kommission  wurden  gewählt:  Prof.  Dr.  Yvernes  (Paris), 
Generaldirektor  Dr.  Bodio  (Rom),  Unterstaatssekretär  Dr! 
v.  Mayr  (Strassburg),  Prof.  Dr.  Garcon  (Lille)  und  Gerichts- 
assessor Dr.  Köbner  (Berlin).  Das  letzte  Thema:  der  Ein- 
fluss der  kriminal-soziologischen  und  kriminal-anthropolo- 
gischen Untersuchungen  auf  die  juristischen  Grundbegriffe 
des  Strafrechts  wurde  für  den  nächsten  Kongress  zurück- 
gestellt. 

Straf hausarbeit  in  Preussen.  Bei  der  Petitionskom- 
mission des  preussischen  Abgeordnetenhauses  sind  wieder 
Beschwerden  der  Korbmacher  über  die  Korbmacherei 
in  Strafanstalten  zur  Verhandlung  gekommen,  über  deren 
Erledigung  dem  Kommissionsbericht  Folgendes  zu  ent- 
nehmen ist.  Die  Kommission  hat  beschlossen,  mit  Rück- 
sicht auf  die  Erklärung  der  Regierungskommissare  zur 
Tagesordnung  überzugehen.  Es  sind  etwa  1000  Sträflinge 
gegenwärtig  mit  Korbmacherarbeiten  beschäftigt,  während 
es  in  Deutschland  5600  selbständige  Korbmacher  giebt. 
Nach  einer  Erklärung  des  Vertreters  des  Handelsministeriums 
erfährt  die  Korbmacherei,  abgesehen  von  der  Gefängniss- 
arbeit,  eine  bedrohliche  Konkurrenz  von  anderer  Seite. 
Die  ländliche  Bevölkerung  wendet  sich,  angeregt  durch  die 
Einrichtung  von  Korbflechtschulen,  immer  mehr  der  An- 
fertigung von  Korbwaaren  zu,  um  während  der  Winter- 
monate eine  Erwerbsthätigkeit  zu  haben;  der  Umfang  dieser 
Produktion  ist  schon  jetzt  sehr  gross  und  steigert  sich  von 
Jahr  zu  Jahr;  die  niedrigen  Herstellungskosten  dieser 
Waaren  und  ihr  billiger  Vertrieb  im  Wege  des  Hausir- 
handels  trägt  erheblich  mit  dazu  bei,  den  Preis  der  Korb- 
waaren herabzudrücken.  Interessant  waren  die  Mittheilun- 
gen des  Kommissars  des  Ministeriums  des  Innern  über  die 
Bemühungen,  die  Gefangenen  mit  Anfertigung  von  Gegen- 
ständen für  staatliche  Betriebe  zu  beschäftigen.  In  Folge 
des  bereitwilligen  Entgegenkommens  des  Kriegsministers 
sind  der  Gefängnissverwaltung  Schneiderarbeiten  in  solchem 
Umfange  übertragen,  dass  damit  etwa  600 — 700  Gefangene 
beschäftigt  werden.  Es  werden  die  Versuche  fortgesetzt, 
leinene  und  baumwollene  Stoffe  durch  Plandweberei  für 
die  Heeresverwaltung  herzustellen;  es  ist  nur  fraglich,  ob 
die  Strafanstaltsverwaltung  mit  der  Maschinenweberei  den 
Wettbewerb  wird  aushalten  können.  Es  ist  ferner  in  Aus- 
sicht genommen,  Ausrüstungsgegenstände  für  die  Kasernen 
in  den  Strafanstalten  anfertigen  zu  lassen.  Die  Versuche, 
Bedarfsgegenstände  für  die  Eisenbahnverwaltung  zu  liefern, 
werden  fortgesetzt;  mit  dem  Minister  für  Handel  und  Ge- 
werbe schweben  Verhandlungen  über  Anfertigung  von  Ge- 
genständen für  die  Bergwerksverwaltung.  Selbstverständ- 
lich werden  die  Gefangenen  im  weitesten  Umfange  für  die 
Gefängnissverwaltung  beschäftigt;  es  werden  nicht  nur  alle 
Gebrauchs-  und  Ausrüstungsgegenstände  , soweit  irgend 
möglich,  hergestellt,  sondern  auch  Reparatur,  Umbauten 
und  Neubauten  von  oft  erheblichem  Umfange  durch  die 
Arbeiten  der  Gefangenen  ausgeführt,  und  dadurch  nicht 
unerhebliche  Ersparnisse  an  den  Ausführungskosten  erzielt. 
Der  letztere  Satz  lässt  freilich  darauf  schliessen,  dass  die 
Verwaltung  dabei  weit  mehr  von  fiskalischen,  als  von  sozial- 
politischen Rücksichten  bestimmt  wird. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin,  W.,  Victoriastrasse  16. 


496 


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No.  41. 


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SKauerftraße  44. 

©oeben  erfcfjiett: 

Die  MudjcrgeJeije 

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Seutfdje  Slicicl). 

Erläutert 

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Safdjenformat  YI  u.  53  ©eiten. 
Karton.  Sßrei§  SR.  1, — , poftfrei  SK.  1,05. 


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Üfanbfdjriften-Sammlung 

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bem  flarträt  geleite  nun  gnemnUjas 

oon 

von  iettlmdj 

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jruet  Briefen  tu  ^akfimile. 

8°,  XII  unb  188  ©eiten. 

©efjeftet  Sßreiä  SK.  3,  gebuubeu  Sßrei§  SK.  4. 
3u  bejie^cn  burd) 

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Verlag  von  FERDINAND  ENKE  in  STUTTGART. 

Soeben  erschien: 

Reichesberg,  Dr.  N.,  Die  Statistik  und  die  Gesell- 

schaftswissenschaft. 8°.  geh.  3 M. 


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Soeben  gelangte  sur  SluSgabe: 

^afc^enduc^ 

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©etuerte-  itttii  Jlrbdtmfttrte. 

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SRegietungSratf). 

80.  VIII  u.  101  ©eite. 

Ureis  p.  2,  po|Ifrei  p.  2,1<». 


gcnlj 

Srfter  £ I) e ' t 

(S5eU)crbercd)t. 

I.  ©eroerbe  unb  ©eroerbereefjt  im  2111= 
gemeinen. 

II.  ©eroerbebetjörbeu,  guftänbigfeit  unb 

SBerfafjren. 

III.  Sie  ©emerbefreibeit. 

IV.  SBefonbere  SBefdjränfungeu  ber  ©e= 

loerbefreibeit. 

V.  Ser  ©eroerbebetrieb  im  Umberjiehen. 

VI.  Sa§  gnnungSroefen. 

VII.  ©eroerblidjeülrbcitcr  im  Stilgemeinen; 

SBegriff  ber  gabrif. 

VIII.  Ser  gcroerblidje  Sürbeitduertrag  im 
SlKgentei'nen. 

IX.  Ser  ©djutj  be§  2lrbeit§Iof)rt§ ; ba§ 
„Srucffpftem". 

X.  Ser  ^fontraftbrnd);  fefte  ©ntfd)äbt= 
gungen,  2ofmt>erroirfungen,  2of)n= 
einbeljaltungen. 

XI.  Sie  befonberen  SBorfdjriften  für 
ininberjäbrige  Arbeiter  u.  Sebrlinge. 


Ctit, 

XII. 


XIII. 

XIV. 

XV. 


XVI. 

XVII. 


gctjutnnmi  ycvlng  tit  Berlin  W.,  Paner|trafje  44. 


Die  ganntagsrulje  im  funtiiclsgnttcrtte 

auf  ©runb  ber 

fitr  fraö  gJeutfci}« 

|uin  § c&rflutfje  für  leljörben,  fmtfleutt,  ©a|tiuirtl)e,  ganbiucrltt,  Jlrbeitgcbcr  unb  JfrbtifneJjmrr 

bargefiedt  oon 

Dr.  waii  ftttoiger,  9?egierung§=  unb  ©enterb  er  atfj. 

Zweite  mit) erättberfe  2(uflngc. 

8°.  VIII  unb  42  ©eiten. 

Sßrei§  fartonnirt  SK.  1.—,  poftfrei  SK.  1.10.  


©cf)uf3  für  2eben,  ©efunbfjeit  unb 
©ittlicf)feit  ber  SIrbeiter  im  @e= 
roerbebetriebe. 

Sie  @onntag§ruIje. 
Slrbeitöorbnnngen  unb  2Irbeiterau§= 
fcljüffe. 

SBefouberer  ©djufi  ber  grauen  unb 
Sinber  in  gabrifen  unb  gleich 
gefteHten  Sünlagen. 
©croerbegerichte  u.  ©inigungSämter. 
Sa§  Soalition§redjt. 

3 vo eiter  Sfjeil. 

Sie  Slrbettcrberfidjenmg. 

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B.  Sie  Unfalloerficficrung. 

C.  Sie  gnoaItbität§=u.SMter§üerfidjerung. 

3Vnljang.  i.  Sa§  ©efinberedjt.  II-  2üpba= 
betifefje  lleberfidfit  ber  roidjtigften 
bau3roirtf)fd)aftüd)en  gragen  ber 
gnoalibität§=  u.  SÜIterjgoerftdjerung. 


Carl  Heyraanns  Verlag  in  Berlin  W.,  Malierstrasse  44.  — Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld  in  Berlin  W. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  17.  Juli  1893. 


Nummer  42. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 


Erscheint  jeden  Montag. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 

Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 


Zu  beziehen 

durch  alle  Buchhandlungen,  Spediteure  und  Postämter. 
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Einzelnummer  20  Pf- 

Anzeigenpreis  für  die  dreigespaltene  Colonelzeile 
40  Pfennig. 


INHALT. 


Die  Unfallversicherung  in 
Italien.  Von  Prof.  Dr.  Werner 
Sombart. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  und 
Wirthschaftsstatistik : 

Auswanderungsgesetz  für  Bremen. 

Bauordnung  und  Zoneneintheilung 
für  Frankfurt  a.  M. 

Arbeitsnachweisanstalten  in  Baden. 

Arbeitsnachweis  in  Breslau. 

Arbeiterzustände : 

Gewerbeinspektion  und  Arbeiter- 
verhältnisse in  Paris.  Von  Dr. 
Max  Quarck. 

Altonaer  Arbeiter-  und  Lohn- 
statistik. 

Arbeitslosigkeit  beleuchtet  durch 
Nachweise  der  Arbeitsvermitte- 
lungs-Bureaux. 

Zur  Lage  der  Eisenbahnarbeiter  in 
der  Schweiz. 

Die  Achtundvierzig  - Stunden - 
Woche. 

Gewerkschaftliche  Arbeiterbewe- 
gung: 

Die  Arbeiterorganisationen  in  den 
Vereinigten  Staaten. 

Arbeiterunruhen  in  Bern. 


Der  Kampf  gegen  die  Pariser  Ar- 
beitsbörse. 

Arbeiterversicherung : 

Zur  Statistik  der  Invaliditäts-  und 
Altersversicherung. 

Unfallverhütung  und  Ueberwachung 
der  Betriebe  der  Ziegelei-Berufs- 
genossenschaft. 

Gewerbegerichte,  Einigungsämter 
und  Arbeiterausschüsse: 

Arbeiter-Ausschüsse  in  den  eid- 
genössischen Waffenfabriken  in 
Bern  und  Thun.  Von  Rechts- 
anwalt Otto  Lang. 

Schulwesen,  Erziehungs-  und  Bil- 
dungsfragen : 

Der  Aufwand  für  Schulwesen  und 
Schulkinderunterstützung  in  der 
Schweiz. 

Volkswirthschaftliche  Lehrkurse 
des  Evangelisch-sozialen 
Congresses. 

Vermischtes: 

Gegen  Provision  angestellte  als 
bevorzugte  Gläubiger  fallit  ge- 
wordener Unternehmer. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Unfallversicherung  in  Italien. 

Jedes  moderne  Land  hat  auf  seinem  Reformprogramm 
Nummern,  die  niemals  abgearbeitet  werden,  weil  die  parla- 
mentarische Saison  immer  gerade  zu  Ende  geht,  wenn  sie 
eben  zur  Erledigung  kommen  sollen.  Es  sind  das  in  der 
Regel  Reformen,  über  deren  Zweckmässigkeit  und  Heil- 
samkeit kein  Zweifel  herrscht,  für  deren  Durchsetzung  aber 
es  an  dem  nöthigen  Furor  der  Interessirtheit  gebricht.  Zu 
ihnen  scheint  in  Italien  die  gesetzliche  Neuregelung  der 
Betriebs-Unfallentschädigung  zu  gehören.  Denn  seit  nun- 
mehr anderthalb  Jahrzehnten  steht  sie  auf  dem  Programm. 
Etwa  ein  Dutzend  Gesetzentwürfe  und  Kommissionsberichte 
sind  während  dieser  Zeit  dem  Gegenstände  gewidmet,  Re- 
gierung, Senat  und  Parlament  sind  längst  über  die  Grund- 
züge einig,  und  doch  ist  die  Hoffnung  nicht  übermässig 
gross,  dass  nun  in  dieser  Parlaments-Session  der  neueste 
Gesetzentwurf  der  Regierung  zur  Verabschiedung  gelange. 
Kurz  vor  dem  Hafen  trieb  der  Sturm,  den  der  Banken- 
skandal entfesselt  hatte,  das  Schifflein  mit  dem  Unfall- 
versicherungsgesetz wieder  auf  die  hohe  See,  wo  es  nun 
zwischen  Senat  und  Parlament  kreuzt.  Ein  Paar  Worte 


zur  Orientirung  über  den  neuesten  Stand  der  Dinge  dürften 
immerhin  dem  deutschen  Leser  nicht  ungelegen  kommen. 

Ende  der  1870  er  Jahre  drängte  sich,  wie  bekannt,  in 
fast  allen  Ländern,  in  denen  die  grosse  Industrie  einige 
Rolle  spielt,  mit  unabweislicher  Dringlichkeit  eine  Reform 
der  herrschenden  Haftpflichtgesetzgebungen  als  nothwendig 
auf.  In  diese  Bewegung  sehen  wir  auch  Italien  hinein- 
gerissen. Die  Jahre  1879 — 83  bringen  vier  Anregungen  und 
Entwürfe  zu  einer  Reform  in  der  angedeuteten  Richtung; 
zwei  Gesetzentwürfe  (1881  und  1883)  wurden  von  der  Re- 
gierung vorgelegt.  Man  dachte  sich  eine  Verbesserung 
des  bestehenden  Zustandes  in  zwiefacher  Richtung:  einmal 
sollte  der  freiwilligen  Versicherung  fder  Arbeiter  gegen 
Unfälle  Vorschub  geleistet  werden;  sodann  wollte  man  das 
geltende  Haftungsrecht  zeitgemäss  weiterbilden. 

Dem  ersteren  dieser  beiden  Gedanken  verdankt  die 
„Nationale  Unfall -Versicherungskasse  für  Arbeiter“,  die 
durch  Gesetz  vom  8.  Juli  1883  begründet  worden  ist,  ihre 
Entstehung.  An  sie  haben  sich  ihrer  Zeit  die  kühnsten 
Erwartungen  geknüpft;  sie  sollte,  wie  der  Minister  Berti  in 
der  Begründung  der  Vorlage  ausführte,  alle  Vorzüge  einer 
staatlichen  Zwangsversicherung  vereinigen,  ohne  deren 
Nachtheile  zu  besitzen.  Die  Cassa  nazionale  ist  ein  vom 
Staate  beaufsichtigter,  mit  einigen  Privilegien  ausgestatteter 
Fonds,  den  die  bedeutenderen  Geldinstitute  des  Landes  für 
Unfall -Versicherungszwecke  begründet  haben.  Die  Ver- 
sicherung bei  dieser  Kasse  ist  im  übrigen  freiwillig;  er- 
leichtert wird  sie  — abgesehen  von  der  Sicherheit  und 
Billigkeit,  die  gewährleistet  sind  — dadurch,  dass  sie  indi- 
viduell oder  kollektiv,  d.  h.  für  eine  ganze  Arbeiterschaft, 
von  dieser  selbst  oder  vom  Unternehmer  veranstaltet 
werden  kann. 

Mit  Begründung  dieser  Kasse  war  aber  nur  die  eine 
Gedankenreihe  zum  Abschluss  gebracht;  die  Reform  der 
Haftpflichtgesetzgebung  stand  noch  aus.  Mit  ihr  hatten 
sich  gleichfalls  eine  Reihe  von  Entwürfen  beschäftigt,  die  bis 
zum  Jahre  1883  alle  eine  Umbildung  des  bestehenden 
Rechts  in  der  nämlichen  Richtung  bezweckten:  in  einer 
Verschiebung  der  Beweispflicht  zu  Gunsten  des  Arbeiters,  — 
ähnlich  wie  eine  Rechtsänderung  auch  in  anderen  Staaten 
schon  geplant  oder  durchgeführt  war.  Statt,  dass  dem 
Unternehmer  ein  Verschulden  nachgewiesen  wurde  (wie  es 
die  Artikel  1151 — 1153  des  Codice  civile  fordern),  sollte 
dieses  präsumirt  werden,  bis  der  Unternehmer  seinerseits 
Verschulden  des  Beschädigten,  Zufall  oder  höhere  Gewalt 
nachgewiesen  haben  würde.  Im  Jahre  1883  gerieth  jedoch 
die  ganze  Reformbewegung  ins  Stocken.  Der  Gesetzentwurf 
Berti,  obwohl  vom  Senat  und  Kammer  angenommen,  kam 
nicht  zur  Verabschiedung  — wegen  Sessionsschluss.  Man 
ruhte  nun  auf  den  Lorbeern  aus,  die  man  für  die  Be- 
gründung der  Cassa  nazionale  glaubte  geerntet  zu  haben; 
ruhte  sieben  Jahre. 


198 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  42. 


Als  dann  endlich  das  Problem  der  Unfallentschädigung 
im  Jahre  1890  wieder  die  gesetzlichen  Körperschaften  zu 
beschäftigen  begann,  da  hatte  die  Auffassung  in  den  maass- 
gebenden Kreisen  und  mit  ihr  die  Richtung  der  Reform- 
bewegung eine  prinzipielle  Wandlung  erfahren.  Der  Gesetz- 
entwurf, den  der  Minister  Miceli  der  Kammer  am  8.  Februar 

1890  vorlegte,  verfolgte  nicht  mehr  den  Zweck,  eine  blosse 
Aenderung  des  Zivilrechts  in  Bezug  auf  die  Haftpflicht 
herbeizuführen,  sondern  vertritt  entschieden  das  Prinzip 
der  Zwangsversicherung.  Wie  erklärt  sich  diese  Ver- 
schiebung des  Standpunkts?  Einfach  durch  die  Erfahrungen, 
die  man  während  der  1880er  Jahre  in  anderen  europäischen 
Ländern  mit  der  obligatorischen  Unfallversicherung  einer- 
seits, in  Italien  mit  der  Cassa  nazionale  andrerseits  gemacht 
hatte.  Dort  war  die  Durchführbarkeit  einer  Zwangsver- 
sicherung dargethan,  hier  die  gänzliche  Unzulänglichkeit  einer 
freiwilligen,  obwohl  erleichterten  Versicherung.  Bis  zum 
Jahre  1890  war  nämlich  die  Zahl  der  bei  der  „National- 
kasse“ gegen  Unfälle  versicherten  Arbeiter  erst  auf 
104000  gestiegen,  d.  h.  sie  umfasste  nach  öjährigem  Be- 
stehen des  Instituts  noch  nicht  I/1Q  der  versicherungsbedürfti- 
gen Personen. 

Der  Gesetzentwurf  Miceli  also  vertrat  zuerst  die  Idee 
einer  obligatorischen  Unfallversicherung.  Er  hatte  Glück 
bei  der  Kammer,  er  wurde  in  seinen  Grundzügen  ange- 
nommen. Nur  die  Verabschiedung  blieb  aus.  Das  Jahr 

1891  bringt  uns  denn  mit  einem  neuen  Minister  (Chimirri) 
einen  neuen  Gesetzentwurf  (13.  April  1891),  der  im  wesent- 
lichen auf  denselben  Prinzipien  wie  die  Vorlage  Micelis 
fusst.  Die  Kammer  giebt  ihre  Zustimmung,  der  Senat 
amendirt  ihn  in  einigen  unwesentlichen  Punkten;  die  Ver- 
abschiedung bleibt  jedoch  wiederum  aus,  weil  die  17.  Legis- 
laturperiode zu  Ende  geht. 

So  konnte  denn  am  1.  Dezember  1892  der  Minister 
Lacava  abermals  mit  einem  neuen  Gesetzentwurf  vor  die 
Kammer  treten.  Er  ist  der  neueste  und  bis  jetzt  noch  nicht 
unter  den  Tisch  gefallen.  Die  Hoffnung,  dass  er  Gesetz 
werde,  ist  darum  nicht  ausgeschlossen.  Seine  äussere  Ge- 
schichte war  bislang  die:  er  wurde  einer  Parlaments- 

kommission zur  Berathung  überwiesen;  diese  hat  in  der 
Plenarsitzung  am  5.  Mai  d.  J.  Bericht  erstattet.  Der 
Kommissionsbericht  sammt  der  Ministerialvorlage  sind  also 
vollendet.  Die  Kammer  hat  jedoch  bisher  noch  nicht  im 
Plenum  sich  mit  dem  Gegenstände  befasst.  Aber  sie  thut  es 
vielleicht  noch. 

Der  Ministerialentwurf  ist  in  seinen  Grundlagen  un- 
verändert aus  den  Berathungen  der  Parlamentskommission 
hervorgegangen;  die  wichtigsten  Modifikationen,  die  von 
dieser  vorgenommen  worden  sind,  betreffen  die  Mindest- 
zahl der  einen  Betrieb  versicherungspflichtig  machenden 
Personen  und  die  Höhe  der  Entschädigungssumme  in  einer 
Reihe  von  Fällen.  Der  Inhalt  des  Entwurfs  ist  in  den 
Hauptzügen  folgender: 

Das  Gesetz  wird  eingeleitet  (Artikel  1 — 5)  durch  Be- 
stimmungen über  Unfallverhütungsvorrichtungen, 
die  für  die  versicherungspflichtigen  Betriebe  obligatorisch 
gemacht  werden  und  deren  Nichtbeachtung  die  privatrecht- 
liche Haftung  des  Unternehmers  im  vollen  Umfange  wieder 
aufleben  lässt,  sofern  alsdann  einmal  die  Versicherungs- 
anstalt regressberechtigt  wird  und  ferner  der  Arbeiter  An- 
recht auf  eine  eventuell  höhere  zivilrechtliche  Entschädigung 
erhält. 

Auf  diese  einleitenden  Artikel  folgen  die  wichtigen  Be- 
stimmungen über  den  Kreis  der  versicherten  Per- 
sonen. Die  Versicherungspflicht  wird  ausgedehnt  auf  alle 
Arbeiter,  die  in  genau  bezeichneten,  sogenannten  „gefähr- 
lichen“ Betrieben,  sowie  auf  alle  diejenigen,  die  in  Motoren- 
Betrieben  mit  mehr  als  10  (Regierungsvorlage)  bezw.  5 
(Kommissionsvorschlag)  Personen  beschäftigt  sind.  Motor 
und  Mindestzahl  von  10  bezw.  5 Beschäftigten  sind  also 


das  Kriterium  der  Versicherungspflicht.  Das  Recht  auf 
Versicherung  hat  der  unter  den  obigen  Voraussetzungen 
angestellte  Arbeiter  („chi  lavora“,  Artikel  8). 

Die  Versicherungslast  trägt  allein  der  Unternehmer 
(Artikel  9).  Eine  Entschädigung  wird  bezahlt,  wenn  in  Folge 
eines  Betriebsunfalles  vorübergehend  oder  dauernd  Erwerbs- 
unfähigkeit eingetreten  ist,  an  den  Verletzten,  ist  der  Tod 
erfolgt,  an  die  Hinterbliebenen.  Die  Höhe  der  zu  ahlenden 
Entschädigung  richtet  sich  nach  dem  Betrage  des  vom 
Arbeiter  bezogenen  Lohnes,  so  zwar,  dass  im  Fall  des 
Todes  oder  dauernder  Erwerbsunfähigkeit  je  ein  Vielfaches 
des  Jahreslohnes  in  Kapitalform  ausbezahlt  wird;  z.  B.  im 
Fall  dauernder  gänzlicher  Erwerbslosigkeit  das  Fünffache 
des  Jahreslohns  („nicht  unter  1500  1.“  hat  die  Kommission 
hinzugefügt)  u.  s.  w.  Ein  „Jahreslohn“  ist  der  300fache  Be- 
trag des  „Tagelohnes“,  der  wiederum  dadurch  ermittelt  wird, 
dass  man  den  Verdienst  des  Arbeiters  während  der  letzten 
30  Tage  vor  dem  Unfall  mit  30  dividirt.  Im  Fall  vorüber- 
gehender Erwerbsunfähigkeit  beträgt  die  Unfallentschädigung 
I/3  (Kommissionsvorschlag  = 2/3)  des  ganzen  bezw.  ver- 
kürzten „mittleren“  Lohnes  und  läuft  vom  6.  Tage  an. 
(Artikel  10  ff.).  Bei  dolus  und  culpa  gravis  des  Arbeiters 
geht  der  Anspruch  auf  Entschädigung  verloren.  Der  Wege, 
auf  denen  der  Unternehmer  Deckung  für  diese  ihm  auf- 
erlegten Lasten  suchen  kann,  lässt  das  Gesetz  mehrere 
offen  (Artikel  17  ff.):  Der  Unternehmer  kann  sich  versichern 
bei  der  cassa  nazionale  oder  bei  einer  privaten  Ver- 
sicherungsanstalt, oder  (im  Falle  er  mehr  als  500  Arbeiter 
beschäftigt)  er  kann  eigene  Versicherungsfonds  („Kassen“)  , 
bilden.  Die  beiden  letzteren  Deckungsarten  sind  natur- 
gemäss  nur  unter  bestimmten  Kautelen  zulässig. 

Ueberblicken  wir  den  Inhalt  des  Gesetzes,  der  absicht-  , 
lieh  in  seinem  äusseren,  nicht  in  seinem  inneren  Aufbau 
darzustellen  versucht  wurde,  so  finden  wir  zwar  einzelne 
Grundgedanken  aus  der  deutschen  Unfallversicherung  wieder, 
die  gesammte  Anlage  ist  jedoch  ganz  wesentlich  von  unserem 
Gesetze  verschieden. 

Zunächst  ist  die  Organisation  eine  völlig  andere  in  dem 
italienischen  Gesetzentwürfe:  an  die  Stelle  einer  staatlich 
organisirten  Zusammenschliessung  der  einzelnen  Berufs- 
zweige zu  Versicherungsanstalten  tritt  die  freie  Wahl  der 
Deckungsart;  und  zwar  eine  noch  viel  freiere  Wahl,  als  sie 
unser  Krankenkassengesetz  zulässt.  „Keine  Zwangskassen“, 
aber  auch  nicht  einmal  „Kassenzwang“,  denn  die  Ver-  ; 
Sicherung  kann  bei  spekulativen  Unternehmungen  erfolgen. 

Es  lässt  sich  zur  Zeit  kaum  überblicken,  ob  diese  eigen- 
thümliche  Organisation  dem  Unternehmer  zum  Segen  ge- 
reichen wird.  Auf  das  Bedenkliche  einer  Hereinziehung 
privaterVersicherungsanstalten  in  die  obligatorische  Arbeiter- 
versicherung ist  oft  hingewiesen  worden.  Was  die  italienische 
Regierung  dazu  bestimmt  hat,  ist  der  Umstand,  dass  ihrer 
Meinung  nach  die  Industrie  des  Landes  noch  zu  unent- 
wickelt sei,  um  korporative  Verbände  nach  Analogie  unserer 
Berufsgenossenschaften  zu  bilden;  ein  kaum  stichhaltiges 
Argument.  Denn  so  entwickelt,  wie  z.  B.  unsere  Müllerei, 
unser  Schornsteinfegergewerbe  u.  s.  w.  ist  die  italienische 
Industrie  allemal.  Und  diese  müssen  doch  — wohl  oder 
übel  — auch  Berufsgenossenschaften  bilden. 

Lässt  sich  in  diesem  Punkte  nicht  mit  Sicherheit  sagen, 
ob  die  von  der  italienischen  Gesetzgebung  eingeschlagenen 
Wege  besser  gangbar  als  die  von  uns  gewählten  sind,  so 
möchte  ich  doch  einige  andere  Abweichungen  von  den 
Normen  unserer  Unfallversicherung  ganz  entschieden  als 
verfehlt  bezeichnen.  Sofern  die  Abweichungen  zum  Theil 
Konsequenzen  der  Organisation  sind,  fällt  dann  freilich  auch 
auf  diese  ein  ungünstiges  Licht. 

Die  erste  der  gemeinten  Bestimmungen  betrifft  die  Art 
der  Entschädigung:  Diese  soll  im  Todesfall  und  bei  dauernder 
Erwerbsunfähigkeit  als  Kapital  bezahlt  werden,  nicht  als 
Rente.  Als  Grund  für  die  Wahl  dieses  Modus  wird  die 


No.  42. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


499 


Nothwendigkeit  der  Prämiendeckung  (bei  den  privaten  Ver- 
sicherungsanstalten!) und  die  Unmöglichkeit  einer  zu- 
verlässigen Berechnung  der  Prämienhöhe  im  Fall  lebens- 
länglicher Renten  angeführt.  Der  Gesetzgeber  ist  sich  der 
Gefahr,  die  mit  einer  Kapitalabfindung  naturgemäss  ver- 
bunden ist,  dass  nämlich  der  Zweck  nachhaltiger  Versorgung 
nicht  zuverlässig  erreicht  werden  möchte,  auch  bewusst. 
Er  erachtet  sie  jedoch  gering  in  Ansehung  der  hervor- 
ragenden ökonomischen  Qualitäten  des  italienischen  Arbeiters. 
Hier  scheint  mir  nun  aber  ein  ganz  unbegründeter  Opti- 
mismus obzuwalten.  Auch  in  den  Händen  des  besten  Haus- 
vaters ist  ein  Kapital  niemals  so  sicher  wie  eine  Rente. 
Der  Italiener  ist  aber  durchschnittlich  noch  sehr  weit  vom 
Ideal  des  guten  Hausvaters  entfernt.  Um  nur  eine  Eigenart 
des  italienischen  Volkes  hier  zu  berühren:  es  ist  spiel- 
süchtig. Man  sehe  die  Massen  am  Ziehtage  des  Lottos  in 
einer  südlichen  Stadt!  Diese  Leidenschaft  würde  nun  ge- 
radezu begünstigt,  wenn  man  dem  armen  Mann  eine 
Kapitalsumme  anvertraut,  die  er  irgendwo  zinsbringend 
anlegen  soll.  Ihre  Geringfügigkeit  wird  ihn  zwingen, 
nach  hoher  Verzinsung  auszuschauen.  Zwingen,  sage  ich, 
denn  bei  normaler  Verzinsung  wird  die  Rente  gar  zu  gering: 
ein  Arbeiter,  der  500  Lire  im  Jahre  verdient,  ist  schon  gut- 
gelohnt. Er  würde  bei  völliger  Erwerbsunfähigkeit  2500  Lire 
ausgezahlt  erhalten;  diese  brächten  bei  4prozentiger  Ver- 
zinsung 100  Lire;  das  ist  selbst  für  Italien  ein  bischen  sehr 
wenig.  Der  Verletzte  kann  bei  4 pCt.  also  nur  x/5,  bei 
5 pCt.  74  seines  ehemaligen  Lohnes  sich  als  Rente  ver- 
schaffen. Wird  ihn  das  nicht  reizen,  sein  kleines  Kapital 
in  unsicheren  Anlagen  unterzubringen?  Und  die  Folge 
wird  sein:  jeder  zweite  oder  dritte  Entschädigte  wird  es 
verlieren.  Es  muss  mit  aller  Energie  davor  gewarnt  werden, 
diese  Kapitalabfindung  als  Form  der  Unfallentschädigung 
zu  wählen. 

Eine  andere  Bestimmung  des  Gesetzentwurfs,  die  mir 
sehr  bedenklich  erscheint,  ist  der  Verlust  des  Anspruchs 
auf  Entschädigung  bei  grobem  Verschulden.  Auch  hier- 
gegen sind  schon  so  viele  Bedenken  geltend  gemacht,  dass 
es  unnöthig  erscheint,  sie  zu  wiederholen.  Man  stelle  sich 
vor  — um  nur  diesen  Gesichtspunkt  hervorzukehren  — wel- 
cher Wirrwarr  von  Rechtshändeln  dadurch  heraufbeschworen 
wird,  dass  man  privaten  Versicherungsanstalten  das  Recht 
zuspricht,  im  Falle  von  culpa  gravis  der  Arbeiter  sich  ihrer 
Verbindlichkeiten  zu  entziehen.  Kaum  ein  Unfall  würde 
unangefochten  bleiben.  Der  Gesetzgeber  hat  sich  zu  dieser 
unglücklichen  Bestimmung  durch  die  Erwägung  veranlasst 
gefühlt,  dass,  wenn  man  der  Versicherungsanstalt  das  Regress- 
recht gegen  culpose  Unternehmer  zuspreche,  was  unvermeid- 
lich sei,  man  dasselbe  auch  gegenüber  culposen  Arbeitern  ge- 
währen müsse.  Ein  durch  nichts  begründeter  rein  formaler 
Analogieschluss.  Aber  wieder  die  Konsequenz  der  privat- 
wirthschaftlichen  Organisation  der  ganzen  Unfallversicherung. 

Vielleicht  erweist  sich  die  Verzögerung  der  nothwendigen 
Regelung  des  Unfallwesens  in  Italien  nun  doch  noch  als 
segensreich,  wenn  nämlich  der  vorliegende  Gesetzentwurf 
einer  abermaligen  Prüfung  unterzogen  und  von  den  be- 
rührten wesentlichen  Mängeln  befreit  würde.  Wir  wünschen 
es  lebhaft  im  Interesse  des  italienischen  Proletariats. 

Breslau.  Werner  Sombart. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Auswanderungsgesetz  für  Bremen.  Da  der  Entwurf 
eines  Reichsauswanderungsgesetzes  keine  Aussichten  auf 
baldige  Berathung  und  Verabschiedung  hat,  geht  jetzt 
Bremen  selbstständig  an  die  Reform  seiner  Auswanderungs- 
gesetzgebung. Der  Senat  hat  der  Bürgerschaft  eine  Vor- 


lage unterbreitet,  welche  eine  Revision  des  bisherigen  Ge- 
setzes vom  9.  Juli  1866  bezweckt.  Sie  wird  damit  begründet, 
dass  „je  stärker  der  Strom  der  Auswanderer  über  Bremen 
sei,  desto  sorgsamer  darüber  zu  wachen  sei,  dass  der  gute 
Ruf  Bremens  durch  Handlungen  einzelner  Expedienten 
keine  Schädigung  erleide.“  Das  sei  aber  nur  dann  zu  er- 
reichen, wenn  der  Behörde  für  das  Auswandererwesen  die 
Möglichkeit  gegeben  werde,  ungeeignete  Elemente  aus 
diesem  Geschäftsbetriebe  fernzuhalten  oder  zu  entfernen. 
Bisher  war  das  nicht  der  Fall.  Das  Gesetz  vom  9.  Juli  1866 
enthält  das  Prinzip,  dass  jeder  im  bremischen  Staatsgebiete 
wohnende  Staatsbürger,  der  eine  Kaution  im  Betrage  von 
15000  M.  zu  stellen  im  Stande  ist,  das  Gewerbe  eines 
Passagier-  und  Schiffsexpedienten  zu  betreiben  berechtigt 
ist.  Durch  die  beantragten  neuen  Bestimmungen  soll  diese 
Berechtigung  an  eine  von  bestimmten  Voraussetzungen, 
namentlich  im  Hinblick  auf  die  Zuverlässigkeit  der  be- 
treffenden Persönlichkeit  abhängigen  Konzessions- 
ertheilung  geknüpft  werden.  Der  neue  Gesetzentwurf 
enthält  acht  Paragraphen,  denen  wir  die  folgenden  Punkte 
entnehmen:  Zur  Annahme  von  Schiffspassagieren  von  oder 
über  Bremen  nach  anderen  Welttheilen,  sei  es  direkt  mit 
von  der  Weser  dahin  fahrenden  Schiffen,  sei  es  indirekt 
über  andere  europäische  Häfen,  sind  nur  solche  Personen 
befugt,  denen  die  Erlaubniss  zu  solchem  Geschäftsbetriebe 
ertheilt  ist.  Für  solche  Ertheilung  ist  erforderlich:  1.  die 
Staatsangehörigkeit  des  Nachsuchenden  in  einem  deutschen 
Bundesstaate;  2.  der  Wohnsitz  des  Nachsuchenden  im 
bremischen  Staatsgebiete;  3.  die  Stellung  einer  Kaution  von 
30000  M.,  ohne  Unterschied,  ob  es  sich  um  einzelne  Per- 
sonen oder  um  Handelsgesellschaften  oder  eingetragene 
Genossenschaften  handelt.  Die  Erlaubniss  ist  zu  versagen, 
wenn  Thatsachen  vorliegen,  welche  die  Annahme  der  Un- 
zuverlässigkeit des  Antragstellers  in  Beziehung  auf  den 
beabsichtigten  Gewerbebetrieb  rechtfertigen.  Sie  kann  auch 
zurückgenommen  werden  durch  die  Behörde  für  das  Aus- 
wanderungswesen: 1.  wenn  die  Unrichtigkeit  der  oben  an- 
gegebenen Nachweise  dargethan  wird;  2.  wenn  aus  Hand- 
lungen oder  Unterlassungen  des  Expedienten  der  Mangel 
derjenigen  Eigenschaften  klar  erhellt,  welche  bei  der  Er- 
theilung der  Erlaubniss  nach  den  Vorschriften  dieses  Ge- 
setzes vorausgesetzt  werden  müssten;  3.  wenn  sonst  That- 
sachen vorliegen,  aus  welchen  sich  ergiebt,  dass  die  für 
die  Ertheilung  der  Erlaubniss  erforderlichenVereinssatzungen 
nicht  oder  nicht  mehr  vorhanden  sind.  Die  Behörde  ist 
ermächtigt,  falls  die  Beförderung  von  Schiffspassagieren 
eine  nach  dem  Ermessen  der  Behörde  ungebührliche  Ver- 
zögerung erleidet,  diese  in  ihr  geeignet  erscheinender 
Weise  vorzunehmen,  auch  bis  zur  Beförderung  für  ange- 
messene Beherbergung  und  Beköstigung  der  Passagiere  zu 
sorgen.  Die  Erstattung  der  dafür  verausgabten  Beträge 
durch  den  Expedienten  wird  von  ihr  unter  Ausschluss  des 
Rechtsweges  verfügt.  Die  Einziehung  erfolgt  im  Wege  der 
Zwangsvollstreckung  im  Verwaltungswege.  — Da  gerade 
für  die  vor  der  Thür  stehenden  Herbstmonate  eine  sehr 
lebhafte  Auswanderung  zu  erwarten  ist,  so  beantragt  der 
Senat  die  Berathung  der  Vorlagen  als  dringlich  zu  be- 
handeln. In  der  Begründung  wird  namentlich  noch  auf 
einen  Punkt  hingewiesen.  Nach  der  jüngsten  Gesetzgebung 
der  Vereinigten  Staaten  ist  die  Behörde  daselbst  berechtigt, 
selbst  noch  ein  Jahr  nach  erfolgter  Einwanderung  eine  ein- 
gewanderte Person  auf  Kosten  Desjenigen,  der  den  Ein- 
gewanderten expedirt  hat,  wieder  zurück  zu  befördern, 
sobald  sich  herausgestellt  hat,  dass  die  Einwanderung  der 
betreffenden  Person  nach  den  bestehenden  Gesetzes- 
vorschriften nicht  hätte  geduldet  werden  können.  Das 
damit  verbundene  Risiko,  dass  die  Zurückkehrenden  dem 
bremischen  Staate  zur  Last  fallen,  ist  angesichts  der  grossen 
Zahlen,  die  heute  bei  der  Auswanderung  in  Frage  kommen, 
sehr  beträchtlich.  „In  dieser  Richtung  die  Staatskasse  vor 
erheblicher  Inanspruchnahme  zu  schützen“,  werde  daher 
gleichfalls  von  den  neuen  Bestimmungen  bezweckt. 

Bauordnung  mit  Zoneneintheilung  für  Frankfurt  a.  M. 

Die  bekannte  Frankfurter  Bauordnung  vom  13.  Oktober  1891, 
ein  Werk  des  Oberbürgermeisters  Adickes  und  Vorbild  für 
verschiedene  Bauordnungen  anderer  Städte,  erfährt  jetzt 
durch  Baupolizeiverordnung  vom  7.  d.  M.  wesentliche  Ver- 


500 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  42. 


besserungen.  Die  theilweise  neue  Abgrenzung  der  Wohn-, 
Fabrik-  und  gemischten  Viertel  der  Aussenstadt  mit  ihrer 
äusseren  und  inneren  Zone  ist  mehr  von  lokaler  Wichtig- 
keit. Dagegen  ist  es  wichtig,  dass  der  Bauwich  für  die 
äussere  Zone  weiter  festgestellt  wird  als  für  die  innere, 
ebenso  die  Entfernung,  welche  Fabrikanlagen  von  der  Grund- 
stücksgrenze und  der  Strasse  einzuhalten  haben.  Die  Vor- 
schrift, dass  Gebäudegruppen  mit  einer  geschlossenen 
Strassenfront  von  höchstens  30  bezw.  40  m errichtet  wer- 
den, dürfen,  gilt  fortan  für  die  gesammte  Tiefe  der  Gebäude- 
gruppen. In  Wohnvierteln  soll  die  Flöhe  der  Hintergebäude 
14  m nicht  überschreiten.  Für  Hinterwohnungen  muss  eine 
geräumige  Zufahrt  gestellt  werden.  Die  Errichtung  gewisser 
schädlicher  Anlagen  wird  für  Wohnviertel  ganz  verboten. 
Daran  reihen  sich  noch  Einzelbestimmungen,  welche,  wie 
die  gesammte  Neuformulirung  der  Bauordnung,  ein  hygieni- 
sches Wohnen  in  der  Aussenstadt  ermöglichen  und  die 
Miethskasernen  beseitigen  wollen. 

Arbeitsnachweisanstalten  in  Baden.  Bei  der  Anstalt 
für  Arbeitsnachweis  in  Karlsruhe  wurden  in  der  ersten 
Hälfte  d.  Js.  2595  Gesuche  eingetragen  gegen  3418  im  Jahr 
1892.  Von  den  684  Gesuchen  sämmtlicher  Arbeitgeber 
konnten  592,  also  86  Prozent,  befriedigt  werden,  und  von 
den  1758  Gesuchen  sämmtlicher  Arbeitnehmer  969,  also 
54  Prozent  gegen  59  bezw.  23  Prozent  des  Vorjahres.  Aehn- 
liche  Erscheinungen  sind  bezüglich  der  Vermittelung  von 
Dienstbotenstellen  zu  verzeichnen.  Der  Verkehr  mit  den 
Filialen  in  Kehl  und  Pforzheim  nimmt  eine  immer  leb- 
haftere Gestaltung  an.  Für  die  letztere  ist  eine  Neuerung 
in  der  Durchführung  begriffen.  Anlässlich  der  diesjährigen 
Reservistenentlassung,  welche  in  der  zweiten  Hälfte  des 
Monats  September  zu  erwarten  ist,  soll  erstmals  der  Ver- 
such der  unentgeltlichen  Arbeitsvermittelung  für  alle  die- 
jenigen Reservisten  gemacht  werden,  welche  innerhalb  des 
Grossherzogthums  in  Arbeit  treten  wollen.  Diesem  Vor- 
gehen, zu  welchem  das  Generalkommando  des  1 4.  Armeecorps 
seine  Mitwirkung  zugesagt  hat  und  bei  dessen  Durchführung 
das  Präsidium  des  Landesverbandes  der  badischen  Militär- 
vereine und  die  Anstalt  für  Arbeitsnachweis  sich  gegen- 
seitig unterstützen  werden,  liegt  die  Absicht  zu  Grunde,  die 
entlassenen  Reservisten  dadurch,  dass  der  Uebertritt  in  die 
frühere  Berufsarbeit  für  sie  thunlichst  erleichtert  wird,  vor 
den  Unzuträglichkeiten  einer  länger  andauernden  Arbeits- 
losigkeit zu  bewahren.  Das  Gelingen  dieses  Versuches  hängt 
in  erster  Reihe  von  der  sehr  belangreichen  Bereitwilligkeit 
der  Arbeitgeber  ab,  alle  bei  ihnen  während  der  zweiten 
Hälfte  des  Monats  September  d.  J.  frei  werdenden  Stellen 
rechtzeitig  zu  gedachtem  Zwecke  anzumelden.  Am  1.  August 
d.  J.  wird  auch  in  der  Stadt  Mannheim  eine  Anstalt  für 
Arbeitsnachweis  in's  Leben  treten.  Ihre  Organisation  ist 
die  gleiche  wie  die  für  Karlsruhe  angenommene.  Die  Ver- 
handlungen zur  Einleitung  eines  recht  lebhaften  Verkehrs 
zwischen  der  Karlsruher  und  der  Mannheimer  Anstalt  sind 
bereits  eingeleitet. 

Arbeitsnachweis  in  Breslau.  In  No.  21  des  I.  Jahr- 
gangs dieser  Zeitschrift  wurde  über  die  Wirksamkeit  des 
Breslauer  Arbeitsnachweisbureaus,  das  vom  Verein  gegen 
Verarmung  und  Bettelei  unterhalten  wird,  für  das  Jahr 
1891  berichtet.  Jetzt  liegen  die  Ziffern  für  das  Jahr  1892 
vor,  von  denen  die  wichtigsten  im  Folgenden  mitgetheilt 
werden.  Während  des  Berichtsjahrs  gingen  1600  (gegen 
1806  in  1891)  Bestellungen,  und  zwar  auf  1107  männliche 
und  968  weibliche,  zusammen  2075  (1891  = 2356)  Arbeiter 
ein.  Davon  wurden  1572  (1891  = 1711)  Bestellungen 

durch  1099  männliche  und  948  weibliche,  zusammen  2047 
(1891  = 2261)  Arbeiter  erledigt.  Feste  Anstellung  erhielten 
926,  theilweise  feste  733,  vorübergehende  388  Personen.  Von 
den  2047  erledigten  Bestellungen  auf  Arbeitspersonal  be- 
fanden sich  ausserhalb  Breslaus  6.  Im  Melderegister  wurden 
im  Jahre  1892  347  männliche  und  257  weibliche  Personen,  zu- 
sammen 604  Personen  eingetragen:  unter  diesen  befanden 
■sich  31  vom  Verein  und  18  von  der  städtischen  Armen- 
verwaltung unterstützte  Personen. 

Ueber  die  Personalverhältnisse  der  im  Jahre  1892 
in  das  Melderegister  eingetragenen  Arbeiter  giebt  folgender 
Nachweis  Aufschluss: 


Geschlecht 

Eingetragene 

überhaupt 

Davon 

Alter  nach  Jahren. 

Familienstand 

Gebürtig  aus 
Breslau 

Heiraathsberech- 
tigt  in  Breslau 

bis 

20 

über 

20 

30 

über 

30 

50 

über 

50 

70 

über 

70 

ledig 

verh. 

vervv. 

<U 

bJD 

ü 

Cl, 

<u 

M. 

W. 

345 

256 

165 

43 

180 

213 

173 

27 

83 

72 

78 

126 

11 

31 

221 

93 

121 

94 

3 

55 

14 

Sa. 

601  | 208  | 393 

200 

155 

204 

42 

314 

215 

58 

14 

Die  Uebersicht  über  die  Berufsklassen,  für  welche  Ar- 
beitsnachweisungen ertheilt  worden  sind,  enthält  auch  dieses 
Jahr  leider  wieder  eine  grosse  Sammelkategorie  „Arbeiter“; 
es  ist  nicht  ersichtlich,  ob  dieses  nun  gewöhnliche,  einge- 
lernte Tagelöhner  oder  auch  gelernte  (Industrie-)  Arbeiter 
sind.  Wie  aus  dem  folgenden  Zahlenberichte  hervorgeht,  be- 
ruht nach  wie  vor  der  Schwerpunkt  der  Thätigkeit  des 
Breslauer  Bureaus,  namentlich  für  Weiber,  im  Arbeitsnach- 
weis für  „Gesindedienste“,  Hausarbeiten  nicht.  Es  wurden 
durch  das  Bureau  im  Jahre  1892  beschäftigt: 


A.  Arbeiter. 

B.  Arbeiterinnen. 

Anstreicher 

4 

Arbeitsfrauen  od.  Mädchen 

106 

Arbeiter 

577 

Ausbesserinnen  .... 

13 

Arbeits-  und  Laufburschen 

325 

Bedienungsfrauen  . . . 

383 

Aufseher 

1 

Dienstmädchen  .... 

21 

Bäcker  

3 

Federnreisserinnen  . . . 

1 

Böttcher 

2 

Hausbereinigung  .... 

1 

Boten 

8 

Kinderfrauen  od.  Mädchen 

75 

Commis 

1 

Köchinnen 

2 

Diener 

3 

Milchausträgerinnen  . . , 

4 

Flaushälter  (incl.  Hausbe- 

Näherinnen 

8 

reinigung) 

73 

Plätterinnen 

2 

Korbmacher 

1 

Säckeflickerinnen  .... 

7 

Kutscher 

18 

Scheuerfrauen 

127 

Maler 

9 

Strickerinnen 

4 

Maurer 

2 

Waschfrauen 

187 

Schlosser 

5 

Wirthschafterinnen  . . . 

6 

Schmiede 

8 

Wollesortirerinnen  . . 

1 

Schreiber 

4 

Personen  Sa. 

948 

Schuhmacher 

2 

Tapetenstreicher  . . . . 

19 

Tapezierer 

6 

Tischler 

14 

Töpfer  

12 

Zimmerleute 

2 

Personen  Sa. 

1099 

Dass  das  Bureau  heuer  noch  vorwiegend  ein  Gesinde- 
nachweis ist,  bestätigt  die  Uebersicht  über  die  Vertheilung 
der  eingegangenen  Bestellungen  auf  die  einzelnen  Monate 
und  Jahreszeiten.  Die  Mehrzahl  läuft  in  den  Frühjahrs- 
und Herbstmonaten  ein.  Dagegen  liegen  am  wenigsten 
Bestellungen  und  Nachweise  in  den  Wintermonaten  vor: 
also  in  der  eigentlichen  Saison  der  gewerblichen  Arbeits- 
losigkeit. 


Arbeiterzustände. 

Gewerbeinspektion  und  Arbeiterverhältnisse  in  Paris. 

Beinahe  noch  langsamer  als  in  Preussen  erfolgt  die  Ver- 
öffentlichung der  Gewerbeinspektionsberichte  in  Frankreich. 
Die  Publikation  für  1891  über  das  wichtigste  der  französischen 
Departements,  über  Paris  und  Umgebung  (Seine),  geschah  vor 
Kurzem  in  No.  31—36  des  Bulletin  Municipal  Officiel  von  1893, 
also  im  Organ  der  Pariser  Gemeindeverwaltung  und  etwa  I V* 
Jahrenach  Abschluss  der  Berichtsperiode.  Immerhin  gestattet 
sie  natürlich  interessante  Einblicke  in  die  von  der  deutschen 
Organisation  der  Gewerbeaufsicht  ausserordentlich  und 
nicht  immer  zu  ihrem  Nachtheil  abweichende  französische. 

Der  Gewerbeinspektionsdienst  ist  für  die  französische 
Hauptstadt  weit  vollständiger  und  splendider  eingerichtet, 
als  für  diejenige  des  Deutschen  Reichs.  Im  Budget  des 
Departements  der  Seine  stehen  gegenwärtig  153000  Frcs. 
dafür  ausgeworlen;  die  zu  gleichen  Zwecken  für  Berlin 
und  Umgebung  bestimmten  Mittel  dürften  kaum  den  zehnten 


No.  42. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


501 


Theil  betragen.  Für  Paris  und  Umgebung  amtirten  1891 
nicht  weniger  als  30  männliche  und  weibliche  Inspektoren, 
über  denen  ein  Oberinspektor  zur  Kontrolle,  sowie  ein  Bc- 
zirksinspektor  als  Chef  der  ganzen  Inspektion  steht,  zwölf 
männliche  und  weibliche  Ersatzinspektoren  sind  für  den 
Fall  ernannt,  dass  ein  Inspektor  an  der  Ausübung  seines 
Dienstes  verhindert  wird;  damit  die  Aufsicht  keinen  Augen- 
blick unterbleibt,  tritt  sofort  ein  Ersatzmann  ein  und  bezieht 
die  Hälfte  des  Gehaltes,  sowie  die  Reisespesen  des  Ver- 
hinderten. In  Berlin  kennt  man  weibliche  Inspektoren  selbst- 
verständlich noch  nicht.  Im  Jahre  1891  — neuere  Ver- 
öffentlichungen liegen  auch  hier  nicht  vor!  — amtirten  also 
ausschliesslich  5 männliche  Inspektoratsbeamte  für  Berlin 
und  Umgebung,  von  denen  einer  nur  kommissarisch  und 
einer  nur  probeweise  angestellt  war.  Ersatzbeamte  existirten 
für  den  Bezirk  der  deutschen  Reichshauptstadt  nicht.  Das 
Pariser  Inspektionspersonal  wurde  seit  1881  um  12,  das 
Berliner  um  4 Beamte  vermehrt.  Die  30  französischen  In- 
spektoren hatten  ca.  31  000  Betriebe  des  Seine-Departements 
mit  ca.  200  000  Arbeitern,  die  5 Berliner  5382  Fabriken  mit 
ca.  170  000  Arbeitern  im  Jahre  1891  zu  beaufsichtigen.  Das 
macht  auf  einen  Inspektionsbeamten  der  deutschen  Reichs- 
hauptstadt ca.  1100  Betriebe  und  34  000  Arbeiter,  auf  einen 
Pariser  Inspektor  aber  nur  ca.  1000  Betriebe  und  6000  Ar- 
beiter. Und  da  die  Zahl  der  Arbeiter,  deren  Arbeits- 
bedingungen zu  kontrolliren  sind,  die  ausschlaggebende  ist, 
so  ergiebt  sich,  dass  die  Gewerbeinspektion  des  Seine- 
Departements  5 mal  intensiver  ausgeübt  werden  kann  als  die 
Berliner.  Thatsächlich  ist  jedoch  der  Unterschied  noch 
grösser.  Die  Berliner  Gewerbeinspektionsbeamten  revidirten 
nämlich  im  Jahre  1891  nur  1634  Fabriken  und  davon  nur 
ca.  50  wiederholt;  diese  Zahlen  werden  allerdings  noch 
steigen.  Daneben  kontrollirt  die  Berliner  Polizei  die  Aeusser- 
lichkeiten  des  Arbeiterschutzes  ziemlich  intensiv,  natürlich 
ohne  eine  eigentliche  Fachaufsicht  leisten  zu  können.  Im 
Seinedepartement  wurden  dagegen  1891  nicht  weniger  als 
41  437  Revisionen  (gegen  16  696  im  Jahre  1881)  vom  Fach- 
personal vorgenommen,  die  Gesammtzahl  der  Betriebe  also 
einmal,  ein  volles  Drittel  derselben  zweimal  revidirt;  und  auch 
hier  besteht  daneben  noch  eine  Art  örtlicher  Aufsicht  durch 
90  Lokalkommissionen,  von  denen  allerdings  nur  44  richtig 
konstituirt  waren.  Der  Vergleich  fällt  also  im  Endresultat 
nicht  sehr  günstig  für  die  deutsche  Reichshauptstadt  aus, 
und  dabei  stellt  sich  der  Chef  der  Inspektion  des  Seine- 
Departements  in  seinem  Bericht  durchaus  nicht,  wie  sein 
Berliner  Kollege,  auf  den  Standpunkt,  das  Bestehende  zu  be- 
schönigen und  darauf  zu  vertrösten,  dass  „schon  im  nächsten 
Jahre  eine  weit  wirksamere  Aufsicht  zu  erwarten“  sei;  im 
Gegentheil,  er  schreibt:  „Die  Doppelrevision  aller  Betriebe 
ist  eigentlich  das  Wichtigste,  weil  man  sich  allein  durch  sie 
in  kurzer  Zeit  überzeugen  kann,  ob  der  Unternehmer,  der 
bei  der  ersten  Revision  auf  Gesetzwidrigkeiten  ertappt 
wurde,  die  Vorschriften  befolgt  hat,  die  man  ihm  gab.  So 
lange  die  Betriebe  nur  einmal  jährlich  revidirt  wurden, 
war  die  Aufsicht  beinahe  illusorisch,  Widerspänstige  oder 
einfach  nachlässige  Unternehmer,  die  aus  Erfahrung  wussten, 
dass  der  Inspektor  erst  nach  einem  Jahre  wiederkam,  über- 
traten das  Gesetz  während  dieser  Zeit  ruhig  weiter.  Dieser 
Missstand  ist  beseitigt,  seitdem  unverhofft  Nachrevisionen 
vorgenommen  werden.  Sie  müssten  aber  noch  viel  zahl- 
reicher sein  und  sich  auf  alle  der  Aufsicht  unterstellten 
Betriebe  erstrecken.“  Durch  solch’  eine  offene  Kritik  der 
bestehenden  Mängel  einer  wichtigen  Einrichtung  wird  der 
Sache  zweifellos  mehr  genützt  als  durch  Beschönigungs- 
und Beschwichtigungsberichte,  wie  sie  in  Deutschland  so 
häufig  sind. 

Die  Durchführung  der  Arbeiterschutzgesetze  von  1848 
und  1874  ist  nun  trotzdem  im  Seine-Departement  eine  sehr 
mangelhafte,  was  von  der  Inspektion  ebenfalls  offen  zu- 
gestanden wird  und  sich  u.  A.  wohl  daraus  erklärt,  dass 
auch  die  französischen  Beamten  keine  rechte  Exekutive 
haben,  sondern  immer  erst  durch  Anzeigen  beim  Gericht 
eine  Bestrafung  der  Säumigen  herbeiführen  können.  Für 
männliche  erwachsene  Arbeiter  schwanke  der  Arbeitstag 
wohl  in  der  Hauptsache  zwischen  10  und  11  Stunden,  ob- 
gleich auch  hier  eine  Ausdehnung  bis  zu  13  und  14  Stunden 
vorkomme;  die  Frau  aber  müsse  regelmässig  das  gesetzlich 
erlaubte  Maximum  von  12  Stunden  und  darüber  arbeiten. 


Die  Aufsicht  erstreckte  sich  auf  113  237  männliche  und 
34  977  weibliche  erwachsene  Arbeiter,  sodass  also  die 
Frauenarbeit  nicht  so  ausgedehnt  erscheint  wie  z.  B.  in 
Sachsen.  In  der  Vertheilung  diesfer  Arbeitermassen  fand 
insofern  eine  Verschiebung  statt,  als  sich  die  Zahl  der  Be- 
schäftigten in  der  Stadt  Paris  gegen  das  Vorjahr  verminderte, 
in  der  Umgebung  dagegen  vermehrte.  Was  die  Beschäfti- 
gung Minderjähriger  angeht,  so  zählte  man  1881  erst 
32  711,  dagegen  1891  schon  50  784  in  den  Fabriken  des 
Seine-Departements;  der  Bericht  schreibt  die  Vermehrung 
jedoch  theilweise  der  besseren  Aufsicht  zu.  Von  dieser 
Gesammtzahl  entfielen  30  354  Köpfe  auf  Kinder  von  10  bis 
16  Jahren  und  19  698  auf  Mädchen  von  17  bis  21  Jahren, 
die  in  Frankreich  mit  Recht  noch  zu  den  besonders  Schutz- 
bedürftigen gerechnet  werden.  Ein  wunder  Punkt  des  fran- 
zösischen Arbeiterschutzes  ist  es  dagegen,  dass  Kinder  von 
10  bis  12  Jahren  zur  industriellen  Arbeit  zugelassen  wei'den. 
Nach  dem  Bericht  zählte  man  1891  nur  noch  56  (gegen  72 
im  Jahre  1890);  aber  der  Bezirksinspektor  giebt  seinem  Ab- 
scheu gegen  diese  Kinderausnutzung  ganz  offen  Ausdruck, 
indem  er  schreibt:  „Es  sind  immer  noch  die  Glashütten 

und  Stoffdruckereien,  welche  diese  unglücklichen  kleinen 
Wesen  beschäftigen.“  Die  Schulinspektion  habe  auf  Grund 
des  Gesetzes  von  1882  viel  zur  Abschaffung  dieser  Kinder- 
arbeit beigetragen,  bei  der  man  1879  noch  2008  Köpfe 
zählte.  Und  mit  den  Kindern  sind  auch  die  sogen.  Fabrik- 
schulen für  dieselben,  jene  Schöpfung  des  englischen  Unter- 
nehmerthums, bis  auf  7 aus  dem  Bezirk  verschwunden. 
Ebenso  haben  die  Halbtagsschulen  für  Kinder  von  12  bis 
15  Jahren,  deren  man  1891  noch  20  167  (gegen  18  538  i.  J. 
1882)  zählte,  beständig  abgenommen  und  sind  jetzt  auf  18 
(gegen  65  i.  J.  1881)  gesunken,  die  sehr  unregelmässig  be- 
sucht werden.  Kinder  von  15  bis  16  Jahren  wurden 
11092,  Mädchen  von  16  bis  21  Jahren  19  469  gezählt. 
Die  Arbeitszeit  der  Kinder  betrage  10  bis  11  Stun- 
den in  der  Mehrzahl  der  Betriebe,  12  Stunde-n  bei  den 
Kleinmeistern.  Bei  verbotener  Nachtarbeit  würden  so- 
wohl Mädchen  als  Frauen  noch  vielfach  beschäftigt;  aber 
die  Betroffenen  wagten  meist  keine  Anzeige  zu  machen. 
Zur  Aufrechterhaltung  der  Sonntagsruhe  für  die  geschützten 
Kinder  sei  die  Inspektion  energisch  gegen  jene  Wäschereien 
eingeschritten,  welche  die  fertige  Wäsche  am  Sonntag- 
morgen ihren  Kunden  durch  Kinder  zuschickten.  Besondere 
Beachtung  schenkt  man  der  Ueberlastung  der  Kinder  beim 
Transport  von  Waaren.  Die  städtische  Polizei  theilte  der 
Inspektion  61  Fälle  mit,  in  welchen  eine  solche  Ueber- 
lastung festgestellt  wurde  (mit  bis  zu  38  Kilo  beim  Tragen 
und  mit  bis  zu  395  Kilo  beim  Fahren);  Buchbinder,  Papier- 
händler, Cartonagenfabrikanten,  Rahmenfabrikanten, Tischler, 
Schlosser,  Bäcker  und  Metzger  waren  die  Hauptschuldigen. 
Auch  in  Deutschland  könnte  dieser  Sache  etwas  mehr  Auf- 
merksamkeit zugewendet  werden.  Durch  beharrliche  Thätig- 
keit  im  Interesse  gesunder  Arbeitsräume  und  guter  Unfall- 
verhütungsvorschriften ist  es  gelungen,  den  Prozentsatz  der 
von  Unfällen  betroffenen  Kinder  von  0,27  i.  J.  1881  auf 
0,12  i.  J.  1891  herabzumindern. 

Frankfurt  a.  M.  Max  Quarck. 

Altonaer  Arbeiter-  und  Lohnstatistik.  Aus  Erörterun- 
gen über  die  Richtigkeit  lohnstatistischer  Unternehmerangaben 
im  Jahresbericht  für  1889  des  Altonaer  Kommerzkollegiums, 
die  zwischen  dieser  Corporation  und  einer  Anzahl  Arbeiter 
entstanden,  ist  eine  Erhebung  über  die  Löhne  der  Altonaer 
Arbeiter  hervorgegangen,  welche  soeben  unter  folgendem 
Titel  erschien:  „Altonaer  Arbeiter  - Statistik.  Veranstaltet 
durch  das  Königl.  Kommerzkollegium  in  Altona.  I.  Altonaer 
Arbeitslöhne  1891.  Ein  Versuch  lohnstatistischer  Erhebun- 
gen auf  Grund  wirklich  gezahlter  Arbeitslöhne“  (Hamburg, 
1893).  Das  Material  ist  durch  Zählkarten  lediglich  von  Unter- 
nehmern, die  Berufsgenossenschaften  angehören,  geliefert. 
Die  Statistik  erstreckt  sich  für  das  Jahr  1891  auf  120  Betriebe, 
welcher  8 Gewerbsgruppen  angehören  und  insgesammt  im 
Laufe  des  Jahres  7693  Arbeiter  beschäftigt  haben.  Charak- 
teristisch für  die  Eisen-  und  Maschinen-Industrie  ist  zunächst 
die  überaus  grosse  Zahl  der  gelernten  Arbeiter ; sie  beträgt 
81,02  Prozent  der  gesammten  Arbeiterschaft,  Von  den  durch 
die  gelernten  Arbeiter  geleisteten  Arbeitstagen  entfallen  1,03 
Prozent  auf  die  Lohnklassen  bis  3 M.,  66,44  Prozent  von  3 


502 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  42. 


bis  5 M.  und  32,33  Prozent  über  5 M,  dagegen  entfallen 
bei  den  angelernten  Arbeitern  8,84  Prozent  auf  die  Lohn- 
klassen bis  3 M.,  81,77  Prozent  von  3 — 5 M.  und  9,39  Prozent 
über  5 M.  und  bei  den  gewöhnlichen  Arbeitern  17,88  Prozent 
auf  die  Lohnklassen  bis  3 M.,  80.90  Prozent  von  3—5  M.  und 
1,13  Prozent  über  5 M.  Bei  den  gewöhnlichen  Arbeitern 
ist  naturgemäss  auch  die  schwächste  Abstufung  der  Löhne 
vorhanden.  Die  günstigsten  Lohnverhätnisse,  abgesehen 
von  den  vereinzelten  Metallgiessern , findet  man  bei  den 
Schmieden,  Schweissern  und  Drehern,  die  nächstgünstigen 
bei  den  Maschinenschlossern,  Kupferschmieden  und  Modell- 
tischlern. Dann  folgen  Maschinenbauer,  Monteure,  Former, 
u.  s.  w.  Die  Holzbearbeitungs-Industrie  beschäftigt  verhält- 
nissmässig  weit  weniger  gelernte  Arbeiter  als  die  Eisen-In- 
dustrie. Von  der  Arbeiterzahl  entfallen  nur  40—48  Proz., 
von  der  Summe  der  geleisteten  Arbeitstage  sogar  nur  30,87 
Prozent  auf  die  gelernten  Arbeiter.  Dagegen  ist  die  Bedeu- 
tung der  angelernten  Arbeiter  hier  eine  recht  grosse,  welche 
45,19  Prozent  des  ganzen  Arbeiterquantums  geleistet  haben. 
Greift  man  die  drei  stärksten  Lohnklassen  in  dieser  Branche 
heraus,  so  entfallen  bei  den  gelernten  Arbeitern  61,18  Proz. 
auf  die  Klasse  von  4 — 5l/2  M.,  bei  den  angelernten  Arbeitern 
58,45  Proz.  auf  2*/2 — 4 M.  und  bei  den  gewöhnlichen  Arbeitern 
56,16  Proz.  bis  2l/2 — 4 M.  In  den  Altonaer  Gerbereien  giebt  es 
so  gut  wie  keine  „angelernte“  Arbeiter,  die  gelernten  Arbeiter 
bilden  zwei  Drittel  der  ganzen  Arbeiterschaft.  Von  den 
durch  letztere  geleisteten  Arbeitstagen  entfallen  3,77  Pro- 
zent auf  die  Lohnklassen  bis  3 M.,  69,78  Prozent  von  3 bis 
5 M.  und  26,35  Prozent  über  5 M.,  bei  den  gewöhnlichen 
dagegen  34,42  Prozent  bis  3 M.,  63,77  Prozent  von  3 bis 
5 M.  und  1,85  Prozent  über  5 M.  Soweit  lohnstatistische 
Angaben  für  die  Papierindustrie  zu  erlangen  gewesen, 
umfasst  die  Papierindustrie  eine  Pappenfabrik  und  fünf 
Papierverarbeitungsfabriken.  Bemerkenswerth  ist  hier  das 
Ueberwiegen  der  weiblichen  ungelernten  Arbeitskräfte  (86,75 
Prozent)  der  gesammten  Arbeiterzahl,  die  zumeist  nur  einen 
Lohn  von  1 ‘/z  M.  und  darunter  beziehen  und  höchstens  bis 
2 Vz  M,  verdienen  können.  Bei  der  Brauerei-  und  Mälzerei- 
Industrie  entfallen  von  den  gelernten  Arbeitern  0 Prozent 
auf  die  Lohnklassen  bis  3 M.,  77,08  Prozent  von  3—5  M. 
und  22,92  Prozent  über  5 M.,  von  den  gewöhnlichen  Ar- 
beitern 37,60  Prozent  bis  zu  3 M.,  62,40  Prozent  von  3 bis 
5 M.  und  0 über  5 M.  In  den  Mühlen  gehören  die  meisten 
Arbeiter  zur  Klasse  der  nichtgelernten  Arbeiter.  Die  „An- 
gelernten“ fallen  auch  hier  nicht  ins  Gewicht.  Bei  den  ge- 
lernten Arbeitern  entfallen  6,44  Prozent  auf  die  Lohnklasse 
bis  3 M.,  70,95  Prozent  von  3 — 5 M.  und  22,61  Prozent 
über  5 M.;  bei  den  gewöhnlichen  Arbeitern  17,18  Prozent 
bis  zu  3 M,  71,88  Prozent  von  3 — 5 M.  und  10,94  Prozent 
über  5 M.  Im  Baugewerbe  sind  die  „Angelernten“  eben- 
falls überwiegend.  Von  den  gelernten  Arbeitern  entfallen 
0,02  Prozent  auf  die  Lohnklassen  bis  zu  3 M.,  26,62  Prozent 
von  3 — 5 M.  und  73,36  Prozent  über  5 M„  bei  den  gewöhn- 
lichen Arbeitern  9,34  Prozent  bis  zu  3 M.,  81,09  auf  3 bis 
5 M.  und  9.57  Prozent  auf  über  5 M.  Im  Speicherbetriebe 
wird  die  Hauptarbeit  von  den  sogn.  „Quartiersleuten“  be- 
sorgt, welche  eine  Hauptklasse  der  alteingesessenen  Ham- 
burg-Altonaer  Arbeiterschaft  bilden,  zum  Theil  sind  sie 
halbe  Unternehmer  selbst,  die  ihrerseits  wieder  Speicher- 
arbeiter beschäftigen.  Nahezu  die  ganze  Arbeiterschaft  der- 
selben (94,38  Prozent)  befindet  sich  in  den  mittleren  Lohn- 
klassen von  3—5  M.  In  der  Veröffentlichung  ist  auch  der 
Versuch  gemacht,  annähernd  das  Verhältniss  klar  zu  legen, 
wenn  man  statt  der  Arbeiterzahl  die  Zahl  der  geleisteten 
Arbeitstage  zu  Grunde  legt.  Die  Summe  aller  von  der 
ganzen  Arbeiterschaft  geleisteten  Arbeitstage  beträgt  in 
Wirklichkeit  976  357.  Wie  es  ferner  heisst,  würde  es  von 
Interesse  sein,  wenn  es  gelänge,  einen  Zusammenhang 
zwischen  der  Höhe  des  Arbeitslohnes  und  der  Länge  der 
Beschäftigungsdauer  nachzuweisen.  Es  lasse  sich  aus  den 
Tabellen  des  Werkes  nur  darauf  schliessen,  dass  der  ver- 
hältnissmässig  sesshafteste  Theil  der  Arbeiterschaft  in  den 
mittleren  Lohnklassen  zu  finden  sei,  also  unter  den  ange- 
lernten Arbeitern  aller  Branchen,  ferner  z.  B.  bei  den  ge- 
wöhnlichen Arbeitern  der  Eisenindustrie,  bei  allen  Arbeitern 
der  Lederindustrie  und  der  Mühlenindustrie.  Ausnahmen 
von  dieser  Regel  finden  sich  aber  bei  allen  Arbeitern  des 
Speicher-  und  Speditionsbetriebes  und  bei  den  gewöhnlichen 


Arbeitern  im  Baugewerbe.  Ueber  das  Alter  der  Arbeiter 
giebt  die  Statistik  dahin  Aufschluss,  dass  bei  der  Eisen- 
industrie das  Schwergewicht  der  Arbeiterschaft  in  den 
Altersklassen  von  18  bis  40  Jahren  liegt.  Die  Holzindustrie 
beschäftigt  verhältnissmässig  viele  jugendliche  und  sehr 
alte  Arbeiter;  die  Altersklasse  von  21  bis  40  Jahren  ist 
schwach  vertreten.  Bei  der  Lederindustrie  herrscht  ein 
normales  Verhältniss.  Nur  die  Arbeitsklasse  von  21  bis 
24  Jahren  ist  auch  hier  überdurchschnittlich  vertreten.  In 
der  Papierindustrie  befinden  sich  unter  den  Arbeiterinnen 
verhältnissmässig  viele  jugendliche  Arbeiterinnen  im  Alter 
von  16  bis  24  Jahren.  Die  Brauereien  beschäftigen  eine 
ziemliche  Anzahl  jugendlicher  Arbeiter.  Unter  den  Mühlen- 
arbeitern ist  das  Alter  bis  zu  20  Jahren  unterdurchschnitt- 
lich, das  Alter  von  21  bis  40  Jahren  überdurchschnittlich. 
Das  Baugewerbe  beschäftigte  nur  wenige  Arbeiter  unter 
20  Jahren,  dagegen  verhältnissmässig  viele  von  25  bis  60 
Jahren.  Bei  den  Speicherarbeitern  endlich  geht  die  ge- 
ringe Betheiligung  der  Jugend  bis  zur  Grenze  von  24  Jahren 
und  die  überdurchschnittliche  Betheiligung  des  Alters  bis 
zur  Grenze  von  70  Jahren.  Von  der  ganzen  Arbeiterschaft 
endlich  standen  13,16  Prozent  im  Alter  von  14  bis  20  Jahren, 
70,31  Prozent  von  21 — 40  und  16,53  Prozent  im  Alter  von 
41  bis  70  Jahren.  Die  Zahl  der  jugendlichen  und  sehr 
alten  Arbeiter  war  nur  gering.  Unter  16  Jahren  standen 
nur  0,97  Prozent,  unter  18  Jahren  nur  3.92  Prozent,  ande- 
rerseits über  50  Jahren  nur  5,33  Prozent,  über  60  Jahren 
nur  1,36  Prozent  der  ganzen  Arbeiterschaft. 

Arbeitslosigkeit,  beleuchtet  durch  Nachweise  der  Arbeits- 
vermittelungsbureaux. 

Die  von  der  statistischen  Centralkommission  in  Wien 
herausgegebene  Statistische  Monatsschrift  brachte  in  einer 
ihrer  letzten  Nummern  eine  Uebersicht  über  Einrichtungen 
für  Arbeitsvermittelung  in  verschiedenen  europäischen 

Staaten  Die  ausführlichsten  Nachweise  liegen  über 

Frankreich  vor,  wo  die  Gesellenverbände  (syndicats  pro- 
fessionnels)  und  die  in  den  grösseren  Städten  gegründeten  , 
Arbeitsbörsen  auf  diesem  Gebiete  eine  reiche  Thätigkeit 
entfalten.  Die  Syndikatskammern  der  Unternehmer  haben 
im  Jahre  1891:  18396,  die  der  Arbeiter  86124  Stellen  durch 
ihre  Vermittelung  dauernd  besetzt.  Im  Ganzen  wurden 
während  des  Jahres  durch  die  societes  de  compagnons,  I 
unentgeltliche  Vermittelungsbureaux  der  Gemeinden,  Syndi-  , 
katskammern  der  Unternehmer,  der  Arbeiter,  gemischte 
Syndikatskammern,  wechselseitige  Unterstützungsvereine  ; 
und  gemeinnützige  Vereine  167481  Stellen  dauernd,  133795 
gegen  Taglohn  und  aushilfsweise  besetzt.  Dazu  kommen 
821  450  Stellen,  welche  die  autorisirten  Privatvermittelungs- 
bureaux  (soweit  Nachweise  derselben  vorhanden)  besetzt 
haben.  Viel  charakteristischer  ist  aber  der  Vergleich 
zwischen  der  Zahl  der  angemeldeten  Stellensuchenden  und 
der  Zahl  der  besetzten  Stellen.  Den  167481  Posten,  welche 
die  öffentlichen  Bureaux  durch  ihre  Vermittelung  dauernd 
besetzten,  stehen  345988  Stellensuchende,  den  821  450  durch 
die  Privatbureaux  besetzten  Stellen  2495079  Stellensuchendc 
gegenüber;  Zahlen,  in  denen  die  ausserordentliche  Arbeits- 
losigkeit zum  plastischen  Ausdruck  kommt.  Und  dasselbe 
Missverhältniss  zwischen  der  Masse  der  Stellensuchenden 
und  der  Anzahl  der  besetzten  Stellen  zeigt  sich  in  allen 
Ländern,  soweit  überhaupt  statistische  Feststellungen  vor- 
liegen. So  hat  z.  B.  der  Verein  für  Arbeitsvermittellung 
in  Wien  von  1885  bis  1892  nur  19436  Stellen  besetzt, 
während  sich  52652  Personen  an  ihn  um  Arbeit  gewandt 
hatten.  Im  Brünner  Arbeitsvermittelungsverein,  sowie  in 
den  Bureaux  für  kaufmännische  Stellenvermittelung  stellt 
sich  das  Verhältniss  ganz  ähnlich.  Für  die  Thätigkeit 
anderer  Institutionen  liegen  nur  die  Ziffern  für  besetzte 
Stellen,  nicht  die  Ziffern  der  Stellensuchenden  vor.  — Noch 
grössere  Mannigfaltigkeit  im  Arbeitsvei  mittelungswesen 
als  Oesterreich  zeigt  Deutschland;  ohne  auf  diese  Gestaltungen 
näher  einzugehen,  heben  wir  auch  hier  nur  einige  Ziffern 
hervor,  welche  dieselbe  Ueberfüllung  des  Arbeitsmarkts 
wie  in  Frankreich  und  Oesterreich  markiren.  So  hat  der 
Centralverein  für  Arbeitsnachweis  in  Berlin  von  1889  bis 
1891:  20756  Stellen  besetzt,  während  33657  Arbeitskräfte 
(hauptsächlich  ungelernte)  durch  ihn  Beschäftigung  gesucht 
hatten.  Aus  den  wenigen  Daten,  die  eine  Vergleichung 


No.  42. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


503 


des  Angebotes  und  der  Nachfrage  auf  dem  Berliner 
Arbeitsmarkte  gestatten,  heben  wir  in  Folgendem  einiges 
für  die  Verhältnisse  des  kaufmännischen  Personals  Charak- 
teristische hervor: 

Gesuchte  Besetzte 


Stellen 

Kaufmännischer  und  gewerblicher  Hilfs- 
verein für  weibliche  Angestellte  . . . 1295  359 

Verband  Deutscher  Handlungsgehilfen 

Sektion  Berlin 1811  516 


Der  Deutsche  Kellnerbund  in  Berlin  besetzte  im  Jahre 
1890:  768  Stellen,  die  Zahl  der  gesuchten  betrug  1153.  — 
Für  Belgien,  die  Niederlande  und  die  Schweiz  sind  die  bezüg- 
lichen Notizen  des  Artikels  noch  spärlicher,  wo  aber  Zahlen, 
die  eine  Vergleichung  ermöglichen,  gegeben  werden,  zeigen 
sie  überall  dasselbe  ausserordentliche  Missverhältniss 
zwischen  der  Zahl  derer,  die  durch  Vermittelungsbureaux 
Stellen  suchen,  und  der  Zahl  der  durch  diese  Bureaux 
wirklich  besetzten  Stellen.  Je  mehr  das  Vermittelungswesen 
centralisirt  wird,  und  seine  Ergebnisse  statistische  Ver- 
arbeitung erfahren,  um  so  greller  und  gewaltiger  muss  die 
Arbeitslosigkeit  auch  in  diesen  Zahlen  zur  Erscheinung 
kommen. 

Zur  Lage  der  Eisenbahnarbeiter  in  der  Schweiz. 

Die  Klagen  über  üeberbürdung  der  Eisenbahnarbeiter  und 
über  Nichteinhaltung  des  eidg.  Ruhetags-  und  Transport- 
gesetzes sind  häutig.  Der  Nationalrath  nahm  auf  Grund 
der  Anträge  Curti  und  Comtesse  Veranlassung,  eine  amt- 
liche Untersuchung  der  Verhältnisse  dieser  Arbeiter  zu  ver- 
anstalten, und  der  Bundesrath  hat  kürzlich  das  Ergebniss 
derselben  in  einem  gedruckten  Berichte  der  Bundesver- 
sammlung mitgetheilt. 

Die  Erhebung  erstreckte  sich  auf  rund  15  pCt.  der 
sämmtlichen  Angestellten  der  verschiedenen  Unternehmungen, 
wobei  die  am  stärksten  belasteten  Personale  berücksichtigt 
und  auch  darauf  Bedacht  genommen  wurde,  durch  Einver- 
nahme wenigstens  eines  Angestellten  jeder  Kategorie  und 
Gruppe  in  den  grösseren  Depotsstationen  sich  einen  mög- 
lichst klaren  Einblick  in  die  verschiedenen  Dienstverhält- 
nisse zu  verschaffen. 

Das  Resultat  ist  in  der  Hauptsache  folgendes: 

Betreffend  die  Ruhepausen  um  die  Mitte  der  Arbeits- 
zeit: Gemäss  den  Einvernahmeprotokollen  können  2494  An- 
gestellte die  Pause  um  die  Mitte  der  Arbeitszeit  regelmässig 
daheim  zubringen,  während  867  Angestellte  diese  Pause 
bald  häufiger,  bald  seltener  auswärts  zuzubringen  genöthigt 
sind.  Hierzu  ist  zu  bemerken,  dass  das  Bahnunterhaltungs- 
personal das  Mittagessen  an  den  Arbeitstagen  meistens  auf 
der  Linie  einnehmen  muss.  2951  Angestellten  ist  die  zu- 
sammenhängende Ruhepause  regelmässig  am  Wohnort  zu- 
getheilt,  und  410  Angestellte  bringen  diese  Pause  ab- 
wechselnd am  Wohnort  und  in  auswärtigen  Depots  zu.  In 
einzelnen  Fällen  kann  periodisch  je  während  mehrerer 
Tage  keinerlei  Pause  am  Wohnort  zugebracht  werden,  resp. 
ist  dem  Angestellten  die  Möglichkeit  genommen,  auch  nur 
für  kurze  Zeit  nach  Hause  zu  kommen.  Es  sei  hier  gleich 
bemerkt,  dass  viele  Klagen  darüber  laut  wurden,  dass  man 
zu  häufig  auswärts  leben  müsse,  worunter  die  Angestellten 
sowohl  als  deren  Familien  zu  leiden  hätten. 

Ruhetage.  3198  Angestellte  haben  gemäss  Dienstein- 
theilung  mindestens  die  im  Gesetze  geforderten  Ruhetage 
und  speziell  Frei-Sonntage,  45  haben  zu  wenig  Ruhetage 
überhaupt  und  118  haben  zu  wenig  freie  Sonntage,  welche 
Abweichungen  von  der  Vorschrift  in  den  meisten  Fällen 
durch  die  Aufsichtsbehörde  in  Anwendung  von  Art.  6 des 
Gesetzes  zugestanden  wurden.  3346  Angestellten  sind  die 
Ruhetage  am  Wohnort  zugetheilt,  und  diese  haben  nur  hier 
und  da  einen  Ruhetag  ganz  oder  theilweise  auswärts  zu- 
bringen müssen. 

Besoldung  und  Behandlung.  Die  Besoldung  nament- 
lich des  Zugpersonals  ist  gering,  die  Dienst-  und  Ruhe- 
lokale mangelhaft,  die  Behandlung  schroff. 

Die  Achtundvierzig-Stunden-Woche.  Richard  Mather, 
über  dessen  Versuch  wir  in  No.  25  dieser  Zeitschrift  be- 
richteten, schreibt  an  die  Westminster  Gazette,  dass  die 
Dinge  ausgezeichnet  gehen.  Die  Arbeiter  legen  den  grössten 


Eifer  an  den  Tag  und  treten  mit  vollkommener  Pünktlich- 
keit um  8 Uhr  an.  Er  hat  mit  den  Leitern  der  Trades 
Unions  ausgemacht,  dass  sie  während  des  Versuchsjahres 
keine  weiteren  Ansprüche  geltend  machen  sollen,  und  ins- 
besondere den  Fall  nicht  zum  Anlass  nehmen,  die  anderen 
Betriebe  Lancashires  zu  behelligen.  Ganz  Lancashire  soll 
als  neutraler  Schiedsrichter  ein  Jahr  lang  Zusehen.  Math, er 
hofft  so  der  Welt  zu  beweisen,  dass  der  Achtstundentag 
die  billigste  Form  industrieller  Produktion  ist,  während  er 
0u gleich  die  Gesundheit  und  Arbeitsfreudigkeit  der  Arbeiter 
fördert. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Die  Arbeiterorganisationen  in  den  Vereinigten  Staaten. 

Der  „Royal  Commission  on  Labour“  verdanken  wir  be- 
reits eine  stattliche  Serie  von  Blaubüchern.  Die  Protokolle 
(„Minutes  of  Evidence“)  der  mündlichen  Enquete  enthalten 
eine  Fülle  interessanten  sozialpolitischen  Materials,  das,  zu- 
sammengenommen, eine  detaillirte  Darstellung  der  engli- 
schen Arbeitsverhältnisse  in  allen  seinen  Beziehungen  giebt. 
Die  Labour  Commission  beschränkt  sich  jedoch  nicht  in 
ihren  Untersuchungen  auf  das  Heimathland;  die  englische 
Regierung  hat  vielmehr  ihre  sämmtlichen  Vertretungen  im 
Auslande  angewiesen,  ausführlichen  Bericht  über  die  Ar- 
beitsverhältnisse in  den  Ländern  ihrer  amtlichen  1 hätigkeit 
zu  erstatten,  und  es  liegt  bereits  eine  Anzahl  dieser  meist  sehr 
eingehenden  Berichte  der  englischen  diplomatischen  und 
konsularamtlichen  Vertretungen  im  Auslande  vor.  Die  bri- 
tische Gesandtschaft  in  Washington  wurde  beauftragt,  Ma- 
terialien zur  Beurtheilung  der  amerikanischen  Arbeitsver- 
hältnisse für  die  englische  Arbeitskommission  zu  sammeln. 
Um  den  Mitgliedern  das  langwierige  Studium  des  über- 
reichen Stoffes  schon  der  Berichte  der  amerikanischen  Ar- 
beitsämter allein  zu  ersparen,  wurde  der  Sekretär  der  Kom- 
mission, Geoffrey  Drage,  mit  der  Aufgabe  betraut,  das  ge- 
sammte  bezügliche  Material,  offizielles  wie  privates,  zu 
sichern  und  einen  zusammenfassenden  Bericht  hierüber  zu 
erstatten.  Die  gelungen  gelöste  Aufsabe  ist  um  so  dankens- 
werther,  als  den  Sozialpolitikern  im  Berichte  Drage  s eine 
durchaus  auf  verlässlichen  Quellen  beruhende  Arbeit  vor- 
liegt, welche  alle  Jene,  die  nicht  gerade  Detailstudien  pflegen 
wollen,  der  Mühe  des  Sammelns  und  AufarbeiteWs  des 
enormen  Materials  überhebt.  Das  Blaubuch  der  Labour 
Kommission  über  die  Vereinigten  Staaten  erscheint  um 
so  werthvoller,  als  es  das  erste  ist,  das  uns  eine  übersicht- 
liche und  vollständige  Darlegung  der  amerikanischen  Arbeits- 
verhältnisse giebt,  die  in  gedrängter  Kürze  noch  immer  55 
klein  gedruckte  Quartseiten  umfasst. 

Das  bedeutungsvollste  Moment,  das  sich  aus  dem  ob- 
jektiven Berichte  von  Drage  ergiebt,  ist  die  Thatsache,  dass 
Alles,  was  die  amerikanischen  Arbeiter  erreicht  haben,  sie 
einzig  und  allein  ihrer  eigenen  Kraft  verdanken,  während 
sich  die  vom  besten  Willen  beseelte  sozialpolitische  Gesetz- 
gebung sowohl  der  Union  als  der  einzelnen  Staaten  fast 
ausnahmslos  völlig  ohnmächtig  erwies.  Beinahe  stets  blieb 
das  Gesetz  todter  Buchstabe  und  dort,  wo  es  verwirklicht 
ist,  haben  es  die  Arbeiterorganisationen  erst  erkämpft.  Mit 
Rücksicht  auf  die  hervorragende  Bedeutung  der  Arbeiter- 
verbände in  den  Vereinigten  Staaten  sei  im  folgenden  an 
der  Hand  des  [eingangs  erwähnten  Reports  eine  kurze  Dar- 
legung derselben  gegeben. 

Wenn  auch  bereits  zu  Beginn  des  Jahrhunderts  Ar- 
beiterverbände in  den  Vereinigten  Staaten  existirten,  wie 
die  1803  gegründete  „New  York  Society  of  Journeymen 
Shipwrights“  und  die  1806  gegründete  New-Yorker  „Union 
of  House  Carpenters“,  so  erlangten  sie  doch  vor  dem 
Bürgerkriege  kaum  einige  Bedeutung.  In  dieser  ersten  Pe- 
riode der  gewerkschaftlichen  Bewegung  standen  Boston 
und  New-York  an  erster  Stelle.  Die  erste  Arbeiterzeitung 
erschien  zwischen  1825  und  1830  in  New-York  unter  dem 
Titel  „The  Workingman’s  Advocate“;  das  Jahr  1833  ist  be- 
sonders bemerkenswerth  für  den  Beginn  einer  Bewegung 
zur  Konsolidirung  verschiedener  Verbände  in  Distrikten. 
Die  Organisation  entwickelte  sich  jedoch  erst  in  den  60er 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  42. 


Jahren  auf  einer  weiteren  Grundlage,  indem  die  lokalen 
Verbände  nationalen  und  selbst  internationalen  Verbänden 
Platz  machen.  Die  1850  ins  Leben  gerufene  Vereinigung 
der  Setzer  wurde  1869  zur  „International  Typographical 
Union“  und  aus  dieser  Zeit  stammen  auch  die  Verbände 
der  Hutmacher,  Eisengiesser  u.  A.  Der  Bürgerkrieg  und  die 
Abschaffung  der  Sklaverei  gaben  der  Bewegung  zu  Gunsten 
der  Arbeiterorganisation  kräftigen  Ansporn.  Viele  neue 
Gewerkvereine  entstanden,  die  alten  dehnten  sich  in  er- 
heblichem Maasse  aus,  und  neben  den  rein  amerikani- 
schen Unions  wurden  auch  Zweigvereine  englischer  Unions 
gegründet.  Und  nicht  blos  in  gewerkvereinschaftlicher 
Form  entwickelte  sich  die  Arbeiterorganisation  seit  den 
60er  Jahren.  So  war  das  Ziel  des  1866  gegründeten  „Order 
of  the  Patrons  of  Husbandry“  der  Kampf  gegen  die  über- 
triebenen Frachtsätze  der  Eisenbahnen,  die  Gründung  von 
Konsumvereinen  und  Schulen. 

Diese  Farmerassoziation  erreichte  1878  ihre  höchste 
Blüthe  und  verlor  hierauf  rasch  an  Bedeutung.  Von  an- 
deren landwirtschaftlichen  Organisationen  abgesehen,  sind 
die  „Knights  of  St.  Crispin“,  „The  Sovereigns  oflndustry“ 
und  als  bedeutendster  der  nicht  gewerkschaftlichen  Ver- 
bände „The  Knights  of  Labour“  zu  nennen.  Der  Verband 
der  „Ritter  der  Arbeit“  wurde  1869  von  Uriel  S.  Stephens, 
einem  Schneider  in  Philadelphia,  ins  Leben  gerufen.  Erst 
eine  geheime  Gesellschaft,  wurden  Anfangs  blos  Fach- 
genossen des  Gründers  aufgenommen,  später  auch  andere. 
In  1873  wurde  ein  Verwaltungs-Komitee  eingesetzt;  doch 
erst  1881  wurde  der  freimaurerartige  Charakter  des  Ver- 
bandes, dessen  Mitglieder  einen  Eid  auf  Geheimhaltung  der 
Verbandsregeln  u.  s.  w.  ablegen  mussten,  und  der  Offi- 
ziere wie  „worthy  foreman“,  „venerable  sage“,  „unknown 
Reigth“  u.  s.  w.  ernannte,  aufgegeben.  Zweck  der  Ver- 
bindung ist  die  Organisation  der  Arbeiter  ohne  Rücksicht 
auf  einzelne  Kategorien  derselben,  wenn  auch  vor  Allem 
die  Interessen  der  ungelernten  Arbeiter  vertreten  werden 
sollen.  Verbreitung  des  Kooperativprinzips,  gesetzlicher 
Achtstundentag,  Verstaatlichung  derVerkehrsmittel  und  Wäh- 
rungsreform bilden  das  Programm  der  Ritter  der  Arbeit,  die 
mit  Ausnahme  der  New-Yorker  Gemeinderathswahlen  1 886,  da 
sie  Henry  George  unterstützten,  der  Politik  stets  fern  blieben. 
Dies  Jahr  war  auch  jenes  ihres  grössten  Einflusses;  die  Zahl 
ihrer  Mitglieder  soll  damals  300  000,  nach  anderen  sogar 
500  000  betragen  haben.  Innere  Zwistigkeiten,  namentlich 
bezüglich  des  Achtstundentages  und  der  Strikepolitik 
führten  seither  den  Verfall  des  Verbandes  herbei,  wie  auch 
die  Wendung  eines  radikalen  Flügels  der  Assoziation  zu 
anarchistischen  Verbindungen  (Chicago  1887)  den  Einfluss 
derselben  schädigte. 

Arbeiterunruhen  in  Bern.  Es  war  unter  dem  unmittel- 
baren Eindruck  der  Ereignisse  nicht  leicht,  ein  wahrheitsge- 
treues Bild  von  den  Vorgängen  zu  gewinnen,  die  sich  am 
19.  Juni  in  Bern  abgespielt  haben.  Jetzt  kann  mit  Sicherheit 
folgendes  gesagt  werden : Von  dem  Strome  italienischer  Ar- 
beiter, die  jedes  Frühjahr  ihre  Heimath  verlassen,  um  im  Aus- 
lande Arbeit  zu  suchen,  lässt  sich  ein  bedeutender  Theil  in  der 
Schweiz  nieder  und  macht  den  einheimischen  Arbeitern  grosse 
und  erfolgreiche  Concurrenz.  Wie  gross  ihreZahl  ist,  ist  schwer 
zu  bestimmen,  weil  sie,  mit  wenig  Ausnahmen,  ihre  Ausweis- 
papiere nicht  deponiren  und  sich  der  behördlichen  Aufsicht 
und  der  Steuerpflicht  entziehen.  Manche  Erdarbeiten  und 
Bauten  in  grösseren  Städten  werden  fast  ausschliesslich  von 
italienischen  Maurern  und  Erdarbeitern  ausgeführt.  Die 
Meister  rühmen  ihnen  nach,  dass  sie  tüchtig  in  ihrem  Fache 
und  fleissig  sind  und  weniger  Ansprüche  machen  als  der 
einheimische  und  deutsche  Arbeiter.  Ihr  Leben  ist  ausser- 
ordentlich anspruchslos,  so  dass  sie  thatsächlich  nur  einenTheil 
ihres  Lohnes  verzehren  und  beträchtliche  Ersparnisse  ihren 
Angehörigen  nach  Hause  schicken  können.  Man  nimmt  an, 
dass  die  Gelder,  welche  jährlich  von  den  Italienern  der  Post 
übergeben  werden,  sich  in  die  Hunderttausende  belaufen.  Die 
Versuche,  sie  in  die  Arbeiterorganisation  einzubeziehen,  sind 
fast  völlig  misslungen.  An  Arbeitseinstellungen  haben  sie  nur 
selten  Theil  genommen.  Die  Frage  ist  schon  öfter  in  der 
schweizerischen  Presse  erörtert  worden,  wie  die  italienischen 
Arbeiter  gezwungen  werden  können,  ihre  Ausweisschriften 
zu  hinterlegen.  Der  Staat  hat  daran  insofern  ein  Interesse, 


als  es  sonst  nicht  möglich  ist,  sie  zu  den  Steuern  heran- 
zuziehen, die  der  schweizerische  und  ausländische  — nament- 
lich auch  der  deutsche  Arbeiter  — regelmässig  entrichtet. 

In  Bern  ist  die  Bauthätigkeit  zurZeit  eine  ziemlich  leb- 
hafte. Trotzdem  giebt  es  fortwährend  einige  Hundert  schwei- 
zerischer arbeitsloser  Maurer  und  Handlanger,  denen  die 
Italiener  vorgezogen  wurden.  Auf  vorangegangene  Abrede 
hin  versammelten  sich  am  Nachmittag  des  19.  Juni  eine  An- 
zahl Arbeitsloser  in  der  Absicht,  verschiedene  Bauplätze  zu 
besuchen  und  die  dort  beschäftigten  Italiener  zu  verjagen. 
Ihr  Vorhaben  war  bekannt  geworden,  und  man  hatte  des- 
halb die  letzteren  warnen  können.  Auf  einem  Bauplatze 
jenseits  der  Aare,  auf  dem  sog.  Kirchfeld,  stiessen  sie  aber 
doch  auf  einige  Italiener.  Es  kam  zu  Thätlichkeiten  und  in 
der  Folge  zu  Verhaftungen.  Die  Verhafteten  wurden  in  den 
sog.  Käfigthurm  gebracht  und  vor  dem  letzteren  einige  Po- 
lizisten aufgestellt.  Diese  Maassregel  war  jedenfalls  über- 
flüssig und  hatte  nur  die  Wirkung,  Passanten  und  Bummler 
anzulocken,  die  sich  gegen  Abend  in  grosser  Zahl  einfan- 
den. Von  unparteiischer  Seite  wird  bestätigt,  dass  die  Po- 
lizei bei  ihrem  Bestreben,  die  Massen  zu  zerstreuen,  mit 
wenig  Takt  vorgegangen  ist.  Es  kam  zu  den  aus  der  Tages- 
presse bekannten  Auftritten,  die  aber  — - im  Gegensatz  zu 
den  ziemlich  harmlosen  Vorgängen  des  Nachmittags  — 
durchaus  unvorbereitet  waren. 

Obgleich  es  über  jedem  Zweifel  steht,  dass  die  organisirte 
Arbeiterschaft  von  diesen  Vorkommnissen  ebenso  überrascht 
wurde,  wie  jeder  andere  Unbetheiligte,  wird  doch  versucht, 
ihr  die  Verantwortung  für  dieselben  aufzulegen.  Sie  ihrer- 
seits sucht  in  ihrer  Presse  den  Beweis  anzutreten,  dass  der- 
artige Krawalle  nicht  durch  die  Polizei,  sondern  nur  durch 
eine  umfassende  Arbeiterorganisation  verhütet  werden  könn- 
ten. Vorderhand  ist  das  ganze  Archiv  der  letzteren  vom 
Untersuchungsrichter  beschlagnahmt  und  ihr  ständiger  Se- 
kretär, Dr.  Wassilieff,  ein  in  Bern  naturalisirter  Russe,  an- 
geblich wegen  Theilnahme  an  dem  Krawall  verhaftet  wor- 
den. Dass  Versuche  gemacht  werden,  den  Krawall  gegen 
die  Arbeiterorganisation  auszunutzen,  ist  nach  anderwärts 
gemachten  Erfahrungen  begreiflich.  Leider  entzieht  man  sich 
nicht  dem  Eindruck,  dass  auch  die  mit  der  Untersuchung 
betrauten  Beamten  von  diesen  Strömungen  nicht  unberührt 
geblieben  sind.  — Die  Annahme,  dass  diese  Störung  der 
öffentlichen  Ruhe  nicht  vereinzelt  bleiben  werde,  wäre  eine 
durchaus  verfehlte. 

Der  Kampf  gegen  die  Pariser  Arbeitsbörse.  Die 

Schliessung  der  Central-Arbeitsbörse  hat  nicht  nur  in  der 
Arbeiterwelt,  sondern  auch  in  bürgerlich  republikanischen 
Kreisen  heftigen  Widerspruch  gefunden.  Nichts  bekundet 
dies  deutlicher  als  der  Aufruf,  den  das  Gros  der  Pariser  Ge- 
meinderäthe  gemeinsam  mit  der  Majorität  der  Pariser  Ab- 
geordneten an  die  Pariser  Bevölkerung  richtete.  „Die  Stadt 
Paris,“  heisst  es  darin,  „hat  auf  Verlangen  des  Seineprä- 
fekten, dem  Vertreter  der  Regierung,  die  Börse  allen  Ar- 
beitern, ohne  Unterschied,  geöffnet.  Alle  Berufsgenossen- 
schaften fanden  da  Platz,  sowohl  diejenigen,  die  sich  auf 
das  Gesetz  von  1884  beriefen,  wie  die,  die  es  nicht  für  ihr 
Interesse  hielten,  sich  an  dasselbe  zu  wenden,  da  sie  das 
gemeine  Recht  für  einen  genügenden  Schutz  erachteten. 
Plötzlich,  ohne  erst  die  Entscheidung  der  Justiz  abzuwarten, 
lässt  das  Ministerium  das  Gemeindehaus  der  Arbeiter  mili- 
tärisch besetzen  und  die  legitimen  Besitzer  hinausjagen. 
Gegenüber  dieser  Provokation  beschwören  euch  eure  Ge- 
wähten,  der  Gewaltthat  kaltes  Blut  entgegenzusetzen.  Gehet 
nicht  in  die  Falle,  die  euch  gestellt  wurde!  Gebt  den  Fein- 
den des  Volkes  keine  Gelegenheit,  einen  „Tag“  zu  haben!  . . . 
Denket  an  die  Republik  und  lasset  die  Provokationen  dieser 
Eintagsregierung,  welche  die  Waffen  des  Kaiserreiches  auf- 
hebt, um  sich  ihrer  gegen  das  Volk  zu  bedienen,  an  euch 
vorübergehen.  Eure  Gewählten  stehen  mit  euch,  um  eure 
Rechte  zu  vertheidigen.“ 

Die  Schliessung  der  Arbeitsbörse  war  ein  Gewaltakt, 
der  höchstens  nur  den  Beifall  derjenigen  finden  kann,  die 
nie  nach  den  Rechten  der  Arbeiter  fragen.  Wir  haben 
schon  in  einer  früheren  Nummer  ausgeführt,  dass  wenn 
schon  die  Regierung  gegen  die  Arbeitersyndikate  Vorgehen 
wollte,  die  sich  nicht  den  Bestimmungen  des  Gesetzes  vom 
21.  März  1884  unterwerfen  wollten,  dies  auf  gerichtlichem 


No.  42. 


SOZI ALPOILTISCHES  CRNTRALBLATT. 


505 


und  nicht  auf  administrativem  Wege  hätte  geschehen  dürfen. 
Dies  ist  die  Meinung  Aller,  die  das  Gesetz,  seinen  Ur- 
sprung und  seine  bisherige  Handhabung  kennen.  In  dem- 
selben Sinne  sprach  sich  darum  auch  die  Exekutivkommission 
der  Arbeitsbörse  aus,  in  demselben  Sinne  der  oben  er- 
wähnte Aufruf,  in  demselben  Sinne  auch  mehrere  Abge- 
ordnete, die  den  Minister  wegen  der  jüngsten  Vorgänge 
interpellirten , in  demselben  Sinne  endlich  auch  der 
Präsident  des  Gemeinderathes.  Seine  bezüglichen  Aus- 
führungen verdienen  um  so  mehr,  wenigstens  im  Wesent- 
lichen, wiedergegeben  zu  werden,  als  sie  für  jeden  Unpar- 
teiischen klar  stellen,  auf  welcher  Seite  das  Recht  in  dieser 
Angelegenheit  steht.  Er  sagte:  „Das  Recht  der  Arbeiter- 
syndikate ist  durch  das  Gesetz  so  klar  bestimmt  worden, 
dass  es  Niemandem  in  den  Sinn  gekommen  ist,  dieses 
Gesetz  anders  auszulegen,  als  es  bisher  geschehen  ist. 
Dieses  Gesetz  ist  zu  Gunsten  der  Arbeitersyndikate  ge- 
schaffen worden  und  nicht  gegen  sie.  Der  Gesetzgeber 
wollte  nicht  eine  bestehende  Freiheit  entziehen,  sondern  im 
Gegentheil  sie  vervollständigen  und  fruchtbarer  gestalten. 
Das  Gesetz  hat  sagen  wollen  und  hat  gesagt:  Es  genügt 
nicht,  den  Arbeitern  zu  erlauben,  sich  zu  verbinden,  man 
muss  ihnen  eine  solche  Lage  schaffen,  dass  diese  Verbin- 
dung auch  Früchte  trage.  Die  Arbeiter  können  sich  frei 
verbinden,  aber  die,  welche  ihre  Statuten  und  die  Liste 
ihrer  Verwalter  hinterlegen  wollen,  gemessen  das  Vorrecht, 
das  an  ihre  Anzeige  geknüpft  ist.  Diejenigen,  die,  indem 
sie  sich  verbinden,  einwilligen,  wie  dies  für  ein  Kind  ge- 
schieht, das  Neugeborene  zur  Anzeige  zu  bringen,  stellen 
damit  die  bürgerliche  Persönlichkeit  der  Verbindung  fest 
und  gemessen  das  Recht,  vor  Gericht  klagbar  aufzutreten. 
Alle  Regierungen,  alle  Minister,  alle  Seinepräfekten,  die 
auf  einander  gefolgt  sind,  haben  das  Gesetz  so  ausgelegt. 
Diese  Auslegung,  die,  bis  auf  Herrn  Dupuy,  die  aller 
Rechtsgelehrten  gewesen,  ist  entweder  richtig  oder  falsch. 
Herr  Dupuy  sagt,  sie  sei  falsch.  Er  erklärt,  dass  sich  die 
Arbeiter  gegen  das  Gesetz  auflehnen.  Ich  sage,  dass  sie 
sich  nicht  gegen  das  Gesetz,  sondern  gegen  die  von  Herrn 
Charles  Dupuy  bisher  allein  gemachte  Auslegung  auf- 
gelehnt haben.  Aber  selbst  angenommen,  dass  ich  mich 
gröblich  getäuscht  habe,  dass  die  Auslegung,  die  wir  dem 
Gesetze  geben,  eine  falsche  sei,  dann  bleibt  noch  fraglich, 
ob  der  Ministerpräsident  das  Recht  habe  zu  thun,  was  er 
gethan  hat.  Wohlan,  es  genügt,  dieses  Gesetz  zu  lesen, 
um  darin  denBeweis  zu  finden,  dass  derMinister  deslnnern  es 
verletzt  hat,  denn  es  sieht  vor,  dass  gewisse  Syndikate 
sich  Uebertretungen  zu  Schulden  kommen  lassen  könnten. 
Was  sagt  es  nun  in  dieser  Hinsicht?  Dass  diese  Ueber- 
tretungen von  der  Verwaltungsbehörde,  von  dem  kom- 
petenten Minister  geahndet  werden?  Nicht  nur,  dass  es 
dies  nicht  sagt,  es  sagt  ausdrücklich  das  Gegentheil.  Es 
nennt  die  Gewalt,  die  damit  betraut  ist,  diesen  Ueber- 
tretungen Einhalt  zu  thun.  Es  stellt  die  Kompetenz  fest, 
um  sie  der  Exekutivgewalt  abzuschlagen  und  sie  den 
Richtern  zu  übertragen  Es  giebt  an,  welche  Strafen  an- 
zuwenden sind,  und  begrenzt  das  Recht  der  Richter,  welche 
„die  Syndikate  auflösen  können,  wenn  sie  es  wollen.“  Und 
in  dem  Momente,  da  ein  gerichtliches  Verfahren  eingeleitet 
ist,  der  Richter  allein  zu  sprechen  hat,  setzt  sich  der  Mi- 
nister des  Innern,  das  Gesetz  verletzend,  das  Gesetz,  das 
über  Allen  steht,  an  des  Richters  Stelle  und  spricht  eine 
Strafe  aus,  welche  die  Richter  allein  das  Recht  haben  aus- 
zusprechen.“ 

Und  wenn  die  Regierung  es  wenigstens  noch  dabei 
hätte  bewenden  lassen,  die  Drohung  des  Seinepräfekten, 
alle  dem  Gesetze  vom  21.  März  1884  nicht  nachgekommenen 
Syndikate  aus  der  Arbeitsbörse  zu  weisen,  zur  Wirklich- 
keit zu  machen,  sie  ging  aber  noch  viel  weiter;  sie  machte 
sich  einer  direkten  Gesetzesverletzung  schuldig,  indem  sie 
auch  diejenigen  Syndikate  aus  der  Arbeitsbörse  weisen 
liess,  die  den  Bestimmungen  des  Gesetzes  in  allen  Punkten 
nachgekommen  sind,  wie  dies  beispielsweise  mit  dem  an 
40000  Mitglieder  zählenden  Syndikate  der  Eisenbahn- 
arbeiter und  -Angestellten  der  Fall  ist.  Welche  Antwort 
erhielt  aber  der  Sekretär  dieses  Syndikates,  als  er  dem 
Polizeikommissär,  der  ihn  aufforderte,  das  Syndikatsbureau 
zu  verlassen,  die  behördliche  Bescheinigung,  dem  Gesetze 
nachgekommen  zu  sein,  vorwies  und  dem  hinzufügte,  dass 


er  Gesetz  und  Recht  auf  seiner  Seite  habe?  „Ich  pfeife 
auf  Gesetz  und  Recht,  ich  habe  genaue  Befehle  und  die 
führe  ich  aus!“ 

Wenn  die  Arbeiter  der  Gewalt  nicht  Gewalt  entgegen 
gesetzt  haben,  so  ist  dies  wahrlich  kein  Verdienst  der  Re- 
gierung. Sie  wollen  sich  eben  nicht  nutzlos  aufopfern. 
Anstatt  aber  die  gewerkschaftliche  Bewegung  zu  treffen, 
hat  die  Regierung,  wie  sich  dies  jetzt  schon  zeigt,  alle  fort- 
schrittlichen Parteien  verbunden  und  somit  nur  ihre  Gegner 
mächtig  gestärkt,  also  das  gerade  Gegentheil  von  dem  er- 
reicht, was  sie  erreichen  wollte. 


Arbeiterversicherung. 

Zur  Statistik  der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung. 

Bei  der  Invaliditäts-  und  Altersversicherungsanstalt  Berlin 
sind  im  Laufe  des  Vierteljahrs  April-Juni  1893  142  An- 

träge auf  Gewährung  von  Altersrente  eingegangen;  aus  der 
Zeit  vor  dem  1.  April  d.  J.  lagen  noch  47  Anträge  vor, 
hinsichtlich  deren  die  Entscheidung  noch  ausstand,  und 
wieder  aufgenommen  wurden  2 frühere  bereits  abgelehnte 
Anträge.  Von  diesen  191  Anträgen  sind  bewilligt  114,  ab- 
gelehnt 41,  anderweitig  erledigt  4 und  unerledigt  auf  das 
folgende  Vierteljahr  übernommen  32.  Innerhalb  des  gleichen 
Vierteljahrs  sind  202  Anträge  auf  Gewährung  von  Invaliden- 
rente eingegangen,  56  unerledigt  aus  dem  Vierteljahr  über- 
nommen und  3 nach  vorheriger  Ablehnung  wieder  auf- 
genommen. Von  diesen  261  Invalidenrenten-Anträgen  sind 
122  bewilligt,  60  abgelehnt,  14  anderweitig  erledigt,  65  un- 
erledigt auf  das  folgende  Quartal  übernommen  worden. 

Unfallverhütung  und  Ueberwachung  der  Betriebe  der 
Ziegelei-Berufsgenossenschaft.  Ueber  die  im  Jahre  1890 
begonnene  Revision  sämmtlicher  Betriebe  der  Genossen- 
schaft bringt  die  Thonindustrie-Zeitung  vom  1.  Juli  einen 
Bericht,  dem  wir  Folgendes  entnehmen:  Die  Revision  wird 
vorgenommen  von  Seiten  der  Beauftragten  der  Berufs- 
genossenschaft, doch  habe  in  manchen  Fällen  ein  Zusammen- 
wirken derselben  mit  den  staatlichen  Aufsichtsbehörden 
stattgefunden.  Andererseits  wird  auch  darüber  geklagt, 
dass  in  einem  Bezirke  der  staatliche  Revisionsbeamte  der 
Durchführung  der  genossenschaftlichen  Unfallverhütungs- 
vorschriften dadurch  hinderlich  gewesen  sei,  dass  er  die 
Unternehmer  in  der  Meinung  bestärkt  habe,  über  die  Berg- 
polizeiverordnungen hinaus  dürfe  die  Genossenschaft  keine 
Vorschriften  machen.  In  anderen  Fällen  habe  der  staatliche 
Beamte  die  Unternehmer  dadurch  „verstimmt-1,  dass  er  be- 
züglich der  Wohnungen  der  Ziegeleiarbeiter  die  Aufbesse- 
rung ungenügender  Einrichtungen  verlangt  habe,  bezüglich 
der  Schutzvorrichtungen  dagegen  weniger  streng  vorgehe 
als  die  Genossenschaft!  - — - Mit  der  Revision  der  Betriebe 
wird  auch  gelegentlich  eine  Kontrolle  der  Rentenempfänger 
verbunden,  und  dieses  Verfahren  habe  sich  als  wirksam  er- 
wiesen, da  schon  mehrfach  „ganz  wesentliche  Rentenherab- 
setzungen“ auf  Berichte  des  Beauftragten  hin  stattgefunden 
haben.  Ueber  die  mangelhafte  Befolgung  der  Unfallver- 
hütungsvorschriften wird  von  allen  Revisoren  gleichmässig 
Klage  geführt,  obgleich  diese  schwerlich  zu  weit  gehen,  da 
Abänderungsvorschläge  von  keiner  Seite  gemacht  seien. 
Unter  den  7615  bis  jetzt  revidirten  Betrieben  befinden  sich 
nur  875  d.  i.  12  pCt.,  in  welchen  keine  Mängel  zu  verzeichnen 
waren.  2585  Betriebe  oder  34  pCt.  hatten  die  Plakate  mit 
den  Unfallverhütungsvorschriften  für  die  Arbeiter  nicht  aus- 
gehängt. Da  ist  es  wohl  nicht  zu  verwundern,  dass  auch 
über  Nichtbeachtung  derselben  von  Seiten  der  Arbeiter 
Klage  geführt  wird.  Angesichts  dieser  Thatsache  wird  so- 
fort eine  Aenderung  des  § 78  Ziffer  2 des  Unfallversiche- 
rungsgesetzes, dahin  gehend  dass  eine  sofortige  und  höhere 
Bestrafung  der  Versicherten  erfolgen  kann,  als  „sehr  er- 
wünscht“ bezeichnet.  In  auffallendem  Gegensätze  dazu  steht 
die  Milde  gegenüber  den  Unternehmern,  da  nach  den  für 
die  erstmalige  Revision  festgestellten  Grundsätzen  eine  Be- 
strafung nur  dann  stattfand,  wenn  grobe  Ausserachtlassung 
der  Vorschriften,  Widerspänstigkeit  gegen  die  Anordnungen 
der  Beauftragten  oder  Hinterziehung  grösserer  Lohn  betrüge 
vorlag.  Ueber  eine  andere  milde  Gesetzesauslegung  zu 


506 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  42. 


Gunsten  der  Unternehmer  haben  wir  schon  in  No.  38  dieser 
Zeitschrift  S.  456  berichtet.  Nur  gegen  die  renitenten,  vor- 
zugsweise ländlichen  Ziegeleibesitzer,  welche  die  neue  Ge- 
setzgebung verwünschen  und  in  der  Führung  der  Lohnliste 
unüberwindliche  Schwierigkeiten  sehen,  will  man  strenger 
Vorgehen,  da  sie  den  Belehrungen  nur  Aufmerksamkeit 
zeigten,  „wenn  ihnen  die  mögliche  Regresspflichtigkeit  bei 
Unglücksfällen  und  die  Aussicht  auf  hohe  Ordnungsstrafen 
vorgehalten  wurde“.  Durch  die  bisher  verhängten  Geld- 
strafen von  3 bis  5 Mark  sei  nichts  geändert  worden. 
Uebrigens  scheint  der  Widerwille  gegen  die  Führung  der 
Lohnlisten  nicht  nur  bei  den  ländlichen.  Betrieben  vorhanden 
zu  sein,  da  2260  Betriebe  oder  30  pCt.  der  bisher  revidirten 
keine  geführt  hatten  und  ausserdem  404  Betriebe  oder  5 pCt. 
Fehler  in  Lohnnachweisungen  gemacht  hatten.  2687  Be- 
trieben, d.  i.  35  pCt.,  musste  die  Einrichtung  von  Schutzvor- 
kehrungen auferlegt  werden,  und  endlich  fanden  sich  942  gar 
nicht  angemeldete  Betriebe,  von  deren  Bestrafung  abgesehen 
wurde,  falls  sie  sich  bereit  erklärten,  die  Beiträge  an  die 
Genossenschaft  nachzuzahlen. 

Aus  Allem  ergiebt  sich,  wieviel  noch  bis  zur  Durch- 
führung der  Vorschriften  der  Berufsgenossenschaft  zu  thun 
bleibt,  und  vermuthlich  wird  es  in  den  anderen  Ge- 
nossenschaften damit  nicht  viel  besser  aussehen.  Als  er- 
schwerender Umstand  wird  für  die  Ziegelei-Berufsgenossen- 
schaft die  eigenthümliche  Unternehmungsform  angeführt, 
welche  sich  bei  den  die  überwiegende  Mehrheit  bilden- 
den Handbetrieben  in  Folge  der  fluktuirenden  Arbeiter- 
schaft eingebürgert  habe.  Zwischen  Arbeiter  und  Zie- 
geleibesitzer stehe  der  Akkordant  oder  Meister,  der  vom 
Besitzer  am  Anfang  der  Campagne  das  Rohmaterial  em- 
pfange und  am  Schluss  derselben  das  fertige  Fabrikat 
Jenem  abliefere.  Der  Bezitzer  sei  in  Folge  dessen  meistens 
sich  nicht  klar  darüber,  dass  er  die  Pflicht  habe,  die  Lohn- 
listen zu  führen,  die  Plakate  auszuhängen  und  Schutzvor- 
richtungen anzubringen. 


Gewerbegerichte,  Einigungsämter  und 
Arbeiterausschüsse. 

Arbeiterausschüsse  in  den  eidgenössischen  Waffen- 
fabriken in  Bern  und  Thun. 

Als  vor  einiger  Zeit  aus  dem  Schooss  der  in  den  eid- 
genössischen Waffen-  und  Munitions-Fabriken  in  Bern  und 
Thun  beschäftigten  Arbeiter  Klagen  über  schlechte  Be- 
handlung, ungenügende  Löhne  und  namentlich  unvorbereitete 
Massenentlassungen  ertönten  und  die  Arbeiter  zum  Theil 
beim  eidgenössischen  Militär-Departement,  zum  Theil  beim 
schweizerischen  Arbeitersekretariat  vorstellig  wurden, 
machte  das  letztere  dem  Bundesrath  Frey,  unter  dessen 
Leitung  das  Militärdepartement  steht,  den  Vorschlag,  er 
solle  eine  Kommission  einsetzen,  die  durch  ein  kontra- 
diktorisches Verfahren  etc.  die  erhobenen  Beschwerden  auf 
ihre  Richtigkeit  zu  prüfen  und  Mittel  zur  Abhülfe  vorzu- 
schlagen hätte.  Herr  Frey  ging  auf  den  Vorschlag  ein  und 
berief  in  diese  Kommission  die  Herren  Harrnisch,  Ober- 
richter in  Bern,  Fabrikinspektor  Rauschenbach  und  Arbeiter- 
sekretär Greulich,  den  letzteren  als  Vertrauensmann  der 
Arbeiterschaft. 

Die  Kommission  verhörte  an  Ort  und  Stelle  die  be- 
schwerdeführenden  Arbeiter  und  die  angeschuldigten  Be- 
amten, prülte  die  Verhältnisse  möglichst  genau  und  er- 
stattete dann  einen,  jetzt  gedruckt  vorliegenden  Bericht  an 
das  Militärdepartement,  in  welchem  das  Resultat  der  Unter- 
suchung niedergelegt  ist  und  Mittel  zur  Beseitigung  der 
Uebelstände  besprochen  werden.  Es  ergab  sich,  dass 
manche  der  erhobenen  Beschwerden  aus  der  Luft  gegriffen 
oder  übertrieben,  manche  aber  durchaus  berechtigt  waren. 
Dieselben  stellen  sich  nicht  als  die  Eolgen  besonderer 
lokaler  Verhältnisse  oder  persönlicher  Einflüsse  dar,  sondern 
sind  in  dem  besonderen  Verhältnisse  zwischen  Arbeitern 
und  Arbeitgebern  begründet  und  deshalb  für  unsere  wirth- 
schaftliehen  Zustände  mehr  oder  weniger  typisch. 

Wir  wiederholen  hier  die  wichtigsten  Rügen 
der  Kommission:  Es  wurden  ohne  genügenden  Grund  Ar- 
beiter plötzlich  entlassen,  so  dass  die  Kommission  ihre 


Wiedereinstellung  zu  beantragen  sich  veranlasst  sieht.  Die 
Bussen  übersteigen  in  einzelnen  Fällen  das  im  Fabrik- 
gesetz normirte  Maximum.  Wenn  den  Arbeitern  zur  Strafe 
Tage  oder  sogar  Wochen  die  Arbeit  entzogen  wird,  so  ist 
das  ungesetzlich.  Der  Werkführer  missbraucht  seine  Auto- 
rität. indem  er  in  bestimmten  Fällen  die  Arbeiter  zwingt, 
an  ihre  Kostgeber  ihre  Lohnguthaben  abzutreten.  Ein  Vor- 
arbeiter bevorzugt  die  Arbeiter,  die  bei  seiner  Frau  Kost 
oder  Logis  haben.  Manche  Angestellte  sind  im  Verkehr 
mit  den  Arbeitern  brutal  und  barsch;  einige  von  ihnen 
trifft  dieser  Vorwurf  in  solchem  Maasse,  dass  die  Kommission 
auf  ihre  Entlassung  dringt.  Die  haftpflichtigen  Unfälle  er- 
fahren nicht  immer  die  vorgeschriebene  Behandlung;  die 
Direktion  setzt  sich  mit  dem  Gesetz  in  direkten  Widerspruch, 
wenn  sie  in  einem  — der  Regierung  nicht  zur  Genehmigung 
vorgelegten  — Anhang  zur  Fabrikordnung  bestimmt:  Unfall- 
entschädigungen werden  nur  dann  ausbezahlt,  wenn  die 
Unfälle  sofort  auf  dem  Bureau  des  Werkführers  angemeldet 
werden.  Konstatirt  wurde,  dass  ein  Vorarbeiter  durch  Re- 
klamationen und  dadurch,  dass  er  Reduktion  der  Akkord- 
löhne veranlasste,  zu  der  Gesundheit  schädlichen  Ueber- 
anstrengungen  Veranlassung  gab.  Sodann  erregte  es 
Anstoss,  dass  von  den  zwei  Söhnen  des  Direktors  der  Eine 
ohne  genügende  Vorbildung  die  Stelle  eines  Kontroleurs, 
erhielt,  und  dass  sich  der  Andere  vom  Chef  des  Speditions- 
bureaus Darlehen  von  10 — 100  Frcs.  machen  liess,  welche 
Beträge  der  letztere  theilweise  der  ihm  anvertrauten  Ge- 
schäftskasse entnahm,  um  sie  später  natürlich  wieder  zu 
ersetzen.  Endlich  rügt  die  Kommission,  dass  den  Arbeitern 
die  Ausübung  ihrer  politischen  Rechte  seitens  der  Fabrik- 
leitung verkümmert  und  dass  namentlich  der  Gewerkschaft 
Schwierigkeiten  bereitet  wurden. 

Um  solche  Uebelstände  zu  verhindern  und  ein  solideres 
Verhältniss  zwischen  den  Arbeitern  und  der  Direktion  her- 
zustellen, macht  die  Kommission  folgende  Vorschläge: 

Die  Arbeiter  jeder  Fabrik  — unter  Ausschluss  der 
Vorarbeiter  und  Werkführer  etc.  — wählen  eine  9gliedrige 
Kommission,  deren  Amtsdauer  ein  Jahr  beträgt.  Um  ihre 
Stellung  gegenüber  den  Vorgesetzten  zu  sichern  und  mög- 
lichst unabhängig  zu  machen,  wird  bestimmt,  dass  die 
Kommissionsmitglieder  während  ihrer  Amtsdauer  nicht  ent- 
lassen werden  dürfen.  Der  Kommission  fallen  hauptsächlich 
folgende  Aufgaben  zu:  1.  siebegutachtet  die  Fabrikordnung 
bezw.  deren  Abänderungen;  2.  sie  entscheidet  über  Be-  , 
schwerden  solcher  Arbeiter,  denen  Bussen  auferlegt  oder 
Lohnabzüge  gemacht  werden,  oder  die  sich  über  ungerechte  ■ 
Behandlung  seitens  der  Vorgesetzten  beklagen.  Anderer- 
seits behandelt  sie  schwerere  Verstösse  der  Arbeiter  gegen 
die  Fabrikordnung  und  Disziplin  und  bestimmt  deren 
Folgen;  3.  sie  äussert  sich  über  die  beabsichtigten  Arbeiter- 
entlassungen und  schlägt  — unter  Beachtung  bestimmter 
Grundsätze,  wonach  die  Verheiratheten  vor  Ledigen  bevor- 
zugt werden  u.  s.  w.  — die  Namen  derjenigen  vor,  die  in 
erster  Linie  zu  entlassen  sind;  4.  beabsichtigte  Aenderungen 
in  den  l ag-  oder  Akkordlohnsätzen  sind  der  Kommission 
ebenfalls  zur  Vernehmung  mitzutheilen. 

Für  das  Verfahren  werden  folgende  Vorschläge  ge- 
macht: Jeder  Verhandlungsgegenstand  wird  zunächst  vom 
Arbeiterausschusse  allein  und  dann  gemeinsam  mit  der 
Fabrikleitung  berathen.  Gelingt  eine  Verständigung  nicht, 
so  wird  die  Sache  mit  schriftlichen  Berichten  beider  Par- 
teien dem  Militärdepartement  zur  definitiven  Entscheidung 
unterbreitet. 

Das  letztere  hat  diese  Vorschläge  der  Untersuchungs- 
kommission vor  der  Hand  gut  geheissen  und  zur  Aus- 
führung gebracht.  Ob  mit  grossem  praktischen  Erfolg  ist 
noch  nicht  bekannt.  Eine  derartige  in  Regie -Werkstätten 
verwirklichte  Institution  könnte  für  die  Privatindustrie  vor- 
bildlich werden  und  mit  der  Zeit  gesetzlichen  Bestand  er- 
halten. Die  Thatsache,  dass  die  Direktoren  der  Waffen- 
und  Munitions-Fabriken  die  Einsetzung  der  Arbeiter- 
ausschüsse nur  ungern  gesehen  haben,  lässt  leider  der 
Befürchtung  Raum,  dass  sie  nicht  zu  der  von  einsichtigen 
Politikern  gewünschten  Entwickelung  gelangen. 

Zürich.  Otto  Lang. 


No.  42.  ■ 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


507 


Schulwesen. 

Aufwand  für  Schulwesen  und  Schulkinderunterstützung 
in  der  Schweiz. 

Die  Schweizerische  Schulorganisation  hat  den  durchaus 
demokratischen  Charakter  mit  dem  amerikanischen  Schul- 
wesen, über  welches  wir  neulich  einige  Angaben  brachten, 
gemein.  Auch  die  Decentralisation  ist  eine  ähnliche,  die 
Schulausgaben  und  die  Initiative  für  die  wichtigsten  Schul- 
einrichtungen sind  durchaus  Sache  der  Kantone  und  Ge- 
meinden. Je  nach  dem  verschiedenen  Charakter  dieser 
finden  wir  denn  auch  die  grössten  Ungleichheiten.  Während 
auf  den  Kopf  der  ganzen  Schweizer  Bevölkerung  berechnet 
eine  Steuerlast  von  10,8  Frcs.  ausschliesslich  für  Schul- 
zwecke entfällt,  giebt  es  Kantone,  in  denen  die  Schulsteuer 
pro  Kopf  nur  2 Frcs.  beträgt,  andere  mit  entwickelter 
Volksschule  und  Universitätswesen,  in  denen  sie  weit  über 
den  Durchschnitt  steigt,  so  in  Bern  auf  12,2,  in  Zürich  auf 
18,5,  in  Basel  auf  21.9  Frcs.  Eine  Reihe  von  Kantonen, 
bis  jetzt  im  Ganzen  9,  haben  zu  der  in  der  ganzen  Schweiz 
bestehenden  Unentgeltlichkeit  des  Volksschulunterrichts  die 
Unentgeltlichkeit  der  Lehrmittel  hinzugefügt.  In  anderen 
Kantonen,  so  im  Züricher,  sind  die  einzelnen  Gemeinden 
nach  dieser  Richtung  hin  vorgegangen.  Die  Gesammt- 
ausgabe,  welche  Gemeinden  und  Kantone  für  die  unentgelt- 
liche Erstellung  der  Lehrmittel  auf  sich  genommen  haben, 
schätzt  man  pro  Jahr  auf  600000  bis  650000  Frcs.  Nach  all- 
gemeiner Durchführung  dieses  Prinzips  würden  sich,  wie  man 
annimmt,  die  Ausgaben  dafür  auf  etwal  250000  Frcs.  belaufen. 
Bei  der  grossen  Ungleichmässigkeit  des  Schulwesens  in  den 
armen,  zurückgebliebenen  und  fortgeschrittenen  Kantonen  ist 
es  mithin  als  ein  erfreulicherFortschritt  zu  begrüssen,  dass  der 
Nationalrath  neuerdings  einen  Antrag  angenommen  hat, 
durchweichen  derBundesrath  aufgefordertwird,  darüberUnter- 
suchung  anzustellen  und  Bericht  zu  erstatten,  ob  nicht  der 
Bund  nach  Maassgabe  der  Bundesfinanzen  die  Kantone  in 
ihren  Schulausgaben  finanziell  unterstützen  solle.  Dieser 
Antrag,  ursprünglich  von  Curti  eingebracht,  war  schärfer, 
er  wollte  nicht  nur  Unterstützung,  sondern  auch  Ver- 
wendung derselben,  um  die  Unentgeltlichkeit  der  Lehr- 
mittel allgemein  durchzuführen. 

Interessant  ist  es,  bis  zu  welchem  Grade  in  einigen 
Städten  und  Gegenden  die  Unterstützung  armer  Schulkinder 
und  zwar  fast  ausschliesslich  durch  Privatinitiative  entwickelt 
ist.  Auch  in  dieser  Hinsicht  kann  sich  Deutschland  mit  der 
Schweiz  nicht  messen.  Wir  entnehmen  einige  Angaben 
darüber  der  Schweizerischen  Zeitschrift  für  Gemeinnützig- 
keit, welcher  die  offiziellen  Nachweise  Vorlagen.  In  Basel, 
Zürich,  Winterthur  hat  man  sogenannte  Kinderhorte  ein- 
gerichtet, in  denen  Schulkinder  armer  Eltern,  die  von  diesen 
Tags  über  nicht  beaufsichtigt  werden  können,  aufgenommen 
und  bis  zum  Abend  beschäftigt  werden.  Vor  dem  Nach- 
hausegehen erhalten  sie  ein  Abendbrod,  aus  warmer  Milch 
und  Brod  bestehend.  In  Basel  wurden  in  dieser  Weise 
etwa  400,  in  Zürich  50  Kinder  versorgt.  Die  Zahlen  sind 
also  noch  ziemlich  unbedeutend.  In  Ferienkolonien  wurden 
von  Zürich  und  Umgebung  im  Sommer  1890:  255  Kinder, 
von  Basel  164  geschickt.  Für  einen  Theil  der  Zurück- 
bleibenden hatte  man  „Ferienmilchkuren“  eingerichtet,  d.  h. 
sie  wurden  allabendlich  in  der  Schule  versammelt  und  dort 
mit  Brod  und  Milch  verköstigt.  In  ganz  Zürich  wurden  so 
während  der  25  tägigen  Ferienzeit  187,  in  Basel  1153  Kinder 
verpflegt.  Auch  in  der  Fürsorge  für  Nahrung  zeichnet 
sich  das  reiche  Basel  aus.  Für  „Schülertuch“  gingen  hier 
allein  während  des  Jahres  1890/91  : 14600  Frcs.  durch 

Privatbeiträge  ein:  3081  Kinder  wurden  dafür  bekleidet; 
aus  der  Lukasstiftung  3000  mit  neuem  Schuhwerk  ver- 
sehen; 1480  Kinder  erhielten  im  Winter  Mittagssuppe, 
was  ebenfalls  durch  Privatbeiträge  bestritten  wurde.  Im 
Kanton  Bern  hat  sich  die  Zahl  der  unterstützten  Schul- 
kinder von  7941  im  Jahre  1883/84  auf  13172  in  1891/92,  die 
Ausgabe  in  derselben  Zeit  von  43951  auf  67833  Frcs.  ge- 
hoben. Nur  der  kleinere  Theil  des  Geldes  wurde  durch 
die  Gemeinden,  der  weitaus  grössere  privatim  aufgebracht. 
Auch  ist  die  Sitte,  arme  Schulkinder  zu  Freitischen  heranzu- 
ziehen, unter  den  besser  gestellten  Familien  hier  stark  ver- 


breitet. Natürlich  reicht  aber  die  Privatwohlthätigkeit  auch 
in  der  Schweiz  zur  Bewältigung  der  Kinderunterstützung 
bei  weitem  nicht  aus.  Die  öffentlichen  Organisationen 
werden,  falls  man  die  Noth  der  armen  Schüler  energischer 
bekämpfen  will,  nothwendig  einspringen  und  mit  immer 
grösseren  Summen  einspringen  müssen.  Die  Anfänge  hierzu 
sind  allerdings  noch  recht  bescheiden,  immerhin  mag  es 
als  günstiges  Symptom  betrachtet  werden,  dass  der  Kanton 
Bern  für  1890/91  eine  Summe  von  6000  Frcs.  als  Beitrag  zu  der 
Privatunterstützung  neu  in  sein  Budget  eingestellt  hat.  Aus 
privaten  lländen  wird  diese  Aufgabe  an  die  Gemeinden 
und  Kantone  aus  ihren  Händen  in  die  des  Bundes  fallen. 
Der  vom  Nationalrath  angenommene  Antrag  beweist,  dass 
auch  auf  dem  ganzen  Gebiete  des  Schulwesens  die  Tendenz 
zur  Centralisation  langsam  aber  stetig  vordringt.  Die  wirth- 
schaftlichen  Verhältnisse  bedingen  das. 

Sozialökonomische  Lehrkurse  des  Evangelisch- 
sozialen  Kongresses.  Der  Evangelisch-soziale  Kongress 
beabsichtigt  im  Herbst  dieses  Jahres  einen  national-ökono- 
mischen Kursus  zu  veranstalten.  Derselbe  soll  10  Tage 
dauern  und  vom  10.  bis  20.  Oktober  in  Berlin  abgehalten 
werden.  Es  soll  über  folgende  Gegenstände  vorgetragen 
werden:  1.  Elemente  der  Nationalökonomie  (8  Stunden), 
Dozent:  Prof.  Dr.  Adolf  Wagner-Berlin;  2.  Systeme  der 
Volkswirtschaft  (4  Stunden),  Dozent:  Prof.  Dr.  Elster- 

Breslau;  3.  Agrarpolitik  (8  Stunden),  Dozent:  Privatdozent 
Dr.  Max  Weber-Berlin;  4.  Gewerbepolitik  (8  Stunden), 
Dozent:  Prof.  Dr.  Stieda-Rostock;  5.  Handel  (4  Stunden), 
Dozent:  Privatdozent  Dr.  Rathgen-Berlin;  6 Die  deutsche 
Arbeiterbewegung  (4  Stunden),  Dozent:  Privatdozent  Dr.  Ol- 
denberg-Berlin;  7.  Die  deutsche  Sozialgesetzgebung  (2  Stun- 
den), Dozent:  Amtsrichter  Kulemann-Braunschweig;  8.  Die 
soziale  Bedeutung  der  inneren  Mission  (2 — 3 Stunden), 
Dozent:  Pastor  Schäfer-Altona;  9.  Kirchlich -soziale  Be- 
strebungen (2—3  Stunden),  Generalsekretär  P.  Göhre-Berlin. 
Täglich  an  den  Vormittagen  sollen  ca.  4 Vorlesungen  von 
je  einer  Stunde  Dauer  gehalten  werden.  Die  Nachmittage 
sollen  zu  Exkursionen  in  interessante  wirthschaftliche 
Etablissements  aller  Art,  die  Abende  zum  Meinungsaus- 
tausch zwischen  Hörern  und  Dozenten  über  den  Inhalt  der 
Vorträge  benutzt  werden.  Den  Vorlesungen  wird  eine  aus- 
führlichere Inhalts-  und  Litteraturangabe  zu  Grunde  gelegt 
werden,  die  die  Theilnehmer  zur  vorherigen  Durcharbeitung 
rechtzeitig  zugeschickt  erhalten  werden.  Der  Kursus  ist 
zunächst  für  die  Treunde  und  Gesinnungsgenossen  des 
Evangelisch-sozialen  Kongresses  und  seiner  Bestrebungen, 
also  in  erster  Linie  für  Geistliche,  sowie  Leiter  und  Mit- 
glieder der  Evangelischen  Arbeitervereine  bestimmt. 


Vermischtes. 

Gegen  Provision  Angestellte  als  bevorzugte  Gläubiger 
fallit  gewordener  Unternehmer.  Die  französische  Abge- 
ordnetenkammer hat  vor  kurzem  einen  Gesetzentwurf  an- 
genommen, welcher  bezweckt,  den  Provisionsreisenden  und 
Handelsvertretern  dieselbe  Wohlthat  angedeihen  zu  lassen, 
deren  sich  bisher  die  Kommis  auf  Grund  des  Art.  549  des 
Code  de  commerce  (Handelsgesetzbuch)  zu  erfreuen  hatten. 
Danach  gehören  nämlich  die  Kommis  zu  den  sogenannten 
privilegirten  Gläubigern  d.  h.  zu  denjenigen,  deren  Schuld 
bei  einem  Falliment  der  betreffenden  Handelshäuser  in 
erster  Linie  zu  begleichen  ist.  Wie  nun  bisher  alle  während 
der  letzten  sechs  Monate  vor  der  Falliterklärung  geschul- 
deten Gehälter,  der  Kommis  zu  den  bevorzugten  Schulden 
gehörten  und  als  solche  vor  allen  anderen  aus  dem  ver- 
bleibenden Besitzstand  zu  decken  waren,  so  soll  dies  künftig 
auch  in  Bezug  auf  die  Provisionen  der  Fall  sein,  sei  es, 
dass  sie  von  den  betreffenden  Geschäftshäusern  an  Stelle 
des  Gehaltes  oder  als  Ergänzung  desselben  gegeben  werden. 
In  diesem  Sinne  ist  denn  auch  der  Art.  549  des  Code  de 
commerce  abgeändert  worden. 


Verantwortlich  fiir  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin,  W.,  Victoriastrasse  16. 


508 


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No.  42. 


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Sartoit.  ißrei§  SD?.  1, — , poftfrei  SK.  1,05. 


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Paul  ^elltrs  §ud)ljani)lung  (|.  §ü|trniuadjcr) 

Berlin  W.,  SKarfgrafenftr.  39/40. 


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9tegierung§ratb. 

80.  VIII  u.  101  ©eite, 
iürets  p.  2,  poßfrei  p.  2,10. 


@ r ft  e r 2 f)  e i I. 


J*«lj 


©etoerbereefjt. 

I.  ©emerbe  unb  ©emerberedjt  im  9111= 
gemeinen. 

II.  ©eioerbebeprben,  3uftänbigfeit  unb 

Verfahren. 

III.  Sie  ©eroerbefreibeit. 

IV.  SSefonbere  93efcf)rcinfungen  ber  @e= 

»oerbefreibeit. 

V.  Ser  ©eiuerbebetrieb  im  llmberjiel)en. 

VI.  Sa§  SntiungSroefen. 

VII.  ©emcrblidfeStobeiter  imSIIIgemeincn; 

Segriff  ber  ^abrif. 

VIII.  Ser  gemerblidje  9Irbeit§oertrag  im 
Sldgemeinen. 

IX.  Ser  ©djutj  be§  9Irbeit3loI)n3;  ba§ 
„Srucffpftem". 

X.  Ser  Äontraftbrud) ; fefte  ©ntfd)äbi= 
gungen,  Sotjnoerroirfungen,  2oIjn= 
einbefjattungen. 

XI.  Sie  befonberen  SSorfc^riften  für 
minberjäfjrige  9lrbeiter  u.Seljrlinge. 


alt* 

XII.  ©djnjj  für  Seben,  ©efunbifeit  unb 

©ittlidjfeit  ber  Strbeiter  im  ©e» 
»oerbebetriebe. 

XIII.  Sie  ©onntagärufje. 

XIV.  9lrbeit§orbnungen  unb  9Irbeiteran§= 

fdjüffe. 

XV.  Sefonberer  ©djujj  ber  grauen  unb 

Sbinber  in  gabrifen  unb  gleid)= 
gefteüten  Slnlagen. 

XVI.  ©eroerbegeridjte  u.  ©inigungSämter. 

XVII.  Sa§  $oa[ition§red)t. 

groeiter  Sljeil. 

®te  Slrbeiternerfttberung. 

Ä.  Sie  Sranfenoerfidjerung. 

B.  Sie  UnfaHoerfidjerung. 

C.  Sie  3nüaIibität§=u.9ilterSDerfid)erung. 

Änljang.  I.  Sa§  ©efinberedjt.  II.  2llplja= 
betifdje  Ueberfidjt  ber  roidjtigften 
Imu3ioirtI)fd)aftIid)en  fragen  ber 
Snoalibität§=  u.  9IIter§oerfid)erung. 


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II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  24.  Juli  1893. 


Nummer  43. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Erscheint  jeden  Montag. 

Zu  beziehen 

durch  alle  Buchhandlungen,  Spediteure  und  Postämter. 
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Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf 

Anzeigenpreis  für  die  dreigespaltene  Colonelzeile 
40  Pfennig. 


INHALT. 


Der  belgische  Gesetzentwurf, 
betr.  die  Verleihung  der 
juristischen  Persönlich- 
keit an  die  Gewerkvereine. 
Von  Rechtsanwalt  Dr.  Emil 
Vinck. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  und 
Wirthschaftsstatistik : 

Dezentralisation  der  Industrie. 

Arbeiterzustände : 

Zur  Lage  der  deutschen  Drechsler- 
arbeiter. Von  Dr.  H.  Lux. 

Reichsenquete  über  die  Arbeits- 
verhältnisse im  Handelsgewerbe. 

Jugendliche  Arbeiter  im  Stein- 
kohlenbergbau. 

Hausindustrielle  Thätigkeit  der 
Frauen  in  Baden. 

Arbeiterverhältnisse  in  Mecklen- 
burg-Schwerin. 

Gewerkschaftliche  Arbeiterbewe- 
gung: 

Internat.  Metallarbeiter  - Kongress . 


Zur  Bergarbeiterbewegung  in 
Oesterreich. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Arbeiterbewegung  in  der  Schweiz. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Zur  Durchführung  der  Sonntags- 
ruhe in  Industrie  und  Handwerk. 

Arbeiter  Versicherung : 

Die  Unfallversicherung  in  Frank- 
reich. Von  Leo  Frankel. 

Verband  der  österreichischen  Ver- 
einskrankenkassen. 

Wohnungszustände  und  Woh- 
nungsgesetzgebung : 

Wohnungsgesetz  für  das  Gross- 
herzogthum Hessen. 

Bau  von  Arbeiterwohnungen  aus 
Mitteln  der  Invaliditäts-  und 
Altersversicherung  in  Baden. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Der  belgische  Gesetzentwurf,  betr.  die 
Verleihung  der  juristischen  Persönlichkeit  an 
die  Gewerkvereine. 

Gegenwärtig,  wo  das  neue  Wahlsystem  dem  belgischen 
Parlament  eine  veränderte  Zusammensetzung  geben  wird, 
wo  es,  wie  wir  hoffen,  in  die  Kammern  Elemente  einführen 
wird,  die  reger  sind  und  den  nationalen  Bedürfnissen  besser 
Rechnung  tragen,  darf  man  wohl  annehmen,  dass  eine  der 
ersten  Fragen,  deren  Lösung  sich  unsere  künftigen  Volks- 
vertreter angelegen  sein  lassen  werden,  jene  der  Verleihung 
der  juristischen  Persönlichkeit  an  die  Gewerkvereine  sein 
wird. 

Der  betr.  Entwurf  wurde  von  der  Regierung  am  7. 
August  1889  vorgelegt,  und  die  mit  der  Prüfung  desselben 
beauftragte  Kommission  erstattete  ihren  Bericht  in  der 
Sitzung  der  Kammer  vom  19.  März  1891.  Sie  hatte  an 
dem  ursprünglichen  Entwürfe  ziemlich  viele  Abänderungen 
vorgenommen. 

Es  ist  nicht  nöthig,  uns  über  die  Bedeutung  der  Ge- 
werkvereine für  die  soziale  Erziehung  des  Arbeiters,  sowie 
über  die  Ungerechtigkeit  zu  verbreiten,  welche  darin  liegt, 
ihnen  die  mit  einem  hohen  Maasse  von  Freiheit  verbundene 
juristische  Persönlichkeit  aus  dem  (durch  alle  geschicht- 
lichen Beispiele  widerlegten)  Grunde  zu  versagen,  dass  man 
dadurch  revolutionäre  Keime  nähren  würde.  Wir  wollen 
lediglich  den  Gesetzentwurf  ins  Auge  fassen. 


Am  Ende  des  vergangenen  Jahrhunderts  fand  auch  in 
dem  der  französischen  Herrschaft  unterworfenen  Belgien 
vom  17.  Brumaire  des  Jahres  IV  ab  das  Gesetz  am  2.  (17.) 
März  1791  Anwendung,  welches  (Art.  7)  die  Innungen  und 
Zünfte  abschaffte,  obwohl  diese  Einrichtungen  in  Belgien 
weniger  Missbräuche  gezeitigt  hatten  als  in  Frankreich 
selbst.  Zu  dieser  Zeit  herrschte  in  Belgien  noch  das 
System  des  Kleingewerbes,  und  die  Arbeiterassoziationen, 
welche  in  den  anderen  Ländern  die  wirthschaftliche  Um- 
wälzung erzeugte,  bestanden  damals  schwerlich  als  Wider- 
standsvereine. 

Das  Gesetz  von  1791  bewirkte  in  den  wirthschaftlichen 
Ueberlieferungen  Belgiens  einen  Riss,  der  den  grössten 
Schaden  anrichtete.  Die  Einführung  der  Grossindustrie, 
welche  den  ausgeprägten  Gegensatz  von  Kapital  und  Arbeit 
mit  sich  brachte,  fand  die  belgische  Arbeiterbevölkerung 
ohne  Organisation. 

Erst  seit  wenigen  Jahren  haben  die  Arbeiter  in  ihren 
Gewerkvereinen  Organe  zur  Unterstützung  ihrer  gerechten 
Ansprüche  und  zur  Wahrung  ihrer  Interessen  sich  geschaffen. 
Diese  Verbindungen  sind  indessen  bis  jetzt  noch  sehr  unzu- 
länglich. 

Den  Organisationen  der  Arbeiter  soll  zu  ihrer  Unter- 
stützung der  Charakter  juristischer  Personen  verliehen 
werden. 

Nicht  weniger  als  9 Gesetzentwürfe  wurden  nachein- 
ander vorgeschlagen. 

Es  waren  dies:  1.  der  1886  der  Arbeitskommission 

von  Ad.  Prins  eingereichte  Entwurf ; 2.  die  Beschlüsse  der 
Arbeitskommission  von  1886;  3.  der  von  der  „Allgemeinen 
Arbeitervereinigung“  1887  angenommene  Entwurf  von 
H.  Denis;  4.  der  Entwurf  der  Konferenz  junger  Advokaten 
Lüttichs,  1889;  5.  der  Entwurf  Guill.  de  Greefs,  1889;  6.  der 
Regierungsentwurf,  1889;  7.  der  von  den  Abgeordneten  der 
Brüsseler  Arbeitersyndikate  angenommene  Entwurf;  8.  der 
Entwurf  von  Ninaune  und  Vandervelde  in  ihrem  bemerkens- 
werthen  Bericht  an  den  Verband  der  belgischen  Advokaten, 
18891);  9.  der  Entwurf  der  Kommission,  welche  den  Re- 
gierungsentwurf amendirte. 

Diese  Fülle  von  Projekten  beweist,  welche  Bedeutung 
man  der  Frage  beilegt.  Sie  alle  zu  prüfen,  würde  zu  weit 
führen  und  kaum  von  Nutzen  sein. 

Wir  werden  uns  darauf  beschränken,  die  Haupt- 
ansichten zu  erörtern,  welche  bezüglich  der  von  dem  Ent- 
würfe einzuschlagenden  leitenden  Richtungen  hervorgetreten 
sind. 

Welchen  Gewerkvereinen  soll  das  Gesetz  die  juristische 
Persönlichkeit  verleihen? 


*)  Ninauve  et  Vandervelde,  rapport  ä la  Federation  des 

avocats  beiges  sur  le  projet  de  loi  accordant Bruxelles, 

Larcier,  1889. 


510 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  43. 


Entgegen  dem  Wunsche  mehrerer  Entwürfe,  diese  Ver- 
leihung auch  den  liberalen  Berufen  (Universitäten  z.  B.)  zu 
Theil  werden  zu  lassen,  haben  sich  sämmtliche  Projekte 
aus  Zweckmässigkeitsgründen  auf  die  Vereinigungen  be- 
schränkt, die  unter  Personen,  welche  in  der  Industrie,  im 
Handel  oder  in  der  Landwirtschaft,  sei  es  dasselbe  Ge- 
werbefach, sei  es  ähnliche  oder  verwandte  Gewerbefächer 
betreiben,  gebildet  werden  zum  Behufe  der  Erforschung 
und  Verteidigung  ihrer  | gewerblichen  - (und  wirtschaft- 
lichen) Interessen.  — Zum  Zweck  des  Registrirens  der 
Statuten  wird  ein  besonderes  Amt  errichtet. 

Die  Thätigkeit  der  Regierung  beschränkt  sich  auf  die 
Eintragung  des  Aktes  der  Entstehung  dieser  juristischen 
Personen,  um  hierdurch  ihrer  Verfassung  einen  beurkundeten 
Anfangstermin  zu  geben. 

Unter  den  Punkten,  welche  diese  Statuten  zu  erwähnen 
haben,  ist  einer  (Art.  3,  Abs.  4 des  Regierungsentwurfs), 
der  lebhafte  Erörterungen  veranlasste:  sollen  sich  die 
Statuten  über  die  Verwendung  des  Vereinsvermögens  für 
den  Fall  der  Auflösung  der  Gesellschaft  äussern  und  steht 
es  ihnen  frei,  irgend  welche  Verwendung  anzugeben?  Man 
ist  sich  im  Allgemeinen  einig,  dass  das  Gesellschaftsver- 
mögen in  keinem  Falle  unter  die  Mitglieder  des  Syndikats 
vertheilt  werden  darf.  Der  Verein  solle  aber  das  Recht 
haben,  sein  Vermögen  einem  anderen,  der  juristischen  Per- 
sönlichkeit theilhaftigen  Syndikat  zu  überweisen. 

Viel  Anhänger  hat  Absatz  5 des  Art.  3 des  Regierungs- 
entwurfs gefunden.  Er  besagt,  dass  die  Statuten  bemerken 
sollen,  dass  die  Vereinsmitglieder  sich  verpflichten,  jede 
Streitigkeit  über  Arbeitsverhältnisse,  die  Bereitwilligkeit  der 
Gegenpartei  vorausgesetzt,  einem  Schiedsgericht  zu  unter- 
breiten. Der  belgische  Gesetzgeber  ist  bestrebt,  die  Ent- 
wickelung der  Schiedsgerichte  nach  Möglichkeit  zu  be- 
günstigen. 

Art.  3 des  vorerwähnten  Entwurfes  unterlässt  es,  dem 
bctr.  englischen  Gesetz  entgegen,  den  Vereinen  die  Ver- 
öffentlichung ihrer  Jahresabschlüsse  vorzuschreiben.  Eine 
derartige  Klausel  wäre  indessen  äusserst  werthvoll  wegen 
der  nützlichen  Angaben,  welche  sie  der  Arbeitsstatistik 
lieferte;  andererseits  steht  aber  zu  befürchten,  dass  die 
Arbeitgeber,  über  die  finanzielle  Lage  der  Vereine  unter- 
richtet, sich  bei  ihren  Zugeständnissen  nicht  von  Gründen 
der  Gerechtigkeit,  sondern  durch  die  Widerstandskraft  der  , 
Vereine  in  den  Strikes  leiten  lassen. 

Die  Frage,  ob  Ausländer  an  der  Verwaltung  der  Syn- 
dikate theilnehmen  können,  verneint  der  Regierungsentwurf: 
er  lässt,  von  dem  französischen  Gesetze  vom  21.  März  1884 
beeinflusst,  nur  Belgier  zu.  Indessen  bestehen  für  Belgien 
keine  politischen  Gründe,  Fremde  auszuschliessen.  Es  liegt 
gewiss  keine  Gefahr  darin,  wenn  die  Arbeiter  zur  Theil- 
nahme  an  der  Verwaltung  einen  Ausländer  wählen,  der  ihr 
Vertrauen  besitzt,  vorausgesetzt,  dass  er  in  Belgien  ansässig 
ist  und  hier  seine  Interessen  verfolgt. 

Die  Verfasser  der  Entwürfe  sind  einig,  dass  die  Liste 
der  das  Syndikat  verwaltenden  Personen  den  Behörden  ein- 
zureichen sei.  Der  Regierungsentwurf  indessen  spricht  von 
„Personen,  welche  unter  irgend  einem  Titel  an  der  Leitung 
des  Vereins  theilnehmen.“  Ist  es  auch  gerechtfertigt,  dem 
englischen  (Art.  16)  und  französischen  (Art.  4 § 1)  Gesetze 
folgend,  die  Namen  der  Verwalter  zu  fordern,  da,  wie 
de  Greef  sehr  treffend  sagt,  „Der  Staat  schliesslich  nur  an- 
erkennen kann,  was  er  kennt,“  so  ist  es  vielleicht  über- 
trieben, diese  Forderung  auf  die  Personen  auszudehnen, 
welche  unter  irgend  einem  Titel  an  der  Leitung  theil- 
nehmen. 

Die  abfälligen  Kritiken,  welche  diese  Fassung  hervor- 
gerufen hat,  sind  allerdings  sehr  begründet:  es  steht  zu  be- 
fürchten, dass  manche  Arbeitgeber  den  Ausschussmitgliedern 
gegenüber  feindselige  Maassnahmen  ergreifen. 

Von  der  Verleihung  der  juristischen  Persönlichkeit  an 


Syndikatsverbände  (Federations  des  syndicats)  ist  im  Re- 
gierungsentwurf nichts  gesagt.  Man  fürchtet,  dass  Arbeiter- 
vereinigungen, welche  das  ganze  Land  umfassen,  die  öffent- 
liche Sicherheit  gefährden  würden.  Eine  derartige  Organisa- 
tion wäre  jedoch  aus  verschiedenen  Gründen  nützlich.  Es 
giebt  Einrichtungen  (z.  B.  gewisse  Versicherungsformen), 
für  welche  vereinzelte  Gruppen  keinen  genügend  grossen 
Wirkungskreis  bieten  könnten. 

Was  den  Umfang  des  Eigenthumsrechtes  der  Gewerk- 
vereine anlangt,  so  ist  die  Frage  sehr  wichtig,  ob  sie  die  für 
ihre  Strike -Werkstätten  nothwendigen  Immobilien  besitzen 
können,  denn  manche  Verfasser  behaupten,  dass  diese 
Werkstätten  Handelsunternehmungen  seien.  Ich  bin  in- 
dessen der  Ansicht,  dass  hier  weder  vom  Element  des 
Ständigen,  noch  von  dem  von  der  Gewinnabsicht  diktirten 
Spekulationscharakter  die  Rede  sein  kann,  welche  beide 
zum  Begriff  eines  Handelsunternehmens  nothwendig  sind. 
Sodann  wäre  es  Unrecht,  die  Bedeutung  dieser  Anstalten 
zu  übertreiben,  welche  lediglich  zur  Befriedigung  zeitweiliger 
Bedürfnisse  geschaffen  sind. 

Eine  weitere  Frage  ist,  ob  die  Fachvereine  ohne  vor- 
gängige Genehmigung  Schenkungen  und  Vermächtnisse  an- 
nehmen dürfen.  Art.  8 des  Regierungsentwurfes  will,  dass 
die  Annahme  von  Schenkungen  oder  Vermächtnissen  von 
der  Genehmigung  des  Staates  abhängen  solle,  wie  dies  für 
die  behördlichen  Anstalten  im  Art.  76  des  Gemeindegesetzes 
bestimmt  ist. 

Diese  Anschauungsweise  fordert  jedenfalls  die  Kritik 
heraus.  Es  ist  nämlich  zu  befürchten,  dass  die  Regierung 
parteiisch  handelt  und  ihren  politischen  Sympathien  und 
Antipathien  gehorcht.  Besser  ist  es,  den  Vereinigungen 
alle  Freiheit  zu  geben,  abgesehen  indessen  von-  den 
Immobilien,  deren  Besitz  einen  unmittelbaren  Nutzen  für 
die  Gesellschaft  haben  muss,  einen  Nutzen,  der  mit  ihrem 
Zwecke  in  Beziehung  steht;  es  drohte  sonst  die  Gefahr  der 
todten  Hand,  unter  welcher  Belgien  dank  den  religiösen 
Genossenschaften  bereits  nur  zu  sehr  leidet.  Gerade  um 
die  Missstände  der  todten  Hand  zu  vermeiden,  setzt  Art.  9 
des  Regierungsentwurfs  eine  jährliche  Abgabe  von  den  den 
Fachvereinen  gehörigen  Immobilien  fest,  als  Ersatz  für  die 
Gebühren  beim  Eigenthumsübergang  unter  Lebenden  oder 
von  Todeswegen. 

Welche  Rechte  hat  das  ausscheidende  Vereinsmitglied? 
Nach  Art.  10  des  Regierungsentwurfs  kann  der  Arbeiter 
jederzeit  ungehindert  austreten  und  behält  die  Rechte,  welche 
er  an  den  vom  Verein  abhängigen  Hülfskassen  erworben 
hat.  Diesen  Standpunkt  bekämpfen  die  meisten  anderen 
Entwürfe  — und  mit  Recht.  Man  kann,  wenn  nicht  geradezu 
auf  Auflösung  der  Syndikate  hingewirkt  werden  soll,  un- 
möglich zulassen,  dass  ein  Arbeiter  einen  Theil  des  Ver- 
mögensbestandes beanspruchen  dürfe,  nachdem  er  sich 
seiner  Beiträge  zum  Besten  der  Vereinsgemeinschaft  ent- 
äussert  und  die  Vortheile  genossen  hat,  welche  die  Gesell- 
schaft während  der  ganzen  Zeit  seiner  Mitgliedschaft  ge- 
währt. Eine  derartige  Anschauungsweise  wäre  äusserst 
gelährlich.  Gerade  unter  schwierigen  kritischen  Umständen, 
wenn  die  Hülfe,  die  Unterstützung  Aller  erforderlich  ist, 
würde  dann  nicht  einmal  das  materielle  Interesse  die  Ab- 
trünnigen halten.  Indessen  macht  ein  Fall  eine  Ausnahme: 
der  Fall,  in  welchem  der  Arbeiter  speziell  zu  einer 
Pensionskasse  beigetragen  hat.  Hier  hat  er  angesichts  der 
Natur  und  des  Zwecks  der  Einrichtung  thatsächlich  noch 
keinen  Vortheil  geniessen  können,  es  ist  daher  nur  billig, 
dass  er  beim  Austritt  aus  dem  Verein  die  der  Kasse  ge- 
zahlten Beiträge  ersetzt  erhält. 

Was  die  Frage  anlangt,  wer  den  Verlust  der  juristi- 
schen Persönlichkeit  aussprechen  könne,  so  behielt  die 
Regierung  in  ihrem  Entwürfe  sich  dies  Recht  vor.  Das 
wäre  sehr  gefährlich.  Die  anderen  Entwürfe  setzen  hier 
übereinstimmend  an  Stelle  des  Eingreifens  der  Regierung 


No.  43.  SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT.  51 1 


die  Thätigkeit  der  Gerichte,  welche  auf  Antrag  des  General- 
prokurators eintritt. 

Zum  Schlüsse  sind  nunmehr  noch  zwei  hierhergehörige 
Fragen  zu  erörtern. 

Art.  130  des  belgischen  Code  penal  bestraft  denjenigen, 
welcher  die  Freiheit  der  Arbeit  antastet  durch  Begehung 
von  Gewaltthätigkeiten,  Ausstossen  von  Beleidigungen  oder 
Drohungen,  Aussprechen  von  Geldstrafen,  Aussperrungen, 
Bann  oder  jedweder  Aechtung,  sei  es  gegen  Arbeitende, 
sei  es  gegen  solche,  die  arbeiten  lassen. 

Dass  man  Gewaltthätigkeit,  Beleidigungen,  Drohungen 
bestraft,  ist  gemeines  Recht.  Die  Geldstrafen,  Aus- 
sperrungen u.  s.  w.  aber  sind  erlaubte  Mittel  des  freien 
Wettbewerbs,  deren  sich  die  Arbeitgeber  längst  schon  be- 
dient haben  und  deren  Gebrauch  auch  den  Arbeitern  ge- 
stattet sein  muss.  Das  französische  Gesetz  von  188+  hat 
dies  sehr  richtig  erfasst,  wenn  es  den  Art.  416  des  Code  penal 
von  1810  aufhob,  welche  diesen  zweiten  Theil  des  belgischen 
Art.  310  enthält. 

Hat  der  Staat  einmal  den  Nutzen  der  Syndikate  durch 
Gesetz  anerkannt,  wäre  dann  nicht  eine  Strafbestimmung 
erforderlich,  die  jene  bestrafte,  welche  sich  gegen  diese 
Einrichtungen  vergingen?  Eine  derartige  Bestimmung  ent- 
halten die  meisten  Entwürfe.  Zweifellos  werden  die  feind- 
lichen Arbeitgeber  stets  Mittel  finden,  um  den  Vereinen  zu 
schaden;  wäre  aber  zum  mindesten  nicht  zu  hindern,  dass 
sie  offen  Einrichtungen  bekämpfen,  welche  das  Gesetz  als 
nützlich  für  die  Gesammtheit  anerkannt  hat,  und  zu  ver- 
hüten, dass  es  ihnen,  wie  manchmal  in  Frankreich  und 
Amerika  geschehen  ist,  gelänge,  die  Uebersetzung  der  die 
Syndikate  schaffenden  Gesetze  ins  Praktische  so  zu  sagen 
zu  paralysiren? 

Man  darf,  ohne  befürchten  zu  müssen,  als  schlechter 
Prophet  zu  gelten,  wohl  behaupten,  dass  die  Annahme 
dieses  Gesetzentwurfes  die  heilsamsten  Wirkungen  erzeugen 
wird;  denn  wenn  die  Vereinigung  allein  den  Arbeiter  unter- 
stützen kann,  so  ist  vor  allem  nothwendig,  dass  diese  Ver- 
einigung von  Bestand  sei,  eine  gesicherte  Existenz  habe. 
Die  juristische  Persönlichkeit  allein  kann  ihr  eine  feste  Ver- 
fassung geben. 

„Und  es  wird“,  wie  der  Justizminister  Le  Jeune  bei 
der  Darlegung  der  Motive  am  7.  April  1889  sehr  treffend 
bemerkte,  „die  Einrichtung  von  Vereinen  vermöge  eines 
glücklichen  und  leichten  Uebergangs  zu  entwickelteren 
Verbindungen  in  der  Praxis  der  Assoziation  führen:  zur 
Schaffung  von  Versicherungs-  oder  Hülfskassen,  Alters-, 
Pensionskassen,  zur  Schaffung  aller  Arten  von  Veranstal- 
tungen, deren  Kern  der  Verein  bildet,  als  Arbeiterbörsen, 
Aemter  für  Arbeitsstatistik,  Sühne-  und  Schiedsgerichte, 
Fachunterrichtskurse,  Genossenschaften  u.  s.  w.“ 

Brüssel.  Emil  Vinck. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 


Dezentralisation  der  Industrie.  Der  soeben  er- 
schienene „Bericht  über  Handel  und  Industrie  von  Berlin  im 
Jahre  1892,  erstattet  von  den  Aeltesten  der  Kaufmannschaft 
von  Berlin“  macht  folgende  bemerkenswerthe  Mittheilung 
über  den  Wegzug  gewisser  Industrien  aus  Berlin  in  die 
Provinz,  die  eine  wesentliche  Abweichung  von  dem  sonst 
beobachteten  Zentralisationsbestreben  der  modernen  In- 
dustrie bedeuten  würde:  „Es  ist  schon  länger  beobachtet 
worden  und  entspricht  der  grossstädtischen  Entwickelung 
der  Reichshauptstadt,  dass  die  hiesigen  Fabrikationsstätten 
bezüglich  der  Löhne,  der  Grundstückspreise,  der  Anforde- 
rungen  der  Bauordnung  und  anderer  Geschäftsunkosten 
unter  ungünstigeren  Bedingungen  arbeiten  als  ihre  Kon- 
kurrenten in  der  Provinz.  Seit  Jahren  ziehen  sich  daher 


viele  industrielle  Etablissements  zunächst  an  die  Peripherie 
der  Stadt  und  dann  auch  wohl  aus  derselben  hinaus.  Unsere 
Spezialberichte  geben  manche  Anhaltspunkte  dafür,  dass 
diese  Bewegung  noch  nicht  zum  Abschluss  gekommen  ist. 
Der  Bericht  über  Tabakfabrikation  bemerkt,  dass  in  Berlin 
die  kaufmännische  Leitung  einer  sehr  bedeutenden  Zigarren- 
fabrikation ihren  Sitz  habe,  während  die  Fabrikation  selber 
mehr  und  mehr  in  der  Provinz  mit  ihren  billigeren  Löhnen 
und  Anlagekosten  betrieben  werde.  Fabrikanten  von  Hebe- 
werkzeugen und  von  Baugusseisen  berichten,  dass  die  Preise 
ihrer  Erzeugnisse  ausserordentlich  gedrückt  würden  durch 
die  provinziale  Konkurrenz;  es  drohe  ihnen,  dass  sie  in 
ihrem  Absatz  auf  Berlin  beschränkt  würden,  und  vielfach 
werde  ihnen  auch  dies  Gebiet  streitig  gemacht.  Aehnlich 
ergeht  es  der  Fabrikation  von  gewöhnlichem  Gebrauchs- 
porzellan, sowie  auch  der  Forstpflanzenzucht  der  Handels- 
gärtner. Auch  die  Färberei  von  Wollengarn  geht  in  Berlin 
zurück,  da  die  hiesige  Textilindustrie  ihre  Färb-Aufträge  — 
wenigstens  wenn  an  die  Qualität  nicht  die  höchsten  An- 
forderungen gestellt  werden  — in  der  Provinz  billiger  als 
hier  vergeben  kann.“  Vielleicht  wäre  ein  allgemeiner 
Fortgang  dieser  Dezentralisation  der  Industrie  für  die  ge- 
sunde soziale  Entwickelung  gar  nicht  unerwünscht. 


Arbeiterzustände. 

Zur  Lage  der  deutschen  Drechslerarbeiter. 

Der  Centralverband  der  Drechsler  und  Berufsgenossen 
Deutschlands  hat  soeben  durch  Herrn  Th.  Leipart  die 
Erhebungen  veröffentlichen  lassen,  welche  im  Jahre  1892 
über  die  Lebenshaltung  der  Drechslereiarbeiter  angestellt 
worden  waren.  Mangels  einer  eingehenden  Sozialstatistik 
muss  auch  diese  Veröffentlichung  als  eine  schätzenswerthe 
Bereicherung  unseres  Wissens  über  die  Lage  der  deutschen 
Arbeiter  betrachtet  werden.  Natürlich  gelten  für  diese  Ar- 
beit genau  dieselben  Bedenken  wie  für  alle  privatlich  unter- 
nommenen Enqueten.  Die  Erhebungen  können  nicht  alle 
Berufsgenossen  umfassen,  denn  es  ist  mehr  oder  weniger 
vom  Zufalle  abhängig,  wo  die  Fragebogen  hingerathen;  das 
ganze  Bild  kann  also  ganz  verschieden  ausfallen,  je  nach- 
dem sich  vornehmlich  die  grossen  oder  kleinen  Städte, 
sich  jüngere  oder  ältere  Arbeiter  an  der  Erhebung  be- 
theiligen. 

Weiterhin  ist  der  schwerwiegende  Einwand  zu  machen, 
dass  die  Angaben  selbst  durchaus  unkontrollirbar  sind  und 
der  Bearbeiter  selbst  keine  Garantie  darüber  besitzt,  ob  die 
Antworten  richtig  oder  tendenziös  gefärbt  sind.  Und  es 
ist  leider  eine  nicht  zu  bestreitende  Thatsache,  dass  gerade 
manche  Arbeiter  in  dem  Wunsche,  ihre  Lebenslage  mög- 
lichst traurig  erscheinen  zu  lassen,  etwas  mehr  Schwarz 
auftragen,  als  nöthig  ist,  indem  sie  ganz  vergessen,  dass 
die  nackte  Wahrheit  schon  traurig  genug  ist. 

Es  wäre  aber  doch  völlig  verfehlt,  wenn  man  deshalb 
solchen  von  Arbeitern  angestellten  und  für  Arbeiter  be- 
stimmten Erhebungen  allen  und  jeden  Werth  absprechen 
wollte;  zum  allermindesten  charakterisiren  sie  die  Lebens- 
haltung bestimmter  Gruppen  der  Berufsgenossen  und 
illustriren  manche  Uebelstände,  deren  Details  in  grösser  an- 
gelegten und  amtlich  durchgeführten  Enqueten  völlig  ver- 
schwinden würden.  Wenn  dazu  noch,  wie  bei  der  vor- 
liegenden Erhebung,  das  Bestreben  des  Bearbeiters  offen- 
sichtig hervortritt,  alles  das  auszuscheiden,  was  ihm  selbst 
übertrieben  erscheint,  und  wenn  er  an  manchen  Stellen 
offen  seine  kritischen  Bedenken  ausspricht,  so  gewinnt 
die  ganze  Arbeit  bedeutend  an  Glaubwürdigkeit. 

Einen  besonderen  Vorzug  hat  die  genannte  Erhebung 
vor  anderen  weiterhin  dadurch,  dass  sie  seit  1890  die 
zweite  ihrer  Art  ist,  manche  Fehler  also  bereits  ausgemerzt 
sind,  die  der  ungeschulte  Erheber  erst  nach  gesammelten 
Erfahrungen  zu  vermeiden  vermag. 

Um  die  Erhebung  anzustellen,  wurden  nach  circa  280 
deutschen  Städten  Fragebogen  ausgesandt.  Aus  1 70  Städten 
kamen  2163  ausreichend  beantwortete  Fragebogen  zurück. 

Die  Erhebung  erstreckte  sich  auf  2149  Arbeiter  und 
14  Arbeiterinnen  in  768  Betrieben  — allerdings  nur  einsehr 


512 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  43. 


kleiner  Bruchtheil  der  überhaupt  vorhandenen  Betriebe  und 
der  in  denselben  thätigen  Personen. 

Von  2147  Personen  lagen  Angaben  über  das  Alter  vor, 
und  zwar  waren  alt: 


bis  20  Jahr 

528  Personen  oder 

24,59  pCt. 

21  — 30  „ 

1043 

48,58  „ 

31  -40  „ 

396 

18,45  „ 

41—50  „ 

131 

6,10  „ 

51—60  „ 

41 

1,91  „ 

61  —69  „ 

8 

0,37  „ 

Das  Durchschnittsalter  betrug  27,73  Jahre  (gegen  27,75 
im  Jahre  1890).  Das  Durchschnittsalter  der  Arbeiterinnen 
betrug  22,50  Jahre.  Das  Durchschnittsalter  erscheint  viel- 
leicht etwas  gar  zu  niedrig  und  die  Zahl  nur  deshalb  mög- 
lich, weil  sich,  wie  dies  auch  gar  nicht  anders  zu  erwarten 
war,  in  erster  Linie  die  geistig  regsameren,  jüngeren  Leute 
an  den  Erhebungen  betheiligten.  Wenn  man  aber  die 
Durchschnittslöhne  und  die  Arbeitszeit  in  Betracht  zieht,  so 
wird  man  dem  Herrn  Bearbeiter  der  Erhebung  wohl  bei- 
stimmen können,  dass  ältere  Drechslergesellen  in  grösserer 
Zahl  wirklich  nicht  zu  finden  sind. 

Verheirathet  waren  932  oder  43,37  pCt., 

ledig  „ 1217  „ 56,63  „ 

Wie  die  Arbeiter  aller  übrigen  Gewerbe,  so  hatten  auch 
die  Drechsler  1892  ausserordentlich  unter  der  Arbeitslosig- 
keit zu  leiden.  637  Arbeiter  (30  pCt.  aller)  hatten  zusammen 
4929  arbeitslose  Wochen,  der  einzelne  also  7,73  Wochen 
Arbeitslosigkeit.  Die  Verhältnisse  hatten  sich  also  seit  1890 
wesentlich  verschlimmert,  denn  damals  hatten  von  2017 
Arbeitern  nur  488  (oder  24  pCt.)  und  zwar  jeder  durch- 
schnittlich 5,42  Wochen  Arbeitslosigkeit. 

Von  den  504  Krankheitsfällen  mit  zusammen  2094 
Wochen  Krankheitsdauer,  an  denen  497  Arbeiter  partizi- 
pirten,  nehmen  den  Haupttheil  natürlich  die  Krankheiten 
der  Athmungsorgane  125  (oder  24,8  pCt.)  mit  658  Wochen 
Krankheitsdauer  ein.  Verletzung  in  Folge  von  Betriebs- 
unfällen kamen  nur  78  (oder  13,5  pCt.)  mit  297  Wochen 
Krankheitsdauer  vor.  „Bezeichnend  sind  5 Fälle  mit  14- 
wöchiger  Krankheitsdauer,  hervorgerufen  durch  Ueberan- 
strengung  und  allgemeine  Schwäche  des  Körpers“! 
„Die  verzeichneten  Hautkrankheiten  (5  Fälle)  sind  nach 
den  Angaben  des  Verfassers  auf  den  Gebrauch  von  denatu- 
rirtem  Spiritus  zurückzuführen.“ 

Von  den  1362  Arbeitern,  die  über  22  Jahre  alt  waren, 
sind  nur  278  (oder  20,4  pCt.)  aktive  Soldaten  gewesen. 

Die  Frage  nach  der  täglichen  Arbeitszeit  wurde  meist 
nicht  korrekt  beantwortet.  In  der  überwiegenden  Mehrzahl 
von  Fällen  aber  wurde  von  morgens  6 bis  abends  6 oder 
7 Uhr  gearbeitet  mit  Pausen  in  der  Gesammtdauer  von 
1 Y 2 Stunden.  Soweit  sich  die  Angaben  verwerthen  Hessen, 
ergab  sich  die  Dauer  der  wirklichen  Arbeitszeit  zu  durch- 
schnittlich 10,15  Stunden;  bei  den  Arbeitern  in  Kost  und 
Logis  zu  11,20  Stunden.  Bei  497  Arbeitern  (von  1916) 
fanden  sich  aber  auch  Arbeitszeiten  von  11 — 13  Stunden. 
Eingerechnet  sind  hier  aber  noch  nicht  die  Ueberstunden, 
von  denen  366  Arbeiter  24  298  leisteten. 

Das  Hauptinteresse  aller  Erhebungen  über  die  Lage 
der  Arbeiter  erregt  natürlich  die  durchschnittliche  Lohn- 
höhe. — Die  diesbezüglichen  Angaben  der  vorliegenden 
Erhebung  können  aber  noch  nicht  im  entferntesten  den  An- 
spruch erheben,  eine  Art  Lohnstatistik  darzustellen.  Dazu 
war  die  Bearbeitung  schon  in  der  Anlage  verfehlt,  indem 
die  einzelnen  Arbeiter  nach  ihrem  Durchschnittslohn 
pro  Woche  gefragt  wurden.  Wer  sich  aber  je  mit  sta- 
tistischen Erhebungen  in  Arbeiterkreisen  beschäftigt  hat, 
wird  es  wissen,  dass  der  Arbeiter  auf  keine  Frage  eine 
unklarere  Antwort  giebt,  als  auf  die  Frage  nach  seinem 
wöchentlichen  Durchschnittslohn.  Er  giebt  da  meist  eine 
Antwort,  die  seinen  augenblicklich  verdienten  Lohn  in  ab- 
gerundeten Ziffern  ausdrückt,  er  dividirt  aber  ganz  sicher 
nicht  die  Zahl  der  wirklichen  Arbeitstage  eines  Jahres  in 
die  Höhe  des  wirklich  erhaltenen  Lohnes.  Alle  die  An- 
gaben der  verschiedenen  Enqueten  über  Durchschnittslöhne 
haben  also  nur  Schätzungswerth. 

Will  man  genaue  Daten  erhalten,  so  muss  man  korrekt 
fragen : 


a)  Zahl  der  gearbeiteten  Tage  im  Jahre  .... 

b)  Gezahlter  Gesammtlohn  .... 

c)  Zahl  der  Ueberstunden  .... 

Da  aber  nur  wenige  Arbeiter  Contobücher  über  Ein- 
nahmen und  Ausgaben  führen,  so  erweist  sich  deshalb  auch 
eine  Lohnstatistik  auf  Grund  von  Arbeiterangaben  allein 
als  eine  bare  Unmöglichkeit,  und  man  muss  sich  vorerst  eben 
noch  mit  den  ungenauen  Schätzungswerthen  zufrieden 
geben. 

Nach  den  Angaben  Leipart’s  betrug  nun  im  Jahre  1892 
für  2003  Arbeiter  der  Durchschnittswochenlohn  16,82  M., 
gegen  18,39  M.  im  Jahre  1890.  Die  Schlussfolgerungen  des 
Verfassers  über  das  Sinken  der  durchschnittlichen  Lebens- 
haltung in  Folge  der  Krise  mögen  zwar  durchaus  zutreffend 
sein,  da  sie  aber  nur  auf  dem  unsicheren  Untergründe  ge- 
schätzter Durchschnittslöhne  aufgebaut  sind,  können  sie 
wissenschaftlichen  Werth  nicht  beanspruchen. 

In  den  einzelnen  grösseren  Städten  betrugen  die  Durch- 
schnittslöhne: 


1892 

1890 

1892 

1890 

Berlin 

M.  21,10  M. 

21,20 

Halle 

M.  18,14 

M.  17,61 

Braunschweig 

„ 16,50  „ 

16,71 

Hamburg 

„ 22,37 

„ 22,02 

Breslau 

„ 13,15  „ 

13,16 

Hannover 

„ 17,34 

„ 18,80 

Cassel 

„ 14,44  „ 

18,34 

Harburg 

„ 22,37 

„ 21,70 

Chemnitz  i.  S. 

„ 17.25  „ 

19,30 

Leipzig 

„ 19,32 

„ 20,66 

Cöln 

„ 19,28  „ 

19,40 

Liegnitz 

„ 13,67 

„ 14,40 

Dortmund 

„ 17,00  „ 

17,25 

Offenbach 

„ 16,19 

„ 17,60 

Dresden 

„ 18,75  „ 

17,67 

Stuttgart 

„ 18,66 

„ 18,08 

Esslingen 

„ 15,98  „ 

17,00 

Wiesbaden 

„ 16,60 

„ 18,70 

Aus  der 

„Uebersicht 

über 

das  Verhältniss  des 

Lohnes 

zur  Arbeitszeit“,  aus  der  wegen  der  vielen  Details  eine 
eigentliche  Uebersicht  nicht  zu  gewinnen  ist,  stellen  wir 
folgende  kleine  Tabelle  zusammen,  die  zeigt,  wie  hohe  Ar- 
beitszeit niedrigem  Lohn  entspricht. 

Scheidet  man  nämlich  die  Zahl  der  Arbeiter  mit  13- 
stündiger  (1),  mit  12  12 y2-stündiger  (28)  und  mit  8 — 8y2-  : 
ständiger  Arbeitszeit  (17)  wegen  ihrer  zu  geringen  Zahl 
aus,  so  erhält  man  als  Durchschnittswochenlohn  für 

467  Arbeiter  in  II  1 1 */i-stündiger  Arbeitszeit  13,98  M. 

914  „ „ 10  103/+  „ „ 16,79  „ 

488  „ „ 9— 93/4  „ „ 20,95  „ 

Der  Lohn  der  139  Gesellen,  die  sich  bei  ihrem  Meister 
in  Kost  und  Logis  befanden,  schwankte  zwischen  3 M.  und 
10  M.  wöchentlich,  im  Durchschnitt  betrug  er  5,95  M. 

1212  Arbeiter  arbeiteten  durchweg  in  Akkord  und  hatten  i 
einen  Wochenlohn  von  16,83  Mark,  während  die  476  Lohn- 
arbeiter es  auf  18,07  Mark  brachten;  die  147  in  die  Zählung 
mit  einbegriffenen  Hausarbeiter,  für  welche  die  Franken-  ; 
hauser  Knopfarbeiter  den  Ausschlag  geben,  erhielten  durch- 
schnittlich 12,51  Mark  pro  Woche  (die  Frankenhauser  allein 
1 1 ,04  Mark). 

