Skip to main content

Full text of "Spiegel der Natur : ein Lesebuch zur Belehrung und Unterhaltung"

See other formats


Google 


This is a digital copy of a book that was preserved for generations on library shelves before it was carefully scanned by Google as part of a project 
to make the world’s books discoverable online. 

It has survived long enough for the copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject 
to copyright or whose legal copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books 
are our gateways to {he past, representing a wealth of history, culture and knowledge that’s often difficult to discover. 


Marks, notations and other marginalia present in the original volume will appear in this file - a reminder of this book’s long journey from the 
publisher to a library and finally to you. 


Usage guidelines 
Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the 


public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken steps to 
prevent abuse by commercial parties, including placing technical restrictions on automated querying. 





‘We also ask that you: 


+ Make non-commercial use of the files We designed Google Book Search for use by individual 
personal, non-commercial purposes. 





and we request that you use these files for 


+ Refrain from automated querying Do not send automated queries of any sort to Google’s system: If you are conducting research on machine 
translation, optical character recognition or other areas where access to a large amount of text is helpful, please contact us. We encourage the 
use of public domain materials for these purposes and may be able to help. 


+ Maintain attribution The Google “watermark” you see on each file is essential for informing people about this project and helping them find 
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it. 


+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are responsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just 
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other 
countries. Whether a book is still in copyright varies from country to country, and we can’t offer guidance on whether any specific use of 
any specific book is allowed. Please do not assume that a book’s appearance in Google Book Search means it can be used in any manner 
anywhere in the world. Copyright infringement liability can be quite severe. 






About Google Book Search 


Google’s mission is to organize the world’s information and to make it universally accessible and useful. Google Book Search helps readers 
discover the world’s books while helping authors and publishers reach new audiences. You can search through the full text of this book on the web 
alkttp: /7sooks. google. com/] 














UWb oe 21. 





Spiegel der Katar 


ein Leſebuch zur ‚Belehrung und 
Unterhaltung 


‘ « 


von 


Br. Gotthilf Heinrid von Schubert. 


Zweite, neu überarbeitete und verbefjerte Auflage. 


Erlangen, 1854, 
Berlag von J. J. Balm und Ernft Ente. 
(Adolph Ente.) 










8 | 
1 295 sep 10 3 


$, 11 Uhr uru & 


Drud von Zunge und Sohn in Erlangen. 














Seiner Majeität 


dem. Könige Otto 


von Griechenland. 


⸗ ü— —————— — —— — — ü ... ——— —— 


4 

* 

* ’ 
’ 
‘ e 

” 

D - 
- 

⸗ * 

J 

. 
. 

. 22 

x 
2 
. J‘ 

. 
. 

v 

⸗ 

J 
4— 





Eure Koͤnigliche Majeftät 


mögen allergnädigft erlauben, daß der Gedanke einer ehrfurchtös 
‚vollen Liebe, der mit dem Andenken an Eure Majeftät in bem 
Herzen aller treuen Bayern fo feft verwachſen ift, auch auf dem 
erſten Blatte dieſes unbedeutenden Buches ſich ausſpreche. Viel⸗ 
leicht wird der Inhalt der nachſtehenden Blaͤtter hin und wieder 
in Eurer Majeſtät Erinnerungen wecken an die Jahre eines 
friedlichen Wohlbefindens, von welchem der Schreiber derſelben 
ein glüdlicher Zeuge fein durfte; an die Jahre des Verweilens 
in dem liebenden Familienkreife des hochtheuren, Königlichen 
Elternhauſes. Doch der Quell jenes inneren Wohlbefindens iſt 
nicht verfiegt: der Frieden des Herzens; das befeeligende Gefühl 
der Liebe, zu Gott und den Brüdern ift mit Eurer Majeftät 
über Das. Meer hinüber, in die neue Heimath gezogen, Mögen 


dein die Kräfte dieſes Friedens und biefer treuen: Liebe von 
ihrem Mitielpunkte aus mehr und mehr das Land durchdringen, 
beffen Boden das fille, forgenvolle Wirken feines Herrſchers, 
gleich einem fruchtbiren Saamenforn, auf Koffnung anver⸗ 
traut ift. | 


In tieffter Ehrfurcht 
Eurer Königlichen Majeftät 


alleruntertHänigft dankbarer 
Dr. G. 8. v. Schubert. 








Vorrede. 


Zur erſten Auflage. 


Mur einige Worte über die Veranlaſſung zu dem Erſchei—⸗ 
nen dieſes Büchleind und über den Zweck deſſelben. Freunde 


hatten mir öfterd gefagt, dab ich in einigen meiner Bücher, 


die ich zunächft zum Dienft und Nutzen der reiferen Ju⸗ 
gend gejchrieben, Kenntnilfe, namentlich aus dein Gebiet 
der Chemie und Phyſik, als fchon befannt, vorausgeſetzt 
habe, zu deren Erlangung nicht Jedem und nicht überall 
die Gelegenheit gegeben je. Ihr Wunfch war es, daß 
ich in einer anjprechenden und möglichit leicht fahlichen 
Weiſe die hierher gehörigen Gegenftände beſprechen jolle, 
welche, neben ihren befonderen Intereſſe für das bürger⸗ 
liche Leben und feinen Berfehr, auch noch ein allgemeines, 
für das Verſtändniß der Erſcheinungen des Lebens übers 
haupt, Haben. Hierzu kam mir noch eine Anregung von 
außen, welche mir durch den Anblid und bei dem Leſen 
des trefflichen Schul- und Handbuches von Klaus 
Harms: „Gnomon“ genannt, fich aufdrang. Ein Buch 
in jolcher Art, zur Belehrung der veiferen Jugend, in ei- 
nem mir nabe liegenden Gebiet des menſchlich Wiſſens⸗ 
würdigen zu fehreiben, die war mein Wunſch, Hinter wel 
chem freilich die That der Ausführung weit zurüdgeblie: 
ben ift. 


3 


vn 


Ueber die Doppelte Richtung, welche ich übrigend bei 
diefer Ausführung nahm, deute ich nur noch Einige an, 
das beim Leſen des Buches felber Hin und wieder verftänd: 
- licher werden wird. 
| Mer noch vor etlichen Jahrzehenden die herrlichen 
Kreidefelfen von Stubbenfammer auf der Inſel Rügen, 
oder den Gipfel des Nigiberged in der Schweiz beitieg, 
der fand dort nicht jo, wie ein jeßiger Wanderer in dieje 
Gegenden, ein ftattlicheg Gafthaus, das ihm zu feiner Be- 
wirthung und Aufnahme alle Bequemlichfeiten darbot, fon: 
dern er war mit dem Anblid und dem Genuß der hehren 
Natur, wie mitten in einer Wüfte, allein gelaflen. Da, 
wo fonft nur der Seeadler oder die einfame Alpenfrähe 
hauſte; wo man nichts vernahm, als das Pfeifen des 
Murmelthiered oder das Saufen ded Winded; da ift jept 
ein munterer, gefelliger Verfeht der befuchenden Gäfte; 
man hört Muſik und Gefang, wie auf den Gaffen der 
Städte. Dennoch wird es der Reifende, während er, hun⸗ 
gernd und ermüdet wie er war, die Bewirthung genießt 
und vielleicht der aufgefundenen Gefellfchaft ſich freut, dem 
ortöfundigen Führer Dank willen, wenn ihn dieſer aus 
dem traulichen Zimmer Hinausruft ind Freie, weil fo eben 
die untergehende Sonne die Hochalpen oder dad Meer mit 
dem wunderherrlichſten Glanze beitrahlt. 

Eine nicht unähnliche Veränderung bat fich mit dem 
wiflenfchaftlichen Gebiet der Phyſik und Chemie zugetragen. 
Noch vor wenig Menfchenaltern konnte ein großer Xheil 
dieſes Gebieted dem Forſcher, der durch daſſelbe fich er- 
ging, zunächſt nur jenen geiftigen Genuß gewähren, den die 
tiefere Einficht in dad Weſen und in die Kräfte der Sicht: 
barfeit mit fich führt; man kannte die Wirkung ded Lich⸗ 
te8 auf das ſalzſaure Silber, kannte die Kraft des Waſſer⸗ 
dampfed wie die Wirffamfeit des Galvanismus, Niemand 








IX 


aber hätte die Benutzung diefer Kenntniffe zur Erfindung 
des Daguerreotypes, oder der Dampfboste und Dampfwä⸗ 
gen, der Galvanoplaftif, der eleftrifchen Telegraphen und 
al? den mannichfachen Menfchenfünften geahnet, welche an- 
jebt aus dem Erfenntnißfreife der Phyſik und Chemie her 
über, in alle Ziveige ded Verfehres und des Haushaltes 
der Völker auf jo mächtige Weile eingreifen. Saft Fünnte 
es und gejchehen, daß wir über dem Verweilen bei dieſem 
neuen Aufbau, über der theilnehinenden Betrachtung jener 
fruchttragenden Zweige, des Stammes vergäßen, der Die 
Zweige trägt und nährt; des Stammes, welcher unverän: 
dert zu allen Jahreszeiten derfelbe bleibt, während Die 
Blätter und Blüthen der Ziveige einer fortwährenden Ber: 
änderung unterliegen. Deshalb wollte der Verfaſſer dieſes 
oft getrübten „Spiegels der Natur“ feine Leſer nicht allein 
zur Betrachtung jener einflußreichen Erfindungen der 
neueren und neueften Zeit Hinführen, welche ein Geſpräch 
des Tages bilden, jondern zugleich ihre Blicke auf den 
gemeinfamen Stamm eines wifjenfchaftlichen Erkennens hin⸗ 
leiten, auf dem jene Früchte wuchfen, ja auf den Boden, 
in welchem der Stamm wurzelt, auf die Sonne, deren 
Strahlen von oben Her feine Säfte beleben. Nicht ohne 
Anficht geſchah es, daß er, namentlich bei einigen der ſpä— 
teren Abfchnitte, ſehr ausführlich in die Gefchichte und Be⸗ 
ſchreibung der einzelnen Entdeckungen einging; er wollte 
feinen Leſern zeigen, daß jene Gaben der Willenfchaft an 
das bürgerliche Leben, die unfere Zeit in fo reichem Maaße 
genießt, nicht leichten Kaufes, wie auf der Gafje liegend, 
gefunden, ſondern mit faurer Anftrengung aus ihren ver: 
borgenen Tiefen hervorgenrbeitet und errungen werden 
mußten. 

Das Gebiet, in welchen der inhalt dieſes Buches 
ſich verbreitet, gehört zwar feinem befonderen Herren an, 


— 


x 


fondern ift, mit feinen Erkenntniſſen, ein Gemeingut; doch 
bat der Verfaſſer nicht verfäumt, da, wohin dieſes gehörte, 
jene Schriften anzuführen, welche den Lejern weitere Ber 
lehrung gewähren Fönnten, oder die ihm felber zu Wegwei⸗ 
jern dienten. Als feinen alten, ihm durch längeren Um: 
gang vertraut gewordenen Hausfreund erwähnt er übrigen? 
hier noch dankbar vor allen anderen der Naturlehre von 
Baumgärtner und von Ettinghaufen. 
Pähl im Baierifchen Ammergrunde 26. Sept. 1845. 
D. V. 


Dieſer Vorrede zur erſten Auflage fügt der Verfaſſer 
nur noch die Bemerkung hinzu: daß er ſich bemüht hat, in 
dieſer neuen Bearbeitung ſeines Buches nicht allein die Un: 
tichtigfeiten zu verbeflern, welche zum Theil durch fremde 
Schuld in daſſelbe Hineingerathen waren, jondern auch 
durch weſentlich nothwendige Zuſätze und Veränderungen 
den inhalt deſſelben in zeitgemäßer Weife zu ergänzen. 

Münden 2. Sept. 1853. 
D. V. 


— — — — — — 














1 


Inhaltsanzeige. 


I. Der Antrieb zum Leben und zum Erleunen. ©. J. 


Allem fehlt Etwa8 ©. 1. Der Mangel, ein Antrieb zur Fort⸗ 
bewegung des Leben®. ' 


Was Jedes Haben muß, das giebt’8 im Ueberfluß ©. 2. 
Die Luft, das unentbehrlichſte Element zum Leben, ift zugleich das ges 
meinfte, allverbreitetfie. S. 8, 4. 


. Die Hausmutter S. 4. Wichtigkeit des Waſſers für den Haushalt 


des Lebens; Kreislauf des Gewäſſers in der irdiſchen Natur. S. 8, 6. 


Die lebendigen Waſſerquellen S. 6. Das Vermögen der 
Pflanzen, das dampffoͤrmige Waſſer aus der Atmofphäre anzuziehen und 
bemfelben in ihren Gefäßen die tropfbar flüffige Form zu geben. ©.7,8. 


. Das allgemeine Koſthaus ©. 8. Berborgene Weife, in welcher 


die Pflanzen ihren Rahrungsftoff anziehen und zu fi nehmen 9. Als 
waltende VBorforge für folhe Thiere, denen die Fortbewegung, bad Auf: 
fuhen und Erfaffen der Nahrungsmittel nad ihrem Bau fehr erſchwert 
iſt; für ſolche, die bei Nacht auf die Weide gehen. Weite Wanderungen 
nad Speife 10. Das Vermögen der Pflanzen, aus folden Stoffen, 
welche für das Thier ungenießbar find, genießbare zu bereiten 11. 
Einfache und abwechſelnde Koft. Ein Arbeiten für Andere 13. Bor» 
forge am rechten Ort und zur rechten Beit 14. Die Raubthiere und 
ihre Beflimmung ©. 15. 


Dad Heimweh ©. 16. Fortbewegung bed Lebens, welche bad Ende 
feine® Laufes immer wieder an ben Anfang und Ausgangspunkt bed» 
felben anfnüpft. Zug und Wandertrieb nad) dem Ort der Geburt oder 
nad) einer früher bewohnten Heimathöftätte 17—19. 


Der Inſtinkt ©. 19. Inſtinktartige Borahnungen bei Menfchen 


. 20, 21. Der eigenthümliche Naturtrieb des Thieres iſt diefem von ſei⸗ 


8. 


10. 


11. 
12. 
18. 


14. 


x 


ner Geburt an eingepflanzt, nicht von außen in ihm angeregt. Ange⸗ 
bornes Vorgefühl für das, was ber Erhaltung be& Lebens ſchaden oder 
nüten Tann 22-25. Naturtrieb ber Elternliebe und der Borforge für 
ein künftiges Geſchlecht, felbft für die Hülflofen Sungen einer fremden 
Mutter. Naturtrieb mancher Thiere, der fie felber zum Untergang führt, 
dabei aber zur Erhaltung der Gefammtheit ber lebendigen Wefen 
dient 26. Allwaltende Borforge, die dem Bedürfniß ber Einzelweſen 
entgegenfommt; Verſchmelzung des Bildungstriebed mit dem Inſtinkt; 
bauende und zerflörende Kräfte ded Bildungstriebes 27, 28. Allbes 
wegende Kraft der Seele 29. 


Der Compaß S. 80. Seine Erfindung und Benutzung 80. Der 
Grund des Entftehend und die Wirkfamleit der Polaritäten in ber 
Körperwelt. Diefe beruhen zulest auf bem Gegenſatz zwiſchen einem 
Höheren und einem Niederen, Oberen und Unteren; zwifchen einem Bes 
wegenden und Bewegten, einem Schöpfer und feinen Geihöpfen 31, 82. 


. Der Wandertrieb de8 Geiftes ©. 8%. Des Columbus Aus⸗ 


lauf nach einem unbefannten, niegefehenen Biele 82. NRaturtrieb und 
Drang bed Menfchengeifted zum Wiflen und vernünftigen Erkennen 84; 
dienendes Berhältniß der Außeren Glieder, vor Allem der Sinnorgane 
zu diefem Zweck 35. Die Macht bed Dranged zum Erkennen, bie fi) 
durch alle äußeren Hemmungen, felbft dur den Mangel ber höchften 
Sinnorgane, wie durd eine Wüfte ihre Bahn bricht, im Beifpiel der 
Laura Bridgmann (m. v. Burdad’8 Blide in’8 Leben 3. II), 
die in ihrem 2ten Lebensjahre durch eine ſchwere Kinderfranfheit die 
Sinne des Gefichtes, des Gehöres, Geruches und felbit des feineren 
Geſchmackes verloren hatte und blos auf den Sinn bed Gefühles bes 
ſchränkt war 35 uf. Die Unentbehrlichkeit einer Gedankenſprache für 
die Erinnerung und für da8 vernünftige Erkennen ber Menfchenfeele 
89 u. fe Die Ausbildung der Gedankenſprache ift ein gemeinjameß, 
geiftiged Kunftwerk der Menfchenfeelen, wie der Bau im Bienenflode 
ein gemeinſames leibliche8 Kunſtwerk vieler Einzelmefen 46. 


Balentin Iameray Duval ©. 49. 


II. Der ünßerfte Vorhof des natürlichen Erlennend. ©. 87. 


Der Bau von außen und von innen ©. 87. 
Sonft und jest ©. 9. 


Das Reihwerden ohne Mühe 94. Verſtärkung und Anregung 
bed Antriebe zum Erkennen im fiegreihen Kampfe mit ben äußeren 
Hemmungen 95, 96. 


Die Kalenderzeihen 96. Der Zug zum Wiffen und zum Er- 
fennen nimmt feinen erften Auslauf ebenfo nad) den Höhen der fiht- 
baren Welt (nad) den Sternen), al® nah ihren Tiefen (nach bem 
Erforfhen der Elemente ber leiblichen Geftaltung); uralte Herkom⸗ 
men der Sternfunde wie des Forfhend nah den Grunbftoffen der 
Körperwelt 975 doppelfinnige Bedeutung der Kalenderzeihen zur Be⸗ 
zeichnung der Metalle und der Weltkörper unfered Planetenſyſtems 98. 
Anziehende Reize, welche die Metalle für den Menſchen Haben; ihre 
Unzerlegbarfeit 99. 


24 


26, 


XHI 


Die Elemente 99. Lehre de Altertum von den 4 Elementen. 


Die Srundftoffe 100. SBeifpiele von Zerlegung der chemiſch zu⸗ 
fammengefegten Körper in unzerlegbare Grundftoffe 101. Cohäfion 
und chemiſche Anziehung 102. 


. Die Metalle im engeren Sinne 102. 
. Der verfhwenderifhe Arme 115. Das Gold in Metallge- 


mifchen, worin man e8 nicht beachtete 117. Seine Ausſcheidung 119. 


Die Berwandblung bed Niederen in ein Höhere8 120. Das 
Gäment » Kupfer 121. 


. Die metallifhen Grundftoffe der Allalien und Erden 


©. 122. Die fogenannten Erben, früher für einfahe Grundftoffe ge⸗ 
halten; Humphry Davy’8 Entdedung ihrer Bufammengefektheit 128. 
Eigenfhaften der metallifhen Grundlagen der Erden und Kalien 128 
— 126; da8 maffenhafte Vorkommen derfelben 126; Verbindung des 
Ratronmetalles mit Chlor zum Kochfalz 126. 


Ein Kapitelüber die ReinlihkeitS.127. Die Seife ©. 129; 
die Soda 131; Ausſcheidung ded Natrond aus dem Kochſalz 182; dad 
Chlorgas 183; Pflanzen mit feifenartigen Stoffen 138, 


EineAugenfabricationim®rofßen S.134; Bildung bed thieri- 
fhen Auges 134, 185; Durchfichtigkeit der Luft; Tageshelle und nächt⸗ 
lihe8 Dunfel 186; Erfindung des Glaſes 187; feine Bufammenfeßung 
188; die Brillen; ihre Erfinder; Brenngläfer 139— 142; Brechung 
ber Lichtſtrahlen in durchfihtigen Medien 143,144; barauf gründet 
fi die Eigenfchaft der converen Glaͤſer, die Gegenftände, welde man 
durch biefelben betrachtet, vergrößert darzuftellen; und fie hierdurch 
fheinbar näher an das Auge heranzurüden; Erfindung bed Fernrohres 
unb feine allmäflige Bervolllommnung 145, 146. Die Entdedungen 
am Sternenhimmel, welde eine unmittelbare Folge jener Erfindung 
waren 147. Anwendung ber vergrößernden Kraft der Glaslinſen 
zur Betrachtung naher, Heiner Gegenftände; Erfindung ber Mikroſcope 
und die mittelft derſelben gemachten Entdedungen 150. 


. Die Grundfioffe der Säuren ©. 152. Der Schwefel und bie 


duch fein Verbrennen entftehenden Säuren 158. Der Phosphor und 
die Pho8phorfäure, die Flußfäure 154. Das Wafferitoffgad 155; daB 
Chlor und die Salzfäure; Brom, Jod, Borarfäure 156; der Grunde 
ftoff der Kiefelerde 156. 


Die Shwefelfäure und die Salzfäure 8.157. Benterfungen 
über die vielfeitige Bedeutung ber atmofphärifhen Gasarten 168. 
Slauber’8 Entdeckung ber Grundftoffe des Kochfalzed, bei ber Zerlegung 
befielben durch die Schwefelfäure 159. Das Verhältniß des Schwefeld 
zu den Metallen gleicht dem der Lebensluft zu den brennbaren Kdrs 
pen 161. Die Schwefelfäure gewährt in England mittelbar, duch 
das Gewinnen bed Chlord einen außerordentlihen Bortheil für bie 


dortigen Bleichereien 162. Gewinnung bed Leimes aus den Knochen, 


buch) Anwendung ber Salzfäure erleihtert S. 165. Die Bereitung 
der Schwefelfäure im Großen, vor Allem in England ©. 166. 


Die hemifhe Polarifation &.167. Begriff und Erläuterung 
bed Ausdruckes: chemifhe Verwandtſchaft 168. 


Die Meßkunſt der Elementarverbindungen (Stochio⸗ 


27. 


80. 


81. 


xy 


metrie) S. 169. Mechaniſche und zufällige Miſchungen ber. Stoffe; 
hemifhe Verbindungen 170. Beftimmtes Maaß der Gewihtötheile und 
Maaßtheile der Stoffe bei ihren hemifhen Verbindungen 171 u. f. 


Die Grundftoffe der organifhen Körper ©.175. Der Koh: 
fenftoff; Steinkohlen und Erdharze; Kohlenfäure 176; Waſſerſtoffgas; 
da8 Sauerftoffgad oder die Lebendluft 179. 


Die Luftfchifferkfunft S.180. Aeltere Verſuche, in der Luft zu 
fliegen oder zu fhiffen 181. Mongolfier und Charles 183; Pilatre 
de Roziers erfle, aöroftatifche Unternehmungen 184; Franz Blanchard 
und feine Abenteuer 385. Die Brüder Robert und der Graf Zam⸗ 
beccari 189. Rozier's unglückliches Ende bei dem Berfuh, ben Ca- 
nal von Oft nad) Weit in der Luft zu überfchiffen 189. Crosbie'“s 
Flug von Irland nad) England 1905 Bambeccari’8 Ende 191. Ges 
ſchwindigkeit der Luftſchiffe; erreichte Höhen 1925 Beobachtungen der 
Luftfchiffer im Allgemeinen 193. NRobertfon, Green 195. 


Die Lebendluft und das Stickgas S.196. Eigenſchaften und 
Wirkungen der Lebendluft oder des Sauerftoffgafe® auf die Körper 
der unorganifhen fo wie der organifhen Natur im Allgemeinen ©. 197. 
Allgemeine Berbreitung bdeffelben 199. Das Stickgas und feine 
Eigenfchaften 201. Die Salpeterfiure 208; Gewinnung ded Sal 
peterd 205. 


Großer Erfolg auß Fleiner Urſache S. 206. Die Wirkfam« 
keit der milrofcopifhen Thierwelt, eine Quelle der Erzeugung oder 
Entbindung der Lebendluft 207. 


Drud und Gegendrud S. 209. Die Naturkräfte, welde beim 
Bau der organifchen Leihlichfeit mitwirken. Die Laft des Luftdrudes 
auf unferem Körper, nach Wiener Pfunden berechnet 210. Emporſtei⸗ 
gen des Waflerd in den leeren Raum einer Pumpenröhre 211; 
Torricelli's richtige Deutung bdiefer Erfcheinung und feine Erfindung 
des DBarometerd 212. Otto von Guerike's Erfindung ber Luft» 
pumpe und Verſuche mit derfelben 218. Dad Barometer ald ſo⸗ 
genanntes Wetterglad benugt 214. Höhenmeflungen durch das 
Barometer mit Grundlegung eined von Mariotte vorausgefehten Vers 
haͤltniſſes; Federkraft (Elaftizität) der Luft 215. Wirkung bes 
verflärften Luftdruckes auf den menfchlihen Körper 217. Vermuthun⸗ 
gen und Angaben über die Höhe und Außerftie Gränze des Luftkreiſes 
218; Antheil, den die verfchiedenen Sadarten der Atmofphäre an dem 
Sefammtgewiht und Drud der Luftfäule haben 219. Die Ver⸗ 
änderlichleit der Menge bed in ber Atmofphäre aufgelöften Waſſer⸗ 
dunſtes, und die Folgeu, welche diefe auf den Stand des Barometerd 
hat, fowie andere Urſachen, welche den Stand bed Barometers än⸗ 
bern 220. Verwandlung ded Waflerd in Dampf 221; hemmen: 
ber Einfluß, den der Drud der Luft hierauf hat; verfhiebene Grabe 
ber Siedehite, in verfchiebenen Höhen über dem Meere 222. Ber- 
hältniß des Gegendrudes, ben die inwohnende Kraft ber Einzelwefen 
erregt zu dem Drud von außen, (namentlich der Luft) 222. 


II. Das Gebiet der kosmiſchen Erſcheinuugen. S. 224. 


Eine Leiblichkeit der Höheren Ordnung S. 224. Das Reich 
der unwaͤgbaren Prinzipien ber irdiſchen Körperwelt 225. 





XV . 


Die Wärme S.226. Gewinnung be irdiſchen Feuers 227. MWär- 
meerzeugung und Entzündung der brennbaren Körper durd Reis 
bung, durch Stoß und Drud, fo wie durch Bufammenpreffen und Zus 
fammenziehung elaftifher Flüffigkeiten 228. ‚Heizung durch Dämpfe, 
bei dem Uebergang in ben tropfbar flüffigen Buftand des Waſſers ſich 
Wärme entwidelt 230. in umgelehrted Verhältniß der Wärme 
bindung (Abkühlung der Umgebung bei dem Uebergang des Waſſers 
aus dem tropfbar flüffigen in den Dampfzuftand) 281. Allges 


meine Folgerungen aus diefen Erfahrungen 232. Die Wärme 


84. 


capacität ber verfchiedenen Körper 235. Einfluß der Wärme auf die 
Zormänderung ber Körper und gelegentlihe Entwidlung der Wärme 
in Folge folder Formänderungen 284. 


Die Wärmeleitung ©. 285. Die Metalle find die beiten Wär⸗ 
meleiter 236. Wärmeleitung bei flüfjigen Körpern 289. Empor⸗ 
fteigen der erwärmteren und bierdurd leichter gewordenen Theilchen 
in den fälteren und deshalb fehwereren 238. Die fogenannte Luft⸗ 
heizung ber Wohngebäude 238. 


85. Das Thermometer &.239. Die Vorzüge, weldje die Anwendung 


eined Werkzeuge, das und die Wärme unmittelbar an der Ausdeh⸗ 
nung eines leiblihen Stoffe ermefjen läßt, vor den unficheren Aus⸗ 
ſprüchen unfere8 finnlihen Gefühles hat 240. Die erſte Darftels 
fung eines unvolllommenen Thermometerd durch Eorneliuß Drebbel: 
Fahrenheit's Duedfilber- Thermometer 241. Gleihmäßigfeit der 
menfhlihen Blutwärme bei verfchiedenen Völkern, fo wie unter ver⸗ 
fhiedenen Simmelsftrihen S. 243. Verſchiedene feſte Anhaltspunkte 
der Fahrenheit'ſchen Scala 248. Reaumur's MWeingeiltthermometer 
©. 244. Berhältniß der Reaumur’fchen Scala zur — 328 
fo wie zur hunderttheiligen 216. Meſſung der Grabe der Gluthitze, 
Die zum Schmelzen der Metalle nöthig ift 246. 


36. Die Dampfbildung durch Wärme ©. 217. Vielſeitiger ges 


maltiger Einfluß der Benugung ber Dampffräfte zu Leiſtungen, welche 
einem früheren Beitalter unerreihhar erfhienen wären 248. Wirk⸗ 
famfeit des Schießpulver8 und Grund berfelben 249. Erfindung und 
frühefte Benutung des Schießpulverd 251; der Waflerdampf 253; 
Ausdehnung ded Waflerd bei der Eisbildung; geringe Elaftizität des 
Waſſers 254; Spannfraft feiner Dämpfe bei plöglicher Entwidlung 
durch die Wärme 255; die Bewegungen, durch mechaniſche Urfachen 
hervorgerufen, enben, ſobald ber &ußere Anlaß für fie hinwegfällt, die 
Dewegungen eines belebten Koͤrpers erneuern fih von felber durch 


 wechfelfeitige Anregung ber polarifhen Spannungen 266; ein reis 


werben und ein Gebundenwerden ber Stoffe, gegenfeitig fich bedin⸗ 
gend und mit einander wechfelnd; Drud und Gegendrud. 


87. Die Dampfmafdhinen S. 257. Die Einrihtung und Wirkfamfeit 


ber Dampfmafcdinen erfcheint wie ein Abbild der wechfelnden Bewe⸗ 
gungen in einem befeelten Körper; kurze Belchreibung der Dampfma⸗ 
ſchinen 2585 Benugungen der Dampffraft in früheren Zeiten 259; 
Erfindung der Dampfmafhinen 2605 der Dampfidiffe 261. Die 
Dampfwägen 862; atmofphärifhe Eifenbahnen 265. Schnelligkeit 
und einflußreihe Leiftungen ber Dampfwägenfahrten auf den Berfehr 
der Menſchen 264. Berechnung der Kräfte der einzelnen, fo wie ber 
gefammten Dampfmaſchinen mander enropäifchen Länder 265; Koftens 
aufwand 266. 


v xvi 


88. Dad Entflehen der Wärme beim Verbrennen der Kor—⸗ 
per 266. Eigentliches Verbrennen 267; langſame und allmählige Ber- 
bindung des Sauerftoffgafe® mit brennbaren Körpern 809; eigenthüm- 
lihe Bewegung an flaubartig fein zertheilten Stoffen beobachtet 268: 
Platinaftaub und Platinaſchwamm; ihre Anziehungskraft gegen das 
Sauerftoffgad, mit weldem dann bad Waſſerſtoffgas flammend fi 
verbindet 269; Bortheile zur Förberung ber Eſſiggährung 269; ans 
fteefende Gewalt des Gährungs- und Verweſungsprozeſſes 270; Ein- 
fluß des Hitzgrades auf daB Verbrennen 271; fhwäcender Einfluß 
der Verdünnung der Luft auf dad Verbrennen 272. Berlöfchen ber 
Flamme; Abhaltungsmittel gegen ihren anzündenden Einfluß 273. 
Mittel zur Verſtärkung ber Lihhthelle der flammenden Körper 274. 
Das feldftfländige Weſen bed Lichte und der Wärme 275. 


89. Die Bereitung gegohrener Getränte S. 225. Aufregende 
Eigenſchaften berfeiben 276, gegründet auf bie Steigerung des Ath- 
mungsprozeſſes 226. Verhalten ber Hefe zum Borgang der Gaͤhrung 
277; verändernder Einfluß der Wärme 278; Flüffigleiten, deren Bus 
fammenfetung dem Traubenſaft verwandt iſt 279; Gründe ber 
Eſſiggäährung 280; DVerfchiedene Grade der Temperatur, welde bie 
Verbindung des Alfohold und die bed ftidftoffhaltigen Fermentes mit 
dem Sauerftoffgad zum Effig und zur unauflößlicheu Hefe nöthig Hat 
280. Erfindung und allgemeiner Gebraudy ber Bierartigen Getränte. 
Auch bei ihrer Gährung iſt die Erhaltung einer niederen, gleichmäßi⸗ 
gen Temperatur fehr vortheilhaft 281 u. f. 


Die eigenthHümlihe Wärme ber lebenden organifdhen 
Körper S. 288. Beobachtungen an Pflanzen 283; an Bienen 284; 
an Fifchen und Amphibien 285, Vögeln, Säugethieren; Einfluß bes 
Athmend darauf 286; dad Walten der Lebenskraft 287. 


41. Die Eleltrizität S. 288. Meltefle Beobachtung ber Elektrizität 
am Bernftein 289; polarifch verfchiebene eleftrifhe Spannung Bei 
verfohledenen Körpern 290; beifelbe Körper kann gegen einen ans 
deren fich pofitiv, gegen einen britten negativ verhalten 291; Ber 
ſchiedenes Berbalten der Metalle und der anderen leicht durdy’8 Rei⸗ 
ben eleftrifirbaren Körper; gute und fchlechte Leiter ber Elektrizität 291; 
eleftrifhe Batterien und Leidener Flaſchen 298. Bligartige Wirkſam⸗ 
feit des ſtarken eleftrifhen Funfend auf lebende Thiere und Menfchen 
293; zur Entzündung und Verbindung ber gadartigen Grunbftoffe des 
Waſſers, fo wie zur Berfegung ded Wallerd 294; zur Erzeugung ber 
Wärme und Anregung ber Lebenskraft; Geſchwindigkeit ber Fortpflan- 
zung des eleftrifhen Schlages 298. oo 


42. Die Gewitter ©. 296. Künftlihe Nahahmung ber Gewitter 296; 
verfchiebene eleftrifhe Spannung zwifchen dem Luftkreid und der Erd⸗ 
oberfläche 297 5 das St. Elmöfeuer ; berechneter Betrag der eleftrifchen 
Spannung eined von Pflanzen bebedten Landſtriches 297; Ein- 
Fuß der Winde auf die elehrifhe Spannung 298; der Wärme, in 
verſchiedenen Sahredzeiten und Länderftrihen; Höhe der Wetterwols 
fen; Einfchlagen des Blitzes am Boden; Gegenfchläge; Blike, die nicht 
zünden; Wirkung ded einſchlagenden Bliged auf Metalle 299; Entladun- 
gen, bie in den Wollen aufwärts gehen 800. Der Hagel und die 
ftrihweife Art feiner Verbreitung 801. Allmählige Aufldfung ber 
elektrifhen Spannung der Wollenſchichten; das Wetterleuhten 802. 


48. Die Blitzableiter ©, 808. Uebermaͤßige Gewitterfurcht und laͤcher⸗ 


40 


44. 
4. 


XVII 


lihe Vorfichtsmaßregeln gegen das Einfhlagen bed Blitzes 303; 
Nollet's annähernde Schritte zur Erfindung ded Bligableiterd; Ben⸗ 
jamin Franklin S. 8045 Berfuche zur Herableitung ber Lufteleftrizis 
tät 805. Richmann's Tod 806. Der Franklin’fhe Blitzableiter; 
feine Anwendung und Begränzung feiner Wirkfankeit 307. Bo» 
lariſche Wechfelmirfung auf das Berhältniß einer Vielheit der Fleinften 
Theile der Körper zu den allgemein verbreiteten Elementen und Kräfs 
ten der äußeren Umgebung gegründet. Condenfation der Gaßarten 
durch die Anziehung einer vielzertheilten körperlihen Subftanz und 
Berfhiedenheit dieſes Vorganges von der Bufammenpreflung durch 
mechaniſche Gewalt, am Beifpiel ber Kohlen erläutert 808. Die ats 
ziehenden Organe, in Form feiner Spigen und Borften, an ber Aus 
Benfläche der Pflangenförper 809. 


Eine Art von Bligableiter, benugt zur Befruhtung 
der Felder ©. 810. 


Der Balvanidmus S.318. Polarifchselektrifhe Spannung in zwei 
verfhiedenen Metallen durch ihre bloſe wechfelfeitige Berührung ers 
weckbar; Stufenleiter biefer Erregbarfeit der pofitiven oder negativen 
Spannung bei verfchiedenen Körpern 814. Die Voltaifhe Säule 815; 
der Trogapparat 316; Zerſetzung des Waſſers durch die elektrifche 
Polarifation diefer Apparate 817. Gntdedungsgeihichte bed Galva- 
nidmus; Wirkung ded Galvanismus auf bie thierifhen Nerven ber 
Bewegung und finnlihen Empfindung 8185 die ruhigere fortwährende 
Strömung beim Galvanismus begründet einige Verfchiedenheit zwifchen 
biefem und ber Reibungßeleftrizität, Licht» und Wärmeergeugung durch 
Galvanismus 819. 


46. Ein Bettlampf der Raturfunde mit ber Kunft: die Gal⸗ 


vanoplaftit 320. Bündniß der Menſchenkraft mit Naturfräften 
821. Beſchreibung ber Vorgänge und ber Leiftungen der Galvano⸗ 
plaftif 522, J 


47. Der Elettromagnetismud ©. 825. Magnetifirende Einwirkung 


48, 


bed Blitzes auf eiferne Geräthfchaften 8255 die. Richtung einer elek⸗ 
trifhen Strömung, welche quer über einen Eiſenſtab geht, macht die- 
fen magnetifh 826; außerordentliche Steigerung der magnetifhen Kraft 
in Eifenftäben, um welde ein Draht fchraubenförmig herumgeführt 
und mit den Strömungen einer Boltaifhen Säule in Verbindung ges 
feßt wird. Die Richtung der Windungen des Drahtes von der Ned 
ten zur Linfen oder von ber Linfen zur Rechten find hierbei nicht 
ohne Einflup 827. Schweigger's Entdedung einer rotirenden und 
freißförmig bahnenden Bewegung, weldhe der Elektromagnetismus be⸗ 
wirft 338. Folgerungen hieraus 829. | 


Der eleftrifhe Telegraph S. 829. Frühere Verfuhe einer Mit» 
theilung an Fernwohnende: Nothfeuer 880; die gewöhnlichen Tele⸗ 
graphen 831; Borzug ber Mittheilung dur Elektrizität wegen ber 
Schnelle und Sicherheit der Leitung 881; Einrichtung eined Telegra=- 
phen, der auf die Wirfung des Elektromagnetismus gegründet ift 
und die Weife feiner Anwendung; Steinheil’8 elektrifher Telegraph 
883; die Telegraphenpoften 334. 


49 Wärme, Magnetismus und Elektrizität ©. 336. Schwä- 


hende Wirkung der Wärme auf die magnetifche Kraft 336; Erregung 
ber eleftrifchen Eigenfchaften durch die Wärme im Turmalin, Borazit 
und Galmei 837 u. f. Elektriſch⸗polariſche Spannung an verſchiede⸗ 


IVM 


nen in Berührung gebrachten Metallen, namentlich Wismuth und 
Spießglanz, burch einen fehr geringen rad der Erwärmung oder 
—— erzeugt 688, bemerkbar durch die Elektrizitaͤts⸗Multiplica⸗ 
toren 889. 


5. Dad Norblidt S. 340. Elektrifge und magnetifhe Ungewitter 
811; der Einfluß der Temperatur ift auf beide ein entgegengefehter 
842; Süblihter; Höhe, zu welcher die Polarlichterfcheinung hinan⸗ 
reiht, bie in fehr verfchiedenen Gegenden zugleich ftattfinden Tann. 
Gewaltfame und zerftörende, Wirkfamteit des elektrifchen Gewitters, 
im Vergleich mit dem fiillen, nur dem Gefihtsfinn wahrnehmbaren 
Auftreten des Nordlichtes, dennoch geht die Wirkfamfeit de8 Nords 
lihte8, die fih an den Bewegungen der Magnetnadel fund giebt, 
über ungleich größere Streden der Erbe, al® die bed eleftrifhen Ge⸗ 
witterd 344. Beſchreibung des Nordlichtes 349. | 


51. Das Erdenliht 346. Eigenthümliches (phosphorifched) Leuchten 
ber atmofphärtfhen Dünfte 422; der Erdoberfläche und des Meeres 847. 


52. Erzeugung ber Wärme durch das Sonnenlicht S. 848. Ver⸗ 
gleich deßs Ausſehens der Polarländer mit der Naturſchönheit und 
Fülle der kräftiger yon ber Sonne beſtrahlten Länder 349. 


58. Die Sonne ©. 880. 


54. Einfluß der Sonne auf die Temperatur der Erdzgonen 
©. 858. Ueltere Bebeutung und Eintheilung ber Klimate 359; Zeit 
der Beleuhtung unmittelbar durch die Sonne oder durch ihren Refler 
in der Atmofphäre, al8 Dämmerung 860; mittlere Jahredwärme ber 
verſchiedenen Klimgten 861; Zeit des Eintretend ber höchften und nie⸗ 
drigften Temperatur des Tages und bed Sahred 862; Grund ber Ab⸗ 

“nahme ber Wärme in größeren Höhen über der Meeredfläche; die 
Schneelinte 368 — 368. Mildernder Einfluß der Nähe des Meered, bes 
fonder® feiner weftlihen Angränzung auf die Temperatur der Erdge- 
genden 867. Milde Winter und fühle Sommer find der Entwidlung 
mander Planzenformen nicht fo günftig als etwas Tältere Winter 
und wärmere Sommer 369. Einfluß der Angränzung und Richtung 
eined Landes gegen Feitländer und Wüften, die von der Sonne ber 
Wendekreiſe beftrahlt werden 870. Natürliche Vorzüge der nördlichen 
und Öftlihen Halbfugel von der füdlichen und weilfigen; herrfchende 
‚Oftwinde zwilchen den Wendekreiſen; vorberrfhende Weftwinde in den 
temperirten Bonen; Meereöflrömungen 371; Raumverhältniſſe des 
Feſtlandes der rerfchiedenen Zonen; Verhältniß der Erdnähe und Erd» 
ferne zu den Solftitial- und Aequinoctialpunkten; hie mittlere Tempe⸗ 
ratur der Erdgegenden feit Sahrtaufenden diefelbe 873. Die mikros⸗ 
fopifhe Thierwelt der Polarzonen 874. 


55. Dad Daguerreotyp und die Photographie oder Lichte 
seihnung ©. 836. Einfluß des Lichtes auf Färbung und Geftal- 
tung der organiichen Körper 8775; Daguerre's Verfahren zur Er⸗ 
zeugung von Lichtzeichnungen mittelft der Ausfcheidung des Silber 
aus feiner Sobverhindung und der Vereinigung beffelben mit dem 
dampfförmigen Quedfilder; Talbot's Kalotyp-Papiere, Leiftungen 
bed Daguerreotypes 878 u. f. 


56. Daß Prisma ©. 882. Entftehung des Farbenbildes im Pridma; 
chemiſche Wirfung des violetten Strahle8 und feiner Angränzung außer⸗ 
bald des Zarbenbilded; wärmende des rothen 883 u, f. 


57. 


67. 


AIR 


Der Mond und fein Licht S. 883. 


. Dad Verhältniß Bed Lichte8 zu ben Farben ©. 890. 
. Der Rahtfhimmer oder die PHo8phoredcenz der Kdr- 


per © 391. Die Eigenfhaft der Körper, im Dunklen zu leuchten, 
nad) ihren anregenden Urſachen und Erfcheinungsformen 892 u. f. 


VBermuthungen über die leiblihe Natur des Lihtes 
©. 402. Die Lehre von der Emanation ded Lichte nah Empe⸗ 
dokles und Neuton, die von ber Undulation nad Ariftotele8, 
Huyghens und Euler 403. Anfcheinend gerablinige Wirfung ber 
Lichtftrahlen 404: Fraunhofer’s Unterfuhungen 405. Interfe⸗ 
renz berfelben 406, 407, fo wie der Töne 408, 


Das Verhältniß des Lichte zu anderen bewegenden 
Naturträften 409. Verhältniß des Lichted zur Schwree, zum 
Magnetismuß, zur Wärme 4105 Berechnungen über bie Gefhwindig- 
keit der Schwingungen der farbigen Lichtftrahlen 412; Verhältniß des 
Lichtes zu den Bewegungen durch mehanifhe, chemiſche u. a. Kräfte 
413, 414 5 PVerfchiedenheit und wefentliche Verwandtſchaft des Lichtes 
von und mit anderen Smponbderabilien, namentlicd, der Wärme 416 u. f. 


. Bewegung bei fheinbarer Ruhe 419. 
. Einwirfung und Nachwirkung ©. 421. 
. Die elementare Seftaltung und der fiderifhe Einfluß 


S. 432. Dimorphismus der Körper, feine Begründung in dem Ein» 
fluß der Wärme 433, 434; ähnliche Erfheinungen bei organifchen 


‚Körpern 4855 hemmender Einfluß ber Siedehitze auf den Fortgang 


der Gährung u. f. 486, 487. Einfluß der Elektrizität auf kryſtalli⸗ 
nifche Geftaltung 488. 


Eindfein und Verfhiedenheit der foßmifhen Naturs 
fräfte ©. 489. 


IV. Das Leben der organiſchen Natur. S. 440. 


. Die Selbſtherrſchaft des Lebens ©. 440. 


Die elementare Schöpferkraft desLebens S. 442. Verſchie⸗ 
dene Wirkung der Brutwärme auf befruchtete und unbefruchtete Eier 
413. Beſtaͤndige Neigung ber organiſchen Verbindungen, ſich zu 
zerſetzen; ihr Verhältniß zu den unorganiſchen gleicht-dem der Sylben oder 
Worte zu den einzelnen Buchſtaben 444, 445. Künftlihe Zufammenfegung 
der Grundftoffe ded Waſſers. Das Verhältniß, in dem die Atome der 
Srundfloffe in den organifhen Körpern verbunden find, weidt 
ganz von dem ab, da8 in ber unorganifhen Natur ftatt findet 
9445. Vergleich der Lebenskraft mit ben eleftromagnetifhen Naturs 
fräften. Verſchiedenartig hemifche Bufammenfegung der verhältnikmäßig 
wenigen Bauptformen und Arten ber unorganifden Körper, einfache 
Zufammenfegung ber faft unzählbar vielen Formen und Arten der 
organifhen Körper 446. Mangel und Fülle 446. 


68. Die Verwandten und Diener der Lebensfräfte 446. 
69. Das Pflanzenleben 448. Innerer Bau bed Pflanzenförpers 


448; die Zellen 449; Entwicklungsgang und Ernährung ded Pflan- 
zenlebens 450 u. f. gsgang hrung des Pfi 





xx 


70. Daß thierifhe Leben 459. 

71. Die Nerven des thierifhen Leibes 486. 

72. Elektrifhe Erfheinungen an lebenden Thieren 461. 

73. Die kosmiſche Wirkſamkeit der Lebensfraft 466. 

74. Die Entwidlungdftufen de8 Leben ©. 468. Rückblick auf 


die Grundftoffe der organifhen Körper S. 468. Lebendfraft und 
Licht; Wirkfamkeit und Dauer des leiblichen Lebens in Pflan= 
zen und niederen XThierarten 4695 das höhere Werk des Lebeng, 
zu welchem die Seele ber volllommenen Thiere ſchon durd das Wahr: 
nehmen feiner Sinne befähigt ift 4705 Die innere Schöpfung des 
erfennenden Menfchengeifte; ihre Dauer und Beltimmung für 
die Ewigkeit 471 u. f. Schlußbetradhtung 478. 


L. 
Der Antrieb zum Leben und Erkennen. 


1. Allen fehlt etwas, 


Wenn man, namentlic bie lebenden Wefen der Erbe, bie 
Thiere und die Pflanzen betrachtet, da möchte man von ihnen 
fagen: es find Dinge, denen beftändig etwas fehlt. Bet dem Bild 
aus Marmorftein ift das nicht ſo; diefes hungert nicht und burftet 
nicht; ihm wird es niemals weder zu heiß noch zu kalt; es 
braucht nicht Athem zu fchöpfen; ihm thut Fein Glied weh. Und 
fo würde jeder Stein, wenn er zum Neben Berftand und Kraft 
hätte, zu uns fagen: ich bin fatt und verlange Nichte. Dagegen 
gebricht und Menfchen, gleich wie den Thieren, fo lange wir leben, 
bald Dies bald Jenes. Der muntere Vogel bes Waldes hat immer 
etwas Noͤthiges zu ſchaffen; jegt treibt ihn der Hunger, dann ber 
Durft von feinem Ruheſitz hinweg; viele taufend Male in einem 
Tage muß er frifche Luft fchöpfen, wenn er nicht erfliden fol; 
am Abend, wenn bie Sonne zu Rüfte geht, fehnt er fi nad 
dem Dunkel und nad der Erquidung des Schlafes, dann wieder, 
wenn die Nacht zu Ende geht, nad) dem Morgenliht und nad) 
dem Vergnügen des Wachens. Und zu biefem alltäglichen, klei⸗ 
neren Gedränge der Bebürfniffe kommt ihm noch alljährlih ein 
viel größeres; denn im Frühling hat er für den Haushalt feiner 
Jungen zu forgen, im Derbfte muß er weithin über Land und Meer 
ziehen, um in der Fremde fein Unterfommen für die Zeit des Wins 
ters zu fuchen. | 

Wie dem Vogel des Waldes, fo ergeht es jedem Xhiere und 
felbft der Pflanze. Denn auch diefe bedarf der Nahrung aus ber 
Luft und aus dem Boden; fie muß Wärme und Ficht haben, wenn 
fie leben und gebeihen fol. Das Kraut des Feldes, wie das hier 
und der Menich, find darin fich gleich, baß fie allefammt ihr zus 
gemefienes Gewicht von bes Leibes Mangelhaftigkeit und Nothdurft 
zu ertragen haben, Ä ' 
Aber wenn auch diefes Gewicht je zumeilen felbft zur Laſt 
werben follte, möchte dennody Keiner von uns befielben ledig, Keiner 
fo immer fatt und ohne allen Mangel fein, wie der Stein «8 ift. 
Denn wenn ich gar nichts mehr empfinde von bes Winters Froft 
und des Sommers Hige, wenn mich nicht mehr hungert noch 


1 





2 1. Allen fehlt Etwas, 


durftet, wenn meine Bruft niemals mehr zu athmen begehrt, dann 
bin ich todt. Wie der Zeiger an einer Wanbuhr ftille fteht, wenn 
die Gewichte hinmweggenommen oder abgelayfen find, welche ihre 
Räder in Bewegung festen; fo fteht auch ber Kauf des Lebens 
ftil und ift zu Ende, wenn fi kein Bebürfnig mehr regt, nad 
einem Etwas, das des Lebens Mangel ausfüllt; das Leben felber 
erhält fi nur durch einen beftändigen Wechſel zmwifhen Begehren 
und Empfangen, zwifhen dem Verlangen und feiner Befriedigung. 
Alten Lebendigen fehlt bald Diefes bald Jene, aber es ift auch 
reichlich dafür geforgt, daß fie Alle, ein Jedes nach feinem Maaße, 
das befommen, was ihnen abgeht. 
2. Was Jedes haben muß, 
Das giebt's im Ueberfluß. 


Wenn man unter und Menfchen eine Umfrage darüber halten 
wollte, was Jeder zu feines Lebens Unterhalt bedürfe * dann würde 
bie Antwort darauf fehr verfchieden ausfallen. Der reihe, an 
punberterle Bequemlichkeiten und Genüffe gemöhnte Bewohner 
der Städte würde meinen, er Eönne nicht leben ohne mehrere Ge: 
richte von Fleiſch und Zufpeife, fammt Wein und Bier, nicht aus⸗ 
halten, ohne für die Zeit der Ruhe feine Matrazen und Polfter, 
zu feiner Bedeckung Pelzwerk ober feidened Gewand, zu feinem 
gewöhnlichen Aufenthalt ein fchön verziertes Zimmer zu haben. 
Der arme Bewohner unferer Gebirgsdörfer giebt es freilich viel 
kleiner zu, er ift zufrieden, wenn er nur Brod und Kartoffeln, 
an den Werktagen Waſſer und etwa an Feiertagen einen Trunk 
Bier zur Stillung feines Hungers und Durftes hat. Auf feinem 
Strohpolſter fchläft er fefter ale der Reiche; unter dem leinenen 
Kittel ſchlaͤgt ihm fein Herz eben fo fröhlich, ja oftmals fröhlicher 
ald dem vornehmen Manne unter dem Ordensband. 

Wenn aber nun dieſe beiden, der arme Gebirgsbauer und ber 
vornehme, verwoͤhnte Stäbter mit einander auf einem Schiffe führen, 
und das Schiff fcheiterte, fie jedoch retteten ſich auf einen Zelfen im 
Meere, wo es nichts zu effen und zu trinken gäbe, fo dürften fie 
dennoch, in Hoffnung auf das rettende Boot, das ihnen, wenn 
auch erft nach ein oder etlihen Tagen vom Lande her zu Huͤlfe 
kommen könnte, vergnügt und froh fein, denn fie hätten-doc, ba, 
auf dem frei über die Wogen hervorragenden ficheren Felfen Etwas, 
das zur Erhaltung bes Lebens nothmendiger ift ald Speifen unb 
Getränke, Betten und Kleider: die Luft, welche kein Menfch, 
er fei reich oder arm, jung oder alt, auch nur zehn Minuten lang 
entbebren kann. 

Dei den Thieren fällt die Verfchiedenheit der Dinge, an wel⸗ 
hen jede Art ihr Belieben hat, noch viel mehr in die Augen. 
Der Adler wie der Löwe würden in einem Garten, voll der koͤſt⸗ 
lichſten Scüchte und Gemüfe, auf einer Wieſe voller Klee und 


2. Dem Mangel begegnet ber Weberfluf. 5 


Gras verhungern: fie begehren frifches Fleifh und Blue zu ihrer 
Nahrung und müffen die Sättigung oft weit umher und mit Mühe 
fuhen, welche das Lamm in feinem Grasgarten ganz nahe und 
ohne Mühe findetz ber Storch zieht das Fleifch der Froͤſche, der 
Eidehfen und Schlangen, der Felbmäufe und Heufchredien jeder 
anderen Koft vor; fein Vetter, der Kranich, lobt fi) dagegen den 
Genuß ber grünen Saat wie der Saatlörner, junger Erbfen und 
nebenbei der Inſekten. Die ſtachlichen Gewädhfe, an denen das 
Kameel in feiner armen Wuͤſte ſich vergnügt, wuͤrde, wenn fie 
bei und wuͤchſen, weder Roß noch Hirſch anrühren; der mächtige 
Wallfiſch fättige fi) an den Weichthieren und Kruftenthierchen bes 
Meeres, an denen ber gefräßige Haififch und mancher viel Eleinere 
Raubfiſch vornehm, ohne anzubeißen, vorüber ſchwimmt. Und fo 
ift der Geſchmack an den ober jenen genießbaren Dingen bei ben 
Thieren faft fo verfchieden als ihre Art und Geftalt, ihr Wohn: 
ort und Vaterland es find, ein Element bes Unterhaltes aber 
giebt es, melches fie ohne Ausnahme Alle begehrten, ohne welches 
der Köme eben fo wenig als die Maus, ber Hirfc eben fo wenig 
als die Schnede leben Tann, das ift die Luft, welche nicht wie 
Speife und Trank erft in den Magen und in die Eingeweide ein- 
geführt und bier zum Nahrungsfaft werden muß, um dann meiter 
ins Blut zu gehen, fondern welche auf geradbem Wege unmittelbar 
zu dieſem Quell des thierifchen Lebens fich hinabſenkt. Alle Thiere, 
fie mögen den Namen haben wie fie wollen, fie mögen bei den 
Kräutern des Feldes und Waldes, oder bei ber Fülle des thieri- 
Shen Fteifhes, im Meere oder auf dem Lande in Koft gehen, 
muͤſſen athmen, wenn fie zum Bewegen, zum Eſſen und Trinken 
£räftig bleiben, wenn fie leben follen. 

Aber gerade von jenem unentbehrlihen Element, bas bie 
Thiere wie die Menfchen zu ihrem Leben und Beltehen haben 
müffen, nicht nur etwa gern haben möchten, gilt das am 
meiften, was das alte Spruͤchwort befagt: 

Wo unfre Kraft ift viel zu Klein, 
Stellt Hülfe fih von felber ein. 

Muͤßten die Leute in Neapel, welche meinen, fie fünnten im 
Sommer keinen Tag hinbringen und vergnügt fein, wenn ihnen. 
nicht, über die Meeresbucht herüber, aus den Schneegruben des 
Sebirges, frifhes Eis zugeführt würde, fo lange auf bie frifche 
Luft, die mit jedem Athemzug in ihre Lungen dringt, warten ale 
auf das frifche Eis, da würde es bei ihnen mit dem VBergnügt- 
fein wie mit dem Leben bald ein Ende haben. Sa wenn ber 
fhnelifte Vogel fo weit darnach fliegen müßte, um einen frifchen 
Athemzug zu thun, ale nad einem Trunk aus dem Bade, ber 
am Walde vorbeifließe, da würde er fehon auf halbem Wege er- 
flidt fein. Aber eben für diefe, nicht nur tägliche oder flündliche, 
fondern in jedem Augenblick ſich erneuernde Noth ift auch draußen, 
im großen Haushalt der Natur, am gründlichflen und ausreichend: 


1* 








4 3. Das Bild einer guten Hausmutter. 


ften geforgt. Denn Luft ift überall, wo lebende Wefen wohnen, 
auf den Höhen und in den Tiefen; fie drängt fi dem neugeborenen 
Kinde von felber in den Mund und in die Lungen; fie findet durch 
die Heinen Deffnungen, am biden Ende ber Schaale, den Zugang 
fhon zu dem Kuͤchelchen im Ei; fie ſenkt fid) hinab ins Waſſer, 
bis zum tiefiten Grund des Meeres und wird da, von den Waſſer⸗ 
thieren, eingeathmet; in alle Höhlen und offene Gruben der Erbe, 
ja felbft in das innere der Pflanzen: und XThierförper dringt bie 
Luft hinein und erfüllt diefelben. 

So erinnert uns bie Luft, welche alle Lebenden umfaßt und 
durchdringt, mie ein Bild im Spiegel an eine allerhaltende Für- 
forge, in und durch deren Walten alles Sefchaffene befteht, in 
deren fchöpferifchem Vermögen wir Alle leben, weben und find, 


3. Das Bild einer guten Hausmutter. 


Ein anderes Bild, im Spiegel der Natur: das Bild einer 
guten Hausmutter, ftellt fih uns in dem Waſſer dar. Ohne das 
Waſſer würde gar bald die ganze Oberfläche der Erbe zu einer 
Einoͤde werben, gleich den afrikaniſchen Wüften in der duͤrren Zeit 
des Jahres; ohne daffelbe würden alle Gewaͤchſe verborren, alle 
Thiere dahinfterben. Aber gleich einer forgfamen Mutter, die ohne 
Aufhören in allen Räumen ihres Hauſes herummanbelt, bald 
hinab zu dem Keller, bald zum Speicher bes Oberbodens fleigt, 
um alle die Ihrigen mit dem, was ihnen noth thut, zu verfehen, 
ſtroͤmt das Waſſer der Erde in den Flüffen und Baͤchen hinab 
zu dem Meere, fteigt von da, nad) kurzem Verweilen, ald Dampf 
hinauf in die Luft, träufelt als Thau, ergießt fi als Regen über 
das durftende Land, fammelt fid auf dem Fühlen Gebirge oder 
auf dem waldigen Hügel zum Quell oder Bach, und rinnt, indem 
es feine nährenden Gaben rings umher vertheilt, von Neuem hinab 
zur Tiefe. Das Waſſer folgt dem Bergmann nah in feine Gru- 
ben, wie dem Kryftallgräber auf feine tahlen Berghöhen; denn 
eben fo mie die Luft allenthalben ins Waſſer eindringt und mit 
biefem ſich vermifcht, fo drängt fih das Waſſer, in Iuftiger Ge⸗ 
ftalt, in die Atmofphäre ein, und gibt ben Alpenpflanzen und 
Moofen des Hochgebirges in folder Fülle zu trinken, daß kaum 
die Mittagsfonne die perlenden Tropfen hinwegnimmt. Nur da, 
wo Fein Kraut mehr gedeihen, wo Fein durftendes Leben ſich mehr 
erhalten kann, in den kalten Höhen, dahin ſich nur Luftfchiffer 
und kuͤhne Gebirgsbefteiger erheben, feheint dad Waffer feiner haus⸗ 
mütterlihen Mühen und Sorgen entbunden, dort fommt es nur 
wenig bin, die Luft ift da wafferleerer als andermärt®. 

Wie im Schooße der Mutter, find im Waſſer die zarteften, 
feinften Thierarten verwahrt und geborgen: bie Polppen, welche 
bie Corallengebäude anlegen und die vielfahen Kormen der gallert- 
artigen Scheibenthiere (Duallen). Ueberhaupt darf man fagen, 





3. Das Bild einer guten Hausmutter. 5 


daß die unvolllommenften Anfänge des Thierreiches, aus denen 
gleihfam die höheren, volllommneren Geftaltungen der Lanbthiere 
erft ausgeboren werden, im Mutterfhooß des Gewaͤſſers bes 
ſchloſſen find. 

Waſſer giebt es freilich viel auf Erden, benn mehr ale brei 
PViertheile ihrer Oberfläche find vom Meere bededt, und Ströme 
wie Seen und Sümpfe finden ſich in den verfchiedenen Welttheilen 
und Ländern in großer Zahl. Dennod kommt diefes mwohlthätige 
Element den Landthieren, die nach ihm dürften, nicht fo von fels 
ber entgegen, wie die Luft, bie fie athmen, fondern e8 muß von 
ihnen oft in weiter Ferne und mühfam aufgefucht werden. Denn 
das dampffürmige Waffer, das in ber Luft fchmebt, ſtillt ihren 
Durft nicht, und das falzige Wafler des Meeres, welches ihn nur 
vermehren würde, ift meift für fie ungenießbar. Aber dazu hat 
ber Vogel feine Flügel, das vollkommnere Landthier feine rüfligen 
Füße empfangen, daß es mit Hülfe derfelben das auffuhen Tann, 
was ihm fehle, und in wenig Minuten ift die Schwalbe, die in 
den Selfenrigen des peträifchen Arabiens niftet, wenn fie der Durft 
treibt, bei der Lache angelangt, in der fich, von der Megenzeit her, 
noch einiges Waſſer verhalten hat; die Deerden der fchnellfüßigen 
afritanifchen Sazellen ziehen von einem Landſtrich zum anderen, 
dem Regengewoͤlk nach, wenn diefes jest hier dann dort feine Se- 
gensfülle ergießt, und jeden Morgen, mie jeden Abend finden fie, 
von der fernen Weide her, am Traͤnkplatze ſich ein. 

Biel anders, als bei den Thieren, verhält es fich bei den Ge- 
wächfen des Landes. Diefe können nicht von ihrem Drte hinweg, 
um nad) dem Waffer zu fuchen, fie müffen es abwarten, bis bie: 
fes ihnen felber entgegenfommt. Und dennody bedürfen fie des 
Waſſers noch viel mehr als die Thiere. Denn biefe finden zum 
Theil fchon in ihrem Futter Säfte, die ihren Durft zu flillen ver: 
mögen; ber Raubvogel im frifchen Sleifh und Blut der erbeuteten 
Thiere, der Stier und die Gemfe in den Stengeln und Blättern 
der Kräuter. Bei der Pflanze dagegen ift das Waſſer nicht bloß 
eine Zugabe zit Speife, fondern es ift für fie ein Hauptnahrungs⸗ 
mittel felber, wie für den Säugling die Muttermilh. Der zarte 
‚Säugling, ‚wie übel wäre er daran, wenn er feine Nahrung felber 
aufluchen müßte, er, der noch nicht flehen, noch gehen kann, ſon⸗ 
dern in feinen Windeln ed erwarten muß, daß die Mutter ihn 
traͤnkt. Und er darf nicht vergeblich harren; die Xiebe treibt feine 
Mutter mächtiger zu ihm bin als fein Hunger ihn zur Mutter. 

Gleich wie dem Säugling ergeht e8 dem Reiche der Pflanzen. 
Nicht nur das flüffige Waſſer des Bodens dringt, in ihre feinen 
MWurzelzafern ein, fondern wie die Milch dem neugeborenen Kinde, 
genügt .vielen Gewaͤchſen das dampfförmige Wafler, das neben 
der anderen Iuftförmigen Nahrung, in der Atmofphäre ſchwebt. 
Wie die Hausmutter ungerufen und von felber ihrem Säuglinge 
naht, fo kommt das Waſſer aus der Luft herab den Pflanzen 











6 4. Rebendige Wafferquellen. 


entgegen; wo viel Wald und reiches Grün iſt, ba giebt ed Quellen 
und Bäche, und das Regengewoͤlk zieht fi) am meiften nad) ber 
pflanzenreichen Gegend hin: wo aber der Menſch im unbedachtſa⸗ 
men Eifer feines Gulturtriebes oder aus Barbarei, die Hügel und 
Thäler ihrer Wälder und Gebuͤſche beraubt hat, da verfiegen Quellen 
und Bäche und das Land wird zur dürren Einöbe. 

So kann ſich felbft an der Pflanze, welche ohne Auge und 
Ohr, ohne jeden erfennenden Sinn für die Mutter, die ſich ihr 
nahet, nichts thun kann als nur Eräftig die Nahrung faugen, die 
fi ihr darbeut, die Liebe diefer Mutter nicht verläugnen: jene 
Fürforge, die all’ ihrer Gefchöpfe gedentt. Wie der Adler feinen 
ungen, fo lange fie noch unbefiedert und ſchwach im Nefte lie: 
gen, die Nahrung herbeiträgt, die fie nicht in eigener Kraft erfaflen 
£önnen, fo fendet Er, der allen ihr Wefen gab, feinen hülflofeiten 
Gefhöpfen das, was ihnen noth thut, zu feiner Zeit. Es heißt 
da mit Recht: . 

Der Starke für fi felber wacht, 
Den Schwachen nimmt der Herr in Adht. 


4. Die lebendigen Wafferquelien. 


As Nachtrag zu dem, was wir fo eben über die Gabe fag« 
ten, welche dem Gewaͤchsreich verliehen ift, das beiebende Waſſer 
felbft von oben, aus ber Luft anzuziehen und bdaflelbe in Saft 
und Kraft zu verwandeln, führen wir bier einige Beifpiele an, 
in denen es fich recht deutlich zeigt, wie jene unſichtbare Nahrung, 
die das Gewaͤchs empfängt, felbft für andere lebende Wefen zu 
einer fihtbaren Gabe ber Erquidung wird, 

In den heißen Küftengegenden von Sierra Leone giebt es ein 
Gewaͤchs, das an anderen ſich empormwindet, die Trinkgeſchirrſtaude 
(Tetracera potatoria), deren fid) die Bewohner des Landes als 
eines lebendigen Wafferbrunnens bedienen künnen. Denn wenn 
man bie frifhen Stengel oder Blätter diefer Pflanze durchfchneibet, 
dann fließt im reichlicher Menge ein klares, triftkbares Maffer 
heraus. An dem großen Waſſerquellbaum (Phytocrene gigantea) 
in Oftindien haben die dortigen Bewohner ein ähnliches fi von. 
felber füllendes Trinkgefaͤß und die gleiche Eigenfhaft wird noch 
an verfchiedenen anderen Gemächfen beobachtet. An den Blättern 
bes ſchlauchtragenden Mepenthes, der auf Ceylon und den Mol 
lucken wählt, finden ſich länglich fadartige Behältniffe, die mit 
einem lieblich ſchmeckonden, erfrifchenden Waffer gefüllt find. Sechs 
bis acht ſolche Schläude reihen hin, um ben Durft eines ſchmach⸗ 
tenden Mannes zu ftillen. Aus den jungen Zweigen einer brafie 
lianiſchen Caͤſalpinia träufelt ohne Aufhören Waffer wie ein Regen 
herunter. 

Am bewunderungsmwürbigften erfcheint das Vermögen, ben 
Wafferdampf der Luft in tropfbar flüffiges Waffer umzuwandeln, 


4. Zebendige Waſſerquellen. 7 


an einigen jener, von Saͤften ſtrotzenden Gewaͤchſe aus ber Fa⸗ 
milie der Fackeldiſteln, welche auf bürren Lavafelfen und auf ans 
berem Boden wachen, in welchem für ihre Wurzeln auch nicht ein 
Troͤpflein Feuchtigkeit zu finden ifl. Die melonenartigen Fackel⸗ 
difteln (die Melocacten) wachen und gedeihen in den heißeften 
Länderflrihen von Amerika. Wenn in der dürren Jahreszeit alles 
andere Grün bes Bodens verwelkt und erflorben ift, wenn die 
Thiere der Wildniß vergeblih nad Waſſer lechzen und weit ums» 
ber Fein genießbarer Tropfen zu finden ift, dann giebt es noch 
allein im Innern der Melocacten Waſſer im Ueberfluß. Das fleis 
fhige Gewebe ihres Stammes iſt von waͤſſerigem Safte ganz erfüllt 
und durchdrungen. Die Heerden ber vermwilderten Rinder unb 
Pferde wittern den Labetrunk und willen ſich ihn zu verfhaffen, 
indem fie, ehe fie den Mund nahen, zuerfi mit den Hufen die fes 
ften, fcharfen Stadeln, womit die Außenfläche der Melocacten 
bededt ift, hinmwegzuftoßen fuchen, wobei freilich manches der bur- 
ftenden Thiere auf lange Zeit hinkend wird, wenn ihm beim Ge- 
fchäft des Abpugens ein und der andere Stachel ins Fleiſch hin⸗ 
eindringt. Diefe Stacheln aber, die den verfhmachtenden Thieren 
fo laͤſtig und gefährlich find, fcheinen dem merkwürdigen Gewaͤchs 
beshalb verliehen zu fein, daß es mitten in der duͤrren Jahres⸗ 
zeit und auf dem duͤrren Boden, darauf es ſteht, nicht felber vor 
Mangel an Waffer verfhmachten und abfterben müfle, denn jene 
ſcharfen Spigen, bie wie kleine Gewitterableiter hervorſtehen, mös 
gen wohl für das Herbeiziehen und bei der Ausfheidung des at- 
mofphärifhen Waſſerdunſtes von mwefentlihem Nugen fein. 
Manche Gewaͤchſe können fogar durch die Befchaffenheit ihrer 
Säfte daran erinnern, daß fie Säuglinge der Natur find. Der 
amerifanifhe Hoahyabaum giebt, wenn man Einfchnitte in feine 
jungen Triebe macht, eine Klüffigkeit von fich, welche an Gefchmad 
und Beſchaffenheit fo ganz einer fetten Kuhmilch gleicht, daß man 
fie ald Rahm zum Kaffee oder Thee benugen kann. Auch in dem 
gemeinen Kuhbaum, weldyer zur gleichen Pflanzengattung gehört, findet 
ſich ein milhähnlicher Saft, der jedoch ſtatt bes burterigen Fettes einen 
wachsartigen Stoff enthält. Ohne alle Mühe empfängt der Menfch 
aus den Früchten der Delpalmen (Elais und Alfonfia oleifera) ein 
wohlfchmedendes Del, aus denen bes Butterbaumes geminnt man 
eine Butter, die gleich der Kuhbutter benugbar iſt; der bloße Saft 
vieler Palmen wird nad) wenig Stunden zu einem überaus las 
benden, gefunden, meinartigen Getränk, Wie der oben erwähnte 
Hoahyabaum den Freunden des Kaffees und Thees den Milchrahm 
zu ihrem Getränke barreicht, fo giebt es im heißeren Amerika ein 
anderes Gewaͤchs (die Lippia duleis), das aus feiner Oberfläche 
einen Zuder ausfondert, welcher fo vollkommen iſt, daß man ihn, 
ohne weitere Mühe damit zu haben, glei dem vaffinirten Rohrzucker 
benüsen könnte, wenn er eben fo leicht wie diefer zu haben waͤre. 
Zur Bereitung folder für Menſchen und Thiere geniefibarer. 


8 5. Das allgemeine Kofthaus. 


Stoffe, deren bas Gewaͤchsſsreich außer den eben genannten noch 
viel taufenderlei andere hervorbringt, bedarf bdaffelbe, wie wir dies 
weiter unten noch näher betrachten werben, keines anderen Mate- 
riales als des dunſtfoͤrmigen oder flüffigen Waſſers aus der Luft 
und dem Boden, fo wie weniger anderer ebenfalls in diefen beiden 
enthaltenen oder mit dem Waſſer vermifchten Elemente, unter de: 
nen das michtigfte der fpater zu befchreibende Kohlenſtoff ift, wel⸗ 
cher fih in der Form der Kohlenfäure im Brunnquell ber 
Tiefe wie in dem Luftkreis der Höhen überall findet. Mit unferer 
Kunft und Wiffenfhaft können wir fo etwas nicht nachmachen; 
wir koͤnnen uns nicht einmal, wie der Melocactus, mitten in ber 
dürren MWüfte aus der Luft eine Wafferquelle verfchaffen. Alle 
foihe Werke des Gewaͤchsreiches find ein Wunder der Schöpfer: 
kraft, und die Wiffenfhaft thut keine Wunder, Dan muß ba 
betennen: 

Wenn's dafteht, greift man’8 mit der Hand, 

Doch, wie ed kam, ift unbelannt. " 


5. Das allgemeine Kofthauß. 


Welche menfhlihe Anſtalt für Pflege und Bewirthung ber 
Säfte wäre wohl mit jener zu vergleichen, die unfer Schöpfer 
hier auf Erden für feine Gefchöpfe begruͤndet und angeordnet hat. 
In ihr werden in jedem Augenblid, bei Tage wie bei Nacht, Mil 
lionen ber lebendigen Weſen gefpeift und geträntt; mande Gäfte 
tommen fpdt, bie anderen früh, und immer ift es fo eingerichtet, 
daß die für Jeden beftimmte Speife gerade in dem Augenblide, 
wo er eintritt, fertig und bereit ſteht. Da fättigen fich die Großen 
wie die Kleinen, Starke wie Schwache, und felbft die Kranken fin 
den Alles, was ihnen zur Stärkung und Heilung dienen Sann, 
ganz nahe vor fi hingeftellt; noch ehe die Noth eintrat, ift ſchon 
für ihre Linderung geforgt. 

Was war alle Fülle an Salomo’8 Königshofe gegen die Fülle 
im großen Haushalt der Schöpfung, und doch wird in biefem 
nirgends Etwas verfchwendet; Fein Brofamen und Fein Tropfen 
des Genießbaren bleibt ungenüßt, für jede, auch die Eleinfte Gabe 
der Natur findet fi ein Abnehmer; was die Großen übrig laſſen, 
das kommt ben Kleinen zu Gute; was bie Einen von fich ftoßen, 
das nehmen bie Anderen mit Begierde auf; mas Senen zum Edel, 
oder ein Gift wäre, bas dient Diefen zur gebeihlichen Nahrung. 

Bei den Indiern, welche noch dem alten Gögendienft anhan⸗ 
gen, befteht der Gebrauch, daß Keiner, der nicht felber von ſolchem 
Priefterftande ifl, der Mahlzeit eines Brahminen (Brahmapriefters) 
zufehen, noch weniger aber mit diefem aus berfelben Schüffel effen, 
aus demfelben Becher trinken darf. So giebt ed auch auf unferer 
Erde eine Ordnung der lebenden Wefen, welche ihre Mahlzeit vor 
bem Auge der anderen Lebendigen geheim hält und welche aus einer 


5. Das allgemeine Koſthaus. 9 


Schäflel fpeift, aus ber die Anderen fi) niemals laben koͤnnen. 
Diefe Ordnung ift, wie wir eigentlich fehon in den beiden vorher 
gehenden Capiteln fahen, das Pflanzenreih. Sorgfaͤltiger noch 
als der Brahmine fein Eßzimmer vor neugierigen Blicken, verbirgt 
der Baum feine nahrungnehmende Wurzel in ber Tiefe bes Bo⸗ 
dens, und welches Auge eines Menfchen oder felbft eines fcharf 
blidenden Falten vermöchte ben dampfartigen Kohlenftoff oder den 
Waſſerdunſt ber Luft zu fehen, von welhem, mie mir fo eben 
fahen, die Fackeldiſtel fich nähre, wenn fie am bürren Felſenge⸗ 
ftein ihre faftvollen Blattlörper, ihre großen, fhönen Blüthen 
und ihre fleifchigen Früchte entfaltet. Auch verbietet es ſich von 
felbft, daß weder Thier noch Menſch mit der hohen Palme aus 
einer Schüffel ſich fättigen, denn keines von ihnen würde am Luft: 
hauch und Zhau des Himmels fowie am moberig feuchten Erdreich 
des Bodens ſich begnügen koͤnnen. Der Tiſch, an welchem das 
Pflanzenreich durch die mütterlihen Kräfte und Säfte ber Erde 
und des Sonnenlichtes gefpeift und geträntt wird, damit die Rebe 
ihren Wein, der Getreidehalm fein Waizenmehl und feine Gerfte 
gebe, ift und bleibe für Säfte unferer Art ein unzugänglicher und 
verborgener. 

Wohl aber ift unferem beobadhtenden Auge der Zutritt erlaubt 
zu den meiften Speifetifhen bed Thierreiches, und hier wird une 
die Einrichtung der großen Bewirthungsanftalt verfländlicher. Fuͤr's 
Erfte gilt e8 auch bier, daß den Kleinen ober ben Gebrechlichen, 
die nicht felber nach ihrem Futter gehen können, bie Speife zuge 
bracht und in den Munb gereiht wird. Dem jungen Vogel, ber 
noch ſchwach und unbefiedert im Neſte liegt, ermeift die Liebe der 
Eltern diefen Dienft; für folhe Thiere, welche der Pflege der El⸗ 
teen entbehren müflen und dennoch ſich nicht fortbewegen koͤnnen, 
forgt eine Liebe, welche mächtiger und alumfaffender ift als alle 
Liebe der Eltern. Die Aufter, gleich manchem anderen ihr ähnli- 
hen Mufchelthier,, figt an ihrem Felſen feitgebannt; fie hat weder 
Augen noch irgend etwas Anderes, das zu einem eigentlichen Kopf 
gehört, nichts ale einen Mund, der nad) Sutter verlangt und einen 
Leib, der genährt fein will, und dennoch braucht fie nur ihre Schaa⸗ 
len zu öffnen, um bald das zu empfangen, mas fie bedarf. Das 
Würmchen, woraus der Hafelnußkäfer kommt, würde übel daran 
fein, wenn es mit feinen Eleinen Fußſtummeln weit nad Futter 
gehen müßte, aber gleich jenem Knaben im Mährchen, der in 
einen Pfanntuchenberg eingefchloffen war, von defien wohlfchmeden- 
den Wänden er fich nad) Belieben fättigte und nährte, bis er fich bis 
an's Tageslicht hindurchgegefien hatte, ſitzt es mitten innen in dem 
füßen Kern und braucht nur anzubeißen, ohne babei von der Stelle 
zu gehen. Und in ähnlicher Weife ift den meiften Infektenlarven 
ihre Tages koſt unmittelbar vor den Mund hingeftellt, oder doch 
leicht erreichbar. 

Aber nicht blos bei den Thieren der fogenannten. niederen Ord⸗ 


10 5 Das allgemeine Koſthaus. 


nungen ift für bie Unbeholfenen die Anorbnung getroffen, baf ib 
nen die Hülfe von felber entgegentommt, fondern auch für bie 
Thiere von volltommnerem Bau, wenn fie fchlecht zu Fuße ober 
durch andere Urfachen gehindert find, fih ihren Lebensunterhalt fo 
leicht wie andere Thiere zu erwerben, giebt es Reichenfpitäler und 
Verforgungspläge, wo ihnen ihr Fortkommen erleichtert wird, Das 
Faulthier ift unten am Boden ein fchlechter Fußgänger und müßte, 
wenn es da feiner Nahrung nachgehen follte, Hunger und Kum⸗ 
mer leiden. So aber find ihm die bichtbelaubten Bäume, auf denen 
es mit feinen langen Klauen ganz bequem fich fefthalten und her⸗ 
umklettern Tann, zum Invalidenhaus angemwiefen, morin ihm bie 
Fülle der Blätter, die ihm zur Nahrung bienen, reichlich genug 
in den Mund waͤchſt. Der Ameifenbär oder Tamandua mag zu 
feiner Koft weder Baumblätter noch Früchte, er bedarf der Ins 
fecten. Aber was follte aus ihm werden, wenn er jenem behen⸗ 
ben Thierlein mit feinen unbeholfenen, langklauigen Füßen nach⸗ 
laufen muͤßte? Doch aud für dieſen Invaliden find mitten in 
der Einöde nicht nur einzelne, fondern gar viele Tifche gedeckt und 
fo reichlich mit Speife befegt, daß er nur zulangen darf, um ſich 
mit leichter Mühe fatt zu effen. Diefes find die Ameifenhaufen, 
die er mit feinen langen Klauen aufgräbt, dann feine klebrige 
Zunge unter das Gemwimmel ber Beinen, fleeitluftigen Thiere hin- 
einfteddt und wenn biefelbe nach wenig Augenbliden ganz did von 
Ameifen befegt ift, fie hineinzieht in den Mund und ben lebendi- 
gen Biffen, der übrigens darinnen ſogleich zu leben aufhört, hin⸗ 
abſchlingt in den Magen. 

Selbft unter den Vögeln, die doch außer ben Füßen auch 
noch ihre Flügel zur Fortbewegung haben, wird, je nach Beduͤrf⸗ 
nis, Manchen der Erwerb ihres Unterhaltes auf eine recht auffal- 
lende Weife erleichtert, Wie bequem ift zum Beifpiel dem Reiher, 
ber viel bedarf und im Vergleich mit der Löffelgane nur menig 
Geſchick dazu bat, fein Fiſchfang gemaht, wenn fih, fobald er 
in das Waſſer eines Teiches hineintritt, die Beinen Fiſche, für 
welche die natürlichen Ausfonderungen dieſes Vogels eine Lodfpeife 
find, ſchaarenweiſe um feine Füße verfammeln, unb fi dem eß⸗ 
Iuftigen Gaſte von felber darbieten. 

Einer eigenthümlihen Begünftigung genießen auch, für ihren 
Lebensunterhalt die bei Naht oder in der Dämmerung auf Nab- 
rung ausgehenden Thiere. Die Fledermaus hat nur wenig Zeit 
zu ihrer Sagd, denn bie Zeit der langen Winternächte verfchläft 
fie und im Sommer, wenn fie für fih und ihre Jungen das 
Meifte bedarf, find die Nächte nur kurz. Aber ihre nächtliche Jagd 
ift dafür auch viel einträgliher als die der anderen infectenfreffenden 
Thiere, bie am Rage auf Beute ausgehen. Denn in den Zeiten 
der Dämmerung unb bes näcdhtlihen Dunkels giebt es bie fetten, 
woblbeleibten Braten der großen Daͤmmerungs⸗ und Nachtſchmetter⸗ 
linge, fo wie der Maikaͤfer und anderer ähnlicher Käfer. Die Nacht⸗ 


5. Das allgemeine Kofthaus, 11 


eule, deren Revier während bes Tages von manchem anderen Raub⸗ 
vogel durchſucht und ausgebeutet ift, kommt freilich erſt dann, 
wenn die anderen Säfte abgefpeift und fi nad Haufe begeben ha⸗ 
ben. Dennoch ift auch auf diefen fpäten Gaſt noch Bedacht ge 
nommen und ihm, beffen Blick nicht fo weit wie ber des Falten 
in die Ferne reicht, find auf den nachbarlichen Feldern und Wiefen 
bie beſten, kraͤftigſten Biffen in folher Menge aufgefpart, daß für 
ihn die kurze Zeit der Dämmerung zur Sättigung und Verforgung 
feiner Jungen hinreiht. Denn gerade dann, bei Anbrud der Nacht 
und beim Grauen bed Tages, oder bei Monblicht geht das zartefte 
MWildpret der Auen: das Heer ber Feldmäufe aus feinem Bau her⸗ 
vor auf die Weide, und wird dem Käuzlein zur leichten Beute, 
während ber große Schuhu mit gleihem Gluͤck auf die Jagd ber 
wilden Kaninchen und Hafen, ja felbft der jungen Rehe ausgeht. 

Es ift freilich nicht der hörbare Ton einer Glode, der bie 
Säfte zur beftimmten Stunde an ihren Tifch, zur bereiteten Mahl⸗ 
zeit ruft, aber der Ruf, der alle Thiere dahin führt, wo für ihre 
Sättigung geforgt ift, muß ein ungleich mädhtigerer fein, als jeder 
unferen Sinnen vernehmbarer, denn er bringt weit über Meere 
und Länder durch alle Regionen ber oberirdifhen Schöpfung. Er 
wird auch von den Thieren nicht durch die gewöhnlichen dußer- 
lichen, fondern durch einen anderen, inneren Sinn vernommen (nad) 
Gap. 7). Denn obgleich der Wandervogel Augen hat, welche 
weit in die Ferne ſchauen, dabei ein fcharfes Gehör und feinen 
Seruh, können dennoch feine gefunden Sinne ihm menig oder 
nichtö helfen, wenn jest die Winterkälte herannaht, die von feiner 
Heimath Alles hinwegnimmt, was ihm zum Lebensunterhalt nöthig 
ift. Wenn er fi auch auf den Gipfel des hoͤchſten Baumes oder 
des Selfene am Strande fegt und meit hinausblidt über das 
Meer, kann er doc das Land nicht fehen, das ihm zum Minter: 
aufenthalt dienen fol, Der Trieb zum Wandern ergreift auch ben 
Vogel im wohlverwahrten Käfig, mo er von ber herbftlihen Ab» 
tühlung der Luft und von der Abnahme der Nahrungsmittel nichts 
zu leiden hat, mit fo unmiberftehlicher Macht, daß er bei Tag wie 
bei Nacht Feine Ruhe hat; der junge Kukuk, der feine eigentlichen 
Eltern niemals gefehen hat, fliegt, fobald er der Haft, in welcher 
ihn der Menfc hielt, enttommen kann, vom Wanbdertrieb geführt, 
auf geradem Wege gen Süden, in ein wärmeres Land. Allerdings 
geht biefer Zug zu dem Gaftmahle, das in ber Sremde auf bie 
MWanderer wartet, in ungemein viel weitere Sernen als der Zug, ber 
den Mund der feftfigenden Aufter zu feiner Nahrung, und diefe zu 
ihm leitet; aber der Vogel wie die Aufter folgen hier beide blind- 
linge einem Rufe, der kein anderer ift als jener fehöpferifche, wel⸗ 
cher fie entftehen hieß und ins Leben rief. 

Mas die verfchiedenen Gerichte betrifft, womit im großen 
Haushalt der Natur die einzelnen Arten der Zhiere bewirthet wer⸗ 
den, fo find diefe Speifen ihrer Befchaffenheit und Zubereitung 


12 5 Das Allgemeine Koſthaus. 


nad) eben fo mannichfach als die Gäfte, welche fie genießen. Nas 
mentlich den Thieren, welche auf dem Lande leben, iſt zunaͤchſt 
und im Allgemeinen das Gewaͤchsreich zu ſeiner Erhaltung ange⸗ 
wieſen. Denn, wenn es keine Pflanzen gaͤbe, dann wuͤrde es gar 
bald auch jenen Thieren, die ſich vorzugsweiſe vom Fleiſch ber 
Pflanzenfreffer nähren, an Unterhalt fehlen. Die Pflanzen vor 
Allem find e8, welche die Kräfte und Säfte des Lebens," die fie aus 
ihrem geheimnißvollen Mahle (nah S. 9) empfingen, den Le 
bendigen von thierifcher Natur mittheilen, und nicht nur auf dem 
Lande, auch im Meere hat bag Gewaͤchsreich, in ber Form der 
Zangarten ober Seegräfer, diefe Beflimmung für das Thierreich. 

Die Pflanzen, fobald fie nur in dem ihnen angemefienen 
Element, im Waffer oder an der Luft fein können und den Grad 
der Wärme mie des Sonnenlichtes genießen, der ihnen zuträglich 
ift, finden überall, was ihnen zur Erhaltung nöthig if. Denn das 
Waſſer und die anderen Grundftoffe der Luft und des Bodens, 
welche den Gewächfen zur Nahrung dienen, find überall diefelben, 
in Norden wie in Süden, in Oſten wie in Welten, und es ift. ba- 
bei feine meitere Zubereitung nöthig als die, welche das Sonnen- 
licht und die Wärme bewirken. Andere Anforderungen an die Be⸗ 
fchaffenheit der Nahrungsmittel maht das Thierreih,. Faſt jebe 
Art deſſelben will die Gerichte, bie es genießen fol, erſt auf eine 
befondere Weiſe zubereitet haben, entweder in den Gefäßen und in 
der Küche eines Pflanzenkörpers oder eines Thierleibes. Setzte 
man ung Menfhen oder felbft den Hunden und Schaafen ftatt 
des gewohnten Mittagseffens eine Suppe vor, bie aus Waſſer 
und aus ben Stoffen, die fi) im moberigen Erdreich und in ber 
Luft (ald Kohlenftoff und Stickſtoff nad Cap. 24) befinden, zu 
fammengebräut wäre, wir alle drei, der Menſch, der Hund und 
das Schaaf würden nicht zulangen mögen und bei ber vollen 
Schüffel verhungern. Wenn aber die nämlichen Stoffe im Körper 
der Pflanzen zu Blättern und Stengeln des Grafed und Klee, 
zum mehligen Knollen des Kartoffele, zu Körnern des Waizens 
oder zur fonfligen Frucht des Weinſtockes und Obſtbaumes ausge⸗ 
kocht, oder wenn ſie im noch weiteren Fortgang der Verfeinerung 
im Magen, etwa des Rindes zum Blut und Fleiſch, zu Milch 
und Kaͤſe geworden find, dann finden ſich Schaaf, wie Hund und 
Menſch zufriedengeftellt. 

Und wie wir died noch fpäter deutlicher fehen werden, das 
Thierreih, wenn es fo bei und an dem Pflanzenreich zu Gaſte 
geht, nimmt feine Koft nicht umfonft dahin, fondern bezahlt 
feine Zeche reihlih. Freilich mit einer Münze, die nur für den 
Empfänger, nit für den Geber einen Werth hat, weil fie 
diefem — dem Geber — nicht nur noch viel mwohlfeiler zu flehen 
kommt, als dem Europaͤer die Glasperlen oder Seefchneden- 
häushen, womit er dem Neger feine Fruͤchte und feine Hühner 
bezahlt, fondern weil fie für ihn eine Laft iſt, unter welcher er 


5. Das allgemeine Koſthaus. 13 


erliegen muͤßte, wenn fie ihm nicht abgenommen wuͤrde. Diefe 
Loft ift die Kohlenfäure, die das Thier bei jedem Athemzug 
aushauden muß, wenn es nicht erfliden fol. Und gerade das, 
was das Thier in diefem Iuftartigen fo wie in anderer Form von 
fih ftößt: den Kohlenftoff, nimmt die Pflanze ale unentbehrliche 
Nahrung zu fih. Doch von diefem für unfere Wahrnehmung wei⸗ 
ter abgelegenen Bediententifche des Pflanzenreiches kehren wir tie: 
ber zu der uns näher ſtehenden Herrentafel des Thierreiches zurüd: 

Biele Arten, namentlid der unvolllommneren Thiere, be 
gehren immer nur ein und baffelbe Gericht, wie etwa bie Blätter 
und Früchte biefer oder jener Pflanzenart und nur nothgebrungen 
fuchen fie ihre Sättigung an einem anderen Gewaͤchs, in welchem 
‚ähnliche Säfte bereitet werden als in ihrem Lieblingsgericht ſich 
finden. Andere Thierarten find hierin von vornehmerem Geſchmack, 
fie lieben und fuchen die Abwechslung mehrerer Gerichte, nehmen 
ihr Futter aus den verfchiedenften Familien der Kräuter, die auf 
Wiefen und Feldern wachſen, und der Menfch verlangt neben den 
vielerlei Gemüfen, Körnern und faftigen Fruͤchten, die ihm zur 
Erquidung dienen, öfters auch noch eine Zuthat von thierifcher 
Natur: Fleiſch wie Milch und Eier. 

Bei der Befriedigung folher mannichfachen Gelüfte kann es 
fi) freilich der Menſch ſehr Leicht machen, er benugt nicht nur 
andere Menfchenhände dazu, daß fie für ihn fammeln, kochen und 
baden, und ber gebildete Europäer empfängt aus allen Weltgegen- 
den ſolche Gaben ber fremden Hände, fondern auch die Xhiere 
müffen dem Menſchen das berbeifchaffen helfen, was er für Küche 
und Vorrathskammer begehrt. Für ihn jagt der Falke in den 
Lüften, ber Cormoran, dem dabei ein metallener Ring um den 
Hals gelegt wird, bamit er bie Beute nicht felbft verfchlinge, fängt 
für ihn Sifche, der Hund treibt ihm die Beute bes Wildprets her- 
bei und fucht ihm die im Boden verftedten Trüffeln, die Biene 
muß ihm einen heil ihres Honigvorrathes,. der Eleine vierfüßige 
Kornmwucherer, der hartherzige Hamfter feinen Sruchtfpeicher ab⸗ 
geben. Aber nicht nur der Menſch, auch das Thier made ſich 
bin und wieder fein Leben dadurd, bequem, baß es andere Xhiere 
für ſich kochen oder doch arbeiten und fammeln läßt. Die Heer⸗ 
den ber Blattldufe figen an der zarten Rinde, an den Blättern 
und Blüthenhüllen mancher Pflanzen wie auf einer grünen Weide, 
und faugen fo emfig, daß ihr zarter Körper, gleich dem Euter ber 
Milchkuͤhe auf einer Fruͤhlingswieſe, von Säften anſchwillt. Diefe 
Veberfülle tommt dann den Ameifen bei der Ernährung ihrer Brut 
wohl zu ftatten, diefe berühren leiſe mit ihren Munbtaftern die 
beiden Röhrchen, welche am NRüdenende der Blattläufe figen und 
alsbald ergießt fih die nährende Slüffigkeit in den Mund der 
Sammlerinnen und wird von diefen den hungernden Pflegelindern 
überbracht. Es giebt fogar unter den Ameifen folche, welche mie 
dee Menfh, Amelfen. von anderer: Art (gleichfam von anderem 


14 5. Das. allgemeine Kofthaus, 


Stand) in ihre Dienfte nehmen, diefe für ſich arbeiten, bauen, 
fammeln laffen und ihnen ſelbſt die Pflege Ihrer Jungen übertra- 
gen. Nimmt doch der füdafrikanifhe Honigkukuk fogar den Men- 
fhen zu Hilfe, um ſich durch diefen die verfchloffenen Schatzkam⸗ 
mern der wilden Bienenfhmwärme eröffnen zu laffen, Auch unter 
ben Vögeln, die fi) vom Fleifh der Fiſche nähren, giebt es folche, 
welche ſich mit dem Fange felber nur wenig abgeben, fondern die- 
ſes Gefhäft anderen Waflervögeln überlaffen, denen fie die gewon- 
nene Beute, felbft wenn biefe fhon in den Kropf eingebradht war, 
gewaltfam wieder abzmwingen. 

Solche Ausnahmen, bei denen das eine Thier fidy den Ueber: 
fluß oder die Kräfte des anderen zu Nuge macht, um ſich feine Koft 
zu verfhaffen, bringen übrigens keine Störung in jener wunder⸗ 
vollen Ordnung hervor, melche in ber großen, fhönen Pflegean- 
flalt der Natur herrſcht. Da ift jedem ber Säfte fein befonderer 
Tiſch wie feine befondere Eſſenszeit beflimmt; während die langhal- 
fige Giraffe ihr veichliches Futter in ber Höhe, an den Blättern 
und Zweigen der Akazienbäume findet, nährt fich die zarte, fluͤch⸗ 
tige Gazelle von den Kräutern, welche nebenan, unten am Boden 
wachfen. Für dieſe grünen die faftigen Blätter der hochwuͤchſigen 
Bäume vergebens, fie kann fie nicht erreichen, für die Giraffe da- 
gegen wäre das Nieberbüden zum Graswuchs des Bodens eine 
faft unerträglihe Laft, waͤhrend ihrem hochgeftellten Kopfe, der 
bis in das Laubdad der Bäume hineinragt, auch noch die lange 
Zunge zu Hülfe fommt, mit welcher das Thier, wie mit einer 
ausgeftrediten Hand, die höheren Zweige zum Munde herabzieht. 
Wie ungeflört von anderen Bäften nimmt der Schneeammer, der 
uns zuweilen im Winter befucht, feine Mahlzeit zu fi, wenn er, 
dem Rufe feines Zriebes folgend, im Sommer hinmwegzieht zu den 
Meerestlippen der fernen Polargegend, auf denen in ber Zeit bes 
dortigen kurzen Sommers ein Hirfegras gruͤnt, blüht und feine 
Körner zur Reife bringt, für welches die Schaaren der Schneeam- 
mer faft bie einzigen Abnehmer ihrer Klaffe find. Wenn ben 
Kreusfchnabel, nicht etwa, wie man für manche Wandervögel dies 
annahm, der warme ihm entgegentommende Lufthauch, oder ein 
Duft, ber auf feinen Geruchsſinn einwirkt, fondern ein in ber Tiefe 
feines eigenen Weſens fich regender Trieb mitten im Winter von 
ferne her in bie heimathlihen Fichtenwälber führt, wo jegt bie 
Saamen, noch verfchloffen in den Schuppen ber Tannen⸗ ober 
Fichtenzapfen, zur Reife kamen, dann ift er auch, in folcher Jahres: 
zeit, faft der einzige Koftgänger an feiner Tafel. 

äbe es nur neben folchen harmlofen Gäften, denen bie 
Weberfülle des Pflanzenreiches zu ihrem Unterhalt angemiefen tft, 
Seine Raubmörber, welche nicht etwa nur zu derſelben Schüffel fi 
berzudeängen und dem Gafte einen Theil feiner Mahlzeit, fondern 
welche ihm feine Eier, feine Jungen, ja das Leben felber nehmen. 
Dem Schneeammer und feiner-Brus ſtellt in ber Nähe des Polar 





5. Das allgemeine Kofthaus. 15 


eife® ber nordifche Falke, dem Kreuzfchnabel der Marder, der Gir⸗ 
affe ber Löwe nad; allenthalben geht von ben fleifchfreffenden 
Thieren Krieg und Kriegögefchrei aus. Und dennody gehört auch 
diefed zur Ordnung bed großen Haushaltes. Denn. abgefehen da⸗ 
von, daß ein großer Theil der Lebendigen, welche an der Tafel des 
thierifchen Fleiſches zu Gaſte gehen, nur das Abgeftorbene, das 
Todte und Vermefende zu ihrer Nahrung wählen, muͤſſen die Fa⸗ 
milien der Raubthiere die Stelle der Damme und Schugmauern 
gegen jenen anderen Theil ber Thierwelt vertreten, in welchem eine 
Ueberfülle des Wachsſsthums und ber Fruchtbarkeit waltet. Eben 
fo wie die Damme das Weberfluthen ber Ströme und Meeres 
wogen über das niebere Land verhüten, find auch die Raubthiere 
den Auen und Seldern fo wie der ganzen oberirdifhen Natur als 
Schug: und Grenzwaͤchter aufgeftelt. Das einfeitige Anwachfen, 
hier ber einen, dort der anderen Art der Kormen und Geftalten, 
wird dadurch im rechten Maaß gehalten, daß immer zur rechten 
Zeit und am rechten Orte ein verzehrendes Thier ſich einfinbet, 
welches wie das Käuzlein und feine an demſelben Tiſch zu Gaſte 
gehenden Gehülfen der übermäßigen Vermehrung ber Feldmäufe 
ihre Graͤnzen fest. 

Bei einem Tempelbau, weldyen die Menfchen begründen unb 
aufführen, werben die Stein= oder Holzmaflen, die zu Werkſtuͤcken 
beftimmt find, von Menfchenhand behauen und jedem einzelnen 
wirb babei die feft abgegränzte Korm gegeben, in welcher es an 
die anderen Theile des Baues angepaßt und angefügt werden foll. 
Das eine Werkſtuͤck wird von diefem Ort des Felſens oder Waldes, 
das andere von jenem Ort genommen, das eine bier, das andere 
dort bearbeitet und zugehauen, und wenn die rechte Zeit kommt, 
werben beide durch menfchliche Kraft auf den gemeinfamen Bau⸗ 
plag zu einander bingeführe und durdy menſchliche Kunft zuſam⸗ 
mengefügt. Ganz anders ift biefes bei dem großen, hehren Tem⸗ 
pelbau ber fihtbaren Schöpfung, ber in feiner beftändigen Wieber- 
erneuerung ohne Aufhören es bezeugt, daß der Meifter des Baues, 
der diefen im Anfang der Weltzeit begründete, noch lebe, und in⸗ 
mitten Seines Werkes thätig fei. In diefem großen Baue behauen 
und bemefien die Werktüde ſich felber, indem ber Efjer der Ueber- 
fülle deſſen, was er verzehrt, feine Gränzen fest; fie felber erheben 
ſich von ihrem Ort und fügen ſich nach weislich beftimmtem Plane 
zufammen, weil das, was an dem todten Stein ald Zug der Schwere 
fih tund giebt, an ihnen ein Zug des einzelnen Lebens zum Ge 
fammtieben bir Natur geworden iſt. Denn ber Stein, fobald er 
von feinem Ruhepunkt hinweggehoben mworben, fällt oder rollt fo 
lange hinab, bis er bie Ruhe, in feinem Zufammenfein mit bem 
Erdgangen wieder gefunden hat; fo geht auch das Bewegen ber 
Lebendigen unaufhaltſam dahin, daß jedes Einzelne die Stellung 
finden möge, welche ihm in ber Mitte der Schöpfung zu feiner 
Ernährung und Erhaltung angemwiefen iſt. Namentlich felbfi bei 


16 6. Das Heimweh. 


den Aeußerungen des Triebes, der das Thier zu der bereiteten 
Speiſe immer zur rechten Zeit und am rechten Ort hinfuͤhrt, moͤ⸗ 
gen wir erkennen, was ber Duell der Luſt und ber Freude des Le⸗ 
bens fei. Es ift, als ob jedes lebendige Wefen, in dem Augenblid, 
da e8 fo zu feinem Biele geführt wird, die wohlthuende Nähe feines 
Schöpfers empfände, der feine milde Hand aufthut und fättiget 
Alles was da lebet, mit Strömen voll Wohlgefallen. 

Wenn wir diefe fo wie alle anderen Züge von ber weislichen 
Zufammenfügung des großen Baues ber fihtbaren Welt der Le 
bendigen recht bedenken, dann ftellt fih uns der Mangel, an 
welhem nad) Cap. 1 jedes einzelne Leben leidet, noch in einem 
anderen Lichte dar. Allen Einzelnen fehlt Etwas, aber es befommt 
ihnen gut, daß ihnen etwas fehlt, denn der Mangel, das Be- 


dürfniß, daran fie leiden, bewegt fie, als ein Zug der Eräftigen' 


Dinneigung zu der Hand hin, bie mit ihrem allmädhtigen Walten 
Alles umfaßt und zufammenhält; bringt fie, ein Jedes nad) feis 
nem Maaße, in eine Art von Umgang ihres Weſens mit der Kraft 
und Liebe des Schöpfers felber. In einer freilih nur vorbildlichen 
Meife giebt fi hierbei felbft an den thierifhen Seelen etwas 
Aehnliches kund als für den Geift des Menfhen in dem Sprüdy 
wort ausgedrüdt ift: „Die Noth lehrt beten.“ 


6. Das Deimmeh. 


Menn ber Stein oder irgend ein anderer todter Körper von 
dem Orte, da er ruhete, binweggetragen, und dann an einem 
anderen, vielleicht weit entfernten Orte in Bewegung gefeht wird, 
dba beharrt er im biefer Bewegung fo lange, bis er wieder einen 
Halt: und Ruhepunkt. gefunden hat. Für den Zug der Schwere 
bleibt ed übrigens gleichgültig, ob der Ruhepunkt nahe oder fern 
von dem Zelfen ift, aus welchem der Stein gebrohen war, ob er 
am Grund eines Sees, ob er auf, der ihn anfaflenden Menfchen- 
band, oder unmittelbar an ber feiten Oberfläche der Erbe ſich finde; 
der Stein wird niemals durch eigene Kraft zuruͤckkehren zu dem 
Ort, daber er kam. 

Etwas ganz Anderes ift es bei jenen lebendigen Wefen, welche 
duch inmohnenden Zrieb und durch eigene Kraft hinweggehoben 
werden von dem Drte, da fie entitanden find und fortgeführt in 
weite Fernen. Der Lachs wird weit von den Mündungen ber 
großen Ströme und von ber Meerestüfte in dem frifhen Süße 
waffer der Baͤche und Flüffe, in der Nähe ihrer Quiellen geboren. 
Dort findet er, wenn er aus dem Ei hervorgeht, für ‚die erſte Zeit 
feines Lebens das zuträglichfie Element und die paffendfte Nah⸗ 
rung. Sobald er etwas größer wird und erflarkt, verläßt er diefen 
Geburtsort, ſchwimmt ftromabwärts und geht an ber Seeküfte fo 
wie tiefer im Meere feinem räuberifhen Gewerbe — dem Fange 
der anderen Waſſerthiere — nad). Wenn fich aber die Zeit naht, mo 


6. Das Heimweh. 17 


er gebaͤren ſoll, da laͤßt ihm der Zug zur Heimath, mitten in der 
Fuͤlle der Nahrung, die ihn umgiebt, keine Ruhe mehr; die eier⸗ 
legenden Weibchen, in Begleitung der. Männchen, ſchwimmen ſchaa⸗ 
venmweife in den Steömen und ihren Nebenflüffen hinauf, um an 
dem Orte, wo fie felber aus dem Ei hervorgingen, auch ihre Brut 
ing Leben einzuführen Wenn man ein Weibchen an der Stelle, 
da es laichte, fängt, und ihm ein Zeichen an eine feiner Floſſen 
madıt, kann man fi davon Überzeugen , daß der Wanbertrieb es 
alljährlich wieder zu derſelben Stätte führt, und wenn man bie 
Eier, welche daſſelbe abgefegt hat, aus dem Waſſer herausnimmt 
und fie in einem Gefäß vol Waſſer an einen anderen Drt, in einen 
ganz anderen Fluß bringt, in welchem man vorher noch keine Lachſe 
bemerkt hatte, dann ift hiermit der Grund gelegt zu einer allmäh- 
ligen Bevoͤlkerung des neuen Standortes mit Lachſen. Denn ob- 
gleich die Fiſche, bei zunehmendem Wachsthum, ihren Geburtsort 
verlaſſen und in weiter Entfernung davon ihren gewöhnlichen Auf: 
enthalt nehmen, kehren fie dennoch, wenn fie zum Gebären eines 
neuen, jungen Geſchlechtes ihrer Art reif ſind, alljaͤhrlich dahin 
zuruͤck, wo ſie ſelber jung geworden. Und ſo weiß man es von 
alten Fiſchen, welche zur Zeit des Laichens eine gewiſſe Gegend am 
Ufer aufſuchen, daß fie alljaͤhrlich zu demſelben Orte — der Staͤtte 
ihrer eigenen Geburt — zuruͤckkehren. In ſolchen Faͤllen ſcheint 
allerdings der Trieb des Wanderns nach der Heimath einen An⸗ 
haltspunkt und leitenden Faden in der Erinnerung der thieriſchen 
Seele zu haben, denn ber ältere Lachs kehrt auf demſelben Wege 
nach der Heimath zurüd, auf welchem er aus diefer hinwegzog. 
Aber auch ohne ſolch' einen leitenden Saben kommt der Zug, ber 
die beiden Enden der Michtung des Lebens verknüpft und den 
Auslauf in die Weite wieder zu feinen Anfangspunft zurüdführt, 
zum beflimmten Biel. Eine Seefhildfröte war bei der Inſel As⸗ 
cenfion gefangen und zu Schiffe gebracht worden; man hatte fie 
an ihrem Bruftfhild durch eingebrannte Buchſtaben und Ziffern 
bezeichnet. Sie ſollte mit nach Europa gefuͤhrt werden. Da ſie 
aber auf der Fahrt krank wurde und zuletzt dem Tode nahe ſchien, 
warf man ſie im brittiſchen Kanal ins Bag Zwei Jahre darauf 
wurde dieſelbe Schildkroͤte, jetzt bei friſcher Geſundheit, in der Naͤhe 
ihrer alten Heimath: bei der Inſel Ascenſion wieder gefangen. Sie 
hatte, gefuͤhrt vom Zuge des Heimwehes, durch bad Gewaͤſſer hin- 
durch einen Weg von mehr denn 800 Meilen gemacht. Ueber zum 
Theil eben ſo große oder nicht viel geringere Raͤume dehnt ſich der 
Reiſeweg der Wandervoͤgel aus, und dennoch kehren ſie alle, zur 
Zeit der Paarung, in die Gegend zuruͤck, wo ſie ſelber geboren 
wurden und legen in der Naͤhe des Neſtes, in welchem ſie ſelber 
aus dem Ei kamen, das Neſt fuͤr ihre Jungen an. 

Nicht blos aus ganz anderen Ländern und Himmelsſtrichen, 
ſondern auch aus ganz verſchiedenen Elementen kehrt der weit aus⸗ 
laufende Kreis des thieriſchen Lebens wieder zu ſeinem Anfangs⸗ 


2 





18 6, : Das Heimweh. 


punkte zuruͤck. Die Libelle wie die Singmutke find im Waller aus 
dem mütterlihen Ei hervorgegangen und haben die eeſte Zeit ihres 
Kebens im Waſſer zugebracht. Später find Fe zu Bewohnern ber 
Luft geworden und haben die Luft und Freiheit des geflüigeiten Zu⸗ 
flandes genoffen. Dennoch Eehrt bie Mutter, wenn fie ihre Eier 
legen muß, ans Waſſer, fo wie das Weibchen bes Maikäfers vom 
Mipfel der hohen Eiche zu dem Boden bes Feldes zuräd, worin 
ed felber jung gemwefen, und auch der Laubfroſch verläßt fein gruͤ⸗ 
nendes Haus, um feine Brut an ber Stätte, da er felber and Licht 
trat — ins Waffer zu bringen, Umgekehrt wagt: fid bie unbe 
holfene Seeſchilbkroͤte, in ber Zeit bes Gebärens heraus aufs Land, 
um ihre Eier in das fonnigs warnte Sandbette zu legen, in wel 
chem fie felber geboren werden. Der Schmetterling, der in feinen 
fhönen Tagen von Blume zu Blume fchwebte und ihren Honig 
faugte, fucht dennoch, wenn feine Zeit kommt, die unfcheinbare 
Neſſel auf, um feine Eier an die Blätter zu legen, aus denen er 
feine erſte Nahrung empfing. 
In etwas veränderter Form tritt der Bug, ber die Lebenbigen 
an einen gewiflen Wohnort Eettet, bei jenen. Säugethieren auf, 
welche der Menfh in feine Zucht und Pflege genommen hat. Au 
bei biefen ift es zwar öfters die Gewoͤhnung an einen beſtimmten 
Weideplas oder Stall, welche fie aus weiter Ferne wieder herbei- 
zieht, oder welche die Kühe, wenn fie von dem ſchoͤnen Sommer 
aufenthalt auf den Alpen in die Nähe des heimathlichen Dorfes 
kommen, freudig blöden und fpringen macht. Auch mag bie 
Gewoͤhnung an die Gefelfchaft ihrer eigenen thierifihen Genoſſen 
dabei zumellen fo mächtig wirken, daß jene Ziege, welche der menſch⸗ 
lichen Obhut entlaufen, einige Jahre das freie Leben der Gemſen 
genoffen Hatte, dem Buge zur alten Geſeuſchaft und dem gewohn⸗ 
ten Stalle nicht widerſtehen konnte, als einft bie Heerde Ihrer 
vorigen Gefährsinnen, mit dem Gelaͤute der Halsgloͤckchen, an Ihr 
vorüberzog. Dennoch giebt ſich in vielen anderen Fällen an dem 
vollkommenen Säugethier eim tieferer Grund des Heimwehs zu er 
kennen. Es ift nicht allein die Krippe, es Hit die Krippe. feines 
Heren, nad deren Nähe das edle Roß ein Verlangen trägt, und 
der treue Hund eilt, ber Gefangenſchaft entkommen, viele Tag: 
märfche weit, nicht zue Wohnung feines Herrn, fordern zu diefem 
felber zuruͤck, an beiten Perfon er durch liebende Dankbarkeit ge- 
bunden iſt. So mag bei allen Lebendigen das Mefen jenes Zuges, 
der fie zu dem Mohnort der Eltern oder zu ber Stätte, ba ihr 
Reben auch ohne- Vermittlung ber Eltern feine erſte Pflege em⸗ 
pfing, zurüdführt, mit den Negungen verwandt fein, bie fich in 
der Seele des Menfchen zur Dankbarkeit und Liebe geſtalten. 
Er felber, der Menfh, kann auch in manchen Sällen einem 
Heimweh nach dem Aufßerlichen Ort dee Geburt, nach dem Auf 
enthalt feiner erften Kinderjahre unterliegen. Dennoch iſt ee von 
diefem Buge, ber ihn an bie leibliche Helmath kettet, ungleich 


T Der Suftinet. 19 


weniger gebunden als ale Lebendige feiner Sichtbarkeit. Vielmehr 
zieht er, feiner leiblichen Meigung nach, gleich der Wanbertaube, 
jenen Orten des Verweilens zu, wo für feinen Lebensunterhalt und 
Nothdurft am reichlichſten und beften geforgt ifl. Seinem inneren 
geifligen Weſen aber wird es nur dba heimathlich wohl zu Muthe, 
wo Die find, welde er liebt. Darum empfand Jacob de Vries 
mitten in dem irdiſchen Paradies der Capkolonie ein beftändiges 
Heimmeh nah dem armen, Falten Grönland, weil er dort eine 
Liebe der Menfchenherzen erfahren hatte, die ihm werther und Föft- 
licher war ald aller Duft der Blumen und Wohlgefhmad ber 
Fruͤchte eines fchönen, warmen Landes, Am meiften zulegt bei 
dem Menſchen, befien rechte Heimath und geiflige Geburtsftätte 
nit in der Welt des Sichtbaren iſt, giebt es fich Fund, daß der 
Zug nad) der Heimath bet alten Lebendigen einer Hinneigung der 
bewußtlofen oder bewußten Dankbarkeit zu dem Urfprung und 
Duell des Lebend und all feiner Freuden fe. In das Heiblich 
krankmachende Heimweh, dad den Auswanderer aus dem armen 
Zappland eben fo wie den Schweiger mitten in dem geräufchvollen 
Paris befuͤllt, miſcht fich, mit dem Verlangen nad der hehren 
Stille, deren Frieden das Kind empfand, unvermerft die Erin- 
nerung an bie erfte Liebe, die der Menfch bei feinem Eintritt ine 
Leben, im Arme der Mutter genoß. 
Bar er auch arm, ber Eltern Herb; 
Er Bleibt uns doch vor Allem werth. 


7. Der Inſtinet. 


Das Wort Inſtinct, Antrieb, wurde vor Alters vorzugsweiſe 
dann gebraucht, wenn man jene Anregung der Menſchenſeele zu 
irgend einer Handlung bezeichnen wollte, welche nicht aus Ueber⸗ 
fegung und vorbedachtem Rathe, ſondern wie aus einer höheren 
Eingebung hervorgeht, daher die Alten in ſolchem Falle nicht von 
einem Antriebe ſchlechthin, ſondern von einem goͤttlichen Antriebe 
(instincius divinus) ſprachen. Wie gut gewaͤhlt und treffend. die⸗ 
fer Ausdruck fei, das mögen.die nachſtehenden Beifpiele aus der 
Geſchichte der Menfchen fo wie anberer Lebendigen ‚unferer trdifchen 
Sichtbarkeit bezeugen. Ä 

Ein Bebannter der berühmten franzöfifchen Schriftftellerin, 
dee Madame Beaumont, wollte mit einer Befellfchaft von Freun⸗ 
den eine Luftfahrt auf dern Fluſſe machen. la jest Alles bereit 
iſt und er To eben mit den Anderen ins Fahrzeug hineinfleigen will, 
da kommt feine taubſtumme Schmwefter in ängftlicher Eile herbei, 
fie fucht ihn am Arm und am Gewand feflzuhalten, und da ihn 
dies nicht zuns Bleiben bewegen Tann, wirft fie ſich ihm zu Füßen, 
umfeßt feine. Kniee und giebt durch die flehentlichſten Geberden bie 
Bitte zu erkennen, daß er von ber Wafferfahrt zurüdibleiben möge. 
Der. Ausdruck des ſchmerzlichen Sehnens in den Mienen und Ge⸗ 


2* 








20 T. Der Suftind. 


berden der Zaubflummen hat für -mehrere Perfonen in ber Gefell⸗ 
fhaft etwas Nührendes; fie bitten ben Bruder, er folle dem Wunfche 
feiner ohnehin bemitleidenswerthen Schwefter nachgeben und von 
der Wafferfahrt abftehen. Er gehorcht zu feinem Gluͤcke, denn 
das Boot ſchlug auf dem Wege um und Mehrere ber darin Fab- 
venden ertranten; ein Loos, das auch ihn, der nicht ſchwimmen 
konnte, würbe betroffen haben, wenn nicht die taubftumme Schwefter 
wie durch einen göttlichen Antrieb ihn gewarnt hätte. 

Jenes dreijährige Kind, das bei der Belagerung von Wien 
durch die Türken im Jahr 1683 eine Bombe mit Erbe aus- 
löfchte, die an einem Orte, wo fie hätte viel Schaden thun kön- 
nen, in bie Stadt gefallen war, handelte auch aus einem foldhen 
goͤttlichen Antrieb, zum Heil für Viele, 

Ein reicher Gutsbefiger fühlte fi einftmals, als es fehon 
ziemlich fpät in der Nacht war, gedrungen, einer armen Familie 
in feiner Nachbarſchaft allerhand Lebensmittel zu fenden. Warum 
gerade heute noch, fragten feine Leute, follte das nicht bis morgen 
am Tage Zeit haben? — Nein, fagte der Herr, ed muß nod 
heute gefhehen. Der Mann wußte nicht, wie dringend nothwen⸗ 
big feine Wohlthat für die Bewohner der armen Hütte war. Dort 
war ber Hausvater, ber Verforger und Ernährer, ploͤtzlich Frank 
geworden, die Mutter war gebrechlich, die Kinder meinten fchon 
feit geftern vergeblih nach Bred und das Kleinfte war dem Er⸗ 
hungern nahe, jest warb auf einmal die Noch geftillt. So wurde 
auch ein anderer Herr, der, wenn ich nicht irre, in Schlefien 
wohnte, in feiner nächtlichen Ruhe durch den unwiderſtehlichen 
Antrieb geftört, hinunter in den Garten zu gehen. Er erhebt fidh 
vom Lager, gebt hinunter, der innere Drang führt ihn hinaus, 
burch die Hinterthbür des Gartens auf das Feld, und hier kommt 
er gerade zur rechten Zeit, um ber Retter eines -Bergmannes zu 
werden, ber beim Herausſteigen auf der Fahrt (Leiter) ausge 
glitten war und im Hinabftürzen fih an dem Kübel mit Stein- 
kohlen feftgehalten hatte, den fen Sohn fo eben an ber Winde 
heraufzog, jest aber die vergrößerte Laſt nicht mehr . bewältigen 
konnte. Ein ehrmürdiger Geiftlicher in England fühlte fih auch 
einftmals, noch bei fpäter Nacht gebrungen, einen an Schwer- 
muth leidenden Freund zu befuchen, ber in ziemlicher Entfernung 
von ihm wohnte So müde er auch ift von dem Arbeiten und 
Anftrengungen des Tages, kann er doch dem Drange nicht wider 
ſtehen; er macht fih auf den Weg, kommt in der That wie ge 
rufen zu feinem armen Freunde, denn diefer fland fo eben im Be⸗ 
griff, feinem Leben durch eigene Hand ein Enbe zu machen, und 
wurde durch den Beſuch und das teöftliche Zureden feines naͤcht⸗ 
lichen Gaſtes auf immer aus diefer Gefahr gerettet. 

Solcher Fälle liegen fih noch viele erzählen, in benen ein 
Menſch durd einen ihm ploͤtzlich kommenden Antrieb zu einem 
Helfer für einen anderen Menfchen, oder wie Arnold von Winkel 

















7. Der Juſtinct. 21 


ried, als er in der Schlacht bei Sempach mit helbenmuͤthigem 
Entſchluß die feindlichen Spieße erfaßte, fie mit feinem durchbohr⸗ 
ten Leibe zu Boden brüdte, und fo bie feite Reihe der Feinde 
brach, zu einem Wetter feines Vaterlandes wurde. Aber nicht 
immer betrifft der mwohlchätige Antrieb das Wohl und die Rettung 
eines fremben Lebens, fondern eben fo oft und vielleicht noch öfter 
die bes eigenen. So fühlte ſich Profeffor Böhmer in Marburg 
einftmals, da er. in traulicher Geſellſchaſt war, innerlich gedrun⸗ 
gen, nad) Haufe zu gehen und hier fein Bett von dem Drt, an 
dem es ftand, hinweg, an einen anderen zu rüden. Als biefes ge 
fhehen war, ließ die innere Unruhe nach, er fonnte zur Gefellfchaft 
zurüdfehren. Aber in der Nacht, als er an der nun für fein Bett 
gewählten Stelle fchlief, flürzte die Dede Über dem heil des Zim⸗ 
mers ein, wo früher feine Lagerftätte war, und ohne jene Vor: 
tehrung, zu der ein innerer Trieb ihn geführt hatte, würbe er zer= 
ſchmettert worden fein. 

Wie fih in großer Noth und Lebensgefahr, in welche ber 
Menſch geräth, fo oft ein Zug nad dem Ergreifen eines Huͤlfs⸗ 
mitteld in ihm regt, das fi) in der Kolge gerabe als das befte, 
zwedmäßigfte bewährt, das haben Viele an fich erfahren und mir 
werden fpäter mehrere folhe Fälle erwähnen. Und fo kommen 
auch an der menfchlichen Natur Erfcheinungen vor, welche ganz 
ähnlich jenen Regungen und Bewegungen bed Inflinctes find, bie 
das Thier bei der Wahl der Mittel leiten, welche zur Erhaltung 
und Rettung feines eigenen Lebens, zur Verforgung feiner Jungen 
und zum. Wohl des großen Ganzen ber fichtbaren Melt dienen, 
deren Theil das einzelne Thier ift, 

Das Thier kann ohnehin nicht, mie dee Menſch, durch ver 
nünftige Weberlegung bei feinem Handeln geleitet werden, eben fo 
wenig aber durch Erfahrung, meil es die Rolle, die der Inſtinct 
ihm auferlegt, fogleih, von feinem Eintritt in die Welt an mit 
vollkommner Fertigkeit fpielt. Ein Hühnchen, das nicht von ber 
Mutter, fondern von der Lampenwärme eines Fleinen kuͤnſtlichen Brut- 
ofens ausgebrütet war, erblickte, als es fo eben fi) aus der Schaale 
des Eies herausgearbeitet hatte, eine Spinne,- fprang fogleich zu 
ihr hin und ergriff diefelbe fo gefchidt, ald ob es fchon lang im 
Infectenfang geuͤbt wäre, Wenn die Jungen ber Seefchildkröte 
in dem Bette des Sandes, das ihre Geburtsftätte war, aus dem 
Ei gekrochen find, dann eilen fie fogleich in gerader Richtung auf 
das Meer zu. Man mag fie während bdiefes Laufes drehen und 
wenden wie man will, Eann fie hinter Mauern oder Sandhügel 
verfleden, die ihnen ben geraden Weg abfchneiden, immer wenden 
fie fi) wieder der Richtung nach dem Meere zu. Umgekehrt ge⸗ 
ben die Jungen der Kandfrabbe, bie fih im Waſſer aus dem Ei 
entwidelt haben, bald nad ihrer Geburt heraus ans Land und 
fuchen bier fi) eine Umgebung auf, bie für ihren Lebensunterhalt 
bie angemefienfte if, Kaum ift die Ameife aus ihrer Puppen« 


22 7. Der Inflinck. 


huͤlle (dem ſogenannten Amelfenet) gekrochen, da ‚geht fie auch 
ungeſaͤumt, wenn fie vom Geſchlecht der Arbeiterinnen iſt, mit 
ihren älteren Genoffinnen auf das Gefchäft des Sammelnd und 
Eintragens von Rahrungsftoffen für die hülftofen, Meinen Zaren 
ihrer Gemeinde aus, und hilft emfig am Bauen der Wohnung, 
wie beim Hin- und Hertragen der Puppen und bee eigentlichen 
Eier. Und es ift nicht etwa nur die Nachahmung ber fremden 
Gefhäftschätigkeit, welche den Neuling auf die Bahn feiner na⸗ 
türlihen Beſtimmung führt, denn wenn bie eben ans Licht ge- 
tretene Ameife nicht vom Gefchleht der Arbeiterinnen, fondern von 
dem der Männchen oder der volllommneren Weibchen ift, dann 
läßt fie fih von dem Gefchäftsbrange der Anderen nicht mit fort 
reißen, fie geht ungehemmt ben Weg ihres eigenen Berufes, mitten 
durch die Schaaren der anderen hindurch, hinaus ins Freie, wo 
fie ſich mit den zarten Flügeln, weiche den Männchen und voll⸗ 
kommnen Weibchen verliehen find, zum Schwärmen, im bie 
Luft erhebt. ' 

Das ed überhaupt nicht die Nachahmung der inflinctmäßigen 
Handlungen ber anderen Thiere feiner Urt fei, weiche das einzelne 
Thier zu den eigenen Handlungen diefer Art antreiben, zeigt fich bei 
jeder Gelegenheit. Nachtigallen und Amfeln, die man ganz jung aus 
dem Nefte nahm und fern von ihres Gleichen im Zimmer erzog, 
bauen, wenn manim Frühling ein Pärchen von ihnen binausläßt, 
ins Freie eben folche Nefter für ihre Jungen als die anderen Vögel 
ihrer Art. Ein Biber, der feinen Eltern geraubt worden, ale er 
noch blind war und welchen ein armes Weib, um ihn am Leben 
zu erhalten, an ihren Brüften gefäugt hatte, bis er zum Genießen 
der gewoͤhnlichen Nahrungsmittel fähig geworden, ſchichtete die 
zerſtuͤckten Zweige, deren Rinde er gefrefien hatte, in einem Win- 
kel feines Käfige über. eimander, und als man ihm Erde gab, 
formte er diefe mit den Vorbderfüßen in Eleine Ballen, legte diefe 
über einander, drüdte fie mit ber Schnauze fell und fügte ein 
Stüd Holz in diefelben hinein, An ihm Äußerte ſich mithin uns 
abhängig von jedem, Nahahmung wedenden, fremden Einfluß, 
derfelbe Kunfitrieb des Bauens, ben wir an anderen. Bibern be 
obachten. 

Es iſt der eingeborne Inſtinct, welcher den Thieren, auch 
wenn man ſie in ein ganz anderes Klima, in eine ihnen ganz neue 
Pflanzen⸗ und Thierwelt verſetzt, es kund giebt, was der Erhaltung 
ihres Lebens foͤrderlich ſei oder derſelben gefaͤhrlich werden koͤnne. 
Pferde, die man aus Europa nach dem ſuͤdlichen Afrika gebracht 
hatte, und die noch niemals in die Naͤhe eines lebenden Loͤwen 
gekommen waren, zitterten dennoch vor Angſt an allen Gliedern, 
als ſie zum erſten Male das Bruͤllen des Loͤwen in ihrer Naͤhe 
vernahmen. Frettchen, welche in der Gefangenſchaft der Menſchen 
geboren und erwachſen ſind und noch niemals eine giftige Viper 
ſahen, greifen dieſe mie großer Vorſicht an, Indem fie vor Allem 





u Der Iaflince 23 


ihr den Kopf zu zermalmen fuchen, mährend fie fchon öfters uͤber 
ungiftige Schlangen und Blindſchleichen, bie fie, ohne einen Augen- 
blick zu zögern, bei jedem Theil des Körpers anfaßten, den leichten 
Sieg errungen hatten. Ueberhaupt weiß jedes Thier, im Kampf 
mit einem anderen, alsbald die ſchwaͤchſte, am leichteften verwund⸗ 
bare Seite oder jenen Xheil defjelben zu finden, der ihm am mei 
fen zu fchaden vermag, fo wie umgekehrt jene Stelle des eigenen 
Leibes am meiften zu fhügen und zu verbergen, welche Die ver: 
legbarfte if. _ So fpringt der Tiger, im Kampf mit dem Elephan- 
ten, zunaͤchſt nad dem Ruͤſſel deſſelben, welchen dagegen der Ele⸗ 
phant aufs Sorgfältigfte dem Angriff zu entziehen fucht, um ihn, 
zur rechten Zeit, deſto Fräftiger zu gebrauchenz das Pferd der Wild: 
niß, vom Raubthier angefallen, fucht gegen dieſes Kopf und Bruſt 
zu ſchuͤzen, während es dem Feind deſto Fräftiger mit den Hufen 
der Pinterfüße entgegen kommt. Das amerilanifche Dausfchwein, 
im Kampf mit der Klapperfehlange, bemüht fih vor Allem, den 
Biffen des fpringendben Thieres feinen borfligen Naden entgegen 
zu balten, die Schnauze aber demfelben zu entziehen und hierbei 
den rechten Augenblid zu finden, um ben Kopf des gefährlichen. 
Feindes mit feinen Hufen zu zertreten. 

Auch in einer dem Thiere fo wie feinen Voreltern neuen Lan⸗ 
desnatur weiß das Schaaf wie die Ziege das gefunde Sutter ale- 
bald zu finden und das ziftige zu meiden; der Affe gräbt Wurzeln, 
die er nod) niemals genoffen, durch den Geruch geleitet, aus, und 
läßt fi) niemals durch das unfchädlihe Ausfehen einer giftigen 
zum Genuß bderfelben verloden, Die Kühe von europdifcher Ab- 
tunft, welche ein ameritanifcher Kolonift mit fi in- fein neues 
Befisthum genommen, waren im erflen Winter, auf deffen län- 
gere Dauer man fidy nicht vorgefehen hatte, in großer Gefahr zu 
verhungern und glichen bereitd nur lebenden Gerippen. Man hatte 
an ihnen bemerkt, daß fie, fo oft die Stalithür geöffnet wurde, 
ihre Köpfe Ale nach einer Gegend binrichteten und mit lautem 
Gebruͤll ihre thierifches Verlangen zu erkennen gaben. Endlich ließ 
man fie von den Ketten 108 und verflattete ihnen das Hinauslaufen 
ind Freie, obgleich weder auf Feldern noch auf Wiefen nach im 
Wald ein geniefbares Grün unter der Schneedecke hervortrat. 
Alsbald rannten die hungernden Thiere in unaufhaltfamer Eile 
hinab nad) dem Thale, mo im fumpfigen Grunde, am Ufer des 
Fluſſes ein Gewaͤchs fiand, in welchem Feiner ber Koloniften ein 
Futterkraut erfannt hätte, denn es glich volllommen unferem Schach⸗ 
telhalm, von deſſen Art ed auch wirklih war. Die Kühe aber, 
durch ihren Inſtinct ficherer geleiter, als der Menfch durch feinen 
vergleichenden und berechnenden Verſtand, fraßen begierig von dem 
Gewaͤchs und kamen durch den fortgefegten Genuß defielben bald 
wieber zu Fleifh und Kräften. | | 

Mächtiger noch und in ungleich augenfälligerer Weife als da, 
wo es blos die Ernährung und bie Erhaltung bed eigenen Leibes 

“ 


24 T. Der Inflinct. 


und Lebens gilt, äußert fich der Inſtinct im feiner Verbindung mit 
der Elternliebe. Das Thier vergißt, wenn ed zur Vertheibigung 
feiner Sungen aufgeregt wird, jeder Gefahr, die feinem eigenen 
Leben droht; die mütterliche Zärtlichkeit führt felbft das plumpe 
Wallfiſchweibchen, dem man fein Junges raubte, Immer wieder 
zu der Nähe der Räuber hin, wo es dann insgemein eine leichte 
Beute der Walififchfänger wird, und diefelbe Treue ber Mutter: 
liebe, bis zum Tode, wird an dem Seeotter fo wie bei mehreren 
Säugethieren des Meeres bemerkt. 

Wenn bei dem fruchtbaren Ameifenweibchen die Zeit gekommen, 
wo bdaffelbe feine Eier gebären foll, da nimmt der Drang, der. dafs 
felbe wenig Tage vorher fo unaufhaltfam hinausführte in die Lüfte 
und zu den fröhlichen Tanzen im warmen Sonnenfdhein, eine ganz 
andere, entgegengefeßte Richtung an. Die Schaar der Zänzer und 
Tänzerinnen, die man noch kurz vorher, in manchen Ebenen an 
der Seeküfte, wie Wollen oder Rauchfäulen emporfleigen fah, 
fenten fich zur Erde, die Männchen fterben oder werben mit vie 
len Tauſenden ihrer Schaar den infectenfreffenden Thieren zur Beute, 
bie übrigen Weibchen aber, als ob fie der wilden Luftbarkeiten fich 
(hämten, triechen am Boden nad dem Bau von Ameifen ihrer 
Art bin. Mag e8 nun bderfelbe fein, in welchem fie geboren und 
erzogen wurden, ober ein anderer, fie tragen jegt, in der Hoffnung 
eines künftigen Gefchlechtes, die fie mit fich bringen, das Zeichen 
einer Majeftät und Herrfchermaht an fih, das von allen Wefen 
ihrer Art hoch beachtet und mit liebender Ehrfurcht empfangen 
wird; überall an folhem Ort find fie der entgegentommenden Pflege 
gewiß. Aber die zarten, feingewebten Flügel, auf deren Beſitz 
noch Eurz vorher des Lebens höchfte Luft und Freude beruhte, find 
dem Thiere auf dem jegigen Theile des Weges feiner Beflimmung 
ftatt zur Luft, nur zur Lafl. Die Regungen des Inſtinctes lehren 
ihm diefes, und mit Anſtrengung ber eigenen Kräfte und Glieder 
reißt es fich den glänzenden Schmud von feinem Rüden ab’ und 
kriecht flügellos, um ihn nie wieder zu verlaffen, in den Bau, zu 
dem Volk der ungeflügelten Arbeiterinnen hinein. 

Die finnvoll fhöne Dichtung, daß der Pelikan im Feuer der 
Liebe zu feinen Fungen, um diefe vom Tode zu retten, bie eigene 
Bruſt aufreiße, dann die Verſchmachtenden mit feinem Blute traͤnke 
und neu belebe, ift freilich nicht wörtlich fo zu nehmen, denn das 
Blut, womit man zumeilen das weiße Bruftgefieder diefes Wogels 
befprengt fieht, wenn er mit dem in feinem Kehlſack herbeigetra- 
genen Fiſchen feine Kinder fpeift, kommt von den zerbiffenen Fi⸗ 
fhen, oder, wenn es, in feltenen Fällen, ein eigenes fein follte, aus 
den Eleinen Wunden, welche die jungen Pelitane ihren Alten dur) 
die ſcharfen Widerhaden ihrer Schnäbel im Kehlfad beibringen, in 
den fie, fo lang fie noch Klein find, wie in eine Schüffel hinein- 
langen. Uebrigens aber ift das keine Dichtung, fondern die Er- 
führung zeigt 26 täglich, daß die Mutterliche im Thierreich ftärker 


TU Der Juſtinct. AR 


fet als bes eigenen Leibes Moch und des Todes Schmerz. Daß eb: 
nicht fo zu fagen eine Verwandtſchaft ber leiblichen Elemente, etwa. 
des Fleifches und. Blutes fei, bie zwifchen der Mutter und den 
aus ihe geborenen Jungen befteht, fondern der Antrieb, der In⸗ 
flinet einer Liebe, welcher aus einer anderen, höheren Quelle kommt, 
was dem Zuge der Mutterliebe feine Macht giebt, dies lehrt und. 
die Zärtlichkeit der Thiere gegen ſolche huͤlfloſe Brut, die eine hös 
bere, göttliche Kürforge ihrer Pflege anvertraut hat. Zwiſchen der 
Bachſtelze und dem armen von der eigenen Mutter verwahrlofien 
Kinde, dem jungen Kukuk, der als Ei im ihe Neft fo wie unter 
ihre Fittige kam, ift doc, gar keine Verwandtſchaft des Fleiſches 
und Blutes, und dennoch müht ſich die zärtliche Pflegemutter bis: 
zur Ermattung des Todes ab, um den hungernden Pflegebefohlenen: 
zu fättigen. Ein berühmter Naturforfher (Bechftein) ſah einſt⸗ 
mals, als es fchon tief im Spätherbft war, wo es In der Nacht: 
ſchon Reif und felbft Eis giebt, eine Bachſtelze am Bache, den 
die Sonne befhien, emfig hin und ber fliegen und laufen, Wer. 
es weiß, in welcher unwiderſtehlichen Welfe der Wandertrieb das 
Thier ergreift, wenn jegt die Zeit getommen ift, wo das ganze Deer- 
der Seinigen fort zieht und ihm zugleich, beim Herannahen des 
Winters, das Futter zu gebrechen anfängt, der wird es begreiflich 
finden, daß das Zurüdbleiben einer Bachſtelze, die von Inſecten 
lebt, bei uns bis tief in den Detober hinein, two draußen im Freien 
kaum noch einzelne Fliegen zu fehen find, etwas Außerordentlihe® 
ſei. So erfchten dies auch dem eben erwähnten Beobachter und 
er ging deshalb dem Thiere nach, das fo eben, als ob es Junge zu 
verforgen hätte, ein erbeutetes Inſect in feinem Schnabel hinweg» 
trug. Da fah er, daß der Kopf eines ziemlich großen Vogels aus 
der Deffnung eines hohlen Baumes ſich herausfiredite, der feinen 
Schnabel begierig nach dem Futter auffperrte, das die Pflegemutter 
ihm brachte. Es war ein junger Kukuk, deſſen rechte Mutter ihr 
Ei wahrfcheinlich im Schnabel zu dem Loch des Baumes hinauf 
getragen und in das dort innen befindliche Neft der Bachftelze hatte 
bineingleiten laſſen. Das junge Thier war in der Höhlung des 
Baumes gewachfen, hatte aud) vorne am Kopf und Hals fein volls 
tommenes Gefieder erlangt, zugleich aber ein Gefangener geblieben, - 
denn die Deffnung war zum Hindurchlaſſen feines Körpers zu Hein. 
Die zärtlihe Pflegemutter ‚aber würde eher mit ihrem Pflegling 
geſtorben fein, als ihn in feiner Huͤlfloſigkeit verlaffen haben. 
Welche Mutterpflege und Muttertreue Tann jene Übertreffen,- 
bie das arbeitende Volk der Bienen und Ameifen an den Eiern‘ 
und der jungen Brut ihrer Königinnen uͤbt; welche Ausdauer einer 
menfchlihen Erzieherin mag jene überfteigen, die das Meibchen- 
des Puterhahnes an den Küchlein von fremder Abkunft ermeift, 
die man von ihm ausbrüten Tief. In der großen Pflegeanftalt: 
ber Natur find jene Wefen nicht zu beflagen, welche unferem Auge: 


? 


28. T Der Inflinct. 


als bie Verlaffenften und Hälftofeften erfcheinen, bean gerade für 
biefe ift mit der größten Sreigebigkeit und Milde geforgt. 

Sn einer ganz befonders merkwürdigen Form erfcheint der 
Inſtinct als Antrieb einer allechaltenden Fürforge, wo berfelbe 
nicht für ein Einzelmefen oder für eine Familie der eigenen ober 
fremden Jungen, fondeen für die Gefammtheit der lebenden We- 
fen in heilfamer Weife wirkfam if. Der Drang, welcher hierbei 
die Thierwelt ergreift, fieht zumeilen mit dem Xriebe der Selbft- 
erhaltung in fo entgegengefegtem, widerſprechendem Berbältniß, 
daß er Myriaden der Einzelmefen, zum Heil des Landes ihrem 
ſicheren Untergange entgegenführt. Ale Kräfte der Menfchen und 
jener hilfreichen Thiere, welche dem UWeberhandnehmen des ſchaͤd⸗ 
lichen Kohlmeißlings, deſſen Raupen das Verderben unferer Gemuͤſe⸗ 
. gärten find, zu fleuern vermögen, werden zu manchen Zeiten uns 
zulänglich gefunden; ginge dann die Vermehrung in gleichem 
Schritte weiter,. da wuͤrde all?’ unferen Kohlgewaͤchſen die Vernich⸗ 
tung drohen. Doch gegen diefen Unfall hat die Natur ihre mäch- 
tigen Gegenmitte, Man fieht auf einmal ganze Wolken jener 
Schmetterlinge das Land, beffen Plage fie waren, verlaflen, und 
fi) in einer Richtung entfernen, welche nicht felten ihre Endziel im 
Meere findet. Ein folcher, ſich felber den Fifchen zur Speife dar- 
beingender Zug dauerte nad) Lindley's Beobachtung mehrere Tage 
und behielt unverändert die Richtung nad den nahen Meere bei; 
Kalm ſah Schmetterlinge diefer Art über dem Gewaͤſſer des brit⸗ 
tifhen Kanales. Auch die Schwärme ber Heufchredien, wenn fie 
zur fuchhtbarften Anzahl angewachfen find, nehmen zulegt inöge- 
mein ihren Weg nad dem Meere oder in das wuͤſte Land, und 
dafielbe hat man bei fehr verfchiedenen Arten der ſchaͤdlichen In⸗ 
fecten bemerft. Auch die Lemminge, biefe Feldmaͤuſe des hohen 
Mordend, fammeln fih, wenn ihre Ueberzahl im Lande ber Het: 
math zu groß geworben, zu ungeheuren Schaaren und ziehen in 
gerader Richtung, öfters den Meeresarmen und Strömen zu, in 
denen fie ihre Grab finden. Selbſt im günftigften Falle kehrt nur 
ein Eleiner Theil diefer Auswanderer zur Heimath zurüd, Wie 
fi) ein lebender Körper bei dem Wachsthum feiner Glieder aus 
eigener, innerer Kraft gewiſſe Graͤnzen fest; fo thut dies auch die 
Geſammtheit der lebenden Natur, durch die eigene Macht des den 
Wefen eingebauten Inſtinetes. Das Wafler eines Spring- 
brunnens feige durch den Drud der höheren Wafferfäule bis zu 
einem gewiſſen Punkte, wo aber die MWirkfamkeit jenes Drudes 
ein Ende hat, da flürzt es fi) unaufhaltfem hinab zum Boden. 

Das Band, welches ald Inſtinct die einzelnen Dinge zu ei: 
nem Verhältniß des wechfelfeitigen Nugens und Dienftes zuſam⸗ 
menfaßt und mit ihnen zum Wohle des Ganzen maltet, findet 
fi nicht nur um bie einzelnen Wefen der Außenwelt gefchlungen, 
fondern zeigt fich auch im Inneren eines jeden befeelten Leibe wirk 


8 








T. Dar Ieflinct, Pi: 


fam, wenn es alle einzelnen Elemente und Organe beffelbeis fir’ 
den Geſammtzweck ſeines Lebens geſtaltet. Es iſt da jeder Theil 
zum Dienſt des anderen Theils, alle zuletzt find für die Wirkſam⸗ 
keit ber Seele ba. ' 

Daffelbe, was der Iuflinet an ben Wefen der dußeren Natur 
in augenfälliger Weife verrichtet, das bewirkt in feinem verborgene 
ven, inneren Keeife ber Bildungstrieb. Der Vogel muß ein Neſt 
bauen für die Eier, welche er in diefem ausbräten fol, ein Neft, 
bas um fo forgfältiger angelegt, um fe waͤrmer von ihm ausge: 
füttert wird, je bilföbebärftiger der Zufland der Jungen ift, welche 
aus den Gern hervorgehen. Wenn die Jungen des Singvogels 
blind und unbefiebert zur Welt gekommen find, bann mäflen bie 
Alten für fie die Nahrung aufſuchen, welche für die erſte Lebens⸗ 
zeit derſelben am geeiguetiten ift, und bei dieſer Gelegenheit ent 
wickelt fich bei den aus dem Schnabel fütternden Boͤgeln in vies 
len Sällen ein auffallendes Zartgefühl des Inſtinetes, indem bat 
Zutter, welches die Alten den neugebornen Jungen bringen, ein 
anderes ift als das, was fie ihnen mehrere Tage nachher, und 
diefes wieder ein anderes als bas, mas fie ihnen im Zuflande ber 
höheren Reife barreihen. Alle dieſe augenfälligeren Aeußerungen 
eines bauenden Kunfleriebes und bes Juſtinetes der Mutterliebe 
fallen bei dem Säugethiere von felbft hinweg; biefes bedarf nicht 
der Anlegung eines Neſtes zum Bebräten ber Eier, denn feine 
Fungen werden nicht außer, fondern innerhalb feines Leibes zur 
Ausgeburt reif; es bedarf nicht der Mühe, nicht eines Triebes, ber 
vom Juſtinct geleitet wird, zum Auffuchen ber erften Nahrung für 
feine Jungen, benn jene Nahrung wird ohne fein aͤußerlich ſicht⸗ 
bares Zuthun, als Muttermilch, von den Gefäßen feiner Brüfte 
ereitet. 

Umgekehrt aber muß ber fonft fo hoch begabte Menfch durch 
den finnreichen Fleiß feiner Hände ſich die Kleidung und Dede bes 
Leibes bereiten, die ihn in ber heißen Zeit des Jahres nur leife 
umhuͤllt, während ber Falten Zeit des Winters aber gegen bie 
Kälte ſchuͤtzt, während das Gefieder der Gaͤnſe und Enten, eben 
fo wie das Fell der Säugethiere ohne ihre Zuthun beim Heran⸗ 
nahen bes Winters die wärmende Flaume und das Wollenhaar 
anfegt, welche im Frühling mit einem leichteren Naturgewand vers 
taufcht werben. Welches menfchliche Gewand, bereitet von aus: 
erlefenen Stoffen und gebilbee mit höchfter Kunſt, kommt an Schöns 
heit und Pracht dem glänzenden, mit allen Farben der Edelſteine 
prangenden Gefieder mancher Vögel gleich, womit biefe in ber Zeit 
der Vermählung geziert find, und wie arm wuͤtde es uͤberhaupt 
in der Garderobe bes Menſchen, vornaͤmlich für die Zeit des Win 
ters ausfehen, wenn er nicht zur Fertigung und Ausfhmüdung 
feiner Gewänder das Wollenhaar und das feine Pelzwerk zu Hülfe 
nehmen tönnte, womit bie bildende Naturtraft das Thier ohne 
fein Zuthun verforgt, Der Menſch bebarf vieler Mühe und Kunft, 


28 T. : Der Inſtinct. 


um ſich die Waffen, deren er fih im Kampfe bedient, oder bie 
Werkzeuge zu bereiten, mit denen er den Stein behauen und das 
Holz bearbeiten will, dem Hirſch wachſen bie Waffen zum Kampfe 
von felber, ebenfo der Holzfägewespe ihre Säge, der Steindattel- 
muſchel das feilenartig geftaktete Mundftüd, durch das fie fi in 
den Selfen hineinarbeite. Noch mehr als bei dem Menfchen unb. 
beim Thier iſt das, was bei diefen der Verfland und die Anregung 
bes Inſtinctes in äußerlich augenfälliger Weiſe bewirkt, bei ber 
Pflanze in ben verborgenen, inneren Kreis ber bildenden und ge=. 
ſtaltenden Kräfte hineingetreten. Das Gewaͤchs bedarf feines künft- 
lihen Anlegens von Vorrathskammern, keines Sammelnd von 
Nahrungsftoffen für die Saamen und Keime, die es nad) feinem 
Abfterben hinterläßt, fondern dem Waizenkorn wie der Knolle des 
Kartöffels ift von ihrer erften Bildung an eine Fülle bes Nahrungs⸗ 
foffes mitgegeben, welche für das Beduͤrfniß ber Entwicklung des 
Keimes volllommen ausreicht, - 

Hier find die Leiftungen des Inſtinctes, die ſich bei den Thie⸗ 
ren als ein Zug in die Kerne im Auffinden der Nahrung, und in 
den jährlihen Wanderungen, ald Kunftfinn im Fertigen der (Ges 
webe und Wohngebäude fund geben, auf die inneren Elemente und 
Theile eines einzelnen Pflanzens ober Thierleibes übergetragen, ohne 
hierbei ihrem Wefen und ihrer Bedeutung nah eine Aenderung 
zu erleiden. Denn wenn jeder Stoff, den das Thier in feiner Nah⸗ 
rung aufnahm, fobald er in den Kreis des befonderen Lebens und 
feiner Wechfelwirkungen getreten, duch alle Regionen des Leibes 
den Weg zu feinem beftimmten Ziele: die Kalkerde zum Knochen, 
die Kiefelerbe zum Haar, das Eifen zum Blut, der Schwefel und 
Dhosphor zum Gehirn und Nerven, und von ba zum Knochen 
findet, follte dies weniger wunderbar fein, als die Wanderungen 
des ſchnell und leicht beweglichen Vogels zu dem Ort feiner Er 
nährung und Verforgung? Wenn ganze Maffen des untauglich 
gewordenen, leiblihen Elementes ſich nad) der Oberfläche des Leis 
bes bindrangen, um in der Ausdünftung der Haut fih auszu⸗ 
fheiden, und im Meere der Luft fich zu verlieren, ift dies etwas 
Anderes als jener Antrieb, der manche ſchaͤdliche Thiere (nad 
S. 26) zu ganzen Wolken zufammenfchaart und fie hinausführt 
ind. Meer, damit das Land von ihrer Weberfülle entlaftet werde ? 
Mir bewundern die hilfreiche Aufregung, die ſich alsbald einem 
Ameifenhaufen oder einem Bienenfhwarm mittheilt, menn eine 
Gemwaltthätigkeit von außen ihren Bau zerbrochen hat, oder wenn 
eine andere Gefahr der Zerrüttung und Auflöfung durch innere 
Teinde demfelben droht. Wenn aber nad einem vermundeten 
Gliede, nach einem zerbeochenen Knochen des Xhierleibes fich alle 
Kräfte und Säfte deffelben in flammender Eile hindrängen, um 
dad Verwachſen und Heilen des Niffes oder bes Bruches einzu: 
leiten, und wenn dieſes Streben feinen Zwed erreicht; wenn fich 
im allgemein krankenden Zufland bes Leibes der Sturm eines Fie⸗ 


T Der Juſtinct. 29 


bers erhebt, der, wenn er Eräftig gemug iſt, ben Inneren Krankheits⸗ 
floff zerfegt und entfernt, follte dies in mindberem Grab unferer Be: 
wunberung werth fein? Die Spinne bereitet künftliche Nege, um 
die Beute, bie ihr zur Ernährung bient, zu erhafchen ; iſt etwa 
der Bau ber einzelnen Ausfonberungsorgane, bie fih mitten im 
Leibe bilden, um in ber Leber die Galle, in ber Knochenhaut den 
Knochen, aus den Elementen, bie durch das Blut nahe gebracht 
wurden, zu erzeugen, nicht eben fo kunſtreich und fliehen etwa die 
feinen Gewebe und Geftaltungen, aus benen der Xhierleib gebaut 
und immer wieber neu geflaltet wird, ben Geweben des Seiben- 
fpinners und den Bauen ber Bienen oder der Biber nad ? 

Im Allgemeinen ift, wie wir im vorhergehenden Gapitel (6) 
faben, der Inftinct jenes Walten der Schöpferkraft, durch welches 
die Wefen der Sichtbarkeit fo aneinander gepaßt und zufammen- 
gefügt werden, wie bie Wertftüde eines Haufes oder Tempels 
duch einen einfihtövollen Baumeifter und feine ihm dienenden 
Arbeitöleute. Jedes lebende Weſen unferer Sichtbarkeit ift, in der 
Meihe jener Arbeitsleute, beim Bau des Ganzen angeftellt und 
befchäftige. Der einzelne Arbeitsmann, ber oben an der Zinne 
die Steine bes Mauerntranzes aufeinanderlegt und durch Mörtel 
verbindet, fieht und beachtet nur dieſes Merk feinee Hände, er 
nimmt nichts wahr von dem, was die Handlanger unter ihm, zu 
feinen Füßen thun, wie fie den Stoff, ber tief aus. dem Boden 
kam, zu Biegelfteinen ober Mörtel verarbeiten und diefe von Hand 
zu Hand binauffördern, bis zum Arbeitömann, der den Bauplan 
des Tempels vollführen hilfe. Nur der Baumelfter, dem die Für 
forge für das Ganze auferlegt ift, gebt, mit feinem anordnnenden 
Blide, unten am Boden dem Handlanger nad), der dns Material 
zum Gemaͤuer gräbt und bereitet, tie der Reihe der Anderen, bie 
fih den Stein von Hand in Hand reihen, und der Werfthätig- 
keit bed Maurers, ber oben an der Zinne die MWerkftüde nach dem 
Sefammtplan des Gebäudes aneinanderfügt. | 

Wenn der Biffen der Nahrung, wenn der erquidende Trank 
duch unferen Mund eingegangen und in den Magen gekommen ift, 
dann nehmen mir nicht mehr wahr, wie aus ihm der Speifefaft 
und das Blut bereitet, wie duch das Athmen aus dem Blute bie 
wärmende Flamme auf dem Heerd bed Lebens entzündet und er 
halten werde; wie bemerken nichts von all den Bildungen und 
Wiederauflöfungen der einzelnen heile, die in unferem Leibe vor 
fih gehen. Das Werl der Seele an ihrem Leibe und an allen 
Elementen befielben gleicht einem mächtigen Bewegen, welches als 
led Bewegliche, das in feine Nähe kommt, mit fi fortreißt in 
feiner Richtung. Der Stenhl der Sönne, wohin er auch bringt, 
kann nur leuchten und wärmen, bie Flamme bed Feuers Tann 
und muß in allem Brennbaren, das fie.berührt, nur ein gleiches 
Entflammen bewirken. So liegt auch in dem Leben ber Seele, 
das ein Wirken und Bewegen gu. einem beſtimmten Zwecke iſt, die 


80 &. Der Eompaß. 


Macht, alles Das, was in thren Bereich kommt, zur Erreihung 
biefes Zweckes zu Hilſe gu nehmen und auf Ihrem Laufe, nach 
beſtimmtem Biele, mit ſich hinwegzufuͤhren. 

Das Wehen des Windes reißt alle leichte Körper mit ſich 
fort, in der Richtung, die bhm ſelber angemsefen if. Wenn ein 
Adler, ber am Boden bes Feldes Hinfliegt, durch feinen mächtigen 
Fluͤgelſchlag biefes Wehen erregt, dann folgt ſeinem Laufe Die 
leichte Spreu, die am Boden fiegt, ohne baß bee Adler, ber nur 
das Ziel Teines Fluges im Auge hat, dieſes beachtet, denn bie 
Spren ift außer und umter ihm, So theilt auch bie Seele bes 
Thieres und der Pflanze die Nichtung ihres Lebens bem Exben- 
ftoffe mit, den fie, ald Leid, zum Werkzeug ihrer Thätigkeit bilder 
und zu ihrem Dienft in Bewrgung febt. Der Stoff tft ihr von 
außen zugebracht und zur Foͤrderung des allgemeinen Baues in 
die Hand gereicht, aus einer Tiehe, zu welcher ihr Blick nicht hinab⸗ 
reicht, Der aber, defien Wert der Stoff und feine Bereitung, 
deſſen That und Wille bie Förderung defielben von Hand in Hand 
Ms hinauf zur augenfälligen Zinne des Baues ift, fieht und weiß 
den ganzen Dergang der Ausführung des in Seinem Geifte vor- 
bedachten und entwidelten Planes. 


8 Der Compaß. 


Der Etſte, der die Eutdeckung machte, daß es einen Eifen- 
ſtein — den Magnet — giebt, welcher anderes Eiſen an ſich zieht, 
mag uͤber dieſe Eigenſchaft eines unſcheinbaren Steines nicht we⸗ 
nig erſtaunt fein. Wie das Thier feine Speiſe, fo erfaßt der 
Magnet das Eiſen, aber er verzehrt daſſelbe nicht, ſondern macht 
daſſelbe nur zu Seinesgleichen. Denn wenn eine ſtaͤhlerne Nadel 
(Etwa eine Naͤhnadel) eine Zeit lang in Vereinigung mit dem 
Magnet geblieben war, und man fie nun von dieſem hinwegnimmt, 
bann wird fie nicht bloß Härker von dem Magnet angezogen, fon- 
been fie ſelber zieht nun auch andere Madeln oder leichte Eifen- 
heile zu fi bin. Mit eimer ſolchen magnetifch gewordenen eifer- 
wen Nadel hat man, wahrſcheinlich zuerſt nur fpielmeife, den: Ver⸗ 
Fach gemacht, fie auf einem Stuͤckchen leichten Holzes, einem klei⸗ 
wen Spahn oder einem Korkicheibchen in einer Schuffel voll Waf 
ſer herumſchwimmen zu lafien, um ihre Beweglichkeit nach dem 
Magnet hin, wie an unferen Eimfltichen maguetifchen Fiſchchen, 
Teichten beobachten zu koͤnnen. Bel ſolcher Belegenheit mußte man 

merken, daß die magnetiſche Nabel, wenn man fie in Ruhe laͤßt, 
mit ihren beiden Enden fi beſtaͤndig nach einer beſtimmten Weile 
gegend Hinwende. In - dergleichen Weife mag ber Compaß erfun- 
den worden fein, welcher feiner Alteften Einckhtung nad wohl 
nichts Amberes war, als eine auf leichter Unterlage ruhende, auf 
dem Waſſer fhwimmende, oder an einem Saben ſchwebende mag: 
netiſche Nadel, welche durch Ihre ‚beftämbige Michtung nad) Norden 





und Süden auch bet ganz trädem Himmel bie Lage. ber Welt⸗ 
gegenden anbeutete, und hierdurch, feitdem man ihr befonders eine 
bequemere, beffere Einrichtung ertheilt Hatte, zu einem guten, ſiche⸗ 
ten Wegweiſer der Retfenden uͤber Land und Meer wurde, 

Wenn die Zugvögel über Land und Meer oder wenn andene 
Thiere aus ihrem bisherigen Lebenskreiſe hinaus, durch den fie be⸗ 
herrſchenden Naturtrieb zu einem finnlich fernen Ziele geführt wer 
den, da bedürfen fie freilich unferes Compaſſes nicht, uns aber, 
wenn mir mit unferem forfhenden Verftande dem thierifhen In⸗ 
flincte auf feinen vielverfchlungenen,, dunklen Bahnen folgen wol- 
—F kommt dabei die Erkenntniß der Natur des Compaſſes gut zu 

atten. 

Die Gegenden, nach denen die freiſchwebende Magnetnadel 
von ſelber ſich hinrichtet, iſt im Allgemeinen die der Weltpole, des 
Nordens und Suͤdens; jedes der beiden Enden der Nadel ſtellt im 
Kleinen einen Pol des Erdganzen dar und wird bei ſeinem Be⸗ 
wegen gegen den ihm befreundeten Erdpol hingelenkt. Die Eigen⸗ 
ſchaft, auf welcher jenes Bewegen beruht, wird deßhalb Polaritaͤt 
genannt. Wenn man zwei ſolche Nadeln oder an Staͤrke ſich 
gleiche Magnete einander naͤhert, dann bemerkt man, daß jene 
Enden, welche an ihnen beiden nach Norden oder nach Suͤden ge⸗ 
kehrt ſind, ſich nicht gegenſeitig anziehen, ſondern abſtoßen, dage⸗ 
gen zieht der Nordpol bes einen den Suͤdpol des anderen, und 
umgelehrt an. Weberhaupt, fo kann man fagen, fucht alfo jeder 
Pol an einem Körper von gleichen polarifhen Eigenfchaften nicht 
das, was er felber, fondern vielmehr das,. was er nicht felber iſt. 

Wenn wir nun weiter darnach fragen, worauf alle Polarität 
in der Natur fi gründe, fo tft die Antwort kurz die: auf das 
Dafein eined Scöpfers, gegenhber Seiner Schöpfung; auf bie 
fortwährende Einwirkung einer fchaffenden und erhaltenden gött- 
lichen Kraft, in die Welt alles Gefchaffenen. 

Der Schöpfer hat in jedes feiner Gefchöpfe, in die mächtigen 
Geſtirne des Himmels, wie in die Sandkörnlein der Erbe, in den 
Geiſt des Menfchen wie in die bildende Seele des kleinſten Moofeß, 
ein beflimmtes Maaß feiner eigenen Kraft: ein fchöpferifches Wir⸗ 
ten und Bermögen gelegt, durch welches das einzelne Weſen ent⸗ 
ſteht und fortbefteht. Diefe Inwohnend verlichene Kraft iſt ee, 
weiche, wie wir dies im vorhergehenden Gapitel fahen, in jedem 
lebenden Leibe ein Wert der Schöpfung im Kleinen wiederholt, 
indem es die einzelnen Elemente und Zheile zu einem wohl= und 
zwedmäßig geordneten Ganzen vereint. Wie der Magnet jedem 
Stuͤcklein Eifen, das er an fich zog, feine magnetiſche Eigenfchaft. 
oder Polaritaͤt mittheilt, fo thut dies auch die Schöpferkraft der 
Seele an ben Stoffen, welche fie in den Kreis ihrer Wirkſamkeit 
bereinzieht; jeder von dieſen empfängt ein gewiſſes Maaß des 
ſchaffenden Vermögens; er wird polariſch. Denn bie Polaritaͤt 
beſteht darin, daß ein Ding, vermöge der. ihm. eingepflauzten Kraft 


fich zu einem anderen in das Verhaͤltniß flellen kann, wie das 
Bewegende zum Bewegten, wie ber Schöpfer zu feiner Schöpfung, 
während es umgekehrt aud) wieder gegen ein anderes die unter- 
geordnete Stellung, eines Bewegten zu feinem Beweger, einneh- 
men kann. 

Die Wirkfamkeit jener Polaritäten, die in allen Theilen, in 
jedem Blutstropfen wie in jeder Safer, von ber Seele beffelben 
aus, hervorgerufen wird, ift dann eben dad, mas mir vorhin 
(S. 28) als ein Gefhäft der Dandlanger, von unten berauf, 
bezeichnet haben. Den Seelen kommt ber Anfang und der Fort- 
Hang au, ihres lebendigen Wirkens und Bewegens aus der Kraft 
des Schöpfers felber, und diefe ift es, deren allbedenkende Vorforge 
dem Antriebe oder Inſtinct, der feinen Urfprung aus ihrem allum⸗ 
foffenden Walten nahm, feine fichere Bahn beſtimmt. Der Norb- 
pol der Erde oder jenes magnetiſche Wirken, das aus der Tiefe des 
Planeten kommt, .liegen auch von der Nadel unferes Compaſſes 
in weiter Serne ab, und dennoch findet der Drang des Bewegens 
nad ben Polen hin immer mieder feine rechte Richtung, mag ihn 
auch ein aͤußerer, gemaltthätiger Einfluß noch fo oft aus ihr ent- 
fernen; bafjelbe gefchieht auch dem Drange des Inflinctes, der aus 
einem Wirken feinen Anfang nimmt, vor befien Macht die Ent- 
fernung ber irdifchen Räume wie der Zeiten gleich wie Nichts ift, 

So gibt uns ber Compaß, mit welhem ber Schiffer ſich kuͤhn 
auf das weite Meer wagt, nach feinem Eleinen Maaße ein Abbild, 
nicht nur des Erdförpers und feiner Polarität, fondern der ge⸗ 
fammten Anordnung alles Seins und Lebens der gefchaffenen 
Melt. Wie die Schöpfung nur ward und beftebt, burdy den Ein- 
fluß eines bildenden, orbnenden und erhaltenden Schöpfers, fo wirb 
und befteht jedes einzelne Ding nur durch die fchöpferifche Kraft. 
bie in fein Wefen gelegt ward, und jebes derſelben ftellt in fi 
den Gegenfag zwiſchen einem Schaffenden und Gefchaffenen dar; 
jebes ber Myriaden von Wefen ift ein Compaß, beflen Anfang 
und Ende befländig nach einem und demfelben Puncte hinweiſt. 
Diefer Richtpunkt aber, nach dem alles Sein und Leben ber Dinge 
fih hinwendet, tft Gott der Herr, ber uns und alle Dinge ge 
macht hat und fie alle durchwirkt mit feinem allmächtigen Worte, 
hochgelobt in Emigkeit! 


9. Der Wanbertrieb bes Geiftes, 


Es war den Gefährten des großen Columbus nicht gu ver 
argen, wenn fie auf der kuͤhnen Fahrt mitten burch den atlantifchen 
Dean, gerade in ber Richtung, in welcher biefer am breiteften ift, 
der Eleinmüthigen Sorge und Furcht fi hingaben. Ihr Ver 
trauen und Ihe Hoffen gingen nicht viel weiter als die Augen 
faben; ihr Denken und Dichten war nicht auf das Vollbringen 
einer kuͤhnen That, auf das Erreichen eines geiftig hohen Zieles 


9, Wandertrieb des Geiſtes. 33 


gerichtet, ſondern mur auf ein möglichft ſchnelles Erwerben von 
Geld und Gut, auf den Genuß der Sinne, bei voller Sicherheit 
und Ruhe des Leibed, Nach den öftlichen Küften des goldreichen 
Indiens wollten fie gelangen, dort mit Edelfteinen, mit Perlen 
und Gold ſich bereichern, eine Zeit lang im Gmuß der Früchte 
und Naturgaben des Landes fchwelgen, dann in die Deimath zu: 
ruͤckkehren und ba die erbeuteten Schäge in Ruhe genießen. Als 
fie fi) aber jest, auf ihren ſchlecht verwahrten und nothbürftig 
verforgten Fahrzeugen mitten im Meere fahen, als der Paffatwind 
aus Oſt ihre Segel erfaßte und die Fahrt nah Welten, in die 
unüberfehliche Weite des MWeltmeeres fo befchleunigte, daß fie bald 
viele Hunderte von Seemeilen vom Baterlande hinwegkamen, ale 
die Hoffnung auf ein nahes Land, melde das Erfcheinen der 
fhnellfliegenden Seevögel und einzelner Streden bed grünen Sees 
grafe® erregt hatten, immer wieder unerfüllt blieb und nad länger 
als einem Monat das lang erfehnte Land noch immer nicht er 
fheinen wollte, da war ihr Vertrauen fo ganz zu nichte geworden, 
daß fie nur an die Heimkehr dachten und allein noch die uners 
fhütterte Ruhe und Feftigkeit des Führers dem völligen Ausbruch 
bed Aufruhrs zuruͤckhalten konnte. 

Es empörte ſich bier das Fleiſch gegen den Geift, denn wahr 
rend jene nur mit fleifhlihem Auge fahen, mit fleifhlihem Herzen 
hofften und vertrauten, erblidte der große Columbus mit geifligem 
Auge, weit über das Meer hinüber das Ziel der Fahrt, das den 
Anderen verborgen war. Er hatte noch einen fichereren Führer bei 
fi), al den Compaß: das war das felte Vertrauen feines from⸗ 
men Herzens auf Gottes Beiftand und Hilfe bei-einem Unter 
nehmen, welches beftimmt war, den unabmweisbaren Drang bed 
Menfchengeiftes zu befriedigen und den Drang, das noch Unbekannte 
zu erforfchen, und das Licht, dad aus Oſten kam, auch über das 
Dunkel der weſtlichen Erdtheile zu verbreiten. Was den Anderen 
Furcht und Sorge machte, die mächtige Befchleunigung der über 
mehr denn 900 Meilen weiten Fahrt durch Wind und Wogen, 
das gab ihm Freude und flärkte feinen Muth, denn fein Sinn 
war nicht ruͤckwaͤrts, fondern nur vorwärts gerichtet, dahin der 
Bote des Himmels, der günftige Wind, ihm felber geleitete; fein 
feftes Hoffen ruhete bereits aus auf dem Lande, das fein Auge 
nod) nie gefehen hatte, ja von welchem noch Feine fichere Kunde zu 
feinem oder der Seinigen Ohr gelangt war. Ä 

Die Heere da Schwalben ziehen von der nordweſtlichen Kuͤſte 
von Europa aus fat denfelben weiten Weg über das Meer hin⸗ 
über und feine von ihnen wird auf biefer großen Reife von Muth: 
loſigkeit ergriffen, Beine fühlt fi zuce Umkehr geneigt, weil in der 
Seele Aller ein Antrieb waltet, der feinen leitenden Faden mit dem 
einen Ende binüberfpannt an das ferne, noch unerreichte Ziel, und 
an diefem eben fo feft halt ald an dem Boden ber. eben verläffenen 
Deimath, an den das andere Ende ſich anknuͤpft. Der Antrieb 


3 





34 9, Manbertrieb bes Geiſtes. 


bes Inftinctes erfcheint überali als ein Suchen, welches duch Fein 
Hinderniß in feinem Gange fi irre machen läßt, weil dad, nach 
welchem bie Aufere Natur des Thieres fi hinbemwegt, im Inneren, 
in ber Seele deſſelben ſchon vorhanden und bereits zu einem &e- 
genftand des Genuſſes geworben ift, verwandt, nach feinem Maaße, 
bem Denuffe und der Freude, welche die Hoffnung und Menſchen 
gewährt. 

Es gibt einen Wandertrieb von viel höherer, mächtigerer Art 
als jene ift, der den Vogel über den Ocean führt ober das Infect 
aus einem Element und Kreife des Lebens in die anderen; einen 
Trieb, welchen die Seele, die er erfaßt, nicht nur von einem Enbe 
der Erde zum anderen, fonbern hinausführt über Mond und Sterne, 
über alle Gränzen der unermeßbaren Sichtbarkeit, in eine unficht- 
bare Welt des Beiftigen und Ewigen. Diefer Wanbdertrieb liegt 
in dem Geifte des Menfhen; es ift der Drang nad einem ver- 
nünftigen Erkennen, nad einem Berftehen des Zufammenhanges, 
in welchem die Dinge der fihtbaren Welt unter einander ſich be⸗ 
finden und vor Allem ber Bedeutung, die fie für unfer eigenes Leben 
haben. Der Drang nah dem Erforfchen des unfihtbaren An: 
fanges und Endes unferes eigenen Dafeins, nah dem Berftehen 
anderer Menfchenfeelen fo wie das innige Verlangen nad) ber 
geiftigen Gemeinfhaft und Zufammengefellung mit diefen, auf dem 
gleichartigen Wege bes Wiſſens und Erkennens. Ein Hoffen liegt 
jenem Wandertriebe zu Grunde, das noch flärker und fefter ift 
denn bas, welches den Columbus auf feiner Fahre belebte; ein 
Hoffen, das hinüberreicht über das Grab, in ein Leben der Emig- 
feit, und deſſen Anker auf einem Grunde ruht, ber in allen Stür- 
men feft bält. 

Dem Antriebe des thierifchen Inflinctes find die aͤußeren Glie⸗ 
der zu feinem Dienft gegeben; beim Wandervogel die ſchnellbeweg⸗ 
lichen Flügel; bei der Arbeitöbiene die einem Körbchen gleichenden 


Anfäge an den Füßen, barinnen der Blüthenftaub befeftigt und 


eingetragen wird; bei dem Biber das meißelartige Gebiß zum Zer⸗ 
fchneiben ber Holzftämme und Aeſte, und der Fellenartige Schwanz; 
bei der Spinne die Drüfen, aus denen die zähe Flüffigkeit kommt, 
die an der Luft zum Faden erhärtet. Der Antrieb regt fi öfters 
ſchon, ehe noch die leiblihen Werkzeuge, durch bie er fpäter fich 
fund giebt, vorhanden oder ausgebildet find; das Zicklein verfucht 
fhon zu floßen, ehe. es noch Hörner hat; ein kleines Krokodil, das 
fo eben aus dem Ei gekrochen war, biß fhon Sim PVorgefühl fei- 
ner künftigen Kraft und Stärke, zornmwüthig in einen Stock binein, 
den ein Engländer ihm vorhielt. Die Seele Überhaupt iſt eher als 
der Leib und bdiefer wird erft allmählig den Strebungen ihres We 
fens zugegeben und angebildet, darum regt fi auch der Inſtinct, 
noch ehe ihm das Mittel, fi zu dußern, vollkommen gewährt ift. 

Schon im Allgemeinen find die eigenthümlichen Vorzüge bes 
Thieres vor der Pflanze: die finnlihe Wahrnehmung und die will⸗ 


9. Wandertrieb des Geiftes: 38 


türliche Bewegung auf ben Befig der Sinnorgane, vor Allem des 
Sehens und Hörens, fo wie der bemegenden Muskeln gegründet; 
je weiter da6 Auge eines Thieres blickt, defto weiter kann es auch 
in der Regel ſich bewegen; je größer die Kraft und die Beweglich⸗ 
keit feiner Glieder tft, defto näher liegt ihm bie Beſtimmung, andere 
Thiere zu bewältigen und von ihrem Fleifche fi) zu nähren. 

Bei dem Menfchen find alle Sinnorgane in folcher Gleich 
mäßigfeit ausgebildet, feine Glieder find von fo vollkommner Be 
weglichkeit, daß fein Leib ſchon hierdurch das geeignetite Werkzeug 
wird, dem Alles forfhenden und verftehenden Beifte, fo wie dem 
vernünftigen Willen zu dienen. Sein Auge fieht alle Herrlichkei⸗ 
ten der Schöpfung, deren harmonifches Bewegen das Ohr ver- 
nimmt; feine Hand mit ihren tunftreih wirkenden Fingern bildet 
Alles nah, mas das Auge fieht und verleiht dem todten Inſtru⸗ 
ment eine Macht der Töne, wodurch daffelbe mit alen Melodieen 
des Bogelgefanges und ber Menfchenftimme felber zu wetteifern 
vermag. Dem inneren Antriebe der menfhlihen Natur zu einem 
Erkennen und Berftehen der Werke Gottes und zu einem Wirken 
und Bewegen feiner Kräfte, welches mit der göttlichen Weltordnung 
übereinftimmend ift, findet ſich demnach fein Leib, mit all? feinen 
Sliedern und Kräften volllommen anpaſſend und entfprechend. 
Dennoch können wir auch bier deutlich wahrnehmen, daß bie in- 
nere, geiflige Kraft mit ihren Antrieben zum vernünftigen Erken⸗ 
nen und Handeln nicht aus dem -vergänglihen Körper und aus 
der Einrichtung feiner Theile komme, fondern daß fie nur bem 
Geiſt angehöre und eins fei mit feinem Wefen felber, Sie ift des⸗ 
halb vorhanden und ber ihr eingepflanzte Antrieb giebt fi) kund, 
auch dann, wenn bie Befchaffenheit des Leibes ihres Wirkſamkeit 
ungünftig und in hohem Grade hinderlicdy erfcheint und laͤßt uns 
hierdurch erkennen, daß fie fortbeftehen werde, auch dann, wenn 
der Leib nicht mehr ift, eben fo wie fie beflanden ift, noch ehe der 
Leib war. Wir fuchen dies an einem DBeifpiele zu erläutern. 

In den vereinigten Staaten von Nordamerika zu Hannover 
in der Sraffhaft Nem-Hampfhire wurde im Jahr 1829 Laura 
Bridgmann, als Tochter achtbarer und gebildeter Eltern ‚geboren, 
an welcher es fih, wie an manden anderen Zaubblinden, gezeigt 
bat, daß ber Geiſt des Menfchen in feinen Kräften und Aeußer- 
ungen berfelbe bleibe, auch dann, wenn bie Pforten des dufßeren 
Erkennens, die. oberen Sinne, für ihn ganz verfchloffen find. 
Laura war bis zu dem zwanzigſten Monat ihres Lebens in einem 
Zuftand des befländigen Hinfterbens, denn fie litt faft feit ihrer 
Geburt an den fehmerzhafteften Krämpfen und war überaus ſchwaͤch⸗ 
ih. Erſt von ihrem ein und zwanzigften Monat an hatte fie fich 
etwas erholt und vor dem Ende bes zweiten Lebensjahres einige 
Worte fprehen gelernt. Aber dieſe fcheinbar. leibliche Beſſerung 
war nur der. Anfang eines noch viel fchwereren Leidens gemefen. 
Die innere, bisher auf der Wurzel des. Lebens laftende Krankheit, 


3 * 


86 9, Wandertrieb des Geiſtes. 


welche vorher die lebensgefährlichen Krämpfe erregt hatte, zog ſich 
vom Gehirn hinweg und marf fi auf die Organe des Geſichtes 
und Gehöres; dieſe gingen in Vereiterung über und murben ganz 
zerſtoͤrt; das Leben des Kindes war gerettet, aber Laura war von 
nun an eben fo fehr ftodblind als gänzlich taub, ja, wie fi dies 
fpäter ergab, fie hatte auch, den Sinn bed Geruches und des Ge⸗ 
fhmades verloren, denn ob man ihr Rhabarbertrant in ben Munb 
gab oder There, das konnte fie nicht unterfcheiden. Das arme 
Kind ift am Leben erhalten worden, um die anderen Menfchen zu 
lehren, daß in ihnen nocd ein anderes Weſen und Leben fei als 
das mwandelbare, vergängliche des Fleifches. 
Mährend ihrer legten fchwerften Kinderkrankheit und eine kurze 
Zeit nachher ſprach Laura noch einige ihrer erlernten Worte, da fie 
aber Ihre Stimme nicht mehr hörte, verflummte fie bald ganz. 
Sie erholte fi) langfam und erft mit dem Anfang des fünften 
Jahres war fie, abgefehen von dem Berluft der Sinne, vollfom- 
men gefund zu nennen. Aber faum war fie diefed geworden, da 
gab ſich auch der Geift des innerlich reichbegabten, dußerlich fo 
verarmten Kindes, mit all’ feinen ihm eingeborenen Kräften und 
Beftrebungen, in einer fo augenfälligen Weife und, als wäre nicht® 
gefhehen, das ihn von außen beeinträchtigen konnte. Alsbald 
regte fi, in derfelben Stärke wie bei talentvollen Kindern mit 
gefunden Sinnen, der Antrieb zum Erkennen und die Wißbegierde. 
Laura fing an, munter im Haufe herumzulaufen und alle Gegen- 
flände mit ihren Händen zu betaften. Vor Allem folgte fie der 
Mutter, auf allen ihren Tritten und Schritten, forfchte, wenn 
diefe befchäftigt war, mit ihren fühlenden Händen nah dem Thun 
ber Mutter, ahmte dieſes forgfältig nad) und lernte auf diefe Weife 
mehrere weiblihe Arbeiten. Wie andere Mädchen ihres Alters 
verftand fie und trieb fie mit Luft bad Spiel mit Puppen und 
anderen Gegenftänden ber Eindlihen Ergoͤtzung; ihre höchfte Freude 
jedoch genoß fie dann, menn fie etwas Meues erlernt, oder den 
Nutzen eines Gegenftandes, den Zweck einer Arbeit erforfcht hatte. 
In ihrem angehenden neunten Jahre, 1837, kam Laura nad 
Bofton, in das dortige Blindeninftitue, unter die Leitung bes 
trefflihen Borftandes, des Doctor Home. Als das Kinb fi auf 
einmal von feiner treueften, liebften Pflegerin und Freundin ge⸗ 
rennt, unter ganz fremden Menfchen und in fremder Umgebung 
fühlte, war es allerdings eine Zeit lang furchtfam und verlegen, 
aber es zeigte fih auc in diefem Falle, daß ber tieflte, innerfte 
Antrieb unferer Natur, der im Wefen des Geifted liegt, mächtiger 
und gewaltiger fei als ber Zug und die Neigungen des Fleiſches. 
Der Trieb, Neues zu erkennen und zu erforfchen, fand in der neuen 
Umgebung mehr Nahrung; das Streben nad) geiftiger Zufammens 
gejellung wurde noch ungleidy vielfeitiger befriedigt als im elter- 
lichen Haufe, darum fand ſich die Kleine am neuen Aufenthaltsort 
bald eben fo gluͤcklich, ja noch glüdliher als daheim. Kamen doch 


9. Wandertrieb bes Geiftes, 3% 


dem fchönen, lebhaften, geiftvollen Kinde, das fo fanft und liebe 
voll anfchmiegend war wie ein Lamm, alsbald alle Mitglieder der 
Blindenanftalt mit Liebe entgegen, und wenn die blinden Pflege: 
fhweftern mit ihr fpielten, wenn felbft Doctor Home ihrer Puppe, 
mit der fie einmal, al& ob diefelbe krank fei, die Rolle einer Kran 
tenmwärterin fpielte, den Puls fühlte und ihr ein Pflafter auf den 
hölzernen Kopf legte, da jauchzte fie laut und hüpfte vor Freude, 
Das von Anderen fo viel bedauerte Kind, tie war es den⸗ 
noch fo gluͤcklich in fich felber, fo froh und heiter! Es wußte, daß 
ihm Bieles, daß ihm Wahrnehmungen ber Außenwelt mangeln, 
welche die anderen, gefunden Menfhen haben, zugleich aber fühlte 
ed, daß es dennoch das befise, was mehr ift als die Außeren 
Sinne und was es allen anderen Menfchen gleich ftellte; es war 
in der Thätigkeit feines forſchenden Geiſtes und in der Liebe zu 
anderen Menfchenfeelen gluͤcklich. Bald mar die Kleine mit ihrer 
neuen Umgebung fo vertraut, daß fie wie ein fehendes Kind bie 
Treppen des Haufes auf und ab lief, und alle vierzig Bewohner 
deffelben burcy Berührung kannte. Bei Tifche, mie bei jeder an⸗ 
deren Gelegenheit, betrug fie fih mit einem Anftand, der nicht 
durch dad Sehen von fremdem Beifpiel erlernt war, fondern von 
innen hervorging; fie Mleidete ſich ohne fremde Hülfe von felber 
aus und an und verrieth hierbei, felbft beim Flechten bes Haares, 
ein ihrem Geſchlecht eigenthümliches Streben nad Nettigkeit und 
Zierlichkeit; in den meiblihen Arbeiten des Stridens, Stickens, 
Naͤhens bewies fie eben fo viel Fleiß und Gefhi als ihre blinden, 
dabei aber hörenden Mitfchülerinnen. So war fie in das günftigfte 
Element zur Entwidlung ber Antriebe ihrer inneren Menfchennatur 
gefommen und befand fih wohl in ihm, " 
Mitten aber in der geiftigen Aufregung waren die Keime der 
natürlichen Liebe und dankbaren Anhänglichkeit an die erſte Pflegerin 
des Lebens, an die Mutter, keineswegs erflidt worden, fondern 
diefe wuchſen mit ber geiffigen Entwidlung zugleih, immer Eräfs 
tiger, menfchlich veredelter auf. Etwa ein halbes Jahr nach Laura’s 
Eintritt in die Blindenanftalt erhielt diefelbe einen Befuch von Ihrer 
Mutter. Das Perfonengedächtniß der Heinen Zaubblinden war 
feitdem mit fo vielen neuen Eindrüden überfüllt worden, daß fie 
die Mutter in den ihr wahrfcheinlich noch unbekannten Reifetleidern 
nicht erfannte, obgleich fie forfchend ihre Hände wie ihren Anzug 
betaftet hatte. Sie wendete ſich deshalb bald wieder von derfelben 
wie von einer Fremden ab, ja fie entzog ſich mit Widerſtreben ihren 
Lieblofungen, obgleich die wohlbekannte Perlenfchnur, die fie im: 
elterlichen Haufe getragen, und welche die Mutter ihr mitgebradjt 
hatte, ihr große Freude machte und fie beim Empfang berfelben 
dem Doctor Howe andentete, daß dies aus der Heimath komme. 
Die Mutter reichte ihre hierauf noch einen anderen mwohlbefannten 
Gegenftand aus dem Eiternhaufe in die Hand, Laura wurde leb⸗ 
baft bewegt, unterſuchte fie genauer, gab- dem Herrn Home zu: 


38 9, Wandertrieb des Geiſtes 


verfiehen, daß dieſe Dame gewiß aus Hannover kaͤme, lieh fich 
aud) einige Liebfofungen von ihr gefallen, ging aber dann body 
wieder von ihr weg. Die fhmerzlich betroffene Mutter nahte ſich 
ihr von Neuem, da erwachte in der Kleinen auf einmal ber Zug 
der Eindlichen Liebe mit aW feinen Erinnerungen, fie betaftete fehr 
eifrig die Hände der vermeintlich Fremden, wurde bald bleich, bald 
glühend roch, und als jegt die Mutter fie an fid) zog, da verſchwand 
aller zuruͤckhaltende Zweifel, fie warf fi) mit dem lebendigften Aus: 
druck des Entzuͤckens in die Arme derfelben und wich nicht mehr 
von ihr; weder von ihren Spielfahen noch von den Gefpielinnen 
nahm fie jest weitere Kunde, 

Der nach Entwicklung ringende, geiflige Antrieb zeigte übrigens 
auch bei diefer Gelegenheit feine entfchiedene Macht. Als die Mut- 
ter wieder abreifen wollte, begleitete das Kind bdiefelbe, fie feft um: 
fhlingend, bis vor das Haus, tappte dann mit ber einen freien 
Hand umher, um zu forfchen, wer in der Nähe fei, und da fie hier 
bei eine ihrer geliebteften Lehrerinnen entdedte, faßte fie diefe bei 
der Hand, drüdte noch einmal die Mutter innig feſt an ihe Herz, 
entließ fie aber dann und warf fi laut fchludyzend in die Arme 
der Lehrerin. 

Daß, mie wir vorhin fagten, der natürliche Trieb bes menſch⸗ 
lichen Gemüthes, der mehr dem Fleifche inwohnt, durch das Wach⸗ 
fen des geifligen Antriebes keineswegs geſchwaͤcht, fondern nur 
veredelt und durdy das geiftige Element, das er empfängt, nur 
nod mehr verflärft werde, dies zeigte fich bei Laura am deutliche 
fien, als fie, in einer freilich nicht hörbaren, fondern nur fühl- 
baren, oder in Buchflabenfchrift fihtbar werdenden Gedankenſprache 
ſich ausdrüden gelernt Hatte. Mit ber Gabe ber Sprache wuchs 
aud) das Vermögen der deutlichen Erinnerung an die. Perfonen 
und Gegenftände der Außenwelt; die Züge der Zuneigung und 
Abneigung traten in deutlicherer Geftalt hervor. Sobald die Taub⸗ 
blinde durch die Gefchäftigkeit ihrer Finger hatte Worte bilden 
lernen, war die Mutter und das Verlangen nad) ihr ein öfterer 
Gegenſtand ihres Gefpräches, ihr erfter Brief war an diefelbe ge⸗ 
richtet, und wenn etwa die Lehrerin eines der anderen blinden 
Mädchen liebkoſend in ihre Arme fchloß, wobei fich vielleicht in 
der armen, der fremden Liebe fo bedürftigen Laura eine Kleine 
Eiferfucht regte, dann fprachen ihre zarten Finger die Worte aus: 
„Meine Mutter wird mid) lieb haben.’ 

Dem SInflinet, der. im Thiere waltet, kommt die leibliche 
Bildung jener Glieder entgegen und zu Hilfe, durch welche - die 
innere Negung bes Antriebes ſich zu Außern vermag; biefer Ans 
trieb fchafft und geſtaltet ſich fein beflimmtes, ihm zugehöriges 
Organ. Dem Inſtinct, melcher das Thier zum Nahrungnehmen 
leitet, dienen beim Raubvogel die fehnellen Schwingen zum Ereilen 
ber Beute, Füße mit ihren Klauen, fo wie der Schnabel zum Er⸗ 
fofjen und Zerlegen berfelben, dann der Magen und die Gedärme, 








9. Wandertrieb des Geiſtes. 38 


in welchen das Genoſſene aufgelöst, die-Gefäße, durch welche es 
zur Ernährung der Theile meiter gefördert wird. Auch ber geiftige 
Anrieb der Menfchennatur, zum Erfaflen des Erkennbaren und 
zum Verarbeiten defjelben in eine innere Geſtalt des vernünftigen 
Willens, fo wie in bie Kräfte. zum vernünftigen Handeln fchafft 
und bildet fi fein eigenthämliches Organ: die Gebantenfpradye, 
deren Worte zuerft ein inneres, überfinnliches Element find, dann 
aber in ein Außerlich‘ vernehmbares fi) verwandeln. Der Flug 
bes Adlers, wenn er mit Sturmeseile fi auf feine Beute flürzt, 
ober der der Schwalbe, wenn fie über das Meer zieht, ift ſchnell; 
die Gedankenſprache des Menfhen aber ift noch unvergleichbar 
fhneller, denn kaum ift das Wort gedacht oder geſprochen, da ift 
ber erkennende Geift auf der Schmwinge ber Sprahe auch fchon 
zu dem Gegenftande hingelangt, den das Wort bezeichnete; wir 
find im Geifte bei dem Freunde, den mir nannten, ober an ber 
vormals von und befuchten und gefehenen Stätte, auch wenn 
beide, der Leiblichkeit nach, in einem weit entfernten Welttheile 
ſich befinden. Mit dem Denken und Sprechen des Wortes hat 
auch der Menfhengeift zugleih das Vermögen empfangen, das 
leiblih) Gefehene und Empfundene in ein Wefen von geiftiger Na: 
tur zu verwandeln, welches als folches zu feinem bleibenden Eigen- 
thum mird, eben fo ungerflörbar und unvergänglic ale der Geift, 
feinem Wefen nad, dies felber ift. 

Sobald die Biene in ihrer volllommenen geflügelten Geftalt 
and Licht getreten ift, kann fie, auch wenn man in diefem Augen- 
bli fie unter einem Glas, bei einer Fülle von Nahrungsmitteln 
gefangen hält, nicht ruhen, fie fliegt aͤngſtlich Hin und her in ih⸗ 
rem Gefängriß, und fobald man fie hinausläßt, braucht fie ſo⸗ 
gleich die Flügel fo wie die anderen Glieder zum Auffuchen und 
Herbeiführen des Materiald und zur Gefchäftigkeit für den gemein- 
famen Bau, den fie mit den anderen Bienen ihres Schwarmes 
zu einer Pflegeanftalt für die junge Brut und zu Vorrathskam⸗ 
mern errichtet. Auch der eingeborene Antrieb des Menfchengeiftes 
führe diefen unaufhaltfam, als ein Kunfttrieb von höherer Art, 
zur Mitwirkung für einen Bau hin, beflen Aufführung ein ges 
meinfames Merk der ‚Menfchenfeelen if: zu der Bildung einer 
jedem Einzelnen verftänblihen Menfhenfprahe. Diefe ift das 
mächtige Bauwerk, in welchem fchon die längft vergangenen Ge 
fhlechter den Vorrath der Gedanken und Erkenntniffe für uns 
niedergelegt Haben, und aucd wir vertenuen ihm die fruchtbaren 
Saamen für fünftige Zeiten an. 

Die Lebenskraft, die im Wefen der Biene waltet, kann nicht 
anders, fie muß fich in der Geftaltung ber Flügel und al’ jener 
anderen Glieder fund geben, welche der herrſchende Antrieb zum 
Sammeln und Bauen gu feinem Dienfte bedarf. So kann auch 
der vernünftig erfennende und mwollende Menfchengeift nicht anders, 


40 9, Wandertrieb des Geiſtes. 


er muß fih eine Gedankenſprache fchaffen, muß mit biefer bie 
Melt des Erkennbaren, fo weit ihm dieſe offen ſteht, umfaflen 
und in der Mittheilung feiner Gedanken an andere Menfchenfeelen 
zu dem gemeinfamen Kunftwert des Wiſſens mitwirken. Die 
Seele unferer armen Zaubblinden glich in ihrer leiblihen Bes 
ſchraͤnkung durch den Mangel der höheren Sinnorgane, jener 
Biene, die man bei ihrem Hervorgehen aus der Puppenhülle un⸗ 
ter einem Glaſe gefangen hält, fie firebte emfig hinaus in ben 
Kreis jenes freieren Wirkens, darin fie eine Gedankenſprache, zum 
Empfangen der fremden Erkenntniffe von .außen, und der Mit: 
theilung ihrer inneren Regungen an andere erringen konnte. 
Wenn die Menfchenfeele das Werk der Bildung eines Mittel: 
gliedes von halb geiftiger, halb Leiblicher Art, wie dies die Sprache 
ift, beginnt, da folgt fie zunaͤchſt dem Laufe, den der leibliche 
Athem nimmt. Wie ber Odem ein Aufnehmen und ein Hinaus⸗ 
geben des Lebenselementes ber Luft, fo begründet die Sprache ein 
Aufnehmen und Ausgeben der Elemente des Erkennens. Der 
Drang zu fprechen, dem Geifte fo weſentlich eingepflanzt ald dem 
Leibe der Drang zu athmen, macht deshalb im Menfhen alsbald 
gemeinfame Sache mit feinem leiblichen Gefährten und Abbild ; 
er bedient fi der Stimme zu feiner Befriedigung. Auch der 
Taubgeborene, welcher niemals die Stimme eines Menfchen vers 
nommen hat, fühlt fih unmilltürlich dazu gedrungen, feine Ems 
pfindungen wie feine BVorftellungen duch Zone auszudruͤcken. Ein 
Raubftummer, der durch den empfangenen Unterricht fo weit ges 
bracht war, daß er feine Gedanken in der Wortſprache kund geben 
konnte, erzählt von fich, daß er vorher, ehe er Worte gelernt hatte, 
zu jenen Geberden, momit er einzelne Gegenftände bezeichnen 
wollte, immer auch eine befonbere Anregung feiner Stimme hinzu: 
gefügt habe, für jede ihm befannte Perfon habe er einen, freilich 
zunachft nur ihm durch das Gefühl verftändlidyen Ausdrud ber 
- Stimme oder gleihfam Namen gehabt. 

| Bei der taubblinden Laura war diefer nothwendige Zufam- 
menhang, in.mwelhem die Gefühle und Borftellungen der Seele 
des Menfchen mit feiner Stimme flehen, in ganz befonders deut: 
licher Weife zu bemerken. Wenn fie in ein Zimmer trat, in wel 
em eine Anzahl ihrer blinden Hausgenoffinnen verfammelt war, 
dann umarmte fie jede derfelben und gab dabei einen befonberen 
Laut von fi), den die blinden Mädchen, bierinnen aufmerffamer 
und geübter als die fehenden Menfchen,, eben fo gut verftanden, 
ald einen ausgefprochenen Namen. Auch dann, wenn fie ganz 
allein war und etwa an eine ber Freundinnen dachte, ber fie mit 
vorzüglicher Liebe zugethan mar, ließ fie den Laut vernehmen, ber 
die geliebte Sreundin bezeichnete, und wenn man fie fragte, warum 
fie den Namen nicht fo wie bei den Gedanken an andere Gegen⸗ 
flände durch das Fingeralphabet ſich ausdrüäde, fondern durch .eis 





9.. Wandertrieh des Geiſtes. aM 


nen aut, ba antwortete fie: ich denke nicht daran, ihren Namen 
zu buchſtabiren, — — weil ich denke, wie fehr fie mich liebt und 
wie fehr ich fie liebe. 

Der Menfh, auf der niederen Stufe der Sprachfaͤhigkeit, 
auf welcher der noch ununterrichtete Taubſtumme fteht, ift mie 
bee Bogel oder mie andere mit einer Stimme begabte Xhiere, 
welche auch die Gefühle des leiblichen Wohlfeins oder des Schmers 
zens, ber wechfelfeitigen Zuneigung oder Abneigung, des Zornes 
wie des Schredend, durch Töne ber Stimme kund geben, und 
auch fpäter fucht das Stimmorgan bei jeder lebhaften Aufregung 
bed Gemuͤthes das Recht, zu behaupten, ein Träger und Verkuͤn⸗ 
diger der Gefühle zu fein. 

Bei Taubflummen, und felbft bei Zaubblinden, macht fich bee 
Drang ber Menfchenfeele, zu fprehen, noch auf einem anderen 
Wege, burdy die Sprache der Geberden Bahn, melde eben fo in 
inflinetmäßiger Weife erzeugt wird, wie das Bewegen der Hand 
nach einem Gegenftand hin, welchen der Menfch zu ergreifen 
wuͤnſcht. Manche Bögel, wie [don der gemeine Staar, begleiten 
die Töne ihres Gefanges mit tactmäßigen Bewegungen ber Fluͤgel; 
einige Arten ber Kraniche werden felbft durch Mufit, die fih im 
ber Mähe ihres Käfige vernehmen läßt, zu tanzenden Beweguns 
gen der Füße und Flügel bewogen. Solche aͤußerlich verarmte 
Menfhennaturen, welche nicht allein taub, ſondern zugleich blind 
find, können feine Geberden, welche fehende Menſchen ihnen vors 
machten, nahahmen, fie koͤnnen ihre Zeichenſprache nihe von Ans 
deren erlernen, und bdennod erfinden fie fi von felbft eine für 
al? ihre Beduͤrfniſſe volllommen ausreihende. ine Xaubblinde 
aus Dftende, die Anna Timmermanns, vermochte ſich fo gut und 
deutlich in ihrer Geberbenfpradye auszudrüden, daß jedes fehende 
Kind fie verftand und bag man fie zu Heinen Einkäufen außer 
dem Haufe, bei den Krämern gebraudhen konnte. Ein amberer 
Zaubblinder, der dieſes eben fo wie die Anna Timmermanns von 
feiner Geburt an geweſen war, der Schottländer James Mitchell, 
tonnte ganze kleine Geſchichten, aus dem engen Kreis feiner Er⸗ 
fahrung , durch die Geberdenfpradye erzählen. Auch Laura unter 
biete fi mit folhen Derfonen, welche der Sprache des Fingers 
alphabetes unfundig waren, fehr geläufig in der Sprache ber Ges 
berden, und wenn man ihre Fremde vorftellte, war gewöhnlich ihre 
erfte Frage, ob diefeiben blind feien oder fehen könnten 3 damit fie 
hiernach die Weife der Mittheilung beftimmen konnte. Ohnehin 
fprachen bei diefem lebhaften und gefühlvollen Kinde die Mienen 
des Angefichtes alle Bewegungen des Inneren: Hoffnung wie 
Furcht, Vergnügen und Schmerz, Selbftzufriedenheit und Reue 
in der unverkennbarſten Deutlichkeit aus, 

Obgleich jedoch ſelbſt bei Taubftummen und bei Zaubblinden ber 
vernünftig erfennende Geift des inneren, eingeborenen Antriehes, 
der zur Bildung einer Sprache .führt, nicht beranbe iſt, fondern 


42 9, Wanbertrieb des Geiſtes. 


denfelben in Eräftiger Weiſe kund giebt, ergeht e6 ihm dabei immer- 
bin. ehe ſich ihm das Verſtaͤndniß der eigentlichen Wortſprache 
eröffnet, wie der vereinzelten Biene oder Wespe, die man von ih⸗ 
rem Schwarme getrennt- und in ein Behaͤltniß gebraht hat, in 
welchem übrigens für Alles geforgt ift, was zum Unterhalt ihres 
Lebens wie feiner Gefchäftigkeit gehört. So lange in ihre das 
Leben noch Eräftig ift, regt ſich der Inſtinct noch in jener Weife, 
in welcher er beim gemeinfamen Bau bes Stodes thätig war, 
dies aber nur in höchft unvolllommenem Maafe: die Troͤpflein 
des Honigs werden planlos, da oder dort verfireut ; die Wespe 
benagt zwar nody das morfche Holz unb verarbeitet feine Faſern 
zu einer dem Löfchpapier ähnlichen Maffe, aber es wird aus bie 
fer ein regelmäßiges Bauwerk geflaltet. In der Wortfpradhe, bie 
ber Menſch aus den fernften Zeiten des Urfprunges feines Ge 
fhledhtes zum gemeinfamen Erbe mit anderen Menſchen empfan⸗ 
gen hat, waltet ein Geiſt des allgemeinen, vernuͤnftigen Erkennens, 
welcher auf alle Seelen, die durch das Erlernen der Sprache ſeine 
Weihe empfangen haben, eben ſo anregend, ordnend und belebend 
wirkt, wie die Macht der Bienenkoͤnigin auf die Seelen aller Bie⸗ 
nen ihres Stockes. Mit der Wortſprache geht in dem Dunkel 
der Menſchennatur ein Licht auf, welches ihr das ganze Reich des 
ſichtbar Geſchaffenen ſo wie ihr eigenes Inneres erleuchtet. Der 
Wanderer, der in der Nacht nur ganz in ſeiner Naͤhe einen ein⸗ 
zelnen Baum, einen einzelnen Felſen bemerkte, uͤberblickt, wenn 
ihm der helle Tag anbricht, auf einmal die ganze Landſchaft, mit 
ihren Waͤldern, Bergen und Fluͤſſen, er erkennt ihre vereinzelten 
Theile als ein zuſammengehoͤriges Ganzes und fuͤhlt ſich jetzt zu 
dem gemeinſchaftlichen Tagwerk mit anderen Menſchen freudig hin⸗ 
gezogen und geſtaͤrkt. So ergeht es dem Taubſtummen, wenn er 
aus dem engen Kreiſe ſeiner Geberdenſprache in den weiten der 
Wortſprache eingefuͤhrt wird, und noch viel auffallender als ihm 
muß ſich der Gewinn, den die Wortſprache bringt, dem Taub⸗ 
blinden fund geben. 

Mir befigen verſchiedene fchriftliche Berichte von Raubftum: 
men, welche fi in der Schriftſprache, und ohne ſich ſelber zu 
hoͤren, ſelbſt muͤndlich ausdruͤcken lernten, uͤber die Erfahrungen, 
die ſie auf dem Wege der Entwicklung ihrer Sprachfaͤhigkeit ge⸗ 
macht haben. Sie kommen alle darinnen uͤberein, daß die Vor⸗ 
ſtellungen, bie ein noch wort⸗ſprachloſer, tauber Menſch von den 
Dingen und Begegniſſen der Außenwelt hat, im hoͤchſten Grade 
unvollkommen und einſeitig ſind, dabei ſo wenig ein Eigenthum 
ſeines Geiſtes, daß er ſich ihrer großentheils nur dunkel erinnern 
kann, viele aber nur wie alsbald wieder verſchwindende Schatten⸗ 
bilder an ſeiner Seele voruͤbergehen. „Ich beſinne mich“, ſagt 
einer der unterrichteten Taubſtummen, „nur noch dunkel, auf 
welche Weiſe ich gedacht habe, ehe ich in das Helligchum der 
(Wort⸗) Sprache eingeführt worden bin.” 


9. Wandertrieb des Geiſtes. 43 


Wie koͤnnte dieſes auch anders ſein? Wird doch der Eindruck, 
der auf unſere Sinne geſchieht, erſt dadurch zu etwas Geiſtigem 
und hiermit der Natur des Geiſtes vereinbar, daß er ſich im Wort 
der Sprache zu einem vernehmbaren (vernuͤnftigen) Gedanken ge⸗ 
ſtaltet. Wie ſich ſchon der Sinn des Wortes „denken“ einem 
bloß durch Geberden redenden Taubſtummen kaum erklaͤren laͤßt, 
ſo iſt wohl uͤberhaupt dem Menſchen, der nur ſolche Zeichen ſtatt 
der Worte hat, ein klares Denken unmoͤglich. Die ſinnlichen Ein⸗ 
druͤcke, ſo wie ſie der Taubſtumme in ihrer einſeitigen Naturform 
erfaßt, gleichen in ihrer Beziehung auf die innere, niederere wie 
hoͤhere Natur des Menſchen, dem Gruͤn und den Fruͤchten des 
Feldes, bei deren Genuß das Thier unſerer Heerden kraͤftig ge⸗ 
deiht und feiſt wird. Uns gewaͤhren jene waſſerreichen Ruͤben 
und Kohlgemuͤſe fuͤr ſich ſelber kaum eine nothduͤrftige Nahrung, 
wohl aber eine ſehr gute und gedeihliche, wenn fie durch die Ver⸗ 
dauung des Thieres in Fleifh und Mild verwandelt find. Eine 
Verwandlung, die uns ein Vorbild beffen fein kann, was mit den 
Erfahrungen der Sinne vor fich geht, wenn fie die Form ber 
Wort: und Gedankenſprache annehmen. 

Und biefes ift es ja, was ber inwohnende Geift in uns fucht 
und begehrt. Er verlangt eben fo nach dem Leben als der Leib, 
und damit er dies Tonne, bedarf er nicht minder feiner ihm zu⸗ 
träglihen Nahrung, als der Leib der feinigen. Unvergleichbar 
viel mehr als der Blindgeborene, wenn demfelben in einzelnen feltes 
nen Faͤllen durch eine glüdliche Operation das Gefiht, und hier: 
duch die Anfchauung ber fchönen, fihtbaren Welt geſchenkt wird, 
freut fid) der Geift des Taubblinden, wenn ihm mit dem Verſtaͤnd⸗ 
niß und dem Gebrauch der Wortfprahe auf einmal die Erfenntniß 
einer ganzen Welt des fihtbaren, mie des unfichtbaren Seins auf 
bämmert und allmählig in immer helleres Licht tritt. Wir können 
dies an Laura’s Beifpiel wahrnehmen. Mit einer ähnlichen Luft 
und Begierde als ein Hungernder, dem man nad) langer Ent: 
behrung Speife und Trank reicht, erfaßte die Seele diefed Kindes 
das ihm dargebotene Verftändnig der Wortfprache, 

Der Unterricht in diefer ift bei einem Zaubblinden ungleicy 
ſchwieriger, als bei einem febenden Zaubftummen. Wenn man bie 
fem ein aus mehreren Buchitaben beftehendes Wort, wie etwa 
Baum, an die Tafel fchreibt und ihm den Sinn beffelben in feine 
gervohnte Seberdenfprache überfegt oder auf den Gegenftand, ben 
das Wort bezeichnet, hindeutet, dann gefchieht es öfters, daß: der 
Taubſtumme ſich vergeblid) abmüht, eine Aehnlichkeit zwifchen dem 
gefchriebenen Worte und dem Baume zu finden. Leichter zum Ziele 
führend ift für einen felchen Lernenden ſchon der Meg des Unter 
richtes, bei welchem ihm der Lehrer die Geftaltung des MWortePin 
der Bewegung ber Lippen, ber Zunge, bes Unterkiefers und 
des Kehlkopfes vormacht und ihn veranlaßt, biefe Bewegungen, 
welche er am Körper des Lehrers: theild mit den Augen fieht, 
theils mit ber Dand fühlt, nachzuahmen. Das Gefühl, wel⸗ 


4 9. Wandertrieb des Geiftes. 


ches der Taubſtumme bei dem almähligen befferen Selingen 
feines Nahahmungsverfuhes hat, prägt ſich feinem Gedaͤcht⸗ 
niß ein, er lernt zugleich daffelbe nad Willkür wieder hervor⸗ 
rufen, und wenn er nun das Wort Baum oder Hand ausfpridht, 
und der Lehrer ihn in der Geberdenfprahe ober durch Hindenten 
auf den Gegenſtand es andeutet, daß er das Wort veritand, dann 
wird ihm mit dem Gebrauch der Sprache zugleich das Verftändniß 
ihrer Beſtimmung wie ihrer Bedeutenheit gegeben. 

Wie viel fehmwerer ift es dagegen für einen Taubblinden, daß 
er die innere, geiftige Beziehung, in melcher das nur für feine 
Finger fühlbare, aus erhabenen Buchflaben gebildete Schriftwort 
zu dem mit ihm bezeichneten Gegenftand ſteht, errathe und be 
greife. Er betreibt allerdings, dem Lehrer zu Gefallen, das Ges 
fhäft des Hinlegens der Zettel oder Bleche, auf denen das fühlbare 
Wort fteht, zu dem ihm entfprechenden Gegenftand, wie etwa Buch, 
Brod, Stein, die man ihm anfangs mit ihren buchfläblichen Zeis 
hen zugleich an bie fühlenden Finger brachte, aber jenes Geſchaͤft 
fommt ihm lange Zeit nur wie ein Spiel vor, deſſen Nugen er 
nicht begreift, und welches ihm vielleicht, mie dem taubblinden Ja⸗ 
mes Mitchell, mit dem man diefen Unterricht erſt im 19ten Jahre 
beginnen wollte, bald zum Edel und Weberdruß wird. 

In diefe Gefahr gerieth die Eleine, geiflig begabte Laura nicht. 
As fie zum erſten Male das fchriftlih fühlbare Wort für Schlüfs 
fel (key) nicht an jenen Schlüffel legte, der bei dem bisherigen 
Unterrichtöverfuh gebraudht worden war, fondern an den hierzu 
niemals benugten Schlüffel, der an der Thüre ſtack, da fprachen 
all? ihre Mienen die freudigfte Seibftzufriedenheit aus; bie Bedeu⸗ 
tung und Beftimmung des Schriftzeichene, als eines Mittels, die 
Gedanken Anderer zu veritehen, und feine eigenen denfelben mitzu- 
theilen, war ihr jest auf einmal klar geworden ;- ein Widerfchein 
menſchlicher Vernunft ftrahlte aus ihrem Angeficht hervor. 

Das, was ganz aus dem Geift hervorgeht, esfcheint unferem 
leiblichen Auge ftets als ein Wunder, denn es wird auf einmal 
und fleht vollendet vor. und da, ohne daß mir den verborgenen 
Grund bemerken, aus dem es kam; es geht feinen Weg ber viel 
feitigen Wirkſamkeit durch das Leibliche, ohne dag wir fehen wohin? 
Ein ſolches täglich, an jedem gefunden Menfchenkind wiederkehren⸗ 
des Wunder ift das Entftehen der Menfchenfpradye aus ben ein- 
zelnen Elementen, welche die Seele von außen empfängt, Wer 
möchte einem, mit gefunden Sinnen begabten Kinde, um ed zum 
vollkommenen Sprechen zu befähigen, die Grammatik, die Aneinan- 
derfügung ber einzelnen Worte zu einem lebendigen Ganzen der 
Rede lehren, und. wer Fönnte dieſes bei einem taubblinden thun, 
wi Laura war? Dennoh gab fih an ihr dieſelbe fehöpferifche 
Kraft des Geiftes kund, die wir an unferen gefundfinnigen Kindern 
bei der Bildung der Sprache bemerken, ohne baß es uns an biefen 
fo fehr auffällt, weil uns die Meinung nahe liegt, die Kinder hätten 
ben vernünftigen. Iufammenhang und jenen: treffenden Ausdruck 


9, Wanbdertrieb bed Geiftes, 45 


ihrer Rede, durch ben fie uns oft in Erftaunen feßen, dennoch 
ben Erwachſenen abgehorht. Diefes konnte nun bei Laura keines⸗ 
wegs ber Fall gewefen fein, als fie auf einmal bie Worte, deren 
Seftaltung duch Schriftzeichen und durch Bewegung der Finger 
fammt ihrer Bedeutung man ihr gelehrt hatte, zu einer vernünf 
tigen Rede zufammenfaßte, deren Sinn im Ganzen fehr verftändlidh 
war, menn er auch bei einzelnen Worten verfehlte erfchien. So 
fragte fie, als H. Home verreift war, um mehrere Erziehungsans 
fialten des Landes zu befuchen: „werden da auch taube Knaben 
und Mädchen in den Schulen fein? Wird Doctor fehr müde fein; 
bleibt er, für viele Feine Mädchen zu ſorgen?“ Und als im Kreife 
ihrer blinden Gefpielinnen in der Unterhaltung mit ihr durch bie 
Fingerbuchſtabenſprache die Rede von den bevorftehenden Ferien und 
den Serienreifen geweſen war, dußerte fie gegen die Lehrerin: „ich 
muß nad Hannover geben, meine Mutter zu ſehen; body nein, 
ich werde fehr ſchwach fein, fo weit zu gehen ; ich will nach Halifar 
gehen, wenn ih mit Ihnen gehen fannz wenn Doctor fort ift, 
denke ich, will ich mit Jeanette gehen; wenn Doctor zu Daufe ift, 
kann ich nicht gehen, weil er nicht allein bleiben mag, und wenn 
Jeanette fort ift, kann er nicht feine Kleider ausbeflern und Alles 
allein beſorgen.“ 

Mit der Wortfprache, der eigentlihen Sprache der Gedanken, 
empfängt der Menſch zugleich das deutliche, klare Erkennen feines 
Selbſt: Selbfigefühl und Selbſtbewußtſein. Auch biefer Gewinn 
des Geiftes, durch das ihm zu eigen gewordene Organ der Mit 
theilung, wird uns an Laura's VBeifpiel erfihtlihd. So Außerte 
das merkwürdige Kind. eines Tages gegen die Kehrerin: ‚Doctor 
wird in vierzehn Tagen kommen, denke ich in meinem Kopfe“ und 
auf die Frage, ob fie denn nicht in ihrem Herzen denke? antwore 
tete fie: - ‚‚nein, ich kann nicht denken im Herzen, ich denke im 
Kopfe.“ Als fie weiter gefragt murde, warum fie nicht im Derzen 
denke? dußerte fie: „ich kann da nicht wiſſen; alle Eleine Mädchen 
Eönnen im Herzen nicht wiſſen.“ Dagegen fagte fie, als fie eins 
mal traurig war: ‚mein Herz thut weh. Wenn Herz wehe thut, 
fließt dann Blur?’ Wieder zu einer anderen Beit, da fie, wie es 
fhien, vom Lernen ermübdet war, that fie die merkwürdige Aeußerung: 
„warum. kann ich nicht aufhören zu denken? Hören Sie auf zu 
denken? Hört Harrifen‘ (fie meinte den Präfidenten, deſſen Tod 
fo. eben ein Gegenftand der Unterhaltung und lebhaften Theilnahme 
bei den Kindern in ber Anflalt war) „auf zu denken, da er 
tobt iſt?“ 

Das Bewegen bes Geiftes muß nothwendig in dem ihm zu- 
geordneten Kreife feiner Leiblichkeit ein entfprechendes, verwandtes 
Bewegen mweden. Ein lebhaftes Kind, wenn es ganz allein, feinem 
Spiele dahingegeben ift, denkt fprechend, im lauten oder leifen 
Selbſtgeſpraͤch, fpäter gefellt fi zu dem Denken ein inneres Hoͤ⸗ 
sen, denn, wenn. wir. benten, haben wir, mehr oder minder das Ges 


46 9, Wanbertrieb des Geiftes. 


fühl, als ob wir bie gebadhten Worte In unferem Inneren ver 
nähmen. Bei dem zum Befig der Wortſprache gelangten Gehör: 
loſen fällt die Möglichkeit eines folhen inneren Vernehmens hin⸗ 
weg, weil er niemals das Menfchenwort gehört, fondern nur etwa 
durch gelungenes Nachahmen der Bewegungen eines fremden Mun- 
bes und Stimmorgans die dußere, leibliche Seftaltung deſſelben in 
der eigenen Kehle empfunden hat. Darum aͤußerte fih ein ber 
Sprache fähig gewordener Taubftummer über das, was in feinem 
Inneren, beim Denken vorging, alfo: ‚ich kann. nicht anders als 
in mie fprechend denken. Auch wenn id fill vor mid denke, 
empfinde ich die Laute, die ih beim Sprechen hervorbringe, e6 
gefellt fi) eine Art Zudung in ben Spradhorganen bei.’ Die 
arme Laura hatte für die Geftaltung und Mittheilung der Worte 
fein anderes vermittelndes Glied als die Finger. Ihr inneres Den- 
ten war von einem Bewegen ber Finger begleitet, wie man bies 
deutlich wahrnehmen Eonnte, wenn man fie in ihren Selbftgefprä- 
hen beobachtete. Selbſt in lebhaften Träumen bemegte fie die Fin- 
ger, und auch dann, wenn biefe Bewegung während des Zuſtandes 
des Wachens Keine fihtbare war, mußte fich bei ihr zu dem Den- 
ten eines Wortes die Erinnerung an das leibliche Gefühl gefellen, 
das fie beim Hervorbringen deffelben in ben Fingern empfunden hatte. 

Die Wortfprache ift ein gemeinfames Kunſtwerk der Seelen, 
zu deſſen Volführung diefe durch einen Antrieb bes Geiſtes ge 
führt werden, welcher jenem aͤhnlich ift, der, als Kunfitrieb die 
Biene zum gemeinfchaftlihen Bau ihrer Waben anregt. Die den- 
kendſprechende Seele fühlt fi, deshalb gedrungen, durch die Sprade 
ihr eigenes inneres Bewegen anderen Seelen mitzutheilen und bie 
gleiche Mittheilung von diefen zu empfangen. Die taubblinde Laura 
war eben fo gefprächig wie andere lebhafte Kinder ihres Alters und 
ihres Geſchlechts. Wo fie nur beim Zufammenfein oder Zufam- 
mentreffen mit einer der Dausgenoffinnen oder auch mit folchen 
Freunden des Haufes, welche die Sprache bes Fingeralphabets ver 
ftanden, Zeit und Gelegenheit fand, da tnüpfte fie das muntere 
Sefpräh an; mit Kindern, welche die gleiche Uebung hatten als 
fie, nahm das fühlbare Sprechen einen fo fohnellen Gang an, daf 
der Blick der Schenden ber Bewegung ber zarten Finger kaum zu 
folgen vermochte. Die Gegenftände der Unterhaltung waren im 
Ganzen diefelben, wie bei anderen gutartigen, klugen Kindern, 
doch Außerte fich bei jeder Gelegenheit in Laura ein ganz befonberes 
Verlangen, Neues zu wiſſen und zu erforfchen. 

Diefe Wißbegier eines nad Erkenntniß firebenden Geiftes 
äußerte fi auch beftändig beim Unterricht ihrer Lehrer, und, als 
fie die Bücher für Blinde mit erhabenen Buchftaben zu lefen an- 
fing, aud in Beziehung auf das Geleſene. Sie mochte auf bie 
fem Wege Etwas von Würmern erfahren haben, ba fragte fie 
die Lehrerin: „haͤlt Ihre Mutter auch Würmer?” (Nein, Wür 
mer leben nicht im Haufe). — „Warum? (Weil fie außer dem 





9. Wanbertrieb bed Geiſtes. 47 


Haufe Dinge zu effen finden). — „Und zu ſpielen?“ — „Sahen 
Sie Wurm? hatte er Augen, hatte er Ohren, hatte er Gedanken?" 
— „Ahmet er?” — „Start? — ‚Wenn er müde iſt?“ — 
„Kennt Wurm Sie?” — „Erfhridt er, wenn Denne ihn frißt?“ 

Ein anderes Mal fragte fie: ‚kann Kuh Pferd mit Hörnern 
ſtoßen?“ — „Schlafen Pferd und Kuh im Stalle?” — „Sitzt 
Pferd des Nachts?’ — ‚Warum haben Kühe Hörner?’ (Um 
böfe Kühe zu floßen, wenn fie von ihnen beunruhigt werden). — 
„Berftehen böfe Kühe weggehen, wenn gute Kuh fie flößt?’ — 
„Barum haben Kühe zwei Horner? Um zwei Kühe zu ſtoßen?“ 

Fand Laura bei ihren Fleinen Refeubungen einzelne Worte, die 
fie nicht verftand, dann hörte fie nicht auf zu fragen und zu for 
hen, und wenn die Lehrerin fi) unvermögend fühlte, ihr den Sinn 
eines Wortes, wie etwa „hochachtungsvoll“ begreiflid zu machen, 
da tonnte ber Eifer der Wißbegierde die Geftalt des Unwillens 
annehmen. „Ich will, fagte fie, den Doctor fragen, denn ich 
muß es wiſſen.“ | 

Das natürlihe Verlangen nad) Mittheilung, das in jeder 
Menfchenfeele liegt, aͤußerte fic) bei unferer Zaubblinden nament- 
fihh aud in dem Bemühen, anderen taubblinden Kindern, welche 
in Howe's Anftalt kamen, zum Berftändniß und zum Gebraud) 
der Wortfprache zu verhelfen. Hierbei zeigte fie fich fo erfinderifch, 
und fo emfig bemüht, daß fie den Lehrerinnen eine mefentliche 
Mithülfe bei ihrem ſchweren Gefchäft leiſtete. Dem Heinen, zwar 
nicht talentlofen, dabei aber bequemen taubblinden Dlivier Caswell, 
fo wie der ſchon Älteren und viel weniger begabten Lucy Need gab 
Laura, durch einen glüdlihen Einfall das erite Licht über die Be 
jiehung, in welcher die Schriftzeichen eines Wortes mit dem Ges 
genftand ftehen, den das Mort benennt, indem fie dem Erfteren, 
defin Geruchs⸗ und Geſchmacksſinn vollkommen gefund waren, 
zur Deutung ded Wortes Brod ein Stud Brod, handgreiflich 
fühldar an Mund und Nafe brachte und bei Lucy zu ähnlichem 
Zwede eine Feige benutzte. 

In demfelden Maaße, in welchem die Seele ihre Kräfte zum 
Erkennen nad) außen gebraucht und benugt, wird fie auch, wie 
fhon erwähnt, dieſer Kräfte an fich felber inne und gelangt hier 
dur zu einem Gefühl und Bewußtfein ihrer ſelbſt. Kleine Kin- 
der reden anfangs, wenn fie zu fprechen anfangen, eben fo wie 
beödfinnige Menſchen von fich felber in der dritten Perfon, wie 
von einem Fremden. Auch unfere Taubblinde that, ale fie bie 
Wortfprache zu erlernen anfing, daffelbe und fagte, wenn fie Hun⸗ 
ger oder Durft hatte, „Laura Brod geben‘ oder „Waſſer trinken 
Laura.“ Sobald fich jedoch bei der befieren Uebung-in der Wort⸗ 
fprache der Kreis Ihrer Erkenntniſſe nach außen wie nad) innen 
erweiterte, gab fih auch das vollkommnere Selbſtbewußtſein da⸗ 
durch zu erkennen, daß fie jest fagte (nad S. 45), ich will oder 
ih muß da oder dorthin gehen, dieſen oder einen anderen Brief 


28 9, Wandertrieb des Geiſtes. 


ſchreiben. Mit dieſer Befignahme feines eigenen Selbft gelangt 
der vernünftig erfennende Geift des Menfchen zugleih auch zu 
einer Macht über fein Außeres Benehmen und al? feine Handlun- 
gen, wodurch diefe das Gepräge einer fittlihen Ordnung empfan- 
gen. Der jungfräulihe Anfland, das feine Gefühl für das, was 
ſchicklich oder unſchicklich, was recht oder unrecht fel, war der Taub⸗ 
blinden nicht durch Nachahmung anderer vernünftig hanbeinden 
Menſchen, nicht duch Außere Belehrung gekommen, fondern. es 
ging aus ihrem eigenen Innern, aus dem eingeborenen Antriebe 
bes vernünftig erfennenden und wollenden Geiftes hervor. Wie 
tief Bonnte fid) das muntere Kind betrüben, wie ſprach fidy in 
alien Zügen feines Angefichte® eine innige Reue aus, wenn es 
bemerkte, daß es mit feinen Eleinen Nedereien einer der Gefpielin- 
nen wehe gethban hatte. Die jungfräulihe Verſchaͤmtheit der klei⸗ 
nen Zaubblinden ging fo weit, daß fie in Gegenwart des Herrn 
Home nicht einmal ihre Puppe, bie fie fo eben hatte zu Bette 
bringen wollen, auskleidete, fondern erſt abmwartete, bis fie mit ber 
Lehrerin allein war. So freundlich dankbar fie alle Bezeugungen 
der theilnehmenden Liebe erwiderte, welche ihr von Perfonen ihres 
Geſchlechtes erwiefen wurden, fo aͤngſtlich zuruͤckhaltend benahm 
fie fi) gegen Perfonen von anderem Geſchlecht, denen fie nicht 
einmal die Hand zur Begrüßung reihen wollte. Fremdes Eigen: 
thum beachtete fie, wie man dies. auch an anderen Zaubblinden 
bemerkt hat, mit ungemeiner Gewiſſenhaftigkeit; bei Zifche benahm 
fie ſich mit feiner, fittliher Mäßigung Mit dem Sinn für das, 
1008 mwohlanftändig ift, verband ſich bei ihr auch der für das, was 
aͤußerlich fhön und mohlgefällig ift, in einer Weife, wie derfelbe 
überhaupt dem weiblichen Geſchlecht eigenthuͤmlich ift. Selbſt beim 
Flechten ihres Haares und in ihrem Anzuge war ein Streben 
nah Zierlichkeit unverkennbar und an neuen Kleidern, mie an 
jeder Kleinigkeit, die zum Schmud des weiblichen Körpers gehört, 
bezeugte fie große Freude und konnte bei folcher Gelegenheit den 
Wunſch, auch anderen Sehenden ſich zu zeigen, nicht verbergen. 
An dem Beifpiel diefer, fo wie anderer Zaubblinden, die mit- 
ten in ihrer äußeren Mangelbaftigkeit und finnlihen Verarmung 
ſich eben fo fröhlicd und gluͤcklich, eben. fo vernünftig thätig zeige 
ten, wie Menfchen von gefunden Sinnen, lernen wir, daß ber 
geiftige Beſitzſtand der menfchlihen Natur felbft durch den Verluft 
all' der herrlichen Güter, welche die Wahrnehmungen der Außeren 
Sinne ihm gewährt, nicht vernichtet werden könne. Der Menſch 
‚gleicht. hierin einem bemittelten Eigenthümer, befien Vermögen 
nicht einem Schiffe anvertraut ift, welches fern über das Meer 
geht, oder in prachtvollen Gebäuden und Geräthfchaften befteht, 
die ber Blig entzünden und eine Feuersbrunft einäfchern Tann, 
fondern einem folhen, der feinen größten Schag, vielleicht in 
Geſtalt eines koſtbaren Demantes, bei ſich felber trägt, und ˖noch 
immer als reicher Mann aus dem gefcheiterten Schiffe oder. dem 











10. Jameray Duval. 49 


zufammenftürzenden Wohnhaus ſich rettet. Und ob ihm auch, 
mit den Sinnen bes Gefihtes, des Gehöres, des Geruches und 
Gefhmades eine ganze Welt der dußeren Wahrnehmungen und 
Genüffe geraubt wäre, fo behält er dennod; den Erbbrief und das 
Defigerreht auf jene aͤußere Welt in feinem Inneren und hiermit 
zugleich den eigentlichen Genuß derfelben, denn es wohnt in ihm 
eine Schöpferkraft, melche das, was ihr in der Außenwelt genom⸗ 
men ift, in der Innenwelt aufbaut, Der Inſtinct bes Thieres 
geht auf etwas nahes oder fernes, gegenmwärtiges oder kuͤnftiges 
Leiblihes hin, dagegen ift der inwohnende Antrieb, welcher bie 
menſchliche Natur bewegt, nicht auf ein bloß Leibliches , fondern 
auf ein Reid, des. Geiſtigen gerichtet. Das, was der Kunfttrieb 
des Thieres webt und baut, ift, fo ſchoͤn es auch fein mag, ben- 
noch leicht zerfiörbar und vergaͤnglich, wie der Leib, ber daffelbe 
gemacht hat; das aber, mas der innere Antrieb der Menfchennatur 
baut und ſchafft, ift wie der Geift felber, in und aus dem es 
erzeugt wurde, von unvergänglicher, ewiger Natur und kann mit 
den Sinnen, fowie mit ben anderen Gliedern bes Leibes nicht 
hinweggenommen werden oder im Grabe verwefen. Denn mie bie 
Wachtel, wenn fie über das Meer zieht, zwar auf mancher Inſel 
ausruht, nirgends aber lange verweilt, bis fie ihren Zug nad 
dem Biel ihrer Wanderungen, das jenfeits des Meeres liegt, vol- 
fendet bat, fo findet auch das innig tiefe Verlangen nach Erkennen 
und Wiffen, das ber Menfchenfeele eingeboren ift, nirgends eine 
bleibende Ruhe -und volle Genüge, bis. es das Ziel feines Stre⸗ 
bens, die Erkenntniß eines Göttlihen: den Schöpfer, mitten. in 
den herrlichen Merken feiner Schöpfung gefunden bat. Und das, 
was fih zur Erkenntniß eined Goͤttlichen erheben Tann, muß felber 
von göttliher Art und Natur fein. | 


10. Balentin Sameray Duval. 


Wir wollen nod ein anderes Beiſpiel betrachten, welches uns 
lehren Tann, daß dee Antrieb, der den Menfchengeift, mie ber 
Mandertrieb den Vogel, fortreißt, und ihn aus der Deimath eines 
finnlihen Wahrnehmens in die Welt eines geiftigen Erkennen 
führt, durch alfe Hinderniffe und äußere Hemmungen fi) hindurch⸗ 
arbeite, und fein fernes Ziel zulegt eben fo ficher erreiche, wie ber 
Storch, wenn er aus Afrika zuruͤckkehrt, fein Neſt. 

Bei der vorhin erwähnten Laura Bridgmann, ſowie bei an⸗ 
beren nicht talentlofen Zaubblinden, Zönnte man zu der Vermu⸗ 
tbung kommen, daß gerade nur ber Umſtand, daß biefelben von 
allen Beluftigungen der oberen Sinne fo verlaffen waren, den hef⸗ 
tigen Drang nach innerer geiftiger Befchäftigung, und das. Ver- 
langen, Neues zu erfahren, entzündet habe. Hätte Laura, wie ans 
dere gefunde Kinder, fehen und hören können, dann, fo möchte 
man vielleicht meinen, hätte fich ihre Wiß⸗ und Korfchbegier nicht 


4 


50 10. Samerap Duval. 


in fo mächtiger Weiſe gezeigt, als dies bei ihr der Fall war; fie 
wäre mit dem gemöhnlihen Maaß des MWiflens und Erfennene 
anderer Kinder zufrieden gemefen. 

Daran tft freilich etwas Wahres, daß der geiflige Drang im 
Menſchen defto leichter und Eräftiger fich entfalte, je weniger er 
durch den Genuß der Sinne zerfireut, und aus feiner inneren 
Bahn aufs Aeußerliche hinmweggezogen wird. Die Hütte der Ar- 
muth ift gar oft. die Geburtsftätte großer, hochverdienter, dabei 
auch meltberühmter Männer gemefen, aber weder bie Hütte, noch 
die Armuth ihrer Eltern hat fie zu dem gemacht, was fie gemor:- 
den find, fondern der innere Beruf, den der Geift des Schöpfers 
in ihren Geift legte. Laura waͤre, aud wenn fie die gewöhnlichen 
Kräfte der Sinne befeflen hätte, ein ausgezeichnetes Kind gemor: 
den; der berühmte italienifche Maler Giotto, der al8 armer Hir⸗ 
tenfnabe allerhand Figuren mit Kohle an den Felfen zeichnete, wäre 
ein großer Künftler geworden, wenn ihn fein Lehrer, der Meifter 
Cimabue, aud nicht auf dem. Felde bei den Kühen, fondern ale 
den Sohn eines Edelmannes, in einem reichen Wohnhaufe auf 
gefunden hätte, denn ber innere Beruf, den Gott in bie Men- 
fchenfeele gelegt hat, fragt nad Eeinem Stand noch Drt der Ge: 
burt; er kann, wie dies gefchehen ift, den Sohn eines leibeigenen 
Knechtes zum Stand eines berühmten Feldoberfien, den Sohn 
eined Bauern zur Würde eines Minifters hinanführenz wer zu 
einem großen Wirken im Gebiete der Kunft oder ber Wiſſenſchaft 
berufen ift, den wird weder feine reiche, adelige Geburt mit al’ 
ihren finnlichen Zerftreuungen, noch auch die Dürftigkeit der Eltern 
von feinem Ziele abhalten können. Der Schöpfer, der die jungen 
Naben fpeifet, wenn fie nach Futter fliegen, der weiß auch das 
Talent, das er in feine Menfchen legte, zur rechten Zeit zu meden, 
und mitten in einer Wüfte, melche fie umgibt, mit der nöthigen 
Nahrung und Pflege zu verforgen. Die große Mannichfaltigkeit 
in dem Weſen ber Kräuter und Bäume, fowie der Thiere auf 
Erden, ſtellt fih im Gefchleht der Menfchen auf geiftige Weiſe 
in der großen Verfchiedenheit der Anlagen und der Arten bes in- 
neren Berufes dar, und fo wie draußen dafür geforgt ift, daß je- 
bes Thier feine angemeffene Weide und MWohnftätte finde, fo läßt 
fi) diefe zärtlihe Worforge einer ewigen Weisheit noch viel herr: 
licher da erkennen, wo fie die einzelnen Menfchen für den Fünftigen 
Beruf ihres Lebens begabt, zubereitet und fortzieht. 

Mit einer befonderen Theilnahme wird deshalb Jeder, der an 
ber Betrachtung der Wege Gottes unter den Menfchentinbern- feine 
Freude hat, die Lebensgefchichte des Valentin Jameray, genannt 
Duval, betrachten, der durch wunderbare Reitung des in ihm lie: 
genden geiftigen Antriebes aus einem unwiſſenden hungernden Bet 
telbuben der hochvertraute Bibliothekar und Vorſtand der Münz- 
fammlung eines großen Kaiſers, und duch den Drang und Auf 
ſchwung der eigenen Kraft zu einem berühmten Gelehrten wurde. 





10. Jameray Duval. 51 


Die Zeit der Geburt des Jameray Duval, das Jahr 1695, 
faͤllt in die Tage von Frankreichs glänzenden äußeren Eroberungen, 
zugleich aber auch ſeiner großen inneren Noth unter Ludwig XIV. 
Schwere Abgaben druͤckten das Land; ein großer Theil der Bluͤthe 
ſeiner Jugend wurde fuͤr den Kriegsdienſt ausgehoben und in dem⸗ 
ſelben aufgeopfert; an vielen Orten lag das Land unbebaut, weil 
es an den noͤthigen Arbeitern fehlte, dazu kam oͤfterer Mißwachs; 
Handel und Gewerbe waren durch den Krieg geſtoͤrt; uͤberall gab es 
trauernde Familien über den Tod eines Bruders oder Sohnes ober 
rüftigen Vaters, welcher gefallen war in den Kriegen, bie für des 
Königs Ehrgeiz geführt wurden. Der Landftrich der Champagne 
ift einer der ärmften in ganz Frankreich, in ihm liegt das Kleine 
Dorf Artenay, in mwelhem das Haus von Duval’d Eltern eines 
der dürftigften war. Denn ber Vater, ein armer Bauerdmann, 
ftarb, als Valentin erft zehn Jahre alt war und hinterließ ber 
Mutter die Sorge für eine zahlreihe Familie, zu deren Unterhalt 
die geringen Mittel, welche der Wittwe geblieben waren, bei ber 
damaligen großen Theuerung nicht hinreichten. Da gab es täglich 
Sammer und Klagen, efchrei der Eleineren Kinder nach Brod, 
und eine Uebung ber größeren im Hunger und in ber Arbeit. Doc 
in Balentin war eine Naturkraft, welche fih nur um fo muthiger 
Außerte, je großer die Außere Noth war; mas ihm an dußeren 
Freuden abging, das erfegten ihm reichlich bie inneren Freuden, 
bie feine froͤhliche Sinnesart ihm gewährte, denn er war der mun⸗ 
terfte Anabe im ganzen Dorfe, der die anderen Kinder durch feine 
Luftigkeit ergögte und ihre Spiele durch feine heiteren Einfälle bes 
lebte. Er hatte in der Schule feines Dorfes nur nothdürftig lefen 
gelernt, ald er im zwölften Sahre feines Alters in den Dienſt eines 
Bauern trat. Das Hüten der jungen Welfhhähner, das ihm fein 
Herr während des Sommers anvertraute, war freilich für feinen 
lebhaften Geift eine langweilende Beſchaͤftigung, deshalb darf es 
uns nicht verwundern, daß der Knabe beftändig auf Mittel zu 
feiner Unterhaltung fann, die nicht immer glüdlich gewählt waren. 
Unter Anderem hatte er gehört, daß man die Ealekutifchen Hühner 
durch bie rothe Farbe wie toll machen könne. Er wollte die Wahr: 
heit diefer Ausfage prüfen, und bing deshalb einem Stüd feiner 
Heerbe einen rothen Zuchlappen um den Hals. Das Thier ges 
rieth in heftigen Zorn, zerarbeitete fich vergeblih, um ben Lappen 
108 zu werben, und flatterte dann, ohne fi fangen und aufhalten 
zu laſſen, fo lange herum, bis es todt zur Erde fiel. Alsbald 
jagte ihn der Bauer aus feinem Dienft, und da fi in feinem 
Dorfe kein anderes Gefhäft für ihn fand, die Mutter aber zu 
arm war, ihn zu ernähren, machte er fid auf, um auswärts ein 
Unterlommen zu finden. 

Es war im Winter von 1708 auf 1709, unfehlbar dem 
härteften, . den man aus dem Verlauf des ganzen vorigen Jahr⸗ 
hunderts kennt, als ber Anabe Duval feine erfte Wanderung in 

4 * 


® 


52 10. Jameray Duval. 


die weite Welt antrat. Die Kälte, welche nad) dem h. Dreikoͤ⸗ 
nigsfefte 1709 ihren höchften Grab erreichte, war fo furchtbar, 
baf Niemand ohne die höchfte Noth fih aus den Wohnungen und 
aus der Mähe des Feuerheerdes hinauswagte in’ Sreie, denn man 
hörte täglich von Menfchen, die man an den Wegen, zum heil 
aber auch felbft in ihren Häufern, erfeoren gefunden hatte. Alle 
Orte der Öffentlichen Verfammlungen, auch die Gerichtshöfe und 
feloft die Kirchen waren vertaffen, man fonnte nidht einmal den 
Wein und das MWaffer zum Dienft des Altar flüffig erhalten. 
Der Wein in den Kellern erflarrte zu Eis, das Vieh in den Ställen 
erlag zum Theil dem Froſt, die Thiere des Waldes, vierfüßige 
wie Geflügel, nahten fih den Wohnungen und felbft dem Heerd 
der Menfchen, um da Schug gegen die graufenhafte Kälte und 
Futter zu fuchen, das ihnen draußen im Freien der hohe Schnee 
verdeckte. Diele Vögel fielen gelähmt aus der Luft, die Fiſche 
ftarben in den bis zu ihrem tieflten Grund ausgefrorenen Weihern, 
die Saat auf den Feldern, wie die Reben der Weinftöde wurden 
von der Kälte zerftört, die Bäume in den Gärten und felbft die 
Stämme des Laubholzes in den Wäldern zerbarften, Felſenſtuͤcke 
wurden zerfprengt und ftürzten herab. Es dauerte mehrere Jahre, 
bis die Spuren der Verheerungen, welche jener Winter durch feine 
Kälte und fpäter durch den Eisgang der Flüffe angerichtet hatte, 
nur einigermaßen verlöfcht werden Eonnten; Weinberge wie Del- 
baumpflanzungen mußten neu angelegt werden; länger als ein 
Menfhenalter hindurch fah man verftümmelte Leute an Kruͤcken 
gehen, welche ihre Glieder nicht im Kriege, fondern in Folge des 
arten unter den Meſſern und Sägen der Wundärzte verloren 
atten. 

Eben in jenen Tagen, da ber Winter am ftrengfien zu wer- 
den begann, irete der junge Duval von Ort zu Drt auf den 
menfchenleeren Landflraßen umher, um einen Dienft und. eine 
Sreiftätte gegen Froſt und Hunger zu fuhen. Da kam zu biefen 
beiden Arten ber Noth und Plage noch eine dritte, die härtefte 
von allen, die feinem Leben plöglich ein Ende zu machen drohte, 
und welche ihm dennoch zu feiner Rettung, von dem fonft unver- 
‚meiblihen Zode des Erfrierens und Verhungerns, zugefendet war. 
Auf dem Wege zwifhen Provins und Brie, in der Nähe einer 
Paͤchterwohnung, uͤberfiel ihn ein ſo furchtbares Kopfweh, daß es 
ihm ſchien, als wuͤrden die Knochen des Schaͤdels zerſprengt und 
die Augen aus ihren Höhlen herausgedraͤngt werden. Er konnte 
nur noch mit Mühe zur Thüre der. nahen Pächterwohnung fich 
hineinfchleppen und der Perfon, die fie ihm. öffnete, die demüthig 
flehentliche Bitte ausfprehen, daß man ihm einen Winkel an- 
meifen möchte, wo er fih erwärmen, und von bem lähmenden 
Schmerz erholen könne. Man öffnete ihm den Schaafftall, und 
jene gelinde Wärme, welche die zahlreich dort verfammelten Thiere 
durch Odem und Ausdünftung verbreiteten, war ihm wohlthäfiger, 


10. Jameray Duval. 53 


als ihm in dieſem Augenblick das geheizte Zimmer des beften Wohn⸗ 
hauſes hätte fein können. Bald Löfte ſich die Erftarrung feiner 
Glieder auf, zugleich aber wurde das Kopfweh fo heftig, daß es 
dem Kranken die Befinnung raubte. Als am anderen Morgen 
der Pächter in den Stall trat, und die fieberhaft entzündeten, funs 
kelnden Augen, das angefchwollene mit rothen Pufteln bedeckte 
Angeficht des Knaben fah, erfhrad er nicht wenig. Ohne Rüd: 
halt erklärte er dem armen Kranken, daß er die Kinderpoden habe 
und unfehlbar fterben müffe, weil er viel zu ſchwach und elend 
fei, um an einen Drt ber befferen Verpflegung hinzugehen oder 
gebracht zu merden, hier aber in diefem armen Haufe nicht fo viel 
vorhanden fei, um ihm während einer fo lang dauernden Krank 
beit den nothbürftigften Unterhalt zu gewähren. Der kranke Knabe 
war unvermögend, ein Wort zu fprehen. Da rührte fein Zuftand 
ben Pächter, er ging nach feinem Wohnhaus und brachte von 
dort einen Bündel alten Linnenzeuges, in das er ben Kranken, 
nachdem er ihn mit Mühe entkleidet hatte, wie eine Mumie ein- 
roidelte. Dort im Stalle lag der Dünger ber Schaafe in Schich⸗ 
ten aufgehäuft, zwifchen dieſe hinein machte der Pächter ein Lager 
aus Spreu, die vom gefichteten Hafer abfällt, legte den Knaben 
darauf, und bedite ihn dann bis an den Hals zuerft mit Spreu, 
dann mit den hinmweggehobenen Lagen bed Düngers zu. Wie Über 
einen Zodten, den man in's Grab gefentt hat, machte der mit- 
leidige Mann, als er das Gefchäft des Eingrabens beendigt hatte, 
ein Kreuz über Duval, empfahl diefen Gott und feinen Heiligen, 
und ſprach beim Weggehen nochmals die Verfiherung gegen ihn 
aus, daß nur ein göttliches Wunder ihn- von dem, wie ed allen 
Anfchein habe, nahen Tode retten Tönne, 

Es hätte diefer Verfiherung nicht bedurft, um den armen 
Kranken mit Gedanken an fein Ende zu erfüllen; er fühlte fich 
zum Sterben matt und bie Betäubung der Sinne, die ihn von 
Zeit zu Zeit beſchlich, fehien ihm bereitd der Anfang des Xodes- 
fhlummers, dem er in feinem Halbtraum ohne Furcht und 
Scheu entgegen fah. Aber das Wunder einer göttlichen Vorſorge, 
das allein nad) ber Ausfage des Pächters ihn retten konnte, 
hatte ja bereits feinen Anfang genommen; er war gerade im red): 
ten Augenblid zu diefem für ihn heilfanten Obdach gefommen und 
eine Art von Inſtinct hatte dem Pächter das zwar fonderbare und 
für die Augen widermärtige, zugleich aber für dieſen Fall zweck⸗ 
dienlichfte Mittel in den Sinn gegeben, um ber Krankheit ihre 
tödtende Macht zu nehmen. Der warme Aushauh der Schaaf 
heerde, die ſich um fein Grab herumlagerte, die Wärme, welche 
die Srabftätte felber von allen Seiten über feine kranken Glieder 
ausgoß, erregte einen wohlthätigen Schweiß und erleichterte hier- 
durch den Ausbrud der Poden. Das heftige Kopfweh und bie 
Betäubung maren hiermit gehoben; das Leiden war zu einem Außer: 


52 10. Sameray Duval, 


die weite Welt antrat. Die Kälte, welche nad) dem h. Dreitö- 
nigsfefte 1709 ihren hoͤchſten Grab erreihte, war fo furchtbar, 
daß Niemand ohne die höchfte Noch fi) aus den Wohnungen und 
aus der Mähe bes Feuerheerdes hinauswagte in's Freie, denn man 
hörte täglich von Menfchen, die man an den Wegen, zum Xheil 
aber auch felbft in ihren Häufern, erfroren gefunden hatte. Alle 
Orte der öffentlichen Verſammlungen, auch die Gerichtähöfe und 
felöft die Kirchen waren verlaflen, man konnte nicht einmal den 
Mein und das Waffer zum Dienft des Altars flüffig erhalten. 
Der Wein in den Kellern erftarrte zu Eis, das Vieh in den Ställen 
erlag zum Theil dem Froft, die Thiere des Waldes, vierfüßige 
wie Geflügel, nahten fih den Wohnungen und felbft dem Heerd 
der Menfchen, um da Schug gegen die graufenhafte Kälte und 
Futter zu fuchen, das ihnen draußen im Freien der hohe Schnee 
verdeckte. Diele Vögel fielen gelähmt aus der Luft, die Zifche 
ftarben in den bis zu ihrem tieflten Grund ausgefrorenen Weihern, 
die Saat auf den Feldern, wie die Reben der Weinftöde wurden 
von der Kälte zerftört, die Bäume in den Gärten und felbft bie 
Stämme des Laubholzes in den Wäldern zerbarften, Felſenſtuͤcke 
wurden zerfprengt und ftürzten herab. E8 dauerte mehrere Jahre, 
bis die Spuren der Verheerungen, welche jener Winter durch feine 
Kälte und ſpaͤter durch den Eisgang der Flüffe angerichtet hatte, 
nur einigermaßen verlöfcht werden Eonnten; Weinberge wie Oel⸗ 
baumpflanzungen mußten neu angelegt werben; länger als ein 
Menfchenalter Hinduch fah man verftümmelte Leute an Krüden 
geben, welche ihre lieder nicht im Kriege, fondern in Folge des 
ftrens unter den Meſſern und Saͤgen der Wundaͤrzte verloren 
hatten. 

Eben in jenen Tagen, da ber Winter am ftrengften zu wer: 
den begann, irrte der junge Duval von Drt zu Drt auf den 
menfchenleeren Landſtraßen umber, um einen Dienft und. eine 
Sreiftätte gegen Sroft und Hunger zu fuchen. Da kam zu dieſen 
beiden Arten der Noth und Plage noch eine dritte, die härtefte 
von allen, die feinem Leben plöglich ein Ende zu machen drohte, 
und welche ihm dennoch zu feiner Rettung, von dem fonft unver: 
‚meidlichen Zode des Erfrierens und Verhungerns, zugefendet war. 
Auf dem Wege zwifhen Provins und Brie, in der Nähe einer 
Pächterwohnung, überfiel ihn ein fo furchtbares Kopfweh, daß es 
ihm ſchien, ald würden die Knochen des Schädels zerfprengt und 
die Augen aus ihren Höhlen herausgebrängt werden. Er Eonnte: 
nur noch mit Mühe zur Thüre der. nahen Pächterwohnung fich 
bineinfchleppen und der Perfon, die fie ihm öffnete, die demüthig 
flehentlihe Bitte ausfprechen, daß man ihm ‚einen Winkel an- 
weifen möchte, wo er fi) erwärmen, und von dem lähmenden 
Schmerz erholen könne. Man öffnete ihm den Schaafftall, und 
jene gelinde Wärme, welche die zahfreich dort verfammelten Thiere 
durch Odem und Ausduͤnſtung verbreiteten, war ihm wohlthätiger, 


- 


10. Jameray Duval. 53 


als ihm in diefem Augenblick das geheizte Zimmer des beften Wohn: 
hauſes hätte fein koͤnnen. Bald Löfte ſich die Erftarrung feiner 
Glieder auf, zugleich aber wurde das Kopfweh fo heftig, daß es 
dem Kranken die Befinnung raubte. Als am anderen Morgen 
der Pächter in den Stall trat, und die fieberhaft entzuͤndeten, funs 
teinden Augen, das angefchmwollene mit rothen Puſteln bedeckte 
Angefiht des Knaben fah, erfchrad er nicht wenig. Ohne Rüd: 
Halt erklärte er dem armen Kranken, daß er die Kinderpoden habe 
und unfehlbar fterben müffe, meil er viel zu ſchwach und elend 
fei, um an einen Ort ber befferen Verpflegung hinzugeben oder 
gebracht zu werden, hier aber in diefem armen Haufe nicht fo viel 
vorhanden fei, um ihm mährend einer fo lang dauernden Krank 
heit den nothdürftigften Unterhalt zu gewähren. Der kranke Knabe 
mar unvermögend, ein Wort zu fprehen. Da rührte fein Zuftand 
ben Pächter, er ging nad feinem Wohnhaus und brachte von 
dort einen Bündel alten Linnenzeuges, in das er den Kranken, 
nachdem er ihn mit Mühe entkleidet hatte, wie eine Mumie ein- 
wickelte. Dort im Stalle lag der Dünger der Schaafe in Schich⸗ 
ten aufgehäuft, zmwifchen diefe hinein machte der Pächter ein Lager 
aus Spreu, die vom gefichteten Hafer abfällt, legte den Knaben 
darauf, und bedte ihn dann bis an den Hals zuerft mit Spreu, 
dann mit ben hinmweggehobenen Lagen des Düngers zu. Mie über 
einen Zodten, ben man in's Grab gefenkt hat, machte ber mit- 
leidige Mann, als er das Gefhäft des Eingrabens beendigt hatte, 
ein Kreuz über Duval, empfahl diefen Gott und feinen Heiligen, 
und fprach beim Weggehen nochmals die Verfiherung gegen ihn 
aus, daß nur ein göttliches Wunder ihn von dem, wie es allen 
Anfchein habe, nahen Tode retten koͤnne. 

Es hätte dieſer Verficherung nicht beburft, um den armen 
Kranken mit Gedanken an fein Ende zu erfüllen; er fühlte fich 
zum Sterben matt und die Betäubung der Sinne, bie ihn von 
Zeit zu Zeit befchlih, fchien ihm bereits der Anfang des Todes⸗ 
fhlummers, dem er in feinem Halbtraum ohne Furcht und 
Scheu entgegen fah. Aber das Wunder einer göttlichen Vorſorge, 
das aHein nad) der Ausfage des Pächters ihn retten konnte, 
hatte ja bereits feinen Anfang genommen; er mar gerade im rech⸗ 
ten Augenblick zu biefem für ihn heilfanren Obdach gekommen und 
eine Art von Inſtinct hatte dem Pächter das zwar fonderbare und 
für die Augen widerwärtige, zugleich aber für dieſen Fall zweck⸗ 
dienlichfte Mittel in den Sinn gegeben, um der Krankheit ihre 
tödtende Macht zu nehmen. Der warme Aushauch der Schaaf: 
heerde, die ſich um fein Grab herumlagerte, die Wärme, melche 
die Grabftätte felber von allen Seiten Über feine kranken Glieder 
ausgoß, erregte einen wohlthätigen Schweiß und erleichterte hier- 
duch den Ausbruch der Poden. Das heftige Kopfweh und bie 
Betäubung waren hiermit gehoben; das Leiden war zu einem Außer: 


54 10. Jameray Duval, 


lichen geworden, für ein fremdes Auge freilich graͤßlich anzufehen, 
für das Gefühl des Kranken aber fehr erträglich, 

Mährend Duval fo in feinem Schaafftalle geborgen lag, und 
über nichts zu klagen hatte, als über eine außerordentlihe Schwäche 
und über den allmählig ſich wieder anmeldenden Hunger, mwüthete 
draußen im Freien der Froſt des Winters mit noch immer zuneh- 
mender Heftigfeit. Mehrmals wurde er des Nachts aus feinem 
Schlafe durch ein Getöfe aufgewedt, das dem Donner oder dem 
Abfeuern einer Artilleriefalve glih, und wenn er am Morgen den 
Pächter um die Urfache des naͤchtlichen Schredens fragte, erzählte 
ihm diefer, daB ber Froſt wieder einen oder etlihe der Wallnuf- 
und Eichenbäume, die in der Nähe des Stalles fanden, bis auf 
die Wurzel hinab zerfpalten, oder durch das Gefrieren der tief in 
den Klüften verborgenen Feuchtigkeit ein benacybartes Selfenftüd 
wie durch Pulver zerfprengt habe. Draußen auf den Landitraßen, 
wie in den Hütten erfroren noch täglich Menfhen; der Pächter 
felber in feiner armen Wohnung Eonnte fid) bei dem unausgefegt 
flammenden DOfenfeuer der Erftarrung faum erwehren, nur Duval 
hatte es in feinem feltfamen Behältnig und zwiſchen feiner thieri- 
fhen Dienerfhaft eben fo warm, wie der König oder ein Prinz 
von Frankreich in ihren wohlverwahrten Zimmern. 

Dennod war diefes Gluͤck kein ungeftörtes, denn mitten in 
dem wohlthuenden Gefühl des Ausruhens und ber gleichmäßigen 
Erwärmung der Eraftlofen Glieder ftellte ſich jest, ald die Krank 
beit fich milderte, die Plage des Hungers ein, Der Schäfer, der 
fi) der Pflege des Knaben nad Kräften annahm, mar ein fehr 
armer Mann; ihn hatten die unerfhmwinglihen Abgaben und 
Steuern, welche Frankreichs reicher König auf feine armen Unter 
thanen legte, fo ganz zu Grunde gerichtet, daß ihm von den hart- 
herzigen Einnehmern bereits fein ganzer Hausrath genommen war, 
dazu auch fein Zugvieh, bis auf einige zum Anbau feiner Felder 
unentbehrlihe Stüde; nur die Schaafheerde war in feiner Obhut 
geblieben, weil fie nicht ihm, fondern dem Eigenthümer des Gutes 
gehörte, Indeß that der gute Mann dennoch, was er thun Eonnte; 
er ließ feinem armen Pflegling täglich zweimal einen dünnen Waſ⸗ 
ferbrei reichen, an welchem feine andere Zuthat war, ale Salz, 
und auch Diefes fo fparfam, dag man es kaum fehmedte, denn 
felbft das Salz war fo hoch befteuert, daß es dem armen Volke 
ſchwer fiel, fih nad) Bebürfniß damit zu verforgen. Eine Art 
von zugeflöpfelter Flaſche war das Gefäß, worin man das Hafer: 
mus überbrachte; hierdurch allein war ed möglich, dieſe Speife 
vor dem Gefrieren zu bewahren, indem der Kranfe die Slafche zu 
fid) in fein warmes Lager hineinnahm, um fid) von Zeit zu Zeit 
an einem Schluck derfelben zu erquiden; das Trinkwaſſer, das 
man ihm brachte, war häufig halb gefroren. " 

Einige Wochen hindurch mar dieſe Koft zur Stillung des 
Hungers hinreihend, dann aber verlangte die wieber ſtaͤrker wer- 


10. Jameray Duval. 55 


dende Natur eine kraͤftigere Koſt. Aber auch dieſe konnte der arme 
Pächter nur durch Waſſerſuppe und einige Stuͤcke Schwarzbrod 
gewaͤhren, welches ſo feſt gefroren war, daß man es mit dem Beil 
zerſchlagen mußte, und daß nur die Waͤrme des Mundes oder der 
Lagerſtaͤtte es genießbar machte. So gering auch dieſe Gaben einer 
Liebe, welche ihren Lohn auf Erden nicht dahin nahm, in den 
Augen der Menſchen ſein mochten, uͤberſtiegen ſie dennoch das 
Bermögen des Paͤchters; dieſer ſah ſich genoͤthigt, den Pfarrer des 
Dorfes um Huͤlfe für feinen Kranken anzuſprechen, und feine Für: 
bitte fand Erhörung. Die Wohnung des Pfarrers war faft eine 
Stunde. weit von dem Schaafltall entfernt, dorthin wurde Duval 
gebradht, nachdem man ihn vorfichtig aus feinem Grabe genom= 
men, in andere Lumpen und einige Bündel Heu eingewidelt und 
auf einen Efel gefegt hatte. Noch immer war, ald er biefen Um: 
zug antrat, die Kälte fo groß, der Wechſel zwifchen der Wärme 
feines Lagers und der freien Luft fo wehethuend, daß er halb tobt 
und mit erflarrten Gliedern an feinem neuen Bergungsort an- 
langte, Hier fuhte man den gefährlihen Folgen der Froſtbeſchaͤ⸗ 
digung dadurch zuvorzufommen, daß man den Kranken mit Schnee 
trieb und ihn dann in ein Lager brachte, welches an Belchaffenheit 
fowie für Erhaltung einer gleihmäßigen Wärme faft eben fo ein- 
gerichtet war, als das im Schaafftalle des Pächterd. Erſt nad) 
acht Zagen, als die Kälte fehr bedeutend nachgelaſſen hatte, brachte 
man ben wieder Eräftiger gewordenen Kranken in ein Zimmer und 
in ein ordentliches Bett. Die Pflege und Koft im Pfarrhaus 
waren freilich viel beſſer, denn die, welche der arme Pächter hatte 
gewähren koͤnnen; bald fühlte ſich Duval wieder eben fo gefund 
und ſtark, als er vor feinem Erkrankten gewefen war. Gleich nad 
der Zuruͤckkehr der Gefundheit kam nun aber auch die Reihe wie: 
der an das Wandern. Der gute Pfarrer Eonnte in feinem kleinen 
Haushalt keinen neuen Diener ‚brauchen, er deutete bem fräftigen 
Burſchen, welhem das Stillefigen fhon felber nicht lang behagte, 
an, daß er fich jest nad) einem Dienfte umfehen folle, verforgte 
ihn, mit einem Heinen Reiſegeld und entließ ihn mit freundlichen 
Segenswünfhen aus feiner freigebigen Pflege. 

Gerade zu jener Zeit hielt es ganz befonders ſchwer, in der 
Champagne ein Unterfommen zu finden. Zwar bätte man überall 
der arbeitenden Hände bedurft, denn durch das rüdfichtslofe, ges 
waltthätige Ausheben der Juͤnglinge und Männer zum Soldaten- 
ftande war das Land eines großen XTheiles feiner Anbauer, bie 
Heerden ihrer Hirten beraubt worden, aber fo gut man audy einen 
jungen rüftigen Arbeiter hätte brauchen können, mußte man den: 
noch in folcher Zeit der Notb von dem Wunfche abftehen: jeder 
Hausvater, wo anders noch einer war, hatte Mühe, um nur für 
ſich und die Seinigen das nöthige Brod herbeizufhaffen; man 
fonnte das Wenige, das noch aufzubringen war, ‚mit feinem neuen 
Ankoͤmmling theilen. Wie fhon erwähnt, hatte der außerordentlich 


5 10. Sameray Duval. 


harte Winter faft alle Hoffnung des Aderbauers und Winzers auf 
eine Ernte für diefes Fahr vernichtet; die Einnehmer der Steuern 
und Kriegslaften, die Kornwucherer, welche mit dem Verkauf ihrer 
Getreidevorraͤthe zurüchielten, bamit der Preis für diefelben noch 
immer höher fteigen möge, fragten nicht nad) dem Sammer bes 
armen Volkes, fie waren faft eben fo hartherzig, als ihr König 
Ludwig XIV.; fo wie diefer, waren fie nur auf Befriedigung ihrer 
Selbſtſucht bedacht, und wenn auch Taufende dabei im Elend. ver- 
derben, Säuglinge an der Bruft der ausgehungerten Mütter ver- 
fhmachten mußten. 

Jameray Duval, ba er fo, ohne ein Unterfommen zu finden, 
von Dorf zu Dorfe, von Meierhof zu Meierhof zog und überall 
Nichts fah, als bitteren Mangel, von Nichts hörte, ald von Miß⸗ 
wachs, Xheuerung und Dungersnoth, fragte endlich, ob es denn 
nicht etwa irgend mo anders eine Gegend geben möge, in welcher 
das Getraide nicht erfroren wäre. Man fagte ihm, daß vielleicht 
gegen Morgen und Mittag hin Länderftriche fein könnten, welche 
der waͤrmendere Einfluß der Sonne gegen die Berheerungen des 
harten Winters gefhüst babe. Diefe Andeutung erfüllte das Derz 
des jungen Wandererd mit Hoffnung und Freude. Seiner bama- 
ligen Vorftelung nah war die Welt, fo wie fie dem Auge eines 
Bewohners der Ebene an heiteren Tagen erfcheint, eine tellerförmig 
ausgebreitete Fläche, auf deren Saum das Eruftallene Gewölbe des 
Himmels feflgeftelle ift, über welches die Sonne am Tage ihren 
Lauf nimmt, und an welchem bei Nacht die Sterne wie Lampen 
fi) entzünden, die am Morgen verlöfhen. Die Sonne felber, 
wie fie im Kalender ähnlid einem Menſchenhaupte bargeftellt ift, 
hielt der Knabe für ein lebendiges Feuerwefen, von welchem ed ihm 
allerdings ganz glaublidy erfchien, daß es da, mo es der Erbe, wie 
fheindbar am öftlihen Horizont, bei -feinem Aufgang, am nädjften 
fei, die meifte Wärme verbreiten muͤſſe. Diefer Anficht vertrauend 
richtete jegt unfer Sameray feinen Lauf unverwandt dahin, wo ihm 
am Morgen die Sonne aufging. Der Anfang feines Weges fchien 
nicht fehr geeignet, ihm zur Fortfegung deffelben Much zu machen; 
er führte ihn duch die armfeligften Gegenden der Champagne. 
Die niederen, aus Lehm gebauten, mit Rohr oder Steoh gebedten 
Zutten mit ihren in Lumpen gehuͤllten Bewohnern, deren von 

angel und Kummer gebleichte, welke Wangen keines frohen Laͤ⸗ 
chelns, ſondern nur wie das abgezehrte Angeſicht ihrer halbnackten 
Kinder des Weinens faͤhig ſchienen, waren recht geeignet, auch den 
wanderluſtigſten Sinn zuruͤckzuſchrecken. Dazu. kamen noch die 
harten Entbehrungen auch der alltaͤglichſt gewohnten Nahrungs⸗ 
mittel, denen der durchreiſende Wanderer mit den Einheimiſchen 
zugleich ausgeſetzt war. Statt des eigentlichen Brodes ſtillte ein 
gebackenes Machwerk aus zerſtampftem Hanfſaamen den Hunger 
des dortigen Landvolkes; Duval mußte froh ſein, wenn er nur 
von dieſer ungeſunden Speiſe fo viel gegen fein baares Geld er⸗ 


10. Jameray Duval. 57 


kaufen konnte, al& zur nothbürftigften Sättigung binreichte. Aber 
diefe Sättigung war nur feheinbar; fie gewährte keine Stärkung 
der Glieder, fondern bewirkte ein Gefühl des Mißbehagens und 
ber Eingenommenheit des: Kopfes, an welcher unfer Wanberer 
felbft noch einige Zeit nachher zu leiden hatte. Doc, das Alles 
tonnte ihn nicht in feinem,. durch einen mächtigen inneren Antrieb 
erregten Laufe hemmen, er feste fo eilig ald möglich feinen Weg 
nah Oſten fort. In diefer Richtung kam er eines Tages auf eis 
nen Hügel, an befien Fuß eine nicht fehr anfehnliche Ortfchaft 
(Bourbonne led Bains) Tag. Der dichte Dampf, welcher aus 
ihrer Mitte emporftieg, fehien dem jungen Wanderer der Rauch 
von einer im Erlöfchen begriffenen Feuersbrunſt zu fein. Er ftaunte 
nicht wenig, da man ihm fagte, daß diefer Rauch von heißen 
Waſſerquellen käme, welche dort aus der Tiefe hervordrängen. Ein 
folder unerwarteter Bericht reizte feine Neugier im hohen Grade, 
Er tief bin zu den Quellen, legte fich auf ben Boden, ſteckte feine 
Hand mehrmals in das hervorfprudelnde Waffer, mußte fie aber 
immer wieder fchnell zurüdziehen, weil bie Hige ihm unerträglich 
war. Hierauf begann er in kindiſchem Unverftand feine weiteren 
Unterfuhungen. Nirgends war ein Ofen oder ein Feuerherd zu 
fehen , der das Waſſer fo fieden machte, „mas Tonnte man (nad 
feinem Bedünten) wohl anders annehmen, ald daß hier. die Nach⸗ 
barſchaft der Hölle fei, und daß win großer Leichtfinn dazu gehöre, 
um an einem folhen Ort fi anzubauen und zu wohnen.’ 

Aus diefer vermeintlichen Nachbarfhaft ber Hölle kam unfer 
junger Wandersmann fhon am anderen Morgen in eine Land- 
fhaft, weiche ihn durch ihren blühenden Zuftand an die Nähe bes 
Himmels zu erinnern fhien. Man kannte damals noch nicht jene 
Plagen und peinlihen Unterfuchungen, welche heutigen Zages den 
Reiſenden den Uebergang aus einem Land oder Ländchen in das 
andere erfchweren; Duval war, ohne e8 zu wiflen, über die Graͤn⸗ 
zen des hartbedbrüdten, ausgefogenen Frankreichs hinaus nad 
Lothringen gefommen, das um jene Zeit noch unter feinen eigenen, 
milden Herrfchern aus deutfhem Fuͤrſtenſtamme fland. Welcher 
Unterfchied mar fehon zwifchen dem erften lothringifhen Dorf Se— 
naide und jenen Örtfchaften der Champagne, an denen der gerade 
Lauf von Welt nach Oft fett 8 Tagen vorüber geführt hatte. Da 
fah man nicht jene armfeligen mit Schilf gedeckten, niederen Lehm⸗ 
hütten mit ihren todtenbleihen, abgezehrten Bewohnern, fondern 
hoch und fhön gemauerte Häufer, gedeckt mit Biegelbächern, be⸗ 
wohnt von Menfchen, deren gutgenährte Geftalt und frifche Ge- 
fihtsfarbe von Gluͤck und Wohlſtand zeugte. Wie munter, wie 
vollwangig und fehön waren hier die gutbekleideten Kinder im Ber: 
gleich zu den halbnadten, durch Schmus und Elend verkümmerten 
Kindergeftalten des franzöfifhen Gränzlanbes! ' 

Es war eben Sonntag; der Toh ber Öloden rief die Bes 
wohner bes Ortes zum Gottesdienft in bie wohlgebaute, geräumige 


58 10. Jameray Duval. 


Kiche; auch Duval, fo dankbar froh geflimmt, als kaum jemals 
fonft in feinem Leben, eilte dahin. Hier erfchien ihm Alles neu 
und herrlich, was er ſah; der doppelte Wappenabler über dem Thor 
des Vorplages, die in feinen Augen pradhtvolle Kleidung der Land: 
leute, die Menge der jungen Burfche, welche bier Fein tyrannifcher 
Zwang ihrer Heimath und ihren Familien entriß, um fie, wie da⸗ 
mals in Frankreich geſchah, als Soldaten der unerfättlichen Hab⸗ 
gier eines unheilbringenden Königs aufjuopfern. Statt der arm 
feligen Kittel aus Trillich und Sadleinwand, bie feine Landsleute 
trugen, ſah unfer junger Wandersmann das Mannsvolk von 
Senaide in anftändigen Zeug: und Tuchkleidern mit filbernen 
Knöpfen einhergehen, die Frauen mit Halbärmeln und Manfchetten, 
fo reich und zierlich gefleider, wie in der Champagne die wohl 
habendften Bewohnerinnen der Städte. Hier warb nirgends das 
Geklapper der ſchweren Holsfchuhe gehört, in welche das Landvolk 
der Champagne feine nadten Füße ftedt, denn felbft die Aermeren 
waren mit Strümpfen und Schuhen verfehen. Und. nicht nur für 
die ſchauluſtigen Augen, fondern audy für den ausgehungerten Magen 
bes Fremdlings fand fich hier eine gute Weide. Statt des edelhaften 
Gebaͤckes aus! zerftofenem Hanflaamen gab es da wohlfchmeden- 
des Maizenbrod, dazu Fleifh und Eräftige Zufpeife, welches Altes 
ihm bie Freigebigkeit dee Dorfbewohner ganz, oder faft umſonſt 
darreichte. Hier war gut fein, hier war nah Duval’s Beduͤnken 
das Land, dem die märmende Sonne bei ihrem Aufgehen näber 
ift, denn ber übrigen Erde, bier wollte er bleiben, Und diefer 
Wunſch ging bald in Erfüllung; das hiefige Volk Eonnte Arbeiter 
befchäftigen und ernähren; der Schaafhirt des nahen Dorfes le: 
zantaine nahm ben rüftigen, munteren Knaben in feine Dienfte, 
Zwei Jahre lang hatte Duval die Schaafe auf den Hügeln 
von Clezantaine gehütet und hatte fi) dabei Leiblich fehr wohl be: 
funden. Er war jest 16 Jahre alt und zu biefem Alter groß und 
ftar& geworden, da regte fich jener Antrieb, der ihn, wie den Wan- 
dervogel fein Inſtinct, hieher geführt hatte, von Neuem. Diesmal 
nicht in jener mehr thierifchen Art, welche nur auf Sättigung bes 
Hungerd und nad einem Drt der Teiblihen Erholung ausging, 
fondern in einer menſchlich geiftigeren, darum auch mädhtigeren 
Weife. Diefer Antrieb, der dem Süngling Feine Ruhe ließ, ſtrebte 
nach einer anderen Sättigung, verlangte nad) einem anderen Frie⸗ 
den als das Leibliche uns gewähren kann; er war auf die Erhal⸗ 
tung und Entwidlung nicht des Außeren finnlihen, fondern bes 
inneren, geiftigen Menfchen gerichtet. Unfer Hirtenfnabe fühlte 
zwar, daß ihm etwas fehle, was diefes aber eigentlich fei, das 
wußte er nicht. Wenn er in feiner Einfamkeit draußen auf dem 
Selde die Blumen und Bäume, die Thiere und Steine fah, wenn 
der Mond jest als Sichel oder mwachfende Scheibe am Abendhim- 
mel fland und ihm feinen Nachhaufemeg beleuchtete, dann, als 
abnehmender Mond, die Morgenftunden erheltte, da gerieth ex oft 


10. Sameray Duval, 59 


in ein ſo tiefes Nachſinnen uͤber all' dieſe Dinge und die Ver⸗ 
aͤnderungen, die ſich an ihnen zutrugen, daß er weder Anfang noch 
Ende finden konnte. Wo das Baͤchlein ſeinen Anfang nahm, das 
bei dem Dorf voruͤber floß, das wußte er, denn er kam im Som⸗ 
mer faſt taͤglich zu der Quelle hin; woher aber das Waſſer komme, 
das immer von Neuem aus dem Boden hervordrang, das hatte er 
weder durch ſeinen Stab noch mit dem eiſernen Spaten erforſchen 
koͤnnen, und daß die Baͤche zu Fluͤſſen ſich vereinen, dann in ein 
großes Waſſer: in das Meer verlaufen, das wußte er zwar vom 
Hoͤrenſagen, aber er haͤtte es auch gern mit eigenen Augen geſehen 
und erfahren. Wenn die Nachbarn zuweilen im Hirtenhaus zu⸗ 
ſammen kamen, oder wenn an Sonn= und Feiertagen die Dorf 
leute und vielleicht auch ein Fremder darunter, außen vor der Kirche 
der Unterhaltung pflegten, da horchte er mit ganz befonderer 
Spannung auf Alles, was fie von Krieg und Frieden, von Ges 
ſchichten, welche da und dort fich zugetragen und von anderen 
Drten und Ländern ſprachen. Er hatte immer nur zu fragen, 
mollte immer mehr wiſſen und erfahren, das aber, was diefe guten 
Leute ihm fagten, das regte feine Wißbegier nur noch mehr auf, 
ftatt fie zu befriedigen. Von ber Anhöhe aus, auf welcher Duval 
öfters feine Schaafe hütete, Fonnte man gegen Morgen bin eine 
Landſchaft überfhauen, bie zu den fruchtbarften gehört, melche 
Lothringen umfaßt. Grüne Wieſen und Felder, dazwiſchen eine 
Menge der Eleinen DOrtfchaften und Meierhöfe ziehen fih, fo weit 
das Auge reicht, von Norden gegen Süden am Fuße des blauen 
Bergzuges der Vogefen hin, welcher in Often die Ausſicht begränzt. 
Dort, auf dem Gipfel jener blauen Berge hätte unfer junger Wan⸗ 
dersmann fo gern einmal ſtehen mögen und ſchauen, mas über fie 
hinüber, jenfeits derfelben läge, denn fo viel hatte er jest ſchon ge: 
- lernt, daß die Welt viel größer und weiter ausgedehnt fei als der 
Kreis, den fein Auge überblicte. 

Das, was einige Zeit hindurch nur eine Luft der Augen ges 
wefen mar, das wurde zulest zu einer Luft und Begierde des Her: 
zens; Duval Eonnte dem Antriebe, der ihn aus feinem bisherigen 
Stand hinausführte, nicht länger widerſtehen; er verabſchiedete fich 
bei feinem Dienftheren und trat abermals die Wanderung gegen 
Dften an. Dort, am Fuße der Vogefen unmeit Deneuvre hatte 
um jene Zeit ein frommer Einfiedler, der Bruder Palämon, feine 
Klaufe, welche bei dem Landvolf unter dem Namen la Rochette 
befannt war. Ein liebliherer Wohnfig für einen Einfamen, wel 
cher fern von dem Alltagstreiben und von ber Unruhe der Welt 
mit den Gedanken an feinen Gott allein fein möchte, kann ſchwer⸗ 
lich gefunden werden, als la Rochette war. Won der Spitze bes 
Selfens, an welchem die Einfiedelei lag, fah man am Abend bie 
Sonne jenſeits einer grünenden, wellenförmigen Flaͤche untergehen, 
durch die ein Fluß fich fehlängelt, welcher das Schiffebauholz, zu 
großen Flößen verbunden, der Meereskuͤſte zufuͤhrt. Nach der. anr 





60 10. Jameray Duvat, 


beren (öftlihen) Seite bin fallen die Strahlen des untergehenben 
Seftirnes auf den Abhang des Gebirges, welches von herrlichen 
Thälern und Schluchten durchſchnitten und bis hinan zu feinem 
Sipfel mit anfehnlichen Dörfern und Landhäufern bebaut if. Mit 
dem Dufte ber blühenden Bäume und Gebüfche fteigen zugleid) 
bie Töne der fingenden Nadhtigallen herauf zu den Sinnen bes 
Manderers, der auf ber Felfenplatte fig. Duval Tann ſich von 
biefem Drte nicht trennen; mwenigftens eine Nacht und den nächften 
Morgen möchte er hier zubringenz zutraulich bittet er den Einſied⸗ 
ler, ihm einen Ruheplag in feiner Hütte anzumweifen; fen Wunſch 
wird ihm gerne gewährt. 

Es war jene allbedentende Fürforge geweſen, bie Alles, was 
zufammengehört, zur rechten Zeit und am rechten Orte zufammen- 
führt, welche auch diefes Mal Duval’8 Schritte zur Einfiedelei la 
Rochette gelenkt hatte. Der Bruder Palaͤmon konnte fo eben ei- 
nen jungen, bienenden Gehülfen brauchen, der ihm den Anbau 
feines Gartens beforgen half und ihm noch fonft mandherlei Danb- 
reichungen that. Der treuherzige Burfhe, den ihm Gott felber 
zugeführt hatte, gefiel ihm wohl und auch biefem hätte ja nichts 
Angenehmeres und Lieblicheres begegnen koͤnnen, als bei Bruder 
Palaͤmon in Dienfte zu treten. 

Mir erwähnten ſchon oben, daß Jameray, als bie große 
Dürftigkeit feiner Mutter ihn nöthigte, die Dorfſchule zu verlaffen, 
und als Hüter des Geflügels bei einem Bauer zu dienen, nur fo 
eben leſen gelernt hatte. Diefe Kunft, welche, ohne daß wir es 
recht beachten und erkennen, eine der höchften und folgenreichften 
ift unter allen Künften, die der Menſch ſich zu eigen machen kann, 
war ihm immer befonders lieb und werth geblieben, er hatte nicht 
leicht eine Gelegenheit verfaumt, fie zu üben. Solche Gelegenheiten 
aber gab es feither für ihn nur wenige. Was von lesbaren Sa⸗ 
hen im Haufe feines gewefenen Dienftherrn, des Schäfers,, fi 
fand, das beftand nur etwa aus einem Kalender und aus dem 
Meßbuche; die lebhafte Wißbegier des Knaben fand darin nur we⸗ 
nig Nahrung. Hier aber, bei Bruder Paldmon fand ſich eine 
ganze Bibliothef von bisher noch niemals gefehenen Büchern, 
welche vielleicht mehr denn zwölf Bände zählte. Außer einem oder 
etlichen Theilen eines damals beliebten Volksbuches, das den Na⸗ 
men der „blauen Bibliothek“ führte, beftand der Proviant ber Ges 
lehrſamkeit des frommen Einfiedlers nur in ſolchen Büchern, welche 
Anleitungen zum befchaulichen Leben, Gebete und Betrachtungen, 
forvie Gefchichten der Heiligen und Berichte über das Leben ein- 
zelner Mönche und Einfiedler enthielten. 

Mit einer brennenden Begierde ergriff Duval dieſe geiftige 
Nahrung. Es lag ihm ernftliih an, nicht nur in ben äußeren 
Arbeiten der Hände, fondern auch im Gebet und frommen Leben 
ein Gefährte und Genoffe ded guten Palämon zu werden. Wenn 
er dann, an einem Frühlingsmorgen, wenn ber Thau an ben 


10. Jameray Duval. 61 


Blumen der Wiefen perlte, und ber Gefang der Nachtigallen er 
tönte, oben über der Einfiedelei auf der Spige bes Felfens faß, 
und nun die Sonne Über die Höhen der Vogeſen hinaufitieg, da 
erhob ſich auch bei ihm Sinn und Gemüth zu Gedanken von 
göttlicher Art und Kraft, welche er bis dahin noch niemals ge= 
kannt hatte. Dierbei mußte er jedoch baffelbe erfahren, was vor 
und nad) ihm Mancher erfuhr, der in diefem höchften, geiftigen 
Aufſchwung ſich geuͤbt hat, fo lange er nicht von ber Lerche und 
vom auffleigenden Adler es lernte, daß beim Emporfluge bas Auge 
nad) oben, nicht nad unten ſich richten muͤſſe. Wer in biefer 
MWeife der Lerche feine Schwingen übt, der fieht wohl, wenn er. 
auch höher fchwebt, als die Dächer der Häufer und felbft der Gi- 
pfel des Thurmes, daß es von da an noc weit ift bis zum Gipfel 
der Gebirge, noch weiter bis hinan zu den Wolken und viel weiter 
nod bis hinauf zum Sternenhimmel. Wer aber, wenn er in ber 
Höhe ſchwebt, nur abwärts, nicht aufmärts fchaut, und da unter 
ſich die Eichen des Waldes, die doch hoch find, nur noch in Ge 
ftatt eines niedrigen Gebüfches erblidt, dem mag es leicht ge⸗ 
fhehen, daß er, vom Schwindel des Hochmuths ergriffen, in Ge- 
fahr kommt, zum Boden zu flürgen. Unferem jungen Anfänger 
im Einfieblerleben erging es fo. Weil das jugendliche Feuer in 
feinem Derzen lebhafter war, als das im Herzen feines alternden 
Gefährten, weil die äußerlihen Geberden feiner Frömmigkeit von 
augenfälligerem Zufchnitt waren, als bei dem ftillen, fanften Bru⸗ 
der Palaͤmon, dünkte er fid hoch und groß gegen diefen. Wenn 
ihm derfelbe ein Gefchäft im Garten oder einen Gang nah De: 
neuvre aufteug, der Burfche aber, flatt zu arbeiten oder zu laufen, 
ſich andächtigen Betrachtungen im Schatten der Felfen, oder unter 
einem Baume, dem Gebete hingab, und dann den mwohlverdienten 
Verweis nur durch bittere Bemerkungen über bie Lauheit und ben 
weltlichen Sinn des dlteren Bruders erwiderte, da regte fi) allers 
dings, in unverkennbarer Weife, der Schwindel des Hochmuthes. 
An Erfahrungen von zurechtweifender Art hätte es freilich unferem 
jungen Einfiedler nicht gefehlt, wenn derfelbe nur für folche Bes 
lehrungen immer zugänglich gemwefen wäre. So an jenem Abend, 
als vier Stiftsherren aus Deneuvre bei ber Einfiedelei von dem 
mitgebrachten Vorrath ihre Mabtzeit hielten, und Duval, dem 
man die Ueberrefte zu feiner Erquidung Preis gegeben, zum erften 
Mat in feinem Leben die Kräfte des Weines an fich erfuhr, deren 
Regungen er ald Wirkungen der höchften Andacht und der Ver⸗ 
fenfung in ein göttliche® Sein betrachtete, bis das Gefühl der Ab- 
fpannung fhon am naͤchſten Tage ihn eines Anderen belehrte, 
Der Aufenthalt bei dem Bruder Paldmon dauerte nur kurze 
Zeit. Die Oberen der Eremitengefellfhaft fendeten einen anberen 
Einfiedlergehülfen nach la Rochette; diefem mußte Duval weichen, 
doch gab ihm fein bisheriger freundlicher Meifter im befchaufichen 
Leben ein Empfehlungsfchreiben mit „auf den Weg, das ihn zu 


#2 10, Jameray Duval. 


den Einfiedleen von St. Anna bei Luneville geleitete. Es war 
ein Weg, melden der junge Eremit nicht aus eigenem Antrieb 
und eigener Neigung einfhlug, fondern gleichwie er diedmal in 
leiblicher Beziehung von feiner felbftermählten Richtung nad) Oſten 
hinmweggeführe wurde, fo lenkte auch eine höhere Hand in diefem 
Augenblid feine Lebensbahn gegen feinen Wunſch und Willen nad 
dem rechten Ziele hin. Das Derzeleid und die Sorgen, womit er 
beim Abſchied von dem ftillen Obdach Ia Rochette und von Bru⸗ 
der Paldmon ſich quälte, waren eben fo unftattbaft und fchnell 
vergänglich, als jene, die ihn damals nieberbeugten, ald man ihn 
aus feinem feltfamen Krantenlager im Schaafftalle hervorzog und 
in Deu und Lumpen gehülle in das Haus des guten Pfarrers 
brachte, in welchem er erft völlig genaß und von feiner Krankheit 
ſich erholte. Jene Wege unferes Gottes, welche zu unferem ganz 
befonderen Heile dienen, mollen insgemein unferem Herzen nicht 
wohlgefallen ; fie durchkreuzen meift unfere eigenen Wege, und doch 
führen nur jene zur Stätte des Friedens, während diefe in bahn- 
lofer Wüfte fich verlieren. | 

Mit betümmertem Herzen batte Duval den Wald von Mo⸗ 
don durchwandelt und trat jegt heraus in's Freie, da lag vor ihm 
die zu jener Zeit ganz befonders blühende Stadt Luneville, mit 
dem prächtigen Refidenzfchloß des Herzogs von Lothringen. Un⸗ 
heimlich wie einem fcheuen Vogel, welcher in dem ihm noch neuen 
Gefaͤngniß des Käfige zum erften Mal unter das Menfhengedränge 
eines Marktplapes gebracht wird, war e8 dem jungen Waldbruder 
unter den gepußten, ſtattlich einhergehenden Bewohnern der Refi- 
denzftadt zu Muthe, nur fhüchtern magte er fein Auge zu dem 
Slanz des Fürftenfchloffes aufzuheben, das ihn an das Dafein 
und die Nähe von Wefen einer höheren Art zu erinnern fchien. 
Er athmete erft wieder froh und frei, als er fid von Neuem außer 
der Stadt im Freien fah, auf der Straße gegen Weiten hin, bie 
man ihm drinnen in der Stadt als den Weg nach St. Anna be 
zeichnet hatte, | 

Die Einfiedelei diefes Namens liegt eine halbe Stunde jen- 
ſeits Luneville an ber Mittagsfeite eines Hügeld, nahe. bei der 
Stelle, an welcher die beiden Flüffe Meurtre und Veſouze ſich 
vereinen. Der Wald von Vitrimont, der fie in Norden umgrängt, 
damals noch dichter und holzreiher, als er jegt ift, vermehrt den 
Reiz diefee Gegend, indem er im Winter den kalten Winden aus 
Norden den Zutritt wehrt, im Sommer aber Schatten und Kuͤh⸗ 
lung gewährt. Nur wenige Sahrzehende vorher war hier an der 
Stelle des mohlangebauten Feldes und Gartenlandes eine Wüfte 
voller Difteln und Dorngebüfh gemefen, welche bie Spuren ber 
Berheerung noch aus den Zeiten bes breißigjährigen Krieges an 
fih trug. Ein gemwefener Lieutenant der Cavallerie, welcher wäh- 
rend einer Schlacht, zum Tode verwundet, unter den Huftritten 
ber Pferde legend, von der Welt Abſchied genommen hatte, und, 


10. Jameray Duval. 63 


als er dennoch mit dem Leben davon kam, die alte Bekanntſchaft 
mit ihr nicht wieder anknüpfen wollte, mar der Stifter der Ein- 
fiebelei von St. Anna geMefen und war erſt vor menig Jahren 
in einem Alter von faft hundert Jahren geftorben. Bruder Mi- 
hael, fo nannte fich diefer Stifter, hatte ein altes Haus, Alba 
genannt, am Walde von Vitrimont gekauft, einige andere Männer 
gefellten fi) zu ihm und mit ihrer Hülfe verwandelte er bald das 
verödete Grundftüd, welches zwölf Morgen Landes umfaßte, in 
ein Befisthum, von deſſen Ertrage fehs Kühe und vier bis fünf 
Einfiedier, ohne einen Zufhuß von außen, ſich nähren und hierbei 
nod) manches Almofen fpenden konnten. Auch in mehreren ans 
beren Gegenden hatte der gute Bruder Michael durch ähnliche 
Stiftungen fih nit nur um bie Cultur des Landes, fondern um 
die Veredelung der Menfchenfeelen verdient gemacht, denn mehrere 
der Genofien feines einfamen Lebens maren vorher heimathlofe 
Zandftreicher gewefen, welche die Noth zu ihm führte, die Liebe 
aber an ihn feflelte und der Einfluß feines Beiſpiels, die Macht 
feiner ungeheuchelten Frömmigkeit zu befferen Menfhen umſchuf. 
Duval, in forgenvoller Erwartung feines Schickſals, zeigte 
fi) an der Thüre der Einfiedelei. . Bruder Martinian, einer der 
vier Bewohner berfelben, that ihm auf, nahm, den Gruß ermi- 
dernd, das Empfehlungsfchreiben aus feiner Hand, flellte ihn den 
anderen Brüdern als künftigen Diener des Hauſes vor, hieß ihn 
dann niederfisen und die ländliche Koft genießen, die er ihm aufs 
trug. Der neue Ankoͤmmling fühlte fi unter diefen guten Leuten 
bald einheimifh. Es waren Männer von bäuerifhem Ausfehen, 
aber von mwohlmeinend treuherziger Art. Jenes feine Gefühl ber 
MWeltbildung, welches lehrt, was höflich) und zierlich fei, hatten 
fie nicht, wohl aber jenes noch zartere Gefühl eines unter goͤtt⸗ 
licher Zucht ftehenden Herzens, welches uns fagt, was gut und 
recht fei und unfere Schritte leitet auf ebener Bahn. Duval gibt 
vorzüglich dreien von ihnen das Zeugniß: daß fie zwar niemals 
von Zugend fprachen, wohl aber bdiefelbe, ungefehen von den 
Augen ber Welt, duch bie That übten. Sein fünfjähriger Aufs 
enthalt unter ihnen ließ ihm an biefen einfältigen Seelen eine 
Züge ber Unlauterkeit und der Deuchelei, fondern nur etwa ber 
menfchlichen Webereilungen bemerken. Namentlih war das Ges 
müth des alten Bruder Paul, der ſchon feit 32 Jahren als Ein- 
fiedler lebte, fo ganz zu einem Zempel der Demuth und ber Liebe 
geworben, daß ſich der innere, Frieden, ber eine folhe Stimmung 
gibt, in feinem ganzen Wefen fund gab. Er fprach weniger, that 
aber mehr als alle die Anderen, denn, fo fagte er, es gefchieht 
uns auch bei dem beiten Willen leichter und öfter, daß mir im 
Worten fehlen, al& in Thaten. Er war fanft, gebuldig, von 
Herzen mitleidig und ohne Aufhören in einer folchen fröhlich ſtillen, 
gelafjenen Stimmung, daß es fchien, als koͤnnte in feinem Herzen 
Beine Regung menſchlicher Affecten und Leidenfchaften aufkommen. 


64 10. Jameray Duval. 


Ihn feste nichts in Erftaunen, er blieb unter Blig und Donner 
wie in der Stille eines Krühlingsmorgens, im Froft wie in der 
Wärme des Sommers in feinem glethrhäßigen Tacte. Ihm fchien 
es unbegreiflih, daß ein Menſch haflen Eönne, und als Duval 
einft im Scherz ihn fragte, ob man nicht wenigftens den Satan 
haſſen dürfe, antwortete der einfältig gute Mann: „man muß 
Niemand haſſen.“ 

Das nächte Geſchaͤft, welches die hochbetagten Einfiedler dem 
jungen, rüfligen Gehülfen anvertrauten, war bie Obhut ihrer 
Kühe, welche er in den nahen Wald auf die Weide führen mußte. 
Diefe Aufgabe war nicht ganz nach feinem Sinne; er glaubte fich, 
feit dem Hinweggehen aus Clezantaine, für immer von folchen 
niederen Dienften losgemacht zu haben; fein Aufenthalt bei Bruder 
Paldämon hatte in ihm den Wahn erzeugt und genaͤhrt, er fet zu 
etwas Höherem beftimmt, ald zum Hüten bed Viehes. Doc ein 
Bli auf den freundlicd fanften Bruder Paul und auf das ernfte 
Seficht des Bruder Martinian lehrten ihn ſchweigen und gehorchen, 
er 309, mit der Peitfche in der Hand, feinen Kühen nach in den 
Wald. Die Selbftüberwindung, der Sieg über den eigenen, flolzen 
MWillen ift zu jeder Zeit ein reicher Quell des inneren Friedens; 
unfer junger Hirt that in Kurzem den Dienft mit Freuden, dem 
er fih anfangs nur mit Widerwillen unterzogen hatte. 

Die ehrlihen Vaͤter wollten übrigens ihren Pflegling nicht 
nur zu ländlichen Befchäftigungen heranbilden, fondern fie wollten 
zugleich einen Frommen ihrer Art, ja einen Gelehrten aus ihm 
erziehen, Einer unter ihnen, der im Vergleich mit feinen drei Ge⸗ 
fährten den Gelehrten darftellte, und fi) auf diefen Vorzug Etwas 
zu gute that, hatte die Kunft des Schreibens erlernt, und als er 
die außerordentliche Begierde bemerkte, mit welcher Duval’8 Auge, 
fo oft Gelegenheit dazu war, den Zügen feiner Feder folgte, bes 
ſchloß er, ihn zum Xheilnehmer feiner Kunft. zu machen. Mit fet- 
ner vor Alter und täglichen Anftrengung beim Landbau zitternden 
Hand zeichnete er dem jungen Menſchen die Züge der Buchftaben 
vor, welche diefer treulich, und darum eben fo fhleht nachbildete, 
als fie ihm dargeboten wurden. Aber der Eifer des Schülers war 
größer und mächtiger, als der Fleiß feines alten Lehrers; dieſer 
batte felten Zeit zu lehren und jener aber ohne Aufhören Luft zu 
lernen. Duval erfand fich deshalb ein Mittel, auch ohne frembe 
Huͤlfe fih im Schreiben zu üben, indem er aus dem Fenfter feiner 
Zelle eine Scheibe heraushob, fie auf ein befchriebenes Blatt legte 
und dann auf bem Glaſe fo lange die Züge der Buchftaben mit 
der wieder leicht abwafchbaren Zinte nachmachte, bis er am Enbe 
die Fertigkeit erlangte, eine ohngefähr eben fo altmodiſch fteife Hand⸗ 
fohrift zu fchreiben, als fein Lehrer hatte, da feine Glieder noch 
nicht von Zittern befallen waren, Was die religiöfen Uebungen 
ber Klausner betrifft, welche für gewöhnlich täglich in ſechs ge 
meinfamen Andachten beftanden, fo fand fich auch hierbei der Fünf: 


10. Sameray Duval, 65 


tige Eremit regelmäßig ein, wenn ihn nicht gerade die Hut des 
Viehes in zu weiter Ferne befhäftigt hielt. 

Duval's gelehrte Bildung in der Einfiedelei von Sanct Anna 
war nicht allen auf die Kunft des Schreibens beſchraͤnkt, er fand 
noch andere Quellen auch, feine täglich wachfende MWißbegier zu bes 
friedigen. Die guten Väter befaßen etliche Bücher; der Umfchlag 
des einen von diefen gewährte unferem jungen Forfcher einen reis 
«hen Fund: ed war darauf eine Anweifung zu den vier erften Ne 
geln der Rechenkunſt enthalten. Das Vergnügen, welches etwa 
ein armer Mann empfinbet, wenn er unvermutheter Weife unter 
dem Boden feines Meinen Gartens einen nad feinem Beduͤnken 
unermeßlich reihen Schag entdedt, kann nicht größer fein, als das 
von Duval war, ald er den Schlüffel zu einer Kunft fand, welche 
feinem hierin richtigen Gefühle gleich einer aͤußerſten Pforte erfchien, 
die zu einem wahrhaft unermeßbaren Reiche der Erkenntniſſe führt. 
Summen unter feinen Augen entftehen und vergehen zu fehen, 
indem man durch Addition fie vereint, oder noch mehr, durch 
Multiplication fie vervielfacht, durch Subtraction und noch mehr 
durch Divifion fie verkleinert, welchen Genuß mochte diefes einem 
Geiſte gewähren, der in der Bedeutung der Zahlen das Mittel 
ahnete, am leiblidy Erfcheinenden das zu erfaffen, mas ein allbe- 
denkender, fhaffender Geift, als Kraft, als Eigenfchaft in daffelbe 
legte! Unſer junger Einfiedler hatte immer während feines Hirten⸗ 
ftandes ein befonderes Vergnügen an der Stille ber Wälder und 
abgelegenen Meidepläge gefunden. Hier bei St. Anna konnte er 
diefes Vergnuͤgens im hohen Maaße genießen; denn kaum glich 
ein anderer Wald an hehrer Einfamkeit und Stille jenem von 
Vitrimont, mit feinen Beinen Thälern und Felfentlüften. An ſei⸗ 
nem Lieblingsplage, einer Art von Grotte, die von einem vorma= 
ligen Steinbruche zurüdgeblieben, war der eifrige Rechner öfters, 
fetbft in den Stunden der Sommernaͤchte, mit der Löfung jener 
Aufgaben befhäftigt, die er tm Geiſt fich flellte, oder mit dem 
Gewebe ber Gedanken, die ihm aus dem zwar befchränften, dafür 
aber defto fruchtbareren Boden feiner täglichen Erfahrungen her⸗ 
vorkeimten. 

Maͤchtiger denn Alles, was er um ſich ſah, zog ihn die Be⸗ 
trachtung der Sterne des naͤchtlichen Himmels an. Das oͤftere 
Leſen im Kalender hatte ihm ſchon bei dem Schaafhirten in Cle⸗ 
zantaine ein unbeſchreibliches Vergnuͤgen gewaͤhrt, weil darinnen 
der Lauf des Mondes in einer ihm unbegreiflichen, prophetiſchen 
Weiſe, fuͤr ein ganzes Jahr vorausgeſagt war. Bei dieſer Ge⸗ 
legenheit erfuhr er auch Etwas von jenen himmliſchen Zeichen ei⸗ 
nes Widders, eines Stieres, eines Loͤwen und Krebſes, in welche 
zu gewiſſen Zeiten die Sonne und der Mond eintraͤten. Bruder 
Palaͤmon hatte ihm geſagt, daß dieſe Zeichen, von denen der Ka⸗ 
lender ſpricht, unter den Sternen des Himmels zu finden ſeien, 
wie- aber, ober. wo? das wußte er nicht. Auch die Einſiedler in 


5 


66 10. Jameray Duval. 


St. Anna konnten darüber keinen Befcheib geben; unferem Duval 
aber ließ es keine Ruhe, er mußte forfchen und wiſſen, wo ſich der 
Steinbod oder Widder mitten unter den Sternen bed Himmels 
verborgen hielten. Auf einer der höchften Eichen, am Saume bes 
Waldes, flocht er fi) aus Weidenruthen und Epheu ein Xhronge 
flel, das einem Storchneſte glich; der Thron felber, auf dem er 
dort oben faß, mar der Reſt eines alten Bienenkorbes. Hier 
brachte er bei heiteren Nächten manche Stunden zu, während be - 
ren er mit angeftrengter Aufmerkfamkeit alle Gegenden des Him⸗ 
mels durchforſchte, um etwa unter den Sternen bie Geftalt eines 
der himmliſchen Thiere zu entdeden. Doc, ed erging ihm hierbei 
wie jenem Zaubftummen, dem man das Wort Baum an die Ta— 
fel fchrieb und in der Geberdenſprache oder im Bild die Bedeutung 
des Wortes zeigte, und welder nun vergeblich feinen Wis an⸗ 
firengte, um die Achnlichkeit der Schriftzeihen an der Tafel mit 
der Seftalt eines Baumes aufzufinden. 

Mie fi in der Welt der leiblihen Dinge zur rechten Zeit für 
den Hunger feine Speife, für jedes erwachte Beduͤrfniß feine Be⸗ 
friedigung findet, fo ift es auch im Reiche des GSeiftigen. Der 
gefunde und redlihe Drang nah Erkennen und Wiffen ſteht un- 
ter dem Walten derfelben Fürforge, die ben Antrieb des thierifchen 
Inſtinctes zu feinem Ziele führt; was zu feiner Belräftigung und 
Entwicklung dient, das wird ihm immer zur rechten Zeit darge 
reiht. Es war gerade der große Jahresmarkt (die Dult ober 
Meſſe) vom St. Georgentag in Luneville, dba fendeten die Ein- 
fiedler ihren jungen Gehülfen hinein in die Stadt, um einige Auf: 
träge zu beforgen. Indem diefer neugierig die zum Verkauf aus⸗ 
gebotenen Herrlichkeiten betrachtet, entdedt er, zu feiner unbefchreib- 
lichen Freude, unter den Bildern, die an eine Mauer aufgehängt 
waren, eine Himmelscharte, dann die Abbildung einer Fünftlichen 
Erdkugel und vier Charten, welche die verfchiedenen Welttheile 
barftellten. Der Dienftlohn, den er beim Schäfer in Clezantaine 
fi) erworben, war noch faft ganz ungefchmälert in feinem Befig, 
und diefen Schag, ber fih auf 5 bis 6 Franken belaufen mochte, 
trug er immer bei fih in der Taſche. Test war der Augenblid 
gefommen, um von diefem bisher todten und ungenügten Capital 
bie rechte Anwendung zu machen; mit Freuden gab er Alles um 
ben Beſitz der für ihn unfhäsbaren Charten hin. 

In wenig Tagen hatte ſich der durch feinen Fund glüdfelige 
Duval fo weit in das Verftändniß der Himmelscharte gefunden, 
daß ihm die wechfelfeitige Stellung der meiften Sternbilder bekannt 
war, auch war es ihm deutlich geworden, daß nicht jene Bilder, 
welche die Hand des Menfchen auf ihre Eharten zeichnet, am _ 
Himmel gefchrieben ftehen, fondern daß zu jedem Bild eine Gruppe 
von Sternen gehöre, welche mit der Geſtalt eines Stieres oder 
eines Midders nur wenig zu fchaffen hat. Wäre nur jemand da 
gerosfen, ber ihm eine einzige dieſer Sternengruppen bei ihrem 








19. Jameray Duval. 67 


Namen genannt und erlaͤutert hätte, dann wäre es Ihm ein Leich⸗ 
tes geweſen, nach der wechſelſeitigen Stellung, die ſeine Charte an⸗ 
gab, auch die anderen Bilder aufzufinden, ſo aber mußte er ſelber 
auf ein Mittel ſinnen, das ihn aus der Verlegenheit ziehen koͤnnte, 
und ſein Nachdenken fuͤhrte ihn bald auf das rechte. 

Er hatte vernommen, daß der Polarſtern, welcher den Nord⸗ 
pol am Himmel wie an der Erde bezeichnet, immer an derſelben 
Stelle des Himmels ſtehe. Koͤnnte er, ſo ſchloß er weiter, nur 
dieſen auffinden, dann haͤtte er zu jeder Zeit der Nacht, im Som⸗ 
mer wie im Winter, einen feſt bleibenden Punkt, von welchem 
aus ihm alle Sternenbilder, in ihrer wechſelſeitigen Stellung er⸗ 
kennbar werden muͤßten. Aber wer ſollte ihm ſagen, wo man am 
Himmel den Nordpol zu ſuchen habe? Auch bei dieſer Ungewißheit 
kam ihm eine Kenntniß zu ſtatten, die ihm durch Hoͤrenſagen ge⸗ 
worden. Er hatte naͤmlich vernommen, daß es eine ſtaͤhlerne Na⸗ 
del gebe, die das eine ihrer Enden immer gegen Norden wende 
und hierdurch zum ſicheren Auffinden dieſer Weltgegend dienen koͤnne. 
Dem jetzt lebhaft und laut gewordenen Verlangen, eine ſolche wun⸗ 
derbare Nadel zu ſehen und ihrer ſich zu bedienen, kam einer der 
alten Einſiedler entgegen; dieſer beſaß ſelber einen Sonnencompaß 
und ließ ſich bereitwillig finden, ihn dem wißbegierigen Duval zu 
leihen. Die Richtung, nach welcher ſich das Auge wenden muͤſſe, 
um den Polarſtern zu ſehen, war dieſem jetzt bekannt, aber wie 
tief oder wie hoch der Stern am noͤrdlichen Himmel ſtehe, das 
wußte er nicht. Doch auch dieſe wichtige Entdeckung wurde nach 
mehreren vergeblichen Anſtrengungen und mißlungenen Verſuchen 
gemacht. Zuerſt ſollte ein Baumaſt, der gerade gegen einen im 
Norden ſtehenden Stern der dritten Groͤße ſeine Richtung hatte, 
das Mittel gewaͤhren, den Polarſtern aufzufinden. Mittelſt eines 
Bohrers wurde der Aſt zu einem ziemlich weiten Seherohr umge⸗ 
ſchaffen; war dann der Stern, auf den dieſes hinzielte, der rechte, 
dann mußte er ſich immer, bei dem Hindurchblicken durch das 
Rohr finden laſſen. Aber ach! das Rohr war kaum gebohrt, da 
hatte ſich der erzielte Stern ſchon weit aus ſeinem Geſichtsfeld ent⸗ 
fernt und nicht minder gluͤcklich waren die anderen Verſuche dieſer 
Art, bis zuletzt bei einem derſelben der Bohrer abbrach. Doch die 
Wißbegier unſeres jungen Forſchers ließ ſich durch kein ſolches Fehl⸗ 
ſchlagen ihrer Erwartungen aus der Bahn bringen; ein Hollunder⸗ 
ſtab, der durch das Herausbohren ſeines Markes in ein Seherohr 
umgewandelt war, wurde jetzt an dem hoͤchſten Aſt der großen 
Eiche, die zur Sternwarte diente, ſo befeſtigt, daß er ſich nach 
Belieben hoͤher oder niedriger, zur Rechten oder zur Linken richten 
ließ. Dieſe Vorrichtung fuͤhrte endlich zu dem gewuͤnſchten Zwecke; 
der Polarſtern war aufgefunden und hiermit zugleich der Schluͤſſel 
zur allmaͤhligen Ausdeutung der Sterngruppen, zur Erkenntniß aller 
Sternbilder des Himmels. | 

Wenn dee rechte, lebendige Antrieb zum Erkennen in der 


5 * 


68 10. Jameray Duval, 


menfchlichen Natur erwacht ift, dann laͤßt er fih nicht an ber Er- 
forfchung defien, was fihtbar und aͤußerlich vor Augen liegt, ge 
nügen. Läßt doch felbft der Lachs, wenn der Wandertrieb in ihm 
erwacht, nicht ab von feinem Zuge, bis er jegt ſtromaufwaͤrts bie 
Nähe des Quelles, dann ſtromabwaͤrts das weite Meer gefunden, 
darinnen der Fluß endet. So will auch der Geift des Menfchen 
mitten in dem ſinnlich Aeußeren den Anfang und das Ende der 
Erfcheinungen wiſſen. Was find, fo fragte fid) Duval, diefe Sterne, 
und mie weit mag es, von meiner Eiche aus, bis zu ihnen hinan 
fein? Vergeblicher noch denn fein Auge, als er vor dem Bells 
der Sterncharte die Zeichen des Thierkreiſes am Himmel finden 
wollte, müheten fich feine lebhafte Phantafie amd der Fräftige Ver: 
ftand ab, einen Maaßſtab im Srdifchen zu finden für das, mas 
überirdifh if; nah allen Seiten .hin zog fi das gefuchte Ende, 
je näher er ihm zu kommen ſchien, deflo mehr in die Xiefen einer 
Unendlichkeit zuruͤck, welcher fi Fein Außeres, finnliches Forſchen, 
fondern nur das innere Schauen und Erfahren des Geiftes 
nahen kann. 

Wie groß die Erde fei, das müfle fich, fo urtheilte unfer an⸗ 
gehender Gelehrter, leichter ergründen laflen, wenn man nur die 
Abbildung ber Erdkugel, die jest als Eigenthum vor ihm lag, 
techt verftehen koͤnnte. Seine Charten begleiteten ihn überall hin, 
mitten im einfamen Walde breitete er fie vor fih. am Boden aus, 
während die Kühe neben ihm auf die Weide gingen. Was die 
vielen Linien bedeuten möchten, welche der Xänge wie der Queere 
nad über die Abbildung der Erdkugel und der Welttheile gezogen 
waren, barüber fann er Tage lang mit großer Anftrengung nad. 
Endlid) brachte ihn der breitere Gürtel, der um die Mitte der Erb- 
kugel gezogen und in 360 Eleine, ſchwarze und weiße. Felder ge 
theilt war, auf den Gedanken, daß hierdurh Räume und Ent- 
fernungen angezeigt werben follten. Ein Licht ging ihm auf, das 
anf einmal Alles Mar machte; das Raͤthſel war gelöft; die Heinen 
Selber bedeuten Meilen (einen anderen Maaßſtab für irdifche 
Räume kannte er no nicht) und hienach beträgt der Umfang ber 
Erde nicht mehr und nicht weniger ald 360 feanzöfifche Meilen 
oder Wegſtunden. 

Er konnte kaum die Zeit des Mittageffens erwarten, um feine 
herrliche Entdedung den Einfiedlern mitzutheilen. Der Gelehrte 
unter ihnen fchüttelte den Kopf, mußte aber nichts darauf zu fagen, 
einer aber unter den brei übrigen war in feinen jüngeren Jahren 
zu St. Nicolas de Barry in Kalabrien geweſen. Diefer bemerkte, 
daß er auf jener Reife wohl weiter als 360 Wegſtunden gekommen 
fei, aber das Land und das Waſſer gingen viel weiter, ein Weg 
von 360 Meilen reihe noch lange nicht um den Umfang der 
Erde herum, 

Da fland nun der arme Duval mit feiner Entdedung be: 
ſchaͤmt und rathlos da; entweder mußten die fehönen Charten, für 


10. Jameray Duval. 69 


beren Beſitz er fein ganzes Vermögen aufgeopfert hatte, nichts 
taugen, ober ber fe zu ihrem Verftändniß lag für ihn fo 
verborgen, daß er die Hoffnung aufgeben mußte, ihn zu finden. 
Aber auch diesmal kam, wie dies im Leiblihen und Geiftigen im: 
mer zur rechten Zeit gefchieht, dem erwachten Antriebe feine Be⸗ 
friedigung und Sättigung entgegen. Unfer junger Einfiedler pflegte 
an jedem Sonntag feine Meſſe zu Luneville in der Karmeliterkicche 
zu hören unb bei diefer Gelegenheit mancherlei Aufträge der Brü- 
der in der Stadt zu beforgen. Aud am anderen Tage nach dem 
niebderfchlagenden Ereigniß, das ihn auf dem Weg feiner Korfchungen 
betroffen hatte, war er zum Befuch des fonntäglichen Gottesdienftes 
in der Stadt gemefen, und wollte nad) Beendigung deſſelben noch 
ein wenig in dem SKloflergarten fi) ergehen, da fah er Heren 
Remy, den Gärtner, in einem Bude lefend, am Ende einer Allee 
- figen. Seine immer rege Wißbegier trieb ihn an, zu fragen, was 
der Herr läfe, und zu feiner freudigen Ueberrafhung erfuhr er, daß 
das Buch eine Anleitung zum Erlernen der Erb: und Länderkunde 
enthalte. Es war die, zu jener Zeit fehr beliebte Kleine Geographie 
von Delaunai. Dem armen Duval brannte fein Herz vor Be: 
gierde, dieſes Bud) zu lefen, er wagte die flehentliche Bitte, baß 
Here Remy ihm daffelbe leihen möge, und fein Wunfc wurde ihm 
gewährt. Mit dem Vorſatz, fich daffelbe abzufchreiben, nahm er es 
dankbar in Empfang, konnte aber der Begierde nicht widerftehen, 
feinen Inhalt fogleich zu erfahren; fhon auf dem Heimwege hatte 
er fo viel aus demfelben gelernt, daß er jegt wußte, daß die klei⸗ 
nen, ſchwarzen und weißen Felder der Mittellinie feiner abgebildeten 
Erdkugel Grade bebeuteten, deren jeder 25 franzöfifche, 15 deutfche 
geographifche und fo in jedem Lande, nad) Verfchiedenheit des Meis . 
fenmaaßes, eine gewiſſe Zahl von Meilen groß fei. Zugleich er: 
fuhr er auch, was die anderen Linien bedeufeten, welche von Nord 
nah Süd die breite Mittellinie oder den Aequator durchſchneiden. 
Er hatte jest nichts Angelegentlicheres zu thun, als zur befferen 
Berftändigung bes Erlernten ſich felber eine Erdkugel zu verfertigen. 
Hafelnupftäbe, zirkelrund gebogen, die einen, um die Eintheilung 
der Erde nad) der Länge, die anderen, um jene nad) der Breite zu 
verfinnlihen, wurden in horizontaler und fenfrechter Richtung zu⸗ 
fammengefügt, dann mit dem Meffer die Eintheilung dort in 360, 
bier in 90 Grabe eingefchnitten. Erſt jest war dem jungen, wiß- 
begierigen Eremiten das eigentliche Verfländniß feiner Welt: und 
Ländercharte neröffnet; wenn er bdiefe, unter dem Dach des Waldes 
auf dem Boden ausgebreitet, vor ſich liegen, und dann mittelft 
feines geliehenen Sonnencompaffes fie nad) den Weltgegenden ge: 
richtet und an einander georbnet hatte, da Eonnte fein forfchender 
Geift von dem Punkte aus, darauf Luneville lag, . bald in diefe, 
bald in jene Länder fo wie von einem Welttheil zum anderen wan⸗ 
dern, und in Kurzem wußte er jede Stage nad) der Lage des einen 
oder anderen Landes alfogleih und mit. voller Sicherheit zu. beant⸗ 


70 10. Jameray Duval. 


worten. Hiermit noch nicht zufrieden forfhte er auch, nad) der 
Anleitung des Buches von Delaunai, dem Laufe der Flüffe und 
dem Umriffe der Meerestüften nach, bemerkte an beiden die Lage 
der merkwürdigften Städte, und prägte fih vor Allem bie der 
Hauptftädte ein. Es gelang ihm diefes Alles fo gut, daß er nad) 
einiger Zeit mit der verkleinerten Welt auf feinen Eharten und 
allen ihren einzelnen Städte: wie Ländernamen: eben fo vertraut 
und befannt war, als mit den einzelnen Parthieen und alten 
Baumftämmen im Wald bei St. Anna. Uebrigens kamen ihm 
auch bei dieſer Gelegenheit mancherlei Gedanken in den Sinn, 
welche zu immer weiteren Fragen und $orfchungen reisten. Die 
weite Ausdehnung des Gewaͤſſers im Vergleich mit der viel ge 
ringeren des bewohnbaren Landes feste ihn in Erſtaunen; welche 
Arten der lebendigen Wefen, fo fragte er fi), mögen in den Tiefen 
ber Meere ſich bewegen, und für welchen Zwed find diefelben er- 
fhaffen, da doc der Herr der Erde, der Menſch, fie nicht einmal 
alle zu fehen und zu Eennen, gefchmweige zu benutzen vermag? 

Der Antrieb zum Erkennen und Wiffen hatte fih bei Duval 
bis zu einer leidenfchaftlichen Höhe gefteigert. Vor Allem war es 
zwar jegt die Länderkunbe, die ihm beim Wachen am Rage und 
fogar bei Naht im Traume befchäftigte, doch hatte fi) der Kreis 
feines Erkennens nebenher auch nad) anderen Seiten erweitert. 
Sn jedem Haufe, dahin die Aufträge feiner alten Dienftherren ihn 
führten, fragte er nach, ob man da wohl Bücher habe? und wenn 
dies fo war, ob man ihm nicht eines, dann das andere davon 
zum Leſen leihen wolle? Auf diefe Weife waren ihm fehon die 
Meberfegungen von Plutarch's Leben berühmter Männer, fo mie bie 
Gefhichte des Quintus Eurtius in die Hände gefommen und feine 
Unterhaltung in der abgelegenen Grotte des alten Steinbruches 
geworden, Aber alle diefe neuen Elemente des Wiſſens waren nur 
unten gewefen, die den inneren Brand feined Verlangens, noch 
immer mehr zu wiffen, entzündet hatten. Die ganze Erde mit 
ihren Ländern, nicht nur mie diefe jetzt find, fondern wie fie auch 
vormals waren, als noch andere Völker fie bewohnten, hätte er 
tennen lernen mögen; vor jedem alten Gemäuer, vor jedem Denk: 
mal vergangener Zeiten fland er mit ehrfurchtsvollem Nachſinnen 
fill; er befhaute jeden Stein, jeden Schriftzug, hätte gern ihre 
Sprache verfländen, um zu erfahren, wer hier gewohnt, was hier 
ſich zugetragen habe. 

Die Bücher, fo dachte er in feiner unfchuldigen Ueberfhägung 
der menſchlichen Wiffenfchaft, lehren und fagen Alles; wie aber 
follte er, nad) ber Verwendung feines ganzen, kleinen Befigthums 
auf den Ankauf der Charten, zu folhen Büchern fommen? Die 
Verkäufer der alten und neuen Buͤcher in der Stadt, deren Läden 
er oft befuchte, und dabei mit wißbegierigem Auge, wenn Nichts 
weiter erlaybt war, wenigftens die außeren Auffcheiften der Titel 
betrachtete, mochten auf ein bioßes Derleiben ihrer Schäge fich 


10, Jameray Duval. 11 


nicht einlaffen; was man von ihnen haben wollte, Das mußte mit _ 
Geld bezahlt fein; Gelb aber, woher diefes nehmen? 

Ein Drang von geiftiger Art, wie der in Duval war, bricht 
fih durch alle äußeren, leiblichen Hemmungen feine Bahn, und 
weiß in diefem Kampfe nach außen Kräfte zu entwideln, welche 
dem in aͤußerem Ueberfluß erwachfenen Menfchen fremd find. Felle ' 
von gewiffen Thieren der Wildniß, fo wie bas Fleiſch von anderen, 
werben in der Stadt, das hatte er erfahren, bald mehr, bald 
minber theuer verkauft. Den Befigern von St. Anna fland in 
dem, zu ihrem Grundbefig gehörigen Stud Waldes eben fo das 
Recht, dort ihre Vieh zu meiden, als auch eine gemiffe Berechtigung 
zur Jagd und zum Fafige der vierfüßigen wie geflügelten Be: 
wohner deſſelben zu. Die Beſitzer des vormaligen Waldhaufes 
Alba mochten bie leßtere Berechtigung in ihrer ganzen Ausdeh⸗ 
nung und Strenge gehbt haben; feitdem aber jenes Obdach der 
Sagdfreunde duch Bruder Michael’ Ankauf ganz anderen Bes 
wohnern eingerdumt, der Wald mit feinen Thieren ein Eigenthum 
frommer, friedliebender Einfiedler geworden war, hatten fich die 
ungeftörte Ruhe diefes Dickichtes, vornaͤmlich folche vierfüßige Ty⸗ 
rannen des Waldes zu Nutze gemacht, welche von ben Sägern, 
als fhädfiche Thiere, mit Recht verfolgt werden, Marder und 
Iltiſſe, Fuͤchſe und wilde Katzen veruͤbten von hier aus ungeflört 
ihre Mordehaten, denn die guten, alten Brüder in der Einſiedelei 
hatten weder Flinten noch andere Gewehre, bedienten ſich weder 
der Sallen noch des Giftes, um, mas ihre Pflicht geweſen wäre, 
an den Mördern und Raͤubern in ihrem Herrfchaftsgebiet Recht 
und Gerechtigkeit zu üben. Duval, wenn er die Nachtigall, deren 
Gefang ihn entzuͤckte, unter den Klauen der wilden Kage verbluten 
fah, oder die Jungen der Singdroffel und des Rothkehlchens durd) 
einen nächtlichen Weberfall des blutduͤrſtigen Marbers hinmeggeraubt 
und vertilgt fand, dachte anders, Der Klagelaut, den die Alten 
am anderen Morgen an dem leeren Nefte erhoben, rührte ihn tief. 
Diefe fprachen nur wehmüthiges Sehnen aus nad dem, mas fie 
geliebt hatten und befeffen, in ihm regte fi) ein wehmuͤthiges 
Sehnen nadı Etwas, das er liebte und nicht befaß. Es konnte 
nad) beiden Seiten geholfen werden. Die Klage der unfchuldig 
Beranbten forderte zur Ahndung und Rache auf; die Mörder muß⸗ 
ten ihre Schuld mit Blut und Gut bezahlen, und wem konnte 
das Letztere anders anheimfallen, als dem, welcher mit mächtiger 
Band des Richter- und Herrſcherrechtes pflegte Man fand bei 
den Schutdigen Fein anderes Mobilinrvermögen, als ihr Zell, und 
diefes eignete Duval ſich zu. 

Die alten Väter in St. Anna, fo neutral und friedliebend 
fie ſich auch zu den thierifhen Bewohnern des nachbarlihen Wals 
des verhielten, mochten doch zumeilen eine Regung des Unmuthes 
gegen die unbefcheidenen, vierfüßigen Nachbarn empfunden haben, 
wenn fie am Morgen bemerkten, daß bei Nacht ber Fuchs ihre 


72 10. Jameray Duval, 


Gaͤnſe geraubt, der Marder oder Iltis ihre Hühner gemorbet habe, 
fie ließen deshalb gerne gefchehen, daß ihr junger Gehülfe, neben 
feinem Hirtenamt, auch das Gefchäft des Jägers übte, und bald 
mit den Trophäen eines Suchspelzes, bald mit denen eines Mar: 
derfelles nach Haufe Fam. Wie der feltfame Burfh das anfing, 
"daß er ohne Flinte, Blei und Pulver, nur mit Bogen und Bol- 
zen bewaffnet, und durch allerhand witzig genug erfundene Fallen 
den liftigen Fuchs und den fheuen Marder in feine Gewalt brachte, 
das hörten fie ihn oft mit Verwunderung berichten ; doch ging es 
dabei auch nicht immer ohne Schreden ab. So eines Tages, ba 
er, aus vielen Kopfwunden blutend, und ganz von Blut bebedt, 
mit einer todten, wilden Katze, die ald Trophäe an feinem Stode 
hing, in das gemeinfame Zimmer hereintrat, Er hatte biefes 
mörberifche Thier mit kuͤhnem Klettern und Sprüngen verfolgt, 
bis daffelbe, von feinem Stabe am Kopfe getroffen, doch nicht 
getödtet, in bie Höhlung eines Baumes fich rettete. Der Stab 
des jungen Jägers feste ihr in biefen Schlupfwinfel nad), und 
änäftigte fie mit feinen Stößen ſo fehr, daß fie zulegt wüthend 
heraus und auf feinen Kopf fprang, den fie mit Zähnen und 
Klauen zerfleifchte, bis fie der rüflige Burfche an ihren Hinterfüßen 
herabriß, und ihre den Kopf am Baumftamm zerfchmetterte. Den 
erfchrodenen Vätern rief er ruhig zu: fürchten Sie nicht, ehrwuͤr⸗ 
dige Väter, daß mir ein Leides gefchehen fe. Sehen Sie bier 
den Mörder unferer Singvögel. Ich habe ihn befiegt, und das 
Waſchen mit ein wenig Waffer und Wein wird bald meine Wun- 
den heilen. 

Dem pflihtmäßigen Vollzieher der Gerichtsbarkeit und der 
Todesſtrafe an den ihres Mordgewerbes überwiefenen Verbrechern 
fiel rehtmäßiger Weife nicht nur ihr Mobiliarvermögen, fondern 
auch ihr uͤbriges Beſitzthum und Eintommen anheim, da bie na⸗ 
türlihen Erben gleich ihren Vätern geächtet und landesfluͤchtig 
waren. Die Revenüen der Fuͤchſe und Marder beftanden, inner: 
halb des Waldes und benachbarten Feldes, vornaͤmlich in dem 
Sleifche der Hafen und Waldhühner, fo wie im Herbfte hin und 
wieder aus Schnepfen. Aucd von diefen eignete fih Duval zum 
Beften feines Handelsgeſchaͤftes mit den Kuͤrſchnern, Hutmachern 
und Koͤchen fo viele zu, als in feine Schlingen gehen wollten, und 
in der irrigen Meinung, daß all’ das MWildpret, welches im Wald⸗ 
diftrict des vormaligen Sagbhaufes Alba, und der jegigen Einfiedelei 
St. Anna ſich zeigte, ein Eigenthum ber letzteren fei, hätte er 
vielleicht felbft Dirfche und Rehe, deren Erlegung nur den herzog- 
lichen Jägern zuftand, Überliftet, wenn diefe in jener Gegend häu- 
figer und hierbei eben fo leicht durdy Nachgrabungen, Räucherungen, 
Sallen und Fangeiſen wären zu erhaſchen gewefen, als Fuchs und 
Marder, oder ald ber unverfhämte Feind der harmlos fpielenden 
Fiſche, der unerfättliche Fiſchotter. 

Der Verlauf der erbeuteten Selle, fo wie des Fleiſches der 





10. Jameray Duval, 13 


Hafen und Waldfchnepfen an Kürfchner, Hutmacher und Köche, - 
war für unferen jungen Jäger in ganz unerwarteter Weife ergies 
big gemefen; er hatte demfelben in wenig Monaten 30 bis 40 Tha⸗ 
ler eingetragen. Diefe, nad feinem Beduͤnken ungemein große 
Summe in ber Zafche, lief derfelbe, mit Erlaubniß ber Einfiedler, 
nad) der ſechs Stunden weit abgelegenen Stadt der Gelehrfamteit 
und Künfte: nah Nancy. Denn dort, fo hatte er vernommen, 
gab es viel mehr und fhäsbarere Bücher zu kaufen, als in ber, 
weniger der Gunſt der Mufen, als jener des Fürftenhofes nad): 
ftrebenden Refidenzftadt Luneville. Kür ihn hatte jedes Buch, das 
ihm etwas Meues lehren Eonnte, einen unfhäsbaren Werth; was 
aber im gewöhnlichen Dandelöverkehr fein Werth ſei, das wußte 
er nicht. Darum pflegte er, ein Anfänger im Umgang mit der 
Welt, den Bücherverkäufern fein Geld auf ihren Zahltifch hinzus 
legen, indem er diefelben flehentlic bat, feiner Armuth nicht mehr 
abzunehmen, als, nad hriftlich billiger Schägung, die von ihm 
ausgewählten Bücher werth feien. Leider fand fih nur einer uns 
ter diefen Handelsleuten, welcher der bofen Lodung bed zur Ber: 
fügung bingelegten Geldes redlich widerftand, und von dem un- 
begränzten Vertrauen des unerfahrenen Süuglings einen ſchlech⸗ 
ten Gebraudy machte. Diefer eine war Herr Truain, ein Bud: 
händler, der, aus der Bretagne gebürtig, in Nancy fi anfällig 
gemacht hatte. Er behandelte den treuherzigen Süngling als theils 
nehmender Freund, ließ ihm alle Bücher, die er begehrte, um den 
moͤglichſt billigen Preis ab, und gab ihm, als ber Reſt des baa- 
ren, mit der Jagd verdienten Geldes nit mehr ausreichte, auf 
fein ehrliches. Geſicht hin Credit für mehrere Bücher, die er zu 
haben wünfchte. Herr Truain ahnete in diefem Augenblicke e8 nicht, 
daß ber bäuerifhe Burfche, der ba vor ihm fland, nad wenig 
Fahren Vorftand der Eöniglihen Bibliothet in Lothringen, und 
dann im Stande fein werde, ihm dadurch, daß er ihn zum Haupt- 
lieferanten für diefelbe wählte, fein wohlmollendes Benehmen reich- 
lich zu belohnen. 

Unter den Schägen, melde fih Duval für diefes Mal er- 
handelt hatte, befanden ſich namentlich eine Heberfegung des Plinius, 
dann von Xheophraft’s Charakteren, von des Livius Gefchichte, 
erläutert von Vigenere, ferner die Gefchichte ber Inkas, des Bar: 
thelemy las Caſas Schilderung der von den Spaniern in Ames 
rika verübten Graufamkeiten, Lafontaines Sabeln, Louvois’ Te⸗ 
flament, Rabutin’s Briefe und mehrere Landeharten. Die eben 
genannten und noch mehrere nicht benannten Bücher bildeten eine für 
unferen Einfiebler in doppeltem Sinne theuere Laſt. Er hatte mit 
Freuden den ganzen Gewinn, ben feine Jagden ihm eingebracht, 
für diefen Bücherhaufen dahin gegeben und bei Herrn Truain noch 
Einiges auf Credit genommen; mit Freuden lud er die Bürde auf 
feine rüfligen Schultern und ſchleppte fie, von Zeit zu Zeit aus⸗ 


. 74 10. Jameray Duvat. 


ruhend, noch an demfelben Tage nach feiner, um ein fo gut Stüd 
Meges von Nancy entfernten, Einſiedelei. 

Die Zelle, welche man Duval zu feiner Schlafs und Wohn» 
flätte angemwiefen hatte, war faft zu klein dazu, um mit dem Be 
wohner zugleich auch das Eigenthum beffelben aufzuehmen. Sie 
wurde jegt zu einer Welt im Kleinen, benn an ihrer Dede prangte 
das Abbild des Himmels: die Sterncharte, die Wände waren mit 
den harten der verfchiedenen Welttheile nnd Länder verziert. 

Wir haben bereitd oben, ©. 63 es angedeutet, daß unter 
den vier alten Bewohnern der Kinfiedelei einer mar, der ſich 
in mancher Hinfiht von den anderen dreien, am meiften aber von 
bem fanften Bruder Paul, unterfhied. jener Eine Bruder, An- 
ton genannt, war aus Bar gebürtig, deffen Bewohner im Allge⸗ 
meinen in dem Rufe fiehen, daß fie leicht aufregbar und ſtreit⸗ 
füchtig find. Obgleich er an Jahren der ältefte, und in allen from⸗ 
men Uebungen ber eifrigfte war, hatte er dennoch feine zur Heftig⸗ 
feit geneigte Naturart nicht ganz befiegen koͤnnen; er war hart 
und fireng in der Behandlung, wie in ber Pflege des eigenen 
Leibes, dabei aber auch hart und ftreng in feinem Urtheil über 
die Handlungen Anderer, fo daß, wenn er fprah, Bruder Pant 
am liebften ſchwieg. Jener etwas ftürmifche Bruder, welcher ale 
Aelteſter der Beinen Geſellſchaft über diefe eine Art von Regiment 
führte, bemerkte zu feinem großen Verdruß, daß Duval, feitdem 
das Leſen der Bücher, und die Befchäftigung mit den Landeharten 
ihn fo mächtig anzog, im Befuche der gemeinfamen Gebetsübungen 
minder eifrig geworden fei, und daß er mit Dingen umginge, welche, 
wie es dem Bruder Klausner fchien, für einen Frommen tmeber 
nöthig noch heilfam feien. Er felber machte fi Vorwuͤrfe bar: 
über, daß er dem jungen Menfhen den Sonnencompaß geliehen 
und dadurch vielleicht etwas beigetragen habe zu feinen Verirrun- 
gen, doc hoffte er, daß dafür auch feine Ermahnungen einen 
befferen Eingang bei demfelben finden follten. Da er jedoch fah, 
daß Duval von Zage zu Tage immer eifriger dem Antrieb zum 
Wiſſen fi hingab, wollte er dem eigentlihen Treiben deſſelben 
noch beffer auf den Grund kommen, und verfchaffte fich deshalb 
Gelegenheit, als der junge Taufendkünftler gerade abweſend war, 
in feine verfchloffene Zelle einzubringen. Wie erftaunte der gute 
Bruder Anton, als er da lauter ſolche Dinge erblickte, die er noch 
nie bei einem Andächtigen gefehen hatte, und welche ihm deshalb 
nicht anders als verdächtig vorflommen mußten. Was follte die 
aus Pappe gemachte Himmelskugel mit ihren meißen und fehwar- 
zen Kreifen, die fi Duval zur Verfinnlichung des Ptotemäifchen 
Syſtems mühfam zufammengefegt hatte; was bedeutete die aus 
kreisrund gebogenen Haſelnußſtecken gefertigte Erdkugel; was bie 
feltfamen (geometrifhen) Figuren und vielen Zahlen, die der wiß⸗ 
begierige Duval aus einem entlehnten Buche von mathematifchem 


10. Jameray Duval. 15 


Inhalte ſich abgegeichnee und abgefchrieben hatte? Mehr jedoch 
denn alle diefe Dinge feste ein Wort den Bruder Anton in 
Schauder und Schreden, das er in der Auffchrift auf einer großen 
mie aflronomifchen Figuren und Rechnungen angefüllten Charte 
des Tycho de Brahe las. Die Auffchrift hieß: Calendarium na- 
turale magicum. . . Magicum ? brummte voll Entfegen der alte 
Klausner. Hier an gottgeweihter Stätte will er Magie, das heißt 
Zauberei und Dererei, treiben? Das kann nicht länger nadıge- 
ſehen werden. 

Gleich in feiner erſten Aufwallung machte fi der alte Mann 
auf den Weg nad Luneville, zum Haufe bes Beichtvaters, einem 
von Gemüth, wie an Kenntniffen vorzügliden Manne. Er machte 
biefem eine fo feltfame Befchreibung von Duval’s Thun und Trei⸗ 
ben, fowie von dem, was er in feiner Zelle gefunden hatte, daß 
der Mann neugierig wurde, die Sache felber zu fehen. Duval, 
der indeß nah Haufe gefommen mar, ließ den wadern Pater alles 
betrachten und durchforſchen, was in feiner Zelle war, beantwor⸗ 
“tete unbefangen alle Fragen, die er an ihn that, und das Ende 
diefer Prüfung war, daß der Pater den Bruder ‚Anton über feine 
Unwiſſenheit und feinen grundlofen Argwohn lächelnd zurechtwies, 
ben Duval aber wegen feiner Wißbegier und feines Fleißes belobte, 
indem er ihn zugleich aufmunterte, auf diefem Wege fortzufahren, 
weit ihm feine Kenntnifle einft noch fehr zum Nutzen gereichen 
tönnten. 

Tr einige Zeit fchien jegt ber Frieden hergeftelle, doc, konnte 
der Bruder Anton das nicht verfchmerzen, daß er wegen biefes 
jungen Menfhen vom Beichtvater belaht und zurechtgewiefen 
worden fei. In jeder Miene des unbefangenen Sünglings glaubte 
er einen Nachhall jener tadelnden Zurechtweiſung zu lefen, und 
fo faßte er einen mahrhaften Widerwillen gegen bdenfelben. In 
diefer unglüdlihen Stimmung entfuhr ihm einft die Drohung, 
baß er dem Duval feine Charten zerreißen, feine Bücher hinweg⸗ 
nehmen wolle; eine Drohung, bei welcher der blinde Eiferer zu 
wirklichen Thätlichleiten Miene machte. Diefe Schäge, deren Er: 
mwerb ihrem Befiger fo viele Mühe und Sorgen gemacht hatten, 
fi nehmen und zerflören zu laffen, melches jugendli warme 
Bius hätte einen folhen Gedanken ohne heftige Aufwallung ertras 
gen können! Zum erften, und, fo viel befannt auch zum legten 
Male in feinem Leben, geriet) Duval in einen fo gewaltigen Zorn, 
daß er feiner nicht mehr mächtig war. Als Bertheidigungsmaffe 
gegen die Gemwaltthätigkeiten einer unwiſſenden Barbarei an feinen 
lieben Büchern ergriff er die Keuerfchaufel und ftellte ſich mit 
einer folchen entichloffenen, milden Miene dem Bruder Anton, 
diefem Nachahmer des Zerftörers der Bibliothek von Alerandrien, 
entgegen, daß der Alte mit lauter Stimme um Hülfe rief. Die 
drei anderen Brüder, welche nahebei auf dem Felde arbeiteten, 
kamen herbei, der junge Menfh, noch immer für feine Bücher 


16 | 10. Sameray Duval, 


Alles fuͤrchtend, treibt fie durch das bloße Drohen mit ber Zeuer- 
fhaufel aus ihrer‘ eigenen Wohnung hinaus, deren Thuͤre er ver- 
fchließt, und die Bewegungen des Feindes durch's Fenſter beobachtet. 

Es war ein glüdliheg Zufammentreffen, daß gerade in die 
fem Augenbli der Prior der Eremiten nad St. Anna zum Be 
ſuche fam. Er fah und hörte ben Zumult, vernahm die Klagen 
über den jungen Empörer gegen das Anfehen des Alters, diefer 
aber, zum Senfter heraus, erzählte in feiner Weiſe den Dergang 
der Sache. Der Prior hörte ihn mit einer Gelaffenheit und Ruhe 
an, die aud dem Süngling feine Saffung zurüdgab, welcher den 
ernften Verweis, den der Prior ihm gab, eben fo ſchweigend hin⸗ 
nahm, als Bruder Anton jenem, der ihm zugetheilt wurde. Den- 
noch erklärte Duval, gleich einem Commandanten, ber im Begriff 
fteht, feine Feftung den Belagerern zu übergeben, daß er, nod) 
vor Wiedereröffnung ber Thüre um Zufiherung folgender Punkte 
bitten muͤſſe: 1) um volllommene Vergebung des Borgefallenen ; 
2) um Geftattung von täglidy zwei freien Stunden für feine wif 
fenfchaftlichen Arbeiten, eine Vergünftigung, auf welche er übrigens 
von felber in der Zeit der Ausfaat, der Ernte und der Weinlefe, 
Verzicht leifte. Dagegen verfprach er feinerfeits, der Gemeinfchaft 
ber Eremiten noch zehn Jahre lang, ohne allen Gehalt, nur ge 
gen Koft und Kleidung, mit allen Kräften und mit gewifjenhafter 
Treue zu dienen, Diefer Vertrag wurde eingegangen, die Thuͤre 
den Belagerern aufgethban, und diefe ließen fich fogar willig finden, 
am darauf folgenden Tage, den fchriftlih aufgefegten Vergleich, 
der Eine mit Buchftaben, die Anderen durch Kreuze flatt der Na⸗ 
men zu unterzeichnen. 

Der Friede unter den Bewohnern von St. Anna war jegt 
aufs Vollfommenfte wieder hergeftellt, und mit dem Frieden zu- 
gleich erblühten die gewöhnlichen Früchte deffelben, Wiſſenſchaften 
und Künfte, bei Duval. Seine Wißbegier brachte ihn freilich nicht 
felten auf Irrwege, die zu einem Ziele bes wahren Erkennen 
führten, denn mit ungemeiner Ausdauer las er Werke, wie die 
des Raymund Lullus, mehrmals Wort für Wort buch), und plagte 
ſich Wochen lang ab, um da einen beutlihen Sinn und weſent⸗ 
lichen Gehalt zu finden, wo Feiner war. Die in Nancy und fonft 
bin und wieder erfauften Bücher hatte er alle nicht nur gadefen, 
fondern, fo weit fie dies möglich machten, für feine geiſtige Bil⸗ 
dung ausgebeutet; er fann nun auf Mittel, noch mehr ſolchen 
Nahrungsftoff in feine Hände zu befommen,. Die jagbbaren Raub⸗ 
mörber bed Waldes waren theild vertilgt, theild ausgewandert; 
einen anderen Weg, um fich das Nörhige zu verfchaffen, fuchte er 
vergebens, da that ſich ungefucht von felber einer für ihn auf. 
An einem Herbfitage, als er, durch den Wald gehend, in gedan⸗ 
Eenlofem Spiele, das abgefallene Laub mit den Füßen vor ſich 
her fließ, bemerkte er etwas Glaͤnzendes. Es mar ein fein gear⸗ 
beiteteö goldenes Petfchaft, defien Wappenſchild von ganz befonberer 





10... Jameray Duval; 17 


Schönheit war. Duval, weicher mußte, daß folche Wappen nicht 
felten auf Thaten und Schidfale der Familien ſich beziehen, welche 
diefelben führen, und welcher ſich nach Meneſtrier's Anleitung felbft 
mit den Grundzügen der Heraldik vertraut gemacht hatte, betrach- 
tete mit reger Aufmerkfamkeit die einzelnen Theile des bargeftellten 
Schildes, ohne ihren Sinn zu errathen. Am naͤchſten Sonntag 
ließ er in Luneville von den Kanzeln feinen Fund bekannt machen, 
und nad wenig Tagen melbete fih bei ihm. ein Engländer, ein 
Mann, ber an äußeren Gluͤcksguͤtern, wie an Gaben des Herzens 
und Geiftes in gleihem Maaße reich war, als rechtmäßiger Inha⸗ 
ber des Petrfchaftes an. Herr Forfter, fo hieß der Engländer, lebte 
ſchon feit mehreren Sahren in Luneville, und widmete all’ feine 
Zeit und Kräfte den wiſſenſchaftlichen Forſchungen, ſowie wohlthaͤ⸗ 
tigen Zwecken. Duval war bereit, den und zurüdzugeben, doch 
machte er dabei die Bedingung: daß zuvor noch der Herr des Pets 
fhaftes ihm die Bedeutung feines Wappenfchildes, bis in bie ein- 
zelnen Theile hin, befchreiben möchte. Wie diefer junge Menfch 
in armfelig bäuerifchem Kittel, ein Intereſſe an adeligen Wappen 
haben £önne, begriff Here Forſter nicht; er hielt die Bitte für eine 
Aeußerung bes plumpen Vorwitzes. Indeß fügte er ſich in bie 
Bedingung, die ber ehrliche Finder machte, und war nicht wenig 
erſtaunt, als er aus den Fragen und Bemerkungen des jungen 
Einfiedlers erfannte, daß diefer in der Gefchichte und ihren Huͤlfs⸗ 
wiftenfchaften, ja felbft in der Wappenkunde, gründlicher unterrich- 
tet und befjer bewandert fei, als die meiflen in den Gelehrten: 
fhulen gebildeten Leute feines Altere, Die Wißbegierde bdiefes 
Fünglinge hatte in der That etwas Ruͤhrendes; fie kam aus 
einem fo lauteren, innigen Drange zum Erkennen des MWahren 
und des Gemiffen, fie nahm mit fo dantbarer Liebe das auf, was 
ihe dargeboten wurbe, baß ber menfchenfreundliche Engländer gleich 
bei diefem erflen Zufammentreffen eine herzliche Zuneigung zu Dus 
val faßte. Er belohnte den Fund deffelben durch eim fehr veiches 
Seldgefhent, und Iud feinen jungen Freund ein, ihn an jedem 
Sonn= und Feiertag in Luneville zu beſuchen. Bei diefen Befu- 
chen lernte Duval mit feiner leichten Saflungstraft in einer Stunde 
mehr, denn mancher Studirende bei einem wochen⸗, ja monatlan« 
gen Befuhe der Schulen, denn Herr Forfter hatte die Welt ge⸗ 
feben, er war, wie dies feine Zeitgenofien und feine Arbeiten be⸗ 
zeugten, nicht nur ein Liebhaber und Förderer, fondern ein Selbſt⸗ 
tenner der Gefhichte und Alterthumstunde, Weberdieß ließ es ber 
wohlthätige Engländer bei den geifligen Gaben, womit er feinen 
lehrbegierigen Schüler bereicherte, nicht allein bemenden, fondern 
beſchenkte denfelben bei jedem Beſuch auch noch mit Geld. 

So haͤtte fih für Duval auf einmal wieder eine reiche 
Quelle von Einkünften aufgethban, von benen er niemals auch 
nur einen Heller zu feinen finnlihen Vergnügungen oder zu Klei⸗ 
bern, ſondern Alles nur zur Befriedigung feiner Wißbegierde an⸗ 


78 10, : Jameray Duval, 


wendete. Während er niemals in anderer Tracht, als in bem 
Einfiedlerkittel einherging, niemals , feibft auf feinen ſtarken Tag⸗ 
märfchen, zu ben VBücherverkäufern in Nancy und wieder zutäd, 
etwas Anderes genoß, al& das vom Haufe mitgenommene Brod 
oder die Nahrungsmittel des armen Volkes, war bie Zahl ber 
Buͤcher feiner Eleinen Bibliothet auf 400 angewachſen, und biefe 
enthielt, ſeitdem Herr Forfter die Auswahl leitete, Werke von be 
beutendem Inneren Gehalt und Werth, In Wald und Feld, mie 
in ber Beinen Zelle war, bei Tag und zum heil auch bei Nacht, 
unfer junger Einſiedler mit dem eifrigen Lefen feiner Bücher, mit 
der Betrachtung feiner Landcharten und Abbildungen befchäftigt. 
Wie dankbar wußte er es jetzt zu fchägen, daß ihm noch immer, 
als Dauptgefhäft, die Huͤtung ber einen Heerde der Einſiedelei 
anvertraut war; gerade diefes Gefchäft war für feine wiſſenſchaft⸗ 
lichen Beichäftigungen das günftigfte; in der Stille des Waldes 
ober in der Grotte des verfallenen Steinbruches gab es Nichts, 
das ihn zerftreuen und von feinem Gegenftand abziehen Eonnte, 
er lernte bier in einer Weiſe fih fammeln, welche ihm für fein 
ganzes uͤbriges Leben einen Vorzug vor taufend anderen, foge- 
nannten Gelehrten gab. Denn Duval lad ſchon damals nicht, 
wie fo oft dieſe Anderen, mit nur halber und getheilter Aufmerk: 
famteit, weil ihe innerer Sinn dabei in den. verfchiedenften Rich: 
tungen auf den Berfireuungen, Sorgen‘ und Genüffen bed Welt 
lebend herumfchweift; fondern feine ganze Seele, al’ fein Denken 
und Dichten war bei Dem, maß fein tieferes Eindringen in das 
Reich des Erkennens zu fördern fhien. Das Gebäude feines Wiſ⸗ 
fend war nicht auf Sand errichtet, fondern ruhte auf der feiten 
Grundlage einer innigstreuen Liebe zur Wahrheit und zum geifligen 
Berftändniß. j 

Aber mitten in dem flilen Genuffe feines jegigen Gluͤckes 
regte fi) in unferem jungen Einfamen ein Verlangen, das ihn 
hinaus, zu dem Verkehr mit Menfhen, hinaus in die Welt zog. 
Der innere, geiflige Antrieb, der ihn bis hieher geführt hatte, war 
noch nicht gu feinem Ziele und Ruhepunkte gekommen; dureh bie 
Nahrung, die er in den Büchern fand, waren ihm nur die Schwin- 
gen gewachfen und flärker geworden, er wollte und follte immer 
weiter und weiter. Damals, als ihn jener innere Trieb von dem 
Schaafbirten in Clezantaine hinwegführte, war ſich's der wan- 
dernde Hirtenknabe nody nicht bewußt, weshalb er eigentlich. fort, 
und wohin er ziehen wolle? jest aber wußte er beutiicher, was das 
Ziel feiner Neigungen und fein wahrer Beruf fei: er wollte ſich 
ganz der Wiftenfchaft, bem Gelehrtenſtande widmen, 

Wie fern, wie unerreihbar müßte dem Verfiande des armen 
Burſchen ein ſolches Ziel erfchienen fein, wenn er hierbei nur auf 
die Ausfage feines Verſtandes, nicht vielmehr auf das feſte Gott: 
vertrauen feines Herzens geachtet hätte! Die Rettung vom Tode 
bes Verhungerns und Erfrierens, welche er gerahe zur rechten Zeit 


10. Samerap Duval. 79 


und &tunde im Schaafflalle des armen Pächters erfahren, bie 
gluͤckliche Geneſung aus ſchwerer Krankheit durch feltfame und den⸗ 
noch hoͤchſt heilſame Pflege; der Eindifhe und dennoc glückliche 
Einfoll, der ihn nad Lothringen geführt, die gute Hand feines 
Gottes, die ihn auch hier, im Fremdlingslande, auf al’ feinen 
Wegen gefegnet und munderbar geleitet hatte, ließen es ihn er⸗ 
kennen, daß über feinem inneren wie über feinem dußeren Leben - 
eine Vorſehung malte, welche jebed Werk, das fie begonnen, aufs 
Herrlichſte hinauszuführen weiß. Diefe Vorfehung hatte ihn tn 
der Theuerung und Hungersnoth ernährt, feinem Leibe auf ber 
muͤhſeligen Wanderfhaft Obdach und Herberge befcheert, warum 
follte fie nicht auch Mittel finden, den Hunger und das fehnliche 
Beduͤrfniß feines Geiſtes zu befriedigen, das fie ja felber in biefen 
gelegt und geoß genährt hatte? 

Freilich erging ed dem Duval bei diefen Gedanken wie einem 
Wanderer, der auf einem ſchmalen Baumftamme oder Brüdenftege 
über einen tiefen Abgrund hinübergeht; er darf nicht neben fich 
binabfchauen in bie Tiefe, wenn ihn nicht der Schwindel ergreifen 
fol. Für einen zehnjährigen Dienft, blos gegen Koft und Kleidung, 
hatte er fich bei ‚feinen Einfiedlern verpflichtet, wenn biefe Zeit um 
war, dann hatte er eben fo wenig Geld zum Stubdiren, als er jegt 
befaß ; fein redliches Herz konnte fid) keine Möglichkeit denken, wie 
jener fogar fehriftliche Wergleich aufgelöft werden möge. Dennoch 
war biefer Gedanke für ihn kein Gegenſtand der Sorgen oder Bes 
kuͤmmerniß. Wenn er mit feinem leichten Sinn auf die vielen 
Jahre hinblidte, die bis zum Ablauf des Vergleiches noch übrig 
waren, da duͤnkte es ihm, als wären es nur einzelne Zage; ihm 
fiel es nicht ein, daß auch er Alter werde; der Uebergang in eine 
Schule oder Bildungsanflalt, wo er endlich für den Beruf fich 
bilden Eönnte, zu welchem er fich beftimme fühlte, erfchten ihm als 
Etwas, das fi) eben fo von felber ergeben und fo leicht von flat- 
ten gehen werde, wie feine Wanderung aus ber Champagne nad 
Lothringen oder aus Clezantaine nach fa Rochette. Sein Einblich 
giäubiges Gemuͤth flellte ihm Das, was noch fern und künftig 
war, fo nor, als werde es fehon morgen ober heute fich einftellen; 
fein zuverfichtliches Hoffen glich einem ſtarken, guten Fernrohr, 
welches die weit abgelegenen Gegenſtaͤnde fo nahe an den Gefichts- 
kreis beranzieht, daB es fcheint, als koͤnne man die Bielfchribe, 
welche kaum von ber Kugel der Büchfe erreicht mirb, mit ber 
Hand ergreifen. 

In einer folchen glüdlichen Stimmung, welche von keinem 
Morgen und feinen Sorgen, fondern nur von einem Heute und 
feiner Freude weiß, mochte er fich befinden, als er einmal an ei- 
nem ſchoͤnen Fruͤhlingstage bes Jahres 1717 im Walde neben 
feinen am Boden ausgebreiteten Landcharten da Ing und in biefen 
mit angeflvengter Aufmerkſamkeit herumforfchte. Ploͤtzlich hört er 
eine männliche Stimme, welche ihm „guten Tag“ wihfche Er 


80 10. Sameray Duval. 


blickt über ſich und fieht einen Herrn, auf deſſen Angeficht ein ebles 
Selbftgefühl, gepaart mit Milde, ſich ausfprichtz Ddiefer fragt ihn 
freundlich, was er bier auf den Chatten fo eifrig ſuche? — „Ich 
fuche und betrachte,” antwortete Duval, „ben Weg von Frank 
reichs Küfte nad) Quebe in Canada.“ — „Nach Quebeck?“ fragte 
ber Herr meiter. „Und was habt ihr gerade mit Quebeck zu 
thun?⸗ — „Ich habe geleſen ,“ ſagte Duval, „daß es dort ein 
franzoͤſiſches Seminar oder eine Hochſchule gibt, darinnen ſehr viel 
gute Sachen gelehrt, und wo auch manche Kinder armer Leute 
umſonſt aufgenommen und unterrichtet werden, darum gedenke ich 
dorthin zu reiſen und in Quebeck zu ſtudiren.“ — „Ei,“ ſagte der 
Herr, „um etwas Gutes und Gruͤndliches zu lernen, braucht man 
nicht ſo weit zu reiſen, und Freiſtellen fuͤr junge Leute, welche be⸗ 
ſondere Neigung und Talente zum Studiren haben, gibt es in un⸗ 
ſeren hieſigen Seminarien und Hochſchulen auch.“ 

Waͤhrend dieſes Geſpraͤches hatten ſich noch mehrere Herren bei 
Duval eingefunden, an deren Kleidern und aͤußerer Haltung ſich 
ein ungewoͤhnlich hoher Stand verrieth. Sie befragten den Oberſt⸗ 
hofmeiſter, Grafen von Vidampiere, denn dieſer war es, der mit 
dem jungen Eremiten ſprach, uͤber den Gegenſtand ſeiner Unter⸗ 
haltung und uͤber den merkwuͤrdigen Burſchen, mit welchem er da 
redete und richteten dann ſelber mehrere Fragen an Duval, welche 
dieſer mit Verſtand und edler Offenheit beantwortete. Er ahnete 
nicht, von welcher Wichtigkeit, von welchen Folgen fuͤr ſein ganzes 
Leben der Ausgang des Examens ſei, welches er in dieſem Augen⸗ 
blick beſtand, und vielleicht war dieſe Unwiſſenheit zu ſeinem Vor⸗ 
theil, denn ſo ſprachen ſich ſein geſunder Verſtand, ſein treffender 
Witz und guter Humor, ſeine fuͤr ſolchen Stand bewundernswerthe 
Beleſenheit in jener natuͤrlichen Unbefangenheit aus, in welcher ſie 
getade am meiſten gefielen. 

Die hohe Verſammlung, in deren Mitte das Eramen ſtatt 
fand, welches fuͤr diesmal mehr zu bedeuten hatte, als irgend ein 
Doctorexamen in Paris oder London, beſtand zunaͤchſt aus dem 
Hofſtaat der Prinzen von Lothringen. Dieſe beiden Prinzen, Leopold 
Clemens und Franz, ſammt ihren beiden Oberſthofmeiſtern, dem 
Grafen von Vidampiere und Baron von Pfutſchner, ſtellten die 
Eraminatoren vor, welche ihrem Candidaten im Bauernkittel Fragen 
vorlegten und von Ihm zu ihrem Vergnügen beantwortet erhielten, 
bei welchen ſchwerlich irgend ein junger, in unferen Schulen ge 
zogener und Funftgerechter Candidat fo zu Ehren gefommen wäre 
als Duval, der Zögling der Natur, aus deſſen ganzem einfältigen 
Weſen es hervorleuchtete, daß er Nichts ausſprach, was er nicht 
in Wahrheit fo fühlte und felber fo dachte, 

Baron von Pfutfchner, der Erzieher der beiden Prinzen, fragte 
am Ende der Unterhaltung den Duval, ob er wohl Luft habe, in 
der gelehrten Schule zu Pont a Mouffon feine Studien fortzufegen ? 
Duval frägte, ob man ihm bort, in ber’ Hlöfterlich eingerichteten 


10. Sameray. Duval, st 


Anftalt, wahl auch die Freiheit. geftatten werbe, herauszugehen in 
die Wälder und Felder, denn er koͤnne nicht beftändig im Zimmer 
bleiben. Man gab ihm hierüber eine beruhigende Zuficherung und 
beim Abfchied verfprach ihm Baron von Pfutfchner, daß er ihn in 
Kurzem wieder befuchen merbe. 

Die Prinzen erzählten bei ihrem Nachhaufelommen ihrem 
Herren Bater, dem mildthätigen, menfchenfteundlichen Herzog Leo: 
pold, welche feltfame Beute fie heute auf ihrer Jagd, an der Bes 
kanntſchaft eines jungen Viehhirten gemacht hätten, welcher durch 
feine Kenntniffe in der Länder= und Voͤlkerkunde, wie in der Ges 
fhichte fie Alle in Erſtaunen gefegt habe. Es Eoflete nur wenig 
Worte, um ben guten Herzog für bie mwohlthätige Abfiht zu ges 
winnen, welde Baron von Pfutfchner in Beziehung auf Duval 
ausfprah; Seine Durchlaucht bewilligten, daß Duval auf Ihre 
Koften in die gelehrte Bildungsanftalt zu Pont a Mouffon ger 
bracht, und bort, fo lange es zu feiner Ausbildung, nöthig fchiene, 
unterhalten werde. Auf herzogliche Koften folle er auch gekleidet 
und mit Allem reichlidy verforgt werden, was feiner Aufnahme in 
der Schule und ber beſten Benugung bes dortigen. Unterrichts für: 
berlich fein koͤnne. | 

Duval war damals 22 Jahre alt. est, im Mat 1717, waren 
es faft 8 Jahre geworben, ſeitdem er als bettelarmer Knabe, mit 
Holzfhuhen und im Gewand aus Sadleinwand nach Lothringen 
gekommen, vier ganze Jahre, feitdem er als Viehhirt in bie Dienfte 
ber Einfiedler von St. Anna getreten war. 

Mit den Gedanken des Abfchiedes von dem ihm werth und 
theuer gewordenen St. Anna und feinen herzlic befreundeten Be 
wohnern befchäftigt, fühlte er exit in ganzer Stärke, was er: hier 
gehabt und empfangen habe: Er hatte den Brüdern mitgetheilt, 
welches feltfame Abenteuer ihm heute begegnet fei, fie wünfchten 
ihm Gluͤck bazu, .gaben jebod auch zugleich in ihrer einfältigen, 
unverftellten Weiſe das Bedauern über die wahrſcheinlich nahe 
Trennung zu erfennen; ein Bedauern, das ihnen bie wahrhaft herz⸗ 
liche Liebe zu dem jungen Freunde eingab. Hierbei blieb Bruder 
Anton nicht: hinter den anderen zuruͤck; die Liebe, mit welcher er 
dem Duval ſchweigend und mit einer Thräne im Auge die Hand 
drüdte, und -ihm ben einzigen wiffenfchaftlihen Schag, ben er bes 
faß, den Sonnencompaß, zum Geſchenke aufdrang, war eine unger 
heuchelte. Solchen heftigen Naturen, wie die des Bruder Anton 
war, hat der Schöpfer insgemein neben jenem abflofenden Zuge, 
bee nicht felten aus ihnen herworbricht, auch den entgegengefegten 
der Eräftig waltenden, anziehenden Liebe in gleihem Maaße einger 
pflanzt, fo daß bei ihnen der Haß öfters, wenn der ermärmende 
Sonnenftrahl - von oben in das Dunkel des Herzens hereinfällt, 
zue innigften, feurigſten Liebe wird. - Diefe aufwallende Kraft 
gleicht in ihrer Wirkung dem Weine, weil fie, wie diefer in guten 
Stunden bie Seele zu edler That beſtaͤrken, im böfen. fie hinab⸗ 


6 . 


82 10. Jameray Duval. 


reißen kann zum Falle, zu jeder Zeit aber ihre Gefahren mit ſich 
bringt. 

Die Hoͤrſaͤle oder Lehrzimmer, in denen wir Anderen den Un⸗ 
terricht der Schule empfangen, ſind bald zu kalt, bald zu heiß; 
die Feuchtigkeit ihrer graulich⸗ weißen Waͤnde ſcheint auf den öfteren 
leiblichen Ausbruch jener Beaͤngſtigung hindeuten zu wollen, ben 
wir in der dumpfigen Luft biefer beengten Raͤume empfinden. 
Während wir die beiehrenden Worte des Lehrers vernehmen moͤch⸗ 
ten, zupft oder ftößt uns bier der eine Nachbar auf der Schulbank; 
es huſtet ein Anderer unb ein Drittes lispelt uns oder fpricht ung 
durch die Feber auf einem Blättchen Papier etlihe Worte zu; 
draußen ift Frühling ober liebliches Herbſtwetter, und mir figen 
und ſchwitzen da zwifchen den Mauern. Mit eimer mehr denn ge 
woͤhnlich gefpannten Theilnahme hört man dem Meiſter der engen 
Schulftube zu, wenn er erzählt, wie einft Plato, wie Ariftoteles 
und -Theophraft im Schatten der Hallen ober Bäume, in freier 
Luft ihre Hörer durch die Gewalt ihrer Rede begeifterten und be⸗ 
lehrten. Man denkt vielleicht fpäter mit Freuden an die wohlbes 
nugten Jahre der Schulzeit, man fegnet, mit dankbarer Liebe, das 
Andenken der theueren Lehrer, aber an die ſchwarzen .oder weißen 
Bänke, an bie Defen und Wände, Dielen und Deden der Schul 
ftuben oder Hoͤrſaͤle gedenkt man nicht gern; ihe Duft war nicht 
wie ein Geruch der Wälder oder der -grünenden Felder, Die der 
Herr gefegnet hat. | Ä Ä 

Ganz anders war dieſes bei Duval. Die hehre Stille der 
Nächte, nur felten unterbrochen von den Lauten, mit denen der 
Schuhu oder die Rohrdommel ihr Gefchäft begleiten, das Schwei⸗ 
gen des Waldes, und der erfrifchende Duft feines Schattene, muß⸗ 
ten für die Erinnerung einen anderen Reiz haben als unfere Ans 
baue um Defen und Kamine, Die Stimme der Belehrung, melde 
wir Anderen durch das Außere Ohr vernehmen, war für ihn eine 
innerlihe, deſto unmittelbarer und tiefer zum Gemüth fpredyende 
gemwefen. Mit Thraͤnen einer Wehmuth, durch welche wir bei der 
Abfahrt in das weite Meer von ber vaterländifhen Küfte Abfchied 
nehmen, betrachtete er noch einmal feinen ſtorchenneſtaͤhnlichen Sig 
auf der hohen Eiche, dort wo die vorüberwandelnden Geftirne ber 
Nacht in feiner Bruft die Ahnung einer Welt des Unendlihen umd 
Ewigen wedten, die ung überall umfängt; mit aͤhnlichen Gefühlen 
nahm er von der Grotte, bei dem verfallenen Steinbruch und ven 
jedem Stamme der alten Eichen und Buchen Abfchied, in berem 
Schatten er bei den unfichtbaren und dennod) vernehmlichen Lehr⸗ 
meiflern der alten wie neuen Zeit zur Schule gegangen mar. 

Baron von Pfutfchner hatte fein DVerfprechen nicht vergeffen; 
ed vergingen nur „wenig Tage nad) der erften Bekanntfchaft mit 
Duval, da Fam er, nad, damaliger Hoffitte im fechsfpännigen Wa⸗ 
gen fahrend, nah St. Anna und nahm den jungen Einfiedlee mit 
fid) in die Refidenz. Das Eramen hatte diefer glücklich beftanden, 


10, Jamerap Duval. 83 


heute, vor dem Angeſichte des Herzogs und den zahlreich aus Neu⸗ 
gier verſammelten Herren und Damen des Hofes, kam es zur 
Promotion. Auch bei dieſer benahm ſich unſer Duval ehrenhaft. 
Hier gab es ja keine ſolchen Gefahren und Schmerzen zu fuͤrchten 
wie bei den Kämpfen mit dem wilden Kater oder mit ben heftig 
beißenden Züchfen und Mardern; er ſprach und antwortete mit 
tindlicher Offenheit und gab duch feine Reben wie duch fein Bes 
nehmen wenigfiens eben fo viel Stoff zur Bewunderung als zum 
Belahen. Man fand den Bauernburfhen über alle Erwartung 
klug und in feiner Weife liebenswuͤrdig. Einige Damen, bie fi 
nach beemdigter Promotion, welcher die Gnabenverfiherungen des 
Herzogs die Krone aufgefegt hatten, mit Duval in ein Gefpräd 
eingelafjen hatten, bemunderten feine fchönen Zähne, „Es iſt dies,” 
fagte der treuherzige Burfche, „nur ein Vorzug, den ih mit allen 
Hunden gemein habe.’ 

Duval, defien Jugendgeſchichte vor anderen geeignet iſt, uns 
den eingeborenen Inſtinct des Menfchengeiftes in feiner ganzen 
Kraft und Wirkfamkeit Eennen zu lehren, mar nun zu einem Ruhe⸗ 
punfte feines Lebenslaufes gelangt, jenfeitd deſſen biefer zu einem 
minder augenfälligen, gemwöhnlicheren wird. Aehnlich einem Fluſſe, 
der feinen Urfprung auf einem hohen Felfengebirge nimmt und ber 
am Anfang feines Laufes das Auge durch manchen malerifch ſchoͤnen 
Waſſerfall entzüdt, der aber erſt dann, wenn er in die Ebene 
berabfommt, wo fein Gang kaum bemerkbar flil und ruhig ges 
worden, feine Segnungen durch Felder und Fluren verbreitet, war 
der merkwürdige Mann feit feinem Eintritt in die Welt mehr durch 
feine Wirkſamkeit auf Andere als duch den Wechfel feiner eigenen 
Schickfale beachtenswerth. Der mildehätige Herzog Leopold hatte 
ihn ganz befonders in feine Gunft genommen, hatte ihm fchon 
während der zweijährigen Stubdirgeit zu Pont a Douffon einen 
Jahresgehalt ausgefegt, dann ihm Gelegenheit zu einer Reife nad) 
Paris und den Niederlanden gegeben. Und welches andere Amt 
hätte einem folhen Freund ber Bücher ald Duval war, angemefjener 
und lieber fein Eönnen, als das eines VBibliothefars, welches bei 
feiner Ruͤckkehr nad Luneville duch die Huld bes Herzogs ihm 
anvertraut wurde. Zugleich ward er auch zum Lehrer der Gefchichte 
und Altershumstunde an der Hochſchule zu Luneville ernannt. 
Diefe Anftalt war zu jener Zeit von vielen Ausländern, nament- 
lich von den Söhnen reicher, englifher Samilien befucht. Duval's 
Vorträge hatten durch ihre Lebendigkeit und Originalität etwas fo 
Anziehendes; das ganze Weſen des Mannes medte fo viel Liebe 
und Vertrauen, daß er einen ganz befonderen, bildenden Einfluß 
auf die fludirende Jugend gewann. Unter den jungen Engländern, 
weiche nicht nur an feinen öffentlichen Vorträgen ben wärmften 
Antheil nahmen, fondern auch feines näheren Umganges ſich er 
freuten, war einer, welchem Duval bei mehreren Gelegenheiten bie. 
bedeusende Wirkſamkeit vorausfagte, bie er bald nachher in feinem 


6* 


—8 


B4 10. Jameray Duval. 