Es  ist  klar,  dass  bei  so  niedrigen  Löhnen  die  weitaus 
meisten  verheiratheten  Drechslerarbeiter  nicht  in  der  Lage 
sind,  sich  und  ihre  Familie  zu  erhalten;  wenn  nun  auch  nach 
den  Nachweisungen  die  verheiratheten  Arbeiter  im  Durch- 
schnitt höhere  Löhne  erhielten  als  die  ledigen  — weil 
ihnen  offenbar  als  den  älteren  Gesellen  auch  die  bessere 
Arbeit  zugetheilt  wird  — so  war  doch  in  460  Fällen 
(oder  49  pCt.)  die  Frau  gezwungen,  zum  Erwerb  des 
Lebensunterhaltes  mit  beizutragen.  In  71  Fällen 
fand  ausserdem  noch  eine  Beschäftigung  der  Kinder  gegen 
Entgelt  statt. 

Bemerkt  werden  muss  noch,  dass  an  den  Durchschnitts- 
lohn, der  sich  auf  nur  16  Mark  stellt,  wenn  man  die  arbeits- 
losen Wochen  in  Abzug  bringt,  von  2003  betheiligten 
Drechslerarbeitern  nur  1118  heranreichen,  42  pCt.  sich  also 
mit  einem  weit  niedrigeren  Lohne  begnügen  müssen. 

Einen  grossen  Theil  der  ganzen  Arbeit  umfasst  eine 
statistische  Zusammenstellung  der  jährlichen  Ausgaben,  und 
zwar  unter  Trennung  der  Ausgaben  für  Nahrung,  Wohnung 
und  sonstige  Bedürfnisse.  Es  ist  aber  augenscheinlich,  dass 
die  zahlreichen  Einzelangaben  nur  einen  sehr  geringen 
Werth  besitzen;  denn  ohne  die  Grundlage  eines  streng 
durchgeführten  Wirthschaftsbuches  werden  eben  nur  die 
Ausgaben  für  Wohnungsmiethen  korrekt  angegeben  werden 
können,  während  die  übrigen  Angaben  nur  Schätzungswerth 
besitzen.  Stehen  aber  eine  grössere  Anzahl  von  Schätzungs- 


No.  43. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


513 


werthen  zur  Verfügung,  so  eliminirt  sich  doch  wenigstens 
zum  Theil  das  willkürliche  Moment,  und  die  Durchschnitts- 
zahlen dürften  sich  dann  nicht  allzu  sehr  von  der  Wirk- 
lichkeit entfernen.  Wir  geben  deshalb  in  Folgendem  nur 
die  aus  der  Tabelle  gezogenen  Durchschnittsangaben 
wieder. 

Es  betragen  die  Ausgaben  für: 


bei  einem  Ein- 

Nahrungs- 

mittel 

Wohnung 

sonstigen 

Bedarf 

Sa. 

De 

ficit 
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•rH  W 

600-800 

717 

580,0 

73,6 

80,4 

10,2 

127,7 

16,2 

788,1 

71,1 

10,0 

80 1 — 900 

840,8 

579,5 

66,5 

104,4 

1 1,9 

186,7 

21,6 

870,6 

29,8 

3,5 

901  u.mehr 

1 138,3 

730,3 

63,5 

166,7 

14,5 

252,8 

22,0 

1 149,8 

1 1,5 

1,0 

Es  wird  also  auch  hier  wieder  die  Thatsache  be- 
stätigt, dass  je  geringer  das  Einkommen  einer  Person  ist, 
ein  um  so  grösserer  Procentsatz  des  Einkommens  für  die 
Ernährung  ausgegeben  werden  muss. 

Interessant  ist  die  vorliegende  Erhebung  noch  in  so- 
fern, als  sie  auch  Auskunft  über  die  Grösse  der  Betriebe 
giebt. 

Es  arbeiteten: 


1 — 5 Arbeiter  in  304 
6—10  „ „ 117 

11—20  „ „116 

21—30  „ „ 50 

31—40  „ „ 42 

41  u.mehr  ,,  „ 98 


Betrieben  oder  41,81  pCt. 

„ „ 16,10  „ 

„ 15,95  „ 

„ „ 6,88  „ 

„ „ 5,78  „ 

„ 13,48  „ 


Aus  dieser  Zusammenstellung  zieht  Herr  Leipart  den 
Schluss,  dass  das  Drechslergewerbe  noch  vorwiegend  Klein- 
gewerbe ist,  weil  58  pCt.  aller  hier  aufgeführten  Betriebe 
nur  1 — 10  Arbeiter  aufweisen,  und  weil  weiterhin  in  allen 
den  Werkstätten,  die  mehr  als  15  Drechslergesellen  beschäf- 
tigen, die  Drechsler  nur  als  Branchearbeiter  z.  B.  als 
Holzdrechsler  in  Möbelfabriken,  als  Stockdrechsler  in 
grösseren  Schirmfabriken,  als  Modelldrechsler  in  grösseren 
Metallfabriken,  Maschinenbauanstalten  etc.  beschäftigt  sein 
sollen.  Da  Herr  Leipart  aber  keine  Belege  für  seine  Be- 
hauptung beibringt,  sind  wir  nicht  in  der  Lage,  die  Richtig- 
keit seiner  Schlussfolgerung  nachzuprüfen;  jedenfalls  aber 
sind  die  727  Betriebe,  auf  welche  sich  die  Erhebungen  er- 
strecken, nicht  maassgebend  für  das  gesammte  deutsche 
Drechslergewerbe. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  die  Thatsache,  dass  in 
den  gesammten  727  Betrieben  von  38  755  insgesammt  be- 
schäftigten Personen  nur  3151  gelernte  Drechslergesellen 
sind  oder  591 1 (also  1 5 pCt.),  wenn  man  die  in  176  Betrieben 
beschäftigten  Hülfsarbeiter  über  16  Jahre,  865  Lehrlinge  in 
322  Betrieben,  171  jugendliche  Arbeiter  unter  16  Jahren  in 
73  Betrieben,  519  Arbeiterinnen  in  75  Betrieben,  von  denen 
allen  nähere  Berufsangaben  fehlen,  mit  hinzurechnet.  Flerr 
Leipart  macht  hierzu  die  treffende  Bemerkung,  dass  die 
Tage  des  zünftlerischen  Drechslergewerbes  gezählt  seien: 
„Das  Drechslergewerbe  ist  an  und  für  sich  zum  Gross- 
betriebe wenig  geeignet,  die  Holzdrechslerei  als  Grundlage 
des  ganzen  Gewerbes  z.  B.  gar  nicht.  Die  Mehrzahl  der 
Branchen  wird  jedenfalls  mit  der  Zeit  in  anderen  Gross- 
betrieben aufgehen  , die  Knopf-  und  Pfeifenfabrikation 
höchstens  ausgenommen.  Aber  auch  hier  trifft  man  grössere 
Fabriken  nur  selten,  sondern  meistens  Hausindustrie.“ 

ln  353  Betrieben  (oder  46pCt.)  wird  mit  Motoren  ge- 
arbeitet (gegen  39  pCt.)  im  Jahre  1890)  , hauptsächlich 
kommen  Wasser-  und  Gasmotoren  in  Betracht.  Von  den 
in  die  Erhebung  einbezogenen  Arbeitern  arbeiten  1 129  (oder 
52,5  pCt.)  mit  motorischer  Betriebskraft,  1020  (oder  47,5  pCt.) 
mit  Fussbetrieb. 

Aus  79  Betrieben  (oder  25  pCt.  der  in  Betracht  kom- 
menden) wird  gemeldet,  dass  die  Lehrlinge  nur  zu  Spezial- 
arbeiten  angelernt  werden,  um  recht  bald  den  Gesellen 
Konkurrenz  machen  zu  können.  In  102  Betrieben  (oder 
31,7pCt.)  müssen  die  Lehrlinge  auch  Ueberstunden  machen. 


204  Arbeitgeber  oder  63  pCt.  Derjenigen,  welche  Lehrlinge 
halten,  lassen  dieselben  Fortbildungsschulen  besuchen. 

Da  von  gewisser  Seite  Angaben  organisirter  Arbeiter 
immer  mit  einigem  Misstrauen  betrachtet  werden,  so  sei 
noch  die  Bemerkung  hinzugefügt,  dass  von  den  an  der  Er- 
hebung betheiligten  2149  Arbeitern  816  (oder  38  pCt.)  einer 
Organisation  nicht  angehörten.  Von  den  übrigen  1333  oder 
62  pCt.  waren  1232  Mitglieder  der  Vereinigung  der  Drechsler 
und  Berufsgenossen  Deutschlands,  67  lokal  organisirte 
Drechsler  in  Berlin,  6 dito  in  Dresden,  je  4 Mitglieder  des 
Tischlerverbandes  und  des  Metallarbeiterverbandes,  1 Mit- 
glied des  Verbandes  der  Steinmetzen  und  8 Mitglieder  des 
Fabrikarbeiterverbandes,  ausserdem  8 Mitglieder  der  Hirsch- 
Duncker’schen  Gewerkvereine,  1 Mitglied  des  Katholischen 
Gesellenverbandes  und  je  ein  Angehöriger  eines  „protestan- 
tischen“ und  eines  „evangelischen“  Arbeitervereines. 

Magdeburg.  H.  Lux. 

Reichsenquete  über  die  Arbeitsverhältnisse  imHandels- 
gewerbe.  Auf  die  Eingabe  des  Verbandes  kaufmännischer 
Vereine,  die  in  No.  41  S.  492  dieser  Zeitschrift  näher  be- 
sprochen worden  ist,  hat  der  Vorsitzende  der  Kommission 
für  Arbeiterstatistik,  Unterstaatssekretär  Dr.  von  Rotten- 
burg, nunmehr  eine  Antwort  ertheilt,  der  wir  folgende  Sätze 
entnehmen,  die  auf  die  Art,  wie  die  Erhebungen  geplant 
sind,  einiges  Licht  werfen: 

„Nach  den  Beschlüssen  der  Kommission,  über  deren 
Ausführung  der  Herr  Reichskanzler  demnächst  zu  befinden 
haben  wird,  soll  das  durch  die  Fragebogenerhebung  ge- 
wonnene statistische  Material  über  Arbeitszeit,  Kündigungs- 
fristen und  Lehrlingsverhältnisse  im  Handelsgewerbe  durch 
mündliche  Vernehmung  einzelner  Auskunftspersonen  und 
durch  Befragung  von  Interessentenvertretungen  ergänzt 
werden.  Eine  Heranziehung  der  Gewerbegerichte  glaubte 
die  Kommission  schon  um  deswillen  nicht  befürworten  zu 
können,  weil  dieselben  nicht  in  allen  Theilen  des  Reiches 
in  genügender  Anzahl  vorhanden  sind,  überdies  die  An- 
gelegenheiten der  Ladengeschäfte  nicht  in  näherer  Be- 
ziehung zu  den  eigentlichen  Aufgaben  der  Gewerbegerichte 
stehen.  Die  Befragung  der  Interessentenvertretungen  wird 
nach  Ansicht  der  Kommission  zweckmässiger  Weise  zu- 
nächst schriftlich  geschehen,  wobei  jedoch  Vorbehalten 
bliebe,  später  die  Vertreter  bedeutender  Verbände  und 
Vereine  auch  noch  mündlich  zu  hören.“ 

Jugendliche  Arbeiter  im  Steinkohlenbergbau.  Nach 
Meinung  des  kürzlich  erschienenen  Jahresberichts  des  Vereins 
für  die  bergbaulichen  Interessen  im  Ruhrgebiet  für  1892 
erscheint  auf  Grund  der  bundesräthlichen  Verordnung  vom 
17.  März  1892  die  Beschäftigung  jugendlicher  Arbeiter 
unter  Tage  ausgeschlossen.  In  Wirklichkeit  handelt  diese 
Verordnung  von  den  Arbeitern  unter  Tage  überhaupt  nicht 
und  ist  auch  durch  die  Gewerbeordnungsnovelle  von  1891 
die  Arbeit  der  14 — 1 6jährigen  jungen  Arbeiter  unter  Tage 
nicht  besonders  erschwert  worden.  Nach  Aussage  des 
Jahresberichts  fand  eine  Beschäftigung  Jugendlicher  unter 
Tage  „auch  bisher  wohl  nirgends“  statt.  Nach  den  Jahres- 
berichten der  Bergbehörden  wurden  jedoch  1891  auf 
152  Steinkohlenbergwerken  des  Dortmunder  Bezirks 
268  Jungen  unter  Tage  beschäftigt,  und  hat  diese  unter- 
irdische Beschäftigung  Jugendlicher  in  den  letzten  Jahren 
in  ganz  Preussen  reissend  zugenommen,  nach  Angabe  der 
Berichterstatter  um  an  Löhnen  zu  sparen  und  unter  dem 
Hebel  einer  Steigerung  der  Löhne  Jugendlicher.  Die  Art  der 
Beschäftigung  war  Thürschliessen , Wettertrommeldrehen, 
Bergeversetzen,  Schieben,  An-  und  Abknebeln  der  Förder- 
wagen, Weichenstellen,  Säubern  der  Förderstrecken.  Ge- 
wisse Arbeiten  unter  Tage  sind  den  Jugendlichen  längst 
durch  Polizeiverordnuug  verboten. 

Für  jugendliche  Arbeiter  von  14 — 16  Jahren  über  Tage 
enthält  die  bundesräthlicheVerordnunghauptsächlich  folgende 
Neuerungen:  1.  verschärfte  Vorschriften  über  das  ärztliche 
Attest;  2.  zwölfstündige  Minimalruhezeit  zwischen  zwei 
Schichten;  3.  Zulassung  sechsstündiger  Schichten  ohne 
Pause,  „sofern  die  Art  des  Betriebes  an  sich  Unter- 
brechungen der  Beschäftigung  mit  sich  bringt.“  Wenn  nach 
dem  Vereinsbericht  die  Arbeitgeber  jetzt  von  den  Eltern 


514 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  43. 


vielfach  mit  Bitten  bestürmt  werden,  ihre  der  Schule  ent- 
wachsenen, verwildernden  Söhne  doch  zu  beschäftigen,  so 
ist  das  theilweise  wohl  eine  Folge  der  allgemeinen  Arbeiter- 
entlassungen von  1892;  wahrscheinlich  hat  auch  § 138  der 
Gewerbeordnungsnovelle  (Festlegung  der  Arbeitspausen  für 
Jugendliche),  der  gerade  im  Bergbau  schwer  durchführbar 
ist,  zu  vielen  Entlassungen  Jugendlicher  geführt. 

Der  Bericht  kommt  nun  auf  Grund  seiner  theilweise 
irrthümlichen  Prämissen  zu  folgendem  Schluss:  „Wenn  nun- 
mehr die  gesammte  jüngere,  aus  der  Schule  entlassene 
Generation  mehrere  Jahre  hindurch  beschäftigungslos  bleibt 
und  ihren  Eltern  zur  Last  fällt,  so  wird  dieselbe  späterhin 
in  zahlreichen  Fällen  zu  ernster  Arbeit  überhaupt  nicht 
mehr  fähig  sein.  Der  Verein  steht  deshalb  auf  dem  Stand- 
punkte, dass  die  Beschäftigung  der  jugendlichen  Arbeiter, 
insbesondere  der  Bergarbeitersöhne,  auch  in  Zukunft  nach 
Möglichkeit  fortzusetzen  sei  und  zwar  dadurch,  dass  eine 
grössere  Anzahl  von  jugendlichen  Arbeitern  als  bisher  ein- 
gestellt und  ihnen  durch  den  Wechsel  der  Arbeit  die  vor- 
geschriebenen Pausen  und  die  kürzere  Schicht  ermöglicht 
werden.“ 

Zum  Verständniss  dieser  Auslassung  sei  folgendes  be- 
merkt. Die  Beschäftigung  von  14— 16jährigen  jungen  Leuten 
auf  Bergwerken  über  Tage  konnte  bisher  in  doppelter  Weise 
stattfinden:  1.  nach  der  Gewerbeordnung  zehnstündige 

Arbeitszeit  mit  zweistündiger  Pause,  also  zwölf  Stunden, 
zu  vertheilen  auf  den  fünfzehnstündigen  Zeitraum  zwischen  halb 
sechs  Uhr  Morgens  und  halb  neun  Uhr  Abends;  2.  nach 
der  Ausnahmevergünstigung  für  Bergwerke  (Bekannt- 
machungen des  Bundesraths  vom  10.  Juli  1881  und  12.  März 
1883)  einmaliger  Schichtwechsel  mit  zwei  achtstündigen 
Schichten  und  je  einer  einstündigen  Pause;  diese  18  Stunden 
sind  auf  die  17  Stunden  zwischen  Morgens  fünf  und  Abends 
zehn  Uhr  zu  vertheilen.  (Es  wird  also  die  eine  Arbeitsschicht 
von  acht  auf  sieben  Stunden  verkürzt  werden  oder  eine 
Stunde  lang  Doppelarbeit  stattfinden  müssen.)  Durch  die 
Bekanntmachung  vom  17.  März  1892  ist  eine  dritte  Möglich- 
keit hinzugekommen:  sechsstündige  Arbeitsschichten  ohne 
Pause,  wobei  aber  der  Tag  wieder  erst  um  halb  sechs  be- 
ginnen darf  und  schon  um  halb  neun  schliessen  muss.  Es 
kann  also  von  zweimaligem  Schichtwechsel  nicht  die  Rede 
sein;  dagegen  ist  die  Möglichkeit  geboten,  zwei  Schichten 
auf  zwölf  Stunden  zusammendrängen,  was  für  den  Arbeit- 
geber um  so  werthvoller  da  ist,  wo  der  Arbeitstag  für  die 
Erwachsenen  über  Tage  zwölf  Stunden  dauert;  und  es  wird 
vor  allem  die  Schwierigkeit  des  § 138  der  Gewerbeordnungs- 
novelle umgangen. 

Wenn  nun  die  obige  Bemerkung  des  Jahresberichts 
von  einer  Vermehrung  der  jugendlichen  Arbeiter  und  zu- 
gleich von  Einführung  eines  „Wechsels  der  Arbeit“,  d.  h. 
doch  wohl  Schichtwechsels  spricht,  so  scheint  sie  mir  die 
Absicht  des  Vereins  kundgeben  zu  wollen,  von  dem  ersten 
Beschäftigungssystem  zum  zweiten  oder  dritten,  d.  h.  von 
der  einfachen  zur  doppelten  Schicht  und  von  der  zehn- 
stündigen zur  acht-  und  sechsstündigen  Schicht  überzugehen. 
An  die  sechsstündige  Schicht  wird  vermuthlich  in  erster 
Linie  gedacht:  denn  ins  Blaue  hinein  ohne  Anregung  aus 
den  Arbeitgeberkreisen  wird  der  Bundesrath  auf  die  un- 
unterbrochene sechsstündige  Schicht  nicht  verfallen  sein. 

Der  Uebergang  zu  kürzeren  Schichten  und  die  Ver- 
theilung  der  Erwerbsgelegenheit  auf  eine  grössere  Zahl  von 
Familien  ist  an  sich  nur  zu  begrüssen,  nicht  nur  im 
wirtschaftlichen  und  sanitären,  sondern  auch  im  pädagogi- 
schen Interesse.  Es  ergeben  sich  aber  daraus  für  die  Berg- 
inspektion neue  Aufgaben.  Zunächst  hat  sie  aufzumerken, 
dass  nicht  der  Junge,  der  morgens  von  halb  sechs  bis 
halb  zwölf  auf  dem  Bergwerk  A.  seine  Schicht  abarbeitet, 
nachmittags  auf  dem  Bergwerk  B.  noch  einmal  zu  arbeiten 
anfängt,  — dass  er  nicht  nachmittags  in  der  Landwirt- 
schaft tagelöhnert,  liegt  ausserhalb  der  Kontrollbefugniss 
des  Berginspektors.  Zweitens  aber  liegt  jetzt  die  Möglich- 
keit vor,  dem  sechsstündigen  Jugendlichen  im  Schichtwechsel 
Arbeiten  zu  überweisen,  die  an  die  zwölfsttindige  Schicht 
gebunden  sind  und  deshalb  bisher  von  Erwachsenen  ver- 
richtet werden  mussten.  Es  wird  Acht  zu  geben  sein,  dass 
dies  nur  solche  Arbeiten  seien,  deren  Art  „an  sich  Unter- 
brechungen der  Beschäftigung  mit  sich  bringt.“ 


Hausindustrielle  Thätigkeit  der  Frauen  in  Baden. 

Im  Grossherzogthum  Baden  hat  vor  Kurzem  eine  amtliche 
Untersuchung  über  den  gegenwärtigen  Stand  der  gesammten 
hausindustriellen  Thätigkeit  der  Frauen  im  Lande  nach 
Amtsbezirken  stattgefunden.  Diese  Erhebungen  stehen  in  Zu- 
sammenhang mit  der  von  regierender  Stelle  sehr  begünstigten 
Thätigkeit  wohlthätiger  Frauenvereine;  ihre  Ergebnisse  sind 
also  wohl  von  dem  Verdacht,  zu  schwarz  gefärbt  zu  sein, 
gänzlich  frei.  Nach  halbamtlichen  Mittheilungen  besagen  sie 
nun,  dass  im  Allgemeinen  ausser  auf  den  Gebieten  der  Näh- 
nadelarbeit zur  Anfertigung  der  Landestrachten,  der  Textil- 
industrie in  Seide  und  Wolle,  sowie  der  Strohflechterei  eine 
hausindustrielle  Thätigkeit  der  Frauen  vereinzelt  bei  der 
Herstellung  künstlicher  Blumen,  der  Anfertigung  von  Netz- 
unterjacken in  Seide  und  Wolle,  der  Weiss-  und  Baum- 
wollnäherei,  Strickerei  und  Dütenkleberei  vorkommt;  zahl- 
reicher findet  sich  die  Thätigkeit  der  Frauen  noch  im  An- 
schluss an  grössere  gewerbliche  Unternehmungen,  welche 
Theile  ihrer  Erzeugnisse  von  Frauen  in  deren  Wohnungen, 
ausführen  lassen.  Zunächst  ist  diese  Thätigkeit  der  Frauen 
einfacher  Art  und  stellt  keine  grossen  Anforderungen  an 
die  Geschicklichkeit  der  Arbeiterinnen.  Muster,  insbesondere 
herkömmliche  Muster,  finden  sich  nur  auf  dem  Gebiete  der 
Trachtenstickerei  und  auf  demjenigen  der  Strohflechterei. 
Im  Einzelnen  findet  sich  eine  hausindustrielle  Thätigkeit  der 
Frauen  auf  dem  Gebiete  der  Nähnadelarbeit  zur  An- 
fertigung gewisser  Theile  der  einheimischen  Landestrachten 
in  den  Bezirken  Neustadt,  St.  Blasien,  Villingen,  Freiburg 
und  Staufen.  Die  Arbeit  fällt  unter  den  Begriff  der  Kunst- 
stickerei und  besteht  in  der  Ausführung  einzelner  besonders 
geschmückter  Theile  der  Volkstrachten  des  Schwarzwaldes. 
Hier  und  da  werden  von  den  Stickerinnen  die  betreffenden 
Kleidungsstücke  auch  vollständig  fertiggestellt.  Die  Arbeit 
wird  meist  neben  der  Landwirthschaft  und  sonstigen  häus- 
lichen Verrichtungen  betrieben  und  richtet  sich,  da  der  Ab- 
satz meist  nur  an  Private  erfolgt,  durchaus  nach  den  je- 
weiligen Bestellungen.  Da  der  Verdienst  aus  dieser  Arbeit 
höchst  gering  und  die  Beschäftigung  eine  ganz  unregel- 
mässige ist,  bleibt  das  Arbeitserträgniss  ohne  jeden  Einfluss 
auf  die  Lebenshaltung  der  Arbeiterinnen,  die  an  und  für 
sich  schon  kümmerlich  genug  genannt  werden  muss.  Mit 
dem  Gebrauch  der  Volkstrachten  geht  diese  früher  etwas 
einträglichere  Arbeit  stetig  zurück;  ausserdem  macht  sich 
sogar  hier  die  Konkurrenz  der  Grossindustrie  in  geradezu 
vernichtender  Weise  geltend.  — Grösseren  Umfang  zeigt 
die  hausindustrielle  Thätigkeit  der  Frauen  auf  dem  Gebiete 
der  Textilindustrie  und  zwar  sowohl  in  der  Seiden-  als 
in  der  Baumwollweberei.  Zumeist  wird  die  Seidenweberei 
und  Seidentuchweberei,  von  denen  die  letztere  sich  aus- 
schliesslich mit  der  Herstellung  von  Foulards  befasst,  im 
Bezirke  Säckingen  — namentlich  in  den  oberen  Waldge- 
meinden und  in  der  Stadt  Säckingen  — , sodann  im  Bezirk 
Waldshut,  in  geringerem  Maasse  im  Bezirk  St.  Blasien  be- 
trieben. Der  Arbeitsverdienst  wird  auch  hier  als  gering  be- 
zeichnet, trotzdem  in  manchen  Gegenden  ganze  Familien 
auf  ihn  angewiesen  sind.  Ebenso  wird  die  hausindustrielle 
Winterarbeit  der  Frauen  in  der  Baumwollweberei,  welche 
in  den  Bezirken  St.  Blasien  und  Waldshut  vorkommt,  bei 
10  bis  12sttindiger  täglicher  Arbeitszeit  nur  mit  4 bis  5 
Mark  wöchentlich  gelohnt;  die  Erzeugnisse  der  Hausindustrie 
können  eben  auf  die  Dauer  mit  den  exakteren  Produkten 
der  Fabriken  nicht  konkurriren.  — Wohl  die  weiteste  Ver- 
breitung im  Lande  hat  die  hausindustrielle  Thätigkeit  der 
Frauen  auf  dem  Gebiete  der  Strohflechterei  gefunden. 
Diese  Art  der  hausindustriellen  Thätigkeit  wird  betrieben 
in  den  Bezirken  Triberg,  Villingen,  Waldkirch,  Buchen,  St. 
Blasien  Achern,  sowie  in  Weinheim.  In  letzterem  Orte  ist 
der  Arbeitsbetrieb  ein  regelmässiger  und  der  Verdienst  „kein 
ungünstiger“.  Im  Gegensatz  hierzu  befasst  sich  aber  die 
Strohflechterei  auf  dem  Schwarzwald  und  im  Oden- 
wald fasst  ausschliesslich  mit  der  Herstellung  solcher 
Geflechte,  welche  zu  Strohhüten  jeder  Art,  zum  geringeren 
Theile  auch  zu  anderen  Gebrauchsgegenständen,  wie 
Körbchen,  Vorlagematten  und  dergl.  Verwendung  finden,  und 
der  bei  dieser  Hausindustrie  von  Frauen  erzielte  Verdienst 
muss  als  ein  besonders  niedriger  bezeichnet  werden:  er 
beträgt  „im  günstigsten  Falle“  bei  10 — 12stündiger  täglicher 
Arbeitszeit,  neben  welcher  die  Frauen  offenbar  noch  ihr 


No.  43. 


SOZI A I .POII /TISCI I ES  CENTKALB I , A'J'T. 


515 


Hauswesen  besorgen.  4 M.,  oft  aber  auch  nur  1 bis  1,50  M. 
wöchentlich!  Flechtschulen  mit  staatlicher  Unterstützung 
haben  an  diesem  Elend  nichts  ändern  können,  das  aus 
Gewohnheit  und  Mangel  an  anderweiter  Beschäftigung 
weitergetragen  wird.  Die  Anfertigung  künstlicher  Blumen 
in  den  Bezirken  Buchen  und  Walldürn  (3  M.  wöchentlicher 
Verdienst),  die  Anfertigung  seidener  und  baumwollener 
Netzunterjacken  in  Freiburg,  die  maschinelle  Strickarbeit  in 
Schopfheim  (bis  3,60  M.  wöchentlicher  Verdienst  bei  7 bis 
9stündiger  täglicher  Arbeitszeit),  die  Weissstickerei  und 
Korsetnäherei  in  Messkirch,  sowie  die  Handschuhhäkelei 
durch  Kinder  am  gleichen  Ort  (2,50  M.  wöchentlicher  Ver- 
dienst!), die  Dütenkleberei  im  Bezirk  Achern,  die  Kar- 
tonagenarbeit  im  Bezirk  Lahr  (bei  12stündiger  täglicher 
Arbeitszeit  5—7  M.  wöchentlicher  Verdienst),  die  Herstellung 
von  Schirmüberzügen  im  Bezirke  Wolfach  und  die  Stroh- 
zwirnstickerei in  Waldshut  sind  eine  Reihe  sehr  kleiner 
und  lokaler  Hausindustrien,  die  sich  sämmtlich  durch  die 
proletarische  Lage  der  in  ihnen  beschäftigten  Frauen  aus- 
zeichnen. Und  nicht  weniger  ärmlich  sind  die  Verhältnisse 
der  weiblichen  Arbeiter,  die  hausindustriell  von  fabrikmässig 
betriebenen  Gewerben,  so  von  der  Seidenindustrie,  von  den 
Baumwollspinnereien,  von  Deckenfabriken,  Kattun-  und 
Trikotfabriken  im  Bezirk  Konstanz,  von  den  Knopffabriken 
für  Aufnähen  auf  Kartons  (12  Dutzend  Kartons  ein  Pfennig, 
Wochenverdienst  3—6  M.  bei  „geschickten“  Arbeiterinnen!) 
mit  scheusslichem  Truckunfug  durch  die  Zwischenhändler, 
endlich  von  den  Bürstenfabriken  in  den  Bezirken  Freiburg, 
Donaueschingen  und  Schönau,  sowie  in  der  Peitschen- 
fabrikation von  Eberbach  und  Mosbach  beschäftigt  werden. 
Ueberall  bei  weitgehender  Ausnutzung  der  weiblichen 
Arbeitskraft  Lohnverhältnisse  , die  fürchterlich  genannt 
werden  müssen.  Vielleicht  hat  diese  verdienstliche  amt- 
liche Erhebung  im  Grossherzogthum  Baden  die  willkommene 
Wirkung,  dass  man  an  maassgebender  Stelle  sich  der  Er- 
kenntniss  nicht  mehr  verschliesst:  Wohlthätigkeitsbestre- 
bungen,  so  gut  sie  gemeint  sein  mögen,  haben  hier  keinen 
Platz  mehr;  zur  Hebung  dieses  hausindustriellen  Elends 
müssen  weit  umfassendere  und  durchgreifendere  Maass- 
regeln auf  dem  Gebiete  der  Arbeiterschutzgesetzgebung 
und  der  allgemeinen  Gewerbepolitik  getroffen  werden. 

Arbeiterverhältnisse  in  Mecklenburg-Schwerin,  Das 

Grossherzogthum  Mecklenburg-Schwerin  besitzt  in  der  Per- 
son des  Landbaumeisters  Hennemann-Güstrow  einen  ausser- 
ordentlich tüchtigen  Gewerbeinspektor,  dessen  interessanter 
Bericht  für  1892  vor  Kurzem  erschienen  ist  und  der  in 
diesem  Aktenstück  folgende  Angaben  über  die  Arbeiter- 
verhältnisse des  Landes  macht.  Die  Ausdehnung  der  Auf- 
sicht (Gewerbeordnungsnovelle)  auf  Ziegeleien,  Torfstiche 
u.  s.  w.  erhöhte  die  Zahl  der  zu  besichtigenden  Betriebe 
auf  679  mit  12  342  erwachsenen  (II  397  männl.,  945  weibl.), 
330  jugendlichen  (309  männl.,  21  weibl.)  und  24  kindlichen 
Arbeitern.  Auch  hier  hat  offenbar  im  Berichtsjahre  grosse 
Noth  unter  den  Arbeitern  geherrscht,  denn  der  Verdienst 
derselben  ist  „vielfach  durch  nothgedrungene  Abkürzung 
der  Arbeitszeiten  und  Einschränkung  der  Arbeiterzahl,  da- 
her zeitweilige  Arbeitslosigkeit  der  Entlassenen  vermindert 
worden.“  Die  Aufsicht  der  Ortspolizeibehörden  Hess  Alles 
zu  wünschen  übrig;  die  Gewerbeordnung  ist  einem  grossen 
Theil  der  Unternehmer  nur  dem  Titel  nach  bekannt,  aber 
man  kommt  dem  Gewerbeinspektor  von  beiden  Seiten  mit 
wachsendem  Vertrauen  und  Verständniss  für  die  Forde- 
rungen des  Arbeiterschutzes  entgegen.  Das  wird  wohl  wie 
immer  an  der  Persönlichkeit  des  Beamten  liegen.  Die  Ar- 
beitsräume sind  namentlich  bei  kleinen  Betrieben,  die  Schlaf- 
stellen bei  Ziegeleien  und  Mühlenvon  sehr  schlechter  und  ge- 
sundheitswidriger Beschaffenheit.  Die  Arbeitszeit  hat  die 
Tendenz  abzunehmen.  So  ist  dieselbe  in  einer  grösseren 
Mühle  von  18  auf  14  Stunden  „ermässigt“  worden;  aus  60 
Arbeitsordnungen,  die  bei  dem  Beamten  eingegangen  waren 
und  über  die  er  ausführlicher  berichtet,  ergiebt  sich,  dass 
die  Mehrzahl  der  städtischen  Fabrikbetriebe  1 1 — lOstündige 
Arbeitszeit  hat,  dass  einerseits  noch  I3stündige,  anderer- 
seits aber  auch  (in  Buchdruckereien)  nur  972stündige 
vorkommt.  Allerdings  ist  mehrfach  die  Verpflichtung  zu 
Ueberarbeit  ausgesprochen.  Ganz  ungenügend  sind  die 
regelmässigen  Ruhezeiten  in  Mühlen  angeordnet,  wo  „am 


Sonntag  - Mittag  der  eine  Arbeiter  völlig  ermüdet  seine 
Sonntagsruhe  beginnt,  der  andere  wieder  an  die  Arbeit 
tritt.“  Auch  die  neuen  Vorschriften  der  Gewerbeordnung 
über  Sonntagsruhe  bieten  nach  dem  Gewerbeinspektor  noch 
wenig;  und  doch  legten  die  Arbeiter  sehr  grossen  Werth 
auf  zeitweilige  gründliche  und  längere  Ruheschicht  von 
mindestens  24  Stunden  alle  14  Tage.  Bemerkenswerth  ist, 
dass  von  den  60  untersuchten  Fabriken  nicht  weniger  als 
41  jede  Kündigungsfrist  aufgehoben  hatten.  Die  Zahl  der 
Arbeiterinnen  ist  in  Folge  des  Verbots  der  Nachtarbeit 
wesentlich  nur  in  den  Rohzuckerfabriken  (von  224  auf  79) 
gesunken;  der  frühere  Schluss  an  Festtagsvorabenden  war 
nach  den  Eindrücken  des  Beamten  „den  Arbeiterinnen 
äusserst  willkommen  und  in  sozialer  Hinsicht  von  bester 
Wirkung.“  Eine  Fabrik  setzte  ihn  gleich  auf  4 Uhr  fest. 
Natürlich  wurde  die  Verkürzung  der  Arbeitszeit  vorläufig 
theilweise  mit  Lohnverlust  bezahlt.  Die  Löhne  weiblicher 
Arbeiter  betragen  meist  I M.  pro  Tag,  gehen  aber  bei 
Konfektionsgeschäften  bis  auf  75  oder  50  Pfg.  pro  Tag  her- 
unter, was  auch  nach  Ansicht  des  Inspektors  direkt  die 
Prostitution  befördert.  Unangemessene  Ausnutzung  der 
jugendlichen  Arbeiter  (13  und  14  Stunden  täglich)  fand  sich 
namentlich  in  Ziegeleien,  wo  auch  die  Entlohnung  sehr 
niedrig  ist  (50  bis  höchstens  90  M.  pro  Jungen  und  Cam- 
pagne einschliesslich  Kost);  daneben  zeichneten  sich  Zimmer- 
plätze, Zeitungsdruckereien  und  Cigarrenmachereien  durch 
übermässige  Arbeitszeiten  für  jugendliche  Arbeiter  aus. 
Kein  Wunder,  wenn  aus  einzelnen  Fortbildungsschulen  mit 
spätem  Abendunterricht  mitgetheilt  wurde,  „dass  das  blosse 
Wachhalten  der  Schüler  oft  eine  schwere  Aufgabe  ist.“ 
Man  kann  sich  eben  offenbar  auch  in  Mecklenburg  aus 
zarter  Rücksicht  auf  das  Unternehmerinteresse  noch  nicht 
entschliessen,  den  Fortbildungsunterricht  auf  die  Tageszeit 
zu  verlegen.  Und  aus  ähnlichen  Gründen  dürfte  folgende 
Mittheilung  des  Beamten  über  Gewerbegerichte  zu  erklären 
sein:  „Die  Einrichtung  von  Gewerbegerichten  wurde,  so- 

weit ich  erfahren  habe,  in  drei  der  grössten  Städte  von 
Arbeitergruppen  beantragt,  indessen  von  den  höheren  Ver- 
waltungsbehörden abgelehnt  mit  der  Motivirung  nicht  ge- 
nügend vorliegenden  Bedürfnisses,  einmal  wegen  der  ge- 
ringen Anzahl  von  Streitigkeiten,  sodann  unter  Hinweis 
auf  das  Verfahren  vor  dem  Gemeindevorsteher.“  Diese 
„Motivirung“  zeugt  von  geringem  Verständniss  der  Behör- 
den für  die  Vorzüge  der  Gewerbegerichte.  Nach  alledem 
hat  der  tüchtige  Gewerbeinspektor  für  Mecklenburg-Schwerin 
ein  weites  Feld  für  eine  fruchtbare  und  hoffentlich  erfolg- 
reiche Thätigkeit  vor  sich. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Internationaler  Metallarbeiter-Kongress.  Am  4.  und 

5.  August  soll  in  Zürich  ein  internationaler  Metallarbeiter- 
Kongress  stattfinden,  für  den  das  vorbereitende  Komitee 
folgende  Verhandlungsgegenstände  in  Vorschlag  gebracht 
hat:  1.  Berichte  der  verschiedenen  Länderdelegationen. 

2.  Einführung  eines  beständigen  internationalen  Sekretariats. 

3.  Gemeinsames  Vorgehen  und  gegenseitige  Unterstützung 
zur  Anstrebung  von  vorzunehmenden  Arbeiterschutzgesetzen  : 
Beschränkung  der  Frauen-  und  Kinderarbeit;  Verkürzung 
der  Arbeitszeit  und  Einführung  des  Minimallohnes.  4.  Gegen- 
seitige Unterstützung  in  Streikfällen  und  einzelner  Gemaass- 
regelter.  5.  Wanderunterstützung.  6.  Besprechung  der 
wichtigsten  Verhandlungsgegenstände  des  Sozialisten -Kon- 
gresses. 

Zur  Bergarbeiterbewegung  in  Oesterreich.  Neben 
der  Frage  der  Achtstundenschicht  (Centralblatt  No.  36)  be- 
schäftigt die  österreichischen,  namentlich  die  böhmischen 
Bergarbeiter  insbesondere  die  Bergwerksinspektion. 
Das  furchtbare  Massenunglück  in  Przibram  hat  allerdings 
Verurtheilungen  von  Bergarbeitern,  deren  leichtsinniges  Ge- 
bahren  es  verursacht  haben  soll,  zur  folge  gehabt.  Die 
Masse  der  Bergarbeiter  ist  aber  überzeugt,  dass  dieser  und 
viele  ähnliche  Fälle  nur  die  Folge  ungenügender  Sicher- 
heitsvorkehrungen sind.  Kürzlich  wurde  in  zahlreichen 
Massenversammlungen  eine  Resolution  diskutirt  und  an- 


516 


sozialpolitisches  centralblatt. 


No.  43. 


genommen,  die  in  Anbetracht  der  schweren  Unglücksfälle 
in  Pribram,  Ossegg,  Bruch,  Tokod  (Ungarn),  Skolis,  Wöllan 
(Steiermark),  Putschirn  etc.  das  k.  k.  Äckerbauministerium 
auffordert:  1.  strenge  darauf  zu  achten,  dass  die  Unter- 
behörden und  Bergkommissariate  ihre  Aufmerksamkeit  den 
Gruben  zuwenden,  dass  auch  in  allen  Gruben,  die  zum 
Schutz  und  zur  Sicherstellung  des  Lebens  der  Bergarbeiter 
erforderlichen  Massregeln  getroffen  werden.  2.  eine  Kom- 
mission einzusetzen,  zu  der  Bergarbeiter  als  Sachver- 
ständige mit  hinzugezogen  werden  müssen,  und  die  alle 
Gruben  Oesterreichs  zu  untersuchen  habe.  3.  Bestimmungen 
zu  erlassen,  dass  in  Gruben,  wo  Schlagwetter  vorhanden 
sind,  Luftschächte,  genügende  Ventilationen,  richtige  Sicher- 
heitslampen etc.,  welche  zum  Schutze  des  Lebens  und  der 
Gesundheit  der  Bergarbeiter  unbedingt  erforderlich  sind, 
errichtet  werden.  Das  Parlament  und  die  Regierung  werden 
aufgefordert,  ein  Gesetz  als  Ergänzung  des  Berggesetzes 
zum  Schutze  der  Bergarbeiter  zu  erlassen,  welches  folgende 
Grundlage  hat:  Auf  jedem  Schacht  haben  die  Bergarbeiter, 
je  nach  dem  der  Betrieb,  von  100  Mann  aufwärts  wenigstens 
2 Mann  und  mehr  zu  wählen,  die  die  Aufgabe  haben,  den 
k.  k.  Bergkommissären  helfend  zur  Seite  zu  stehen  und 
darauf  zu  achten,  dass  die  bergbaupolizeilichen  Vorschriften 
nicht  nur  auf  dem  Papier  stehen,  sondern  auch  ausgeführt 
werden.  Die  2 oder  je  nach  dem  mehr  gewählten  Arbeiter 
als  Grubeninspektoren  von  Seite  der  Arbeiter  haben 
jede  Fahrlässigkeit  sowie  Nichtbeachtung  der  bergbaupolizei- 
lichen Bestimmungen  , überhaupt  jede  Ungesetzlichkeit, 
welche  von  Seite  der  Unternehmer  zu  Gunsten  der  Aus- 
beutung geschehen,  sofort  zur  Anzeige  zu  bringen.  Jene 
von  den  Arbeitern  gewählten  Fachleute  dürfen  nicht  ent- 
lassen werden  und  sind  in  denselben  Verhältnissen  wie 
Häuer  aus  der  Revierkasse  oder  vom  Staate  zu  entlohnen. 
Die  Bergarbeiter  fordern  das  Ackerbauministerium  auf,  die 
Beamten  der  Bergbehörden  besser  zu  besolden,  damit  sie 
es  nicht  nothwendig  haben,  Rücksicht  auf  die  Unternehmer 
zu  nehmen. 


Politische  Arbeiterbewegung. 

Arbeiterbewegung  in  der  Schweiz.  Am  15.  Juli  fand 
in  Neuenburg  die  Delegirtenversammlung  des 
Schweizerischen  Grütlivereins  statt,  an  die  sich  das 
sogenannte  Centralfest  — eine  festliche  Vereinigung  der 
über  die  ganze  Schweiz  zerstreuten  Sektionen  des  Grütli- 
vereins — anschloss.  Der  Verein  zählt  gegenwärtig  ca. 
14000  Mitglieder,  die  sich  in  den  neulich  revidirten  Sta- 
tuten zur  Sozialdemokratie  bekennen.  Von  den  Beschlüssen, 
die  sich  auf  sozialpolitische  Angelegenheiten  beziehen,  sind 
folgende  die  wichtigsten:  die  Delegirtenversammlung  ver- 
langt die  baldige  Einführung  des  Banknotenmonopols,  das 
schon  im  Oktober  1891  in  der  Volksabstimmung  grund- 
sätzlich beschlossen  worden  ist,  und  zwar  in  Verbindung 
mit  einer  reinen  Staatsbank.  Sie  setzt  sich  damit  in 
Gegensatz  zu  jener  Richtung,  die  sich  die  Emissionsbank 
als  eine  unter  M i tbetheiligung  des  Privatkapitals  gegründete 
Landesbank  denkt.  Eine  andere  Resolution  wünscht  die 
Einführung  von  obligatorischen  Berufsgenossenschaften  als 
Mittel  zur  Verkürzung  der  Arbeitszeit,  von  der  angenommen 
wird,  dass  sie  auf  gesetzlichem  Wege  sich  kaum  so  leicht 
anstreben  Hesse  wie  im  Jahre  1877  der  1 1 stündige  Normal- 
arbeitstag. Auf  Antrag  des  Arbeitersekretärs  Greulich 
nimmt  die  Versammlung  Stellung  zu  der  geplanten  Kranken- 
und  Unfallversicherung.  Ferner  verlangt  sie  einen  gesetz- 
lichen Schutz  des  Vereins-  und  Koalitionsrechtes,  das  zwar 
in  der  Verfassung  gewährleistet  ist,  dessen  Ausübung  aber 
dem  in  wirtschaftlicher  Abhängigkeit  lebenden  Arbeiter 
vom  Brodherrn  oft  unmöglich  gemacht  wird.  Als  Mittel 
werden  angegeben:  die  schon  erwähnten  obligatorischen 
Berufsgenossenschaften,  strafrechtliche  Verfolgung  der  Ver- 
letzungen des  Vereinsrechtes,  Uebergehung  der  strafbaren 
Firmen  bei  Vergebung  von  Submissionsarbeiten  und  An- 
erkennung des  Rechtes  auf  Arbeit.  Zwei  andere  Resolutionen 
befassen  sich  mit  dem  Militarismus,  dessen  Einschränkung 
verlangt  wird,  und  mit  der  geplanten  Kodifikation  des 


Strafrechtes,  von  dem  die  Arbeiterschaft  erwarte,  dass  es 
in  ausgiebigem  Maasse  den  sozialen  Verhältnissen  und  den 
neueren  Strafrechtstheorien  Rechnung  tragen  werde. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Zur  Durchführung  der  Sonntagsruhe  in  Industrie 
und  Handwerk.  Bekanntlich  war  beabsichtigt,  im  Juli 
Vertreter  der  Interessentenkreise  zu  Besprechungen  über  die 
Durchführung  der  Sonntagsruhe  in  Industie  und  Handwerk 
zu  berufen.  Wie  offiziös  mitgetheilt  wird,  ist  diese  Absicht 
nunmehr  wieder  aufgegeben  worden,  da  es  zweckmässiger 
sei,  zunächst  die  einzelnen  Berufszweige  über  die  geplanten 
Bestimmungen  in  Kenntniss  setzen  und  erst,  nachdem  die 
in  Frage  kommenden  wirthschaftlichen  Vertretungen  das 
Material  erhalten  hätten,  zur  Abhaltung  der  Konferenzen 
zu  schreiten.  Dabei  wird  die  ursprünglich  beabsichtigte 
Publikation  der  Denkschrift  und  des  Entwurfs  der  Aus- 
führungsbestimmungen über  die  Sonntagsruhe  in  Industrie 
und  Handwerk  unterbleiben.  Dagegen  ist  das  gesammte 
Material  den  Einzelregierungen  mit  dem  Wunsche  über- 
wiesen worden,  es  gleichmässig  und  gleichzeitig  den  Ver- 
einigungen der  Arbeitgeber  sowie  der  Arbeitnehmer  zu- 
gänglich zu  machen.  Durch  dieses  Vorgehen  soll  den 
Interessenten  Gelegenheit  gegeben  werden,  sich  vor  den 
Besprechungen  mit  den  behördlichen  Organen  genau  und 
eingehend  über  die  in  Aussicht  genommenen  Maassnahmen 
zu  unterrichten.  Die  Anhörung  der  Sachverständigen  soll 
dann,  nachdem  die  Bekanntgabe  des  Materials  an  die  Ver- 
tretungen der  einzelnen  Berufszweige  stattgefunden  hat, 
Ende  September  oder  Anfang  Oktober  erfolgen. 

Man  sieht,  dass  es  sich  also  um  eine  neue  Hinaus- 
schiebung der  Regelung  dieser  wichtigen  Angelegenheit 
handelt.  Wann  endlich  etwas  Praktisches  geschaffen  sein 
wird,  lässt  sich  unter  diesen  Verhältnissen  gar  nicht  ab- 
sehen. 


Arbeiterversicherung. 

Die  Unfallversicherung  in  Frankreich. 

Nach  langen  Irrfahrten  ist  der  französischen  Kammer 
neuerlich  ein  Unfallversicherungs-Gesetzentwurf  zugegangen 
und  von  ihr  behandelt  worden.  Bis  zur  Stunde  besitzt 
Frankreich  trotz  aller  Vorbilder  kein  Spezialgesetz,  das  die 
Pflicht  der  Unternehmer  zum  Schadenersatz  für  die  Betriebs- 
unfälle ihrer  Arbeiter  feststellte,  geschweige  denn  ein  Ar- 
beiter-Unfallversicherungsgesetz. Für  die  Haftpflicht  der 
Unternehmer  ist  gegenwärtig  das  Zivilrecht  allein  maass- 
gebend. Trifft  den  Arbeiter  irgend  ein  Unfall,  so  kann  er 
bezw.  seine  Angehörigen  nur  auf  Grundlage  der  Artikel 
1382 — 1386  des  Code  civil  klagbar  auftreten  und  somit  gleich 
allen  sonstigen  Personen  nur  Schadenersatz  verlangen, 
wenn  der  Unfall  durch  das  Verschulden  des  Unternehmers, 
seines  Bevollmächtigten  oder  sonstigen  Vorgesetzten 
(prepose),  durch  mangelhafte  Beschaffenheit  seiner  Ge- 
bäude oder  durch  die  unter  seiner  Hut  stehenden  Thiere 
hervorgerufen  wurde.  Wird  der  Arbeiter  demnach  durch 
einen  Unfall  verletzt  oder  getödtet,  der  durch  höhere  Ge- 
walt, Zufall  oder  durch  sein  eigenes  Verschulden,  und  sei 
es  auch  ein  noch  so  leichtes,  hervorgerufen  wurde,  so  steht 
ihm  oder  seinen  Angehörigen  kein  Klagerecht  zu.  Aber 
selbst  in  vielen  Fällen,  wo  dem  Unternehmer  das  Ver- 
schulden an  dem  Unfall  trifft,  muss  der  Beschädigte  leer 
ausgehen,  da  ihn  in  seiner  Eigenschaft  als  Kläger  die  Be- 
weislast trifft.  Es  kann  darum  nicht  Wunder  nehmen,  dass 
bei  mindestens  75  von  100  Unfällen  die  französische  Gesetz- 
gebung dem  Opfer  bezw.  seinen  Hinterbliebenen  jede  Ent- 
schädigung verweigert.  Dabei  ist  noch  von  allen  jenen 
Fällen  abzusehen,  wo  die  Opfer  oder  deren  Hinterbliebenen,  des 
langen  Prozessirens  müde,  einen  für  sie  kläglichen  Vergleich 
eingehen  oder  wegen  der  Zahlungsunfähigkeit  der  betreffen- 
den Unternehmer  ganz  leer  ausgehen. 


No.  43. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


517 


All  diesen  Uebelständen  soll  nun  durch  den  vorliegen- 
den Entwurf,  der  in  der  Sitzung  vom  10.  Juni  mit  493  gegen 
4 Stimmen  angenommen  wurde,  abgeholfen  werden.  Der 
Entwurf  lehnt  sich  theils  an  das  deutsche,  theils  an  das  öster- 
reichische Unfallversicherungsgesetz  an,  ohne  indess,  wie 
gleich  von  vorn  herein  bemerkt  sei,  so  bureaukratisch  an- 
gehaucht zu  sein.  Während  in  den  beiden  genannten  Ge- 
setzen es  von  unteren  und  höheren  Verwaltungsbehörden, 
Landes-Centralbehörden,  Ortspolizeibehörden,  Staatsbeamten 
etc.  völlig  spukt,  ist  in  dem  französischen  Entwürfe  kaum 
die  Rede  davon.  Er  umfasst  84  Artikel.  Danach  haben 
ein  Anrecht  auf  Entschädigung  alle  im  Baugewerbe, 
in  Hüttenwerken,  Fabriken,  Transportunternehmungen  auf 
Werften,  Stapeln,  sowie  in  Bergwerken,  Gruben  und  Stein- 
brüchen beschäftigten  Arbeiter  und  Angestellten,  die  während 
und  in  Folge  ihrer  Arbeit  von  einem  Unfall  betroffen  werden. 
Dasselbe  gilt  von  Arbeitern  und  Angestellten  eines  jeden 
Betriebes  oder  Theiles  desselben,  in  welchen  Explosivstoffe 
erzeugt  oder  angewendet  werden,  oder  Dampfmaschinen 
oder  sonstige  Triebwerke  zur  Verwendung  kommen,  die 
durch  elementare  Kraft  (Wind,  Wasser,  Dampf,  Gas,  Heiss- 
luft, Elektrizität  etc.)  oder  durch  Thiere  bewegt  werden. 
Diese  Bestimmung  findet  auch  Anwendung  auf  Arbeiter  und 
Angestellte  analoger  Unternehmungen  und  Betriebe  des 
Staates,  der  Departements,  Gemeinden  und  öffentlichen 
Anstalten.  Dabei  muss  noch  bemerkt  werden,  dass  zu  den 
erwähnten  Betrieben  auch  die  land-  und  forstwirthschaft- 
lichen  Betriebe  zählen,  soweit  sie  eben  durch  elementare 
Kraft  oder  Thiere  bewegte  Triebwerke  verwenden,  was 
zwar  nicht  der  Text  des  Gesetzes,  wohl  aber  der  ihm  bei- 
gegebenen Kommissionsbericht  ausdrücklich  erwähnt. 

Was  den  Umfang  und  die  Berechnung  der  Entschädigung 
anbelangt,  setzt  der  Entwurf  fest,  dass  im  Falle  dauernder 
absoluter  Arbeitsunfähigkeit  — und  als  solche  wird  Blind- 
heit, Verlust  zweier  Gliedmaassen,  sowie  jedes  unheilbare 
Gebrechen  betrachtet,  das  den  vom  Unfall  Betroffenen  ausser 
Stand  setzt  zu  arbeiten  und  für  seinen  Unterhalt  zu  sorgen 
— das  Opfer  Anrecht  auf  eine  zwei  Drittel  seines  Jahres- 
Arbeitsverdienstes  betragende  Rente  habe.  Ist  die  Erwerbs- 
unfähigkeit eine  unvollständige,  dann  ist  die  Rente  im  Ver- 
hältniss  zur  verbliebenen  Erwerbsfähigkeit  zu  kürzen.  Ein 
Viertel  dieser  Rente  ist  auf  Verlangen  des  Entschädigungs- 
berechtigten in  Kapital  auszuzahlen,  um  ihm  so  die 
Möglichkeit  zu  geben,  seine  Existenzmittel  durch  irgend  ein 
Geschäft  oder  Unternehmen  zu  erhöhen.  Zieht  der  Unfall 
den  Tod  nach  sich,  dann  ist  als  Schadenersatz  zu  leisten: 
1.  ein  Beerdigungsbeitrag  in  der  Höhe  von  lOOfrcs.;  2.  eine 
den  Hinterbliebenen  vom  Todestage  an  zu  gewährende 
Rente  und  zwar  im  Betrage  von  20  pCt.  des  Jahres- 
Arbeitsverdienstes  für  die  überlebende  nicht  geschiedene 
Gattin  bezw.  den  Gatten  (le  conjoint  survivant  non  divorce); 
von  15  pCt.  für  ein  vater-  oder  mutterloses  Kind,  von  25  pCt. 
für  zwei  Kinder,  von  35  pCt.  für  drei  und  von  40  pCt.  für 
vier  und  mehr  Kinder.  Sind  die  Kinder  vater-  und  mutter- 
los, so  erhält  ein  jedes  20  pCt.  Diese  Rente  ist  ihnen  bis 
zu  ihrem  zurückgelegten  16.  Lebensjahr  auszufolgen,  doch 
darf  sie  im  ersteren  Falle  zusammengenommen  nicht  mehr 
als  40  pCt.,  im  letzteren,  das  ist  bei  Doppelwaisen,  nicht 
mehr  als  60  pCt.  betragen.  Die  unehelichen,  vor  dem  Unfall 
anerkannten  Kinder  haben  dasselbe  Anrecht  auf  diese  Rente 
wie  die  ehelichen  Kinder.  War  der  Verstorbene  ledig, 
Wittwer,  Wittwe  oder  kinderlos,  erhält  jeder  der  Ascendenten, 
für  deren  Unterhalt  er  zu  sorgen  hatte,  eine  Rente  im  Betrage 
von  10  pCt.  des  Jahres- Arbeitsverdienstes,  ohne  dass  jedoch 
die  Gesammtrente  20  pCt.  übersteigen  darf.  Beträgt  der  jähr- 
liche Verdienst  eines  Arbeiters  oder  Angestellten  mehr  als 
2000  frcs.,  kommt  blos  dieser  Betrag  in  Berechnung.  Die 
Hinterbliebenen  eines  Ausländers,  welche  zur  Zeit  des  Un- 
falls nicht  auf  französischem  Boden  wohnten,  haben  keinen 
Anspruch  auf  die  vorbezeichneten  Renten,  es  sei  denn,  dass 
sie  nachweisen,  dass  in  dem  Heimathlande  des  Verstorbenen 
die  Franzosen,  ohne  die  Bedingung  des  Wohnsitzes,  in  den 
Genuss  der  Rente  treten. 

Vergleicht  man  nun  diese  Bestimmungen  mit  den  gleich- 
namigen des  deutschen  oder  österreichischen  Unfallgesetzes, 
so  findet  man,  dass  sie  sich  von  diesen  vor  allem  dadurch 
recht  vortheilhaft  unterscheiden,  dass  die  unehelichen, 
vor  dem  Unfall  anerkannten  Kinder  den  ehelichen 


vollkommen  gleichgesetzt  sind.  Das  deutsche  Gesetz 
berücksichtigt  nur  die  unehelichen  Kinder  von  Arbeiterinnen 
und  die  legitimirten  unehelichen  Kinder  der  Arbeiter,  die 
dann  allerdings  auch  den  ehelichen  ganz  gleich  gestellt  sind. 
Das  österreichische  Gesetz  spricht  den  unehelichen  Kindern 
eine  viel  niedrigere  Rente  als  den  ehelichen,  nämlich 
blos  10  pCt.  des  Arbeitsverdienstes  zu,  was  überdies 
noch  reichlich  dadurch  aufgewogen  wird,  dass  die  Arbeiter 
der  versicherungspflichtigen  Betriebe  ein  Zehntel  der  tarif- 
mässigen  Versicherungsbeiträge  aus  ihrer  eigenen  Tasche 
zu  zahlen  haben.  Einen  weiteren  Vorzug  dieses  Entwurfes 
bildet  es,  dass  er  den  Kindern  bis  zu  deren  zurückgelegtem 
sechzehnten  Lebensjahr  die  Rente  zusichert.  Es  ist 
auch  nicht  recht  erklärlich,  warum  das  deutsche  sowie  das 
österreichische  Unfallgesetz  das  fünfzehnte  Lebensjahr  als 
Altersgrenze  festgesetzt  haben,  da  doch  sonst  fast  alle  Arbeiter- 
schutzgesetze, auch  das  deutsche  und  österreichische,  für 
jugendliche  Arbeiter  bis  zu  deren  zurückgelegten  16.  Lebens- 
jahr besondere  Schutzbestimmungen  enthalten  und  es  wohl 
nur  ausnahmsweise  jugendliche  Arbeiter  giebt,  die  schon 
mit  15  Jahren  einen  auskömmlichen  Verdienst  haben.  Dafür 
aber,  könnte  man  sagen,  sei  die  Rente,  die  der  französische 
Gesetzentwurf  den  zurückgelassenen  Kindern  gewährt,  eine 
kleinere  als  die,  welche  ihnen  das  deutsche  oder  öster- 
reichische Unfallgesetz  zuspricht.  In  der  That  sagen  auch 
beide  Gesetze,  dass,  die  Rente  für  jedes  hinterbliebene  Kind 
15  pCt.  beträgt,  und  wenn  es  vater-  und  mutterlos  ist  oder 
wird,  20  pCt.,  während  der  französische  Entwurf,  wenn 
auch  von  demselben  Prozentsätze  ausgehend,  die  Rente, 
zumal  für  diejenigen  Kinder,  die  blos  einen  Elterntheil  ver- 
loren haben,  in  dem  Maasse  herabsetzt,  als  deren  Zahl 
steigt.  Behält  man  aber  dabei  im  Auge,  dass  das  deutsche 
Unfallgesetz  den  Kindern,  die  ihre  Mutter  verlieren,  nur 
dann  Renten  gewährt,  wenn  sie  auch  vaterlos  sind,  sowie 
den  nicht  legitimirten  unehelichen  Kindern  verunglückter 
Männer  gar  keine  Entschädigung  gewährt,  das  öster- 
reichische Unfallgesetz  hingegen  wieder  den  unehelichen 
Kindern  nur  lOpCt.  zuspricht  und  das  Maximum  der  Rente 
für  Weib  und  Kinder  auf  50  pCt.  des  Arbeitsverdienstes 
beschränkt,  dann  wird  man  dem  französischen  Entwürfe, 
wonach  die  Gesammtrente  für  Weib  und  Kinder  wie  für 
Doppelwaisen  im  Maximum  sechzig  Prozent  beträgt,  auch 
dann  noch  entschieden  den  Vorzug  geben  müssen,  wenn 
man  selbst  davon  absieht,  dass  die  Kinder  die  ihnen  zu- 
gesicherte Rente  ein  Jahr  länger  beziehen,  als  dies  nach 
dem  deutschen  oder  österreichischen  Unfallgesetze  der  Fall 
ist.  Nicht  unbeachtet  darf  auch  die  Bestimmung  betreffs 
der  Wittwenrente  bleiben.  Während  das  österreichische 
wie  das  deutsche  Unfallgesetz  der  Wittwe  im  Falle  ihrer 
Wiederverheirathung  den  dreifachen  Betrag  ihrer  Jahres- 
rente als  Abfindung  giebt,  was  wohl  in  vielen  Fällen  die 
Wittwe  veranlassen  dürfte,  anstatt  sich  wieder  zu  ver- 
heirathen,  in  „gemeinsamem  Haushalt“  zu  leben,  erhält  sie, 
gleichgültig,  ob  sie  eine  neue  Ehe  eingeht  oder  nicht,  nach 
dem  französischen  Entwürfe  die  Rente  bis  an  ihr  Lebens- 
ende. Desgleichen  möchten  wir  auch  in  Bezug  auf  die 
Behandlung  der  Hinterbliebenen  von  Ausländern  dem  franzö- 
sischen Entwurf  vor  dem  deutschen  und  österreichischen 
Unfallgesetze  den  Vorzug  geben.  Bestimmt  er  nämlich 
auch  gleich  diesen,  dass  die  Hinterbliebenen  eines  Aus- 
länders, welche  zur  Zeit  des  Unfalls  nicht  im  Inlande 
wohnten,  nichts  erhalten,  was  nicht  nur  inhuman,  sondern, 
wenn  schon  einmal  im  Prinzip  anerkannt  wird,  dass  jeder 
Betriebsunfall  einen  Schadenersatz  verdient,  auch  ungerecht 
ist,  so  hindert  er  doch  wenigstens  die  Unternehmer  die 
betreffende  Bestimmung  für  sich  auszunützen,  da  ihr  zu- 
folge die  Unternehmer  auch  in  diesem  Falle  lür  die  Rente 
aufzukommen  haben,  nur  mit  dem  Unterschiede,  dass  der 
Betrag,  anstatt  für  die  Hinterbliebenen  verwendet  zu  werden, 
in  die  Reserve  der  Unfallkasse  ffiesst. 

Eine  Karenzzeit  im  Sinne  des  deutschen  oder  öster- 
reichischen Unfallgesetzes  kennt  der  Entwurf  ebenfalls  nicht. 
Zieht  der  Unfall  eine  Arbeitsunfähigkeit  von  mehr  als  drei 
Tagen  nach  sich,  dann  hat  der  Unternehmer  für  die  Heil- 
kosten aufzukommen  und  dem  Verletzten  bis  zur  Dauer  von 
dreissig  Tagen  die  Hälfte  seines  täglichen  Arbeitslohnes  zu 
geben,  sofern  derselbe  keine  7 Francs  übersteigt,  in  welchem 
Falle  blos  dieser  Betrag  in  Berechnung  kommt.  Enthoben 


518 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  43. 


von  dieser  Pflicht  sind  nur  diejenigen  Unternehmer,  welche 
nachweisen,  dass  sie  auf  ihre  eigenen  Kosten  besondere 
Hilfskassen  errichtet  haben  oder  ihre  Arbeiter  in  Hilfs- 
vereine einschreiben  Hessen,  und  dass  diese  Kassen  oder 
Vereine,  ausser  den  Kosten  des  Heilverfahrens,  auch  noch 
verpflichtet  sind,  den  Verletzten  während  mindestens  30Tagen 
die  Hälfte  ihres  täglichen  Arbeitslohnes  auszuzahlen.  Er- 
fordert die  Wiederherstellung  des  Verletzten  mehr  als 
30  Tage,  so  hat  der  Unternehmer  bis  zur  endgiltigen  Ent- 
scheidung der  kompetenten  Gerichtsbarkeit  die  bezeich- 
neten  Kosten  noch  weiter  zu  tragen,  doch  sind  sie  ihm  in 
diesem  Falle  von  der  Versicherungsanstalt  — auf  die  wir 
noch  zu  sprechen  kommen  — • wieder  zurückzuerstatten.  In 
Deutschland  erhält  der  Verletzte  wohl  auch  gleich  in  den 
ersten  Tagen  eine  Entschädigung  und  zwar  auf  Grund  des 
Krankenversicherungsgesetzes;  aber  abgesehen  davon,  dass 
sie  niedriger  bemessen  wird  — die  Gemeinde -Kranken- 
kassen gewähren  nur  ein  Krankengeld  in  Höhe  der  Hälfte 
des  ortsüblichen  Tagelohns  gewöhnlicher  Tagearbeiter,  die 
Ortskrankenkassen  im  Maximum  1 M 50  Pf.  pro  Arbeits- 
tag — haben  die  Arbeiter  zwei  Drittel  der  Kranken- 
versicherungskosten selber  zu  tragen.  Als  kompetente 
Gerichtsbarkeit  bei  Streitigkeiten  in  Bezug  auf  zeit- 
weilige Entschädigungen,  Heilungs-  und  Beerdigungskosten 
gilt  der  Friedensrichter  desjenigen  Ortes,  wo  sich  der 
Unfall  ereignet  hat.  Sein  Urtheilsspruch  ist  endgültig. 
Streitigkeiten  über  alle  sonstigen  Unfallsentschädigungen 
werden  vor  dem  Schiedsgerichte  ausgetragen,  das  aus 
drei  Unternehmern  und  drei  Arbeitern  besteht,  an  deren 
Spitze  der  Präsident  des  Zivilgerichtshofes  steht, 
der  den  Vorsitz  führt.  Aehnlich  wie  bei  den  Schwur- 
gerichten ist  die  Zusammensetzung  des  Schiedsgerichtes 
und  das  Verfahren  vor  demselben.  Die  Beisitzer  werden 
weder  ernannt  noch  gewählt,  sondern  durch  das  Loos 
bezeichnet  und  zwar  sechs  von  jeder  Seite,  da  jede  der 
beiden  Parteien  das  Recht  hat,  drei  dieser  Geschwornen 
zurückzuweisen.  Die  Verhandlung  ist  eine  öffent- 
liche und  gegen  die  Entscheidung  des  Schiedsgerich- 
tes kann  nur  der  Kassationshof  angerufen  werden,  doch 
auch  da  nur  einzig  und  allein  wegen  Missbrauch  der  an- 
vertrauten Macht  oder  Verletzung  des  Gesetzes. 

Was  nun  die  zu  errichtenden  Versicherungsanstal- 
ten anbetrifft,  so  beruhen  sie  auf  Gegenseitigkeit  und  wer- 
den, ähnlich  wie  in  Oesterreich,  territorial  abgegrenzt,  so 
dass  ein  oder  mehrere  Departements  je  einen  Versicherungs- 
kreis bilden.  Jeder  dieser  Kreise,  von  welchen  das  Seine- 
departement mehrere  bilden  kann,  wird  wieder  in  Sektionen 
eingetheilt,  an  deren  Spitze  je  ein  Comite  steht,  das  von 
den  betheiligten,  d.  i.  versicherungspflichtigen  Unternehmern 
aus  deren  Mitte  gewählt  wird.  Die  Mitglieder  dieser  Co- 
mites  wählen  ihrerseits  wieder  das  Leitungscomite  des  be- 
treffenden Kreises.  Von  dem  Beitritt  zu  diesen  Versicherungs- 
anstalten können  diejenigen  Betriebe  befreit  werden,  die, 
sei  es  einzeln  oder  zu  Syndikaten  vereinigt,  ihre  eigenen 
Versicherer  bleiben  wollen,  vorausgesetzt,  dass  sie  in  der 
Landes-Unfallversicherungskasse  eine  auf  dem  Verordnungs- 
wege zu  bestimmende  Kaution  hinterlegen,  welche  die 
etwaige  Unfallentschädigung  ihrer  Arbeiter  und  Angestellten 
in  jedem  Falle  sicherstellt,  da  hier,  wie  auch  sonst,  das 
Kapital-Deckungsverfahren  durchgeführt  wird.  An 
der  Spitze  der  Unfallversicherung  steht  ein  Oberster 
Rath  (Conseil  superieur  des  accidents  du  travail),  der  sich 
aus  2 Senatoren,  2 Abgeordneten,  2 Mitgliedern  des  Staats- 
raths, dem  Generaldirektor  der  Depositenkasse  und  10  sonsti- 
gen Fachmännern  zusammensetzt,  die  vom  Handels-  und 
Gewerbeminister  ernannt  werden.  Nebst  der  Eintheilung 
der  versicherungspflichtigen  Betriebe  in  Gefahrenklassen 
und  der  Feststellung  der  Prozentsätze  jeder  Gefahrenklasse 
hat  der  Rath  alle  Angelegenheiten,  die  ihm  der  Minister 
unterbreitet,  zu  besprechen  und  namentlich  alle  in  Anwen- 
dung des  Unfallgesetzes  zu  erlassenden  Verordnungen  und 
Dekrete  in  Berathung  zu  ziehen.  Man  sieht,  dass  nicht 
einmal  der  Oberste  Rath  den  bureaukratischen  Geist  athmet, 
den  in  Deutschland  oder  Oesterreich  sogar  die  untersten 
Stellen  der  Unfallsinstitution  zeigen,  und  dass  in  dem  franzö- 
sischen Entwurf  überhaupt  ein  demokratischer  Geist  herrscht, 
den  man,  wie  schwach  er  auch  sonst  sein  mag,  in  dem 


deutschen  oder  österreichischen  Unfallgesetze  vergeblich 
suchen  würde. 

In  einer  Beziehung  steht  aber  der  französische  Entwurf 
hinter  seinen  Vorgängern  entschieden  zurück,  und  zwar  in 
Bezug  auf  die  Einführung  des  groben  Verschuldens. 
Danach  hat  nämlich  das  Schiedsgericht  das  Recht,  die  Un- 
fallrente herabzusetzen  — anfangs  hiess  es,  selbst  zu  ver- 
weigern, wenn  der  Unternehmer  oder  die  Unfallgenossen- 
schaft nachweist,  dass  der  Unfall  dem  groben  Verschulden 
(faute  lourde)  des  Arbeiters  geschuldet  ist.  Ist  nun  diese 
Bestimmung  dadurch,  dass  die  Kammer  den  Nachsatz 
„oder  selbst  zu  verweigern“  daraus  entfernt  hat,  auch 
viel  milder,  als  sie  es  in  ihrer  ursprünglichen  Fassung 
war,  so  bleibt  sie  doch  nicht  minder  eine  Handhabe  zu 
einer  Unzahl  von  Prozessen,  die  ja  eben  durch  die  Unfall- 
versicherung vermieden  werden  sollen.  Denn  wo  fängt  das 
grobe  Verschulden  des  Arbeiters  an  und  wo  hört  es  auf? 
Eine  Antwort  darauf  ist  bisher  noch  von  keiner  Seite  ge- 
geben worden.  Ist  es  etwa  ein  grobes  Verschulden,  wenn  ein 
Arbeiter,  seinen  Platz  verlassend,  einen  Nebenkollegen  in 
dem  Momente  von  der  Maschine  reisst,  wo  ihn  diese  zu  er- 
greifen droht,  und  dabei  selber  zu  Schaden  kommt?  Nun,  ein 
solcher  Fall  hat  sich  hier  ereignet  und  der  Verletzte  wurde 
mit  seiner  Klage  auf  Entschädigung  abgewiesen,  weil  er 
dem  Betriebsreglement  zuwider  seinen  Platz  verlassen  hatte, 
was  als  ein  grobes  Verschulden  betrachtet  wurde.  Der 
Referent,  Herr  Maruejouls,  hat  diesen  Fall  gegen  einen  Ab- 
geordneten, der  in  der  Unfallversicherung  nichts  als  eine 
Prämie  auf  die  Unvorsichtigkeit  und  Unfolgsamkeit  der 
Arbeiter  sieht,  selber  angeführt.  Aber  spricht  dieser  Fall 
nicht  auch  gleichzeitig  gegen  das  „grobe  Verschulden“ 
überhaupt?  Es  mag  ja  hier  und  da  ganz  demoralisirte 
Arbeiter  geben,  welche  die  Unfallversicherung  selbst  auf 
Gefahr  ihres  Lebens  und  das  ihrer  Nebenarbeiter  für  sich 
auszubeuten  suchen.  Wo  es  sich  aber  um  die  Gesammt- 
heit  handelt,  wird  wohl  Jeder  dem  auf  dem  Gebiete  der 
Unfallversicherung  allgemein  als  Autorität  anerkannten  Prä- 
sidenten des  deutschen  Reichs-Versicherungsamtes,  Dr.  Bö- 
diker,  beistimmen,  wenn  er  in  seinem  auf  dem  Berner  Unfall- 
kongress abgestatteten  Referate  unter  Anderem  sagt:  „Es 
ist  ja  auch  an  sich  natürlich,  dass  die  Arbeiter  sich  vor 
Unfällen  möglichst  hüten.  Jedermann  sucht  sich  Leib 
und  Leben  zu  erhalten,  dem  Schmerz  zu  entgehen,  vor- 
wärts zu  kommen;  einige  erbarmenswerthe  oder  erbärm- 
liche Ausnahmen  wollen  dagegen  nichts  verschlagen“. 

Die  einzige  Entschuldigung,  die  es  für  die  Einführung  der 
„faute  lourde“  giebt,  ist,  dass  die  Kammer  wie  die  Arbeits- 
kommission, welche  den  Entwurf  ausgearbeitet  hatte,  dadurch 
zu  einer  Verständigung  mit  dem  Senate  zu  kommen 
hoffen,  der  schon  einmal  einem  Entwürfe,  dem  vom  Jahre 
1888,  in  welchem  das  „grobe  Verschulden“  mangelte,  seine 
Zustimmung  versagt  hat.  In  diesem  Falle  lässt  sich  aller- 
dings schwer  dagegen  ankämpfen,  es  sei  denn,  dass  man 
trotzig  auf  Alles  verzichten  will,  weil  man  nicht  das  Ganze 
haben  kann. 

Paris.  Leo  Frankel. 

Verband  der  österreichischen  Vereinskrankenkassen. 

Die  zu  einem  Verbände  vereinigten  Arbeiter-Kranken-  und 
Unterstützungsvereine  Oesterreichs  hielten  vom  29.  Juni 
bis  I.  Juli  ihren  sechsten  Verbandstag  ab.  Diese  grösste 
Hilfsorganisation  der  österreichischen  Arbeiterschaft,  wel- 
cher 45  Vereine  mit  rund  270000  Mitgliedern  angehören, 
wurde  im  Jahre  1873  gegründet  und  hatte  ursprünglich  bloss 
die  Herstellung  der  Freizügigkeit  der  Mitglieder  zum  Zwecke. 
Allmälig  ergab  sich  jedoch  die  Nothwendigkeit,  die  Unter- 
stützung der  Verbandskassen  in  finanzieller  und  sozialpoli- 
tischer Beziehung  unter  die  Verbandszwecke  aufzunehmen, 
eine  Nothwendigkeit,  die  durch  das  Inkrafttreten  des  Kran- 
kenversicherungsgesetzes und  die  auf  Grund  derselben  er- 
folgte Errichtung  von  Konkurrenzkassen  bedeutend  ver- 
schärft wurde.  Die  prekäre  Situation  der  freien  Hilfskassen 
war  es,  welche  im  Jahre  1890  die  damalige  Verbandsleitung 
veranlasste,  für  die  dem  Verbände  angehörigen  Kassen  einen 
publizistischen  Stützpunkt  zu  suchen  und  ein  eigenes  Organ, 
den  Arbeiterschutz,  zu  gründen,  welches  übrigens  nicht 
bloss  die  speziellen  Interessen  der  freien  Hilfskassen,  son- 


No.  43. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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dern  die  der  gesammten  Arbeiterschaft  auf  dem  Gebiete  der 
sozialen  Versicherung  wahrzunehmen  sich  bestrebt. 

Um  aber  den  neuen  Verhältnissen  gerecht  zu  werden, 
war  die  Reorganisation  des  Verbandes  nothwendig,  die 
denn  auch  vom  Verbandstage  durch  Schaffung  eines  eigenen 
Sekretariats  angebahnt  wurde,  dessen  Aufgabe  es  ist,  die 
freien  Hilfskassen  in  administrativ-technischer  und  in  sozial- 
politischer Beziehung  zu  fördern  und  zu  schützen. 

Selbstverständlich  gaben  die  Mängel  der  Unfall-  und 
Krankenversicherung,  sowie  die  Uebergriffe  und  Unter- 
lassungen der  Gewerbebehörden  und  Unternehmer  auf  dem 
Verbandstage  reichen  Anlass  zu  Klagen  und  Beschwerden. 

Auch  mit  dem  Gesetze,  betreffend  die  registrirten 
Hilfskassen,  beschäftigte  sich  der  Verbandstag.  Er  nahm 
eine  Resolution  an,  in  welcher  er  erklärte,  dass  das  ge- 
nannte Gesetz  für  die  Arbeiterschaft  sozialpolitisch  bedeu- 
tungslos sei,  weil  die  Durchführung  der  Alters-  und  Inva- 
lidenversicherung, sowie  auch  der  Wittwen-  und  Waisen- 
Unterstützung  nur  im  Wege  der  staatlichen  Zwangsversiche- 
rung möglich  sei,  die  übrigen  Kassenzwecke  jedoch  ohnedies 
von  den  Gewerkvereinen  nach  Kräften  erfüllt  werden. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung. 

Wohnungsgesetz  für  das  Grossherzogthum  Hessen. 

Das  hessische  Gesetz,  die  polizeiliche  Beaufsichtigung  von 
Miethwohnungen  und  Schlafstellen  betreffend,  ist  soeben 
veröffentlicht  worden;  der  Artikel  1 des  Gesetzes  tritt 
bereits  am  1.  Oktober  1893,  die  übrigen  Artikel  treten  aber 
erst  am  I.  April  1894  in  Wirksamkeit.  Der  Artikel  1 des 
Gesetzes  besagt,  dass  die  Gesundheitsbeamten  des  Staates 
und  die  Ortspolizeibehörden,  sowie  die  von  den  letzteren 
beauftragten  Personen  befugt  seien,  die  zum  Vermiethen  be- 
stimmten Wohnungen  und  Schlafstellen  einer  Untersuchung 
dahin  zu  unterwerfen,  ob  aus  ihrer  Benutzung  zum  Wohnen 
oder  Schlafen  Nachtheile  für  die  Gesundheit  oder  Sittlich- 
keit zu  besorgen  seien.  Die  gleiche  Befugniss  steht  den 
genannten  Organen  bezüglich  der  Schlafräume  zu,  welche 
von  Arbeitgebern  ihren  Arbeitern,  Lehrlingen,  Dienst- 
boten etc.  zugewiesen  werden.  Aus  den  übrigen  Artikeln, 
welche  erst  am  1.  April  1894  in  Kraft  treten,  entnehmen 
wir  Folgendes:  Für  die  zur  Vermiethung  von  Schlafstellen 
bestimmten  Räume  hat  die  Polizeibehörde  festzusetzen,  wie 
viel  Luftraum  für  jede  aufzunehmende  Person  vorhanden 
sein  muss,  wobei  davon  auszugehen  ist,  dass  mindestens 
10  Kubikmeter  Luftraum  für  jede  in  einem  Schlafraum  zu- 
zulassende Person  erforderlich  sind.  Auf  Grund  dieser 
Feststellung  hat  die  Ortspolizeibehörde  die  Zahl  der  zur 
Beherbergung  in  jedem  Schlafraume  höchstens  zuzulassen- 
den Personen  zu  bestimmen.  Der  Anzeigepflicht  unter- 
liegen diejenigen  Miethwohnungen,  welche  aus  drei  oder 
weniger  Räumen  (einschliesslich  Küche)  bestehen,  oder 
Kellergeschosse  oder  nicht  unterkellerte  Räume,  deren 
Fussboden  nicht  mindestens  0,25  Meter  über  der  Erde  ge- 
legen ist,  oder  unmittelbar  unter  Dach  befindliche  Räume, 
welche  zum  Wohnen  vermiethet  werden  sollen.  Wenn  in 
der  Person  des  Miethers  eine  Aenderung  eintritt,  ist  eben- 
falls Anzeige  zu  erstatten.  Die  Anzeige  muss  Auskunft 
geben:  über  den  Eigenthümer,  sowie  die  Lage  des  Hauses, 
die  Lage  der  Wohnung,  die  Anzahl  und  Bestimmung  der 
Räume,  den  Beruf  des  Miethers,  sein  Verhältniss  zu  den  in 
seiner  Hausgemeinschaft  befindlichen  Personen.  Die  Polizei- 
behörde kann  die  Vermiethung  einer  gesundheitsschädlichen 
Wohnung  zur  Benutzung  entweder  ganz  untersagen  oder 
von  der  Beseitigung  bestimmter,  die  Gesundheit  gefährden- 
der Ursachen  abhängig  machen.  Mit  Geldstrafe  bis  zu 
30  M.  wird  bestraft,  wer  die  vorgeschriebenen  Anzeigen  zu 
machen  unterlässt  oder  wissentlich  unrichtige  Angaben 
macht,  mit  Geldstrafe  bis  zu  50  M.,  wer  getroffene  Be- 
stimmungen wissentlich  verletzt  und  weitere  Geldstrafe  bis 
zu  100  M.,  wer  die  von  der  Polizeibehörde  erlassenen 
rechtskräftigen  Verfügungen  nicht  befolgt.  Die  Polizei- 
behörde kann  nach  Rechtskraft  ihrer  erlassenen  Ver- 


fügungen unbeschadet  des  Strafverfahrens  die  Ausweisung 
der  in  die  Wohnung  oder  die  Schlafräume  aufgenommenen 
Personen  anordnen.  Der  Vermiethung  im  Sinne  fies  Ge- 
setzes steht  gleich  jede  Vergebung  von  Wohnräumen  oder 
Schlafstellen  gegen  Entgelt. 

Bau  von  Arbeiterwohnungen  aus  Mitteln  der  Invali- 
ditäts-  und  Altersversicherung  in  Baden.  Auf  einem  un- 
gewöhnlichen Wege  will  der  Stadtrath  in  Lahr  (Baden)  für 
den  Bau  von  Arbeiterwohnungen  aus  Mitteln  der  genannten 
Versicherung  sorgen.  Er  hat  die  Arbeiter,  welche  geneigt 
schienen  zu  bauen,  zusammenberufen  und  über  die  Art 
des  Vorgehens  mit  ihnen  berathen.  Es  hat  sich  dabei  er- 
geben, dass  die  Erbauung  eines  Arbeiterviertels  nicht  an- 
zustreben sei,  dass  vielmehr  jedem  Arbeiter  möglichst  Frei- 
heit gelassen  werden  müsse  und  die  Thätigkeit  der  Ge- 
meinde sich  darauf  zu  beschränken  habe,  die  Anschaffung 
des  Geldes  zu  niedrigem  Zinsfuss  und  möglichst  erleich- 
terten Bedingungen  zu  besorgen.  Der  Stadtrath  Lahr  hat 
sodann  dem  Bürgerausschuss  den  inzwischen  angenommenen 
Antrag  unterbreitet,  dass  bei  der  Versicherungsanstalt  Baden 
ein  Darlehen  bis  zur  Höhe  von  150  000  M.  aufgenommen 
werde,  zu  31/,,  pCt.  verzinslich  und  rückzahlbar  in  spätestens 
50  Jahren,  derart,  dass  in  den  ersten  5 Jahren  eine  Til- 
gung nicht  stattfindet,  von  da  ab  alle  Jahre  eine  gleich- 
mässige  Annuität  abgetragen  wird,  dass  aber  frühere  Til- 
gungen erfolgen  können,  insoweit  die  Mittel  dazu  vorhanden 
sind,  und  dass  ferner  mit  diesem  Betrage  Darlehen  an  in 
Lahr  ansässige  Arbeiter  zum  Zweck  der  Beschaffung  von 
Arbeiterwohnungen  gewährt  werden.  Wie  der  „Bad.  Korr.“ 
mitgetheilt  wird,  hat  der  Vorstand  der  Versicherungsanstalt 
Baden  sich  daraufhin  bereit  erklärt,  diese  150  000  M.  der 
Stadtgemeinde  Lahr  zu  dem  bezeichneten  Zweck  zu  ge- 
währen, so  dass  die  Vorbedingungen  zur  erfolgreichen 
Ausführung  des  gemeinnützigen  Vorhabens  erfüllt  sind. 
Nach  dem  vom  Bürgerausschuss  Lahr  gefassten  Beschlüsse 
kann  jeder  dort  ansässige  Arbeiter,  der  bauen  will  und 
wenigstens  einige  Ersparnisse  besitzt,  zu  sehr  niedrigem 
Zinsfusse  und  auf  Jahre  hinaus  unkündbar  Geld  erhalten. 
Bedingung  ist  jedoch  dabei,  dass  er  jährlich  eine  Abzahlung 
macht.  Diese  wird  regelmässig  derart  bemessen,  dass  eine 
gleichmässige  Annuität  bestimmt  wird;  im  Laufe  der  Jahre 
werden  die  Zinsbeträge  immer  kleiner,  die  Abzahlungs- 
quoten dementsprechend  grösser.  Wer  also  in  30  Jahren 
die  Schuld  tilgen  will,  hat  jährlich  etwas  weniger  als 
pCt.,  wer  sie  schon  in  25  Jahren  abzahlen  will,  etwas  über 
6 pCt.  als  Annuität  (Zins  und  Kapitalrückzahlung)  zu  zahlen. 
Von  Seiten  der  Lahrer  Arbeiterkommission  wurde  der 
Wunsch  ausgesprochen,  es  möge  im  Interesse  der  älteren 
Arbeiter,  welche  sich  nicht  mehr  wohl  auf  25 — 30  Jahren 
hinaus  binden  können,  ermöglicht  sein,  nur  einen  Theil  der 
Schuld  auf  diesem  Wege  abzuzahlen,  den  Rest  aber  auf 
dem  Hause  als  dauernde  Schuld  stehen  zu  lassen.  Auch 
diesem  Wunsche  wurde  seitens  der  städtischen  Körper- 
schaften willfahrt,  indem  bestimmt  wurde,  dass,  falls  das 
Darlehen  nur  noch  50  pCt.  des  pfandgerichtlichen  Anschlags 
beträgt,  der  Schuldner  die  regelmässige  Tilgung  einstellen 
kann,  der  Stadtrath  aber  in  diesem  Falle  berechtigt  ist, 
den  Zinsfuss  auf  den  landesüblichen  Betrag  zu  erhöhen. 
Ein  Darlehen  darf  nicht  gegeben  werden:  a)  wenn  der  Ge- 
suchsteller das  Haus  nicht  selbst  bewohnen  will;  b)  wenn 
die  Preise  für  Ankauf  oder  Arbeiten  unverhältnissmässig 
hoch  erscheinen;  c)  wenn  nach  den  Verhältnissen  des  Ge- 
suchsstellers oder  seiner  Angehörigen  zu  besorgen  ist,  dass 
ihm  voraussichtlich  die  Erfüllung  der  einzugehenden  Ver- 
pflichtungen sehr  schwer  fallen  oder  gar  unmöglich  werden 
wird;  d)  regelmässig  nicht,  wenn  der  Gesuchsteller  nicht 
mindestens  20  pCt.  der  Kauf-  und  Baukosten  sofort  bezahlen 
kann.  In  Lahr  sollen  bereits  gegen  220  Arbeiter  im  Besitz 
von  eigenen  Häusern  sich  befinden.  — Die  geplanten  Maass- 
nahmen bedeuten  u.  A.  einen  Rückschritt  in  der  Fürsorge 
für  Arbeiterwohnungen.  Sie  überlassen  die  Verbesserungs- 
thätigkeit  dem  Einzelnen  und  öffnen  dadurch  allen  Miss- 
ständen. schlechter  Bauart,  Ueberfüllung  der  Wohnungen, 
theurem  Bodenerwerb  etc.,  Thür  und  Thor.  Hier  wird 
mit  den  Versicherungsgeldern  einfach  die  Privatspekulation 
genährt. 


Verantwortlich  fiir  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin,  W.,  Victoriastrasse  1 6; 


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Carl  tjtijmamts  Hering  in  Berlin  W. 

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Soeben  er  festen: 

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Karton.  §ßrei§  SD?.  1, — , poftfrei  SW.  1,05. 


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auf  ©rmtb  einer  uerloreu  geglaubten 
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8°,  XII  unb  188  Seiten. 

©efjeftet  Sßrci§  SW.  3,  gebnnben  Sßrei§  SW.  4. 
3u  belieben  burcE) 

pnul  ^djellrrs  $ud)l)ünl)lung  (|.  fü|lcnmad)tr) 

Berlin  W.,  SWarfgrafenftr.  39/40. 


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2lrbeiter=tt)o^lfal|rtseinnd?tungen. 

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Sitmitags-  tutö  4feicneit. 

8°.  IV  unb  94  Seiten. 

SßreiS  geheftet  SD?f.  2.—,  poftfrei  SWf.  2.10. 


Carl  f^enitiann«*  Verlag  in  Berlin  W.,  ilBaucrjtc.  44. 

Soeben  gelangte  jur  2lu§gabe: 


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be§ 


fätmtbt-  uni)  Jlriieiterredrtu. 

3itm  täglichen  ©ebrandje  bearbeitet 


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©eorg  (Eocrt 

WegierungSratf). 

80.  VIII  u.  101  Seite. 

Ureis  p.  2,  poftfrei  p.  2,10. 


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(S  r ft  e r % b e i I. 

©etuerberedjt. 

I.  ©enterbe  unb  ©cioerberecfjt  im  ?ld= 
gemeinen. 

II.  ©etoerbebebörben,  3uftäubigfeit  unb 

Verfahren. 

III.  ®ie  ©emerbefreibeit. 

IV.  SBefonbere  SSefcbränfungcn  ber  ©e= 

merbefreibeit. 

V.  ®er  ©eroerbebetrieb  im  llmbersiebeu. 

VI.  $a§  gnnungsroefen. 

VII.  ©erocrblicbeSlrbeiter  im?IHgemeincn; 

SBegriff  ber  gabrif. 

VIII.  ®er  gemcrblidbe  ?Irbeit§oertrag  im 
91  [[gemeinen. 

IX.  ®er  Sdjnb  be§  2lrbeit§[obu3;  ba§ 
„Sfrucfftjftem". 

X.  ®er  Sontraftbrucb;  fefte  @ntfc^äbi= 
gungen,  Sobnoerroirfungen,  2obn= 
einbebaltungen. 

XI.  ®ie  befottbereti  SBorfcbriften  für 
minberjäbrige  Arbeiter  u.  Sebrlinge. 


alt 

xir. 


XIII. 

XIV. 

XV. 


XVI. 

XVII. 


Schuf?  für  Seben,  ©efunbbeit  unb 
Sittlidjfeit  ber  Arbeiter  im  ©e= 
roerbebetriebe. 

®ie  Sonntagsruhe. 
2IrbeitSorbnungen  uttb  2Irbeiterau§= 
ftflüffe. 

SBefonberer  S(f)uf?  ber  grauen  unb 
fiinber  in  gabrifen  unb  gleich 
gefteüten  Slnlagen. 
©eroerbegeriebte  u.  ©inigungScimter. 
2)a§  Soalition§red)t. 

3«)  eit  er  S£ b e i I- 

®ie  Slrbetterberfidjenutg. 

A.  ®ie  Äranfcnoerfidberung. 

B.  ®ie  Unfalloerfidberung. 

C.  ®ie  gnoalibität§=u.21[ter§Derficberung. 

3Vnl)nng.  I.  Sa§  ©efinbereebt.  II-  2Upba= 
betifebe  Ueberficbt  ber  roidjtigften 
bauSroiribfcbaftlicben  gragen  ber 
gnr>alibität§=  u.  2lIter£oerficberung. 


Soeben  erfebien  unb  ift  in  allen  SBucbbanblungen  31t  haben: 

„£tc  3Mt  afö  Söerf ftatt " 

gtcrctalptflitirdjß  ^«fuljten 

be§  gjerrtt 

IfUtlljelm  frljmamt 

Sifdjlermeifter  a. 

lUebcrßeJrtjriebe«  von 

f).  Hrntfd). 

8°.  6 SBogeu  in  iduftrirtem  Umfdjlag  SßretS  1 SDlarf. 

©3  tft  ein  eigenartiges  Südjlein,  ba3  unter  obigem  $itel  im  unterjeteffneten  Verlage  [neben  erftfjietteu  ift. 
Sine  fjütte  veietjeu  unb  attregenbec  ©ebanEeit  über  unfere  foctalen  Serfjältntffc,  mand)  entfteS  EDtafjnroort  au  bie 
„Sefijjettben",  mandj  befjerjtgenSioertEier  Jtatfj  an  affe  SJlejentgen,  bie  c-3  ernft  meinen  mit  beut  focialen  griebeit 
unferer  unb  00c  allein  ber  suEünfttgen  30t,  treten  in  biefem  Südjleln  im  ©eroanbe  einer  pumorbollcn  ®ar= 
fiellung  au  ben  Sefcr  tjeran.  Süiau  glaubt  iljtt  [preßen  su  Ijören,  ben  bteberen  Berftänbigen  «Dtaun  aus  bent 
58olEe,  ber  itt  feiner  treufjerjtgen  ätet  unb  mit  feinem  Serliner  EEialect  fo  etnbringlicfi  uitb  überjeugenb  ju 
rebett  uerfteljt. 

3trt>eitnebegn,  aüe»  « %5or jtäitbett  fei 

btefee)  ^iirf)lctn  Umnit  empfohlen. 

■^TerCag  t?ort 

A.  Hofmann  & Comp.,  Berlin  W.  41. 


Carl  Heymanns  Verlag  in  Berlin  W.,  Mauerstrasse  44  — Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld  in  Berlin  W. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  31.  Juli  1893. 


Nummer  44. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 


Herausgeber: 


Erscheint  jeden  Montag. 

Zu  beziehen 

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No.  5945  Postzeitungsliste. 


Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Anzeigenpreis  für  die  dreigespaltene  Colonelzeile 
40  Pfennig. 


INHALT. 


Arbeiterschutz  auf  See.  Von 
Dr.  Max  Ouarck. 

Soziale  Wirtschaftspolitik  und 
Wirthschaftsstatistik : 

Fabriken  in  Russland. 

Arbeitsnachweis  durch  die  Berufs- 
genossenschaften. 

Sozialpolitische  Fragen  auf  dem 
Deutschen  Juristentag. 

Lohnperioden  und  Lohnzahlung  in 
Flanau. 

Ortsstatuten  über  die  Lohnauszah- 
lung an  minderjährige  Arbeiter. 

Arbeiterzustände : 

Arbeitslöhne  in  der  oberschlesi- 
schen Montanindustrie.  Von  Pro- 
fessor Dr.  Werner  Sombart. 

Gewerkschaftliche  Arbeiterbewe- 
gung: 

Der  französische  Gewerkschafts- 
kongress. 

Bergarbeiterbewegung  in  England. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Schutzbestimmungen  für  jugend-  ' 
liehe  Arbeiter  in  Spinnereien.  I 


Die  Haftpflicht  in  England. 

Arbeiterversicherung : 

Uebelstände  im  Verfahren  zur 
Feststellung  der  Unfallentschädi- 
gungen. 

DieThätigkeit  des  Reichs-Versiche- 
rungsamts als  Rekurs-  und  Re- 
visionsinstanz. 

Ausdehnung  der  Invaliditäts-  und 
Altersversicherung  auf  die  Haus- 
gewerbetreibenden der  Textil- 
industrie. 

Zur  Abänderung  des  Invaliditäts- 
und Altersversicherungsgesetzes. 

Das  Invaliditäts-  und  Altersver- 
sicherungsgesetz in  der  Praxis. 

Schulwesen,  Erziehungs-  und  Bil- 
dungsfragen : 

Praktisch-soziale  Kurse  des  Volks- 
vereins  für  das  katholische 
Deutschland. 

Litteratur: 

Traub,  Theodor,  Kürzere  Ar- 
beitszeit. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Arbeiterschutz  auf  See. 


Die  deutsche  Arbeiterschutzreform  von  1891  ist  be- 
kanntlich bei  den  eigentlich  gewerblichen  Arbeitern  stehen 
geblieben.  Mühe  und  Noth  hat  es  ihr  gekostet,  wenigstens 
noch  in  Preussen  eine  neue  Redaktion  des  Bergarbeiter- 
schutzgesetzes, aber  nur  unter  Gewährung  weitgehender 
Zugeständnisse  an  den  Unternehmerstandpunkt  zu  Stande 
zu  bringen.  Die  Verkehrsbediensteten  sind  bis  heute  leer 
ausgegangen,  obgleich  England  und  die  Schweiz  auch  für 
diese  Arbeiterklasse  längst  besondere  Schutzgesetze  erlassen 
haben.  Wenn  sich  sonst  noch  eine  Bewegung  zu  Gunsten 
anderer  Arbeiterkategorien  zeigt,  so  ist  dieselbe  lediglich 
auf  die  Agitation  der  Betheiligten  zurückzuführen.  Das  gilt 
für  die  im  Zuge  befindlichen  Erhebungen  des  Deutschen 
Reichs  über  die  Arbeitsverhältnisse  der  Kellner  und  der 
Handlungsgehülfen,  und  das  gilt  für  die  Vorschläge  zur  Ver- 
besserung des  Arbeiterschutzes  für  Seeleute,  für  die  Dis- 
kussion über  eine  Reform  der  deutschen  Seemannsordnung 
aus  dem  Jahre  1872.  Handlungsgehülfen  und  Seeleute  haben 
bezüglich  des  Gesetzes,  unter  dessen  Schutz  sie  lange  Zeit 
standen,  etwas  Gemeinsames.  Ihr  Schutzkodex  war  das 
Handelsgesetzbuch,  dessen  Absichten  aber  nur  nebenbei  auf 
sozialpolitischem  Gebiete  sich  bewegten,  und  das  in  dieser 


j Beziehung  der  Landesgesetzgebung,  dem  Ortsgebrauch  und 
| der  freien  Vereinbarung  den  weitesten  Spielraum  liess.  Der 
Arbeiterschutz  auf  See,  mit  dem  sich  die  nachfolgenden  Aus- 
[ ftihrungen  allein  beschäftigen  sollen,  wurde  deshalb  bereits 
j 1872  spezialisirt  in  einer  Seemannsordnung  des  Deutschen 
Reiches,  welche  den  4.  Titel  des  5.  Buches  des  Handels- 
gesetzbuchs („von  der  Schiffsmannschaft“)  völlig  ersetzte. 
Und  um  die  neuerliche  Reform  dieses  Spezialgesetzes  handelt 
es  sich,  wenn  der  damalige  sozialdemokratische  Abgeord- 
nete Schwartz,  unterstützt  von  seinen  Fraktionsgenossen,  im 
Februar  dieses  Jahres  beim  Reichstag  einen  abgeänderten 
Entwurf  zur  deutschen  Seemannsordnung  einbrachte. 

Der  Wechsel  in  den  Personen,  welche  jetzt  und  1872 
eine  Reform  betreiben,  ist  ausserordentlich  bezeichnend. 
Die  Reichsregierung,  welche  1872  unter  dem  frischen  Ein- 
druck der  nationalen  Einigung  auch  auf  gesetzgeberischem 
Gebiete  die  Initiative  wenigstens  mitergriff  und  das  veraltete 
Handelsrecht,  sowie  die  buntscheckige  Partikulargesetz- 
gebung für  Seeleute  durch  ein  einheitliches  Reichsgesetz 
verbesserte,  hat  seit  1872  je  länger  je  weniger  Lust  ge- 
zeigt, an  eine  neue  Reform  heranzugehen,  so  oft  auch°im 
Reichstage  die  Missstände  im  Seemannsgewerbe  besprochen 
wurden.  Im  Jahre  1893  muss  die  Sozialdemokratie  den 
ersten  Versuch  eines  neuen  Entwurfes  einbringen.  Und  die 
Betheiligung  der  bürgerlichen  Parteien  an  der  seemännischen 
Arbeiterschutzgesetzgebung  war  1872  ebenfalls  eine  ganz 
andere  als  heute.  Wenn  ihre  Haltung  heute  nicht  wider- 
strebend erscheint,  so  ist  sie  doch  gleichgültig  und  fast 
theilnahmslos.  In  den  Sitzungen  des  Reichstages  vom  17. 
Mai,  18.  und  19.  Juni  jenes  Jahres  waren  es  Redner  der 
bürgerlich-liberalen  Parteien,  die  sich  mit  einem  Rest  von 
Idealismus  in  das  Vordertreffen  zu  Gunsten  der  Seeleute 
stellten  und  nicht  unwesentliche  Verbesserungen  nament- 
lich an  den  harten  Disziplinarbestimmungen  des  Regierun^s- 
entwurfes  erzielten.  Der  Abg.  Lesse  wünschte  schon  da- 
mals die  Seeämter  zu  Reichsbehörden  gemacht  zu  sehen; 
der  Abg.  Dr.  Banks  wandte  sich  mit  beredten  Worten 
gegen  die  „vollendete  Administrationsjustiz“,  die  vom  Re- 
gierungsentwurf insofern  vorgesehen  war,  als  der  Kapitän 
stets  Richter  in  eigener  Sache  und  auch  die  Berufungs- 
instanzen nur  Korporationen  betheiligter  Personen  sein  soll- 
ten. Er  sagte  bezüglich  der  drakonischen  Strafbestimmungen: 
„Es  dürfte  doch  wirklich  zweimal  erwogen  werden,  ehe  wir 
ein  derartiges  Gesetz,  welches  meiner  Ansicht  nach  auf 
längst  abgethanen  historischen  Ueberlieferungen  beruht 
und  mit  den  Bedürfnissen  der  Gegenwart  nichts  zu  thun 
hat,  in  Deutschland  einführen.“  Die  liberalen  Parteien  ent- 
fernten damals  wirklich  einen  grossen  Theil  der  Härten  aus 
dem  Regierungsentwurf  und  waren  noch  nicht  empfindlich 
gegen  die  entrüsteten  Aeusserungen  eines  Rhedervertreters, 
der  in  der  Schlusssitzung  des  Plenums  ihre  Sachverständig- 
keit  anzweifelte  und  sich  wegen  der  „überstürzten“  Behänd- 


522 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  44. 


lung  des  Gesetzes  beschwerte.  Ob  das  alles  heute  wieder- 
kehren würde?  . . . 

Thatsache  ist,  dass  die  gewaltige  technische  Entwicke- 
lung der  Schifffahrt  in  den  20  Jahren  seit  1872  allein  schon 
zu  einer  Revision  drängen  muss.  Der  sozialdemokratische 
Reichstagsabgeordnete  Schwartz-Lübeck  hob  dies  auch  auf 
dem  Parteitag  in  Halle  (Protokoll  S.  268)  hervor;  der  Partei- 
tag nahm  einen  Antrag  dieses  früheren  Seemannes  an, 
nach  welchem  die  sozialdemokratische  Partei  im  Reichs- 
tage die  Forderung  auf  Revision  der  deutschen  Seemanns- 
ordnung zu  stellen  habe,  und  der  als  No.  120  der  Akten- 
stücke zu  den  Verhandlungen  des  Reichstages  1892/93  ge- 
druckte Gesetzentwurf  bedeutet  den  ersten  Schritt  zur  Aus- 
führung dieses  Auftrages.  Die  gewaltige  technische  Ent- 
wickelung der  Schifffahrt  — sie  springt  allerdings  jedem 
ins  Auge,  und  der  Sozialpolitiker  kann  bei  ihrer  Betrach- 
tung die  Rückwirkung  ermessen,  die  sie  auf  die  Ausnutzung 
des  Menschenmaterials  geäussert  haben  muss!  Am  1.  Ja- 
nuar 1877  bildeten  4809  Dampf-  und  Segelschiffe  mit 
1 103  650  Reg.  Tons  Nettoraumgehalt  und  41  844  Mann  Be- 
satzung den  Bestand  der  deutschen  Kauffahrteiflotte,  am 
1.  Januar  1893  aber  3728  Dampf-  und  Segelschifte  mit 
1 51 1 579  Reg.  Tons  Raumgehalt  und  41  635  Mann  Be- 
satzung. Die  Zahl  der  Schiffe  und  der  Besatzung  ist  also 
erheblich  gefallen,  diejenige  des  Raumgehaltes  noch  erheb- 
licher gestiegen;  d.  h.:  die  entwickelte  Technik  begünstigt 
die  grössere  Ausnutzung  der  Menschenkraft,  die  Heran- 
ziehung Ungelernter,  die  Ausdehnung  der  Arbeitslosigkeit 
für  die  Gelernten,  sie  schafft  eine  Matrosenfrage  auf  See 
wie  eine  Arbeiterfrage  auf  dem  Lande.  Die  Zahl  der  Segel- 
schiffe fiel  von  4403  im  Jahre  1880  auf  2742  anfangs  1893, 
diejenige  der  Dampfschiffe  stieg  in  der  gleichen  Zeit  von 
374  auf  986.  Die  Bezahlung  der  Matrosen  hat  sich  dagegen 
nicht  verbessert,  sondern  verschlechtert;  der  Monatsver- 
dienst der  Vollmatrosen  nebst  Beköstigung  betrug  nach 
amtlichen  Ermittelungen  1876  noch  56,88  M.,  1892  aber  nur 
55,48  M.,  derjenige  der  Schiffsjungen  19,23  M.  gegen  15,41  M. 
jetzt.  Die  nachtheilige  Rückwirkung  dieser  erstaunlichen  tech- 
nischen Entwickelung  auf  den  nicht  genügend  geschützten 
Arbeiter  zur  See  zu  paralysiren,  das  ist  die  Absicht  des 
sozialdemokratischen  Entwurfes  einer  abgeänderten  See- 
mannsordnung; und  diese  Absicht  wird  kaum  von  irgend 
einer  Seite  als  unberechtigt  bezeichnet  werden  können. 
Auch  der  Vorsitzende  des  „Deutschen  Nautischen  Vereins“, 
der  Vertretung  der  deutschen  Schiffahrtsunternehmer,  hat 
in  Folge  des  sozialdemokratischen  Vorgehens  in  einem 
Rundschreiben  vom  24.  Mai  d.  J.,  also  etwa  ein  Vierteljahr 
nach  Einbringung  des  Entwurfes  beim  Reichstag,  erklärt: 
von  verschiedenen  Seiten  sei  bereits  seit  längerer  Zeit 
hervorgehoben  worden,  dass  eine  Revision  der  Seemanns- 
ordnung nothwendig  sei.  Die  Abänderungsvorschläge 
des  Hamburger  Nautischen  Vereins,  die  er  dabei  versandt 
hat,  werden  im  Nachfolgenden  mehrfach  miterwähnt  werden. 

Der  sozialdemokratische  Entwurf  stellt  zunächst  die 
Aufwärter,  Heizer,  Trimmer  u.  s.  w.  mit  unter  den  Schutz 
der  Bestimmungen,  welche  für  Seeleute  den  Arbeitsvertrag 
regeln.  Das  war  bisher  nicht  der  Fall;  hier  herrschte  noch 
die  „freie  Vereinbarung“,  und  eine  unmenschliche  Behand- 
lung jener  untergeordneten  Arbeiterkategorien,  die  aus 
vielen  Verhandlungen  und  Berichten  der  letzten  Jahre  be- 
kannt geworden  ist,  war  die  Folge  der  bisherigen  Schutz- 
losigkeit, welche  doch  durch  die  theilweise  vielleicht  zweifel- 
hafte Beschaffenheit  des  in  Betracht  kommenden  Menschen- 
materials kaum  zu  begründen  war.  Der  Nautische  Verein 
will  zur  Schiffsmannschaft  „alle  Musterungspflichtigen“  ge- 
rechnet und  den  Absatz  der  Seemannsordnung,  welcher 
sonstiges  Schiffspersonal  betrifft,  ganz  gestrichen  haben. 
Der  sozialdemokratische  Entwurf  verbietet  die  Arbeitsver- 
mittelung durch  sogen.  Heuerbaase,  die  bekanntlich  in  den 
Seehäfen  eine  Art  Schmarotzerthum  schlimmster  Art  bilden 


und  von  den  Matrosen  als  „Landhaifische“  bezeichnet 
werden.  Die  Anwerbung  von  Matrosen  soll  nur  persönlich 
durch  Rheder  oder  Kapitän  erfolgen.  Aehnlich  wie  der 
schriftlich  verlautbarten  Arbeitsordnung  in  Fabriken,  so 
soll  dem  schriftlich  abgeschlossenen  Heuervertrage  eine 
mehr  maassgebende  Bedeutung  zugewiesen  werden.  Er  soll 
ausschliesslich  für  die  Art  und  das  Maass  der  Arbeiten 
ausschlaggebend  sein,  zu  welchen  der  Matrose  verpflichtet 
ist;  besondere  Vereinbarungen  und  Bestimmungen,  die  vom 
Heuervertrage  abweichen,  sind  ungültig.  Der  Entwurf  hofft 
damit  dem  Uebelstande  zu  begegnen,  dass  die  Seeleute  zur 
Ersparung  von  Mannschaft  mit  Arbeiten  überbürdet  werden, 
die  ihnen  nicht  zukommen.  Sodann  rollt  der  Entwurf  die 
Frage  der  Maximalarbeitszeit  für  die  Seeleute  auf,  aber  in 
sehr  gemässigter  Weise.  Für  die  Arbeit  auf  offener  See 
soll  lediglich  der  Wachdienst  nach  englischem  Muster  ge- 
regelt werden.  Schon  der  Regierungsentwurf  von  1872 
enthielt  die  Bestimmung,  dass  „der  nicht  dienstthuenden 
Wache  auf  der  Reise  eine  Ruhe  von  2 Stunden  vormittags 
und  3 Stunden  nachmittags  bewilligt  werden  muss,  sofern 
eine  dringende  Arbeit  die  Bewilligung  nicht  hindert.“  Der 
Reichstag  strich  jedoch  diese  Schutzvorschrift,  ohne  dass 
in  seinen  Verhandlungen  oder  dem  mündlichen  Bericht 
seiner  Kommission  eine  Erklärung  hierfür  zu  finden  wäre. 
Der  sozialdemokratische  Entwurf  will  jetzt  den  Zusatz: 
„Unter  den  gewöhnlichen  Umständen  löst  eine  Wache  die 
andere  in  der  Arbeit  ab“.  Der  Hamburger  Unternehmerverein 
hat  diesen  Zusatz  in  seinen  Vorschlägen  angenommen; 
er  will  ihn  aber  dadurch  ergänzt  haben,  dass  die  Zeitdauer 
der  Wache  auf  vier  Stunden  und  nur  nachmittags  von  4 
bis  8 Uhr  auf  je  zwei  Stunden  festgesetzt  werde.  Noth- 
arbeit soll  nach  dem  sozialdemokratischen  Entwurf  als 
Ueberstundenarbeit  berechnet  werden,  damit  nicht  weiter  : 
die  gewöhnlichsten  Arbeiten  als  Notharbeit  erklärt  werden. 
Den  eigentlichen  achtstündigen  Maximalarbeitstag  sowie  1 
die  Sonn-  und  Festtagsruhe  will  der  Entwurf  nur  für  die- 
jenige Zeit  einführen,  während  welcher  das  Schiff'  in  einem 
Hafen  liegt.  Hier  hatte  aber  die  bisherige  Seemannsordnung 
schon  seit  1872  den  zehnstündigen  Maximalarbeitstag,  der 
jedoch  durch  Nebenarbeiten  oft  auf  12  Stunden  verlängert 
wurde.  In  dieser  Beziehung  lässt  die  Verhandlung  des 
Hamburger  Nautischen  Vereins  tief  blicken,  bei  der  ein  Ka-  j 
pitän  äusserte,  „es  sollte  ausgesprochen  werden,  dass  die 
Mannschaft  auch  in  besonderen  Fällen  mit  und  ohne  Ver-  ; 
gütung  von  Nebenstunden  am  Lande  länger  als  zehn 
Stunden  zu  arbeiten  habe.  Jetzt  weigerten  sich  die 
Leute  oftmals  nach  Feierabend  Lotsendienste  zu  thun.“ 
Die  „Leute“  dürften  dabei  wohl  das  Gesetz  auf  ihrer  Seite 
gehabt  haben.  Der  genannte  Unternehmerverein  einigte  sich 
schliesslich  auf  folgenden  Abänderungsvorschlag:  „Wenn 
das  Schiff  in  einem  Hafen  liegt,  so  ist  der  Schiffsmann  nur 
in  dringenden  Fällen  schuldig  länger  als  12  Stunden  Schiffs- 
dienst, wovon  10  Stunden  Arbeit,  zu  thun.“  Damit  dürfte 
wohl  einfach  der  jetzige  Zustand  offen  umschrieben  sein.  Wenn 
man  aber  bedenkt,  welche  Strapazen  die  offene  Seereise 
für  den  Schiffsarbeiter  mit  sich  bringt,  und  erwägt,  dass  ja 
auch  der  sozialdemokratische  Entwurf  für  Nothfälle  jedes- 
mal Ausnahmen  zulässt,  die  nur  immer  genau  im  Schiffs- 
journal zu  bekunden  sind  — eine  Maassregel,  auf  welche  der 
Entwurf  überhaupt  für  alle  Vorfälle  zwischen  Kapitän  und 
Seeleuten  mit  Recht  grossen  Werth  legt — , so  wird  man  zu- 
geben müssen,  dass  der  achtstündige  Arbeitstag  gerade  hier 
vielleicht  am  ehesten  angebracht  ist.  Der  Rest  der  sozial- 
demokratischen Abänderungsvorschläge,  die  sich  auf  das 
Arbeitsverhältniss  des  Seemanns  beziehen,  sucht  die  Ver- 
pflegung der  Seeleute  zu  bessern  — dadurch,  dass  er  sie 
durch  das  Oberseeamt  bestimmen  lässt  — , die  schon  1872  mit 
Erfolg  eingeführte  Unterscheidung  zwischen  dienstlichen 
und  ausserdienstlichen  Befehlen  des  Kapitäns  noch  konse-  j 
quenter  durchzuführen,  das  Verbot  der  körperlichen  Züch- 


No.  44. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


523 


tigung  auch  auf  die  Duldung  derselben  auszudehnen  und 
die  Strafbemessung  überhaupt  noch  mehr  den  Begriffen 
der  Menschlichkeit  und  Gerechtigkeit  zu  nähern;  es  kommt 
ja  namentlich  für  Geldstrafen  in  Betracht,  dass  der  Monats- 
verdienst der  Seeleute  zweifellos  seit  1872  absolut  und  noch 
mehr  relativ  gesunken  ist.  Auch  wird  versucht,  die  im  Ge- 
setz angeführten  Entlassungsgründe  nicht  mehr  wie  bisher 
als  blosse  Beispiele,  sondern  als  ausschliesslich  gütige  fest- 
zulegen. Manchem  Fernstehenden  wird  es  ferner  erstaun- 
lich sein  zu  hören,  dass  für  die  Seeleute  die  Koalitions- 
freiheit noch  nicht  gesetzlich  ausgesprochen  ist.  Der  Ent- 
wurf holt  dies  nach.  Schliesslich  muthet  es  wie  eine  Ironie 
an,  dass  jetzt  die  sozialdemokratische  Fraktion  auf  eine  ein- 
heitlichere Organisation  des  Schiffskontrolewesens  von 
Reichswegen  dringen  muss  — sie,  der  man  so  oft  die  Zer- 
störung aller  staatlichen  Einheit  als  Grundtendenz  unter- 
schiebt. Der  Entwurf  wünscht  die  jetzt  vorhandenen  103 
Seeämter  im  In-  und  Ausland  als  Reichsbehörden  durch 
Reichsgesetz  organisirt,  mit  schiedsgerichtlichen  Befugnissen, 
die  ein  rasches  Verfahren  ermöglichen,  sowie  mit  ein- 
greifenden Kontrolevollmachten  allen  auslaufenden  Schiffen 
gegenüber  ausgestattet,  die  soweit  reichen,  dass  das  Aus- 
laufen jener  bekannten  „Särge“  positiv  verhindert  werden 
kann. 

Man  könnte  nach  alledem  glauben,  die  Abänderungs- 
vorschläge des  sozialdemokratischen  Entwurfes  dürften, 
vielleicht  von  der  Formulirung  im  Einzelnen  abgesehen, 
kaum  strittig  werden,  so  wenig  Besonderes  und  so  viel 
Selbstverständliches  verlangen  sie  für  die  Seeleute.  Wir 
geben  uns  jedoch  durchaus  nicht  der  Hoffnung  hin,  dass 
sich  die  Reform  glatt  erledigen  werde.  Der  Ozean  wird  noch 
manches  Opfer  zu  weit  getriebener  Ausnutzung  unserer 
Seeleute  fordern,  ehe  die  Stunde  der  ersten  Berathung  des 
Revisionsentwurfes  schlägt.  Die  Organisation  der  Seeleute 
lässt  sehr  zu  wünschen  übrig,  und  die  besser  gestellten 
leiden  noch  an  einer  guten  Portion  Dünkel.  So  lehnte 
kürzlich  der  Verein  Hamburger  Seesteuerleute  den  An- 
trag des  Bremerhavener  Vereins  zur  Revision  der  See- 


mannsordnung ab,  dass  die  Rhedereien  den  Schiffsleuten 
ihre  verdiente  Heuer  bis  zum  Tage  der  Auszahlung  ver- 
zinsen sollen.  Und  dann  die  Einwände,  die  wir  von  den 
Rhedern  zu  hören  bekommen!  Der  Vorschlag  mit  der 
zwölfstündigen  Dienstzeit  im  Hafen  aus  Hamburg  giebt 
einen  Vorgeschmack  davon.  Desto  eifriger  sollten  die 
Urheber  des  Entwurfes  daran  arbeiten,  ihr  Werk  allgemein 
verständlich  und  nothwendig  zu  machen.  Und  für  diese  Thä- 
tigkeit  möchten  wir  ihnen  einen  Rath  geben:  ihrem  Ent- 
wurf fehlt  die  gemeinverständliche  Begründung,  die  ihre 
berechtigten  Forderungen  mit  Hülfe  der  geschichtlichen 
Materialien  der  Reichs-,  Landes-  und  Auslands  - Seerechte, 
der  charakteristischen  Urtheile  der  Seegerichte  u.  A.  m. 
in  volles  Licht  setzt,  mit  packenden  Einzelheiten  belegt  und 
mehr  oder  weniger  unabweisbar  erscheinen  lässt.  Es  wäre 
eine  weitere  Garantie  des  Erfolges,  wenn  diese  allerdings 
nicht  kleine  Arbeit  nachgeholt  würde. 

Frankfurt  a.  M.  Max  Quarck. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Fabriken  in  Russland.  Das  Deutsche  Handels-Archiv 
giebt  im  soeben  erschienenen  Juliheft  des  Jahrganges  1893, 
Theil  I,  S.  335  eine  Uebersicht  über  die  Fabriken  in  Russ- 
land für  das  Jahr  1890.  Im  Jahrgang  1889,  Theil  I,  S.  460 
bis  461  ist  die  gleiche  Materie  für  die  Jahre  1886  bis  87 
behandelt.  Soweit  sich  beide  Uebersichten  entsprechen, 
sind  im  Folgenden  die  Zahlen  zusammengestellt. 


Europäisches  Russland  und  Polen: 


Jahr 

Zahl  der 
Fabriken1) 

Werth 

der  Ges.-Prod. 
in  Rubel 

Zahl 

der  Arbeiter 

Durchschn.  Jahres- 
prod.  einer  Fabrik 
in  Rubel 

1886 

19  749 

999  529  000 

734  971 

53  580 

1887 

18  963 

1 004  579  000 

762  430 

56  687 

1890 

20  391 

1 207  498  000 

828  450 

59  212 

Ganzes  Russisches  Reich. 


Jahr 

Zahl 

der  Fabriken 

Werth  der  Ges.-Prod. 
in  Rubel 

Durchschnittliche 
J ahresproduktion 
einer  Fabrik 

Zahl  der  Arbeiter 

Daneben  kleine  gewerbliche  und  industrielle  Unternehmungen 
mit  durchschnittlicher  Jahresprod.  von  weniger  als  iooo  Rubel 

Zahl 

Arbeiter 

1886 

20  847 

1 043  997  000 

50  080 

759  495 

44  882 

77  887 

1887 

21  247 

1 120  252  000 

52  725 

789  322 

54  468 

91  681 

1890 

22  510 

1 263  964  000 

56150 

*)  852  726 

64  000 

? 

Folgendes  sind  für  die  Jahre  1886,  1887  und  1890  die  Hauptarten  der  Fabriken  und  gewerblichen  Anlagen: 


Ganzes  Russisches  Reich. 


1886 

1887 

1890 

1890 

Erzeugnisse 

Gesammt- 

in  °/0 

Gesammt- 

in  % 

Gesammt- 

in  % 

Werth  der  Production 

Durchschn.  Jahres- 

zahl 

zahl 

zahl 

insgesammt 

in  % 

Produktion 
einer  Fabrik 

1.  Nahrungsmittel 

2.  Verarbeitung  thieriseher  Pro- 

7613 

36,5 

7 869 

37,0 

9 478 

42,1 

363  925  000 

28,9 

rund  38  400  Rubel 

dukte 

4 321 

20,7 

4 425 

20,8 

3 806 

16,9 

74  292  000 

6,0 

„ 19  500  „ 

3.  Verarbeitung  von  Faserstoffen 

2 997 

14,4 

3 096 

14.6 

2 970 

13,2 

518  728  000 

41,0 

„ 174  600  „ 

4.  Kalk-,  Glas-,  Stein-  etc.  Fabrikate 

2 393 

11,5 

2 380 

11,2 

2 380 

10,6 

32  543  000 

2,5 

„ 13  700  ,, 

5.  Gegenstände  aus  Metall  . . . 

1 350 

6.5 

1 370 

6,5 

1 424 

6,3 

148  822  000 

11,7 

„ 104  500  „ 

6.  Gegenstände  aus  Holz  . . . 

1 220 

5,9 

1 093 

5,2 

1 121 

5,0 

33  377  000 

2,6 

29  700  „ 

7.  Chemische  Produkte  .... 

566 

2,7 

588 

2,8 

689 

3,1 

29  822  000 

2,4 

„ 43  200  „ 

8.  Verschiedenes 

387 

1,8 

419 

1,9 

6423) 

2,8 

62  455  000  4) 

4,9 

„ 97  300  „5) 

Insgesammt 

20  847 

100,0 

21  247 

100,0 

22  510 

100,0 

1 263  964  000 

100,0 

rund  56  1 50  Rubel 

*)  Es  sind  das  alle,  die  der  Oberaufsicht  des  Departements 
für  Handel  und  Gewerbe  unterstehen,  zu  denen  also  weder  die 
dem  Finanz-Ministerium  zugezählten,  Akzise  zahlenden  Zucker- 
raffinerien, Spiritusfabriken  und  Bierbrauereien,  noch  die  dem  De- 
partement für  Bergwerke  unterstellten  Schachte  und  Minen  gehören. 


,,  , f männliche  630  562 

und  zwar\  weibliche  222  164 

3)  Darunter  für  Papier:  264. 

4)  Darunter  für  Papier:  23  268  000. 

5)  Papier  allein  88  100. 


524 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  44. 


Die  Zahl  der  Fabriken,  der  Werth  der  Gesammtproduk- 
tion,  die  durchschnittliche  Jahresproduktion  einer  Fabrik 
und  die  Gesammtzahl  der  Arbeiter  haben  sich  in  Russland 
von  1886  bis  1890,  ausgedrückt  in  pCt.,  wie  folgt  vermehrt: 


Zunahme  in  pCt. 


Europ 

Russland. 

Ganz 

Russland. 

Fabriken 

3,2 

7,9 

Gesammt-Produktion 

20,8 

21,0 

Durchschnittliche  Jahresproduktion 
einer  Fabrik 

12,1 

10,5 

Arbeiterzahl  . 

12,7 

12,2 

Während  also  im  Europäischen  Russland  die  Zahl  der 
Fabriken  nur  um  3,2  pCt.  zunahm,  ist  im  gleichen  Zeitraum 
die  durchschnittliche  Jahresproduktion  um  12,1  pCt.  ge- 
wachsen. In  ganz  Russland  dagegen  vermehrte  sich  die 
durchschnittliche  Jahresproduktion  einer  Fabrik  an  Werth 
nur  um  10,5  pCt.,  die  Zahl  der  Fabriken  dagegen  um  7,9  pCt. 

Das  beweist,  dass  die  Verdrängung  der  kleineren  Be- 
triebe durch  die  grösseren  im  europäischen  Russland,  wie 
zu  erwarten  war,  schnellere  Fortschritte  macht  als  im  übrigen 
Russland. 

Was  die  Zahlen  betrifft,  welche  die  durchschnittliche 
Jahresproduktion  einer  Fabrik  geben,  so  zeigt  die  Detailli- 
rung  nach  Industriezweigen  für  das  Jahr  1890,  aus  welchen 
Extremen  die  Durchschnittszahl  56150  entstanden  ist;  während 
eine  Detaillirung  dieser  Zweigzahlen  sicherlich  ein  gleich 
mannigfaltiges  Bild  geben  würde, 

Im  einzelnen  möchten  wir  von  den  oben  angeführten 
Zahlen  folgendes  hervorheben: 

Bei  den  9478  Fabriken  der  Erzeugung  von  Nahrungs- 
mitteln, die  42,1  pCt.  aller  Fabriken  ausmachen,  beträgt  die 
durchschnittliche  Jahresproduktion  einer  Fabrik  nur  38400 
Rubel  und  sie  erzeugen  nur  28,9  pCt.  des  Werthes  der  Ge- 
sammtproduktion. 

Bei  3806  Fabriken,  die  sich  mit  der  Verarbeitung 
thierischer  Produkte  beschäftigen  und  16,9  pCt.  aller  Fabriken 
ausmachen,  beträgt  der  durchschnittliche  Werth  der  Jahres- 
produktion einer  Fabrik  nur  19500  Rubel,  und  sie  erzeugen 
nur  6 pCt.  des  Werthes  der  Gesammtproduktion. 

Die  2970  Fabriken  jedoch,  (13,2  pCt.  aller  Fabriken), 
die  Faserstoffe  verarbeiten,  erzeugen  allein  41  pCt.  des 
Werthes  der  Gesammtproduktion  aller  Fabriken  in  ganz 
Russland,  und  es  kommen  hierbei  auf  die  durchschnittliche 
Jahresproduktion  einer  Fabrik  174600  Rubel. 

Vergleicht  man  die  Zahl  der  Arbeiter  mit  der  der 
Fabriken,  so  ergiebt  sich,  dass  1890  in  Russland,  zieht  man 
nur  die  22510  grossen  Fabriken  mit  ihren  852  726  Arbeitern 
in  Betracht,  auf  1 Fabrik  durchschnittlich  37,9  Arbeiter 
kamen.  Schlägt  man  die  64000  kleinen  Unternehmungen 
mit  dazu  und  schätzt  man  die  Zahl  ihrer  Arbeiter  auf  etwas 
über  100000,  so  giebt  das  insgesammt  86500  Fabriken  mit 
etwa  953000  Arbeitern.  Es  entfallen  also  auf  1 Fabrik  (für 
1886  erhält  man  ungefähr  das  gleiche  Resultat)  nur  11  Ar- 
beiter. 

In  Sachsen  gab  es  1890:  13386  Fabriken  mit  369258 
Arbeitern.  Dort  kamen  also  auf  1 Fabrik  27,6  Arbeiter. 

Leider  ist  die  Zahl  der  Arbeiter,  die  in  Fabriken 
mit  Motorenbetrieb  beschäftigt  sind,  nicht  gesondert  an- 
gegeben. 

Freilich  sind,  wie  oben  erwähnt,  bei  Russland,  viele 
Anlagen,  so  z.  B.  die  Spiritusfabriken  die  Accise  zahlenden 
Zuckerraffinerien  u.  s.  w.  weggelassen. 

Arbeitsnachweis  durch  die  Berufsgenossenschaften. 

Auf  der  Tagesordnung  des  diesjährigen  Berufsgenossen- 
schaftstages, der  am  27.  Juni  in  Stuttgart  abgehalten  wurde, 
stand  u.  A. : „Arbeitsvermittelung  für  invalide  Arbeiter“. 
Ueber  diesen  Gegenstand  sprach,  wie  die  „Berufsgenossen- 
schaft“ berichtet,  der  Direktor  Wenzel.  Er  ging  von  dem 
Plan  aus,  die  Berufsgenossenschaften  zu  Trägern  der  ge- 
werblichen Arbeitsbeschaffung  zu  machen,  und  besprach  die 
„Schäden  der  gewerbsmässigen  Erwerbsbeschaffung,  sowie 
der  Arbeitsnachweisbureaux  der  Arbeiterverbände“.  Weiter 
behandelte  er  die  von  den  Gemeinden  und  von  gemein- 


nützigen Instituten  ins  Leben  gerufenen  Einrichtungen  dieser 
Art,  sowie  die  karitative  Arbeitsvermittelung.  Nach  einer 
für  Berlin  aufgenommenen  Statistik  hätten  von  874  Invaliden 
80°/o  wieder  Arbeit  gefunden  und  nur  20°/o  seien  ohne  Ar- 
beit geblieben.  Ob  sich  unter  diesen  Umständen  eine  theure 
Organisation  eines  Arbeitsnachweises  für  Invaliden  durch 
die  Berufsgenossenschaften  empfehle,  sei  fraglich.  Dringend 
nothwendig  sei  es  indess,  dass  sich  die  Berufsgenossen- 
schaften nicht  bloss  auf  die  Wiederherstellung  der  Ver- 
letzten beschränkten,  sondern  auch  für  die  Wiedergewinnung 
eines  Erwerbs  sorgten.  Es  solle  deshalb  so  weit  wie  mög- 
lich für  Arbeitsnachweise  gesorgt  werden,  die  von  den  Ge- 
meinden eingerichtet  sind  oder  unter  deren  Aufsicht  stehen. 

Hoffentlich  wird  demnächst  über  die  Statistik  der  Un- 
fallinvaliden in  Berlin  noch  weiteres  veröffentlicht.  Es 
würde  vor  Allem  auch  von  Interesse  sein  zu  erfahren,  wie 
lange  es  etwa  in  den  einzelnen  Fällen  oder  wenigstens 
durchschnittlich  gedauert  hat,  bis  die  Invaliden  nach  der 
Beendigung  desFleilverfahrens  wieder  Arbeit  gefunden  haben. 

Sozialpolitische  Fragen  auf  dem  deutschen  Juristentag. 

Der  deutsche  Juristentag,  welcher  im  September  in  Augs- 
burg stattfindet,  hat  auf  die  Tagesordnung  seiner  Verhand- 
lung verschiedene  Fragen  gestellt,  die  auch  in  sozial- 
politischer Beziehung  von  hohem  Interesse  sind.  Hierhin 
gehört  zunächst  die  Regelung  der  Abzahlungsgeschäfte,  die 
Vermehrung  der  Beschränkungen  der  Zwangsvollstreckung, 
ferner  die  Beibehaltung  der  im  Entwürfe  des  bürgerlichen 
Gesetzbuchs  vorgesehenen  Arten  des  Pfandrechts  an  Grund- 
stücken, die  Aenderung  des  Verhältnisses  zwischen  Geld- 
und  Freiheitsstrafen  uud  die  Einführung  von  Verschärfungen 
der  Freiheitsstrafen.  Die  beiden  erstgenannten  haben  für 
die  breiten  Schichten  der  unbemittelten  und  besitzlosen 
Kreise  bedeutenden  Werth,  eine  weitere  Milderung  des 
Schuldrechts  würde  sich  als  eine  wahre  Wohlthat  für  die 
ärmere  Bevölkerung  erweisen.  Man  darf  auf  die  Verband-  ; 
hingen  und  die  Beschlussfassung  gespannt  sein. 

Lohnperioden  und  Lohnzahltag  in  Hanau.  Das  Ge- 
werbegericht in  Hanau  hat  in  seiner  letzten  Plenar- 
sitzung beschlossen,  an  den  Stadtrath  das  Ersuchen  zu  richten, 
allen  im  städtischen  Dienst  beschäftigten  Arbeitern  ihren 
Lohn  in  wöchentlichen  Lohnperioden  unverkürzt,  d.  h.  also 
in  vollen  Wochenbeträgen,  auszuzahlen  und  den  Zahlungs-  . 
tag  von  Sonnabend  auf  Freitag  Nachmittag  zu  verlegen. 
Das  Gewerbegericht  hält  es,  ganz  abgesehen  von  anderen  ; 
naheliegenden  Gründen,  für  sehr  wichtig,  dass  die  Arbeiter-  ' 
frauen  dadurch  in  die  Lage  versetzt  werden,  am  Sonnabend 
ihre  Haupteinkäufe  für  die  nächste  Woche  im  freien  ; 
Mar  kt  verkehr  zu  bewirken,  während  durch  die  bisherige 
Lohnzahlung  am  Sonnabend  Nachmittag  die  Arbeiterbevölke- 
rung vorzugsweise  auf  den  Kleinhandel  angewiesen  war. 
Auch  die  Durchführung  der  Sonntagsruhe  wird  durch  die 
bisherige  Auslöhnung  am  Sonnabend  ganz  wesentlich  er- 
schwert. Weiter  hat  das  Gewerbegericht  beantragt,  dass 
der  Stadtrath  an  alle  Arbeitgeber  der  Stadt  das  Ersuchen 
richte,  ebenfalls  ihre  Arbeiter  in  wöchentlichen  Lohnperioden 
an  jedem  Freitag  auszuzahlen.  Kommen  die  Arbeitgeber 
diesem  Ersuchen  nicht  nach,  so  will  das  Gewerbegericht 
demnächst  beantragen,  dass  die  Stadt  von  der  ihr  nach 
§ 119a  Abs.  2 Ziffer  1 zustehenden  Befugniss  zum  Erlass 
eines  Ortsstatuts  Gebrauch  mache. 

Ortsstatuten  über  die  Lohnauszahlung  an  minder- 
jährige Arbeiter.  In  Folge  der  von  dem  Handelsminister 
an  die  Gemeindeverwaltungen  gerichteten  Anfrage,  wie  weit 
von  der  Befugniss  des  § 119a  Abs.  2 Ziffer  2 u.  3 der  Ge- 
werbeordnung zum  Erlass  von  Ortsstatuten  über  die  Aus- 
zahlung des  von  minderjährigen  Arbeitern  verdienten  Lohnes 
an  deren  Eltern  oder  Vormünder  Gebrauch  gemacht  sei, 
hat  sich  das  Gewerbe  ge  rieht  in  Hanau  auf  Ersuchen 
des  Stadtraths  in  einem  Gutachten  einstimmig  gegen  den 
Erlass  eines  derartigen  Ortsstatuts  ausgesprochen. 
Das  Gewerbegericht  geht  bei  diesem  Gutachten  von  der 
Ueberzeugung  aus,  dass  die  betr.  Bestimmung  der  Gewerbe- 
ordnung zu  weit  gehe  und  in  ihrer  praktischen  An- 
wendung leicht  das  Gegentheil  der  beabsichtigten  Wirkung 
im  Gefolge  haben  könne,  da  es  nicht  ausbleiben  werde, 


Nö.  44. 


•SOZIALPOILTISCHES  CENTRALBLATT. 


525 


dass  in  einzelnen  Fällen  weniger  würdige  Eltern  den  Lohn 
ihrer  arbeitsamen  minderjährigen  Kinder  verschwenden 
würden.  Das  Gewerbegericht  hält  es  überhaupt  nicht  für 
wünschenswert!!,  die  grosse  Anzahl  der  auf  dem  gewerb- 
lichen Gebiet  bestehenden,  besonders  in  jüngerer  Zeit  er- 
lassenen Vorschriften  wiederum  um  eine  zu  vermehren,  die 
einerseits  den  Arbeitgebern  neue  lästig  und  unbequem  er- 
scheinende Verpflichtungen  auferlegt,  andererseits  einen 
nicht  einwandfreien  Eingriff  in  die  Privatverhältnisse  der 
einzelnen  Arbeiter  und  Arbeiterfamilien  darstellt. 


Arbeiterzustände. 

Arbeitslöhne  in  der  oberschlesischen  Montanindustrie. 

Unter  diesem  Titel  haben  wir  in  No.  18  des  vorigen 
Jahrgangs  dieser  Zeitschrift  S.  225 — 227  über  den  Stand 
der  Arbeitslöhne  Oberschlesiens  im  Jahre  1891  Bericht  er- 
stattet. Im  Folgenden  soll  an  der  Hand  derselben  Quelle1) 
ein  Bild  gegeben  werden  von  der  Bewegung,  die  wir  in 
den  Löhnen  im  letzten  Jahre  (1892)  beobachten  können. 
Um  den  Zusammenhang  mit  dem  vorjährigen  Bericht  her- 
zustellen, bleibe  die  innere  wie  äussere  Struktur  des  Refe- 
rats dieselbe.  Wie  das  vorige  Mal  ordnen  wir  den  reichen 
Stoff,  soweit  er  es  gestattet,  nach  den  verschiedenen 
Gesichtspunkten,  unter  denen  der  Arbeitslohn  betrachtet 
werden  kann:  in  seinem  absoluten  Betrage,  in  seinem  Ver- 
hältniss  zu  den  Arbeitslöhnen  früherer  Arbeitsperioden 
(Zunahme  oder  Abnahme),  in  seinem  Verhältniss  zum  Ver- 
kaufspreise des  Produkts,  zur  Menge  des  Produkts,  zur 
Arbeitsleistung,  zum  Unternehmergewinn. 

Was  die  Gesammtlage  der  oberschlesischen  Montan- 
industrie im  Berichtsjahre  anbetrifft,  so  dauerte  wie  bekannt 
die  gedrückte  Lage  der  Eisenindustrie  auch  im  Jahre  1892 
an.  Eine  Hauptschuld  an  der  Flauheit  des  Eisenmarktes 
hat  die  beträchtliche  Abnahme  der  Bestellungen  durch  die 
Staatsbahnverwaltungen.  Das  zu  konstatiren,  ist  auch 
sozialpolitisch  wichtig.  Denn  wie  heute  die  Staatsbetriebe 
mit  ihren  schwankenden  Aufträgen  oft  recht  erheblich  zur 
Vergrösserung  der  Unregelmässigkeit  in  der  Produktion 
beitragen,  so  könnten  sie  recht  wohl  gerade  umgekehrt 
eine  Ausgleichung  der  privatwirthschaftlichen  Bedarfs- 
gestaltung herbeizuführen  dereinst  berufen  werden:  ein 

Gedanke,  der  hier  nur  anzudeuten  war.  Neben  der  Eisen- 
industrie hat  auch  der  Steinkohlenbergbau  im  Jahre  1892 
zum  ersten  Mal  wieder  seit  längerer  Zeit  einen  Rückgang 
erlebt,  während  die  Zinkgewinnung  und  -Verarbeitung  zum 
Theil  sich  in  der  günstigen  Situation  der  Vorjahre  erhalten 
hat.  Wenn  auch  die  Bewegung  der  Arbeitslöhne  nicht  immer 
völlig  parallel  der  Marktlage  sich  vollzogen  hat,  so  spiegelt 
sich  diese  doch  in  vielen  Fällen  auch  in  den  Schicksalen 
der  Löhne  wieder,  wie  in  Folgendem  des  näheren  zu  zeigen 
sein  wird.  Das  Gesammtbild,  das  die  Arbeitslöhne  im 
Jahre  1892  gewähren,  ist  ein  trübes;  in  bei  weitem  den 
meisten  Fällen  sind  die  Löhne  gegenüber  dem  Vorjahre  in 
ihrem  Betrage  gesunken. 

1.  Steinkohlengruben.  Trotzdem  die  Förderung  im 
Jahre  1892  um  7 % pCt.  gegen  das  Vorjahr  gefallen  ist, 
hat  sich  die  Gesammtzahl  der  Arbeiter  doch  noch  um  eine 
Kleinigkeit  von  73  (=  0,1 3 pCt.)  vermehrt.  Sie  betrug 
54819,  wovon  4757  Weiber  (gegen  5009  im  Vorjahre).  Die 
Gesammtsumme  der  auf  den  Steinkohlengruben  gezahlten 
Arbeitslöhne  belief  sich  im  Jahre  1892  auf  40617202  M., 
was  gegenüber  1891  eine  Abnahme  von  rund  einer  Million 
Mark  (1891:  41792443  M.)  bedeutet.  Dem  entsprechend  hat 
sich  auch  der  Jahresdurchschnittslohn  des  einzelnen  Ar- 
beiters verringert.  Er  ist  für  männliche  Arbeiter  über 
16  Jahre  von  821,1  M.  auf  792,4  M.,  für  männliche  Arbeiter 
unter  16  Jahren  von  294,1  M.  auf  278,5  M.,  für  Weiber  von 
262,0  auf  251 ,2  M.  gefallen.  Die  steigende  Bewegung  der 
Löhne,  wie  sie  seit  einer  Reihe  von  Jahren  im  Steinkohlen- 


’)  Statistik  der  oberschlesischen  Berg-  und  Hüttenwerke  für 
das  Jahr  1892.  Herausgegeben  vom  Oberschlesischen  Berg-  und 
Hüttenmännischen  Verein.  Zusammengestellt  und  bearbeitet  vom 
Geschäftsführer  Dr.  H,  Voltz.  Kattowitz  1893. 


bergbau  sich  bemerkbar  gemacht  hatte,  ist  also  nicht  nur 
zum  Stillstand  gekommen,  sondern  hat  sogar  bereits  einer 
Abwärtsbewegung  Platz  gemacht.  Es  darf  bei  der  Würdigung 
dieser  Thatsache  nicht  ausser  Acht  gelassen  werden,  dass 
die  Vorjahre  den  oberschlesischen  Bergleuten  eine  ganz 
ungewöhnliche  Lohnsteigerung  gebracht  hatten;  hatte  doch 
der  Durchschnittslohn  erwachsener  männlicher  Arbeiter 
1887  erst  585,6  M.  betragen.  Jetzt  haben  die  Löhne  etwa 
das  Niveau  des  Jahres  1890  wieder  erreicht.  Dass  eine 
Vergleichung  der  oberschlesischen  Bergmannslöhne  mit 
denen  im  Westen  Deutschlands  wegen  der  verschiedenen 
Gestaltung  des  Arbeitsprozesses  nicht  ohne  weiteres  an- 
gängig ist,  wurde  von  uns  in  unserm  vorjährigen  Referate 
schon  hervorgehoben.  Dort  hatten  wir  auch  einen  Ver- 
gleich angestrebt  zwischen  der  Bewegung  der  Arbeitslöhne 
und  derjenigen  der  Produktion  und  ihres  Geldwerthes  bis 
zum  Jahre  1891  und  waren  dabei  zu  folgenden  Ergebnissen 
gelangt. 

Wir  hatten  gefunden,  dass  die  Vertheuerung  des 
Produkts  um  vieles  rascher  sich  vollzogen  hatte  als  die 
Steigerung  des  Arbeitslohnes,  wie  also  trotz  dieser  der 
Unternehmerantheil  am  Gesammtertrage  verhältnissmässig 
gestiegen  war;  mit  andern  Worten:  wie  die  Grubenbesitzer 
die  Mehrausgabe  an  Arbeitslöhnen  und  mehr  als  diese  auf 
die  Konsumenten  abzuwälzen  im  Stande  gewesen  waren. 
Während  das  Produktionsquantum  ungefähr  im  Verhältniss 
zu  der  Vermehrung  der  Arbeiter  stieg,  die  Arbeitsleistung 
also  dieselbe  blieb,  hatte  sich  der  Geldwerth  der  Produktion 
seit  1886  mehr  als  verdoppelt;  er  betrug  1886  47,4  Mill.  M., 
1891  96,0  Mill.  M.,  da  der  Durchschnittspreis  einer  Tonne 
Kohlen  1886  = 3,6  M.,  1891  = 5,4  M.  war  Die  Preis- 
steigerung gehört,  wie  bekannt,  vornehmlich  den  Jahren 
1889 — 91  an.  Pro  Tonne  wurden  gezahlt:  1889  3,7,  1890 
4,8,  1891  5,4  M.  So  bezifferte  sich  denn  der  Antheil  der 
gesammten  Arbeitslöhne  an  dem  Gesammtwerth  der  Pro- 
duktion auf: 

1889  = 47,67  pCt. 

1890  = 45,18  pCt. 

1891  = 43,53  pCt. 

Wir  hatten  dann  diesen  Ziffern  die  Bemerkung  hinzu- 
gefügt: 

„Das  Jahr  1892  dürfte  eine  rückläufige  Bewegung  der 
Kohlenpreise  und  somit  eine  Abnahme  des  Produktions- 
werths bringen;  die  Arbeitslöhne  brauchen  jedoch  darunter 
keineswegs  zu  leiden,  da,  wie  die  obigen  Zahlen  lehren, 
der  Spielraum  für  ihren  Antheil  am  Gesammtwerth  der 
Produktion  beträchtlich  ist.“ 

Die  Ziffern  für  das  Jahr  1892  bestätigen  diese  Voraus- 
sage zum  grössten  Theil.  Nur  freilich  ist  doch  der 
Arbeitslohn  mit  der  geringeren  Ausbeute  etwas  mitgefallen, 
wenn  auch  nicht  in  gleichem  Maasse,  denn  der  Antheil  der 
Löhne  am  Gesammtwerth  der  Produktion  hat  1892  wieder 
45,47  pCt.  betragen. 

2.  Eisenerzgruben.  Hier  hat  die  Produktion  gegen- 
über dem  Vorjahr  wiederum  eine,  wenn  auch  geringere, 
Verminderung  erfahren  (um  1,3%),  während  der  Werth, 
dank  der  Preissteigerung  des  Erzes,  um  eine  Kleinigkeit 
gestiegen  ist.  Trotz  der  Abnahme  der  Produktion  hat  nun 
auch  in  diesem  Jahre  wiederum  eine  Vermehrung  der  Ar- 
beiter (von  3977  auf  4291)  stattgefunden,  und  entsprechend 
ist  die  Arbeitsleistung  des  einzelnen  Arbeiters  natürlich  in 
diesem  Jahre  noch  geringer  als  im  Vorjahre  geworden.  Seit 
einer  Reihe  von  Jahren  schon  nimmt  die  Durchschnitts- 
leistung des  Arbeiters  ab;  sie  betrug  in  den  letzten  Jahren: 
1886  = 197  t;  1887  = 190  t;  1888  = 185  t;  1889  = 181  t; 
1890  = 176  t;  1891  = 162  t und  endlich  1892  = 150  t.  Wir 
hatten  aus  dieser  Thatsache  folgende  Schlussfolgerung  in 
unserem  vorjährigen  Bericht  gezogen: 

„Die  Abnahme  der  Arbeitsleistung,  die  mit  den  Abbau- 
verhältnissen im  Zusammenhänge  steht,  war  für  den  Unter- 
nehmer so  lange  irrelevant,  als  die  Löhne  annähernd  gleich 
niedrig  blieben,  die  Verkaufspreise  des  Erzes  aber  stiegen: 
bis  1889  ungefähr.  Jetzt  liegt  die  Sachlage  anders,  und  die 
Arbeiterschaft  wird  nicht  ohne  schwere  Kämpfe  ihre  heute 
errungenen  Lohnsätze  vertheidigen  müssen.“ 

Die  Statistik  für  das  Jahr  1892  belehrt  uns,  dass  es 
trotz  einer  geringen  Steigerung  des  Erzpreises  der  Arbeiter- 


526 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  44. 


schaft  nicht  gelungen  ist,  den  1891  erreichten  Lohnstand, 
der  allerdings  in  raschem  Tempo  während  der  letzten  Jahre 
erklommen  war  (der  Lohn  erwachsener  Arbeiter  war  von 
395,1  M.  im  Jahre  1888  auf  544,09  M.  im  Jahre  1891  gestie- 
gen) zu  behaupten.  Der  Durchschnitts -Männerlohn  ist  von 
544,09  M.  auf  529,17  M.  im  Jahre  1892  gesunken. 

3.  Zink-  und  Bleierzgruben.  8273  männliche,  2847 
weibliche  Arbeiter,  zusammen  11120  gegen  10843,  die  im 
Vorjahre  beschäftigt  waren.  Der  Zunahme  der  Arbeiter- 
schaft steht  eine  Abnahme  der  Produktion  von  663  168  t im 
Jahre  1891  auf  659  847  t im  Jahre  1892  und  ein  noch  viel 
beträchtlicheres  Sinken  des  Produktionswerthes  (von  19,5 
Mill.  M.  auf  16  Mill.  M.)  gegenüber.  Trotzdem  haben  die 
Löhne  sowohl  in  ihrem  Gesammtbetrage  wie  in  dem  Durch- 
schnitt pro  Arbeiter  eine  Steigerung  erfahren.  Der  Gesammt- 
betrag  ist  von  5,7  auf  6,1  Mill.  M.,  der  Durchschnittslohn 
für  erwachsene  männliche  Arbeiter  von  655,8  M.  auf  679,1 
M.,  für  jugendliche  Arbeiter  von  216,0  auf  229,3,  für  weib- 
liche Arbeiter  von  236,8  auf  248,1  M.  gestiegen.  Die  Auf- 
wärtsbewegung der  Löhne  hat  also  angehalten.  Um  sie  in 
ein  richtiges  Licht  zu  setzen,  muss  man  sie  in  Zusammen- 
hang mit  der  Entwickelung  der  Rentabilität  der  Unterneh- 
mungen bringen.  Die  Löhne  der  männlichen  Arbeiter  über 
16  Jahre  betrugen:  1887  505  M„  1888  507  M„  1889  549  M., 

1890  622  M.,  1891  655  M.,  1892  679  M.  Viel  rascher  aber 
als  die  Steigerung  der  Löhne  hat  sich  die  Steigerung  der 
Verkaufspreise  der  Gesammtprodukte  — dank  der  Aufbesse- 
rung des  Zinkmarktes  — seit  1887  vollzogen.  Während 
noch  im  Jahre  1886  einem  Gesammtwerth  der  gewonnenen 
Produkte  von  6 399  142  M.  ein  Gesammtlohnbetrag  von 
4 148  405  M.  gegenüberstand,  war  jener  Betrag  im  Jahre  1891 
auf  19  506  918  M.,  dieser  nur  auf  5 807  290  M.  gestiegen,  d.  h. 
von  der  Vermehrung  der  Grubenerträgnisse  während  der 
letzten  5 Jahre  um  ca.  13  Mill.  M.  war  der  Arbeiterschaft 
ein  Betrag  von  ca.  1,7  Mill.  M.  zugefallen.  Jetzt  beträgt  die 
Steigerung  des  Produktionswerthes  gegen  1887  immer  noch 
9 665  826  M.,  während  die  Arbeitslöhne  seitdem  erst  um 
2 031  707  M.  gesteigert  sind.  Mit  anderen  Worten:  während 
vor  6 Jahren  die  sämmtlichen  Arbeitslöhne  von  dem  Ge- 
sammtwerth der  gewonnenen  Produkte  ca.  64  Prozent  aus- 
machten, betragen  sie  jetzt  immer  erst  ca.  38  Prozent. 
„Halten  sich  die  Verkaufspreise  annähernd  auf  ihrer  jetzigen 
Höhe,  so  kann  die  zahlreiche  Arbeiterschaft  der  oberschle- 
sischen Zink-  und  Bleierzgruben,  ohne  den  Unternehmer- 
gewinn allzusehr  einzuschränken,  noch  beträchtliche  Lohn- 
erhöhungen durchsetzen,  was  ihr  zu  wünschen  wäre.“  Diese 
Worte  aus  unserem  vorjährigen  Bericht  gelten  noch  heute. 

4.  Hochofenbetrieb.  Dieser  hat  ein  sehr  ungünstiges 
Jahr  gehabt.  Unsere  Quelle  meint  geradezu,  „dass  gleich- 
wie im  Vorjahre  auch  1892  die  oberschlesische  Roheisen- 
industrie bei  verhältnissmässig  hohen  Selbstkosten  einer- 
und bei  niedrigen  Verkaufspreisen  andererseits  nahezu  ohne 
jeden  Erfolg,  zum  Theil  mit  Verlust  gearbeitet“  hat.  Wenn 
trotzdem  die  Löhne  im  Durchschnitt  gegenüber  dem  Vor- 
jahre gestiegen,  sogar  erheblich  gestiegen  sind:  von  763,72 
M.  auf  880,91  M.  für  den  erwachsenen  männlichen  Arbeiter, 
der  im  Hochofenbetriebe  fast  allein  beschäftigt  ist,  so 
muss  uns  das  auffallen.  Zwar  hat  sich  die  Arbeiterzahl 
vermindert  um  20  Prozent,  dies  genügt  aber  noch  nicht 
zur  Erklärung.  Eine  solche  liefert  erst  die  Thatsache,  dass 
diese  Verringerung  der  Arbeiterzahl  hauptsächlich  auf  Ko- 
sten von  Bauhandwerkern  geschehen  ist,  die  bei  grossen 
Bauten  beschäftigt  waren  und  die  nun  nach  deren  Vollen- 
dung entlassen  sind.  Durch  den  Wegfall  dieses  grossen 
Prozentsatzes  relativ  billig  bezahlter  Arbeitskräfte,  erklären 
sich  die  bedeutenden  Erhöhungen,  welche  für  die  1892er 
Durchschnittslöhne  zu  verzeichnen  sind  und  die  ohne  diese 
Erklärung  mit  der  so  wenig  günstigen  Lage  der  Hochofen- 
industrie seltsam  kontrastiren  würden. 

5.  Den  Eisengiessereien  ist  es  im  Jahre  1892  ebenso 
schlecht  wie  den  Hochöfen  ergangen.  In  Folge  der  zurück- 
gehenden Nachfrage  nach  Handels-,  Bau-  und  Maschinenguss 
war  ein  Mangel  an  Beschäftigung  und  damit  ein  Fallen  der 
Verkaufspreise  eingetreten,  „das“,  bemerkt  der  Bericht- 
erstatter, „nicht  selten  bis  auf  weit  unter  die  Selbstkosten 
ging.“  Dieser  Geschäftsrückgang  hatte  sich  schon  im  Jahre 

1891  fühlbar  gemacht  (Absatz  1890  = 38  514  t,  1891  = 37  167  t, 


1892  = 32  686  t).  Damals  hatte  er  aber  auf  die  Arbeiter- 
schaft und  deren  Verdienst  noch  nicht  gewirkt.  Jetzt  ist 
diese  in  den  Sturz  mit  hineingezogen.  Die  Zahl  der  be- 
schäftigten Personen  hat  zum  ersten  Male  wieder  seit  einer 
Reihe  von  Jahren  abgenommen  (von  1819  auf  1692  = 7 Pro- 
zent), und  auch  der  durchschnittliche  Arbeitslohn,  der  seit 
Mitte  der  1880er  Jahre  beständig  in  die  Höhe  gegangen 
war,  ist  im  Berichtsjahre  entsprechend  gesunken  (von  771,51  M. 
auf  755,13  M.  für  den  hier  fast  allein  in  Frage  kommenden 
erwachsenen  männlichen  Arbeiter).  Der  Antheil  der  Arbeits- 
löhne am  Gesammtwerth  der  Produktion  bezifferte  sich: 

1887  auf  25  pCt.  1890  auf  21  pCt. 

1888  „ 26  „ 1891  „ 24  „ 

1889  „ 23  „ 1892  „ 24  „ 

Aus  diesen  Ziffern  entnehmen  wir,  dass  der  Arbeitslohn  in 
den  Jahren  aufsteigender  Konjunktur  (1888 — 90)  zunächst 
der  Werthsteigerung  des  Produkts  nicht  hat  folgen  können, 
dass  ihm  dieses  erst  im  ersten  Jahre  verminderter  Produktion 
durch  Stabilbleiben  annähernd  gelungen  war,  dass  aber 
schon  im  zweiten  Jahre  der  Geschäftsflauheit  diese  in  vollem 
Umfange  sich  in  der  Reduktion  des  Arbeitslohnes  bemerk- 
bar gemacht  hat.  Derartige  Rechnungen  beweisen  die  Hin- 
fälligkeit der  immer  wieder  einmal  gehörten  Behauptung, 
dass  das  sogenannte  „Risiko“  allein  von  den  Unternehmern 
getragen  würde ; ohne  Zweifel  hilft  die  Arbeiterschaft  in 
weitem  Umfange  mit  tragen. 

6.  Der  Walzwerks  betrieb  für  Eisen  und  Stahl 
gewährt  im  Jahre  1892  ein  ganz  ähnliches  Bild  wie  die 
Giesserei.  Er  hat  vor  allem  unter  der  Abnahme  der 
Staatsbahnnachfrage  zu  leiden  gehabt.  Beträgt  doch  die 
Minderproduktion  an  „Hauptbahnmaterial“  im  Berichtsjahr 
20772  t,  d.  h.  nahezu  ein  Drittel  der  gesammten  1891er 
Produktion;  die  Minderproduktion  an  Eisenbahnschienen 
allein  19171  t,  mehr  als  45  pCt.  Die  Rückwirkung  des 
schlechten  Geschäftsganges  auf  die  Lage  der  Arbeiterschaft 
hat  sich  vor  allem  in  den  bedeutenden  Entlassungen  ge- 
äussert.  Es  wurden  im  Berichtsjahr  1044  Arbeiter,  das  sind 

8 pCt.  der  Gesammtzahl,  weniger  als  1891  beschäftigt.  Da-  ! 
gegen  sind  die  Durchschnittslohnsätze  für  erwachsene 
männliche  Arbeiter  annähernd  stabil  geblieben  (790,4  M. 
gegen  787,0  M.),  nachdem  im  Jahre  1891  auf  die  rasche 
Aufwärtsbewegung  der  Löhne  in  den  letzten  Jahren  zuerst 
wieder  ein  Rückgang  erfolgt  war  (um  24,5  M.).  Es  scheint, 
als  ob  die  Walzwerksindustrie  sich  von  ihrem  Darnieder- 
liegen bereits  zu  erholen  angefangen  habe;  vor  allem  hat  ; 
der  Export  schon  im  Jahre  1892  nicht  unbeträchtlich  wieder 
zugenommen. 

7.  Zinkhüttenbetrieb  und  Zinkblechfabrikation.  ' 
Obwohl  auch  in  diesen  Branchen  das  Jahr  1892  theilweise 
kein  sehr  günstiges  gewesen  ist,  haben  sich  die  Arbeiter- 
verhältnisse doch  kaum  wesentlich  verschlechtert.  Die 
Zahl  der  beschäftigten  Personen  ist  annähernd  gleich  ge- 
blieben. In  den  Zinkhütten  hat  sich  nur  eine  gewiss  nicht 
beklagenswerthe  Verschiebung  insofern  vollzogen,  als  die 
Zahl  der  Weiber  zurückgegangen,  die  der  Männer  ent- 
sprechend gewachsen  ist.  Diese  Verschiebung  ist  bewirkt 
durch  Einstellung  männlicher  Tagelöhner  an  Stelle  von 
Frauen.  Auch  die  Lohnsätze  haben  sich  ungefähr  auf  der 
im  Jahre  1892  erreichten  Höhe  gehalten.  Zur  Erklärung 
dieser  Thatsache  mag  auf  die  Ausführungen  unseres  vor- 
jährigen Berichts  verwiesen  werden.  Es  betrugen  im  Jahre 
1892  die  Durchschnittslöhne  in  der  Rohzinkfabrikation: 

für  männliche  Arbeiter  über  16  Jahre  832,19  M. 

„ „ „ unter  16  „ 287,77  „ 

„ weibliche  „ 315,64  „ 

desgleichen  in  der  Zinkblechfabrikation  bezugsweise 
863,29,  374,20,  318,67  M. 

Die  gedrückte  Lage  des  oberschlesischen  Eisenmarktes 
hat  sich  naturgemäss  fühlbar  gemacht  in 

8.  der  Koks-  und  Cinderfabrikation  — für  die 
Arbeiterschaft  nicht  sowohl  in  der  Reduktion  der  Löhne, 
die  1892  annähernd  stabil  geblieben  sind,  als  in  beträcht- 
lichen Entlassungen.  Die  Gesammtzahl  der  Arbeiter  ist  von 
4008  im  Jahre  1891  auf  3455  im  Berichtsjahre  gesunken. 

Die  übrigen  weniger  bedeutenden  Zweige  der  ober- 
schlesischen Montanindustrie  bieten  heuer  zu  besonderen 
Bemerkungen  keinen  Anlass. 


No.  44. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


527 


Zum  Schluss  seien  nur  noch  einige  die  gesammte 
oberschlesische  Montanindustrie  betreffende  Ziffern  mit- 
getheilt,  die  in  mehrfacher  Hinsicht  auch  sozialpolitisches 
Interesse  gewähren.  Zunächst  die  Gesammtzahl  der  Ar- 
beiter. Diese  hat  betragen  in  den  Jahren: 

1887  = 81  085 

1888=  84  869 

1889  = 91  321 

1890  = 99  333 

1891  = 105  351 

1892  = 103  399 

Aus  diesen  Zahlen  ergiebt  sich  die  gewaltige  Expansion 
der  oberschlesischen  Industrie  während  des  Jahrfünfts 
1887 — 91.  Die  schon  beträchtliche  Arbeiterzahl  vermehrt 
sich  um  annähernd  ein  Drittel  (30  pCt.).  Noch  stärker  ver- 
mehrt sich  das  Quantum  des  Produkts,  nämlich  von 
16,2  Milk  t.  auf  21,4  Mill.  t.  (=  32  pCt.),  d.  h.  also  die  Pro- 
duktivität wächst  in  einem  noch  rascheren  Verhältniss  als 
die  Arbeiterzahl.  Dieses  Wachsthums-Verhältniss  ist  endlich 
am  grössten  beim  Produktionsgeldwerth,  der  sich  innerhalb 
der  5 Jahre  von  164  Milk  M.  auf  285  Milk  vermehrt. 

An  diesem  gewaltigen  Aufschwung  hat  auch  die  Arbeiter- 
schaft Antheil  genommen;  auch  die  Arbeitslöhne  sind  in 
dem  Jahrfünft  1887—91  gestiegen  und  zwar  sowohl  in  ihrem 
absoluten  Betrage  wie  im  Durchschnitt  für  den  Arbeiter; 
jener,  der  absolute  Betrag,  stieg  von  43,3  Milk  M.  im  Jahre 
1886  auf  73,1  Milk  M.  im  Jahre  1891. 

Es  ist  den  Arbeitern  aber  in  dem  hinter  uns  liegenden 
Jahrfünft  sogar  gelungen,  nicht  nur  Schritt  mit  der  Steigerung 
des  Produktionswerthes  zu  halten,  sondern  in  ihren  Löhnen 
dieser  sogar  um  eine  Kleinigkeit  vorauszueilen.  Während 
nämlich  der  Antheil  der  Arbeitslöhne  am  Gesammtwerthe 
der  Produktion  im  Jahre  1886  nur  23  pCt.  betrug,  ist  er 
1891  auf  25  pCt.  gestiegen;  etwa  ein  Viertel  des  Gesammt- 
erlöses  floss  also  1891  schon  in  die  Taschen  der  Arbeiter. 
Nun  kommt  das  Jahr  1892,  das  erste  der  Einschränkung 
der  Produktion.  Es  wird  ein  Theil  der  langsam  angezogenen 
Arbeiter  wieder  abgestossen,  einstweilen  freilich  erst  die 
verhältnissmässig  geringe  Anzahl  von  1952.  Dadurch  schon 
verringert  sich  die  Summe  der  Löhne;  eine  weitere  Ver- 
ringerung wird  durch  Lohnherabsetzungen  vollzogen,  so 
dass  im  Jahre  1892  nur  noch  72,3  Milk  M.  insgesammt  an 
Löhnen  bezahlt  werden.  Diese  reduzirte  Summe  macht 
nun  aber  immer  noch  einen  grösseren  Theil  vom  Pro- 
duktionswerth aus,  als  es  vorher  der  Fall  gewesen  war, 
nämlich  28  pCt.  gegen  25  pCt.  im  Vorjahre.  Arbeits- 
entlassungen und  Lohnherabsetzungen  sind  also  in  lang- 
sameremTempo  erfolgt  als  die  Verminderung  desProduktions- 
werthes,  mit  anderen  Worten:  dank  der  gedrückten  Ge- 
schäftslage ist  der  Antheil  der  Arbeiter  am  Produkt 
gestiegen. 

Breslau  Werner  So  mbar  t. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Der  französische  Gewerkschaftskongress.  Vom  12. 

bis  16.  Juli  fand  in  Paris  ein  Landeskongress  der  französi- 
schen Gewerkschaften  statt,  auf  dem  nahezu  800  Gewerk- 
vereine durch  187  Delegirte  vertreten  waren.  Da  ihm  die 
Arbeitsbörse  vorenthalten  war,  tagte  er  in  dem  im  Faubourg 
du  temple  gelegenen  Salle  du  Commerce.  Der  Punkt  der 
Tagesordnung,  auf  den  das  grosse  Publikum  am  gespann- 
testen harrte,  der  Generalstrike,  gelangte  erst  am  letzten 
Verhandlungstage  zur  Diskussion.  Dies  allein  hätte  schon 
alle  diejenigen,  die  den  Ausbruch  eines  allgemeinen  Strikes 
mit  Zuversicht  erwarteten,  belehren  können,  dass  ihn  der 
Kongress  nicht  beschliessen  werde.  Denn  hätte  er  sich  mit 
der  Absicht  getragen,  den  allgemeinen  Strike  zu  erklären, 
hätte  er  ihn  sicherlich  als  ersten  Punkt  auf  die  Tagesord- 
nung gestellt.  Welchen  Sinn  hätte  es  auch  gehabt,  vorerst 
über  Arbeiter -Vermittelungsbureaux  u.  dergl.  zu  diskutiren, 
wenn  man  sich  mit  dem  Ausbruch  des  allgemeinen  Strikes 
trug?  Dass  ein  Generalstrike  niemandem  erwünschter 
gekommen  wäre  als  den  Gegnern  der  Arbeiterbewegung,  da- 
von zeugt  nichts  besser  als  der  schlecht  verhehlte  Groll  der 


anerkanntesten  Organe  der  herrschenden  Klassen  ob  der 
Nichtvotirung  dieses  Strikes. 

Alles,  was  der  Kongress  in  dieser  Hinsicht  that,  war, 
dem  Generalstrike  im  Prinzip  zuzustimmen,  seine  Ausführung 
aber  von  einer  Urabstimmung  abhängig  zu  machen.  Was 
der  Kongress  dabei  besonders  im  Auge  hatte,  war  weniger 
der  Generalstrike  als  die  Organisation  der  Arbeiterschaft, 
eine  Ausbreitung  der  Syndikatsbewegung  und  Entfaltung  der 
Propaganda  zu  Gunsten  der  Arbeiterreformen.  Denn  der 
Kongress  war  sich  keinen  Augenblick  unklar,  dass  der  Ge- 
neralstrike die  Revolution  bedeute,  diese  aber  von  ganz  an- 
deren Bedingungen  als  von  einem  Beschluss  abhänge.  Etwas 
anderes  ist  es  mit  der  Durchführung  partieller  Strikes  oder 
selbst  Generalstrikes  einzelner  Berufe,  wie  die  der  Kohlen- 
arbeiter, Metallarbeiter,  Bauarbeiter  etc.  Um  nun  diesen 
Strikes  so  weit  als  möglich  den  Sieg  zu  sichern,  beschloss 
der  Kongress  eine  Landes-Strikekasse  zu  gründen,  deren 
Fonds  aus  Spenden,  Sammlungen  und  den  Monatsbeiträgen 
von  5 Centimes  für  jedes  Gewerkschaftsmitglied  zu  bilden 
und  von  einem  Bundeskomite  zu  verwalten  ist.  Diese  Kasse 
darf  erst  nach  sechsmonatlichem  Bestände  in  Anspruch  ge- 
nommen werden  und  nur  solche  Strikes  unterstützen,  die 
von  Gewerkvereinen  ausgehen,  die  mindestens  sechs  Monate 
lang  ihre  Strike -Beiträge  eingezahlt  haben.  Bemerkt  muss 
dabei  werden,  dass  die  Hälfte  der  Delegirten  sich  bei  dieser 
Frage  der  Abstimmung  enthielt,  was  aber  die  Gründung 
der  Landes-Strikekasse  nicht  zu  hindern  vermag,  und  zwar 
um  so  weniger,  als  diese  Delegirten  erklärten,'  sich  nur  aus 
dem  Grunde  der  Abstimmung  zu  enthalten,  weil  sie  in  dieser 
Frage  kein  festes  Mandat  erhalten  hätten  und  demgemäss  erst 
mit  ihren  Mandanten  darüber  berathen  müssten;  im  Prinzip 
schlossen  sie  sich  der  Gründung  der  Strikekasse  fast  ein- 
stimmig an. 

Viel  wichtiger  als  diese  Punkte  ist  der  betreffs  der 
Gewerkschaftsorganisation.  Denn  was  die  Arbeiter 
auch  unternehmen  mögen,  gleichgültig,  ob  sie  nun  im  Kampfe 
zwischen  Kapital  und  Arbeit  zum  Angriff  oder  zur  Verthei- 
digung  schreiten,  sie  werden  fast  immer  unterliegen  oder 
sich  nur  kurze  Zeit  ihres  Sieges  zu  erfreuen  haben,  so  lange 
sie  nicht  eine  festgegliederte  Organisation  besitzen.  Dies 
scheint  wohl  auch  die  Meinung  des  Kongresses  gewesen  zu 
sein,  da  er  sonst  sicherlich  nicht  die  Organisationsfrage  als 
ersten  Punkt  auf  die  Tagesordnung  gestellt  und  behandelt 
hätte.  In  dieser  Frage  ist  nun  der  Kongress  zu  dem  Schlüsse 
gekommen,  dass  sich  alle  Gewerkschaften  ihrem  betreffen- 
den Berufsverbande  anzuschliessen  oder  dort,  wo  keine  der 
artigen  Verbände  bestehen,  solche  zu  gründen  haben,  über 
dies  aber  Lokalverbände  oder  Arbeitsbörsen  zu  bilden  haben, 
die  ihrerseits  wieder  einen  Landesverband  schliessen.  Diese 
Berufsverbände  bilden  gemeinsam  mit  dem  Verband  der 
Arbeitsbörsen  den  Landes- Gewerkschaftsbund.  An  seiner 
Spitze  steht  ein  Zentralkomite,  das  aus  je  zwei  Mitgliedern 
der  einzelnen  Landesberufsverbände  und  vier  Mitgliedern 
des  Arbeitsbörsenverbandes  zu  bilden  ist.  Ihm  fällt  die 
Aufgabe  des  bisherigen  Arbeitssekretariats  zu;  gleichzeitig 
hat  er  für  ein  ordentliches  Gebahren  der  einzelnen  Verbände 
Sorge  zu  tragen,  sowie  für  die  Gründung  von  Gewerkschaften 
in  allen  Arbeiterorten,  wo  noch  keine  bestehen. 

Die  beiden  nächsten  Punkte,  die  der  Kongress  besprach, 
betrafen  die  Pr ud ' h o m m es  - G e r ich  te  und  die  Arbeits- 
Vermittelu ngsbureaux.  In  Bezug  auf  ersteren  Punkt 
verlangte  der  Kongress,  dass  der  Wirkungskreis  dieser  Ge- 
werbegerichte auf  die  — bisher  ausgeschlossenen  — Han- 
dels-, Eisenbahn-  und  Staatsbediensteten,  sowie  auf  die  den 
sogenannten  liberalen  Gewerben  Angehörigen  (Künstler  der 
Cafes  chantants  etc.)  ausgedehnt  werde  und  alle  Arbeiter 
wie  Angestellten  ohne  Unterschied  des  Geschlechts  und  der 
Nationalität  hiebei  Stimm-  und  Wahlrecht  gemessen  sollen; 
in  Bezug  auf  den  letzteren  Punkt,  dass  die  Privat-Vermitte- 
lungsbureaux,  welche  die  Arbeitsuchenden  nur  ausbeuten, 
aufgehoben  und  die  den  munizipalen  Vermittelungsbureaux 
gegebenen  Subventionen  diesen  entzogen  und  den  Gewerk- 
schaftsverbänden und  -Vereinen,  welche  die  Arbeit  vermit- 
teln, zugeführt  werden. 

Von  den  weiteren  Beschlüssen  wäre  nur  noch  hervor- 
zuheben: 1.  das  Verlangen,  dass  das  Dekret  vom  Jahre  1848, 
das  die  Anstellung  von  Unterakkordanten  verbietet,  durch 
ein  Gesetz  ergänzt  werde,  welches  die  Uebertretenden  mit 


528 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  44. 


empfindlichen  Strafen  belege;  2.  die  Entsendung  einer  De- 
legation an  den  internationalen  Arbeiterkongress  in  Zürich. 
Zum  Schlüsse  wurde  noch  bestimmt,  dass  der  nächste  Ge- 
werkschaftskongress in  Nantes  abzuhalten  sei,  was  insofern 
besonders  hervorgehoben  zu  werden  verdient,  als  dies  eine 
Annäherung  an  den  Gewerkschaftsbund  bedeutet,  der  sich  zur 
marxistischen  Arbeiterfraktion  zählt  und  auf  seinem  letzten  in 
Marseille  abgehaltenen  Kongress  ebenfalls  Nantes  als  nächsten 
Kongressort  bestimmt  hat.  Die  Bedeutung  dieses  Beschlusses 
wird  noch  dadurch  erhöht,  dass  der  Verband  der  Arbeits- 
börsen beauftragt  wurde,  sich  mit  dem  bezeichneten  Ge- 
werkschaftsbund in's  Einverständniss  zu  setzen,  um  gemein- 
sam mit  ihm  an  die  Organisation  des  nächstjährigen  Kon- 
gresses zu  treten.  Die  gesuchte  Annäherung  wird  da  zwei- 
felsohne zu  einer  Verschmelzung  führen,  und  damit  wird 
eine  einheitliche  Gewerkschaftsbewegung,  ja  Arbeiterbewe- 
gung in  Frankreich  geschaffen  sein. 

Bergarbeiterbewegung  in  England.  Das  Herabgehen 
des  Kohlenpreises  seit  1890  haben  die  englischen  Kohlen- 
grubenbesitzer als  Anlass  genommen,  den  Arbeitern  eine 
sehr  bedeutende  Lohnherabsetzung  anzukündigen.  Seit  1888 
waren  die  Löhne  der  Grubenarbeiter  um  40  pCt.  gestiegen; 
während  sie  in  Cumberland,  Northumberlancl,  Durham  seit 
1890  wieder  beträchtlich  heruntergegangen  waren,  hielten 
sie  sich  in  den  übrigen  Theilen  Englands  bis  jetzt  auf  dieser 
Höhe.  Nunmehr  wird  den  letzteren  eine  Herabsetzung  der 
40  pCt.  auf  15  pCt.  in  Aussicht  gestellt.  Begreiflicherweise  hat 
dieses  Vorgehen  der  Grubenbesitzer  die  Arbeiter  in  grosse 
Aufregung  versetzt.  Alle  Verhandlungen  zwischen  den 
Vertretern  des  Bergarbeiterbundes  und  dem  Vorstande  des 
Grubenbesitzerverbandes  sind  bisher  gescheitert.  Auf  einer 
am  19.  Juli  in  Birmingham  veranstalteten  Versammlung  von 
Vertretern  der  Bergarbeiter  hat  sich  die  Mehrzahl  der  De- 
legirten  gegen  jeden  Kompromiss  und  für  den  allgemeinen 
Strike  erklärt,  wofern  der  Lohn  thatsächlich  auch  nur  um 
das  mindeste  verkürzt  werde;  die  Minderheit  stimmte  für 
ein  Schiedsgericht.  Der  Ausbruch  eines  gewaltigen  Strikes, 
der  mehrere  hunderttausend  Bergarbeiter  umfassen  würde, 
scheint  unvermeidlich.  Nach  den  neuesten  Nachrichten 
haben  die  Bergarbeiter  von  Durham  beschlossen,  ihrerseits 
eine  Lohnerhöhung  von  15  pCt.  zu  fordern.  Somit  gewinnt 
es  den  Anschein,  als  würde  ein  gemeinsames  Vorgehen 
sämmtlicher  Kohlengrubenarbeiter  erzielt  werden. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Schutzbestimmungen  für  jugendliche  Arbeiter  in 
Spinnereien.  Wie  die  Tagespresse  mittheilt,  ist  dem  Bundes- 
rathe  ein  die  Schutzvorschriften  der  Gewerbenovelle  etwas 
erweiternderEntwurf  vonBestimmungen  über  dieNachmittags- 
pausen  der  in  Spinnereien  beschäftigten  jugendlichen  Ar- 
beiter zugegangen.  Danach  darf  an  Sonnabenden  sowie  an 
Vorabenden  der  Festtage  die  Arbeitszeit  der  jugendlichen 
Arbeiter  nicht  länger  als  9^2  Stunden  und  nicht  über  5 Uhr 
nachmittags  dauern  und  nach  der  Mittagspause  4 Stunden 
nicht  überschreiten.  Auch  muss  an  diesen  Tagen  den  ge- 
dachten Arbeitern  gestattet  werden,  das  Vesperbrod  wäh- 
rend der  Arbeit  einzunehmen.  Diese  Bestimmungen  sollen 
mit  dem  Tage  der  Verkündung  in  Kraft  treten  und  bis  zum 
1.  April  1903  in  Giltigkeit  bleiben. 

Im  Uebrigen  soll  nach  offiziösen  Mittheilungen  der 
Reichskanzler  in  neuerer  Zeit  es  mehrfach  abgelehnt  haben, 
auf  eine  von  den  allgemeinen  Bestimmungen  abweichende 
Regelung  der  Arbeitszeit  für  jugendliche  Arbeiter  und  Ar- 
beiterinnen, wie  sie  von  einzelnen  Industriezweigen  ge- 
wünscht wurde,  einzugehen  oder  eine  derartige  Regelung 
dem  Bndesrathe  vorzuschlagen.  Als  Grund  wird  angegeben: 
weil  in  den  fraglichen  Berufszweigen  eine  so  geringe  An- 
zahl solcher  Arbeiter  beschäftigt  würden,  dass  auf  besondere 
Maassregeln  verzichtet  werden  könne. 

Die  Haftpflicht  in  England.  Das  Haftpflichtgesetz 
oder  Employers’  Liability  Act  1893,  wie  die  offizielle  Be- 


zeichnung lautet,  ist  nunmehr  vom  Parlamente  angenommen 
worden.  Die  drei  wichtigsten  Paragraphen  desselben  lauten 
folgendermaassen : 

1.  (1.)  Wo  nach  Inkrafttreten  dieses  Gesetzes  eine 
Körperverletzung  einem  Arbeiter  zugefügt  wird  durch  die 
Nachlässigkeit  irgend  einer  Person  im  Dienste  des  Arbeit- 
gebers, soll  der  Arbeiter  oder  im  Fall  seines  Todes  seine 
Stellvertreter  dasselbe  Recht  auf  Schadenersatz  gegenüber 
dem  Arbeitgeber  haben,  als  wenn  er  gar  nicht  Arbeiter 
desselben  wäre,  noch  in  dessen  Diensten  oder  in  dessen 
Werkstätte  angestellt  wäre. 

(2.)  Es  darf  nicht  angenommen  werden,  dass  ein  Ar- 
beiter allein  dadurch  eine  mit  der  Beschäftigung  verbundene 
Gefahr  auf  sich  genommen  hätte,  dass  er  die  Beschäftigung 
antrat  und  in  ihr  verharrte,  nachdem  ihm  die  Gefahr  be- 
kannt war. 

2.  Ein  Kontrakt,  durch  den  ein  Arbeiter  auf  irgend 
ein  Recht  auf  Schadenersatz  für  Körperverletzungen,  welche 
durch  Nachlässigkeit  des  Arbeitgebers  oder  einer  Person 
in  dessen  Diensten  verursacht  wurde,  für  sich  oder  seine 
Stellvertreter  verzichtet,  soll,  falls  er  vor  der  Entstehung 
des  Anspruchrechts  abgeschlossen  wurde,  keine  Einrede 
begründen  gegen  eine  gerichtliche  Geltendmachung  des 
Rechtes  auf  Entschädigung. 

3.  Wenn  ein  Arbeitgeber  zu  einer  Kasse  beigetragen 
hat,  welche  die  Aufgabe  der  Unterstützung  des  Arbeiters 
oder  seiner  Stellvertreter  bei  Unfall  oder  Tod  hat,  so  soll 
der  Gerichtshof  bezw.  das  Schiedsgericht  bei  Bemessung 
des  Betrages  der  Entschädigung,  die  dem  Arbeiter  oder 
seinen  Stellvertretern  nach  eingetretenem  Unfall  oder  Tod 
auszuzahlen  ist,  soviel  von  dem  Gelde,  das  der  Arbeiter 
oder  seine  Stellvertreter  aus  der  Kasse  erhalten  haben  oder 
erhalten  werden,  der  Haftpflicht  des  Arbeitgebers  gut- 
schreiben, als  nach  Ermessen  des  Gerichtshofes  oder 
Schiedsgerichtes  davon  auf  den  Beitrag  des  Arbeitgebers 
entfällt. 