Vaterland erlangte. Dies war der nachmalige große Staatemann, 
der englifhe Minifter Lord Chatam. 

Zur Befriedigung feiner eigenen Bedürfniffe bedurfte unfer ge 
wefener Einfiedler überaus wenig. Statt aller anderen fogenannten 
Vergnügungen blieb ihm die die Tiebfte, daß er von Zeit zu Zeit 
die flilen, einfamen Waldungen und Fluren befuchte, die ihm 
theuerer waren und fehöner vorkamen als alle Derrlichkeiten von 
Paris. Er Eonnte fich niemals entfdhließen, die eingezogene Stille 
und Unabhängigkeit des ledigen Standes aufzugeben; feine Pfleg- 
befohlenen oder Kinder waren feine Schüler und die Armen; ein 
treuer Freund von gleicher Sefinnung und gleichen Schidfalen er⸗ 
heiterte ihn durch feinen Umgang bie Stunden ber Mufegeit. 
Diefer Freund war Herr Baringe, den ber edle Herzog Leopold 
aus der Werkſtatt eines Schloffers, wo man ihn mit dem Euklides 
in der Hand gefunden hatte, hervorzog, und ihm Gelegenheit gab, 
fih zum Lehrer der Mathematit in Luneville auszubilden. 

Einen Theil des nicht unbedeutenden Vermögens, welches 
durch die Sreigebigkeit feines Zürften und feiner reichen Zuhörer in 
Duval’6 Hände kam, wendete diefer zu Merken reiner Dankbarkeit 
für früher empfangene MWohlthaten an, beren lebendige Erinnerung 
ihn nie verließ. Namentlich wurde das geliebte St. Anna von 
ihm aufs Beſte bedacht. Statt des baufälligen hölzernen Wohns 
haufes der Einfiedler ließ er für dieſe auf feine Koften ein anfehn- 
liches fleinernes Gebäude mit einer Kapelle aufführen und kaufte 
zugleich noch einen anfehnlihen Strich Landes an, deſſen Selber 
und Baumgdrten durch ihren Ertrag zur reichlichen Unterhaltung 
der Brubderfchaft hinreichten. Zu den neuen Anlagen, welche nad) 
feinem Plane bei St. Anna begründet wurden, gehörte auch bie 
einer Baumfchule. In Beziehung auf diefe verordnete er, daß bie 
Einfiedler nicht bloß auf die Zucht der jungen Bäume für ihren 
eigenen Bedarf einen befonderen Fleiß wenden, fondern auch ihrer 
Nachbarſchaft damit nüslic werden follten. Es ward ihnen aufs 
gegeben, jedem Anwohner der Gegend, bis auf bie Entfernung von 
3 Stunden um St. Anna her, fobald es verlangt würde, junge 
Bäume aus ihrer Pflanzfchule unentgeldlich abzugeben und diefels 
ben, wenn man es mwünfchte, eben fo unentgeldlid an bem be 
flimmten Drte einzufegen, Nicht einmal etwas zu eſſen follten fie 
annehmen, ed müßte denn die Entfernung des Ortes der Eins 
pflanzung von St, Anna fo groß fein, daß die Brüder nicht wie⸗ 
ber zum Mittagseffen nah Haufe kommen könnten. Ein Kapital 
von 30,000 Franken wurde in diefer Weife für St. Anna verwen- 
bet, welches lange nachher noch, namentlich für die Baumcultur 
ber Landfchaft, einen großen Gewinn brachte. 

Zwei Meilen weflmärts von Nancy, zu St. Joſeph von Meſ—⸗ 
fin lebte nod in einer ſchon von dem oben (&. 63) erwähnten 
Bruder Michael erbauten Klaufe der hochbetagte Eremit, der ihm 
vormals die Kunft des Schreibens gelehrt hatte. Seine Hütte war 


10. Jameray Duval. 85 


fo baufällig, daß fie früher zufammen zu brechen drohte, als der 
vielleicht neunzigjährige Leib. Duval ließ aus Dankbarkeit für den 
Alten und feine Nachfolger ein Haus erbauen, welches durch fein 
anftändiges Aeußere und feine innere Bequemlichkeit in feinem fo 
grellen Kontraft mit der herrlichen Umgegend ftand, als bie ſchmutzige 
Hütte. Auch fein Geburtsort Artenay und die etwa noch lebenden 
Verwandten empfingen reiche Gaben feiner Milde; flatt des arm⸗ 
feligen, ſeitdem in fremde Hände gekommenen Haufes feiner Eitern, 
ließ er ein geräumiges Gebäude aufführen, melches durch feine 
fteinernen Mauern und fein Ziegeldach bedeutend gegen die mit 
Schilf gededten Lehmhütten der armen: Landfchaft abſtach. . Diefes 
Gebäude ſchenkte er der Gemeinde, indem er es zu einem Schuls 
haus und zur Wohnung bes Schufmeifters beflimmte. Ein kleines 
Dorf unweit Artenay -ermangelte zur großen Beſchwerde feiner 
bürftigen Bewohner eines Brunnens; Duval ließ der Gemeinde 
einen graben. Und wenn damals der arme Pächter bei dem Schaaf: 
fall, der ihn im Winter 1709 in Pflege nahm, fo tie ber gute 
Pfarrer des Ortes noch gelebt hätten, dann würde fi die Dank 
barkeit ihres geweſenen Pfleglings fo gern auch an ihnen bezeigt 
haben. 
Duval hatte ſich bei feiner erflen Wanderung in die Srembe 
einem inftinctmäßigen Zuge hingegeben, der ihn, wie er meinte, in 
die der Sonne näheren Gegenden führen follte, denen der Winters 
froft ein fo hartes Leid zufügen konnte als feinem armen Vaters 
lande im Jahr 1709. In Often und Süben, fo hatte man ihm 
gefagt, möchten dieſe von ber Natur begünftigteren Landſtriche ſich 
finden, und fein damaliger Zug von Weſt nach Oft hatte die vor- 
gefaßte Meinung beftätigt und überdies für fein ganzes Leben glüd- 
liche Folgen gehabt, Was ihn jedoch noch in feinem A2ften Fahre 
aus dem von ihm fo dankbar geliebten Lothringen, anfangs in der 
Richtung gen Süden, dann aber nad Often, zu einem eben fo 
geliebten Wohnſitz als ihm Kuneville gewefen, hinmwegführte, das 
war ned) ein anberer Zug als jener erfle, welcher dem Naturtriebe 
Heines hungernden Thieres ähnlich gemefen war. Der Schwieger⸗ 
vater des franzöfifhen Königs Ludwig XV., König Stanislaus 
von Polen, follte für den verlorenen. Thron entſchaͤdigt werben, da 
nöthigte der Einfluß Frankreich und ber mit ihm verbündeten 
Mächte, das SHerrfcherhaus von Lothringen zu einem Tauſche, 
welcher in mancher Hinficht für biefes Eein unvortheilhafter mar, 
Es follte feinen bisherigen Fürftenthron, der freilich durch Frank⸗ 
reichs unruhige und gefährliche Nachbarſchaft beftändig bedroht war, 
verlaffen und dafür die Herrfchaft über das reiche, ſchoͤne Toscana 
empfangen. So mehe die Trennung dem Herzog von feinen ge= 
liebten Unterthanen und diefen von ihm that, mußte der erzwungene 
Tauſch dennoch im Jahr 1737 eingegangen werben. Der väter: 
liche Freund, Herzog. Leopold, war geftorben, fein Erbe, ber Herzog 
Stanz, trat den Umzug nad) Florenz an und Duval, fo wie fein 


86 10. Jameray Duval, 


Freund Varinge ließen durch Feine fremden Anerbletungen ſich hal 
ten, fie hielten treu an dem Haufe bes Fürften, bem fie ihr gan 
zes Lebensgluͤck verdankten, wanderten mit diefem aus nad) Italien. 
Duval bekleidete bei Herzog Franz in Florenz diefelbe Stelle ale 
Bibliothefar, welche er in Luneville verfehen hatte. Als wenige 
Sabre nachher der Herzog mit ber Erbin des Defterreichifhen Hau⸗ 
fes fi) vermählte und nad) Wien zog, und balb nad) diefer Zeit 
auch der Mathematiker Varinge, der vertrautefte Freund unferes 
Duval, farb, da hatte für diefen das fehöne Slorenz alle feine 
Reize verloren. Er folgte deshalb gerne dem Rufe des feitdem zur 
Kaiſerwuͤrde gelangten Franz I. nad Wien, wo er Begründer und 
erfter Auffeher der -Faiferlichen Münzfammlung wurde. Einſam 
und anfpruchslos lebte und wirkte Duval auch hier am Kaiferhofe. 
Sein Sorfhen nad) dem, das allein wahr und fiher ift, im ganzen 
Kreis unferes Erkennens, wurde immer inniger und tiefer begrün- 
bet, dabei hatte er ſich von allen Vorurtheilen frei gemacht, welche 
diefes Sorfchen hemmen und befchränten können. Alle feine Kräfte, 
fein ganzes Vermögen gehörten dem Dienft des Naͤchſten. Er er: 
lebte ein heiteres Alter von 81 Jahren, war bis zum legten Augen- 
blick feiner Geiftesträfte mächtig und trat die Wanderung in bie 
Welt eines emigen Jenſeits eben fo muthig und froh und mit 
noch befier begründeten Hoffnungen an, als einft in feinem Kna⸗ 
benalter die Wanderung aus der verarmten Champagne in das 
fhöne, friedliche Lothringen. 








II. 
Der äußerſte Vorhof des natürlichen Erkennens. 


11. Der Bau von außen und von innen. 


Die Bewunderung, mit welcher die Bewohner einiger Südfee- 
Inſeln das erfte, große Segelfhiff betrachteten, bas aus Europa 
zu ihnen Fam, ift leicht begreiflih, und nicht minder begreiflich 
ift das mit Schreden gemifchte Erftaunen, das die Bewohner 
der Maledivifchen Infeln ergriff, als fie zum erften Mal ein eng- 
liſches Dampfihiff in Sturmeseile an ihrer Küfte vorüberfchnaufen 
hörten und fahen. Die ausgehöhlten Baumſtaͤmme und Kleinen 
Boote, in welchen die Sübfee-nfulaner Über das Meer ruderten, 
fanden ihrer Größe nad) zu dem europäifchen Linienfchiff kaum in 
dem Berhältniß, mie ein dreijähriger Knabe gegen einen Niefen; das 
Feuerdampf ausfpeiende Ungethuͤm eines Dampffchiffes übertraf an 
Schnelligkeit die Jonke mit 20, ja mit 40 Ruderern, fo weit, wie 
die Eile eines Fregattvogel® burch bie Küfte, den Sturmfchritt eines 
Deiphins durch die Meereswogen, 

Wenn aber der Sübdfee-nfulaner fhon mit Verwunderung 
den mächtigen Rumpf des fremden Schiffes, feine hohen Maften 
mit ihren Segeln und Wimpeln, und die ganze aͤußere Geſtalt 
deſſelben befchaute, wenn es ihm, mährend er aus feinem Ka- 
noe, oder von ber Küfte feiner Infel hinanblidte auf das hody- 
gelegene Verde und zu den Maftbäumen bes fremden Riefenbaues, 
fat in ähnlicher Weife zu Muthe wurde, mie den Bewohnern je 
nes armfelige Dörfchens,. bei deren Hütten fi ein Luftballon, 
größer als ihe Kirchlein, nieberließ; fo war dennoch das, waß fie 
bier zunächft ind Auge faßten, nur -der Vorhof von einem Men- 
ſchenwerke, deſſen Inneres, je tiefer fie in daffelbe hineinfhauten, 
ein Wunder nad, dem anderen vor ihnen aufthat. Was die großen 
metallenen Röhren, die wie Gold an der Sonne glänzten — bie 
Kanonen — mas das Spiachrohe und Fernrohr, was bie huns 
derterfei anderen noch nie gefehenen Gegenftände auf dem Verdeck 
und in den Kajüten für Bedeutung und für Bellimmung hätten, 
das ließ ihnen zwar zum Theil. die. Anwendung und Wirkfamteit 
berfeiben errathen; mas aber der eigentliche Grund diefer Wirkfam- 
keit bei der Kanone,. bei dem Fernrohr und all' folhen Wunderdingen 


88 11. Der Bau von außen und von innen. 


. fat, das blieb ihnen noch ein Geheimniß; fie waren felbft durch 
jene Erfahrungen nur mit dem erften, Außerften Vorhof ihrer For⸗ 
ſchungen in einen zweiten getreten, der von dem eigentlichen In⸗ 
neren bes Verftändniffes, darin die Löfung aller Raͤthſel ſich finden 
tonnte, durch einen dichten Vorhang gefchieden war. 

So wie den Sübfeeinfulanern bei ihrer eriten Belanntfchaft 
mit einem europaͤiſchen Linienfchiff ift es allerdings aud der Er 
kenntniß und Erforfhung der Natur in jenen früheren Zeiten er 
gangen, welche weder mit dem taufendfältig gefleigerten Lichte bes 
Mikroscops und Telescops, noch mit den mächtigen Hilfsmitteln 
der Phyſik und Chemie in die Höhen und Xiefen, fowie in den 
inneren Bau ber fihtbaren Welt und ihrer einzelnen Körper ein- 
zudringen vermochten. Jene Zeiten mußten fi in gar vielfacher 
Hinſicht mit dem Stehenbleiben an dem aͤußerſten Vorhof des na- 
türlichen Erkennen® begnügen. Und dennoch, meine ih, war fihon 
dieſer Vorhof von anderer Bedeutung ale der Vorhof eines Men: 
ſchengebaͤudes. Der Eindrud, den der Anblid eines ſchoͤnen Bau- 
mes in der Kraft und Fülle, feiner Zweige und Blätter, in ber 
Herrlichkeit feiner Blüthen auf meine Sinne und meine Seele 
macht, ift mächtiger als jener, den ich aus der mitroscopifhen Be 
trachtung der Spirals und Zellengefäße feines Baftes und feiner 
Blätter empfangez ich bin bei diefer Betrachtung aus dem aͤußer⸗ 
ften Vorhof, der, tie bei den Gebäuden in Damafeus,. nach ber 
freien Straße hinaus fteht, in einen mehr nad) innen gelegenen 
gerathen, der aber nur ein dunkler Durchgang iſt. Doc, getroft! 
der dunkle Durchgang hat weiter hin einen inwendigen Ausgang, 
welcher zu den mitten im Grün ber Gärten gelegenen pradytoollen 
Mohnfig des Hausherren führt und bier findet auch das Zorfchen 
feinen vergnüglichen Ruhepunkt. 

Es ift aber nicht allein die Schärfe und die weithin reichende 
Sehkraft des Auges, die den Gang des Wanderers nach dem Ziel 
feines Weges hinlenkt, fondern vor Allem die Richtung, welche 
fein Blick nimmt; denn diefe Richtung könnte: eben fo leicht von 
dem gefuchten Ziele hinweg als zu ihm hinführen. Ein recht be 
deutungsvolles Bild im Spiegel der Natur geben uns bie Ber 
mandlungen der Infecten, aus der MWurmgeftalt in bie Puppe, 
aus dieſer in die geflügelte Form. Wir wollen bier nur an bie 
eine Art diefer Verwandlungen erinnern, es ift die, welche man 
an der armfeligen Singmüde beobachtet. In ihrem geflügelten 
Zuftand ift biefe eine Bemwohnerin ber Luft. Wenn aber das müs 
terliche Thier die Zeit bes Gebärens ankommt, ba verläßt daſſelbe 
die Tänze in der Luft und legt feine Eier auf das Waſſer. Das 
Wuͤrmchen, das aus einem folhen Ei kommt, ift ein gar ſonder⸗ 
bares Geſchoͤpf. Sein Kopf mit den Augen und mit dem Munde, 
iſt nicht nach ber Luft und dem Licht, fondern von diefem hinweg 
nad) unten, nad) dem dunklen Grund bes Waffers gewendet, nur 
fein. Schwanzende ift nach oben gerichtet; und durch biefes ficht 








11. Der Bau von außen unb von Innen. 89 


das Thier mit der Luft in Verkehr, denn mit ihm athmet es ein 
und aus. Eben fo wie die Richtung ber Augen gehen alle Bewe⸗ 
gungen, alle Regungen bes Begehrens an jenem wunderlihen Würms 
chen nach unten; es fcheint hierbei der oberen Luft: und Lichtwelt im» 
mer nur entfliehen zu wollen, die doch feine eigentliche Fünftige Hei⸗ 
math tft. Aber fein Wurmleben naht dem Ende; es erſtirbt in der 
Seftalt der Puppe und an biefer tft auf einmal das, was vorhin 
das Unterfle war, zu einem Oberen geworben, denn das Kopfenbe, 
mit feinen noch verhuͤllten Augen wendet ſich jest der Luft zu, und 
tritt mit Diefer in Verkehr; der belebende Odem wird nun durch die 
beiden zarten Röhrchen eingenommen, welche an ber oberften Seite 
bes Kopfes ftehen. Und nach menig Tagen ringt fi) das verfchloffene 
hier auch aus ber Hülle der Puppenhaut hervor, es erhebt ſich aus 
dem Wafler zum freien Bid und zum Auffhmwung in das hellere 
Luftreich, das jest für längere Zeit feine Heimath wird, | 

Eine ähnlihe Verwandlung wie die eben befchriebene hat 
das Beichauen und Erforfchen der natürlichen Dinge fehr oft er 
fahren, wenn es bei der Vorforge für ein vorübergehendes leibliches 
Bebürfniß die Mittel zur bleibenden Befriedigung eines geifligen 
Bedürfnifjes auffand, gleich jenen Seefahrern, bie zur Errichtung 
ihres Beinen Seuerheerdes flatt der Steine, die fie auf dem Sand: 
boden der Küfte vergeblich fuchten, Klumpen von Sodaſalz nah: 
men, und hiedurch, wie wir fpäter ſehen wollen, die Bereitung 
des Glaſes erfanden, mit deffen Hilfe wir die Räume bes Weltalls 
buchbliden, ober gleich, jenem Phyſiker (Galvani), welcher an 
dem Zuden der Froſchſchenkel, die man für den Gebrauch ber 
Küche zubereitete, die elektrifche Polarifation der Metalle. (den 
nad) ihm fo benannten Galvanismus) entdeckte. Bei folhen und 
bei gar vielen ähnlichen Gelegenheiten iſt es dem finnlichen For⸗ 
fher ergangen, wie jenem Süngling aus Benjamin’® Stamme, 
welcher ausging, feines Vaters Efelinnen zu fuchen, und ber auf 
biefem Wege den Königsthron fand; es hat fi) aus dem engen 
Kreife des alltäglihen Nothbedarfes, den es unten am Boden 
ſuchte, zu einem Aufblid nad dem oberen Lichte erhoben, das 
biefen Boden beleuchtet. Mit dem Inneren, geiftigen Gefichtefinn 
der Menfchennatur hat ſich ‚hierbei etwas Aehnliches zugetragen, 
wie mit bem leiblihen Gefichtsfinn der Singmüde, welcher im 
Zuftand des Wurmes nach unten gerichtet war, auf der höheren 
Stufe der Verwandlung aber nach oben fid wendete. 

An diefem Bilde im Spiegel ber Natur fehen wir übrigens 
gern von jener Schattenfeite -beffelben, von jenem Ungemach 
ab, welches das eine Geſchlecht ber Singmäde unferer Haut zu⸗ 
fügt, und beachten nur jene hellere Seite beffelben, bie und, wenn 
auh nur in ſchwachem, unvolllommenem Abriß eine Erhebung 
des Lebens von unten nad) oben: nad). einer Welt des Lichtes und 
des Erkennens vor Augen ſtellt, im welcher des Lebens Quell und 
Urſprung ifl, | | 


90 12. Sonft und Sest. ä 


12. Sonſt und Sept. 


Mer noch vor kaum vierzig Sahren bet uns baheim fich in 
der Nacht ein Licht, und mit bdiefem ein Seuer anzlnden wollte, 
ber mußte oft lange mit dem Zufammenfchlagen von Stahl und 
Stein ſich abmühen, bis der Zunder oder ber Feuerſchwamm einen 
Kunfen fing, an dem man ben Schwefelfaden, und durch ihn das 
Licht zum Brennen bringen konnte. Wie leicht geht uns dies jest 
feit der Erfindung der Zuͤndhoͤlzchen von der Hand! Ein einziger 
Stridy an der Wand bringt ben Phosphor (m. v. C. 23) und den 
entzundlihen Stoff, daran er haftet, zum Brennen, und die hier 
entftandene Flamme vermag alsbald andere Flammen zu weden. 
Und dennoch war ſchon die Erfindung der Funkenerzeugung aus 
Stahl und Stein eine hoͤchſt dankenswerthe, denn mie viel leichter 
war fie, als das Feuermachen der Wilden, durch mühfelig langwie⸗ 
riges Zufammenteiben von duͤrren Hoͤlzern. 

Schon von den aͤlteſten Zeiten an muͤßte der Menſch dahin trach⸗ 
ten, die Herrſchaft uͤber das maͤchtigſte Element der Erde, uͤber das 
Feuer, zu gewinnen, und ſich zu erhalten. Denn was waͤre ſein 
muͤhſeliges Loos auf Erden, ohne die leuchtende und waͤrmende 
Kraft der Flamme, die ihm, im engeren Kreiſe ſeiner Huͤtte bei 
Nacht das Licht, im Winter die Waͤrme der Sonne erſetzt und die 
ihn zum Sieger uͤber alle die anderen Elemente, ſelbſt uͤber das 
harte Eiſen macht. Darum hatten die Voͤlker des Alterthums 
wohl recht, wenn ſie das Feuer als eine der hoͤchſten Gaben der 
Gottheit ſo hoch achteten und mit ſolcher Ehrfurcht es unterhielten, 
daß zur Hut und zur Ernaͤhrung ſeiner Flamme ein Stand der 
Prieſter oder der Prieſterinnen beſtimmt war. 

Wenn man noch jetzt die auf Erden beiſammenwohnenden 
Voͤlker nach ihrer aͤußerlichen Macht und Bildung mit einander 
vergleicht, dann wird man immer finden, daß die unter ihnen 
am weiteſten in den Geſchicklichkeiten des buͤrgerlichen Lebens voran 
ſind, am vollkommenſten in den Werken des Friedens wie des 
Krieges, welche ſich die Kräfte des Feuers am meiſten dienſtbar ge 
macht haben. Und hierin ift auch der Menſch von der älteren bis 
zu den neueften Zeiten von Stufe zu Stufe immer höher geftiegen. 

Das Erfte, was ihm zu thun.oblag, ‚wenn er zu einer vollkom⸗ 
meneren Derrfchaft über das Feuer gelangen wollte, war. das Auf 
fuchen und die Anwendung jener Mittel, durch welche die Licht und 
Hitze verbreitenden Kräfte dieſes mächtigen Elementes verſtaͤrkt und 
zu einem beflimmten Zweck bingeleitet werden tonnten. Wenn man 
auch nur die Form und die Einrichtung der Lampen und Kerzen, 
nod) mehr aber, wenn man den Bau ber Defen zum Schmelzen 
bee Metalle, Sowie zu ähnlichen Feuerarbeiten bei den Völkern ber 
verfchiedenen Zeiten und Länder vergleicht, danıt wird man ſchon 
daraus einen Maaßſtab für den Grad ihrer Außerlihen Gefittung 
und Bildung entnehmen koͤnnen. Die alten Aegypter, Phoͤntzier 


12, Sonft und Jetzt. 9 


und Chaldaͤer, bie urälteften Bergleute im Hochland bed mittleren 
Afiens müffen, dies bezeugen manche ihrer Werke, vortreffliche 
Mittel: zum Audfchmelzen und zur Bearbeitung der Metalle, ber 
Glasfluͤſſe und der koſtbaren Gefäße aus gebrannten Erben gehabt 
haben, und dennoch, wie weit mochten ihre Defen den Schmelg 
öfen der neuen Zeit nachftehen, die von Sahrhunpert, ja von Jahr⸗ 
zehend zu Tahrzehend immer zwedimäßigere Einrichtungen erhielten. 

Der Menſch aber nahm nicht allein das Feuer in feiner ge 
wöhnlihen Form, fondern auch jene Körper. in feine Dienfte, die 
er durch feine Kunft zu Behältniffen und Trägern der Kraft 
des Feuers gemacht hatte, wie dies namentlih die Säuren find, 
unter denen bie Schwefelfäure (nad) Cap. 24) die Königin ift. 
Zu eimem foldhen Behältniß bee Seuerfräfte, welche der kleinſte 
Funke zur gewaltigen Flamme weckt, marhte er ſelbſt die verlo⸗ 
ſchene und erkaltete Kohle feines Heerdes durch ihre Verbindung mit 
Salpeter und Schwefel zum: Schießpulver, gegen deſſen Uebermacht 
die Waffen und der tapfere Arm eines Achill nichts vermocht, die 
Mauern von Troja und von Serufalem nur ſchwachen Schug ges 
währt hätten. Und was ift die Kraft des Schiefpulvers gegen 
die des Knallſilbers, fomwie anderer, biefem ähnlichen Erzeugniſſe 
der chemiſchen Kunſt. 

Aber all’. dieſe Erfindungen lagen noch im Bereich des Außer 
ſten Vorhofes des natürlichen Erkennens; die Wiflenfhaft ift in 
neuefter Zeit durch ihre genauere Bekanntſchaft nicht allein mit den 
handgreiflihen wägbaren Stoffen und Körpern, fondern mit dem 
Reiche einer Überförperlichen, unwaͤgbaren Leiblichkeit .ungleid, mehr 
als jemals fonft zu einer Herrfchaft über die irdifhe Sichtbarkeit, 
namentlich über die Kräfte deö Feuers gelangt. Ein tieferes For⸗ 
fhen hat es den Freunden der Natur gelehrt, daß ber zuͤndende 
Funke nicht allein im Eifen und in dem harten Steine, die Nah: 
rung für die Flamme nicht allein im brennbaren, Iuftathmenden 
Korper verborgen liege, fondern baß e8 ein Feuer gebe, mächtiger 
als das der Schmelzöfen, mächtiger. ald das ber Vulkane, deſſen 
Gluthitze von Feiner zundenden Flamme gemedt, von keinem brenn- 
baren Stoffe genährt wird, und welche Feiner Belebung durch bie 
Luft bedarf. 

Wer von uns, ber mit den Wirkungen einer Volta ſchen 
Säule bekannt ift (m. v. Sap. 45) in einem ber legten Jahrzehende 
des vorigen Jahrhunderts die damals berühmteften Bergatademieen, 
Schmelzhütten und cdemifchen Werkftätten von Europa befucht 
hätte, der würde auf diefer Umfchaureife manchen tüchtigen Meifter, 
namentlih in der Schmelz: und Scheidetunft ber Metalle, gefunden 
haben. ‚Wenn er einen folchen gefragt hätte, in welcher Weife er 
das Abſcheiden des Silbers, das Ausfchmelzen des Kupfers, des 
Eiſens und andere Metalle zu betreiben pflege, da wuͤrde ihm die⸗ 
ſer einen ſehr genuͤgenden Bericht, über den Eunftreichen Bau feiner 
Amalgamir= und Scymelzöfen,. über den Hitzgrad, ben jedes Mes 


92 12. Sonſt und Jetzt. 


tal zum Schmelzen bedarf, über bie Hilfsmittel, welche diefe 
Schmelzung befördern, ertbeilt haben. Wenn wir ihm dann ge 
fagt hätten, es gebe einen Ofen, der ftatt des Brennholzes ober 
ber Kohlen mit Waffer, mit Zink und Kupferplatten geheizt mwerbe; 
einen Dfen, ber in feinem Innern kalt bleibt, während er nad) 
außen durch zmei,genäherte Metalidrähte eine Gluthitze ausſtroͤme, 
bei welcher felbft das Platinametall, das jeder Hitze feiner Defen 
widerftände, in wenig Augenbliden zum Schmelzen komme; einen 
Dfen, in welchem nicht nur, wie in feinen Amalgamiröfen das 
Silber aus dem Muttergeftein, fondeen felbft ein Metall aus ber 
feuerbeftändtgen Thonerde, aus der Kalkerde und Pottafche ausge 
fhieden werde, da würde ihm diefes wie ein Mährlein vorgekom⸗ 
men fein. Und dennoch, findet fi) anjegt in der MWerkftätte jedes 
Chemikers und Phyſikers ein folcher Dfen in der Vorrichtung bed 
chemiſch⸗elektriſchen Trogapparats, der mit Metallplatten und einer 
wäfferigen Flüffigkeit gefüllt, in feinem Innern Ealt bleibt, wäh: 
send aus feinen Außerftien Enden eine Gluthitze ausſtroͤmt, melcher 
kein fhmelzbarer Körper widerſteht, und welcher die fcheinbar fefteften 
Bande ber Elemente loͤst. 

Unglaublicdy würde, ſchon mehrere Menfchenalter früher, einem 
Meifter in der Erkenntniß der Natur, die jept allbefannte Thatfache 
erfchienen fein, daß im einfachen Waſſer ein brennbares Element 
fi) finde, welches an der Kichtflamme in Bligeöfchnelle fi ent 
zündet, und ein anderes Element, welches, ohne felber brennbar 
zu fein, felbft den glimmenden Funken eines Feuerſchwammes zu 
einer Glut anfacht, die fi dem mit ihm verbundenen Eifendraht 
ober der Stahlfeder mittheilt, fo daß dieſe, gleich dem herabtraͤu⸗ 
feinden Siegellad, ind Brennen gerathen, Und alle diefe ſowie 
eine faft unüberfehbare Reihe von früher noch nie erhörten Leiſtun⸗ 
gen und künftlihen Werken find dem Menfhen nun durdy bie 

enügung jenes Clementarfeuers der höheren Ordnung möglich 
geweſen, das mir fpäter in feinen verfchiedenen Erfcheinungsformen 
als Elektrizität und Elektrochemismus betrachten wollen. Denn 
dadurch, daß er den elektriſchen Strom in tunftgemäßer Weife in 
das Waſſer hineinleitete, gelang es ihm, daffelbe in feine beiden Ur- 
elemente zu zerlegen, und fowie hier, hat auch nach vielen anderen 
Seiten hin ber elektrifche Funke ein Licht über das vorherige Dun- 
tel in der Lehre von den Elementen der natürlichen Dinge verbrei- 
tet; er bat die Gedanken der Forfcher der Natur in mädtige Be 
wegung gefest, ja er ift durch den elektrifchen Telegraphen ein Traͤ⸗ 
ger der Gedanken felber geworden, welcher feine Botfchaften im 
Bligesfchnelle über die Länder der Erde trägt. 

Auch nach allen anderen Seiten bin bat das menfchliche Er: 
kennen ber natürlichen Dinge fein Reich in unferen Tagen auf eine 
bewundernsmwürdige Weife erweitert, und mit dem Erkennen zu- 
gleih bat ſich unſere Macht über bie Koͤrperwelt gefteigert. So 
wie in anderer Weile durch ben eletrifchen Telegraphen, ift bie 





12. Sonft und est. 08 


vorhin. unduchfchaubare Scheidemand der Räume duch die Ver⸗ 
volltommmung der Fernröhre bis zu einem Maaße aufgehoben mors 
den, welches die kuͤhnſten Erwartungen felbft der naͤchſt vorbers 
gehenden Menfcdyenalter übertrifft. Und mie nach diefer Seite bin 
ber Menfch fiegreih in bie Welt des Lichtes eingedrungen ift, fo 
hat ſich das Licht fetber, feit der Erfindung. der Photographie nicht 
blos wetteifernd, fondern fiegreich feiner großen Kunft: die Welt 
des Sichtbaren nachzubilden, an die Seite geftellt. 

Das Element des Waſſers hat ber Menſch fett den dlteften 
Zeiten in feinen Dienft gezogen; bat daſſelbe durch Wafferleitungen 
und Kandle in das wafferlofe Land oder zu feinen Wohnftätten 
geleitet; hat es durch feine Kunft genöthigt, aus der Xiefe in die 
Höhe zu fleigen, hat es bazu benugt, die Räder feiner Mühlen und 
andere Waſſerwerke in Bewegung zu fegen. Auch die Kunft, ſelbſt 
aus dem dürren Boden der Wuͤſte das Waſſer hervorquellen zu 
laffen, die fich in unferen artefifhen Brunnen an fo vielen Orten 
bewährt hat, ſcheint den Völkern der Älteren Zeit wie den Cara⸗ 
vanen der großen afritanifchen Sandwüfte nicht unbekannt geweſen 
zu fein Wenn jedoch ſchon die Kraft des ftrömenden Waſſers, 
das feinen Lauf aus dem höheren VBinnenland nach dem Meere 
nimmt, eine fo bedeutende ift, daß ſie das fchwerfällige Laftfchiff 
ohne Beihilfe der Segel und Ruder mit ſich von binnen führt, fo 
tft dennoch die des Waſſerdampfes eine.taufendfältig größere. In 
diefer Form feines Dampfes erfcheint uns das Waffer wie ein vom 
Schlafe erwachter Niefe, der, vorhin ein harmloſes Schaufpiel ber 
Kinder, ſich plöglich aufmacht, um in feiner fiegreihen Kraft einem 
Kriegsheer zu begegnen. Die Kunft der neueren Zeit hat es vers 
ftanden, jenen Rieſen in feinem Scylafzuftand zu ergreifen und in 
den Gewahrſam ihrer metallenen Keffel zu bringen, alsbald aber, 
wenn fie feines Dienfles bedarf, ihn durch das Feuer aus feinem 
Schlafe zu weden, und auch dann noch die furdhtbare Kraft befs 
felben fo in Banden zu halten, baß er nichts Anderes thun darf, 
ale was fein Beherrfcher von ihm begehrt. Welche Gefahren und 
Schreden die ungeheuere Naturkraft des Wafierdampfes, wenn ber 
Riefe fein Gefängniß zerfprengt, feinem Zwingherrn zu bringen ver 
möge, das haben allerdings ſchon manche Erfahrungen erwieſen. 
Diefe jedoch gleichen nur den leichten Schatten, bie ein vorüber 
ziebendes Gewoͤlk auf den Boden fireut, neben ber alltäglich bes 
kannten feſtſtehenden Thatfache: daß der Waflerdampf Laſten, die 
man vormals nur den Schiffen anvertrauen konnte, mit Windess 
fhnelle, felbft zu Land, auf. unferen Eifenbahnen über Hunderte 
von Meilen fortbewege; daß er auf dem Meer, im Dienfte der 
Schiffe, die Ungunft des Windes befiege oder uͤber die windſtille 
Fluth die Fahrt in demfelben ja In noch höherem Maaße befchleus 
nige, wie der Eräftigfte Wind, wenn er in alle Segel bläst. Und 
nicht nur in diefer feiner fortbewegenden Kraft, fondern in feiner 
Wirkſamkeit zum Heben von Laſten und zur Mithilfe bei ben mühe 


94 13. Das Reichwerden ohne Mühe. 


fomften Werten der Menſchenhand hat fi der Waſſerdampf, wie 
wie dies fpäter befchreiben wollen, als eine Macht bewährt, melde 
dem Menſchen, beffen Verbündete fie geworden iſt, mehr genügt 
hat als ganze Heerden von Roſſen und Kameelen, mehr als alle 
feine kunſtreichen Maſchinen und mechaniſchen Deb= wie Druckwerke. 

So fteht allerdings die jegige Zeit, nah dem Maaß ihres 
wiffenfchaftlichen Erkennens und der Handhabung der natürlichen 
Dinge, fo ſiegreich hoch über der Alteren und aͤlteſten Zeit, wie ein 
Corps der geübteften Artilleriften mit all? feinen Kanonen, Bomben 
und Granaten über einem Heerhaufen von nadten Indianern, 
Und bennod wären alle unfere Kanonen, Bomben und Granaten 
nicht vermögend, jene Pyramiden nieberzufchießen, melche die alten 
Aegypter Sahrtaufende vor der Erfindung des Schießpulvers erbaut 
haben. Und die Kraft al? unferer, wenn auch thurmeshohen 
Voltaifhen Säulen vermoͤchte Leinen jener Zempel weder zu er 
richten noch zu zerftören, welche noch jest an der Küfle des alten 
Thebens oder felbft am vaterländifchen Rhein von einer höheren 
Macht des finnenden Menfchengeiftes zeugen, als bie ift, welche 
buch das Zuden der Srofchfchenkel zur Entdedung des Galvanis- 
mus geführt wurde, und in ihrer bemunderswärbdiger Gedanken 
zeugenden Kraft zur Errichtung dee Voltaifhen Säulen und zu 
allen anderen biemit verwandten, bebeutungsvollen Entdeckungen 
fi) erhob. Aber auch die vereingelten Zone, welche von innen 
her im äußeren Vorhof vernehmbar werden, find der innig auf 
merkenden Theilnahme werth, weil fie den Hörer hineinloden in 
eine Mitte des geiftigen Baues, in welcher jene einzelnen Zöne zur 
voßftimmigen Harmonie werden. - 


13. Das Reichwerden ohne Mühe, 


Wie mußte ſich ber gute Duval abarbeiten, um nur hinter 
das zu kommen, was bei uns jedes Stabtlind in der beutfchen 
Schule erfährt; wie manche fchlaflofe Nacht Eoflete es ihm, bis er 
verftehen lernte was und wo die Sternbilder feien, und was bie 
Grade an dem Aequator einer Erdkugel bedeuten? Dergleichen 
ehrenwertbe Männer wie Duval, welche fih den Schatz ihres 
Wiſſens fo muͤhſam erwerben und aus der Xiefe herausgraben 
mußten, find mit folchen wohlhabend gewordenen Leuten zu ver- 
gleihen, welche, vom Haufe aus arm, ihr Vermögen ganz durch 
eigenen Fleiß und Sparfamkeit zufammen gebracht haben, während 
wir Anderen, denen man fchon in der Schule mit alle Dem ent- 
gegen kam, mas die Wißbegier befriedigen kann, jenen aͤhnlich find, 
die ihr Vermögen nicht .felbft verdient, fondern von ihren reichen 
Eltern ererbt haben. Ä 

Noch viel fehmerer ald dem Duval und feinem Freunde Ba- 
ringe, war die Befriedigung ber tief in ihrer Seele liegenden Wiß⸗ 
begier folchen Menfchen gemacht, denen etwa von Geburt am jener 


13, Das Reihwerben ohne Mühe. 95 


Sinn fehlte, der uns die meilte Belehrung über die Welt des Er: 
Eennbaren verfchaffen ann: der Sinn bes Geſichtes. Am ſchwerſten 
aber hatten es hierbei ohnfehlbar jene Bedauernswäürdigen, denen 
fo wie der Laura Bridgman (nad Cap. 9) mit dem Sinne 
des Gefichtes auch noch die des Gehöres, des Geruches und Ge 
fhmades mangelten. Duval, als er, gleich den Erbauern bes 
Zhurmes zu Babel, durdy das Anlegen feines Storchnefles auf 
der hohen Eiche mit feiner Wißbegier in den Sternenhimmel ein- 
dringen wollte, fah doch diefe leuchtenden Welten mit feinen Augen, 
und jeder Strahl derfelben ließ ihn etwas von ihren Kräften an 
fi) felber empfinden; wenn aber die bedauernswärdige Laura, in 
einem jener Bücher, die für Blinde gedrudt find, mit ihren fein- 
fühlenden Fingern etwa von den Sternen lad, wie mußte fie ba 
am ihr Denken und Sinnen in gewaltfame Aufregung fegen, um 
in ihrem Geifte das Wefen jener nie gefehenen Dinge zu begreifen. 
Und dennoch blieb eine folhe Anſtrengung bei ihr, in ähnlichen 
Sällen, wohl niemals ohne Erfolg und Lohn. Das eigentliche, 
wahre Wefen bes Erfennbaren vermag ber Geift des. Menfchen zu 
verftehen, ohne daß feine Sinne bie leibliche Erfcheinung deſſelben 
bemerken; der Antrieb zum Erkennen, der im Menfchengeifte liegt, 
ift zuletzt doch auf etwas gerichtet, das von ber Natur bes Geiftes 
ift; das Biel feines Strebens ift eine gewiſſe Zuverfiht Defien, 
das man hofft und innerlich erfaßt, auch ohne ed mit bem Außer: 
lichen Auge zu fehen. 

Der Zaubblinde James Mitchell hatte dadurch einen großen 
Vorzug vor Laura, daß er nicht bloß den Sinn des Geruches und 
Geſchmackes in befonderer Schärfe befaß, fondern daß auch bei ihm 
wenigftens in das eine Auge noch ein ſchwacher Schimmer des 
Zageslichtes hereindammern konnte. Welche Wißbegierde, und 
weiche Luft am Erkennen ſprach fih da oftmals in all’ feinen 
Mienen und Geberden aus, mwenn er fih in eine foldhe Stellung 
verfegte, daß ein Strahl der Sonne gerade auf den Punkt feines 
Auges traf, welcher dem Licht nicht ganz verfcehloffen war, und 
wenn er. etwa duch ein Stuͤck Spiegel den MWiederfchein jenes 
Strahles nad Gefallen auf jenen Punkt lenken, oder ein brennen- 
des Licht in die Nähe des Auges. bringen konnte, Ein eifriger 
Freund der Sterntunde kann keine größere Luſt empfinden, wenn 
ihm das Fernrohr den Eingang in das tiefere Geheimniß des 
Sternenhimmels eröffnet, als James fühlte, wenn ihm fo, aus 
einer für ihn verfchloffenen Welt des Erkennbaren, ein ſchwacher 
Strahl in feine beftändige Nacht herüber kam. Se abgefchnittener 
und vereinfamter die Lage des Menfchengeiftes nach außen hin, 
nad) der Welt des fihtbaren Weſens iſt, deſto begieriger greift der⸗ 
felbe nach Allem, was dem Kreife feines Erkennens nahe kommt, 
Die Begleiter des berühmten Parry, auf feiner Reife nach der 
Dolargegend, fehauten einem vorhberfliegenden. Waſſervogel mit ei- 
ner Neugier. nach, mit welcher wir. etwa ein feltenes Thier aus 


96 14. Die Kalenberzeichen. 


Afrika befchauen, weil fie auf den großen, ſchwimmenden Eisinfeln, 
über die fie ihre Schlittenboot hinzogen, fonft gar nichts Lebendiges 
zu fehen befamen. Ein Menfh, der ganz allein auf einer abge 
legenen Inſel ausgefegt iſt, blickt begierig nach jedem aus bem 
Meere auffteigenden Woͤlkchen bin, meil er in jeder folhen Er- 
fheinung ein Schiff ahnt, das ihm Kunde von ber Welt der an- 
deren Menfchen bringen könnte. 

Se weiter ber. Weg ift, den ein fallender Stein zu durchlaufen 
hat, bis dahin, wo er feinen feften Ruhepuntt an dem Erdboden 
findet, defto ſchneller und Eräftiger wird bei ihm biefer Lauf; wenn 
ſich ein Bergfturz hinab In das Thal ergießt, dann rollen jene 
Felfenftüde am weiteften, bie aus ber fernften Höhe herab kommen. 
So kann man freilich aud in foldhen Fällen, wie die find, die 
uns in der Entwidiungsgefchichte des Duval und der Laura Bridg- 
man entgegentreten, es nicht verfennen, daß gerade bie großen 
SHinderniffe, welche ber geiftige Antrieb zum Erkennen bei ihnen zu 
überwinden hatte, biefem Antrieb eine ganz befondere und unge 
wöhnliche Kraft gaben. Aber jener Antrieb liegt in jeder Menfchen: 
natur; wir Alle haben ein natürliches Verlangen zum Wiſſen und 
Erkennen, ed mag und nun die Befriedigung dieſes Verlangens 
fchmwerer ober leichter gemacht fein. Uns ift es freilih, im Ver⸗ 
gleih -mit Duval und nod mehr mit. ber taubblinden Laura ver- 
fiehen, daß wir, bei ben vielen Erkenntnißmitteln, die und zu Ge 
bote ſtehen, veih werden Eönnen ohne große Mühe, aber 
follten wir eben beshalb, meil uns das leichter gemacht iſt, jene 
Mittel unbenugt und ungebraudt Laflen ? 

Sch meine nicht. Es ift eine gute Sache um dad Haben 
und Befigen, und wenn mir die.dbargebotene Gelegenheit dazu ver- 
fäumen, fo kommt dies nur daher, daß wir uns fchon von vorn 
herein als reich und gefättigt anflellen, nicht als bebürftig, wäh- 
rend es doch nur der Hunger iſt, welcher der Speife bes Lebens 
ihre Würze und ihr Gedeihen in uns verleiht. Möchten daher 
die nachfolgenden Blätter, welche wie Kleine Schaalen und Zeller, 
Manches für den Antrieb zum Wiffen Genießbare barbieten follen, 
in mancher jungen Seele die Luft zum Zulangen und ben Appetit 
zum Genießen erwecken. | 


14. Die Kalenderzeihen. 


Wenn Duval in feinen jüngeren Jahren, ba er noch als un- 
soiffender Schaafhirt zu Clezantaine in Dienflen war, den Kalen- 
der, der ihm immer fo viel zu finnen gab, in die Hand nahm, 
da mochten öfters auch jene Zeichen feine Neugier reizen, durch 
welche die Sonne und die Planeten, fo wie die einzelnen Wochen- 
tage angebeutet werden. Daß die Mondsfichel den Mond und 
unter den Wocentagen ben Monbtag, der Kreis mit bem Punkt 
in der Mitte die Sonne, und in der Woche den Sonntag anzeigen 











14. Die Kalenderzeichen. 9a 


follten, da8 mar ihm bald bekannt geworben; den Abendſtern und 
Morgenftern hatte er auch bei feinem Hirtengefchäft fattfam kennen 
gelernt und zugleid erfahren, daß der Kleine Kreis, der unten ein 
Kreuz hat, im Kalender ihn bedeuten folle; ehe er jedoch die anderen 
augenfälligeren Planeten: den Jupiter, den Mars, den Saturn 
am Himmel und ihre Zeichen im Kalender Eennen lernte, da ver 
ging noch eine lange Zeit. 

Die unerfättlihe Wißbegier des Duval ließ ihn, wie wir oben 
gefehen haben, bei der Kenntniß der Sternbilber nicht flille ſtehen; 
bald wollte ee auch erfahren, wie es auf unferer Erde ausfähe, wie 
groß biefelbe fei und was für Länder und Meere es auf ihr gäbe. 
Hätte der wackere Burfche einmal einen Blick werfen können auf 
einen folhen großen Erdglobus mit angebeuteten Erhabenheiten 
und Tiefen der Gebirge, Thäler und Ebenen (einen Reliefglobus), 
dergleichen Karl Wilhelm Kummer in Berlin fertigt, mit 
welchem Entzüden würde ihn das erfüllt haben; mie wäre ihm da 
auf einmal Vieles fo deutlich und verftändlich geworden, über dem 
er fich lange vergeblih den Kopf zerbrach. Aber folche herrliche 
Hülfsmittel zum Lernen, dergleichen ber jest aufmwachfenden Jugend 
fo reichlich dargeboten find, gab es damals noch nicht einmal in 
den Lehrzimmern der Eöniglihen Prinzen. 

Auch mit dem Erlernen der Erdkunde, mwiewohl diefe, fo lang 
er lebte, eine feiner liebſten geiftigen Befchäftigungen blieb, begnügte 
ſich der forſchende Geiſt des jungen Einfiedlerd nicht; er wußte ſich 
die Bücher der verfchiedenften Art zu verfchaffen, und gerabe die, 
beren Inhalt und Sprache am geheimnißvollften, dunkelften waren, 
fpannten feine Neugier am hoͤchſten; mit einer bemundernswürbigen 
Ausdauer quälte er fih ab, die Schriften des Raimund Lullug, 
eines berühmten Gelehrten des Mittelalters, zu verftehen, In fol 
hen Büchern der bamaligen Zeit, welche durch ihre pomphaften 
Titel und durch ihre Vorreden dem Leſer das Verfprechen geben, 
ihn in alle Geheimniße der Natur einzuführen, wie bie vor Allen 
die Werke thun, welche von der Scheidekunſt (damald Alchymie 
genannt) handeln, findet man gar häufig diefelben Zeichen wieder, 
die im Kalender die Sonne und bie Planeten bedeuten, aber fie 
find hier in ganz anderem Sinne gebraudht als in den Kalendern. 
Denn was in bdiefen als Zeichen der Sonne fteht, das bebeutet 
in jenen Schriften das Gold; die Zeichen für Mond, Venus, 
Merkur, Mars, Jupiter, Saturn find von den alten Scheide 
kuͤnſtlern dem Stiber, Kupfer, Quedfilber, Eifen, Zinn und Blei 
beigelegt worden. 

Wir dürfen jene bdoppelfinnigen Zeichen der Kalendermacher 
und Scheibefünftler nicht zu fehr mit verächtlichen Blicken anfchauen, 
fie verdienen fhon wegen ihres hohen Alters eine gewiſſe Achtung, 
denn fie find durch die Hand gar manches Volkes und durch eine 
lange Reihe von Iahrhunderten gegangen, ehe fie biß zu uns und 
in unfere Kalender kamen. Die Sterntunde ift eine uralte Wiſſen⸗ 


7 


98 14. Die Kalenderzeichen. 


ſchaft. Den dälteften Vätern unferes Gefchlechtes, die an Geiſt 
und Leib einer jugendlihen Gefundheit genofien, die noch nicht 
duch fo taufenderlei Dinge unferes jegigen Weltlebend und durch 
Zeitungsnachrichten zerftreut waren, fondern in flillee Gemeinfchaft 
mit der Natur lebten, wie Duval ald Dirt und Einfiebler, erging 
ed auch gerade fo wie diefem; der Antrieb zum Erkennen, ber in 
ihnen war, richtete fi zuerft nad) der Höhe, auf den Sternen- 
himmel bin. Schauen bocd die Heinen Kinder, fobald fie ihr 
Köpfchen bewegen können, am begierigften nach dem Lichte und 
nad) dem Monde hin und zappeln fröhlich mit ihren Händchen, 
wenn fie etwas Glänzendes fehen. So wurde auch die Wißbegierde 
der Menfchen in aͤlteſter Zeit mit der größten Maht von ben 
glänzenden Geſtirnen ded Himmels und von den glänzenden Ebel 
fleinen und Metallen der Erde angezogen. 

Als Duval die Länder und Meere der Erboberfläche kennen 
gelernt hatte, wie gerne hätte er da wohl weiter erfahren mögen, 
was man von Dem weiß, das in der Ziefe verborgen if; wenn 
ein Indianer oder ein armer Knabe zum erfien Mal in feinem 
Leben eine Uhr in feine Hände befommt, und das Bewegen ihrer 
Zeiger, das Pidern ihres Getriebes eine Zeit lang bewundert hat, 
dann möchte er auch gern erfahren, was inwendig in der Uhr ift, 
und er befriedigt feine Neugier oft zum größten Nachtheil bes 
Kunftwertes. So tft überall der Antrieb zum Erkennen, der im 
Menfchengeifte waltet, auf das Eindringen in ben tiefen Grund 
eben fo wie auf das Ausbreiten nad) ber Höhe und Weite alles 
fichtbaren Weſens hingewendet; der Menſch will nicht bloß roiffen, 
daß ein Ding und wie es befteht, fondern er will auch erforfdyen, 
woraus und woburd) es befteht. 
| Mir kommen aber noch einmal auf die Kalenderzeichen zurüd, 
welche die doppelte Bedeutung von Geſtirnen des Himmels und 
von Metallen hatten. Der Zug des Menfchen zu den Metallen 
iſt nicht zufällig, bloß duch den Gebrauch entflanden, ben man 
von ihnen machen konnte und duch den Werth, den man Ihnen 
allmaͤhlig im Tauſch gegen andere Dinge beilegte, auch ift es nicht 
allein ihr Glanz, der fie in den Augen ber Menſchen zu Abbildern 
ber Geſtirne erhob und dadurch fo hoch ftellte;s fondern jener Zug 
mag noch einen anderen natärlihen Grund haben, deſſen Ent- 
widlung uns hier vor der Hand zu weit führen würde. Die Aerzte 
und andere Beobachter wiffen es übrigens, daß die Metalle eine 
gewiſſe Einwirkung auf die inneren Organe der Empfindung (die 
Nerven) haben, und daß in manchen krankhaften Zufländen bie 
Meizbarkeit für Metalle fo groß ift, daß die Menſchen die Nähe 
der Metalle fühlen, aud wenn fie biefelben nicht fehen. In fol- 
hen Fällen bat fich gezeigt, daß einige Metalle, vor Allem Gold, 
ein mohlthuenbes, andere, wie Zink und Eifen, ein unangenehmes, 
fhmerghaftes Gefühl erregten. Der geiflig Eranthafte Zug zu den 
Metallen, welchen wir, als Gelz, mit Hecht verabfcheuen, Tann 





m 


15. Die Elemente, 99 


bierbuch nicht entfchuldigt, wohl aber feine aͤußere Veranlaffung 
einigermaßen begreiflich werben. 

Wir haben es jedoch hier noch nicht mit jenem Verhältniß zu 
thun, in welchem die Metalle zu ber leiblihen Natur des Men⸗ 
fhen unmittelbar ftehen, fondern nur mit der Bedeutung, welche 
diefelben für die Förderung unferer Erkenntniß ber gefammten 
Sichtbarkeit haben. Und in folcher Hinfiht kann man fagen, daß 
diefe Glanzkörper, welche das Licht nicht zmar wie die Sonne von 
felber ausfenden, wohl aber fo wie die Planeten, wie ber fchöne 
Abend: und Morgenſtern das empfangene Sonnenlicht Eräftig zu: 
ruͤckſtrahlen, für die Erdkunde eben fo wichtig find als die MWelt- 
törper, deren Zeichen ihnen die Forſchung des Alterthums auf: 
prägte, für die Himmelskunde. Die Metalle gehören zu den ein: 
fachſten Grundſtoffen, aus denen bie irdiſchen Naturkörper zufam- 
mengefest find; ihre Betrachtung bahnt uns den Weg zur Erfenntniß 
der eigentlichen Elemente. Und, anflatt den Antrieb zum Willen 
zuerft nach oben, nad den Geſtirnen zu richten, wollen wir den 
umgelehrten Weg einfchlagen, zuvoͤrderſt nah unten, nad ben 
Elementen unfered Erdkoͤrpers uns wenden, um dann, von der 
feften Unterlage aus, deſto Eräftiger uns hinaufwaͤrts erheben zu 
önnen. 


15. Die Elemente 


Unfere Alten nahmen bekanntlich vier Elemente an: das Feuer, 
bie Luft, das Waffer und die Erde, Aus diefen vier Urfloffen 
folten, nad ihrer Meinung, alle Eörperlihe Wefen gebildet und 
erwachfen fein. Mit unferer jegigen wiflenfchaftlihen Sprache und 
Ausdrudsweife will ſich freilich die Annahme jener vier Elemente, 
in dem Sinne, in welchem fie Urftoffe bedeuten follten, nicht mehr 
vertragen, denn unſere Scheidetunft hat uns nicht vier, fonbern 
gegen fechszehn Mal vier Grundſtoffe der irdiſchen Körper kennen 
gelehrt, und das, was wir etwa als Erde benennen möchten, ift, 
je nachdem wir eine Probe davon da ober dorther entnehmen, aus 
einer bald größeren bald geringeren Zahl von Grundftoffen zuſam⸗ 
mengefest, das Waſſer aus zweien; die atmofphärifche Luft ift, 
wenn wir den Waſſerdampf, der fi gemöhnlich in ihr findet, in 
Anfchlag bringen, ein Gemenge aus mwenigftens vier folhen Grund⸗ 
offen. Und neben jenen drei anderen, duch Gewicht und Maaß 
beflimmbaren fogenannten Elementen nimmt fid) dann vollends 
das vierte, das Feuer, fo aus wie die Tugend neben drei Brat- 
würften, ober wenn man, nach unferen jegigen Begriffen, von den 
Urftoffen, das Feuer dazu zählen wollte, dann wäre biefes eben 
fo geredet, als wenn man fpräche: der menſchliche Körper befteht 
aus Knochen, aus Fleifh, aus Häuten und aus Bewegung. 
Denn das Feuer ift kein Urfloff in dem Sinne, in welchem wir 
dieſes Wort von den Beſtandtheilen der irdiſchen Körper brauchen, 


7 * 


100 16. Die Grundftoffe. 


fondern, obgleich es fich bei gewiffen Bewegungen der irdifchen 
Urfloffe gegen einander kund gibt, ift e8 dennoch, feinem Wefen nad 
von biefen eben fo verfchieden wie ber Zon der Klavierfaite, den 
mein Ohr vernimmt, von dem Meffingdraht und von der Zuft, 
durch deren Anregung er auf mein Gehörorgan wirkt, oder als bie 
Seele von bem Leibe. 

Dennoch darf fi unfere jegige Einfiht in die Natur der 
Dinge gegen die alte Eintheilung in bie vier Elemente, nicht fo 
gar groß machen. Es liegt in dieſer Eintheifung eine tiefe Wahr- 
heit, wie uns dies vielleicht fpäter einleuchtend merden wird, wenn 
wir zuerft das erläutert haben, was unter irdifehen Grundſtoffen 


zu verftehen tft. 
16, Die Grundſtoffe. 


Die Statue von Marmor, melde ſich als ein Gleichniß ber 
menfchlichen Geſtalt vorftellt, enthält weder Adern noch Fleiſch 
und Knochen in ihrem Inneren, fondern, wenn ein Zufall ober 
eine barbarifhe Hand fie zertrümmert hat, finden wir in allen 
Theilen derfelben vom Haupte an bis zur Sohle, von der Ober: 
fläche bi8 zum innerften Kern hinein, überall in und an ihr nichts 
Anderes als weißen, Törnigen Kalkftein oder Marmor, Wenn wir 
fie noch fo fein zerflücen und zerfchlagen, fie bleibt immer und 
überall Daffelbe, jedes Körnlein ift, wie das Ganze, ein weißer 
Marmor, und im Felde eines ſtarken Mikrofcopes betrachtet, zeigen 
fih an dem Körnlein dieſelben, in verfchiedenartiger Richtung an 
einander gefuͤgten Flächen, berfelbe Glanz, die gleiche Farbe, mie, 
mit bloßen Augen betrachtet, an einem fauftgroßen oder nod) 
größeren Bruchſtuͤcke. 

Dennoh find die unzähligen Stäubhen und Koͤrnchen, in 
welche die Maſſe des Kalkblockes, dem der Künftler die Menfchen- 
geftalt gab, fich zertrümmern laͤßt, keineswegs die Grundſtoffe jener 
Maſſe, fondern jedes diefer Körner ift aus mehreren Grundftoffen 
zufammengefegt. Daß biefes fo fe, erfährt jeder Kalfhrenner, wenn 
er den Marmor in bie Gluthitze feines Ofens bringt, Der Kalt 
verliert hier die Kohlenfäure, mit ber feine Erde verbunden mar, 
und biefe bleibt als fogenannte reine Kalkerde oder dgender Kalt 
zurüd, Aber auch fo noch ift diefe Erbe kein reiner Grundftoff, 
fondern mie Die fortgefegte Forſchung der neueren Zeit gezeigt hat, 
befteht felbft die reine Kalkerde aus einem Metall und aus einem 
Srundftoff der atmofphärifchen Luft, von welchem wir bald noch 
mehr reden werden: dem Sauerftoffgas oder der Lebensluft. | 

Der Zinnober, dies fchöne, rothe Farbmaterial, ift Jedem be 
fannt, der ſich mit bunten Malereien befchäftigt hat. Wenn man 
ein Stüd Zinnober durch Zerftoßen und Zerreiben auch noch fo 
fehr verkleinert, bleibt dennoch jedes Stäubchen Daffelbe, was das 
Ganze war: Zinnober. Wenn man aber Eifenfeilfpäne mit dem 


16. Die Grundſtoffe. 101 


zerftoßenen Zinnober zufammen mengt und biefes Gemiſch der Hige 
ausfegt, dann geben ſich alsbald im Zinnober zwei verfchiedene 
Srundfioffe Fund: Schwefel und Quedfilber, denn der Schwefel, 
der einen flärferen Zug zum Eiſen hat, als zum Quedfilber, ver: 
bindet ſich mit jenem zu Schmwefeleifen, und das Lestere wird aus 
der bisherigen Vereinigung frei. 

Das Kupfer, woraus ein Zheil ber ruffifhen Kupfermünzen: 
‘der fogenannten Kopeken, geprägt ift, kommt aus den goldreichen 
Uralifhen Bergwerken, und enthält in feiner Zufammenfesung 
öfters einen gewiſſen kleinen Antheil an Gold. Ein ſolches goldhaltiges 
Kupfer, dergleihen vor Allem das Surungafupfer aus Sapan ift, 
unterfcheidet fich freilich durch feine fehöne rothe Farbe und große 
Dehnbarkeit von bem gemeinen Kupfer, wenn man aber das erflere 
auch noch fo fein zerreibt und zermalmt, bleibt dennoch jedes Stäub- 
chen ein eben folches Gemiſch aus Kupfer und Gold wie die größere 
Maffe dies war. Sobald man jedoh mit Waffer verdünnte 
Scmefelfäure darauf fchüttet, dann nimmt diefe das Kupfer aus 
der Mifhung hinweg, indem fie Kupfervitriol mit demfelben bildet, 
und das Gold bleibt in feiner metallifhen Meinheit als feiner Bo⸗ 
denfag zurüd, den man zu einer vereinten Mafle zufammen: 
fhmelzen kann. 

In allen biefen Fällen bemerken wir, daß es ein zweifacher 
Antrieb fei, der die Lleinften Theile oder Atome ber Körper zu- 
fammenfährt und vereint. Wenn die Zugvögel, von einem allge 
meinen Antrieb ergriffen, in die Ferne auswandern wollen, dann 
fhaaren fie fi in großer Menge zuſammen. Auch im Fruͤhling, 
ehe bie Zeit der Paarung eingetreten ift, halten Viele von ihnen 
fih noch in ganzen Schaaren zu einander. Wenn aber die Zeit 
bes Niftens herbeilommt, dann fondern ſich die großen Haufen in 
einzelne Familien. Der Naturtrieb, welcher diefe Vereinigung ber 
einzelnen Paare und die zärtliche Vorforge für die Sungen begrüns 
det, ift viel ſtaͤrker als der Trieb zur allgemeinen Zufammenge- 
felung und diefer letztere Tann fich erſt Dann wieder geltend ma- 
hen, wenn der ftärkere Antrieb die einzelnen Weſen aus feinen 
Banden entläßt, und nun das Walten jenes allgemeinen Welt: 
lebens die Schaaren ber Kebendigen ergreift, welches den Zug einer 
Gefammtheit der Einzelmwefen zur Gefammtheit der Räume und 
Länder der Erde begrünbet. 

Auf ähnliche Weife wirkt auch bei der Aneinanderfügung ber 
gleichartigen Theile des Zinnobers oder des mit Gold vermifchten 
Kupfers eine allgenieine Anziehung, bei ber Vereinigung aber des 
Schwefeld mit dem Eifen oder des Kupfers mit der PVitriolfäure 
eine befonbere, welche ftärker ift denn bie allgemeine. Die Cohä- 
fionsfraft, welche den mehr ober minder feften Zufammenhang der 
einzelnen heile bewirkt, ift von gleiher Natur mit jener allge- 
meinen Anziehung, melde ald Schwere (Gravitation) bie einzel- 
nen irdiſchen Körpermaflen zu bem Erdganzen vereint; fie kann 


102 17. Die Metalle im engeren Sinne. 


deshalb auf fogenannt mechanifhem Wege dadurch aufgehoben 
werden, daß zum Beiſpiel ein großer Stein durch die Macht feiner 
Schwere einen anderen Beinen zerdrüdt und zermalmt, ober daß 
der Druck, den in bdiefem Falle bie Schwere bewirkte, duch eine 
andere Kraft des menfchlichen Armes und feiner Kunft hervorge 
rufen iſt. Dagegen ift die chemiſche Verwandtſchaft auf jene Po⸗ 
farifirung (gefchlechtliche Entgegenfegung) begründet, mit welcher 
überall das befondere Leben und fchöpfesifhe Wirken der Dinge 
feinen Anfang nimmt, weil es aus dem Quell des Lebens und 
Schaffens felber hervorgeht (nad) Cap. 8). Die Eohäfionskraft 
hat die Erhaltung des Gemworbenen, die chemifche Verwandtfchaft 
ein neues Werben zu ihrem Ziel und Endpunkt. Wir find hier 
mit noch immer nicht zur Erläuterung beflen gelangt, was man 
unter Grundfloffen verfteht, zu diefem Zwecke muͤſſen wir einen 
fcheinbaren Ummeg, durch die nähere Betrachtung der Metalle, 
machen. 


17. Die Metalle im engeren Sinne 


Menn wir uns mit unferem Leibe und feinen Sinnen auf 
einmal von ber Erbe hinweg in jene große Weite verfegen Eönnten, 
welche unfere Planeten von der Sonne und ihren Wandelſternen 
trennt, da würden mir und, mitten am Rage, in feiner Tages⸗ 
helle befinden. Denn bier auf der Oberfläche der Erde ſtrahlt das 
Licht der Sonne von allen Körpern wider, felbft von ber Luft, 
wie und dies die Morgen: und Abenddämmerung lehrt, deren 
Schein bloß aus dem Luftkreife herkommt, welcher von dem Glanz 
der Sonne beleuchtet wird, noch ehe diefer die Spigen ber Berge 
trifft. Dort aber, im Weltraume, gibt e6 weder Luft noch Berge 
noch andere Körper, welche das Sonnenlicht zuruͤckſtrahlen und 
hierdurch nach allen Richtungen hin eine Zageshelle verbreiten koͤn⸗ 
nen; denn wenn der Weltraum eines folchen Widerfcheines fähig 
wäre, würden wir niemals ein vollkommen nächtliches Dunkel auf 
Erden haben. Deshalb würde ein Menfchenauge, bas in jener 
ungeheueren Weite fih nach der Sonne wendete, diefe als eine 
hellglänzende Scheibe auf dunkelſchwarzem Grunde ftehend, erblidken, 
wenn es dagegen von der Sonne hinweg nach der entgegengefeßten 
Seite fi) wendete, da fähe es auf demfelben dunklen Grunde Die 
Geſtirne der Nacht. Der mohlthätige, beleuchtende und erwär- 
mende Einfluß der Sonne kann ſich erft da fund geben, wo er 
Körpern begeanet, welche durch die polarifche Werfchiedenheit ihres 
ganzen Weſens vom Weſen der Sonne. für jenen Einfluß am em: 
pfänglichften find, vor Allem folhen, in denen die größte Did; 
tigkeit mit Unduchhfichtigkeit verbunden ift. 

Solche Körper find vorzugsmweife die Metalle. Diefe find für 
fidy felber volltommen lichtlos, und mehr denn andere Körper ber 
eigenen Wärme beraubt, eben darum aber im höchften Maaße für 


m. va vw. en 0% Y „u 64 8, 


17. Die Metalle im engeren Sinne, 103 


die Anregung durch Licht und Wärme empfänglid, Aber nicht 
allein für die Anzegung duch Licht und Wärme, fondern auch 
durch alle anderen Kräfte bes allgemeinen Naturlebens, welche bie 
Dolarität weden, wie für Magnetismus und den Zug der chemi- 
[hen Verwandtſchaft. Die gefammten Steinmaffen ber Gebirge, 
melde wir um um uns her erbliden, find bei ihrer Geftaltung 
von einem metallifhen Urzuflande ausgegangen; ein metallifches 
Weſen fliegt ihnen zu Grunde, das mit dem allgemeinen Gegenfag 
des Metallifhen, mit dem Sauerſtoffgas der Luft vereint, erſt 
zur Erdart wurde; bie erften Megungen eines felbftfländigen Bil⸗ 
dens und Geflaltens nahmen im Reich der Metalle ihren Anfang. 

Mir finden dieſelben in der äußeren Natur, theild in reinem, 
gebiegenem Zuſtande, theild mit anderen Srunbfloffen verbunden, 
Eine der wichtigften diefer Verbindungen ift die mit dem Saner- 
ftoffgas (C. 28). Wie das Holz und wie die Kohle auf unferem 
Herd, wie das Del und der Zalg an unfern Lampen und Kicdh- 
teen, oder das Leuchtgas, bei ihrem Verbrennen eine Verbindung 
mit dem Sauerfloffgas ber Luft eingehen, und dabei zur Kohlens 
fäure, zum Waſſer (C. 28) u. f. w. werden, fo werden die Mes 
talle duch ihre Verbindung mit dem Sauerfloff zu Metallkal⸗ 
ten oder Dryden. Man kann fagen: auch, fie verbrennen hierbei, 
obgleich nur wenige von ihnen bei biefem Verbrennen oder Orydi⸗ 
ven eine wirkliche Slamme zeigen, manche. aber, wie die fogenanne 
ten edlen Metalle, nur fehr fchwer zu einer Verbindung mit dem 
Sauerſtoffgas gebracht werden koͤnnen. Won bdiefen edleren Mies 
tallen wollen wir zuerſt reden. 

Die Sonne des Himmels hat in der irdifchen Körpermwelt ihre 
Gegenfonne in dem Golde. Seine augenfällige Farbe, fein flars 
ter Glanz, der fih auch an der rauhen Oberfläche des Goldklum⸗ 
pens durch ein leicht zu bewirkendes Poliren hervorrufen läßt, feine 
große Schwere, feine Nachgiebigkeit (Gefchmeidigkeit und Dehnbarkeit) 
unter der Hand des Menfchen, mußten diefen ſchon in früher Zeit auf 
diefes Metall aufmerkfam machen. In diefer früheren Zeit der Voͤl⸗ 
fergefchichte war das Gold in vielen Gegenden der Erde ungleicd) 
leichter zu haben, als in unferen Zagen, und feine Bearbeitung 
machte bei weitem keine folhe Mühe, ale die des Eifens und 
Kupfers. Denn das Eifen muß meiſt erſt durch große Feuersgewalt aus 
den Eifenfteinen ausgefchmolzen werden, in denen es nicht in reinem 
Zuftande, fondern mit anderen Grundfloffen vermifcht, gefunden 
wird, dagegen kam das Gold in vollflommener Reinheit in bie 
Hände feiner Finder, es ließ ſich, gleich fo wie es war, hämmern 
und verarbeiten; die Hiße, bie es, um flüffig zu werden, bedarf, ift 
viel geringer als die, bei welcher das Eifen zum Ausfhmelzen kommt. 
Ueberdies lud auch das Gold ſchon duch die Art feines Vorkom⸗ 
mens den Menfchen zu feiner Benügung ein. Denn obgleich dieſes 
edle Metall urfprünglich-rebenfo wie andere Metalle in Felfenge- 
fleine eingefchloffen und eingewachſen mar, ift es doch, bei der Zers 


104 17. Die Metalle im engeren Sinne 


trümmerung feiner anfänglihen Ragerftätten, herunter auf das Roll⸗ 
geftein fomwie auf den Sand ber Thäler und der Ebenen gefommen. Hier 
hat es, wegen feiner Gefchmeidigkeit, nicht fo zermalme und zerftäubt, 
wegen feiner großen Schwere nicht fo Leicht hinweggewaſchen und 
fortgeſchwemmt werden können, als die Steintrümmer und ber 
Sand, zwifchen denen e8 gebettet lag. Darum fand der Menfch, 
der an bergleichen reiche Pläße kam, das Gold öfters in Klum: 
pen von bedeutender Größe offen am Tage liegend, oder wenn 
über ein folches uraltes goldreihes Stein- oder Sandfeld, im 
Berlauf der Tahrhunderte fi) Raſen, Torf und Heideland hinge 
breitet hatten, da gelangte man auf einmal zur Kunde feiner Schäge, 
wenn etwa beim Hindurchfuͤhren eines Waflergrabens oder bei an- 
derer Gelegenheit die verhüllende Dede hinmeggenommen wurbe, 
In einer biefem ähnlichen Weife war der Goldreihthum einer großen, 
fandigen Fläche am Uralifhen Gebirge in Rußland bis auf unfere 
Tage unbekannt und verborgen geblieben, und als man endlich vor 
etlihen Tahrzehenden ihn entdedte, da Eonnte man ſich eine deut⸗ 
liche Vorftelung machen von dem, mas die Alten uns über den 
Goldreichthum der indifhen und arabifhen, neuere Schriftfleller 
über den von Amerika und von Auftralien berichten. Denn fo fand 
man in jenem Wralifhen Solddiftricte im Fahre 1825 einen Klum: 
pen Goldes von 18 Pfund Gewicht und noch neun anderen Stüden, 
davon jedes mehrere Pfund mog. Bei Miäst, im Gouvernement 
Orenburg, wurde ein Goldklumpen entdedt, welcher 7 Pfund an 
Gewicht enthiel. Wenn ſich diefe Maffen auch noch nicht mit 
folden meffen Eonnten, mie die im Sahre 1730 bei la Paz in 
Amerika aufgefundene war, welche 45 Pfund wog, und auß ber 
5620 Ducaten geprägt wurden, oder gar mit der zu Bahia in 
Brafilien im Jahre 1785 aus der Tiefe gewonnenen dichten Gold- 
maſſe, deren Gewicht auf 2560 Pfund, deren Geldwerth auf fat 
eine und eine Viertel Million Gulden gefhägt wurde, maren fie 
dennoch der bedeutendfte Fund biefer Art, welcher, fo weit die hi: 
ftorifhe Kunde reiht, im einer fo nördlichen Gegend der Erde ge- 
macht wurde. Denn wenn uns früher die Alten von dem Golde 
Arabiens, das in Stüden von der Größe einer Kaflanie gefunden 
wurde, oder von dem Golde Indiens oder Aethiopiens, die Neueren 
aber von den Goldmaffen des heißeren Amerikas erzählten, da 
hätte man allerdings auf die Meinung kommen können, daß bie 
Länder zwifchen den Wendekreiſen oder in der Nachbarfchaft von 
diefen faft die ausfchließliche Heimath des Goldes ſeien. Eine Mei- 
nung, die übrigens auch ſchon durch die weithin reichende Verbrei⸗ 
tung des Goldlandes in Californien zweifelhaft geworben wäre. 
Das Gold ift freilich felbft in den goldreichften Ländern, im 
BVergleih mit anderen Metallen eine Seltenheit, Denn obgleich 
man die Ausbeute an diefem edlen Metall in den reihen fpanifchen 
und portugiefifchen Befigungen von Amerika feit brei Jahrhunderten 
im Mittel alljährlich auf etwas mehr als anderthalb hundert Zent⸗ 








17. Die Metalle im engeren Sinne. 105 


ner anfchlagen kann, fo ift diefes dennoch nicht einmal der hun⸗ 
dertfte Theil der Menge des Silbers, welches diefelben Länder im 
Berlauf eines Jahres lieferten, ja, wenn wir nur ein Land in Ans 
fhlag bringen, noc nicht ber dreizehnhunbertfte Theil der Ges 
wichtömafle bed Kupfers, kaum der fechszehnhundertfte des Bleies, 
noch lange nicht ber dreitaufendfie des Eifens, der allein in dem 
verbältnißmäßig Eleinen England alljährlic) gewonnen wird. 

Schon wegen diefer feiner Seltenheit, noch mehr aber wegen 
feinen übrigen empfehlenden Eigenfchaften, hat fi das fchöne, 
fonnenftrahlige Gold feit alten Zeiten in einem Tauſch⸗ und Hanse 
delswerth erhalten, welcher den bes Silbere um 12, ja in unferen 
Tagen um mehr als 14mal übertrifft. Wenn Einer von uns auf 
einer unbewohnten Infel oder bei einem Fifchzug im Meere einen 
Klumpen Goldes fände, fo ſchwer, daß er ihn ohne große Anftren» 
gung ſtundenweit mit ſich fortteagen Eönnte, ber hätte für ſich und 
die Seinigen auf lebenslang genug daran, denn jedes Pfund ift 
gegen 415 Preuß. Thaler oder 727 cheinifche Gulden werth. 

Unb dennody, um dies hier nur nebenbei zu erwähnen, bliebe 
bei Gelegenheit eines Hundes der Art Mancherlei zu bedenken. 
Es liegt etwas Verführerifches und Gefährliches in einem folchen 
Reichwerden ohne Mühe. Im 1iten und 12ten Sahrhundert leg- 
ten ſich viele Leute in Böhmen darauf, aus dem Sande einiger 
Fluͤſſe diefes Landes das Gold heraus zu wafchen, welches darins 
nen. enthalten war. Manche von ihnen gewannen bamit mehr, 
als bei dem damaligen wohlfeilen Sruchtpreis der Aderbau und bie 
Viehzucht abwarfen. Aber, was gefhah? Als die anderen Be⸗ 
mwohner des Landes fahen, daß Hunderte und zulegt Tauſende aus 
ihrer Mitte bei einem folchen fehlechten, leichten Gefchäft mehr ver- 
dienten, als fie mit ihrer fchweren Arbeit, dachten viele von ihnen: 
fo gut als Jene können wir es ja auch haben, und ließen ihre 
Aeder unbebaut. Da entitand eine große Theuerung und fchwere 
Hungersnoth im Lande, Was halfjegt, auch den gluͤcklichſten Gold⸗ 
wäfchern, die in Sahresfrift ein Pfund und darüber von dem eb- 
len Metall erbeutet hatten, al’ ihr Reichthum? Sie konnten um 
fhweres Geld nicht fo viel Brod erkaufen, als für fie und bie 
Ihrigen zur Sättigung hinreichte; Viele mußten Hungers fterben, 
und die Regierung, um ähnliche unglüdliche Folgen zu vermeiden, 
mußte das Gewerbe des Goldwafchens bei ſchwerer Strafe unter- 
fagen. (M. v. Hagecius in feiner böhmifchen Chronik, überfegt 
von Sandel S. 329). Ä 

Und bat ſich denn das, was damals einem Beinen Landftrich 
und feinen Bewohnern miderfuhr, nit auch in der Gefchichte 
ganzer mächtiger Reiche und WVölkerfchaften recht im Großen wie: 
derholt? Was hat in unferen Tagen bas arme Spanien, mas 
bat Portugal von al? den Zaufenden der Centner Goldes in wirt 
lichem Beſitz und Vermögen behalten, die den harmlofen Völkern 
von Pern, die den Völkern und Herrſchern von Mexiko und Bra- 


106 17. Die Metalle im engeren Sinne, 


filten abgmnommen wurden? An melde Erben ift bald nachher 
das Vermaͤchtniß des im Jahre 1605 verftorbenen Sultans (Groß⸗ 
moguls) Akbar gekommen, welches an Werth, großentheils im 
Gold und Süber, 348 Millionen Gulden betrug? 

Unter den europäifhen Mächten gewinnt naͤchſt Rußland, 
deſſen Goldausbeute am Ural von 1814 bis 1824 gegen 24 Mil. 
Preuß. Thaler an Werth gefhägt war, Oeſterreich aus feinen 
Bergmwerken in Ungarn und Siebenbürgen am meiften, nämlid 
im Durchſchnitt jährlih A700 Mark (jede zu 16 Loth), aus Böh- 
men 23, aus Salzburg gegen 165 Mark. Frankreich erhielt fruͤ⸗ 
ber, vorzüglich aus feinen Golbwäfchereien in Languedoc, gegen 
200 Mark. England hat freilich keine Goldbergmwerke, dagegen 
empfängt es aus feinen Befigungen in Auftralien eine Maſſe von 
Gold, deren Betrag fih noch gar nicht genau fehägen läßt, der 
aber dem vormaligen fpanifchen Gelderwerb aus Suͤdamerika nahe 
zu Eommen fcheint, auch erhielt es ſchon vorher, feit Abfchaffung bes 
Sclavenhandels, allein aus Senegambien 3400 Marl. Eine viel 
befferere, ficherere Grundlage feines innern Wohlftandes haben ihm 
auch fhon feine Eifen- und Stahlfabriten, abgefehen von allen 
anderen einträglichen ‚Ermwerbsquellen, gewährt, denn dieſe brachten 
dem Lande viel größere Einkünfte, als vormals Portugal und 
opanien von ihren amerifanifchen Befigungen an lauterem Golde 
ejogen. 

Mir haben uns hier, in unferer Betradytung ber Metalle, 
fheinbar felber jenem Zuge hingegeben, melchen dad Gold auf bie 
Natur des Menfhen ausübt. Doch find wir dabei nod immer 
auf der Heerſtraße geblieben, die zu unferem diesmaligen Biele, zur 
Erörterung defien, was die Grundftoffe find, hinführt. 

Mehr denn irgend ein anderer Körper der irdifhen Natur ifl 
das Gold geeignet, und zu zeigen, was ein Grundfloff oder ein 
eigentliches nicht weiter durch chemifchen Gegenfag zerlegbares Ele 
ment fei. Ein Grundfloff kann durch feine Verbindung mit an- 
deren Elementen die Örundlage geben zu verfchiedbenen Producten 
der Natur und ber Kunſt; zu feinem eigenen Entftehen bedarf er 
aber Feines anderen Elementes, ald des mefentlich eigenen; in all’ 
den Verbindungen und polarifchen Wechfelwirkfungen, bie er mit 
anderen Körpern eingeht, bleibt er immer bderfelbe und geht unver 
ändert, ſtets als derfelbe aus folhem Wechſelverkehr wieder hervor. 

Wie ganz anders tft dies bei jenen Naturförpern, welche feine 
reinen Grundfloffe find. Der Zinnober wie der Bleiglanz ſchei⸗ 
nen, wenn man fie buch mechanifche Kräfte zerftößt und zer 
malmt, auch) in ihren Eleinften Theilchen noch unverändert diefelben 
geblieben zu fein; unter dem Mikroſcop ertennt man an den Stäub- 
hen des DBleiglanzes fogar noch die Würfelform und die glänzen- 
den Flächen, welche feine größeren Bruchflüde dem bloßen Auge 
zeigen. Wenn man aber beide Körper, den Binnober wie den Blei 
glanz, etwa in Geſellſchaft des Eiſens einem gewiffen Grabe ber 








11. Die Metalle im engeren Sinne, 107 


Erhitzung ausfest, dann fieht man gar bald den Schein ber Ein: 
fahheit verſchwinden, benn dee Schwefel verläßt bei dem erfteren 
feine Verbindung mit dem Quedfilber, bei dem letzteren bie mit 
dem Blei, und vereint fi mit dem Eifen zu Schwefeleifen; man 
erkennt nun, daß jene beiden Körper nicht felber Grundftoffe, ſon⸗ 
dern nur Zufammenfegungen aus eigentlihen Grundftoffen find, 

Als die Menfchen anfingen, das Gold im Kauf und Verkauf 
zur Verwerthung der verfchiebenften Gegenftände zu benugen und 
die Erfahrung machten, daß fih um Gold alle Sättigung unb 
Luft der Sinne erfaufen laffe, da trachteten fie eifriger nach dem 
Befig jenes koſtbaren Metalles. Auf den vielfach durchſpuͤrten La⸗ 
gerftätten der Moligefteine und bes Sandes war es im Verlauf 
der Zeit nicht mehr zu finden, fondern man mußte es großentheile 
aus feiner eigentlihen Geburtsftätte — den Gebirgsgefteinen — 
bervorholen und ausſchmelzen, darum Xlopfte man jest an jedem 
Felſen an, feste die verfchiedenften Steine dee Schmelzhige aus, 
um zu forfchen, ob etwa Gold barinnen verftedt feit Man brauchte 
damals, wo ganze Länderftriche von mächtigen Urmäldern bedeckt 
waren, dad Feuerungsmaterial noch nicht fo zu fparen als in un⸗ 
feren Tagen; Schmelzöfen, dieſe einen Abbilder der Vulkane, 
lernte man auch frühzeitig genng erbauen, darum fanden ſchon 
die aͤlteſten Völker, wie noch jest unfere Kinder, ein ganz befon- 
deres Vergnügen am Schmelzen der metallhaltigen Steine, die ſich 
meift fchon durch Ihre Schwere kennbar madıten. Bei diefen Ver- 
fuchen gelang es gar bald, allerhand Metalle, wie das Zinn, wie 
ben Zink, wie felbft das Kupfer und Eifen aus Steinen zu ge 
mwinnen, die eine ganz andere Geftalt und Farbe hatten, als ihre 
Metalle, und bei weiteren Verſuchen der Art fand man, daß zum 
Beifpiel aus dem Zufammenfchmelzen von Zink und Kupfer das 
Meffing — ein Metall entfiehe, das an Farbe und Glanz eine gemiffe 
Achnlichkeit mit dem Golde hat. Da kam man auf den Gedanken, 
ob man nicht das Gold auch machen könne, entweder dadurch, 
daß man einen Körper auffände, ber ſich, wie der Galmen in 
Zink, fo in Gold verwandeln laſſe, oder dadurch, daß man es 
buch, Bufammenmifhung eines anderen, leichter zu habenden Mes 
talle8 mit irgend einem anderen Stoff kuͤnſtlich erzeugte. 

Das edle Gold hat in feiner Art viele Eigenfchaften mit einem 
edlen, guten Gemüthe gemein, namentlic die Geduld und Milde. 
Es läßt ſich, ohne feine Faffung, das heißt fein eigenthuͤmlich koͤr⸗ 
perliches Zufamntenhalten zu verlieren, zu Draht ausziehen und 
zu Blättchen fchlagen wie kein anderer Körper und ſchon die Nürn- 
berger Goldfchläger haben das Sprüchmort, daß man mit einem 
Ducaten einen Reiter mit feinem Pferd übergolden könne. Dabei - 
benimmt fi) auch das Golb dem ſchneidenden Meffer gegenüber 
fo weich und mild, läßt fich fo biegen und drehen wie faum em 
anderer Körper, Darum ließ fih das Gold auch duch alle die 
Verſuche, weiche der Zweifel an der Einfachheit und Lauter 


108 17. Die Metalle im engeren Sinne. 


keit feines Weſens dem Menfchen eingab, nicht aus feiner gleiche 
mäßigen Haltung bringen, man warf es in Effig, ber das Kupfer 
und Eifen fo leicht angreift, man brachte es in Gefelfchaft der 
gemeinen Schwefelfäure und vieler anderer Tünftlihen Erzeugniffe, 
die fo manche fefte Bande der Körperlichkeit auflöfen, aber das 
Gold verfhmähte die Wermifhung feiner altadeligen Natur mit 
diefen neugemachten Stoffen der Menfchentunft es behielt im Effig, 
wie in der Schwefelfäure und in der Schmelzhige feine Lauterkeit 
und Einfachheit bei. Ja, die Hige, welche fo manche andere Erz 
arten in Metallkalke und Schladen verwandelt, diente dem Golde 
nur zur Reinigung, indem fie nur das verflüchtigte und zerflörte, 
mas jener Meinigkeit noch entgegen war. 

Die Scheidetunft der neueren Zeit hat es freilich hierin viel 
weiter gebracht. Sie hat ſich noch ganz andere, ftärkere Waffen 
erfunden, denen felbft die ftandhafteften Metalle, fowie der gute 
Demant und Rubin nicht wibderftehen konnten. Ihr ift ed gelun- 
gen, das Gold in Dampfform zu verwandeln und baffelbe in 
Säuren von ungleich flärkerer Art als die den Alten zu Gebote 
ftehenden, aufzulöfen. Sie hat durch ihre Eunftreichen eleftrifchen 
und eleftromagnetifhen Werkzeuge dem Blise feine Macht abge: 
borgt und durch dieſe ift es ihr möglich geworben, das fonft immer 
zu ben einfachen Elementen gezählte Waffer, fo wie die Kalkerde 
und andere Erden in mehrere Grundſtoffe zu zerlegen. Aber mit 
al? diefen hoch gefteigerten Mitteln hat man auf die lautere Einfalt 
des Goldes keinen Verdacht bringen können; aus ben meiften fei- 
ner künftlich erzmungenen Vermiſchungen hat es fi ſchon in ber 
Hise des Feuers los gemacht, welche ihm. Kraft giebt, das Fremd⸗ 
artige von fich zu ſtoßen; es hat ſich als ein Grundſtoff, als eine jener 
einfachften Urformen der polarifchen Entgegenfegung bewährt, welche 
die Macht des Schöpfers am Anfang in der irdifhen Natur hervorrief, 

Dergleihen Grundftoffe find alle eigentlihen Metalle, deren 
man, ohne die metallifhen Grundlagen ber Erden und Alkalien, 
fhon über 30 zähle. Freilich kommen manche von biefen in ganz 
‚ außerordentlich geringer Menge, fowie Seltenheit in der Natur 
und zum Theil ſogar nur als Eleine Beimifhung in anderen Me: 
tallen vor, faft fo wie die lebenden Thiere, die in den Eingemeiden 
anberer lebenden Thiere gefunden werden, wie man dies felbit von 
dem Rhodium- und Dsmium metall fagen Eönnte, wenn fie fid 
in überaus Eleiner Quantität dem Platinametall beigemengt finden. 

Wenn e8: nur auf die große Seltenheit und nicht vielmehr 
auf andere empfehlende Eigenfhaften antäme, dann müßten gar 
viele Metalle einen höheren oder faft eben fo hohen Geldwerth 
haben ale das Gold, wie ba8 legtere wirklich eine Zeit lang bei 
der Platina der Fall war. Denn dieſes Metall erwies fich, ab- 
gefehen von der Benugung feiner Verbindung mit Eifen zur Fer⸗ 
tigung von damaszirten Rafiemeffern oder zu ftar glänzenden Me 
talifpiegeln u. ſ. w. burch feine außerordentlich fchwere Schmelz 


17. Die Metalle im engeren Sinne. 109 


barkeit ſowie durch ſeine Ausdauer ſelbſt in unſeren ſtaͤrkſten 
Saͤuren, ſo brauchbar zur Bereitung mancher chemiſcher Ge⸗ 
raͤthſchaften, daß man daſſelbe gern um jenen hohen Preis bezahlte. 
Noch jetzt, wo man auch am Uraliſchen Gebirge in Rußland Pla⸗ 
tina entdeckt hat, ſteht wegen dieſer Benutzbarkeit der Preis der⸗ 
ſelben vier bis fuͤnfmal hoͤher denn der des Silbers, denn man 
verarbeitet dieſes theuere Material felbft zu Keſſeln, welche bei der 
Bereitung der Schmefelfäure benugt werden können. Nicht fo bes 
deutend ift die Benutzbarkeit bei manchem eben fo feltenen oder noch 
felteneren Metall, wohin auch noch zwei andere meift in und mit 
der Platina vorkommende: das Jridium und Palladium ges 
rechnet werden können, deren Namen man, wenn von einer Ans 
wendung für den menfhlihen Haushalt die Rede ift, ebenfowenig 
nennen hört, als die des Vanadin, Cer und Lanthanmes 
talles, ja felbft die bes Zantalums, Titans und Tellurs, 
während allenfalls nody dad Kabmium, das man, obmohl in 
fehr geringer Menge, in einigen Arten der Zinkerze entdeckt hat, 
wegen feiner Benugbarkfeit zur Bereitung einer goldgelben Farbe 
für Frescomalereien der Erwähnung werth ift. 

Nächft dem Golde, deflen Anerkennung uralt ift, und dem 
erft in neuerer Zeit befannt gemordenen Platinametall, hat der 
Menſch dem Silber im Handel und Wandel den höchften Geld: 
werth beigelegt. Sein ganz befonders heller, ſtarker Glanz, feine 
meiße Sarbe, feine Gefchmeidigkeit und, wenn es-nicht mit Kupfer 
verfegt ift, jene empfehlende Eigenfchaft, vermöge welcher es fich 
rein vom Roft erhält, haben ihm auf die Beachtung im buͤrger⸗ 
lichen Leben ein gewiſſes Recht gegeben. Es kommt, wie fchon 
erwähnt, in ungleich größeren Maffen auf der Erbe vor als das 
Gold, und man hat berechnet, daß allein jenes Silber, das man 
feit dem Beginne bes dortigen Bergbaues im J. 1492 bis 1803 
aus Amerika gebracht hat, hinreichen, würde, um eine Schatzkam⸗ 
mer, welche 50 Fuß hoch, 50 breit und eben fo viel tief wäre, von 
oben bis unten bamit anzufüllen. Freilich überfteigt auch bie Maffe 
bes in Amerika aufgefundenen Silber bie in Europa, und im 
nördlichen Afien in berfelben Zeit erbeutete um ein Bebeutendes, 
und man darf wohl fagen, um mehr als das Zehnfache, obgleich 
ſelbſt Deutfchland feine bergmännifchen Gluͤckszeiten gehabt hat, in 
denen es im Stande war, nad) einem freilich befcheideneren Maß⸗ 
ftabe die Schagtammern feiner Fürften zu füllen, und zu gleicher 
Zeit einen großen Theil feiner Bürger zu bereichern. Won dem 
reinen Silber fteht die Mark (zu 16 Loth) im Werth auf 24 Sul: 
den. Da jedoch ein Geldſtuͤck von Silber, das die gleiche Größe 
hat mit einem Geldſtuͤck von Gold, nicht viel mehr denn halb fo 
fchwer ift als das Goldſtuͤck, fo würde das lestere, wenn es zum 
Beifpiel die Größe eines Silberguldens hätte, gegen 27 Gulden 
werth fein, Denn das Gold, in feinem 141/, nal größeren Werth 
wiegt 19114, das Sieber nur 104/2 mal ſchwerer denn das Waſſer. 


140 17, Die Metalle im engeren: Sinne 


Bei den andesen, für ben menſchlichen Haushalt nüglichen 
Metallen, rechnet man, wenn man etwa von dem Werth berfelben 
reden will, nicht mehr nad Mark und nach Pfunden, fondern 
gleih nah Centnern. So fhon bei dem vielfach benusbaren 
Quedfilber, das zwifchen dreißig und vierzig mal, bei. bem 
Kupfer, welches mehr denn 80 mal, bei bem Eifen, welches mehr 
denn. taufend Mal wohlfeiler zu haben ift als das Silber. Naͤchſt 
dem Cifen und Kupfer find wohl feit den älteflen Zeiten am 
meiften das Zinn, das Blei und das Zintmetall für den 
Nutzen und Dienft des menfchlichen. Haushaltes in Gebraud) ge- 
nommen worden. Denn bie bedeutende Anmendung des Spies: 
glanzes, namentlich in ber Arzneikunde, gehört doc erft dem 
Mittelalter und ber neueren Zeit an, welcher wir auch die Kennt 
niß der Eigenfhaften, fo wie der Anwendung der anderen nuß- 
baren Metalle verdanken: namentlih bie des Chrommetalles 
für Glas⸗ und Porzellanmalereien, fo wie des Mangans eben 
falls zur Färbung des Glaſes, zugleich aber auch zur leichten Ge 
winnung des Sauerftoffgafes, welches duch bloße Erhigung bes 
geroöhnlichften Manganerzes (des Graubraunfteinerzes) erhalten 
wird, Denn biefe Luft: oder Gasart zerflört in der ſchmelzenden 
Glasmaſſe, welcher man eine Eleine Menge bes gepulverten Mangan- 
erzes beigemifcht hatte, die Farbe ber verunreinigenden heile, und 
wenn man den Sraubraunftein vermifcht mit gemeiner Salzfäure 
erhigt, dann bildet ſich aus diefer Säure das Chldrgas, welches 
mit Waſſer verbunden ben Bleichern ein Mittel an die Hand giebt, 
alle Gewebe, fo wie andere Stoffe, die mit Farben aus dem Thier- 
odes Pflanzenreich gefärbt find, weiß zu bleichen, indem es jene 
Torben zerflört. Einer folhen Mifhung bes Ehlorgafes mit Waffer 
kann felbit das Gold nicht widerftehen, denn in ihr löst fich baf 
felbe auf Die Verkalkungen oder Oxyde (davon fpäter) bes ziem- 
lich feltnen Kobaltmetalles benugt man zur DBereitung fehr 
dauerhafter, blauer Farben, davon die eine Art dem Ultramarin- 
blau an Schönheit gleich kommt; das noch feltnere Nidelme: 
tall, welches felbft in den meiflen aus ber Luft herabfallenden 
Meteorfteinen gefunden wird, hält fi) gegen Verroſtung fo rein 
wie ein edles Metall, giebt, mit anderen Erzen verbunden, koſt⸗ 
bare Sompofitionen (mie das Argentan u. a.), ift für Magnetis⸗ 
mus fehr empfänglich und kann zur Bereitung namentlicd). einer 
ſehr fehönen, grünen Farbe benugt werben. Das leicht ſchmelzhare 
Wismuthmetall theilt einigen ſeiner Metalcompofitionen,, wie 
dem Schnelltoth der Klempner eine ſolche Leichtflüffigkeit mit, daß 
dieſelhen ſchon im ber Siedhitze des Waſſers zum Schmelzen kommen. 
Deſto größere Hige Eoflet es, um das (fehr feltene) Wolfram: 
metall zum Fliefen zu bringen, das ſich durch mehrere merk 
wuͤrdige Eigenfchaften auszeichnet, namentlih durch feine außer 
ordentliche Schwere, welche der des Goldes nahe kommt, und auch 
dadurch, daß es gepulvert und gegluͤht faſt wie Bunber verbrennt 


17. Die Metalle im engeren Sinne. 111 


(fih orpdkt). Auch das Wafferblei oder Molybdaͤn ift fehr 
ſchwer fhmelzbar und noch ſchwerer das Uran, defien gelbes und 
lichtgruͤnes Oxyd man hin und wieder zu Porzellanfarben benusgt. 
Indeß haben auch die eben genannten Erze für den menfchlichen 
Haushalt eine fo geringe Wichtigkeit, dab man bie Heine Quantität, 
in der fie gefunden werden, gern ungefchmolzen an die Mineralien- 
fammilungen abgiebt, wo fie, gerade in der urfprünglichen Korm 
ihres Vorkommens, den meiften Werth haben, 

Wenn es der Mißbrauch, welchen der Menſch von irgend 
einer Gabe ber Natur macht, allein wäre, der uns eine ſolche ver- 
leiten müßte, dann möchte man aud von dem Arſenik wünfden, 
daß er eben fo felten vorkommen und eben fo fchwer aus feinen 
Dererzungen barzuftelen wäre, als mande ber zuletzt erwähnten 
Metalle, Dennoch befist der Arfenit neben feiner höchft giftigen 
Wirkſamkeit auch mehrere ihn empfehlende Eigenfhaften, nament- 
lich die, daß er ſolche fchmer fchmelzbare Metalle wie die Platine, 
letchter fchmelzbar und dadurch zu Legirungen geſchickt macht, dann 
jene, baß er in feiner Verbindung mit manchen anderen Metallen, 
wie mit Kupfer, augenfällig fhöne Compofitionen bildet, und daß 
feine Säure (die arfenige Säure) die Farbſtoffe zerflört, weshalb 
fie in manchen Bewerben zum Entfärben der Zeuge benutzt worden 
iſt. Die magnetifhe Kraft des Anziehens und Abfloßens, welche 
im ganz befonderem Maaße dem Eifen und dem Nidel, im ge 
ringeren auch dem Kobaltmetall und ber Platina zulommt, zeigt 
fih auch darinnen der Lebenskraft verwandt, baß ihr durch einen 
geringen Zufag von Arſenik an das magnetifhe Metall, eben fo 
gut ein Ende gemacht wird, als dem Leben eines Thieres, dem 
man Arſenik beibringt. Selbſt der fchöne Klang, den einige Me 
talle haben, wird durch einen Beifag des Arſeniks zerſtoͤrt. Doch 
gerabe bie giftige Eigenfchaft des Arfenits hat fi der Menfch als 
einer ſtarken Waffe gegen die gefahrbreohende Thierwelt zu Nutze 
gemacht; Wölfe und Schlangen wie ber zerflörende Bohrwurm 
muͤſſen dieſer Waffe erliegen. 

Giebt es doch ſelbſt unter den nugbarften Metallen, welde 
zugleich, vermöge einer allbedenkenden Fürforge des Schöpfers, am 
algemeinften und leichteften zu gewinnen find, einige, welche neben 
ihren empfehlenden Eigenfchaften zugleich ber Geſundheit des Men- 
ſchen ſchaͤdlich, ia tedgefährlihh werben können. So das Kupfer 
durch feinen leicht entflehenden Gruͤnſpan, und das Blei durch 
feine ebenfall& Teicht fich erzeugenden Oxyde und Verbindungen mit 
der Kohlenſaͤure. Wem follte aber deshalb das Kupfer, biefer be 
beutendfte Schatz mancher Gebirgöreviere, minder ſchaͤtzenswerth 
ericheiuen: dad Metall, das ſich durch feine Gefchmeidigkeit und 
Dehnbarkeit, fo mie durch feine fhönen Compofitionen mit Binn 
zu Bronze, mit Zink zu Meffing für den Haushalt, überdieß als 
dechender Schut für Gebäude und Schiffe, als ein Hauptmaterial 
für Erzgießereien fo nutzbar erweiſt, und das ſich felbft dem Ohr 


112 17. Die Metalle im engeren Sinne. 


durch den Klang der Saiten und Gloden, in denen dad Kupfer 
einen vorzuͤglichen Beftandtheit bilbet, dem Auge durch feine fchönen 
Sarben, namentlidy für Glas und Frescomalereien empfiehlt. 

Das Zinn hat fih auch, feit den dlteften Zeiten, bei bem 
Menſchen in ganz befondere Gunſt gefegt. Es findet fich freilich 
nicht fo wie vor Allem das Eifen, und naͤchſt ihm das Blei und 
Kupfer faft in allen Ländern der Erde maſſenweis verbreitet, fon- 
dern bildet vorzugsweife nur den Reichthum einzelner Erdftriche ; 
wo es aber einmal vortommt, ba ift es in faft unerfhhörflicher 
Menge zu finden. So gewinnt England allein jährlih 60,000 
Gentner, obgleich feine Zinngruben fchon feit zwei SSahrtaufenden 
ausgebeutet werben; Oſtindien, namentlidy feine oͤſtliche Halbinfel, 
fo wie die Infeln Banca und Lingin bei Sumatra find fo uner- 
meßlich reih an Zinn, daß man feine Erze faſt ohne alle berg- 
männifhe Mühe und Arbeit von der Erdoberfläche hinwegnimmt; 
in Malakka erftceden ſich die reichen Zinnlagerftätten über einen 
Landſtrich von nahe 200 geographifchen Meilen. Eben fo leicht, 
als wegen der Art feines maflenhaften Vorkommen, das Gewinnen 
biefes Metalles tft, wird auch, im Vergleich mit Eifen, fein Aus- 
fhmelzen, aus dem fogenannten Zinnftein (Zinnoryd) gefunden, 
und ein blofes ſtarkes Kohlenfeuer im ummauerten Heerde war 
vermögend, den Älteften Entdedern jenes Erzes das fchöne, in feis 
nem reinen Zuſtand filberweiße, glänzende Metall zu Geſicht zu 
bringen und hierdurch feine Verarbeitung zu veranlaflen. 

Bei dem Eifen bielt diefes freilich nicht fo leiht, denn um 
diefes nüslichfte unter allen Metallen aus den meiften feiner Erze 
herauszufchmelzen, bedarf es fchon einer bebeutenderen, länger fort 
wirkenden Hige der Hocöfen. Aber gerade mit dem Vorkommen 
des Eifens hat es audy eine ganz befondere Bewandtniß, wodurch 
den Bölkern der Erde feine Benugung zu ihren Schmiedearbeiten 
ganz außerordentlich erleichtert werben mußte. Man hat es nicht 
immer in der Sorm ber Erze, wie dies großentheil® gefchieht, tief 
aus der Erde heraufheben, dann in den Hochöfen muͤhſam zu 
Gußeiſen ausfchmelzen, biefes aber erſt noch einmal in den Flamm⸗ 
Öfen oder Frifchfeuern reinigen und in ben Eifenhämmern zu Stab: 
eifen verarbeiten müffen, um es zum Schmieden ber Hausgeräth- 
fhaften und Waffen geſchickt zu machen, fondern man burfte es 
bin und wieder nur vom Boden aufheben, um es fogleidy zwiſchen 
Hammer und Ambos zu bringen. Denn dieſes merkwürdige Me: 
tall findet ſich als fogenanntes Meteoreifen unmittelbar auf ber 
Oberfläche der Erde in den verfchiedenften Ländern ber Erde, in 
Sibirien wie in Suͤdafrika, in dem nörblihen wie im füdlichen 
Amerika, in Deutfhland und Ungarn, wie in manchen anderen 
Ländern ber mittleren geographifchen Breiten beider Halbkugeln. 
Und zwar zum Theil in Maffen von vielen, ja von mehreren 
hundert Zentnern, öfter aber, wie auf dem Gebirge Magura in 
Ungarn, wie am großen Sifchfluffe in Südafrika, fo wie bei Cobija in 


Lac 3 ıT“ La Lund “> 77 


nn I ıv m tt 


17. Die Metalle im engeren Sinne. 113 


Südamerika in vielen -Heineren, vereinzelt herumliegenden Stuͤcken. 
Ed mag dann mit diefen Meteoreifentiumpen eben fo ergangen fein, 
wie mit dem gediegenen Golde, das in alten Zeiten in allen bes 
wohnten Ländern, mo es frei auf bem Boden lag, aufgelefen und 
binweggeräumt worden ift, fo daß die jegigen Bewohner jener 
Länder nichts mehr davon behalten haben, als die hiftorifche Kunde, 
Bielleicht könnte deshalb der Ausdrud: „deſſen Steine Eifen find‘ 
auf manches Land anwendbar gewefen fein, das durch feine zahl: 
reiche und lang anhaltende Bevölkerung feinen. alten Reihtbum an 
Meteoreifen eben fo verloren hat, mie andere Länder ihren Reich: 
thum an gebiegenem zu Tage liegendem Golde. 

Wenn aber der Menfch nur erft einmal die Bekanntfchaft des 
Eifens und feiner Benugbarkeit auf diefem nächften und leichteſten 
Wege gemacht hatte, dann führte ihn dieſes auch meiter zur Ge⸗ 
winnung jenes Metalles aus feinen Erzen, namentlidy aus foldhen, 
die nur aus einer Verbindung des Eifens mit dem Sauerftoffgae 
beftehen, und die, wie der Magneteifenftein, Eifenglanz felbft durch 
ihr Ausfehen (Farbe, Glanz u. f. w.) die Art ihres Metaligehaltes 
zur Schau tragen. Ä 

In den fehr verfchiedenen Arten feiner Erze kam und kommt 
aber auch Fein anderes Metall dem Menſchen fo oft und fo häufig 
in die Hände als das unentbehrliche Eifen. Denn nicht nur giebt es 
ganze Berge, ja Bergzüge, welche falt ganz von Eifenerz durch⸗ 
derungen, und weite, große Ebenen, welche von Eifenerziagern bes 
beit find, fondern ber Eifengebalt, der fi in ben über Hunderte 
von Quadratmeilen ausgebreiteten Sandfteinen und Bafalten (wo⸗ 
von fpäter) findet, hat fih au bald da bald bort in Maſſen von 
reicherem Eifenerz außgefchieben. Jene hoͤhere Fürforge; die ſich in 
ber reichlihen Begabung aller, von Menſchen bewohnbaren Länder 
der Erde mit dem Eifen im Allgemeinen kund gethan hat, wird 
auch im Befonderen darin fichtbar, daß fie gerade folhen Voͤl⸗ 
fern, denen fie bie meiſte Gewerbthätigkeit und Betriebſamkeit ver 
lieh, auch die meiflen Mittel zur Aeußerung bdiefer Anlagen in die 
Hand. reichte. Ein Beifpiel diefer Art ift uns an den gewerbthä- 
tigen Engländern gegeben, welche zunaͤchſt an ſolchen Metallen; 
die den Gemerben dienen, in bewundernswuͤrdiger Weife reich find. 
Denn England allein baut alljährlich 60,000 Zentner Zinn, mit: 
bin mehr denn 12 mal fo viel als alle Länder des übrigen Europa’s 
zufammengenommen, überdieß 250,000 Zentner Blei, was mehr 
als die Hälfte des ganzen europäifchen Bleiertrags iſt, an Kupfer 
280,000 Zentner, an Eifen ein Drittel bes ganzen europaͤiſchen 
Eifengeminne, nämlid über 5 Millionen Bentner, an ©almei 
(Eohlenfaurem Zinkoxyd) 50,000 Zentner. 

Ein folher Schag an benugbarem Material, das man nicht 
fo wie andere Naturgaben eines überreichen Erdbodens gleich mit 
der Dand nehmen und in den Munb fteden kann, fondern erft 
vielfach verarbeiten muß, um die Arbeit in Geld, das Geld aber 


8 


114 17. Die Metalle im engeren Sinne 


in Brod umzufegen, mag freilich ſehr dazu geeignet fein, um bie 
Kräfte und den Fleiß eines Volkes zu weden, indeß hängt dabei 
dennoch auch gar viel von der Naturanlage und Verfaffung des 
Volkes ab. Denn in wie vielen Ländern, wo es Noth= und 
Hungerleidende genug giebt, wie namentlih in bem türkifchen 
Reiche, Tiegen die herrlichften, reichften Schäge folcher Art unbe: 
nust in der Erde. Die Engländer aber, denen bei ihrer Gewerb⸗ 
thätigkeit auch noch die Menge ber Steinkohlen gut zu flatten 
kommt, bie fih in ihrem Lande findet (nad Cap. 27.) wiſſen 
von bem Eifen, das ihnen ihre Inſel darbietet und zum Theil ſelbſt 
noch andere Länder zuführen, eine fo vortheilhafte Anwendung zu 
machen, daß fi der Werth der Stahl: und Eifenarbeiten, melde 
fie fertigen, jährlih auf nahe 200 Millionen Gulden anfchlagen 
läßt; ein Gewinn, von welchem freilih ein großer Theil den 
Gapitaliften, melche die Vorſchuͤſſe leifteten und Inhaber ber Fa⸗ 
ibrken find, zufällt, an welchem aber dennoch auch die Arbeiter, die 
fih mit Eifenfabrication befchäftigen, und deren Zahl nahe an 
300,000 beträgt, nad ihrem Maaße Theil nehmen. 

In England, fo wie in einigen anderen Ländern, wo der An: 
bau und bie Fabrication des Eifens mit befonderem Fleiß und Gluͤck 
betrieben wird, möchte es Einem immer’ fchheinen, als ob der Um 
sang mit diefem Metall für die Betriebfamkeit des Volkes etwas 
eigenthümlic, Belebendes habe, Steht doch, fo könnte man fagen, 
das Eifen unter allen Metallen durch feine Eigenfchaften bem Le⸗ 
ben am nädften. Denn an ihm zunaͤchſt zeigt fid) eine Bervegung 
bes Suchens und Fliehens, des Anziehens und Abfloßend, welche 
den uranfänglichen Erſcheinungen des thierifchen Lebens Ähnlich und 
verwandt find; das Eifen, ald Magnet, ift einer Anregung durch 
bie Kraft eines allgemeinen Bewegens fühig,; wie das Thier, wenn 
es dem Malten des Inſtinctes dahin gegeben iſt. Unfere Kunſt, 
auch wenn fie die Grundftoffe bald fo bald anders zufammenfügt 
und in Wechfelmirkung bringt, vermag auf keinerlei MWeife aus 
biefen Stoffen ſolche zufammengefeste Elemente zu erzeugen, die 
man organifche nennt, weil der Körper ber organifhen Wefen: der 
Pflanzen und Thiere, vorherrfchend aus ihnen gebilder iſt, wir koͤn⸗ 
nen feine Gallert, feinen Eimeißftoff, feine Butter und keinen 
Käfe aus den uranfänglihen Grundftoffen, in die wir die Körper 
welt zerlegen, hervorbringen. Das Eifen macht jedoch Thon einen 
Beinen Eingeiff in die ausfchließenderen Rechte der Lebenskraft, 
denn der Bodenfag, den man aus einer Auflöfung des Kohle ent 
haltenden Gußeifens in Salpeterfäure durch Ammoniak erhält, giebt 
beim Auskochen im Waffer eine moderartige Subftanz, ähnlich je 
ner, welche zulegt aus ber Verwefung abgeftorbener Pflanzen: und 
Thierkoͤrper entſteht. Allerdings alfo nur eine Annäherung 'an bie 
organifche Etementenbildung, von ber unterften, tiefften Stufe her. 
Uebrigens zeigt das Eifen auch noch auf andere Weife, daß es in 
einer näheren Beziehung benn alle anderen Metalle auf die Bor 


“ 


18. Der verſchwenderiſche Arme. 115 


gaͤnge des Lebens ſtehe, indem es als ein weſentlicher, hoͤchſt ein⸗ 
flußreicher Beſtandtheil in das Blut des Menſchen und der voll⸗ 
IR Thiere eingeht, dem es vorzugsweife feine rothe Farbe 
ertheilt. 

Alte die bisher betrachteten Grundſtoffe geben ſich leicht ale 
eigentlihe Metalle zu erkennen, und wurden zum Theil. auch fchon 
von den Völkern des Alterthums ald Metalle erkannt. Denn viele 
von ihnen, namentlih Gold, Silber, Platina, Quedfilber, Kupfer 
und ſelbſt das Eifen, wenigftens in feinen nah ©. 113 hin und 
wieder nicht unbedeutenden, aus der Luft gefallenen Mafien, wer⸗ 
den in ganz reinem (gediegenem) Zuſtand in der Natur gefunden, 
ebenfo auch Wismuth, Arfenit, Spießglanz u. fe w. Und wenn 
auch die ebengenannten, ſowie andere eigentliche Metalle nicht rein 
oder gediegen, fondern als Erze, verbunden mit Schwefel fo mie 
irgend einem anderen Metall, oder als Oxryde verbunden mit 
dem Sauerfloff der Luft vorkommen, laſſen fie fi) dennoch 
meift ohne fehr große Schwierigkeit nad) den Gefegen .der ges 
wöhnlihen chemifchen Verwandtſchaft in ihrer eigentlid metal- 
liſchen Form barftellen, Ueberdieß zeichnen fi alle Metalle im 
engeren Sinne durch eine Eigenfchwere aus, welche die des Waſſers 
wenigftens fünfmal übertrifft. Denn, abgefehen vom Titan» und 
Zantalmetall, deren Gewicht nicht viel Über 5 beträgt, haben unter 
ben befannteren Metallen nur Arſenik und Chrom nicht ganz das 
ſechsfache, Zellue und Spießglany noch nicht das fiebenfache, Zink, 
Zinn, Wismuth und Eifen noch nicht das achtfache Gewicht des 
Waſſets, während ſchon das Mangan mehr denn acht, das Kad⸗ 
mium, Molpbdän, Kobalt mehr denn 81/,, Nidel und Kupfer faft 
9, das Uranmetall 9, das Silber 10! /,, Rhodium und Palladium 
über 11, Quedfilber über 14, das Wolframmetall über 17, Colt 
19! /,, Platina und Iridium 21 bis 23 mal ſchwerer find denn 
das Waſſer. 


18. Der verfhwenderifhe Arme. 


Bei der Erwähnung des Goldmachens im vorigen Gap. ift 
mir eine Geſchichte eingefallen von einem Manne, ber zwar das 
Gold nur vergeudet, nicht gemacht hat, aus deſſen Verſchwendung 
aber dennoch die alten Goldmacher, fobald ihnen das Wie ober 
Wenn ber Berfhwendung deutlich geworden wäre, nicht blos einen 
anſehnlichen Profit für ihren Beutel, fondern auch wichtige Auf 
fhlüffe über ihre falfchberühmte Kunft hätten entnehmen koͤnnen. 

Sn einem Beinen Lanbdftädtchen an der Grenze von *** lebte 
ein Krämer, von welchem man mit Recht fagen Eonnte, daß er in 
feinem Leben mehr weggeſchenkt hat, ald mancher reiche Graf, mehr 
als der gutthaͤtige Fürftsifchof von **. Und noch dazu machte der 
Mann feine Geſchenke nicht in Kupfer oder Silber, denn biefe 
beiden gab er nicht Teiche umfonft hinweg, fondern in lauterem Golde. 


8 * 


116 18. Der verſchwenderiſche Arme. 


Auch fah derfelbe bei feinen täglichen Verſchenkungen nicht darauf, 
ob der, in befien Hand er, gleich einem großmüthigen Wohlthaͤter, 
Ser nicht wiſſen laffen will, was er thut, bie koſtbare Gabe hinein- 
gleiten Tieß, fein Sreund oder fein Feind, Chrift oder Jud, arm 
oder reich fei, fondern er übte feine Sreigebigkeit an Einheimifchen 
wie an Fremden, und namentlicdy wurde Jeder, ber ein Kaffenbillet 
oder auch wohl nur ein Guldenftüd bei ihm wechfeln ließ, mit ei⸗ 
nem Gefchente an Gold von ihm bedadıt. 

Meine jungen Lefer werden dabei mit Recht fragen: mar 
denn ber Mann fo gar vermögendb oder war er nur recht unfinnig 
verfchwenderifch? 

Ich kann darauf in Wahrheit verfihern, daß ber Krämer 
weber reich noch unfinnig war, und daß Keiner von allen Denen, 
die ihn kannten, ihn jemals für einen Verſchwender gehalten bat. 
Im Gegentbeil hielt man ihn in feinem Landſtaͤdtchen fo mie in 
der ganzen Umgegend für einen Mann, deſſen Sparfamteit eher 
über das rechte Maaß hinausging als unter bemfelben blieb, und 
der auch im Handel und Wandel, wo es feinen Vortheil galt, eher 
au viel als zu wenig der Klugheit fich befleißigte. Der Mann mar 
ein Spieler und kein Trinker, in fein Haus wie in feinen Mund 
kam felten ein Glas von dem geringften, wohlfeilften Frankenwein. 
Denn obgleich er felber einen Kleinen Weinberg befaß, fo fand er 
e8 bei der Qualität feiner Trauben dennoch rathfamer, dieſe an 
den Effigfabritanten zu verkaufen, als für fi) und bie Seinen ein 
Getraͤnk daraus zu machen. Und fo fparte der haushaͤlteriſche 
Krämer auch in anderen Stüden, fo viel als nur möglich war, litt 
an fih und den Seinen weder Kleiderpracht noch Aufwand im 
Efien und Trinken, benn, wie er das alte Spruͤchwort oft im 
Munde führte „Gutgeſchmaͤcke macht Bettelſaͤcke“. Auch mar ihm 
eine foldhe Sparfamkeit gar nicht zu verdenten, denn der Mann 
hatte eine Frau und acht Kinder, dazu auch feine alten Schwieger 
eltern zu ernähren, und von dem Ertrag feines Krämergemwerbed 
Tonnte er Nichts zurüdlegen; wäre in den Kiften und Käften des 
Mannes, welcher in feinem Leben vielleicht Zaufende von Gulden 
in Gold weggefchenkt hatte, Nachfuchung gehalten worden, ber 
Sparpfennig, den man da. gefunden hätte, würde fi kaum auf 
etliche hundert Gulden belaufen haben. 

Dies Alles klingt freilich höchft fonderbar, und doch muß id 
noch Etwas hinzufügen, welches noch 'Tonderbarer lautet. Es mat 
als ob in der feltfamen Zreigebigkeit jenes Krämers etwas Anfteden 
bes auch für andere Menfchenfeelen läge, denn alle bie Leute, an 
welche er fein Gold verfchenkte, gaben baffelbe wieder an andere 
Leute weg, ohne ſich felber Etwas davon zu Nuge zu machen, bis 
zulegt faft alle diefe Gefchenke aus Hand in Hand zu einer koͤnig⸗ 
lichen Münzftätte kamen, melde das Gold nicht mehr fo ohne 
Weiteres an Jedermann wegfchentte, fondern für ihren Landeshern 
einen guten Gewinn daraus 309 Ich will nun auch fagen, wie 


18. Der verfchwenberifhe Arme 117 


das Ganze zugegangen iſt, was ohnehin fchon oben Cap. 16 zum 
Theil geſchehen ift. 

In einem benachbarten Lande waren unter einer ber vorigen 
Regierungen Eleine Silbermänzen geprägt worden, bie fih, wenn 
fie eine Zeit lang in Curs geweſen waren, durch ein ganz befonderes 
Colorit auszeichneten. Vielleicht war dem Lanbesheren, deſſen 
Gepraͤge ſie trugen, daran gelegen, daß auch das Bildniß auf 
ſeinen Muͤnzen ein Zeugniß von ſeinem fortwaͤhrenden leiblichen 
Wohlbefinden geben ſollte, denn dieſes Bildniß, anſtatt mit dem 
Alter bleicher zu werden, bekam vielmehr ein ſo rothbackiges Aus⸗ 
ſehen wie die jungen Burſche in unſeren Gebirgsgegenden haben; 
fo bluͤhend, wie man zu ſagen pflegt, als eine bayeriſche Dampf⸗ 
nudel. Die Kunſt, worauf jene Verjuͤngung des Ausſehens beruhte, 
beſtand darin, daß dem Silber jener kleinen Muͤnzſtuͤcke etwas 
mehr Kupfer beigemiſcht war als gewoͤhnlich, und da die Welt, fo 
wie ſie nun einmal iſt, weniger Werth auf die Kunſt und auf das 
Bildniß, als auf die Beſchaffenheit der rohen Maſſe legte, aus 
der die Muͤnzen gepraͤgt waren, ſo wollte man dieſe bald außer 
dem Lande und ſpaͤterhin ſelbſt im Lande nicht mehr zu dem Werthe 
annehmen, der auf dem Stempel ausgedruͤckt ſtand: der Werth 
wurde vor Allem bei den kleineren Muͤnzſorten um ein ſehr An⸗ 
ſehnliches heruntergeſetzt. Unſer Kraͤmer war ſchon fruͤher, weil er 
an ber Graͤnze wohnte, für feinen Rauch⸗ und Schnupftabak, fo 
wie für Kaffee und Zuder faft in lauter folhen Münzforten aus: 
bezahlt worden und er felber kaufte, was er für fein Haus beburfte, 
wieder um folches Geld ein. Als aber die Zeit ber Herabfegung 
zuerft in einem, dann in mehreren anderen Ländern herbei kam, 
da war. hin und wieber mit dem Einwechſeln um ben geringeren 
und mit dem Auswechſeln um ben dba und dort nod beftebenden 
höheren Preis etwas zu geminnen, und der Krämer nahm an die 
fem Wechſelgeſchaͤft mit vielen Anderen, welche es betrieben, einen 
thätigen Antheil, indem er fid dabei oft mit einem fehr Kleinen 
Gewinn begnügte. Der gute Mann mußte nicht, was für ein 
Schatz dabei durch feine Hand ging, und die Anderen ahnten das 
auch ‚nicht, und wenn fie es auch wirklich gewußt hätten, fo wären 
fie doch nicht im Stande gemwefen, ‚den verborgenen Schatz zu bes 
ben, tie dies die wohlunterrichteten Scheidetünftler in- der Münze 
tbaten.. 
Die Sache verhielt fih fo: Jene tothwangigen, fogenannten 
Sildermünzen waren doch nicht fo fehr zu verachten als man ge 
meint hatte, Für den gewöhnlichen Gebraudy in Handel und Ge- 
werbe hatten fie freilich nicht ihren angeblichen Werth und es war 
notwendig, daß man fie außer Curs feste, aber das Silber, das 
man zu ihrer Ausmünzung genommen hatte, enthielt, tie dies 
öfters beim Silber (namentlich in den fehr filberreihen Viertels⸗ 
und halben Kronenthalern) der Fall war, etwas Gold, deſſen 
Quantitaͤt, aus großen Maffen, einen nicht unanfehnlichen Gewinn 





118 18. Der verſchwenderiſche Arme. 


brachte. Die Scheidekuͤnſtler gingen nun fo zu Were: Sie war 
fen die kleingemachte (granulirte) Maffe jener Münzen in kochende, 
ftarte Schwefelfäure und alsbald loͤſte diefe das Silber und das 
Kupfer auf; dem Golde aber Eonnte fie nichts anhaben, dieſes fiel 
als ein freilich fehre unanfehnlihes, ſchwarzes Pulver zu Boden 
und konnte aus ber Auflöfung faft ganz rein herausgewafchen 
werben. 

Wie aber, was wurde aus dem Silber? follte diefed verloren 
gehen? Keineswegs, auch fein Gran deffelben ging verloren. Man 
brachte jest die Fluͤſſigkeit in bleierne Zröge und fegte ihr bier eine 
fo große Portion altes Kupfer zu, daß die Schmefelfäure nicht hin⸗ 
reichte, um alles aufzulöfen. Augenblicklich verließ die Schwefel⸗ 
fäure, bie fi) mit dem Silber vereint hatte, dieſe Verbindung und 
warf fih ganz auf das Kupfer; das Silber, in fhönem, reinen 
Zuftand, als fogenanntes bergfeines Silber, wurde ausgeſchieden, 
die Schwefelfäure aber bildete, fo meit ihre angetwendete Menge 
dies zuließ, mit dem Kupfer den Kupfervitriol, der ein vortreffliches 
Sarbmaterial abgibt, das bei unferen Gemwerbsleuten in ziemlich 
hohem Werth und Preife fteht. 

Daraus ift viel zu lernen, was fih dem Verſtand in ſehr 
einfahem Gleichniß verdeutlichen läßt. Es ſteht Waſſer auf un- 
feren Feldern, wir machen eine Grube in den Boden und das 
Waſſer, durch feine Schwere gezogen, fließt fogleich in die Grube 
ab. Wir machen neben der erfteren eine noch tiefere Grube, und 
das Waffer verläßt jene und fließt in diefe hinein, und fo Tann 
man zehn Gruben graben, eine tiefer als die andere, das Waſſer 
wird ſich immer in die tieflte hineinftürzen, und umgekehrt erſt 
dann, wenn bie tiefere ganz voll ift, wird das Waſſer in die naͤchſt 
höhere abfließen. 

Sanz in ähnlicher Weife als der Zug der Schmere auf ba 
Waſſer und feine Bewegungen, wirkt auch dee Antrieb der che 
mifhen Anziehung auf die verfchiedenen Grundftoffe Wenn man 
eine Mifhung von Eifen und Blei mie Schwefel in einem Xiegel 
zufammenfchmilzt, dann tritt alsbald der Schwefel an das Eifen 
und verbindet fih mit diefem zu Schwefeleifen. So. lange nun 
noch eine Spur von Eifen in dem Blei iſt, geht kein Theilchen 
bes Schwefels an dieſes über; erft dann, wenn alles Eifen von 
dem Schwefel durchdrungen und von demfelben aufgenommen iſt, 
verbindet fich der noch übrige Schwefel auch mit dem Blei zu 
Schwefelblei. 

Was in dieſem Falle der Schwefel that, das geſchah bei dem 
vorhin erwaͤhnten Vorgang der Ausſcheidung des Goldes und Sil⸗ 
bers mit der Schwefelſaͤure. Wie ein Stuͤck Holz, das in der 
Grube lag, zu welcher man dem Waſſer den Zufluß eroͤffnet hat, 
durch dieſes von ſeiner Stelle verdraͤngt, und weil es in ihm nicht 
unterſinken kann, auf die Oberflaͤche ausgeworfen wird, ſo draͤngt 
die Schwefelſaͤure, indem ſie ſich in die Verbindung mit dem Kupfer 


.18. Der verfchwenberifche Arme. 119 


und Silber verfenkt, das Gold aus feiner Einmifchung in diefe 
Metalle heraus. Freilich ſtellt fich hierbei unferem Auge der Vor: 
gang ber Ausfcheidung gerade umgekehrt fo bar, ala bei dem Hol; 
und dem Wafler, durch welches daſſelbe feiner Muheftätte am Bo⸗— 
den des Grabens enthoben und nad der Oberfläche geworfen wurbe; 
denn das Gold fällt als ſchweres Pulver in der Fluͤſſigkeit zu Bo⸗ 
den, ftatt auf derfelben zu fhwimmen, wir haben es aber über- 
haupt in dem Gebiet der fogenannten hemifchen Anziehungen mit 
einer Kraft zu thun, welche zwar zulegt nad) demfelben allgemeinen 
Geſetz wirkt ale der mechanifche Drud und Gegendrud ber Schwere, 
welche aber: dennod hierbei von ganz anderer, verfchiedenartiger 
Matur und Abkunft ift, fo daß die Exfcheinungen, welche fie her⸗ 
vorruft, oftmals jene, welche die Verfchiebenheit der eigenthümlichen 
fo wie der allgemeinen Schwere bewirkt, durchkreuzen und die ganz 
entgegengefegte Richtung nehmen. 

Die bis zum Sieben erhigte Schwefelfäure verbreitet anfangs 
ihre Wirkung, fo mie fi ein austretenbes Waſſer über Selber 
und Wiefen ergießt, über beide noch übrige, für ihren Einfluß zus 
gänglihe Metalle; fie Löft das Kupfer wie das Silber auf. Wenn 
man aber die Auflöfung in bleierne Troͤge bringt, und hier der 
Säure das Kupfer in Ueberfülle zu ihrer Sättigung barbietet, ba 
thut man etwas Achnliches als der Landmann thut, wenn er einen 
tiefen "Graben zum Abfluß des Waſſers eröffnet, dasefein Grund⸗ 
ſtuͤck uͤberſchwemmt hat. Die Schwefelfäure ergießt fih mit ab⸗ 
waͤrts dringender Kraft buch alle Eleinfle Theilchen des Kupfers 
und wird nur dann auch noch Silber in fi) aufgelöft halten, wenn 
nicht genug Kupfer ihr dargeboten ift, um in der Verbindung mit 
dieſem ganz aufzugeben. 

Wir Lehren noch einmal zur Beachtung des Goldes zurüd, 
das bei der Abtrennung von den beiden anderen Metallen in ber 
Auflöfung zu Boden fiel. So wie daffelbe da, nah dem Auss 
wafchen, als ein fehmwärzliches Pulver vor Augen liegt, würde 
Niemand, dem Das, was ba gefhah, unbekannt wäre, es für 
bas Halten, was es ift: für jenes edle Metall, dem hier faft Feine 
feiner ſinnlich wahrnehmbaren Eigenfchaften geblieben ift als bie 
Schwere. Dod eine leichte, weitere Behandlung im Feuer giebt 
dem Metall feinen Glanz und feine Farbe, fo wie jenen Zufam- 
menhalt ber Theile zuräd, der es (nad) Gap. 17) zu fo vielen 
Berarbeitungen geſchickt macht. 

In unſeren Tagen weiß es jeder unterrichtete Goldſchmied, 
daß ſehr oft in dem Silber, welches unſere Bergwerke liefern, et⸗ 
was Gold, in vielen ſeiner Erze auch Kupfer enthalten ſei. Das 
Kupfer bildet in dem, aus ſolchen Erzen erhaltenen Rohſilber nicht 
ſelten drei Fuͤnftheile des Geſammtgewichtes und daruͤber; das Gold 
freilich meiſt nur den tauſendſten, ja den zweitauſendſten Theil des 
Gewichtes des Silbers. Dennoch iſt, bei dem hohen Werthe des 
Goldes, das Gewinnen auch dieſes kleinen Antheiles von Golb 


120 19. Die Verwandlung des Niederen in ein Höhere. 


fo lohnend, daß die Scheidekuͤnſtler fi) ber Mühe, uns das Silber 
vollkommen vom Kupfer zu reinigen, umſonſt unterziehen; wir er- 
halten von ihnen fo viel Silber und Kupfer, als in dem Geräthe 
oder Barren, die wir ihnen zur Behandlung übergaben, enthalten 
waren, die Heine Quantität des Goldes, die bei ber Auflöfung zu 
Boden fiel, dient ihnen ald Bezahlung für die Mühe. 

Diefes Altes ift nun, wie ſchon gefagt, in unferen Tagen 
eine befannte Sache. Wenn aber, noch vor hundert oder vor an- 
derthbalb hundert Sahren ein Scheidelünftler, ber, wie fallt alle 
feine damaligen Kunftgenofien, voll von dem Hirngeſpinnſt des 
Goldmachens gemefen wäre, aus dem Kupfer oder Silber durch 
hemifche Scheidung foldy? ein fchwarzes Pulver gewonnen hätte, 
welches, bei weiterer Behandlung, unter der-Dand zum lauteren 
Solde wird, der wäre dadurch nicht wenig in feinem Wahn be 
ftärkt worden, daß man ein Metall in's andere verwandeln, daß 
man namentlid aus Kupfer, indem man ihm einen gewiſſen, gift- 
ähnlihen Beſtandtheil nahme, Gold machen koͤnne. 

In 9. lebte noch zu Anfang biefes Sahrhunderts ein gar 
merkwuͤrdiger Genoffe der edlen Scheidetunft, der Profefior B.; 
ein Mann, welcher gerne von ſich felber fprach und Andere von 
ſich felber fprehen machte, weil fein Herz von dem Wohlgefallen 
an feinem eigenen Selbſt voll war. Da er immer nur fih und 
was ihn ſelber betraf, fah, und zum Beſchauen der Dinge, die 
außer ihm lagen, nur das Licht feined- eigenen, menfhlih armen 
Selbft mitbradhte, begegnete e8 ihm vielfältig, baß er jene Dinge 
nit auf rechte, wahre Weiſe ſah, und daß er dann auch auf 
unwahre Weife über fie urtheilte und ſprach. So zeigte er zumeilen 
aud feinen Zuhörern Goldftüde und fagte, das, Gold dazu habe 
er felber gemacht. Es mag ſich aber mit diefer Ausfage wohl fo 
verhalten haben, wie mit fein ruhmredigen Erzählung von dem 
großen Demant, den er angeblich befaß und der fo groß und Eoft- 
bar fein follte, ‚daß alle Kaifer, Könige und hohe Herrſchaften der 
Erde ihn nicht bezahlen könnten. Gold konnte er allerdings aus Sil⸗ 
ber und auch aus japanefifchem, fowie manchem auffifnen Kopefen- 
tupfer, auf dem vorhin befchriebenen Wege abgefchieden oder auch 
durch die Karminbereitung, darinnen er Meiſter war, gewonnen, 
nichta ber gemacht haben. -Der gute Mann kannte zwar bie 
Benugung der Dampfe zu allerhand Fünftlichen Arbeiten und für 
Dampfwägen noch nicht, aber in feinem Innern arbeitete er immer 
mit Dampf und fuhr auf Dampf body daher. 


19, Die Verwandlung des Niederen in ein 
Höheres, 


Ich will, obgleich ich fo eben von ber Unmöglichkeit ſprach, 
durch unfere jetzige, menfchlihe Kunft ein Metall in eim anderes 
zu verwandeln, dennoch meinen jungen Lefern, wenn fie ihn noch 


49. Die Verwandlung des Niederen in ein Hoͤheres. 121 


nicht kennen, einen Fall euzählen, wo ftatt des Eiſens auf einmal 
Kupfer geworben ift, und wenn fie an Ort und Stelle gehen wol⸗ 
lien, koͤnnen fie noch jegt duch einen Wurf und den Zug eines 
Fifcherneges ſtatt eines alten vofligen eifernen Hufeiſens ein ſchoͤn 
glänzendes kupfernes gewinnen. | 

Ein Bergmann, fo erzählt man, hatte einen eifernen Maß⸗ 
ftab, der in Nürnberg gefertigt und mit einer fehr genauen Ein- 
theilung in Zolle, in Linien und Zehntellinien verfehen war, beim 
Ausfahren aus der Grube, das heißt beim Hinauffteigen auf ber 
Reiter (Fahrt) des Bersfhachtes, verloren. Es war dem armen 
Manne viel an jenem freilich ſchon ziemlich alten Meßſtab gelegen, 
aber bei aller angewandten Mühe Eonnte er ihn nicht wieder fin⸗ 
den; er war allem Anfchein nad in das Grubenwaſſer gefallen. 
Nach einiger Zeit wurde der Sumpf (die Wafferanfammlung in 
der Tiefe) vielleicht duch Anlegung eines Stollend (Ableitungska⸗ 
nals für das Waſſer) troden gelegt und bei diefer Gelegenheit fand 
man den Meßſtab. Aber, wie merkwürdig, dieſer war zu Kupfer 
geworden, und bdaffelbe war auch an einigen urſpruͤnglich eifernen 
Nägeln gefhehen, die man beim Aufraumen am Boden des vor» 
maligen Sumpfes fand. Es gab noch Waſſer genug in jenem 
Grubengebäude, man wiederholte ben Verſuch, legte alte eiferne 
Hufeifen, becherartige Schalen und allerhand andere aus Eiſen 
gefertigte Dinge hinein, und flatt des roſtigen eifernen Hufeifens 
308 man nad) einiger Zeit ein Eupfernes hervor, aus ber eifernen 
Schale war eine Eupferne geworden. Wer hätte nicht jest den 
Alchymiſten beiflimmen und an eine Verwandlung des. einen Me: 
talls in ein. anderes, des Eifens in Kupfer, glauben mögen ? 

Und doch verhielt es ſich damit ganz anders und ganz ein: 
fad), forie in den Cap. 18 erwähnten Fallen. Dergleichen Waffer, 
aus welhem man durd das Hineinlegen von Eiſen das reine, 
fogenannte Caͤmentkupfer gewinnt, finden fih an mehreren Orten, 
namentlih in Ungarn bei Neufohl. Insgemein find fie da zu 
finden, wo aus den Bergwerken das Schmefelfupfer (dev Kupfer 
fies) in großer Menge gewonnen wird. Denn wenn über. das 
fein zertheilte Erz das Waſſer binfließt oder lange über ihm ſtehen 
bleibt, da verbinden fich der Schwefel und das Kupfer mit bem 
Sauerftoffgas (davon weiter nachher) und es entſteht fchwefelfaures 
Kupfer, (Vitriol), das. fih im Waſſer auflöft, welches hierdurch 
einen widerwärtig fcharfen (grünfpanartigen) Gefhmad -befommt. 
Wenn man nun Eifen in foldhes Vitriolwaſſer legt, dann aͤußert 
fit) alsbald in der Schwefelfäure der flärkere Zug, das ftärkere 
Sallen feines Stromes nah dem Eifen, Diefes wird aufgelöft in 
der Schwefelfäure und dem Waffer, es verfchwindet von feiner 
Stätte, an welche ſich jest in vollkommen reinem, metalliſch glän- 
zenden Zuſtand das Kupfer anfegt. Und weil an die Stelle jedes 
einzelnen, in ber Auflöfung aufgehenden Theilchens des Eifens ein 
Theilchen Kupfer tritt, ſo nimmt diefes allerdings, dem Haupt: 


122 20. Die metalliſchen Grundfloffe ber Alkalien und Erben. 


umeiffe nad, bie Geftalt an, welche das von ihm verbrängte Me 
tal befaß, obwohl dabei feine Oberfläche oft fehr uneben, feine 
Maſſe nicht vollkommen dicht ift. 

So müffen wir auch hierinnen keine eigentliche Verwandlung 
des einen Grundftoffes in einen anderen, fonbern nur eine Ber 
brängung bes einen durch den anderen anerkennen. Ein im Werthe 
bößer ftehendes Metal hat fih an die Stelle des gemeineren, nie 
Driger im Preife ſtehenden gefegt, und dieſes Niedrigere iſt ver 
sangen. Im Weiche des Geiſtigen find ſolche Vorgänge der Ver⸗ 
eblung, bei benen fich das höhere, beffere Element der Strebungen 
und Gefinnungen an bie Stelle eines niebereren, ſchlechteren Ele⸗ 
mentes fest, nichts Ungemwöhnliches noch ganz Seltenes. Aber in 
biefem Meiche giebt ed auch Erfcheinungen, die von einer wirklichen 
Verwandlung (Verklärung) bed Niederen und Schlechteren in ein 
Höheres und Beſſeres zeugen, denn es waltet ba ein Neues ſchaf⸗ 
fender Geift, welcher wirket was und wo er will. 


20. Die metallifhen Srundftoffe der Altalien und 
Erden. 


Schon bie Menge und die Allgemeinheit, in welcher das Eifen 
auf unferer Erde und nod mehr in den unzugänglichen Tiefen 
derfelben vorkommt, muß unfere hohe Beachtung erregen. Aber 
es giebt noch andere metallifche Körper, welche, wenigftens auf ber 
Oberfläche der Erde, in einer noch unverhältnigmäßig viel größeren 
Maſſe vorkommen, als alle im vorhergehenden Gapitel erwähnten 
eigentlihen Metalle zufammengenommen bilden würden. 

Noch zu Anfang diefes Sahrhunderts hätte (nach Cap. 11) 
fein Naturforfcher daran gedacht, die fogenannten Erdarten, sie 
die Kalk, die Talk, die Baryt- und die Thonerde für er 
was Anderes zu halten als für einfache Elemente oder Grundſtoffe. 
Daffelbe galt von ben. dgenden Laugenfalzen oder Alkalien. 
Wenn unfere Scheibefünftter den gewöhnlichen edlen Granat in 
Zhonerde, Kiefelerde und in die Oxyde des Eifens und Mangans 
zerlegt, wenn fie im böhmifchen Granaten außer den eben genann- 
ten Erden und Metallen auch noch Kalk⸗ und Talkerde, fowie 
Chrommetall aufgefunden hatten, dann glaubten fie, auf den legten, 
tiefften Grund der chemifchen Zufammenfegung jener Steine ge 
kommen zu fein; an bie Möglichkeit einer noch meiteren Zerlegung 
diefer Elemente dachte Niemand. Zu ben fhon bekannten Erben 
hatte man au noch im Smaragd und Beryll die Beryll⸗, im 
Hyazinth die Zirkonerde, im Strontian die Strontianerbe, 
fowie in einigen anderen Steinarten bie Ytter- und Thorerde 
entdedit und auch nod) ein neues Kali, das Lithiom, unterfchieben, 
und fie alle wurden eben fo, wie bie Kalk⸗ und Thonerde, für einfache 
Elemente gehalten. Da that fih auf einmal im Jahre 1807 durch 
die Entdeckung eines großen englifchen Scheidekuͤnſtlers: des Hum⸗ 


20. Die metalliſchen Grunbftoffe ber Alkallen und Erben. 123 


phry Davy, eine Pforte auf, durch welche man einen tieferen 
Bi in das geheime Weſen ber Grundfloffe zu thun vermochte, 
Diefe fcheinbaren oder wirklichen Grundſtoffe find ja überall nichts 
Anderes ald Polarifationen dee Materie, duch eine Kraft der Nas 
tur, welche ber des Lebens verwandt, ja Eins mit ihr iſt. Wie 
das Leben felber, fo ift auch der Seele bes Menſchen in gewiſſem 
Maaße ein Gebrauch jener Naturkraft in ihre Gewalt gegeben, nas 
mentlich auf dem Wege der elektromagnetifhen Wechfelwirktungen, 
zu denen, wie wie fpäter fehen werden, ber Galvanismus gehört, 
Der eine Pol einer Voltaifchen Säule, der deshalb als Säure-Pol 
bezeichnet werben kann, bringt überall den Grundſtoff aller Grund 
ftoffe, das Sawerftoffgas, aus feiner Verborgenheit hervor an's 
Licht, der andere Pot laͤßt ben eigenthuͤmlichen Gegenfab (die 
Bafis) Lund werden, melde gerade in biefem befonderen Körper 
jenem allgemeinen Centrum des irdiſchen Weſens als äußerer Leib 
fidy zugefelle hat. Wenn deshalb die gewöhnlichen metallifchen 
Drnde dem Einfluß der beiden Pole eimer Voltaifchen Säule aus⸗ 
gefegt werden, da tritt an dem einen das Metall in feiner reinen 
fogenannt elementaren Form hervor. 

Eine Verbindung bes Kalt mit Waffer wurbe in-ebenerwähnter 
Weiſe von Davy der Einwirkung einer fehr ſtarken Voltaifchen 
Säule ausgefegt, und auf einmal zeigte fich der vermeintlihet Grund» 
ftoff polarifirt oder zerlegt; an dem einen (negativen) Pole ber 
Saͤure kam ein glänzendes Metall zum Vorſchein: das Kalium⸗ 
metall. Aus beiden fogenannt feuerfeften Alkalien: dem Pflanzen: 
wie bem Mineralkali, ebenfo wie aus ber Kalk, der Zall-, Bas 
ryt⸗, Strontian⸗ und Thonerde, mit einem Worte, aus allen oben 
genannten Erden und Alkalien gelang es, auf gleihem Wege eine 
metallifhe Grundlage barzuftelen, fo daß nun alle jene vermeint- 
tichen Elemente als Oxyde (Metallverbindungen mit Sauerftoff) 
erfcheinen, wie zwar der Binnftein, der Magneteifenftein und 
der Rotheifenftein oder Blutſtein ihrer Außeren Befchaffenheit 
nach dieſes auch find, nur darin aber von dieſen verfcie 
den, baß bei ihnen das Sauerſtoffgas auf eine Weife mit feis 
ner metallifhen Grundlage ſich verleiblicht hat, mie biefes bei kei⸗ 
nem ber im 17. Cap. befchriebenen Metalle gefhehen konnte. Denn 
barin tft fchon bei den eigentlichen Metallen ein bedeutender Unter 
ſchied zu finden, bag einige von ihnen, wie namentlich Platine, 
Sold, Sitber, Quedfilber, Iridium, Palladium, NRhodium, das 
Sanerfloffgas, durch deſſen Verbindung fie zu Oxyden werden tön- 
nen, nicht blos fehr ſchwer aufnehmen, fondern daß fie diefe durch 
Menſchenkunſt erzwungene Verbindung auch wieder aufgeben und 
das Sauerſtoffgas entlaffen, wenn ‚man fie nur einer ſtarken Er- 
wärmung ausfegt, welche bei den meiften von ihnen noch nicht 
sinmal bis zum Gluͤhen, noch viel.meniger aber bis zum Schmels 
gen gefteigert zu toerden braucht. Dagegen muß man fihon das 
Nideimetali, wenn es zum Orxyd geworden ift, ber Hige des Por: 


423 20. Die metalliſchen Grundſtoffe der Alkalien und Erden. 


zellanofens ausfegen, damit fein Sauerſtoffgas durch Mitwirkung 
des Kohlenoxydgaſes wieder frei werde, und bei anderen Metallen 
muß man dieſem gefluͤgelten (luftartigen) Gaſte noch eine andere 
Lockſpeiſe darreichen, wenn man ihn dazu bewegen will, ſeine Ver⸗ 
bindung mit dem Metall zu verlaſſen. In vielen Faͤllen erweiſt ſich 
zu dieſem Zweck ſchon die Kohle fuͤr ſich allein wirkſam, welche 
man mit dem gluͤhenden Metalloxyd in Berührung bringt, indem 
der Zug bes Sauerftoffgafed zu der brennbaren Kohle ein natürlich 
größerer ift als der zu dem bloß orpdirbaren Metalle. Schon bei 
den Orpden jedoch, namentlich des Zantalmetalles, reicht das Gluͤ⸗ 
ben derfelben im Schmelztiegel in Berührung mit der gepulverten 
Kohle nicht mehr dazu hin, fie in ihren metallifchen Zuſtand zu- 
rüdzuführen; es gehört eine noch größere Steigerung ber hemifchen 
Polarifation dazu, um ben Zug bes Sauerſtoffgaſes zu dem Me⸗ 
tall zu uͤberwinden. 

Gerade das Tantal ſowie. das Titanmetall naͤhern ſich aber 
auch ſchon darinnen den metalliſchen Grundlagen der Erden, daß 
ſie viel leichter als die anderen, eigentlichen Metalle ſind. Und in 
noch viel hoͤherem Maaße iſt dies bei den Metallen der Erden und 
der Alkalien der Fall. 

Wenn man noch vor wenig Jahriehenden die Vermuthung 
haͤtte ausſprechen wollen, daß die Felsarten wie die Kohle durch 
ein Verbrennen entſtanden waͤren, und daß es mehrere Metalle 
gebe, welche leichter waͤren als das Waſſer, ſo daß ſie auf dieſem 
ſchwimmen koͤnnten wie Holz, und daß ſie von ſelbſt, bei gewoͤhn⸗ 
licher Temperatur, ſogar mit dem Waſſer ſich entzuͤndeten, da 
wuͤrde man damit verlacht worden ſein. Ein Metall und dabei ſo 
leicht zu ſein, das ſtand mit dem fruͤher feſtgeſtellten Begriff, den 
man mit dieſer Art der Koͤrper verband, in einem ſo großen und 
entſchiedenen Widerſpruch, daß man im Voraus lieber wuͤrde geneigt 
geweſen ſein, den leichten Grundlagen der Erden und Alkalien ihre 
metalliſche Natur abzuſprechen. Wer koͤnnte aber dieſes, wenn er 
nur einmal das aus ber Kalkerde hergeſtellte Calcium, das aus 
dem Kali gewonnene Kalium ober einen anderen Körper biefer 
Art gefehen hat. Die filber= oder zinnweiße Sarbe, welche einige 
von ihnen, der ftärkere oder fchwächere .metallifche Glanz, den alte 
zeigen, die Eigenfchaft, fih mit dem Quedfilber oder mit einem 
Metall von ihrer eigenen Familie und felbft mit Spießglanz, Zinn, 
Wismuth, Blei zu verbinden (zu amalgamiren), ihre Schmelz. 
barkeit, ja bei einigen die Geſchmeidigkeit, fprechen zu deutlich für 
ihre metallifhe Matur. 

Man darf wohl fagen, daf kaum ein anderes Gebiet der Na- 
turwifienheit dem Antrieb, der zum Erkennen ‚bes rundes ber 
Dinge im Menfchengeifte liegt, eine fo mannigfache Nahrung bar 
biete, als bie Chemie ober Scheibetunfl. Eine fo jugendlich frifche 
Wißbegier, wie bie des Duval war, wuͤrde mit bemfelben regen 
SInterefie, mit welchem die alten Alchymiſten bie Wandlungen. ber 


- . vu. — — .. 





20. Die metallitchen Grunbſtoffe der Alkallen und Erden, 123 


in ihren giäfernen Retorten vermifchten, bem Feuer ausgeſetzten 
Stoffe, — ihr Zarbenfpiel, ihre Bewegungen — beobachteten, bei 
jenen Erfcheinungen verweilen, bie fih uns in ber unentbedten 
Welt ber Erd- und Kalimetalle fund geben, und wuͤrde mit Luft 
den Faden der Aehnlichkeiten folgen, der fih aus biefem Gebiet 
der Natur durch die anderen hindurchziehbt. Wir legen eine Kugel 
bes filberweißen, glänzenden Kalimetalles auf bie Oberfläche einer 
Quedfilbermaffe, der wir vorher durch Anhauchen eine Befeuch- 
tung mittheilten und alsbald fest fi die Kugel in eine drehende 
(rotirende) Bewegung und befchreibt zugleich eine Bahn auf bem 
Duedfüber, deſſen Oberfläche hierbei im erften Augenblid von dem 
Beſchlag der Keuchtigkeit rein geworben tft, jest aber dagegen fich 
von außen her mit einem anderen feinen Ueberzug bedeckt, der aus 
einer Verbindung von Kati mit dem anfängli von dem Queck⸗ 
filber, dann aus ber Luft angezogenen Waſſer, befteht. Die Ku- 
gel des Kaltums, das. bei der Bewegung befielben zum Oxyd (zum 
Kali) und feiner waͤſſerigen Verbindung (zum Hybrat) ‚geworben 
ft, befchreibt, fo wie ringe umher der Ueberzug anwaͤchſt, einen 
immer Sleineren, engeren Kreis und in dem Augenblid, in wel 
hem fie verſchwindet, ift das Qusdfilber ganz mit ber bünnen 
Lage bes Kalihydrats bededt. Wenn man eine Metalltugel der: 
ſelben Art auf das Waffer legt, dann geräth diefelbe alsbald in 
eine rafche Fortbewegung, babei entwidelt fi) große Wärme und 
eine röthliche Flamme, bei deren Verlöfchen eine Eleine, perlenklare 
Kugel zurüdbleibt, die jedoch gleich ‚nad ihrem Erfcheinen mit 
einem Inallenden Geraͤuſch fich zerſetzt. Das Kalimetall ift hierbei 
burch fein Verbrennen mit dem Sauerſtoffgas des Waflers in 
Oxyd (in Kali). verwandelt worden, und bie Erhigung hatte zugleich 
einen fo hohen Grab erreicht, daß felbſt das frei werdende Waſſer⸗ 
ſtoffgas (movon -fpdter) ſich entflammte. Bon ähnlichen Erſchei⸗ 
nungen ift die Oxydation mehrerer Kali: und Eifenmetalle begleitet 
und wir begegnen hier zum erften Male der Wirkfamkeit jener 
Naturkräfte, welche, wenn auch ber Urfache nach verfchieben, den⸗ 
noch nach einem und bemfelden Gefes felbit die. Bewegungen ber 
Weltkörper um ihre Are und in ihren Bahnen begründen. 

Noch raͤthſelhafter als die Natur und die Eigenfchaften ‚der 
bisher erwähnten Kali» und Erbmetalle erfcheint uns ein anderer 
metallifcher Körper: bie Grunblage des flüchtigen saugenfalgee oder 
Ammoniak, — deshalb Ammonium genannt Wir hielten, 
in Folge der bisherigen Erfahrungen, den. Grundfag feft, daß bie 
Metalle einfache, nicht weiter zerlegbare Srundfloffe oder Elemente 
feien, Hier, am Ammonium, finden wir auf einmal. ein Metall, 
das fich zwar in feinen Verbindungen mit dem Quedfilber und 
den Kalimetallen. als wirkliches Metall ermeift, melches aber zus 
gleich einer Polarifation, einer Zerlegung in zwei geſchlechtlich fich 
"intgegenftehende Stoffe, den Stickſtoff und Waſſerſtoff, fähig iſt. 
Welche Ermeiterungen, melche Veränderungen mögen noch unferen 


128 20. Die metallifchen Grundſtoffe der Albalien und Erden. 


Anſichten über bie Elemente und den eigentlichen Grund ihres 
Auftretens fo wie ihres feften Beharrens in ber Körperwelt bevor- 
ftehen, davon die Wiſſenſchaft in ihrem jegigen Zuftand noch Feine 
Ahnung hat! 

Die metalliihen Grundlagen ber Alkalien und alkalifchen 
Erden unterfcheiden ſich auch dadurch von den eigentlihen Mes 
tallen, daß fie in reinem Zuftand ober felbft in dem der Vermen⸗ 
gung des einen von ihnen mit dem anderen fi nirgends da er- 
haften koͤnnen, wo Waſſer oder Luft mit ihnen in Berührung 
tommen, fondern fie müffen in biefem Halle alsbald mit bem 
Sauerſtoffgas ſich verbinden (oxydiren.) Hierinnen find fie ſchon 
dem Waſſer, jenem bedeutungsvollen Element, verwandt, das 
uͤberall bei den Vorgaͤngen des organiſchen Lebens ſo wie den po⸗ 
lariſchen Spannungen der unorganiſchen Koͤrperwelt als Vermitt⸗ 
ler und Theilnehmer eintritt. Denn auch jener Grundſtoff des 
Waſſers, welcher in dieſem den gleichen Gegenſatz mit dem Sauer⸗ 
ſtoff bildet, als das Metall in den Oryden: das Waſſerſtoffgas, 
kann ſich in reinem Zuſtand in der Außenwelt nicht leicht erhalten, 
ſondern wird bald wieder in Verbindung mit dem Sauerſtoffgas 
zu Waſſer. 

Waſſer auf der einen und die Erdveſte der Gebirge, an die 
ſich das ganze bewohnbare Land anſchließt, auf der anderen Seite, 
bitden die Oberflaͤche unſerer Erde. Das aber, was ber Erdveſte 
ihren Hauptbeſtand, dem Meere ſeinen eigenthuͤmlichen Gehalt 
giedt, ſind die verbrannten Maſſen oder die Oxyde der Erd⸗ und 
Kalimetalle, oder, mit anderen Worten, die Erden und Alka⸗ 
lien ſelber. Die Thonerde, mit der ſpaͤter zu erwaͤhnenden Kie⸗ 
ſelerde, iſt ein Hauptbeſtandtheil der Ur- oder Hochruͤckengebirge, 
aus Kalkerde beſteht ein unermeßlicher Theil der Gebirgszuͤge, der 
Huͤgel, ſo wie des ebenen Landes, das Mineralkali oder Natron 
erfuͤllt als Hauptbeſtandtheil des Kochſalzes das ganze Weltmeer, 
ſowie die Salzſeen und Salzlager einzelner Laͤnder. Selbſt in dem 
Reiche der organiſchen Natur: in den Pflanzen⸗ wie in den Thier⸗ 
koͤrpern werden die Kalkerde und die Alkalien gefunden, jene ſelbſt 
noch im menſchlichen Leibe zum Knochen geſtaltet, waͤhrend von 
den Alkalien das Natron, in Form des Kochſalzes, den Saͤften 
beigemiſcht iſt; ſtatt des Natrons oder Mineralkalis kommt in ben 
meiſten Gewaͤchſen das Pflanzenkali vor. 

Eben ſo wie ſich an den Metallen dieſer Ordnung ein außer⸗ 
ordentlich ſtarker Zug zum Sauerſtoff kund giebt, wird auch noch 
an ihren aus der Verbindung mit dem Sauerſtoff entſtandenen 
Oxyden derſelbe Zug gefunden. Und zwar In geſteigertem Grabe, 
indem er nicht. mehr an dem. feineren, Iuftartigen Sauerſtoffgas 
feine Befriedigung findet, ſondern ftatt feiner nach den ſchon groͤ⸗ 
ber Lörperlihen Säuren gerichtet if. Das Orpd bes Kalkmetalles 
iſt der ägende oder fogenannt ungelöfchte Kalt, bie Oxyde des’ 
Kaliums ober Natriums find bie aͤtzenden Kalten, Der gebrannte 








21. Em Kapktel über die Reinlichkeit. 127 


oder ungelöfchte Kalk zieht nicht nur das Waffer mit einer ſolchen 
Heftigkeit an, daß hierbei eine große Dise ſich erzeugt, fondern 
auch die Koblenfäure, oder, mit noch größerer Begierde die Schwe⸗ 
fel=, die Phosphor: und Flußſaͤure; fehr häufig wird er auch mit 
der . Riefelfäure (nad) Cap. 23) vereint gefunden. Das Oxyd bes 
Natriums: das aͤtzende Mineralkali oder Natron bat bei feinem 
polarifhen Deryortreten in der irdiſchen Körperwelt Gelegenheit ges 
funden, fid mit einem Stoffe zu verbinden, von befien intereffan- 
ten Eigenfchaften wir in einem ber naͤchſten Eapitel fprechen mer: 
den: mit dem Chlor ober dem wefentlihen Element der Saly 
fäure. Ohne das Erzeugniß diefer Verbindung: ohne Kochſalz 
würde es um ben Haushalt bes einzelnen Menfchen, wie ganzer 
Staaten, übel beftellt fein. Ä 

Die Orpde ber Alkalien, ſowie ber vier alkalifchen Erden: des 
Kalte, Baryts, Strontians und Talks, haben vor ihrer Vers 
bindung mit dem Waſſer und ben verfchtebenen Säuren eine zer: 
flörende (aͤtzende) Wirkung auf die organifchen Körper, welche nas 
mentlicy bei dem Oxyd bes Barptmetalles fo weit geht, daß man 
daſſelbe in Beziehung auf den Menfchen und das Thierreich in bie 
Reihe ber lebensgefährlichen Gifte ftellen Tann. Die Oxpde ber 
anderen oben genannten Erden erhalten fih, wenn fie nicht erhigt 
werden, aud ohne eine weitere Verbindung mit Säuren und 
Waſſer ats felbitfländige Körper und zeigen keine aͤtzend⸗zerſtoͤrende 
Wirkfamkeit. | 

Selbſt noch in ihrem vielfach verhüllten und verkleidbeten Zus 
ftand mirten bie Metalle der Kalien und Ealifhen Erden mächtig 
aufregend in die Naturverhältniffe der Erde und ihrer lebenden 
Mefen ein, noch viel gewaltiger mußte ihre Wirkfamkeit fein, wenn 
fie einſt in reinem Zuſtand, in ihrer entfchiedenen metallifhen Pos 
larität hervortraten. Welche Glut der Wärme mußte bei ber Ver⸗ 
bindung der unermeßlihen Mengen bes Kalkmetalles mit bem 
Sauerftoffgas ſich erzeugen, welche Bewegungen mußten bei biefem 
Borgange in. ben einzelnen Theilen, ſowie in ber Gefammtmaffe 
ber Planetenoberfläcye erregt werden! Noch jest mag es in den 
Tiefen ber Erdveſte hin und wieder einzelne Maſſen der Erbmetalle 
geben, welche, bei dem Feftwerden ihrer Umgebung, von dem Zus 
tritt des Waſſers und der Luft abgefchloffen wurden, und die nun, 
wenn fih dem Waffer auf irgend eine MWeife Zugang zu ihnen 
eröffnet, jene Erderſchuͤtterungen, und, wo die Möglichkeit dazu 
da iſt, manche jener feurigen Durchbruͤche durch die obere Rinde 
bes Planeten bewirken können, die wir an ben Vulkanen ber Erbe 
kennen lernen. | 


2. Ein Capitel über die Reinlichkeit. 


Auf meiner Reife und während meines kurzen Aufenthaltes 
in Aegypten habe. ia öfters mit innigem Erbarmen bie Heinen 


128 21. Ein Eapitel über bie Reinlichkeit. 


Kinder der dortigen, in Noth und Elend ſchmachtenden Fellahs 
oder Bauern betrachtet. Diefe armen Kleinen faßen ganz nadt 
oder in einige Lumpen gehüllt vor den lehmenen Hütten und wa⸗ 
ren im Gefiht wie am ganzen Körper fo von Schmug bebedt, 
daß man ihre eigentliche Hautfarbe nicht erkennen konnte. Bor 
Allem hatte fi) an den Augenlidern und Augenwinteln der Staub 
und Schmug fo angeſetzt, daß die Augen felber dadurch in große 
Gefahr kamen, denn diefe fahen auch meift roch und entzündet 
aus und mochten fo ſchmerzhaft fein, daß die bedauernswuͤrdigen 
Kinder vor dem größeren Schmerz ben Eleineren, den ihnen die 
vielen Fliegen machten, die fih an ihre Augen festen, gar nicht 
zu bemerken fchienen, denn fie machten nur felten eine Bewegung, 
um dieſes Ungeziefer zu verfeheuchen; ihre halberblindetes Auge 
fhaute ſtarr und verlangend auf ben Fremden hin, ob ihnen die: 
fer vielleicht einen Biffen Brodes reihen möchte. ine mohlthäs 
tige europäifhe Dame hat mehrere folhe unglüdliche Kinder in 
ihre Pflege genommen, hat fie gewafchen, gereinigt und gekleidet, 
namentlid an die Reinigung der Augen große Sorgfalt gewendet, 
und die Kinder, ale fie aus dem Elend ihres Schmuges heraus 
waren, wurden fo hübfch, fo fröhlich und fo munter, daß man 
fie nad) wenig Wochen gar nicht wieder erkannte, 

Arn Waffer,. zum Reinigen ihrer Kinder und der Lumpen, 
welche dieſe bekleiden, fehlt es jenen aͤgyptiſchen Fellahs in ber 
That niht. Sie haben meift den Nil und feine Kandle, ober 
einen Theil des Sahres hindurch die Maffermaffen in ihrer Nähe, 
welche der. außtretende Strom in den Tiefen ded Landes zurüdläßt. 
Aber der fihwere Drud, der auf ihnen laftet, der Frohndienſt, 
faft fo hart, als jener, unter welchem einft hier die Seraeliten 
feufzten, macht fie für alle menſchliche Gefühle außer für das der 
täglichen thierifchleiblichen Bedürfniffe. und der Müdigkeit unem- 
pfindlich, fie denken nur an die nothdürftige Sättigung und Rube, 
fonft aber an keine weitere Pflege bes Leibes. 

Auch die Bebuinen, welche uns buch die Wuͤſte nad) dem 
Sinai und dann weiter nad) Akaba, fo wie jene, die une durch 
die MWüfte der Araba geleiteten, rieben ſich, mährend der Reife, 
meift nur mit Sand ab, flatt fih mit Waſſer zu waſchen; aber 
fie hatten bazu guten Grund, denn das Waffer in den Schläus 
chen, die ihre Kameele trugen, war ihnen kaum hinreichend zum 
Trinken -zugemeffen. Und wenn biefe Leute, auf benen kein fo 
hartes Joch druͤckt als auf den Agyptifchen Fellahs, fondern melche 
in ihrer Wuͤſte freier aufathmen und freier fich bewegen, eine Ge 
legenheit fanden, mit Waffer fi) zu reinigen, da benugten fie dies 
felbe gern; man konnte es den einzelnen Leuten dieſer Art, denen 
man begegnete, an ihrer Reinlichkeit anfehen, ob fie zu einem 
freieren, fich wohler befindenden Stamme oder zu einem dußerlich 
minder glüdlichen gehörten. i 

Ein mit Recht berühmter, sinfichtöwoller Gelehrter, J. Lie 








21. Ein Capitel über die Reinlichkeit. 129 


big in feinen chemifchen Briefen fpriht ben Sag aus: daß ber 
größere oder geringere Verbrauch der Seife einen Maaßſtab für 
den Wohlftand und die Cultur der Staaten abgeben Eönne, denn 
der Verbrauch diefes Neinigungsmittels „hängt nicht von der Mode, 
nicht von dem Kigel des Gaumens ab, fondern von bem Gefühl 
des Schönen, des Wohlſeins, der Behaglichkeit, welches aus ber 
Reinlichkeit entfpringt.” Ein Land, in welchem bei gleicher Ein: 
wohnerzahl ungleich mehr Seife verbraudht wird, als in einem 
anderen, berechtigt uns zu dem Schluſſe, daß der Zuſtand feiner 
Bewohner ein Außerlicy wohlhabenderer und gebildeterer ſei als ber 
Zuftand der anderen, bie von Seife weniger Gebrauch machen. 
Und nicht nur auf den Standpunkt der aͤußeren Eultur, auch auf 
bie tiefere innerliche Bildung des Geiftes und Herzens, auf das 
wahre Wohlbefinden des inwendigen Menfchen, läßt uns bie Rein- 
lichkeit im Aeuferlichen einen Schluß machen. Ein Gottesgelehrter 
bes vorigen Sahrhunderts fprach einmal die Behauptung aus, daß 
ein unreinlicher Menſch Fein guter Chrift fein und daß ein guter 
Chrift auch an feinem auswendigen Menfhen keine Unfauberkeit 
dulden Tonne. Und in der That jene Wahrheit: daß auch ber 
Leib des Menfchen dazu beftimmt fei, ein Tempel Gottes zu werden 
und zu fein, iſt unferer Natur nicht von außen als ein gegebenes 
Gebot aufgedrungen morden, fondern fie geht aus einem tiefen, 
lebendigen Bebürfniß unferes Weſens felber hervor, Es giebt Hüt- 
ten ber Armuth, In denen die größte Meinlichkeit herrſcht, weil in 
ben Herzen ihrer Bewohner ein Geift der Zucht und der höheren 
Ordnung maltet, und es giebt wohlgebaute Häufer, deren innerer 
Zuftand von dem Gegentheil zeugt. 

Zum Reinigen unferer Wäfche, unferer Zimmerdielen und vor 
Allem unſeres Leibes, gewährt die Seife eines der beſten, wirt 
famften Mittel. Sie felber befteht zwar ſchon aus der Verbindung 
eines ägenden Laugenfalzes mit einem öligen ober fettartigen Stoffe, 
aber bie ägende, auflöfende Eigenfhaft wirkt aus ihr noch, immer 
fo träftig hervor, baß fie eine Verunreinigung mit allerhand or- 
ganiſchem Anflug und Abfag leicht hinwegzunehmen vermag. Nicht 
nur und, fondern fehon den Völkern bes frühften Alterthums ift 
beshalb der Gebrauch der Seife bekannt und ein mefentliches Bes 
duͤrfniß geweſen. Wir finden eine Erwähnung diefes Gebrauches 
fhon in den Schriften des alten XTeflamentes bei Jeremias 
Cap. 2 V. 22 und Maleachi 3. Cap. V. 2, Zu des tömifchen 
Naturforfchers Plinius Zeit nahm man, an, baß die alten Gallter 
unter allen Völkern bes Abendlandes zuerft bie Bereitung und An⸗ 
wenbung der Seife gefannt hätten (Plin. H. n. XXVIII, 12, 2) 
und auch für unfer deutfches Volk erfcheint ed, nach dem vorhin 
Gefagten, als kein unbedeutender Ruhm, daß zu jener Zeit Die 
Völker Italiens ihre Seife aus Deutfchland bezogen. Sind es 
doch jegt noch bie Nachkommen, ober wenigſtens in Beziehung auf 
die Wohnftätte die Nachfolger der beiden genannten Völker: bie 


9 


130 21. Ein Gapitel über die Reinlichkeit. 


Franzoſen, und unter den deutfhen Stimmen bie reinlihen Nie 
berländer und Bewohner ber Norbfee-Küftenländer, welche im all- 
gemeinen Verbrauch jenes Reinigungsmitteld allen anderen Völkern 
von Europa vorangehen. 

Nicht nur den höheren Ständen, fondern auch dem Volke bes 
Mittelftandes hat ſich, bei allen gebildeten Völkern, der Gebraudy 
ber Seife unentbehrlich gemacht. Als deshalb einft buch die flarke 
Auflage, welche auf dem Gewerbe der Seifenfieder und dem Ber- 
tauf ihrer Arbeit laftete, der Ankauf der gebräudlichen Seife für 
das ärmere Volt fehr erfchwert war, da erfanden ſich die Lanb- 
leute in England ein Erfagmittel aus der Afche des Farrnkrautes, 
beren ausgelaugte Potafche fie mit thierifhem Fett zu einem guten 
Reinigungsmittel verbanden. 

Ehen fo, mie diefe englifchen Bauern, benusten fonft, und be- 
nugen zum Theil noch jest unfere Seifenfieder das Pflanzenkali 
zur Bereitung ber Seife. Man gewinnt biefes dadurch, dag man 
die Afche verfchiedbener Gewaͤchſe auslaugt, und dann bie Lauge 
abdampft, bis zulegt ein blaulich oder graulich weißer Bodenfag 
zurücbleibt, der unter dem Namen ber Potafche bekannt ift. Aus 
fehe vielerlei Arten von Gewaͤchſen, Bäumen, Gefträuchen und 
Stauden, aus der Afche unferes (vornämlidy des harten) Brenn: 
holzes wie aus der der Weinranken und des Strohes läßt ſich diefe 
bereiten, und in folhen Ländern, in denen noch meit ausgedehnte 
Maldungen den Boden bededen, deren Holzüberfluß großentheils 
unbenugt verfaulen müßte, verbrennt man ganze Maffen des bei 
uns fo Eoftbaren Holzes, nur um aus der Lauge der Afche den 
am leichteften verfendbaren Gehalt der Potafche herauszuziehen. 
Auf ſolche Weiſe erzeugte man früher und zum Theil noch jest in 
Nordamerika. eine ungemeine Menge von Potafche, von melcher 
jähelih nur allein über Neuyork 20 bis 30,000 Faͤſſer nah Eu- 
ropa ausgeführt wurden. Eben fo lieferten die Walbbiftricte bes 
euffifhen Reiches ſo mie Norwegens große Maffen von Potafche, 
und auch in Deutfchland wie anderwärts bereitete man fie aus der 
Aſche der Herbfeuer und großen Heizflätten der Fabriken in nicht 
unbedeutender Menge. Aber die Potafche ift Eein veines Pflanzen: 
kali, fondern fie enthält von bdiefem aufs Höcfte nur 60 bis 
63 Prozent, ja weniger als die Hälfte ihres Gewichtes, denn außer 
dem Waffer und der Kohlenfäure, welche in die Verbindung ein- 
gingen, enthält fie erdige Theile, vornämlich Kiefelerde und Schwer 
felfäure. Auch fteht die Seife, die man unmittelbar mit ber 
Zauge der Holzaſche (dem Pflanzenkali) bereitet, an Feſtigkeit und 
Güte jener weit nach, melde mittelft des Mineralkalis gewonnen 
wird, weshalb man aud der Mifhung ber Holzafchenlauge und 
des Fettes, wenn man fie zu Seife einfott, um ihr mehr Seftig- 
keit zu geben, Kochſalz zufeste, defien Mineraltali oder Natron 
fi zum Theil mit dem Fette verband, während feine Salzfäure 
ſich mit dem Pflanzentali der Lauge vereinte, 





21. Ein Capitel über bie Reinlichkeit. 131 


Man Eennte fi indeß diefe Mühe erfparen und obendrein 
noch eine viel beifere Seife fi verfchaffen, wenn man gleich von 
vor herein eine Auflöfung bes Natrons flatt der Holzaſchenlauge 
verwendete. Dieſes Eräftig aͤtzende Laugenſalz ift, wie fchon er⸗ 
waͤhnt, in unermeßlicher Menge auf der Erde vorhanden, denn 
mit dem Chlor verbunden bildet ed bad Koch⸗ und Seeſalz, durch 
welches das Gewäfler ber Meere zur- falzigen Fluth wird, Aus 
jedem Pfund des Seewaſſers laͤßt fih, wo nicht geoße Klüffe in 
der Nähe ihren Auslauf nehmen, durch Abdampfen ein Loth und 
darüber an Kocfalz gewinnen, und wo das Klima dies erlaubt, 
bedarf man zu dieſem Gewinnen des Salzes Feines Lünftlichen 
Feuers, fondern nur der Einwirkung der Sonnenwärme auf das 
in feichten Buchten oder in kuͤnſtlich angelegten Gräben ftehenbe 
Seewafler. Und nicht nur bas rer, auch bas Land, in den 
Lagern feiner Gebirgsarten, enthält ungeheure Maflen von Koch⸗ 
falz, welches theild duch, Auswaſchen aus den mit ihm verbunde- 
nen Thon und vormaligen Meeresfhlamm, fo wie in volllommen 
reinem Zuſtand gewonnen wird. 

Aber al? dieſer Reihthum an Natron des Kochfalzes wäre 
für fi allein weder den Seifenfiedern nocd den Glasfabrikanten 
benugbar, denn es ift mit dem Chlor ( Salzfäure) verbunden, und 
muß erſt mit vieler Arbeit aus dieſer Verbindung hervorgezogen 
werden. Darum erhielt man früher die Soda oder das unge 
teinigte Minerallali auf anderen leichter gebahnten Wegen, Daf 
felbe wird in einigen Ländern, namentlich in Aegypten, an ben 
dortigen Natronfeen, fo wie in Ungarn, im Bihorer Comitat, 
zwifhen Debreczin und Großwardein und an anderen Galzfeen, 
als tohlenfaures Natron ‚gefunden, welches ſich ziemlich leicht von 
dem ihm beigemifchten fchmwefelfauren Natron und Kochfalz reinigen 
läßt und von feiner. Koblenfäure eben fo wie der Eohlenfaure Kalt 
und die Potafche durch die Hitze befreit wird. Aber auch ein Theil 
des Pflanzenreiches bietet im feiner Afche dem Menſchen das Mi: 
neralkali oder die Soba dar. Diefes find vor Allem einige Fa- 
milien. ber am Meeresftrand oder auch auf falzreihem Boden man- 
her Binnenländer vorlommenden Gewaͤchſe, namentlih die Sals 
ſola⸗ und Salicornienarten, fo wie manche Seegräfer ober Tang⸗ 
arten. Durch bad Verbrennen biefer Pflanzen und das Auslaugen 
ihrer Afche erhält man in den fpanifchen Küftengegenden eine folche 
Menge Soda, daß davon jährli viele Schiffsladungen (meift 
nah Holland) ausgeführt werben. Eine nicht minder große Aus⸗ 
beute au Soda gewinnt man auf bie gleiche Weiſe in Sizilien unb 
vornämlid auf der einen Inſel Ufticaz bei Aftrachan fo wie 
felbft am der normwegifhen Küfte laugt man die Afche der See 
tangarten auß, 

Der menfhlihe Verſtand und feine Erfindungsgabe follte 
übrigens nicht auf halbem Wege fliehen bleiben; mas die Natur⸗ 
Eraft im lebenden Körper der. Pflanze that, die Ausfcheidung. bes 


9 * 


132 21. Ein Capitel über bie Reinlichkeit. 


Natrons im Seeſalz aus feiner Verbindung mit bem Chlor, follte 
auch feiner Kunft gelingen. Wie einft die Noth das Landvolk in 
England zum Auffinden eines. Stoffes in den Wurzeln der Farın- 
kraͤuter hintrieb, der bei der Seifenbereitung bienen Tonnte, fo 
leitete die Noth die Gewerbsteute Frankreichs auf einen Weg zum 
Gewinnen bes reinen Natrons, welcher zwar nicht unbelannt, bis 
dahin aber noch wenig betreten war. Frankreich, das Vaterland 
der großartigften Seifenfabritation, hatte jährlich zunaͤchſt aus Spa- 
nien um 20 bis 30 Millionen Franken Soda bezogen, obgleid 
der Preis für den Gentner nicht über 24 bis 30 Fr. betrug. Als 
aber während bes Krieges, den Napoleon mit England angefangen 
hatte, die Zufuhr dieſes Stoffes großentheils abgefchnitten war, da 
mußten viele Seifen- und Glasfabriten ihre Arbeiten einftellen, 
und ber Preis für Seife wie für Glas flieg zu einer unverhältnif- 
mäßigen Höhe. Aber wenn au nicht der freie Verkehr auf dem 
Meere, war doc das Meer felber dem erfindungsreihen Volke ge: 
blieben, Man wußte ſchon Iängft, daß man aus dem Kochfalz 
dadurch das Natron gewinnen könne, daß man bie Salzfäure def 
felben durch eine flärkere Säure austreibt, Wenn man 100 Pfund 
Kochſalz mit ohngefaͤhr 80 Pfund concenteirter Schmefelfäure ver- 
mifcht, dann entweicht das Chlor in Dampfform, und es bleibt 
fehmefelfaures Natron ober Slauberfalz zurüd, Auch diefe neue 
Berbindung des Natrons mit der Schwefelfäure wird dadurch ge= 
trennt und aufgelöft, daß man Potafche, noch beffer Kreide, mit 
dem Glauberſalz vermifcht und diefe Mifchung in einem Reverberir- 
ofen fo lange der Erhitzung ausfegt, bis die Mafje weich zu wer- 
den anfängt, wo fie dann auf eifernen oder fleinernen Platten 
herausgezogen und zerftüdt wird, Statt der Kreide allein Tann 
man aud dem Glauberfalz vier Sünftheile Kreide und zwei Fünf: 
theile Kohle zufegen. Die Kohlenfäure, welche in der Kreide mit 
Kalkerde verbunden oder bei dem anderen Verfahren duch ben 
Sauerftoff, den fie der Schwefelfäure entzog, gebildet war, vereint 
fi bei diefem Verfahren mit dem Natron, während bie Kalterbe, 
ber die Kohle ebenfalls ihren Sauerftoff entriffen hat, und die hier- 
durch in metallifhen Zuſtand zuruͤckgekehrt ift, zum Schwefel 
Kalkmetall wird, welches fchmwerauflöslich im Waffer if. So war 
auf einmal eine Weife gefunden, das Natron, flatt ed von aus: 
wärts ber zu beziehen, im Lande felber zu gewinnen, und flatt 
daß während ber Hanbelöfperre ber Preis für das Kilogramm Soda 
auf 160 Fr. geftiegen war, ſank er jest fogleich für das reine, 
Tohlenfaure Natron auf 80, fpäter fogar auf 20 Fr. herab. 

Das, was man erft in neuefter Zeit als einen ergiebigen Ne 
bengeminn bei jener Natronbereitung fchägen gelernt hat: das 
Chlorgas, war für die Sodafabriten anfangs eine höchft laͤſtige 
Erfcheinung, und ift ihnen diefes zum Theil noch. Da wo biefes 
Gas den Defen und Schornfteinen jener Fabriken. entweicht, ver 
breitet es allenthalben Tod und Verderben in ber Pflanzenwelt, 








21. Ein Capitel über die Reinlichkeit. 133 


macht jebes Blatt, jedes grüne Gras welken und abfterben. Auch 
für Thiere und Menfchen ift die Wirkung jener Dämpfe ſchaͤdlich 
und beläftigend, doch wiffen die Legteren dem verderblidhen Einfluß 
auf ihren eigenen Leib eher zu begegnen als Ihn von ber Pflanzen- 
welt abzuhalten. Dan hat deshalb bie Gebäude, welche zur Soba- 
bereitung aus Kochſalz und Schwefelfäure dienen, wo möglidy in 
unbemwohnte und unangebaute Gegenden verwiefen -und im. füdlichen 
Frankreich hat man fie in die öben Gebirgsfchluchten von Septieme 
verlegt, deren dürrem Boden ſchon an fi Fein grüner Halm 
entfproßt. 

Schon lange vor der Hanbelsfperre, um 1791, hatte derfelbe 
Chemiter, ber einige Jahrzehnde nachher den oben erwähnten beften, 
mwohlfeilften Weg zur Gewinnung bed Natrons für Alle eröffnete, 
Leblanc, zu St. Denis eine Sodafabrif errichtet, und war für 
dieſes nüsliche Unternehmen von dem Herzog von Orleans mit eis 
ner bedeutenden Summe unterftügt worben, Anjest haben außer 
Frankreich nody manche andere Länder an bem nüglichen Unters 
nehmen Theil genommen, und, um hier nur bie vaterlänbifchen 
zu nennen, fo find die Sodafabriten zu Schönebel bei Magdeburg 
und felbft die zu Wolfrathshaufen bei München in ihren Leiſtungen 
verhältnigmäßig hinter den franzöfifhen nicht zuruͤckgeblieben. 

Bei der Seifebereitung durch das Zufammenfieden eines Fettes 
mit der Auflöfung des Laugenſalzes muß, unter Einfluß der Hitze, 
das Fett erft mit Sauerfloffgas fich verbinden und zur Fettfäure 
merben. Denn der polarifche Gegenfag des Laugenfalzes ift die 
Säure, jeder Stoff, mit dem ein Kali oder eine kaliſche Erde ſich 
chemifch vereinen fol, muß zu ihr in das Verhaͤltniß einer Säure 
treten. In jenen Ländern, ba ber Deldaum gedeiht und feine 
Früchte reift, benugt man ſchon feit alter Zeit das Del flatt des 
thierifhen Fettes zur Seifenbereitung. Vormals, ehe Rußland 
feine Sränzen dem Zugang alles auswärtigen Verkehres verſchloſ⸗ 
fen hatte, bezog England aus jenem Reiche Hunbderttaufende von 
Gentnern an Zalg und Hanföl, anjegt führen ihm feine Schiffe 
Hunberttaufende von Gentnern an Palmbutter und Cocusnußöl zu 
und hiermit ein eben fo gutes, dabei feineres Material zur Seife⸗ 
bereitung als der ruffifhe Talg war. 

Noch erwähnen wir, dag in einigen Pflanzen die Lebenskraft 
einen Seifenftoff hervorbringt, der in feiner Zufammenfegung fo 
wie in feinen Eigenfchaften unferer tünftlichen Seife fehr ähnlich 
if. Namentlich findet fich diefer feifenartige Stoff in den Säften 
der Wurzel fo wie der anderen Theile des gemeinen Seifenfrautes 
(Saponaria ofhcinalis) fo wie einer Begonia, weldye unter bem Na» 
men der aͤgyptiſchen Seifenwurzel in: den Handel gekommen ift, 
und beren fehleimig -feifenartiger Aufguß zum Wafchen der Schafe, 
vor der Schur, empfohlen wird. 


134 22. Eine Augenfabrication im Großen. 


22. Eine Augenfabrication im Großen 


Das Auge ift des Leibes Licht, und wenn das Auge unklar 
ift und feinen Schein verliert, dann ift der ganze Leib dunkel. 
Ein mundervolles Glied ift das Auge in feinem ganzen Bau wie 
in al? feinen FEigenfchaften und Kräften. Durch die Eleine runde 
Deffnung (Pupille), welhe der Augenftern (bie Iris oder Regen- 
bogenhaut) wie ein blaulicher oder bräunliher Strahlenkreis ringe 
umher umfchließt, kann man hineinbliden bis zum tiefften Grund 
der inneren, bhinterflen Augenwand. Das, was uns aus biefer 
Tiefe faft filberartig weiß entgegenfhimmert, und was im Auge 
ber Kagen, fo vie mander anderen Thiere felbft bei Nacht (im 
Dunkeln) einen ſchwachen Lichtſchein von fich wirft, das iſt ein 
fihtbares Hervortreten des fonft Überall verborgenen Innerſten un- 
ferer leiblichen Natur: es ift das Mark des Sehnerven, das dort 
mit feinem zarten Röhrchen als Gewebe der Netzhaut fih aus 
breitet. Nirgends anders ald an dieſer Stelle des Keibes liegt ein 
Nerv, ein unmittelbarer Ausflug der Mafle des Gehirns und 
Ruͤckenmarks, erfennbar vor unferen Bliden dba; das Gehirn und 
Ruͤckenmark ruhen tief verfchloffen in dem Gewölbe ihrer Knochen 
fo wie unter der Dede des Fteifhes und ber Häute; auch in allen 
anderen Sliedern find die zarten Röhrenfädchen der Nerven verhuͤllt 
und verdedt von dem Fleifch der Muskeln und dem mehrfadgen 
Gewebe ber Haute. Hier ift es, mo das innere Licht des Leibes 
dem aͤußeren Licht der Welt entgegentommt, wo das Aeußere dem 
Inneren und das Innere dem Aeußeren bemerkbar und erkenn⸗ 
bar wird. 

Wenn mir den Bau des Auges etwas genauer betrachten, 
bann finden wir: daß der Lichtfehimmer, der von ber Netzhaut ber, 
aus dem hinterften, tiefen Grunde des Auges uns bemerkbar 
wird, fo wie der Lichtfirahl, der von außen binein bis auf ˖ das 
Nervenmark der Netzhaut fallt und hier das Sehen bewirkt, nicht 
nur fo, wie im Elaren Waffer eines Teiches, durch ein. einiges 
durchſichtiges Mittelmefen (Medium) hindurchgehen muß, fondern, 
gleichwie in den nachher zu erwähnenden achromatifchen Glaͤſern, 
buch mehrere. Denn zuerft nach vornen findet fich die durchfich- 
tige, waſſerhelle Hornhaut, deren gemölbtes Fenſter in die undurch⸗ 
fihtige, weiße Harthaut des Auges kunſtreich eingefügt ift, hinter 
biefer, zwifchen ihr und dem in feiner Mitte offenen Kreisgewoͤlbe 
der Regenbogenhaut (Iris) fteht eine waͤſſerige Fluͤſſigkeit, welche 
ſich duch die geöffnete Mitte (Pupille) der Iris. hinein, auch 
hinter diefer zwifchen ihr und der Kryſtalllinſe ausgießt, fo daß die 
Regenbogenhaut, ausgebreitet in diefer zarten Klüffigkeit, ungehemmt 
ben Bewegungen des Ausdehnens und Zufammenziehens ihres Ge⸗ 
faßgewebes obliegen, und hierdurch, wenn ein hellerer Lichtſtrahl 
eindringt, die Eingangspforte des Sehloches oder ber Pupille ver- 
engern und mehr verfchließen, wenn meniger Licht da ift, fie er 











22. Eine Augenfabrication im Gtofen. 135 


weitern und mehr eröffnen kann. Jenſeits biefer vorderfien Kam: 
mer bed Auges und ihrer mäfferigen Slüffigkeit, in welcher das 
Gewölbe der Regenbogenhaut fchwebt, folgt die feftere Kryſtalllinſe; 
im Auge des Menſchen ſo wie der vollkommneren Thiere eine von 
vorn nach hinten etwas platt gedruͤckte Kugel; im Auge der Fiſche, 
wo ſie durch's Kochen weiß und hart wird, ein faſt vollkommen 
runder Koͤrper. Auch dieſe iſt im geſunden Auge durchſichtig, ſo 
wie die halbfluͤſſige Maſſe, der ſogenannte Glaskoͤrper, welche den 
ganzen hinteren Grund des Augapfels ausfuͤllt, und in welche die 
Kryſtalllinſe, wie der Kern einer Nuß in dem Becher der halbge⸗ 
oͤffneten Schale, eingebettet liegt. Der Lichtſtrahl, wenn er von 
außen herein die fuͤr ſeinen Einfluß empfaͤngliche, ihn empfindende 
Netzhaut treffen, und hier ein Sehen bewirken ſoll, muß, abge⸗ 
ſehen von der feinen Haut, welche, gleich einer Kapſel, die Kryſtall⸗ 
linſe umſchließt und von ber haͤutigen Umgraͤnzung des Glaskoͤr⸗ 
pers vier durchſichtige Mittelweſen von verſchiedener Dichtigkeit: 

die Hornhaut, die waͤſſerige Fluͤſſigkeit, die Kryſtalllinſe und den 
Glaskoͤrper durchdringen. 

Dies iſt die Art, in welcher das Leben uͤberall zu Werke geht. 
Es iſt nur eine Seele da, welche, dem Leibe inwohnend, dieſen 
bildet und bewegt, buch ihn die Außenwelt ertennt und empfindet, 
aber biefe eine Seele erzeugt und bildet ſich in dem Stoffe ihrer 
Leiblichkeit eine große Mannichfaltigkeit von Gliedertheilen, davon 
jeder im Kleinen wieder das Verhaͤltniß der Seele zu ihrem Leibe, 
des Schoͤpfers zu ſeiner Schoͤpfung darſtellt, damit ſie, die Seele, 
in dene Reiche der ihr gleichgeſtimmten MWefen überall der wirkſame 
Grundton, Er aber der Schöpfer Alles in Allem ſei. 

Was das Auge für den einzelnen Leib eines Thieres oder 
Menſchen, das find bie Luft. und das Waſſer, in freilich viel ein- 
facherer Weife, für alle lebendigen Wefen der Erde. Wenn die 
Luft unklar und trüb ift, dann geht uns fogleich ein großer Theil 
bes Lichtes der Sonne und der Geftirne ab; der Nebel, der uns 
mitten am Tage oben auf ben Selfenhöhen der Alpen oder auf den 
Feldern des beftändigen Winters, auf ben Gletfchern überfüllt, 
maht und alsbald das MWeitergeben auf dem gefährlichen Pfad 
unmöglih, und ber Rauhdampf, der zumeilen bei ſtarken Aus: 
bruͤchen den tsländifchen Vulkanen entfteigt, wie felbft der Kohlen- 
dampf der Feuerherde der großen europäifchen Hauptſtadt London, 
macht es zumeilen unten im Thal und der Ebene, fo wie in den 
Gaſſen fo dunkel, daß man felbft am Mittag ein Licht anzlinden 
muß, Was würde aus uns, was würde aus ben meiften Thieren 
und Pflanzen, wenn unfere Planeten nicht diefe durchfichtige Hülle 
des Luftkreifes umgäbe, welche die Strahlen bes Lichtes wie der 
Wärme bis hinab zur tiefen Ebene hindurchlaͤßt; mas würde aus 
ben lebenden Bewohnern des Meeres, wenn nicht auch zu ihnen, 
durch die klare Fluth des Gemäffers, das Sonnenlicht hinabfchiene, 
oder felbft in große Tiefen wenigſtens hinabdaͤmmerte! 


136 22. Eine Augenfabricatien im Großen. 


Sonft ſieht es freilich unten in den Tiefen fehr dunkel aus. 

Die Luft kann allerdings beim Verbrennen ber Körper (wovon 
weiter unten die Rede fein wird) eine Sonne im Kleinen, eine 
Quelle des Lichtes und der Märme werden, aber für gewöhnlich 
gleichen dennoch das Waſſer wie die Luft nur einem Auge, das 
erſt durch ein Auferes Licht zu feinem Mitleuchten oder Sehen ge 
weckt und geftärkt werden muß; unten in bie. Höhlen, wie dies 
Baker erfuhr, als er ſich mit feiner Familie in der großen Höhle 
bei Levington verirrt hatte, bämmert Fein Strahl des Sonnenlichts 
hinein, obgleich der Strom ber Luft, ber fie erfüllt, mit feinem 
einen Ende von dem Tageslicht erhellt und erwärmt wird. Die 
größere Maſſe ber Gefteine, aus denen der Umriß unferes Planeten 
gebildet wird, wie der erdige Boden, der die Gebirgsarten bedeckt, 
ift für das Licht, menigftens für das unferem Auge bemerfbare, 
undurchdringlich — volllommen undurchſichtig. Denn die wenigen 
durchſichtigen oder durchfcheinenden Steine und Salze, welche es 
darinnen giebt, liegen meift fo in der dunkeln Maffe verborgen, 
daß kein Tagesſtrahl fie treffen kann. Das große Auge der Erde, 
der Luftkreis fammt dem Gewaͤſſer, hat fein Vermögen zur Auf: 
nahme und Verbreitung des Sonnenlichtes zunaͤchſt nur für bie 
lebenden Wefen der Erde empfangen, überall dahin, wo foldhe find, 
die des Kichtes bedürfen, reicht jenes: Vermögen, 
. Aber innerhalb der unduchfichtigen Mauern unferer Häufer 
giebt es auch lebendige Weſen, bie des Zageslichted bedürfen und 
am Sonnenfchein ſich erfreuen: das find wir und unfere Kinder, 
Wir haben uns die Häufer erbaut, damit ihr Dad) und ihre Wände 
gegen die Sonnenhige uns Schatten, gegen Regen, Wind und 
Froſt uns Schu gewähren follen, Bringen wir, außer ber Thüre, 
auch noch hin und wieder an den Wänden große Deffnungen für 
den Zutritt bes Tageslichtes an, dann dringen mit dem Lichte zu⸗ 
gleich die Hige oder der Wind, Regen und Froft herein, und wir 
find wie der Hamfter und die Hafelmaus, wenn fie fid). zur Win⸗ 
tereuhe anfhiden, genöthigt, alle diefe Deffnungen zu verfchließen 
und im Dunkeln zu bleiben. Wir müfjen daran denten, den 
dunteln Räumen unferer MWohnftätte ein Auge zu geben, welches 
das Lichf aufnimmt und nach innen hinein verbreitet. Ein Körper, 
welcher für das Licht durchwirkbar, für Luft und Näffe aber uns 
durchdringlich ift, und der felbft für äußere Wärme,. wenn nicht 
zugleich mit ihr ein Sonnenftrahl hereinfällt, ſchwerer zugänglich 
ift, wird am geeignetiten fein, unferen Zimmern und Kammern die 
Stelle der Augen zu vertreten. 

Das thierifhe Horn, in dünne Blätter gefpalten, läßt aller- 
dings das Tageslicht durchfcheinen; aber diefer Schein gleiht nur 
einer ſchwachen Dämmerung, und gar bald verändert fi) durch 
den Einfluß des Kichtes und der Witterung das. Horn fo fehr, daß 
es feine Durchfichtigkeit einbüßt. Dennoch hat es vor Alters hin 
und mieder an den Hüttenmohnungen hornene Fenſterchen wie. 





m | | — — — — — — — ——— — — 


a wma — wu 


22. Eine Augenfabrication im Großen. 137 


Laternen von Horn gegeben. Leichter iſt es ſchon den Bewohnern 
von Sibirien gemacht, wenn ſie ihre Wohnungen mit Augen ver⸗ 
ſehen wollen. In einigen Gebirgen jenes Erdſtriches giebt es große 
Maſſen einer Steinart, Glimmer genannt, welche ſich leicht in 
Tafeln und duͤnne Blaͤtter ſpalten laͤßt, und die, beſonders wenn 
ſie eine hellere Faͤrbung hat, in ziemlich hohem Grade durchſichtig 
iſt. Aber ſo große Stuͤcken des Glimmers, daß man Tafeln, 
mehrere Zoll groß, daraus ſchneiden koͤnnte, giebt es, außer Sibirien, 
doch nur an ſehr wenig Orten, und wenn man nur dieſen Stoff 
haͤtte, um unſeren Wohnſtaͤtten Licht zu geben, dann muͤßten mehr 
denn 99 Hunderttheile unſerer Haͤuſer ohne Augen bleiben. Dieſer 
Uebelſtand wuͤrde noch groͤßer werden, wenn man etwa ſtatt des 
Glimmers und des Hornes die ſchoͤn durchſcheinenden Schaalen 
der Fenſterſcheibenmuſchel (Placuna placenta) benutzen wollte, die 
ſich vorzugsweiſe in dem chineſiſchen Meere findet, denn dann 
koͤnnte, wegen der Seltenheit des Materials, kaum der hundert⸗ 
tauſendſte Theil der menſchlichen Wohnungen mit Augen verſehen 
werden. Andere, aus organiſchen Stoffen bereitete, durchſichtige 
Gegenſtaͤnde wuͤrde gar bald das Waſſer oder die Feuchtigkeit der 
Luft aufloͤſen und zerſetzen. 

Den Phoͤniziern, ſo erzaͤhlt man, gelang es zuerſt, eine Weiſe 
zu entdecken, auf welche dem uͤberall fuͤhlbaren, dringenden Be⸗ 
duͤrfniß abgeholfen werden konnte. Die Erfindung lag uͤbrigens, 
namentlich den Aegyptern, ſo nahe, daß dieſe die Glasbereitung 
vielleicht noch vor den Phoͤniziern moͤgen gekannt, und, wenn auch 
nur in einſeitiger Weiſe, geuͤbt haben. Denn die Glasflüffe, die 
man bei ihren vor 3 und vielleicht A SSahrtaufenden begrabenen 
Todten in ben Dumiengrüften findet, bezeugen es, daß die Aegypter 
uralte Meifter in jener Kunft waren, Es brauchte nur ber feine 
Sand des Nilchales mit etwas Minerallali ober Natron, das ſich 
an ihren Landfeen findet, und das man an manchen Stellen ber. 
nordafrifanifchen Küftengegenden, wie bei Tripolis (die Trona⸗Soda), 
von den. Felfen abkratzen kann, der Gluth eines ftarken Hirtenfeuers 
ausgefegt zu werden, und es bildete ſich eine Verbindung, in mel- 
her die Kiefelerde im Gegenfag zu dem Kali die Stelle der Säure 
(als Kiefelfäure) vertrat; diefe Verbindung war und ift das Glas. 
Und nicht blos Natron, aud das Pflanzenkali, als Potafche, ia 
als gemeine Holzafche, der Kiefelerde beigemifcht, und mit ihr dem 
Feuer der Verglafung ausgefegt, giebt ein mehr oder minder durch⸗ 
Iheinendes Glas. Denn zu ber Maffe, daraus man hin und 
wieder unfere buntelfarbigen Bouteillen fertigt, kommt kein reines 
Kali, fondern fie befteht zunaͤchſt (abgefehen von dem zuweilen 
nah Willkuͤhr dem Fluſſe beigemifchten Kochfalz oder Kalt) aus 
160 Theilen Holzafche,, 100 XTheilen Duarzfand und 50 Theilen 

aſalt. Wenn bei diefen Verbindungen der Kiefelerdbe mit bem 
Kali das legtere vorherefcht, wenn dabei zum Beifpiel vier Theile 
ügendes Laugenfalz auf nur einen. Theil Kiefelerde iommen, dann 


138 22. Eine Augenfabrication im Großen. 


entfteht die Kiefelfeuchtigkeit, welche im Waffer leicht auflöslich iſt. 
Zur Bereitung des eigentlihen Glaſes, wenn man dazu reines 
Kali anmendet, gehören 6 Theile Kiefelerde und ein Theil Kali; 
bem Fluſſe, der das fogenannte Spiegelglas geben foll, wird meiſt 
noch Salpeter und fo wie eine geringe Quantität des Graubraun- 
ſteinerzes (nah S. 110) beigemifcht und bei Fertigung des Flint 
glaſes wird felbft ein Eleiner Beifag von weißem Arſenik und ein 
größerer von rothem Bleioxyd zur Entfärbung (zum Klarmachen) 
der Maſſe zuträglich gefunden. 

Vor allen anderen Stoffen ift es, außer ber allenthalben in 
Menge verbreiteten Kiefelerde doch wieder das Laugenfalz und vor- 
zugsweiſe das Natron, welches ber menfchlichen Kunft es möglich 
macht, Licht in das Dunkel ber Wohnungen zu bringen und zu⸗ 
nähft für den überall fühlbaren, täglihen Hausbedarf Fenfter- 
fheiben zu bereiten. Diefe Anwendung ber alten Erfindung kann⸗ 
ten und übten ſchon bie Römer, wie dies die Entdeckung der ein- 
zelnen Senfterfcheiben an Häufern der Stadt Pompeji bezeugt hat, 
welche im J. 79 nad Chr. Geb. bei einem Ausbruch des Veſuv 
von einem Afchenregen überfluthet und begraben ward. Das Gas, 
in Tafeln geformt, läßt zwar, je heller es iſt defto befler, das 
Licht durch ſich hindurchwirken, kann aber gegen bie lichtlofe Wärme, 
etwa eines Ofens, in ähnlicher Weife einen abhaltenderen Schirm 
bilden, als die unducchfichtigen, nicht metallifhen Körper. Des- 
halb find in demfelben alle jene günfligen Eigenfchaften vereint, 
welche, wie wir ©. 136 fahen, ein mohleingerichtetes, zur Abwehr 
des Einfluffes der Witterung eben fo mie zur Mittheilung bes 
Lichtes geeignetes Medium haben fol. 

Schon durch ihre Anwendung zum Berfertigen ber Fenſter⸗ 
fcheiben, wodurch der größte Theil der menfchlichen Wohnftätten 
erft wahrhaft wohnlich und annehmlich wurde, hatte die Erfindung 
bes Slafes den Völkern der Erde einen hohen Vortheil gebracht. 
Jene Anwendung war in ihren Folgen ungleich bedeutungsvoller 
al& die anderen Benugungen der Glasmacherkunſt, zur Bereitung 
bunter Gtasflüffe, welche den Farbenreiz der Edelfteine nachzu⸗ 
ahmen ftrebten, ober zum Hervorbringen von allerhand Gefchirren, 
die ſich fchon durch die Leichtigkeit, womit man fie rein zu halten 
vermag, wie durch ihre Duckhfichtigkeit und Form, dem menfchlichen 
Haushalt empfahlen. Aber noch eine andere Anwendung der Kunft 
bes Glasmachens war einem fpäteren Zeitalter vorbehalten, welche 
nicht nur den Wohnhäufern ihre Helle gab, fondern dem Menfchen 
felber ein neues höheres Augenlicht brachte. 

Der erſte Schritt in diefem neuen Geblet der Erfindungen 
war der, daß man dem alternden Auge des Menfchen, auf künfts 
liche Weife die Kraft des jugendlichen Sehens zuruͤckzugeben lernte, 

Man erzählt, daß ein armer Sciffsjunge, bdefien Water ein 
Brillenmacher war, einftmals, als das Schiff, deſſen Küche er 
bediente, zu einer Handelsreiſe, am bie Weftküfte. von Afrika fich 





22. Eine Augenfabrication Im Großen. 139 


rüftete, als Mitgabe von feinem Vater, eine Parthie Brillen er 
halten: habe, mit der Weifung, diefelben in Liſſabon, wo dergleichen 
Waare in einigem Werth fand, zu verlaufen. Das Schiff wurbe 
durch Stürme verhindert, vorerft in den Hafen von Liffabon, wie 
die Abficht des Capitaͤns gemefen war, einzulaufen, es ſetzte feinen 
Lauf, ſpaͤter von befferem Wind begünftigt, nad Süden fort, und 
landete giüdtih an der Goldkuͤſte, welche das legte Ziel der Meife 
war. Der Tauſchhandel mit europäifhen Waaren, gegen Gold, 
Eifenbein und andere Koftbarkeiten ber heißen Zone, nahm feinen 
Anfang und hatte fich eines günftigen Erfolges zu erfreuen; nicht 
nur der Capitän und der Steuermann, aud mehrere Matrofen 
tamen täglich mit reicher Beute nach dem Schiffe zuruͤck; fie hat- 
ten ihre europäifhen Waaren gegen Dinge von vielfach höherem 
Werthe umgefest. Da fiel es dem Sciffejungen ein, aud mit 
den Brillen ans ber MWerkftätte feines Waters einen Handelsver⸗ 
fud) zu machen; er ging ans Land und hatte das Gluͤck, mit feiner 
neuen, von den Negern noch niemals gefehenen Waare ben Zutritt 
zu dem König des Landes zu finden. Er verdankte diefe Vergün- 
fligung einem alten Häuptling, ber im täglichen Dienfte des Koͤ⸗ 
nigs war; jenem hatte er, um ihm den Nugen feines Handels» 
artikels begreiflich zu machen, eine Brille auf die Naſe gefest und 
der Alte war dadurch auf einmal wieder eines Elaren Erkennens 
der nahen Gegenftände, mie in feinen jüngeren Sahren fähig ge 
worden. Aber auch der König felber, ein hochbetagter Mann, mit 
noch manchem feiner alten Freunde, bedurfte einer folchen Verjüns 
gung "und Wiederbringung bes erlofhenen Augenlichtes und war 
nicht wenig erfreut, als bie Kunft der Weißen ein Mittel dazu ihm 
darbot. Der ſchwarze Herrſcher probirte alle Brillen auf feiner 
platten Naſe; die Wahl fiel ihm ſchwer; er befchloß, diefe jungen, 
wunderbaren Augen alle für fi) und feine Freunde zu behalten, 
Durch ein Mißverfiändniß, das der Steuermann, welcher ben 
Dolmetfcher machte, entweder aus wohlmollender Abfiht für den 
armen Schiffsiungen ober zufällig veranlaßt hatte, war die For⸗ 
derung, welche der befcheidene Eigenthümer der Brillen für feine 
Waare machte, faft hundertfac größer zu den Ohren des Negers 
foniges gebracht worden. Dennoch befann ſich dieſer an Goldftaub 
und Elfenbein Überreihe Mann feinen Augenblid, den Preis für 
die Brillen, den man ihm angefest hatte, zu bezahlen. Vielleicht 
weil er in dem Wahne ftand, daß durch die kuͤnſtliche VBerjüngung 
der Kraft bes edelften Gliedes auch dem ganzen übrigen Leibe bie 
Kraft der Zugend wiedergebracht werden koͤnne. Der Schiffsjunge 
hatte unter allen Gefährten und Xheilnehmern jener Reife ben 
gluͤcklichſten, einträglichften Handel gemacht; er kam als ein nad) 
feinem Stande reichbegüterter Mann in das Haus feines Vaters, - 
des alten Brillenfchleifers, zurüd. 

Begreiflicher noch als die Sreube des alten Negerfürften über 
eine folche kuͤnſtliche Verjüngung feiner Augen, war: das Entzüden 


140 22. Eine Augenfabrication im Großen. 


jenes alten Brahminen, ale ihn bie treffliche Brille, welche ein 
Engländer ihm fchenkte, auf einmal wieder in den Stand fehte, 
die heiligen Bücher feines Geſetzes zu lefen, was er feit vielen 
Sahren nicht mehr vermocht hatte. Denn gerade bei ſolchem Ge 
(haft, wie das Bücherlefen ift, bemerkten die Alten, wenn ihnen 
auch für ferne Gegenftände noch immer ein weitreichender Blick 
blieb, die Abnahme der Sehkraft für nahe Gegenftände am ſchmerz⸗ 
lihften, und wenn der Greis, der keine Schrift mehr mit blofem 
Auge zu unterfcheiden vermag, feine Brille zu Hilfe nimmt, dann 
kann er auf einmal wieder leſen. Dennoch darf man in folder 
Hinfiht feine Anforderungen an die Kunft der Brillenfchleifer nicht 
fo weit treiben, wie jener Bauer, der auf einem Jahrmarkt ge 
fommen war, um bafelbft Allerhand für fein Haus zu Taufen. 
Er ftand an der Bude eines Brillenhändlers ftil und fah, wie ba 
mehrere Leute ihre Einkäufe machten. Ein Buch, mit feiner Schrift, 
wurbe ihnen hingegeben; fie festen eine oder die andere Brille auf 
und blidten bann aufmerkfam. in das Buch hinein. ‚Können 
Sie durch dieſe gut lefen?” fragte der Brillenhändler, und wenn 
der Andere die Stage bejahte, war ber Handel bald abgeſchloſſen. 
Da befam der Bauer Luft, fih auch eine Brille zu kaufen. 

trat an den Tiſch hin, nahm das Buch, feste eine Brille nad 
der anderen auf und blidite damit in das Bud, hinein, legte je 
Doc eine nach der anderen Eopffchüttelnd wieder aus der Danb. 
Der Kaufmann wollte ihm bei der Wahl zu Hilfe fommen, er 
bot ihm 'verfchiebene Brillen an, die er für die paſſendſten hielt; 
die Ausfage bed Bauern „ih kann dadurch nicht leſen“ bfieb je 
doc immer biefelbe. Endlich fragte ein Bürgersmann, ber von 
ohngefähr zu dem Handel gefommen war: „Freund! fagt mir 
doch, koͤnnt und verfteht ihre denn überhaupt zu leſen?“ „Ei, 
fagte der Bauer, ihre Narr, wenn id lefen könnte, würde ich mir 
feine Brille kaufen.“ 

So alltäglid). uns jest der Anblid und die Anwendung ber 
Brillen ift, war dennoch die Erfindung derfelben auch dann, als 
man das durchfichtige Glas fhon in Händen hatte, nicht fogleich 
gemacht. Zwar machte fhon ein Schriftfteller des alten Rom, 
Seneca, auf die Thatfache aufmerkfam, daß man durch eine mit 
Waſſer gefüllte Glaskugel die Buchſtaben eines Buches vergrößert 
fehbe und ein arabiſcher Scheiftfteller aus dem 1iten Jahrhundert, 
Alhazen genannt, weiß ed, daß man fi einer gläfernen Kugel 
dazu bedienen könne, um allerhand Beine Gegenflände im größeren 
Maapftabe zu fehen. Indeß war doc von diefer Wahrnehmung 
aus immer noch ein weiter Schritt zu thun zur Darftellung foldyer 
flachkugelig (conver) gefchliffenen Glaͤſer, welche auf viel bequemere 
und beffere Weiſe diefelben Dienfte leiften. Die Benugung biefer 
an einer oder an beiden Seiten erhaben geformten Gläfer zu Augen» 
gläfern ober Brillen haben die Staliener den neueren Voͤlkern ge- 
lehrt. Als der erfte Erfinder der Brillen wird ein toßcanifcher 











22. Eine Augenfabtication im Großen. 14 


Adeliger, Salvino degli Armati, auf der Inſchrift genannt, 
die fih auf feinem Grabſtein in der Kirche Maria Maggiore zu 
Florenz befindet. Er war im Jahre 1317 geftorben. Nach anderen 
Bengniflen gebührt aber au dem Dominicanermöndh, Aleran- 
der de Spina, welher 1313 farb, ein Antheil an dem Ruhm 
der Erfindung oder doch ihrer gemeinnägigeren Anwendung. Denn 
als dieſer Spina bei einem Manne eine Brille gefehen und bewun- 
dert, vergeblich aber nad) der Weife, fie zu verfertigen, gefragt hatte, 
begab er ſich felber an die Arbeit und Fam ohne meitere Anleitung 
auf den Einfall, in fchüffelartig vertieften (concaven) Schaalen, 
aus Stein oder Metall, mittelft eines feinen Pulver von Tripel 
ober Schmirgel einer runden Glasſcheibe durch ein länger fortger 
ſetztes Drehen (Abfchleifen) in der Heinen Schanle eine flachrund- 
lich erhabene (convere) Oberfläche zu geben. Zwei folche Gläfer, 
mit einer Randeinfaffung wurden anfangs, dem Abftand der Augen 
von einander entfprechend, an eine Muͤtze befeftigt, die man über 
die Stirne und bis an die Augen hereinzog, wenn man fich ber 
Brille bedienen wollte, und nad gemachtem Gebrauch wieder hins 
wegſchob, bald aber fügte man bie Släfer den beiden Armen eines 
Heinen aus Horn gefertigten Bogens an, befien Ausmwölbung ge 
rade auf die Nafe paßte und auf diefe ſich ſtuͤtzte. Es fcheint hier 
der Drt dazu zu fein, um Einiges über bie Einrichtung und bie 
Wirkung der Vergrößerungsgläfer und über ben Grund ihrer: 
Wirkung im Allgemeinen zu fagen. 

Außer der Eigenfchaft des Vergroͤßerns der Gegenftände Eennt 
Seder von uns an ben linfenförmig geftalteten Glaͤſern noch eine 
andere Eigenfhaft, vermöge welcher man ſich ihrer als Brenngläs 
fer zum Anzuͤnden von brennbaren Körpern bedienen kann: die 
Eigenfhaft, alle Strahlen, welche von der hellleuchtenden Sonnen 
feheibe auf verfchiedene Punkte der Glaslinſe auffallen, auf einen 
Punkt (den Brennpunkt) hinzuleiten. Je größer die Oberfläche 
eines Brennglafes tft, je näher vermöge der converen Geftaltung 
feinee Oberflähe der Brennpunkt an bdaffelbe herangerüdt Liegt, 
defto flärker ;ift feine Wirkung. Noch jest kann man diefe® an 
ben großen Brenngläfern fehen, welhe Tſchirnhauſen, ein 
beutfcher Edelmann aus der Oberlaufis, mittelft einer hierzu ein= 
gerichteten Mühle fchleifen ließ. Zwei bdiefer riefenhaften, mehr 
als centnerfchweren, etwa im J. 1686 gefertigten Brenngläfer be⸗ 
finden ſich noch jest in Paris, ihr Durchmeffer beträgt 33 Zoll, 
Die Brennweite des einen ift 7, die des anderen 12 Fuß. Ganz 
naſſes Holz entzünder fih, ja felbft im Waſſer liegendes Fichten- 
holz verkohlt augenblidliih, ein Metall ſchmilzt, Waſſer fiedet fo- 
gleich, wenn man all’ diefe Gegenflände in den Brennpunkt eines. 
foihen Werkzeuges bringt. Tſchirnhauſen hatte große Koſten auf 
Die Fertigung dieſer Brenngläfer verwendet, welche eigentlich Doch 
Leinen wefentlihen Nugen für die Wiffenfhaft brachten; er hätte 
diefelben Leiftungen ungleich leichter und wohlfeiler durch ein Brenn⸗ 


142 22. ine Augenfabricaston im Großen. 


glas von anderer Art bewerkfichigen können. Wenn man namlich 
zwei flachrundlich hohle Glaͤſer (aͤhnlich etwa den großen Uhrglaͤ⸗ 
fern) mit ihren Rändern zufammenfügt und den hohlen Zwiſchen⸗ 
raum berfelben mit Terpentin ausfült, dann erhält man ein 
Merkzeug, in bdeffen Brennpunkt die Wirkung der bier in’ eine 
gefammelten Sonnenftrahlen noch ungleich höher gefleigert ift als 
bei einer Glaslinſe. Zwei franzöfifhe Gelehrte, Briffon .und 
Lavoifier, haben im Sabre 1774 ein folhes mit Xerpentinöl 
gefülltes Brennglas gefertigt, welches vier Fuß im Durchmeffer 
hält und in feiner Mitte acht Zoll Dide hat. In Verbindung 
mit noch einer anderen gewöhnlichen Slaslinfe, welche zwiſchen 
jenes größere Werkzeug und feinen Brennpunkt geftellt, die Strah- 
"Ienmaffe deffelben auf einen näheren, engeren Brennpunlt verfam- 
melte, hatte das gefüllte Hohlglas eine folche ungemeine Wirkſam⸗ 
keit, daß man auch die ſchwerfluͤſſigſten Metalle durch daſſelbe 
fhmelzen konnte. Kupfermünzen, welche im Brennpunkt bes 
Tſchirnhauſiſchen Glafes drei Minuten bis zu ihrem Fluͤſſigwerden 
bedurften, ſchmolzen hier fhon in einer halben Minute, Eifen, auf 
eine Kohle gelegt, faft augenblidlich.: Kann doch im Kleinen fchon 
eine rundliche Flaſche, mit Waffer gefüllt, wenn die Sonne hin- 
ducchfcheint und der Brennpunkt einen brennbaren Körper trifft, 
etwas Aehnliches leiften, und man weiß, daß auf dieſe Weife Feuers⸗ 
brünfte entftanden find. 

Die alten Griechen, welche die Eigenfchaft rundlicher Kryſtall⸗ 
kugeln, dergleichen in manchen Flüffen gefunden werden (nament- 
lich als fogenannte Rheinkiefel im Rheine), leicht entzündliche Stoffe 
in Brand zu fegen, gar wohl kannten, bewunberten das Verhal⸗ 
ten ber Kryſtallkugel zu dem Feuer, das fie hervorruft, Sie felber 
bleibt kalt, während fie außer fich antere ‚Körper zum Gluͤhen 
bringt, Der Grund dieſes Verhaltens liegt übrigens ziemlih nahe 
und er wird und auch an der Betrachtung eines fogenannten 
Brennfpiegeld deutlich. Wenn man nämlid einem Spiegel oder 
einem fpiegelglänzenden Metalibledy die Geftalt eines flahen, wei⸗ 
ten Bedens gibt und daffelbe mit feinem Mittelpuntt in geraber 
Zinte nach der Sonne richtet, dann werden alle abgefpiegelte Strah⸗ 
len der flamnienden Sonnenfheibe, in umgekehrter Weife wie das 
Waſſer, das man in einen Trichter fchüttet, nad) außen in einen 
gemeinfamen Punkt verfammelt, der in gerader Linie mit der Mitte 
des Beckens liegt. Jeder einzelne Punkt des Brennfpiegeld wird 
hierbei von dem ihn treffenden Sonnenftrahle nicht ftärker erwärmt, 
ald irgend ein anderes Stud Metall oder Spiegelgla®, aber bie 
Kraft des von ihnen allen, nach einem gemeinfamen- Punkte bin 
zurüdgeftrahlten Sonnenlichtes ift fo groß, daß man im Brenn- 
punkt eines großen Brennfpiegels bie fehmwerflüffigften Metalle ſchmel⸗ 
zen und den Demant verflüchtigen (verglimmen laflen) kann. 

Bei dem durchſichtigen Glafe jedoch, dem man bie Linfenform 
ber Vergroͤßerungs⸗ und Brenngläfer gab, kommt ber .menfchlichen 





22. Eine Augenfabrication im Großen. 143 


Kunft vor allem eine mwefentliche allgemeine Eigenfhaft der durch⸗ 
fihtigen Körper zu Hülfe, bies ift die lihtbrehende Kraft 
derfelben. | 

Jedes Kind mag bie Bemerkung madhen, daß eine Stange, 
welche man in fhiefer Richtung in das Mare Waffer eines Teiches 
oder Fluſſes hineinftellt, wenn man fie darin von ber Seite her 
betrachtet, oben bei ber Oberfläche bes Waſſers wie gebrochen er= 
fcheint, ald ob fie aus zwei Stangenftüden beftände, davon das 
eine gerade bis an den Wafferfpiegel reichte, das andere aber, et⸗ 
was feitwärts von dem Ende des anderen, an demfelben Waffer- 
fpiegel begänne und zwar in abweichender Richtung, nicht in glei- 
cher Linie mit dem anderen ftehend, nad unten hin fic fortfegte, 
MWenn man auf den Boden eines Gefaͤßes irgend einen ſchweren, 
glänzenden Körper legt, dann ſich fo weit zurüdftelt, dag man 
jenen Körper .jenfeite bes Randes ber Gefaͤßmuͤndung nicht mehr 
fehen kann und nun Waffer in bas Gefäß füllt, da wird auf ein- 
mal ber glänzende Körper dem Auge wieder ſichtbar; es ift als 
fei er von dem Orte, wo er lag, weiter hinüber, nach der unferem 
Auge entgegengefegten Seite des Gefäßes gerudt, und doch ift dies 
nur fheinbar, er iſt unverrüdt an feiner. Stelle geblieben. Eine 
ähnlihe Taͤuſchung als in diefem Ball unfer Auge erleidet, wieder: 
fuhr dem holländifhen Seefahrer Berenz und feinen Leidensge- 
fährten, als fie das furchtbare Ungemad) einer langen Polarwinter 
nacht überflanden, und nun den wieder anbrehenden Morgen er 
lebt hatten. Die Sonne erfhien neunzehn Rage früher über dem 
Eis und den Schneefeldern bes Horizontes, als dieſes der genauen 
Berehnung nad) erwartet werben Eonnte; aber biefes Sichtbar- 
werden ihrer leuchtenden Scheibe, welche eigentlich noch unter dem 
Horizont fland, war. nur durd die Strahlenbrehung in ben dich⸗ 
teren Schichten der Atmofphäre veranlaßt worden. 

Wenn man, in oben erwähnter Weile, die Stange gerade 
flehend in das Waſſer ftellt und dann in gerader Linie von ihrem 
oberen Ende nad) dem unteren binabblidt, ba bemerkt man keine 
Brechung, bie Stange fegt fi für unfer Auge unterhalb dem 
Wafferfpiegel in derfelden Richtung fort, bie fie oben in ber Luft 
hatte. Jene gerabe Linie, die man ſich in Gedanken durch zwei 
durchſichtige Körper von verfchiedener Art und Dichtigkeit kann von 
oben nad unten gezogen denken, nennt man das Einfallslorh, 
Wenn nun ein Lichtfirahl, der von einem leuchtenden oder beleuche ' 
teten Körper ausgeht, in einer fchiefen Richtung unter einem 
größeren oder Eleineren Winkel von dem einen jener durchfichtigen 
Medien in das andere fich fortfegt, dann wird. er für unferen Augens 
fhein, wenn das zweite Mebium bichter ift ale das erite, in einer 
Richtung gebrochen, welche näher heruͤber .nach der geraden Kinie, 
die von oben. nach unten geht (nach dem Einfallslothe hin), gele⸗ 
gen iſt, wie aus jenem Beifpiel hervorgeht, beffen wir vorhin ers 
wähnten, wonach ein glänzender Körper, der an ber einen Wand 


144 22. Eine Augenfabrication im Großen. 


eines Gefäßes lag, nachdem man Waffer hineingefchüttet, auf ein- 
mal näher gegen die Mitte des Gefäßbodens hin gefehen wird. 
Das Umgekehrte wird ſich aber zutragen, wenn wir duch ein Ge 
faͤß blicken, beffen obere Hälfte mit Waffer, bie untere aber mit 
telft einer durchſichtigen Scheidewand getrennt, von Luft erfüllt if, 
Ein glänzender Körper, der auf dem Grunde dieſes Gefäßes, unten 
in der Iuftigen Hälfte liegt, wird uns, in einer angemeffenen 
Stellung unferes Auges von ber Linie, die wir uns von ob 
nach unten durch die Mitte des Gefaͤßes gezogen denken koͤnnen, 
herüber nad) dem bdieffeitigen Rande geruͤckt, mithin von jener Linie 
weiter entfernt erfcheinen. 

Wenn der abgefpiegelte Lichtftrahl eines von der Sonne be 
fhienenen Körpers aus dem Iuftleeren Raum einer Zuftpumpe in 
die gewöhnliche Luft unferer Zimmer fällt, dann erleidee er eine 
Brechung der zulegt erwähnten Art; umgekehrt, aus. der Luft ober 
aus dem Wafler in einen feften durchſichtigen Körper Übertretend, 
die entgegengefegte. Hierbei nun iſt es nicht die Dichtigkeit der 
Körper allein, welche den höheren ober niederen Grab der Bre 
chungskraft der Lichtftrahlen begründet, fondern hierauf hat bie 
Beſchaffenheit ihrer Grundſtoffe einen mwefentlihen Einfluß. Brenn 
bare Körper, welche bei ihrem ntzünden ein Quell bes Lichtes 
merden koͤnnen, üben auch auf das Licht, das durch fie hindurch⸗ 
wirkt, ben Eräftigften verändernden Einfluß aus: fie brechen bie 
Lichtftrahlen am flärkfien. Als der große Iſaak Newton aus 
der ſtarken Brechung des Lichts im durchſichtigen Demant den 
Schluß zog, daß bdiefer Stein der Steine, dieſer härtefte Körper 
der Erde, von brennbarer Natur, gleich dem Del und Wade ſei, 
und feine Vermuthung über die Verbrennbarkeit des Diamanteıd 
in feiner Optik öffentlich, ausfprady, wie mögen ihn damals manche 
ber gelehrten Zeitgenoffen verladht haben, und dennody bewährte 
ſich feine Anfiht bald hernach, als Kosmus IN. zu Zlorenz im 
Sabre 1694 im Brennpuntt eines großen Tſchirnhauſiſchen Brenn 
fpiegel® zum erften Mal einen Demant verbrannte. Wie der De 
mant, wie der Phosphor, der Schwefel, und mie bie Verbin⸗ 
dungen ber Kohlenfäure, fo wie bed Schwefels mit einigen Me 
tallen, wenn fie zur Durchfichtigkeit gelangen, unter allen feſten 
Körpern, fo zeigen [unter den tropfbar flüffigen die leicht ent 
zuͤndbar Atherifchen Dele, fowie der Weingeiſt, unter den luftartr 
gen Körpern das Waſſerſtoffgas oder die brennbare Luft die ftärkfle, 
firahlenbrechende Kraft. - 

Daffelbe, was nad) dem Augenfchein der Stange widerfaͤhrt, 
wenn wir fie in fohlefgeneigter Richtung ins Waſſer flellen, muß 
ſtch für jeden Lichtſtrahl zutragen, der aus der Luft in einen dich⸗ 
teren durchfichtigen Körper fällt, defien Fläche nicht gerade, ſondern 
tote bei der Glaskugel oder Glaslinfe bogig gekrümmt, flachrund- 
lich erhaben if. Die Lichtſtrahlen fallen nad) den Ranbdtheilen 
einer ſolchen Kinfe hin, je dünner biefe werben, immer ſchiefer auf 








22. Eine Angenfabrication im Großen: 145 


die Oberfläche auf, und werden nad) dem Geſetz, das bei dem 
Uebergange bes Kichted aus dem dünneren burchfichtigen Medium 
in das dichtere herrſcht, nad der Mitte bin (nad der Linie bes 
Einfallslothes, welche mitten durch die Glaslinſe geht) gebrochen 
oder gebogen. Bliden wir durch eine folche Kinfe hindurch, dann 
tommen nicht blos die unveränderten, gerablinigen Strahlen, die 
ein beleuchteter Körper mitten durch die Linfe fallen läßt, fondern 
auch jene zu unferem Auge, melde auf bie Erummablaufenden 
Slächen defjelben treffen, und der Körper fcheint uns in einem 
ausgebehnteren Verhältniß vergrößert. 

In diefer nur obngefähr angedeuteten Weife wirken denn bie 
tünftlihen Augen, welche ber Menfch feit der Anwendung des 
Glaſes zur Fertigung der Brillen und Vergrößerungsgläfer in feine 
Macht befommen bat. Nur in wenig Zügen wollen wir hier er- 
wähnen, zu welchem Umfange ſich das Erkennen der Sichtbarkeit 
für uns durch jene großen Erfindungen erweitert hat. 

Die ftrahlenfammelnde, vergrößernde Kraft der converen Brenns 
gläfer war laͤngſt befannt und für nähere Gegenftände benugt 
worden. Ein vergrößerter Körper erfcheint unferem Auge zugleich 
näher gerüdt; hatte man erft das Mittel gefunden, die vergrößern- 
den Glaslinſen auch zur Betrachtung weit entfernter Gegenftänbde 
fo anzuwenden, daß die in fie hineinfallenden und durch fie ger 
brochenen Strahlen eines Bildes ſich ungeflört durch das flärkere, 
von nahen Gegenfländen zurüdftrahlende Licht im Auge fammeln 
konnten, bann war dem menfchlichen Blicke wie dem menfchlichen 
Seifte die Macht verliehen, auch das räumlich Ferne (mie im 
Spieget der Geſchichte das laͤngſt Wergangene) in ein nahe Ge 
genwärtiges zu verwandeln. Der Ruhm der eigentlichen Erfin⸗ 
bung des Fernrohres zu Anfang des 17ten Sahrhunderte (1608) 
mag wohl dem Dans Lippershey, einem Brillenmacer zu 
Middelburg, gebürtig aus Weſel, nicht, wie man früher annahm, 
dem Zacharias Janſen gebühren. Ein Spiel der Kinder bes Ers 
fleren, welche einige von ihrem Vater gefertigte Brilfengläfer in 
eine papierene Röhre brachten und dadurch die MWetterfahne bes 
Thurmes fehr vergrößert fahen, fol, fo erzählt eine Sage, zur 
Entdedung geführt haben. Da die entfernteren Gegenftände ein 
ſchwaͤcheres Licht zuruͤckſtrahlen als die näheren, wird der Eindrud, 
den fie auf unfer Auge machen, durch das flärkere Licht aus ber 
Nähe eben fo überglänzt als das Kicht der Sterne von der aufge 
benden Sonne. Daher pflegen wir ferne Gegenflände, wenn wir 
fie deutlicher fehen wollen, ducch die hohle Hand zu betrachten und 
fhon die Alten beobachteten die Sterne lange vor Erfindung ber 
Kunft des Glasſchleifens durch große Rohre, damit beim Hindurch⸗ 
biden durch eine folche dunkle Höhlung das Licht, welches von 
anderen Seiten herkommt, vom Auge abgehalten, und diefes hier- 
durch zur ungeftörten Aufnahme ber Lichtftrahlen irgend eines ein- 
seinen Gegenftandes geſchickter werden möge. Soll man. bo nad) 


10 


146 22. Eine Augenfabrication im Großen. 


einer Behauptung, ſchon des früheren Altertbums, welche fi 
durch einzelne, freilich feltene Beobachtungen ber neueren Zeit als 
wahr erwiefen hat, von dem dunklen Grund eines tiefen Grube 
(Eifterne, Bergſchacht), ja nad ber eigenen Erfahrung. eined be 
rühmten Phyſikers felbft durch einen langen Rauchfang, ebenfo 
wie im dunklen Schatten einer Gebirgewand mitten am Zage 
Sterne fehen können *), weil die dichte Umfchattung, tw welcher 
der Beobachter fteht, die Strahlen der Sonne und der von ihr be 
leuchteten Erdoberfläche fo volllommen von dem Auge abhält, daß 
diefem felbft das Kicht eines großen Sternes mitten in ber gewoͤhm 
lichen Hehe, welche der Luftkreis am Tage hat, ohngefähr eben fo 
fihtbar wird, wie am Morgen in ber Daͤmmerung, noch ehe die 
aufgehende Sonne die Gipfel der hoͤchſten Berge beleuchtet hat. 
Kam jest in das Rohr, das dabei zugleich die Befefligung bei 
Glaſes in der rechten Entfernung möglich machte, noch ein flrah 
lenfammelndes conver gefchliffenes Glas, ja zu diefem noch ein 
zweites, nahe bei ber fogenannten Brennweite des erfteren ftehendes, 
welches das von jenem empfangene vergrößerte Bild noch einmal 
vergrößert an das Auge weiter gab, dann war das Mittel gegeben, 
entfernte Gegenftände eben fo groß zu fehen, als mären fie zwan: 
zig, ja dreißigmal näher an unfer Auge gerüdt worden. Da bie 
convere Linſe für fih allein das Bild der Gegenftände in umge 
gekehrter Stellung in das Auge bringt, fügte man anfangs zu dem 
Objertivglas, das am aͤußerſten Ende bes Rohres die Lichtfirahlen 
von außen aufnimmt, ein concav gefchliffenes Deularglas an jenem 
Endedes Rohres hinzu, in welches das Auge aus unmittelbarer Nähe 
hineinblidt. Diefes Ocularglad hat die entgegengefeste Wirkung 
der converen Linfe beim Auffaffen und Darftelen der Gegenftände, 
es giebt deshalb dem Bilde, das ihm aus dem Obiectipglas in 
umgekehrter Lage zugeſtrahlt wird, wieder feine wahre, aufrechte 
Stellung zuruͤck. Statt der Hohllinfe wendete man jedoch fpäter 
in den Sernröhren für irdiſche Gegenſtaͤnde mehrere, vieleicht 3 
oder 4 Deulargläfer an, durch deren Zufammenwirken ber Gegen 
ftand ebenfalls feine aufrechte Stellung für das Auge erhält, Zur 
Betrachtung der Geftirne gab man übrigens auch dem Augenglas 
die ſtark vergrößernde flachkuglige Form. 

Die Anwendung der Bergrößerungsgläfer zur Betrachtung 
fernftehender Gegenftände lag der menſchlichen Erfindungskraft fo 
nahe, daß jeder Sachverftändige, der .nur einmal ein Fernrohr ge 
fehben, oder von der Einrichtuug beffelben eine. deutliche Kunde be 
tommen hatte, fich felber ein. Fernrohr erfinden Eonnte. Mit Lip 
pershey faft zugleich trat baher fein Mitbürger und Kunftgenoffe 
Sanfen, ſowie fehon vorher mit. einem Mikroscop, mit den von ihm 
gefertigten Fernröhren auf, und es mar vergeblich, daß, wie man 


"IM. e. A von Sumboldt’d Kosmod S. 71 1.185. 


22. Eine Augenfabrication in Großen.’ 147 


fagt, Prinz Moriz von Naffau, welcher die Wichtigkeit der Ers 
findung für die Gefchäfte des Krieges erkannte, die Entbedung 
wollte geheim gehalten haben; ſchon im Jahr 1608 ward ein in 
Holland gefertigtes Fernrohr zu Fankfurt a. M. auf der Mefle zum 
Verkauf um ungeheueren Preis feilgeboten. Ein vornehmer Mann 
aus Ansbach, der Geheimerath Fuchs von Bimbach, hatte baffelbe 
gefehen und befchrieb nach feiner Zuruͤckkunft dem beruͤhmten Stern- 
fundigen, Simon Marius (Maier) zu Ansbach, die Einrichtung. 
Gewoͤhnliche Brillengläfer waren zu conver, bie Gläfer aber, welche 
Marius von flachrunderer Form in Nürnberg nad) feiner Angabe 
fhleifen ließ, thaten nicht die gehörige Wirkung, welche erſt duch 
Stäfer aus Venedig erreicht wurde, womit Marius jenes Fernrohr 
zufammenfeste, das ihm ſchon im November 1609 die vier Supiter- 
monde erfennen ließ. Aber in bemfelben Sahre feste ſich auch ber 
berühmte Galilei in Padua der Beſchreibung nah, die er in 
Venedig vernommen hatte, ein Fernrohr zufammen und bradıte es 
fpäter fo weit, daß einige der von ihm gefertigten Werkzeuge biefer 
Art eine mehr denn 60fache Vergrößerung gaben. Auch die Eng- 
länder waren fchon im 3. 1610 im Befig folcher, wahrſcheinlich 
ſelbſt gefertigter Fernroͤhre, daB fie die Supitermonde dadurd) er⸗ 
kennen konnten, wozu freilich keine fehr ſtarkwirkenden Werkzeuge 
nöthie find. in Jahr darauf (1611) gab ber große deutſche 
Mathematiker und Aftronom I. Kepler in einem befonderen 
Wert über diefen Segenftand die erfte genaue, firengmiffenfchaftlihe 
Anleitung zur Iufammenfegung eines eigentlihen aftronomifchen 
Sernrohres. | 

Der Antrieb zum Wiffen und zum Erforfchen der bis dahin 
unbefannten Wunder der fichtbaren Welt empfing feit biefer Zeit 
einen überaus mächtigen Auffhwung Was mag bad für ben 
waderen Marius eine Freude gemwefen fein, als er fah, daß, wie 
die Erbe einen Mond bei ſich hat, Jupiter von vieren derfelben 
begleitet werde; mit welchem Staunen und Entzüden mag Gali⸗ 
lei erfüllte worden fein, als er durch fein Fernrohr den Saturn 
betrachtete, und an den Seiten feiner Scheibe zwei Körper erblickte, 
welche er anfangs auch für zwei große, niemals von ihrer Stelle 
weichende Monde hielt, in denen man aber fpäter ein merfwür- 
diges Ringgewoͤlbe erkannte, welches einzig in feiner Art dieſen 
Planeten umgiebt und in fchneller Bewegung umkreiſt. Zugleich 
erfannte jener beruhmte Mann auch durch fein Fernrohr, daß bie 
Planeten Mercur und Venus, weil fie auf einem Theil ihrer Bahn 
jwifchen uns und der Sonne oder ſeitwaͤrts dieſer Linie ſtehen, 
zuweilen eben fo mie der Mond in Sichelgeftalt oder halbvoll, in 
zunehmendem wie abnehmendem Lichte erfcheinen koͤnnen, indem 
fie uns dann, mit dem von der Sonne beleuchteten Theil ihrer 
Kugel auch einen von der Sonne abgekehrten, unbeleuchteten Theil, 
und wenn fie genau in einer Linie mit uns und der Sonne ſich 
befinden, einmal, wie ber Neumond, nur die unbeleuchtete, das 


10 * 


148 22. Eine Augenfabricatton im Großen. 


andere Mal, wie der Vollmond, nur die ganz beleuchtete Seite 
zuwenden. Erhielt man doc jegt felbft über die Erkenntniß der 
eigentlihen Naturbefchaffenheit der Sonne ganz neue, unerwartete 
Auffhlüffe, als in den Jahren 1610 und 1611 faſt zu gleicher 
Zeit Chriſtoph Scheiner in Ingolſtadt, Johann Sabricius in 
Oftfriesland und Thomas Harriot in England mitten im dem 
einen Lichtquell der planetarifhen Welt dunkle Flecken entdedten 
und beobachteten. Diefe Flecken find, wie wir fpäter fehen werden, 
Erfcheinungen, welche fi) in dee Dunſthuͤlle des riefenhaft großen 
Sonnentörperd erzeugen. Sie ftehen nicht an einem Punkte der 
Sonnenfcheibe fill, fondern bewegen ſich über biefelbe von Met 
nah Oſt. Ein Sonnenfleden, welcher heute am Rande der leud- 
tenden Scheibe zum Vorſchein kam, hat fih nad) faſt 14 Zagen 
bis zum ganz entgegengefesten, öftlihen Rande fortbewegt, ver 
ſchwindet dann aus unferen Augen und kommt uns nad) abermals 
faft 14 Tagen von Neuem da, wo wir ihn zuerft fahen, zu Gefidt, 
woraus fhon bie eben genannten, erften Entbeder der Sonnen 
fleden den ganz richtigen Schluß zogen, daß die Sonne fich, eben 
fo wie unfere Erde, von Welt nad) Oft um ihre Are bewege; nidt 
aber in Zeit von 24 Stunden, fondern von faft vier Wochen, 
Mit welch' ungleidy edlerer, geiftig höherer Theilnahme empfing 
damals das gebildete Europa die Kunde von den Eroberungen, 
welche ber Antrieb zum Wiſſen am Sternenhimmel gemacht hatte, 
als in fpäterer Zeit die Zeitungsnachrichten von den Eroberungen, 
welche irgend ein kriegsluſtiger König in den Ländern feiner Nach⸗ 
barn erlangt hatte. 

Und dennod waren die herrlichen Entdedungen jener Zeit nur 
der erfte Anlauf zur Ermeiterung des menfchlihen Willens über 
die Natur des Sternenhimmeld. Mit welchem Entzüden wuͤrde 
ein Duval ben Beriht über Das vernommen haben, was unfere 
jegige Aftronomie über die Sterne weiß; den Bericht. darüber, daß 
ſich dort in jenen oberen, ferneren Regionen des Weltgebaͤudes 
Sonnen um Sonnen (wie unfer Mond um feine Erde) bewegen; 
daß nicht nur das bleihfchimmernde Licht unferer Milchſtraße aus 
den Strahlen von vielen Millionen weit entfernter Sterne beitehe, 
fondern, daß in unermeßbarer Ferne, jenfeits der Region. unferer 
Milchſtraße noch andere millionenftarke Deere von Sternen fid 
finden, deren vereintes Licht, aus folhem Abftande, nur nody wie 
ein Lichtnebel in unfer Auge fält. Denn bie Abftände felbft ber 
naͤchſten Firfterne von uns find fo groß, daß der Kichtftrahl, deffen 
Tortbemegung fo fchnell ift, daß fie in jeder Secunde gegen 
41518 Meilen durchmißt, den Weg von diefen- Sternen bis zu 
uns erft in 3, in 9 und 12 Jahren zuruͤcklegen könnte; ja aus je 
neu fernften Gebieten. des Meltenraumes, deren leuchtende Welten 
nnt nody wie ein kaum erfennbarer Schimmer in unfer Auge her 
eindämmern, würbe ber Lichtſtrahl erft nad) Sahrtaufenden bei uns 
anlangen koͤnnen. 


ww... — — — — .. 


vn TE O TE On oma TEE AO HE — nm — Wo TEO32392w a Tg — — ———— — —— — 


22. Eine Augenfabrication im Großen. 149 


Und einer nicht minderen Beachtung als dieſer Hinausblid in 
die unmefbaren Kernen des Sternenhimmels find. jene Wahrneh: 
mungen durd das afteonomifhe Fernrohr werth, welche man an 
den näheren Weltkörpern gemacht hat. Auf unferem Nachbar: 
planeten Mars laͤßt uns der Hindurchblick durd ‚gute Fernröhre 
die weißen Schneemaffen erbliden, womit fih, wenn es dort Win- 
ter ift, feine Polargegenden abmechfelnd bedecken. Wenn bei ihm 
die nördliche Halbkugel, auf dem einen Theil der jährlihen Bahn, 
der Sonne ſich zumendet, und wenn ed hierdurch Frühling und 
Sommer auf derfelben wird, dann flieht man den großen weißen 
Fleck auf ihr immer kleiner werden, denn der Schnee thaut duch 
die Sonnenmwärme hinweg. Aber zu gleicher Zeit tritt jest auf der 
füblihen Halbkugel des Planeten der Winter ein und die meiße 
Schneezone wird größer, breitet fi) immer weiter aus, und fo 
wieder umgekehrt, wenn die füdliche Halbkugel ihren Sommer, bie 
nördliche aber ihren Winter hat, fo daß man ed von ber Erde aus 
faft bemerken kann, wenn der Nahbar Mars einmal, etwa auf 
dee nördlichen Halbkugel, wo bei und Europa, Afien und ein 
Theil von Amerika liegen, einen recht lang anhaltenden ober einen 
milden Winter bat. Aber außer den Schneemaflen bemerkt man 
duch gute Fernröhre auf dem Planeten Mars audy die dunkel⸗ 
farbigeren Gebiete der wahrfcheinfichen Meere und die helfarbigeren 
der Feftländer, ja fogar die Wolken wollen einige Beobachter wahr⸗ 
genommen haben, fo daß man annehmen Tann, daß es auf dem 
Mars faft eben fo zugeht und befchaffen ift, wie bei uns auf Erden. 

Auf Jupiter und Saturn hat man aud durch die Fernröhre 
feltfame Entdedungen gemadıt, die ſich freilich mit unferen irdifchen 
Naturverhältniffen nicht fo aut zufammen reimen laffen, wie das, 
was man auf dem Mars fieht. Denn um die Oberfläche dieſer 
großen Planeten ziehen fi Gürtel von Wolken herum, welche 
niht wie unfere Wolken, heute kommen, morgen verfehmwinden, 
fondern, wie dies freilich für uns ein unheimlicher Gedanke ift, 
länger als Hundert Jahre, mit weniger Veränderung über denfelben 
Gegenden der Pianetenfläche ftehen bleiben, fo daß, wenn dort 
keute wohnten von unferer Art, mancher hochbetagte Greis, wenn 
er immer in derfelben Gegend bliebe, in feinem ganzen langen Le⸗ 
ben nur felten einmal die Sonne würde. gefehen haben. Defto 
weniger mögen ſich die Bewohner der Venus und des Mercur 
über vielen Negen zu beklagen haben, denn dort feheint es faft be⸗ 
ſtaͤndig heiteren Himmel zu geben. 

Eben fo, wie man feit ber Anwendung der Fernröhre, aus 
der Bewegung der Sonnenfleden über die Sonnenfcheibe hin bie 
Entdeckung gemacht hat, daß die fhöne Königin des Tages auch 
nicht unbeweglich feft und ſtille ftehe, fondern fid in faft 4 Wochen 
um ihre Are bewege, fo hat man, mit Hilfe: des Sernrohres, noch 
an vielen Weltkörpern unferes Sonnenfuftemes eine ähnliche Ents 
dedung gemacht, Mercur, Venus und Mars bewegen fi) auch 


150 22. Eine Augenfabrication im Großen, 


faft in derfelben Zeit einmal um ihre Are als die Erde; von einem 
Mittag bis zum anderen, haben die Leute dort, wenn da melde 
wohnen, auch nicht viel länger ober viel kürzer als 24 Stunden 
zu warten. Dagegen dauert auf Jupiter die Zeit von einem Mit: 
tag zum anderen nur 9 Stunden 56 Minuten, auf Saturn nur 
10 Stunden 29 Minuten 17 Secunden. Als ob diefer fchnelle 
MWechfel der Tageszeiten ein Erfag fein follte für den langfamen 
Wechſel der Jahreszeiten; denn auf dem Jupiter dauert die Zeit 
des Winters faft 6 Erdenjahre, auf Saturn gar fat 15 Erden⸗ 
jahre, während das luftige Völklein auf bem Mercur von Winters 
Anfang bis Frühlings Anfang nur gegen 3 Wochen zu warten hat, 
freilich aber auch eben fo geſchwind den Frühling in den Sommer, 
den Sommer in den Herbit muß hinüber gehen fehen. 

Der allernädjfte Nachbar an uns, der Mond, hat zwar ein 
eben fo langes Jahr als bie Erde, denn mit diefer zugleich legt er 
den Weg um die Sonne zurüd, dabei aber einen 28mal längeren 
Tag als wir; fo daß dort 14 Erdentage. lang die Sonne immer 
am Himmel fteht, dann aber aud, eben fo lang, auf ihm ein 
nächtlihes Dunkel herrſcht. Ueber die Naturbefhaffenheit dieſer 
naͤchſten Nachbarwelt, dahin ein guter Fußgänger, wenn es einen 
Weg zum Monde gäbe, und wenn er jeden Tag 10 Stunden weit 
ginge, fhon nach 28 Jahren (zu der Sonne erft nah 11000 Jahren) 
kommen koͤnnte, durfte man allerdings durch die Fernröhre bie 
meiften Anfihlüffe erwarten. Doch muß man diefe Erwartung 
auch nicht gar zu body fpannen. Der Mond ift 51800 Meilen 
weit von uns entfernt, wenn uns deshalb auch unfere Fernroͤhre 
eine taufendfache Vergrößerung gewähren, fo wird dadurch nur fo 
viel gewonnen, daß wir die Mondflaͤche glei wie aus einer Ent 
fernung von 50 Meilen überbliden. Bon dort aus Eönnte freilich 
£ein Luftfchiffer den Bewohnern der Erdoberfläche in ihre Senfter 
fhauen, wohl aber könnte man, bei vollkommen heiterer Luft, die 
Meere, die Seen, und Gebirgszüge unterfcheiden. Und darum 
weiß man, wie wir Dies fpäter befprechen wollen, von dem Mond 
gar viele merkwürdige Dinge, 

Durch) die neuen Augen, welche ſich der Menfc mit feiner 
großen Kunft aus dem Zufammenfchmelzen des Kalis unb der 
Kiefelerde gefchaffen, hat fich, wie wir fo eben fahen, fein Gefichte- 
kreis nad der Ferne hin um das mehr denn Zaufendfältige er 
weitert, und. ganz in demfelben Maaße hat ſich feine Sehkraft auch 
für das Nahe verſtaͤrkt. Wie der Glagfchleifer Brillen für ſolche 
Augen der alten Leute zu bereiten weiß, welche in der Ferne nod) 
gut, in der Nähe aber ſchlecht fehen, und zugleich auch andere 
Brillen, welche für Augen gemacht find, die in der Nähe gut und 
[harf, in. der Ferne aber fchlecht fehen, fo hat feine Kunft auch 
flatt der Teleſcope die Mikrofcope hervorgebracht, welche für die 
unmittelbar nahe liegende Körpermelt eine folche eindringende 
Schärfe haben, daß man Gegenftände durch diefelben deutlich er- 





22, Eine Augenfabrication im Großen. 151 


fennt, toelhe mehrere taufend Male feiner als ein Haar, viele 
hundert Male Eleiner als ein Sonnenftäubchen find, 

Wenn man an Menfhen, welche fehr Eurzfichtig find, den 
Bau und Umtiß des Auges genau betrachtet, und denfelben mit 
dem Bau und Umriß weitfichtiger Menfhenaugen vergleicht, dann 
wird? man bald bemerfen, daß die Eurzfichtigen Augen nad) vorn 
mehr gemölbt, von mehr erhabener Eugeliger Form, die fernfichtigen 
aber viel flachkugeligee gebildet find. Wenn beiderlei Arten ber 
Augen, die hoch- und rundgemölbten wie bie flachgemölbten, übrigens 
von gefunder, Eräftiger Befcheffenheit find, dann taugen bie erfteren 
beffer zum ſcharfen Sehen in der Nähe, die legteren aber mehr 
zum fcharfen Blil in die Ferne, Da das Menfhenauge bei zu: 
nehmendem Alter, wo überall die anfchwellende Fülle der Säfte 
fih verringert, einen Theil feiner Woͤlbung einbüßt (flacher wird) 
fommt es häufig vor, daß Leute, welche in der Tugend fehr Eurz- 
fihtig waren, bei zunehmendem Alter fernfichtiger werden, ohne 
daß babei ihr gutes Geficht für nahe Gegenftände allzufehr leidet. 
Dagegen müffen fehr weitfihtige Augen im Alter fih der Brillen 
bedienen, wenn fie einen nahen Gegenftand genau betrachten wol: 
len, und zwar einer folhen Brille, deren Glaͤſer conver gefchliffen 
find, während die Brillengläfer, mit denen der Kurzfichtige die ent- 
fernteren Dinge fehen will, etwas concav muͤſſen gefchliffen fein. 

Die Erfinder ber Zernröhre haben in der Geftaltung ihrer 
Stäfer die Form dee weitfichtigen, die Erfinder dee Mikrofcope bie 
Form der Eurzfichtigen Menfchenaugen nachgeahmt, Jene Mikrof 
cope, welche fhon vor dem Bekanntwerden des Fernrohres von 
Zacharias Janſen und feinem Sohne gefertigt wurden, leifteten 
deshalb zur Vergrößerung fehr Eleiner, naher Gegenftände bei wei⸗ 
tem nicht fo viel als die fpäter (etwa um 1660) von Hook zus 
‚„Tammengefesten, weil diefer faft Eugelig gebildete Glaslinfen dazu 
anwendete, während man ſich früher nur der flachkugeligen Conver- 
linfen bedient hatte. 

So hatte man nun auch Fünftlihe Augen, an denen die Vor: 
züge, welche das gefunde Eurzfichtige Auge durch feinen Scharfblid 
für ganz nahe Gegenftände befigt, um das Taufendfältige gefteigert 
waren, fo wie durch das Fernrohr der Scharfbli des fernfichtigen 
Auges. Seitdem hat fich dem Antriebe zum Erkennen und Wiffen 
eine Tiefe der Schöpfungen Gottes nach dem vorhin unbekannten 
Kleinen und Kleinften hin aufgethan, welche eben fo unermeßbar 
und voller Wunder ift, als die Welt der großen Dinge, deren Er⸗ 
tenntniß uns das Fernrohe auffchließt. In jedem Waflertropfen, 
in jedem von Auflöfung ergriffenen Stoffe der thierifchen oder ves 
getabilifhen Körper zeigt fi uns duch das Mikroſcop eine Thier⸗ 
weit, die an VBerfchiedenheit der Kormen und Arten wohl eben fo 
mannichfaltig fein mag als die Welt der großen Land» und Waf 
ferthiere, die wir mit bloßen Augen fehen. Allenthalben, wo nur 
eine nährende Slüffigkeit da iſt, regt fih Wahsthum, bewegt fich 


152 2%. Die Grundſtoffe der Säuren. 


ein Leben, felhft auf dem Schnee wohnen hin und wieder Millionen 
der mikroſcopiſchen Xhiere; ein Raum, fo groß als eine Quadrat 
linie ann viele Taufende derfelben umfaffen; ein Abftand, fo groß 
als die Breite eines Haares, ift für manche biefer Kleinften fo viel 
als für uns der Weg einer Viertelftunde; durch die feinften, zarteften 
Gefaͤßchen unferes Leibe, welche für das feinfte Haar zu eng wären, 
koͤnnten dieſe Thierlein eben fo ohne Anftoß hindurdy gehen, als 
wir duch die Thore und Straßen unferer Stäbte. 

Aber nicht nur in den größeren Räumen der Außenwelt, auch 
in ber Innenwelt unferes eigenen Leibes fo wie der Leiber der Thiere 
und Pflanzen hat man duch das Mikroſcop Dinge entdedt, von 
denen die Gelehrten der früheren Zeiten Leine Ahnung hatten. So 
die Geſtalt und Belchaffenheit der Kleinen, linfenförmigen Körnchen 
des Blutes, die feinen Röhrchen der Nerven, erfüllt von einer 
Fluͤſſigkeit, in welcher die Kräfte des Lebens al ihre Wunder mir- 
ten. Man erkennt durdy das Mikrofcop die Bewegung der nähren: 
den Säfte im ducchfichtigen Flügel einer Müde, den Bau der Ein- 
geweide im Leibe einer Käfemilde, den Verlauf der Mervenfäden 
und die Zufammenfügung der Muskeln im Fuße einer Spinne, 
die allmählige Bildung des Jungen im Ei eines Flohkrebſes. 

Diefes Alles iſt aus der Erfindung des Glaſes und ihrer im: 
mer weiteren Benusgung hervorgegangen, unfer Glas aber koͤnnten 
wir aus der Kiefelerde nicht darftellen, hätten wir nicht die Kalien; 
hätten wir nicht Potafche und Soda, oder das aus biefer in ge 
reinigtem Zuſtand hervorgehende Natron. So hängt felbft der 
Entwidlungsgang unferes Wiſſens und Forſchens an Fäden, deren 
letztes Ende ſich an ein Ereigniß Enüpft, welches vielleicht bei ei- 
nem Hirtenfeuer fich zugetragen hat, an deſſen Gluth ein Klumpen 
Natron aus einem aͤgyptiſchen Natronfee mit dem Sand ber 
MWüfte zu einer durchfichtigen Maſſe zufammenfhmolz. 


23. Die Grundftoffe der Säuren. 


Zum Theil find die Elemente, welche wir bier betrachten 
wollen, unter dem Namen der brennbaren Körper zufammengefaßt 
worden. Das Selen, mwelhes man hieher rechnet, bat nod 
mehrere Eigenfchaften mit den eigentlichen Metallen gemein, na= 
mentlich den metallifhen Glanz und die Schwere, welche viermal 
die bed Waſſers übertrifft. Durch andere Eigenthümlichkeiten nähert 
ſich daffelbe, mehr noch als der Arfenit, dem Schwefel. Als 
Stellvertreter von dieſem findet ſich daſſelbe in den Zellurerzen mit 
bem Zellurmetall und mit dem Eifen in einigen Schwefeltiefen 
verbunden, fo wie auch hin und wieder in Gefellfchaft bes vulka⸗ 
niſchen Schwefels. Wie alle Mitteliwefen in der Natur, die we 
ber recht das Eine noch das Andere find, fpielt das Selen in 
unferer irdifhen Sichtbarkeit eine fehr zweideutige Mole; feine 
Verbindung mit dem Wafferftoffgas ſcheint zu den ftärkften Giften 


23. Die Srundftoffe der Säuren. 153 


zu gehören und wir dürfen es keineswegs bebauern, daß das Se 
len fo felten in der Natur vorkommt. 

Ungfeich entfchiedener als der eben erwähnte Grundftoff hat 
dee Schwefel die Natur ber brennbaren Körper an fich genom⸗ 
men, auch behauptet diefer, fhon durch die Menge, in welcher er 
vorfommt, einen ungleich höheren Rang unter den bildenden und 
geflaltenden Mächten der Exdfefte Er findet fich in reinem Zu: 
ftand und in ganzen Maffen vor Allem in Stalien und Sizilien, 
fo wie in Spanien nnd Polen. Bei Scanfano in Toscana be: 
trug die Mafle des ausgegrabenen Schwefeld in 3 Monaten 4 
Millionen Pfund; Sizilien führte noch vor Kurzem alljährlich zwi⸗ 
(hen 20,000 und 30,000 Gentner aus; an den Kratern der Vul⸗ 
fane, namentlich in Südamerika und Java, fest er ſich in reinem 
Zuftand an; auch aus dem Schwefeleifen ( Schmwefelfies) gewinnt 
man ihn häufig. Der Schwefel vertritt bei feinen Verbindungen 
mit den Metallen die Stelle des Sauerftoffgafes und wo von bie 
fem irgend eine Gewichtsmenge hinreicht, um das Oxyd zu 'erzeu: 
gen, wird das doppelte Gewicht des Schwefels erfordert, um aus 
demfelben Metall das Schmefelerz hervorzubringen. Bei der Vers 
bindung "des Schwefele mit den Metallen wird in vielen Fällen 
eben fo ein Aufflammen von Licht wahrgenommen, wie bei dem 
Verbrennen dei Körper mit Sauerſtoffgas. 

Der Schwefel geht aber auch ſeinerſeits fehr leicht eine Ver⸗ 
bindung mit dem Sauerſtoffgas ein. Er entzündet fich bei der 
Berührung mit der Lichtflamme und wird nun zur fchwefligen 
Säure, deren erftidend= widriger Geruh uns Allen bekannt ift. 
Wenn fi) das Sauerftoffgas in noch größerer Menge mit dem 
Schwefel verbindet, dann entfteht daraus die Schwefelfäure des 
höheren Grades, welche in ihrem, von Waſſer gereinigten Zuſtand 
Vitriolöl genannt wird. In großer Menge hat ſich bie Schwer 
felfäure bei der Geſtaltung der Erdvefte gebildet und mit der Kalk 
erde fih zu Gyps verbunden; hin und wieder trifft man biefelbe, 
aufgetöft in Waſſer, in der Mähe der vultanifchen Krater an, 
Der Schwefel wird öfters unter den Beftandtheilen der Gewaͤchſe, 
ſehr beftändig felbft in dem Körper der Menfchen gefunden, wo er 
in den innerften wie in den äußerften Theilen — im Gehirne wie 
felhft in den Haaren — feine Beimifhung verräth. | 

MWefentlicher jedoch als der Schwefel gehört der Phosphor 
unter die Grundſtoffe des Körpers der Menſchen, fo wie der voll 
fommneren XThiere ; er ift in dee Maſſe des Gehirns und der Ner⸗ 
ven wie in ber Form der Säure mit Kalkerde verbunden, in den Kno⸗ 
hen vorhanden und Tann ſelbſt noch aus den flüffigen Ausfchei- 
dungen des Urins gewonnen werden. Kunkel, ein Scheidetünft- 
ler, welcher der Kunft des Goldmachens nachging, hat jenen merk: 
würdigen , leicht entzündlichen Körper entdedt, welcher, felbft ohne 
wirklich aufzuflammen, ben mit ihm beftrickenen Körpern die Eigen- 
Haft, im Dunklen zu leuchten, mittheilt. Der Menſch hatte ihn, 


154 23. Die Grundfloffe der Säuren. 


fo Tange fein Gefchlecht beitand, in dem Innerſten feines Leibes 
gehegt und mit ſich herumgetragen, von der Geburt an bis zum 
Grabe, ohne fich jemals diefes Befiges bewußt zu werden. So 
Vieles ift in und, geht mit und, von dem wir Nichts wiffen; 
1 tmenig fennen wir fogar in handgreiflich Teibliher Hinſicht uns 
felber ! 

In der außeren Natur wird der leicht entzündliche Phosphor 
nicht in reinem Zuftand, fondern nur in feiner Verbindung mit 
dem Sauerſtoffgas — als Phosphorfäure, und aud ale folde 
nit rein, fondern mit Metallen, wie 3. B. dem Blei, bem 
Eifen, und mit der Kalkerde vereint gefunden, Obgleich ex felbft 
unter den Beftandtheilen unfered Körpers vorkommt, kann er den- 
noch auf diefen als ftarkes Gift wirken. Eine fehr kleine Quan- 
tität des reinen Phosphors in den Magen gebracht, wirkt toͤdtlich. 

Der Phosphorfäure in mancher ihrer Eigenfchaften aͤhnlich 
ift die Fluß ſaͤure, die, mit der Kalkerde vereint, den meift bunt- 
farbigen Flußſpath, mit ber Thonerde und Kiefelerde den X%o: 
pas bildet, Die Natur ihrer Grundlage ift nod) wenig bekannt, 
eine ihrer augenfälligften Eigenfchaften ift die, daß fie die Kiefel- 
erde fehr ſtark angreift und auflöft, fo daß man namentlich mit 
ihr in Glas aͤtzen kann. Auch auf die meiften Metalle wirkt die 
Flußſaͤure als Auflöfungsmittel fo, daß man diefelbe, um fie rein 
zu erhalten, in Flaſchen von Platina oder Gold aufbewahren muß. 
Slußfäure, von einem höheren Grade ber Reinheit und Stärke, 
gehört zu jenen Körpern, welche Denen, die fie entdeden und auf 
finden, große Schmerzen und Gefahren bringen Eönnen. Wenn 
man nur die Spige einer Nadel in fie eintaucht und dann einen 
Finger damit berührt, wird eine fehlaflofe Nacht und ein leichter 
Bieberanfall davon die Folge fein, Wenn die Haut der Finger 
auch nur auf Augenblide den Dämpfen ber Flußfäure (Fluor: 
Mafferftofffäure) ausgefegt war, bilden ſich, nach heftigem Schmerz, 
eiternde Stellen und bösartige Schäden, welche nur ſchwer und 
langfam wieder heilen. Dabei nehmen felbft die umliegenden 
Theile der Hand die weiße Farbe des Todes an. 

Der Scheidefünftfee wird bei diefer, mie bei vielen anderen 
Gelegenheiten, daran erinnert, daß er durch feine Kunft die verhül- 
lende Dede hinmweghebt, unter welcher die Endpunkte des irdiſch⸗ 
koͤrperlichen Entftehens und Vergehens verborgen liegen: die ur- 
fräftigen Anfänge eines befonderen leiblichen Werdens, das fich 
nicht entfalten kann, ohne das ſchon Gewordene, welches in feine 
Nähe kommt, fo weit feine Macht an demfelben reicht, zu zer 
flören. Findet fi) doch felbft im. Waffer (nad) Cap. 25) ein 
Element, welches durch feinen polarifchen Gegenſatz in fo wohl 
thätiger Gebundenheit gehalten ift, daß es in diefem Verein zum 
Nahrungs- und Labemittel aller Lebendigen der Erde wird, Dies 
ſes Element, als Wafferftoffgas bekannt, giebt zum großen Theil 
den Früchten die Lieblichkeit ihres Gefchmades, dem Wein feine 





— — — wm — — — u. — —22 


23. Die Grundſtoffe der Saͤuren. 155 


erquickende Staͤrke; es iſt in den meiſten Speiſen, welche wir ge⸗ 
nießen, ein unentbehrlicher Beſtandtheil. Dennoch kann das Warp 
ferftoffgas, wenn es, aus feinen Banden entlaffen, als reines 
Urelement hervortritt, zu einer furchtbaren Macht werben, indem 
es, mit atmofphärifcher Luft vermifcht, an jedem Funken ſich ents 
zündet und gleich dem entzünbeten Schießpulver Alles um fich her 
in Slammen fegt und zerſchmettert. Selbft in feiner ungewöhn- 
tiheren Berbindung mit Kohle, Phosphor und Schwefel bildet es 
Euftarten, die beim Einathmen fchnell tödten können und aud in 
unvermifchtem Zuftand, flatt der gewöhnlichen Luft eingeathmet, 
nimmt ed dem Leben die Macht feines Fortbeſtehens. Es ift eine 
höhere Ordnung des Seins und Beſtehens, nad) welcher alle eins 
zelnen Dinge der Sichtbarkeit zu dem heilfamen Zweck ber Erhal⸗ 
tung und beftändigen Wiedererneuerung des Ganzen vereint find, 
Der Menfh kann durch feine Kunft jene höhere Ordnung verän- 
dern und bie Elemente von dem Geſetz, dem fie unterworfen mas 
ren, entbinden, aber dieſe Freigelaffenen find nicht mehr, wie bei 
ihrer Gebundenheit im Dienfte des Lebens, fondern jener auflöfen- 
den Gewalt, melde öfters ihren anftedienden Einfluß auch über 
die Elemente eines lebenden Körpers verbreitet, der in ihren Bereich 
kommt, indem fie auch diefe aus der Unterwerfung unter die Ge 
ſetze des Lebens und feines Bildungstriebes losreist. 

Von der Entbindung des Chlors ‘aus jenem Verein mit 
dem Natronmetall, welcher ald Kochfalz ein faft unentbehrlicher 
Beſtandtheil des menfchlihen Haushaltes ift, fprahen mir im 
Allgemeinen [on oben (S. 132). Wenn man in einer Retorte 
ein Gemiſch aus Kochſalz, Graubraunfteinerz und aus einer mit 
Waſſer verbünnten Schwefelfäure der Erhigung ausfegt, dann wird 
das Natronmetali mit dem Sauerftoffgas des Manganerzes vereint 
zum Oryd (zum Mineralalkali), welches alsbald von der Schwes 
felfäure in Befiß genommen wird, während das Chlor, aus fei- 
nem bieherigen Beſitz des Metalles durch die flärkere Säure ver» 
drangt, als ein dunfelgelber (fat zeifiggrüner) Dampf hervortritt, 
Obgleich ein brennende Wachslicht, das man in diefe Dampf: 
oder Gasart bringt, nicht verlöfcht, fondern mit rauchender Flamme 
darinnen fortbrennt, wirkt dieſelbe dennoch auf das Leben ber Thiere 
und Menfhen, welche fie einathmen, vernichtend; dieſe fterben 
augenblidlid davon und felbft dann, wenn etwas Chlorgad unter 
die athembare , atmofphärifche Luft gebracht wird, macht das Eins 
athmen eines ſolchen Gemiſches heftige Reizung der Luftroͤhre und 
druͤcende Schmerzen in der Bruſt. Viele brennbaren Körper, ſo⸗ 
gar die meiflen Metalle, entzunden fi), wenn fie in gepulvertem 


Zuſtand dem Chlorgas ausgeſetzt werden, von felbft in diefem, und 


verbinden ſich während des Fortgluͤhens mit ihm zu falzartigen 
Chlormetallen. Während uns bereitd manche der eben erwähnten 
Eigenfhaften an jene des Sauerfloffgafes erinnern, hat das Chlor 
gas auch darinnen Aehnlichkeit mit der Lebensluft, dag es, mit 


156 23. Die Grundftoffe der Säuren. 


Waſſerſtoffgas gemengt, eine Knallluft bildet, welche ſchon durch 
die Strahlen der Sonne mit zerfchmetternder Gewalt ſich entzün- 
det. Unter Einwirkung einer [hwächeren Tageshelle vereint es fid 
almählig mit dem Waſſerſtoff zu dem farblofen Chlorwafferftoff: 
gas, das mit aufßerordentlicher SHeftigkeit von dem gewöhnlichen 
Waſſer eingefogen wird und mit diefem eine der flärkften Säuren: 
die Salzfäure bilde. Man gewinnt diefe aud) mittelft der Zer- 
fesung des Kochſalzes durch Schwefelfäure unter allerhand dabei 
nöthigen Vorſichtsmaaßregeln. Unſer eigner, lebender Körper be 
darf folcher Vorrichtungen nicht; er entbindet in feinem verbor- 
gene Laboratorium dad Chlor aus dem Kocfalz und vermenbet 
dafjelbe zur Bildung eines Mifchungstheiles des Magenfaftes, wo 
es in einem vielfach gebundenen Zuftand zur Zerfegung der ge 
noffenen Speifen dient. 

Von geringerer Bedeutfamkeit in der irdifhen Natur als das 
Chlor find fhon wegen ihrer größeren Seltenheit zwei andere zu 
den Grundſtoffen gezählte Körper, welche ebenfalls das Meer zu 
ihrer vorzüglihen MWohnftätte haben: das Brom und das Jod. 
Das Brom findet fi, obwohl immer nur in ganz geringer 
Menge, mit dem Kochfalz verbunden, im Seewaffer und wird wie 
das Tod auch aus der Afche .einiger Seepflanzen gewonnen. Bei 
gewöhnlicher Temperatur der Luft bildet daſſelbe eine Fluͤſſigkeit, 
deren leicht ſich entmwidelnde, übelriechende Dämpfe eben fo mie 
das Chlor zur Berftörung thierifcher Anftedungsftoffe und ſchaͤd⸗ 
licher Dünfte, die in der Luft enthalten find, dienlich fein follen. 
Das Tod wird in verfchiedenen Seethieren und Seepflanzen, fo 
wie in einigen Mineralquellen gefunden, zeigt ſich beim Erhigen 
als veilhenblauer Dampf, beim Erkalten in Eleinen flahlgrauen, 
metallifch glänzenden Kryſtallen, welche beim Anfeuchten verdbun- 
ften und dabei einen Geruch von ſich geben, der jenem ded Chlor 
ähnlich if. Als Dampf eingeathmet, fo wie in größeren Gaben 
innerlich genommen, wirkt das Jod ale Gift, während es in klei⸗ 
nen Gaben ohne Nachtheil als Arzneimittel, 3. B. gegen Drüfen- 
leiden angewendet wird. Auch der brennbare Grundftoff der Bo: 
tarfäure, von den Chemitern Bor genannt, hat in der irdi- 
fhen Körpermelt eine fehr geringe Verbreitung und Wichtigkeit. 

Ein ganz anderer Fall ift diefes mit dem Grundſtoff jener 
Erde, melde einen der Hauptbeftandtheile unfrer Gebirge, und 
zwar den vorherrfchendften bilder: mit dem. Grundſtoff der 
Kiefelerde. Diefer erfcheint als ein bunkelbraunes Pulver, das 
fi) nicht fchmelzen läßt, an der Luft aber beim Erhitzen entzünd- 
kich ft und mit lebhafter Flamme verbrennt. Das fo entitandene 
Drnd, obgleich e8 auf unferee Zunge Eeinen fauren Gefhmad er 
regt, hat alle übrigen Eigenfchaften einer Säure und würde bei 
halb richtiger Kiefelfäure als Kiefelerde benannt werden. In ihrer 
polarifhen Stellung als Säure verbindet ſich die Kiefelerde mit 
ben verfchiebenften Erden und Alkalien, und ein großer: heil der 





== vw. E <a. = us .or 


u. TT = Ge SEE „3 vn — E - 7 — va BI vr. .“ 


wi: 


um m I —— En 02 Win or a my m. — . mn 


— 2 Rh, — — jo — ur — — J 


24. Die Schwefelſaͤure und die Salzſaͤure. 157 


Steinarten unferer Erdrinde gehört zu biefen Verbindungen. Der 
Menih hat, vie bereits erwähnt, feit alter Zeit dieſes Verhältniß 
ber Kiefelerde zu anderen Stoffen für feinen Haushalt benugt, in⸗ 
dem er aus der Zufammenfhmelzung bed Kiefeld mit Alkalien das 
Glas, aus der Vermengung beffelben mit ber Kalkerde den Mör- 
tel, aus der Verbindung kiesliger Theile mit thonigen und kalki⸗ 
gen allerhand feuerfefte oder fleinartig dichte Gefchirre für Küche 
und Keller bereitete. Auch unter den Elementen des Menfchenlei- 
bes kommt bie Kiefelerde, wiewohl in fehr geringer Menge, na⸗ 
mentlich im Haare vor, während fie ungleich allgemeiner und haͤu⸗ 
figer in verfchtedenen Pflanzenarten gefunden wird, So empfängt 
durch all’ diefe ihre Zufammengefellungen mit den anderen Grund» 
floffen der irdiſchen Körperwelt und durch all’ ihre Eigenfchaften, 
die Kiefelfäure oder die Kiefelerde eine ganz befonders hohe Widy- 
tigkeit und Bedeutung. In ihrem reinen Eenftallinifchen Zuſtand 
ale Bergkryſtall ift fie aber fo Mar und durchſichtig wie das Waf: 
fer; fo wie dieſes, das in vielen feiner Verbindungen mit anderen 
Srundftoffen ſich wie eine Säure verhält, iſt auch die Kiefelerde 
eine Säure, ohne fih in der Mehrheit ihrer finnlichen Eigenfhaf 
ten als eine Säure, nad unferm gewöhnlichen Begriff, kund zu 
geben. Jene Maſſe der Erdrinde, die dem Gemwäfler der Erde 
feine Grenzen und feinen Damm fest — das eigentliche Feltland 
der Oberfläche unfered Planeten — ift vorzugsmeife aus. Kiefel- 
erde gebildet, diefe ift in einem ihrer Buflände, den man als 
den uranfänglichen betrachten möchte, ein gallertartiges Wefen und 
als ſolches auflöslich im Waſſer. Sie ift daher in vielen Quellen, 
namentlich in den heißen, vorhanden, und mag vielleicht, mit dem 
Wafferdampf, der dem Boden entfteigt, einen Eleinen Mifchungstheil 
der Luft bilden, fo daß fie der Pflanzenwelt nicht allein aus dem 
Boden, fondern zugleich mit den anderen Luftarten, die ihr ald Nahe 
nungsfaft dienen, felbft aus der Atmofphäre zugeführt werben 
oͤnnte. 


24. Die Schwefelfäure und die Salzfäure 


In einer Beinen VBürgerfchule fragte der Schulinfpector die 
Knaben, wozu die Luft diene? welchen Nugen biefelbe in der ir 
difhen Natur habe? Der eine der gefragten Knaben war am 
Ihnelften mit der Antwort bei der Hand, er fagte: fie dient zum 
Abkühlen. Ein’ zweiter fagte: zum Anblafen des Feuers, und ale 
dem fragenden Herren auch diefe Antwort noch nicht genügte, 
ſagte ein dritter: die Luft treibt die Flügel der Windmühlen um, 
in denen das Korn gemahlen wird zum Brodbaden; ein vierter 
holte feine Antwort aus noch weiterer Ferne her, er ſprach: dis 
Luft führt die Schiffe Über das Meer. An das, mas am nädı 
ſten lag und zugleich das Bedeutendſte war, das man von bem- 
Nutzen der Luft. fagen konnte, dachte keiner der jungen Leute: 


158 24. Die Schwefelſaͤure und bie Salzſaͤure. 


daran nämlich, daß ohne die Luft die ganze Matur um uns ber 
ſtumm, kalt und tobt fein würde. Denn nur durch die Luft wird 
dir der Ton der Glocke vernehmbar, oben in den hödyften Höhen, 
dahin der Menſch kam, mo die Luft fihon ungemein dünn ift, 
höre man die Menfchenftimme bereits in der Entfernung von 
wenig Schritten nicht mehr; das Abfeuern eines Piſtoles giebt nur 
einen ſchwachen Hal und in dem volllommen Iuftleeren Raume 
kann fi) der Zon einer Schlaguhrglode nicht mehr hörbar ma- 
hen. Aber diefe Entbehrung für das Ohr, wenn es keine Luft 
um die Erde ber gäbe, waͤre noc immer das minder ſchwere Uebel. 
Das Yuge hätte dabei nicht minder, auf mehr denn eine Weiſe, 
zu leiden. Denn wäre kein Luftkreis um die Erde her, dann gäbe 
ed auch am Morgen wie am Abend keine Dämmerung, die uns 
nur daher kommt, daß die von der Sonne beftrabite Luft den 
Widerfhein des empfangenen Lichtes herab auf bie Erde fallen 
läßt; am Morgen, beim Aufgang der Sonne, würde die Zagee- 
helle, ohne fid) vorher anzumelden, plöglih in bie dunkle Nacht 
hereinbrehen und am Abend, wenn daß lebte Stüdchen des Son 
nenrandes unter den Horizont fänke, würde das Licht des Tages, 
ohne Abfchied zu nehmen, ohne uns noch einmal beim Scheiden 
aus den vergoldeten Wolken und aus dem Abendroth einen freund- 
lichen Blick zuzuwenden, in einem Nu von uns foheiden, und bie 
Zinfterniß der Nacht träte fo unangemeldet zu uns herein, daß 
der Wanderer auf gefaͤhrlichem Gebirgäweg, ohne den Fuß weiter 
zu feben, da Halt machen müßte, wo die Sonne feinem Auge 
untersing. Und auch diefes wäre noch immer nicht die fchredklichfte 
ber Folgen, welche das Dinwegnehmen ber Luft für uns Erden⸗ 
bewohner haben würde. Die Luft, und zwar vor Allem jener in 
in ihr enthaltene Grundfloff, den wir fchon öfter genannt haben 
und gleich nachher näher betrachten wollen: das Sauerftoffgas, hat 
für Alles, was ba lebet und webet auf Erben, noch einen viel me 
fentlicheren Einfluß und Nugen: ohne die Luft könnte namentlich 
fein Teuer noch Laͤmpchen brennen, kein Bier, noh Wein, nod 
Eifig werden. Und zwar nicht in dem Sinne, in welchem jener 
Sunge e8 meinte, als er fagte: die Luft diene dazu, das Feuer 
anzublafen, fondern weil das Sauerfloffgas der Luft zum Ent- 
ftehen der leuchtenden und wärmenden Flamme eben fo nothwen- 
dig ift, als das Aufgehen der Sonne, dazu, daB es auf Erben 
Tag werde. Dränge keine Sonne mit ihrer ſtrahlenden Macht in 
aunfere irdifche Welt. herab, dann hätten wir feinen Tag; bdränge 
nicht das Sauerſtoffgas mit feiner anzuͤndenden Kraft in die Maſſe 
des brennbaren (entzündlichen) Körpers hinein, um mit diefer ſich 
zu vereinen, bann gäbe es Fein Licht in unferem Zimmer, kein 
euer auf unferen Herden; aus Hopfen und Malz könnte ein 
Bier, aus dem Safte der Trauben kein Wein, aus ben Abgän- 
gen der mancherlei Naturerzeugnifte Fein Effig werden. Und auch 
hiermit wäre noch nicht Alles gefagt, was fich über den Mugen 





24. Die Schwefelfäure und bie Salzfäure, 159 


der Luft für die irdifche Natur anführen ließe. Nähme man uns 
die Luft, vor Allem das Sauerftoffgas, das in ihr ift, von dem 
Munde hinweg , fo wäre es bei dir und mir in etlihen Minuten 
mit dem Leben aus; Fein Froſch und kein Fiſch, kein Dachs uns 
ten in feiner Höhle und kein Vogel oben in den hohen Lüften fann 
leben, ohne Luft zu fchöpfen. Und nicht nur ohne den Sauer: 
ftoff, auch ohne den Stickſtoff der Atmosphäre, wenn er auf eins 
mal hinmwegtäme, würden wir und andere lebendige Wefen nicht 
beftehben können. Denn im Fleifche der Thiere, das mir genießen, 
wie in dem Brode, das uns nährt und in der Milch , die das 
Kind trinkt, in den meilten Labetränten, damit wie Alle ung er: 
quiden, ift der Stickſtoff ein gar weſentlich bildendes Element. 
So bient die Luft außer zur Abkühlung, außer zum Feuers 
anblafen, außer zum Bewegen der Windmühlen und Forttreiben 
der Schiffe gar nody zu vielfach anderem Nutzen, wie wir dies 
bald ausführlicher betrachten wollen. | 
Aber nicht bloß dann, wenn man manche Leute nad) dem 
Nugen der Luft fragte, würde man folhe ungenügende Antworten 
erhalten, fondern noch mehr würde das gefchehen, wenn man um 
den Nugen gemiffer anderer Grundfloffe und Körper ſich erkundi⸗ 
sen wollte. Hätte man vor mehreren Menfchenaltern auch einen 
gelehrten Mann, nicht bloß den Zögling einer Bürgerfchule, ges 
fragt: welhen Nutzen mag wohl die Soda (das Natron) in der 
irdifhen -Matur haben? — er würde kaum einen anderen bedeu⸗ 
tenden haben angeben können als jenen, den, wie wir oben fahen, 
die Seifen- und Glasfabricanten daraus ziehen. Seitdem aber 
die Scheidefunft e8 nachgewieſen hatte, daß das Natron einer der 
Hauptbeftandtheile des Kochfalzes fei, welches in der ganzen irdi⸗ 
[hen Natur, nicht nur im Haushalt des Menfchen eines der be⸗ 
deutungsvollfien Elemente ift, konnte man freilich auf jene Frage 
nod) eine ganz andere, vielumfaffendere Antwort geben. 
Bei ber Betrachtung ber wichtigften Eigenfchaften einiger ber 
im worigen Capitel erwähnten Säuren wollen wir und an einen 
ann erinnern, der von feinen feltenen Gaben eine zum Theil 
feltfame und dennoch gluͤckliche Anwendung gemacht hat. Diefes 
war der deutſche Arzt, Johann Rudolph Glauber, der im Jahr 
1604 zu Karlftatt geboren, gar vieles Herren Brod gegeffen hat, 
Indem er zuorſt nach den Niederlanden 309, dann aber feinen Pil⸗ 
gerſtab noch fehr oft weiter fegte, bald in Salzburg, bald in Frank: 
tt a. Main, im Kisingen und in Köln, fo wie noch an man- 
em anderen Orte fi aufhielt und zulegt im Jahr 1668 die 
Ruheſtaͤtte für feine viel gewanderten Gebeine in Amſterdam fand. 
Glauber hat bei feinen alchymiſtiſchen Verfuchen, welche auf nichts 
Geringeres als auf die Entdedung der Goldmacherfunft und eines 
Lebendelixires hinausgingen, eine fo vertraute Bekanntſchaft mit 
mehreren. der Träftioften Säuren gefhloffen, baß er durch ihre 
Dülfe der Wiſſenſchaft meht denn sine vorhin verborgene Tiefe 


168 24, Die Schwefelfäure und bie Salsfäure. 


aufſchloß. Wir wollen ed dem feltfamen Manne gern zu gute 
halten, daß er fih, wie viele andere feiner Zeit- und Kunſtge⸗ 
noffen, etwas hinreißen ließ von ber Lüfternheit nach den Früchten 
vom Baume bes Lebens: nad) dem Univerfalmittel, das gegen alle 
Krankheiten, ja wider den Tod felber helfen follte;s nad) dem Steine 
der Weifen, „durch den ſich Gold aus anderen Metallen und 
Srundftoffen fohaffen läßt.” Denn obgleih der Baum des Le 
bens vor feinen wie vor anderer Menfhen Händen wohl verwahrt 
blieb, hatte er doc auf dem Irrweg, ben er danach einfchlug, im 
Schweiß feines Angefihtes manches Brauchbare gefunden. Seine 
Verdienſte um die Scheidekunft erſtrecken fih bis herunter auf bie 
BVerbefferung der chemifchen Defen , fein gewandter Geiſt entdedte 
mandjerlei Mittel und Wege, durch welche dem Scheidekuͤnſtler feine 
Arbeiten erleichtert und austräglicher gemacht werden fonnten, Die 
eoncentrirte Schwefelfäure oder das Vitriolöl war unter den Stof 
fen, die der Chemiker zu feinem Dienfte braucht, einer feiner vertrau- 
teften Lieblinge, mit welchem er viel auszurichten pflegte. Unter an- 
derem fchüttete er jene ſtarke Säure auf Kochfalz und Waſſer; da 
entftand eine fehr merklihe Erhigung, die Vitriolfäure bemächtigte 
fi des Ealifhen Srundftoffes des Salzes, das Chlor aber, mit 
Waſſerſtoffgas zur Salzfäure verbunden, entwich in Dampfform. 
Nach diefer Austreibung eines Starken durch einen noch . Stär- 
teren blieb dem fleifigen Manne ein duch feine Kunſt erzeugtes 
Salz: das ſchwefelſaure Natron übrig, das berfelbe gegen man- 
herlei Beſchwerden und Leiden des menfchlihen Leibes mit fo 
günftigem Erfolge anmwendete, daß er, fo wie Andere, dem Salze 
den Beinamen eines ‚wunderbaren‘ gaben. Es ift noch jegt als 
Glauber's Wunderfalz („Sal mirabile Glauberi“) in Ehren und 
im Gebraud, und Viele meiner jungen Xefer werben dieſes zwar 
ſehr ſchlecht ſchmeckende, dabei aber gut wirkende Purgirfalz aus 
eigener Erfahrung kennen. 

Wir find bei diefer Gelegenheit auf eine Benutzung des 
Schwefels und feiner Säure zu fprechen gekommen, von welcher 
zwar fhon oben (©. 132) beiläufig die Rede mwar,. welche fidy aber 
dennoch, erft hier in ihrem ganzen Umfange überbliden läßt. 

Bet einer Frage Uber den Nutzen bed Schwefel würden wir 
von vielen unferer Landsleute, alten wie jungen, eben fo unge 
nügende Antworten erhalten, als bei dem oben erwähnten Eramen 
über den Nugen der Luft fi vernehmen ließen. Es würde nicht 
an Solchen fehlen, die keinen anderen Gebraud des Schwefels für 
die menfhlihen Gewerbe anzugeben müßten als den: daß man 
Schwefelhoͤlzchen damit bereite, daß man die Zäffer, in welche der 
Wein, oder an manchen Orten auch das Bier gefüllt werden fol: 
len, damit außfchmwefle, oder daß man.den Schwefel zur Bereitung 
des Schießpulverd gebrauche. Diefen Angaben würden dann 
manche befjer Unterrichtete noch hinznfügen, daß die Schwefelfäure 
in der Särberei zum. Auflöfen des Indigos, fo wie zur Sertigung 





24. Die Schwefelſaͤure und bie Saizſaͤure. 161 


bes Ätauns und des Kupfervitrioks, von den Deffäutereen zum 
Entfchleimen des Oels angewendet werde, auch würden Etliche es 
wiffen, daß man, wie wir dies’ oben atiseinander festen, mit ber 
Schwefelfäure das Natron für die Fabrication der Seife und bes 
Glaſes gewinne. | 
Dennoch wäre mit diefem Allen nur erſt ein fehr Heiner Theil 
jener Anwendungen genannt, welche die menſchliche Kunft von dem 
Schwefel und von’ der Schiwefelfäure macht. In dem Reiche der 
unterirbifchen Natur, namentlich für die Metalle, vertritt, mie ſchon 
erwähnt, ber Schwefel bie Stelle des Oberherrſchers über die Grund: 
floffe: des Sauerſtoffgaſes, von welchem wir bald weiter" fprechen 
werden. ‘Eben fo wie ein brennbarer Körper im Sauerftoffgas, 
verbrennt auch ein Silber- oder Kupferblech, ſowie ein’ Eifendrarh 
mit heller Flamme, wenn man dieſe Metalle dem Dampfe aus: 
fest, der, fih aus dem Schwefel m einem verichloffenen Gefäße 
bei der Hitze von 114 Gr. Reaumur bildet, Macht man dagegen 
bas Kupfer oder Eifen glühend und bringe Schwefel darauf, dann 
geräth das fchmerflüffige Metall alsbald in's Schmelzen; es traͤufelt 
tie Wachs an der Lichrflamme hinab. : U 
Aber obgleich der Schwefel unter den Metallen eben ſo eine 
Rolle des Herrſchers ſpielt, als das Sauerſtoffgas tim gefammten 
Reiche der Grundſtoffe, unterwirft er fich dennoch gern und keicht 
dieſem noch gewaltigeren Herrſcher; er ſelber ſtellt fich é3 ihm 
in das Verhaͤltniß eines brennbaten Koͤrpers, und beide, Schwefel 
und Sauerſtoff vereint, bilden dann eine Macht, welcher die Scheide⸗ 
kunſt Ihre erfolgreichften Siege, ihte meiften Herrfchertharen im 
der Welt der irdifchen Grundftoffe verdankt. Nicht nur die Salz 
fäure, auch die meiften anderen Saͤuren, namentlich die Salpeter- 
fäure, hätte der Menſch nicht, oder wenigſtens nicht fo Teiche in 
feine Gewalt befsmmen, ohne die Schwefelfaͤure zu Hilfe zu neh— 
men, welche ihre ſchwaͤcheren Schweſtern ‘aus ihten Verbindungen 
mit anderen Stoffen hervorzieht. Die fonderbarften Werke bringt 
die Kunſt mittelft der Schwefelſaͤure hervor, fogar eine Verwand- 
lung des Stärtmehls und mancher anderen organifchen Stoffe in 
Zuder (Süßes aus Saurem zu bereiten) if. ihr dur) die An: 
wendung der Schmwefelfäure gelungen, Was märe die Chemie, 
was wären die meiften Gewerbe, von denen des Seifenfiebers unb 
Stearinkerzenfabrieanten an bis hinauf zu jenen Arbeiten in edlen 
Metallen, welche das Gold ausfcheiden, ohne die Schwefelfäuret 
In der Bereitung dieſes michtigen Stoffes hat keine andere 
Nation fo Großes geleiſtet als die der Engländer. “ Man hoͤrt zu: 
weiltn das Spruͤchwort: Amfterdam ift auf Häringe gebaut, mel: 
hes andeuten ‚fol; daß Holland zum großen Theil die erfte Be: 
gruͤndung feines Wohlſtandes dem Zange der Häringe, ‚der Kunfl 
ihre Einſalzens und ihrem Verkaufe verbanfe: Eben fo fönnte 
man ſagen, Englands Bluͤthe der Fabtiken und Gemerbe iſt zum 
großen Theil aus jenen viefenhaften Bleikammern hervorgewachſen, 


11 


iR 24. Die Schweſelſaͤute und bie Soatzſaͤute, 


in denen bie Schwefelfäure bereitet wich. Als vor einiger Beit die 
neapolitanifche Regierung den Ankauf bed Schwefel in Sizilien 
duch Errichtung eines Monopols für ben Schwefelhanbel zu er 
ſchweren gedachte, da fehlte nicht viel, daß ein Krieg zwifchen Eng 
land und Neapel ausgebrochen wäre. Der reine Schwefel, mer 
cher, wie wir oben (©. 153) fahen,. in der größefien Menge aus 
Sizilien gebraht wurbe, ging in gangen Schiffsladungen nad) Eng 
land und wurde bier mit folhem Vortheil in ben Bleikammern 
verbrannt, daß man aus einem Sentner Schwefel drei Sentner 
ſtarke Schwefelfäure gewann. Diefe, ſchon allein durch die Aus 
fheidung des Natrons aus dem Kochſalz (m: v. C. 21), gab den 
Glas- und Seifenfahriten einen ſolchen Aufſchwung, daß biefelben 
mit ihren verhältnißmäßig wohlfeileren Waaren Portugal und Spar 
nien, einen großen Theil von Amerika, Aagppten und das aſiatiſch⸗ 
tuͤrkiſche Reich, Perfien und Indien erfüllten, 

Aber für die eben genannten Länder bewitet England nicht 
bloß ee und Glas, fondern für fie, wie noch für manche ans 
dere Länder, fpinnen feine riefenhaften Spinnmafhinen, meben, 
druden und färben feine kunſtreichen Fabriken eine ungeheuere 
Menge von wollenen Zeugen. Namentlich ift das Bleichen dieſer 
Stoffe ein fehr weſentliches Stuͤck zu ihrer Vervollkommnung und 
Vollendung. Bei unferer gewöhnlichen Art zu bleihen, fegen wir 
das Garn oder die gemwebten Zeuge, welche aus Pflanzenfafern ge 
fertigt ind, auf Hafen gelegt, dem Sonnenlichte und der Luft aus, 
indem wir biefelben durch Benegen fortwährend feucht zu erhalten 
fuhen. Wenn wir genau wiſſen wollen, welche Wirkung diefe 
Behandlungsweiſe hat, dürfen wir nur irgend eines unferer kuͤnſt⸗ 
lihen Gewebe lang über die gewöhnliche Zeit hinaus der Anfeuch⸗ 
tung, der Luft und bem Lichte ausfegen. Wir werben finden, daß 
das Zeug fortwährend an Gewicht abnehme, und zulest geht es 
in eine Auflöfung feiner Safern über, wobei 26 einem lockeren, 
Wiſhen den Fingern zerreiblichen Papiergewebe gleicht, bis am 

nde auch dieſer Reſt zerſtaͤubt und von Wind und Regen nad 
allen Richtungen hin zerſtreut wird. Jeder weggeworfene Tuch⸗ 
oder alte Leinwandlappen, wenn Luft und Feuchtigkeit auch nur 
bei ganz mäßiger Wärme auf ihn einwirken, kann uns durch diefe 
almählige Zerfegung bezeugen, baß die Safer der Leinwand, des 
Hanfes oder der Baummolle ebenfo einer Verweſung unterliege wie 
das fautende Holz. Wir werben fpäter weiter es zu entwideln 
fuchen, daß der Kohlenfloff, der ein Hauptbeſtandtheil der Pflanzen: 
fafer iſt, wenn Feuchtigkeit und Luft dies beguͤnſtigen, ſich fort 
während mit dem Sauerſtoffgas verbinde, und daß hierbei nicht 
minder als bei dem Berbrennen, obwohl ungleih langfamer, Kobs 
lenfäure gebilbet werde. Bei dem gewöhnlichen Bleichen unferer 
Zeuge nehmen mir deshalb eine Kraft zu. Hülfe, deren Wirkung 
zunächft zwar eine langfam zerſtoͤrende, bennod) aber zu unferem 
Zweck dienende iſt, weil vor Allem jene der Zerſetzung ſchon näher 


24, Die Schwefelſaͤure und die Salzſaͤure. 163 


nden organiſchen Anhaͤngſel und Einmengungen, welche ber 
aſer eine beſchmutzende Färbung geben, angegriffen und hinweg: 
geführt werden, wobei freilid auch das Gewebe felber einen Ab: 
gang und Verluſt erleidet, der fi Thon durch die Gemwichtsab- 
nahme zu erkennen giebt. Damit jene auflöfenden, teinigenden 
Einflüffe . ihre gehörige Wirkung thun können, ift ein wochen- ja 
inonatefanges Bleichen, und je nachdem die Zahl der Zeuge groß 
ift, die Benugung eines verhältnißmäßigen Grundſtuͤckes zum Bleich— 
plag nöthig. Für unferen Haushalt reichen die zu folhem Zweck 
und dargebotenen Mittel und Kräfte aus, mie follten aber bie 
Sabrifen Englands damit ausfommen, weldhe nicht für einzelne 
Hausbaltungen oder für ein einzelnes Land, fondern für ganze 

oͤlker und große Yändergebiete der Erde zu weben und zu bleichen 
haben? Was würbe in dem reichbevölferten England, mo jeber 
Fußbreit des Bodens angebaut und benugt ift, ein Bleichplag 
foften, auf welchem zehntaufend Stüde Baummollenzeug mehrere 
Monate lang gebleicht merben ſollten; wie hoch wuͤrde ſich dabei 
das Zaglohn uͤr ‚die Arbeiter belaufen, welche die Zeuge benegen 
müßten? Diefeibe Menge der Zeuge aber wird in einer Bleicherei 
bei Glasgow (nah Liebig’s Angabe) fehow in weniger denn 
S Tagen gebleicht und zwar auf einem Smal Heineren Raume;z 
denn jene Fabrik bleicht täglich 1400 Stud, und kann dabei ihre 
Arbeit nicht nur im Sommer, fondern auch im Winter fortfegen, 
wenn ‚unfere Nafenbleichereien großentheils feiern muͤſſen. 

Fragen wir, mas den englifchen Bleichereien diefen ganz außer- 
ordentlichen Vortheil und Vorzug verfchafft habe? dann erfahren 
wir, daß die Kunft eines folchen fihnellen und hierbei zugleich voll- 
tommenen Bleihens nicht hätte erlangt werden konnen ohne die 
Kunſt der Schwefelfäurebereitung. Wenn nämlich bei der oben 
(S. 132). erwähnten Gewinnung des Natrond aus dem Kochfalze 
vier Gewichtötheile der concentrirten Schmwefelfäure mit fünf Ge- 
wichtötheilen Kochſalz in chemifchen Mechfelverkehr verfegt werden, 
dann bildet fih aus dem Wereine der Schwefelfäure mit dem 
Natron, wie wir (am angeführten Orte) fahen, das nid, Glauber 
enannte Salz. Aber bei diefem KHinabdringen der übermächtigen 
Schwefelfäure in die Befignahme des zum Natron werdenden me: 
tallifhen Srundftoffes (C. 20) wird das Chlor aus feinem bie: 
jerigen Verband entlaffen, mit Wafferftoffgas. vereint die Salzfäure 
ildet, u 

Das Chlorgas, von deffen zerftörenden Eigenfchaften wir oben 
ſprachen, wurde früher, bei der Bereitung des Natrons, öfters 
sum großen Nachtheil bee benachbarten Pflanzenwelt aus den 
Schloͤten der Fabrikoͤfen entlaſſen. Vald jedoch lernte der Menſch 
dieſe ihm vorhin feindliche Macht in eine ihm freundliche umſchaffen, 
indem er fie in fein Buͤndniß nahm, da, wo es ihm um ſchnelle 
Berftörung anderer ihn .beläftigender und feindfeliger Stoffe zu thun 
war, Ein für unfere Sinne öfters gar nicht bemerkbares, furcht⸗ 


11* 


164 24. Die Schwefelſdure und die Salzſaͤure. 


bares Gift, das ſich als Anſteckungsſtoff (Miasma) in den Spi— 
tälern erzeugt, wo viele an todgeführfihem Fieber Erkrankte bei: 
fammen liegen, das Miasma der Peft, der Aushauch der Verwe—⸗ 
fung, welcher den Grüften entftelgt, In die man in Zeiten eines 
gewaltfamen Hinfterbens Haufen von Leihnamen warf, alle diefe 
Mächte der Zerftörung, gegen welche die menſchliche Kunft früher 
Nichts vermochte, hat man durch die Anwendung der Dämpfe des 
Chlors zu befiegen gewußt. Diefe, in ihrer eigenen gasartigen 
Form, gehen felbft den gasartigen, organifhen Daͤmpfen in alle 
die Räume nach, wo dergleichen fich befinden und nehmen denfelben, 
durch Entziehung des Wafferftoffgafes, ihre große Macht. 
Augenfaͤlliger noch ale auf ſolche luftartige Formen des orga- 
nifhen Stoffes wirkt das Chlor auf jene gröberen, welche nament: 
ih an den fünftlihen Geweben aus Pflanzenfafern an unferen 
linnenen, baummollenen oder thieriſch wollenen Zeugen haften. 
Ueberall, wo jene Dämpfe folhen loſe anklebenden Beimiſchungen 
begegnen, löfen fie diefelben in, außerordentlicher Schnelle auf, fie 
betreiben, im Grunde genommen, einen ähnliden Vorgang der 
Bermefung und Zerfegung als der Einfluß des Lichtes, Der Luft 
und des Waffers "auf unferen Bleihplägen; aber jener Vorgang 
ift mehr in der Hand des Menfchen, als der andere fo fehr von 
ber Witterung und dem’ langmwahrenden Befeuchten abhängige. 
Man hat das Chlor in Verbindung mit Kalk: ale fogenannten 
Chlorkalk zur leichteren Aufbewahrung und weiten Verfendung ge 
ſchickt gemacht, und feitdem ift e8, namentlich aus den Fabriken 
der Natronbereitung weit und breit nad) den Bleichereien ausge: 
gangen, denen es alle die vorhin erwähnten Erleichterungen ihres 
Gefchäftes gewährt. In wenig Stunden und mit überaus geringen 
Koften befreit man durch Anwendung des Chlorkalkes und feiner 
wäfjerigen Auflöfung die Baummollenzeuge von den ihnen anhaf: 
tenden, färbenden (fhmugenden) Stoffen und bei diefer Art des 
Bleichens, wenn fie mit Gefhid und Sacverftand gehandhabt - 
wird, leiden die Zeuge. weit weniger als durch die Rafenbleiche, fo 
daß hin und wieder felbft die Landleute in unferem. beutfchen Va— 
terlande fi) des Chlorkalks zum DBleihen bedienen. 
| Unter mandyen anderen " Anmendungen ber Salzfäure. zum 
Nugen und Dienft des menfchlichen Haushaltes führt Liebig (in 
fe hem. Briefen) nocd eine namentlich auf, an welche früher, ehe 
die Salzfäure fo feicht zu haben war, wenigftens im Großen nidt 
‚gedacht werden Fonnte. Die thierifhen Knochen beftehen den Ge: 
"wichtötheilen nad) aus ohnigefähr zwei Dritttheilen phosphorfaurer 
Kalkerde und einem Drittel thierifcher Gallert oder Leim. Bringt 
man die Knochen in eine mit Waffer verdünnte Salzfäure, dann 
Löft diefe alsbald die Knochenerde auf und läßt den damit verbun- 
denen Leim, ganz in Form der Knochen, biegfam mie Leder zurüd, 
welcher,‘ von ber ihm etwa anklebenden Salzfäure gereinigt, mie 
anderer Leim benutzt werden Tann, So iſt bie Salzſaͤure für die Ar- 





24. Die-Schwefelfäure und die Salgfäure. - 165 


beiter ia: allerhand. Stoffen, von den Metallen an his zum hin- 
weggeworfenen Knochen, von, außerorbentlicher Nutzbarkeit. Daß 
fie aber in dieſe allgemeinere Anwendung Fam, das hatte doch 
auch nur duch Hülfe ber Schwefelfäure erlangt werden koͤnnen. 
Dieſe, weiche in vieler Hinfiht vor allen anderen Säuren auf 
den Rang einer. Königin. Anfprud machen kann, wurde zuerſt in 
Deutfhland,. aus einem. faft,in al unferen Gebirgsarten . vor- 
tommenden. Eifenerzge: aus dem.. überall bekannten Schwefelfiefe 
gewonnen, der aus einer Verbindung von beiläufig fünf Thei⸗ 
len Eiſen mit ſechs Theilen Schwefel beſteht. Da, mo biefes 
Schywefeleifen häufig aus den Bergwerken heraus gefördert wurde, 
wie bei Gostar am Harz und ‚im boͤhmiſch-ſaͤchſiſchen Erzgebirge, 
legte man es auf einen Roft, unter welchem man Seuer anmachte. 
In der Fang, fortwirtenden Gluth des Feuers verbrannte ein Theil 
des Schwefels, ein. Theil des Eifens bildete mit dem Sauerfloffgas 
das rothe Eiſenoryd. Das fo geröftete Erz wurde dann auf einen 
felten, etwas geneigten Boden zufammengehäuft und mehrere Jahre 
der Luft, dem Regen und Schnee ausgefegt. Allmählig bildet fich 
hierbei der. Eiſenvitriol, welcher. leicht auflöslich im MWaffer, von 
dem bineindringenden. Regen durch die Rinnen zu den Behältniffen 
hingeleitet wird, aus denen man ihn öfters von Neuem über bie 
geröfleten Kiefe ſchuͤttet, bis die Auflöfung eine gewiſſe Stärke er⸗ 
reiht hat, in welcher man fie in Keffeln der dem Feuer abdampft 
und erſt jegt den grünen, fehr herbe ſchmeckenden Eifenvitriol gez. 
winnt, der in den Färbereien auf mancherlei Weife benugt wird. 
Aus diefem Eifenvitriol wird dann durch die Glühhige die rauchende 
Schwefelfäure gewonnen, die allerdings ſchon von dem höchften 
Grad der Stärke if. Aber die auf folhem mühfamen und lang- 
wierigen Wege gewonnene Schwefelfäure würde dem großen Bedürf: 
niß der europäifchen, vor Allem der englifchen Kabriken, nicht genügen, 
obgleich) ‚nur allein das Vitriolwerk zu Beierfeld im ſaͤchſiſchen Erz⸗ 
gebirge jährlich gegen und über 1200 Gentner concentrirte Schwer 
felfäure oder Witrioföl bereitet. Um fo. weniger mar bie in vers. 
[hiedenen Ländern, auf bie Weife der fachfifhen gewonnene Schwe⸗ 
felfäure für Englands . Handel und Gewerbe ausreichend, da dieſes 
Land. auch andere MWelttheile mit diefem vielfach nügfichen Erzeug⸗ 
niß zu verforgen hat. Daher muß man jenen erften Verſuch, wel- 
hen, wie man-fagt, ein nar England eingewanderter Deutfcher, 
Namens Moͤller, dort machte, die Schwefelfäure auf näherem 
ege, aus dem Verbrennen des reinen Schwefeld zu erzeugen, als 
den Anfang. eines ganz neuen Auffchwunges der Gewerbthätigkeit 
betrachten. 
Bewunderung, mit einer Art von unheimlichen Grauen ver⸗ 
miſcht, überfällt. den Sremden, der zum erſten Mal in eine jener. 
tiefenhaften Bleikammern hineinblidt und, fo weit dies gefchehen 
kann, die Weife fi anfhaulih macht, in welcher barinnen der 
erſtidende Schwefeldampf zue Säure verdichtet wird, Der Menfch 


168: 24 Die chemiſche Polariſfation. 


Eben Fo bemerken wir auch bei dem: chemtiſchen Verkehr ber Seoffe, 
daß im einer aus‘ vielfachen Elementen zuſammengemengten Auf- 
Löfumg nicht eine Saͤure bie andere, nicht ein Kalt Has andere ‚au. 
ziehe und mit Ihm Tich verbinde, fondern vielmehr jene Stoffe. fich 
vereinen, die von ganz entgegengefegter Natur und Beſchaffenheit 
find: die Sauren mit den Kalten ober alkaliſchen Erden und um: 
gelehrt. :&Sehbft von jenem wechſelſeitigen Abftoßen und Abſcheiden 
der. gieihartigen Stoffe, das ſich mit dem Abftoßen der gleichna⸗ 
migen iPole zweier Magnete vesgleichen läßt, geben uns die vorhin 
erwähnten Borgänge mehrere. augenfällige Beiſpiele. 
Aus’ diefem Grunde muß freilich der gewöhnliche. Ausdruck, 
weicher das Zuſammenſtreben der polariſch entgegengefegten. Stoffe, 
wie der Säuren und Alkalien,, als. hemifhe Verwändtichaft und 
bie größere ober geringere Stärke, "in weicher ein Stoff nach der 
Verbindung mit biefem ober jenem verſchiedenen Stoffe firebt, als 
nähere ober fernere Grabe ‚der Verwandtſchaft bezeichnet, in einem 
anderen Sinne verftanden werden als der ift, den wir im gemeinen 
Leben mit dem Worte Verwandtfchaft verbinden. Die Kinder eines 
und befielben Elternpaqres, "die ſich in ihren: äußeren Zügen fo 
wie an Eigenfhaften ahnlidy find: Brüder und Schweſtern, find 
fich. verwandt, folche, -Die "aus. gartz anderen Familjien und Völker: 
ſchaften herſtammen, find diefes nicht, Wollte. man denfelben Be 
griff des Wortes auf die Grundſtoffe und ihre Verbindungen aus: 
dehnen, dann. müßte man bie: Saͤuten unter .einander als nahe 
Verwandte betrachten, und eben..fo ‘auch wieder die Alkalien und 
alkanſchen Erden. Was jedoch dem Streben nach chemiſcher Ver⸗ 
einigung zu Grunde liegt und dieſem feite eigenthuͤmltche Stärke 
arebt, das: tft richt die. gemeinfame: Abſtammung und die. nahe 
Uebereinftimmung der Eigenfchafsen und Kraͤfte, ſondern gerade die 
Verſchiedenheit. Je weiter in.diefer Beziehung die Stoffe von ein⸗ 
ander entfernt ſtehen, defto .ftärktr ift der Drang, der ‚unter gün- 
ſtigen Umſtaͤnden ihre Vereinigung berbeiführt,. und. wie Dapegen 
der Tall eines Körpers Aus geringem Hohe von. minberer Kraft 
und Geſchwindigkeit ift, ‘fo wird auch Die.gegenfeitige Anziehung 
ber Stoffe immier ſchwaͤcher, je näher fid) diefelben ihrer eigenthuͤm⸗ 
lichen Beſchaffenheit nach fteben: - . 0... J 
Uebrigens finder auch Hierbei noch Etwas ſtatt, was ung. an 
die unſerem eigenen Weſen naͤher ſtehenden Naturverhaͤltniſſe er⸗ 
innert. Der Zug ber Freundſchaft des Menfchen zu einem Thiere 
kann nie ſo groß ſein als der des Menſchen zu anderen Menſchen, 
oder der des Thieres zu Seinesgleichen. So ſtehen zwar das 
Sauerſtoffgas und das Waſſerſtoffgas ihren. Eigenfchäften nad) in 
weiten Abſtand von dem Gold: und: Patinametall,. es iſt aber in 
diefen- Gegenfägen kein natürlicher" Bug zur Vereinigung, während 
dagegen das Gold. mit. dem Queckſilber; das Sauerſtoffgas mit dem 
Kohlenſtoff, ‘da wo dieſer durch bie "Kräfte: des organifchen Lebens 
dem atmofphärtfchen Zuſtand naͤher getietin iſt, ober mit bem 





DB... Die. Mehlunft-. her Elententgrombindangen.: 169 


— verdampfenden Phosphor und Schwefel leicht Verbindungen. 
eingehen. i 
Derſelbe Grundſtoff, ber ſich in Beziehung zu einem anderen. 
ale Säure verhalten Tann, übernimmt öfters im Verhaͤltniß zu. 
einem Dritten bie entyegengefegte Rolle eines Falifchen Grundftoffes.. 
So der Schwefel, wenn er jest mit dem Waſſerſtoffgas, dann mit 
dem Sauerſtoffgas, eimmal als die Säure bildend, das andere Mal, 
als dem Zufland der Säuerung ſich ergebend, fih zur Waſſerſtoff⸗ 
(hwefslfäure oder, zur eigentlihen Schwefelfäure vereint. 
Wir haben hier, nad) einem fehr erweiterten Manpftabe, das⸗ 
felbe vor uns, was wir fhon oben (Cap. 8) als Polarität ynd 
polarifhe Spannung am Magnet Eennen lernten und, der Grund 
der polariſchen Entgegenfesung fo wie des Strebend nad) Ber: 
einigung diefer Gegenſaͤtze it hier derſelbe, melcher er dort war. 
Im Allgemeinen, fo kann man fagen,- wiederholt ſich durch alle 
Gebiete und Reihenfolgen der chemifhen Polarifation ber Unter: 
fhied und Gegenſatz, den wir zwifchen Säuren und Alkalien, zus 
legt. aber jemer, den wir zwiſchen der Atmofphäre und dem Koͤr⸗ 
per der Plameten. bemerken, ben ‚fie umhuͤllt. Denn wie ber herr⸗ 
ſchende Beſtandtheil dev Atmofphäre: das Sauerfloffgas den all: 
gemeinften, Gegenfag zu ‚allen anderen Grundftoffen der irdifchen 
Sichtbarkeit bilde, .bas foll uns im $. 29 eine nähere Betrachtung, 
deſſelben lehren. FL 5 


26. Die Meßkunſt der Etementarverbindungen 
G6Stoͤchlometrie). Bu 


. Ein Tintentropfen, den: wir in- ein Weinglas voll zeinen 
Waſſers follen laſſen, vertheilt fi allmaͤlig in dieſem, und das⸗ 
ſeibe thut ein zweiter, ein dritter Tropfen; das Waſſer nimmt fg, 
viek von dem fürbenden Stoffe auf, als wir ihm geben wollen, 
und wenn wir. der Vertheilung deſſelhen durch ein mechanischen; 
Mittel, wie durch Umrühren zu Huͤlfe Eommen, bann- gefcieht, 
diefe fo gleichfoͤtmig, daß jeder einzelne Tropfen bes Waſſers fo 
viel Tinte an fich zieht als der andere, Daſſelbe gefchieht, wen, 
wir: ein: Salzkorn nad dem- anderen: in das Glas vol Waſſer wer⸗, 
fen; die Fluͤſſigkeit nimmt, je’mehr wir ihr davon. zuſetzen, deko: 
Härter, in all' ihren Theilen, den Geſchmack des Salzes an; beny, 
diefes hat ſich gleichmäßig in. ihrer ganzen Maffe verbreitet, In 
den beiden oben ‚erwähnten. Ballen: hat fich Feine eigentliche, chem, 
mifhe Verbindung, fondern. ein mechanifches Gemenge erzeugt, 
bei welchem das Salz mie. das Waſſer in ihren Eigenſchaften un; 
verändert,: daß erftere Salz, das andere Waffer geblieben find. 
Etwas ganz Underes. gefchieht da, wo die Grunbfloffe eine 
eigentliche ‚chemifche Verbindung mit einander eingehen. Wenn, 
man in ſolches Waſſer, darinnen Kalkerde mechaniſch aufgelöft ift, 
nen Tropfen Vitriolſaͤure ſchuͤttet, dann vertheilt fich dieſer nicht, 
gleichmaͤßig in-der. Fluͤſſigkeit, fondern bie Schwefelfäure verbindet 


ro 26. Die Mehtaufl der Elementarverbinbungen. 


fih mit einem geniffen Theile der Kalkerde und bilder mit diefem 
fchwefelfauren Kalk oder Gyps, der ſich als Pulver zu Boden fenkt, 
während bie ganze Übrige Flüffigkeit, ohne nur noch eime Spur 
von Schmefelfäure in ſich zu führen, das bleibt, was fie vorher 
war: Agendes Kalkwaſſer. Bei dem Hinzufütten jedes neuen 
Tropfens von Vitriolfäure wiederholt ſich das Nämlihe, bie zu- 
legt aller in dem Waffer enthaltene Kalt mit der Säure gefättigt, 
und zu Gyps geworden if, Wenn man aber jest, nachdem: jedes 
Theilhen der Kalkerde fein beftimmtes Theilhen ber Säure dahin 
genommen, noch etwas mehr von der letzteren hinzufest, dann 
wird diefe nicht mehr, wie die Tinte vom Waſſer, fo von dem 
pulverartigen Niederfchlage aufgenommen, fondern fie bleibe dem 
Waſſer, darin der Kalk aufgelöft war, beigemengt, ohne daß von 
nun an ein Zug der Säure zur Erde oder diefer zu jener ſich Fund 
giebt. In dem eben erwähnten Falle find aber auch zugleid bie 
beiden Elemente, die ſich zum Gyps vereinten, ihren Eigenfchaften 
nach ganz andere geworden; an der Verbindung beider, am Gyps, 
ift ferner weder die Natur der Shure noch des üsenden Kalkes 
zu erkennen; die Wirkung auf den Geſchmacksſinn, welche beide 
in ganz verfchiedener Art hatten, fo wie die auf das Lakmuspa⸗ 
pier und andere durch Säuren und Alkalien leicht veränberliche 
Stoffe, hat fich ganz verloren , es bat fich ein Körper gebildet, 
der weder Aetzkalk noch Säure, fondern ein ganz Neues, ein Drit⸗ 
tes if. Der Gyps, den wir.auf diefe Weiſe kuͤnſtlich erzeugten, 
wird ald eine der gemeineren. Gebirgsarten ber feften Erdrinde in 
den verfchiedenften Ländern und Welttheilen gefunden; wenn wir 
aber den Gyps aus Perfien oder Aegypten, wenn wie den aus 
Frankreich und Deutfchland, aus Amerika und Neuholland ge: 
nauer unterfuchen und chemiſch zerlegen, dann werben wir finden, 
daß in demfelben,, woher er and) fei, dem Gewicht nach immer 
die Kalkerde mit der Schmwefelfäure, nad) runder Summe ausge⸗ 
drüde, in dem Verhaͤltniß von 13 zu 18 vereint fei, während in 
allen Mineralarten, in allen "Abänderungen bes. Bohlenfauren Kal⸗ 
kes, aus welcher Gegend er auch kommen, von welcher Geſtalt 
er auch fein möge, das Werhältni ber Erde zur Säure; in runs 
ber Summe ausgedrüdt, wie 13 zu 10 ift. Die Gewichtsmenge ber 
Kohlenfäure, melche der Kalk zu feiner Sättigung bedarf, verhält 
fih mithin zur Gewichtsmenge der hiezu nöthigen Schwefelfänre 
wie 5 zu 9, Die Barpterde bedarf freilich eine geringere Quanti⸗ 
tät der Säuren zu ihrer Sättigung als die Kalkerde; das Verhält 
niß aber von jenen bleibt dasfelbe, denn etwas mehe benn 17 Theile 
Schwerſpatherde nehmen 5 Theile Kohlenfäure oder 9 Theile Schwe 
felfäure auf. Aber die eben genannten Sauren find keine einfachen 
Srundftoffe, fondern felber ſchon aus Kohle vder Schwefel und aus 
Sauerftoff zufammengefeßt. Und auch). bierin zeige ſich ein feſt ſte⸗ 
hendes BVerhältni der Gewichtsmengen, denn 3 Theile Kohle gehen 
mit 4 Theilen Sauerſtoffgas, 3 Thelle Schreefet mit 4 heilen 





3%: Die Meßkunſt der Elementarverbindungen. 171 


Sanelftoff Are Verbindungen zur Säure ein, währen 16 Theile 


Phosphor nöthig find, um mit A Theilen Sauerſtoff zur Säure’ 
zu werden. Auch das Waſſerſtoffgas verbindet ſich mit diefen 3 
Grundftoffen, und zwar mit ber Kohle im Verhältniß wie 1 zu 6, 
mit dem Sauerfloff 1 zu 8, mit Schwefel 1 zu 16, mit Phos⸗ 
phor 8 zu 32. Hier wie dort teitt zuifchen ben Gewichtsmengen ber 
Kohle, des Sauerftoffes, des Schwefel und Phosphor das gleiche 
PVerhäftniß in den Zahlen 3, A, 8, 16 bervor. Das Kupfer und das 
Zink gehen freilich nur mit viel geringerem Mengen des Sauerfloffe 
und des Schwefels Verbindungen ein, aber die Gerichte der beiden 
letzteren Stoffe, die zu ihrer Sättigung nöthig find, behalten ges 
nau dasfelbe Werhältniß denn A Theile Kupfer oder Zink nehmen 
1 Theil Sauerftoff oder 2 Theile Schroefel auf. In ähnlicher‘ 
Weiſe beſteht das Oxyd des Molybdaͤns aus 6 Theilen Metall 
und einem Theile Sauerſtoff, an Schwefel nimmt daſſelbe gerade 
das Doppelte auf (drei Theile Metall einen Theil Schwefel), bei 
dem Wolframmetall ſind die Verhaͤltniſſe zu jenen beiden Stoffen 
nahe wie 12 und wie 6 zu 1. Und ſo kann man, wenn man 
die Gewichtsmenge kennt, in welcher irgend einer der im Cap. 16 
genannten Grundftoffe mit einem anderen die chemiſche Verbindung 
eingeht, ed genau berechnen, mweldje Quantität von einem der an: 
deren Stoffe er zu feiner Sättigung bedürfen werde. Menn man 
z. B. auch nur aus der Zerlegung des Silberhornerzes es wüßte, 
daß in ihm das Silber im Verhättniß wie 3 zu 1 mit dem Chlor 
verbunden fet, fo könnte man daraus berechnen, daß biefer Stoff 
nit dem Wei in ziemlidy nahe flehendem und auch mit dem Queck 
ſilber in nicht fehe abweichendem Verhaͤltniß fich verbinden wuͤrde. 
Ein anderes Verhaͤltniß traͤte aber ſchon bei dem Kupfer ein, denn 
mit dieſem Metall verbindet ſich das Chlor in uͤberwiegender Menge 
ohngefaͤhr wie 11 zu 10. Noch in viel höherem Maaße tritt. die: 
ſes Ueberwiegen der Menge bed Chlors über bie Menge der an⸗ 
deren Stoffe, die es zu feiner Sättigung bedarf, in den Verbin⸗ 
dungen mit dem Natrium, mit dem Sauerftoff und dem Waffer: 
Koff hervor. Denn im SKochfalz finden ſich A Theile Natrium 
mit faſt 7 Theilen Chlor vereint und dieſes Letztere verbindet 
ſich im Verhättniß wie 11 zu 5, mit dem Schwefel wie 22 
m 5 mit dem Sauerſtoffgas, und eine noch achtmal geringere‘ Ge⸗ 
wichtsmenge als, die des Sauerfloffgafes vom Waſſerſtoffgas reicht 
hin, um das Chlorwaſſerſtoffgas zu erzeugen, denn in diefem find 
8 mat 22 Theile Chlor mit 5 Theilen (35 mit 1) Wafferfloffgas' 
verbunden. Diefe Berhaͤltniſſe Laffen bei allen Grundftoffen mit eben 
ſo viel Sicherheit als Leichtigkelt fich berechnen, wenn man nur weiß, 
wie viel Gewichtstheile von irgend einem anderen Element mit ihm 
in hemifhe Verbindung eingehen ; dann aber, fo wie ein Theil Sauer: 
floffgae mit 4 Theilen Kupfer oder mit 8 Xheifen Tellur das Oryd 
dieſer Metalle bilder, werden fih 2 Theile Schwefel mir A oder‘ 
I Theilen derſelben zu geſchwefeltem Kupfer ober Tellur verbinden. 


12 25 ‚Die Mehkunf: dev Elementarverbindungen⸗ 


Aber: die Grundſtoffe finden fish. nicht immer nad) dem ein⸗ 


fachen Manß ber im Allgemeinen feltftehenden chemifchen Propor⸗ 
tionen vereint, fondern nicht felten nad dem doppelten, Dem drei⸗, 
dem vier= und noch mehrfichen. Se ift allerdings das gewöhn- 


liche flöchiometzifche Verhältniß des Moetalles zum Schwefel -und. 


Sauerfloffgas beim Eiſen nahe wie-171/, und wie 35 zu 10; 
mit beiden Stoffen tann. aber auch jenes Metall Werbindungen 
eingehen, in denen baffelbe einen größeren oder einen: geringeren 
Intheil ausmacht ald den gewöhnlichen, fo daß. die Steigerung 
des Mifchungsverhältnifies, von den niederen zu den höheren Stu: 
fen, gerechnet, von 4 zu 6 oder 8, zu 12 und 16 gebt. _ 
. Die erfte Entdedung und wiffenfchaftlide Begründung ber 
Lehre von den flöchiometrifhen Mifhungsverhältniffen der Efemente 
danft die Wiſſenſchaft zwei deutſchen Chemifern des vorigen Jahr 
hunderts: Wenzel und. Richter. Mit ihe verwandt, und. viel- 
leicht nicht minder folgenreich erfcheint eine andere Entdedung, 
deren Verdienſt dem ſchon oft ermähnten franzöfifhen Naturfor: 
[her Say Luffac gebührt. J 
Durch die Zerlegung des Waſſers (nah ©, 179 u. f.) 
kennst man das Verhaͤltniß, in. weldhem feine beiden Grundfloffe 
mit einander verbunden find, mit großer Genauigkeit; man. weiß, 
daß. 11,09 Gran MWafferftoffgas bei ihrem Verbrennen mit 88,91 
Sauerftoffgas 100 Gran Wafler geben; ein Gemwichtstheil bes er- 
fteren Gaſes reiht demnah hin, um 8 .Theilen des. legteren die 
nöthige Grundlage darzureichen zur Bildung einer neuen. tropf- 
bar. fläffigen Körperform, Vergleiht man jedoch die, beiden. Luft- 
arten, aus denen unter unferen Augen das Waſſer entſteht, ihrer 


«Erg, 


beiden fich auf eine gemeinfame Einheit ‚zurüdführen läßt. . Nen- 
nen wir diefe Einheit einen Cubikzoll, bann finden wir, daß bei 
manchen chemiſchen Verbindungen der Gasarten ein Cubikzoll ber 
einen Art mit einem Cubifzoll oder auch mit zwei, mit.vier Cubik⸗ 
zollen der anderen die neue Erfcheinungsform bilde, darinnen Die 
Eigenthuͤmlichkeiten beider ſich aufgelöft und verloren haben, Wenn 
in dem gemöhnlihen Feuerungsmaterial unferer Herde bie Kohle 
verbrennen, mit dem Sauerſtoffgas chemiſch fich verbinden fol, 
dann. muß fie erſt buch die Hitze in luftfoͤrmigen Zuſtand verſetzt 








26. Die Meßkunſt der Elementarverbindungen. 173 


werden. Ein Eubikzoll folher gasartigen Kohle bildet mit einem 
Gubifzolt Sauerftoffgas das fogenannte Kohlenoxybgas; damit aber 
die eigentliche‘ Kohlenfäure entftehen koͤnne, muß noch ein ‘zweiter 
Cubikzoͤll der Lebensluft hinzufommen. Zur chemifchen Durch: 
dringung biefer beiden Maaßtheile reicht ein Maaßtheil ber in ber 
Gluͤhhitze verfllüichtigten Kohle hin,“ all’ die andere Menge des in 
die Nähe des brennenden Körpers kommenden Sauerftoffgafes 
bleibt unverändert, ohne an der Verbindung Theil zu nehmen, das 
was es vorher war. Wie das Sauerſtoffgas, fo „geht auch . das 
Kohlengas mit dem Waſſerſtoffgas eine chemiſche Verbindung ein, 
welche unter dem Namen des Kohlenwafferftoffgafes bekannt iſt. 
Während aber zur Sättigung von einem Cubikzoll Sauerftoffgas 
(hon zwei Cubikzoll Waſſerſtoffgas hinreichen, find zur Sättigung 
von einem Maaßtheil gasförmiger Köhle vier Maaßtheile deſſelben 
erforderlich.” a ae 
Der Rauminhalt, welchen in al diefen Fällen die neu ent- 
ftandene chemifche Verbindung einnimmt, läßt zumwellen noch ganz 
"deutlich die Ausdehnung erkennen, melde bie beiden Gasarten vor 
ber befaßen. Wenn nur ein Cubikzoll Lebensluft zur Verbindung 
mit "einem Cubikzoll gasförmiger Kohle vorhanden ift, dann nimnit 
das neuentftandene Kohlenorydgas, ohne eine Zufammenziehuug 
zu erleiden, ben vollen Raum von zwei Cubikzollen ein, wenn 
aber der Flamme’ die zur Bildung der eigentlichen Kohlenfäute 
nöthige Menge der Lebensluft, zwei Cubifgolfe ſtatt einem zuge 
ührt werden, dann findet eine Verdichtung flatt; die gasartige 
Slüffigkeit Hat nur den Umfang von. zwei Cubikzollen ftatt von 
dreien. Aus der Verbindung von zwei Maaftheilen Wafferftoff- 
und einem Maaßtheil Sauerſtoffgas kann niht nur das eigent- 
lihe, tropfbar flüffige Waffer, fondern auch‘ ein’ fuftförmiger Kör= 
per entftehen,  deffen wir fpäter unter dem Namen des Waffer- 
dunftes (richtiger Waſſergas) erwähnen werden. Auch bei dem 
Entftehen dieſes Waffergafes ziehen fich, die drei Maaßtheile' der 
beiden Luftarten, die’ zu feiner Bildung verwendet wurden, zu 
dem Umfang von zwei Maaftheilen zufammen, fo wie bie 
vier Cubikzolle Wafferftoffgas, die fich mit einem Cubikzoll gas— 
förmiger‘ Kohle zum Kohlenwafferftoffgas verbinden, nach ber 
gefhehenen Vereinigung nur den Raum von 3 Kubitzollen ein- 
nehmen, weil ſich das Mafferftoffgas dabet zuc Hälfte feiner au— 
fänglihen Größe zufammengezogen hat. Vermoͤge einer aͤhnlichen 
Verdichtung deſſelben wi), ber gemöhnlihen Ausdehnung, ober 
beider Grundftoffe zu 1, geben 3 Maaßtheile MWafferftoff- und 
1 Maaßtheil Stiftoff, bei ihrer Verbindung zu Ammoniatgas 
nur 2 Maaftheite jtatt vier. Mit’ der Zufammenziehung In engeren 
Raum nimmt auch zugleich die Eigenſchwere der neuentflehenden 
erbindungen zu,’ und wenn man namentlich da& fpezififche Ges 
wicht des Waffers mit jenem vergleicht, welches bie beiten Maaf- 
heile des Waſſerſtoffgaſes ſammt dem Maaftheile des Sauerftoff: 


4176 21. Die Grunbfloffe der organifchen Körper. 


“Art, daß fie ſchon feit äftefter Zeit die Beachtung der Men ſchen 
auf ſich gezogen haben. Die reinfte Form, in welcher ſich ber 
Kohlenftoff in der irdifchen Natur darftelie, giebt ald Demant 
den goldnen Kronen wie den Diademen ber Fürften ihren hoͤch— 
ften Werth und Glanz. Daß Kohle und Demant, beide ihrem 
Srundbeftand nad) ein und baffelbe fein; melcher Weife des Al— 
terthums haͤtte dieſen ſcheinbaren Widerſpruch fuͤr Wahrheit hal⸗ 
ten moͤgen! Und dennoch iſt es ſo: der Demant, dieſer haͤrteſte 
und feſteſte der Steine, mit deſſen ſchatfen Splittern man ſelbſt 
in den Sapphir einſchneiden kann und deſſen glatte Flaͤchen auch 
von der haͤrteſten engliſchen Feile nicht angegriffen werden, kann 
‚der Hitze der zuſammengefaßten Sonnenſtrahlen im Brennpunkt 
des Brennſpiegels nicht widerſtehen; er verbrennt mit glimmendem 
Lichte und Löft fi, durch feine Verbindimg mit bem Sauerftoff: 
gas, in Kohlenfäure auf. 

Das was dem Kohlenftoff im Demant feine regelmäßige Se 
flalt, feinen "wundervollen Glanz, feine außerordentliche Härte gab, 
das war die Kraft der Kryftallifation, welche wir der Kohle un- 
ferer Defen, auch wenn wir aus ihr den Kohlenfloff in moͤglich— 
ſter Reinheit ausſchieden, eben ſo wenig durch unſere Kunſt mit⸗ 
theilen koͤnnen, als die Kraft des Lebens jenen Elementen, aus 
denen ein ſo eben noch lebender, jetzt aber durch unfere Hand zer⸗ 
theilter organiſcher Leib beſtand. 

Der Kohlenſtoff, fo dürfen wir uns ausdruͤcken, nimmt aufer 
ordentlich ſcwwer, und nur unter Naturverhältniffen, die ung bis 
jest noch unbekannt ſind, die Kryſtalliſationsgeſtalt des Demantes 
an. Zur beſonderen Velguͤnſtiguag gereicht dies dem organiſchen 
Leben; denn wenn jener Grundſtoff eben ſo leicht zum Demant, 
ale das Chlornatrium zum Salzernftall, der kohlenſaure Kalk zu 
kleinen Kryſtallen des Kalkſpathes, das Jod zu feinen kryſtall— 
nifhen Geftalten werden könnte, welche Kraft ber Verdauung und 
Zerlegung follte dann hinreichen, um den unentbehrfihen Nah: 
tungsftoff in den Kreis des Lebens und Wachsthums hineinzuziehen! 

Eine der gemwöhnlichften und am haͤufigſten verbreiteten For: 
‘men, in denen der Kohlenftoff fhon als Beſtandtheil der Erdveſte 
vorkommt, find die Steinkohlen. Wenn in einigen Arten der: 
felben‘, zu denen die Glanzkohle (der Anthrazit) gehört, der Koh: 
ienſtoff in größerer Reinheit vorherrſcht, dann zeigen ſich diefelden 
ungleicy fchmwerer verbrennbar als bie anderen gewoͤ nlichen Arten 
der Schwarz- wie der Braunkohle, in denen jener Stoff mit dem 
an Waſſerſtoffgas und Sauerſtoff reichen Bitumen,“ und zum 
Theil wie in der Holzkohle, mit den metalliſchen Stoffen der Al⸗ 
kalien und Erden —88 iſt. Lager von Stein- und Braun: 
kohlen finden ſich in allen Weltgegenden der Erde, im hoͤchſten 
Norden, wo jetzt kaum noch ein Strauch gedeiht, wie in den reich 
bewachſenſten Laͤndern der warmen Zonen. England allein ge— 
winnt alljährlich gegen 150 Millionen Centner an Steinkohlen, 


27. Die Grunbſtoffe der organifchen Körper. 177 


deren. Werth auf 48 Millionen Gulden gefchägt wird, und beren 
Gewinnung wie Berfendung über 150,000 Menfchen befchäftigt. 
Allerdings iſt diefer Verbrauch Uberaus bedeutend und man bat 
berechnet, daß die Steinkohlenvorräthe von England bei einem in 
gleichem Maaße fortgefesten Bergbau in 350 Sahren erfhöpft 
fein Eönnten. Sollte jedoch auch wirklich diefes geſchehen, dann 
würden fi) dem Herrſcher und Durchforſcher der Erde gar bald 
anderwärts die noch verborgenen vder nur unvolllommen bekann⸗ 
ten Schagtammern folcher Art aufthun. 

Auch in anderen Formen als in jener der Steinkohle wird 
der Kohlenstoff unter den Beſtandtheilen der Erdveſte gefunden, 
namentlich) in Verbindung .mit dem Waſſerſtoffgas als Erdpech, 
Erdöl und feinere Erdnaphtha. Es giebt Gegenden der Erbe, in 
denen: diefe brennbaren, feften oder flüffigen Stoffe ſich von felber 
aus der Tiefe hervordrängen, wie in den Quellen des Erböles und 
der Raphtha, die fich an der Meftfeite des Easpifchen Meeres und 
namentlih im Reiche der Birmanen finden, deſſen Bewohner, 
ohne alle Mühe, jährlich gegen 400,000 Drthoff (einen zu 3 
Eimern) Bergöl fammeln. Auch auf der Oberfläche des tobten 
Meeres erfcheint nicht felten der Asphalt (das Erdpech) in haus 
figen ſchwimmenden Maffen und Bruchſtuͤcken. Bu jenen Foſſi⸗ 
lien, welche reich an Kohlenftoff find, gehört auch der Bernſtein — 
ein Erzeugniß der vormaligen Pflanzenwelt. 

. In einer noch weiteren Ausdehnung und größeren Mächtig- 
feit, ald in den eben genannten Formen ber. brennbaren Foffitien, 
findet fi) der Kohlenftoff, mit dem Sauerfloffgae vereint, ale 
Kohlenſaͤure in der irbifhen Natur. Der bei weitem größte 
Theil unferer Kalkgebirge befteht aus einer Verbindung ber Koh: 
Ienfäure mit der Kalkerde; das Waſſer unferer Quellen enthält 
in großer Allgemeinheit und zum Theil in einer unferem Gefhmad 
auffallenden Menge bie Kohlenfäure, welche auch bin und wieder 
in Luftform die Höhlungen und tiefer gelegenen Stellen der Erd⸗ 
oberfläche erfuͤlt. Setbft in unferem Luftkreife wird die Kohlenfäure 
als einer der beftändigeren Gemengtheile nachgewieſen, obgleich feine 
Menge, im Vergleich zu den Hauptgasarten der Atmofphäre, nur 
fehr gering iſt. Vor diefen anderen zeichnet ſich die Kohlenfäure 
namentlich, durch ihr ungleich größeres, fpezififches Gewicht aus, 
vermöge beffen fie fi, mo fie dies ungeftört thun kann, gern 
an tieferen Punkten anfammelt. ' 

Dem athmenden Thiere ift die Iuftförmige Koblenfäure töbts 
lich, diefes erſtickt in derfelben nach wenigen Athemzügen und bie 
Flamme ber brennenden. Kerze verlöfcht in ihr. Dagegen ift dem 
Leben der Gewaͤchſe die Kohlenfäure da, wo diefe mit Waſſer ver- 
bunden in ihren Bereich kommt, in vorzüglihem Maaße zuträg> 
ih, indem die Pflanzen den Kohlenftoff als Nahrung aufneh- 
men und den mit diefem verbundenen Sauerfloff, wenn die Sonne 
auf ihre grümen Blätter ſcheint, aushauchen. Auch das Thier unb 


12 


178 27. Die Grundfloffe der organiſchen Körper. 


namentlih ber Menfch nimmt keine Speife zu fi), deren vorzuge: 
weife nährende Kraft nicht dem Kohlenſtoff zuzufchreiben waͤre, den 
fie, mit Stieftoff und Waſſerſtoff vereint, in ſich enthält. Es 
biefelbe Hein Theil unferes Körpers, der ganz ohne Kohlenftoff wäre; 
jeder Athemzug, jede Welle des Blutes hat den Aus⸗ oder Ein 
gang jenes Stoffes zum Antrieb des Bewegens, weil berfelbe in 
diefen höheren Kreifen bes gefchaffenen Weſens in ähnlicher Weile 
zur Unterhaltung bes Feuers auf dem Herd des Lebens dient, als 
die Kohle auf dem Herd ber Hütten wie der Patäfte. 

Das Waſſer, in feinem Geſchaͤft als allernährende, allverfor: 
gende Amme und Hausmutter, betrachteten wir bereitd oben (Cap. 3), 
Viele feiner Eigenfchaften waren ſchon in älterer Zeit bekannt, aud 
hatte man es, wie eine Art von Ahnung, ausgeſprochen, daß dad 
Waſſer aus Luft entftehen und wieder zu Luft werden koͤnne. Es 
ift. aber ein großer Unterfchied zwifchen einer folchen Ahnung des 
Menfchengeiftes und zwifchen dem wirklichen, auf fichere Erfah: 
rungen gegründeten Wiſſen. Wie fehnell wird der Lichtbiig, ber 
aus einer in weiter Ferne abgefeuerten Kanone fommt, unferem 
Auge ſichtbar, und wie viel länger dauert es, bis der donnernde 
Laut des Schuſſes zu unferem Ohre gelangt; eben fo ift der vor: 
ahnende Gedanke des Geiftes, der Vorfag zu irgend einer That 
plöglic in und da, die Bewährung aber durch wirkliches Erfor⸗ 
[hen und Ausführen har meift noch einen langen Weg durch 
mancherlei Schwierigkeiten und Hemmungen bid zu ihrem Ziele 
zu.machen. 

Das Waſſer befteht wirklich aus Luft, nicht aber aus einer, 
fondern mie: dies feit dem Sahre 1781 duch, die berühmten Che 
miker Cavendifh und Lavoiſier bargethan.ift, aus zwei Luft: 
arten, in weiche es ſich Durch die Kunft bed Menfchen zerlegen, und 
aus denen ed fih von Meuem zufammenfegen laͤßt. Mit der Er 
falrung, die jedes Kind machen kann, nach welcher fich .das War 
fer ald das am leichteften zu habende, natürliche Gegemmittel ge’ 
gen bie Verheerungen des Feuers Eund giebt, konnte wohl kaum 
eine andere Entdedung in einem fcheinbar größeren Widerſpruche 
ſtehen als die, daß im Waſſer felber ein Grundftoff enthalten fi, 
der ſich entzunden und mit gewaltigem Aufflammen verbrennen 
läßt. Wenn man aber das Waſſer durch elektrifche Kraft (davon 
fpäter die Rede fein wird) in feine beiden Gegenfäge zerlegt (pe 
larifirt), dann erhält man aus ihm bie brennbare Luft, von 
deren verheerender Macht mir fehon oben (E. 23) fpracyen. Die 
Bergleute, namentlich in den Steinfohlengruben, kennen dieſelbe 
unter dem Namen der fchlagenden Wetter, und ſchon Mander 
von ihnen iſt von ihren Flammen verzehrt ‚und durch die Schub 
gemalt, welche fie, gleich dem Schießpulver, bei ihrer "Entzündung 
ausübt, zerfchmettert worden, und ähnliche Ereigniſſe haben ih 
zugetragen, wenn ſich in Kellern oder anderen verfchloffenen Ri 
men, darinnen . Gefäße voll. Moft. oder voll onberer gährendtt 


1 
—— 


27. Die Geupdſtoffe der organiſchen Körper. 178 


Stäffigteiten aufbehalten wurden, durch den Vorgang dex Gaͤhrung 
das brennbare Wafferfioffgas, verbunden mit Kohle, entwidelt 
hatte. Dem Weingeift wie dem Del und allen fett- ober harzar⸗ 
tigen Körpern giebt das Waflerfioffgae im Verein mit dem Kob- 
fenftoff ihre Brennbarkeit; der Kohlenwaſſerſtoff liefert une das 
Material gur Gasbeleuchtung der Häufer und Gaſſen. In noch 
größerem Maaßftabe bilder: derfelbe das Brennmaterial jener na- 
türlihen Herde eines beitändig flammenden Feuers, die fih in der 
Nähe der Naphthaquellen und mander Salzlager durch bloßes 
Hineinbohren in die Erde und Anzünden ber auflteigenden Dampfe 
bilden laffen. 

Außer der Macht der Elektrizität, duch welche freilich aus 
dem Wafler das reinſte Waſſerſtoffgas dargeſtellt wird, flehen uns 
auch noch verſchiedene andere Mittel zu Gebote, die brennbare Luft 
feiht und in ziemlicher Menge zu gewinnen. Das Clement, was 
diefelbe in unferer irdifchen Sichtbarkeit am öfteften gebunden hält 
und fie in der tropfbar flüffigen Torm des Waſſers zu Boden 
zieht, ift das Sauerftoffgas oder die Lebensluft nad) (Ep. 29), 
diefee oberfte Derrfcher unter .dven uns befannten Grundſtoffen, der 
bei allen chemifhen Verbindungen, bei allen leiblichen Geftaltungen 
den Ton -angiebt; nad) deffen Gemeinfhaft und Verein die meis 
ſten anderen Grundftoffe eine lebhafte Begierde zeigen. Denn wäh: 
vend zum Beifpiel das Bold wie ein Einfamer in der Welt der 
oberirdifhen Urelemente daſteht und von felber, weder mit Wafler 
noch mit Luft, ſondern nur mit feinen unterirdifhen Mitbürgern, 
wie etwa dem Quedfilber, Verbindungen eingehen mag, ergreifen 
das leicht toftende Eifen, das Kupfer und die meilten anderen 
Metalle jede Gelegenheit, bei welcher fie aus Wafler oder Luft 
das Sauerfloffgas an ſich reißen und mit ihm zum Oryd werden 
koͤnnen. Wenn man deshalb Eifenfeilfpähne oder verfleinertes Zink: 
metall mit MWaffer überfchüttet und dem legteren etwa den fünften 
oder fechsten Theil feines Gewichtes an concentrirter Schwefelfäure 
dinzufügt, dann bewirkt die Säure eine ähnliche Polarifation oder 
Zerfegung des Waſſers als der elektrifche Funke; der Zug des einen 
Poled zur Vereinigung mit dem Kifen wird fo hoch gefleigers, daß 
er mit dieſem dad Oryd darftelit, und in demſelben Maaße fleigert 
ſich audy die andere polarifhe Richtung, welche in ber Natur des 
Waſſers kiegt, bis zur Geftaltung des Waſſerſtoffgaſes, welches, 
in Verbindung mit der Kohle, davon faft jedes Eifen einen Elei- 
nen Antheil enthält, aus dem Wafler emporfleigt. 

Wenn man die beiden, durch die Polarifation des Waffers 
entſtandenen Gasarten ihrem Gewichte nad) vergleicht, dann fin- 
det man, dag das Sauerſtoffgas achtmal mehr an Gewicht be 
trage, als das Waſſerſtoffgas. Genau genommen ift hierbei das 
Verhättniß zwifchen beiden wie 8891 zu 1109, Wenn man aber 
den Raum beachtet, den beide in ihrer Luftform einnehmen, dann 

mon, daß das Waſſerſtoffgaß gerade auf einen doppelt fo 


12 * 


4‘ 


180 28. Die Luftſchifferkunſt. 


großen Raum ſich ausgedehnt habe, als der iſt, den das Sauer⸗ 
ſtoffgas einnimmt, ſo daß ein Cubikfuß von jenem gegen 16 mal 
leichter wiegt, als ein Cubikfuß von dieſem. Wenn man deshalb 
aus beiden das Waſſer wieder zuſammenſetzen will, ſo muß man 
von dem erſteren einen Gewichtstheil auf acht Gewichtstheile des 
letzteren, oder, der Ausdehnung im Raume nah, zwei Maaß—⸗ 
theile auf einen nehmen. Werden in dieſem Verhaͤltniß beide Gas⸗ 
arten zuſammen gemengt, und dem Gemenge ein brennendes Licht 
genaht oder ein Funke in daſſelbe hineingelaſſen, dann entzuͤndet 
ſich daſſelbe mit einem heftigen Knalle und wird durch die Hitze, 
die ſich beim Verbrennen erzeugt, ſo ploͤtzlich ausgedehnt, daß da⸗ 
bei das Gefaͤß, worin die Verbindung geſchah, wenn es von zer. 
brechlicher Natur iſt, in unzaͤhlige Splitter zertruͤmmert wird. 

Was ſchon die Kraft der Elektrizitaͤt, welche doch nur ein 
ſchwaches Abbild der Lebenskraft iſt, die in dem beſeelten Weſen 
waltet, an dem Waſſer vermag, das wird, in noch viel allgemei⸗ 
nerer Weiſe, im Kreiſe des organiſchen Lebens bewirkt: Hier wird 
das Waſſer ohne Aufhoͤren polariſirt, und zwar ſo, daß jeder der 
beiden polariſchen Grundſtoffe alsbald zur Bildung und Geftal- 
tung ber flüffigen ober fefteren Theile benugt wird. Namentlich 
ift in jedem, auch dem Bleinften Theile des menfchlihen Leibes, 
mit dem fchon erwähnten Kohlenftoff zugleih auch Waſſerſtoffgas 
enthalten. Aber zu diefen beiden fommen noch zwei andere Grund: 
floffe, aus deren Gemenge zunaͤchſt der Luftkreis zufammengefegt 
ift, welcher unferen Planeten von allen Scten umhuͤllt. Ein 
Vebergang aber zur näheren Betrachtung der Gemengtheile der 
Atmofphäre und der Eigenfchaften derfelben fol uns eine kurze 
Erwähnung der Lufefhifffahrten gewähren, welche uns vortäufig 
Gelegenheit geben wird, den Luftkreis und einige ber Bilbungen, 
bie in ihm vorgehen, im Ganzen, wie der hindurch fliegende Vo⸗ 
gel Died vermag, in's Auge zu faflen. 


28. Die Luftfhiffertunft. 


Ein eiferner Anker, den mir ins Meer binablaffen, finft, 
durch feine eigene Laft gezogen, fogleih in den Fluthen unter und 
reißt fogar das Seil, an dem er: befeftige iſt, mit ſich hinab bis 
dahin, mo er auf einen feften Grund trifft, der ihn nicht tiefer 
finten läßt. Das Wafler des todbten Meeres ift, vermöge der vie- 
len falzigen Theile, die es aufgelöft enthält, fo dicht und ſchwer, 
daß ein Menſch, der aud niemals fchwimmen gelernt hat, ohne 
ale Mühe fid) auf dbemfelben ſchwimmend erhalten kann, wäh 
rend ein Stud Kreide, obgleich daffelbe verhäftnifmäßig viel we⸗ 
niger wiegt als ein Kiefelftein, in bemfelben zu Boden ſinkt. Aber 
ſelbſt ein Stud Eifen geht in dem flüffigen Quedfilber nit un- 
ter, fondern ſchwimmt darauf fo leicht, wie ein Stuͤck Korkholz auf 
dem Waſſer. Wie ein kleines Länglihes Stuͤck Hollunbermark, 


28. Die Luftfhiffertunft. 181 


deſſen eines Ende mit ein wenig Blei beſchwert ift, zur Beluſti⸗ 
gung unferer Kinder ſich immer wieder mit dem befchwerten Ende 
nad unten, mit dem leichteren nad) oben aufftellt, fo fteigt in 
jeder Flüffigkeit der Körper , der leichter ift denn fie, empor, ber 
aber , welcher ſchwerer iſt, finkt unter in Ihr. j 
Die Kunft, auf dem Waffer zu fahren, wurde ſchon in frühes 
fter Zeit von dem Menfchen erfunden und geübt, denn ihre Ex 
findung war demfelben fehr nahe gelegt. Die Mittel zur Beſchif⸗ 
fung des Gewaͤſſers bot ihm die ganze Pflanzenwelt, bot ihm faſt 
jeder Baum dar, denn nur wenig Arten des Holzes find, tie 
das Burbaum - und Mahagoniholz, ſchwerer denn Waffer, fo 
daß fie in diefem unterfinten, die meiften anderen ſchwimmen, weil 
die feften Theile, aus denen fie zufammengefügt find, nicht fo dicht 
und feft an einander fchließen, wie die Semengtheile eines Stei⸗ 
ned. Schwimmt doch felbft ein Schiff, das aus dünn ausgetrie⸗ 
benem Eifen oder Kupfer geformt ift, auf dem Waſſer, weil feine 
weite Höhlung zunächft nur atmofphärifche Luft enthält, die 770 
mat leichter ift als das Waſſer. Ä 
Der Wunſch, niht-nur auf dem Waffer, fondern in unb 
auf dem luftigen Meere der Atmofphäre herumzufahren, mußte 
fi) dem Menfchen öfters aufbringen, wenn er bie Bewohner der 
Lüfte, die Vögel und geflügelten Inſecten, fo leicht in der Luft 
Ihweben und herumfliegen ſah. Den Vögeln namentlich ift die⸗ 
fe8 dadurch möglich gemacht, baß ihr Leib in feinem Innern wie 
nad außen eine Menge hohler Behältniffe hat, die mit Luft er- 
füllt find, denn die Spuhle jeder Feder, ja felbft die Röhren der 
Knochen der Vögel find ſolche Behältniffe, und mitten im Innern 
ihres Leibes finden ſich fadartige Weitungen, welche mit den Lun- 
gen In Verbindung ftehen, und beim Athmen fi mit Luft fül- 
en. Hierzu kommt die wunderbar mweislihe Einrihtung ihrer 
Slügel und ihrer Schwanzfedern, welche bei ihrer Ausbreitung nicht 
nur einen natürlichen Fallſchirm bilden, fondern beren rudernde 
Bewegung durch ein Getriebe und durch Lebenskräfte der Mus- 
kein bewirkt, ſo wie unterhalten wird , deren Vollkommenheit die 
menfchliche Kunft vergeblich zu erreichen ſtrebt. Was jedoch der 
Geſchicklichkeit der Hände nicht gelingen wollte, das gelang befto 
leichter der Phantafie und ihren mährchenhaften Dichtungen; denn 
wie einft Daͤdalus und Ikarus mit mwächfernen Zlügeln fi der 
Sefangenfchaft des Minos entzogen haben follten, fo fabelte man 
auch von einem großen Mathematiker bes Altertbums: von Ar⸗ 
Hytas, daß er das Kunſtwerk einer hölzernen Taube zumege ge- 
bracht habe, welche, gleich einer natürlichen, in der Luft flog. 
Diefe und ähnliche, fpäter erfundene Dichtungen fanden den- 
noch hin und wieder Leute, die fie für wahr hielten und hierdurch 
zu Verfuchen fich verführen ließen, welche Mehreren von ihnen das 
Reben koſteten. Ob der Italiener Gtovanni Battifta Dantes aus 
Perugia, zu Ende des 15ten Jahrhunderts, mittelft feiner Flug⸗ 


+ 


182 28. Die Lufifchiffertunft. 


mafchine wirklich mehrere Male glüdtich über den Thrafimener See 
gekommen fei, ehe er, bei einem fpäteren Verſuche der Art, wo er 
fi) von einer Anhöhe über die unten liegende Drefhaft hinweg⸗ 
ſchwingen wollte, herabſtuͤrzte, laſſen wir dahin geftellt fein. We 
nigitens kam ber kuͤhne Abenteurer mit dem Leben, bleß mit 
einem zerbrochenen Bein davon, weil er zu feinem Glüd auf einen 
Thurm gefallen war, während em ähnlicher Flugverfud dem ge- 
lehrten Dlivier de Malmesbury in England und dem Badwelle in 
Dadua den Zod bradıte. 

Etwas ganz Anderes ift es für den Menfchen, im Waſſer zu 
f[hwimmen, als in ber Luft. Denn fein: lebender Körper iſt in 
ber Regel nicht ſchwerer, ja fogar noch ein wenig leichter als bas 
Waſſer, waͤhrend das Eigengewicht des Menfchenleibes zu jenem 
der leichten Luft in einem faft hundertfad größeren Verhaͤltniß 
fieht, als die Schwere des Eifens zu der des Waſſers. Durch 
Erwägung diefer Schwierigkeit fprachen einige andere Gelehrte, na⸗ 
mentlich Lana in Brescia und Sturm zu Altdorf (bei Nürn- 
berg), jener im 3. 1670, diefer 1678 den Gedanken aus, daß die 
Erhebung eines feften, vielleicht fchiffartigen Körpers in die Luft 
nur dadurch koͤnne möglich gemacht werden, daß man benfelben 
mit Hohlkugeln in Verbindung fege, welche leichter wögen, als bie 
Luft und deshalb von felbft in diefer emporfliegen, Die Erfindung 
der Luftpumpe, welde Dtto von Guerike zwei Sahrzehende 
vorher gemacht hatte, fchien ein Mittel darzubieten zur Ausfüh- 
rung jenes Gedankens. Denn eine luftleere Dohlkugel, wenn bie 
Maffe, aus welcher fie beftünde, nicht zu ſchwer wäre, müßte fich, 
fo fehien es, in der Luft. erheben können. Allein, woraus follte 
eine ſolche, inwendig luftleere Hohlkugel gemacht werden, wenn man 
berfelben eine Zeftigkeit geben wollte, hinreihend, um dem unge 
heuren Drud zu widerftehen, den die Atmofphäre auf jeden Puntt 
der Erdoberfläche ausübt (m. v. C. 30), Diefer Drud beträgt auf je- 
den Slächenraum von einem Quabdratfuß 22162/, Wiener Pfund; 
ein dünnes Metallblech wird von ihm zufammengepreft, die dich 
tefte Blafe, über einen Iuftleeren Raum gefpannt, wird zerfprengt. 
Daher war der Gedanke des Pater Galien zu Avignon, den 
derfelbe im Jahr 1755 ausfprady, daß folche Hohlkugeln nicht Leer, 
fondern nur mit einer fpezififch leichteren Luftart gefüllt fein muͤß⸗ 
ten, deren Dehnkraft dem Drud von außen das Gleichgewicht hal: 
ten koͤnne, nicht ganz unrichtig, fo abenteuerlich auch der Vor: 
fhlag zur Ausführung erfcheint, daß man jene Luftart aus den 
oberen, luftbünneren Räumen der Atmofphäre herabholen ſolle. 
Man bedurfte diefes wunderlichen Mittels nicht, um die Hohlkugeln 
oder luftdichten Side nach Galien's Angabe mit einer Gasart zu 
füllen, welche an Dehnkraft der atmofphärifchen Luft gleih und 
babei um eben fo viel leichter iſt, als das Waffer im Vergleich 
zum Quedfilber, Der berühmte englifche Chemiker Henry Ca: 
vendifh (geb, zu Nina im I. 1731, .geft. 1810 zu London), 





23 Die Luftſchifferkunſt. 183 


Diefer an. inneren Gaben wie an Außeren Gluͤcksguͤtern gleich reiche 
Mann, entdedte im I. 1766 die große Leichtigkeit des Waſſer⸗ 
ft offgafes und hierwit war für die Geſchichte der Luftfcifferei 
eine neue Bahn gebrochen. Seifenbiafen, mit brennbarer Luft ger 
füllt, fahb fhon Kragenftein im J. 1776 außerorbentlich ſchnell in 
der Luft emporfteigen, Cavallo's Berfuhe im I. 1782 mißlangen 
jedoch, weil das Seidenpapier bie Luft durchließ, Ninderblafen aber 
gu Schwer waren. 

Es wur, verhältnifmäßig, nur noch sine Beine Schwierigkeit 
zu überwinden, welche in der Zubereitung bes Iuftdichten Materials 
lag, aus dem der Ballon gebildet werden follte; dieſer legte Schritt, 
der noch zu thun war, gelang bald hernady zweien Maunern, welche 
ſich dadurch, obgleich Keine Gelehrten von Profeflion , einen bleis 
benden Namen in der Geſchichte der Erfindungen erworben Haben; 
den Brüdern Stephan und Robert Montgolfier, Befigern einer 
Papierfabrik zu Annonay in Vivarais. Schon im Jahr 17 
war ed ihnen im Kleinen gelungen, bloß durch erhiste Luft Bal⸗ 
(ons zur Höhe der Zintmer, dann zur Höhe der Haͤuſer empor: 
fteigen zu laſſen, und ſchon dieſe Verfuche, welche anjest Jeder 
von und als ſtuͤmperhaft verlahen würde, fanten in ber Mähe, 
wie in ber Ferne eine große Theilnahme, die ſich noch viel. höher 
fteigerte, als den heiden Brüdern die Fertigung eines ziemlich Iufts 
dichten Leinwandballons gelang, deſſen Inneres mit Papier gefuͤt⸗ 
tert war und befien Umfang 110 Zuß betrug. Diefer Ballon 
ha:te nad) unten eine Deffnung, in welche man die erhißte Luft 
eines Feuers, das mit Stroh und mit gekrempelter Wolle unter 
halten wurde, hineinſteigen ließ. Die verhaͤltnißmaͤßig größere Leich⸗ 
tigkeit der durch die Wärme verdünnten Luft bewirkte nicht bloß, 
fobatd der Ballon damit gefüllte war, daß diefer felber,. obgleich 
fein Gewicht 450 Pfund betrug, emporftieg, fondern,, daß er auch 
noch eine Laft von mehr denn 400 Pfund mit fid) emporhob, und 
zwar fo fchnell, daß er in Zeit von 10 Minuten die Höhe von 
6000 Fuß erreichte, wobei er durch die Luftficömung, welche an 
jenem Tage (ed war der fünfte Juni) nicht fehr flar€ war, eine 
Stiede Weges von faft drei viertel Stunden hinmweggeführt wurde, 
und dort zu Boden fiel. 

Die Zeitungen waren voll von den Berichten über diefen erften 
gelungenen Sieg ded Menfhen über ein Dinderniß feiner Natur, 
Das diefe unter die Natur des Vogels ftellt, fie hatten aber wenig 
Monnte nachher von- viel wichtigeren Siegen derſelben Urt zu reden, 
Profeffor Charles in Paris, der zur Sertigung feines aus Taf—⸗ 
fet gebildeten und mit dem Firniß des elaftifchen Harzes überzogenen 
ſcheinbar vollkommen gefhloffenen Ballons die Gebrüder Robert 
zu Huͤlfe nahm, wendete zuerſt, ftatt der durch Wärme verduͤnn⸗ 
ten Luft, das leichte MWafferftoffgas zur Fuͤllung an; fein Ballon, 
der nur 12 Fuß im Ducchmeffer betrug, flieg bei dem erften Ver⸗ 
ſuche, der. am 27. Auguft 1783 auf dem Marsfelde bei Paris mit 


184 28. Die Luftſchifferkunſt. 


ihm gemacht wurde, in Zeit von 2 Minuten gegen 3000 Fuß 
hoch empor, verlor ſich dann, von den Wolken verdeckt, aus den 
Augen, nahm aber drei Viertelſtunden nachher ſeine Richtung wie⸗ 
der hinabwaͤrts nach dem muͤtterlichen Erdboden, auf welchem er, 
fuͤnf Stunden Weges von dem Ort ſeines Aufſteigens, ſich niederließ. 

Den Phyſikern, fo wie allen Freunden der neugebornen Luft⸗ 
ſchifferkunſt wäre es lieber gemwefen, wenn ber Ballon, wie Noah's 
zulegt aus der Arche entlaflene Taube niemals zum heimathlichen 
Boden zurüdgelehrt wäre, fondern feinen, für Menfchenaugen 
unerforfchbaren Lauf, wer weiß, wie lange? in den Höhen be 
Luftkreiſes fortgefegt hätte, bemn dieſes wäre ein Zeichen gemefen, 
baß die Wände der taffetnen Hohlkugel dicht genug waren, um ber 
emporhebenden , brennbaren Luft gar keinen Ausgang zu geflatten, 
welcher jederzeit das Miederfinken zur Kolge haben muß. Um biefe 
Undurchdringlichkeit der Wände zu bewirken, wendete H. Romain 
zu Parid einen neu erfundenen Firnif an und ein Ballon, ben 
der Bierbrauer Kaps zu Danzig gefertigt hatte, ſchien wirklich die 
Aehnlichkeit mit Noah's nicht zuruͤckkehrender Taube erreicht zu ha 
ben, denn, nachdem er drei Monate lang bie brennbare Luft in 
feinem Inneren, ohne Verminderung, erhalten hatte, entflog er, 
bei einem Verſuch im Ferien, ben leichten Banden, daran man 
ihn halten wollte, und man weiß nicht, welchen Weg derfelbe feit: 
dem über Meer und Land genommen hat. 

Noch war kein lebendiges Weſen mit den aöroftatifchen Hohl 
tugeln in bie Luft gefliegen, und die erflen, benen man biefe Ehre 
vergönnte, könnten Über die gemachten Erfahrungen bei ihrer Luft 
reife nichts ausſagen, obgleich man ihnen ein Barometer mit in 
ihren Korb gegeben hatte, denn dieſe erften Luftfchiffer, welche ber 
jüngere Montgolfiee am 19. September zu Berfailles, in Gegen 
wart bes Königs, in die Höhe fleigen ließ, waren ein Hammel, 
ein Hahn und eine Ente. Diefen dreien gelang die erzwungene 
Luftfahrt aufs Beſte, fie kamen eine Stunde weit von Paris un- 
verfehrt zum Boden nieder. Was dem Hammel, bem Hahn und 
ber Ente fo wohl gelungen war, das durfte doch jest wohl aud) 
der Menfch wagen, doc, mwurbe der erſte Verfuch der Art noch mit 
großer Behutfamkeit gemacht, man hielt den Ballon, mit welchem 
der Phyſiker Pilatre de Rozier, vier Wochen fpäter als ber 
Hammel, der Hahn und die Ente emporftieg, an Streiden feft, 
fo daß er fi nur zu 84 Fuß Höhe erheben konnte und ſchon nad 
4 Minuten 309 man ihn wieder zum Boden. Noch eine etwas 
kuͤhnere Luftfahrt, welche derfelbe Gelehrte vier Tage nachher (am 
19. Det.) unternahm, war gelungen, obgleich fi her Ballon zu: 
erft mit feinen Striden in Thurmeshöhe an Bäumen verfangen 
hatte, und fchon hatte der Muth zu folhem Unternehmen. fih fo 
gefteigert, daß felbft der Marquis von Arlandes fi) dem jungen 
Phyſiker zum Gefellfhafter anbot für die erfte, etwas größere Luft: 
veife, die am 21. November vom Schloffe la Muette unternom- 





.. u — eo — — 


— EEE ER Oo EEE ... TE Wi 270 1 TE ia —— — ... BB mM 7 T_ MI nn — Ten 


28. Die Lufeliffertunft. | 185 


men wurde, und melde die beiden Reifenden in Zeit von 25 Mi⸗ 
nuten zuerft in bedeutende Höhe, dann faft 3 Stunden weit von 
la Muette hinwegfuͤhrte. Sie kamen mohlbehalten, und nicht 
wenig erfreut über das Gelingen ihrer Fahrt, zum Boden. Ihre 
Beifpiel reiste alsbald auch Andere zur Nacheiferung auf. Nas 
mentlich wollte Charles, ber unter den Begründern der Aero⸗ 
ſtatik einer ber Erſten geweſen war, bei der wichtigiien Anwen⸗ 
dung diefer neuen Kunft nicht dahinten bleiben, auch er trat jest, 
in Gefellfhaft des einen der Gebrüder Robert, am 1. Dec, eine 
Luftreife an, welche an prunkhafter und mwohlgelungener Ausfühs 
rung die Verfuche der Vorgänger weit hinter fich ließ. Der mög» 
lichſt vornehmſte Punkt der Hauptſtadt, die Zuilerien, waren zur 
Stätte bed Auffteigens beflimmt. Iwanzig Minuten vor zwei Uhr 
des Nachmittags fah man, vom Glanz ber Sonne beleuditst, den 
ſchoͤnen aus buntem Taffet gebildeten Ballon ſich erheben, welcher 
eine Art von Triumpfwagen, an Seilen gehalten, mit ſich in die 
Luͤfte trug, darinnen die beiden Beſtuͤrmer der Wolkenregion ihren 
Sitz hatten. Bald erhoben fie ſich zur 5 und 6 fachen ‚Höhe der 
Thuͤrme der Hauptſtadt und biefer Höhe von nahe 1800 Fuß über» 
ließen fie zwei Stunden lang ihren Ballon der mäßigen Strömung 
des Windes, die fie neun Stunden Weges von Paris in die Ge- 
gend von Nestle führte. Herr Robert hatte jest genug an dem 
Vergnügen der fühlen Sahıt , man öffnete, um ben Ballon zum 
Sinken zu dringen, einige Klappen an demfelben, durch welche 
ein heil der Teichten, brennbaren Luft aus-, unb eben fo viel 
ſchwerere atmofphärifche Luft einftrömte; der Gefährte trat heraus 
auf den fiheren Boden, H. Charlesaber flieg mit dem von Neuem 
gefehloffenen Ballon, der jest 130 Pfund weniger zu tragen hatte, 
noch einmal bis zu einer Höhe von 9000 Fuß (gleich jener des 
Aetnagipfels) empor. Die Befchwerden der eifigen Kälte und der 
dünnen Zuft, dort in der Megion bes beftändigen Froſtes wurben 
nicht allein durdy den Genuß aufgewogen, den. die mächtig weite 
Ausficht auf das von der Abendfonne beleuchtete Land gewährte, 
fondern faft mehr noch durch den Meiz bes Gedankens, daß bis⸗ 
her noch keinem Erdenbürger ein folcher Fühner Aufſchwung in die 
Höhen gelungen ſei. Die Gonbel, darin der gluͤckliche Sterbliche 
faß, hatte nicht umfonft die Geftalt eines Triumphwagens; als 
diefeibe nach 35 Minuten bei einem Gehölz unweit Zour du Pay 
fi) zur Erde niederließ und Herr Charles mwohlgemuth und un- 
verfehrt aus bderfelben ausftieg, da feierte die Kunft des Menſchen 
einen ihrer augenfaͤlligſten Siege. 