Die  folgenden  Paragraphen  enthalten  Bestimmungen 
über  die  Zuständigkeit  der  Gerichte,  die  Ausdehnung  des 
Gesetzes  auf  die  von  der  Regierung  angestellten  Arbeiter, 
die  Hinterlegung  der  Gelder  für  Minderjährige  und  be- 
schäftigen sich  mit  anderen  technischen  Fragen.  Nur  § 10 
ist  noch  von  Wichtigkeit:  er  bestimmt,  dass  bestehende 
Kontrakte,  die  diesem  Gesetze  zuwiderlaufen,  nicht  über 
einen  bestimmten  Termin  gültig  sein  sollen,  der  bei  Inkraft- 
treten des  Gesetzes  angemerkt  werden  müsste. 

Das  Gesetz  bewegt  sich  also  im  Ganzen  in  dem  Rahmen 
des  deutschen  Haftpflichtgesetzes  vom  7.  Juni  1871.  Es 
unterscheidet  sich  von  diesem  hauptsächlich  nur  durch 
den  Mangel  jeglicher  Bestimmung  über  die  Bemessung  der 
Höhe  der  Entschädigung  und  über  eine  Verjährungsfrist. 
Eine  obere  Grenze  der  Entschädigungssumme  kennt  übrigens 
auch  das  deutsche  Gesetz  nicht,  und  es  dürften  die  Wünsche 
der  englischen  Unternehmer,  die  diesen  Mangel  so  schwer 
beklagen,  auch  kaum  rationell  zu  befriedigen  sein.  Dass 
das  englische  Gesetz  auch  auf  eine  Verjährung  verzichtet, 
hat  wohl  seinen  Grund  darin,  dass  manchmal  Rücksichten 
den  Arbeiter  zwingen,  seinen  Ausspruch  aufzuschieben. 
Die  Unternehmer  erwarten  nun  nur  absichtliches  Hinaus- 
schieben zweifelhafter  Ansprüche,  um  den  Beweis  zu  er- 
schweren. Auch  alle  böswilligen  Verletzungen  der  Arbeiter 
unter  sich  fürchten  sie  in  Zukunft  büssen  zu  müssen.  Für 
den  Hauptfehler  des  Gesetzes  aber  hält  man,  dass  es  Ar- 
beiter und  Arbeitgeber  wiederum  um  einen  Schritt  von 
einander  entfernen  werde,  nachdem  sie  bisher  so  schön 
gemeinsam  in  eine  Kasse  bezahlt  hatten.  Es  ist  nicht  ein- 
zusehen, warum  dies  nicht  auch  in  Zukunft  geschehen 
könne,  da  offenbar  § 3 darauf  abzielt,  es  auch  in  Zukunft 
noch  für  den  Arbeiter  vortheilhaft  zu  machen,  wenn  er 
nebenbei  auch  selbst  für  seine  ökonomische  Sicherheit  sorgt. 
Aber  es  wird  nicht  mehr  so  billig  werden  für  den  Unter- 
nehmer wie  früher,  wo  er  dem  Arbeiter  seine  Rechte  um 
ein  Linsengericht  abkaufte.  Die  Versicherungsgesellschaften, 
welche  bisher  die  Versicherungen  der  Arbeiter  annahmen, 
haben  erklärt,  dass,  um  der  neuen  Haftpflicht  zu  genügen, 
die  Prämien  mindestens  verdreifacht  werden  müssten. 


No.  44. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


529 


Arbeiterversicherung. 

Uebelstände  im  Verfahren  zur  Feststellung  der  Unfall- 
entschädigungen. 

Ein  Rundschreiben  des  Reichs-Versicherungsamts  vom 
20.  April  1893  (Amtliche  Nachrichten  No.  9)  enthält  eine 
Anzahl  Weisungen  und  Rathschläge  an  die  Vorstände  der 
Berufsgenossenschalten  über  die  Durchführung  des  Ent- 
schädigungsverfahrens  „im  Falle  der  Betheiligung  mehrerer 
Berufsgenossenschaften“,  d.  h.  in  dem  Falle,  wenn  gar  kein 
Zweifel  darüber  besteht,  dass  ein  Betriebsunfall  vorliegt  und 
dem  Verletzten  eine  Rente  gebührt,  sondern  der  ganze  Streit 
sich  darum  dreht,  welche  von  mehreren  Berufsgenossen- 
schaften diese  Rente  zu  zahlen  verpflichtet  ist. 

Wenn  man  dieses  Rundschreiben  durchliest,  wird  man 
zunächst  anerkennen  müssen,  dass  das  Reichs-Versicherungs- 
amt, wie  wir  es  ja  von  ihm  gewöhnt  sind,  auch  hier  sich 
redlich  bemüht,  die  vorhandenen  Unzuträglichkeiten  abzu- 
stellen, die  Härten,  welche  bei  der  Ausführung  des  Gesetzes 
hervortreten,  wenigstens  zu  mildern,  wo  es  sie  nicht  völlig 
zu  beseitigen  vermag.  Aber  der  Haupteindruck  wird  doch 
der  sein,  dass  hier  in  der  That  Härten  und  Unzuträglich- 
keiten vorliegen,  welchen  abzuhelfen  das  Reichs -Versiche- 
rungsamt bei  bestem  Willen  (und  auch  den  besten  Willen 
der  Schiedsgerichte  und  Genossenschaftsorgane  voraus- 
gesetzt) nicht  im  Stande  ist.  Es  handelt  sich  hierbei  um 
Umstände,  die  wohl  geeignet  sind,  den  versicherten  Ar- 
beitern die  Geltendmachung  ihrer  Entschädigungsansprüche 
wesentlich  zu  erschweren,  wo  nicht  ganz  unmöglich  zu 
machen,  und  es  ist  daher  gewiss  nicht  zu  viel  verlangt, 
wenn  man,  nachdem  die  Missstände  einmal  erkannt  und 
von  berufenster  Stelle  als  vorhanden  bestätigt  sind,  die 
Forderung  erhebt,  dass  nunmehr  die  Abhilfe  auf  dem  ein- 
zigen Wege,  auf  welchem  sie  wirksam  geschehen  kann,  auf 
dem  Wege  der  Gesetzgebung,  geschaffen  werde. 

Man  wende  nicht  ein,  dass  derartige  Fälle  doch  nur 
in  verschwindend  geringer  Anzahl  vorkämen,  und  dass  es 
nicht  lohne,  davon  soviel  Aufhebens  zu  machen.  Selbst 
wenn  das  zuträfe,  würde  es  an  der  Sache  nichts  ändern. 
Denn  auch  den  wenigen,  denen  ohne  eigenes  Verschulden 
dadurch  der  ihnen  gesetzlich  zugesprochene  Entschädigungs- 
anspruch verkümmert  wird,  ist  der  Gesetzgeber  zu  helfen 
verpflichtet,  sobald  er  erkannt  hat,  dass  sie  der  Hilfe  be- 
dürfen. Zudem  ist  aber  auch  diese  Zahl  gar  nicht  so  gering. 
In  der  Praxis  scheiden  sich  die  verschiedenen  Betriebe 
durchaus  nicht  so  scharf  wie  in  der  Gewerbestatistik  oder 
im  Genossenschaftskataster.  Zweifel  über  die  Zugehörig- 
keit eines  Betriebes  zu  der  einen  oder  anderen  Genossen- 
schaft können  sehr  wohl  entstehen  und  entstehen  häufig 
genug.  Und  wenn  sie  auch  regelmässig  im  Katastri- 
rungsverfahren  ihre  Erledigung  finden,  und  damit  ein 
formelles  Versicherungsverhältniss  geschaffen  wird,  dessen 
Konsequenzen  nach  der  Rechtsprechung  des  Reichs-Ver- 
sicherungsamts die  Berufsgenossenschaft,  der  ein  solcher  Be- 
trieb zugetheilt  ist,  sich  nicht  mehr  entziehen  darf,  so  kommen 
doch  auch  Fälle  genug  vor,  in  denen  das  noch  nicht  gesche- 
hen ist,  und  in  denen  nun  die  Streitfrage  dem  verletzten 
Arbeiter,  den  sie  eigentlich  gar  nichts  angehen  sollte,  das 
Leben  schwer  macht.  Weit  häufiger  aber  noch  wird  darüber 
gestritten  werden  können  und  auch  wirklich  gestritten,  ob 
eine  bestimmte  versicherte  Person,  eine  bestimmte  Thätig- 
keit,  bei  der  der  Unfall  sich  ereignet  hat,  dem  einen  oder 
dem  anderen  Betriebe  zuzurechnen,  und  demgemäss  die 
Unfallentschädigung  von  der  einen  oder  der  anderen  Be- 
rufsgenossenschaft zu  zahlen  ist.  Nach  dem  letzten  Ge- 
schäftsbericht des  Reichs-Versicherungsamts  hat  unter  den 
im  Jahre  1893  in  der  Rekursinstanz  entschiedenen  Streit- 
fällen es  sich  150  mal  allein  um  die  Frage  gehandelt,  welche 
von  mehreren  Berufsgenossenschaften  eine  Entschädigung 
zu  leisten  habe,  auf  welche  dem  Verletzten  an  sich  un- 
bestritten ein  Anspruch  zustand. 

Um  die  hieraus  für  den  Versicherten  sich  ergebenden 
Schwierigkeiten  fortzuschaffen,  giebt  es  offenbar  nur  ein 
Mittel:  ein  rasches  Prozessverfahren,  in  welchem  ausser 
dem  Verletzten  auch  die  sämmtlichen  Berufsgenossen- 
schaften, die  allenfalls  in  Frage  kommen  können,  Partei 
sind,  und  in  welchem  nach  Prüfung  des  gesammten 


Materials  entschieden  wird,  welche  Berufsgenossen- 
schaft die  Rente  zu  zahlen  hat.  Ein  solches  Verfahren 
kennt  das  gegenwärtige  Gesetz  nicht;  aber  mehr  als  das: 
es  schliesst  dasselbe  geradezu  aus,  lässt  eine  Abhilfe  auf 
diesem  Wege  nicht  zu,  und  alles,  was  in  dieser  Richtung 
das  Reichsversicherungsamt  zu  verbessern  sich  bemüht, 
kann  nicht  mehr  sein  als  unzureichendes  Stückwerk.  Die 
Schiedsgerichte  sind  heute  auf  der  berufsgenossenschaft- 
lichen Organisation  aufgebaut;  jedes  Schiedsgericht  ist  zu- 
ständig nur  für  einen  bestimmten  Bezirk  einer  bestimmten 
Genossenschaft.  Selbst  den  allergünstigsten  Fall  voraus- 
gesetzt, dass  der  verletzte  Arbeiter  die  Lage  so  klar  zu 
übersehen  vermag,  dass  er  erkennt,  um  welche  Berufs- 
genossenschaften es  sich  eventuell  handeln  könnte,  so  giebt 
es  gar  keinen  Gerichtshof,  vor  welchen  er  sie  gleich- 
zeitig laden  könnte,  um  zu  einem  klaren  Urtheilsspruch  zu 
gelangen.  Er  ist  also  darauf  angewiesen,  sie  einzeln  zu 
belangen,  sei  es  nach,  sei  es  neben  einander.  Nicht  einmal 
in  der  Rekursinstanz  ist  es  allemal  möglich,  die  zusammen- 
gehörigen Sachen  zu  verbinden  und  durch  ein  Urtheil  zu 
erledigen.  Ueberhaupt  möglich  ist  es  nur  in  dem  einen, 
äusserst  seltenen  Fall,  dass  der  Verletzte  gegen  die 
mehreren  Berufsgenossenschaften  zugleich  bei  den  ver- 
schiedenen zuständigen  Schiedsgerichten  seinen  Anspruch 
verfolgt  hat,  und  dass  diese  Verfahren  gleichzeitig  in  die 
Rekursinstanz  gelangt  sind,  also  nicht  etwa  das  eine  oder 
das  andere  Schiedsgericht  bis  zur  Erledigung  des  Parallel- 
prozesses seine  Entscheidung  ausgesetzt  hat.  Und  auch 
dann  ist  es  nicht  immer  möglich;  denn  wenn  beispielsweise 
eine  gewerbliche  und  eine  landwirthschaftliche  Berufs- 
genossenschaft konkurriren,  sind  es  auch  in  der  Rekurs- 
instanz verschieden  besetzte  Gerichtshöfe,  die  das  Urtheil 
zu  sprechen  haben.  Wo  nun  eine  solche  Zusammenfassung 
der  mehreren  Verfahren  nicht  thunlich  ist,  da  bleibt  nichts 
anderes  übrig  als  die  Beiladung  derjenigen  Berufsgenossen- 
schaft oder  Berufsgenossenschaften,  welche  ausser  der  be- 
klagten bei  der  Sache  interessirt  sind.  Das  Reichs -Ver- 
sicherungsamt kann  diese  beiladen,  und  es  thut  das  regel- 
mässig, sofern  nämlich  ihr  Interesse  bereits  aus  den 
Verhandlungen  ersichtlich  ist,  und  nicht,  was  auch  Vor- 
kommen kann,  erst  im  letzten  Moment  sich  herausstellt, 
dass  vielleicht  einer  ganz  anderen  Berufsgenossenschaft  die 
Entschädigungspflicht  obliegt;  die  beigeladene  Genossen- 
schaft kann  an  dem  Verfahren  theilnehmen  und  auch  ihrer- 
seits zur  Aufklärung  des  Sachverhalts  beitragen  — ersteres 
wird  sie  ja  schon  aus  Respekt  vor  dem  Reichs-Versicherungs- 
amt thun,  ob  und  inwieweit  sie  aber  das  letztere  thun  will, 
hängt  lediglich  von  ihrem  Belieben  ab;  das  Reichs-Versiche- 
rungsamt kann  in  den  Urtheilsgründen,  wenn  es  den  An- 
spruch der  beklagten  Genossenschaft  gegenüber  abweisen 
muss,  zugleich  diejenige  andere  Genossenschaft  bezeichnen, 
die  es  für  entschädigungspflichtig  ansieht,  d.  h.  es  kann  das 
eben  nicht  in  allen  Fällen  (erst  in  diesen  Tagen  wurde 
das  zweite  Rekursverfahren  in  Bezug  auf  den  nämlichen 
Unfall  zu  Ungunsten  des  Verletzten  entschieden,  ohne  dass 
auch  dieses  Mal  das  Aktenmaterial  ausgereicht  hätte,  auch 
die  positive  Feststellung  zu  treffen,  dass  nun  die  dritte  Be- 
rufsgenossenschaft, gegen  welche  der  Verletzte  jetzt  sein 
Recht  suchen  darf,  zur  Entschädigungszahlung  für  ver- 
pflichtet zu  erachten  sei),  und  wenn  eine  solche  Fest- 
stellung getroffen  wird,  ist  sie  natürlich  für  die  beige- 
ladene Berufsgenossenschaft,  da  diese  ja  nicht  Prozesspartei 
ist,  nicht  verbindlich;  diese  kann  nunmehr  ihre  Verpflichtung 
anerkennen  und  ohne  weiteres  die  Rente  feststellen,  und  das 
Reichs-Versicherungsamt  konstatirt,  dass  das  in  den  meisten 
fällen  geschehe,  aber  es  geschieht  doch  nicht  immer,  und 
eine  rechtliche  Nöthigung  dazu  besteht  nicht.  Alles  das 
kann  also  geschehen,  aber  es  ist  keine  Sicherheit  gegeben, 
dass  es  geschehen  wird;  alle  diese,  zwar  nicht  für  den  Ent- 
schädigungsanspruch an  sich,  wohl  aber  für  dessen  Durch- 
führung sehr  erheblichen  Umstände  haben  keine  andere 
Grundlage  als  den  guten  Willen  der  Berufsgenossenschaften 
und  der  mit  der  Leitung  des  Entschädigungsverfahrens  be- 
trauten Instanzen  — eine  Grundlage,  welche  wir,  obwohl 
wir  nicht  im  mindesten  an  diesem  guten  Willen  zweifeln, 
nicht  für  ausreichend  halten. 

Den  schlimmsten  Konsequenzen  dieses  Zustandes  vor- 
zubeugen ist  nun  das  Reichs -Versicherungsamt  bemüht  ge- 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  44. 


wesen.  Es  hat  einerseits  die  gleichzeitige  Verfolgung  des 
nämlichen  Entschädigungsanspruchs  gegen  mehrere  Berufs- 
genossenschaften für  prozessual  zulässig  erklärt  — ob  sie 
praktisch  möglich  ist,  hängt  freilich  von  etwas  ganz  Anderem, 
nämlich  davon  ab,  ob  der  Verletzte  weiss,  gegen  wen  ihm 
möglicherweise  noch  ein  solcher  Anspruch  zustehen  kann, 
oder  dass  ihm  dies  rechtzeitig  gesagt  wird,  was  wiederum 
das  Reichs -Versicherungsamt  nur  anrathen  kann.  Und  es 
hat  andererseits  in  Korrektur  des  Gesetzes  den  Rechts- 
grundsatz erfunden,  dass  die  Anmeldung  des  Entschädigungs- 
anspruches seitens  des  Unfallverletzten  auch  bei  einer  un- 
zuständigen Berufsgenossenschaft  zur  Wahrung  der  zwei- 
jährigen Frist  wenigstens  dann  ausreichen  soll,  wenn  er 
diese  Genossenschaft  „bei  seiner  naturgemäss  oft  un- 
genauen Kenntniss  der  einschlägigen  Verhältnisse  füglich 
wohl  für  die  zuständige  halten  konnte.“  So  ist  denn 
wenigstens  dafür  gesorgt,  dass  der  Verletze  in  derartigen 
Fällen  im  Allgemeinen  seinen  Anspruch  nicht  schon  durch 
Verjährung  verlieren  kann. 

Aber  das  ist  keineswegs  die  einzige  Gefahr,  die  ihm 
droht.  Hat  der  Verletzte  es  mit  zwei  oder  drei  Berufs- 
genossenschaften gleichzeitig  zu  thun,  so  bedarf  es  auch  der 
doppelten  und  dreifachen  Aufmerksamkeit,  um  zu  ver- 
hindern, dass  irgendwo  eine  Frist  versäumt  und  damit  der 
Anspruch  verwirkt  werde.  Es  ist  ja  an  sich  ganz  natürlich, 
dass  ein  einfacher  Arbeiter,  der  die  Rente  von  der  Beruls- 
genossenschaft  A fordert  und  von  dieser  belehrt  wird,  dass 
nicht  sie,  sondern  die  Berufsgenossenschaft  B entschädigungs- 
pflichtig sei,  das  einfach  als  richtig  annimmt  und  nun  gegen 
die  letztere  seinen  Anspruch  verfolgt.  Thut  er  das  aber, 
und  stellt  sich  demnächst  heraus,  dass  dennoch  nicht  diese, 
sondern  die  Genossenschaft  A die  Zahlungspflichtige  ist, 
so  hat  er  gegen  diese  nunmehr,  weil  er  deren  ablehnenden 
Bescheid  rechtskräftig  werden  liess,  seinen  Anspruch  ver- 
wirkt. Das  Reichs-Versicherungsamt  hebt  zwar  anerkennend 
hervor,  dass  auch  in  solchen  Fällen  Berufsgenossenschalten 
trotz  ihrer  formellen  Befreiung  von  der  Entschädigungs- 
pflicht das  Feststellungsverfahren  wieder  aufgenommen 
haben.  Aber  wenn  sie  das  thun,  so  thun  sie  eben  ein 
Uebriges;  und  sie  thun  es  zudem  durchaus  nicht  in  allen 
Fällen.  Das  ist  ein  Zustand,  der  der  Abhilfe  dringend  be- 
darf. Gewiss  sind  gewisse  Formalitäten,  und  darunter  nament- 
lich Rechtsmittelfristen,  für  jedes  geordnete  Rechtsverfahren 
unerlässlich.  Aber  über  den  Formalitäten  muss  die  Rück- 
sicht stehen,  dass  dem  versicherten  Arbeiter  die  Geltend- 
machung seines  Anspruchs  nicht  ohne  eigenes  Verschulden 
verkümmert  werde.  Das  Reichs-Versicherungsamt  weiss  hier 
keinen  anderen  Rath,  als  dass  es  die  Genossenschaftsvorstände 
vermahnt,  in  zweifelhaften  Fällen  den  Arbeitern  möglichst 
ausführliche  Belehrung  darüber  zu  ertheilen,  was  sie  thun 
müssen,  um  ihrem  Rechte  nichts  zu  vergeben.  Das  ist 
ohne  Zweifel  sehr  gut  gemeint;  aber  es  ist  doch  ein  geradezu 
unhaltbarer  Zustand,  dass  der  Arbeiter  keinen  besseren 
Schutz  gegen  ihm  drohende  Rechtsverluste  haben  soll  als 
die  Belehrung,  welche  ihm  sein  Prozessgegner  ertheilt  — 
ganz  abgesehen  davon,  dass  die  Ertheilung  einer  zutreffen- 
den Rechtsbelehrung  vor  allen  Dingen  doch  eine  sichere 
Rechtskenntniss  voraussetzt,  wie  sie  bei  den  Genossen- 
schaften durchaus  nicht  in  allen  Fällen  anzutreffen  ist. 

Und  selbst  wenn  er  allen  diesen  Fährlichkeiten  ent- 
geht, so  bleibt  für  den  Verletzten  immer  der  schwerwiegende 
Missstand,  dass  er  Monate  lang,  ja  es  ist  nicht  zu  viel  be- 
hauptet, wenn  wir  sagen:  unter  Umständen  Jahre  lang 
warten  muss,  ehe  er  eine  Rente  erhält;  und  zwar  nicht, 
weil  darüber  gestritten  wird,  ob,  sondern  nur,  von  wem 
er  sie  erhalten  solle.  Was  das  bedeuten  will  bei  einer 
Rente,  die  ihrem  innersten  Wesen  nach  doch  dazu  bestimmt 
ist,  Ersatz  für  mangelnde  Erwerbsfähigkeit  zu  bieten,  ledig- 
lich das  am  Lebensunterhalt  Fehlende  zu  ergänzen  und 
dringender  Noth  abzuhelfen,  bedarf  keiner  weiteren  Aus- 
einandersetzung. 

Schwere  Uebelstände  liegen  hier  also  unzweifelhaft 
vor,  und  zwar  Uebelstände,  denen  wirksam  allein  der 
Gesetzgeber  abzuhelfen  vermag.  Die  Gelegenheit  dazu 
bietet  sich  bei  der  nahe  bevorstehenden  Revision  des  Un- 
fallversicherungsgesetzes. Für  die  Abhilfe  selbst  giebt  es 
mehrere  Wege. 

Auf  einen  Ausweg  weist  das  Reichs- Versicherungsamt 


in  seinem  Rundschreiben  hin,  indem  es  davon  spricht,  dass 
die  betheiligten  Berufsgenossenschaften  erfreulicherweise 
häufig  Vereinbarungen  über  die  Uebernahme  der  vorläufigen 
Fürsorge  und  die  Erstattung  der  geleisteten  Vorschüsse 
unter  einander  treffen.  Wir  würden  es  für  ganz  gerecht- 
fertigt halten,  eine  solche  Einrichtung  von  Gesetzes  wegen 
obligatorisch  zu  machen,  d.  h.  vorzuschreiben,  dass,  wenn 
und  sobald  nur  noch  die  Passivlegitimation  streitig  ist,  die 
in  Anspruch  genommene  Berufsgenossenschaft  vorläufig  — 
für  Rechnung  derjenigen,  die  schliesslich  verurtheilt  wird 
— jedenfalls  die  Rente  zahlen  muss.  Vielleicht  wäre  dies 
noch  der  einfachste  und  beste  Weg;  der  Arbeiter  hätte 
dann  seine  Rente,  und  man  kann  die  Austragung  des 
Streites  über  die  Zahlungspfiicht  ruhig  den  Berufsgenossen- 
schaften überlassen.  Dazu  würde  es  freilich  der  Eröffnung 
eines  bisher  nicht  bestehenden  Verfahrens  bedürfen,  in  dem 
zwei  Berufsgsnossenschaften  mit  einander  über  die  Zahlungs- 
pflicht streiten  können. 

Will  man  das  nicht,  so  giebt  es  noch  zwei  andere 
Wege.  Der  eine  bedeutet  freilich  einen  Bruch 
mit  dem  strengen  berufsgenossenschaftlichen  Prinzip, 
soweit  die  Organisation  des  gerichtlichen  Verfahrens  in 
Betracht  kommt.  Man  müsste  entweder  die  Zuständigkeit 
der  Schiedsgerichte  räumlich  und  nicht  nach  Berufen  ab- 
grenzen oder  wenigstens  zwischen  Schiedsgericht  und 
Reichs -Versicherungsamt  noch  eine  territoriale  Zwischen- 
instanz einschieben,  um  es  zu  ermöglichen,  dass  der  Ent- 
schädigungsprozess in  einem  Verfahren  gegen  mehrere 
Berufsgenossenschaften  geführt  werden  kann.  Weniger 

radikal  und  deshalb  vielleicht  aussichtsreicher  ist  der 
andere  Weg;  alles  das,  was  jetzt  auf  Einwirkung  des  Reichs- 
Versicherungsamts  geschieht  oder  doch  geschehen  kann, 
obligatorisch  zu  machen,  also  vorzuschreiben,  dass  die  Ge- 
nossenschaft den  Mangel  der  Passivlegitimation  sofort  bei 
Vermeidung  der  Präklusion  erheben  muss,  dass  daraufhin 
die  sonst  betheiligten  Genossenschaften  von  Amtswegen  zu  . 
der  Sache  Stellung  nehmen  müssen,  dass  die  hieraus  sich 
ergebenden  Streitverfahren  neben  einander  gefördert 

und  in  der  Rekursinstanz  verbunden  werden  müssen, 
kurz:  dass  das,  was  jetzt  das  Reichs-Versicherungsamt  im 
Interesse  der  Versicherten  anräth,  gesetzlich  vorgeschrieben 
wird,  von  Amtswegen  veranlasst  werden  muss.  Auf  alle 
Fälle  aber  müsste  ein  Ruhen  der  Rechtsmittelfristen  in- 
soweit vorgesehen  werden,  dass  nicht  der  Verletzte,  während 
er  seinen  Anspruch  gegen  die  eine  Berufsgenossenschaft 
verfolgt,  durch  blossen  Zeitablauf  mit  seinem  Anspruch 
gegen  eine  andere  präkludirt  werden  kann. 

Die  Thätigkeit  des  Reichs  - Versicherungsamts  als 
Rekurs-  und  Revisionsinstanz.  In  einem  Rundschreiben, 
das  das  Reichs-Versicherungsamt  an  die  Berufsgenossen- 
schaften und  Invaliditäts-  und  Altersversicherungsanstalten 
gerichtet  hat,  macht  es  folgende  Mittheilungen  über  seine 
Thätigkeit  als  Rekurs-  und  Revisionsinstanz  während  der 
6i/2  Monate  vom  1.  Januar  bis  15.  Juli  d.  J.: 

1.  Unfallversicherung.  Es  wurden  2880  Rekurs- 
sachen anhängig,  hierzu  kamen  unerledigt  aus  dem  Vor- 
jahre 1680,  so  dass  im  Ganzen  4560  Sachen  zu  bearbeiten 
waren.  Von  diesen  Rekursen  wurden  3600  von  den  Ver- 
sicherten und  960  von  den  Berufsgenossenschaften  einge- 
legt. Erledigt  wurden  durch  Urtheil  2950,  durch  Beschluss 
wegen  formeller  Mängel  (Verwerfung  wegen  Unzulässigkeit 
oder  verspäteter  Einlegung)  224,  auf  andere  Art  (Zurück- 
nahme, Vergleich  u.  s.  w.)  125,  so  dass  unerledigt  blieben 
1261.  Von  diesen  1261  Rekursen  rühren  80  aus  dem  Jahre 
1892  her,  155  aus  dem  ersten  Viertel  des  laufenden  Jahres, 
der  Rest  aus  der  Zeit  vom  1.  April  d.  J.  an.  Die  Erledi- 
gung der  Rekurssachen  erfolgte  durch  8,  später  9 Spruch- 
kollegien, von  denen  jedes  wöchentlich  eine  Sitzung  ab- 
hielt. Besondere  Beweisaufnahmen  durch  das  Rekursgericht 
waren  noch  in  490  Fällen  nöthig. 

2.  Invaliditäts-  und  Altersversicherung.  Es 
wurden  758  Revisionen  in  Invalidenrenten-,  1066  in  Alters- 
rentensachen, zusammen  1824  anhängig;  hierzu  kamen  uner- 
ledigt aus  dem  Vorjahre  1238,  so  dass  im  Ganzen  3062 
Sachen  zu  bearbeiten  waren.  Von  den  aus  dem  laufenden 
Jahre  stammenden  Revisionen  wurden  eingelegt: 


No.  44. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


531 


von  den  Versicherten  . . . . 

Invaliden- 

rcntcnsachen 

480 

Alters- 

rentensachen 

757 

von  den  Versicherungsanstalten 
Kasseneinrichtungen  . . . . 

und 

219 

269 

von  den  Staatskommissaren  . . 

59 

40 

Erledigt  wurden: 

Invaliden-  Alters- 

. , . zusammen 

rentensachen  rentensachen 

durch  Urtheil  nach  mündlicher 
Verhandlung 

769 

1172 

1941 

durch  Urtheil  ohne  mündliche 
Verhandlung  (Verwerfung 

wegen  verspäteter  Einlegung 
oder  als  offenbar  unbegründet) 

97 

233 

330 

auf  andere  Art  (Zurücknahme, 
Vergleich  u.  s.  w.)  .... 

41 

108 

149 

insgesammt 

907 

1513 

2420 

Unerledigt  blieben  also  642  Revisionen  und  zwar  4 aus 
dem  Jahre  1892,  53  aus  dem  ersten  Viertel  des  laufenden 
Jahres  und  der  Rest  aus  der  Zeit  seit  dem  1.  April  d.  J. 
Zur  Bewältigung  dieser  Arbeitslast  waren  theils  7,  theils  8 
Spruchkammern  thätig.  Die  Zahl  der  Spruchsitzungen  be- 
trug 174,  und  zwar  fanden  20  Sitzungen  vor  den  weiteren, 
154  vor  den  engeren  Spruchkammern  statt. 

Während  der  allgemeinen  Gerichtsferien  vom  15.  Juli 
bis  15.  September  muss  die  Spruchthätigkeit  des  Reichs- 
Versicherungsamts  ruhen,  da  die  richterlichen  Beisitzer  in 
dieser  Zeit  nicht  mitwirken  können. 

Ausdehnung  der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung 
auf  die  Hausgewerbetreibenden  der  Textilindustrie.  Den 

Bundesrath  beschäftigt  der  Entwurf  einer  Verordnung,  durch 
die  die  Geltung  des  Invaliditäts-  und  Altersversicherungs- 
gesetzes auf  die  Hausgewerbetreibenden  der  Textilindustrie 
ausgedehnt  werden  soll.  Die  Versicherungspflicht  nach  § 1 
des  Gesetzes  soll  auf  solche  selbstständige  Gewerbetreibende 
(Hausgewerbetreibende)  erstreckt  werden,  die  in  eigenen  Be- 
triebsstätten im  Aufträge  und  für  Rechnung  anderer  Ge- 
werbetreibenden (Fabrikanten,  Fabrikkaufleute,  Handelsleute) 
mit  der  Herstellung  von  Geweben,  mit  Wirken  oder  Spulen 
beschäftigt  werden,  und  zwar  auch  dann,  wenn  die  Handels- 
gewerbetreibenden die  Roh-  oder  Hülfsstoffe  selbst  be- 
schaffen, und  auch  für  die  Zeit,  während  der  sie  vor- 
übergehend für  eigene  Rechnung  arbeiten.  Die  Bestimmung 
soll  jedoch  keine  Anwendung  finden:  1.  auf  Personen,  die 
das  Geschäft  regelmässig  für  eigene  Rechnung  betreiben 
und  nur  gelegentlich  von  anderen  Gewerbetreibenden  für 
deren  Rechnung  beschäftigt  werden;  2.  auf  Personen,  die 
in  einem  anderen  die  Versicherungspflicht  begründenden 
regelmässigen  Arbeits-  oder  Dienstverhältniss  zu  bestimmten 
Arbeitgebern  stehen;  3.  auf  Personen,  die  in  dem  Betriebe 
des  Hausgewerbes  oder  bei  einer  die  Versicherungspflicht 
anderweit  begründenden  Fohnarbeit  überhaupt  nicht  berufs- 
mässig, sondern  nur  gelegentlich  in  so  geringem  Umfange 
thätig  sind,  dass  der  hieraus  erzielte  Verdienst  zum  Lebens- 
unterhalt nicht  ausreicht  und  zu  den  Versicherungsbeiträgen 
nicht  in  entsprechendem  Verhältniss  steht. 

Zur  Abänderung  des  Invaliditäts-  und  Altersver- 
sicherungsgesetzes. Aus  der  Mitte  des  Reichstages  her- 
aus waren  mehrere  Anträge  auf  baldige  Abänderung  des 
Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetzes  gestellt  wor- 
den. Dem  gegenüber  wird  nun  von  offiziöser  Seite  betont, 
dass  eine  Revision  des  Gesetzes  nur  die  Verwaltung  und 
Organisation  der  Versicherung  zum  Ziel  nehmen  könne, 
aber  nicht  deren  Umfang,  die  Art  und  Höhe  der  Fürsorge, 
die  Vertheilung  der  Lasten.  Es  sei  auch  in 'der  That  bereits 
ein  Regierungsentwurf  in  Vorbereitung,  der  verschiedenen  bei 
Ausführung  des  Gesetzes  gemachten  Erfahrungen  Rechnung 
tragen  wolle  — allerdings  in  einem  bescheideneren  Umfange, 
als  die  Antragsteller  vermuthlich  ins  Auge  gefasst  hätten. 
Viele  Klagen  würden  schon  verstummen,  wenn  man  in 
grösserem  Umfange  die  Gemeinden  und  Krankenkassen  zu 
Organen  der  Versicherungsanstalten  machen  würde,  was 
bisher  namentlich  im  Königreich  Sachsen  und  Grossherzog- 
thum Baden  geschehen  sei.  Für  tief  einschneidende  Aende- 
rungen  des  Gesetzes  sei  die  Zeit  erst  dann  gekommen, 
wenn  weitere  Erfahrungen  vorlägen. 


Das  Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetz  in  der 
Praxis.  Unter  diesem  Titel  veröffentlicht  Dr.  Gustav  Le- 
vinstein in  Karl  Braun’s  Vierteljahrsschrift  für  Volkswirt- 
schaft, Politik  und  Kulturgeschichte  einen  Aufsatz,  in  dem 
er  nachzuweisen  sucht,  dass  im  Jahre  1891  für  einen  grossen 
Prozentsatz  derjenigen  Personen,  die  nach  dem  Invaliditäts- 
und Altersversicherungsgesetz  versicherungspflichtig  sind, 
thatsächlich  keine  Beitragsmarken  verwandt  worden  seien. 
Die  Darlegungen  sind  zum  grössten  Theil  sehr  angreifbar, 
Zunächst  ist  sich  der  Verfasser  über  den  Begriff  des  arith- 
metischen Mittels  (Durchschnitts),  wie  seine  Berechnungs- 
versuche zeigen,  offenbar  ganz  im  Unklaren;  hierauf  soll 
jedoch  an  dieser  Stelle  nicht  weiter  eingegangen  werden. 
Denn  immerhin  muss  ihm  zugegeben  werden,  dass  im  Jahre 
1891  nur  für  etwa  91l±  Millionen  Personen  Beitragsmarken 
verwandt  worden  sind.  Wenn  er  indess  weiter  behauptet, 
dass  man  nach  den  Ergebnissen  der  Berufszählung  vom 
Jahre  1882  annehmen  müsse,  dass  etwa  14% — 15  Millionen 
Personen  versicherungspflichtig  gewesen  seien,  so  ist  ihm 
entgegen  zu  halten,  dass  nach  den  amtlichen  Berechnungen 
auf  Grund  desselben  Materials  nur  11285000  versicherungs- 
pflichtige Personen  in  Frage  kommen  (zu  vergl.  den  Bosse- 
Woedtke’schen  Kommentar  zum  Invalid.-  u.  Altersversicher-. 
Ges.  2.  Bd.  S.  321).  Da  nun  ohne  Zweifel  die  amtlichen 
Ermittelungen  hier  mehr  Vertrauen  verdienen  als  die 
Levinstein’schen  Schätzungen,  so  sind  für  rund  171/2°/o 
sämmtlicher  versicherungspflichtiger  Personen  keine  Beiträge 
an  die  Versicherungsanstalten  gezahlt  worden,  nicht  aber 
für  35 — 40%,  wie  Levinstein  ausrechnet.  Immerhin  fordert 
auch  dieses  Ergebniss  zu  ernstem  Nachdenken  auf  und  sollte 
nicht  nur  von  den  Versicherungsanstalten,  sondern  auch  von 
der  Reichsregierung  und  dem  Reichstage  gehörig  beachtet 
werden. 


Schulwesen. 


Praktisch-soziale  Kurse  des  Volksvereins  für  das 
katholische  Deutschland.  In  diesem  Jahre  veranstaltet 
der  Volksverein  für  das  katholische  Deutschland  zwei 
praktisch-soziale  Kurse,  den  einen  in  Bamberg  vom  21.  bis 
26.  August,  den  andern  in  Neisse  vom  4.  bis  8.  September. 
Im  Vordergründe  der  Erörterungen  stehen:  Encyklica  über 
die  Arbeiterfrage;  Sozialismus;  Arbeiterfrage,  Arbeiterschutz, 
Arbeiterversicherung,  Arbeiter  - Wohlfahrts  - Einrichtungen; 
Gewerbegerichte;  Agrarfrage,  insbesondere  Bauernvereine; 
Seelsorge  und  Sozialdemokratie.  Täglich  werden  am  Vor- 
mittag zwei  Vorträge  von  je  einer  Stunde  abgehalten. 
Nachmittags  sind  Referate  mit  Diskussion  vorgesehen  über 
Arbeiter-  und  Fachvereine;  Vereine  für  jugendliche  Arbeiter; 
Haushaltungsschulen;  ländliche  Darlehenskassen;  Charitas 
und  Bekämpfung  der  Sozialdemokratie.  Besuche  der  am 
Ort  vorfindlichen  Wohlfahrtseinrichtungen  und  sonstigen 
sozialen  Anstalten  werden  sich  anschliessen.  Als  Vortragende 
sind  für  Bamberg  gewonnen  u.  A.  die  Herren  Prof.  Dr.  Hitze 
(M. -Gladbach),  Dr.  Jäger  (Speier),  Prof.  Dr.  Schädler  (Landau), 
P.  Cyprian  (Altötling),  Beneficiat  Hauser  (Augsburg).  Vor- 
träge in  Neisse  übernahmen  die  Herren  Prof.  Dr.  Hitze, 
Prof.  Dr.  Schädler,  Frhr.  v.  Huene,  Prof.  Dr.  Nickel  (Neisse), 
Dr.  Pieper  (M. -Gladbach)  u.  A.  m. 


Litteratur. 

Traub,  Theodor,  Stadtpfarrer  in  Stuttgart:  Kürzere  Arbeitszeit. 
Mit  besonderer  Berücksichtigung  des  Programms  der  evange- 
lischen Arbeitervereine  (II.  Reihe,  8.  Heft  der  „Evangelisch- 
sozialen Zeitfragen“). 

Der  Verfasser  tritt  entschieden  für  die  Berechtigung  der  Ar- 
beiter, eine  kürzere  Arbeitszeit  zu  erstreben,  ein.  Er  richtet  an 
die  evangelischen  Arbeitervereine  die  Aufforderung:  „Eine  eurer 
Forderungen,  einer  eurer  Zielpunkte  muss  Verkürzung  der  Ar- 
beitszeit sein!“  Die  Schrift  ist  insofern  von  Interesse,  als  sie 
zeigt,  wie  gesunde  sozialpolitische  Anschauungen  in  immer  weitere 
Kreise  dringen:  von  irgend  welchem  wissenschaftlichen  Werth 
ist  sie  nicht. 


Verantwortlich  fiir  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin,  W.,  Victoriastrasse  16. 


532 


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No.  44. 


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SWaucrftrajje  44. 

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Soeben  gelaugte  jur  $lu§gabe: 

‘©afd^enbud? 


be3 


(ßetuerbe-  uttb  ^rbeiiermtrtö. 

3utn  tägXidf)eit  ©ebraudje  bearbeitet 


«on 

®eorg  (friert 

Wegierung§ratf). 

80.  VIII  u.  101  Seite. 
Preis  p.  2,  po|lfm  p.  2,10. 


Srfter  £ b e i l- 

©etoerberedjt. 

I.  ©enterbe  unb  ©ciuerberccfjt  im  ?UI= 
gemeinen. 

II.  ©eroerbebebörben,  3uftänbigfeit  unb 

Verfahren. 

III.  Sie  ©eroerbefreibeit. 

IV.  23cfonbere  SBefchränfungeit  ber  ©e= 

merbefreibeit. 

V.  Ser  ©eroerbebetrieb  im  llmberjiebcn. 

VI.  Sa§  gnnungSroefen. 

VII.  ©etoerblicheSIrbeiter  imSlttgemeinen; 

SBegriff  ber  gabrif. 

VIII.  Ser  geroerbticbe  SlrbeitSoertrag  im 
21  [[gemeinen. 

IX.  Ser  Sdjuh  be§  2lrbeit3lobn§;  ba§ 

„Srucffpftem". 

X.  Ser  Sontraftbrucb;  fefte  <Sntfc^nbi= 

gungen,  Sobnuerroirfnngen,  2obn= 
einbebaltungen. 

XI.  Sie  befonberen  SBorfcfjriften  für 
ntinberjäbrige  2Irbeiter  u.Sebrlinge. 


I*  n ly  a 1 1* 

XII.  Schuf?  für  Seben,  ©efunbbeit  unb 
Sittlid)feit  ber  Arbeiter  im  @e* 
roerbebetriebe. 

XIII.  Sie  Sonntagsruhe. 

XIV.  2Irbeit§orbnungeu  unb  2lrbeiterau§= 
f^üffe. 

XV.  SBefonberer  Schuf?  ber  grauen  unb 
Äinber  in  gabrifen  unb  gleich» 
gefteüten  2lnlagen. 

XVI.  ©eroerbegeriebte  u.  ©inigungsämter. 

XVII.  Sa§  SfoalitionSrecbt. 


3roeiter  Sbeil- 

$ie  Sfrbeiteröerftthcruttg. 

A.  Sie  Äranfenoerficberung. 

B.  Sie  Unfaüoerficberung. 

C.  Sie  gnoa[ibität§=u.2lIter§t)erfi(herung. 

Änbnng.  I.  SaS  ©efinberecht.  II-  2llpba= 
betifebe  Ueberfid^t  ber  roidbtigften 
bauSroirtbf<baft[i(bcn  gragen  ber 
gnoalibitätS»  u.  2llter§üerfi<berung. 


Soeben  erfebiett  unb  ift  in  allen  SBucbbnnblungen  ju  haben: 

„Sie  2Mt  al&  Söerffiatt" 

^actalpolittfrtjß  $,n|t4jt£n 

be§  §errn 

iHiUjdm  fieijmamt 

Sifcbtermeifter  a.  S. 

^UePerßerdjxlebjen  von 

Xlratfü)* 

8°.  6 Söogen  in  illuftrirtem  lltnfcfjlag  Sßrei§  1 SRarf. 


©§  tft  ein  eigenartiges  Südjietn,  ba3  unter  otiigem  ®itel  tm  unteräetdjneten  SBertage  foeßen  erfcfjteneit  ift. 
Sine  Süße  reiefjer  unb  anregenber  ©ebanfeu  über  unfere  foefaien  SBerfjältniffe,  mand)  ernfteS  SSafjmoort  an  bie 
„Sefi^enben",  mand)  fiefjerätgcnäroertfjer  Sßatf)  an  alle  Stejenigen,  bie  e-3  ernft  meinen  mit  bem  focialen  grieben 
unferer  unb  »or  allem  ber  3ufünfttgen  3ett,  treten  in  btefem  Sücfjlein  int  ©eroanbe  einer  tiumorboilcn  ®ar= 
ftcllung  an  bett  Sefcr  fieran.  Sttan  glaubt  iijn  fpredjeit  ätt  fjören,  ben  bieberen  oerftembigen  äKaitn  au3  bem 
Sötte,  ber  in  feiner  treufjerjtgen  SIrt  unb  mit  feinem  Sertiner  ®ialcct  fo  einbringlic^  unb  überäeugettb  ju 
rebett  »erfteiit. 

ÜlHeit  ^Xrbeitgcbertt,  allen  gkfrifcbeit  - ^orftänben  fei 
btefe3  ^3üd){etn  tuavnt 

■^letrCctg  *><?« 

A.  Hofmann  & Comp.,  Berlin  W.  41. 


Carl  Heymanns  Verlag  in  Berlin  W,  Malierstrasse  44.  — Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld  in  Berlin  W. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  7.  August  1893. 


Nummer  45 


SOZIALPOLITISCHES 

C ENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Erscheint  jeden  Montag. 

Zu  beziehen 

durch  alle  Buchhandlungen,  Spediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  5(VPf. 

Einzelnummer  20  Pf 

Anzeigenpreis  für  die  dreigespaltene  Colonelzeile 
40  Pfennig. 


INHALT. 


Die  Wahlrechtsbewegung  in 
Oesterreich.  VonEngelbert 
F ernerstorfer. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  und 
Wirthschaftsstatistik : 

Die  Dampfmaschinen  im  König- 
reich Sachsen.  Von  Dr.  H.  Lux. 

Amtliche  Feststellungen  über  die 
Arbeitslosigkeit. 

Ortsstatut  zur  Regelung  der  Lohn- 
zahlung in  den  Betrieben  der 
Stadt  Mainz. 

Landwirthschaft : 

Zur  Frage  der  grundbücherlichen 
Priorität  der  Meliorations- Dar- 
lehen. Von  Dr.  Wal t e r S ch i f f. 

Arbeiterzustände : 

Arbeiterstati-.tik  für  Frankfurt  a.  M. 

Landarbeiter  Verhältnisse  in  Posen 
und  Westpreussen.  . 

Gewerkschaftliche  Arbeiterbewe- 
gung: 

Bergarbeiterbewegung  in  England. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Kongress  der  sozialistischen  Ge- 
meinderäthe  Frankreichs. 

Unternehmerverbände : 

Kartell  österreichischer  Schuh- 
fabrikanten. 


Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Sonntagsruhe  im  Bäckergewerbe. 

Arbeiterversicherung : 

Zur  Abänderung  des  Invaliditäts- 
und Altersversicherungsgesetzes. 
Von  Rechtsanwalt  Dr.  Ludwig 
Fuld. 

Rentenansprüche  auf  Grund  des 
Invaliditäts-  und  Altersversiche- 
rungsgesetzes in  der  ersten  Hälfte 
des  Jahres  1893 

Zur  Ausdehnung  der  Unfallver- 
sicherung auf  das  Handwerk. 

Beförderung  erkrankter  Arbeiter 
mit  der  Eisenbahn. 

Wohnungszustände  und  Woh- 
nungsgesetzgebung : 

Zonenbauordnung  für  Köln  a.  Rh. 

Wohnungszustände  in  Branden- 
burg a.  H. 

Schulwesen,  Erziehungs-  und  Bil- 
dungsfragen : 

Ländliche  Fortbildungsschulen  in 
Preussen. 

Museum  für  Sozialökonomie  inParis. 

Vermischtes : 

Entwurf  zu  einem  katholisch-sozia- 
len Programm. 

Die  evangelischen  Arbeitervereine 
Deutschlands . 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Wahlrechtsbewegung  in  Oesterreich. 

Die  Klagen  über  die  eigentümliche  Zusammensetzung 
des  österreichischen  Abgeordnetenhauses  sind  alt.  Halb 
Ständehaus,  halb  Interessenvertretung,  gewährt  es  dem 
grossen  Grundbesitze  ein  fast  unnatürliches  Uebergewicht. 
Seit  Jahren  wird  dieser  Umstand  in  politischen  Versamm- 
lungen aller  Art,  besonders  zur  Zeit  der  Wahlen,  besprochen 
und  beklagt.  In  jeder  Legislaturperiode  wird  ein  Antrag 
auf  Einführung  des  allgemeinen  Wahlrechtes  eingebracht, 
aber  selten  auf  die  Tagesordnung  gestellt.  Auch  diesmal 
wurde,  bald  nach  den  Neuwahlen,  von  mir  ein  Antrag  auf 
Niedersetzung  eines  Auschusses  zur  Reform  der  Verfassung 
im  Sinne  des  allgemeinen  Wahlrechtes  eingebracht.  Eine 
erste  Lesung  dieses  Antrages  hat  noch  nicht  stattgefunden. 
Nun  hat  im  heurigen  Frühjahre  die  demokratische  jungtsche- 
chische Partei  einen  ganz  ausgearbeiteten  Gesetzentwurf  in 
diesem  Sinne  dem  Hause  vorgelegt.  Aber  weder  das  deutsche 
noch  das  tschechische  Bürgerthum  wären  in  der  Lage,  der 
Forderung  des  allgemeinen,  gleichen  und  direkten  Wahlrechtes 
den  gehörigen  Nachdruck  zu  verleihen.  Eher  noch  das 


tschechische,  weil  die  Richtung  der  jungtschechischen  Be- 
wegung demokratisch  ist.  Dadurch  hat  sie  das  Volk  bis 
in  tiefe  Schichten  aufgeregt  und  darin  liegt  ihre  Kraft.  Das 
deutsche  Bürgerthum  aber,  gepeinigt  zu  gleicher  Zeit  von 
der  Furcht  nach  oben,  wo  es  nicht  anstossen  will,  und  nach 
unten,  wo  der  Sozialismus  droht,  schwankt  haltlos  hin  und 
her  und  kann  sich  nicht  entscheiden.  Der  deutsche  Libe- 
ralismus hat  in  den  25  Jahren  des  österreichischen  Ver- 
fassungslebens alle  Phasen  von  der  Kindheit  bis  zum  Alter 
durchlaufen  und  weist  heute  die  hypokratischen  Züge  des 
Greisenthums  auf. 

Da  tritt  jetzt  ein  neuer  Kämpfer  auf  den  Plan  und 
setzt  die  österreichische  Welt  in  Verwunderung.  Konse- 
quenz, Energie,  Leidenschaft  — das  kennt  man  im  politi- 
schen Leben  Oesterreichs  nicht,  und  nun  erscheint  das 
alles  vereinigt  in  der  Arbeiterpartei.  Wohl  hat  diese  das 
allgemeine,  gleiche  und  direkte  Wahlrecht,  so  lange  sie 
besteht,  d.  h.  seit  Ende  der  sechziger  Jahre,  gefordert.  Aber 
verfolgt  von  allen  öffentlichen  und  privaten  Gewalten,  hat 
sie  mehr  als  zwanzig  Jahre  gebraucht,  um  sich  zu  konso- 
lidiren.  Nun  ist  sie  konsolidirt  und  erfasst  mit  Verständ- 
nis die  Vortheile  der  inneren  und  äusseren  Lage,  um  in 
Aktion  zu  treten  und  die  ganze  Wucht  ihrer  Agitation  und 
Organisation  auf  den  Punkt  des  Wahlrechtes  zu  werfen. 
Nachdem  das  Bürgerthum  die  Fahne  der  wirklich  liberalen 
Forderungen  längst  im  Stiche  gelassen  hat,  sind,  wie  so 
oft  schon,  die  Arbeiter  wieder  bereit,  sie  in  die  Hand  zu 
nehmen  und  zum  Siege  zu  führen. 

Die  Verdienste  der  Arbeiterpartei  um  das  öffentliche 
Leben  Oesterreichs  sind  jetzt  schon  sehr  gross.  Die  Will- 
kür der  Behörden  ist  in  Oesterreich  seit  je  ein  Uebel.  Die 
wenigen  freiheitlichen  Bestimmungen  unserer  Verfassung 
wurden  oft  durch  die  Praxis  der  Behörde  wegeskamotirt. 
Da  hat  nun  die  österreichische  Arbeiterpartei,  besonders  in 
den  letzten  acht  Jahren,  unermüdlich  daran  gearbeitet,  den 
Behörden  Gesetzeskenntniss  und  Gesetzesachtung  beizu- 
bringen. Der  Obmann  des  Textilarbeitervereines  Böhmens 
sagte  in  der  eben  jetzt  stattfindenden  Gewerbeenquete  aus, 
dass  der  Verein  „eine  Bezirkshauptmannschaft  nach  der  an- 
dern erobern  muss“,  um  dem  Vereinsgesetze  Geltung  zu 
verschaffen.  Nur  auf  sich  angewiesen,  von  allen  Seiten  an- 
gefeindet, hat  die  Arbeiterpartei  unablässig  an  der  Gesundung 
der  öffentlichen  Verhältnisse  Oesterreichs  gearbeitet.  Sie 
wird  ihre  Verdienste  noch  vermehren,  wenn  sie  von  nun  an 
nicht  mehr  im  Kampfe  um’s  allgemeine  Wahlrecht  nachlässt. 

Dieser  Kampf  hat  ausser  seiner  politischen  Seite  noch 
eine  ganz  besondere  sozialpolitische  Bedeutung  und  des- 
wegen muss  sich  das  „Sozialpolitische  Centralblatt“  mit  ihm 
beschäftigen.  Seit  zehn  Jahren  wird  in  Oesterreich  mit 
mehr  oder  weniger  Glück  Sozialpolitik  getrieben.  Manche 
unserer  auf  Arbeiterschutz  bezüglichen  Gesetze  haben  uns 


534 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  45. 


schon  den  Neid  des  Auslandes  zugezogen.  Ich  möchte  frei- 
lich mahnen,  die  Sachen  nicht  immer  so  blutig  ernst  zu 
nehmen,  wie  sie  auf  dem  Papiere  ausschauen.  Es  geht  mit 
diesen  Gesetzen]  so  wie  mit  so  vielen  anderen  in  Oesterreich  : 
sie  werden  nicht  oder  nicht  ihrem  Sinn  gemäss  ausgeführt. — 
Diese  ganze  sozialpolitische  Gesetzgebung  nun  ist  für  die 
industrielle  Arbeiterschaft  gemacht  worden  ohne  sie.  Kein 
einziger  Vertreter  der  Arbeiterschaft  sitzt  im  österreichischen 
Abgeordnetenhause.  Daher  kommt  es,  dass  die  Gesetze  den 
Verhätnissen  oft  nicht  entsprechen.  Kaum  ist  ein  Gesetz 
in  Wirksamkeit  getreten,  so  stellt  sich  schon  die  Nothwen- 
digkeit  einer  Novelle  heraus.  Ich  erinnere  blos  an  das  neue 
Bruderladengesetz.  Regierung  und  Parlament  sind  zwar 
sehr  von  sich  eingenommen,  zeigen  aber  bei  jeder  Gelegen- 
heit, dass  die  unmittelbare  Theilnahme  der  Arbeiterschaft 
eine  nicht  mehr  abzu weisende  Nothwendigkeit  ist.  Und 
diese  doppelte  Erkenntniss  von  der  eigenen  Unzulänglichkeit 
und  von  der  anwachsenden  Bedeutung  der  Arbeiterbewegung 
macht  die  Wahlaktion  gerade  jetzt  so  aussichtsreich.  Die 
Herren  von  der  Regierung  und  die  Macher  im  Parla- 
ment stecken  schon  die  Köpfe  zusammen,  um  zu  berathen, 
was  denn  zu  thun  sei.  Es  scheint,  dass  man  schon  so  weit 
ist  einzusehen:  ,.dass  etwas  geschehen  müsse“.  Es  tauchen 
allerlei  neue  Pläne  auf  und  alte  werden  aufgewärmt.  Unter 
diesen  sind  die  Arbeiterkammern  mit  politischem  Wahlrecht. 
Ein  bezüglicher  Antrag  wurde  von  Plener  und  Genossen 
schon  in  der  vorigen  Session  eingebracht.  Es  scheint  nicht, 
dass  die  Regierung  jetzt  diesem  Anträge,  der  ja  dem  Hause 
neuerlich  vorliegt,  günstiger  gesinnt  wäre  als  vor  einigen 
Jahren.  Auch  ist  die  allgemeine  Stimmung  dagegen.  Man 
will  die  Interessenvertretung  abschaffen,  nicht  ausbauen. 
Wie  wenigstens  die  Sachen  heute  liegen,  haben  alle  Projekte 
mehr  Aussicht  verwirklicht  zu  werden  als  die  Arbeiterkam- 
mern. Vielleicht  kommt  wieder  ihre  Zeit.  In  Oesterreich  kann 
man  ja  am  Morgen  nicht  mit  Wahrscheinlichkeit  sagen,  wie  das 
politische  Wetter  am  Abend  aussehen  wird.  Daher  lassen  wir 
dieses  Projekt,  das,  wie  es  scheint,  heute  niemand  recht  ernst 
nehmen  will,  bei  Seite.  Graf  Taafife  fürchtet  nach  allem,  was 
man  hört,  am  meisten  die  Vermehrung  der  Zahl  der  Abgeord- 
neten. Wenn  er  durchaus  muss,  wird  er  jedes  Projekt  vor- 
ziehen, das  ohne  Vermehrung  der  Zahl  der  Abgeordneten  die 
Aussicht  auf  Arbeitervertreter  gewährt.  Nun  beschäftigt  sich 
ein  hervorragendes  Mitglied  der  ., Vereinigten  Linken“  schon 
seit  einiger  Zeit  mit  dem  Gedanken,  die  industrielle  Arbeiter- 
schaft zum  grossen  Theile  dadurch  in  die  Kreise  der  Wahl- 
berechtigten einzubeziehen,  dass  das  Wahlrecht  auf  alle 
männlichen  Mitglieder  einer  Krankenkasse,  die  das  24.  Jahr 
überschritten  haben,  ausgedehnt  werden  soll.  Freilich  denkt 
er  dabei  auch  an  die  Vermehrung  der  Abgeordnetenzahl 
und  an  die  Schaffung  einer  neuen  Walkurie.  Vielleicht  wird 
Graf  Taaffe  diesen  Gedanken  in  der  Form  aufgreifen,  dass 
er  das  ganze  System  der  heutigen  Volksvertretung  bestehen 
lässt,  aber  die  Zahl  der  Wähler  durch  die  Einbeziehung  der 
genannten  Krankenkassenmitglieder  vergrössert.  Dabei  bleibt 
wohl  das  Gefäss,  aber  der  Inhalt  gewinnt  grössere  Expansiv- 
kraft. In  den  eigentlichen  Industriebezirken  würde  die  Ar- 
beiterschaft die  Mehrheit  haben  und  Vertreter  aus  ihrer 
Mitte  in’s  Parlament  schicken. 

Ich  wollte  vom  allgemeinen  Wahlrechte  reden  und  bin 
glücklich  bei  allerlei  Surrogaten  angelangt.  Dass  man  aber 
alle  möglichen  Vorschläge  vorbringt  und  sorgsam  prüft,  ist 
ein  Zeichen,  dass  man  sich  doch  nicht  länger  gänzlich  Augen 
und  Ohren  verschliessen  will.  Die  organisirte  Arbeiterschaft 
hat  sich  in  Oesterreich  so  sehr  nach  allen  Seiten  hin 
Respekt  zu  erzwingen  gewusst,  dass  auch  hartgesottene 
Reaktionäre  sich  schämen,  von  der  sonst  so  beliebten  „poli- 
tischen Unreifheit  der  Arbeiter“  zu  sprechen.  „Politisch 
unreif“  haben  sich  die  Behörden  in  Prag  und  Brünn  er- 
wiesen, als  sie  gesetzliche  Versammlungen,  in  denen  für 
das  allgemeine  Wahlrecht  demonstrirt  werden  sollte,  ver- 


boten und  dadurch  blutige  Zusammenstösse  veranlassten. 
Die  Wiener  Demonstration  vom  9.  Juli  hat  bewiesen,  dass 
bei  Arbeiterversammlungen  niemand  überflüssiger  ist  als 
die  Polizei.  Nun  haben  nachträglich  die  lokalen  Gewalten 
auch  in  Prag  und  Brünn  sich  eines  besseren  besonnen  und 
haben  grosse  Versammlungen  gestattet.  Auch  diese  sind 
ernst  und  würdig  verlaufen,  da  die  Polizei  nicht  provozirt  hat. 

Oesterreich  ist  mit  der  neuen  Wahlrechtsbewegung  in 
eine  wichtige  Phase  getreten.  Diese  Bewegung  wird  nicht  mehr 
zu  völliger  Ruhe  gelangen,  bis  nicht  das  allgemeine,  gleiche 
und  direkte  Wahlrecht  erkämpft  ist.  Vom  liberalen  Biirger- 
thum  hängt  in  diesem  Augenblicke  viel  ab.  Fast  fürchte 
ich,  dass  es  sich  jetzt,  wie  in  den  ganzen  letzten  fünfzehn 
Jahren,  durch  maasslose  Unzulänglichkeit  nach  allen  Seiten 
hin  gleichmässig  kompromittiren  wird. 

Wien.  Engelbert  Pernerstorfer. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 


Die  Dampfmaschinen  im  Königreich  Sachsen. 

Das  Königlich  sächsische  statistische  Bureau  veröffentlicht 
in  regelmässigen  Zwischenräumen  Erhebungen  über  die  Zahl, 
Leistungsfähigkeit  etc.  der  Dampfmaschinen,  die  auch  von 
sozialpolitischem  Interesse  sind,  weil  sie  einen  Rückschluss 
auf  die  Entwickelung  der  Industrie  gestatten. 

Es  waren  im  Königreich  Sachsen  vorhanden: 


1846  . 

197 

1856  . 

550 

1861  . 

1003 

1878  . 

4548 

1885  . 

6244 

1890  . 

8073 

Der  Zuwachs  an  Maschinen  betrug  in  der  Zeit  von: 


1846-1856 
1856  1861 
1861—1878 
1878  -1885 
1885-1890 


35  Maschinen  für  das  Jahr 
90  „ . „ „ 

208  „ „ .. 

212 

237  „ „ ,. 


Es  ist  also  eine  beständige  Zunahme  von  Dampf- 
maschinen zu  konstatiren,  die  natürlich  parallel  mit  der  Ent- 
wickelung der  Industrie  läuft.  Am  rapidesten  ist  die  Ent- 
wickelung in  dem  Zeitraum  von  1861  bis  1878,  während 
sie  von  1878  bis  1890  nur  langsam  ansteigt.  Dieses  Re- 
sultat erhält  man  jedoch  nur  dann,  wenn  man  den  Ent- 
wickelungsgang nach  der  Zahl  der  neu  eingestellten  Ma- 
schinen misst;  durch  ein  rascheres  Anwachsen  der  Leistungs- 
fähigkeit der  einzelnen  Maschinen  kann  aber  die  langsamere 
Zunahme  der  Maschinenzahl  reichlich  wieder  ausgeglichen 
werden;  gleichzeitig  aber  strebt  die  moderne  Technik  durch 
Verbesserung  der  Arbeits-  und  Werkzeugmaschinen,  indem 
sie  deren  für  die  äussere  Arbeitsleistung  schädliche  innere 
Reibung  auf  ein  Minimum  reduzirt,  dahin,  die  nutzbare 
Arbeitsleistung  des  Motors  zu  vergrössern,  so  dass  bei- 
spielsweise eine  5pferdige  Dampfmaschine  an  einem  ver- 
verbesserten  Selfaktor  mehr  als  das  Doppelte  zu  leisten 
vermag  als  an  einer  Ringspinnmaschine  oder  mehr  als  das 
Fünffache  an  einer  Rotationsdruckpresse  als  an  einer  Doppel- 
schnellpresse. 

So  lange  also  nicht  auch  eingehende  Erhebungen  über 
die  Arbeits-  und  Werkzeugsmaschinen  selbst  vorliegen, 
wird  die  Statistik  der  Dampfmaschinen  immer  nur  ein  ziem- 
lich rohes  Bild  von  der  wirklichen  Entwickelung  der  In- 
dustrie gewähren;  aber  da  wir  durch  eingehende  Wirth- 
schaftsstatistiken  nicht  gerade  verwöhnt  sind,  so  ist  ein  rohes 
Bild  immerhin  besser  als  gar  keines. 

Die  sächsische  Statistik  macht  die  übliche  Unterscheidung 
zwischen  Dampfmaschinen  mit  feststehendem  und  mit  beweg- 
lichem Kessel.  Das  ist  heut  bereits  ein  ziemlich  veralteter 
Gesichtspunkt,  denn  die  heut  gebauten  Dampfmaschinen  mit 
beweglichem  Kessel,  die  Lokomobilen  und  Halblokomobilen, 
machen  den  feststehenden  Dampfmaschinen  bereits  eine 
sehr  empfindliche  Konkurrenz.  Sie  bieten  wesentliche  \ or- 
theile in  Rücksicht  auf  die  Bequemlichkeit  und  die  leichte 


No.  45. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


535 


Aufsteilbarkeit  und  nutzen  bei  gleicher  Leistungsfähigkeit  — 
wenigstens  was  die  kleineren  Typen  anbetrifft  — das  Heiz- 
material so  gut  aus  wie  die  feststehenden  Kessel.  Es  er- 
scheint uns  deshalb  auch  eine  Trennung  der  feststehenden 
und  beweglichen  Dampfmaschinen  durchaus  unthunlich,  be- 
sonders deshalb,  weil  gerade  die  beweglichen  Dampf- 
maschinen manchen  Industrien,  bei  denen  sich  die  Auf- 
stellung fester  Dampfmaschinen  nicht  lohnt,  erst  ihren  be- 
deutenden Aufschwung  verliehen  haben,  z.  B.  allen  den 
Industrien,  die  auf  Saisonproduktion  angewiesen  sind, 
wie  der  Ziegeleibetrieb,  die  Mörtelfabrikation;  ferner  solchen 
Industrien,  die  inmitten  reich  bevölkerter  Städte  rasch  em- 
porgeblüht sind  und  dort  mit  dem  verfügbaren  Raume 
möglichst  sparsam  umgehen  müssen. 

Wir  haben  deshalb  in  der  folgenden  Tabelle  die  festen 
und  beweglichen  Dampfmaschinen  gleich  zusammengezogen. 

Nach  den  einzelnen  Gewerbegruppen  betrachtet,  betrug 
der  Bestand  an  Dampfmaschinen  und  Dampfpferdekräften 
am  1.  Januar  1886  und  I.  Januar  1891,  sowie  die  Zunahme 
innnerhalb  dieser  5 Jahre: 


Zahl  und  Leistungsfähigkeit  der  feststehenden  und  beweg- 
lichen Dampfmaschinen  am  1 . Januar 


Zunahme  der 

1886 

1891 

Leistungsfähigkeit 

Gewerbegruppen 

seit  1886 

Zahl  j 

Pferdest. 

Zahl 

Pferdest. 

Pferdest.  | 

pCt. 

I.  Land- u Forst- 
wirtschaft . . 
III.  Bergbau, 

66 

435,3 

32 

1 16,4 

-318,9 

-82,5 

Hütten-  u.  Sa- 
linenwesen . . 

922 

43  993,0 

1056 

54  512,3 

10519.3 

23,9 

IV.  Ind.d. Steine 
u.  Erden  . . . 

V.  Metallverar- 

214 

5 324,7 

447 

16  738,2 

11  413,5 

214,3 

arbeitung  . . . 
VI.  Ind.  d.  Ma- 

227 

3 945,6 

347 

7 323,2 

3 377,6 

85,5 

schinen,  Werk- 
zeuge u.  Appa- 

12  272,8 

833 

7 115,4 

rate 

616 

19  388,2 

57,9 

VII.  Chemische 
Industrie  .... 

VIII.  Ind.d. Heiz. 

144 

2 381,3 

183 

3 742,2 

1 360,9 

57,2 

u.  Leuchtstoffe 
IX.  Textil-Indu- 

133 

1 162,2 

172 

1 811,7 

649,5 

55,9 

strie  

X.  Papier-  und 

1774 

68  508,7 

2298 

120  872,0 

52  363,3 

76,4 

Lederindustrie 
XI.  Ind.  d.  Holz- 

436 

17  750.9 

640 

30  371,8 

12  620,9 

71,1 

u.  Schnitzstoffe 
XII.  Ind.  d.  Nah- 

344 

7 985,3 

611 

15  620,9 

7 635,6 

95,9 

rungs-  u.  Ge- 
nussmittel . . . 
XIII.  Ind.  d.  Be- 

1071 

19  178,1 

1357 

31  395,7 

12217,6 

63,7 

kleidung  und 
Reinigung  . . . 
XIV.  Bauge- 

140 

1 640,8 

180 

3 195,0 

1 554,2 

94,7 

werbe 

4 

59,3 

3 

27,4 

31,9 

-54,1 

XV.  Polygraph. 

166 

Gewerbe  .... 
XVI.  Künstler. 

138 

2 372,9 

4 092,8 

1 719,9 

72,5 

Betriebe  f.  ge- 
werbl.  Zwecke 

8 

83,7 

1 

3,7 

80,0 

XVII.  Handels- 
Gewerbe  . . . 
XVIII.  Verkehrs- 

7 

24,5 

7 

49,8 

25,3 

gewrb.  ausschl. 
Schifffahrt  . . . 

82 

280,8 

76 

268,2 

12,6 

XIX.  Beherber- 

gung  und  Er- 
quickung .... 

5 

17,8 

22 

1 074,9 

1 057,1 

XX.  Häusliche 
Zwecke  .... 

XXI.  Gemischte 

67 

468,9 

1 18 

1 830,9 

1 362,0 

u.  unbestimmte 
Zwecke 

159 

4 156,9 

67 

2 079,5 

-2  077,4 

Summa  . . . 
Davon  fest- 

6583 

192  043,5 

8616 

314  514,9 

122  471,4 

63,77 

stehende  Ma- 
schinen .... 

6244 

189  235,1 

8073 

306  538,1 

117  303,0 

61,99 

bewegliche 
Maschinen  . . 

339 

2 808,4 

543 

7 976,8 

5 168,4 

184.03 

Die  Gesammtzunahme  der  Dampfmaschinen  betrug 

demnach 

von  1886 — 1891 30,88  pCt.  und  zwar 

die  der  feststehenden  Dampfmaschinen  29,29  „ 

„ „ beweglichen  „ 60,20  „ 

Die  Gesammtzunahme  der  Pferdekräfte  dagegen 

von  1886  -1891 63,77  pCt.  und  zwar 

die  der  feststehenden  Dampfmaschinen  61,99  „ 

„ „ beweglichen  „ 184,03  „ 

Jede  einzelne  Dampfmaschine  besass  im  Durchschnitt 

1886  1891 

29,17  Pferdestärken  36,50  Pferdestärken 
davon  die  feststehenden  30,31  „ 37,97  „ 

„ „ beweglichen  8,28  „ 14,69  „ 

Wenn  sich  also  auch  von  1886 — 1891  die  Zahl  der 
Dampfmaschinen  nicht  so  rasch  vermehrt  hatte  wie  in  den 
früheren  Perioden,  so  sind  dafür  die  einzelnen,  neu  aufge- 
stellten Maschinen  wesentlich  leistungsfähiger  gebaut  worden. 
Jede  der  neu  hinzu  gekommenen  Dampfmaschinen  besass 
im  Durchschnitt  60,2  Pferdestärken  gegen  29,17  Pferde- 
stärken der  bereits  vorhandenen;  davon  die  feststehenden 
neuen  64,1  gegen  30,31  der  alten,  die  beweglichen  neuen 
25,3  gegen  8 25  der  alten.  Aus  diesen  Daten  ist  unmittel- 
bar die  Thatsache  abzulesen,  dass  die  Industrie  immer 
mehr  die  Tendenz  bekundet,  sich  zur  Grossindustrie 
auszuwachsen.  Das  ist  zwar  eine  schon  recht  bekannte 
Thatsache,  aber  gegenüber  den  „Versuchen,  das  Kleinge- 
werbe mit  Kleinmotoren  zu  heben“,  thut  es  doch  gut, 
immer  auf  den  wirklichen  Entwickelungsgang  hinzuweisen. 

Den  weitaus  stärksten  Aufschwung  in  der  grossindustri- 
ellen Entwickelung  hat  die  Industrie  der  Steine  und 
Erden  genommen,  um  mehr  als  214  pCt.  betrug  hier  die 
Zunahme  der  angewandten  Pferdekräfte;  jede  hier  ver- 
wandte Dampfmaschine  besitzt  1891:  37,45  Pferdestärken  im 
Durchschnitt  gegen  24,86  im  Jahre  1886,  jede'  der  233  neu 
eingestellten  Dampfmaschinen  aber  weist  48,9  Pferdestärken 
im  Durchschnitt  auf.  Den  Löwenantheil  absorbirt  hiervon 
der  Ziegeleibetrieb  mit  allein  8502,6  neu  eingestellten  Dampf- 
pferdekräften aus  feststehenden  Dampfmaschinen.  Hier  ist 
aber  der  maschinelle  Grossbetrieb  der  Handarbeit  so  augen- 
scheinlich überlegen,  dass  seit  Jahrzehnten  schon  keine  Rede 
mehr  von  erfolgreicher  Konkurrenz  des  handwerksmässigen 
Kleinbetriebes  mit  dem  Grossbetriebe  sein  kann. 

Eine  bedeutende  Entwickelung  in  der  Richtung  nach 
der  Grossindustrie  hin  zeigen  sodann  die  Industrie  der 
Holz-  und  Schnitzstoffe  sowie  die  Industrie  der  Be- 
kleidung und  Reinigung,  beides  Gewerbegruppen,  denen 
man  nachsagt,  dass  hier  das  Handwerk  noch  einen  goldenen 
Boden  habe. 

Die  Industrie  der  Holz-  und  Schnitzstoffe  weist 
eine  Vermehrung  der  Dampfpferdekräfte  um  95,9  pCt.  auf, 
indem  die  Zahl  der  Dampfmaschinen  von  344  jede  zu  23,2 
Pferdestärken  auf  611,  jede  zu  25,6  Pferdestärken  anwuchs. 
Der  Zuwachs  rührt  daher,  dass  265  Dampfmaschinen,  jede 
durchschnittlich  von  28,9  Pfst,  hinzukamen.  Wenn  man 
davon  auch  den  Schneidemühlenbetrieb  in  Abzug  bringt, 
so  zeigt  doch  der  Zugang  in  Drechslerein  (213,9  Pf.),  Fa- 
brikation von  Kisten  (118,0  Pf.),  Tischlereien  (477,6  Pf.), 
Holzboden-  und  Parkettfabrikation  (216,9  Pf.),  Fabrikation 
von  Holzspielwaaren  (246, 3Pf.),  Bürsten  und  Pinsel  (260,6 Pf.), 
Holzschuhen  und  Pantoffeln  (25,2  Pf.),  Kokosmatten  und 
Strohgeflecht  (62,4  Pf.),  wie  die  Maschine  ein  Handwerk 
nach  dem  anderen  erobert. 

Noch  charakteristischer  ist  die  Entwickelungstendenz 
zur  Grossindustrie  in  der  Industrie  der  Bekleidung 
und  Reinigung,  die  nach  der  Gewerbezählung  von 
1882  noch  einen  ausgesprochen  kleingewerblichen  Charakter 
hatte  — wenigstens  den  äusseren  Daten  nach,  während  in 
Wahrheit  die  kleinen  selbstständigen  Meister  mit  ihrer  ge- 
ringen Zahl  von  Gehülfen  nur  im  äusseren  Departement 
der  grossen  Konfektionshäuser  arbeiteten.  — Hier  betrug 
der  Zuwachs  seit  1886:  94,7  pCt.  der  gesammten  Dampf- 
pferdekräfte. 

1886:  140  Dampfmaschinen  ä 11,6  Pfst.  im  Durchschn. 
1891:  180  „ ä 17,7  „ „ 

Zuwachs:  40  „ ä 38,8  „ „ „ 


536 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  45. 


Neu  aufgestellt  wurden  in  der  Bekleidungs-  und  Reinigungs- 
industrie 67  feststehende  Dampfmaschinen,  während  22  be- 
seitigt wurden.  „Die  im  Zugang  erscheinende  Leistungs- 
fähigkeit entfällt  auf  die  Fabrikation  von  Wäsche  und  Kon- 
fektionsartikeln (259,9  Pf.),  von  Schuhen  (148,5  Pf.),  Hüten 
(132,9  Pf.),  Filzwaaren  (567,7  Pf.)  Filztuch  (67,7  Pf.),  von 
Filzen  für  technische  Zwecke  (37,0  Pf.),  Blumen  und  Blumen- 
theilen  (26,0  Pf.),  Korsetfabrikation  (89,8  Pf.),  Kleiderreini- 
gung und  chemische  Wäscherei  (24,4  Pf.),  Schmuckfeder- 
färberei (3,2  Pf.),  die  Teppichreinigung  (11,5  Pf.),  die  Mangelei 
(7,3  Pf.),  den  Betrieb  von  Waschanstalten  (15,7  Pf.),  sowie 
von  Badeanstalten  (27,5  Pf).“ 

Es  ist  jedoch  an  dieser  Stelle  eine  Bemerkung  zu 
machen,  die  auch  für  die  übrigen  Gewerbegruppen  gilt, 
dass  nämlich  die  Vermehrung  der  Leistungsfähigkeit  der 
Dampfmaschinen  nicht  ohne  Weiteres  den  betreffenden  Ge- 
werbebetrieben selbst  zu  gute  zu  kommen  braucht;  sondern 
das  höchstwahrscheinlich  ein  Theil  der  neu  eingestellten 
Maschinen  zur  Erzeugung  elektrischen  Lichtes  dienen 
wird,  worüber  aber  die  benutzte  Quelle  (Supplement  zum 
18.  Jahrg.  der  Zeitschrift  des  Königl.  sächsischen  statistischen 
Bureaus)  keinen  Aufschluss  giebt.  Aber  selbst  dies  an- 
genommen, so  bezeichnet  die  Einführung  des  elektrischen 
Lichtes  in  irgend  einen  Gewerbezweig  doch  nur  eine 
höhere  Arbeitsintensität,  die  in  dem  Gewerbezweig  erreicht 
ist,  und  wäre  demnach  nur  ein  weiteres  Charakteristikum 
für  die  Entwickelung  der  in  Frage  kommenden  Industrie 
zum  Grossbetriebe. 

Gegenüber  den  in  anderen  Industrien  angewandten 
Maschinenkräften  treten  jedoch  die  in  der  Bekleidungs-  und 
Reinigungsindustrie  vorhandenen  weit  zurück,  und  es  ist  auch 
nicht  so  sehr  die  absolute  Zahl  der  Dampfmaschinen  und 
deren  Leistungsfähigkeit,  die  dieser  Gewerbegruppe  den 
Stempel  der  beginnenden  Grossindustrie  aufprägen  als  viel- 
mehr einzig  und  allein  die  rapide  Vermehrung  der  Dampf- 
pferdekräfte in  den  letzten  fünf  Jahren. 

Andere  Industrien  lenken  dagegen  gerade  wegen  des 
grossen  absoluten  Umfanges  der  in  ihnen  zur  Verwendung 
kommenden  motorischen  Kräfte  die  Aufmerksamkeit  auf 
sich;  so  vor  allem  die  Textilindustrie.  Diese  absor- 
birte  allein  38,3 pCt.  aller  im  Jahre  1891  vorhanden  ge- 
wesenen Dampfpferdekräfte  — gegen  35,7  pCt.  im  Jahre 
1880.  Was  ihren  Umfang  anbetrifft,  so  ist  die  Textil- 
industrie bei  weitem  dem  berühmten  sächsischen  Bergbau 
überlegen,  in  dem  nur  17,3pCt.  aller  Dampfpferdekräfte 
Sachsens  arbeiten  und  gleichzeitig  ist  sie  eine  Grossindustrie 
par  excellence.  Die  durchschnittliche  Leistungsfähigkeit 
jeder  einzelnen  Maschine,  die  1891 : 52,1  Pferdekräfte  betrug, 
deutet  schon  darauf  hin;  gleichzeitig  bekundet  aber  gerade 
die  Textilindustrie  die  Tendenz  zum  Wachsthum  ins  Riesen- 
hafte, denn  1886  war  die  Leistungsfähigkeit  jeder  einzelnen 
Maschine  nur:  38.9  Pferdekräfte.  Jede  der  neu  hinzu- 
kommenden Maschinen  aber  brachte  rund  100  Pferdekräfte 
hinzu. 

In  ähnlicher  Lage  befindet  sich  die  Papier-  und 
Lederindustrie.  1886  hatte  bereits  jede  hier  arbeitende 
Dampfmaschine  eine  Leistungsfähigkeit  von  40,7  Pferde- 
kräften. Die  bis  1891  neu  eingestellten  Maschinen  wiesen 
im  Durchschnitt  jede  61 ,8  Pferdekräfte  auf,  so  dass  die 
durchnittliche  Leistungsfähigkeit  aller  Maschinen  auf  47,5 
Pferdekräfte  angestiegen  war. 

Die  Industrie  der  Nahrungs-  und  Genussmittel 
erscheint  jedoch  nur  desshalb  in  so  günstiger  Lage, 
weil  vor  allem  die  Mahlmühlen,  die  Brauereien  und  die 
Wasserwerke  gewaltiger  Dampfmaschinen  benöthigen. 
In  den  übrigen  Gewerbezweigen  herrscht  dagegen  der 
Klein-  und  Mittelbetrieb  noch  vor.  Aber  auch  hier 
wird  ein  offenbarer  Umschwung  bemerkbar.  Von  1886 
bis  1891  wurden  neu  eingestellt  in  die  Molkerei  237,1  Pf., 
Bäckerei  7,5  Pf.,  Fabrikation  von  Waffeln  25,2  Pf.,  Nudeln 
29,3  Pf.,  Hafergrütze  57,2  Pf.,  Obstwein  6,4  Pf.,  Senf  20,6  Pf., 
Essigsprit  2,1  Pf.,  Zucker  32,1  Pf.,  Chokoladen-  und  Zucker- 
waaren  433,8  Pf.,  von  Konditorfarben  und  Essenzen  5,2  Pf., 
Konserven  60,5  Pf.,  von  Fleisch-  und  Wurstwaaren  25,0  Pf., 
Pflanzenleim  1,3  Pf.,  die  Kaffeebrennerei  1,0  Pf-,  Pferde- 


schlächterei 3,3  Pf.,  endlich  in  den  Schlachthofbetrieb 
649,3  Pferdekräfte. 

Etwas  in  den  Hintergrund  gedrückt  scheint  dagegen 
die  Metallverarbeitung,  die  Industrie  der  Maschinen  und 
Werkzeuge,  sowie  Bergbau,  Hütten-  und  Salinenwesen. 
Von  allen  Grossbetrieben  hat  gerade  der  Bergbau,  das 
Hütten-  und  Salinen  wesen  den  geringsten  Aufschwung 
erfahren,  nämlich  nur  23,61  pCt.  Zunahme  der  1886  vor- 
handenen Dampfpferdekräfte.  Das  ist  ein  Beweis  dafür,  dass 
der  sächsische  Bergbau  einer  grossen  Entwickelung  nicht  mehr 
fähig  ist.  Natürlich  nicht  etwa  desshalb,  weil  er  anfinge 
unrentabel  zu  werden,  sondern  weil  er  offenbar  schon  den 
modernen  Riesenbetrieb  darstellt,  der,  unter  Berücksichti- 
gung der  natürlichen  lokalen  Schranken  durch  weitere 
Steigerung  der  Maschinerie  nun  nicht  mehr  wesentlich  ge- 
hoben werden  kann  — natürlich  nur  vom  Standpunkte  des 
Unternehmers  aus  gesprochen.  — 1886  besass  er  bereits 
992  Maschinen,  jede  mit  einer  durchschnittlichen  Leistungs- 
fähigkeit von  44,3  Pf.,  die  durch  Zuwachs  von  134  Maschinen, 
jede  zu  78,5  Pf.,  auf  1056  Maschinen,  jede  mit  einer  durch- 
schnittlichen Leistungslähigkeit  von  51,6  Pferdekräften  an- 
gewachsen waren. 

Besonders  auffallend  dagegen  ist  der  geringe  Umfang 
der  Maschinerie  im  Baugewerbe.  Drei  Dampfmaschinen 
mit  zusamen  27,4  Pferdestärken  entsprechen  durchaus  nicht 
dem  Bedürfniss,  gerade  die  allerschwersten  Arbeiten,  Kalk- 
und  Steintragen  dem  Menschen  abzunehmen  und  der 
Maschine  aufzuladen.  Es  ist  dies  ein  Zeichen  dafür,  dass 
genügend  billige  Arbeitskräfte  in  Sachsen  vorhanden  sind 
(böhmische  Bauarbeiter),  die  die  schwersten  Arbeiten 
billiger  ausführen,  als  sich  die  Kosten  des  maschinellen  Be- 
triebes stellen  würden. 

Wie  das  Baugewerbe  in  der  Zeit  der  Dampfkraft  noch 
einen  Rest  mittelalterlichen  Handwerkes  repräsentirt,  so 
vermag  auch  das  Kunstgewerbe  seinen  handwerksmässigen 
Charakter  noch  nicht  völlig  abzustreifen.  Die  einzige  hier 
vorhandene  Dampfmaschine  befindet  sich  in  einer  Gravir- 
anstalt;  die  1886  noch  vorhanden  gewesenen  7 anderen  sind 
in  andere  Betriebe  überführt  worden.  Freilich  muss  man 
dabei  beachten,  dass  die  XVI.  Gewerbegruppe  nicht  das  ge- 
sammte  Kunsthandwerk  umfasst,  dass  sich  vielmehr  wesent- 
liche Theile  dessen,  die  Holzbildhauerei,  Luxusmöbelfabrika- 
tion, Kunstgiesserei  etc.,  in  anderen  Kategorien  eingeordnet 
finden,  in  denen  die  Maschinentechnik  bereits  sehr  leb- 
haft die  Handarbeit  zu  verdrängen  beginnt,  zum  Theil  auch 
bereits  verdrängt  hat. 

Beachtenswerth  erscheint  dann  noch  der  geringe  Um- 
fang der  Maschinerie  in  land-  und  forstwirtschaft- 
lichen Betrieben,  der  seit  1886  noch  dazu  einen  sehr  be- 
deutenden Rückgang  erfahren  hat. 

Aus  der  benutzten  Quelle  ist  nicht  zu  ersehen,  worin 
diese  auffällige  Erscheinung  ihren  Grund  hat.  Die  sächsische 
Landwirthschaft  ist  so  unbedeutend  nicht,  — ist  doch  in 
Sachsen  die  für  Nährfrüchte  für  Menschen  und  Vieh  unter 
Kultur  stehende  Erntefläche,  relativ  betrachtet , beinahe 
doppelt  so  gross  als  die  Erntefläche  in  Preussen. 

Die  in  den  Gewerbegruppen  XVII  bis  XXI  aufgestellten 
Motoren  dienen  hauptsächlich  der  Wasserhebung,  der  elek- 
trischen Beleuchtung,  dem  Betriebe  von  Fahrstühlen  etc., 
so  dass  sie  also  unter  dem  Gesichtspunkte  der  industriellen 
Entwickelung  nicht  in  Betracht  kommen. 

Im  allgemeinen  ist  aber  die  Tendenz  ganz  unverkennbar, 
in  der  sächsischen  Industrie  die  theure  menschliche  Arbeits- 
kraft durch  die  billige  Maschinenarbeit  mehr  und  mehr  zu 
ersetzen. 

Beleuchtet  wird  diese  Entwickelungstendenz  noch  durch 
die  Thatsache,  dass  neben  der  Ausnutzung  immer  stärkerer 
Dampfmaschinen,  die  bekanntlich  wesentlich  billiger  arbeiten 
als  die  schwächeren,  auch  die  voll  ko  mm  n er  en  Motoren, 
also  solche,  die  mit  höherer  Dampfspannung,  mit  Expan- 
sion und  Kondensation  arbeiten,  immer  mehr  die  einfacheren 
Typen  verdrängen  und  so  bei  gleichem  Umschläge  das  in 
Maschinen  und  Heizmaterial  angelegte  konstante  Kapital 
verringern. 

Folgende  Zusammenstellungen  sind  hierfür  sehr  lehr- 
reich. 


No.  45. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAL  BLATT. 


537 


Es  waren  feststehende  Dampfmaschinen  vorhanden: 


mit  Pferdestärken 

1 £ 

absolut 

86 

pCt. 

18 

absolut 

91 

pCt. 

bis  5 Pf. 

2051 

32,85 

2364 

29,28 

5—20 

2105 

33,71 

2617 

32,42 

20-50  

1 122 

17,97 

1555 

19,26 

50—100  

565 

9,05 

854 

10,58 

100  200  

263 

4,21 

419 

5,19 

über  200  

138 

2,21 

264 

3,27 

zusammen  . . 

6244 

100,00 

8073 

100,00 

mit  Dampfspannung 

1886 

absolut  | pCt. 

18 

absolut 

91 

pCt. 

bis  2 Atm 

72 

1,15 

56 

0,69 

2-5  

4869 

77,98 

4386 

54,33 

5-6  „ 

1087 

17,41 

2437 

30,19 

6—7  „ 

122 

1,95 

802 

9,93 

über  7 

94 

1,51 

392 

4,86 

Ausnutzung  des  Dampfes 

18 

86 

18 

91 

absolut 

pCt. 

absolut 

pCt. 

mit  Kondensation  . . 

423 

6,8 

625 

7,7 

ohne  „ ... 

5821 

93,2 

7448 

92,3 

mit  Expansion  .... 

3171 

50,8 

4483 

55,5 

ohne  ,,  .... 

3073 

49,2 

3590 

44,5 

Auf  1 Quadratmeter  Rostfläche  kommen  Quadratmeter 
Heizfläche  im  Durchschnitt: 


1886  27,00 

1891 30,34. 

Das  Gesammtergebniss  der  obigen  Zusammenstellungen 
kann  allerdings  durch  die  Einbeziehung  der  stark  in  Auf- 
nahme gekommenen  Gas-  und  Petroleummotoren  eine  be- 
deutende Modifikation  erhalten,  denn  gerade  diese  Motoren 
werden  durchschnittlich  für  wesentlich  geringere  Leistungen 
gebaut  als  die  Dampfmaschinen,  und  es  kann  dadurch  die 
auf  den  einzelnen  Wärmemotor  kommende  durchschnitt- 
liche Leistung  erheblich  unter  die  Durchschnittsleistung 
selbst  der  1886  angewandten  Dampfmaschine  herunter- 
gegangen sein.  Das  würde  aber  nicht  gegen  die  obigen 
Schlussfolgerungen,  sondern  vielmehr  ebenfalls  dafür 
sprechen.  Denn  das  hiesse  dann  nichts  anderes,  als  dass 
der  Grossbetrieb  relativ  so  bedeutend  gewachsen  ist,  trotz- 
dem in  die  kleineren  und  mittleren  Betriebe  billige  moto- 
rische Kraft  Eingang  gefunden  hat;  — und  das  wäre  dann 
nur  ein  weiteres  beweiskräftiges  Argument  für  die  bedeu- 
tende wirthschaftliche  Ueberlegenheit  des  Grossbetriebes 
über  den  Klein-  und  Mittelbetrieb. 

Magdeburg.  H.  Lux. 

Amtliche  Feststellungen  über  die  Arbeitslosigkeit. 

Die  Oberpräsidenten  hatten  bisher  am  1.  Oktober  Berichte 
über  die  Lage  der  Industrie  in  ihren  Verwaltungsbezirken 
zu  erstatten.  Es  wird  nun  offiziös  mitgetheilt,  dass  der 
Handelsminister,  um  diese  Berichte  für  die  Beurtheilung 
der  während  der  Wintermonate  in  den  letzten  Jahren  mehr 
als  früher  laut  gewordenen  Klagen  über  Arbeitsmangel 
besser  nutzbar  machen  zu  können,  angeordnet  habe,  dass 
sie  zukünftig  am  1.  Januar  zu  erstatten  seien.  Dies  ist 
immerhin  ein  Schritt  vorwärts,  wenn  man  auch  daran 
zweifeln  mag,  ob  gerade  die  Oberpräsidenten  oder  die  sie 
bedienenden  Behörden  in  der  Lage  sein  werden,  wirklich 
sachverständige  und  unbefangene  Urtheile  über  die  Arbeits- 
losigkeit abzugeben. 

Ortsstatut  zur  Regelung  der  Lohnzahlung  in  den  Be- 
trieben der  Stadt  Mainz.  Der  Erlass  eines  derartigen  Statuts 
wurde  von  den  sechs  im  Stadtverordneten-Kollegium  befind- 
lichen Sozialdemokraten  angeregt.  Das  dortige  Gewerbe- 
gericht wurde  von  der  Bürgermeisterei  um  sein  Gutachten 
darüberangegangen,  und  am  21.  Juli  fand  eine  Besprechung 
der  Beisitzer  darüber  im  grossen  Stadthaussaale  statt.  Der 
§ 119a,  Abs.  2 überlässt  es  den  Gemeinden,  durch  statu- 
tarische Bestimmungen  festzusetzen,  dass  Lohn-  und  Ab- 
schlagszahlungen in  festen  Fristen  zu  erfolgen  haben,  die 


nicht  länger  als  ein  Monat  und  nicht  kurzer  als  eine  Woche 
sein  dürfen.  Die  Beisitzer  beschlossen,  mit  allen  gegen  zwei 
Stimmen,  dass  der  Lohn  und  bei  Akkordarbeit  der  verein- 
barte Wochenlohn  als  Abschlagszahlung  alle  acht  Tage  aus- 
zuzahlen  sei.  Als  Lohntag  wurde  von  den  Arbeitnehmer- 
Beisitzern  der  Donnerstag  statt  des  seitherigen  Sonnabends 
in  Vorschlag  gebracht  und  dies  mit  den  seit  Einführung 
der  Sonntagsruhe  im  Handelsbetriebe  gänzlich  veränderten 
Verhältnissen  begründet.  Die  Verlegung  des  Lohntages 
wurde  einstimmig  angenommen.  Weiter  sollte  sich  die  gut- 
achtliche Aeusserung  des  Gewerbegerichts  auch  über  Pos.  2 
des  § 119a  erstrecken,  wonach  der  von  minderjährigen  Ar- 
beitern verdiente  Lohn  an  die  Eltern  oder  Vormünder  und 
nur  mit  deren  schriftlicher  Zustimmung  oder  nach  deren 
Bescheinigung  über  den  Empfang  der  letzten  Lohnzahlung 
unmittelbar  an  die  Minderjährigen  gezahlt  werden  soll. 
Hierzu  bemerkte  der  Vorsitzende  des  Gewerbegerichts, 
Bürgermeister-Beigeordneter  Dr.  Gassner,  dass  nur  sie- 
ben kleinere  Städte  in  Deutschland  von  dem  Erlass  sol- 
cher Bestimmungen  Gebrauch  gemacht  haben.  Wo  man 
sich  ausser  diesen  Städten  noch  mit  dieser  Frage  beschäf- 
tigte, habe  man  davon  abgesehen,  einem  solchen  Eingriffe 
in  die  individuelle  Freiheit  Gesetzeskraft  zu  geben,  das  eine 
Entwürdigung  der  jugendlichen  Arbeiter  bedeute.  Von  der 
Mainzer  Polizeibehörde,  dem  Gewerbeverein  und  der  Grossh. 
Handelskammer,  an  die  sich  die  Bürgermeisterei  befragend 
gewandt  habe,  sei  erklärt  worden,  dass  nichts  vorliege, 
was  den  Erlass  gegen  die  Selbstständigkeit  der  jugendlichen 
Arbeiter  rechtfertigen  könne.  Es  seien  fast  keine  Klagen 
über  die  jugendlichen  Arbeiter  laut  geworden,  wenigstens 
keine,  die  es  nothwendig  erscheinen  Hessen,  diese  Ar- 
beiter dermassen  zu  bevormunden;  es  sei  im  Gegentheil 
besser,  sie  möglichst  früh  an  Selbstständigkeit  zu  gewöhnen. 
Ein  zur  Verlesung  gelangtes  Gutachten  des  Gewerbegerichts 
Hanau  spricht  sich  ebenfalls  in  ganz  entschiedener  Weise 
gegen  solche  Bevormundung  aus  (zu  vergl.  S.  524  des 
Sozialpol.  Centralbl.).  Gleicher  Ansicht  waren  auch  die 
verschiedenen  Redner  des  Mainzer  Gewerbegerichts,  und 
so  wurde  beschlossen,  eine  derartige  Beschränkung  der 
persönlichen  Freiheit,  die  zugleich  eine  ungeheure  Be- 
lastung der  Geschäftsbetriebe  bedeute,  nicht  zu  empfehlen. 


Landwirthschaft. 

Zur  Frage  der  grundbücherlichen  Priorität  der 
Meliorations-Darlehen. 

In  No.  41  dieses  Blattes  hat  Ertl  die  obige  für  die  Er- 
möglichung von  Bodenverbesserungen  geradezu  entschei- 
dende Frage  erörtert.  Dabei  gelangt  er  indes  zu  einem 
Resultate,  dem  ich  in  Kürze  entgegentreten  möchte. 

Ertl  geht  von  ganz  richtigen  Voraussetzungen  aus. 

Zahlreiche  rationelle  Meliorationen  müssen  zur  Zeit  aus 
Kreditmangel  unterbleiben.  Dieser  stammt  nicht  etwa  da- 
her, dass  den  Landwirthen  entsprechende  Kreditquellen 
fehlen;  darum  wäre  es  auch  erfolglos,  ihm  durch  die  Er- 
richtung eigener  Kreditinstitute  für  Bodenverbesserungen 
(Landeskulturrentenbanken)  abhelfen  zu  wollen.  Die  wahre 
Ursache  jenes  Kreditmangels  liegt  vielmehr  in  der  Ueber- 
lastung  des  bäuerlichen  Grundbesitzes  mit  Hypotheken;  ein 
etwaiges  Meliorationsdarlehen  fände  hinter  den  bereits  in- 
tabulirten  Satzposten  meist  nicht  mehr  die  erforderliche 
Sicherheit. 

Die  gegenwärtige  Bodenverschuldung  ist  nun  mit  allen 
unseren  wirthschaftlichen  und  sozialen  Verhältnissen  eng 
verknüpft;  sie  lässt  sich  daher  im  Rahmen  unserer  heutigen 
Gesellschaftsordnung  kaum  beseitigen.  Und  so  bleibt  nur 
ein  Ausweg,  um  trotzdem  den  Meliorations-Kredit  zu  er- 
möglichen: man  reservire  den  durch  die  Bodenverbesserung 
erzielten  Werthzuwachs  dem  Meliorationsgläubiger  als 
Sicherstellungs-  und  Befriedigungsmittel,  beschränke  also 
die  älteren  Satzposten  auf  den  ursprünglichen,  ihnen  allein 
verpfändeten  Grundwerth.  Es  ist  demnach  eine  juristische 
Form  zu  suchen,  durch  die  verhindert  wird,  dass  fernerhin, 
wie  dies  jetzt  der  Fall  ist,  der  durch  die  Verbesserung  neu 


538 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  45. 


erzeugte  Bodenwerth  dem  früheren  accreszire  und  so  den 
alten  Hypothekar- Gläubigern  zu  Gute  kommen. 

Diese  grundlegenden  Sätze  sind  von  mir  an  anderem 
Orte1)  eingehend,  namentlich  auch  ziffernmässig,  nachge- 
gevviesen  worden. 

Es  ist  nun  merkwürdig,  dass  Ertl  zwar  dieselben  Prä- 
missen aufstellt  wie  ich  — anscheinend  ohne  mein  vor 
I */2  Jahren  erschienenes  Buch  zu  kennen  — , aber  doch  an- 
dere, offenbar  unrichtige  Schlüsse  daraus  zieht. 

Ursache  ist  eine  falsche  Umschreibung  des  auf  das 
Prioritätsprinzip  gegründeten  Pfandrechtes  oder  „des  Prin- 
zipes  der  Priorität“,  wie  es  in  jenem  Artikel  genannt  wird. 
Denn  dieses  bedeutet  in  der  That  etwas  anderes  als  — 
in  dem  dort  aufgestellten  Beispiele  — das  Recht  der  Gläu- 
biger, „wenn  es  zur  exekutiven  Feilbietung  des  Gutes 
kommt  und  der  Erlös  mindestens  9/i6  des  Werthes  be- 
trägt, mit  ihrer  Forderung  voll  zum  Zuge  zu  kommen.“ 
Es  bedeutet  ebenso  z.  B.  das  Recht,  bei  einem  exekutiven 
Erlöse  von  nur  s/l6  den  ganzen  Kaufschilling  zu  erhalten. 
Dies  scheint  selbstverständlich  zu  sein.  Dennoch  wird  es 
in  jener  Untersuchung  übersehen.  Das  wahre  Wesen  des 
Pfandrechtes  besteht  somit  unzweifelhaft  in  dem  Ansprüche, 
aus  dem  exekutiven  Erlöse  mit  Ausschluss  aller  anderen 
Gläubiger  bis  zum  Belaufe  der  Forderung  befriedigt  zu 
werden.  Jene  Umschreibung  Ertl's  giebt  daher  statt  des  Be- 
griffes der  Hypothek  nur  deren  äusserliche  Wirksamkeit 
in  einem  singulären  Falle. 

Die  Art,  wie  man  die  Rechte  der  Pfandgläubiger  .be- 
stimmt, ist  nun  entscheidend,  wenn  man  die  Grenze  fest- 
stellen will,  bis  zu  der  man  dem  Meliorationsdarlehen  mit 
Rücksicht  auf  seine  bodenwertherzeugende  Funktion  die 
Priorität  vor  älteren  Satzposten  einräumen  kann,  ohne  der 
letzteren  Sicherheit  zu  schmälern. 

Ertl  findet  diese  Grenze  darin,  dass  die  privilegirte  Melio- 
rationsforderung keine  grössere  Quote  des  neu  erzeugten 
Bodenwerthes  repräsentire  als  die  älteren  Pfandrechte  von 
dem  ursprünglichen  Grundwerthe.  Betrage  also  dieser 
16  000,  der  Werthzuwachs  8000  und  seien  bereits  9000  in- 
tabulirt,  so  könne  eine  Meliorationsforderung  von  4500  ohne 
Schädigung  der  älteren  Hypotheken  vorgeschoben  werden. 
Und  in  der  That,  wenn  bei  der  Subhastation  9/i6  des  Ge- 
sammtwerthes,  also  13  500,  realisirt  werden,  so  kommen  die 
früheren  Hypothekargläubiger  voll  zum  Zuge,  ihr  Priori- 
tätsrecht, wie  Ertl  es  definirt  hat,  ist  gewahrt. 

Dennoch  lehrt  eine  höchst  einfache  Betrachtung,  dass 
die  Sicherheit  der  älteren  Satzposten  durch  ein  solches 
bevorrechtetes  Meliorationsdarlehen  sehr  erheblich  vermin- 
dert wird.  Man  braucht  nur  zu  supponiren,  dass  die  Rea- 
lität nicht  zu  9/l6  ihres  Werthes  losgeschlagen  werden 
könne,  sondern  nur  zu  weniger,  z.  B.  zu  5/i6-  Ohne  die 
Bodenverbesserung  hatten  die  Gläubiger  den  ganzen  Erlös, 
d.  h.  5000,  erlangt;  nunmehr  entfielen  aber  auf  sie  von  den 
erzielten  7500  nur  3000,  da  ja  die  Meliorationsforderung 
4500  vorwegnähme.  Die  älteren  Gläubiger  wären  somit 
durch  die  Verbesserung  um  40  pCt.  geschädigt. 

Geht  man  dagegen  von  dem  oben  aufgestellten,  allge- 
mein anerkannten  Pfandrechtsbegriffe  aus,  so  muss  man  sagen: 
die  bereits  angeschriebenen  Gläubiger  haben  insoweit  An- 
spruch auf  den  exekutiven  Erlös  des  verbesserten  Grund- 
stückes, als  er  auf  den  ursprünglichen  Bodenwerth  zurück- 
zuführen ist;  dagegen  soll  der  Meliorationsgläubiger  den 
ganzen  Ueberschuss,  also  denjenigen  Theil  des  Kaufpreises 
erhalten,  der  als  Bezahlung  des  durch  Verbesserung  be- 
wirkten Werthzuwachses  anzusehen  ist.  Mit  anderen  Wor- 
ten: der  Kaufschilling  ist  zwischen  den  beiden  Parteien  im 
Verhältnisse  des  alten  Bodenwerthes  zu  dem  neuen  Werth- 
zuwachse zu  theilen.  In  dem  obigen  Beispiele  also  im  Ver- 
hältnisse von  2:1.  Bei  einem  Erlöse  von  13  500  kommen 
allerdings  auch  hier  4500  auf  die  Melioration,  9000  auf  die 
anderen  Gläubiger. 

Werden  aber  durch  die  Exekution  nur  7500  herein- 
gebracht, so  machen  die  Theile  nicht  mehr  4500  und  3000, 
sondern  2500  und  5000  aus,  d.  h.  die  älteren  Hypothekarier 


«)  Zur  Frage  der  Organisation  des  landwirtschaftlichen 
Kredites  in  Deutschland  und  Oesterreich,  1.  Heft  der  staats-  und 
sozialwissenschaftlichen  Beiträge,  herausgegeben  von  A.  v.  Mias- 
kowski.  Leipzig  1892. 


erhalten  genau  soviel,  als  wäre  die  Melioration  unter- 
blieben. 

Diesen  Theilungsmodus  habe  ich  a.  a.  O.  Parität  der 
Meliorationsforderung  bis  zum  Belaufe  des  einge- 
tretenen Mehrwerthes  genannt:  ich  habe  dort  auch  die 
praktischen  Schwierigkeiten  untersucht,  die  ihm  — aber  in 
gleicher  Weise  dem  Vorschläge  Ertl's  — entgegenstehen. 

Hier  nur  noch  die  Bemerkung,  dass  ein  Gesetzentwurf 
diese  Parität  in  Spanien  wirklich  einführen  will. 

Wien.  Walter  Schiff. 


Arbeiterzustände. 

Arbeiterstatistik  für  Frankfurt  a.  Main.  Die  Handels- 
kammer von  Frankfurt  a.  Main  hat  im  Vorjahre  den  Versuch 
gemacht,  eine  Statistik  der  Fabrikarbeiterverhältnisse  ihres 
Bezirks  aufzunehmen,  und  veröffentlicht  die  Ergebnisse  dieses 
Versuchs  in  ihrem  vor  kurzem  erschienenen  Jahresbericht 
für  1892.  Ueber  das  Verfahren  wird  nichts  näheres  mitge- 
theilt;  es  heisst  nur,  dass  schriftliche  Fragebogen  an  die 
Unternehmer  versandt  wurden  und  dass  55  genügend  ausge- 
füllte Fragebogen  zurückkamen,  die  über  die  Verhältnisse  von 
fast  6000  Arbeitern  Auskunft  geben.  Davon  sind  76  Prozent 
männlichen  und  24  Prozent  weiblichen  Geschlechts.  Das 
Verhältniss  der  ausgelernten  Arbeiter  zu  den  Lehrlingen 
ist  gleich  100  zu  7,6,  das  der  Arbeiterinnen  zu  den  Lehr- 
mädchen gleich  100  zu  14.  Die  Frauenarbeit  ist  also  auch 
hier  in  gewaltigem  Vordringen  begriffen.  Im  Allgemeinen 
überwiegt  der  Wochenlohn.  Stücklohn  erhalten  30  Prozent 
der  männlichen  und  37  Prozent  der  weiblichen  Arbeiter. 

Bei  jugendlichen  Arbeitern,  deren  Zahl  leider  fehlt,  ist  der 
Stücklohn  verschwindende  Ausnahme  und  der  Wochenlohn 
Regel.  Die  Höhe  der  Arbeitslöhne  differirt  im  Maximum 
und  Minimum  sehr  beträchtlich.  Die  Veredlungsindustrien  ; 
bezahlen  ihre  Arbeiter  besser  als  einfachere  Industrien.  Die 
höchsten  Löhne  werden  nach  dem  vorliegenden  Materiale  j 
in  der  optischen,  elektrotechnischen  und  chemischen  Indu- 
strie  gezahlt,  sodann  folgen  die  Leder-,  Metall-  und  Papier- 
industrie, das  Stein-  und  Baugeschäft,  die  Fass-  und  Wagen- 
fabrikation, die  Seifen-  und  Parfümerie-Fabriken  etc.  Den 
durchschnittlich  geringsten  Wochenlohn  zahlen  einige 
grössere  Betriebe  in  den  armen  Taunusgegenden,  zumal 
solche,  in  denen  eine  grössere  Anzahl  von  weiblichen  Per- 
sonen beschäftigt  werden;  es  wird  hierbei  daraufhingewiesen,  j 
dass  den  betreffenden  Geschäften  „durch  die  Entfernung 
von  den  Hauptverkehrsstrassen  und  die  Umständlichkeit  des 
Transportes  bedeutend  höhere  Unkosten  entstehen.“  Man 
sieht  also  auch  hier,  welche  „Wohlthat“  den  armen  Gebirgs- 
bewohnern mit  dem  künstlichen  Import  von  Hausindustrien 
erwiesen  wird.  Genauere  Lohnangaben  mit  Ziffern  vermisst 
man  übrigens  gänzlich. 

Die  Arbeitszeit  in  den  meisten  Betrieben  des  Bezirkes 
ist  eine  10-  bis  12stündige  mit  zusammen  2 Stunden  Pause 
für  Frühstück,  Mittagessen  und  Nachmittagskaffee.  Einige 
Fabriken  beschäftigen  ihre  Arbeiter  nur  9 Stunden  täglich. 
Die  8stündige  Arbeitszeit  ist  bisher  nur  in  einer  chemischen 
Fabrik  angenommen  worden.  „Um  durch  das  Bestreben 
der  Arbeiter,  eine  Erhöhung  der  täglichen  Arbeitslöhne  und 
eine  Herabsetzung  der  täglichen  Arbeitszeit  durchzusetzen, 
nicht  geschädigt  zu  werden“,  haben  einige  grössere  Betriebe, 
zumal  des  Maschinenbaus,  statt  des  festen  Wochenlohnes 
und  der  Akkordarbeit  den  Stundenlohn  eingeführt.  Wo 
letzterer  besteht,  ist  die  Arbeitszeit  meist  eine  kürzere  als 
in  Betrieben  der  gleichen  Art,  der  Wochenlohn  meist  etwas 
höher.  Ueberstunden  über  die  gewöhnliche  Arbeitszeit 
werden  bei  Stundenlohn  nicht  zu  einem  höheren  Satze  be- 
rechnet, während  dafür  bei  festem  Wochenlohn  hier  und 
da  ein  Zuschlag  von  30  °/q  gezahlt  wird.  Bezüglich  des 
Stücklohns  gilt  für  den  Bezirk,  in  dem  die  meisten  Fabriken 
bestimmte  Spezialitäten  hersteilen,  dass  in  den  fabrikmässigen 
Betrieben  die  bei  weitem  grösste  Mehrzahl  der  gelernten 
Facharbeiter  im  Akkordlöhne  arbeiten  und  Tagelohnarbeit 
nur  da  stattfindet,  wo  es  sich  um  solche  Arbeitsleistungen 
handelt,  deren  Lhnfang  und  Zeitdauer  sich  von  vornherein 
nicht  genau  beurtheilen  lässt,  oder  die  einem  steten  Wechsel 
unterworfen  sind,  wie  dies  z.  B.  bei  den  Hülfsarbeitern  der 


No.  45. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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Fall  ist.  Auch  die  meisten  Fabriklehrlinge  werden,  wenig- 
stens während  des  ersten  Drittels  oder  der  ersten  Hälfte 
ihrer  Lehrzeit,  im  Taglohn  bezahlt.  In  den  Industrien, 
in  denen  Arbeiten  ausser  dem  Hause  vergeben  werden, 
z.  B.  in  der  Portefeuille-,  Korb-,  Perlen-,  Strohhut-,  Konfek- 
tions- etc.  Fabrikation,  gehen  diese  Arbeiten  stets  im  Stück- 
lohn. Die  Thatsache,  dass  die  Facharbeiter  über  eine  ge- 
wisse Arbeitsgeschicklichkeit  und  Arbeitsintelligenz  verfügen 
müssen,  während  die  Hülfsarbeiter  durchweg  ungeschulte 
Leute  sind,  erheischt  naturgemäss  auch  eine  bessere  Bezahlung 
der  Facharbeiter,  wie  dies  in  dem  höheren  Akkordverdienste 
gegenüber  dem  Tagelohnsverdienste  seinen  Ausdruck  findet. 
Von  einer  Seite  wird  gewünscht,  dass  der  Staat  seine 
Lieferungen,  statt  sie  gleich  nach  dem  1.  April  zu  vergeben, 
erst  mit  Beginn  des  Winters  in  Auftrag  geben  möchte.  Es 
wird  darauf  hingewiesen,  dass  im  Sommer  die  grösseren 
Betriebe  meist  überlastet  seien  mit  Aufträgen,  während  im 
Winter  nur  wenig  zu  thun  sei,  und  daher  vielfach  billiger 
und  besser  gearbeitet  werde  als  im  Sommer.  „Daneben“ 
komme  noch  in  Betracht,  dass  eine  möglichst  gleichmässige 
Arbeitsgelegenheit  das  ganze  Jahr  hindurch  für  die  wirt- 
schaftliche Lage  der  Arbeiter  weit  vorteilhafter  sei  als  ein 
hoher  Verdienst  im  Sommer  und  Ruhen  der  Arbeit  im 
Winter.  — Soweit  die  Mittheilungen  der  Frankfurter  Handels- 
kammer über  ihre  arbeits-statistischen  Erhebungen.  Man  hat 
den  Eindruck,  dass  sie  präziser  sein  und  sich  weniger  in 
allgemeinen  Redewendungen  bewegen  könnten. 

Landarbeiterverhältnisse  in  Posen  und  Westpreussen, 

In  den  ländlichen  Arbeiterverhältnissen  der  östlichen  preussi- 
schen  Provinzen  soll  sich  nach  den  Mittheilungen  dortiger 
Blätter  neuerdings  eine  Besserung  anbahnen.  Die  noch  im 
vorigen  Jahre  während  der  Erntezeit  aus  verschiedenen 
Gegenden,  besonders  Westpreussens,  erhobenen  Klagen 
über  Mangel  an  Arbeitern  sind  in  diesem  Jahre  bisher  nicht 
wiedergekehrt.  Wenn  wegen  der  andauernd  günstigen 
Witterung  die  Ernte  auch  nicht  überhastet  zu  werden  braucht, 
also  mit  weniger  Arbeitskräften  langsamer  gefördert  werden 
kann,  so  lassen  doch  auch  verschiedene  andere  That- 
sachen  auf  eine  Abnahme  des  Arbeitermangels  auf  dem 
Lande  schliessen.  So  wird  aus  dem  Regierungsbezirk 
Bromberg  berichtet,  dass  dort  der  Umzug  der  gutsherr- 
schaftlichen Instleute  in  diesem  Frühjahr  erheblich  geringer 
gewesen  sei  als  in  den  voraufgegangenen  Jahren,  auch  habe 
sich  für  das  abziehende  Gesinde  ein  Ersatz  viel  leichter 
beschaffen  lassen,  und  seit  Jahren  leerstehende  Arbeiter- 
wohnungen hätten  sogar  wieder  besetzt  werden  können. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Bergarbeiterbewegung  in  England.  Aus  den  Nach- 
richten, die  die  Tagesblätter  über  den  grossen  Ausstand 
der  Kohlenarbeiter  in  England  bringen,  lässt  sich  zur  Zeit 
noch  kein  ganz  klares  Bild  über  die  wirkliche  Sachlage 
gewinnen.  Soviel  steht  indess  fest,  dass  der  Ausstand 
thatsächlich  begonnen  hat  und  allmählich  weite  Verbreitung 
gewinnt.  Vielfach  haben  die  Bergarbeiter  da,  wo  ihnen 
nicht  gekündigt  worden  ist,  ihrerseits  die  Kündigung  ein- 
gereicht. Anscheinend  am  konsequentesten  ist  in  diesem 
Sinne  in  Lancashire  und  Cheshire  verfahren  worden.  An- 
dererseits haben  sich  die  Arbeiter  in  den  Bezirken,  wo  die 
Löhne  durch  die  gleitende  Lohnskala  bestimmt  werden  — 
wie  namentlich  in  Süd  - Staffordshire  — mehrfach  bereit 
erklärt,  zu  den  bisherigen  Lohnsätzen  die  Arbeit  fortzu- 
setzen. Somit  scheint  es,  als  wäre  das  erstrebte  einheit- 
liche Vorgehen  doch  nicht  ganz  erreicht  worden.  Auch 
verräth  eine  neuere  Kundgebung  des  Generalsekretärs  des 
Bergarbeiterverbandes  Ashton  eine  gewisse  Muthlosigkeit; 
es  heisst  darin,  der  Verband  würde,  wenn  er  jetzt  zum  Nach- 
geben gezwungen  werden  sollte,  seine  Kräfte  zu  einer  günsti- 
geren Zeit  — vor  Ende  des  laufenden  Jahres  — zusammen- 
raffen und  den  Kampf  noch  energischer  wieder  aufnehmen. 

Nach  der  Zeitung  „Sun“  wird  in  dieser  Woche  noch 
ein  internationales  Komite  von  Bergleuten  in  London  zu- 
sammentreten, um  festzustellen,  ob  die  Bergarbeiter  des 


Kontinents  angesichts  des  englischen  Bergarbeiterausstandes 
die  englischen  Bergleute  unmittelbar  unterstützen  oder  sich 
nur  weigern  sollen,  Kohlen  nach  England  zu  verladen.  Der 
Vorsitzende  des  Bergmannsvereins  Pickard  soll  behauptet 
haben,  dass  aus  Deutschland  bereits  die  Zusicherung  ein- 
getroffen sei,  die  Bergarbeiter  würden  die  Kohlenverladung 
nach  England  verweigern. 

Nach  einer  Meldung  des  Depeschenbureaus  „Herold“ 
vom  3.  August  beträgt  jetzt  schon  die  Zahl  der  Ausständigen 
einschliesslich  der  Frauen  und  Kinder  über  400000;  diesen 
werden  sich  demnächst  noch  etwa  30000  anschliessen,  die 
ordnungsmässig  gekündigt  haben.  In  den  grossen  Werken 
von  Manchester,  Bradford  und  Nottingham  soll  sich  bereits 
Kohlenmangel  einstellen. 


Politische  Arbeiterbewegung. 

Kongress  der  sozialistischen  Gemeinderäthe  Frank- 
reichs. Vom  13.  bis  einschliesslich  15.  Juli  tagte  in  St. -Denis 
bei  Paris  ein  Kongress  der  sozialistischen  Gemeinderäthe, 
auf  dem  rund  150  zum  Theil  recht  ansehnliche  Muni- 
zipalitäten, wie  die  von  Agen,  Beziers,  Carmaux,  Cognac, 
Commentry,  La  Ciotat,  Lyon,  Marseille,  Montluqon,  Paris, 
Roubaix,  Thizy,  Toulon,  Toulouse,  Vierzon  etc.  vertreten 
waren.  Eine  der  interessantesten  Verhandlungen  betraf  die 
Adjudikation  von  Gemeindearbeiten,  gegen  die  sich  der 
Kongress  prinzipiell  aussprach,  da  sie  nur  Anlass  zu  un- 
lautern  Handlungen  gebe.  Durch  die  Konkurrenz  gezwungen, 
unterbiete  nämlich  ein  Unternehmer  den  andern,  um  die 
betreffenden  Arbeiten  zugeschlagen  zu  erhalten,  wobei  sie 
dann  in  der  Art  verführen,  dass  sie  trotz  des  niedrig  ver- 
anschlagten Preises  noch  immer  einen  ganz  respektablen 
Profit  erzielten,  indem  sie  sich  einerseits  an  der  Qualität 
des  verwandten  Materials,  andererseits  und  zwar  haupt- 
sächlich an  den  Arbeitslöhnen  schadlos  zu  halten  suchten. 
Der  Kongress  erklärte  es  darum  für  viel  rationeller,  die 
Gemeindearbeiten  in  eigener  Regie  auszuführen  oder  durch 
Arbeiterverbände  ausführen  zu  lassen,  die  er  aber  nicht  mit 
den  Produktivgenossenschaften  verwechselt  sehen  will,  die 
seines  Erachtens  zumeist  nichts  anderes  als  eine  andere  Form 
des  Unternehmerthums  seien.  In  der  That  fehlt  es  nicht  an 
Produktivgenossenschaften,  die  bei  ihrem  ganzen  Gebahren 
blos  das  Interesse  ihrer  zumeist  nur  spärlichen  Zahl  von 
Gründern  im  Auge  behalten.  Da  ist  man  vor  allem  auf  eine 
Verzinsung  des  Einlagekapitals  bedacht,  die  durchschnittlich 
höher  ist  als  die  übliche,  ferner  auf  einen  verhältnissmässig 
grossen  Reservefonds  und  erst  zu  allerletzt  — fast  nur,  um  den 
Schein  zu  wahren,  als  wären  die  betreffenden  Unter- 
nehmungen keine  kapitalistischen  — auf  die  Gewinn- 
betheiligung der  „Hilfsarbeiter“.  Dazu  kommt  noch,  dass 
dort,  wo  die  Hilfsarbeiter  am  Gewinn  betheiligt  werden,  die 
beschäftigten  Genossenschaftsmitglieder  statutarisch  einen 
hohem  Lohn  beziehen  als  die  Nichtmitglieder,  so  dass  der 
Kongress  mit  Recht  sagen  konnte,  dass,  wenn  auch  diesen 
Genossenschaften  die  Kommunalarbeiten  nur  unter  der 
Bedingung  übertragen  würden,  die  Hilfsarbeiter  an  dem 
Gewinn  zu  betheiligen,  diese  doch  nur  einen  Bruchtheil  des 
ihnen  entzogenen  Arbeitsertrags  zurückerhalten  würden. 
Da  aber  andererseits  die  Gemeinden,  beengt  durch  das 
Gesetz,  nicht  direkt  mit  den  Arbeitern  und  Gewerkschaften 
verhandeln  können,  empfiehlt  der  Kongress  in  das  Pflichten- 
heft der  Unternehmer,  das  die  Bedingungen  für  die  Aus- 
führung kommunalen  Arbeiten  enthält,  Bestimmungen  einzu- 
fügen, die  den  Arbeitstag  auf  8 Stunden  beschränken,  ein 
durch  die  Gewerkschaften  oder  die  Munizipalität  festgesetztes 
Lohnminimum  sichern,  die  Anstellung  von  Unterakkordanten 
welcher  Art  auch  immer  verbieten  und  mit  der  Ueberwachung 
der  Durchführung  dieser  Bestimmungen  Gewerkschafts- 
delegirte  betrauen. 

Im  weiteren  Verlaufe  der  Verhandlungen  sprach  sich 
der  Kongress  — wir  heben  blos  die  wichtigsten  Beschlüsse 
hervor  — dafür  aus,  dass  sich  die  Gemeindevertretungen 
überall  bemühen  mögen,  Gemeindebäckereien  und  -Fleische- 
reien zu  errichten,  da  er  die  offizielle  Brod-  und  Fleisch- 
taxe nur  für  einen  Nothbehelf  oder  als  ein  Uebergangs- 
stadium  betrachte;  desgleichen  die  Errichtung  von  Gemeinde- 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  45. 


Apotheken  und  -Heilanstalten.  Ferner  verlangte  er  die 
baldige  Aufhebung  der  städtischen  Zölle  und  deren  Er- 
setzung. je  nach  den  Bedürfnissen  und  der  Beschaffenheit 
der  Gemeinden,  durch  Besteuerung  des  Besitzes,  unbebauter 
Flächen,  nicht  vermietheter  Lokalitäten  etc.;  die  Aufhebung 
des  Gesetzes  von  1850,  betreffend  die  gesundheitswidrigen 
Wohnungen,  und  dessen  Ersetzung  durch  ein  den  Anfor- 
derungen der  Hygiene  entsprechendes  Gesetz;  die  Schaffung 
eines  Arbeitsinvalidengesetzes,  und  endlich  Entschädigung 
für  die  Thätigkeit  der  Gemeinderäthe  auf  Grundlage  des 
Durchschnittsarbeitslohns  der  Betreffenden,  damit  die  Arbeiter 
nicht  verhindert  seien,  an  der  Verwaltung  der  Gemeinden 
theilzunehmen.  Schliesslich  sei  noch  erwähnt,  dass  der 
Kongress  gegen  die  Schliessung  der  Pariser  Arbeitsbörse 
energisch  protestirte,  ja  dass  dieser  Protest  sozusagen  die 
Einleitung  zu  seinen  Verhandlungen  bildete. 


Unternehmerverbände. 

Kartell  österreichischer  Schuhfabrikanten.  Mitte  Juli 
d.  J.  haben  in  Wien  32  österreichische  Schuhwaarenfabriken 
und  die  drei  grössten  Betriebe  Ungarns  eine  Preisvereini- 
gung abgeschlossen.  Die  Preise  des  Rohmaterials  seien, 
so  wurde  auf  der  Zusammenkunft  ausgeführt,  in  der  letzten 
Zeit  bedeutend  gestiegen,  namentlich  hätten  die  einzelnen 
Ledersorten,  die  Futterstoffe  und  die  Lastings  im  Preise 
angezogen.  Die  Arbeitslöhne  stiegen  anhaltend,  und  das 
in  den  letzten  Monaten  zum  Vorschein  gekommene  Gold- 
agio vertheuere  die  Preise  der  aus  dem  Auslande  zu  be- 
ziehenden feineren  Ledersorten.  Die  Fabrikanten  beschlossen, 
die  Preise  der  Schuhwaaren  um  5 bis  10  Prozent  zu  er- 
höhen und  verpflichteten  sich,  Preisunterbietungen  nicht 
eintreten  zu  lassen.  Eine  Busse  für  die  Einhaltung  dieser 
Verpflichtung  wurde  nicht  festgesetzt.  Der  Preisaufschlag 
ist  bei  den  verschiedenen  Arten  der  erzeugten  Schuhwaaren 
verschieden  gross,  wird  sich  aber  bei  den  gewöhnlich  er- 
zeugten Herren-  und  Frauenschuhen  auf  durchschnittlich 
50  bis  70  kr.  für  das  Paar  stellen,  so  daSs  die  Waare,  auch 
die  billigste,  erheblich  vertheuert  werden  wird.  Ein  vorbe- 
reitendes Komite  wird  einer  demnächst  einzuberufenden 
Versammlung  des  Kartells  Einzelvorschläge  machen. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Sonntagsruhe  im  Bäckergewerbe.  Trotzdem  die 
Sonntagsruhe  in  weiten  Gebieten  des  Reiches  für  zahl- 
reiche Gewerbe  bereits  stark  durchlöchert  ist,  sind  einfluss- 
reiche Interessentenverbände  bestrebt,  noch  eine  weitere 
Beschränkung  herbeizuführen.  Der  Bäckerverband  „Ger- 
mania“, der  etwa  22  000  Mitglieder  umfasst,  will  sich 
auf  seiner  im  August  in  Mainz  stattfindenden  Generalver- 
sammlung auch  mit  der  Sonntagsruhe  im  Bäckergewerbe 
beschäftigen,  und  zwar  sowohl  nach  der  Seite  des  Handels- 
gewerbes wie  des  Handwerksbetriebes.  Ein  von  der  Ham- 
burger Bäcker-Innung  ausgehender  Antrag  schlägt  der  Ver- 
sammlung die  Annahme  zweier  Resolutionen  vor,  die 
den  Anspruch  erheben  können,  für  eine  einseitige  und 
egoistische  Beurtheilung  der  Frage  Mustergültiges  zu  leisten. 
Was  die  Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe  betrifft,  so  ver- 
langt man  die  Verlängerung  der  Verkaufzeit  für  alle  Be- 
rufszweige um  einige  Stunden  und  für  den  Handel  mit  Back- 
und  Konditorwaaren  die  Erlaubniss  zum  Verkauf  während 
des  ganzen  Sonntags  mit  Ausnahme  der  Hauptgottesdienst- 
stunden; für  den  Handwerksbetrieb  will  man  die  Arbeits- 
zeit der  Gehilfen,  Lehrlinge  und  Arbeiter  im  Bäckergewerbe 
an  Sonntagen  auf  vierzehn  Stunden  festgesetzt  wissen. 
Vierzehnstündigen  Arbeitstag  an  Sonn-  und  Feiertagen,  und 
dabei  hat  man  noch  den  Muth,  von  einer  Sonntagsruhe  zu 
sprechen!  In  anderen  Ländern  hält  man  einen  vierzehn- 
stündigen Arbeitstag  auch  an  Werktagen  für  monströs, 
bei  uns  wollen  ihn  die  Bäckermeister  sogar  für  Sonn- 
tag eingeführt  wissen!  Man  sieht,  das  vielfache  Nachgeben 
der  Regierungen,  die  sich  durch  das  Geschrei  einer  hand- 


voll Interessenten  mürbe  machen  Hessen,  hat  schon  seine 
schlimmen  Früchte  gehabt;  der  Appetit  wächst  eben  beim 
Essen,  und  wenn  die  Cigarrenhändler  sich  Konzessionen  zu 
verschaffen  wissen,  die  die  Sonntagsruhe  geradezu  illuso- 
risch machen,  warum  sollen  da  die  Bäcker  nicht  den  Ver- 
such machen,  für  sich  die  denkbar  grösste  Ausnützung  der 
menschlichen  Arbeitskraft  an  Sonn-  und  Feiertagen 
herauszuschlagen?  Und  das  nennt  sich  dann  noch  Sonn- 
tagsruhe, dabei  wirft  man  mit  dem  Schlagwort  sozialpoli- 
tischer Fürsorge  um  sich  und  redet  gar  noch  von  beson- 
derer Arbeiterfreundlichkeit!  Man  darf  gespannt  darauf 
sein,  wie  sich  die  Regierungen  zu  diesen  maasslosen,  durch 
einen  geradezu  unglaublichen  Interessenegoismus  diktirten 
Forderungen  der  Bäcker  verhalten  werden.  Die  richtige 
Antwort  wäre  eine  Verordnung  des  Bundesrathes,  die  die 
Arbeitszeit  der  im  Bäckergewerbe  beschäftigten  Gesellen, 
Gehilfen  und  Lehrlinge  schlechthin  bestimmt  und  hierbei 
den  Anforderungen  der  Sozialpolitik  wirklich  Rechnung 
trägt.  Uebrigens  wollen  wir  bis  auf  weiteres  noch  be- 
zweifeln, dass  die  sämmtlichen  Bäcker-Innungen  Deutsch- 
lands in  der  Frage  der  Sonntagsruhe  den  gleichen  An- 
schauungen huldigen  wie  die  Hamburger  Innung.  Wenn 
in  Hamburg  solche  Ansichten  vertreten  werden,  kann  man 
sich  nicht  darüber  wundern,  dass  die  erste  Handelsstadt 
Deutschlands  nur  Sozialdemokraten  in  den  Reichstag  ge- 
wählt hat. 


Arbeiterversicherung. 

Zur  Abänderung  des  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherungsgesetzes. 

Es  lässt  sich  nicht  bestreiten,  dass  die  hinter  uns 
liegende  Wahlbewegung  einen  vollgiltigen  Beweis  dafür 
erbracht  hat,  dass  das  Invaliditäts-  und  Altersversicherungs-  • 
gesetz  in  breiten  Schichten  der  ländlichen  Bevölkerung  als 
ein  Gegenstand  des  Anstosses  und  Missvergnügens  be- 
trachtet wird;  vor  allem  in  den  ländlichen  Bezirken  Bayerns 
hat  die  Anwendung  des  Gesetzes  Unzufriedenheit  in  Hülle 
und  Fülle  erzeugt.  Unmittelbar  nach  den  Wahlen  trug 
das  Centrum  dieser  Volksstimmung  Rechnung,  indem  es 
alsbald  einen  Antrag  einbrachte,  welcher  die  Regierung 
aufforderte,  einen  Entwurf  zur  Revision  des  Gesetzes  mit 
thunlicher  Beschleunigung  vorzulegen.  Der  Antrag  ist 
allerdings  nicht  mehr  zur  Verhandlung  gelangt,  seine 
Wiedereinbringung  im  Herbste  oder  im  Winter  wird  in- 
dessen ausser  Frage  stehen.  Auch  in  anderen  Parteien 
beachtet  man  die  Bedeutung  dieser  Volksstimmung  wohl 
und  hält  eine  Durchsicht  des  Gesetzes  in  manchen  Punkten 
für  geboten.  Für  die  von  jeder  parteipolitischen  Brille  freie 
Betrachtung  fragt  es  sich  angesichts  dieser  Thatsachen,  ob 
die  Missstimmung  der  Bevölkerung  gerechtfertigt  ist  und 
das  Reich  die  Verpflichtung  hat,  durch  geeignete  Reformen 
zur  Beseitigung  der  Verstimmung  beizutragen.  In  einer 
Hinsicht  bejahen  wir  diese  Frage,  in  anderen  verneinen  wir 
sie  hingegen  in  bestimmtester  Weise.  Wir  sprechen  der  Miss- 
stimmung insoweit  jede  Berechtigung  ab,  als  sie  sich  gegen 
die  Einbeziehung  der  ländlichen  Arbeiter  in  den  Kreis  der 
Versicherungspflichtigen  richtet  und  zwar  ohne  Rücksicht 
darauf,  ob  sie  bei  den  niederbayerischen  Hofbauern  oder 
bei  den  ostelbischen  Latifundienbesitzern  vorhanden  ist. 

Die  Erstreckung  der  Versicherung  auf  die  ländlichen  Ar- 
beiter war  und  ist  ein  Bedürfniss,  sie  war  das  mindeste, 
was  der  Staat  zur  Hebung  dieser  beklagenswerthen  Arbeiter- 
kategorie thun  konnte.  Will  man  heute  noch  das  Bedürf- 
niss mit  dem  Hinweis  auf  die  patriarchalischen  Verhältnisse 
bestreiten,  heute,  nachdem  die  wahrlich  nicht  einseitig  zu 
Gunsten  der  Arbeiter  gehaltenen  Erhebungen  des  Vereins 
für  Sozialpolitik  aller  Welt  gezeigt  haben,  welchen  prakti- 
schen Werth  der  Patriarchalismus  noch  besitzt,  will  man 
sich  heute  noch  auf  die  Leistungen  und  Fürsorge  der  frei- 
willigen Liebesthätigkeit  berufen,  nachdem  in  den  Erhebungen 
des  genannten  Vereins  hierüber  doch  auch  das  Nothwendige 
mitgetheilt  worden  ist?!  Wahrlich,  keine  Bestrebung  kann 
minder  berechtigt  sein  als  die,  die  sich  auf  die  Beseitigung 
der  für  die  ländlichen  Arbeiter  bestehenden  Invaliditäts- 
und Altersfürsorge  richtet,  und  die  schärfste  Zurückweisung 


No.  45. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


541 


jedes  dahin  abzielenden  Versuchs  ist  gerade  scharf  genug. 
Uebrigens  wird  kein  Politiker,  der  auf  das  Prädikat  „weit- 
sichtig“ irgendwie  Anspruch  machen  kann,  daran  denken, 
den  Arbeitern  heute  Rechte  zu  entziehen,  die  ihnen  seit 
längerer  Zeit  bereits  zustehen  und  auf  Grund  deren  sie 
Vortheile  erlangt  haben;  wir  halten  dies  einfach  für  un- 
möglich. 

Als  berechtigt  müssen  wir  dagegen  die  Missstimmung 
bezeichnen,  die  sich  gegen  das  Verfahren  richtet;  Komplizirt- 
heit  und  büreaukratische  Schablone  herrschen  hier  vor, 
die  Vielschreiberei  hat  vielleicht  selten  solche  Triumphe 
erlebt  wie  bei  der  Anwendung  dieses  Gesetzes.  Verfehlt 
ist  zunächst  die  Belästigung  der  Bevölkerung  mit  der  Marken- 
verwendung. Leute,  die  es  wissen  können,  haben  mit  Recht 
hervorgehoben,  dass  da,  wo  die  Markenverwendung  den 
Krankenkassen  und  anderen  Organen  übertragen  ist,  die 
Missstimmung  nur  in  verschwindendem  Maasse  vorhanden 
ist.  Eine  Aenderung  der  in  dieser  Beziehung  geltenden 
Vorschriften  würde  eine  stark  sprudelnde  Quelle  der  Un- 
zufriedenheit verstopfen;  der  Bauer  ärgert  sich  viel  weniger 
über  die  finanzielle  Belastung,  die  ihm  das  Gesetz  auferlegt, 
als  über  die  Arbeit  und  die  Scherereien,  die  für  ihn  aus 
seiner  Durchführung  erwachsen;  wenn  ihm  die  Markenver- 
wendung  und  der  Kartenumtausch  abgenommen  wird,  wenn 
er  weiter  nichts  zu  thun  hat,  als  dem  Boten  der  Kasse, 
der  Steuererhebungsstelle  u.  s.  w.  periodisch  die  auf  ihn  ent- 
fallende und  die  von  ihm  vorzulegende  Hälfte  zu  zahlen, 
wird  er  sich  eher  mit  dem  Gesetze  aussöhnen  als  jetzt. 
Weiter  ist  das  schiedsgerichtliche  Verfahren  abzuändern, 
das  zur  Zeit  überaus  lange  zu  dauern  pflegt;  der  Rechts- 
gang ist  viel  zu  schleppend  und  langweilig,  Monate  ver- 
gehen, bis  der  Antragsteller  die  Entscheidung  des  Schieds- 
gerichts in  Händen  hat.  In  dritter  Linie  erscheint  es  noth- 
wendig,  dass  die  Träger  der  Versicherung  anders  organisirt 
werden.  Das  Nebeneinanderbestehen  der  zahlreichen 
territorialen  Versicherungsanstalten  ist  auch  wieder  ein 
Beweis  dafür,  dass  der  Deutsche  für  schwerfällige  und  recht 
komplizirte  Rechtsorganisationen  eine  Schwäche  hat.  Nicht 
umsonst  hat  Goethe  gesagt,  die  Menschen  ärgert  es,  dass 
das  Schöne  so  einfach  ist.  An  Stelle  einer  sich  auf  All- 
deutschland erstreckenden  Versicherungsanstalt  sind  wir 
so  glücklich,  deren  31  zu  besitzen;  ein  gewaltiges  Heer 
von  Ober-  und  Unterbeamten  schaltet  und  waltet  in  ihnen, 
schreibt  und  klebt,  klebt  und  schreibt.  Der  Verfasser  ist 
der  Meinung,  dass  die  rationelle  Entwickelung  der  Arbeiter- 
versicherungsgesetzgebung mit  Nothwendigkeit  dahin  führen 
muss,  alle  Zweige  einem  und  demselben  Präger  zu  über- 
weisen, er  verkennt  aber  nicht,  dass  es  noch  geraume  Zeit 
währen  wird,  bis  die  allmächtige  Büreaukratie  sich  mit 
diesem  Gedanken  befreundet  haben  wird.  Jede  Reform, 
wenn  sie  anders  diesen  Namen  mit  Recht  führen  will,  muss 
einen  Schritt  auf  dem  Wege  zur  Verwirklichung  dieses 
Gedankens  bedeuten.  An  die  Ersetzung  der  territorialen 
Versicherungsanstalten  durch  eine  Reichsanstalt  zu  denken, 
scheint  uns  unrichtig  zu  sein.  Auf  die  materiellen  Bestim- 
mungen der  Gesetze,  die  der  Revision  bedürfen,  soll  heute 
nicht  eingegangen  werden;  die  Nothwendigkeit  ihrer  Ver- 
besserung ist  jedenfalls  nicht  entfernt  so  dringlich  wie  die 
der  bezeichneten  Punkte.  Wird  in  diesen  den  berechtigten 
Beschwerden  Rechnung  getragen,  so  wird  es  sicherlich 
gelingen,  das  Urtheil  weiter  Kreise  der  Bevölkerung  über 
das  Gesetz  gerechter  zu  machen.  Berücksichtigung  der 
begründeten  Ausstellungen  gegen  einzelne  Bestimmungen, 
aber  rücksichtsloser  Widerstand  gegen  jeden  Versuch,  den 
Kreis  der  Versicherungspflichtigen  zu  verengen  und  in- 
soweit das  Gesetz  zu  verstümmeln  — das  muss  die  Haltung 
der  Regierung  in  dieser  Frage  sein. 

Mainz.  Ludwig  Fuld. 

Rentenansprüche  auf  Grund  des  Invaliditäts-  und 
Altersversicherungsgesetzes  in  der  ersten  Hälfte  des 
Jahres  1893.  Nach  den  im  Reichs-Versicherungsamt  an- 
gefertigten Zusammenstellungen,  die  auf  den  von  den 
Vorständen  der  Versicherungsanstalten  und  der  zugelassenen 
besonderen  Kasseneinrichtungen  gemachten  Angaben  be- 
ruhen, betrug  am  1.  Juli  1893  die  Zahl  der  seit  dem  Inkraft- 
treten des  Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetzes  er- 
hobenen Ansprüche  auf  Bewilligung  von  Altersrenten  bei 


den  31  Versicherungsanstalten  und  den  9 vorhandenen 
Kasseneinrichtungen  245013.  Von  diesen  wurden  193114 
Rentenansprüche  anerkannt  und  42984  zurückgewiesen. 
3810  blieben  unerledigt,  während  die  übrigen  5105  Anträge 
auf  andere  Weise  ihre  Erledigung  gefunden  haben.  Von 
den  erhobenen  Ansprüchen  entfallen  auf  Schlesien  28331, 
Ostpreussen  22414,  Brandenburg  18814,  Rheinprovinz 
16178,  Hannover  14208,  Sachsen-Anhalt  13984,  Posen 
12777,  Schleswig-Holstein  9356,  Westpreussen  9266,  West- 
falen 9255,  Pommern  8251,  Hessen-Nassau  5352,  Berlin 
2703.  Auf  die  8 Versicherungsanstalten  des  Königreichs 
Bayern  kommen  24631  Altersrentenansprüche,  auf  das 
Königreich  Sachsen  10254,  Württemberg  5468,  Baden  4635, 
Grossherzogthum  Hessen  4026,  beide  Mecklenburg  5034,  die 
Thüringischen  Staaten  5103,  Oldenburg  892,  Braunschweig 
1718,  Hansestädte  1718,  Elsass-Lothringen  7200  und  auf  die 
9 zugelassenen  Kasseneinrichtungen  insgesammt  3445. 

Die  Zahl  der  während  desselben  Zeitraums  erhobenen 
Ansprüche  auf  Bewilligung  von  Invalidenrente  betrug  bei 
den  31  Versicherungsanstalten  und  den  9 Kasseneinrichtungen 
insgesammt  59247.  Von  diesen  wurden  34746  Renten- 
ansprüche anerkannt  und  15938  zurückgewiesen,  5722  blieben 
unerledigt,  während  die  übrigen  2841  Anträge  auf  andere 
Weise  ihre  Erledigung  gefunden  haben.  Von  den  geltend 
gemachten  Invalidenrenten-Ansprüchen  entfallen  auf  Schle- 
sien 8284,  Rheinprovinz  4660,  Ostpreussen  4468,  Branden- 
burg 3107,  Hannover  3072,  Sachsen-Anhalt  2672,  West- 
preussen 2483,  Westfalen  2121,  Posen  2096,  Pommern  2065, 
Hessen-Nassau  1272,  Schleswig-Holstein  891,  Berlin  863. 
Auf  die  8 Versicherungsanstalten  des  Königreichs  Bayern 
kommen  7308  Invalidenrentenansprüche,  auf  das  Königreich 
Sachsen  2138,  Württemberg  1591,  Baden  1686,  Grossherzog- 
thum Hessen  686,  beide  Mecklenburg  657,  die  Thüringischen 
Staaten  1006,  Oldenburg  158,  Braunschweig  373,  Hanse- 
städte 297,  Elsass-Lothringen  1154  und  auf  die  9 Kassen- 
einrichtungen insgesammt  4139.  — Unter  den  Personen,  die 
in  den  Genuss  der  Invalidenrente  traten,  befinden  sich  1025, 
die  bereits  vorher  eine  Altersrente  bezogen. 

Zur  Ausdehnung  der  Unfallversicherung  auf  das  Hand- 
werk. Schon  seit  Jahr  und  Tag  beschäftigt  sich  die  Reichs- 
regierung mit  der  Frage  der  Ausdehnung  der  Unfallversiche- 
rung auf  die  im  Handwerk  beschäftigten  Personen.  Zu 
einem  bestimmten  Ergebniss  scheint  man  bis  jetzt  nicht  ge- 
langt zu  sein.  Und  das  darf  auch  nicht  Wunder  nehmen, 
denn  an  der  berufsgenossenschaftlichen  Organisation  möchte 
man  wohl  gern  festhalten;  wie  man  aber  diese  auf  das 
Handwerk  übertragen  soll,  ist  in  der  That  eine  Frage,  die 
getrost  als  Unlösbar  bezeichnet  werden  kann.  Neuerdings 
wird  nun  halbamtlich  mitgetheilt,  dass  hierbei  auch  die  Frage 
entschieden  werden  soll,  wie  den  Wünschen  einzelner  Ge- 
werbszweige  auf  eine  andere  Zusammensetzung  bestehender 
Berufsgenossenschaften  entsprochen  werden  könne.  Unter 
anderem  werde  dies  auch  mit  dem  Verlangen  des  Fleischer- 
gewerbes der  Fall  sein,  das  mehrfach  beantragt  hat,  aus  der 
Nahrungsmittelindustrie-Berufsgenossenschaft,  der  es  gegen- 
wärtig angehört  und  zu  der  es  die  Mehrzahl  der  versiche- 
rungspflichtigen Betriebe  stellt,  auszuscheiden. 

Beförderung  erkrankter  Arbeiter  mit  der  Eisenbahn. 

Der  Minister  der  öffentlichen  Arbeiten  hat  sich  damit  ein- 
verstanden erklärt,  dass  Arbeiter,  die  plötzlich  bei  der  Ar- 
beit oder  dem  Gewerbebetrieb  derartig  erkranken  oder 
verwundet  werden,  dass  sie  auf  ärztliche  Anordnung  in  ein 
Krankenhaus  übergeführt  werden  müssen,  in  den  Gepäck- 
wagen der  Personenzüge  befördert  werden  dürfen.  Die 
Transportirten  und  deren  Begleiter  haben  die  Fahrpreise 
dritter  Klasse  zu  bezahlen;  die  Krankenkörbe  werden  fracht- 
frei zurückbefördert.  Als  Nothbehelf,  bis  bessere  Einrich- 
tungen getroffen  sind , kann  diese  Maassregel  anerkannt 
werden.  Es  liegt  aber  auf  der  Hand,  dass  es  weder  für 
die  Kranken  dienlich  sein  kann,  noch  würdig  ist,  sie  in  Ge- 
pächwagen,  wo  überdies  auch  für  die  Begleiter  jede  Be- 
quemlichkeit fehlt,  zu  befördern.  Es  darf  wohl  erwartet 
werden,  dass  die  Eisenbahnverwaltung  demnächst  dazu 
übergehen  wird,  besondere  Wagenabtheilungen  für  den 
Krankentransport  zu  schäften.  Ein  Menschenleben  ist  so 
werthvoll , dass  der  Staat  für  seine  Erhaltung  wohl  einige 
Opfer  bringen  kann. 


542 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  45. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung. 

Zonenbauordnung  für  Köln  a.  Rhein.  Im  Interesse 
eines  gesundheitsgemässen  Ausbaues  der  Stadt  hat  nun- 
mehr auch  die  Gemeindeverwaltung  von  Köln  a.  Rhein  den 
Erlass  einer  neuen  Bauordnung  nach  dem  Zonensystem 
vorgeschlagen.  Die  betreffende  Vorlage  wurde  den  Stadt- 
verordneten in  ihrer  Sitzung  vom  14.  d.  M.  gemacht  und 
von  Baurath  Stübben  wie  folgt  begründet:  Es  handelt  sich 
darum,  die  Umgebung  der  Stadt  nach  Zonen  abzustufen, 
d.  h.  in  der  Umgebung  der  Stadt  Köln  eine  so  dichte  Be- 
bauung wie  in  der  Altstadt  nicht  zuzulassen,  wie  es  auch 
in  anderen  Städten,  z.  B.  Berlin,  Altona,  Frankfurt  a.  M., 
bereits  angeordnet  ist.  Gegenwärtig  wird  oft  auf  einem 
Grundstück,  das  kurz  vorher  noch  für  Ackerwirthschaft  be- 
nutzt wurde,  eine  so  enge  Bebauung  vollzogen,  dass  man  nicht 
ohne  Besorgniss  der  Zukunft  entgegen  sehen  kann.  Man 
hatte  sich  der  Hoffnung  hingegeben,  dass  draussen  Strassen 
mit  kleinen  freistehenden  Gartenhäusern  entstehen  würden. 
Das  Gegentheil  ist  eingetreten.  Selbst  in  einzelnen  Theilen 
der  Neustadt,  wo  eine  geringere  Klasse  der  Bevölkerung 
wohnt,  ist  die  Bebauung  dichter  als  in  der  Altstadt,  sowohl 
bezüglich  der  Grösse  der  Höfe  als  der  Höhe  der  Bauwerke. 
Daher  kommt  es,  dass  die^  Dichtigkeit  der  Bevölkerung 
nach  aussen  nicht  ab-,  sondern  zunimmt.  Bis  jetzt  ist  die- 
ser Uebelstand  vornehmlich  in  der  Neustadt  aufgetreten; 
aber  er  zeigt  sich  auch  schon  in  einzelnen  Vororten,  wie 
in  Ehrenfeld  und  Theilen  von  Nippes.  Dieser  Gefahr  kann 
man  nicht  ruhig  Zusehen.  In  der  letzten  Versammlung  des 
Vereins  für  öffentliche  Gesundheitspflege  war  man  ein- 
stimmig der  Ansicht,  dass  man  allgemein  dem  Beispiele 
der  Stadt  Berlin  folgen  und  die  Umgebung  der  grossen 
Städte  von  dieser  Art  der  Bebauung  frei  halten  müsse. 
Damit  würde  eine  richtige  Steigerung  der  Grundwerthe  ver- 
bunden sein  und  vermieden  werden,  dass  die  Wohnungen 
auf  das  äusserste  Maass  von  Licht  und  Luft  beschränkt 
würden.  Die  Vorlage  unterscheidet  eine  erste  Zone 
von  Grundstücken  mit  rein  städtischem  Charakter.  Hier 
soll  die  grösste  zulässige  Gebäudefläche  eines  Grund- 
stücks 75  pCt. , an  Eckgrundstücken  85  pCt. , die  Höhe 
der  Gebäude  bis  zur  Dachtraufe  20  Meter,  die  grösste  zu- 
lässige Zahl  der  Stockwerke,  die  zum  dauernden  Aufent- 
halt von  Menschen  bestimmt  sind,  vier  betragen.  Die 
zweite  Zone  umfasst  diejenigen  Grundstücke,  welche  an 
den  übrigen  bereits  ausgebauten  Strassen  im  ganzen  Stadt- 
bezirk liegen.  Hier  soll  die  grösste  zulässige  Bebauungs- 
fläche von  75  auf  65  pCt.,  bei  Eckgrundstücken  von  85  auf 
75  pCt.  zurückgehen.  Eine  sehr  bedeutende  Verringerung 
der  zulässigen  Baufläche  ist  es  also  nicht.  Die  grösste 
Höhe  darf  15  Meter,  die  Zahl  der  Geschosse  nur  drei  be- 
tragen. Hierdurch  soll  das  jetzt  schon  in  Ehrenfeld  be- 
ginnende System  von  vier  Stockwerken  verhindert  werden. 
In  die  dritte  Zone  gehören  diejenigen  Grundstücke,  welche 
an  noch  nicht  ausgebauten  Strassen  liegen.  Hier  wird  die 
Bauerlaubniss  in  der  Regel  ertheilt,  wenn  die  Verträge  über 
Entwässerung,  Beleuchtung  u.  s.  w.  abgeschlossen  sind. 
Immerhin  empfiehlt  es  sich,  diese  Kategorie  von  Grund- 
stücken den  andern  nicht  ganz  gleichzustellen,  vielmehr  die 
zulässige  Baudichtigkeit  noch  etwas  einzuschränken.  Die 
zulässige  Bebauung  soll  hier  nur  50  pCt.,  bei  Eckgrund- 
stücken 60  pCt.  betragen;  die  Höhe  der  Häuser  15  Meter, 
die  Zahl  der  bewohnten  Geschosse  zwei  und  die  Hälfte  des 
Dachgeschosses.  Es  handelt  sich  dabei  um  ganz  ländliche 
Bezirke  bezw.  solche,  die  in  dem  Uebergang  aus  dem 
ländlichen  in  den  städtischen  Charakter  begriffen  sind.  Für 
die  vierte  endlich  soll  nur  die  sogenannte  offene  Bebauung 
zugelassen  werden.  Dabei  ist  nicht  an  die  eigentliche 
Villenbebauung  gedacht,  sondern  an  von  drei  Seiten  frei- 
stehende Häuser  mit  ländlichem  Charakter.  Hier  beträgt 
die  höchste  zulässige  Bebauung  40  pCt,  der  Grundfläche, 
bei  Eckgrundstücken  50  pCt.  Die  Höhe  der  Gebäude  ist 
auf  15  Meter  bemessen,  die  Zahl  der  bewohnbaren  Stock- 
werke auf  zwei  nebst  der  Hälfte  des  Dachgeschosses.  An 
den  Strassenfronten  dürfen  nicht  mehr  als  zwei  Gebäude 
dicht  an  einander  gebaut  werden.  Die  Zwischenräume  sind 
unbebaut  zu  lassen  und  sollen  bis  zur  Nachbargrenze  min- 


destens 5 Meter  betragen.  Die  Erbauung  von  Fabriken  oder 
die  Nachbarschaft  belästigenden  gewerblichen  Anlagen  ist 
verboten.  Diese  letztere  Bestimmung  ist  zweifellos  die  am 
meisten  einschneidende.  Die  Kölner  Stadtverordnetenver- 
sammlung, die  natürlich  in  der  Hauptsache  Grundbesitzer- 
interessen vertritt,  hatte  sehr  viele  Bedenken  gegen  die 
Vorlage,  obgleich  Aehnliches  in  Altona  und  Frankfurt  a.  M. 
längst  durchgeführt  ist,  und  verwies  sie  an  die  Baukom- 
mission zurück.  Inzwischen  wird  die  Kölner  Bauspekulation 
den  Aufschub  weidlich  ausnützen. 

Wohnungszustände  in  Brandenburg  a.  H.  Die  Polizei- 
behörde von  Brandenburg  a.  H.  hat  kürzlich  amtliche  Er- 
hebungen über  die  Wohnungsverhältnisse  der  Stadt  vor- 
genommen. Die  Erhebungen  erstreckten  sich  über  4426 
Arbeiter-  und  Familien-Quartiere,  die  von  13332  Personen 
bewohnt  sind  und  aus  12228  Zimmern  bestehen.  Darunter 
befinden  sich  106  Kellerwohnungen.  Schlafstellenlieger 
waren  vorhanden  . 293  männliche  und  95  weibliche.  In  15 
Fällen  werden  Küchen,  Hausböden  u.  s.  w.  als  Schlafräume 
benutzt.  In  12  Fällen  sind  die  vermietheten  Schlafräume 
nicht  von  den  eigenen  getrennt.  In  8 Fällen  musste  polizei- 
lich wegen  Aufhebung  der  Schlafstellen  eingeschritten  wer- 
den. Allgemein  wird  Klage  über  unzureichende  Lüftung 
der  Wohnräume  geführt.  Ebenso  wird  betont,  dass  die 
Unterkunftsräume  vielfach  an  Grösse  zu  wünschen  übrig 
lassen,  wenn  auch  ein  besonderer  Nothstand  nicht  herrsche. 


Schulwesen. 

Ländliche  Fortbildungsschulen  in  Preussen.  Nach 
halbamtlichen  Mittheilungen  sind  bei  den  preussischen 
Ressortministern  Verhandlungen  eingeleitet,  um  eine  Ver- 
änderung der  Ressortverhältnisse  herbeizuführen,  in  der 
Art,  dass  die  gewerblichen  Fortbildungsschulen  dem  Mi- 
nisterium für  Handel  und  Gewerbe  unterstellt  bleiben,  die 
obere  Leitung  des  ländlichen  Fortbildungswesens  aber  dem 
landwirthschaftlichen  Ministerium  übertragen  werden  soll. 

Die  Ausführung  ist  dadurch  verzögert,  dass  die  hierdurch 
bedingte  Auseinandersetzung  in  Betreff  des  bisher  gemein- 
samen Unterstützungsfonds  noch  nicht  zum  Abschluss  ge- 
kommen ist.  Voraussichtlich  werden  diese  Verhandlungen 
bei  den  Berathungen  über  den  nächsten  Staatshaushalts-  • 
etat  wieder  aufgenommen  werden,  und  es  wird,  falls  ein  ; 
Uebereinkommen  über  die  Abzweigung  eines  Theiles  des 
gemeinsamen  Unterstützungsfonds  nicht  zu  erzielen  sein  : 
sollte,  die  Aussetzung  eines  angemessenen  eigenen  Unter- 
stützungsfonds für  die  ländlichen  Fortbildungsschulen  hoffent- 
lich die  Zustimmung  des  Finanzministers  finden.  Bildung 
tliut  der  bäuerlichen  Bevölkerung  in  der  That  Noth.  Des- 
halb sollte  man  nicht  versuchen,  dem  gewerblichen  Fort- 
bildungsfonds einen  Betrag  abzunehmen,  der  dort  schwer 
vermisst  wird  und  hier  nicht  zureicht,  sondern  auf  Be- 
schaffung sehr  erheblicher  besonderer  Mittel  bedacht  sein. 
Jetzt  sind  in  ganzen  Bezirken  z.  B.  der  Provinz  Hannover 
die  ländlichen  Fortbildungsschulen  aus  Mangel  an  Mitteln 
eingegangen,  und  die  bestehenden  haben  minimale  Baar- 
Dotationen  (100  M.  pro  Jahr!).  Ein  abgesetzter  Volksschul- 
lehrer giebt  in  ihnen  vom  November  bis  März  wöchentlich 
4 Stunden.  Das  sind  unwürdige  Zustände. 

Museum  für  Sozialökonomie  in  Paris.  Die  französi- 
sche Kammer  hat,  bevor  sie  auseinanderging,  40  000  Frcs. 
für  Einrichtung  eines  sozialökonomischen  Museums  im  Con- 
servatoire  des  Arts  et  Metiers  bewilligt.  Aus  der  Geschichte 
der  Entstehung  dieses  Museums  ist  Folgendes  von  Interesse: 

Im  Jahre  1867  wurde  auf  der  damaligen  Weltausstellung 
auf  die  Anregung  Le  Play's  auf  dem  Champ  de  Mars  eine 
Abtheilung  eröffnet  unter  dem  Titel:  „Preisausschreiben  für 
die  Arbeitgeber,  die  mit  ihren  Arbeitern  am  besten  in 
Frieden  leben  und  deren  materielle  und  moralische  Lage 
verbessern.“  Sechshundert  bedeutende  Fabriken  und  Han- 
delshäuser nahmen  an  diesem  Wettstreite  Theil.  Im  Jahre 
1889  wurde  auf  der  Weltausstellung  auf  der  Esplanade  des 
Invalides  eine  Abtheilung  für  Sozialökonomie  organisirt,  an 


No.  45. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAI  .BLATT. 


543 


der  sich  nicht  nur  die  grossen  Fabrikanten  und  Industriellen,  I 
sondern  auch  Korporativ-Genossenschaften,  Arbeitersyndi- 
kate, I Iygieine-Gesellschaften  u.  s.  w.  betheiligten.  Das  Er- 
gebniss  übertraf  alle  Erwartungen.  Die  Aussteller  waren 
so  zahlreich,  dass  man  die  Gruppe  in  16  Sektionen  ab- 
theilen musste,  die  40  Säle  füllten.  Neben  zahlreichen 
statistischen  und  graphischen  Plänen  und  Tabellen  fand 
man  hier  u.  A.  Modelle  von  Arbeiterwohnungen  in  natür- 
licher Grösse,  von  Kinderbewahranstalten  etc.  und  eine  grosse 
Reihe  von  Apparaten  zur  Verhütung  von  Unfällen  in  den 
Fabriken.  Nach  Schliessung  der  Ausstellung  hatte  Leon  Say 
zuerst  den  Gedanken,  die  interessanten  Materialien  in  einem 
Museum  dauernd  aufzubewahren.  Der  Idee  wurde  allge- 
mein zugestimmt,  und  alle  Aussteller  beschlossen,  ihre  Ge- 
genstände für  diesen  Zweck  dem  Konnte  des  geplanten 
Museums  zu  überlassen.  Das  Museum  wurde  dann  provi- 
sorisch in  dem  Palais  des  Arts  liberaux  auf  dem  Champ 
de  Mars  errichtet,  und  erst  dem  früheren  Handelsminister 
Siegfried  gelang  es,  dem  Museum  im  Zentrum  der  Stadt 
einen  dauernden  Sitz  zu  schaffen  und  die  Kammer  zur 
Bewilligung  einer  Summe  von  40  000  Eres,  für  das  neue 
Institut  zu  bewegen. 


Vermischtes. 

Entwurf  zu  einem  katholisch -sozialen  Programm. 

Das  neueste  Heft  der  „Kölner  Korrespondenz  für  die  geist- 
lichen Präsides  kath.  Vereinigungen  der  arbeitenden  Stände“ 
enthält  einen  Entwurf  zu  einem  katholisch-sozialen  Pro- 
gramm, der  von  einer  Anzahl  katholischer  Geistlicher  unter- 
zeichnet ist.  Die  katholischen  Sozialpolitiker  erblicken  das 
Ziel  ihrer  sozialen  Reform-Bestrebungen  in  der  Organisa- 
tion der  Gesellschaft  nach  Berufsständen  auf  christlicher 
Grundlage  und  zwar  in  einer  den  gesellschaftlichen  und 
wirthschaftlichen  Verhältnissen  der  Gegenwart  angepassten 
Form  mit  durch  Staats- Verfassung  garantirten  Rechten  der 
Selbstverwaltung,  sowie  der  Vertretung  ihrer  Interessen  bei 
der  staatlichen  Gesetzgebung. 

Um  die  allmälige  Erreichung  dieses  Zieles  zu  ermög- 
lichen und  zu  erleichtern,  stellen  die  katholischen  Sozial- 
politiker an  den  Staat  die  Forderung,  alle  auf  die  berufs- 
genossenschaftliche Organisation  hinzielenden  Bestrebungen, 
die  auf  den  Grundsätzen  der  christlichen  Gerechtigkeit 
und  Liebe  fussen,  zu  schützen  und  zu  fördern.  Sie 
verlangen  sodann  insbesondere: 

I.  Für  die  Grossindustrie: 

Die  Leistung  von  Garantieen  für  neu  ins  Leben  zu 
rufende  grossindustrielle  Unternehmungen  hinsichtlich  der 
Fähigkeit  und  Unbescholtenheit  der  Leitung,  hinsichtlich 
des  zur  Fortführung  erforderlichen  Kapitals,  hinsichtlich 
der  gesundheitlichen  Verhältnisse  des  Ortes,  sowie  der  be- 
rechtigten Interessen  der  umwohnenden  Bevölkerung.  Ver- 
vollkommnung der  Arbeiterschutzgesetze  zum  Zwecke  einer 
gewerblichen  Ausbildung,  einer  gerechten  Entlohnung,  einer 
gesicherten,  stufenweise  aufsteigenden  Stellung  und  einer 
würdigen  Behandlung  der  Arbeiter;  eine  den  Produktions- 
verhältnissen angemessene  Verkürzung  der  Arbeitszeit; 
allmälige  Beseitigung  der  Fabrikarbeit  für  verheirathete 
Frauen;  Einschränkung  der  Fabrikarbeit  für  unverheirathete 
weibliche  Personen  auf  die  ihrem  Geschlechte  und  Berufe 
entsprechenden  Verrichtungen;  Beseitigung  der  gewerb- 
lichen Kinderarbeit  in  fremdem  Dienste;  Regelung  und 
Ueberwachung  der  Hausindustrie  im  Dienste  des  Gross- 
unternehmerthums; Einführung  von  Arbeiter-Ausschüssen 
mit  gesetzlich  garantirten  Rechten.  Vereinigungsfreiheit 
der  Arbeiter  zum  Schutze  und  zur  Förderung  wirthschaft- 
licher  Interessen.  Förderung  von  genossenschaftlichen  Or- 
ganisationen, welche  Arbeitgeber  und  Arbeiter  umfassen 
und  Jedem  seine  Rechte  garantiren.  Festsetzung  einer 
Grenze,  über  die  hinaus  die  einzelnen  privaten  Unter- 
nehmungen der  verschiedenen  Industriezweige  die  Zahl 
ihrer  Arbeiter  nicht  mehren  dürfen. 


II.  Für  das  Handwerk; 

Förderung  des  Innungswesens  für  das  Kleingewerbe, 
in  so  weit  dasselbe  bei  der  fortgeschrittenen  Produktions- 
weise in  erspriesslicher  Weise  noch  handwerksmässig  be- 
trieben werden  kann,  durch  gesetzliche  Privilegien  hinsicht- 
lich des  einzuführenden  Befähigungsnachweises,  hinsicht- 
lich der  Lehrlinge,  der  Gesellen  und  der  Herstellung  und 
des  Absatzes  kleingewerblicher  Waarenerzeugnis.se.  Rege- 
lung der  Gefängniss-  und  Militär- Arbeiten , Einschränkung 
des  Zwischenhandels  zum  Schutze  des  Handwerkerstandes. 
Gesetzliche  Abgrenzung  von  Handwerk  und  Grossindustrie 
durch  Festsetzung  einer  Maximalzahl  von  Geholfen  für  den 
handwerksmässigen  Betrieb. 

III.  Für  die  Landwirthschaft: 

Genossenschaftliche  Organisation  ^des  Bauernstandes 
durch  die  Gesetzgebung;  Einführung  eines  Agrarrechtes 
mit  dem  Rentenprinzip  für  die  Verschuldung  von  Grund 
und  Boden,  solidarischer  Haftung  der  Genossenschaft  für 
die  Grundschulden  und  der  Befugniss  der  Ausgabe  unkünd- 
barer, amortisirbarer  und  nach  der  Höhe  der  Grundrente 
verzinslicher  Werthpapiere;  ein  den  bäuerlichen  Verhält- 
nissen entsprechendes  Erbrecht.  Festsetzung  einer  Ver- 
schuldungsgrenze für  den  ländlichen  Grundbesitz.  Fest- 
setzung einer  Maximalgrenze  für  den  Erwerb  an  Grund  und 
Boden.  Erschwerung  der  Bodenspekulation,  welche  auf 
Güterzertrümmerung  hinausgeht.  Förderung  zweckent- 
sprechender Anstalten  zur  Gewährung  von  nothwendigen 
Darlehen.  Zeitgemässe  Abänderung  der  Gesindeordnungen 
und  der  unbeschränkten  Freizügigkeit. 

IV.  Für  den  Handel: 

Aufhebung  der  schrankenlosen  Handelsfreiheit.  Leistung 
von  entsprechenden  Garantieen  von  Seiten  der  Geschäfts- 
leute rücksichtlich  ihrer  Fähigkeit  und  Unbescholtenheit. 
Einschränkung  des  Hausirhandels.  Schutz  gegen  sogen. 
Wanderlager  und  schwindelhafte  Ausverkäufe.  Regelung 
des  Börsenwesens;  Besteuerung  der  börsenmässigen  Ab- 
schlüsse; Untersagung  der  Differenzgeschäfte;  Nichtklag- 
barkeit des  Termingeschäftes;  Erschwerung  der  Emission 
ausländischer  Werthe;  staatliche  Kontrole  des  Depositen- 
wesens. 

V.  Sonstige  Forderungen: 

Einführung  einer  möglichst  vollständigen  Sonntagsruhe. 
Eine  strenge  Wuchergesetzgebung  zur  Bekämpfung  jeg- 
licher Art  von  ungerechter  Ausbeutung  fremder  Noth.  Ein- 
führung einer  allgemeinen  Vermögens-  bezw.  Einkommen- 
steuer. Hohe  Besteuerung  der  grossen  Einkommen  unter 
gleichzeitigter  Entlastung  der  mittleren  und  kleineren  Ein- 
kommen. Allmälige  Abschaffung  der  indirekten  Steuern 
und  Zölle,  so  weit  letztere  nicht  zum  Schutze  grosser  Be- 
völkerungsklassen gegen  ausländische  Konkurrenz  noth- 
wendig  sind  oder  Luxusartikel  betreffen.  Ausbildung  der 
staatlichen  Betriebe  zu  Musteranstalten.  Festsetzung  eines 
den  örtlichen  Verhältnissen  entsprechenden  Minimallohnes 
für  Arbeiten,  welche  auf  Rechnung  des  Staates  oder  der 
Gemeinde  ausgeführt  werden.  Gemeindliche  Arbeitsnach- 
weis-Bureaus. Erbauung  von  zweckmässigen  Wohnungen 
für  die  in  ständigem  Dienste  des  Staates  oder  der  Ge- 
meinde stehenden  Arbeiter.  Förderung  gemeinnütziger 
Baugesellschaften  für  Errichtung  von  Arbeiterwohnungen. 

Die  evangelischen  Arbeitervereine  Deutschlands.  Nach 
einem  vom  Redakteur  J.  Holthoff- Hattingen  im  „Evangeli- 
schen Arbeiterboten“  veröffentlichten  Verzeichnisse  der 
evangelischen  Arbeitervereine  Deutschlands  umfasst  der 
Gesammtverband  4441  1 Mitglieder.  Die  örtlichen  Verbände 
sind  daran  folgendermaassen  betheiligt:  Rheinland -West- 
falen mit  24930,  Mitteldeutschland  mit  5528,  Baden  mit 
2127,  die  Rheinpfalz  mit  1784,  Württemberg  mit  1728,  der 
Mittelrhein  mit  1440,  Kurhessen  mit  1007  und  19  Einzel- 
vereine mit  5867  Mitgliedern.  Ausserhalb  des  Gesammt- 
verbandes  bestehen  in  Rheinland-Westfalen  noch  49  Vereine 
mit  zusammen  12274  Mitgliedern  und  im  übrigen  Deutsch- 
land ausser  dem  Königreich  Bayern  noch  42  Vereine  mit 
6306  Mitgliedern.  Aus  Bayern  werden  56  Vereine  aufge- 
führt mit  etwa  10000  Mitgliedern. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin,  W.,  Victoriastrasse  16. 


544 


ANZEIGEN 


No.  45. 


Carl  C)n|mnmiG  Merlag  in  örrltit  W. 


fKauerflrafee  44. 


Soeben  erfefjien: 


Die  WudjergeJeije 

für  ba§ 

3)cutfd)c  ftteirf). 

(Erläutert 

üoii 

2anbgericl)t3bircftor. 

Safdjenformat  VI  lt.  53  Seiten. 

Sartou.  ißreiS  SK.  1, — , poftfrei  SK.  1,05. 


JU«  Dali  es  iJ  eiben 

SargeficIIt 

auf  ©ritnö  einer  nerloren  geglaubten 
^anbfdjriften-Sammlung 

mtt 

bent  Porträt  geleite  uou  $taamntjas 

oon 

tfrnnj  von  ^«nbadj 

unb 

jmei  Briefen  in  ^akfintile. 

8°,  XII  unb  188  Seiten. 

©eljeftet  ?ßrci§  SK.  3,  gebunben  tßreiS  SK.  4. 
3u  bejie^cn  burdb 

Paul  gdjellers  fudjljaniilung  (f.  |ii)ientnatl)tt) 

Berlin  W.,  SKartgrafenftr.  39/40. 


Schriften  ber  dentralftelle  für 
Arbeiter  IDol^fafyrtseinrtcfytungen. 


9fr.  1. 

®te  tJertiBpniiig  ter  Poljnimp. 

SKit  208  Abbilbungen  im  Sejt. 

8°.  VI  nnb  370  Seiten. 

SJ5rei§  geheftet  SK!.  8 —,  poftfrei  SKf.  8.30. 
„ gebunben  SKf.  9.—,  poftfrei  SKf.  9.30. 

9fr.  2. 

Die  ^tuedmtäpge  Dermenlrnng 

ber 

Sonntags-  unb  Jeierjeit. 

8°.  IV  unb  94  Seiten. 

Sßrei§  geheftet  SKf.  2.-  , poftfrei  SKf.  2.10. 


Soeben  erfefjien  unb  ift  in  alten  S8ucf)f)anblungen  3U  haben: 

„Sie  Bett  nt«  äöcifftntt" 

be§  £>crrn 

HSÜtjelm  ficljmamt 

Sifdjlermeifter  a.  2). 

iHcbxrgcfdjeicbe«  treu 

4).  JJrntfrlj. 

8°.  6 Sogen  in  iUuftrirtem  Umfdjlag  SßreiS  1 9Rarf. 

®S  ift  ein  eigenartiges  SBücfjlcin,  baS  unter  obtgem  ditel  tm  unterjeicfjneten  SSerlage  foebeu  erfcfjtenen  ift. 
@ine  Sülle  retdjer  unb  anregenber  ©ebanfen  über  uitfere  fociaien  SBerfmltntffe,  manci)  ernfteS  Maijnroort  an  bte 
„Befifcenben",  mauc!)  befierälgcnäiDertijer  Siatf)  an  alle  diejenigen,  bie  eb  ernft  meinen  mit  bem  fociaien  Stieben 
unferer  unb  nor  allem  ber  jutünftigen  3e9/  treten  in  biefein  öiicfjlein  im  ©eroanbe  einer  bumortiollen  Sar= 
ftedung  an  ben  2efcr  Ijeran.  Man  glaubt  tljn  fprccfjen  ju  f)ören,  ben  bieberen  oerftänbigen  Mann  au§  bem 
Solfc,  ber  in  feiner  treu[;erjigen  Stet  unb  mit  feinem  berliner  dialect  fo  einbrtnglicf)  unb  übei'äcugenb  ju 
reben  uerfteljt. 

gltten  ^Itfrettflefterst,  tilleit  ^cgötbcit » ^otftöitbctt  fei 
bieje3  £3itrf)leiit  ttmntt  entyfotyletu 

l^erCag  r>ort 

A.  Hofmann  & Comp.,  Berlin  W.  41. 


ä 


§s 


Carl  ^epmann»?  Verlag  in  Berlin  W.,  jEauerftr.  44. 

(Soeben  gelangte  jnr  Sluggabe : 

^afd^enßud^ 

be3 

©enterte-  mtb  ^xteiterreditgr 

3um  täglidjen  ©eteaucfye  bearbeitet 

DOlt 

©corg  ©oert 

3flegierung§rath. 

80.  VIII  u.  101  Seite, 

peis  p.  2,  po|lfrei  p.  2,10. 


® r ft  e r S h e i I- 

©etüerberedjt 

I.  Gewerbe  unb  @eiuerbered)t  im  9lCt= 
gemeinen. 

II.  ©eroerbebebörben,  guftänbigfeit  unb 

Verfahren. 

III.  Sie  ©etoerhefreiheit. 

IV.  SBefonbere  SBefdjränfungen  ber  ®e= 

merbefreiheit. 

V.  Ser  ©eroerbebetrieb  im  Umher jieben.. 

VI.  SaS  gnnungSroefen. 

VII.  ©eiocrblidbe  Arbeiter  im  Allgemeinen ; 

Sßegriff  ber  gabrif. 

VIII.  Ser  gemerhlidhe  ArbeitSuertrag  im 
Allgemeinen. 

IX.  Ser  Schuh  beS  Arbeitslohns;  baS 

„Srucfftjfiem".' 

X.  Ser  Sontraftbrudj ; fefte  Sntfdjäbi» 

gungen,  Sohnoerroirfungen,  2oIjn= 
einhchaltungen. 

XI.  Sie  hefonberen  Sorfdjriften  für 
minberjeibrtge  Arbeiter  u.Sebrlinge. 


|l  tt  Jj  lt  1 1. 

XII.  Schuh  für  Sehen,  ©efunbheit  unb 
Sittüdjfeit  ber  Arbeiter  im  @e* 
merhehetriehe. 

XIII.  Sie  Sonntagsruhe. 

XIV.  ArbeitSorbnungen  unb  ArbciterauS» 
fchüffe. 

XV.  SBefonberer  Schuh  ber  grauen  unb 
ifinber  in  gahrifen  unb  gleidh= 
gefteHten  Anlagen. 

XVI.  ©etoerbegerichte  u.  @inigung§ämter. 

XVII.  Sa§  S?onIitionSred)t. 


3roeiter  Sheil. 

®te  2lrbettemrftd)eruttg. 

A.  Sie  Äranfeuoerficherung. 

B.  Sie  Unfattoerftdherung. 

C.  Sie  SnoaIibitätg=u.  Altergoerfid^erung. 

3lnt)ang.  I.  Sag  ©efinberecht.  II.  Alpha» 
hetifche  lleberfldpt  ber  midhtigften 
bauSiuirtbfdKfilichen  gragen  ber 
gnoalibitätg»  u.  AlterSoerficberung. 


1^1  vsst  eüSsi  i&n3®rg!ßr8i&rai&  ^ 


Carl  Heymanns  Verlag  in  Berlin  W.,  Mauerstrasse  44  — Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld  in  Berlin  W. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  14.  August  1893. 


Nummor  46. 


SOZIALPOLITISCHES 

C ENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Erscheint  jeden  Montag. 

Zu  beziehen 

durch  alle  Buchhandlungen,  Spediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50,  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf 

Anzeigenpreis  für  die  dreigespallene  Colonelzeile 
40  Pfennig. 


INHALT. 


Reichskriegsschatz  und  So- 
zialreform. Von  Dr.  Rudolf 
Grätzer. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  und 
Wirthschaftsstatistik : 

Die  Berliner  Berufszählung  von 
1890.  Von  Karl  Thiess. 

Nutzbarmachung  der  Wasserkräfte 
in  den  Ostprovirrzen  Preussens. 

Wiedereinführung  der  offiziellen 
Brodtaxe  in  Marseille. 

Arbeitslosigkeit  und  Arbeitsver- 
mittelung in  Industrie-  und  Han- 
delsstädten. 

Landwirthschaft : 

Die  Lage  der  russischen  Bauern. 
Von  Georg  Ledebour. 

Agenten  bei  der  Errichtung  von 
Rentengütern. 

Arbeiterzustände : 

Arbeitsverhältnisse  in  der  britisch- 
indischen Textilindustrie.  Von 
Dr.  Emil  Loew. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewe- 
gung: 

Der  grosse  englische  Kohlen- 
gräberausstand. 

Kaufmännische  Bewegung: 
Eandesverband  der  kaufmännisch 
Angestellten  Frankreichs. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Der  Arbeiterschutz  im  neuen  Ent- 
wurf eines  deutschen  Binnen- 
schifffahrtsgesetzes. Von  Dr.  Max 
Quarck. 

Zur  Durchführung  der  Sonntags- 
ruhe in  Industrie  und  Handwerk. 
Erhebungen  über  Wind-  und 
Wassermotoren. 
Gewerbeinspektion : 

Abschluss  der  Neuregelung  des 
deutschen  Fabrikinspektorats. 
Arbeiterversicherung : 

Zur  Ausdehnung  der  Unfallver- 
sicherung auf  das  Handwerk. 
Antheil  der  Hausweber  an  der  In- 
validitäts-  und  Aitersversiche-  j 
rung. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Reichskriegsschatz  und  Sozialreform. 

Es  giebt  wohl  wenig  nationalökonomische  Probleme, 
die  so  schlagend  die  Abhängigkeit  der  Theorie  von  den 
historischen  Geschehnissen  beleuchten  als  die  Lehre  vom 
Staatsschatz.  Anknüpfend  an  die  Erfahrungen  ihres  Zeit- 
alters, lehrten  die  Schriftsteller  des  vorigen  Jahrhunderts, 
insbesondere  Hume,  Adam  Smith  und  mit  Nachdruck  J.  H. 
G.  von  Justi,  welche  grosse  Vortheile  die  Thesaurirung  ver- 
bürge und  zwar  in  politischer  wie  in  ökonomischer  Be- 
ziehung. Smith  hebt  anerkennend  die  Schatzsammlung  der 
preussischen  Könige  hervor,  denen  er  die  mit  Schulden  be- 
lasteten damaligen  Republiken  entgegen  hält.  Justi  hält 
einen  Staat  für  gefährdet,  der  keinen  Staatsschatz  besitze. 
Die  Liebe  der  Unterthanen  könne  einen  solchen  nicht  er- 
setzen. Alle  Unternehmungen  des  Monarchen  hätten  da- 
durch Nachdruck.  Es  sei  mit  den  Fürsten  wie  mit  den  Pri- 
vatpersonen: wo  Geld  ist,  da  lässt  sich  etwas  anfangen. 

Weit  abgekühlter  waren  die  Anschauungen  über  den 
Staatsschatz  in  der  folgenden  Epoche.  Während  L.  H, 
von  Jacob  die  Gründe,  die  für  und  gegen  diese  Institu- 
tion sprechen,  zusammenstellt,  ohne  zu  einer  klaren  Stel- 


lungnahme zu  gelangen,  verwirft  sie  die  gesammte  fol- 
gende Theorie  durchaus.  Die  Gründe  für  diese  Wandlung 
sind  einleuchtend.  Man  beobachtete,  dass  auch  der  reich- 
lichst angefüllte  Schatz  zur  Kriegsführung  nicht  ausreichte, 
und  ferner  berechnete  die  beginnende  kapitalistische  An- 
schauungsweise des  Staatsfinanzwesens  den  Entgang  an 
Zinsen. 

Trotzdem  hielt  Preussen  an  dieser  Einrichtung  fest, 
wahrscheinlich  auch  mehr  aus  vis  inertiae,  denn  aus  beson- 
deren finanzpolitischen  Erwägungen.  Es  kam  der  Krieg  v©n 
1866,  der  mit  ausserordentlicher  Schnelligkeit  und  ohne  Be- 
rufung der  Kammern  geführt  werden  musste,  mit  denen 
bekanntlich  kein  regelrechtes  Etatsgesetz  vereinbart  war. 
Neben  anderen  Mitteln  verwendete  man  hierzu  den  Staats- 
schatz. 