Es trat aber jetzt ein anderer Mann, einer der gluͤcklichſten 
Abenteurer ſeiner Zeit, auf den Schauplatz, Franz Blanchard, 
der die Leute dir verſchiedenſten Laͤndet mehr von ſich zu reden 
machte, als alle ſeine Vorgaͤnger und Mitgenoſſen auf jener neuen 
Bahn des Ruhmes. Blanchard, geboren 1738 zu Andely im De⸗ 
partement der Eure, war Mechaniker von Profeſſion, und hatte 





186 28. Die Lufefchifferkunfl. 


fi) von Jugend an mit allerhand Entwürfen. und Verſuchen zu 
Erfindung einer Flugmaſchine befchäftige. Ohne Aufbören, im 
Schlafen wie im Wachen, übte feine lebhafte Einbildungskraft die 
Kunft des Fliegend, endlid, nachdem er zwölf Jahre lang gear: 
beitet hatte, um fein Zraumbild zu verwirklichen, glaubte er am 
Ziele zu fein; er trat im Jahr 1782, einige Monate vorher, als 
Mpntyolfier feinen Ballon durch Dampfe zum Steigen bradıte, in 
Paris, zuerft mit einer Aufforderung, ihn mit Geld zur Fertigung 
feines Luftfchiffes zu unterftügen, dann, nad) Erreichung feine 
Zweckes, mit einer pomphaften Ankündigung feiner bevorftehenden 
Luftveife auf, wobei er verfprady, ſich mittelft der vier Flügel feines 
feltfamen Schiffes bis in die hoͤchſten Regionen der Lüfte zu er 
heben; dort angelangt, wolle er einen unermeßlihen Weg tn Eurzer 
Zeit zurücklegen, wolle ſich nach Belieben da oder dort nieberlaffen, 
felbft auf dem Waffer, weil fein Schiff aud zum Befahren der 
Fluthen eingerichtet fei. Schneller denn ein Nabe wolle er die Luft 
durchſchneiden, ohne dabei außer them zu kommen, denn eine 
Larve, von kunſtreicher Erfindung, vor fein Geficht gebunden, 
werde dies hindern. Gelbft bei mwidrigem Winde, nur nidt bi 
Stürmen, werde er, zwar langfamer als gewöhnlich, dennoch aber 
geſchwinder als das befte Segelfchiff bei gutem Winde, feinen Lauf 
verfolgen. 

Diefe prahlerifche Anzeige mar in dem vielgelefenen Tagblatt 
von Paris erfhienen, und hatte in Taufenden von unwiſſenſchaft 
lihen Köpfen die lebhaftefte Neugier und Theilnahme erregt. Der 
Schwindel verbreitete ſich unter allen Ständen, fo daß ber große 
Mathematiker und Aftronom Ia Rande es für feine Pflicht hielt, 
einen Brief an die Herausgeber des Tagblattes zu veröffentlichen, 
worin er das Ungereimte und Unausführbare des Blanchard’ihen 
Planes: in die Luft, durch mechaniſche Kräfte zu fliegen, ſattſam 
aufdedte. Die anftedende Macht jedoch, welche die Narrheit eine 
Menfhen, wenn fie mit ungewöhnlihem Selbftvertrauen gepaart 
ift, auf andere Menfchen äußert, bewährte ſich auch bei dieſer Ge 
kegenheit. Diele zwar zweifelten, Andere fpotteten, noch Andere 
aber, unter denen felbft der Ingenieur und Eonigliche Graveut 
Martinet war, . vertheidigten die Möglichkeit, und diefe Alte waren 
eben fo wie der große, leichtgläubige Haufen, begierig den Verſuch 
zu ſehen. Als der halb närrifche Mechanikus einen Tag beftimmte, 
an dem er fein geflügelses Luftſchiff dem wißbegierigen Publicum 
zeigen wollte, war bie Nachfrage, nach den Plägen zum Zuſchauen 
fo groß, daß der Raum, der zu jener Schaubelufiigung beftimmt 
war, nicht zureichte, und die Sache unterbleiben mußte. Die al 
gemeine Neugier wurde indeß auf einen anderen Tag vermiefn; 
am 26. Aug. (1182) follte, nach einer öffentlichen Ankündigung 
des Ingenieur Martinet, wenn nicht bedeutende Hinderniſſe de 
zwifchen traͤten, Blanchard vor den Augen von ganz Paris in die 
Luft fahren. Solche Hindernifje mochten fich aber wirklich einge 


— un — 


— — 


28, Die Luftſchifferkunſt. 187 


ſtellt haben; Here Blanchard, welcher, well ihm das Windmachen 
fo wohl gelang, fich zur Herrfchaft ber Vufe und Winde befähigt 
hielt, ließ am feftgefesten Tage zwar viel von fih hören, Nichts 


aber von fich fehen; das ſchauluſtige Publicum mochte ſich für feine 


getäufhhte Erwartung an dem Anblid ber vier Kupfertafeln fchads 
108 halten, auf denen Herr Martinet das abenteuerliche Luftſchiff 
von vorn. und von hinten, von außen und innen vorgeftellt hatte: 

Blanchard mit feinen Prahlereien trat jetzt in die Vergeffen- 
heit zurück, aus welcher er ſchwerlich wieder aufgetäuche fein wuͤrde, 
wenn nicht ihm, dem wahrhaften Gluͤckskinde, die kurz nachher 
gemachten Entdedungen der Gebrüder Montgolfier und des Pros 
feffor Charles bei der Verwirklichung feiner Träumereien zu flatten 
gefommen mären. Plöglih, nachdem durch Hülfe ber Ballon 
fhon manche Luftreife gelungen war, trat der dem. Winde befreun- 
dete Mann von Neuem öffentlich auf, mit einem von ihm erfun= 
denen Luftfchiff, an welchem zwar der Ballon die eigentliche Haupt⸗ 
ſache war, daran jeboch vor Allem bie zu beiden Seiten angebrache 
ten Paare von Flügeln, das: Steuerruder, Ankerfeit und nach 
unten ein mächtig großer Fallſchirm in's Auge fielen. Der Mann 
wollte alle feine Vorgänger in der Luftfahrt darinnen weit über: 
treffen, daß er nicht nur m die Höhe fliege‘, fondern daſelbſt auch 
nach Belieben, wie ein Vogel, da= oder dorthin feinen Flug lenkte, 

Vielleicht Fam der Unfall, der das kuͤnſtliche Machwerk bei 
dem erften Verſuch zur Auffahet, im Anfang des März 1784 traf, 
nicht ganz ungelegen. Ein Student, der fih dem Blanchard zum 
Reifegefährten aufbringen wollte, zerbrach in feinem ungeftümen 
Eifer die Flügel und den Fallſchirm des Luftfchiffes, und als 
Blanhard. mit dem blofen Steuerruder und Ankerſeil verfehen, 
dennoch emporftieg, durfte man den verfprochenen Vogelflug nicht 
von ihm erwarten, fondern mußte ſich genügen laffen an der Ber 
fiherung bes felbftzufriedenen Luftſchiffers, daß er bei feiner Fahre 
gerade fo hoch als Rozier, nämlich bis zu 9000 Fuß geftiegen 
fi. Noch in demfelden Monat entzüdte Blanchard die Bewohner 
von Rouen mit einer Luftfahrt, wobei abermals ein Unfall eintrat, 
indem ber Wind das Steuetruder zerbrach und nur .bie Flügel un: 
verſehrt ließ. Einmal nody in Rouen, dann aber mehrmals kurz 
hinter einander in England, betrieb er fein einträgliches Gewerbe, 
und jest war das Vertrauen auf fein Gluͤck fo gewachſen, daß er 
ſich zu feiner kühnften That erhob: zur Ueberfahrt von England 
nad) Frankreich über ben Kanal, Ein Ballon, mit Wafferftoffgas 
gefüllt, der bereits 5 Luftfahrten glücklich beftanden hatte, trug die 
Gondel, in welcher neben Blanchard der Amerikaner Dr. Sefferins 
ſaß; aus einer unüberfehbaren Menge von Zufchauern erhoben fich 
die beiden -Luftheiden am 7. Januar 1785 bei Dover, und- trieben; 
vom Winde geführt, mehrere Thuͤrme hoch über das wogende Meer 
bin. - Bald aber hätten fie Urſache gefunden, ihre Kühnheit zu bes 
un. Das Gas entwich ſchnell aus dem Ballon, diefer drohte 


188 28. Die Luftſchifferkunſt. 


in's Meer zu ſinken; bie Luftfchiffer warfen ihren 30 Pfund be⸗ 
tragenden Ballaft, warfen dann alle ihre Geräthfchaften und felbft 
einen Theil ihrer Kleider in das nahe unter ihnen braufende Meer. 
Dennod) wären fie verloren gewefen, wenn der Wind fie nicht noch 
zur rechten Zeit hinübergebracht hätte zur franzöfifhen Küfte, in 
deren Nähe zu ihrer großen Freude der Ballon fi wieder bob, 
und fie unverfehrt bi6 in den Wald von Guienne, eine Stunde 
Weges von Calais, brachte. Ein Denkmal, das man dort dem 
Blanchard zu Ehren errichtete, follte das Andenken an feine That 
erhalten, deren glüdliches Gelingen ihm ber König von Frankreich 
mit einem Geſchenk von 12,000 Franken und durch die Zufiherung 
eines Sahresgehaltes von 1200 Fr. belohnte. 

Dem abenteuerlihen Manne, dem es an allen tiefen gruͤnd⸗ 
lihen Kenntniffen in ber Naturlehre und felbft in der angewand⸗ 
ten Mathematik fehlte, der fi in feiner eitlen Selbflerhebung bald 
hernach überall als den „„Aöronauten beider Hemifphären, Bürger 
der vorzüglichfien Städte beider Welten, Mitglied fremder Akade⸗ 
mien“ ankuͤndigte, mar ohne viele Leberlegung und. angewendete 
Borficht das Unternehmen gelungen, bei deſſen Verſuch bald nach⸗ 
ber ein trefflicher, gründlich unterrichteter Phyſiker, der erft nach 
langer Weberlegung, mit allen Foͤrdernißmitteln, welche die Wiſſen⸗ 
[haft an die Hand gab, die Ueberfahrt wagte, feinen Tod fand, 
Blanchard's Geſchichte kann uns zeigen, wie aufblähend das Gluͤck 
wirkt, wenn es viel größer ift als der Verſtand, und daß die laute 
Bewunderung der mitlebenden Menge keinen Maafflab des wirk- 
lichen Berdienftes abgebe. Mit al’ feinen glüdlih gelungenen 
Luftfahrten, deren er bei feinem Tode, im 3. 1809, 66 zählte, 
bat er der Wiffenfchaft fo mie der Nachwelt Eeinen eigentlichen 
Mugen gebraht, obgleih Einige die Erfindung des Fallſchirms, 
welche dem Etienne Montgolfier gebührt, ihm zufchreiben 
wollten. Jenes Fallſchirmes, mittelft deffen er ſich zur Beluſtigung 
der Zufchauer, in verfchiedenen Kändern von Europa und Amerika, 
mehrmals, aus bedeutender Höhe herabließ und deſſen Kenntniß 
dennoch feiner Gemahlin, die nach feinem Zode das Gewerbe ber 
Luftſchifffahrten fortfegte, Nichts nüste, als fie im 3. 1819 in 
Paris in die Luft flieg, um die Zufchauer in der ſchoͤnen Sommer: 
nacht durd, ein oben abgebranntes Feuerwerk zu ergögen, wobei 
der Ballon in Brand gerieth und die bedauernsmwürbdige Heldin fich 
zu Tode fiel, 

- Während Blanchard's Name fo wie feine Thaten -allenthalben 
die lauteſte Bewunderung erregten, und alle ähnlichen Unterneh: 
mungen zu verdunfeln fchienen, waren die wifienfchaftlich gebildeten 
Förderer und. Begründer der LKuftfchifffahrt, ohne viel Laͤrmen da⸗ 
mit zu machen, bemüht, ihrer. Kunſt eine größere Sicherheit ünd 
befiere Vollendung zu geben. Der Phyſiker Rozier war nad 
Lyon zum Älteren. Mongolfier gegangen, und hatte mit diefem ei- 
nen Ballon von mehr denn 12,000 Fuß Stächeninhalt „gefertigt. 








8. Die Lufefchiffertunft. | 189 


Es zeigte fi indeß bei der Auffahrt, bei der noch 7 andere Per: 
fonen den. Phyſiker begleiteten, daß mit: ber Größe zugleih aud) 
die Möglichkeit einer Beſchaͤdigung fich fteigere, denn der riefen: 
bafte Ballon, als er bis zur Höhe von 3000 Fuß ſich erhoben, bes 
kam nah 15 Minuten einen Riß, ſank jedodh zum Gluͤck nur 
lanyfam nieder. Alle Verſuche, felbft die der Brüder Mobert und 
der Derren Alban und Vallet, dem Luftfchiff duch Anwendung 
von Rubern eine beftimmte Richtung feiner horizontalen Fortbe⸗ 
wegung zu geben, -blieben zweifelhaft und haben ſich, wenigſtens 
bei ihrer Wiederholung durch Andere, nicht bewährt. Dagegen ge: 
lang es dem Phyſiker Rozier und nad ihm Mehreren, namentlid) 
dem Grafen Zambeccari, duch ein fehr einfadhes Mittel eine 
größere Erhebung fo wie das Sinken der Monsgolfiere in ihre Ge⸗ 
malt zu bringen. Diefes Mittel war durch die Anmwendung einer 
Weingeiſtlampe gegeben, an ber fich durch Deffnen oder Schließen 
von eben fo viel Klappen eine gewiffe Zahl von Flammen entzüns 
den und wieder verlöfchen ließ. Die Erhigung und die hiermit bes 
wirkte Ausdehnung .der Luft im Ballon Eonnte fhon durch eine 
geringe Vermehrung oder Verminderung der Weingeiftflamme fo 
merklich gefleigert oder herabgefeßt werden, daß der Ballon, je nach⸗ 
dem man mollte, binnen wenig Secunden in größere Höhen ges 
trieben oder binnen wenig Minuten zum Boden gefentt wurde, 
Obgleich jedoch bei der Stellung eines folchen, etwa tingfürmigen 
Lampenkranzes, unten am Halfe der Montgolfiere, die möglichfie 
Vorfiht beobachtet wurde, war diefes Mittel dennoch mit großer 
Gefahr verbunden, da bei ben öfteren, ſtarken Windftößen, denen 
der leichte Ballon oben in der Höhe ausgefetzt ift, der Weingeift 
verfhüttet werden und hierbei fih dee Ballon entzünden kann, 
Vielleicht durch einen ähnlichen Unfall wurde der unglüdlihe Aus⸗ 
gang des zweiten Unternehmens herbeigeführt, das die franzöfifchen 
Luftfchiffer zur Weberfahrt über den Kanal machten. Man hatte 
fi für Diefen zweiten Verſuch, in der Luft über das Meer zu gehen, 
einen wenigſtens eben fo günftigen Ausgang verfprocdhen, als bei 
dem erften von Blanchard gewagten, benn ber diesmalige Unter: 
nehmer war ein gründlich unterrichteter Phyſiker, die Jahreszeit 
war ſcheinbar die günftigfte, und alle Vorkehrungen zu der Fahrt 
waren, wie.fhon erwähnt, mit der forgfältigften Ueberlegung ges 
troffen. Rozier hatte, um mittelft feines Lampenapparates das 
Emporfteigen und Sinken bes Aöroftaten mehr in die Gewalt zu 
befommen, unten an dem mit Wafferftoffgas gefüllten Ballon noch 
eine Montgolfiere angebracht, So mie Blanchard gethan hatte, 
nahm auch Rozier einen Gefährten und Zeugen. mit fih: den 
Parlamentsadvocaten Romain aus Boulogne. Blanchard war 
von England aus herüber nach Frankreich geflogen; der diesmalige 
Flug follte umgekehrt von der franzöfifchen Küfte bei Calais, hin: 
über nach der englifchen, bei Dover gehen. Der 14. Juni war 
zu der Auffahrt beſtimmt; des Morgens bald nach 7 Ubr flieg ber 


1% 2. Die Luftſchiferkuuſt 


Ballon mit den beiden Gelehrten majeſtaͤtiſch empor; der Suͤdoſt⸗ 
wind, in deffen Strom fiein einiger Höhe geriethen, ſchien das 
Fahrzeug in gerader Richtung feinem Ziele entgegen zu führen, 
Bald aber feste fih der Suͤdoſt in entſchiedenen Oftwind um, und 
biefer Veränderung folgte eine noch viel ungünftigere: eine Luft⸗ 
frömung aus Sübmeft trieb den Ballon von dem Meere her mie: 
der zuruͤck nach der franzöfifchen Küfte, Die beiden waderen Maͤn⸗ 
ner follten wenigſtens ihe Grab nicht in den Fluthen, fondern im 
vaterländifhen Boden finden. Die brennbare Luft des oberen 
Ballons mochte in der gefährlihen Nachbarfhaft dee Montgolfiere 
entzündet worden fein, die ganze Vorrichtung jlürzte,. aus großer 
Höhe mit unbefchreiblicher Heftigkeit und Schnelle nieder; ihre 
Trümmer lagen anderthalb Stunden weit von Boulogne, nur we: 
nige hundert Schritte vom Meere entfernt, am Boden zerſtreut; 
die Körper der beiden Luftfhiffer waren .fo zerfchmettert, daB man 
kaum noch die menfchliche Geftalt an ihnen zu erfennen vermochte. 
Man begrub ihre Nefte zu Vimile. Go endigte der Mann, dem 
man fo gerne ein befferes Gluͤck gewuͤnſcht hätte, weil er unter 
Allen der Erſte gemwefen war, welcher feine eigene Perfon einem 
Luftfchiff anvertraut, und mit ihm fi in das unfichere Element 
emporgehoben, und weil er feitdem ſchon fo Vieles zur Verbeflerung 
jener Kunft gerhan hatte, welche ihm jest das Leben koſtete. 

Es war dies der erfte Sau, in welchem die neuerfundene Kunft 
der Aöronantit ein fo abfchredendes Unglüd herbeigeführt hatte, 
Denn, mit Ausnahme des franzöfifhen Malers Bouche, der ſich 
bei Aranjuez, als fein Ballon in Flammen gerieth, doch noch durch 
einen Sprung gerettet hatte, waren damals (im SI. 1785) ſchon 
35 Ruftfahrten, von 58 verfchiedenen Perfonen,. ganz glüdlich zus 
rüdgelegt worden. Unter diefen mar Madame Thible zu Lyon 
bie erfte ihres Geſchlechts, die das Wagſtuͤck am 4. Sunt 1734 
beftand. Weberhaupt war der Reiz, den das Erproben der herrlichen, 
neuerfundenen Kunft auf die Menfchenfeelen ausübte, fo gewaltig, 
und wurde buch Blanchard's fo mie ähnlicher Abentenerer fort 
währendes Gluͤck fo genährt, daB NRozier’s und Romain's Tod es 
nicht verhindern Eonnte, daß .die Lufterifen imraer häufiger und 
allgemeiner wurden. Zu den intereffanteflen. ihrer Art gehörte 
namentlich die von Erosbie, welcher in. Dublin emporflieg, um 
über den Kanal zwifchen Irland und England zu fliegen. Seine 
Bondel war zum Fahren in der Luft wie-auf dem Waſſer gleich 
bequem gebaut, und diefer Eimihtung verdankte er die Restung 
feines Lebens. . Denn der anfangs günflige Weſtwind, der ihn: ge 
raden Weges nad) England zu führen verſprach, fegte ſich in Morde 
oftwind um; der fühne Mann fand ſich jest, 40 englifche Meilen 
von ber irländifchen Küfte, im einer. Höhe, von welcher fich ihm 
zwar der Anblid von England mie ‚von Irland zugleidy darbot, 
wo über der Genuß, weichen diefe hersliche Ausſicht unter anderen 
Umfländen hätte gewaͤhren können, gar fee durch ben Einfluß ger 





28. Die Luftſchifferkunſt. 191 


ſchwaͤcht wurde, ben die umgebende Luft auf feinen Körper hatte 
Denn obgleich unten am Boden bie heiße Julifonne mit. voller 
Kraft fchien, war es dennod in ber Höhe, in der fich der Luft⸗ 
ſchiffer befand, fo alt, daß die Tinte des Schreibzeuges zu Eis 
wurde, und das Quedfilber im Thermometer bis in die Kugel 
herabfant. Dennoh mar died noch bei weitem nicht die größte 
Beſchwerde jener Luftfahrt. Crosbie hatte einen Theil des Gaſes 
aus dem Ballon entlaffen, um ſich in eine tiefere, mildere Region 
ı herunter zu laffen, da ergriff ihn ein Luftſtrom aus Norden, führte 
: fein immer tiefer finfendes Fahrzeug durch eine Wolfe, darin fich 
Blige ſehen, Donnerfchläge vernehmen ließen, und trieb ihn dann 
herab auf das Meer, deffen Wellen in die Gondel fchlugen, waͤh⸗ 
vend der noch immer oben ſchwebende Ballon vom Winde getrieben, 
das Fahrzeug mit ſich gegen die englifche Küfte hinüberriß, wo ein 
Schiff von Dunleary dem Aöronauten hilfreich begegnete, und ihn, 
fammt feinem Ballon mit fid in den fiheren Hafen nahm, 

Ein Luftfcjiffer, defien Eühne Fahrten und Abenteuer in Luft 
und Waſſer zu ihrer Zeit in mehreren Ländern von Europa große 
Theilnahme erregten, war der italienifhe Graf Zambeccari. 
Schon im Sahr 1783 hatte er in London einen Ballen von an 
fehnliher Größe in die Luft fleigen laſſen, und Hatte feitdem Vie⸗ 
les zur Vervolllommnung der Luftfchifferfunft beigetragen. Ale. er 
Ipäter — im October 1803 — mit zwei Begleitern in Bologna 
in die Luft fuhr, gelangte der Ballon zuerft in eine ſolche Höhe, 
daß die Luftfchiffer vor Kälte eritarrten, und der Graf felber fpäter, 
in Folge dieſer Froftbefhädigung, fih 3 Finger mußte abnehmen 
laffen. Aus diefer Höhe mollte man den Ballon herablaffen, er 
ſank aber in's adriatifte Meer, wo ein Schiffer die drei Männer 
rettete, der Ballon aber, nachdem man bie Seile zerfcehnitten, vom 
Winde bis zur türkifchen Feſtung Vihacz geführt wurde. Der da: 
fige Commandant ließ die vermeintliche Gabe des Himmels in 
Heine Stüde zerfchneiden, welche er unter feine Freunde vertheilte, 
Auh bei einer zweiten Fahrt im Auguft 1804 flieg Bambeccari 

zuerſt in die Region des ftärkiten Sroftes und ſank dann abermals 
gegen das adrintifhe Meer herab. Dennod konnte der Mann fei: 
nem ‚Eifer zu immer neuen Verſuchen keinen Einhalt thun, bis ev 
fih im J. 1812 zu Bologna bei einer. folchen Luftfahrt zu Tode fiel. 

: Was im Allgemeinen’ die bisherigen Reiftungen ber Luftfchiffer- 
funft, ſo wie die Erfahrungen betrifft, welche man bei den Auf; 
fohrien in die Höhe gemacht hat, fo ift man hierinnen in ſechzig 
Jahren noch nicht viel. weiter vorgefchritten, ald man in den erffen 
fünf Sahren nach der Entdedung Montgolfier's gefommen war, 
Man bat noch. eben fo wenig als damals ein ſicheres Mittel ge 
funden, die Luftfahrzeuge fo nad Belieben zu lenken, wie die Fahr⸗ 
zeuge auf dem Waffer; nur eine Erhebung in größere Höhen und 
eine Senkung nad der Tiefe kann man ihnen mitten .in Ihrem 
Fluge geben, und. hierdurch bewirken, daß das Fahrzeug aus einen 


* 





132 28. Die Luftſchifferkunſt. 


feinem Laufe ungünftigen Luftſtroͤmung in eine vielleicht guͤnſtigere 
komme. Im Ganzen iſt der Luftſchiffer der Macht der Winde da⸗ 
hingegeben, von deren Schnelligkeit und Richtung faſt ausſchließend 
die Schnelligkeit feiner Kahrt abhängt. Die größte horizontale Ge⸗ 
fhwindigkeit, die man an einem Luftfahrzeug beobachtete, war Die 
von 17? /, deutfchen Meilen in einer Stunde. Einen folhen Raum 
in ber angegebenen Zeit hatte das Luftichiff zurüdgelegt, in welchem 
Garnerin in Gefellfhaft des Capitäin Sowdon im I. 1802 
von London nad Colchefter fuhr. Der große Ballon, den man am 
16. Dec, 1804 zu Paris auffteigen ließ, fiel nad 22 Stunden am 
barauffolgenden Zage unmeit Rom nieder, die mittlere Gefchwindig- 
keit, womit er den gegen 230 Meilen betragenden Weg zum heil 
über hohe Alpengebirge zurückgelegt hatte, betrug demnach mehr 
denn 10 geogr. Meilen in einer Stunde. Die faft gleihe Ge 
fhwindigkeit zeigte Robertfon’s Luftfahrzeug bei Hamburg. Ein 
Heiner Ballon, den man am 16. Zuni 1804 in Gröningen auf: 
fteigen ließ, fiel nach längftens 12 Stunden bei Halle nieder, hatte 
mithin faft 5 Meilen in einer Stunde durchlaufen. 17/, Meilen 
in einer Stunde giebt 110 Zug, 10 Meilen geben 64 Fuß in einer 
Secunde; der Adler fliege in jeder Sec. 95 F. weit. 

Die lothrechte Gefchwindigkeit, mit welcher die gut gebauten 
Ballons in die Höhe fleigen, wurde in manden Fällen zu 30, in 
einem fogar zu 50 Fuß in der Secunde berechnet. Da das Auge 
hierbei in feiner Nähe keinen feftftehenden Gegenftand hat, nad 
welchem es die Schnelligkeit des Fortbewegens abmefjen kann, ſon⸗ 
dern da es dem Luftſchiffer auch bei der raſcheſten Bewegung ſeines 
Fahrzeuges ſcheint, als ob daſſelbe ſtill an einem Orte ſtaͤnde, ſo 
kann die mittlere Geſchwindigkeit nur nach der Zeit berechnet wer⸗ 
den, in welcher ein gewiſſer Endpunkt des Laufes erreicht wird, 
der bei dem Hinaufſteigen in die Hoͤhe nur aus der Beobachtung 
des Barometers (davon ſpaͤter) erkannt werden kann. Wenn bei 
der Auffahrt der Weg mitten durch Wolken hindurch fuͤhrt, ſtellen 
ſich dieſe dem Auge des Luftſchiffers nicht, wie uns von der Tiefe 
aus, als feſt umgraͤnzte Maſſen, ſondern etwa als herabhaͤngende, 
lappig zerriſſene Gewebe dar, die eben ſo ſchnell, als das Fahrzeug 
emporfaͤhrt, hinabzuſtuͤrzen ſcheinen. Der hoͤchſte, mit wiſſenſchaft⸗ 
licher Genauigkeit, durch den Stand des Barometers beſtimmte 
Punkt, bis zu welchem ein Luftſchiffer ſich emporhob, iſt der, wel⸗ 
chen der berühmte franzoͤſiſche Raturkundige Gay Luſſac, bei 
ſeiner Auffahrt am 16. Sept. 1804 erreichte. Derſelbe betrug faſt 
22,000 Fuß, uͤbertraf mithin die Hoͤhe des Chimboraſſogipfels um 
2000 Fuß, blieb jedoch noch immer unter der Hoͤhe des hoͤchſten 
gemeſſenen Berges der Erde: bes Kindſchindjinga im Himalaya⸗ 
Gebirge noch um 4400 Fuß zurüd. Die Beobachtungen über bie 
almählige, einem gewiſſen Gefege unterworfene Abnahme ber Dich⸗ 
tigkeit der Luft und zugleich der Wärme find im Ganzen: biefelben, 
welche man auch, beim Beſteigen fehr hohes Gebirge gemacht hat, 


vv. dd ww uf 


- — — — — wo — — ou. 


28. Mie Laffſſchifferkunſt. 198 


und wovon wir nachher mehr reden werden, hier wollen wir nur 
einige minder allgemeine Erſcheinungen erwaͤhnen, welche manche 
Luftfahrer, wenn ſie in große Hoͤhen kamen, beobachteten. 

Voͤgel, welche nur in den niederen Regionen der Luft, in der 
Naͤhe der Erdoberflaͤche zu leben gewohnt ſind, wie etwa Tauben, 
zeigten ſich fuͤr den Einfluß der uͤberaus duͤnnen, kalten Luft großer 
Hoͤhen ſehr empfindlich. Wenn man ſie in jene hoͤchſten Regionen 
mit hinaufnahm, und ihnen dann ihre Freiheit gab, da benahmen 
ſie ſich aͤngſtlich, hielten ſich entweder mit den Fuͤßen an den Sei⸗ 
len und Rand der Gondel feſt, oder wenn man ſie uͤber dieſe 
hinauswarf, ließen fie wie gelaͤhmt ſich hinabfallen, wahrſcheinlich 
bis dahin, wo fie in einer niederen Region jenen Grad der Didy: 
tigkeit der Luft wieder fanden, in welchem fie zu leben und zu 
fliegen gewohnt waren, Die Verwandlung des Waflers in Daͤmpfe 
oder das Sieden befjelben hänge nicht allein von dem Grade ber 
Hige ab, den man bemfelben mittheilt, fondern auch von dem Drud 
der Luft. Je weiter nach ber Tiefe, defto geößer iſt diefer Drud 
und defto größere Erhigung muß man anwenden, um das Wafler 
sum Sieden zu bringen; je höher man ſich über ben Spiegel des 
Meeres und über die Exrdebenen erhebt, deſto geringer mird der 
Drud der aufliegenden Luftfäule und deflo weniger Wärme braucht 
man dazu, um das Wafler in Dampf zu verwandeln oder fiedend 
zu machen. Auf dem Gipfel des Dhavalagirt würde das Waffer fie 
den und dabei doch nur eine verhaͤltnißmaͤßig fo geringe Hitze haben, 
daß man kaum ein Ei darinnen hart zu kochen vermoͤchte. 

Der Dampf, welcher vor Allem bei fiarker Bewegung aus 
der Oberfläche unſeres Körpers ald Ausdünflung entmeicht, und 
bier zum Theil als tropfbar flüffiger Schweiß erfcheint, entfleht 
buch, die innere Wärme unferes Leibes, auf eine verwandte Weiſe 
als die Dämpfe des Waſſers, wenn diefes zum Sieden gebracht 
wird: Obgleich unten in der Nähe dee Erdoberfläche das Gewicht 
ber Zuftfäule, Bas auf unferen Körper druͤckt, wie wir nachher fehen 
wollen, ein viel geringeres ift als oben, in großen Höhen, gerathen 
wir dennoch in ber dünnen, Falten Luft der Hochgebirgsgipfel bei 
jeder Keinen Bewegung in flarke Ausduͤnſtung und Schweiß, ſelbſt 
dann, wenn hierbei die innere Wärme fo wenig erhöht wird, daß 
wir unten in bee Ebene kaum eine Veränderung des gewöhnlichen 
Zuftandes unferer Haut bemerken mürden. Die Luftſchiffer, wie 
Biot und Gay Luffac,-empfanden wenig von jener Befchwerbe, 
weil fie, in ihrer Gondel ruhig hingelehnt, keine Bewegung zu 


‚machen hatten, außer etwa eine ganz geringe der Singer und 


Hände, Dennoch ift ein gewiſſes Gefühl von Beängftigung, vers 
bunden. mit einem öfter wiederholten Ein» und Ausathmen fo wie 
Belhleunigung des Pulfes eine nothwendige Folge des verduͤnnten 
Zuſtandes der Luft, weil die Lunge beim Einathmen zwar an 
Rauminhalt dieſelbe Quantitaͤt an Sauerſtoffgas oder Lebensluft 
aufnimmt, der Gehalt aber derſelben dem Gewicht nach ein ge⸗ 


13 


19 238. Die Lufefhifferkunft. 


ringerer ift, als zue Erhaltung des gefunden Werlaufes des Lebens 
binreiht. Dabei wird auch, in dem gleihen Maaße, in welchem 
der Gegendrud von außen abnimmt, die Ausdehnung der inneren 
Fluͤſſigkeiten fo gefteigert, daB nad der Außenflaͤche des Leibes eine 
Anſchwellung und ein ftarker Zudrang des Blutes entfteht, das 
aus ber feinen Haut der Augenliber, der Nafe und des Mundes 
tropfenmweife ausſchwitzt. An Luftfchiffern, die ſich zu fehr großen 
Höhen erhoben hatten, fand man bei ihrer Rüdkehr zum Boden 
das Angeficht aufgedunfen und mißfarbig gebräunt. Einige Elagten 
über einen Zuftand des Webelfeins und der Betäubung, ber fie in 
der höheren Region befallen hatte, Uber ein unangenehmes Gefühl 
im Trommelfell des Ohres, als wollte diefes, durch einen Drang 
von innen ber, zerplagen; dabei wird der Laut auch einer ſtark 
fpeehenden Menſchenſtimme oder der Knall eines abgefeuerten 
Piſtoles und des zerquetfchten Knallſalzes in einer fehr verdbünnten 
Luft ungleich fchwäcer vernommen, greift aber zugleich die Gehoͤr⸗ 
nerven viel ftärker an, als in der tieferen Region. Selbſt die Ein, 
drüde, welche das Auge des Kuftfchiffers in fehr bedeutenden Höhen 
empfängt, find zum Theil von anderer Art, als man vielleicht er 
warten möchte, Zwar kann ſich derfelbe beim Emporfteigen feines 
Ballond, wenn diefer von hinreihend guter Einrichtung iſt, meifl 
leicht und ſchnell über die Negion der dichten Wolken erheben, 
welche felten über 14,000 Fuß binanreicht (obgleih Gay Luſſac 
nod über der 11/, mal fo großen Höhe Gewoͤlk fah), und wäh 
rend die Bewohner des Landes, das unter ihnen liegt, trüben Him⸗ 
mel ober Regen haben, kann er vielleicht ungehemmt das Licht der 
Sonne oder der Geftirne genießen, dennoch aber wird auch in jenen 
großen Höhen dem Himmel nicht felten wie durch einen feinen, 
ftreifigen Nebel feine volle Klarheit benommen, und wenn dies nicht 
ft, da werden die leuchtenden Geſtirne in einem dem Auge weh- 
thuenden Glanze wie auf blaulich ſchwarzem Grunde gefehen; bie 
Ausfiht nad) dem in ferner Xiefe liegenden Lande iſt felbft bei 
beiterem Wetter bald da, bald dorthin, wie durch einen Gasſchleier 
geſchwaͤcht. 

Die Luftreiſe, welche bald nach Erfindung der Asſroſtatik die 
Gebruͤder Robert uͤber eine Strecke von 50 Stunden Weges, von 
Paris nad) Beuvry, in Zeit von 2 Stunden zuruͤcklegten, fo wie 
manche andere folcher Art, ift in neuerer Zeit durch die Jahre bes 
Luftſchiffers Green verbunfelt worden, welcher in London aufftieg, 
48 Stunden lang in der Luft blieb und hierbei Über das Meer 
binhber, dann über ganz Holland und Belgien, bis in das Naf 
fauifche flog, wo er fich herabließ. Ein Verfuch, bie Asronautik 
zum Dienft des Öffentlichen Weſens anzuwenden, wurde während 
der Kriege der franzöfifchen Republik dadurch gemacht, daß man 
Zuftfchiffe, in denen fachverftändige Beobachter faßen, In die Höhe 
fleigen ließ, Damit fie die Stellung des feindlichen Heeres in Augen 
fhein nehmen möchten, So fliegen franzöfifche Offiziere ins J. 17%, 


8. Die Lufefchiffertunf. 1% 


am Tage der Schlaht von Fleures, zu einer mäßigen Thurmes⸗ 
höhe empor, um das Lager und die Stellung bes öfterreichifchen 
Heeres auszufpähen. Der Ballon, defien fie ſich bedienten, war 
derfelbe, mit welchem fpäter der Luftfchiffer Robertfon in Hamburg 
feine Luftfahrt anftellte, er harte 57 Fuß im Umfang und war ba- 
bei von elliptifher Geſtalt. Die Kraft, mit welcher der flarke, 
winterliche Luftſtrom ihn aus feiner Stellung fortzureißen ſtrebte, 
war fo groß, daß man an feine zur Erde hinabhängenden Seile 
30 bi8 40 Pferde anfpannen mußte, um ihn feft zu halten. Die 
in ber Luft ſchwebenden Kundfchafter fehrieben ihre Beobachtungen 
auf Zetteln, welche fie, mit Blei beſchwert, an einer Schnur hin- 
abließen. Im Verlauf des damaligen Krieges waren: gegen 34 Luft 
ballons für. das. Gefhäft der Kunbfchafter beftimmt, gegen einen 
berfelben warb am 13. Juni zu Maubege eine Batterie von 17 Ka⸗ 
nonen gerichtet, ohne ihn befehädigen zu koͤnnen. Dennod wurde 
fpäter die Anwendung ber Luftichiffe zum Kriegsgebrauch wieder 
aufgegeben, wahrſcheinlich fchon deshalb, weil die Fuͤllung des 
Ballond mit brennbarer Luft zu lange Zeit erforderte. Denn ob- 
gleich man es ſchon im erften Sahrzehend nad) Erfindung ber Lufts 
ſchifferkunſt ſo weit gebracht hatte, daß man die hinlänglidhe Quan⸗ 
tität des Gaſes zur Anfüllung eines ziemlicd großen Ballond aus 
der Behandlung von Eifenfeilfpänen mit verbünnter Schwefelfäure 
fhon nad wenigen Stunden erhalten konnte, ein Geſchaͤft, das 
früher ganze Tage in Anfpruc genommen hatte, fo erfchien den⸗ 
noch, bei der eiligen Wendung des Ganges der Schlachten öfters 
auch ſchon die Zeit von etlihen Stunden als eine zu lange, 

Die fo eben erwähnte Schwierigkeit lernte der oben genannte 
englifche Luftfahrer Green dadurch befeitigen, baß er feinen Ballon 
mit jenem getohlten Waflerftoffgas anfüllte, welches durch Deftil- 
kation der Steinkohlen leicht und in Menge erhalten und zur Gas: 
beleuchtung angewendet wird. Das fogenannte Steintohlengas At 
zwar etwas (faft im Verhaͤltniß wie 11/, zu 1) fchmwerer als das 
mit Eifenfeilfpänen erhaltene Waſſerſtoffgas, dabei aber gewährt 
ed auch ben Vortheil, baß es bei weitem nicht fo leiht aus den 
Wänden des Ballons entweiht, und fehr viel wohlfeiler und 
fihneller zu haben ift. In Englands Städten, mo man die Gas⸗ 
beleuchtung im größten Maaßſtabe anwendet, giebt es beftändig 
anfehnliche Vorraͤthe jener Luftart, woraus fid) Green ohne viel 
Umftänbe fein Sülungsmaterial verfchaffen konnte. | 

Auch zur Hebung eines anderen, für die Ausübung der Lufte 
ſchifferkunſt noch ungleich größeren. Uebelftandes, ber in der Wahl 
des Materials zur Bereitung bed Ballons lag, hat man in neuefter 
Zeit mehrere zweckmaͤßig erfcheinende Vorſchlaͤge gemacht. So gut 
als man Waflerfahrzeuge aus dünn getriebenem Metalle (3. B. 
Kifen>) blech gefertigt hat, ließen fi aud, fo hat man berechnet, 
Luftballons. aus duͤnnem Kupferblec, herſtellen, welche bei gehöriger 
Größe eine ſolche Menge des. brennbaren Gaſes in ſich faſſen 


13* 


% 


IK 29, Die Lebensluft und das Stickgas. 


koͤnnten, baß bie verhaͤltnißmaͤßig größere Leichtigkeit von biefem 
hinreihen würde, um fowohl das Gewicht. des Ballons als bie 
Laft der an ihm befefligten Gondel in der atmofphärifchen Luft 
emporfteigen zu machen. Durd einen folhen Ballon koͤnnte das 
Gas nicht entweichen, dagegen bliebe es zweifelhaft, ob bie Maffe 
bes dünnen Bleches, eben fo wie bie freilich ungleich nachgiebigere 
jenes Zeuges, daraus man bisher die Ballons fertigte, geeignet fein 
würde, die Veränderungen des Luftdrudes in den verfchiedenen 
Höhen der Atmofphäre auszuhalten, ohne aufs Vielfachſte ver 
bogen oder vielleicht gar durch Riſſe fhadhaft zu werden. Indeß 
dürfen wir nicht zweifeln, daß der menfhlihe Scarffinn noch 
Mittel finden werde, um alle die Hemmungen und Beichräntungen 
zu überwinden, welche bis auf heutigen Tag der Vervollkommnung 
und allgemeineren Benusbarkeit ber Luftfchiffe entgegenftehen. 


29. Die Lebensluft und das Stidgas. 


Unter allen Grundſtoffen ber irdifhen Sichtbarkeit ift der ein 
flußreichfte und darum michtigfte der Sauerftoff. Für ſich allem, 
in feinem volllommneren, reinen Zuſtand erfcheint diefer Stoff nie 
mals anders als in Luftform, und in diefer Geſtalt ift er al 
Sauerftoffgas oder Lebensluft durch alle Regionen der Ab 
mofphäre verbreitet. Mit noch viel größerem Rechte ale dem Golde 
hätte der Lebensluft das chemifch=aftrologifche Zeichen der Sonne 
gebührt, denn was bie Sonne iſt unter allen Weltlörpern ihres 
Spftemes, das ift das Sauerftoffgase im Verhaͤltniß zu allen 
Grundſtoffen ‚feines planetarifhen Ganzen. Wie es die anziehende 
Macht der Sonne tft, welche den Lauf der Planeten und Cometen 
in feiner feft beſtimmten Bahn hält, welche über fie Alle Licht und 
Wärme ausſtrahlt; fo ift es auch das Sauerſtoffgas, welches dit 
irdiſchen Körperwelt. ihr inneres Gleichgewicht und ihre feftftehenden 
Umtiffe giebt, und das uͤberall da, wo es in träftigen Wechſelver⸗ 
kehr mit feinem brennbaren Gegenfag tritt, gleich einer irdiſchen 
Sonne, Licht und Wärme ausftrahlt. Ueberdies hält auch dad 
Sauerſtoffgas in Beziehung auf das Verhaͤltniß feiner Maffe it 
jener der übrigen gefammten Körperwelt der Erde ben Vergleich mit 
einem herrfchenden Gentralkörper aus, Denn man kann mit Red 
fagen, daß menigftens ein Dritttheil vom Gewicht unferes Planeten 
aus Sauerftoff beftehe, der ‚in Verbindung mit ben metalliſchen 
Grundlagen die uns bekannte Erdvefte mit al? ihren Felſen und 
Gebirgemaffen bildet, im Waffer 89, in der atmofphärifchen Luft 
23 Prozent beträgt, und als ein Dauptbeftandtheit in allen Pflan⸗ 
zen und XThierkörpern gefunden wird. . 

Der bewegende und zufammenhaltende Einfluß, fo wie dit 
leuchtende und waͤrmende Kraft der Sonne wirken aus weiter Ferne 
her; das Sauerftoffgas bedarf zu. feiner Wirkſamkeit dee unmittel⸗ 
baren Nähe, fo wie ber wmechfelfeitigen Durchdringung mit den 


| 


1 
} 
’ 








29, Die Eebensiuft und das Stickgao. 197 


irdiſchen Grundſtoffen. Wie fi der Nervenäther, welcher zwar 
ale Bewegung und Empfindung und felbft die befondere Geftaltung 
des lebenden Leibes vermittelt, babei aber nicht zu einem Stoffe 


"ver Bildung und Geftaltung felber werben kann, zum Blute ver 


hält, in welchem ſich neben dem Antriebe zur Erhaltung bes Le⸗ 
bens auch die Stoffe zur Geftaltung der Theile finden, fo verhält 
ſich der fternmeltliche (fiderifche) Einfluß der Sonne auf unfere ir⸗ 
difche Natur zu jenem, welchen das Sauerftoffgas in Diefer ausübt, 

Nah der Vereinigung mit dem Blute, nad der Aufnahme 
deſſelben in ihre Mifhung ſtreben alle Theile des Leibes, und da®, 
was dieſem Zuge feine Macht und feine Andauer giebt, iſt vor 
Allem der Gehalt an Sauerftoff, der fi im Blute der Pulsabern 
oder Arterien findet. Eben fo ift in den Elementen ber irdifchen 
Natur ein mehr oder minder räftiger Zug nad ber Bereinigung 
mit dem Sauerftoffgas, das ihnen theild als ein Hauptelement bes 
Waſſers, theils als wefentlicher Gemengtheil der atmofphärifchen 
Luft entgegen tritt. 

Am leichteften und reinften wird das Sauerſtoffgas aus jenen 
Körpern erhalten, welche aus ber Werbindung beffelben mit einem 
Metall entftanden find — aus Metallkalken oder Oxyden. So 
namentlih nah S. 110 durch das Gluͤhen des Sraubraunftein- 
erzes, das jene Luftart in einer verhältnißmäßig viel größeren 
Menge als andere Metallorpde enthält. Auch aus dem rothen 
Queckſilberoxyd laͤßt fich baffelbe durch Gluͤhen darftellen, und bie 
frifchen. Blätter der Pflanzen hauchen, wenn das Sonnenlicht fie 
beſtrahlt, Lebensluft aus, Aber, fo nahe die Entdedung zu liegen 
fhien, haben dennoch erſt im 3. 1774 die beiden Chemiker Scheele 
und Prieftlep, jener in Schweden, biefer in England, und zwar 
zu gleicher Zeit, das Sauerſtoffgas in feiner Reinheit dargeftellt, 
und daffelbe nad, feiner eigenthümlichen Natur und BVerfchiedenheit 
von anderen Luftarten erkannt. 

Das reine Sauerftoffgas ift geruch- und geſchmacklos. Wäh- 
tend unter allen uns bekannten durchſichtigen Körpern das Waffer- 
ſtoffgas das hindurchftrahlende Licht am flärkften bracht (die Strahlen 
von ihrer geraden Richtung ablenkt), bricht das Sauerftoffgae dafs 
felbe am ſchwaͤchſten und wenigſten. Von feiner Eigenfchmwere fpra- 
hen wir fon oben ©. 179. Das Sauerfloffgas ſtrahlt ſchon 
dann Licht aus, menn man e8 in einer Glasröhre mittelft eines 
gut ſchließenden Stempels zufammen preßt, eine Eigenfhaft, welche 
weder an dem reinen Stidgas noch am Waſſerſtoffgas, wohl aber 
an der Kohlenfäure und am Waſſer bemerkt wird, melche beide 
Sauerftoffgas in ihrer Mifhung enthalten. Schon biefe Erſchei⸗ 
nung läßt uns zunaͤchſt das Sauerftoffgas als einen Quell jenes 
Kichte® erkennen, das bei feiner- Verbindung mit anderen Körpern 
während des Verbrennens fichtbar wird. Am augenfälligften zeigt 
fih das Sauerſtoffgas, als Erzeuger und Geber der Flamme, 
wenn es in reinem -Zuflande iſt, und wenn ‚man: dann! im ihm 


1% 29. Die Rebensiuft und des Stickgae 


einen brennbaren Körper anzuͤndet. Der Phosphor verbrennt im 
reinem Sauerftoffgas mit einer Flamme, welche an Stärke und 
Helligkeit ihres LKichtes dem Sonnenlichte nahe kommt; eine glim⸗ 
mende Kohle fo wie ein glimmenber Feuerſchwamm gerathen darin⸗ 
nen in heile Flammen, ja felbfi eine flählerne Uhrfeder oder eine 
eiferne Haarnadel fangen an heil zu brennen, wenn man an ihrem 
Ende ein Stuͤckchen glimmende Kohle oder glimmenden euer 
ſchwamm befefligt, und fie dann in reines Sauerſtoffgas hinein- 
taucht. Dabei fchmilzt das von unten herauf allmählig abbren- 
nende Eifen zu einer Kugel zufammen, aus welcher, mit lautem 
Zifhen, in flernförmiger Richtung heile Funken hervorfprühen. Die 
Kugel des fchmelzenden Eifens fällt, wenn fie eine gewifle Schwere 
erreicht hat, ab und hat eine fo große Hitze, daß fie im Waſſer 
noch lange Zeit fortglüht, und fi in den Boden des gläfernen 
oder porzellanenen Gefäßes tief hineinfchmelzen, ja ben Boden def 
felben, wenn biefer nicht durch aufgeftreuten Sand geſchuͤtzt ift, 
durchloͤchern kann. Das reine Sauerftoffgas wird durch das Ver⸗ 
brennen einer verhältnifmäßigen- Menge von Phosphor ganz auf 
gezehrt, während biefer brennbare Körper, wenn man ihn in einem 
verfchloffenen, mit atmofphärifher Luft gefüllten Gefäß entzündet, 
faum den vierten Theil derfelben aufnimmt, die übrigen drei Vier 
theile aber frei zuruͤcklaͤßt, weil diefe kein Sauerfloffgas, fondern 
Stickluft find. 
Wenn man auf folhe Weife den Phosphor verbrennt, dann 
entfteht eine Säure, welche im teodenen Zuftand in zarten weißen 
Soden ſich anfest, dad Waſſer aber begierig, und mit zifhendem 
Geraͤuſch an fi zieht. Diefe mit Waffer vermifchte Säure hat 
einen flarken, dabei nicht unangenehmen Gefhmad, ihr Gewicht 
beträgt gerade fo viel, ald das des Phosphor zufammen mit dem 
beim Verbrennen verzehrten Sauerftoffgas ausmadht. Auf die 
felbe Weife entfleht auch beim Verbrennen des Schwefels die Schwe⸗ 
felfäure, beim Verbrennen bes Kohlenftoffes die Kohlenfäure, welche, 
wenn fie in hinlängliher Menge vorhanden ift, vielen unferer Ge 
fundbrunnen ihren angenehmen fänerlichen Gefhmad ertheilt. Auch 
bei der Gaͤhrung vieler Pflanzenfäfte findet eine Art von langfamem 
Verbrennen, eine Verbindung des Kohlenftoffes mit dem. Sauer: 
floffgafe flatt, wobei ein Theil des Mafferfloffgafes entweidht. Da 
hierbei der füße Geſchmack des Zraubenfaftes in den fäuerlichen 
des Weines, ja bei einer noch höher gefteigerten Gährung in den 
ganz fauren des Effige verwandelt wird, zeigt fi) abermals das 
Sauerftoffgas, wie beim unmittelbaren Verbrennen der Kohle, als 
eine veranlaffende Urſache des fauren Zuftandes, und dies war der 
Grund, aus welchem man jener wichtigen, merkwuͤrdigen Luftart 
ben Namen des Sauerftoffgafes gab. 

Aber aud unter dem Namen ber Lebensluft machte ſich die 
felbe durch eine andere ihrer wefentlichen Eigenfchaften bekannt. 
Wenn man ein kleines warmblütigeg Thier unter sine Glasglocke 








29, Die Lebensiuft und das Stickgas. 19 


einſperrt, welche mit gemeiner atmofphärifcher Luft gefüllt ift, dann 
muß bdaffelbe nad, einiger Zeit, wenn es durch fein Einathmen das 
darin enthaltene Sauerfloffgae fo meit als möglich verzehrt hat, 
erftiden. Wenn bie nämlihe Glasglocke, flatt mit atmofphärifcher 
Luft, mit reinem Sauerſtoffgas angefüllt war, dann wird ein Thier 
berfelben Art gerade viermal fo lange darin am Leben bleiben. 
Nur fo lange in feiner Umgebung noch chemiſch unvermifchtes 
Sauerftoffgas vorhanden ift, kann ein Licht fortbrennen, ein Thier 
aber beim Athmen und mithin beim Leben erhalten werben. Denn, 
wie wir dies fpäter erwähnen werden, auch das, mas beim Ath⸗ 
men und duch alle Folgen bdefjelben bewirkt wird, läßt fich in 
feinem Kreife als ein Vorgang des Verbrennens betrachten, von 
welchem bie innere Wärme bes lebenden Leibes ausgeht, und mit 
ihe, gleich dem Lichte, mehrere andere der Fortdauer und Wirk 
ſamkeit des Lebens dienende Kräfte, 

So ift es das Sauerftoffgas, welches unter allen Elementen 
der Erde am nothwendigften erfcheint zur Erhaltung bes aͤußeren 
Haushaltes des Menfchen, wie des inneren feiner eigenen leib⸗ 
lichen Natur. Ohne jenen König und Herrſcher im Meiche der 
Grundſtoffe hätten wir kein Licht, unfere Nächte oder das Dun⸗ 
el der Tiefe zu erleuchten, Eein Zeuer, um uns gegen dad Erfiar: 
ren im Winter oder auf den kalten Gebirgshöhen zu fhügen, Fein 
Mittel, um die meiften unferer Speifen zu bereiten. Durch die 
Flamme, die dem Sauerftoffgas entquillt, wird dem Menfchen bie 
Macht gegeben zum Ausfchmelzen und Bearbeiten der Metalle, zur 
bäuslihen Niederlaffung felbft in der Nähe des befländigen Eifes 
der Polarländer und der befchneiten Alpengipfel; erft durch das 
Keuer, das die Lebensluft ihm gewährt, wird der Menſch ber ihn 
umgebenden Körperwelt mächtig; ohne ihren beftändigen, hülftei= 
chen Einfluß würde feine lebende Seele felber nad) wenig Augen 
bliden die Macht verlieren, den eigenen Körper zu bewegen und 
als Eigenthum zu befigen, 

Wie fi) durch den Mechfelverkehr des Sauerftoffgafes mit 
den anderen Elementen aud in dem Reiche der unbefeelten 
Körper jene Bewegungen und Regungen erzeugen, welche den Res 
gungen der Lebenskraft ähnlih und verwandt find, und welche 
unter dem Namen der elektrifchchemifchen zufammengefaßt werden, 
davon wird noch fpäter die Rede fein. Darüber, daß alle Ges 
birgsmaſſen, aus denen die Oberfläche der Erde beftebt, daß die 
meiften Erze und befondere Steinarten, die in ben Lagerftätten 
jener Maffen vortommen, aus einem meift metallifhen Grund» 
ftoffe beftehen, welcher durch feine Verbindung mit dem Gauer- 
ftoffgas erſt fein jegiges dbauerhaftes Beſtehen und feine beflimmte 
Seftastung erhielt, ſprachen wir oben (m. v. C. 20.) 

Bis in die größeften uns bekannten Tiefen, bis in die hoͤch⸗ 
ſten Höhen unferer plonetarifhen Welt, erſtreckt fih das Reich 
und die Verbreitung des Sauerſtoffgaſes. Dort. hat ed, ale Be⸗ 


200 29. Die Lebensiuft und. bad Stickgas. 


ſtandtheil des Waſſers wie ber feiten Körper, fi zur Ruhe, wie 
in einem bleibenderen. Wohnfig, niedergelaffen, hier, in bem Luft⸗ 
kreis, befteht e8 noch in einem Zuftand bee Freiheit und unge 
hemmten Beweglichkeit. Wenn man aud annehmen wollte, daß 
all' jenes Sauerfloffgas , welches durch die Menge der flammen- 
den Vulkane, wie der vom Menfchen entflammten euer, durch 
die unzählbaren athmenden Lungen der lebenden Thiere und Men- 
fhen, fo wie durch alle Vorgänge der Gährung, der Orpbation 
und jeder anderen langfamen Verbrennung täglidy verzehrt wird, 
niemals wieder in reinem Zuſtand ausgeſchieden und zur Atmof 
phäre zurückkehren koͤnnte, ließe ſich dennoch der Luftkreis als eine, 
nad unferem Ermeſſen unerfchöpfliche Vorrathstammer an Lebens⸗ 
luft betrachten. Selbſt nah einer Berehnung der Phyſiker be⸗ 
- trägt die Gefammtmenge des Sauerftoffgafes in unſerer Atmof: 
phäre fo viel, daß alle die oben erwähnten Vorgänge, wodurch 
ein Theil deffelben verzehrt wird, im Zeitraume vieler Jahrtau⸗ 
fende feine fehr bemerkbare Abnahme derfeiben herbeiführen wuͤr⸗ 
den. Denn obgleich ein gefunber , ermachfener Menſch durch das 
Athmen täglich etwas über 26 Kubiffuß, im Verlauf eines Jah⸗ 
red 9505 Kubiffuß, mithin das gefammte auf Erden wohnenbe 
Menfhengefhleht, wenn man feine Zahl zu 1000 Millionen an- 
nimmt, jährlich faft */, einer Kubikmeile verzehrt, würde dennoch, 
wenn eine folhe Zahl der Menfchen zehn ganze Sahrtaufende auf 
Erben athmete, nur erſt der taufendite Theil des atmofphärifchen 
Vorrathes an Lebensluft verbraucht werden. Und nicht allein bie 
fen Eleinen, fondern einen noch ungleich größeren, ja fait allgemei- 
nen Abgang des Lebenselementes vermag in ber bereitd erwähn- 
ten Weife, Thon das grünende Pflanzenreih zu erfegen, deſſen 
Wälder und Fluren einen bedeutenden Theil der Erdoberfläche be 
deden , indem jeder Sonnenftrahl aus diefem Iebenden Grün eine 
unberechenbare Menge der reinften Lebensluft hervorruft. 

Naͤchſt dem Kohlenftoff bildet, wie bereits erwähnt, der Sauer- 
ftoff feiner Gemwichtsmenge nach den wichtigften und bedeutendften 
Srundfloff der organifhen Körper. Selbft noch im menfdlichen 
Leibe, wenn man dabei den Sauerftoffgehalt bes Waſſers, welches 
drei Wiertheile feines Gefammtgewichtes beträgt, unberuͤckſichtigt 
läßt, mag fi die Gewichtsmenge des Sauerfloffes in den fefteren 
Theilen auf 7 Pfund belaufen, eine Summe, die nur von der 
Gewichtsmenge des Kohlenfloffes (zu 10 Pfd.) "übertroffen wird. 
. Mir haben jegt drei jener Grundſtoffe betrachtet, aus denen 
das Material zu dem mwunderherrlihen Bau des Leibes ber Pflan- 
zen, der Thiere und felbft bes Menfchen bereitet if. Noch ein 
vierter ‚bleibt uns zu betrachten uͤbrig, der fi) zwar nicht fo haus 
fig unter den Beftandtheilen der Pflanzenkörper , deſto allgemeiner 
aber in denen des XThierleibes findet: dies ift der Stickſtoff, der 
für fih allein, in reinem Zuſtand niemals anders denn in Luft: 
form — als Stifloffgag — vorlomme -- . - = 0.00 > 





29. Die Lebensluft und das Stickgab. 201 


Wenn man unter einer oben mit atmoſphaͤriſcher Luft, unten 
mit Waſſer gefuͤllten Glasſsglocke Phosphor verbrennt und hierbei 
nicht mehr und nicht weniger Phosphor als nöthte iſt (auf 12 
bis 13 Cubikzoll Luft etwa 1 Gran) anwendet, dann wird das 
Sauerftoffgas, das in der Luft fi befand, vollkommen aufge 
zehrt, die dabei entflandene Phosphorfäure verbindet fi mit dem 
Maffer, und das noch uͤbrig gebliebene. atmofphärifhe Gas ift, 
wenn nicht etwa noch durch eine Kleine Beimifhung von dampf 
förmigem Phosphor verumreinigt, nichts Anderes als Stickgas. 
Auch eine angezundete Spirituslampe, die man auf dem Waffer 
im unteren Raum ber Glasglode ſchwimmen laͤßt, verlöfcht erft 
dann, wenn das Sauerftoffgas der Luft bis auf einen kaum merk 
lichen Reſt verzehrt ift, und wenn man hierauf aus dem noch uns 
verzehrt zuruͤckgebliebenen Antheil der Luft das kohlenſaure Gas, 
welches beim Verbrennen des MWeingeiftes fich bildete, dadurch bins 
weggefhafft hat, dag man Agendes Ammoniak unter das Waſſer 
der Olasglode mifchte, behält man nur das faſt ganz reine Stick⸗ 
gas uͤbrig. 

Noch reiner als durch die Anwendung ber beiden fo eben er⸗ 
wähnten Verbrennungsmittel feheidet man das Stidgas aus ber 
atmofphärifchen Luft ab, wenn man eine flüffige Auflöfung (ein 
Amalgam) von Blei in Quedfilber in einem mohlverfchloffenen 
Gefäß, darin 1/, des Metallgemenges mit ?/, gemeiner Kuft zus 
fammengefperer ift, etliche Stunden lang fehüttel. Das fein zer- 
theifte Blei zieht dann das Sauerftoffgasi an fih, um ſich mit 
ihm zu orpdiren, und was zurüdbleibt, iſt reines Stickgas. 

Wenn das Waffer, das in den beiden erflerwähnten Verfah⸗ 
rungsarten ben unteren Theil der Glasglode anfüllte, mit dem 
Waffer einer Wanne in Verbindung ftand, fo daß dem legteren 
ein Zutritt unter die Glocke möglich war, dann bemerkt man, daß 

während des Verbrennens bes Phosphors oder Alkohols das Wafe 
fer höher in ber Glocke oder im Glascylinder hinauffteigt, well 
durch, den Abgang des Sauerftoffgafes ein leerer Raum entftan- 
den ift, welcher über ein Fünftel des gefammten Rauminhaltes 
der beiden Luftarten ausmacht. Denn das Stidgas iſt falt um 
ein Siebentel leichter als das Sauerftoffgas, fo daß dem Raum: 
Inhalte nach, den jene Gasarten in der Atmofphäre einnehmen, 
dad Sauerftoffgas nur 21, das Stidgas 79, dem Gewichtsver⸗ 
häktniffe nach jenes 23, diefes 77 Hunderttheile des Luftkreiſes 
bildet. Diefes Verhaͤltniß erweiſt ſich als ein durchaus beſtaͤndi⸗ 
ges. So weit bisher der Menſch in die Hoͤhen hinauf kam, oder 
in die Tiefe der Gruben, zu denen bie Luft Zutritt hat, hinab⸗ 
flieg, haben die chemifchen Unterfuchungen es überall ergeben, daß, 
abgefehen von jenen fremdartigen Gasarten, die ſich nebenbei ein- 
drängen, ja die eigentlichen atmofphärifchen Luftarten zum Thell 
verdrängen koͤnnen, auf 21 Raum: oder 27 Gewichtötheile des 
vorhandenen Sauerftoffes 79 Raums oder 73 Gemichtötheile Stick 


203 29. Die Lebensiuft und das Stickgas. 


gas kommen, Freilich kann dabei die Werbünnung in fehr großen 
Höhen und die Verdichtung in ben Tiefen fo weit gehen, baf ber 
Luftgehalt einer Glasglocke, welcher unten in der Ebene hinter 
chend war, um eine gewiſſe Portion bes Phosphors in fich ab- 
brennen zu laflen und in Phosphorfäure zu verwandeln, bier 
zu nicht mehr auslangt, fondern, daß ein Theil des brennbaren 
Körpers unverbrannt zurüdbleibt, obgleich dabei der Sauerftoffge- 
halt, der in der Luftmaffe war, volltommen aufgezehrt wurde. 
Denn obgleich in dem Luftgemenge, das fich in den höheren Re⸗ 
gionen findet, die beiden atmofphärifchen Gasarten dem Gewichte 
wie dem Volumen nad) in demfelben Verhaͤltniß vorhanden find, 
ale unten in ber Ebene, finden ſich dennoch beide auf einen viel 
größeren Raum ausgedehnt, fo daß in einem Gefäß, welches einen 
Cubikfuß Maaßweite hat, dem Gewicht nach nur zwei Drittel, 
ja die Hälte fo viel Luft enthalten fein fann, ale unten auf ber 
Dberfläche des Meeres ober der Küftenebenen (nah Cap. 30). 

Die beiden eben genannten Hauptgasarten der Atmoſphaͤre 
find in dieſer nicht in ter Weife einer hemifchen Durdydringung, 
wie Sauerftoff und Kohle in dem Eohlenfauren Gas oder Waſſer⸗ 
fioff und Sauerftoff im Waffer verein. Auch läßt fih ihr Se 
menge nicht ale ein mechanifches betrachten, weil fonft das Sauer: 
ſtoffgas, wegen feiner größeren Eigenfchwere, zur Tiefe finfen und 
in vorherrfchender Menge die niederen Regionen bed Luftkreifes ers 
füllen würde, während das Stidgas fi mehr in bie höheren 
Räume hinaufzöoge. Beide müffen deshalb durch eine polarifche 
Anziehung von anderer Art, Theil für Theil vereint fein, welche 
mehr der magnetifhen und elektrifchen, als der chemifchen gleicht. 
Auch jene Anziehung, die das Gewaͤſſer der Erde, welches bis zu 
feiner Ziefe hinab von Luft durchdrungen ift, gegen biefe ausübt, 
muß von verwandter Art fein, denn das Waſſer nimmt hierbei 
die Gasarten der Atmofphäre nicht in dem Verhaͤltniß auf, in 
welchem fie feiner Oberfläche fich darbieten, fondern mit einer Art 
von Auswahl, indem es ein Drittel mehr an Sauerfloff: als an 
Stidgas abforbirt. | 

Das einhüllende Verhältnif, in welchem das an Menge uͤber⸗ 
mächtige Stidgas in unferem Luftfreife zum Sauerſtoffe fteht, er- 
fcheint als ein überaus mwohlthätiges und zur Erhaltung des jegigen 
Bortbeftandes der irdifhen Natur nothwendiges. Beſtaͤnde die At 
mofphäre aus lauterem Sauerſtoffgas, dann müßte jede Flamme, 
bie der Menſch auf feinem Herd entzündet, zum unauslöfchlichen 
Brande werden, auch das Xeben der organifchen -Mefen würde in 
einen orbnungsmwibdrigen Verlauf gerathen, Thiere, welche man 
etwas längere Zeit im Sauerfloffgas athmen ließ, ſchienen fidh 
anfangs überaus wohl, dann aber unbehaglich zu befinden, man 
fand ihre Lungen in einer Art von entzündlichem Zuſtand; die ges 
fammte Maffe des Blutes war in ungewöhnlicher Weife geröthet, 
Menſchen, welche an den Lungen leiten, fühlen faft augenbiidlich 














29. Die Bebenstuft und das Stickgas. 203 


den fchmerzhaft nachtbeiligen Einfluß, den das Einathmen des reis 
nen Sauerftoffgafes auf fie hat. 

Wir betrachten jedoch hier vorerft nur die Eigenfchaften des 
Stickgaſes und einige feiner Verbindungen. Gegen bad Gauers 
ſtoffgas verhält ſich daffelbe wie ein brennbarer Körper, welcher 
freilich zum Gluͤcke nicht fo leicht, wie die meiften anderen 
brennbaren Stoffe, die Verbindung eingeht. Denn während fich 
bei dent Berbrennen bes MWafferftoffgafes mit dem Sauerftoffgas 
das wohlthätig nährende, milde Waſſer bildet, entſtehen aus dem 
chemiſchen Vereine. des Stidfloffes mit dem Sauerfloff Verbin⸗ 
dungen , welche den athmenben Weſen fuͤr Erhaltung des Lebens 
nachtheilig und gefaͤhrlich werden muͤßten. | 

Eine unferer ſtaͤrkſten Säuren: die Salpeterfäure, melde, 
fo wie fie etwas verbünnt in Handel und Gemwerben vortommt, 
Scheidewaſſer benannt wird, ift nichts Anderes, als eine Verbin⸗ 
bung bes Stieftoffes mit dem Sauerftoffgas, welche aus nahe 26 
Proz des erfieren und aus 74 des legteren beſteht. Die zerftö- 
rende, auflöfende Kraft, mit welcher diefe Säure auf die organis 
fchen Körper wirkt, ift-befannt. Auch der roͤthliche Dampf, der 
fi) als Unterfalpeterfäure durch Deftillation ber rauchenden Sal 
peterfäure bei. gelinder Wärme bildet, und der aus 2 Maaftheilen 
Sauerſtoffgas und 1 Maaßtheil Stickgas befteht, wirkt auf die 
Lunge der athmenden Thiere nachtheilig. Diefes gilt auch noch 
vom Stickorydgas, obgleich in ihm die angezündete Kohle wie der 
Phosphor mit Jebhafter Flamme brennen. Am unfhäblichften und fos 
gar durch einige feiner Eigenfchaften anlodend für den Menſchen ift 
unter allen Verbindungen der beiden atmofphärifhen Gasarten das 
Stidorpdulgas ober das Luftgas, zu deſſen Bereitung nur ein halbes 
Maaßtheil Sauerftoffgas auf ein Maaftheil Stickſtoffgas verwen⸗ 
det werden. Diefe Luftart, welche am reinften aus falpeterfaurem 
Ammoniak, übrigens auch fhon durch Auflöfung von Eifen ober 
Zink in einer fehr mit Waſſer verdünnten Salpeterfäure gewon⸗ 
nen wird, erhöht die Flamme eines angezüundeten, brennbaren 
Körpers faft in demfelben Maaße, wie das reine Sauerftoffgas. 
Selbft Kohle und Eifen verbrennen in dem orpdirten Stickgas mit 
heller Flamme, doch bedarf es zu ihrer Entzündung eines höheren 
Grades der Hige als in der reinen Lebensluft. Kleine Thiere, 
weiche man in orpdirtes Stickgas einfperrt, verrathen eine Zeit 
long einen hohen Grad von Munterkeitz Menfchen, welche dieſe 
Luftart in ihre, vorher durch ſtarkes Ausathmen entleerte Lunge 
zogen, empfanden dabei einen angenehm füßlihen Gefhmad und 
verfielen dadurch in einen Zuftand des behaglichen Rauſches, wel⸗ 
cher freilich, bei Länger fortgefegtem Einathmen des orydirten Stids 
gafes bis zum Verluſt der Befinnung anwachfen kann. Indeß 
find biefe Erſcheinungen bei Menſchen von keinen nachtheiligen 
Folgen, während. Meine Thiere, die man, ohne ihnen duzwiſchen 


204 29, Die Lebensiuft und das Stickgas 


wieder einmal reinere Luft zu geben, lange fortgefest in dem ory 
dirten Stidigafe athmen Tief, wie im Rauſche dahin ftarben. 
Das Stidgas laͤßt fi) zwar durch ben elektrifhen Funken 
mit dem Sauerftoffgas verbinden und verbrennen, aber nur mit 
fehr großer Schwierigkeit und durch öfter wiederholte elektrifche Ent 
ladungen, weil fi bei dem Vorgang jener Vereinigung eine ver- 
hältnigmäßig überaus geringe Wärme entwidell. Wenn man at 
mofphärifche Luft mit viermal fo viel Maaßtheilen von feuchtem 
Sauerftoffgas vermifht und dann einen elektrifhen Funken hin⸗ 
durchſchlagen laͤßt, dann verbrennt nur jener Heine Theil des Stick⸗ 
ftoffes, der unmittelbar von dem Funken getroffen wurde und es 
gehören mehrere hundert Entlabungen einer gewöhnlichen Elektrifir⸗ 
mafchine dazu, um nur fo viel Salpeterfäure zu erzeugen, baß 
ihre Anmefenheit durch Roͤthen ber Lakmustinktur ober durch Ver: 
bindung mit einer Auflöfung von dgendem Kali zu Salpeter (fal- 
peterfaurem Kali) merklich wird. Dennoch mag fid) auf folche 
Weiſe auch in der Atmofphäre durch bemerkbare, gewitterhafte oder 
unmerkliche elektrifche Entladungen etwas Salpeterfäure erzeugen, 
denn nicht felten findet fi eine Spur berfelben in verſchiedenen 
atmofphärifhen Niederſchlaͤgen. 
- Nur in etwas anderer Weife als der Kohlenfloff fegt auch 
der Stickſtoff der menfchlichen Kunft gewiſſe Gränzen bei feiner 
Handhabung. Wir wiffen es, daß der koſtbarſte Edelftein. der 
Erde, der Demant, aus nichts Anderem al6 aus reinem Kohlen- 
ftoff beftehe und dennody vermögen mir es nicht, aus Kohle De 
mant zu machen, weil wir, wie. bereits erwähnt, durch all’ unfere 
Kunft eben fo wenig im Stande find, den Kohlenftoff in kryſtal⸗ 
linifchen Zuftand zu verfegen , ald die Elemente, aus denen ber 
Leib eines Thieres befteht, zum Leben zu erweden. Eben fo fehen 
wir duch die Kraft des Lebens, weiche ben Pflanzen und Thie⸗ 
ren inmwohnt, ohne Aufhören und mit Leichtigkeit den Stidkftoff 
mit dem Sauerfloff fih vereinen, während wir diefen Borgang 
nur aͤußerſt ſchwer durch unfere Wiffenfhaft und Kunſt nachah- 
men koͤnnen. Wir machen uns beshalb die Darftellung der Ver 
bindung ber beiden atmofphärifhen Luftarten zur Salpeterfäure 
und all’ ihren Abarten nur dadurch im Großen möglich, daß wir 
dabei die Kraft des Lebens, in ber organifchen Natur, und vor 
arbeiten laſſen. Denn bei ber langſamen Zerfegung der negetabi- 
lifchen, fo wie noch mehr der thierifchen Körper in Gegenwart von Kali 
erzeugt fi) ohne große Muͤhe das falpeterfaure Kali oder der Satlpeter, 
ans welchem, wie fchon erwähnt, die Salpeterfäure dadurch gemonnen 
wird , baß man ihr, mittelft einer Behandlung duch Schwefel 
fäure, von dieſer ftärkeren Säure das Kali entreißen läßt: In 
unferen Salpeterhütten wird der Salpeter ganz einfach fo bereitet, 
daß man unter ein Dad), welches den Regen abhalten fol, ein 
Gemenge von loderer Erde, von Afche und Deergel mit allerhand 





29: Die Lebentlaft und: das Seickgas. 205 


thierifchen und vegetabilifhen Abgaͤngen aufſchuͤttet, dieſes Gemenge 
oͤfters umſchaufelt, um alle feine Theile in Berührung mit der 
Luft zu bringen und daſſelbe von Zeit zu Zeit mit Urin begießt. 
Auf ſolche Weife wird im Verlauf von 2 bis 3 Jahren ber (or- 
ganifhe) Sticftoff in Salpeterfäure verwandelt , die fi mit dem 
wenigftens zum Theil in den zerfegten organifhen Maflen und in 
der Aſche enthaltenen Laugenſalze zu Satpeter verbindet. Aber 
auch fhon ganz bereitet, fo daß er nur des Auslaugens bedarf, fin- 
det fi der Salpeter in manchen Kafkfelfenhöhlen und Erdlagern 
der heißen, von uͤppigem Pflanzenwuchs bedeckten und von einer 
zahlreichen Thierwelt bewohnten Länder. Einige Pflanzen, wie 
der Boretidy (Borago oflicinalis) enthalten den Salpeter in merk⸗ 
licher Menge in ihren Säften. 
Bei der VBerwefung und Zerfegung organifcher Korper geht 
der Stickſtoff audy eine Verbindung mit dem anderen Grundſtoff 
des Waſſers: mit dem Waſſerſtoffgas ein, indem drei Maaßtheile 
von diefem mit einem Maaftheile Stidftoff das flüchtige Laugen: 
falz ober Ammoniak bilden, das fi durch feinen ftechend fcharfen 
Geruch überall da kund giebt, mo thierifhe Abgänge von fehe 
ftickftoffhaltiger Beſchaffenheit in Zerfegung übergehen. Auch in 
ber Atmofphäre erzeugt fich, mwahrfcheinlich dur die Mitwirkung 
eleftromagnetifcher Borgänge Ammoniak, das man, namentlid) 
bei: Gemittern, im Regenwaſſer auffindet, Bei diefer Verbindung 
der beiden Gasarten zeigt fid) am Stickſtoff eine Eigenfchaft, weiche 
mir fonft an keinem anderen brennbaren Körper bemerken. Waͤh⸗ 
rend ſich nämlich z. B. die Verbindungen des Phosphors und des 
Schwefels mit dem Waſſerſtoffgas mie Säuren verhalten , flellt 
die Berbindung bes Sticftoffes mit demfelben ein volllommenes 
Raugenfalz dar, welches dadurch, daß man ihm mittelft elektri⸗ 
[her Polarifation noch einen Maaftheil des Waſſerſtoffgaſes zu⸗ 
fest, zu einem metallifhen mit Quedfilber ſich amalgamirenden 
Körper, ähnlih den Grundlagen der anderen Laugenfalze, wird 
(f. S. 125). Hierbei haben ſich alle die gewöhnlichen Verhaͤlt⸗ 
niffe umgekehrt. Statt, daß anderwärts bie metallifhe Grund⸗ 
lage dadurch zum Vorſchein kommen Zönnte, daß ber Waſſerſtoff 
ihr den Sauerfloff, womit fie verbunden (oxydirt) mar, entriffe, 
vereint fich jener mit ihr und nun erft tritt die metallifche Natur 
hervor. Webrigens beftehen felbft- über die Grundlagenwuͤrde bes 
Stickſtoffes noch einige Zweifel und manche Beobachtungen koͤnn⸗ 
ten faſt zu der Vermuthung führen, daß er felber fchon aus der 
Berbindung einer noch wenig gelannten Grundlage mit dem Sauer- 
ftoff beſtehe. Im jeder Hinficht erfcheint diefe merkwuͤrdige atmo⸗ 
fphärifche: Luftart als ein Wendepunkt, bei welchem die Derrfchaft 
anderer, höherer Kräfte als die unferer chemifhen Werkſtaͤtten 
find: der Kräfte des Lebens. ihren Anfang nimmt, Aus dem 
Meihe der Grundlagen, weiche bie unorganifhen Körper bilden, 
iſt der Stickſtoff mie ausgeftoßen und ausgeſchlofſen, in diefen regt 





206 30. Großer Erfolg aus kieiner Urſache. 


ſich faft nirgends ein Zug nad ber Vereinigung mic ihm, und 
felbft die Lebenskraft ber Pflanzen zwingt jenen zur freien, unver 
mäbhlten Luftform gefchaffenen Stoff nur in fehr geringem Maaße 
zue Entäußerung feiner Freiheit. Erſt die thierifche Lebenskraft ifl 
ſtark genug, ihn ganz in den Bereich der Bildung ihrer Leiblichkeit 
hereinzuziehen, benn außer dem Fette, das nur Kohlenftoff, Sauer: 
ftoff und Wafferftoff enthält, haben alle. feiten wie flüffigen, orgas 
nifhen Beftandtheile, aus denen ber thierifhe Körper zufammenge 
fegt iſt, den Stickſtoff unter ihren Elementen. 

So tft die organifhe Natur in einem faft ungetheilten Ge 
brauchsrecht des Stickſtoffes, zu beffen Erwerb fie übrigens nur 
auf mittelbarem Wege gelangt. Denn fie nimmt benfelben nicht 
in feiner urfprünglichen Form als Stidgas, aus ber unerfchöpf: 
lichen Vorrathskammer der Atmofphäre auf, fondem das Thier 
empfängt ihn zunähft, ſchon im Verband mit anderen Grund- 
floffen , aus der thierifchen oder vegetabilifhen Nahrung, die es 
zu fih nimmt, die Pflanze aber aus der Zerfegung bes Amme 
niaks (Stiftoff und Waflerfloffgas), das ihr der Regen und 
die Mobererde des Bodens zuführen So bleibt das merk 
mürdige Element des Stidftoffes unvermindert an Menge, in -be 
ftändigem Curs, und der Abgang, den etwa die unermeflihen Bor 
räthe erleiden koͤnnen, welche der Luftkreis tnthält, würde fchon 
allein durch jenen Zugang an Stickſtoff erfegt werden, ben manche 
Quellen, wie 3. B. die Warmbrunnen von Mehadia, mit fich aus 
der Tiefe heraufbringen und zu Tage fördern. Aber, fo möchte man 
fragen, wo bringen biefe ihren Stickſtoff her ? 


30. Sroßer Erfolg aus kleiner Urfadhe 


Sener Brahmine, der nach dem Gebot, das feine Religion und 
fein Stand ihm auferlegten, niemals das Fleiſch eines. Thieres ge 
noffen, fondern mit Abfcheu von al’ folcher Speife fi hinwegge⸗ 
wendet hatte, gerieth in keinen geringen Schreden, als ein Eng 
länder ihm durch ein Mikroſkop in jedem Tropfen des Waſſers, 
davon der Brahmine foeben trank, eine unzählbare Schaar ber 
Heinen Thiere zeigte, welche uns das Fünftliche Auge der gefchlif: 
fenen Glaͤſer (nad) Cap. 22) fihtbar macht, Es fehlte nicht viel, 
er wäre lieber Durftes geftorben, als noch einmal in Gefahr ge 
rathen, Zaufenden jener Lebendigen bei dem Trunke ben Tod zu 
bringen, wenn ber Andere, ber ibn fo fehredte, nicht etwa ben 
Rroft hinzugefügt hätte, daß folche faſt uneßbar Kleine Weſen, 
wie fie lebend mit jedem Tropfen, ben mir genießen, ja mit’ jebem 
Lufthauch in uns eingehen, aud) lebend und unverlest ans uns 
ausgeben koͤnnten. 

Die Thierwelt unferer Mikroflope, welche Anfangs nur ein 
Belufligung ber Augen war, ift. in neuerer Zeit nicht wur ein Ge 





30. Großer Erfolg aus kleiner Urſache. 207 


genftand der aufmerkfamen Beachtung für den Forfcher in der Ge: 
fchichte des Thierreiches, fondern auch für den Forſcher in der Ges 
ſchichte der Geftaltung unferer Erdoberfläche und des Fortbeſtehens 
der Verhältnifie zwiſchen dem Luftkreis und ber ganzen oberirdifchen 
Natur geworden. Ganze große Lager von Fiefelerdigen Bergarten 
zeigen fi unter dem Wergrößerungsgias als ein feſt zufammen 
gebadenes Gehaͤufe aus unzählbaren Panzergehäufen, womit einft 
jene faft unmeßbar kleinen Weſen bekleidet waren, denn an biefen 
fäubchenartigen Thierchen zeigt fi eine Vollkommenheit und Ziers 
lichkeit des Baues, eine Stattlich keit und verhaͤltnißmaͤßige Stärke 
der aͤußeren Bekleidung und Bewaffnung, welche den beobachten⸗ 
den Naturforſcher mit dem hoͤchſten Erſtaunen erfüllt. In der- 
Zeit, als dieſe kiefelerdigen Lager fich bildeten, da muß in jedem 
Tropfen des flüfigen Elements die Schöpfung ber lebenden Ges 
ſtalten ſich geregt haben. 

Die Aufmerkſamkeit der Naturforfcher ift in neuerer Zeit noch 
in anderer Weife auf biefe Fleinften Thiere und auf ihre Wichtige 
keit für den Haushalt der irdifchen Natur hingelenkt worden, 
Wir fprahen im vorhergehenden Kapitel von bem Verbrauche, 
welchen das Sauerftoffgas der Atmofphäre durch das Athmen der 
Thiere wie durch jede Flamme eines brennenden Körpers, durch 
bie vielfachen Worgänge ber Gährung und Oprydirung erleidet, 
Zwar entwidelt fih nah S. 200 aus ber lebenden Pflanzenmelt, 
durch Zerfegung der Kohlenfäure, unter dem Einfluß des Sons 
nenlichtes eine bedeutende Menge von Sauerfloffgas, aber ein 
anberer, vielleicht nicht minder ergiebiger Quell ber Miederer 
ftattung der vom athmenden Thierreich aufgezehrten Lebenstuft ift 
im Xhierreich felber, und zwar in dem Gebiet der mikroſtopiſch 
Heinften Wefen zu finden. Wir wollen hievon nur Einiges ers 
wähnen. 

Schon vor mehreren Menfchenaltern bemerkte ein berühmter 
Naturforfher, (dev Graf Rumford), daß fi) aus verfchiedenen _ 
organifchen Korpern, wie Seide, Wolle und dergleichen, wenn bie 
felben in einem mit Waffer erfüllten Gefäße dem Sonnenlicht aus⸗ 
gefegt werden, eine Menge bes reinften Sauerftoffgafes entwickle. 
Zugleih nimmt dabei das Waſſer eine grünliche Farbe an, welche, 
mie die mikroſkopiſche Unterſuchung zeigt, von einer zahllofen Menge 
Heiner, vundlicher Thiere herrührt. In den Soolkaften einer Sa⸗ 
line fiehbt man eine fchleimige, burchfcheinende Maſſe fi bilden, 
welche den Boden einen oder zwei Zoll hoch bededit und an deren 
Dberfläche überall mächtig große Lufeblafen fid) emporheben. Wenn 
man mit einem Stode bie ſchleimig häutige Dede diefer Luftbla= 
fen durchſtoͤßt, dann dringt aus ihnen eine Luft herauf, die fi 
na& allen mit ihre angeftellten Verſuchen als vollfommen reines 
Sauerſtoffgas oder als Kebensluft zu erkennen giebt, Wenn man 
aber noch weiter die dicke, zaͤhe Fluͤſſigkeit, aus der bie Luft heraufs 
kam, unterfucht, dann rennt man unter dem Mikroſtop, daß fie 


208 30. Großer Erfolg aus Heiner. Irfache: 


faft ganz aus einem Gewimmel von eben foldhen lebenden Thier 
hen beftehe, ald die waren, aus deren Panzern ber Kieſelguhr von 
Franzensbad in Böhmen und andere ähnliche Lagen unferer- Berg 
arten zufammengefest find. Selbſt in der weißen Afche, die nad 
dem Glühen der diflüffigen Maffe im Feuer zuruͤckbleibt, erkennt 
man die SKiefelffelette jener Kleinen Thiere aus denen fie zum 
größten Xheil zufammengefegt iſt. Diefe zeigen fo deutlich die 
Form der Thierchen, denen fie angehörten, daß es dem Auge vor 
kommt, als hätte es noch den frifchen, von ihnen erfüllten Schleim 
nur in einem bewegungslos flarren Zuftande vor fih. Auch aw 
deres Waſſer, in welchem organifche Stoffe enthalten find, belebt 
ſich nad vielfach wiederholten neueren und neueften Unterfuhun 
gen, namentlih unter Einwirkung des Sonnenlichtes mit dichten 
Haufen von Kleinen, rothen und grünen, nur buch das Mikroflop 
wahrnehmbaren Thierchen, und fo wie dieß gefchieht, entwickelt 
fich eine Luftart aus dem Waffer, in der fih, wenn man in einem 
Glaſe fie auffommelt, ein glimmender Spahn ebenfo mit heller 
Flamme wieder entzündet als in reinem Sauerftoffgas, und melde 
auch durch andere Kennzeihen als ganz, oder faft ganz reines 
Sauerftoffgas ſich zu erkennen giebt. 

Erinnern wir uns bei diefer Gelegenheit. an die weitausge 
breiteten Lachen unferer feichten Seeküftengegenden, gefuͤllt wie die 
vorhin erwähnte Flüffigkeit auf dem Boden eines Soolenkaſtens 
mit falzigen Theilen, untermifcht von einer Maffe organifcher Ueber 
refle der im Meere lebenden Wefen; erinnern wir uns weiter an 
bie unzählig vielen Anfammlungen von flillftehendem Waſſer in 
unferen Sümpfen und Gräben, denen nicht weniger organifhe 
Ueberrefte des Pflanzen und Zhierreiches beigemengt find, dann 
wird e8 uns leicht fein, die ganz überaus wichtige Beſtimmung 
zu errathen , welche jene Kleinften unter allen Lebendigen für un 
fere irdiſche Natur haben. Sie zehren ohne Aufhören bie in Auf 
löfung begriffenen Stoffe auf, welche, wenn fie in gewoͤhnlicher 
Art verweſten, die Luft mit dem Aushaud ihrer Faͤulniß verpe 
fien würden. Und wenn fie diefem Uebelftand in fumpfigen Ge 
genden auch) nicht ganz abhelfen können , fo ift doch ſchon das, 
was fie zu der Abhülfe beitragen, ſehr wichtig. Aber nicht allein 
diefed Werk der Reinigung und des Aufräumens ift jenen Eleinen 
belebten Stäubchen übertragen, ſondern dabei auch noch die ur 
gleich wichtigere Aufgabe, aus den organifchen Stoffen und aus 
bem Waffer das darin enthaltene Sauerftoffgad in vollkommene 
Meinheit auszufcheiden und barzuftellen. Hier müffen aud bie 
ſchwaͤchſten und geringften Wefen das herbeifhaffen, was den 
ſtaͤrkſten und mächtigften das Hauptvermögen ihrer Wirkſamkeit 
darreicht. Das, was bem gewöhnlihen Menfchenauge verähtlid 
bünkt und von niedrigfter Art erfcheint, das kommt durd ein NP 
fer eindringendes Forſchen zur höchften Anerkennung und Ehe . 

Wir werden fpäter noch einmal, am Ende bes Capitels uͤber 








A. Drudck und Begendruck. 209 


den Bligableiter, darauf zu ſprechen kommen, was das leiblich 
Kleine und Kleinſte in der ſichtbaren Welt, dem maſſenhaft Gro⸗ 
ßen gegenuͤber zu bedeuten habe. Das Große bleibt ſeinem Ge⸗ 
wicht und herrſchaftlichen Einfluſſe nach immer groß, was aber 
unferem Auge daran gefällt und wichtig erſcheint, das waͤre nicht 
da, gäbe es nicht” daneben, daruͤber und darunter eine andere 
Welt der Dinge, die unfer Auge nicht fieht. ' 


31. Drud und Gegenbrud. 


Wir haben jest im Allgemeinen bie fogenannten Grundſtoffe 
oder die bisher noch nicht Flnftlich zerlegten Elemente betrachtet, 
aus denen die Körper unferer irdiſchen Sichtbarkeit aufammengefegt 
find. In der unorganifhen Natur finden fi) dieſe Grundftoffe 
zur Bildung der Steine, des Waſſers und anderer Körper, denen 
keine eigene Seele innen wohnt, unmittelbar, gleich roh behanenen 
Baufteinen angewendet, dagegen benugt bdiefelben die Lebenskraft 
der Thiere und Pflanzen nur als einen Stoff, duch beffen weitere 
Verarbeitung und vielfache Zufammenmifchung fie, wie ber Archis 
tekt feinen Mörtel, feine Studaturs und Porzelanmafle, das volt: 
tommene, organifhe Material zu ihrem Bau gewinnt. 

Mie dee Anblick der noch unbenust am Boden liegenden Bau: 
fteine oder der noch nicht in Badftein gebrannten Eid⸗ und Sands 
haufen nur wenig Imereſſe gewährt, wie dagegen jeder Voruͤber⸗ 
gehende gern ftehen bieibt und mit Theilnahme zufteht, wenn ganze 
Schaaren der Banleute das todte Materiat in Bewegung fegen 
und wenn unter ihren‘ Händen allmählig der kunſtreich ſchoͤne Bau 
ſich erhebt, fo ergeht e8 uns auch, wenn wir von der minder an⸗ 
fprechenden Betrachtung der Grundſtoffe zu der Erkenntniß jener 
Vorgänge übergehen, durch welche das hehre Gebaͤu unferer irdi⸗ 
(hen Sichtbarkeit aus feinen Elementen zufammengefügt und ers 
richtet void. Die Bauleute, meldye fich hierbei gefchäftig zeigen, 
find theils die Kräfte einer elektriſchen und chemifhen Anziehung 
(nad) Cap. 25), theils die einer lebenden Seele; bie Mittel, welche 
beide, wie die Maͤurer oder Zimmeret ihre Hebel und Ihre Hands 
werkögeräthe, zu Hülfe nehmen, find theil6 von miechanifcher Art, 
auf Drud und Gegendrud berechnet, theild von eigenträftigerer, 
auf Polarifation (nad Cap. 8) begründeter Natur. Wir betrach⸗ 
ten bier zuerſt die Mittel, welche mehr zur Klaffe der allgemeinen 
mechaniſchen zu gehören ſcheinen, obgleich auch aus ihrer Wirkfams 
keit allenthalben die ſelbſtthaͤtige Theilnahme eigenthümlicher Kräfte 
hervorleuchtet. Vor Allem tritt ums bier der ‚Einfluß entgegen, 
den der Drud der Atmofphäre auf alle Borgänge des Entſtehens 
und Beſtehens ber oberitdiſchen Koͤrperwelt ausübt. 

Wenn man ein Kind fangt: was wiegt ſchwerer, ein Pfund 
Mitch oder ein Pfund Blei, dann werden wir in den meiften Käl- 
fen die Antwort hören: das Pfund Blei wiegt fihwerer, Das 


13 


210 4. Druck und Gegenbruif: 


Kinb bebentt eben nicht, daß ein Centner immer ein Gemtner, dad 
Loth ein Loch in ber Wagſchale bleibt, e& mag num mom Gewicht 
des Waſſers oder ber Luft oder des Goldes die Mede fein. Dem 
bie Pferde, welche vor einem Karren angeſpannt find, auf dem en 
Eimerfäßchen voll Ducaten liegt, haben daran ohngefaͤhr eben ſe 
fhwer zu ziehen, als zwei andere, deren Ladung kin großes Mir 
zenfaß ift, in welhem 19 Eimer Waffer enthalten find (m. | 
S. 115). Und dennoch hat bas Kind, wenn es jene Frage fein 
bar fo verkehrt beantwortet, auch nicht ganz unrecht, es folkte ſich 
nur anders ausdrüden und vielleicht fagen: ein Pfund Blei laſtet 
ſchwerer als ein Pfund Milch. 

Der Laftträger, welcher 400 Pfund Blei auf feinem Rüdı 
davon trägt, muß ſchon ein fehr ſtarker Mann fein, etwa ein ſob 
cher, wie man einzelne unter den türkifchen Laflträgern in Konflar 
tinopel findet. Ein berühmter Starker in alter Zeit, ber fic gar 
ruhmredig Athamas „ber Unbezwingbare’”, nannte, hatte es noch 
weiter gebracht; er trug eine Waffenrüftung an ſich, melde tar 
fend Pfund wog, und bewegte. fih in und mit diefer Laſt. Bir 
haben aber Beifpiele von noch viel. mächtigeren Laftträgern gan 
in unferer Nähe und ich felber kenne vor Allen einen, welcher ein 
Gewicht, das faft breißigmal ſchwerer ift, als das des Athamas, 
ſo ganz ohne alle Befchwerde trägt, daß er es nicht einmal hi 
Nacht im Schlafe ablegt, und am Tage damie ganz leicht über 
Berg und Thal wandelt, Ja dieſer Laftträger ist fchon als Eleint 
Knabe mit einem Gewicht, welches vielmal größer war, denn jent, 
das Athamas auf. feinem Leibe trug, umbergehüpft und geſprun⸗ 
gen, ift damit an Baumen und an Mauern emporgellettert und 
im Waſſer geſcthwommen, ohne unterzufinten. 

Der Mann , von welchem ich dieſes ohne alle Webertreibung 
ausfagen Tann, Bin wicht nur ich felber, fondern iſt Jeder von und. 
Jeder Mensch non vollkommenem Wuchſe und vollkeäftigem Um 
fang ber Glieder bat bei Tag wie bei Nacht einen allfeitig auf di 
Oberflaͤche ſainos Körpers einwirkenden Druck der Luft zu ertragen, 
welcher in der Meeresebene bei Neapel wie bei Damburg auf jet 
Quadratzoll zinem Gericht van 12?/, Wiener Pfund, mithin auf 
jeben Quadratfuß von 1636 und im Ganzen, wenn bie gefammt 
Oberflaͤche des Körpers 15 bis 16 Quodratfuß mißt, einem Be 
wicht: son 27540 bis 29376 Pfunden entipräht. 

Daß in einer Möhre, in welcher man einen ‚gut an ihre in 
neren Wände anſchließenden Stempel emporzieht, das Waſſer, M 
das der antere Theil der Roͤhre eingetaucht iſt, aufwärts ſteige, 
das wußte feit uralten Beiten jedes Kind, denn das Spiel mit 
fogenannten Spritzbuͤchſen oder Sprigröhren iſt nicht exrſt feit geſters 
erfunden. Der Anblick jeder Mafferpumpe, weiche im Großen auf 
dieſelbe Meife eingerichtet ift, wie das Sprigrohr im Kleinen , di 
Betrachtung jedes Hebers, in welchem die Fluͤſſigkeit, wenn man 
bis in ihm enthaltene Luft mit bem Munde herauszieht, alsbal 





A. Dia unk Gngendruk zit 


emporſteigt, Lehrte ganz bafielbe: daß naͤmlich das Waffer, mie 
jede andere Flüffigkeit, wenn fie Zugang dazu finden Senn, in 
einen Raum fi hinaufdränge, den man von ber Luft entleert hat, 
Die Matſache war demmach längft und wohl bekannt, wicht aber 
bie Urfache, auf der fie beruht. Ein berühmter. Philofoph bes 
Alterthums hatte die Meinung ausgeſprochen: daß in allen 
natürlichen Dingen ein Abſcheu vor ber Leexe fei, weshalb auch 
das Waſſer, feiner Schwere entgegen, im luftleeren Röhren auf 
waͤtes fleige uud bei diefer fonberbaren Erfiärung, weil fie von 
einem ‚großen, berühmten Gelehrten kam, hatte man fich faft zwei 
Sahrtaufende lang beruhigt, ohne ber Sache meiter nachzudenken. 
Dea jedoch ein Iuftleerer Raum immer baffelbe bleibt und mit 
bin auch daffelbe wirken muß, er mag groß ‚oder Flein fein, da im 
Segentheil bee Abſcheu der Natur vor der Leere nur deſto flärker 
fih äußern follte, je größer bie Leere iſt, mußte es auffallen, daß 
Das MWaffer in einer Saugpumpe, auch wenn .diefe noch fo genau 
und vollkommen eingerichtet ift, niemals höher in den kuͤnſtlich er⸗ 
zeugten ‚ luftleeren Raum binanfleigt, als. 32 Fuß. Ein Gärtner 
in Florenz machte diefe Erfahrung in recht auffallender Weife, als 
er eine Wafferpumpe ganz kunſtgerecht hatte fertigen laffen, melde 
über 40 Palmen hoch war, Das Wafler folgte dem ganz luft⸗ 
dicht anſchließenden Stempel bei feinem Deraufziehen nad) bis mer 
Höhe vom 18 Ellen oder 32 parifer Fuß, bei dieſer Höhe aber 
blieb es ſtehen, ohne fich weiter in dem Iuftleeren Raume erheben 
su laſſen. Der berühmte Galilei, einer ber tiefblickendſten Phy⸗ 
filter der neueren Zeiten, hörte von dieſer Beobachtung, aber obr 
gleich, fein ſolbſtkraͤftiger Geiſt in vieler Dinficht ven der Befangen⸗ 
beit unter den Ausfprüchen des Ariſtoteles ſich frei gemacht hatte, 
vermochte er doch bei diefer Gelegenheit nicht ganz davon los zu 
kommen; er urtheilte, daß der Abfehen vor ber Leere, welcher das 
Waller in den Saugpumpen flsigen macht, feine gewiſſe Graͤnze 
Habe. Und dennoch konnte die richtige Anficht von jener Erſcher 
nung Keinem fo nabe liegen, als diefem ſcharfſinnigen und tieffor 
fhenden Mann, welcher nit nur die Schwere ber Luft kannte, 
die er, freilich noch immer zu hoch, 400 mal geringer fchägte, als 
Die Eigenfchwere bes Waflers, fondern ber bei anderer Gelegenheit 
auch an die Wirkungen des Drudes ber Luft auf die Oberfläche 
der Erbe gedacht zu haben fcheint. Er fah diesmal die Wahrheit, 
wie ein Feld aus ber weiten unficheren Ferne, in bie fih ein Luft 
ſchiffer erhebt; die deutliche Anſchauung aus einem näheren Stand 
punkt fehlte ihm noch, denn bie Beobadytung an ber Waſſerpumpe 
Des Gaͤrtners konnte, fo wie fie in ihrer Vereinzelung daſtand, der 
Macht des allgemeinen Anficht das Gegengewicht nicht halten. Seinem 
Schüler aber und Nachfolger auf dem Lehrftuhlder Phyſik zu Bologna, 
Korricelli gelang es, den näheren Standpunkt zu finden, von wel⸗ 
chem aus die Erſcheinung des Luftdruckes fich leicht und bequem über 
blicken ließ, weil fie mit ihren Winfungen auf einen kleinen Raum be⸗ 


14 * 


212 A. ‚Drau und Gegendrudll 


ſchraͤnkt und mit nun geringer Mühe hervorgurufen war. Wenn, 
fo urtheifte Torricelli, dee Luftbrud «6 iſt, melcher, auf ben Wap 
ferfpiegel mwirtend, in welchen man das untere Ende der Saug⸗ 
pumpe verfentt hat, die Fluͤſſigkeit in den luftleeren Raum bin- 
” auftreidtz dann muß diefer Drud auf ieden Punkt ber Erbober: 
fläche, er muß auf Fluͤſſiges wie auf Feſtes in gleicher Kraft ein- 
wirken. Die Höhe, bis zu welcher eine Fluͤſſigkeit vermitteift des 
Luftdrudes in dem Iuftleeren Raum emporfleigt, wird, fo fchloß 
ee weiter, im Verhaͤltniß mit ihrer Eigenfchwere ftehen, Weingeiſt 
oder Del, weil fie leichter find, als Waſſer, werden höher. fteigen, 
denn dieſes; Queckſilber, meil es viel ſchwerer iſt, als Waſſer, wird 
auch, in demſelben Verhaͤltniß, viel weniger hoch emporſteigen. 
Bei dieſem letzteren Glied der Zuſammenſtellungen blieb Torricelli 
ſtehen. Er fuͤllte eine Giasroͤhre, welche an ihrem einen Ende zu⸗ 
geſchmolzen war, mit Queckſilber an, ſchloß das andere offene 
Ende mit dem Finger und brachte daſſelbe in ein über 2 Zoll tief 
mit Quedfiiber gefuͤlltes Gefäß. Er hob jest das verfchloffene Ende 
empor, 309 den Singer hinweg, und das Quedfilber ‚blieb 27 1, 
Boll hoch in der Glasroͤhre ftehen und ließ zugleich jenen Raum 
in dem oberen, verfehloffenen Ende leer, weicher über diefe Hoͤhe 
binanreichte. Aber die Höhe von 27 1/, Zoll verhält fi zur Hoͤhe 
von 32 Fuß eben fo, wie ſich (umgekehrt) die Schwere des Waf 
fer6 zu der des Queckſilbers verhält, nämlich nahe wie 1 zu 14. 
In der Gtasröhre mit ihrem, durch das Umſtuͤrzen entflandenen, 
Inftleeren Raume des oberen Endes wiederholte fi im Kleinen ganz 
bafielbe, was dem Gärtner In Florenz an feiner über 40 Panmen 
hoben Saugpumpe gefchehen war. . In diefer hatte es auch noch 
einen verhältnißmäßig eben fo großen leeren Raum gegeben und 
Hoc, hatte fi) das Waſſer über eine beflimmte Höhe nit erhes 
ben mögen, eben fo blieb auch das Queckſilber im Iuftleeren Raume 
der Xorricellifhen Röhre, oder wie wir das JInſtrument jegt nen⸗ 
nen: des .Barometerd und Wetterglafes, in einer gewiflen, mitt 
teren Höhe ſtehen. Diefe große, in al’ ‚ihren Folgen fo. wichtige 
Entdedung wurde im Jahr 1643 gemadıt. 

Die offentundige Wahrheit wurde aud diesmal, wie ihr fo 
‘oft gefhieht, von Vielen bezweifelt. Zwei ber tiefſten Denker je 
doc), welche in jener Zeit lebten, Cartefius und Pascal, hiel⸗ 
ten fie der meiteren Prüfung werth. Iſt es wirklich dad Gericht 
der aufliegenden Luftfäule, weiches das Wafler wie dad Queckſil⸗ 
ber in einem Inuftleeren Raume emporbebt, dann muß fi, je 
welter man über die Oberfläche der tiefen Ebenen ober des Meeres- 
ſpiegels hinanfteigt, defto mehr jener Drud vermindern: das Queck⸗ 
filter in der Zorricellifhen Leere wird auf dem Gipfel eines hohen 
Berges eine niedrigere Stellung einnehmen, als in der Tiefe bei 
der Meereslüfte. Pascal ſchloß fo, und veranlaßte im 3. 1648 
feinen Schwager Perrier, zu Clerment in ber Auvergne, mit 
sinem Barometer den 4541 Fuß hohen Puy de Dome gu beſtei⸗ 








3. BDrud und Begendrud, 218 


gen, um bort die Höhe bes Duedfilberftandes zu beobachten. 
Derrier that es, und fand diefen Stand auf dem Gipfel des Bers 
ges um deei Zoll niedriger, als unten, am Fuß beffelben. Ein 
Verſuch im Kleinen, welchen Pascal felber anftellte, beftätigte 
daffelbe, denn ein Barometer , das er mit fi auf ben Thurm 
der Kirche St. Jacques hinaufnahm, zeigte dort einen um etliche 
Linien niedrigeren Stand, als unten auf dem Boden der Straße, 
Abgeſehen demnach von den im VBerlauf eines Jahres und Mo- 
nates öfter wiederfehrenten , ja an jebem Tage im Kleinen merk; 
lichen Beränderungen im Stand der Quedfitberfäufe unferer- Bas 
rometer, wovon wir naher noch weiter reden werben, ging es 
aus diefen Verſuchen ganz offenbar hervor, daß die‘ Emporhebung 
der Ftüffigkeiten in dem Inftleeren Raume in einem feftbeflimmten 
Verhaͤltniß mit der Höhe, und darum auch mit dem Gericht des 
auf der Erdoberfläche aufruhenden Luftkreiſes ſtehe. 

Was der atmosphärifhe Drud und feine Wirkung fei, das 
zeigte auf eine der größeren Menge noch einleuchtendere Meife 
Dtto von Guerike, Churbrandenburgifher Buͤrgermeiſter zu 
Magdeburg, als er im Jahre 1654 auf dem Reichstage zu. Nes 
gensburg vor den Augen Kaifer Ferdinands III., deſſen Sohnes, 
des roͤmiſchen Königs (Ferdinands IV.), mehrerer hoher Reichs⸗ 
fürften und einer großen Zahl des anweſenden Adels fo wie der 
Schaaren des. Volkes feine Verfuche mit der von ihm erfundenen 
Luftpumpe anftellte. In ähnliher Weife, wie man dur das 
Zurüdhziehen eines dicht anfchließenden Stempels das Waſſer aus⸗ 
pumpt, 309 er bie Luft aus einer hohlen metallenen Kugel herz 
aus, und indem die Einrichtung getroffen mar, daB nad jeden 
Zuge die Mündung der Saugröhre nach dem Inneren der Kugel 
gefhloffen, die herausgezogene Luft aber durch eine befondere Deff- 
nung hinaus gelaffen werben konnte, gelang es ihm, einen faft 
vollkommen Iuftleeren Raum herzuftellen: Der Hauptkoͤrper feiner 
Zuftpumpe; beffen Durchmefier eine Magbeburgifhe Elle betrug, 
beftand aus zwei Eupfernen Halbkugeln, welche genau in einander 
gefügt, und da wo fie zufammentraten von einem mit Wachs und 
Zerpentin getränkten ledernen Ring luftdicht umfchloffen waren. 
An den Halbkugeln waren außen metallene Ringe angebracht, durch 
welche man Seile ziehen konnte, um Pferde daran anzuſpannen. 
So fange aus dieſen zufammengefegten Kugeln die Luft noch 
nicht herausgezogen mar, konnte Jeder ohne alle Anflrengung bie 
Halbkugeln von einander trennen, wenn aber die inwendige Luft, 
ſo meit als möglich, hinaus gepumpt war, dann drängte der aͤußere 
Luftbrud die beiden Halbkugein fo feft und Mräftig an einander 
daß mehrere ſtarke Männer zufammen fie nicht mehr von einan⸗ 
der bringen Tonnten. Man fpannte an jede Halbkugel 2 Pferde; 
dann. 4 und 6 an, und reiste bie XThiere zur moͤglichſten Aeuße⸗ 
ung ihrer Kraft; fie vermochten es nicht, die beiden Halbkugelm 
von einander zw. ziehen, . Erſt ale man 8 unb bei zinem fpäterem 


218 3. Drud und Gegeabrur: 


Verfuch mit einer etwas größeren Kugel 12 Pferbe an jebe Halb⸗ 
kugel anlegte, da gelang der 16 und 2Afachen Pferdekraft dat, 
was ohne den Luftdrud für die Kraft eined Anaben ausfuͤhrbat 
war. Auf vielfache Weile wurden dann, bei den verfciebenften 
Zormen unb äußeren Einrichtungen , mweldye man ber Zuftpumpe 
gab, die Verſuche wiederholt, die zum Beweis für die außeror 
bentliche Kraft des LKuftdrudes dienen konnten. Man erkannte 
aus ihnen allen, daß jener Drud mit derſelben Macht auf eine 
Tlähe, etwa von einem Duabdratfuß Rauminhalt einmwirkte, ald 
z. B. eine ſchwere metallene Maſſe von gleichem Flaͤcheninhalt, 
beren Gewicht über 18 Centner (einer zu 100 Pf.) beträgt. 

Der Erfinder dee Luftpumpe war zu feiner Entbedung durch 
die Betrachtung der Torricelliſchen Leere in der Glasroͤhre des Be 
rometers geführt worden. Es erleibet keinen Zweifel, daß ſchon 
Torricelli die Veränderung beobachtet habe, welcher der Stand dei 
Quedfilbers im Barometer, auch wenn dieſes unverändert an 
einem Orte fliehen bleibt, unterworfen ift, auch hatte er daraus 
geſchloſſen, daß die Schwere, mit welcher die Luft auf bie Erb 
fläche drückt, felber veränberlich fe. Der Erfte jedoch, welcher nicht 
nur den Zufammenhang jener Veränderungen mit einem wandel 
baren Zuſtand der Atmofphäre, fondern mit den Wirterungsver 
änderungen erkannte und der das Barometer zu einem Wetter 
glafe umfchuf, mag dennoch Otto von Guerite gemwefen fein, der 
fhon in einem Briefe von 1661 bie fpielende Einrichtung feine 
Wetterglaſes befchreibt, in welchem oben auf dem Queckſilber ein 
bölzernes Männchen fiand, das mit dem Quedfilber flieg und 
wieder fant und mit feinen Fingern auf die neben angefchriebenen 
vermuthlichen Witterungszuftände hindeutete. 

So hat zwar das Barometer den Sciffern auf dem Met, 
welche es durch das Fallen feines Quedfilbers vor dem nahen Ein 
bruch der Stürme warnte, wie den Bewohnern bed Landes fort⸗ 
während als eine Art von Witterungsverkündiger gedient, faſt na 
wichtiger iſt es jedoch durch feine Anwendung zum Mefien der 
Höhen geworden, weil bier feine Angaben ficherer find als die det 
bevorftebenden Witterungsmwechfel. Die Luft ift 10,467 mal dünne 
und leichter ale dad Queckſilber. Wenn man beöhalb zwei Bars 
meter, eined unten am Boden, das andere auf dem platten Dad 
eines Gebäudes, das gegen 73 Fuß höher ift als bie Flaͤche bei 
Bobens, aufftellt, dann wird man finden, daß der uedfilberftand 
in dem Barometer auf dem Dach um eine Linie niedriger if alt 
in dem anderen. Denn 727/,, (genau 72,687) Fuß find gleich 
10,467 Linien, um fo viel muß die Luftfäule kürzer fein, wenn 
ihr Sewicht fo meit abnehmen foll, daß es einer um nur eine Eine 
verkürzten Queckfilberfaͤuie gleichtonmt. Wenn nun biefes Per 
hältniß in derſelben Art fich fortfegte, fo daß der Queckſilberſtand 
ſich bei je 73 Fuß Erhöhung um eine Linie verkürzte, dann waͤrt 
die Berechnung bet Bergeshähen und der Lage ber Ortſchaften uͤbet 





— — — — — 


— — — — — — — -- 


IH. Druck und Gegendruck. 215 


dem Mieevesfpiegei etwas fehr Einfaches und Leichtes. Aber es 
tommen Babei noch andere Punkte in Betracht. Abgefehen von 
dem fehr entfchiebenen Einfluß, den, wie wir nachher. nody erwaͤh⸗ 
nen werden, bie Wärme auf die Ausdehnung nicht nur der Luft- 
faule, fondern bes Queckſilbers im Barometer hat, fo daß dieſes 
bei höherer Temperatur, wie uns das kuͤnſtliche Thermometer zeigt, 
in der Glasroͤhre fleigt, bei niederer aber finkt, verhält es ſich 
auch ſchon an fi mit den Schichten der Luft, die man fidy von 
der Erdoberfläche an bis zur oberſten Graͤnze ber Atmofphäre auf 
einander gelagert denken könnte, nicht fo wie wit den Lagen fefter 
Körper. Wenn man z.B. eine gewiſſe Zahl von Steinplatten in 
ber Dide von zwei Zollen, bavon jede einen Gentner möge, in 
einer Frachtlaſtenwage auf einauder legte, und hierauf eine oder 
mebrere folcher Platten hinwegnähme, dann wuͤrde die auf eins 
ander geſchichtete Maſſe bei. dem Hinwegnehmen jeder einzelnen 
Platte um einen Centner leichter und zugleih um 2 Zoll niedriger 
werben. Aber die Schichten der Luft find keine folhen, in ihrer 
Größe unveränderfihen Maſſen mie die Steinplatten, die ſich durch 
die auf ihnen liegende Laft Richt zufammendräden laften, fondern, 
ähnlich hierin den elaflifchen Federn unferer Ruhebetten oder Polſter, 
läßt fie fih duch einen auf fie einwirkenden Drud in engeren 
Raum zufammenprefien, und dehnt fi im demfelten Maaße, in 
welchem der Druck nachlaͤßt, zu einem größeren Naume .auß. 
Wenn man den Grab der Dichtigkeit und Schwere der trocke⸗ 
nen Luftfäule ben biefelbe bei dem Tempetatutgrad des thauenden 
Eifes hat (m. v. C. 35), zur Grundlage der Berehnungen nimmt, 
und dabei den Stand des Quedfilbers im Barometer am Spiegel 
bes Meeres 28 Zoll 9/,, Linie (336,9 Linien) fegt, dann findet 
man, daß der atmofphärifche Druck, weicher das Quedfilber AS Bol 
body fleigen macht, dem Gewicht einer Luftſaͤule entipricht, weiche, 
wenn fie überall: von gleicher Dichtigkeit wäre, eine Höhe von 
10,467 mal 28 Zoll, d. h. von beiläufig 24,480 Fuß haben müßte. 
Aber diefe Dichtigkeit, die wir an der Meeredebene beobachten, 
bleibt fi, je weiter wir uns nach oben erheben, keinesweges 
gleich, denn ba ſich die Luft, vermöge ihrer Spannkraft in dem⸗ 
ſelben Maaße ausdehnt, in weichen der Driud ber barüber ſtehen⸗ 
deu atmofphärifchen Schichten vermindert wird, nimmt bdiefelbe zu⸗ 
gleich um eben fo viel an Leichtigkeit zu. Wenn deshalb unten in 
der Tiefe, am Meere, wo das Quedfilber im Barometer 28 Zoll 
hoch ſtand, das Gewicht der Luft dem 10,467 ten Theil der Schwere 
des Queckſilbers gleich kam, fo wird in einer Höhe, wo ber mitt 
tere, Barometerſtand nur 14 Zoll ift, das Gewicht bes Luft nur 
noch dem 20,934ten Zheil dee Queckſilberſchwere gleih kommen, 
Deun die Luft hat fich bier, wo nur ein halb fo großer Drud ber 
oberen atmofphärifchen Schichten auf ihr laſtet, zu dem Aoppelt fo 
großen Umfang ausgedehnt; während man in ber unteren Region 
gegen.. TS Bug hoch fleigen. mußte, um dert Barometerſtand um. 


216 31. Druck und Gegendruck 


” äne Linie fallen zu fehen, maß man im $ener oberen fich ned 
einmal fo body, bis zu 146 Fuß erheben, wenn das Queckfilber 
um eine Linie fi fenten fol, ja in einer Höhe, wo das Gewicht 
der aufliegenden Luftſaͤule nuc 7 Zoll des Quedfitberfiandes gleich 
täme, würde man viermal 73, d. b. 292 Fuß body fleigen müflen, 
um den Barometerftandb von 7 Zoll bis auf 6 30H 14 Linien fallen 
zu ſehen. 

Mas wir Bier in großem Umfange vor Augen ftellten, hat 
feine Gültigteit auch noch im Beinften Maafe. Wenn am Meere: 
fpiegel, wie oben erwähnt, die Höhe der Luftfchicht, welche einer 
Linie des Duedfilberflandes entfpriht, 72,7 Fuß beträgt, dann 
findet man, daß man, um das Barometer 2 Linien fallen zu feben, 
ſchon nicht blos zweimal 72,7 oder 145,4, fondern 146,067 Fuß 
hoch fleigen muͤſſe. Denn der Drud ber Luftfäule hat ſich da von 
335,9 auf 334,9 verringert, und das Verhaͤltniß zwilchen 335,9 
und 334,9 iſt daffelbe wie zwifchen 72,7 zu 72,933. Und fo 
waͤchſt, um nur hier einen. Kleinen Theil der Beränderungen bei 
Baromeserflandes zu überbliden, die Höhe der Luftfchicht, die mit 
einem Sinken des Quedfitberd von 1 Linie abgemefjen wird, bei 
einem Barometerftand von 333,9; 332,9; 331,95 330,9; 3299; 
328,9; 327,9; 326,9; 325,9; 324,9 auf 73,258; 73,568; 73,7%; 
714,018; 74,243; 74,468; 74,695; 75,027; 75,154; 75,385, im 
Ganzen aber in dem Betrag eines Zolles (von 336,9 auf 324,9 
Linien) auf 889,678, oder wenn wir ftatt 72,7, ber Wahrheit 
noch näher kommend, 72,687 für die Höhe der erften Schicht ar 
nehmen, nahe auf 888 Parifer Fuß. Da, wo nun ber Bareme 
terftand von 28 auf 27 Zoll herabgefunten, mithin der Drud der 
oberen Luftfäule um 1/,, vermindert, die ‚Ausdehnung der naͤchſt⸗ 
folgenden um eben fo viel gewachſen ift, beträgt die Höhe ber zwi⸗ 
fhenliegenden Luftſchicht nicht 2 mal 883 oder 1776; fondern 
1807 Fuß, denn fie ift von 888 auf 919, ‚bei dem 3., 4, 5. 
u. ſ. w. Zoll auf 955, 994, 1035 gewachſen. Der Barometer 
ftand von 27, 26, 25, 24, 23, 22, 21, 20, 19, 18, 17 Zolen 
entfpricht mithin den Höhen von 1807, 2762, 3756, 4790, 5806, 
6990, 8116, 9402, 10,613, 12,120 Parifer Fuß. Wenn deshalb 
auf dem Gipfel des Hecla ein Barometerftand von 23 30K 9,0 % 
nien beobachtet, und hierbei das Mittel der Temperaturen, welche 
zur Beit ber Beobachtung unten am Meeresufer fo wie oben auf 
dem Berggipfel herrfchten, in Rechnung gegogen wurde, dann ließe 
fih Hieraus mit Leichtigkeit die Höhe des‘ Berges zu 4790 Pariſet 
Fuß berechnen. Auf dem Aetna beträgt der beobachtete Barometer: 
ftand mit Rüdfichtnahme auf diefen Stand und bie gleichzeitige Tem 
peratur unten an ber Meeresküfte, 18 304 5 Linien (221,9 Linien), 
woraus fich eine Höhe des Berggipfels von 10,484 Parifer Fu 
ergiebt, denn auf jener Höhe, wo das Quedifilber im Barometer auf 
18 300 ſteht, ift die Höhe der Luftfchichten, bei welcher ſich der 
Barometerfland um 1 Linie erniebeigt, auf 114 Fuß gefliegen. Ju 





31. Druck und Gegendruck. 21T 


aͤhnlicher Weife wird aus dem beobachteten Barometerſtand auf 
dem Dionte Baldo von 329,7 Linien bie Höhe des Berges zu 6762, 
die des Dertlergipfels in Tyrol aus dem Barometerfiand von 16 Zoll 
11 Linien auf 12,019 Parifer Fuß berechnet. 

Sn Folge der nach oben Immer mehr zunehmenden Dünne 
der Luft gefchieht es auch, daß ein kleiner Ballon aus luftdichtem 
Stoffe, den man unten am Meeresniveau nur halb mit Lufe füllte, 
fo daß feine Wände ganz fhlaff und zufammengefallen ausfahen, 
wenn man ihn mit fich anf eine bedeutende Höhe hinaufnimmt, - 
auf: einmal, durch die Federkraft der in ihm eingefchloffenen Luft 
ganz anſchwillt, und fi zu einer folchen Wölfe ausdehnt, daß er 
wie eine zugebundene Blafe, ans der man bie Luft fo gut ale 
möglich mit den Händen herausgebrüdt hatte, unter der Glocke ber 
Luftpumpe zerplagt, ein Umſtand, der die Luftſchiffer manchmal 
in Zebensgefahr gebracht hat. Denn, welche ungemeine Stärke bie 
Feberkraft der zufammengedrädten Luft habe, das lehrt uns die 
Wirkung unferer Windbächfen, bei denen es nur bie ſtark zuſammen⸗ 
gepreßte, in der angefchraubfen Hohlkugel befindliche Lufeift, welche, 
wenn tan ihr plöglid Den Ausgang in den Flintenlauf verftattet, 
die Kugel mit fo großer Macht und Schnelligkeit fortfchleudert. 

An einer Fu, welche fo dichte iſt als die am todten Meere, 
deffien Spiegel um mehr als 1200 Fuß niedriger liegt als ber des 
Mittelmeered, wo mithin der mittlere Barometerftand nahe gegen 
30 Zoll Beträge, fühlen tote kein Unbehagen, ja mir befinden uns 
meift bei einem hohen Barometerſtand befonders wohl. Selbſt in 
der kuͤnſtlich verbichteten Luft bes Windgewölbes eines Hochofens, 
wo der Drud vielleicht den Druck der Luftfäule am Meere um das 
Doppelte und Deeifache übertraf, fühlten zwei Beobachter, welche 
fi eine Stunde lang darin einfehließen ließen, keine andere Unbe⸗ 
quemlichkeit als einen Drud von außen her auf dad Trommelfell 
des Ohres, und dieſelbe Erfahrung machten Perforien, die unter eis 
ner Taucherglocke in fehr verdichteter Luft fih befanden. Der Schall 
ift in einer folhen dichten Atmofphäre ganz überaus verftärkt; die 
Ausdünftung des Körpers etwas zurüdgehalten. 2 

Ungleich größer find, abgefehen von der mit der Höhe zugleich 
zunehmenden Kälte der Luft, jene. Unbequemlichkeiten, melde mir 
bei einem längeren Verweilen in ber verdünnten Luft der höheren 
Regionen empfinden. Den ungünftigen Einfluß ſolch' dünner Luft 
beweift fhon die kurze Xebensdauer, das bleiche Ausfehen, bie 
Kraͤnklichkeit, das ſchwere Heilen von Wunden bei den Bewohnern 
des Hospitiums auf dem St. Bernhard, deſſen Höhe 8460 Fuß, 
der mittlere Barometerftand wenig über 20 Zoll beträgt. Jenſeits 
der Höhe von 1!/, bis 2 Meilen würde kaum noch ein Thier zu 
teben und zu athmen vermögen, in einer Höhe von etwa 5 Meilen 
über der Meeresebene bat die Verduͤnnung ber Luft einen Grab 
erreicht, - den wir auch durch unfere beften Luftpumpen nicht her⸗ 
beiführen können. - 0 


218 31. Druck und Gegendruck. 


= Mas übrigens die Bewohnbarkeit der Hoͤhenregionen ber at⸗ 
mofphärifchen Luft betrifft, fo hat hierauf auch die Wärme einen 
nicht unbedeutenden Einfluß. Da, wo (zwiſchen des Wendekreiſen) 
das ganze Jahr hindurch eine höhere Wärme herrfht, muß durch 
bie ausdehnende Kraft der Wärme (davon fpäter) die Luftſaͤule 
böher fein als in einem Eälteren Klima, obgleich der Drud (bie 
Geſammtſchwere) der Luft ſich gleich bleibt. Deshalb fpüren bie 
Bewohner des hohen Thales von Quito nichts von den Unbequem⸗ 
licgeiten der Bewohner des St. Bernhards: Hospitiums, obgleich 
the Aufenthaltsort 8900 Fuß über dem Meere gelegen, der Baro⸗ 
meterfland unter 20 Zoll if. Denn Quite liegt fall unter dem 
Aequator, der St. Bernhard ſchon jenfeits des halben Weges vom 
Hequator nad dem Norbpot, im AT. Grab ber nörbliden Breite. 

Man hat fi bemüht, die Frage zu beantworten; wie hoch 
ber Luftkreis und wo feine aͤußerſte Graͤnze fei? Wenn man nad) 
dem vorhin (S. 216) erwähnten von Marioste aufgellellten Ge 
feg die Höhe der einzelnen Luftfchichten von gleihem Gewicht bes 
rechnet, dann würde 5. B. jene Schicht, in welcher ber Barome- 
terſtand nur noch 1 Bolt beiträge 2%), & h. 28 mal dünner und 
zugleich ihre Höhe von jenem Gränzpuntte an, wo ber Stand bes 
Duedfilbers noch 2 Zoll betrug, fih auf 28 mal 888 d. b. auf 
24864 Fuß belaufen, während bei der nächft vorhergehenden Schicht, 
in welcher der Barometerftand zwiſchen 2—3 Zoh war, bie Hoͤhe 
nur 14 mal 888 oder 12432 Fuß betrug. In demfelben Ver—⸗ 
haͤltniß würde dann, ſowie es fich jegt nicht mehr um Zolle, fon= 
dern nur um Linien handelte, die Höhe ber einzelnen Luftihichten 
fi fleigern. Denn fowie die unterfte Luftfchicht am Spiegel des 
Meeres eine folhe Dichtigkeit hat, daß man nur 73 Fuß hoch 
fteigen muß, um das Barometer um 1 Linie, von 338 auf 337 
finten zu ſehen, hat fi) dagegen die Dichtigkeit der Luft, da mo 
der Barometerftand nur noch 2 Linien mißt, bis auf 33°), ober 
den 169. Theil vermindert und zugleich die Höhe jener Schicht 
auf 169 mal 74, d. h. 12337 gefleigert. Ja bdiefe- Höhe beträgt 
für jene naͤchſte Schicht, an deren Graͤnze die Quedfilberfäule nur 
noch eine Linie hoch flände, 338 mal 73. oder 24528 und fo würde 
fi) in ähnlicher Weife die Dichtigkeit der Luftfchichten vermindern, 
ihre Höhe fich fteigern, auch da, wo das Gewicht der noch übrigen 
Luftfäule nur auf Hunberttheile, ja auf Zehntaufendtheile einer 
Linie des Quedfilberftandes ſich beliefe. So wie wir ed deshalb 
mit al? unferer Mühe kaum dahin bringen werben, in dem Hohl⸗ 
gefäß unferer Luftpumpen einen vollkommen luftleeren Raum dar⸗ 
zuftellen, fondern diefer auch nad; lang fortgefegtem Auspumpen 
immer noch mit einer ganz: überaus verdünnten Luft gleihmäßig 
erfüllt bleibt, fo Eönnen auch unfere Berechnungen Über den aͤußerſt 
möglihen Grad der VBerbünnung und mithin. über bie oberfte 
Graͤnze unfere® Luftkreifes nur ſehr ſchwer zu einem ficheren Ende 
fommen, Doc ift es wahrſcheinlich, daß jene Graͤnze da fe, mo 





31. Drud und Gegendrud, 219 


die eigenthaͤmliche Federkraft oder Elaftisität der Luft mit ihrer 
Schwere in ein vollkommenes Gleichgewicht tritt, welches der Be 
rechnung nach unter dem Aequator in einer Höhe von 27!/a in 
der Rähe der Pole von ZI1/,, Meile Über der Erdoberflaͤche ſtatt⸗ 
finden fol. Sn jener Höhe ‚müßte jedoch die Luft fo bünn fein, 
daß fie keiner für unfer Auge merklichen Erleuchtung: durch bie 
Sonnenſtrahlen fähig wäre, denn, wie wir dies aus den Berech⸗ 
nungen wiffen, die und die Morgen» und Abenbbämmerung an 
die Hand giebt, die Höhe, bis zu welcher bie Luft jenen körperlichen 
Beſtand hat, bei welchem fie noch ein ſchwaches Sonnenliht auf 
die nächtliche Erdoberfläche herunterftrahlen kann, gebt nicht ganz 
bie zu 10 geograpbifhen Meilen hinan. Schon dort käme die 
Dichtigkeit der Luft, wenn anders ihre Abnahme überall dem oben 
erwähnten Mariott’fchen Gefeg folgt, kaum noch dem 5000. Theil 
ber Dichtigkeit der unteren Luftſchichten gleich. 

An jenem Drude, den bie gefammte Zuftfäule am Niveau 
bes Meeres auf die Erdfläche ausübt, und welcher dem Gewicht 
einer Queckſilberſaͤule von 28 Zoll gleich kommt, haben nit nur 
die beiden Hauptgasarten der Atmofphäre, Stickſtoffgas und Sauers 
ſtaffgas Theil, davon das erflere einer Duedfilberfäule von mehr 
denn 21 ?/,, das leutere von faft 6*/, Zoll entfpeicht, ſondern es 
kommen babei noch zwei andere Iuftartige Subflanzen in Betracht, 
die ſich in großer "Allgemeinheit den beiden Hauptgasarten beiges 
mengt finden. Die eine davon ift der Maflerdampf, melder im 
Mittel gegen vierzehn Taufendtheile, das andere die Kohlenfäure, 
weiche ein Zaufendtheil bes atmofphärifchen Luftgemenges ausmacht. 
Der Drud des erſteren kommt indeß kaum drei Siebentheiten, 
deren der Legteren etwa dem vierzigften Theil eines Zolles der Bas 
tometerhöhe gleih. Doch ftehen diefe Verhältniffe nirgends fo feſt, 
als das Verhaͤltniß der Mengen des, Sauerfloffes und Stidftoffes, 
Namentlicy iſt das Eohlenfaure Gas wegen feiner großen Dichtigs 
keit und igenfchwere Feiner fchnellen und gleihmäßigen Bew 
breitung fähig, fondern es häuft fich leicht da, wo es durch Ders 
brennen und die Gaͤhrung der Körper ober durch das Athmen der 
Thiere entflanden iſt, unverbältnifmäßig an, und auch in anderen 
Regionen der Atmofphäre bemerft man, daß im Allgemeinen bei 
trockenem Wetter der Gehalt an jener Gasart zu=, bei feuchten 
abnimmt, daß er an windſtillen Tagen, ſowie über dem Fladyland 
und über dem Meere geringer ift, als bei windigem Wetter fo wie 
über bergigem Feſtlande. Noch größeren Abweichungen ift die 
Menge des Waflerdunftes unterworfen, der fich in der Atmofphäre 
findet, denn dieſe hängt noch vielmehr von ber feuchten oder trodes 
nen Befchaffenheit des Wetters oder der Lage eined Lands 
ſtriches ab, | | 

Mit dieſer Veränderlichkeit der Menge des atmosphärifchen 
Waſſerdunſtes follte denn auch vermeintlich ein Theil jener täglichen 
und jährlichen Veraͤnderungen in Zufammenhang flehen, welche am 


220 31. Drud und Gegendruck 


Stand des Barometers beobachtet werben. In ben wärmften Me 
naten des Sahres, im Juli und Auguft, werde mehr Waſſerdunſt 
gebildet, und in bie Säule ber beiden Hauptgasarten eingemengt als 
im Winter, fo daß hierdurch der Gefammtbetrag des Luftdrudes im 
Sommer um 4 bis 6 Linien, im Winter nur um 1 bie 2 Linien 
fi vermehrt. Aber nicht nur in den verfchiedenen Zeiten de 
Jahres, fondern in denen jedes einzelnen Tages iſt der Betrag 
des Dunftgehaltes und feines Gewichtes einem Wechſel ausgefett. 
Am Morgen, bei Sonnenaufgang, wenn die Abkühlung der Luft 
ihren höchften Grad erreicht, ift die Verdunſtung am geringften, 
fie nimmt jedoch dann einige Stunden nah) Sonnenaufgang bis 
gegen 8 oder 9 Uhr zu, noh vor Mittag, mie in den 
heißeften Nachmittagsſtunden wieder ab, vermehrt ſich jedoch von 
Meuem am Abend, und wird gegen 10 Uhr am bedeutendften. 
Statt diefes zmeimaligen Steigens und Fallens des Barometer 
ftandes durch den vermehrten oder verminderten Dunftdrud zeigt 
fi) in der Falten Sahreszeit nur einmal täglidy ein folches Fallen, 
früh zwifchen 6 und 8, und ein Steigen um 4 Uhr Nachmittags, 
wo die Dunftbildung am ftärkften ift. Doch find diefe täglichen 
Beränberungen des Barometerftandes nur fehr wenig bemerkbar, 
da fie im Sommer nur !/,, im Winter nur !/, , Linie austragen. 
Ueberhaupt find diefes zunächft nicht jene Barometeränderungen, 
aus denen fich die etwa bevorftehenden Witterungsmwechfel beftim: 
men laſſen, fondern dies gilt nur von foldhen, welche von einer 
Störung des Gleichgewichtes der Luftfäulen, die über verfchiedenen 
Punkten der Erdoberfläche flehen, ihren Urfprung nehmen. Dat 
Gleichgewicht wird vorndmlih durch die verfchiedenen Grade der 
Ermärmung geftört, Die wärmere Luftfäule dehnt fidy zu einer 
größeren Höhe aus, und da ihr oberes Ende hierdurch feinen Stüg 
punkt in der nachbarlich angränzenden Luftmaſſe verliert, ergieft 
ed ſich über diefe niedereren Fälteren Regionen, die Säule felbe 
aber wird hierdurch leichter, ihre Drud auf die Erbfläche vermindert. 
In die dünner gewordene, waͤrmere Quftfchicht fenten fich dann, 
nad) dem Gefeg des Gleichgewichtes, die dichteren, Fälteren Luft: 
maſſen herein und fo entfteht namentlich ein oberes Steömen der 
Luft der waͤrmeren Zone gegen bie Fältere und ein unteres der 
Luft der Falten Zone zur warmen hin. Der legtere kommt aus 
einer Gegend der Erbe, wo die Arendrehung derfelben (wovon 
fpäter) nur wenig merklich iſt; je mehr er deshalb den Gegenden 
der Wendekreife und des Aequators ſich naher, um fo mehr fteigert 
fi) die Arendrehung und um fo mehr bleibt er daher gegen diefe von 
Welt nach Dft gehende Bewegung zurüd und wird zum herr 
fohenden Oftwind. Eben fo mie es uns gefchleht, wenn mir ih 
einem vorher ruhenden oder langfam fahrenden Wagen nad hinten, 
zur Lehne zuruͤckſinken, fobald das Fuhrwerk plöglich in fehleunige 
Bewegung gefest wird. 
« Kine in lebhaften Fortbewegung begriffene. Luft. übt nach. un 





3. Drud unb Gegendruck tr 


ten einen geringeren Drud aus als vorher, im Zufland der Ruhe, 
aus demfeiben Grund, nach welchem die, durch eine enge Röhre 
hindurchſtroͤmende ſtark zufammen gepreßte Zuft, ihre Spannkaft 
weniger auf die Wände der Röhre ald nach der Richtung hinwir- 
ten läßt, welcher die Strömung folge. Darum ſinkt der Baro- 
meterftand öfters bei und vor ftartem Winde. Die wechfelnden 
Luftſtroͤmungen, als eine Zolge. bes verfchiedenen MWärmegrades, 
der ihre Bewegung bewirkte, geben dann auch zu den wäfferigen 
Niederfchlägen Verantaffung, die fih in der Atmofphäre bilden und 
aus ihre zum Boden herabfenten. Der Waſſerdunſt erhält ſich im 
feiner Iuftartigen Form nur durch jene Spanntcaft, welche Ihm 
die Warme mittheilt. Das gasartige Waſſer unferer Atmoſphaͤre 
verräch fich an keinem unferer Werkzeuge, durch das wir die Feuch⸗ 
tigkeit der Luft mefien, es kann eine große Menge des Waſſerdun⸗ 
fies im Luftkreis vorhanden fein, und den Drud feiner Saute, 
wie uns das Barometer lehrt, ſehr augenfällig vermehren und 
dabei kann dennoch zugleich die höchite Zrodenheit herifhen. Wenn 
aber eine warme Luftmafie,. deren Wärme: hinreichend war, um 
dem MWafferdampf, mit welhem fie bis zur Sättigung erfüht ift, 
die zur Erhaltung feiner Luftform nöthige Spannung zu geben, 
mit einem kalten Luftſtrom vermifcht und hierdurch abgefühlt wird; 
dann verliert ein mehr oder minder großer Theil ihres Wafferbuns 
ſtes feine Federkraft, er geftaltes fich zu Kleinen Troͤpfchen, weiche 
entweder in ber Luft ſchweben bleiben, und nur eine Zrübung des 
Himmels verurfachen, ober, wenn fie eine bedeutendere Größe und 
Schwere ereiht haben, als Regen zu Boden fallen. Uebrigens 
giebt fi das Verſchwinden ber nöthigen Spannkraft des Waſſer⸗ 
gaſes alsbald duch ein Feuchtwerden ber Luft zu erfennen, und 
im Ganzen erreicht diefer Zuftand der Feuchtigkeit im Winter feis 
nen hoͤchſten Grad, ift im April am geringften und nimmt von 
da wieder zu, fo wie an jedem einzelnen Tage bie Luft während 
der kuͤhlſten Morgenſtunden am. feuchteften ift. 

Wenn das Waſſer beim Sieden in die Gasform feines 
Dampfes übergeht, dehnt es fich auf ben 1700 fachen Raum aus, 
wird mithin um eben fo viel leichter, Die atmofphärifche Kuft 
dehnt fich ‚beider Siedehige nur fo weit aus, daß fie 1052 mat 
leichter wird als das Waſſer, deffen Dampf mithin noch immer 
um ein Merkliched leichter bleibt, indem er nahe nur 5/, des Ges 
wichtes der umgebenden heißen Luft hat. Aber der Wafferdunft 
bildet fich nicht nur in der Siedehige, fondeen auch bei einer Kälte, 
Welche weit unter bem Gefrierpunkt ift; als Eis und als Schnee 
iſt das Waſſer noch einer Verdampfung unterworfen. Der Wap 
ferdunft, der ſich unter ſolchen niedrigen Temperaturen bildet, hat 
zwar nicht jene Spannkraft, welche ihm die Siedehitze mittheiltz 
doch bleibt das Verhaͤltniß feiner Dichtigkeit zur Dichtigkeit oder 
igenfchmere der eben fo Kalten Luft bafjelbe: auch er wird um 
Fünf Achttheile leichten gefunden. als, dieſe. \ 


22 1. Deut mub Gopabruff. 


Bıetert der Sb Er m luftleeren Raume ber Luft⸗ 
yamıs. z2> werz zrwe Orte cer inftartigen Atmofphäre be 
1zußc wiz. wie GE aus Dem Dempf ihrer Sewaͤſſer eine Dunſt⸗ 
kile 1m IYrede ewree Demraech ist ſich das Entſtehen der 
Rtrısare 108 E-rzen ed WBaltırs: dad Sieben, in einem 
WMerı-n$ rer Ircianstee ze em Drum der Atmofphäre. Wäh- 
web 22 er Weoricee ce Ectegung bis zu 80 Grab Meau⸗ 
zum ı Java wer zuere) gröeg ıc, um das Waſſer kochend zu 
wire chic x m Fuh Ir Par de DomeWarte (von A541 
KıF) \üuz ra Fe a 6 Grab, im der Höhe von etwa 9400 
S# Te Dre wer 2 Gar. ben, und feibfi bie guten Vaͤter, 
wii Te Sram 33 ©xr Bermberb und dei St. Gotthard 

72. ie we iu Toren ber heben Alpengegenben Eönnen das 
“ üe für ihre Säfte bereiten oder felber 
sr techın als die Bewohner bes tief 
geruzez dırnd wii e8 a rem Hoͤben nicht möglid) iſt, dem 
nana Ritz Ye ;jzr Gisthereitung mandyer Speifen nöthige - 
Der ;z un Terz m Krüer auf dem St. Bernhard fiedet 


i 
HE 
ir 


,‚ wein nr Druck ber Luft auf unferen eigenen 
. dr iii Oo bered nen, daß die Sefammtlaft oder ber 
Immririire. unter weihem wir (nad ©. 210) unten 
der Woerrdritume Ichem zur uns bewegen, bei jeder Linie, um 
wei It Rurrmeterüiar üb verändert, um nahe 100 Wiener 
Murt Ak nermehre el rermintere. In einer Höhe von 2000 Fuß, 
die man dort anlegt, flatt 32 Fuß 
mittlere Barometerfiand nur 21 Zoll 
a and ter Luirbrud auf bie Außenflädhe des Men⸗ 
um cin Miertel feiner Stärke vermindert, und ba wo 
bad Maier in ten Pumpen nur noch 16 Fuß emporſteigt, in be 
der Tühne Bebirgäbefleiger, der in diefe 
nur ned, einen halb fo großen atmefphärifchen 
als ber Bewohner der Meeresktüftenebene. 
Deuned gewädrt eine ſolche WBerminderung bes Luftbrudes 
dem Erben ſelber, fe wie al" feinen Bewegungen keineswegs eine 
Erieichterung, fondern (nad ©. 217) vielmehr eine Erſchwerung. 
Unfere eigene leibliche Natur it von Luft durchdrungen, und ihren 
Beſtandtheilen nad, ein Weſen ber Luft, darum wirkt fie dem 
äußeren Druck der bare wit einem Gegendrud der eigen 
en, woburd fie ihm bis zu einer ge 


Ä 
i 
z 
? 
: 


3. Drud und Gegendruck. 223 


das Gleichgewicht zwifchen den luft⸗ ober tropfbar flüffigen und 
feften heilen bes organifchen Leibes nicht mehr beflehen kann; die 
Federkraft der erfteren fleigert fi ungehemmt bie zu einem folchen 
Uebermaaße, daß fie die Hüllen, darein das Flüffige gefchloffen ift, 
allenthalben durchdringt und zulegt ihre Zerftörung bewirkt, Der 
atmofphärifche Drud gehört für alle organifchen, aus flüffigen und 
feften heilen zufammengefegten Körper, zu dem ihnen angemefjenen 
2008 des Lebens und des gefunden Fortbeftehens, 

Seht es deoch ſeſpſt im Reiche des Geiſtigen auf ähnliche Weife 
zu. Das Loos, welches der Schöpfer jeder Menſchenſeele aufer- 
legte, ift eine Schule, welche bald da, bald dort von außen hem⸗ 
mend und befchräntend mirkt, wie ber atmofphärifhe Druck auf 
die Federkraft der Leiblihen Dinge. Das Gemüth bleibt bei all’ 
diefem Hemmenden Drud fröbfih und gefund, fo lange in ihm der 
freudig machende Geiſt deffetben Schöpfer, der den äußeren Drud 
gab, lebt und waltet, ja, der Innere Gegendrud des Geiſtes vers 
ſtuͤrkt fih in demſelben Maaße, in weichem die Lafl von außen 
zunimmt. MWürbe die Gerle des Menſchen auf einmal all’ ben 
Regungen und Strebungen ihrer Natur. allein überlafien, ohne 
jenen Einfluß von oben, ber ihre Wege orbnet und all’ ihre Re 
gungen zufammenfaßt, dann wirde bald ihr ganzes Thun ein 
Mühen um Michts fein, ihe ganzes Weſen der Nichtigkeit anheims 
falten. Aber nicht nur ober und außer ihr, auch in ihr, in ber 
böheren Sphäre de Erkennens waltet, fo lange die Seele gefund 
ift, gleich dem Iuftartig Klüffigen, das in dem Gewebe ihres Leibes 
enthalten ift, jener Geiſt, der das Aufiteigen des gröberen, thie⸗ 
tifchen. Wefend in bas ihm zugehörige, höhere Herrſchergebiet vers 
hindert. Wo diefer innere Herrſcher fein Wirken aufgiebt, da ges 
(hieht in dem Weſen ber Menfchenferle etwas Achnliches als in 
der Röhre, darin durch den aufwärts gezogenen Stempel ein luft⸗ 
leerer Ramım erzeugt wurde, in welchen jegt, von untenher, das 
Waſſer aus dem Sumpf der Tiefe himanfteigt: das thierifch Sinn 
liche fest fi dann an die Stelle bes. geiſtig Menfchlichen. 


22 A. Dead und Gegenbrulf: 


Wafferbunft bilder ſich ſelbſt Im luftleeren Raume ber Luft 
pumpe, und wenn unfere Erbe ihrer Inftartigen Atmoſphaͤre be 
taubt wäre, würde fi ans dem Dampf ihrer Gemäffer eine Dunft 
huͤlle um biefelbe erzeugen. Dennoch zeigt fich das Entſtehen ber 
Waſſerdaͤmpfe durch Erhigen des Waſſers: das Sieben, in einem 
Verhältniß der Abhängigkeit zu dem Drud der Atmofphäre. Wih 
vend an der Meeresebene eine Erhisung bis zu SO Brad Rau 
mur (davon meiter unten) nöthig ift, um das Waſſer kochend zu 
maden, reicht in der Höhe der Puy de Dome Warte (von 4541 
Buß) fhon die Hige von 76 Grad, in der Höhe von etwa 94 
Fuß die Hige von 72 Grad, hin, und felbft die guten Väter, 
welche die Hospitien des St. Bernhard und bed St. - Gotthard 
bemohnen , fo wie die Hirten der hohen Alpengegenden Eönnen das 
Fleiſch und die Gemüfe, die fie für ihre Gäfte bereiten ober felber 
genießen wollen, niemals fo gar kochen als die Bewohner des tif 
gelegenen Landes, weil es in ihren Höhen nicht moͤglich iſt, dem 
fiedenden Waffer die zur Garbereitung mancher Speifen nöthige 
Hige zu geben. Denn tm Klofter auf dem St. Bernhard fiedet 
das Waſſer fchon bei 73*/, Gr, M. 

Um jedoch nod einmal auf die Betrachtung jenes Einfluffed 
zurücdzutommen, welchen der Drud der Luft auf unferen eigenen 
Körper hat, fo Laßt fich berechnen, daß die Gefammtlaft ober ber 
Drud der Atmofphäre, unter weldhem mir (nah S. 210) unten 
auf der Meeresebene leben und uns bemegen, bei jeder Linie, um 
welche der Barometerftand ſich verändert, um nahe 100 Wientt 
Pfund fi) vermehre oder vermindere, In einer Höhe don 7000 Fuß, 
wo das Waſſer in den Pumpen, die man dort anlegt, flatt 32 Fuß 
nur 24 Fuß hoch fleigt, der mittlere Barometerfiand nur 21 Fol 
beträgt, hat ſich auch der Luftdrud auf die Außenfläde des Men 
ſchenleibes um ein Viertel feinee Stärke vermindert, und da me 
das Waffer in den Pumpen nur noch 16 Fuß emporfleigt, in ber 
Höhe von 17,000 Fuß, hat der kuͤhne Gebirgsbefleiger, der in bie 
Höhe vordrang, nur nody einen halb fo großen atmefphärifchen 
Druck auf fi ruhen, al6 der Bewohner ber Meerestüftenebene 
-  Dennod gewährt eine ſolche Verminderung bes Luftbrude 
dem Leben felber, fo mie al’ feinen Bewegungen keineswegs ein 
Erleichterung, fondern (nad) S. 217) vielmehr eine Erſchwerung. 
Unfere eigene leibliche Natur ift von Luft burchdrungen, und ihren 
Beftandtbeilen nah ein Wefen der Luft, darum wirkt fie dem 
äußeren Drud der Atmofphäre mit einem Gegendrud der eigen 
thuͤmlichen Federkraft entgegen, woburd fie ihm bis zu einer ge 
wiffen Gränze das Gleichgewicht hält. Diefe natürliche Graͤnje 
reiche bis dahin, wo bie verbünnte Luft noch jene Gewichtsémenge 
des Sauerftoffgafes enthält, welche bei jedem Athemzug dem Blute 
zur Erhaltung feiner Rebensträftigkeit nöthig iſt (n. C. 28). De 
wo das Athmen mit Beſchwerde vor füch geht, ift der zuſammen 
baltende Drud von außen zu einem Grad vermindert, bei melden 








31. Drud und Segendrud. 223 


das Gleichgewicht zwifchen den Iufts oder tropfbar flüffigen und 
feften Theilen des organifchen Leibes nicht mehr beftehen kann; bie 
Federkraft der erfteren fteigert fi ungehemmt bis zu einem ſolchen 
Uebermaaße, daß fie die Hüllen, darein das Flüffige gefchloffen ift, 
allenthalben durchdringt und zuiegt ihre Zerftörung bewirkt, Der 
atmofphärifche Drud gehört für alle organifhen, aus flüffigen und 
feften Theilen zufammengefegten Körper, zu dem ihnen angemefjenen 
2008 des Lebens und des gefunden Fortbeſtehens. 

Geht es doch ferpft im Reiche des Geiftigen auf ähnliche Weife 
zu. Das Loos, welches der Schöpfer jeder Menfchenfeele aufer- 
legte, ift eine Schule, welche bald da, bald dort von außen hem= 
mend und befhräntend wirkt, mie der atmofphärifhe Drud auf 
bie Federkraft der Leiblihen Dinge. Das Gemüth bleibt bei al’ 
diefem Hemmenden Drud fröhfih und gefund, fo lange in ihm der 
freudig machende Geiſt deſſelben Schöpfere, der den äußeren Drud 
gab, lebt und mwaltet, ja, der Innere Gegendruck des Geiſtes ver 
ſtuͤrkt fi in demſelben Maaße, in weichem bie Lafl von außen 
sunimmt. Würde die Seele des Menfhen auf einmal all’ den 
Regungen und Strebungen ihrer Natur allein überlaffen, ohne 
jenen Einfluß von oben, ber ihre Wege orbnet und all? ihre Re 
gungen zufammenfaßt, dann würde bald ihre ganzes Zhun ein 
Mühen um Nichts fein, ihr ganzes Wefen der Nichtigkeit anheims 
fallen. Aber nicht nur ober umd außer ihr, aud in ihr, in der 
höheren Sphäre des Erkennens waltet, fo lange die Seele gefund 
ift, gleidy dem luftartig Klüffigen, das in dem Gemebe ihres Leibes 
enthalten ift, jener Geift, ber das Auffteigen des gröberen, thie- 
tifchen. Weſens in das ihm zugehörige, höhere Herrſchergebiet vers 
hindert. Wo diefer innere Herrſcher fein Wirken aufgiebt, da ges 
ſchieht in dem Weſen der Menſchenſeele etwas Achnliches als in 
der Röhre, darin durch den aufwärts gezogenen Stempel ein luft⸗ 
leerer Raum erzeugt wurde, im welchen jest, von untenher, das 
Waſſer aus dem Sumpf der Tiefe himanfleigt: das thieriih Sinne 
liche fest fich dann an die Stelle des geiſtig Menfchlichen. 


III. 
Dad Gebiet der koßmiſchen Erſcheimmgen. 
32. Eine Leiblicheit ber höheren Drdnung. 


Die Indianer, welche zum erſten Male bie Wirkſamkeit der 
europdifchen Seuergemehre, im Kampfe mit den fernher gekom⸗ 
menen Fremblingen erfuhren , erfehraden nicht wenig, als fie mit 
dem Blig und Donner zugleich, der aus den nie gefehenen eifernen 
Möhren hervorbrady , die Todeswunden bemerften, welche eimige 
der Ihrigen von den feindlihen Waffen erhielten. Aus zinem 
Abftande, über welchen ber ftärkfie Arm Leinen Wurfſpieß, ber 
ftärkfte Bogen Leinen Pfeil hinüberfenden kann, traf fie die metal⸗ 
lene Kugel mit folcher Kraft, wie im Zweilampf von Wann gegen 
Mann die Spige des Spießes einen naheſtehenden Krieger durch⸗ 
bohrt. Indeß war das Geſchoß, das folhe Wirkung that, Doc 
ein Stuͤck Metall, das fih, wenn es fein Ziel verfehlte und am 
Felſen niederfhlug, mit den Augen betrachten, mit: ben Haͤnden be 
taften ließ: ed war von gleiher natürlicher Beſchaffenheit als ber 
metallene Bolz oder Pfeil, den der Bogen ſchoß. 

Bon ganz anderer Art find die Furcht und dee Schrecken, 
welche in dem Indianer oder im Regerfelaven ber Lähmende und 
zuweilen töbtlihe Schlag erregt, womit der Bitteraal (sad) C. 72) 
den ſtaͤrkſten Mann, ber Ihn nur leiſe beruͤhrte, ja "der nur in 
feine Nähe kam, zu Boden ſtreckt. Das furchtbase Thier bat 
diefe Macht in Feiner fihtbaren Waffe; nicht im Gebiß, nicht in 
ben Floſſen; das, womit er fchlägt, ift für die Sinne etwas Un- 
erfaßbares, für den Verſtand Unbegreiflihes. In ähnlicher Weife 
wie der Zudblig, der aus dem Zitteraal hervorwirkt, war auch 
der Schlag einer mit Elektrizität geladenen Leidner-Zlafche oder Bat: 
terie für die Ununterrichteten, welche ihn bei der leifeften Beruͤh⸗ 
rung empfanden, ein Gegenſtand bes Erſtaunens und des Ent- 
ſetzens. 

Und iſt nicht ſchon die Weisheit des Alterthums vor der Be⸗ 
trachtung der anzi ehenden Kraͤfte eines magnetiſchen Eiſens, ſin⸗ 
nend, wie vor einem unbegreiflichen Wunder, ſtill geſtanden, ohne 
den Ausweg in das Wie und Woher zu finden? Daß ein Stud 
Eifen, nicht andere metallifche oder fonflige leicht von ihrer Stelle 
beroegliche Körper, fondern immer nur Eifen zu ſich hinbewegt, 


32. Eine Leiblichlelt der hoͤheren Ordnung. 225 


aus der Spreu, in ber basfelbe eingebettet Liegt, es hervorzieht 
und, gleich als fei ein anklebend Flüffiges an feiner Oberfläche, 
es fefthält, das war aus den anderen Eigenfchaften eines ſchweren, 
harten, kalten Metalle noch weniger begreiflich, ald das Spiel 
ber Bewegungen, das ber geriebene Bernftein, ohne Auswahl, mit 
ben verfchiedenartigfien leichten Körpern treibt. 

Die Wiffenfhaft unferer Tage hat noch viel öfter und maͤch⸗ 
tiger ein foldye® wunderbares Etwas bervortreten fehen, das durch 
fein völliges Entbundenfein von dem Zug der Schwere nach dem 
Erdkörper hin als ein Nichtlörperliches, nicht irdiſch Stoffartiges 
und dennod durch feine Wirkſamkeit im leiblich Sichtbaren als ein 
Reibliches fi) fund giebt. Mie die Seele in dem Körper jenes 
Thieres, das bie kalte Zeit des Winters in einem todtenflarren 
Schlafe zubringt, wenn auch nicht bildend, fo doch erhaltend in 
dem erfalteten Körper fortwirkt, defien finnlih unmahrnehmbare 
Baumeifterin fie war; fo ruht das merkwürdige Etwas, mel 
hes dem Mabneteifenftein feine anziehende Kraft giebt, ohne 
fi} fund zu geben in feinem metallifhen Körper, bis man biefen 
feiner uralten Lagerftätte entreißt undihn an der Erdoberfläche den 
verändernden Einflüffen dee Luft und des Lichtes ausfept. 

Sn feinen ſehr mannihfahen Formen der Erfheinung hatınan 
das irdiſch unkörperliche Etwas ald Magnetismus, Wärme, Elek 
teigität und Elektrochemismus benannt. Der Stammvater all’ 
diefer Zeugungen tft das Licht und nur die Schwere hat es und 
noch nicht Fund gethan, daß fie von gleihem Gefchleht mit dies 
fen Wefenheiten einer höheren Orbnung ber natürlichen Dinge fei, 
denn fie, gleich jenem Atlas, der das Gewölbe der Sichtbarkeit 
trägt, erſcheint ale ein felber unbemweglih Ruhendes und dennod 
Dewegenbee unter und über den kreifenden Bewegungen der Sicht⸗ 

arkeit. 

Die Seele iſt in den organiſchen Weſen das irdiſch unkoͤr⸗ 
perliche Etwas, das ſeinen Koͤrper ſich bildet und in lebendigem 
Bewegen von einer Kraftaͤußerung zur anderen ihn erhaͤlt. Sie 
zeigt ſich am meiſten in ihrer bildenden und erhaltenden Eigenſchaft, 
wenn am Thiere der niederen Ordnungen ein zerſtoͤrter Theil durch 
ſie ergaͤnzt, oder wenn am vollkommneren Thier das harmoniſche 
Gleichgewicht der inneren Verrichtungen, welches geſtoͤrt war, von 
Nenem durch fie wieder hergeſtellt wird. Auch das irdiſch unkoͤr⸗ 
perliche und dennoch leibliche Etwas, das als ein elektromagneti⸗ 
ſches dem Weſen der irdiſchen Stoffe innewohnt, iſt urſpruͤnglich 
die bildende Urſache, iſt der Baumeiſter der koͤrperlichen Dinge ge⸗ 
weſen und iſt fortwaͤhrend noch ihr Erhalter, ohne in dem Ruhe⸗ 
ſtand der gewordenen Koͤrperlichkeit ſich als das, was es iſt, kund 
zu geben. Erſt dann, wenn der ruhende Zuſtand durch ein dufs 
ſeres Bewegen geftört, wenn ber Zufammenhalt der Theile getrennt, 
wenn ber ruhende Stoff von einem Zuge zum Berein mit anderen 
Stoffen ergriffen und hiermit einer neuen Formwandlung zuge 


15 


226 3.. Die Wärme. 


führe wird, tritt bie Bildnerin und Exrhalterin, weiche ihm inne 
mohnt, freigelaffen aus ihrer Gebundenheit und Verhuͤllung, in 
ihrer eigentlihen Naturgeftalt hervor. 

Mir verglihen C. 11 die Betrachtung der tedifch Eörperlichen 
Stoffe mit einem äußeren Borhofe bed natärlihen Erkennens. 
Schon bei dem Verweilen in diefem Vorhofe begegneten wir öfter 
den Wirkfamkeiten jener MWefenheiten einer höheren Ordnung der 
Reiblichkeit, welche wie in den nadhftehenden Gapiteln näher be 
trachten wollen, obgleich auch diefe Betrachtung (nad) S. 88) und 
nur aus dem dußerften in einen irgend mehr nad) innen gelegenem. 
Vorhof des geiftigen Erkennens führen Tann, welcher nicht frei 
von Dunkel if. Denn, mas das Leben und Weſen ber Seele 
fei, die in uns denkt und handelt, können uns weber der Magnıt 
noch die Volta’fhe Säule fagen. 


33. Die Wärme, 


Wir lernen hier einen Gehülfen des Lebens am Bau der 
fihtbaren Keiblichkeit kennen, ungleich wichtiger und von allgemei- 
nerem Einfluß, als der zufammenhaltende Drud der Atmofphäre, 
dennoch aber häufig mit diefem Drude, fo wie mit ber Wirkfam: 
keit der Luftarten, melde ihn erzeugen, Dand in Hand verbun: 
ben. . Diefer mächtige Gehülfe am Bau der- irdifhen Sichtbarkeit 
und an feiner Erhaltung ift die Wärme. Was wäre die Welt 
ber leiblichen Dinge, wenn nicht das Licht, mit väterlicher Kraft, 
in ihr das Leben weckte, und die mütterlihe Wärme diefes Leben 
nährte und hegte! Bor Allem zwar kommen ber Erde das Licht 
wie die Wärme aus der - allgemaltigen Mitte ihres Weltganzen, 
aus der Sonne dennoch enthält fie auch in dem Innern ihrer 
Gebirgsmaſſen, in den brennenden Vulkanen und Naphthaquellen, 
manchen natürlichen , niemals verlöfchenden Herd des Feuers. 

Ber Baku, am Caspiſchen Meere, wo das Erdöl an ver 
ſchiedenen Stellen dem Boden entquillt, und wo in der Naͤhe bie 
fer Quellen aus jedem Loche, dad man in die Erde graͤbt, ein 
Dampf herausfteigt, der ſich (nah S. 179) an. der genähezten 
Flamme eines Lichtes entzündet und in unverlöfhliher Ausbaser 
fortbrennt , bi8 man ihm , etwa buch Auffchütten von Erde, den 
Zutritt des atmofphärifchen- Sauerftoffgafes abfchneibet, finden ſich 
noch einzelne, Eleine &emeinfchaften der alten perſiſchen Feueran⸗ 
beter. Diefen erfcheint das Feuer, mit feinem Licht und feiner 
Wärme, nad einer Verirrung bes fleiſchlichen Sinnes, nicht nur 
als ein Sinnbitd ber allbelebenden und erhaltenden Kraft des Sch 
pferd, fondern als: das Weſen diefes Schöpfers felber, ‚vor dem 
fie fih beugen. . 

Sn der That, es war nah C. 12 ein wichtiger Zuwachs zu 
dem Herrſchergebiet des Menfdyen, über die ihn umpebenbe Natur, 





3 Die Waͤrme. 227 


aa ihm bie Macht in feine Hand gegeben twurbe, bad Feuer, das 
die Sonne während des Tages entgegenftcahlt, auch bei Nacht 
hervorzurufen, und baflelbe, wo und wie er wollte, in feine 
Dienfte zu nehmen. War die Klamme einmal entzündet, dann 
ließ fie fich teiht duch das Hinzuthun eines brennbaren Stoffes 
erhalten, am Leichteften und ohne alled menſchliche Bemühen ba, 
wo der brennbare Stoff, wie bei ben Quellen des Erböles, ober 
wie in China in der Nachbarſchaft der Steinktohlen und Salzthon⸗ 
gebirge, von felber aus der Tiefe hervordrang. 

Wir wollen uns nicht fragen, wer der erſte Erfinder des ir 
difhen Feuers war, Noch jetzt und zu allen Zeiten entzündet fich 
ein Seuer am anderen ; fo koͤnnte man wohl fagen: die Erfindung 
des Feuers ging nothwendig und uranfanglid) aus der Natur des 
menschlichen , erfennenden Geiftes hervor, der felber vom Weſen 
des Lichtes ift, ander, mit anderen Worten: der Gebrauch des 
Teuers im Haushalte des Menfchen ift fo alt als dieſer Haus⸗ 
halt ſelber. Die erzählende Gefchichte, welche nur die aͤußerlich 
fihtbare That des Lebens, nicht den inneren Anfang berfelben zu 
befchreiben hat, nennt und Namen ber erſten Erfinder oder Be 
besticher des Feuers. Ein Blig, fo berichten einige Schriftiteller 
des Alterehumes, babe einen Baum in Flammen gefest, oder ein 
Sturmwind habe dürre Bäume eines Waldes fo lange und fo 
flat gegen einander gerieben, daß ihre Holz erhigt und in Brand 
gerathen fei, und bie einmal entzündete Flamme fei dann, mie ein 
Heiligthum, durch unausgefegte Wachſamkeit und Pflege erhalten 
worden. Selbſt ein durchſichtiger, auf beiden Klähen halbrund 
erhabener Kryſtall, wie dergleichen unter den abgerundeten Roll⸗ 
feinen der Gebirgsſtroͤme hin und wieder gefunden werben, könne, 
nah ber Meinung Anderer, als ein natürliches Brennglas benutzt 
worden fein, ums dadurch, in den Strahlen der Sonne, das erite 
Feuer des menfchlichen Herdes zu entzünden. 

Noch jest verfchaffen fi) einige Völker, denen bie Kuͤnſte ber 
Europäer unbekannt find, das Feuer für ihren Haushalt auf die 
felbe Weiſe, wie dies ein uralter Herrfher von China, der Sage 
nah, feinem Wolke Iehrte: duch Zuſammenreiben von dürren 

ölzern, fo etwa, daß daB eine in eime Vertiefung des anderen 
hineingeſteckt und dann ſchnell und kraͤftig darin herumgedreht wird. 
Seder ſchnelle, ſtarke Druck, jedes Aneinanderfchlagen feſter Koͤr⸗ 
per, jede heftige Bewegung, dies mußte ſchon den aͤlteſten menſch⸗ 
lichen Bewohnern der Erde als Thatſache der Erfahrung in bie 

inne fallen, ruft ein Exfcheinen der Wärme und biermit zus 
gleich öfters auch des Lichtes hervor.. 

Die Entdedung, welche, wie fo eben erwähnt, ein Herrſcher 
von China, der Sage nad), machte, daß ein Stüd Holz, in eine 
Höhlung geſteckt und in diefer rafch umgedreht, bis zur Entflam- 
mung fich erhigen koͤnne, hat, zu feinem Schreden, bei uns ſchon 
mancher Fuhrmann gemacht, wenn.er feine Wagenaxen nicht bin: 


15 * 


228 33. Die Wärme 


Länglich geſchmiert hatte und nun bie Reibung fo ſtark wurde, 
daß das erhigte Holzwerk der Räder in Flammen gerieth. Üben 
fo Eönnen ſich die Zapfen ſchnell und ſtark bewegter Maſchinenraͤ⸗ 
ber bis zum Gluͤhen erhisen. Ein Radſchuh ber beim Derabfab 
ren von einem hohen Berge dem Drud des Wagens und der Rei: 
bung am Boden ausgefest war, wird babei, eben fo wie ein Bob 
ver oder eine Säge bei einem kraͤftigen, länger anhaltenden Ge 
beauche, ſehr ftark erhist. Die Wärme, bie beim Reiben erzeugt 
wird, hängt nicht von der Befchaffenheit der Körper ab, welche 
dabei gemählt werden; Platten von Metall, von Marmorftein und 
von Holz werben bei gleich ſtarkem Drud und bei gleich flarker 
Heftigteit des Iufammenbewegens wie gleicher Rauhigkeit der Ober⸗ 
fläche in faft gleichem Maaße erhist. Auch nimmt die Wärme, 
welche zwei an einander geriebene Körper von ſich geben und ringe 
um ſich her verbreiten, nicht ab, man mag den Verſuch noch fo 
oft und in der kürzeften Zeit nach einander wiederholen. Es find 
hierbei offenbar nicht die Körper felber, welche, etwa fo mie ein 
naffer Schwamm beim Zufammendrüäden das Waſſer ſich auspref 
fen läßt, die Wärme aus ihrem Inneren herauslafien, fondern es 
ift ein Außeres Bewegen, welches fih den einzelnen heilen der 
Körper bis in ihe Innerſtes hinein mittheilt und hier jene eigen 
thümliche Anregung und Umftimmung der wechfelfeitigen Anziehung 
der Beinften Theile bewirkt, welche wir Wärme nennen. 

Wenn man eine plattgebrüdte Stange von reinem Zinn mit 
den Fingern biegt, vernimmt man dabei einen eigenthümlichen 
Zon: das fogenannte Schreien des Zinnes. Wenn man das Hin- 
und Herbiegen der Stange länger fortfegt, dann wird diefelbe warm 
und immer wärmer, fo daß man zuiest ihre Hige nicht mehr in 
der Hand vertragen kann, Durch das Biegen murbe ber Zufam: 
menhang der einzelnen Theile geftöre und die veränderte Stim- 
mung im PVerhältniß jenes Iufammenhanges hat fi von einem 
FA zum anderen ber ganzen Maſſe der Metailftange mit- 
getheilt. 

Menn man In ber vorhin erwähnten Weife zwei Metalle ober 
Stein= oder Holzplatten übereinanderlegt, und bann bie eine auf 
der anderen ſtark und ſchnell bewegt, mithin eine Reibung erregt, 
dann Eönnte es fcheinen, daß die Erzeugung der Wärme ganz in 
ähnlicher Weife vor fich gehe als bei dem Hin⸗ und Herbiegen ber 
Binnftange. In den beiden auf einander gebrüdten Körpern ent 
fteht eine gegenfeitige Anziehung der genäherten Flächen, ein Wer 
hältniß des Zufammenhanges ihrer Theile, deffen Spannung durch 
das Reiben in Anregung und vibrirende Bewegung, gleich der ans 
gefpannten, tönenden Saite verfegt wird. Selbſt der Umftand, 
Daß unter zwei gegen einander geriebenen Platten jene mehr ers 
waͤrmt wird, deren Oberfläche gerist, als die andere, deren Ober 
fläche glatt ift, Tieße fich vieleicht fchon daraus erklären, daß bie 
erzeugte Wärme von den Unebenheiten der erfleren Platte wie die 


—0 


3 Die Rärme. 229 


Elektrizität von den Metallfpiten (davon ſpaͤter) Leichter aufges 
nommen wird. 

Jenes vibrirende Bewegen, welches durch das Reiben der 
Singer an den Glasglocken einer Harmonika hervorgerufen mich, 
und durch die Anregung ber Luft zu gleicher Bewegung bis zu 
unferem Ohre fich fortpflanzt, wo wir dafielbe ald Ton vernehmen, 
fann auch duch einen Stoß oder Schlag an die Glas- fo wie 
Metallglocke erzeugt: werden. Denn ber Stoß wirkt in gleicher Art 
verändernd auf die Spannung des Zufammenhaltes der Körper 
theile ein, als das Meiben. Auf diefelbe Weiſe wird auch bie 
Wärme duch Stoß und Schlag erzeugte. So ann man eine 
Eifenftange durch das blofe Hämmern auf einem Ambos bis zum 
Stühen erhigen. Wenn man den harten Zeuerftein mit Stahl zu⸗ 
fammenfchlägt, dann entfteht eine folhe Hitze, daß die Beinen 
Xheilchen des Stahles, welche der Schlag von dieſem -abriß, nicht 
nur glühend werben, fondern ſchmelzen, denn bie dunklen Stäub- 
hen, welche .man.dabei auffammeln kann, erfcheinen unter dem 
Vergrößerungsglas als gefhmolzene Stahllügelhen. Beim An 
einanderfchlagen von zwei Steinen find es abgefprungene Theilchen 
ber Steine, melde glühend werden. Das Percuffionspulver ent ' 
under ſich duch einen einzigen, Eräftigen Schlag; die Knallſalze 
fhon bei dem: gerinften Stoße, eben fo mie bie brennbare Maffe 
an. unferen Zündhölschen bei der Reibung berfelben. 

In den meiften jener Fälle, in denn die Wärme durch einen 
Stoß oder Druck erzeugt wird, bemerkt man beutlih, daß der 
Rauminhalt ber gefchlagenen oder gebrädten Körper ſich verringert 
babe. Eine Kupferplatte, die zur Fertigung von Geldftüden bes 
nust wurde, zeigte nah dem erſten Drud bes Stempeld am 
Münzprägeftod eine Wärmeechöhung von faft 9%/,, nach bem 
zweiten von 14%/, Grad. Zugleich aber hatte fie auch eine Ver⸗ 
minderung des Rauminhaltes erfahren, denn ihre Dichtigkeit fo 
wie ihre Eigenfchwere war im Vergleich mit der Eigenfchmwere des 
Waſſers von 8,86 auf 8,91 geftiegen. Eine Silberplatte, die man 
auf diefelbe Weife dem Muͤnzpraͤgeſtock ausfegte, erhitzte fih nur 
um 8 Stab, ihre Verdichtung hatte aber auch nur von 10,467 
auf 10,484 zugenommen. Das Gold verändert unter dem Drude 
des Prägftodes feinen Rauminhalt noch weniger als das Silber, 
wird aber dabei auch noch weniger erwärmt als dieſes. Dagegen 
wird bei dem rafhen Zufammendrüden der Luft in der Roͤhre 
eined fogenannten Luftfeuerzeuges bis etwa zum fünften Theil ber 
anfänglichen Ausdehnung eine foldhe Hitze erzeugt, daß ein darin- 
nen liegender Feuerſchwamm ſich entzündet und auf ähnliche Weife 
kann man durch das Zufammendrüden: aller reinen Gasarten oder 
bloßen Gasgemenge einen fo hohen Wärmegrab hervorrufen, ba 
felbft leicht flüffige. Metallgemenge darin zum Schmelzen kommen. 

man glaubt durch Berechnung gefunden zu haben, daB Gas—⸗ 
Arten, ‚weiche fich bei ihrer chemifchen Werbindung entzünden (wie 


230 33. Die Wärme, 


die aus Sauerftoff und Waſſerſtoffgas beflehende Knallluft) wenn 
fie auf jenen Raum zufammengepreßt werden koͤnnten, den fie 
vor ihrer Zerſetzung ale tropfbar flüffiges Waſſer einnahmen, bie 
gleiche Hitze von ſich geben könnten als bei ihren Verbrennen. 
Namentlich bei diefen Iuftartigen Fluͤſſigkeiten fteht die Er 
zeugung der Wärme duch das Zufammenpreffen in nächfter Be 
ziehung mit ihrer Federkraft. Das Wafler hat eine ganz Überans 
geringe Federkraft; auch durch ben flärkiten Drud laͤßt fi dat 
felbe nur wenig verdichten; darum kann auch ber Drud auf das 
Waſſer und ähnliche tropfbare Fluͤſſigkeiten keine merklihe Wärme 
erzeugung bewirken, Etwas Anderes bagegen erfolgt in Bezie 
bung auf die Steigerung ber Wärme, wenn. das Waffer aus ter 
ner tropfbaren Form in die Form des Dunftes übergegangen ifl. 
Wenn diefe Verwandlung durch die Siedehise von 800 Reaumur 
bewirkt wurde, dann bemerkt man, daß der heife Dampf, indem 
er fi) an der Fälteren Umgebung wieder fo weit abkuͤhlt, daß er 
bie Luftform verliert und von Neuem zu Waſſer wird, an jene 
Umgebung im Ganzen eine Wärme mittheilt, welhe A2A®,., 
Grad R, (531 der hunderttheiligen Scala) entfpeiht. Hierauf 
gründet ſich das in neuerer Zeit fo oft und vielfältig angewenbete 
Berfahren, nicht nur die Zreibhäufer der Gärtner, fondern aud 
Zimmer und ganze Gebäude durch den Dampf des fiedenden Wat 
fers zu heizen, den man durch Gußeifenröhren in die verfchiebenen 
Räume unter den Dielen und in den Wänden leitet, und das 
Waſſer, das bei feiner Zurüdkehr aus der Dampfform noch die 
Siedehige hat, durch die nad) der entgegengefegten Richtung fchief 
abwärts geneigten Röhren wieder ablaufen und im ben Dampfkf 
fel zuruͤckfließen läßt, wo es noch ziemlich warm ankommt. Mit 
einem Pfund des immer neu fi biltenden Dampfed Tann man 
im Winter die Zimmer und Säle eines Gebäudes heizen, welche 
zufammen einen Rauminhalt von 1000 bis 1200 Fuß umfafien. 
Aber das Waſſer wird nit nur durd die Siedehige in Dunft 
verwandelt, fondern, wie mir bereit6 erwähnten, auch bei ber nie 
deren Zemperatur unferer Herbſt- und Mintertage kann es in 
Lnftform übergehen, Damit ed aber dies vermöge,. muß es den 
Einfluß der Wärme eben. fo zu Hülfe nehmen ale beim Sieben 
und bei feinem Zurüdfinten in die Sorm des tropfbar flüffigen 
Waſſers giebt e8 ebenfalls Wärme an feine Umgebung ab. Wir 
erfahren dies felbft mitten im Winter, wenn auf einmal bei und 
orb dem Eintritt des Schneegeftöbers die Kälte nachläßt, oder im 
Sommer, wenn wir vor dem Ausbruch eines Gewitter und Re 
genguſſes eine druͤckende Hitze in der Luft empfinden. Draußen in 
der freien Natur find jedoch bei dem Entſtehen der Dämpfe ganz 
andere Räume zu heizen, als in unferen Wohngebaͤuden; dort 
wird die Wärme, die fi bei der Umgeftaltung von einem Pfund 
Dampf zu einem Pfund Waffer erzeugt, nicht nur an Hunderte, 
fondern an Raufende und Dunderttaufende von Cubikfußen ver 





3. Die Wärme. 231 


theilt, und die Umgeſtaltung felber gefgteht fo allmählig und in 
einer folchen Vertheilung dem Raume nad, daß wir die bedeus 
tende Wirkung folher Borgänge auf die Veränderung der Luft 
wärme weniger durch unfere Sinne ald durch unfere Berechnun- 
gen wahrnehmen. 

Der umgekehrte Vorgang jedoch: der Verbrauch von MWärme 
aus der umgebenden Körperwelt, bei der Verwandlung des tropfs 
bar flüffigen Waffers in gasformiges , fällt ſchon ftärker in den 
Bereich unferer finnlihen Wahrnehmung. Der Schiffer, wenn er 
erfahren will, aus welcher Gegend der fonft kaum merkliche Luft 
fttom herkomme, befeuchtet den Finger im Munde und ftredt ihn. 
in die Höhe. Das Gefühl der flärkeren Abkühlung an diefer oder 
jener Stelle des Fingers verräth es ihm , daß der Wind, der bie 
Verduͤnſtung der Feuchtigkeit fleigert, von bdorther wehe. So has 
ben wir bei jedem Verdunſten des Waſſers, das von außen her 
ald Regen und bei dem Wafchen, oder von ihnen her ale Schweiß 
auf unfere Haut kam, ein Gefühl von Abkühlung, ja von Kälte 
und wir können auch außer unferem Körper dadurch eine niedrigere 
XZemperatur Hervorrufen, daß wir eine Verwandlung des Waflers 
in bie Luftform herbeiführen. Denn mie fih nah jedem Regen 
durch das Verdunſten des niedergefallenen Waſſers, menn nicht 
etwa zu gleicher Zeit in der Atmofphäre nody mehrere Dunftmap 
fen in den teopfbar= flüffigen Zuftand übergeben, eine Abkühlung’ 
der Luft merklich macht, fo koͤnnen wir auch im Kleinen, durch. 
das Befprengen des Fußbodens unferer Zimmer die eindringenbde: 
Sonnenhige mäßigen. Die Bewohner von Aegypten trinken auch 
in ber heißeften Zeit des Jahres ein angenehm abgefühltes Wafs 
fer, welches fie ſich dadurch verfhaffen, daß fie das für unferen- 
Geſchmack Inuwarme Waffer ihres Nitftromes durch eine Art der 
irdenen Gefäße filtriren, welche dort feit uralten Zeiten in Ges 
brauch iſt. Die Thonmaffe, aus denen man biefe Kruggefäße 
formt und dann an der Sonnenmwärme feft werden läßt, iſt nicht 
wie unfere Sefchirre glafirt und dadurch wafferbicht, fondern läßt die 
Seuchtigkeit überall aus ihrer Oberfläche durch unzählige, dem Auge 
nubemerkbare, Heine Deffnungen herausfidern, Die Oberfläche bleibt 
hierbei in einem beftändigen Zuſtand der Anfeuchtung, und indem 
ein Theil des Waſſers, das diefe Keuchtigkeit bildet, in Dunftform 
übergeht, wird dabei fo viel Wärme aus der Umgebung verbraudht, 
und eine folhe Abkühlung des Gefäßes mie feines flüffigen In⸗ 
haltes bewirkt, daß die Tropfen, melche fi außen anfammeln und in 
das untergeftellte Glas hinabrinnen, einen eben fo angenehm kuͤh⸗ 
Ien Trank gewähren, als dem Neapolitaner fein in der. Sommers 
bie lau gemwordenes Trinkwaſſer, wenn er ein Stüdchen Eis da⸗ 
innen ſchmelzen läßt. In Dftindien weiß man fih ben Wein 
und andere Getränke dadurch abzutühlen, daß man über dir Fla⸗ 
ſchen ein ihrer Form angemefjenes Gewebe von ber Beſchaffenheit 
unferer geſtrickten Strümpfe hinwegzieht, und, indem man diefen 


232 33. Die Wärme, 


Flaſchenſtrumpf immer wieder anfeuchtet, eine Verdunſtung bes 
Maffers unterhält, durch welche eine fehe merkiihe Abkühlung 
herbeigeführt wird. Eben fo verfchafft fich der dort wohnende finn- 
reihe Europder dadurch kühlere Zimmer, daß er bei Tage vor bie 
Deffnung feiner Thüren, wie feiner Fenſter Matten hängt, die aus 
dem mohltiechenden Kuskus (einer Art von Cyperngraſe) gefloch⸗ 
ten find und welche befländig durch aufgegoffenes oder angefprißtes 
Waſſer feucht erhalten werben, hiermit aber zugleich zur Waffer- 
bunftbildung dienen. Sa, durch eine andere Einrichtung, bei wel: 
her auf fachweis über einander angebrachten Stangen angefeuchtete 
Lagen von Reisftroh dem kühlen Nachtwind einen frifhen Durch⸗ 
zug geftatten, hat man ſich in den heißeften Gegenden von Dftin- 
dien ein Abtühlungsmittel zu verfchaffen gewußt, das von Ahnlis 
her Wirkung ift, als der in unferen Fünftlihen Eiskellern aufbe 
wahrte Schnee, darin die vermöglihen Bewohner unferer Gegen- 
ben im heißen Sommer ſich ihre fogenannt „gefrornen“ Erfriſchungen 
bereiten. 

Es ift demnach eine duch tägliche Erfahrung erwiefene Xhat- 
fahe, daß bei dem Uebergang eines Körpers aus. einem höheren 
Grad der Dichtigkeit in einen niedereren Abkühlung herbeigeführt 
werde, und daß umgekehrt, wenn ein Körper aus einem ausge 
dehnten Umfang in einen befchränkteren dbergeführt wird, ſich 
Wärme erzeuge. Die Luft, die wir in unferem Windbüchfenrohr 
oder im Luftfeuerzeug bis auf ein Fünftel_ihres vorherigen Raum: 
inhaltes zufammenprefien und welche babei eine folde Wärme von 
ſich giebt, daß ſich ein brennbarer Körper in ihr entzündet, fcheint 
uns lehren zu wollen, daß die Wärme dennoch als ein Stoff, 
vergleichbar dem Waffer in einem Badeſchwamm, in den inneren, 
flr unfer Auge unbemerkbaren Zwiſchenraͤumen zwifchen ben klein⸗ 
ften Theilen (den Atomen) der Körper enthalten fei, und daß fie 
durch mechanifhen Einfluß aus biefer MWohnftätte herausgepreßt 
und fühlbar werden könne. Ja fie fcheint uns darauf hinzuwei⸗ 
fen, daß überhaupt duch den inwohnenden Wärmeftoff den tür 
perlihen Dingen ihre natürliche Geftalt und Form gegeben und 
erhalten werbe, Es ift jedoch an diefer Vorftellung, je nachdem 
wir ihre diefen Ausdruck beilegen ober für fie einen anderen, paf 
fenderen mwählen,. eben fo viel Irriges als Wahres. Wir werben 
diefes fpäter deutlicher erkennen, wenn wie vorerfi noch andere 
Eigenfchaften und Wirkungen der Wärme, fo mie die allgemeinften 
und zugleich wirkfamften Wege zur Erzeugung bderfelben etwas 
näher ins Auge gefaßt haben. | 

Wenn man ein Pfund Waffer, welches 80 Grab Wärme hatte, 
mit einem anderen Pfund Waſſer vermifcht, das bis. zum O⸗ oder 
Eispunkt erfätteet war, bann wird die Temperatur, welche bas 
Gemenge annimmt, die mittlere aus beiden, 40 Grab werben. 
Wenn man dagegen ein Pfund Eifenfeilfpäne, das man bis zu 
SL Grad Wärme erhigt hat, in ein Pfund Waſſer ſchuͤttet, deſſen 


33. Die Wärme, 233 


Wärme O war, dann empfängt dieſes nur eine Wärme von 8 Grad, 
und das Eifen muß bis zu 788 Grad erhigt fein, wenn es bie 
Temperatur einer gleich großen Gewichtsmenge von Waffer bie zum 
Siedepunkt erhöhen fol. An einem Gemeng von erhigtem Queck⸗ 
fiber und altem Waſſer wird dieſes Verhaͤltniß noch viel auffal⸗ 
Iender, denn wenn man ein Pfund Quedfilber, dem man eine 
Erwärmung von 93 Grad mittheilte, mit einem Pfund Waſſer 
vermifcht, deſſen Temperatur auf dem Nullpunkt fland, dann wird 
an diefes von dem heißen Metall nur eine Wärme von 3 Grab 
abgegeben. Noch dürftiger als bei dem Quedfilber fällt die Mit- 
theilung der Wärme von dem erhigten Gold und der gemalzten 
Platina, oder felbft vom Blei und Wismuthmetall aus, denn 
während man durch ein Pfund Wafler, welches eine Wärme von 
60 Brad hat, ein Pfund Eis zum Aufthauen bringen kann, bedarf 
man, um bdaffelbe zu bewirken, 30 Pfund bis zu bemfelben Grab 
erwärmtes Quedfitber; vom Gold, Platina, Blei und Mismuth 
aber gegen 31 bie 33 Pfund. Dennoch ift e& hier nicht allein die 
Dichtigkeit und die mit ihe im Zuſammenhang ſtehende Eigen- 
fhwere, welche ba® größere oder das geringere Maaß ber Wärme 
bedingt, das die Körper von außen aufnehmen und an ihre Fältere 
Umgebung wieder ablaffen können, denn das Blei fteht im Ver⸗ 
mögen der Waͤtmeaufnahme, oder nach dem gewöhnlichen, wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Ausdruck, in feiner Wärmerapacität dem Gold wie dem 
Platinametall nach, und das ungleich leichtere Wismuthmetall bem 
Golde wie dem Blei. Eben fo hat das Spießglanzmetall eine ges 
tingere Wärmecapazität ale das Silber, obgleih es (nah S. 115) 
um ein Merbliches leichter ist denn diefed. Eher noch ale an das 
Verhaͤltniß der fpecififchen Gewichte könnte man, zur Erklärung 
des Unterfchiebes im Maaß der Wärmeaufnahme, an jenes Ber: 
bältniß erinnert werden, das (nad) C. 26) an ber Befähigung ber 
metallifhen Grundftoffe zur Aufnahme des Sauerftoffgafes gefuns 
den wird. Denn während das Eifen [hon auf 31/, feiner Gewichtes 
teile einen Gewichtstheil Sauerſtoffgas aufnimimt, um mit ihm 
die neue Körperform eines Oxydes zu bilden, reicht ein einziger 
Gewichtstheil Sauerftoff fhon hin, um bei der Bildung der Oxyde 
dad Bedürfnig von mehr als 12 ja von 13 Gewichtstheilen des 
Soldes, Platinametalles, Quedfilbers, Bleies, MWismuthes und 
Silbers zu befriedigen. Ja das Spießglanzmetall nimmt bei feiner 
Verkalkung oder Orpdation felbft auf 16 feiner Gewichtstheile nur 
einen des Sauerftoffes auf. Uebrigens würde fhon das Zinn 
hierin eine Ausnahme machen, dad auch eine geringere Waͤrme⸗ 
capicität zeigt als das Silber, obgleich es verhältnißmäßig fonft 
doppelt fo viel Sauerftoffgas bei feiner Oxydation aufnimmt ale 
das Silber. Aber von dem Zinn (mie auch von dem Blei) ift 
es auch befannt, daß fie beim Harthämmern keine Veränderung 
ihrer. Waͤrmecapazitaͤt erfahren, meil fie dabei nicht, wie Kupfer, 
wie Silber und felbft Gold dichter, fo mie ſpezifiſch ſchwerer mera 


234 33. Die Wärme. 


— 


ben. Daß an einem und demſelben Grundſtoffe die Befähigung 
zur Rärmeaufnahme von feinem Formzuftand abhängig fein koͤnne, 
lehrt und namentlid die Betrachtung ber Kohle. Die Capazität 
bes reinen kryſtalliniſchen Kohlenftoffes im Demant beträgt noch 
nicht. einmal ?/, der Gapazität des Graphits, noch nicht °/, ber 
Gapazität der Holzkohle. Doc findet zwifchen Demant und ge 
meiner Kohle ein wirklicher, bis in's innerfle Wefen bes Zuſam⸗ 
menhaltes gehender Unterfchied ſtatt; daß aber auch nicht die biofe 
Vermehrung oder Verminderung der Dichtigkeit und räumlichen 
Ausdehnung den Maaßſtab für die. Wärmecapazität abgebe, fon 
dern, daß dabei noch andere Umftände in Betracht fommen, wird 
am deutlihften an jenen Körpern erfannt, bie unter allen bes 
böchften Grades der Dichtigkeitöveränderung fähig find: an ben 
Luftarten. Wenn der Drud, ber die Dichtigkeit der atmofphärifchen 
Luft beſtimmt, um bie Hälfte verringert, das Bolumen derfelben 
um bad Doppelte vermehrt wird, nimmt dennoch die Waͤrmecapa⸗ 
zität derfelben nur um ein Zehntheil zu, erſt bei einer 18 fachen 
Verdünnung fleigert fie ſich um's Doppelte, Ä 

Eine der befannteften, wahrbaften Formenänderungen der 
Körper durch den Einfluß der Wärme, davon mir im Cap. 35 
noch mehr reden werden, ift da8 Schmelzen berfelben. Wenn man, 
wie vorhin erwähnt, ein Pfund Eis mit einem Pfund fiedenden 
Waſſers vermifht, dann fehmilze das Eis, und bie Wärme bes 
entflandenen Waſſers fteige auf 10 Grad. 60 Grade der Wärme 
bes Waffers find mithin zum Schmelzen des Eifes verwendet wor⸗ 
den; eine folhe Menge ber Wärme hat gerade hingereicht, um der 
neuentflandenen Slüffigkeit die Zemperatur des Mullpunktes zu ge 
ben, bie überfchäffigen 20 Grad ber Wärme fleigerten die Tem⸗ 
peratur ber beiden Pfunde Waſſer, gleichmäßig fi vertheilend auf 
410 Grad. Ein Stud Eis behält, indem es in.unferer warmen 
Hand fehmilzt, immer dieſelbe Kälte bei, meil alle die Wärme, 
welche e8 unferer Haut entzieht, zur Aenderung feiner Form, aus 
dem feften in den flüffigen Zuftand verwendet wird. Aug diefem 
Grunde kann man aud) eine bleierne Kugel, welche man dicht in 
ein Stüd Papier einwidelte, über ber Lihtflamme zum Schmelzen 
bringen, ohne daß dabei das Papier fi entzündet; der Einfluß, 
den die gefteigerte. Wärme auf einen fchmelzbaren Körper ausübt, 
wird bis zum Augenblid feiner Kormänderung nur auf diefe ver 
wendet. 

Das Umgefehrte erfolgt bei der Formänderung eines Körpers 
von dem flüffigen in den. feftlen Zufland. Wenn man in fie 
dendem Waſſer fo viel Slauberfalz auflöft, ald jenes bei der Tem⸗ 
peratur von SO Grab aufzunehmen vermag, bann biefe gefätsigte 
Auflöfung luftdicht verfchloffen an einen ruhigen Drt flellt, da 
bleibt dieſelbe fluͤſſig, bis man fie erfchüttert, oder fie mit einem 
feften Körper in Berührung bringe, In dem Augenblid aber, wo 
dieſes gefchieht, geht die Flüffigkeit in einen feften Zuſtand über, 





34. Die Wärmeleitung. 235 


und bierbei erzeugt fich eine fehr merkliche Wärme. Etwas Aehn⸗ 
liches wird auch bei dem Webergehen des falzfauren Kalkes aus 
dem flüffigen in den feften Zuftand bemerkt. Bet dem langfamen 
Gefrieren des Waſſers nimme zwar unfer Gefhhl das Steigen der 
Temperatur, welches bei einem fchnelleren Vorgang der Formwand⸗ 
tung 609 betragen würde, nicht in diefem Maaße wahr, dennoch 
giebt fi jenes Steigen dadurch und, daß die Wärme eines Wafr 
ſers, welches vor feinem Starrwerden um 49 unter bem Eispunft 
ertaltet war, im Angenblid des Gefrierens um jene A Grad wies 
der zunimmt und während bed Worganges ber Formwandlung fich 
bei diefee Temperatur erhält. | 

Jene Wärme, welche ein Körper zu feinem Stüuffigwerden ver- 
wenbet, bezeichnet man mit dem Namen einer gebundenen Wärme, 
— beim Erſtarren deſſelben, aus ihrer Gebundenheit wieder 

ei wird. 


34. Die Waͤrmeleitung. 


Wenn man ein Stud Metall nach der einen Seite hin einer 
bis zu feiner Schmelzhige gefteigerten Wärme ausfegt, dann bes 
ginnt zwar an biefem Punkte das Flüffigwerben oder Schmelzen 

zuerſt, aber die Formänderung geht bald auf feine ganze Maffe 
über, während dagegen ein Stuͤck Zuder, das man mit der einen 
Seite der Flamme nähert, hier zum Schmelzen kommt, ohne daß 
dabei die andere Seite nur in fehr merklicher Weiſe erhigt wird, 
Ein Holsfpahn kann an dem einen Ende brennen und glühen, 
während wir fein anderes Ende ohne Beſchwerde in unferer Hand 
halten. Die eben fo lange Eifenftange dagegen, deren eines Ende 
im Feuer rothgluͤhend gemacht wurde, erhält babet auch an ihrem 
anderen Ende einen hoben Brad der Erhigung und an einer 
Stange von Gold ift die Verbreitung der Wärme von bem einen, 
im Feuer erhisten Ende an das andere, noc) viel merklicher. 
Umgekehrt nimmt auch eine Stange von Eifen, oder noch mehr 
eine von Gold, wenn wir fie mit dem einen Ende In Schnee oder 
Eis hineinſtecken, an Ihrem anderen Ende in Kurzem eine fehr 
niedrige Temperatur an, während eine Stange von Holz an ihrem 
freien Theile nur langfam und kaum merklich Tälter wird. Diefes 
verſchiedene Verhalten der Körper gründet fich auf das Vermoͤgen 
derfelben, die Wärme, welche der eine Theil derfelben empfing, den 
anderen Theilen und ihrer ganzen Umgebung mitzutheilen: auf 
ihre Fähigkeit, die Wärme zu leiten, Ein Körper, welcher die Wärme 
(ſo wie die Kälte), die aus feiner Umgebung auf ihn einmwickte, 
lacht und ſchnell durch alle feine Theile, fo wie an andere, mit 
Ihm in Berührung kommende Körper fortpflanzt, heißt ein guter, 
ein anderer, ber dies nur in fehr geringem Grade vermag, ein 
ſchlechter Wärmeleiter. 

Xrügen wir, ſtatt unferer Kleidung aus Leinen ober Wolle, 


236 34. ‚Die Wärmelsitung. 


ein Gewand aus Metal, dann würde im Winter die Kälte der 
Luft, im Sommer bie Hitze ber Sonnenftrahlen uns unerträglich 
werben, benn eine folche Bededung würde die Hautwärme unferes 
eigenen Körpers fchnell hindurch leiten, und in die umgebende Luft 
verftreuen, ber Hige aber, wie ber Kälte von außen eben fo ſchnell 
einen Zugang zu unferem Körper geſtatten. Wird boch dieſer Ein- 
fluß der befjeren Wärmeleiter fhon in den oberften Räumen jener 
Gebäude merklich deren Dach mit Blei gededt iſt; bie Gefangenen, 
welchen man vormals in Venedig unter folhen Bleidaͤchern ihre 
Mohnung anmies, hatten eine Sonnenhige zu erleiden, bei ber 
Manche von ihnen bis zur Raferei erkrankten. Schon ſolche Dächer, 
weiche ftatt der Ziegel oder der Dadyfchieferplatten mit hölzernen 
Schindeln oder mit Stroh gedeckt find, gemähren einen befieren 
Schutz gegen Froft und Hige denn jene, weil fie fehlechtere Wär 
meleiter find. 

Jene natürliche Dede, welche eine allbebentende Vorfehung 
ben Thieren in ihren Federn oder Haaren ertheilt hat, fo wie jene 
Stoffe, aus benen ein natürlicher Antrieb den Menfchen feine Klei- 
ber fertigen lehrte, find nach Berfchiedenheit ber Jahreszeiten und 
bes Klima's der Wohnorte mehr oder: minder ſchlechte Wärmeleiter, 
wie ſelbſt der Schnee verhaͤltnißmaͤßig ein folcher iſt und hiedurch 
ber Saat zur fhirmenden Dede gegen die heftige Winterkälte wird. 
Zum Schug unferer Hände und Füße gegen das Gefühl des Froſtes 
umwickeln wir deshalb im Winter die Steigbügel mit Stroh, brin 
gen an metallenen Gefäßen hölzerne Handgriffe an, und belegen 
den Boden unferer Zimmer mit bretternen Dielen oder mit wolle 
nen Deden: felbft bie werthvollen Bäume ſchirmt der Gärtner 
durch Umwideln mit Stroh vor ber Kälte. Und eben baffelbe, 
was die Kälte abhält, dient zur Abwehr der dußeren Hige; in ben 
brennend heißen Sandflähen von Perfien ſchuͤtzt fih der Weiter 
duch einen leichten Pelz, in welchen er fid) Eleidet, vor der aus 
börrenden Gluth der Sommerhige, wie der Bewohner von, Sibis 
rien gegen bie. Kälte feines Winters, 

Im Sanzen find die bichteften Körper, wie die Metalle, bie 
beiten Wärmeleiter, doc, beſteht auch bei ihnen hierin eine große 
Verfchiedenheit, denn Gold leitet die Wärme 2 9/, mal befier denn 
Eifen, und faft Gmal beſſer denn Blei. Noch flärker wird jebod 
der Unterfchied, wenn mir die Leitungsfähigkeit der nichtmetallifchen 
Körper mit ber bed Goldes vergleichen, denn dann findet ſich, daf 
biefelbe bei dem Marmor 42, beim Porzellan 80, beim Ziegelftein 
gegen 90 mal geringer fei als bei dem Golde. Die zumeiſt aus 
gasartigen Grundfloffen gebildeten organifchen Körper find noch 
unvergleihbar ſchlechtere Wärmeleiter als die Metalle und Steine, 
dod hat man bemerkt, daß von den Hölzern bie Wärme etwas 
beffer in der Richtung ihrer Längsfafern als der Quere nad) fort 
gepflanzt werde, woher ed kommt, baß die Gewaͤchſe leichter bie 
Wärme des Bodens als bie der äußeren Umgebung annehmen. 





34. Die Waͤrmeleitung. 237 


Bei ben tropfbar fo wie Iuftartig flüffigen Körpern, welche 
fümmtlich zu den verhaͤltnißmaͤßig fehlechteren Wärmeleitern gebös 
ven, Eommt noch ein anderer Umſtand hinzu, welcher an bem bis⸗ 
ber betrachteten Vorgang ber Temperaturmittheilung Einiges ab: 
ändert. Vermoͤge ber größeren Verfchiebbarkeit der Theile, worin: 
nen der Hauptcharakter des flüfigen Zuftandes begründet iſt, er⸗ 
heben fich bier die leichteren Theilchen in den ſchwereren, die min⸗ 
der dichten in den bichteren (nah ©. 182). Da nun, wie wie 
noch weiter fehen werden, die Wärme ausdehnend, vor Allem auf 
die flüffigem Körper, wirkt, mithin auch zugleich fie leichter macht, 
ſteigt nicht blos die erhigte Luft, die wir in eine Montgoffiere bins 
einfüllten (nad &. 183) in der Lälteren, und mithin fehwereren 
empor, und reißt das Luftſchiff mit fi) hinauf in die Höhe, fon: 
dern wir Lönnen vor unferen Augen Hunbderttaufende ber Eleinen 
Montgolfieren emporfteigen fehen, wenn wir eine burchfichtige 
Slüfigkeit mit einem gepulverten Körper vermifchen, deſſen Staͤub⸗ 
hen obngefähe von gleicher Schwere mit ber Fluͤſſigkeit find, 
Wenn dann dieſe von unten her erwärmt wird, dann fleigen bie 
Stäubchen mit den leichter gewordenen Xheilen der Flüffigkeit im 
ganzen Reihen empor, gleich. wie die Luftbläschen, welcher die Kobs 
Ienfäure im ausgefchätteten Selzerwaffer oder im Champagnerwein 
bildet. Indem die vom Boden her erhiste Fluͤſſigkeit, welche in 
einem über dem euer flehenden Keffel enthalten ift, von unten 
nad oben fteigt, theilt fie den bichteren, Falteren Schichten, durch 
welche fie hindurch zieht, ihre Wärme mit, bis dieſe zulegt Alle die 
Waͤrme des Siedepunktes erreicht haben, und nun bie Verwand⸗ 
lung der tropfbaren Fluͤſſigkeit in die Luftform erfolgt. Weil bies 
ſes bei allen Flüffigkeiten die leichtefte Weife der Wärmemittheilung, 
von der zunaͤchſt erbisten Schiht an bie anderen ift, läßt fi das 
Waffer, mie jede andere Fluͤſſigkeit ungleich fchneller zum Sieben 
Bringen, wenn die Flamme oder die erhigte Metallplatte, von wel 
her das Erwaͤrmen, wie auf unferen Sparherben ausgeht, von 
unten ber, auf den Boden bed Gefaͤßes wirkt als in jenen Faͤllen, 
In denen die Hige nur von der Seite her, wie neben einem auf 
der Herdfläche entzündeten Feuer an das Kochgefhirr anfchlägt. 
Am allerfehwierigften aber wird Immer die Erwärmung einer Flüffig« 
teit von obenher fein, weil dann die zunaͤchſt angewaͤrmten Schich⸗ 
ten, als die leichteren, oben fchweben bleiben, und die geringe Bes 
fehigung der Flüffigkeiten, zur Fortleitung der Wärme, die Mits 
thellung von diefer an bie unteren Schichten nur. fehr langfanı 
vor fi gehen läßt, 

Etwas Aehnliches als am Waſſer, das von unten her er« 
wärme wird, erfahren wir an jedem Mintertage, bei der Heizung 
unferer Zimmer. Die Luft, welche in der Nähe des Ofens er» 
waͤrmt und hierdurch verdünnt worden ift, fleigt nach oben, nach 
dee Dede. zu, und die Balte, zugleich auch ſchwerere, ſenkt ſich 
herunter. Wenn dann auch biefe zweite, Lältere Schicht den Waͤr⸗ 


238 34. Die. Waͤrmeleitung. 


megrad ber erſten erlangt hat, ſteigt auch fie empor, und wir, 
wenn wir nicht ganz in dem Kreiſe der merklich ausſtrahlenden 
Waͤrme des Ofens ſitzen, empfinden noch immer wenig von der 
Anwaͤrmung des Zimmers, bis zuletzt alle Schichten einen gewiſſen 
Grad der Erwaͤrmung und Ausdehnung erreicht haben, bei wel⸗ 
chem das immer neue Herabſinken der kaͤlteren, dichteren Schich⸗ 
ten nach dem Boden ſeinen belaͤſtigenden Einfluß auf unſer Gefuͤhl 
verliert. In einem, zu oͤffentlichen Verſammlungen beſtimmten 
Gebaͤude, dergleichen die Theater ſind, befinden ſich, wenn die 
Heizung durch gewoͤhnliche Oefen geſchieht, jene Zuſchauer, welche 
in den oberen Raͤumen ſitzen, oͤfters in einer bis zum Uebermaaß 
erwaͤrmten Luft, während bie Zuſchauer des Pärterres durch das 
fortwährende Hereinftrömen bes älteren, ſchwereren Luftzuges 
an dem ganz entgegengefeaten Gefühl der Kälte ſich befchwert 
uͤhlen. 

Die beſtaͤndige Stroͤmung der erwaͤrmten Luft nach oben, der 
kalten aber nach unten iſt in den eingeſchloſſenen Raͤumen unſerer 
Zimmer zu einer Art der Heizung benutzt worden, welche unter 
dem Namen der Luftheizung bekannt, und in manchen Gebaͤuden 
in Anwendung gebracht iſt. In einem beſonders hierzu beſtimm⸗ 
ten Gemach (der Heizkammer) wird die Luft durch einen Ofen 
zu einem hohen Grad der Erhitzung gebracht, und aus derſelben 
durch Roͤhren in jene Zimmer gefuͤhrt, welche erwaͤrmt werden 
ſollen. Die Oeffnung dieſer Zufuͤhrungskanaͤle iſt in einer Hoͤhe 
von 4 bis 5 Fuß uͤber dem Boden angebracht, unten aber am 
Boden finden ſich die Muͤndungen anderer Roͤhren, welche die 
kaͤltere, dichtere Luft wieder hinuͤberfuͤhren in die Heizkammer. 
Wenn man durch einen gewoͤhnlichen Ofen eine Roͤhre oder einen 
anderen geſchloſſenen Kanal hindurchleitet, deren beide Muͤndungen, 
die untere wie die obere, in das Zimmer fuͤhren, dann wird ein 
aͤhnliches Hindurchſtroͤmen der kaͤlteren Luft von unten nach oben 
bewirkt, und die Erwaͤrmung des Zimmers nicht wenig erleichtert. 

Wir ſind hier, bei der Erwaͤhnung der Waͤrmeleitung der 
Fluͤſſigkeiten zu dem Bettachten einer Eigenſchaft der Wärme ge 
kommen, welche für das Verſtaͤndniß des Weſens diefer Naturer 
fheinung, fo wie durch ihre vielfältige Anwendung für den menſch⸗ 
lichen Haushalt die hoͤchſte Wichtigkeit; erlangt hat. Diefe Eigen 
fhaft ift das Ausdehnen dee Körper, ſelbſt der feflen, in vorzüg 
lichſtem Maaſſe aber der flüffigen, bei ihrer Erwärmung. Bei mebs 
veren Körpern gefchieht diefe Ausdehnung, bei allmählig ſich ſtei⸗ 
gernder Wärme bis zum Eintritt des Siedens oder des Gefrierens 
fo gleihmäßig, daß man diefelben feit langer Zeit zur Bildung 
yon Waͤrmemeſſern oder Thermometern benugt hat. Die Anwen 
bung bes eben erwähnten Werkzeuges hat für die Wiſſenſchaft wie 
ſelbſt fuͤr den menſchlichen Haushalt eine folche Wichtigkeit gewon- 
‚nen, daß wir ber Betrachtung deſſelben ein beſonderes Capitel ein- 


räumen wollen, ur 


35. Des Thermometer. 239 


35. Das Thermoneter. 


In. Aegypten läßt man bekanntlich die jungen Hühner nicht 
durch ihre Mütter, die Hennen, ausbrüten,, fondern man legt die 
Eier in Defen von ganz befonderer Einrichtung, in denen der Bo: 
den, fo wie die hindurchſtreichende Luft durch ein ſchwaches, bald 
hier bald da angezündeted Feuet mäßig erwärmt if. Kaͤme bei 
diefem Gewerbe. den aͤgyptiſchen Bauern nicht die Fräfiige Wärme 
ber Sonne zu Hülfe, dann würde wohl al’ ihre Mühe vergeblich 
fein: fie. würden auf die Bortheile fo wie auf das Vergnügen 
Berzicht leiſten müflen, melde ihnen ihre Brutöfen gewähren, in 
benen öfterö mehrere tauſend Eier auf einmal bebrütet werden. So 
aber werben das Dach und die Wände des aus Lehm erbauten 
Ofens von außen durch die Strahlen der Sonne eben fo ſtark er- 
waͤrmt, ale das Innere deſſelben duch die Kuft, die über das 
Feuer hinzog, und es ift dabei auf die gleichmäßige, auch in bie 
Stunden der Nacht hinein, lang nachhaltige Wärme der Sonne 
wenigftens eben fo viel gerechnet, als auf die Wärme, weldhe das 
Teuer giebt, weshalb auch die Brutoͤfen nicht früher als gegen 
Ende März oder im April in Gebrauch geſetzt werden, weil dann 
erfi die Tage heiß genug für das Gefchäft find. Und wenn dann 
jezt aus der einen Abtheilung des Ofens, welche man zuerft mit 
Eiern belegte, dann aus einer zweiten, dritten u. f. f. öfters Hun⸗ 
derte.von "Kügelhen am 2iten Tage nad) bem Anfang ber fünft- 
lichen Bebrütung herausgenommen, und nahbem man fie etwa 
noh einen Tag in den unteren Räumen des Bruthaufes innen 
behalten, hinausgelaffen werden an bie freie Luft, da muß aud) 
dort die Sonne die Stelle des waͤrmenden, mütterlihen Gefieder 
vertreten, und fie thut bies in einem fo überkeäftigen Grade, daß 
die zarten Thierchen während der heißefien Stunden des Tages 
eben fo begierig den Schatten fuchen, als bei und, wenn ein 
rauhes Lhfthen weht, den Schirm unter ben Flügeln ber 
Mutter. . 

‚ Wenn man bei uns zu Lande die Hühnereier kuͤnſtlich in ber 
Wärme unferer Heinen Brutöfen ausbrüten will, was durch eine, 
oder, wenn der Dfen größer ift, durch mehrere unten angebrachte 
Weingeiftlampen ohne große Mühe bewerkftellige wird, da muß 
man forgfättig darauf fehen, baß die Eier eine Wärme erhalten, 
die weder zu groß noch zu gering iſt, und welche fortwährend uns 
techalten wird. Es iſt ohngefähr die Wärme, welche bad menſch⸗ 
liche Binz hat, weshalb auch Menfchen, die etwa wegen eines 
Beinbruches, oder bei einem anderen, gerade nicht lebensgefährlichen 
Unfall, lange zu Bett liegen, oder in einer ruhigen Stellung bleis 
ben mußten, ſich zumeilen den Zeitvertreib gemacht haben, ein Huͤh⸗ 
nerei, etwa unter ihren Achfelhöhlen, auszubräten. Die Wärme, 
weiche des Körper. einer brütenden Denne von fich giebt, ift übri- 
send noch etwas größer als die. Lebenswärme bes Menfchen, bahex 


249 | 35. Das Thermometer. 


ed auch der Entwidiung ber Kuͤchlein, in den Eiern unferer klei⸗ 
nen, kuͤnſtlichen Brutöfen nicht fchadet, wenn bie Temperatur, bie 
wir ihnen zulommen laſſen, noch ein wenig höher iſt, als bie 
menfchliche. 

Aber gerade biefe Wärme, womit wollen wir fie beftimmen 
und meflen? Etwa durch unfer Gefühl? Wie verfchieden fällt das 
Urtheil dieſes Gefühles bei verfhiedenen Stimmungen unferer 
Hautthätigkeit über einen und benfelben Grab der Temperatur aus. 
Es duͤnkte und an einem Wintertage in unferem Zimmer zum 
längeren Verweilen faft zu kalt; wir gingen hinaus ins Freie, 
machten uns da eine flarke Bewegung, traten dann wieder ins 
Zimmer herein, und jest kam uns die Luft deffelben angenehm 
warm, ja vielleicht zu warm vor. Oder wir treten aus dem in- 
nerfien Gemach eines türkifchen Bades, in deſſen Waſſer und 
Dämpfen man uns gebäher hat, wieder heraus in das nächft an- 
geänzende, und die Luft im diefem erfcheint uns angenehm kühl, 
obgleich fie fo warm ift, daß fie uns bei anderer Stimmung ber 
Haut unerträglich heiß erfcheinen würde. Jene Täufchung, welcher 
bier im Großen die geſammte Oberfläche unferes Körpers unter 
worfen tft, miderfährt im Kleinen der Haut unferer Finger unb 
Hände, wenn wir uns berfelben zur Beſtimmung einer aͤußeren 
Wärme bedienen wollen, und mie oft müffen dies unfere kleinen, 
zarten Kinder, denen die Amme das Waſſer zum Bade nur nad 
dem Ermeſſen des Gefühles ihrer Hände bereitete, mit einem 
Schmerz erfahren, ben fie burch lautes Meinen zu erkennen geben; 
wie follte e8 manchen Kranken, denen das Verweilen in einer be 
ftändig ſich gleich bleibenden Temperatur nöthig ift, ergehen, wenn 
biefe Zemperatur bloß nach dem Gefühl der Gefunden beflimmt 
werben" müßte; was würde aus ben Eiern in unferen Lampen⸗ 
Brutöfen heraustommen, wenn wir die Wärme nur nach jenem 
unfiheren Maafftabe abfchägen wollten! In diefen und taufend 
anderen Faͤllen war es baher längft als nothwendig erfannt, ein 
Mittel zu erfinden und zu haben, bei welchem das Ermeffen der 
Wärme keinen folhen leicht möglihen Irrungen ausgefest iſt. 

Ein Landmann aus Alkmaar im nördlihen Holland, Cor: 
nelius Drebbel, der fein großes Geſchick der Hände unb feine 
Erfindungsgabe auch ſchon auf andere Weife bewährt hatte, fcheint 
der Erfte gemefen zu fein, der mit einem von ihm erfundenen Wär 
memeffer im Jahr 1638 öffentlih auftrat. Sen Thermometer 
war einfach genug und dazu auch mandherlei Mängeln unterwor 
fen. Es beftand oben aus einer gläfernen Kugel, nad unten aus 
einer engen Röhre, die mit ihrer Deffnung in ein Gefäß geftellt 
tourde, das mit Waffer gefüllt war, welches man durch den Bufag 
einer Auflöfung von Kupfer in Scheidewaffer gefärbt hatte. Die 
Fluͤſſigkeit ſtieg, bei gewöhnlicher, mittlexer Temperatur, durch bie 
Anziehung des Glaſes, bis zu einem’ gewiffen Punkt in ber Roͤhre 
aufwärts, wenn aber bie Luft in der Kugel bei zunehmender Wärme 





I SE STE 





35. Das Thermometer. 241 


fi ausbehnte, wurde die Fluͤſſigkeit tiefer binabgedrüdt; wenn 
bei der Kälte die Luft ſich zußgmmenzog, flieg die Fluͤſſigkeit höher 
in der Röhre hinauf. Aber abgefehen davon, daß für die Beſtim⸗ 
mung bee Grade bed Auffteigens oder Niederſinkens ſehr unvoll- 
ftändig geforgt war, wirkte auch der Drud ber Luft auf die Flüf 
figkeit des Gefäßes mit ein, und biefer Drud ift nad) Cap. 31 
großen Beränderungen unterworfen. 

Diefen Schwierigkeiten half eine Verbefferung ab, welche die 
Florentiner Akademie dei Ciments einige Jahrzehende hernad) dem 
Thermometer gab, und die feit 1673 ziemlich allgemein in An⸗ 
wendung kam. Im Ganzen bildet die Einrichtung des Floren- 
tiner Thermometers noch jest die Grundform unferer kuͤnſtlichen 
Märmemeffer, denn es beftand aus einer Glasröhre, die an ihrem 
oberen Ende zugefhmolzen war, von unten aber in eine Kugel 
endigte. Statt des Queckſilbers, das anjetzt meift zur Fuͤllung 
unferer Thermometer angewendet wird, enthielt das Slorentiner 
und enthält, mo es im Gebrauch geblieben ift, noch jest gefärbten 
MWeingeift, Bei zunehmender Wärme dehnte biefe Fluͤſſigkeit fich 
aus, in der Kälte zog fie fi; zufammen und beutete fo beide 
Temperaturveränderungen durch ihr Auffteigen oder Niederfinken 
in ber Röhre an. Zu biefer Verbeflerung fügte ein Profeffor in 
Padua, Renaldini, im Jahre 1694 noch eine wichtigere hinzu, 
indem er auf den Gedanken kam, ben Gefrier= wie den Sieb- 
punkt des Waſſers als zwei Graͤnzpunkte zu benugen, zwifchen 
denen das Steigen oder Sinten des Weingeiftes nad) einer Art 
von Gradabtheilung abgemeffen war. Da man jebod die Be 
merkung gemacht haben. wollte, daß am Weingeift im Verlauf der 
Zeit die Fähigkeit, durch die Wärme fi auszudehnen, geringer 
werbe, that ein anderer beruͤhmter Gelehrter, Halley, ben Vor⸗ 
fhlag zur Anwendung des Quedfilbers, oder der in einer Kugel 
verfchloffenen Luft, melde auf das Quedfilber, das in einer lans 
gen, mit: der Kugel verbundenen Roͤhre enthalten ift, bei ihrer 
Ausdehnung einwirft. | 

Allen ben Unbequemlichkeiten, welchen diefe fo wie andere da⸗ 


malige Thermometer ausgefegt waren, half Daniel Jahren: 


heit ab, ein kunſtreicher Mechanikus, von Geburt ein Danziger, 
fpäter Bürger in Holland, Der nämlihe firenge Winter von 
1709, der in Duval's Lebensgefhichte (nad Cap. 10) von fo 
großer Wichtigkeit war, half. jenem kunſtreichen Manne zur Er- 
findung einer Thermometerfcala, beren ſich noch jegt die Englän- 
der bedienen. Die Kälte, welche damals lang fortwährend aud) 
in den Gegenden herifchte, wo der Einfluß der Meeresnaͤhe bie 
Strenge des Winters um ein Bedeutendes mäßigt, hatte Fahren: 
heit tünftlic, nachmachen gelernt. Er hatte bemerkt, daß, wenn 
man felbft im warmen Zimmer Salmiat und Schnee zu gleichen 
Theilen zufammenmifche, ber Weingeift in einer Florentiner Ther⸗ 
mometerroͤhre eben fo tief herabfinte, als er dies im Winter 1709 


16 


RAR 35. Das Thermometer 


in freier Luft chat. So war ein feftftehender Anhaltspunkt für 
feine Eintheilung der Thermometergrade gefunden, deſſen Jeder 
mit leichter Mühe fi verfihern konnte. Ein zweiter, fo ziemlich 
fiherer Anhaltspunkt zur gradmeifen Eintheilung des Steigens 
des Thermometers war noch leichter in ber Natur zu haben, meil 
diefen jeder gefunde Menfch bei ſich träge und in ſich hegt. Diefer 
zweite Anhaltspunkt ift die nathrlihe Wärme (die Blutwaͤrme) 
unferes Leibes, welche dadurch am leichteflen gemeffen wird, daß 
man die Kugel eines Thermometerd unter die Zunge legt und in 
diefer Lage fie 10 His 15 Minuten lang behält. Die Beobach⸗ 
tungen, welche man über dieſen Gegenftand an den Bemohnern 
der verfchiedenften Länder und Himmelöftrihe machte, haben nur 
einen fehr geringen Unterfchied ergeben. Die Malayen auf Cey- 
fon und die Bewohner von Sibirien, die Hottentotten in Süb- 
afrika und die. Eskimos in Grönland, die wilden, nadten Vaidas, 
welche bie Wälder der indifhen Halbinfel bewohnen, und der wohl 
gefleidete Europäer, der in Patläften lebt, fie alle haben, mit nur 
wenigen Abweichungen, biefelbe uͤbereinſtimmende Wärme bes Blu: 
tes, von wenig unter bis wenig über 29 Grabe Neaumur, und 
wenn einige Gelehrte der fortwährenden Einwirkung der Hitze 
eines Himmelsftriches die Macht zufchreiben wollen, die Blut- 
wärme um etwa einen Thermometergrad zu erhöhen, giebt es da⸗ 
gegen andere, welche behaupten, daß die Eskimos in Grönland 
eine faft höhere Blutwärme zeigen, ald die Neger an ber Gold: 
kuͤſte; eine Verſchiedenheit der Anfichten, Uber welche fid nur da⸗ 
Durch entfcheiden ließe, dab man nicht die Wärme verbreitende Nähe 
des Menfchenförpers, fondern die Temperatur feines Inneren in 
ber Mundhöhle einer Unterfuchung unterzöge. Die Haut bed Ne 
ger, bei einer für das Gefühl des Europders unerträglich er 
ſcheinenden Hige fühlt fih dennod fühl an, meil bie Kraft der 
inneren Blutwaͤrme durch die gefteigerte Ausbünftung der Außen- 
fläche gemäßigt mwirb (n. Cap. 40), die Haut des Eskimos, wie 
der Aushauch feines Athems, verbreitet in dem eingefchloffenen 
Raum eines engen Zimmers eine Erwärmung, weldhe, wenn 
mehrere ſolcher Leute beifammen find, bie Heizung durch einen 
Dfen entbehrlih macht, die Blutwärme aber bei beiden ift kaum 
merklich verfchieden, und felbft bei Kranken, im Zuftand des hef 
tigften Entzündungsfiebers, fleigert fidy dieſelbe hoͤchſtens um 4 
Grad unferes Reaumur’fchen Thermometer. Dennoch war biefer 
zweite natürliche Waͤrmegrad bes Fahrenheit’fchen Thermometers 
bei weitem fein fo gewiffer als ber erfte, fondern nur, wie wir 
vorhin fagten, ein fo ziemlich ficherer. Denn Kleine Abweichungen 
von dem gewöhnlichen Grad der Blutwärme zeigen fich felbft bei 
einem und bemfelben Menfchen in unvertennbarer Weiſe; das 
Lebensalter, die innere oder Außere Aufregung find dabei nicht 
ohne Einfluß, und ſchon jenes Verfahren des Fahrenheit, wobei er 
den Abftand der Temperaturen zwifchen der Kälte feiner Mifchung 





35. Das Thermometer. 243 


aus Salmiat und Schnee und der Blutwärme nur in 96 Grabe 
(ftatt in 98 und 99) theilte, beweift, daß er die Wärme des 
menſchlichen Leibes zu niedrig angeſchlagen habe, wahrfcheinlid) 
deshalb, weil er dad Thermometer, durch das er fie meſſen wollte, 
zunächft nur an die Fläche der gefchloffenen Hände oder an andere 
Stellen der dußeren Haut anlegte. Drei andere Richtpunkte zur 
Sintheilung ber Thermometerfcale wurden deshalb aud von ihm 
für allgemein anwendbar angefehen, ber Gefrierpunft des el 
der Siedpunkt deffelben und als Außerfter Grenzpunft die Hiße, 
bei welcher das Quedfilber fiedet, oder in Dämpfe ſich aufloft. 
Von dem mittleren Kältegrade des Winters von 1709 bie zu der 
Zemperatur, bei: welcher das Waſſer gefriert, zählte Fahrenheit 32 
Grad feines Thermometers, bis zur Siedhige 212, bis zum Koch⸗ 
punft des Quedfilbers 600. Bis zu dieſem hoͤchſten durch Qued- 
filber-Zhermometer erkennbaren Grade der Hitze bedürfen wir nicht 
fo leicht der Zurechtweifung eines ſolchen gebrechlichen Führers, da⸗ 
ber wurde auch bald für die Fahrenheirfchen Thermometer beim 
gewöhnlichen Gebrauch eine kürzere Glasröhre, melde die Stei⸗ 
gerung der Wärme nur bis zum Siedpunkt des Waſſers oder 
nicht viel höher hinan angab, den unbequem längeren vorgezogen, 
deren Eintheilung noch aufwärts bis 600 ging. 


Den großen Vorzug, welchen bei der Wahl der Ktüffigkeiten 
zur Füllung der Thermometerröhren das Quedfilber verdient, hatte 
ſchon Fahrenheit ganz richtig erkannt. Zwar dehnt fich Di 
bis zur Siedehige des Waſſers (von 09 bis 800 R.) nur ?/, fo 
viel als Diefes, ja nur um 1/, fo viel ald der Weingeift au, zu⸗ 
gleich ift es aber als ein vortreffliher MWärmeleiter für die Aen- 
derungen ber Temperafur ungleich empfindlicher ald andere tropf- 
bare Flüffigkeiten, es läßt fich viel leichter in vollkommen reinem 
Zuftand darftellen, als etwa ber MWeingeift, welcher felbft bei fehr 
vorfichtiger Zubereitung aufer anderen Verunreinigungen öfters 
Luft in fih enthält, und bei höheren Graben ber Wärme fich in 
ungleich gefteigertem Maafe ausdehnt. Allerdings gefriert das 


Queckſilber bei einer Kälte, welche 31!/, Grab unferes gewöhn- 


lihen Reaumurfchen Thermometers unter dem Gefrierpunft des 
Waſſers beträgt und ift dann für die genauere Beflimmung einer 
noch ftärkeren Kälte nicht mehr brauchbar, und in dieſem feltneren 
Sale bleibt diefes noch der Alkohol, bis zu einem gewiſſen Grade, 
wo auch feine Anwendbarkeit uns verläßt. 


er Bei all? den eben erwähnten entfchiedenen Worzügen, welche 
(die Luft) und das Quedfilder in ihrer Verwendung zu Wärmer 
meflern vor dem Weingeift haben, fand dieſe Fuͤllungsfluͤſſigkeit 
der Thermometer dennoch einen neuen Bertheidiger an dem frans 
zoͤſiſchen Phyſiker Reaumur. So mie der Name des Americus 
Vespucius auf den Welttheil überging, für deſſen Entdeckung 
vielmehr dem Golumbus. der Ruhm gebührt, fo wird jegt noch 


16 * 


2a 35. Das Thermometer, 


Reaumur’s Name bei unferen Thermometern genannt, aud wenn 
fie nad Fahrenheit's Verfahren gearbeitet und mit Quedfilber, ge- 
füue find. Der genau und gründlich prüfende Zahrenheit ber 
nur ber Erfahrung feine Belehrung verdankte, war Fein eigent- 
licher Gelehrter, fondern nur mechanifcher Künftler, Réaumur da⸗ 
gegen hatte den Muf der Wiffenfchaft für fih. Auch ließ es der⸗ 
felbe bei der Beſtimmung der beiden natürlihen Grenzpunkte ſei⸗ 
ned Xhermometers, welche zunähft nur die Momente der Tor 
menwandlung bed Waſſers, den Geftier: und Siedepunkt deſſel⸗ 
ben ins Auge faßten, an eifrigem Bemühen nicht fehlen. In eine 
2 Fuß lange Glasroͤhre mit einer Kugel, deren Durchmefjer über 
2 Zoll betrug, wurde von ihm ein Meingeift gefüllt, der feine 
große Stärke durch das Entzünden des Schiefpulverd erwieſen 
hatte und dann durch Zufag eines Fünftels von Waſſer verbünnt 
war. Diefes Fundamentalthermometer wurde in ein Gefäß mit 
Waſſer gefenktt, das mit einem Gemifh von Salz und Eis um: 
geben war. In dem Augenblid, in welhem bas Waffer im Ge 
fäß durch feine Umgebung fo weit erfältet war, daß es zu ge 
ftieren anfing, wurde der Stand des Weingeiftes in ber Glasröhre 
‚genau bemerkt. Dafjelbe gefhah nad dem Einfenten bes her: 
mometerd in fiedendes Waſſer. Mit mühevoller Genauigkeit war 
ber MWeingeift, ber ſich in dem Werkzeug befand, durch Bleine 
Beherhen in jenem Zuftand der Ausdehnung, die er beim Ge 
frierpunkte hat, abgemeffen und biernah in 1000 gleiher Maaf- 
theile getheilt worben. amit derfelbe bei folcher niedriger Tem⸗ 
peratur und geringer Ausdehnung die Glasröhre eben fo hoch an: 
füllen koͤnnte als bei feiner ftärkeren Ausdehnung in der Siebehige, 
mußten 80 der Eleinen Maaftheile ober Becherchen zugegofien, die 
Sefammemaffe von 1000 auf 1080 vermehrt werden. Dies gab 
die Grundlage zur Eintheilung der Reaumur’fhen Thermometer 
fcala in 80 gleiche Grade. 

Es war im Jahr 1730, als der berühmte Reaumur das von 
ihm benannte Thermometer in den vielgelefenften Zeitfchriften von 
Frankreich befchrieb und zugleich die Veranftaltung traf, daß jebt 
auch Fleinere Thermometer für den allgemeinen Gebrauch gefertigt 
würden, deren Scala für die Beflimmung der Luftwärme in ver 
fhiedenen Gegenden und. Jahreszeiten ber Erde, fo wie bes Hise 
grades der Fluͤſſigkeiten bis zur Dampfbildung des Waſſers hin- 
reichte. Der natuͤrliche Vorzug ſeiner Anhaltspunkte, welche ſich 
ohne alle kuͤnſtliche Bemuͤhung von ſelber darbieten, dazu der 
große Ruf des Mannes und ſeiner Nation verſchafften ihm einen 
leichten, wenn auch nicht voͤllig allgemeinen Sieg uͤder ſeinen 
Nebenbuhler Fahrenheit, gegen deſſen kuͤnſtlichen Nullpunkt aller: 
dings Manches einzuwenden iſt. Auch ließen es Reaumur’s Lande: 
leute, ihrer Nationalehre eingedent, an allen jenen Bemühungen 
nicht fehlen, durch welche bie großen Mängel, welche die Füllung 
des Thermometers mit Weingeift ſtatt mit Queckſilber mit fih 





35. Das Thermometer. 245 


bringt, verbedt und unmerklih gemacht werben follten. Unter 
Anderem fuhte man bie ungleichmäßigere Ausdehnung und Zus 
fammenziehung bes Weingeiftes im Vergleich mit dem Quedfilber 
dadurch zu verbergen, daß man an ber SOtheiligen Scala der 
mit dem legteren gefüllten Thermometer bie Grabe, welche über 40 
fo wie unter Null waren, nad einer nicht fehr genauen Berech⸗ 
nung größer oder Tleiner machte. Die ehrliche Wahrheit machte 
fi) indeß dennoch zulegt wieder Bahn, man fah fid) genöthigt, 
Die Thermometer nach Fahrenheit's vielgepruͤfter Weiſe zu geſtalten 
und zu füllen, behielt jedod die Reaumur’fhe Eintheilung bei 
und für jene hohen Grade ber Kälte, bei denen das Duedfi ilber 
ſtarr wird, ſelbſt die Fuͤllung durch Weingeiſt. 

Die Grade, welche Fahrenheit feftfegte, und an feinen mit bes 
wundernswäürdiger Genauigkeit gearbeiteten Thermometern vollkom⸗ 
men gleihmäfig duchführte, find Kleiner als die der Réaumur'⸗ 
fhen Scala, ſo daß neun Grad Fahrenheit nur 4 Grab Reaumur 
ausmachen, 24/, Grad ber erfleren Scala einem Grad ber leäteren 
gleich find. Fahrenheit’ Nullpunkt fällt auf einen Kältegradb, der 
etwas mehr denn 14 Grab unter dem Nullpunkt ber SOtheiligen 
Scala liegt; biefer leßtere, der Gefrierpunkt bes Waffers, entfpricht 
am Fahrenheit’fchen Thermometer ſchon einer Wärme von 32 Gra⸗ 
den. Man muß beöhalb bei den Angaben der Wärme nad) Fahren» 
beit, wenn diefe über 32 hinangehen, diefe Zahl 32 von der Summe 
abziehen und ben Reſt mit 21/, divibiren, wenn man ben Wärme: 
grad nach der Reaumur’fhen Scala finden will. So entfprechen 
dann 3. B. 77 Grad F. 20 Gr. R., denn 32 von 77 abgezogen 
giebt 450, dieſe durch 21/, -getheilt find 20 Grad; 50° F. find 
80 R.; 1220 5. entfprechen 409 R. Dagegen muß man bei den 
Zerhperaturangaben nad) F., wenn fie unter Null find, 320 hin- 
zufügen, und dann bie erhaltene Summe durch la theilen. So 
findet man, daß — 130 8. gleih find — 200 R., — 22° 
entfprehen — 240 R. Denn 13 zu 32 giebt 45, 22 su 32 ‚giebt 
54, und durch eine Theilung mit 21/, erhält man aus jener Zahl 
20, aus dieſer 24. 

Noch immer haben beide Arten, die Grade der Waͤrme oder 
der Kaͤlte zu beſtimmen, ſich neben einander im Gebrauch erhalten 
und fih in die Herrfchaft des Reiches der Gewohnheiten bei vers 
fhiedenen Nationen getheilt. Eine dritte Art der Gradetheilung 
ber Thermometerfcalen bat fich indeß in neuefter Zeit eine folche 
allgemeine Beachtung erworben, daß fie vielleicht bald zur Allein- 
herrfchaft gelangen und bei allen europäifhen Nationen in Ans 
wendung kommen wird, dies ift die fhon von dem ſchwediſchen 
Gelehrten Celſius vorgefchlagene, welche den Zwiſchenraum zwi⸗ 
fhen dem Gefrier- und Siedepunkt bes Waſſers ſtatt in SO in 
100 Theile theilt, fo dab 50 Grade der Wärme an biefer Scala 
40 Graden ber Reaumur’fhen und 122 ber Fahrenheit'ſchen entz 


246 35. Das Thermometer. 


fprehen, überhaupt aber 4 Grab R. gleich find 5° Gelfius und 
99 Fahrenheit. 

Um eine größere Hige zu meſſen als jene ift, bei welcher das 
Queckſilber fih in Dampf verwandelt, und hierdurch zu weiteren 
Waͤrmebeſtimmungen unfähig wird, was bei 350 Grad ber hun: 
derttheiligen Scala (280 Gr. R.) der Fall ift, hat man die Aue: 
behnung des Platinametalled durch die Wärme in Beachtung ges 
nommen, meil diefes Metall (n. Gap. 17) eines der fchwerft 
fhmelzbaren ift. Auch das Flüffigwerden der Metalle bei verfchie 
denen Higegraden hat man (mie den Thaupunkt des Waſſers bei 
der Einrihtung der Hygrometer) zu Anhaltspuntten gewählt, um 
danach die Stärke der Feuergluth zu meflen, und auf diefe Weiſe 
für die Pyrometrie oder Feuergluthmefjung viele Anhaltspunkte 
ftatt eines einzigen gewonnen. Ein Stüdlen Metall von der 
Größe eined Stecknadelkopfes, welches nicht nur einmal, fondern 
bei ſchwerer orydirbaren Metallen wie Silber, Gold, Platina, zu 
jedem neuen Verſuch gebraucht werden kann, reicht zu jenem Zwecke 
aus. Die Schmelzpunfte des Silberd und des Goldes liegen um 
10 Grade von einander ab, der erfte diefer Grade ift der, wobei 
eine Mifhung von 9 Theilen Silber und ein Xheil Gold, der 
zweite der, wobei eine Mifchung von 8 Theilen Silber mit 2 Thei- 
len Gold zum Schmelzen kommt. Zwiſchen dem Hitzgrad, der 
das reine Gold und jenem, der das reine Platinametall zum ließen 
bringt, werden 100 Grade angenommen und diefe eben fo beflimmt, 
daß man 1, 2, 3, A u. f. w. Hunberttheile Platina mit 99, 98, 
97, 36 Procent Gold mifht. Außer dieſem hat man nod) tiefer 
herabgehende Scalen an den leichtflüffigen Metallen. Das Tellur 
(Silvanerz), fhmilzt ſchon bei 200 Grad Wärme der hundert: 
theiligen Scala, Zinn braucht 230, Wismuth 270, Blei 334, 
Zink 420, Kupfer 1132, Gold 1144, Eifen in feinen verfhiedenen 
Zuftänden von 1100 bis 1400 Grabe. 

Bei diefer Gelegenheit, wo mir von den Graden der Schmelz 
bige verfchiedener, namentlich metallifcher Stoffe ſprechen, erwähnen 
wie nur im Vorübergehen einer höchft beachtenswerthen Entdeckung, 
die ein gründlich forfchender, berühmter Chemiker: Wöhler an 
folhen Körpern gemacht hat, welche, wie wir dies im 63. Cap. 
weiter fehen werden, unter gewiſſen Umfltänden in zwei ganz ver 
ſchiedenen Eryftallinifchen Formen auftreten und deshalb zweigeftaltige 
(dbimorphe) genannt werden. Namentlicy läßt ſich diefes, mie 
J. N. v. Fuchs es nachgewieſen hat, an dem Eifen erkennen *). 
Diefes hat als gefchmeidiges Eifen (3. B. ald Stabeifen) ein in 
neres Erpflallinifhes Gefüge, das dem Spftem der Würfelformen 


.. and. ver mathem. phyſ. Klaffe der E. bayr. Akad. der Wiſſenſch. 


’ 








3. Dampfbildung durch Wärme, 247 


angehört, und ſtimmt hierdurch mit allen gefchmeidigen Metallen 
überein. Aber in biefer Form ift es fo fchwer fehmelzbar, daß es 
fih aud) bei einem hohen Hißgrade nur weich machen und zuſam⸗ 
menfchmweißen läßt, während dagegen das Roheiſen oder Spiegel- 
eifen, defien Erpftallinifches Gefüge thomboedrifch ift, bei bemfelben 
Hitzgrad als volllommen fchmelzbar in flüffigen Zuftand übergeht. 
Zugleich ift aud das Roheiſen ungleich fpröder als das Stabeifen. 

Mir haben uns lange bei der Betrachtung der tünftlichen 
Waͤrmemeſſer aufgehalten. Das Thermometer hat nicht nur unter 
allen Erfindungen der Phyſik nebft dem Barometer den allge 
meinften Eingang in alle einzelnen Haushaltungen des Menfchen 
gefunden, fondern es ift für biefen ein lehrreicher Begleiter auf 
allen feinen Wegen durch die verfchiedenen Länder und Regionen 
feiner Sichtbarkeit gervorden. Seiner Anwendung allein verdanfen 
wir unfere gründlichere Kenntniß der Unterſchiede des Klimas ber 
verfchiedenen -Erdgegenden und Gebirgshöhen, die Kunde von dem 
Unterfchied des mittleren Waͤrmegrades der einzelnen Zeiten des 
Jahres und der Tage, und was mir noch weiterhin über die Wärme 
und ihre Wirkungen werben fagen koͤnnen, das würde großentheils 
feiner feften, fiheren Beflimmung entbehren, wenn uns fein Mit 
tel gegeben wäre, die Kraft der Wärme ficher zu ermeſſen. 


3%. Die Dampfbildung durch Wärme, 


Es find erſt zwei Sahrhunderte vergangen, feitdem ſich bem 
Menfhen duch die Erfindung des Barometerd und des Thermo⸗ 
meterd ein ganz neuer, vorhin noch ungebahnter Weg des Erfor- 
fhens der Höhen und Tiefen fo mie eines näheren Erkennens jener 
Naturkraft aufgethan hat, die ſich als eine Mutter und Pflegerin 
des leiblichen Lebens betrachten laßt. Wir find an den Gebrauch 
jener «beiden phnfifalifchen Geraͤthſchaften ſo ſehr gewoͤhnt, daß 
Manche von uns es kaum begreifen koͤnnen, wie es ſich in alter 
Zeit im Gebiet der Wiſſenſchaft ohne jene beiden Huͤlfsmittel habe 
haushalten und gewerbtreiben laſſen. Und dennoch hat damals, 
als man noch weder Barometer noch Thermometer kannte, die 
Luftſaͤule durch ihren Druck ein eben ſo wohlthaͤtiges Gegengewicht 
gegen die ausdehnende Federkraft der lebenden Koͤrper gebildet, die 
Strahlen der Sonne haben mit derſelben Macht das Gruͤn der 
Wieſen hervorgerufen, die Saaten des Getreides wie die Beeren 
des Weinſtockes gereift, als in unſeren Tagen. Jene Entdeckungen 
haben zunaͤchſt nur auf die Belebung und Erhoͤhung des geiſtigen 
Verkehres im Gebiet der Wiſſenſchaften, nicht auf den leiblichen 
Verkehr der Menſchen und Voͤlker eingewirkt. Es giebt aber an- 
dere Erfindungen der neueren und neueſten Zeit, welche in die 
Verhaͤltniſſe des taͤglichen Lebens ſo maͤchtig und umgeſtaltend ein⸗ 
gegriffen haben, daß ein nachkommendes Geſchlecht der Menſchen 
es kaum begreiflich finden wird, wie man fruͤher ohne jene Huͤlfs⸗ 


248 . 36. Dampfbildung durd Wärme, 


mittel babe bequem und vergnügt auf Erben leben können. Zu 
diefen Erfindungen, welche aus dem Boden der Wiffenfchaft auf: 
wuchſen, ihre Zweige aber Über alle Sefchäfte und Gewerbe des 
menfhlihen Haushaltes verbreitet haben, gehört namentlidy bie 
der Dampfmafchine, durch melde der Menſch eine der flärkften 
bewegenden Kräfte der Natur in feine Gewalt befommen hat. 
Fahrenheit, als er den Tünftlihen Nullpunkt feines Thermometers 
erfand, hatte dem ftrengen Winter von 1709 feine Kunft abge 
lernt, wodurch biefer Land und Gewaͤſſer mit den Schrediniffen 
des Froſtes erfüllte; die Erfinder der Dampfmaſchinen haben fi 
die Kunft der Vulkane zu eigen gemacht, durch welche die Geftein- 
maffen der Tiefe biß zu einer Höhe von Tauſenden der Fuße em: 
porgefchleubert, Felſen zerfchmettert, und mitten in der Ebene neue 
Gebirge, bis hinan zur Graͤnze des nimmer fehmelzenden Schnees 
aufgethürme werben. 

Einer der tieffinnigften, vielumfaffendften Gelehrten unferes 
deutſchen Vaterlandes: Keibnig, vergnügte fi in feinen Muße 
ftunden an den Entwürfen zu allerhand mechaniſchen Vorrichtungen, 
durch welche ed moͤglich werden follte, einen Wagen ohne Pferde 
kraft, blos durch die Mirkfamkeit einer in feinem Inneren ange 
brachten Mafchinerie in Bewegung zu fegen. Seinem fharffinnigen 
Geiſte gelang der große Fund nicht, welchen in unferen Tagen bie 
Bewohner jedes Heinen amerikanifchen Landftädtchens ſich zu Nutze 
machen: der Fund mit der Kraft des Waflerdampfes, der jedem 
Kochtopf, jedem Wafchkeffel unbenugt und unvermerft entfteigt, 
ein Bünbnißeinzu gehen, durch das es Menfchenkunft moͤglich wird, 
die Schnelligkeit des Roſſes zu übertreffen und den Sturmmwind in 
feinem Laufe einzuholen. | 

Im Mittelalter, wo die meiften unferer Slüffe nur an wenig 
Drten mit Brüden verfehen, die Berge und Hügel mit Wald, bie 
tiefen’ Thaler und Ebenen an vielen Stellen von Flugſand und 
Moorgrund bebedit waren, braudten die Zuhrleute, welche über 
Böhmen her oder von Franken nah Goslar fuhren, mehrere Wo: 
hen, ehe fie mis vielfachen Ummegen und taufendfältigen Beſchwer⸗ 
den ihr Ziel erreichten. Selbſt in fpäterer Zeit, ald zwar die Wege 
über Land und Ströme, durch Wald und Gebirge gebahnt, dabei 
aber noch nicht in die bequemere Geftalt unferer jegigen Chauffeeen 
umgefhaffen waren, gehörte das weite Reifen im Wagen mehr zu 
den Beſchwerden als zu den Vergnügungen, während der Reifende 
der jegigen Zeit im bequemen Sige des Dampfwagens im Fluge 
weniger Stunden über eine Strede dahinfaͤhrt, welche der Fuß—⸗ 
gänger erft nad) mehreren Tagen zuruͤcklegt. Und mehr noch als 
die Reifen zu Lande find die zu Waſſer durch die Anwendung des 
Dampfes zur Fortbewegung der Schiffe erleichtert worden. Der 
Erfolg der Seefahrten in früherer Zeit hing falt ganz von Wind 
und Wetter ab, derfelbe Weg von Smyrha nad) Alerandria wurde 
von einem guten Segelfchiff zumeilen bei anhaltend günftigem Wind 


38: Dampfbilbung durch Warme. 249 


in 4. bis 5, andere Male bei Windftile oder ungünftigem Wind 
erst in 30 Tagen zuruͤckgelegt; der Seefahrer fand fi im Angeficht 
des nahen Landes, glaubte in jebem Augenblick daffelbe zu erreichen 
und konnte dennoh nicht in den Hafen einlaufen, weil ber an⸗ 
treibende Lufthauch ihn verlaffen hatte oder ein plöglich fich erhe⸗ 
benber Wind vom Lande her ihn wieder weit in's Meer hinaus: 
führte. Anjetzt fährt der Menfch auf feinen Schiffen, deren Be 
wegung nicht mehr von einem Außeren, fondern nur von dem ins 
neren Antrieb des Dampfes abhängt, gleich dem Seevogel. dem 
Winde entgegen und ſieht fi durch Feine Windſtille in feinem 
Laufe gehemmt; er kann mit einiger Sicherheit die Zeit vorausbe⸗ 
flimmen, in welcher er von einem Hafen, ja von einem Welttheil 
zum anderen feinen Weg zurldlegen wird. 

Wo wir hinbliden, da ift e8 in unferen Tagen der Dampf, 
welcher im Dienfte des Menfchen Arbeiten verrichtet, zu denen fonft 
das Vermögen von vielen Armen, bie Kraft vieler Roſſe nicht hin- 
reichte. Fragen mir, wer für den Bergmann das Waſſer und die 
Bergarten aus der Tiefe heraufzieht, ober wer die Räder ber Spin: 
ner in Bewegung fege, fo erfahren mir: es ift der Dampf; biefer 
hilft dem Menſchen bauen und zerftören, heben und tragen, Dampf, 
auch in leiblicher Form, tft es, was unfere Buchdruderprefien in 
Bewegung febt. 

Wie ungeheuer groß bie in den irdiſchen Körpern ruhende Fe: 
derfraft fei, wenn fie aus den Banden des Gegendrudes, der fie 
im Baum hält, entlaffen, auf einmal frei wird, wenn fie, bei Die 
fem Freiwerden irgend einem feften oder tropfbar flüffigen Stoffe 
die Luftform wieder giebt, zu der feine Natur ihn eignet, das hatte 
fhon früher die Wirkung des Schießpulvers gelehrt. Der Salpeter 
ift, wie wir oben fahen, eine Verbindung des Pflanzenkalis mit . 
Salpeterfäure, biefe aber ihrerfeitd befteht aus einer Verbindung 
ber beiden Hauptluftarten der Atmofphäre: des Stidfloff- und 
Sauerftoffgafes, welche durch gegenfeitigen Zuſammenhalt ihrer 
urfprünglichen Luftform ſich entrüdt und zum tropfbar flüffigen 
Zuftand ſich herabgefentt haben. Der Salpeter bildet, dem Ge 
wicht nach, den Hauptbeftandtheil der Maſſe des Scießpulvers, 
denn um eine Menge von 100 Pfund von diefem zu bereiten, muß 
man 76 Pfund Salpeter mit 15 Pfund Kohle und mit 9 Pfund 
Schwefel verbinden. Zieht man jedoch, flatt des Gewichtes, jenen 
Raumumfang in Betracht, welchen die beiden afmofphärifchen 
Gasarten vor ihrer Verſenkung in die tropfbar flüffige Form ein- 
nahmen, dann wird man an das morgenländifhe Mähren von 
jenem Rieſen erinnert, der durch eine höhere Zaubermacht in ein 
eines Gefäß verfchloffen war, und den ein Fifcher, welcher das 
Gefäß aus der Tiefe zog, zu feiner eigenen, höchiten Gefahr aus 
dem Zleinen, engen Sefängniß in Freiheit fegte. Die Kunft des . 
Menfhen hat es bei der Bereitung und Anwendung des Schieß- 
pulvers mit einer folchen, in ben Eleinen Raum ber Pulverkörn- 


250 3. Dampfbildung durch Wärme, 


hen gebundenen Riefenkraft zu thun, welche nur zu oft, da, wo 
er es nicht erwartete, ihre Verderben bringende Macht gegen ihn 
erhoben hat. Denn, wenn das Schießpulver etwa durch einen 
Funken entzündet wird, dba verbinden ſich die Kohle und der Schwe: 
fel nicht fo, wie in ber gewöhnlichen freien Luft, mit dem Sauer: 
ftoffgas der Atmofphäre, fondern mit jenem, das in Verbindung 
mit dem Stidftoff die Salpeterfäure des Salpeters bildete, denn 
diefer in feiner gebundenen, gröberförperlihen Form fteht der Form 
der Kohle und des Schwefel ungleich näher als der luftförmige 
Sauerftoff der Atmofphäre, wird deshalb auch, wie aller in den 
Säuren tropfbar flüffig gewordene Sauerftoff mit ungleich ftärkerer 
Macht angezogen, als dies beim Verbrennen in der Luft gefchieht. 
Das Entflammen des Pulvers tritt deshalb mit augenblicklicher 
Schnelle ein; es bilden fich fchmweflige Säure und Kohlenfäure, bie 
erfte bleibt in Verbindung mit dem Kali bes Salpeters, ein Xheil 
der Kohlenfäure aber nimmt mit dem Stidftoff zugleich die Luft: 
form an, und bdiefe beiden Gasarten, deren gewöhnlicher, mittlerer 
Rauminhalt durch die Glühhige des Verbrennens der Koble und 
des Schwefels noc vermehrt ift, dehnen fich jegt, in einem Nu 
zu einem Umfange aus, welcher viel taufendfältig größer iſt als 
der, welchen fie in ihrer Gebundenheit zur felten Form einnahmen. 
Was den Antheil der einzelnen Gemengtheile des Schießpulvers 
an der gewaltigen Wirkſamkeit deffelben betrifft, fo dient der Schwe⸗ 
fel blos, dazu die Maſſe leichter entzundlih zu machen, während 
die Kohle, durd ihre theilweife Formwandlung in kohlenſaures 
Gas, mefentlic zur Verftärtung der Erplofion beiträgt. Eine Mi- 
fhung, die blos aus Kohle und Salpeter beflände, würde ein 
Schießpulver von nod größerer Wirkfamkeit geben, was aber ba: 
bei nicht fo leicht und ficher zu entzunden wäre. So iſt ed mithin 
zunaͤchſt nur die Verwandlung der feſten und tropfbar flüffigen 
Form einiger Gemengtheile und ihre gewaltige Ausdehnung duch 
die Wärme, was die Erplofion bewirkt. 

Wie viel der Menfh diefem durd feine Kunft hervorgerufenen 
Bunbdesgenoffen in Krieg und Frieden verdanke, daran brauchen 
wir kaum zu erinnern. Die Furcht und ber Schredeen, welche ihn 
nah) dem jegigen Lauf der Natur zu einem Herrſcher der Thier⸗ 
welt machen, haben ſich, feit der Einführung des Gebrauches der 
Schießgewehre in vislfahem Maaße vermehrt, denn die Kugel ei- 
ner Flinte durchmißt in ihrer vollen Kraft den Raum zehnmal 
fhnellee als der Flug des Adlers, bdreißigmal fehneller als ein in 
der Rennbahn laufendes Pferd, ja die Schnelligkeit einer Kanonen- 
kugel ift in ber erflen Secunde nad) ihrem Abfeuern noch mehr 
denn anderthalbmal größer ale die der Kugel einer gutem Flinte 
oder Buͤchſe (jene beträgt nahe 2300, diefe nahe an 1400 Fuß). 
Und mit der Schnelligkeit, welche dad Pulver dem Wurfgefchof 
unferer Flinten oder Kanonen giebt, flieht die ungeheuere Kraft in 
Verbindung, mit welcher der abgefchoflene Stein oder die metallne 


36. Dampfbildung duch Wärme. 251 


Kugel auf bie Körper einwirken, bie von Ihnen griroffen werden. 
Menn fhon der Bachkiefel, deffen ruhende Laft auf der Handfläche 
kaum gefühlt wird, als jener Hirtenknabe ihn aus feiner Schleu⸗ 
der warf, eine folhe Macht hatte, daß er den Riefen, beffen Stirn 
er getroffen, ſinnlos zu Boden ſtreckte, wie viel höher muß dieſe 
Macht fi) fleigern, wenn bas entzündete Pulver den Stein in 
Bewegung feßt. Denn der Menfhenarm kann allerdings einem 
Stein, "den er mit angefirengter Kraft aus der Hand wirft, eine 
Geſchwindigkeit mittheilen, welche der des Sturmmindes gleich 
kommt (50 Fuß in einer Secunde durchmißt), und die Bewegung 
der Schleuder mag diefe Sefchmwindigkeit noch um das Doppelte 
vermehren; die Schnelligkeit aber, mit der die Kugel aus der Slinte 
unferer Krieger fährt, iſt zehn, ja vierzehnfach größer, und fie allein 
ift es, die felbft einem Talglicht, das man in den Lauf einer Büchfe 
ud, und dann abfhoß, die Kraft giebt, ein ſtarkes Brett oder 
mehrere hinter einander geftellte, aus Rinderhaut gefertigte Schilde 
zu duchbohren, — gerade fo wie in ber Welt des Geifligen ber 
fhnelle, Eräftige Entſchluß und die Macht der Begeifterung eines 
Einzelnen Ungemöhnliches und Außerordentliches bewirkt, wenn fie 
mit ihrer Gewalt die träge, ruhende Menge bed Volkes erfaßt und 
in Bewegung fest. 

Smmerhin aber, obgleich der Feuerriefe, der im Pulver fchläft, 
wenn er duch die Wärme gemedt wird, gar Vieles für den Men- 
fhen durch Zerfprengen ber Selfenmaffen und als Eriegerifche Macht 
arbeiten und wirken muß, bleibt uns derfelbe ein gefährlicher Ver: 
bündeter. Kann uns doch das eigene Gewehr ſchon dann in Le 
bensgefahr bringen, wenn wir aus Unvorfichtigkeit beim Laden 
Defielben zwifchen dem Pulver und Pfropf einen Eleinen, leeren 
Kaum ließen, weil dann nicht nur alles Pulver mit ungemeiner 
Heftigkeit verbrennt, fondern auch die im leeren Raum enthaltene 
Luft durch die Feuergluth eine ungeheuere Ausdehnung gewinnt, 
fo daß der Lauf der Flinte zerfpringt und feine Stude als Ge 
fhoffe umberfliegen, Und welche Verheerungen hat oft ein einzi- 
ger Pulverwagen in der Mitte der Städte angerichtet, wenn durch) 
Reibung die Are eines MWagenrades in Gluth gerathen, und das 
Scießpulver dadurch entflammt worden mar; wie oft bat bie ent- 
zündete Pulverfammer eines Schiffes den Untergang einer ganzen 
Flotte, oder, wie in Lenden, die Zerſtoͤrung eined ganzen Stabdtthei- 
led bewirkt! 

Der Salpeter ift, vornämlihd in warmen Ländern, in fo 
großer Menge verbreitet, fein Gebrauch, feit uralter Zeit fo vielfäl 
tig, die Gelegenheiten, bei welchen er mit Kohle in Berührung 
und Vermifhung trat, konnten fo oft fich ergeben, daß die Beob⸗ 
achtung feiner fchleunigen Berfegung bei dem Entzünden ber mit 
ihm vermifchten Kohle fchon den älteren Völkern ſehr nahe lag. 
Smmerhin ann man es deshalb den Korfchern der Geſchichte der 
afiatifchen Völker zugeben, daß die Chinefen die Zufammenfegung 


r 


252 3%. Dampfbilbung durch Wärme, 


und die Wirkung des Schießpulverd lange vor den Europdern kann⸗ 
ten, und daß biefe Kenntniß von China aus auch an andere 
Völker bes Morgenlandes übergegangen ſei. Auch mag gar man- 
her Scheidefünftler und Feuerarbeiter des Mittelaltere in dem 
und jenem Lande, wie der Grieche Marcus im 9. Sahrhunbert, 
der Engländer Roger Baco, und der beutfche Albert der Große, 
fo wie fein Landsmann, ber vielgenannte Berthold Schwarz im 
13. Zahrhundert auf die Entdeckung der feuerfangenden’ Materie 
gerathen fein, die mit der Gewalt und dem lauten Krachen des 
Donners losbrennt, und nad Roger Baco’s Behauptung die Macht 
haben follte, Städte zu zertrümmern, und Kriegäheere zu vertilgen. 
Die Bergleute im Rammelsberge bei Goslar bebienten ſich ſchon 
im 12. Jahrhundert des Schießpulvers zum Sprengen der Gefteine, 
und durch ſolche fachverftändige Männer und zweckdienliche Drittel 
fol Pfalzgraf Heintih, der Sohn Heinrich's bes Löwen, im Jahr 
1200 die Mauern eines feften Schloffes bei Tyrus, im Kriege der 
Kreusfahrer, gefprengt haben. Die Völker hatten feit Jahrhun⸗ 
derten die plöglich entbundene Feberkraft, die im Pulvergemenge 
lag, zu ihrem Freund und zu ihrem Feind gehabt, ohne fie fo meit 
in ihre Gewalt zu befommen, daß fie diefelbe zu einem fldtig fort 
wirtenden Gehülfen bei ihrem Tagesgeſchaͤft benugen fonnten. 
Diefe fremde Macht gli) einem Löwen, den man unter das Heer 
der Feinde hineintreibt, und ber bier allerdings Schreden verbrei⸗ 
ten kann, ber aber bald nachher feine ungezahmte Wuth an den 
eigenen Verbündeten ausläßt, während ein gezähmter Hund, auf 
den Ruf feines Deren merkend, jest zum Angriff des Feindes ober 
Wildprets fih aufmacht, dann, wenn der Herr ihm gebietet, wieder 
zur Ruhe ſich bequemt. 

Ein anderer Körper, welcher nicht erft durch die Kunſt muß 
zufammengefegt werben, ſondern welcher allenthalben in größefter 
Menge ohne Mühe und Arbeit zu haben ift, zeigte fih ungleich 
mehr geeignet, mit der Spannkraft feines Dampfes in den Haus—⸗ 
dienft des Menfchen zu treten: bies ift das Waſſer. Wir haben 
fhon viel von diefem muͤtterlich nährenden Element, fo wie von 
den Srundfloffen gefprochen, in melde es fich zerlegen und aus 
benen es ſich zufammenfegen läßt, dennoch wird es gut fein, wenn 
wir bier noch einige merkwürdige Eigenfhaften deffelben in’s Auge 
faffen, durch melche diefe Urflüffigkeit von den meiften anderen 
Körpern der Erde ſich unterfcheidet. 

Wir kennen das Waffer in drei verfchiebenen Formen: in ber 
feften des Eifes oder Schneed, in der gemeinen, tropfbar flüffigen 
und in der des Dampfes oder Gaſes. Wenn baffelde aus der 
gewöhnlichen, unferem Auge fihtbaren, unferer Zunge ſchmeckbaren, 
unferen Händen, fo wie allen Theilen des Körpers fühlbaren Form 
in die bes gasartigen Dampfes übergeht, dann entzieht es ſich, 
wie eine aus dem erflorbenen Leibe abgefchiedene Seele der Wahr: 
nehmung unferer Sinne, Das volltommen gasartige Waſſer iſt 





36. Dampfbilbung duch Wärme, 253 


unferem Auge nicht mehr fihtbar, fein Dafein wird kaum noch durch 
einen unferer Feuchtigkeitsmeſſer angezeigt, es iſt wie aus dem 
Verkehr der grobfinnlichen irdifchen Koͤrperwelt ausgetreten, zu wel⸗ 
chen e8 ſich nur noch durch fein (geringes) fpezififhes Gewicht bes 
kennt und es tritt erft dann wieder in biefen Verkehr ein, wenn 
es als feuchter Dunft wieder der tropfbaren Geftalt fi naht. 

Der flüffige Zuftand des Waſſers wird eben fo wie der des 
Duedfilbers durch einen gewiffen Grab der Wärme erhalten, wenn 
dieſe fehle, gehen beide Flüffigkeiten in den feften Zuftand über. 
Zum Schmelzen des Quedfilbers reiht fhon eine Wärme hin, bie 
fi) unferem Gefühle als faft unerträgliche Kälte darftellt, und 
bei welcher Land und Gemäffer von Schnee und Eis ftarren. 
Zum Schmelzen bes feſten Waſſers bedarf es fchon einer Wärme, 
welche um 31 Grad höher ift, als die Schmelzwärme des Queck⸗ 
filbers, zum Schmelzen des Schwefels muß diefelbe auf das Vier⸗ 
fache, zum Flüffigwerden der meiften Metalle auf das viel Hundert⸗ 
ja Zaufendfache gefteigert werden. Diefe eben genannten Körper 
nehmen, wenn fie in den flüffigen Zuftand übergehen, in großer 
Allgemeinheit einen größeren Raum ein als im feflen, ziehen ſich 
Dagegen beim Erftarren mehr oder minder merklich zufammen. 
Hierbei werben fie zugleich dichter und mithin ſchwerer: das feite 
Metall finkt in dem gefchmolzenen zu Boden, weil diefes leichter 
ift, denn jenes, 

Ganz anders verhält ſich in dieſer Beziehung das Waſſer. 
Diefes nimmt im flarren Zuſtand einen größeren Raum ein, ale 
im flüffigen; es kann beim Gefrieren durch feine Ausdehnung, wie 
dies im Winter von 1709 gefhah, Felfen zerfprengen und Bäume 
zerfpalten. Zugleich wird es auc leichter; das Eis fällt nicht 
durch fein größeres Gewicht in dem flüffig gebliebenen Waſſer zu 
Boden, fondern bildet fi über feine Oberfläche hin als leichtere 
Dede, welche erſt durch einen Zuwachs von unten her allmählig 
dicker wird. Seine größte Dichigkeit und Schwere hat das merk: 
würdige Element, wenn es bis zu A Grab über dem Gefrierpunkt 
erkaͤltet ift; feine oberfte, bis zu diefem Punkt abgefühlte Schicht 
fintt dann zu Boden; eine minder Falte, von untenher, nimmt ihre 
Stelle ein, bis fie die gleiche in ber Temperatur und Dichtigkeit 
angenommen hat. Erſt dann, wenn auf foldhe Weife die ganze 
Maſſe bis auf einen gewiffen Grad zum Gleichgewicht gekommen 
it beginnt die Eisbildung, wobei ſich wieder etwas Waͤrme ent⸗ 
wickelt. 

Sehr bedeutend ſind die Folgen dieſer Eigenſchaft, welche eine 
ewige Weisheit in das Urelement des Waſſers gelegt hat. Wuͤrde 
dieſes beim Erſtarren, ſo wie die meiſten anderen ſchmelzbaren 
Koͤrper dichter und ſchwerer, und das Eis ſaͤnke deshalb, ſo wie 
es auf dem Waſſer entſtaͤnde, auf den Grund unſerer Seeen hinab, 
dann würden dieſe von unten herauf ausgefrieren, und ſelbſt in 
ben milberen Ebenen unferes Vaterlandes zu einer gletfcherartigen 


254 36. Dampfbildung buch Wärme, 


Eismaffe anwachſen, welche zulest das ganze Beden des Sees 
ausfüllte. Wenn dann die wärmere Jahreszeit wieberkehrte, da 
würde die Eismaffe bei ihrer ungemeinen Dicke nur von der Ober: 
fläche binein, mehr oder minder tief, fchwerlich aber bis an den 
Grund hinab aufthauen, weil die warmende Kraft der Sonnenftrahlen, 
bindurchgehend durch die hohe Säule des Waffers, je tiefer hinab, 
defto mehr ſich ſchwaͤchen müßte. Könnte aber auch ein minder 
tiefer See durch die Sonnenwärme bis zu feinem Boden hinab 
aufthbauen, fo mürde er dennoch einen großen Theil feiner Reize 
für uns verloren haben, denn bald würde weder Fifh noch Froſch 
in ihm zu fehen fein; fie alle hätte der Froſt beim Eingefrieren in 
das Eis getoͤdtet. So aber finkt zuerft die oberfte Schicht des 
Waſſers, wenn fie durch die Minterluft bie zu 4 Grad über dem 
Eispunkt erkaltet ift, als die fehmerere, hinab zum Boden, ihr folgt 
eine zweite, und fo die anderen, bis ſich allen die ohngefähr gleiche 
Kälte mitgetheilt hat, und nun die Bildung der Eisdecke beginnen 
kann, welche gegen die Falte Luft einen mwohlthätigen Schuß von 
oben gewährt, während unten von ber Tiefe her die mittlere Tem⸗ 
peratur des Bodens, welche unter unferem Himmelsſtrich gemöhn- 
lich um 8 bis 10 Grad über dem Gefrierpunkt ift, dem Waffer 
fortwährend jene Wärme mittheilt, welche den thierifhen Bewoh—⸗ 
nern des Gewaͤſſers zur Erhaltung ihres Lebens nothwendig iſt. 
Dort im Weltmeere, wo die Ziefe des Gewaͤſſers eine vielfad 
höhere ift als in unferen Landfeen, fommt der Erhaltung und le 
bensträftigen Bewegung jener thierifhen Bewohner noch, eine an- 
dere Eigenfchaft des Waſſers zu flatten, jene naͤmlich, daß feine 
Federkraft während feines gemöhnlichen, tropfbar flüffigen Zuftan- 
des ganz überaus gering iſt. Die Federkraft der atmofphäri- 
[hen Luft ift die Urfache dee zunehmenden Dichtigkeit der einzelnen 
Luftfchichten, von oben nad) unten. Könnten wir einen Schadt 
graben, welcher T Meilen tief unter die Oberfläche der Erde hinab: 
reichte, dann würde, wenn das Mariettifche Gefeg fo weit anwendbar 
wäre, die dort befindliche Luft durch den Drud der mächtigen auf ihr 
ruhenden Luftfäule eine Dichtigkeit haben, welche der des Waſſers, 
ja in einer noch größeren Tiefe eine folche, die der Dichtigkeit der Steine 
gleich käme, Hätte das Waſſer eine ſolche Federkraft mie die Kuft, 
dann wuͤrde in der mittleren Tiefe unferer Meere feine Dichtigkeit fo 
groß fein, daß kaum noch ein Stein darinnen zu Boden finfen 
tönnte, fondern nur wie ein Hanfkorn im dünnflüffigen Honig 
darin ſchweben bleiben würde; Fifche, felbft die flärkften, würden 
ſich ſchwieriger noch als eine MWafferratte durch zähen Schlamm, 
und in gewiffer Ziefe gar nicht mehr durch die, gleich Mauern 
ftehende Fluth hindurcharbeiten koͤnnen; während dagegen das Waſ⸗ 
fer, vermöge feiner geringen Federkraft in der Tiefe faft noch eben 
fo leicht durchdringbar ift für die Kraft der thierifchen Bewegung, 
als in der Nähe der Oberfläche, zu gleicher Zeit aber allerdings 
auf tobte Körper, in denen die Kraft des Lebens dem mechanifchen 


x 








36. Dampfbildung durch) Wärme. 255 


Gewicht keinen Widerftand entgegenfegt, durch die Schwere feiner 
Säule einen vielfahen Einfluß übt. 

Die Eigenfchaften, die fih am Waſſer in feiner dritten Vers 
mwandlung zur gasartigen Form kund geben, wenn daffelbe gleich 
einer aus dem Leibe gefchiedenen Seele, dem Verkehr mit unferen 
Sinnen unb mit der geöberen irdifchen Körperwelt enthoben wird 
(mit Ausnahme der Schwere), find für uns hier, bei der Betrach⸗ 
tung der Kraft der Wärme, die mwichtigften. Wenn die Salpeter- 
faure bei manden ihrer chemifhen Verbindungen eine langfame, 
allmählige Zerfegung erleidet, wobei der Stiftoff aus feiner Ge⸗ 
bundenheit frei wird, dann zeigt ſich keine Spur einer foldhen Er: 
plofion, durch weiche das Schießpulver feine zerfchmetternde Ge- 
walt empfängt. Auch der gasartige Dampf, der beim Verduͤnſten 
des Waſſers allmählig fi) entbindet, wirkt auf feine Umgebung 
taum merklich verändernd ein. Wie aber der Stein, ber, fo lange 
er ruhend auf unferer Hand lag, von biefer kaum mehr gefühlt 
wurde, wenn man ihn aus einem Gefhüs abfeuert, eine Kraft 
empfängt, durch welche er nicht nur bie Hand, fondern den 
ganzen Arm eines Menfchen zerfchmettern und hinmwegreißen kann, 
fo wird dem Wafferdampf durch die Heftigkeit feiner Entbindung 
in der Hige des Siedens eine Macht mitgetheilt, melche ähnlich 
der Macht bes entzunbeten Schießpulvers, ſchwere Laſten empor- 
hebt und die Wände des Gefäßes, die feine Entwidlung hemmen 
wollen, zerfprengt. Aber bie riefenhafte Federkraft, welche bei folz 
cher Gelegenheit an dem hervorbrehenden Waſſerdampf fi fund 
giebt, Läßt alsbald durd den Willen des Menfchen fi bändigenz 
eine verhältnifmäßig geringe, plöglihe Abkühlung bewirkt ein Zu⸗ 
rüdfinten bes Iuftartigen Stoffes in die Form des tropfbar flüffis 
gen Waſſers. Der Iuftfteigende Dampf eines Wafchkeffeld oder 
fiedenden Topfes wird vor unferen Augen, wenn er in bie Ealte 
Minterluft auffleigt, wieder zum fihhtbaren, waͤſſerigen Nebel, oder 
zu einem in Tropfen zufammentinnenden Waffe, Wenn deshalb 
in ein Gefäß, das von fpannkträftigem Waflerdampf erfüllt war, 
nur eine Eleine Menge Ealten Waſſers hineingefprigt wird, dann 
giebt. der Dampf ſogleich feine Spanntraft auf, und fohmiegt ſich 
nachgiebig wieder in die harmlofe Form bes NRuhezuftandes aus 
dem er hervorging. Schon durdy diefes einfache Mittel Eann der 
Menſch den Wafferdampf, bei einiger Vorficht, gleich einem maͤch—⸗ 
tig flarten, durch die Kunſt gezähmten Elephanten lenken und lei- 
ten, und zu feinem Dienft benugen. 

Das Waffer, welches durch die Siedehige in Dampf verwan⸗ 
beit wird, dehnt fich hierbei gegen den früheren Rauminhalt feiner 
teopfbaren Form, bei mittlerer Temperatur, zu einem gegen 1700- 
fahen Umfang aus, und diefe Ausdehnung, mit der Spanntraft 
zugleih, waͤchſt in einem verfchloffenen Gefäß durch den Einfluß 
einer höher gefleigerten Wärme. Die Spannkraft des Waſſers, 
wenn dieſes plöglich duch die Hige zur Dampfform fich erhebt, 


256 36 Dampfbildung durd; Wärme. 


übertrifft felbft die des abbrennenden Schiefpulvers, denn durch 
den Dampf, der aus einem Pfund Waffer erhalten wird, kann man 
ein Gewicht von 550 Pfund, durch die Entzündung von einem 
Pfund Pulver nur eine Laft von kaum 229 Pfund Gewicht fort: 
bewegen. Wie der zahme Elephant in heftig gereiztem, zornmuͤ⸗ 
thigem Zuſtand des ohnmächtigen Widerftandes der Menfchen nidt 
achtet, fondern ihre Hütten darniebderreißt, und mit vernichtender 
Stärke in ihre Haufen hineinbeicht, fo hat auch ſchon öfter der 
MWaflerdampf, wenn man ihn nicht in wachſamer Obhut hielt, 
Gebäude und Schiffe der Menfchen zertrümmert, und ganze Ge 
felfchaften derfelben vernichtet. 

Der Unterfchied der Bewegungen, welche durch eine felbfiftän- 
dig inwohnende Kraft des Lebens bewirkt werden, von ſolchen, die 
eine bloße mechanifche Gewalt hervorruft, beruht vor Allem bar: 
auf, daß die letzteren alsbald nachlaffen, wenn die mechanifce 
Urſache zu wirken aufhört, durch die fie erzeugt wurden, während 
bie erfteren fi) dadurch immer wieder erneuen, daß .abwechfelnd 
mit dem Zuftand der Fülle, an dem einen Punkte, der Zuſtand 
des Mangels an dem anderen, polarifch entgegengefegten, hervor 
tritt und umgekehrt, mit der Sättigung bes legteren das Beduͤrf⸗ 
niß des erftereren wieder erwacht. Die beiden Eimer am Brun⸗ 
nen des Lebens, bie rechte und linke Herzkammer, fo wie jede die 
fer einzelnen Kammern, und ihre Vorkammern flehen in einem 
folhen regelmäßig abwechfelnden Verhaͤltniß ihrer Bewegungen, 
daß, wenn die Kammer durch Zufammenziehung ihrer Wände fid 
entleert, die VBorkfammer ſich aufthut, und wenn die linke Kammer 
das Blut, das fie durch ihre Vorkammer aus den Lungen empfing, 
hinaustreibt, durch die Pulsadern, in alle Theile des Leibes, da 
thut zu gleicher Zeit die rechte Kammer ſich auf für den Empfang 
des Blutes, das ihr duch ihre Vorkammer aus den Blutadern 
zuſtroͤmt. Während die eine biefer Höhlungen fi) von der Fülle 
ihres flüffigen ISnhaltes entleert, nimmt bie andere fie auf; ab 
wechfelnd verwandelt fi jest hier, dann dort die Anziehung in 
ein Abftoßen und umgekehrt. 

Diefer von felber fich erneuernde MWechfel zwifchen Anziehen 
und Abftoßen, Aufnehmen und Ausgeben fällt uns, im Vergleich 
mit den unbefeelten, unorganifhen Körpern an ben befeelten We 
fen alsbald ins Auge. Das Thier athmet nicht nur ein, fondern 
es athmet auch aus; die Kohle, fo kann man fagen, atmet audh, 
indem fie verbrennt, das Sauerfloffgas ein, und wird zur Kohlen 
fäure, aber fie kann das aufgenommene Gas nicht durch eigene 
Kraft wieder ausftoßen, kann, wenn fie. etwa vor ihrem Verbren⸗ 
nen ein Demant war, nicht wieder zum Demant fich gefkalten, 
und fo abwechſelnd bald einmal Kohlenfäure, dann wieder De 
mant werben. Wenn die ägende, aus dem Kalkmetall (nad) Cap. 
| 20) entflandene Kalkerde fih mit ber Kohlenfäure gefättigt hat, 

und nun zum feflen Kalkflein oder Marmor geworden ift, bann 











36. Dampfeildung durch Wärme. 257 


kann fie diefe aufgenommene Nahrung nicht wieder aus eigener 
Kraft ausfondern, fonft würde es mit dem Feſtſtehen unferer Ges 
birge und das befländige Werbleiben ihrer Geſtalten und Umriſſe 
fehr zweifelhaft und bedenklich ausfehen, fondern nur eine aͤußere 
Macht, wie das Hinzutreten einer ftärkeren Säure, oder ein hoher 
Grad von Hige, welcher die Erpanfivkraft der Kohlenfäure fo hoch 
fleigert, daß diefelbe bie Luftform anzunehmen vermag, kann bie 
fefte Verbindung aufheben, und die Kalkerde ihres, vielleicht ſchon 
vor vielen Jahrtaufenden aufgenommenen Sättigungsmittele berauben. 

Bleiben wir bei dem zulegt erwähnten Verfahren ftehen, das 
feit uralter Zeit beim Brennen des Kalkes zur Bereitung des Mörs 
tels angewendet wird. Das Uebergemwicht, welches bie ausdehnende 
Federkraft in der Kohlenfäure Über ben Zug des Zufammenhaltes 
mit dem erdartigen Stoffe gewinnt, ift der Grund ihres Austres 
tens, die Urfache jenes Wechſels, durch welchen auf einmal die 
Anziehung in Abftoßung übergeht. Faſſen wir die Vorgänge ber 
Lebensthätigkeit im inneren eines befeelten, lebenden Körpers et= 
was näher ins Auge, dann wird ed uns klar, baß bie Aufeinans 
derfolge dieſer Vorgänge blos. auf einer jegt zunehmenden, dann 
wieder abnehmenden Steigerung ber Spannkraft der organifchen 
Gebilde beruhe, auf einem Wechfel des Freiwerdens und ber Ge: 
bundenheit der eigenthümlichen Wirkſamkeit, auf dem Wechfel gleich⸗ 
fam eines Drudes von außen, und eined Gegendrudes von innen. 
Die auf dee Oberfläche unferes LKeibes ruhende Atmofphäre ift für 
unferen Gefammtleib ein Aeußeres, und der Ausgangspunft eines 
auf diefen wirkenden, feine Form begränzenden Drudes. Für die 
Nerven find alle anderen Theile des Leibes ein Aeußeres, für bie 
Seele ift felbft das Gehirn und das Spftem der Nerven ein foldy’ 
Aeußeres. Während bei dem Vorgang ber Verdauung, der Blut⸗ 
bereitung, der Bildung ber Theile die Lebenskraft der Vereinigung 
mit einer ihr gegenüberftehenden,, dußeren Leiblichkeit Bingegeben 
ift, erfcheine fie gebunden und von dem Gegengewicht des dußeren 
Stoffes beherrfcht, wenn ihr dagegen flatt ber Sättigung das Be⸗ 
duͤrfniß, flatt dee Ruhe das Streben wiederkehrt, wenn fie von 
dem ſchon gewordenen Alten zu einem Werden des Neuen ſich 
binwendet, dann ift fie wieder zur freien Wirkſamkeit erwacht. 
Der Kohlenfäure im Kalkftein geben wir durch die Wärme unferer 
Katköfen die Spannkraft wieder; was hier die Wärme thut, das 
wirkt im lebenden Leibe die Seele. 


37. Die Dampfmafdinen. 


Der Inhalt des vorhergehenden Eapitels führt uns zu ber 
näheren Betrachtung einer der bedeutendften, folgenreichiten Erfin⸗ 
dungen der neueren Zeit. Die Einrichtung und Wirkung unferer 
Dampfmafchinen ahmt in abbildlicher Weiſe die Vorgänge deö Les 
bens, den fortwährenden Wechfel zwifhen Drud und Gegendrud, 


17 | 


258 37. Die Dampfmafchinen. 


zwifchen einem freien Aufftreben und Gebundenwerden der Spann- 
kraft nad. Bei einer Dampfmafchine von jener Einrichtung, 
welche früher in ausfchließendem Gebrauch war, tritt der Waſſer⸗ 
dampf, der fid aus dem fiedenden Waſſer des Keſſels entwidelt, 
in einen metallenen Gylinder hinein, hebt dort durch die Gewalt 
feiner Ausdehnung den gleich einem wohlfchließenden Stöpfel ein- 
gefügten Kolben empor, bis diefer an einem gewiffen Punkt feines 
Emporfteigens eine Eünftliche Vorrichtung in Bewegung fest, durch 
welche die Mündung jener Röhre, aus welcher der Dampf eindrang, 
verfchloffen und zugleich der verfchloffene Hahn einer anderen Röhre 
geöffnet wird, durch die ſich ein Strahl Falten Waſſers in ben 
Eplinder ergießt. Mit der Abkühlung zugleich Fehrt der Dampf 
in bie tropfbar flüffige Sorm des Waſſers zurüd, und es entfleht 
ein leerer Raum, in welchen der Drud der Atmofphäre den Kol⸗ 
ben alsbald wieder hinabftößt, bis diefer bei feinem Hinabſinken 
abermals dem zudringenden Dampf den Eingang in den Cylinder 
eröffnet, und von Neuem durch die Gewalt der Spannfraft em- 
porgehoben wird. So wirken abwechfelnd der Drud der Atmos⸗ 
phäre und der Gegendrud des Dampfes,.-und bei dem Auf= und 
Miederfteigen des Kolbens wird durch bie Stange, die in Diefem 
befeftige ift, jenes mannigfache Getriebe in Bewegung gefest, und 
darin erhalten, welches dazu dient, die gewaltigften Laften empors 
zuheben, oder die Schaufelräder der Dampfichiffe und die Raͤder 
der Dampfwägen in einen fortwährenden Gang zu bringen. 

Eine fpätere, mit vieler Umficht getroffene, fehr nugbare Ein- 
richtung der Dampfmafchinen läßt den Drud ber Atmofphäre 
ganz außer Spiel, indem fie das Auffteigen wie dad Niederfinten 
des Kolben in dem nach oben gefchloffenen Cylinder blos durch 
die Spannfraft der Wafferdämpfe bewirkt, denen fie abmwechfelnd 
den Zutritt bald in den oberen, bald in den unteren Theil des Ey 
linders eröffnet, und zugleih den Dampf aus jener -Abtheilung 
des Sylinders, morinnen jegt feine Spannkraft ihre Dienfte gethan 
hat, hinausläßt in einen weiten Kanal (ben fogenannten Conden- 
fator), der von Ealtem Waffer umgeben ift, deſſen niedere Tempe 
ratur dem Dampf alsbald feine Luftgeftalt nimmt, und ihn wieder 
zu Waſſer werden läßt. Bei dem Entlaffien des Dampfes in 
den fühlen Raum wird dem Gplinder jegt hier, dann dort jener 
leere Raum wieder gegeben, ohne deſſen Borhandenfein das Auf» und 
Niederbemegen bes Kolbend nicht möglich fein würde. Bei diefer 
Einrichtung, nad welcher der Drud wie der Gegendrud beide nur 
ein Wert des Dampfes find, kann zur Bewegung der Maſchine 
bald eine Spannkraft der Dämpfe, welche geringer iſt, als bie 
Macht des atmofphärifhen Drudes, bald eine folche angewendet 
werben, welche, durch den höheren Grad ber Hige geſteigert, den 
äußeren Luftdruck vielfach überfteigt, Diefe erhöhte Spannkraft 
(der Hochdruck) wird namentlih zum Fortbewegen der Dempfwk 
gen benutzt. Und fo hat man noch. manche andere verbefjerndt 











3%. Die Dampfmafchinen. 259 


Einridgtungen an ben Dampfmafchinen angebracht, wobei jedoch 
immter die Wechſelwirkung eines Drudes und Gegendrudes das 
Hauptmotiv bleibt, 

Aber in unferen Tagen und in unferen Länderftrichen, darin⸗ 
nen kaum eine Gegend gefunden wird, in melcher nicht in ber 
Entfernung weniger Stunden eine Dampfmafcine zum Gebrauch 
Der verfchtedenen Gewerbe, oder an den Lokomotiven, theils feit an 
einem Drt verbleibend, theild als ein von Zeit zu Zeit ankommen⸗ 
der und wieder abgehender Saft gefehen werden kann, märe es 
wohl ein eben fo überflüffiges Bemühen, den ganzen Ban einer 
Dampfmafhine und die Zuſammenwirkung ihrer einzelnen Theile 
zu beſchreiben, als den Bau und bie Einrichtung einer Waſſer⸗ 
muͤhle. Seder von uns weiß es aus eigener Anfchauung, wie z.B. 
das Waſſer, das im Dampfkeſſel ift, nicht zunächft durch bie 
an den Boden deffelben anfchlagende Gluth der Kohlen fondern durch 
die metallenen Röhren, im Inneren des Keffeld erbigt werde, durch 
welche die glühend heiße Luft des Herdes hindurchſtreicht, und 
wobei dem Waſſer eine viel größere Ausdehnung der Hisflächen 
dargeboten wird. Jeder von uns hat das ſtoßweiſe Dervordringen 
des Wafler: und Kohlendampfes, das dem Schnauben eines zor⸗ 
nigen Thieres gleicht, vernommen und gefehen, welches die vorüber 
eilende Locomotive eines Eifenbahnzuges oder die Dampfſchiffe tn 
den Augen ungebildeter Völker, oder ber Kinder gleich einem ath⸗ 
menden Wefen, gleich, einem milden, lebenden Thiere erfcheinen 
ließ, und die Viehherden, in deren Nähe der Zug vorübergieng, ehe 
fie daran gewohnt waren, zu eiliger Flucht bemegte. 

Um die Erfindung und Bervolllommnung der Dampfmafchi- 
nen, fo wie um die Anleitung zu ihrer mannichfahen Benutzung, 
haben ſich vor allen Anderen die Meifter in den mechanifhen Ers ' 
findungen und Künften, die Engländer, verdient gemadt. Hin 
und wieder mochte bei Betrachtung jener metallenen, mit Waſſer⸗ 
dampf gefüllten Kugel, welhe Hero von Alerandrien (um 
120 She. v. Chr.) befchreibe, wenn man diefelbe.durd die Rüd- 
wirfung des aus einer engen Möhre herausftrömenden Dampfes 
um ihre eigene Are fich bewegen fah, ber Gedanke an eine An: 
wendung des Wafferdampfes zu verſchiedenen Kraftäußerungen er⸗ 
wacht fein; die erfle, fichere Spur jedoch von einer Anwendung 
bee Dämpfe zur Hebung eines 40 Fuß hohen Waſſerſtrahles fin 
den wir vom Jaht 1655 in dem Werk eined Englaͤnders: bes 
Maranis von Worcefter. Ein anderer Engländer, Sir Sa 
muel Moreland, war es, welches im Sahre 1683 dem franzoͤ⸗ 
fifhen Könige Ludwig XIV. einen fehe wohldurchdachten, richtigen 
Plan zur Anfertigung einer Vorrichtung gab, durch melde das 
Waſſer mittelſt der Dämpfe ans der Tiefe emporgehoben werden 
könnte. Fuͤnfzehn Jahre nachher (1698) Lüfte fich der englifche 
Capitaͤn Savery ein Patent fle feine Erfindung einer Dampf 
maſchine zum Auspumpen bed Waſſers. Die ganze Einrichtung 


17 * 


260 37. Die Dampfmaſchinen. 


berfefben beftand darin, daß man in eine Röhre (den Pumpen: 
ftiefel) Dämpfe hineinleitete, dann durch Abkühlung der Möhre 
und den mäfferigen Niederfchlag des Dampfes eine Leere erzeugte, in 
die das Waffer von unten hinanſtieg. Ein englifher Handwerks⸗ 
mann, der Schmied Newcomen, lehrte 1705 die Weife, das Nie 
derfchlagen des Dampfes in kurzer Zeit durch eingefprigtes Waſſer, 
und das Niedergehen bes Kolbens durch den atmofphärifhen Drud 
zu bewirken; unfer um die Mechanik fehr verdienter Landmann Leu: 
pold machte (1720) feine Angaben zur träftigeren Anwendung 
bes Dampfes (im Hochdruck) bekannt, in denen die Mechaniker 
ber fpäteren Zeit Vieles für fie Benugbare gefunden haben. Noch 
immer war jedoch die Anwendung der Dampfmafchinen eine fehr 
befchränfte; außer den Dienften, welche fie hin und wieder in den 
Bergſchachten zum Heraufsiehen bed Grubenwaſſers aus der Xiefe 
teifteten, fah man fie faft nur zu den Mafferfünften benutzt, an 
denen die höheren Stände und reichen Privatleute ſich ergögten. 

Den Weg zur allgemeinen leichteren Benugbarkeit der einfluß- 
reichen Erfindung bahnte erft. der Engländer Sames Watt. 
Aus feiner in Gemeinfhaft mit dem Mafchinenbaumeifter Matthew 
Boulton im 3. 1769 begründeten Fabrik find Dampfmafchinen 
von der zweckmaͤßigſten Einrihtung hervorgegangen, mit denen 
alle Gegenden von Europa verforgt wurden. Er war es, der das 
unmittelbare Einfprigen des Kalten Waſſers in den Cylinder ba: 
durch vermeiden lehrte, daß er den Dampf in den oben befchriebe- 
nen Gondenfator ableitete. Während man vorher durch die Spann: 
kraft des Dampfes nur ein einfaches Auf: und Niederfteigen des 
Kolbens, und mithin das Arbeiten des Zuges der Mafchine nur 
nad) einer Richtung zu bewirken wußte, machte Watt durch feine 
vorhin erwähnte Erfindung ber doppelt wirkenden Mafchinen erft 
das Hervorbringen folder Bewegungen möglich, die zu ihrer Un: 
terhaltung einer ununterbrochen fortwirtenden Kraft bedürfen. 

Es war jest nur noch ein Schritt zur Erfindung der Dampf: 
fhiffe, und dann ein anderer zur Erfindung der Dampfwaͤgen zu 
thun. Den erfteren that Robert Sulton, von Geburt ein Pen 
folvanier, der fich zuerft als Goldſchmieds⸗Lehrling in Philadelphia 
den Ruhm eines guten Zeichners erworben, und hierauf, zu viel 
vertrauend, nad) London begeben hatte, um fich hier in der Schule 
des berühmten Weft zum großen Maler zu bilden. Aber der vor: 
trefflihe amerikaniſche Zeichner war nicht dazu befähigt, in England 
als Maler zu glänzen; er fühlte dieß felber und ergab ſich der Die 
chanik, und in Semeinfhaft mit Ramfey, einem Genoffen biefes 
Gewerbes, der Fertigung von Dampfmafchinen, die für Virginien 
beftimmt waren, Bei diefen Arbeiten kam ihm der Gedanke zur 
Benuͤtzung der Dampfmafchinen für die Kortbewegung von Fahr: 
zeugen auf dem Waſſer. Mit zu geringen äußeren Mitteln magte 
er fih) an die Ausführung feines Planes, auch wurden feine wenig 
angenfälligen Werfuche in Frankreich wie in England keiner befon: 





37. Die Dampfmafdinen. 261 


deren Theilnahme gewürdigt. Zwölf Jahre lang hatte der innere 
Antrieb des thatkträftigen Mannes mit ben dußeren Hemmungen 
gekämpft, weldhe vor Allem der Mangel an Geldmitteln der Aus⸗ 
führung feines finnreichen, wohlüberlegten Planes in den Weg 
legte, ba hatte er es endlih im J. 1807 fo. weit gebracht, daß zu 
Newyork ein nach feiner Angabe erbautes Dampffchiff von 160 Ton⸗ 
nen, bemegt mit einer Kraft, die jener von 20 Pferden gleich Fam, 
auslaufen konnte, dad den Weg von 120 Seemeilen von Newport 
bis Albany flromaufmwärts in 32 Stunden zurüdlegte. Durch die⸗ 
ſes glüdliche Gelingen des Unternehmens war das Mißtrauen feis 
ner Landsleute befeitigt worden, welches vornämlich durch den vers 
unglüdten Berfuch erregt war, welchen ſchon im J. 1788 der Uhr⸗ 
mader Sieh in Philadelphia, dem gleich bei der erften Eleinen 
Fahrt der Keſſel zerfprang, gemacht hatte. Aber auch Fulton, der 
Begründer eines ganz neuen, gewaltigen Auffhmwunges der Schiff: 
fahrtstunde, hatte von feiner folgenreichen Erfindung keinen dußeren 
Gewinn. Er hatte zwar von den vereinigten Staaten die Patente 
für den Betrieb der Dampffchifffahre auf allen größeren Fluͤſſen 
des Landes erhalten, mußte jedoch dieſe aus Noth großentheild vers 
kaufen und dabei nody die Kränfung erfahren, daß ein Advocat, 
in lifligen Kunftgriffen gewandt, ihm ben Ruhm und Vortheil der 
erften Erfindung ftreitig zu machen fuchte. Er war erft 48 Jahre 
alt, als er, ohne die Vollendung einer großen, nad) feinem Plane 
erbauten Dampffregatte zu erleben, im 3. 1815 ftarb. Viele An⸗ 
dere find, ald man jest in allen Ländern von Europa anfing, 
Dampffchiffe nad Fulton's Angabe zu bauen und zur Wafferfahrt 
zu benugen, durch feine Erfindung reich geworben; ihm felber hatte 
fie nicht fo viel eingetragen, daß er fih und die Seinigen aus der 
Laft der Schulden, die er für die großen, zu feinem Unternehmen 
nöthigen Auslagen hatte machen müffen, herauszuarbeiten vermochte, 

Welche Dienfte die Dampffchifffahrt dem Verkehr der Völker 
zu leiften vermöge, das liegt ſchon jegt vor Augen. Vasco de 
Sam a’s welthiftorifches, ruhmgekröntes Unternehmen, von Europa 
nach Oftindien zu fegeln, hatte zwar, feit ex ihnen kuͤhn vorange- 
gangen, Zaufende von Nahahmern gefunden, dennoch gehörten 
die Fahrten nad Dflindien, abgefehen von allen möglihen Ge: 
fahren, bis in bie neuefte Zeit zu den Iangmierigften und ſchwie⸗ 
rigeren. Anjest legen die Dampfbote von England den Weg bis 
an die aͤgyptiſche Küfte, dann durch das rothe und indifhe Meer 
bis nach den Küften von Dftindien, wohin vormals unfere Segel: 
fchiffe kaum nah 6 bi8 8 Monaten gelangten, fhon in 5 bis 
6 Wochen zurüd. Durch ihre Dampffchiffe find die Europder in 
noch ungleich höherem Maaße ale vorher Beherrſcher der Meere 
und Beſchuͤtzer der Küftenbemohner gegen den Raubmord ber See- 
räuber geworden. Wie ſchwer war es oft vormals, die ſchnell ru- 
dernden malayifchen und chinefifchen Seeräuber in ihren Jonken 
einzuholen, wenn fie vor den Augen ber Europder Städte und 


262 37. Die Dampfmafdinen, 


Dörfer an den Küften der Philippinen entzündet und die harm⸗ 
lofen Bewohner derfelben ermordet, oder wenn ihre Schaaren ein 
- europäifches Handelsfchiff überfallen, feine Mannfchaft umgebradit, 
feine Ladung geraubt hatten. Anjetzt fürchtet diefes mordluſtige 
Geſindel die Dampffchiffe der Europaͤer wie ber fehnellläufige Haſe 
den noch ungleich fchneller fliegenden Adler, und bald werden alle 
die Meere, wohin die Dampficifffahrt der Europäer reicht, von 
Seeräubern gefäubert, ihre Küftenbemohner gegen ſolche Weberfälle 
gefihert fein. 

Einen ähnlihen umgeftaltenden, Neues fchaffenden Einfluß 
auf den Verkehr der Städte und Völker als die Erfindung ber 
Dampffchiffe, hat fhon jegt die Erfindung der Dampfwägen. Ihre 
Vervolllommnung und zweckmaͤßige Benüsung fällt in eine etwas 
fpätere Zeit als die der Dampffchiffe, denn obgleich ber Engländer 
Robinfon fhon im I. 1759 dem vorhin erwähnten Meifter im 
Dampfmaflhinenbau, dem James Watt, einen Plan zur Errichtung 
von Dampfmägen mittheilte, fand er dennoch hiermit wenig Theil: 
nahme, und die Verſuche zur Ausführung, welche fpäter von ihm 
und Anderen gemacht wurden, mißlangen entweder ganz” oder hat 
ten doch nicht den erwarteten Erfolg. Weberhaupt mußte die Er: 
findung der Dampfwägen, wenn fie ihren Zweck volllommen er 
reichen follte, eine andere ungleich ältere Erfindung, die der Eifen: 
bahnen, zu Hülfe nehmen, denn für Landſtraßen von gewöhnlicher 
Einrihtung paßte fie nicht. Dierzu bot abermal® England bie 
günftigfte Gelegenheit dar, Denn obgleich der Gebrauch der voll 
kommen ebenen Holzbahnen mit fiherem Geleife zum Fortziehen 
großer Laften urſpruͤnglich durch deutſche Bergleute, welche bie 
Königin Elifabeth in's Land berief, nad) England verpflanzt wor: 
den und zunädhft nur in ben Bergwerfen eingeführt war, hatte 
man dennoch zuerft in England den Grund zu den jegigen Eiſen⸗ 
bahnen gelegt, ald Curr im Jahr 1776 über der Unterlage bes 
Holzes eiferne Schienen anbradte, und Barns feit 1797 ſtatt 
des in vielen Gegenden fchwer und theuer zu habenden Holzes ben 
Schienen eine fteinerne Grundlage gab. Seit 1825 fab man nad) 
biefer Einrichtung zuerft in England, dann in Frankreich, Defter 
reich) und Amerika Eifenbahnen von größerer Ausdehnung zur Er: 
leichterung des Verkehres einzelner bedeutender Handelspläge ent 
ftehen, und auf einer foldhen Eifenbahn gewann ber erfte, in vol- 
tommener Weife ausgeführte Dampfwagen, jener ded Stephen: 
fon, im Jahr 1829 den Preis von 6000 Sulden, der für dieſe 
neue Art des Transportes ausgefegt war, Sein Locomotiv be 
wegte eine Laſt von 250 Gentnern mit einer Schnelligkeit, melde 
für jede Stunde auf 11 englifhe 21/, geographifhe Meilen be 
vechnet war; eine Leiſtung, welche von jener unferer jegigen, noch 
ungleich mehr vervollommneten Dampfwägen weit übertroffen wich, 
bei denen ſich die Schnelligkeit auf das Doppelte, ja auf das mehr 
denn Dreifache gefleigert hat. 





3%. Die Dampfmafcinen. 263 


Wir befchreiden nur kurz, welchen Gang jene Vervollkomm⸗ 
nung in neuerer Zeit genommen hat. Bor Allem mußte bei ben 
Dampfwägen auf Erfparung des Raumes wie ber Laft Rüdficht 
genommen werden. Deshalb brachte man den Hochdruck aus: 
fchließender in Anwendung, der in Eleinem Raum viel zu leiften 
vermag und den ſchwerfaͤlligen Condenfator mit feinem abfühlenden 
Waſſerbehaͤltniß entbehrlich macht. Um aber in dem befchräntten 
Raum bie möglihft größte Fläche zur Dampfentwidlung zu ge 
winnen, verlegte man bie Feuerflätte in den Keffel felber, fo daß 
fie bis auf den Roft und die Einfhürthür ganz von Waffer um: 
geben if. Der Flamme ift ihr Weg zum Kamin nah Booth's 
trefflicher Erfindung duch 150 bis 200 metallene Röhren ange: 
wiefen, weiche alle das Waffer des Keffeld durchziehen. Der Dampf, 
welcher fih an der Außenfeite des Feuerkaftens und ber Siebe: 
roͤhren entwidelt, fammelt fi im oberen Theile des Keffeld und 
fest von hier aus die Kolbenftangen zweier Cylinder in Bewegung, 
die ſich den umlaufenden Rädern mittheil. Dem eigentlichen 
Dampfwagen ift ein befonderer Wagen beigegeben, der das Brenn- 
material und den Waffervorrath enthält. Durch Pumpen, welche 
die Mafchinerie des Dampfwagens in Bewegung fest, wird das 
Waſſer im Dampflefjel fortwährend nachgefüllt und fein Abgang 
erfest. Sobald der Dampf in den Eplindern mit feiner Federkraft 
gewirkt hat, nimmt er feinen Ausweg durd ben Kamin und bes 
wirkt dadurch einen heftigen Luftzug, weicher nothwenbig ift, um bie 
Slammen durch die vielen engen Röhren von ber Feuerſtaͤtte in 
den Kamin zu treiben. 

Die Ausdehnung der Dampfmwagenfahrten auf den Eifenbahnen 
geht ſchon jest in’d Ungeheuer... In England find fie nach allen 
Richtungen hin über Streden verbreitet, welche zufammen über 
600 geographifche Meilen betragen, und in den vereinigten Staaten 
von Amerifa hat die gefammte Ausdehnung aller dortigen Eifen- 
bahnen das Doppelte erreiht. In Deutfchland fah man bie erfte 
Dampfeifenbahn im Jahr 1835 entſtehen; es war die kleine, welche 
von dem gemwerbthätigen Nürnberg nach Fürth angelegte wurde. 
Sept theilen fich faſt alle deutfchen Provinzen in bie Vortheile der 
großen Erfindung. 

Nur im Vorübergehen erwähnen wir hier auch der fogenann- 
ten atmofphärifchen Eifenbahnen, auf denen das Locomotiv nicht 
durch Dämpfe, fondern durch den atmofphärifhen Drud bewegt 
werden fol, Schon Otto von Guerike (n. S. 213), der Erfinder 
der Luftpumpe, feste feine Zufchauer auf dem Reichstage zu Re: 
gensburg durch jenen Verſuch in Erſtaunen, bei welchem ein gut- 
fchließender Kolben durch den Luftdrud in einer Röhre, aus wel⸗ 
cher er die Luft herauspumpte, mit folder Gewalt emporgeführt 
wurde, baß viele ſtarke Männer ſich vergeblich bemühten, fein Auf 
fleigen durch Herabziehen zu hindern. Da bie Kraft des Luftdrudes 
in der Ebene auf jeden Quadratfuß Fläche nahe gegen 2000 Pfund 


264 37. Die Dampfmafchinen. 


beträgt, muß ein Kolben von etwa 11/, Fuß Fläche mit folcher 
Geralt in eine durch Auspumpen Iuftleer gemachte Röhre hinein- 
geftoßen werden, daß er dadurch fähig wird, eine Laft von 3000 
Dfund zu heben, eine viel größere aber auf ber Schienenbahn fort- 
zubemegen. In Irland haben Clegg und die Gebrüder Sa: 
muda auf einer Strede von 11/, Stunde Weges das erfle Unter 
nehmen gewagt, das auf jene Wirkung des Luftdrudes gegründet 
iſt. In der Mitte der Schienen ihrer Eifenbahn liegt ein 9200 Fuß 
langer, gußeiferner Gplinder, an beiden Enden durch Ventile ge 
fhtofen , verbunden durch ein Saugrohr, mit einer über 5 Fuß 
im Durchmeffer haltenden Luftpumpe, welche zum Betrieb bes 
Auspumpens der Luft aus dem Eylinder durch eine Dampfmaſchine 
in Bewegung gefegt wird, deren Zugkraft jener von 100 Pferden 
gleih kommt. In 6 bis 8 Minuten ift die Luftentleerung bes 
Cylinders, defjen innerer Durchmeſſer 15 Zoll beträgt, fo weit ge 
diehen, daß derfelbe, wenn nun hinter feinen Luftdicht fchlieBenden 
Kolben die atmofphärifche Luft hereintritt, mit einer Gewalt in den 
Eylinder hHineingetrieben wird, welche ihn fähig macht, mittelft 
einer an ihn befeftigten Stange eine Laft, bie über 2000 Pfund 
beträgt, mit einer pfeilfchnellen Gefchwindigkeit von mehr denn 
einer Stunde Weges in zwei bis drei Minuten fortzubewegen. Die 
plattenartige Stange des Kolbens muß babei freilih durch eine 
Spalte laufen, von welcher ber obere Theil des Cylinders feiner 
ganzen Ränge nad durchſchnitten tft, aber biefe fhmale Spalte, 
welche mit einer aus Leber und Eifenbledy gebildeten Klappe bededt 
iſt, wird durch eine am Kolben angebrachte Vorrichtung geöffnet 
und wieder gefchloffen. Obgleich die eben genannte, Kleine atmo- 
fpärifche Eifendahn an ihrem Orte, bei ihrer geringen Länge ber 
"malen no gute Dienfte leiftet, ftehen dennoch einer Nahahmung 
derfelben im Großen ſolche Schwierigkeiten entgegen, daß man bis 
jest daran nicht denken konnte. 

Es bleibt demnach bis jest nur die Wärme, als Bildnerin 
des Dampfes, in der Alleinherefhaft unferer Dampfeifenbahnen, 
und fie ift es ja auch, welche felbft auf den atmofphärifchen Eifen- 
bahnen die Entleerung bes Treibcylinders von atmofphärifcher Luft 
allein moͤglich macht. Was war felbft jene unfichere Befchleunigung 
des Fortbewegens, die man nad Cap. 28 an Luftfchiffen im 
günftigften Falle bemerkt bat, gegen die Gefhtwindigkeit unferer 
Dampfwägen, welche bereitd an mehreren Orten eine Stunde We 
ge8 in A Minuten, 15 Wegftunden in einer Stunde ducchmißt. 
Könnten wir mit folder ununterbrochenen Schnelle forteilen, dann 
würden mir eine Strede, welche dem Umfang ber Erbe gleich kaͤme, 
in 30 Zagen zurücklegen; Reifen von mehreren Tagen, die man 
fonft in England, um von London nad) mandyen anderen Orten 
zu gelangen, machen mußte, find jest zu einer Spazierfahrt von 
wenig Stunden geworben; ein Freund ladet den anderen 18 Stun: 
den von ihm entfernt wohnenden zum Mittagseffen ein, und biefer 





37. Die Dampfmafchinen. 265 


beforgt zu Haufe noch fein Zagesgefchäft, trifft zur rechten Zeit 
bei der Mahlzeit ein und fchläft bei Nacht wieder unter feinem 
Dade. - Die Zahl der Reifenden allein, die Waaren und Laften, 
welche zugleich mit fortgefchafft werden, nicht gerechnet, beträgt 
auf den Eifenbahnen Englands altjährlih über 20 Millionen; ganze 
vorhin ruhende Maffen der Völker und Güter der Erde find durch 
den Wafferdampf in lebhafte, fi immer erneuernde Bewegung 
gerathen, und hiermit zu und duch einander geführt worden; 
Streife, welche, gebunden an die Gefchäfte ihres Berufes, wegen ber 
weiten Entfernung ihrer Wohnorte auf immer von ihren Freunden 
und Jugendgenofien Abſchied genommen hatten, find feitdem nicht 
nur einmal, fondern öfters wieder zu diefen gelommen; die Ent- 
fernung madıt feine Trennung mehr. 

Faſſen mir alles Das zufammen, was Über bie Leiſtungen des 
Mafferdampfes, feit diefer buch Erfindung der Dampfmafdinen 
in die Gewalt des Menfchen kam, gefagt werben kann, dann muß 
uns befonders die Exrfparung wichtig fein, welche dadurch an ben 
Kräften lebendiger Wefen gewonnen worden ift. In der Regel 
berechnet man die Kraft einer Dampfmafchine nah dem Gewicht 
einer Laſt Waſſers, welche fie, wenn fie etwa zum Heraufziehen 
deflelben angewendet würde, in einer gewiffen Zeit zu erheben vers 
möchte. Hebt fie eine Laft diefer Art, welche gegen. 4 Gentner be⸗ 
trägt, in Zeit einer Sekunde 1 Fuß hoch, dann leiftet fie fo viel 
als ein Pferd; vermag fie die boppelte, die drei⸗, die vierfache Laft 
in berfelben Zeit eben fo hoch zu heben, dann arbeitet fie für 2, 
für 3, für APferde, und das Nämliche gilt beildufig von ihr, wenn 
fie 440 Center in 2/,, Ua, 4, Secunde einen Fuß body hebt. 
Mit der Kraft des Menfhen verglichen kann man im Durchſchnitt 
annehmen, daß etwa fünf Männer baffelbe vermögen, was ein 
einziges Pferd leiftet. Diernach hat man berechnet, daß die Dampf 
maſchinen, welche im Sahre 1833 in England thätig waren, fo 
viel bemirkten, ald man nur durch die Kraftanftrengung von nahe 
22, Millionen Pferden ober 121/, Millionen Menſchen hätte aus: 
richten koͤnnen; in Frankreich arbeiteten damals die fämmtlichen 
Dampfmafchinen für 1,785,500 Pferde, mithin für mehr denn 
8 Millionen Menfhen, in Preußen für 915,000 Pferde oder für 
mehr denn 42/, Mil, Menfchen. 

Aus einigen unficheren Andeutungen in ben Schriften ber 
Alten hat man die Vermuthung gefhöpft, daß fhon die Aegypter 
bie bewegende Kraft der Waſſerdaͤmpfe nicht nur gekannt, fondern 
aud zu verfchiedenen Zwecken angewendet hätten, Wäre biefes 
bei ihnen in demfelben Maaße wie bei uns feit der Einführung 
ber Dampfmafcdinen ber Fall geweſen, dann hätten fie nicht 
nöthig gehabt, zum Bau ihrer größten Pyramide unmeit Ghizeh 
100,000 Menfhen 20 Jahre lang zu bemühen, denn man hat be⸗ 
vechnet,. daß fi die Steinlaften diefes Riefenbaumerkes, deren Ge⸗ 
fammtgewicht man zu 186 Mill. Centner anfchlägt, mittelſt der 


266 38. Waͤrmeentwicklung beim Verbrennen. 


Dampfmafchine unter ber Leitung von 36,000 Menfhen in Zeit 
von 18 Stunden hätten von ihrem Drte fortbewegen, emporheben 
und auf einander legen laffen. Doch in unferen Tagen wendet 
man biefe durdy die Kunſt gewonnenen Kräfte nicht wie die Knob⸗ 
lauch⸗, Zwiebeln: und Linfenseffenden Aegppter zum Bau von Py—⸗ 
ramiden, fondern mehr zum Gewinnen und Bereiten der Ermwerbs- 
mittel für Thee, Kaffee und Zuder an. 

Die Volllommenheit der Einrihtung einer Dampfmafchine 
wird nicht blos nad) den Kraftäußerungen berfelben, fondern aud 
nach dem mäßigeren oder größeren Aufwand ber Mittel beurkheilt, 
deren man zur Unterhaltung ihrer Bewegungen bedarf. Kür bie 
Dampfbereitung einer Dampfmafdine nad Watt’ Einrichtung, 
deren man fih im J. 1811 in Amerika bediente, brauchte man, 
um ihr bie Kraft zur Hebung von 15 Mil. Pfund Waffer zu ge 
ben, in jeder Minute 1 Scheffel Kohlen; durch manche an ihr an- 
gebrachte Werbefferungen war im J. 1815 der Verbrauch ber 
Kohlen auf nicht viel über ?/, bes Betrags herabgefegt worden, 
ja eine nah Woolf's Angaben gebaute Hohdrudmafdine leiftete 
mit benfelben Mitteln das Dreifache. Eben fo bedarf man aud 
in England feit ben neueren Vervolllommnungen der Dampfma- 
fhinen nur ?/,, ja nur halb fo viel Seuerungsmaterial ald man 
vor 30 Sahren bei den beften Werken diefer Art nöthig hatte 
So hoch aber aud ein folder Aufwand fammt ben Zinfen des 
Auslage-Kapitals fid) belaufen mag, fo hoch man auch die Summe 
anfchlagen muß, melche der Bau der Eifenbahnen (im günfligften 
Falle die deutſche Meile 240,000, tm minder günftigen aber meh 
rere Millionen Thaler) koſtet, immerhin bleibt noch ber Gewinn, 
den die Dampfmafchinen ihren Eigenthümern und dem Aufſchwung 
der Gewerbthaͤtigkeit der Länder bringen, ein überaus hoher. 

So haben mir bier eine für unfere Zeit im vorzüglichften 
Maaße nusbar gewordene Wirkung der Wärme betrachtet; wir 
ehren jedoch von der Wirkung zu ber Urfache felber zuruͤck, ja, 
noch einige Schritte weiter gehend, faflen wir einige der gewoͤhn⸗ 
lichften Mittel ins Auge, durch melche die Wärme in ber irdifchen 
Körperwelt, theild mit, theild ohne unfer Zuthun erzeugt wird. 


383 Das Entftehen der Wärme beim Verbrennen der 
Körper. 


Zum Entflammen eines irdiſchen Feuers find zwei verfchiedene 
Förperliche Gegenfäge nöthig, davon man ben einen den Zuͤndſtoff, 
den anderen den Brennftoff genannt hat, Bei unferen Kohlen: 
und Herbfeuern bildet der Kohlenftoff und der meift mit diefem 
verbundene Wafferftoff den brennbaren, das hinzutretende Sauer: 
ftoffgas der Atmofphäre aber den zündenden Gegenfag. In einigen 
‚Fällen Eann ein und derfelbe Körper einmal ald Brennftoff, dann 
als Zündftoff auftreten. So bilder der Schwefel, wenn man in 





ae Bu 2 


38. MWärmeentwidlung beim Verbrennen. 267 


feinen Dämpfen das glühende Kupfer verbeennt, ben Zündfloff, das 
Kupfer den Brennſtoff, und bei folhen Verbindungen des Schwer 
fels mit den Metallen zeigen fih diefelben Erſcheinungen des Feuers 
wie beim Entflammen eines gewöhnlichen brennbaren Körpers in 
der atmofphärifchen Luft. Aber derfelbe Schwefel, wenn er auf ge 
wöhnliche Weife verbrennt und hierbei mit dem Sauerftoffgas ſich 
verbindet, ſtellt fi zu diefem als Brennfloff dar und überläßt 
dem Gas die Rolle des Zuͤndſtoffes. | 

Bei der Betrachtung der Wafferdampfe fahen wir, daß zwi⸗ 
ſchen der Wirkung eines langfam und allmählig fich bildenden oder 
wieder "verdichtenden Dampfes, und zwiſchen der eines folchen, 
welcher ſchneller duch die Hitze gebildet wird, ein großer Unter: 
ſchied feiz die Anmendung des Hochdrudes lehrt und, daß die Fe⸗ 
derkraft defjelben Waſſerdampfes durch einen vermehrten Grad ber 
zur Dampfbereitung benugten Hitze vielfach höher gefleigert werden 
könne. Es ift, wie wir vorhin fahen, nicht die Bewegung allein, 
fondern bie Schnelligkeit derfelben, weldhe das Maaß ihrer Wirkung 
beitimmt. 

Daffelbe, was wir bier von der Wirkfamkeit der auf verſchie⸗ 
dene Weife erzeugten Waſſerdaͤmpfe ausfagten, und mas jeder 
Sturmwind uns lehrt, wenn diefelbe Maffe der Luft, deren Drud, 
fo lange fie ruhend über und um ung fland, wir kaum bemerften, 
durch ihr fchnelles Bewegen Bäume entwurzelt und Häufer um: 
flürzt, gilt au von dem Vorgang bes Verbrennens oder von der 
Verbindung eines brennbaren Körpers mit dem Sauerftoffgas, Kein 
zerſtuͤcktes, trockenes Holz wird fi) an einer genäherten Kichtflamme 
alsbald entzunden und dabei werden die Erfcheinungen des voll- 
kommenen Berbrennend: Licht und Wärme, hervortreten. Der 
Kohlenftoff, der im Holz war, hat fich bei der Verbindung mit bem 
atmofphärifhen Sauerfloffgas in Kohlenfäure, das Waflerftoffgas 
in dampffoͤrmiges Waffer verwandelt, das beim Abkühlen allmäh- 
fig zum tropfbar flüffigen Zuftand zuruͤckkehrt. Wenn das Ber: 
brennen der duͤrren Holzſtuͤckchen in einem verfchloffenen Gefäße 
flatt fand, und wenn dabei das Sauerſtoffgas ganz oder großen- 
theils in der Bildung der Kohlenfäure aufgegangen ift, dann ver- 
löfht ein brennender Holzfpan, den wir in das Gefäß hineinhal- 
ten, denn das Fohlenfaure Gas kann weder das Verbrennen, noch 
Das thierifhe Athmen unterhalten. Aber ganz bdafielbe gefchieht 
auch, wenn wir einen folhen brennenden Holzfpan in die Luft eines 
verfchloffenen Gefäßes hineintauchen, worin fih angefeuchtete Holz: 
ftüdchen oder naſſe Sägefpäne einige Zeit befanden. Schon nach wenig 
Stunden ift das armofphärifche Sauerftoffgas, das im Gefäß ent- 
halten war, eben fo, als wenn wir dad Holz in getrodinetem Zu: 
ftand darin verbrannt hätten, in eine Verbindung mit der Kohle 
zur Kohlenfäure eingegangen; ber brennende Span verlöfcht darin 
fo ſchnell, als ob wir ihn in Waſſer getaucht hätten. Das Son⸗ 
nenlicht bat allerdings einen verändernden Einfluß auf den Bor: 


268 38. Waͤrmeentwicklung beim Verbrennen. 


gang dieſes Iangfamen Verbrennens ober Verweſens, wie fich dies 
fhon bei dem Bleichen der Leinwand zeigt, bei welchem auch eine 
Berbindung des Sauerftoffgafes vor Allem mit den leichter zer 
feglichen Theilen des Pflanzengemwebes, ober mit jenen anderen Sub: 
ftanzen von organifcher Natur vor ſich gebt, welche durch ihren 
freier hervortretenden Kohlenftoff die dunkle und ſchmutzende Fir 
bung bewirken. Dennod kommt jener Einfluß des Sonnenlichtes, 
wenn er beim DBleichen und bei anderen ähnlichen Vorgängen eben 
fo das langfame Verbrennen oder Verweſen beförbert, als die 
Gluth einer genäherten Lichtflamme das fchnelle Verbrennen, nit 
der trodenen, fondern der angefeuchteten Leinwand zu flatten. 

Daß jene allmählige Verbindung des Brennfloffes mit dem 
Zündftoffe, die namentlich bei ber Verweſung organifcher Körper 
ftatt findet, kein eigentliches Verbrennen genannt werden Tonne, 
ift jedem Kinde verftändlih. Das Beginnen und die Fortdauet 
bes DVerbrennens hängt, wie wir auf unferen Herden fehen, von 
einem Grad der Erhisung ab, welcher duch aufgefchüttetes Waſſer 
oder durch die Feuchtigkeit des brennenden Holzes ſchon dadurch 
von feiner Höhe herabgeſtimmt wird, daß die Verdunſtung des 
Waſſers auf Kofter der Wärme gefchieht (Kap. 33). Wir da 
ben es bereit (Kap. 34) ale die nächte und vorzüglichfte Wir 
tung der Wärme erkannt, daß fie den Zufammenhalt der Eleinften 
Theile der Körper aufhebe. Die beginnende Auflöfung jenes Bu: 
ſammenhaltes gibt fi in der vermehrten Ausdehnung, ihr weiterer 
Fortgang im Flüffigwerden (Schmelzen) oder im Verdampfen ber 
Körper kund. | 

Die Naturforfcher haben an folhen feften Körpern, welde 
durch mechaniſche Gewalt in bie möglihft kleinſten Theilchen zer 
legt, aufs Feinfte zerſtaͤubt wurden, eine merkwürdige Beobach 
tung gemacht. Diefe, dem bloßen Auge nicht mehr wahrnehmba⸗ 
ven Stäubchen zeigen, wenn man fie, auf einem Xropfen Del 
oder Waſſer fchwimmend, unter das Mikroſcop bringt, eine Bewe— 
gung gegen und von, fo wie durch einander, welche nicht aus 
dem Einfluß der Verbünftung der Flüffigkeit erklärt werben kann. 
Denn jene Bewegung gründet fi auf ein polarifches Anziehen 
und Abftoßen, auf ein Suchen und Fliehen, auf ein mechfelfeiti- 
ges Sich⸗Umkreiſen, wodurch daffelbe den Bewegungen kleiner mi: 
Brofcopifcher Thiere gleich wird. Mit der Auflöfung des Zufam- 
menhalte® der Körper, felbft durch mechanifche Gemalt, werden 
die Beinen Theile berfelben einer gegenfeitigen Bewegung fähig, 
die ſich auf die allgemeine Urfache alles Bewegens — auf pola 
rifche Entgegenfesung gründet. 

Das Verbrennen der Körper felber entfteht aus einer lebhaf 
ten’ Öegeneinanderbewegung der Heinften Theile des Brennſtoffes 
und des Zündfloffes; in einem Bewegen, das fi unferen Sinnen 
als Licht und ale Wärme mittheilt und in bdiefer Form auf bie 
umgebende Körpermwelt einwirkt. Wenn man Platinametall aus 





38. Waͤrmeentwicklung beim Berbrennen. 269 
einer Fluͤſſigkeit ausfcheidet, in welcher daſſelbe chemiſch aufgelöft 
war, dann erfcheinen feine fein zertheilten Stäubchen nicht mehr 
metallglänzend, fondern fie ftellen fich ale ein ſchwarzes Pulver 
dar. Wenn man baffelbe in diefem Zuftande trodnet und ber 
Luft ausfegt, dann zieht es das Sauerfloffgas mit folcher Kraft an, 
daß es nad, Maastheilen 800 mal mehr von demfelben aufnimmt 
als der Rauminhalt feiner gefammten Stäubchen beträgt. Es 
bat fich hiebei der Zug des Metallifhen zu feinem allgemeinen 
Gegenfas, zum Sauerfloff, geregt, ohne daß daraus ein wirkliches 
Verbrennen hervorging. Sobald man aber: Wafferftoffgas über 
ein tolches, von 800 fach verdichtetem Sauerftoffgas erfülltes Pla⸗ 
tinapulver hinftreichen läßt, dann fängt das Metall an zu glühen, 
denn nun iſt ein Verbrennen des Wafferftoffgafes entflanden, das 
feine Gluth durch die ganze fein zertheilte Maſſe verbreitet; es bil- 
bee ſich Waſſer. Man kann biefen Vorgang des Gluͤhens fo oft 
hervorrufen als man will, denn wenn wir dem Zuſtroͤmen der 
brennbaren Luft und hierdurch dem Verbrennen. Einhalt thun, 
dann füllt fi) das Platinapulver augenblidlic wieder mit Sauer: 
ftoffgas an, das ein neu binzuftrömendes MWaflerftoffgas entzünden 
kann. Diefelbe Eigenfhaft wie an dem erwähnten metallifhen 
Pulver bemerken wir auch an dem fogenannten Platinafhwamm, 
weicher duch Gluͤhen aus Platinfalmiat erhalten wird, und im 
Grunde genommen lehrt und fhon bie leichte Entzündlichkeit eines 
£unftgerecht bereiteten Pulvers, welches Körberungsmittel für das 
Berbrennen in ber feinen Zertheilung der Körper, in ber Aufbe- 
bung des gegenfeitigen Zufammenbhaltes ihres Stoffes liege. 

Auf ähnliche Weiſe wie das eigentliche, fchnelle Verbrennen 
mit Flamme, kann auch das langſame Verbrennen: die Verbin⸗ 
dung ber gegohrenen Flüffigkeiten mit dem Sauerſtoffgas der Luft 
und ihre Verwandlung hierdurch in Effig durch mehanifhe Mit: 
tel befördert werben, wobei man die gährende Fluͤſſigkeit fo meit 
als moͤglich vertheilt und dem Raume nad ausdehnt. Wenn 
man früher aus den Neigen des Bieres, aus fchlehtem Wein, 
Branntwein oder anderen ähnlichen Flüfjigkeiten Eſſig bereiten 
wollte, indem man fie in Faͤſſern bem unvolllommneren Zutritt 
der Luft ausfeste, da dauerte es Wochen ja Monate lang, bis bie 
Säuerung zum Effig vollendet war; jest kann man ben Brannt- 
. wein im VBerlauf eines einzigen Tages zu Effig machen, wenn 
man ihn, mit Waſſer verdünnt, langfam durch Zäffer fließen Läßt, 
die mit Hobelfpänen angefüllt find, durch deren lockere Lagen die 
Luft von außen fanft binduchfirömen kann, Die Oberfläche der 
gegohrenen Slüffigkeit ift bei diefem Verfahren um das mehr ald Tau⸗ 
fendfältige vergrößert, ihre vorher genäherten Theile find weit von 
einander entfernt, der Zufammenhang derfelben ift zwar nur auf 
mechanifche Weiſe aufgelöft, was indeß dennoch etwas Achnliches 
bewirkt, als die Auflöfung des Zufammenhanges der Theile eines 
brennenden Körpers durch die Wärme, 


270 38. Wärmeentwidiung beim Verbrennen. 


Selbſt bei jenen feuergebenden Mifchungen, die ſich von ſelbſi 
entzünden, fobald man fie der Luft oder dem Sauerftoffgas aut: 
fest, dergleihen jene ift, welche durch das Untereinanderreiben von 
8 Gewichtstheilen überfauren Bleikalk ( Bleifuperoryd) und 2! /, Thei- 
len waflerfreier Weinfteinfäure bereitet wird, mag die feine Zer⸗ 
theilung der ftaubartig zerfleinerten Maffe die Entzünblichkeit be 
fördern, und im Grunde genommen bedienen wir uns bei der De 
reitung bed Schießpulverd der mechanifchen Zerkleinerung mit 
gleichem Erfolge Auch jene Fälle, in denen fid) zumeilen mit 
verheerenden Folgen für einzelne Häufer oder ganze Städte Klein 
gepulverte Kohle ober fein zertheilte verkohlte Pflanzenftoffe, der: 
gleichen die fogenannten Kaffeefurrogate find, auch ohne daß ein 
ftarker mechanifcher Drud (nad) S. 229) hinzukam, von felbe 
entzünbet bat, gehören hieher. 

Wie das Schießpulver ein einzelner Funke entzündet, fo theilt 
fid) überhaupt die Entflammung von einem brennenden Körper 
dem anderen mit, indem jeder entflammte Theil jene Wärme auf 
ſtrahlt, welche den an ihn gränzenden Theilen zur Auflöfung des 
Zufammenhanges ihrer Theile und mithin zur nothwendigen Bor 
bereitung auf den Zuftand des Verbrennens dienen Tann. 

Obgleih, wie wir fhon erwähnten, die Gährung der Stoff, 
wobei diefelben ungleich langſamer als beim Verbrennen das Sauer: 
ftoffgas an ſich ziehen, nur im uneigentlihen Sinne ein Verbren⸗ 
nen genannt werden kann, ift es doc von Intereſſe, auch hierin 
auf eine Uebereinflimmung aufmerffam zu machen, die fich zwiſchen 
beiden Vorgängen zeigt. Ebenfo wie ſich beim Brennen die Flamme 
mit ihrer Glühhige von einem Punkte der entzündlichen Mafle 
über die anderen verbreitet, fo gefchieht dies auch bei der Gährung 
und PVermefung der zu folder Art der Zerſetzung fähigen organi⸗ 
fhen Stoffe. In den meiflen von diefen regt ſich alsbald ein 
ftarfee Zug nad der Verbindung mit Sauerftoffgas, auch bei ganz 
gewöhnlicher Temperatur, fobald fie mit einer gährenden oder ver 
wefenden Subftanz in Berührung kommen. Um das Waſſerſtoff⸗ 
908 zu entzünden, um feine Verbindung mit dem Sauerftoffgat 
zu Waffer unter Erfheinung von Licht und Wärme zu bewirken, 
bedarf es eines Higegrades von 240% Reaumur (300% Celſius). 
Wenn man bei gewöhnlicher Temperatur der Luft eine Miſchung 
von Sauerfloffgas und Wafferfloffgas in einer Flaſche, oder einem 
anderen wohlverfchloffenen Gefäß aufbewahrt, dann verharren beide 
in ihrem abgefonderten Zuftand, bie etwa die Gluthhitze eine 
Slamme, mit der fie in Berührung kommen, oder der Strahl des 
elektriſchen Funkens ihre Vereinigung (Entzündung) bewirkt. Wenn 
man dagegen in eine mit atmofphärifcher Luft, und einer Ber 
mifhung von Wafferfloffgas gefüllte Flaſche einen Leinwandbeutel 
aufbängt, in welchem ſich angefeuchtete Sägefpäne, Rinde, Moder 
erde oder andere einer gährungsartigen Auflöfung faͤhige Gtefft 
finden, dann fegt ſich in diefen bie Verweſung «den fo, mie in 


38, Waͤrmeentwicklung beim Verbrennen. 21 


freier Luft, fort; ſie verwandeln das Sauerſtoffgas, das in der fie 
umgebenden Luft enthalten war, zum Theil in Kohlenfäure, zu⸗ 
gleih aber nimmt aud das Wafferfloffgas an den Bewegungen 
des Vorganges ber Verweſung Antheil, es verbindet fi) eben fo 
wie beim Verbrennen mit dem Sauerfloffgas zu Waffe. Ganz in 
derfelben Weife, und aus bemfelben Grunde geht auch ber Dampf 
von Weingeift in einem Raume, darin faulendes Holz, oder andere 
vermwefende Stoffe enthalten find, die Vereinigung mit bem Sauer: 
ftoffga® ein, deren legtes Erzeugniß die Effigfäure iſt. 

Obgleich bei der Gaͤhrung wie bei der Verwefung der Körper, 
welche hierzu geneigt find, befonders dann, wenn diefelben in größe: 
ver Maſſe beifammen liegen, eine Wärmezunahme bemerkt wird, 
ift dennoch diefe auf unfer Gefühl, wie auf unfere Thermometer 
einwirkende Wärme keinesweges das, was bei der Uebertragung 
der Gährung oder Verwefung von einem hiervon ergriffenen Kör: 
per an einen gleichartigen anderen den Haupteinfluß ausübt. Auch 
bei der kühlen Witterung unferer feuchten Herbſttage theilt ein 
faulender Apfel dem anderen, noch frifchen, mit welchem er in Be 
rührung fteht, feine Faͤulniß mit, und je mehr ihrer zufammenges 
bauft find, je mehr auf einmal von ber Anftedung ergriffen 
werden, defto fkärker wird die Gewalt von dieſer. Auch unten in 
den Grüften geht bie Verweſung mitten in der fühlen Temperatur 


- der Tiefe ihren Gang. Dennoch wirkt auch auf diefe Vorgänge 


einer allmähligen Verbindung der entzändbaren Stoffe die aͤußere 
Wärme befchleunigend, zugleich aber, wie wir fpäter fehen merben, 
verändernd ein. 

Selbft mit den Erfeheinungsformen des eigentlichen Verbren⸗ 
nen® flieht der Higgrad, der dabei flatt findet, in naher Beziehung, 
denn das langſamere Verglimmen eines brennbaren Körpers geht 
bei bloßer Rothglühhige vor ſich, das volllommene Verbrennen 
mit heller Flamme ift mit Weißglühhige verbunden. Wenn man 
deshalb über dem Dochte eines Alkohollämpchens einen fpiralförs 
mig gewundenen Platinadrabt, oder eine mit Platina Überzogene 
Glaskugel befeftigt, und das Lämpchen fo lange brennen läßt, 
bis das Platinametall rothglühend geworben ift, hierauf aber aus: 
löfht, dann dauert das langfame Verbrennen des Weingeiſtes 
noch in der Weife fort, daß man zwar feine heile Flamme, wohl 
aber im Dunklen das Gtühen bes Platinadrahtes, oder Weber: 
zuges fieht, bis aller Weingeiſt verzehrt iſt. 

Ungefähr in demfelben Verhältniß, in welchem die brennba- 
ven Körper zu ihrer Entzündung einer größeren oder geringeren 
Hige bedürfen, iſt auch ihr Verbrennen unter denfelben Außeren 
Umfländen mehr oder minder andauernd. Wenn man in einem 
verfchloffenen, mit atmefphärifcher Luft erfüllten Gefäß zu gleicher 
Zeit eine Wachskerze, einen Strom von Wafferfloffgas, ein Stud 
Schwefel und ein Stud Phosphor anzuͤndet, dann verlöfcht, bei 
der almähligen Abnahme des Sauerftoffgafes, die Wachskerze zu⸗ 


272 38 Waͤrmeentwicklung beim Berbrennen. 


erft, hierauf das Waſſerſtoffgas, dann der Schwefel, ganz zulegt 
ber Phosphor. Aber zum Entzünden des Phosphors bebarf es 
auch nur einer Wärme von 45, zu der des Schwefeld 240 Gr. R. 
Ein bloßer Ueberzug von Lampenrus Tann das Entzunden des 
Phosphors felbft in gewöhnlicher Luftwärme bewirken, unb das 
Leuchten befjelben im Dunkeln ift, wie bei dem vorhinermähnten 
Stühelämpchen, ein langfames Verglimmen. 

Auf die Stärke und Heftigkeit der Anziehung zwifchen dem 
brennbaren Körper und dem Sauerftoffgas hat der Maffenzuftand 
ber beiden fich anziehenden Gegenfäge einen entfchiedenen Einfluß. 
In derfelben Ordnung, in welcher, wie wir vorhin erwähnten, bie 
Hisgrabe fi) folgen, bei denen die brennbaren Körper fih entflam- 
men, bedürfen biefelben aucd zur Erhaltung ihres Brennens eines 
maffenhaften Andranges des Sauerſtoffgaſes. Brennende Kerzen, 
die man dem hellen Sonnenlicht ausfegt, brennen nicht blos fchein- 
bar, fondern wirklich ſchwaͤcher, weil der Einfluß des Sonnenlich⸗ 
tes bie umgebende Luft ausdehnt und verdünnt. Schon im Schat- 
ten, geht der brennbare Stoff ber Kerze eine reichlichere Verbin⸗ 
dung mit dem Sauerfloffgas ein, und die Flamme wird lebbafter, 
am meiften jedoch ift dies der Fall an einem ganz dunklen Orte, 
wo in gleicher Zeit am meiften Zuͤnd- wie Brennfloff verzehrt 
wird, Das fonft zur Wafferbildung volltommen geeignete Ge: 
menge aus zwei Maaßtheilen Waflerftoffgae und einem Maaß⸗ 
theile Sauerfloffgas Läßt fih, wenn man es dur Auspumpen 
um das Achtzehnfache verdünnt hat, ſelbſt durch den elektrifchen 
Funken nicht mehr entzunden, und für die gewöhnliche Art des 
Entflammens wird daffelbe fchon bei der achtfahen Verdünnung 
der Luft unempfanglihd. Dagegen entzündet fi) der Phosphor, 
wenn man -ihn mit Baummolle ummidelt, oder mit dem Pulver 
von Schwefel, von Kohle, von Salpeter und mancher Metalle 
beftreut, fogar leichter in der verbünnten Luft, als in der bichte 
ten; er brennt noch bei einer 63 maligen Verdünnung in der Luft 
fort, und während ein Gemenge von Waflerftoffgas und atmo- 
fphärifcher Kuft durch den gewöhnlichen Luftbrud bei mittlerer 
Temperatur vor der Selbftentzundung bewahrt wirb, entflammt 
fi) dagegen baffelbe, wenn ed bei vermindertem Drud in ver 
dünnter Luft fich flärker ausdehnen kann. 

Der Wärmegrad, deſſen die ſchwerer entzuͤndbaren Körper zur 
Erhaltung ihres Verbrennens bedürfen, wird alsbald herabgefent, 
wenn das Sauerftoffgae nicht in hinlänglicher Menge, und mit 
einer gewiffen auf der Geſchwindigkeit bes Bewegens beruhenden 
MWirkfamkeit feiner Maſſe zuftrömen kann. Um. Steintohlen und 
Coaks im Brennen zu erhalten, muß man fie auf Roſte legen, 
und (durch die Einrichtung des Ofens) einen ſtarken Luftzug nad 
ihnen, fo wie durch fie hin bewirken, während das leichter ent 
züundlihe Holz fhon auf dem freien Boden verbrennt, weil zur 
Erhaltung feines Flammens jener ſchwaͤchere Luftſtrom binreicht, 








— 





38, Waͤrmeentwicklung beim Verbrennen. 273 


Der durch das Emporfteigen der leichteren, heißen Luft, und das 
Eindringen ber Fälteren in die entleerte Stelle bewirkt wird. Und 
nicht allein dann, menn bie Maffe des Sauerftoffgafes durch bie 
Geſchwindigkeit ihres Stromes eine größere MWirkfamkeit hat, fon: 
dern auch dann, wenn biefe Wirkfamkeit durch ihre Gewichtsmenge 
gefteigert wird, befördert fie das Verbrennen. In einer atmofphäs 
rifchen Luft, welche um das Fünffache verdichtet tourbe, brennt ein 
glühenbder Eifendraht, oder eine Stahlfeder eben fo lebhaft, als 
nach Cap. 29 in reinem Sauerftoffgas, denn ba die atmofphärifche 
Luft aus einem Gemenge von A Gewichtstheilen Stickgas und 
einem Gewichtstheil Sauerftoffgas befteht, hat der verbrennende 
Körper in einer. fünffach verdichteten Luft eben fo viel Sauerftoff- 
gasmafle um fih, ald wenn er bei gewöhnlichen Luftdeud in ein 
—— gebracht wird, welches ganz von dieſer Gasart er⸗ 
We iſt. 

Das mehr oder minder ploͤtzliche Verloͤſchen der Flamme iſt 
eine nothwendige Folge aller der aͤußeren Einfluͤſſe, durch welche 
der Zutritt des Sauerſtoffgaſes zum Brennſtoff verhindert, oder 
durch ploͤtzliche Abkuͤhlung und einen Vorgang der Verdampfung 
der Hitzgrad zu tief herabgeſetzt wird. Aber eben fo wie das auf 
gegoffene Waffer, aufgefhüttete Erde u. a. das Weiterbrennen bins 
bern, können fie auch dazu dienen, einen brennbaren Körper felbft 
bei Berührung der Flamme vor ber Entzündung zu bewahren, 
Schon das gemeine Feuerfiherungskleid aus Schafwolle, von 
Salsfoole durchdrungen, über welches no ein Panzer aus einem 
fehr Eleinmafchigen Drahtneg gezogen wird, vermag einem menſch⸗ 
lichen Körper, der fi auf Eurze Zeit in die Flammen wagt, einen 
gewiffen Schug dagegen zu gewähren. Weberhaupt zeigt ein fein- 
maſchiges Drahtneg die beachtenswerthe Eigenfchaft, daß es bie 
Mittheilung der Flamme von einem brennbaren Körper an einen 
anderen verhindert. Eine Laterne, melde mit Drahtgeflechte um: 
geben iſt, Tann man mit brennender Kerze in Heu und Stroh 
ftellen, ohne dabei Gefahr zu laufen; mit der von Davy erfun- 
denen Sicherheitslampe — einer kleinen Laterne aus bünnem 
Drahtgeflehte, in dem ſich mie in einem feinen Siebe nur ganz 
Kleine Köcher finden, kann man felbft in folche Kohlenbergmerke 
oder Keller voll gährender Fluͤſſigkeiten bineingehen, worin fid) 
Knallluft gebitdee Hat, ohne fuͤrchten zu dürfen, daß dieſes leicht 
entzünblihe Gemenge aus MWafferftoff und Sauerftoffgas ſich an 
dem Kerzenlicht im Inneren ber Laterne entflamme, 

Beim Verbrennen der aus mehreren entzündbaren Stoffen 
zufammengefesten Körper verbindet ſich zuerft jened Element 
mit dem Sauerfloffgas, welches bie flärkfte Neigung zu dieſer 
Vereinigung bat, und aus demſelben Grunde wie bei einigen 
früher (namentlich auf S. 118) erwähnten Vorgängen, kommt 
bie Reihe des Verbrennens erft bann an ben fchwerer brennbaren 
Stoff, wenn der leichter entzündliche fi mit dem Sauerſtoffgas 


18 


274 38. MWärmeentwidiung beim Verbrennen. 


gefättigt hat. Wenn deshalb Kohlenmwafierfloffgae verbrannt wird, 
reißt zuerft der Waſſerſtoff aus der Iuftartigen Umgebung fo viel 
Sauerſtoffgas an fih, als zu feiner Mitgeftaltung zu Wafler 
nöthig ift, und nur dann, wenn noch Sauerfloffgas genug übrig 
blieb, verbindet ſich auch der Kohlenftoff mit ihm zu kohlenſaurem 
Gas, ift aber jener nicht in hinlänglicher Menge vorhanden, dann 
fheidet fi die Kohle in unvermifchtem Zuftand ab. Auch ba, 
mo bei dem Verbrennen eines Körpers, welcher Kohlenfloff und 
Waſſerſtoff in feiner Mifchung enthält, der Grad ber Hige nicht 
body genug ift, wird die Kohle unverbrannt abgefchieden ; fie fleigt 
dann von. einem folchen nicht durch und duch entflammten Kör- 
per als Rauch, mit Wafferdampf verbunden, empor. 

Die fühlbare MWärmeverbreitung beim Verbrennen der Körper 
hängt nicht allein von ber Befchaffenheit ihres Brennfloffed, und 
ber größeren Menge des aufgenommenen Sauerftoffgafed, fondern 
auch von der Schnelligkeit ab, mit welcher das Brennen vor fid 
geht. Unter den unverkohlten Brennmaterialien unferer Herde 
gibt die Holzrinde, in Eleine Stüden zerbrochen, die meifte Wärme, 
naͤchſt dieſem Buchen⸗ Efchen- und Eichenholz. Im Duuhfchnitt 
erhält man beim Verbrennen von einem Pfund Holzkohlen eine 
dreimal größere Wärme, als beim Verbrennen von einem Pfund 
trodenen Brennholz, Eine noch flärkere Wärmeverbreitung ale 
mittelſt der Holzkohlen wird durch das ‚Entflammen von weißem 
Wache, fo wie von Atherifhen und fetten Delen erhalten, während 
der verbrennende Meingeift an tmärmegebender Kraft verhältnif- 
mäßig den Holzkohlen nicht ganz gleich fommt. Das Licht, wel⸗ 
ches bei einem flammenden Körper bie Wärme begleitet, tft im 
Durchſchnitt ftärker beim Verbrennen von dichten, feften und tropf- 
baren als beim Verbrennen von gasförmigen Körpern. Das ſchwache 
Licht, das eine Waflerftoffgasflamme von fic gibt, wird fogleich ver- 
mehrt, wenn man bas Gas vor feiner Entzündung durch Terpen⸗ 
tinöl leitet, und hierdurch mit den Dämpfen von diefem vermifcht; 
die Flamme unferer Weingeifllampen leuchtet ungleich flärker als 
gewöhnlih, wenn man den baummollenen Docht berfelben mit 
Tohlen= oder fchwefelfaurem Natron geträntt, oder dem Weingeiſt 
ein menig Terpentinoͤl beigefest bat. Wenn der Brennfloff eines 
durch die Gluth entzuͤndeten Körpers, fo wie dies bei gut ausge 
brannten Holzkohlen und Coaks der Fall ift, eine geringe Neigung 
zur Verflüchtigung und Dampfbildung bat, dann glüht er ohne 
Flamme; das Holz entwidelt in der Dige flüchtige Theile, darum 
flamme und glüht es zugleih. Wenn der Platinadraht durch die 
Einwirkung einer Lichtflamme weißglühend wird, dann vermehrt 
r duch fein ausftrahlendes Licht die Helligkeit aller flammenden 

rper. 

Was uns alle die hier erwaͤhnten Erſcheinungen der Waͤrme 
und des Lichtes, welche das Verbrennen der Koͤrper begleiten, uͤber 
das eigentliche Weſen dieſer beiden Mächte der Sichtbarkeit lehren 





39. Die Bereilung ber gegohrenen Getränke. 275 


Zönnen, ob fie beide Körper nur einer höheren Ordnung find, 
weiche mit den Körpern ber niederen Drbnung, bie dem Zuge der 
Schwere nah unferer Planetenmaffe unterliegen, Verbindungen 
eingehen, aus beren Feſſeln jene unter gewiſſen Umſtaͤnden frei 
werden, oder ob fie felber nur ein Bewegen der Leiblichkeit find, 
das von einem leiblich gewordenen Wefen bem anderen ſich mit- 
theilt, das wollen wir hier noch nicht zu entfcheiden ſuchen. Die 
Beantwortung ber Frage, ſcheint von tiefen Folgen über das Ver⸗ 
ſtaͤndniß ſelbſt jenes Verhältniffes zu fein, das ſich zwifhen Seele 
und Leib findet. Die Seele zwar ift Bein Körper in bem Sinne, 
in welchem bas Sleifh, das Blut und die Knochen bdiefes find, 
aber ihre Sein und Wirken geht auch nicht blos aus einem Ge⸗ 
geneinanderbewegen bes Fleifche® und Blutes, der Häute und Kno⸗ 
hen hervor, fonbern fie ift ein felbftfländiges Wefen, mie nad 
feinem Maaße der Leib diefes if, Die Betrachtung der Wärme 
und bes Lichtes gibt unferem nachſinnenden Geifte ein Raͤthſel 
auf, größer an Umfang, und tiefer an Inhalt, als jemals das 
Raͤthſel einer Sphing war, Wir müffen, ehe wie nur aus ber 
Ferne zu dem Verfuc einer Löfung deſſelben auffordern können, 
den großen Gegenfland auch von anderen Seiten her ins Auge 
faffen, vorher aber, im Voruͤbergehen noch von etwas fcheinbar 
Unbebeutendem reden, das uns hier am Wege liegt; von einer 
Form des (gleihfam) Verbrennen, welches nit in unferen Küchen 
unb Oefen, fondern in den Kellern vor fich geht. 


39, Die Bereitung ber gegohrenen Getraͤnke. 


Es ift wohl der Beachtung werth, daß der Menſch vor allen 
Lebendigen der Sichtbarkeit das Beduͤrfniß fühlt, zur Bereitung 
feiner Nahrungsmittel das Feuer zu Hülfe zu nehmen. Erſt duch 
das Kochen und Braten oder Röften werden manche Stoffe für 
uns zu einer gebeihlihen Speife, die in ihrem rohen Zuftand un- 
genießbar oder ſelbſt fchädlicd fein würde, fo namentlich die Kar: 
toffel, wie die Wurzel einiger Aronarten und des Manihot, Aber 
es find nicht allein die Speifen, melden wir durch Anwendung 
bes Feuers bie rechte Annehmlichkeit für unferen Magen und uns 
feren Gaumen geben, fondern auch die Getränke, an benen bie 
Bewohner der verfchiedenften Länder fich Iaben, befommen großens 
theil® erft mit Hülfe des Feuers ihre rechte Kraft und Wirkſamkeit. 
Das Feuer, wenn man eö Überall fo nennen will, wird aber zur 
Bereitung jener Getränke auf zweifache MWeife angewendet, einmal 
im gewöhnlichen Verbrennungsprozeß unferer Herde und Kochoͤfen, 
dann aber aud im Vorgang der Gährung, welche, wie wir vor- 
bin fahen, ja auch nichts Anderes ift, ale ein gleihfam langfames 
Verbrennen. Selbft die Speifen werben von einigen Völkern einer 
Gaͤhrung oder angehenden Verwefung unterworfen, und biefer für 
uns edelhafte Appetit findet ſich namentlich bei den Negerftäm- 


18 * 


216 39, Die Bereitung der gegohrenen Setränte. 


men fübmärtse vom Senegal, und bei den aſiatiſchen Voͤlker⸗ 
flämmen in Pegu, Arrakan, Siam, bie fi) aus faulen Fiſchen 
den ihnen fehr beliebigen Balachian- Brei bereiten, welchen fie, 
reichlicher denn wir den Senf als Zuſatz zu anderen Speifen nehmen, 

Unter den Getränken find freilich bie naturgemäßeften das 
reine Waſſer, fo wie bie Milch der reinen Thiere unferer Herden, 
und in heißen Ländern kann man öfters die Bewohner im Schat: 
ten ber Selfen an einer Quelle eben fo fröhliche Gelage halten 
fehben, als unfere Landleute bei den Krügen voll Bier ober Wein, 
Aber an jenen natürlichen Getränten läßt fi) der Menſch nid 
immer genügen: er fühle in feiner Natur das Sehnen nad) einem 
Zuftand der freudigen Erhebung und geiftigen Belräftigung (Be 
geifterung) , für welchen fein Weſen beftimmt und gefchaffen If, 
und nur in diefem Zuftand hält er fich, feinem Gefühle nadı, für 
echt wohlauf und beglüdt, denn jene Bekraͤftigung theilt ſich de 
Seele wie dem Leibe mit. Aber ber rechte, wahre Weg, der zu 
ber freudigen Stimmung und Erhebung des Gemüthes führt, und 
auf welchem diefe zu etwas Bleibendem, mitten unter allem Wed: 
fel des Außeren Lebens werden kann, nimmt im Geifte felber fir 
nen Anfang, und von biefem aus feinen Verlauf durch unfer 
teiblihe Natur. Die rechte, höchfte Freudigkeit ift doch die, melde 
aus dem Genuß eines unvergänglichen, geiftigen Gutes, nidt 
aus dem eines fchnell vergänglichen, koͤrperlichen hervorgeht, 
Bei dem innigen Zufammenhang, und dem Verhältniß bes wech⸗ 
felfeitigen Durchdrungenſeins des einen von dem anderen, in wel: 
chem Geift und Leib während bes irdifchen Lebens mit einander 
fiehen, kann jedoch auch zuerft in der leiblichen Natur eine höher 
Bekräftigung und Anregung hervorgerufen werben, an welcher der 
Seift feinerfeits Antheil zu nehmen vermag. Und fo lange tt 
diefes auf rechte Weiſe, und in rechtem Maaße thut, bringt ihm 
diefer umgekehrte Weg der inneren Selbfterhebung keinen Nachtheil 
und Schaden; bie fröhliche Stimmung des Herzens, welche de 
mäßige Genuß des Weines bewirkt, kann einem wohlgeordneten 
Gemuͤth je zumeilen feine gefunde Wirkſamkeit und den Kampf 
mit den Hemmungen und trübenden Einflüffen, die aus ber Leib⸗ 
lichkeit kommen, erleichtern. Nur muß daffelbe ſich vor dem Ir 
thum hüten, in welhen nah ©. 61 unfer Duval verfiel, ald er 
bie fehnell vorübergehende Begeifterung der leiblihen Art mit eine 
bleibenden, höheren der Seele verwechfelte. 

“ Unter den Getränken, welche der Menfch ſich erfunden hat, 
um feiner zum Auffhwung trägen, geiftigen Natur durch leibliche 
Anregung zu Hülfe zu kommen, ftehen an Wirkſamkeit die gegoh⸗ 
venen, fo wie Kaffee und Thee, oben an. Der Vorgang des Ath⸗ 
mens, durch melden (n. Cap. 29) das Feuer auf dem Hard 
des leiblichen Lebens, das Gefühl der Leichtigkeit und des körper 
lichen Wohlbefindens erhalten wird, empfängt in jenen. Getränfen 
einen Stoff, der ihm zur Eräftigen Unterfiügung und Förderung 


39. Die Bereitung ber gegohrenen Getränke. 217 


bient, indem er mit dem Sauerfloffgas, das durch's Athmen in den 
Körper kommt, leichte Verbindungen eingeht. Sener Stoff ift feis 
nem cdemifchen Befland nad ein. zufammengefester, vor Allem 
aus dem Kohlen: und Wafferfloff, welche in beftimmtem Verhaͤlt⸗ 
niß mit Sauerfloffgas, oder mit den Grundlagen beider herrfchen- 
den Luftarten der Atmofphäre verbunden find. 

Der Vorgang der Gährung fteht in fo genauem Zuſammen⸗ 
bang mit dem Einfluß der Wärme, daß wir denfelben in dieſer 
Beziehung hier noͤch etwas näher, als im vorftehenden Gapitel ge: 
fhah, ind Auge faffen müffen. 

Die einer Gaͤhrung fähigen Elemente der orgunifchen Koͤr⸗ 
per können nur dann in biefen Zuftand gelangen, wenn fie mit 
Sauerfloff: und Waſſerſtoffgas unter Einwirkung eines gewiſſen 
Grades ber Wärme in Berührung kommen. Der Moft kann fidh, 
wenn man ihn vollfommen vor dem Zutritt ber Luft fchüst, Fahre 
lang unverändert erhalten, und fo kann man aud Milch, Fleiſch⸗ 
fuppen, gekochte Gemüfe, wie Fleiſchſpeiſen, in vorher möglichft 
luftleer gemachten, und vollkommen luftdicht verfchloffenen blecher- 
nen Büchfen weit über Land und Meer fenden, und Sahre lang 
friſch und unverdorben erhalten. In England kocht man für Tau— 
fende von Reifenden und fernmwohnenden Europäern die Mahlzeit, 
welche bdiefe auf dem Meere oder in der heißen Wüfte genießen, 
wo keine frifchen Lebensmittel zu haben find; die Wärme, felbft 
die des afrikanifchen und oftindifchen Klimas für ſich allein, kann 
feine Gährung und Zerfegung bewirken, e8 muß hierzu nothmendig 
die Luft mitwirken. 

Sobald aber biefe den Zutritt, etwa zum Moſte, gewinnt, 
dann tritt alsbald eine Bewegung in den flüfligen Theilen, und 
eine lebhafte Gasentwicklung ein, der Zucker verfchmwindet, denn 
diefer ift in Weingeiſt und in Kohlenfäure verwandelt worden, 
welche legtere in Luftform entwichen ift; der Saft wird allmählig 
ar und heil, indem babei die gelblihe Hefe zu Boden fällt. 
Menn man hierauf die Elare Flüffigkeit abfließen läßt, fo daß die 
Hefe abgefondert zuruͤckbleibe, dann zeigt fich diefe fühig, in friſchem 
Zuckerwaſſer, unter das man fie mifht, eine ähnliche Gährung, 
wie die im Mofte war, zu begründen; der Zuder wird dabei in 
Alkohol (Weingeift) und Kohlenfäure zerfegt, und auch die Hefe 
nimmt zulegt, wiewohl langfamer, an dieſer Zerfegung Theil: fie 
verfchmwindet ganz. Wenn ber Moft, wie dies in den füdlichen 
Meinen der Fall ift, den Zuder in fehr reicher Menge in ſich ent- 
halt, dann wird die Hefe bei der Gaͤhrung theils zerfegt, theils 
als unauflöslich ausgefchieden, und es bleibt noch ein großer Ueber: 
(huß an Zuder zurüd, während dagegen ber zuderarme Zrauben- 
faft der nördlicheren, für den Weinbau benusten Länder nad) der 
Gährung noch immer jenes hefenartige Element in fich enthält, wel: 
ches die MWeingährung unter Zutritt der Luft zur Effiggährung 
überführt, 


278 39. Die Bereitung ber gegohrenen Getränke, 


Die Hefe wird dadurch zur Anregung jener Bewegung fähig, 
in welcher das Wefen ber gährenden Zerfegung befteht, daß fie 
felber, vermöge ihrer Iufammenfegung, leichter als andere Stoffe 
einer Zerfegung unterliegt, indem fie außer den brei Beftandtheilen 
des Zuckers: dem Kohlen⸗, Waffer- und Sauerfloff, aud noch 
Stickſtoff, und nicht felten etwas Schwefel enthält. Die Be 
wegung des Gaͤhrens pflanzt fih unter den Theilen des gähren- 
den oder faulenden Körpers, wie dur eine Art von Anfledung 
fort, fo daß dieſelbe, wenn fie einmal begonnen hat, auch nad 
Entfernung des Luftzutrittes, der zu ihrem Beginnen nothwen- 
dig war, noch fortdauert. Eben in dieſer Weife der Mlitthei- 
fung ded Bewegens von einem Theile der Fluͤſſigkeit an den an- 
deren legt auch der Grund, daß die Gährung nicht plöglich und 
auf einmal vor ſich gehen kann, fondern daß fte einem allmaͤh⸗ 
ligen Verlauf unterworfen if. Und biefer allmählige Verlauf ber 
Gaͤhrung ift zur befferen Erreihung des Zweckes, den wir durch 
ihre Anregung gewinnen wollen, ein durchaus weſentliches Erfor- 
derniß; die Temperatur bes Raumes, mworinnen bie Flüffigkeit gährt, 
muß fo fehr als möglich ſich gleich bleiben, fie darf durch ihren 
höheren Wärmegrad ben Vorgang der Umbildung und Zerfegung 
nicht allzufehr befchleunigen. 

Denn welchen verändernden Einfluß ein höherer Grab ber 
Wärme auf die Erzeugniffe der Gaͤhrung ausübe, das wird in 
fehr vielen Fällen erkannt, So erhält man aus dem zuderreichen 
Safte mander Wurzeln, wie ber Runkelrüben und Mohrrüben, 
wenn man ihn in gewöhnlicher Temperatur eines Kellers gähren 
läßt, auf ähnliche Weife ald aus dem Saft der Birnen ober ber 
Trauben eine mweingeiftige Slüffigkeit, bei deren Bildung gleichzeitig 
Kohlenfäure entwicdelt wird, und eine ſtickſtoffreiche Hefe ſich 
abfest. Wenn aber die Gährung jenes Saftes in einer Wärme 
von 32 bis 36 Gr, Reaumur vor fi geht, dann entfleht Fein 
Meingeift, es wird nur wenig Koblenfäure entwidelt, der Zucker 
bat fich in Effigfäure und. in Gummi zerlegt, dabei ift eine try: 
ſtalliniſche Maffe entfianden, welche mit dem füßen Beſtandtheil 
der Manna die größefte Achnlichkeit hat. Dagegen entſteht bei 
der Gährung der Mitch in gewöhnlicher Temperatur aus bem 
Zuder derſelben die Mitchfäure, in höherer Temperatur eine mein 
geiftige Fluͤſſigket, aus welcher duch Deftilation ein flarker 
Branntmwein gemonnen werden kann. 

Diefe leicht anmendbare Behandlung der Milch blos durch 
den Einfluß eines noch nicht fehr großen Higegrabes hat den Be 
wohnern einiger mittelafiatifhen Steppenländer ein Mittel an die 
Hand gegeben, ſich ein beraufchendes geifliges Getränke, flatt aus 
dem Saft der Rebe, aus Pferbemilch zu bereiten. 

Die am häufigften bei den verfchiedenften Völkern und feit 
ben älteften Zeiten der hiftorifchen Kunde in Gebrauch gewefenen 
gegohrenen Getränke find der Wein, aus dem Safte der Trauben 








39. Die Bereitung der gegohrenen Getränke. 219 


oder einiger anderen, biefem verwandten zuderreichen Pflanzenfäften, 
und das Bier, zufammengefegt aus einer zuderhaftigen Fluͤſſigkeit 
von vegetabilifher Natur und einem bitteren Stoffe. Jenes meins 
artige Getränke, da8 aus dem Safte verfchiedener Palmenarten ge 
toonnen wird, bedarf der kürzeften Zeit zur Meife feiner Gaͤhrung, 
es wird zum Theil fihon nach wenig Stunden genießbar und em⸗ 
pfängt hierbei mit den anregenden, zugleich auch lieblich Fühlende 
Kräfte. Mehrere beerenartige Früchte (mie. Johannis⸗ und Stachel: 
beeren) fo wie ber füße Saft unfres Kernobftes, wenn biefes bei 
feiner UWeberreife fchon in feiner eignen Subſtanz ben erften Grab 
der Gaͤhrung (durch das Taigwerden) erlitten hat, find zur Bes 
reitung von mweinartigen Getränken brauchbar, doch erfcheinen dieſe 
alle in ihrem Geſchmack wie anderen Eigenfchaften nur als mehr 
oder minder unvolllommene Nachgebilde ihres Urbildes, das aus 
ber Zraube kommt. Jene Nachgebilde enthalten in ungleich größe: 
rer Menge als bie volllommen gereifte Traube folche fremdactige 
Stoffe, welche bei dem Zutritte der Luft die Effigfäurung herbei⸗ 
führen und durch ihren Gefhmad der Zunge, durch ihre in ber 
Wärme des Magens noch meiter gehende Zerfegung dem Gefühle 
der Eingeweidbehöhle ihre uneblere Abkunft verrathen. In dem 
Säfte der volllommen gereiften, zuderreihen Traube ber waͤrmeren 
Zonen ift es großentheils nur der Karbeftoff der rothen Weine, 
welcher bei dem Zutritt der Luft Veränderungen erleidet, deren 
Einfluß, glei jenem der Hefe, eine Säuerung bewirken Tann, 
während die weißen füdlichen Weine einer ſolchen Veränderung den 
Eräftigften Widerſtand leiften. 

In unferen vaterländifhen Weinen, welche bemungeadhtet feit 
länger als 16 Sahrhunderten (denn fhon im 9. 231 n. Chr. 
gab es dieſſeits des Rheines in Deutfchland einen Weinbau) auf 
mehrfache Weife das Herz der Menfhen erfreut und geflärkt ha⸗ 
ben, bleibt nad der Gährung noch ein Zheil jener fliciloffhaltigen 
Elemente zuräd, welche, als Hefe, den Vorgang der Gährung an: 
regten. Wenn jest der ganze Vorrath des Zuckers zerfest ift, 
dann wendet fi die Wirkſamkeit jener Elemente auf den Alkohol 
ober Weingeift, deffen fortgehende Säuerung fie begünftigt. Könnte 
man bdiefe zur fauren Gährung anregenden Stoffe ganz entfernen, 
dann würde niemals ein Wein zum Effig werben; ihre Vermandt- 
fhaft aber zum Sauerſtoffgas der Atmofphäre ift fo groß, daß 
fhon bei dem Hinüberfüllen des Meines aus einem Faß in das 
andere eine Säuerung beffelben eintritt, welche nun auch in ber 
Abgefchloffenheit duch die Wände des hölzernen Gefäßes feinen 
weiteren Fortgang nehmen würde, wenn man nicht auf Fünftliche 
Weife ihm Einhalt zu thun vermödte. Diefes iſt durch das 
Ausfhwefeln der Faͤſſer möglid geworden, denn bie ſchwefſige 
Säure, bie fih beim Verbrennen des Schwefelfpans erzeugt, wird 
von den feuchten Wänden bes Fafles, in welchem das Verbrennen 
geſchah, eingefogen, und da biefelbe eine größere Verwandtſchaft 


230 3. Die Bereitung ber gegohrenen Getränke. 


zum Sauerſtoffgas hat als die. noch im Wein enthaltenen, bie 
Gaͤhrung fördernden Beftandtheile, fo entzieht fie, indem fie al 
mählig in’ der Maſſe der Flüffigkeit ſich vertheilt, diefer das 
Sauerftoffgas, das fie bei dem Abfüllen von einem Faß in's andere 
aus der Luft aufgenommen hatte. Die fehweflige Säure fleigert 
fi) hierbei zur Schwefelfäure, deren geringer Antheil mit dem 
Meine gemifcht bleibt. Uebrigens findet durch die Holzwaͤnde 
der Fäfler fortwährend der Zutritt einer Eleinen Quantität von 
Luft ſtatt, der in biefer enthaltene Sauerftoff verbindet fich aber 
zunaͤchſt nur mit den gährungfördernden Beftandtheilen, zu benen 
er einen flärkeren Zug der Verwandtihaft hat als zu dem Al 
tobol; jene fegen fi nad und nad als Unterhefe zu Boden, 
der Meingeiftgehalt hat von dem Einfluß einer in fo geringer 
Menge zutretenden Luft bei einem gehaltreihen Weine nicht zu 
leiden, diefer wird, bis zu einer gewiflen Gränze, durch das lange 
Lagern, bei zweckmaͤßiger Behandlung, nur befler. 