Mit  den  überraschenden  Erfolgen  dieses  Krieges  wie 
noch  mehr  des  französischen  war  denn  auch  die  Ueber- 
tragung  dieser  Institution  auf  das  Reich  gegeben.  Ohne 
sonderliche  Debatte  wurden  durch  Reichsgesetz  vom  11. 
November  1871:  120  Millionen  Mark,  die  der  französischen 
Kriegsentschädigung  entnommen  waren,  für  diesen  Zweck 
im  Juliusthurm  zu  Spandau  thesaurirt.  Sie  sind  ausschliess- 
lich zur  Deckung  der  Mobilmachungskosten  bestimmt. 

Adolf  Wagner  und,  sich  ihm  anschliessend,  fast  alle  be- 
deutenden Finanztheoretiker  haben  zur  Rechtfertigung  dieser 
Institution  eine  modifizirte  Lehre  vom  Kriegsschatz  aufge- 
stellt, die  wir  im  Folgenden  kurz  skizziren.  Demnach  ist 
dieser  nur  ein  unvollkommenes  Deckungsmittel  und  nur  an- 
wendbar für  ein  Volk  mit  kriegstüchtigen  Nachbaren,  offenen 
Grenzen  und  einem  Systeme  der  allgemeinen  Wehrpflicht. 
Hier  aber  hat  er  den  Vortheil.  den  Staat  bei  der  Kontra- 
hirung  der  auf  die  Dauer  zur  Kriegsführung  erforderlichen 
Anleihe  unabhängiger  zu  machen  von  dem  Kapitalmärkte, 
der  sich  gerade  in  den  Tagen  der  Mobilmachung  in  kopf- 
loser Deroute  befindet.  Es  handelt  sich  somit  nur  um  eine 
kurze  Zeit  und  um  einen  Nutzen  für  die  Steuerzahler,  der 
selbst  einen  bedeutenden  Zinsverlust  aufzuwiegen  vermag. 
Daneben  trägt  die  Ausschüttung  des  Baarvorraths,  wie 
schon  Hume  erkannte,  zur  Beilegung  der  Panik  wenigstens 
in  etwas  bei  und  ermöglicht  kurze  schnelle  Schläge,  die 
oft  das  Schicksal  des  Krieges  entscheiden. 

Eine  eingehende  Kritik  dieser  Theorie  zu  liefern,  ist  an 
diesem  Orte  nicht  angängig.  Es  kommt  hier  vielmehr  darauf 
an,  den  Zusammenhang  des  Reichskriegsschatzes  mit  der 
Sozialreform  zu  beleuchten. 

Nun  ist  es  klar,  dass  man  den  obigen  Gedankengang 
für  richtig  halten  und  die  Thesaurirung  billigen  kann  — 
jedoch  unter  einer  Bedingung.  Es  muss  die  aufgespeicherte 
Summe  gross  genug  sein,  um  auch  wirklich  die  Mobil- 
machungskosten voll  und  die  Kriegskosten  einige  Zeit  decken 
zu  können. 


546 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  46. 


Die  Mobilmachungskosten  betrugen  im  Jahre  1870  für  I 
das  preussische  Kriegsheer  allein  etwa  6 Millionen  Mark x) 
für  den  Tag.  Die  Kontingente  nach  dem  Bevölkerungsverhält- 
niss  berechnet,  ergäbe  das  ein  Zureichen  des  Staatsschatzes 
für  etwa  14  Tage.  Gerade  auf  diese  aber  könnte  es  an- 
kommen, und  wenn  man  die  sonstigen  Ueberschüsse  der 
Kassen  in  Betracht  zieht,  hätte  der  Inhalt  des  •Juliusthurms 
seine  Funktion  vollständig  erfüllt. 

Allein  diese  Zahlen  beziehen  sich  auf  die  Kriegsstärke 
der  deutschen  Armee  im  Jahre  1871.  Kurz  vor  dem  Frie- 
densschlüsse wurde  diese  mit  1 350  000  Mann  festgestellt  — 
allerdings  nach  schweren  Verlusten.  Nach  offiziöser  Dar- 
stellung beträgt  heute  die  Kriegsstärke  dagegen  3z/2  Millio- 
nen Mann,  nach  Annahme  der  Militärvorlage  und  deren 
Ausbau  erheblich  mehr.  Die  Friedenspräsenzstärke  ist  allein 
von  1871 — 93  von  401  000  auf  511  000  Mann  gestiegen.  Weit 
wichtiger  aber  ist  die  seither  erfolgte  beträchtliche  Vermeh- 
rung der  Kriegsflotte.  Im  Jahre  1871  war  diese  erst  in  ihren 
Anfängen  vorhanden;  von  1880 — 93  vermehrte  sich  ihr  Ton- 
nengehalt von  153  000  auf  251  000,  ihr  Besatzungsetat  von 
16  000  auf  21  000.  Die  Indienststellung  dieser  Schiffe,  die 
ebenso  nothwendig  ist  wie  die  des  Landheeres,  wird  sicher- 
lich bedeutende  Kosten  erfordern.  Und  wenn  wir  anneh- 
men, dass  die  gesammten  Aufwendungen  für  die  Mobil- 
machung nur  proportionell  wachsen,  so  sind  die  120  Millio- 
nen in  wenigen  Tagen  erschöpft. 

Dem  gegenüber  kann  es  nur  zwei  Wege  rationellen 
Verhaltens  geben.  Entweder  man  bringe  den  Schatz  auf 
die  volle  Höhe  seiner  Ausnutzungsfähigkeit,  oder  man  löse  ihn 
einfach  auf  und  führe  seine  Bestände  der  Reichskasse  zu. 
Der  erstere  Weg  ist  bei  der  gegenwärtigen  Finanzlage  für 
die  absehbar^  Zukunft  ganz  verschlossen,  somit  der  andere 
geboten. 

Und  daraus  erhellt  auch  die  Bedeutung  einer  solchen 
Maassregel  für  die  deutsche  Sozialpolitik.  Die  Finanzkunst 
— richtiger  die  Künstelei  des  Fiskalismus  — ist  in  eine  Sack- 
gasse gerathen,  aus  der  es  kein  Entrinnen  giebt  Trotz  der 
gewaltigen  Steuererhöhungen  hat  das  Deutsche  Reich  da- 
neben noch  beinahe  2 Milliarden  Schulden  gemacht  in  kaum 
18  Jahren.  Die  dauernden  Ausgaben  für  die  Verzinsung  der 
Reichsschuld  betrugen  im  Etat  für  1874:  0,  in  dem  für 
1893/94:  dagegen  65.6  Millionen  Mark!  Unseres  Erachtens 
würde  die  Ausschüttung  des  Reichskriegsschatzes  durch 
gesetzliche  Festlegung  ausser  den  ca.  5 Millionen  entgan- 
genen Zinsen  noch  die  Abwehr  von  Steuern  bewirken, 

o 

die  trotz  aller  Versicherungen  und  wohlgemeinter  Ab- 
sichten schliesslich  doch  die  minder  besitzenden  Klassen 
belasten  werden.  Und  wenn  die  Summe  zur  Finanziirung 
des  einmaligen  Aufwandes  für  die  jetzt  beschlossene  Mili- 
tärvorlage oder  zur  Tilgung  der  Schulden  dient,  wirkt  sie 
in  gleicher  Richtung. 

Freilich  noch  bedeutender  und  für  die  Zukunft  nutz- 
bringender könnte  sie  wirken,  wenn  sie  zu  einer  Reihe  von 
sozialreforniatorischen  Maassregeln  flüssig  gemacht  würde, 
die  jetzt  aus  Mangel  an  Mitteln  zurückgestellt  oder  aufge- 
geben worden  sind.  Wie  ist  unser  gesammtes  Volksschul- 
wesen, wie  namentlich  das  Fortbildungsschulwesen  speziell 
in  Preussen  „beschämend“  zurückgeblieben!  An  all’  das 
kann  man  freilich  nur  erinnern,  die  Erfüllung  dieser  hohen 
Kulturaufgaben  fordern  — ohne  Hoffnung,  dass  sich  dies  in 
naher  Zukunft  verwirklichen  wird;  aber  vielleicht  geschieht 
doch  ein  Anfang,  der  nicht  zurückgethan  werden  kann, 
durch  Aufhebung  des  jetzt  völlig  irrationalen  Fonds. 

Berlin  Rudolf  Gr  ätz  er. 


M Nach  Adolf  Wagners  Berechnung  im  Jahrb.  f.  Gesetzg. 
Bd.  III,  S.  68  ff. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Die  Berliner  Berufszählung  von  1890. 

Die  preussische  Fragekarte  der  1890  er  Volkszählung 
enthält  auch  die  Frage: 

6.  Beruf,  Stand,  Erwerb,  Gewerbe,  Geschäft 

oder  Nahrungszweig: 

a)  Bezeichnung  des  Berufszweiges:  . . . 

b)  Stellung  im  Berufe  (Geschäftliches,  Arbeits-  oder 
Dienstverhältniss) : . . . 

Diese  Frage  „war  vom  Bundesrathe  für  die  Aufnahme 
vorgeschrieben  und  musste  deshalb  in  die  Zählkarte  A auf- 
genommen werden,  obwohl  eine  Zusammenstellung  und 
Bearbeitung  der  Beantwortungen  dieser  Frage  weder  für 
die  Reichsstatistik  beansprucht,  noch  für  die  preussische 
Statistik  in  Aussicht  genommen  war“.1)  Ueberhaupt  ist 
von  den  staatlichen  statistischen  Behörden  in  Deutschland 
seit  der  missglückten  Berufsaufnahme  von  1871  kein  Ver- 
such mehr  gemacht  worden,  Berufszählungen  mit  der  Volks- 
zählung zu  verbinden.  Daraus  erklärt  sich  auch  die  dürf- 
tige und  durch  die  mit  der  Ausführung  der  Volkszählung 
betrauten  Behörden  allgemein  bemängelte2)  Form  der  dies- 
maligen Fragestellung.  Von  den  deutschen  statistischen 
Bureaux  hat  einzig  das  Statistische  Amt  der  Stadt  Berlin 
jetzt  wie  auch  bei  den  früheren  Volkszählungen  von  1875, 
1880,  1885  es  unternommen,  aus  der  Beantwortung  dieser 
Fragen,  sowie  einiger  gewerblicher  Zusatzfragen  der  Stadt 
Berlin : 

15.  Bei  selbstständigen  Gewerbetreibenden: 

a)  Wie  viel  Arbeiter  (einschl.  Gesellen,  Gehülfen) 
beschäftigen  Sie?  . . . 

b)  Wird  Ihr  Geschäft  mit  Theilhabern  betrieben? 
Bejahenden  Falles  Angabe  der  Firma:  . . . 

c)  Gehören  Sie  einer  Innung  an?  Welcher  In- 
nung? . . . 

eine  Berufsstatistik  zusammenzustellen.  Die  Ergebnisse  dieser 
Erhebung  liegen  jetzt  in  dem  Tabellenwerk  „Die  Berliner 
Volkszählung  von  1890.  Erstes  Heft“  vor,  dessen  zweite 
Hälfte  (S.  72/117)  sie  bilden.  17  Tabellen  in  6 Gruppen 
geben  die  Berufsgliederung  der  Berliner  Bevölkerung  mit 
durchgängiger  Unterscheidung  des  Geschlechts  und  mehr- 
facher der  Verheiratheten,  nach  ihrer  Vertheilung  auf  die 
Stadttheile,  nach  Selbstthätigen  und  Angehörigen,  in  Kom-  ■ 
bination  mit  dem  Alter,  der  Zuzugszeit,  der  Konfession, 
der  Muttersprache,  ferner  der  Arbeitsteilung  der  Gewerbe- 
treibenden. Bei  den  selbstständigen  Gewerbetreibenden 
ist  die  Zahl  der  beschäftigten  Arbeiter,  der  Theilhaber  und 
der  Innungsmitglieder,  bei  allen  Gewerbetreibenden  ihre 
Vertheilung  auf  die  Stadtheile  besonders  behandelt.  — Die 
Fülle  der  ausgeführten  Kombinationen  spricht  für  die  über- 
wiegenden Vortheile  der  Verbindung  der  Berufstatistik  mit 
der  Volkszählung,  denen  gegenüber  die  wenigen  unleug- 
baren Nachtheile  ganz  zurücktreten,  ebenso  spricht  dafür 
die  Möglichkeit,  die  Gesammtzahlen  der  Berufszugehörigen 
mit  den  sicher  feststehenden  Volkszählungs-Zahlen  der  Ge- 
sammtbevölkerung  zu  vergleichen. 

Von  den  1 578  794  Einwohnern  Berlins  zur  Zeit  der 
Volkszählung  waren  742  139  Berufsthätige,  67  635  Selbst- 
ständige ohne  Beruf  oder  ohne  Berufsangabe,  769  020  An- 
gehörige, mithin  unter  1000  Einwohnern  513  oder  etwas 
über  die  Hälfte  selbsthätig  oder  selbstständig.  Diese  Zahl 
ist  gegenüber  den  letzten  Zählungen  von  1885  (508)  und 
1880  (497),  auch  gegenüber  der  Berufszählung  vom  Sommer 
1882  (497)  nicht  unerheblich  gewachsen,  hat  allerdings  die 
Zahl  der  Selbstthätigen  von  1875  (519)  noch  nicht  wieder 
erreicht.  Von  den  513  kommen  342  auf  das  männliche  und 
171  auf  das  weibliche  Geschlecht  oder  mit  anderen  Worten : 
von  1000  Selbstständigen  sind  333,  d.  i.  genau  ein  Drittel, 
weiblichen  Geschlechts,  während  für  das  Reich  der  Pro- 
milleantheil  der  selbstständigen  Frauen  1882  nur  auf  290 
festgestellt  ist.  Der  Antheil  der  Frauen  am  beruflichen 


')  Preussische  Statistik,  Bd.  121,  Th.  1,  S.  XXXIX. 
*)  Preussische  Statistik,  Bd.  121,  Tin  1.  S.  XXX. 


No.  46. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAI, BLATT. 


547 


Leben  hatte  auf  1885  erheblich  zugenommen;  er  war  1875: 
297,  1880:  319,  1885:  339  °/00  dagegen  ist  er  1890  wieder 
auf  333  °/00  herabgegangen,  entsprechend  dem  neuerdings 
abnehmenden  Antheil  des  weiblichen  Geschlechts  an  der 
Berliner  Bevölkerung  überhaupt  (1885:  520,  1890:  519  %o) 
t— eine  Folge  der  ganz  überwiegend  männlichen  Zuwanderung 
der  Zwischenperiode. 


Den  Zahlen  der  Selbstständigen  nach  den  I Iauptberufs- 
gruppen  wird  hier  ihre  Promillevertheilung  nach  der  letzten 
wie  nach  den  3 vorhergehenden  Berufszählungen  zur  Seite 
gestellt,  sodass  sich  daraus  ein  Bild  der  beruflichen  Zu- 
sammensetzung der  Berliner  Bevölkerung  und  der  Ver- 
schiebungen darin  für  die  letzten  10  Jahre  ergiebt. 

(Siehe  die  nachstehende  Tabelle.) 


Berufsgruppen 

Zahl  der  Selbstthätigen 
(bezw.  Selbstständigen) 

Von 

1000  Selbstthätigen  entfallen  auf  die  nebenstehende  Berufsgruppe 

1890 

1890 

1882 

1885 

1880 

m. 

w. 

zus. 

m. 

w. 

ZUS. 

m. 

w. 

ZUS. 

m. 

w. 

ZUS. 

m. 

W. 

ZUS. 

A. 

Land-  und  Forst- 

wirthschaft,  Gärt- 
nerei, Fischerei  . . 

3154 

302 

3 456 

4,0 

0,3 

4,3 

4,3 

0,3 

4,6 

8,1 

1,0 

9,1 

4,1 

0,2 

4,3 

B. 

Industrie  und  Berg- 

bau 

234  723 

75  528 

310251 

289,8 

93,4 

383,2 

297,1 

1 10,1 

407,2 

355,9 

137,8 

493,7 

284,2 

87,5 

371,7 

C. 

Handel,  Verkehr, 
Gastwirthschaft . . 

99  635 

20  264 

1 19  899 

123,0 

25,0 

153,8 

148,0 

134,1 

23,0 

157,1 

146,6 

30,2 

176,8 

135,3 

18,5 

D. 

1.  Lohnarbeit  (Ar- 

beiter  ohne  nähere 
Angabe)  .... 

82  325 

39  592 

121  917 

101,7 

48,9 

150,6 

78,8 

36,4 

115,2 

15,1 

3,6 

18,7 

99,4 

45,8 

145,2 

D. 

2.  Persönliche 
Dienstleistungen  . 

23  004 

84  889 

107  893 

28,4 

104,8 

134,5 

133,2 

21,2 

109,7 

130,9 

11,9 

110,2 

122,1 

23,3 

1 11,2 

E. 

Oeffentlicher  Dienst 
und  freie  Berufs- 
arten   

69  844 

8 879 

78  723 

86,2 

111,5 

11,0 

97,2 

92,0 

10,6 

102,6 

96,9 

11,2 

108,1 

102,0 

9,5 

F. 

Selbstständige  ohne 

Beruf  oder  ohne 
Berufsangabe  . . 

27  059 

40  576 

67  635 

33,4 

50,1 

83,5 

33,2 

49,2 

82,4 

32,8 

38,6 

71,4 

33,0 

46,0 

79,0 

Die  Landwirtschaft  tritt  in  der  Grossstadt  natür- 
lich sehr  zurück  und  das  fortschreitend  in  stärkerem  Maasse, 
weil  die  zunehmende  Bebauung  der  Stadt  auf  der  einen  und 
das  spekutative  Aufkäufen  des  Bodens  auf  der  anderen 
Seite  den  landwirthschaftlich  benutzten  Boden  fortdauernd 
einschränken.  Die  Gesammtzahl  der  Gruppe  A kann  von 
der  Beschäftigung  mit  der  eigentlichen  Landwirtschaft 
kein  klares  Bild  geben,  weil  fast  z/3  der  Gruppe,  2285  Per- 
sonen, Gärtner  sind.  Auch  die  970  als  zur  Landwirthschaft 
im  engeren  Sinne  gehörig  Bezeichneten  geben  keinen  rich- 
tigen Begriff  von  der  Besetzung  dieses  Erwerbszweiges, 
denn  nach  ihrer  Vertheilung  auf  die  Stadttheile  ist  mit 
ziemlicher  Sicherheit  zu  schliessen,  dass  es  sich  bei  ihnen 
überwiegend  um  auswärtige  Gutsbesitzer  handelt,  die  nur 
zum  Winteraufenthalt  in  Berlin  sind.  Eine  vielleicht  noch 
grössere  Fehlerquelle  ist  es,  wie  ein  Vergleich  mit  1882 
zeigt,  dass  von  den  im  Sommer  landwirthschaftlich  Be- 
schäftigten, die  meistens  im  Winter  anderweitig  erwerbs- 
tätig sind,  nur  der  kleinere  Theil  die  Landwirthschaft  als 
Beruf  angiebt.  Da  nach  der  knappen  Art  der  Fragestellung 
eine  Ermittelung  des  Nebenberufs  gänzlich  ausgeschlossen  ist, 
so  lässt  sich  das  zahlenmässige  Detail  dieser  Fluktuation 
zwischen  verschiedenen  Berufen  nicht  feststellen. 

Der  ganz  überwiegend  industrielle  Charakter  Ber- 
lins ist  bei  der  Berufszählung  von  1882  deutlich  hervor- 
getreten, insofern  Berlin  auch  relativ  mehr  in  der  Industrie 
Beschäftigte  hatte  als  jede  der  anderen  14  besonders  be- 
handelten Grossstädte  mit  alleiniger  Ausnahme  von  Nürn- 
berg. Für  die  übrigen  Zählungen  tritt  das  in  der  Gruppe  B 
selbst  nicht  hervor,  weil  es  in  ihnen  nicht  wie  bei  der  be- 
sonderen Berufszählung  gelungen  ist,  die  „Arbeiter  ohne 
nähere  Angabe“  in  grösserem  Umfange  in  den  einzelnen 
Gruppen  unterzubringen.  Nimmt  man  an,  dass  diese  Lohn- 
arbeiter ganz  oder  doch  überwiegend  in  der  Industrie  thätig 
sind,  so  bekommt  man  eine  richtigere  Vorstellung  durch 
Zusammenfassen  beider  Gruppen.  Sie  umfassen  1880:  516,9, 
1882:  512,4,  1885:  522,4,  1 890 : 533,8  °/QO  der  Selbstständigen 
und  zeigen  damit  die  Bedeutung  Berlins  als  erste  Industrie- 
stadt des  Landes  in  beständigem  und  erheblichem  Wachs- 
thum begriffen.  Für  1880 — -1885  war  diese  Steigerung  allein 
durch  vermehrte  Anwendung  von  Frauenarbeit  entstanden, 
während  die  Männerarbeit  relativ  zurückging.  Die  Zahlen 
der  Selbstständigen  vertheilen  sich  1880  auf  383,6  männl, 
und  133,3  weibl.,  1885  auf  371,0  männl.  und  141,4  weibl. 
Selbstthätige;  dagegen  tritt  1890,  dem  allgemeinen  Rück- 
gang der  Frauenarbeit  entsprechend,  das  umgekehrte  Zu- 


nahmeverhältniss  ein,  die  Zahlen  stellen  sich  auf  391,5  männl. 
und  142,3  weibl.  Die  Zunahme  der  industriellen  Bevölkerung 
in  den  letzten  5 Jahren  gilt  für  fast  alle  einzelnen  Gruppen, 
die  absoluten  Zahlen  zeigen  einen  Rückgang  nur  für  die 
Industrie  der  Heiz-  und  Leuchtstoffe,  von  1140  auf  799,  und 
für  die  Textilindustrie,  von  11  144  auf  9155. 

Die  Gruppe  „Handel,  Verkehr,  Schank-  und  Gastwirth- 
schaft“  ist  in  Berlin  gegenüber  den  meisten  anderen  Gross- 
städten von  geringerer  Bedeutung;  ihr  Antheil  ist  nach  der 
kleinen  Steigerung  in  dem  Jahrfünft  1880/85  auf  1890  wieder 
von  157  auf  148  °/00  gesunken,  dagegen  ist  der  Antheil 
der  Frauenbeschäftigung  innerhalb  dieser  Gruppe  stetig 
zunehmend,  er  war  1880:  18,5,  1885:  23,0,  1890:  25,0  °/00 
Das  Handelsgewerbe  im  engeren  Sinne  stimmt  in  seinem 
Auf-  und  Abgang  mit  der  Gruppe  C überein;  eine  über- 
raschend starke  Abnahme  haben  die  Verkehrsgewerbe  zu 
verzeichnen,  von  (1885)  23,4  auf  15,4  °/00,  oder  in  absoluten 
Zahlen  von  15  666  auf  12  475  Erwerbsthätige.  Im  Gegen- 
satz dazu  haben  sich  die  in  der  Schank-  und  Gastwirth- 
schaft  Beschäftigten  auch  relativ  stark  vermehrt,  von  19,5 
auf  21,4  °/00,  und  zwar  kommt  die  Zunahme  hier  fast  ganz 
auf  das  weibliche  Geschlecht,  dessen  Antheil  von  2,2  auf 
3,8  %o  emporgegangen  ist.  Das  Hausirgewerbe  als 
Hauptberuf  ist  nach  wie  vor  sehr  unbedeutend,  1885  um- 
fasste es  164,  1890:  173  Personen.  Verschoben  hat  sich 
nur  die  Betheiligung  der  Geschlechter  daran,  1885:  102  m., 
62  w.,  1890:  138  m.,  35  w.  Erwerbsthätige. 

Die  persönlichen  Dienstleistungen  nehmen  einen  ziem- 
lich beständigen  Bruchtheil  der  Selbstthätigen  in  Anspruch, 
1880:  134,5,  1885:  130,9,  1890:  133,2  °/OQ,  doch  ist  für  die 
letztere  Periode  sehr  bemerkenswert!!,  dass  während  die 
weiblichen  Zugehörigen  der  Gruppe  entsprechend  der  all- 
gemeinen Abnahme  von  110  auf  105  abnehmen,  die  männ- 
lichen von  21,2  auf  28,4  anwachsen,  d.  h.  von  weniger  als  x/s 
auf  über  r/4  der  Zahl  der  weiblichen  Dienstboten.  Wäh- 
rend also  sonst  in  der  Bevölkerungszusammensetzung  die 
Tendenz  des  Eindringens  der  Frauen  in  ursprünglich  männ- 
liche Berufe  allgemein  festgestellt  wird,  begegnen  wir  hier 
der  gerade  entgegengesetzten  Erscheinung.  (Wir  finden 
übrigens  dasselbe  auch  bei  den  vorwiegend  weiblichen  In- 
dustrien; so  z.  B.  waren  in  der  Gruppe  „Bekleidung  und 
Reinigung“  unter  100  Berufsthätigen  1885:  36  m.,  64  w., 
1890:  38  m.,  62  w;  noch  deutlicher  tritt  dies  veränderte 
Verhältniss  hervor  bei  der  besonderen  Klasse  der  Wäsche- 
fabrikation, 1885:  21  m.,  79  w.,  1890:  33  m.,  67  w.) 

Dass  die  Gruppe  „öffentlicher  Dienst  und  freie  Berufe“ 


548 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  46. 


ihren  Antheilszahlen  nach  in  ständigem  Abnehmen  begriffen 
ist,  kann  nicht  Wunder  nehmen,  da  erhebliche  Theile  dieser 
Gruppe,  namentlich  das  Militär  und  die  Landesbehörden, 
keine  Vermehrung  erfahren  haben,  also  innerhalb  der  schnell 
wachsenden  Bevölkerung  einen  immer  weniger  ins  Gewicht 
fallenden  Bruchtheil  darstellen.  An  diesem  Herabgehen 
der  Gruppe  kann  es  auch  nichts  ändern,  dass  einzelne 
ihrer  Theile  im  letzten  Jahrfünft  eine  starke  Steigerung 
zeigen,  dass  z.  B.  die  Gruppe  „Post  und  Telegraphie“  in 
ihrem  Antheil  um  fast  I/5,  in  ihrer  absoluten  Zahl  um  fast 
y3  gestiegen  ist,  ebenso  das  Heilpersonal  von  5,7  auf  7,1, 
die  Gemeindebeamten  von  3,1  auf  4,1  °/00.  Die  Betheili- 
gung des  weiblichen  Geschlechts  an  dieser  Gruppe  steigt 
innerhalb  der  gesammten  Erwerbsthätigen  fortwährend,  vom 
Heilpersonal  bildet  es  nahezu  */3  (2197  Personen),  vom  Lehr- 
personal fast  die  Hälfte  (4189),  bei  den  Künsten  ebenfalls 
fast  I/3  (1902).  Bei  der  Litteratur  finden  wir  147,  bei  der 
Kirche  53,  der  Königl.  Hausverwaltung  65,  der  Staatsver- 
waltung 31,  der  Post  205,  der  Eisenbahn  46,  der  Gemeinde- 
verwaltung 44  Frauen.  Einzig  und  allein  die  Rechtspflege 
und  der  Militärdienst  sind  in  Berlin  von  allen  Berufs- 
gruppen noch  ganz  dem  männlichen  Geschlechte  Vorbe- 
halten. 

Die  Gruppe  der  Selbstständigen  ohne  angegebene 
Thätigkeit  zerfällt  in  50  371  ohne  Beruf  und  17  264  ohne 
Angabe.  Die  Steigerung  der  Antheilszahlen  dieser  Gruppe 
würde  nur  dann  auf  eine  Zunahme  der  Berufslosigkeit 
schliessen  lassen,  wenn  man  annähme,  dass  alle  oder  die 
ganz  überwiegende  Mehrzahl  derer,  die  keinen  Beruf 
angeben,  auch  keinen  ausüben.  Im  anderen  Falle  wäre 
eher  auf  eine  Verminderung  der  Berufslosigkeit  zu  schliessen, 
da  die  Antheile  der  Gruppe  „ohne  Beruf“  von  67,1  auf 
62,2  %o  gesunken  sind,  wogegen  die  Gruppe  „ohne  An- 
gabe“ von  15,3  auf  21,3  heraufgeht. 

Den  809  774  Selbstständigen  der  Berliner  Bevölkerung 
stehen  769  020  Angehörige  gegenüber,  also  95  pCt.  jener. 
Diese  vertheilen  sich  auf  die  Hauptberufsgruppen  wesent- 
lich anders,  und  zwar  gehören  zu  Gruppe  A 3078,  zu  B 
328  977,  zu  C 144  518,  zu  den  persönliche  Dienste  Leisten- 
den 27  915.  zu  den  Lohnarbeitern  133710,  zu  Gruppe  E 
86  732,  zu  F 44  090.  Auf  1 Selbstständigen  der  Landwirth- 
schaft  entfallen  0,89,  der  Industrie  1,06,  des  Handels  1,21, 
der  Dienstleistungen  0,23,  der  Lohnarbeit  1,24,  der  freien 
Berufe  1,10,  der  Berufslosen  0,65  Angehörige.  Die  grössere 
oder  geringere  Relativzahl  der  Angehörigen  rührt  bei 
manchen  Berufen  freilich  von  der  grösseren  oder  gerin- 
geren Stärke  der  Familie  her,  so  die  hohe  Zahl  bei  den 
Lohnarbeitern,  in  den  meisten  anderen  Fällen  aber  davon, 
ob  in  dem  Beruf  der  Regel  nach  mehrere  Familienmit- 
glieder erwerbstätig  arbeiten  und  so  das  Verhältnis  zu 
Gunsten  der  Selbstständigen  verschieben,  oder  ob  das  nicht 
üblich  ist.  So  hat  innerhalb  der  Industrie  die  niedrigsten 
Zahlen  der  Angehörigen  die  Gruppe  „Bekleidung  und  Rei- 
nigung“: 0,69  auf  1 Selbstständigen;  der  umgekehrte  Fall 
liegt  bei  den  freien  Berufen  vor,  die  abzüglich  des  Militärs, 
das  nur  0,19  Angehörige  auf  1 Selbstständigen  hat, 
das  höchste  Verhältnis  der  Angehörigen  mit  1,41  auf- 
weisen; ja  in  einigen  Zweigen  der  Gruppe  E ist  diese  Zahl 
noch  viel  höher:  bei  der  Eisenbahn  2,24,  beim  Gemeinde- 
dienst 2,20,  beim  Staatsdienst  2,17;  dann  erst  kommt  die 
Kirche  mit  2,09,  die  also  ihren  alten  Ruf,  der  Stand  mit 
den  stärksten  Familien  zu  sein,  wenigstens  für  Berlin  schlecht 
bewahrt.  — Von  1000  Angehörigen  gehören  286  dem  männ- 
lichen und  714  dem  weiblichen  Geschlechte  an. 

Unsere  kurze  Skizze  kann  das  reichhaltige  Material 
dieser  Zählung  nach  keiner  Richtung  hin  auch  nur  an- 
nähernd erschöpfen,  aber  sie  lässt  erkennen,  was  für  werth- 
volle Resultate  schon  mit  den  ganz  dürftigen  Erhebungs- 
mitteln der  letzten  Volkszählung  erreicht  werden  konnten, 
und  sie  regt  den  Wunsch  an,  dass  das  Reich,  dessen  Be- 
rufszählung ihrer  Erhebungszeit  nach  schon  jetzt  über  11 
Jahre  zurückliegt,  die  Gelegenheit  zu  der  allseitig  ge- 
wünschten Neuaufnahme  einer  allgemeinen  Deutschen  Be- 
rufsstatistik bei  der  nächsten  Volkszählung  nicht  noch  ein- 
mal vorübergehen  lasse. 

Berlin.  Karl  Thiess. 


Nutzbarmachung  der  Wasserkräfte  in  den  Ostprovinzen 
Preussens.  Es  ist  bereits  oft  darauf  hingewiesen  worden, 
dass  die  ungenügende  Entwickelung  der  Industrie  in  den 
preussischen  Ostprovinzen  der  Hauptgrund  dafür  ist,  dass 
diese  Pi'ovinzen  wirthschafthch  und  sozialpolitisch  so  ausser- 
ordentlich gegen  den  Westen  Deutschlands  zurückgeblieben 
sind.  Als  Triebkraft  für  industrielle  Anlagen  würde  hier 
vor  allem  das  Wasser  in  Betracht  kommen.  Im  Aufträge 
des  Ministers  für  Handel  und  Gewerbe  hat  nun  neuerdings,  wie 
die  Tagesblätter  melden,  der  Professor  Intze  von  der 
technischen  Hochschule  zu  Aachen  eine  Prüfung  der 
Wasserverhältnisse  zunächst  in  den  Gebieten  östlich  der 
Weichsel  vorgenommen.  In  seinem  Bericht  über  die  Er- 
gebnisse der  Untersuchung  giebt  er  ein  übersichtliches  Bild 
von  den  Wasserverhältnissen  des  bezeichneten  Gebietes 
und  auch  möglichst  zutreffende  Zahlen  über  die  Grösse 
der  vorhandenen  Wasserkräfte  sowie  über  die  Kosten  der 
zu  ihrer  Nutzbarmachung  dienenden  Anlagen.  Hiernach 
würden  sich  allein  in  den  grösseren  Fluss-  und  Seen- 
gebieten Ostpreussens,  wo  gegenwärtig  bei  mittlerem 
Wasser  5600  Nutzpferdekräfte  dienstbar  gemacht  sind,  bei 
Verbesserung  des  Abflusses  und  Ausführung  der  nöthigen 
Anlagen  noch  über  4700  Nutzpferdekräfte  unschwer  er- 
reichen lassen.  An  vielen  Punkten  würden  sich  die  Kosten 
für  eine  Wasser-Nutzpferdekraft  nur  auf  30  bis  40  M.  jähr- 
lich stellen,  während  sie  im  allgemeinen  bei  Dampfbetrieb 
einen  Kostenaufwand  von  150  bis  250  M.  erfordern.  Der 
Minister  empfiehlt,  die  gewerblichen  Kreise  auf  die  grossen 
in  Ostpreussen  vorhandenen  und  mit  verhältnissmässig  ge- 
ringen Mitteln  nutzbar  zu  machenden  Wasserkräfte  und 
auf  die  Möglichkeit  ihrer  Verwerthung  durch  die  Einrich- 
tung industrieller  Anlagen  aufmerksam  zu  machen,  und 
weist  darauf  hin,  dass  an  der  fiskalischen  Braheschleuse  zu 
Mühlhof  im  Kreise  Könitz  erhebliche  Wasserkräfte  vorhanden 
sind  , deren  Nutzbarmachung  mittels  elektrischer  Kraft- 
gewinnung wünschenswerth  erscheinen  und  von  dem 
Minister  für  Landwirtschaft  nach  Möglichkeit  gefördert 
werden  würde. 

t 

• 

Wiedereinführung  der  offiziellen  Brodtaxe  in  Mar- 
seille. Wie  sich  die  Leser  noch  erinnern  werden,  hatten 
die  Marseiller  Bäckermeister  aus  Zorn  darüber,  dass  sich 
der  Bürgermeister  vermass,  das  ihm  gesetzlich  gewähr- 
leistete Recht,  die  Brodpreise  festzusetzen,  zur  Anwendung 
zu  bringen  und  das  Brod  um  2*/2  Centimes  pro  Kilo  billi- 
ger anzusetzen,  als  es  bis  dahin  verkauft  wurde,  mit  einem  , 
Strike  beantwortet,  der  damit  endete,  dass  sich  der  Bürger- 
meister auf  Fürbitte  des  Präfekten  bereit  erklärte,  die  offizielle 
Brodtaxe  probeweise  durch  eine  offiziöse  zu  ersetzen.  Zu 
diesem  Behufe  wurde  eine  grösstentheils  aus  Bäckermeistern 
gebildete  Kommission  eingesetzt,  deren  Thätigkeit  aber,  wie 
aus  einem  an  den  Präfekten  gerichteten  Schreiben  des 
Bürgermeisters  hervorgeht,  besonders  in  letzter  Zeit  nur  ein 
höchst  unbefriedigendes  Resultat  ergeben  hat.  Der  Bürger- 
meister erklärt  nämlich,  dass  durch  die  Berichte  der  Be- 
zirkskommission festgestellt  sei,  dass  fast  sämmtliche  Bäcker- 
meister die  offiziöse  Brodtaxe  in  jüngster  Zeit  missachtet 
haben.  Auch  habe  der  grösste  Theil  der  in  die  Kommission 
berufenen  Bäckermeister  schon  seit  längerer  Zeit  nicht 
mehr  an  den  Arbeiten  dieser  Kommission  theilgenommen. 
Aus  diesem  Grunde  habe  er  denn  auch,  wie  er  dem  Prä- 
fekten anzeigt,  die  Kommission  aufgelöst  und  die  offizielle 
Brodtaxe  wieder  in  Anwendung  gebracht.  — Belehrt  durch 
die  Februarvorgänge,  werden  die  Bäckermeister  sich  nun 
wohl  hüten,  von  neuem  zu  striken. 

Arbeitslosigkeit  und  Arbeitsvermittelung  in  Industrie- 
und  Handelsstädten.  Zu  einer  Besprechung  über  dieses 
Thema  ladet  das  Freie  Deutsche  Hochstift  zu  Frankfurt  a./M. 
zu  Anfang  Oktober  (ein  genauerer  Zeitpunkt  ist  noch  nicht 
bestimmt)  ein.  Ort  der  Verhandlungen  ist  Frankfurt  a./M. 
Als  Referate,  die  die  Diskussionen  einleiten  sollen,  sind  in 
Aussicht  genommen:  Professor  Dr.  Tönnies  (Kiel):  Der 

moderne  Arbeitsvertrag  und  die  Arbeitslosigkeit;  Carl  Kloss, 
Bürgerausschussmitglied  und  Vorsitzender  des  Deutschen 
Tischlerverbandes  in  Stuttgart:  Arbeitslosigkeit  im  all- 

gemeinen und  Nothstandsarbeiten;  Dr.  E.  Hirschberg,  Be- 


No.  46. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


549 


amter  des  städtischen  statistischen  Bureaus  in  Berlin:  Er- 
hebungen über  Arbeitslosigkeit. 

Jeder  Theilnehmer  hat  zu  den  Kosten  der  Veranstaltung 
einen  Beitrag  von  2 Mark  zu  leisten,  wofür  ihm  der  in 
Buchform  erscheinende  Versammlungsbericht  unentgeltlich 
zugesandt  wird.  Anmeldungen,  denen  der  Beitrag  beizu- 
fügen ist,  können  schriftlich  an  das  Bureau  des  Freien 
Deutschen  Hochstiftes,  Frankfurt  a./M.,  Gr.  Hirschgraben  23 
(Goethehaus)  gerichtet  werden. 


Landwirtschaft. 

Die  Lage  der  russischen  Bauern. 

„Wo  ist  Dein  Oedipus,  Du  russische  Sphinx,  der  Deine 
Räthsel  löst?“  redet  Turgenjefif  in  einem  seiner  Gedichte  in 
Prosa  den  russischen  Muschik,  den  geplagten  rechtlosen 
Bauern  Russlands,  an.  Räthselhaft  erscheint  er  uns  auch  heute 
noch,  so  viele  Weise  und  Schriftgelehrte  des  europäischen 
Abendlandes  und  des  russischen  Morgenlandes  sich  auch 
schon  an  der  Deutung  seines  Wesens  und  seiner  Lage  ver- 
sucht haben. 

Zuerst  war  es  ein  Deutscher,  der  westfälische  Freiherr 
v.  Haxthausen,  der  für  den  Westen  Europas  den  russischen 
„Mir“,  die  Dorfgemeinde  mit  kommunalem  Grundbesitz,  ent- 
deckte und  mit  dem  Enthusiasmus  des  Romantikers  ver- 
herrlichte. Dann  erweiterten  und  vertieften  diese  Erkennt- 
niss  die  russischen  Schriftsteller  der  sogenannten  Ent- 
hüllungslitteratur,  die  das  Unwesen  der  Leibeigenschaft  be- 
kämpften, zum  Theil  aber  noch  in  nationaler  Befangenheit 
das  russische  Volk  wegen  seiner  angeblichen  Unverderbt- 
heit als  das  heilbringende  Geschlecht  der  Zukunft  dem 
„verfaulten  Westen“  gegenüberstellten.  Ihrem  Wirken  ist 
es  zuzuschreiben,  dass  im  Jahre  1861  die  Regierung  des 
Zaren  Alexander  II.,  zögernd  zwar  und  unvollkommen,  die 
Bauernemanzipation  durchführte.  Mit  natürlichem  und  be- 
rechtigtem Interesse  hat  man  dann  auch  in  Westeuropa  über 
die  Wirkungen  dieser  grossen  Maassregel  auf  die  russischen 
Bauern  und  das  gesammte  russische  Reich  sich  Klarheit  zu 
verschaffen  gesucht.  Unter  den  vielen  Arbeiten,  die  darauf 
abzielen,  dieses  Interesse  zu  befriedigen,  ragen  zwei  her- 
vor: des  Engländers  oder  vielmehr  Schotten  Mackenzie 
Wallace  „Russia“  und  des  Franzosen  Leroy-Beaulieu  „Le 
pays  des  Tsars  et  les  Russes“.  Wallace,  der  in  der  Mitte 
der  siebziger  Jahre  seine  auf  langjährigen  Beobachtungen 
beruhenden  Studien  veröffentlichte,  zeichnet  sich  durch  eine 
leichte  gefällige  Darstellung  und  glückliche  Beobachtungs- 
gabe aus.  Da  die  Zeit  seines  Aufenthalts  in  Russland  in 
die  Honigmonate  der  Emanzipation  fällt,  ist  es  indess  er- 
klärlich, dass  ihm  die  Zukunft  in  einem  rosigeren  Lichte 
erschien,  als  die  nachfolgenden  Ereignisse  das  gerechtfertigt 
haben.  Leroy-Beaulieu,  der  zehn  Jahre  später  sich  an  die 
Arbeit  machte,  war  zu  sehr  mit  Vorurtheilen  gespickt,  um 
eine  zuverlässige  Darstellung  vom  gegenwärtigen  Zustande 
Russlands  geben  zu  können.  Als  Franzose  getraute  er 
sich  nicht,  den  neugewonnenen  Bundesgenossen  seines 
Vaterlandes  allzu  unangenehme  Wahrheiten  zu  sagen,  und 
als  ausgepichter  Manchestermann  und  ordnungsfanatischer 
Bourgeoispolitiker  betrachtete  er  von  vornherein  alle  gegen 
das  russische  Bureaukratenregiment  und  alle  auf  die  soziale 
Befreiung  der  arbeitenden  Volksklassen  gerichteten  Be- 
strebungen in  Russland  mit  scheelen  Blicken. 

Da  ist  es  denn  sehr  willkommen,  dass  wir  zur  Korrek- 
tur jener  älteren  Werke  jetzt  aus  der  Feder  eines  Russen, 
des  unter  dem  Namen  Stepniak  in  London  lebenden  Flücht- 
lings, eine  Schilderung  des  Zustands  der  russischen  Bauern 
erhalten  haben,  die  zuerst  im  englischen  Gewände,  jetzt 
auch  in  deutscher  Uebersetzung  erschienen  ist. J) 

Die  im  Gegensatz  zu  Leroy-Beaulieu  recht  pessimisti- 
sche Auffassung,  welche  Stepniak  von  der  Lage  des  russi- 
schen Bauern  und  damit  des  gesammten  Landes  hat,  erhielt 
eine  überraschende  Bestätigung  durch  die  Hungersnoth  des 

')  Der  russische  Bauer.  Von  Stepniak.  Autorisirte  Ueber- 
setzung von  Dr.  Victor  Adler.  Stuttgart  Verlag  von  J.  H.  W. 
Dietz.  1893. 


Jahres  1891.  Eine  Missernte  war  die  Veranlassung  zu  dieser 
Kalamität.  Dass  sie  aber  einen  solchen  volksverderbenden 
Umfang  annahm,  während  andere  Länder  Europas,  die  wie 
Frankreich  genau  den  nämlichen  Ernterückgang  um  etwa 
Vs  des  früheren  Betrages  hatten,  das  mit  Leichtigkeit  ver- 
winden konnten,  daran  sind  in  Russland  die  schaurigen 
staatlichen  und  gesellschaftlichen  Missstände  schuld,  die 
Stepniak  mit  schonungsloser  Schärfe  in  seiner  Schrift 
geisselt.  Um  so  dankenswerther  ist  es,  dass  das  Buch  jetzt, 
nachdem  des  Verfassers  Schlüsse  durch  die  Thatsachen 
eine  so  glänzende  Rechtfertigung  erfahren  haben,  in  der 
erneuten  und  ergänzten  Auflage  durch  eine  Uebersetzung 
auch  dem  deutschen  Lesepublikum  zugänglich  gemacht 
worden  ist.  Nicht,  als  ob  damit  alles  für  richtig  erklärt  werden 
sollte,  was  der  Verfasser  an  Urtheilen  über  die  zukünftige 
Entwickelung  Russlands  vorbringt!  Wie  die  meisten  Russen, 
auch  die  russischen  Revolutionäre,  steht  er  noch  viel  zu 
sehr  unter  dem  Banne  der  mystischen  Vorstellung  von  der 
weltverjüngenden  Erlöserrolle,  die  dem  russischen  Muschik 
vom  Schicksal  bestimmt  sein  soll.  An  der  Hand  der  in  anderen 
Ländern  gesammelten  Erfahrungen  muss  man  sich  dem  Ur- 
theil  des  Uebersetzers  anschliessen,  der  in  seiner  Vorrede 
darauf  hinweist,  dass  das  jetzt  erst  in  Russland  erstehende, 
aber  durch  die  riesenhafte  industrielle  Entwickelung  mächtig 
geförderte  Industrieproletariat  den  Anstoss  zu  der  Befreiung 
des  russischen  Volkes  geben  werde. 

Diese  Einschränkung  in  Bezug  auf  die  Urtheile  Step- 
niaks  über  die  zukünftige  Entwickelung  seines  Vaterlandes 
beeinträchtigt  indess  in  keiner  Weise  den  hohen  Werth 
seiner  Gegenwartsschilderungen.  Gerade  die  aktenmässige 
Enthüllung  der  Ursachen  des  Untergangs  der  soeben  erst  von 
der  Leibeigenschaft  emanzipirten  Bauern  zeichnet  Stepniaks 
Werk  vor  allen  ähnlichen  aus.  Stepniak  weist  nach,  wie 
fast  alle  bureaukratischen  Eingriffe  in  das  Wirthschafts- 
getriebe  dazu  angethan  waren,  den  Bauer  zu  schädigen 
zu  Gunsten  der  Kapitalisten  und  Grossgrundbesitzer,  wäh- 
rend die  Willkürherrschaft  der  Beamten  den  Bauern  jedwede 
Widerstandskraft  austreibt.  So  schildert  er  die  Wirkungen 
der  staatlichen  Kreditsysteme,  das  den  Kapitalisten  Kapital 
zur  Verfügung  stellt,  wenn  sie  an  den  Aufkauf  der  Produkte 
gehen,  während  den  Bauern  nur  die  Zuflucht  zum  Wucherer 
übrig  bleibt,  wenn  der  Steuerexekutor  mit  der  Knute  dje 
unerschwinglich  hohen  Steuern  einpeitscht.  Die  Eisenbahnen 
sind,  abgesehen  von  den  rein  strategischen  Anlagen,  zu 
Gunsten  des  Kornhandels  erbaut,  werden  aber,  soweit  sie 
unrentabel  sind,  auf  Kosten  des  steuerzahlenden  Bauern 
vom  Staate  subventionirt,  während  der  Gewinnst  aus  den 
rentablen  Bahnen  den  Unternehmern  unverkürzt  in  die 
Taschen  fliesst. 

Den  Hauptmangel  der  Emanzipationsmassregeln  er- 
blickt Stepniak  darin,  dass  den  Bauern  viel  zu  wenig  Land 
zugetheilt  worden  ist,  so  wenig  Land,  dass  sie  davon  in  vielen 
Fällen  noch  nicht  einmal  die  Steuern  aufbringen  können. 
In  37  Provinzen  — es  erscheint  kaum  glaublich,  aber  er 
beruft  sich  auf  aktenmässige  Ermittelungen  — haben  im 
Jahre  1871  die  ehemaligen  Staatsbauern  an  Steuern  nicht 
weniger  als  92 3/4  pCt.,  des  Reinertrages  ihres  Bodens  ge- 
zahlt, während  die  früheren  Leibeigenen  des  Adels,  die 
noch  weit  schlechter  daran  sind,  sogar  im  Ganzen  Steuern 
von  durchschnittlich  198V4pCt.  des  Reinertrages  des  Bodens 
gezahlt  haben.  Dass  sie  überhaupt  in  dem  einen  Falle  fast 
den  ganzen,  im  andern  das  Doppelte  des  Reinertrages  ihres 
Bodens  an  den  Staat  auszahlen  konnten,  erklärt  sich  daraus, 
dass  fast  alle  Bauern  für  ihren  Lebensunterhalt  hauptsäch- 
lich auf  Tagelöhnerei  angewiesen  sind.  Stepniak  behauptet 
aber  ausserdem,  dass  in  den  letzten  Jahren  infolge  der 
Missernte  die  Bauern  genöthigt  waren,  sich  ihres  Viehes 
zu  entäussern,  so  dass  schon  der  Viehstand  Russlands 
ganz  beträchtlich  he'runtergegangen  sei.  Leicht  begreiflich 
ist  es,  welche  Wunden  bei  solchen  Zuständen  eine  Miss- 
ernte dem  Volkswohlstände  schlägt.  Ist  die  Ernte  gering, 
so  haben  die  tagelöhnernden  Bauern  keine  lohnende  Arbeit, 
sie  sind  sofort  dem  Hunger  preisgegeben.  Andererseits 
können  die  Grossgrundbesitzer,  wenn  die  Ernte  reichlich 
ausfällt,  nur  schwer  Arbeiter  bekommen,  weil  dann  die 
Bauern  auf  ihrem  eigenen  Grund  und  Boden  zunächst  zu 
thun  haben.  Da  sind  sie  denn  auf  den  Ausweg  verfallen, 
sich  im  voraus  Arbeitskontrakte  zu  erwuchern.  Es  ist  das 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  46. 


das  System  der  „Kabala“,  worin  Stepniak  mit  Recht  eine 
Wiedereinführung  der  Leibeigenschaft  in  neuer  Form  er- 
blickt. 

Wenn  der  Bauer  nicht  genug  geerntet  und  erarbeitet 
hat,  um  sich  durch  den  Winter  hindurchzuhelfen,  so  ist  er 
genöthigt,  sich  Geld  für  den  Lebensunterhalt  zu  leihen. 
Entweder  muss  er  sich  an  den  Grossgrundbesitzer  wenden 
oder  an  seines  gleichen,  an  andere  etwas  wohlhabende 
Bauern  und  kleine  Händler  oderSchnapswirthe  in  denDörfern, 
die  sogenannten  „Kulaki“  oder  Mir-l'resser.  Meist  geht  er 
zum  Kulak,  weil  der  sich  nicht  lange  mit  Formalitäten  und 
Schreibereien  aufhält  — die  fürchtet  der  Bauer  wie  die 
Sünde.  Bewuchert  wird  er  auf  alle  Fälle,  leichter  vom 
Grossgrundbesitzer,  schärfer  vom  Kulak.  Stepniak  führt 
mehrere  Beispiele  an,  wie  ganze  Dörfer  Anleihen  gemacht 
und  wie  nach  Jahresfrist  ihre  Schuld  auf  das  doppelte  und 
dreifache  angeschwollen  ist.  Im  Gouvernement  Pskoff  lebt 
ein  Kulak,  ein  ehemaliger  Schäfer,  jetzt  Millionär,  Namens 
Lebedeff,  der  in  der  ganzen  Gegend  als  „Wohlthäter“  ge- 
priesen wird,  da  er  sich  mit  100  Prozent  an  Zinsen 
begnügt.  Indess  eigentlicher  Geldkredit  wird  last  nur 
ganzen  Dorfgemeinden , einzelnen  Bauern  höchst  selten 
gewährt.  Der  einzelne  Bauer  zahlt  für  das  im  Winter  ge- 
währte Darlehen  im  Sommer  durch  Arbeit.  Solche  Kon- 
trakte werden  immer  auf  dem  Dorfgemeindeamt  legalisirt 
und  kommen  so  häufig  vor,  dass  bereits  gedruckte  Formu- 
lare für  die  wichtigen  Arten  von  erwucherten  Arbeits- 
kontrakten im  Gebrauche  sind.  Der  Vortheil  für  den  Geld- 
geber besteht  darin,  dass  er  auf  solche  Weise  die  Arbeit 
für  die  Hälfte  oder  ein  Drittel  des  Preises  geleistet  be- 
kommt. Im  Kontrakt  wird  die  Arbeit  im  einzelnen,  sowie 
schwere  Bussen  für  Nichtbeobachtung  der  Bedingungen 
festgesetzt.  Der  charakteristische  Schluss  eines  solchen 
Kontraktes  lautet  in  der  Uebersetzung: 

„Ich  Endesunterzeichneter  bin  bereit,  mich  allen  Regeln  und 
Gebräuchen  zu  unterwerfen,  die  auf  den  Gütern  des  N.  N. 
in  Kraft  sind.  Während  der  Arbeitsperiode  werde  ich  den  Be- 
amten des  N.  N.  unbedingten  Gehorsam  leisten  und  weder 
bei  Tage  noch  bei  Nacht  eine  Arbeit  verweigern,  und  zwar 
nicht  nur  solche  Arbeit,  die  ich,  wie  oben  festgestellt,  zu 
leisten  übernommen  habe,  sondern  ebenso  jede  andere  Ar- 
beit, die  von  mir  verlangt  werden  sollte.  Ausserdem  habe 
ich  kein  Recht  darauf,  Sonn-  und  Feiertage  zu  halten.“ 
Wenn  man  noch  hinzufügt,  dass  ein  solcher  Vertrag 
regelmässig  auf  mehrere  Jahre  seine  Kraft  behält,  so  dass 
also  der  Gutsherr  oder  der  Kulak,  wenn  er  im  folgenden 
Jahre  die  Arbeitskraft  seiner  Schuldsklaven  nicht  braucht, 
die  Ausführung  des  Vertrages  auf  ein  anderes  Jahr  ver- 
schreiben kann,  so  liegt  es  wohl  auf  der  Hand,  das  Stepniak 
berechtigt  ist,  diese  Kabala  eine  schlecht  verhüllte  Leib- 
eigenschaft zu  nennen. 

In  der  Provinz  Kiew  giebt  es  noch  eine  andere  Form 
der  Kabala,  die  dem  Robot,  der  Hörigkeit  mit  einer  auf  be- 
stimmte Wochentage  fallenden  Arbeitsverpflichtung,  auf  ein 
Haar  gleicht.  Dort  leiht  der  Gutsherr  oder  Kulak  dem 
Bauern  18  Rubel  (=  etwa  36  Mark)  und  lässt  sich  dafür 
die  Arbeit  an  2 Wochentagen  im  Jahre,  also  104  Arbeits- 
tage, verschreiben. 

Seit  etwa  20  Jahren  ist  dieses  System  in  Russland  im 
Schwange  und  hat  bereits  zur  völligen  Proletarisirung  etwa 
eines  Drittels  der  Bauern  Russlands  (also  von  20  Mil- 
lionen) geführt.  Sobald  nämlich  der  Bauer  sein  Vieh  hat 
verkaufen  müssen,  ist  er  genöthigt,  auch  sein  Land  zu  ver- 
pachten, da  er  es  nicht  vor  Ablauf  der  auf  49  Jahre  an- 
gesetzten Abzahlungsfrist  veräussern  darf.  Für  ein  Spott- 
geld geht  es  dann  auf  lange  Pachtfristen  in  die  Hände  des 
Kulaken  über.  So  berichtet  im  Jahre  1885  Herr  Teresch- 
kewitsch,  der  Präsident  des  statistischem  Amtes  von  Pol- 
tawa,  dass  in  dieser  Provinz  der  gesetzlich  unveräusser- 
liche Boden  der  frühereu  Kosaken  im  Masse  von  24  bis 
32,6  pCt.  je  nach  den  Bezirken  in  den  Händen  der  Kulaken 
konzentrirt  ist. 

Erklärlich  ist  es,  dass  die  proletarischen  Bauern  sich 
auf  ihre  Weise  dadurch  an  den  Blutsaugern  rächen,  dass 
sie  die  erpresste  Kabala-Arbeit  möglichst  liederlich  machen. 
Am  schlechtesten  kommen  dabei  die  Grossgrundbesitzer 
weg,  während  die  Kulaken,  die  ihre  Feldarbeit  selbst  beauf- 
sichtigen, sich  eine  sorgfältigere  Ausführung  zu  erzwingen 
wissen. 


Es  würde  zu  weit  führen,  wenn  wir  Stepniak  in  allen 
seinen  Aufspürungen  der  Korruptionspfade  im  Russenreiche 
nachgehen  wollten.  Wie  höhere  und  niedere  Beamte,  der 
„Tschin“,  das  Volk  ausplündern  durch  Rechtsverdrehungen 
und  mit  offener  Gewalt,  und  wie  auch  die  Selbstverwaltung 
des  Mir  (der  Dorfgemeinde)  zerstört  worden  ist  durch  die 
Einmischung  der  im  Jahre  1878  erst  eingesetzten  5744  Ur- 
jadniks  (Landgensdarmen),  mag  man  in  seinem  Werke  nach- 
lesen.  Man  wird  dann  eine  richtige  Vorstellung  von  dem 
Wesen  der  russischen  bureaukratischen  Willkürherrschaft 
bekommen,  die  so  lange  das  eigene  Land  aussaugen  und 
die  Kultur  des  Westens  bedrohen  wird,  bis  in  Russland 
selbst  Kräfte  erwachsen  sind,  die  ihr  den  Garaus  machen. 

Berlin-Schöneberg.  Georg  Ledebour. 

Agenten  bei  der  Errichtung  von  Rentengütern.  Bis- 
her sind  von  den  Generalkommissionen,  denen  die  Aus- 
führungsarbeiten bei  der  Errichtung  von  Rentengütern 
übertragen  sind,  keine  Einwendungen  dagegen  erhoben 
worden,  dass  Rentengutsverkäufer,  denen  es  an  Käufern 
mangelte,  sich  Mittelspersonen  zur  Beschaffung  solcher  be- 
dient haben.  Neuerdings  aber  tritt  das  Bestreben  bei  ge- 
wissen Agenten  in  den  Vordergrund,  durch  Abschliessung 
von  Verträgen  mit  Rentengutskäufern  die  ganze  Durch- 
führung von  Rentengutssachen  an  sich  zu  ziehen  und  dabei 
mit  den  Käufern  Bedingungen  zu  vereinbaren , die  für 
Rentengutsverkäufer  und  Rentengutskäufer  gleich  schädigend 
und  geeignet  sind,  das  staatliche  Kolonisationswerk  zu  einer 
Güterspekulation  der  schlimmsten  Art  herabzuwürdigen. 
Den  Rentengutsverkäufern  wird  dabei  entweder  von  den 
Agenten  ausdrücklich  vorgeredet,  dass  sie  im  Aufträge  der 
Generalkommission  handelten,  oder  aber  doch  die  Vor- 
stellung beigebracht,  als  ob  ihnen  irgend  welche  Einwirkung 
auf  den  Abschluss  der  Rentengutsbildungen  und  die  Ueber- 
nahme  der  Rentengüter  auf  die  Rentenbank  zustande.  In 
den  Vereinbarungen  lassen  sich  die  Agenten  ganz  un-  1 
verhältnissmässige  Provisionen  zugestehen.  Die  General- 
kommission zu  Bromberg,  die  bekanntlich  für  die  Provinzen 
Ost-  und  Westpreussen  sowie  Posen  thätig  ist,  hat  sich 
deshalb  veranlasst  gesehen,  darauf  aufmerksam  zu  machen, 
dass  sie  die  Bearbeitung  von  Rentengutssachen,  in  denen 
Rentengutsverkäufer  Verträge  eines  solchen  verwerflichen 
Inhalts  mit  Agenten  abgeschlossen  haben,  ohne  weiteres  ab- 
lehnen werde. 


Arbeiterzustände. 


Arbeitsverhältnisse  in  der  britisch-indischen  Textil- 
industrie. 

Bekanntlich  hat  die  Royal  Commission  on  Labour  ihre 
Untersuchungen  auch  auf  die  Arbeiterverhältnisse  im  Aus- 
lande ausgedehnt.  Dem  ersten,  an  dieser  Stelle  bereits 
erwähnten  „Foreign  Report“  über  die  Vereinigten  Staaten 
von  Amerika  ist  kürzlich  der  zweite  Band  gefolgt,  der  in 
umfassender  Weise  die  Arbeitsverhältnisse  in  den  englischen 
Kolonien  und  in  Britisch-Indien  behandelt  und  das  überaus 
reiche  Material  der  allerorten  eingeleiteten  Enqueten  veröffent- 
licht. In  Anbetracht  der  geringen  industriellen  Entwickelung 
in  den  nordamerikanischen  und  südafrikanischen  Kolonien 
Englands  wie  in  den  Kronkolonien  von  Ceylon,  Borneo, 
den  Straits  und  Fidji-Inseln  bieten  auch  die  Berichte  über 
die  dortigen  Arbeitsverhältnisse  wenig  Interesse;  die  aus- 
führliche Behandlung  der  lehrreichen  sozialpolitischen  Ent- 
wickelung in  Australien  enthält  wenig,  was  nicht  schon  in 
weiteren  Kreisen  bekannt  wäre,  nachdem  bereits  in  zahl- 
reichen Arbeiten  dieses  Thema  erschöpfend  behandelt  worden 
ist.  Die  Arbeitsverhältnisse  in  der  jungen  ostindischen 
Grossindustrie  jedoch  sind  wohl  ziemlich  unbekannt,  und 
wir  gehen  sicher  nicht  fehl,  wenn  wir  annehmen,  dass  die 
rapide  Entwickelung  der  indischen  Fabrikindustrie,  deren 
Konkurrenz  die  lebhafteste  Besorgniss  im  Mutterlande  er- 
weckt, im  Kontinente  kaum  allgemein  bekannt  ist.  Und 
zwar  ist  dies  die  Textilindustrie. 

Die  jüngste  offizielle  Industriestatistik  Britisch-Indiens  *) 


•)  Statistical  Tables  relating  to  British-India.  Sixteenth  Issue 
Calcutta  1892. 


No.  46. 


SOZIALPOILTISCHES  CENTRALBLATT. 


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bezieht  sieli  auf  1890/91;  sie  giebt  folgende  Daten  über  den 
Stand  der  Textilindustrie; 

Fabriken  Arbeiter  Webstiihlc  Spindeln 

Baumwollspinnereien.  . 125  112143  23845  3 197740 

Jute-  und  Hanfindustrie.  26  61915  8101  161845 

Schafwollindustrie  ...  5 2164  526  17150 

Unter  den  Arbeitern  der  Baumwollspinnereien  befanden 
sich  22106  Frauen,  18709  jugendliche  Arbeiter  und 
4236  Kinder,  unter  denen  der  Jute-  und  Hanffabriken 
12472  Frauen,  5439  jugendliche  Arbeiter  und  4993  Kinder. 

Bevor  wir  auf  den  Bericht  der  Labour  Commission 
näher  eingehen,  sei  noch  in  Kürze  der  Arbeiterschutz- 
verhältnisse in  Britisch-Indien  gedacht.  Wie  allgemein  zu- 
gestanden wird,  verdankt  der  Arbeiterschutz  in  Indien  seinen 
Ursprung  den  Konkurrenzbefürchtungen  Manchesters  und 
Lancashire  s.  Die  lückenhaften  Bestimmungen  der  indischen 
Factories  Act  vom  Jahre  1881  wurden  1891  amendirt,  und 
das  neue  Arbeiterschutzgesetz  trat  nach  heftigstem  Wider- 
stand der  indischen  Industriellen  am  1.  Januar  1892  in  Kraft. 
Neben  derAusdehnung  der  Bestimmungen  auf  Etablissements, 
die  50  (früher  100)  Arbeiter  beschäftigen,  ist  das  wesent- 
liche des  Gesetzes  die  Erhöhung  der  Altersgrenze  für  die 
Zulassung  von  Kindern  zur  Fabrikarbeit  von  7 auf  9 Jahre; 
Nachtarbeit  der  Kinder,  wie  deren  Beschäftigung  länger 
als  7 Stunden  täglich  ist  untersagt.  Für  Frauen  gilt  ein 
llstündiger  Maximalarbeitstag  mit  I J/2  stündiger  Ruhepause. 
Sonntagsarbeit  ist  verboten.  Allerdings  können  die 
Distriktsbehörden  „unter  Umständen“  die  Bestimmungen 
über  den  Maximalarbeitstag,  Ruhepausen  und  Sonntagsarbeit 
ausser  Kraft  setzen. 

Der  „Report  on  the  Labour  Question  in  India“  giebt 
nach  einer  kurzen  Einleitung  den  gesammten  bei  der  En- 
quete in  Indien  geführten  amtlichen  Briefwechsel  und  die 
Antworten  der  Unternehmer,  denen  Fragebogen  zuge- 
schickt worden  waren,  nebst  einigen  Spezialberichten  der 
indischen  Fabrikinspektoren.  Im  folgenden  soll  ein  über- 
sichtliches Bild  aus  dem  gebotenen  Materiale  gegeben 
werden. 

Wenden  wir  uns  erst  den  Lohnverhältnissen  zu. 
Die  Löhne  schwanken  nicht  unbedeutend  in  den  einzelnen 
Distrikten.  Ueberall  jedoch  sind  sie  für  europäische  Be- 
griffe geradezu  unfassbar  niedrig.  Der  Bericht  des  Fabrik- 
inspektors in  Bombay  giebt  als  durchschnittliche  Monats- 
löhne folgende  Ziffern : Männer  12  Rupien,  Frauen  9 Rupien 
und  Kinder  5 Rupien.  In  Bombay  ist  meistens  Stücklohn 
üblich  und  bekommt  der  Spinner  für  100  Pfund  Garn  durch- 
schnittlich 3 Annas  (ca.  12  Pfennige).  Der  Bericht  einer 
Spinnerei  in  Kurla,  einem  Ort  9 engl.  Meilen  von  Bombay 
entfernt,  giebt  als  Monatsverdienst  eines  Spinners  25  R. 
an;  ein  Weber,  der  zwei  Webstühle  bedient,  erhält  durch- 
schnittlich 16  R.  8 A.,  ein  Weber  an  einem  Webstuhl 
10  R.  8 A.,  eine  Aufwicklerin  9 R.  8 A.,  Kinder  3—6  R. 
Die  Fabrik  in  Delhi  zahlt  einem  Spinner  durchschnittlich 
22  R.  für  den  Monat,  in  Cawnpore  beträgt  der  Durchschnitts- 
lohn 8 R.  12  A.,  in  Agra  gar  nur  5 R.  12  A. 

Strafabzüge  für  schlechte  Arbeit  und  Ausbleiben 
kommen  namentlich  in  Bombay  häufig  vor.  Die  Löhne 
werden  meistens  monatlich  gezahlt,  in  Bengalen  theilweise 
wöchentlich,  dagegen  wird  ungelernte  Arbeit  meist  tageweise 
gezahlt.  In  Bombay  wird  vielfach  über  die  Praxis  einer 
Reihe  von  Spinnereien  geklagt,  die  Löhne  zwei  Monate 
und  länger  zurückzubehalten.  Lohnveränderungen  kommen 
fast  nie  vor;  seit  30  Jahren  sind  die  Löhne  fast  überall 
unverändert  geblieben;  blos  in  den  nordwestlichen  Provinzen 
soll  sich  ein  geringes  aber  stetiges  Steigen  der  Löhne  be- 
merkbar machen.  Die  Lohnfrage  hat  noch  niemals  Anlass 
zu  Differenzen  zwischen  Arbeitern  und  Arbeitgebern  ge- 
geben; überhaupt  ist  es  noch  in  keiner  Fabrik  zu  einem 
allgemeinen  Strike  gekommen,  da  von  einer  Organisation 
der  Arbeiter  kaum  eine  Spur  vorhanden  ist;  „die  ein- 
heimischen Arbeiter“,  sagt  ein  Bericht,  „haben  eine  ange- 
borene (inherent)  '^Furcht  und  Achtung  vor  ihren  Arbeit- 
gebern.“ Die  beschränkten  Arbeitsausstände,  die  manchmal, 
„wenn  die  Lebensmittel  billig  und  das  Wetter  hübsch  ist“, 
in  Folge  von  Strafabzügen  oder  aus  Unzufriedenheit  mit 
Aufsehern  Vorkommen,  werden  in  der  Regel  sehr  rasch, 
höchstens  in  einigen  Tagen  wieder  beendet.  Der  be- 


deutendste Ausstand  scheint  der  im  Jahre  1881  in  der 
Ghoosery-Baumwollspinnerci  (Bengalen)  gewesen  zu  sein, 
der  10  läge  dauerte;  1890  dauerte  ein  solcher  3 läge.  In 
beiden  Fällen  jedoch  wurden  die  Bedingungen  der  Arbeit- 
geber ohne  Einschränkung  angenommen.  Einigungsämter 
oder  Schiedsgerichte  bestehen  begreiflicherweise  nicht 

Hand  in  Hand  mit  den  niedrigen  Löhnen  geht,  wie  ge- 
wöhnlich, auch  in  Britisch-Indien  eine  lange  Arbeitszeit. 
Erwachsene  männliche  Arbeiter  sind  durchschnittlich  1 1 bis 
13  Stunden  in  Bombay,  10  bis  13  in  den  Nordwestprovinzen 
und  im  Punjab,  9 bis  12  Stunden  in  Bengalen  für  den  Tag  be- 
schäftigt; für  Madras  wird  kurz  die  Zeit  von  Sonnenaufgang 
bis  Sonnenuntergang  als  Arbeitsdauer  angegeben.  Frauen 
und  Kinder  werden  allgemein  die  ganze  gesetzlich  zulässige 
Arbeitszeit  hindurch  beschäftigt.  Ueberzeitarbeit  kommt 
selten  vor,  zumal  nur  wenige  Fabriken  Beleuchtungs- 
einrichtungen haben;  wo  solche  manchmal  vorkommt,  wird 
sie  mit  höchstens  dem  doppelten  des  gewöhnlichen  Lohn- 
satzes bezahlt.  Auch  Nachtschichten  sind  äusserst  selten; 
blos  eine  Spinnerei  in  Madras  arbeitet  mit  drei  8stündigen 
Schichten.  Die  Maschinenreparaturen,  die  früher  in  Ueber- 
zeitarbeit besorgt  wurden,  geschehen  jetzt  zu  gewöhnlichen 
Lohnsätzen  am  Sonntag,  an  dem  andere  Arbeit  untersagt 
ist.  Wochenhalbfeiertage  kommen  in  den  Nordwestprovinzen 
und  in  Bengalen  häufig  vor,  in  der  Präsidentschaft  Bombay 
dagegen  nicht. 

Wie  aus  den  oben  angegebenen  Ziffern  erhellt,  ist  die 
Frauen-  und  Kinderarbeit  nicht  unbedeutend;  das  Verhält- 
niss  zwischen  der  Anzahl  der  männlichen  und  weiblichen 
Arbeiter  beträgt  ungefähr  3:1  in  Bengalen,  4:1  in  Bombay, 
Madras  und  den  Centralprovinzen,  7 ; 1 im  Punjab,  9 : 1 in 
den  Nordwestprovinzen  und  in  Oudh.  Die  Frauen  werden 
meist  zu  leichter  Arbeit  verwendet. 

Die  Arbeiterschutzvorrichtungen  und  die  sanitären  Ver- 
hältnisse der  Etablissements  sollen  den  Inspektorenberichten 
zufolge  ziemlich  genügend  sein.  Arbeiterunfälle  sollen  ver- 
hältnissmässig  selten  Vorkommen.  In  Bengalen  erhalten 
durch  Unfälle  zeitweilig  Arbeitsunfähige  bis  zur  Wieder- 
aufnahme der  Arbeit  den  halben  Lohn.  Auch  in  Madras 
besteht  die  Unterstützung  der  Verunglückten  durch  die  Unter- 
nehmer als  Gepflogenheit;  auch  in  Bombay  übernehmen  die 
Arbeitgeber  den  Unterhalt  und  die  Heilungskosten  der 
Verletzten. 

Unter  den  Arbeitgebern  besteht  blos  ein  einziger  Ver- 
band, es  ist  dies  die  „Bombay  Millowner’s  Association“, 
die  die  meisten  Baumwollspinnereien  und  -Webereien 
der  Präsidentschaft  Bombay  umfasst,  das  sind  67  Fabriken 
mit  ungefähr  68000  Arbeitern  von  den  in  Bombay  be- 
stehenden 89  Etablissements  dieser  Branche.  Im  allgemeinen 
befasst  sich  der  Verband  jedoch  mehr  mit  industriellen  als 
mit  Arbeiterfragen;  doch  hat  er  eine  für  die  Mitglieder 
verbindliche  Arbeitsordnung  aufgestellt,  der  sich  die  ein- 
tretenden Arbeiter  zu  unterwerfen  haben.  Diese  Arbeits- 
ordnung enthält  Bestimmungen,  betreffend  Lohnzahlungen, 
Geldstrafen,  Kündigungsfristen  u.  s.  w.  Bemerkenswerth 
erscheint  die  Vorschrift,  dass  stets  der  Lohn  für  18  Tage 
zurückzubehalten  ist,  als  „Garantie  für  ordentliche  Pflicht- 
erfüllung und  Gehorsam  des  Arbeiters,  sowie  als  Unterpfand 
für  Geldstrafen.“  Strikende  oder  zum  Ausstand  aneifernde 
Arbeiter  gehen  wie  Diebe  des  gesammten  Lohnguthabens 
verlustig.  Die  wenigen  Bestimmungen  dieser  Arbeitsordnung 
dürften  genügen,  um  das  Verhältniss  zwischen  Arbeitgebern 
und  Arbeitern,  das  mehrfach  als  recht  herzlich  („cordial“) 
geschildert  wird,  zu  beleuchten. 

Wien.  Emil  Loew. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Der  grosse  englische  Kohlengräber-Ausstand. 

Unerwartet  ist  in  der  Mitte  des  Sommers  in  England 
ein  Kohlengräber-Ausstand  ausgebrochen,  der  bisher  schon 
die  Mehrheit  der  englischen  Kohlenbergleute  ergriffen  hat 
und  noch  grösseren  Umfang  annehmen  kann.  In  seinem 
Ursprung  ist  er  ein  Vertheidigungsstrike,  der  durch  die 
angedrohte  Herabsetzung  der  Löhne  in  gewissen  Bezirken 


552 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  46. 


hervorgerufen  wurde;  in  anderen  Bezirken  dagegen,  in  denen 
eine  Lohnherabsetzung  während  der  letzten  2 Jahre  von 
den  Bergwerkbesitzern  schon  vordem  erzwungen  war,  hat 
er  im  Anschluss  an  jenen  Vertheidigungsstrike  die  Form 
eines  Angriffsstrikes  angenommen,  der  auf  die  Wieder- 
erhöhung der  Löhne  abzielt. 

Die  englischen  Kohlenlager  vertheilen  sich  über  die  ge- 
sammte  britische  Insel  mit  Ausnahme  der  südlichen  Graf- 
schaften Englands  und  des  nördlichen  Schottlands.  Die 
britischen  Kohlengrubenarbeiter  haben  sich  bisher  noch 
nicht  zu  einer  einheitlichen  Gewerkschaft  vereinigen  lassen. 
Sie  sind  nach  Grafschaften  oder,  wie  in  Wales,  nach  grösse- 
ren Grafschaftsverbänden  organisirt.  Nur  in  den  so- 
genannten Midlands,  den  mittleren  englischen  Grafschaften, 
wo  der  Hauptsitz  der  grossen  englischen  Industrie  ist,  war 
es  in  neuerer  Zeit  gelungen,  die  einzelnen  Grafschaftsver- 
bände zu  einem  grösseren  Bunde  zusammenzuschliessen, 
der  die  Lohnbewegung  für  diese  sämmtlichen  Bundesbezirke 
(Federation  Districts)  einheitlich  leitete.  Die  letzte  Lohn- 
regulirung für  diese  Bundesbezirke  war  am  1.  August  1890 
erfolgt.  Seit  jener  Zeit  sind  indess  die  Kohlenpreise  er- 
heblich gefallen  und  Hand  in  Hand  mit  dem  Preisnieder- 
gange haben  die  Kohlengrubenbesitzer  in  den  nicht  dem 
Bunde  angehörigen  Bezirken  eine  Lohnherabsetzung  zu  er- 
zielen gewusst,  die  sich  z.  B.  in  Northumberland  und  Dur- 
ham  auf  1 5 1/4 — 16^  pCt.  (der  jetzigen  Preise)  beläuft.  Nach 
Angabe  der  Unternehmer,  deren  Richtigkeit  allerdings  von 
den  Arbeitern  bestritten  wird,  soll  der  Preisrückgang  der 
Kohle  seit  dem  1.  August  1890  bis  zum  1.  Juni  1893  für 
London,  den  Hauptmarkt,  sich  folgendermaassen  stellen: 
Ausfuhr-Kohle  ....  von  13  sh.  1 */*  d.  zu  9 sh.  43/4  d. 

Kohle  loco  Themse  . . „ 22  „ 6 „ „ 15  „ — „ 

Lokomotiv-Kohle  ...  ,,  10  ,,  6 ,,  ,,  7 „ 3 „ 

Das  wäre  ein  Preisrückgang  um  etwa  ein  Drittel.  Wäh- 
rend nun  infolge  der  Beständigkeit  der  Löhne  in  den 
Bundesbezirken  der  mittleren  englischen  Grafschaften  dort 
der  Abbau  der  Kohle  innerhalb  der  letzten  2 Jahre  zu- 
rückgegangen sei,  habe  gleichzeitig  in  den  anderen  Bezir- 
ken mit  herabgesetzten  Löhnen  der  Abbau  zugenommen,  in 
Schottland  und  Wales  allein  zusammen  um  2750000  Tonnen. 
Auf  Grund  dieser  Angaben  und  Erwägungen  haben  sich 
nun  die  Kohlengrubenbesitzer  der  sogenannten  Bundes- 
bezirke entschlossen,  ihren  Arbeitern  eine  Lohnherabsetzung 
von  25  pCt.  zuzumuthen.  Die  Arbeiter  lehnten  diese  Zu- 
muthung  indess  rundweg  ab  und  traten,  da  die  Gruben- 
besitzer auf  ihrem  Kopfe  bestanden,  am  Freitag,  den  28.  Juli, 
in  den  Ausstand  ein,  den  sie  von  ihrem  Standpunkt  aus,  da 
die  Unternehmer  die  Angreifer  waren,  allerdings  richtiger 
als  einen  Lock-out,  einen  Arbeitsausschluss,  bezeichnen. 

Die  Hoffnung  der  mittelländischen  Grubenbesitzer,  in 
diesem  Lohnkampfe  den  Sieg  zu  erlangen  und  eine  Lohn- 
herabsetzung, wenn  nicht  um  den  ganzen  ursprünglich  ge- 
forderten Betrag,  so  doch  in  beträchtlicher  Höhe,  zu  er- 
zwingen, gründet  sich  auf  folgende  Umstände:  Im  Hoch- 

sommer erreicht  wegen  des  Fortfalls  der  Wohnungsheizung 
der  Absatz  der  Kohle  das  niedrigste  Niveau.  Gleichzeitig 
haben  sich  die  durch  den  Winterverbrauch  erschöpften 
Reservelager  durch  die  Produktion  während  der  voran- 
gegangenen Sommermonate  wieder  angefüllt.  Beide  That- 
sachen  wirken  zusammen,  um  den  Grubenbesitzern  eine 
länger  andauernde  Befriedigung  des  Kohlenbedarfs  zu  er- 
möglichen, selbst  wenn  der  Abbau  völlig  ins  Stocken  ge- 
rathen  sollte.  Ferner  glauben  sie,  dass  die  Zufuhr  aus  den 
nicht  zu  den  „Bundesbezirken“  gehörigen  Kohlengruben 
den  Kohlenbedarf  auch  längere  Zeit  decken  könne. 
Schlimmstenfalls  könne  auch  noch  aus  dem  Ausland  Kohle 
bezogen  werden.  Die  zu  erwartende  Mindereinnahme  wegen 
der  Produktionseinstellung  glauben  sie  durch  die  Preis- 
erhöhung beim  Absätze  ihrer  sehr  beträchtlichen  Reserve- 
vorräthe  wett  machen  zu  können.  Somit  hoffen  sie,  es 
länger  auszuhalten  als  die  überrumpelten  Arbeiter  und  die 
Zeit  der  Productionsstockung  sogar  ohne  wesentliche  finan- 
zielle Einbusse  zu  überdauern. 

Um  diese  günstige  Lage  der  angreifenden  Kohlengruben- 
besitzer zu  schwächen,  mussten  die  zum  Widerstande  ent- 
schlossenen Kohlengrubenarbeiter  der  mittelländischen 
Bundesbezirke  zunächst  versuchen,  so  viel  wie  möglich  die 
übrigen  britischen  Kohlenbergleute,  denen  die  Löhne 


früher  bereits  herabgesetzt  waren,  in  den  Ausstand  hinein- 
zuziehen. Jede  Verringerung  der  Produktion  führt  natur- 
gemäss  zur  schnelleren  Erschöpfung  der  Vorräthe,  so  dass 
die  übrigen,  durch  eine  „Kohlenhungersnoth“  bedrohten 
Industrien  einen  stärkeren  Druck  auf  die  Grubenbesitzer 
ausüben  müssen.  In  einem  Theile  der  Grafschaften,  so  in 
Lancashire,  Flintshire,  Nord-Wales,  ist  dieses  Streben  auch 
von  Erfolg  gekrönt  gewesen.  Andere  Bezirke,  wie  die 
schottischen  und  die  von  Süd-Wales,  sind  abgeneigt,  sich  auf 
einen  Ausstand  einzulassen,  die  Süd-Walliser,  etwa  100000  an 
der  Zahl,  um  so  mehr,  als  ihre  Löhne  infolge  der  durch 
den  Midland-Strike  bewirkten  Preissteigerung  bereits  eine 
Erhöhung  um  1 ‘/4  pCt.  erfahren  haben.  Der  Abgeordnete 
Abraham,  selbst  ein  ehemaliger  Walliser  Bergmann,  hat 
bereits  in  Süd-Wales  gegen  den  Strike  mit  Erfolg  agitirt. 

Die  Grubenarbeiter  von  Durham  und  Northumberland 
haben  sich  noch  nicht  entschieden,  werden  aber  wahr- 
scheinlich zum  Strike  kommen.  In  Durham  haben  die 
Grubenbesitzer  bereits  eine  von  den  Arbeitern  gestellte 
Forderung,  die  Löhne  um  1574  pCt.,  also  auf  den  Stand 
vom  1.  August  1890  zu  erhöhen,  abgelehnt. 

Der  Exekutiv-Ausschuss  der  Grubenarbeiter  von  Nor- 
thumberland hat  am  7.  August  beschlossen,  durch  eine 
allgemeine  Mitglieder-Abstimmung  es  entscheiden  zu  lassen, 
ob  Northumberland  die  gleiche  Forderung  einer  Lohn- 
erhöhung von  1574  pCt.  stellen  und  bei  deren  Ablehnung 
in  den  Ausstand  eintreten  soll.  Die  Stimmzettel  sind 
bereits  ausgetheilt,  und  innerhalb  weniger  Tage  kann  die 
Entscheidung  fallen. 

Die  jetzt  bereits  im  Ausstand  begriffenen  Arbeiter  wer- 
den auf  300000  bis  350000  geschätzt.  Trotzdem  für  den 
unerwartet  hereingebrochenen  Lohnkampf  keine  Vorberei- 
tungen getroffen,  keine  besondere  Strikefonds  angesammelt 
sind,  scheinen  sie  doch  entschlossen  zu  sein,  den  Ausstand 
durchzuführen,  so  lange  es  irgend  geht,  und  sollte  nicht  jetzt 
der  Sieg  errungen  werden  wegen  der  Ungunst  der  Zeiten,  ! 
dann  den  Kampf  in  einem  günstigeren  Augenblicke  wieder 
aufzunehmen.  Als  Hauptzweck  des  Strikes  tritt  es  deshalb 
hervor,  dass  die  Arbeiter  den  Unternehmern  zum  Be-  , 
wusstsein  bringen  wollen,  eine  Lohnherabsetzung  lasse  sich 
nur  nach  einem  auch  für  die  Unternehmer  mit  schweren 
Opfern  verknüpften  Lohnkampfe  erzwingen.  Der  Geist,  von 
dem  die  Arbeiter  beseelt  sind,  zeigt  sich  darin,  dass  sie  in 
einzelnen  Bezirken  beschlossen  haben,  die  Strikeunter- 
stützung  nicht  vor  Ablauf  eines  Zeitraumes  von  14  Tagen 
nach  Beginn  des  Ausstandes  in  Anspruch  zu  nehmen.  In  , 
einer  Grubenarbeiterversammlung  in  Burnley  in  Lancashlire, 
in  der  der  Abgeordnete  Woods  referirte,  erklärte  sich 
die  Versammlung  gegen  die  von  den  Grubenbesitzern  vor- 
geschlagene Einsetzung  eines  Schiedsgerichts  und  legte 
Protest  ein  gegen  die  Schleuderkonkurrenz,  der  die  Haupt- 
schuld am  Rückgang  der  Kohlenpreise  während  der  letzten 
Jahre  beigemessen  wird.  Deshalb  glauben  die  Arbeiter 
auch,  wenn  es  ihnen  nur  gelinge,  5 bis  6 Wochen  auszu- 
halten, müssten  die  Kohlenpreise  derart  steigen  wegen  der 
mangelnden  Zufuhr,  dass  die  Unternehmer  auf  eine  Herab- 
setzung des  Midland-Lohnsatzes  verzichten  und  in  den  an- 
deren Bezirken  eine  Lohnerhöhung  auf  das  Midland-Niveau 
bewilligen  würden. 

Bisher  haben  die  Unternehmer  in  den  Midlands  zwar 
erklärt,  dass  sie  auch  mit  einer  Lohnherabsetzung  von 
10  Prozent  sich  nicht  zufrieden  geben  würden,  doch  scheint 
ein  Vorschlag,  den  sie  gemacht  haben,  der  eben  erwähnten 
Anschauung  bis  zu  einem  gewissen  Grade  entgegen  zu 
kommen.  Sie  haben  sich  nämlich  bereit  erklärt,  auf  eine 
Art  Waffenstillstand  einzugehen,  bis  die  jetzt  bereits  im 
Steigen  begriffenen  Kohlenpreise  das  Niveau  von  1891  er- 
reicht hätten.  Das  Strikekomite  hat  darauf  entgegnet,  es 
werde  diesen  Vorschlag  einer  am  22.  August  in  London 
zusammentretenden  Konferenz  vorlegen,  wohl  in  der  Hoff- 
nung, dass  mittlerweile  durch  weitere  Ausdehnung  des 
Strikes  und  durch  Steigerung  der  Kohlenpreise  die  Ver- 
hältnisse sich  hinreichend  geklärt  haben  werden,  um  ein 
den  Arbeitern  günstiges  Abkommen  zu  ermöglichen. 

Die  Wirkung,  die  der  Ausstand  auf  den  Kohlen- 
handel und  die  gesammte  englische  Industrie  bereits  gehabt 
hat,  tritt  in  verschiedenen  Daten  zu  Tage.  Nach  Angabe 
der  Arbeiterführer  Pickard  und  Woods  soll  der  Kohlen- 


No.  46. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


553 


preis  in  London  bereits  um  6 sh  gestiegen  sein.  Das 
bezieht  sich  wahrscheinlich  auf  die  Kohle  loco  Themse,  die 
am  1.  Juni  15  sh  notirt  wurde,  während  sie  zwei  Jahre 
vorher  zur  Zeit  der  letzten  Midland-Lohnfixirung  22  sh  6 d 
kostete.  In  den  schottischen  Häfen  ist  die  Kohle  innerhalb 
10  Tagen  nach  Ausbruch  des  Strikes  von  8 sh  auf  11  sh 
in  die  Höhe  gegangen. 

Die  Zufuhr  zur  See  in  London  betrug  in  der  am 
2.  August  endenden  Woche  175000  Tonnen;  davon  be- 
zeichnender Weise  168000  Tonnen  aus  den  nicht  vom 
Ausstand  ergriffenen  Bezirken.  Ob  es  noch  dazu  kommt, 
dass  nach  dem  kohlenreichen  England  Kohlen  vom  europä- 
ischen Kontinent  eingeführt  werden,  und  dass  also  zur 
Wahrheit  wird,  „Kohlen  nach  Newcastle  zu  bringen“,  was 
das  englische  Sprichwort  als  etwas  ausgesucht  unsinniges 
hinstellt,  muss  die  Zeit  lehren.  Vorderhand  sind  die  aus- 
ländischen Kohlengrubenarbeiter  auf  ihrem  internationalen 
Kongress  in  Paris  den  englischen  strikenden  Genossen 
dadurch  zu  Hülfe  gekommen,  dass  sie  beschlossen  haben, 
eine  etwaige  Ausfuhr  festländischer  Kohlen  nach  England 
mit  allen  ihnen  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  zu  hindern. 

Auf  die  englische  Industrie  muss  die  durch  den  Strike 
herbeigeführte  Preiserhöhung  der  Kohlen  zweifellos  bald 
eine  starke  Rückwirkung  austiben.  So  heisst  es,  dass 
der  Strike  in  Staffordshire  sofort  2000  Töpfer  arbeitslos 
machen  werde.  Und  wenn  es  den  Strikern  gelingt,  die 
Coke-Brenner  in  Yorkshire  zur  Einstellung  ihrer  Thätigkeit 
zu  bewegen,  so  würden  dadurch  die  Eisengiessereien  in 
Lincoln  und  Derby  zum  Stillstand  gezwungen.  Alle  diese 
Erwägungen  zeigen,  dass  für  die  nächste  Zeit  ein  Rück- 
gang des  Strikes  noch  nicht  erwartet  werden  kann,  und 
dass  es  höchst  ungewiss  ist,  ob  die  Unternehmer  oder  die 
Arbeiter  aus  diesem  gewaltigen  Lohnkampfe  als  Sieger 
hervorgehen  werden. 


Kaufmännische  Bewegung. 

Landesverband  der  kaufmännisch  Angestellten  Frank- 
reichs. Unter  den  vielen  Kongressen,  die  Paris  im  Monat 
Juli  zählte,  ist  auch  der  Kongress  der  kaufmännischen  An- 
gestellten zu  erwähnen,  dessen  Hauptaufgabe  es  war,  sämmt- 
liche  aus  Handelsbediensteten  oder  kaufmännisch  Ange- 
stellten bestehenden  Syndikate  Frankreichs  zu  einem  Bunde 
zu  vereinigen,  um  desto  wirksamer  für  eine  Verbesserung 
der  Lage  des  in  den  Kaufläden  und  Geschäftsbureaux 
beschäftigten  Personals  eintreten  zu  können.  Zu  dem 
Verbände  haben  nicht  nur  die  eigentlichen  Syndikate, 
sondern  auch  die  verschiedenartigen  von  den  Handels- 
bediensteten geschaffenen  Hilfsvereine  Zutritt.  An  die 
Spitze  des  Verbandes  hat  der  Kongress  eine  aus  31  Mit- 
gliedern bestehende  Kommission  gesetzt,  deren  Aufgabe 
es  sein  wird,  die  Interessen  des  Verbandes  nach  allen 
Seiten  hin  zu  wahren  und  kräftigst  dahin  zu  wirken,  dass 
sich  alle  kaufmännisch  Angestellten,  von  den  Buchhaltern 
angefangen  bis  hinab  zu  den  Bureau-  und  Geschäftsdienern, 
der  Syndikatsbewegung  anschliessen,  d.  h.  entweder  den 
schon  bestehenden  kaufmännischen  Syndikaten  beitreten 
oder  wo  keine  bestehen,  solche  gründen.  Auf  dem  Kon- 
gresse wurde  indess  nicht  nur  die  Verbandsfrage  allein 
behandelt,  sondern  auch  verschiedene  andere  Fragen,  die 
die  Handelsbediensteten  besonders  berühren,  — so  das 
Gesetz  vom  27.  Dezember  1890,  betreffend  den  Mieths- 
vertrag  und  die  Art,  wie  die  Handelschefs  dasselbe  um- 
gehen. Dieses  Gesetz,  das  nunmehr  den  Art.  1780  des 
Code  civil  bildet,  bestimmt  nämlich  u.  A.,  dass  die  kontra- 
hirenden  Parteien  auf  das  Recht,  gegebenen  Falles  Schaden- 
ersatz zu  verlangen,  nicht  im  vorhinein  verzichten 
können.  Ist  beispielsweise  irgendwo  eine  sechswöchige 
Kündigung  eingeführt,  dann  ist  dem  Angestellten,  falls  er 
auf  der  Stelle  oder  vor  der  abgelaufenen  Kündigungsfrist 
entlassen  wird,  das  volle  Gehalt  zu  zahlen,  wenngleich  er 
sich  kontraktlich  bereit  erklärt  hat,  seine  Entlassung  zu 
jeder  Zeit  ohne  irgend  welche  Entschädigung  entgegen- 
nehmen zu  wollen.  Da  aber  das  Gesetz  nur  jede  vorher  fest- 
gesetzte Verzichtleistung  auf  eine  etwaige  Entschädigung 


für  null  und  nichtig  erklärt,  legen  nun  verschiedene  Geschäfts- 
inhaber ihren  Kommis  etc.  Verträge  vor,  wonach  diese 
gegen  eine  zumeist  so  geringfügige  Entschädigung  jederzeit 
entlassen  werden  können,  dass  es  augenscheinlich  ist,  dass 
die  Chefs  damit  nur  bezwecken,  das  Gesetz  zu  umgehen. 
Und  dies  gelingt  ihnen  um  so  leichter,  als  die  Handels- 
gerichte in  allen  solchen  Fällen  die  Entlassenen  mit  ihren 
Entschädigungsansprüchen  regelmässig  abweisen,  obgleich 
derartige  Verträge,  wenn  auch  nicht  gegen  den  Buchstaben, 
so  doch  gegen  den  Geist  des  Miethsvertragsgesetzes  ver- 
stossen  Diesem  Uebel  abzuhelfen,  wird  nun  auch  eine  der 
Aufgaben  des  neuen  Syndikatsverbandes  sein. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Der  Arbeiterschutz  im  neuen  Entwurf  eines  deutschen 
Binnenschifffahrtsgesetzes. 

Nach  dem  „Arbeiterschutz  auf  See“  der  Arbeiterschutz 
für  den  Binnenschifffahrtsbetrieb ! Der  Deutsche  Reichs- 
anzeiger hat  in  seiner  Nummer  vom  31.  Juli  d.  J.  den  „Ent- 
wurf eines  Gesetzes,  betreffend  die  privatrechtlichen  Verhält- 
nisse der  Binnenschifffahrt  und  Flösserei“  veröffentlicht,  und 
der  dritte  Abschnitt  dieses  Entwurfes  betrifft  die  Schiffs- 
mannschaft. Er  sucht  das  Arbeitsverhältniss  der  Arbeiter 
der  Binnenschifffahrt  im  Anschluss  und  unter  Bezugnahme 
auf  die  Seemannsordnung  zu  regeln  und  rückt  damit  diesen 
Arbeiterschutz  eigentlich  noch  mehr  in  den  Vordergrund 
der  aktuellen  Sozialpolitik  als  den  Seemannsschutz.  Denn 
auf  die  Kodifizirung  des  Binnenschifffahrtsrechtes  dringen 
seit  langem  mächtige  Interessentenkreise.  Der  vorliegende 
Regierungsentwurf  ist  das  Ergebniss  jenes  Drucks.  Der 
nächste  Reichstag  wird  sich  also  wahrscheinlich  zuerst  mit 
der  Regelung  der  Binnenschifffahrtsverhältnisse  zu  beschäf- 
tigen haben,  und  so  müssen  die  Seebären  einstweilen  hinter 
ihren  Kollegen  von  den  Flüssen  und  Binnenseeen  zurück- 
stehen. Freilich  ist  auch  für  die  Binnenschiffer  in  dem  vor- 
liegenden Regierungsentwurf  recht  dürftig  gesorgt,  und  es 
wird  anscheinend  wieder  nicht  geringer  Anstrengungen  be- 
dürfen, um  für  die  arbeitende  Klasse,  die  bei  dieser  gesetz- 
geberischen Thätigkeit  in  Betracht  kommt,  dasselbe  Maass 
von  Fürsorge  herauszuschlagen,  das  für  die  Besitzenden  und 
die  Unternehmer  aufgewendet  wird. 

Die  Gründe  hierfür  liegen  auf  der  Hand.  Die  Agitation 
für  ein  Binnenschifffahrtsgesetz  ging  von  Unternehmerver- 
einigungen (Handelskammern  u.  s.  w.)  aus,  und  die  Arbeiter 
haben  weder  mitagitirt,  noch  mitberathen,  noch  sind  sie 
nachträglich  von  der  Regierung  gefragt  worden.  Sie  be- 
sitzen unseres  Wissens  keine  nennenswerthe  Organisation. 
Aber  auch  auf  Seiten  der  Regierung  musste  die  Information 
von  vornherein  sehr  mangelhaft  sein.  Wir  entbehren  näm- 
lich in  Deutschland  einer  besonderen  Behörde  für  die  Beauf- 
sichtigung der  Arbeitsverhältnisse  beim  Binnenschifffahrts- 
betriebe. Andere  Länder  haben  uns  hierin  längst  überholt. 
In  Oesterreich  fungirt  seit  1886  ein  besonderer  Binnen- 
schifffahrtsinspektor. Er  besorgte  dieses  Amt  bis  1889  im 
Nebenamt  und  war  hauptamtlich  als  Gewerbeinspektor  thätig. 
Seit  1889  ist  er  ausschliesslich  Binnenschifffahrtsinspektor, 
so  sehr  und  schnell  machte  sich  die  Bedeutung  dieser  Funktion 
geltend,  blieb  jedoch  den  Gewerbeinspektoren  bei-  und  dem 
Centralgewerbeinspektor  untergeordnet.  Neben  den  Fluss- 
und  Binnenseeschiffen  beaufsichtigt  er  die  Werfte,  Hafen-  und 
Quaibauten,  Umschlagplätze,  Lagerhäuser,  Ueberfähren  und 
Schiffsmühlen,  und  seine  siebenjährige  Thätigkeit  hat  bereits 
bewirkt,  dass  eine  grosse  Reihe  von  Missständen  aus  dem 
Binnenschifffahrtsgewerbe  verschwunden  ist,  die  Gesund- 
heit und  Leben  der  Arbeiter  sowie  der  Passsgiere  bedrohten. 
Seine  Berichte,  die  mit  denen  der  österreichischen  Gewerbe- 
inspektoren erscheinen,  geben  beredtes  Zeugniss  davon, 
trotzdem  er  sich  in  der  Arbeiterfrage  auf  einen  ziemlich 
quietistischen  Standpunkt  stellt.  In  den  letzten  Jahren 
inspizirte  er  jährlich  ca.  300  Fahrzeuge  der  Fluss-  und 
Binnenseeschifffahrt  mit  jeweilig  ca.  1600  Beschäftigten;  da 
die  österreichische  Binnenschifffahrt  ca.  15000  Beschäftigte 
zählt,  sieht  man,  dass  er  recht  gut  noch  Gehilfen  brauchen 
könnte.  Dass  man  in  Deutschland  eine  ähnliche  Einrichtung 
bisher  völlig  versäumt  hat,  müssen  nun  die  Arbeiter  der 


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No.  46. 


deutschen  Binnenschifffahrt  büssen;  denn  es  fehlen  alle  festen 
Unterlagen,  auf  denen  eine  zweckentsprechende  Regelung 
ihrer  Arbeitsverhältnisse  aufgebaut  werden  könnte.  Wir 
werden  deshalb  im  Nachfolgenden  die  Ergebnisse  der  öster- 
reichischen Aufsicht  nach  Möglichkeit  mitbenutzen. 

„Der  Schifffahrtsdienst  stellt  an  die  physischen  Kräfte 
der  Leute  hohe  Anforderungen“  — so  schreibt  der  öster- 
reichische Inspektor  in  seinem  Bericht  für  das  Jahr  1890; 
dem  dritten  Abschnitt  des  deutschen  Gesetzentwurfes  über 
die  Verhältnisse  der  Schiffsmannschaft  bei  der  Binnenschiff- 
fahrt merkt  man  jedoch  nicht  an,  dass  diese  Beobachtung 
von  irgend  welchem  Einfluss  gewesen  wäre.  § 21  bestimmt 
zunächst,  dass  insbesonpere  Steuerleute,  Bootsleute, Matrosen, 
Schiffsknechte,  Schiffsjungen,  Maschinisten  und  Heizer  zur 
Schiffsmannschaft  gehören.  Der  Einschluss  der  Maschinisten 
und  Heizer  wird  wichtig  für  die  Formulirung  des  Arbeiter- 
schutzes in  den  nächsten  Paragraphen.  § 22  will  zunächst 
für  die  Binnenschiffer  dasselbe  Ausnahmerecht  gegenüber 
den  Arbeitern  einführen,  wie  es  die  Seemannsordnung  ent- 
hält: ein  Schiffsmann,  der  sich  dem  Antritt  oder  der 

Fortsetzung  des  Dienstes  rechtswidrig  entzieht,  soll  auf  An- 
trag durch  die  Polizeibehörde  zwangsweise  zur  Aushaltung 
des  Arbeitsvertrags  angehalten  werden  können!  Es  ist  doch 
mehr  als  zweifelhaft,  ob  die  besonderen  Verhältnisse  des 
Binnenschifffahrtsgewerbes  eine  solche  Beugung  des  sonsti- 
gen Gewerberechtes  zu  Gunsten  des  Schifffahrtsunternehmers 
oder  Schiffers  und  zu  Ungunsten  des  Arbeiters  verlangen 
und  rechtfertigen.  Man  muss  hinzunehmen,  dass  weder 
Gewerbegerichte  mit  rascher,  billiger  und  sachverständiger 
Rechtsprechung,  noch  eine  wirksame  Inspektion  nach  öster- 
reichischem Muster,  die  als  Beschwerdeinstanz  fungiren 
würde,  vorgesehen  ist.  Bei  fortgesetzt  ungerechter  Behand- 
lung wird  dem  Schiffsmann  also  im  vereinzelten  Falle 
schliesslich  gar  nichts  anderes  als  Flucht  übrig  bleiben.  Der 
sich  daraus  für  ihn  ergebende  Verdienst-  und  Zeugnissverlust 
ist  bereits  schwer  genug  für  ihn,  so  dass  ein  polizeilicher 
Arbeitszwang  als  Ausnahmerecht  gegen  den  Schiffsmann 
doppelt  unangebracht  erscheint.  Diese  Betrachtung  führt 
auch  darauf,  dass  der  Schiffsmannschaft  das  Koalitionsrecht 
nach  Maassgabe  der  §§  152  u.  153  der  Gewerbeordnung,  ähn- 
lich wie  den  Seeleuten,  im  Entwurf  nicht  zugesprochen  ist; 
diese  Lücke  muss  selbstverständlich  ausgefüllt  werden.  § 23 
schreibt  vor,  dass  der  Schiffsmann  „jeder  Zeit“  „alle“  ihm 
übertragenen  Arbeiten  zu  verrichten  hat.  Damit  wäre  eine 
unbeschränkte  Arbeitszeit,  sowie  eine  unbeschränkte  Arbeits- 
pflicht mit  Bezug  auf  die  Art  und  das  Ausmaass  der  zu 
verrichtenden  Arbeiten  gesetzlich  sanktionirt.  Der  öster- 
reichische Inspektor  steht  bezüglich  der  Arbeitszeit  auf  dem 
Standpunkt,  dass  die  Natur  der  Dienste  eines  Binnenschiffs- 
mannes einen  Maximalarbeitstag  mit  bestimmten  Pausen 
nicht  zulasse.  Er  modifizirt  dies  aber  mehrfach  für  die 
Heizer,  wie  er  denn  z.  B.  im  Bericht  für  1887  S.  401  aus- 
führt, er  habe  auf  2 Schiffen  gefunden,  dass  nur  je  2 Heizer 
angestellt  gewesen  seien,  die  „ununterbrochen  7 — 8 Stunden 
angestrengt  arbeiten  mussten.  Wer  den  überaus  anstren- 
genden Dienst  eines  Schiffsheizers  kennt,  wird  zugeben, 
dass  die  physischen  Kräfte  bei  7 — 8 Stunden  dauernden 
Schichten  über  Maass  beansprucht  werden.“  Es  wurde  ihm 
die  Anstellung  dritter  Heizer  zugesagt,  so  dass  die  Wachen 
sich  auf  höchstens  5 Stunden  erstreckten.  Es  scheint  also, 
dass  mindestens  für  gewisse  Arbeiterkategorieen  der  Binnen- 
schifffahrt eine  Regelung  der  Schichtendauer  nicht  bloss 
sehr  empfehlenswerth,  sondern  direkt  im  Interesse  der  Ar- 
beiter und  der  gefährdeten  Passagiere  nothwendig  wäre. 
Selbst  auf  hoher  See  haben  englische  Schiffe  einen  geregel- 
ten Schichtendienst  durchführen  können;  die  deutschen  See- 
leute streben  ähnliches  bei  der  Revision  der  Seemanns- 
ordnung an,  und  in  der  Binnenschifffahrt  werden  sich  solche 
Schutzmaassregeln  gegen  eine  gemeingefährliche  Ausnutzung 
der  Schiffsmannschaft  wohl  noch  leichter  durchführen  lassen. 
Ueber  die  Art  und  den  Umfang  der  Verrichtungen,  die  die 
Schiffsleute  zu  leisten  verpflichtet  sind,  müsste  aber  die  auch 
hier  obligatorisch  einzuführende  Arbeitsordnung  entscheiden, 
über  die  man  im  Entwurf  erstaunt  jede  Andeutung  vermisst. 
Der  österreichische  Inspektor  hat  solche  Arbeitsordnungen 
oder  Dienstinstruktionen,  die  hier  Schutz-  und  Betriebsvor- 
schriften vereinigen  müssen,  entworfen  und  ist  bestrebt, 
sie  bei  den  ihm  unterstellten  Unternehmungen  einzu- 


führen, wie  sein  Bericht  für  1892  S.  450  erzählt.  Wie 
mannigfaltig  die  Verhältnisse  sind,  die  nach  einer  sicheren 
Regelung  verlangen,  mag  eine  Inhaltsangabe  seines  Entwurfes 
belegen.  Der  Entwurf  betrifft:  1 . Aufnahme,  Entlassung,  Kün- 
digung, Auszahlung;  2.  Arbeitszeit;  3.  Rangeintheilung; 

4. Dienstkleider;  5. Einhaltung  der  Dienstinstruktion  ; ö.Schiffs- 
rollen;  7.  Verhalten  der  Mannschaft  bei  Dienstesverrichtun- 
gen; 8.  Behandlung  des  Schiffes  und  aller  Ausrüstungstheile; 

9.  Verhalten  gegen  Feuer  und  Licht;  10.  Verhalten  bei  Un- 
fällen; 11.  Vorsorge  gegen  Verunglückung  der  Mannschaft; 
12.  Wachdienst;  13.  Flaggenordnung;  14.  Signaldienst; 
15.  Eigentlicher  Navigationsdienst;  16.  Maschinen-  und  Kessel- 
dienst. Zu  beachten  ist,  dass  hierbei  das  Disziplinarrecht 
des  Schiffsführers  seine  Regelung  findet  und  dass  die  noth- 
wendigen  Unfallverhütungsvorschriften  mit  erledigt  werden 
- — - beides  Dinge,  über  die  der  deutsche  Entwurf  kein  Wort 
sagt.  Eingefügt  werden  könnten  ferner  Normalvorschriften 
über  die  Beköstigung  und  die  Schlafräume  der  Mannschaft, 
die  der  österreichische  Inspektor  sehr  oft  ebenso  mangel- 
haft fand  als  die  Vorrichtungen  zur  Verhütung  von  Unfällen. 
Auf  deutschen  Binnenschiffen  wird  es  wohl  nicht  anders 
sein.  Durch  die  obligatorische  Arbeitsordnung  wird  auch 
die  strenge  Vorschrift  des  § 23  im  deutschen  Entwürfe,  dass 
der  Schiffsmann  „das  Schiff  ohne  Erlaubniss  des  Schiffers 
nicht  verlassen  darf“,  insofern  zu  mildern  sein,  als  dem 
Schiffsmann  ein  Anrecht  wenigstens  auf  Sonn-  und  Feier- 
tagsruhe sowie  Urlaubszeiten  gesichert  wird.  In  § 24  wäre 
die  Vorschrift  über  Lohnzahlung  bestimmter  dahin  zu  fassen, 
dass  der  Schiffsmann  beim  Mangel  einer  anderweitigen  Ver- 
einbarung die  Auszahlung  des  verdienten  Lohnes  am  Schlüsse 
jeder  zweiten  Woche  nicht  bloss  „verlangen  kann“,  sondern 
dass  „sie  der  Schiffer  leisten  muss.“  Die  Entscheidung 
darüber,  ob  sich  in  § 25  das  Kündigungs-  und  Entlassungs- 
recht der  Gewerbeordnung  so  einfach  auf  die  Binnenschiff- 
fahrtsverhältnisse übertragen  lässt,  muss  der  Nachprüfung 
im  einzelnen  überlassen  bleiben.  Und  ist  es  der  Gesetz- 
gebung auch  nur  mit  den  ärmlichen  Schutzvorschriften  des 
vorliegenden  Entwurfes  ernst,  so  muss  sie  am  Schlüsse  des 
Abschnittes  Fürsorge  für  eine  unabhängige  Fachaufsicht  über  > 
die  Arbeiterverhältnisse  der  Binnenschifffahrt  nach  Analogie  ! 
des  § 139  b der  Gewerbeordnung,  sowie  nach  österreichischem 
Muster  treffen.  Sonst  ähneln  die  vorhergehenden  Para- 
graphen gar  zu  sehr  dem  Lichtenberg’schen  Messer  ohne 
Klinge,  dem  der  Stiel  fehlt. 

Gespannt  darf  man  darauf  sein,  wie  sich  unsere  Bureau- 
kratie  zu  den  Forderungen  stellen  wird,  die  im  obigen  eigent- 
lich nur  angedeutet  worden  sind.  Sicher  ist,  dass  sie  ihr 
so  überraschend  wie  nur  möglich  kommen  werden.  Wer 
hätte  bei  einem  Binnenschifffahrtsgesetz  auch  nur  im  Traume 
gedacht,  dass  auch  hier  soziale  Probleme  in  Fülle  zu  lösen 
sind?  Die  deutsche  Bureaukratie,  die  jede  Berührung  mit 
den  Arbeitern  ängstlich  scheut,  gewiss  nicht!  Dafür  wird 
hiermit  zeitig  genug  daran  erinnert.  Es  ist  noch  reichlich 
gemessene  Zeit  bis  zur  Vorlage  des  Entwurfs  an  den 
Reichstag,  das  Versäumte  nachzuholen,  und  es  soll  lobend 
anerkannt  werden,  dass  die  zeitige  Veröffentlichung  des 
Entwurfs  immerhin  einen  Fortschritt  bedeutet.  Im  Reichs- 
tag selbst  würde  ja  die  schärfste  Kritik  auch  nicht  fehlen, 
wenn  man  den  Abschnitt  3 in  seiner  jetzigen  rudimentären 
Verfassung  belassen  wollte  — und  zwar  voraussichtlich  nicht 
bloss  die  sozialdemokratische  Kritik  im  Interesse  der  Arbeiter. 
Bei  dem  Schutz  der  Arbeiter  unserer  Binnenschifffahrt  han- 
delt es  sich  auch  um  das  Interesse  weiter  Kreise  des  Nicht- 
arbeiterpublikums, das  z.  B.  die  Havelseen,  die  Elbe  und  den 
Rhein  auf  Vergnügungsschiften  befährt,  und  es  wäre  nur 
willkommen  zu  heissen,  wenn  dieses  Laieninteresse  recht 
kräftig  mit  dazu  wirkte,  dass  den  Arbeitern  unserer  Binnen- 
schifffahrt endlich  gute  Arbeitsbedingungen  gesetzlich  ge- 
schaffen werden. 

Frankfurt  a./M.  Max  Quarck. 

Zur  Durchführung  der  Sonntagsruhe  in  Industrie  und 
Handwerk.  Wie  offiziös  gemeldet  wird,  sind  die  Gutachter 
über  die  Sonntagsruhe  aus  dem  Kreise  der  Unternehmer 
in  Erzgruben,  Kohlengruben  und  Hüttenwerken  auf  den 
20.  September  nach  Berlin  berufen  worden,  während  die  Arbeit 
in  denselben  Berufszweigen  durch  die  Gewerberäthe  vernom- 
men werden  sollen. 


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Diese  Nachricht  lässt  wenig  Gutes  hohen.  Schon  der 
Umstand,  dass  die  Unternehmer  zur  Unterhandlung  nach 
Berlin  berufen  werden,  die  Arbeiter  aber  von  Mittelspersonen 
vernommen  werden  sollen,  muss  die  Arbeiter,  in  deren 
Interesse  die  Sonntagsruhe  doch  in  erster  Linie  eingeführt 
werden  soll,  verstimmen.  Ferner  erweckt  die  offiziöse  Notiz 
den  Argwohn,  als  sollten  nur  einzelne  Arbeiter  getrennt 
vernommen  werden,  denen  dann  jede  gegenseitige  Aus- 
sprache unmöglich  wäre.  Die  Benachtheiligung  der  Arbeiter 
bei  solchem  Verfahren  liegt  auf  der  Hand.  Nahezu  jeden 
Werth  würde  die  Befragung  der  Arbeiter  natürlich  ver- 
lieren. wenn  den  Gewerberäthen  auch  die  Auswahl  der  zu 
hörenden  Personen  überlassen  würde.  Doch  darf  wohl  an- 
genommen werden,  dass  den  betheiligten  Arbeitergruppen 
wenigstens  die  Wahl  ihrer  Vertrauensmänner  überlassen 
bleiben  soll.  Baldige  Aufklärung  wäre  zur  Beschwichtigung 
der  sich  bereits  geltend  machenden  Unruhe  erwünscht. 

Inzwischen  ist  der  Entwurf  der  „Ausnahmebestimmungen, 
betreffend  die  Sonntagsruhe  in  gewerblichen  Anlagen“  be- 
kannt geworden.  Wir  kommen  auf  das  wesentliche  seines 
Inhalts  demnächst  zurück, 

Erhebungen  über  Wind-  und  Wassermotoren  in 
Preussen.  Die  preussischen  Minister  für  Handel  und  Ge- 
werbe, sowie  des  Innern,  haben  Erhebungen  über  die  An- 
zahl und  die  Art  der  Betriebe  angeordnet,  die  mit  Wind 
oder  unregelmässiger  Wasserkraft  arbeiten.  Diese  Erhebun- 
gen stehen  mit  der  vorbereiteten  Einführung  der  Sonntags- 
ruhe für  die  Industrie  und  das  Handwerk  im  Zusammenhang. 
Nach  § 105e  der  Gewerbeordnung  können  für  Betriebe,  die 
ausschliesslich  oder  vorwiegend  mit  durch  Wind  oder  un- 
regelmässige Wasserkraft  bewegten  Triebwerken  arbeiten, 
Ausnahmen  von  dem  Gebot  der  Sonntagsruhe  in  § 105  b 
zugelassen  werden.  Diese  Ausnahmen  können  nach  der 
Lage  der  örtlichen  Verhältnisse  einheitlich  geregelt  werden, 
sie  können  für  einzelne  Unternehmen  zugelassen  und  von 
jedem  Triebwerksbesitzer  in  einem  nach  den  Vorschriften 
der  §§  20  und  21  der  Gewerbeordnung  sich  regelnden  Ver- 
fahren erwirkt  werden.  Es  sollen  nun  Grundsätze  aufgestellt 
werden,  die  eine  einigermaassen  gleichmässige  Handhabung 
der  Ausnahmebestimmungen  sichern.  Es  wird  dabei  zu  be- 
rücksichtigen sein,  dass  die  in  Frage  stehenden  Ausnahmen 
nach  der  Absicht  des  Gesetzgebers  nur  den  Zweck  haben, 
Ausfälle  der  regelmässigen  wöchentlichen  Arbeitszeit,  die 
durch  Versagen  der  Triebkraft  verursacht  worden  sind,  aus- 
zugleichen, und  dass  diese  Ausnahmen  keinesfalls  eine  über 
das  übliche  Maass  hinausgehende  sonn-  und  festtägliche  Be- 
schäftigung ermöglichen  sollen. 


Gewerbeinspektion. 

Abschluss  der  Neuregelung  des  preussischen  Fabrik  - 
inspektorats.  In  dem  Plan  zur  Neuordnung  des  preussi- 
schen Fabrikinspektorats  war  zur  Durchführung  ein  Zeit- 
raum von  4 Jahren  in  Aussicht  genommen.  Der  Plan  war 
im  Etat  für  1891/92  aufgestellt;  im  nächstjährigen  Etat 
(1894/95)  wird  sich  also  der  Abschuss  des  Reformwerkes 
finden.  Mit  Regierungsgewerberäthen  sind  nur  noch  drei 
Regierungsbezirke  zu  versehen:  Danzig,  Erfurt  und  Hildes- 
heim. Dagegen  sollen  im  kommenden  Etatsjahr  27  Ge- 
werbeinspektoren neu  angestellt  werden,  während  im  ersten 
Jahre  24,  im  zweiten  21  und  im  dritten  25  Stellen  besetzt 
wurden.  Neue  Assistentenstellen  werden  im  nächsten  Etat 
nicht  geschaffen  werden,  weil  die  anfänglich  in  Aussicht 
genommene  Zahl  schon  im  laufenden  Etat  erreicht  ist. 
Nach  Abschluss  der  Reorganisation  werden  in  der  Fabrik- 
inspektion Preussens  26  Regierungs-Gewerberäthe,  97  Ge- 
werbeinspektoren und  40  Gewerbe-Inspektionsassistenten 
thätig  sein.  Mit  der  Reorganisation  des  Fabrikinspektorats 
wird  auch  die  Neugestaltung  der  Dampfkessel-Ueberwachung 
beendigt  werden.  Im  Jahre  1894/95  hat  die  Ueberweisung 
der  Kesselrevision  an  die  Gewerbe-Inspektion  in  den  Pro- 
vinzen Ost-  und  Westpreussen,  Pommern,  Posen  und  Han- 
nover zu  erfolgen.  Die  Zahl  der  Regierungsbezirke,  in 
denen  diesmal  die  Ueberweisung  erfolgen  soll,  ist  grösser 
als  in  einem  der  drei  vorhergegangenen  Jahre,  die  Zahl 
der  zu  überwachenden  Dampfkessel  dagegen  wohl  kleiner. 


Arbeiterversicherung. 

Zur  Ausdehnung  der  Unfallversicherung  auf  das  Hand- 
werk. Die  Schwierigkeiten,  die  sich  der  Ausdehnung  der 
Unfallversicherung  auf  das  Handwerk  entgegenstellen,  wer- 
den jetzt  auch  von  offiziöser  Seite  betont.  So  wird,  um 
nur  eins  hervorzuheben,  ausgeführt,  „welche  Schwierigkeiten 
entstehen  werden,  wenn  in  die  Unfallversicherung  die  hand- 
werksmässigen  Betriebe  der  Berufszweige  einbezogen  wer- 
den, deren  fabrikmässige  jetzt  schon  in  Berufsgenossen- 
schaften vereinigt  sind,  wie  also  bei  der  Gerberei,  Fleischerei 
u.  s.  w.  Jeder  Betrieb,  in  dem  10  Arbeiter  regelmässig  be- 
schäftigt werden,  gehört,  ohne  Rücksicht  auf  maschinelle 
Einrichtungen,  nach  dem  jetzigen  Unfallversicherungsgesetz 
zur  Berufsgenossenschaft.  Will  man  diese  Bestimmung  bei- 
behalten, wie  will  man  später  gegenüber  Betrieben  ver- 
fahren, die  in  die  Organisation  der  Handwerks-Unfallver- 
sicherung einbezogen  sind  und  sich  dann  zu  10  Arbeitern 
und  mehr  erweitern?  Kann  man  solche  Betriebe  ohne  wei 
teres  dieser  Unfallversicherung  entziehen  und  sie  der  in- 
dustriellen zutheilen?  Und  wie  sollen  ihre  Verpflichtungen 
gegen  die  alte  und  die  neue  Unfallversicherung  geregelt 
werden?  Oder  kann  man,  um  allen  diesen  Schwierigkeiten 
zu  entgehen,  die  gesammten  handwerksmässigen  Betriebe 
solcher  Berufszweige  einfach  zur  schon  bestehenden  gleich- 
artigen Berufsgenossenschaft  schlagen,  obwohl  gerade  deren 
Verwaltungskosten  dem  Handwerk  erspart  werden  sollen? 
Man  sieht,  dass  an  einem  einzigen  Punkt  eine  ganze  Anzahl 
von  Fragen  sich  aufwerfen,  auf  die  eine  Antwort  so  ohne 
weiteres  sich  nicht  finden  lässt.  Und  wie  bei  dieser,  so  ist 
es  mit  vielen  anderen  Fragen.“ 

Das  ist  vollkommen  richtig.  Es  giebt  eben  nur  Eine 
durchschlagende  Lösung:  man  reformire  die  jetzt  bestehende 
berufsgenossenschaftliche  Organisation  von  Grund  auf  unter 
Berücksichtigung  der  Einbeziehung  der  handwerksmässigen 
Betriebe  in  die  Versicherung.  Dies  mag  den  Schöpfern  der 
bestehenden  Organisation  nicht  leicht  werden;  aber  es  ist 
besser,  das  alte  fallen  zu  lassen,  als  neben  dem  alten  neues 
zu  schaffen,  das  gerade  durch  die  Aufrechterhaltung  des 
alten  eine  unzweckmässige  Gestalt  annehmen  muss. 

Antheil  der  Hausweber  an  der  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherung. Durch  das  Reichs-Versicherungsamt  haben 
Ermittelungen  über  die  Lage  der  Hausweber  in  Deutsch- 
land und  ihren  Antheil  an  der  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherung stattgefunden.  Während  die  Zahl  derjenigen 
Personen,  die  im  Lebensalter  von  siebzig  und  mehr  Jahren 
noch  erwerbsfähig  und  deshalb  altersrentenberechtigt  sind, 
nach  dem  Durchschnitt  der  der  Versicherungspflicht  gegen- 
wärtig unterworfenen  rund  1 1 Millionen  Personen  auf  etwa, 
1,1  pCt.  der  Gesammtzahl  veranschlagt  wird,  ist  das  Ver- 
hältniss  der  Hausweber,  die  im  Falle  der  Versicherungspflicht 
Anspruch  auf  Altersrente  haben  würden,  zu  der  Gesammt- 
zahl der  Hausweber  ungleich  bedeutender.  In  Preussen 
würden  nämlich  nach  den  angestellten  Ermittelungen  von 
etwa  80800  Hauswebern  3138,  also  rund  3,9  pCt.,  in  Bayern 
von  etwa  8500  Hauswebern  300,  also  3,5  pCt.,  in  Sachsen 
von  32500  Hauswebern  1828,  also  5,6  pCt.,  in  Württemberg 
von  1600  Hauswebern  90,  also  ebenfalls  5,6  pCt.,  alters- 
rentenberechtigt sein;  für  kleinere  Bezirke  steigt  das  Ver- 
hältniss  auf  zum  Theil  sehr  hohe  Zahlen,  z.  B.  für  Berlin 
auf  14  pCt.,  für  den  grossherzoglich  sächsischen  Bezirk 
Neustadt  a.  Orla  auf  16  pCt.,  für  das  Herzogthum  Sachsen- 
Altenburg  auf  17y2pCt.  Im  Durchschnitt  aber  würde  die 
Zahl  der  Altersrentenempfänger  unter  den  Hauswebern 
mehr  als  viermal  so  gross  sein  als  in  den  übrigen  Berufs- 
zweigen. Aber  auch  die  Invalidenrente  wird  den  Hauswebern 
keineswegs  unzugänglich  sein.  Denn  nur  wo  die  invaliden 
Hausweber  sich  noch  durch  Spulen,  Putzen  und  dergleichen 
in  der  Weberei  beschäftigen  können,  werden  sie  noch  einen 
Verdienst  erzielen,  der  ihnen  den  Bezug  der  Invalidenrente 
unmöglich  macht.  Da  nun  die  Industrie  mehr  und  mehr 
dazu  übergeht,  auch  diese  kleinen  Hülfsleistungen  in  der 
Fabrik  verrichten  zu  lassen,  so  schwindet  auch  diese  Ar- 
beitsgelegenheit mehr  und  mehr. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin,  W.,  Victoriastrasse  16. 


556 


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© r ft  e r £ b e i I. 

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I.  ©enterbe  nttb  ©emerbcrccbt  im  ?lf!= 
gemeinen. 

il.  ®emerbebel)örben,  3nftänbigfeit  unb 
Verfahren. 

III.  Sie  ©eioerbefrcibeit. 

IV.  Sefonbere  33efcbränfungen  ber  ©c= 

roerbefreiljeit. 

V.  Ser  ©emerbebetrieb  im  Umbersieben. 

VI.  Sn§  SnuungSmefen. 

VII.  ©etücrOIicfje  Vlrbeiter  imMgcmeinen; 

^Begriff  ber  gabrif. 

VIII.  Ser  geroerblidje  SlrbcitSocrtrag  im 
Allgemeinen. 

IX.  Ser  Sd)ug  bc§  SlrbeitSlobnS;  bnS 

„Srncffpftem". 

X.  Ser  StontraFtbrncb;  fefte  @ntfcbäbi= 

gütigen,  Sobnoerroirfnngen,  2ot)n= 
cinbfbaltungeu. 

XI.  Sie  befonberen  SBorfc^riften  für 
minberjäbrige  Arbeiter  u.Sebrlinge. 


I*  n tj  ct  i t* 

XII.  Scbub  für  Seben,  ©efunbbeit  unb 
Sittlicfjfeit  ber  Slrbeiter  im  ©c= 
merbebetriebe. 

XIII.  Sie  Sonntagsruhe. 

XIV.  SlrbeitSorbnungen  unb  3IrbeiterauS= 
febüffe. 

XV.  23efonberer  Schub  ber  frönen  unb 
Sinber  in  fjabrifen  unb  gleicfj* 
gefteüten  Slnlagen. 

XVI.  ©eroerbegeriebte  u.  ©inigungSämter. 

XVII.  SaS  ÄoalitionSrecbt. 


3 n? e i t e r £beü. 

$>te  SMtetterberfidjerung. 

A.  Sie  Äranfenrterficberung. 

B.  Sie  Unfaßoerfidberung. 

C.  Sie  3nnaIibitätS=u.  2lIter§oerficberuug. 

Anhang.  I.  SaS  ©efinbereebt.  II.  2llpba= 
betifebe  Ueberficbt  ber  rui<btigfien 
bauSroirtbfcbaftlicIjen  fragen  ^er 
SnoalibitätS»  u.  SllterSoerftcberung. 


2)aö  s^rcttfnfri)c 

fff tmm-  mti»  fferlammhmgsredit 

unter  befouberer  fßerüiffidüigung 

©tejleije*  vom  11*  1850* 

$argeftellt  unb  erläutert  non 

Dr.  jur.  Ddiitö 

?lmtSricbter  in  |>amm  i.  22. 

— -§-  8°.  Vt  u.  64  ©eiten,  -s- — - 


$rei3  geheftet  9)?.  1,—,  poftfrei  SO?.  1,10. 

( iati  §etyntann£  Verlag  in  Berlin  W.,  9Jiauerftraf|e  44, 


Carl  Heymanns  Verlag  in  Berlin  W.,  Mauerstrasse  44  — Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld  in  Berlin  W. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  21.  August  1893. 


Nummer  47. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Erscheint  jeden  Montag. 

Zu  beziehen 

durch  alle  Buchhandlungen,  Spediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Anzeigenpreis  für  die  dreigespaltene  Colonelzeile 
40  Pfennig. 


INHALT. 


Strikes  in  Italien.  Von  Pro- 
fessor Dr.  W erner  Sombart. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  und 
Wirthschaftsstatistik : 

Die  gewerbliche  Fortentwickelung 
Berlins.  Von  Karl  Thiess. 

Strafhausarbeit  für  Armenzwecke 
in  Preussen. 

Landwirtschaft : 

Rentengüter  ;n  Preussen. 

Arbeiterzustände : 

Zum  Weberelend  in  Schlesien. 

Gewerkschaftliche  Arbeiterbewe- 
gung: 

Der  englische  KohlengräberauS- 
stand. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Der  internationale  Arbeiterkongress 
in  Zürich. 

Handwerkerfragen ; 

Deutsche  Handwerker-  und  Ge- 
werbekammern. 


Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Zur  Begutachtung  der  Ausnahme- 
bestimmungen über  die  Sonn- 
tagsruhe. 

Jugendliche  Arbeiter  im  Kohlen- 
bergbau. 

Lohnzahlung,  Sonntagsschulen  und 
Gewerbekammern  im  Gross- 
herzogthum Hessen. 

Arbeiterversicherung : 

Reform  der  deutschen  Knapp- 
schaftskassen. 

Gewerbegerichte,  Einigungsämter 
und  Arbeiterausschüsse: 

Gewerbegericht  in  Wien. 

Gewerbegericht  in  Halberstadt. 

Wohnungszustände  und  Woh- 
nungsgesetzgebung : 

Bau  von  Arbeiterwohnungen  aus 
Mitteln  der  Invaliditäts-  und 
Altersversicherung. 

Eingesendete  Schriften. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Strikes  in  Italien. 


Die  letzten  Jahre  stehen  wiederum  unter  dem  Zeichen 
der  Strikes.  Carmaux,  Oldham,  Durham,  Homestead,  Saar- 
brücken, Dux  — um  nur  an  die  grössten  Arbeitseinstellun- 
gen der  jüngsten  Zeit  zu  erinnern  — bezeichnen  ebenso 
viele  und  ebenso  wichtige  Schlachtorte,  wie  jene  zahlreichen 
Namen,  die  wir  in  den  Schulen  auswendig  lernen,  weil  ein 
oft  unbedeutender  Strauss  zwischen  irgend  zwei  Fürsten 
und  ihren  Heeren  dort  ausgefochten  ist.  Mögen  die  Arbeits- 
ausstände weniger  blutig  verlaufen  als  die  Schlachten  in 
den  politischen  Kriegen,  weniger  bedeutsam  für  das  Geschick 
der  Völker  sind  sie  gewiss  nicht.  Und  deshalb  wendet  sich 
auch  immer  wieder,  instinktiv  möchte  ich  sagen,  das  Inter- 
esse der  breitesten  Schichten  den  Strikes  zu.  Sie  sind  für 
viele,  namentlich  unter  denen,  die  sich  gebildet  nennen, 
das  einzige  Symptom,  an  dem  sie  den  Ernst  der  grossen 
sozialen  Kämpfe  unserer  Zeit  gewahren.  Auch  der  Philister 
wird  durch  einen  grossen  Arbeitsausstand  an  seinem  ein- 
zigen feiner  entwickelten  Gefühle,  der  Angst,  gepackt  und 
zur  Theilnahme  angeregt.  Eine  Zeit  lang  schien  es  freilich, 
als  sollte  der  Strike  in  der  Ausfechtung  der  sozialen  Inter- 
essengegensätze zurücktreten,  als  sollte  er  durch  die  ur- 
banere  Form  schiedsgerichtlicher  Einigung  abgelöst  werden. 
Die  Erfahrung  der  jüngsten  Vorgänge  gerade  in  England, 
für  das  man  den  Anbruch  des  sozialen  Friedens  am  ehesten 


prophezeit  hatte,  haben  jene  liebenswürdig  optimistische 
Auffassung  als  falsch  erwiesen.  Wenn  längere  Zeit  hin- 
durch die  Völker  einmal  Frieden  gehalten  haben,  pflegt  man 
den  ewigen  Völkerfrieden  für  alle  Zukunft  zu  prophezeien; 
diese  Friedenstheorieen  sind  meist  die  Vorläufer  neuer, 
mächtigerer  Kämpfe.  Es  scheint,  als  sollte  im  Streite  der 
sozialen  Klassen  eine  ähnliche  Beobachtung  gemacht  werden. 

Wenn  aber  für  absehbare  Zeit  der  Strike  im  Vorder- 
gründe unserer  sozialpolitischen  Interessen  stehen  wird,  so 
ist  es  Aufgabe  derer,  die  fern  von  den  Kämpfen  gleichsam 
den  Chor  bilden,  der  die  Vorgänge  auf  der  Bühne  des 
Lebens  begleitet,  mit  möglichster  Vollständigkeit  die  That- 
sachen  zu  sammeln  und  zu  sichten,  die  Einblick  in  das 
Wesen  jener  wichtigen  sozialen  Erscheinung  gewähren.  Viel 
zu  wenig  haben  sich  Statistik  und  Wissenschaft  bisher 
gerade  um  die  Arbeitseinstellungen  gekümmert,  leider 
wieder  am  wenigsten  — in  Deutschland.  In  England,  in 
Amerika  beobachten  die  arbeitsstatistischen  Aemter  seit 
einer  Reihe  von  Jahren  die  Vorgänge  auf  dem  sozialen 
Kriegsschauplätze;  in  Frankreich  und  Oesterreich  kümmern 
sich  neuerdings  die  Regierungen  um  die  Ermittelung  der 
Strikes  und  in  neuester  Zeit  hat  uns  das  arme  Italien  be- 
schämt durch  die  Herausgabe  einer  ausgezeichneten  offiziellen 
Strikestatistik  für  die  Jahre  1860 — 1891  : Ich  will  heute  auf  die 
formalmethodologische  Seite  der  Strikestatistik  nicht  näher  ein- 
gehen;  es  wird  sich  ein  ander  Mal  Gelegenheit  bieten,  an  der 
Hand  der  Erfahrungen  anderer  Länder  für  Deutschland  die 
Aufgabe  auf  diesem  so  sehr  vernachlässigten  Gebiete  der 
Sozialstatistik  zu  entwickeln.  Es  soll  heute  mein  Vorwurf  sein, 
die  wichtigsten  Ergebnisse  der  neuesten  italienischen  Strike- 
statistik dem  Leser  mitzutheilen.  Eine  ausführliche  Bearbei- 
tung der  Materie  findet  dieser  in  meinen  unlängst  veröffent- 
lichten „Studien  zur  Entwickelungsgeschichte  des  italienischen 
Proletariats“  im  Archiv  für  soziale  Gesetzgebung  und  Sta- 
tistik Band  VI  Heft  2.  Auf  jenen  Aufsatz  verweise  ich  alle 
diejenigen,  die  über  die  trockenen  Zahlen,  die  im  wesent- 
lichen den  Inhalt  der  folgenden  Zeilen  bilden  werden, 
näheren  Aufschluss  wünschen.  Während  ich  an  jener  Stelle 
aber  nur  die  industriellen  Strikes  besprochen  habe,  sollen 
hier  auch  die  agrarischen  Strikes  berührt  werden,  deren 
Statistik  seit  1881  ebenfalls  in  der  neuen  Publikation  Bodios 
enthalten  ist.  Zunächst  wenden  wir  uns  den  industriellen 
Strikes  zu. 

Wer  da  meint,  das  Land,  wo  die  Zitronen  blühen,  sei 
noch  verschont  geblieben  von  den  Konflikten  zwischen 
Kapital  und  Arbeit,  die  in  unseren  hässlichen  nordischen 
Ländern  mit  den  vielen  Steinkohlen  an  der  Tagesordnung 
seien,  der  irrt.  Es  scheint  mir  sogar,  als  ob  Italien,  in  An- 
betracht seiner  geringen  wirthschaftlichen  Entwickelung  — 
es  ist  hinter  Deutschland  um  etwa  ein  halbes  Jahrhundert 
zurück  — verhältnissmässig  häufig  von  Strikes  heim- 


558 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  47. 


gesucht  würde.  In  den  Jahren  1860 — 1891  sind  durch  die  j 
Präfekten,  die  zur  Anzeige  aller  Arbeitseinstellungen  amt- 
lich verpflichtet  sind,  1709  Strikes  gemeldet,  in  den  Jahren 
1879 — 1891  : 1056.  Diese  Zahl  entspricht  etwa  derjenigen 
Frankreichs,  wo  von  1874 — 1887  1073  mal  gestrikt  wurde. 

In  Frankreich  aber  ist  die  kapitalistische  Entwickelung  ent- 
schieden weiter  fortgeschritten  als  in  Italien.  Diese  aber  ist 
allein  der  Maassstab,  an  dem  sich  die  Häufigkeit  der  Strikes 
bemessen  lässt.  Denn  das  geht  auch  wieder  aus  der  ita- 
lienischen Statistik  hervor:  wo  überhaupt  noch  der  Kapi- 
talismus seine  Revolutionsarbeit  nicht  begonnen  hat,  ist 
auch  die  Arbeitseinstellung  trotz  eines  zahlreichen  gewerb- 
lichen Arbeiterstandes  so  gut  wie  unbekannt.  Im  ganzen 
Süden  Italiens  wird  fast  gar  nicht  gestriket  und  auf  den 
Inseln  nur  von  den  Bergleuten.  Das  geht  aus  folgenden 
Ziffern  hervor,  die  uns  unsere  Statistik  über  die  räumliche 
Verbreitung  der  Strikes  in  Italien  mittheilt;  es  fanden  Arbeits- 
einstellungen statt: 


in 

1860—78 

1878—91 

1860—91 

Piemont 

131 

143 

274 

Lombardei 

161 

260 

421 

Ligurien 

34 

63 

97 

Venezien  . . . . . 

38 

88 

126 

Emilia 

56 

134 

190 

Marken  und  Umbrien  . 

30 

48 

78 

Toscana 

41 

86 

127 

Latium 

33 

71 

104 

Campanien 

53 

82 

135 

den  übrigen  neapolitani- 
schen Provinzen 

13 

20 

33 

Sizilien 

35 

77 

1 12 

Sardinien 

9 

3 

12 

Berechnet  man  die  Zahl  der  Strikes  auf  die  Zahl  der 
Gewerbetreibenden  überhaupt,  so  kommt  beispielsweise  in 
Ligurien  schon  auf  1386,  in  den  neapolitanischen  Provinzen 
erst  auf  26  523  ein  Strike.  Also  der  Kapitalismus  schafft  erst 
die  Bedingungen  für  die  Arbeitseinstellungen.  Wo  diese 
aber  vorhanden  sind,  striket  der  Italiener  verhältnissmässig 
häufig,  eine  Thatsache,  die  noch  deutlicher  hervortritt, 
wenn  wir  nur  die  überhaupt  in  Betracht  zu  ziehenden  Theile 
Nord-  und  Mittelitaliens  ins  Auge  fassen.  Ich  habe  nach 
Gründen  für  diese  Thatsache  gesucht  und  glaube  sie  in 
Eigenarten  des  italienischen  Volkscharakters  gefunden  zu 
haben.  Der  Italiener  ist  lebhafter,  erregbarer  als  der 
Nordländer  und  darum  zur  Niederlegung  der  Arbeit  eher 
entschlossen.  Rascher  ist  der  Entschluss  des  Südländers, 
rascher  aber  ist  auch  die  Verständigung  des  einen  mit  dem 
andern,  die  Verabredung  zu  gemeinsamem  Thun.  Die  Ge- 
danken, die  Gefühle  und  Empfindungen  jedes  einzelnen 
theilen  sich  in  dem  lebhaften  Volke  des  Südens  sehr  viel 
leichter  einer  grösseren  Zahl  mit,  als  dies  in  einem  Haufen 
dickflüssiger  Norddeutscher  oder  Engländer  geschieht. 

Ein  weiteres  kommt  hinzu,  das  dem  Italiener  das 
Striken  leichter  macht:  seine  grosse  Bedürfnislosigkeit 
und  die  Leichtigkeit,  mit  den  reichen  Gaben  der  südlichen 
Natur  auf  kurze  Zeit  wenigstens  mit  ganz  geringen  Mitteln 
das  Dasein  zu  fristen.  Noch  eine  dritte  Eigenart  des  Süd- 
länders trägt  dazu  bei,  ihn  zur  Niederlegung  der  Arbeit 
geneigt  zu  machen.  Ich  meine  nicht  seine  urwüchsige  Faul- 
heit, die  aller  Menschen  unveräusserliches  Erbtheil  von  den 
Göttern  ist  und  nur  in  andern  mühsam  anerzogenen  Po- 
tenzen ihr  Gegengewicht  findet;  ich  meine  vielmehr  die  ge- 
ringe Entwickelung  eben  dieser  der  Faulheit  entgegen- 
wirkenden Potenzen  beim  Italiener:  den  Mangel  spezifischen 
Erwerbstriebes  und  den  Mangel  weiter  gehender  Vor-  und 
Fü  rsorglichkeit.  Dass  diese  Deutung  der  Häufigkeit  des 
Strikes  aus  dem  italienischen  Volkscharakter  heraus  richtig 
iipt,  scheint  seine  Bestätigung  durch  ein  anderes  Phänomen 
zu  finden,  das  uns  die  Zahlenreihen  der  Strikestatistik  auf- 
weisen; die  starke  Betheiligung  des  weiblichen  Geschlechts 
an  den  Arbeitseinstellungen  in  Italien.  Der  Charakter  eines 
Volkes  findet  häufig  seinen  eminenten  Ausdruck  in  den 


Weibern;  in  ihnen  erscheint  er,  wie  man  gesagt  hat,  gleich- 
sam im  Superlativ.  Dass  aber  die  von  uns  genannten 
Eigenschaften:  die  leichte  Erregbarkeit  und  Anregbarkeit, 
die  grosse  Bedürfnisslosigkeit,  die  liebenswürdige  Sorg- 
losigkeit den  Frauen  und  Mädchen  des  Südens  in  noch 
höherem  Maasse  als  den  Männern  eigen  ist,  bedarf  kaum  be- 
sonderer Erwähnung.  Von  jenen  1051  Strikes,  die  von 
1879 — 91  in  Italien  vorfielen,  waren  159  Weiberstrikes,  an 
denen  annähernd  40000  Ausständige  sich  betheiligten  — das 
sind  15 — 16pCt.  der  Gesammtziffer,  ein  gewiss  hoher  Pro- 
zentsatz, der  meines  Wissens  in  keinem  anderen  Lande  er- 
reicht wird. 

Aber  häufig  striken,  heisst  noch  nicht  erfolgreich 
striken.  Den  besten  Willen  bringt  der  Italiener  mit,  durch 
gemeinsame  Arbeitseinstellung  seine  Lage  zu  verbessern. 
Der  gute  Wille  bleibt  auch  während  der  Dauer  des  Strikes 
rege:  Wir  beobachten  ein  weitgehendes  Solidaritätsgefühl 

unter  den  Strikenden,  das  Streben  sich  gegenseitig  zu 
helfen,  die  energische  Bestrafung  des  Abtrünnigen,  des 
Strikebrechers.  Aber  hiermit  allein,  und  mit  diesen  ideellen 
Potenzen  werden  noch  keine  siegreichen  sozialen  Kämpfe 
ausgefochten.  Es  ist  hierzu  eine  solide,  materielle  Basis 
nothwendig  und  diese  fehlt  in  Italien.  In  meinem  oben  an- 
geführten Aufsatze  habe  ich  eingehend  nachgewiesen,  wie 
unzulänglich  die  Organisation  der  italienischen  Arbeiter- 
schaft heutigen  Tags  noch  ist,  wie  aber  die  Marktverhält- 
nisse für  die  Waare  Arbeitskraft  ganz  besonders  ungünstig 
in  Italien  sich  zur  Zeit  gestalten.  In  diesen  Momenten  ist 
die  Erklärung  zu  suchen  dafür,  dass  die  Strikes  in  Italien 
kurz  und  meist  ungünstig  für  den  Arbeiter  verlaufen. 

Von  1036  Strikes,  deren  Dauer  bekannt  war,  währten: 
642  : 1 — 3 Tage 

264  : 4-10  „ 

130  über  10  „ 

Die  durchschnittliche  Dauer  eines  Strikes  betrug  5,4  Tage; 
die  Zahl  Tage,  während  derer  ein  Ausständiger  durchschnitt- 
lich gestriket  hat,  beläuft  sich  auf  7. 

Dem  gegenüber  folgende  Ziffern  aus  anderen  Ländern 
zum  Vergleich:  von  918  französischen  Strikes  (4874 — 87) 
dauerten 

310  : 1—3  Tage 

282  : 4—10  „ 

326  über  10  „ 

Für  die  Vereinigten  Staaten  ergiebt  sich  (1881 —86)  eine 
durchschnittliche  Dauer  von  21,9  Tagen  für  jedes  Etablisse- 
ment, während  eine  englische  Statistik  bei  allerdings  nur 
110  Strikes  (wahrscheinlich  bedeutenderen)  die  ungeheuere 
Durchschnittsdauer  von  4,7  Wochen  berechnet.  Im  Jahre 
1890  währten  794  Strikes  in  England  immerhin  doch  durch- 
schnittlich 17,8  Tage. 

Die  Strikes  sind  für  den  Arbeiter  verhältnissmässig  un- 
günstig, wie  erst  auch  wieder  ein  Vergleich  mit  anderen  Län- 
dern deutlich  macht. 

Es  hatten  einen  günstigen  Ausgang  von  allen  Strikes: 

in  den  Vereinigten  Staaten  (1881 — 86)  46,5  pCt. 

„ England  1889  41,6  „ 

„ * 1890  37,3  „ 

„ Frankreich  ( 1874  87) 25 

„ „ 1890  26 

1891  . , 34 

,,  Italien  (1878  — 91) 17 

Ebenso  charakteristisch  für  den  heutigen  Stand  der 
sozialen  Entwickelung  Italiens  wie  die  eben  mitgetheilte 
Ausgangsstatistik  sind  dann  die  Angaben,  die  unser  amt- 
liches Quellenwerk  über  die  Ursachen  der  Arbeitsein- 
stellungen enthält.  Von  1075  Strikes  (Mitte  1878  bis  1891 ) 
war  die  Ursache  bei: 

557  Verlangen  nach  Lohnerhöhung; 

73  Verlangen  nach  Abkürzung  der  Arbeitszeit; 


No.  47. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


559 


119  Widerstand  gegen  Lohnherabsetzung; 

20  Widerstand  gegen  Verlängerung  der  Arbeitszeit; 

60  Solidaritätserklärung  mit  andern  Strikenden,  Ver- 
theidigung  der  Organisation,  Auflehnung  gegen  Ent- 
lassung oder  Annahme  von  Arbeitern; 

83  Auflehnung  gegen  disziplinarische  Maassregeln; 

49  Streit  über  die  Modalitäten  der  Lohnzahlung; 

28  Streit  über  die  Regelung  der  Arbeitszeit  (ausschl. 
Länge); 

117  verschieden. 

Im  Vordergründe,  wie  bisher  noch  in  allen  Ländern, 
stehen  danach  alich  in  Italien  die  Strikes,  die  eine  Er- 
höhung des  Lohnes  zum  Ziele  haben;  ja  ihr  Antheil  an  der 
Gesammtzahl  der  Strikes  ist  in  Italien  grösser  als  irgendwo, 
soweit  wir  zuverlässige  Angaben  besitzen.  Während  in 
Frankreich  (1874 — 87)  47  pCt.,  in  den  Vereinigten  Staaten 
(1881—86)  46  pCt.,  in  England  (1890)  43  pCt.  aller  Strikes 
zur  Erzielung  einer  Lohnerhöhung  ins  Werk  gesetzt  wurden, 
beziffert  sich  ihre  Zahl  in  Italien  auf  55  pCt.  Dieses  Vor- 
wiegen der  Lohnsteigerungsstrikes  entspricht  durchaus  der 
Entwickelungsstufe  des  Landes,  in  dem  die  Arbeiter  erst  um  die 
Verbesserung  der  ersten  aller  Arbeitsbedingungen  kämpfen. 
Einstweilen  zurück  tritt  noch  in  Italien  das  Ringen  um  Ver- 
kürzung der  Arbeitszeit  (7  pCt.),  das  bei  weiter  fortgeschritte- 
nen Nationen  bekanntlich  immer  mehr  zum  wichtigsten  Strike- 
grunde  wird;  wurden  doch  in  Nordamerika  (1878 — 86) 
ca.  23  pCt.  aller  Arbeitseinstellungen  zu  dem  Zwecke  be- 
gonnen , eine  Verkürzung  der  Arbeitszeit  zu  erzwingen. 
Auf  den  ersten  Blick  befremdet  es,  unter  den  Ursachen  der 
italienischen  Strikes  60 mal  als  Grund  der  Solidaritäts- 
erkläi  ung  Verletzung  des  Corps  d’esprit  zu  finden,  da  doch 
die  Organisation  der  Arbeiter,  wie  wir  wissen,  noch  sehr 
unvollkommen  ist.  Dieser  Mangel  sehliesst  jedoch  das  Vor- 
handensein eines  ziemlich  weitgehenden  Solidaritätsgefühles 
nicht  aus. 

Interessante  Erwägungen  lassen  sich  an  die  Thatsache 
knüpfen,  dass  83  Strikes  (9  pCt.)  „Auflehnung  gegen  dis- 
ziplinarische Maassregeln“  als  Ursache  hatten  (gegen  3,9  pCt. 
in  Frankreich,  1 pCt.  in  England).  Hier  wirken  nationale 
Eigenart  und  niedriges  Entwickelungsstadium  in  gleicher 
Richtung:  jene,  sofern  den  Italiener  hier  wiederum  seine 
leichtere  Reizbarkeit  eher  zum  Widerstande  treibt,  diese, 
sofern  einerseits  die  Disziplinirung  des  italienischen  Ar- 
beiters zur  Arbeit  in  kapitalistischen  Betrieben  noch  in  den 
Anfängen  sich  befindet,  andererseits  die  Achtung  des  Unter- 
nehmers gegenüber  der  Persönlichkeit  des  Arbeiters,  die 
erst  in  langwierigem  Kampfe  ertrotzt  zu  werden  pflegt, 
naturgemäss  heute  noch  viel  zu  wünschen  übrig  lässt  in 
einem  Lande,  in  dem  der  Kapitalismus  doch  noch  mit  allen 
Unarten  seiner  Flegeljahre  behaftet  ist. 

Aufschlüsse  allgemeinen  Inhalts,  Einblick  in  die  Natur 
der  Strikes  gewähren  die  Ziffern,  in  denen  die  Betheili- 
gung der  verschiedenen  Gewerbe  an  den  Arbeitsein- 
stellungen, ferner  diejenigen,  in  denen  der  Einfluss  der 
Konjunktur  auf  die  Strikes  zum  Ausdruck  kommt.  Nicht 
angängig  ist  es,  auf  knappem  Raume  von  dem  letzteren 
Momente  zu  sprechen.  Ich  habe  in  meinem  Aufsatze  nach- 
zuweisen versucht,  dass  es  falsch  ist,  von  einem  Zusammen- 
hänge zwischen  national-  oder  weltwirtschaftlicher  Kon- 
junktur und  der  Strikebewegung  schlechthin  zu  sprechen, 
dass  ein  solcher  Zusammenhang  vielmehr  nur  nachweisbar 
ist  für  die  „grosse  Industrie“;  für  diese  allerdings  treffend. 
Ich  muss  im  übrigen  die  Leser  auf  meine  Ausführungen  im 
Archiv  verweisen. 

Folgendes  sind  die  Ziffern,  die  über  den  Antheil  der 
verschiedenen  Gewerbsarten  an  den  Strikes  in  Italien  unter- 
richten. Von  allen  Strikes  entfielen  auf: 


die  Verkehrsgewerbe  ca 10  % 

die  Baugewerbe  im  weiteren  Sinne  ca.  . . . 25  „ 


die  stoffveredelnden  Gewerbe  (einschliesslich 

Buchdruckerei)  ca 65  „ 

davon  auf  die  Kleingewerbe  ca 25  „ 

„ auf  die  kapitalistische  Industrie  ...  40  „ 

Wir  entnehmen  aus  diesen  Ziffern  zunächst,  dass  Ver- 
kehrs- und  Baugewerbe  verhältnissmässig  am  meisten  an 
den  Arbeitseinstellungen  betheiligt  sind  (mit  über  J/3  aller 
Strikes),  dank  wohl  wesentlich  der  grösseren  Unentbehr- 
lichkeit ihrer  Leistungen  und  damit  ihrer  stärkeren  Position. 
Dies  trifft  für  die  beiden  Gewerbe  vor  allen  in  denjenigen 
Wirthschaftszentren  Italiens  zu,  die  der  politischen  Um- 
gestaltung des  Landes  eine  innere  wie  äussere  Umwälzung 
verdanken  (Rom!),  sowie  bei  denjenigen  wirthschaftlichen 
Vornahmen,  die  ebenfalls  durch  die  Neubildung  Italiens  in 
ein  besonders  rasches  Tempo  versetzt  worden  sind  (Strassen- 
und  Eisenbahnbau!).  Dagegen  möchten  für  die  zahlreichen 
baugewerklichen  Strikes  die  in  anderen  Ländern  beob- 
achteten Ursachen  häufiger  Arbeitseinstellungen,  die  aus 
dem  saisonmässigen  Charakter  des  Bauhandwerks  dort  ent- 
springen, in  Italien  deshalb  nur  in  geringerem  Grade  wirk- 
sam sein,  weil  hier  das  Bauhandwerk  gar  kein  eigentliches 
Saisongewerbe  ist;  eine  Unterbrechung  der  Bauthätigkeit  im 
Winter  findet  durchaus  nicht  regelmässig  statt.  Durch  die 
mitgetheilten  Ziffern  wird  ferner  die  oben  schon  gemachte 
Beobachtung  bestätigt,  dass  die  kapitalistische  Industrie  ein 
günstigeres  Feld  für  Arbeitseinstellungen  ist  — aus  Gründen, 
die  nicht  weiter  ausgeführt  zu  werden  brauchen  — dass  aber 
dort,  wo  der  Kapitalismus  sich  zu  entwickeln  beginnt,  auch 
das  Kleingewerbe  von  dem  Geist  der  Rebellion  ergriffen 
und  in  den  Strudel  hineingezogen  zu  werden  pflegt. 

Endlich  sei  aus  der  Fülle  unseres  Materials  noch  die- 
jenige Zifferreihe  mitgetheilt,  aus  der  sich  die  Zunahme  der 
Strikebewegung  in  Italien  ergiebt.  Kein  Zweifel:  auch  Italien, 
das  der  Kapitalismus  eben  erst  mit  seinen  eisernen  Fäusten 
gepackt  hat,  rollt  unaufhaltsam  immer  grösseren  und  immer 
mächtigeren  sozialen  Kämpfen  entgegen.  Lawinenartig 
schwellen  auch  jenseits  der  Alpen  die  Arbeitermassen  an, 
die  in  den  gewaltigen  Kampf  des  Jahrhunderts  hinein- 
gezogen worden,  in  den  Kampf  mit  dem  Kapital.  Es  betrug 
nach  unserer  Statistik: 


in  den  Jahren 

die  Zahl 

die  Zahl 
der  Personen, 

der  Strikes 

die  daran 

1879 

28 

Theil  nahmen 

4011 

1880 

26 

5 900 

1881 

39 

8 272 

1882 

45 

5 854 

1883 

67 

12  900 

1884 

81 

23  967 

1885 

86 

24160 

1886 

96 

16  951 

1887 

68 

25  027 

1888 

99 

28  974 

1889 

125 

23  322 

1890 

133 

38  402 

1891 

128 

34  733 

Offenbar  aber  wird  das  Tempo  gerade  seit  Ende  der 
1870er  Jahre,  für  welchen  Zeitraum  allein  die  Ziffern  der 
Strikenden  vorliegen,  ein  immer  rascheres,  der  Fortschritt 
stetiger  und  intensiver.  Es  ereigneten  sich  Strikes  in  dem 
Jahrviert: 

1880—83  177  mit  32  926  Theilnehmern 

1884—87  331  „ 100  105 

1888—91  485  „ 125  431 

Im  grossen  und  ganzen  entspricht  dieses  Wachsthum  der 
Strikebewegung  unzweifelhaft  der  wirthschaftlichen  Ent- 
wickelung Italiens  innerhalb  des  genannten  Zeitraums;  dass 
insbesondere  seit  1878/79  die  Strikes  häufiger  werden,  darf 
als  das  getreue  Spiegelbild  der  industriellen  Bewegung,  die 
sich  Italiens  damals  bemächtigte,  angesehen  werden.  Manche 
leugnen,  dass  jene  Bewegung  einen  nationalwirthschaftlichen 
„Aufschwung“  bedeute;  niemand  aber  wird  bestreiten,  dass 


560 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  47. 


sie  durch  das  Vordringen  des  Kapitalismus  auf  dem  Gebiete 
der  gewerblichen  Produktion  gekennzeichnet  wird,  was  zur 
Erklärung  unseres  Phänomens  genügt. 

Eine  dem  sozialen  Italien  eigenthümliche  Erscheinung 
sind  seine  agrarischen  Strikes.  Auch  über  sie  berichtet 
unsere  Statistik  — freilich  längst  nicht  in  der  Ausführlichkeit, 
wie  über  die  gewerblichen  Arbeitseinstellungen.  Die  An- 
gaben sind  lückenhaft,  wie  ich  auf  Grund  eigener  Samm- 
lungen, die  ich  für  einige  Zeit  veranstaltet  habe,  leicht  fest- 
stellen kann. 

Die  soziale  Bewegung,  die  das  agrikole  Italien  durch- 
schüttert,  findet  aber  des  ferneren  in  einer  Reihe  anderer 
Symptome  als  in  den  Strikes  ihren  Ausdruck,  so  dass  diese 
nur  ein  unvollkommenes  Bild  gewähren.  Neben  den  Strikes 
im  engeren  Sinne  werden  vor  allem  in  Süd -Italien  die 
Bauernrevolten  immer  häufiger.  Alle  diese  verschiedenen 
agrarischen  Bewegungen  haben  aber  ebenso  viele  verschie- 
dene Ursachen,  zu  deren  Verständniss  es  weiterer  Aus- 
führungen bedürfte,  als  sie  hier  auf  engem  Raume  möglich 
sind.  Worüber  unsere  Statistik  Angaben  enthält,  sind  nun 
vorwiegend  Strikes  im  engeren  Sinne,  Arbeitseinstellungen 
ländlicher  Proletarier,  vorwiegend  im  Norden  Italiens.  Solche 
Strikes  ereigneten  sich  in  den  Jahren  1881 — 91  145,  davon 
in  der  Provinz  Mantua  31,  Rovigo  27,  Mailand  25,  Bologna 
20,  Ferrara  1 1,  Verona  10  u.  s.  w.  Die  Ursache  war  in  den 
meisten  Fällen  das  Verlangen  nach  Lohnerhöhung.  Der 
Sitz  der  Bewegung  ist  in  der  Provinz  Mantua.  Die  That- 
sache,  dass  von  landwirtschaftlichen  Arbeitern  so  häufig 
gestriket  wird,  bestätigt  vor  allem  die  Beobachtung,  dass  der 
Kapitalismus  in  der  norditalienischen  Landwirtschaft  weit 
vorgeschritten  ist,  weiter  als  beispielsweise  in  Deutschland, 
und  macht  es  wahrscheinlich,  worauf  ich  schon  öfter  hin- 
gewiesen habe,  dass  aller  Voraussicht  nach  die  sozialen 
Konflikte  in  Italien  als  agrarische,  die  agrarischen  Konflikte 
als  italienische  zuerst  zum  Ausbruch  gelangen. 

Breslau.  Werner  Sombart. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Die  gewerbliche  Fortentwicklung  Berlins. 

Die  Berliner  Berufsstatistik  von  1890  (s.  No.  46  dieser 
Zeitschrift)  ist  in  gewisser  Beziehung  zugleich  ein  Stück 
Gewerbeaufnahme  insofern,  als  sie  die  gewerblich,  d.  i.  in 
Landwirtschaft,  Industrie  und  Handwerk,  Handel  und  Ver- 
kehr beschäftigten  Personen  nach  ihrer  Stellung  im 
Gewerbe  (neben  ihrer  Verteilung  nach  Gewerben)  auf- 
nimmt und  die  Arbeitgeber  gleichzeitig  nach  der  Zahl  ihrer 
Arbeiter,  die  abhängigen  Gewerbetreibenden  nach  ihrer  ge- 
naueren Stellung  im  Berufe  unterscheidet.  Von  den  433  606 
selbsttätigen  Gewerbetreibenden  sind  286  267  Abhängige, 
110  389  Selbstständige  ohne  Arbeiter,  36  950  Arbeitgeber, 
also  66,0,  25,5  und  8,5  Proz.,  gegen  65,2,  26,9  und  7,9  Proz. 
im  Jahre  1885.  Das  bedeutet,  die  Selbstständigen  ohne  Ar- 
beiter haben  sich  weit  unter  dem  Durchschnitt  aller  Ge- 
werbetreibenden (15,3  Proz.)  vermehrt,  nämlich  nur  um 
7,9  Proz.,  gleichfalls  unter  dem  Durchschnitt  die  Abhängigen 
(um  14,5  Proz.),  überdurchschnittlich  dagegen  die  Arbeit- 
geber (um  23,3  Proz.).  Danach  wäre  die  durchschnittliche 
Grösse  der  Betriebe  geringer  geworden;  jedoch  ist  dies  nur 
scheinbar  der  Fall,  denn  den  Abhängigen  sind  noch  die 
Arbeiter  ohne  nähere  Angabe  zuzurechnen,  d.  h.  solche, 
die  bei  den  einzelnen  Gewerbegruppen  nur  deshalb  nicht 
untergebracht  sind,  weil  die  bezüglichen  Angaben  fehlen; 
ihre  Zahl  ist  1885:  77  043,  1890:  121917.  Mit  ihnen  haben 
sich  alle  Gewerbetreibenden  um  21,5  Proz.,  die  Abhängigen 
allein  um  25,5  Proz.  vermehrt.  — Eine  genauere  Einsicht 
in  das  Verhältniss  von  Gross-  und  Kleinbetrieb  kann  nur 
eine  Uebersicht  der  entsprechenden  Zahlen  für  die  ein- 
zelnen Berufsgruppen  ergeben. 


Berufsgruppen 

Abhängige 

Selbstständige 
ohne  Arbeiter 

Arbeitgeber 
Zahl  | Arbeiter 

Landwirthschaft  . . . 

235 

725 

10 

64 

Forstwirtschaft  . . . 

26 

18 



Gärtnerei 

1 874 

323 

188 

559 

Fischerei 

16 

33 

8 

13 

Bergbau  etc 

82 

41 

15 

2 087 

Steine  und  Erden  . . 

3715 

349 

363 

6 088 

Metalle 

36  832 

1 627 

2 463 

25  335 

Maschinen 

11  538 

1 217 

1 320 

23  581 

Chemische  Industrie  . 

1 283 

344 

267 

2 942 

Reizstoffe 

539 

95 

165 

2 321 

Textilindustrie  . . . 

5 978 

2 186  * 

991 

28  009 

Papier,  Leder  .... 

13  684 

1 507 

1 817 

21  753 

Holz 

32  178 

2 544 

3 587 

25  054 

Nahrungsmittel  . . . 

17  971 

2 073 

3818 

16  242 

Bekleidung 

52  818 

50  725 

7 688 

32  509 

Baugewerbe  .... 

29  597 

3 222 

1 897 

27  173 

Druckereien  .... 

9 681 

421 

615 

9 158 

Künstlerische  Betriebe 

2 287 

458 

253 

1 030 

Handel 

47  427 

31  482 

8 171 

43  983 

Versicherung  .... 

1 441 

239 

20 

112 

Hausirgewerbe  . . 

82 

88 

3 

25 

Verkehr 

8 024 

3 175 

1 276 

4 502 

Gast-  und  Schankwirth- 
schaft 

8 526 

6817 

2 008 

6 278 

Schaustellungen  . . . 

136 

680 

7 

15 

Zusammen  1890 

286  267 

110  389 

36  950 

278  833 

„ 1885  | 

248  087 

102  296  | 

29  978 

... 

Die  Zahlen  der  Abhängigen  und  der  bei  den  Arbeit- 
gebern angegebenen  Arbeiter  können  sich  nicht  decken, 
weil  unter  den  Arbeitgebern  manche  sind,  die  ihre  Betriebe 
ausserhalb  Berlins  haben  (Bergbau,  Textilindustrie),  weil 
viele  Arbeiter  der  Vorortindustrien  in  Berlin  und  der  Ber- 
liner Industrien  in  den  Vororten  wohnen,  weil  die  Arbeit- 
geber der  Berliner  Betriebe  gleichfalls  in  den  Vororten  ' 
wohnen  (Bekleidung,  künstlerische  Betriebe),  weil  eine  Reihe 
von  Abhängigen  für  Erwerbsgesellschaften  (Verkehrsge- 
werbe) arbeiten  und  die  Gesellschaften  hier,  wo  es  sich 
um  die  berufliche  Zergliederung  der  Bevölkerung  han- 
delt, nicht  als  Arbeitgeber  eingerechnet  sind,  und  weil 
schliesslich  manche  Arbeiter  doppelt  angegeben  sind,  näm- 
lich alle  in  Theilhabergeschäften  Angestellten  von  jedem 
der  Theilhaber. 

Von  den  Abhängigen  sind  25576  als  Angestellte,  78821 
als  Geholfen,  114711  als  Gesellen,  32645  als  Arbeiter,  34514 
als  Lehrlinge  bezeichnet.  Die  Zahl  der  Arbeiter  stellt  sich  bei 
Einrechnung  der  ohne  nähere  Angabe  auf  154562.  Am  meisten 
gegen  die  Vorzählung  zugenommen  haben  die  Gesellen,  um 
27,2  °/0,  dann  die  Arbeiter  um  25,8  %,  die  Angestellten  und 
Geholfen  um  24,5,  die  Lehrlinge  nur  um  11,6%.  Die  letzte 
überraschend  niedrige  Zahl  könnte  zu  der  Meinung  Anlass 
geben,  als  ob  die  berufliche  Ausbildung  der  Gewerbetrei- 
benden stark  zurückginge,  aber  dem  widerspricht  die  starke 
Vermehrung  der  (handwerksmässig  geschulten)  Gesellen 
und  die  nicht  überdurchschnittliche  Zunahme  der  Arbeiter. 
Auch  für  die  Zukunft  ist  dieser  Rückgang  nicht  zu  er- 
warten, denn  die  relative  Abnahme  der  Lehrlinge  ist 
schon  bei  früheren  Berliner  Zählungen  beobachtet,  ohne 
dass  irgend  eine  Wirkung  in  der  Gezeichneten  Richtung 
eingetreten  wäre.  Es  bleibt  nur  der  überraschende  Schluss, 
dass  Berlin,  noch  ausser  dem  Prozentsatz  der  normalen  Zu- 
wanderungsziffer, über  die  Hälfte  seines  Bedarfs  an  berufs- 
mässig vorgebildeten  Arbeitskräften  von  ausserhalb  heran- 
zieht, dass  also  für  die  Reichshauptstadt  trotz  ihrer  viel 
gerühmten  gewerblichen  Fortbildungsanstalten  u.  s.  w.  die 
eine  Hälfte  der  Kosten  ihrer  gewerblichen  Bildung 
die  Provinz  tragen  muss.  Das  weibliche  Geschlecht  ist 
unter  den  Abhängigen  überhaupt  mit  14,9  % vertreten, 
unter  den  Angestellten  mit  6,3,  unter  den  Gehülfen  mit 
19,9  %,  unter  den  Gesellen  gar  nicht,  unter  den  Arbeitern 
mit  67,1,  unter  den  Lehrlingen  mit  10,05  %.  Freilich 
gehört  die  weitaus  grössere  Hälfte  der  weiblichen  Ab- 
hängigen, unter  den  Arbeiterinnen  sogar  %,  der  Gruppe 
„Bekleidung  und  Reinigung"  an.  — Vergleicht  man  die  Zahlen 
der  Abhängigen  mit  denen  der  Arbeitgeber,  so  kommen 
auf  einen  der  letzteren  7,75  Abhängige,  am  meisten  im  Ver- 
sicherungswesen: 72,  im  Hausirgewerbe : 27,  im  Baugewerbe 


No.  47. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


561 


und  den  Druckereien  je  16,  am  wenigsten  in  der  Fischerei: 
2 und  der  Industrie  der  Heiz-  und  Leuchtstoffe:  3.  Lehr- 
linge entfallen  auf  1 Arbeitgeber  9,3,  im  Versicherungswesen 
3,85,  in  den  Druckereien  2,8,  in  der  Metallverarbeitung  2,2, 
den  künstlerischen  Betrieben  2,2. 

Die  Selbstständigen  ohne  Arbeiter  sind,  wie  schon  er- 
wähnt, in  ihren  Antheilen  an  der  Gesammtzahl  der  Selbst- 
thätigen  erheblich  zurückgegangen,  die  männlichen  haben 


sich  in  den  5 Jahren  zwischen  den  beiden  letzten  Zählun- 
gen nur  um  5,1%,  auf  58881  , die  weiblichen  um  11,4  %, 
auf  51  508  vermehrt.  Von  diesen  110389  gehört  über  ein 
Viertel  zur  Gruppe  Handel,  beinahe  die  Hälfte  zur  Gruppe 
Bekleidung  und  Reinigung;  die  Hausindustriellen  sind  nach 
der  Art  der  Fragestellung  durchweg  in  dieser  Abtheilung 
mitbegriffen. 


Gewerbegrupp 

e 

Mit 

Arbeit- 

geber 

1—5 

Arbeiter 

6- 

Arbeit- 

geber 

-10 

Arbeiter 

11- 
A r b e 
Arbeit- 
geber 

-20 

i t e r n 
Arbeiter 

21- 

[ Arbeit- 
geber 

-50 

Arbeiter 

über  50 

Arbeit-  j 
geber  Arbeiter 

Landwirthschaft 

7 

12 

1 

6 

1 

14 

1 

32 

Gärtnerei 

167 

316 

16 

125 

3 

47 

2 

71 





Fischerei 

8 

13 

— 

— 

— 

— 



Bergbau  

4 

10 

2 

16 

2 

24 

3 

112 

4 

1 925 

Steine  und  Erden  . .. 

219 

542 

54 

416 

37 

546 

23 

855 

30 

3 729 

Metalle 

1 706 

4 002 

336 

2 605 

164 

2 423 

173 

5 642 

84 

10  667 

Maschinen 

757 

1 583 

197 

1 570 

146 

2 325 

140 

4 660 

80 

13  443 

Chemische  Industrie  . . . 

194 

563 

33 

248 

17 

283 

17 

553 

6 

1 295 

Heiz-  und  Leuchtstoffe  . . 

82 

218 

35 

276 

19 

286 

22 

666 

7 

875 

Textilindustrie 

592 

1 222 

141 

1 1 19 

101 

1 562 

80 

2 727 

77 

21  379 

Papier,  Leder 

1 265 

2 623 

196 

1 549 

156 

2 346 

135 

4 573 

65 

10  662 

Holz 

2 372 

5 682 

688 

5 373 

330 

4 997 

161 

5 087 

36 

3915 

Nahrungsmittel 

3 390 

7 638 

292 

2 091 

79 

1 163 

37 

1 190 

20 

4 160 

Bekleidung 

6 767 

12  154 

577 

4 377 

193 

2 899 

85 

2 798 

66 

10  281 

Baugewerbe 

1 110 

2 522 

330 

2 635 

233 

3 685 

134 

4 584 

90 

13  747 

Druckereien 

337 

838 

108 

847 

79 

1 242 

60 

2014 

31  • 

4 217 

Künstler.  Betriebe  .... 

212 

458 

24 

176 

12 

160 

4 

136 

1 

100 

Handel 

6514 

13  507 

924 

6 954 

443 

6 635 

213 

6 635 

77 

10  252 

Versicherung 

14 

37 

3 

24 

2 

29 

1 

22 

— 

— 

Hausirgewerbe 

1 

1 

1 

8 

1 

16 

— 

— 

— 

Verkehr  

1 082 

1 895 

108 

832 

65 

935 

17 

525 

4 

315 

Beherbergung  etc 

1 769 

3 025 

135 

1 041 

68 

957 

31 

892 

5 

363 

Schaustellungen 

6 

9 

1 

6 

— 

Zusammen 

1890 

1885 

28  575 
23  731 

58  870 
48  678 

4 202 
3 150 

32  294 

2 151 
1 515 

32  574 

1 339 
959 

43  774 

683 

623 

111  321 

Die  Arbeitgeber  sind  von  der  Berliner  Statistik  ein- 
gehend nach  der  Zahl  der  von  ihnen  beschäftigten  Arbeiter 
geschieden.  Wir  geben  in  der  vorstehenden  Tabelle  eine 
zusammenfassende  Uebersicht  nach  den  Hauptgrössenklassen 
der  Betriebe.  Bezüglich  der  Verschiebungen  zwischen  den 
Grössenklassen  seit  1885  ist  zu  beachten,  dass  die  Betriebe 
mit  1 — 5 Arbeitern  ebenso  wie  die  ohne  Arbeiter  relativ 
zurückgegangen  sind,  von  79,1  auf  77,3  % aller  Arbeit- 
geber; dagegen  haben  sich  die  folgenden  Klassen  vermehrt: 
die  mit  6 — 10  Arbeitern  von  10,5  auf  11,4,  die  mit  11 — 20 
Arbeitern  von  5,1  auf  5,8  und  die  mit  21 — 50  Arbeitern  von 
3,2  auf  3,6  %.  Wieder  eine  unterdurchschnittliche  Zunahme 
haben  die  grössten  Betriebe,  mit  über  50  Arbeitern,  sie 
sind  1885:  2,1,  1890:  1,9  %.  Doch  muss  dieser  Rückgang 
nicht  ein  Nachlassen  der  Entwickelung  zum  Grossbetrieb 
gegenüber  dem  Anwachsen  der  mittleren  Betriebe  bedeuten, 
sondern  kann  darauf  zurückgeführt  werden,  dass  für  ganz 
grosse  Neuanlagen  innerhalb  der  Stadt  Berlin  kein  genü- 
gend umfangreiches  und  billiges  Terrain  mehr  vorhanden 
ist  und  diese  deshalb  vorwiegend  in  den  Vororten  ent- 
stehen. — Ganz  anders  als  die  Arbeitgeber  vertheilen  sich 
die  Arbeiter  über  die  Grössenklassen.  Auf  die  77,3  % der 
Arbeitgeber  in  den  Kleinbetrieben  (1—5  Arbeiter)  kommen 
nur  21,2%  der  Arbeiter;  auf  die  11,4,  5,8,  3,6,  zusammen 

20.8  % der  Arbeitgeber  in  den  mittleren  Betrieben  (6 — 10, 
11 — 20,  21 —50  Arbeiter)  kommen  1 1 ,6,  11,7,  15,6,  zusammen 

38.9  % der  Arbeiter,  auf  die  1,9%  Arbeitgeber  der  Gross- 
betriebe (über  50  Arbeiter)  entfallen  39,9  % der  Arbeiter. 
Während  also  die  Betriebe  mit  1—5  Arbeitern  über  % der 
Arbeitgeber  und  noch  nicht  % der  Arbeiter  umfassen,  ar- 
beitet über  die  Hälfte  der  Arbeiter  in  Betrieben  mit  über 
20  Arbeitern  bei  %8  der  Arbeitgeber. 

Der  entschiedenste  Grossbetrieb  waltet  — wenn  wir  die 
wichtigsten  Gewerbe  einzeln  betrachten  — in  der  Textilindu- 
strie vor;  bei  ihr  gehören  von  den  Arbeitgebern  59,7  Proz. 
zum  Kleinbetrieb,  14,2,  10,2,  8,1  zu  den  3 Gruppen  des  Mittel- 
betriebes, 7,8  zum  Grossbetrieb,  von  den  Arbeitern  4,4  Proz. 
zum  Klein-,  4,0,  5,6,  9,7  zum  Mittel-,  76,3  zum  Grossbetrieb. 
Umgekehrt  ist  der  Kleinbetrieb  am  meisten  ausgedehnt  in  der 
Industrie  der  Nahrungs-  und  Genussmittel  und  in  der  Gast- 


wirthschaft;  wir  lassen  für  diese  wie  für  die  anderen  haupt- 
sächlichsten Gewerbe  die  Verhältnisszahlen  folgen. 

Von  den  100  Arbeitgebern  des  nebenstehenden  Ge- 
werbes gehören  zu  Betrieben  mit 


0 5 

6—10 

1 1 20 

21 — 50 

über  50 

Nahrungsmittel  . . 

88,8 

7,6 

Arbeitern 
2,1  1,0 

0,5 

Gastwirthschaft 

88,2 

6,7 

3,4 

‘ 1,5 

0,2 

Bekleidung  . . . 

88,0 

7,5 

2,5 

1,1 

0,9 

Handel 

79,8 

1 1,3 

5,4 

2,6 

0.9 

Papier  und  Leder 

69,6 

10,8 

8,6 

7,4 

3,6 

Metallfabrik  . . . 

69.3 

13,6 

6,7 

7,0 

3,4 

Holzfabrik  . . . 

66,1 

19,2 

9,2 

4.5 

1,0 

Textilindustrie  . . 

59,7 

14,2 

10,2 

8,1 

7,8 

Baugewerbe  . . . 

58,5 

17,4 

12,3 

7,1 

4,7 

Maschinenbau  . . 

57,3 

14,9 

11,1 

10.6 

6,1 

Druckereien  . . . 

54,8 

17,6 

12,8 

9,8 

5,0 

Von  100  Arbeitern  des 

nebenstehenden  Gewerbes 

•en  zu  Betrieben  mit 

0-5 

6—10 

11—20 

21—50 

über  50 

Nahrungsmittel  . . 

47,0 

12,9 

Arbeitern 
7,2  7,3 

25,6 

Gastwirthschaft  . . 

48,2 

16,6 

15.2 

14,2 

5.8 

Bekleidung  . . . 

37,4 

13,5 

8,9 

8,6 

31,6 

Handel 

30,7 

15,8 

15,1 

15,1 

23,3 

Papier  und  Leder 

12,1 

7,1 

10,8 

21 ,0 

49,0 

Metallfabrik  . . . 

15,8 

10,3 

9,6 

22.3 

42,0 

Holzfabrik  . . . 

22,7 

21,5 

19,9 

20,3 

15,6 

Textilindustrie  . . 

4,4 

4,0 

5,6 

9,7 

76,3 

Baugewerbe  . . . 

9,3 

9,7 

13,6 

16.9 

50,5 

Maschinenbau  . . 

6,7 

6,6 

9,9 

19,8 

57,0 

Druckereien  . . . 

9,2 

9,2 

13,6 

22,0 

46,0 

Der  Mittelbetrieb  ist  danach  am  meisten  ausgedehnt  in  der 
Industrie  der  Holz-  und  Schnitzstoffe,  in  der  32,9  Proz.  der 
Arbeitgeber  und  61,7  Proz.  der  Arbeiter  Betrieben  mit  6 — 50 
Arbeitern  angehören. 

Alle  diese  Resultate  in  Betreff  der  Zahl  der  Betriebe 
und  der  Arbeiter  in  ihnen  sind  allerdings  insofern  ungenau, 
als  manche  Betriebe  deshalb  mehrfach  gerechnet  sind,  weil 
bei  Theilhabergeschäften  jeder  der  Theilhaber  als  selbst- 


562 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  47. 


ständiger  Gewerbetreibender  angegeben  ist  und  möglicher- 
weise auch  jeder  die  ganze  Arbeiterzahl  des  Betriebes  an- 
gegeben hat.  Wenn  dies  letztere  auch  nach  den  vorliegen- 
den Zahlen  nachweislich  durchaus  nicht  allgemein  geschehen 
ist  — sei  es,  dass  nur  einer  der  Theilhaber  in  Berlin  wohnte, 
sei  es,  dass  eine  Uebereinkunft  dahin  getroffen  ist,  dass  nur 
einer  die  betreffende  Angabe  machte,  oder  aus  welchem 
Grunde  immer  — so  ist  eine  Doppelangabe  doch  in  einzelnen 
Fällen  festgestellt;  in  welchem  Umfange  eine  solche  erfolgt 
ist,  das  entzieht  sich  der  Beurtheilung.  Als  Theilhaber 
haben  sich  4050  Arbeitgeber  mit  101  843  Arbeitern,  ausser- 
dem 1580  Selbstständige  ohne  Arbeiter  bezeichnet,  das  sind 
von  den  Selbstständigen  ohne  Arbeiter  1,4Proz.,  von  den 
Arbeitgebern  11,0,  von  den  überhaupt  angegebenen  Arbeitern 
37,5  Proz.  Der  Betriebsgrösse  nach  sind  die  Theilhaber 
unter  den  Arbeitgebern  mit  0 — 5 Arbeitern  5,9  Proz.,  mit  6 — 10 
Arbeitern  19,4,  mit  11 — 20  Arbeitern  30,7,  mit  21 —50 Arbeitern 
40,0,  mit  über  50  Arbeitern  51,4  Proz.;  die  bei  den  Theil- 
habern  angegebenen  Arbeiter  sind  von  den  sämmtlichen  an- 
gegebenen der  gleichen  Grössenklassen  bezw.  8,2,  19,9,  31,4, 
40,6,  56,2  Proz. 

Die  Unzulänglichkeiten  des  Materials,  das  den  obigen 
Ausführungen  zu  Grunde  liegt,  treten  deutlich  hervor.  Aus- 
reichend ist  es  überall,  wo  die  Person,  ihre  Berufszugehörig- 
keit und  ihre  soziale  Stellung  die  Hauptsache  ist,  unvoll- 
ständig ist  es  da,  wo  die  Untersuchung  eigentlich  von  den 
Betrieben,  also  von  etwas  Unpersönlichem,  ausgehen  sollte; 
wenn  statt  dessen  nur  nach  den  Betriebsinhabern  und  der 
Zahl  ihrer  Arbeiter  gefragt  wird,  so  wird  der  Zweck  einer 
Betriebsstatistik  nur  annähernd  erreicht  und  zudem  die  Ver- 
schiedenheit dieser  Erhebung  von  der  Berufstatistik  ver- 
schleiert, so  dass  vor  allem  die  verschiedenen  Zahlen  der 
Abhängigen  und  der  bei  den  Arbeitgebern  angegebenen 
Arbeiter  räthselhaft  erscheinen.  Daraus  ergiebt  sich  die 
Forderung,  eine  besondere  Gewerbeaufnahme  neben  die  als 
Theil  der  Volkszählung  erhobene  Berufstatistik  treten  zu 
lassen,  nicht  aber  in  ihre  Stelle 

Berlin.  Karl  Thiess. 

Strafhausarbeit  für  Armeezwecke  in  Preussen.  Es 

bestehen  seit  einigen  Jahren  bei  allen  Armeekorps  Korps- 
Bekleidungsämter,  die  den  Bedarf  der  Truppen  an  Uniform- 
stücken für  Friedens-  und  Kriegszeiten  herstellen  sollen. 
Sie  sind  jedoch  nicht  im  Stande,  diesen  gesammten  Bedarf 
zu  bewältigen,  und  man  ist  in  Folge  dessen  jetzt  dazu  über- 
gegangen, hier  die  Strafanstaltsarbeit  in  Anspruch  zu 
nehmen.  Jedem  Armeekorps  sind  einige  Strafanstalten  zu- 
gewiesen worden,  in  denen  der  von  den  Korps-Bekleidungs- 
ämtern nicht  selbst  gedeckte  Bedarf  an  Bekleidungsgegen- 
ständen hergestellt  wird.  Man  will  nun  aber  noch  weiter 
gehen  und  nicht  nur  einen  Theil  dieser  Arbeitskräfte  in  der 
angedeuteten  Weise  verwerthen,  sondern  sie  sämmtlich  dem 
Wettbewerbe  mit  dem  freien  Handwerk  entziehen,  und  zwar 
sollen  zu  diesem  Zwecke  die  Strafanstalten  soviel  als  mög- 
lich zur  Deckung  ihrer  eigenen  Bedürfnisse  und  derjenigen 
gleichartiger  Anstalten  herangezogen  werden.  So  werden 
schon  jetzt  die  für  den  Neubau  der  Gefangenen-Anstalt  in 
Wohlau  erforderlichen  Thüren,  Fenster  und  Gitter  durch- 
weg im  Zuchthause  in  Rawitsch  angefertigt,  und  man  beab- 
sichtigt später  auch  die  Maurerarbeiten  u.  dgl.  bei  der  Neu- 
errichtung solcher  Anstalten  von  den  Sträflingen  ausführen 
zu  lassen.  Für  den  erwähnten  Neubau  in  Wohlau  hofft 
man  auf  Grund  dieses  Systems  mit  weniger  als  der  Hälfte 
der  im  Staatshaushaltsetat  dafür  bewilligten  Summe  auszu- 
kommen. 


Landwirthschaft. 

Rentengüter  in  Preussen.  Nach  der  neuesten  amtlichen 
Uebersicht  war  auf  Grund  des  Gesetzes  vom  7.  Juli  1891  in 
Preussen  bis  Ende  vorigen  Jahres  die  Bildung  von  572 
Rentengütern,  bei  denen  ein  Kaufpreis  in  Renten  von 
169535  M.  und  in  Kapital  von  974615  M.  verabredet  ist, 
vollständig  abgeschlossen.  Von  diesen  Rentengütern  fallen 
allein  141  auf  Ostpreussen,  151  auf  Westpreussen,  88  auf 
Pommern  und  100  auf  Posen,  die  übrigen  auf  die  Provinzen 
Westfalen,  Schlesien,  Schleswig -Holstein  und  Hannover. 


Seitdem  wurden  weitere  2496  Rentengüter  gebildet,  und 
zwar  ebenfalls  grösstentheils  in  Ostpreussen,  Westpreussen, 
Posen  und  Pommern.  Dies  erklärt  sich  daraus,  dass  wegen 
des  Rückganges  der  industriellen  Verhältnisse  in  den  west- 
lichen Provinzen  und  der  damit  verbundenen  Verminderung 
der  Nachfrage  nach  Arbeitern  ein  Zurückströmen  der  Arbeiter 
nach  dem  Osten  stattgefunden  hat.  Neuerdings  sind  den 
Generalkommissarien  wiederum  viele  Güter  zu  angemessenen 
Preisen  angeboten  worden.  Einem  schnelleren  Vorgehen 
zur  Bildung  von  Rentengütern  stand  bisher  hauptsächlich 
der  Mangel  an  Landmessern  im  Wege,  sowie  die  Neuveran- 
lagung der  Grund-  und  Gebäudesteuer,  wozu  viele  Kräfte  er- 
forderlich sind.  Sobald  private  Güter  nicht  mehr  angeboten 
werden,  sollen  auch  Domainen  in  Rentengüter  verwandelt 
werden.  Schon  bisher  wurde  bei  jeder  Neuverpachtung  von 
Domainen  geprüft,  ob  nicht  die  Bildung  von  Rentengütern 
vorzuziehen  sei. 


Arbeiterzustände. 


Zum  Weberelend  in  Schlesien:  Unter  den  zur  Hebung 
des  Weberelends  in  Schlesien  von  der  Regierung  ge- 
machten Versuchen  war  auch  die  Bildung  von  Konsortien  für 
leinene,  halbleinene  und  baumwollene  Handwebwaaren  an- 
geregt worden.  Nach  dem  Berichte  der  Handelskammer  für 
Reichenbach,  Waldenburg,  Schweidnitz  und  Striegau  sind  diese 
Versuche  fehlgeschlagen.  Die  in  Frage  kommende  Aeusse- 
rung  der  Handelskammer  lautet  — wie  wir  der  Vossischen 
Zeitung  entnehmen:  „Das  auf  Veranlassung  des  Handels- 

ministers durch  den  Vorsitzenden  der  Handelskammer  ins 
Leben  gerufene  Konsortium  für  leinene  und  halbleinene 
Handwaaren  hat  fast  keine  Erfolge  aufzuweisen.  Dieser 
Misserfolg  ist  ausschliesslich  dem  Umstande  zuzuschreiben, 
dass  dem  Konsortium  nur  die  Regimenter  mit  ihrem  Be-  ; 
darfe  zugewiesen  werden,  die  fast  ausschliesslich  Artikel 
konsumiren,  deren  Anfertigung  sich  für  die  Handwerker 
nicht  eignet.  Der  Hauptbedarf  der  Regimenter  besteht  in  i 
Drells  für  Jacken  und  Beinkleider,  die  nur  mechanisch  her-  ' 
gestellt  werden  können.  Wenn  die  Militärbehörde  das  Kon- 
sortium in  seinem  Bestreben,  die  Handweber  vor  Be- 
schäftigungslosigkeit zu  schützen,  unterstützen  will,  so  muss 
es  ihm  grössere  Posten  Intendanturwäsche,  wie  Lakenlein- 
wand, Bezugleinen  und  Handtücher  fein  und  ordinär  über- 
weisen. Die  Provinzialanstalten  haben  ebenfalls  nur  einen 
kleinen  Theil  ihres  Bedarfs  dem  Konsortium  überwiesen.“ 
Bei  der  Baumwollenindustrie  hebt  der  Bericht  hervor,  dass 
während  des  grösseren  Theiles  des  Jahres  und  für  die 
meisten  Zweige  der  so  vielseitig  gestalteten  Baumwollen- 
industrie die  Nachfrage  schwach  war  und  eine  allgemeine 
Besserung  in  allen  Theilen  dieser  Industrie  erst  in  den 
beiden  letzten  Monaten  des  Jahres  eintrat.  Was  die  Hand- 
weberei anlangt,  so  war  namentlich  in  den  ersten  Monaten 
des  Jahres  ihre  Lage  ausserordentlich  schwierig , da 
einerseits  gerade  die  vozugsweise  von  der  Handweberei 
hergestellten  Hauptartikel,  Bettzeuge  und  Barchende,  sehr 
schwer  verkäuflich  waren,  andererseits  die  Theuerung  der 
Lebensmittel  auf  der  Weberbevölkerung  bei  deren  geringem 
Verdienste  sehr  schwer  lastete.  Erst  im  letzten  Drittel  des 
Jahres  trat  auch  für  die  Handweber  eine  Besserung  ein,  da 
sowohl  der  gute  Ausfall  der  Ernte  billigere  Lebensmittel- 
preise brachte,  als  auch  die  gesteigerte  Nachfrage  nach 
Waare  den  Webern  vollere  Beschäftigung  zuführte.  „Durch 
die  Ausschreibungen  der  Militär-Bekleidungsämter  auf  Bett- 
bezüge ist  der  Handweberei  unseres  Bezirks  im  Jahre  1892 
eine  Förderung  nicht  zu  Theil  geworden,  da  sie  theils  an 
auswärtige  mechanische  Webereien,  theils  an  Fabrikanten 
der  Grafschaft  Glatz  vergeben  wurden.  Auch  dem  „Kon- 
sortium für  baumwollene  Handwaaren“,  das  auf  Anregung 
der  königl.  Regierung  im  Oktober  1892  in  unserem  Bezirk 
gebildet  wurde,  sind  staatliche  Lieferungen  irgend  welcher 
Art  noch  nicht  zugefallen.  Als  besonders  störend  wird  es 
von  den  Mitgliedern  des  Konsortiums  empfunden,  dass  die 
Militärbehörden  dem  Konsortium  die  Bedingung  stellen,  dass 
die  ihm  zu  übergebenden  Lieferungen  nur  von  Handwebern 
des  Reichenbacher  und  des  Neuroder  Kreises  hergestellt 
werden.  Die  Fabrikanten  des  Konsortiums  beschäftigen  seit 


No.  47. 


563 


SOZIALPOILTISCHES  CENTRALBLATT. 


Jahrzehnten  zahlreiche  Handweber  im  Kreise  Glatz,  und 
diese  sind  es  vorzugsweise,  die  auf  die  Herstellung  von 
Militär-Züchen  (Bettbezügen)  eingerichtet  sind,  während  für 
die  an  etwas  bessere  Verhältnisse  gewöhnten  Hand weber 
des  Reichenbacher  Kreises  die  für  die  Militärwaaren  mög- 
lichen Arbeitslöhne  zu  niedrig  sind.“ 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Der  englische  Kohlengräberausstand. 

Noch  ist  es  zu  einer  Entscheidung  nicht  gekommen  in 
den  englischen  Kohlenrevieren.  Der  Strike  hat  im  ganzen 
während  der  verflossenen  Woche  an  Ausdehnung  gewonnen, 
so  dass  man  am  12.  August  bereits  in  den  Bundesbezirken 
die  Zahl  der  im  Strike  befindlichen  organisirten  Bergleute 
auf  290000  rechnete,  zu  denen  noch  andere  100000  hin- 
zuzuzählen wären.  Bedeutungsvoll  ist  die  Ausdehnung  des 
Strikes  in  Süd -Wal  es,  wo  die  Beschwichtigungsversuche 
des  Abgeordneten  Abraham  nicht  lange  vorgehalten  haben. 
Süd-Wales,  wo  etwa  100000  Bergleute  thätig  sind,  von 
denen  bereits  3/4  die  Arbeit  eingestellt  haben,  liefert  aus 
den  Kohlengruben  von  Cardiff  und  Umgegend  den  Haupt- 
theil  der  englischen  Schiffskohle,  und  wenn  der  Strike  nur 
kurze  Zeit  dort  andauert,  werden  die  geringen  Lagervor- 
räthe  erschöpft  sein  und  die  von  England  ausgehenden 
Dampfer  an  Kohlenmangel  leiden.  Jetzt  schon  liegen  in 
Cardiff  etwa  100  Dampfer  müssig,  weil  sie  ihre  Ladung 
nicht  vervollständigen  können.  Auch  in  den  mittleren  Graf- 
schaften treten  bereits  Anzeichen  von  Erschöpfung 
der  Kohlenvorräthe  zu  Tage.  In  Sheffield  erwartet  man 
noch  vor  Ende  der  laufenden  Woche  die  völlige  Er- 
schöpfung der  Lager.  In  Wales  ist  es  im  Ebbu-Thale 
zu  Unruhen  gekommen,  da  die  ausständigen  Arbeiter  einige 
Strikebrecher  am  Anfahren  verhindern  wollten.  Die  Be- 
hörden haben  Militär  requirirt,  um  die  Ordnung  aufrecht 
zu  erhalten,  anscheinend  höchst  überflüssiger  Weise.  Einer 
der  Führer  der  Bergleute,  der  Parlamentsabgeordnete 
Woods,  erklärte  in  einer  in  Pemberton  gehaltenen  Rede, 
der  Ausstand  werde  ohne  Ruhestörungen  verlaufen,  wenn 
die  Behörden  nicht,  wie  in  früheren  Fällen,  sich  einfach  auf 
die  Seite  der  Kapitalisten  stellten.  Bei  früheren  Ausständen 
sei  es  nur  deshalb  zu  Unruhen  gekommen,  weil  die  Polizei 
die  Strikenden  förmlich  gehetzt  habe. 

In  Schottland  haben  die  Grubenbesitzer  in  ver- 
schiedenen Gegenden  sofort  auf  die  Strikedrohung  der 
Arbeiter  hin  sich  zu  Zugeständnissen  bequemt.  Die  Gruben- 
besitzer von  Ayrshire  und  Clackmannan  beschlossen,  den 
Bergarbeitern  die  verlangte  Lohnerhöhung  von  1 Shilling 
täglich  zu  bewilligen.  Die  Grubenbesitzer  von  Lanarkshire, 
der  schottischen  Grafschaft,  zu  der  Glasgow  gehört, 
werden  wahrscheinlich  diesem  Vorgehen  folgen.  Vorläufig 
sind  die  Besitzer  schon  zu  einem  Zugeständnis  von  einem 
halben  Shilling  bereit.  Der  Preis  der  Kohle  soll  in 
Schottland  bereits  um  7 Shilling  für  die  Tonne  gestiegen 
sein.  Auch  in  Cardiff  steigen  die  Kohlenpreise  fort- 
während. Für  Maschinenkohlen  sind  schon  17  Shilling 
für  die  Tonne  bezahlt  worden. 

Mittlerweile  macht  sich  der  Strike  beim  Güterverkehr 
der  Midland-Bahn  fühlbar.  Fast  drei  Viertel  aller  Kohlen 
der  Binnengrafschaften  werden  auf  der  Midland-Bahn  nach 
London  befördert.  Dieser  Transport  ruht  gänzlich,  und  in- 
folge dessen  sind  eine  Menge  Lokomotivführer,  Heizer  und 
andere  Angestellte  entlassen  worden.  In  ähnlicher  Weise 
werden  überall  andere  Betriebe  durch  den  Strike  in  Mit- 
leidenschaft gezogen.  Angesichts  der  Wichtigkeit,  die 
die  frühzeitige  Erschöpfung  der  Kohlenvorräthe  auf  den 
Ausgang  des  Strikes  zu  Gunsten  der  Grubenarbeiter  hat, 
ist  es  erklärlich,  dass  der  Abgeordnete  Woods  in  Leigh  in 
Lancashire  für  die  Zukunft  den  Arbeitern  den  Rath  gab,  es 
nie  dazu  kommen  zu  lassen,  dass  bedeutende  Kohlenvor- 
räthe angehäuft  werden  könnten. 

Während  so  in  den  schottischen  Bezirken  und  in  Süd- 
Wales  der  Strike  an  Ausbreitung  gewonnen  hat,  kommen 
aus  Durham  und  Northumberland  Nachrichten,  die  auf 
eine  Stauung  der  Strikebewegung  hindeuten.  Die  Abstim- 


mung unter  den  Grubenarbeitern  von  Northumberland  soll 
zu  Ungunsten  der  Betheiligung  am  Strike  ausgefallen  sein. 
Ls  heisst,  die  Leiter  des  dortigen  Vereins  der  Bergleute 
hätten  ein  Manifest  erlassen  zur  Begründung  des  Rathes, 
sich  nicht  dem  Strike  anzuschliessen.  Das  Manifest  hebt 
hervor,  dass  in  Northumberland  die  Löhne  um  10  Proz. 
höher  seien,  als  sie  nach  der  Lohnskala  von  1883  sein  wür- 
den. Falls  die  Forderung  auf  eine  Lohnerhöhung  von 
16'/4  Proz.  gestellt  werden  würde,  so  würde  wahrscheinlich 
nichts  anderes  als  eine  Lohnerniedrigung  schliesslich  daraus 
hervorgehen. 

Zum  Verständniss  dieser  räthselhaft  erscheinenden  Wen- 
dung ist  zu  erwähnen,  dass  in  den  einzelnen  Kohlenbezirken 
die  Lohnskala  eines  gewissen  Jahres  als  Normalsatz  für  die 
Berechnung  von  Lohnerhöhungen  oder  -ermässigungen  fest- 
gehalten wird.  So  rechnet  Süd -Wales  nach  dem  "Normal- 
satz von  1879,  die  Bundesbezirke  (Federation  districts)  nach 
dem  von  1888,  Northumberland  nach  dem  von  1883.  Die 
Forderung  einer  Lohnerhöhung  von  1 6'/4  Proz.  bedeutet 
also  für  Northumberland  Erhöhung  der  Löhne  gegenüber 
dem  Normalsatze  von  1883.  Da  die  gegenwärtigen  Löhne 
dort  bereits  um  10  Proz.  höher  sind  als  1883,  würde  also 
die  Erhöhung  von  I6V4  Proz.  thatsächlich  auf  eine  Erhöhung 
von  26 r/4  Proz.  gegenüber  den  1883  er  Löhnen  oder  um 
etwa  15  Proz.  gegenüber  den  gegenwärtigen  Löhnen  heraus- 
kommen. In  gleicherweise  kommt  in  den  „Bundesbezirken“, 
wo  der  88  er  Normalsatz  der  Berechnung  zu  Grunde  gelegt 
wird,  die  von  den  Grubenbesitzern  geforderte  Reduktion  der 
Löhne  von  25  Proz.  thatsächlich  einer  Herabsetzung  der 
Löhne  von  18  Proz.  gegenüber  den  gegenwärtigen  Löhnen 
gleich,  da  bis  zum  Jahre  1 890,  als  die  letzte  Lohnregulirung 
dort  stattfand,  die  Löhne  gegen  1888  um  40  Proz.  gestiegen 
waren. 

Die  Politik  der  Northumberländer  ist  jedenfalls  sehr 
kurzsichtig,  da  die  bisher  bedeutend  günstigere  Lage  der 
Bundesbezirke  ihnen  bewiesen  haben  sollte,  was  die  Arbeiter 
durch  einmüthiges  Vorgehen  erreichen  können.  Die  mittel- 
ländischen Grubenbesitzer  haben  selbst  zugestanden,  dass 
sie,  wenn  es  den  Arbeitern  gelänge,  in  den  anderen  Graf- 
schaften die  Löhne  bis  auf  das  Niveau  der  Bundesbezirke 
hinaufzubringen,  ihrerseits  von  einer  Reduktion  Abstand 
nehmen  müssten.  Auch  auf  Durham  scheint  das  Verhalten 
Northumberlands  lähmend  eingewirkt  zu  haben.  Der  Voll- 
zugsausschuss der  dortigen  Bergleute  hat  trotz  der  Ableh- 
nung der  Grubenbesitzer,  eine  Lohnerhöhung  von  15  Proz. 
zu  bewilligen,  sich  bisher  nicht  zur  Proklamirung  der  Strikes 
entschliessen  können. 

Eine  vorläufig  noch  gänzlich  unbestätigte  Mittheilung 
des  offiziösen  Wolff’schen  Telegraphenbüreaus  behauptet, 
es  zeige  sich  sogar  in  Lancashire  und  Yorkshire,  also  in 
zwei  den  Bundesbezirken  zugehörigen  Grafschaften,  Neigung, 
den  Strike  aufzugeben.  Eine  Entscheidung  irgend  welcher 
Art  wird  indess  kaum  vor  dem  22.  August,  dem  Tage  des 
Zusammentritts  der  Konferenz  der  Grubenarbeiter-Vertreter 
in  London,  zu  erwarten  sein. 


Politische  Arbeiterbewegung. 


Der  internationale  Arbeiterkongress  in  Zürich. 

Der  internationale  Arbeiterkongress,  der  vom  6.  bis 
12.  August  in  Zürich  getagt  hat,  war  im  Ganzen  von  438 
Delegirten  besucht,  von  denen  zwei  Doppelmandate  hatten. 
Im  einzelnen  waren  vertreten:  Australien  mit  1 Delegirten, 
Belgien:  17,  Brasilien:  2,  Bulgarien:  2,  Dänemark:  2,  Deutsch- 
land: 98,  Frankreich:  41,  Grossbritannien  und  Irland:  65, 
Holland:  6,  Italien:  22,  Norwegen:  1,  Oesterreich:  34,  Un- 
garn: 10,  Polen:  10,  Rumänien:  5,  Russland:  1,  Schweiz: 
117,  Serbien:  1,  Spanien:  2,  Vereinigte  Staaten  von  Nord- 
amerika: 3. 

Zunächst  wurde  über  die  Bestimmungen  für  die  Zu- 
lassung zum  Kongress  Beschluss  gefasst.  Der  sachlich 
wichtige  Theil  des  Beschlusses  lautet: 

Zugelassen  zum  Kongress  werden  alle  Arbeiter-Gewerk- 
schaften; ferner  die  sozialistischen  Parteien  und  Vereine,  die 
die  Nothwendigkeit  der  Arbeiterorganisation  und  der  politischen 


564 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  47. 


Aktion  anerkennen.  Unter  politischer  Aktion  ist  zu  verstehen, 
dass  die  Arbeiterparteien  die  politischen  Rechte  und  die  Ge- 
setzgebungsmaschinerie benutzen  oder  zu  erobern  suchen  zur 
Förderung  der  Interessen  des  Proletariates  und  zur  Eroberung 
der  politischen  Macht. 

Der  hiermit  ausgesprochene  Ausschluss  einiger  Dele- 
girter  anarchistischer  Richtung  führte  lange  Auseinander- 
setzungen und  einige  turbulente  Szenen  herbei,  auf  die  hier 
nicht  weiter  eingegangen  werden  soll. 

Jeder  Punkt  der  Tagesordnung  wurde  zur  Vorberathung 
einer  Kommission  überwiesen.  Der  Berichterstatter  der 
Kommission  eröfTnete  alsdann  jedesmal  die  Verhand- 
lungen. Die  Abstimmungen  erfolgten  nach  Nationen. 

Als  erster  Punkt  der  Tagesordnung  stand  zur  Bera- 
thung:  Maassregeln  zur  internationalen  Durch- 

führung des  Achtstundentages.  Nach  kurzer  Debatte 
wurde  die  von  der  Kommission  vorgeschlagene  Resolution 
in  folgender  Form  durch  Zuruf  angenommen; 

Der  Achtstundentag  ist  eine  der  wichtigsten  Vorbedin- 
gungen der  endgiltigen  Befreiung  der  Arbeiterklasse  vom  Ka- 
pitaljoche und  die  wichtigste  Maassregel  zur  Verbesserung  ihrer 
Lage. 

Durch  den  Achtstundentag  wird  die  Arbeitslosigkeit  ge- 
ringer, die  Arbeitstüchtigkeit  grösser,  der  Lohn  höher  und  die 
Kauffähigkeit  des  arbeitenden  Volkes  stärker. 

Durch  den  Achtstundentag  wird  das  vom  Kapitalismus  ge- 
störte Familienleben  gehoben  und  eine  bessere  Fürsorge  für 
die  Kinder  ermöglicht. 

Durch  den  Achtstundentag  steigt  die  Gesundheit,  Kraft, 
Intelligenz  und  Sittlichkeit  des  Volkes. 

Durch  den  Achtstundentag  gewinnt  die  Arbeiterklasse  Zeit 
zu  gewerkschaftlicher  und  politischer  Organisation  und  Thätig- 
keit;  die  politischen  Rechte  und  Freiheiten  können  erst  dann 
für  die  soziale  Befreiung  des  Volkes  recht  nutzbar  und  wirk- 
sam werden. 

Der  Kampf  für  den  Achtstundentag  muss  in  allen  Ländern 
geführt  werden,  denn  nur  die  internationale  gesetzliche  Durch- 
führung des  Achtstundentages  sichert  seinen  Bestand  und  seine 
segensreiche  Wirksamkeit. 

Als  Mittel  zur  internationalen  Durchführung  des  Achtstunden- 
tages empfiehlt  der  Kongress 

die  gewerkschaftliche  und  politische  Organisation  der  Ar- 
beiterklasse auf  nationaler  und  internationaler  Grundlage  und 
die  Agitation  und  Propaganda  für  den  Achtstundentag  durch 
diese  Organisation. 

Die  Agitation  für  den  Achtstundentag  soll  betrieben  werden 
durch  Flugschriften,  durch  Vorträge,  durch  die  sozialistische 
Presse,  durch  Demonstrationen,  in  Versammlungen  und  in  den 
politischen  Körperschaften,  in  Parlamenten,  Staats-  und  Ge- 
meindebehörden aller  Art.  In  der  sozialistischen  Presse  sind 
unter  einer  stehenden  Rubrik  „Achtstundentag“  alle  Thatsachen 
und  Bestrebungen  für  denselben  zu  verzeichnen  und  in  den 
politischen  Körperschaften  sollen  die  Vertreter  der  Arbeiter 
von  Zeit  zu  Zeit  Anträge  auf  Verkürzung  der  Arbeitszeit 
stellen,  besonders  für  die  von  Staat  und  Gemeinden  beschäf- 
tigten Arbeiter. 

Die  sozialistischen  Vertreter  der  nationalen  Parlamente 
sollen  sich  über  ein  gemeinsames  Vorgehen  zur  internationalen 
Einführung  des  Achtstundentages  durch  die  Gesetzgebung  ver- 
ständigen und  die  Regierungen  aller  Industrie-Länder  zu  einer 
internationalen  Konferenz  veranlassen. 

Die  Gewerkschaftsorganisation  der  Arbeiter  hat  den  ausser- 
politischen,  freien  Kampf  mit  dem  Unternehmerthum  für  den 
Achtstundentag  zu  führen,  um  dadurch  der  gesetzlichen  Ein- 
führung des  Achtstundentages  für  die  ganze  Arbeiterklasse  den 
Weg  zu  bereiten. 

Zu  sehr  lebhaften  Auseinandersetzungen  führte  dagegen 
der  nächste  Gegenstand  der  Verhandlungen:  Stellung  der 
Sozialdemokratie  im  Kriegsfälle.  Es  standen  sich 
in  der  Hauptsache  zwei  Resolutionen  gegenüber:  eine  von 
den  holländischen  Delegirten  eingebrachte  und  eine  von 
den  deutschen  Delegirten  eingebrachte  und  der  Kommission 
empfohlene.  Die  holländische  Erklärung  hatte  folgenden 
Wortlaut: 

In  Erwägung,  dass  die  nationalen  Gegensätze  keineswegs 
im  Interesse  des  Proletariats,  wohl  aber  in  dem  der  Unter- 
drücker desselben  sind; 

in  Erwägung,  dass  alle  modernen  Kriege  ausschliesslich 
durch  die  kapitalistische  Klasse  in  deren  Interesse  hervor- 
gerufen, in  deren  Hand  ein  Mittel  sind,  um  die  Macht  der  re- 
volutionären Bewegung  zu  brechen  und  die  Bourgeoisherrschaft 
durch  die  Fortdauer  der  schimpflichsten  Ausbeutung  zu  be- 
festigen; 


in  Erwägung,  dass  keine  Regierung  sich  entschuldigen 
kann,  provozirt  worden  zu  sein,  da  der  Krieg  das  Ergebniss 
des  internationalen  Willens  des  Kapitalismus  ist  — 

erklärt  der  internationale  sozialistische  Arbeiterkongress 
in  Zürich,  dass  die  sozialistischen  Arbeiter  der  in  Betracht 
kommenden  Länder  eine  Kriegserklärung  seitens  der  Re- 
gierungen mit  der  Dienstverweigerung  der  Militärpflichtigen 
der  Reserve  (Militärstrike),  durch  einen  allgemeinen  Strike,  be- 
sonders in  all  den  Industriezweigen,  welche  auf  den  Krieg  be- 
zug haben,  und  durch  einen  Appell  an  die  Frauen,  ihre  Männer 
und  Söhne  zurückzuhalten,  beantworten  sollen. 

Sie  wurde  schliesslich  mit  einer  Mehrheit  von  14  Na- 
tionen gegen  4 abgelehnt  und  dafür  die  deutsche  Re- 
solution mit  einem  belgischen  Amendement  wie  folgt  an- 
genommen: 

Die  Stellung  der  Arbeiter  zum  Kriege  ist  durch  den  Be- 
schluss des  Brüsseler  Kongresses  über  den  Militarismus  scharf 
bezeichnet.  Die  internationale  revolutionäre  Sozialdemokratie 
hat  in  allen  Ländern  mit  Aufgebot  aller  Kräfte  den  chauvinisti- 
schen Gelüsten  der  herrschenden  Klasse  entgegen  zu  treten, 
das  Band  der  Solidarität  um  die  Arbeiter  aller  Länder  immer 
fester  zu  schlingen  und  unablässig  auf  die  Beseitigung  des 
Kapitalismus  hinzuwirken,  der  die  Menschheit  in  zwei  feind- 
liche Heerlager  getheilt  hat  und  die  Völker  gegen  einander  hetzt. 
Mit  der  Aufhebung  der  Klassenherrschaft  verschwindet  auch 
der  Krieg.  Der  Sturz  des  Kapitalismus  ist  der  Weltfriede. 

Die  Vertreter  der  Arbeiter  im  Parlament  sind  verpflichtet, 
gegen  jedes  Kriegsbudget  zu  stimmen  und  für  allgemeine  Ent- 
waffung  einzutreten. 

Ueber  die  Frage  der  Maifeier  einigte  sich  der  Kon- 
gress auf  die  von  der  Kommission  vorgeschlagene  Re- 
solution: 


1.  Der  Kongress  erneuert  den  Beschluss  des  Brüsseler  Kon- 
gresses, welcher  lautet: 

„Um  dem  ersten  Mai  seinen  bestimmten  ökonomischen 
Charakter:  der  Forderung  des  Achtstundentages  und 
der  Bekundung  des  Klassenkampfes  zu  wahren, 
beschliesst  der  Kongress: 

Der  erste  Mai  ist  ein  gemeinsamer  Demonstrations-  l 
tag  der  Arbeiter  aller  Länder,  an  dem  die  Arbeiter  die 
Gemeinsamkeit  ihrer  Forderungen  und  ihre  Solidarität 
bekunden  sollen. 

Dieser  Festtag  soll  ein  Ruhetag  sein,  soweit  dies 
durch  die  Zustände  in  den  einzelnen  Ländern  nicht  un- 
möglich gemacht  wird.“ 

2.  Der  Kongress  beschliesst  folgenden  Zusatz: 

Die  Sozialdemokratie  jedes  Landes  hat  die  Pflicht, 
die  Durchführung  der  Arbeitsruhe  am  ersten  Mai  anzu- 
streben und  jeden  Versuch  zu  unterstützen,  der  an  ein- 
zelnen Orten  und  an  einzelnen  Organisationen  in  dieser  . 
Richtung  gemacht  wird. 

3.  Der  Kongress  beschliesst  ferner: 

Die  Kundgebung  des  ersten  Mai  für  den  Achtstundentag  ' 
soll  zugleich  eine  Kundgebung  des  festen  Willens  der  Arbeiter- 
klasse sein,  durch  die  soziale  Umgestaltung  die  Klassenunter- 
schiede zu  beseitigen  und  so  den  einzigen  Weg  zu  betreten, 
der  zum  Frieden  innerhalb  jedes  Volkes  wie  zum  internationalen 
Frieden  führt. 


Widerspruch  — namentlich  bei  den  deutschen  Dele- 
girten — hatte  nur  der  Punkt  8 der  Resolution  erregt. 

Auch  die  Berathung  des  nächsten  Gegenstandes  — 
Schutz  der  Arbeiterinnen  — führte  zur  Annahme  der 
von  der  Kommission  beantragten  Resolution: 

In  Erwägung, 

dass  die  bürgerliche  Frauenbewegung  jede  besondere  gesetz- 
liche Schutzgesetzgebung  zu  Gunsten  der  Arbeiterin  zurückweist 
als  einen  Eingriff  in  die  Freiheit  der  Frau  und  ihre  Gleich- 
berechtigung gegenüber  dem  Manne; 

dass  sie  damit  einerseits  den  Charakter  unserer  heutigen 
Gesellschaft  unbeachtet  lässt,  die  auf  der  Ausbeutung  der 
Arbeiterklasse  — der  Frauen  sowie  der  Männer  — , durch  die 
Kapitalistenklasse  beruht; 

und  andererseits  die  durch  die  Differenzirung  der  Geschlechter 
geschaffene  besondere  Rolle  der  Frau  verkennt,  nämlich  ihre 
für  die  Zukunft  der  Gesellschaft  so  wichtige  Rolle  als  Mutter 
der  Kinder; 

erklärt  der  Internationale  Kongress  in  Zürich: 

Es  ist  die  Pflicht  der  Arbeitervertreter  aller  Länder,  nach- 
drücklichst  für  den  gesetzlichen  Schutz  der  Arbeiterinnen  durch 
Verwirklichung  folgender  Massregeln  einzutreten: 

1 . Einführung  eines  achtstündigen  Maximalarbeitstages  für  Frauen 
und  eines  sechsstündigen  für  Mädchen  unter  achtzehn  Jahren; 

2.  Festsetzung  eines  ununterbrochenen  Ruhetages  von  36  Stunden 
pro  Woche; 


No.  47. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


565 


3.  Verbot  der  Nachtarbeit; 

4.  Verbot  der  Frauenarbeit  in  allen  gesundheitsschädlichen  Be- 
trieben; 

5.  Verbot  der  Arbeit  schwangerer  Frauen  2 Wochen  vor  und 
4 Wochen  nach  der  Niederkunft; 

6.  Anstellung  von  Fabrikinspektorinnen  in  genügender  Anzahl 
in  allen  Industriezweigen,  wo  Frauen  beschäftigt  sind; 

7.  Anwendung  obiger  Maassregeln  auf  alle  Frauen,  welche  in 
Fabriken,  Werkstätten,  Läden,  in  der  Hausindustrie  oder  als 
Landarbeiterinnen  beschäftigt  sind. 

Eingefügt  werden  soll  nur  noch  die  Forderung,  dass 
für  gleiche  Arbeit  Männern  und  Frauen  der  gleiche  Lohn 
gebühre. 

Beim  nächsten  Berathungsgegenstande  — die  poli- 
tische Taktik  der  Sozialdemokratie:  a.  Parlamen- 
tarismus und  Wahlagitation;  b.  Direkte  Gesetz- 
gebung durch  das  Volk  — standen  sich  wiederum  der 
Antrag  der  Kommission,  der  hauptsächlich  von  den  Deut- 
schen unterstützt  wurde,  und  ein  Antrag  der  Holländer 
gegenüber.  Der  Antrag  der  Kommission  lautete: 

I.  In  Erwägung,  dass  die  politische  Aktion  nur  ein  Mittel  zur 
Erlangung  der  ökonomischen  Emanzipation  des  Proletariats  ist, 
erklärt  der  Kongress  unter  Hinweis  auf  die  Beschlüsse  des 
Brüsseler  Kongresses  über  den  Klassenkampf: 

1.  dass  die  nationale  und  internationale  Organisirung  der 
Arbeiter  aller  Länder  in  Gewerkschaften  und  andere  Organi- 
sationen zur  Bekämpfung  des  Ausbeuterthums  eine  unbedingte 
Nothwendigkeit  ist; 

2.  dass  die  politische  Aktion  nothwendig  ist  sowohl  zum 
Zweck  der  Agitation  und  der  rückhaltlosen  Kundgebung  der 
Prinzipien  des  Sozialismus,  als  auch  zum  Zweck  der  Erringung 
der  dringend  nothwendigen  Reformen. 

Daher  empfiehlt  er  den  Arbeitern  aller  Länder  die  Er- 
kämpfung  und  Ausübung  der  politischen  Rechte,  welche  sich  als 
nothwendig  erweisen,  um  die  Forderungen  der  Arbeiter  in  allen 
gesetzgebenden  und  verwaltenden  Körperschaften  auf  das  nach- 
drücklichste und  wirkungsvollste  zur  Geltung  zu  bringen  und  die 
politischen  Machtmittel  zu  erobern,  um  sie  aus  Mitteln  der 
Herrschaft  des  Kapitals  in  solche  der  Befreiung  des  Proletariats 
zu  verwandeln. 

3.  Die  Wahl  der  Formen  und  Arten  des  ökonomischen  und 
politischen  Kampfes  muss  den  einzelnen  Nationalitäten  nach 
Maassgabe  der  besonderen  Verhältnisse  ihres  Landes  überlassen 
bleiben.  Jedoch  erklärt  es  der  Kongress  für  nothwendig,  dass 
bei  diesen  Kämpfen  das  revolutionäre  Ziel  der  sozialistischen 
Bewegung,  die  vollständige  ökonomische,  politische  und  moralische 
Umgestaltung  der  heutigen  Gesellschaft,  im  Vordergrund  gehalten 
wird.  In  keinem  Fall  darf  die  politische  Aktion  als  Vorwand 
für  Kompromisse  und  Allianzen  dienen,  die  eine  Schädigung 
unserer  Prinzipien  oder  unserer  Selbstständigkeit  bedingen. 

II.  In  Erwägung,  dass  in  der  heutigen  Gesellschaft  die  Ver- 
tretungskörper das  Denken  und  Fordern  der  von  ihnen  Vertretenen 
nicht  getreu  wiederspiegeln,  und  in  fernerer  Erwägung,  dass  die 
fast  in  den  meisten  Ländern  herrschenden  Wahlkreissysteme  mit 
Majoritätswahlen  geeignet  sind,  diese  Disharmonie  zwischen  dem 
Willen  des  Volkes  und  den  Abstimmungen  seiner  Vertreter  noch 
zu  verstärken,  erklärt  sich  der  Kongress  zur  vollen  Verwirklichung 
der  Volkssouveränität  neben  dem  Vertretungssystem  für  das 
Vorschlags-  und  Bestätigungsrecht  (Initiative  und  Referendum), 
sowie  für  das  Proportional-Wahlsystem. 

Die  Holländer  beantragten  dem  gegenüber  folgende 
Resolution : 

Der  Kongress, 

in  Erwägung,  dass,  wenn  die  Regierungen  dazu  übergehen, 
durch  Arbeiter-Reformgesetze  kleine  Verbesserungen  in  der 
Lage  der  arbeitenden  Klasse  herbeizuführen,  sie  dies  nur  unter 
der  Bedingung  thun  können  und  werden , dass  diese  Ver- 
besserungen unter  ihrer  Aufsicht  zur  Ausführung  kommen; 

in  Erwägung,  dass  solche  Verbesserungen  zur  Reglemen- 
tirung  der  Arbeit  von  Regierungs  wegen  und  zur  Stellung  der 
Arbeiter  unter  obrigkeitliche  Vormundschaft  führen,  kurz,  uns 
einen  Staatssozialismus  bringen,  welcher  seinen  Charakter  als 
Staatssozialismus  auch  dann  beibehält,  wenn  die  Regierer  durch 
das  allgemeine  Wahlrecht  gewählt  werden: 

in  Erwägung  endlich,  dass  eine  dauerhafte  Verbesserung 
der  Lage  der  arbeitenden  Klassen  nicht  möglich  ist  auf  dem 
Boden  des  Privateigenthums  an  den  Produktionsmitteln; 

erklärt: 

dass  es  die  Aufgabe  der  Arbeiter  aller  Länder  sein  muss, 
bei  der  Regelung  des  Arbeitsvertrages  das  Prinzip  der  Selbst- 
bestimmung und  Selbstverwaltung  für  die  in  Betracht  kommen- 
den Arbeiter  zu  vertheidigen  und  so  alle  zur  Unterdrückung 
der  Arbeiter  bestimmten  Waffen  umzuschmieden  in  Waffen  für 
die  Befreiung  der  Arbeiter; 

erklärt  weiter,  dass  Verbesserungen  in  der  Lage  der 


Arbeiter  innerhalb  der  heutigen  Gesellschaft  von  den  Arbeitern 
nur  im  Sinne  einer  Verbesserung  ihrer  Kampfstellung  will- 
kommen geheissen  werden  können,  und  zwar  als  ein  Mittel 
zur  besseren  Organisation  und  zur  leichteren  Durchführung  der 
Expropriation  der  besitzenden  Klassen. 

Nach  langer  und  zum  Theil  recht  erregter  Diskussion 
wurde  der  Kommissionsantrag  angenommen. 

Der  letzteGegenstand,  der  noch  zu  Auseinandersetzungen 
führte,  war:  Nationale  und  internationale  Ausge- 

staltung der  Gewerkschaften.  Es  wurde  eine  im  Wort- 
laut noch  nicht  vorliegende  Resolution  angenommen,  die 
neben  den  nationalen  Verbänden  die  formelle  Gründung 
internationaler  Verbände  zur  Bedingung  macht. 

Zur  Agrarfrage  wurde  folgende  Resolution  durch  Zu- 
ruf angenommen: 

Der  Kongress  bekennt  sich  zum  Grundsatz  des  Gemein- 
eigenthums an  Grund  und  Boden. 

Der  Kongress  erklärt  es  für  eine  der  wichtigsten  Aufgaben 
der  Sozialdemokratie  aller  Länder,  auch  die  landwirthschaft- 
lichen  Arbeiter  neben  den  industriellen  zu  organisiren  und  in 
die  Kampfesreihen  des  universellen  Sozialismus  einzugliedern. 

Der  Kongress  beschliesst,  dass  alle  Nationalitäten  dem 
nächsten  Kongress  einen  Bericht  vorlegen  sollen  über  die  Fort- 
schritte der  Landagitation  und  über  die  agrarischen  Verhält- 
nisse in  den  betreffenden  Ländern.  Die  Berichte  sollen  be- 
sonders berühren,  welche  Stellung,  welche  Mittel  und  welche 
Methode  der  Agitation  die  Sozialisten  am  geeignetsten  halten 
für  die  Verhältnisse  ihrer  Länder,  für  das  Proletariat,  die  Klein- 
eigenthümer,  die  Pächter  u.  s.  w. 

Der  Kongress  beschliesst,  dass  die  Agrarfrage  wegen  ihrer 
entscheidenden  Bedeutung  und  weil  sie  auf  den  bisherigen 
Kongressen  nicht  genügend  behandelt  wurde,  auf  der  Tages- 
ordnung des  nächsten  Kongresses  in  erster  Linie  stehen  soll. 

Die  noch  in  Aussicht  genommenen  Verhandlungsgegen- 
stände: Weltstrike  und  Internationale  Organisation 
der  Sozialdemokratie  wurden  von  der  Tagesordnung 
abgesetzt. 

Der  nächste  Kongress  soll  1896  in  London  stattfinden. 

Zum  Schluss  stellten  noch  die  österreichischen  Delegirten 
folgenden  Antrag: 

Der  Kongress  beschliesst:  Es  ist  die  Zeit  gekommen,  in 

der  das  Proletariat  in  allen  Ländern,  wo  das  allgemeine  Wahl- 
recht noch  nicht  besteht,  einen  Vorstoss  unternehmen  muss 
zur  Erlangung  des  Wahlrechts  für  alle  Mündigen,  ohne  Unter- 
schied des  Geschlechts  oder  der  Rasse.  Das  Proletariat  der 
ganzen  Welt  wird  aufgefordert,  sich  an  diesem  Kampfe  zu  be- 
theiligen. 

Der  Antrag  wurde  sofort  ohne  Debatte  angenommen. 
Sodann  wurde  der  Kongress  von  Fr.  Engels  aus  London  ge- 
schlossen. 


Handwerkerfragen. 


Deutsche  Handwerker-  und  Gewerbekammern.  Be- 
reits in  der  Reichstagssitzung  vom  24.  November  1891  kün- 
digte der  Staatssekretär  v.Boetticher  an,  dass  die  verbündeten 
Regierungen  die  Absicht  hätten,  den  Klagen  über  Miss- 
stände im  Lehrlingswesen  und  über  den  Mangel  einer  wirk- 
samen Vertretung  der  Interessen  des  Handwerks  durch  eine 
Organisation  des  gesammten  Handwerks  in  der  Weise  ab- 
zuhelfen, dass  Handwerker-  und  Gewerbekammern  errichtet 
werden  sollen.  Er  deutete  zugleich  an,  dass  diese  Kammern 
für  die  einzelnen  Bezirke  eingerichtet  werden  würden,  und 
dass  ihnen  der  gesammte  Handwerkerstand  dieser  Bezirke 
unterstellt  werden  solle.  Es  wird  nunmehr  bekannt,  dass 
inzwischen  im  Reichsamt  des  Innern  ein  solcher  Gesetz- 
entwurf ausgearbeitet  worden  ist,  und  es  verlautet,  dass 
die  feste  Absicht  besteht,  diesen  Entwurf  dem  Reichstage 
nunmehr  in  der  bevorstehenden  Tagung  zugehen  zu  lassen. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 


Zur  Begutachtung  der  Ausnahmebestimmungen  über 
die  Sonntagsruhe.  An  die  Nachricht  von  der  bevor- 
stehenden Zusammenberufung  der  Unternehmervertreter 
zur  Begutachtung  der  kürzlich  veröffentlichten  Ausnahme- 
bestimmungen von  dem  Verbot  der  Sonntagsarbeit  knüpften 


566 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  47. 


wir  das  Bedauern,  dass  die  Arbeiter  nur  von  den  Gewerbe- 
aufsichtsbeamten vernommen  werden  sollten,  sprachen  aber 
die  Hoffnung  aus,  dass  den  Arbeitern  wenigstens  die  Aus- 
wahl der  zu  vernehmenden  Vertrauensmänner  überlassen 
würde.  In  dieser  Hoffnung  sind  wir  bitter  enttäuscht 
worden.  Offiziös  wird  nämlich  über  das  in  Aussicht  ge- 
nommene Enquete-Verfahren  mitgetheilt: 

„Die  Auswahl  der  Vertreter  der  Arbeitgeber  ist 
in  Preussen  den  hervorragenderen  industriellen 
Vereinen  überlassen  worden.  Von  diesen  werden,  wie 
wir  erfahren,  Vertreter  entsenden:  1.  der  Verein  deutscher 
Eisen-  und  Stahlindustrieller,  2.  der  Verein  deutscher  Sa- 
linen und  Salzbergwerke,  3.  die  Mansfelder  Kupferschiefer 
bauende  Gewerkschaft,  4.  der  Verein  für  die  berg-  und 
hüttenmännischen  Interessen  im  Aachener  Bezirk,  5.  der 
Oberschlesische  berg-  und  hüttenmännische  Verein  und 
6.  der  Verein  für  Wahrung  der  bergbaulichen  Interessen 
im  Ober-Bergamtsbezirk  Dortmund.  Ausserdem  werden 
Beamte  der  bergfiskalischen  Betriebe  an  der  Berathung 
theilnehmen.  Was  die  Arbeiter  anlangt,  so  sind  in  Preussen 
zunächst  die  Gewerbeaufsichtsbeamten  beauftragt 
worden,  durch  Intelligenz  und  Sachkunde  ausgezeichnete 
Arbeiter  der  wesentlichen  hier  in  Betracht  kommenden 
Betriebe  nach  Betriebsarten  getrennt,  zu  Versammlungen 
einzuladen,  mit  ihnen  die  Ausnahmevorschriften  zu  be- 
sprechen und  ihr  Gutachten  entgegenzunehmen.  Die  Ge- 
werbeaufsichtsbeamten sollen  bei  ihren  Befragungen  in 
erster  Linie  solche  Arbeiter  berücksichtigen,  die  als 
Gewerbegerichtsbeisitzer  oder  als  Mitglieder  der  Unfall- 
Schiedsgerichte  fungiren  oder  als  Arbeitervertreter  den 
Krankenkassenvorständen  angehören  und  von  denen  des- 
halb erwartet  werden  darf,  dass  sie  das  Vertrauen  der 
Arbeiter  geniessen,  die  sie  vertreten  sollen.  Von  den 
durch  die  Gewerbeaufsichtsbeamten  vernommenen 
Arbeitern  wird  sodann  einTheil  zu  den  Verhandlungen, 
die  in  Berlin  im  nächsten  Monat  stattfinden  werden,  hinzu- 
gezogen.“ 

Es  kann  nicht  scharf  genug  gegen  dieses  Messen  mit 
zweierlei  Maass  Einspruch  erhoben  werden.  Während  die 
Unternehmer  selbst  sich  ihre  Vertreter  wählen,  werden 
die  Arbeiter,  die  man  gnädigst  anhören  will,  durch  einen 
doppelten  Prozess  ausgesucht.  Zunächst  suchen  sich  die 
Gewerbeaufsichtsbeamten  die  ihnen  persönlich  passend  er- 
scheinenden Arbeiter  zum  Verhör  aus,  und  dann  wird  aus 
diesen  an  Ort  und  Stelle  geprüften  Leuten  wieder  ein 
Sonderausschuss  — vermuthlich  durch  die  nämlichen  Auf- 
sichtsbeamten — zur  Theilnahme  an  der  Hauptkonferenz  aus- 
gesondert. Die  persönliche  Voreingenommenheit  dieser 
Aufsichtsbeamten  ist  also  entscheidend  dafür,  was  für  Per- 
sonen denn  eigentlich  die  Wünsche  und  Beschwerden  der 
Arbeiter  zum  Ausdruck  bringen  sollen.  Thatsächlich  gar 
kein  anderer  Grund  als  das  unausrottbare  Misstrauen 
unserer  Bureaukratie  gegen  die  Arbeiter  kann  wieder  zu 
dieser  Zurücksetzung  geführt  haben,  die  den  Werth  des 
von  der  Konferenz  zu  erwartenden  Gutachtens  erheblich 
herabdrücken  muss. 

Jugendliche  Arbeiter  im  Kohlenbergbau.  Wie  offiziös 
mitgetheilt  wird,  war  dem  Ober-Bergamte  Breslau  aufgefallen, 
dass  die  jugendlichen  Arbeiter  aus  den  Steinkohlenberg- 
werken seines  Bezirks  fast  ganz  verschwunden  wären.  Es 
hatte  sich  deshalb  an  den  Vorstand  des  Oberschlesischen 
Berg-  und  Hüttenmännischen  Vereins  mit  dem  Ersuchen  ge- 
wendet, ihm  die  Gründe  dieser  Erscheinung  mitzutheilen. 
Der  Vorstand  hat  nun  als  Grund  u.  a.  auch  die  Schutz- 
bestimmungen, die  für  die  jugendlichen  Arbeiter  gelten, 
angeführt.  Als  einzig  durchgreifende  Abhülfe  empfiehlt  er 
naiverWeise,  „dass  davon  abgesehen  werde,  besondere  ge- 
setzliche Erschwerungen  mit  der  Beschäftigung  jugendlicher 
Arbeiter  zu  verbinden,  dass  man  vielmehr  den  Arbeitgebern 
zutraue,  sie  würden  auch  ohne  gesetzliche  Vorschrift  den 
jugendlichen  Arbeitern  nicht  grössere  Anstrengungen  zu- 
muthen,  als  mit  ihrer  Gesundheit  vereinbar  sei.“ 

Lohnzahlung,  Sonntagsschulen  und  Gewerbekammern 
im  Grossherzogthum  Hessen.  Auf  der  am  3.  d.  M zu 

Langen  abgehaltenen  Jahresversammlung  des  Landes- 
gewerbevereins für  das  Grossherzogthum  Hessen  kamen 


obige  Dinge  vom  Standpunkte  des  mittleren  und  kleinen 
Gewerbetreibenden' zur  Verhandlung.  Bezüglich  des  §119a 
der  Gewerbeordnung  (Lohnzahlung  an  Minderjährige  oder 
deren  Eltern)  hat  eine  Umfrage  bei  einer  Reihe  von  Orts- 
gewerbevereinen ergeben,  dass  mehrere  Vereine  sich  mit 
Vorbehalt  für  den  Erlass  beschränkender  Bestimmungen  in 
dieser  Richtung,  andere  dagegen  ausgesprochen  haben.  Es 
sollen  weitere  Erhebungen  veranstaltet  werden.  Bezüglich  des 
Sonntagsunterrichts  in  den  Handwerkerschulen  des  Landes 
wurde  ausgeführt:  die  seitherige  Uebung  war  die  Abhaltung 
des  Unterrichts  Sonntag  vormittags,  wobei  den  Schülern 
der  Besuch  des  Gottesdienstes  ohne  weiteres  gestattet 
wurde.  Auf  Grund  der  von  den  befragten  Ortsgewerbe- 
vereinen eingegangenen  Antworten  kam  der  Referent  im 
wesentlichen  zu  folgenden  Schlussfolgerungen:  1.  Mit  Ein- 
führung der  neuen  Gesetzesbestimmung  (§  120  der  Gewerbe- 
ordnung, der  den  Unterricht  während  der  Zeit  des  Haupt- 
gottesdienstes verbietet)  wird  eine  bedeutende  Abnahme 
der  Schüler  der  Sonntags-Zeichenschulen  eintreten.  2.  Die 
kleineren  Schulen  sind  zum  Theil  derart,  dass  sie  ohne 
Schüler  aus  den  Nachbarorten  nicht  bestehen  können. 

3.  Wie  die  Geschichte  lehrt,  ist  ein  derartiger  Zwang  in 
kirchlichen  Dingen  nicht  angebracht,  die  Neuerung  wird 
also  ihren  Zweck  verfehlen.  4.  Besonders  schwierig  ge- 
stalten sich  die  Verhältnisse,  wo  mehrere  Religionsgemein- 
schaften in  Frage  kommen.  5.  Die  beabsichtigte  Neuerung 
wird  im  Widerspruch  mit  der  Organisation  des  Landes- 
gewerbevereins stehen.  Zum  Schluss  wird  angeführt,  dass 
wenn  die  einschlägigen  Bestimmungen  am  1.  Oktober  1894 
Gesetz  würden,  also  die  Handwerkerschulen  während  des 
Hauptgottesdienstes  geschlossen  werden  müssten,  viele 
kleinere  Schulen  eingehen  und  die  grösseren  in  ihrer  Wirk- 
samkeit geschädigt  würden.  Der  Referent  ersucht  deshalb 
die  Grossherzogliche  Centralstelle  für  das  Gewerbe  bei  dem 
Grossherzoglichen  Ministerium  des  Innern  und  der  Justiz  dahin 
wirken  zu  wollen,  dass  die  betreffenden  Bestimmungen  auf-  : 
gehoben  oder  doch  gemildert  werden.  Der  Vorsitzende 
sagt  ein  Vorgehen  in  diesem  Sinne  zu.  Endlich  besprach  : 
man  die  von  Reichswegen  geplante  Errichtung  von  Handels-  , 
kammern.  Bei  verschiedenen  hessischen  Vereinen  be- 
gegneten die  Vorschläge  über  das  Lehrlingswesen 
wenig  Widerspruch;  was  aber  die  Organisation  des  Hand- 
werks anlangt,  so  wurde  ein  Bedürfniss  zur  Errichtung  von 
Handwerker-  oder  Gewerbekammern  nicht  anerkannt  — , 
dagegen  gewünscht,  dass  die  Organisation  des  seit  56jahren 
bestehenden  Landesgewerbevereins  in  vollem  Umfange  auf-  , 
recht  erhalten  und  durch  eine  Reihe  von  Befugnissen,  die  , 
den  Handwerkerkammern  zukommen  sollen  , erweitert 
werde.  Auch  der  engere  Ausschuss  des  Vereins  hat  sich  ' 
mit  der  Frage  beschäftigt  und  ebenfalls  betont,  dass  im 
Grossherzogthum  die  Nothwendigkeit  der  Errichtung  von 
Gewerbekammern  nicht  vorliege.  Die  Regierung  soll  nun- 
mehr ersucht  werden,  dem  Landesgewerbeverein  Gelegen- 
heit zu  geben,  sich  vor  den  demnächstigen  Verhandlungen 
im  Reichstage  zu  der  Frage  der  Handwerker-  und  Gewerbe- 
kammern noch  gutachtlich  zu  äussern. 


Arbeiterversicherung. 


Reform  der  deutschen  Knappschaftskassen.  Die  Mit- 
glieder des  Allgemeinen  Knappschaftsvereins  in  Bochum 
haben  an  den  preussischen  Handelsminister  eine  Eingabe 
folgenden  Inhalts  gerichtet:  Das  zur  Zeit  gütige  Knapp- 
schaftsstatut enthält  die  Bestimmung,  dass  nur  aktive  und 
invalide  Bergleute  Knappschaftsälteste  sein  können.  Vielen 
der  zuletzt  gewählten  Knappschaftsältesten  wird  von  den 
Zechenverwaltungen  die  Arbeit  gekündigt;  sie  erhalten  nur 
selten  oder  gar  keine  Arbeit  wieder  und  verlieren  so 
die  statutenmässige  Eigenschaft  zum  Knappschaftsältesten. 
Diese  Maassregelungen  wiederholen  sich,  so  dass  die  syste- 
matische Ausschliessung  der  neuen  Knappschaftsältesten 
als  solche  klar  zu  erkennen  ist  und  dadurch  der  berech- 
tigte Antheil  der  Bergleute  an  der  Selbstverwaltung  des 
Knappschaftsvereins  in  Frage  gestellt  wird.  Denn  nur  die 
den  Zechenverwaltungen  genehmen  Aeltesten  behalten  ihre 
Grubenarbeit  und  somit  allein  die  statutarische  Mög- 


No.  47. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


567 


lichkeit,  Knappschaftsälteste  zu  sein.  Da  es  nun  gegen 
solche  den  Antheil  der  Bergleute  an  der  Selbstverwaltung 
des  Knappschaftsvereins  vernichtende  Maassnahmen  der 
Zechenverwaltungen  keine  geeigneten  Gegenmaassregeln 
giebt,  so  bleibt  nur  übrig,  das  Statut  dahin  abzuändern,  dass 
auch  solchen  Knappschaftsältesten,  die  aus  den  angegebenen 
Gründen  feiern  müssen,  die  Berechtigung  zur  Ausübung  der 
Knappschaftsältesten-Funktionen  nicht  verloren  geht. Statuten, 
die  eine  dahin  gehende  Bestimmung  nicht  enthalten,  ist  die  Ge- 
nehmigung zu  versagen  und  das  in  Geltung  stehende  Statut 
wegen  des  nachträglich  sich  herausstellenden  Missverhält- 
nisses durch  die  Verkümmerung  der  Rechte  der  Bergleute 
zu  beanstanden.  Ferner  bestimmt  die  Nr.  10  des  § 193  des 
Statuts,  dass  der  Knappschaftsvorstand  sogen.  Oberälteste 
anstellen  kann.  Sind  die  Bedenken,  die  damals  bei  der 
Berathung  dieses  Punktes  von  den  Aeltesten  geltend  ge- 
macht worden  sind,  nur  durch  die  Erklärung  des  Vorstan- 
des beseitigt  worden,  dass  die  Bestimmung  nie  angewendet 
werden  würde,  so  ist  jetzt  eben  durch  die  Ausführung 
dieser  Befugniss  eine  grosse  Empörung  unter  den  Bergleuten 
hervorgerufen,  da  fast  ausnahmslos  die  Einrichtung  der  so- 
genannten Oberältesten  als  Spitzelthum  angesehen  und  ver- 
achtet wird.  Dazu  stellen  sich  die  verhältnissmässig  sehr 
hohen  Gehälter  und  Spesen  dieser  nur  gehässige  Kontrol- 
dienste  verrichtenden  Beamten  als  ganz  überflüssige  Geld- 
ausgaben dar. 

Gewerbegerichte,  Einigungsämter  und 
Arbeiterausschüsse. 


156  Fälle  betrafen  Beträge  . . 

. . bis 

50  11. 

9 

Ä ))  )i 

>/ 

. . von  50- 

100  „ 

In  den  während 

der  Berichtsperiode  eingebrachten  und 

verhandelten  Rechtssachen 

wurden 

wurde  sich 

wurden 

eingeklagt 

verglichen  aut 

abgewiesen 

a)  über  Lohnstreitig- 

keiten 

531  fl.  6 kr. 

205  fl.  74  kr. 

171  (1.  39 kr. 

b)  über  Akkordstrei- 

tigkeiten  .... 

584  „ 79  „ 

238  „ 35  „ 

112  „.76  „ 

c)  über  Auflösung  des 

Arbeitsverhält- 

nisses  ... 

99  „ 27  „ 

49  „ 15  „ 

5 „ 85  „ 

d)  über  Streitigkeiten 

wegen  Entschädi- 

gungs  -Ansprüche 

aus  dem  Dienstaus- 

tritte  oder  d.  Dienst- 

entlassung  . . . 

716  „ 70  „ 

216  „ 45  „ 

268  „ 70  „ 

Zusammen 

1 931 11.  82 kr. 

70911.  69  kr. 

55811.  70  kr. 

Wegen  aussergericht- 

liehen  Vergleiches  und 

Abweisung  wegen  ln- 

kompetenz  entfielen  . 

— „ — „ 

101  ,,  38  „ 

280  „ 66  „ 

Bleiben  . . . 

1 931 11.  82  kr. 

60811.  31  kr. 

278  fl.  04  kr. 

Aussergerichtlich 

i ausgeglichen 

wurden : 

a)  Streitfälle  wegen  Lohn  über 

67  fl.  66  kr. 

b) 

,,  Akkord  über  .... 

29  „ 72  „ 

c) 

„ Auflösung’  ( 

des  Arbeits- 

Verhältnisses 

über  . . . 

4 „ - „ 

Zusammen  . . . 101  fl.  38  kr. 


Gewerbegericht  in  Wien.  Die  Thätigkeit  des  Ge- 
werbegerichtes für  die  Maschinen  - und  Metall waaren- 
Industrie  in  Wien  im  Jahre  1893  umfasste  158  Klagefälle 
(gegen  156  im  Vorjahre),  die  in  41  Sitzungen  zur  Be- 
handlung gelangten. 

Von  den  verhandelten  Klagen  betrafen 


1891 

a)  Lohnstreitigkeiten  81 

b)  Streitigkeiten  über  die  Auflösung 

des  Arbeitsverhältnisses  ....  19 

c)  Streitigkeiten  über  Entschädigungs- 

ansprüche aus  dem  Dienstaustritte 
oder  der  Dienstentlassung  ...  55 

d)  Streitigkeitengegen  Krankenkassen, 

insofern  hierzu  Arbeitgeber  und 
Arbeitnehmer  Beiträge  leisten  . . 1 

Zusammen  156 
Im  Vergleichswege  wurden  erledigt  146 
durch  Urtheilsspruch 10 


1892 

101  Fälle 


45 


158  Fälle. 
149  „ 


In  den  158  Streitfällen  der  Berichtsperiode  waren  in 
156  Fällen  die  Arbeitnehmer  und  in  2 Fällen  die  Arbeit- 
geber Kläger.  151  Klagefälle  wurden  protokollarisch  auf- 
genommen und  7 Klagelälle  schriftlich  eingebracht.  Von  den 
158  Fällen  gelangten  21  zweimal  zur  Verhandlung,  und  4 Fälle 
wurden  vertagt. 


Nach  Arbeitskategorien  vertheilt,  ergeben  sich  als  Kläger: 

1891  1892 

Schlosser in  58  41  Fällen 

Spängler  „ 3 8 „ 

Giesser „ 18  27  „ 

Monteure „ 6 5 „ 

Gürtler  und  Bronzearbeiter  „4  9 „ 

Eisen-  und  Metalldreher  „ 25  13  „ 

Metalldrucker „ 5 2 „ 

Former „ — 2 „ 

Galvaniseure „ I 

Drahtmacher „ 

Büchsenmacher  .....  „ — 

Maschinenwärter  . . . . „ 3 

Zimmerer „ — 

Messerschmiede „ — 

Silberarbeiter „ 1 

Uhrmacher  „ 1 

Tischler „ 3 

Mechaniker „ 2 

Lackirer  „ 2 

Hülfsarbeiter  ....  . . „ 1 6 

Zusammen  156  158  Fälle. 


o 

5 

20 


Wegen  Inkompetenz  wurden  abgewiesen: 

a)  Lohnklagen  mit  dem  Ansprüche  auf  . 149  fl.  86  kr. 

b)  Akkordklagen  mit  dem  Ansprüche  auf  . 51  „ — „ 

c)  Klagen,  betreffend  die  Entlassung  oder 

den  Austritt  mit  dem  Ansprüche  auf  . 79  ,,  80  „ 

Zusammen  . . . 280  fl.  66  kr. 

Gewerbegericht  in  Halberstadt.  Die  Stadtverordneten- 
versammlung von  Flalberstadt  hatte  bisher  den  wieder- 
holt ausgesprochenen  Wünschen  der  Arbeiter  zum  Trotz 
die  Einrichtung  eines  Gewerbegerichts  verweigert.  Nun- 
mehr hat  der  Minister  verfügt,  dass  zwangsweise  ein  Ge- 
werbegericht für  Halberstadt  errichtet  werde. 


Wohnungszustände  und  Wohnungs- 
gesetzgebung. 

Bau  von  Arbeiterwohnungen  aus  Mitteln  der  Invali- 
ditäts-  und  Altersversicherung.  Die  Alters-  und  Invalidi- 
tätsversicherungsanstalt für  das  Königreich  Sachsen  hat 
den  Kreishauptmannschaften  mitgetheilt,  dass  in  Folge  der 
Anhäufung  von  Kapitalien  der  Zeitpunkt  gekommen  sei,  an 
Gemeinden  und  Private  gegen  mündelmässige  Sicherheit 
Gelder  auszuleihen.  An  Gemeinden  werden  die  Gelder  auf 
35  Jahre  unkündbar  mit  3-/3  pCt.,  an  Private  gegen  4 pCt.  ver- 
liehen; weiter  aber  könne  für  die  Gemeinden,  die  Darlehen 
aufnehmen,  um  Arbeiterwohnhäuser  oder  Rekonvalescenten- 
heime  zu  erbauen,  der  Zinsfuss  auf  3 r/2  pCt.  ermässigt  und 
die  Unkündbarkeit  auf  40  Jahre  verlängert  werden. 


Eingesendete  Schriften: 

Rittinghausen,  Moritz:  Die  direkte  Gesetzgebung  durch  das  Volk 
Fünfte  Auflage.  Früher  erschienen  als  Sozialdemokratische 
Abhandlungen  I — V.  Heft  (1868 — 1872).  — Zürich.  Kommissions- 
verlag der  Buchhandlung  des  Schweizer  Grütlivereins  1893.  — 
XX.  246  S. 

Köbner,  O.  Dr.,  Die  Methode  einer  wissenschaftlichen  Rückfalls- 
statistik als  Grundlage  einer  Reform  der  Kriminalstatistik. 
Sonderabdruck  aus  der  Zeitschrift  für  die  gesammte  Straf- 
rechtswissenschaft. Band  XIII.  Heft  5.  — Berlin.  J.  Guttentag. 
1893.  — 124  S. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin  W.,  Victoriastrasse  16. 


568 


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No.  47. 


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Sammlung  am ffitficc  Deröffentlidinngm 
1893  nus  ifpni  Jieirfis=  und  cBtaatsanjeiget 
Jlr.  18. 


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SSom  14.  guli  1893. 

©efet;  toegen  Sluffje&ung  birefter 
StantSfteuern. 

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2lu<§  bem  9?eid)£=  lttib  ©taat§an3eiger 
BefonbcrS  aBgebrucft. 

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geheftet  95?.  1,— , poftfrct,  95?.  1,10. 

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3um  täglichen  ©ebrauefje  bearbeitet 

Bon 

(Jkorg  Öfoert 

SftegierungSratf). 

80.  VIII  u.  101  Seite. 

Preis  p.  2,  poflfrei  p.  2,10. 


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©etoerberedjt. 

I.  ©emerbe  unb  ©emerbereebt  im  AH» 
gemeinen. 

II.  ©eroerbebebörben,  guftänbigfeit  unb 

Verfahren. 

III.  Sie  ©eroerbefreibeit. 

IV.  Sefonbere  Sefcbränfungett  ber  @e= 

roerbefreibeit. 

V.  Ser  ©eroerbebetrieb  im  Umberjieben. 

VI.  SaS  SnnungSroefen. 

VII.  ©erocrblidbc  Arbeiter  im  Allgemeinen ; 

23egriff  ber  gabrif. 

VIII.  Ser  geroerblidje  ArbeitSoertrag  im 
Allgemeinen. 

IX.  Ser  Sdjutj  beS  Arbeitslohns;  baS 
„Srucffijftem". 

X.  Ser  Sontraftbrudb;  fefte  ©ntfebeibi» 
gungen,  Sobnoermirfungen,  2obn= 
einbebaltungen. 

XI.  Sie  befonberen  SSorfcOriften  für 
minberjäbrige  Arbeiter  u.Sebrlinge. 


alt 

XII. 


XIII. 

XIV. 

XV. 


XVI. 

XVII. 


Schub  für  Seben,  ©efunbbeit  unb 
Sittlidbfeit  ber  Arbeiter  im  @e= 
merbebetriebe. 

Sie  Sonntagsruhe. 
ArbeitSorbnungen  unb  ArbeiterauS» 
febüffe. 

93efonberer  Schub  ber  grauen  unb 
Äinber  in  gabrifen  unb  gleich» 
gefteHteu  Anlagen, 
©eroerbegeriebte  u.  ©inigungScimter. 
SaS  ®oalitionSre<f)t. 

3meiter  2beil- 

Sie  2lr&ettemrfidjenutg. 

A.  Sie  Sranfenoerficberung. 

B.  Sie  UnfaHoerfrcbcrung. 

C.  Sie  gnoaIibitätS=u.  AlterSoerfidjerung. 

Anl)nng.  I.  SaS  ©efinbered^t.  II.  Alpha» 
betifebe  UeberfidE)t  ber  ttndjtigften 
bauSroirtbfcbaftlicben  gragen  ber 
gnoalibitätS»  u.  AlterSoerftcberung. 


3)aä  s^5rcuf?tfcl)e 

Vereins-  mtb  V r rfinnnthnnisre  ri)t 

unter  Befonberer  SBeriicEfic^ttgung 

vom  11 ♦ plärf  1850* 

SDargefteüt  unb  erläutert  non 

Dr.  jur.  gdttis 

Amtsrichter  in  §amm  i.  2B. 

— -l-  8°.  VI  u.  64  ©eiten.  -§ 


$rei§  geheftet  95?.  1,— , poftfrei  95?.  1,10. 

dazl  ^pctjmannS  Verlag  in  Berlin  W.,  SJJtauerftrafte  44* 


' + VVVWVVV  T'T-T  T’  T T T \r^F  T ▼ ▼ ^ T " 


t t t t t v t r1»’  tr?f  f ? r 


Carl  Heymanns  Verlag  in  Berlin  W.,  Mauerstrasse  44  — Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld  in  Berlin  W. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  28.  August  1893. 


Nummer  48. 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Erscheint  jeden  Montag. 

Zu  beziehen 

durch  alle  Buchhandlungen,  Spediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

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40  Pfennig. 


DieRegierungsvorschlägezur 
Organisation  des  Hand- 
werks. Von  GeorgLedebour. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  und 
Wirthschaftsstatistik : 

Lieferfristen  bei  Aufträgen  der 
Staatsbehörden. 

Korbmacherei  und  Strafhausarbeit. 

Möbeltischlerei  als  Hausindustrie 
in  Oberitalien. 

Landwirthschaft : 

Die  Errichtung  von  Landwirth- 
schaftskammern. 

Verbrauch  des  russischen  Bauers. 

Arbeiterzustände : 

Dauer  der  Arbeitsverpflichtung 
ländlicher  Arbeiter  in  England. 

Der  Rückgang  des  Kupferschiefer- 
bergbaues zu  Mansfeld  und  die 
Lohnverhältnisse  der  Bergleute. 

Zur  ländlichen  Arbeiterfrage. 

Gewerkschaftliche  Arbeiterbewe- 
gung: 

Internationale  Gewerkschaftskon- 
gresse : Metallarbeiter-  und  Glas- 
arbeiter-Kongress. 


Der  englische  Kohlengräberaus- 
stand. 

Politische  Arbeiterbewegung  : 

Der  internationale  Arbeiterkongress 
in  Zürich. 

Unternehmerverbände : 

Die  Unternehmerverbände  in  Eng- 
land. Von  Dr.  Emil  Eoew. 

Kartellzwang  und  deutsche  Ge- 
werbeordnung. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Die  Arbeitszeit  in  den  Spinne- 
reien. 

Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe 
in  Stuttgart. 

Arbeiterversicherung : 

Die  Prozesse  im  Gebiete  derReichs- 
Arbeiter  Versicherung. 

Alters-  und  Invalidenrenten  im 
Jahre  1892. 

Soziale  Hygiene : 

Die  Berufskrankheiten  der  Porzel- 
lanarbeiter. 


INHALT. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Regierungs- Vorschläge  zur  Organisation 
des  Handwerks. 

Wiederholt  sind  schon  in  Deutschland  Versuche  ge- 
macht worden,  die  Widerstandskraft  des  Handwerks  gegen 
die  Aussaugung  durch  den  immer  mächtiger  anschwellenden 
kapitalistischen  Grossbetrieb  zu  stärken.  Indess  was  da 
zögernd  und  tastend  durch  verschiedene  Novellen  zum 
Gewerbegesetz  in  s Werk  gesetzt  wurde,  hat  den  gewünschten 
Zweck  garnicht  oder  doch  nur  in  so  geringfügigem  Maasse 
erreicht,  dass  die  zwar  kleine,  aber  rührige  Partei  unter 
den  Handwerkern,  die  in  der  staatlichen  Ertheilung  von 
Vorrechten  ein  untrügliches  Wiederbelebungsmittel  für  das 
dahinsiechende  Handwerk  erblickt,  nicht  müde  geworden 
ist,  immer  lauter  nach  neuen  Vorrechten  und  neuer  Staats- 
unterstützung zu  rufen.  In  der  Zwangsinnung  und  dem 
Befähigungsnachweis,  also  in  dem  Ausschluss  einer  jeden 
Persönlichkeit  vom  selbstständigen  Gewerbebetriebe,  die 
nicht  eine  bestimmte  Fachprüfung  bestanden,  und  in  dem 
obligatorischen  Zusammenschluss  der  „Befähigten“  zu 
Innungen  mit  Betriebsmonopol,  glaubten  sie  den  Stein  der 
Weisen  gefunden  zu  haben,  der  alle  Schäden  des  Handwerks 
heilt  und  den  Zwerg  Kleinbetrieb  selbst  dem  Goliath  Gross- 
betrieb im  Konkurrenzkämpfe  gleichmacht. 


Jetzt  ist,  am  18.  August,  der  preussische  Handelsminister 
v.  Berlepsch  mit  einem  Entwurf  zur  fachgenossenschaft- 
lichen  Organisation  des  Handwerks  an  die  Oeffentlichkeit 
getreten,  der  zwar  den  einen  Wunsch  der  zünftlerischen 
Handwerker,  die  Errichtung  von  Zwangsinnungen  (hier 
„Fachgenossenschaften''  genannt)  verwirklicht,  aber  die  Ab- 
hängigmachung  der  Handwerksausübung  von  einem  Be- 
fähigungsnachweis ausdrücklich  für  undurchführbar  erklärt, 
und  schon  deshalb  in  seiner  gegenwärtigen  Fassung  von 
den  Vertretern  einer  Zwangsorganisation  des  Handwerks 
für  durchaus  ungenügend  und  verwerflich  erklärt  wird. 
Aber  auch  sonst  sind  sie  und  ihre  Freunde  im  Reichstag, 
die  Konservativen,  das  Zentrum  und  die  Antisemiten,  mit 
dem  Entwurf  durchaus  unzufrieden,  da  er  den  vor  wenigen 
Jahren  neu  bevorrechteten  freiwilligen  Innungen  diese  Vor- 
rechte zu  Gunsten  der  geplanten  Zwangsinnungen  nehmen 
will.  Die  bestehenden  Innungsvorrechte  beruhen  auf  der 
Novelle  zur  Gewerbeordnung  vom  Jahre  1881,  welche  den 
Behörden  Vollmacht  verleiht,  denjenigen  Innungen,  die  sich 
in  der  Fehrlingsausbildung  bewährt  haben,  das  Recht  zur 
Sehlichtung  von  Streitigkeiten  auch  zwischen  Nichtinnungs- 
mitgliedern und  ihren  Lehrlingen  zu  ertheilen,  auf  der 
Novelle  von  188+,  die  wiederum  es  dem  Belieben  der  Behörden 
anheimgiebt,  einzelne  Innungen  gänzlich  mit  der  Lehrlings- 
ausbildung zu  bevorrechten  zu  Ungunsten  der  Nichtinnungs- 
mitglieder, und  auf  der  von  1887,  die  sogar  die  Besteuerung 
der  Nichtinnungsmitglieder  zu  Innungszwecken  (Hei bergs- 
wesen, Arbeitsnachweis,  Fachschulen  und  Schiedsgerichte) 
auf  dem  nämlichen  obrigkeitlichen  Gnadenwege  ermöglicht. 
Diese  Vorrechte  würde  der  vorliegende  Entwurf  den  im 
Uebrigen  neben  den  Zwangsfachgenossenschaften  fort- 
bestehenden freiwilligen  Innungen  nehmen  und  sie  in  den 
allgemeinen  Befugnissen  jener  Zwangsfachgenossenschaften 
aufgehen  lassen. 

Es  ist  also  erklärlich,  dass  aus  den  beiden  vorstehend 
angeführten  Gründen  die  auf  Bevorrechtung  des  Hand- 
werks, auf  dessen  zünftlerische  Gestaltung  ausgehenden 
Parteien  dem  Regierungsentwurf  in  seiner  gegenwärtigen 
Verfassung  ihre  Zustimmung  versagen  würden.  Ebenso- 
wenig ist  aber  auch  von  den  auf  dem  Grundsätze  mög- 
lichster Nichteinmischung  des  Staates  in  wirthschaftliche  An- 
gelegenheiten fussenden  liberalen  Gruppen  eine  Zustimmung 
zu  einer  derartigen  Zwangsorganisation,  die  mit  mancherlei 
wichtigen  Befugnissen  ausgestattet  ist,  zu  erwarten.  Am 
wenigsten  könnte  die  das  Arbeiterinteresse  vertretende 
sozialdemokratische  Partei  mit  einem  Gesetze  sich  einver- 
standen erklären,  das  in  einer  für  das  Handwerk  geschaffe- 
nen Fachorganisation  der  Gehülfenschaft  nur  die  Stellung 
eines  Anhängsels  bei  der  wohlorganisirten  und  überall 
maassgebenden  Unternehmerschaft  anweist.  Wird  deshalb 
nicht  der  Entwurf  einer  gründlichen  Umarbeitung  unter- 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  48. 


zogen,  so  besteht  nicht  die  geringste  Aussicht  auf  dessen 
Gesetzwerdung.  In  seiner  gegenwärtigen  Fassung  würde 
sich  wahrscheinlich  auch  nicht  ein  einziges  Reichstagsmit- 
glied  dafür  erklären. 

Trotz  der  grossen  Unwahrscheinlichkeit,  dass  aus  die- 
sem Entwürfe  ein  brauchbares  Gesetz  hervorgeht,  ist  eine 
sachliche  Besprechung  doch  durchaus  gerechtfertigt,  schon 
wegen  des  anerkennenswerthen  Verfahrens  der  Regierung, 
ihre  Vorschläge  als  „das  unverbindliche  Ergebniss  vorläu- 
figer Erwägungen“  und  „als  Grundlage  für  weitere  Erörte- 
rungen“ der  öffentlichen  Kritik  zu  unterbreiten,  um  die  Er- 
gebnisse dieser  öffentlichen  Kritik  und  die  von  den  Behör- 
den zu  erwartenden  Gutachten  bei  einer  vorausgesetzten 
Neubearbeitung  des  Entwurfes  berücksichtigen  zu  können. 

Zwei  Hauptzwecke  verfolgt  der  Entwurf:  1.  dem  Hand- 
werk eine  korporative  Organisation  zu  geben;  2.  auf  eine 
bessere  Regelung  des  Lehrlingswesens  hinzuwirken.  In 
solcher  einfachen  Form  werden  diese  Gedanken  kaum  von 
irgend  einer  Seite  Anfechtung  erfahren;  der  zweite  Wunsch, 
auf  das  Lehrlingswesen  fördernd  einzuwirken,  das  bei  uns 
gar  sehr  im  Argen  liegt,  ist  sogar  allgemeiner  Zustimmung 
gewiss.  Es  kommt  indess  alles  auf  das  „Wie?“  der  Aus- 
gestaltung jener  beiden  Grundgedanken  an. 

Mag  man  nun  auch  noch  so  sehr  überzeugt  sein,  dass 
sich  für  die  meisten  Gewerbe  der  Uebergang  aus  der  hand- 
werksmässigen  Form  in  die  des  kapitalistischen  Grossbetriebs 
kaum  aufhalten  und  sicher  nicht  verhindern  lässt  durch 
noch  so  fein  ausgetüftelte  Organisationen,  so  kann  man 
doch  völlig  damit  einverstanden  sein,  dass  dem  Handwerk, 
das  noch  heute,  die  Hausindustrie  allerdings  eingeschlossen, 
in  Deutschland  etwa  die.  Hälfte  der  gesammten  gewerblich 
thätigen  Personen  beschäftigt,  die  Uebergangszeit  möglichst 
erleichtert  wird,  sofern  das  geschehen  kann  ohne  das  Ge- 
meinwohl zu  schädigen.  Es  ist  nun  früher  schon  in  diesen 
Blättern  *)  darauf  hingewiesen  worden,  dass  die  Handwerker 
bisher  durch  ihre  geringe  Ausnutzung  der  Gerechtsame  zur 
Bildung  freier  Innungen2)  selbst  kein  genügendes  Interesse 
an  der  Organisation  des  Handwerks  bewiesen  haben,  und 
dass  es  deshalb  eine  übel  angebrachte  Politik  sein  würde, 
ihnen  eine  Organisation  aufzudrängen,  die  nur  ein  kleiner 
Theil  von  ihnen  begehre.  Diesem  Urtheil  können  wir  auch 
heute  noch  beipflichten.  Es  wäre,  ehe  weitere  Schritte  ge- 
than  werden,  wenigstens  durch  eine  Enquete  festzustellen,  ob 
denn  die  Mehrheit  der  deutschen  Handwerker  überhaupt 
einverstanden  ist  mit  einer  Zwangsorganisation. 

Was  nun  die  geplante  Organisation  selbst  anbetrifft,  so 
sind  unter  dem  Namen  Fachgenossenschaften  für  die 
einzelnen  Handwerkszweige  innerhalb  der  zu  bildenden 
Handwerkskammerbezirke  besondere  Verbände  in  Aus- 
sicht genommen.  Aus  den  sämmtlichen  Fachgenossen- 
schaften der  landschaftlich  abzugrenzenden  Handwerks- 
kammer-Bezirke sollen  dann  durch  Wahl  die  Handwerks- 
kammern hervorgehen,  die  als  Aufsichts-  und  Central- 
behörden über  den  Fachgenossenschaften  stehen  würden. 
Der  Name  „Fachgenossenschaft“  ist  augenscheinlich  ein 
Verlegenheitsprodukt.  Der  zweckentsprechende  und  histo- 
risch berechtigte  Name  „Innung“  ist  durch  die  bestehenden 
freien  Innungen  mit  Beschlag  belegt;  das  Wort  „Zunft“  steht 
aus  der  zopfigen  Verfallzeit  der  Zünfte  in  zu  üblem  Ange- 
denken; da  hat  man  denn  mit  büreaukratischem  Ungeschick 
in  der  Wortbildung  zu  der  Bezeichnung  „Fachgenossen- 
schaft“ gegriffen,  die  dem  Wortsinn  nach  völlig  gleich- 
bedeutend ist  mit  dem  Namen  der  zu  ganz  anderen  Zwecken 
in’s  Leben  gerufenen  und  aus  ganz  anderen  Elementen  ge- 
bildeten „Berufsgenossenschaften". 

')  Sozialpolitisches  Centralblatt  Bd.  I No.  9 S.  122.  „Die  For- 
derungen der  Iland werkerpartei“  von  Adolf  Braun. 

J)  Am  I.  Dezember  1890  gab  es  in  Deutschland  nur  10  223 
Innungen  mit  321  219  Innungsmitgliedern,  die  kaum  den  zehnten 
Theil  der  deutschen  Handwerksmeister  ausmachen. 


Kommt  es  wirklich  zu  der  geplanten  Bildung,  so  wird 
nach  dem  voraussichtlich  dann  nicht  zu  fernen  Eingehen 
der  jetzigen  freien  Innungen  man  auf  die  sprachlich  und 
historisch  berechtigte  Bezeichnung  „Innung“  für  die  ,, Fach- 
genossenschaften“ zurückgreifen  können.  Vielleicht  könnte 
man  jetzt  aber  schon  unter  der  sinngemässen  Bezeichnung 
„Gesammt-Innung“  an  Stelle  von  „Fachgenossenschaft“ 
die  neuen  Körperschaften  den  „freien  Innungen“  gegen- 
überstellen. Fallen  dereinst  die  letzteren  aus,  so  ergiebt 
sich  der  Fortfall  des  Vorsatzes  „Gesammt“  in  der  ersteren 
Bezeichnung  von  selbst. 

Zugehörig  zu  den  Fachgenossenschaften  sollen  alle  Ge- 
werbtreibende  sein,  die  ein  Handwerk  betreiben  oder 
regelmässig  nicht  mehr  als  20  Arbeiter  beschäftigen.  Diese 
rein  mechanische  Abgrenzung  der  handwerksmässigen  Be- 
triebe hat  ihre  schweren  Bedenken.  Bisher  ist  es  noch 
nicht  gelungen,  eine  wirklich  brauchbare  Begrenzung  zu 
erzielen,  für  statistische  Zwecke  (Gewerbezählung)  hat  man 
die  Zahl  von  fünf  Gehülfen  als  Höchstgrenze  im  Hand- 
werksbetrieb festgehalten.  Die  deutsche  Gewerbeordnung 
(§  134  und  § 134a)  nennt  Fabrik  jeden  Betrieb  mit  mehr 
als  20  Gehülfen.  Neuerdings  wurde,  um  die  Intelligenz  in 
stärkerer  Anzahl  in  die  Handwerkervereinigungen  hinein- 
zuziehen, die  Hinausschiebung  der  Grenze  bis  auf  25  Ge- 
hülfen vorgeschlagen.  Schon  Haushofer1)  hat  darauf 
hingewiesen,  dass  die  Zahl  der  Gehülfen  eben  so  wenig 
wie  die  Anwendung  von  Maschinen  ein  entscheidendes 
Kriterium  bilde  für  die  Scheidung  des  Handwerks  vom 
Grossbetrieb,  dass  vielmehr  in  weit  höherem  Grade  die  ka- 
pitalistische Betriebsweise  und  zwar  insbesondere  die  Unter- 
nehmerarbeit (ob  nämlich  der  Unternehmer  selbstthätig  mit- 
producirt  oder  nur  als  Betriebsleiter  thätig  ist)  dafür  maass- 
gebend sei.  Wenn  nun  auch  der  Regierungsentwurf  vor- 
sieht, dass  „durch  Beschluss  des  Bundesraths  für  bestimmte 
Gewerbe  die  Beschäftigung  einer  geringeren  Anzahl  von 
Arbeitern  als  Grenze  festgesetzt  werden  kann“,  so  wird 
dadurch  doch  nicht  das  Prinzip  der  mechanischen  Abgren- 
zung durchbrochen,  sondern  nur  für  die  einzelnen  Gewerbe 
eine  andersstufige  Abgrenzung  in  Aussicht  genommen.  Wir 
meinen,  dass  zur  Korrektur  dieser  schwere  Härten  bedin- 
genden Abgrenzungsform  den  Betroffenen  ein  Rekurs  gegen 
die  Einpferchung  in  die  Zwangsgenossenschaft  offen  ge- 
halten werden  sollte.  Gewerbetreibenden,  die  glaubhaft 
nachweisen  können,  dass  ihr  Betrieb  nicht  den  hand- 
werksmässigen Charakter  trägt,  müsste  die  Ausscheidung 
aus  der  Fachgenosseqschaft  oder  der  Nichtzutritt  er- 
möglicht werden,  auch  wenn  sie  weniger  als  20  Ge- 
hülfen, oder  wie  sonst  durch  Bundesrathsverfügung  die 
Grenze  für  das  einzelne  Gewerbe  gezogen  sein  mag,  be- 
schäftigen. Zu  befinden  hätte  über  einen  solchen  Rekurs 
die  zuständige  Handwerkskammer,  event.  wäre  auch  noch 
ein  Appell  an  die  Gewerberäthe  in  Aussicht  zu  nehmen. 
Bei  der  Errichtung  der  Fachgenossenschaften  müsste,  um 
unnöthige  Scherereien  zu  vermeiden,  der  Rekurs  aufschie- 
bende Wirkung  auf  den  Eintritt  des  Rekurrirenden  in  die 
Fachgenossenschaft  bis  zur  Entscheidung  durch  die  Hand- 
werkskammer oder  den  Gewerberath  haben. 

Andererseits  müsste  aber  auch  den  mit  mehr  als  20 
Gehülfen  arbeitenden  Gewerbetreibenden,  falls  sie  auf  dem 
nämlichen  Wege  das  Handwerksmässige  ihres  Betriebes 
glaubhaft  machen  können,  der  Beitritt  zu  der  Fachgenossen- 
schaft offen  gehalten  werden. 

Dass  zum  Betrieb  eines  Handwerks  und  damit  also 
auch  zum  Eintritt  in  die  Fachgenossenschaft  kein  Be- 
fähigungsnachweis verlangt  wird,  hat  den  Zunftfreunden 
die  schmerzlichste  Enttäuschung  bereitet,  doch  sprechen  sich 


')  Dr.  Max  Haushofer:  Das  deutsche  Kleingewerbe  in 

seinem  Existenzkämpfe  gegen  die  Grossindustrie.  Berlin  188o. 
Carl  Habel. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAI .BLATT. 


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No.  48. 


die  Motive  zu  dem  Gesetzentwurf  so  unzweideutig  und 
entschieden  gegen  eine  solche  Bestimmung  aus,  dass  es 
überflüssig  erscheint,  durch  eine  abermalige  Darlegung  ihrer 
Schädlichkeit  und  thatsächlichen  Undurchführbarkeit  offene 
Thüren  einzustossen. 

Aus  den  Bestimmungen  über  die  Statuten  (§  VII  des 
Entwurfes)  ist  hervorzuheben,  dass  im  Falle  die  General- 
versammlung kein  Statut  zu  Stande  bringt,  oder  die  Ge- 
nehmigung durch  die  höhere  Verwaltungsbehörde  wieder- 
holt versagt  wird,  die  nämliche  höhere  Verwaltungsbehörde 
nach  eigenem  Ermessen  ein  Statut  mit  rechtsverbindlicher 
Kraft  erlässt.  Es  ist  das  die  logische  Folgerung  des 
Zwanges.  Um  so  mehr  aber  lenkt  diese  Bestimmung  die 
Aufmerksamkeit  darauf,  dass  doch  unmöglich  etwas  er- 
spriessliches  für  das  Handwerk  durch  eine  Körperschaft 
geschaffen  werden  kann,  die  einem  solchen  Zwange  ihren 
Ursprung  verdanken  würde. 

§ VIII  bis  XI  beschäftigen  sich  mit  den  Organen  und 
Aemtern  der  Fachgenossenschaft.  Die  Generalversammlung 
der  Mitglieder  wählt  den  Vorstand,  die  Ausschüsse  und  die 
Vertreter  in  die  Handwerkskammer  und  regelt  die  allgemeinen 
Geschäfte  in  der  üblichen  Weise.  Stimmberechtigt  soll  jedes 
„schöffenbare“  Mitglied  sein,  das  das  25.  Lebensjahr  über- 
schritten hat.  Um  zu  einem  Amte  gewählt  zu  werden,  ist 
aber  recht  überflüssiger  Weise  das  30.  Lebensjahr  erforder- 
lich, während  man  selbst  Reichstagsabgeordneter  mit 
25  Jahren  und  Landesfürst  sogar  schon  mit  18  Jahren 
werden  kann.  Es  ist  diese  Einschränkung  ein  Resultat  un- 
gerechtfertigter bureaukratischer  Aengstlichkeit.  Unerfahrene 
und  unreife  Personen  würden  so  wie  so  schwerlich  in  che 
Aemter  gewählt  werden.  Für  wirklich  befähigte  Mitglieder 
sollte  aber  ein  jugendliches  Alter  kein  Hinderniss  sein,  sich 
dem  Gemeinwohl  nutzbar  zu  machen. 

Die  Aufgaben,  die  den  Fachgenossenschaften  durch 
den  Regierungsentwurf  zugewiesen  werden,  zerfallen  in 
obligatorische  und  fakultative.  Es  sind  das: 

a)  Obligatorische  (§  XII). 

1.  Die  Pflege  des  Gemeingeistes  sowie  die  Aufrechterhal- 
tung  und  Stärkung  der  Standesehre  unter  den  Genossen, 

2.  die  Forderung  eines  gedeihlichen  Verhältnisses  zwischen 
Meistern  und  Gesellen,  sowie  die  Fürsorge  für  das  Herbergs- 
wesen der  Gesellen  und  für  die  Nachweisung  von  Ge- 

. seile nar beit, 

3.  die  nähere  Regelung  des  Lehrlingswesens  und  die 
Fürsorge  für  die  technische,  gewerbliche  und  sittliche  Ausbil- 
dung der  Lehrlinge,  der  Erlass  von  Vorschriften  über  das  Ver- 
halten der  Lehrlinge,  die  Art  und  den  Gang  ihrer  Ausbildung, 
die  Form  und  den  Inhalt  der  Lehrverträge,  sowie  über  die 
Verwendung  von  Lehrlingen  ausserhalb  des  Gewerbes, 

4.  die  Entscheidung  über  die  zwischen  den  Mitgliedern  der 
Fachgenossenschaft  und  ihren  Lehrlingen  entstehenden  Streitig- 
keiten, welche  sich  auf  den  Antritt,  die  Festsetzung  oder  Auf- 
hebung des  Lehrverhältnisses,  auf  die  gegenseitigen  Leistungen 
aus  demselben,  auf  die  Ertheilung  oder  den  Inhalt  der  Ar- 
beitsbücher oder  Zeugnisse  beziehen, 

5.  die  Bildung  von  Prüfungs-Ausschüssen  für  einzelne 
Gewerbegruppen  zu  dem  Zwecke,  Lehrlinge  und  Gesellen  auf 
ihren  Antrag  einer  Prüfung  zu  unterziehen  und  über  den  Er- 
folg derselben  ein  Zeugniss  auszustellen. 

b)  Fakultative  (§  XIII). 

1.  Veranstaltungen  zur  Förderung  der  gewerblichen,  tech- 
nischen und  sittlichen  Ausbildung  der  Gesellen,  Gehilfen  und 
Lehrlinge  zu  treffen  und  Fachschulen  zu  errichten  und  zu  leiten, 

2.  über  den  Besuch  der  von  ihnen  errichteten  Fortbildungs- 
und Fachschulen  Vorschriften  zu  erlassen,  soweit  dieser  Besuch 
nicht  durch  Statut  oder  Gesetz  geregelt  ist. 

Abgesehen  von  den  mehr  ethischen  Bestrebungen  des 
Absatzes  1 greifen  diese  Bestimmungen  tief  in  das  ge- 
sammte  wirthsehaftliche  Leben  ein.  Die  Ueberti  agung  der 
Fürsorge  für  Herbergswesen,  Arbeitsnachweis  und  Lehrlings- 
ausbildung von  den  freien  Innungen  auf  die  Zwangs- 
genossenschaften wird  den  ersteren,  wie  wir  vorhin  bereits 


andeuteten,  die  Lebensluft  nehmen,  sie  zu  Wohlthätigkeits- 
vcreincn  für  die  Mitglieder  machen  und  sie  allgemach  zum 
Absterben  bringen.  Wenn  nun  aus  dieser  Ersetzung  der 
bisher  den  Charakter  kleinerer  Vereinigungen  tragenden 
Innungen  durch  die  alle  Handwerker  umfassenden  Fach- 
genossenschaften kaum  ein  Schaden  entstehen  könnte,  so 
birgt  doch  die  Machtvollkommenheit,  die  der  Entwurf 
den  Fachgenossenschaften  über  die  Arbeiter  verleihen  will, 
grosse  Gefahren  für  das  Gemeinwohl.  Die  Arbeiter-Gewerk- 
schaften haben  sich  früher  aus  eigner  Kraft  des  Ilerbergs- 
wesens  und  des  Arbeitsnachweises  für  Gesellen  mit  Erfolg 
angenommen.  Indem  diese  Gebiete  einem  Unternehmer- 
verbande  überwiesen  werden,  schränkt  man  sie  in  ihrer 
Bewegungsfreiheit  und  Selbstständigkeit  noch  mehr  ein,  als 
es  durch  die  vielen  Fesseln  des  Koalitiönsrechts  in  Deutsch- 
land bisher  schon  geschah.  Ruht  der  Arbeitsnachweis  in 
Deutschland  in  den  Händen  eines  geschlossenen  Verbandes 
aller  Unternehmer,  so  wird  die  Brodlosmachung  solcher 
Arbeiter,  die  sich  durch  ihre  politische  oder  gewerkschaft- 
liche Thätigkeit  missliebig  gemacht  haben,  mit  grösserer 
Leichtigkeit  sich  durchführen  lassen,  als  es  bisher  leider 
schon  der  Fall  gewesen  ist. 

Nun  sollen  zwar  die  Gehilfen  durch  einen  Ausschuss 
bei  der  Verwaltung  der  fachgenossenschaftlichen  Angelegen- 
heiten vertreten  sein.  Für  die  Wählbarkeit  zu  diesem  Aus- 
schuss ist  die  nämliche  Einschränkung  auf  die  Altersgrenze 
von  30  Jahren  vorgesehen,  wie  bei  der  Wahl  der  sonstigen 
Genossenschaftsämter:  sie  ist  aber  ausserdem  noch  ver- 
schärft durch  die  Bestimmung,  dass  der  Kandidat  länger  als 
ein  Jahr  bei  Mitgliedern  der  Fachgenossenschaft  in  Arbeit 
gestanden  haben  muss.  Kommt  keine  Wahl  zu  Stande,  so 
kann  die  Aufsichtsbehörde  nicht  nur  beliebige  Gehilfen, 
sondern  sogar  „andere  Personen“  mit  den  Obliegenheiten 
des  Gehilfenausschusses  betrauen.  Ueber  diese  Obliegen- 
heiten giebt  der  § XVIII  folgendermaassen  Aufschluss: 

Der  Gehilfenausschuss  ist  berechtigt  zur  Mitwirkung  bei 
Regelung  der  Lehrlingsverhältnisse,  der  Abnahme  der  Gesellen- 
prüfungen, der  Entscheidung  von  Streitigkeiten  zwischen  Mit- 
gliedern der  Fachgenossenschaft  und  ihren  Lehrlingen,  sowie 
bei  der  Begründung  und  Verwaltung  aller  Einrichtungen,  die 
die  Interessen  der  Gehilfenschaft  berühren. 

Seine  Mitglieder  nehmen  an  der  Berathung  und  Beschluss- 
fassung der  Fachgenossenschaft  über  die  vorstehend  bezeich- 
neten  Angelegenheiten  mit  vollem  Stimmrechte  theil.  Kommt 
ein  Beschluss  gegen  die  Stimmen  seiner  sämmtliehen  Mitglieder 
zu  stände,  so  kann  der  Gehilfenausschuss  mit  aufschiebender 
Wirkung  die  Entscheidung  der  Handwerkskammer  beantragen. 

Bei  der  Abnahme  der  Gesellenprüfungen,  bei  der  Entschei- 
dung von  Streitigkeiten  zwischen  Angehörigen  der  Fachgenossen- 
schaft und  ihren  Lehrlingen,  und  bei  der  Verwaltung  von  Ein- 
richtungen, für  welche  die  Gehilfen  Aufwendungen  zu  machen 
haben,  sind  die  Mitglieder  des  Gehilfenausschusses,  abgesehen 
von  der  Person  des  Vorsitzenden,  in  dem  gleichen  Maasse  zu 
betheiligen,  wie  die  Mitglieder  der  Fachgenossenschaft. 

Der  Gehilfenausschuss  ist  ferner  berechtigt,  Anträge  be- 
züglich aller  seiner  Zugehörigkeit  angehörenden  Gegenstände 
bei  der  Fachgenossenschaft  und  der  Handwerkskammer  zu 
stellen,  welche  über  dieselben  zu  beschliessen  haben. 

Diese  Befugnisse  scheinen  auf  den  ersten  Blick  der 
Gehülfenschaft  ein  ausgiebiges  Mitbestimmungsrecht  zu 
sichern.  Trotzdem  werden  die  Vertreter  der  Gehülfenschaft 
einen  wesentlichen  Einfluss  nicht  ausüben  können,  da  sie 
hinter  sich  keine  der  Unternehmerschaft  gleich  organisirte 
Macht  haben  und  zweifellos  auch  den  Absichten  der  Re- 
gierung nach  nicht  in  gleicher  Anzahl  mit  den  Lhiter- 
nehmern  in  der  Verwaltung  der  Fachgenossenschaft  ver- 
treten sein  werden.  Zwar  schweigt  der  Entwurf  sich  über 
die  Verhältnisszahl  von  Unternehmern  und  Arbeitern  in 
der  Genossenschaftsverwaltung  völlig  aus,  und  unter  den 
6 Fragen,  die  in  der  Einleitung  an  die  zur  Begutachtung 
aufgeforderten  Behörden  gestellt  werden,  beziehen  sich  die 


572 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  48. 


3.  und  die  5.  auf  das  Verhältniss  der  Anzahl  der  Gehülfen 
zu  den  Unternehmern  sowohl  im  Vorstande  der  Fachge- 
nossenschaft wie  in  der  Handwerkskammer.  Nun  ist  es 
aber  bekannt,  dass  bei  einer  früheren  Gelegenheit  die  Re- 
gierung sich  für  das  Verhältniss  von  3 zu  I als  das  pass- 
lichste  ausgesprochen  hat.  Baut  sich  doch  auch  der  Ent- 
wurf in  seiner  Gesammtheit  auf  der  Voraussetzung  auf, 
dass  der  Gehülfenvertretung  nur  der  Platz  eines  minder- 
werthigen  Anhängsels  des  Unternehmervorstandes  einge- 
räumt wird.  Das  tritt  z.  B.  hervor  in  dem  Einspruchsrecht 
mit  aufschiebender  Kraft  gegen  die  Beschlüsse  des  Gesammt- 
vorstandes,  welches  Einspruchsrecht  den  Gehülfenvertretern 
verliehen  ist,  wenn  sie  einstimmig  sind.  Die  abweichende 
Meinung  eines  einzigen  Gehülfenvertreters  kann  dieses  win- 
dige Recht  völlig  illusorisch  machen. 

In  wohlthuendem  Gegensatz  hierzu  steht  die  Auffassung, 
die  der^  schweizerische  Gewerbeverein  in  seinem 
Gutachten  zur  Frage  der  Gewerbeorganisationen  über  die 
Nothwendigkeit  der  Gleichberechtigung  zwischen  Unter- 
nehmern und  Arbeitern  bethätigt. 

In  seiner  Delegirtenversammlung  vom  12.  Juni  1892  in 
Schaffhausen  erklärte  er: 

„Damit  Vereinbarungen  betreffend  Lohntarif,  Werkstatt- 
ordnung u.  dergl.  auf  friedlichem  Wege  zu  Stande  kommen 
und  die  gegenseitigen  Rechte  und  Pflichten  in  gerechter  und 
billiger  Weise  gelöst  werden  können,  bedarf  es  gemeinsamer 
gesetzlicher  Organe  (Genossenschaftskammern),  in  welchen 
Arbeitgeber  und  Arbeiter  zu  gleichen  Th  ei  len  sich 
durch  se  1 bst  ge  wähl  te  Vertrauensmänner  vertreten 
lassen.“  *) 

Die  Verfasser  des  deutschen  Regierungsentwurfes 
müssen  sich  in  der  Illusion  gewiegt  haben,  dass  das  alte 
patriarchalische  Verhältniss  zwischen  Handwerksmeistern 
und  Gehülfen  durch  irgend  welche  Organisationen  sich  künst- 
lich wieder  hersteilen  lasse,  während  die  geplante  Organisation 
des  Handwerks,  wenn  sie  lebensfähig  und  heilsam  sein  soll,  die 
Thatsache  zum  Ausdruck  bringen  muss,  dass  die  Arbeiter 
den  Handwerksmeistern  genau  so  gut  wie  den  Fabrikanten 
und  sonstigen  kapitalistischen  Unternehmern  im  Interessen- 
kampfe gegenüberstehen.  Der  organisirten  Unternehmer- 
schaft muss  deshalb  die  organisirte  Arbeiterschaft  gleich- 
berechtigt zur  Seite  gestellt  und  in  den  gemeinschaftlichen 
Organisationen,  mögen  sie  heissen,  wie  sie  wollen,  und  Be- 
fugnisse haben,  welche  sie  wollen,  müssen  die  Vertreter 
beider  Interessengruppen  in  gleicher  Zahl  und  mit  gleichen 
Rechten  Zusammenwirken.  Eine  anders  gestaltete  Gehülfen- 
vertretung, die  sich  nicht  auf  geschlossene  Arbeiterverbände 
stützt,  sinkt  zum  dekorativen  Beiwerk  der  Interessenvertre- 
tung der  Unternehmer  herab.  Das  zu  verhüten  und  den 
Arbeitern  die  G 1 e i c h b e r e h t i g u n g mit  den  Unter- 
nehmern zu  sichern,  muss  die  wesentlichste  Aufgabe 
bei  der  Verbesserung  des  Regierungsentwurfs  sein. 

Die  Mitglieder  der  als  Aufsichtsbehörde  den  ver- 
schiedenen Fachgenossenschaften  eines  Bezirkes  über- 
geordneten Handwerkskammern  sollen  auf  6 Jahre  ge- 
wählt werden;  je  nach  3 Jahren  scheidet  die  Hälfte  der 
Gewählten  aus.  Als  berathendes,  nicht  beschliessendes 
Mitglied  soll  den  Sitzungen  der  Handwerkskammern  ein 
Regierungskommissar  beiwohnen,  der  die  Beschlüsse  mit 
aufschiebender  Wirkung  bis  zur  Entscheidung  der  Aufsichts- 
behörde beanstanden  kann.  Die  Befugnisse  der  Handwerks- 
kammer erstrecken  sich  auf  die  Oberaufsicht  und  Mitwirkung 
bei  den  sämmtlichen  den  Fachgenossenschaften  zugewiesenen 
Angelegenheiten.  Ausserdem  ist  ihnen  ein  sehr  bedenk- 
liches Anrecht  auf  Mitwirkung  bei  der  Ueberwachung  der 
Arbeiterschutz  - Bestimmungen  der  Gewerbeordnung  zu- 

l) Schweizerisches  Bundesblatt  vom  30.  November  1892. 
Botschaft  des  Bundesrathsan  die  Bundesversammlung,  be- 
treffend Einführung  des  Rechts  der  Gesetzgebung  über  das  Ge- 
werbewesen. 


gedacht,  bedenklich  insbesondere  deshalb,  weil  die  Ge- 
hilfenvertreter in  den  Handwerkskammern  die  nämliche 
Nebenrolle  spielen  sollen  wie  im  Vorstande  der  Fach- 
genossenschaften, und  weil  deshalb  die  Kammern  als  Ver- 
treter der  Unternehmerinteressen  ganz  ungeeignet  sind  zur 
Ausübung  des  gegen  die  Unternehmer  sich  kehrenden 
Arbeiterschutzes, 

Ausserdem  sind  die  Handwerkskammern  dazu  aus- 
ersehen, auf  Ansuchen  der  Behörden  Berichte  und  Gut- 
achten über  gewerbliche  Fragen  zu  erstatten  und  können 
ihrerseits  „die  zur  Förderung  des  Kleingewerbes  geeigneten 
Einrichtungen  und  Maassnahmen  berathen  und  bei  den  Be- 
hörden anregen.“  In  dieser  Hinsicht  gewährt  der  Entwurf 
also  bei  weitem  nicht  das,  was  der  Sekretär  der  Altonaer 
Handelskammer  Thilo  Hampke1 i))  nach  einschlägiger  Prü- 
fung der  Frage  als  unumgänglich  noth wendig  für  eine  er- 
spriessliche  Wirksamkeit  solcher  Organisationen  erklärt  hat, 
dass  nämlich  der  Regierung  die  Verpflichtung  auferlegt 
werde,  die  Handwerkskammern  gutachtlich  zu  hören  vor 
der  Ausarbeitung  eines  jeden  Gesetzentwurfes  oder  eines 
jeden  Verwaltungsaktes,  der  sich  auf  die  Interessen  des 
Kleingewerbes  bezieht.  Also  auch  an  den  Handwerks- 
kammern ist  vieles  zu  bessern. 

Die  wichtigen  Bestimmungen  über  das  Lehrlings- 
wesen, die  im  zweiten  Haupttheil  des  Entwurfes  zusammen- 
gefasst sind,  aber  auch  durch  verschiedene  Vorkehrungen 
des  ersten  Theils  berührt  werden,  müssen  wir  einer  be- 
sonderen Besprechung  unterziehen,  wie-  es  sich  ja  auch 
lohnen  wird,  auf  manche  sonstige  Einzelheiten  des  Entwurfs 
im  Anschluss  an  die  öffentliche  Diskussion  später  zurück- 
zukommen. 

Berlin-Schöneberg.  Georg  Ledebour. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Lieferfristen  bei  Aufträgen  der  Staatsbehörden.  Aus 

Kreisen  der  Kleinindustrie  ist  darüber  geklagt  worden,  dass 
bei  dem  Abschluss  von  Lieferungsverträgen  von  den  Staats-  j 
Verwaltungen  häufig  die  Lieferfristen  zu  knapp  bemessen  ; 
würden.  Meist  sei  dies  die  Folge  einer  verspäteten  Bestei-  [ 
lung  der  Lieferung,  die  dann  in  gedrängter  Zeit  bewerkstelligt  ' 
werden  solle,  während  der  die  Arbeitskräfte  unter  Zuhülfe- 
nahme  von  Ueberschichten  und  Sonntagsarbeit  übermässig  ; 
angestrengt  werden  müssten.  Nach  Fertigstellung  des  Auf- 
trags pflege  später  häufig  in  dem  betreffenden  Betriebe  ein 
Mangel  an  Beschäftigung  einzutreten,  der  den  Betriebs- 
inhaber zwinge,  einen  Theil  seiner  Leute  zu  entlassen.  Um 
diesen  Uebelständen  abzuhelfen,  hat  der  Minister  des  Innern 
die  Regierungspräsidenten  ersucht,  auf  die  zur  Verwaltung 
des  Innern  gehörigen  Behörden  in  dem  Sinne  einzuwirken, 
dass  die  Lieferungen,  die  von  den  Behörden  zu  vergeben 
sind,  soweit  es  angeht,  gleichmässig  über  das  ganze  Jahr 
vertheilt  werden.  Dies  gilt  besonders  bei  der  Vergebung 
der  Herstellung  von  Bekleidungsstücken.  So  wird  in  den 
Betrieben  eine  gewisse  Stetigkeit  erzielt,  die  den  Betriebs- 
inhabern und  den  Arbeitern  zu  gute  kommt.  Vor  allem  soll 
darauf  gehalten  werden,  dass  alle  Vergebungen  von  Liefe- 
rungsarbeiten möglichst  frühzeitig  erfolgen,  und  dass  aus- 
reichende Lieferungsfristen  gewährt  werden,  die  ein  ruhiges 
und  gleichmässiges  Fertigstellen  der  Arbeiten  gestatten. 

Korbmacherei  und  Strafhausarbeit.  Der  Innungsver- 
band der  Korbmacher  Deutschlands  hatte  beim  preussischen 
Abgeordnetenhause  Beschwerde  über  die  Konkurrenz  der 
Strafhausarbeit  erhoben.  Die  Eingabe  wurde  der  Petitions- 
kommission überwiesen.  Nach  den  vom  Referenten  ein- 
gezogenen  Erkundigungen  wären  in  Deutschland  etwa  5600 


i)  Dr.  Thilo  Hampke.  Handwerker-  oder  Gewerbekammern.’' 
Jena.  Gustav  Fischer  1893. 


No.  48 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


573 


I 

selbstständige  Korbmacher  vorhanden,  von  denen  2200  auf 
das  Königreich  Preussen  entfielen.  Diese  Korbmacher  wären 
zum  grössten  Theil  kleine  Leute,  die  ihr  Gewerbe  ohne  Ge- 
sellen betrieben;  viele  von  ihnen  hätten  es  auch  nur  wegen 
körperlicher  Leiden,  wie  Blindheit,  ergriffen  und  könnten  es 
nur  in  geringem  Umfange  ausüben.  Im  Verhältniss  zu  die- 
ser geringen  Anzahl  von  selbstständigen  Korbmachern  in 
Preussen  wäre  die  Zahl  der  in  den  Strafanstalten  mit  Korb- 
macherarbeiten beschäftigten  Personen  auffallend  hoch  ge- 
wesen; so  wären  in  den  Anstalten,  soweit  sie  zu  dem  Ressort 
des  Ministeriums  des  Innern  gehören,  mit  Korbmacherei  be- 
schäftigt gewesen:  im  Jahre  1887/88  901  Personen,  1888/89 
908  Personen,  1889/90  935  Personen,  1890/91  1029  Personen. 
Das  sesshafte  Korbmachergewerbe  müsste  aber  unter  dieser 
Gefangenenarbeit  umsomehr  leiden,  als  die  Hausirer  diese 
Strafanstaltswaaren  in  grossem  Umfange  zu  Preisen  ver- 
trieben, mit  denen  das  stehende  Gewerbe  nicht  konkurriren 
könnte.  Der  Kommissar  des  Justizministeriums  erklärte  dem- 
gegenüber, dass  in  dem  Strafgefängniss  zu  Plötzensee  Korb- 
macherwaaren  nur  insoweit  angefertigt  worden  seien,  als 
der  Unternehmer  für  die  Anfertigung  künstlicher  Blumen 
auch  die  für  seinen  Arbeitsbetrieb  erforderlichen  Jardinieren 
etc.  habe  anfertigen  lassen.  Mit  der  Einstellung  der  Blumen- 
fabrikation  habe  auch  die  Anfertigung  dieser  Korbwaaren 
aufgehört.  Und  der  Kommissar  des  Ministers  des  Innern 
.fügte  hinzu,  die  Gefängnissverwaltung  wäre  bemüht,  die  Ge- 
fangenen in  einer  möglichst  grossen  Zahl  von  Arbeits- 
zweigen zu  beschäftigen,  damit  der  Wettbewerb  der  Ge- 
fängnissarbeit  bei  den  einzelnen  Arbeitsbetrieben  weniger 
fühlbar  würde.  Würde  dem  Anträge  der  Petition,  die  Korb- 
macherarbeit von  den  Betrieben  in  den  Gefängnissen  aus- 
zuschliessen,  stattgegeben,  so  würde  sehr  bald  auch  für  an- 
dere Arbeitszweige  dasselbe  verlangt  werden,  und  die  Ge- 
fängnissverwaltung könnte  das  Verlangen  kaum  ablehnen, 
ohne  ungerecht  zu  sein,  ln  seinen  Folgen  führte  das  ent- 
weder zur  Aufhebung  der  Gefängnissarbeit  überhaupt  oder 
zur  Einführung  weniger  Gefängniss-Grossindustrieen,  die 
die  freie  Arbeit  in  noch  weit  höherem  Maasse  schädigte, 
als  es  jetzt  die  über  eine  grössere  Anzahl  von  Arbeits- 
zweigen vertheilte  Gefängnissarbeit  thue.  Sobald  die  Zahl 
der  in  einem  Arbeitszweige  beschäftigten  Gefangenen  so 
gross  würde,  dass  daraus  eine  Schädigung  der  freien  Ar- 
beiter dieses  Arbeitszweiges  drohe,  werde  auf  die  Ein- 
schränkung dieses  Arbeitsbetriebes  Bedacht  genommen.  In- 
folge dieser  Erklärungen  ging  die  Kommission  über  die  Ein- 
gabe zur  Tagesordnung  über. 

Möbeltischlerei  als  Hausindustrie  in  Oberitalien. 

Wie  das  k.  k.  österreichisch  - ungarische  Konsulat  in 
Mailand  berichtet,  überwiegt  in  der  ausgedehnten,  an 
10000  Arbeiter  beschäftigenden  Möbelfabrikation  des  Kreises 
Monza  (Provinz  Mailand)  eine  gewisse  Form  des  haus- 
industriellen Betriebes.  Der  Unternehmer  pflegt  dort 
nämlich  dem  im  eigenen  I lause  beschäftigten  Arbeiter  unter 
der  Obhut  eigener  Agenten  und  gegen  langdauernden  Ver- 
trag das  Rohmaterial  und  die  Werkzeuge  zu  überliefern. 
Die  Arbeiter  stellen  daraus  überaus  billige  Möbel  einfach- 
ster Art  her.  Sehr  bemerkenswerth  ist  dabei  die  Ent- 
lohnungsart. Wie  aus  dem  erwähnten  Konsulatsberichte 
hervorgeht,  verabfolgt  der  Unternehmer  den  häuslich  be- 
schäftigten Arbeitern  die  Entlohnung  in  Naturalien  (besonders 
Mehl,  Reis  und  Speck)  und  in  einer  zum  Jahresschlüsse 
fälligen  Baarzahlung,  die  aber  70  Lire  niemals  übersteigt. 
„Der  Fabrikant“,  heisst  es  im  Berichte,  „hat  dabei  einen 
doppelten  Verdienst,  nämlich  jenen,  der  sich  beim  Verkaufe 
herausstellt  und  im  Unterschiede  des  Kosten-  und  des  Ver- 
kaufspreises besteht,  und  den  des  Preisunterschiedes  der 
Nahrungsstoffe,  die  der  Fabrikant  zum  Platzkurse  kauft  und 
dem  Arbeiter  nach  dem  Detailpreise  verrechnet.  Diese 
Sitte  ist  so  sehr  eingewurzelt,  und  es  fehlt  dem  Arbeiter 
jede  Möglichkeit,  sich  dagegen  aufzulehnen,  dass  er  an  eine 
Aenderung  gar  nicht  denkt.  Da  die  Arbeit  unendlich  ge- 
theilt  oder  spezialisirt  ist,  so  wird  durch  Uebung  schnell 
und  gut  gearbeitet.“  Unter  solchen  Umständen  erscheint 
es  allerdings  begreiflich,  dass  dort  so  billig  produzirt  wird 
und  eine  theurer  arbeitende  Konkurrenz  nicht  leicht  auf- 
zukommen vermag.  Die  wenigen  dem  Konsulatsberichte 
zu  entnehmenden  Einzelheiten  über  diese  Betriebe  und  die 


dort  bestehende  Entlohnungsweise  lassen  oft  ein  näheres, 
fachgemässes  Studium  der  Monzaer  Industrieverhältnisse 
wünschenswerth  erscheinen. 


Landwirthschaft. 

Die  Errichtung  von  Landwirthschaftskammern,  Auf 

eine  Eingabe  des  rheinischen  Bauernvereins,  betr.  berufs- 
genossenschaftliche Organisation  des  Standes  der  Land- 
wirthe,  hat  der  Minister  für  Landwirthschaft  geantwortet, 
dass  die  Erwägungen  wegen  der  Errichtung  von  Landwirth- 
schaftskammern noch  nicht  abgeschlossen  sind. 

Verbrauch  des  russischen  Bauers.  Ueber  die  Aus- 
gaben, welche  der  russische  Bauer  zur  Bestreitung  der 
Kosten  seines  Lebensunterhalts  im  Durchschnitt  macht,  hat 
das  Statistische  Amt  der  Stadt  Woronesch  in  Russland 
folgende  ebenso  interessante  wie  lehrreiche  Daten  jüngst 
'zusammengestellt.  Hiernach  belaufen  sich  auf  den  Kopf 
der  bäuerlichen  Bevölkerung  die  Ausgaben  jährlich  im 
baaren  Gelde  auf  26  Rubel  27  Kopeken,  ebenso  viel  in 
Naturalien,  so  dass  der  Lebensunterhalt  dem  Bauer  jährlich 
auf  rund  53  Rubel  zu  stehen  kommt  (ca.  110  Mark).  Die 
Hälfte  dieses  Betrages  erfordert  der  persönliche  Unterhalt, 
die  andere  Hälfte  erfordert  der  Hausstand  und  die  Wirth- 
schaft.  Die  erstgenannte  Hälfte  der  Ausgaben,  also  für 
den  persönlichen  Unterhalt,  vertheilt  sich  wie  folgt:  für 
Nahrung  19  Rubel  64  Kopeken,  für  Kleidung  2 Rubel 
21  Kopeken  und  für  Schnaps  2 Rubel  17  Kobeken  (1  Rubel 
— 2,10  Mark).  Auf  vegetabile  Nahrung  entfällt  hierbei  der 
doppelte  Betrag  als  für  die  animalische  Nahrung.  Es  sei 
noch  bemerkt,  dass  das  Gouvernement  Woronesch  keines- 
wegs zu  den  ärmeren,  eher  aber  zu  den  wohlhabenden 
Landestheilen  Russlands  gehört. 


Arbeiterzustände. 

Dauer  der  Arbeitsverpflichtung  ländlicher  Arbeiter 
in  England. 

Die  Labour  Gazette  vom  Juli  d.  J.  bringt  über  die  Dauer 
der  Kontraktschlüsse  (engagements)  bei  Landarbeitern  aus 
den  Reports  der  Königl.  Arbeiterkommission  interessante 
Einzelheiten.  In  Betreff  der  Distrikte  Suffolk,  Norfolk,  Nor- 
thumberland,  Cumberland  und  Lancashire  wird  folgendes 
festgestellt:  In  Sufifolk  und  Norfolk  werden  die  gewöhn- 
lichen Arbeiter  thatsächlich  nur  auf  einen  Tag  gedungen, 
in  Cumberland  die  Miethsleute  (hired  men),  die  in  den  Farm- 
häusern wohnen,  halbjährlich,  die  Verheiratheten  wöchent- 
lich; in  Lancashire  die  letzteren  ebenso,  die  ersteren  jähr- 
lich. In  Northumberland  werden  alle,  ob  verheirathet  oder 
nicht,  jährlich  gedungen.  In  den  drei  nördlichen  Graf- 
schaften sieht  man  deutlich  die  Erfolge  der  kurzen  und 
langen  Kontraktdauer.  Die  nicht  fest  engagirten  Arbeiter, 
die  Beschäftigung  nehmen,  wo  sie  sie  finden  können  und 
infolge  dessen  oft  arbeitslos  sind,  erzielen  häufig  nur  '/3  oder 
gar  nur  die  Hälfte  des  Lohnes,  den  die  verheiratheten  Ar- 
beiter empfangen,  die  in  regelmässiger  Beschäftigung  stehen. 
Am  schlimmsten  sind  die  Zustände  in  den  östlichen  Graf- 
schaften. Auf  einigen  Pachtgütern  wird  der  Kontrakt  nicht 
einmal  für  einen  vollen  Tag  abgeschlossen;  der  Arbeitgeber 
ist  vielmehr  im  Stande,  wenn  es  regnet,  die  Leute  mitten 
am  Tage  nach  Hause  zu  schicken  und  nur  den  Theil  des 
Tages,  an  dem  gearbeitet  worden  ist,  in  Anrechnung  zu  brin- 
gen. — - Von  den  Distrikten  Warwickshire,  Northampton- 
shire,  Monmouthshire,  Gloucestershire,  Hereford,  Cheshire 
und  Derbyshire  wird  folgendes  berichtet:  In  allen  Distrikten 
werden  Kärrner,  Fuhrleute,  Holzhauer,  Knechte  und  Hirten 
für  bestimmte  und  verhältnissmässig  lange  Fristen  gedun- 
gen, die  von  einem  Monat  bis  zu  einem  Jahr  sich  berechnen. 
Gelegentlich  werden  sie  wohl  auch  von  Woche  zu  Woche 
gemiethet.  Man  hat  die  Bemerkung  gemacht,  dass  mit 
grösserer  Entfernung  von  der  Eisenbahn  auch  die  Länge 
der  Kontraktdauer  zunimmt!  Dort  wo  es  Katen  (cottages) 
giebt,  werden  die  Leute  darin  aufgenommen,  wo  nicht,  ist 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  48. 


dafür  soviel  wie  möglich  Sorge  getragen,  die  Leute  im 
Farmhause  selbst  unterzubringen.  Man  nennt  sie  dann  ge- 
wöhnlich Farmgesinde  (farm  servants).  Sie  sind  natürlich 
meist  jung  und  unverheirathet.  Für  die  Länge  des  Kon- 
traktes ist  weiter  die  Grösse  des  pflügbaren  Landes  maass- 
gebend. Wo  eine  grosse  Fläche  davon  einer  grösseren 
Stadt  benachbart  ist,  sind  stets  Arbeiter  aus  der  Stadt  be- 
reit, von  Zeit  zu  Zeit  auf's  Land  zu  gehen  und  bei  der 
IIcu-  und  Getreideernte,  namentlich  in  guten  Jahren,  zu 
helfen.  Von  einigen  Orten  wird  dagegen  berichtet,  dass 
Tagearbeiter  fast  garnicht  gebraucht  werden,  da  nur  Leute 
verlangt  werden,  die  mit  Pferden,  Kühen  u.  s.  w.  umzu- 
gehen verstehen.  In  diesen  Gegenden  sind  trotz  der  Nähe 
der  Eisenbahnen  und  grosser  Städte  die  Dingfristen  so  lang 
wie  nur  irgendwo  sonst.  Gewöhnliche  Tagearbeit,  wo  sie 
vorkommt,  wird  von  Irländern  oder  von  Arbeitern  der 
nahen  Minen  verrichtet.  — Ueber  Lincolnshire,  die  3 Kreise 
(Ridings)  von  Yorkshire,  Stafifordshire  und  Derbyshire  wird 
folgendes  berichtet:  ln  Lincolnshire  werden  Vorarbeiter, 

Knechte.  Schafhirten  und  Holzhauer  gewöhnlich  auf  I Jahr 
gemiethet.  Stehen  sie  allein,  wie  fast  überall  im  Ost-Riding, 
so  erhalten  sie  Wohnung  und  Essen  im  Hause  des  Pächters 
oder  des  Vorarbeiters.  Im  West-Riding,  Staftord-  und  Derby- 
shire ist  es  ebenso  bei  alleinstehenden  Männern.  Dazu 
kommt,  dass  hier  aber  auch  die  Verheiratheten,  wenn  sie 
dieselben  Stellungen  bekleiden,  als  Theil  ihrer  Löhnung 
eine  Kate  angewiesen  bekommen  und  auf  I Jahr  gedungen 
werden.  In  Wetherby  ist  das,  wenn  auch  nicht  ausdrücklich 
ausgesprochen,  so  doch  thatsächliche  Uebung,  weniger  im 
Nord-Riding.  Gelegentlich  werden  freilich  zu  besonderen 
Zwecken  auch  Leute  für  einen  Tag  gedungen,  ln  Betreff 
der  gewöhnlichen  Arbeiter  lässt  sich  schwer  sagen,  ob  sie 
wöchentlich  oder  täglich  gemiethet  werden.  Sie  werden 
wöchentlich  bezahlt,  und  meistens  wird  auch  wöchentliche 
Kündigung  gewährt.  Jeder  Fehltag  wird  ihnen  mit  einem 
vollen  Sechstel  abgezogen.  — Als  Besonderheit  sei  noch 
hervorgehoben,  dass  in  Baringstoke  (Hampshire)  die  Kärrner, 
Holzhauer  und  Schafhirten  fast  durchgängig  für  ein  volles 
Jahr  gebunden  werden.  Sie  bekommen  einen  Theil  des 
Lohnes  wöchentlich,  und  dann  zu  Michaelis,  nach  der  Ernte, 
eine  grössere  Summe  mit  einem  Male. 

Der  Rückgang  des  Kupferschieferbergbaues  zu  Mans- 
feld und  die  Lohnverhältnisse  der  Bergleute.  Der  Jahres- 
bericht der  Handelskammer  zu  Halle  a.  S.  für  das  Jahr  1892 
giebt  über  „die  Einwirkung  des  Rückganges  des  Kupfer- 
schieferbergbaues auf  die  davon  betroffenen  Gebiete“  fol- 
gende Schilderung.  Im  Laufe  des  Jahres  1892  wurde  die 
Mansfeldsche  Kupferschiefer  bauende  Gesellschaft  von  einem 
grösseren  Unglück  betroffen.  Die  Wasserzuflüsse  nahmen 
derartig  zu,  dass  die  vorhandenen  Wasserhaltungsmaschinen 
allergrösster  Art  sie  nicht  mehr  zu  bewältigen  vermochten. 
Infolge  dessen  mussten,  da  mehrere  Schächte  in  Mitleiden- 
schaft gezogen  wurden,  und  einige  sogar  vollständig 
ersoffen,  Arbeitsverkürzungen,  Lohnherabsetzungen  und 
Arbeiterentlassungen  von  der  Gewerkschaft  vorgenommen 
werden.  Es  betrug  z.  B.  die  Belegschaft  der  Mansfelder 
Reviere  und  Hütten  Ende  April  1892  etwa  17  509  Mann, 
Ende  Oktober  nur  noch  16  182  Mann.  Es  hatten  somit  im 
Laufe  des  Sommerhalbjahres  etwa  1400  Mann  entlassen 
werden  müssen.  Weitere  2400  -2700  Mann  waren  durch 
die  Wasserdurchbrüche  auf  dem  Kuxberger  Reviere  bei 
Helbra  aufs  äusserste  bedroht  gewesen.  Wie  sehr  sich 
die  Erwerbsverhältnisse  der  in  Mitleidenschaft  gezogenen 
Bevölkerung  verschlechtert  hatten,  erhellt  daraus,  dass  z.  B. 
an  Lohngeldern  im  Monat  März  1892  etwa  I 412000  M.,  da- 
gegen im  Monat  August  nur  998  000  M.  zur  Auszahlung 
gelangten.  Es  stellte  sich  somit  für  die  dortige  Bevölkerung 
ein  Einnahmeausfall  in  einem  Monate  von  414000  M.  heraus. 
Während  die  Bergarbeiter  früher  3 — 5 M.  für  den  Tag  ver- 
dienten, konnten  sie,  weil  sie  nur  73 — 7*  Schicht  thätig 
waren,  einen  Lohnsatz  von  nur  1,50—  2 M.  erlangen.  Die 
Folgen  der  dadurch  verminderten  Kaufkraft  der  Bergleute 
wurden  auch  den  Kaufleuten  der  benachbarten  Orte,  be- 
sonders der  Stadt  Eisleben,  sehr  fühlbar. 

Zur  ländlichen  Arbeiterfrage.  Nach  Mittheilungen  in 
der  Tagespresse  planen  die  landwirtschaftlichen  Vereine 


zur  Beseitigung  des  Arbeitermangels  in  der  Landwirtschaft 
jetzt  die  Anstellung  besonderer  Gesindevermiether,  die  ihre 
Kräfte  nur  dem  Interesse  der  Mitglieder  der  betreffenden 
Vereine  widmen.  Der  landwirtschaftliche  Verein  für  das 
Havelland  hat  einen  Ausschuss  niedergesetzt,  der  die  Ein- 
richtung eines  vom  Verein  überwachten  und  geleiteten  Ge- 
sindevermiethungs-Instituts  in  die  Wege  leiten  soll. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Internationale  Gewerkschaftskongresse:  Metallarbeiter- 
und  Glasarbeiter-Kongress. 

Gelegentlich  des  internationalen  sozialistischen  Arbeiter- 
kongresses fanden  in  Zürich  auch  mehrere  Gewerkschafts- 
kongresse statt  — oder  besser  gesagt  Berufskongresse,  da  cs 
sich  auf  diesen  Kongressen  blos  um  die  Interessen  der  Ar- 
beiter spezieller  Berufe  handelte.  Den  Reigen  eröffnete  der 
Metallarbeiterkongress,  der  seine  Arbeiten  bereits  am 
4.  August  begann.  Anfangend  mit  der  Entgegennahme  von 
Berichten  über  die  Lage  der  Arbeiter  sowie  über  die  zum 
Theil  ganz  riesige  Entwickelung  der  Eisen-  und  Metall- 
industrie — besonders  interessant  war  in  dieser  Beziehung 
der  von  dem  amerikanischen  Delegirten  Herrn  Senial  ab- 
gestattete Bericht  schloss  der  Kongress  nach  einer  ein- 
gehenden Debatte  mit  der  Annahme  folgender  Resolution: 

Der  internationale  Metallarbeiter -Kongress  in  Zürich 
beschliesst:  I.  Es  wird  ein  internationales  Auskunftsbureau 

errichtet.  Dessen  Funktionen  sind:  über  die  Arbeiter- 
bewegungen der  verschiedenen  Länder  an  die  Arbeiter- 
zeitungen und  die  Vertrauensmänner  der  betheiligten 
Länderverbände  Mittheilung  zu  machen.  Hauptsächlich  hat  , 
dasselbe  die  Aufrufe  in  Strikeangelegenheiten  zu  über- 
mitteln. Ebenso  sind  durch  das  internationale  Auskunfts-  > 
bureau  nationale  und  internationale  Vorlagen  von  Arbeiter-  ' 
Schutzgesetzen  zur  Kenntniss  der  Arbeiterpresse  und  der 
Vertrauensmänner  zu  bringen.  Anfragen  in  gewerkschaft- 
licher Beziehung  werden  durch  das  Auskunftsbureau  erledigt. 
Die  Berichte,  Mittheilungen  etc.  werden  in  deutscher,  fran-  , 
zösischer  und  englischer  Sprache  abgefasst.  2.  Die  Kosten  ' 
für  das  internationale  Auskunftsbureau  werden  von  dem  1 
Landesverbände  geregelt,  in  welchem  dasselbe  den  Sitz  hat.  ; 
Alle  Halbjahre  wird  die  verausgabte  Summe  von  den  be-  ■ 
theiligten  Länder-Organisationen  proportional  erhoben.  Zu 
Händen  des  internationalen  Auskunftsbureaus  und  der  inter-  ; 
nationalen  Vertrauensmänner  soll  ein  genaues  Adressen- 
verzeichniss  der  Länderorganisationen,  der  internationalen 
Vertrauensmänner  und  der  Berufsorgane  der  verschiedenen 
Länder  angefertigt  werden.  3.  Sitz  des  internationalen 
Auskunftsbureaus  ist  bis  zum  nächsten  internationalen  Me- 
tallarbeiter-Kongress die  Schweiz. 

In  Ausführung  der  Resolution  des  Brüsseler  Kongresses 
wird  für  gegenseitige  Berichterstattungen,  Mittheilungen, 
Kundgebungen  etc  folgendes  Regulativ  festgestellt:  I.  In 
jedem  Lande  haben  die  Metallarbeiter  einen  Vertrauens- 
mann zu  wählen,  welcher  die  internationalen  Beziehungen 
der  Berufsgenossen  wahrzunehmen  und  zu  ordnen  hat. 

2.  Der  Vertrauensmann  ist  verpflichtet,  alle  sechs  Monate 
einen  schriftlichen  Bericht  zu  erstatten.  Ueber  Arbeiter- 
bewegungen und  namentlich  über  Strikefälle  ist  sofort 
Bericht  an  das  internationale  Auskunftsbureau  abzugeben. 
Die  Berufsorgane  sind  dem  internationalen  Bureau  un- 
entgeltlich zuzustellen.  3.  Der  periodische  Bericht  soll  ent- 
halten: a)  die  Zahl  der  in  dem  betreffenden  Lande  be- 
schäftigten Metallarbeiter,  b)  die  Zahl  der  organisirten 
Berufsgenossen  und  die  Art  der  Organisation,  c)  die  durch- 
schnittliche Arbeitszeit,  d)  die  Durchschnittslöhne,  e)  den 
Geschäftsgang,  f)  den  Stand  der  gewerkschaftlichen  Presse, 
g)  allfällige  Bewegung  und  deren  Verlauf,  h)  den  Stand 
der  Unternehmer-Organisationen  und  deren  Maassnahmen 
gegen  Berufsgenossen.  4.  Die  Kosten  für  die  nationalen 
Vertrauensmänner  trägt  jede  Landesorganisation  selbst. 

In  Bezug  auf  Wanderunterstützung  beschloss  der 
Metallarbeiterkongress:  I.  Die  Reiseunterstützung  ist  in 

allen  betheiligten  Ländern  obligatorisch  zu  erklären;  2.  die 
organisirten  Metallarbeiter  sind  bei  ihrem  Betreten  eines 


No  48, 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


575 


mitbetheiligten  Landes  als  Mitglieder  der  betreffenden  Landes- 
organisation zu  behandeln,  insofern  nachweisbar  konstatirt 
werden  kann,  dass  dieselben  mindestens  6 Monate  hindurch 
die  Beiträge  bezahlt  haben;  3.  die  Reiseunterstützung  soll 
nach  Distanzen  einheitlich  geregelt  werden.  Für  mehr 
belastete  Länder  soll  eine  Ausgleichung  vorgenommen 
werden. 

Der  Glasarbeiter-Kongress,  der  von  den  Theil- 
nehmern  blos  als  eine  Konferenz  bezeichnet  wird,  begann 
ebenfalls  mit  Entgegennahme  von  Berichten  über  die  Lage 
der  Arbeiter  der  Glasindustrie.  Diese  ist  keineswegs  rosig 
zu  nennen.  Wir  heben  aus  den  Ausführungen  hervor: 

Am  willkürlichsten  sei  die  Berechnung  der  Löhne  nach 
Sorten  und  Stückzahl.  Bei  der  Abrechnung  erhielten  die 
Arbeiter  oft  nur  die  Hälfte  ihres  Arbeitslohnes,  weil  man 
die  von  ihnen  gefertigten  Waaren  nachträglich  für  „Aus- 
schuss“ erkläre,  was  aber  die  Unternehmer  nicht  hindere, 
diese  „Ausschuss“- Waaren  als  gute  Waaren  zu  verkaufen. 
Es  wurde  ferner  erwähnt,  dass  in  der  Glasindustrie  blos 
wöchentliche  Abschlagszahlungen  stattfinden,  die  Abrechnung 
werde  auf  Monate  und  oft  auf  ein  ganzes  Jahr  hinaus- 
geschoben. Dazu  komme,  dass  die  Löhne  durch  den  kon- 
tinuirlichen  Wannenofen-Betrieb  auf  das  tiefste  herabgedrückt 
und  gleichzeitig  die  Arbeitskraft  auf's  äusserste  ausgenutzt 
werde.  Bei  dieser  Betriebsweise  sei  es  namentlich  die 
Nachtarbeit,  die  den  Arbeiter  ganz  aufreibe  und  seine 
Lebenszeit  und  Lebenskraft  in  bedeutendem  Maasse  ver- 
mindere. Auch  von  einer  Sonntagsruhe  sei  in  dieser  In- 
dustrie kaum  die  Rede.  Im  Gegentheil  versuchten  die 
Fabrikant®,  insbesondere  die  der  deutschen  Glasindustrie 
unter  dem  Vorwand,  die  Sonntagsruhe  in  den  Glashütten 
zu  regeln,  die  Sonntagsarbeit  gesetzlich  festzusetzen. 

Auch  über  die  Arbeiterhäuser  hat  sich  die  Konferenz 
ziemlich  ungünstig  ausgesprochen.  Durch  die  Arbeiter- 
häuser der  Glashüttenbesitzer,  die  diese  als  „Edelsteine 
im  Kranze  der  Sozialreform“  preisen,  ständen  die  Glas- 
arbeiter in  beständiger  Abhängigkeit  von  ihren  Arbeit- 
gebern. Die  Arbeiterhäuser  seien  das  grösste  Hinderniss, 
das  sich  der  gewerkschaftlichen  und  politischen  Thätigkeit 
entgegenstelle,  weil  die  Arbeiter  stets  zu  befürchten 
hätten,  wenn  sie  an  den  Profit  ihrer  Arbeitgeber  in  irgend 
einer  Weise  rüttelten  oder  eine  selbstständige  politische 
Stellung  einnähmen,  plötzlich  mit  Weib  und  Kind  auf 
die  Strasse  geworfen  zu  werden. 

Die  Verhandlungen  der  Konferenz  fanden  ihren  Ab- 
schluss in  der  zum  Schlüsse  angenommenen  Resolution,  in 
der  die  von  den  verschiedenen  Nationalitäten  angestrebten 
Reformen  einheitlichen  Ausdruck  finden.  Die  Resolution 
lautet; 

1.  Die  Konferenz  erkennt  die  Nothwendigkeit  der  na- 
tionalen und  internationalen  Organisation  der  Glasarbeiter 
aller  Länder  unbedingt  an  und  macht  es  den  Kollegen  allerorts 
zur  strengsten  Pflicht,  nationale  Organisationen  zu  gründen 
bezw.  sich  den  bestehenden  anzuschliessen,  sowie  der  inter- 
nationalen Union  beizutreten,  um  durch  gemeinschaftliches 
Handeln  auf  gewerkschaftlichem  Gebiete  die  Rechte  und 
Interessen  der  Berufsgenossen  zu  wahren  und  zu  fördern 
und  so  eine  bessere  Lebensstellung  für  sich  zu  erkämpfen. 

2.  Um  dieses  zu  erreichen  hält  die  Konferenz  für  noth- 
wendig  zunächst:  a)  die  tägliche  Arbeitszeit  zu  verkürzen 
und  das  Maximum  derselben  bis  auf  weiteres  auf  8 Stunden 
festzustellen,  b)  die  Nachtarbeit  zu  beseitigen,  c)  die  Sonn- 
tagsarbeit, mit  Ausnahme  der  Bedienung  der  Oefen,  ab- 
zuschaffen, d)  im  Sommer  Ruheferien  in  der  Dauer  von 
mindestens  einem  Monat  einzuführen. 

3.  Obligatorische  Einführung  von  kündbaren  Lohn- 
tarifen, Einführung  von  gesonderten  Waaren  und  Rechnungs- 
büchern, achttägige  Lohnzahlung,  Beseitigung  des  Vorschuss- 
unwesens, Trennung  des  Arbeitsvertrages  vom  Wohnungs- 
Miethsvertrag. 

4.  Nationaler  und  internationaler  Arbeitsnachweis. 

5.  Regelung  des  Strikewesens. 

6.  Unterstützung  a)  von  Strikes  zur  Durchführung  der 
unter  L 2 und  3 aufgestellten  Eorderungen,  b)  von  Lock-outs 
(Ausperrungen  der  Arbeiter)  wegen  Zugehörigkeit  zur  Or- 
ganisation oder  Abweisung  von  Lohnkürzungen  etc. 

Ferner  wurde  beschlossen: 


Die  Glasarbeiter  aller  Länder  sind  verpflichtet,  die 
unter  Absatz  2a,  b und  c aufgestellten  Forderungen  auch 
durch  Einwirkung  auf  die  gesetzgebenden  Faktoren  und  die 
Behörden  zu  erstreben. 

Schliesslich  sprach  die  Konferenz  die  Erwartung  aus, 
dass  die  Berufskollegen  aller  Länder  ohne  Unterschied  der 
Branchen  in  dem  oben  angedeuteten  Sinne  eifrig  thätig 
sein  und  sich  der  internationalen  Arbeiterbewegung  an- 
schliessen  werden. 

Von  den  übrigen  Gewerkschaftskongressen,  in  erster 
Linie  von  dem  Eisenbahnarbeiter-Kongress,  soll  in  einer 
späteren  Nummer  berichtet  werden. 

Der  englische  Kohlengräberausstand.  Die  langerwartete 
Konferenz  der  Vertreter  des  mittelländischen  Kohlengräber- 
bundes, von  der  man  zunächst  eine  Entscheidung  über  den 
Weitergang  des  Strikes  erwartete,  hat  am  22.  August  in 
London  begonnen.  Vertreten  waren  die  Grafschaften  York- 
shire,  Lancashire,  Cheshire,  Derby,  Monmouth,  Notts  und 
Nord-Wales.  Vertreter  von  Northumberland,  dessen  Kohlen- 
gräber durch  Urabstimmung  mit  einer  Mehrheit  von  1500 
bis  1600  sich  gegen  den  Strike  erklärt  hatten,  waren  über- 
haupt nicht  erschienen.  Die  Vertreter  von  Durham  wurden 
zurückgewiesen,  da  man  dort  überhaupt  noch  eine  Urabstim- 
mung über  die  Betheiligung  vornehmen  will,  anstatt  sich  so- 
fort dem  Vorgehen  der  übrigen  Grafschaften  anzuschliessen 
Zu  bemerken  ist  dazu,  dass  Durham  und  Northumberland 
erst  im  Vorjahre,  und  zwar  vorläufig  nur  bedingungsweise, 
dem  Bunde  beigetreten  waren.  Jetzt  ist  Durham  ausdrück- 
lich ausgeschlossen  worden.  Vertreten  sind  in  London  so- 
mit im  ganzen  232  400  Bergarbeiter  durch  44  Delegirte.  Da 
Berichterstatter  der  Presse  nicht  zu  den  Verhandlungen  zu- 
gelassen wurden,  sind  nur  dürftige  Mittheilungen  darüber 
bekannt  geworden.  Am  23.  August  beschloss  die  Konferenz, 
die  Arbeit  erst  dann  wieder  aufzunehmen,  wenn  die  Gruben- 
besitzer auf  die  beabsichtigte  Lohnherabsetzung  von  25  pCt. 
verzichten.  Eine  Lohnerhöhung  dagegen  würden  die  Berg- 
leute nicht  verlangen,  bevor  die  Kohlen  nicht  den  Preis  von 
1890  erreicht  hätten.  Die  Konferenz  beschloss  ferner,  dass 
in  keinem  Vereinigungsschacht  die  Arbeit  aufgenommen 
werden  solle,  bevor  ein  allgemeines  Einvernehmen  her- 
gestellt sei.  Wie  die  Delegirtenkonferenz  sich  zur  konse- 
quenten Durchführung  des  Strikes  entschlossen  zeigt,  lassen 
auch  die  Nachrichten  aus  den  mittelländischen  Grafschaften 
noch  kein  Nachlassen  des  Widerstandes  bei  den  Arbeitern 
verspüren. 

In  Schottland  haben  die  zum  Angriffsstrike  über- 
gegangenen Kohlengräber  neue  Erfolge  zu  verzeichnen. 
Am  22.  August  haben  die  Grubenbesitzer  von  Lanark  und 
Ayrshire  die  geforderte  Lohnerhöhung  um  1 Shilling  für 
den  Tag  endlich  bewilligt.  In  Süd-Wales  dagegen  zeigt 
sich  ein  Rückgang  der  Bewegung.  Die  Versuche  der  Striken- 
den,  im  Ebbu-Thale  die  Einstellung  der  Arbeit  zu  erzwingen, 
sind  gescheitert.  Auch  aus  verschiedenen  anderen  Gegen- 
den wird  eine  theilweise  Wiederaufnahme  der  Arbeit  ge- 
meldet. Die  Arbeiter  waren  ganz  unvorbereitet  in  den 
Strike  hineingerathen.  Es  mangelt  ihnen  an  Fonds,  und  die 
Geschäftsleute,  die  meist  aufSeiten  der  Unternehmer  stehen, 
weigern  sich,  Waaren  auf  Kredit  zu  liefern.  Eine  tiefe  Er- 
bitterung hat  sich  vieler  Kreise  gegen  Abraham  und  an- 
dere Führer  bemächtigt,  weil  dieselben  das  Eingehen  auf 
die  „veränderliche  Preis-Skala“  (sliding  scale)  befürwortet 
hatten,  durch  welche,  wie  die  Ereignisse  bewiesen  haben, 
die  Südwalliser  bedeutend  schlechter  weggekommen  sind 
als  die  „Bundesbezirke.“  Am  21.  August  fasste  in  Cardiff 
eine  Vertreter  - Konferenz  eine  Resolution,  in  der  es 
heisst,  wenn  Süd-Wales  im  Lohnkampfe  unterliegen  würde, 
so  liege  die  Schuld  bei  denen,  „welche  in  die  Hände  der 
Llnternehmer  gespielt  hätten,  indem  sie  die  Bergleute  über- 
redeten, die  veränderliche  Preis-Skala  anzunehmen.“  Am 
Sonnabend,  den  26.  August,  soll  in  Cardiff  eine  Konferenz 
zusammentreten,  um  ein  Abkommen  mit  den  Grubenbesitzern 
zu  erzielen. 

Die  englische  Regierung  hat  Mittheilungen  über  die 
Zahl  der  Arbeiter  in  Kohlenbergwerken  in  Gross- 
britanien  und  Irland  veröffentlich,  denen  wir  entnehmen, 
dass  dort  im  Jahre  1892  über  Tage  110  435,  unter  Tage 


576 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  48 


549279  Männer  und  Knaben,  im  ganzen  659  714  thätig 
waren.  Ausserdem  werden  über  Tage  noch  4 546  Frauen 
beschäftigt. 


Politische  Arbeiterbewegung. 

Der  internationale  Arbeiterkongress  in  Zürich. 

Unserm  Bericht  in  der  vorigen  Nummer  haben  wir 
heute  nur  noch  hinzuzufügen,  dass  die  Beschlüsse  des  Kon- 
gresses in  der  Frage  der  nationalen  und  inter- 
nationalen Organisation  der  Gewerkschaften  wört- 
lich wie  folgt  lauten : 

I.  Der  Kongress,  der  an  den  vom  Brüsseler  Kongresse  ge- 

fassten Beschlüssen,  betreffend  die  Organisation  der  Gewerk- 
schaften, festhält  und  die  Pflicht  der  Arbeiterklasse,  sich  nach 
Berufsgruppen  zu  organisiren,  nachdrücklich  betont,  erklärt, 
dass  die  industriellen,  landwirtschaftlichen  und  maritimen  Ar- 
beiter die  Obliegenheit  haben:  1.  Berufsvereine  zu  bilden, 

um  ihre  Berufsinteressen  verteidigen,  ihre  Löhne  schützen 
und  der  kapitalistischen  Ausbeutung  Widerstand  leisten  zu 
können:  2.  die  Gewerkschaften  eines  und  desselben  Berufes, 
deren  Interessen  identisch  sind,  überall  wo  dies  möglich  zu 
Landesverbänden  zu  vereinigen;  3.  durch  Verständigung  der 
Landesverbände  einen  internationalen  Verband  der  organisirten 
Berufe  zu  bilden,  um  die  Organisationen  der  verschiedenen 
Länder  zu  einem  festen  Bund  zu  vereinigen:  4.  die  Gewerk- 
schaften aller  Berufe  überall  wo  dies  möglich  regional,  national 
und  international  zu  organisiren,  damit  in  den  Lohnkämpfen 
die  Arbeiter  aller  Korporationen  geschlossen  und  im  Ein- 
verständniss  handeln:  5.  durch  die  vom  Brüsseler  Kongresse 
beschlossenen  Arbeitersekretariale,  deren  Funktion  gesichert 
werden  muss,  von  Land  zu  Land  gegenseitig  zu  verkehren  und 
wenn  nöthig  durch  internationale  mit  der  Aufgabe  betraute 
Arbeitssekretariate  den  Landesverbänden  alle  die  einzelnen 
Korporationen  besonders  berührenden  Nachrichten  zu  über- 
mitteln: 6.  durch  die  Initiative  der  Arbeiter  oder  Intervention 
der  öffentlichen  Gewalten  überall,  wo  keine  Arbeitsbörsen  be- 
stehen, solche  zu  gründen,  damit  che  Arbeiter  sowohl  leichter 
Beschäftigung  finden,  als  auch  leichter  den  Gewerkschaften 
beitreten  können;  7.  für  jeden  Beruf  besondere  internationale 
Kongresse  abzuhalten,  um  daselbst  die  den  verschiedenen 
Verbänden  eigenen  Fragen  zu  behandeln;  8.  die  Arbeiter  aller 
Organisationen  ohne  Unterschied  der  Rasse  und  der  Berufe  zu 
einer  kompakten  Masse  zu  gruppiren,  um  für  die  politische 
Thätigkeit,  im  Kampfe  gegen  den  Kapitalismus  eine  genügende 
Macht  zu  besitzen,  um  die  vollständige  Emanzipation  des  Pro- 
letariats zu  sichern. 

II.  Was  speziell  Amerika  und  Australien  betrifft: 

In  Erwägung,  dass  die  Entwickelung  des  Kapitalismus  in 
diesen  ausgedehnten  Ländern  ein  Stadium  erreicht  hat,  wo  die 
rein  ökonomische  Organisation  der  Arbeiterschaft  absolut  ohn- 
mächtig werden  wird,  wenn  sie  nicht  sofort  durch  die  politische 
Aktion  auf  der  Grundlage  der  internationalen  sozialistischen 
Bewegung  ersetzt  wird;  in  Erwägung  ferner,  dass  deren 
wachsende  Bedeutung  in  der  ökonomischen  Welt,  wie  auch 
der  kosmopolitische  Charakter  dieser  beiden  Länder  zur  Lebens- 
frage werden  für  die  Existenzbedingungen  des  europäischen 
Proletariats  und  den  Fortschritt  der  sozialen  Revolution: 
verlangt  der  Kongress  mit  Nachdruck,  dass  die  Arbeiterorgani- 
sationen Amerikas  und  Australiens  sich  nicht  nur  mit  den 
betreffenden  europäischen  Organisationen  in  Verbindung  setzen 
nach  obgezeichnetem  Plan,  sondern  dass  sie  namentlich  sich 
losmachen  von  den  politischen  Bourgeois-Parteien  und  eben- 
falls grosse  sozialistische  Arbeiterparteien  bilden  und  damit 
mit  ihren  Brüdern  Europas  zur  Befreiung  der  Arbeiterklassen 
schreiten. 

III.  Endlich  (auf  Antrag  der  italienischen  Delegation) 
in  Bezug  auf  die  Konkurrenz  der  fremden  nicht  organi- 
sirten Arbeiter: 

Es  ist  nothwendig,  dass  in  Ländern,  in  welchen  die  von 
der  Konkurrenz  der  eingewanderten,  den  Gewerkschaften  nicht 
angehörenden  Arbeitern  verursachten  Uebel  fühlbar  werden, 
die  sozialistischen  Parteien  und  Arbeiterverbände  daran  arbeiten, 
die  Propaganda  der  Organisation  des  Proletariats  und  der 
internationalen  Solidarität  zu  verbreiten,  sowie  dass  die  sozia- 
listischen Parteien  und  die  Verbände  der  Gewerkschaften  der 
erwähnten  Nationen  sich  um  jede  Berichterstattung  und  Hülfe, 
sei  es  direkt,  sei  es  durch  Vermittelung  der  nationalen  Arbeiter- 
sekretäre, wo  solche  bestehen,  an  die  centralen  Vertretungen 
der  Verbände  und  entsprechenden  Parteien  der  Länder,  von 
welchen  die  Einwanderung  herrührt,  wenden. 


Unternehmerverbände. 

Die  Unternehmerverbände  in  England. 

Das  jüngste,  eben  erschienene  Blaubuch  der  Royal 
Commission  on  Labour  bildet  wohl  die  interessanteste  Pu- 
blikation der  an  Reports  so  überreichen  Enquete.  Die 
Kommission  hat  an  sämmtliche  Arbeiter-  und  Arbeitgeber- 
verbände im  vorigen  Jahre  das  Ersuchen  um  Einsendung 
der  Statuten  und  Reglements  gerichtet.  Das  Ergebniss  ist 
das  vorliegende  Blaubuch:  Rules  of  Associations  of 
Employed  and  ofEmployers,  das  nach  einem  einleiten- 
den Memorandum  die  Verbandsregeln  zahlreicher  Gewerk- 
vereine, Unternehmervereinigungen.Trades  Councils,  Schieds- 
gerichte und  Einigungsämter  sowie  Handelskammern  voll- 
ständig wiedergiebt. 

Neben  den  auch  in  der  deutschen  Litteratur  allgemein 
bekannten  Friendly  Societies,  Trades  Unions  und  Councils, 
den  viel  besprochenen  Boards  of  Arbitration  and  Conciliaton 
und  den  sozialpolitisch  unwesentlichen  Chambers  of  Com- 
merce hat  bisher  die  Organisation  der  Arbeitgeber  die  ver- 
hältnissmässig  geringste  Berücksichtigung  gefunden.  Im 
Folgenden  sollen  daher  die  Einrichtungen  der  englischen 
Unternehmerverbände  an  der  Hand  des  vorliegenden  Ma- 
terials in  Kürze  dargestellt  werden. 

Die  Publikation  der  Labour  Commission  umfasst  die 
Verbandsregeln  von  70  Arbeitgeber- Associationen , von 
denen  die  meisten  (24)  dem  Baugewerbe  angehören, 
während  sich  die  übrigen  auf  die  verschiedenen  anderen 
Industriezweige  beziehen,  unter  denen  Bergbau  und  Metall- 
industrie (18)  am  stärksten  vertreten  sind.  Die  älteste  dieser 
Unternehmervereinigungen  ist  die  „East  of  Scotland  Asso- 
ciation of  Engineers  and  Iron  founders“,  die  1865  gegründet 
wurde. 

Ziel  und  Zweck  der  Verbände  sind  den  Statuten  zu- 
folge sehr  verschieden.  Einige  wenige  stellen  den  allge- 
meinen Interessenschutz  und  die  Beeinflussung  der  Gesetz- 
gebung zu  Gunsten  des  Industriezweiges  als  Verbandszielc 
hin,  die  manchmal  im  einzelnen  angegeben  sind,  wie 
Stellungnahme  der  North  Wales  Coal  Owners’  Association 
gegen  die  Eisenbahnen,  der  Clyde  Sailing  Ship  Owners' 
Association  gegen  Behörden  und  Schutz  der  jeweilig  ver- 
schiedenen besonderen  Handelsinteressen,  wie  Kredit  u.  s.w. 
Eine  Reihe  von  Verbänden  hat  auch  die  Regelung  der 
Arbeitsbedingungen  in  ihre  Statuten  aufgenommen:  die 

Iron  Trades  Employers’  Association  z.  B.  bezweckt  die  Soli- 
darität der  Arbeitgeber  gegen  die  Gewerkvereine;  auch  die 
gemeinsame  Regulirung  und  Feststellung  der  Löhne  und 
Arbeitszeit  kehrt  häufig  wieder.  Die  überwiegende  Mehr- 
heit der  Unternehmerverbände  jedoch  stellt  als  erstes  Ziel 
die  Regelung  der  Beziehungen  zu  den  Arbeitern,  die  Ver- 
hütung von  Strikes  und  Lock-outs,  sowie  die  gegenseitige 
Unterstützung  der  Mitglieder  bei  Arbeitseinstellungen  hin. 
Die  geringste  Zahl  der  Verbände  bezieht  sich  hierbei  auf 
die  Beilegung  der  Streitfälle  durch  Schiedsgerichte  oder 
Einigungsämter.  Interessant  sind  die  Bestimmungen,  die 
eine  versicherungsähnliche  Schadloshaltung  der  Verbands- 
mitglieder für  Verluste  durch  Ausstände  festsetzen;  so  will 
die  West  Cumberland  Ironmasters  Association  „ihre  Mit- 
glieder durch  gegenseitige  Schadloshaltung  für  durch 
Strikes  oder  Arbeitseinschränkung  der  Arbeiter  entstandene 
Verluste  schützen“;  die  North  of  England  Iron  Manufacturers 
Association  will  „die  Mitglieder,  deren  Betriebe  durch  Aus- 
stände , die  in  Uebereinstimmung  mit  den  Verbands- 
beschlüssen entstanden,  entschädigen“.  Aehnliche  Be- 
stimmungen finden  sich  in  den  Statuten  der  Associationen 
der  Durham-,  Northumberland-  und  North  Wales-Kohlenberg- 
werksbesitzer und  der  Cleveland  Mine  Owners  Association. 

Die  Art  des  Vorganges  bei  Arbeitsstreitigkeiten  ist  ge- 
wöhnlich dahin  geregelt,  dass  das  betreffende  Mitglied  vor- 
erst den  Verbandssekretär  oder  das  Branche-Komite  zu 
verständigen  hat.  Wenn  ein  allgemeiner  Strike  droht, 
haben  die  Mitglieder  die  Listen  der  beschäftigten  Arbeiter 
einzusenden,  durch  deren  Zahl  die  Stimmen  eines 
jeden  bei  dem  General-Meeting  bestimmt  werden;  ein  all- 
gemeiner Lock-out  kann  meistens  nur  durch  2/g-  oder 
3/4-Mehrheit  beschlossen  werden.  Bei  Arbeitseinstellungen 
ist  es  dem  einzelnen  untersagt,  ohne  Zustimmung  des  Ver- 


No.  48. 


SOZIALPOILTISCHES  CENTRALBLATT. 


577 


bandes  mit  den  Arbeitern  zu  unterhandeln.  Von  finanziellen 
Unterstützungen  abgesehen,  soll  manchmal  auch  für  ander- 
weitigen Arbeiterersatz  Sorge  getragen  werden,  wie  durch 
die  Liverpool  Employers  Labour  Association.  Immer  jedoch 
wird  die  Unterstützung  nur  gewährt,  wenn  der  Strike  nicht 
durch  eigenmächtiges  Handeln  eines  Mitgliedes  entstanden 
ist;  so  verweigert  die  North-East  Lancashire  Cotton  Spinners 
and  Manufacturers  Association  jede  Unterstützung  den  Mit- 
gliedern, die  nicht  Standard-Löhne  zahlen,  oder  die  die 
Löhne  auf  den  Standard  zurückführen,  nachdem  sie  früher 
höhere  gezahlt  hatten. 

Die  Regelung  der  Arbeitsbedingungen  überhaupt  spielt 
eine  bedeutende  Rolle  in  den  Verbandsstatuten;  namentlich 
in  der  Eisenindustrie  und  auch  im  Bergbau  findet  sich 
häufig  die  allgemein  gütige  Feststellung  aller  Löhne  sowie 
der  Arbeitszeit;  auch  das  Lehrlingswesen  wird  oft  statuten- 
mässig  gleichmässig  geregelt.  Einige  Associationen  im 
Bergbau  und  in  der  Eisenindustrie  bestimmen,  dass  kein 
Arbeiter  aufgenommen  werden  darf,  ohne  dass  bei  seinem 
letzten  Arbeitgeber  Auskunft  über  die  Entlassungsursache 
eingeholt  worden  ist. 

Die  gegenseitigen  Verpflichtungen  derVerbandsmitglieder 
haben  begreiflicherweise  mannigfachen  Inhalt;  sie  beziehen 
sich  auf  den  Ausschluss  unlauterer  Konkurrenz  bis  zum 
statutenmässigen  Verbot  der  Uebernahme  einer  von  einem 
andern  Mitgliede  abgelehnten  Lieferung  bei  der  National 
Association  of  Master  Builders,  auf  das  Verbot  von  Mit- 
theilungen über  den  Betrieb  an  aussenstehende  u.  s.  w.,  sowie 
vorzugsweise  auf  die  Beschäftigung  von  Arbeitern;  meist 
ist  das  „Abreden“  von  Arbeitern  untersagt,  desgleichen  die 
eigenmächtige  Einstellung  neuer  Arbeiter  bei  Strikes.  In 
der  Yorkshire  Master  Printers  & All ied  Trades  Association 
und  der  Seeds  Boot  Manufacturers  Association  kreisen 
statutenmässig  schwarze  Listen  streikender  Arbeiter,  deren 
Beschäftigung  bei  Strafe  verboten  ist.  Im  erstgenannten 
Verbände  sind  die  Mitglieder  auch  verpflichtet,  im  Falle 
von  Einzelausständen  übernommene  Lieferungen  für  ein- 
ander mit  einem  Höchstprofit  von  10  pCt.  auszuführen. 

Die  Verbandsleitung  befindet  sich  meist  in  der  Hand 
von  Exekutivkomites,  deren  Mitgliederzahl  zwischen  4 und 
36  schwankt;  ihre  Wahl  geschieht  gewöhnlich  in  der  Jahres- 
versammlung, und  manchmal  wird  jährlich  nur  die  Hälfte, 
ein  drittel  oder  ein  viertel  der  Mitglieder  neu  gewählt. 
Das  geschäftsführende  Komite  versammelt  sich  regelmässig- 
monatlich  oder  vierteljährig.  Die  administrative  Geschäfts- 
führung liegt  in  den  Händen  von  Präsidenten,  Vizepräsi- 
denten, Sekretärs  und  anderer  „officers“.  Bei  den  General- 
versammlungen wird  nach  verschiedenen  Systemen  abge- 
stimmt. In  manchen  Verbänden  hat  jedes  Mitglied  oder 
jede  Firma  eine  Stimme,  bei  der  West  Cumberland  Iron- 
masters  Association  haben  die  Mitglieder  je  nach  ihrer 
Roheisenproduktion  I bis  4 Stimmen,  bei  der  Iron  Trades 
Employers  Association  je  nach  der  Gesammtsumme  der 
Jahreslöhne  1 bis  16  Stimmen,  bei  der  South  Staft'ordshire 
Ironmasters  Association  nach  der  Zahl  der  Hochöfen  I bis 
8 Stimmen  u.  s.  w. 

Die  Mitgliederschaft  beschränkt  sich  meist  auf  die 
Unternehmer  der  betreffenden  Branche.  Bios  die  Belfast 
Employers  Association  nimmt  jeden  Arbeitgeber  überhaupt 
auf,  und  die  National  Labour  Union  ist  der  einzige  Unter- 
nehmerverband, der  auch  Arbeiter  zulässt;  dagegen  ist  in 
manchen  Verbandsstatuten  ausdrücklich  bestimmt,  dass  keine 
mit  Arbeitervereinigungen  in  irgend  welcher  Verbindung 
stehende  Person  Aufnahme  finden  dürfe.  Vorbedingung  zur 
Aufnahme  ist  häufig  auch  die,  dass  der  betreffende  Unter- 
nehmer derzeit  nicht  im  Streite  mit  seinen  Arbeitern  liegt. 
Die  vorgeschlagenen  Kandidaten  werden  meist  ballotirt. 
Die  Eintrittsgebühr  ist  manchmal  festgelegt,  in  anderen 
Fällen  richtet  sie  sich  nach  der  Ausdehnung  des  Betriebes 
des  neu  Eintretenden  oder  der  Höhe  der  von  ihm  gezahlten 
Jahreslöhne.  Der  Austritt  ist  an  eine  Kündigung  mit 
Fristen  von  14  Tagen  bis  zu  einem  Jahre,  meist  aber  von 
einem,  drei  oder  sechs  Monaten  gebunden.  Der  Ausschluss 
erfolgt  nur  bei  Zuwiderhandeln  gegen  die  Verbandsstatuten 
auf  Mehrheitsbeschluss. 

Aehnlich  den  Eintrittsgebühren  richten  sich  auch  die 
Jahresbeiträge  häufig  nach  der  Grösse  der  Betriebe,  sowie 
Lohnhöhe,  Förderung,  Tonnengehalt  von  Schiffen,  Zahl 


der  Maschinen;  in  gleicher  Weise  werden,  falls  es  erforder- 
lich ist,  ausserordentliche  Auflagen  vertheilt,  deren  Höhe 
manchmal  begrenzt  ist,  wie  beispielsweise  bei  der  United 
Cotton  Manufacturers  Union  mit  3 d auf  den  Webstuhl. 

Was  die  Fondsverwaltung  und  Ausgaben  der  Verbände 
anlangt,  so  erscheint  die  bereits  erwähnte  Entschädigung 
für  durch  Ausstände  erlittenen  Schaden  am  interessantesten. 
Die  West  Cumberland  Ironmasters  Association  sichert  in 
solchen  Fällen  einen  Nutzen  von  2 sh  6 d per  t der  wahr- 
scheinlichen Produktion.  Die  Mitglieder  der  South  Wales 
Monmouthshire  & Gltmchestershire  Tinplate  Makers  Asso- 
ciation haben  bei  Strikes  Anspruch  auf  lü  £ wöchentlich 
für  jede  mit  Dampfkraft  betriebene  und  7 sh  lü  d für  jede 
mit  Wasserkraft  betriebene  Fabrik;  die  Iron  Trade  Em- 
ployers Association  zahlt  den  durch  Strikes  betroffenen 
Mitgliedern  für  jede  100  £ Jahreslöhne  3 sh  wöchentlich;  die 
Shipping  Federation  garantirt  Schadloshaltung  für  jede  in 
Folge  Verbandsbeschlusses  übernommene  Haftpflicht  oder 
Kosten,  und  die  Liverpool  Employers  Labour  Association 
zahlt  ihren  Mitgliedern  für  blockirte  oder  boycottirte 
Dampfer  täglich  2 d per  t,  falls  sie  nicht  für  Ersatz  der 
Arbeiter  Sorge  trägt. 

So  mannigfach  interessantes  die  „Rules  of  Employers 
Associations“  bieten,  so  ist  doch  andererseits  die  Unvoll- 
ständigkeit und  der  Mangel  einer  statistischen  Darlegung 
zu  bedauern. 

Wien.  Emil  Loew. 

Kartellzwang  und  deutsche  Gewerbeordnung.  Eine 
Civilkammer  des  Nürnberger  Landgerichts  hat  eine  inter- 
essante Entscheidung  über  die  von  Unternehmern  ins  Leben 
gerufenen  sogenannten  Ringe  gefällt.  Der  Gerichtshof  hat 
nämlich  ausgesprochen,  dass  solche  Ringe  nur  zulässig  seien, 
wenn  jedem  Mitgliede  der  Austritt  jeder  Zeit  freistehe.  Es 
verhalte  sich  mit  solchen  Koalitionen  gerade  so,  wie  mit 
den  in  § 152  der  Reichs-Gewerbeordnung  erwähnten  Koa- 
litionen; sie  seien  erlaubt,  alle  Verbote  und  Strafbestim- 
mungen gegen  sie  seien  aufgehoben,  allein  jedem  Theil- 
nehmer  stehe  der  Rücktritt  frei,  und  es  könne  diese  Freiheit 
durch  keine  Konventionalstrafe  oder  sonstige  Verabredungen 
eingeschränkt  werden. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Die  Arbeitszeit  in  den  Spinnereien.  Nachdem  durch 
die  letzte  Gewerbe-Ordnungs-Novelle  bestimmt  war.  dass 
die  Arbeiterinnen  an  Sonnabenden  und  Vorabenden  der 
Festtage  nur  10  Stunden  beschäftigt  werden  dürfen,  ist  in 
zahlreichen  Spinnereien  die  Arbeitszeit  auf  die  Zeit  von 
6 Uhr  morgens  bis  5 Uhr  nachmittags  mit  einer  einstündi- 
gen  Mittagspause  beschränkt  worden.  Obgleich  nun  auf 
diese  Weise  an  den  genannten  Tagen  nicht  länger  gear- 
beitet wird,  als  für  jugendliche  Arbeiter  gestattet  ist,  muss 
doch  noch  die  Ij2  stündige  Pause  am  Nachmittag  eingehalten 
werden.  Das  ging  dem  Centralverband  deutscher  Indu- 
strieller zu  weit,  und  er  hatte  sich  deshalb  an  den  Bundes- 
rath mit  dem  Anträge  gewandt,  für  Spinnereien  den  Fortfall 
der  Nachmittagspause  für  jugendliche  Arbeiter  an  den  ge- 
nannten Arbeitstagen  zu  gestatten.  Infolge  dieses  Antrages 
sind  Erhebungen  veranstaltet  worden,  die  zu  dem  Ergeb- 
nisse geführt  haben,  dass  in  zahlreichen  Spinnereien  Ver- 
hältnisse vorliegen,  die  für  die  nachgesuchten  Ausnahme- 
bestimmungen sprechen.  Es  werden  demnach  künftig  die- 
jenigen Spinnereien,  die  der  Ortspolizeibehörde  angezeigt 
haben  werden,  dass  sie  von  der  Ausnahme  Gebrauch  machen 
wollen,  die  Nachmittagspausen  für  jugendliche  Arbeiter  an 
Sonnabenden  und  Vorabenden  von  Festtagen  fortfallen  lassen 
können.  Jedoch  werden  dafür  folgende  Bedingungen  erfüllt 
werden  müssen:  die  Arbeitszeit  der  jugendlichen  Arbeiter 
darf  nicht  länger  als  9*/2  Stunden  und  nicht  über  5 Uhr 
nachmittags  dauern  und  nach  der  Mittagspause  4 Stunden 
nicht  überschreiten;  sodann  muss  an  diesen  Tagen  den 
jugendlichen  Arbeitern  gestattet  werden,  das  Vesperbrod 
während  der  Arbeit  einzunehmen.  — Unseres  Erachtens 
sollte  man  den  jugendlichen  Arbeitern  ruhig  die  halbe 
Stunde  Arbeitspause  zum  Einnehmen  des  Vesperbrodes  be- 


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No.  48. 


lassen.  Die  Mahlzeit  wird  ihnen  dann  jedenfalls  besser  be- 
kommen, und  einen  wirklichen  Schaden  hat  wohl  niemand 
davon. 

Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe  in  Stuttgart.  Das 

thätige  Interesse  der  Geistlichkeit  an  der  viel  angefeindeten 
Sonntagsruhe  im  Handelsgewerbe  lässt  im  allgemeinen  sehr 
zu  wünschen  übrig.  Desto  anerkennenswerther  ist  es,  dass 
jetzt  in  Stuttgart  der  Gesammtkirchengemeinderath  an  die 
bürgerlichen  Kollegien  Stuttgarts  die  Bitte  gerichtet  hat,  den 
Beschluss  des  Gemeinderaths,  wonach  künftighin  die  Ver- 
kaufszeit der  Ladenbesitzer  — in  Abänderung  des  § 2 des 
Ortsstatuts  — auch  von  I — 3 Uhr  sich  erstrecken  soll,  im 
Interesse  der  Sonntagsruhe  im  allgemeinen  und  der  im 
Handelsgewerbe  beschäftigten  Geholfen  und  Gehülfinnen  im 
besonderen  rückgängig  zu  machen  und  den  § 2 des  Orts- 
statuts in  der  ursprünglichen  Form  wieder  herzustellen.  Die 
Begründung  der  Lingabe,  die  vom  Stadtpfarrer  Traub  ver- 
fasst ist,  hebt  im  ganzen  und  grossen  die  maassgebenden 
Gesichtspunkte  richtig  hervor.  Besonders  wird  auch  die 
Halbheit  des  jetzigen  Zustandes  betont:  „Mancher  Miss- 
erfolg, den  man  der  Sonntagsruhe  schuld  giebt,  ist  nur  ein 
Misserfolg  der  Halbheit  der  Sonntagsruhebestimmungen 
bezw.  ihrer  Durchführung.“  Hoffentlich  bleibt  nunmehr  den 
Stuttgarter  Kaufleuten  ihr  Ortsstatut  erhalten. 


Arbeiterversicherung. 

Die  Prozesse  im  Gebiete  der  Reichs-Arbeiterversicherung. 

Das  Reichs- Versicherungsamt  hat  unlängst  eine  auch  in 
dieser  Zeitschrift  No.  44  S.  350/51  — wiedergegebene 
Zusammenstellung  über  seine  Spruchthätigkeit  in  den 
ersten  6 Monaten  des  laufenden  Kalenderjahres  veröffent- 
licht. Diese  Veröffentlichung  hat  etwas  ungewöhnliches  an 
sich;  denn  bisher  pflegten  solche  statistischen  Daten  nur 
für  volle  Verwaltungsjahre  in  dem  regelmässigen  Geschäfts- 
bericht des  Reichs-Versicherungsamts  gegeben  zu  werden. 
Sie  hatte  denn  auch  eine  besondere  Veranlassung,  nämlich 
die  Widerlegung  der  — wie  es  in  dem  Rundschreiben  vom 
15.  Juli  er.  heisst  — „von  einigen  Seiten  aufgestellten  Be- 
hauptung, dass  die  Behandlung  der  in  Unfall-,  sowie  in  In- 
validitäts-  und  Altersversicherungssachen  vorkommenden 
Streitigkeiten  nicht  immer  diejenige  Beschleunigung  erfahre, 
welche  geboten  ist,  um  die  Betheiligten  möglichst  bald  in 
den  Genuss  der  beanspruchten  Rente  gelangen  zu  lassen“. 
Das  ist  freilich  ein  sehr  wichtiger  Punkt;  gerade  in  diesen 
Streitsachen  ist  nächst  der  sachgemässen  die  rasche  und 
prompte  Erledigung  dringend  geboten.  Die  Rente  soll  dem 
Arbeiter  augenblicklichen  Ersatz  für  die  entzogene  oder  ver- 
minderte Arbeitsfähigkeit  bieten  und  ist  auch  so  bemessen, 
dass  sie  garnicht  im  Stande  ist,  etwas  anderes  als  dies  zu 
leisten.  Lässt  man  den  Arbeiter  lange  auf  die  Rente  warten, 
so  lässt  man  ihn  während  dieser  Zeit  in  der  Noth.  Der  sozial- 
politische Zweck  ist  also  für  diesen  Zeitraum  verfehlt,  und 
dass  das  durch  die  Nachbewiliigung  der  Rente  wieder  gut 
gemacht  werden  könnte,  lässt  sich  in  vielen  Fällen  kaum  be- 
haupten. Auch  die  Bestimmung,  dass  die  schiedsgericht- 
lichen Urtheile  vorläufig  zur  Ausführung  zu  bringen  sind 
trotz  der  etwa  von  der  Berufsgenossenschaft  oder  Versiche- 
rungsanstalt gegen  die  Rentenbewilligung  eingelegten  Rechts- 
mittel, kann  wenigstens  in  den  nicht  ganz  seltenen  Fällen 
nichts  helfen,  in  denen  es  dem  Arbeiter  erst  in  der  letzten 
Instanz  gelingt,  zu  seinem  Rechte  zu  kommen. 

Ueber  Verzögerungen  im  Verfahren  wird  vielfach  ge- 
klagt. das  bestätigt  ja  das  Reichs-Versicherungsamt;  denn 
handelte  es  sich  nur  um  gelegentliche,  vereinzelte  Beschwer- 
den, so  würde  die  Behörde  doch  kaum  daraus  Veranlassung 
genommen  haben,  sich  gegen  den  Vorwurf,  soweit  er  sie  an- 
gehen  könnte,  in  so  feierlicher  Weise  nicht  nur  vor  den 
Vorständen  der  Berufsgenossenschaften  und  Versicherungs- 
anstalten, sondern  durch  die  Publikation  in  den  Amtlichen 
Nachrichten  auch  vor  der  Öffentlichkeit  zu  rechtfertigen. 
Und  es  wird  mit  Recht  geklagt.  Man  nehme  nur  eine  An- 
zahl letztinstanzlicher  Entscheidungen  des  Reichs-Versiche- 
rungsamts zur  Hand  und  vergleiche  das  Entscheidungsdatum 


mit  dem  Datum  des  Unfalls  oder  des  Eintritts  der  Invalidität 
oder  des  zur  Rente  berechtigenden  Alters.  Man  wird  finden, 
dass  sehr  gewöhnlich  zwischen  diesen  Daten  ein  rundes 
Jahr,  mitunter  ein  noch  längerer  Zeitraum  liegt.  Das  ist 
aber  ganz  ohne  Frage  viel  zu  lange,  und  wer  sich  darüber 
beschwert,  ist  in  seinem  vollen  Recht.  Natürlich  denken 
wir  nicht  an  solche  Fälle,  in  denen  durch  Schuld  des  Renten- 
berechtigten der  Anspruch  viel  zu  spät  zur  Anmeldung 
gelangt  und  er  die  Verzögerung  daher  nur  sich  selbst  zu- 
zuschreiben hat.  Das  sind  Ausnahmen,  die  zwar  Vorkommen, 
aber  doch  nur  selten  Vorkommen,  zumal  in  der  Unfallver- 
sicherung, in  der  ja  die  Rentenfeststellung  von  amtswegen 
vorzunehmen  ist.  Was  wir  sagten,  trifft  aber  — diese  Fälle 
ganz  bei  Seite  gelassen  — recht  häufig,  wenn  nicht  als  Regel, 
zu.  Dagegen  würde  selbst  mit  geringeren  Durchschnitts- 
zahlen, wenn  sich  solche  etwa  aus  der  gesammten  Prozess- 
statistik ergeben  sollten  — was  übrigens  bisher  noch  nicht 
behauptet  worden  ist  — , nichts  zu  beweisen  sein.  Denn 
auch  unter  den  Streitsachen,  die  durch  sämmtliche  In- 
stanzen gehen,  giebt  es  solche,  die  ganz  einfach  liegen, 
in  denen  der  Thalbestand  von  vornherein  klar,  durchsichtig 
und  unbestritten  ist  und  es  sich  nur  um  die  Entscheidung 
einer  Rechtsfrage  handelt.  Diese  Entscheidung  kann  sofort 
getroffen  werden;  es  sollte  dazu  keiner  längeren  Zeit  be- 
dürfen, als  zur  Anberaumung  der  Verhandlungstermine  in 
den  verschiedenen  Instanzen  erforderlich  ist.  In  den  Durch- 
schnittsziffern sind  solche  Prozesse  selbstverständlich  mit 
eingerechnet,  und  es  können  ihnen  unbeschadet  des  Ge- 
sammtergebnisses  sehr  wohl  andere  Prozesse  in  erheblicher 
Zahl  gegenüberstehen,  deren  Erledigung  sehr  viel  längere 
Zeit  in  Anspruch  genommen  hat  und  eine  Klage  wegen  Ver- 
schleppung wohl  begründet  erscheinen  lässt. 