Auch hierauf hat übrigens die Temperatur, in ber fich das gegoh⸗ 
rene, noch mehr aber das in der Gährung begriffene Getränke befin: 
det, einen fehr bedeutenden, veredlenden oder verfchlechternden Einfluß. 
Die Säuerung des Alkohols (ber Uebergang des Weingeiftes in Effig- 
fäure) wenn derfelbe in Berührung mit einem hefenartigen Stoffe ifl, 
geht am rafcheften in einer Wärme vor fi, welche von 28 bis 
20 Grad Reaumur beträgt, minder rafch, in immer abriehmendem 
PVerhältniß, ‚bei einer Wärme von 20 bis 10 Grad, und wenn die 
Abkühlung noch weiter, bis zu 8 und 7 Grad heruntergeht, dann 
findet ferner _gar keine Verbindung des Altohols mit dem Sauer: 
ftoffgas flatt, während bie Verbindung der fticftoffhaltigen Be 
ftandtheile mit demfelben und die Bildung der Defe dabei unge 
fört ihren Gang fortſetzt. Mit Recht hat deshalb einer ber ein 
fihtsvolften Chemiker unferer Zeit: 3. Liebig, auf die Vor 
theile aufmerkffam gemacht, welche zur Veredlung des Weines ein 
Verfahren haben müßte, bei welhem man den Traubenmoſt (aud 
Obſtmoſt) nicht wie bisher in faft freien, über der Erde gelegenen, 
dem MWärmemwechfel ausgefegten Räumen, fondern in einem Kellr, 
bei einer gleihmäßigen Zemperatur von wo möglich nur 8 Grad 
oder nicht viel darüber, in offenen meiten Gefäßen der Gährung 
uͤberlleße. Der die Gährung erregende und bei großer Wärme 
die Eſſigſaͤurung herbeiführende fticftoffhaltige Beſtandtheil verbin- 
det fi) dabei mit dem Sauerftoffgas und ſcheidet fi) als Hefen⸗ 
ſchaum ab, der Wein wird Elar und bat bei diefer Behandlung in 
der kuͤrzeſten Zeit die nämlihe Vervollkommnung und Güte er 
langt, die man ihm fonft nur durd) jahrelanges Lagern geben kann. 

Ganz nah) benfelben Grundfägen als bei der Bereitung des 
Weines aus zuderhaltigen Pflanzenfäften wird bei der des Bieres 
verfahren, diefes in feiner befleren Form gefunden, Eräftigen Ge 
traͤnkes, welches fchon feit alter Zeit bei den verfchiedenften Völkern 
der Erde in Gebrauch war und noch fortwährend es iſt. Die 





39. Die Bereitung ber gegohrenen Getränte 281 


Bewohner des alten Pelufiums in Aegypten fehrieben feine Erfin⸗ 
dung dem Oſiris felber zu, und auch bei den Griechen knuͤpfte 
fid) eine bochehrende Sage an die ältefte Geſchichte dieſes auch 
unter ihnen beliebten Getraͤnkes. In Stalien wie in Frankreich 
und in den Urmäldern des deutfchen Waterlandes fo wie in dem 
ffandinavifhen Norden trant man fchon in ber älteften gefchicht- 
lich befannten Zeit ein bierartiged Getränk zu deſſen Bereitung 
(mie noch jest bei den aͤgyptiſchen Fellahs) der Hafer das Haupt: 
material gewährte. Einem ähnlichen Bier wußten die alten Gallier 
eine folhe Vollkommenheit zu geben, daß ſich bafjelbe mehrere 
Jahre lang aufbewahren ließ. Bei den Bewohnern von Peru wie 
ber nörbliheren Landftriche von Amerika, in Kamtfchatla wie in 
Arabien, in Japan, China, Nubien und Abyſſinien fand und fin: 
det ſich derfelbe Gebrauch, und feldft die Bewohner des von ber 
Natur fo reich begabten Kaplandes, denen ber befte auf Erden be: 
kannte Wein gedeiht, erquiden fih an einem fehnellbereiteten, dem 
Biere ähnlihen Getränke. 

In all' unferen Getreidearten finden ſich die Elemente bes 
Zuders, zum Theil ſchon zu mwirklihem Zuder gebildet, in bebeu: 
tender Menge. Durch das Keimen und Dörren (Malzen), zum Bei: 
fpiel der Gerfte, wird einestheils ein Hauptbeftandtheil derfelben, das 
Staͤrkmehl in Zuder umgewandelt, anderntheil® werben die zuderarti- 
gen, mit Stickſtoff verbundenen Beftandtheile im Waſſer auflöstich, 
was fie vor dem Keimen nicht waren, fie find hierdurch in jenen der 
Gaͤhrung bdienlihen Zuftand verfegt worden, in welchem ſich die ftid- 
ftoffhaltigen Beftandtheile des Traubenfaftes von Anfang her befinden. 
In dem Eonzentrirten Aufguß des Malzes oder in der Bierwürze find 
bereit alle jene Elemente enthalten, welche dem Entftehen des 
Alkohols bei gleichzeitiger Entwicklung der Kohlenfäure und Aus: 
fcheidung der Hefe dienen und hierdurch die Gährung fördern koͤn⸗ 
nen, deren Beginnen duch einen Zufag von fehon gebildeter Hefe 
befchleunigt wird. Vor Allem fol diefer Vorgang in Form einer 
Art des Berbrennens nah den ftidfloffhaltigen Beſtandtheilen 
feine vorherrfchende Richtung nehmen, dieſe, nicht der Alkohol, fol- 
len mit dem Sauerftoffgas ſich verbinden und zur ausfcheidenden 
Hefe werden. Hierbei kommt nun die vorhin erwähnte Erfahrung 
über die am beften geeignete, niedere Temperatur der Bierberei⸗ 
tung zu Hülfe. Sie ift jener verwandt, die man (nad ©. 271) 
bei dem eigentlichen Verbrennen der entzindbaren Körper gemacht 
bat. Der Phosphor verbrennt fehon bei einer Wärme, weldhe nur 
48 Gr. R. beträgt; damit der Schwefel ohne unmittelbare Be⸗ 
rührung einer Lichtflamme ſich entzunden koͤnne, muß die Hitze 
zu einem 5 mal höheren Grade verftärkt werden. in ähnliches 
Verhältniß findet auch zwiſchen dem Gährungsfloffe und dem Al⸗ 
£ohol der gährenden Bierwuͤrze flat. Der erftere verbindet ſich 
mit dem Sauerftoffgas ſchon bei einer Wärme, welche nur wenig 
Stade über dem Gefrierpuntt ſteht; die Säuerung des Mein: 


282 39. Die Bereitung der gegohrenen Getränke, 


geiftee (zu Effig) fordert zu ihrem Fortgang eine verhältnißmäfis 
viel höhere Wärme Das Sauerſtoffgas, welches zur Bildung 
ber fauerftoffreichen Hefe, die zugleich wegen ihrer ſchwereren 8% 
lichkeit im Waſſer aus der Flüffigkeit ausfcheider, nöthig ift, kommt 
theil6 duch Zerfegung bes Waſſers oder einer Meinen Menge 
Zuder aus ber gährenden Fluͤſſigkeit felber, theils aus der atmofphi: 
rifhen Luft, deren freiem Zutritt ihre Oberfläche bis zur vollende: 
ten Abklaͤrung ausgefegt wird. Der Zufag einer Abkochung des 
Hopfens oder eines Ahnlichen bitteren Stoffes dient außer feiner 
wohlthätigen Wirkung auf den Magen auch noch dazu, daß dem 
Alkohol die Neigung benommen werde zu jener nachtheiligen Form: 
wandlung, die namentlich auch bem fogenannten Fufelöl der Brannt 
weine zu Grunde liegt, Denn auch beim Branntweinbereiten 
wird das Entftehen diefes fhädlichen und mwiderwärtigen Produktes 
durch Zufag eines bitteren Stoffes zur Maifche vermieden. 

Man hat nicht felten aus Gegenden, in benen ein megen 
feiner Güte befonders berühmtes Bier bereitet wird, Brauer nad 
anderen Gegenden berufen, in benen die Bierbereitung nicht fo 
wohl gelingen wollte. Man gab ihnen biefelbe Menge der beften 
Gerſte, des beften Hopfens, welche im Vaterlande des guten Bieres 
zur Fertigung diefes Geträntes genommen werben, und doc blieb 
ihr Machwerk unvergleichbar meit hinter dem Muſter zuruͤck, das 
man zu erreichen ſtrebte. Nicht die WVerfchiedenheit des Maffere, 
jondern zundädft nur der Mangel an einem Raum, in melden 
bei einer gleichmäßigen, niedrigen Temperatur die Gährung ihren 
allmähligen Verlauf nehmen Eonnte, war der Grund bes Miß—⸗ 
lingens folder Verſuche. Tiefe Felfenkeller, deren mittlere Jahre® 
temperatur nicht über 8 Grad ift, oder denen man durdy daß in 
einem Theile ihrer Räume angebrachte Eis biefe Temperatur auch 
bei frifhem Luftzutritt zu erhalten weiß, fo wie anderwaͤrts, mo bie 
Selfen fammt ihren Kellern mangeln, ein mitten in der Ebene bil 
aufgemauerter, mit Schutt Üüberdedter, bald mit Rafen und Bi 
men fich tiberfleidender, Tünftlicher Berg, find bei der Bereitung 
eines guten Bieres eben fo wefentlich nothmwendig, als bie gehörige 
Menge und Güte des Materials, aus dem man die VBierwärt, 
die in jenem fühlen Raume gähren foll, bereitet. Ein Meiſterwerk 
diefer Art ift der riefenhafte, Lünftlihe Berg mit feinen weiten, 
zweckmaͤßig abgefühlten inneren Räumen, welchen der zu feine 
Zeit weitberühmte, ehrenhafte Buͤrger und Bierbrauer Sofep) 
Pſchorr der Aeltere zu München aufgeführt hat. - 

Ale Arten des Getreides, doch vor Allem Gerſte, find zur 
Biergewinnung guͤnſtig. In Südafrika nehmen die holländifhen 
Koloniften Honig in Waffer gelöft, ſtatt der gewöhnlichen Bier 
würze, und bereiten baraus mit Zufegung bes Saftes einer bitteren 
Wurzel eine gefunde Art bed Bieres. 

Mir find fcheinbar auf einen weiten Um: und Abweg gerathen, 
ber uns aus dem weiteren, bedeutungsvolleren Kreife bes Ale 


40, Die Eigenwärme ber lebenden Weſen. 283 


meinen, von einem Standpunkt, ber uns eine vielumfaffende Aus⸗ 
fiht über die Gefchichte unferer irdifchen Sichtbarkeit darbot, auf 
den engen Raum eines Gewerbes für unferen Haushalt geführt 
hat. Und dennoch ift der Gegenftand nit nur für Einzelne, er 
ift für Jeden von und, auch für den MWaffertrinker, von Bedeu⸗ 
tung und Wichtigkeit, denn er geht zum Theil das Wohl ganzer 
Völker und Länder an. Wie beklagenswuͤrdig anders wirkt ber 
Genuß des Branntweins auf die leibliche wie geiflige Gefundheit 
des Menſchen ein, als ber Genuß eines gut und gebeihlich berei- 
teten Bieres ober Meines. Und wenn aud nicht der Wein, fo 
würde dennoch für jedes Land der gemäßigten wie Falten Zone das 
Getränk, deſſen Stoff auf ſchlanken Halmen wählt: das Bier zu 
haben fein. 


40. Die eigenthbämlihe Wärme ber lebenden orga= ' 
nifhen Körper. 


Bon der Wärme bes lebenden, menfchlichen Leibes fprachen 
wir fchon oben im 35. Cap. Nicht aber nur durch die Vorgänge 
der Seftaltung und Bewegungen in unferem eigenen Körper wird 
fortwährend Erwärmung und Wärmeverbreitung an bie umgebende 
Körpermwelt hervorgerufen, fondern überall wo eine Seele ben leib- 
fihen Stoff zu bem Imed ihres Wirkens bildet und belebt, regt 
fi), mit der Bewegung zugleich, in einem gewiſſen Maaße auch 
die Wärme. 

Manche Pflanzen, wie die Brunnenkreffe, erhalten fich nicht 
nur unter dem Schnee ungefroren, ſondern fie bilden rings um 
fih her in diefem ein Gewölbe; fie erhalten jenen Xheil das 
Waſſers, welches durch den Froft erſtarrt, der fie zundchft umgiebt, 
flüffig.. Gerade dann, wenn die Temperatur der duferen Luft den 
niedrigften Grab erreicht hat, am Morgen, gegen Sonnenaufgang 
herrfcht im Inneren der Bäume, wie dies die hineingebradhten 
Thermometer erkennen laffen, eine höhere Wärme, als felbft die 
mittlere der Frühlingsmonate ift, während fi in den Mittags: 
ſtunden, wo die Verdünftung flärker wird, die Wärme bis unter 
den mittleren Stand des Monates vermindert. Während der Vor: 
gänge des Bluͤhens und der erften Entwidlung ber Fruchtkeime 
hat man in mehreren Gemwächfen eine Erwärmung beobachtet. 

Der Quell der Lebenswärme bei den Thieren ift in nody un- 
verfennbar beutlicherer Weiſe als bei den Pflanzen ein ähnlicher, 
als der, welcher beim Verbrennen, in dem Vorgang einer mehr ober 
minder fchnellen und lebhaften Verbindung ber brennbaren Eles 
mente mit dem Sauerftoffgas liegt. Das Thier bedarf zur Erhal⸗ 
tung feines Lebens nicht nur des Juganges der Nahrungsmittel, 
fondern vor Allem (nah C. 29) des Einathmens der Luft, und 
zwar, je vollfommmer es ift, deſto mehr der Aufnahme des Sauer: 
foffgafes oder der Lebensiuft ber Atmofphäre, 


234 40. Die Eigenwärme ber lebenden Weſen. 


Wie warm es, felbft im Winter oder an Lalten Herbft- und 
Frühlingstagen in einem gut bevölterten Bienentorbe fei, dies weiß 
jeder Pfleger und Befiger von Bienen. Wenn außen in ber freien 
Luft das Thermometer nur einen Grad Über dem Gefrierpunft hat, 
dann herrfcht darinnen eine Wärme von 18 Grad Réͤaumur; im 
Frühling, wenn ber Thermometerftand an freier Luft noch nicht 
10 Grad erreicht, überfteigt die Wärme im Inneren des Bienen: 
ftodes 22 Stab. 

Allerdings bat auf die Steigerung dieſer Wärme, wie überall 
im XThierreih, auch die Bewegung Einfluß. Wenn im Mat ober 
uni zur Zeit des Schwärmens eine faft allgemeine Aufregung die 
Bevölkerung des Stodes ergieift, fo dab ganze Schaaren der Un: 
terthbanen einer zum Auszug bereiten Königin in unruhiger Haft 
fidy) neben und unter einander bewegen, dann erreicht zumeilen bie 
Wärme in einem Bienenkorb einen fo hohen Grad, daß die Zellen 
des Wachſes anfangen zu fchmelzen. Unmittelbarer jedoch als der 
Einfluß der Bewegung, fällt jener Einfluß in die Augen, ben bie 
Nahrung auf die Wärmeentwidlung des lebenden Inſectenleibes 
bat, Die Zemperatur eines Bienenkorbes ſinkt alsbald herab, es 
tritt eine merkliche Abkühlung ein, wenn die darin wohnenden 
Thiere an Zutter Mangel leiden, dagegen fleigt die Wärme von 
Neuem, wenn man den hungernden Bienen, bie im Freien für fid 
und ihre Brut noch nicht die hinlänglihe Speife finden, eine kraͤf⸗ 
tige Nahrung reiht. Die gleiche Bemerkung, welche man an allen 
in freier Luft lebenden Inſecten gemacht hat, daß ihr Körper eine 
eigenthümliche Wärme habe, und daß diefe Wärme zu: oder ab- 
nehme mit ber Zu= oder Abnahme der Nahrung, führt uns zu 
einem weiteren Schluß auf bie Urfache des Entſtehens diefer Wärme, 
Das Futter, das die Inſecten zu ſich nehmen, befteht, wie alle 
organifche Körper überhaupt, zunaͤchſt aus brennbaren Grundftoffen, 
vor Allem aus Kohlenftoff und Waſſerſtoffgas, welche nebft dem 
mit ihnen verbundenen Stidfloff und Sauerftoff in die Säfte und 
fefteren Gebilde des Lebenden Körpers eingehen. Der Verbrauch 
an atmofphärifhem Sauerftoffgas durch das Einathmen der Sn: 
fecten ift ein fehr bedeutender, und das Beduͤrfniß darnach ein fo 
dDringendes, daß eine Biene, wenn man alle an der Seite ihres 
Körpers liegenden Deffnungen der Luftkanaͤle durch Firniß oder eine 
ähnliche Subſtanz verfchließt, eben fo wie ein warmblütiges Thier, 
dem man das Athmen gemwaltfam verwehrt, erftiden muß. Das 
Product, das aus der Verbindung des eingeathmeten Sauerftoff- 
gafes mit dem Kohlenftoff und Wafferfloffgas der leiblichen Be: 
ſtandtheile des Thieres entfteht, ift, wie die Unterfuchung der que 
geathmeten Luft dies lehrt, eben fo wie beim Verbrennen, Eohlen- 
faures Gas und Waffe. Der Vorgang des Athmens läßt ſich 
demnach ungleich mehr denn jener der Gährung, als ein Verbren- 
nen von eigenthümlicher Art betrachten, deſſen unfichtbare Flamme 
stwar zunaͤchſt zur Lebensbewegung wird, dennoch aber bei Thieren, 











„tt Gi ii 


40. Die Eigenwaͤrme ber lebenden Weſen. 285 


deren Luftathmen ein fehr vollkommenes ift, auch eine Quelle der 
aͤußerlich fühlbaren Wärme wird. 

Wenn nad unferer alltäglichen Erfahrung ein nafles Holz 
ungleich fchlechter brennt, und zugleich bei gleicher Maſſe viel we⸗ 
niger Wärme ausgiebt als ein trodenes, dann läßt fich ber Grund 
davon leicht darin erkennen, daß bei der Verwandlung bes Waſſers 
in Dampf (nad) Cap. 33) viel Wärme verbraudt und hierdurch) 
eine große- Herabfiimmung des Hitzgrades herbeigeführt wird. 
Denn ein frifch gefälltes Holz enthält 42, das an ber Xuft ges 
teodinete nur 25 Prozent Waffer in feinem Faſergewebe. Ein großer 
Theil der im Wafler lebenden und nicht durch Lungen, fondern 
durch Kiemen athmenden Thiere zeigt aus einem ähnlichen Grunde 
auch dann, wenn e8 ihnen weder an Nahrung noch an der vom 
Waſſer eingefogenen Luft fehle, nur eine ſehr geringe, eigenthüm- 
liche Wärme des Leibes. Die Luft, welche die außer dem Waſſer 
lebenden Thiere unmittelbar aus der Atmofphäre einathmen, ift 
zwar niemals von Wafferbämpfen frei, fie verhält ſich aber zu je⸗ 
ner, die der Zifh mit dem umgebenden Waffer in feine Kiemen 


zieht, und hier in das Gewebe der blutführenden Gefäße aufnimmt, 


wie beim Verbrennen ein gut getrodinetes Holz zu einem naſſen. 
Und nicht’allein diefe Beigefellung des Waflers zur eingeathmeten 
Luft, fondern fhon der langfamere, unvollftommnere Verlauf, den 
das Athmen bei den Fiſchen und Amphibien nimmt, macht uns 
die geringere Leibesmärme derfelben begreiflih., Junge Kaimans 
(ameritanifche Krokodile) Eönnen, ohne Nachtheil für ihr Wohlbes 
finden, ziemlich lange in Stidftoff ausdauern, und aud von ans 
deren Amphibien weiß man, daß fie in einer Luft leben können, 
welche, fehr arm an Sauerftoffgas, zur Erhaltung eines vollkom⸗ 
menen Thierlebens nicht ausreichend fein würde. In demfelben 
Maaße ift denn auch bei ſolchen Thieren die Bildung der Kohlen: 
fäure, im Vergleih mit Säugethieren, Vögeln und felbft Infeeten 
fehr viel geringer. Dennod hat man auch an Fifchen ein gewiſſes, 
wenn auch nur ſchwaches Maaß von Eigenwärme bemerkt, welches 
im Bauch einer Korelle, die man aus dem minterlich Falten Waf: 
fer des Sklavenſees gezogen hatte, zwei, bei einem Weißfiſch 4 Grad 
höher war als die Wärme der dußeren Umgebung, ja bei Thun⸗ 
fifhen bis auf 8 Grad über die aͤußere Temperatur fich fleigern 
fol. Auch im Körper mancher dickſchuppigen Schlangen bemerkte 
man. eine Wärme, melde die Außere Luftwärme um einen oder 
etliche Grade übertraf, während dagegen bei den nadthäutigen Am- 
phibten, wie bei Sröfchen durch die ſtarke Verdunſtung der Feuch⸗ 
tigkeit, die ohne Aufhören an ihrer Haut flatt findet, eine merk⸗ 
liche Abkühlung bewirkt; und hierdurch die Eigenwärme ihres Lei⸗ 
bes öfters unter den Betrag der Außenwärme herabgefegt wird; 
Etwas Aehnliches findet auch an Schneden fkatt. 

Ber den Thieren, welche durch Lungen athmen, ift ed unver: 
Bennbar, daß die Wärme bes Leibes mit der Menge, fo wie mit 


236 49. Die Eigenwärme der Iebenden Wefen, 


jener Schnelligkeit in Beziehung ſtehe, in welcher fi bei ihnen, 
während des Athmens der Kohlen= und Wafferftoff ihrer Säfte: 
maffe mit dem Sauerſtoffgas zur Kohlenfäuse und zu Waſſer 
verbindet. Je mehr von diefen beiden beim Athmen erzeugt wird, 
defto höher fteigert fi) auch der Grab der Eigenwärme, melde 
deshalb bei Vögeln ein ober etlihe Grade mehr beträgt als bei 
Säugethieren. Diefe legteren, deren innerer Bau jenem des Men: 
(hen am nädften ſteht, zeigen auch eine Blutwärme, die der 
menfchlichen fehr nahe kommt, indem fie im Durchſchnitt gegen 
29 bis faft 32 Grade beträgt. Denn bei jenem Schuppenthiere, 
in beffen Leibe man eine Wärme von nur 24 Grad R. beobad;: 
tete, batte wohl der kranke Zuftand, in welchem es fich befand, 
einen bedeutenden Einfluß auf die Abweichung von der Megel ge 
habt. Daß die Temperatur des Menfchenleibes, im Vergleich mit 
der der Säugethiere, eher etwas niedriger ald höher. erfcheint, mag 
wohl auch in der Beichaffenheit feiner Haut, und in der Dunf: 
bildung durch diefelbe feinen Grund haben. Daß aber auch noch 
an dem hoͤchſten Gipfelpunft der irdiſch leiblihen Geftaltung — 
am Menfchenleibe — die eigenthümliche, innere Wärme ihren Ur⸗ 
fprung aus dem Vorgang des Athmend nehme, dies zeigen une 
fhon einzelne Beobachtungen am Krankenbette. Wenn mährend 
lang anhaltender Ohnmachten, und im Zuftand der Starrfudt 
das Athmen gehemmt, und kaum noch nachweisbar ift, dann 
bemächtigt fich der Glieder eine Todtenkaͤlte. Es gefchieht dabei 
faft Aehnliches, als bei manchen mwarmblütigen Thieren ſich zuträgt, 
wenn fie in den Zuſtand des Winterfchlafes verfallen, in welchem 
das Athmen nur fehr langfam vor ſich geht, ober für einige Zeit 
ganz aufgehört hat, Die Wärme eines folhen Xhierleibes ſinkt 
dann faft ganz bis auf die winterliche Temperatur ber nächften 
Umgebung herab, und wenn in feinem Inneren vielleicht ein oder 
anderthalb Grad Wärme mehr beobachtet werden, dann bleibt es 
ungewiß, ob diefe Wärme aus dem mit der Lebenskraft zugleid 
noch fortdauernden Vorgang ber Bildung und Zerfegung hergelei- 
tet, oder ob fein Grund in ber Zufammenhaltung der inneren 
rg durch die Maſſe des Thierförpers felber gefucht werden 
muͤſſe. 

Jener eben erwaͤhnte Vorgang einer fortwaͤhrenden Bildung 
und Zerſetzung, welcher, fo lange das Leben dauert, in allen Thei⸗ 
len des Leibes ſtatt findet, ift im Grunde genommen auch nidts 
Anderes als ein Athmen, denn er beruht durchaus nur auf einem 
beftändigen Austaufh und Verbinden zunaͤchſt des Kohlenftoffes 
oder MWaflerftoffes gegen und mit dem Sauerſtoffgas. Der zuletzt 
genannte Grundfloff und nächft ihm die beiden anderen find zwar 
für diefen inneren Verkehr ber Lebensträfte die wichtigften Elemente, 
aber fo wie draußen in der Sefammtheit der irdiſchen Natur ver: 
tritt auch zumeilen das Chlor (nad) Cap. 23) die Stelle des 
Sauerfloffgafes ober dieſes Iegtere geht mit dem Phosphor eine 





— ra 


40. Die Eigenwaͤrme ber lebenden Wefen. 287 


Berbindung zur Phosphorfäure ein, um die alkaliniſche Natur der 
Kalterde zum Bau des Knochens zu gewinnen. 

Die genauere Erwägung der thierifhen Wärme, das Beachten 
ihrer Entflehung fo wie ihrer Vermehrung und Verminderung, hat 
die frühere Vermuthung zu einer Gewißheit erhoben, daß aud das 
Teuer, welches nicht als fichtbare Flamme, fondern ald bewegende 
Kraft auf dem Herd des Lebens waltet, nach demfelben Gefeg er- 
zeugt und erhalten werde, als jenes Seuer in der Nachbarſchaft 
der Naphthaquellen (n. Cap. 27), in weldhem der Parfe am 
kaspiſchen Meere ein Sinnbild der göttlihen Schöpferkraft verehrt. 
Se mehr ein athmendes Thier Sauerftoffgas aufnimmt und für 
die inneren Bildungen und Zerlegungen feiner Zeiblichkeit verwendet, 
defto höher fteht feine Eigenwaͤrme. Diefe aber, die Wärme aud) 
unferes Körpers, wird nicht allein bei dem Einathmen der Luft in 
den Lungen erzeugt, fondern in allen Theilen und Räumen des 
Leibes, wohin das In den Lungen von Sauerftoff durchdrungene, 
dann in der linken Herzkammer gefammelte, und von da mittelft 
der Pulsader nad) ‚allen Richtungen hinausftrömende Blut hin: 
dringen Tann. Es ift keine Fafer, Bein Haͤutchen bes lebenden 
Körpers, wohin nicht unmittelbar oder mittelbar der belebende 
Strom bed Sauerfioffgafes ſich verbreitete, und mie bie bei dem 
Verbrennen eines dichten, feflen Körpers zur leichten Luftform uͤber⸗ 
gegangene Kohle (als kohlenſaures Gas) vom Herd emporfteigt, 
fo erhebt fih das Blut, wenn ed an den Endpunften der Puls- 
adern die Vereinigung des Sauerfloffgafes mit den brennbaren 
Grundſtoffen vermittelt hat, in den Blutabern oder Venen von 
ben Füßen, von Unterleib und Händen wieder hinauf nad) dem 
Herzen, in beflen rechte Kammer es zugleich mit den Nahrungs: 
ftoffen, die aus Magen und Eingeweiden, fo wie aus allen ein- 
faugenden Häuten kamen und mit den Rebenfthffen, deren Quellen 
oben in der Negion des Hauptes find, hineinftrömt. 

Aber das Holz wie alles Andere, was auf Erden brennbar 
ift, war vorhanden und die Atmofphäre mit ihrem Sauerfloffgas 
wehete darüber hin und an ihm vorbei, ohne daß daraus ein Feuer 
entfland, ohne daß ein Menfh am Baumſtamm und feinen Xeften, 
fo wie an dem Sturmwind, ber bie Aeſte bewegte, fid) wärmen 
und das Dunkel feiner Hütte damit erleuchten konnte, bis, nad 
einer alten Sage, Prometheus den anzündenden Funken vom 
Himmel brachte. Jener arme Mufitus, defien Freunde, bie ihn 
befucht hatten, in feinem ungeheizten Zimmer froren, ber aber 
keine Mittel befaß, um feinen Ofen in gewöhnlicher Weife zu 
heizen, fuchte feinen Gäften badurdy guten Muth zu machen, daß 
er ihnen fagte, er habe für mehrere Thaler Holz in den Ofen ge: 
legt und auch an einer anzlindenden Flamme es nicht fehlen laſſen. 
Als aber einer des Säfte, nah Beendigung des kurzen Beſuches, 
in deu Ofen bineinfchaute, fah er darin auf ber einen Seite eine 


288 41. Die Elektrizität. 


Violine liegen, auf der anderen Seite aber, weit von bem theueren 
Holze entfernt, eine brennende Lampe ftehen. 

So würden aud die brennbaren Grundftoffe, die ſich im 
Körper ber Thiere finden, eben fo wenig eine Macht haben, fid 
durch einen Vorgang des Athmens mit dem Sauerfloffgas zu ver 
einen und bierburch ein Quell der thierifhen Wärme zu merden, 
als die Bäume des Waldes für fich felber vermögend find, fich zu 
entflammen, und ringe um fih her Wärme wie Licht zu verbrei- 
ten. Ein Prometheus höherer Art, die Lebenskraft felber, muß 
den zündenden Funken von oben, aus einem Reiche des geifligen 
Bewegens, herab in bie Tiefe der irdifchen Leiblichkeit bringen, und 
dieſes Verhaͤltniß der anzuͤndenden Urfache zur wärmenden Slamme 
felber foll uns vorerfi noch durd ein anderes Bild im großen 
Spiegel ber aͤußerlich fihtbaren Natur etwas begreiflicher gemacht 
werden. 


41. Die Elektrizität. 


Zuvoͤrderſt müffen wir hier einige Worte über die alt= und 
allbefannteften Erſcheinungen der Elektrizität fagen. 

Der fhöne, glänzende, öfters burchfichtige, meift gelbfarbige, 
wohlriechende Körper, von der Natur eines brennbaren Harzes, 
Bernftein genannt, welcher vorzugsmweife aus den Küftengegenden 
der Dftfee zu uns gebracht wird, ift wohl jedem meiner jungen 
Lefer befannt, Man verarbeitet ihn in verfchiedene Formen, vor: 
naͤmlich als Kugeln, an Schnüre gereiht, zu einem Schmud für 
Damen, ald Mundftüd zu einer Bierbe der Zabatspfeifen und noch 
fonft auf mannichfaltige Weife; benugt ihn, indem man ihn auf 
ein Kohlenfeuer freut, zum Räucherungsmittel oder aufgelöft in 
Weingeiſt ſowie in verfchiedenen Delen zur Bereitung eines guten 
Firniſſes. 

Die Voͤlker der fruͤheren Jahrtauſende haben eben ſo wie wir 
ein Wohlgefallen an dem Bernſtein gehabt, und denſelben, obgleich 
er weder die Haͤrte noch das Gewicht der eigentlichen Edelſteine 
hat, an Werth dieſen gleichgeſchaͤtzt. Man haͤlt dafuͤr, daß ſchon 
die alten Hebraͤer den Bernſtein gekannt haben, und daß er es 
vielleicht ſei, der bei Jeſajas 54 V. 12 als Eckdach (der ſich Ent 
zuͤndende) genannt iſt. Ein Weiſer des Alterthums, der Grieche 
Thales, welcher 600 Jahre vor Chriſti Geburt lebte, dachte ſchon 
viel uͤber die Eigenſchaft nach, welche bei uns jedes Kind an dem 
Bernſtein ſo wie an den Siegellackſtangen, an Glasroͤhren und 
einigen anderen Koͤrpern, wenn es dieſelben reibt, beobachten kann, 
über die Eigenſchaft nämlich: leichte Koͤrperchen, wie Papierſtuͤck 
chen, Spreu, Aſche u. ſ. w. anzuziehen. Aber nicht nur die Kraft, 
leichte Körper anzuziehen, empfängt eine Kugel von Bernflein oder 
Schwefel durch das leiſe Neiben, fondern auch das Vermoͤgen, 





4, Die Eieftrizicht, 2 


biefeiben abzuftoßen, wie man dies fehen kann, wenn man zarte 
Staumfebern zu dem Verſuch anwendet oder leichte Kügelchen aus 
Hollundermark, die frei an feinen Faͤdchen hängen, dazu benugt. 
Dbgleih nun gar vielerlei Körper, namentlich auch die Pechkohle 
ober der Gagat, bie Edelfteine, ja felbft das Fell der Kagen bei 
dem Reiben ähnliche Erfcheinungen zeigen als der Bernftein, bat 
man babei dennoch diefem feinen alten Vorrang gelaffen, weil er 
ber erſte Körper war, an dem man folche Beobachtungen machte; 
man hat nad) dem Bernftein oder Eleftrum die vorhin erwähnten 
Aeußerungen einer anziehenden und abftoßenden Kraft der geriebenen 
Körper Elektrizitaͤt genannt. 

Mit Recht fann, wie gefagt, fhon ber große Thales dem 
Raͤthſel nah, welches uns die Erfcheinungen der Etektrizität auf 
geben. Eine verborgene Kraft wirkt aus dem Steine hervor und 
fegt aus der Ferne. ber amdere Körper in Bewegung; jener fcheine 
fidy im Verhaͤltniß zu diefen anderen Körpern zu dem Range eines 
befeeiten Wefens erhoben zu haben, in welchem und aus welchem 
hervor ein bewegender Wille waltet, der die umgebenden Stoffe zu 
einera gewiſſen Zwecke verbindet und wieder trennt. Thales fprah . 
bei der Betrachtung ber Elektrizität den Gedanken an eine Welt⸗ 
feele aus, welche alle Wefen der Sichtbarkeit durchdeingt, deren 
Kräfte in allen fhlummern, und die bei gewiſſen, dußeren Veran: 
laffungen erwachen können. 

Obgleih, mie uns bied die Gefammtheit der elettrifhen Er⸗ 
fheinungen bezeugt, ein Unterfchied derfelben von den magnetifchen 
fhon darin gefunden wird, daß diefe zunaͤchſt an zwei einander li⸗ 
nienförmig entgegengefesten Punkten, jene an der Oberfläche ber 
geriebenen oder auf andere Weiſe angeregten Körper hervortreten, 
fo mußte dennoch ſchon den älteften Beobachtern eine gewiſſe, ganz 
nahe liegende. Uebereinfiimmung der Elektrizität mit dem Magnetis- 
mus (m. v. ©. 31) in’s Auge fallen. Aucd das magnetifche 
Eifen zieht anderes Eifen an. Es wird aber hierbei an den beiden 
Enden einer Magnetnadel ein entgegengefegtes Verhalten bemerkt: 
das eine Ende der Nadel, wenn diefe frei ſchwebt, kehrt ſich nad) 
Norden, das andere nah Süden hin, wenn zwei Magnetnadeln 
einander genähert werden, ſtoßen jene Enden berfelben, die nach 
gleicher Richtung hinftreben, fi) ab, während das Nordende bes 
einen bie Vereinigung mit dem Suͤdende des anderen fucht, das 
Südende aber lebhaft nad dem Nordende des anderen ſich hinbe⸗ 
megt. Es find mithin hier die beiden nach verfchiedenen Richtungen 
binftrebenden Gegenfäge oder Pole an ein und bdemfelben Eifen- 
ftäbchen vereint; wie dies allerdings auch, in gemiffen Sällen, von 
denen wir fpäter, im Cap. 49 reden werben, mit den beiden po- 
lariſch Derfchiedenen Wirkſamkeiten der Elektrizität gefchieht, wenn 
diefe, namentlich an gewiſſen Erpftallinifchen Geftaltungen des Mi- 
neralzeiches durch Xemperaturveränberung. oder andere anregende 
Einflüffe erweckt wird. Im Allgemeinen jedoch verhält es ſich 


19 


29 4. Die Elektrizität. 


hierin bei ben gewoͤhnlicheren Erfcheimungsformen der Elektrijzitaͤt 
andere als bei den gewöhnlichen des Magnetismus. Wenn man 
nämlich ein Hollundermarkkügelhen, das an einem feinen Seiden- 
fäbchen hängt, in die Nähe einer geriebenen Siegelladflange oder 
Bernfteintugel bringt, dann wird baffelde von diefen Körpern, 
während ihrer eleftrifhen Auftegung, angezogen, bleibt jedoch nicht, 
wie die angezogenen Eifenfeilfpane an einem Magnet, fo an dem 
Siegellad oder Bernftein hängen, fondern wird nad) einiger Zeit 
abgeftoßen. Es hat mithin die gleihnamige Efektrizität diefer ge 
riebenen Körper angenommen; mie der Suͤdpol bes einen Magnete 
vom Suͤdpol bes anderen fcheider es fi von ihnen ab. Bringt 
man jegt in die Nähe des Kügelchens, während dieſes vermöge ber 
wechfelfeitigen Abfloßung in einiger Berne von dem gleichnamigen 
elektrifchen Körper ſchwebt, eine andere durch Reiben elektriſch ge 
wordene Stange von Peh, Schwefel oder Bernftein, dann wir 
daffelbe auch von biefen Körpern abgefloßen, nicht aber von einer 
geriebenen Glasſtange, nach welcher es ſich alsbald mit Lebhaftiy- 
keit hinbewegt, und ſo lange an ihr haͤngen bleibt, bis es auch 
von dieſer die gleichartig polariſche Spannung angenommen hat, 
wo es dann vom Glaſe ſcheidet und mit lebhafter Bewegung zu 
der geriebenen Siegellackſtange hinfliegt, worauf das Wechſelſpiel der 
Abſtoßung und Anziehung von Siegellack zum Glaſe, von dieſem 
zu jenem von Neuem ſich wiederholt. Man kann den Verſuch un 
mittelbar mit Glas⸗ und Siegelladftangen anftellen, weiche man 
frei ſchwebend aufhaͤngt. Sobald fie durch Reiben elektriſch ge 
worden find, ftößt eine Siegelladftange oder Bernfteintugel bie 
andere ab, bewegt ſich aber Eräftig nad) der Glasſtange hin, melde 
ganz auf biefelbe Weife von anderen elektrifchen Glasſtangen fi 
hinweg, nad) der Siegelladftange aber hinbewegt. In dieſem Falle 
find demnad die beiden polarifchen Gegenfäge nicht an einem und 
demfelben Körper, wie am Magnet, fondern an zwei Körpern von 
ganz verfchiedener Art hervorgetreten. Es ift indeß weder die Zur 
fammenfegung der geriebenen Körper noch der Grad ihrer Feftigkeit, 
auch nicht, bei dem Harz die brennbare, beim Kryſtallglas die un 
verbrennlihe Natur, was die Art der polarifhen Spannung be 
gründet, fo baß man ber einen diefer polarifhen Spannungen ben 
Namen ber Harz⸗, der anderen den der Gaselektrizität geben 
koͤnnte, fondern das Entftehen ber beiden verfchiedenen Richtungen 
hängt von anderen Umftänden ab. Reibt man nämlich Glas mit 
MWollenzeug, Seide oder an einem Leberfiffen, das mit einer Ver 
bindung (einem Amalgam) von Quedfilber, Zinn und Zink über 
zogen ift, dann tritt allerdings an der Glastafel in fehr auffallen: 
dem Maaße jene elektrifche Spannung hervor, welche der einer 
geriebenen Siegelladflange vollkommen entgegengefegt iſt; veibe man 
Dagegen das Glas mit einem Katenfelle, dann nimmt das letztere 
bie Glaselektrizitaͤt, das Glas aber die Harzelektrizitaͤt an ſich. 
Eben fo geist fi zwar an dem Siegellad, das man mit Wellen 








41. Die Elektrizitaͤt. 29 


[1 


zeug reibt, die Harzelektrizität, hat man aber zum Reiben befielben 
den Schwefel angewendet, dann erhält der legtere die Harz⸗, das 
erflere, gegen feine fonflige Natur, die Glaselektrizität, — eine Um: 
kehrung, welche felbft dem Bernftein widerfährt, wenn man ihn 
mit Schwefel reibt. Die Richtung der elektrifchen Spannung hängt 
mithin nicht von der Befchaffenheit des Körpers, an welchem fie 
erregt wird, allein, fondern aud von der Natur des Einfluffes ab, 
welcher fie erregt hat; zwei Körper, welche durch ihr Gegenein⸗ 
anderbewegen in einen Wechfelverkehr treten, bilden einen polarifchen 
Gegenfag gegen einander, gleich jenem des Sauerfloffgafes zum 
Brennftoff;z einen Gegenſatz, wobei der eine von beiden (n. C. 8) 
ald das Bewegende, der andere als das Bewegte, jener als gebend, 
diefer als nehmend betrachtet werden fann, ober nad) dem wif 
ſuaftuichen Ausdruck: jener als poſitiv, dieſer als negativ ſich 
verhaͤlt. 

Was die Erregung ſo wie die Mittheilung der Elektrizitaͤt be⸗ 
trifft, ſo findet hierin bei verſchiedenen Koͤrpern ein ſehr augenfaͤl⸗ 
liger Unterſchied ſtatt. Die bereits namentlich angefuͤhrten Koͤrper 
werden durch Reiben elektriſch, immer jedoch zunaͤchſt an ſolchen 
Stellen ihrer Oberfläche, welche dem anregenden Einfluß ausgeſetzt 
waren, Metalle dagegen werden durch Meiben gar nicht merklich 
oder nur unter gewiſſen Umftänden elettrifch, find jedody in hohem 
Grade für eine Mitcheilung der Elektrizität empfänglich, deren 
Spannung dabei nicht nur auf den Theil ihrer Oberfläche überges 
tragen wird, welcher mit dem elektrifhen Körper in Berührung 
oder Annäherung kam, fondern über ihren ganzen Umfang fid) 
ausbreitet. 

Dieſes verſchiedene Verhalten der Koͤrper gegen die Anregung 
und Mittheilung der Elektrizitaͤt erinnert ſehr an das, was wir 
oben im 34. Cap. uͤber die Befaͤhigung derſelben ſagten, die Waͤrme 
zu leiten oder dieſe Fortleitung zu erſchweren. Gerade ſolche Koͤr⸗ 
per, welche die meiſte Anlage dazu haben, durch Verbrennen mit 
dem atmoſphaͤriſchen Sauerſtoffgas aus ſich ſelber Wärme zu ent⸗ 
wickeln, find die ſchlechteſten Leiter der Wärme, waͤhrend die un- 
verbrennlichen ober ſchwer entzundbaren Steine und Metalle die 
beften Wärmeleiter find. In derfelben Weife find denn auch bie 
Metalle für die Mittheilung und Verbreitung der Elektrizität hoͤchſt 
empfänglich, während jene vorhin genannten Körper, die ſich durch 
Reiben felber leicht elektrifch machen laflen, wie Glas, Bernftein, 
Pech, Seide, ſich einer folhen Verbreitung fo wenig fühig zeigen, 
daß man diefelben gleih Dämmen zum Abhalten der eleftrifchen 
Kraft oder zum Anfammeln derfelben an einem gemwiffen Puntte 
benugen kann. Vermoͤge folder Sfolatoren oder Abfcheidungsmittel 
der Elektrizitaͤt iſt es erſt möglich geworden, dieſe merkwuͤrdige 
Naturerſcheinung in ihrer ganzen Kraft und Wirkſamkeit zur An⸗ 

auung zu bringen. Wenn man naͤmlich ein Metall oder einen 
anderen Koͤrper, der die Elektrizitaͤt gut leitet, wohin auch die Kohle, 


19 * 


292 41. Die Elektrizitaͤt. 


feuchte Erde, die meiften Sätze, Iebende Pflanzen und Thiere, dad ' 
Waſſer und viele andere Fluͤſſigkeiten gehören, auf Pech, auf Glas 
oder Seide ſtellt, mithin auf ſolche Dinge, welche der ſchnellen 
Vertheilung der empfangenen Elektrizitaͤt an die umgebende Körper: 
welt eine Hemmung entgegenfegen, dann kann man duch Mit 
theilung die eleftrifche Spannung ihrer Oberfläche bis zu einem 
fehr hohen Grad verftärken. Denn bie Körper der anderen Orb: 
nung, tie Glas oder harzige Stoffe, welche. durch Reiben ober 
andere Einflüffe leicht elektrifh werben, tragen diefe Anregung auf 
das Metall oder einen anderen gut leitenden Körper über, auf 
deffen ganzer Oberfläche jene alsbald ſich ausbreitet, während fi 
bei dem felbftelektrifchen Stoffe entweder nur an einer Stelle der 
Oberfläche haftete oder aus einer einzelnen Stelle ſich hinuͤberzog 
an den aufnehmenden Koͤrper. Das, was hierbei geſchieht, iſt dem 
aͤhnlich, was wir zwiſchen einem brennenden Stuͤck Holz und ee 
nem Metalldrahte bemerken. Das Holz theilt von jenem End 
aus, an welchem es brennt, dem Metalldraht feine Gtühhige mit 
und diefer wird, wenn er nicht zu lang ift, fo daß ſich verhäftnif- 
mäfig zu viel von feiner empfangenen Wärme an die umgebende 
Luft zerftreuen muß, in feiner ganzen Ausdehnung glühend heiß, 
während wir das Holzſcheit oder den Span an dem anderen nid 
brennenden Ende mit der Hand anfaffen können, ohne von feiner 
Hise zu leiden. Denn das Holz ift ein fhlechter Leiter für die 
Märme, mie das Glas oder Pech für die Elektrizität; nur der in 
Entzündung verfeßte Theil von jenem glüht und verbreitet feine 
Hitze an die ihm genahten Körper. Dbder, um zur Verdeutlichung 
noch einen anderen, etwas roheren Vergleich zu brauchen: ein 
Tropfen Tinte, ber auf ein ſtark lakirtes Holz oder geglättetes Da: 
pier fiel, bleibt auf feiner Stelle ftehen, bis er allmaͤhlig verdunftet, 
bringe man aber ein Stuͤck Stießpapier mit ihm in Berührung, 
dann faugt dieſes alsbald den Rropfen am fich, ber fid weit um 
her in feiner Maffe ausbreitet. Ein gutes Löfchpapter, fo mie ein 
Docht oder ein Schwamm füllt ſich, wenn aud nur die eine Seite 
derfelden in eine hinreichende Menge von Fluͤſſigkeit eingetaudt 
wird, bald ganz mit diefer an und kann auf folche Weife zu einem 
Behaͤltniß derfeiben werden, aus dem ein Drud fie wieder hervor 
treibt. Wenn man ben glühend gemachten Metalldraht auch nur 
mit einem Ende in Ealtes Waffer ſtellt, dann theilt er in wenig 
Augenbliden feine ganze Wärme an dieſes mit und kuͤhlt fid in 
feiner ganzen Maffe ab, während der Holzſpan mit einem End 
zmwifchen Eistafeln fteden, an dem anderen brennen kann. 

Auch die ifofirte Metallkugel, auf welche man die elektriſche 
Spannung, die etwa durch Reiben in einer Glasſcheibe erregt 
wurde, libergetragen hat, giebt, wenn fie von einem gut leitenden 
Körper berührt wird, nicht nur von der zunaͤchſt berührten Stelle, 
fondern von ihrer ganzen Oberfläche die empfangene Anregung ab, 
während die elektriich gewordene Glasſcheibe dem Finger, ber fie de 








41. Die Elektrizitaͤt. 293 


rührte, nur jenen Theil ihrer Elektrizitaͤt mittheilt, ber an bem be- 
rührten Punkte haftete. Hierdurch wird es möglich, mit einem 
Male und in einem Augenblid fehr ſtarke elektrifhe Wirkungen 
hbervorzurufen, und biefen Zweck hat man ganz befonbers bei der 
Einrichtung der fogenannten Elektrifirmafchinen und der mit ihnen 
verbundenen Elektrizitaͤtsaufnehmer vor Augen gehabt. Hierbei 
kommt noch ein anderer Unterfchied der gutleitenden von ben fchlechts 
leitenden Körpern in Betracht. Bei den erfleren, wie namentlidy 
den Metallen, theilt fich die mitgetheilte Elektrizität zundchft nur über 
die Oberfläche aus, während fie bei den legteren, wie bei Glas, eine 
Anregung hervorbringt, welche bis zu einem gewiſſen Grade auch 
auf die Maffe felbft und durch fie hindurdy wirkt. Wenn deshalb an 
einer Glasſcheibe beide Flächen mit Metall oder mit Zinnfolie bis nahe 
an ihren Rand belegt, die Ränder aber mit Firniß oder Siegellad 
überzogen werden, fo daß die Metalibelegungen vollkommen von 
einander ifolirt find, dann entfteht durch die Mittheilung der Elek: 
trigität an die eine Fläche im ber anderen gegenüber liegenden Fläche 
eine nicht minder ſtarke elektrifche Spannung. Diefelbe Erfheinung 
zeigt fi) an gläfernen Flafhen, die man an der Außeren wie an 
der inneren Flaͤche mit Zinnfolie, oben aber am aͤußeren und ins 
neren Rande mit einer harzigen Auflöfung überzogen hat. Sept 
man bie innere Metalibelegung einer folhen Flaſche durch einen 
metallenen Leiter in Verbindung mit einem duch Reibung elektri- 
fitten Cylinder- oder Scheibenglad, dann nimmt jene die pofttive 
Elektrizität des Glaſes an, während die Außere Belegung, wenn 
man die auch an ihr vorhandene pofitive Spannung durch Ableis 
tung entfernt, ‘in dem gleihen Grab ber Stärke die negative ers 
hält. Daß beide Spannungen einander gegenüber fi bilden konn⸗ 
ten, wird ber Fähigkeit des Glaſes zugefchrieben, an zwei feiner 
entgegengefegten Stellen eine elektriſche Polarität anzunehmen, daß 
aber beide Spannungen fo nahe bei einander beitehen, ohne ſich 
gegenfeitig durch ihr Zufammenmirken aufzuheben, dies wird aber: 
mals nur duch das Glas und den oben am Rande angebradhten 
Ueberzug möglich, weil diefe das Ineinanderfließen und Ausgleichen 
der beiden Efektrizitäten hindern. Während die äußere Belegung 
im Gegenfag zu der inneren negativ wurbe, bewirkt fie nun umge⸗ 
kehrt wieder, ebenfo wie der Nordpol eines Magneten an dem ihm 
genäherten Eifendraht einen Südpol hervorruft, nah dem Maaß 
der Stärke ihrer eigenen Elektrizität, eine geſteigerte pofitive Span 
nung auf der inneren Belegung. Durch dieſes entgegengefegte elektrifche 
Verhalten der beiden Seiten einer belegten Glasſcheibe oder Flaſche 
dient die eine Spannung, je Träftiger fie ift, defto mehr zur Ver⸗ 
färtung der anderen; beide fteigern ſich gegenfeitig bis zu einem folchen 
Grade, daß zumeilen bie zwifchen beiden gelegene Glasmaſſe nicht mehr 
fähig ift, dem mwechfelfeitigen Zuge der Polaritäten zur Vereinigung 
und Ausgleihung zu widerftehen: der Funke von der einen fchlägt 
durch die iſolirende Zwiſchenwand hindurch und durchbohrt oder 


294 41. Die Elektrizitaͤt. 


zertruaͤmmett das Glas. Wenn aber die polariſche Spannung nidt 
bis zu dieſem Uéebermaaß geſteigert, und wenn zugleich mehrere 
Flaſchen ſolcher Art ſo vereint werden, daß die inneren Flaͤchen 
der einen durch leitende Metalldraͤhte mit den inneren Flaͤchen der 
anderen verbunden, und daß zugleich auch die aͤußeren Flaͤchen 
unter ſich in Vereinigung geſetzt find, dann entſtehen die fogenann⸗ 
ten elektrifchen Batterien, durch deren ungemeine Wirkſamkeit die 
menfchlihe Kunft den Blitz der Gewitter nachgeahmt hat. Aut: 
führlicher zwar werden und die Erfcheinungen, welche eine fehr 
hoch gefteigerte Elektrizität hervorbringt, felbft dann, wenn fie von 
uns nur kuͤnſtlich, noch mehr aber, wenn fie durch mächtige Be 
wegungen der äußeren Natur angeregt war, in mehreren der ſpaͤ⸗ 
teren Cap. befchäftigen, doch verweilen wir hier ſchon im Worüber 
gehen bei einigen nur gleihfam vorbildlichen, die uns ein folder 
tünftlicher Apparat vor Augen ftellt. 


Wenn man das Fugelförmige Ende eines Metalldrahtes, der 
mit den aͤußeren Belegungen emer elektrifchen Batterie in Verbin⸗ 
bung fleht, dem tugelförmigen Ende nähert, deffen Draht fih 
durch die inneren Belsgungen der Klafchen hindurchzieht, dann ent: 
fteht nach kleinerem Maaßſtabe ein Blis und Donner 'wie ber Ge 
witterwolten, denn ein Lichtfirahl von bedeutender Helligkeit bricht 
aus ben beiden genäherten Enden ber Verbindungsdraͤhte hervor, 
und zugleich vernimme man einen Knall, defien Stärke mit be 
Stärke der Ladung im Verhaͤltniß ſteht. Wenn bei einer fehr 
Träftig wirkenden Batterie em Xhier der Entladung der beiden 
Drahte auögefest wird, fo daß man es zwifchen diefe Enden hin 
eingeftellt und den Schlag duch daffelbe hindurch gehen Läßt, dann 
wird es davon eben fo plöglich getödtet wie von dem Blitz ein 
Gemitterwolte. Wenn man bei minder ftarken, gefahrlofen Vor: 
richtungen diefer Art mit der einen Hand bie aufßere Belegung er 
ner geladenen Flaſche, mit der anderen das Drahtende der inneren 
berührt, dann fühlt man eme eigenthümlihe Erſchuͤtterung in den 
Knochengelenken der Arme, und diefe Erfchütterung theilt fich einer 
ganzen Reihe von Perfonen mit, die ſich wechfelfeitig die Hand 
geben, und davon bie an dem einen Ende ftehende mit der äußeren 
Belegung, die am anderen Ende mit der inneren ſich in Beruͤhrung 
fest. Der elektrifche Funke, aud wenn er ſchwaͤcher iſt, entzündet 
das oben erwähnte Gemenge von Sauerftoffgas und Wafferftoff: 
gas, und verbindet hiemit diefe beiden polariſch entgegengefegten 
Gasarten zu Waſſer, fo wie er umgekehrt, bei höherer Steigerung 
feiner Wirkfamkeit das MWaffer, durch welches - fein Schlag geht, 
in feine gasartigen Grunbfloffe zerfegt, weiche bei dieſer piöglichen 
Sormummwandlung felbft ftärkere gläferne Gefäße zerfprengen. Pa 
pier wird ſchon von einem ſchwachen elektrifchen Funken, welder 
durch daſſelbe hinduchfährt, durchbohrt, durch einen ſtaͤrkeren 
auch Holzplatten und Glas; leicht entzündliche Körper werden 








41. Die Elektrizitaͤt. 26 


dadurch entzuͤndet, Metallbraͤhte werden gluͤhend und zerſtaͤuben 
in Funken. 

Und bier zuerſt begegnen wir jener Eigenſchaft der Elektrizitaͤt, 
durch weiche fidy diefelbe, gleich dem euer des verbrennenden 
Körpers, auch als ein Quell der Wärme kund giebt, mie denn 
ſchon das Alterthum eine Berwandtfchaft der Wärme und der 
Elektrizität barinnen erkannte, daß die slektrifchen Körper, wie 
bee Bernftein, leichter bucch Reiben elektriſch werden, wenn fie et⸗ 
wärmt find. - 

Wie die Wärme das Wachsthum und Gedeihen der Pflanzen 
und Thiere fördert, fo thut dies auch die Elektrizität. Man hat 
deshalb Pflanzenfaamen, die man einer fanften eletrifhen Stroͤm⸗ 
ung ausſetzte, leichter und früher zum Aufkeimen und Ausfchlagen 
gebracht, und feibft bei Menfchen, die man auf ein Geftell fegte, 
dad durch Glas oder Pech ifolirt war, und dann mit einer fort 
währenben elektrifchen Strömung in Verbindung brachte, wollte 
man in verfchiedenen krankhaften Zuftänden einen heilfamen Ein: 
fluß der Elektrizität bemerkt haben. 

Auch eine eigenthümlid bildende Kraft giebt fi an den elek: 
trifhen Strömungen kund, wenn bdiefelben durch Kolophoniumftaub 
geleitet werden, der ſich unter ihrer Einwirkung zu ölgusen ordnet, 
welhe namentlih im pofitiven Steome von regelmäßig firahlen- 
formigem Umtiffe find. 

Die Gefhwindigkeit, in der fih ein elefteifher Schlag duch 
einen Metalldraht von einem Ort zu dem anderen fortpflanzt, wurde 
von einigen Phyſikern noch größer als die des Lichtes gefchäßt, 
welche doch in jeder Secunde nahe gegen 42,000 Meilen beträgt. 
Diefen Schägungen, wovon die eine auf. 72,000 (eme andere nur auf 
4000) Meilen in ber Secunde ging, fehlt freilich jene Sicherheit, welche 
die Abmeffungen ber Gefchwindigkeit des Lichtes. haben. Denn ba biefe 
an dem Eintritt der Verfinflerungen ber Jupitersmonde angeftellt 
wurden, welcher bas eine Mal, dann, wenn die Erde auf der dem 
Supiter zugemwendeten Seite ihrer Bahn biefem am nächften fieht, 
um 16 Minuten 36 Secunden früher bemerkt wird, ald am anderen 
entgegengefesten Punkte ber Bahn, fo hatte man an beiden, fowohl 
an ber Länge der Laufbahn (von faft 42 Millionen Meilen) ‚als 
an der Dauer der Zeit, eine Grundlage der VBerehnung, die uns 
für die Gefchwindigkeit der Elektrizität an unferen telegraphifchen 
Drahten, auch wenn diefe um den ganzen Erdumfang herum⸗ 
gingen, niemals gewährt werben fann. Denn eine Länge, welche 
dem Umfang bed Erdaͤquators gleich kaͤme, würde ber elektrifche 
Schlag, mit der angeblihen Geſchwindigkeit von 72,000 Meilen 
für jede Secunde in weniger ald 5 Terzien durchlaufen. Und abs 
gefehen von der großen Kürze unferer Meßſchnur ſteht auch ber 
Sicherheit der Berechnungen die Unvollfommenheit der Medien 
entgegen, durc welche wir den eleftrifhen Schlag hindurchlaufen 
lafien. Denn für diefen können unfere Metalldrähte niemals 


26 32, Die Gewitter. 


baffelbe Leiften, mas ber gleichmäßig bucchfichtige Weltraum für 
das Licht der MWeltkörper gewährt. Dennoch laͤßt fich mit: voller 
Sicherheit ausfagen, daß die Schnelligkeit der elektrifchen Anregung 
unvergleichbar viel größer fei ald die der Kortbewegung der Welt: 
örper in ihren Bahnen, obgleich diefe bei dem großen Kometen 
von 1680 im Punkt feiner Sonnennähe der Berechnung nad 
53 Meilen in einer Secunde betrug, denn die Elektrizität und ihre 
Bewegungen gehören einer anderen Ordnung der Leiblichkeit an 
u die der Schwere und dem Maaße unferer Zeiten untermorfenen 
Körper. Ä 

Wir haben hier zuvörderft nur jene Naturverhältniffe beruͤd⸗ 
fihtigt, welche in ben polarifitrenden Cigenfchaften der fogenannt 
gemeinen, durch Reibung erzeugten Elektrizität begründet iſt, ehe 
wir jedoch auf dem Wege diefer Betrachtung weiter fortichreiten, 
müffen wir zuerft, im Voruͤbergehen einer großartigen Naturer: 
fheinung gedenken, welche ihrer Entftehung ſowie ihrer Wirkſam⸗ 
keit nach gleichen Gefchlechtes mit der Elektrizität ift. 


422. Die Gewitter. 


Jenes kuͤnſtliche Gewitter, mit Blitz und Donner, melde 
ein gewiffer Anthbemius, ein- gefchidter Mechaniker und Bau: 
tünftler, der in den Zeiten des Kaifers Suftinian im 6. Jahrhundert 
nad Ghrifto lebte, zum Staunen der Zuſchauer hervorbringen 
konnte, mag etwa jenen kuͤnſtlichen Gewittern ähnlich gemefen fein, 
bie man auf unferen Theatern durch eine befondere Mafchinerie 
und dur plögliches Entzuͤnden fein zertheilter brennbarer Stoffe 
zuwege bringt. Diefe Art der Nachbildungen hat mit dem Urbild, 
das fie vorfiellen foll, ihrem Wefen nach eben fo wenig innere 
Uebereinflimmung, als das Wachsbild mit dem lebenden Menfcen, 
nad) defjen Figur es geformt iſt. Etwas Anderes ift es dagegen 
mit jenen gewitterähnlichen Erfcheiningen, welche man aus jedem 
elektrifhen Apparat hervorrufen kann. Wenn da im zwergartig 
Heinen Maaßſtabe das Modell eines Hauſes aus Papier und 
Holzftäbchen oder aus einem anderen bennbaren Stoffe gebildet, 
von dem hindurchſchlagenden elektriſchen Funken entzündet wird; 
wenn man an einem anderen Modell diefer Art einen Gewitterab⸗ 
“leiter im Kleinen, mit einer metallenen Spise und einem leitenden 
Metaldrahte anbringt, deffen unteres Ende mit der Belegung der 
anderen Seite einer geladenen Flaſche in Verbindung ſteht, und 
wenn dann der elektriſche Schlag, ohne das leicht entzündliche Mo 
dell zu treffen, duch die Spise und den Draht dad Kleinen Wet 
terableiters hinabfährt, da hat man es, obwohl in ſehr verjüngtem 
Maafftabe, mit der Naturkraft felber zu thun, die in dem oberen 
Regionen der Atmofphäre den Blitz und den Donner erzeugt. 

Diefelbe elektrifche Spannung, melde wir durch; Reiben, 
oder, mie wir nachher fehen werden, bei den Metallen durch dad 








42. Die Gewitter, 297 


blofe Anelmanderlegen und wieder Trennen ihrer Flaͤchen hervor: 
bringen , findet ohne Aufhören zwifchen dem Luftkreis und der Erd⸗ 
oberflaͤche ſtatt. Sie nimmt bis zu einer gewiffen Höhe hinan zu, 
fo daß. die Elektrizitaͤt der oberen Luftfchichten meift in einem flär- 
teren Gegenfag zur Elektrizität der Erdfläche ſteht, als die der 
unteren Schichten. Bei heiterem Himmel zeigt in der Regel die 
Atmofpbäre pofitive, die Erde negative Elektrizität; bei umwoͤlktem 
Himmel wird, mwenigftend an den unterfien Regionen, das umge: 
tehrte Verhältnig wahrgenommen. Denn nicht nur die Luft im 
Ganzen bildet zur Erde einen eleftrifchen Gegenſatz, fondern auch 
einzelne Schihten und Dunftmaffen der Atmofphäre können eine 
mehr oder minder ftarfe Spannung zu einander annehmen, da ber 
Grund bes Entftehens diefer Spannung vorzugsweife in der Bil 
dung der Wafferdämpfe und der Zuruͤckkehr derfelben in die tropfe 
bar flüffige Form zu fuchen if. Denn jeder Verfuh im Kleinen 
lehrt uns, daß, wenn Maffer durch die Wärme verdampft, ber 
entftehende Dampf eine merklich pofitive, das Gefäß negative Elek 
trizität annehme, da aber, wo fick) in den oberen Megionen der 
Luft der Dampf wieder zu Waſſer verdichtet, tritt ee zu der At 
mofphäre, diefem Gefäß von riefenhafterer Art, in den umgefehr- 
ten Gegenſatz, indem er felber negativ elektriſch wird. 

Alte diefe Verhältniffe der degenfeitigen Spannung zwiſchen 
Erde und Luft, wie zwiſchen ben einzelnen Dunſt⸗ und Luftmaffen. 
der oberen Regionen felber Löfen fich in der Negel durch eine kaum 
merkliche Ausgleihung und Entladung auf; die emporfleigenden 
Dünfte, das niederfallende atmofphärifhe Waffer, die tief am Bo— 
den fchtwebenden Nebel und Wolken ſtroͤmen die an ihnen haftende 
Elektrizitaͤt an die Koͤrpermaſſen von: entgegengefester Spannung 
aus, und gleihwie das Aufflammen bed Schießpulverd endet, fo 
batd die brennbaren Stoffe mit dem Sauerftoffgas ſich vereint 
haben, fo verfchreindet auch jede Spur der elektrifchen Spannung, 
wenn bie eine der beiden entgegengefesten Bewegungen und Ric): 
tungen an ber anderen, tie ber niederfallende Ball an der ihm 
entgegenfommenden Menfhenhand zum Stillftand gelangt ift. 
Doch wird auch diefes fanfte Ausftrömen ber Elektrizität von oben 
nad) unten, fo wie von der Erdoberfläche nad) der Luft dem Auge 
in jenen Lichterfcheinungen fichtbar, die man zumellen bei Nacht 
an den Spigen-der Thuͤrme, der Maftbdume und anderen empor- 
gerichtet ftehenden Körper, ja felbft, unter gewiffen Umftänden, 
an den emporgeftredten Fingern der Hand mahrnehmen kann. 
Eine Erfcheinung, welche die Völker der alten Welt der hülfrei- 
hen Nähe der Dioskuren: des Kaftor und Pollux zufchrieben, un- 
fere Vorfahren aber als St. Elmusfeuer benannten. Ä 

Auf die Entwicklung der elettrifhen Spannung hat auch die 
Vegetation einen ſehr bedeutenden Einfluß, und man hat berech⸗ 
tet, daß die Elektrizität, welche durch eine Flur von 25 Quabrats 
Klaftern hervorgerufen wird, ſchon hinreichen tönnte, um damit 


298: 42. Die Gemitter. 


bie flärkfte Batterie zu Iaden, deren Schläge Stiere wie Rofle 
töbten würden. Auch das Verdunſten des Seewaſſers hat einen 
fehr bedeutenden Einfluß auf die Verſtaͤrkung ber Luftelektrizicät, 
denn nicht das reine, deſtillirte Waſſer, ſondern das mit fremdar⸗ 
tigen, vor Allem mit falzigen Theilen vermifchte ift bei feinem 
Verdampfen der elektrifchen Spannung fehr günftig. Diefe jedoch, 
wie fhon erwähnt, wird durch jeden wäflerigen Nieberfchlag, durch 
jeden Lufthauch, durch den Schatten einer vorüberziehenden Wolke, 
der an den Stellen, die er trifft, eine Abkühlung hervorruft, aus- 
geglihen; mehr denn zwanzigmal im Verlauf eined Tages kann 
in unferer Umgebung die eleftrifche Stimmung wechſeln, jest ale 
ein pofitiver dann als ein negativer Ueberfhuß ſich an unferen 
Inſtrumenten fund geben, ohne daß unfer finnliches Gefühl diefes 
wahrnimmt, 

Im Ganzen bemerkt man, daß bei herrfchenden Nord⸗ und 
Dftwinden die elefteifhe Stimmung der Luft mehr pofitiv, bei 
Süd: und Weftwinden mehr negativ fei, doch wird fie bem Grabe 
nach bei windflilem Wetter immer viel flärker gefunden, als bei 
windigem, bei Zage ftärfer als bei Nacht, too der Niederfchlag 
ber wäfferigen Dünfte die Ausgleichung der entgegengefegten Span- 
nungen vermittel, So mannidfaltig aber auch die Wege zu einer 
folhen fortwährenden Ausgleihung find, reichen fie dennoch nicht 
immer aus zur Berhütung jener Anſammlung und Steigerung 
ber Elektrizität in den Wolken, woraus die Erfcheinungen des Ge 
witterd hervorgehen. 

Wenn in den warmen Tagen des Sommers, mo das Ge 
waͤchsreich in feinem vollen Grün fteht, die emporfleigenden Däm- 
pfe häufiger werben und mit ihrer pofitiv elektrifhen Spannung 
die oberen Regionen ber Luft erfüllen, wenn dann zu gleicher Zeit 
die Wolken in folcher Höhe ſchweben, daß die Ausgleihung zwi 
fhen ihnen und ber Erdoberfläche mehr erſchwert ift, dann treten 
allmählig jene Bedingungen ein, unter denen bie Gemitter am 
leichteften fich erzeugen. Die trodenen Luftfchichten zwiſchen den 
Wolken und der Erde mögen hierbei auch noch iſolirend, wie die 
Glaswand zwifchen den beiden Belegungen einer Leidner Flaſche 
wirken und dadurch die elektrifche Ladung verftärken ; die Sonnen 
ſtrahlen, welche von oben auf die Wolken fallen, bewirken zu glei 
cher Zeit in diefen eine fortwährende Verwandlung ber fchon ge 
bildeten wäfftigen Niederfchläge in Dampfe und rufen. hierdurch in 
den Wolkenmaſſen felber elektrifhe Spannungen hervor. 

In den eigentlihen Wintermonaten, vom November bis zum 
Februar gehören die Gewitter zu den fehr feltenen Erfcheinungen. 
Die niedriger ſtehenden Wolken, die feuchte Luft, die geringe Wärme 
des Bodens, bie fehr verminderte Verdampfung des Waſſers laͤßt 
dann in der Regel keinen bedeutenden Grad ber Spannung auf 
kommen. Auch im Dftober und im März ereignen fi) nur we 
nig Gewitter, Im April find fie fhon, ein Jahr ins andere ge 








42, Die Gewitter. 299 


rechnet , fünfmal häufiger als im März, im Mai iſt ihr Vorkom⸗ 
men im Durchſchnitt mehr denn doppelt, im Juni mehr. denn drei, 
im Juli faft viermal, im Auguft mehr denn dreimal häufiger als 
im April, dagegen ſinkt ihre Zahl im September faft wieder zu 
der im April herunter. In tälteren Ländern find zwar, aus den: 
felben Gründen, die Gewitter feltner als in den waͤrmeren, doch 
hat man felbft noch unter dem Töten Grab der nördlichen Breite, 
in dem Klima von Neu-Sibirien und Spitzbergen heftige Gewitter 
beobachtet. 

Die eigentlihen Wetterwolken unterfcheiden fich meift durch 
ihre dunklere Färbung, rundlihen Umriß und fchärfere Begräns 
zung ; lauter Züge, welche nebft ber ftarken Abftufung ihrer Be 
leuchtung auf den höheren Grad threr Verdichtung fchließen laſſen. 
Die Höhe, in der fie Uber der Erdoberfläche ſtehen, erreicht in waͤr⸗ 
meren Gegenden und in der Nähe der Gebirge zumeilen 9000, in 
den Ebenen des mittleren Europas zwiſchen 3000 bis 7000 Fuß; 
in dem kalten Klima von Tobolsk finkt dieſe Höhe öfters bie auf 
600 oder 700 Zus herab. Bor dem Ausbruch des Gemitters ift 
die Luft meift fehr ſchwuͤl; ihre elektrifche Spannung erleidet‘ große 
und plögliche Wechfel. Die Entladung beginnt, fobald durch die 
Feuchtigkeit der Luft eine Leitung von einer biefer großartigen Bat⸗ 
terien zur anderen hergeftellt iſt; ber elektrifche Schlag, defien Funke 
bier die riefenhafte Form des Blitzes angenommen, defien Knall 
zum Donner geworden ift, gebt dabei öfters nur von einer Molke, 
von einer mit Dünften erfüllten Luftfchicht zue anderen. Da je 
Doch die elektrifche Spannung der höheren Luftregion zugleich in 
der niederen und an der Körpermelt der Erdoberfläche die ihre ent- 
gegengefeste, in bderfelben Stärke hervorgerufen hat, nimmt bie 
Entladung öfter auch dahin ihre Richtung: der Blitz fchlägt uns 
ten auf der Erde einz er entladet ſich dabei vorzugsweiſe an foldhen 
Körpern, welche gute Leiter der Elektrizität find, wozu namentlich 
die Metalle, naͤchſt ihnen jedoch auch lebende organifche Körper, 
Pflanzen und Thiere gehören, Aus biefem Grunde ift es gefähr- 
lich, unter hohen Bäumen Schup gegen Gewitterregen zu fuchen 
und da auch der thierifche wie der menſchliche Körper durch ftarke 
Bewegung in eine Stimmung geräth, worin er die Elektrizitaͤt 
befier leitet. denn gewöhnlich, ift dem Wanderer bei ſtarken Gemit- 
tern ein ruhiges Verhalten zu empfehlen. Was übrigens das Ver⸗ 
halten der Vegetation bei Gewittern betrifft, fo fagt man, daß ber 
Blitz niemals in Birkenbäume einfchlage und von dem Rorbeerbaum 
behaupteten die Alten das Gleiche, daher man bei ſtarken Gewit⸗ 
tern Lorbeerkraͤnze als Schutzmittel auf das Haupt ſetzte. Auch 
das Hauslaub (Sempervivum tectoram), das man auf die Dächer 
pflanzt, halt unfer Landvolk für ein bligabwehrendes Mittel. 

Bon des Stärke der eleftrifhen Spannung des Bodens hängt 
es zunaͤchſt ab, ob und in welcher Heftigkeit die Entladung ber 
Gewitter bahin ihre Richtung nehmen, ob der Blig einfchlagen 


300 22, Die Gewitter. 


werde. Die Erwärmung der Erdoberfläche, fo wie die Fähigkeit 
der zwifchenliegenden Luftfchichten, ihn herabzuleiten, tft babei von 
großem Einfluß. Darum find in einigen Gegenden ber heißen 
Erdſtriche die Gewitter fo gefährlich, daß unter anderen nad 
Aza ra's Beriht in der Stadt Buenos Ayres im füdlichen"Ame 
rika (Republik Bolivia) ein einziges Gewitter im Jahre 17% in 
Zeit von kaum einer Stunde 37 Mat einfhlug und 19 Men 
ſchen tödtete. 

Bei dem Einfhlagen der Blige in den Boden wird nicht nur 
während großer vulkaniſcher Eruptionen, fondern and, außer die 
fen nicht felten, eben fo wie im Kleinen an unferen elebtrifchen 
Apparaten ein Gegenfchlag wahrgenommen, ber aus der Erbe 
hinauf nad) ber Luft geht, oder von einem Punkte des Bodens 
ſich weithin verbreitet. Solche aus der Erde hervorbrechende Blitze 
fhleudern zuweilen bie Steine unb Erblagen empor und haben in 
einzelnen Fällen nicht minder zerftörend und tödtend gewirkt, als 
die von oben kommenden. Die lesteren aber, wenn fie in fand: 
gen Boden einfchlagen, bringen hin und wieder eine Schmelzung 
des Quarzfandes zumege, aus welcher die fogenannten Blitzroͤh⸗ 
ven entftchen. Ä ' 

Nicht immer zündet der Blitz die brennbaren Stoffe an, durch 
welche er hindurch ſchlaͤgt. Er fcheint fih m folchen Fällen auf 
ähnliche Weife zu verhalten wie der elektrifche Funke ſtarker fünf: 
licher Batterien, welcher manche Metalidrähte zum Gluchen und 
Schmelzen bringt, buch Schhießpulver aber hinduchfährt, ohne baf 
felbe zu entzünden (vielleicht: weil die Leitungsfaͤhigkeit der Kohle 
ihm biezu nicht Zeit käßt), bis man ihn durch eine meniger gut 
leidende, naffe Schnur nad dem Pulver binabfahren läßt, wer 
ches dann alsbald in Brand geraͤth. Auf einem Schiffe, New: 
york genannt, fchlug einft der Blig bei einem Gewitter zweimal 
ein, er verbreitete fich über das ganze Schiff, ohne zu zuͤnden und 
ohne einen Menfchen zu tödten, ja es ereignete ſich hiebei, daß ein 
Paffagier, der feit längerer Zeit an Lähmung litt, fei es nun in 
Folge des Schredens.oder des elektriſchen Einfluffes, auf einmal 
des Gebrauches feiner Glieder wieder mächtig wurde. Uebrigens 
waren alle Meffer und Gabeln im Schiffe durch bie Wirkung de 
Bliged magnetifch geworden; an den Magnetnadeln, die fämmtlid 
in einem Zimmer beifammen ftanden, bemerkte man, daß bei ein» 
gen die magnetifche Wirkfamkeit verſtaͤrkt, bet anderen gefchwäct 
voorden war: Auch bei anderen Gelegenheiten ſah man ben ek: 
teifchen Einfluß blos auf die Metalle fi) befchränten, melde ſich 
in der Nähe der Stelle fanden, die vom Blig getroffen war. So 
in einem Haufe, darin. es eingefchlagen hatte, ohne zu zünden und 
ohne einen der Bewohner zu verlegen, obgleich man die metallenen 
Glockenzuͤge und felbft die Drähte in den verrohrten Deden ge⸗ 
fhmolzen fand. Ein anderes Mal hatte der Blitz das Gold an 
einem vergoldeten Uhrzeiger gefchmolzen und daſſelbe auf das Blei 





42, Die Gtwitter, 1 


des darunter gelegenen Daches geführt, welches dadurch theilmweife 
vergoldet worden war, 

Zwar iſt es die leitende Faͤhigkeit der feuchten Luft, welche 
das Einfchlagen des Bliges in den Boden vermitteln muß, benn 
ſchon durd eine teodene Luftfchichte von einer oder etlichen Klaf—⸗ 
tern Dicke würbe er ſchwerlich hindurch brechen können, doch trägt 
auch zugleich der Regen zur allgemeinen, meit ausgedehnten und 
dadurch minder gewaltfamen Entladung der eleftrifhen Wetterwol⸗ 
fen das Seinige bei, denn jeder Tropfen des ſtarken Platzregens 
bringt einen verhättnißmäßig anfehnlidhen Theil der Luftelektrizitaͤt 
mit ſich herab zum Boden, an deſſen polariſch entgegengefeßter 
Spannung fich biefelbe ausgleiht. Daher Iöft fi die Heftigkeit 
der Gewitter, wenn ber Regen, der diefelben begleitet hat, eine Zeit 
lang angehalten, allmählig auf. | 

Namentlih in unferen mittleren Graben ber Breite gefchieht 
es nicht felten, daß die Wetterwolken unterhalb der Gipfel der 
Berge fich bilden. Oben ift heiterer Himmel, unter fid hört man 
den Donner, fiehbt man das Bligen der Wollen. Nicht immer 
jedoch ift ber Beobachter, der von der Höhe herab die gewaltige 
Naturerfcheinung beobachtet, gegen ihre Wirkung gefhügt; denn 
der Blitz fchläge durch den auffteigenden Nebeldunft aus den Wol- 
ten zumeilen auch heraufwaͤrts nad) den höheren Stellen bes Ber 
ges, wie denn auf diefe Weife vor mehreren Jahren ein Englän- 
der getöbtet wurde, der, am Selfenabhang des Rigikulms ſitzend, 
der Entladung eines Gewitters über dem Zugerfee zufah. 

Am niedrigften unter den Wetterwolken flehen in der Megel 
jene, aus denen der Hagel kommt, der nicht felten ein Begleiter 
heftiger Gemitter if. Die Hagelwolken, die fih durch das unre 
gelmäßig zadige, wie zerriſſene Ausfehen ihrer Ränder und durch 
ihre weißlichere Färbung unterfcheiden, ſcheinen, wenn fie fo nie 
drig fliehen (denn es giebt auch fehr hoch ſchwebende Hagelwolken) 
die untere Schichte oder Lage einer Maſſe von Wetterwolfen zu 
bilden, an denen fi nach riefenhaftem Maßſtabe eine Reihe fol 
her polariſch gegeneinander gefpannten Elektrizitaͤtstraͤger erzeugt 
bat, dergleichen, wie wir fpäter feben werden, die Plattenpaare 
einer Voltaiſchen Säule vorfiellen. Es ift fhon öfters vorgekom⸗ 
men, daß Wanderer in Gebirgsgegenden in die Mitte einer Has 
gelwolke geriethen, deren Eiskörner, in ihrer Bildung begriffen, 
noch in der Luft ſchwebten. Ein aufmerkfamer Beobachter (Xecoc) 
bemerkte bei einer folchen Gelegenheit, daß die Hagelförner in einer 
totirenden (um fich. felber drehenden) Bewegung begriffen fvaren. 
Die Kälte, welche dergleichen Eismaſſen in einer ziemlich hoben 
Zemperatur ber umgebenden Luft entftehen läßt, fol nach ber 
Anfihe einiger Naturforfcher aus der Verbunftung des. Waſſers 
allein fih kaum herleiten lafien, fo daß man die Mitwirkung noch 
anderer Kräfte der polarifchen Spannung dabei vorausfegen muß, 
Die Dagelkörner erfcheinen meift wie aus ſchaalenartigen Ragen, 


302 42, Die Gewitter. 


eine Über dee anderen zufammengefegt; in ihrer Mitte iſt ein fchnee- 
ähnlicher Kern oder auch wohl ein frembartiger, fefter Körper ein 
gefchloffen, den der Wind von den Abhängen ber Gebirge oder 
vom Boden herzu führte. Ihre Größe fleigt von mehreren Linien 
bis zu mehreren Zollen, denn bei dem Hagelwetter, das 1827 die 
Umgegend von Maftricht traf, hob man Stuͤcke von 6 Zoll Durd- 
meffer auf; bei Clermont 1835 ellipfoidifche Körner von der Größe 
eines Hühnereied, und wenn eine große Menge diefer Körner beim 
Herabfallen fich vereinen, dann geftalten fich diefelben zumeilen zu 
einer gewaltigen Eismaſſe. Gleichwie die graulich.weißen Hagel 
wolken unter und zmifhen den ſchwaͤrzlich dunklen Gewitterwolken 
nur bünne Schichten und Streifen darftellen,, fo trifft auch ihr 
verheerender Schlag unten am Boden öfterd nur einen Strich 
Landes, der nicht über taufend, ja nur einige hundert Fuß Breite, 
dabei aber eine Laͤnge von einer oder etlichen Meilen bat. Indeß 
gidt es Schloffenmwetter, welche diefe Gränze der Ausdehnung um 
ein fehr Bedeutendes überfchreiten. So bildete jener furchtbare Ha- 
gelfhauer, welcher im Jahre 1788 über Frankreich ausbrach, zwei 
von einander getrennte Streifen, deren Länge über hundert Meilen, 
die Breite des einen gegen 2 bi 3, bie des anderen über eine 
Meile betrug. Das Fand das fi) zwiſchen und jenfeits der Gren⸗ 
zen diefer beiden Streifen befand, war verfchont geblieben. Nur 
felten fällt Hagel bei Nacht, noch feltmer im Winter. Auch die 
Länder zwifchen den Wendekreifen haben in den heißen niedrigen 
Ebenen faft niemals, die Falten, in der Nähe ber Pole gelegenen 
nur fehr wenig vom Hagel zu leiden, 

So wie der Regen bringt auch der Hagel die eleftrifhe Span- 
nung der Wolken mit ſich nah dem Boden herab und dient hie 
duch zur allmähligen Ausgleihung berfelben. Jene Spannung 
1öft fich jedoch auch nicht felten auf eine für uns noch weniger be 
merkbare Weiſe durch ein fanftes Ueberſtroͤmen ber entgegengefegten 
Spannungen aus der einen Wolfe in bie andere oder aus der 
Luft in einzelne hervorragende, einer Leitung fählge Punkte ber 
Erboberflähe auf. Aus einem ſolchen ruhigeren, minder gemalt 
famen Ueberſtroͤmen der Elektrizität von einer Schicht der Wolken 
oder atmofphärifhen Dünfte in bie andere mag zumeilen das fo 
genannte Wetterleuchten entfpringen, wiewohl dieſes in den 
meiften Fällen nichts Anderes ift als der Widerſchein der Blitze 
eines fernen, unter unferem Horizont ftehenden Gewitter in den 
unteren dichteren Lagen der Atmofphäre. Die Möglichkeit jedoch, 
eine allmählige, oder felbft beim Einfchlagen des Blitzes gefahrlofe, 
Entladung der Luftelektrizität zu bewirken, mar der menfchlichen 
Kunft, feit ihrer näheren Bekanntfchaft mit den elektriſchen Er⸗ 
fheinungen, auf eine fehr wirkſame Weiſe dargeboten. 














48. Die Blitzableiter. 303 


43. Die Blits ableiter. 


Wenn man bei unferen eleftrifhen Vorrichtungen an einer 
Hark geladenen Leidner Flafche oder Batterie die Belegungen ber 
beiden Seiten mit gläfernen Stangen berührt, dann hat man von 
Peiner Entladung zu leiden; man kann den geladenen Conductor 
einer Eieftrifirmafchine, wenn man die Hand mit dichten, feidenen 
Handſchuhen bekleidet, anrühren, ohne daß ein Funke entfleht oder 
eine Erfhütterung im Arme empfunden wird, während beides in 
ziemlicher Stärke fich zeigt, wenn man den Gonductor mit einem 
Metalldraht berührt, der etwa in einen metallenen Knopf fi en- 
digt. Seitdem biefe Eigenfchaft mehrerer Körper, den Einfluß der 
Efektrizität abzuwehren und zu hemmen, bekannt mar, fehlte es 
nicht an Solchen, die ſich der ifolirenden Stoffe ale eines Schuß: 
mitteld gegen den Wetterſtrahl bedienen mwollten. Ein reicher Ade⸗ 
liger im voriger Jahrhundert, der fich ganz außerordentlich vor Ge⸗ 
mittern fürdhtete, ließ alle Zimmer feines Sommerhanfes an ben 
Wänden, an der Dede und am Boden dicht mit feidenen Stoffen 
belegen, alles filberne und metallifche Geräthe hatte er aus diefem 
Gebaͤude entfernen laffen, er fpeifte aus gläfernen Schüffeln uub 
Tellern; Meſſer, Gabeln und Löffel waren aus Elfenbein bereitet, 
das wenigftens nicht zu den vorzüglicheren Elektrizitätsleitern ge⸗ 
sechnet wurde, er felber, ganz in Seide geBleibet, ſaß auf möglichfi 
vollkommen iſolirten Stühlen, fchlief zwiſchen feidenen Deden und 
Dolftern in einer aus dem gleichen Stoff gewebten Dängematte, 
die durch ftarke feidene Schnüre an dem Gebaͤlke der Dede befe⸗ 
fligt war. Dennody, fo erzählt man, nahm der furhtfame Mann 
zwar nicht durch den gewöhnlichen Blitz, wohl aber durch ein dem 
Blitze ähnliches Ereigniß ein gewaltfames Ende , indem er einmal 
im Spätherbft, wo er kein Gemitter zu fürchten hatte, auf einer 
Sagdparthie durch fein eigenes Schießgewehr, das er aus dem Ge- 
ſtraͤuch, worein es von ihm geftellt war, am oberen Ende bes Lau- 
fes herauszog, tödtlich verlegt wurde. 

Allerdings iſt jede Vorſichtsmaßregel, die man fuͤr ſich und 
ſein Haus gegen den Wetterſchlag treffen kann, zu billigen, ſobald 
ſie nur mit Maaß und Verſtand angewendet wird. Es bedarf 
dabei weder der Seide noch des Peches oder Glaſes, welche doch 
nur in einem ſehr eng beſchraͤnkten Kreiſe einigen Schutz gewaͤhren 
koͤnnten, ſondern einer kuͤhnen Handhabung der furchtbaren Natur⸗ 
gewalt ſelber, durch Mittel, welche dieſer einen großen Theil ihrer 
Kraft benehmen und ihrer Stroͤmung einen Weg anweiſen, auf 
welchem ſie, ohne dem Leben, dem Hab und Gut der Menſchen 
Gefahr zu bringen, ihren Lauf aus der Luft nach der Erde oder 
dem Gewaͤſſer verfolgen kann. 

Ein franzoͤſiſcher Gelehrter, der Abt Nollet, hatte ſchon vor 
der Mitte des vorigen Jahrhunderts darauf aufmerkſam gemacht, 
daß eine ſtark geladene Leidner Flaſche oder elektriſche Batterie ihre 


304 43. Die Blitzableiter. 


Ladung ganz allmählig und unbemerkbar aueftröme, wenn man 
nahe an dem haften = oder tnopfförmigen Drahtende ihrer inneren 
Belegung eine eiferne Spige anbrädte, bie das Verbreiten der 
Elektrizität in die Umgebung vermittelte. Cine 18 Fuß lang 
blecherne Röhre, die in horizontaler Stellung in ſeidenen Schnüren 
fo aufgehängt war, daß die eine Hälfte derfelben Über das Fenſter 
hinaus ins Freie ragte, die andere Ind Zimmer hineinging, wurde, 
wenn Gewitter am Himmel waren, ſtark elektrifh. An einigen 
eifernen Kreuzen und metallenen Knöpfen der Thurmfpigen wollte 
man bemerkt haben, daß die feurigen Strahlen, die ſich vor und 
während Gewittern an ihnen zeigten, übereinflimmend mit dem, 
was fchon die Völker des Alterthums hierüber gelehrt hatten, ein 
günftiges Zeichen für die Bewohner der Nachbarſchaft wären, denn 
wo und wenn biefe Erſcheinung fich zeige, da fei Feine Gefahr vom 
Blig zu befürchten. Diefe Elemente waren vorhanden und es de 
durfte nur ihrer Anwendung zum Dienft und Nugen- bes menſch⸗ 
lihen Haushaltes. 

Sn Amerika lebte damals, als Nollet in Frankreich feine 
Beobachtungen über die Elektrizität machte, ein Mann, beffen Ar 
denken nicht nur bei unferen Zeitgenoffen noch in hoher Achtung 
flieht, fondern auch in fernkfünftigen Zeiten eine ehrende Anerken⸗ 
nung finden wird: Benjamin Franklin. Der große Lauf 
des Lebens dieſes £refflihen Mannes hat im Jahre 1706 einen 
gar Kleinen Anfang genommen, auf einer Infelvorftadt der ame 
tanifhen Stadt Bofton, wo fein Vater ein armer Seifenfieder 
war. Bis in fein zwölftes Jahr mußte Benjamin feinem Date 
bei der Profeſſion helfen, dann zog ihn der Eräftige, innere Antrieb 
zum Erkennen und Wiffen von Talg und: von den Laugenfäflern 
hinweg, in einen Beruf, der feinen innerften Neigungen befjer ent 
ſprach. . Sein älterer Bruder, ein Buchbruder, war fo eben aus 
England zuruͤckgekehrt, bei diefem trat er ale Lehrling und Gehülfe 
in das Gefchäft ein. Aber das Bücherlefen zog ihn noch mehr an 
als das Bücherdruden; jede freie Stunde des Tages und öfters 
auch einen Theil der Nacht benügte er mit einem Eifer, ber dem 
des Duval gleichkam, zum Lefen nüglicher , gut gefchriebener Buͤ⸗ 
her. Benjamin war erft 14 Jahre alt, da-fein Bruder, der Bud 
drucker, auf den Einfall kam, eine Art von Zeitung oder Unter 
haltungsblatt heraus zu geben. Aber gerade an ber Hauptſache, 
an folhen Auffägen, die fich recht zur Unterhaltung eigneten und 
dabei zugleich beiehrend waren, fehlte es im Anfang ganz. Da 
entfchloß ſich Benjamin, dem Mangel abzuhelfen und feine jugend 
lichen Arbeiten fanden fo allgemeinen Beifall, daß der Gouvernent 
der Provinz, Val. Keith, ihn aufforderte, ein felbftftändiges Buch⸗ 
drucdergefchäft zu begründen und ihm eine Summe gab, mit web 
her er nah England reifen und dort alles Das einkaufen konnte, 
was zu einer Buchdruckerwerkſtatt gehört. Dieſes gefchah im 
Jahre 1724, aber erft 1726 gelangte Franklin, damals 20 Jahre 











43, Die Bfigableiter. 305 


alt, dazu, den Plan auszuführen. Der geiftig reich begabte junge 
Mann begnügte ſich jedoch nicht damit, fremde Bücher zu drucken, 
fondern er felber fchrieb für feine Druderei Werke, wie damals 
noch keine aus Amerika hervorgegangen waren. In diefen Schrif- 
ten, fo wie in feiner pennfploanifchen Zeitung und in dem Alma⸗ 
nah, den er jährlich herausgab, lebte und webte ein Geift der 
Einfiht und der Liebe zum Vaterland mie zu feinem Volke, ber 
überall Eingang zu dem Verſtand und zu dem Herzen der Men- 
fhen fand. In folhen Büchern wie feine „Sprichwörter des gu« 
ten Heinrich” iſt ein Zon getroffen, welcher Allen, den Vorneh⸗ 
men wie den Geringen, den Bürgern wie den Bauern wohl that; 
allenthalben wußte er den Antrieb zum geiftigen Erkennen und zur 
Beredlung bed Herzens zu weden und Mittel zu erfinden ober 
nadhzumeifen, welche den Mängeln und Befchwerden des menfch- 
lihen Lebens abhelfen, und das dAußere wie innere Wohlbefinden 
bes Volkes fördern konnten; felbft die Einrichtung der Sparöfen 
befchäftigte ihn. Eine ganz befondere Freude gewährte ihm das 
Sorfchen in den Ziefen der Naturmwifienfhaft. Zum Verſtaͤndniß 
vieler bis dahin raͤthſelhaft gebliebener Naturerfheinungen ſchien 
ihm die gründlichere Erkenntniß der Elektrizitaͤt den Schlüffel zu 
enthalten. Seine Forfchungen verbreiteten über das Weſen und 
die Wirkungen diefer Naturkraft ein neues Licht; namentlich hatte 
er zuerft über den Grund der elektrifchen Polaritäten eine Mare 
Anſicht aufgeftelt; denn von ihm fchreibt ſich die Anerkennung 
eines pofitiven und eines negativen Verhältniffes der elektrifchen 
Spannung her. Er auch, der feltene Mann, welcher von der 
Vorfehung dazu beflimmt war, feinem Vaterland und befien Bes 
wohnern in bee Zeit großer Ungemitter, welche über die damals 
noch englifchen Eolonien, die jegigen ameritanifchen Sreiftaaten, Fam, 
ein vermittelnder Ableiter zu werden, der durch feine Weisheit und 
Milde die drohenden Gefahren hinweglenkte und verminberte, ifl 
ber wahre Erfinder jener Bligableiter geworden, die man jest über 
ben Häufern und an den Thürmen faft aller Städte, fo wie vieler 
Dörfer unferes Vaterlandes ſieht. Schon im Jahre 1751 theikte 
er feine Vorfchläge zur zweckmaͤßigſten Einrichtung diefer menſch⸗ 
lihen Schug = und Trugmittel gegen bie verheerende. Macht des 
Bliges in einem Briefe mit, der nebft anderen Briefen ähnlichen 
Inhaltes an den Engländer Eollifon gerichtet iſt. Die erften 
Berfuche, durch welche die Kraft des Gewitterblitzes aus den Wols 
ken herabgezogen wurde in die Gewalt des Menfchen, wobei ſich 
dann deutlich ergab, daß fie eines Weſens ſei mit ber Elektrizität, 
die man dem Glas oder Pech durch Reiben entlodt, wurden theils 
mit aufrecht flehenden, oben in eine Spige auslaufenden, nad 
unten tfolirten eifernen Stangen, theild mit Papierdrachen, diefem 
Spielzeug unferer Kinder gemacht, die nad) vorn in einer Metalls 
fpige endigten und mit einer, bie Elektrizität leitenden, großentheils 
banfenen Schnur in Verbindung flunden, an deren unserem Enbs 


20 


306 43. Die Biigableiter. 


ein Schlüffel oder ähnliches Metallſtuͤckk hing. Diefes untere Ende 
wurbe, um jede Gefahr zu vermeiden, an einem feldenen Seil ge 
halten und zu dem Beobachter hingezogen. Wenn der Papierdrache 
bei gemwitterhafter Stimmung der Atmofphäre emporgefttegen mar, 
dann zeigte das Metall, am unteren Ende ber Schnur, eine öfter 
ſehr auffallend ſtarke elektrifhe Ladung. ine Stange oben mit 
einer Spige, zeigte biefelbe Fähigkeit zum Serableiten ber Luftelek⸗ 
trizität, und bei folcher Gelegenheit beobachtete Franklin, daß dieſe 
nicht immer von gleicher polarifcher Art, fondern zumeilen pofitiv 
(roie in der Regel die des Glaſes), andere Male negativ (wie bie 
des Peches oder Bernfteines) fe. Beim Ausbruch der Gemitter 
bemerkte man, daß, fo oft die atmofphärifche Spannung unter 
Blig und Donner (mithin in gewiſſer Nähe) fich entladen hatte, 
die eleftrifhe Spannung an der Stange fi verminderte ober ver 
for, bald nachher aber wieder ſich einfand und fleigerte. 

Diefe erften Verſuche mit ber Luftelektrizität bei Gerpittern find 
nicht immer ohne Gefahr und Schaden der Beobachter abgelaufen. 
Profeffor Richmann in Petersburg wollte am 6. Ausuft 175 
ebenfalls die Stärke der Elektrizitätsleitung einer eifernen Stange 
prüfen und ward dabei durch den Schlag ber ſtarken elektrifchen 
Spannung, bie fi ber Stange aus der Gemitterluft mitgetheilt 
hatte, wie vom Blig getoͤdtet. Auch Andere bemerkten, daß ſolche 
tfolirte Stangen bei gewiſſen Stimmungen der Atmofphäre eine 
elektrifhe Ladung annehmen, welche jene unferer Eräftigften elektr: 
[hen Apparate überfteigt. 0 

Franklin, in feinem großen, viel umfaffenden Berufe, als 
Dfleger und Schüger der Unabhängigkeit und Selbſtſtaͤndigkeit der 
ameritanifchen Freiflaaten, deren Bewohnern er fhon durch feine 
Schriften den rechten und würdigen Gebrauch ber Freiheit gelehrt 
hatte, verfäumte es nicht, feiner Erfindung der Bligableiter bie 
möglichft befte Vollendung und Anwendbarkeit zu geben. Als er im 
Sabre 1790 ftarb, da hatte man ſich nicht nur in allen Städten 
des nörblihen Ameritas, fondern auch auf Schiffen im Meer 
und in Europas Feftland davon überzeugt, daß diefer große Ame 
rikaner nicht fruchtlos und vergebens ſich bemüht habe, die Span: 
nung, weldhe während der Gewitter zwifchen der Erde und ihrem 
leiblihen Himmel befteht, friedlich auszugleichen und beizulegen, 
eben fo wie er ald Staatsmann die gefahrbrohende Spannung 
zwifchen den jugendlich aufleimenden Kreiftaaten und dem maädhti: 
gen Mutterſtaat England mit glüdlichem Erfolge beigelegt hatte. 

Die Einrichtung unferer Bligableiter ift kürzlich folgende: Eine 
eiferne Stange, deren Stärke etwa ein und ein Viertel Zoll be 
trägt und deren fpisiged Ende, um fein Roften zu verhüten, ver 
goldet, oder aus Platina gebildet ift, wird bis zu eimer Hähe von 
3 bis 4 Fuß über dem Dad des Gebäudes, dad man dadurch 
vor Gewitterfhaden ſchuͤtzen will, errichtet, und mit einer anderen 
Stange von Metall, oder mit ſtarken Drähten verbunden, melde 


43. Die Blipnbleiter. 307 


zuerſt horizontal über den Giebel des Daches, dann von biefem 
nad) ber feuchten Erde ode: in das Waffer herablaufen. Wenn 
die Stange vier Fuß hoch ift, erftredt fih der Kreis ihrer Wirk: 
ſamkeit rings umber auf eine Weite von 8 Fuß, deshalb müflen 
die Dächer großer Gebäude, über deren Schügüng etwa mit be 
fonderer Aengftlichleit gemacht wird, in verhältnifmäßigen Abftäns 
den mit mehreren ſolchen Stangen verfehen fein, welche unter ſich 
in gut leitender Verbindung ftehen, und in biefe Leitung muͤſſen 
auch, durch Mebendrähte oder Stangen, alle etwa in dem Gebäude 
enthaltenen größeren Metallmafien aufgenommen fein. In ben 
meiften Fällen werden die Gemwitterableiter von ſolcher Einrichtung 
das Einſchlagen bes Bliged verhüten, und felbit da, mo ihrer viele 
in einem nicht fehr großen Raume vereint ftehen, die Heftigkeit 
der Gewitter mindern. In Beziehung hierauf will man bemerkt 
haben, daß, feit der Errichtung der Bligableiter, der Ausbruch bef- 
tiger Gewitter über manchen Städten feltener geworben fei, ale er 
bies in früheren Zeiten war. Indeß kann es doch auch einzelng 
Bälle geben, in denen all’ unfere menfchlihe Kunft und Vorſicht 
zur Abwehr des Blitzes nicht ausreichend befunden wird, Der 
Big kann fo flark fein, daß der Draht oder die Stange ihn nicht 
ganz zu erfaffen und zu leiten vermag ; er kann dann nad) einem 
anderen in der Nähe des Keitungsapparates befindlichen metalli- 
ſchen oder organifchen Körper abfpringen und, wie dies die Erfah— 
rung gelehrt hat, einen Menfchen, der während eines Gemitters, 
mit einem metallenen Geraͤth befchäftigt, am Senfter eines Zimmers, 
in der Mähe des ableitenden Drahtes ftand, auf einige Zeit laͤh⸗ 
men. Auch das Schmelzen des Drahtes kann die Ableitung .un« 
terbrehen und Gefahr bringen, fo wie zumeilen ein heftiger Regen» 
guß mit feinen Strömen den Schlag des Wetters unmittelbar auf 
die Gebäude, nicht auf die Bligableiter ziehen kann, wobei freilich 
die Gefahr des Zündens fehr gering ift, weil die Naͤſſe des Daches 
durch weite Verbreitung feiner Spannung die Deftigkeit des Bliges 
mindert und mit dem binabrinnenden Waffer ihn zum Boden 
hinableitet. 

An der Geſtalt und Wirkſamkeit der eleftrifhen Spigen wie 
der Bligableiter können wir abermals bemerken, welche natürliche 
Macht der Maſſe des Großen gegenüber in dem Kleinen liege. 
Die feinzertheilte Metallmaffe im Platinaſchwamm übt, nad 
Gap. 38 gegen die Federkraft der Luft eine Gewalt aus, bie dem 
fonft fo unumfchräntt herrſchenden Einfluß des Luftdruckes vielfach 
Aberlegen ift, indem fie dem Gas, das fie in ihre Zwiſchenraͤume 
einfaugt, eine Verdichtung mittheilt, welche faum der Drud von 
mehreren hundert Atmofphären bewirken könnte, davon jede einzelne 
mit dem Gewicht von 12 Pfund auf der Fläche eines Quadrat 
zolles laſtet. In ähnlicher Weife ziehen die fein und Elein zerſtaͤub⸗ 
ten Theile der oberften Erdlagen unferer Aeder und Gärten die 
Feuchtigkeit und vor anderen atmofphärifhen Gasarten bie Kohlens 


20 * 


308 43. Die Blitzableiter. 


fäure und das Sauerſtoffgas in ihre Zwiſchenraͤume ein und brin- 
gen hierdurch den Pflanzenkeimen , die in ihnen liegen, bie Ele 
mente der Belebung und Ernährung. 

Ein auffallendes Beifpiel kann uns hierbei lehren, wie fo viel 
anders die .anziehende, im Verborgenen fid) dußernde Kraft ber 
kleinſten Theile im Vergleich mit der Kraft der großen Maſſen oder 
des mechanifchen Drudes wirke. Die menſchliche Kunſt, mit ben 
Mitteln zum Hervorbringen einer räumlichen Zuſammenpreſſung, 
hatte es verfucht, auf mehrere gasförmige Körper einen Drud an 
zumenden, welcher den Drud der atmofphärifhen Luftfäule auf 
die Oberfläche der Erbebenen und des Meeres um viele Male über: 
traf. Schon bei einer fechsmal größeren Verdichtung ale die ift, 
welche es in ber atmofphärifchen Luft empfängt, wird das Ammo⸗ 
niakgas faft ganz zu einem tropfbar flüffigen Körper, der ſich je 
doch, fobald der Druck nachlaͤßt, alsbald wieder zur Luftform aut: 
dehnt. Am leichteften wird eine folche übergewöhnliche Verbichtung 
erhalten, wenn man eine mit metallifchen oder erdigen Srunbfloffen 
zum feften Körper verbundene, Iuftförmige Säure duch eine ſtaͤr⸗ 
tere Säure in einem luftdicht verfchloffenen Gefäß austreibt und 
hierbei dem Inneren des Gefäßes einen fo engen Raum gibt, daf 
die entbundene Säure nur einen Heinen Theil ihres gewöhnlichen 
Umfanges einnehmen kann. Man mifcht in einem gut verfchlof 
fenen eifernen Gefäß Schmwefelfäure und gemeinen, Tohlenfauren 
Kalkftein zufammen; die Schwefelfäure vereint fih, eben fo mie 
fie an freier Luft thun würde, mit der Kalkerde, bie Kohlenſaͤure 
entweicht, unter heftigem Aufbraufen, ale Gas. Wenn die zu 
fammengemifchte Maſſe groß genug war, Tann man auf biefem 
Wege mehrere Pfunde der Kohlenfäure entbinden, in einem Raume, 
welchen unter dem gewöhnlichen Luftdruck fchon einige Loth jenes 
fauren Gaſes volllommen ausfüllen würden. Wenn dann eine 
Darthie der entflehenden Kohlenfäure nach der anderen in ben engen 
Raum eindringt und die Maffen derfelben fich fo zufammendrängen, 
daß ihre Sefammtausbehnung nur etwa nod den 36. Theil bes 
vatürlihen Umfanges einnehmen kann, dann geht mit dem koh—⸗ 
lenfauren Gas eine merkwürdige Veränderung vor. Daffelbe nimmt 
jegt die Sorm einer tropfbaren Fluͤſſigkeit an, behnt ſich jedoch, 
fobald ihm hierzu der nöthige Raum gegeben wird, mit fo unge 
heurer Kraft und Schnelligkeit wieder zu feinem natürlichen Um: 
fang aus, daß wir nur wenige Beifpiele von folcher gemaltchätigen 
Entbindung eines Stoffes aus den Banden kennen in welchen bie 
menfchliche Kunft ihn gefchloffen hielt. Für’s Erfte wird bei dem 
außerordentlich fchnellen Uebergang der flüffigen in bie Luftform 
der Umgebung Wärme entzogen; es entfteht eine fo große Kälte, 
daß ein Theil der Eünftlihen Ftüffigkeit zu einer weißen, ſchneear⸗ 
tigen Maffe erftarrt. Der Grad diefer Kälte, wenn man mit fold’ 
feſter Kohlenfäure Aether zufammenmifcht, iſt für unfere thermo⸗ 
metrifhen Werkzeuge unmeßbar groß, denn in Berührung mit die 








43. Die Blitzableite. 309 


fem Aethergemenge kann man eine Quedfilbermaffe von vielen 
Dfund Gewicht in wenig Augenbliden fo feft gefrieren machen, 
daß ſich diefelbe Hämmern läßt. Dagegen nimmt die einmal feft 
gewordene Kohlenfäure unter anderen Umftänden die Gasform nur 
allmählig an, man kann fie in die Hand nehmen, ohne eine an- 
dere Unbequemlichkeit davon zu fpüren als das Gefühl einer außer 
ordentlich ſtarken Kälte. Nur die tropfbar flüffige, der Gasform 
noch näher ſtehende, verbichtete Kohlenſaͤure iſt es, welche bei ihrem 
plöglichen Herausflrömen aus einer Glasröhre, bdiefe in zahlloſe 
Splitter zerfchlägt, und melde vor einiger Zeit im Laboratorium 
der polntechnifhen Schule zu Paris einen Unglüdsfall erzeugte, 
welcher vielfach, in Öffentlichen Blättern befprochen worden iſt. Ein 
Gehuͤlfe des Lehrers der Chemie hatte auf die oben erwähnte Weife 
in einem gußeifernen Cplinder von 2%/,. Fuß Länge und 1 Fuß 
Durchmeffer, der fhon oft zu diefen Verfuchen benugt worden mar, 
die flüffige Kohlenſäure bereitet, da zerfprengte die gewaltfam vers 
dichtete Gasart den Cylinder und fchleuderte die Bruchſtuͤcke mit 
fo furchtbarer Gewalt umher, daß fie dem Gehülfen beide Beine 
abſchlugen und fo ihn plöglich tödteten. Wäre die Erplofion eine 
Viertelftunde fpäter in dem von Zuhörern erfüllten Lehrſaale er- 
folgt, dann würde biefelbe vielen Menfchenieben ein gemwaltfames 
Ende gefest haben. 

Jene Heinen, zarten Haͤrchen und Borſten, welche die Ober: 
flähe mancher, namentlich in Gebirgsgegenden machfenden Pflans 
zen bededen, ziehen, eben fo wie die @ufgeloderte, fein zertheilte 
Adererde die atmofphärifhen Luftarten und Dämpfe an und füh- 
ren biefelben, im Inneren ber Zwiſchenraͤume des Pflanzenkörpers 
wie der Erdftäubchen einer Verdichtung entgegen, beren Grad uns: 
fere Kunft kaum zu erreichen vermag. Hierbei zeigt ſich jedoch keine 
Spur eines gemaltthätigen, zerftörend wirkenden Anftrebens der 
mächtig verbichteten Stoffe nach der Zuruͤckkehr in ihren urfprüng- 
lichen Zuſtand, fondern mo eine folhe Ummandlung gefchieht, da 
geht fie eben fo unbemerkbar ftill und fanft von flatten, als bie 
Verdichtung dieſes that. 

Auch die metallenen Spitzen benehmen ihrer atmoſphaͤriſchen 
Umgebung wie jedem mit Elektrizitaͤt geladenen Koͤrper, in deſſen 
Naͤhe ſie kommen, in einer oft kaum merklichen oder doch gefahr⸗ 
loſen Weiſe die polariſche Spannung; ſie heben hierdurch den 
gewaltſamen Charakter der Entladung auf und theilen dem Boden 
in groͤßeſter Fuͤlle den elektriſchen Einfluß mit. Der ſtillere, ver⸗ 
borgnere Gang der Wirkſamkeit, welcher die anſcheinend kleinſten 
Mittel in Bewegung fest, zeigt ſich auch hier als der erfolgreichſte, 
durch welchen das Meifte erlangt wird, und der am ficherfien 
und feichteften zum Ziele führt. 





310 44. Elektrizitaͤtsleiter im Dienfte des Feldbaues. 


4. Die Erfindung bes Blipableiters im Dienfte bes 
Feldbaues. 


Die Naturkunde unſerer Tage hat allerdings durch ihre Er: 
findungen Dinge möglich gemacht, deren Erreichbarkeit und Aus: 
führbarkeit auch den einfichtevoilften Männern der älteren Zeiten 
nicht im Traume eingefallen wäre. Wir haben in den vorher 
gehenden Gapiteln diefes Buͤchleins ſchon viele Beiſpiele dieſer Art 
angeführt, das aber, welches wir hier geben wollen, ift wohl zu 
naͤchſt nur als ein Verfuch zu betrachten, der zu einer, vielleicht felbft 
für den Landbau, nicht unbebeutenden Erfindung führen koͤnnte. 

Der Blig, wenn er in feiner Majeftät und Gewalt aus feinen 
Höhen herabfährt nad) unferen Tiefen, bat etwas Erſchuͤtterndes 
und Zerftörendes, das kein lebendes Weſen zu ertragen vermag; 
wenn er dagegen, wie im fanften, ftillen Säufeln, als ein fort 
währendes, ruhiges Ueberſtroͤmen der Elektrizicät zur irdifchen Kör 
permeit ſich naht, dann ift er aus einem Zerflörer zu einem väter 
lichen Ernährer und Erhalter des Lebens geworden. Das elektrifce 
Gewitter mit den Schredniffen feiner Blite und feines Donners 
ftelle uns einen Zufland der Natur vor Augen, bei welchem das 
Untere, der Boden, dem Höheren oder dem Lufthimmel frembdartig 
geworden, mit ihm in jene flärfere elektrifhe Spannung getreten 
ft, die fih nur durch den gewaltſamen Vorgang der Entladung 
wieder ausgleichen kann. Dagegen ftehen diefe beiden Gegenfäge, 
Erde und Luft, Unteres und Oberes bei dem Vorgang der flillen 
Ueberſtroͤmung, bed gegenfeitigen Gebens und Nehmens in einem 
fortwährenden, friedlichen Verein und Verkehr; es kommt Dabei zu 
keiner ſtaͤrkeren Spannung, zu feiner gewaltfamen Entladung. 

Ein ſolcher ftiller, friedliher TWechfelverkehr findet im Grunde 
genommen befländig zwiſchen der grünenden, lebendig frifchen 
Pflanzenwelt und der von eleftrifhen Kräften durchwirkten Atmo- 
Sphäre ftatt; jeder Baum, jedes Kraut ift nad feinem Maaße durd) 
alle feine Blätter und andere Theile ein Leiter der Elektrität. Daß 
diefe Naturkraft foͤrdernden Einfluß auf das Wahsthum der Pflan- 
gen, auf das fchnellere und Eräftigere Keimen, ihrer Samen habe, 
das weiß man fchon feit hundert Jahren: die beiden Myrtenbäume, 
welche Maimbrai zu Edinburg im October dei Jahres 1745 
mehrere Wochen lang elektrifirte, trieben Knospen und friſche Aefte, 
‚während fi) andere Bäume ihrer Art in berfelben Zeit ſchon ber 
Ruhe und Abfpannung des herannahenden Winters hingaben, und 
der gelehrte Abt Bartholon ſprach ed mit großer Beflimmatheit 
aus, daß die Elektrizität auf die Ernährung und das Wachsthum 
der Pflanzen den befräftigendften Einfluß habe Ohnehin, dies 
fahen wir fhon oben im 5. Cap., nimmt der wundervolle Organis⸗ 
mus eines großen Theiles der Gewächle feine Nahrung in einer 
und unfihtbaren Weife aus der Atmofphäre. Deshalb Tag ber 
Einfall nahe, den abermals ein mwaderer Schottländer, hundert 











44. Elektrigieätsteiter im Dienfte bes Feldbaues. 311 


Jahre nach dem Vorgang feines Landemannes Maimbrai, Herr 
Forſter zu Findraffie, gehabt und ausgeführt hat: die Elektrizität 
auch einmal im Großen zur Förderung ded Wachsſthums und 
Srüchtetragens unferer nugbaren Gewäcfe anzuwenden. Und zwar 
nicht jene ſtuͤck- und ruckweiſe Eleinliche, welche wir künftlich durch 
unfere Reibungsmafchinen, immerhin als einen gewaltthätigen Blig 
im Kleinen erzeugen, auch nicht die Strömungen einer galvanifchen 
oder eleftromagnetifhen Vorrichtung, fondern den Strom, der aus 
jenem unverfiegbaren, unerfchöpflihen Quell hervordringt, welder.- 
in dem MWechfelverhältniß der Luft und der Oberfläche unferes Pla: 
neten liegt. Der Verſuch, den man mit bem Strome der Luftelek⸗ 
trizität zu folhem Zwecke anftellte, war folgender: 

Bon einem Gerftenfeld, das in einer der nörblicheren Gegen» 
den von Schottland feine Lage hat, und das in allen feinen Thei⸗ 
len auf gleiche Weife gepflügt, befäet und gebüngt war, wurde ein 
Stuͤck, das 80 Ellen lang, 55 Ellen breit war, dem fortwährenden 
Einfluß und Strömungen ber Luftelektrizität dadurch zugaͤnglich ge⸗ 
madıt, daß man anden vier Eden des länglichen, genau nad Nord 
und Sud, Oſt und Weft orientirten Viereckes Pflöde einfhlug, an denen, 
von einem zum anderen gehend, ein ftarfer Eifendraht befeftige war, 
welcher drei Zoll tief unter der Oberfläche des Bodens feinen Ver: 
lauf nahm. Sn der Mitte der Eürzeren Seiten des Viereckes (in 
Nord und Süden) wurden 15 Fuß hohe Stangen aufgerichtet, von 
deren Spigen oben in der Höhe ein Verbindungsdraht über das 
abgegranzte Stuͤck des Feldes der größeren Länge beffelben nad 
binlief, und zugleih an feinen Enden, die fi) zum Fuße ber beiden 
Stangen binabfenften, mit den vorhin erwähnten, das Feldftüd 
umfpannenden Dräahten in Verbindung gefegt war. "Der Einfluß 
der Luftelektrizitat kann bei einer folhen Einrichtung noch durch 
einen Vorgang ber galvanifc elektrifchen Strömung nad Willkühr 
verflärkt werden, indem man außen am Rande ber beiden längeren 
Seiten (in Oft und Welt), an der einen Seite einen Sad mit 
Holztohlen, an der anderen mit Zinfplatten in die Erde gräbt, 
und diefe beiden zur flarken polarifhen Spannung geeigneten Sub: 
flanzen durch einen Metalldraht in Verbindung fest. Auch diefer 
dritte Draht wird in bderfelben Höhe, in welcher ber zweite von den 
die Luftelektrizität leitenden Stangen verläuft, oben durch die Luft ges 
jogen, indem man an jeder der beiden Seiten, da wo der eine und 
der andere Sad vergraben ift, eine Stange errichtet, an welcher 
der Draht bis zu ihrem Ende hinaufgezogen wird. Gerade in der 
Mitte über dem Feldſtuͤck durchkreuzen fi) der von Nord nah Süd 
verlaufende, zur Leitung der Lufteleftrizität, und der von Oft nad . 
Meft gehende zur Leitung der galvanifhen Strömung beftimmte 
Draht. So wird durch den Draht, welcher unter dem Boden hin 
von einem der vier Edipfähle zum anderen, und fo um das ganze 
Feldſtuͤck an allen vier Seiten herumlaͤuft, eine beftändige elektriſche 
Strömung in ber Tiefe fortgeleitet, welche aus einer anderen, oben 


P\ 


312 44. Elektrizitaͤtsleiter im Dienfte des Feldbaues. 


in ber Höhe flatt findenden: aus dem Wechfelverkehr der Luft und 
des Bodens, fo wie aus der Spannung zweier polarifc entgegen 
gefegten galvanifhen Elemente ihren Urfprung nimmt, fo Daß auf 
biefe MWeife das Feldftük von oben und von unten wie von er 
nem Fadengewebe der elektrifchen Eiuflüffe umfponnen und durch⸗ 
wirkt ift. 

Der Einfluß diefer Vorrichtung auf das Gedeihen ber Saat 
fol ein überaus augenfälliger gemwefen fein. Der Morgen Feldes, 
den man zum Verfuch benugt, und in welchem man bie Pflöde 
mit ihren unterirdifchen Werbindungsdrähten fo wie mit ihren 
oberen Stangendrähten angebracht hatte, trug nad dem Bericht 
des Heren Forſter 131/, Viertel Gerfte, während der Ertrag der 
angränzenden, ganz auf gleihe Weife behandelten Feldſtuͤcken nur 
der gewöhnliche von 5 bis 6 Viertel auf den Morgen war. Ueber 
dieß waren auch bie auf dem elektrifirten Feldſtuͤckck gewonnenen 
Körner fo fubftanziös, daß der Scheffel derfelben 2 Pfund mehr 
wog als ber Scheffel der anderen, in gewöhnlicher Weife gezoge 
nen Gerſte. 

Auch im Kleinen wurde ein Ähnlicher Verſuch mit glei 
günftigem Erfolge angeftellt. Imei Gartenbeete wurden mit Senf 
faamen befäet, für das eine derfelben der Einfluß der Elektrizität 
angewendet, das anbere fich felber uͤberlaſſen. Im erfleren erreich⸗ 
ten die Pflanzen in berfelben Zeit eine Höhe von 3!/, Boll, in 
welcher fie im anderem bis zu einem Zoll emporwuchſen. Wenn 
demnad der Einfluß der oben befchriebenen Zuleitung der Luftelek⸗ 
trizitaͤt auf das Pflanzenwahsthum aud Fein folder übermäßig 
befehleunigender ift, wie der eines ſtarken, kuͤnſtlich erregten elek 
trifchen Stromes, mittelft deffen, wie man fagt, ein franzöfifcher 
Phyſiker und Freund der Gärtnerei die Wette gewann, daß er den 
Saamen von Kreffe in derfelben Zeit zur Benugung für die Tafel 
wollte hervorfproffen und aufmachen laſſen, als ein Anderer nöthig 
hatte, um eine Kalbskeule gar zu braten, fo könnte dafür jener 
Einfluß defto naturkräftiger und nachhaltiger fein. 

Die Koften zur Anlegung des elettrifchen Leitungsapparates 
tourden von dem Erfinder deſſelben für den Ader Landes zu 12 fl. 
berechnet. Doch verringert ſich diefe Auslage verhältnigmäßig befto 
mehr, je größer die Ausdehnung des von Drähten umfponnenen 
Raumes ift, und ohnfehlbar könnte, nach Forſter's Anficht, eine 
ſolche Vorrichtung für 10 bis 15 Jahre brauchbar fein, wenn man 
die Drähte jedes Jahr, wenn fie ihre Dienfte geleiftet haben, aus 
dem Boden heraus und von den Stangen hinwegnähme, und dann 
zur Saatzeit wieder einfeste. 

Diefe fonderbaren Verfuche mit einer Befruchtungsmeife ber 
Gelder, welche bie Kunft des Menfchen aus der Luft herabzieht, 
wären allerdings der Wiederholung Werth, und es läßt fich Vieles 
und Bedeutendes für die Möglichkeit ihres Gelingens anführen, 
obgleih auch auf der anderen Seite manches Bedenken dagegen 


n 


45. Der Balvanismus, 313 


erhoben werden koͤnnte. Wir gedenken uns in einem fpäteren Ca⸗ 
pitel noch einmal, wenn auch nur in vorübergehender Weife, mit 
Diefem Gegenſtand zu befchäftigen, vorher aber wollen wir das 
Meich der eleftromagnetifhen Wirkfamkeiten ( AUgentien), auch nad) 
mehreren anderen feiner Erfcheinungsformen betrachten. An 
ihnen allen wird fidy uns eine wefentliche Verwandtſchaft mit den 
Lebensdußerungen zeigen, durch welche die Seele in dem organifchen 
Leibe der Pflanzen wie der Thiere fich kund gibt, zugleich aber auch) 
eine Verſchiedenheit von dem eigentlichen Wefen der Seele felber, 
welche eben fo groß ift als jene des Blutes, das in unferen Adern 
wallt, von ben Säften, bie. unfer Leib aus den Nahrungsmitteln 
zur Bereitung und zum Wiedererfag des Blutes in fih aufnimmt. 
In einem folhen Verhältniß fteht namentlich auch das Seelenleben 
der Pflanze zu der Elektrizität, deren Einfluß ihm im natürlichen 
Berlaufe zur Bekräftigung dienen, fo wie andere Male nuglos, ja 
nachtheilig fein kann. 


45. Der Salvanismus. 


Unter allen Körpern der Erde find im Allgemeinen die Mes 
talle für die Mittheilung und Leitung der Elektrizität, der Wärme 
und des Magnetismus am empfänglichfien. Sie find in ihrem 
reinen Zuftand für die Lichtſtrahlen undurchdringbar, und wenn fie 
nicht, wie zumeilen das Gold, in außerordentlih dünne Blättchen 
gefchlagen werden, volltommen unduchfichtig, zugleich aber find 
fie die erleuchtbarften von allen Körpern, denn die fpiegelnd glatte 
Fläche der polirten Metalle ſtrahlt das Licht der Sonne in feiner 
vollften Stärke zurüd; ber metallene Brennfpiegel giebt das Licht 
eines einzigen Lämpchens in einem bis zum Sonnenlicht verflärkten 
Maaße wieder. MWie in diefem Verhalten gegen das Kicht glaubte 
man auch in dem gegen die Elektrizität eine Berechtigung zu fin= 
den, die Metalle als blofe Empfänger, nicht ald Selbſterzeuger 
und Geber der elettrifhen Spannung zu betrachten, und hierauf 
gründete ſich die Eintheilung ber Körper in felbftelektrifhe und in 
leitende. Die Entdedungen im Gebiet des Galvanismus haben in 
diefer Beziehung eine andere Anftcht begründet, und zu großen 
Auffhlüffen geführt über die Bedeutung und Wirkfamteit der Dies 
tale in der irdifchen Natur. 

Wenn man zwei polirte Metallplatten, eine etwa von Bink, 
bie andere von Kupfer, jede an eine befondere Siegelladftange oder 
an einen anderen ifolirenden Handgriff befeftigt, und hierauf beide 
mit einander in Berührung bringt, dann zeigt fich bei der Tren⸗ 
nung die eine (die Zink⸗) Platte pofitiv, die andere (die Kupfer: ) 
Platte negativ elektriſch. Die in folcher Weife durch blofe Be 
rührung erzeugte Elektrizität Iäßt fi, eben fo wie die durch Reis 
ben am Glas oder Pech erregte an einen Condenfator — eine 
iſolirt ſtehende Metallplatte — übertragen, und hier zu einer fehr 


314 45, Der Salvantsmus, 


augenfälligen Verſtaͤrkung bringen. Zwei Platten von gleichem 
Metall gerathen, wenn man fie mit einander in Berührung bringt, 
in feine elektrifhe Spannung, wenn man aber von zwei einander 
volltommen gleihen Binfplatten die eine mit einer Silberpfatte 
veibt oder fie mit diefer einige Zeit in Berührung läßt, dann wird 
fie einer elektrifchen Spannung gegen die andere Zinkplatte fähig, 
zu der fie durch die mechfelfeitige Berührung in ein negatives Ver: 
haͤltniß tritt. 

Man kennt bisher noch feinen Körper, der mit folcher Be 
barrlichkeit bei der Berührung mit allen anderen einer gleichen An- 
regung fähigen Körpern die pofitive elektrifche Spannung annähme 
als das Zink, nähft ihm folgen das metallifhe Blei, Zinn, Eifen, 
Wismuth, Kobalt, Kupfer u. fe w. Mährend aber das Blei zu 
allen den Metallen, welche in der eben genannten Reihe nad) ihm 
genannt find, fich pofitiv verhält, zeigt es fich negativ gegen das 
Zink; Eifen negativ gegen Zinn, Blei und vor allem gegen Zink, 
pofitio aber gegen Wismuth, Kobalt, Kupfer. Und auch das 
Kupfer, negativ gegen alle in der Meihe voranftehende, nimmt in 
Berührung mit Spießglanz, Platin, Gold, Quedfilber, Silber, 
Kohle, Sraphit oder Reisblei und Erpftallifirtem Graubraunfteinerz 
eine pofltive Spannung an, welche um fo ftärker ift, je weiter in 
ber eben angeführten Reihe ein Körper von ihm abliegt. Wenn 
man deshalb Zink mit Erpflallifirtem Graubraunfteinerz in Wech⸗ 
felverkehr fest, dann wird der elektrifche Gegenfag am ftärkften 
hervortreten, weil diefe beiden Körper auf der Stufenleiter am 
weiteften auseinander liegen; auch bei der wechfelfeitigen Berührung 
einer Zink» und einer Silberplatte wird das Zink eine flärfere po- 
fitive, da8 Silber eine flärfere negative Spannung annehmen, ale 
bie ift, welche durch Zink und Kupfer bewirkt wird, 

Der polarifche Gegenfag, den wie hierbei ermachen fehen, fcheint 
in geroiffem Maaße jenem ähnlich, der zwifchen dem Sauerftoffgae 
und allen brennbaren oder orpdirbaren Körpern befleht, und zwar 
vertritt in der aufgeführten Reihe der Körper von pofitiv elektrifcher 
Spannung die Stelle des brennbaren Stoffes, der negative die des 
Sauerftoffes. Selbſt in ber chemifchen Zuſammenſetzung fcheint 
diefes zumellen angedeutet, denn das Graubraunfteinerz, ber be 
barrlichft negative Körper, enthält in feiner Mifhung eine bebeu- 
tende Menge von Sauerftoffgas, und während das Zinn, in feinem 
reinen, metallifhen Zuftand zu. allen anderen Körpern der Stufen: 
leiter, mit Ausnahme bes Bleis und bes Zinks, als pofitiv dafteht, 
benimmt es ſich dagegen in feiner Verbindung mit dem Sauerftoff 
gas (ale fogenannte Zinngraupe oder Zinnftein) felbft gegen Kohle, 
Silber, Gold und Platina, noch mehr aber gegen eine Platte von 
feinem eigenen, reinen Metall augenfällig negativ. In faft gleichem 
Maaße ale das Sauerfloffgas ſcheint auch der Schwefel durch 
feine Verbindung mit den Metallen den vorhin pofitiven Character 
derfelben in den negativen umzuwandeln, denn das Blei fo wie 





45. Der Galvanismus. 915 


das Eifen in ihrem Verein mit Schwefel (ald Bleiglanz und 
Schwefelties) treten dem Grad ihres negativen Verhaltens nad 
unter Silber und Kohle zuräd, und nur um eine Stufe über den 
Binnftein hinauf, Im Vergleich mit dem negativen Verhalten der 
Metalle, wenn fie mit Schwefel oder Sauerftoff Verbindungen 
eingingen, erfcheint es beachtenswerth, daß der Graphit, der doc) 
aus reinem Koblenfloff befteht, ebenfalls einen fo hohen Rang, 
noch über Gold, Silber und Zinnftein auf der Stufenleiter der 
negativen Reihe einnimmt. Wir werden im nächftfolgenden 46. Cap. 
fehen, wie wichtig dieſe Eigenfchaft des Graphits für die technifche 
Benugung bei der Gatvanoplaftil werden könne. 

Die elektrifhe Spannung, welche in zwei Metallen oder ans 
deren Körpern ber oft erwähnten Reihe durch bie blofe, gegenfeitige 
Berührung hervorgerufen wird, zeigt aber alsbald noch einen ans 
deren Charakter, wodurch fie ſich mefentlih von der früher betrach⸗ 
teten gemeinen, durch Reiben erzeugten Elektrizität unterfcheidet. 
Wenn man eine Zinkplatte für ſich allein in verbünnte Schwefel⸗ 
fäure hineinlegt, da beginnt alsbald ber früher erwähnte Vorgang 
bee Zerfegung des Waſſers. Denn das Metall in feiner chemifchen 
Spannung mit der Säure zieht das Sauerfloffgas des Waſſers 
an, um in der hieraus entfiandenen Form des Orpdes ſich mit 
der Schwefelfäure verbinden zu Tonnen. Hierbei wird dann das 
Waſſerſtoffgas frei, das in zahllofen Bläschen in. der Flüffigkeit 
emporfteigt, und die Platte wird in bemfelden Maaße an ihrer 
Oberflaͤche aufgelöft. In ganz anderer Weiſe gefaltet ſich aber 
diefer. gewöhnliche Vorgang, wenn mit der Zinfplatte zugleich auch 
eine Kupferplatte in bie Säure gebracht, und dann beide Metalle 
‚unmittelbar oder durch einen leitenden Draht in Berührung gefegt 
werben. Denn aud, jest loͤſt fi zwar der Zink in der Säure 
auf, das Waſſer wird zerfegt, aber die Luftblafen ded Waſſerſtoff—⸗ 
gafes zeigen ſich nicht mehr wie vorher an ihm, fondern an ber 
Oberflaͤche der Kupferplatte, von welcher fie wie fonft gewöhnlich 
von dem Zink fi entbinden und emporfleigen. Die polarifche 
Spannung und Wirkfamkeit der beiden Metalle läßt fi dadurch 
bedeutend erhöhen, daß man, wie dies in der von Volta erfunde- 
nen und nach ihm benannten Säule gefchieht, rundlihe und vier 
edige Platten in größerer Zahl mit Lappen, welche mit Salzwaffer 
‚oder mit einer Salmiatauflöfung befeuchtet find, zwifhen Glas oder 
Holzſtangen fo über einander auffchichtet, daB man etwa zu unterft 
eine Kupfers, dann eine Zinkplatte, dann einen feuchten Zuchlappen 
und fo immerfort eine ſolche Ddreigliedrige Ordnung von Kupfer, 
Zink, feuchtem Stoff über die andere legt. An die oberfte Zink 
und eben fo auch an die unterfie Kupferplatte wird ein Draht an- 
gebracht, Das oberfte Zinkende zeigt jest in einer Stärke, deren 
Grad mit der Größe und mit der Zahl der angewendeten Platten- 
paare in geradem Verhaͤltniß fleht, pofitive, das unter Kupferende 
negative Elektrizitaͤt, überhaupt jede mehr nad) unten liegende 


316 45. Der Salvanismus. 


Platte im Verhaͤltniß zu den mehr nach oben geftellten negative, 
biefe zu jener pofitive Spannung Wenn man ben Polardrabt beö 
einen Endes der Säule mit der äußeren, ben des anderen Enbes 
mit der inneren Belegung einer früher erwähnten Leidner Slafche 
in Berührung bringt, dann wird hierdurch auch einer aus vielen 
folhen Flaſchen zufammengefegten Batterie augenblidlich eine fehr 
ftarke, elektrifhe Ladung mitgetheilt, mie fie etwa durch eine ge 
wiffe Zahl von Umdrehungen der größten Glasſcheiben unferer Elek⸗ 
triſirmaſchinen erzeugt werden könnte. Hierburch zeigt es fich, daß 
die Elektrizität, welche die Berührung der polarifch entgegengefegten 
Metalle hervorbrachte, mit der durch Reibung entflandenen weſent⸗ 
lich übereinftimme, 

Eine bequemere und hierbei Eräftiger wirkende Einrichtung iſt 
die des fogenannten Zrogapparates, bei welchem in ein Bleines, 
aus Kupferblecd, gebildetes Behaͤltniß die Säure gefchüttet, und im 
diefe die Zinkplatte fo hineingeftellt wird, daß fie (etwa durch Glas) 
von dem Boden und Wänden des Heinen Gefäßes abgefonbert, 
das Kupfer nirgends berühren kann, Bon dem Kupfer wie von 
dem Zink gehen Drähte aus, an denen ſich die polarifchen Erſchei⸗ 
nungen eben fo zeigen laffen, als an ben Enden einer, auf bie 
vorhin erwähnte Weife zufammengefesten Voltaiſchen Säule und 
mehrere folcher Tröge in einer Weife mit einander verbunden, baf 
der Draht von der Sinkplatte bes einen immer mit dem Kupfer 
des anderen in Berührung fteht, bringen eine fehr hoch gefteigerte 
Spannung hervor. 

Jene Erfcheinung, deren wir vorhin bei Befchreibung bes ein 
fachen Berfuches erwähnten, welchen man buch Eintauchen einer 
Zint= und einer Kupferplatte in verbünnte Schwefelfäure anftellen 
kann, laͤßt ſich fehon an ber Voltaifhen Säule oder an irgend 
einer anderen Vorrichtung von gleiher Wirkfamkeit in ungleich 
größerem, augenfälligerem Umfange darftellen. Der Zink loͤſt ſich 
in der Ftüffigkeit auf und hierbei wird das Waſſer in feine beiden 
Srundftoffe zerfest, fo aber, daß das Sauerftoffgae von dem po: 
fitiven Pole: dem Zink, das Waflerfloffgad von dem negativen 
Kupferpole angezogen wird. Oder anders ausgebrüdt: der negative 
Pol, der bei der Mirkfamkeit der Säule im Verhaͤltniß zu dem 
pofitiven Pole das Sauerftoffgas darftellte, ruft im Waſſer feinen 
natürlihen Gegenfag: das MWafferftoffgas hervor, der andere Pol 
aber, welcher die Stelle des Wafferftoffgafes vertrat, bewirkt durch 
feine polarifhe Spannung ein Hervortreten bed Sauerftoffgafes 
aus dem Waffer, in deſſen Verbindung jene Spannung ſich aufzu⸗ 
löfen und auszugleihen vermag. Die Menge des an dem einen 
Pole hervorgerufenen Sauerftoffgafes beträgt genau fo viel als 
jene, des am anderen Pole in Gasform auffteigenden Wafferfloff- 
gafes, bedürfen würde, um, damit vereint, wieder in ber gewoͤhn⸗ 
lichen Geſtalt des Waſſers aufzutreten. 

Daß biefes fo fei, erfährt man am leichteften, wenn man bie 








45. Der Galvanismus. 317 


Dole einer vorhin befchriebenen Säule in Platinabrähte ausgehen 
Laßt, weil biefes Metall mit dem hervortretenden Sauerftoffgas 
keine Verbindung eingeht. Won dem einen Platinadrabt, der mit 
dem negativen (Kupfer) Ende der Säule verbunden ift, fteigen 
dann in einem mit Wafler gefüllten Behältniß eben fo wohl Luft 
blafen auf, als von dem anderen, ber vom pofitiven (Zink⸗) Ende 
ausgeht; die Luftblafen an dem lesteren betragen, wenn man fie 
auffammelt, ein Maaßtheil reines Sauerfloffgas, die am negativen 
(KRupfer:) Pole zwei Maaftheile reines Waſſerſtoffgas, ober, dem 
Gewicht nad, jene 88,94, diefe 11,06 Prozent, mithin gerade fo 
viel ald von beiden dazu nöthig find, um bei der Wiedervereinigung 
durch ben elektrifchen Funken Waffer zu geben. 

Diefe Kraft der Voltaifhen Säule, nit nur das Waffer, 
fondern alle Körper, die aus mehreren Grundftoffen zufammenges 
fest find, davon der eine Sauerfloffgas ift, oder in Beziehung auf 
einen anderen dem Sauerfloffgas entfpricht, der andere aber als 
Mafferftoffgas oder als Grundftoff von anderer Art den brenn« 
baren Gegenſatz darftellt, wenn ſolche Körper nur in ben flüffigen 
Zuftand einer Auflöfung verfegt werden, fo zu zerlegen, daß an 
dem pofitiven Pole das fauerftoffige, am anderen das ihm polariich 
entgegengefeßte Element hervortritt, hat dann eben zu jenen großen 
Entdedungen geführt, deren wir oben im Cap. 20 gedachten. Die 
Salzfäure wird in Chlor und in Wafferftoffgas, Die Kalten oder 
die kaliſchen Erden in Sauerſtoffgas und in ihre, dem früheren 
Zeitalter unbekannte, metallifhe Grundlage geſchieden. In anderer 
Form nur zeigt ſich die polarifirende Eigenfhaft der Voltaifchen 
Säule felbft an einem Silberdraht, den man etwa eine Stunde 
lang abwechfelnd an einem Ende mit dem pofitiven, am anderen 
mit dem negativen Pole in Verbindung fest. Hierdurch empfängt 
das eine Ende des Drahtes negative, das andere pofitive Elektrizi⸗ 
tät, und dieſe polarifhe Spannung verliert fi erſt allmählig. 

Eine Erfheinung, welche die Aufmerkſamkeit ber Naturfor⸗ 
fher auf die bisher betrachtete Korm der Elektrizität zuerſt hinzog, 
ift der Einfluß, welchen die Berührung zweier polariſch verfchies 
denen Metalle auf die Nerven eines in ihre Nähe gebrachten thie⸗ 
rifchen Körpers hat. Diefe Eigenjchaft wurde im Jahre 1790 von 
Galvani, dem Profeffor der Anatomie in Padua, entdedt und 
deßhalb erhielt die Elektrizität der Metaliberührung von ihm ben 
Namen des Salvanismus Als ein kupferner Haden, welcher 
durch den zerfchnittenen Körper eines fo eben getöbteten Froſches 
geftochen war, mit dem eifernen Nagel, an weldhen er aufgehan- 
gen werden follte in Berührung kam, trat alsbald ein Zufammen- 
ziehen der Muskeln, ein flartes Zucken des thierifchen Gliedes ein, 
und biefe Zudungen wiederholten fich, fo oft die Metalle von Neuem 
mit einander in Berührung kamen, bis mit dem gänzlichen Ab⸗ 
fterben des Gliedes feine Erregbarkeit verſchwand. Am ftärkiten 
wurden bie thierifchen Bewegungen, wenn man das eine der pola⸗ 


318 45. De Salvaniemus. 


riſch verſchiedenen Metalle an den Nerven, das andere an ben 
Muskeln oder an das ben Nerven entgegengefeste Ende des Glie 
bes brachte und dann beide Metalle burdy einen guten Leiter der 
Elektrizität — etwa dur einen Metalldraht in Verbindung feßte. 
Die Wirkung blieb auch dann nicht aus, wenn der anregende Ein: 
fluß der Metaliberührung in einiger Entfernung von dem Nerven 
gehalten wurde, und die Voltaifhe Säule fo mie felbft ſchon ein- 
zelne Metallplatten brachten bie Erſcheinung auch an ſolchen Glie⸗ 
dern und ganzen thieriſchen Koͤrpern hervor, deren Nerven nicht 
gewaltſam blos gelegt waren, ſondern tief unter der Huͤlle des Flei⸗ 
ſches und der häutigen Decken lagen, am meiſten dann, wenn die 
Außenflaͤche des zum Verſuch gewaͤhlten Theiles befeuchtet war. 
Durch jenen ſogenannten Galvaniſchen Einfluß der Metallpolaritaͤt 
wird jeder Nerv zu der befonderen Wirkſamkeit aufgeregt, für welche 
er im lebenden Körper beftimmt ift: der Sinneönerv zu Empfin⸗ 
dungen, die feiner gewöhnlichen Verrichtung entfprechen, ber Be 
wegungsnero zum Hervorrufen der Thätigkeit der Muskeln. Bringt 
man den einen Pol der Säule in Berührung mit ber Stirne, ben 
anberen mit der Hand, dann bemerkt man vor den Augen -einen 
Lichtfchein, während die Finger in zudende Bewegung gerathen; 
an der Zunge erzeugt der pofitive Pol einen fauren, ber negative 
einen alkaliniſchen Geſchmack; auch im Ohre wird durch den gal- 
vanifhen Einfluß ein Tönen bemerkt, das nad) Verfchiedenheit der 
beiden Pole höher oder tiefer iſt. Der Körper gefchlachteter Thiere 
geräth durch jene Einwirkung in Zudungen, welde denen gleich⸗ 
tommen, die man bei heftigen Anfaͤllen der Epilepfie beobachtet, 
und auh an bem Körper hingerichteter Verbrecher bat man be 
merkt, daß alle Nerven, felbft die, welche das Athmen bewirken, 
durch die elektrifche Strömung einer Voltaifchen Batterie noch einige 
Zeit nad) dem Tode in ihre Lebenschätigkeit zurüdigerufen werben 
Tonnen, denn ein Leichnam, an welchem man dieſe Verſuche machte, 
fing felbft von Neuem an zu athmen. Doc verfchwinbet biefer 
Anfchein eines wiedergelehrten Lebens mit dem Abfterben des Ner 
ven bei dem Menfchen,, fo wie bei anderen warmblütigen Thieren 
fhon in einer oder etlihen Stunden, ja felbft m wenig Minuten 
nad) dem Tode, während er bei Thieren von kaltem Biute länger 
andauert. Auch dann, wenn bie. Erregbarkeit Ichon ganz erlofchen 
fheint, laͤßt fie fich nicht felten duch Anwendung von Säuren 
oder Alfalien wieder auf einige Zeit anfachen. 

Eben in jener Weife, in welcher die Clektrizität der Vol⸗ 
tatfchen Säule auf die Kräfte des thierifchen Lebens einmwirkt, glaubte 
man anfangs eine Berechtigung zu finden, den Galvanismus als 
weſentlich verſchieden von der Reibungselektrizitaͤt zu betrachten. 
Der Unterfchied beider Kormen jedoch beruht nur darauf, daß in 
dem inneren Kreife ber Voltaiſchen Säule die. mechfelfeitige Span- 
sung der Gegenfäge, mie im Verlauf eines ruhiger dahin fließen 
den Stromes ohne Aufhören ausgeglichen und wiebererneuert wird; 





45, Der Salvanismus, 319 


in einem beftändigen Wechſel des Vergehens und neuen Entſtehens 
begriffen ift, während jene eleftrifhe Spannung, welche durch Reis 
ben hervorgerufen wird, einfeitig in dem einen Körper bis zu einer 
gewiſſen Stärke ſich fleigert und dann plöglid) an einem Körper 
von verhältmißmäßig entgegengefegter Spannung ſich entladet. Die 
erfiere Form gleicht deshalb mehr der ruhigen Flamme eines bren- 
nenden Lichtes, diefe der Entzündung eines Körpers, der bei feinem 
Aufflammen plöglicdy ſich zerſetzt. 

Daß indeß jener ruhigere Brand in feiner mwefentlihen Wirk: 
famteit von nicht minder fräftiger Natur fei als die fehnell hervor: 
brechende Flamme bes Blitzes, das wird namentlih an der Eigens 
Schaft dee Licht- und Wärmeerzeugung erkannt, durch welche der 
galvanifch-eleftrifhe Strom ſich auszeihnet. Schon durch den ein⸗ 
fachen, vorhin befchriebenen Zrogapparat, bei welhem nur eine 
Zintplatte und nur ein mit Säure gefülltes Eupfernes Behältniß 
zum Verſuch angewendet werden, kann man einen dünnen Pla; 
tinadraht, durch welchen die elektrifhe Strömung geht, zum hel⸗ 
len Gluͤhen, ja zum Schmelzen bringen; durch eine Säule, die 
aus 20 Doppelplatten von 6 Fuß Länge und 22), Fuß Breite ew 
baut mar, wurde ein Draht, der aus dem im gewöhnlichen Feuer 
fo außerordentlich fchwer fchmelzbaren Platinametall beftand und 
der bei.einer Dide von !/,, Zoll 18 Zoll lang war, fo hellglühenbd, 
daß das Auge feinen Stanz kaum zu ertragen vermochte, und Fam 
zulest ganz zum Schmelzen. In der Gtühhige eines ſolchen elek⸗ 
teifchen Stromes fhmolz felbft das Sridium. Uebrigens hängt das 
Heiß- und Glühendwerben nicht allein‘ von der Stärke der Säufe 
fondern eben fo fehr von der Beſchaffenheit bes Verbindungsdrah⸗ 
tes der Polarenden ab. Ein Silberdraht kann die Strömung hin⸗ 
durch laſſen, ohne ſich zu erhitzen, wird aber alsbald gluͤhend, wenn 
er nicht ganz aus Silber beſteht, ſondern abwechſelnd aus Stuͤcken 
von Platina und Silber zufammengefest if. Auch Kohlen geras 
then in den Strömen einer ſtarken Voltaiſchen Batterie (in Eng- 
land erbaute man eine foldhe, die aud 2000 Doppelplatten von 
32 QDuadratzoll Oberfläche befteht) in ein fo helles Gluͤhen, dag 
ihr Licht, faft gleich dem ber Sonne, das Auge biendet, und wenn 
die ruhige Entladung durch zwei, etliche Zoll von einander ab: 
ſtehende Kohlen geleitet wird, dann kommen beide zum Glühen, 
und es bildet ſich zwifchen ihnen ein nad) oben gefrümmter heifer 
Lichtbogen, in welchein eine folche Gluthhitze herrfcht, daß alle ſchmelz⸗ 
bare Körper in ihr gefhmolzen werben, andere, wie Quarz, Kalk, 
ja feibft Sappbit, ſich verfluͤchtigen. 

Die Licht⸗- und Wärmeerfheinungen im Strom ber Voltai⸗ 
ſchen Saͤule zeigen ſich uͤbrigens von denen, die bei der Entladung 
einer ſtarken, durch Reibung erzeugten Elektrizitaͤt beobachtet wer⸗ 
den, dadurch verſchieden, daß bei jenen die Funken ungleich kuͤr⸗ 
zer, von ungleich geringerer Schlagweite ſind. Die Funken, welche 
aus ben Polardraͤhten ber vorhin erwaͤhnten rieſenhaft großen Säule 


329 %. Die Galvanoplaſtik. 


in Ensland berwerbrachen, hatten nur eine Länge von 1/,, Bol, 
mweihe von der Linse der Funken ber großen van Marum’fchen 
Scheiben⸗Elektriſtmaſchine faſt um das Hundertfadhe übertroffen 
wird, webei aud ned die mechaniſche Gewalt, mit welcher diefe 
legtere unter gewilfen Umfländen Gefäße und andere Körper plöb: 
lich yerichmettert,, eimer Kraft von 840 Pf. gleich zu ſchaͤtzen iſt. 


46. Ein Wettkampf der Naturkunde mit der Kunf: 
bie Salvanoplaftit, 


Wem unter uns follte nicht mandhmal, wenn er die Arbeiter 
unferer großen, berühmten Meiſter in der Kunft des Kupferftechens, 
des Steinzeichnens, ober des Schneidens in Steine fo wie in Muͤnz 
fempel gefehen und bewundert hat, der Wunſch gefommen fein, 
daß er doch audy etwas der Art möchte leiften koͤnnen. Mander 
von uns, der ſich mit der Befchreibung und Betrachtung der Na 
turkörper beſchaͤftigt hat und dabei fi) aufs Zeichnen verftand, 
mag ed auch verfudt haben, den Gegenftiand feiner Forfchung 
nicht blos genau auf dem Papier nachzubilden, fondern eine folde 
Zeichnung nad) ber Natur mit eigener Hand in Kupfer oder Stahl 
zu fliehen, weil eine folche Arbeit doch kaum von einem Anberen, 
der nicht felber ben Gegenftand mit höchftem Intereſſe betrachtet 
und erfaßt hat, mit folcher Genauigkeit und in fo lehrreicher, ge 
rade das Weſentlichſte beachtenden Weiſe gefertigt werben Tann, 
als von ihm felber. Aber freilich ift diefes Bemühen nur meni- 
gen Naturforfhern, bie zugleich Künftler waren, in ſolchem Maafe 
gelungen, wie im vorigen Jahrhundert dem bewunbernswerthen 
Röfel von Rofenhoff in Nürnberg, fo wie feinem Eunftreichen 
Nachfolger in unferer Zeit, dem Jac. Sturm, ober dem jugend 
lichen Talent und Fleiß des trefflihen Beobadhterd und Zergliede⸗ 
rers der Thierwelt: Profeffor Michael Erdl in München. Denn 
bie Arbeiten bed Stechens der Kupfer= und Stahlplatten, bes 
Scneidens der Steine und ber metallenen Prägeflöde für Mün- 
zen und Medaillen gehören zu den mühfamften Leiftungen ber 
Kunft und der Grabftichel oder der Demantfplitter muß vice 
Hunderttaufende von Strihen, Stichen und Heinen Sprengarbeiten 
verrichten, ehe nur ein einziges feiner Kunſtwerke zur Vollendung 
fommt. . 

In unferen Tagen, wo man von allen Seiten nur barauf 
finnt, vecht große, augenfällige Sachen in der möglichft kuͤrzeſten 
Zeit und mit ben geringften, mohlfeilften Mitteln in’s Merk zu 
fegen, ift man aud auf mancherlei Wege gekommen, durch melde 
fih der Kunſt wenigftens ein großer Theil ihrer vormaligen Mühe 
abnehmen laͤßt. Dahin gehört unter Anderem bie ſpaͤter zu er 
wähnende Erfindung des Daguerreotyps, vermöge welcher man, 
ohne eine Hand an den Bleiſtift oder die Zeichenfeder anzulegen, 
blos das Liche für fich zeichnen laffen kann, welches biefe Arbeit, 


46, Galvanoplaſtik. 321 


wenn ber abzubilbende Gegenſtand in die rechte Stellung und in 
das rechte Licht geftellt worden ift, mit großer Genauigkeit und in 
außerordentlicher, Schnelligkeit vollbringt. 

Wenn man bie Beduinen, in deren Geſellſchaft man etwa 
duch Arabien oder manche andere Gegenden bes Morgenlandes 
reift, beim Anblick alter Gemäuer von vormaligen kunſtreichen 
Baumerken fragt, von wen diefe Kunftwerke herrühren, dann ant- 
worten fie, wenn fie nicht etwa vor dem aufgeflärten Europäer fich 
fheuen: „das haben die Dfchenin (Genien) in alter Zeit gebaut”. 
Der Morgenländer hält nämlich häufig an der Meinung feft, da 
ed eine Geifterwelt um den Menfchen gebe, mit welcher dieſer, 


. wenn er die Zauberkunft verfteht, in ein Bündniß treten, und durch 


deren mitwirkende Kraft er dann Ungeheures und Hebermenfchliches 


‚ leiften könne. Die Naturkunde unferer Tage hat auf natürlichem 
Wege einen folchen Zauber gehbt, fie hat Kräfte und Gewalten 
der Sichtbarkeit in ihren Bund gezogen, duch deren Hülfe fie auch 
VUebergewoͤhnliches geleiftet hat. Dahin gehört fhon, wie wir im 


31. Cap. fahen, der Wafferdampf, der für Hunderttaufende von 


‚ Menfhenhänden und für viele Zaufende von Pferden Laften hebt 
- und fortbewegt, Eifen bämmert, Bücher drudt, Garn fpinnt und 
hunderterlei andere ‚Arbeiten verrichtet. Die Elektrizität und der 
Elektromagnetismus leiften dem Menfchen, der ſich ihrer Kräfte zu 
‚ bedienen weiß, nicht minder bewundernswerthe Dienfte. Naments 
lich iſt auch das ein fehr bedeutender, daß man durch eine blofe 
‚ galvanifhe Strömung, ohne felber etwas Anderes dabei zu thun, 


wn „un an wm 2 


ald etwa ein und das andere Mat Säure zuzufhütten, Platten 
für Kupferſtiche, Münsftempel, Medaillen und andere Bildwerke 
fertigen oder das Geſchaͤft des Wergotdens aufs Trefflichfte nach⸗ 
ahmen kann. Diefe feltfame Kunft, deren Erfindung im J. 1839 
duch Jacobi in Petersburg und faft in gleicher Ausdehnung von 
pencer in England gemadt, von be la Rive In Genf, von 
Kobelt in Münden und Anderen zu vielfältigen Hitfleiftungen 
der Kunft benugt wurde, wollen wir ‚hier nur in einigen ihrer we⸗ 
fentlichften Grundzüge befchreiben. | 
Wir fprachen oben, im 19. Cap., von einer fheinbaren Vers 
wandlung des einen Metalles in's andere: des Eifens in Kupfer. 
Was wir hier betrachten wollen, das fteht jenem Vorgange feinem 
inneren Grunde und felbft dem dußeren Anfcheine nach nicht ferne, 
Denn es gründet fich nicht minder als das Entftehen des Cäment- 
kupfers auf eine elektrochemiſche Wechfelwirtung ber. Elemente, 
Im Ganzen erinnert die Vorrichtung, deren man fich bei ber 
Anwendung ber Galvanoplaſtik bedient, an die im 45. Cap. erwähns 
ten Zrogapparate. in engeres Glasgefaͤß, welches unten mit ei 
ner Thierblaſe oder einem thierifchen Sell zugebunden, oben durch 
Drahtgewinde am Rande eines meiteren Gefäßes, in das es ein⸗ 
geaucht ſteht, befeftigt if, enthält das an feiner Oberfläche nur 
leicht amalgamirte Zinkſtuͤck, welches auf einem Kreuze von Holzſtaͤb⸗ 


21 


322 46. Galvansplaftik. 


hen ruht, und durch ‚einen angelötheten Kupferdraht mit bem 
Queckſilber, das in einem außen ftehenden Kleinen Gefäß enthalten 
ift, verbunden wird. Senes innere Behältniß für das Zink iſt mit 
verdünnter Schwefelfäure gefüllt, während das äußere, weitere 
Behaͤltniß, darin die Kupferplatte oder irgend ein anderes zum Zink 
polarifch ſich verhaltendes Modell ſich befindet, mit einer Auflöfung 
von Kupfervitriol gefüllt if. Auch von der Kupferplatte führt ein 
Draht in das auswendige Quedfilbergefäß, und fo iſt zwiſchen 
beiden Metallen der elektrochemifche Wechfelverkehr hergeftellt. Der 
bei der Oxydation des Zinkes frei gewordene Waſſerſtoff geht 
mit dem Sauerfloff des fchwefelfauren Kupferorpdes (Kupfer 
vitriols) eine Verbindung zu Waſſer ein, und das zum reinen, 
metalliihen Zuſtand zurüdgekehrte Kupfer legt fi) an die Kupfer 
platte oder an das Modell, welches im äußeren Gefäße fteht, an. 
Wenn ſich der Ueberzug aus dem zum metallifhen Zufland zurüd: 
fehrenden Kupfer nicht zu raſch, fondern unter dem Einfluß eines 
gemäßigten elektrifhen Stromes allmählig bildet, dann fügen fid 
die aus ihrer Auflöfung hervortretenden Kupfertheilchen zu einer 
dichten Maſſe von gleichförmiger Stärke über einander und fehmiegen 
fit) dabei fo innig feft an alle Erhöhungen und Bertiefungen ber 
etwa mit einer fehr dünnen Lage von Silber auf chemiſchem Wege 
überzogenen Platte an, daß, wenn man fie von ihrer Unterlage 
binwegnimmt, auch die feinften Züge berfelben an der inneren 
Flaͤche des Ueberzuges ſich abgedrüdt und abgeformt zeigen. Es 
braucht übrigens Leine Kupferplatte zu dieſem Verſuch angewendet 
zu werden, fondern jeder andere Körper, in fo fern er nur zu dem 
Zink in polarifchen Gegenfag fich ſtelit, Leiftet hierbei dafjelbe. Da- 
her kann man Münzen oder Medaillen von Gold, von Silber eben 
fo mie die von dem Kupferfiecher bearbeiteten Kupfer: oder Stahl 
platten zu „gleichem Zwecke benugen, und man erhält dann von 
diefen volllommen treue, bis in's Kleinfte genaue Abdrüde. Auch 
ift es nicht einmal nötbig, daß .man die Münzen, Medaillen oder 
andere Kunſtwerke diefer Art felber, im Original, der galvanifchen 
Strömung ausfege, fondern ein Abdruck derfelben in einem leicht: 
flüffigen Metallgemifch, zu welchem man Wismuth und Blei in 
Vorfchlag gebracht hat, ja fogar ein Abdrud in Gyps, in Wade 
und vor allen anderen in Guttapercha, deren Oberfläche man da, 
wo ber Mieberfchlag des Kupfers hingeleitet werden foll, mit Gra⸗ 
phitpulvee fein überzogen bat, leiftet diefelben Dienfle. Die Gutta: 
percha wird zu diefem Zweck in fiedendem Waſſer erweicht, noch 
warm mit dem Graphitmehl beftreut, dann auf die zarte, nad) 
giebige Maffe der Holzfchnitt oder die Kupferflichplatte unter der 
Dreffe abgedrüdt. Auf das fo erhaltene Modell leitet man durch 
die elektrochemiſche Strömung den Niederfhlag bed Metalles hin, 
das die bleibende Form zur Vervielfältigung der Abdrüde bilden 
fol. Uebrigens empfiehlt fich zu diefer Art von galvanifchen Kunſt—⸗ 
gebilden die Kupferauflöfung am meiften, weil ſich der Meberzug 


46. Galvanoplaſtik. 323 


des metallifchen Kupfer mit Leichtigkeit von ſeiner Unterlage ab⸗ 
loͤſen laͤßt. 

Wir haben hier nur im Allgemeinen das Verfahren ange 
deutet, auf welches die Leiftungen ber Galvanoplaſtik fi) gründen. 
Die Vorrichtungen, deren man ſich dabei bedient, find übrigens na⸗ 
mentlid) durch den befannten Meifter in diefem Gebiet: Ir. Theyer 
in Wien zu einer Vollftändigkeit geführt worden, deren genauere 
Beſchreibung außer dem Kreiſe dieſer überfichtlihen Betrachtung 
der merkwuͤrdigen Erfindung liegt. 

In der gleichen Weiſe, wie man durch die elektriſchen Stroͤm⸗ 
ungen uͤber irgend einen beliebigen Koͤrper den Ueberzug von Kupfer, 
mit vollkommen glatter Außenflaͤche darſtellen kann, laͤßt ſich auch 
Silber, Meſſi ing, Stahl mit Gold oder mit Platina uͤberziehen, 
wenn man eine verhaͤltnißmaͤßig ſehr geringe Quantitaͤt der Ver⸗ 
bindung dieſer beiden Metalle mit Chlor (Chlorgold oder Chlor⸗ 
platina) in Waffer, worin Kocfalz aufgelöft ift, oder in eine 
Löfung von Cyaneiſenkalk bringt. Der Körper, melcher vergoldet 
oder mit Platina überzogen werden foll, wird einige Male in bie 
Fluͤſſigkeit eingetaucht und dabei mit dem Kupferpol der galvani⸗ 
ſchen Vorrichtung in Verbindung geſetzt; nach einem jedeömaligen 
kurzen Verweilen in dieſem Bade zieht man ihn heraus, trocknet 
dann zuletzt ihn ab, und die Silberdoſe, die man etwa zum Ver—⸗ 
ſuch anmendete, hat jeßt durch die neue, fremde Ueberfleidung ganz 
den Anfchein des Goldes befommen; die ftählerne Dofe wird Seder, 
der ihr Gewicht nicht forgfältig in der Hand prüft, für Platina 
halten. So kann man denn aud mit leichter Mühe auf dem 
Wege der Salvanoplaftit kupferne oder eiferne. Geſchirre verzinnen 
oder fie mit Zink überziehen. Namentlich die große Leichtigkeit, 
womit man bie Verzinnung herftellen kann, ift hierbei fehr beach⸗ 
tenswerth und für den menſchlichen Haushalt überaus vortheithaft; 
die Uebertragung ber edlen Metalle auf die minder edlen hat mes 
nigſtens für die Kunft und für viele Gewerbe einen fehr großen 
Bortheil. Denn wenn man bie ‚große Mühe und den nachtbeiligen 
Einfluß auf.die Gefundheit erwägt, denen ſich bisher die Vergolder 
unterziehen mußten, wenn fie eine Berbindung des Goldes mit 
Duedfilder (Goldamalgam) über den zu vergoldenden Körper her⸗ 
firihen, und dann das Quedfilber durch die Hitze abdampften, fo 
daß das Gold allein in volltommener Reinheit zurüdblied, dann 
muß man wünfchen, daß diefe Leiftung der Galvanoplaſtik noch 
einer viel weiteren Anwendung gewürdigt werden möge ats bisher. 

Auch für die Naturwiffenfchaft hat die Galvanoplaſtik zum 
Theil auf mittelbarem Wege große Vortheile gebracht. Ein- folcher 
mittelbar gemonnener ift der eben deshalb hier nur beiläufig zu er- 
waͤhnende der keichteren ‚Erzeugung von Krpflallifationsgeflalten. 
Laͤßt man naͤmlich einen ſehr ſchwachen elektriſchen Strom durch 
duͤnne Draͤhte in eine Aufloͤſung gehen, deren Zerſetzung man be⸗ 
wirken will, dann geſchieht es in manchen Faͤllen, daß der aus⸗ 


21 * 





824 46. Galvanoplaſtik. 


ſcheidende Körper eine vollkommen regelmäßige (kryſtalliniſche) Ge 
ftaltung annimmt, fo daß man auf diefe Weife ſchon manche Stofft 
zum Kryſtalliſiren gebracht hat, die man unter feinen anderen Ver 
bältniffen in diefer Geftaltung darftellen konnte. 

Unmittelbarer noch erleichtert die Salvanoplaftit dem Natur 
forfcher fein Gefchäft: die vollendeteren Gebilde der organifchen Ra 
tur in ihrer oft ſchnell vergänglichen Erfcheinungsform aufzufaflen 
und darzuftellen dadurd), daß fie die Abdrüde derfelben in eine 
hierzu geeigneten Maffe, eben fo wie die von Kunftwerten in fell 
ſtehende Metallzeihnungen oder Hohlformen übertragen und von 
diefen fie vervielfältigen läßt. 

Dod mir kommen nody einmal auf die zuerft erwähnte An 
wendung der Galvanoplaftit zur Vervielfältigung von Kupferflid- 
platten, Steinzeihnungen, eingefchnittenen Geprägen, Reliefgebib 
den u. f. w. zurüd, wobei man das, was auf dem Driginal ver 
tieft war, zunaͤchſt in erhabener Form erhält, von der fich in em 
fo leichter Weife wieder die vertiefte gewinnen läßt. Selbſt Hand: 
fhriften laſſen fi in gleicher Weife mit großer Genauigkeit auf 
eine Kupferplatte abformen, und von diefer in einer Menge von 
Abdrüden vervielfältigen, wenn man die Buchſtaben mit einem 
Stoffe überzieht, den die ſchwache Säure ber Flüffigkeit nicht an 
greift, und durch eine Preſſe die Echriftzüge auf eine Kupferplatte 
abdrüdt, die man dann mit dem pofitiven Pol der Strömung in 
Verbindung fest, wobei das Kupfer rings um die Schrift aufgelöf 
wird, diefe felber aber erhaben ſtehen bleibt. Bei gedruckten Büchern 
gelingt ein folches Verfahren leichter, weil ſich von diefen die 
Schwärze der Schrift mittelft der Preffe meift unmittelbar an die 
Kupferplatte übertragen läßt. Uebrigens verdankt die Buchdruder 
tunft der Salvanoplaftit aud einen fehr großen Vortheil ſchon 
dadurch, daß fich mittelſt derfelben die Formen, zum Guß dr 
Lettern oder tupographifhen Verzierungen fo leicht und fchön dar: 
ftellen, und daß in Palmer’s und Ahnev’s Weiſe Holsfhnitt 
typen fich erzeugen lafien, wobei, wie bereits erwähnt, die Gutte 
percha ſich als ein ganz befonders günftiges Material erwieſen hat. 

Noch einer fehr anerkennenden Erwähnung ift die Erfindung 
der Salvanographie duch F. v. Kobel merth, durd melde 
Zufchzeichnungen, die in Delfarbe auf eine glatte, verfilberte Kupfer 
platte gemalt find, fich in ihrer vollften Reinheit an eine üb 
ihnen in elektrochemifcher Weife erzeugte Kupferplatte überführen, 
und dann in beliebiger Zahl durch Abdrüde vervielfältigen laſſen. 

Aus dem bisher Gefagten erfennt man, was die Galvan 
plaſtik zu leiften und was fie nicht zu leiften vermoͤge. Die eigene 
liche, wahre Kunft, diefe fchöpferifche Macht des Mrenfchengeifted, 
muß dennoch zuerst das Bette dazu graben, in welches ber eleb 
trifhe Strom fich ergießen foll, damit er fo, nach dem Willen be} 
Menfchen, der eine zwar wundervoll leibliche, dennoch aber nidt 
geiflige Macht in fein Buͤndniß gezogen hat, feine feſt beſtimmte 











47. Der Elektromagnetismus. 925 


: Bahn befchreiben könne Ein Wettlampf der in unferen Dienft 


genommenen Naturfräfte, mit folhen Werken der Menfchenhanbd, 
welche mehr nur von medanifcher Art, wie Spinnen und Weben, 
wie das Aufeinanderfügen von Steinmaffen ift, wird fich leichter 
beftehen laffen, wo aber die leiblihe Natur mit bem Geift des 
Menſchen in die Schranken treten will, da kommt es bald an ben 
Tag, welches von Berden der Meifter und Herrfcher, und welches 
blos der, wenn auch noch fo tüchtige und treuergebene Diener fei. 


47. Der Elektromagnetismus, 


Man hat die Erfcheinungen, von denen wir hier zu reden ges 
benten, unter bem bereits öfter erwähnten Namen des Elektro⸗ 
magnetismus zufammengefaßt, womit man jene Einigung der elefs 
trifchen „mit der magnetifhen Raturkraft andenten wollte, die ſich 
Darin deutlich nachweiſen laͤßt. 

Schon bei einer anderen Gelegenheit, als wir von den maͤch⸗ 
tigen Wirkungen des Bliges fprachen, erwähnten wir folcher Kälte, 
aus denen ed deutlich wird, daß die Elektrizität in dem Eifen, dem 
fie ſich mittheilt, zur magnetifchen Kraft werden könne. Auf jenem 
Schiffe, in welches wegen der unvolllommenen Eintihtung des 
Metterableiterd der Blig einfchlug, wurden alle eifernen Meffer und 
Gabeln magnetiſch; von den Magnetnadeln die fi darauf fanden, 
hatten einige eine verftärkte magnetiſche Kraft erhalten, bei anderen 
war dagegen diefe Kraft geſchwaͤcht, ja bei etlichen ganz vernichtet 
worden. Das, was hierbei die hochgefleigerte atmofphärifche Ele 
teizitäe that, das leiftet unter anderen Umfländen auch die Elektrizi⸗ 
tät der geriebenen Körper, fo wie die der Boltaifchen Säule Ein 
Heiner Stab von Eifen oder Stahl wird alsbald magnetifh, wenn 
man einen elektrifchen Strom fchief, noch) mehr, wenn man den—⸗ 
felben rechtwinklich über den Eifenftab hinleitet. Während man 
jedoch die magnetifche Polarifution dadurch kuͤnſtlich hervorruft, daß 
man mit einem träftigen Magnet der Länge nad und immer in 
derfelben Richtung über einen Stab von Eifen oder Stahl hin- 
ftreiht, fann man aud einer Magnetnadel dadurch ihre Kraft be- 
nehmen, daß man die Entlabung einer ſtarken elektrifhen Batterie 
durh fie hindurchſchlagen laͤßt, wobei allem Anfcheine nad) bie 
Richtung, welche der elektrifhe Schlag durch die Nadel nimmt, 
von mwefentlihem Einfluß if. Das Einsfein bes Weſens der Po⸗ 
larifation in ihrer magnetifhen wie elektriſchen Form wird uͤbrigens 
auch darinnen erkannt, daß die Polardraͤhte einer Voltaiſchen Saͤule, 
ſelbſt dann, wenn ſie aus einem Stoffe beſtehen, welcher fuͤr die 
Mittheilung des Magnetismus unter anderen Umftänben ganz un 
empfänglich erfcheint, ohne Unterfchied, gleich einem Magnet, Eifen 
anziehen, und mit dem Staube der Eifenfeilfpähne, hierin etwas 
verfhieden von der Wirkfamkeit der eigentlihen Magnete, ihrer 
ganzen Länge nach ſich überziehen. Webrigens dauert biefe magnes 


326 47. Der Elektromagnetismus. 


tifche Eigenfhaft nur fo lange, als der elektrifche Strom währt, ' 
und nimmt mit diefem zugleich ihr Ende. 

Die vorhin erwähnte Erfahrung, nach welcher ein Eleiner Stab 
von Eifen oder Stahl magnetifch wird, wenn man einen elektrifchen 
Strom der Queere nad) über ihn binleitet, und zugleidy jene, daß 
bie magnetifche Kraft immer höher gefteigert werde, je mehr folche 
Ströme zugleich über den Eifenftab hinftreihen, führte Oerſted, 
den berühmten Begründer der Lehre vom Elektromagnetismus, auf 
die Bahn feiner großen, folgenreihen Entdeckungen. Man Eann 
fi) den Gang feiner Unterfuchungen in folgender Weife deutlid) 
machen: Man ummwidelt ein noch unmagnetifches Eifen, dem man 
Stab= oder Hufeifenform gab, mit einem Draht, etwa von Kupfer, 
fo daß die elektrifchen Strömungen, melche man von den Polar: 
enden einer Voltaifhen Säule aus durch den Draht leitet, ſaͤmmt⸗ 
lich ihre Richtung queer über das Eifen nehmen. Damit fich aber 
die elettrifhe Spannung als folhe vom Drahte aus dem Eifen, 
als einem gleich guten Keiter, nicht mittheilen könne, wird entweder 
das Eifen oder der Draht Überfirnißt oder mit Seide, mit Woll⸗ 
band und anderen ifolirenden Subſtanzen überzogen, ja felbft der 
Draht in feinen fehraubenförmigen Windungen um eine Glasroͤhre 
herumgeführt, in deren Sinnerem das zu magnetifirende Eiſen ent: 
halten iſt. Denn die Wirkfamkeit der magnetifchen Polarität un: 
terfcheibet fih darin augenfällig von der elektrifhen, daß fie durch 
alle jene Körper, welche ſich gegen die elektrifche Kraft ifolirend 
und hemmend verhalten, faft fo ungehindert hindurd wirkt, als 
wären biefelben nicht vorhanden, und baß fie nur bei dem Hin 
durchgehen durch Eifenplatten eine bemerkbare Schwächung erleidet. 
Wahrend deshalb die ifolirende Vorrichtung den Einfluß der Stroͤm⸗ 
ung in feiner elektrifhen Form von dem Eiſen abhält, verftattet 
fie demfelben in feiner magnetifhen Form einen ungehemmten Zu: 
tritt, und gibt hierdurch ein Mittel an die Hand, die magnetifche 
Wirkſamkeit des Eifens zu einer Höhe zu fleigern, welche die Kraft 
der natürlichen oder ber. in gemöhnlicher Weife Lünftlich bereiteten 
Magnete niemals erreicht bat. Denn obgleih auch im Gebiete 
bed Magnetismus die verhältnißmäfßig bedeutendere Macht des 
Kleinen darinnen erkannt wird, daß Magnete von nur «etlichen 
Gran Gewicht ein vierzigmal größeres Gewicht (einer von 7 Stan 
11/4 Zoth) tragen, und daß diefe Kraft durch Armirung ihrer Pole 
mit flachen, in die Enden auslaufenden Stüden Eifen noch viel: 
fach vermehrt werden kann, fo hat man doch bei größeren Mag: 
neten, deren Gewicht ein Pfund und darüber beträgt, die Mirk: 
famkeit nur felten höher, als zum Tragen eines zehnfachen Ge: 
wichtes ‚zu fleigern vermocht. Ja die Tragkraft des größten 
befannten Magnetes, ber fih im Teyler'ſchen Mufeum befindet, 
kommt nicht einmal dem eigenen Gewicht defjelben gleich, denn 
dieſes beträgt mit Armatur 307 Pfund und das Gewicht, das man 
an den Hafen feines Ankers hängt, darf 230 Pfund nicht über: 





47. Der Elektromagnetismus. 327 


fleigen. Dagegen hat man einem hufförmig gebogenen Eifenftabe, 
welcher 591/. Pfund wog, durch die eleftrifhe Strömung mittelft 
eines fehraubenförmig um ihn herumlaufenden Metalidrahtes eine 
Zragtraft von 2063 Pfund mitgetheilt, ein anderes, zu gleichem 
Verſuch angewendetes, plattenfürmiges Stud Eifen, welches 
16 Pfund wog, trug 2500 Pfand, ein Hohleplinder von Eifen, 
8 Zoll lang, von mehreren ifolitten Drahten umwidelt, welche die 
Strömungen leiteten, hielt 2775 Pfund. Die Stärke der magne⸗ 
tifchen Wirkfamkeit, die in ſolcher Weiſe dem Eifen mitgetheilt wird, 
hängt ganz von ber Stärke ber eleftrifhen Strömungen ab, und 
von ber Menge diefer Strömungen (Drahtwindungen), melde 
queer über das Metall oder über die Glasröhre hingehen, in ber 
die Magnetnadel enthalten ift. Die Rolarifation des Eiſens wird 
durch den eleftromagnetifchen Einfluß eben fo fchnell erzeugt, als 
fie ohne ihn wieder verſchwindet. Ohnehin iſt nicht das geftählte 
Eifen, bad den Magnetismus am längften fefthält, fondern das 
weiche Eifen: das Gußeifen für die Mittheilung und möglichft 
hohe Steigerung der eleftromagnetifchen Kraft am empfünglichften. 
Doch laͤßt ſich die Kraft des eleftromagnetifhen Eifens, während 
der Andauer feiner Polarifation, zum Magnetifiren von Stahl 
durch Streihen anwenden, und namentlich empfängt ein Stahl: 
ftab, wenn man ihn in glühendem Zuftand mit jedem Ende an 
den Pol eines flarken Elektromagneten anlegt, und in biefer Lage 
ihn ablöfcht, eine bleibende fehr bedeutende magnetifche Kraft. 
Eine nähere Betrachtung des Einfluffes jener Drehungen, 
welhe der gewundene Draht um ben Eifenftab oder die Nadel 
macht, bat indeß noch zu weiteren Auffchlüffen über das Zufam- 
menwirken ber Elektrizität und de Magnetismus geführt. Die 
Lage der magnetifchen Pole bleibt bei einer Verſchiedenheit der 
Richtung, welche die Windungen des Strömungsdrahtes nehmen, 
nicht diefelbe; bei einer von Rechts zu Links verlaufenden Richtung 
der Ströme .erhält jenes Ende des Eifendrahtes die füdpolarifche 
Spannung, welches bei der von Links zu Rechts gehenden Win- 
dung des Drahtes nordpolarifh wird. Der Einfluß, den bier 
am ruhenden Eleftromagnet die Verfchiedenheit der Richtung, welche 
die Windung der Drähte nimmt, auf die polarifch verfchiedene 
MWirkfamkeit der Strömungen hat, äußert fich fogleih als ein 
wirkliches Bewegen in drehender, rotirender Weife, wenn man auf 
das Polarende eines in vertifaler Richtung ſchwebenden Magnetes, 
die Strömungen aus dem Polarende des Drahtes eines Elektro⸗ 
magneten im Verein mit einer Boltaifhen Säule ebenfalls in 
vertikaler Richtung wirken läßt, Die Richtung, welche das roti⸗ 
vende Bewegen von ber Rechten zur Linken oder von ber Linken 
zur Rechten nimmt, hängt von der Verfchiedenheit des Poles ab, 
deſſen Strömung man bei dem Berfuche anmwendete, und die gleiche 
Rotation "giebt fih an dem Polarende des Drahtes Fund, wenn 
diefes frei beweglich ift, der Magnet aber, deſſen einem Polarende 


928 47. Dee Elektromagnetismus. 


es genähert wurde, eine feſte Stellung bat. Die rotirende Be 
wegung geht in eine feitliche, zur Rechten oder zur Linken, über, 
wenn die Magnetnadel, auf welche man die elektrifhe Strömung 
hinfeitet, in horizontaler Stelung ſchwebt, und auch hierbei zeigt 
ſich die Richtung des Abweichend von dem magnetifhen Meridian 
abhängig von der pofitiven oder negativen Polarität der elektrifchen 
Strömung. 

So kann man burd die Wirkſamkeit einer Voltaifyen Säule 
oder eines anderen eleftrochemifchen und elektrifhen Apparates bie 
mannichfachſten Bewegungen der Magnetftäbe und Nadeln: fomwohl 
die feitwärts nad) Oft oder Weit, oder die Abweichungen berfelben, 
als auch die Bewegungen des einen Poled nad) oben oder nad 
unten (entfprechend der Neigng) bewirken. Und es ift nicht blos 
das magnetifche Eifen, welches durch den Einfluß der elektrifchen 
oder elektromagnetifchen Strömungen in feitwärts oder auf- und 
niedberwärts gehende, fo wie in eine rotirende oder eine Bahn um 
den Mittelpunkt der Strömungen befchreibende Bewegung verfegt 
wird, fondern diefe Bewegung theilt fih auch dem flüffigen Queck⸗ 
filber mit. Denn wenn man Heine Magnetftäbe, nah Schw eig- 
ger's finnreihem Verfuh, an einem ihrer Enden mit Platina 
befchmert, in vertifaler Stellung in Quedfilber einfenkt, dann ficht 
man nicht nur diefe Magnerftäbe um den Punkt, an welchem fi 
die eleftromagnetifhe Strömung eines leitenden Drahtes ergieft, 
eine kreisfoͤrmige Bahn befchreiben, fondern felbft das ungleid 
ſchwerere Quedfilber wird in eine kreisförmig bahnende, mellen: 
artige Bewegung gefegt, wenn man in ein Gefäß, das mit diefem 
flüffigen Metall gefüllt ift, die Polarenden einer Eräftig wirkenden 
Boltaifhen Säule in einiger Entfernung von einander einfenkt, 
und dann einen flarten Magnet in der Mitte zwifchen den Ent 
ladungspunkten der Polardrähte oder in der Nähe des einen diefer 
Punkte über das Queckſilber hinhält. Alsbald entftehen im Queck⸗ 
filbee oder in augenfälligerer Weife in dem mit ein wenig Säure 
vermifchten Waffer, das man auf feine Oberfläche geſchuͤttet hat, 
um die beiden Enden ber elektrifhen Polardrähte herum, Beweg— 
ungen nad) entgegengefegter Richtung, die eine von der Linken zur 
Rechten, die andere umgekehrt, von der Rechten zur Linken. Hatte 
man zuerſt den Nordpol eines flarken Magnetes an die Oberfläche 
des Quedfilbers gebracht, und man mendet nun zu demfelben 
Zwede den Südpol an, dann tritt- auf einmal die entgegengefegte 
Nichtung der Strömungen ein: der, welcher vorhin von der Red: 
ten zur Linken ging, nimmt jest feinen Lauf von der Linken zur 
Rechten, und umgekehrt. Diefelde Veränderung des Bewegens 
tritt ein, wenn man den Magnet, ftatt wie vorhin von oben, fo 
jest von unten dem Gefäß mit Quedfilber und den beiden Aus 
gängen ber eleftrifchen Entladung nähert. 

Mit den Erſcheinungen bdiefer Art find fehon jene nahe ver 
wandt, die aus der Wechſelwirkung einer totirenden Kupferfcheibe 








48, Der elekteifhhe Telegraph. 329 


und eines ihr genahten Magneted hervorgehen, überhaupt aber 
alle foldye, welche auf die eleftromagnetifchen Rotationen und ihre 
Mittheitung fich beziehen. Die einzelne Befchreibung bderfelben 
würde uns jedoch zu meit führen. Aber alle diefe Erſcheinungen 
Laffen uns im Kleinen und gleich wie in einem Spiegel das Ab: 
bild eines Werkes, einer That des Schöpfers fehen, deren offen- 
kundiges Geheimniß in Schriftzügen, die aus leuchtenden Sternen 
gebildet find, am. Dimmel flieht. Da droben unter diefen leuch- 
tenden Welten ift nirgends ein Stillftand, alle, wie ber Gang 
eines lebenden Menfchen nad) feinem Ziele, find fie in Bewegung. 
Und es ift freilich nur ein und bdiefelbe Kraft des Lebens, die ben 
Schritt eines gehenden Menfchen beflügelt; aber diefe Kraft tritt 
Dabei in zwei Momenten oder Formen auf: der fortfchreitende Fuß 
wird jegt durch die Anregung des Lebens emporgehoben und fintt 
bann, dem Geſetz der Dinneigung nach bem Alles tragenden Mit- 
telpunft folgend, wieder nieder. So wirkt aud) , wie wir fpäter 
noch meiter erwägen wollen, bei den Bewegungen des Mondes um 
feine Erde, der Planeten um ihre Sonne, ja aller Sonnen, wir 
wiſſen nicht, um welchen geheimnißvollen Ziel= und Mittelpunkt 
ein und diefelbe Kraft in einer zmweifachen Form und Richtung, da⸗ 
von die eine nad der Semeinfhaft mit dem leiblich tragenden Mit- 
telpuntt, die andere aber nad dem eigenthümlihen Verkehr, der 
nad) feinem Maaße jedem Dinge verliehen ift, mit dem die Mitte 
tote feine Enden umfafjenden Urfprung alles Seins und Bewegens 
hingewendet ift. 