Das  Reiths-Versicherungsamt  hat  sich  natürlich  kein  an- 
deres Beweisthema  stellen  können,  als  dass  eine  solche 
Verzögerung  in  der  letzten  Instanz  nicht  stattgefunden  habe. 
Man  mag  zugeben,  dass  dieser  Beweis  gelungen  sei,  dass 
eine  durchschnittliche  Zeitdauer  von  3 Monaten  vom  Ein- 
gänge des  Rechtsmittels  bis  zur  Urtheilsverkiindung  als  zu 
gross  nicht  bezeichnet  werden  kann.  Jedenfalls  wird  man 
überzeugt  sein  und  wohl  auch  vorher  überzeugt  gewesen 
sein,  dass  das  Reichs-Versicherungsamt  thut.  was  in  seinen 
Kräften  steht,  indem  es  sich  bestrebt,  in  durchschnittlich 
16  Spruchsitzungen  in  der  Woche  die  Rekurse  und  Revi- 
sionen so  rasch  zu  erledigen,  als  es  überhaupt  möglich  ist. 
Aber  die  Klagen  werden  damit  nicht  aus  der  Welt  geschafft. 
Bestenfalls  ist  nur  bewiesen,  dass  an  dieser  Stelle  die  Schuld 
nicht  liegt,  dass  sie  also  an  anderer  Stelle  liegen  muss,  die 
Beschwerde  nur  an  eine  unrichtige  Adresse  gerichtet  war. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  den  Lauf  des  Verfahrens  in 
Unfallrentensachen,  so  müssen  wir  zunächst  die  ersten 
3 Monate  nach  dem  Unfall  in  Abrechnung  bringen;  dazu 
kommt,  wie  wir  gesehen  haben,  eine  gleich  lange  Frist  für 
das  Verfahren  in  der  Rekursinstanz,  ferner  je  4 Wochen  für 
die  Berufungs-  und  Rekursfrist,  das  sind  zusammen  8 Monate. 
In  den  Sachen  also,  in  denen  zwischen  dem  Unfall  und  der  Ent- 
scheidung in  der  Rekursinstanz  ein  Zeitraum  von  einem 
Jahr  und  mehr  liegt,  muss  eine  Frist  von  vier  Monaten 
und  darüber  auf  das  Verfahren  bei  der  Berufsgenossenschaft 
und  dem  Schiedsgericht  gerechnet  werden.  Das  ist  aber 
ganz  entschieden  viel  zu  lange.  Dem  Genossenschaftsvor- 
stand können  wir  eigentlich  eine  weitere  Frist  überhaupt 
nicht  einräumen.  Er  ist  ja  bei  Eintritt  der  Unfallversiche- 
rung längst  im  Besitz  der  Anzeige,  des  Ergebnisses  der 
polizeilichen  Untersuchung  und  hat  die  ganzen  3 Monate 
Zeit  gehabt,  die  etwa  noch  erforderlichen  Ermittelungen  an- 
zustellen und  zu  ergänzen.  Mit  dem  Ende  der  13.  Woche 
nach  dem  Unfall  kann  und  muss  er  soweit  sein,  dass  er 
nun  unverzüglich  seinen  Feststellungsbescheid  erlassen  kann, 
wenn  er  das  nicht  schon  vorher  gethan  hat.  Die  Absicht 
des  Gesetzes  geht  auch  ganz  unzweifelhaft  dahin,  dass 
Kranken-  und  Unfallversicherung  sich  unmittelbar  an  ein- 
ander anschliessen  sollen,  die  eine  von  der  anderen  abge- 
löst wird,  nicht  aber  zwischen  ihnen  eine  Lücke  eintritt. 
während  der  Verletzte  vorläufig  nichts  erhält.  Und  auch 
das  Schiedsgericht  muss,  selbst  wenn  es  noch  Ermittelungen 
anzustellen,  Beweise  zu  erheben  hat.  in  sehr  viel  kürzerer 
Zeit  seine  Aufgabe  lösen  können.  Es  muss  das  können, 
sagen  wir,  weil  der  gesetzgeberische  Zweck,  die  ratio  legis 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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und  die  Natur  der  Rente  als  eines  Abwehrmittels  gegen 
dringende  Notli  das  gebieterisch  erfordern.  Kann  es  das 
gleichwohl  nicht,  so  ist  das  ein  Beweis,  dass  die  Organi- 
sation verfehlt  ist  und  reformirt  werden  muss.  Unmögliches 
ist  es  keineswegs,  was  von  den  Schiedsgerichten,  die  dem 
Streitgegenstände  sachlich  und  örtlich  ja  besonders  nahe- 
stehen, verlangt  wird.  In  der  Invaliditäts-  und  Altersversiche- 
rung liegt  die  Sache  ähnlich.  Wenn  wir  hier  gegen  die 
fortfallende  Karenzzeit  von  13  Wochen  die  Zeit  kompen- 
siren,  die  für  die  Stellung  und  Begründung  des  Renten- 
antrags und  die  Ermittelungen  der  unteren  Verwaltungs- 
behörde gebraucht  wird,  also  bis  zum  Eingang  der  Sache 
beim  Anstaltsvorstande  vergeht,  und  dann  noch  für  vor- 
bereitende Thätigkeit,  Einforderung  der  Quittungskarten, 
Anhörung  der  Vertrauensmänner  u.  dergl.  erforderlich  ist, 
so  glauben  wir  zu  alledem  recht  reichliche  Zeit  gelassen  zu 
haben.  Der  spätere  Verlauf  ist  ja  ungefähr  der  gleiche. 

Der  Fehler  liegt  also  entweder  in  der  ersten  Festsetzungs- 
oder in  der  schiedsgerichtlichen  Berufungsinstanz.  Ersteres 
ist  nicht  wohl,  wenigstens  als  Regel  nicht,  anzunehmen. 
Denn  das  hätte  dem  Reichs-Versicherungsamt  nicht  verbor- 
gen bleiben  können,  und  dieses  würde  sicher  nicht  gezögert 
haben,  mit  Mahnungen  und  Anweisungen  dagegen  einzu- 
schreiten. Die  allgemeine  und  wohl  zutreffende  Ansicht 
geht  denn  auch  dahin,  dass  es  an  der  Schiedsgerichtsinstanz 
liegt.  Damit  wird  kein  Vorwurf  gegen  die  Schiedsgerichte 
oder  deren  Vorsitzenden  persönlich,  sondern  lediglich  gegen 
die  Organisation  erhoben.  Die  Schiedsgerichtsbezirke  sind 
theilweise  recht  geräumig  und  gross  gemacht;  die  Folge 
ist  eine  Arbeitshäufung  bei  den  zentralisirten  Gerichtshöfen, 
deren  Bewältigung  in  kürzeren  Fristen  trotz  allen  Eifers 
und  Fleisses  nicht  durchzusetzen  ist.  Auf  der  anderen  Seite 
ist  man  — namentlich  in  der  Invaliditäts-  und  Altersversiche- 
rung — in  den  entgegengesetzten  Fehler  verfallen : dieSchieds 
gerichtsbezirke  sind  zu  klein,  es  fehlt  an  Material,  um  die 
Tagesordnung  einer  Sitzung  zu  füllen,  und  da  man  schon  aus 
Rücksichten  der  Kostenersparniss  doch  nicht  für  jede  ein- 
zelne Sache  eine  besondere  Sitzung  anberaumen  kann,  so 
müssen  sie  liegen  bleiben,  bis  es  sich  verlohnt,  einmal  wieder 
zusammenzukommen.  Das  sind  offenbare  Mängel  in  der 
Organisation,  die  beseitigt  werden  können  und  thunlichst 
rasch  beseitigt  werden  sollten. 

Aber  man  wird  vielleicht  gut  thun,  auch  auf  anderweitige 
Abhülfe  bedacht  zu  sein,  und  da  liegt  der  Gedanke  nahe, 
ob  es  nicht  anginge,  die  Zahl  der  Berufungen  einzuschrän- 
ken, natürlich  nicht  dadurch,  dass  man  den  Arbeitern  das 
Rechtsmittel  entzieht,  sondern  indem  man  ihnen  den  Anlass 
nimmt,  davon  Gebrauch  zu  machen.  Ziemlich  beständig 
werden  alljährlich  etwa  20  pCt.  der  Feststellungsbescheide 
durch  Berufung  angefochten.  Das  mag  nicht  viel  sein,  wenn 
man  es  mit  den  entsprechenden  Ziffern  der  Civilprozess- 
statistik,  insbesondere  der  früheren  Haftpflichtprozesse , in 
Vergleich  stellt.  Aber  man  sollte  dabei  nicht  ausser  Acht 
lassen,  dass  es  sich  hier  doch  um  Erreichung  noch  anderer 
Ziele,  als  bloss  Recht  zu  sprechen,  handelt,  und  dass  eine 
wesentliche  Verminderung  der  Streitfälle  mit  Freuden  zu 
begrüssen  wäre,  nicht  nur  weil  sie  zur  Entlastung  der  Ge- 
richte beiträgt  und  so  ermöglicht,  die  Prozesse,  die  einmal 
unvermeidlich  sind,  in  kürzester  Frist  zu  erledigen,  sondern 
namentlich  auch,  weil  sie  von  einer  Zunahme  des  Vertrauens 
in  die  erstinstanzliche  Entscheidung  Zeugniss  ablegen  würde. 
Das  ist  aber  kaum  zu  erwarten,  so  lange  diese  Entschei- 
dung allein  in  die  Hände  der  Berufsgenossenschalten 
und  Versicherungsanstalten  gelegt  ist.  Trotz  aller  gesetz- 
licher Fiktionen  wird  der  Arbeiter  niemals  darüber  hinweg- 
kommen, dass  es  sein  Prozessgegner  ist,  der  ihm  Recht 
spricht.  Würde  man  dagegen  das  schiedsgerichtliche  Ver- 
fahren in  die  erste  Instanz  legen,  so  würde  man  für  diese 
kaum  etwas  erhebliches  an  Zeit  mehr  brauchen  und  wesent- 
lich für  die  weiteren  Instanzen  gewinnen. 

Alters-  und  Invalidenrenten  im  Jahre  1892.  In  den 

„Amtlichen  Nachrichten  des  Reichs-Versicherungsamts,  In- 
validitäts- und  Altersversicherung“  wird  auf  S.  120  bis  123 
die  Belastung  der  Versicherungsanstalten  der  einzelnen 
Kasseneinrichtungen  und  des  Reichs  durch  die  Alters-  und 
Invalidenrenten  im  Jahre  1892  mitgetheilt.  Danach  sind  im 


Jahre  1892  im  ganzen  an  Renten  22425035,25  M.  gezahlt 
worden;  davon  entfallen  21071602,06  M.  (94  pCt.j  auf 
Alters-  und  1 353433,19  M.  (6  pCt.j  auf  Invalidenrenten. 
Was  das  Verhältnis  zwischen  Alters-  und  Invalidenrenten 
anlangt,  so  weicht  es  bei  den  verschiedenen  Versicherungs- 
Anstalten  und  -Kassen  nicht  allzu  sehr  von  dem  Durch- 
schnitt ab;  nur  die  Knappschaftspensionskassen  machen  hier- 
von eine  wenig  in’s  Gewicht  fallende  Ausnahme.  — Von  den 
gezahlten  Renten  haben  zu  tragen:  das  Reich  8971  072,04  M., 
wovon  8410061 ,74  M.  auf  Alters-,  561  010,30  M.  auf  Invaliden- 
renten entfallen,  die  Versicherungsanstalten  undKasseneinrich- 
tungen  13453963  M.,  wovon  1 2661  540,32  M.  auf  Alters-  und 
792422,89  M.  auf  Invalidenrenten  entfallen.  Der  Antheil 
des  Reichs  beträgt  also  im  Jahre  1892  bei  den  Altersrenten 
noch  66  pCt.  des  Antheils  der  Versicherungsanstalten  und 
Kassen,  bei  den  Invalidenrenten  sogar  71  pCt.  — Auf  den 
Kopf  der  Bevölkerung  kommen  durchschnittlich  198,7  Pf. 
Renten,  von  denen  79,5  Pf.  das  Reich  zu  tragen  hat.  In 
den  einzelnen  Bezirken  stellen  sich  diese  Zahlen  recht  ver- 
schieden; so  entfallen  in  Berlin  nur  82  Pf.  auf  den  Kopf, 
davon  26  Pf.  Reichszuschuss,  in  Schleswig-Holstein  dagegen 
322  Pf.,  davon  121  Pf.  Reichszuschuss.  Der  Reichszuschuss 
macht  natürlich  einen  um  so  grösseren  Theil  der  Gesammt- 
renten  aus,  je  niedriger  die  Löhne  in  den  betreffenden  Be- 
zirken sind;  in  der  Provinz  Schlesien  z.  B.  hat  das  Reich 
über  43  pCt.  der  Renten  getragen,  in  Berlin  dagegen  nicht 
ganz  32  pCt. 


Soziale  Hygiene. 

Die  Berufskrankheiten  der  Porzellanarbeiter.  Ueber 
dieses  Thema  hielt  vor  Kurzem  Dr.  Sommerfeld  in  der 
deutschen  Gesellschaft  für  öffentliche  Gesundheitspflege 
einen  Vortrag,  dem  wir  das  folgende  entnehmen.  Das  Zer- 
kleinern des  Rohmaterials,  das  Sieben  der  zerkleinerten 
Massen,  womit  junge  Leute  beschäftigt  werden,  dann  das 
Anrühren,  Brennen,  Drehen,  Schleifen,  Formen,  Glasiren 
und  Koloriren,  alle  diese  Verrichtungen  haben  das  Gemein- 
same, dass  sie  die  Arbeiter  in  geringerem  oder  höherem 
Grade  durch  einen  die  Athmungsorgane  reizenden  Staub 
belästigen.  Für  die  Brenner  kommt  noch  die  hohe  Tempe- 
ratur des  ausstrahlenden  Ofens  hinzu.  Die  Folge  ist,  dass 
das  durchschnittliche  Lebensalter  der  Porzellanarbeiter  nur 
41  Jahre  beträgt.  Die  Porzellandreher  erreichen  im  Durch- 
schnitt nur  38,  die  Maler  sogar  nur  36  Jahre.  Von  100  Ar- 
beitern erkrankten  40  an  Lungenleiden.  25  an  Unterleibs- 
krankheiten, 9 an  Rheumatismus,  1 an  Herzkrankheit,  25  an 
Zufällen.  Von  3066  Krankheitsfällen  betrafen  31  pCt.  die 
Athmungsorgane  (darunter  51,4  pCt.  Lungentuberkulose), 
1 6 pCt.  die  Verdauungsorgane,  9 pCt.  Rheumatismus,  3,4  pCt. 
das  Centralnervensystem,  1 ,2  pCt.  das  Herz  und  ein  geringer 
Prozentsatz  die  Leber.  In  der  königlichen  Porzellan- 
manufaktur sind  die  Verhältnisse  etwas  besser  als  der 
Durchschnitt,  da  das  Sterblichkeitsalter  43,13  Jahre  beträgt. 
Der  Grund  der  niedrigen  Lebensdauer  ist  nach  dem  Refe- 
renten hauptsächlich  in  der  hygienisch  unzureichenden  Ein- 
richtung der  Fabriken  und  in  mangelhafter  Ernährung  zu 
suchen.  Reinigung  von  Staub  und  dessen  Abführung  durch 
Ventilatoren  wäre  daher  das  erste  Mittel,  um  bessere  Verhält- 
nisse herbeizuführen.  Respiratoren  für  die  Arbeiter  und 
häufigere  in  freier  Luft  zu  verbringende  Arbeitspausen  werden 
als  weitere  Heilmittel  vorgeschlagen.  Das  wichtigste  aber 
wird  eine  Hebung  der  sozialen  Lage  der  Arbeiter  sein,  denn 
es  wurde  ermittelt  aus  386  Fällen,  dass  der  mittlere  Arbeitslohn 
erwachsener  männlicher  Arbeiter  18,40  M.  wöchentlich  betrug 
oder  956  M.  jährlich.  Nach  Abzug  der  nothwendigen  Aus- 
gaben bleiben  für  die  Ernährung  584  M.,  was  sicher  nicht 
hinreicht,  um  den  Körper  widerstandsfähig  zu  erhalten.  — 
Die  Arbeitszeit  schwankt  zwischen  8 und  14  Stunden  und 
beträgt  in  Deutschland  durchschnittlich  10,3  Stunden.  Die 
längste  Arbeitszeit  besteht  in  Thüringen,  wo  die  Arbeiter 
regelmässig  4—6  Ueberstunden  haben,  um  ihre  unzureichen- 
den Löhne  aufzubessern.  Es  bestätigt  sich  auch  hier  der 
alte  Erfahrungssatz,  dass  niedriger  Lohn  und  lange  Arbeits- 
zeit Hand  in  Hand  mit  einander  gehen. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin  W.,  Victoriastrasse  16. 


580 


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No.  48. 


Snmintting  am.iCidi.ec  Dei'öflFeutfidiuiignt 
11193  nus  tfcm  Heidis»  muf  Staat san^cigrr 
31  r.  1«. 


Sie 

ymilüfdieit  Stcuergefebe. 

23 om  14.  $uli  1893. 

©eje^  tuegen  5lnf()e&ung  birefter 
6taat3fteueru. 

(*Brgänptngs|kuci*ge|ck. 

Jtommunalabgabengefejp 

?lu3  bem  SWe ict)$s  unb  ©taatgan^eiger 
befonberS  abgebrueft. 

8°.  72  ©eiten. 

$rei§  geheftet  931. 1,—,  poftfret,  997.1,10. 

Cüirl  iegmanns  Serlag 

SBerlin  W. 

SU  auerftrajfe  44. 


Carl  Cfenmannti  Vertag  in  25erlni  W.,  ilBauetftt.  44. 


‘©afd^enbuc^ 


be§ 


fätmtbt-  uttb  ^rlmtrmdrtn. 

3um  täglichen  ©cbraudje  bearbeitet 

Don 

Gkorg  darrt 

Sftegicrungäratl). 

80.  VIII  u.  101  Seite. 

Ureis  pt.  2,  po|lfrei  pt.  2,10. 


© r ft  e r 2 I)  e i l. 


|r  n ty  et  i t. 


in. 

IV. 


(Uetoerberedjt. 

©emerbe  unb  ©eroerbered)t  im  21  Q= 
gemeinen. 

©emerbebebörben,  3uftänbigfeit  unb 
23erfaf)ren. 

Sie  ©emerbefreiffeit- 
23cfonbcre  23efd)rcinfungen  ber  ©e= 
ujerbefrcifjeit. 

Ser  ©emerbebetrieb  im  Umf)erjicl)en. 
Sa§  gmumgSmefeu. 
@emcrbtid)e2trbeiter  im2IIIgemeinen; 
begriff  ber  gabrif. 

Ser  getoerblicfje  2ltbeit§ucrtrag  im 
2tHgemeinen. 

Ser  Sdjufs  be§  2lrbeit§IoI)n§;  ba§ 
„Srucffpftem". 

Ser  Stontraftbrudj;  fefte  (Sntfcf)äbi= 
gungen,  öoljnüermirtungen,  2of;n= 
einbefialtungen. 

Sie  befonberen  23orfd)riften  für 
minberjäfirige  2Irbeiter  u.  öeftrlinge. 


XII.  Sdjufc  für  fieben,  ©efunbbeit  unb 
Sittlidjfeit  ber  2lrbeiter  im  @e= 
roerbebetriebe. 

XIII.  Sie  Sonntagärulje. 

XIV.  2lrbeit§orbnungen  unb  2Irbeiterau§= 

f^üffe. 

XV.  Sefonberer  Sc^uf?  ber  grauen  unb 

Äinber  in  gabrifen  unb  gleidj= 
gefteßten  2tnlagen. 

XVI.  ©eroerbegeridjte  u.  ©inigunggämter. 

XVII.  Sa§  Soatition§red)t. 

^roeiter  Sljeil. 

2)te  Slrbettertterftdjeruug. 

A.  Sie  Sranfennerfidjerung. 

B.  Sie  UnfaßDerficfieruug. 

C.  Sie  giroalibität§=u. 21Iter§nerfid^erung. 

Änl)nug.  I.  Sa§  ©efinbered^t.  II.  2llpf)a= 
betifdje  Ueberficfit  ber  roid)tigften 
bau§roirtl)fd)aftlicben  gragen  ber 
3nüalibitnt§=  u.  2Ilter§üerfidjerung. 


^rcufüfdje 

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Vereins-  mb  ||f  rrfanmtlimggrertit 

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unter  befouberer  $öerücf[icf)tigung 

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SargefteEt  unb  erläutert  non 

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Dr.  jur.  5 *Hit* 

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2tmt§ritf)ter  in  £>amm  i.  23. 

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— 8°.  VI  u.  64  ©eiten.  -§- — • 

: 

$rei§  geheftet  907.  1,—,  poftfrei  907.  1,10. 

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(Earl  £>ct)mamt§  Verlag  tu  Berlin  W.,  SO^aucrftrafje  44* 

^ : 

Carl  Heymanns  Verlag  in  Berlin  W.,  Mauerstrasse  44.  — Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld  in  Berlin  W. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  4.  September  1893. 


Nummer  49. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Erscheint  jeden  Montag:. 

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INHALT. 


Die  schweizerische  Kranken- 
und  Unfallversicherung 
Von  Rechtsanwalt  Otto  Lang. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  und 
Wirthschaftsstatistik : 

Städtische  Arbeitsvermittelung.  Von 
Dr.  Max  Ouarck. 

Strafhausarbeit  bei  öffentlichen 
Bauten 

Die  preussischen  Sparkassen  im 
Rechnungsjahr  1 891  bez.  1 891  / 92. 

Fleischpreise  in  München. 

Bedingungen  bei  der  Vergebung 
öffentlicher  Arbeiten  in  St.  Gallen. 

Gewerkschaftliche  Arbeiterbewe- 
gung: 

Internationale  Gewerkschaftskon- 
gresse: Eisenbahnarbeiter-.  Holz- 
arbeiter-, Textilarbeiter-,  Schnei- 
der- und  Schuhmacher-Kongress. 

Arbeiterinnen  - Gewerkvereine  in 
England. 

Der  englische  Kohlengräberaus- 
stand. 

Kongress  der  englischen  Trades 
Unions. 

Politische  Arbeiterbewegung: 

Das  Recht  auf  Arbeit  in  der 
Schweiz. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Zur  Durchführung  der  Sonntags- 
ruhe in  Industrie  u.  Handwerk. 


Zur  Sonntagsruhe  im  Bäckerge- 
werbe. 

Zur  Sonntagsruhe  in  den  Gas- 
fabriken. 

Ueber  Lohnzahlung  in  Gast-  und 
Schankwirthschaften. 

Arbeiterinnenschutz  in  St.  Gallen. 

Arbeiterversicherung : 

Aussenarbeiter  u.  Hausindustrielle. 

Krankenversicherung  der  Hand- 
lungsgehülfen. 

Verbandstag  der  Baugewerks-Be- 
rufsgenossenschaften. 

Bildung  einer  Fleischerei -Berufs- 
genossenschaft. 

Die  Versicherung  gegen  Arbeits- 
losigkeit und  die  evangelischen 
Arbeitervereine. 

Gewerbegerichte,  Einigungsämter 
und  Arbeiterausschüsse: 

Die  Thätigkeit  der  württembergi- 
schen  Gewerbegerichte  im  Jahre 
1892. 

Schulwesen : 

Gewerbliches  Schulwesen  im  Gross- 
herzogthum Hessen  1892/93. 

Wohlfahrtseinrichtungen : 

Gewinnbetheiligung  der  Arbeiter 
in  einer  Maschinenfabrik. 

Eingesendete  Schriften. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  schweizerische  Kranken-  und  Unfall- 
versicherung. 

Die  schweizerische  Haftpflichtgesetzgebung,  deren  jüng- 
sten Bestandtheil  das  aus  dem  Jahre  1887  stammende  Ge- 
setz, betr.  die  Ausdehnung  der  Haftpflicht,  bildet,  war  noch 
nicht  zum  Abschluss  gebracht,  als  die  Bundesversammlung 
im  März  1885  durch  Annahme  der  Motion  Klein  den  Bundes- 
rath einlud,  über  die  Frage  Bericht  zu  erstatten,  ob  nicht 
eine  allgemeine  obligatorische  Unfallversicherung  anzu- 
streben sei.  Um  für  die  Ausarbeitung  eines  Gesetzent- 
wurfes möglichst  schnell  eine  sichere  Grundlage  zu  ge 
winnen,  wurde  die  nächste  Volkszählung  statt  erst  im  Jahre 
1890  schon  im  Jahre  1888  vorgenommen,  ferner  während 
dreier  Jahre  eine  Zählung  aller  Unfälle,  die  eine  Arbeits- 
unfähigkeit von  wenigstens  6 Tagen  zur  Folge  hatten,  an- 
geordnet und  das  schweizerische  Arbeitersekretariat  mit  der 
Aufgabe  betraut,  für  den  Theil  der  Bevölkerung,  der  in  den 
Krankenkassen  und  Hilfsvereinen  organisirt  ist,  das  Vor- 


kommen von  Unfällen  während  der  Dauer  von  3 Jahren  zu 
konstatiren  und  diese  Unfälle  nach  ihrer  Art  und  ihren 
Folgen,  nach  dem  Alter  und  Beruf  der  Verletzten  etc.  zu 
untersuchen.  Nachdem  sich  der  Bundesrath  verschiedene 
Denkschriften  über  die  Kranken-  und  Unfallversicherung 
hatte  ausarbeiten  lassen  — • von  denen  namentlich  diejenige 
vom  Nationalrath  B.  Forrer  beachtenswerth  ist  — beantragte 
er  bei  der  Bundesversammlung  mit  Botschaft  vom  28.  Novem- 
ber 1889  die  Aufnahme  eines  Artikels  in  die  Bundesverfas- 
sung. durch  die  der  Bund  ermächtigt  werden  sollte,  über  das 
genannte  Problem  zu  legiferiren.  Die  Räthe  einigten 
sich  schliesslich  auf  folgenden  Antrag,  der  in  der  Volks- 
abstimmung vom  26.  Oktober  1890  mit  283228  gegen  92200 
Stimmen  angenommen  worden  ist:  „Der  Bund  wird  auf  dem 
Wege  der  Gesetzgebung  die  Kranken-  und  Unfallversiche- 
rung einrichten  unter  Berücksichtigung  der  bestehenden 
Krankenkassen.  Er  kann  den  Eintritt  allgemein  oder  für 
einzelne  Bevölkerungsklassen  obligatorisch  erklären.“  Die 
Frage,  ob  die  Versicherung  auf  die  Lohnarbeiter  be- 
schränkt oder  aufs  ganze  Volk  ausgedehnt  werden,  ferner 
ob  sie  sich  auf  alle  oder  nur  auf  die  sogen.  Betriebsunfälle 
beziehen  soll,  wird  ihre  Beantwortung  erst  im  Gesetze  finden. 

Der  Bundesrath  liess  dann  durch  den  schon  ge- 
nannten Nationalrath  B.  Forrer  einen  Gesetzentwurf  aus- 
arbeiten, der  gegenwärtig  in  einer  vom  Industrie-Departe- 
ment einberufenen  40gliedrigen  Kommission  berathen  wird. 
Die  Berathung  ist  aber  noch  nicht  sehr  weit  gediehen,  und 
wie  weit  das  aus  ihr  hervorgehende  Projekt  vom  gesetz- 
gebenden Körper  angenommen  werden  mag,  entzieht  sich 
zur  Zeit  der  Beurtheilung.  Für  den  Fernerstehenden  hätte 
deshalb  die  Mittheilung  aller  Einzelheiten  des  Forrer'schen 
Entwurfs  wenig  Werth. 

Der  Entwurf  lehnt  sich  im  grossen  und  ganzen  an  die 
deutsche  Gesetzgebung  an.  Er  erinnert  an  diese  nament- 
lich dadurch,  dass  die  Versicherung  in  die  Kranken-  und 
die  Unfallversicherung  gegliedert  und  demgemäss  jede  mit 
besonderen  Organen  ausgestattet  wird,  und  dass  die  Kosten 
der  ersteren  von  den  Arbeitern  und  Arbeitgebern  gemein- 
sam, die  Kosten  der  letzteren  — bei  einer  6 wöchigen 
Wärtefrist  — ausschliesslich  von  den  Arbeitgebern  getragen 
werden  sollen. 

Im  einzelnen  sei  bemerkt:  eine  das  ganze  Volk  um- 
fassende Versicherung,  die  nach  dem  Verfassungsartikel 
zulässig  wäre,  ist  von  Forrer  — wohl  in  Uebereinstimmung 
mit  der  öffentlichen  Meinung  — nicht  vorgesehen.  Er  will 
der  Versicherung  obligatorisch  alle  unselbstständig  erwerben- 
den Personen  einschl.  der  Dienstboten  vom  zurückgelegten 
14.  Altersjahre  an  unterstellen  und  es  den  Versicherungs- 
gemeinden überlassen,  die  Versicherung  auch  auf  Tagelöhner 
und  Tagelöhnerinnen  und  „die  selbstständig  erwerbenden  An- 
gehörigen der  Hausindustrie  auszudehnen."  Einen  gleichen 


582 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  49. 


Umfang  soll  die  Unfallversicherung  erhalten.  Die  Frage: 
Zwangskassen  oder  nur  Kassenzwang?  wird  in  dem  Forrer- 
schen  Entwurf,  ähnlich  wie  im  deutschen  Gesetz,  dahin 
entschieden,  dass  keine  Zwangskassen  eingerichtet,  sondern 
neben  den  organischen  Gemeinde-  und  Betriebs -Kranken- 
kassen auch  freiwillige  Krankenversicherungsanstalten  an- 
erkannt werden,  sofern  sie  gewisse  Normativbedingungen 
erfüllen.  Die  Prämie  soll  vom  Arbeitgeber  einbezahlt 
werden,  der  aber  berechtigt  sein  soll,  die  Hälfte  von 
dem  Lohne  des  Arbeiters  abzuziehen.  Dem  entsprechend 
wird  die  Verwaltung  der  Krankenkassen  zwischen  den 
Arbeitern  und  Arbeitgebern  getheilt,  unter  Bevorzugung  der 
letzteren.  Ueber  den  einzelnen  Krankenkassen  steht  die 
Kreisverwaltung  mit  dem  Kreisschiedsgericht,  das  erst-  und 
letztinstanzlich  Streitigkeiten  aus  der  Versicherung  ent- 
scheidet; die  Oberaufsicht  ist  dem  eidgenössischen  Ver- 
sicherungsamt übertragen.  Die  Leistungen  der  Kranken- 
kassen sind  gleich  denen  des  deutschen  Gesetzes  mit  dem 
Unterschiede,  dass  von  Anfang  an  2/3  des  Tagesverdienstes 
vergütet  werden  sollen. 

Für  die  Unfallversicherung  soll  eine  besondere,  auf 
Gegenseitigkeit  beruhende  Anstalt  gegründet  werden,  bei 
der  von  Gesetzes  wegen  alle  versichert  sind,  die  der 
Krankenversicherung  angehören.  Die  Einrichtungs-  und 
Verwaltungskosten  will  Herr  Forrer  dem  Bund  übertragen, 
während  für  die  Prämien,  die  im  sog.  Deckungsverfahren 
und  abgestuft  nach  Gefahrenklassen  erhoben  werden,  aus- 
schliesslich die  Arbeitgeber  aufzukommen  haben. 

Wenn  sodann  vorgeschlagen  wird,  der  Versicherungs- 
nehmer solle  nicht  nur  gegenBetriebsunfälle,  sondern  gegen 
alle  Unfälle  versichert  werden,  so  will  man  die  grossen 
Schwierigkeiten  und  Härten  vermindern,  mit  denen  bei- 
spielsweise in  Deutschland  die  Trennung  der  Betriebs- 
unfälle von  den  sonstigen  Unfällen  verbunden  ist. 

Von  den  Aeusserungen  zu  diesem  Projekt  der  Kranken- 
und  Unfallversicherung  ist  namentlich  diejenige  der  Arbeiter- 
schaft erwähnenswerth,  die  in  zahlreichen  Versammlungen 
und  zuletzt  noch  aus  der  Delegirtenversammlung  des  etwa 
200000  Mitglieder  zählenden  schweizerischen  Arbeiter- 
bundes (Ostern  1893)  ihren  Wünschen  Ausdruck  gab.  Die 
Arbeiter  widersprechen  dem  Projekt  Forrer  namentlich  in 
zwei  Punkten.  Sie  werfen  ihm  vor,  dass  er  die  schwierige 
Frage,  wie  die  zahlreichen  bestehenden  Krankenkassen, 
deren  Berücksichtigung  im  Verfassungsartikel  garantirt  ist, 
dem  ganzen  System  einzugliedern  seien,  nicht  glücklich 
gelöst  habe  und  dass  er,  ausgehend  vom  Territorialprinzip, 
ein  zu  grosses  Gewicht  auf  die  Gemeindekrankenkassen 
lege,  statt  auf  die  von  den  Arbeitern  gewünschten  Berufs- 
krankenkassen — eine  dem  deutschen  Leser  wohl  bekannte 
Meinungsverschiedenheit. 

Hand  in  Hand  mit  dieser  Forderung  geht  die  andere, 
dass  die  Verwaltung  der  Krankenkassen  den  Arbeitern  aus- 
schliesslich überlassen  werde.  Die  dafür  geltend  gemachten 
Gründe  werden  nicht  nur  aus  dem  Zweck  der  Versicherung 
und  dem  Bedürfniss  des  Arbeiters  abgeleitet;  darüber  hin- 
aus wird,  wie  Herr  Arbeitersekretär  Greulich  sich  aus- 
drückte, geltend  gemacht:  „dass  es  eine  Hebung  und  Be- 
freiung der  Arbeiterklasse  nicht  geben  könne  ohne  durch 
die  Organisation  und  die  organisirte  Selbstbethätigung  der 
Arbeiterschaft.  Sie  selbst  müsse  ihre  geschichtliche  Ent- 
wicklung erringen.  Jedes  Stück  sozialer  Reform  sei  von 
dem  Standpunkte  aus  zu  betrachten,  ob  es  der  organisirten 
Selbstbethätigung  Vorschub  leiste  oder  nicht.“ 

Die  andere  Differenz  betrifft  die  Vertheilung  der  Lasten. 
Während  nach  dem  Entwurf  der  Bund  im  wesentlichen  nur 
die  Einrichtungs-  und  Verwaltungskosten  zu  tragen  hätte, 
wünschen  die  Arbeiter  ihn  in  ausgiebigerer  Weise  heran- 
zuziehen. ln  den  Thesen  des  Arbeiterbundes  wird  zwischen 
der  Versicherung  auf  Krankengeld,  der  Krankenpflege 
und  der  Unfallversicherung  unterschieden  und  dabei  eine 


Anordnung  gewünscht,  wonach  für  die  Unfallversiche- 
rung ausschliesslich  die  Arbeitgeber,  für  die  Versicherung 
auf  Krankengeld  die  Arbeiter  aufzukommen  haben,  die 
Krankenpflege  (ärztliche  Hülfe,  Heilmittel,  Krankenhaus- 
verpflegung) aber  auf  Kosten  des  Staates  unentgelt- 
lich sein  soll.  Die  Mittel  hierfür  — nach  verschiedenen 
Schätzungen  20  bis  40  Mill.  Franken  — - müssten  erst  auf- 
gebracht werden,  etwa  durch  Einführung  des  Tabakmono- 
pols. Herr  Forrer  ist  nicht  grundsätzlich  gegen  eine  solche 
Neuerung,  aber  er  fürchtet,  dass  sie  nicht  die  Zustimmung 
des  Schweizer  Volkes  finden  würde  und  dass  durch  sie  das 
Zustandekommen  des  geplanten  Werkes  auf  lange  hinaus 
unmöglich  werden  könnte. 

Ausser  den  bereits  angedeuteten  bestehen  natürlich  noch 
andere  Meinungsverschiedenheiten.  So  ist  bezweifelt  wor- 
den, ob  die  Bauern  im  Stande  wären,  die  Lasten  zu  tragen, 
die  ihnen  aus  der  Einbeziehung  der  Dienstboten  und  even- 
tuell der  Tagelöhner  in  die  Versicherung  erwachsen.  Die 
Thatsache  aber,  dass  sich  in  der  Volksabstimmung  über  den 
Verfassungsartikel  eine  sehr  entschiedene  Mehrheit  für  seine 
Annahme  ergeben  hat,  lässt  eine  schliessliche  Verständigung 
zwischen  den  Freunden  der  Versicherung  doch  als  möglich 
erscheinen. 

Zürich.  Otto  Lang. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 

Städtische  Arbeitsvermittelung. 

Eine  der  Eigenthtimlichkeiten  der  bürgerlichen  Sozial- 
politik besteht  darin,  dass  sie  sehr  laut  und  heftig  über 
Riesenprobleme,  wie  die  Freiheit  der  Berufswahl  unter  dem 
individualistischen  und  dem  kollektivistischen  Wirtschafts- 
system oder  über  eine  neue  Sozialethik  für  Arm  und  Reich 
diskutirt,  und  dabei  von  den  bestehenden  sozialen  Dingen 
im  einzelnen  blutwenig  genaues  weiss.  weder  von  dem  Maass 
ethischer  Bildung,  das  der  einzelne  aus  der  grossen  Masse 
heute  geniessen  kann,  noch  von  den  näheren  Umständen, 
unter  denen  sich  gegenwärtig  seine  Berufsbethätigung  voll- 
zieht. Mindestens  gilt  dies  für  die  Verhältnisse  der  Ar- 
beiter; der  gelehrte  Eifer,  der  vor  etwa  einem  Jahrzehnt 
das  Arbeiterdasein  nach  allen  Seiten  zu  durchdringen 
suchte,  ist  einigermaassen  erschlafft,  und  die  bisherigen 
kärglichen  Erhebungen  des  Reiches  oder  einzelner  Ver- 
eine bieten  keinen  Ersatz  für  das  fehlende.  Auf  Grund 
deutschen  Materials  hätte  Marx  noch  kein  „Kapital“  schrei- 
ben können.  Und  was  für  das  grosse  gilt,  trifft  für  das 
kleine  zu.  Seit  langem  bemüht  man  sich  in  Deutschland, 
hier  und  dort  die  Arbeitsvermittelung  dem  Zufall  aus  der 
Hand  zu  nehmen  und  sozial  zu  regeln.  Aber  noch  nie- 
mandem ist  es  eingefallen,  erst  einmal  allgemein  festzu- 
stellen, wie  die  Arbeitsvermittelung  heute  beschaffen  und 
wie  sie  geworden  ist.  Jeder  hat  für  seinen  Theil  ins 
blaue  hinein  probirt,  und  das  Ergebniss  ist  darnach  ausge- 
fallen. 

Einen  Anfang,  dieser  Planlosigkeit  ein  Ende  zu  machen, 
bedeuten  nun  die  Anträge,  die  das  Gewerbegericht  zu 
Stuttgart  kürzlich  an  die  dortigen  bürgerlichen  Kollegien 
wegen  Errichtung  eines  städtischen  Arbeits-(vermittelungs-) 
amtes  gerichtet  hat  und  die  uns  im  Wortlaute  vorliegen. 
Hier  wird  endlich  einmal  nicht  blos  projektirt,  sondern  vor 
allem  erst  geforscht  und  geschildert,  wie  es  bisher  zuging. 
In  dem  zweiten  beschreibenden  Abschnitt  der  Anträge: 
„Arbeitsvermittelung  in  Stuttgart'1  steckt  zweifellos  die 
grösste  Arbeit,  die  die  Vorbereitung  der  Stuttgarter  Aktion 
gemacht  hat,  umsomehr,  als  keine  besondere  behördliche 
Erhebung  zu  Hülfe  genommen  wurde,  sondern  allem  An- 
schein nach  der  Vorsitzende  des  Gewerbegerichts  allein 
alles  einschlägige  sammeln  und  darstellen  musste;  der  Aus- 
schuss des  Gewerbegerichts  wird  ihn  dabei  nach  Kräften 
unterstützt  haben.  Der  Vorsitzende,  Herr  Lautenschlager, 
ist,  nebenbei  bemerkt,  der  erste  Fachmann,  der  kürzlich 
(in  Schmollers  Jahrbuch)  seine  interessanten  Erfahrungen 
aus  der  Praxis  der  Gewerbegerichte  ausführlich  und  syste- 


No.  49. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


583 


matisch  dargestellt  hat.  Natürlich  erschöpft  der  zweite  Ab- 
schnitt der  Anträge  nur  die  engeren  Stuttgarter  Verhält- 
nisse; dennoch  erblicken  wir  in  ihm  den  werthvollsten  Theil 
des  Aktenstückes.  Die  nachfolgende  Uebersicht  über  die 
Arbeitsvermittelung  in  anderen  Städten  ist  mehr  kursorischer 
Natur. 

Nicht  weniger  als  ca.  74  000  Arbeitsstellen  werden  ge- 
genwärtig jährlich  in  Stuttgart  neu  besetzt.  Diese  Zahl  be- 
weist, welches  Riesengebiet  in  dieser  Hinsicht  noch  in  ganz 
Deutschland  der  zusammenfassenden  Regelung  harrt.  Da 
Stuttgart  etwa  47  000  gewerbliche  Arbeiter,  Dienstboten 
und  Lehrlinge  zählt,  kann  angenommen  werden,  dass  ein 
Arbeiter  durchschnittlich  7 — 8 Monate  in  einer  Stelle  bleibt  — 
ein  ganz  interessanter  Beitrag  zur  Fluktuation  der  arbei- 
tenden Bevölkerung!  Die  Besetzung  dieser  Stellen  ge- 
schieht nun  jetzt  auf  viererlei  Weise : unter  der  Hand,  durch 
die  Zeitung,  durch  Umschauen  und  durch  eigene  Ver- 
mittelungsanstalten. Unter  der  Hand  geschieht  die  Ver- 
mittelung namentlich  in  grösseren  Betrieben  mit  schwachem 
Arbeiterwechsel  bei  Stellen,  die  relativ  gut  bezahlt  sind 
und  eine  besondere  Ausbildung  erfordern,  also  meist  für 
männliche  Arbeiter.  Hier  spricht  sich  die  Vakanz  schnell  bei 
den  Arbeitern  herum,  und  der  Unternehmer  erhält  dann  die 
nöthigen  Angebote.  Die  Vermittelung  durch  die  Zeitung 
ist  verschieden  danach,  ob  Fach-  oder  Tagesblätter  benutzt 
werden.  Während  die  Fachzeitungen  Arbeitsangebot  und 
-Nachfrage  für  Gewerbe  mit  besonders  fein  ausgebildeter 
Technik  (Lithographen,  Photographen,  Feinmechaniker,  Uhr- 
macher) vermitteln,  giebt  die  Tagespresse  den  Arbeits- 
markt für  gröbere  Verrichtungen,  namentlich  auch  für  Dienst- 
boten und  weibliche  Arbeiter,  ab.  Inserenten  sind  fast  aus- 
schliesslich Unternehmer  wegen  der  Kostspieligkeit.  Das  am 
meisten  verbreitete  Stuttgarter  Blatt  bringt  20 — 30000  Stellen- 
anzeigen im  Jahr.  Interessant  wäre  zu  erfahren,  ob  in  Stutt- 
gart ebenso  wie  z.  B.  in  Frankfurt  a.  Main,  Berlin  u.  s.  w. 
täglich  Ansammlungen  Arbeitsloser  vor  dem  Bureau  des 
Hauptanzeigenblattes  stattfinden;  die  Theilnehmer  an  diesen 
traurigen  Versammlungen  warten  gespannt  auf  den  Augen- 
blick, in  dem  die  ersten  Exemplare  am  Schalter  ausgegeben 
werden,  stürzen  sich  dann  darauf  und  beginnen  eine  wilde 
Fletzjagd  in  der  Stadt  um  die  ausgeschriebenen  Stellen. 
Manchmal  steuern  mehrere  Arbeitslose  zusammen,  um  sich 
gemeinsam  ein  Blatt  zu  kaufen.  Das  Schauspiel  dieser  Vor- 
gänge gehört  zu  dem  erbarmungswürdigsten,  was  man  in 
einer  Grossstadt  sehen  kann.  Die  dritte  Form,  das  direkte 
Anfragen  der  Arbeiter  oder  der  Unternehmer,  das  sog. 
Umschauen,  kommt  in  Stuttgart  bei  allen  Gewerben  vor, 
besonders  stark  beim  Baugewerbe,  bei  den  Buchbindern, 
Schneidern,  Schuhmachern  und  den  weiblichen  Arbeitern 
im  allgemeinen,  die  eben  noch  am  wenigsten  geregelte  Ar- 
beitsvermittelungsgelegenheit haben.  Während  das  Um- 
schauen der  Arbeiter  durch  Vorsprechen  an  den  Arbeits- 
stellen geschieht,  schicken  die  Unternehmer  behufs  Heran- 
holung  von  Arbeitskräften  in  Herbergen,  in  das  städtische 
Asyl  und  in  Wirthschaften,  die  dafür  bekannt  sind,  dass  dort 
Arbeiter  verkehren.  Die  vierte  und  organisirte  Art  der 
jetzigen  Stellenvermittelung  wird  dargestellt  durch  die  dazu 
vorhandenen  Anstalten,  die  in  private  und  Vereinsunter- 
nehmen zerfallen.  Da  sind  die  bekannten  Wohlthätigkeits- 
vereine,  Marthahäuser  u.  s.  w.,  die  meist  nur  für  Bedürftige, 
sowie  für  krauen  und  Mädchen  vermitteln  und  besondere 
Leistungen  nicht  aufzuweisen  haben.  Da  sind  ferner  die 
Berufsvereine,  die  entweder  nur  als  Unternehmer-  oder  nur 
als  Arbeiterorganisationen  vermitteln  und  sich  noch  nicht 
zusammengefunden  haben.  Die  Meister  bemächtigen  sich 
des  Arbeitsnachweises  besonders  in  denjenigen  Handwerken, 
in  denen  die  Gesellen  Kost  und  Logis  beim  Prinzipal  er- 
halten. Hier  kommen  auch  (übrigens  nicht  blos  in  Stutt- 
gart) Durchstechereien  vor.  Von  den  20 — 30  Fachvereinen 
der  Arbeiter  in  Stuttgart,  die  sämmtlich  sich  mit  Arbeits- 
nachweis befassen,  haben  nur  einige,  die  einer  zentralen 
Organisation  angeschlossen  sind,  gewisse  Erfolge  aufzu- 
weisen; auch  Unternehmer  benutzen  diese  Vermittelung  der 
Arbeitervereine.  Den  Beschluss  machen  in  der  Lauten- 

' schlagerschen  Darstellung  die  unerquicklichsten  Erschei- 
nungen des  gegenwärtigen  Zustandes:  die  Privatbureaux 
für  Arbeits Vermittelung,  die  in  der  Hauptsache  den  Dienst- 
boten und  dem  Wirthschaftspersonale  dienen.  74  solcher 

1 


Anstalten  waren  1892  in  Stuttgart  polizeilich  gemeldet; 
doch  betrieben  nur  56  das  Geschäft  thatsächlich,  und  auch 
von  diesen  ein  Theil  in  sehr  geringem  Umfange.  Dagegen 
hatten  18  Geschäfte  zwischen  100  und  500,  7 Geschäfte 
zwischen  500  und  1000,  4 Geschäfte  zwischen  1000  und 
2000,  und  I Geschäft  sogar  zwischen  5000  und  6000  Ver- 
mittelungen im  Jahr.  An  die  gesammten  56  Anstalten 
wandten  sich  1892  etwa  21  000  stellesuchende  und  18  000 
stelleanbietende  Personen.  Die  Gebühren  sind  hoch  und 
steigen  gelegentlich  bis  zu  25  M.  Das  Gewerbegericht 
nimmt  an,  dass  insgesammt  jährlich  ca.  100  000  M.  an  Ge- 
bühren von  den  Stuttgarter  Privatbureaux  vereinnahmt 
werden.  Man  wird  fragen,  wo  in  dieser  Uebersicht  das 
Stuttgarter  „Bureau  für  Arbeitsnachweis“  geblieben  ist, 
das  sich  durch  Versendung  seiner  Geschäftsübersichten  so 
bekannt  zu  machen  verstanden  hat  und  oft  als  die  älteste 
(seit  1865)  gemeinnützige  Anstalt  dieser  Art,  ja  gewisser- 
maassen  als  Muster  einer  solchen  bezeichnet  wird.  Aus  dem 
gewerbegerichtlichen  Aktenstück  erfährt  man,  dass  dieses 
Bureau  zwar  „nach  den  bestehenden  Statuten“,  wie  wohl 
nicht  ohne  Absicht  gesagt  ist,  unter  der  Kontrolle  dreier 
gemeinnütziger  Vereine  steht,  im  übrigen  aber  durchaus 
Privatunternehmen  zu  Lasten  und  Nutzen  seines  Verwalters 
ist.  Man  sieht,  wozu  eingehende  und  unbefangene  Dar- 
stellungen der  bestehenden  Verhältnisse  gut  sind.  Aus  der 
Darstellung  der  Arbeitsvermittelung  in  anderen  Städten 
seien  nur  zwei  interessante  Züge  erwähnt,  die  der  Bericht 
heraushebt:  in  den  Ländern  der  germanischen  Rasse,  in 

Deutschland,  in  Oesterreich,  in  der  Schweiz,  wo  viel  von 
einem  Ort  zum  andern  gewandert  werde,  herrsche  das  Um- 
schauen vor;  in  den  Ländern  der  romanischen  Rasse,  na- 
mentlich in  Frankreich,  wo  die  Arbeiter  sesshafter  seien, 
hätten  die  Privatbureaux  die  Arbeitsvermittelung  an  sich 
gerissen.  Vielleicht  ist  diese  Schematisirung  etwas  zu  sehr 
zugespitzt.  Die  Darstellung  der  Stuttgarter  Verhältnisse 
im  Bericht  des  Gewerbegerichtes  selber  ergiebt  ja,  wenn 
man  den  Umsatz  des  „Bureaus  für  Arbeitsnachweis“  ein- 
rechnet — und  das  muss  man  nach  dem  überraschenden 
Hinweis  des  Aktenstückes  — , dass  die  Privatbureaux  auch 
in  deutschen  Städten  den  Löwenantheil  der  Arbeitsver- 
mittelung an  sich  gerissen  haben.  Ausserdem  giebt  eine 
weitere  Bemerkung  des  Berichts  eine  Korrektur  nach  der 
anderen  Seite.  In  den  Ländern  germanischen  Charakters, 
wo  das  Umschauen  vorherrsche,  seien  die  Uebelstände 
hauptsächlich  im  Bettlerwesen  und  Stromerthum  zu  Tage 
getreten.  Aber  auch  in  Frankreich  spielt  die  Bekämpfung 
der  „Vagabondage“  durch  Vereine  und  Stationen  seit  Jahren 
eine  grosse  Rolle.  Wir  sind  daher  geneigt,  den  Unterschied 
zwischen  den  Ländern  germanischer  und  romanischer  Rasse 
für  nicht  so  bedeutend  zu  halten,  wie  ihn  der  gewerbe- 
gerichtliche Bericht  hervorkehrt. 

Aber  der  Hauptwerth  liegt  ja  in  der  mustergiltigen  Dar- 
stellung lokaler  Stuttgarter  Verhältnisse.  Und  auf  ihr  als 
sicherer  Grundlage  bauen  die  Anträge  des  Gewerbegerichts 
den  Vorschlag  eines  städtischen  Arbeitsamtes  auf,  das  die 
bestehende  Zerfahrenheit  und  Ausbeutungswirthschaft  be- 
seitigen soll.  Das  im  ersten  Abschnitt  vorgeschlagene  Orts- 
statut trifft  lediglich  einige  grundsätzliche  Anordnungen. 
Das  städtische  Arbeitsamt  hat  den  Zweck,  jederlei  gewerb- 
liche Arbeit  zu  vermitteln.  Es  besteht  aus  einer  Abtheilung 
für  Männer  und  einer  für  Weiber.  Es  wird  geleitet  und 
beaufsichtigt  vom  Vorsitzenden  des  Gewerbegerichts  und 
einer  von  den  Beisitzern  dieses  Gerichts  gewählten  Kom- 
mission. Die  Angestellten  (Beamten)  des  Arbeitsamtes 
werden  vom  Gemeinderath  gewählt.  Die  Arbeitsvermittelung 
geschieht  unentgeltlich.  Alle  Kosten,  die  auf  5000  M.  jährlich 
geschätzt  werden,  trägt  die  Stadt,  alles  übrige  regelt  eine 
besondere  Geschäftsordnung,  über  deren  Inhalt  noch  keine 
Andeutungen  gegeben  werden. 

So  kurz  aber  diese  Bestimmungen  und  Vorschläge  ge- 
fasst sind,  so  scharf  umgrenzen  sie  die  wichtige  Aufgabe  und 
die  lokalen  Mittel  zu  ihrer  Lösung.  Die  Beseitigung  der  be- 
stehenden Auswüchse . auf  dem  Gebiete  der  städtischen  Ar- 
beitsvermittelung  muss  die  Hauptaufgabe  jedes  reformatori- 
schen  Eingriffs  sein,  und  man  könnte,  wenn  man  gründlich 
aufräumen  wollte,  an  eine  einfache  Monopolisirung  der 
Arbeitsvermittelung  durch  die  Stadt,  folglich  an  ein  Verbot 
jeder  einschlägigen  Thätigkeit  durch  Private  und  Vereine, 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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eventuell  gegen  Ablösung  bestehender  Geschäftseinrich- 
tungen, denken.  Der  Vorschlag  des  Stuttgarter  Gewerbe- 
gerichts geht  nicht  soweit;  er  sucht  dem  städtischen  Ar- 
beitsamt durch  die  Unentgeltlichkeit  seiner  Vermittelung 
eine  Vorzugsstellung  zu  geben.  Ob  dies  genügt?  Der 
Arbeitsnachweis  der  Fachvereine  ist  auch  jetzt  schon  un- 
entgeltlich; er  würde  also  von  seinen  jetzigen  Kunden  auch 
weiter  aufgesucht  und  von  den  Fachvereinen  aufrecht  er- 
halten werden,  wenn  nicht  noch  andere  Momente  entschei- 
den. Hier  setzt  das  geplante  Statut  dadurch  ein,  dass  es 
der  Stadt  die  Kosten  der  ganzen  Einrichtung  überträgt. 
Die  Fachvereine  würden  also  sparen,  wenn  sie  sich  dem 
städtischen  Arbeitsnachweis  anschlössen.  Und  sie  würden 
auch  bei  der  Verwaltung  vertreten  sein  durch  ihre  Kom- 
missionsmitglieder vom  Gewerbegericht.  Freilich  sitzen  neben 
diesen  die  Vertreter  der  Unternehmer  in  gleicher  Zahl, 
und  der  Vorsitzende  des  Gewerbegerichts  ist  als  eine  Art 
ausgleichender  Oberinstanz  gedacht.  Deshalb  wird  es  vor 
allem  darauf  ankommen,  ob  sich  der  neue  Grundsatz  be- 
währt: Zusammenwirken  der  Unternehmer  und  Arbeiter 
wie  beim  Gewerbegericht  Die  französischen  Arbeitsbörsen 
und  die  deutschen  Fachvereinsnachweise  sind  als  ausschliess- 
liche Arbeiterunternehmungen  Stückwerk  geblieben,  die 
entsprechenden  Unternehmereinrichtungen  ebenfalls.  Wird 
die  durchschlagende  Kraft  des  neuen  Prinzips  der  Vereini- 
gung bewiesen,  so  ist  alles  gewonnen.  Und  die  Probe 
darauf  sollte  keiner  Stadt  zu  theuer  sein.  Die  Stadt 
Stuttgart  lässt  demnächst  den  Haupturheber  des  Vorschla- 
ges, den  Gewerbegerichtsvorsitzenden  Lautenschlager,  aus 
seinem  Amte  ziehen,  weil  in  den  bürgerlichen  Kollegien 
der  kleinbürgerliche  Sparsamkeitsstandpunkt  nicht  über- 
wunden werden  konnte;  auch  die  sozialdemokratischen  Ver- 
treter im  Stuttgarter  Bürgerausschuss  konnten  sich  von  ihm 
nicht  befreien.  Vielleicht  nimmt  infolgedessen  die  be- 
deutsame Angelegenheit,  soweit  sie  die  schwäbische  Haupt- 
stadt betrifft,  nicht  den  Fortgang,  den  man  ihr  wünschen 
möchte.  Aber  sollten  nicht  noch  andere  deutsche  Städte 
den  Muth  haben,  mit  einem  bewährten  Gewerbegerichts- 
vorsitzenden die  Probe  auf  die  Stuttgarter  Vorarbeiten 
zu  machen?  Man  darf  gespannt  auf  die  Beantwortung  dieser 
Frage  durch  die  städtische  Sozialpolitik  der  nächsten  Zeit 
sein.  Freilich  wird  sich  u.  E.  selbst  als  Ergebniss  einer 
unvermuthet  rührigen  Initiative  der  deutschen  Städte  auf 
diesem  Gebiete  sehr  bald  das  eine  herausstellen:  unter  den 
heutigen  sozialen  Verhältnissen  ist  die  interlokale  Stellen- 
vermittlung noch  wichtiger  als  die  lokale  und  erst  eine 
Ergänzung  der  städtischen  Einrichtungen  durch  gewisse 
Zentralisationen  wird  die  Regelung  der  Arbeitsvermittelung 
volkswirthschaftlich  wirksam  machen. 

Frankfurt  a.  M.  Max  Quarck. 

Strafhausarbeit  bei  öffentlichen  Bauten.  Im  agrari- 
schen Interesse  war  der  Vorstand  des  Zentralkollegiums 
der  Schlesischen  landwirthschaftlichen  Vereine  beim  preussi- 
schen  Minister  der  öffentlichen  Arbeiten  dahin  vorstellig 
geworden,  dass  zu  öffentlichen  Arbeiten,  besonders  zu 
Eisenbahn-  und  Kanalbauten,  thunlichst  Strafgefangene  und 
Korrigenden  Verwendung  finden  möchten,  damit  die  bisher 
in  der  Landwirthschaft  beschäftigten  Arbeiter  dieser  nicht 
entzogen  würden.  Hierauf  ist  nach  dem  „Landwirth“  der 
folgende  ablehnende  Bescheid  des  Ministers  unter  dem  30.  Juni 
d.  J.  ergangen:  „Dem  Vorstand  erwidere  ich  auf  die  Ein- 
gabe vom  6.  v.  Mts.  ergebenst,  dass  weder  für  die  Staats- 
eisenbahnverwaltung, noch  für  die  Staatsbau  Verwaltung  die 
Möglichkeit  besteht,  Ihrem  Wunsche  gemäss  und  im  Interesse 
der  Beseitigung  der  für  die  Landwirthschaft  bestehenden  Ar- 
beiternoth  zur  Ausführung  öffentlicher  Arbeiten,  insbesondere 
der  Eisenbahn-  und  Kanalbauten,  Strafgefangene  und  Korri- 
genden zu  verwenden.  Soweit  die  laufende  Unterhaltung 
der  Bahnanlagen  in  Frage  kommt,  ist  die  vorgeschlagene 
Heranziehung  von  Gefangenen  von  vornherein  als  undurch- 
führbar und  ausgeschlossen  zu  erachten.  Die  Eisenbahn- 
verwaltung kann  sich  in  diesem  Punkt  nicht  von  der  Ver- 
waltung eines  meist  entfernt  gelegenen  Gefängnisses  ab- 
hängig machen.  Die  Art  der  auszuführenden  Arbeiten  macht 
es  erforderlich,  dass  überall  in  der  Nähe  der  Strecken  und 
Bahnhöfe  ein  Stamm  tüchtiger  und  eingeübter  Kräfte  vor- 
handen ist,  welche  zu  jeder  Zeit  zur  Hand  sein  und  daher 


auch  in  der  Nähe  der  Arbeitsstellen  ihren  festen  Wohnsitz 
haben  müssen.  Ungeübte  Arbeitskräfte  aber,  deren  zeit- 
weise Einstellung  durch  grössere  Unterhaltungsarbeiten, 
grössere  Gleisumbauten  u.  s.  w.  erforderlich  wird,  sind 
wiederum  mit  Nutzen  nur  dann  verwendbar,  wenn  'sie  mit 
den  zuständigen,  mit  der  Bahnunterhaltung  eingehend  ver- 
trauten Arbeitern  zusammen  beschäftigt  werden  können.  Da 
nach  den  §§  15  und  16  des  Reichsstrafgesetzbuches  die  Be- 
schäftigung der  Gefangenen  ausserhalb  der  Anstalt  nur  dann 
zulässig  ist,  wenn  sie  dabei  von  anderen  freien  Arbeitern 
getrennt  gehalten  werden,  so  ergiebt  sich  hieraus  — ohne 
dass  auf  andere  entgegenstehende  Gründe  einzugehen  er- 
forderlich wäre  — für  die  Bahnverwaltung  die  Unmöglich- 
keit, bei  der  laufenden  Unterhaltung  Sträflinge  zu  beschäf- 
tigen. Für  einmalige  Bauten  der  Eisenbahnen,  bei  welchen 
die  eben  angeführte  gesetzliche  Bestimmung  nach  Lage  des 
Einzelfalles  vielleicht  durchführbar  wäre,  kommt  in  Betracht, 
dass  die  Verwaltung  nur  in  wenigen  ausnahmsweisen  (!) 
Fällen  die  Ausführung  selbst  übernimmt,  vielmehr  die  Ver- 
gebung der  Arbeiten  an  Unternehmer  das  fast  ausschliess- 
lich übliche  Verfahren  ist.  Den  Unternehmern  aber  bei 
dem  Vertragsabschlüsse  die  Verpflichtung  aufzuerlegen,  so- 
weit als  möglich,  Strafgefangene  zu  verwenden,  muss  als 
im  höchsten  Grade  bedenklich  erachtet  werden.  Dieselben 
würden,  wenn  sie  überhaupt  auf  eine  solche  Bedingung  ent- 
gehen sollten,  durch  deren  Erfüllung  in  ein  Abhängigkeits- 
verhältniss  zu  den  Gefängnissverwaltungen  kommen,  wel- 
ches in  der  verschiedensten  Weise  für  die  anderweite  Ver- 
tragserfüllung Schwierigkeiten  zur  Folge  hätte.  Insbesondere 
würde  auch  hier  in  Betracht  kommen,  dass  die  Mehrzahl 
der  zur  Verfügung  gestellten  Sträflinge  in  der  jedesmaligen 
Arbeit  ungeübt  sein  und  damit  nicht  nur  die  ordnungs- 
mässige  Ausführung  der  Bauarbeit,  sondern  auch  deren 
Fertigstellung  in  der  vertraglich  vereinbarten  Frist  in  Frage 
gestellt  wird.  Bei  den  bestehenden  Bestimmungen  über  Ge- 
währleistung für  vorschriftsgemässe  Ausführung  der  Arbeit, 
über  Verzugsstrafenzahlung  u.  s.  w.  wird  demnach  den 
Unternehmern  die  Uebernahme  einer  derartigen  Verpflich- 
tung kaum  zugemuthet  werden  können,  selbst  wenn  man 
die  praktischen  Schwierigkeiten  ausser  Betracht  lassen 
wollte,  welche  namentlich  bei  der  Unterbringung  und  Ver- 
pflegung der  immer  von  freien  Arbeitern  getrennt  zu  hal- 
tenden Gefangenen  in  bedeutendem  Maasse  auftreten,  so- 
bald es  sich  um  Bauten  handelt,  welche  nicht  am  Orte,  wo 
die  Gefangenenanstalt  sich  befindet,  zur  Ausführung  kom- 
men sollen.  Dadurch  aber,  dass  etwa  an  den  Orten,  wo 
die  Gefangenen  detinirt  sind,  auf  deren  Arbeitskraft  zurück- 
gegriffen werde,  wird  bei  der  geringen  Anzahl  von  Fällen, 
welche  dann  für  die  fragliche  Maassnahme  geeignet  wären, 
eine  Einwirkung  auf  die  ländlichen  Arbeiterverhältnisse 
sicher  nicht  ausgeübt  werden  und  zwar  um  so  weniger,  als 
die  grösseren  Zuchthäuser  und  Gefängnisse,  welche  Arbeits- 
kräfte in  wirksamer  Zahl  vielleicht  abgeben  könnten,  sich 
fast  durchweg  an  grösseren  Orten  befinden  und  daher  nur 
der  städtischen  Bevölkerung  die  Arbeitsmöglichkeit  entzogen 
werden  würde.  Diese  Gründe  treffen  im  allgemeinen  auch 
bei  den  Kanalbauten  und  den  sonst  von  der  Staatsbau- 
verwaltung auszuführenden  Arbeiten  zu.“  Die  agrarischen 
Gelüste  der  Eingabe  werden  durch  die  ministerielle  Antwort 
deutlich  genug  zurückgewiesen.  Etwas  anderes  ist  es  aber, 
ob  sich  die  freiere  Beschäftigung  Strafgefangener  am  Orte 
der  betreffenden  Anstalt  nicht  doch  empfiehlt. 

Die  preussischen  Sparkassen  im  Rechnungsjahr  1891 
bezw.  1891/92.  Der  Zeitschrift  des  Königl.  preussischen 
statistischen  Bureaus,  Jahrgang  33,  Berlin  1893,  entnehmen 
wir  folgende  Angaben  über  die  preussischen  Sparkassen. 
Vorhanden  waren  1891  bezw.  1891/92  3621  Sparstellen  gegen 
3540  im  Jahre  1890  bezw.  1890/91 . Der  Bestand  an  Sparkassen- 
büchern betrug  5 772956,  auf  je  100  Einwohner  entfielen 
also  19,05  Sparkassenbücher;  weit  über  den  Durchschnitt 
erhoben  sich  Schleswig-PIolstein  mit  34,49,  Provinz  Sachsen 
mit  32,50,  Hannover  mit  27,74,  Stadtkreis  Berlin  mit  26,97 
Sparkassenbüchern,  während  Posen  mit  6,20,  Ostpreussen 
mit  6,80  und  YVestpreussen  mit  6,80  Sparkassenbüchern  aut 
100  Einwohner  weit  hinter  dem  Durchschnitt  zurückblieben. 
Die  geringste  Zahl  hatte  der  Regierungsbezirk  Gumbinnen  mit 
3,36  Sparkassenbüchern,  die  höchste  Zahl  der  Regierungs- 


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bezirk  Merseburg  mit  38,07  Sparkassenbüchern  auf  100 
Einwohner  zu  verzeichnen.  — Bemerkenswerth  ist,  dass 
sich  die  Zahl  der  Sparkassenbücher  da  am  meisten  vermehrt, 
wo  sie  an  und  für  sich  schon  stärker  vertreten  sind.  Die 
Einzahlungen  betrugen  827,70  Millionen  Mark,  die  Rück- 
zahlungen 789,13  Millionen  Mark;  die  Einzahlungen  waren 
um  3,42  Millionen  geringer,  die  Rückzahlungen  um  56,29 
Millionen  höher  als  im  Vorjahre.  Der  Ueberschuss  an  Neu- 
einlagen (nach  Abzug  des  durch  Zuschreibung  von  Zinsen 
erreichten  Zuschusses  von  86,26  Millionen)  betrug  nur  38,57 
Millionen  Mark.  Seit  den  Jahren  1877  und  1878,  in  denen 
jener  Ueberschuss  nur  38,57  Millionen  Mark  und  22,19 
Millionen  Mark  betragen  hatte,  ist  ein  so  geringes  Einlage- 
ergebniss  nicht  mehr  dagewesen.  Im  ganzen  erreichte  der 
Einlagebestand  die  Summe  von  3406,55  Millionen  Mark 
gegen  3281,71  Millionen  Mark  am  Schlüsse  des  Vorjahres. 
Der  auf  ein  Sparkassenbuch  antfallende  Einlagebestand 
beträgt:  590,39  Mark. 

Fleischpreise  inMünchen.  Veranlasst  durch  die  in  Folge 
der  Futternoth  in  der  Presse  und  beim  Publikum  hervor- 
getretenen Klagen  über  unverhältnissmässig  hohe  Fleisch- 
preise und  die  mangelnde  Beeinflussung  des  Fleischmarktes 
durch  die  öffentlichen  Gewalten,  hatte  der  Münchener  Stadt- 
magistrat eine  Kommission  zur  Untersuchung  der  Fleisch- 
preise in  München  eingesetzt.  Dazu  wurden  Vertreter  des 
Magistrates,  des  landwirtschaftlichen  Bezirkskomites,  der 
Schlacht-  und  Viehhofdirektion,  des  Vereins  der  Metzger- 
meister und  der  Presse  — dagegen  kein  Arbeitervertreter 
— berufen. 

Jüngst  hielt  nun  diese  Kommission  eine  Berathung  ab. 
Man  beschäftigte  sich  zunächst  mit  der  Statistik  der  Fleisch- 
preise in  München.  Hierbei  ergab  sich  folgendes  Bild: 


Fleischbank. 


1893 

Ochsenfleisch 
(ohne  Zuwage) 

Kalbfleisch 

Schweine- 

fleisch 

Schaffleisch 

(Hammel) 

Januar  . . 

70 

70 

80 

60—70 

Februar  . . 

)) 

n 

März  . . . 

70-  74 

April  . . . 

70—72 

Mai  .... 

V 

70 

)) 

Juni  . . . 

66—69 

Juli  . . . 

n 

66 

ft 

1) 

Freibank. 


1893 

Ochsen- 

fleisch 

Rindfleisch 

Kalbfleisch 

Schweine- 

fleisch 

Schaf- 

fleisch 

Januar  . . . 

24—56 

20-50 

26-40 

30-52 

20-30 

Februar  . . . 

30—56 

20—52 

26-50 

34-54 

20-24 

März  .... 

24-56 

34-56 

20—32 

April  .... 

26  - 56 

30-52 

36-56 

26—36 

Mai  .... 

34—56 

24-50 

24—34 

Juni  .... 

28  -56 

24—46 

34—54 

20—34 

Juli  .... 

30—56 

20—48 

24-44 

34—52 

20—28 

Diese  gewissermaassen  „offiziellen“  Notirungen  der 
Direktion  des  Schlacht-  und  Viehhofes  Hessen  demnach  er- 
kennen, dass  die  Klagen  über  die  Stabilität  der  Fleisch- 
preise bei  sinkender  Tendenz  der  Viehpreise  vollauf  be- 
rechtigt waren. 

Etwas  günstiger  lauteten  allerdings  die  Berichte  der 
Bezirksinspektoren  (Vorsteher  der  Stadtbezirke).  Wir  grei- 
fen einen  Stadttheil  mit  vorwiegender  Arbeiterbevölkerung 
heraus: 


Monatliche  Mittelpreise  in  den  Bezirken  16  bis  18. 


1893 

Rindfleisch 

Kalbfleisch 

Schweine- 

fleisch 

Schaffleisch 

Januar  . . 

58 

50 

67 

46 

Februar  . . 

60 

56 

44 

März  . . . 

58 

52 

April  . . . 

58 

52 

Mai .... 

56 

50 

42 

Juni  . . . 

54 

46 

66 

44 

Juli  . . , . 

54 

48 

66 

40 

Es  wurde  denn  auch  in  der  Kommission  die  Ansicht 
vertreten,  dass  die  Fleischpreise  den  Schwankungen  der 
Viehpreise,  wenn  auch  nicht  im  entsprechenden  Verhält- 
nisse, gefolgt  seien.  Schliesslich  kam  die  Kommission  zu 
folgender  — nichtssagender  — Resolution: 

1.  Die  Kommission  ist  der  Ansicht,  dass  die  vom 
Schlacht-  und  Viehhof  aufgestellten  Schlachtviehpreise  eine 
absolute  Verlässigkeit  nicht  beanspruchen  können,  jedoch 
eine  annähernde  Verlässigkeit  bieten.  Für  eine  bessere, 
genauere  Berechnungsweise  ist  zur  Zeit  keine  Aussicht  vor- 
handen. Es  soll  aber  an  maassgebender  Stelle  der  Verkauf 
nach  lebendem  Gewicht  im  Auge  behalten  werden.  Ein 
endgiltiger  Beschluss  soll  erst  nach  Beendigung  der  Berliner 
Enquete  über  dieselbe  Frage  gefasst  werden,  da  München 
allein  nach  Lage  der  Verhältnisse  nicht  Vorgehen  kann. 

2.  Die  Kommission  hat  sich  überzeugt,  dass  Prima- 
Qualität  (Mastochsenfleisch)  im  Preise  entsprochen  hat  und 
entspricht. 

3.  Bei  den  anderen  Qualitäten  konnte  die  Kommission 
gleichfalls  eine  Schwankung  des  Preises  beim  Einkauf  und 
Verkauf  konstatiren,  liess  jedoch  die  Frage  offen,  ob  auch 
hier  die  Bewegung  der  Preise  durchwegs  im  gerechten  Ver- 
hältnisse stattfindet. 

Bedingungen  bei  der  Vergebung  öffentlicher  Arbeiten 

in  St,  Gallen.  Der  Stadtanzeiger  von  St.  Gallen  ver- 
öffentlicht eine  Eingabe  der  St.  Gallischen  Grütli-  und 
Arbeitervereine  an  den  Regierungsrath,  betreffend  die  Be- 
schäftigung schweizerischer  Arbeiter  an  den  Rheinkorrek- 
tions- und  Kanalbauten.  Die  Eingabe  sucht  darum  nach, 
es  solle  bei  Vergebung  dieser  Bauten  vertraglich  festgestellt 
werden,  dass  dabei  in  erster  Linie  Schweizerbürger  zu 
beschäftigen  seien  und  keine  Ausländer  angestellt  werden 
dürfen,  so  lange  arbeitswillige  und  arbeitsfähige  Schweizer 
sich  darum  bewerben;  dass  ferner,  ebenfalls  vertraglich,  ein 
Minimallohn  festgesetzt  werde.  In  der  Begründung  wird 
gesagt: 

„Der  Wunsch,  bei  Vergebung  von  Arbeiten,  die  aus 
dem  Steuersäckel  unserer  Bürger  zu  bestreiten  sind,  zu- 
nächst so  weit  als  möglich  einheimische  Arbeitskräfte  be- 
schäftigt zu  sehen,  scheint  uns  an  sich  ein  gerechtfertigter 
zu  sein,  besonders  aber  angesichts  der  gegenwärtig  auf 
einem  grossen  Theil  unserer  Bevölkerung  zu  Stadt  und 
Land  lastenden  Krisis  und  der  daraus  sich  sowohl  für  die 
industriellen  als  für  die  landwirthschaftlichen  Kreise  er- 
gebenden Arbeitslosigkeit.  Endlich  glauben  wir,  gerade 
die  Rücksicht  auf  die  anerkanntermaassen  seit  Jahren 
besonders  schwer  heimgesuchte  Bevölkerung  des  Rhein- 
thaies lasse  eine  derartige  Forderung  als  besonders 
berechtigt  erscheinen  Was  die  Lohnfrage  betrifft , so 
begreifen  wir,  dass  die  Sache  schwierig  ist.  Es  leuchtet 
ohne  weiteres  ein,  dass  das  Existenzminimum  auf  dem 
Lande  ein  anderes  ist  als  in  der  Stadt  und  in  den 
grösseren  industriellen  Ortschaften,  so  dass  nicht  wohl  ein 
allgemeines,  für  alle  Theile  des  Landes,  die  hier  in  Frage 
kommen,  gültiges  Lohnminimum  aufgestellt  werden  kann. 
Dagegen  muss  unseres  Erachtens  auch  hier  wenigstens  ein 
Versuch  gemacht  werden,  ob  nicht  doch  etwas  zu  erreichen 
sei.  Wir  glauben  nicht,  dass  irgend  ein  Arbeiter  — sei  er 
nun  auf  dem  Lande  oder  in  der  Stadt  — etwas  dagegen 
hätte,  wenn  das  Lohnminimum  für  die  Stadt,  respektive  für 
die  industriellen  Ortschaften,  und  für  das  Land  verschieden 
gestaltet  würde,  immerhin  natürlich  nicht  mit  allzugrossen 
Differenzen.“ 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 


Internationale  Gewerkschaftskongresse:  Eisenbahn- 
arbeiter-, Holzarbeiter-,  Textilarbeiter-,  Schneider-  und 
Schuhmacher-Kongress. 

Ausser  den  bereits  besprochenen  (No.  48,  'S.  574  des 
Sozialpol.  Centralbl.)  in  Zürich  abgehaltenen  internationa- 
len Gewerkschaftskongressen  ist  besonders  der  Eisen- 
bahnarbeiter-Kongress zu  erwähnen.  Unseres  Wissens 
ist  es  das  erste  Mal,  dass  die  Eisenbahnarbeiter  zu  einem 


586 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  49, 


solchen  Kongress  zusammengetreten  sind.  Sie  haben  es 
wohl  erkannt,  dass  in  den  Zeiten  der  nationalen  und  inter- 
nationalen Unternehmerverbände,  wo  auch  die  Eisenbahn- 
gesellschaften zur  Wahrung  ihrer  Interessen  von  Zeit  zu 
Zeit  internationale  Konferenzen  abhalten,  es  auch  für  die 
Eisenbahnarbeiter  und  -Angestellten  nothwendig  geworden 
ist,  sich  nicht  nur  national  sondern  auch  international  zu 
organisiren  und  zwar  umso  nothwendiger,  als  es  sich  immer 
mehr  und  mehr  herausstellt,  wie  ausserordentlich  schwierig 
es  ist,  in  irgend  einem  Lande  ernstliche  soziale  Reformen 
durchzuführen,  wenn  in  den  es  umgebenden  Ländern  nicht 
die  gleichen  Reformen  nachdrücklichst  angestrebt  werden. 
Das  hat  denn  auch  die  Schweizer  Delegation  besonders  be- 
tont. Nach  dem  eidgenössischen  Bundesgesetze  vom  27.  Juni 
1890,  betreffend  die  Beschäftigung  auf  den  Eisenbahnen  und 
bei  anderen  Transportunternehmungen,  und  der  Ausführungs- 
verordnung vom  6.  November  gleichen  Jahres  darf  die  Ar- 
beitszeit innerhalb  24  Stunden  höchstens  12  Stunden  be- 
tragen und  ist  den  Beschäftigten  eine  ununterbrochene 
Ruhepause  von  10,  9 oder  8 Stunden  im  Minimum  zu  ge- 
währen — überdies  noch  Zwischenpausen,  von  der  eine 
gegen  Mitte  des  Arbeitstages  mindestens  eine  Stunde  zu 
betragen  hat.  Ferner  sind  im  Jahre  52  freie  Tage  zu  ge- 
währen, von  denen  17  auf  den  Sonntag  zu  fallen  haben. 
Wenn  die  Durchführung  dieses  Gesetzes  auf  Schwierig- 
keiten stosse,  so  komme  dies,  wie  der  Schweizer  Referent 
ausführte,  daher,  dass  die  Schweiz  hierin  ganz  isolirt 
dastehe. 

Interessant  waren  auch  die  Ausführungen  des  Referen- 
ten der  englischen  Delegation,  des  Generalsekretärs  der 
Amalgamated  society  of  Railway  servants.  Ihm  zufolge  war 
der  letzte  schottische  Eisenbahnstrike,  trotzdem  die  Striken- 
den  unterlegen  waren,  nicht  ohne  Vortheil  für  sie,  da  er 
das  Signal  zu  einer  Bewegung  gab,  die  die  britische  Regie- 
rung zwang,  von  ihrer  bisherigen  Gepflogenheit  abzugehen 
und  in  Bezug  auf  die  Arbeitszeit  erwachsener  männlicher 
Arbeiter  einzuschreiten,  wie  dies  aus  dem  erst  jüngst 
(27.  Juli  1893)  erlassenen  Eisenbahngesetz  hervorgeht,  dessen 
vollständiger  Titel  lautet:  An  Act  to  amend  the  Law  with 
respect  to  the  Hours  of  Labour  of  Railway  Servants.  Be- 
stimmt dieses  Gesetz  auch  nicht  die  Länge  der  Arbeitszeit 
der  Eisenbahnbediensteten,  so  legt  es  doch  dem  Handels- 
minister wenigstens  die  Pflicht  auf,  überall  dort  zu  inter- 
veniren,  wo  ihm  Unzukömmlichkeiten  in  Bezug  auf  die  Ar- 
beitszeit, die  Ruhepausen  und  die  Sonntagsarbeiten  zu  Ge- 
hör kommen.  Den  betreffenden  Anordnungen  haben  die 
Eisenbahngesellschaften  bei  einer  Strafe  bis  zu  100  Pfund 
nachzukommen,  wobei  noch  zu  bemerken  ist,  dass  diese 
Geldbusse  für  jeden  Tag  bis  zur  Durchlührung  der  ministe- 
riellen Anordnung  zu  erlegen  ist. 

Die  Verhandlungen  über  die  Arbeitsgesetzgebung  führten 
zur  einstimmigen  Annahme  folgender  Resolution: 

„Der  Kongress  fordert  die  Berufsorganisationen  aller 
Länder  auf,  sowohl  mit  allen  übrigen  Mitteln,  welche  ihnen 
zu  Gebote  stehen  und  als  zweckentsprechend  erachtet  wer- 
den, als  insbesondere  durch  die  Arbeitervertreter  in  den 
Parlamenten  dahin  zu  wirken,  dass  für  die  Angestellten  und 
Arbeiter  der  Transportanstalten  der  Arbeitstag  auf  8 Stunden 
festgesetzt  und  denselben  eine  wöchentliche  ununterbrochene 
Ruhezeit  von  36  Stunden  eingeräumt  werde.  Von  den  52 
jährlichen  Ruhetagen  sollen  wenigstens  17  auf  den  Sonntag 
fallen.  Der  gewöhnliche  Güterverkehr  soll  an  Sonntagen 
eingestellt  werden.  Die  Ausführung  dieser  Gesetzesbestim- 
mungen haben  besondere  Inspektoren  zu  überwachen,  welche 
alljährlich  über  ihre  Amtsthätigkeit  Bericht  erstatten.“ 

Ferner  wurde  die  Errichtung  eines  internationalen 
Sekretariats  mit  dem  Sitze  in  Holland  beschlossen,  dessen 
Kosten  vorläufig  durch  freiwillige  Beiträge  der  einzelnen 
Eisenbahnarbeiter -Verbände  bestritten  werden  sollen.  Ein 
Antrag  der  holländischen  Delegation,  dass  bei  einem  Kriegs- 
ausbruch die  Eisenbahnbediensteten  sofort  die  Arbeit  ein- 
stellen sollen,  wurde  kurzweg  abgelehnt.  Dagegen  wurde 
ein  Antrag  angenommen,  wonach  die  von  einem  Verband 
mit  mindestens  zwei  Drittel  seiner  Mitgliedschaft  beschlosse- 
nen Strikes  moralisch  wie  finanziell  von  allen  anderen  Ver- 
bänden zu  unterstützen  seien.  Der  nächste  Kongress  wird 
im  Oktober  1894  in  Paris  stattfinden. 


Der  Holzarbeiterkongress  hat  nach  Entgegennahme 
eines  Situationsberichtes  der  verschiedenen  Länder  sich  in 
erster  Linie  mit  der  Schaffung  eines  internationalen  Berufs- 
sekretariats befasst,  als  dessen  Sitz  Stuttgart  bestimmt 
worden  ist.  In  jedem  Lande  wird  ein  Sekretär  aufgestellt, 
der  die  statistischen  sowie  sonstigen  Berichte  entgegenzu- 
nehmen und  dem  internationalen  Sekretariat  zu  übermitteln 
hat.  Was  die  Wanderunterstützung  betrifft,  so  wurde  be- 
schlossen, ihre  Gegenseitigkeit  aufrecht  zu  erhalten,  weiter 
auszubauen  und  auf  alle  Länder  auszudehnen.  Ferner  wurde 
beschlossen,  auf  eine  gänzliche  Beseitigung  der  Akkord- 
arbeit und  auf  Verkürzung  der  Arbeitszeit  hinzuwirken. 
Bei  Strikes  und  Aussperrungen  sollen  die  dadurch  berührten 
Arbeiter  einerseits  durch  Fernhalten  des  Zuzuges,  anderer- 
seits,  wo  die  eigenen  Kräfte  der  Strikenden  oder  Ausge- 
sperrten nicht  hinreichen,  durch  Geldmittel  unterstützt  wer- 
den. Endlich  wurde  empfohlen,  die  Mitglieder  der  Gewerk- 
schaften des  einen  Landes  ohne  Beitrittsgeld  in  die  Gewerk- 
schaften der  anderen  Länder  aufzunehmen  und  ihnen  die- 
selben Rechte  zu  gewähren,  die  sich  bei  gleicher  Dauer 
der  Mitgliedschaft  ihre  einheimischen  Mitglieder  erwerben. 

Der  Textilarbeiter-,  der  Schneider-  sowie  der 
Schuhmacherkongress  haben  sich  ebenfalls  in  erster 
Linie  mit  der  Gründung  internationaler  Berufssekretariate 
befasst.  Was  die  Situationsberichte  anbelangt,  so  haben  sie 
alle  ein  äusserst  trauriges  Bild  von  der  Lage  dieser  ver- 
schiedenen Arbeiterkategorien  entworfen,  wobei  die  Schneider 
besonders  das  sogenannte  Schwitzsystem  scharf  geisselten. 
Was  die  Schuhmacher  betrifft,  so  ist  deren  Lage  besonders 
in  Ungarn  geradezu  erbärmlich.  In  Kroatien  erhalten  die 
Opankenmacher  bei  freier  Kost  und  Wohnung  20  bis  50 
Kreuzer  wöchentlich  und  im  eigentlichen  Ungarn  die  Csismen- 
macher  10  bis  40  Gulden  jährlich.  Und  dabei  welche  Kost 
und  welche  Wohnung! 

Arbeiterinnen-Gewerkvereine  in  England. 

Die  Rückständigkeit  des  weiblichen  Geschlechts,  selbst  ! 
ein  Produkt  der  ökonomischen  Verhältnisse,  tritt  auf  dem 
Gebiet  der  Oekonomie,  wo  es  sich  um  den  geschlossenen 
Widerstand  gegen  das  Unternehmerthum  handelt,  mit  be- 
sonderer Schärfe  hervor.  Der  Versuch,  die  arbeitenden 
Frauen  in  das  öffentliche  Leben  hineinzuziehen  und  sie,  die 
doch  der  Ausbeutung  am  schonungslosesten  unterworfen 
sind,  zu  organisiren,  stösst  überall  auf  die  grössten  Schwierig- 
keiten. Kein  Wunder  bei  ihrer  politischen  Rechtlosigkeit 
und  dem  kolossalen  Ueberangebot  von  weiblichen  Arbeits- 
kräften! Interessante  Einzelangaben  über  den  Stand  der 
weiblichen  Koalitionsbewegung  in  England  bringt  die  Juli- 
nummer der  „Fortnightly  Review“  in  einem  Artikel  von 
Miss  Philipps.  Die  Verfasserin  ist  über  die  Bewegung 
offenbar  sehr  gut  orientirt  und  scheint  auch  praktisch  An- 
theil  an  ihr  genommen  zu  haben. 

Sie  beginnt  mit  einer  Erinnerung  an  den  Lanca- 
shirer  Baunnvollstrike  zu  Anfang  dieses  Jahres.  Aus 
eigener  Anschauung  habe  sie  sich  hier  wieder  davon  über- 
zeugen können,  einen  wie  mächtigen  moralischen  Halt  der 
feste  gewerbliche  Zusammenschluss  Männern  wie  Frauen 
mitzutheilen  vermag.  Nachdem  der  Strike  bereits  14  Wochen 
gedauert  hatte,  herrschte  dennoch  unter  den  Unionisten 
keine  grosse  Noth.  Die  in  Arbeit  befindlichen  Mitglieder 
steuerten  den  festgesetzten  Tribut  ohne  Murren,  ja  mit 
Freudigkeit  zur  Fortsetzung  des  Strikes  bei,  und  auch 
die  ausständischen  Nicht-Unionisten  erhielten  Unterstützung. 
Auch  die  Frauen  und  Mädchen  waren  voll  von  Kampfes- 
muth. 

Das  weibliche  Geschlecht  ist  bis  jetzt  in  drei  ver- 
schiedenen Formen  gewerblich  organisirt.  Es  giebt  eine 
Reihe  von  Unions,  welche  Männer  wie  Frauen  unterschieds- 
los und  zu  gleichen  Bedingungen  aufnehmen,  dann  spezifisch 
weibliche  Unions,  mit  besonderen  Regeln,  Beiträgen  und 
eigener  Geschäftsführung,  die  aber  unter  einer  Art  Ober- 
leitung männlicher  Gewerkvereine  stehen,  ihnen  beigesellt 
sind,  endlich  ganz  unabhängige  nur  aus  Frauen  bestehende 
Vereine. 

Die  Zahl  der  zu  der  erst  genannten  Organisation  ge- 
hörigen Frauen  betrug  1890:42024  (davon  28230  in  der 
Weberbranche),  1893:76062  (in  der  Weberei  allein  45496). 
Ebenso  hat  sich  die  weibliche  Mitgliederzahl  der  zweiten 


No.  49. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAl  BLATT. 


587 


Organisationsart  stark  gehoben:  von  45984  im  Jahre  1890 
auf  82362  im  Jahre  1893.  Die  Lohnbedingungen  sollen  für 
diese  Organisationen  (es  werden  10  von  der  ersten,  3 von 
der  zweiten  Art  aufgeführt)  relativ  günstig  sein.  Die 
Frauen,  die  ihnen  zugehören,  erhalten  in  Stücklohn  gleiche 
Zahlung  wie  die  Männer.  Ihr  Verhalten  im  Verein  lässt 
nichts  zu  wünschen  übrig,  und  sie  entrichten  pünktlich  ihre 
Beiträge. 

Ganz  anders  aber  liegen  die  Dinge  da,  wo  die  Frauen 
gar  keinen  Rückhalt  an  den  Männern  haben  und  sich  aus 
eigener  Kraft  organisiren  sollen.  Nach  20  Jahren  immer 
Aon  neuem  aufgenommener  Agitationsarbeit  zählt  London 
nur  14  reine  Frauengewerkvereine  mit  2250  Mitgliedern. 
Die  der  Zündholzmacherinnen  ist  noch  die  grösste.  Der 
vor  18  Jahren  gegründete  Verein  der  in  der  Buchbinderei 
beschäftigten  Arbeiterinnen  zählt  250  Mitglieder.  Weitaus 
die  Mehrzahl  hat  es  noch  nicht  auf  100  Mitglieder  gebracht. 
Dabei  herrscht  fortwährender  Wechsel,  neue  Vereine  werden 
gegründet,  alte  lösen  sich  auf,  aber  ein  wirklicher  Fort- 
schritt ist  nirgends  wahrzunehmen. 

In  der  Provinz  sieht  es  nicht  anders  aus;  auch  hier 
lässt  es  die  Unbeständigkeit  der  Frauen,  die,  wenn  durch 
eine  neue  Lohnreduktion  empört  und  zur  Verzweiflung  ge- 
bracht, oft  einen  Strike  muthig  beginnen,  aber  die  neu- 
gegründete Organisation  bald  wieder  apathisch  verlassen 
und  so  zu  keinem  grösseren  Zusammenschluss  kommen.  Als 
die  Schneiderinnen  in  Leeds  einen  Strike  anfingen,  brachten 
sie  es  z B.  rasch  zu  einer  gewerblichen  Vereinigung  von 
1000  Mitgliedern,  die  aber  nachher  bald  stark  zusammen- 
schmolz und  jetzt  nur  150  Mitglieder  hat.  Miss  Philipps 
schätzt  die  Zahl  der  selbständig  organisirten  Frauen  in  der 
ganzen  Provinz  auf  nur  2500.  Die  rein  weiblichen  Gewerk- 
vereine würden  also  demnach  in  ganz  England  noch  nicht  über 
5000  Arbeiterinnen  verfügen.  Und  doch  sind  nach  dem 
letzten  Census  800000  Frauen  in  England  gewerblich  thätig, 
von  den  in  der  Textilbranche  und  in  Verkaufsläden  an- 
gestellten  noch  ganz  abgesehen.  Immerhin  meint  die  Ver- 
fasserin, die  Wirksamkeit  der  weiblichen  Organisationen  sei 
grösser  gewesen,  als  ihre  Zahl  vermuthen  lasse.  Für  Ab- 
stellung sanitärer  Missstände  und  bessere  Behandlung  hätten 
sie  viel  genützt.  Im  Ganzen  ist  aber  natürlich  die  Lage  der 
Arbeiterinnen  kläglich,  ja  die  Löhne  sollen  in  den  letzten 
4 Jahren  sogar  noch  weiter  heruntergegangen  sein.  Miss 
Hicks  hat  vor  der  Labour-Kommission  eine  Reihe  zahlen- 
mässiger  Belege  für  diese  Behauptung  gegeben. 

Die  billige  Frauenarbeit  ist  den  Männern  selbstverständ- 
lich sehr  gefährlich,  sie  droht,  die  theuere  durch  die 
billigere  Arbeitskraft  immer  mehr  zu  ersetzen.  So  giebt  es 
in  den  Töpfereien  Frauen,  die  jetzt  für  13  sh.  Wochenlohn 
das  Werk  verrichten,  wofür  Männer  30  sh.  erhielten.  In 
der  Schneiderei  haben  an  einigen  Plätzen  die  Weiber  die 
Männer  ganz  verdrängt  und  arbeiten  um  50  pCt.  billiger. 
Die  weiblichen  Drucker  erhalten  5 d.,  die  männlichen  8 d. 
Stundenlohn.  Und  in  den  Gegenden  von  Yorkshire, 
wo  die  Organisationen  noch  nicht  stark  entwickelt  sind, 
kommt  es  oft  vor,  dass  Mann  und  Mädchen,  neben  ein- 
ander an  Webstühlen  arbeitend,  für  genau  dieselbe  Leistung 
dennoch  Wochenlöhne  empfangen,  die  um  mehr  als  30pCt. 
verschieden  sind.  Die  Gründe,  die  die  ökonomische 
Stellung  der  Frauen  so  sehr  verschlechtern  und  keine 
starken  Kampforganisationen  unter  ihnen  bisher  aulkommen 
liessen,  sind  unschwer  anzugeben.  Schon  die  Furcht  vor 
dem  Unternehmer  wirkt  lähmend.  Wenn  die  Mädchen  es 
auch  einmal  mit  Gewerkversammlungen  versuchen,  so  wissen 
sie  doch,  wie  oft  die  Werkführer  als  Spione  ihnen  auf- 
lauern und  sie  beim  Unternehmer  anzeigen.  Das  Miss- 
trauen ist  so  gross,  dass,  als  ein  Meister  eine  bestehende 
Union  zu  begünstigen  schien,  die  Frauen  massenweise  aus- 
traten. Wenn  der  Herr  für  etwas  ist,  sagten  sie,  muss  es 
zu  unserem  Schaden  sein.  Es  ist  übrigens  nichts  un- 
erhörtes, dass  die  Unternehmer  selbst  eine  Organisation 
der  Arbeiterinnen  wünschen  und  sogar  in  Versammlungen 
präsidiren,  denn  sie  wissen  den  Vortheil  wohl  zu  schätzen, 
dass  die  in  Trades  Unions  vereinigten  Frauen  vor  Beginn 
eines  Strikes  viel  kaltblütiger  alle  Umstände  prüfen  als  die 
unorganisirten  Arbeiterinnen.  Unbedachte  Strikes  zu  ver- 
hindern, ist  die  Trade  Union  das  beste  Mittel. 

Die  Furcht  vor  dem  Unternehmer  hat  ihre  Ergänzung 


und  Begründung  in  der  Arbeitsart  unzähliger  Frauen,  die 
nicht  in  grossen  Betrieben,  sondern  zu  Hause  und  in  den 
Stuben  der  Sweaters  schaffen  müssen.  Diese  Isolirung  und 
Decentralisation  lässt  jeden  Widerstand  von  vornherein 
aussichtslos  erscheinen.  Darum  wird  in  neuester  Zeit 
auch  gefordert,  dass  durch  Ausdehnung  des  Fabrikgesetzes 
die  Sphäre  der  Heimarbeit  selbst  immer  mehr  eingeschränkt 
werde.  Indem  man  die  Unternehmer,  die  Waaren  zur 
Fertigstellung  an  Sweaters  weggeben,  und  die  Hauswirthe, 
die  Arbeitsstuben  an  Sweaters  vermiethen,  dafür  haftbar 
macht,  dass  die  Vorschriften  des  Fabrikgesetzes  auch  bei 
der  Heimarbeit  beachtet  werden,  denkt  man,  dass  durch 
solche  Schutzmassregeln  die  Heimarbeit  selbst  ihre  Renta- 
bilität verlieren  und  immer  mehr  durch  die  richtige  Fabrik- 
arbeit ersetzt  werden  wird.  Bereits  auf  dem  Rochedaler 
Kongress  von  1892  begründete  Miss  Beatrice  Potter  eine 
solche  Ausdehnung  des  Fabrikgesetzes  mit  dem  Hinweis 
auf  die  fabrikmässig  centralisirende  Wirkung,  die  ein  der- 
artiges Eingreifen  der  Gesetzgebung  hervorbringen  müsste. 
Freilich  würde  die  Einführung  einer  solchen  Bill  auf  die 
stärkste  Opposition  stossen  und  nicht  zum  wenigsten  bei 
den  armen  Frauen,  die  zu  schützen  ihre  Bestimmung  wäre. 

Das  schlimmste  Hinderniss  aber  jeder  starken  Arbeite- 
rinnenbewegung ist  - — - wir  referiren  nach  den  Mittheilungen 
der  Miss  Philipps  — der  Charakter  der  arbeitenden  Frauen 
selbst.  Meist  sind  sie  furchtsam,  indifferent,  leichtsinnig  und 
zu  erregbar;  und  für  einen  neuen  Sonntagshut  oder  einen 
Ausflug  mit  Tom  oder  Dick,  je  nachdem  der  eine  oder  der 
andere  gerade  vorgezogen  wird,  würden  sie  ohne  Zaudern 
die  wichtigsten  Interessen  aller  Frauen  von  der  ganzen  Welt 
opfern.  Ehrenwerthe  Ausnahmen  fehlen  selbstverständlich 
nicht.  Aber  die  Mehrzahl  ist  jung  und  denkt  immer  an  die 
Ehe,  in  der  sie  eine  Erlösung  von  ihrer  Arbeit  erhoffen. 
Sie  heirathen  meist  mit  20  Jahren  oder  noch  früher,  aber 
der  Arbeit  entgehen  sie  darum  in  vielen  Fällen  doch  nicht, 
sie  müssen  in  der  Noth  zur  Fabrik  zurück  oder  Heimarbeit 
übernehmen.  In  den  Versammlungen  treiben  die  jungen 
Mädchen  ihre  Kurzweil;  Scherz  und  Getuschel  hört 
nie  auf.  Dabei  fortwährende  kleine  Eifersüchteleien  und 
grosse  Unzuverlässigkeit.  Trotz  stärkster  mündlicher 
Agitation  für  eine  Versammlung,  trotzdem  eine  grosse 
Zahl  von  Mädchen  ihr  Erscheinen  fest  zugesagt  hat,  ist 
manchmal  bei  der  Eröffnung  überhaupt  kein  Publikum  zu 
erblicken. 

Was  den  Frauen  fehlt,  ist  die  zähe  Ausdauer  der 
Männer.  An  die  Gewerkvereine  dieser  sollte  sich  die  Frauen- 
bewegung anschliessen,  die  organisirten  Männer  müssten  ihr 
Rückgrat  bilden.  Ist  erst  das  richtige  Milieu  geschaffen, 
werden  die  Frauen  sich  gut  halten;  legen  doch  die  Fabrik- 
mädchen, wie  jeder  weiss,  der  sie  näher  kennen  gelernt  hat, 
auf  das  Urtheil  ihrer  Umgebung  einen  ausserordentlichen 
Werth.  Das  Bewusstsein,  dass  ihre  Gefährten  ein  gewisses 
solidarisches  Verhalten  von  ihnen  erwarten,  würde  mächtigen 
Eindruck  auf  sie  machen. 

Die  Männer  sollten  sich  nicht  bemühen,  die  Frauen  von 
irgend  einem  Gewerbe,  dem  sie  gewachsen  sind,  fernzuhal- 
ten, sondern,  was  viel  vernünftiger  ist,  darauf  dringen,  dass 
der  Lohnsatz  von  Frauen-  und  Männerarbeit  der  gleiche  werde. 
Und  diese  Einsicht  scheint  sich  auch  immer  mehr  unter  den 
Arbeitern  Bahn  zu  brechen.  In  der  letzten  der  alle  3 Jahre 
sich  wiederholenden  Zusammenkünfte  der  Schneider  stimm- 
ten z.  B.  die  Plätze  London,  Leeds  und  einige  andere  Städte, 
wo  die  billige  Frauenarbeit  bereits  den  Männern  eine  sehr 
gefährliche  Konkurrenz  machte,  für  Aufnahme  der  Frauen 
in  denVerein,  aber  Newcastle,  dessen  Schneider  noch  gar 
nichts  von  der  Frauenkonkurrenz  zu  leiden  hatten,  hinter- 
trieb den  Antrag.  Der  Schottische  Schneiderverein  dagegen 
hat  bereits  beschlossen,  dass  die  Organisationsversuche  der 
weiblichen  Arbeiter  mit  ganzer  Kraft  zu  unterstützen  seien. 
Die  Gefährlichkeit  der  billigen  Frauenarbeit  wird  eine  solche 
entschiedene  Parteinahme  der  Arbeiter  für  die  Arbeiterinnen- 
organisation und  einen  engen  Anschluss  dieser  an  die  Trades 
Unions  mit  männlichen  Mitgliedern  hoffentlich  in  nicht  zu 
ferner  Zeit  zur  Folge  haben. 

Der  englische  Kohlengräberausstand.  Die  Sachlage  in 
den  englischen  Kohlenbergwerksbezirken  ist  unverändert. 
Die  Grubenbesitzer  der  mittelenglischen  Bundesbezirke  be- 


588 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  49. 


harren  bei  der  Reduktion  der  Löhne  um  25pCt.,  und  da 
die  Bergleute  in  ihrer  Londoner  Vertreterkonferenz  be- 
schlossen haben,  keinesfalls  darauf  einzugehen,  wird  der 
Strike  andauern,  bis  die  Bergleute  durch  Hunger  zur  Nach- 
giebigkeit gezwungen  werden,  oder  bis  die  öffentliche  Mei- 
nung in  England  stark  genug  erregt  wird,  um  auf  die  Gruben- 
besitzer zu  Gunsten  der  Wiedereröffnung  der  Betriebe  einen 
Druck  auszuüben.  Zu  der  Abstimmung  in  Dur h am  ist 
noch  berichtigend  nachzutragen,  dass  die  Bergleute  nicht, 
wie  die  telegraphische  Mittheilung  vermuthen  liess,  mit  ab- 
soluter Mehrheit  sich  gegen  den  Strike  erklärt  haben,  sondern 
dass  nur  nicht  die  erforderliche  Zweidrittelmehrheit  für  den 
Strike  zusammengebracht  worden  ist.  Für  den  Strike  stimmten 
20782  Bergleute,  gegen  ihn  19704.  Die  Möglichkeit  ist 
also  keineswegs  ausgeschlossen,  dass  in  Durham  die  an- 
wachsende Unzufriedenheit  dennoch  später  eine  Zweidrittel- 
mehrheit für  den  Strike  zusammenbringt.  Zunächst  ist 
abermals  das  Verlangen  einer  Lohnerhöhung  an  die  Gruben- 
besitzer gerichtet  worden.  Die  Ablehnung  kann  zu  einer 
Verstärkung  der  Strikelust  führen.  In  Süd-Wales,  wo 
die  streikenden  Arbeiter  sich  nicht  auf  einen  angesammelten 
Strikefonds  stützen  können,  sah  sich  schon  ein  grosser 
Theil  der  Striker  zur  Wiederaufnahme  der  Arbeit  gezwungen, 
doch  geht  es  damit  keineswegs  so  rasch,  wie  die  Unter- 
nehmer hofften.  Noch  sollen  etwa  40000  Südwalliser  striken. 
Tagtäglich  finden  in  den  verschiedenen  Gegenden  des 
Bezirkes  Versammlungen  statt,  in  denen  das  Für  und  Wider 
der  Arbeitsaufnahme  erörtert  wird.  Zu  Unruhen  ist  es 
neuerdings  nicht  mehr  gekommen. 

Kongress  der  englischen  Trades  Unions.  Der  dies- 
jährige Kongress  der  englischen  Trades  Unions  findet  vom 
4.  bis  einschl.  II.  September  in  Belfast  statt.  Das  geschäfts- 
leitende Komite  des  Kongresses  hat  kürzlich  die  Tages- 
ordnung festgestellt  und  versandt.  Es  stehen  nicht  weniger 
als  84  verschiedene  Anträge  darauf.  Hiervon  betreffen: 
6 die  Fabrikinspektion  und  ein  zu  erlassendes  Amendement 
zum  Fabrikgesetz,  6 die  Haftpflicht  der  Arbeitgeber,  6 Sub- 
missionen und  Löhne  bei  Regierungsarbeiten,  4 die  Ver- 
kürzung der  Arbeitszeit,  3 die  Schiedsgerichtsfrage,  3 das 
Handelsmarken-Gesetz,  4 die  Föderation  sämmtlicher  Mit- 
glieder der  Trades  Unions,  2 die  Nachtarbeit  in  Bäckereien, 
2 die  Altersversicherung,  2 das  gegen  Verschwörungen  ge- 
richtete Gesetz,  2 .die  Produktivgenossenschaften,  2 die  Dock- 
inspektion. Von  den  übrigen  Anträgen  werden  noch  die 
verschiedensten  Gebiete  berührt,  so  die  Inspektion  der 
Dampfkessel  und  noch  mehrere  andere  mit  der  Gewerbe- 
polizei verbundene  Fragen.  Reformen  werden  verlangt  in 
der  Arbeiter-,  der  Handels-  und  auch  der  Armengesetz- 
gebung. Ein  Antrag  will,  dass  in  Zukunft  die  Unionsmit- 
glieder mit  solchen  Arbeitern,  die  einem  Gewerkverein  nicht 
angehören  (sogen,  blackfeets),  nicht  mehr  gemeinsam  in 
demselben  Betriebe  arbeiten  sollen.  Ferner  ist  beantragt, 
einen  Central-Strikefonds  zu  begründen.  Auch  das  Ein- 
greifen des  Militärs  bei  den  letzten  Ausständen  wird  auf 
dem  Kongress  zur  Sprache  kommen. 


Politische  Arbeiterbewegung. 

Das  Recht  auf  Arbeit  in  der  Schweiz.  Dem  Central- 
komitee der  schweizerischen  sozialdemokratischen  Partei  ist 
es  gelungen,  mehr  als  die  erforderlichen  50  000  Unterschriften 
für  den  Initiativvertrag  auf  gesetzliche  Einführung  des  Rechts 
auf  Arbeit  zusammenzubringen.  Nach  dem  Anträge  soll  der 
schweizerischen  Bundesverfassung  folgender  Artikel  einver- 
leibt werden: 

„Das  Recht  auf  ausreichend  lohnende  Arbeit  ist  jedem 
Schweizerbürger  gewährleistet.  Die  Gesetzgebung  des 
Bundes  hat  diesem  Grundsatz  unter  Mitwirkung  der  Kan- 
tone und  der  Gemeinden  in  jeder  möglichen  Weise  prak- 
tische Geltung  zu  verschaffen. 

Insbesondere  sollen  Bestimmungen  getroffen  werden: 

a)  zum  Zwecke  genügender  Fürsorge  für  Arbeitsge- 
legenheit, namentlich  durch  eine  auf  möglichst  viele 


Gewerbe  und  Berufe  sich  erstreckende  Verkürzung 
der  Arbeitszeit; 

b)  für  wirksamen  und  unentgeltlichen  öffentlichen  Ar- 
beitsnachweis, gestützt  auf  die  Fachorganisationen 
der  Arbeiter; 

c)  für  Schutz  der  Arbeiter  und  Angestellten  gegen 
ungerechtfertigte  Entlassung  und  Arbeitsentziehung; 

d)  für  sichere  und  ausreichende  Unterstützung  unver- 
schuldet ganz  oder  theil  weise  Arbeitsloser,  sei  es 
auf  dem  Wege  der  öffentlichen  Versicherung  gegen 
die  Folgen  der  Arbeitslosigkeit,  sei  es  durch  Unter- 
stützung privater  Versicherungsinstitute  der  Arbeiter 
aus  öffentlichen  Mitteln; 

e)  für  praktischen  Schutz  der  Vereinsfreiheit,  insbe- 
sondere für  ungehinderte  Bildung  von  Arbeiter- 
verbänden, zur  Wahrung  der  Interessen  der  Ar- 
beiter gegenüber  ihren  Arbeitgebern  und  für  unge- 
hinderten Beitritt  zu  solchen  Verbänden; 

f)  für  Begründung  und  Sicherung  einer  öffentlichen 
Rechtsstellung  der  Arbeiter  gegenüber  ihren  Arbeit- 
gebern und  für  demokratische  Organisation  der  Ar- 
beit in  den  Fabriken  und  ähnlichen  Geschäften, 
vorab  des  Staates  und  der  Gemeinden.“ 

Das  schweizerische  Volk  wird  also  demnächst  zu  diesen 
Forderungen  Stellung  zu  nehmen  haben.  Wenn  es  auch 
kaum  einem  Zweifel  unterliegen  kann,  dass  der  Antrag  ab- 
gelehnt werden  wird,  so  ist  doch  die  Thatsäche,  dass  es 
nunmehr  überhaupt  zu  einer  derartigen  Abstimmung  kommen 
muss,  von  grosser  Bedeutung. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Zur  Durchführung  der  Sonntagsruhe  in  Industrie  und 
Handwerk.  Offiziös  wird  jetzt  ausdrücklich  bestätigt,  dass 
sich  noch  gar  nicht  absehen  lasse,  welchen  Zeitraum  die  zur 
Herbeiführung  eines  Bundesrathsbeschlusses  üher  die  Ausfüh- 
rungsbestimmungen zur  Sonntagsruhe  für  Industrie  und  Hand- 
werk nothwendigen  Vorarbeiten  noch  beanspruchen  würden. 
Und  erst  wenn  diese  ihrem  Abschluss  nahe  gebracht  sein  wür- 
den, werde  sich  mit  einiger  Sicherheit  der  Zeitpunkt  der 
Inkraftsetzung  der  fraglichen  gesetzlichen  Bestimmungen 
ins  Auge  fassen  lassen.  — Es  besteht  die  Absicht,  Vertreter 
der  einzelnen  an  dieser  Frage  interessirten  Berufszweige 
zu  Konferenzen  nach  Berlin  in  der  Reihenfolge  zu  berufen, 
wie  sie  bei  der  Eintheilung  der  Gewerbe  in  der  Reichs- 
Berufsstatistik  eingeschlagen  ist.  Zuerst  werden  demnach 
die  Vertreter  des  Bergbaus,  des  Hütten-  und  Salinenwesens 
einberufen  werden.  Zu  ihrer  vorherigen  Information  ist 
bekanntlich  bereits  ein  Entwurf  der  Ausnahmebestimmungen 
mitgetheilt  worden.  Ein  ähnliches  Verfahren  wird  auch 
für  die  übrigen  Berufszweige  eingehalten  werden,  so  dass 
nacheinander  immer  erst  die  schriftliche  Information,  sodann 
die  Einberufung  zur  mündlichen  Konferenz  erfolgen  wird. 
Es  werden  mithin  weiter  an  die  Reihe  kommen  die  In- 
dustrie der  Steine  und  Erden,  darunter  hauptsächlich  Keramik 
und  Glasindustrie,  die  Metallverarbeitung,  der  Maschinen- 
bau, die  chemische  Industrie,  Gasanstalten,  die  Textil- 
industrie, die  Papierindustrie,  die  Lederindustrie,  die  Holz- 
und  Schnitzstofterzeugung.  die  Nahrungs-  und  Genussmittel- 
industrie, die  Bekleidungsindustrie,  das  Baugewerbe  und 
das  polygraphische  Gewerbe  — wobei  es  nicht  ausge- 
schlossen ist,  dass  einer  oder  der  andere  dieser  Berufs- 
zweige, bei  dem  die  Regelung  der  Ausnahmen  auf  Schwie- 
rigkeiten nicht  gestossen  ist,  nicht  weiter  in  Anspruch  ge- 
nommen werden  wird.  — Die  Gewerbenovelle  trägt  das  Da- 
tum des  1.  Juni  1891.  21/i  Jahr  sind  bereits  vergangen, 

und  es  ist  noch  so  gut  wie  nichts  geschehen.  Wird  so 
weiter  gearbeitet,  so  sind  die  Aussichten  in  der  That 
trostlos. 

Zur  Sonntagsruhe  im  Bäckergewerbe.  Der  zehnte 

Verbandstag  des  Bäckerverbandes  Germania  hat  folgende 
Resolution  über  die  Sonntagsruhe  gefasst:  „Der  Central- 
verband erklärt  es  für  eine  unbedingt  nothwendige  Forde- 


No.  49. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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rung:  1.  dass  die  Feststellung  der  Verkaufsstunden  den  ört- 
lichen Verhältnissen  angepasst,  und  dass  die  unteren  Ver- 
waltungsbehörden ermächtigt  werden,  die  Bäckereien  mit 
den  Schankwirthen  gleichzustellen,  also  den  ganzen  Sonntag 
Itir  den  Verkauf  von  Back-  und  Konditoreiwaaren  freizu- 
geben, 2.  dass  die  definitiv  festzusetzende  Sonntagsruhe  für 
Gehülfen  und  Lehrlinge  auf  14  Stunden  beschränkt  werde.“ 
Wenn  es  nach  den  Beschlüssen  und  Wünschen  der  Unter- 
nehmerverbände ginge,  so  würde  sicher  sehr  bald  keine 
Spur  mehr  von  der  Sonntagsruhe  übrig  geblieben  sein. 

Zur  Sonntagsruhe  in  den  Gasfabriken.  Der  Verein 
der  Gas-  und  Wasserfachmänner  Schlesiens  hat  auf  seiner 
25.  Jahresversammlung  beschlossen,  sich  mit  einer  Ein- 
gabe gegen  die  beabsichtigten  Ausführungsbestimmungen 
der  Sonntagsruhe  zu  wenden.  Man  war  darüber  einig,  dass 
die  Vorschrift,  wonach  der  Gasfabrikationsbetrieb  an  Sonn- 
und  Feiertagen  von  6 Uhr  früh  bis  6 Uhr  abends  • ruhen 
soll,  unmöglich  durchgeführt  werden  könne,  ohne  den  Gas- 
anstalten ungeheure  Mehrkosten  zu  verursachen.  Erstlich 
würden  die  dadurch  verursachten  Erweiterungsbauten  grosse 
Summen  beanspruchen,  dann  aber  würde  auch  der  Betrieb 
sehr  vertheuert  werden,  denn  die  Oefen  würden  kalt  wer- 
den, und  erst  einer  nach  dem  andern  angebrannt  werden 
können,  die  Errichtung  von  Reservekolonnen  für  die  ab- 
gelösten Arbeiter  aber  würde,  wenn  man  nicht  mit  un- 
geübten Arbeitern  den  Betrieb  unterhalten  wolle,  eine  er- 
hebliche Vermehrung  des  Arbeiterpersonals  beanspruchen. 
Der  Verein  beschloss  auch,  die  städtischen  Behörden  aufzu- 
fordern, sie  möchten  gleichfalls  beim  Bundesrath  Vorstellun- 
gen gegen  das  Inkrafttreten  der  Bestimmungen  zu  erheben. 

Die  Begründung  wirkt  recht  wenig  überzeugend,  sobald 
man  eben  nicht  vergisst,  dass  auch  die  Gasanstalten  der 
Menschen  wegen  da  sind,  nicht  aber  der  Mensch  der  Fabri- 
kation wegen. 

Ueber  Lohnzahlung  in  Gast-  und  Schankwirthschaften. 

Der  § 1 15a  der  Gewerbeordnung  sagt,  dass  Lohn-  und  Ab- 
schlagszahlungen in  Gast-  und  Schankwirthschaften  oder  Ver- 
kaufsstellen nicht  ohneGenehmigungder  unteren  Verwaltungs- 
behörden erfolgen  dürfen  und  Zuwiderhandelnde  mit  Geld- 
strafe bis  zu  150  M.,  im  Unvermögensfalle  mit  Haft  bis  vier 
Wochen  bestraft  werden.  Diese  Bestimmung  wird  in  der 
Praxis  nicht  überall  gehandhabt,  und  in  den  Arbeiterkreisen 
werden  mannigfache  Klagen  darüber  laut.  Den  Beschwerde- 
weg wollen  die  davon  Betroffenen  aber  darum  nicht  be- 
schreiten, weil  sie  fürchten,  dass  ihnen  ihr  Fortkommen 
für  die  Zukunft  dadurch  erschwert  werden  könne.  Die 
Arbeitnehmer-Beisitzer  des  Gewerbegerichts  in  Mainz  haben 
aus  diesem  Anlass  ein  Schreiben  an  den  Vorsitzenden 
dieses  Gerichts  gesandt,  worin  sie  auf  die  vielfachen  unge- 
setzlichen Handhabungen  bei  Lohnzahlungen  hinweisen  und 
ihn  ersuchen,  bei  der  Bürgermeisterei  dahin  vorstellig  zu  wer- 
den, dass  in  einer  öffentlichen  Bekanntmachung  die  Bestim- 
mungen des  § 115a  der  G.-O.  zur  Kenntniss  der  Bethei- 
ligten gebracht  und  die  Polizeibehörde  angewiesen  werde, 
die  Ausführungen  dieser  Bestimmungen  zu  überwachen. 
Als  Illustration  dafür,  wie  die  Auszahlung  des  Lohnes  oft 
gehandhabt  werde,  wird  folgendes  in  dem  Schreiben  er- 
wähnt: Bei  der  Auslöhnung  an  einer  Bauhütte  nahm  ein 

Parteiführer,  als  er  sah,  dass  die  Summe  für  noch  6 aus- 
zulöhnende Arbeiter  nicht  ausreichte,  den  Restbetrag  und 
warf  ihn  mit  dem  Bemerken  „da,  theilt's  Euch!“  auf 
die  Erde.  Aehnliches  mag  sich  wohl  oft  ereignen,  ohne 
dass  es  zur  öffentlichen  Kenntniss  gelangt.  Die  Bürger- 
meisterei Mainz  hat  daraufhin  unterm  18.  August  in  sämmt- 
lichen  Zeitungen  der  Stadt  eine  Bekanntmachung  erlassen, 
worin  sie  auf  die  Vorschrift  des  § 115a  der  G.-O.  verweist 
und  zugleich  mittheilt,  dass  das  Polizeiamt  streng  ange- 
wiesen sei,  gegen  Zuwiderhandelnde  einzuschreiten.  Eine 
solche  Maassregel  dürfte  wohl  in  fast  allen  Orten  sehr  am 
Platze  sein. 

Arbeiterinnenschutz  in  St.  Gallen.  Am  I.  Oktober 
tritt  im  Kanton  St.  Gallen  ein  Gesetz  in  Kraft,  das  den 
Schutz  derjenigen  Arbeiterinnen  bezweckt,  die  die  Wohl- 
that  des  „eidgenössischen  Fabrikgesetzes“  nicht  geniessen. 
Das  Anwendungsgebiet  des  letzteren  ist  zwar  vom  Bundes- 


rath im  Laufe  der  Jahre  stark  erweitert  worden,  und  es 
findet  nach  den  letzten  in  dieser  Richtung  ergangenen 
Beschlüssen  Anwendung  auch  auf  solche  Gewerbe,  die  im 
gewöhnlichen  Wortsinn  keine  Fabriken  mehr  sind  (wie 
grössere  Konfektionsgeschäfte  etc.);  indess  ist  der  Eid- 
genossenschaft zur  Zeit  die  Kompetenz  zur  gesetzlichen  Rege- 
lung des  Gewerbewesens  noch  nicht  verliehen,  es  haben  daher 
verschiedene  Kantone  angefangen,  das  eidgenössische  Fabrik- 
gesetz durch  kantonale  Arbeiterschutzgesetze  zu  ergänzen. 
Das  Gesetz,  das  der  Kanton  St.  Gallen  sich  gegeben  hat,  findet 
Anwendung  auf  alle  Geschäfte,  in  denen  Lehrtöchter  oder 
Mädchen  unter  18  Jahren  beschäftigt  werden,  auf  die  andern 
Geschäfte  nur  soweit,  als  in  ihnen  „mehr  als  2 weibliche 
Personen  gewerbsmässig  arbeiten“.  Die  Maximalarbeitszeit 
soll  11  Stunden,  an  Vorabenden  von  Sonn-  und  Feiertagen 
10  Stunden  betragen.  Frauen,  die  ein  Hauswesen  zu  be- 
sorgen haben,  sind  eine  halbe  Stunde  vor  der  Mittagspause 
zu  entlassen.  Die  Arbeit  an  Sonn-  und  Feiertagen  ist  unter- 
sagt. In  besonderen  Fällen  kann  Ueberzeitarbeit  bewilligt 
werden;  die  Bewilligungen  eines  Jahres  dürfen  zusammen 
die  Dauer  von  3 Monaten  nicht  übersteigen,  die  Verlänge- 
rung der  täglichen  Arbeitszeit  darf  nicht  mehr  als  2 Stunden 
betragen.  Für  Schwangere  und  für  Mädchen  unter  18  Jahren 
wird  keine  Bewilligung  von  Ueberzeitarbeit  gewährt.  Die 
Verwendung  von  "Mädchen  unter  14  Jahren  zu  gewerbs- 
mässiger Arbeit  ist  untersagt.  Mädchen  unter  16  Jahren 
dürfen  nicht  mehr  als  3 Stunden  ununterbrochen  an  Näh- 
und  anderen  Tretmaschienen  beschäftigt  werden.  Schwan- 
geren Frauen  ist  gestattet,  jeder  Zeit  die  Arbeit  einzustellen, 
und  Wöchnerinnen  sind  6 Wochen  lang  von  allen 
gewerbsmässigen  Arbeiten  ausgeschlossen.  Es  besteht  eine 
14  tägige  Kündigungsfrist,  sofern  nicht  eine  abweichende 
schriftliche  Uebereinkunft  vorliegt.  Lohnabzüge  und  Bussen 
sind  gestattet,  die  letzteren  dürfen  aber  nicht  mehr  als  einen 
Viertheil  des  Tagelohnes  betragen  und  sind  in  der  Arbeits- 
ordnung anzudrohen  und  im  Interesse  der  Arbeiterinnen 
zu  verwenden.  Die  Arbeitsräume  werden  von  der  örtlichen 
Gesundheitskommission  kontrolirt.  Dieser  steht  auch  ge- 
gebenenfalls eine  Ivontrole  über  die  Naturalverpflegung  zu. 
Der  Erlass  einer  Arbeitsordnung  kann,  wo  es  nöthig  er- 
scheint, von  der  Behörde  verfügt  werden.  Den  Kellnerinnen 
und  Verkäuferinnen,  auf  die  das  Gesetz  im  Uebrigen  keine 
Anwendung  findet,  ist  eine  Minimalnachtruhe  von  8 oder 
10  Stunden  garantirt.  Wird  von  ihnen  Sonntagsarbeit 
verlangt,  so  ist  ihnen  dafür  im  Laufe  der  Woche  ein  halber 
freier  Tag  zu  gewähren. 

Die  Ausführung  dieses  Gesetzes,  zu  dem  noch  eine 
Vollzugsverordnung  zu  erlassen  ist,  namentlich  die  Beauf- 
sichtigung der  kleinen  Geschäfte  der  Glätterinnen,  Putz- 
macherinnen etc.  — wird  um  so  schwieriger  sein,  als  es  an 
jeder  Organisation  der  Arbeiterinnen  fehlt,  die  ihrerseits 
die  Thätigkeit  der  Aufsichtsbehörde  erleichtern  könnte. 


Arbeiterversicherung. 

Aussenarbeiter  und  Hausindustrielle.  Der  Unterschied 
zwischen  selbstständigen  Hausgewerbetreibenden  und  un- 
selbstständigen Aussen-  oder  Heimarbeitern  zieht  sich  durch 
das  ganze  Gebiet  der  reichsgesetzlichen  Arbeiterversicherung 
und  ist  in  vielen  Fällen  für  die  persönliche  Versicherungs- 
pfliehtigkeit  entscheidend.  Insbesondere  im  Bereiche  der 
Krankenversicherung  unterliegen  nach  der  Novelle  vom 
10.  April  1892  die  Heimarbeiter,  nicht  aber  die  Haus- 
industriellen dem  gesetzlichen  Versicherungszwange,  während 
bis  dahin  für  beide  Kategorien  nur  die  Ausdehnung  des 
Versicherungszwanges,  durch  statutarische  Bestimmung  nach- 
gelassen war.  Noch  unter  der  Herrschaft  dieses  älteren  Rechts 
war  ein  Streitverfahren  anhängig  geworden,  das  jüngst  vor 
dem  Oberverwaltungsgericht  zur  Entscheidung  gelangt  ist. 
Gegenstand  des  Streits  war  der  Regressanspruch  eines 
Ortsarmenverbandes  gegen  eine  Ortskrankenkasse  aus  der 
Krankenhausbehandlung  einer  Arbeiterfrau,  die  bereits  seit 
Jahren  in  ihrer  Wohnung  für  ein  bestimmtes  Geschäft  Putz- 
federn im  Akkordlohn  hergestellt  hatte.  Nach  dem  Statut 
der  beklagten  Kasse  waren  zwar  sowohl  Heimarbeiter  als 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  49. 


Hausindustrielle  versichert.  Dennoch  kam  es  darauf  an, 
welcher  der  beiden  Kategorien  die  Frau  zuzuzählen  war, 
weil  zwar  ihre  Wohnung,  nicht  aber  das  Putzgeschäft,  für 
das  sie  gearbeitet  hatte,  im  Bezirke  der  Kasse  lag,  sonach 
die  Verpflegte  wohl,  wenn  sie  Hausindustrielle,  nicht  aber 
wenn  sie  Heimarbeiterin  war,  als  bei  der  Kasse  versichert 
gelten  musste.  Der  Bezirksausschuss  hatte  sich  für  die 
letztere  Alternative  entschieden  und  die  Klage  abgewiesen. 
Auf  Revision  des  Klägers  hob  der  III.  Senat  des  Ober- 
verwaltungsgerichts am  12.  Juni  er.  dieses  Urtheil  auf  und 
verwies  die  Sache  zu  anderweitiger  Verhandlung  und  Ent- 
scheidung an  den  Bezirksausschuss  zurück. 

In  Bezug  auf  die  grundsätzliche  Frage  wird  in  (len1 
Urtheil  des  Oberverwaltungsgerichts  etwa  folgend^, 
geführt:  Zu  den  Merkmalen  der  Hausindustrie  gehört  zui 
nächst  die  Beschäftigung  mit  der  Herstellung  oder , Be- 
arbeitung gewerblicher  Erzeugnisse  nicht  für  eigene  Rechnung, 
sondern  im  Aufträge  und  für  Rechnung  eines  anderen  Ge- 
werbetreibenden ausserhalb  seiner  Betriebsstätte.  Dass 
diese  Voraussetzung  zutreffe,  und  namentlich  die  Frau 
nicht  als  Unternehmerin  eines  selbstständigen  Gewerbe- 
betriebes angesehen  werden  könne,  wird  näher  dargelegt 
und  sodann  weiter  fortgefahren:  Ferner  bedarf  es  einer 
eigenen  Betriebsstätte.  Auch  eine  solche  ist  vorhanden. 
Denn  es  genügt  dazu,  da  besondere  Einrichtungen  nicht 
erforderlich  sind,  die  Arbeitsstätte,  wie  sie  sich  die  Frau 
zu  ihrer  Verfügung  in  ihrer  Wohnung  hergerichtet  hat. 
Der  Grund  ferner,  weshalb  sie  zu  Hause  und  nicht  in  der 
Fabrik  arbeitete,  liegt  augenscheinlich  darin,  dass  sie  ver- 
heirathet  ist  und  Kinder  hat,  also  nicht  in  vorübergehenden 
Verhältnissen,  sondern  in  dauernden  persönlichen  Umständen, 
was  wiederum  für  Hausindustrie  und  gegen  Heimarbeit 
spricht.  Auch  fehlt  es  nicht  an  der  für  Hausgewerbe- 
treibende besonders  wesentlichen  Selbstständigkeit,  die 
nicht  eine  wirthschaftliche,  sondern  eine  persönliche  ist  und 
wesentlich  darin  besteht,  dass  der  Hausindustrielle  arbeiten 
kann,  wann  er  will,  und  keine  bestimmten  Arbeitsstunden 
einzuhalten  hat,  dass  er  die  Arbeit  nicht  nothwendig  selbst 
zu  verrichten  braucht,  sondern  durch  andere  ausführen 
lassen  kann,  dass  er  keiner  Disziplin  des  Arbeitgebers 
unterliegt,  dass  für  ihn  kein  Recht  und  keine  Pflicht  zu 
weiterer  Beschäftigung  oder  zur  Einhaltung  einer  Kündi- 
gungsfrist besteht  u.  s.  w.  Diese  Selbstständigkeit  wird  da- 
durch nicht  ausgeschlossen,  dass  die  Arbeiterin  allerdings 
von  der  Firma  keine  Arbeit  erhielt  und  erhalten  konnte, 
wenn  diese  selbst  keine  hatte,  und  dass  ihr  das  Arbeits- 
material von  der  Firma  geliefert  wurde.  Ebenso  wenig 
stehen  der  Annahme  einer  Hausindustrie  entgegen  die  Be- 
zahlung in  Akkord  und  die  Beschäftigung  lediglich  für 
einen  Unternehmer  — zumal  ein  Hinderniss,  auch  für 
andere  Unternehmer  zu  arbeiten,  an  sich  nicht  bestand.  — 
Der  Gerichtshof  berührt  dann  noch  einige  Einwendungen 
gegen  diese  Annahme,  deren  hauptsächlichste  wir  kurz 
berühren  wollen.  Ob  zum  Betriebe  eines  Hausgewerbes 
die  Genehmigung  des  Ehemanns  erforderlich  war,  und  ob 
nicht  eine  solche  eventuell  in  dem  wissentlichen  Dulden  der 
Beschäftigung  zu  finden  sein  würde,  kann  auf  sich  beruhen, 
da,  selbst  wenn  die  erforderliche  Genehmigung  nicht  ertheilt 
sein  sollte,  dies  an  dem  thatsächlichen  Vorhandensein  eines 
die  Versicherungspflicht  begründenden  Arbeitsverhältnisses 
nichts  ändern  würde.  Aus  der  Nichtanmeldung  des  Ge- 
werbebetriebes lässt  sich  schon  deshalb  nichts  folgern,  weil 
die  Anmeldepflicht  aus  § 14  der  Gewerbeordnung  sich  über- 
haupt nur  auf  den  Gewerbebetrieb  als  Unternehmer  im 
eigenen  Namen,  nicht  aber  auf  die  Hausindustrie  erstreckt. 
Selbst  wenn  der  in  Rede  stehende  Gewerbezweig  in  der 
betreffenden  Gegend  als  Gegenstand  der  Hausindustrie 
nicht  üblich  sein  sollte,  so  lässt  sich  auch  dieses  Argument 
nicht  verwerthen,  da  er  keinesfalls  ein  solcher  ist  (es 
handelte  sich  um  Anfertigung  von  Putzfedern),  der  nicht 
der  Gegenstand  einer  Hausindustrie,  und  namentlich  der- 
jenigen von  Frauen,  bilden  könnte.  Dass  die  Frau  in  dieser 
Beschäftigung  nur  in  beschränktem  Umfange  thätig  gewesen 
ist,  derselben  nicht  ihre  ganze  Kraft  und  ihre  ganze  Zeit 
gewidmet  hat,  spricht  eher  für  als  gegen  die  Annahme  einer 
Hausindustrie;  gerade  diese  und  nicht  Heimarbeiterschaft 
ist  vielfach  vorhanden,  wo  es  sich  darum  handelt,  eine 
überschüssige  Arbeitskraft  innerhalb  der  Familie  nutzbar 


zu  machen.  Und  wenn  endlich  das  Gesetz  selbst  die  Haus- 
industriellen als  selbstständige  Gewerbetreibende  be- 
zeichnet,  so  hat  es  darunter  nicht  Gewerbetreibende  ver- 
stehen wollen,  die  für  eigene  Rechnung  produziren  und  die 
Waaren  direkt  unter  das  Publikum  bringen  — diese  sind 
vielmehr  Betriebsunternehmer  — , sondern  es  sollte  dadurch 
nur  die  Verschiedenheit  von  dem  unselbstständigen  Lohn- 
arbeiter (Gesellen,  Geholfen  etc.)  zum  Ausdruck  gebracht 
werden,  der  keine  eigene  Beti  iebsstätte,  sondern  nur  allen- 
falls.. eine  von  der  Betriebsstätte  seines  Arbeitgebers  ver- 
schiedene Arbeitsstätte  hat. 

i ,ii  Krankenversicherung  der  Handlungsgehülfen.  Dem 

Jahresberichte  der  Handelskammer  zu  Halle  a.  S.  für  das 
JaJür  1892  entnehmen  wir  in  Betreff  der  Krankenversiche- 
rung der  Handlungsgehülfen  folgende  Thatsachen.  Unterm 
31.  Dezember  1892  wurde  der  Handelskammer  zu  Halle  a.  S. 
vom  Magistrat  eine  Eingabe  zur  Prüfung  übersandt,  in  der 
der  Antrag  auf  Ausdehnung  des  Versicherungszwanges  auf 
sämmtliche  Handlungsgehülfen  mit  einem  Jahreseinkommen 
von  nicht  mehr  als  2000  M.  gestellt  wurde.  Die  Handels- 
kammer sprach  sich  im  Einklang  mit  früheren  Beschlüssen 
gegen  den  Antrag  aus,  und  zwar  aus  folgenden  Gründen: 
Für  diejenigen  Handlungsgehülfen,  denen  die  Rechte  des 
Artikels  60  des  Handelsgesetzbuches  gekürzt  oder  entzogen 
seien,  trete  die  Krankenversicherung  nach  den  neuen  Be- 
stimmungen ohne  weiteres  ein  und  damit  falle  auch  ein 
Grund  für  die  Verallgemeinerung  des  Krankenversicherungs- 
zwanges fort.  Gegen  diesen  spreche  auch  noch  der  Um- 
stand, dass  dann  den  Handlungsgehülfen  leicht  die  Wohl- 
thaten  entzogen  werden  könnten,  die  ihnen  der  Artikel  60 
des  Handelsgesetzbuchs  gewährleiste.  Ausserdem  sei  aber 
von  dem  Kaufmännischen  Vereine  zu  Halle  a.  S.  1890  eine 
freie  Hülfskasse  (Kranken-  und  Begräbnisskasse)  ins  Leben  : 
gerufen  und  damit  die  Möglichkeit  einer  Versicherung  für  den 
Krankheitsfall  geboten  worden.  Ausser  dieser  Krankenkasse 
wirke  im  Bezirk  der  Handelskammer  u.  a.  auch  die  Kranken- 
und  Begräbnisskasse  des  Verbandes  deutscher  Handlungs- 
gehülfen zu  Leipzig  (Verwaltungsstellen:  Halle  a.  S.,  Eisleben 
und  Zeitz).  Von  den  grösseren  Orten  des  Bezirks  haben,  so- 
weit der  Handelskammer  bekannt  geworden  sei,  die  Städte  Eis- 
leben, Merseburg  und  Naumburg  a.  S.  die  Krankenver- 
sicherungspflicht auf  Handlungsgehülfen  und  Lehrlinge  durch 
statutarische  Regelung  ausgedehnt. 

Schon  aus  dem  Beispiel  von  Eisleben  geht  hervor,  dass 
die  Ausdehnung  der  Versicherungspflicht  auf  die  Handlungs- 
gehülfen u.  s.  w.  dem  Wirken  der  freien  Hülfskassen  keinen 
Abbruch  thut.  Ist  doch  nach  § 75  des  Krankenversicherungs- 
gesetzes vom  10.  April  1892  ausdrücklich  bestimmt,  dass  Mit- 
glieder der  eingeschriebenen  Hülfskassen  — sobald  diese  ge- 
wisse Bedingungen  erfüllen  — von  der  Verpflichtung,  der 
Gemeinde-Krankenversicherung  oder  einer  nach  Maassgabe 
des  Gesetzes  errichteten  Krankenkasse  anzugehören,  befreit 
sind.  Ausserdem  würde  es  den  Prinzipalen  sicherlich  leicht 
sein,  ihre  Geholfen  beim  Engagement  zu  veranlassen,  sich 
auf  Grund  von  § 3a  Z.  2 von  der  Versicherungspflicht  be- 
freien zu  lassen,  der  bestimmt,  dass  Personen,  denen  gegen 
ihren  Arbeitgeber  für  den  Fall  der  Erkrankung  ein  Rechts- 
anspruch auf  eine  den  Bestimmungen  des  § 6 entsprechende 
oder  gleichwertige  Unterstützug  zusteht,  sofern  die 
Leistungsfähigkeit  des  Arbeitgebers  zur  Erfüllung  des  An- 
spruchs gesichert  ist,  auf  ihren  Antrag  von  der  Versicherungs- 
pflicht zu  befreien  sind  Haben  also  die  Prinzipale  in  der 
That  nicht  die  Absicht,  die  an  sie  zu  stellenden  Forderungen 
nach  Möglichkeit  zu  beschränken,  so  werden  sie  auch  gegen 
den  Erlass  eines  Ortsstatuts,  wonach  gemäss  § 2 Z.  5 die 
Versicherungspflicht  auf  alle  Handlungsgehülfen  und  Lehr- 
linge mit  einem  Jahreseinkommen  von  weniger  als  2000  M. 
erstreckt  wird,  nichts  stichhaltiges  einwenden  können. 

Verbandstag  der  Baugewerks-Berufsgenossenschaften. 

Am  18.  September  findet  zu  Erfurt  der  diesjährige  ordent- 
liche Verbandstag  des  Verbandes  der  deutschen  Baugewerks- 
Berufsgenossenschaften  statt.  Es  werden  allgemein  wichtige 
Angelegenheiten  zur  Verhandlung  kommen,  namentlich  die 
wiederholt  vom  Verbände  geforderte  Beseitigung  der  Mängel 
der  Unfallversicherungsgesetze  durch  die  Gesetzgebung, 
Erreichung  einer  möglichst  gerechten  Vertheilung  der  Ge- 


No.  49. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT 


591 


nossenschaftslasten  auf  die  zu  den  Baugewerks -Berufs- 
genossenschaften gehörigen  Gewerbe  durch  Erlangung  zu- 
verlässiger Gefahrentarife,  Versicherung  der  Hoch-  und 
Tiefbaubetriebe,  Befreiung  der  mit  Pensionsberechtigung 
angestellten  Berufsgenossenschaftsbeamten  von  der  Ver- 
pflichtung zur  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  etc. 

Bildung  einer  Fleischerei-Berufsgenossenschaft.  Der 

Bundesrath  soll  sich  gegen  den  Antrag,  eine  besondere 
Fleischerei-Berufsgenossenschaft  zu  bilden,  ausgesprochen 
haben,  obgleich  die  Nahrungsmittel -Berufsgenossenschaft, 
der  die  Fleischereibetriebe,  soweit  sie  jetzt  der  Versicherung 
unterliegen,  angehören,  den  Antrag  unterstützt  hatte.  Dieser 
Beschluss  des  Bundesraths  erscheint  durchaus  sachgemäss, 
denn  bei  der  ganzen  Gestaltung  des  industriellen  Unfall- 
versicherungsgesetzes ist  . nichts  unzweckmässiger  als  die 
Schaffung  von  Berufsgenossenschaften,  die  aus  zerstreuten 
Kleinbetrieben  bestehen.  Die  organisatorischen  Bestimmungen 
des  Gesetzes  sind  den  Grossbetrieben  auf  den  Leib  ge- 
schnitten, und  wo  sich  die  Organisation  relativ  bewährt, 
da  handelt  es  sich  im  wesentlichen  um  Grossbetriebe. 

Die  Versicherung  gegen  Arbeitslosigkeit  und  die  evan- 
gelischen Arbeitervereine.  Am  21 . August  d.  J.  traten  die 
Vertreter  des  Generalverbandes  der  evangelischen  Arbeiter- 
vereine Deutschlands  in  Speyer  zusammen.  Professor  Krieg 
hielt  einen  längeren  Vortrag  über  die  Versicherung  der  ohne 
Schuld  arbeitslos  gewordenen  Arbeiter,  an  den  sich  eine  leb- 
hafte Besprechung  schloss,  die  zu  folgendem  Beschluss  führte: 
„Die  Delegirten-Versammlung  der  evangelischen  Arbeiter- 
vereine Deutschlands  empfiehlt,  die  Arbeitslosigkeits -Ver- 
sicherung in  der  Presse  zu  diskutiren,  sieht  aber  von 
einem  bestimmten  Beschlüsse  ab.“ 


Gewerbegerichte,  Einigungsämter  und 
Arbeiterausschüsse. 

Die  Thätigkeit  der  württembergischen  Gewerbe- 
gerichte im  Jahre  1892.  Im  Königreich  Württemberg  be- 
standen am  Schlüsse  des  Jahres  1892  neun  Gewerbegerichte: 
zu  Stuttgart,  Cannstatt,  Esslingen,  Heidenheim,  Biberach, 
Göppingen,  Ravensburg,  Ulm  und  Geislingen  (letzteres  erst 
seit  1.  Dezember  1892),  bei  denen  im  Jahre  1892  1480  Klagen 
anhängig  wurden,  und  zwar  160  von  Arbeitgebern  und  1320 
von  Arbeitnehmern.  Hierbei  sind  die  erhobenen  Wider- 
klagen nicht  eingerechnet.  Von  der  Gesammtzahl  der  er- 
hobenen Klagen  wurden  nach  einer  in  den  „Jahresberichten 
der  Handels-  und  Gewerbekammern  in  Württemberg  für 
das  Jahr  1892“  enthaltenen  Uebersicht  durch  Urtheil  408, 
durch  Vergleich  711,  durch  Rücknahme  und  auf  andere 
Weise  293  erledigt,  sodass  68  unerledigt  in  das  neue  Jahr 
übergingen.  Gegenstände  der  Klagen  der  Arbeiter  waren 
am  häufigsten:  rückständiger  Lohn,  Feststellung  der  Rechts- 
widrigkeit der  Entlassung  zum  Zwecke  nachfolgender  Ent- 
schädigungsklage, Entschädigung  wegen  rechtswidriger  Ent- 
lassung, Ertheilung  des  Arbeitszeugnisses  und  Aushändigung 
von  Papieren.  Bei  den  Klagen  der  Arbeitgeber  war 
häufigster  Klagegegenstand  Entschädigung  wegen  rechts- 
widrigen Austritts. 


Schulwesen. 

Gewerbliches  Schulwesen  im  Grossherzogthum  Hessen 
1892/93.  Die  Grossherzogliche  Centralstelle  für  die  Ge- 
werbe in  Darmstadt  hat  kürzlich  eine  Statistik  der  Hand- 
werkerschulen und  Kunstgewerbeschulen  des  Grossherzog- 
thums Hessen  für  den  Jahrgang  1892/93  veröffentlicht,  aus 
der  der  Reichsanzeiger  folgende  Angaben  zusammenstellt. 

Gegenüber  dem  Vorjahre  sind  in  dem  abgelaufenen 
Schuljahre  1892/93  zu  den  mit  dem  Landesgewerbeverein 
in  Verbindung  stehenden  gewerblichen  Fortbildungsschulen 
drei  neue  Anstalten  hinzugekommen,  während  eine  die  Ver- 


bindung aufgegeben  hat.  Die  Zahl  der  Orte,  in  denen  der- 
artige Einrichtungen  bestanden,  hat  sich  von  76  auf  77  er- 
höht, die  Zahl  der  Schulen  ist  von  94  auf  96  gestiegen. 
Darunter  waren  29  Handwerker-Sonntags-Zeichenschulen 
mit  und  49  ohne  Abendunterricht;  9 erweiterte  Handwerker- 
schulen und  9 Spezialanstalten,  nämlich  die  Landes-Bau- 
gewerkschule,  verbunden  mit  kunstgewerblichem  Zeichen- 
unterricht, in  Darmstadt,  2 Kunstgewerbeschulen,  verbunden 
mit  Damenkursen,  in  Mainz  und  Offenbach,  I Fachschule 
für  Elfenbeinschnitzerei  und  verwandte  Gewerbe  in  Erbach 
i.  O.  und  2 Anstalten  für  Frauenbildung  (Aliceschulen)  in 
Darmstadt  und  Giessen.  An  diesen  Anstalten  wirkten  ins- 
gesammt  274  Lehrer  (gegen  248  im  Vorjahre);  die  Schüler- 
zahl betrug  7460,  darunter  waren  670  Vorschüler  unter 
14  Jahren  und  2044  Schüler,  die  Abendkurse  besuchten. 
Die  eigentlichen  Schüler  dieser  Anstalten  standen  über- 
wiegend (6469)  im  Alter  von  14  bis  20  Jahren;  über  300 
Schüler  gehörten  höheren  Altersklassen  an.  Nach  dem  Be- 
rufe bestand  der  grössere  Theil  der  Schüler  (4873)  aus 
Bauhandwerkern,  über  1700  gehörten  anderen  Gewerben 
an,  der  Rest  betrieb  kein  Gewerbe. 

Die  Schulgeldfrage  ist  an  den  hessischen  gewerblichen 
Schulen  in  der  vielseitigsten  Weise  gelöst.  Bleiben  die 
9 Spezialanstalten  hierbei  ausser  Betracht,  so  weisen  1 1 
Schulen  gänzlich  freien,  3 für  unbemittelte  Schüler  freien 
Unterricht  auf.  In  62  Anstalten  wird  Schulgeld  erhoben, 
und  zwar  in  einer  an  jedem  Sonntag,  in  den  meisten  mo- 
natlich, in  nicht  wenigen  vierteljährlich,  in  einigen  halb- 
jährlich, jährlich  oder  für  jeden  Kursus.  Die  Beträge 
schwanken,  auf  Vierteljahrszahlungen  umgerechnet,  zwischen 
50  Pf.  und  4 M.  Nicht  selten  bestehen  an  einer  und  der- 
selben Anstalt  verschiedene  Sätze  für  solche  Schüler,  die 
nur  die  Tages-  oder  nur  die  Abend-  oder  beide  Kurse  be- 
suchen; noch  häufiger  werden  Unterschiede  zwischen  den 
Kindern  von  Mitgliedern  der  Ortsgewerbevereine  und 
sonstigen  Schülern  gemacht.  Von  14  Anstalten,  meist  er- 
weiterten Handwerkerschulen,  liegen  keine  Angaben  über 
das  Schulgeld  vor. 


Wohlfahrtseinrichtungen. 

Gewinnbetheiligung  der  Arbeiter  in  einer  Maschinen- 
fabrik. Die  Haifische  Maschinenfabrik  und  Eisengiesserei, 
Aktiengesellschaft,  hat  vor  vier  Jahren  die  Gewinnbetheili- 
gung ihrer  Arbeiter  eingeführt.  Der  Antheil  richtet  sich 
nach  der  Zeit  der  Arbeitsdauer  in  der  Fabrik  und  der  Höhe 
der  Dividende.  Auf  jedes  Prozent  an  die  Aktionäre  ver- 
theilter  Dividende  erhalten  die  Arbeiter,  die  mindestens 
drei  Jahre  in  der  Fabrik  gearbeitet  haben,  3 M.  Vor  kur- 
zem hat  nun  zum  vierten  Male  die  Aushändigung  der  Ge- 
winnantheile  stattgefunden.  Es  waren  diesmal  42350  M., 
die  die  Gesellschaft  nur  an  die  Arbeiter  (ohne  die  Tan- 
tiemen und  Gratifikationen  der  Beamten)  vertheilte.  Da  die 
Gesellschaft  für  1892  wieder  35  pCt.  Dividende  vertheilte, 
erhielten  die  Arbeiter  in  Gruppe  I je  105  M.,  in  Gruppe  II 
(2  Jahre)  je  70  M.,  in  Gruppe  III  (1  Jahr)  je  35  M.,  in 
Gruppe  IV  (unter  einem  Jahre  Arbeitszeit)  je  17,50M.  Auch 
die  Lehrlinge  erhielten  Gratifikationen.  Dreiviertel  der  Ar- 
beiter erhalten  schon  jetzt  den  Höchstbetrag  des  Gewinn- 
antheils.  Die  Gesellschaft  scheint  also  ihren  ausgesproche- 
nen Zweck,  die  Arbeiter  an  die  Fabrik  zu  fesseln,  wohl  er- 
reicht zu  haben.  Dass  sich  die  Aktionäre  dabei  nicht 
schlecht  stehen,  beweist  die  kolossale  Dividende  von  35  pCt. 


Eingesendete  Schriften. 


Seifarth,  F.,  Die  Berufsstatistik  des  Deutschen  Reichs  nebst  der 
landwirthschaftlichen  Betriebs-  und  Gewerbestatistik.  Nach 
authentischen  Quellen  bearbeitet.  Band  II:  Die  landwirthschaft- 
liche  Betriebs-  und  Gewerbestatistik.  — Heidelberg,  Verlag 
von  J.  Hörning.  1893. 

Böttcher  Hugo,  Das  Programm  der  Handwerker.  Eine  gewerbe- 
politische Studie.  Braunschweig,  Verl,  von  Albert  Limbach, 
1893.  - XII.  283  S. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin  W.,  Victoriastrasse  16. 


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ANZEIGEN 


No.  49. 


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Summtuiig  amtlidier  tlei-öfFeuf rirfiuiißcn 
aus  dem  Ucidis=  und  Staafsaujeigei: 
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Urailjifdjfit  Struergclebe. 

So nt  14.  Suli  1893. 

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21u<3  bem  9teicf)3=  unb  @taat§an3eiger 
befonber§  abgebnuft. 

8°.  72  ©eiten. 

$rei§  geheftet  9JZ.  1,— , poftfrei,  9)1.1,10. 

(Sari  iepanns  Scrlag 

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©eroerbe-  unb  ^rbeiterredit^ 

3um  täglichen  ©ebraitrfjc  bearbeitet 

»on 

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SftegierungSrattj. 

80.  VIII  u.  101  Sette. 

Preis  p.  2,  pa|ifrei  p.  2,10. 


©rfter  £ b e i I- 

©etoerberedjt. 

I.  ©eroerbe  unb  ©erocrbcretfü  im  Aü= 
gemeinen. 

II.  ©eroerbebeprben,  guftcinbigfeit  unb 

Verfahren. 

III.  Sie  ©eroerbefreibeit. 

IV.  Sefonbere  23efcbränfungen  ber  @e= 

merbefreibeit. 

V.  Ser  ©erocrbebetricb  im  Umbersieben. 

VI.  Sa§  gnnungSroefen. 

VII.  ©croerblubeArbeiter  im  Allgemeinen; 

SBegriff  ber  gabrif. 

VIII.  Ser  gemerblicbe  Arbeitsertrag  im 
Allgemeinen. 

IX.  Ser  Sdju|}  be§  Arbeitslohns;  baS 

„Srucfftjfient". 

X.  Ser  Sontraftbrucfj;  fefte  ©ntfdbcibi» 

gungen,  SobnoerroirFungen,  2obn= 
einbebaltungen. 

XI.  Sie  befonberen  SBorfcbriften  für 
minberjäbrige  Arbeiter  n.Sebrlinge. 


ttlt* 

XII.  Scbub  für  2eben,  ©efunbbeit  unb 

SittlicfjFeit  ber  Arbeiter  im  ®e= 
roerbebetriebe. 

XIII.  Sie  Sonntagsruhe. 

XIV.  ArbeitSorbnungcn  unb  ArbeiterauS» 

fd^üffe. 

XV.  93efonberer  Stfjub  ber  grauen  unb 

Äinber  in  gabrifen  nnb  gtei<f)= 
gefleüten  Anlagen. 

XVI.  ©eroerbegeriebte  u.  ©inigungSämter. 

XVII.  SaS  SoalitionSrecbt- 

3 ro e i t e r Sbeil. 

®ic  2lrbeitert>erftd)erung. 

A.  Sie  Äranfenoerficberung. 

B.  Sie  Unfaßoerfidjerung. 

C.  Sie  gnoaIibitätS=u.  AlterSoerficberung. 

Anhang.  I.  SaS  ©efinberccbt.  II.  AIpba» 
betifefje  Ueberfidjt  ber  roiebtigften 
bauSroirtbfcbaftlicben  gragen  ber 
gnoalibitätS»  u.  AlterSoerficberuug. 


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(£arl  §et)mamt3  35er lag  in  Berlin  W.,  ^taucrftrafjie  44* 

Carl  Heymanns  Verlag  in  Berlin  W.,  Mauerstrasse  44.  — Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld  in  Berlin  W. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  1 1.  September  1893. 


Nummer  50. 


SOZIALPOLITISCHES 

C ENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Erscheint  jeden  Montag. 

Zu  beziehen 

durch  alle  Buchhandlungen,  Spediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf 

Anzeigenpreis  für  die  dreigespaltene  Colonelzeile 
40  Pfennig. 


INHALT. 


Fortschritte  des  Grossbe- 
triebs innerhalb  der  Innun- 
gen. Von  Karl  Thiess. 

Soziale  Wirthschaftspolitik  und 
Wirthschaftsstatistik : 

Englische  Berufsstatistik. 

Gesetzentwurf  zur  Erleichterung 
von  Stadterweiterungen. 

Gesetz  über  das  Auswanderungs- 
wesen. 

Zur  Organisation  des  Arbeitsnach- 
weises in  Preussen. 

Gewerkschaftliche  Arbeiterbewe- 
gung: 

DerenglischeKohlengräberausstand. 

Lohnbewegung  im  Kohlenbecken 
von  Pas  de  Calais. 

Handwerkerfragen : 

Deutscher  Gewerbekammertag  im 
Jahre  1893. 

Verbandstag  der  württembergi- 
schen  Gewerbevereine. 

Frauenfragen: 

Frauenarbeit  im  russischen  Kunst- 
gewerbe. Von  S.  Werblunski. 


Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Das  Arbeiterinnenschutzgesetz  im 
Kanton  Zürich.  Von  Pfarrer  Dr. 
Emil  Hofmann. 

Zur  Durchführung  der  Sonntags- 
ruhe in  Industrie  u.  Handwerk. 

Ortsstatute  über  Lohnzahlung. 

Vorschriften  über  die  Einrichtung 
im  Betriebe  zur  Anfertigung  von 
Zündhölzern  unter  Verwendung 
weissen  Phosphors. 

Arbeiterversicherung : 

Skorbut  und  Seeunfallver- 
sicherungsgesetz. Von  Otto 
M e 1 d n e r. 

Die  österreichischen  Krankenkassen 
im  Jahre  1891. 

Bildung  einer  Molkerei-Berufs- 
Genossenschaft. 

Zur  Statistik  der  invaliditäts-  und 
Altersversicherung. 

Vermischtes : 

Sozialpolitische  Beschlüsse  des 
Katholikentages  zu  Wiirzburg. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Fortschritte  des  Grossbetriebes  innerhalb  der 
Innungen. 

Die  moderne  Innungsbewegung  begründet  ihre  Existenz- 
berechtigung und  ihre  Ansprüche  auf  behördliche  und  ge- 
setzliche Förderung  mit  ihrer  Bedeutung  als  stärkstes  und 
wirksamstes  Vertheidigungsmittel  des  kleinen  Handwerks 
gegenüber  den  Fortschritten  der  Grossindustrie.  Ihre  Gegner 
behaupten,  dass  die  Entwickelung  zum  Grossbetrieb,  welche 
den  volkswirthschaftlichen  und  technischen  Anforderungen 
der  Zeit  entspreche,  überhaupt  durch  keine  Organisation 
aufzuhalten  sei,  und  dass  jeder  dahin  gehende  Versuch  nur 
dazu  diene,  die  natürliche  und  nothwendige  Entwickelung 
zu  hemmen  und  damit  die  wirtschaftlichen  Interessen  der 
Gesammtheit  zu  schädigen.  Demgegenüber  weisen  ihre 
Anhänger  auf  die  thatsächlichen  Erfolge  der  Bewegung  hin, 
die  eine  grosse  Anzahl  der  kleinen  Betriebe  in  geschlossener 
Organisation  Zusammenhalte  und  so  vor  dem  Aufgehen  in 
die  Grossindustrie  bewahre.  Beide  Parteien  gehen  dabei 
1 stillschweigend  von  der  Voraussetzung  aus,  als  ob  innerhalb 
der  Innungen  der  Kleinbetrieb  unverändert  fortbestehe  und 
keine  Annäherung  an  die  Grossindustrie  erfahre.  Fällt 


diese  Voraussetzung,  so  wird  die  Beweisführung  der  Innungs- 
anhänger, die  aus  der  thatsächlichen  Stärke  der  Bewegung 
ohne  weiteres  auf  die  Intensität  ihrer  konservirenden  Wirk- 
samkeit für  den  Kleinbetrieb  schliessen,  hinfällig,  und  die 
jetzigen  Angriffe  der  Gegner  treffen  nur  noch  den  behaup- 
teten, nicht  aber  den  thatsächlichen  Zweck  der  bekämpften 
Organisation.  Zu  der  Frage,  ob  der  Grossbetrieb  auch 
innerhalb  der  Innungen  an  Raum  gewinne,  einige  zahlen- 
mässige  Beiträge  zu  liefern  und  vielleicht  zur  weiteren  Er- 
örterung dieses  Problems  anzuregen,  soll  die  Aufgabe  der 
folgenden  Zeilen  sein. 

Die  Gewerbedeputation  des  Magistrats  zu  Berlin 
veröffentlicht  seit  1882  jährlich  eine  Tabelle  über  die  Ver- 
hältnisse der  ihrer  Aufsicht  unterstellten  Innungen,  die  u.  a. 
die  Mitgliederzahl,  sowie  die  Zahlen  für  die  von  den  Mit- 
gliedern beschäftigten  Gesellen  und  Lehrlinge  enthält.  Die 
letzteren  Angaben  werden  sehr  ungenau  und  sporadisch 
gemacht,  sodass  die  Zahlen  für  die  Gesammtheit  der 
(1891  : 70)  Innungen  nicht  brauchbar  sind.  Wir  nehmen  die 
(30)  Innungen  der  28  Gewerbe  heraus,  die  wenigstens  für 
die  5 Jahre  von  1887  bis  1891  die  Zahlen  der  Gesellen  und 
Lehrlinge  regelmässig  angegeben  haben.  Eine  Beschränkung 
auf  weniger  Jahre  hätte  die  Zuziehung  einer  grösseren  Zahl 
von  Innungen  ermöglicht,  aber  kein  ausreichendes  Bild  der 
zeitlichen  Entwickelung  gegeben  und  ausserdem  viel  un- 
sichere Zahlen  hereingebracht,  ein  Zurückgehen  auf  die 
früheren  Jahre  von  1883  bis  1886  hätte  den  Kreis  der 
brauchbaren  Innungen  allzu  sehr  beschränkt.  In  ganz  ver- 
einzelten Fällen  musste  auch  hier  noch  für  die  fehlende 
Arbeiterzahl  eines  in  der  Mitte  liegenden  Jahres  die  mittlere 
Zahl  des  vorhergehenden  und  des  folgenden  Jahres  ge- 
nommen werden.  In  3 Fällen,  wo  die  Arbeiterzahlen  für 
die  5 Vorjahre  sehr  konstant  waren,  ist  die  fehlende  Zahl 
von  1891  durch  die  von  1890  ersetzt.  Leider  sind  unter 
den  fehlenden  Innungen  gerade  die  mit  der  grössten  Mit- 
gliederzahl, die  Schneider,  Schuhmacher,  Tischler,  Weber, 
die  sämmtlich  über  1000  Mitglieder  haben.  Die  hier  be- 
handelten Innungsmeister  sind  in  den  Jahren  1887  bis  1891: 
35,4,  34,9,  36,1,  35,9,  36,5  pCt.  aller  überhaupt  nachge- 
wiesenen Innungsmitglieder.  In  den  28  Gewerben  sind  vor- 
handen 1887:  6075  Meister  mit  18  129  Gesellen  und  Lehr- 
lingen, 1888:  6047  mit  26817,  1889:  6396  mit  28  152,  1890: 
6460  mit  38  889,  1891:  6498  Meister  mit  32  139  Gesellen  und 
Lehrlingen.  In  den  4 Jahren  haben  sich  die  Innungs- 
mitglieder um  6,96  pCt.,  die  bei  ihnen  Arbeitenden  aber 
um  77,3  pCt.  vermehrt.  Auf  einen  Meister  entfielen  in  den 
Jahren  1887  bis  1891:  3,0,  4,4,  4,4,  6,0,  4,9  Gesellen  und 
Lehrlinge.  Wenn  wir  für  das  Jahr  1890,  in  dem  wahr- 
scheinlich durch  ein  Versehen  bei  den  grossen  Innungen 
der  Fuhrherren  und  der  Gastwirthe  ca.  7000  Arbeiter  zu 
viel  angegeben  sind,  eine  um  so  viel  geringere  Arbeiterzahl 


594 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  50. 


annehmen,  so  ist  der  durchschnittliche  Umfang  der  Be- 
triebe von  Jahr  zu  Jahr  mit  der  einen  Pause  von  1888 
zu  1889  grösser  geworden,  und  er  würde  danach  jetzt 
schon  mit  mehr  als  5 Arbeitern  die  Grenze  des  Klein- 
betriebes überschritten  haben. 

Indess  auch  wenn  man  zugesteht,  dass  die  hier  benutzten 
Zahlen  unter  denen  der  Gewerbedeputation  die  relativ  besten 
sind,  so  sind  sie  doch  zu  unsicher,  als  dass  man  einen  zu- 
reichenden Beweis  mit  ihnen  führen  könnte,  denn  die 
Innungen  haben  oft  ein  Interesse  daran,  keine  genaueren 
Einblicke  in  das  Auf  und  Ab  ihrer  Thätigkeit  zu  gewähren, 
und  ihre  Angaben  sind  grösstentheils  sehr  mangelhaft.  So 
würden  die  gegebenen  Zahlen  in  der  That  nur  bedingte 
Beweiskraft  haben,  wenn  nicht  die  in  ihnen  beobachtete 
Tendenz  durch  Zahlen  anderer  Art  unterstützt  und  bestätigt 
würde.  Bei  den  Volkszählungen  von  1885  und  1890  ist 
die  Zahl  der  Innungsmitglieder  zugleich  mit  der 
ihrer  Arbeiter  festgestellt.  Diese  Zahlen  stimmen  mit 
denen  der  Gewerbedeputation  nicht,  weil  nur  die  in  Berlin 
Ansässigen  und  am  Zahlungstermin  Anwesenden  und 
(wenigstens  für  1885)  nur  die  gewerblichen  Innungsmitglieder 
mit  Ausschluss  der  zu  Handel.  Verkehr,  Gastwirthschaft 
gehörenden  festgestellt  sind,  und  zwar  nach  dem  besonderen 
Beruf  des  einzelnen,  nicht  nach  dem  der  Innung.  Im  übrigen 
ist  die  Frage  so  genau  gefasst  („Gehören  Sie  einer  Innung 
an?“)  und  fällt  das  Interesse  an  der  vollständigen  Beant- 
wortung der  Frage  so  sehr  mit  der  Mitgliedschaft  der 
Innungen  zusammen  — während  in  den  Berichten  an  den 
Magistrat  oft  die  Richtigkeit  der  Angaben  nicht  im  Inter- 
esse der  Innungen  liegt  — dass  man  diese  Zahlen  mit  ziem- 
licher Sicherheit  als  die  zuverlässigeren  wird  bezeichnen 
können.  1885  waren  in  den  Berufsgruppen  der  Gärtnerei 
und  Fischerei  , in  Bergbau  , 'Industrie  und  Handwerk 
13  249  Innungsmeister  angegeben  mit  39  542  Arbeitern, 
1890  dagegen  12  019  Meister  mit  46  000  Arbeitern.  Die 
Meister  haben  also  um  9,3  pCt.  abgenommen,  die  Arbeiter  sich 
um  16,4pCt.  vermehrt,  immer  noch  weniger  als  die  Be- 
völkerung. 1885  entfiel  auf  99,  1890  erst  auf  131  Einwohner 
Berlins  ein  Innungsmitglied.  Von  den  sämmtlichen  selb- 
ständigen Gewerbetreibenden  der  gleichen  Berufsgruppen 
gehörten  einer  Innung  an  1885:  15,8,  1890:  13,0  pCt.,  von 
den  sämmtlichen  bei  selbständigen  Gewerbetreibenden  be- 
schäftigten Arbeitern  waren  1890  bei  Innungsmitgliedern 
20,6  pCt.  beschäftigt, sodass  die  durchschnittliche  Grösse  der 
Innungsbetriebe  schon  um  die  Hälfte  grösser  ist 
als  die  aller  Betriebe;  anders  ausgedrückt,  kommen  auf 
einen  selbständigen  Gewerbetreibenden  überhaupt  1890: 
2,4,  auf  ein  Innungsmitglied  3,8  Arbeiter.  Die  Betriebs- 
grösse innerhalb  der  Innungen  erscheint  seit  der  Vorzählung 
in  starkem  Steigen  begriffen,  denn  im  Durchschnitt  be- 
schäftigte ein  Innungsmeister  1885:  3,0,  1890:  3,8  Arbeiter, 
beide  Male  etwas  weniger  als  der  bei  der  Gewerbedepu- 
tation gefundenen  Skala  entsprechen  würde.  Dies  kommt  zum 
Theil  daher,  dass  der  gewerbliche  Durchschnitt  oben  durch 
die  Zahlen  der  Gastwirthe,  Fuhrherren  etc.,  die  zahlreichere 
Arbeiter  beschäftigen,  erhöht  wurde.  Dass  die  Volks- 
zählung einen  Rückgang  der  Innungsmeister  zeigt,  die  jähr- 
lichen Zusammenstellungen  aber  davon  nichts  spüren  lassen, 
rührt  theils  von  dem  nicht  ganz  kongruenten  Beobachtungs- 
material, theils  wohl  daher,  dass  die  letzteren  unzuverlässiger 
sind,  und  dass  gerade  die  Innungen,  deren  Geschäfte  schlecht 
gehen,  zugleich  die  schlechtesten  Angaben  machen  und  sich 
bemühen,  den  Thatbestand  möglichst  zu  verheimlichen. 

Die  Vergrösserung  der  Betriebe  der  Innungsmeister 
zeigt  sich  fast  in  jedem  Gewerbe,  bei  zunehmender  wie  bei 
abnehmender  Betheiligung  am  Innungsleben.  Um  jede  Ge- 
lahr parteiischer  Auswahl  zu  vermeiden  und  andererseits 
nicht  bei  den  allzu  kleinen  Zahlen  mit  ganz  zufälligen 
Schwankungen  rechnen  zu  müssen,  wollen  wir  die  sämmt- 
lichen 34  Berufe,  die  bei  den  Zählungen  über  50  Innungs- 


meister hatten,  besonders  betrachten  und  in  einzelnen 
Gruppen  behandeln.  — Die  6 Gewerbe,  welche  entgegen 
dem  Durchschnitt  eine  Zunahme  der  Innungsmeister  zeigen, 
haben  sämmtlich  eine  noch  stärkere  Zunahme  der  beschäf- 
tigten Arbeiter,  oder  mit  anderen  Worten  ein  durchgängi- 
ges Wachsthum  der  durchschnittlichen  Betriebsgrösse  er- 
fahren. Es  sind  das  die  Goldschmiede:  111  (1885)  bezw. 
114  (1890)  Innungsmeister  mit  332  bezw.  528  Arbeitern,  die 
Grobschmiede:  21  1 bezw.  224  Meister  mit  451  bezw.  557 

Arbeitern,  die  Verfertiger  physikalischer  und  chirurgischer 
Instrumente:  71  bez.  84  Meister  mit  223. bez.  453  Arbeitern, 
die  Bäcker  und  Konditoren:  705  bez.  827  Meister  mit  2491 
bez.  3024  Arbeitern,  die  Zimmerer:  71  bez.  80  Meister  mit 
1095  bez.  1571  Arbeitern,  und  schliesslich  die  Maler:  287 
bez.  388  Meister  mit  976  bez.  1 703  Arbeitern.  — Alle  übri- 
gen 26  Gewerbe  haben  sich  in  der  Zahl  der  Meister  ver- 
mindert, 11  davon  auch  in  der  Zahl  der  von  ihnen  beschäf- 
tigten Arbeiter,  und  zwar  sind  die  Weber,  Böttcher,  Hut- 
und  Mützenmacher  und  Kürschner  in  ihrer  Betriebsgrösse 
zurückgegangen.  Das  weitaus  stärkste  Gewerbe  von  den 
vieren,  das  der  Weber:  865  bez.  556  Meister  mit  1804  bez. 
1185  Arbeitern,  ist  überhaupt  stark  im  Niedergang  be- 
griffen (in  den  letzten  5 Jahren  um  über  25  pCt.  der  be- 
schäftigten Personen),  bei  den  drei  anderen  ist  dies  nicht 
der  Fall.  Welche  Gründe  hier  auf  den  Rückgang  der 
Innungsbetriebe  gewirkt  haben,  das  lässt  sich  nach  den  vor- 
liegenden Zahlen  nicht  entscheiden.  — Bei  den  übrigen  7 
Gewerben,  die  gleichfalls  Meister  und  Arbeiter  im  Abnehmen 
begriffen  zeigen,  gehen  doch  erstere  in  stärkerem  Maasse 
herab,  sodass  die  Betriebsgrösse  sich  erhöht.  Hierher  ge- 
hören die  Töpfer,  Klempner:  404  bez.  336  Meister  mit  1169 
bez.  1110  Arbeitern,  Schlosser:  552  bez.  414  Meister  mit 
2064  bez.  2056  Arbeitern,  Buchbinder  316  bez.  234  Meister 
mit  1369  bez.  1048  Arbeitern,  Bürstenmacher,  Schuhmacher: 
2145  bez.  1797  Meister  mit  2313  bez.  2077  Arbeitern,  Maurer: 
126  bez.  111  Meister  mit  3386  bez.  3028  Arbeitern.  — Die 
übrigen  17  Berufe  endlich,  also  von  den  überhaupt  be- 
sprochenen 34  die  volle  Hälfte,  verhalten  sich  ebenso  wie 
der  Durchschnitt,  d.  h.  obwohl  die  Meister  weniger  werden, 
beschäftigen  sie  doch  in  ihrer  Gesammtheit  eine  grössere 
Arbeiterzahl.  Das  sind  die  Gewerbe  der  Zinn-,  Blei-  und 
Zinkbereitung:  238  bez.  195  Meister  mit  1576  bez.  1587  Ar- 
beitern. nicht  spezialisirte  Eisenverarbeitung,  Wagenbau. 
Posamentiere,  Sattler:  218  bez.  186  Meister  mit  582  bez. 
625  Arbeitern,  Tapeziere:  409  bez.  356  Meister  mit  662  bez. 
729  Arbeitern,  Tischler:  1090  bez.  941  Meister  mit  4697 
bez.  5791  Arbeitern,  Korbflechter,  Drechsler:  288  bez.  278 
Meister  mit  903  bez.  1080  Arbeitern,  Lackirer  und  Vergolder, 
Fleischer  und  Schlächter:  578  bez.  571  Meister  mit  1271  bez. 
1608  Arbeitern,  Schneider;  1768  bez.  1643  Meister  mit  3138 
bez.  3148  Arbeitern,  Handschuhmacher,  Barbiere  und  Fri- 
seure: 782  bez.  768  Meister  mit  896  bez.  991  Arbeitern, 
Glaser,  Dachdecker,  Schornsteinfeger. 

Die  stärkste  Zunahme  der  Meister  unter  den  grösseren 
Gewerken  haben  die  Maler,  um  35  pCt.,  der  Arbeiter  die 
Verfertiger  physikalischer  und  chirurgischer  Instrumente, 
um  103  pCt.,  erfahren.  Unter  den  Gewerben  mit  weniger  als 
50  Innungsmeistern  sind  anscheinend  neue  Innungsbildungen 
vor  sich  gegangen  in  der  Papierverarbeitung  1885: 
7 Meister  mit  74,  1890:  14  mit  263  Arbeitern,  in  der  Holz- 
zurichtung 4 Meister  mit  20  bez.  13  mit  119  Arbeitern,  der 
chemischen  Industrie  0 bez.  8 Meister  mit  21  Arbeitern,  bei 
den  Ofensetzern  0 bez.  3 Meister  mit  18  Arbeitern,  bei  den 
Stuckateuren  5 Meister  mit  7 bez.  10  mit  86  Arbeitern,  bei 
den  Gas-  und  Wasseranlegern  0 bez.  45  Meister  mit  554 
Arbeitern,  bei  den  Druckereien  12  Meister  mit  210  bez.  41 
mit  1 544  Arbeitern,  bei  den  künstlerischen  Betrieben 
5 Meister  mit  13  bez.  11  mit  117  Arbeitern.  Diese  Neu- 
gründungen haben  den  besprochenen  Rückgang  des 
Innungswesens  nicht  aufhalten  können,  lassen  aber  den 


No.  50. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


595 


Niedergang  der  bestehenden  Innungen  noch  erheblicher 
erscheinen. 

Den  ausgeprägtesten  Grossbetrieb  — mehr  als  10  Ar- 
beiter auf  das  Innungsmitglied  — haben  jetzt  nach  der  letz- 
ten Volkszählung  die  Industrie  der  Steine  und  Erden: 
30  Innungsmitglieder  mit  1242  Arbeitern,  der  Maschinenbau: 
34  Mitglieder  mit  622  Arbeitern,  die  Industrie  der  Ileiz- 
und  Leuchtstoffe:  20  Mitglieder  mit  283  Arbeitern,  die 
Spinnstofffabrikation:  13  Mitglieder  mit  299  Arbeitern,  die 
Posamentenfabrikation,  die  Papierfabrikation,  die  Stein- 
setzer: 22  Mitglieder  mit  359  Arbeitern,  die  Gas-  und 
Wasseranleger,  Druckereien  und  die  künstlerischen  Betriebe. 
Den  ausgeprägtesten  Kleinbetrieb  — nicht  mehr  Arbeiter 
als  Meister  — haben  die  Fischerei  und  die  Wasch-  und 
Badeanstalten. 

Ausserhalb  der  Gewerbetreibenden  im  engeren  Sinne 
ist  für  1890  auch  die  Innungszugehörigkeit  in  Handel  und 
Verkehr  festgestellt.  Im  Handel  ergaben  sich  88  Innungs- 
mitglieder mit  342  Arbeitern,  im  Hausirgewerbe  1 Mitglied 
mit  8 Arbeitern,  im  Landstrassen-  und  Stadtverkehr  141 
Mitglieder  mit  807  Arbeitern,  in  der  Beherbergung  144  Mit- 
glieder mit  840  Arbeitern,  in  der  Schankwirthschaft  222 
Mitglieder  mit  767  Arbeitern.  Mit  diesen  zusammen  kon- 
statirt  die  Zählung  von  1890  in  Berlin  12615  Mitglieder  von 
Innungen  mit  48  774  Arbeitern. 

Berlin.  Karl  Thiess. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 


Englische  Berufsstatistik. 


Soeben  ist  der  dritte'  Band  des  englischen  „Census 
Return“  von  1891  erschienen,  der  u.  a.  die  Berufsstatistik 
für  England  und  Wales  enthält.  Die  Gesammtbevölkerung 
von  England  und  Wales  betrug  zur  Zeit  der  Zählung 
29002525,  und  von  dieser  werden  12899484  oder  ca.  44  pCt. 
als  in  verschiedenen  Berufen  thätig  ausgewiesen.  Unter 
den  16113000  als  unbeschäftigt  Klassirten  befinden  sich 
4917000  Ehefrauen,  die  jedoch  als  Dienstboten  beschäftigt 
sind,  9488000  Kinder  unter  15  Jahren  und  877000  Personen 
im  Alter  von  mehr  als  65  Jahren,  so  dass  sich  die  Zahl  der 
erwachsenen  Unbeschäftigten  auf  eine  sehr  geringe  Zahl 
reducirt.  Von  den  12899484  Beschäftigten  entfallen  8883254 
auf  männliche  und  4016230  auf  weibliche  Personen,  die  sich 
in  folgende  Altersklassen  theilen: 


Alter 

Personen 

männliche 

weibliche 

bis 

10  Jahre . . . 

681  403 

419  209 

262  194 

15  „ . . . 

2 480  1 1 1 

1 395  244 

1 084  867 

20  „ . . . 

2 035  512 

1 222  765 

812  747 

25  „ . . . 

2 805  362 

2 049  010 

756  352 

35  „ . . . 

2 001  769 

1 571  410 

430  359 

45  „ . . . 

1 472  877 

1 142  031 

330  846 

55  „ . . . 

907  146 

690  692 

216  454 

)) 

65  „ . . . 

515  304 

392  893 

122  41 1 

12  899  484 

8 883  254 

4 016  230 

Im  Vergleiche  zum  Ergebnisse  der  beiden  letzten  Volks- 
zählungen gestalten  sich  diese  Hauptsummen  folgender- 
maassen : 


1891 

1881 

1871 


Beschäftigte 
Personen  männliche 


Gesammt- 

bevölkerung 

29  002  525 
25  974  439 
22  712  266 


12  899  484 
1 1 187  564 
10  593  466 


8 883  254 
7 783  646 
7 270  186 


weibliche 

4 016  230 
3 403  918 
3 323  280 


Eine  bemerkenswerthe  Thatsache  bildet  die  unverhält- 
nissmässige  Steigerung  der  Arbeitsthätigkeit  der 
weiblichen  Bevölkerung.  Wie  aus  der  Einzelstatistik 
hervorgeht,  weitet  sich  das  Feld  weiblicher  Berufsthätigkeit 
stetig  aus.  Wir  geben  blos  einige  der  Hauptgruppen  zum 
Beispiel: 


1891 

1881 

Prozentueller 

Zuwachs 

Landwirthschaft  und 
Fischerei: 

männliche  .... 

1 284  919 

1 318  344 

2,5 

weibliche 

52  026 

64  840 

19.8 

Handelsgewerbe : 

männliche  .... 

1 364  377 

960  661 

42,02 

weibliche 

35  358 

19  467 

81.6 

Industriegewerbe : 

männliche  .... 

5 495  446 

4 795  1 78 

14,6 

weibliche 

1 840  898 

1 578  189 

16,6 

In  den  weniger  deutlich  präcisirten  Gruppen  der 
„Professional  Class“  beträgt  die  procentuelle  Steigerung 
weiblicher  Thätigkeit  67,4  pCt.  gegen  32,5  pCt.  der  männ- 
lichen. Im  Uebrigen  ist  die  Vergleichbarkeit  der  ver- 
schiedenen Aufnahmen  bei  der  grossen  Zahl  der  schwer  in 
Hauptgruppen  einzutheilenden  Berufe  mit  Vorsicht  zu 
nehmen. 

Mit  Uebergehung  der  Daten  betreffs  der  freien  Berufe 
und  Gesindedienste  geben  wir  die  besonderen  Daten  für 
die  erwähnten  drei  Hauptgruppen.  Die  im  I Iandelsgewerbe 
Beschäftigten  sind  in  zwei  Hauptgruppen  getheilt:  die 

Händler,  Banquiers  etc.  und  ihre  Angestellten,  während  die 
andere  Gruppe  die  Transportgewerbe  umfasst.  In  ersterer 
sind  1891  416365  gegen  316865  in  1881  beschäftigt  gewesen ; 
im  Transportgewerbe  waren  thätig: 


1891 

1881 

auf  Eisenbahnen  . . . . 

. 186  774 

139  408 

auf  Strassen 

. 366  605 

167  232 

zu  Wasser 

. 208  443 

183  984 

in  Lagerräumen 

. 27  504 

32  026 

in  Botendiensten  etc.  . 

. 194  044 

140613 

983  370 

663  263 

Die  starke  Zunahme  im  Strassentransportgewerbe  mag 
theilweise  auf  andere  Klassifizirung  der  Kutscher,  Grooms 
u.  s.  w.  im  Jahre  1881  zurückzuführen  sein,  theilweise 
dürfte  jedenfalls  die  starke  Zunahme  der  Strassenbahnen 
und  der  Omnibusverkehr  von  Einfluss  gewesen  sein. 

Die  im  Industriegewerbe  beschäftigten  Personen  ver- 
theilen sich  auf  folgende  Hauptbranchen: 


Klasse 

1891 

1881 

Buchdruckerei  etc 

145 

307 

105 

042 

Maschinenindustrie  .... 

342 

231 

267 

976 

Hauseinrichtung 

820 

582 

786 

660 

Wagenbau 

108 

780 

87 

174 

Schiffbau  

70 

517 

54 

080 

Chemische  Industrie  . . . 

56 

047 

43 

015 

Tabakindustrie 

31 

141 

22 

175 

Nahrungsmittelindustrie  . 

797 

989 

629 

371 

Textilindustrie 

1 128 

589 

1 053 

648 

Bekleidungsindustrie  . . . 

1 099 

833 

981 

105 

Thierische  etc.  Stoffe  . . 

76 

566 

68 

202 

Vegetab.  „ . . 

196 

889 

166 

745 

Mineral.  „ . . 

1 503 

225 

1 277 

592 

Nicht  specificirt 

958 

648 

830 

582 

7 336 

344 

6 373 

367 

Ohne  hier  auf  Einzelheiten  eingehen  zu  können,  sei  im 
folgenden  mit  Rücksicht  auf  die  Bedeutung  der  englischen 
Textilindustrie  die  bezügliche  Berufsstatistik  mitgetheilt: 


Schafwolle  und  Kammgarn 

1891 

1881 

männl.  . . 

1 19  087 

108  371 

weibl.  . . 

135  498 

124  885 

Seide 

männl.  . . 

18  750 

21  455 

weibl.  . , 

32  677 

42  122 

Baumwolle  und  Flachs 

männl.  . . 

263  485 

231  147 

weibl.  . . 

373  865 

355  323 

Hanf  und  andere  Fasern 

männl.  . . 

13  715 

14  070 

weibl  . . 

8 701 

8 401 

Gemischt  oder  nicht  specificirt 

männl.  . . 

85  551 

87  981 

weibl.  . . 

77  260 

59  893 

Im  andern  wichtigen  Industriezweig,  dem  Bergbau, 
war  der  Zuwachs  weit  grösser;  er  betrug  volle  25  pCt. 
Auf  andere  Einzelheiten  kommen  wir  noch  gelegentlich 
zurück. 


596 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  50. 


Gesetzentwurf  zur  Erleichterung  von  Stadterweite- 
rungen. Der  Antrag  Adickes,  betreffend  Stadterweiterungen 
und  Zonenenteigungen  ist  in  der  letzten  Session  des  preussi- 
schen  Landtages  zwar  vom  Herrenhause  durchberathen 
worden,  aber  im  Abgeordnetenhause  unerledigt  geblieben. 
Nach  Mittheilungen  der  Tagesblätter  sind  gegenwärtig,  um 
die  Stellungnahme  der  Staatsregierung  zu  dem  Gesetz- 
entwurf  vorzubereiten,  die  Regierungspräsidenten  durch  Er- 
lass der  Minister  des  Innern  und  der  öffentlichen  Arbeiten 
ersucht  worden,  sich  zu  dem  Entwurf  gutachtlich  zu  äussern. 

Gesetz  über  das  Auswanderungswesen.  Der  Gesetz- 
entwurf über  die  Regelung  des  Auswanderungswesens,  der 
dem  letzten  Reichstage  vorgelegt  worden  war,  aber  nicht 
mehr  erledigt  worden  ist,  soll  nach  einer  offiziösen  Meldung 
in  veränderter  Gestalt  den  jetzigen  Reichstag  wieder  be- 
schäftigen Bei  der  Umarbeitung  sollen  namentlich  die  von 
der  polizeilichen  Erschwerung  der  Auswanderung  handeln- 
den Bestimmungen  abgeändert  werden.  Es  wäre  zu  wün- 
schen. dass  diese  Nachricht  sich  als  richtig  erweist,  denn 
gerade  diese  Bestimmungen  machten  ja  in  der  That  den 
früheren  Entwurf  von  vorn  herein  unannehmbar. 

Zur  Organisation  des  Arbeitsnachweises  in  Preussen. 

Wie  von  dem  Regierungs-Präsidenten  in  Liegnitz,  Prinzen 
Handjery,  dem  Vorstande  des  Landwirthschaftlichen  Central- 
vereins für  Schlesien  mitgetheilt  worden  ist,  sind  auf  die 
von  ihm  ausgegangene  Anregung  bisher  in  den  Städten 
Bunzlau,  Freystadt,  Grünberg,  Greiffenberg,  Haynau,  Hirsch- 
berg, Hoyerswerda,  Lauban,  Liebau,  Lüben,  Muskau,  Neu- 
salz, Neustädte],  Polkwitz,  Pribus  und  Sagan  kommunale 
Arbeitsnachweisstellen  zu  dem  Behufe,  den  arbeitsuchenden 
Personen  eine  Arbeitsgelegenheit  unentgeltlich  nachzuweisen, 
errichtet  worden.  Mit  Rücksicht  darauf,  dass  bei  weitem 
der  grösste  Theil  der  arbeitslosen  Elemente  vom  Lande 
stammt,  und  auch  nicht  zu  erwarten  ist,  dass  sämmtlichen 
arbeitslosen  Personen  in  den  Städten  eine  Arbeitsgelegen- 
heit nachgewiesen  werden  kann,  würde  es  sowohl  im 
Interesse  der  Städte  als  auch  des  platten  Landes  liegen, 
wenn  wenigstens  ein  Theil  dieser  Personen  ihrer  früheren 
Arbeit  in  landwirthschaftlichen  Betrieben  wieder  zugeführt 
werden  könnte.  Der  Regierungs -Präsident  bringt  demge- 
mäss in  Vorschlag,  seitens  der  landwirthschaftlichen  Vereine 
Meldestellen  für  Arbeitgeber,  die  Arbeiter  für  landwirth- 
schaftliche  Betriebe  zu  engagiren  wünschen,  einzurichten, 
und  diese  Meldestellen  in  ständige  Verbindung  mit  den 
nächsten  städtischen  Arbeitsnachweisstellen  zu  setzen,  um 
auf  diese  Weise  eine  Ueberführung  der  überschüssigen 
Arbeitskräfte  von  den  Städten  in  die  landwirthschaftlichen 
Betriebe  zu  ermöglichen.  Diesen  Vorschlag  des  Regierungs- 
präsidenten, durch  dessen  Ausführung  bei  entsprechender 
Benutzung  der  Arbeitsnachweis-  und  der  Meldestellen  in 
mancher  Hinsicht  ein  günstiger  Einfluss  auf  die  Arbeiter- 
verhältnisse zu  erhoffen  wäre,  bringt  jetzt  der  Vorstand  des 
Centralvereins  zur  Kenntniss  der  landwirthschaftlichen  Ver- 
eine mit  dem  Ersuchen,  die  Einrichtung  von  Meldestellen 
für  Arbeitgeber  in  Erwägung  nehmen  zu  wollen  Der 
Regierungs -Präsident  hat  sich,  falls  derartige  Meldestellen 
errichtet  werden  sollten,  bereit  erklärt,  die  Verwaltung  der 
städtischen  Arbeitsnachweisstellen  mit  entsprechender  An- 
weisung zu  versehen. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Der  englische  Kohlengräberausstand.  Noch  halten 
die  Bergleute  der  mittelenglischen  Bundesbezirke  aus  im 
Widerstande  gegen  die  Versuche  der  Grubenbesitzer,  eine 
Lohnherabsetzung  zu  erzwingen,  doch  machen  sich  schon 
die  Wirkungen  der  beginnenden  Noth  an  vielen  Orten 
unter  den  Arbeiterfamilien  bemerkbar  Mit  der  Noth  und 
der  Besorgniss.  schliesslich  doch  noch  zum  Nachgeben  ge- 
zwungen zu  sein,  steigt  denn  auch  die  Erbitterung,  und  so 
ist  es  erklärlich,  dass  auch  in  dem  vorzüglich  organisirten 
Mittelengland,  wie  anfänglich  in  dem  schlecht  organisirten 
Süd-Wales,  es  zu  Krawallen  gekommen  ist.  In  Derby- 


shire  sowohl  wie  in  Yorkshire  haben  die  Striker  mit 
Gewalt  die  Wiederaufnahme  der  Arbeit  in  einzelnen  Gruben 
verhindert,  Strikebrecher  sind  geprügelt,  Baulichkeiten  und 
Maschinen  sind  zerstört  worden.  In  Nord-Stafford- 
shire,  wo  die  Grubenarbeiter  sich  bereit  erklärt  hatten, 
die  Arbeit  vorläufig  wieder  aufzunehmen,  sofern  die  Gruben- 
besitzer auf  die  sofortige  Herabsetzung  der  Löhne  von 
25  pCt.  verzichten  und  die  eventuelle  Reduction  weiteren 
Verhandlungen  zwischen  den  Contrahenten  überlassen 
wollten,  lehnten  die  Grubenbesitzer  jedwedes  Entgegen- 
kommen ab  Die  Arbeiter  entschlossen  sich  darauf  zu 
weiterem  Widerstande,  so  dass  Aussichten  auf  ein  gegen- 
seitiges Uebereinkommen  geschwunden  sind  und  der  Aus- 
hungerungsprozess seinen  Verlauf  nehmen  wird.  In  den 
benachbarten  „Potteries“,  den  Töpfereibezirken,  hat  der 
durch  den  Strike  herbeigeführte  Kohlenmangel  bereits  zum 
Stillstand  so  vieler  Fabriken  geführt,  dass  etwa  30  000 
Arbeiter  verschiedener  Berufszweige  arbeitslos  geworden 
sind.  Bisher  haben  derartige  Erscheinungen  aber  auf  die 
Entschlüsse  der  Grubenbesitzer  noch  keine  Rückwirkung 
auszuüben  vermocht. 

ln  Schottland,  wo  die  vordem  schlechter  als  die 
mittelenglischen  Kohlengräber  gestellten  Bergleute  ver- 
schiedenenorts  bereits  eine  Erhöhung  der  Löhne  erzielen 
konnten  — so  in  Lanark  und  Ayrshire  — , ist  es  in  anderen 
Bezirken  zu  einer  Verständigung  mit  den  Grubenbesitzern 
gekommen.  In  Mittel-  und  Ost-Lothium  (bei  Edinburg) 
haben  die  Arbeiter  durch  Abstimmung  sich  mit  knapper 
Mehrheit  entschieden,  die  Frage  der  Lohnerhöhung  um 
20  pCt.  gemeinschaftlich  mit  den  Grubenbesitzern  einem 
Schiedsgericht  zu  überweisen.  In  Fife  und  Clackmannan 
hat  eine  Mehrheit  von  1860  Stimmen  sich  mit  der  an- 
gebotenen Lohnerhöhung  von  12  7 2 pCt.  einverstanden 
erklärt. 

In  Süd-Wales  geht  der  Strike  seinem  Ende  entgegen. 
Nur  etwa  20  pCt.  der  Bergleute  sollen  noch  im  Ausstande 
verharren.  Doch  hat  die  empfindliche  Lehre  die  Wallisen  ' 
zu  der  Erkenntniss  gebracht,  dass  sie  nur  im  Einvernehmen 
und  Bunde  mit  den  übrigen  Bergleuten  Grossbritanniens 
eine  Verbesserung  ihrer  Lage  erzielen  können.  Die  „glei- 
tende Lohnscala“  ist  völlig  in  Missachtung,  gekommen.  Eine 
grosse  Bergarbeiterversammlung  in  Pontypridd  hat  sich  , 
dafür  erklärt,  künftig  die  Gewerkspolitik  der  mittelengli- 
schen Bundesbezirke  nachzuahmen.  Voraussichtlich  wird  , 
es  also  wohl  zum  Anschluss  von  Süd -Wales  an  den  Bund 
kommen. 

! 

Lohnbewegung  im  Kohlenbecken  von  Pas-de  Calais. 

Die  Strikebewegung  der  englischen  Kohlenarbeiter  scheint 
sich  auch  nach  Frankreich  verpflanzen  zu  wollen.  Wenig- 
stens kommt  aus  Lens,  dem  Sitze  des  Grubenarbeiter- 
Verbandes  von  Pas-de-Calais,  die  Nachricht,  dass  sich  unter 
den  Arbeitern  dieses  Kohlenbeckens  eine  grosse  Miss- 
stimmung kundgiebt,  die  namentlich  der  seit  einiger  Zeit 
erfolgten  Lohnverminderung  zuzuschreiben  sei.  Angesichts 
dieser  Lage  hat  nun  das  Leitungskomite  des  Verbandes, 
an  dessen  Spitze  die  Abgeordneten  Basly  und  Lamendin, 
ehemalige  Grubenarbeiter,  stehen,  für  nächsten  Sonntag, 

10.  September,  eine  Konferenz  der  Delegirten  sämmtlicher 
Verbandssektionen  einberufen,  um  über  die  Mittel  und 
Wege  zur  Beseitigung  der  eingerissenen  Uebelstände  Be- 
rathung  zu  pflegen.  Man  glaubt  nicht,  dass  die  Gruben- 
gesellschaften eine  Lohnerhöhung  bewilligen  werden,  weil 
diese  der  Ansicht  sind,  die  Arbeiter  brauchten  nur  Ueber- 
schichten  zu  machen,  um  höhere  Löhne  zu  gewinnen,  und 
dass  hiezu  der  englische  Kohlengräberstrike,  den  man 
gleichzeitig  benutzen  müsste,  um  den  englischen  Kohlen 
die  französische  Kundschaft  zu  entziehen,  die  günstigste 
Gelegenheit  biete.  Die  Leitung  des  Grubenarbeiter- 
Verbandes  ist  aber  ganz  anderer  Meinung  und  hat  darum 
auch  gleich  bei  Ausbruch  des  englischen  Kohlenstrike  die 
Parole  ausgegeben:  nicht  mehr  Kohle  als  das  normale 
Quantum  zu  fördern.  Und  um  dieser  Parole  noch  mehr 
Nachdruck  zu  verleihen,  hat  der  Generalsekretär  des 
Grubenverbandes,  Abgeordneter  Lamendin,  an  den  ver- 
schiedenen Grubenorten  Konferenzen  abgehalten,  in  welcher 
er  den  Bergleuten  auseinandersetzte,  dass  es  sie  unberührt 
lassen  müsse,  wenn  die  Industriellen,  die  ihren  Kohlen- 


No.  50. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRAI  BLATT. 


597 


bedarf  sonst  in  England  decken,  nun  keine  Kohlen  hätten, 
oder  sie  theurer  bezahlen  müssten.  Sie  sollten  sich  nicht 
von  den  ihnen  angebotenen  momentanen  Vortheilen  ver- 
führen lassen  und  mehr  Kohle  als  früher  fördern,  weil  sie 
dadurch  nicht  nur  zu  Verräthern  an  ihren  englischen  Kame- 
raden und  zu  Mitschuldigen  ihrer  eigenen  Ausbeuter  wür- 
den, sondern  auch  bald  die  Ersten  wären,  die  einem  solchen 
Vorgehen  zum  Opfer  fielen,  da,  wenn  es  den  englischen 
Grubenbesitzern  gelänge,  die  Löhne  herabzusetzen,  die 
französischen  gleich  nachfolgen  würden,  und  dass  es  dem- 
nach schon  ihr  eigenes  Interesse  erfordere,  den  englischen 
Grubenarbeitern  in  deren  Kampfe  beizustehen  und  nicht 
mehr  Kohle  als  das  normale  Quantum  zu  fördern.  In 
diesem  Sinne  hat  das  Leitungskomite  des  Grubenarbeiter- 
Verbandes  auch  einen  Aufruf  an  alle  Verbandsmitglieder 
ergehen  lassen,  deren  Zahl,  wie  hier  gleich  bemerkt  sei, 
ca.  40  000  beträgt.  Nach  all'  dem  dürfte  es  den  Gruben- 
gesellschaften wohl  schwer  werden,  sich  einer  Lohnforde- 
rung gegenüber  ganz  einfach  ablehnend  zu  verhalten  und 
zwar  um  so  schwerer,  als  auch  die  belgischen  Kohlen- 
arbeiter eine  Lohnerhöhung  verlangen  und  deren  Ab- 
lehnung durch  einen  Strike  zu  beantworten  gedenken.  In- 
dess  dürfte  es  im  Kohlenbecken  von  Pas-de-Calais  nur  dann 
zu  einem  Strike  kommen,  wenn  die  Grubendirektionen  sich 
weigerten,  mit  dem  Verband  der  Grubenarbeiter  in  Unter- 
handlung zu  treten,  oder  diese  Verhandlungen  zu  keinem 
günstigen  Ergebniss  führten.  Von  Entscheidung  hierfür 
wird  aber  jedenfalls  die  sonntägige  Konferenz  der  Gruben- 
arbeiter-Delegirten  sein. 


Handwerkerfragen. 

Deutscher  Gewerbekammertag  i.  J.  1893.  Die  Ge- 
werbekammer in  Nürnberg  versendet  ein  Einladungsschreiben 
zu  einer  Versammlung  des  Gewerbekammertages  in  Eisenach 
am  12.  und  13.,  event.  14.  Oktober  d.  J.  Die  Versammlung 
wird  sich  hauptsächlich,  vielleicht  ausschliesslich,  mit  den 
Vorschlägen  des  preussischen  Handelsministers  für  die 
Organisation  des  Handwerks,  sowie  für  die  Regelung  des 
Lehrlingswesens  im  Deutschen  Reich  zu  beschäftigen  haben. 
Als  die  hauptsächlichsten  Einzelfragen,  in  die  der  Gegen- 
stand der  Verhandlung  zu  gliedern  sein  wird,  werden  ge- 
nannt: A.  Organisation  des  Handwerks.  1.  Grundlage  und 
allgemeiner  Charakter  der  Organisation ; die  Fachgenossen- 
schaften; 2.  Name,  Zuständigkeit  und  Zusammensetzung 
der  zu  errichtenden  Kammern;  3.  Aufgaben  und  Befugnisse 
derselben  (Staatskommissar);  4.  Betheiligung  der  Arbeit- 
nehmer an  der  Organisation;  5.  Stellung  der  Kammern  zu 
den  Innungen  und  Innungsverbänden;  6.  Verhältniss  der 
bestehenden  Kammern  zu  der  neuen  Organisation;  7.  Der 
Kostenpunkt.  B.  Vorschläge  zur  Regelung  des  Lehrlings- 
wesens im  Handwerk.  1.  Nr.  I bis  9 der  V01  Schläge; 

2.  Nr.  10  der  Vorschläge.  Ausserdem  hat  die  Handels- 
und Gewerbekammer  Zittau  einen  Antrag  in  Betreff  der 
Führung  des  Meistertitels  und  einen  weiteren  über  die 
Sonntagsruhe  angemeldet. 

Verbandstag  der  württembergischen  Gewerbevereine. 

Am  4.  September  fand  in  Cannstatt  der  35.  Verbandstag 
der  württembergischen  Gewerbevereine  statt.  Aus  den  Ver- 
handlungen sei  das  Folgende  hervorgehoben.  Der  wich- 
tigste Punkt  der  Tagesordnung  betraf  „Die  Vertretung  der 
Interessen  des  Kleingewerbestandes  durch  Errichtung  eigent- 
licher Gewerbekammern.“  Zu  Grunde  gelegt  waren  fol- 
gende von  der  Centralstelle  für  Handel  und  Gewerbe  (bis 
auf  Punkt  7)  angenommene  Leitsätze: 

„1.  Für  die  Vertretung  der  Interessen  von  Handel  und 
Gewerbe  sind  als  einheitliche  Verbände  die  Handels- 
und Gewerbekammern  beizubehalten. 

2.  Die  bestehende  Zusammensetzung  der  Handels-  und 
Gewerbekammern  ist  dahin  auszubauen,  dass  minde- 
stens ein  Drittel  ihrer  Mitglieder  dem  Gewerbestand 
angehört.  Das  bisherige  Recht  der  Beiwahl  ist  auf- 
recht zu  erhalten.  Für  einzelne  Berathungen  ist  fa- 
kultative Trennung  in  Sektionen  vorzusehen. 


3.  Wahlberechtigt  ist  jeder  Gewerbesteuerp  nichtige  (ohm- 
vorherige  Anmeldung  zur  Wählerliste). 

4.  Die  Wahl  zur  Handels-  und  Gewerbekammer  erfolgt 
getrennt,  so  dass  in  gesonderten  Wahlgängen 

a)  die  Vertreter  der  ins  Handelsregister  Eingetrage- 
nen und 

b)  diejenigen  der  übrigen  Gewerbesteuerpflichtigen 
gewählt  werden  und  zwar  so,  dass  jede  Wählerab- 
theilung nur  ihre  eigenen  Vertreter  wählt. 

5.  Die  Gesammtzahl  der  in  jedem  Kammerbezirk  zu 
wählenden  Vertreter  ist  durchgängig  zu  vermehren. 

6.  Die  Zahl  der  Abstimmungsbezirke  ist  dementsprechend 
zu  erhöhen. 

7.  Die  Gesammtkosten  für  die  Handels-  und  Gewerbe- 
kammern sind  aus  Staatsmitteln  zu  bestreiten.“ 

Der  Referent  Schindler — Göppingen  sprach  sich  für 
die  Beibehaltung  der  Handels-  und  Gewerbekammern  aus; 
es  sei  schwer,  die  Grenze  zu  ziehen,  auch  würde  eine 
Trennung  zur  Einseitigkeit  und  zur  Verschärfung  der  Gegen- 
sätze führen.  Die  Zusammensetzung  der  Kammern  müsse 
aber  eine  den  Verhältnissen  mehr  entsprechende  werden. 
Wahlberechtigt  sollen  künftig  alle  Gewerbesteuerpflichtigen 
werden.  Schliesslich  wünscht  Redner,  dass  die  Gesammt- 
kosten (etwa  36  Pf.  auf  den  Kopf)  vom  Staate  übernommen 
würde.  Ober-Regierungsrath  Schicker  (als  Vertreter  der 
Centralstelle  für  Handel  und  Gewerbe)  erwähnt,  dass  das 
Ministerium  des  Innern  die  vorliegenden  Fragen  schon  seit 
2 Jahren  erörtere.  Die  Centralstelle  habe  die  vom  Vor- 
redner dargelegten  Vorschläge  gemacht;  man  könne  übri- 
gens hier  nur  einen  allgemeinen  Plan  diskutiren.  Wenn 
auch  vom  preussischen  Handelsminister  eine  reichsgesetz- 
liche Regelung  angestrebt  werde,  könne  man  trotzdem  die 
vorliegenden  Anträge  behandeln,  denn  beide  Projekte  seien 
unendlich  verschieden.  Das  preussische,  das  zu  seinem 
Erstaunen  nirgends  besonders  freundlich  aufgenommen 
worden  sei  . wohl  weil  es  Niemandes  Wünsche 
ganz  erfülle , wolle  Fachgenossenschaften , die  Ver- 
waltungsorgane seien,  während  die  Centralstelle  Vorschläge 
über  die  anderweitige  Gestaltung  der  konsultativen  Organe 
des  Gewerbes  mache.  Der  Redner  meint,  die  preussischen 
Vorschläge  könnten,  weil  sie  unendlich  wichtig  und  tief- 
greifend seien,  heute,  wo  man  unvorbereitet  sei,  nicht  dis- 
kutirt  werden.  Man  solle  sich  vielmehr  mit  der  Frage  be- 
schäftigen, was  zu  geschehen  habe,  wenn  keine  Regelung 
durch  das  Reich  eintrete.  Nach  Ansicht  des  Redners 
könnten  übrigens  beide  Reformen  neben  einander  hergehen. 
Was  die  Zusammensetzung  der  Kammern  betrifft,  so  spricht 
der  Vertreter  der  Regierung  für  Durchführung  möglichst 
gerechter  Grundsätze  unter  Vermeidung  jedes  Schematis- 
mus. Entschieden  ist  er  indess  gegen  die  Abwälzung  der 
Kosten  auf  den  Staat,  die  auch  von  der  Centralstelle  keines- 
wegs befürwortet  sei;  falls  man  zu  ihr  übergehe,  werde  die 
Selbstständigkeit  der  Kammern  aufhören  (Zustimmung), 
denn  wenn  der  Staat  zahle,  wolle  er  dreinreden.  Er  be- 
fürwortet die  Repartition  nach  Maassgabe  der  Gewerbe- 
steuern. 

Es  folgt  nun  eine  lange  Debatte,  in  der  die  Vertreter 
verschiedener  Gewerbevereine  zum  Worte  kommen. 

Nachdem  Punkt  7 die  Fassung  erhalten  hat,  dass 
sämmtliche  Kosten  nach  Maassgabe  der  Gewerbesteuer  um- 
gelegt werden  sollen,  werden  die  einzelnen  Anträge’  mit 
grosser  Stimmenmehrheit  angenommen. 


Frauenfrage. 

Frauenarbeit  im  russischen  Kunstgewerbe. 

Ueber  den  sich  allmälig  vollziehenden  Umschwung  in 
den  Bestrebungen  der  russischen  Frauenwelt,  der  von 
nicht  zu  unterschätzender  Bedeutung  für  die  sozialpolitischen 
Verhältnisse  Russlands  zu  werden  verspricht,  ist  bereits 
an  dieser  Stelle  eingehend  berichtet  worden. l)  Am  Schlüsse 

')  Vergl.  „Die  Berufsverhältnisse  der  russischen  Frauen“  in 
No.  34  des  „Sozialpolitischen  Centralblatts“  vom  22.  Mai  d.  J. 


598 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  50. 


jener  Erörterungen  war  noch  auf  ein  neues  Gebiet  hin- 
gewiesen, das  die  russischen  Frauen  letzthin  in  den  Bereich 
ihrer  Berufsthätigkeit  hineingezogen  haben,  nämlich  auf  die 
Erzeugung  kunstgewerblicher  Gebrauchsgegenstände,  auf 
das  nunmehr  näher  eingegangen  werden  soll.  Wenn  sonst 
die  Bestrebungen  der  Frauen  in  Russland,  wie  wir  gesehen 
haben,  mit  denen  der  Frauen  Deutschlands  wenig  gemein 
haben,  so  wird  der  hier  zu  erörternde  Berufskreis  der 
russischen  Frauen  auch  für  die  Frauenwelt  Deutschlands 
manches  beherzigenswerthe  haben. 

Im  europäischen  Russland,  und  in  nicht  viel  geringerem 
Maasse  auch  in  Sibirien,  haben  sich  im  Laufe  der  letzten 
Jahre  zahlreiche  sogenannte  weibliche  Industriebezirke 
herausgebildet,  in  denen  die  Frauen  sich  eifrig  am  Kunst- 
gewerbe betheiligen  und  die  Frauenarbeit  irgend  eine  be- 
stimmte Spezialität  auf  dem  Gebiete  der  kunsgewerblichen 
Erzeugnisse  betreibt.  Aus  den  verschiedenen  Landes- 
theilen  strömen  diese  Erzeugnisse  der  Frauenarbeit  nach 
den  beiden  Hauptplätzen  des  Verkehrs:  Moskau  und 

Petersburg.  Um  sich  ein  annäherndes  Bild  von  dem  Um- 
fange dieser  kunstgewerblichen  Arbeiten  zu  machen,  mögen 
sie  in  folgende  sieben  Gruppen  eingetheilt  werden:  1)  Glas- 
malerei, 2)  Schnitzerei  in  Holz  und  sonstige  kunstvolle 
Holzarbeiten,  3)  Teppiche  und  kostbare  Stoffe,  4)  Spitzen, 
5)  Lederwaaren,  6)  Näh-  und  Strickarbeiten  und  7)  Aus- 
stattungen, Kostüme  alter  Bojaren  etc.  Bevor  indessen  auf 
die  technischen  Einzelheiten  und  den  Kunst-  und  Nutzungs- 
werth dieser  kunstgewerblichen  Erzeugnisse  von  Frauen- 
hand näher  eingegangen  wird,  muss  noch  eine  andere 
moralische  und  sozialpolitische  Seite  dieser  weiblichen  Be- 
rufsthätigkeit hervorgehoben  werden. 

In  den  Vordergrund  tritt  nämlich  der  Umstand,  dass 
man  es  hier  keineswegs  mit  einer  einzelnen  bestimmten  Be- 
völkerungsklasse zu  thun  hat.  deren  weiblicher  Theil  den 
kunstindustriellen  Arbeiten  obliegt.  Die  Frauen  des  klein- 
bürgerlichen Standes  sowie  der  arbeitenden  und  bäuer- 
lichen Bevölkerung  stehen  in  dieser  ihrer  Berufsthätigkeit 
keineswegs  allein  , vielmehr  nehmen  ihre  Geschlechts- 
genossinnen aus  den  höheren  und  gebildeten  Ständen  leb- 
haften persönlichen  Antheil  daran,  legen  mit  Hand 
an  die  Arbeit  und  decken  mit  ihren  Namen  alle  Unter- 
nehmungen, gleichviel  ob  privater,  ob  staatlicher  Natur, 
zur  Förderung  und  Hebung  der  kunstgewerblichen  Frauen- 
arbeit. So  reichen  sich  in  Russland  thatsächlich  Fürstinnen 
und  Arbeiterinnen  die  Hand,  um  zu  einem  gemeinsamen 
Ziele  zu  gelangen.  Vornehmlich  sind  es  die  Grossstädte 
des  Reiches,  wo  sich  Frauenkomite’s  zur  Leitung  und 
Ueberwachung  der  kunstgewerblichen  Betriebe  der  Frauen 
gebildet  haben,  indem  von  diesen  Zentralstellen  aus  ver- 
mittelst Zweigkomite's  und  einzelner  Privatpersonen  die 
Organisation  der  Arbeiten  auf  dem  flachen  Lande  geleitet 
wird. 

Was  diese  Organisation  anbetrifft,  so  handelt  es  sich 
hierbei  nur  in  wenigen  Fällen  um  die  gewöhnliche  Fabrik- 
arbeit, bei  der  die  Arbeiterinnen  ihre  tägliche  Beschäftigung 
finden.  Es  ist  vielmehr  die  in  Russland  in  Stadt  und  Land 
stark  verbreitete  Hausindustrie,  und  nur  die  hausindustrielle 
Betriebsart  ist  es,  bei  der  die  kunstgewerblichen  Erzeug- 
nisse den  gedeihlichen  Fortgang  nehmen  konnten,  den  sie 
gegenwärtig  aufzuweisen  haben,  und  auf  den  die  russische 
Frauenwelt  stolz  sein  darf. 

Besonders  hervorgethan  haben  sich  in  jüngster  Zeit  die 
beiden  Damenkomites  von  Petersburg  und  Moskau.  Der 
Schwerpunkt  der  Organisation  liegt  in  dem'Moskauer  Damen- 
komite,  da  in  dem  Moskauer  Industriebezirk  die  weibliche 
Bevölkerung  die  meisten  und  verschiedenartigsten  haus- 
industriellen und  kunstgewerblichen  Betriebe  aufzuweisen 
haben.  Hierzu  kommt  noch,  dass  in  Moskau  und  seiner 
nächsten  Nähe,  sowie  in  den  angrenzenden  Gouvernements 
des  Innern  Russlands  sich  zahlreiche  Lehranstalten  und 
sonstige  Institute  zur  Erlernung  des  Kunstgewerbes  und  der 
Handfertigkeit  für  weibliche  Personen  befinden  neben  zahl- 
reichen Frauenklöstern,  in  denen  die  Glasmalerei  sowie  alle 
andere  Malereiarbeiten,  die  Goldstickerei  und  Fabrikation 
kostbarer  Stoffe  durch  Frauenhand  betrieben  wird. 

Die  erfolgreiche  Thätigkeit  dieser  Damenkreise  und 
der  hinter  ihnen  stehenden  grossen  Anzahl  der  Jüngerinnen 
des  Kunstgewerbes  kam  zum  besonderen  Ausdruck  anlässlich 


der  Zusammenstellung  der  russischen  Abtheilung  der  gegen- 
wärtigen Chicagoer  Weltausstellung,  auf  der  die  Erzeugnisse 
der  russischen  Frauenarbeit  im  Kunstgewerbe  zu  den  sehens- 
werthesten  Objekten  gehören  und  das  besondere  Interesse 
des  Fachmannes  wie  des  Laien  erregen.  Man  sieht  hier,  in 
harmonischer  Ordnung  sich  aneinander  reihend,  unzählige 
Gegenstände  der  Glasmalerei,  der  Teppichweberei  und  der 
Spitzenfabrikation,  der  Näh-,  Strick-  und  sonstiger  geschickter 
und  formvollendeter  Handarbeit,  prächtige  Blumenkissen, 
kostbare  Tischtücher,  Decken  und  Deckchen,  Gardinen  und 
Handtücher,  wobei  die  meisten  dieser  häuslichen  Gegen- 
stände ausser  den  figürlichen  Stickereien  auch  noch  alte 
russische  Sprüche  eingestickt  enthalten.  Die  Vorzüglichkeit 
der  Arbeit  sowie  der  Ausführung  bleibt  dieselbe,  gleichviel  ob 
sie  auf  Leinen.  Seide,  Sammet  oder  Leder  gestickt  ist.  Ob- 
wohl es  sich  hierbei  um  Gegenstände  des  täglichen  Ge- 
brauchs handelt,  so  sind  sie  doch  meist  in  das  Reich  des 
Luxus  zu  verweisen  und  finden  ihre  Abnehmer,  schon  ihrer 
hohen  Preise  wegen,  unter  den  wohlhabenden  Klassen  der 
Bevölkerung.  So  werden  sie  häufig  für  die  Einrichtung  und 
Ausschmückung  der  kaiserlichen  Schlösser,  staatlicher  Ge- 
bäude und  Kunstinstitute  sowie  privater  Prachthäuser  an- 
gekauft. Nichtsdestoweniger  finden  sich  auch  zahlreiche  Er- 
zeugnisse dieser  Frauenarbeit,  die  auch  den  minder  be- 
mittelten Bevölkerungsklassen  zugänglich  sind  und  auch  im 
einfachen  bürgerlichen  Hause  ihre  guten  Dienste  thun. 

Unzweifelhaft  ist  mit  diesen  kunstgewerblichen  Erzeug- 
nissen der  Beweis  dafür  erbracht,  wie  sehr  veranlagt  die 
russischen  Frauen  für  das  Kunstgewerbe  sind  und  welchen 
tadellosen  Geschmack,  gepaart  mit  einer  seltenen  Handfertig- 
keit, sie  dabei  bekunden.  Vortrefflich  kennen  sie  die  alt- 
russische Kunstweise,  ohne  sie  jedoch  unbedingt  anzuwenden. 
Ueberall  modernisiren  sie  das  mittelalterliche  Muster  und 
verwenden  es,  soweit  es  angeht,  mit  grosser  Geschicklich- 
keit für  die  Zwecke  der  neueren  Kunstindustrie.  Es  mag 
noch  hervorgehoben  werden,  dass  in  der  russischen  Frauen- 
welt selbst  die  Ansichten  darüber  getheilt  sind,  ob  man  es 
hier  mit  einer  Erscheinung  zu  thun  habe,  die  von  längerer 
Dauer  sein  und  sich  in  die  nächsten  Jahrzehnte  fort- 
pflanzen werde,  oder  aber  nur  mit  einer  vorübergehenden 
Anwandlung,  die  auf  die  gegenwärtige  Generation  beschränkt 
bleiben  werde.  Für  die  letzte  pessimistische  Auffassung 
spricht  allerdings  der  Umstand,  dass  die  russische  Frauen- 
arbeit früher  im  Laufe  der  Jahrhunderte  auf  kunstgewerb- 
lichem Gebiete  fast  gar  nichts  oder  nur  wenig  geleistet 
hat,  während  die  Optimistinnen  vertrauensvoll  in  die  Zu- 
kunft blicken  und  sogar  überzeugt  sind,  dass  die  kunstge- 
werblichen Meisterwerke  der  russischen  Frauenarbeit  mit 
Leichtigkeit  den  westeuropäischen  Waarenmarkt  erobern 
würden,  sobald  das  die  Zollverhältnisse  zwischen  Russland 
und  dem  übrigen  Europa  gestatten. 

Berlin.  S.  Werblunski. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Das  Arbeiterinnenschutzgesetz  des  Kantons  Zürich. 

Die  Schweiz  ist  ein  Versuchsfeld  genannt  worden, 
welches  eine  gütige  Vorsehung  den  Völkern  geschenkt,  um 
auf  demselben  die  Vehikel  des  künftigen  Fortschreitens  zu 
erproben.  Damit  ist  wohl  die  Thatsache  auf  einen  treffen- 
den Ausdruck  gebracht,  dass  Papa  Bund  die  thatendurstig- 
sten  seiner  Kinder  zuerst  auf  den  meisten  Gebieten  fröhlich 
experimentiren  lässt,  um  dann,  wenn  sich  dieselben  dabei 
die  Köpfe  nicht  eingerannt,  gemächlich  einherschreitend 
alle  seine  Söhne  der  Frucht  des  Experiments  theilhaftig 
werden  zu  lassen.  Diese  Taktik  hat  gewiss  mancherlei  für 
sich,  besonders  wenn  die  Pioniere  stramm  marschiren  und 
aus  dem  Tross  der  Nachhinkenden  wacker  nach  der  Hilfe 
der  Mutter  Helvetia  gerufen  wird,  damit  die  Zurückgebliebe- 
nen an  ihrem  starken  Arme  die  Vorauseilenden  erreichen 
und  mit  ihnen  Schritt  halten  können.  So  hat  z.  B.  die 
Schweiz  das  Projekt  der  internationalen  Fabrikgesetzgebung 
so  gründlich  als  möglich  durch  die  Kantone  auf  seine  prak- 
tische Durchführbarkeit  geprüft  und  dann  unter  Verwendung 
der  gemachten  Erfahrungen  und  in  Anlehnung  an  das  be- 


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währte  glarnerische  Vorbild  das  eidgenössische  Fabrikgesetz 
geschaffen. 

Dann  verfiel  der  Bund  auf  dieser  Strasse  wieder  in  ein 
gemüthliches  Tempo,  das  aus  guten  Gründen  manchen  Kan- 
tonen etwas  zu  langsam  erschien,  weshalb  verschiedene 
Kantone  die  Nothwendigkeit  einsahen,  den  Arbeiterschutz 
von  sich  aus  zu  ergänzen  und  zu  erweitern,  um  auch  über 
die  Arbeiter  und  Arbeiterinnen,  welche  nicht  unter  dem 
eidgenössischen  Fabrikgesetze  stehen,  den  schützenden  Arm 
der  Staatsgewalt  auszubreiten.  Der  Kanton  Glarus  ist  auch 
hierin  wieder  am  gründlichsten  verfahren.  Sein  Gesetz 
umfasst  alle  im  Kleingewerbe  beschäftigten  Arbeiter,  ohne 
Unterschied  des  Geschlechts  und  ohne  Bedingung  einer 
bestimmten  Arbeiterzahl  in  einem  Geschäfte.1)  In  dem 
Kanton  Baselstadt2)  besteht  schon  seit  10  Jahren  ein  Gesetz 
zum  Schutze  der  Arbeiterinnen.  Im  Kanton  St.  Gallen  hat 
der  Gross-Rath  in  der  Sitzung  vom  18.  Mai  1893  ein  „Ge- 
setz, betreffend  Schutz  der  Arbeiterinnen  und  die  Arbeit 
der  Bediensteten  in  Ladengeschäften  und  Wirthschaften“, 
angenommen.  Dieses  demnächst  in  Kraft  tretende  Gesetz 
findet  Anwendung  auf  alle  dem  eidgenössischen  Fabrik- 
gesetze nicht  unterstellten  Geschäfte,  in  welchen  Lehrtöchter 
oder  Mädchen  unter  18  Jahren  als  Arbeiterinnen  verwendet 
werden,  mit  Ausnahme  der  weiblichen  Personen,  die  als 
Bureauangestellte  oder  im  landwirthschaftlichen  Gewerbe 
beschäftigt  sind. 

Gegenwärtig  ist  man  im  Kanton  Zürich  mit  der 
Schaffung  eines  Arbeiterinnenschutzgesetzes  beschäftigt. 
Bereits  hat  der  Regierungsrath  den  Entwurf  eines  Gesetzes, 
„betreffend  den  Schutz  der  Arbeiterinnen“,  vollendet  und 
denselben  der  zuständigen  Behörde  als  Antrag  unterbreitet. 
Dieser  Benjamin  kantonaler  Arbeiterschutzgesetze  erstreckt 
sich  auf  alle  dem  eidgenössischen  Fabrikgesetz  nicht  unter- 
stellten Geschäfte,  in  welchen  weibliche  Personen  gegen 
Entgelt  oder  zur  Erlernung  eines  Berufes  arbeiten,  mit  Aus- 
nahme der  in  landwirthschaftlichen  Betrieben,  kaufmännischen 
Bureaux  und  im  Wirthschaftsgewerbe  beschäftigten  Arbeite- 
rinnen sowie  des  in  Ladengeschäften  ausschliesslich  zur 
Bedienung  der  Kundschaft  verwendeten  Personals.  Flierbei 
wird  der  Ausschluss  der  Arbeiterinnen  in  kaufmännischen 
Bureaux,  der  Wirthschaftsbediensteten  und  der  Laden- 
mädchen in  der  dem  Entwürfe  zur  Begründung  beigegebenen 
regierungsräthlichen  „Weisung“  ausdrücklich  als  ein  Mangel 
anerkannt,  dem  theils  durch  besondere  auf  die  Ausübung 
des  kaufmännischen  Gewerbes  bezügliche  Gesetzesvor- 
schriften abzuhelfen,  theils  durch  zweckentsprechende  Re- 
vision bereits  bestehender  Verordnungen^)  leicht  abgeholfen 
werden  könne.  Ist  schon  diese  Ausdehnung  des  Arbeiter- 
schutzes auf  eine  grössere  Zahl  von  Arbeiterinnen  sehr  zu 
begrüssen,  so  ist  dies  nicht  minder  der  Fall  bei  den  ein- 
zelnen Bestimmungen  des  vorliegenden  Entwurfs,  der  nament- 
lich mit  Bezug  auf  die  tägliche  Arbeitszeit  über  die  bezüg- 
lichen Bestimmungen  der  eidgenössischen  Gesetzgebung 
hinausgeht.  Die  Dauer  der  täglichen  Arbeitszeit,  die  in  die 
Zeit  von  Morgens  6 bis  Abends  8 Uhr  zu  fallen  hat,  darf 
nämlich  nicht  mehr  als  10,  an  Vorabenden  von  Sonn-  und 
Festtagen  nicht  mehr  als  9 Stunden  betragen.  Zu  dieser 
Reduktion  der  täglichen  Arbeitszeit  um  I Stunde  gegenüber 
dem  Ansätze  des  eidgenössischen  Fabrikgesetzes  tritt  als 
weiterer  Fortschritt  die  Festsetzung  einer  I ’/» stündigen 
Mittagspause,  welche  das  eidgenössische  Gesetz  bloss  für 
die  Frauen  verlangt,  welche  ein  Hauswesen  zu  besorgen 
haben.  Ebenso  wichtig  ist  die  Bestimmung,  dass  Mädchen 
unter  14  Jahren  weder  als  Arbeiterinnen  noch  als  Lehr- 
töchter Verwendung  finden  dürfen,  sowie  das  Verbot  der 
Arbeit  an  öffentlichen  Ruhetagen.  Das  Verbot,  den  Arbeite- 
rinnen in  Umgehung  dieses  Gesetzes  Arbeit  mit  nach  Hause 
zu  geben,  ist  wohl  nicht  minder  gut  gemeint.  Allein  die 
Durchführung  dieser  Bestimmung  dürfte  auf  erhebliche 
Schwierigkeiten  stossen,  die  schon  auf  den  ersten  Blick  ins 
Auge  fallen  müssen.  Bleibt  es  ja  den  durch  die  niedrigen 


9 Gesetz,  betreffend  Arbeiterschutz  für  den  Kanton  Glarus. 
Erlassen  von  der  Landesgemeinde  am  8.  Mai  1892. 

J)  Gesetz,  betreffend  den  Schutz  der  Arbeiterinnen,  vom 
23.  April  1883. 


3)  Verordnung  betreffend  das  Wirthschaftsgewerbe  vom 
17.  Juni  1889. 


Löhne  zur  intensivsten  Ausnützung  ihrer  Arbeitskraft  ge- 
zwungenen Arbeiterinnen  unbenommen,  sich  für  ihre  freie 
Zeit  Arbeit  aus  anderen  Geschäften  zu  verschaffen. 

Gegen  die,  die  Möglichkeit  der  Arbeitszeitverlängerung 
gewährenden  Bestimmungen,  welche  auch  in  diesem  Entwürfe 
nicht  fehlen,  ist  nicht  viel  einzuwenden,  obwohl  die  zu- 
lässigen Gründe  für  derartige  Ueberzeitbewilligungen  theil- 
weise  allzudehnbar  sind.  „Die  ernstliche  Gefährdung  der 
Konkurrenz,  die  Arbeitsüberhäufung  in  der  Saison  und  die 
Bestellungen  anlässlich  unvorhergesehener,  bestimmter  Er- 
eignisse“ sind  Begriffe,  die  in  der  Praxis  die  mannigfaltigste 
Auslegung  erfahren  müssen,  besonders  wenn  man  in  Be- 
rücksichtigung zieht,  dass  das  Recht  zur  Bewilligung  einer 
„ausnahmsweisen,  vorübergehenden  Verlängerung  der 
festgesetzten  Maximalarbeitszeit  um  täglich  höchstens 
2 Stunden,  welche  womöglich  in  die  Zeit  vor  8 Uhr 
Abends  fallen  sollen  und  sich  jedenfalls  nicht  über 
10  Uhr  Nachts  hinaus  erstrecken  dürfen“,  keine  einheit- 
liche ist.  Werden  ja  die  Ueberzeitbewilligungen  für 
6 I'age  innerhalb  Monatsfrist  von  den  Gemeindebehörden 
ertheilt.  Ebenso  verhält  es  sich  mit  der  Sonntagsarbeit, 
welche  in  dringenden  Fällen  wieder  von  den  Gemeinde- 
behörden gestattet  werden  darf,  wenn  das  betreffende 
Gesuch  durch  einen  der  4 folgenden  Gründe  motivirt  wird : 
Bestellungen  anlässlich  unvorhergesehener  bestimmter  Er- 
eignisse, drohende  Materialverderbniss,  Reparaturen,  Ver- 
hütung der  Arbeitslosigkeit  Anderer.  Immerhin  ist  die 
genaue  Anführung  der  Gründe,  aus  welchen  eine  Ueber- 
zeitbewilligung  ertheilt  werden  darf,  sowie  die  Präzisirung 
der  Fälle,  in  welchen  Sonntagsarbeit  zulässig  erscheint, 
schon  deshalb  erwähnenswerth,  als  sich  darin  das  Streben 
bekundet,  die  an  dieser  Stelle  etwas  allgemein  gehaltene 
Fassung  des  eidgenössischen  Fabrikgesetzes,  das  hierdurch 
schon  viele  Missverständnisse  hervorgerufen,  durch  eine 
bessere  zu  ersetzen  und  es  den  Behörden  zu  ermöglichen, 
unberechtigte  Gesuche  unter  gesetzlicher  Motivirung  ab- 
zuweisen. 

Dem  von  jedem  Gemeinderathe  „zur  Ueberwachung  der 
gemäss  diesem  Gesetze  zulässigen  Arbeitszeit“  zu  bezeich- 
nenden Gemeinderathsmitglied  tritt  die  örtliche  Gesundheits- 
behörde an  die  Seite  zur  Durchführung  der  Bestimmungen 
über  Schutzvorrichtungen  und  die  Arbeits-  beziehungsweise 
Unterrichtslokale,  welche  im  Verhältniss  zur  Zahl  der  darin 
Arbeitenden  hinreichend  geräumig,  hell,  trocken,  heizbar 
und  leicht  ventilirbar,  überhaupt  derart  beschaffen  sein 
sollen,  dass  die  Gesundheit  der  Arbeiterinnen  in  keiner 
Weise  beeinträchtigt  wird.  Den  Gewerbetreibenden  wird 
das  Funktioniren  dieser  örtlichen  Gesundheitsbehörden 
umsomehr  imponiren,  als  dieselben  ihren  Zweck  zunächst 
durch  Belehrung  und  Mahnung  zu  erreichen  trachten  sollen 
und  ihnen  bei  Erfolglosigkeit  dieses  Mittels  als  einziger 
Ausweg  die  Berichterstattung  an  die  Direktion  des  Innern 
bleibt. 

Die  regierungsräthliche  Motivirung  bemerkt  zu  dieser 
Bestimmung  ganz  richtig,  es  sei  wichtig,  dass  an  die  in 
verschiedenen  Gemeinden  produzirenden  Gewerbeinhaber 
der  gleichen  Gattung  die  gleichen  Anforderungen  gestellt 
werden,  weshalb  die  zu  erlassenden  Verfügungen  resp. 
Auflagen  von  der  Direktion  des  Innern  ausgehen  sollen. 
Ebenso  richtig  ist  die  Beobachtung,  dass  es  sich  beim 
Vollzug  des  eidgenössischen  Fabrikgesetzes  bewährt  hat, 
die  Anforderungen  bezüglich  der  Arbeitsräume  und  Schutz- 
vorrichtungen nicht  einzeln  aufzuzählen  und  gesetzlich  festzu- 
stellen, sondern  der  freien  Entwickelung  grossen  Spielraum 
zu  lassen.  Allein  hierbei  ist  nicht  zu  vergessen,  dass  ein 
grosser  Unterschied  besteht  zwischen  den  Aufsichtsbehörden 
für  das  eidgenössische  Fabrikgesetz  und  den  örtlichen 
Gesundheitsbehörden. 

Den  freien  Spielraum,  welchen  das  schweizerische 
Obligationenrecht  bei  der  grundsätzlichen  Regelung  des 
Dienstvertrages  offen  lässt,  hat  der  Entwurf  in  erfreulicher 
Weise  benützt,  wobei  er  theilweise  die  Bestimmungen  von 
Art.  9 des  eidgenössischen  Fabrikgesetzes  weiter  ausführt 
und  ergänzt.  So  sollen  die  ersten  2 Wochen  von  der 
Anstellung  an  als  Probezeit  gelten,  während  welcher  es 
jedem  Theile  freisteht,  das  Arbeitsverhältniss  unter  Ein- 
haltung einer  mindestens  dreitägigen  Kündigungsfrist  auf- 
zulösen. Die  Bestimmung  des  eidgenössischen  Fabrik- 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  50. 


gesetzes,  dass  bei  Stücklohn  die  angefangene  Arbeit  vor 
Aufhebung  des  Dienstvertrags  noch  vollendet  werden  solle, 
wenn  nicht  besondere  Schwierigkeiten  entgegenstehen, 
wird  in  dem  Entwürfe  folgendermaassen  ergänzt:  bei  Stück- 
arbeit geht  die  Kündigung  auf  den  Zeitpunkt  der  Vollendung 
einer  angefangenen  Arbeit,  sofern  dabei  die  Kündigungs- 
frist nicht  um  mehr  als  4 Tage  verkürzt  oder  verlängert 
wird.  Ferner  verlangt  der  Entwurf  nicht  bloss  eine  beson- 
dere, schriftliche  Uebereinkunft  für  die  besonderen  Verein- 
barungen betreffend  Kündigungsfrist,  welche  auf  14  Tage 
festgesetzt  ist,  sondern  auch  die  gleiche  Dauer  der  Kündi- 
gungsfrist und  der  Probezeit  für  beide  Theile,  welchen 
gleicherweise  das  Recht  gewahrt  ist,  bei  erheblicher  Ver- 
letzung der  Bestimmungen  dieses  Gesetzes  ohne  Kündigung 
den  Dienstvertrag  aufzulösen. 

Den  speziellen  Bedürfnissen  der  zu  schützenden  Ar- 
beiterinnen entsprechend  erstreckt  sich  der  vorliegende 
Gesetzentwurf  auch  auf  wohl  in  vielen  Fällen  vom  Ar- 
beitgeber gelieferte  Kost  und  Logis,  das  Lehrtöchterwesen 
etc.  In  den  Fällen,  wo  den  Anforderungen  an  eine  ge- 
nügende und  gesundheitsgemässe  Ernährung  und  Unter- 
kunft nicht  entsprochen  wird,  ist  den  örtlichen  Gesundheits- 
behörden zur  Pflicht  gemacht,  sich  „ins  Mittel  zu  legen“, 
während  die  Direktion  des  Innern  die  Befugniss  erhält, 
Geschäftsinhabern  zu  untersagen,  Lehrtöchter  oder  Arbeite- 
rinnen überhaupt  in  Kost  und  Logis  zu  nehmen.  Ferner 
werden  Lohnabzüge  für  Miethe,  Reinigung,  Beheizung  oder 
Beleuchtung  des  Lokals  sowie  für  Miethe  und  Abnützung 
der  Werkzeuge  untersagt.  Das  Zurückbehalten  eines  Theils 
des  Lohnes  zu  Versicherungszwecken  ohne  gegenseitiges 
Einverständniss  wird  als  unstatthaft  erklärt. 

Mit  Rücksicht  auf  die  Verschiedenartigkeit  der  unter 
das  in  Aussicht  stehende  Gesetz  fallenden  Geschäfte  wird 
nur  von  den  grösseren  Betrieben  die  Aufstellung  einer  Ar- 
beitsordnung verlangt,  während  die  Aufstellung  einer  leicht 
auszufüllenden  fakultativen  Normalarbeitsordnung  bereits 
vorgesehen  ist.  Immerhin  wird  mit  Bezug  auf  die  Bussen- 
gewalt der  Arbeitgeber  der  Grundsatz  aufgestellt,  dass  in 
keinem  Geschäft  Bussen  verhängt  werden  dürfen,  die  nicht 
in  einer  genehmigten  Arbeitsordnung  angedroht  sind.  Die 
verhängten  Bussen,  von  denen  keine  mehr  als  50  Rappen 
betragen  darf,  sind  im  Interesse  der  Arbeiterinnen  zu  ver- 
wenden und  in  ein  Verzeichniss  einzutragen,  aus  welchem 
der  Name  der  Gebüssten,  sowie  Ursache,  Betrag  und  Ver- 
wendung der  Busse  ersichtlich. 

Obwohl  sich  der  vorstehende  Gesetzesentwurf,  der  nach 
statistischen  Erhebungen  ungefähr  4 — 5000  Arbeiterinnen 
zum  Segen  gereichen  wird,  sich  in  mehr  als  einer  Beziehung 
vorteilhaft  von  der  in  anderen  Kantonen  bestehenden  Ar- 
beiterinnenschutzgesetzgebung unterscheidet,  erweckt  doch 
die  Organisation  der  mit  der  Vollziehung  dieses  Ge- 
setzes betrauten  Behörden  Bedenken.  Naturgemäss  wird 
die  Stellung,  welche  die  Ortsbehörden  zu  diesem  Gesetze 
einnehmen,  mehr  oder  weniger  verschieden  sein,  wodurch 
auch  die  Gesetzesausführung  mannigfaltig  gestaltet  sein 
wird.  Das  Fehlen  einer  einheitlichen  Vollziehungsbehörde 
und  die  davon  herrührende  ungleiche  Gesetzesausführung 
hat  einst  mit  andern  Gründen  der  ersten  thurgauischen 
Fabrikgesetzgebung  das  Genick  gebrochen.  Hier  ist  das 
wohl  nicht  zu  befürchten.  Vielleicht  findet  die  kant'ons- 
räthliche  Kommission,  an  welche  der  Entwurf  am  21 . August 
a.  c.  überwiesen  wurde,  schon  jetzt  den  rechten  Ausweg, 
was  um  so  eher  zu  hoffen,  als  ja  der  Kanton  Zürich  in 
seinem  „Fabrik-  und  Haftpflichtbureau“  bereits  das  rechte 
Mittel  in  der  Hand  hat. 

Setttfurt  (Schweiz).  Emil  Hofmann. 

Zur  Durchführung  der  Sonntagsruhe  in  Industrie 
und  Handwerk.  Offiziös  wird  geschrieben,  dass  die 
Regierungen  einiger  Bundesstaaten  bemüht  seien,  für  die 
künftigen  Erlasse  der  höheren  Verwaltungsbehörden,  die 
sich  auf  die  Ausnahmen  für  Gewerbe  beziehen  sollen, 
deren  Ausübung  an  Sonn-  und  Festtagen  zur  Befriedigung 
täglicher  oder  an  diesem  Tage  besonders  hervortretenden 
Bedürfnisse  der  Bevölkerung  gar  nicht  oder  nicht  voll- 
ständig eingestellt  werden  kann,  einheitliche  Grundlagen 
aufzustellen.  So  werden  im  preussischen  Handelsministerium 
gegenwärtig  an  diesen  Grundlagen  gearbeitet,  nachdem  eine 


zweimalige  Befragung  der  Provinzialbehörden  und  die  Be- 
sprechungen dieser  mit  den  Interessentenkreisen  vorher- 
gegangen seien.  In  anderen  Bundesstaaten  wiederum  und 
namentlich  in  den  kleineren  gehen  die  Verwaltungsbehörden 
unmittelbar  mit  der  Befragung  der  Interessenten  über  von 
ihnen  selbst  entworfene  Vorschriften  vor.  Jedenfalls  sei 
bei  den  hier  hauptsächlich  in  Betracht  kommenden  Gewerbs- 
zweigen,  wie  Bäckerei,  Barbier-  und  Friseurgeschäfte,  Buch- 
druckerei, Schlächterei,  Gärtnerei  u.  a.  dafür  gesorgt,  dass 
bevor  die  in  Aussicht  genommenen  Ausnahmebestimmungen 
von  der  allgemeinen  gesetzlichen  Anordnung  in  Kraft  treten 
sollen,  den  Interessentenkreisen  Gelegenheit  gegeben  werde, 
sich  zu  den  Entwürfen  der  Vorschriften  zu  äussern. 

Das  Kreisamt  zu  Mainz  hat  eine  Bekanntmachung  er- 
lassen, dass  es  gewillt  sei,  als  Höchstmaass  der  Sonntags- 
arbeit und  als  Bedingung  für  Zulassung  von  Ausnahmen 
für  einzelne  Gewerbe  nach  § I05e  der  Gewerbe-Ordnung, 
bei  dem  hessischen  Ministerium  zu  befürworten: 

a)  für  Badeanstalten:  Geschäftszeit  bis  1 Uhr  Mittags; 
b)  für  Bäckereien:  Arbeitszeit  bis  6 Uhr  früh;  Wieder- 
beginn der  Arbeit  Sonntag  Abend  10  Uhr.  Ist  der  Tag 
vor  dem  ersten  Weihnachtstag  oder  Neujahrstag  ein  Sonntag, 
so  soll  letzterer  als  Werktag  gelten;  c)  für  das  Barbier- 
und  Friseurgewerbe:  Geschäftszeit  von  7 Uhr  früh  bis  2 Uhr 
Mittags;  d)  für  Bierbrauereien  biete  § 105c  ausreichende 
Hilfe;  die  Beförderung  von  Bier  zu  den  Kunden  falle  unter 
das  Handelsgewerbe;  die  Bearbeitung  von  Malz  solle  an 
Sonn-  und  Festtagen  ruhen;  e)  für  Buchdruckereien:  Zur 

Herstellung  der  Morgennummern  der  Zeitungen  höchstens 
fünfstündige  Sonntagsarbeit,  die  früh  5 Uhr  beendet  sein 
muss.  Wiederaufnahme  der  Arbeit  nicht  vor  Montag  früh 
5 Uhr.  Am  zweiten  Oster-,  Pfingst-  und  Weihnachtsfeier- 
tage keinerlei  Arbeit.  Dringliche  Druckarbeiten,  Todes- 
anzeigen, Konzertverlegungen  etc.  zulässig  nach  § 105c, 
Ziffer  1;  f)  für  Konditoreien:  Arbeitszeit  während  der  Ver- 
kaufszeit; g)  für  Metzgereien:  Desgleichen;  h)  für  Kunst- 
und  Handelsgärtnereien  soll  in  erster  Linie  § 105c,  Ziffer  4 
in  Betracht  kommen,  die  Blumen-  und  Kranzbinderei  aber 
auf  die  Verkaufsstunden  beschränkt  werden;  i)  für  photo- 
graphische Anstalten:  Geschäftszeit  von  9 Uhr  früh  bis 

2 Uhr  Mittags. 

Das  Kreisamt  ladet  zugleich  alle  Interessenten,  Arbeit- 
geber wie  Arbeitnehmer,  insbesondere  die  Innungen  und 
Arbeitervereinigungen  ein,  ihm  ihre  etwaigen  Wünsche  bis 
zum  15.  September  schriftlich  einzureichen,  es  würden 
dann  mündliche  Verhandlungen  beginnen. 


i 


i 


Ortsstatute  über  Lohnzahlung.  Ausser  den  in  No.  39. 
41  und  44,  II.  Jahrgang,  dieser  Zeitschrift  genannten  Ge- 
meindeverwaltungen hat  es  nunmehr  auch  diejenige  von 
Rudolstadt  i.  Thür.,  sowie  gutachtlich  das  Gewerbegericht 
von  Mainz  abgelehnt,  eine  statutarische  Regelung  der 
Lohnzahlung  an  Minderjährige  nach  § 119a  der  G.-O.  vor- 
zunehmen bezw.  zu  befürworten.  Dagegen  hat  das  Mainzer 
Gewerbegericht  den  Erlass  eines  Ortsstatuts  für  wünschens- 
werth  erklärt,  welches  achttägige  Lohnfristen  für  alle  ge- 
werblichen Unternehmungen  der  Stadt  vorschreibt.  Der 
Neuerlass  eines  Ortsstatuts  über  die  Lohnzahlung  an  Minder- 
jährige ist  uns  aus  Rathenow  bekannt  geworden. 


Vorschriften  über  die  Einrichtungen  in  Betrieben  zur 
Anfertigung  von  Zündhölzern  unter  Verwendung  weissen 
Phosphors.  Der  Bundesrath  hat  auf  Grund  des  § 120e  der 
Gewerbeordnung  unter  dem  8.  Juli  d.  J.  neue  Vorschriften 
über  die  Einrichtung  und  den  Betrieb  von  Anlagen  zur  An- 
fertigung von  Zündhölzern  unter  Verwendung  von  weissem 
Phosphor  erlassen,  die  an  die  Stelle  der  früheren  Bestim- 
mungen vom  11.  Juli  1884  treten.  Die  Bestimmungen  be- 
ziehen sich  in  ihrem  ersten  Theil  auf  die  Bauanlage  und 
die  Erhaltung  der  Arbeitsräume,  deren  Ventilation  und  Reini- 
gung, im  zweiten  Theil  auf  den  Schutz  der  Arbeiter  vor 
der  Gefahr,  sich  zu  vergiften.  So  hat  der  Unternehmer 
dafür  zu  sorgen,  dass  die  Bekleidung  der  Arbeiter  zweck- 
entsprechend ist  und  die  nöthigen  Einrichtungen,  die  das 
Wechseln  der  Kleidungsstücke  vor  und  nach  der  Arbeit 
ermöglichen,  vorhanden  sind,  dass  ferner  das  Einnehmen 
der  Mahlzeiten  in  besonderen  Speiseräumen  geschieht,  dass 
die  nöthigen  Wascheinrichtungen  vorhanden  sind  u.  s.  w. 


No.  50. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


601 


Ein  approbirter  Arzt  hat  den  Gesundheitszustand  der  Ar- 
beiter zu  überwachen  und  sie  mindestens  einmal  viertel- 
jährlich zu  untersuchen.  Jeder  Fall  von  Phosphornekrose 
muss  dem  Aufsichtsbeamten  angezeigt  werden.  Der  Fabrik- 
arzt hat  die  Ergebnisse  seiner  Untersuchungen  in  ein  Kon- 
trollbuch  einzutragen,  das  dem  Aufsichtsbeamten  auf  sein 
Verlangen  vorzulegen  ist. 


Arbeiterversicherung. 

Skorbut  und  See-Unfallversicherungsgesetz. 

Das  See -Unfallversicherungsgesetz  vom  13.  Juli  1887, 
das  als  das  letzte  Unfallversichenuigsgesetz  eine  besondere 
Kodifikation  wegen  der  zahlreichen  Besonderheiten  der 
Seeschifffahrt  darstellt,  giebt  selbst  keine  nähere  Begriffs- 
bestimmung des  Wortes  „Unfall“.  Die  Merkmale  eines 
solchen  müssen  daher  dem  allgemeinen  Sprachgebrauch  und 
der  Absicht  des  Gesetzgebers  entnommen  werden. 

Nach  Ansicht  des  Reichs -Versicherungsamts  ist  die 
Voraussetzung  für  das  Vorliegen  eines  Unfalls  einmal,  dass 
der  Betroffene,  sei  es  durch  äussere  Verletzung,  sei  es 
durch  organische  Erkrankung,  eine  Schädigung  seiner 
körperlichen  und  geistigen  Gesundheit  — Körperverletzung 
oder  Tod  — erleidet,  und  sodann,  dass  diese  Schädigung 
auf  ein  plötzliches,  d.  h.  zeitlich  bestimmbares,  sich  in 
einem  verhältnissmässig  kurzen  Zeitraum  vollziehendes  Er- 
cigniss  zurückzuführen  ist,  das  in  seinen  Folgen  die  Körper- 
schädigung oder  den  Tod  verursacht.  — - Danach  werden 
die  Gewerbekrankheiten,  die  als  das  Endergebniss  der  eine 
längere  Zeit  andauernden,  der  Gesundheit  nachtheiligen 
Betriebsweise  bei  bestimmten  Gewerbethätigkeiten  auftreten, 
von  der  obersten  Auslegerin  des  Versicherungsrechts  nicht 
als  Unfälle  angesehen. 

Anlässlich  eines  Rentenstreitfalles  wurde  kürzlich  vor 
dem  Reichs-Versicherungsamt  die  ausserordentlich  wichtige 
Frage,  ob  Erkrankung  an  Skorbut  einen  Unfall  darstellen 
kann  oder  nicht,  endgültig  zur  Erledigung  gebracht.  Fol- 
gender Thatbestand  lag  dem  interessanten  Rechtsstreit  zu 
Grunde:  Die  Bark  „Emilie“,  die  der  Kapitän  H.  befehligte, 
war  am  II.  Juli  1891  von  Blyth  nach  Pisagua  in  See  ge- 
gangen und  hatte  bis  gegen  Ende  September  leidliches 
Wetter  gehabt.  Von  da  an  hatte  sie  mit  schwerer  See  und 
widrigen  Winden,  mit  Unwetter  aller  Art  und  heftigen,  zum 
Theil  orkanartigen  Stürmen  zu  kämpfen,  verlor  viel  Takelage 
und  musste  einen  Theil  der  Ladung  werfen.  Diese  Reise 
nahm  unter  solchen  Umständen  die  ganz  aussergewöhnlich 
lange  Dauer  von  über  150  Tagen  an.  Zwischen  dem  24. 
und  26.  Oktober  herrschte  besonders  starker  Sturm.  Ge- 
waltige überbrechende  Seen  beschädigten  das  Schiff  aller- 
orten. Am  27.  Oktober  fand  sich,  dass  das  in  den  Tanks 
(Süsswasserbehälter)  mitgeführte  Süsswasser  vollständig 
brackig  geworden,  d.  h.  mit  Seewasser  vermischt  worden 
war.  Bald  darauf,  nachdem  Kapitän  H.  schon  am  23.  Sep- 
tember krank  geworden  war,  erkrankten  ein  Schiffsjunge, 
der  Segelmacher,  ein  Matrose  und  nach  und  nach  bis  auf 
einen  die  ganze,  16  Mann  starke  Besatzung  an  Skorbut. 
Ausser  dem  Kapitän  starben  bis  zu  der  am  12.  Dezember 
erfolgten  Ankunft  in  Pisagua  der  Schiffsjunge  und  der 
Schiffszimmermann. 

Auf  Grund  des  See -Unfallversicherungsgesetzes  bean- 
tragte die  Wittwe  des  Kapitäns  H.  für  sich  und  ihre  drei 
Kinder  die  gesetzliche  Hinterbliebenenrente  bei  der  See- 
Berufsgenossenschaft.  Die  Berufsgenossenschaft  lehnte 
jedoch  jede  Entschädigung  ab;  Kapitän  PI.  sei  an  Skorbut 
— einer  Krankheit  — gestorben;  von  einem  Betriebsunfall 
könne  hier  nicht  die  Rede  sein.  Dieser  Ansicht  trat  auch 
das  Schiedsgericht  bei  und  verwarf  die  Berufung  der 
Wittwe  als  unbegründet.  Diese  legte  nun  Rekurs  beim 
Reichs -Versicherungsamt  ein,  und  zwar  mit  Erfolg.  Das 
Reichs -Versicherungsamt  hat  auf  Grund  der  Ermittelungen 
der  Vorinstanzen  in  Uebereinstimmung  mit  dem  Spruch 
des  Seeamts  in  Brake  vom  28.  Oktober  1892  als  erwiesen 
angenommen,  dass  der  unter  der  Mannschaft  der  „Emilie“ 
ausgebrochene  Skorbut  ursächlich  im  wesentlichen  auf  den 
Genuss  des  etwa  am  26.  Oktober  1891  brackig  gewordenen 
Trinkwassers  zurückzuführen  ist.  Auch  der  Tod  des  Kapi- 


täns II.  ist  nach  der  Ueberzeugung  des  Reichs -Versiche- 
rungsamts auf  den  Genuss  des  brackigen  Wassers  und 
der  damit  zubereiteten  Speisen  zurückzuführen;  die  Ver- 
nichtung des  Süsswasservorraths  muss  mindestens  als  eine 
wesentlich  mitwirkende  Ursache  des  Todes  des  Kapitäns 
H.  betrachtet  werden.  Dieser  Zusammenhang  genügt 
aber,  um  die  Haftung  der  Sce-Berufsgenossenschaft  der 
Klägerin  gegenüber  zu  begründen.  Denn  die  Frage,  ob 
das  Auftreten  des  Skorbuts  unter  der  Schiffsmannschaft 
der  „Emilie“  als  ein  Betriebsunfall  oder  die  Folge 
eines  Betriebsunfalles  im  Sinne  des  See -Unfallversiche- 
rungsgesetzes anzusehen  ist,  muss  bejaht  werden.  In 
dem  tage-  und  wochenlang  fortgesetzten  Genuss  brackigen 
Wassers  und  damit  zubereiteter  Speisen  durch  die  Mann- 
schaft konnte  das  Rekursgericht  zwar  den  Thatbestand  eines 
Unfalls  nicht  erblicken.  Dagegen  stellt  das  Eindringen  des 
Seewassers  in  die  Tanks,  das  infolge  des  Sturmes  gewalt- 
sam geschehen  ist,  als  solches  einen  Seeunfall  dar.  War 
auch  mit  dem  Eintritt  dieses  Ereignisses  nicht  unmittelbar 
eine  körperliche  Schädigung  der  Schiffsbesatzung  verbunden, 
so  war  dadurch  nach  Ueberzeugung  des  Rekursgerichts  für 
die  Besatzung  sofort  die  Zwangslage  geschaffen,  von  nun 
an  für  eine  noch  nicht  absehbare  Zeit  brackiges,  also  die 
Gesundheit  gefährdendes  Wasser  zu  geniessen.  Mit  der 
durch  ein  Elementarereigniss  auf  hoher  See  herbeigeführten 
Vernichtung  des  Süsswasservorraths  war  also  sofort  eine 
Bedingung  gesetzt,  die  mit  einer  unter  den  obwaltenden 
Verhältnissen  unabwendbaren  Nothwendigkeit  in  gegebener 
Zeit  zu  schwerer  Gesundheitsschädigung,  wenn  nicht  zum 
Tode  der  Mannschaft  führen  musste.  In  der  plötzlichen 
Schaffung  dieses  Nothstandes  erblickte  das  Reichs-Versiche- 
rungsamt einen  „Unfall“  nicht  nur  nach  Auffassung  des  ge- 
wöhnlichen Lebens,  sondern  auch  im  Rechtssinn,  jedenfalls 
im  Sinne  des  See-Unfallversicherungsgesetzes,  das  in  Be- 
rücksichtigung der  eigenartigen  Verhältnisse  und  Gefahren 
der  Schifffahrt  schon  durch  die  bedingungslose  Einbeziehung 
der  durch  elementare  Ereignisse  herbeigeführten  Unfälle 
unter  die  entschädigungspflichtigen  Betriebsvorgänge  zu  er- 
kennen gegeben  hat,  dass  es  den  Kreis  der  letzteren  für 
die  See-Unfallversicherung  möglichst  weit  hat  ziehen  wollen. 

Der  sozialpolitische  Zweck  des  See-Unfallversicherungs- 
gesetzes würde  zweifellos  entgegen  der  wohlwollenden  Ab- 
sicht des  Gesetzgebers  und  der  allgemeinen  Rechtsempfin- 
dung nur  unvollkommen  erreicht  werden,  wenn  nur  die- 
jenigen durch  elementare  Ereignisse  herbeigeführten  Unfälle 
davon  erfasst  würden,  die  nachweisbar  eine  sofortige  und 
unmittelbar  schädigende  Einwirkung  auf  den  Körper  der 
Versicherten  ausgeübt  haben. 

Berlin -Lichtenberg.  Otto  Meid  n er. 

Die  österreichischen  Krankenkassen  im  Jahre  1891. 

Der  in  einigen  Wochen  erfolgende  Zusammentritt  des 
Abgeordnetenhauses  veranlasste  das  Ministerium,  dem 
Berichte  über  die  Gebahrung  und  Statistik  der  Kranken- 
kassen im  Jahre  1890  alsbald  den  Bericht  vom  Jahre  1891 
folgen  zu  lassen. 

Das  wichtigste  Ergebniss  der  Erfahrungen  der  nunmehr 
zweijährigen  Gebahrungsperiode  ist  die  auch  von  der 
Regierung  als  dringend  anerkannte  Reformbedürftigkeit 
des  Krankenversicherungsgesetzes. 

Sie  selbst-  konstatirt  die  mangelhafte  Erfüllung  der 
Anmeldepflicht  seitens  der  Betriebsinhaber  mit  den  Worten, 
dass  noch  vielfach  die  Einbeziehung  zahlreicher,  bisher 
noch  nicht  zur  Krankenversicherung  angemeldeter  Personen 
in  diese  Versicherung  nicht  selten  unter  Anwendung  der 
gesetzlichen  Strafmittel  bewerkstelligt  werden  musste. 

Der  hierdurch  bewirkte  Entgang  an  Versicherungs- 
beiträgen, die  ungünstigen  Morbiditätsverhältnisse  zu  Anfang 
des  Jahres  1890  (Influenza-Epedemie  und  Schwierigkeiten 
in  organisatorischer  Beziehung)  beeinflussten  die  finanzielle 
Gebahrung  der  meisten  Kassen,  in  höchst  ungünstiger 
Weise,  eine  Thatsache,  an  der  das  Jahr  1891  wenig  änderte. 

Zwar  Hess  sich  das  Jahr  1891  etwas  besser  an,  indem 
die  Reservefonds  der  Kassen  reichlicher  dotirt  werden 
konnten;  allein  gewisse  Uebelstände  auf  dem  Gebiete  der 
Krankenversicherung  traten  stärker  denn  im  Vorjahre  in 
Erscheinung. 

Besonders  empfindlich  für  die  Kassen  ist  die  Schädigung, 


602 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  50. 


die  sie  durch  das  Anwachsen  der  Ausstände  an  Versiche- 
rungsbeiträgen erleiden.  Da  die  Regierung  erst  dann,  wenn 
diese  Rückstände  10  pCt.  der  gesammten  Vorschreibung  an 
Beiträgen  übersteigen,  es  für  nothwendig  hält,  die  Aufsichts- 
behörden „mit  grösstem  Nachdrucke“  Vorgehen  zu  lassen, 
so  darf  man  sich  nicht  wundern,  wenn  die  Behörden  in 
allen  Fällen,  in  welchen  die  Rückstände  jene  Maximalgrenze 
von  10  pCt.  nicht  erreicht  haben,  gegenüber  den  Unter- 
nehmern die  grösste  — Nachsicht  walten  lassen. 

Dieses  Verhalten  der  Regierung  und  ihrer  Organe 
kommt  natürlich  insbesondere  dem  Kleingewerbe  zu  Gute, 
dessen  wirtschaftliche  Interessen  der  Regierung  sonach 
näher  liegen  als  die  der  Arbeiterschaft. 

Ueber  den  Stand  der  Krankenversicherung  in  Oesterreich 
während  der  Verwaltungsjahre  1890  und  1891  geben  nach- 
stehende Tabellen  Auskunft. 


I. 

Zahl 

der  Kassen 

Zahl 

der  Mitglieder  zu 

Von  1000  Mit- 
gliedern waren 

Kassen  Kategorie 

zu  Ende 

Anfang 

Ende 

männ- 

weih- 

1890 

1891 

1891 

lieh 

lieh 

i 

2 

3 

4 

5 

6 

7 

Bezirks- 

C 

549 

548 

499  515 

527  957 

859 

141 

Betriebs- 

(fl 

(fl 

1446 

1445 

528  115 

533  457 

693 

307 

Bau- 

CS 

44 

4 

3 

268 

125 

937 

63 

Genossensehfts- 

G 

<D 

673 

717 

233  294 

247  088 

838 

162 

Vereins- 

G 

cS 

59 

79 

274  383 

284  193 

743 

257 

Alle 

2 731 

2 792 

1 535  575 

1 592  820 

783 

217 

Wir  ersehen  aus  Tabelle  I,  dass  die  zahlreichste  Kassen- 
kategorie, die  Betriebskrankenkassen,  die  meisten  Mitglieder 


und  den  stärksten  Stand  an  weiblichen  Arbeitern  aufweist, 
eine  Erscheinung,  die  überhaupt  den  Kassen  mit  gross- 
industrieller Arbeiterschaft  (Betriebs-  und  Vereinskassen) 
eigentümlich  ist. 


II. 

Einnahmen 

Dotirung  resp.  (— ) 
Verminderung  des 
Reservefonds. 

davon  an 

Ausgaben. 

Kassenkategorie. 

überhaupt 

laufenden 

Beiträgen 

überhaupt 

>Ct.  der| 
fenden  1 
:iträge  [ 

in  Gulden  ö.  W. 

Jja 

1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

6. 

Bezirks- 

3 994  313 

3 806  168 

3 673  862 

320  451 

842 

Betriebs- 

<D 

4 701  533 

4 356  476 

3 973  726 

727  807 

1 671 

Bau- 

(fl 

5 198 

4 998 

4 996 

202 

404 

Genossen- 

44 

c 

schafts- 

cu 

44 

1 886  271 

1 774  646 

1 652  485 

233  786 

1 317 

Vereins- 

G 

CS 

2 745  044 

2 527  948 

2 601  124 

143  920 

569 

Alle 

j 

(4 

13  332  359 

12  470  236 

1 1 906  193 

1 426  166 

1 144 

Tabelle  II  zeigt,  dass  die  Betriebs-  und  die  Genossen- 
schaftskrankenkassen die  höchsten  Ueberschüsse  erzielten, 
indess,  wie  Tabelle  111  zeigt,  die  Bezirks-  und  die  Genossen- 
schaftskrankenkassen die  niedrigsten  Kassenleistungen  und 
die  grössten  Verwaltungskosten  ausweisen. 

Bei  den  Bau-  und  den  Betriebskassen  sind  die  Ver- 
waltungskosten vom  Unternehmer  zu  tragen. 

Bezüglich  der  Tabelle  IV  wäre  zu  bemerken,  dass  die 
Statistik  nur  jene  Personen,  beziehungsweise  Erkrankungs- 
fälle umfasst,  in  welchen  eine  Unterstützung  geleistet  wurde 


III. 

Ausgaben  in  Gulden  ö.  W.  und  nach  Procent  der  Gesammtausgaben 

' 

Kassenkategorie 

Leistungen  der  Kassen  für  ihre  Mitglieder 

Verwaltungs- 

kosten. 

Die  übrigen 
Ausgaben 

Krankengeld 

ärztliche 

Hilfe 

Medicamente 

Spital- 

verpflegung 

Beerdigungs- 

kosten 

Zusammen 

1 

2 

3 

4 

5 

6 

7 

8- 

9 

Bezirks- 

1612713 
= 43,9  pCt. 

626838 
17,1  pCt. 

405715 
= 1 1,0  pCt. 

232827 
= 6,3  pCt. 

79351 
2.2  pCt. 

2957444 
= 80,5  pCt. 

572261 
= 15,6  pCt. 

144157 
= 3,9  pCt. 

Betriebs- 

V 

c n 

2148263 
— 54.7  pCt. 

791  108 
19.9  pCt. 

562960 
— 14,2  pCt. 

112921 

= 2,8  pCt. 

114940 
= 2,9  pCt. 

3730192 
-93,9  pCt. 

32533 
= 0.8  pCt. 

210981 
= 5.3  pCt. 

Bau- 

CS 

44 

G 

2805 
= 56,2  pCt. 

981 

= 19,6  pCt. 

600 

= 12,0  pCt. 

400 
8,0  pCt. 

204 
= 4.1  pCt. 

4990 
= 99,9  pCt. 

6 

= 0,1  pCt. 

Genossenschafts- 

CD 

44 

cS 

795223 
= 48,1  pCt. 

24 1 027 
1 4,6  pCt. 

143939 
-8.7  pCt. 

147335 
= 8,9  pCt. 

60423 
= 3,7  pCt. 

1387947 
= 84,0  pCt. 

210431 
= 12,7  pCt. 

54107 
= 3,3  pCt. 

Vereins- 

u 

14 

1645800 
63,3  pCt. 

277820 
10,7  pCt. 

266773 
10.2  pCt. 

96423 
3,7  pCt. 

100994 
= 3,9  pCt. 

2387819 
91,1  pCt. 

156647 
= 6,0  pCt. 

56658 
= 2,2  pCt. 

Alle 

6204813 
= 52,1  pCt. 

1 937  774 
16,3  pCt. 

1 379977 
= 11,6  pCt. 

589906 
= 4,9  pCt. 

355912 
3,0  pCt. 

10468392 
= 87,9  pCt. 

971  898 
= 8,2  pCt. 

465903 
= 3,9  pCt. 

IV. 

Bezirks- 

Betriebs- 

Bau- 

Genossen- 

schafts- 

Vereins- 

Alle 

Summarische  Ergebnisse  der  Krankheits-Statistik 

Krankenkassen 

1 

Durchschnittliche  Zahl  der  Mitglieder  .... 

( männlich 
\ weiblich 

508  683 
83  359 

368  075 
163  363 

458 

31 

214  448 
41  641 

213  130 
73  782 

1 304  794 
361  996 

zusammen 

592  042 

531  438 

489 

255  909 

286  912 

1 666  790 

2 

Zahl  der  erkrankten  Mitglieder 

( männlich 

171  225 

149  505 

313 

53  003 

83  945 

457  991 

\ weiblich 

28  891 

60  470 

21 

9 383 

25  613 

124  378 

zusammen 

200  116 

209  975 

334 

62  386 

119  558 

582  369 

3 

Zahl  der  auf  diese  erkrankten  Mitglieder  ent- 

1 männlich 

196  493 

195  641 

370 

61  331 

114  861 

568  696 

fallenden  Erkrankungen  (excl.  Entbindungen) 

\ weiblich 

33  373 

72515 

21 

11  251 

33  608 

150  768 

zusammen 

229  866 

268  156 

391 

72  582 

148  469 

719  464 

4 

Zahl  der  auf  diese  Erkrankungen  entfallenden 

( männlich 

3 034  755 

3 059  416 

4170 

1 112  106 

1 912  056 

9 122  503 

Krankentage  

\ weiblich 

572  877 

1 379  761 

187 

196  504 

667  862 

2817  191 

zusammen 

3 607  632 

4 439  1 77 

4 357 

1 308  610 

2579918 

1 1 939  694 

5 

Zahl  der  Sterbefälle 

1 männlich 

4 197 

3 779 

10 

2 011 

2 892 

12889 

1 weiblich 

727 

1 789 

— 

303 

966 

3 785 

zusammen 

4 924 

5 568 

10 

2314 

3 858 

16  674 

6 

Zahl  der  Entbindungen 

5 913 

14  527 

— 

2 259 

8 058 

30  757 

7 

Zahl  der  auf  Entbindungen  entfallenden  Krankentage  . . . 

160  781 

402  608 

— 

59  525 

191  900 

814814 

No.  50. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


603 


Bildung  einer  Molkerei  - Berufsgenossenschaft.  Der 

allgemeine  Vereinstag  der  deutschen  landwirtschaftlichen 
Genossenschaften,  der  vor  kurzem  in  Stuttgart  getagt  hat, 
hat  eine  Resolution  angenommen,  in  der  gefordert  wird, 
dass  die  Molkerei -Genossenschaften  aus  der  Brennerei-Be- 
rufsgenossenschaft ausscheiden  und  zu  den  land-  und  forst- 
wirtschaftlichen Berufsgenossenschaften  übertreten  oder 
eine  eigene  Berufsgenossenschaft  bilden  sollen.  Es  scheint, 
als  seien  die  zentrifugalen  Kräfte  in  den  Berufsgenossen- 
schaften recht  gross.  Jeder  kleine  Berufszweig  möchte  gern 
für  sich  eine  Berufsgenossenschaft  bilden.  Natürlich  ist 
dies  ganz  unausführbar,  und  es  unterliegt  keinem  Zweifel, 
dass  der  Bundesrath  einen  etwaigen  Antrag  der  Molkerei- 
genossenschaften auf  Bildung  einer  eigenen  Berufsgenossen- 
schaft ebenso  abweisen  wie  er  den  Antrag  auf  Bildung 
einer  Fleischerei-Berufsgenossenschaft  abgewiesen  hat  (z. 
vergl.  Sozialpolitisches  Centralblatt  No.  49,  S.  591).  Mehr  Aus- 
sicht aufErfolg  hat  vielleicht  die  Anregung,  dieMolkereien  den 
landwirtschaftlichen  Berufsgenossenschaften  zuzuertheilen ; 
denn  der  Wunsch,  die  Nebenbetriebe  der  Landwirtschaft 
— also  nicht  nur  Molkereien,  sondern  auch  Brennereien, 
Mühlen,  Ziegeleien,  Stärkefabriken  u.  s.  w.  — an  die  land- 
wirtschaftlichen Berufsgenossenschaften  abzugeben,  scheint 
allgemein  zu  sein,  wie  aus  vielfachen  Aeusserungen  in  der 
landwirtschaftlichen  und  Fachpresse  klar  hervorgeht.  In 
der  That  hat  die  jetzige  Organisation  der  Unfallversiche- 
rungsverbände wohl  nirgends  zu  offenbareren  und  unleid- 
licheren Unzuträglichkeiten  geführt  als  auf  dem  Grenzgebiet 
zwischen  Industrie  und  Landwirtschaft. 

Zur  Statistik  der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung. 

Dem  soeben  erschienenen  Verwaltungsbericht  der  Invalidi- 
täts- und  Altersversicherungsanstalt  Berlin  für  das  Kalender- 
jahr 1892  entnehmen  wir  folgende  Angaben:  Im  Jahre  1892 
lagen  vor  61 7 Anträge  auf  Altersrente,  von  welchen  390 
bewilligt,  167  abgelehnt,  15  anderweit  erledigt  und  45  un- 
erledigt auf  das  Jahr  1893  übernommen  wurden.  Insge- 
sammt  sind  bei  der  Anstalt  Berlin  bis  Ende  1892:  1795  Alters- 
renten mit  einer  Jahresrente  von  282  790,40  M.  einschliess- 
lich des  Reichszuschusses  von  50  M.  für  jede  Rente  fest- 
gesetzt worden.  Bis  Ende  1892  waren  ausgeschieden  durch 
Tod  oder  aus  sonstigen  Gründen  zusammen  175  Altersrenten, 
sodass  ein  Bestand  von  1620  Altersrenten  verblieb.  Anträge 
auf  Invalidenrente  lagen  vor  442,  von  denen  179  bewilligt, 
196  abgelehnt,  24  anderweit  erledigt  und  43  unerledigt  auf 
das  laufende  Jahr  übernommen  wurden. 

Bis  zum  Schlüsse  der  Berichtszeit  waren  insgesammt 
193  Invalidenrenten  festgesetzt  worden  mit  21  378,20  M. 
Jahresrente  einschliesslich  des  Reichszuschusses  von  50  M. 
Ausgeschieden  sind  14  Invalidenrenten,  sodass  Ende  1892 
179  Invalidenrenten-Empfänger  verblieben. 

Die  Anstalt  Berlin  hatte  im  Jahre  1892  174  856,75  M. 
für  Altersrenten  und  10  335,30  M.  für  Invalidenrenten  als 
eigene  Antheile  zu  zahlen. 

Gegen  Bescheide  der  Anstalt  Berlin  wurden  bei  dem  für 
die  Anstalt  errichteten  Schiedsgericht  anhängig  285  Berufun- 
gen, von  welchen  sich  richteten  53  gegen  Feststellung  einer 
Alters-  oder  Invalidenrente  und  232  gegen  die  Ablehnung 
eines  Rentenanspruchs. 

60  Berufungen  hatten  Erfolg,  während  die  übrigen  durch 
Zurücknahme  der  Berufung  oder  Bestätigung  des  angefochte- 
nen Bescheides  erledigt  wurden. 

Gegen  Urtheile  des  Schiedsgerichts  wurde  in  59  Fällen 
Revision  beim  Reichs-Versicherungsamt  eingelegt,  und  zwar 
entfielen  35  Revisionen  auf  Altersrentensachen,  24  auf  Inva- 
lidenrentensachen. 

Streitsachen  hinsichtlich  der  Versicherungspflicht,  an 
welchen  die  Anstalt  betheiligt  war,  wurden  bei  der  unteren 
Verwaltungsbehörde  71  anhängig,  von  welchen  in  43  Sachen 
die  Ansicht  der  Anstalt  bestätigt,  in  28  Fällen  gegen  den 
Antrag  der  Anstalt  entschieden  wurde. 

Die  Vertrauensmänner  der  Anstalt  erstatteten  insgesammt 
429  Gutachten  über  Anträge  auf  Invalidenrente,  während 
die  16  Vertrauensärzte  in  222  Fällen  ärztliche  Gutachten 
über  die  Erwerbsfähigkeit  von  Invalidenrenten-Antragstellern 
abzugeben  hatten. 

Durch  die  Kontrollbeamten  der  Anstalt  wurden  4147  Be- 


triebe in  der  Berichtszeit  revidirt.  Gegen  91  Arbeitgeber 
sind  Ordnungsstrafen  wegen  Verstosses  gegen  das  Invaliden- 
und  Altersversicherungsgesetz  im  Betrage  von  1 bis  20  M. 
festgesetzt  worden. 

An  Quittungskarten  wurden  397  465  Stück  in  der  Be- 
richtszeit für  Versicherte  neu  ausgestellt.  Bei  der  Anstalt 
gingen  insgesammt  387  192  im  Verkehr  gewesene  Quit- 
tungskarten ein,  von  welchen  348  404  den  Namen  der  An- 
stalt Berlin  und  38  788  den  Namen  einer  fremden  Anstalt 
trugen. 

Die  Anstalt  Berlin  hatte  im  Jahre  1892  aus  dem  Erlöse 
verkaufter  Beitragsmarken  eine  Einnahme  von  4738167,28  M. 
Nach  dem  Jahresabschluss  der  Anstalt  pro  1892  beliefen 
sich  die  Gesammteinnahmen  auf  13824492,18  M.,  die  Ausgaben 
auf  4 783  952,06  M.,  sodass  ein  Bestand  von  9 040  540,12  M. 
verblieb. 

An  Anträgen  auf  Gewährung  von  Renten  sind  bei  der 
H anseatischen  Versicherungsanstalt  eingegangen:  a)  an 
Altersrenten  im  Laufe  des  Jahres  1891  1105,  im  Laufe  des 
Jahres  1892  404,  im  Jahre  1893  vom  1.  Januar  bis  Ende 
August  271,  zusammen  1780;  b)  an  Invalidenrenten  im  Laufe 
des  Jahres  1892  181,  im  Jahre  1893  vom  I . Januar  bis  Ende 
August  187,  zusammen  368,  mithin  seit  Beginn  des  Jahres 
1891  an  Rentenanträgen  überhaupt  2148.  Von  den  Anträgen 
auf  Altersrente  sind  bis  Ende  August  d.  J.  erledigt  1734 
Anträge,  und  zwar  1526  durch  Rentengewährung,  183  durch 
Ablehnung  und  25  auf  sonstige  Weise,  Tod  etc.  Von  den 
Anträgen  auf  Invalidenrente  sind  bis  Ende  August  d.  J.  er- 
ledigt 341,  und  zwar  230  durch  Rentengewährung,  97  durch 
Ablehnung  und  14  auf  sonstige  Weise,  Tod  etc. 


Soziale  Hygiene. 

Sozialpolitische  Beschlüsse  des  Katholikentages  zu 
Würzburg.  Die  Generalversammlung  der  Katholiken 
Deutschlands  zu  Würzburg  hat  folgende  Beschlüsse  ge 
fasst,  die  von  sozialpolitischem  Interesse  sind: 

„Gleichwie  für  alle  Beamte  der  grossen  staatlichen 
Verkehrsanstalten  beanspruchen  wir  für  unsere  wehr- 
pflichtigen Söhne,  dass  sorgfältige  Obsorge  walte  für 
Sonntagsruhe  im  Reichsheer  und  in  der  Marine,“ 

„Wir  beanspruchen  ferner,  dass  an  Sonn-  und  Fest- 
tagen am  Morgen-Gottesdienste  allen  katholischen  Offizieren 
und  Mannschatten,  die  es  wollen  und  dienstlich  nicht  ab- 
gehalten sind,  regelmässig  ermöglicht  wird,  am  Morgen- 
Gottesdienste  an  Sonn-  und  Feiertagen  theilzunehmen.“ 
„Die  Generalversammlung  erklärt,  dass  nach  der  im 
kaufmännischen  Gewerbe  gesetzlich  erlangten  Sonntagsruhe 
für  die  Gehülfinnen  und  Lehrmädchen  eine  spezielle  Für- 
sorge dringend  nothwendig  erscheint  und  wolle  zum  Zweck 
dieser  Fürsorge  die  Gründung  von  besonderen  Vereinen 
der  Gehülfinnen,  namentlich  in  allen  grösseren  Städten 
warm  und  nachdrücklich  empfehlen.“ 

„Die  Generalversammlung  spricht  den  Wunsch  nach 
einer  gesetzlichen  Bestimmung  aus,  dass  beim  Konkurs- 
verfahren die  Handwerker-Rechnungen  die  Vorrechte  der 
Dienstbotenlöhne  erhalten.“ 

„Die  Generalversammlung  begrüsst  mit  Freuden  die 
vom  Volksverein  für  das  katholische  Deutschland  aus- 
gegangene Veranstaltung  der  praktisch-sozialen  Kurse, 
wünscht  lebhaft  deren  möglichste  Wiederholung  und  fordert 
zu  eifriger  Betheiligung  an  denselben  auf.“ 

„Die  Generalversammlung  erkennt  in  der  korporativen 
Organisation  des  Bauernstandes  ein  nothwendiges  Mittel 
zu  dessen  Erhaltung  und  Stärkung  und  empfiehlt  als  Vor- 
bereitung hierfür  die  Bildung  von  Bauernvereinen  auf  christ- 
licher Grundlage.“ 

„Die  Generalversammlung  möge  eine  regere  Thätigkeit 
für  Neugründung  von  Vereinen  für  jugendliche  Arbeiter, 
sowie  für  Handwerks-  und  Kaufmannslehrlinge  empfehlen, 
ebenso  eine  thatkräftige  Unterstützung  der  bereits  be- 
stehenden Vereine.“ 

„Die  Generalversammlung  empfiehlt  angelegentlich  die 
Gründung  von  Arbeiterinnen-Vereinen  für  alle  grösseren 
Industrie-Orte  zugleich  mit  Handarbeits-  und  Haushaltungs- 
Unterricht.“ 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin  W.,  Victoriastrasse  16. 


604 


ANZEIGEN 


No.  50. 


Soeben  erfdjien  im  Serlage  oon  Albert 
Limbach,  Braunschweig  unb  ift  in  allen 


Sud)  b an  b tun  gen  rorrätig: 


Das  $)rogr<tmitt 

Ut  iiimöitict'licr. 


©tue  gnucrkfuiHtiftljc  gtnMc 

non  ijuga  ^ötterr. 

19  Sogen  8°  cleg.  Euofcfj.  St.  2, — 


lu^nnblung  lies  Sdjnifi,;.  ftiitliomiiis  in  Jürid). 

(öttrtthaiiMnng  för  Äojiflljoinenfdjaft  nn»  Sojialpolilifi.) 


Corl  Gering,  öerlht  W., 

illaucr|tra|je  44. 


■preis  2J1.  —.20 


-.20 


-.45 


$*bcl,  ,4.ttgu|l,  Unfcre  rolrtfchaftltche 

unb  polittfclje  Sage 

^viiunid),  Sic  SDlaifeier  b.  ?lvbcltec= 
fcljaft  unb  ber  adjtftünbige  Arbeitstag  . 

©rdiwinb,  St.,  3rei  Sanb.  Sie  ©rmtb» 
unb  iSobeuDcvfdjulbimg  unb  bereu  Mbhülie 
burclj  bie  ^gpothefarstnefovm  .... 

Plorf,  f{ , Sie  SScrfiirjimg  ber  täglichen 
«irbeiiSäeit.  gljrc  Urfadjert,  SBlrfungeit 
unb  folgen.  Erfahrungen  unb  ltrthetle 

uon  ©efcijdftSleuteu „ „ —.20 

finiter,  Jiieiti)«,  5ür  ben  8lrt|tftuubentag. 

Ein  Seitrag  jur  @cfd)tcf)te  ber  SlrBeit^jeit  „ „ - .25 

Berichte  ber  einseinen  Sänber  über  ben  Staub 
ber  fosialbemofratifdjen  Seroegutig  an 
ben  gnternattonalen  fojiolen  Gotigrefc  in 
3iiricf|  1893.  Sotocit  noch  oorbanben  „ „ — .10 


Sic 


Pirtljfrijaftlidj-fojialcn  Aufgaben 

unferev  geit 

auf  inbuftritUtm  unb  lanbiBirt^djnftli^fin  §ebUlt 


0 Olt 

(Onmy 

©eh.  OberregterungSrath, 

8°.  VI  unb  328  Seiten, 
ißreig  geheftet  9Jtf.  7,  poftfrei  Stf.  7,20. 


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foeüen  gelangten  in  @atl  tjeijmamis  Gering  in  öerlitt  W.,  SRauerftr.  44,  gur  2lu§ga6e: 


^Ultb  3. 

3)ie  ©f)ar=  ititb  33au=t8eretttc 


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£mmtom\  ®ötthtöen  mtb  Berlin» 


©tue  Stuleitung 

jur 


{irahtt^en  ^Etljätiguitg  nnf  fern  ®cbicte  ber  JflnljnnniTisfrngr. 


8°.  IY  unb  118  ©eiten, 

©ebeftet  Sßrei§  St.  2,40,  poftfrei  St.  2,50. 


4. 

iölfs-  unb  Wntejfü|un0§faffcn. 

<3*i 


3Sorbevid)te  itub  9S er t) a u b t it n g eit 

ber 

ftonferen?  mutt  21.  unb  22.  ^pril  1893. 

8°.  XII  unb  178  ©eiten. 

©ebeftet  fßreiS  SS.  3,60,  poftfrei  St.  3,80. 


gntjalt  tunt 

Sonuort. 

I.  Ser  Spar=  unb  Sauoerein, 

6.  @.  m.  befdjr.  Haftpflicht 
in  £>annotcr,  non  ff.  S o r f. 

©efcf)icf)te  be§  Sereing. 

Serroaltung. 

Sau  unb  ©inrtdjtung  ber 
§änfer. 

Waffen»  unb  91edE)nung§= 
fii^rung. 

Slnlagen : Stalut.  Sei= 

trittöerttärung.  Suit= 
tuitg§Bud|.  fiebeliften  für 
@injaf)Iungen  ber  3J2it= 
gticber.  3Jtar!enfontroII= 
üud).  Quittung§bud)  für 
bie  3atjtfteHcn.  ?(ntt)eit= 
fdjein.  Journal  für  ©in= 

gnljnlt  non 

Sorroort. 

A.  ©ülf8-  unb  Unter» 
ftü|ungd  taffen. 

I.  Sorberidjt. 

A.  Sarle^nS taffen. 

B.  UuterftüfeungSfaffen  für  ©r= 
trantung§=  unb  befonbere 
9?ot[)fälie. 

I.  ffamilien»  u.  ©rgänjungS» 

franlentaffeu. 

II.  lluterftiitjungSfaffen  für 


^attb  8, 

Sa^Iungen  ber  Slitglie» 
ber.  Stitglieberlfatipt» 
butf).  ©affnjournal, 
Sourual  jum  ^auptfuidj. 
|)aupttu:dj.  Sliet^oer» 
trag  unb  fpaugorbnung. 
II.  Scr  Spar»  unb  Sauuerein, 
©.  ©.  ni.  befdjr.  ,§nftpflid)t 
in  ©öttiugen,  uon  Dr.2SiI  = 
f)  e I nt  5R  u p r e d)  t. 

III.  Scr  Serlincr  Spar»  unb 
Sauuerein  ©.  ©.  ui.  befefjr 
Haftpflicht,  uon  Dr.  §. 
9t  I b r e cf)  t. 

9lnlagcn:  Seftimmitugen 
für  bie  ©efdjäftgfüljrung. 
Seftimmungeii  für  bie 
Sauait§fül)rnngen. 

$flltb  4. 

uerfdjiebeuegun’d'e  f.^ülfg» 
taffen  int  engeren  Sinne). 

a)  9Uigfd)IiefjIid)  uom  9tr= 
Beitgeber  botirte  Äaffen. 

b)  Staffen  mit  Seitragdgat)» 
hingen  ber  9lrbeiter. 

9tnbang:  Unterftiitjung 

3um  fWilitärbicnft  ein» 
berufener  Arbeiter. 

C.  Unterftiitptnggfaffen  fürfsit» 
ualibität,911tcr  u.Sobegfall. 


a)  9lu§fcf)Iief3lid)  uont  9tr» 
beitgeber  botirte  Staffen 

b)  Staffen  mit  Seitragg^al)» 
hingen  ber  9trbeiter. 

c)  9tugfd)I.  b.  Seiträge  ber 
9(rbeitercrf)altene^a}fen. 

9lnf)aug:  2eben§uerfidier 
II.  Seridjt  über  ben  erften  Ser» 
banblutiggtag,  ffreitag,  ben 
21.  9lpril  1893. 
©röffnuuggrebcb.Sorfi^. 
©efetiäftlicfieSWittbeiluugen. 
Seferat  b.  §rn.  ©eb-  Stom» 
merjicnratl)  öedjcllfäufer. 
SiStuffion. 

B.  gürforge  für  Stinber 
ititb  ^ugenblicbe. 

I.  Sorberidjt. 

A.  ffiirforge  für  Stinber. 

I.  gürforge  im  9t(Igcnieiucu 

a)  Sie  nod;  uid^t  Sdjul» 
Pflichtigen. 

b)  Sie  fd)idpf[id)tig.  Stinber. 

II.  giirf.  f.  2Baifcn  u.  Sraute. 

a)  Sic  2Baifen. 

b)  Sic  Shaufeti. 

9tnf)ang:  S-abriffdjuleu. 

B.  gürforge  f.  junge  Stcibdjen. 
I.  gürforge  f.  Sto'ft  u.9SoI)ng. 

a)  Släbdjeitbcime. 

b)  Unterbringung  ber  Stäb» 
eben  in  gantilien. 


II.  .§au§tuirtbfd)aftlicbe  llu» 
tcnueifungciT. 

a)  ©efammtbaugbolt.»  unb 
Slodjunterricbt. 

b)  .fmubarbcitg»  unb  gort» 
bilbunggunterridjt 

III.  gürforge  uerfebieb.  9Irt. 

Screiu  ber  grcuubiituen 
junger  Stäbdjcn. 
Slrbeiterinnenuereine. 
9lnbaug:  Ser  Södjter» 

fonb§,  geftiftetuouStaöpar 
kppenjeller  in  3ünd). 

0.  ffürforge  für  junge  Surfcben. 
I.  Uinfaffenbe  gürforge. 

a)  Verbergen. 

b)  §ürf.  f.b.  geift  Sntiuidel. 

c)  Sebruerträge. 

II.  gürforg.  i.  uerfd).9tid)tuug. 

a)  Sftcge  b.  Öeibegübungeti. 

b)  pflege  be§  ©efangeg. 

c)  Sflege  b.iynftrum. »Stuft!. 
9tnbaug : gortbilbunggroefen . 

a)  Siebere  ffortbilbung. 

b)  §öbere  9tugbilbung. 

II.  Scridjt  über  ben  jioeiten 

Scrbanblunggtag,  Sonit= 
abenb,  bett  22.  9IpriI  1893. 
Sefcrat  bei  §errn  Staplau 
Dr.  Sramnter. 

SiStuffion. 

9tamen§uer3eid;nib. 


sü*  i'li  4Jte,itls  *«S  arÄ.s,03.öls  i ; --  i -•  ’i  - 'i i i j ' 


IMei.  ^ 


Carl  Heymanns  Verlag  in  Berlin  W.,  Mauerstrasse  44.  — Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld  in  Berlin  W. 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  18.  September  1893. 


Nummer  51. 


SOZIALPOLITISCHES 

CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin. 


Erscheint  jeden  Montag. 

Zu  beziehen 

durch  alle  Buchhandlungen,  Spediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf 

Anzeigenpreis  für  die  dreigespaltene  Colonelzeile 
40  Pfennig. 


INHALT. 


Ein  Vorschlag  betreffend  die 
Zwangsversteigerungen 
bäuerlicher  Güter.  Von 
Privatdozent  Dr.  Leo  Arons. 

Die  s o z ia  1 p o 1 i t i sch e Se i te  d e r 
französischen  Kammer- 
wahlen. Von  Leo  Lrankel. 

Soziale  Wirtschaftspolitik  und 
Wirthschaftsstatistik : 

Die  deutschen  Erwerbs-  u.  Wirth- 
schaftsgenossenschaften  im  Jahre 
1892.  Von  Gerichts- Assessor 
Dr.  Hans  Crüger. 

Grossbetrieb  und  Aktiengesell- 
schaften in  Sachsen. 

Staatshilfe  für  die  Arbeiter  der 
Obersteiner  Schleifindustrie. 

Arbeiterzustände : 

Amtliche  Erhebungen  über  die 
deutsche  Hausindustrie. 

Städtisches  Arbeitsamt  in  Stuttgart. 

Gesundheitsverhältnisse  der  Bau- 
arbeiter. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewe- 
gung: 

Arbeiterbureau  der  Gewerkschaften 
in  Mainz. 

Der  englische  Kohlengräber-Aus- 
stand. 

Zur  Lohnbewegung  der  Gruben- 
arbeiter von  Pas-de-Calais. 

Arbeiterschutzgesetzgebung : 

Arbeitspausen  für  jugendliche  Ar- 
beiter. 

Arbeiterversicherung : 

Unfälle  auf  deutschen  Eisenbahnen. 

Schulwesen : 

Preussische  Volksschulzustände. 
Von  Dr.  H.  Lux. 

Berliner  Fortbildungsschulen  im 
Jahre  1892/93. 

Soziale  Hygiene: 

Trunksucht  der  Frauen  in  England. 

Eingesendete  Schriften. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Ein  Vorschlag  betreffend 
die  Zwangsversteigerungen  bäuerlicher  Güter. 

Die  Nothlage  und  der  dadurch  bedingte  ständige  Rück- 
gang der  Kleinbetriebe  in  der  Landwirthschaft  ebenso  wie 
in  der  Industrie,  ist  eine  Thatsache,  die  von  Jahr  zu  Jahr 
schärfer  hervortritt.  Der  unbefangene  Sozialpolitiker  be- 
trachtet dies  als  eine  unvermeidliche  Folge  der  wirthschaft- 
lichen  Entwickelung,  die  sich  durch  allerhand  reaktionäre 
Maassregeln  nicht  hemmen  und  noch  weniger  rückgängig 
machen  lässt;  aber  auch  er  wird  bereit  sein,  durch  wohl- 
überlegte Eingriffe  einer  nicht  engherzigen  Gesetzgebung 
unnöthige  Härten  zu  beseitigen,  welchen  die  wirthschaftlich 
schwachen  Handwerker  und  Kleinbauern  in  ihrem  Todes- 
kampf gegen  den  Kapitalismus  nur  allzu  häufig  ausgesetzt 
sind. 

Zu  diesen  unnöthigen  Härten  gehört  es,  wenn  ein 
Bauer,  welcher  die  Schulden  nicht  mehr  zu  tragen  vermag, 

' sein  Gütchen  in  der  Zwangsversteigerung  mangels  kauf- 
kräftiger Bieter  zu  einem  Spottpreis  an  seinen  Gläubiger 
fallen  sieht,  während  ihm  bei  einem  reellen  Gebot  vielleicht 
noch  eine  kleine  Summe  zur  Neubegründung  einer  Existenz 
I bliebe;  und  doch  ist  dieser  Fall  nicht  selten.  In  der  Schrift, 
welche  der  Vetein  für  Sozialpolitik  im  Jahre  1887  unter 


dem  Titel:  Der  Wucher  auf  dem  Lande  herausgab,  wird 
auf  diesen  Umstand  von  Berichterstattern  aus  verschiedenen 
Landesgegenden  hingewiesen.  So  schreibt  man  aus  Hessen 
(1.  c.  p.  79):  „Dagegen  pflegen  Handelsleute,  welche  Land 
billig  oder  bei  Zwangsverkäufen,  in  welchen  e r - 
fahrungsmässig  Bauern  nicht  gern  mitbieten,  zu 
Schleuderpreisen  erworben  haben,  dasselbe  den 
Bauern,  welche  von  ihnen  abhängig  sind,  zu  hohen  Preisen 
zu  verkaufen  ....  Können  nach  Bezahlung  der  ersten 
Ziele  die  übrigen  nicht  . . bezahlt  werden,  wird  das 
Grundstück  zur  Zwangsversteigerung  gebracht, 
gegen  die  Restforderung  mangels  Mitbieter,  zu- 
rückerworben . . . .“  Aus  Baden,  Erhebungsgemeinde 
Wasenweiler,  Kreis  Freiburg,  (1.  c.  p.  23):  „Als  grösster 

Unfug  muss  endlich  jene  Thatsache  bezeichnet  werden,  wo- 
nach die  Wucherer  . . beim  Geldmangel  der  Land- 
wirthe  in  geringen  Jahren  auf  Zahlungen  drängen,  event. 
Liegenschaftsvollstreckung  veranlassen,  um  da- 
durch billige  Felder  im  sogen.  Klumpenverkauf  zu  er- 
halten.“ Und  aus  der  preussischen  Reinprovinz  (Umgegend 
von  Trier):  „Oft  aber  scheut  sich  der  Gläubiger  nicht,  wegen 
einer  Schuld  von  einigen  hundert  Mark  ein  ganzes  Ver- 
mögen im  Werthe  von  einigen  tausend  Mark  subhastiren 
zu  lassen.  Auch  bei  einer  solchen  zwangsweisen  Ver- 
äusserung  des  schuldnerischen  Vermögens  steigert  der 
Gläubiger  Ländereien  an  zu  niedrigen  Preisen“,  da  die 
anderen  Bauern,  zum  Theil  von  demselben  Gläubiger  ab- 
hängig, aus  Furcht  nicht  mitbieten  oder  weil  sie  keine 
augenblickliche  Verwendung  haben. 

Diesen  Missständen  würde  fast  ganz  gesteuert  werden, 
wenn  die  Gemeinden,  in  welchen  die  zur  Zwangsversteigerung 
gelangenden  Grundstücke  liegen,  bis  zu  einer  gewissen 
Preishöhe  als  Bieter  auftreten  könnten.  Wir  wollen  im 
Folgenden  einen  dahingehenden  Vorschlag  machen  und  zu 
begründen  versuchen. 

Uns  erscheint  ein  Reichs-  oder  Landesgesetz  noth- 
wendig,  welches  etwa  folgendes  bestimmt: 

„Bei  jeder  in  ihrer  Gemarkung  stattfindenden  Zwangs- 
versteigerung eines  Grundbesitzes  bis  zu  50  ha  tritt  die 
Gemeinde  als  Bieter  bis  zur  Höhe  eines  bestimmten 
Vielfachen  des  Katastralreinertrages  auf.  Im  Fall  des  Zu- 
schlages erhält  sie  vom  Staat  die  Baarmittel  zu  3l/2  (oder 
33/4)  pCt.  als  Darlehen.  Für  dieses  Darlehen  haftet  1)  das 
erworbene  Grundstück,  welches  bis  zur  völligen  Rück- 
zahlung im  Gemeindebesitz  bleiben  muss,  2)  die  Gemeinde 
selbst.“ 

Wir  beschränken  unseren  Vorschlag  zunächst  auf  den 
kleinsten  und  mittleren  Grundbesitz.  Einmal  wird  dadurch 
die  Ausführbarkeit  erleichtert,  andererseits  triftt  die  weit  über- 
wiegende Z ah  1 der  Zwangsversteigerungen  aut  diesen,  wenn- 


606 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  51. 


gleich  z.  B.  für  die  ganze  preussische  Monarchie1)  im  Jahr 
1891/92  fast  80  pCt.  der  zwangsversteigerten  Fläche  (land- 
und  forstwirtschaftlichen  Grund  und  Bodens)  auf  Betriebe 
von  mehr  als  50  ha,  ja  60,74  pCt.  auf  solche  von  200  ha  und 
mehr  entfielen.  Die  amtliche  Statistik  lässt  dieses  wichtige 
Resultat  bedauerlicherweise  nicht  erkennen:  der  Antheil  der 
einzelnen  Grössenklassen  an  den  Zwangsversteigerungen  ist 
nur  nach  Prozenten  der  Fläche,  nicht  nach  Zahl  der  Betriebe 
angegeben.  Für  letztere  lässt  sich  aber  eine  untere  Grenze 
berechnen,  indem  man  für  die  3 Klassen  von  50—100  ha, 
100 — 200  ha,  mehr  als  200  ha  die  Grösse  der  versteigerten 
Güter  zu  50,  100  und  200  ha  als  Minimum  annimmt  und 
mit  diesen  Zahlen  in  die  Grösse  der  Fläche  dividirt.  Da- 
durch erscheint  natürlich  die  Zahl  dieser  Güter  erheblich 
zu  hoch.  Nach  Abzug  derselben  von  der  Gesammtzahl  der 
Versteigerungen  erhält  man  mithin  eine  Zahl,  die  angiebt 
wieviel  Versteigerungen  mindestens  auf  Betriebe  unter 
50  ha  entfielen.  Nach  dieser  Rechnung  ergiebt  sich  für  die 
preussischen  Provinzen  folgendes  Bild. 

Es  entfielen  1891/92  von: 


Zwangsversteigerungen  insgesammt 

auf  Besitz  unter 
50  ha 

mindestens 

Ostpreussen 

287 

227 

Westpreussen  .... 

172 

94 

Brandenburg  .... 

91 

73 

Pommern  . . . 

70 

25 

Posen  

114 

67 

Schlesien 

368 

311 

Sachsen  .... 

68 

61 

Schleswig-Holstein  . . 

34 

30 

Hannover  . 

70 

62 

Westfalen  . . . 

38 

36 

Hessen-Nassau  .... 

56 

56 

Rheinland 

167 

166 

Hohenzollern 

1 

1 

Monarchie 

1536 

1209. 

d.  h.  mindestens  78.7  pCt. 

In  Wirklichkeit  ist  selbstverständlich  das  Verhältniss 
noch  viel  ungünstiger  für  den  Besitz  unter  50  ha. 

Uebrigens  wird  es  Sache  des  Gesetzgebers  sein,  die 
von  uns  vorläufig  angenommene  Grenze  von  50  ha  nach 
genaueren  statistischen  Aufstellungen  zu  verengern  oder  zu 
erweitern. 

Ebensowenig  können  wir  ohne  weiteres  das  Vielfache 
des  Katastralreinertrages  angeben,  bis  zu  welchem  sich  das 
Gebot  der  Gemeinde  erstrecken  darf,  obgleich  dieser  Punkt 
geradezu  ausschlaggebend  ist.  Wird  dieses Vielfachezuniedrig 
gegriffen,  so  würde  die  ganze  Maassregel  wirkungslos;  greift 
man  zu  hoch,  so  könnten  den  Gemeinden  durch  ihre  Haftung 
finanzielle  Schwierigkeiten  erwachsen.  Doch  wird  man  nach 
dieser  Seite  hin  nicht  zu  ängstlich  sein  dürfen;  so  giebt  z.  B. 
die  „Landschaft  der  Provinz  Westfalen“  Darlehen  bis  zum 
30  fachen  des  Katastralreinertrages  zu  4J/4pCt.,  worin  die 
Amortisation  in  50  bis  55  Jahren  ohne  weiteres  einge- 
schlossen ist.  Die  Darlehen  sind  unkündbar,  der  Zinsfuss 
unerhöhbar.  Unseres  Erachtens  könnte  das  Gemeindegebot, 
bei  dem  billigen  Zinsfuss,  zu  dem  die  Gemeinde  das  Geld 
erhalten  soll,  beträchtlich  höher  sein,  zumal  sie  bei  Anfall  mit 
der  Verwaltung  der  Güter  wohl  kein  schlechtes  Geschäft 
machen  würde,  während  Banken  u.  dergl  diese  Eventualität  zu  j 
vermeiden  suchen  müssen.  Möglicherweise  würde  es  sich  auch 
empfehlen,  das  erwähnte  Vielfache  je  nach  den  Verhältnissen 
der  betreffenden  Provinz  oder  auch  nach  der  Grösse  der 
Betriebe  verschieden  anzusetzen. 

Eine  weitere  frage  ist,  ob  den  Gemeinden  der  Zwang 
zum  Mitbieten  bis  zur  fixirten  Höhe  auferlegt  oder  ob  das 
Mitbieten  dem  Belieben  der  Gemeinde  im  Einzelfall  über- 

0 Statistisches  Handbuch  für  den  preussischen,  Staat  Bd.  II 
p.  556  Berlin  1893. 


lassen  werden  soll.  Das  letztere  erscheint  uns  nicht  ange- 
bracht. da  hierbei  allerhand  Nebenumstände  die  Entscheidung 
beeinflussen  oder  hinziehen  würden.  Dagegen  könnte  man, 
um  dem  Vorschlag  leichter  Eingang  zu  verschaffen,  daran 
denken,  ob  man  es  den  Gemeinden  überlassen  will,  durch 
Ortsstatut  ein  für  allemal  die  Bestimmungen  des  Gesetzes 
bei  sich  einzuführen. 

Das  Darlehen  seitens  des  Staates  wäre  dem  letzteren  ab- 
solut sichei  gestellt;  es  ist  eine  lediglich  technische  Frage, 
ob  der  Staat  die  Gelder  unter  Zuhilfenahme  der  Reichsbank, 
oder  besonders  zu  schaffender  Landesbanken,  oder  durch 
von  den  Landwirthschaftsministerien  zu  verwaltende  Fonds 
vorschiessen  will.  Bei  der  vollkommenen  Sicherheit  der 
Anlage  (Haftung  des  Grundstücks  und  Haftung  der  Gemeinde) 
könnte  man  auch  darandenken,  ob  hier  nichteine  Anlage  für  die 
durch  die  V ersicherungsgesetze  zusammenfliessendenSummen 
geboten  wäre.  Uebrigens  werden  grosse  Mittel  nicht  erfor- 
derlich sein,  da  das  Gebot  der  Gemeinde  zunächst  nur  eine 
Verschleuderung  des  Gutes  bei  der  Zwangsversteigerung 
verhüten  soll,  der  Zuschlag  also  nicht  allzu  oft  erfolgen 
wird;  andererseits  wird  die  Gemeinde,  welche  in  der  Lage 
ist,  einen  günstigeren  Zeitpunkt  abzuwarten,  fast  immer 
binnen  wenigen  Jahren  zum  Wiederverkauf  schreiten  können, 
falls  sie  es  nicht  vorzieht  bei  dieser  Gelegenheit  Gemeinde- 
eigenthum zu  schaffen,  bezw.  zu  vermehren.  Wir  erinnern 
an  den  günstigen  Einfluss  von  Gemeindegrundbesitz  auf 
die  Gemeindefinanzen.  (Vergl.  Sozialpolitisches  Centralblatt, 
1892,  II.  Jahrg,  Nr.  8,  p.  90). 

Dadurch,  dass  die  Gemeinde  selbst  für  das  staatliche 
Darlehen  mitverhaftet  ist,  wird  neben  der  Garantie  für  den 
Staat,  auch  die  bestmögliche  Verwaltung  durch  die  Ge-  i 
meinde  gesichert.  Höchstens  wäre  noch  Vorsorge  zu 
treffen,  dass  nicht  nach  Amortisation  eines  Theiles  des 
Darlehens  das  betreffende  Grundstück  einem  einzelnen  ein-  ' 
flussreichen  Gemeindemitglied  zu  billige-m  Preise  zufällt. 
(Verbot  der  Veräusserung  unter  dem  Erstehungspreis?) 

Wir  haben  bereits  oben  darauf  hingewiesen,  dass  unser 
Vorschlag  ausser  der  Sicherung  eines  reellen  Mindestgebotes 
bei  Zwangsversteigerungen  noch  weitere  nützliche  Folgen  ‘ 
zeitigen  könnte.  Durch  Einführung  des  vorgeschlagenen 
Gesetzes  in  einer  Gemeinde  erlangen  nämlich  sofort  sämmt- 
üche  Hypotheken  auf  Grundstücke  in  ihrer  Gemarkung  bis 
zui  Höhe  des  in  Vielfachen  des  Katastralreinertrages  ein- 
für  allemal  festgesetzten  Mindestgebotes  unzweifelhafte  Sicher- 
heit; der  Zinsfuss  für  dieselben  würde  sehr  niedrig  be- 
messen und  die  Frage  eines  gesunden  Realkredites  für  den 
kleinern  und  mittlern  Grundbesitz  ihrer  Lösung  näher  geführt. 

Dazu  kommt,  dass  eventuelle  Erwerbungen  durch  die 
Gemeinden  auf  die  kleinbäuerlichen  Verhältnisse  nur  günstig 
wirken  können.  Der  Händler  hat  im  allgemeinen  ein  Interesse 
an  der  Zerstückelung  des  erstandenen  Besitzes,  schon  um  seine 
Waare  möglichst  schnell  wieder  an  den  Mann  bringen  zu 
können;  die  Gemeinde  hingegen  kann  warten,  eventuell 
indem  sie  den  ohne  sein  Verschulden  in  Vermögensverfall 
gerathenen  tüchtigen  Wirth  als  Pächter  beibehält,  bis  sie 
nach  Erwerb  mehrerer  Gütchen  eine  zweckmässigere  Ver- 
theilung,  sei  es  zu  Verkaufs-  oder  zu  Pachtzwecken  vor- 
nehmen kann. 

Nach  verschiedenen  Seiten  hin  weist  also  unser  Vor- 
schlag Vortheile  auf;  in  ihm  liegt  aber  auch  der  Keim  zu 
einer  gesunden  Weiterentwicklung;  bewährt  er  sich  in  der 
Praxis,  so  weist  er  naturgemäss  zunächst  auf  eine  Ueber- 
nahme  des  gesammten  Hypothekenwesens  durch  die  Ge- 
meinden unter  Staatskontrolle  hin,  und  zwar  in  einer  Weise 
die  Willkürlichkeiten  ausschliesst.  Schon  in  seiner  jetzigen 
Gestalt  aber  bringt  er  die  Gemeinden  als  solche  in  un- 
mittelbare rechtliche  Beziehung  zu  ihrem  gesammten 
Grund  und  Boden. 

Berlin . Leo  Arons. 


No.  51. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


607 


Die  sozialpolitische  Seite  der  französischen 
Kammerwahlen. 


Wer  die  Bedeutung  der  jüngsten  französischen  Kammer- 
wahlen richtig  erfassen  will,  der  darf  deren  Ergebniss  nicht 
so  sehr  von  der  politischen  als  von  der  sozialen  Seite  aus 
betrachten,  da  er  sonst  leicht  zu  Fehlschlüssen  gelangt. 
Von  der  politischen  Seite  aus  betrachtet,  zeigen  nämlich 
die  Wahlen  vornehmlich  ein  bedeutendes  Anschwellen  der 
gemässigten  republikanischen  Partei  bei  einem  gleichzeitigen 
Schwinden  der  reaktionären  wie  der  radikalen  Partei.  Es 
scheint  demnach,  — und  die  gemässigten  Republikaner 
nehmen  den  Schein  für  Wahrheit  — , als  hätte  die  Mehrheit 
der  Wähler  ihre  volle  Uebereinstimmung  mit  den  An- 
schauungen und  dem  Wirken  der  gemässigten  bezw. 
der  Regierungspartei  durch  ihre  Stimmzettel  offen  be- 
kunden wollen.  Da  nun  diese  Partei  in  allen  ihren 
Fraktionen  ausschliesslich  die  Vertretung  der  Unter- 
nehmer darstellt,  so  ist  es  darnach  klar,  dass  die  Masse 
der  Wähler  den  Widerstand  gegen  alle  Sozialreformen,  den 
Kampf  gegen  die  Arbeitersyndikate,  die  Schliessung  der 
Zentral- Arbeitsbörse,  die  Annullirung  arbeiterfreundlicher 
Munizipal-  und  Generalrathsbeschlüsse  etc.  gutheisse  und 
die  Regierung  sowie  die  Partei,  auf  die  sie  sich  stützt, 
gleichsam  anweise,  auf  diesem  Wege  fortzuschreiten. 

Betrachtet  man  hingegen  die  Wahlen  von  der  sozialen 
Seite,  dann  zeigen  sie  sich  in  einem  ganz  anderen  Licht. 
Was  noch  kurz  zuvor  als  eine  Verminderung  der  Re- 
aktionären auf  der  einen,  der  Radikalen  auf  der  anderen 
Seite  und  als  eine  Einschwenkung  ihrer  Wähler  ins  Lager 
der  gemässigten  republikanischen  Partei  erschien,  erweist 
sich  unter  diesem  Gesichtspunkt  als  ein  Schwinden  der 
politischen  Unterschiede  der  besitzenden  Klassen,  als  ein 
Zurückweichen  der  politischen  Interessen  der  verschiedenen 
Kategorien  des  Unternehmerthums  vor  deren  gemeinschaft- 
lichen wirthschaftlichen  Interessen.  Gleichzeitig  tritt 
ihnen  aber  auch  das  Proletariat  gegenüber,  das  zum  ersten 
Male  seit  Gründung  der  dritten  Republik  in  imponirender 
Stärke  — 55  in  der  Zahl  — auf  der  politischen  Bühne  er- 
scheint. 

Es  ist  die  wirtschaftliche  Trennung  von  Kapital  und 
Arbeit,  die  Scheidung  der  Gesellschaft  in  Unternehmer- 
und Arbeiterklasse,  der  Klassenkampf  zwischen  Bourgeoisie 
und  Proletariat,  der  hier  Allen  sichtlich  zum  Vorschein 
kommt  und  den  Wahlen  ihr  eigentliches  Gepräge  aufdrückt. 

Wären  übrigens  die  gemässigten  Republikaner  in  ihrer 
grossen  Mehrheit  nicht  nur  insoweit  Republikaner  als  die 
Republik  ihre  wirthschaftlichen  Interessen  verficht,  würden 
sie  nicht  selber  die  wirthschaftliche  Seite  über  die  politische 
stellen,  dann  Hesse  es  sich  auch  kaum  erklären,  warum  sie 
den  Ralliirten,  d.  i.  den  Monarchisten,  welche  die  Republik 
nur  der  Form  nach  annehmen,  sowohl  vor  wie  während 
der  Wahlen  das  Wort  redeten,  die  Sozialrepublikaner  hin- 
gegen so  sehr  als  ihre  eigentlichen  Feinde  betrachten,  dass 
sie  — im  Gegensätze  zu  diesen,  die  bei  den  Stichwahlen 
in  allen  jenen  Bezirken,  wo  sie  keine  Aussicht  hatten,  ihre 
eigenen  Kandidaten  durchzubringen,  vor  allem  darauf  be- 
dacht waren,  die  reaktionären  Kandidaten  zu  Falle  zu 
bringen  — überall  wo  ein  Sozialrepublikaner  einem  Re- 
aktionär gegenüberstand,  die  Parole  ausgaben,  dass  es 
Pflicht  der  Ihrigen  sei,  ihr  Möglichstes  zur  Niederlage  des 
sozialrepublikanischen  Kandidaten  beizutragen.1) 

Wenn  nun  trotzdem  fünfundfünfzig  Sozialisten 


>)  Die  Zahl  der  Kandidaten  ist  in  Frankreich  bei  den  Stich- 
wahlen ebenso  wenig  begrenzt  wie  den  Hauptwahlen;  der  Unter- 
schied zwischen  dem  ersten  und  zweiten  Wahlgang  liegt  nur 
darin,  dass  bei  diesem  die  relative  Mehrheit  der  Stimmen  genügt, 
um  Abgeordneter  zu  werden,  beim  ersten  Wahlgang  aber  die 
absolute  Mehrheit  hierzu  erforderlich  ist. 


gewählt  worden  sind,  so  ist  dies  sicherlich  eine  strenge 
Mahnung  an  die  besitzenden  Klassen,  die  von  den  wirth- 
schaftlichen Verhältnissen  bedungenen  sozialpolitischen 

Reformen  ernstlich  in  Angriff  zu  nehmen.  Es  sind  nicht 
bloss  Sozialisten,  die  dies  verlangen  oder  es  erst  heute 
verlangen.  So  heisst  es  in  einem  von  dem  Abgeordneten 
Richard  Waddington  in  der  Session  von  1890  der  Kammer 
vorgelegten  Bericht,  betreffend  die  vom  Senate  1882  und  1889 
zurückgewiesene  Arbeiterschutzvorlage,  die,  wie  hier 

nebenbei  bemerkt  sei,  in  ganz  verstümmelter  Weise  am 
2.  November  1892  zum  Gesetz  erhoben  wurde:  „Man  muss 
gestehen,  dass  die  Lage  heute  nicht  mehr  dieselbe  ist,  dass 
die  Ereignisse  vorangeschritten  sind,  dass  die  öffentliche 
Meinung,  die  sich  bis  dahin  den  sozialen  Fragen  gegenüber, 
deren  Lösung  sie  den  Maximen  der  politischen  Oekonomie 
und  der  Thätigkeit  der  individuellen  Philantropie  unter- 
ordnete, zu  indifferent  zeigte,  endlich  rege  geworden  ist. . . . 
Das  Land  erregt  sich  über  die  Lage  der  Armen  und 
Schwachen  und  indem  es  begreift,  dass  die  vorgeblichen 
Gesetze  des  Laisser  faire  unvermögend  als  Heilmittel  sind, 
fordert  es  die  Intervention  der  Gesammtheit,  damit  sie  das 
Schutz-  und  Vertheidigungswerk  vollführe,  das  zu  voll- 
bringen die  isolirten  Kräfte  unfähig  sind.“ 

Dass  die  öffentliche  Meinung  in  Bezug  auf  die  sozialen 
Fragen  heute  noch  reger  als  vor  drei  Jahren  ist,  dass  es 
heute  noch  dringender  als  vor  drei  Jahren  nach  sozialen 
Reformen  ruft,  was  beweist  dies  besser  als  eben  die  Wahl 
von  so  vielen  sozialistischen  Abgeordneten? 

Die  Wahlen  haben  in  ihrer  Gänze  gezeigt,  dass  das 
französische  Volk  den  Fortschritt  auf  allen  Gebieten  will. 
Es  hat  die  Reaktion,  wo  immer  sie  sich  zeige  und  welches 
Kleid  sie  auch  trage,  wenn  auch  nicht  gänzlich,  so  doch 
zum  guten  Theil  zurückgeworfen.  Es  hat  gezeigt,  dass  es 
von  den  Royalisten,  Imperialisten,  Klerikalen  und  diesen 
verwandten  Parteien  gleich  wenig  wissen  will. 

Wenn  es  auch  gleichzeitig  die  Radikalen  zurückgeworfen 
hat,  so  Ist  dies  nur  ein  Beweis,  dass  das  Volk  arbeiter- 
freundliche Thaten  und  nicht  Worte  haben  will,  und  es  hat 
darum  auch  nicht  selten  einfache  Arbeiter  an  deren  Stelle 
gesetzt. 

Dies  alles  kann  doch  nicht  dahin  gedeutet  werden,  dass 
das  französische  Volk  den  sozialen  Reformen  feindlich  gegen- 
über steht,  es  sei  denn,  dass  man  auch  die  Niederlage  des 
Oekonomisten  Yves  Guyot,  der  noch  kurz  vor  Schluss  der 
letzten  Kammer  einen  heftigen  Ausfall  gegen  die  Pariser 
Arbeitsbörse  machte  und  knapp  vor  den  Wahlen  ein  Buch 
gegen  die  Sozialisten,  „La  Tyrannie  socialiste"  schrieb,  eben- 
so dahin  deuten  will,  wie  die  Niederlage  des  Oekonomisten 
Leroy-Beaulieu,  der  ein  dickbändiges  Werk  gegen  den  Kol- 
lektivismus schrieb  und  Eugen  Richter’s  „Sozialdemokra- 
tische Zukunftsbilder“  unter  dem  Titel:  „Oü  mene  le  Socia- 
lisme“  in  Frankreich  eingeführt  hat.  Will  man  aber  das, 
dann  muss  man  auch  verschweigen,  dass  der  Eine 
einem  sozialistischen,  der  Andere  einem  sozialistenfreund- 
lichen Kandidaten  erlegen  ist,  wie  man  auch  verschweigen 
muss,  dass  das  Seinedepartement,  in  welchem  sich  der 
Kampf  gegen  die  Arbeitersyndikate  am  fühlbarsten  machte, 
überwiegend  sozialistisch  stimmte. 

Und  all  dem  gegenüber  wollen  die  Vertreter  des 
Unternehmerthums,  wie  dies  aus  einer  ihrer  jüngsten  Er- 
klärungen hervorgeht,  sich  mehr  denn  je  allen  sozialen  Re- 
formen entgegenstemmen.  Sie  sprechen  angesichts  der  Wahl- 
ergebnisse von  der  sozialen  Gefahr,  die  den  Bestand  Frank- 
reichs wie  der  Republik  bedrohe  und  den  Zäsarismus  her- 
beiführen könne,  und  vergessen,  dass  Frankreich  gerade 
unter  ihrer  Herrschaft  vor  nicht  allzulanger  Zeit  eben  dar- 
um, weil  sie  allen  Rufen  nach  sozialen  Reformen  taub  gegen- 
überstanden, dem  Zäsarismus  zu  verfallen  drohte,  und  dass 
gerade  sie  es  waren,  die  die  Arbeiter  bei  jeder  Gelegenheit 
selbst  immer  auf  den  Stimmzettel  als  auf  das  beste  Mittel 


608 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  51. 


hinwiesen,  um  Reformen,  welcher  Art  immer,  durchzusetzen. 
Die  Arbeiter  haben  sich  nun  dieses  Mittels  in  reichlichem 
Maasse  bedient;  an  dem  Unternehmerthum  ist  es  jetzt,  die 
sich  hieraus  ergebenden  Schlüsse  zu  ziehen  und  den  so  oft 
geforderten  sozialen  Reformen  freie  Bahn  zu  eröffnen.  Je 
früher  und  je  williger  dies  geschieht,  desto  gesicherter  wird 
der  soziale  Frieden  sein. 

Paris'  Leo  Frankel. 


Soziale  Wirthschaftspolitik  und  Wirthschafts- 

statistik. 


Die  deutschenErwerbs-  und  Wirthschaftsgenossenschaften 
im  Jahre  1892. 

Der  Geschäftsbetrieb  der  Genossenschaften  bildet  ein  Stück 
sozialer  Praxis.  Wir  haben  es  bei  den  Genossenschaften  mit 
Wirthschaftsorganisationen  zu  thun,  die  auch  den  kleinsten 
Betrieben  und  kleinsten  Wirthschaften  die  Vortheile  des 
Grossbetriebes  und  Grossbezuges  zugänglich  machen  und 
nicht  bloss  in  wirthschaftlicher  sondern  "auch  in  sittlicher 
Beziehung  von  grosser  Bedeutung  sind;  sie  heben  nicht 
nur  die  wirtschaftliche  Lage  ihrer  Mitglieder,  sondern 
erziehen  diese  auch  zur  pünktlichen  Erfüllung  ihrer  Ver- 
bindlichkeiten, zur  Ordnung  in  der  Wirthschaft,  sie  erwecken 
den  Sparsinn  und  bieten  Gelegenheit  und  Möglichkeit  zu 
seiner  Betätigung,  sie  stärken  das  Vertrauen  zur  eigenen 
Kraft,  denn  sie  beruhen  auf  der  Selbstverantwortlichkeit 
und  Selbstverwaltung  derer,  denen  sie  dienen. 

Im  Jahre  1849  gründete  Hermann  Schulze  in  Delitzsch 
die  ersten  Genossenschaften,  die  wir  hier  im  Sinne  haben: 
Vereinigungen  zur  gemeinschaftlichen  Förderung  von  Ge- 
werbe und  Wirthschaft  ihrer  Mitglieder.  Mit  zwei  Rohstoff- 
genossenschaften (Tischler  und  Schuhmacher)  begann  die 
von  Schulze  eingeleitete  Genossenschaftsbewegung,  und  am 


3L  Mai  1893  bestanden  8921  Genossenschaften.  Nicht 
sprungweise  ist  diese  Ausdehnung  und  Verbreitung  erfolgt, 
sondern  Schritt  für  Schritt  ist  sie  vor  sich  gegangen,  viele 
Hindernisse  mussten  überwunden  werden,  ehe  ein  gesicherter 
Rechtszustand  erreicht  wurde;  es  galt,  das  Misstrauen  der 
Regierungen  zu  überwinden  und  einen  sicheren  Rechts- 
boden durch  Schaffung  einer  neuen  Gesetzgebung  zu 
gewinnen. 

Jahr  für  Jahr  erscheint,1)  von  dem  Anwälte  des  All- 
gemeinendeutschen Genossenschaftsverbandes  (F.  Schenk) 
herausgegeben,  der  Jahresbericht  über  die  auf  Selbsthilfe 
gegründeten  deutschen  Erwerbs-  und  Wirthschaftsgenossen- 
schaften“. Die  Jahresberichte  bieten  nicht  bloss  ein  reiches 
statistisches  Material,  sondern  geben  in  einer  Einleitung 
einen  Ueberblick  über  die  Genossenschaftsbewegung  in  dem 
abgelaufenen  Jahre,  eine  Darstellung  der  Grundsätze  der 
Genossenschaften  und  ihrer  geschäftlichen  Lage.2) 

Der  Jahresbericht  für  1892  ist  soeben  zur  Ausgabe 
gelangt,  und  es  verlohnt  wohl  der  Mühe  einen  Einblick  in 
dieses  Werk  zu  thun,  welches  beredtes  Zeugniss  über  die 
Wirksamkeit  der  Genossenschaften  ablegt. 

Die  Anzahl  der  Genossenschaften  ist  von  8418  am 
31.  Mai  1892  auf  8921  am  31.  Mai  1893  gestiegen.  Eine 
Vermehrung  hat  hauptsächlich  auf  dem  Gebiete  des  land- 
wirtschaftlichen Genossenschaftswesens  stattgefunden,  und 
hier  sind  es  wieder  in  erster  Reihe  die  Raiffeisen’schen 
Darlehnskassen,  die  einen  steten  Zuwachs  erlangt  haben; 
die  Regierungen  sind  unaufhörlich  bemüht  für  die  Ver- 
breitung dieser  Kasse  durch  Rath  und  That  zu  wirken,  ob- 
gleich die  Grundsätze  des  Geschäftsbetriebes  dieser  Kassen 
wichtigen  wirthschaftlichen  Ansprüchen  nicht  genügen.  Das  ' 
hier  von  den  Behörden  eingeschlagene  Verfahren  ist  durch- 
aus nicht  unbedenklich,  sie  belasten  sich  zum  Theil  mit 
einer  Verantwortung,  die  in  kritischen  Zeiten  sich  sehr  : 
fühlbar  machen  kann.  Folgende,  nach  den  Jahresberichten 
für  1892  und  1893  zusammengestellte  Tabelle  bietet  ein  Bild 
über  die  Verbreitung  der  Genossenschaften  nach  Gattungen 
und  Haftarten. 


• 

D a r u 

nter  befanden  sich 

Genossenschafts- 

Es  bestanden 

mit  unbeschränkter 

mit  beschränkter 

mit  unbeschränkter 

a r t 

Haftpflicht 

Haftpflicht 

Nachschusspflicht 

nicht  eingetragen 

am  3 1 . Mai 

am  3 1 . Mai 

am  31 . Mai 

am  3 1 . Mai 

am  31.  Mai 

am  31 . Mai 

am  3 1 . Mai 

am  31 . Mai 

am  31.  Mai 

am  3 1 . Mai 

1892 

1893 

1892 

1893 

1892 

1893 

1892 

1893 

1892 

1893 

Kreditgenossenschaften 

4401 

4791 

4019 

4406 

210 

241 

22 

22 

150 

122 

Konsumvereine 

1122 

1283 

506 

485 

469 

679 

5 

6 

142 

119 

Gewerbliche  Rohstoffgenossen- 

schäften 

110 

64 

52 

45 

4 

8 

1 1 

Landwirthschaltliche  Rohstoff- 

genossenschaften 

1020 

1008 

810 

806 

72 

104 

1 

1 

1 

197 

Ql 

Gewerbliche  Magazingenossen- 

schäften 

59 

48 

28 

28 

8 

1 | 

-| 

\ 

99 

Q 

Landwirtschaftliche  Magazin- 

genossenschaften 

Gewerbliche  Produktivgenossen- 

7 

4 

3 

3 

— 

— 

4 

1 

schäften 

151 

128 

80 

65 

46 

55 

2 

25 

6 

Landwirtschaftliche  Produktiv- 

genossenschaften 

1087 

1196 

879 

136 

121 

176 

25 

39 

62 

45 

Gewerbliche  Werkgenossen- 

schäften 

13 

14 

11 

12 

1 

1 

-| 

Landwirtschaftliche  Werk- 

genossenschaften 

299 

208 

46 

46 

16 

17 

237 

14^ 

Baugenossenschaften 

55 

77 

17 

16 

I 

36 

60 

_ 

- 

2 

1 

Ausserdem  bestehen  noch  100  Versicherungs-  und 
sonstige  Genossenschaften,  zu  den  letzteren  gehören  alle 
die,  welche  sich  nach  der  Art  ihres  Geschäftsbetriebes  nicht 
in  eine  der  aufgeführten  Kassen  einreihen  Hessen. 

Der  Rückgang  in  den  Genossenschaften  einzelner  Ge- 
werbszweige  ist  nur  scheinbar,  denn  in  Folge  angestellter 
genauer  Erhebungen  hat  sich  ergeben,  dass  eine  erheb- 
liche Anzahl  der  in  den  früheren  Jahresberichten  aufge- 
führten nicht  eingetragenen  Genossenschaften  nicht  mehr 


0 Verlag  von  Julius  Klinkhardt  in  Leipzig. 

*)  Ueber  den  Jahresbericht  für  1891  vgl.  No.  35  des  Sozial- 
politischen Centralblatts  von  1892. 


bestehen  und  zum  Theil  schon  seit  langer  Zeit  aufgelöst 
worden  waren. 

Die  Vermehrung  der  Kreditgenossenschaften  kommt 
hauptsächlich,  wie  bemerkt,  den  Raiffeisen’schen  Darlehns- 
kassen zu  Gute. 

Unter  den  1 196  landwirtschaftlichen  Produktivgenossen- 
schaften befinden  sich  1123  Meiereigenossenschaften; 
aus  den  verschiedensten,  jedoch  keineswegs  zutreffenden 
Gründen  stellen  sich  diese  Genossenschaften  nicht  gerne 
unter  das  Genossenschaftsgesetz,  selbst  eingetragene  Ge- 
nossenschaften lösen  sich  auf,  um  dann  als  nicht  eingetra- 
gene weiter  zu  bestehen,  und  grade  für  diese  Genossen- 
schaftsart, die  meistens  Grundbesitz  erwirbt,  ist  der  Mangel 


1 


1 


No.  51. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTN  Al  .BLATT. 


609 


an  Rechtspersönlichkeit  sehrgefährlich  und  kann  zu  grossen 
Schwierigkeiten  führen. 

ln  Betreff  der  beschränkten  Haftpflicht  hat  sich  auch 
im  abgelaufenen  Jahre  wieder  gezeigt,  dass  die  eifrigen 
Befürworter  der  Zulassung  derselben  sich  in  der  Annahme 
getäuscht  haben,  dass  es  nur  dieser  Haftpflicht  bedürfe, 
um  der  Genossenschaft  den  Eingang  auch  in  die  Kreise  zu 
verschaffen,  die  sich  so  lange  abseits  gehalten  haben,  an- 
geblich aus  Furcht  vor  der  unbeschränkten  Haftpflicht. 
Die  Handwerker  verhalten  sich  nach  wie  vor  gegen  den 
gemeinschaftlichen  Geschäftsbetrieb  bei  Beschaffung  der 
Rohstoffe  und  Maschinen,  bei  dem  Absatz  der  Waaren  ab- 
lehnend, und  das  neue  Regierungsprogramm  ist  auch  ganz 
gewiss  nicht  geeignet,  sie  diesem  Wege  zuzuführen,  auf 
dem  auch  der  kleinste  Handwerker  sich  die  Vortheile  des 
Grossbezuges  verschaffen  kann.  Gleichgiltigkeit  und  Neid 
unter  den  Handwerkern  sowie  Abhängigkeit  von  den  Händ- 
lern bereiten  der  Ausbreitung  dieser  Genossenschaften 
ausserordentliche  Schwierigkeiten. 

Wenden  wir  uns  nun  zu  den  Geschäftsresultaten  der 
Genossenschaften,  die  zu  den  Tabellen  des  Jahresberichts 
ihre  Geschäftsberichte  eingesendet  haben. 

Von  den  Kreditgenossenschaften  haben  1075  berichtet, 
es  sind  dies  ausschliesslich  solche  nach  dem  Schulze- 
Delitzsch’schem  System ; ihre  Mitgliederzahl  betrug  512  509. 
Ueber  die  Mitgliederbewegung  ist  ausserdem  eine  beson- 
dere Statistik  aufgenommen,  an  der  sich  942  Kredit- 
genossenschaften mit  451  887  Mitgliedern  betheiligt  haben; 
von  diesen  entfielen  auf:  selbstständige  Landwirthe,  Gärt- 
ner, Förster,  Fischer  29,4  pCt.  — - Gehilfen  und  Arbeiter  in 
diesem  Betriebe  3,2  pCt.  — Fabrikanten,  Bergwerksbesitzer, 
Bauunternehmer  3,3  pCt.  — ■ selbstständige  Handwerker 
27,3  pCt.  — Fabrikarbeiter,  Bergarbeiter  und  Handwerks- 
gesellen 5,6  pCt.  — Kaufleute,  Händler  8.7  pCt.  - Hand- 
lungsgehilfen 0,9  pCt.  — Fuhrherren,  Schiffseigenthiuner, 
Gastwirthe  4,8  pCt.  — Briefträger,  untere  Beamte,  Eisen- 
bahnarbeiter, unselbstständige  Schiffer  und  Kellner  2,3  pCt. 
— Dienstmänner  und  -Boten  0,9  pCt.  — Aerzte,  Apotheker, 
höhere  Beamte  6,2  pCt.  — Rentiers  7,4  pCt.  — Die  Hand- 
werker und  Landwirthe  bilden  56,7  pGt.  der  Mitglieder,  die 
starke  Betheiligung  der  Landwirthe  beweist  am  besten, 
dass  diese  Genossenschaften  sehr  wohl  geeignet  sind,  das 
Kreditbedürfniss  der  Landwirthschaft  zu  befriedigen.  In 
dem  Zusammenschluss  der  verschiedenen  Berufsarten  liegt 
die  sicherste  Gewähr  für  den  Bestand  und  die  Leistungs- 
fähigkeit der  Kasse. 

An  Krediten  wurden  von  den  1075  Kreditgenossen- 
schaften gewährt:  573  003  153  M.  auf  Vorschusswechsel, 

317  022477  M.  auf  Diskonten.  91357  716  M.  auf  Schuld- 
scheine, 13  841  713  M.  auf  Hypothek,  543  809  461  M.  im 
Kontokorrentgeschäft.  Der  Anwalt  warnt  in  dem  Jahres- 
bericht vor  dem  Hypothekengeschäft,  da  die  „Genossen- 
schaft nur  dem  Personalkredit  nicht  aber  dem  Realkredit 
zu  dienen  habe.“ 

Das  Gesammtbetriebskapital  belief  sich  auf  58 1 674  1 76  M., 
davon  bildeten  31  121  582  M.  die  Reserven,  116  304  484  M. 
die  Geschäftsguthaben,  434  248  HO  M.  die  fremden  Gelder. 

Die  Gesammtausgaben  von  1 074  Kreditgenossenschaften 
betrugen  2 564  776  748  M.  An  Bruttoertrag  ergaben  sich 
31  072  585  M.,  davon  blieb  ein  Reingewinn  in  Höhe  von 
8 866  112  M.  — Die  Gehälter,  Unkosten,  Grundstücks-  und 
Inventarabschreibungen  erforderten  6 353  624  M.,  für  Volks- 
bildungs-  und  gemeinnützige  Zwecke  wurden  47  660  M. 
aufgewendet. 

In  Liquidation  gingen  33  Kreditgenossenschaften,  eine 
davon  zum  Zweck  des  Uebergangs  zur  Aktiengesellschaft. 
Nur  über  eine  Kreditgenossenschaft  (mit  beschränkter 
Haftpflicht)  ist  der  Konkurs  eröffnet;  die  Gesammtverluste 
bei  den  berichtenden  Genossenschaften  betrugen  725091  M. 

In  der  Einleitung  zu  dem  „Jahresbericht“  werden  die 
aus  den  Resultaten  und  dem  Geschäftsgang  sich  für  die 
Kreditgenossenschaften  ergebenden  Lehren  einer  sehr  ein- 
gehenden Würdigung  unterzogen  und  daran  Warnungen  und 
Rathschläge  geknüpft.  In  der  gleichen  Weise  wird  auch  bei 
den  anderen  Genossenschaftsarten  verfahren. 

Ueber  die  Raiffeisen'schen  Kassen  liegt  noch  immer  keine 
Statistik  vor,  denn  angeblich  wird  sie  bei  den  Vertretern 
! dieser  Kasse  nicht  sehr  hoch  geschätzt;  in  Wirklichkeit  ist 


das  Ausbleiben  wohl  in  den  Schwierigkeiten  der  Erhebung 
zu  suchen.  Auf  dem  diesjährigen  Vereinstage  des  Neu  wieder 
Verbandes  zu  Strassburg  theilte  Dr.  Cremer  einige  Zahlen 
von  623  Vereinen  mit,  nämlich: 

Einnahmen.  . M.  26  295  052  Ausgaben.  . . M.  24  762  149 

Aktiva „ 27  182  348  Passiva  ....  „ 27  122038 

Stiftungsfonds  „ I 179  436 

Derartige  Angaben  haben  natürlich  einen  ganz  unter- 
geordneten Werth,  wenn  ihnen  ein  solcher  überhaupt  bei- 
zumessen ist. 

Die  Rohstoff-,  Magazin-,  Werk-  und  Produktivgenossen- 
schaften haben  wiederum  nur  in  ganz  geringer  Anzahl  ihre 
Geschäftsberichte  eingeschickt  (12  Rohstoff-,  3 Magazin-, 
15  Produktivgenossenschaften);  diese  Berichte  aber  lassen 
doch  erkennen,  dass,  wenn  diese  Genossenschaften  in  der 
richtigen  Weise  gegründet  und  geleitet  werden,  sie  für  die 
Mitglieder  von  grösster  wirthschaftlicher  Bedeutung  werden. 
Ganz  besonders  gilt  dies  von  den  Rohstoffgenossenschaften. 
Es  wäre  dringend  zu  wünschen,  dass  die  genannten  Ge- 
nossenschaften aus  ihrer  Zurückhaltung  hervortreten  und 
durch  die  Veröffentlichung  ihrer  Erfolge  ein  Beispiel  zur 
Nachahmung  geben. 

Leider  haben  auch  von  den  77  bestehenden  Bau- 
genossenschaften nur  8 sich  an  der  Statistik  betheiligt;  von 
diesen  bauen  5 Wohnhäuser  für  ihre  Mitglieder  zum  Eigen- 
thumswerth, 3 beschränken  sich  auf  die  Vermiethung.  Nach 
den  auf  diesem  Gebiete  gemachten  Erfahrungen  hebt  der 
Jahresbericht  hervor:  Das  Anwachsen  der  Zahl  der  Bau- 
genossenschaften im  vergangenen  Jahre  lässt  erkennen, 
dass  man  mehr  und  mehr  zu  der  Einsicht  kommt,  dass  die 
genossenschaftliche  Selbsthilfe  zur  Herstellung  von  guten 
und  billigen  Wohnungen  dienen  kann  und  dass  auch  die 
Minderbemittelten  durch  genossenschaftliche  Vereinigungen 
sich  die  Wohlthat  eines  eigenen  Heims  verschaffen 
können.  Besonders  gute  Erfolge  hat  die  Berliner  Bau- 
genossenschaft erzielt,  die  seit  1886  99  Häuser  ge- 

baut hat. 

Während  die  Entwickelung  aller  dieser  Genossenschafts- 
arten doch  zum  mindesten  allgemein  mit  Wohlwollen  be- 
trachtet wird,  werden  die  Konsumvereine  von  den  Speze- 
risten  und  Zünftlern  bekämpft,  und  Petition  reiht  sich  an 
Petition,  in  denen  Maasnahmen  gegen  die  Thätigkeit  dieser 
Genossenschaften  gefordert  werden.  Der  Konkurrenzneid 
treibt  hier  die  absonderlichsten  Blüthen,  und  die  Regierun- 
gen scheinen  wenigstens  in  Süddeutschland  zum  Theil 
(Württemberg)  geneigt,  diesem  Treiben  nachzugeben.  Es 
wäre  sehr  zu  beklagen,  wenn  die  Regierungen  einwilligen 
wollten,  in  die  weitere  Entwickelung  dieser  Genossen- 
schaften störend  einzuwirken,  die  in  sozialer  und  wirth- 
schaftlicher Beziehung  mehr  leisten  als  viele  der  sozialen 
Zwangsgesetze.  Die  Agitation  allein  hat  die  Ausbreitung  der 
Konsumvereine  bisher  nicht  nachtheilig  beeinflusst,  sondern 
im  Gegentheil  gefördert. 

An  der  Statistik  des  Jahresberichts  haben  sich  344 
Konsumvereine  betheiligt  mit  243  529  Mitgliedern.  Sehr 
lehrreich  für  die  Beurtheilung  dieser  Genossenschaft  ist  die 
besondere  Mitgliederstatistik,  zu  der  319  Konsumvereine 
mit  195  873  Mitglieder  berichteten;  von  denselben  entfielen 
auf:  Selbstständige  Landwirthe,  Gärtner,  Förster,  Fischer 
4,2  pCt.,  Gehilfen  und  Arbeiter  in  diesen  Betrieben 
4,2  pCt. , Fabrikanten,  Bergwerksbesitzer,  Bauunternehmer 
1.8  pCt.,  Handwerker  13,2  pCt.,  Fabrikarbeiter,  Berg- 
arbeiter, Handwerksgesellen  43,1  pCt.,  Kaufleute, 
Händler  4 pCt.,  Handlungsgehilfen  1,6  pCt.,  Fuhrherren, 
Schiffseigenthümer,  Gastwirthe  2,2  pCt.,  Briefträger,  un- 
tere Beamte,  unselbstständige  Schiffer,  Kellner  7,7  pCt., 
Dienstmänner,  Dienstboten  1,7  pCt.,  Aerzte,  Apotheker, 
obere  Beamten  8,7  pCt.,  Rentiers  u.  s.  w.  7,5  pCt.  Die 
wenig  bemittelten  Klassen  bilden  also  die  grosse  Mehrheit 
der  Mitglieder  bei  den  Konsumvereinen. 

Der  Verkaufserlös  betrug  67200569  M.,  davon  entfielen 
58246262  M.  auf  die  eigenen  Lager. 

An  Reingewinn  wurden  5876766  M.  erzielt,  an  Divi- 
denden (auf  Kapital  und  Einkauf)  5670886  M.  vertheilt. 
Die  Geschäftsguthaben  der  Mitglieder  betrugen  4804616  M., 
die  Reserven  2473942  M.,  die  fremden  Gelder  5520374  M. 

Die  Geschäftsguthaben  ergaben  also  — die  Einkaufs- 
dividende einbegriffen  — eine  Verzinsung  von  118,4  pCt. ! 


610 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  51. 


Nur  92  von  den  344  Vereinen  halten  nicht  strenge  an 
der  Baarzahlung  fest,  in  dem  Jahresbericht  wird  aufs  ent- 
schiedenste gemahnt,  auch  hier  mit  der  Borgwirthschaft  als 
ungesund  und  unwirthschaftlich  zu  brechen.  142  Vereine 
hatten  Grundbesitz,  der  mit  5273461  M.  zu  Buch  stand, 
aber  einen  weit  höheren  Werth  hatte. 

Der  Dispositionsfonds  für  Bildungszwecke  war  auf 
67782  M.  seit  1892  angewachsen,  27088  M.  waren  demselben 
aus  dem  Reingewinn  von  1892  überwiesen,  es  ist  dies  ein 
Zeichen  — wie  der  Jahresbericht  hervorhebt  — von  dem 
Verständniss  der  Arbeiter  für  die  idealen  Zwecke  der  Ge- 
nossenschaft. 

34  Konsumvereine  gingen  in  Liquidation,  davon  8 in 
Konkurs.  Häufiger  Vorstandswechsel  — sagt  der  Jahres- 
bericht — ungenügende  Waarenkenntniss,  zu  geringe  Ge- 
schäftsantheile  und  die  statutarisch  zu  niedrig  bemessenen 
Baareinzahlungen  auf  dieselben  führten  den  Zusammenbruch 
herbei.  Bedenkt  man,  dass  es  oft  einfache  Arbeiter  sind, 
welche  die  Gründung  in  die  Hand  nehmen,  so  können  der- 
artige Vorkommnisse  nicht  überraschen,  und  vergleicht  man 
die  Anzahl  der  Konkurse  bei  Konsumvereinen  mit  dem  Zu- 
sammenbruch von  Aktiengesellschaften,  von  Privatgeschäften, 
so  wird  man  der  gesunden  wirthschaftlichen  Entwickelung 
seine  Anerkennung  nicht  versagen  können.  Vor  übereilten 
Gründungen  muss  selbstverständlich  gewarnt  werden,  denn 
die  Gegner  der  Bewegung  übersehen  das  Gute  und  halten 
sich  an  das  Schlechte,  um  dasselbe  zu  ihren  Gunsten  zu  ver- 
werthen.  Wer  eine  solche  Bewegung  beurtheilen  will,  muss 
über  den  Parteien  stehen  und  darf  sich  nicht  durch  persön- 
liche Interessen  leiten  lassen.  Es  kann  Niemand  Richter 
in  eigener  Sache  sein.  Was  sich  vom  Standpunkt  der  Kon- 
kurrenten gegen  den  Konsumverein  Vorbringen  lässt,  kann 
auch  gegen  alle  anderen  Genossenschaftsarten  eingewendet 
werden,  denn  der  Zweck  einer  jeden  Genossenschaft  ist, 
die  Geschäfte,  die  bisher  durch  Dritte  ausgeführt  sind,  in 
die  Hände  der  Mitglieder  zu  legen. 

Das  Gesammtbild  über  die  Genossenschaftsbewegung 
im  Jahre  1892  ist  wiederum  ein  sehr  erfreuliches,  denn  auf 
allen  Gebieten  weisen  die  Genossenschaften  trotz  der  Un- 
gunst der  wirthschaftlichen  Verhältnisse  und  trotz  aller 
Gegenströmungen  Fortschritte  auf. 

Berlin.  Hans  Crüger. 

Grossbetrieb  und  Aktiengesellschaften  in  Sachsen. 

Nach  der  vor  kurzem  veröffentlichten  amtlichen  Einkommens- 
statistik gab  es  im  Königreich  Sachsen  im  vorigen  Jahre 
771  Aktiengesellschaften  mit  einem  Gesammteinkommen 
von  42801  737  M.  Da  das  Gesammteinkommen  des  sächsi- 
schen Volkes  in  diesem  Jahre  auf  1 584950632  M.  einge- 
schätzt war,  betrug  das  Einkommen  der  Aktiengesellschaften 
zwar  noch  nicht  drei  Prozent  des  Volkseinkommens.  Aber 
seit  dem  Jahre  1878  zeigt  die  Zahl  und  das  Jahres- 
einkommen der  Aktiengesellschaften  folgende  Bewegung: 


Jahr 

Zahl  der 
Gesellschaften 

Jahreseinkommen 

derselben 

M. 

1878 

658 

21676290 

1879 

604 

22268960 

1880 

627 

21 026026 

1882 

585 

22854200 

1884 

684 

27027418 

1886 

624 

28095104 

1888 

699 

29746698 

1890 

725 

35322782 

1892 

771 

42801 737 

Während  die  Zahl  der  Gesellschaften  hiernach  bestän- 
digen Schwankungen  unterworfen  war,  zeigt  ihr  Gesammt- 
einkommen (mit  Ausnahme  eines  einzigen  Jahres)  ein  stetiges 
und  sehr  bedeutendes  Wachsen.  Es  hat  sich  in  den 
15  Jahren  dieser  Uebersicht  ziemlich  genau  verdoppelt, 
während  die  Zahl  der  Gesellschaften  nur  um  17  Prozent 
stieg.  Das  beweist,  dass  auch  innerhalb  der  durch  Aktien- 
gesellschaften betriebenen  Grossindustrie  ein  Umsichgreifen 
der  kapitalkräftigsten  Betriebe  vor  sich  geht,  und  dass  der 
Grossbetrieb  überhaupt  alle  Chancen  für  sich  hat;  denn  das 
sonstige  Einkommen  aus  Handel  und  Gewerbe  vermehrte 
sich  in  Sachsen  keineswegs  in  demselben  Maasse,  wie  bei 
den  Aktiengesellschaften. 


Staatshilfe  für  die  Arbeiter  der  Obersteiner  Schleif- 
industrie. Von  einer  direkten  Staatsintervention  zu  Gunsten 
der  Gesundheitsverhältnisse  in  der  Idar-Obersteiner  Achat- 
industrie wird  der  Kölnischen  Zeitung  aus  dem  Kreise 
St.  Wendel  berichtet:  „Auf  Kosten  der  Regierung  wird  in 

Bollenbach  und  Frauenberg  je  eine  Schleifmühle  dazu  ein- 
gerichtet, anstatt  der  ungesunden  liegenden  Stellung  das 
Arbeiten  im  Sitzen  zu  ermöglichen.  Schon  seit  langem  sinnt 
man  darauf,  die  Beschäftigung  der  Schleifer  an  der  Nahe 
gesunder  zu  gestalten;  dazu  bedarf  es  namentlich  der  er- 
wähnten Verbesserung,  die,  wenn  jene  angestellten  Ver- 
suche günstig  ausfallen,  hoffentlich  mit  Staatshilfe  allgemein 
eingeführt  wird.  Mit  einem  andern,  fast  noch  schlimmeren 
Uebelstande,  dem  feinen  scharfen  Steinstaube,  welcher  der 
Lunge  höchst  gefährlich  ist,  kämplte  man  bisher  ohne 
sonderlichen  Erfolg  “ 

Es  wäre  hocherfreulich,  wenn  sich  diese  Nachricht  be- 
wahrheitete und  wenn  die  Staatsaktion  in  dem  geschilder- 
ten Umfange  auch  konsequent  durchgeführt  würde.  Es  wäre 
das  erste  Mal,  dass  der  preussische  Staat  Zeit  und  Geld 
für  die  Gesundheit  der  Arbeiter  einer  tief  darniederliegen- 
den Industrie  übrig  hätte,  die  halb  Haus-,  halb  Fabrik- 
industrie ist. 


Arbeiterzustände. 

Amtliche  Erhebungen  über  die  deutsche  Hausindustrie. 

Nach  offiziösen  Mittheilungen  werden  zur  Zeit  durch  die 
Gewerbeaufsichtsbeamten  Erhebungen  über  die  Verhältnisse 
der  jugendlichen  und  weiblichen  Arbeiter  und  die  Arbeits- 
zeit der  erwachsenen  Männer  in  der  Hausindustrie  vorge- 
nommen. Sie  erstrecken  sich  auf  die  Zweige  der  Haus-  , 
industrie,  die  in  grösserem  Umfange  in  den  einzelnen 
Bezirken  der  Gewerbeaufsichtsbeamten  vertreten  sind,  auf 
die  Zahl  der  darin  beschäftigten  Personen,  auf  die  Beihülfe 
von  Frau  und  Kindern  oder  fremder  Hülfe,  ferner  auf  die 
Art  und  Zahl  der  durch  elementare  Kraft  bewegten  Trieb- 
werke. Ursprünglich  sollte  die  Mitwirkung  der  unteren 
Verwaltungs-  und  Polizeibehörden  ausgeschlossen  sein,  doch 
scheint  man  sich  nachträglich  anders  besonnen  zu  haben, 
denn  es  heisst  jetzt,  dass  „die  Erfahrungen  der  Vorstände 
der  einzelnen  Verwaltungsbezirke  ein  nicht  zu  unter- 
schätzendes Material  ergeben  dürften.“  Bei  der  Erhebung 
handelt  es  sich  um  Folgendes:  Die  Bestimmungen  im 

§ 154  Abs.  3 und  4 der  Gewerbeordnung  vom  1.  Juni  1891 
und  Art.  9 Abs.  1 dieses  Gesetzes  betreffen  die  Anwend- 
barkeit der  Vorschriften  in  den  §§  135  bis  139b  der 
Gewerbeordnung  über  die  Beschäftigung  der  jugendlichen 
und  weiblichen  Arbeiter  auf  Werkstätten,  in  denen  durch 
elementare  Kraft  bewegte  Triebwerke  nicht  bloss  vorüber- 
gehend verwandt  werden,  und  handeln  von  der  Ausdehnung 
dieser  Vorschriften  auf  andere  Werkstätten,  in  denen  der 
Arbeitgeber  nicht  ausschliesslich  zu  seiner  Familie  gehörige 
Personen  beschäftigt.  Bezüglich  der  ersteren  Werkstätten 
ist  die  Anwendbarkeit  der  Vorschriften  im  Gesetz  bereits 
ausgesprochen;  doch  wird  der  Zeitpunkt  des  theilweisen 
oder  völligen  Inkrafttretens  erst  durch  kaiserliche  Verordnung 
mit  Zustimmung  des  Bundesraths  festgesetzt  werden.  Be- 
züglich der  anderen  Werkstätten,  zu  denen  die  Mehrzahl 
der  Betriebe  der  Hausindustrie  zählt,  ist  der  kaiserlichen 
Verordnung  auch  die  Bestimmung  darüber  Vorbehalten,  ob 
auf  diese  Werkstätten  jene  Vorschriften  ganz  oder  theil- 
weise  ausgedehnt  werden  sollen.  Deshalb  würden,  so 
heisst  es,  jetzt  eingehende  Ermittelungen  angestellt,  inwie- 
weit die  Verhältnisse  der  Hausindustrie  ein  Eingreifen  des 
Staates  im  körperlichen  und  geistigen  Interesse  des  Arbeiters 
erheischen  und  wie  weit  dieses  Eingreifen  ohne  Gefährdung 
der  wirthschaftlichen  Lage  der  Betheiligten  erfolgen  kann. 
So  lange  die  Ausdehnung  des  § 154  Abs.  3 und  4 der 
Gewerbeordnung  auf  die  Hausindustrie  unterbleibt,  wird 
seitens  der  Regierung  befürchtet,  dass  die  Unternehmer 
von  Fabrikbetrieben  ihre  Produktion  ganz  oder  theilweise 
in  die  Form  der  Hausindustrie  überzuleiten  suchen,  um  sich 
dem  Zwange  der  Arbeiterschutzbestimmungen  zu  entziehen. 
Nach  den  Berichten  der  Gewerbeaufsichtsbeamten  haben 
manche  Unternehmer  diesen  Weg  bereits  eingeschlagen. 


No.  51. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


611 


Diese  Erscheinung  habe  auch  Anlass  gegeben,  „die  eingangs 
erwähnten  Erhebungen  nicht  hinauszuschieben.“  So  gut 
diese  „Erhebungen“  gemeint  sein  mögen,  so  verfehlt  ist 
wieder  einmal  das  Verfahren,  das  man  für  dieselben  an- 
wendet. Behörden,  die  sich  bis  jetzt  auch  nicht  im  Min- 
desten um  die  betreffenden  Verhältnisse  gekümmert  haben, 
sollen  plötzlich  soziale  Schilderungen  von  der  Lage  der 
hausindustriellen  Arbeiter  entwerfen,  und  zwar  ohne  jede 
Zuziehung  dieser  Arbeiter! 

Städtisches  Arbeitsamt  in  Stuttgart.  Der  in  No.  49 

vom  4.  September  d.  J.  ausführlich  besprochene  Antrag  des 
Stuttgarter  Gewerbegerichtes  auf  Errichtung  eines  städtischen 
Arbeitsamtes  hat  nunmehr  am  7.  d.  M.  zur  Berathung  und 
Beschlussfassung  des  dortigen  Gemeinderathes  gestanden. 
Diese  Körperschaft  erklärte  ihre  Zustimmung  zu  der  Ein- 
richtung des  städtischen  Arbeitsamtes  als  Arbeitsvermitte- 
lungsanstalt, zur  Etablirung  einer  männlichen  und  weiblichen 
Abtheilung  zur  Leitung  und  Beaufsichtigung  durch  eine 
neungliedrige  Gewerbegerichtskommission  mit  dem  Vor- 
sitzenden des  Gewerbegerichtes  als  Spitze,  zur  Entschädi- 
gung der  Kommissionsmitglieder  für  jede  Sitzung  und  zur 
Ernennung  der  Angestellten  des  Arbeitsamtes  durch  den 
Gemeinderath  nach  Anhörung  der  Kommission.  Dagegen 
nahm  der  Gemeinderath  schwerwiegende  Aenderungen  an 
dem  beantragten  Ortsstatut  bezüglich  der  Feststellung  der 
Geschäftsordnung  und  namentlich  bezüglich  der  Gebühren- 
freiheit vor. 

Der  Antrag  des  Gewerbegerichtes  hatte  in  § 6 vor- 
gesehen, dass  „die  Geschäfte  des  Arbeitsamtes  nach  einer 
Geschäftsordnung  geführt  werden,  die  von  der  Kommission 
(des  Gewerbegerichts,  welche  das  Arbeitsamt  leitet)  fest- 
gesetzt wird.“  Der  Stuttgarter  Gemeinderath  scheint  aber 
von  einer  gewissen  Aengstlichkeit  über  diese  Autonomie 
des  Arbeitsamtes  befallen  worden  zu  sein.  Man  nahm  An- 
stoss  daran,  dass  „eine  Einwirkung  der  bürgerlichen  Kol- 
legien auf  eine  Einrichtung,  welche  sie  schaffen,  für  welche 
sie  verantwortlich  seien  und  welche  die  Stadt  bezahle,  aus- 
geschlossen sei“,  und  hatte  zunächst  den  Vorschlag  ge- 
macht, in  die  Kommission  zur  Leitung  und  Beaufsichti- 
gung des  städtischen  Arbeitsamts  auch  Vertreter  der 
bürgerlichen  Kollegien  zu  berufen.  Diesem  Vorschlag 
war  entgegen  gehalten  worden  , dass  daran  wohl  die 
ganze  Sache  scheitern  würde,  da  die  Vertreter  der  bürger- 
lichen Kollegien,  wie  anzunehmen  sei,  für  die  nächste  Zeit 
nur  aus  Arbeitgebern  bestehen  werden  und  infolge  dessen  die 
Arbeiter  das  Vertrauen  verlören;  es  seien  auch  die  bürger- 
lichen Kollegien  durch  den  Gewerberichter,  welchen  sie 
anstellen  und  welcher  die  Aufsicht  über  die  Anstalt  zu 
führen  und  an  den  Sitzungen  der  Kommission  theilzunehmen 
habe,  genügend  vertreten.  Schliesslich  wurde  beschlossen, 
dem  § 6 eine  Gestalt  zu  geben,  welche  die  Feststellung  der 
Geschäftsordnung  statt  in  der  Hand  der  Gewerbegerichts- 
kommission in  diejenige  des  Gemeinde-Raths  legt,  „und  da- 
durch der  städtischen  Verwaltung  einen  ausreichenden  Ein- 
fluss auf  den  Betrieb  der  Anstalt  sichert.“  Als  Punkte, 
welche  in  die  Geschäftsordnung  aufzunehmen  wären,  wurden 
bezeichnet:  Die  Festsetzung  eines  absoluten  Beschwerde- 

rechts aller  Betheiligten“  an  den  Gemeinde-Rath,  die  Mit- 
theilung der  Tagesordnung  für  die  Sitzungen  der  Kom- 
mission und  der  Sitzungsprotokolle  an  den  Gemeinde-Rath 
und  eine  in  der  Geschäftsordnung  näher  festgestellte  Ober- 
aufsicht des  Gemeinde-Raths  bezw.  der  Gewerbeabtheilung 
über  den  Geschäftsbetrieb  des  städtischen  Arbeitsamtes. 
Man  fühlt  aus  diesen  Beschlüssen  heraus,  wie  misstrauisch 
die  bürgerliche  Vertretung  der  neuen  Schöpfung  gegen- 
übersteht, die  sie  doch  bei  dem  desolaten  Zustande  der 
gegenwärtigen  Arbeitsvermittelung  in  Stuttgart  nicht  von 
der  Hand  weisen  konnte.  Schliesslich  verstand  sich  die 
Mehrheit  nocfy  zu  dem  Zugeständniss,  dass  der  Gemeinde- 
rath die  Verpflichtung  habe,  die  Kommission  vor  Festsetzung 
der  Geschäftsordnung  zu  „hören“. 

In  einem  noch  ungünstigeren  Sinne  wurde  die  Ge- 
bührenfrage erledigt.  Die  beantragte  Unentgeltlichkeit  der 
städtischen  Arbeitsvermittelung  wurde  abgelehnt  und  er- 
klärt, auf  dem  Gebiet  der  Gemeindeverwaltung  könne  das 
Gebührenprinzip  nicht  verlassen  werden.  Es  sollten  jedoch 
die  Gebühren  nieder  bemessen  und  mit  ihrem  Einzug  nicht 


zu  streng  vorgegangen,  sondern  im  Falle  der  Bedürftigkeit 
des  Pflichtigen  oder  wenn  Weitläufigkeiten  mit  dem  Einzug 
verbunden  sein  würden,  die  Gebührenforderungen  einfach 
niedergeschlagen  werden.  Nebenbei  äusserste  die  Mehr- 
heit auch  noch  ihre  Unlust,  mit  dem  Arbeitsamt  eine  kom- 
munale statistische  Beobachtungsstation  zu  verbinden. 

Mit  diesen  Einschränkungen  soll  das  städtische  Arbeits- 
amt in  Stuttgart  wenn  möglich  bereits  am  1.  April  nächsten 
Jahres  ins  Leben  treten.  Vorher  ist  jedoch  noch  die  Zu- 
stimmung des  Bürgerausschusses  erforderlich,  der  dieselbe 
hoffentlich  von  der  Wiederherstellung  der  Gebührenfreiheit 
abhängig  macht. 

Gesundheitsverhältnisse  der  Bauarbeiter.  Das  Organ 
der  Tiefbauberufsgenossenschaft  bringt  in  seiner  neuesten 
Nummer  eine  ärztliche  Zusammenstellung  der  Untersuchung 
von  690  eingestellten  Arbeitern  einer  Baustelle  in  Mutzig, 
unter  denen  sich  etwa  15  vom  Hundert  als  nicht  gesund 
erwiesen.  Dieser  gegenüber  der  Lage  bei  anderen  Unter- 
nehmungen geringe  Prozentsatz  wird  dadurch  erklärt,  dass 
unter  den  Untersuchten  sich  fast  die  Hälfte  Italiener  be- 
finden, die  sich  durchweg  als  gesunde  und  starke  Arbeiter 
erweisen.  Unter  den  körperlichen  Mängeln  waren  auch  hier 
vorwiegend  vertreten  Brüche  (16),  Bruchanlagen  (29)  und 
Krampfadern  (27),  also  meist  solche  nachtheilige  Schäden 
und  Veranlagungen,  deren  Verheimlichung  bei  der  Annahme 
Unfälle  bei  den  schwierigeren  Arbeiten  der  Bauausführung 
verursachen  muss.  Bedenkt  man,  dass  nach  einer  früheren 
Mittheilung  im  „Tiefbau“  auf  einer  Baustelle  im  östlichen 
Preussen  nahezu  30  pCt.  der  Arbeiter  mit  krankhaften  An- 
lagen versehen  waren,  so  ergiebt  sich  für  das  genannte 
Blatt  der  Schluss,  dass  nur  die  sorgfältigste  regelmässige 
Untersuchung  den  rechten  Schutz  gewähre  und  dass  überall 
da,  wo  die  Arbeiter  ohne  Untersuchung  zu  ungeeigneter 
Thätigkeit  eingestellt  werden,  die  versicherungstechnischen 
Tabellen  zum  Nachtheil  der  Genossenschaften  nicht  mehr 
stimmen  könnten.  Dieser  Standpunkt  wird  nun  lediglich 
zum  Ausschluss  bereits  mit  Fehlern  behafteter  Bauarbeiter 
führen.  Für  die  Allgemeinheit  ist  es  aber  viel  wichtiger, 
zu  verhüten,  dass  sich  Bauarbeiter  durch  Ueberanstrengung 
solche  Fehler  zuziehen,  und  in  dieser  Beziehung  haben  sich 
die  Berufsgenossenschaften  bis  jetzt  trotz  allen  Unfall- 
verhütungsvorschriften völlig  unfähig  erwiesen. 


Gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung. 

Arbeiterbureau  der  Gewerkschaften  in  Mainz.  Die 

Mainzer  Gewerkschaften  beschäftigen  sich  mit  der  Gründung 
eines  Arbeiter-Auskunftsbureaus.  Die  Aufgaben,  die  dem 
Bureau  gestellt  werden  sollen,  wurden  von  einer  besonderen 
Kommission  formulirt  und  vom  Gewerkschaftskartell  ein- 
stimmig gutgeheissen  Dieselben  lauten:  I.  Auskunft  zu  er- 
theilen  in  allen  gewerblichen  Streitfragen,  2.  über  An- 
gelegenheiten, welche  die  Kranken-,  Unfall-,  Alters-  und 
Invaliditätsversicherung  angehen,  3.  eine  Arbeitslosenstatistik 
zu  pflegen,  und  4.  einen  allgemeinen  Arbeitsnachweis  für 
alle  gewerblichen  und  nichtgewerblichen  Arbeiter  zu  er- 
richten. Die  Bureaustunden  sind  vorgesehen  für  die 
Stunden  von  7 — 9 Uhr  Abends  an  Werktagen  und  an 
Sonn-  und  Festtagen  von  9 — 12  Uhr  Vormittags.  Auskunft 
sollen  auf  dem  Bureau  ertheilen  die  Arbeitnehmerbeisitzer 
des  Gewerbegerichts,  qualifizirte  Partei-  und  Gewerkschafts- 
mitglieder, sowie  die  sozialdemokratischen  Stadtverord- 
neten und  die  Mitglieder  der  Parteipresse.  Die  Stadtver- 
waltung soll  um  kostenlose  Ueberlassung  eines  geeigneten 
Lokals  ersucht  werden.  Die  einzelnen  Gewerkschaften  sollen 
in  Form  von  Resolutionen  ihre  Wünsche  an  die  Stadtver- 
tretung bringen.  Das  Entgegenkommen  der  städtischen 
Verwaltung  wird  sicher  erwartet,  sodass  sich  der  Plan 
jedenfalls  realisiren  wird.  Später  soll  das  Bureau  den 
ganzen  Tag  über  geöffnet  bleiben. 

Der  englische  Kohlengräber- Ausstand.  Noch  immer 
ist  die  Lage  wesentlich  unverändert  geblieben.  Dass  die 
Arbeiter  der  Bundesbezirke  zum  Ausharren  entschlossen 
sind,  beweist  die  in  Lancashire  und  Cheshire  vorge- 


612 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  51. 


nommene  Abstimmung,  welche  nach  der  am  13.  September 
erfolgten  Bekanntmachung  eine  grosse  Mehrheit  für  Fort- 
führung des  Strikes  ergab.  Von  40  000  Mitgliedern 
stimmten  nur  5214  für  Aufnahme  der  Arbeit.  In  Yorkshire 
und  Derbyshire  war  es  ähnlich. 

Die  Kohlenpreise  steigen.  In  Leeds  wurde  der  Preis 
um  einen  weiteren  Schilling  für  die  Tonne  erhöht. 

Unter  diesen  Umständen  ist  es  nicht  erstaunlich,  dass 
die  Konferenz  aller  Vertreter  der  Bundesbezirke,  die  am 
Donnerstag,  den  14.  September,  in  Nottingham  zusammen- 
trat, nach  der  bis  jetzt  vorliegenden  kurzen  telegraphischen 
Meldung  sich  gegen  die  Wiederaufnahme  der  Arbeit  unter 
den  von  den  Unternehmern  gestellten  Bedingungen  erklärt 
hat.  Die  Vertreter  wollen  keiner  Lohnherabsetzung  ihre 
Zustimmung  geben. 

Zur  Lohnbewegung  der  Grubenarbeiter  von  Pas-de- 
Calais.  Die  Lohnbewegung  der  französischen  Gruben- 
arbeiter scheint  immer  ernster  zu  werden  und  immer  weiter 
um  sich  greifen  zu  wollen.  In  der  am  10.  September  in 
Lens  stattgehabten  Konferenz  der  Grubenarbeiter  von  Pas- 
de-Calais,  an  der  hundert  Delegirte  theil  nahmen,  wurde 
nach  einer  eingehenden  Diskussion,  in  der,  nebst  anderen 
Beschwerden,  ganz  besonders  die  Herabdrückung  der 
Löhne  betont  wurde,  die  man  hauptsächlich  der  gegen- 
seitigen Konkurrenz  der  Grubengesellschaften  zuschrieb, 
beschlossen,  sämmtlichen  Grubengesellschaften  des  Kohlen- 
beckens von  Pas-de-Calais  folgende  Forderungen  durch 
den  Grubenarbeiter-Verband  zu  unterbreiten:  1.  bei  jeder 
Lohnabrechnung,  d i.  alle  14  läge,  Einhändigung  eines 
doppelten  Lohnheftes,  um,  wie  hier  nebenbei  bemerkt  sei, 
dem  Verbände  eine  genaue  Kontrole  der  jeweiligen  Löhne 
zu  ermöglichen;  2.  Zehnprozentige  Lohnerhöhung  und 
Feststellung  eines  Minimalverdienstes  von  Fr.  5,50,  was  mit 
den  früher  gewährten  Zuschlägen  von  20%  für  die  Häuer 
einen  Tageslohn  von  Fr.  7,15  ergäbe;  3.  Keine  Entlassung 
der  Arbeiter,  die  ihr  40.  Lebensjahr  erreicht  haben,  weil 
bei  dem  Einverständnis  der  Grubengesellschaften  es  diesen 
Arbeitern  unmöglich  wird,  wieder  Arbeit  zu  finden;  4.  Be- 
seitigung der  Strafen  für  unreine  Kohlen;  5.  Aufrechterhaltung 
der  gegenwärtigen  Gedingelöhne;  6.  Keine  Entlassung  von 
Arbeitern,  die  eine  Verurtheilung  erlitten  haben,  soweit  diese 
der  Grubengesellschaft  keinen  Nachtheil  gebracht  hat.  Sollten 
die  Antworten  ablehnend  sein,  sind  die  GrubenarbeiterWillens 
die  Arbeit  einzustellen.  Vorläufig  hat  die  Grubengesellschaft 
von  Lens  bereits  erklärt,  in  keinem  Punkte  nachgeben  zu  wollen, 
folgen  ihr  die  übrigen  Gesellschaften,  dann  dürfte  ein  Strike 
kaum  zu  vermeiden  sein,  und  zwar  nicht  nur  im  Kohlenbecken 
von  Pas-de-Calais,  sondern  auch  in  dem  des  Norddepartement, 
da  sich  auch  die  Arbeiter  dieses  Kohlenbeckens  der  Lohn- 
bewegung angeschlossen  haben  und  bereit  sind,  mit  ihren 
Kameraden  von  Pas-de-Calais  Hand  in  Hand  zu  gehen.  Im 
falle  einer  Weigerung  der  Grubengesellschaften,  den  an  sie 
gestellten  Forderungen  entgegenzukommen,  könnte  es  somit 
leicht  zu  einem  Generalstrike  der  französischen  Grubenar- 
beiter kommen.  Diese  halten  den  jetzigen  Moment  für  einen 
uni  so  günstigeren,  ihre  Forderungen  durchzusetzen,  als 
nicht  nur  die  englischen  Grubenarbeiter  sich  schon  seit 
Wochen  im  Strike  befinden,  sondern  auch  die  belgischen 
Grubenarbeiter  behufs  einer  Lohnerhöhung  bereit  sind,  mit 
den  französischen  gemeinsame  Sache  machen  zu  wollen, 
wie  dies  zwei  belgische  Delegirte,  die  125000  Grubenarbeiter 
vertraten,  auf  der  Lenser  Konferenz  ausdrücklich  erklärt 
hatten.  Angesichts  dieser  internationalen  Lohnbewegung 
dürften  die  Grubengesellschaften  sich  vielleicht  schliesslich 
doch  etwas  entgegenkommender  zeigen  als  bisher. 


Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Arbeitspausen  für  jugendliche  Arbeiter.  Nach  einer 
Mittheilung  im  Jahresbericht  des  Kasseler  Regierungs-  und 
Gewerberaths  werden  dort  in  zahlreichen  Schmucksachen- 
und  Kettenfabriken  sowie  in  Diamantschleifereien  den  jugend- 
lichen Arbeitern  keine  Vor-  und  Nachmittagspausen  gewährt. 
Der  betreffende  Regierungs-  und  Gewerberath  ist  der  An- 


sicht, dass  die  Nichtgewährung  solcher  Pausen  denjenigen 
Fabriken  ohne  weiteres  nachgesehen  werden  könne,  welche 
die  Beschäftigung  der  jugendlichen  Arbeiter  unter  Gewäh- 
rung einer  1 */*  stündigen  Mittagspause  auf  die  Zeit  von 
8 Uhr  morgens  bis  4 Uhr  nachmittags  eingeschränkt  hätten. 
Zu  dieser  Auffassung  bemerkt  der  preussische  Handels- 
minister in  einer  allen  Provinzialbehörden  zugegangenen 
Verfügung:  „Obwohl  nicht  zu  verkennen  ist,  dass  die 

Regelung  der  Beschäftigungszeit  für  die  jugendlichen  Ar- 
beiter günstig  ist,  so  ist  sie  doch  nur  zulässig,  wenn  sie 
auf  Grund  des  § 139  Abs.  2 der  Gewerbeordnung  von  der 
höhern  Verwaltungbehörde  ausdrücklich  gestattet  ist,  weil 
nach  § 136  den  jugendlichen  Arbeitern,  die  an  Vor-  und 
Nachmittagen  zusammen  länger  als  8 Stunden  beschäftigt 
werden,  in  allen  Fällen  eine  Vor-  und  Nachmittagspause 
gewährt  werden  muss  und  Abweichungen  von  dieser  Vor- 
schrift nur  auf  dem  in  § 139  Abs.  2 vorgesehenen  Wege 
zugelassen  werden  können.  Da  die  Unternehmer,  welche 
die  vorgeschriebenen  Vor-  und  Nachmittagspausen  in  Weg- 
fall bringen,  ohne  die  Genehmigung  der  höhern  Verwaltungs- 
behörden eingeholt  zu  haben,  sich  nach  § 146  Abs.  1 Ziffer  2 
der  Gewerbeordnung  strafbar  machen,  so  haben  die  zu- 
ständigen Behörden  darauf  hinzuwirken,  dass  in  allen  Fällen 
einer  abweichenden  Regelung  der  Pausen  die  nothwendigen 
Anträge  zuvor  gestellt,  wo  dies  nicht  geschieht,  die  Vor- 
schriften des  § 136  genau  beobachtet  werden.“  Das  ist 
doch  einmal  eine  Verfügung  des  preussischen  Handels- 
ministers in  Sachen  des  Arbeiterschutzes,  der  man  rück- 
haltlos zustimmen  kann. 


Arbeiterversicherung. 

Unfälle  auf  deutschen  Eisenbahnen.  Nach  der  im 
Reichs-Eisenbahnamt  aufgestellten  Nachweisung  der  auf 
deutschen  Eisenbahnen  — ausschliesslich  Bayerns  — im 
Monat  Juli  d.  J.  beim  Eisenbahnbetriebe  (mit  Ausschluss 
der  Werkstätten)  vorgekommenen  Unfälle  waren  im  ganzen 
zu  verzeichnen:  7 Entgleisungen  und  3 Zusammenstösse 
auf  freier  Bahn,  13  Entgleisungen  und  12  Zusammenstösse 
in  Stationen  und  174  sonstige  Unfälle  (Ueberfahren  von 
Fuhrwerken,  Feuer  im  Zuge  und  andere  Ereignisse  beim 
Eisenbahnbetriebe,  sofern  bei  letzteren  Personen  getödtet 
oder  verletzt  worden  sind).  Bei  diesen  Unfällen  sind  im 
ganzen,  und  zwar  grösstentheils  durch  eigenes  Verschulden, 
203  Personen  verunglückt,  sowie  63  Eisenbahnfahrzeuge 
erheblich  und  116  unerheblich  beschädigt.  Von  den  beför- 
derten Reisenden  wurden  7 getödtet  und  10  verletzt,  und 
zwar  entfallen : 3 Tödtungen  auf  den  Verwaltungsbezirk  der 
Königlichen  Eisenbahn-Direktion  zu  Berlin,  je  eine  Tödtung 
auf  die  Königlich  württembergischen  Staatseisenbahnen  so- 
wie auf  die  Verwaltungsbezirke  der  Königlichen  Eisenbahn- 
DirektionenzuBreslau,  Bromberg  und  Magdeburg,  4Verletzun- 
gen  auf  die  Hessische  Ludwigs-Eisenbahn,  je  2 Verletzungen 
auf  die  Grossherzoglich  badischen  Staatseisenbahnen  und 
den  Verwaltungsbezirk  der  Königlichen  Eisenbahn-Direktion 
zu  Magdeburg,  sowie  je  eine  Verletzung  auf  die  Verwaltungs- 
bezirke der  Königlichen  Eisenbahn-Direktionen  zu  Elberfeld 
und  Köln  (linksrheinische).  Von  Bahnbeamten  und  Arbeitern 
im  Dienst  wurden  beim  eigentlichen  Eisenbahnbetriebe  21 
getödtet  und  136  verletzt,  von  Postbeamten  einer  verletzt, 
von  fremden  Personen  (einschliesslich  der  nicht  im  Dienst 
befindlichen  Bahnbeamten  und  Arbeiter)  9 getödtet  und 
19  verletzt.  Ausserdem  wurden  bei  Nebenbeschäftigungen 
28  Bahnbeamte  und  Bahnarbeiter  verletzt.  Von  den  sämmt- 
lichen Unfällen  beim  Eisenbahnbetriebe  entfallen  auf:  A.  Staats- 
bahnen und  unter  Staatsverwaltung  stehende  Bahnen  (bei 
zusammen  34  468,20  km  Betriebslänge  und  1 005  903  067  ge- 
förderten Achskilometern)  196  Fälle;  davon  sind  verhält- 
nissmässig,  d.  h.  unter  Berücksichtigung  der  geförderten 
Achskilometer  und  der  im  Betriebe  gewesenen  Längen,  auf 
der  Main-Neckar-Eisenbahn,  den  Grossherzoglich  badischen 
Staatseisenbahnen  und  den  Reichs-Eisenbahnen  in  Eisass- 
Lothringen  die  meisten  Unfälle  vorgekommen.  B.  Privat- 
bahnen (bei  zusammen  2529,34  km  Betriebslänge  und 
32  272  757  geförderten  Achskilometern)  13  Fälle;  davon  sind 


No.  51. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


613 


verhältnissmässig  auf  der  Breslau -Warschauer  Eisenbahn, 
der  Altdamm -Kolberger  Eisenbahn  und  der  Hessischen 
Ludwigs -Eisenbahn  die  meisten  Unfälle  vorgekommen. 


Schulwesen. 

Preussische  Volksschulzustände. 

In  den  Jahren  1886  und  1891  fanden  statistische  Auf- 
nahmen über  das  niedere  Schulwesen  in  Preussen  statt, 
welche,  in  Verbindung  mit  früheren,  allerdings  weniger 
umfangreichen  Erhebungen  einen  Ueberblick  über  die  Ent- 
wickelung des  Volksschulwesens  in  Preussen  gestatten. 

In  die  Erhebungen  von  1886  und  1891  sind  ausser  den 
öffentlichen  Volksschulen  noch  öffentliche  Mittelschulen  und 
höhere  Mädchenschulen;  Privatschulen  mit  Volksschulziel 
und  solche  mit  Mittelschulziel;  Seminarübungsschulen; 
Schulen  in  Blindenanstalten,  Taubstummenanstalten,  Idioten- 
anstalten, Rettungsanstalten  und  Waisenhäuser  mit  ein- 
begriffen, wir  wollen  in  Folgendem  aber  nur  die  öffentlichen 
Volkschulen  betrachten:1) 


1886 

1891 

Die  Zahl  der  Schulen  war 

Die  Zahl  der  Schulkinder  war 

34  016 
4 838  247 

34  742 
4 916  476 

Von  den  schulpflichtigen  Kindern  konnten  wegen  Ueber- 
füllung  in  öffentlichen  Volksschulen  nicht  aufgenonnnen 
werden: 


1881 

1886 

1891 

9 432 

8 826 

3 239 

In  dieser  Beziehung  ist  also  ein  ganz  wesentlicher 
Fortschritt  zu  verzeichnen;  auch  sonst  ist  im  Schulbesuch 
eine  bedeutende  Besserung  eingetreten,  insofern,  als: 

1871:  20  783  Schulkinder 

1886:  3 145  „ 

1891:  nur  945 

ohne  triftigen  Grund  die  Schule  nicht  besuchten. 

Aber  auf  eine  grössere  Wirksamkeit  des  Schulunter- 
richts lassen  diese  Zahlen  doch  nur  einen  sehr  bedingten 
Rückschluss  zu,  wenn  man  gleichzeitig  berücksichtigt,  dass 
1886:  131  947  Schulkinder 
1891:217  389 

einen  Schulweg  von  mehr  als  21/*  oder  3 km2)  zurück- 
zulegen hatten.  Durch  eine  solche  nicht  geringe  Strapaze 
für  einen  sehr  erheblichen  Bruchtheil  von  Schulbesuchern 
vor  Beginn  des  Unterrichts  wird  für  diese  der  Unterricht 
selbst  recht  illusorisch,  und  der  grössere  Schulbesuch  kann 
diesen  schädigenden  Einfluss  für  die  gesanunte  Volksbildung 
kaum  ausgleichen. 

Am  meisten  haben  unter  der  Entfernung  vom  Schulort 
naturgemäss  die  Kinder  auf  dem  platten  Lande  zu  leiden, 
nämlich 

1886:  119  793  Schulkinder 
1891:197  145  „ 

daher  grade  diejenigen,  die  sich  ohnehin  nicht  über  allzu 
gründlichen  Schulunterricht  zu  beklagen  haben. 

Denn  unter  den  Schulen  befinden  sich 


1886 

1891 

solche  mit 

im  Ganzen 

auf  dem 
Lande 

im  Ganzen 

auf  dem 
Lande 

1 — 2 aufsteigenden  Schul- 
klassen   

26  589 

25  680 

26  074 

25  281 

mit  Schulkindern  . . . 

3 225  160 

2 151  498 

2 017  105 

1 955  124 

3 und  mehr  aufsteigenden 
Schulklassen  .... 

7 427 

4618 

8 664 

5 590 

mit  Schulkindern  . . . 

1 613  087 

1 182  943 

2 899  371 

1 345  897 

*)  Zeitschrift  des  Kgl.  Stat.  Bureaus,  33.  Jahrg.,  Berlin  1893, 
p.  105  ff. 

*)  1891  2 */„  km,  1886  3 km. 


Die  überwiegende  Mehrheit  der  Schulkinder  auf  dem 
Lande  befindet  sich  also  auch  heute  noch  in  Schulen,  die 
höchstens  zwei  aufsteigende  Schulklassen  aufweisen;  1886 
befanden  sich  sogar  noch  1119017  Schulkinder,  1891 
947094  Schulkinder  auf  dem  Lande  in  Schulen  mit  nur 
einer  einzigen  aufsteigenden  Schulklasse!  Wie  wirksam 
muss  für  diese  eine  Million  Schulkinder  oder  etwa  20  pCt. 
aller  Schulkinder  der  Schulunterricht  sein.  Diese  Zahlen 
beleuchten  unsere  Volksbildung  jedenfalls  besser  als  die 
Nachweisungen  der  ständig  abnehmenden  Analphabeten,  die 
nach  den  Angaben  des  statistischen  Jahrbuches  bei  den 
Heereseingestellten  betrugen: 

1875/76:  2,37  pCt. 

1880/81:  1,59  „ 

1885/86:  1,08  „ 

1891/92:  0,45  „ 

Noch  weiter  werden  diese  wenig  günstigen  Zustände 
unserer  Volksschule  durch  die  Angaben  über  die  Frequenz- 
verhältnisse in  den  einzelnen  Schulen  illustrirt.  Die 
preussische  Statistik  betrachtet  eine  Schulfrequenz  erst 
dann  als  normal,  wenn  auf  eine  einklassige  Schule  mehr  als 
80  Schulkinder  und  wenn  auf  eine  mehrklassige  Schule 
mehr  als  70  Kinder  in  einer  Klasse  untergebracht  sind. 
Anormale  Frequenzverhältnisse  bestanden  aber  1882  für 
2064113  oder  47,56  pCt.  Kinder 


1886 

1891 

im  Ganzen 

auf  dem 
Lande 

im  Ganzen 

auf  dem 
Lande 

in  Schulen 
in  Klassen 
mit  Kindern 

25  535 
2 233  373 
oder 

46,16  pCt 

17  379 
1 563  166 

10  407 
19819 
1 661  182 
oder 

33,79  pCt. 

8 256 
13  504 
1 155  288 

Mehr  als  ein  Drittel  aller  Schulkinder  befinden  sich 
also  noch  1891  in  überlüllten  Schulklassen,  und  davon  so- 
gar noch  27  196  in  Klassen,  die  150  Kinder  und  mehr  in 
einer  einklassigen  Schule  und  120  Kinder  und  mehr  in 
einer  mehrklassigen  Schule  in  einer  Klasse  beherbergen!  — 
Die  Ueberfüllung  würde  aber  noch  wesentlich  erheblicher 
erscheinen,  wenn  nicht  in  zahlreichen  Schulen  durch  Ein- 
richtung des  sogenannten  Halbtagsunterrichtes  der  Ueber- 
füllung durch  Verkürzung  des  Unterrichtes  vorgebeugt 
würde. 

Ganz  analog  stellen  sich  die  Resultate,  wenn  man  die 
Zahl  der  Lehrer  mit  der  Zahl  der  Schulen  bezw.  Klassen 
in  Parallele  stellt. 

Es  befanden  sich 


Schulen 

co 

CO  i 

CO 

Klassen 

18 

nter  je 
c 
3 

X 
< j 
in 

86 

hunder 

c 

<u 

tfi 

CtJ 

5 

Schulen 

CO 

VO 

Klassen 

a)  in  den  Städten 
Schulen  mit  einer  Lehr- 
kraft   

14,77 

2,63 

17,64 

3,22 

13,87 

2,31 

Schulen  mit  zwei  Lehr- 
kräften   

9,64 

3,74 

9,74 

3,74 

8,97 

3,01 

Sonst  mehrklassige  Schu- 
len   

75,59 

93,63 

72,62 

93,04 

77,16 

94,68 

b)  auf  dem  Lande 
Schulen  mit  einer  Lehr- 
kraft   

76,02 

55,72 

74,48 

54,16 

71,04 

49,60 

Schulen  mit  zwei  Lehr- 
kräften   

17,12 

25,98 

17,43 

25,16 

19,44 

26,79 

Sonst  mehrklassige  Schu- 
len   

6,86 

18,30 

8,09 

20,68 

9,52 

23,61 

Ein  Fortschritt  ist  also  gewiss  unverkennbar,  und  er 
wird  noch  deutlicher  durch  folgende  kleine  Zusammen- 
stellung. Es  waren  unter  je  100  Schulen 


1871  1882  1886  1891 
Schulen  mit  einer  Lehrkraft  74,7  69,8  68,3  64,7 

„ „ zwei  Lehrkräften  14,7  16,4  16,6  18,3 

Mehrklassige  Schulen  mit  drei 

und  mehr  Lehrkräften  10,6  13,8  15,1  17,1 


614 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  51. 


Aber  das  spricht  nicht  für  die  vorzüglichen  Scluil- 
verhältnisse  in  der  Gegenwart,  sondern  nur  gegen  die  noch 
elenderen  Schulverhältnisse  in  früheren  Jahren;  denn  auch 
für  das  letzte  Jahr  lehren  die  angeführten  Zahlen,  dass  die 
weitaus  überwiegende  Zahl  aller  Schulen  sich  noch  weit 
unter  den  Minimalansprüchen  befinden,  die  man  an  die 
Volksschule  zu  stellen  berechtigt  ist. 

Und  um  nun  auch  noch  die  absoluten  Zahlen  anzu- 
führen, sei  bemerkt,  dass  unterrichtet  wurden 


1882 

1886 

1891 

Schüler 

pCt. 

Schüler 

pCt. 

Schüler 

pCt. 

in  Schulen  mit 
einer  Lehr- 
kraft   

1 674  205 

38.58 

1 728  079 

35,72 

1 536  390 

31,25 

mit  zwei  Lehr- 
kräften .... 

838  1 15 

19,31 

891  885 

18,43 

918  558 

18.69 

in  voll  ausge- 
stalteten drei- 
u.  mehrklassi- 
gen  Schulen  . 

1 827  409 

42,1 1 

2 218  283 

45,85 

2 461  528 

50,06 

überhaupt 

4 339  729 

100 

4 838  247 

100 

4 916  476 

100 

Die  durch 

in  den  Städten  auf  je  eine 
Klasse  j Lehrkraft 

entfallende  Sch 

schnittlich 

auf  dem  Lande  auf  je  eine 
Klasse  j Lehrkraft 

iilerzahl  betrug 

1882  . . . 

63 

64 

1 

67 

77 

1886  . . . 

64 

67 

64 

79 

1891  . . . 

61 

61 

59 

73 

Besonders  auffallend  ist  hier  der  Rückschlag  gegen 
Mitte  der  achtziger  Jahre,  da  nichts  weniger  als  eine  Ga- 
rantie dafür  ist,  dass  der  kleine  Fortschritt  für  1891  einer 
stetigen  Entwickelung  zum  Besseren  zu  danken  sei. 

Besonderes  Interesse  hat  dann  noch  eine  Zusammen- 
stellung der  Durchschnittsbelastung  eines  Volksschullehrers 
in  den  einzelnen  Regierungsbezirken. 


Es  kommen  auf 

eine  Lehrkraft 

Schulk 

inder 

in  den 

in 

den  Städten 

auf 

dem  Lande 

Regierungsbezirken 

1882 

1886 

1891 

1882 

1886 

189 

1. 

Königsberg  . . . 

58 

64 

57 

70 

75 

66 

2. 

Gumbinnen  . . . 

49 

66 

51 

71 

75 

67 

3. 

Danzig 

59 

64 

61 

72 

77 

68 

4. 

Marienwerder  . . 

62 

66 

59 

82 

85 

75 

5. 

Berlin 

54 

57 

55 

— 

— 

— 

6. 

Potsdam  . . . . 

57 

61 

56 

63 

67 

65 

7. 

Frankfurt  . . . . 

63 

66 

59 

88 

89 

82 

8. 

Stettin 

56 

56 

52 

68 

71 

66 

9. 

Köslin 

55 

58 

53 

67 

70 

64 

10. 

Stralsund  . . . . 

49 

53 

52 

55 

56 

53 

11. 

Posen  

73 

74 

63 

106 

110 

95 

in  den 

in 

den  Städten 

auf 

dem  Lande 

Regierungsbezirken 

1882 

1886 

1891 

1882 

1886 

1891 

12. 

Bromberg  .... 

73 

81 

68 

89 

95 

81 

13. 

Breslau 

67 

67 

60 

94 

95 

83 

14. 

Liegnitz  .... 

65 

68 

62 

92 

88 

81 

15. 

Oppeln 

72 

75 

70 

102 

96 

84 

16. 

Magdeburg  . . . 

59 

62 

57 

68 

69 

68 

17. 

Merseburg  . . . 

68 

70 

63 

81 

82 

77 

18. 

Erfurt 

60 

66 

61 

82 

84 

77 

19. 

Schleswig  .... 

66 

64 

58 

56 

56 

54 

20. 

Hannover  .... 

65 

67 

59 

78 

81 

74 

21. 

Hildesheim  . . . 

63 

70 

61 

75 

77 

72 

22. 

Lüneburg  .... 

59 

62 

54 

56 

59 

56 

23. 

Stade  

64 

64 

63 

60 

61 

59 

24. 

Osnabrück  . . . 

70 

82 

68 

79 

81 

76 

25. 

Aurich 

66 

69 

64 

66 

74 

73 

26. 

Münster  .... 

83 

87 

85 

85 

92 

90 

27. 

Minden 

70 

73 

63 

99 

97 

89 

28. 

Arnsberg  .... 

80 

79 

74 

84 

84 

79 

29. 

Kassel 

57 

62 

56 

77 

81 

74 

30. 

Wiesbaden  . . . 

59 

62 

53 

72 

72 

65 

31. 

Koblenz  .... 

73 

70 

66 

68 

71 

68 

32. 

Düsseldorf  . . . 

72 

75 

70 

75 

80 

76 

33. 

Köln 

65 

66 

64 

74 

74 

70 

34. 

Trier 

68 

72 

68 

68 

70 

68 

35. 

Aachen  

67 

72 

63 

69 

72 

69 

36. 

Sigmaringen  . . . 

70 

72 

64 

66 

64 

59 

Gegenüber  diesen  Zahlen  betont  sogar  der  offizielle 
Bearbeiter  der  Volksschulstatistik,  Professor  A.  Petersilie: 
„Der  bereits  hier  und  da  laut  gewordene  Wunsch  nach 
Einschränkung  der  Staatsaufwendungen  für  die  Volksschule 
ist  nicht  gerechtfertigt,  wenn  man  die  Sprache  der  oben 
mitgetheilten  Verhältnisszahlen  hört  und  versteht.“ 

Wie  sehr  man  die  Volksschule  mit  Recht  das  Schmerzens- 
kind des  preussischen  Staates  nennen  kann,  geht  vor  allem 
aus  den  Aufwendungen  für  den  Volkschulunterricht  hervor. 

Die  gesammten  Kosten  des  Uüterrichtswesens  — aus- 
schliesslich der  Zentralverwaltung,  Schulaufsicht  und  ört- 
lichen Schulverwaltung  — setzen  sich  zusammen  aus  den 
persönlichen  und  den  sachlichen  Schulunterhaltungs- 
kosten. Die  persönlichen  Unterhaltungskosten,  auf  die  wir 
gelegentlich  noch  zurückkommen,  betrugen 

1886:  75093881  Mark  für  64750  vollbeschäftigte  Lehrer 
und  Lehrerinnen  und  für  1385  nicht  voll  be- 
schäftigte Hülfslehrkräfte  etc.  sowie  für  34270 
nicht  vollbeschäftigte  Handarbeitslehrerinnen. 
1891:  92716500  Mark  für  71  731  vollbeschäftigte  Lehrer 
und  Lehrerinen,  4483  nicht  vollbeschäftigte 
Hülfslehrkräfte  etc.  sowie  37129  nicht  voll  be- 
schäftigte Handarbeitslehrerinnen. 

Eine  einzelne,  vollbeschäftigte  Lehrkraft  kostete  durch- 
schnittlich 

1886  1136  Mark. 

1891 1252  „ 

Die  Gesammtausgaben  dagegen  bezifferten  sich 

1886  auf 116464385  Mark. 

1891  auf 146225312  „ 

und  werden  aus  folgenden  Quellen  aufgebracht: 


i ir 

überhaupt 

J a h 
% 

• e 18  8 6 
auf  dem  Lande 

% 

i ir 

überhaupt 

J a h i 
% 

• e 18  9 1 
auf  dem  Lande 

% 

aus  Einkünften  von  Schul-  etc.  Vermögen 

7 939  512 

6,82 

6 911  189 

10,47 

12  894  688 

8,82 

10  883124 

13,33 

aus  Gemeindemitteln  etc 

82  590  096 

70,92 

40  881  332 

61,97 

84114  285 

57,52 

34  964  492 

42,83 

aus  Staatsmitteln 

14  021  886 

12,04 

1 1 599  099 

17,56 

46  495  831 

31,80 

34  449  549 

42,20 

aus  Abgaben  des  Dienstnachfolgers  . . 

151  263 

0,12 

137  055 

0,21 

310  426 

0,21 

276191 

0.34 

aus  Schulgeld 

10  926  085 

9,38 

6135  590 

9,25 

1 378  983 

0,94 

345  812 

0,43 

aus  sonstigen  Ouellen 

835  543 

0,72 

333  598 

0,50 

1 031  099 

0,81 

711  819 

0,87 

überhaupt 

116  464  385 

100 

65  997  863 

100 

146  225  312 

100 

81  630  987 

100 

Im  Vergleich  zur  Bevölkerung  stellten  sich  die  Unter- 
haltskosten der  öffentlichen  Volksschulen  wie  folgt: 


im  Jahre 

auf  den  Kopf 
der  Bevölkerung 

auf  den  Kopf 
der  Schulkinder 

1861  . . . 

. . . . 1,61  Mk. 

10,37  Mk. 

1871  . . . 

. . . . 2.30  „ 

14,52  „ 

1886  . . . 

. . . . 4,11  „ 

24,07  „ 

1891  . . . 

. . . . 4,89  „ 

29,74  „ 

Für  das  höhere  Schulwesen  betrugen  die  Aufwendungen 
auf  den  Kopf  des  Schülers  (berechnet  nach  dem  Jahrb.  f. 


amtl.  Stat.  V.  Jahrg.)  1882/83 

für  den  Universitätsstudenten Mk.  566,9 

für  den  höheren  Schüler 166,7 

dagegen  für  den  Volksschüler „ 23,5 


Es  ist  nicht  ohne  Interesse  mit  den  Ausgaben  für  die 
Volksbildung  die  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  berechne- 


No.  51. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


CI  5 


ten  Ausgaben  für  Heeres-  und  Marinezwecke  in  Parallele 
zu  stellen,  die  letzteren  betrugen  in  ganz  Deutschland: 


1 886  87  10,65  Mk. 

1891/92  13.20  „ 

während  die  Ausgaben  für  Volksbildung  sich  in  ganz 
Deutschland  beliefen  1891  92 

Universitäten  ....  0,47  Mk.  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung 

höhere  Lehranstalten  . 1.05  „ „ „ „ „ „ 

Volks- und  Mittelschulen  5,91  „ „ „ „ „ „ 

Fachschulen  . . . . . 0,33  „ „ „ „ „ ,, 

zusammen  . . 7,76  Mk.  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung 


Dieses  ungerechtfertigte  Verhältniss  würde  noch  weit 
krasser  erscheinen,  wenn  man  nur  die  staatliche  Sub- 
vention der  Schulen  mit  den  Ausgaben  für  Heeres-  und 
Marinezwecke  vergliche,  was  insofern  gerechtfertigt  ist,  als 
ja  jeder  Bürger  zu  Schulzwecken  zweimal  oder  dreimal 
steuern  muss,  einmal  bei  seinen  staatlichen  Abgaben,  das 
zweite  Mal  bei  den  Gemeindeabgaben  und  das  dritte  Mal 
endlich,  wenn  er  Kinder  besitzt  bei  der  Bezahlung  des 
Schulgeldes. 

Von  den  staatlichen  Zuwendungen  für  die  Volksschule 
entfallen  nun  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  in  Preussen 

1891:  1,54  Mark, 

während  in  Deutschland  für  Heeres-  und  Marinezwecke  auf 
den  Kopf  der  Bevölkerung  entfallen 

1891/92:  13.20  Mark. 

Bei  einem  so  starken  Missverhältnisse  kann  es  nicht 
Wunder  nehmen,  dass  die  Volksbildung  in  Preussen-Deutsch- 
land,  z.  B.  mit  der  Schweiz  verglichen,  ein  so  sehr  niedri- 
ges Niveau  besitzt. 

Magdeburg.  H.  Lux. 

Berliner  Fortbildungsschulen  im  Jahre  1892/93.  Die 

Entwickelung  des  städtischen  Fortbildungsschulwesens  ge- 
staltete sich  im  Jahre  1892/93  nach  dem  soeben  ausgegebenen 
Verwaltungsberichte  des  Berliner  Magistrats  folgender- 
maassen.  Die  fünf  städtischen  Fortbildungsanstalten  in  Berlin 
wurden  im  Sommer  1892  von  659.  im  Winter  1892/93  von 
916  Theilnehmern  besucht,  von  denen  18  bezw.  47  Frei- 
stellen hatten.  Die  Kosten  für  Lehrergehälter  u.  s.  w.  be- 
trugen 37530  Mk.,  die  Einnahmen  aus  Schulgeld  u.  s.  w. 
7235  Mk.,  so  dass  etwa  30000  Mk.  Zuschuss  nöthig  wurden. 
In  den  elf  Fortbildungsschulen  befanden  sich  im  Sommer 
7326,  im  Winter  7739  Theilnehmer;  um  die  wirkliche  Be- 
theiligung der  Schüler  am  Unterricht  zu  prüfen,  wurde  an 
bestimmten  Tagen  die  thatsächliche  Theilnehmerzahl  fest- 
gestellt; es  ergab  sich,  dass  z.  B.  im  Winter  von  2263  Theil- 
nehmern am  Deutschen  nur  1750  anwesend  waren,  von 
2339  Theilnehmern  am  Rechnen  1807;  im  Zeichnen  waren 
von  3563  2808  anwesend  u.  s.  w.,  so  dass  ein  regerer  und 
pünktlicherer  Besuch  wünschenswerth  ist  Der  Unterricht 
in  den  Elementarfächern  ist  unentgeltlich,  für  einen  vier- 
stündigen, halbjährlichen  Kursus  im  Französischen,  Englischen 
oder  Fachzeichnen  sind  4 Mark  zu  zahlen.  Auf  den  Besuch 
hat  die  Erhebung  des  Schulgeldes  keinen  nachtheiligen 
Einfluss  geübt;  zumal  Freistellen  bis  zu  '/m  der  zahlenden 
Schüler  bewilligt  werden  dürfen.  Fortbildungsschulen  für 
Mädchen  bestanden  zehn,  von  denen  sechs  ganz  aus  städti- 
schen Mitteln  erhalten  wurden,  während  vier  je  2000  Mk. 
Zuschuss  erhielten.  Besucht  wurden  die  Schulen  von  3037 
bezw.  3229  Theilnehmerinnen;  in  der  städtischen  Fortbil- 
dungsschule für  Taubstumme  befanden  sich  50  bezw.  44 
Theilnehmer,  in  der  städtischen  Fortbildungsschule  für 
Blinde  49  männliche,  32  weibliche  Zöglinge;  die  von  den 
blinden  Arbeitern  verdienten  Löhne  ergaben  bei  22  Stuhl- 
flechtern in  9 Monaten  2300  Mk.,  bei  10  Korbflechtern  in 
9 Monaten  2105  Mk.,  bei  15  Bürstenmachern  3137  Mk.  Die 
Stuhlflechter,  dann  die  Strickerinnen  erzielten  die  geringsten 
Einnahmen;  bei  den  Korb-  bezw.  Bürstenmachern  schwankte 
der  Verdienst  zwischen  30 — 60  Mk.  im  Monat.  Die  Kosten 
des  städtischen  Fortbildungswesens  stellten  sich  auf  199872 
Mark,  ausserdem  noch  für  die  Fortbildungsanstalten  37  530 
Mark,  für  die  Fachschulen  42452  Mk.,  für  Vereinsschulen 
10000  Mk. , so  dass  überhaupt  289855  Mk.  für  das  Fortbil- 


dungsschulwesen, abgesehen  von  der  Handwerker-  und  Bau- 
gewerksschule, zu  zahlen  waren;  an  Einnahmen  aus  Schul- 
geld u.  s.  w.  gingen  ein  33324  Mk.,  mithin  betrug  der  städti- 
sche Zuschuss  etwa  256530  Mk 


Soziale  Hygiene. 

Trunksucht  der  Frauen  in  England.  Für  die  Beur- 
theilung  der  sozialpolitischen  Verhältnisse  des  gegenwärtigen 
Englands  sind  die  neuesten  statistischen  Untersuchungen 
von  besonderem  Interesse,  welche  über  die  Trunksucht  der 
Frauen  in  England  angestellt  wurden.  Hiernach  ergiebt  sich 
eine  erhebliche  Zunahme  des  Branntweingenusses  bei  der 
weiblichen  Bevölkerung  des  eigentlichen  Englands,  sowohl 
auf  dem  flachen  Lande,  wie  auch  in  den  Städten.  Als 
Handhabe  der  betreffenden  statistischen  Angaben  diente 
die  Zahl  der  von  der  englischen  Polizei  alljährlich  aufge- 
griffenen und  zur  Haft  gebrachten  betrunkenen  Personen 
weiblichen  Geschlechts.  In  den  Jahren  von  1878  bis  1884 
hatte  sich  die  Zahl  der  dem  Trünke  ergebenen  Frauen  in 
England,  namentlich  in  Wales,  mehr  als  verdoppelt  und 
betrug  im  letztgenannten  Jahre  9451  Frauen.  In  London 
erreicht  gegenwärtig  die  Zahl  der  aufgegriffenen  betrunke- 
nen Frauen  die  Ziffer  8000,  und  zeigt  gegen  das  Vorjahr 
eine  Steigerung  um  500  Personen.  Allein  in  Glasgow 
wurden  10500  betrunkene  Weiber  zur  Haft  gebracht  und 
ins  Gefängniss  abgeführt,  wiederum  eine  erhebliche  Steige- 
rung gegen  das  Vorjahr.  In  Dublin  sind  10000  derartiger 
Fälle  gezählt  worden.  Es  sind  allerdings  sehr  beredte 
Zahlen,  welche  man  hier  vor  Augen  hat,  indessen  ändern 
sich  die  Verhältnisse  noch  wesentlich  zum  Schlimmem,  wenn 
man  der  Sache  auf  den  Grund  geht.  Bekanntlich  verhalten 
sich  die  Polizeiorgane  aller  Länder,  besonders  aber  die 
englische  Polizei,  durchaus  nachsichtig,  um  nicht  zu  sagen 
apathisch  gegenüber  auf  der  Strasse  betroffenen  betrunkenen 
Personen  weiblichen  Geschlechts  und  schreiten  nur  mit 
Widerwillen  und  in  äusserst  seltenen  Fällen  zur  Verhaftung 
eines  betrunkenen  Weibes  und  zu  dessen  Abführung  nach 
der  Polizeiwache.  Die  mit  einem  solchen  Vorgang  ver- 
bundenen Unzuträglichkeiten,  Aufläufe  und  skandalösen 
Strassenszenen  mögen  wohl  oft  der  Polizei  gerechte  Ver- 
anlassung geben,  von  einer  Inhaftirung  und  auch  davon 
Abstand  zu  nehmen,  den  Fall  zur  amtlichen  Anzeige  zu 
bringen.  Bedenkt  man  diesen  Umstand,  so  wird  man  nicht 
fehl  gehen,  wenn  man  annimmt,  dass  die  oben  angeführten 
Zahlen  nur  ein  annäherndes  Bild  von  dem  wahren,  überaus 
traurigen  Sachverhalt  zu  geben  geeignet  sind  und  dass  der 
thatsächliche  Bestand  der  trunksüchtigen  Frauen  in  England 
jene  Zahlen  um  das  Mehrfache  übertrifft.  Wenn  schon  die 
Trunksucht  bei  der  männlichen  Bevölkerung  grosse  Schäden 
anrichtet,  wie  gross  müssen  nun  die  materiellen  wie  geistigen 
Nachtheile  sein,  welche  für  die  sozialen  Verhältnisse  eines 
Landes,  für  das  Haus-  und  Familienleben  dadurch  entstehen, 
dass  die  Trunksucht  in  solchem  Umfange  unter  der  weib- 
lichen Bevölkerung  grassirt! 


Eingesendete  Schriften. 

Kautsky,  Karl,  Der  Parlamentarismus,  die  Volksgesetzgebung  und 
die  Sozialdemokratie.  Stuttgart,  1893,  J.  H.  W.  Dietz.  8°, 
139  S. 

Kurelia,  H , Dr„  Naturgeschichte  des  Verbrechers.  Grundzüge  der 
kriminellen  Anthropologie  und  Kriminalpsychologie  für  Ge- 
richtsärzte etc.  Stuttgart,  1893,  F.  Enke.  8°,  284  S. 

Reiche=berg.  Dr.  juris,  Dozent,  Naum,  die  Statistik  und  die  Gesell- 
schaftswissenschaft. Stuttgart,  1893.  F.  Enke.  8°,  116  S. 

Rohrscheid,  Curt  von,  Die  Polizeitaxen  und  ihre  Stellung  in  der 
Reichs -Gewerbeordnung,  mit  besonderer  Rücksicht  auf  Brod- 
taxen  und  Gewichtsbäckerei.  Berlin,  1893,  Carl  Heymanns 
Verlag.  8°.  127  S. 

Zacher.  Dr..  Arbeiterbewegung  und  Sozialreform  in  Deutschland, 
Vortrag.  Berlin,  1893,  Carl  Heymanns  Verlag.  8°.  26  S. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin  W.,  Victoriastrasse  i6. 


616 


No.  51. 


ANZEIGEN. 


.j&frbcr’f^c  ^erfagshanbfuug,  jSrreiburg  im  iörei^cjau. 

Soeben  ift  erfdjienen  unb  burd)  alle  Budjhanbluugen  ja  bejicljen: 

4rrrt0c,  HU  forirtU,  Uclettiijtct  hiifd;  hie  „Stimmen  ml«  Ittimit- 

grtrtd)“.  7.  HUb  ^eJjutftufjf,  <H.(  S.  J,  internationale  SHcgclmtg  ber  fokalen  grage.  8°. 

(IV  u.  34  S.)  35  Pf. 

— SbaSfcIbe.  grfter  Banb  (1.  Big  7.  §eft).  8°.  (XXIV  u.  542  S.)  M.  4.75;  geb.  in 
Scimoanb  M.  5.60;  Sinbanbbccfe  60  Pf. 

SU§  gortfefmng  (Heft  8 u.  ff.  ober  Banb  II  big  III)  merben  bie  Slbhanblungen  be§ 
Herrn  P.  Heinrich  ißefd)  S.  J.  u.  b.  „iUbcralidmug,  SocialiSntud  unb  d)riftlid)e  SEÖelt» 
anfeßannng"  itt  oöüig  neuer  Bearbeitung  erfdieinen;  ba§  8.  §>eft  ift  unter  ber  Brcffe. 


Verlag  von  FERDINAND  ENKE  in  STUTTGART. 

Soeben  erschien: 

Reichesberg,  Dr.  N.,  Die  Statistik  und  die  Gesell- 

schaftswissenschaft. 8°.  geh.  3 M. 


fiud)ljnnhlung  bts  §d)it)fij.  (priitliurtfins  in  Jfiridj. 

(ßndjljatiblnns  für  Sojialroiircnfdjaft  unb  Sojialpolititt.) 


Öebtl,  SVuguft,  ltnfere  rotrtfcf)aftltcf)e 

unb  polttlfdje  Sage <prei8  Hi.  —.20 

§rünnid),  ©Ijr  , Ste  Sffiaifeicr  b.  9lröelter= 

fdjaft  unb  ber  adjtftünbtge  arrbeitstag  . „ „ —.20 

©fdin»ittl>,  §t.,  fjret  Sanb.  Eie  ©nmb» 
unb  SBobenoerfcfjuIbung  unb  bereu  SIbfjülfe 
burd)  bie  $tjpotf)etar=3{eform  ....  „ „ -.45 

ittorf,  ft.,  Eie  SScrfürsung  ber  tägltdjen 
Sirbeitäseit.  gfjre  Urfacfjcn,  SBirfungcn 
unb  Solgen.  ßrfalirungen  unb  Itrtffetie 

uon  ©efdjäftäleutcn „ „ —,20 

3it»iter,  füomja,  fjür  ben  Hc^tfümbcntag. 

Gin  Seitrag  3ur  @cfd)td)te  ber  2irbeit§3eit  „ „ - .25 

SBertcfjte  ber  einjelnen  Sänber  über  ben  ©tanb 
ber  fojialbemofratifdjen  Seroegung  an 
ben  internationalen  fojiolen  ßongrefe  in 
3ürid)  1893.  ©oroeit  liod)  norbanben  „ „ —.10 


gegriffen  6er  @enfrafpteffe 


für 


^rbetter-JHoIjIfaJjrtöcinridjtitnßjen. 


Cs> 


■N\ 


Soeben  gelangten  in  Carl  fjnjutrttutsi  Derlag  in  HUrlttt  W.,  SRauerftr.  44,  ^ur  2Iu§ga6e: 


Ömth  3. 

3)te  ©pat*;  mtit  $aib$ereitte 

in 

^amtouer,  (Böttingen  mtb  Berlin* 

©ine  2(ulettuug 

?nr 

prnlitifdjeii  §ct()nttgung  nuf  hin  gebiete  ht  gSn^nungsfrngp, 

8°.  IV  unb  118  ©eiten. 

©eljcftet  Breis  9W.  2,40,  poftfrei  31t.  2,50. 


$atth  4« 

®ü(fh*  uni)  llntcr|Iiif!uiighfa|Tni. 
fiitfoip  fiitAlitiiicr  uni)  3ugcniilit|c. 

23orf>evtcf)te  unb  fßer^anblungen 

ber 

^onfctenj  nont  21.  unb  22.  ^pril  1893. 

8°.  XII  unb  178  ©eiten. 

©eheftet  Breis  9ft.  3,60,  poftfrei  B?.  3,80. 


Ifuljalt  »0« 

Bonoort. 

I.  Ser  Spar»  unb  Bauuercin,  f 
6.  @.  m.  befefjr.  Haftpflicht 
in  Hnnnoocr,  ooti  g.  Bo  rf. 

®efd)id)te  bcS  BereinS. 

Berioaltung. 

Bau  unb  Sinridjtuug  ber 
Häufcr. 

ffaffen»  unb  BechnungS» 
fiifirung. 

SInlagcn:  Statut.  Bei» 

trittgerflärung.  Cuit» 
tuugsßud).  ^ebcliften  für 
©in^afdungen  ber  99tit= 
glieber.  9MrfenfontroIl= 
buch-  öuittungSbnd)  für 
bie  3dEdÜeflen.  Slntlfeil» 
fdjein.  Journal  für  ©in» 

gitljalt  uoit 

Borroort.  | 

A.  HülfS  = unb  llnter= 
ftüjnmgsf  affen. 

I.  Borßerid)t. 

A.  SarlcfjnSfaffen. 

B.  Untcrftüi3ungSlaf|en  für  Gr» 
IranfungS»  unb  befonbere 
Bottjfälic. 

I.  Familien»  u.  ©rgäujuugS* 

franfenfaffen. 

II.  Unterftühungsfaffen  für 


^aitb  3. 

^afjlungen  ber  Blitglie» 
ber.  Btüglieberhaupt» 
buch.  Gaffajournal, 
gourual  ^unt  Hauptbuch- 
Hauptbuch-  BUetI)oer= 
trag  unb  Hau§°rönung. 

II.  Ser  Spar»  unb  Bauoerein, 
S.  ©.  m.  Iiefdjr.  Haftpflicht 
in  ©öttingen,  oou  Dr.  9B  i I = 
ßelnt  Stuprecfjt. 

III.  Ser  Berliner  Spar»  unb 
Bauoerein.  ©.  ©.  m.  befdjr 
Haftpflicht,  oon  Dr.  H- 
ilbrecht. 

9Iutageu:  Beftimntuugeu 
für  bie  ©efthcift§führuug. 
Beftinunungen  für  bie 
Bauausführungen. 

$miii  4. 

oerfd)iebcue3iucd'e  (HüIfS= 
taffen  im  engeren  Sinne). 

a)  9tu§fddiehlid;  oont  Sir* 
beitgeber  botirte  Waffen. 

b)  Waffen  mit  Beitrag§^ah= 
Iungen  ber  Slrbeiter. 

SInhcmg:  Unterftühung 

jitm  Blilitärbienft  ein» 
berufener  Slrbeiter. 

C.  UnterftiihungStaffen  für ^n» 
oalibität,  Sitter  u.2obc3faH. 


a)  Slu§fchliehlid)  oom  Sir» 
beitgeber  botirte  Waffen 

b)  Waffen  mit  Beitrag§3af)= 
Iungen  ber  Slrbeiter. 

c)  Slu§fd)t.  b.  Beiträge  ber 
Slrbeiter  erhaltene  Waffen. 

SInhang:  2eben§oerfid)er 
II.  Bericht  über  ben  erften  Ber» 
hanbtungtdag,  ffreitag,  ben 
21.  SIpril  1893. 
©röffnung^rebe  b.Borfih- 
©efchäftlicheBUttheilungen. 
Beferai  b.  Hrn-  @ct)-  ®ont= 
merjieurath  Dechelhäufer. 
SiStuffion. 

B.  gürforge  für  ff  in  ber 
unb  Sugenblidje. 

I.  Borbericht. 

A.  ffiirforge  für  ffinber. 

I.  giirforge  im  Sldgemeinen. 

a)  Sie  noch  nicht  ©d;ul* 
Pflichtigen. 

b)  Sie  fdjulpflidjtig.  ffinber. 
II.  gürf.  f.  SBaifeu  u.  ffranfe. 

a)  Sie  SBaifcn. 

b)  Sic  ffranfen 
SInhang:  gabriffdjulen. 

B.  giirforge  f.  junge  SJiäbchen. 
I.  giirforge  f.  ffoft  u.SSohng. 

a)  SJIäbchcnheime. 

b)  Unterbringung  ber  9Mb» 
djen  in  gamilien. 


II.  Hau^n)irthf(hafUiche  hn» 
tertoeifungen. 

a)  @efammthau§hoU-=  unb 
ffodhunterricht. 

b)  Huubarbcitä*  unb  gort» 
bilbungSunterridU 

III.  gürforge  oerfdjieb.  SIrt. 

Berein  ber  greunbinnen 
junger  SKäbchen. 
Slrbeiteiinncnoereiue. 
SInhang:  Ser  Södjter» 

foub§,  geftiftetoonffaSpar 
StppenjeHer  in  3ürid). 

C.  gürforge  für  junge  Burfcfjen. 
I.  Umfaffenbe  gürforge. 

a)  Hei’l>ergen- 

b)  gürf.  f.  b.  geift  Gnttoid'el. 

c)  Schroerträge. 

II.  gürforg.  i.  uerfdj.Bidjtung. 

a)  Bflcge  b.  Seibeäiibungen. 

b)  pflege  be§  ©efange§. 

c)  pflege  b.gnftrum  »BJufif. 
SInhang : gortbilbungiüuefen. 

a)  Bicbere  gortbilbung. 

b)  Höhere  SluSbilbung. 

II.  Bericht  über  ben  jiociten 

BerhanblungStag,  Sonn» 
abcitb,  ben  22.  SIpril  1893. 
Beferat  bc§  Herrn  ffaplan 
Dr.  Srammer. 

SiSluffton. 

BamcnSoerseiihnih. 


Carl  Heymanns  Verlag  in  Berlin  W\,  Mauerstrasse  44  — Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld  in  Berlin  W . 


II.  Jahrgang. 


Berlin,  den  25.  September  1893. 


Nummer  52. 


1 


SOZIALPOLITISCHES 


CENTRALBLATT. 


Herausgeber:  Dr.  Heinrich  Braun 


Erscheint  jeden  Montag. 

Zu  beziehen 

durch  alle  Buchhandlungen,  Spediteure  und  Postämter. 
No.  5945  der  Postzeitungsliste. 


in 


Berlin. 


Preis  vierteljährlich  2 Mark  50  Pf. 

Einzelnummer  20  Pf. 

Anzeigenpreis  für  die  dreigespaltene  Colonelzcile 
40  Pfennig. 


INHALT. 


Die  Sozialpolitik  der  Reichs- 
postverwaltung. Von  Dr. 
Heinrich  Braun. 

Die  österreichische  Gewerbe- 
Enquete  vom  6.  Juni  bis 
10  August  d.  J.  Von  Engel- 
bert Pernerstorfer,  Mitglied 
des  österreichischen  Reichsraths. 
Der  zweite  Kongress  der  so- 
zialistischen Arbeiterpar- 
tei Italiens.  Von  Prof.  Dr. 
Werner  So m hart. 

Der  englische  Gewerkver- 
eins -K  o ngress  in  Belfast. 
Von  Georg  Ledebour. 

Die  Arbe  itsbörsen  inBelgien. 
Von  Rechtsanwalt  Dr.  E.  Vinck. 


Doppelte  Unfallentschädi- 
gung. Von  Dr.  E.  Lange. 

Die  Fortsetzung  der  Reichs- 
enquete über  das  Handels- 
gewerbe. Von  Dr.  M.  Quarck. 

Milderung  des  Sehuldrechts. 

Sonntagsruhe  und  Staatsbehörden. 

Zur  Durchführung  der  Sonntagsruhe 
in  Industrie  und  Handwerk. 

ZumStrike  der  französischen  Gruben- 
arbeiter. 

Zahl  der  Gewerbegerichte  in 
Deutschland. 

Sozialdemokratischer  Parteitag. 

' Evert,  Taschenbuch  des  Gewerbe- 
und  Arbeiterrechts. 


Abdruck  sämmtlicher  Artikel  ist  Zeitungen  und  Zeitschriften  gestattet, 
jedoch  nur  mit  Angabe  der  Quelle. 


Die  Sozialpolitik  der  Reichspostverwaltung. 

In  den  Streitfragen  der  sozialen  Politik  spielt  der  Staat 
als  Unternehmer  eine  verhältnissmässig  geringe  Rolle.  Und 
doch  ist  gerade  hier  seine  sozialpolitische  Verpflichtung 
von  selbst  gegeben,  und  in  dieser  Tätigkeit  ist 
er  am  ehesten  befähigt,  einen  entscheidenden  sozial- 
politischen Einfluss  auszuüben.  Speziell  in  Deutsch- 
land und  insbesondere  in  Preussen,  dem  leitenden  Staate, 
hat  der  Besitz  von  Domänen,  Forsten  und  Bergwerken,  die 
Verstaatlichung  der  Eisenbahnen,  der  Post  und  Telegraphie. 

| der  Betrieb  eigener  Maschinenfabriken,  Schiffswerften  u.  s.  w. 
u.  s.  w.  die  Wirkung,  dass  der  Staat  als  der  bei  weitem 
mächtigste  Unternehmer  eine  ausserordentlich  grosse  Zahl 
ersonen  beschäftigt.  Infolge  dessen  wäre  er  im  Stande, 
einen  in  allen  Zweigen  der  gesellschaftlichen  Produktion 
verspürbaren  Druck  auf  die  Lage  der  Arbeiter  auszuüben. 
Ohne  die  Hilfe  der  Gesetzgebung  könnte  der  Staat  lediglich 
■n  seiner  Stellung  als  Unternehmer  auf  den  Stand  der  Löhne, 
auf  dm  Länge  der  üblichen  Arbeitszeit  einen  bestimmenden 
Einfluss  üben  und  auch  sonst  in  mancher  Hinsicht  vorbild- 
ich  und  richtunggebend  auf  die  Verhältnisse  der  privaten 
Industrie  und  Gewerbe  einwirken.  Da  überdies  ökonomische 
■und  politische  Rücksichten  den  Staat  dazu  drängen,  seine 
1 1 nätigkeit  auf  dem  Gebiete  der  materiellen  Produktion  stetig 
zu  erweitern,  hat  es  den  Anschein  als  ob  diese  Frage 
;eine  immer  wachsende  Bedeutung  gewinnen  könnte. 

Umso  leichter  und  unbehinderter  vermöchte  der  Staat 
,die  angedeutete  sozialpolitische  Rolle  dort  durchzuführen, 
jwo  er  sich  im  Besitz  einer  so  gut  wie  monopolistischen 


Stellung  befindet  und  durch  die  private  Konkurrenz  in 
keiner  Weise  genöthigt  wird,  Löhne  und  Gehälter  auf  ein 
tiefes  Niveau  herabzudrücken.  In  hervorragendem  Maass 
gilt  dies  für  die  Postverwaltung,  die  demnach  als  ein  Muster- 
bild dafür  dienen  kann,  wie  jene  Idee  verwirklicht  wird. 

Nach  der  Statistik  der  Deutschen  Reichspost-  und 
Telegraphen  Verwaltung  für  1891  umfasst  die  Hierarchie  der 
deutschen  Reichspost  ca.  131317  Beamte.  Auf  die  Lage 
dieserBeamten  wirft  dieThatsache  ein  grelles  Schlaglicht,  dass 
in  dieser  enormen  Zahl,  von  den  Postarchitekten  abgesehen 
nach  dem  Etat  für  1893/94  blos  3147  höhere  Beamte  vorhanden 
sind.  Scheidet  man  weiterhin  die  Klasse  der  Sekretäre  und 
Postmeister  als  eine  mittlere  Klasse  aus,  so  ergeben  sich  in 
dieser  Kategorie  5204  Personen.  Die  Subalternbeamten 
(Oberassistenten  und  Assistenten)  zusammen  mit  den  Unter- 
beamten umfassen  49  198  etatsmässige  Stellen.  Ausserdem 
sind  noch  beiläufig  73  722  Beamte  im  Postdienst  thätig,  die 
abei,  weil  sie  zum  Theil  jeden  Tag  entlassen  werden 
können  und  nur  diätarisch  beschäftigt  sind,  mit  viel  mehr 
Recht  als  Tagelöhner1)  bezeichnet  würden.  Die  Vertheilung 
des  Personals  der  Postverwaltung  auf  die  obigen  Kategorien 
zeigt  auf  den  ersten  Blick,  dass  es  sich  hier  um  ein 
System  handelt,  das  fast  die  gesammte  Arbeitslast  den 
Schultern  im  Range  tiefstehender  und  möglichst  billiger 
Hilfskräfte  aufbürdet.  Die  Verhältnisse  werden  erst  recht 
deutlich,  wenn  man  die  Situation  der  Subaltern-  und  der 
Unterbeamten  genauer  in  das  Auge  fasst. 

Die  Subalternbeamten,  die  mit  den  Posteleven  und  Post- 
gehilfen beiläufig  80  pCt.  des  gesammten  praktischen  Dienstes 
versehen2)  und  thatsächlich  denselben  Wirkungskreis  aus- 
füllen wie  die  Sekretäre,  haben  unter  einem  doppelten  Nach- 
theile zu  leiden.  Fürs  erste  weil  sie  den  Sekretären  im 
Range  nachstehen  und  von  ihnen  unter  allen  Umständen 
durch  eine  unübersteigliche  Schranke  geschieden  bleiben: 
für  s andere  weil  sie  trotz  gleichartiger  Leistungen  ökonomisch 
viel  ungünstiger  gestellt  sind  wie  die  Sekretäre.  Gewöhnlich 
treten  die  Subalternbeamten  mit  16—18  Jahren  als  Post- 
gehilfen ein.  In  dieser  Stellung  bleiben  sie  vier  Jahre  und 
beziehen  Diäten  von  1,50  bis  2,50  M.  Nach  Ablegung  der 
Assistentenprüfung  werden  sie  weitere  vier  bis  fünf  jahre 
gleichfalls  gegen  Diäten  in  der  Höhe  von  3 M.  bis  3,25  M„ 
in  Berlin  bis  3,50  M„  beschäftigt  und  können  in  dieser 
Periode  auf  Grund  vierwöchentlicher  Kündigung  entlassen 

0 Vgl.  die  Rede  des  Abgeordneten  Vollrath  in  der  Sitzung 
des  Reichstages  vom  3.  März  1893.  Stenographische  Berichte  der 
Verhandlungen  des  Reichstages,  8.  Legislaturperiode.  II.  Session 
Protokoll  der  57.  Sitzung,  S 1392. 

2)  Vgl.  Die  Neue  Zeit  und  Die  alte  Deutsche  Reichspost 
unter  der  Leitung  des  Herrn  v.  Stephan.  Ein  Leitfaden  durch 
postalische  Missstände  etc.  Von  einem  alten  Postillon  Ha°-en 
i.  W„  Riesel  & Co. 


618 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  52. 


werden.  Erst  nach  Ablauf  derselben  erfolgt  die  etatsmässige 
Anstellung  als  Assistent  gegen  dreimonatliche  Kündigung 
mit  einem  Anfangsgehalt  von  1500  M.  und  dem  entsprechen- 
den Wohnungsgeldzuschuss,  der  sich  nach  den  örtlichen 
Verhältnissen  richtet.  Der  Gehalt  steigt  in  weiteren  vier 
bis  fünf  Jahren  bis  1700  M.  Nach  erst  dieser  Zeit  erfolgt 
die  lebenslängliche  Anstellung  als  Ober-Assistent  mit  einem 
Gehalt  von  1700  bis  2700  M.  Zwölf  bis  vierzehn  Jahre  sind 
diese  Beamten  demnach  in  Stellungen,  die  von  proleta- 
rischen wenig  verschieden  sind. 

Von  vornherein  werden  sie  nach  einer  zwischen  vier- 
zehn Tagen  und  vier  Monaten  schwankenden  posttechni- 
schen Ausbildung  selbstständig  beschäftigt  und  versehen 
sogleich  als  Lehrlinge  und  angehende  Beamte  den  Dienst 
vollkommen  ausgebildeter  Beamten.  Mit  Recht  kann  man 
hier  von  einer  Art  Lehrlingszüchterei  sprechen,  die  darauf 
berechnet  ist.  der  Postverwaltung  die  Kosten  vollwerthiger 
Beamten  zu  ersparen.  Die  Missstände,  die  daraus  ent- 
springen, machen  sich  in  sehr  ernster  Weise  nach  verschie- 
denen Seiten  geltend.  Zunächst  leidet  der  Dienst  argen 
Schaden,  und  die  unzureichenden  Leistungen  der  Post  wer- 
den unter  diesen  Verhältnissen  immer  offenbarer.  Von 
einer  nicht  geringen  Gefahr  namentlich  in  moralischer  Hin- 
sicht ist  diese  Sachlage  besonders  für  die  jugendlich  unreifen 
angehenden  Beamten.  Sie  beziehen  ein  monatliches  Ein- 
kommen von  zuerst  45,  später  60  Mark  (in  grösseren 
Städten  75  Mark),  das  nur  die  dürftigste  Lebenshaltung  er- 
möglicht, während  die  dienstliche  Stellung  zugleich  eine 
gewisse  Repräsentation  erfordert.  So  ist  schon  mancher 
junge  Beamte  der  Versuchung  unterlegen,  sich  an  den 
Geldern  zu  vergreifen,  die  beim  Schalterdienst  durch  seine 
Hände  laufen.  Die  Leidensgeschichte  der  subalternen  Post- 
beamten erzählt  von  mehr  als  einem  tragischen  Schiff- 
bruch. in  welchem  hoffnungsvolle  und  ursprünglich  vor- 
trefflich beanlagte  Jünglinge  untergingen,  weil  sie  in  einer 
Situation  sich  nicht  behaupten  konnten,  die  allzu  schwere 
Zumuthungen  an  sie  stellte.  Allein  weder  die  unter  diesen 
Umständen  nothwendige  Verschlechterung  der  postalischen 
Leistungen  noch  die  Wirkung  der  unnatürlichen  Verhält- 
nisse auf  die  davon  betroffenen  Beamten  veranlasst  die 
Reichspostverwaltung  zu  einer  Aenderung.  Die  Sucht,  hohe 
Ueberschüsse  zu  erzielen,  verführt  sie  dazu,  mit  einer  mög- 
lichst grossen  Zahl  jugendlicher  Hilfskräfte  und  zu  einer 
subalternen  Stellung  dauernd  verurtheilter  Assistenten  zu 
arbeiten  und  durch  die  Ersparnisse  an  den  Gehältern  grosse 
Profite  zu  erzielen. 

Die  ökonomisch  ungünstige  Lage  der  Subalternbeamten 
wird  sehr  verschärft  durch  die  übermässige  Anstrengung, 
der  sie  unterworfen  werden.  Die  Regel  ist  eine  56stün- 
dige  wöchentliche  Arbeitszeit  in  den  grossen  Städten,  in 
mittleren  bis  65,  d.  h.  8 — 10  Stunden  täglich  auf  7 Tage 
der  Woche  vertheilt,  so  dass,  sofern  der  Sonntag  theil- 
weise  oder  ganz  frei  bleibt,  die  Arbeitszeit  an  den  Wochen- 
tagen eine  entsprechende  Ausdehnung  erfährt.  Dieses  Ver- 
hältniss  ist  sehr  ungünstig,  namentlich  wenn  man  erwägt, 
wie  anstrengend  infolge  der  schweren  Verantwortlichkeit 
des  Postdienstes  und  der  vielfach  ungesunden  äusseren 
Bedingungen  (Nachtdienst  etc.),  unter  denen  sie  sich  voll- 
zieht, die  Thätigkeit  der  Postbeamten  ist.  Fragwürdig  wie 
die  Sonntagsruhe  ist  auch  der  den  Subalternbeamten  zu- 
gebilligte Urlaub  von  wenigen  Tagen.  Bei  dem  unzuläng- 
lichen Personalbestände  werden  die  vortheilhaften  Folgen 
eines  solchen  Urlaubs  dadurch  vielfach  wettgemacht,  dass 
die  Zeit  des  Urlaubs  durch  Vertretung  abwesender  Kollegen 
eingebracht  werden  muss. 

Ist  die  Stellung  der  Subalternbeamten  eine  in  jeder 
Hinsicht  unbefriedigende,  so  gestaltet  die  ökonomische 
wie  soziale  Lage  der  Unterbeamten  (Briefträger,  Postschaffner, 
Postpacketträger,  Posthülfsboten  etc.)  sich  noch  weit  un- 
günstiger. Die  grosse  Zahl  der  gegen  Tagegelder  Be- 


schäftigten erreicht  gewöhnlich  nur  den  ortsüblichen  Tage- 
lohn und  bleibt,  wie  z.  B.  in  Berlin,  theilweise  sogar  hinter 
demselben  zurück.  Die  etatsmässig  angestellten  Beamten 
beziehen  neben  einem  zwischen  60  und  240  M.  schwankenden 
Wohnungsgeldzuschuss  einen  Gehalt  von  durchschnittlich 
775  bis  1200  M.  im  Jahr. 

Die  Bedingungen,  unter  denen  die  vierwöchentlich 
kündbare  etatsmässige  Anstellung  in  eine  Anstellung  auf 
Lebenszeit  umgewandelt  werden  kann  — ein  Rechtsanspruch 
darauf  besteht  weder  für  diese  noch  eine  andere  Kategorie 
von  Postbeamten,  — sind  nach  § 64,  Abschnitt  X,  Abth.  2 
der  Allgemeinen  Dienstanweisung  so  festgesetzt,  dass  Mili- 
täranwärter nach  einem  Dienst  von  15  Jahren  bei  der  Post- 
verwaltung und  Civilanwärter  nach  einer  Gesammtdienst- 
zeit  von  30  Jahren  dazu  gelangen  können. 

Die  Anstrengung  der  Unterbeamten  ist  bei  weitem 
grösser  wie  die  der  Subalternen,  ihre  Arbeitszeit  ist  um 
2 — 3 Stunden  länger  und  die  Arbeitslast  der  Briefträger  und 
Packträger  erscheint  in  vielen  Fällen  enorm. 

Die  ökonomische  Bedrängniss,  in  der  die  Subalternbeamten 
und  Unterbeamten  leben,  bringt  es  mit  sich,  dass  die  Post- 
bediensteten trotz  der  Ueberanstrengung,  der  sie  unterworfen 
sind,  nach  allem  möglichen  Nebenerwerb  sich  umsehen 
I müssen.  So  finden  wir  diese  Beamten  in  ihren  nicht  vom 
Dienst  occupirten  Stunden  als  Zivilmusiker1),  Tischler, 
Schneider,  Schuhmacher  und  in  anderen  Gewerbszweigen 
thätig,  auf  diese  Weise  zugleich  ein  sprechendes  Bild  bietend 
von  der  Fürsorge  der  Reichsverwaltung,  die  im  laufenden 
Etatsjahr  einen  Ueberschuss  von  21  292  277  erzielte  und 
trotzdem  sich  ausser  Stande  zeigt,  ihren  Beamten  ein  Ein- 
kommen zu  gewähren,  das  sie  ausreichend  ernährt. 

Unter  diesen  Umständen  ist  es  kein  Wunder,  dass  die 
Missstände,  die  sich  in  der  Reichspostverwaltung  während 
der  letzten  Jahre  als  eine  nothwendige  Folge  ihres  minder- 
werthigen  Beamtenpersonals  ausgebildet  haben,  nachgerade 
in  allen  Theilen  der  Bevölkerung  peinlich  empfunden  werden. 
Und  ebenso  natürlich  ist  es,  dass  die  Subalternbeamten  sich, 
eine  Organisation  zu  geben  versuchen,  die  ihre  wirtschaft- 
lichen Interessen  wahrzunehmen  sucht.  Im  Sommer  1890 
erfolgte  die  Gründung  des  „Verbandes  deutscher  Post-  und 
Telegraphenassistenten“,  der  sich  den  Zweck  gesetzt  hat: 
„Unter  seinen  Mitgliedern  allgemeine  und  Berufsbildung  zu 
fördern,  Geselligkeit  und  Kollegialität  zu  pflegen,  und  ge- 
meinsame Vortheile  der  Mitglieder  auf  wirtschaftlichem 
Gebiet  zu  erstreben.“2 3) 

Mit  dieser  Begründung  eines  Verbandes  haben  die 
Subalternbeamten  nur  von  dem  ihnen  wie  jedem  Staats- 
bürger zustehenden  Koalitionsrecht  Gebrauch  gemacht.  Die 
Ziele,  die  sie  sich  steckten,  sind  in  ihrem  Maasshalten 
direkt  darauf  berechnet,  jeden  Anstoss  bei  der  obersten 
Behörde  zu  vermeiden.  Nichtsdestoweniger  fand  es  das 
Reichspostamt  angemessen,  die  durchaus  legalen,  an  Loyalität 
nicht  wohl  zu  überbietenden  Bestrebungen  des  Vereins  der 
Postassistenten  auf  das  schärfste  zu  verfolgen,  mit  Mitteln, 
die  den  Widerspruch  der  Wortführer  fast  aller  Parteien  im 
Reichstag  erregten.  Der  Gesammtvorstand  des  Verbandes 
wurde  im  Jahre  1891  durch  Versetzung  der  Mitglieder  aus- 
einandergesprengt; dasselbe  Schicksal  bereitete  das  Reichs- 
postamt den  Bezirksvereinsvorständen  in  Bremen.  Köln, 
Düsseldorf,  Magdeburg  und  anderswo.  3)  Trotzalledem 

i)  Vgl.  die  Rede  des  Abgeordneten  Bebel  und  die  Erwide- 
rung des  Direktors  im  Reichspostamt  Dr.  Fischer  in  der  150. 
Sitzung  des  Reichstags  vom  18.  Januar  1892.  Stenographisches 
Protokoll  der  Verhandlungen  des  Reichstages,  VIII.  Legislatur-Pe- 
riode 1,  Session  S.  3711. 

*)  Vergl.  die  Neue  Zeit  und  die  alte  deutsche  Reichspost  etc 
S.  86  ff. 

3)  Vergl.  die  Rede  des  Abgeordneten  Liebermann  v.  Sonnen- 
berg in  der  Reichstagssitzung  vom  4.  März  1892.  Stenographische 
Berichte  der  Verhandlungen  des  Reichstags,  VIII.  Legislatur- 
periode, 1.  Session.  S.  1427. 


No.  52. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTR AI. BLATT. 


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blüht  der  Verein  und  entwickelt  sich  kräftig  weiter.  Die 
Verfolgungen  seitens  der  Postbehörden  haben  das  Gegen- 
theil  der  beabsichtigten  Wirkung  erreicht.  Die  Subaltern- 
beamten wurden  noch  mehr  verbittert,  und  wer  weiss,  ob 
der  ohnmächtige  Groll  des  Reichspostamts  nicht  das  Signal 
geben  wird  auch  zu  einer  Organisation  der  Unterbeamten. 
Zündstoff  ist  wahrlich  genug  dazu  vorhanden.  Die  kläg- 
liche Lage  der  schlecht  bezahlten  und  aufs  äusserste  an- 
gespannten niederen  Beamten  (Assistenten  und  Unterbeamten) 
erzeugt  eine  immer  tiefer  greifende  soziale  Verstimmung. 
Dazu  kommen  noch  jene  Erlasse,  wie  sie  in  den  letzten 
Jahren  an's  Licht  der  Oefifentlichkeit  gebracht  worden  sind, 
wie  der  Erlass  des  Magdeburger  Ober-Postdirektors  Reh- 
bock vom  16.  Juni  1892,  die  Cholera-Kollekten  des  Berliner 
Ober- Postdirektors  Griesbach  vom  23.  September  1892,  das 
gegen  die  Koalitionsfreiheit  sich  richtende  Rundschreiben 
der  3.  Abtheilung  des  Reichspostamts  vom  4.  Juli  1892, 
aus  diesem  Jahr  die  Verfügung  in  Sachen  der  „pflicht- 
vergessenen Beamten“,  d.  h.  der  Briefträger  u.  s w.,  die 
Weihnachtsgeschenke  angenommen  haben,  und  andere  Ver- 
fügungen dieser  Art,  die  Oel  in’s  Feuer  giessen. 

Das  Bild,  das  sich  uns  bei  unserer  kurzen  Rundschau 
über  die  hervorstechendsten  Züge  in  der  Sozialpolitik  der 
Reichspostverwaltung  darbot,  ist  durchaus  unerfreulich.  Die 
Aufgabe,  die  der  Verwaltung  gestellt  ist,  hat  sie  in  keiner 
Hinsicht  zu  lösen  verstanden.  Wir  sehen,  dass  die  Ange- 
stellten, soweit  sie  nicht  zu  der  verschwindenden  Zahl  der 
höheren  Beamten  gehören,  ebenso  unter  einem  sehr  ungünsti- 
gen ökonomischen  wie  moralischen  Druck  stehen.  Wenn  die 
Reichspostverwaltung  ihre  Politik  nicht  gründlich  ändert, 
dann  wird  sie  sich  noch  auf  ganz  anderen  Widerstand  ge- 
fasst machen  müssen  als  bisher.  Fast  einmüthig  haben 
alle  Parteien  des  Reichstages  an  der  Reichspostverwal- 
tung wegen  ihres  Vorgehens  gegen  den  Assistenten-Ver- 
band  scharfe  Kritik  geübt.  Das  sollte  ihr  eine  Mahnung 
sein,  endlich  umzukehren  und  eine  positive  Sozialpolitik  zu 
treiben,  die  die  betrübende  Lage  der  unteren  Beamtenschaft 
durchgreifend  zu  bessern  unternimmt. 

Berlin.  Heinrich  Braun. 


Die  österreichische  Gewerbe -Enquete 
vom  6.  Juni  bis  10.  August  d.  J. 

Im  Jahre  1882  fand  in  Oesterreich  die  erste  parla- 
mentarische Gewerbe -Enquete  statt,  die  eine  Abänderung 
der  bis  dahin  bestehenden  Gewerbeordnung  zur  Folge  hatte. 
Es  wurde  ein  Befähigungsnachweis,  der  aber  ein  blosser 
Verwendungsnachweis  war,  für  die  handwerksmässigen 
Gewerbe  eingeführt  und  eine  Reihe  von  Bestimmungen 
bezüglich  eines  Arbeiterschutzes  getroffen.  Das  Kleinge- 
werbe hatte  zwar  einen  Theil  seiner  Forderungen  durch- 
gesetzt, war  aber  nicht  zufriedengestellt  worden.  Da  die 
Kleingewerbetreibenden  den  grössten  Theil  der  städtischen 
Reichsrathswähler  ausmachen  und  ihre  Agitation  eine  plan- 
mässige  ist,  gelang  es  ihnen,  die  Diskussion  ihrer  Forde- 
rungen im  Parlamente  aufs  neue  durchzusetzen.  Es  liegen 
dem  Hause  bis  jetzt  vor:  1.  Antrag  der  Abgeordneten 

Steinwender,  Fuss,  Richter  und  Genossen  vom  16.  April 
1891,  betreffend  die  Abänderung  einiger  Bestimmungen 
der  Gewerbeordnung.  2.  Antrag  des  Abgeordneten  Max 
Hayek  und  Genossen  vom  17.  April  1891.  3.  Antrag  der 

Abgeordneten  Neinec,  Spindler  und  Genossen  vom  27.  April 
1891,  betreffend  die  Abänderung  einiger  Bestimmungen 
der  Gewerbeordnung.  4.  Antrag  des  Abgeordneten  Prinzen 
Alois  Lichtenstein  und  Genossen  vom  28.  April  1891,  be- 
treffend die  Revision  des  Gewerbegesetzes  vom  15.  März 
1883.  5.  Antrag  des  Abgeordneten  Häjek  und  Genossen 

vom  5.  Juni  1891 . 6.  Antrag  des  Abgeordneten  Erwin  Spindler 


und  Genossen  vom  29.  November  1891  und  7.  Antrag  des 
Abgeordneten  Dr.  Kaizl  und  Genossen  vom  26.  April  1892, 
betreffend  Erlassung  eines  Gesetzes  über  die  Ausdehnung 
des  Arbeiterschutzes.  Alle  diese  Anträge  bringen  die  mannig- 
faltigen Wünsche  der  Kleingewerbetreibenden  zum  Aus- 
drucke, nur  der  letzte  betrifft  die  Einbeziehung  der  Tag- 
lölmer  in  den  Arbeiterschutz.  Die  Vorbehandlung  dieser 
Anträge  hätte  in  dem  ständigen  Gewerbeausschusse  des 
österreichischen  Abgeordnetenhauses  statthnden  sollen. 
Dieser  hatte  aber  eine  solche  Menge  von  wichtigen  Agenden 
in  den  abgelaufenen  Sessionsabschnitten  zu  erledigen,  dass 
er  zu  einer  Behandlung  der  angeführten  Anträge  nicht  kam. 
Ausserdem  machte  sich  von  verschiedenen  Seiten  dei 
Wunsch  nach  einer  direkten  Befragung  dei  interessii  ten 
Kreise  geltend.  Da  nun  die  österreichische  Vei  fassung 
zulässt,  dass  mit  Zustimmung  des  Hauses  sogenannte  per- 
manente Ausschüsse  eingesetzt  werden,  die  die  Regieiung, 
auch  während  das  Haus  vertagt  ist,  einberufen  kann,  da 
glaubte  man  am  besten  zu  thun,  wenn  man  zur  Abhaltung 
einer  neuerlichen  Gewerbe-Enquete  einen  Permanenzaus- 
schuss einsetzte.  Er  besteht  aus  18  Mitgliedern  und  ai- 
beitete  vom  25.  Mai  bis  I I . August.  Zuerst  galt  es,  den 
schon  vom  alten  Gewerbeausschusse  entworfenen  f rage- 
bogen zu  überprüfen.  Es  wurden  30  fragen  in  9 Kapitel 
zusammengefasst,  im  wesentlichen  auf  Grund  dei  im  Hause 
gestellten  Anträge  und  der  sonst  öffentlich  bekannt  ge- 
wordenen Wünsche  der  Kleingewerbetreibenden  und  theil- 
weise  auch  der  Arbeiterschaft.  Die  fragen  beziehen  sich 
(1.-3.  Kapitel,  a— c,  Frage  1 — 13)  in  erster  Linie  auf  die  Ver- 
schärfung des  sogenannten  Befähigungsnachweises  (Gehilfen- 
und  Meisterprüfung),  auf  dessen  Ausdehnung  sowohl  aut  In- 
haber fabriksmässiger  Unternehmungen,  in  denen  hand- 
werksmässige  Artikel  angefertigt  werden,  als  auch  aut  das 
Handels-,  Gast-  und  Schankgewerbe,  aut  das  Verhältniss 
der  Behörden  zu  den  Genossenschaften  in  bezug  aut  die 
Zulassung  zum  Gewerbe  und  auf  die  Bestimmung  des  Um- 
fanges desselben  und  dessen  Ausübung,  aut  die  Berechti- 
gung des  Maassnehmens  bei  den  Konfektionären,  aut  die 
Beschränkung  der  Handelsgewerbe  auf  bestimmte  Waaren 
oder  auf  bestimmte  Kategorien  von  Waaren,  aut  die  Ei- 
sichtlichmachung  der  Bezugsquelle  beim  Handel  mit  Erzeug- 
nissen handwerksmässiger  Gewerbe  oder  dessen  besondeie 
Konzessionirung  oder  dessen  Vorbehalt  an  die  Handweiker, 
sowie  auf  das  Feilbieten  im  Umherziehen  und  auf  Verkaufs- 
filialen.  Das  4.  Kapitel  (D,  Frage  14  bis  20)  umfasst  die 
Einbeziehung  der  Taglöhner  in  den  Arbeiterschutz  (VI.  Haupt- 
stück der  Gewerbe-Ordnung),  die  Einschränkung  der  Maxi- 
malarbeitszeit, die  Arbeitsbücher,  den  Schutz  der  Kinder, 
jugendlichen  Hilfsarbeiter  und  Frauen,  die  Maximalarbeitszeit 
und  Kündigungsfrist  beim  kaufmännischen  Hilfspersonale 
und  endlich  die  Lehrlingsfrage.  Das  5.  Kapitel  (E)  beschäf- 
tigt sich  mit  den  Fragen  der  Ausbildung  der  Genossen- 
schaften (Bezirks-Landes-Reichsverbände)  und  deren  Befug- 
nissen (Frage  21  bis  24).  Das  6.  Kapitel  (F,  Frage  25  und 
26)  fasst  die  Versicherungsfragen  zusammen:  Die  Ausdeh- 
nung der  Unfallversicherung  auf  das  Kleingewerbe,  die 
Genossenschafts-Krankenkassen,  die  Lehrlingsversmhei  ung 
und  die  Errichtung  von  obligatorischen  Meister- Kranken- 
kassen. Das  7.  Kapitel  (G,  Frage  27)  handelt  vom  Sitz- 
gesellenwesen, das  8.  (H,  Frage  28)  von  der  Sonntagsruhe, 
das  9.  (J,  Frage  29  und  30)  von  Gewerberäthen,  Handels- 
und Gewerbekammern. 

Damit  glaube  ich  alles  wesentliche  des  f ragebogens 
mitgetheilt  zu  haben.  Es  wird  sofort  auffallen,  dass  die 
Expertise  aut  Grund  dieses  Schemas  sich  in  allzu  ausge- 
dehnter Weise  mit  der  Erörterung  von  Meinungen  be- 
schäftigen musste.  Ihr  Verlaut  hat  denn  auch  gezeigt,  dass 
deklamatorische  Agitationsreden  kaum  einzudämmen  waren, 
und  das  umsoweniger,  als  Mitglieder  des  Ausschusses  selbst 
häufig  genug  nach  den  Meinungen  der  Experten  fragten, 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


ja  nach  dem  Stande  der  Dinge  fragen  mussten.  Nach  dieser 
Richtung  dürfte  diese  Enquete  wohl  einzig  in  ihrer  Art  sein. 
Ich  will  nicht  behaupten,  dass  das  einen  Vorzug  bedeutet. 
Bei  dem  grossen  Umfang  der  stenographisch  aufgenommenen 
Verhandlungen  (sie  dürften  zwischen  1300  und  1500  doppel- 
spaltige  Seiten  in  Quart  ausmachen)  wird  es  mühsam  sein, 
das  eigentliche  thatsächliche  Material  herauszuschälen. 

Nach  Feststellung  des  Fragebogens  galt  es  die  Art  der 
Expertenauswahl  zu  bestimmen.  Es  wurde  der  Antrag  an- 
genommen, dass  prinzipiell  nur  Korporationen  eingeladen 
werden  sollten,  Vertreter  zu  entsenden.  Einzelpersonen 
sollten  vom  Ausschüsse  nur  ganz  ausnahmsweise  genannt 
werden.  Es  sind  ihrer  auch  kaum  mehr  als  ein  halbes 
Dutzend  eingeladen  worden.  Im  Ganzen  wurden  401 
Einladungen  ausgeschickt.  Von  diesen  hatten  365  Erfolg. 
Die  restlichen  36  blieben  in  der  Mehrzahl  unbeantwortet, 
von  zwei  geladenen  Korporationen  der  Arbeiterschaft  (den 
Buchdruckern  Wiens  und  den  Bäckern  Salzburgs)  liefen  ab- 
lehnende Schreiben  ein,  in  denen  dem  Misstrauen  der  Ar- 
beiter dem  Parlamente  gegenüber  Ausdruck  gegeben  und 
dem  Ausschüsse  der  Rath  ertheilt  wurde,  er  möge,  wenn 
er  die  Wünsche  der  Arbeiter  kennen  lernen  wolle,  das 
sozialdemokratische  Programm  lesen.  Die  übergrosse  Mehr- 
zahl der  Delegirten  war  von  den  Genossenschaftsaus- 
schüssen der  Meister  entsendet  worden.  Die  Vertreter  der 
Grossindustrie  und  der  gewerblichen  Arbeiterschaft  machten 
wohl  zusammen  noch  kein  Drittel  aus.  Trotzdem  wurde 
die  Meinung  laut,  dass  insbesondere  die  Arbeiterschaft  zu 
sehr  berücksichtigt  sei,  ja,  ein  Experte  wunderte  sich,  dass 
überhaupt  Arbeiter  bei  einer  Gewerbeenquete  ver- 
nommen würden.  Der  Ausschuss  hielt  10  Sitzungen  ab, 
die  eigentliche  Enquete  beanspruchte  42  Verhandlungstage. 
Um  die  Berichterstattung  an  den  Ausschuss  zu  erleichtern, 
wurde  der  Stoff  derart  getheilt,  dass  alle  auf  den  Arbeiter- 
schutz bezüglichen  Fragen  (VI.  Hauptstück  der  Gew.-Ord.) 
ausgeschieden  und  dem  Schreiber  dieser  Zeilen,  die  übrigen 
dem  Abgeordneten  Dr.  Ebenhoch  zugetheilt  wurden.  Die 
Verhandlungen  leiteten  der  Obmann  Dr.  Weigel  und  dessen 
Stellvertreter  Prof.  Dr.  Exner.  Die  Regierung  war  in  jeder 
Sitzung  vertreten,  einigemäle  erschien  der  Handelsminister 
selbst.  Von  den  tschechischen  und  polnischen  Experten 
deponirten  die  meisten  in  ihrer  Muttersprache,  wobei  Mit- 
glieder des  Ausschusses  als  Dolmetscher  fungirten. 

Da,  wie  schon  erwähnt,  die  Handwerksmeister  in  der 
übergrossen  Mehrheit  waren  und  diese,  soweit  sie  organi- 
sirt  sind  und  agitatorisch  arbeiten,  auf  einer  Reihe  von 
Gewerbetagen  ihre  Forderungen  schon  des  öfteren  formu- 
lirt  haben,  war  es  natürlich,  dass  ihre  Ansichten  in  der 
Enquete  durch  die  Mehrheit  der  Experten  und  den  Umfang 
ihrer  Ausführungen  dominirten.  Die  auf  und  von  den 
Gewerbetagen  propagirte  Gewerbepolitik  ist  die  der  christ- 
lichsozialen Partei.  Auch  viele  Gewerbetreibende,  die  An- 
hänger der  liberalen  Partei  in  politischer  Beziehung  sind, 
stehen  bezüglich  ihres  gewerblichen  Programms  auf  dem 
Boden  der  Christlichsozialen.  Politisch  und  ökonomisch 
liberale  Handwerker  giebt  es  nur  wenige  in  der  Expertise. 
Die  Handwerkerfrage  ist  in  Oesterreich  von  noch  grösserer 
Bedeutung  als  in  den  westlichen  Ländern  Europas,  da  die 
ökonomische  Entwickelung  Oesterreichs  diesen  gegenüber 
noch  rückständig  ist.  Es  mag  also  in  Oesterreich  leichter 
als  anderswo  der  Versuch  mit  Aussicht  auf  Erfolg  ge- 
macht werden,  die  heutigen  Gewerbemeister  durch  eine  streng 
abschliessende  und  reglementirende  Organisation  des  Hand- 
werks ökonomisch  zu  schützen.  Da,  wie  gesagt,  die  Hand- 
werker die  Mehrheit  der  städtischen  Reichsrathswähler 
bilden,  so  haben  sie  auch  ein  grosses  politisches  Macht- 
mittel in  der  Hand.  Nun  verspricht  die  christlichsoziale 
Partei  diese  Organisation  in  der  ja  auch  in  Deutschland 
bekannten  Weise.  Die  eingangs  zusammengestellten  Fragen 
der  Enquete  geben  auch  zugleich  ein  Bild  der  Forderungen 


dieser  Partei.  In  ihren  Versprechungen  liegt  die  Stärke  der 
Christlichsozialen  und  das  Gehcimniss  ihrer  Erfolge.  Der 
Antisemitismus  ist  mehr  dekorativer  Zierrath,  der  gewöhnlich 
dann  herausgesteckt  wird,  wenn  die  Argumente  ausgehen 
oder  wenn  das  dringende  Bedürfniss  empfunden  wird,  nach 
dem  Geschäft  sich  noch  ein  Vergnügen  zu  gönnen. 

Die  Gruppe  der  grossen  Unternehmer,  deren  ja  nur 
wenige  vernommen  wurden,  steht  auf  wirthschaftlich  libe- 
ralem Standpunkt  wenigstens  insofern,  als  sie  einmüthig 
gegen  die  Forderungen  der  Kleingewerbetreibenden  auf- 
treten.  Dagegen  hat  man  hier  und  da  ein  entschiedenes 
Entgegenkommen  bemerken  können,  wo  es  sich  um  die 
Fragen  des  Arbeiterschutzes  handelte.  Insbesondere  ist  hier 
der  Experte  Dr.  Richard  Faber  (Lettowitzer  Seidenspinnerei) 
hervorzuheben. 

Die  Experten  aus  der  Arbeiterschaft  gehörten  zum 
grössten  Theile  der  sozialdemokratischen  Partei  an.  Nur 
einige  wenige  waren  christlichsozial  oder  klerikal.  Die 
Aussagen  der  sozialdemokratischen  Arbeiter  gehören  fast 
ausnahmslos  zu  den  werthvollsten  der  ganzen  Expertise. 
Hier  findet  man  auch  das  meiste  Thatsachenmaterial. 

Eine  besondere  Stellung  nahmen  die  Angehörigen  des 
Handelsstandes  ein.  Auch  soweit  sie  der  christlichsozialen 
Partei  angehörten,  machten  sie  den  Zünftlern  heftige  Oppo- 
sition in  einzelnen  jener  Punkte,  die  (wie  das  Verbot  des 
Maassnehmens  durch  Kaufleute)  zu  deren  Hauptforderungen 
gehören.  In  diesen  wie  in  vielen  anderen  Fällen  war  deut- 
lich zu  ersehen,  wie  Interesse  gegen  Interesse  oft  durchaus 
unvereinbar  gegeneinander  stand.  Bisweilen  nahm  die  naiv- 
egoistische Interessenvertretung  selbst  komische  Formen  an, 
wie  wenn  einer  für  alle  Gewerbe  die  strengste  Sonntags- 
ruhe forderte  und  nur  sein  eigenes  durchaus  davon  ausge- 
schlossen wissen  wollte. 

Auf  Einzelheiten  soll  ja  vorderhand  noch  nicht  einge- 
gangen werden.  Es  sollte  ganz  im  allgemeinen  ein  Bild 
der  Enquete  gegeben  werden.  Zu  einer  Zusammenstellung 
ihrer  Ergebnisse  und  zu  deren  Kritik  wird  der  Zeitpunkt 
erst  dann  gekommen  sein,  wenn  es  möglich  gewesen  sein 
wird,  das  ganze  Material  sorgfältig  durchzuarbeiten.  Nicht 
verfrüht  aber  wird  es  sein,  heute  schon  die  Möglichkeit 
legislativer  Festsetzungen  auf  Grund  dieser  Enquete  zu  er- 
örtern. In  der  letzten  Sitzung  des  Ausschusses  wurde  die 
von  mir  geäusserte  Ansicht  akzeptirt,  dass  es  nunmehr  Auf- 
gabe der  beiden  Referenten  sein  werde,  dem  Ausschüsse 
bestimmte  Grundsätze  vorzulegen.  Die  Ausarbeitung  eines 
neuen  Gewerbegesetzes  könne  erst  auf  Grund  angenomme- 
ner einheitlicher  Gesichtspunkte  stattfinden.  Da  bei  der 
Zusammensetzung  des  Hauses  wie  des  Ausschusses  das  Zu- 
standekommen eines  solchen  neuen  einheitlichen  Gesetzes 
mir  wenigstens  unmöglich  erscheint,  so  wird  der  weitere 
Vorgang  wohl  der  sein,  dass  der  Ausschuss  dem  Hause 
einige  neue  Spezialgesetze  vorlegt,  durch  die  die  heutige 
Gewerbeordnung  geändert  oder  ergänzt  wird.  Voraus- 
gesetzt natürlich,  dass  das  Haus  überhaupt  zu  dieser  Arbeit 
Zeit  findet,  da  ja  umfangreiche  Regierungsvorlagen,  die  nach 
unserer  Geschäftsordnung  immer  vorausgehen,  vorliegen: 
Strafgesetz,  Zivilprozess,  Steuerreform!  Bezüglich  einer 
Reform  des  Gewerbegesetzes  hat  sich  die  Regierung  noch 
gar  nicht  geäussert  und  sie  hat  auch,  allem  Anscheine  nach, 
gar  kein  besonderes  Bedürfniss,  sich  zu  äussern.  — Was 
nun  die  eigentlichen  gewerblichen  Forderungen  anlangt,  so 
glaube  ich  nicht,  dass  das  Haus  sich  vollständig  ablehnend 
verhalten  wird.  Insbesondere  wird  der  legislatorische  Aus- 
bau der  Genossenschaften  von  keiner  Seite  auf  namhaften 
Widerstand  stossen.  Die  Ausdehnung  des  Befähigungs- 
nachweises auf  das  Handels-,  das  Gast-  und  Schankgewerbe 
würde  eine  grosse  Mehrheit  finden.  Gegen  die  Ausdehnung 
des  Befähigungsnachweises  auf  Inhaber  solcher  fabriks- 
mässiger  Unternehmungen,  in  denen  handwerksmässige  Er- 
zeugnisse hergestellt  werden,  wird  sich  starke  und  bei  der 


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voraussichtlich  ablehnenden  Haltung  der  Regierung  sieg- 
reiche Opposition  erheben.  Bezüglich  der  verlangten  obli- 
gatorischen Gehilfen-  und  Meisterprüfung  bestehen  grosse 
legislatorische  Schwierigkeiten.  Hier  wird  vor  allem  viel 
auf  die  Vorlage  des  Referenten  Dr.  Ebenhoch  ankommen. 
Ist  sie  diskutabel  und  kommt  sie  vor  das  Haus,  so  wird 
ein  heftiger  Kampf  entbrennen,  dessen  Ausgang  durchaus 
unsicher  ist.  Eine  Reform  des  Lehrlingswesens  wird  von 
allen  Seiten  gewünscht  und  ein  bezügliches  Spezialgesetz 
hätte  die  besten  Aussichten.  Ebenso  dürfte  die  Einbezie- 
hung der  Tagelöhner  in  das  VI.  Hauptstück  der  Gewerbe- 
ordnung, eine  strengere  Sonntagsruhe,  eine  wenigstens 
theilweise  Regelung  des  Sitzgesellenwesens  und  vielleicht 
auch  eine  genauere  Fassung  des  al.  4 des  § 94  der  Gewerbe- 
ordnung1) günstige  Aussichten  für  sich  haben.  Es  wird 
sich  darum  handeln,  ob  sich  der  permanente  Gewerbeaus- 
schuss dazu  entschliesst,  bezüglich  jener  Punkte,  in  denen 
Uebereinstimmung  herrscht,  Spezialgesetze  auszuarbeiten 
und  sie  dem  Hause  rasch  vorzulegen.  Verzettelt  er  seine 
Zeit  mit  der  Diskussion  über  die  Ausarbeitung  eines  neuen 
Gewerbegesetzes,  so  sind  alle  genannten  Einzelreformen 
mitsammt  der  Umarbeitung  des  ganzen  Gesetzes  für  diese 
Session  wenigstens  begraben. 

Wien.  Engelbert  Pernerstorfer. 


Der  zweite  Kongress  der  sozialistischen 
Arbeiterpartei  Italiens. 

Ueber  den  gegenwärtigen  Stand  der  italienischen  Ar- 
beiterbewegung habe  ich  in  letzter  Zeit  an  verschiedenen 
Stellen  zu  berichten  Gelegenheit  gehabt,  in  dieser  Zeitschrift 
Bd.  I,  No.  39.  S.  479,  sodass  ich  meine  Leser  im  Besitz  der 
nothwendigsten  Kenntnisse  zum  Verständniss  der  folgenden 
Zeilen  vermuthen  darf,  in  denen  ich  lediglich  über  die  Be- 
schlüsse des  heurigen  Kongresses  der  italienischen  Sozia- 
listen Bericht  erstatten  will. 

Der  Kongress,  den  die  „italienische  Arbeiterpartei“ 
(Partito  dei  lavoratori  italiani),  wie  sie  bis  zu  seinem  Zu- 
sammentritt sich  nannte,  die  italienische  sozialistische 
Arbeiterpartei  (Partito  socialista  dei  lavoratori  italiani), 
wie  sie  laut  Kongressbeschlu^s  von  jetzt  ab  heisst,  in  den 
ehrwürdigen  Mauern  Reggio's,  das  zum  Unterschiede  vom 
altbekannten  Regium  in  Süd-Italien  „Reggio  in  der  Emilia“ 
zubenannt  wird,  vom  8. — 10.  September  abgehalten  hat,  ist 
der  zweite  seines  Stammes.  Er  hat  einen  Vorgänger  bis 
jetzt:  den  ersten  der  Reihe,  den  Kongress  des  Jahres  1892 
zu  Genua,  über  den  ich  die  Leser  dieser  Zeitschrift  seiner 
Zeit  in  Kenntniss  gesetzt  habe.  Der  Kongress  von  Reggio 
also  ist  der  zwreite  derselben  Partei,  die  voriges  Jahr  neu 
begründet  worden  ist;  und  darin,  der  zweite  zu  sein,  er- 
schöpft sich  vornehmlich  seine  Bedeutung.  Die  italienische 
Arbeiterpartei,  wenn  wir  von  den  Mazzinianern  absehen, 
die  schon  auf  die  stattliche  Reihe  von  18  Kongressen  zu- 
rückblicken, litt  nämlich  seit  Jahren  an  „ersten  Kongressen“, 
wie  ihre  eigenen  Führer  spötteln.  Von  Zeit  zu  Zeit  wurde 
der  Versuch  zur  Gründung  einer  Partei  unternommen:  es 
gelang  auch  ein  „erster  Kongress“  und  damit  hatte  die 
Herrlichkeit  ein  Ende.  So  konnte  man  denn  auch  vorigen 
Herbst  in  Genua  aus  dem  Munde  manch  alten  Parteigängers 
die  düstere  Klage  erklingen  hören:  „wenn  wir  nur  nicht 

*)  „Uebrigens  ist  der  Handelsminister  im  Einvernehmen  mit 
dem  Minister  des  Innern  nach  Anhörung  der  Handels-  und  Ge- 
werbekammern ermächtigt,  im  Verordnungswege  jene  gefährlichen 
oder  gesundheitsschädlichen  gewerblichen  Verrichtungen  zu  be- 
zeichnen, bei  welchen  jugendliche  Hilfsarbeiter  oder  Frauens- 
personen gar  nicht  oder  nur  bedingungsweise  verwendet  werden 
dürfen.“ 


wieder  ein  „erster  Kongress“  bleiben.“  Die  Befürchtungen 
also  sind  nicht  eingetroffen:  trotz  natürlicher  Neigung  zu 
starrköpfiger  Rechthaberei,  trotz  des  stark  ausgeprägten 
„Regionalismus,“  wie  der  Italiener  jenes  Uebel  nennt,  das 
wir  als  Partikularismus  fürchten,  trotz  der  recht  unbequemen 
politischen  Erbschaft  des  amorphen  Mazzinianismus  hat  sich 
die  Wucht  der  ökonomischen  Thatsachen,  haben  sich  die 
rapiden  Fortschritte  der  Proletarisirung  Italiens  so  energisch 
fühlbar  und  bemerkbar  gemacht  und  wirksam  gezeigt,  dass 
die  neue  sozialistische  Arbeiterpartei  ungeschwächt  wirklich 
ihren  zweiten  Kongress  hat  veranstalten  können,  unter 
Zulauf  zahlreicher  Arbeitervertreter  aus  allen  Theilen  Ita- 
liens: ein  Berichterstatter  spricht  von  300  Delegirten,  eine 
namentliche  Abstimmung  ergab  die  Anwesenheit  von  164 
stimmenden  Mitgliedern. 

Und  allem  Anschein  nach  ist  dieser  zweite  Kongress 
nicht  der  letzte,  sondern  der  erste  einer  langen  Reihe: 
Dafür  bürgt  die  in  prinzipiellen  Programmfragen  fast  wider- 
spruchslose Einstimmigkeit  der  Theilnehmer.  Die  Konfor- 
mität der  programmatischen  Prinzipien,  die  aus  allen  Reden 
herausschimmerte,  auch  dort  wo  taktische  Gegensätze  aus- 
gefochten  wurden,  verleiht  den  Verhandlungen  zu  Reggio 
in  der  Emilia  ein  monotones,  ich  möchte  sagen  langweiliges 
Gepräge:  in  dieser  Langweiligkeit  aber  liegt  die  andere 
grosse  Bedeutung,  die  der  Kongress  für  die  proletarische 
Entwickelung  Italiens  besitzt:  die  nervöse  Reizbarkeit  der 
früheren  „ersten“  Kongresse,  auf  denen  noch  erst  die  ge- 
meinsame Operationsbasis  gesucht  wurde,  fehlt  dieses  Mal: 
man  ist  über  die  grossen  Züge  dessen,  was  die  Partei  soll 
und  will,  einig;  man  fängt  an,  Einzelfragen  zu  berathen. 

Unter  den  Fragen,  deren  Erörterung  dem  Kongress 
oblag,  nimmt  den  breitesten  Raum  ein  diejenige  der  poli- 
tischen Parteitaktik,  wie  man  zusammenfassend  sagen 
kann.  Auch  die  Art  und  Weise,  wie  diese  wichtige  Frage 
entschieden  worden  ist,  zeugt  dafür,  dass  Italien  in  Zukunft 
eine  selbstbewusste,  unabhängige  Arbeiterpartei  besitzen 
wird.  Klipp  und  klar  wird  diese  politische  Selbstständigkeit 
als  der  Kernpunkt  des  taktischen  Programms  ausgesprochen. 
Man  hat  also  endgültig  die  Loslösung  von  den  anderen 
Parteien  vollzogen.  Man  ist  eine  eigene  Persönlichkeit  ge- 
worden. Aber  einstweilen  noch  eine  schwächliche:  diese 
Erkenntniss  spricht  sich  ebenfalls  in  allen  Berathungen  und 
Beschlüssen  aus.  Eine  schwächliche  Persönlichkeit,  die  ängst- 
lich über  ihre  Selbstbestimmung  wachen,  die  daher  äusserst 
sorgsam  jede  Berührung  mit  stärkeren,  ausgeprägteren  Per- 
sönlichkeiten meiden  muss:  Diese  Angst,  sich  selbst  wieder 
zu  verlieren,  drückt  sich  in  dem  Beschlüsse  aus:  jeden 
Kompromiss  bei  Wahlen  mit  anderen  „verwandten“ 
Parteien  zu  vermeiden.  Das  naturgemässe  Streben  jeder 
jungen  Partei  mit  ausgeprägter  Individualität,  auch  aus  dem 
weiteren  Grunde,  weil  sie  sich  noch  zu  schwach  fühlt, 
eine  Macht  zu  werden.  Hier  sind  die  Kongressbeschlüsse, 
die  sich  auf  diesen  einen  wichtigen  Punkt  der  Berathung 
beziehen.  Es  lag  zunächst  vor  eine  Tagesordnung  des  Mai- 
länder Consolato  operaio,  deren  Wortlaut  folgender  war: 

„Die  Partei  soll  bei  den  Wahlen  unabhängig  von  allen 
andern  Parteien  handeln,  indem  sie  eigene  Kandidaten  aufstellt 
und  unterstützt,  die  ohne  Rückhalt  das  Programm  anerkannt 
haben  und  zur  Partei  gehören.  Das  gilt  sowohl  für  die  politischen 
wie  die  Gemeinde-Wahlen.  Keinenfalls  darf  ein  Mitglied  der 
Partei  zulassen,  von  andern  Parteien  in  ihren  Listen  geführt 
zu  werden,  noch  darf  es  sich  an  Bündnissen  und  Kompromissen 
betheiligen.“ 

Dieser  bestimmten  und  klaren  Tagesordnung  wurde 
vom  Delegirten  Croce  und  Genossen  eine  dem  Sinne  nach 
gleiche,  der  Fassung  nach  aber  losere  Tagesordnung  ent- 
gegengestellt und  in  namentlicher  Abstimmung  vom  Kon- 
gress mit  103  gegen  61  Stimmen  angenommen.  Ihr  Wort- 
laut ist  folgender: 

„Der  Kongress,  in  Erwägung,  dass  das  faktische  Programm 
der  Arbeiterparteien  den  Zweck  verfolgt,  die  Prinzipien  des 


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SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


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Sozialismus  zu  verbreiten  und  zur  Kenntniss  zu  bringen,  denen 
gemäss  die  soziale  Frage  auf  dem  Wege  des  Klassenkampfes 
gelöst  werden  soll;  spricht  aus: 

dass  die  Propaganda  und  die  Organisation  der  Arbeiter- 
partei unausgesetzt  ihr  Augenmerk  darauf  richten  müssen,  gegen 
die  Kapitalistenklasse  die  Rechte  und  Interessen  der  international 
als  Partei  organisirten  Arbeiterklasse  zu  vertreten,  wie  es  am 
besten  die  Lebens-  und  Arbeitsbedingungen  in  den  einzelnen 
Gebieten  gestatten  und  erklärt: 

dass  in  der  Agitation  behufs  Erlangung  der  politischen 
Macht  der  Wille  der  Partei  zum  Ausdruck  kommen  soll,  unab- 
hängig von  andern  Parteien  zu  handeln,  in  dem  bei  den  Wahlen 
sowohl  zum  Parlamente  wie  zu  den  Gemeindevertretungen 
eigene  Kandidaten  aufgestellt  werden,  die  ohne  Rückhalt  das 
Programm  anerkannt  haben  und  zur  Partei  gehören,  indem  jene 
Vereinbarungen  und  Kompromisse  zurückgewiesen  werden,  die, 
mögen  sie  auch  den  lokalen  Verhältnissen  Rechnung  tragen, 
den  Prinzipien  und  dem  Verhalten  der  Partei  selbst  schaden 
oder  in  Widerspruch  mit  derselben  treten  könnten.“ 

Die  Jugend  und  Unreife  der  italienischen  Arbeiterpartei 
sprechen  sich  aber  des  Weiteren  auch  in  den  Beschlüssen 
aus,  in  denen  der  Kongress  ein  Programm  für  das  Ver- 
halten der  sozialistischen  Abgeordneten  im  Parla- 
ment aufgestellt  hat.  Freilich:  es  mag  zum  grossen  Theil 
bedingt  sein  durch  die  politische  Einflusslosigkeit,  zu  der 
das  italienische  Proletariat  künstlich  noch  durch  ein  oli- 
garchisches  Wahlsystem  verurtheilt  ist.  Immerhin  sind  die 
Beschlüsse  charakteristisch  für  die  heutige  politische  Macht- 
stellung, zu  der  sich  die  Arbeiterpartei  in  Italien  überhaupt 
nicht  qualifizirt  hält.  Sie  lauten: 

„In  Erwägung,  dass  die  politischen  Gewalten  nichts  anderes 
sind  als  die  Mittel,  mit  denen  die  als  Klasse  organisirte  Bour- 
geoisie ihren  Kampf  gegen  das  Proletariat  unterhält,  dass  von 
diesen  politischen  Gewalten,  solange  sie  der  Mehrheit  nach  aus 
Bourgeois  bestehen,  niemals  eine  dauerhafte  und  wesentliche 
Reform  oder  Konzession  zu  Gunsten  der  arbeitenden  Klasse 
ausgehen  kann,  zeichnet  die  Partei  im  Anschluss  an  ihr  Pro- 
gramm, und  während  sie  anerkennt,  dass  im  Verein  mit  andern 
Mitteln  die  Eroberung  der  genannten  Gewalten  durch  Theil- 
nahme  an  den  Wahlkämpfen  des  Proletariats  eine  Nothwendig- 
keit  sei,  für  den  Augenblick  den  neugewählten  Abgeordneten 
folgende  Richtschnur  des  Handelns  vor: 

1.  die  Abgeordneten  im  Parlament  sind  die  Delegirten  der 
Partei:  sie  müssen  sich  in  eine  parlamentarische  Fraktion  Zu- 
sammenschlüssen, damit  das  Auftreten  jedes  Einzelnen  mit 
dem  Aller  in  Einklang  gebracht  werden  und  sie  als  ein  ge- 
schlossenes Ganze  gegen  die  Organisation  und  Vertreterschaft 
der  Bourgeoisie  auftreten  könne; 

2.  unterstützt  zum  Zweck  der  Propaganda  und  Zustimmung 
dürfen  nur  diejenigen  rein  sozialistischen  Vorschläge  werden, 
die  von  der  Partei  beschlossen  sind; 

3.  die  Fraktion  muss  mittels  eines  Sekretärs  eine  dauernde 
Verbindung  mit  dem  „Zentralkomite“  aufrecht  erhalten,  um  das 
Gutachten  der  Partei  über  Anträge  und  wichtigere  Berathungen 
einholen  zu  können  und  diejenigen  Anregungen  zu  empfangen, 
die  die  Partei  für  nothwendig  hält.  Auf  keinen  Fall  darf  die 
sozialistische  Fraktion  im  Parlament  zu  Gunsten  des  Ministeriums 
stimmen; 

4.  in  den  Parlamentsreden  müssen  sie  deutlich  erklären,  dass 
die  Partei  kein  Vertrauen  hat  in  die  Wirksamkeit  der  Schein- 
reformen, welche  die  Bourgeoisie  im  Selbsterhaltungsinteresse 
bewilligt  und  zwar  bei  Gelegenheit  jeder  Vorlage; 

5.  über  das  Verhalten  der  Abgeordneten  richten  die  Natio- 
nalen und  Regionalen  Kongresse; 

6.  die  Abgeordneten  sollen  ihr  Verhalten  nach  dem  Geiste 
des  Agitationsprogramms  und  im  Sinne  einer  Propaganda  für 
die  Partei  einrichten,  die  in  Wirklichkeit  ihrem  Wesen  nach 
revolutionär  ist.  Im  Falle  eines  Strikes,  zur  F eier  des  I.  Mai 
und  im  Falle  irgend  einer  andern  wirthschaftlichen  Kundgebung 
haben  die  Abgeordneten  der  Partei  alle  Energie  und  allen 
Einfluss  zu  deren  [glücklichen  Gelingen  aufzubieten,  indem  sie 
sichjan  Ort  und  Stelle  begeben. 

Auch  die  Abgeordneten  in  den  Gemeinde-  und  Provinzial- 
vertretungen sind  Delegirte  der  Partei  und  haben  sich  nach 
denselben  Vorschriften  zu  richten,  die  für  die  Abgeordneten 
im  Parlament  festgesetzt  worden  sind.“ 


Formal  werden  die  sozialistischen  Abgeordneten  durch 
diese  Beschlüsse,  wenn  sie  sich  ihnen  fügen,  zu  Marionetten 
herabgedrückt,  die  an  den  Fäden  tanzen,  wie  sie  von  dem 
„Zentralkomite“  bewegt  werden ; eine  gewiss  nicht  würdige 
Stellung.  In  Ländern  mit  allgemeinem  Wahlrecht  — Deutsch- 
land — pflegt  der  Ausweg  getroffen  zu  werden,  dass  Parla- 
mentsfraktion und  Parteileitung  ganz  oder  theilweise  zu- 
sammenfallen. In  Italien  hat  man  sich  nicht  anders  zu 
helfen  gewusst,  als  dadurch,  dass  man  die  Abgeordneten 
zu  Statisten  machte. 

Materiell  aber  bedeuten  die  Kongressbeschlüsse,  dass 
die  Sozialisten  im  Parlament  einstweilen  zu  einer  einfluss- 
losen Fraktion  von  Protestlern  verdammt  werden,  der  jede 
Antheilnahme  an  gesetzgeberischen  Maassnahmen  und  damit 
jeder  Einfluss  von  Partei  wegen  versagt  sind.  Auch  das 
ist  das  untrügliche  Zeichen  jeder  noch  schwachen  und  da- 
rum noch  knabenhaft  trotzigen  Bewegungspartei:  ein  Uebel, 
das  sich  verwächst. 

Während  so  sich  die  sozialistische  Partei  Italiens  auf 
der  politischen  Arena  einstweilen  noch  selbst  zum  Nichts- 
thun verurtheilt  — vielleicht  verurtheilen  muss,  so  lange 
das  Wahlgesetz  nur  die  herrschenden  Klassen  zur  Vertre- 
tung im  Parlamente  zulässt  — beeilt  sie  sich,  auf  wirt- 
schaftlichem Gebiete  positive  Thätigkeit  zu  entfalten.  So 
wenigstens  will  es  der  Kongress,  und  seine  Beschlüsse 
über  die  Taktik  in  ökonomischen  Fragen  zählen  wir 
zu  den  wichtigsten,  gleichzeitig  auch  segensreichsten.  Es 
genügt,  die  akzeptirte  Tagesordnung,  soweit  sie  sich  aut 
diesen  Punkt  bezieht,  hier  mitzutheilen : Erläuterungen  sind 
unnöthig. 

Auch  die  Nachwirkungen  der  Ereignisse  von  Aigues- 
Mortes  wird  jedermann  unschwer  aus  einigen  der  Beschlüsse 
herausfühlen.  Hier  der  Wortlaut  der  Beschlüsse: 

„In  Erwägung,  dass  die  wirthschaftliche  Thätigkeit  der 
Arbeiterpartei  in  der  Vertheidigung  der  Interessen  der  aus- 
gebeuteten  Arbeiter  gegenüber  ihren  Ausbeutern  bestehen  soll, 
dass  aber  die  verschiedenen  Lebensbedingungen  der  Arbeiter- 
klassen in  Stadt  und  Land  die  Anwendung  derjenigen  wirth- 
schaftlichen Maassnahmen  verlangen,  die  am  besten  den  ört- 
lichen Verhältnissen  entsprechen,  überträgt  der  Kongress  auf 
die  regionalen  und  provinzialen  Verbände  die  Aufgabe,  die 
Parteithätigkeit  auf  wirtschaftlichem  Gebiete  zu  überwachen 
und  zu  leiten,  indem  er  ihnen  anheim  giebt,  unter  den  städtischen 
und  ländlichen  Arbeitern  vor  allem  das  Prinzip  des  Wider- 
standes zu  verbreiten,  das  Vorgehen  und  die  Forderungen  der 
Arbeiter  in  ihrem  Gebiet  zu  unterstützen  und  alle  Corporationen 
im  Gefühle  der  Solidarität  zu  bestärken:  zu  Gunsten  von 
Kampfesbewegungen,  die  sich  im  Schoosse  der  Partei  oder  der 
Verbände  geltend  machen  sollten.  Auch  Strikes,  die  ausserhalb 
des  Rahmens  der  Partei  Vorkommen,  werden  zum  Zwecke  der 
Propaganda  zu  unterstützen  sein.  Die  Partei  erkennt  als  nütz- 
lich für  ihre  Thätigkeit  auf  wirthschaftlichem  Gebiete  an:  die 
Agitation  für  Abschaffung  der  indirekten  Steuern  und  der  innern 
Verbrauchsabgaben,  für  den  Achtstundentag,  für  Schutz  der 
Frauen-  und  Kinderarbeit,  für  Gleichheit  der  Löhne  beider 
Geschlechter,  ebenso  wie  für  die  verschiedenen  Konsumtions- 
und Produktionsgenossenschaften,  die  ohne  einen  privaten 
Spekulationszweck  entstehen  und  als  Basis  der  Klassenorga- 
nisation dienen  können.“ 

„Alle  Sektionen  haben  das  Interesse,  in  ihrem  Bereich  die 
Arbeiter,  welche  in’s  Ausland  auswandern  müssen,  dahin  zu 
instruiren  und  diszipliniren,  dass  sie  die  Pflichten  der  inter- 
nationalen Solidarität  nicht  verletzen,  indem  sie  gleichzeitig  die 
sozialistischen  Parteien  der  andern  Nationen  auffordern,  ihre 
Propaganda  und  Organisationsthätigkeit  auf  die  ausgewanderten 
italienischen  Proletarier  zu  erstrecken  und  sie  zum  Eintritt  in 
ihre  Verbände  zu  veranlassen.“ 

Der  Kongress  beschliesst,  dass  die  Vertreter  der  Partei  in 
der  Gemeinde  und  den  Provinzen  bei  denjenigen  Kommunen, 
Stiftungen  und  Provinzen,  welche  Liegenschaften  besitzen,  für 
Errichtung  von  landwirthschaftlichen  Produktivgenossenschaften 
Sorge  tragen  und  beim  Ablauf  der  Pachtverträge  innerhalb  der 
den  örtlichen  Verhältnissen  und  der  natürlichen  Beschaffenheit 


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der  Liegenschaften  angemessenen  Grenzen  die  Neuverpachtung 
der  Güter  an  jene  Genossenschaften  in  Vorschlag  bringen.“ 
„Der  Kongress  hält  dafür,  dass  die  Arbeitskammern  die 
geeigneten  Organe  sind,  um  mit  Nutzen  die  Frage  der  Aus- 
wanderung in  die  Hand  zu  nehmen.  Er  fordert  sie  daher  auf, 
eine  Auswanderungssektion  zu  bilden  zu  dem  hauptsächlichem 
Zwecke,  die  Nachtheile  der  internationalen  Konkurrenz  der 
Arbeiter  zu  verhüten.“ 

Der  Kongress  ernennt  eine  Spezialkommission,  die  er  mit 
dem  Studium  der  Agrarverhältnisse  Italiens  betraut,  sowie  der 
Methode  der  Propaganda  und  Organisation,  die  für  die  ver- 
schiedenen Klassen  der  ländlichen  Arbeiter  und  kleinen  Besitzer 
in  den  verschiedenen  Landestheilen  zur  Anwendung  gebracht 
werden  müssen.  Die  Kommission  wird  über  die  Ergebnisse 
ihrer  Berathungen  dem  nächstjährigen  Kongress  Bericht  er- 
statten.“ 

Von  den  andern  Beschlüssen,  des  Kongresses,  die  sich  auf 
weniger  wichtige  Fragen  bezogen,  lohnt  es  sich  nicht,  zu  berich- 
ten. Auch  eine  grosse  Heerschau  über  das  Proletariat  der  Emi- 
lia  hat  man  veranstaltet,  an  der  „zehntausende“  von  Arbei- 
tern, vor  allem  ländliche  Arbeiter,  sich  betheiligten.  Man 
hat  begeisterte  Reden  gehalten,  Reden,  die  auf  italienischen 
Kongressen  wahre  oratorische  Blumen-  und  Blüthenfelder 
sind.  Man  hat  sich  berauscht  am  süssen  Aroma  der  Phrase 
und  hat  sich  am  Schlüsse  zugerufen:  Auf  Wiedersehen 

nächstes  Jahr  in  einer  Stadt  der  Romagna! 

Breslau.  Werner  Sombart. 


Der  englische  Gewerkvereins-Kongress 
in  Belfast. 


ln  der  Woche  vom  4.  bis  zum  9.  September  hat  in  der 
nordirischen  Industriestadt  Belfast  der  26.  jährliche  Kongress 
der  englischen  Gewerkvereine  getagt.  Die  Zahl  der  Theil- 
nehmer  wird  auf  380,  die  der  von  ihnen  vertretenen  Gewerk- 
vereinsmitglieder auf  900,000  angegeben.  Die  Abstimmungen 
zeigen  eine  weit  niedrigere  Präsenzziffer,  so  dass  wahr- 
scheinlich Vertreter  mit  Doppelmandaten  doppelt  ange- 
rechnet sind;  z.  B.  war  der  Vorsitzende  Monro  gleichzeitig 
Vertreter  der  Buchdrucker  von  Belfast  und  des  Gewerks- 
rathes  (Trade  Council)  dieser  Stadt.  Dass  die  Versammlung 
diesmal  schwächer  besucht  war,  als  in  früheren  Jahren,  ist 
nur  in  geringem  Maasse  auf  die  für  englische  Städte  beträcht- 
liche Abgelegenheit  des  Versammlungsortes  zurückzuführen. 
Hauptsächlich  hat  dazu  die  neue  Vertretungsregulirung  bei- 
getragen, die  zum  ersten  Mal  in  Kraft  trat.  Während  früher 
den  einzelnen  Vereinen  für  die  Vertreterzahl  keine 
Schranken  gezogen  waren,  darf  jetzt  auf  je  2000  Mitglieder 
nur  ein  Vertreter  entsandt  werden.  Ferner  hat  zu  den 
Gesammtkosten  jeder  Verein  für  je  1000  Mitglieder  I Lstrl. 
und  ausserdem  noch  10  sh.  für  jeden  Vertreter  beizusteuern. 

Die  Vertheilung  der  Vertreter  auf  die  verschiedenen 
Berufszweige  wird  in  der  amtlichen  Londoner  „Labour 
Gazette“,  unter  Fortlassung  der  unwichtigen  Berufsgruppen, 
wie  folgt  angegeben : 


Baugewerbe 

Bergbau  

Eisen-  und  Stahlfabrikation  . . . 

Maschinenbau  etc 

Schiffsbau  (einschliesslich  Kesselschmiede) 
Transportgewerbe  (einschliesslich  Bahn 
arbeiter,  Seeleute,  Hafenarbeiter  etc.) 

Textilgewerbe 

Bekleidungsgewerbe 

Buchdruck,  Buchbinderei  etc 

Tischlerei 

Chemische  Industrie,  Gasarbeiter  etc. 

Schlächter  und  Bäcker 

Frauen  (selbstständig  organisirt)  . . 


msgesammt  290 


Ver- 

treter 

Ungefähr 

abgeschätzte 

Zahl 

der  Mitglieder 

24 

106  000 

48 

200  000 

10 

165  000 

22 

1 15  000 

12 

52  300 

18 

90  000 

66 

125  000 

27 

81  000 

17 

35  000 

3 

13  000 

34 

65  000 

5 

9 300 

4 

2 000 

290 

1 058  600 

Dazu  kommen  noch  37  Vertreter  von  26  Gewerksräthen. 
mit  145000  Mitgliedern,  die  zum  Theil,  da  die  Gewerksräthc 
durch  örtliche  Verbände  verschiedener  Berufe  gebildet 
werden,  bereits  in  den  übrigen  Organisationen  mitgezählt  sind. 

Der  hervorstechendste  Zug  in  den  Belfaster  Kongress- 
verhandlungen war  das  Uebergewicht  des  sozialistischen 
Elements  unter  den  Vertretern.  Während  bei  den  vorher- 
gehenden Kongressen  das  Zünglein  an  der  Waage  noch 
hin  und  her  schwankte  zwischen  den  Vertretern  des  alten 
und  denen  des  neuen  Unionismus,  neigte  es  sich  diesmal 
ganz  entschieden  der  neueren  Richtung  zu,  wie  das  ja  auch 
das  Verhalten  der  englischen  Gewerkvereinsvertreter  auf 
dem  internationalen  Arbeiterkongress  in  Zürich  erwarten 
liess.  In  der  Resolution,  durch  die  der  Kongress  zur  Frage 
der  Arbeitervertretung  im  Parlament  Stellung  nahm,  prägte 
sich  das  Uebergewicht  der  sozialistischen  Richtung  scharf 
aus.  Von  dem  bekannten  Vertreter  der  Hafenarbeiter, 
Ben  Tillett,  war  der  Antrag  eingebracht  worden, 
einen  Fonds  zur  Unterstützung  unabhängiger  Arbeiter- 
kandidaten für  das  Parlament  zu  bilden,  und  dessen 
Verwaltung  einem  Ausschuss  von  dreizehn  Personen 
zu  übertragen.  Von  jeder  Einzelorganisation  sollten  je  5 sh 
für  je  100  Mitglieder  dazu  beigesteuert  werden.  Zu  diesem 
Urantrage  brachte  Macdonald  aus  London  das  Amende- 
ment ein,  nur  solche  Kandidaten  zu  unterstützen,  die  sich 
auf  den  Grundsatz  des  Kollektiveigenthums  und  der  ge- 
sellschaftlichen Leitung  der  Produktion  und  Austheilung  der 
Konsummittel  verpflichten  würden.  Nach  einer  lebhaften 
Aussprache  zwischen  Anhängern  der  sozialistischen  und  der 
antisozialistischen  Richtung  wurde  dieses  Amendement, 
das  die  Gewerkvereine  völlig  auf  sozialistischem  Boden  stellt, 
mit  137  Stimmen  gegen  97  angenommen.  Verworfen  wurde 
dagegen  das  Amendement  Keir  Hardie’s,  des  Vertreters 
der  schottischen  Bergleute  und  sozialistischen  Parlaments- 
mitglieder, dass  die  gewählten  Arbeitervertreter  einer  jeden 
Regierung  principielle  Opposition  in  allen  Angelegenheiten 
machen,  also  immer  mit  der  Opposition,  sei  dieselbe  liberal 
oder  konservativ,  Zusammengehen  sollten.  Wenn  Hardie  da- 
mit nur  sagen  wollte,  dass  die  Arbeitervertreter  eine  selbst- 
ständige Politik  einschlagen  sollten,  so  hatte  er  sich  jeden- 
falls so  ungeschickt  ausgedrückt,  wie  irgend  möglich.  Wie 
ja  auch  im  Unterhaus  schon  früher  sein  Auftreten  den  Tories 
zu  Gute  gekommen  ist.  Aus  der  ungeschickten  Fassung  und 
Begründung  seines  Antrages  erklärt  sich,  dass  auch  sozia- 
listisch gesinnte  Vertreter  dagegen  stimmten  und  ihn  so  mit 
einer  Mehrheit  von  23  Stimmen  zu  Fall  brachten.  Für  eine 
sachlich  selbständige  Politik  der  Arbeitervertreter  wäre  die 
nämliche  Mehrheit  zu  haben  gewesen,  die  schliesslich  für 
den  Urantrag  Tillett’s  stimmte,  der  sammt  dem  vorher  ange- 
nommenen Macdonald'schen  Amendement  mit  150  gegen  52 
Stimmen  zur  Annahme  gelangte. 

Auch  besondere  sozialistische  Forderungen  werden 
durch  die  Beschlüsse  des  Kongresses  indossirt.  Mit  der  be- 
deutenden Mehrheit  von  197  gegen  18  Stimmen  sprach  sich 
der  Kongress  für  ein  „Achtstundengesetz  mit  Ge- 
werksausnahme“ aus.  Gesetzlich  soll  also  ein  allge- 
meiner achtstündiger  Maximalarbeitstag  festgesetzt  werden. 
Ausnahmen  sollen  nur  für  diejenigen  Gewerke  zulässig  sein, 
in  denen  die  Mehrheit  der  Gewerksgenossen  durch  Zettel- 
abstimmung sich  für  die  Ausnahme  erklärt.  Für  Bäcker 
wurde  in  besonderer  Resolution  die  sofortige  Einführung 
des  Achtstundentages  und  die  Abschaffung  der  Nachtarbeit 
gefordert,  was  angesichts  der  auch  in  Deutschland  gegen 
die  Missstände  in  den  Bäckereien  entfachten  Bewegung  be- 
merkenswerth  ist. 

Der  staatlichen  Lohnregulirung  nähert  sich  eine  Re- 
solution, dass  bei  allen  von  der  Regierung  abgeschlossenen 
Lieferungsverträgen  den  Lieferanten  und  Unternehmern  die 
Zahlung  der  von  den  Gewerkvereinen  für  ortsüblich  er- 
klärten Löhne  zur  Pflicht  gemacht  werden  soll. 


624 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  52. 


Den  strikenden  Bergleuten  wurde  die  Sympathie  des 
Kongresses  ausgesprochen  und  die  Verwendung  des  Militärs 
in  den  Ausstandsbezirken  missbilligt.  Kerner  wurde  eine 
allei dings  ganz  allgemein  gehaltene  und  deshalb  praktisch 
fast  bedeutungslose  Resolution  zu  Gunsten  der  staatlichen 
Beschäftigung  der  Arbeitslosen  angenommen. 

Eigenartig  ist  ein  von  John  Bums  vorgeschlagener 
und  einstimmig  angenommener  Antrag,  der  „alle  Gewerk- 
\ deine  auffoidert,  darauf  zu  bestehen,  dass  ihre  Beamten 
und  Mitglieder  den  Berufsjournalisten  keine  Schmutzkon- 
kurrenz machen,  (not  to  blackleg  Professional  journalists, 
durch  Berichterstattung  bei  Kongressen  u.  dgl.)  wodurch 
denn  die  Arbeit  in  solcher  Weise  verrichtet  zu  werden 
pflegt,  dass  der  Arbeitersache  daraus  ernstlicher  Schaden 
erwächst.  In  England,  mag  dabei  bemerkt  werden,  haben 
die  Zeitungsberichtserstatter  eine  eigene  Trade  Union. 

Eine  innere  gewerkschaftliche  Schwierigkeit  wurde  durch 
den  Beschluss  zu  ordnen  gesucht,  dass  zur  Begleichung 
\ on  Sti  eitigkeiten  zwischen  den  einzelnen  Gewerkvereinen 
Schiedsgerichte  eingesetzt  werden  sollen. 

Auf  das  i ein  politische  Gebiet  greift  die  oft  wiederholte 
forderung  der  Diäten  für  Parlamentsmitglieder  hinüber, 
der  diesmal  eine  entsprechende  Forderung  von  10  sh.  Diäten 
für  Geschworene  angereiht  wurde.  Zum  Amte  eines  Ge- 
schworenen sollten  dann  alle  Personen  berechtigt  sein, 
welche  das  Stimmrecht  für  die  Parlamentswahlen  haben. 

\ on  grosser  praktischer  Bedeutung  ist  die  Zustimmung 
des  Kongresses  zu  dem  Prinzip  des  von  der  Regierung  dem 
Parlamente  vorgelegten  Haftpflichtgesetzentwurfes.  Es 
handelt  sich  da  wesentlich  um  die  Bestimmung,  die  jedweden 
Versuch  des  Unternehmers,  sich  durch  einen  Kontrakt  mit 
dem  Arbeiter  der  Haftpflicht  für  die  im  Betriebe  den  Ar- 
beitern zustossenden  Schäden  zu  entziehen,  völlig  rechts- 
ungültig macht.  Der  Kongressbeschluss  stärkt  die  Hand 
der  Regierung  für  die  Durchdrückung  des  Gesetzes. 

Bei  der  Wahl  des  Exekutivausschusses,  Parliamentary 
Committee  genannt,  weil  es  seine  Hauptaufgabe  ist,  während 
dei  Parlamentssession  durch  Eingaben  u.  dgl.  die  Interessen 
und  Beschlüsse  der  Gewerkvereine  zur  Geltung  zu  bringen, 
wurden  wiederum  einige  Vertreter  des  älteren  Unionismus 
duich  Sozialisten  ersetzt.  Unter  den  zehn  durch  Listenwahl 
mit  einfacher  Mehrheit  gewählten  Mitgliedern  befinden  sich 
John  Burns,  der  die  meisten  Stimmen  erhielt  und  zum 
Vorsitzenden  des  Ausschusses  gewählt  wurde,  Ben  Tille tt 
und  Co  wie.  Für  den  wichtigen  Posten  des  Sekretärs  wurde 
dagegen  der  auf  gemässigtem  Boden  stehende  Fenwick 
wiedergewählt  mit  251  Stimmen  gegen  89  für  den  Sozia- 
listen Keir  Hardie.  Die  Nichtwahl  Hardie’s  hat  k einen 
prinzipiellen,  sondern  nur  einen  persönlichen  Charakter.  Er 
ist  von  den  sozialistischen  Abgeordneten,  wie  auch  aus 
seinem  vorhin  erwähnten  Anträge  hervorgeht,  der  un- 
geschickteste. Ein  Missgriff  der  Sozialisten  war  es  sicher, 
ihn  überhaupt  als  Kandidaten  für  den  Sekretärposten  auf- 
zustellen, denn  wie  der  Vergleich  dieser  Abstimmung  mit 
derjenigen  über,  Prinzipienfragen  ergiebt,  haben  auch  viele 
Sozialisten  ihm  den  zwar  auf  dem  Boden  des  älteren  Unio- 
nismus stehenden,  aber  geschäftlich  bewährten  Fenwick 
vorgezogen.  Unbeschadet  dieser  Wahl  tragen  die  Verhand- 
lungen das  Gepräge  der  langsamen,  aber  stetigen  Fort- 
entwickelung der  Gewerkvereinsbewegung  in  sozialistischer 
Richtung. 

Berlin-Schöneberg.  Georg  Ledebour. 


Die  Arbeitsbörsen  in  Belgien. 

Die  Einrichtung  der  Arbeitsbörsen  nimmt  seit  einigen 
Jahren  in  Belgien  einen  gedeihlichen  Aufschwung.  Nach 
den  Börsen  von  Lüttich,  Brüssel,  Gent  lassen  die  Anfänge, 
die  nun  auch  in  Antwerpen,  Charleroi  und  einigen  anderen 


Städten  gemacht  worden  sind,  vermuthen,  dass  diese  höchst 
nützliche  Institution  in  Belgien  dauernd  festen  Fuss  fassen 
wird.  Es  ist  auch  keine  Frage,  dass  gerade  in  kleinen 
Ländern  mit  raschem  und  leichten  Verkehr,  sowie  mit  stark 
entwickelter  Handels-  und  Gewerbethätigkeit,  wie  Belgien 
es  ist,  die  Arbeitsbörsen  sich  am  bequemsten  und  nutz- 
bringendsten organisiren  lassen. 

Bereits  im  Jahre  1850  wollte  Molinari  in  Brüssel  eine 
derartige  Einrichtung  begründen.  Er  gab  eine  Zeitung 
heraus,  in  welcher  von  Zeit  zu  Zeit  ein  Arbeitsmarktbericht 
erschien.  Bedauerlicherweise  scheiterte  Molinari,  wie  einige 
Jahre  zuvor  in  Paris  auch  hier  an  der  allgemeinen  Theil- 
nahmlosigkeit  und  sogar  an  der  Feindseligkeit  der  Arbeiter, 
welche  meinten,  dass  derartige  Veröffentlichungen  Aus- 
länder anziehen  würden. 

Im  Jahre  1885  trat  der  Gedanke  wieder  hervor  in  einem 
von  Buls,  dem  Bürgermeister  von  Brüssel,  geforderten  und 
von  Prof.  H.  Denis  ausgearbeiteten  Entwurf.  Dieser  ausser- 
ordentlich umfassende,  für  die  damalige  Zeit  zu  umfassende 
und  deshalb  ergebnisslos  gebliebene  Entwurf,  wollte  die  Ein- 
richtung der  Arbeitsbörse  auf  die  Syndikate  der  Arbeiter 
und  Arbeitgeber  begründen.  Die  Arbeiter  waren  einver- 
standen, die  Arbeitgeber  indessen  verweigerten  ihre  Zu- 
stimmung, da  einer  der  Artikel  den  von  den  Arbeitersyndi- 
katen allen  Arbeitern  gegenüber  geübten  Zwang  zum  Bei- 
tritt zu  begünstigen  schien.  Es  machte  sich  hier  noch 
äusserst  empfindlich  fühlbar,  dass  die  Syndikate  juristische 
Persönlichkeit  noch  nicht  besassen. 

Im  Jahre  1889  wurde  auf  den  Vorschlag  von  Buls  die 
Börse  ohne  Mitwirkung  der  Syndikate  vom  Oeuvre  duTravail 
eingerichtet.  Dasselbe  besitzt  ausserdem  zwei  andere  Ein- 
richtungen: das  Arbei tshaus  (Maison  du  travail)  für  männ- 
liche, und  das  Arb  ei  tskom  ptoir  (Comptoir  du  travail) 
für  weibliche  Personen.  Die  Arbeitsbörse  nimmt  einen 
regelmässigen  und  gedeihlichen  Fortgang.  Eine  Zeitlang 
war  Aussicht  vorhanden,  dass  sich  die  Syndikate  der  Ar- 
beiter und  Arbeitgeber  verständigen  würden,  um  das  Oeuvre 
du  Travail  zu  unterstützen;  die  Einigung  kam  aber  nicht  zu 
Stande.  Man  darf  indessen  hoffen,  dass  sie  bald  erreicht 
werden  wird. 

Inzwischen  gründeten  die  Gesellschaft  der  öffentlichen 
Wärmstuben  und  die  Handelskammer  zu  Lüttich  am  11.  Fe- 
bruar 1888  eine  Börse.  Sie  begnügte  sich  mit  bescheidenen 
Anfängen  und  vermied  so  die  Schwierigkeiten,  denen  man 
in  Brüssel  begegnet  war.  In  der  Verwaltung  sitzen  Arbeit- 
geber und  Arbeiter,  sowie  ein  Abgeordneter  der  Stadt. 
Sie  macht  die  Stellen-Angebote  und  -Gesuche  bekannt: 
1.  durch  öffentlichen  Ausruf  alltäglich  um  12  Uhr  in  ihrem 
Lokal;  2.  durch  täglichen  Anschlag  in  den  bevölkertsten 
Stadttheilen ; 3.  durch  Veröffentlichung  der  Statistik  in 
Zeitungen.  Die  stetig  sich  entwickelnde  Einrichtung  sucht 
allmählich  den  Anforderungen  gerecht  zu  werden,  die  aus 
der  Stiftung  mehr  als  ein  blosses  Stellenvermittelungsamt 
machen  wollen. 

In  Gent  ist  die  von  der  „Handels-  und  Gewerbe-Liga“ 
gegründete  und  ebenfalls  von  der  Stadt  und  Provinz  unter- 
stützte Einrichtung  neueren  Datums  (1891),  aber  darum 
nicht  minder  erfolgreich.  Wie  in  Lüttich  besteht  auch  hier 
die  Einrichtung  des  öffentlichen  Ausrufs,  Anschlags  und 
der  Bekanntmachung  in  Zeitungen.  Der  Arbeiter,  welcher 
sich  einem  Unternehmer  vorstellen  will,  erhält  eine  Karte, 
die  der  Unternehmer  im  Falle  der  Anstellung  des  Arbeiters 
zurückgiebt.  Diese  Rückgabe,  welche  für  eine  gute  Orga- 
nisation und  eine  korrekte  Statistik  unentbehrlich  ist,  ge- 
schieht infolge  der  Nachlässigkeit  der  Unternehmer  in  allen 
Börsen  bis  jetzt  noch  sehr  unregelmässig  und  die  Fort- 
schritte nach  dieser  Richtung  sind  äusserst  langsam.  Es 
ist  daher  bisher  unmöglich,  die  Zahl  der  Stellenbesetzungen 
genau  anzugeben.  Im  Folgenden  geben  wir  die  bekannten 
Resultate: 


No.  52. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


625 


Monatsdurchschnitt.  A.  Gesuche  von  Seiten  der  Arbeitgeber. 


1888 

1889 

1890  ; 1891 

1892 

1893 

Brüssel  3) 

— 

— 

341  >)  342  287 

Lüttich 

133 

203 

274  241 

314») 

— 

— 

Gent 

— 

— 

- 1 - 

160 

— 

B.  Angebote  von  Seiten  der  Arbeiter. 


Brüssel  

447*)  458  346 

Lüttich 

279 

231 

175 

176 

412») 

Gent 

— 

— 

— 

| 310  | 

Das  ist  Alles,  was  die  Statistik  zur  Zeit  angiebt.  Die 
Brüsseler  Börse  hat  auch  einen  Arbeitsmarkt,  wo  die  Arbeit- 
geber mit  dem  Arbeiter  in  direkte  Beziehungen  treten 
können.  Wir  besitzen  hierüber  eine  Ziffer:  vom  25.  Juni 
1891  bis  25.  März  1892  fanden  sich  ein  1180  Arbeiter  und 
403  Arbeitgeber. 

Nachstehend  noch  einige  in  Brüssel  gesammelte  Daten: 

Auf  1000  Arbeiter  kommen  900  männliche;  die  weib- 
lichen lassen  sich  noch  immer  von  den  Stellenvermittelungs- 
bureaux  ausbeuten.  Eine  diese  Bureaux  betreffende  Erhebung 
zeigt,  dass  von  13  4 empfehlenswerth,  2 leidlich  sind,  und 
7 der  Prostitution  Vorschub  leisten;  auf  48  Logirhäuser  für 
weibliche  Dienstboten  kommen  13  empfehlenswerthe,  18  leid- 
liche, und  17,  welche  gleichfalls  der  Prostitution  dienen.  Von 
1000  Arbeitern  waren  313  ein-  oder  mehrmals  bestraft. 
Die  eingeschriebenen  6000  Arbeiter  hatten  ungefähr  10  000 
Kinder. 

Der  Staat  hat  sich  bisher  mit  der  Einrichtung  der  Ar- 
beitsbörsen nicht  befasst.  Wir  erwähnen  dies  nicht,  weil  wir 
etwa  wünschten,  dass  er  deren  Leitung  übernehme.  Doch 
kann  er  hier  wie  in  allen  anderen  Veranstaltungen  mittel- 
bar seinen  Beistand  leihen.  Vor  allem  wird  er  dadurch, 
dass  er  den  Syndikaten  die  juristische  Persönlichkeit  zu- 
erkennt, dem  ganzen  Bau  eine  solide  Unterlage  geben. 
Den  Arbeitsbörsen  könnte  er  namentlich  postalische,  tele- 
graphische und  telephonische  Begünstigungen  und  den  mit 
einer  Karte  der  Börse  versehenen  Arbeitern  eine  Fahrpreis- 
ermässigung  gewähren;  er  könnte  weiterhin  ein  Gesetz  er- 
lassen, das  den  Ortsbehörden  ermöglichte,  wirksamer  gegen 
gewisse  Stellenvermittelungsbureaux  vorzugehen.  Es  wäre 
sehr  wünschenswerth,  wenn  er  den  Nutzen  der  Arbeits- 
börsen voll  anerkennen,  ihre  Entwickelung  erleichtern  und 
hierdurch  eine  erspriessliche  Vertheilung  der  produktiven 
Kräfte  des  Landes  fördern  würde. 

Brüssel.  E.  Vinck. 


Doppelte  Unfallentschädigung. 

Schon  mehrfach  sind  in  dieser  Zeitschrift  die  Unzu- 
träglichkeiten behandelt  worden,  die  die  Verfolgung  von 
Unfallentschädigungsansprüchen  mit  sich  bringt,  wenn  Zweifel 
darüber  bestehen,  welche  von  mehreren  Berufsgenossen- 
schaften zur  Entschädigung  verpflichtet  ist.  Dabei  ist  stets 
in  den  Vordergrund  gestellt  worden,  dass  hier  leicht  starke 
Verzögerungen  der  Entschädigungsfeststellungen  entstehen 
und  ausserdem  auch  die  Gefahr  vorliegt,  dass  der  Verletzte 
bei  mangelnder  Aufmerksamkeit  seines  Anspruchs  ganz 
verlustig  geht.  In  der  That  sind  dies  die  weitaus  wichtig- 
sten Bedenken.  Immerhin  verdient  indess  noch  eine  an- 


')  In  Berlin  gab  während  desselben  Jahres  „Der  Central- 
verein für  Arbeitsnachweis“  folgende  Ziffern  an:  9887  Angebote, 
7038  Gesuche,  6227  Stellenbesetzungen,  bei  einer  viermal  grösseren 
Bevölkerung. 

»)  Diese  zweite  Ziffer  bezieht  sich  auf  die  Zeit  von  April 
bis  Dezember,  welche  auf  die  Reorganisation  folgte. 

3)  Für  Brüssel  wird  die  Statistik  vom  25.  März  bis  25.  März 
aufgestellt. 


dere  Seite  der  Sache  betrachtet  zu  werden,  die  allerdings 
einstweilen  mehr  theoretisches  Interesse  bietet,  aber  auch 
noch  von  grosser  praktischer  Bedeutung  werden  kann. 

Schwebt  der  Streit  über  die  Entschädigungsverpflich- 
tung  zwischen  mehreren  gewerblichen  Berufsgenossen- 
schaften, so  wird  es  für  den  Versicherten  im  allgemeinen 
ziemlich  gleichgültig  sein,  von  welcher  Berufsgenossenschaft 
er  schliesslich  entschädigt  wird,  denn  die  Entschädigung 
wird  in  jedem  Falle  gleich  oder  nahezu  gleich  sein.  Anders 
liegt  das  Verhältniss  indess,  wenn  eine  industrielle  und 
eine  landwirthschaftliche  Berufsgenossenschaft  in  Frage 
kommen  : dann  ist  der  Versicherte  in  den  meisten  Fällen 
daran  interessirt,  von  der  industriellen  Berufsgenossen- 
schaft entschädigt  zu  werden,  da  diese  ja  — nach  den  be- 
kannten gesetzlichen  Bestimmungen  — im  allgemeinen  die 
Entschädigung  nach  einem  höheren  Arbeitsverdienst  be- 
rechnen muss.  Die  Abgrenzung  des  industriellen  Betriebes 
gegen  den  landwirtschaftlichen  ist  nun  in  vielen  Fällen 
äusserst  schwierig  und  unklar.  Manches  Gut,  auf  dem  noch 
verschiedene  kleine  gewerbliche  Betriebe  (wie  Mühle,  Bren- 
nerei, Ziegelei,  Molkerei,  Steinbruch  etc.)  vorhanden  sind, 
bildet  einen  wahren  berufsgenossenschaftlichen  Rattenkönig, 
wo  sich  weder  die  Berufsgenossenschaften,  noch  die  Unter- 
nehmer, noch  gar  die  Arbeiter  über  die  genauen  Grenzen 
der  Geltungsgebiete  der  einzelnen  Berufsgenossenschaften 
klar  sind.  Ein  Arbeiter,  der  eine  Kartoffelmiete  auf  dem 
Felde  aul  hackt,  ist  z.  B.  bei  der  Brennerei-Berufsgenossen- 
schaft versichert,  wenn  die  Kartoffeln,  die  sich  in  der 
Miete  befinden,  zum  grössten  Theil  in  der  Brennerei  des 
Gutes  verarbeitet  werden  sollen,  dagegen  bei  der  land- 
wirtschaftlichen Berufsgenossenschaft,  wenn  sie  in  der 
Wirtschaft  anderweitig  verbraucht  oder  verkauft  werden 
sollen.  Prüft  nun  die  landwirthschaftliche  Berufsgenossen- 
schaft nicht  jeden  einzelnen  Fall  mit  peinlichster  Genauig- 
keit, so  kann  es  unter  diesen  Umständen  natürlich  leicht 
Vorkommen,  dass  sie  irrtümlich  für  Unfälle,  die  rechtmässig 
der  industriellen  Berufsgenossenschaft  zur  Last  fallen,  Ent- 
schädigungen festsetzt.  Solche  Fälle  liegen  tatsächlich 
schon  in  nicht  geringer  Anzahl  vor.  Versuche  von  land- 
wirtschaftlichen Berufsgenossenschaften,  derartige  irrtüm- 
lich übernommene  Verpflichtungen  noch  nachträglich  auf 
die  eigentlich  verpflichteten  industriellen  Berufsgenossen- 
schaften abzuwälzen,  sind  gescheitert.  Das  Reichs -Ver- 
sicherungsamt sowohl  wie  auch  das  Reichsgericht  (Ent- 
scheidung des  IV.  Civilsenats  vom  18.  Juni  1891)  halten  die 
Feststellung  der  ersten  Berufsgenossenschaft  für  endgültig 
und  sprechen  dieser  jeden  Ersatzanspruch  der  zweiten  Be- 
rufsgenossenschaft gegenüber  ab. 

Geschädigt  ist  indess  auf  diese  Weise  nicht  nur  die 
landwirthschaftliche  Berufsgenossenschaft,  die  für  ihre  Flüch- 
tigkeit einigermaassen  hart  bestraft  wird,  sondern  in  den 
meisten  Fällen  auch  der  Versicherte,  weil  er  eben  von  der 
industriellen  Berufsgenossenschaft  eine  höhere  Entschädi- 
gung erhalten  haben  würde.  Nun  hat  das  Reichs- Versiche- 
rungsamt in  anderem  Zusammenhänge  mehrfach  ausge- 
sprochen (z.  B.  Rekursentscheidung  1222,  Amtl.  Nachr.  des 
R.  V.  A.  1893  S.  171),  dass  den  Versicherten  oder  deren 
Hinterbliebenen  das  Recht  zusteht,  ihre  Ansprüche  gegen 
mehrere  Berufsgenossenschaften  neben  einander  zu  ver- 
folgen. Im  vorliegenden  Falle  kann  also  der  Versicherte, 
unbekümmert  um  die  Feststellung  der  landwirthschaftlichen 
Berufsgenossenschalt,  noch  seinen  Anspruch  an  die  in- 
dustrielle Berufsgenossenschaft  erheben  und  durchkämpfen. 
Hatte  ihm  nun  die  landwirthschaftliche  Berufsgenossenschaft 
wirklich  nur  irr thüm lieh  die  Entschädigung  bewilligt,  so 
muss  jetzt  sein  Anspruch  gegen  die  industrielle  Berufs- 
genossenschaft als  berechtigt  anerkannt  werden.  Er  be- 
findet sich  also  alsdann,  da  auch  die  Anerkennung  des 
Anspruchs  durch  die  landwirthschaftliche  Berufsgenossen- 
schaft endgültig  ist,  im  Genuss  doppelter  Entschädigung. 


626 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  52. 


Dem  Versicherten  kann  das  Recht,  seinen  Anspruch  gegen 
die  zweite,  also  die  nach  dem  Gesetz  eigentlich  zur  Ent- 
schädigung verpflichtete  Berufsgenossenschaft  durchzusetzen, 
unmöglich  genommen  werden,  denn  die  Feststellungen  der 
Berufsgenossenschaften  geschehen  bekanntlich  im  Allge- 
meinen von  Amtswegen  : die  erste  Berufsgenossenschaft  kann 
ihm  also  die  Entschädigung  ohne  sein  Zuthuen  und  Wissen, 
ja,  gegen  seinen  Willen  zuerkannt  haben.  Durch  einen  sol- 
chen willkührlichen  Akt  einer  unzuständigen  Berufsgenossen- 
schaft kann  der  Verletzte  aber  nicht  in  seinen  Rechten 
beeinträchtigt  werden. 

Wie  bereits  erwähnt,  könnte  sich  hiernach  in  diesem 
Augenblicke  thatsächlich  eine  ganze  Anzahl  von  Arbeitern 
auf  diese  Weise  eine  zweite  Entschädigung  erkämpfen. 
Wenn  trotzdem  derartige  Fälle  bisher  noch  nicht  be- 
kannt geworden  sind,  so  ist  dies  bei  der  allgemeinen  Un- 
kenntniss  der  Unfallversicherungsgesetzgebung,  besonders 
in  ihren  feineren  Beziehungen,  leicht  erklärlich.  Es  ist  doch 
nur  zu  begreiflich,  dass,  — um  bei  dem  oben  gewählten 
Beispiel  zu  bleiben  — , kein  Arbeiter  auf  den  Gedanken  ver- 
fällt, dass  er  eine  höhere  Rente  beanspruchen  kann,  und 
zwar  von  einer  anderen  Berufsgenossenschaft,  wenn  die 
Kartoffelmiethe,  bei  deren  Bearbeitung  er  verunglückt  ist, 
Kartoffeln  für  die  Brennerei  liefert,  als  wenn  sie  das  für 
den  sonstigen  Wirthschaftsgebrauch  oder  den  Verkauf 
thut!  Sehr  wünschenswerth  wäre  es  aber,  dass  solche  An- 
sprüche einmal  durchgefochten  würden  — nicht,  etwa  damit 
einige  Arbeiter  eine  Doppelentschädigung  erhielten,  was 
offenbar  allem  Rechtsgefühl  widerspräche,  sondern  wegen 
der  allgemeineren  Wirkung,  die  dieses  Ereigniss  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  hätte.  An  manchen  einflussreichen 
Stellen  wird  nämlich  die  Reformbedürftigkeit  des  be- 
stehenden Rechts  viel  klarer  erkannt  werden,  wenn  man 
sieht,  dass  Versicherte  jetzt  unter  Umständen  doppelte  Ent- 
schädigung erlangen  können,  als  wenn  man  nur  erkennt, 
dass  sie  gelegentlich  um  jede  Entschädigung  kommen 
können.  Dass  aber  endlich  Fluss  in  die  Reform  des  Ar- 
beiterversicherungswesen kommt,  thut  dringend  noth. 

Berlin-Friedenau.  E.  Lange. 


Die  Fortsetzung  der  Reichsenquete  über  das 
Handelsgewerbe. 

In  diesen  Tagen  ist  ein  Schreiben  des  Reichskanzleramts 
vom  2.  d.  M.  bekannt  geworden,  welches  den  Organisationen 
der  Kaufleute  den  amtlich  festgestellten  Plan  einer  Fort- 
setzung der  Reichsenquete  über  das  Handelsgewerbe  mit- 
theilt und  sie  zur  Mitarbeit  an  derselben  auffordert.  Wer 
die  eingehend  vorgetragenen  methodologischen  und  kauf- 
männischen Wünsche  verfolgt  hat,  welche  seit  Bekannt- 
werden der  ersten  Erhebung  zur  Fortsetzung  der  Enquete 
geäussert  wurden,  wird  sein  Befremden  über  die  Art  der 
Fortsetzung  kaum  unterdrücken  können.  Es  ist  auch  gar 
nicht  anders  möglich,  als  dass  die  amtlichen  und  nichtamt- 
lichen Anschauungen  über  die  richtige  Art  der  Fortführung 
der  Handelsenquete  weit  auseinandergehen,  so  lange  man 
amtlich  an  folgendem  Satze  festhält,  der  sich  in  dem  neue- 
sten Schreiben  des  Reichskanzlers  findet:  „Die  (Reichs-)Kom- 
mission  (für  Arbeiterstatistik)  war  der  Ansicht,  dass  die 
(erste)  schriftliche  Umfrage  ein  zwar  verkleinertes,  aber  im 
Allgemeinen  richtiges  Bild  von  den  Arbeitszeiten  und  Kün- 
digungsfristen der  Handlungsgehülfen,  sowie  von  den  Ver- 
hältnissen der  Handelslehrlinge  gebe.“  Bekanntlich  handelt 
es  sich  um  eine  schriftliche,  nur  die  äussersten  Aeusserlich- 
keiten  der  Arbeitsverhältnisse  in  lediglich  10  pCt.  der  deut- 
schen Ladengeschäfte  betreffende  Umfrage,  bei  der  die 
Hauptfrage  nach  einer  aussergewöhnlichen  Arbeitszeit  ver- 
gessen und  die  ohne  jede  Zuziehung  der  kaufmännischen 


Organisationen  rein  bureaukratisch  vorgenommen  wurde 
Woher  den  Mitgliedern  der  Reichskommission,  die  sämmt- 
lich  ausserhalb  des  Handelsgewerbes  stehen,  die  Wissen- 
schaft davon  kommt,  dass  jene  Erhebung  ein  zwar  verklei- 
nertes, aber  im  Allgemeinen  richtiges  Bild  lieferte,  ist  des- 
halb schwer  zu  erklären  und  wird  von  den  Kaufleuten  selbst 
bei  aller  Anerkennung  des  dankenswerthen  amtlichen  Inter- 
esses für  die  Sache  kaum  zugegeben  werden.  Jedenfalls 
war  aber  jene  amtliche  Ansicht  für  den  jetzt  bekannt  ge- 
wordenen Plan  der  Fortsetzung  der  Enquete  maassgebend, 
und  daraus  ergiebt  sich  wiederum  die  Verschiedenheit  des 
Urtheils,  das  in  amtlichen  und  nichtamtlichen  Kreisen  über 
denselben  bestehen  wird. 

Zur  Fortsetzung  der  Handelsenquete  sollen  zunächst 
schriftliche  Aeusserungen  einer  grösseren  Zahl  kaufmänni- 
scher Vereinigungen  eingeholt  werden.  Nach  Eingang  der- 
selben wird  die  mündliche  Vernehmung  eines  Theiles  der 
Prinzipale  und  Geholfen  beabsichtigt,  welche  im  vorigen 
Jahre  die  Fragebogen  beantwortet  haben.  Die  Vernehmun- 
gen sollen  durch  Mitglieder  der  Kommission  und  besonders 
bestellte  Kommissare  vorgenommen  werden,  welche  sich, 
soweit  thunlich,  mit  Vertretern  der  kaufmännischen  Vereini- 
gungen, die  an  den  Erhebungsorten  ihren  Sitz  haben,  in’s 
Benehmen  setzen  werden.  Im  Uebrigen  bleibt  es  Vorbehal- 
ten, demnächst  einzelne  Vertreter  der  gehörten  Vereini- 
gungen. sowie  einzelne  der  vernommenen  Auskunftsper- 
sonen, vor  dem  Plenum  der  Kommission  selbst  zu  hören. 
Mit  anderen  Worten:  die  von  den  Betheiligten  für  un- 
umgänglich erachteten  t hatsächlichen  Feststellungen  zur 
Ergänzung  der  mangelhaften  schriftlichen  Umfrage  sind 
wieder  hinausgeschoben  und  sollen  an  dem  späteren  Zeit- 
punkt in  einem  ausserordentlich  eng  begrenzten  Umfang 
vorgenommen  werden;  man  plant  dann  lediglich  die  münd- 
liche Vernehmung  „eines  Theiles  der  Prinzipale  und  Ge- 
hilfen, welche  im  vorigen  Jahre  die  Fragebogen  beantwortet 
haben“.  Es  soll  hier  noch  gar  kein  besonderes  Gewicht 
darauf  gelegt  werden,  dass  ein  grosser  Theil  des  seinerseits 
zur  mündlichen  Vernehmung  bestimmten  „Theiles“  des  Per- 
sonals alsdann  längst  seine  Stellung  gewechselt  haben  und 
schwer  auffindbar  sein  wird,  sodass  man  doch  zu  neuen 
Feststellungen  über  neue  Verhältnisse  wird' schreiten  müssen. 
Das  Auffälligste  an  den  wiederum  vertagten  mündlichen 
Vernehmungen  über  thatsächliche  Verhältnisse  ist  ihre  enge 
Begrenzung.  Es  ist  also  nur  eine  sehr  magere  Ergänzung 
der  1892er  Erhebungen  geplant,  man  will  noch  unter  die 
10  Prozent  heruntergehen,  und  das  kann  keine  gründliche 
Aufklärung  geben.  Und  ferner:  man  setzt  die  Begutachtung 
vor  die  Feststellung  der  Thatsachen!  Man  fragt  jetzt  di 
Organisationen  über  ihre  „Meinungen“  (Ziffer  3 der  Er- 
läuterung zum  neuen  Fragebogen);  und  dabei  ist  das  vor- 
liegende thatsächliche  Material  ganz  unvollständig,  sonst 
würde  man  ja  doch  selbst  die  mageren  mündlichen  Nach- 
erhebungen nicht  planen.  „Meinungen“  und  Gutachten  auf 
Grund  blos  lokaler  Kenntnisse,  und  selbst  diese  sind  in 
grösseren  Städten  bei  den  Betheiligten  nicht  vollständig, 
haben  aber  minderen  Werth,  da  es  doch  gilt,  eine  für  das 
ganze  Reich  zu  regelnde  Angelegenheit  zu  berathen.  Der 
richtige  Gang  der  Sache  wäre  zweifellos  der  gewesen,  dass 
man  jetzt  an  die  schriftliche  Umfrage  die  mündlichen  Fest- 
stellungen über  die  thatsächlichen  Verhältnisse  im  liberalsten 
Ausmaasse  angeschlossen  und  erst  zum  Schluss  nach  Be- 
kanntgabe der  thatsächlichen  Feststellungsergebnisse  die 
Gutachten  eingeholt  hätte.  Diese  Anordnung  ergiebt  sich 
aus  der  Analogie  gerichtlicher  Expertisen  ganz  von  selbst. 
Die  Folge  des  verkehrten  Verfahrens  wird  eine  gewisse, 
ganz  natürliche  Unsicherheit  in  der  Haltung  der  Gutachten 
sein,  die  nicht  unter  dem  Eindruck  umfassender,  erschöpfen- 
der und  in  ihren  Ergebnissen  unanfechtbarer  Feststellungen 
stehen.  Das  kann  aber  der  Energie  und  Frische  des  ge- 
setzgeberischen Eingreifens  nur  schaden. 


No.  52. 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


627 


Die  Begutachtung  selbst  hat  sich  wieder  nur  auf  die 
bekannten  Kategorien  von  Ladengeschäften,  nicht  auf  En- 
gros-, Fabrik-,  Bank-  und  Speditionsgeschäfte  zu  beziehen. 
Neu  ist  lediglich,  dass  „auch  eine  Berücksichtigung  der 
Verhältnisse  der  als  Geschäftsdiener,  Packer,  Markthelfer, 
Hausdiener  u.  s.  w.  im  Handelsgewerbe  thätigen  Personen 
in  Aussicht  genommen“  wird.  Darüber  dürften  die  kauf- 
männischen Organisationen  aber  blutwenig  wissen.  Ferner 
sind  die  Gutachten  auf  die  Regelung  der  Laden-  bezw.  Ar- 
beitszeit und  die  Kündigungsfristen  zu  beschränken.  Die 
Erörterung  der  Missbräuche  mit  Konkurrenzklauseln,  Ge- 
schäftsordnungen, Arbeits-  und  Wohnräumen  u.  a.  m.  ist 
ausgeschlossen,  obgleich  sie  erst  Fleisch-  und  Blut  um  das 
magere  Gerippe  der  bisherigen  Feststellungen  lielern  würde. 
Der  Fragebogen  selbst  besteht  aus  20  Nummern,  von  denen 
18  die  Laden-  bezw.  Arbeitszeit  betreffen.  Es  wird  gefragt 
und  zwar  immer  mit  besonderem  Hinweis  auf  die  Personen 
unter  16  Jahren,  ob  die  Arbeitszeit  in  Ladengeschäften 
„nachtheilige  Folgen  für  die  Gesundheit,  die  geistige  Fort- 
bildung oder  das  Familienleben“  (fehlt  die  Sittlichkeit)  des 
Personals  hat,  ob  die  Einführung  einer  I4stündigen  (!)  oder 
kürzeren  Laden  zeit  „erwünscht  und  durchführbar“  sei, 
sowie,  welche  Vertheilung  der  Stunden  auf  die  Tageszeit 
sich  empfehle,  ob  dieselbe  nach  Geschäftszweigen  und 
Orten  verschieden  zu  gestalten  sei,  sowie  ob  dauernde 
oder  vorübergehende  Ausnahmen  festzulegen  seien.  Analog 
sind  die  Fragen  über  eine  etwaige  Beschränkung  der  Ar- 
beitszeit des  Personals  in  Ladengeschäften  (auf  eventuell 
12  Stunden)  mit  Fixirung  einer  Mittagspause  gruppirt;  u.  A. 
soll  hier  begutachtet  werden,  ob  es  neben  der  gesetzlichen 
Festlegung  der  Ladenzeit  noch  einer  Beschränkung  der 
Arbeitszeit  bedarf,  eine  Frage,  die  von  den  kaufmännischen 
Organisationen  hoffentlich  auf  Grund  der  leidigen  Erfahrun- 
gen mit  der  Sonntagsruhe  dahin  beantwortet  wird,  dass 
eine  für  alle  Gegenden  möglichst  gleichmässige,  äusserlich 
leicht  kontrolirbare  Ladenzeit,  mit  deren  Schluss  auch  die 
Arbeitszeit  des  Personals  ein  Ende  haben  muss,  einzig  und 
allein  allen  Missbräuchen  Vorbeugen  kann.  Für  Organi- 
sationen, welche  vor  der  Regelung  der  Arbeitszeit  des  er- 
wachsenen Personals  zurückschrecken,  ist  die  Frage  ge- 
stellt, ob  nicht  wenigstens  das  jugendliche  unter  16  Jahren 
der  Wohlthat  bedarf.  Die  Punkte,  welche  die  Regelung 
der  Kündigungsfristen  betreffen,  sind  im  Anschluss  an  be- 
reits bekannt  gewordene  Wünsche  der  Betheiligten  wesent- 
lich richtig  formulirt. 

Ueberhaupt  ist  gegen  den  Wortlaut  des  Fragebogens, 
abgesehen  von  der  offenbaren  Aengstlichkeit,  mit  der  sein 
Verfasser  an  eine  gleichmässige  und  durchgreifende  Rege- 
lung der  Arbeitszeit  denkt,  wenig  einzuwenden;  er  berück- 
sichtigt die  in  Betracht  kommenden  Punkte  ziemlich  voll- 
ständig und  sachkundig.  Zu  beklagen  bleibt  eben  nur  der 
verfehlte  Gang,  den  die  Fortsetzung  der  Enquete  nach  dem 
vorliegenden  amtlichen  Plane  einschlagen  soll.  Hätten  die 
Interessenten,  wie  sie  es  wünschten,  bei  der  Vorberathuno- 
dieses  Planes  ihre  gebührende  Vertretung  in  der  Reichs- 
kommission gehabt,  so  wäre  dieser  neue  Mangel  wahr- 
scheinlich vermieden  worden.  So  weist  auch  diese  Erhe- 
bung wieder  auf  die  Nothwendigkeit  einer  Reorganisation 
der  Reichskommission  für  Arbeiterstatistik  hin.  Die  Han- 
delsenquete aber  muss  leider  den  Einfluss  aller  Unvoll- 
kommenheiten in  der  jetzigen  Organisation  über  sich  er- 
gehen lassen. 

Frankfurt  a.  M.  Max  Quarck. 


Milderung  des  Schuldrechts.  Der  deutsche  Juristentag 
hat  auf  seiner  Versammlung  zu  Augsburg  über  diese  wich- 
tige Frage  folgenden  Beschluss  gefasst:  Die  Bestimmungen 
der  Zivilprozessordnung  über  die  Beschränkungen  der 
Zwangsvollstreckung  sind  revisionbedürftig.  Aufgabe  der 


Revision  muss  bessere  Sicherung  derjenigen  Vermögentheile 
sein,  welche  zur  Führung  einer  geordneten  Wirthschaft 
und  zur  ausgiebigen  Verwerthung  der  persönlichen  Arbeits- 
kraft des  Haushaltungsvorstandes  erforderlich  sind.  Fine 
allgemeine  Kompetenzwohlthat  ist  zu  verwerfen.  Der  Be- 
schluss wurde  in  der  ersten  Abtheilung  mit  Einstimmigkeit 
gefasst,  ein  Beweis  dafür,  dass  das  Bedürfniss  einer  weiteren 
Milderung  der  Schuldrechte  von  den  Juristen  allgemein 
anerkannt  wird. 

Sonntagsruhe  und  Staatsbehörden.  — Ein  lehrreiches 
Beispiel,  wie  die  Behörden  die  Sonntagsruhe  zu  hinter- 
treiben verstehen,  hat  das  Kgl.  württembergische  Oberamt 
in  Cannstatt  gegeben.  In  Cannstatt  hat  am  6.  August  eine 
Bezirksgewerbeausstellung  begonnen,  die  selbstverständlich 
auch  am  Sonntag  geöffnet  ist.  Damit  nun  die  Ladenbesitzer 
in  der  Stadt  durch  die  Konkurrenz  der  Verkaufsstellen  in 
der  Ausstellung  nicht  geschädigt  werden,  hat  das  Oberamt 
verfügt,  dass  sämmtliehe  Läden  der  Stadt  während  der 
ganzen  Ausstellung,  die  drei  Monate  dauern  wird,  von  6 bis 
9 Uhr  vormittags  und  von  11 — 6 Uhr  nachmittags  geöffnet 
sein  dürfen.  Das  sind  zehn  Stunden  also  genau  das  doppelte 
der  Stundenzahl,  die  nach  dem  Reichsgesetz  gestattet  ist. 
Auf  welchen  Paragraphen  der  Gewerbeordnung  das  Ober- 
amt seine  Ausnahmeverfügung  gestützt  hat,  ist  schwer  zu 
sagen,  vermuthlich  auf  gar  keinen.  Wenn  die  Staatsbehörden 
mit  solch  schönem  Beispiel  vorangehen,  darf  man  sich  über 
die  Klagen,  dass  überall  die  Sonntagsruhe  umgangen  werde, 
nicht  mehr  wundern 

Die  Nachrichten,  die  aus  Thüringen  kommen,  sind  noch 
schlimmer.  Dort  wird  auf  dem  Verordnungswege  die  ohne- 
dies unzulängliche  Gesetzgebung  dermaassen  durchlöchert, 
dass  von  einer  Sonntagsruhe  ernsthaft  gar  nicht  mehr  die  Rede 
sein  kann.  In  der  Frankfurter  Zeitung  vom  17.  d.  M.  finden 
sich  folgende  Mittheilungen:  Im  Grossherzogthum  Weimar 
ist  man  soweit  gegangen,  dass  man  gestattet  hat,  die  an 
Sonn-  und  Festtagen  zulässigen  5 Arbeitsstunden  je  nach 
Bedürfniss  auch  auf  die  Zeit  nach  2 Uhr  nachmittags,  also 
eventuell  auf  die  Zeit  von  2 — 7 Uhr  nachmittags  zu  ver- 
legen. Die  reichsgesetzlichen  Bestimmungen  über  die  Sonn- 
tagsruhe finden  dort  auch  keine  Anwendung  auf  den  Handel 
mit  Milch,  Back-  und  Konditoreiwaaren  und  natürlichen 
Blumen.  In  Jena  ist  auch  auf  ein  Gesuch  der  Bäckerinnung 
hin  vom  Bezirksausschuss  beschlossen  worden,  den  Verkauf 
von  Back-  und  Konditoreiwaaren  während  der  Sonntage 
mit  Ausnahme  der  Zeit  des  Gottesdienstes  ganz  frei  zu 
geben.  Am  beweglichsten  erschollen  die  Klagen  im  Meininger 
Landtag.  Daraufhin  wurde  für  diejenigen  Sonn-  und  Fest- 
tage, an  welchen  gesetzlich  eine  5stündige  Beschäftigungs- 
zeit zulässig  ist,  gestattet,  diese  5 Stunden  bis  Nachmittags 

4 Uhr  zu  vertheilen  und  ausserdem  den  Verkauf  von  Back- 
und  Konditorwaaren,  sowie  der  Milch-,  Fleisch-  und  Wurst- 
handel für  die  Zeit  von  5 — 7 Uhr  Abends  freigegeben. 
Neuerdings  ist  nun  zu  diesen  Ausnahmen  auch  noch  der 
Kleinhandel  mit  Bier  auf  die  Zeit  von  5 — 7 Uhr  fi  eigegeben 
worden.  Es  ist  dies  mithin  in  den  Städten  dahin  gekommen, 
dass  ausser  der  Zeit  der  Gottesdienste  die  Bäcker,  Milch- 
händler, Fleischer,  Konditoren,  Bierhändler  nur  von  4 bis 

5 Uhr  Nachmittags  ihre  Läden  geschlossen  halten. 

Zur  Durchführung  der  Sonntagsruhe  in  Industrie  und 
Handwerk.  Die  angekündigten  Verhandlungen  über  die 
Sonntagsruhe  für  Gruppe  III  der  Gewerbestatistik  (Bergbau-, 
Hütten-  und  Salinenwesen  zwischen  Vertretern  der  Regie- 
rung, der  Arbeitgeber  und  der  Arbeiter  finden  in  diesen 
Tagen  in  Berlin  statt.  Den  Vorsitz  führt  der  Unterstaats- 
sekretär Dr.  von  Rottenburg.  Unter  den  Theilnehmern  be- 
finden sich  17  Unternehmer  und  18  Arbeitervertreter.  Von 
Behörden  sind  vertreten:  Das  Reichsamt  des  Innern,  das 
preussische  Handelsministerium  und  die  Gewerbeaufsicht, 
sowie  die  Regierungen  des  Königreichs  Sachsen,  von 
Braunschweig,  Anhalt  und  Elsass-Lothringen.  Die  grossen 
Unternehmerverbände  haben  vielfach  ihre  Vorsitzenden 
entsandt.  Die  Vertreter  der  Arbeiter  dagegen  sind  — so 
heisst  es  offiziös  — von  den  Gewerbeaufsichts-  und  Berg- 
revierbeamten über  die  Einzelheiten  der  Vorlage  informirt 
und  direkt  zur  Theilnahme  an  den  Konferenzen  aufgefor- 
dert worden.“  Es  scheint  also,  als  wäre  es  bei  der  von 


628 


SOZIALPOLITISCHES  CENTRALBLATT. 


No.  62. 


Anfang  an  gegebenen  Bevormundung  der  Arbeiterschaft 
geblieben.  Dass  dieses  Verfahren  nur  geeignet  ist,  Miss- 
trauen bei  den  Arbeitern  zu  erregen  und  den  Werth  der 
Ergebnisse  der  Verhandlungen  aufs  äusserste  herabzudrücken, 
haben  wir  bereits  früher  mehrfach  hervorgehoben. 

Zum  Strike  der  französischen  Grubenarbeiter.  Auf 

die  in  unserer  vorigen  Nummer  verzeichneten  Forderungen 
der  Grubenarbeiter  von  Pas-de-Calais  haben  sämmtüche 
Grubengesellschaften  dieses  Departements  eine  ablehnende 
Antwort  ertheilt.  In  Folge  dessen  fand  in  Lens  neuerlich 
eine  Delegirtenkonferenz  der  Grubenarbeiter  statt,  in  der 
nach  Darlegung  des  Sachverhalts  es  sich  darum  handelte, 
zu  bestimmen,  ob  die  Zurückweisung  der  gestellten  For- 
derungen mit  einem  Strike  zu  beantworten  sei.  Um  keinerlei 
Pression  auszuüben,  fand  eine  geheime  Abstimmung  statt. 
Das  Resultat  war,  dass  von  92  abgegebenen  Stimmzetteln 
sich  81  für  und  nur  1 1 gegen  den  Strike  erklärten.  Da 
fast  sämmtüche  Arbeiter  dieses  Kohlenbeckens  syndizirt 
sind  und  strenge  Disziplin  halten,  ist  denn  auch  der  Strike 
ein  allgemeiner.  Von  den  vor  Ausbruch  des  Strike  in  den 
Kohlengruben  von  Pas-de-Calais  beschäftigten  43215  Ar- 
beitern zählte  man  am  Montag  nur  958,  so  dass  sich  die 
Zahl  der  Strikenden  auf  42257  beläuft. 

Den  grossen  Grubengesellschaften  kommt  der  Strike, 
vorausgesetzt,  dass  er  nicht  allzu  lange  währt,  momentan 
recht  gelegen,  da  er  ihnen  erlaubt,  ihren  Kohlenvorrath  — 
die  Grubengesellschaft  von  Lens  allein  besitzt  einen  solchen 
in  der  Höhe  von  70000  Tonnen  — zu  erhöhten  Preisen  an 
den  Mann  zu  bringen.  Das  mag  wohl  auch  der  Grund  sein, 
warum  sie  ihren  Arbeitern  nicht  die  mindeste  Konzession  j 
machen  wollten.  Denn  dass  die  Marktverhältnisse  ihnen 
dies  nicht  erlaubten,  das  glaubt  ihnen  kein  Mensch  und  am 
allerwenigsten  der  Grubenarbeiter-Verband.  Denn  dieser 
hat  festgestellt,  dass  mit  Ausnahme  von  Commentry  (De- 
partement Allier)  die  Gestehungskosten  der  Kohlen  im  Pas-  | 
de-Calais  am  niedrigsten  sind.  Sie  belaufen  sich  auf  5,65  Fr. 
pro  Tonne.  Dazu  komme,  dass  die  Produktion  bei  gleich 
bleibender  Arbeiterzahl  sich  gesteigert  hat.  So  wurden 
mit  dem  gleichen  Personale  1892  um  1203  493  Tonnen  j 
Kohlen  mehr  gefördert,  als  im  vorhergegangenen  Jahre, 
während  das  erste  Semester  des  laufenden  Jahres  eine 
neuerliche  Steigerung  von  22  000  Tonnen  aufweist,  obwohl 
die  Arbeiter  4—6  Tage  pro  Monat  feierten) 

Und  was  nun  gar  die  Krisis  anbelangt,  in  der  sich  die 
grossen  Grubengesellschaften  von  Pas-de-Calais  befinden,  J 
davon  giebt  folgende  Zusammenstellung  ein  klares  Bild. 
Die  Grubengesellschaft  von  Lens,  gegründet  1855  mit  einem  I 
Emissionskapital  von  3 Millionen,  zerlegt  in  3000  Aktien  zu 
1000  Fr.,  von  welchen  jedoch  nur  300  Fr.  eingezahlt  wurden, 
da  die  Reinerträgnisse  von  vornherein  jede  weitere  Ein- 
zahlung unnöthig  machten,  zahlte  nach  ihrer  zuletzt  bekannt 
gewordenen  Abrechnung  eine  Dividende  von  1000  Fr.  Am 
31.  Dezember  1892  waren  die  Aktien  zu  28  000  Fr.  notirt, 
was  in  den  37  Jahren  des  Bestandes  der  Gesellschaft  einen 
Mehrwerth  von  27  000  Fr.  pro  Aktie  ergiebt.  Die  Aktien 
der  Grubengesellschaft  von  Maries,  ausgegeben  1852  zu 
1500  Fr.,  notirten  Ende  1892  18495  Fr.;  die  letzte  Dividende 
betrug  875,65  Fr.  Die  Aktien  der  Grubengesellschaft  von 
Bu  Uy-Grenay,  ausgegeben  1851  zu  1000  Fr.,  notirten  Ende 
1892  pro  Sechstel- Aktie,  in  welche  sie  später  zerlegt  wurden. 
3150  Fr.,  d.  i.  18  000  Fr.  per  ganze  Aktie;  die  letzte  Divi- 
dende betrug  125  Fr.  per  Sechstel-Aktie,  d.  i.  750  Fr.  per 
Aktie  von  1000  Fr.  Die  Aktien  der  Grubengesellschaft  von 
Noeux.  ausgegeben  1843  zu  1000  Fr.,  notirten  Ende  1892 
18  480  Fr.  Die  Aktien  der  Grubengesellschaft  von  Bruay, 
eingezahlt  1852  mit  500  Fr.,  notirten  Ende  1892  14  000  Fr. 
Die  Aktien  der  Grubengesellschaft  von  Courrieres, 
ursprünglich,  d.  i.  1853,  mit  350  Fr.,  notirten  Ende  Dezember 
1892  nicht  weniger  als  44  510  Fr.  Die  Aktien  der  Gruben- 
gesellschaft von  Dourges,  ausgegeben  1855  zu  1000  Fr., 
notirten  Ende  1892  8025  Fr.,  während  die  Dividende  375  Fr., 
d.  i.  371/*  pCt.,  betrug.  Die  Aktien  der  Grubengesellschaft 
von  Carvin,  ausgegeben  1857  zu  500  Fr.,  notirten  Ende 
vorigen  Jahres  1400  Fr.,  während  die  Dividende  90  Fr.  be- 
trug. Die  Aktien  der  Grubengesellschaft  von  Drocourt. 


ausgegeben  1878  zu  1000  Fr.,  notirten  Ende  1892  4900  Fr, 
Die  Aktien  der  Grubengesellschaft  vonLievin,  ausgegeben 
1862  zu  1000  Fr.,  notirten  am  31.  Dezember  1892  11  900  Fr., 
während  die  letzte  Dividende  400  Fr.  betrug.  Die  Gruben- 
gesellschaft von  Meurchin  endlich,  deren  Aktien  zu  1000  Fr. 
ausgegeben  wurden,  gab  ihren  Aktionären  eine  Dividende 
von  300  Fr.  pro  Aktie.  Bei  solchen  Erträgnissen  hätten 
sich  die  Grubengesellschaften,  wenn  sie  ihre  Arbeiter  nicht 
blos  als  ein  Ausbeutungsobjekt  betrachteten,  wohl  entgegen 
kommender  zeigen  können,  als  sie  es  in  ihren  Antworten 
gethan. 

Nicht  schlimmer  ist  es  mit  den  Erträgnissen  der  Gruben- 
gesellschaften des  Norddepartements  beschaffen.  Doch 
haben  auch  diese  die  Forderungen  ihrer  Arbeiter  zurück- 
gewiesen. In  Folge  dessen  fand  am  verflossenen  Sonntag 
in  Sin-le-Noble  eine  Delegirtenkonferenz  statt,  in  der  mit 
27  gegen  2 Stimmen  ebenfalls  der  Strike  beschlossen 
wurde.  Zur  Stunde  wird  bereits  in  den  dem  Kohlenbecken 
von  Pas-de-Calais  zunächst  gelegenen  Gruben,  d.  i.  in  denen 
von  Escarpelle  und  Aniche  vollständig  gestrikt  und  es  ist 
wahrscheinlich,  dass,  ehe  noch  die  Woche  abläuft,  der 
Strike  auch  im  Kohlenbecken  des  Norddepartement  ein  all- 
gemeiner sein  wird. 

Zahl  der  Gewerbegerichte  in  Deutschland.  Nach  den 
Blättern  für  soziale  Praxis  bestehen  gegenwärtig  im  ge- 
sammten  Deutschen  Reich  208  Gewerbegerichte,  von  denen 
140  auf  Preussen,  13  auf  Baiern,  14  auf  Sachsen,  9 auf. 
Württemberg.  7 auf  Baden,  4 auf  Hessen,  3 auf  Sachsen- 
Weimar,  6 auf  Braunschweig,  5 auf  die  Reichslande  und  je 
1 auf  Oldenburg,  Sachsen-Coburg-Gotha,  Reuss  ä.  L..  Lippe- 
Detmold  und  jede  der  drei  Hansestädte  entfallen.  Ganz 
fehlen  bisher  die  Gewerbegerichte  in  beiden  Mecklenburg, 
in  Sachsen-Meiningen,  Sachsen-Altenburg,  Anhalt,  beiden 
Schwarzburg,  Waldeck,  Reuss  j.  L.  und  Schaumburg-Lippe. 

Sozialdemokratischer  Parteitag.  Nach  einer  Mitthei- 
lung des  Vorwärts  vom  19.  d.  Mts.  findet  der  diesjährige 
Parteitag  der  Deutschen  Sozialdemokratie  am  22.  Oktober 
und  den  folgenden  Tagen  in  Köln  statt.  Als  provisorische 
Tagesordnung  ist  festgesetzt:  Sonntag,  22.  Oktober,  Abends 
7 Uhr,  Vorversammlung.  Konstituirung  des  Parteitages. 
Festsetzung  der  Geschäfts-  und  Tagesordnung.  Wahl  einer 
Kommission  für  die  Prüfung  der  Vollmachten.  Montag, 
23.  Oktober,  und  die  folgenden  Tage:  1.  Geschäftsbericht 
des  Parteivorstandes.  Berichterstatter:  J.  Auer.  2.  Bericht 
der  Kontrolleure.  Berichterstatter  PI.  Meister.  3.  Partei- 
presse und  Agitation  mit  besonderer  Berücksichtigung  der 
Landagitation.  4.  Bericht  über  die  parlamentarische  Thä- 
tigkeit.  Berichterstatter:  Paul  Singer.  5.  Maifeier  1894. 
Berichterstatter:  W.  Liebknecht.  6.  Antisemitismus  und  So- 
zialdemokratie. Berichterstatter:  A.  Bebel.  7.  Anträge  zu 
Programm  und  Organisation.  8.  Wahl  der  Parteileitung 
und  Bestimmung  des  Ortes,  wo  sie  ihren  Sitz  zu  nehmen  hat. 


Evert,  Georg,  Regierungsrath.  Taschenbuch  des  Gewerbe- 
und  Arbeiter  rechts.  Zum  täglichen  Gebrauche  bearbeitet. 
Berlin,  Carl  Heymanns  Verlag.  1893. 

Von  ähnlichen  populären  Werken  unterscheidet  sich  das  vor- 
liegende in  vortheilhaftester  Weise  durch  die  Umgrenzung  des 
Stoffes.  Während  die  Zersplitterung  der  heutigen  Gewerbe- 
gesetzgebung dem  Laien  die  Benutzung  eines  einzelnen  Büchleins 
über  Gewerbeordnung.  Versicherungswesen,  Gewerbegerichte  etc. 
fast  zur  Unmöglichkeit  macht,  wenn  er  nicht  schon  ziemlich  ge- 
nau darüber  orientirt  ist.  was  er  in  dem  einzelnen  Gesetze  zu 
suchen  hat:  umfasst  das  vorliegende  Werkchen  das  ganze  Gebiet 
des  Gewerbe-  und  Arbeiterrechts,  soweit  es  für  die  Gewerbe- 
treibenden in  Betracht  kommt  (Gewerbefreiheit  und  ihre 
Beschränkungen,  Innungen:  Arbeitsvertrag.  Trucksystem.  Kontrakt- 
bruch: jugendliche  und -weibliche  Arbeiter:  Sonntagsruhe,  Arbeits- 
ordnungen. Gewerbegerichte  etc.),  Mit  besonderer  Ausführlich- 
keit ist  die  Kranken-,  Unfall-,  sowie  Invaliditäts-  und  Altersver- 
sicherung behandelt.  Der  Anhang  enthält  (offenbar  hauptsäch- 
lich für  das  Bedürfniss  der  Hausfrauen  berechnet)  einen  Auszug 
aus  der  Gesindeordnung,  sowie  ein  alphabetisches  Verzeichniss 
der  im  Haushalt  thätigen  Personen  mit  Angabe,  ob  sie  versiche- 
rungspflichtig sind  oder  nicht.  Die  Darstellung  ist  fat  durchweg 
präcise  und  dabei  leicht  verständlich. 


Verantwortlich  für  die  Redaktion:  Dr.  Heinrich  Braun  in  Berlin  W.,  Victoriastrasse  16.