48. Der elettrifhe Telegraph. 


Die große, merkwürdige Erfindung, deren wir hier gedenken 
wollen, fteht in unmittelbarem Zufammenhang mit den Entdedungen 
des Elektromagnetismus, aus denen fie hervorgegangen iſt. Die 
Aufgabe, die fid) jene Erfindung gefest und glüdlich gelöft hat, war 
die: ein Mittel zu gewinnen, durch welches man in möglichft Fürs 
zefter Zeit an einem mweitentfernten Drte eine Bewegung hervor- 
bringen koͤnnte, bie fi als hörbarer Ton kund gäbe und bie im 
Nothfalle feibft bei Nacht, wenn Niemand den Zon beachtete, Spu⸗ 
ven ihrer Wirkſamkeit hinterließe, welche, wie die gemöhnlichen 
Schriftzeichen, Worte und Gedanken ausdrüdten. Es hanbelte fich 
demnah um nichts Geringeres ale um bie Kunft, nicht etwa im 
eignen Zimmer unb mit eignen Fingern, fondern während man da⸗ 
bet in Wien oder Berlin ruhig figen bliebe, in Paris oder Brüffel 
einen Brief niederzufchreiben, der in einer unvergleichbar viel grö- 
feren Schnelle, als die Brieftaube ein Billet überbringt, feine Nach: 
richten dem Leſer mittheilen koͤnnte. 

In welcher Weife die elektrifche Anregung weit hinaus über 
die Gränze des leiblichen Umfanges eines Körpers, von dem fie 
ausgeht, Bewegungen hervorbringen kann, das lehren uns nicht 


330 33. Der elektrifhe Telegraph. 


nur, nach Seite 41 und 32 die Beobachtungen ber unorganifchen 
Körpermelt, fondern auch die eleftrifhen Erfcheinungen, welche 
namentlich im Xbierreih durch die Lebensthätigkeit der Nerven her⸗ 
vorgerufen werden. 

Wenn nah Cap. 72 der elektrifhe Zifh, wie etwa der Zit⸗ 
teraul, ein anderes Thier, das in feinem Gewaͤſſer lebt oder in daf 
felbe bincintemmt, tedten eder betäuben will, dann hat er nicht 
noͤtbig, daffelbe mit den gerechnlihen Waffen anderer Fifche , mit 
dem Gebiß zu paden, ja er braucht daffelbe weder zu berühren, 
noch aud nur in großer Mibe zu haben, fondern dabei nur der 
unfichtbaren, gleich wie zauberbaften Kraft feiner elektrifhen Span- 
nung fidy zu bedienen, um mit der Schnelle des Bliges feinen 
tbierifhen Willen in That zu fegen. 

Was dem Thiere durch eine befondere Zufammenftellung feiner 
Nerven mit den büutigsfennigen Bebältniffen verliehen ift, in denen 
eine leicht zerfegbare Fluüſſigkeit fidh befindet, das hat der Menſch 
in einer ungleich beberen, vieljeitigeren Weiſe durch den denkenden 
Geift empfangen, in deſſen Kraft er ein Derrfcher über ſich felber 
und über die ganze ibn umgebende Sichtbarkeit geworden ift. Nicht 
nur durch das borbare Wort, fondern audy dur das fidhtbar ge 
machte Zeichen diefes Wortes vermag der Menfc die Kegungen 
feines Willens, feiner Gefühle, wie das Licht feines Erfennens auf 
andere lebende und veritebende Weſen überzutragen: Er bewegt 
und lenkt durch fein Wort den abygerichteten Hund wie das ſchnelle 
Roß und den müdhtigen Elepbanten; feine Rede, in der Form der 
Buchſtaben, fpricht, als ob er gegenwärtig bei diefem flünde, zu 
einem in fernem Welttbeil wohnenden Menſchen, fpriht noch bann, 
wenn fein Leib ſchon feit Subrbunderten zur Afche geworben: ift, 
zu einem noch lebenden Geſchlecht der Menfchen. 

Den entfernt Wohnenden ſich ſchnell, befonders in Zeiten ber 
Noth mitzutheilen, das hat man ſchon in älterer Zeit durch die 
Feuerſignale verfianden. Wenn indeß von einem Hügel zum an- 
deren, über einen ganzen Landftrid hinüber, die Flammen ber 
Nothfeuer ſich erhuben, da Eonnten diefe denen, die fie fahen, nichts 
Näheres verkünden über den Grund, aus dem man fie angefacht 
hatte; man erfuhr durch fie nur im Allgemeinen, daß etwa dem 
Land und feinem Volke oder auch nur den Bewohnern einer ein- 
zelnen Gegend eine große Neth zugeftoßen fei. Deßhalb leiſteten 
die Mafchinen:Zelegrapben, davon wohl die Meiften von uns einen 
in Natur oder in Abbildungen gefehen haben, fhon ungleidy mehr, 
indem fie durch die verfchiedenen Stellungen der Gliederſtücke und 
Klappen ihrer Mafchinerie verfchiedene Budhftaben, Silben und 
ganze Worte ausdrüdten und fo eine foͤrmliche Unterredung zwi⸗ 
hen Menſchen möglid machten. weldye durch ein Heer ber Zeinde 
oder andere unüberwindlidhe Hinderniffe von einander getrennt wa⸗ 
ren. Noch dazu berubte die Sprache, welche bie Zelegraphen vor 
den Augen der Zeinde oder vor Tauſenden der Meugierigen von 





48. Der elektrifche Zelegraph. 331 


einem Thurme zum anderen mit einander redeten, auf einer Ueber⸗ 
einEunft derer , welche ſich Mittheilungen durch diefelbe zu machen 
hatten; nur ihnen war fie verftändlich; Andere, denen der Schlüf 
fel zu ihrer Deutung fehlte, erriethen ſchwerlich ben Sinn der ſchnell 
wechfelnden Stellungen der Mafchine. 

Diefe Mafchinen-Zelegraphen kamen zuerft in Spanien und 
Frankreich in einen allgemeinen Gebrauch; ; die erfle eigentliche Te⸗ 
legraphenpoft wurde (dur Deren Chappe) von Paris nad) Lille, 
auf eine Entfernung von 30 Meilen angelegt und beftund aus 12 
Zelegraphen. Der Einrichtung diefer Telegraphenlinie folgte bald 
die vieler anderer in und außer Frankreich. Der Vortheil, ben 
diefelben zur fchnellen Meiterbeförderung von Nachrichten darboten, 
war unverkennbar: die Eroberung von Quesney wurde mittelft ber 
Zelegraphenpoft fehon in einer Stunde in Paris bekannt und bei 
ber jesigen noch ungleich befferen Einrichtung der Zelegraphen wuͤrde 
vielleicht nur die halbe Zeit dazu nöthig fein, um aus gleicher Ent- 
fernung eine folche Kunde zu empfangen. Auch bei Naht war in 
möglichfter Weife durch Beleuchtung des Telegraphen, oder dadurch 
für die fortwährende Wirkſamkeit beffelben geforgt, daß man La= - 
ternen in gewiſſer Zahl und Stellung, fo wie in abmechfelnder 
Dämpfung oder Steigerung ihres Lichtes für die Zeichenfprache bes 
nüste. Es leuchtet übrigens von felber ein, wie oft das Eintreten 
von dihtem Nebel, heftigem Gußregen und Stürmen den Gang 
der Zelegraphenpoften unterbrechen mußte, und wie leicht auf einer 
der vielen Zwiſchenſtationen ſich ein Verſehen einfchleichen Eonnte, 
deffen Folgen fih durch alle Glieder bis zum Ziele hin fortfesten. 

Es war daher ein glüdlicher Gedanke, auf den ein berühmter 
Naturforſcher: Sömmering fhon im Sahre 1807 kam, die elek: 
trohemifch= (galvanifhe) Strömung zur Mittheilung von Nach⸗ 
richten in weite Ferne zu benutzen. Die Zerfegung des MWaffers 
follte hierbei die Zeichen für die Buchftaben bes Alphabetes und 
für die Zahlen geben. Dazu wurden 35 mit Waffer angefüllte 
Glaͤschen angewendet, welche umgekehrt in einem Behälter von 
Waſſer flanden und deren jedes mit einem Buchflaben oder einer 
Zahl bezeichnet war, Zu jedem diefer Gläschen führte ein Leitungs- 
draht aus dem galvanifchen Apparat, befien Strömung alsbald 
jest in diefem dann in einem anderen Gläschen die Wafferzerfegung 
bewirkte und hierdurch, die Buchftaben der Worte fo wie Zahlen 
ausfprah. In einfacherer Weife fuchte Schweigger bdenfelben 
Zwed zu erreichen. Faraday's aber und Oerſted's Entdedungen 
über bie Ablenkung der Richtung einer Magnetnadel durch ben 
polarifhen Einfluß der Elektrizität und die Anwendung, welche ber 
Legtere von dem Elektromagnetismus machte, konnten erft zur Er- 
findung unferer jegigen elektrifchen Telegraphen mit al’ ihren be= 
wundernswürdigen Leiftungen hinführen. Durch die Anmendung 
von diefen ift das, was einem früheren Menfchenalter ganz un» 
möglich erfchienen wäre, möglich, und ganz leicht erreichbar gewor⸗ 


332 48. Der elektriſche Telegraph. 


benz zwei Menfchen, welche fünfzig, ja mehrere hundert Meilen 
von einander entfernt wohnen, können ſich irgend eine Nachricht, 
einen Gedanken, nicht, wie auf dem Wege der früher gewöhnlichen 
Telegraphenpoſten in Zeit von einer Stunde oder halben Stunde, fon- 
dern augenblidlich, ald wenn fie an einem Xifche beifammen faßen, 
in ber Wortſprache mittheilen, ja, wenn eine Verbindung durch 
Kupferbrähte, zwifhen St. Petersburg und Peking hergeftellt und 
ber Kraftverluft, ber dem elektrifhen Strome auf folhem Weg zu: 
ftieße, volltommen vermieden werden könnte, dann würde der Spre⸗ 
chende in China's Hauptfladt vielleicht nad wenig Tertien ſchon 
und feldft ein Bewohner des Mondes, wenn unfere eleftromagne- 
tifche Strömung bis dorthin geleitet werden koͤnnte, würde in Zeit 
von etlihen Secunden von ber Erde, aus Kunde empfangen, 
denn bie Mittheilung der Gedanken auf dem Wege der eleftrifchen 
Anregung gefchieht, fo kann man fagen, in einer nahe gleihen Schnelle 
als die des Kichtes, wenn auch, wie wir oben am Enbe des 41. 
Gap. fahen, die Geſchwindigkeit der eleftrifhen Strömungen keine 
für uns mit voller Sicherheit meßbare Größe ifl. Aber außer der 
Alles überflügelnden Schnelligkeit hat eine folhe Mittheilung ber 
Gedanken durch elektrifhe Strömung nod ganz andere Vorzüge 
vor der Mittheilung durch telegraphifche Poften. Das, was der 
Spreher dem weit entfernt wohnenden Hörer fagen will, wird 
nicht durch Taufende von Augen gefehen, fondern erft an bem Drte, 
für den die Rede beflimmt war, gibt es fi) dem Anderen fund; 
der Lauf, den das Menfchenwort in der unfichtbaren Form einer 
elektrifchen Entladung nimmt, geht tief unter dee Erde verborgen, 
oder in der Metallmafle des Kupferdrahtes hoch über die Dächer 
bin. Dort aber, wo es bei feinem Ziele ankommt, vermag es 
ſich nicht nur wie das gewöhnliche telegraphifche Zeihen dem Auge, 
fondern auch dem Ohre vernehmlid zu machen, wenn aud) ber 
Treund, mit welchem ein Anderer, in fliller, nächtliher Stunde 
zu reden hätte, vielleicht in Gedanken vertieft an feinem Schreib: 
tifche fäße, oder er hätte fih fhon dem Schlummer hingegeben, da 
würde der Zon eines Gloͤckchens ihn wecken; er horcht auf, bie 
Töne, jest des tiefer, dann des höher geflimmten Gloͤckchens wie: 
derholen fi, die Zahl der Stodenfhläge und die Berfchiedenheit 
ihrer Zöne hat ihm Etwas zu ſagen; erſt ein tiefer, dann ſchnell 
darauf ein hoher, dann wieder ein tiefer Ton bedeutet etwa ein A, 
ein tiefer, dann gleich darauf 2 hohe und wieder ein tiefer das B, 
ein tiefer, dann in gleihem Moment kein hoher, oder ein hoher, 
dem fein tiefer folgt, bedeuten, jener bag E, diefer dad 3; drei 
tiefe, gleich hinter einander da6 O. Und fo könnte jeder Buchftabe 
durch eine gewiſſe Zahl und durch die fehnelle Aufeinanderfolge der 
höheren und tieferen Zone volllommen genau bezeichnet werben. 
Zwifchen jedem Buchſtaben trete eine Eleine, zwifchen den Worten 
eine größere Paufe ein. So fchnell als ein fähiges Kind die Worte 








48. Der elektrifche Telegraph. . 333 


durch Buchſtabiren auffinden kann, würde es duch Uebung mögs 
lich werden, die Mortfprache der Gloͤckchen zu verftehen. 

Aber, wir nehmen an, der Freund, an den die Rede des ent: 
fernt wohnenden Freundes gerichtet war, fei bei dem erften Anfchlag 
des Gloͤckchens nicht erwacht, er ‚habe einen Theil deſſen, das diefer 
zu ihm ſprach oder das Ganze uͤberhoͤrt? Auch dann waͤre nichts 
Weſentliches fuͤr ihn verſaͤumt; er faͤnde, wenn er mit dem Licht 
nach dem Tiſche hintrete, auf welchem ſein elektriſcher Telegraph 
ſeine Zauberkuͤnſte verrichtet, oder auch dann, wenn er erſt am 
lichten Morgen dahin kaͤme, Alles das, was er uͤberhoͤrt hatte, in 
fi ichtbarer Weife verzeichnet ; er fände einen Brief, der zwar nicht 
in eigentlichen Buchftaben, wohl aber in Punkten gefchrieben. wäre, 
deren höhere oder tiefere Stellung (entfprechend den verfchiedenen 
Toͤnen der Gloͤckchen) und Zufammenordnung bie einzelnen Buchs 
ftaben alsbald erfennen, und durch die gleich ben Zonpaufen zwi⸗ 
fchen fie tretenden Intervallen, von einander unterfcheiden ließe. 

Sn der eben befchriebenen Weife war eine Mittheilung der Ges 
danken durch vernehmbare Töne wie durch fichtbare Zeichen mittelft 
jenes elektriſchen Telegraphen moͤglich geworden, den ein geiſtreicher, 
auch in anderer Hinſicht um dieſes Gebiet der menſchlichen Erfin⸗ 
dungen hoch verdienter Phyſiker: C. A. von Steinheil in Muͤn⸗ 
chen, ſchon im J. 1837 on für ben Gebraudy in einem en⸗ 
geren Kreife eingerichtet hatte. Der Schreibapparat, der die Punkte 
und Linien in verfchiedenen Stellungen auf den mittelſt eines Uhr⸗ 
werkes vorüberziehenden Papierftreifen aufzeichnete, und hiermit die 
einzelnen Buchftaben andeutete, beftand in töhrenartigen , in em 
feines Ende ausgehenden, mit dunkler Delfarbe gefüllten Gefäßchen, 
welche, durch den gleich näher zu befchreibenden eleftromagnetifchen 
Einfluß in Bewegung geſetzt, ihren färbenden Stoff an das Pa- 
pier abgaben. 

Obgleich es Überflüffig und unnüg fein würde, die Einrichtung 
der elektrifchen Zelegraphen und die Wirkfamkeit der verfchiedenen 
Theile ihrer Apparate in's Einzelne gehend zu befchreiben, da biefes 
niht nur in vielen allgemein: verbreiteten und leicht zu habenden 
Schriftchen (z. B. Forſach's Katechismus ber elektrifchen Telegra⸗ 
phie, Leipzig 1853) geſchehen iſt, ſondern auch in unſeren Tagen 
auf jeder elektrographiſchen Station vor Augen gelegt ift, deuten 
wir dennoch hier nur in wenig Linien bie Grundzüge an, worauf 
im Oanzen ber Bau der elektrifhen Zelegraphen beruht. Wir 
haben hierbei zunaͤchſt die Vorrichtungen vor Augen, deren man fid) 
in Deutfchland, fo wie anderen Ländern, in größter Allgemeinheit 
bedient, gehen jedoch auch bei ber Befchreibung von dieſen nur auf 
die weſentlichſten Theile ein. 

Wir erinnern hierbei zuerſt an Das, was wir im vorhergehen⸗ 
den Capitel uͤber den Einfluß der elektromagnetiſchen Stroͤmung 
auch auf unmagnetiſches Eiſen und auf die Bewegungen eines frei⸗ 
ſchwebenden Magnetes, im Allgemeinen ſagten. Wenn die Stroͤ⸗ 


334 48. Der elekteifhe: Telegraph. 
⸗ 


mung aus einem elektrochemiſchen (galvaniſchen) Apparat ihren 
Verlauf durch die moͤglichſt vielfachen Drahtgewinde eines Oerſtedi⸗ 
ſchen Elektromagneten nimmt, dann wird ſie hier augenblicklich ſo 
verſtaͤrkt, daß ſie einem unmagnetiſchen Eiſen die Kraft mittheilt, 
anderes Eiſen anzuziehen. Dieſe Kraft verliſcht aber alsbald, wenn 
die Stroͤmung aufhoͤrt. Der Verlauf der telegraphiſchen Mitthei⸗ 
lung iſt nun folgender: Auf jeder Station, von welcher ſie aus⸗ 
geben ſoll, findet ſich ein ſtarker elektrochemiſcher (Trog-⸗) Apparat 
(nach Cap. 45), deſſen Strömungen in jedem Augenblick nad) Be- 
lieben zu einer anderen Station hingeleitet werden koͤnnen, wenn 
man ben dorthin leitenden Draht mit den Polarenden des Trog⸗ 
apparats in Verbindung fest. Die Strömung theilt fih an der 
Station, wohn man fie richtet, augenblidlich zwei Elektromagneten 
mit, welche, vermöge ber entgegengefegten Richtung ihrer Drabt- 
windungen, an ihrem oberen Ende eine entgegengefeste magnetifche 
Dolarität haben. An jedem der beiden Elektromagnete ift das obere 
Ende mit einer eifernen Platte bededit, welche durch die Strömung 
magnetifch wird. Ein eiferner Stab (Anker), ber am Ende. eines 
leicht beweglichen meflingenen Hebels befeftigt ift, wird von den 
magnetifch angeregten eifernen Platten an feinen beiden Enden fo 
Eräftig angezogen, daß fein laut vernehmliches Anſchlagen an jene 
Platten das Zeichen zum Aufmerken gibt. Diefes Zeichen kann, 
fo oft man will, wiederholt werden, denn die anziehende Kraft der 
Platten hört auf zu mirken, fobald die Strömung nachlaͤßt und 
fhon die Zahl der Schläge, die man abfagweife durch die Stroͤ⸗ 
mung hervorbringt, könnte zur Bezeichnung der Station dienen, 
mit welcher man correfpondiren will. Aber der Eifenjtab oder An- 
fer, indem die Eifenplatten bald ihn anziehen, bald wieder fallen 
laffen, dient hierbei noch einer anderen Vorrichtung Mit ihm zu: 
gleich wird nämlich jener verlängerte, meflingene Hebel, an welchem 
der Anker befeftigt ift, in Bewegung geſetzt. Diefer Hebel ift aber 
fo eingerichtet, daß fein linker, mit dem Anker in Berbindung 
ftehender Arm durch feine größere Schwere beftändig etwas nieder- 
wärts gezogen wird, während das Ende des anderen, rechten Ar 
mes etwas höher flieht. Wenn jedoch der Anker, durch die magne 
tischen eifernen Platten angezogen wird, dann zieht derfelbe zugleich 
aud den linken Arm bes Hebels mit fich in die Höhe, während 
das Ende des rechten Armes niederwärts gedrückt wird, Aber an 
diefem Ende ift der Stift des Schreibapparates befeftigt, welcher, 
fo oft ex niedergedrüdt wird, feine Zeichen als Punkte, wenn man 
bie Strömung ſchnell abbricht, oder als Linien, wenn man fie läns 
ge anhalten läßt, einem unterliegenden Papierftreifen mittheilt. 

iefer Papierftreifen, der die telegraphifche Schrift aufnehmen foll, 
wird durch eine Vorrichtung, die wie ein Uhrwerk durch Gewichte 
in Gang gefegt werden kann, zwifhen zwei Walzen unter dem 
Stifte vorbeigeführt, indem er fich hierbei von einer Rolle abwin- 
bet und um eine andere wieder herumlegt, Nur auf jener Sta⸗ 





48. Der eleftrifche Telegraph. 335 


tion, welche durch die gegebenen Zeichen hierzu aufgefordert war, 
hängt man die Gewichte des Schreibapparates ein, fegt den Schreib» 
ftift und das Papier in ihre gehörige Stellung, das Uhrwerk in 
Bewegung. 

Eben fo einfach wie die telegraphifhe Schriftfprache, darin 
die Zufammenftellung der Punkte und Striche die Buchſtaben ans 
deutet, gewiſſe kürzere oder längere Paufen, ſowohl diefe als die 
Worte abgranzen, beruht auch die telegraphifche Zonfprache auf 
jenem im vorhergehenden Gapitel befchriebenen Vermögen der entge- 
gengefesten eleftrochemifchen oder eleftromagnetifchen Pole, einen be: 
weglihen Magneten in eine rechts oder links abweichende, oder in 
eine rotirende Bewegung zu verfegen. Man hat in diefer Weife 
unter anderen auch einen Glodenapparat eingerichtet. Derfelbe 
befteht aus einem Magnetftab, welcher durch einen feiner Pole 
nrit dem Elektromagneten des Schreibapparates in Verbindung ges 
fegt werden kann, fo daß fid) die Bewegungen, weldye die Strös 
mungen aus dem Clektromagneten in ihm hervorbringen, bem 
Glockenapparate mittheilen, der dann auch bei Nacht zu einem 
träftigen Weder dienen kann. 

Wenige Minusen nur find nöthig, um eine aus etlichen hun- 
dert Zeichen beftehende Botſchaft zu telegraphiren , deren Worte 
der Empfänger, an ben fie gerichtet ift, in demfelben Augenblid 
zu lefen vermag, in welchem fie fein Correfpondent Wort für Wort 
an ihn niederfchreibt. Es ift gerade fo, als ob der Leſer unmittel- 
bar hinter dem Rüden des Schreibers finde und ben Federzeichen 
defjelben mit feinem Blicke folgte. 

Nicht blos Drähte, zu deren Zweck ber Leitung Kupfer am 
allgemeinften, fondern auch die Schienen der Eifenbahnen, welche 
fhon jest einen Theil ber Länder nach meiter Ferne hin durd)- 
ziehen, ja felbft hin und wieder mittelft großer, an den abbre 
chenden Enden der metallenen Leiter angebrachten Metallflaͤchen, 
das Erdreich oder das Waſſer, koͤnnen für den Verkehr der elektri⸗ 
fhen Telegraphen benugt werden, fo daß der Weg diefer Mitthei- 
fung nad allen Richtungen hin fich einfchlagen läßt. 

In folhen Erfcheinungen, wie. bad Bewegen der eleftrifchen 
Ströme und des Lichtes, welche der Geift des Menfchen in feinen 
Dienft zu nehmen und nad Willkuͤhr zu leiten vermag, wird ung, 
wenn auch nur in vorbildlicher Weife, jener Unterfchied anſchaulich, 
der fi zwifchen der Macht und Wirkſamkeit des Geiftes und jener 
des Leibes findet. Die Elektrizität wie das Licht, fo faft unermef- 
lich aud ihre den Raum durchdringende Kraft ift, gehören zwar 
beide nody immerhin der Leiblichkeit an, und dennoch iſt die Ent- 
fernung für fie faft gar nicht mehr vorhanden, die Befchräntung 
durch Zeitverluft ift fait ganz aufgehoben; der Rapport, wenn aud) 
nur durch leiblihe Vermittlung des metallenen Leiters hergeſtellt, 
ift ein wahrhaft wundervoll naher und inniger. Was mag erft 
jener verbindende Zug der Seelen fein, welcher Feine Vermittlung 


336 49. Wärme, Magnetismus und Elektrizitaͤt. 


mehr durch das Körperliche bedarf, fondern unmittelbar durch ein 
allvereinendes geifliges Element von einer der Körperlichkeit ent- 
bundenen Seele zur anderen geht! Kann fchon der Lenker und 
Meifter eines elektrifchen Zelegraphen nad Willkühr feine Zufpradye 
jest nad) diefem, dann nad, einem anderen Freunde hinrichten, 
mit feinem Denken und Wollen bei diefem gegenwärtig fein, obgleich 
er durch die Laſt feines Leibes an einen anderen, räumlich fernen 
Drt gebunden ift, was wird erft dann möglich fein, wenn biefe 
Feſtgebundenheit an die Gränzen bes planetarifchen Raumes mit 
dem Leibe aus Erde zugleich hinwegfaͤllt! 


49. Wärme, Magnetismus und Elektrizität. 


Auf dem bisherigen Wege unferer Beobachtungen über das 
Weſen und die Eigenfhaften der Wärme erging es und wie Ri 
fenden , die in der geraden Richtung nach einem beflimmten Ziele 
jest durch dieſe Landfchaft oder Stadt, dann durch eine andere kom⸗ 
men, und die, an manchen diefer Punkte verweilend, der Betrachtung 
der Merkwürdigkeiten zur Rechten und zur Linken fi hingeben. 
Auf diefe Weiſe haben wir uns, obgleih nur als Voruͤbergehende 
mit dem Gebiet der elektrifchen, wie der eleftromagnetifchen Exfchei- 
nungen beſchaͤftigt und auch hier verweilen mir wieder auf einige 
Augenblide bei den undeutlichen Inſchriften einer Stundenfäule, 
die uns zwar Uber die Entfernung, die wir noch zu unferem Ziele 
zu durchlaufen haben, nicht aber darüber in Ungewißheit Taffen, 
baß wir noch immer auf dem rechten, geraden Wege find. 

Für die Wirkfamkeit der magnetifhen Polarität zeigt ſich die 
Wärme zunaͤchſt nicht begünftigend. Die Beobachtung lehrt es, 
daß die Tragkraft und mithin die Stärke der Polarifation unferer 
gewöhnlichen Magnete, fehon bei einer Temperatur der heißen Som: 
mertage, wenn biefelbe etwa in unferen nad) Weft oder Suͤdweſt 
gelegenen Dachkammern bis auf 32 Grad Reaumur und darüber 
ſich fleigert, augenfällig vermindert werde, noch mehr da, wo fie, 
wie in den Trockenſtuben unferer Fabriken 40 Grad erreicht, Das 
Gewicht, das man an ben Anker eines Tünftlihen Magneten ge- 
bangen hatte, und melches berfelbe bei gewöhnlicher Temperatur 
ganz gut zu tragen vermochte, fallt dann plöglich herab. So weiß 
man auch, daß felbft der Eräftigfte Magnetftab durch abmechfeln- 
des Eintauchen in fiedendes Waſſer und darauf folgendes Abkühlen 
allmählig, durch ein Erhigen aber bis zum Glühen plöglic feine 
ganze anziehende und abftoßende Kraft verliere und zugleich mit 
biefer feine nady den Erdpolen ſich hinlenfende und von ihnen un- 
ter einem feftftehenden Verlauf ber Zeiten fi) entfernende, fo wie 
wieder nähernde Bewegung. Zwar auch ein fehr hoher Grad ber 
Kälte foll den Magnetismus fhwächen, doch halt diefe Schwächung 
feinesmweges der durch die Hise das Gleichgewicht, Das Licht da- 
gegen ſcheint nach mehreren Beobachtungen die magnetifche Polas 











4. Wärme, Magnetismus und Elektrizicht. 337 


rifation zu verflärken, und vor Allem wird dieſer beguͤnſtigende 
Einfluß dem violetten Strahle des Prismas zugefchrieben. 

Daß die elektrifhe Spannung in den hierzu befähigten Koͤr⸗ 
pern durch die Wärme angeregt und verftäckt werde, davon war 
fhon früher im Allgemeinen die Rede, fo daß wir bier die That⸗ 
ſache nur noch durch einige befondere Beifpiele erläutern wollen, 
welche uns die elektrifchsmagnetifhe Wirkſamkeit mander Erpftallis 
firten Steine und vor Allem der Metalle an die Hand giebt. 

Dom Zurmalin mußten es die Beobachter der Natur fon 
in alter. Zeit, daß er, wenn man ihn erwärmt, leichte Körper ans 
ziehe, denn das Foſſil, welches ein alter römifher Schriftfteller 
(Plinius) unter dem Namen Sonia befchreibt, ſcheint nichts Ans 
deres geweſen zu fein, als ein folcher, durch feine werfchledene 
Faͤrbung und feine ſchoͤnen, breifeitig =» fäutenförmigen Geftalten 
ausgezeichneter Stein. Wenn : man einen Turmalinkryſtall, vor 
Aller einen ſolchen, der von heller Farbe, in feinem Inneren ohne 
Riffe und Sprünge und dabei etwas durchfichtig ift, aud nur 
einer gleichmäßigen Erwärmung von 24 Grad Reaumur ausfept, 
dann tft er wie ein Heiner Magnet polarifch geworben, nur mit 
dem Unterſchied, daß feine Polarität in elektrifcher Korm auftritt. 
Denn an ber einen Hälfte, feiner Länge nach, zeigt er ſich ent⸗ 
ſchieden pofitiv, an der anderen negativ elektriſch, und diefe Pos 
larifhe Spannung wird immer ftärker, je höher der Grad feiner 
Erwärmung fteigt, verſchwindet aber allmählig, wenn die Erhigung 
nicht mehr zunimmt, fondern auf demfelben Grade ſtehen bleibt. 
Und nicht nur das Erwärmen, auch das Abkühlen eines erwärms 
ten Zutmalintryftalles regt in diefem die elektrifche Polarifation auf; 
denn wenn ein folder eben fo gleihmäßig, als er vorhin erhigt 
wurde, wieder erfaltet, dann kommt auf einmal die polarifhe Spans 
nung, aud wenn fie bei der auf-gleihem Grabe ſtehen gebliebenen 
Wärme fi verloren hatte, wisder zum Vorſchein, jedoch in vers 
fchiedener Richtung, denn das Ende, das vorher pofitiv elektrifch 
. war, verhält ſich jegt negativ und umgekehrt. Wenn man einen 
Turmalinkryſtall während feiner elektrifhen Spannung in mehrere 
Stuͤcke theilt, dann zeigt jedes derfelben die zweifache Elektrizitaͤt, 
ja die kleinſten Splitter, in welche man ihn zerftößt, find noch 
einer elektrifchen Polarifirung durch Erwärmung und Abkühlung 
fähig. Doch hat auf diefe Eigenfchaft offenbar die Art der regels 
mäßigen Gefteltung des merkwürdigen Steines einen befonderen 
Einfluß, denn nur, wenn feine Beinen, oftmals faft nabelförmig 
biinnen Säulen bie dreifeitige Form haben, werben fie polariſch; 
mit folden Kryſtallen, welche die Form einer fechsfeitigen Säule 
haben, gelingt der Verſuch nicht. Es gründet ſich diefer Unter⸗ 
fhied in fehr beachtenswerther Weife auf eine, wenn wir fo fagen 
dürfen, mangethafte Ausbildung der kryſtalliniſchen Form ber dreis 
feitigen Säule des Turmalins im Verhältniß zu der fechsfeitigen. 
Nicht nur bie Seitenflähen der Säule felber find an jener blos 


2% 


338 49. Wärme, Magnetismus und Elektrizität. 


zue Hälfte ausgebildet, fondern auch die (drei) Zuſpitzungsflaͤchen 
der beiden Enden ſtehen in verkehrter (feitwärts gewendeter) Rich⸗ 
tung zu einander. Das Hervortreten der elektrifhen Eigenfchaft 
an folhen hemiedriſch, db. h. halbfeitig entwidelten Kryflallformen 
erinnert mithin an das, was wir ſchon in dem erflen Cap. dieles 
Büchleins andeuteten, und was fi uns bei der Betrachtung ber 
elektriſchen Fiſche von Neuem bemerkbar machen wird. 

Turmaline von den erwaͤhnten Eigenſchaften kommen 
meiſt nur aus fernen Laͤndern wie Braſilien, Sibirien u. f. zu 
uns, dagegen giebt es in Deutſchland, im Luͤneburgiſchen, einen 
anderen Stein, Borazit genannt, welcher von ebenfalls hemi⸗ 
edriſcher, d. h. einſeitiger Kryſtallform in jener Hinſicht noch viel 
merkwuͤrdiger iſt, als der Turmalin. Der Borazit, meiſt von 
graulich⸗ oder gelblichweißer Farbe und einem. freilich nicht ſehr 
ſtarken, demantartigen Glanze, findet ſich in der Form kleiner 
Wuͤrfel, deren Ecken oͤfters alle oder doch zum Theil wie abge⸗ 
ſchnitten (abgeſtumpft), die Kanten mit zwei Flaͤchen zugeſchaͤrft 
find, in Gyps eingewachſen. Wenn man einen ſolchen kleinen 
MWürfel erwärmt, dann findet man, daß fih an ihm nicht nur 
wie am Zurmalin ein Paar, fondern vier Paare der elektrifchen 
Polaritäten eingeftelt haben, denn je zwei, an der oberen und un 
teren vorderen. und hinteren Seite des Wuͤrfels [chief ſich gegen: 
berflehende ungleihförmige Eden bilden ein folhes Paar, indem 
die eine pofitive, die andere negative Elektrizität zeigt, und um die 
obere wie um die untere Seite herum, immer eine Ede von pofis 
tiver Spannung mit einer von negativer, abwechfelt. Auch der 
Galmei (das Eohlenfaure Zinkoxyd), der in manchen unferer Ges 
birge gegraben wird, zeigt, wenn er Chemiebrifch) kryſtalliniſch ift, 
eine elektrifche Polarität und diefes ſchon bei der gewöhnlichen mitt 
leren Temperatur der Atmoſphaͤre. Selbft an den Kryftallen des 
Bitterfalges wie am Erpftallinifhen Zuder kann man durch Er⸗ 
wärmen eine (ſchwache) elektrifche Polarität hervorrufen. 

Noch mehr im Großen als in. den eben erwähnten Fällen hat 
man den Einfluß der Wärme auf die Erzeugung der polarifch 
elektrifhen Spannung an den Metallen beobachtet, Wenn man 
von zwei Metallſtuͤcken derfelben Art, mithin von zwei Stüden 
Kupfer oder Silber, das eine erwärmt und hierauf mit diefem das 
andere nicht erwaͤrmte berührt, dann entſteht alsbald zwifchen beis 
den eine elektrifhe Spannung. In einem Kupferdraht, den man 
zu einem Viereck zufammenbiegt, aus welchem das eine Endftüd 
frei hervorragt, entftcht bei der Erhitzung dieſes vorfiehenden En⸗ 
des ein merklicher eleftrifher Strom, der von dem Punkt der Er- 
wärmung aus nach dem anderen eingebogenen Ende bin feine 
Richtung nimmt, Wenn man zwei Stäbe, ben einen von Wis⸗ 
muth, den anderen von Spießglanz, zu einem größeren Stabe zus 
fammentöthet, und den Punkt der Zuſammenloͤthung erwärmt, 
dann entfleht eine Strömung, die vom Wismuth zum Spießglanz 





49, Wärme, Magmtismus und Elektrizität. 339 


beim Erkalten eine foldhe, die umgekehrt vom. Spießglanz zum 
Wismuth ihre Richtung nimmt. Auf ſolche Weife kann man eine 
große Zah von Wismuth- ‚und Spießglanzftäbchen, indem man 
immer das eine bdiefer Metalle mit dem anderen abmwechfeln läßt, 
zu einer Gefammtfäule zufanimenlöthen, deren elektrifhe Wirk⸗ 
famkeit durch blofe Erwärmung fo hoch gefteigert wird, dag man 
mittelft ihrer Strömungen präparirte Froſchſchenkel zum Zuden 
bringt, Waffer und Salze zerlegt, Funken und felbft eine Exrhigung 
der Verbindungsdrähte hervorruft. Waͤhrend zur Begründung ber 
freitih ungleich ftärkeren galvanifhen Spannungsthätigkeit das 
Zufammenwirken des Zinkes, des Zinnes oder des Eifens mit 
Kupfer, Silber u. f. fihb am .förderlichflen erweiſt, werden bie 
elektriſchen Wärmefäulen am vortheilhafteften aus Wismuth und 
Spießglang gebildet, denn in der Meihe der polarifhen Entgegen 
fegungen, welde durch blofe Zemperaturveränderung in verſchie⸗ 
benen Metallen ermwedt wird, bilden die beiden eben genannten 
die Äußerften Enden, und nur das Tellur fcheint das Spießglanz- 
metall im Gegenfag zum Wismuth oder Nidel, noh an Spans 
nungsfähigkeit zu übertreffen. Barte, dünne, aus vielen abwech⸗ 
felnden Stuͤckchen von Wismuth und Spießglanz zufammengefegte 
Stängelhen von 1 bis 2 Zoll Länge, davon mehrere in einer fiern- 
förmig aus einander flrahlenden Richtung zufammengeorbnet wer- 
den, zeigen ſich für den Einfluß aud einer geringen Veränderung 
der Temperatur fo empfindlih, daß fie fhon durd eine Erwaͤr⸗ 
mung oder Abkühlung in elektrifhe Spannung gerathen, deren 
Betrag man dem 6000ten Theile eines Grades der Reaumur’fhen 
Waͤrmeſcala gleich gefhägt hat. Freilich wird eine folche leiſe 
elektrifche Anregung nur durch dergleichen Eünftlich bereitete, elek⸗ 
triſch magnetifhe Werkzeuge bemerkbar, welche aus einer von iſo⸗ 
lirtem Metalldraht, in der früher erwähnten Weife ummundenen 
Magnetnadel gebildet find. Weil auch die ſchwaͤchſte elektrifche 
Strömung. duch die vielen Windungen des Drahtes auf die mag⸗ 
netifche Wirkſamkeit der Nadel einen fo verftärkten Einfluß ger 
winnt, daß fie eine Abweichung derfelben aus ihrer Stellung bes 
wirt, hat man bdergleihen Werkzeuge Elektrizitaͤts⸗ Vermehrer 
(Multiplikatoren) genannt. M 

Die Erkenntnig und nähere Beachtung des Einfluffes der 
Waͤrme auf elektrifhe Polarifation und Wechſelwirkung der Körs 
per ift wegen ber Folgerungen, zu denen fie führen kann, von 
großer Wichtigkeit. Die Verfchiedenheit des Grades der Erwaͤr⸗ 
mung an den Theilen der Erdoberfläche duch die Sonng, und in 
der Tiefe durch die Wärme des Erdinneren begründet ohne Auf⸗ 
hören elektrifchsmagnetifche Strömungen, welche gleich der Regung 
eines gemeinfamen Lebensantriebes durch die Geſammtheit der its 
diſchen Naturreiche hindurch gehen. Und ſelbſt in den lebenden, 
aus flhffigen und feften Theilen, aus Gefäßen, Nerven und Muss 
kein, Häuten und Organen der Verdauung wie Abfonderung zus 

22 * 


» 


340 | 50. Das Kordiict. 


fammengefügten Körpern der Thiere wie der Menfchen mag die 
Veränderung und der unaufhoͤrliche Wechfel der äußeren tie in 
neren Temperaturen eine beftändige Anregung und Verminderung 
der polarifchen Wechfelwirtung begründen, wobei nicht felten, wie 
am erkaltenden Zurmalin, die verfchiedenen Pole ihre gegenfeitige 
Lage und Stellung fo wie die Richtung Ihrer Thätigkeit verändern, 
fo daß hierbei Das, was vorhin pofitiv war, zu einem Anderen 
in negatives Verhältmiß tritt und umgekehrt. 


50. Das Nordlicht. 


Mit demfelben Rechte, mit welchem wir weiter oben die Bes 
trachtung des Blitzes und der gewoͤhnlich ihn begleitenden Erſchei⸗ 
nungen des Gewitters an die Erwähnung der Licht⸗ und Schläge 
gebenden Wirkſamkeit der eleftrifhen Entladungen anreihten, dir 
fen wir bier, wo fo eben von dem Einfluß der Temperaturver⸗ 
änderungen auf den Elektromagnetismus die Rede war, die Be 
fhreibung des Nordlichtes, oder vielmehr des Polarlichtes folgen 
laffen. Ohnehin feheinen beide Erfheinungen, jene unferer ge 
wöhnlichen, von Blig und Donner begleiteten Gewitter und bie 
der Polarlichter in einem ähnlichen Verhältniß unter einander zu 
ſtehen als die Wirkſamkeit der Elektrizität und ded Magnetismus 
überhaupt, fo daß ein berühmter Forfcher der Natur: A. v. Hum⸗ 
boldt die Morblichter „magnetifhe Ungewitter,“ im Gegenfag zu 
den elektrifchen Cunferen gemeinen Gewittern) benannt hat. 

Beide, die Gewitter und das Polarlicht, flehen in vielfader 
Hinfiht mit einander im Gegenfag. Die Polarlichter kommen in 
Gegenden vor, in denen die Erfcheinung eines elektrifchen Gemit 
ters zu den großen Seltenheiten gehören; die Punkte des gemöhn 
lichſten Erſcheinens der erfteren fallen zwar nicht, mie man früh 
erwähnte, an die beiden Erdpole felber, wohl aber nicht fern von 
den Polarkreifen, namentlih auf der noͤrdlichen Halbkugel zwiſchen 
den 6Oten bis 66ten Grad der Breite. Obgleih es wahrſcheinlich 
ift, daß nah Cap. Franklin's Anfiht auh im Sommer Nor 
lichte vorhanden, nur aber wegen der Länge des Tages und fer 
ner hellen Dämmerung für das Auge nicht fihtbar find, fann 
man doch nicht umhin, felbft darin einen Gegenfag zwifchen dem 
Mordliht und dem Gewitter anzuerkennen, daß jenes vorherrſchen⸗ 
der den kaͤlteſten Monaten des Winters, wie diefes den heißeſten 
Monaten de8 Sommers angehöre. Denn oboleih Gap. Rof 
unter 660 30. N. Br. ſchon im September und Detober Nord 
lichter beobachtete, werben dieſe dennoch erft in der Mitte dei 
Winters fo uͤberaus häufig, daß Henderfon auf Island in je 
der hellen Nacht den Himmel von Norbfchein erleuchtet fah, und 
ihr Aufflammen ift dann von folder Stärke, dag Löwendrn am 
29. Zanuar bei hellem Sonnenfchein die Strahlenſchwingung eine 
Nordlichtes erkannte. Unſere elektrifhen Gewitter find in der Regel 


9. Das Norbdlicht. 341 


von einer großen Schwäle der Zuft begleitet; das magnetifche Un, 
geroitter des Polarlichtes dagegen tritt, wenigftens dann, wenn «6 
feine glänzendften Erſcheinungen bildet, meift in Gefellfehaft jener 
furchtbaren, in feiner Nachbarſchaft einheimifhen Winterkätte auf, 
welche ſelbſt das Eis zerberfien macht. Denn von diefer zufams 
menziebenden Wirkung der Kälte leiten mehrere neuere Beobachter 
jenes zifchende und krachende Geraͤuſch her, welches einige frühere 
Befchreiber des Nordfcheines diefem magnetifchen Ungewitter ſel⸗ 
ber, — glei wie dem Erſcheinen des Blitzes das Getoͤſe bes 
Donners — beigelegt hatten. | | 

Nicht nur in der Nachbarfchaft des Mordpoles, auch dieſſeit 
der Polargegend der ſuͤdlichen Erdhälfte kommen die magnetifchen 
Ungemitter, oder bie Polarlichter in einem bedeutenden Glanze vor, 
und zum Theil mag wohl der Grund, weshalb Südlichter viel 
weniger oft als Nordlichter beobachtet worden find, nicht blos in 
der größeren Seltenheit ihres Vorkommens, fondern in dem Mans 
gel der Gelegenheit und der günftigen, von aufmerkfamen Beobs 
achtern bewohnten Standorte gelegen fein. Denn der gehbte For⸗ 
fherblicd eines Dalton hat oft felbft in England den fernen, abs 
gefpiegelten Schimmer eines Sübdlichtes bemerkt, fo wie Andere 
(om 14. San. 1831) das Aufflammen eines Nordſcheins noch 
unter dem Adten Breitegrad der fhblihen Halbkugel wahrgenons 
men baben. Das Sichtbarwerden der Polarlihter in fo unger 
heuren Fernen ift übrigens nicht daraus erklärbar, daß diefes Mes 
teor bis zu einer Döhe fi ausdehne, welche mehrere Hunderte 
von Meiten erreicht; vielmehr weiß man, baß biefe Höhe bie dreis 
fache unferer hoͤchſten Gebirge kaum jemals Überfleigt, und großen 
theils nur auf einige taufend Fuß gefchägt werden kann. Eben 
fo wie ftarke elektrifhe Gewitter zu gleicher Zeit, wenn aud, in 
einem immer abnehmenden Grade der Stärke, Uber große Land: 
ſtriche hinuͤber ausbrechen, fo zwar, daß der Beobachter in Preß⸗ 
burg in derfelben Stunde feine eignen donnernden und bligenden 
Gewitterwolken Über dem Haupte hat, in welcher andere Wolken, 
von berfelben, weithin verbreiteten elektrifchen Anregung ergriffen 
Über Wien und Linz fich entladen, fo mag auch, nah X. v. Hum⸗ 
boldt's Anficht die flärkere und ſchwaͤchere Erfheinung des Nord⸗ 
lichtes zu gleicher Zeit in der Nähe der Polarzone in ihrer hoͤchſten 
Glanzform weiter davon entfernt als eine minder augenfälligere 
Strahlung, aus den höheren Regionen der Atmofphäre fi Fund 
geben. Ja felbft in der Weife der unter anderen Verhältniffen 
wahrgenommenen Luftfpiegelung Tann eine weite Verbreitung eis 
nes folden Meteores möglich werben. 

Was wir von dem Polarliht Genaueres willen, das vers 
danken wir zunaͤchſt der näher liegenden Beobachtung der einen 
feiner Erfcheinungsformen: des Nordſcheines, daher auch unfere 
diesmalige Befchreibung vorzugsweife nur diefem gilt. 

Darinnen werben beide, das elekteifche wie das magnetifche 


342 9 Das Nordlicht. 


Ungemitter, als innerlich Übereinflimmend betrachtet, daß beide auf 
einer Störung des Gleihgewichtes, jenes in der Vertheilung dır 
planetarifh atmofphärifhen Elektrizität, diefes-des Magnetismus 
der Erde beruhen. Das Gleichgewicht dieſer Vertheilung, die 
Ausgleihung des Weberfluffes mit dem Mangel wird in beiden 
Fällen duch eine Entladung bergeftellt, die mit einer Lichterfher 
nung, dort des Blitzes, bier des Polarfcheines verbunden ill. 
Freilich zeigt fih in der Stärke, wie in der Richtung, melde 
diefe Entladungen annehmen, ein fehr auffallender Unterſchied. 
Das gewöhnliche Celektrifche) Gewitter wirkt bei feinen Entiadun 
gen auf al? unfere Sinne; wir fühlen, fehen,. hörem die Kräfte 
feiner Erſchuͤtterungen, felbft unfer Geruchsſinn wird durd den 
einfelagenden Blig angeregt, welcher Häufer entzindet, Mauern 
und Bäume zerfhmettert, den Hirten wie die Thiere feiner Deere 
tödtet, den Löwen ber afritanifhen Wuͤſte mie die flüchtige Os 
zelle mit feinem Geſchoß erlegt. Die elektrifhen Ungewitter bis 
ben deshalb immer für die belebten Mefen der Erdoberflaͤche ein 
furchtbare und felbft für die Körperwelt der todten Maffen eine 
zerftörende Naturgewalt. 

Ganz anders verhält ſich dies bei den magnetifchen Unge⸗ 
wittern, bei den Nordlichtern, Diefe wirken nur auf einen Sinn: 
auf den des Gefichtes, denn die früheren Berichte von einem 
Zifhen und Braufen, das von dem Nordſchein felber ausgehen 
follte, find, aufs Wenigſte gefagt, hoͤchſt zweifelhaft. Kap 
Franklin, der, nebft feinen Begleitern, mehr denn 200 Nor 
lichter in der eigentlichen Heimath derfelben beobachtete, hat fih 
ſehr oft mitten in einem folhen Nordſcheine befunden, und web 
er noch Andere fühlten die leifefte Erſchuͤtterung, hörten Etwas 
oder rohen, wie in der Nähe einer elektrifchen Entladung, einen 
fhwefligen Aushauch; das Auge allein, von jeder anderen Sin 
nesempfindung ungeftdrt, Eonnte fi dem Genuffe der unver⸗ 
gleihbaren Schönheit der herrlihen Naturerfheinung hingeben. 
Nicht einmal ein Einfluß der Nordlichter auf die Witterung laͤßt 
ſich als etwas Entfchiedened betrachten, obwohl die elektrifht 
Stimmung der Atmofphäre, aus welcher die Anregung zu Etir 
men und Wegen oder Schnee hervorgeht, nicht ohne Einwirkung 
auf das höhere oder niedrere Anfteigen und Überhaupt auf den 
Grad des Sichtbarwerdens der Mordlichter zu fein fcheint. 

Und dennoch, fo darf man fagen, ift die Wirkſamkeit de 
magnetifhen Ungemitter eine unvergleihbar viel weiter gehend‘ 
als die der elektrifchen Gewitter. In der Regel verbreitet fi ber 
Entladungskreis der Iegteren nur diber einen Beinen Raum ber 
Erdoberflähe; uͤber irgend einer Stadt und ihrer Nachbarſcaft, 
oder in einem waldigen Gebirgsthal zuͤnden und zerfchmettern di 
Blitze, kracht der. Donner, ſtuͤrzt der Regen wie eine Fluth herab⸗ 
während wenige Meilen davon der Himmel heiter, das Gleichge⸗ 
wicht der Elektrizität ungeftdrt biich, und wur felten zieht ein 


| 





50, Das Nordlicht. 343 


große elektriſche Entladung, als eine fortlaufende Reihe von Ge⸗ 
wittern uͤber Strecken von mehreren Breitengraden, zu gleicher 
Zeit fort. Dagegen breitet ſich die Wirkung der magnetiſchen 
Ungewitter uͤber Hunderte, ja uͤber Tauſende von Meilen, uͤber 
ganze Welttheile und Erdhaͤlften aus. Denn nicht ſelten iſt es 
gefchehen, daß man zu gleicher Zeit in den Nachts oder Daͤm⸗ 
merungsftunden eines und deffelben Tages das Nordlicht in Engs 
land und in Pennfplvanten, in Rom und in Peding beobachtet 
bat. Und wenn auch das Menfchenauge nichts von den Lichts 
erfcheinungen des Norblichtes gewahr wird, fo kann es doc die 
weit hingehende Wirkſamkeit deffelben auf andere Weile: an den 
Bewegungen der Magnetnadeln bemerken. Denn an diefen wer« 
Den, in den verfehtedenften Gegenden zu gleicher Zeit, Abweichun⸗ 
gen fihtbar; ein Sturmwind der magnetifhen Anregung, der 
unfrer leiblihen- Empfindung in Feiner anderen Weife merklich ift, 
geht durd alle polarifirte Stahlnadeln von Island und dem 
nördlihen Schweden bis hinab nad den magnetifhen Warten 
Der ſuͤdlichſten Länder des gebildeten Europas, giebt fi in Often 
wie in Wellen Fund und theilt ſich, mwahrfcheintih an ihnen fi 
erfchöpfend, auch anderen Eifenmaffen der Erdfläche in feinem 
ftillen Gange mit, . 

Die Betrachtung diefes auffallenden Unterfchiedes der Wirk 
ſamkeit der elektrifhen und ber magnetifhen Ungewitter führt 
uns ſchon hier auf einen Vergleich zwifhen dem Licht und dem 
Magnetismus, fo wie zwifchen ber Elektrisität und der Wärme, 
Das Kiht aus der Flamme eines Feuers iſt in weiter Ferne ſicht⸗ 
bar, die Wärme wird in der Nähe fühlbar; das Licht nimmt 
feinen flilen Gang buch die Glastafel und alle durchſichtige 
Körper, ohne dieſe, audy wenn es fi bis zum hoͤchſten Grab 
der Helligkeit gefteigert hat, aufzutöfen oder fonft gemwaltthätig 
auf fie zu wirken, die Märme aber, zur Schmelzhitze gefteigert, 
Iöft den Zufammenhang der Theile der Metalle fo wie mancher 
anderer feften Körper auf, verwandelt fie in Dämpfe, zerftdrt 
fie gewaltſam. Das Licht in feiner allerfreuenden, beiebenden, 
bildenden Wirkfamkeit würde dennoch zur Erhaltung der lebenden 
Weſen der Erde nicht hinreihend fein, wenn nicht die, bis ine 
Innerſte derfelben dringende Wirkſamkeit der Wärme daſſelbe 
begleitete; fo ſteht auch der Einfluß der Elektrizität ber Lebens— 
kraft, ſelbſt jener der vollfommenften organifhen Wefen, ungleid 
näher, ift diefer viel mehr verwandt, als der Einfluß bes Magnes 
tismus. Eine zwar nur beiläufige und nicht fehr tief gehende 
Uebereinftimmung zwiſchen dem Magnetismus und dem Fichte 
koͤnnte allerdings darin gefucht werden, daß der Magnetismus 
wie das Licht, ohne eine bedeutende Hemmung und Schwächung 
zu erleiden, das duckhfichtige Glas wie den durchſichtigen Bern⸗ 
ftein und die trodene Luft durchwirken, während diefe Körper in 
Beziehung auf den elektrifchen Einfluß abwehrend Cifolivend) wir⸗ 


344 50. Dos Norbligt. 


Zen und felbft dee Fortpflanzung der gewöhnlichen Wärme Abs 
bruch thun. Eine eiferne Tafel dagegen leitet die Wärme wie 
die Elektrizitaͤt, ſchwaͤcht jedoch den hindurchwirkenden Zug des 
Magnetes auf andere Magnete. Bon Magnet aber zu Magnet, 
durch die polarifhen Stahlnabeln eines ganzen Welttheiles hin 
durch, wirkt die Anregung eines magnetifhen Ungewitters, ebenfo 
wie ber Steahl der aufgehenden Sonne durch die weiten Räume 
us Luftkreifes, des Gewaͤſſers und duch alle durdhfichtigen 
Körper. 

Darinnen gleicht fih der Verlauf beider Meteore, des elek⸗ 
trifehen wie des magnetifchen, daß ſich ihre Spannung zuiegt in 
einer Lichterfcheinung aufloͤſt. Mit und durch den Blig ſtellt 
fi das geftörte Gleichgewicht in der Vertheilung der Elektrizität, 
mit und bei dem Nordliht das Gleichgewicht des Erdmagnetis⸗ 
mus wieder ber. Die Form ber Lichterfcheinungen iſt freilich fehr 
abweichend. Nicht dann, wenn, wie bei bem Gewitter, dunkle, 
ſchwere Maſſenwolken tief am Himmel ſchweben, fondern wenn 
in den höheren Regionen fi jene zarten Federwoͤlkchen (Schaf 
hen) zeigen, die fo durchſichtig dünn find, daß fie nur etwa durd 
die Bildung eines Hofes um den Mond fi verrathen, darf das 
Erfcheinen eines höher anſteigenden y bis zum flärkfien Stanz fid 
entwidelnden Norblichtes vermuthet werden. Ein Vorzeichen dit 
Meteors wird, gewöhnlih [don am Morgen vor feinem naͤcht⸗ 
lichen Ausbruch, in ben Unregelmäßigkeiten gefunden, die am 
flündlihen Gange der Magnetnabel fi einftellen. Statt der 
Metterwolken, aus denen der Blig kommt, fteigt zuerſt ein bräun- 
liches oder violettes Mebelgebilde, durch welches die Sterne, wie 
durch einen Hoͤherauch hindurchglaͤnzen, am nördlihen Horizont, 
bis zu einer Höhe von 16 bis 20 Durchmeſſern einer Mondfcheibe 
herauf. Bald rundet fi der Mebel, der in den Gegenden bes 
hoͤchſten Nordens von heller, weißlicher Zärbung erfcheintz cin 
breiter, hellleuchtender Lichtbogen, erſt weiß, dann gelb, woͤlbt 
fich Über das Dunkel ber, und der Gefammtumriß der Erfcei- 
nung gleicht jegt dem Abſchnitt einer Kugel, von welcher nur 
ein Theil fih über den Horizont hervorhebt, ähnlih einer im 
Aufgehen begriffenen, mädtig großen, an ihrem Rande prächtig 
glänzenden, in der Mitte dunklen Sonnenfcheibe. Das -Lichtges 
wölbe felber bleibe faft keinen Augenblick in gleicher Geſtalt und 
Farbe ſtehen, fondern e6 ift in einem beftändigen Aufwallen und 
[hwingendem Bewegen begriffen; feine Farbe, bald hier bald 
bort febhafter fi entflammend, erhöht fih von dem Violetten 
und Blaulichweißen zum Gelben und Sapphirblauen, zum Roth 
des Purpurs und zum Grün des Smaragds, und alle diefe 
Farben wechſeln und fpielen ohne Aufhören eine in die ander 
hinuͤber. So fteht der Kichtbogen. zumeilen Stunden lang ba, che 
das herrlihe Meteor jene hoͤchſte Vollendung feiner Form erreicht, 
zu welcher es fi nur bei fehr flarken magnetifhen Entladungen 











\ 


50. Das Nordlicht. 345 


erhebt. Es brechen jetzt Strahlen oder Feuerſaͤulen aus dem 
Umfang des Lichtgewoͤlbes hervor, welche, von ungleicher Laͤnge, 
meiſt in gerader, zuweilen auch in geſchlaͤngelter Richtung, zum 
Theil bis hinan zum Scheitelpunkt, bis zur Mitte des Himmels 
ſteigen. Zuweilen wechſeln die Feuerſtrahlen mit ſchwaͤrzlichen, 
einem dunklen Rauche gleichenden Strahlen ab, andere Male 
fehlen dieſe Begleiter. Bei ſehr ſtarken Nordlichtern brechen jene 
Tenerfäulen nicht aus dem Umfange des breiten Lichtbogens her⸗ 
vor, ſondern fie ſteigen an vielen Punkten des Horizontes wie 
aus dem Boden auf und bilden, mit ihren wogenden Rändern 
zufammenfchlagend, ein Flammenmeer, das in jedem Augenblid 
den Gefichtsfinn des Beobachters duch andere Farben, andere 
Geftalten und andere Grade bed Glanzes entzuͤckt. Die Delle 
fo wie die Sarbenpracht des majeftätifchen Lichtgebilbes ftehen in 
genauem Verhaͤltniß mit den Bewegungen befielben; je fehneller 
und Eräftiger diefe find, defto flärker wird der Glanz, deito ſchoͤ⸗ 
ner bad Farbenfpiel. Zulegt, wenn auch dieſe Erfcheinung der 
zerſtreut, von verfhiedenen Punkten auffteigenden Gluthfäulen 
eine längere oder kuͤrzere Zeit gedauert hat, ruͤcken bdiefelben mit 
ihren unteren Enden an einem. gemeinfamen Punkte des Horizons 
tes, der 'gegen den magnetifchen Erdpol feine Lage hat, nad) der 
Höhe des Fichtbogens bin zufammen, während die oberen Enden, 
von einander abweichend, eine fternförmig auseinander flrahlende 
Geſtalt bilden. Diefes ift die eigentliche, fogenannte Krone des 
Nordlichtes (corona borealis), welche nur felten in jener Volls 
ftändigkeit auftritt, in der wir zumeilen in phufitalifhen Werken 
fie abgebildet fehen. Mit der Vollendung diefer Gipfelform des 
majeſtaͤtiſchen Meteores gewinnt die ganze Erfcheinung eınen Ans 
fihein von Ruhe und Stetigkeit, welcher vorhin ihr abging. Das 
Licht der Krone, die wie ein aus goldenen, an ihrem Fuß zus 
fammenftrebenden Säulen gebildetee Giebel das Glanzgezelt nad 
oben üͤberwoͤlbt, ift ein ruhig ausfleahlendes, an weldhem kein 
Mogen und MWallen, wohl aber zuweilen ein Zerlegen des Lich⸗ 
te8 in feine prismatifchen Karben bemerkt wird; auch das Wogen 
und Malen im Lichtbogen legt fich jest; denn mit dem Entflchen 
der Krone iſt ein Weg der Entladung gefunden, in welcher bie 
magnetifhe Spannung fi auflöst. Bald wird eine Lichtfäule 
nach der anderen wie von unfihtbaren Händen abgebroden und 
verfihmwindet, ber Kichtbogen verbleiht und ift dahin, am Him⸗ 
melsgewoͤlbe fieht man da, wo noch fo eben ber unbefchreiblich 
fhöne Palaft der. Fewerftrahlen fland, nur graulichbleiche, da 
und dort vereinzelte Flecken, gleich jenen zu Aſche gewordenen 
Stüden, die, wenn man ein Papier verbrannt hat, in der leich⸗ 
ten, warmen Luft herumfchweben, und aud dann, mwenn biefe 
aſchgrauen Fleden vergangen find, zeigt fih noch, wie das ſtehen 
gebliebene geſchwaͤrzte Gemäuer eines niebergebrannten Hauſes, 
auf kurze Zeit das truͤbe, fcheinbare Mebelgebilde, tiber welches 


346 51. Das Erdenlicht. 


vorher der unvergieihbar fchöne Kichtbogen hingewoͤlbt war. Wenn 
dann endlih Alles, was zum Gebilde des Morblichtes gehörte, 
vergangen ift, dann fieht man nod am Himmel das zarte, weiße 
an feine Rändern gefiederte, oder in rundlihe Haufen (Schaͤf⸗ 
hen) zertheitte Gewoͤlk ftchen, welches für das magnetifche Pos 
larlicht, fo wie die ſchweren, dunklen Wetterwolken für das ges 
wöhntiche, eletrifche Geroitter, die Grundlage und die Richtung 
der Entladung begründet. Denn diefe Woͤlkchen zeigen fich- zu⸗ 
weilen am Tage vor dem darauf folgenden nädtlihen Aufflam- 
men des Mordlichtes in einer ähnlichen, flrahlenartigen Anordnung 
ale diefes, und wirkten auch dann bereits in beunruhigender 
Meife auf die Stellung der Magnetnabel; auch erkannte man 
nach großen, waͤhrend der Nacht vorhbergegangenen Norblichtern 
am darauf folgenden Tage in ber firahlenförmig auseinander, 
laufenden Form des leichten Gewoͤlkes noch die ganze Geſtalt des 
verfhwundenen Norblichtes wieder; da, mo in ber Nacht eine 
Faͤuerſaͤule fland, zeigte fich jest ein weißlicher Wolkenftreif. Des⸗ 
halb erfcheint die Unfiht des Erdbeſchauers nah großem Maaß⸗ 
ftabe: Al. v. Humboldt's, daß die ftrahlenartigen Gebilde 
des leichten Gewoͤlkes, die man da und dort in Gegenden beobs 
achtet, welche weit von den Graͤnzen der eigentlihen Geburts⸗ 
ftätte der Nordlichter, gegen den Aequator hin, liegen, von aͤhn⸗ 
licher magnetifher Wirkſamkeit find, als die augenfälliger gläns 
zende Erfcheinung des Polarlichtes, hoͤchſt beachtenswerth und 
wahrfheiniih. 


51. Das Erdenlidt. 


Abgefehen von jener großartigen, weitgehenden Wirkſamkeit, 
welche das Nordlicht in Beziehung auf die magnetifche Polarität 
des Eifend Über ganze Welttheile, ja Über die ganze Erde hin 
entfaltet, ſteht diefes Naturereigniß nur als eine Erfheinung für 
das Auge, nur als Lichtphänomen da, womit weder eine Ent 
wicklung der Wärme, noch irgend ein anderer, tiefer in die Ges 
fhichte der Iebenden, irdifhen Natur eingreifender Einfluß vers 
bunden iſt. Das Licht der Sonne, deffen genauere Betrachtung 
uns in dem naͤchſtfolgenden Capitel beichäftigen ſoll, ift freilich 
an Kraft und Wirkfamkeit ein ganz anderes; es tritt nicht vers 
einzelt und getrennt in das Gebiet der irdiſchen Körpermwelt ein, 
fondern wie einem Herrſcher, von feinen dienenden Schaaren bes 
gleitet, folgen ihm, auf allen feinen Schritten, die Kraft der 
Wärme, der Elektrizität und die Anregungen bed Lebende. Im 
Vergleich mit ihm erfcheint das eigenthuͤmliche "Leuchten unferer 
Planeten, davon wir hier einige Worte fagen wollen, nur wie 
ein Gebilde der nächtlihen Träume, gegen die Welt der wirk 
lien, wefentlihen Anfhauungen des Wachens. 

Die Erde, wie alle andere Planeten und Monde unfers 








5. Das Enid. 347 


Weltgebaͤudes empfängt, wie uns dies jede einbrechende und jede 
zu Ende gehende Nacht lehrt, ihr Tageslicht von der Sonne. 
Dennoch fieht man zumeilen unferen Nachbarplaneten Venus auf 
feiner von der Sonne abgekehrten, naͤchtlichen Seite von einem 
allerdings ſchwachen Lichte erhellt, welches nur von feiner eigenen 
Dberfläche ausgehen kann. Die weiter von der Sonne abftehens 
den Planeten: Jupiter, Saturn und Uranus könnten, die hat 
man berechnet, unferem Auge nicht in fo hellem Glanz erfcheis 
nen, wenn ihr Licht ein blos von der Sonne empfangenes, nicht 
auch zugleich ein durch diefe gewedhtes eigenes wäre. - 

Selbft von der Oberfläche und aus der Atmofphäre unferes 
Dianeten geht zuweilen ein Licht aus, das nicht aus der Sonne 
feinen Urfprung bat, mie dies die Beobachtung des trodenen, 
ſelbſt bei Nacht leuchtenden Nebels, in den Jahren 1783 und 
1831, und jene dämmernden Lihtfhimmer bezeugen, die nicht 
felten in ſolchen dichtbewoͤlkten Herbft- und Winternaͤchten am 
Boden bemerkt werden, wo auf diefem weder die weiße Dede des 
Schnee liegt, noch etwa, unter dem Gewoͤlk verhält, der Mond 
oder irgend ein heilleuchtender Planet am Himmel fteht. Zumeilen 
falit dieſes eigenthuͤmliche Licht gleich wie aus den höheren Regionen 
des Luftkreifes auf die obere Seite der Wolken herab, andere 
Male kommt es allem Anfchein nad) von der Oberfläche der Erde, 
und allerdings kann daffelbe alsdann in den Vorgängen der Vers 
wefung und Gährung der im Herbfte abgeftorbenen organifchen 
Stoffe, zum Theil wenigftens, feinen Urfprung haben, während 
das mitten: in der Nacht von oben auf die Region der Wolfen 
herabfallende Licht. aus einer Sphäre bes aͤtheriſch Fluͤſſigen her⸗ 
zukommen fcheint, welche wie eine Atmofphäre von höherer Ord⸗ 
nung den Luftkreis der Erde umgiebt und begränzt. ' 

Auch das bewegte Gcwäfler des Meeres ſtrahlt ein Kicht von 
fih, das im Dunkel, der Nächte oͤfters fehr deutlih ins Auge 
fällt, und welches nicht allein den Heinen, die Wogen bevölkerns 
den- Thieren oder ihren aufgelöften Elementen, fondern dem Sees 
waſſer und vielleicht feiner elektrifhen Spannung felber zuge⸗ 
fchrieben werden muß. - 

Mir find bier no nicht auf dem Wege unferer Betrachtuns 
gen der Naturereigniffe bis zu dem Aufzählen der Erfahrungen 
über die MWirkfamkeit und das MWefen des Lichtes gelangt, vors 
läufig nur, und im Voruͤbergehen, erinnern wir an. den Bericht 
jenes Bergmannes, dem durch das Einſtuͤrzen eines Theiles feis 
ned Grubengebäudes einige Tage lang der Ausweg zum Tages— 
licht verfperrt war, und der zulegt, in dem langmwährenden naͤcht⸗ 
lihen Dunkel, wenn er feine eigene Hand in die Nihtung vor 
das Auge ftellte, von diefer ausgehend einen ſchwachen Kichtfchein 
bemerkte. In allen leiblih gewordenen Dingen, felbft in jedem 
Steine, noch mehr in der Sefammtmafle eines Planeten, liegt, 
wenn auch unferem Auge unmerklich, eine Kraft des Selberleuch⸗ 


348 52. Erzeugung ber Wärme durch das Sonnenlicht. 


tens. Jene Temperatur der Lältefien Wintertage eines norbifchen 
Klimas, welche unferem Gefühl ale eine faft unerträgliche Kälte 
erfcheint, ift für da8 Quedfilber nod immer eine fo hohe, daß «6 
dabei zum Schmelzen kommt; die herbſtlich trübe Naht in einem 
Felſenthal erfcheint unferem Gefihtsfinn im tiefften Dunkel, wäh- 
rend das Geflügel der Mächte dort noch ein Licht findet, das zur 
Beleuchtung feines Weges und bes Zieled, nach welchem die Rich⸗ 
tung jenes Weges geht, vollkommen ausreichend iſt. 


52. Erzeugung ber Wärme buch das Sonnenlicht. 


Mas vermöchte der Einfluß al? der anderen, bisher betrach⸗ 
teten Quellen der Wärme auch nur zur Erhaltung der Bäume 
und Saaten, die in einem unferer Länder wachen, wenn nicht die 
hehre Zeugin der Majeſtaͤt und Herrlichkeit unſeres Gottes: die 
Sonne da wäre, die mit ihrem Glanze zugleih bie belebende 
Wärme ausgießt Über alle Gewaͤchſe und Thiere ber Erde. Ser 
fahrer, welde den Winter zubrachten an den oͤden Küften eines 
Eilandes, das mitten in dem Eis der noͤrdlichen Polarzone liegt, 
tonnten an dem mächtig auflodernden Feuer, das fie in ihrer 
Hütte angezuͤndet hatten, ſich kaum vor dem Erſtarren fchügen; 
die gluͤhenden Kanonenkugeln ſpruͤhten vergeblich ihre Gluth in 
die eiſigkalte Luft des Zimmers aus, ſie konnten in dieſem keine 
behagliche Waͤrme bewirken. Ja wenn alle Waldungen der Erde 
zugleich in Gluth aufgingen, und wenn dieſes ungeheure Herdfeuer 
in einem Landſtrich von wenigen Quadratmeilen am Kupferminen⸗ 
fluſſe concentrirt, wochenlang bei Tag und bei Nacht flammte, ſo 
wuͤrde ſeine Waͤrme doch nicht hinreichen, um in der winterlichen 
Zeit auch nur uͤber die Nachbarlaͤnder der weſtlichen Polarzone 
eine Wärme zu verbreiten, weiche jener gleichkaͤme, die ein einziger 
Tag Über den ganzen nordifhen Eisghrtel ausgießt, wenn mit ber 
höher fleigenden Sonne die von ihr erwärmten Winde aus Si 
den zuruͤkkehren. Nowaja Semlia fo wie einige andere ihm hierin 
ähnliche Punkte der Erdoberfläche find nicht nur duch die furcht⸗ 
bare Kälte ihrer Winter, fondern auch durch die Waͤrmearmuth 
ihree Sommer unwirthbar für Menfchen, ungänftig für das Ge⸗ 
deihen der Gewaͤchſe. Denn während in manden anderen Kuͤ⸗ 
flengegenden und Inſeln der Polarzone die Eurz andauernde, babei 
aber ftarfe Sommerwärme dem Boden wie der auf ihm mwohnen- 
den Pflanzen» und Thierwelt eine Belräftigung verleiht, welde 
biefelbe auch in die Zeit des Winters hinein begleitet, laſtet auf 
Nowaja Semtja fo wie auf Spigbergen ſelbſt im Sommer ein 
faft niemals vergehender Mebel, der fi aus den aufthauenden 
Eismafien des Polarmeeres und des Schnee der Anhöhen über 
jene Inſeln verbreitet. Ein Land, welches im Verlauf eines gans 
zen Jahres nur für wenige Tage oder Stunden den Einfluß des 
Sonnenlihtes volllommen rem und ungetrübt von den ſchweren 


52. Erzeugung bee Wärme duch das Sonnenliht. 349 


Dünften der Luft empfängt, kann dem leiblichen Menfchen nie 
mals das freudige Gefühl von Wohlbefinden gewähren oder er- 
halten. Was auf unfere Teiblihe Stimmung ein Monat lang 
verhüffter, ‚neblihter Himmel, oder die Wochen lange Andauer 
kalter Regengüffe wirkt, das thut dort in noch unberehenbar viel 
größerem Maaße die faft beftändige Entbehrung eines heiteren, 
vom Sonnenliht durchwirkten Himmels. 

Der Bewohner von Arabien, in der Naturfülle, womit einige 
Gegenden feines Landes begabt find, kann e8 kaum glauben, daß 
in unferen Ländern fchöne, kräftige, fröhlihe Menfchen leben. 
Und doch wiſſen wir alle, daß dies fo iſt und danken Gott für 
unferen teichbegabten Wohnſitz, dem das Licht der Sonne In feis 
ner lebenweckenden und wärmenden Kraft in fo genügendem 
Maaße zugetheitt iſt, daß alle für des Leibes Nahrung und Noth⸗ 
durft unentbehrlihe Pflanzen wie Thiere da gedeihen können. 
Aber bei al? diefer Genuͤgſamkeit und Fröhlichkeit des Herzens er- 
fahren wir dennod erſt dann, wenn wir einmal in ein Land kom⸗ 
men, auf welches die Sonne in ihrer flärkeren Kraft und Liebs 
lichkeit herunterblicht, was die volle Herrlichkeit und Schönheit ber 
irdifchen Natur ſei. Da, wo das reine Blau des Himmels den 
größten Theil des Jahres duch Fein Gewoͤlk, duch keinen Nebel 
getrübt wird, mo felbft der Mond fein bleiches Licht in folcher 
Helle ausftrahlt, daß man vom Kameel herab am Boden jedes 
Eleine, bluͤhende Gewaͤchs erkennt; wo neben den buftenden Waͤl⸗ 
dern der Drangen die majeſtaͤtiſch fchöne Palme ihre Fruͤchte reift, 
in den Wipfeln der Bäume ein Heer der prachtvoll buntfarbigen 
Vögel fi regt und munter bewegt, da Einnte man wohl, wenn 
der Reiz des Waterlandes in nichts Anderem läge, al® in dem 
finnlih Schönen, der lieben, deutfchen Heimath auf einige Zeit 
vergeffen. Wenn man dort vielleicht zum erften Male im Leben 
den Bluͤthenſchaft des Pifangs zur vollen Pracht entfaltet, wenn 
man hundert andere Arten der herrlichften Gewaͤchſe der Erbe, 
von denen man nur einzelne Erlippelhafte Formen in unferen 
Zreibhäufern oder gemalte Abbildungen gefehen hat, angethan mit 
dem Seierkleid Ihrer wunbderfchönen, duftenden Blüthen fieht, wenn 
uns eine große Zahl von Arten der Früchte zum Genuß darge⸗ 
boten werden, bie an gewuͤrzhaft füßem Wohlgeſchmack oder lieb⸗ 
lich Fühlender Kraft alle Fruͤchte unferes Baterlandes übertreffen 
und die wir vorher kaum dem Namen nad Eannten, wenn dabei 
vom Gipfel der Palme oder des Tamarindenbaumes die orienta- 
liſche Nachtigall (der Bulbul) einen volltönigen Geſang verneh⸗ 
men läßt, ein Heer der munteren, fchöngeftalteten Thiere ſich ringe 
um uns her ergögt, dann gerathen al? unfere Sinne in eine 
Aufregung der Freude, die wir in diefer eigenthämlichen Art kaum 
fonft jemals empfunden haben. Der Geift in uns fühlt fi von 
dem Anblid und dem Genuß der Werke zu dem Gedanken an den 
Schöpfer und zu der Luft erhoben, welche in diefem Gedanken liegt. 


350 53 De Sonne. 


Fuͤhlt fih doc der Bewohner von Deutfchland fon dam 
in ganz eigenthümlicher Weife ergriffen von der Schönheit ber 
Natur, wenn er zum erfien Mal Über feine nachbarlichen Alpen 
bindhber in ein Land kommt, da der Delbaum feine Früchte reift, 
die Waldungen der Citronen und Drangen im Freien gebeiben, 
die blühende Myrte den Abhang der Hügel, der Kappernftraud 
mit feinen großen Blumen die Mauern und Felfenwände beklei⸗ 
det, der Weinftod, kaum der pflegenden Menfhenhand bebürftig, 
von den Stämmen und Zweigen des einen Baumes zu denen 
des anderen ſich hinuͤberſchlingt. Und al?” diefe Fülle der Lebens⸗ 
fräfte, die lockenden Früchte, wie das Gedeihen des Thierreiches 
wird der irdiſchen Natur zunaͤchſt durch den Einfluß der Sonne 
vermittelt. Es will ſich deshalb geziemen, daß wir, ehe wir dieſen 
Einfluß auf uns und unſeren planetariſchen Wohnſitz weiter er 
wägen, zuerft von dem mächtigen Quell des Lichtes unferer Tage: 
von der Sonne, einige Worte fagen. 


53, Die Sonne 


Mas iſt (nah Cap. 51) das arme, bleihe Erdenlicht unfe 
ter Nächte, welches keine Spur der fühlbaren Wärme in fid 
trägt, gegen das Licht der Sonne; was iſt unfer Planet, gegen 
deſſen ungeheure Maſſen des Landes und der Gewaͤſſer der Menfh 
fo klein da ſteht, was ift überhaupt alle uns näher bekannte 
leibliche Größe und Herrlichkeit gegen die Größe und Herrlichkeit 
der Sonne! Diefe ift mehr denn alle Körper der uns verwandte 
Sichtbarkeit nah ihrem Maaße ein Abbild und Träger ber Mu 
jeftät und alldurchwirkenden Kraft des Schöpfere. Wenn für den 
Flug eines Adler dur die Räume des MWeltgebäudes eine Bahn 
wäre, dann würde bie ſchnellſte Eile eines ſolchen Fluges, auf 
wenn fie in jeder Sekunde nahe an hundert Fuß mehr burd- 
mäße, dennoch kaum nach anderthalb Sahrhunderten von der Erde 
hinweg bis zur Sonne führen, denn der Raum, der unferen Pla⸗ 
neten von diefem berrfhenden Mittelpunkt feiner Bahn trat, 
dehnt fi) nahe Über 21 Millionen Meilen aus, die Bahnen ber 
vier Außerften bekannten Planeten unferes Syſtems: des Jupiter, 
Saturn, Uranus und des Neptun, umkreiſen die Sonne in Ab 
fländen von 107, 197, 396 und 625 Millionen Meiten, und 
dennoch dringt die alldurchwirkende Macht des Sonnenlichts bit 
in alle diefe Räume, ja zulegt ald Sternenliht in noch taufend 
fältig größere Weiten hinaus. 

Aber diefer Macht entſpricht ſchon die Größe der Herrſchetin 
in der Mitte ihrer Welten. Der Ziegelftein, welchen dort, beim 
Bau eined Haufes ein Handlanger dem anderen darreicht, ſteht 
in demfelben Verhaͤltniß zu der Größe des ganzen Gebäudes, Kb 
fen Theil er werden fol, als unfere Erdkugel zu dem riefenhaften 
Bau der Sonne, denn faft anderthalb Millionen (41,409,725) Erd 





v 33. Die Sonne, 354 


kugeln müßten zufammengethhemt werben, wenn daraus ein Welts 
koͤrper enſtehen follte, der an NRauminhalt der Sonne gleihkäme, 
deren Oberflaͤcheninhalt jenen unferer Erbe mit ihren 5 Weltthei⸗ 
len und al’ ihren Meeren 12557 mal, den Erddurchmeſſer 1122 /,, 
mal übertrifft. Unfer kleiner Begleiter auf dem Weg der Jah⸗ 
resbahn der Erde um die Sonne: der Mond fteht in einer Ent 
fernung von faft 52000 Meilen von une. Gliche die Sonne eis 
ner hohlen Kugel, in deren Mitte die Erde ihre Stellung hätte, 
dann wäre in der mächtigen Weite auch noch für die Mondbahn 
überflüffiger Raum vorhanden, denn von der Mitte der Sonne 
bis zu ihrer Oberfläche beträgt der Abftand 96304 Meilen. Ya 
wenn alle Planeten unferes Syftems, nicht nur unfere Erde, bie 
gegen die Sonne dafteht wie eine Zudererbfe zu einem mäßig 
großen Thurmknopf, fondern alle, wie fie der Reihe nad von ber 
Sonne aus fih folgen: Mercur, Venus, Erde, Mars, die 16 
Afteroiden, dann die im Vergleih mit der Erde riefengroßen Pla⸗ 
neten Jupiter und Saturn, zulegt Uranus, dann Neptun, dazu 
auch noch alle die Monde, bie um unfere Erde, fo wie um die 
änßeren Planeten umlaufen, und bas Ringgewölbe des Saturn 
in eine Geſammtmaſſe vereint wären, wuͤrde ſich diefe dennoch 
zur Maſſe des Sonnenkörpers nur verhalten, wie etwa eine Kus 
gel von 4 Loth an Gewichte zu einer Kugel von Gentnerlaft. 
Wenn man ein Kind oder jeden Menfchen, der hierbei nur 
dem alktäglihen Augenfchein folgt, fragen wolle: was ift oben 
und was ift unten, die Sonne oder bie Erde? dann wuͤrde bie 
Antwort fein: die Sonne ift oben, denn fie nimmt den Lauf ih⸗ 
rer Zage und Jahre hoch über unfeiem Haupte am Himmel hin, 
die Erbe aber iſt unten. Und dennoch verhält es fi damit um⸗ 
gekehrt. Eben fo wie nicht die Sonne es ift, welche täglich und 
jährlich ihren Lauf um die Erde macht, fondern die Bewe⸗ 
sung der Erde um ihre eigene Are, welche das tägliche Auf- und 
Niedergehen, bie Bewegung der Erde in ihrer Bahn, welche das 
jährliche, ſcheinbare Fortfchreiten der Sonne durch die Zeichen des 
Thierkreiſes am Himmel begründet; fo iſt auch jener Augenfchein, 
ber die Erde zu einem Unten ober zur Mitte, die Sonne zu eis 
nem Oben, ihre Stellung zu uns zur Außenflähe macht, eine 
Selbfttäufhung. Eben fo wie ber gehende Menſch, der an der 
Dberflähe der Erde Hinfchreitet oder das Schiff, welches Über das 
Meer fährt, in Beziehung auf den Planeten, der beide trägt, ein 
Dbered und Aeußeres find, fo ift unfere Erde und fo find alle 
Weltkoͤrper unferes Syſtems in Beziehung auf die Sonne, um 
welche fie den Lauf ihrer Bahn führen, ein Oberes und Aeußeres. 
Die Erbmitte, das Innere unferer Erde ift es, nad welder der 
Zug der Schwers in der ganzen irdifchen Koͤrperwelt hingeht; 
was die Erbmitte als ein tiefes Unteres zu den Dingen der Pla⸗ 
netenoberfläche oder der Körpermaffen ift, welche zwifchen ihr und 
ber Oberfläche liegen, das ſtellt die Sonne zu den Bahnen ber 





352 53. Die Some. ‘ 


Planeten und zu bdiefen felber dar, Ja es liegt darin ein hoher 
Vorzug der Herrfcherin der Welten diber das ihr untergeordnete 
Heer von diefen, daß fie es ift, welche trägt, nicht welche getragen 
wird, daß fie es ift, welche den Grund bildet, nicht aber auf dem 
Staͤubchen, die um fie her fliegen, aufruht und gegründet iſt. 
Laffen wir es deshalb fo gelten, daß jene Welt, die. ihren Kräften 
und Vorzuͤgen nah hoch Über alle anderen erhaben ift, der Stels 
ung ihrer Maſſe nah in der Tiefe (der innerfien Mitte) aller 
anderen fleht. 

Wiſſen wir doh auch von der eigentlihen Naturbefchaffen 
heit, von der bewirkenden Urfache ihres Leuchtens wie ihrer wärs 
menden Eigenfhaft faft eben fo wenig als wir von der leiblichen 
Seftaltung und Natur unferes Erdinneren wiffen, defien Mitte 
wir uns duch al’ unfere bergmännifhen Sorfhungen, fo wie 
durch jene Berechnungen, mit denen wir etwa den Eeffelförmig 
in große Tiefen fih hinabbeugenden dann wieder herauflentenden 
Steintohlenlagern nachgehen, nur in fehr unbedeutendem Maaße 
genaht haben. Wenn mir den hohen Wärmegrad, den das aus 
der Tiefe quellende Waffer der Artefifhen Brunnen, fo wie die, 
ber Berechnung nach mit jeder weiteren Tiefe zunehmende Wärme 
der Bergſchaͤchte als einen Beweis annehmen für eine fortwäh- 
rende MWärmerrzeugung im tiefen Inneren der Erde, dann tritt 
und auch bier eine Achnlichkeit entgegen in den Eigenfchaften ber 
tiefen Mitte eines einzelnen Planeten und ber berrfhenden Mitte 
des gefammten Planetenfoftems: dee Sonne, — eine Aehnlichkeit, 
welche freitih wohl nicht viel weiter gehen mag, als die zwoifchen 
dem Erdenliht (nah C. AN und dem Sonnenlidt. 

Die einzige Erfheinung, welde uns eine Art: von Einblid 
in das Weſen und in die Naturbefchaffenheit des Sonnenkörpers 
gewähren koͤnnte, find die dunklen Sieden, die fih bald in größe 
rer bald in geringerer Ausdehnung, bald auf längere, bald auf 
fürzere Zeit an ihrer Oberfläche zeigen, und zwar nicht ſtillſtehend 
an einem Punkte, fondern in einer beftändigen fortrüdenden Bes 
mwegung von Welt nad Oft begriffen, vermöge welder fie ihren 
Lauf von einem Rande der Sonnenfhelbe zum anderen in nahe 
14, den ganzen Umlauf, von der Erbe aus gefehen, in 272/, Tag 
zuruͤcklegen. Wir haben hierdurch fürs Erſte fhon die Gewißheit 
empfangen, daB der ungeheure Sonnenkörper nicht unbemeglid 
ftill ftehe, fondern eben fo um feine Are, von Welt nach Oft, fid 
bewege, als unfere Erde und alle in bdiefer Beziehung genauer 
bekannte Planeten. Und obgleih die Sonne zu einer folhen Um⸗ 
drehung, aud wenn mir jene fcheinbare Verlängerung abziehen, 
welche diefelbe, weil unfer Planet auch indeg in feiner Bahn von 
Weſt nah Oft fortgeruͤckt ift, von der Erde aus gefehen erleidet, 
2512 mal mehr Zeit braucht, als unfere Erde zu ihrer nur 24 
ftündigen, ift fie dennoch, wenn wir das Verhältniß der forträden 
Bewegung der Oberflächen beruͤckſichtigen, keineswegs eine fehr 





33. Die Sonne, 353 


langfame zu nennen, benn .jeber Punkt des Aequators unferer 
Erde durchläuft zwar bei der täglichen Umdrehung in einer Stunde 
225%/,, die Punkte des Sonnenäguatord in derfelben Zeit aber 
über 900 Meilen. 

Die Sonnenfleden, welche man früher als Schladenauswürfe 
betrachtete, die auf der Oberfläche des beftändig feuerflüffigen Son» 
nenkörpers ſchwimmen follten, oder ald Rauch⸗ und Dampfmafien, 
welche diefem Feuermeer entftiegen, find, wie bie genauere Betrach⸗ 
tung der neueren Zeit gelehrt hat, Deffnungen oder örtliche Zer⸗ 
trennungen einer leuchtenden Dunfthülle, welche ben eigentlichen 
Sonnentörper nad allen Seiten hin umgiebt. Wie ganz anders 
erfcheint hierbei das Verhaͤltniß der Sonne zu ihrer Atmofphäre 
ale das der Erde. Wenn bei uns der höhere Luftkreis durch bie 
meteorifhen Maſſen der Bewölkung getrübt ift, und es entfteht in 
diefer verhülfenden Dede da oder dort eine Zerreißung, dann er= 
bliden wie durch die Deffnung ben Elaren blauen Himmel, und 
das Licht der Sonne briht in den verdunkelten Raum herein; 
wenn fidy aber die leuchtende Wolkenhuͤlle der Sonne zerreißt und 
aufthut, da Öffnet fih zwar auch ein Zugang der Strahlen der 
nächtlihen Geſtirne, hinab zur Oberfläche bes riefenhaften Welt: 
törpers, aber der Punkt, der gerade unterhalb der Deffnung liegt, 
erleidet eine Schwaͤchung der gewöhnlichen Tageshelle; ihn, wird 
in geriffem Maaße das Kicht entzogen, das ihm nicht, wie den 
Planeten, aus einem mächtigen leuchtenden Gentralkörper, fondern 
aus einem Theil feines eigenen leiblihen Wefens kommt. Denn 
die lichtflammende Dunfthülle der Sonne ſcheint der eigentliche 
Duell des Lichtes und der beiebenden Wärme, nit nur für alle 
Meltkörper zu fein, welche ihre Bahn um dieſe Weltenmitte be- 
ſchreiben, fondern auch fie felber, die Herefcherin, wäre, entkleidet 
von ihrer Lichtfphäre, ein dunkler Körper. Wenn fidy zumeilen bei 
fehr großen Sonnenfleden in biefer Lichtfpbäre Deffnungen gebildet 
hatten, welche über eine Strede von ſechſs⸗, ja von zehntaufend 
Meilen fit) ausdehnten, dann glaubte man bie eigentlihe an ſich 
dunkle Oberfläche der Sonne, ja fogar Berge auf ihre durch gute 
Fernroͤhre wahrgenommen zu haben. Auch auf das Vorhandenfein 
einer innerlicheren Dunfthülle, in welcher fi wie in unferem Lufts 
kreiſe Wolken erzeugen, und die ihre Stellung zwifchen der Ober: 
fläche des Sonnenkoͤrpers und der äußerlicheren Kichtfphäre haben 
follte, glaubt man aus folhen Beobadhtungen fdhließen zu dürfen, 
Die Höhe von der Oberfläche der Sonnenkugel bis zur oberen 
Graͤnze der Photofphäre wurde von dem älteren Derfchel auf mehr 
benn 500 geogr. Meilen gefhäst. Aber außer diefer unmittelbaren 
zum Sonnenkoͤrper gehörigen LKichthülle iſt diefe von einem 
ſchwaͤcher leuchtenden Ringgemölbe umgeben, das ihn in einem 
Abftande, der jenem der Erdbahn nahe kommt, frei umfchwebt, 
und deſſen Schimmer uns von Zeit zu Zeit ald Zodiafalfchein in’s 
Auge. fällt, . I 


23 


354 53, Die Senne. | 


Menig und unficher genug bleibt immerhin bas, was uns bie 
Betrachtung der Sonnenfleden ehrt; andere Auffchlüffe Über das 
Wirken und Bewegen unferes Centralkoͤrpers find nicht durch bie 
Beobachtungen gefunden worden, die man unmittelbar an ber 
Sonne felder, fondern die man an anderen Körpern der Sternen 
welt gemacht hat. Wie man nämlich die fehnellere oder langfamere 
Bewegung eines Fuhrmwerkes oder eines Dampffchiffes, auf dem 
man ſich befindet, am leichteflen an der feheinbaren, in entgegen: 
gefegter Richtung verlaufenden Bewegung der Bäume, Häufer, 
Berge, an benen bie Fahre vorbeigeht, erkennen und ermeſſen kann, 
fo ift es auch in Beziehung auf die Sonne gefhehen, daß man 
‚ die eigene, fortruͤckende Bewegung, welde berfelben im unmeßbar 
großen MWeltenraume zukommt, an der fcheinbaren Bewegung er 
kannt hat, welche an den fogenannten Firfternen oder Veftenfternen 
des Himmels beobachtet worden if. Denn auch diefe, welche bas 
Alterthum für unbeweglich an ihrem Ort verbleibende Lichter des 
Himmels hielt, haben Feine Ruhe noch Raft, fondern befchreiben 
einen Lauf der Bahnen oder Bogenlinien um eine herrſchende Mitte 
Breilich erfcheint, von der Erde aus gefehen, das Fortrüden jener 
fonnenartig leuchtenden MWeltkörper wegen des ungeheueren Abftan- 
des von uns fo gering, daß ed in 100 Jahren noch kaum bemerk: 
bar ift, dennody fummirt es fih im Verlauf der Zeit bei einigen 
der fehneller beweglichen Firfterne fo bedeutend, daß die berühmten 
Sternkundigen Aegyptens, welche vor 1700 und 2000 Jahren 
lebten, wenn fie jest wieder einmal durch Menfchenaugen von der 
Sternwarte in Alerandrien den nächtliben Himmel betrachten 
tönnten, den Ort, zum Belfpiel des großen Sternes im Baͤren⸗ 
hüter (Arktur), ganz auffallend verändert finden würden. 

Nenn dort, in jenen Fernen, wo bie Firfterne find, ein Men: 
fhenauge unfere fhöne Sonne ald einen Stern unter anderen 
Sternen glänzen fähe, würde ihm diefelbe auch als ein unveraͤnder⸗ 
fich feſtſtehender Glanzpunkt des Himmelsgemölbes erfcheinen ; denn 
was iſt der kleine Betrag des Fortruͤckens der meiften Firfterne, 
feibft von einem nachbarlichen Weltgebiet aus gefehen, nach dem 
Raum: und Zeitmaaß der menfchlichen LZeiblichkeit? wie machen 
doch dort 70 und 80 Jahre einen fo geringen Unterfhleb! Den: 
noch ift der Schritt, den unfere Sonne auf ihrem Weg durch den 
Weltraum inne hält, kein ganz langfamer, denn er beträgt in jeder 
Stunde 34750 Meilen. Allerdings mag der Weg, den fie in dem 
uns unbekannten Lauf eines ihrer großen Sahre zu dutchmeffen 
hat, ein unvergleichbar viel weiterer fein, al& der Weg, den unfere 
Erde in ihrer Bahn um die Sonne zu durchwandern bat, bemn 
unfer Planet, obgleich einer der ſchnellſten unter allen ihm ver 
wandten Weltkörpern des Sonnenfuftems, Iegt in jeder Stunde 
nur 414937 Meilen zuruͤck, wenn man jedoch die Eleine Spanne 
des Raumes von 21 Mil, Meilen, welche zwifhen Erde und 
Sonne liegt, mit jenem vermuthlichen Abftand vergleicht, in wer 











53. Die. Sonne. 355 


chem fich der Mittelpunkt oder Centrallörper befinden mag, befien 
Einwirkung die. Sonne in Bewegung fest, dann hat man Urſache 
genug, das Borhandenfein einer anziehenden Kraft vorauszufegen, 
welche alles ihr Aehnliche, das in ber uns näher liegenden Sicht: 
barkeit des Weltgebietes gefunden wird, unermeßbar meit über 
fleigt. Daher hat die Vermuthung eines unferer gruͤndlichſt for- 
fhenden Aſtronomen (Mädler), daß nicht ein einzelner Central⸗ 
förper, fonbern, daß die Gefammtmaffe einer ganzen Gruppe von 
Sternen, und zwar die der Plejaden oder bed Siebengeftirnes bie 
tragende und betvegende Mitte unferes Firfternenhimmels fei, eine 
große Wahrfcheinlichkeit für fih. Mag der Lauf der Sonnen um 
diefen Thron der Kräfte über unberehenbare Reihen der Jahrtau⸗ 
fende fi) ausdehnen; unfere Sonne, wie unfer Planet, und wir 
auf ihm, gehen mit, ohne ben Fortſchwung bes täglichen Bewegen 
unferes MWeltfpftemes zu bemerken; wir gehen auch hier, wie im 
ganzen Verlauf unferes leiblihen Seins, ohne zu fehen woher? und 
wohin? den ficherfien Weg, den ein Kind madıt, wenn es nicht 
von den eigenen Füßen, fondern von den Armen einer Jiebenden 
Mutter getragen wird. 

Die Macht, welche bie Sonne an unferer Erde, fo wie an 
allen Weltkörpern ihres Syſtemes übt, läßt uns wach riefenhaft 
großem Maaßſtabe alle jene Formen wieder erkennen, in denen fich 
in unferer irdifchen Sichtbarkeit der polarifhe Gegenſatz zwifchen 
einem fetbitkräftig Wirkenden und einem leiblich Bewirkbaren äußert, 
Wie der Blig, der aus den Wolfen hervorbridt und an bes me 
tallenen Spige ſich entlädt, fo brechen überall aus einer oberen, 
allumfaſſenden Welt bes Lebens Kräfte der Belebung und bes Ber 
wegens hervor, wenn fich ein leibliche Element aus der Gebun- 
benheit und tobten Ruhe bes maflenhaften Zufammenhaltes zu 
einer Stellung erhebt, in welcher e8 ein Inneres zu einem Aeußeren, 
ein Bildendes für ein Bildungsfähiges wird. Ein folches Herein⸗ 
dringen der Kräfte eines oberen, überleiblihen Seins und Lebens 
erfannten bie Weiſen des Alterthumes feit Thales dem Milefier 
in der Wirkſamkeit des Magnete an, obgleich ſich uns in diefer 
no nichts Anderes Eund giebt als ein Bewegen und Bewegtwer⸗ 
ben, das feinen Anfang nimmt in dem polatifhen Gegenfag der 
ohne Aufhören um die eigene Achfe und um bie Sonne bewegten 
Erde zu dem Eifen, in welchem unter günftigen Umſtaͤnden als⸗ 
bald der gleiche polarifche Gegenfrs erwacht. Als die Naturkunde 
der neueren Zeit das Mittel erfand, durch ſchraubenfoͤrmiges Um⸗ 
winden eines Magnetes die Strömung der eleftrifhen Naturkräfte 
mit jener der magnetifchen zu vereinen; als man ben elektromag⸗ 
netifchen Einfluß auf den magnetifchen Eifenflab einwirken ließ, 
da zeigte ſich alsbald an diefem das Bewegen einer zweiten, höheren 
Ordnung: ein Ereifenber (rotivender) Umlauf um einen bewegenden 
Mittelpunkt, ein Auf⸗ und Niederwogen felbft des flüffigen Queck⸗ 
Albers, das bis zu den Anfängen einer Achfendrehung ſich erhebt. 


23 * 


— 


356 53. Die Sonne. 


Die Ältere Zeit Tannte das Feuer des Bliges, das mit augenblid- 
licher Schnelle herab ober herauffährt, und, wenn es den Baum 
oder andere entzuͤndbare Körper trifft, biefe in Flammen fegt, waͤh— 
rend es felber eben fo fchnell wieder dahinſchwindet und verlifcht, 
ale es aus dem Dunkel der Gewitternacht bervorgetreten war. 
Die neuere Zeit, als fie feit Erfindung ber Elektrizität erregenden 
fo wie der galvanifhen und eleftromagnetifchen Werkzeuge die Kräfte 
des Bliged in ihre Hand befam, hat durch Anwendung Diefer 
Kräfte Etwas geleiftet, das kein Naturforfcher der früheren Jahr⸗ 
hunderte für möglich gehalten hätte, ihr ift e8 gelungen, den Blitz 
mitten in feiner unermeßbar fchnellen Eile feflzuhalten, fie hat ihn 
in ein fätig fortglühendes Feuer verwandelt. Der Gluthſtrom, der 
fi) aus den Enden der Polardrähte einer ftarken Voltaiſchen Säule 
oder eines Fräftigen elettromagnetifhen Apparates in gleichmäßiger 
Fortwirkung ergießt, gleicht einem Fluſſe, defjen Lauf niemals ab 
bricht, während die biigähnliche elektrifhe Entladung kaum einem 
ploͤtzlich herabftürzenden, plößlich wieder nachlaſſenden Regengufß 
ähnlich war. Während die Völker der ätlteften Zeit das Feuer 
ihrer Herde nur unmittelbar am Strahle des Blitzes entzündet 
hatten, und diefe Gabe des Himmels mit ängftliher Sorgfalt fid 
zu erhalten and zu ernähren fuchten, ift anjest (in dem Voltaifchen 
Apparat) der Gluthſtrom des. Bliges felber zu einer Art von Herd⸗ 
feuer geworden, das zu feinem Unterhalt weder des Holzes nod 
des Oeles, zu feiner Pflege keiner bei Nacht. wie bei Zage fort 
währenden Obhut der Priefter bedarf. 


Und wie ganz anders wirkt diefes, wenn auch vor der Hand 
nur noch in unvolllommenem Maaße gewonnene Derbfeuer der 
höheren Ordnung, im Vergleich mit dem Feuer unferer brennenden 
Kohlen oder des Holzes! Metalle, welhe duch die Macht bes 
gemeinen Feuers kaum zum Erweichen kommen, ſchmelzen an dem 
Entladungsfirom unſerer eleftromagnetifchen Apparate in wenig 
Augenbliden; andere Stoffe, die wir im gewöhnlichen Lauf der 
Dinge als feuerbeftändig zu betrachten pflegen, verglafen fidy oder 
zerfegen fich in Dämpfe; während wir in der Hige unferer Schmelz⸗ 
Öfen nur den Oxyden ber eigentlihen Metalle ihr Sauerfloffgas 
entführen Eönnen, indem wir diefem feine reine Luftform, ober in 
Verbindung mit Kohle die Form der Kohlenfäure ertheilen, hat 
man duch die Macht des galvanifchen Seuerd das Sauerftoffgas 
felbft aus dem unvergleichbar viel fefteren Verband mit ben metall: 
ähnlihen Grundlagen der Alkalien und Erden lodgemadt. Was 
ift der Glanz aller Fadeln und Herdfeuer gegen bie blendende, dem 
Sonnenlicht: gleihende Helle eined Metalldrahtes, durch welchen 
der Gluthſtrom einer galvanifchen oder eletttomagnetifchen Batterie 
feinen Lauf nimmt; wo könnte zunaͤchſt nur die zerftörende Flamme, 
die beim Verbrennen bee Körper entfteht, mit der bildenden Kunſt 
auf folche Weife in ein Verhältniß der Nacheiferung treten wie die 








53. Die Sonne, 351 


galvaniſche oder eleftromagnetifhe Strömung, in ihrer früher 
(Gap. 46) erwähnten Anmendung zur Galvanoplaftif! 

Die Wiffenfhaft hat fi für bie verfchiedenen Kormen, in des 
nen das Feuer eines allgemeinen Lebens und Bewegens die Ele 
mente unferer Körperwelt durchdringt, verfchiedene Namen erfunden: 
Magnetismus, Elektrizität, Galvanismus und Elektromagnetismus; 
für jenen fortwährenden Wechfelverkehr der Sonne mit den pla= 
netarifchen Welten, aus mwelhem Licht und Wärme, der Antrieb 
zum Bewegen um: die eigene Achſe und in der Bahn der Jahre 
hervorgeht, ift noch Eein pafjender Name, eben fo wenig als ein 
Schluͤſſel zum tiefer eindringenden Verftändniß in das eigentliche 
Weſen diefes Wechfelverkehres gefunden worden. Das aber wiſſen 
wir, daß die bewegende Kraft, welche als allgemeine Schwere, von 
der Sonne ans wirkend, die Planeten fo wie von dieſen aus bie 
Monde in ihren Bahnen erhält, und ihnen allen, in quadratifchem 
Berhältnig mit den Abftänden, das verfchiedene Maaß der Ge: 
fhwindigkfeiten verleiht, durch mehrere ihrer Eigenfchaften ſich als 
eine polarifhe Wirkſamkeit von noch höherer Drdnung erweift als 
die ift, welche wir an den elektrifchen und magnetifchen Erfchei- 
nungen Eennen lernen. Obgleih die Schnelligkeit des Lichtftrahles 
und noch mehr die der elektrifhen Strömung nad dem Maaßftabe 
bes irdiſch Eörperlihen Bewegens ald ungeheuer groß erfcheint, ift 
fie doch nod) eine meßbare, denn man hat den Weg, ben das Licht 
in einer Stunde durch den Aether bes Weltraumes zurüdlegt, aus 
dem früheren ober fpäteren Bemerkbarwerden der Supitermonden- 
BVerfinfterungen in näheren oder ferneren Abfländen der Erde vom 
Supiter auf 140, den Stundenmweg ber elektrifhen Strömung zu 
259 Millionen Meilen berechnet. Dagegen’ ift die Wirkfamfeit der 
anziehenden Kraft der Sonne gar Feiner meßbaren Zeitdauer unters 
worfen. Die Gefchwindigkeit des raumdurchdringenden Einfluffes 
der allgemeinen Schwere würde für uns noch meßbar fein an der 
allmähligen Befchleunigung (dem Kürzerwerden) des Sahresum- 
laufes der Planeten, auch wenn fie zehn Millionen Mal größer 
wäre als die Schnelligkeit des Lichtes; aber mit all’ diefer millio- 
nenfachen Steigerung der Zahlen erreihen wir das Ziel nicht, weil 
ed außer den Sränzen einer menfchlichen Berehnung liegt. Wie 
der Gedanke, in demfelben Augenblid, da er gedacht wird, bei fei- 
nem Gegenftand ift und diefen erfaßt, wie der lebende Arm in je: 
dem Augenbli zu einem Glied feines Leibes wird, weil er niemals 
aufgehört hat, noch jemals mährend bes Lebens aufhören wird 
und kann, dieſes zu fein, fo ift die bewegende Kraft der Sonne 
gleichzeitig in biefer wie bei dem Planeten; für diefe Macht find 
die Schranfen ber Zeit und des Raumes nicht mehr vorhanden, 
fie iſt allzeitlich und allgegenmwärtig, wie ein allumfaflendes, all 
durchdringendes Walten des Schöpfers felber. 

Dennodh muß die hehre Sonne, diefer fihtbare Abglanz einer 
Majeſtaͤt des Schöpfers, es fich gefallen laffen, wenn wie nadı 


358 53 Die Sonne. 


unferem Denfchenwig bie rotirenden fo wie umtreifenden Beweg⸗ 
ungen der Welten, an denen fie ihre Mache uͤbt, mit jenen ver- 
gleichen, weiche die eleftromagnetifhe Strömung an unferen Mag- 
netnadeln und Magnetftäben hervorruft. Indem mir einen mag 
netifchen Eifenftab, deſſen polarifhe Steömungen der Richtung der 
Länge des Stabes folgen, mit einem iſolirten Kupferdraht von der 
Richtung der beiden Seiten her, faft unter einem rechten Winkel 
mit der Längenausdehnung umminden, thun wir im Kleinen Das: 
felbe, was die Schöpferkraft gethan, als fie jene Gebirgsmaſſen 
und planetarifhen Stoffe fo um die Achfenlinie, welche durch beide 
Pole gebt, ringfürmig herumlegte, daß daraus die kugelähnliche 
Geſtalt der Weltkörper entſtand. Diefe Kugelform laͤßt fich eben 
fowohl als eine Urfache, denn als eine Folge der rotirenden Be 
wegung betrachten. Der elektrifch-polarifche Gegenfag zwifchen ben 
Theilen und Punkten der Erdoberfläche, welcher da feine hödhfte 
Wirkſamkeit erreicht, wo ber Durchfchnitt, welcher der Dueere nad) 
(unter einem rechten Winkel) von dem Kugelumfang nad) ber 
Achſenlinie der Pole geht, am größten ift, feheint den täglichen Um: 
fhwung der Welten von Welt nad Oft zu begründen, während 
von dem magnetifchen, im Allgemeinen an die Richtung der Pole 
gebundenen Gegenfag die fefte Stellung in bem beflimmten Ab: 
ftand der Bahnen, die Meigung der Are und’ der jährliche Umlauf 
um ben Gentraltörper abhängen mag. Die Sonne felber nimmt 
an diefer Seftaltung fo wie an den Bewegungen Theil, von denen 
uns unfere eleftromagnetifhen ‚Apparate durch ihre Zufammen: 
fügung mie durch ihre Wirkfamkeit ein Meines ſchwaches Abbild 
geben; die rotirende Bewegung ihres feften Körpers im BZufam- 
menhang mit der Befchaffenheit der Dunſthuͤlle mag auf die Er: 
zeugung des Lichtes und der Wärme nicht von unbebeutendem Ein 
fluß fein; aus welhem Quell aber zulegt der Strom ber 
Kräfte komme, welcher das große Werk bes Meltgebäudes mit 
al? feinen einzelnen Xheilen und Xriebrädern in Bewegung fekt, 
und in feinem fi immer in unverrüdbarer Genauigkeit gleich: 
bleibenden Fortgange erhält, das erforfchen die fterblihen, aus 
Erdenftaub gebildeten Sinne nicht. | 

Es liegen jedody andere Eigenfchaften der Sonne der täglich 
wiederkehrenden Beobachtung unterer. Sinne näher, als die Macht 
bes Bewegens, welche unabläffig aus ihr hervorwirkt; mir wollen 
deshalb vor Allem diefe Eigenfchaft in nähere Betrachtung ziehen, 
welche felbft dem Kinde fo wie allen auf ber Stufe der Kindheit 
ftehenden Völkern ſich bemerkbar machen. 


54, Der Einfluß der Sonne auf die Temperatur der 
Erdzonen, 


Daß in jener Zeit des Jahres, in welcher die Tage wieder 
um ein Bedeutendes laͤnger werden, mit der ſtaͤrkeren und andauern⸗ 











54. Die Temperatur ber Exrdzonen. 39 


deren Beleuchtung durch die Sonne auch bie Wärme zunehme, 
weiß und vrfährt in jedem Fruͤhlinge felbft der rohefte Indianer, 
der bie fumpfigen Waldgegenden des nördlichften Amerikas bewohnt. 
Daß indeß die Wärme eines Landes nicht allein von der längeren 
oder Türzeren Beleuchtung, fondern auch von dem höheren oder 
niedreren Stand der Sonne und in gewiſſem Maaße vielleicht 
feibft von ber rotirenden Bewegung, die unter dem Aequator am 
ftärkften ift, abhänge, das lehrt eine genauere Beobadhtung. Wenn 
nur im Allgemeinen von dem Unterfchied zwifchen Tag und Nadıt, 
von Zageshelle und nächtlihem Dunkel die Mede fein dürfte, 
dann koͤnnte man fagen, daß die Bewohner der eifigkalten Po- 
larländer hierin mit ben Bewohnern ber heißen Bone, mo bie, 
Vanille wählt und-Palmenwälder gedeihen, ganz in gleichem Vor⸗ 
theil ftünden, ja fogar noch etwas beffer daran wären als biefe; 
denn felbfl unmittelbar unter dem Pole dauert die Zageshelle im 
Berlauf eines ganzen Jahres nicht nur eben fo lang mie in den 
beißen Ländern, welche unter ber Aequinoctiallinie oder dem 
Aequator liegen, fondern wegen ber vor dem MWiederaufgehen. und 
nah dem Untergehen - der Sonne eintretenden Dämmerung fogar 
nod) länger. Nur mit dem Unterfchiede, baß unter dem Aequa⸗ 
tor jeder einzelne Zag bes “jahres, an den Polen aber das ganze 
Jahr in zwei gleiche Hälften getheilt ift, davon die eine die Bes 
leuhtung der Sonne genießt, die andere dem Dunkel der Nacht 
anheimfällt; denn unter dem Aequator fteht die Sonne täglich 
12 Stunden, an den Polen jährlich 6 Monate am Dimmel; 
bier hat man vor der Fruͤhlings- und nah der Hrrbflnachtgleiche 
eine viele Wochen lang anhaltende Dämmerung, bort aber an 
jedem Morgen und Abend nur eine fehr kurze. 

Dagegen fallen die Strahlen der Sonne, wenn fie über ben 
Himmel des heißen Erdguͤrtels ihren Tageslauf macht, nicht flach 
und ſchief, geſchwaͤcht duch die unteren, Dichteren Luftfchichten 
der Atmofphäre und in bdiefen großentheils fih verlaufend, auf 
den Boden, fondern fie treffen diefen während der Mittagsftunden 
in meift fenkrechter Richtung und in ihrer vollen Gewalt. Und 
hierauf kommt für die Wärmeerzeugung durch das ſtrahlende Licht 
dee Sonne Vieles, ja das Meifte an, wie dies fhon durch die 
zweifache Bedeutung des Wortes Klima angebeutet ifl. Denn 
urfprünglihd nannte man fo jene Kreife, die man fi) in Norden 
und Süden in gleicher Breite um den Aequator gezogen badıte 
und deren Graͤnze durch die Verfchiebenheit der Dauer bed lang- 
ften Tages, fo wie der Längften Nacht beflimmt war, Da wo 
die Dauer des längften Tages nicht mehr wie unter dem Aequa- 
tor gerade 12, fondern 121/, Stunden ift, war bie Graͤnze des 
erften, bei 13 flündiger Dauer des Mittfommertages die Gränze 
des zweiten Klimas. Und fo ergab fich bei jedem Zuwachs ber 
Dauer bed Iängften Tages um eine halbe Stunde die Gränze 
eined nenen Klimas, deren Zahl mithin vom Aequator bis zu 


30 54. Die Temperatur ber Erdzonen. 


den Polen, wo die Länge des Mittfommertags 24 Stunben be: 
trägt, das heißt wo dann die Sonne gar nicht untergebt, auf 
2A gefest war, fo daß zum Beifpiel jene Gegenden, wo der längite 
Tag zwifchen 16 bis 16!/2, die kuͤrzeſte Nacht zwifchen 8 bis T!z 
Stunden währt, in das neunte Klima fallen. Die Andauer 
jenes langen fortwährenden Polartages, an welchem die Sonne 
gar nicht untergeht, ift von der Grenze des Polarkreifes unter 
66 Grad 32 Min. bis zum Pole (unter 900) felber, mithin durch 
das ganze 2Ate Klima fehr verfchieden. Denn in Lapplanp, unter 
dem 66!/,ten Grade der Breite giebt es nur einen einzigen Tag 
im Jahre, an welchem bie Sonne gar nicht untergeht, Dies ift 
der Mittfommertag (21ite Juni). Schon einige- Zagreifen weiter 
nad) Norden unter der Breite von 679 18° kommt man in eine 
Gegend, wo die Sonne einen ganzen Monat lang, im Sommer 
über, in Winter unter dem Horizont bleibt; am Nordcap 71° 
1’ N. Br. dehnt ſich die Zeit, in welcher die Sonne ftetd am 
Himmel fteht, über 2 Monate und ebenfo lang jene aus, in der 
fie gar nicht aufgeht; in Melvilles Eiland (unter 75 Gr.) auf 
3 Monate 12 Tage, unter dem SO Gr. auf mehr benn A, unter 
83% auf 5, unter 90% auf 6 Monate. Aus diefem Grunde ba 
ben auch die neueren Seographen den vorhin erwähnten 24 Kli- 
maten, welche vom Aequator bis zur Polarzone reihen, nod 6 
für dieſe beigefügt, in denen ber längfte Tag nicht bloß eine halbe 
Stunde, fondern einen ganzen Monat länger dauert ale in ben’ 
nächft vorhergehenden. Danach träfe dann das 25te Klima zwi: 
fhen 670 23° bis 699 50°, hier dauert der laͤngſte Tag, eben fo 
wie die längfle Nacht, einen, von 69% 50° bis 730 39°, von ba 
bis 780 31° von hier bis 849 65° und endlid von da bis 90°, 
2, 3, 4, 5, 6 ganze Monate. Obgleich jedoch der Zeitpunkt, an 
welchem die Sonne am Ende des langen Sonnentages für die 
Gegend am Pole unter ben Horizont finten follte, auf den Tag 
des Herbftäquinoctiums, für Nowaja Semlja unter 76 Gr. d. 
Dr. der Anfang der dreimonatlihen Nacht auf den legten Okto⸗ 
ber, das Ende der Winterpolarnacht und ber Wiederaufgang ber 
Sonne für die erftere Gegend auf den 21. März, für den anderen 
Ort auf den 11. Februar treffen müßte, bleibt- dennoch vermöge 
der Strahlenbrehung der Atmofphäre (nach Cap. 22) das Bild 
ber Sonnenfcheibe mehrere Wochen länger über dem Horizont und 
wird um mehrere Wochen früher fihtbar, und auch nad) feinem 
Hinab> fo wie vor feinem Herauftreten giebt ed eine fo lange 
Dämmerung, daß ſelbſt an den Polen das eigentliche nächtliche 
Dunkel, welches überdieß duch den Schein. der langen Mond: 
nächte fehr gemildert wird, nur 131/, Wochen anhält. Sm Grunde 
genommen kann man beshalb, wie fchon oben erwähnt, fagen, 
daß die Vertheilung der Tageshelle und der Andauer des naͤcht⸗ 
lichen Dunkels eher zum Vortheil ald zum Nachtheil der beiden 
Polargegenden im Vergleich mit den Aequatorialgegenden aus: 








54. Die Temperatur ber Erdzonen. 361 


fällt. Dennoch tnüpfen wie mit Recht an das Wort Klima auch 
den Begriff der herrfhenden Wärme der Länderftrihe an und 
halten uns im Voraus davon überzeugt, daß die Gegenden, melde 
unter den erften Klimaten (1 bis 3) liegen, die wärmften, jene, 
weldye unter den legten, dem 22ten bis 2Aten Klima fliehen, die 
kälteften fein müffen. 

Hiebei wird die mittlere Temperatur ded ganzen Jahres in 
Betracht gezogen, welche nicht das Mittel zwifchen der höchften 
Sonnenwärme und ber ftärkfien Winterfälte, fondern aus ben 
Summen der Wärmegrade ift, welche an jedem einzelnen Tage 
ded Jahres, wo möglic aus dreimaliger Beobachtung, gefunden 
wurden. Obgleich diefe mittlere Temperatur des ganzen Jahres 
außen an der Erdoberfläche zu verfchiedenen Zeiten des Jahres, 
wie fogar jedes einzelnen Tages, großen Abänderungen unterworfen 
ift, erhält fie fi dennoch in einer gewiſſen Tiefe der Keller und 
Höhlen, fo wie in den meiften Quellen, im Sommer wie im Wins 
ter, auf dem gleihen Grade, fo daß man aus ber Temperatur 
der Felfenquellen einer Gegend mit einer gewiſſen Sicherheit auf 
ihre mittlere Jahreswaͤrme fchließen kann. 

Sm Allgemeinen findet man, daß bie mittlere Sahreswärme 
ber 3 erften Klimate, von dem Aequator bis gegen und etwas 
über die Wendekreife, 201/, bis 221/. Grab der Reaumur’fhen 
251,0 bis 281,0 Gr. der Humderttheiligen) Scala betrage, 
Schon in Kairo, deffen Lage 30 Gr. 2 M. N. Br. ift, erreicht 
die mittlere Temperatur nur 179/,, Gr R., in Neapel, unter 
dem Alten Breitengrad 142/,, in Paris, bei 48% 50° Breite 
etwas über 9°/, Gr. R., in London unter 5i!/, Gr N. Br. 
8 Gr R., in Copenhagen 55 Gr 4 M. N. Br. nur wenig 
über 6, in Moskau unter 55°/, Gr. N. Br. nur noch 3°), Sr. 
R., in Wadſoé unter TO!/, Gr. N. Br. 1%, Gr. Réaumur. 
Am Nordcap, obgleich beffen Lage noch um feinen ganzen Grab 
nördlicher ift als die von Wadfos, thaut das Erdreich in einer 
Ziefe von wenig Fußen auch im Sommer nicht auf, die mittlere 
Zemperatur des Jahres kommt dort dem Eispunkte glei, wäh: 
end fie auf Melvilled Eiland noch beinahe um 15 Grad unter 
den Eispunkt herunterfintt. 

Selbſt auf den Eis⸗ und Schneefeldern der Polargegenden, 
unter den achtziger Graben ber Breite, bemerkt man in jener 
Jahreszeit, wo die Sonne ſchon lange nicht mehr untergeht, noch) 
einen bedeutenden Einfluß ihres täglichen höheren und niedreren 
Standes. Obgleich diefelbe dort auh um Mitternaht am Him⸗ 
mel bleibt, ift dann ihr Licht nicht nur auffallend viel bleicher als 
12 Stunden vorher, wo es Mittag war, fondern auch die wärs 
mende Kraft ihrer Strahlen ift fo viel fhmwächer, daß, wenn bie 
Sonne immer tiefer nach dem mitternächtlihen Horizont heruntere 
ſinkt, der in den Stunden ihres hoͤheren Standes gethaute Schnee 
wieder feſt wird. Deshalb benuͤtzten die kuͤhnen Unternehmer einer 


362 54. Die Temperatur der Erbzonen. 


Keife nach dem Nordpol zum mühfamen Fortziehen ihrer Schlit- 
tenboote Über die Treibeismaſſen jederzeit die Stunden, in denen 
es bei ung auh im Sommer Nadıt ift, und machten längftens 
dann, wenn ed auf ihren Uhren etwa 7 oder 8 Uhr Morgens 
war, Halt, meil um biefe Zeit das höher emporfteigende Geſtirn 
des Tages fehon wieder Eräftiger zum Aufthauen des Schnees 
wirkte, Noch ungleih merkliher wird uns der Einfluß eines 
höheren Standes der Sonne bei ber Betrachtung des vorhin 
erwähnten Berhältniffes der Lage der Erbftriche zu ihrer mittleren 
Sahreswärme von dem Aequator an, mo bie Sonne jeden Mit 
tag ſenkrecht oder faft ſenkrecht über dem Scheitelpunft des Him⸗ 
mels dahingeht, bis zu den Kändern ber Falten Zone, in denen 
fie audy in den Sommermittagen tief unter dem Scheitelpunft 
zuruͤckbleibt. Dennod kommt jenem Verhältniß nur eine allge 
meine Gültigkeit zu, und bdaffelbe ift ben vielfältigften Ausnahmen 
und Abweichungen unterworfen. Nur einige von dieſen, nebſt 
den Urfachen, durch die fie veranlaßt werden, wollen mir bier 
etwas genauer betrachten. 

Selbft die Eünftlihe Wärme unferer geheizten Zimmer fteigert 
fi erft dann in allen Räumen des Gemaches zu einer gewiſſen 
Höhe, wenn aud die Wände, die Dede, fo wie alle innerhalb 
und unter biefen befindlichen Gegenflände einen gewiſſen Grad 
ber Wärme angenommen haben, und die unferem Gefühle zu: 
fprechende Temperatur der geheizten Raͤume erhält ſich noch einige 
Zeit nachher, wenn die anfangs ftärkere Flamme des Feuers 
allmählig vermindert wird, oder ganz ausgeht. Ein Ofen, welder 
nach der in Rußland gebraͤuchlichen Weife gebaut ift, theilt, wenn 
feine dichten Gefteinmaffen recht burchheizt find, die empfangene 
MWärme noch viele Stunden lang feiner Umgebung mit, obgleich 
das Feuer in feinem Inneren fehon längft verlofhen iſt. In ähn: 
licher Weife, als ein Sammler und Verbreiter der Wärme an 
feine Umgebung, verhält ſich auch die Erdoberflähe, vor Allem 
die feſte. Je mehr der Boden von bem Einfluß ber Sonnenſtrah⸗ 
len fhon durchwaͤrmt ift, defto Eräftiger vermag, fo lange er fid 
noch auf einer gewiſſen Stufe erhält, diefer Einfluß ſich zu dußern. 
Darum fällt in der Regel die höchfle Temperatur des einzelnen 
Tages nicht unmittelbar in die Zeit des Mittages, die größefte 
Wärme des Sahres nicht in bie Zeit des laͤngſten Zages und bes 
hoͤchſten Standes der Sonne, fondern in die erfle und zweite 
Nachmittagsftunde, fo wie in den Julimonat. Eben fo trifft aud 
die niedrigfte Temperatur des Winters, die flärkfte Kälte, im der 
Regel erft auf die ſchon wieder zunehmenden Tage ded Janunars; 
die größte Kühle ber einzelnen Tage in die Stunden vor Son- 
nenaufgang. Uebrigens ift die Zeit, in meldher im Mittel die 
größte Kälte fo mie die größte Wärme eintritt, felbft in Gegen- 
den deſſelben Erbeheiles, deren Mittagskreife nicht weit von einan- 
ber abliogen, fehr verfchieden. In Paris fällt bie größte Kälte 





54. Die Temperatur der Erdzonen. 363 


im Mittel auf den 1Aten, in Padua auf ben 15ten, in Rom auf 
den 17ten, in Turin dagegen fhon auf den Iten Januar; bie 
ftärkfte Warme tritt im Mittel in Paris am 15ten, in Padua 
am 26ten, in Zurin am 2Tten Juli, in Rom aber erft am ten 
Auguft ein. Selbſt zwifchen den Wendekreifen fällt der zmeimalige 
höchfte Stand des Thermometers nicht mit dem höchflen Stand 
der Sonne in den Tag- und Nachtgleihen zufammen, fondern 
auf den 19ten oder 20ten April und auf den 22ten oder 23ten 
October; die Zeit der um wenige Grade tühleren Zage auf ben 
19ten bis 20ten Januar, fo wie auf den 22ten bis 23ten Juli, 
Auch auf der füdlihen Halbkugel tritt die höchfte Wärme ihrer 
Sommer fpäter als ber hoͤchſte Sonnenftand ein, fo zu Capſtadt 
am 2ten Februar, bie niedrigfte Temperatur des Sahres am 
6ten Juli. 

Nicht nur der fefte Boden, feibft das Gewaͤſſer, das ben größ- 
ten Theil deffelben bedeckt, und die Luft, die über ihm fleht, wer⸗ 
den durch den Einfluß der Sonnenftrahlen erwärmt, obwohl bie 
Erhöhung ihrer Zemperatur durch die im 34. Cap. befchriebene 
Bewegung fortwährend wieder ausgeglichen wird. Namentlich bie 
Atmosphäre ſtellt fich hierbei in ein zweifeitiges Verhaͤltniß zur 
Erdoberfläche, Während fie die Kraft der Sonnenftrahlen, welche 
duch, fie Hindurd gehen müffen, ſchwaͤcht, wirkt fie dennoch zus 
gleich auch guͤnſtig auf die Steigerung der Erdflächenwärme, denn, 
gleich, einem Gewand oder einer Dede, womit wir uns gegen bie 
Erkältung ſchuͤtzen, thut fie mohlthätig der Ausſtrahlung und 
Zerftreuung jener Wärme in den umgebenden Weltenraum einigen 
Einhalt, und nimmt felber Antheil an der Erwärmung, melde 
von unten, aus ber Erdoberfläche, und von oben durch ben Eins 
fluß der Sonne (weniger jedoch durch diefen als dur die Mit- 
theilung aus jener) ihr zukommt. Indem aber die Luft in ber 
Nähe der Erdoberfläche fih erwärmt, wird fie auch ausgedehnt 
und hierdurch leichter; fie fteigt in die Höhe. Bei biefem Empor⸗ 
fleigen in Regionen, wo der Luftdrud, je höher, je mehr ſich ver- 
tingert, nimmt der von unten kommende Strom eine immer duͤn⸗ 
nere Befchaffenheit, einen immer größeren Raumumfang ein und 
durch diefe Verdünnung wird, eben fo mie durch die Bildung des 
Dampfes nach Cap. 36, eine Temperaturerniebrigung herbeigeführt, 
die fi) in abkühlender Weife auf die Umgebung dußert. Umge—⸗ 
kehrt aber, wenn an die Stelle der emporgeftiegenen erwärmten 
Luftfchichten die Eälteren aus den oberen Regionen ſich herabfenten, 
dann erleiden diefe durch den auf fie wirkenden Drud der höheren 
Luftſaͤule eine Verdichtung, bei melcher fih, fo wie überall da, 
wo ein elaftifch flüffiger Körper in einen engeren Raum zufams 
mengepreßt wird, Waͤrme erzeugt und an die umgebende Körper: 
weit mittheilt. 

Hierinnen wird, wenigſtens zum Theil, der Grund gefunden 
von der Abnahme der Wärme in größeren Höhen über der Merz 


364 54. Die Vemperatur der Erdzonen. 


resfläche, von welcher wir bereitö bei anderer Gelegenheit fprachen. 
Wenn wir mit Schmidt annehmen, daß fhon in einer Höhe 
von 726?/, Fuß über der Meeresküftenebene die mittlere Jahres⸗ 
wärme eines Ortes um 1 Grad R. niedriger fei, dann würde 
in der Gegend von Kairo, beffen- mittlere Sahresmärme über 17 
Gr. R. ift, ein Berg, welcher die Höhe des Finfteraarhornes in 
der Schweiz (13205 F.) erreichte, auf feinem Gipfel eine herr⸗ 
fhende Zemperatur haben, welche noch etwas unter jener des 
Nordcaps, noch unter dem Eispunkt ſtuͤnde. Doch wird bie 
MWärmeabnahme bei dem Hinauffteigen in größere Höhen fehr 
verfchieden gefunden, je nachdem biefe Höhen einem vereinzelt 
oder abgefondert daftehenden Berge oder einem mafligen zufam- 
menhängenden Gebirgeruden oder endlih gar einem weit ausge 
breiteten Dochlande angehören. Auf einem abdgefondert ftehenden 
Berge ift bei gleicher Erhebung über die Meereschenen eine flärkere 
Abnahme der Temperatur bemerkbar als in folhen Gegenden, 
wo das Land eine größere, weiter ausgedehnte Maſſe bildet. 
Schon defhalb, fo wie noch aus anderen, gleich weiter zu erörtern: 
den Gründen ift auch jene frühere Annahme eine unfichere, nad 
welcher ein Unterfchied zwifchen der Lage verfchiedener Orte über 
dem Meeresfpiegel, welcher gegen 240 bis 260 Zuß betrüge, einen 
gleichen Einfluß auf die mittlere Temperatur des Jahres baben 
folte, als eine weitere Entfernung vom Aequator von einem Grade, 
fo daß die Sahreswärme eines in ber Meeresebene gelegenen Ortes 
unter dem 50. Gr. der Breite jener gleichen würde, welche unter 
dem 40. Gr. der Breite auf einer Höhe von etwa 2500 Fuß ge 
funden wird. Jene Annahme ging von der Vorausfegung aus, 
daß die Abnahme der Sahresmärme uͤberall von einem Grab der 
Breite zum anderen in einem gleichen regelmäßigen Verhaͤltniß 
fatt finde. Dies ift aber keineswegs der Fall, denn die mittlere 
Temperatur vom Aequator bis zum 10. Grad der Breite bleibt 
ſich faft ganz gleih, vom 10. Grade bis zum nörblihen Wende: 
kreis beträgt fie an der Oftküfte von Amerika ohne Abnahme für 
jeden Breite- Grad im Mittel nur gegen I/,, vom Wendekreis 
bis zum 33. Grade etwas mehr als 1), Grad R., von da bie 
zum 43. Breitengrad ſchon nahe */, Grad bed Réaumur'ſchen 
Thermometerd, während fie näher gegen den Pol bin wieder 
langfamer anwaͤchſt, bis zulegt jenfeits des 79. bie 80. Brei 
tengrades die Oberfläche des Meeres oder des feſten Bodens 
in gleichmäßiger Weife von beftändig bleibendem Eid oder Schnee 
überzogen ift, fo daß dort ein Grad der Breite näher nach dem 
Mole hin oder ferner von diefem ſchwerlich noch einen merklichen 
Temperaturunterfchied begründen kann, Nur das mittlere Europa 
zeigt ruͤckſichtlich der Abnahme der mittleren Zemperatur ein be 
ftändiger bleibendes Verhaͤltniß zur geographifchen Lage, denn hier 
kann man nah A. v. Humboldt annehmen, daß vom 38. bis 71. 
Grad der Breite die Jahreswaͤrme auf jeden Breitengrad um ?;, 








- 54. Die Temperatur ber Erdzonen. 365 


Grab des Reaumur’fhen Thermometer herabfinte. Die mittlere 
Zemperatur des 8460 $. hohen St. Bernhardtklofters würde fich 
demnad) in ber Ebene unter bem 77. Grab der Breite antreffen lafjen. 
Bon der Abnahme der Wärme: bei der allmähligen Erhebung 
über da6 Meeresniveau hängt vor Allem auch bie Höhe der Grenze 
des fogenannten ewigen Schnees ab. Im Ganzen kann man ans 
nehmen, daß man unter dem Xequator, nachdem man bein Hin- 
auffteigen auf ein dort gelegenes Hochgebirge durch Regionen ge: 
kommen ift, beren mittlere Wärme, fo wie die herrfchende Form 
ber Pflanzen zuerft denen der gemäßigten, dann ber falten, für 
Menfhen noch bewohnbaren Zone entfpriht, in einer Höhe von 
etwa 15000 bis 17000 Fuß (in den Corbilleren von Quito von 
faft 14800, in denen von Chili von 17260 5.) jene Zemperatur- 
grenze erreichen werde, jenfeits welcher der Alpenfchnee das ganze 
Jahr hindurch, ohne hinwegzuthauen, liegen bleibt; zwifchen dem 
42, und 43. Grade der Breite, in den Pprenden wie am Kauka⸗ 
ſus haben ſchon jene Gebirgsgipfel einen bleibenden Schnee, welche 
nur gegen 8400 Fuß hoch find; in unferen Schmeizeralpen, unter 
dem 36. Grade ber Breite, geht ber bleibende Alpenfchnee bis et⸗ 
mas unter 8200 F. herunter; in den Karpathen unter dem 50, 
Breitengrade findet man bereitd in einer Höhe von 7000 F. den 
ganzen Sommer hindurch Schnee. Die Bemohner von Norwes 
gen unter dem 62. Grabe der Breite können fi) mitten im heißen 
Sommer fchon aus einer Höhe von 5000 Fuß den Schnee und 
da8 Gierfchereis zum Abkühlen ihrer Getränke holen; die Bewoh⸗ 
uer des 72. Breitengrades fehen, felbft an der milder gelegenen 
Küfte, auch folhe Berge das ganze Jahr hindurch mit Schnee 
bededit, welche nur 2200 Fuß hoch find, und noch welter nad) 
dem Nordpol hin kann ber Ianganhaltende Einfluß ber flach auffal- 
Inden Sommer-Sonnenftrahlen für fih allein den Schnee felbit 
nicht mehr von den niederen Hügeln, ja, wenn es dergleichen bort 
gäbe, nicht einmal von den hohen Daͤchern der Thürme und Hau- 
fer hinwegthauen; zuiegt liegt die Grenze des bleibenden Froſtes 
auf dem Boden der tiefen Ebenen auf, und bie Eismaſſen des 
Meeres thauen nie mehr ganz hinweg. Vielleicht aber, daß felbft 
dort, wo das Mordlicht von obenher eine Helle in das mitternächt- 
liche Dunkel ausftrahlt, auch von unten her eine Wärme der Erb» 
füde dem Froſt des beftändigen Winters gewiffe Grenzen fest. 
Dann auch das weitere Herabrüden des fortwährenden Wins 
ters von ben Gebirgshöhen nach den Ebenen fteht keineswegs in 
einem feft abgewogenen ficheren Verhaͤltniß mit ber Entfernung 
von dem Aequator, fondern hängt, wie die mittlere Zemperatur 
der Gegenden überhaupt, noch von ganz anderen Einflüffen ab. 
Allerdings fenkt fi die Schneelinie nad) den Beobachtungen, die 
man in Amerika darüber angeftellt hat, norbwärtd von dem Aequa⸗ 
tor, mit der Entfernung von bdiefem fo bedeutend, dag man ſchon 
unter dem 19. Grad der Breite im Dochlande von Mexico fie um 


366 54 Die Zemperatur ber Etdzonen. 


960 Fuß niedriger findet, als in ben Corbilferen von Quito, da- 
gegen ſteht fie, wie bereits erwähnt, in Chili, da wo die Hochge⸗ 
dirge im Weiten dem Meere fi) nahen, um mehr denn 2000 3. 
höher als unter dem Aequator, obgleich dieſe Gebirge im 16. bis 
18. Grade der füdlihen Breite liegen, Die hedeutendfte Ausnahme 
von der feheinbaren Megel macht jedoch die Stellung der Schnee 
linie in den Hochgebirgen des Himalaya, unter dem 31. Grade 
der Breite. Am füdlichen Abhang, gegen SSndien, erreicht diefelbe 
nur die Höhe von etwa 12180 Fuß, was nur menig ber das 
Maaß des Ortlesgipfels in Tyrol hinaufgeht, dagegen zieht fid 
diefelbe an den faft unter gleicher Breite gelegenen Gebirgshöhen, 
welche ben nörblihen Abhang gegen Tibet hin bilden, bis auf eine 
Höhe von 15600 F. zurüd, fo daß an diefer nördlichen Seite 
noch Cultur⸗ und Weideland auf einer Erhebung gefunden wird, 
die am indifhen Abhange ſchon unter der Dede des beftändigen 
Schnees liegt. Diefe Thatfache, auf weldhe zueft Al. v. Dum 
boldt die allgemeine Aufmerkſamkeit hinlenkte, und die zwar von 
Hutton beftritten war, von Batten aber neuerdings wieder 
betätigt worden ift, bezeugt in vorzuͤglichem Maaße den wärme 
verbreitenden Einfluß der feften Erdoberfläche; denn das Hochland 
von Tibet, im Norden ded Himalaya, hebt ſich bi8 10800 Fuß 
herauf, fo daß feine von der Sonne empfangene, ausftrablende 
Wärme auf das Zurüdweichen der Schneelinie in ben nachbarlich 
angrenzenden Gebirgen, unfehlbar von bedeutender Wirkſamkeit 
fein muß. Eben auch vermöge diefer maffigen Bufammenfügung 
genießt das Hochland von Tibet felber einer fo milden Tempera 
tur, daß um H'Laſſa (Vuleſung), deffen Höhe über dem Meere nahe 
gegen 9000 Fuß betragen mag, noch Weinbau, begünftigt vielleicht 
duch die Stellung ber tief eingefchnittenen Thaͤler, betrieben mird. 

Auch wenn mir bei dem Vergleich der mittleren Jahreswaͤr⸗ 
men verfchiedener Orte und Gegenden der Erboberflähe uns nur 
an die Ebenen oder geringeren Erhebungen über die Meeresfläce 
halten, begegnen wir ganz auffallenden Ausnahmen von der Regel: 
daß die Wärme in gleihem Schritt mit der Entfernung vom 
Aequator abnehme. Bereits bie erflen europäifchen Anfiedler im 
nörblihen Amerika, in den Gebieten der jegigen Sreiflaaten, fo 
wie die Reifenden an den Küftengegenden bes öftlichen Afiens fan- 
den ed auffallend, daß in biefen beiden Erbgegenden die Winter 
£ölte fo viel firenger, und felbft die Sommermonate im Ganzen 
fo viel Eühler feien, als in foldhen Gegenden von Europa, melde 
unter den gleichen Graben der Breite und noch etwas nördlicher 
gelegen find, Wenn man nah AL v. Humboldt's lehrreicher Zu⸗ 
fammenftellung die mittlere Sahreswärme ber an der Oftküfte von 
Amerika gelegenen Orte mit jener vergleicht, welche unter ähnlichen 
Graben der Breite in Europa und im nördlichen Aftita beobachtet 
wird, dann erkennt man, daß, je mehr die Entfernung vom Aequa⸗ 
tor zunimmt, deſto anpenfälliger der Vorzug werde, ben unſer 











54. Die Temperatur ber Erdzonen. 367 


Welttheil in Beziehung auf die Milde feines Klimas vor ber ges 
genüber gelegenen. Seite von Amerika genießt. Nain, an ber Küfte 
von Labrador, liegt nur unter 57 Grad 8 Min. N. B., während 
Chriftiania in Norwegen faft 60 Grade (599 55,) von dem Aequa⸗ 
tor entfernt ift, und dennoch ſteht dort die mittlere Temperatur des 
Jahres 21), Gr. R. unter dem Gefrierpunft, während fie in 
Ehriſtiania nahe 42/, Grad über dem Eispunkte iſt. Quebeck's 
mittlere Jahreswaͤrme beträgt nur 42/, Gr. R., obgleich ed um 
volle 51/, Grad fuͤdlicher liegt als Amſterdam, deſſen mittlere 
Temperatur nahe 90 R. iſt. Halifax liegt mir Bordeaux, Neu-York 
mit Neapel unter gleicher Breite und dennoch ſteht die mittlere Tempe⸗ 
ratur der beiden genannten amerikaniſchen Staͤdte merklich niedriger 
als die der beiden europaͤiſchen, bei Halifar um mehr denn 6, bei dem 
füdtiher gelegenen New⸗York um 3 Grabe. Meiterhin, gegen ben 
Aequator hebt der Unterfchled allmählig fi) auf und ſchon bei 309 
M. Br. genießen St, Auguflin und Kairo mit der gleichen geogra= 
phifhen Lage auch faft denfelben Grad ber mittleren Wärme, 

Und nicht nur gegen die Weſtkuͤſte von Europa, fondern auch 
gegen die Weftküfte feines eigenen Welttheiles fteht das öftliche 
Köftenland von Amerika ruͤckſichtlich der Milde des Klimas 
in großem Nachtheil, Neu-Archangelsk, an ber Weſtkuͤſte 
von Nordamerika, liegt faſt in gleicher Breite mit Rain und La- 
brador und dennod übertrifft die Sahreswärme des erfleren Ortes 
bie des letzteren um 81/, Gr. R., benn nicht nur die mittlere 
Sommearmärme fteigt in Neu⸗Archangelsk um 6 Grad höher, ſon⸗ 
bern auch die Winter find bafelbft milder. Daſſelbe Verhaͤltniß 
wiederholt ſich dann auch vergleichungsmeife zwifchen der Werft 
kuͤſte von Europa und der Ditküfte von Afien, An der legteren hat Per 
fing eine Lage, weiche noch etwas fühblicher ift, al8 die von Neapel, und 
dennoch fieht feine mittlere Temperatur um mehr als 4 Grad niedriger 
als die von Neapel, Namentlich ift der Winter in Peking fehr ſtreng, 
denn bie mittlere Temperatur deſſelben kommt nahe an 21/, Grad R. 
unter bem Gefrierpuntt, die Winterkälte ift mithin dort noch um 
etliche Grade ftärker ald in Kopenhagen, welches doch um 17 Grad 
nörblicher gelegen iſt. 

Das Angrenzen eines Mesres von Weften her, dieß ift offen- 
bar, hat auf das Klima ber Länder einen mildernden, begünftigen: 
ben Einfluß, überhaupt aber wirkt die Nähe des Meeres fehr be⸗ 
deutend auf ben Zuſtand ber Temperatur der Erdoberflaͤche ein. 
Das Wafler, ald ein minder empfindlicher Wärmeleiter, nimmt we: 
der die Wärme des Sommers nod bie Kälte bes Winters in dem 
Grade an fi als ber feſte Boden. Die Wärme, felbft jene, 
welche .die ſenkrecht auffallenden Sonnenftrahlen im Gewaͤſſer er- 
zeugen, wird überbieß durch die fortwährende Verbünftung gemine 
bert, der Einfluß der Falten Winterluft dadurch gemäßigt, dag fich 
die Erkältung des Waſſers feiner ganzen Maſſe, bis in bie Tiefe 
hinab mittheilt, und hierdurch nur allmählig einen feſtſtehenden, 


368 54. Die Temperatur ber Erdzonen. 


tieferen Grad erreicht, während zugleih das Waſſer nur wenig 
Wärme duch Ausftrahlung an die kalte Luft abgiebt. Uebrigens 
ift der Einfluß der Verdünftung des Meeres mehr noch an ber 
Abkühlung ber auf feinem Spiegel aufliegenden Luft ale an ber 
Temperatur feiner Oberfläche felber zu bemerken: denn biefe wird 
vom Aequator an bis zum 489 nördlicher wie füblicher Breite im⸗ 
mer um etwas höher gefunden, als die der zunaͤchſt angrenzenden 
Luftfhichten. Durd al? diefe Beziehungen bewirkt das Meer eine 
Ausgleihung der Temperaturen, eine Mäfigung fowohl ber höhe 
ren Grade der Hitze als der Kälte des angrenzenden Erbbodens, 
fo daß die Küftenländer und Inſeln keine foldyen auffallenden Tem- 
peraturunterfchiede zu erleiden haben, al& die weit vom Meere ab 
im Innern großer Feftländer gelegenen Gegenden. So haben 
nad v. Humboldt's Bemerkung einige Städte im tiefen Inneren 
des nördlichen Afiens, wie Tobolsk, (580 12° N, Br), Barnaul 
am Obi (539 1Y N. Br.) und Irkutsk (520 17°) ruͤckſichtlich 
der Temperaturen eben folhe Sommer wie Berlin (529 31) wie 
Münfter (519 57°) und wie Cherbourg in der Normandie (49° 
389%), ja das Thermometer behält an jenen Drten zumeilen wo: 
chenlang feinen Stand auf 24 und faft 25 Gr. R,, aber auf 
diefe Sommer folgen Winter, in denen man einen Monat lang 
anhaltend eine mittlere Temperatur von 15 bis 16 Grab unter 
dem Eispunkt zu bulden hat. 

Bornamlich ift es die Milde des Winters, burdy welche bie 
mittlere Temperatur mancher Orte eine höhere Steigerung em- 
pfangen kann, ohne daß deshalb die Lage für gewiſſe Erzeugniffe 
der Pflanzenwelt eine günftigere wird. Im Norboften von Irland 
unter 54 Gr. 56 Min,, mithin unter gleiher Breite mit Könige: 
berg in Preußen, erhält ſich die mittlere Zemperatur des Winters 
auf faft 31/, Grad über dem Gefrierpuntt, mithin höher als in 
Mailand, als in Padua und der ganzen Lombardei, wo ber 
mittlere Thermometerfland der Wintermonate nur etwa 2 Grad 
über dem Geftierpunft erreicht, Obgleih aber nun, wenn biefe 
Milde des Minterhalbjahres allein den Ausfchlag gäbe, Dublin 
in Irland ein noch milderes Klima haben müßte, ald Mailand, 
wird dennod) jener fcheinbare Vorzug ganz wieder durch den nad: 
theiligen Einfluß aufgehoben, den die geringe Wärme des Soms 
mers von nur 12 ©. R, im Mittel auf einen folchen faft immer 
„nebelverſchleierten“ Himmelsftrih hat. Die mittlere Jahreswaͤrme 
von Mailand ift 101/,, die von Dublin nicht viel über 81/, Gr. 
R. Dfen in Ungarn giebt ein Beifpiel vom Gegentheil. Dort 
ift der Winter im Durchſchnitt fo alt, baß feine mittlere Tempe⸗ 
ratur faft bis auf 2 Grad R. unter den Eispunft herabfinft, mit 
hin über 5 Grad tiefer, ald in den erwähnten Gegenden von Se 
land; dagegen fteigt die mittlere Wärme ded Sommers in Un: 
garn bis über 16 ja bie gegen 17 Gr. R. Noch auffallender if 
ber Contraſt zwiſchen den mittleren Temperaturen ber Winsen und 








54 Die Temperatur ber Erdzonen. 369 


der Sommer an einigen anderen Küftenpuntten und Inſeln bes 
norbweftlichen Europas. Auf den Orfneys-Infeln (3. B. Strom: 
neß), keinen halben Grad füblicher als Stockholm, ift (nad AL 
v. Humboldt) der Winter milder als in Paris, faft fo mild als 
in London, Selbſt auf den Faröer-nfeln, in 620 N. Br., ge 
frieren die Binnenwaffer niemals. An ber lieblichen. Küfte von 
Devonfhire, wo der Hafen Salcombe wegen feines milden Klimas 
das Montpellier des. Nordens genannt worden ift, hat man bie 
fogenannte amerifanifche Aloe (Agave americana) eben fo wie in 
Südfranfreih und Italien im Freien blühen fehen. Dort, wie 
zu Pozana, und Gosport und an den Küften der Normandie zu 
Cherbourg fteigt die mittlere Wärmetemperatur über 42/,0 R. d. i. 
kaum 1 Sr. R. weniger hoch als in Montpellier und Florenz. — 
Und dennody würden wir mweit irre gehen, wenn wir von der Kraft 
des Klimas jener weftlichen Küflengegenden im Allgemeinen baf- 
felbe erwarten wollten, was das Klima von Montpellier, von Flo: 
venz und einigen anderen, ähnlich gelegenen Gegenden zu wirken 
vermag. "Während in der Umgegend von London der Erdbeer- 
baum und die Myrte eben fo den Winter im Freien ausdauern, 
eben fo im Freien ihre Blüthen tragen, wie im botanifhen Garten 
zu Montpellier, während aud in Irland ber neufeeländifche Flachs 
im Freien gezogen werden Tann, bringt daſelbſt der Weinſtock feine 
Rrauben niemals zur vollfommenen Reife, und das Gleiche wider: 
fährt allen den anderen Gewaͤchſen, die zur Reifung ihrer Fruͤchte 
und zu ihrer volltommenften Entwidelung einer hohen, anhalten- 
den Sommermärme bedürfen, welche allerdings, damit die Pflan- 
zen vom Froſt nicht verdorben werben, auch von einer gewiſſen 
Milde des Winters unterflügt werden muß. 

Auf beides zuſammen wirkt nicht blos der im Allgemeinen 
höhere Stand ber Sonne, fondern mit ihm zugleih die Lage eis 
nes Erxdftriches gegen. die angrenzenden Meere und Länder ein. 
Der Einfluß ber ‚höheren, der zulegt ſenkrecht ftehenden Sonne 
unter dem Aequator und zwifhen den Wendekreiſen äußert fi, 
wie wir vorhin fahen, in viel flärkerem Maaße auf den feſten Bo- 
den, als auf das Meer. Bon dem feflen Boden, vor Allem, wenn 
diefer trodten, fleinig und fehattenlos ift, wie der Boden der afti- 
kaniſchen und aſiatiſchen Sandwuͤſten, erheben fi, wenn die hoch⸗ 
ftehende Sonne fie beftrahlt, am Tage die heißen Luftfirömungen, 
die fi im die Eälteren Gegenden der weiter nach den Polen hin 
gelegenen Erbftriche ergießen, während aus biefen, fo. wie von oben 
die ſchwerere, Fältere. Luft fich hinzudraͤngt. Der Boden der ſtei⸗ 
nigen und fandigen, zwifchen den Wendekreiſen gelegenen Wuͤſten 
wird während das Tages nicht felten bis zu A2, ja zu mehr als 
48 Gr. R. erhitzt. Den zulegt erwähnten Grad ber Erhigung 
beobachtete At. v. Humboldt-in dem meißen Granitfand an den 
21 Lefälten des Orinoco, während die Wärme ber Luft doch kaum 
| r. R. betrug; dagegen fah I. v. Roth, der Begleiter bes 


24 


370 54. Die Temperatur ber Erdzonen. 


Capitaͤn Harris auf der englifehen Erpebition nah Schon, bas 
Thermometer über der fleinigen Wüflte unter dem 9. Grabe der 
Breite im Schatten auf nabe 41 Grab N. fleigen. Ein folches 
Uebermanß ber Tageswärme kann ſich jeboh im Verhaͤltniß zu 
ben Eälteren Luftfchichten der oberen, ſowie der polarifchen Regio 
nen nicht lange halten, gewöhnlich zeichnen ſich die Nächte ber 
tagheißen Wüften durch eine empfindliche Abfühlung ihrer Nächte aus, 

Die Linie des höchften Standes der Sonne trifft nur mit 
dem fechsten Theil ihres Verlaufes auf feftes Land, mit den uͤbri⸗ 
gen fünf Sechstheilen auf das Gewäffer auf, Jenes vorzugsweife 
begünftigte Sechstheil gehört faft zur Hälfte dem Erdtheil von 
Aftita an, über bdeffen Ländermaffen der Aequator ſich hinzieht; 
auch über einigen Gegenden bed Sefllandes und ber größeren Sn: 
fein von Afien, fo wie von Auftralien fteht die Sonne zweimal 
im Jahre fentrecht, während nur ?/, des unter dem Aequator ge 
legenen Landes zu Amerika gehören. Schon hierin liegt eine Ur 
fache jener höheren Jahreswaͤrme, durch welche ſich namentlih Eu⸗ 
ropa vor dem größten Theil der anderen Feflländer nuszeichnet. 
Die warmen Luftſtroͤmungen, bie fi) durch ben Einfluß der Sonne 
auf dem zwifchen den MWendekreifen gelegenen Boden von Afrika 
erzeugen, nehmen an einigen Punkten nur einen ganz kurzen Ber: 
lauf über das Mittelmeer, und felbfi da, wo dieſes eine größere 
Breite zwifchen den beiden Welttheilen einnimmt, vermag es bie 
wärmende Kraft der aus Süden kommenden Winde fo wenig zu 
ſchwaͤchen, daß diefelben als heißer Strocco durch ganz Italien 
und bis herauf an bie Tyroler Alpen fühlbar find, Faſt diefelben 
Bortheile der Erwärmung genießen die meftlihen Länder von Afien 
bis an bie mittleren Grade der Breite und namentlid bie oflindi- 
fhen Halbinfeln mit der Nachbarfchaft ihrer großen Inſeln. 

Den ganz entgegengefegten erfältenden Einfluß haben die Luft: 
firömungen, welche aus den Polargegenden kommen, auf ein Feſt⸗ 
land, das fi in ununterbrochenem Verlaufe bis weit hin gegen 
ben Pol erſtreckt. Europa grenzt mit feinen noͤrdlichſten Küften 
an ein Meer an, welches fih bis über den Polarkreis hinaus, 
großentheils frei vom Eife hält, während das nörblichfte Feſtland 
von Afien zum Theil über den Polarkreis ſich .ausbreitet, und 
eben fo wie der nördlichfte Küftenfaum von Amerika von einem 
Meer umgürtet ift, welches nur flellenweis vom Eife frei wich. 
Bon daher kommen jene rauhen Luftftrömungen, welche den Win 
tern felbft in den füblicheren Gegenden von Sibirien einen fo hohen 
Stab von Kälte bringen. 

Das Zurüdbleiben der von Norden kommenden Luftmafjen gegen 
bie rotirende Bewegung des Erdaͤquators von Weſt nad Oft erzeugt 
zwifchen den Wendekreifen den beftändigen Strom der Oſtwinde 
(Pafjatwinde). Das hierdurch geftörte Gleichgewicht der Luftfäns 
‚ten ftelle fi ducch die Welt: und Suͤdweſtwinde wieber her, welche 
in ben angrenzenden gemäßigten Zonen den größten Theil bes 











54. Die Temperatur ber Erdzonen. 371 


Jahres hindurch, vorherrfhen. Wo diefe vorwaltende Luftfirömung 
über ein weit ausgebehntes Meer bahinftreicht, ehe fie das Land 
erreicht, da nimmt fie die auch im Winter mildere Temperatur 
des Meeres an und theilt diefelbe den Küftengegenden mit; wenn fie das 
gegen einen weiten Lauf über Seftländer nimmt, dann wird fie durch 
die winterliche Kälte derfelben fo abgekuͤhlt, daß fie die Jahreswaͤrme 
ber Landftriche, über welche fie fich ergießt, um ein Bebeutendes 
berabftimmt. ierin liegt ber Hauptgrund ber milderen Winter 
der an der Oſtkuͤſte gelegenen Gegenden unferer Seftländer. 

Ueberhaupt bewirkt aber, wie ſchon oben erwähnt, das Meer 
eine Ausgleichung der Temperaturen bes Sommers und des Wins 
ters, daher die Bildung des Landes zu Halbinfeln, das tiefe Hin⸗ 
eintreten von Meeresbuchten, das Vorkommen von anfehnlichen 
Binnenmeeren, überall zur Milderung des Klimas beiträgt. Bor 
Allem bringen die Strömungen des Meeres, wenn fie eine erhöhte 
Xemperatur befigen, den Ländern, beren Ufer fie befpülen, den 
Vortheil einer Wärmeerhöhung, wie dies Sabine an dem Golf: 
flrome nachgewiefen hat, der von den Küften von Merico herüber 
feinen Lauf gegen bie MWeftküften von Afrika und Europa nimmt. 
In al? diefen Beziehungen erfcheinen deshalb Europa und das 
weltliche, an das Mittelmeer, wie an das ſchwarze und caspifche 
Meer grenzende Afien für da& Gedeihen und Wohlbefinden ihrer 
Bewohner eben fo vorzugsmeife geeignet, ald für den Verkehr ber 
Völker, und faft diefelben Vorzüge genießen die zu Halbinfeln aus: 
gedehnten, von tief hereintretenden Meeresarmen durchfchnittenen 
Länder des füdlichen Afiens, fo wie mehrere Erdſtriche des mittles 
ven Amerikas. 

Einen drtlihen Einfluß von entgegengefester Art zur Herab⸗ 
fimmung der Sahreswärme üben in der gemäßigten und kaͤlteren 
Bone das Vorkommen von Sümpfen und feichten Waffern, die 
fih) im Winter mit Eis bedecken und im Frühling ſpaͤt aufthauen, 
fo wie die Nahbarfchaft von iſolirt daftehenden hohen Bergen, von 
deren befchneiten Gipfeln alte Luftſtroͤme ſich nad) der Tiefe her 
abfenten, weit ausgedehnte Waldungen, welche buch die Verdun⸗ 
flung der angefogenen Keuchtigkeit und durch Beſchattung bes 
Bodens biefen abfühlen, endlih auch die Richtung von lang forts 
laufenden Gebirgszügen, welche ben Zutritt der warmen Luftſtroͤ⸗ 
mungen aufhalten. 

Da, wo ber Himmel im Sommer von befländigem Nebel 
und atmofphärifchen Niederfchlägen getrübt, der Winter dagegen 
heiter ift, fo daß die Wärme bes Bodens ungehemmt durch Aus- 
ſtrahlung fich zerfireuen kann, vermag bie Erde fein anmuthiger 
Wohnfig für den Menfchen zu fein; defto höher aber fleigen die 
Reize der Natur in Gegenden, wo der Himmel faft beftändig hei⸗ 
ter und zugleich bennod zu gewiflen Jahreszeiten nicht ganz arm 
an Ergüffen des Regens iſt. 

Wenn wir die Ausdehnung der verſchiedenen, nach bem Stand 


24 * 


372 54. Die Temperatur der‘ Erdzonen. 


der Sonne und der herrſchenden Jahreswaͤrme abgegrenzten Zonen 
betrachten, dann ſtellt ſich im Ganzen fuͤr die geſammte Erdober⸗ 
fläche ein ſehr guͤnſtiges Verhaͤltniß heraus. Die heiße Zone, 
welche fi) vom Aequator nach beiden Seiten bis zu den Wende 
Ereifen erftredt, umfaßt einen Flaͤchenraum von 3,700,000 Qua⸗ 
dratmeilen, jede der beiden gemäßigten Zonen von ben Wendekrei⸗ 
fen bis zu den Polarkreifen 2?/, Millionen, beide zufammen 4%, 
Millionen Meilen, jede ber Falten, für den Menfchen faſt durch⸗ 
aus unmirthbaren Polarzonen nur 384,000 Quadratmeilen., Bios 
für den elften Theil der Erdoberfläche ift deshalb die Einwirkung 
der Sonnenftrahlen fo unträftig, daß fie zum Theil, felbft im 
Sommer, das Eis und den Schnee nicht mehr hinweg zu thauen 
vermag. 

An den beiden Ertremen, in der heißen, mie in der Polar: 
zone, wird im Ganzen, wie bereits erwähnt, unter gleichen Breiten 
die größte Uebereinflimmung der mittleren Temperatur gefunden; 
wenn mir dagegen unter gleicher Parallele von den Küften des 
atlantifhen Meeres, von Frankreich aus duch Deutfchland, Polen 
und Rußland immer oftwärtd zur Uralkette die Jahreswaͤrme der 
Gegenden vergleihen, dann fehen wir dieſe immer tiefer herabfin- 
ten. Jenſeits des Urals werben die milden Weftwinde fchon zu 
erkältenden Landwinden; das Klima des weftlihen Sibiriens un- 
terliegt al? den nachtheiligen Einflüffen, denen ein lang fortlaufen- 
bes, von einförmigen Steppen, falzigen Lachen und Suͤmpfen be 
bedites Feſtland ausgefegt ift. Umgekehrt, wenn wir uns über bie 
Oberfläche der Erdkugel, neben und zwifchen jenen Linien, melde 
bie Breitegrade andeuten, andere Linien gezogen denken, weldye bie 
gleihen Grade ber Sahreswärme bezeichnen (die Iſothermlinien), 
dann finden wir, daß eine folche Linie von der Oftküfte von Ame— 
rika heruͤber nach der MWeftküfte von Europa fid) bedeutend auf- 
wärts kruͤmme, indem hier nahe am 70. Grade der Breite noch 
diefelbe mittlere Zemperatur herrfcht, wie dort kaum unter dem 
57. und 60. Folgen wir aber berfelben Linie von der Küfte von 
Zapplandb weiter oſtwaͤrts nad Afien hinüber, fo fehen wir fie 
abermals’ fi bedeutend abwärts kruͤmmen, fo baß im öftlichen 
Afien unter dem 57. bis 60, Grad der Breite die mittlere Tem: 
peratur auch nicht höher fteht, als im noͤrdlichſten Lappland. Won 
Neuem fteigt jedoch diefe Sfothermiinie, wenn wir ihr über das 
Gebiet des flilen Meeres hinüberfolgen, nach der Weſtkuͤſte von 
Nordamerika, wieder aufwärts; Die mittlere Jahreswaͤrme kommt 
hier jener nahe, melche die unter gleichen Breiten gelegenen Puntte 
ber europaͤiſchen Weſtkuͤſte auszeichnet. Auf biefe Krümmungen 
der ifothermen Linien, auf ihre Hinabfinten unter, fo wie ihr Hin- 
anfteigen über die Linien’ der geographifhen Breiten, denen ihre 
Richtung im Ganzen am naͤchſten kommt, hat an vielen Punkten, 
wo biefelben über Meer und Infeln oder einzelne Theile bes Feſt⸗ 
landes ſich hinziehen, die Verfchiedenheit der Geftaltung der Erb 








54. Die Temperatur ber Erdzonen. .373 


fläche einen augenfälligen Einfluß, fo daß -auf einmal ba, wo bie 
ifothermen Linien vom Meere oder von Eleineren Infeln aus eine 
lIanggedehnte Landzunge oder eine größere Infel durchſchneiden, ums 
ter den oben erwähnten begünftigenden Umfländen eine Erhöhung, 
unter den entgegengefegten eine Exrniebrigung bed Zemperaturgra- 
des eintritt. In einigen nachbarlichen Gegenden felbft eines und 
beffelben Feftlandes bewirkt bei Orten, welche ganz in berfelben 
geographifchen Breite und in gleicher Höhe über dem Meere lies 
gen, ſchon das eine bedeutende Berfchiedenheit in ber mittleren 
Zemperatur, menn ber eine davon am Abhange eines Gebirges, 
der andere auf einer weit ausgedehnten Hochebene beffelben ſich 
befindet. Die letztere Lage gewährt in den Gordilleren eine Er⸗ 
höhung der Jahreswaͤrme von 1 bis nahe an 1!,, Sr. R. 

Daß feit Jahrtaufenden die allgemeine, mittlere Wärme un- 
ſeres Planeten Feine bemerkbare Veränderung erlitten habe, beweiſt 
nicht allein bie hiftorifhe Kunde, fondern felbft die mit ber größten 
Schärfe geführte Rechnung der Aftronomen. Mit der abnehmen: 
den Wärme würden ſich zugleich andere, fehr tief eingreifende Na⸗ 
turverhältniffe geändert haben, mit welchen die Dauer der Bewe⸗ 
gung um die Achfe, die Länge des Tages im Zufammenhang fteht, 
von der ſich ermeifen läßt, daß fie feit Sahrtaufenden biefelbe ges 
blieben fe. Die Abweichungen der Temperatur einzelner Jahre, 
ja ſelbſt mehrerer Jahrgaͤnge find eben fo oͤrtlich, als vorübergehend, 
und während der eine Känderftrich einen ungewöhnlich harten Win- 
ter hat, oder an einer lang bauernden Hige und Dürre leidet, 
berefcht in einem anderen Länderfirich zur gleichen Zeit ein feucht: 
warmer Winter, oder fein Boden wird bis zum Webermaaß vom 
Regen überfluthet. So erfcheinen jene Winter in Island, Grön- 
land und dem nördlichen Amerika faft immer zu gleicher Zeit als 
ſehr milde, welche in Europa als fehr harte und firenge auftraten 
(ein Beifpiel ‚gab der Winter von 1740). Und wenn bie $luren 
in Frankreich und Deutfchland in naſſen Sahren von Regenflu⸗ 
then ſtark ertränkt werden, giebt es im öftlichen Europa und weſt⸗ 
lichen Aſien ganz heiteres, trodnes Wetter, ober auch umgekehrt 
(wie 1819, 1826 u. f. fi) im Often mittelmäßig gute, ia felbft 
vufeeunbliche Sommer, während im Welten bie befte Witterung 

errfcht. u 

In der jegigen Weltzeit hat die nördliche Halbkugel unferes 
- Planeten auch darin einen Vorzug vor der füdlihen, daß bie 
Mitte ihree Sommer nahe mit jener Zeit ihres Jahreslaufes zu⸗ 
fammenfällt, während welcher fi die Erde in ihrer Sonnenferne 
befindet, die Mitte des Winterhalbjahres mithin mit der Zeit det 
Sonnennähe. Da ſich, nach dem Gefeg ber allgemeinen Schwere 
Oder der polarifhen Wechſelwirkung zwifchen dem Gentralkörper 
und den ihm zugeordneten Körpern, die Geſchwindigkeit der Bahn- 
bewegung in einem quadratifchen Verhaͤltniß mit der größeren An⸗ 
naͤherung an den Gentralförper fleigert, fo ift die Folge jenes Zu⸗ 


374 54, Die Temperatur der Erdzonen. 


ſammentreffens ber beiden Hauptjahreszeiten mit ben verfchiebenen 
Abftänden von ber Sonne bie, daß das Winterhalbiahr auf der 
nördlichen Halbkugel um faft 8 Tage (7 Tage 18 Stunden) für 
zer dauert, ald das Sommerhalbjiahr, diefes mithin um eben fo 
viel länger. Da jedoch dieſes Verhaͤltniß veränberlih ift, indem 
auch die Punkte der Erdbbahn, wohin die Sonnennähe und bie 
Sonnenferne fallen, nicht immer in berfelben Stellung bleiben, 
fonbern jährlich um 611), Secunden (faft um den 29. Theil des 
Durchmeſſers einer Mondenfcheibe) vorrüden, fo folgt Hieraus: 
daß der Unterfchieb zwifchen ber Länge des Sommers und bed 
Minters, auf beiden Halbkugeln, nicht immer derfelbe war, nod 
derſelbe bleiben könne. Schon jest fällt die Zeit der Sonnennähe 
nicht mehr genau mit Wintersanfang zufammen, fondern am 1. 
Sanuar, auch die Sonnenferne tritt nach der eigentlichen Mitte 
bed Sommerhalbjahres (nah dem Sommerſonnenſtillſtand), erft 
am 3. Zuli ein, und jedesmal nad etwa 58 Jahren rüden biefe 
Zeitpuntte um eimen SKalenbertag weiter vorwärts. Wenn man 
deshalb zurüdtechnet, dann findet man, daB vor faft 6000 Zahren 
bie Sonnennähe mit dem Anfang des Herbſtes, bie Sonnenferne 
mit ber des Frühlings zufammentrafen, und daß damals die beiden 
Dauptjahreszeiten für beide Halbkugeln die volllommen gleiche 
Dauer hatten. Deshalb war aber zu jener Zeit Die nördliche 
Halbkugel weder wärmer noch Fälter, als fie jegt if. Denn außer 
dem, baß, wie ſchon erwähnt, die berechnende Aſtronomie aus ber 
fi) gleichbleibenden Dauer der täglichen Umbrehung der Erde um 
ihre Achfe es erwiefen hat, daß die mittlere Erdwärme feit Jahr⸗ 
taufenden biefelbe geblieben jei, bat ohnehin auch die Umlaufszeit 
ber Erde um die Sonne, ober das Jahr, die volllommen gleiche 
Länge behalten, ber mittlere Abſtand der Erbe von ihrem Gen 
tralkörper ift noch genau berfelbe wie vormals. Die Beleuchtung 
und Erwärmung des Feftlandes zwifhen den Wendekreiſen durch 
die fenkrecht oder faft fenkrecht ftehende Sonne hat fi) mithin 
im Ganzen an Dauer wie an Kraft unverändert erhalten; bie 
warmen Luftftrömungen, welche von dem beftrahlten Seftboden 
auffteigen, die Meeresftrömungen, welche, aus ber heißen Zone 
dieſſeits mie jenſeits des Aequators und von der Oftküfte des weſt⸗ 
lichen Sefllandes kommend, hinan gegen die Weſt⸗ und Norbküfte 
bes Feſtlandes der öftlihen Halbkugel ſich ergießen, find die naͤm⸗ 
lichen geblieben; das Verhaͤltniß der periodifchen Ausgleichungen 
ber Wärme der einen mit der Kälte der anderen Gegend beftand 
vor Zahrtaufenden in berfelben Weile und wird nach Jahr⸗ 
taufenden in berfelben Weife noch eben fo beftehen als es jet 
vorhanden if. Selbſt die Zus wie die Abnahmedes Ci 
ſes der Polarmeere wie der Hochgebirgsgipfel ſteht inner 
halb gewiſſer Grenzen der mechfelfeitigen, periodifhen Aus 
gleichung. Der Vorzug, melden die nördliche Halbkugel vor 
Allem ruͤckſichtlich ihrer waͤrmeren Sommer vor der fühlichen hat, 








54. Die Temperatur der Erdzonen. 375 


gruͤndet ſich zunaͤchſt auf die größere Maffe der Seftlänber, bie 
ſich auf ihr zufammengedrängt findet. Die vorherrfchende Menge 
bed Gewaͤſſers auf der füdlihen Halbkugel gewährt diefer zwar 
eine gewiſſe Milderung ber Winterkälte, giebt aber auch zugleich 
je weiter vom Aequator binweg, deflo mehr DBeranlaffung zur 
Ueberfüllung der Atmofphäre mit wäflerigen Dünften und Nieder: 
fhlägen, welche die Wärme des Sommers niemals recht aufkom⸗ 
men,.die firahlende Kraft der Sonne niemals durch ihre neblige 
Hülle in ihrem vollem Maaße hindurchbrechen laſſen. Furchtbar 
muß deshalb, im Vergleich felbft mit den Polarlindern der noͤrd⸗ 
lͤchen Halbkugel, der Zuftand des neuentdedten, füdlihen Polar⸗ 
landes fein. Das erſtere hängt doch zum Theil mit Fefllanbmafs 
fen zufammen, aus benen vom fonnenbeftrahlten Boden nod 
warme Luftitrömungen ausgehen können, ohne über dem Meer 
ihre höhere Temperatur zu verlieren; das füdlihe Polarland aber 
ft durch ein weites Meer und zulegt durch die Eismaffen, welche 
diefes erfüllen, von folhen Zuflüffen der Luftwärme abgefchnitten. 

Dennoch regt fih auch noch in der Nähe biefer umnebelten, 
niemals thauenden Eismaffen eine Welt der Eleinften mitrofcopifchen 
Thiere, in folcher Verfchiedenheit der Arten und in folcher uners 
mefbaren Menge ber Einzelmefen, daß allein Capitaͤn Roß von 
feinee Reife nah dem Südpol unter 78 Gr. 10 Min. füdlicher 
Breite aus den Stüden bes herumſchwimmenden Eiſes über 
15 Arten folder Kleinen mit ihren Biefelhaltigen Schaalen mitges 
bracht hat. In einigen berfelben ließen die grünlichen Eierftöde 
keinen Zweifel darüber, daß bie Thiere nicht etwa zu längft ß ⸗ 
ſtorbenen, ſondern zu den noch lebenden Weſen, zu den fortwaͤh⸗ 
renden Bewohnern der kaͤlteſten Zone der Erde gehoͤrten. 

Wenn aber auch dieſes kleine Gewimmel des Thierreiches 
durch die zahlloſe Menge, in der es ſowohl die ſuͤdliche als die 
noͤrdliche Polarzone bewohnt, einen Beweis giebt, daß ſelbſt noch 
in dem winterlichen Halbdunkel jener Gegenden, wie in der Tiefe 
der Schaͤchte, ein Leben moͤglich ſei, ſo gilt dieſes doch nur zunaͤchſt 
von ſolchen unvollkommenen Formen unter den Lebendigen. Die 
anderen, höher ftehenden, bedürfen, wie dies Al. v. Humboldt 
dargethan hat, niche nur des Einfluffes einer höheren, mittleren 
Sahreswärme, fondern auch des Elar, durch unummölkten Him⸗ 
mel und aus einem gewiffen höheren Stande herabftrahlenden 
Lichtes der Sonne. Ein Gemifh von Chlor und Wafferftoffgas 
entzündet ſich bei berfelben Höhe ber Lufttemperatur nit, wenn 
ber Himmel getrübt und hierdurch der Strahl auch ber hochftehen- 
den Sonne etwas geſchwaͤcht ift; fein Entflammen mit heftiger 
Erpiofion tritt aber alsbald ein, wenn das Licht in voller Klars 
heit aus dem atmosphärifchen Höhendunft hervorbriht So fin 
den wir auch, daß in manchen mweftlihen Küftengegenden unfere® 
Welttheites zwar bei ber hohen mittleren Jahreswaͤrme die Myrte 
wie der Lorbeerbaum im Freien grünen, und dennoch Fommen 


376 55. Die Photographie, 


bort manche Arten ber Früchte nicht zur Neife, weil der meift 
von mäfferigen Dünften verfchleterte Himmel das Sonnenlicht nur 
felten in voller Klarheit hHindurchbrechen laͤßt, und die geographifce 
Stellung der Gegenden eine zu weit gehende Abweichung ber Strah: 
len von der geradlinigen Richtung mit fi bringt. Es führt uns 
diefed von der Betrahtung der Sonnenwärme und ihres Einfluf 
fe6 auf die Erboberflähe zur Betrachtung bes Lichtes ber Sonne 
und feiner Eigenfchaften. 


55. Das Daguerreotyp und die Photographie. 


Vor Allem iſt e8, wie wir in dem vorhergehenden Gapitel 
ſahen, die reichere, Eräftigere Entwidelung der organifhen Natur, 
welche durch die Entwidelung des Sonnenlichtes gefördert wird. 
Die Arten der Metalle und der Steine find und bleiben, ihrer 
größten Mehrzahl nach, diefelden an Farbe, Geſtalt und anderen 
Eigenſchaften; in der Zone, wo bie Palmen gedeihen und ber Ele 
phant mweider, mie in jenen Zonen, wo das Wennthier auf dem 
nur an feiner Oberfläche aufthauenden Boden die fpärliche Weide 
der Flechten und Moofe fucht. 

Dennod liegt in dem Kichte außer feiner alltäglichen, erhel⸗ 
lenden, noch eine andere fichtbar machende Kraft, durch welche 
der Schatten, melcher feine Strahlen begleitet, nicht nur zu einer 
fchnell vorübergehenden Erfcheinung wird, bie, wie dad Bild im 
Spiegel, alsbald mit ber Entfernung ihres Gegenſtandes wieder 
verfchwindet, fondern zu einer eben fo feftftehenden Geftaltung 
als der Schattenriß, den bie Hand eines Künfflers durch Grab: 
ftichel oder Zeichenftift auf die Platte von Metal oder auf das 
Papier entwirft. Diefe Wirkfamkeit des Lichtes fleht mit jenen 
der eleftromagnetifchen Kräfte, davon mir früher handelten, in fo 
naher Beziehung, daß wir fie bier nicht mit Stillſchweigen über: 
gehen durften, 

Man mußte es laͤngſt, daß die ſchwingende Bewegung ber 
tönenden Körper, bie fich als hörbarer Ton der Luft und hier 
durch unferem Ohre mittheilt, eine gemiffe, Geftalten bildende 
Kraft habe. Wenn man auf &lastafeln, die Beim Streichen ihres 
Randes durch den Violinbogen verfchiebene Töne von fich geben, 
den zarten Staub eines fein gepulverten Körpers, wie den von 
Kolophonium, aufftreut, dann bemerkt man, daß fich beim Toͤnen 
ber Glastafeln ober der anderen in hörbare Schwingung verfegten 
Körper aus ber verfchiedenartigen Aneinanderfügung des Staubes 
eben fo verfchledene Figuren bilden als Zöne waren. Auch bie 
Anregung, in welche der elektrifche und eleftromagnetifche Strom 
bie Körper verfest, bringen in aͤhnlicher Weiſe Geſtaltungen her: 
vor, und fhon früh erkannte man die Verfchiedenheit, in der fi 
hierbei die pofitive wie die negative Elektrizität aͤußern. Im Lichte, 
und zwar vor Allem in dem ber Sonne, mußte ſchon die Beobach⸗ 


55. Die Photographie, | 377 


tung ber früheften Menfchenalter bie Farben gebende mie die ge 
ftaltende Wirkſamkeit erkennen. jene verfrüppelten mißfarbigen 
Anomien (ein Gefhleht der zweifhaaligen Mufcheln), welche 
durch die Anker und andere in das Meer gefentte Werkzeuge aus 
einer Tiefe des Gewaͤſſers heraufgezogen werden, in welder nur 
noch ein ſchwachdaͤmmernder Lichtfchein von oben hinabfällt, laſſen 
uns, eben fo wie bie in dunklen Gruben oder Kellern hervorbrechens 
den bleichfarbigen, unvolllommen ausgebildeten Sproffen der Kat: 
toffelinollien oder anderer Gewaͤchſe, bie Abhängigkeit erkennen, in 
welcher die Bildung der belebten Körper von dem Einfluß des 
Tageslichtes ſteht. Die Erpftallinifhe Geftaltung der unorgani- 
fhen Stoffe fcheint allerdings jenes unmittelbaren Einfluffes nicht 
zu bedürfen; deſto wichtiger iſt jedoch derfelbe für manche andere 
Vorgänge im Gebiet biefer elementaren Leiblichkeit. 

Namentlid wirkt das Sonnenlicht oder die von ihm. hervor- 
gerufene Tageshelle eben fo wohl in hervorbringender als in zer: 
fegender Eigenfchaft auf bie Verbindungen vieler hemifhen Elemente 
ein, und ganz befonderd empfindlicd, oder leicht erregbar zeigt ſich 
für diefen Einfluß das Chlor. Denn während, wie wir vorhin 
(Sap. 24) fahen, eine Mifhung von Chlorgas und Wafferftoff: 
gas zu gleihen Raumtheilen in einem Gefäß aus weißem Glas 
im Dunklen unverändert bleibt, geht diefelbe fchon in dem ge⸗ 
wöhnlihen, zerftreuten Tageslicht allmählig eine Verbindung zu 
Chlorwafferftoffgas ein, wenn aber das Gefäß dem Sonnenlicht 
oder dem violetten Strahle des Spectrums ausgefegt wird, dann 
erfolgt die Verbindung fo plöglich und mit folcher Heftigkeit, daß 
dabei das Glas in einer Gefahr dringenden Weiſe zerfchmet- 
tert wird, 

Wie auf die Verbindungen des Chlors, fo hat auch auf die 
Entbindung befielben das Licht einen fehr entfchiedenen Einfluß, 
und der trefflihe Chemiker Scheele in Stralfund machte [don 
im J. 1773 die Entdedung, daß die Verbindung des Silbers mit 
Chlor — das fogenannte Hornfilber, wenn man damit ein Pa: 
pier überflreicht, im violetten Schelle des Farbenſpectrums feine 
an ſich ſchneeweiße Farbe auffallend verändern, indem es ſich ſchwaͤrzt. 
Daſſelbe findet bei den Berbindungen bed Golbes mit dem Chlor 
ftatt, und die Veraͤnderung der Farbe hat hier einen ähnlichen 
Grund als die am braunen Bleioxyd beobachtete, beffen Farbe, 
unter dem Einfluß des ſtarken Sonnenlidhtes, in die mennigrothe 
übergeht; in beiden Faͤllen hat ſich nämlich durch den Einfluß bes 
Lichtes das Chlor zum Theil entbunden und das Metall ift dabei 
in einen feiner reinen metallifhen Form näher flehenden Zuſtand 
zurüdgetreten, 

Noch leichter als die Verbindung des Silbers mit Chlor zerfegt 
fi) die mit Jod unter dem Einfluß des Lichtes. Wir fprachen 
bereits oben G. 24 von diefem Stoffe, welcher durch Auslaugung 
ber .Afche mehrerer Seegemächfe gewonnen wird, überbieß aber auch) 


378 55. Die Photographie. 


dem Waſſer mancher Quellen in geringer Menge beigemifcht iſt. 
Diefer im Waſſer fchwer, im Weingeiſt leicht auflöslihe, faſt 
metallifch glänzende Grundftoff, der fih durch die Wärme in ein 
Gas von veilhenblauer Farbe verwandelt, geht eben fo wie das 
Chlor und das Brom (feine beiden Mitbewohner des Meeres 
und der Seegemächfe) mit bem Silber Verbindungen ein, aus 
benen dieſes Metall durch Einwirkung des Lichtes alsbald ausge 
ihieden wird. Auf die leichte Zerfegbarkeit des Jodſilbers gründet 
fi) denn bie jege näher zu befchreibende, im Jahr 1839 von 
Niepce und Daguerre gemachte Erfindung. 

Mir befchreiben hier zundchft nur diefe, indem wir die Leſer, 
welche etwas Ausführlicheres über die Vorrichtungen, welche zur 
Erzeugung von Lichtbildern auf Metall, Papier und auf Glas 
nöthig find, und auf die neueren Verbefferungen bed Verfahrens 
an Martin’s Handbuch der Photographie, Wien 1851, vermweifen. 

Eine Kupferplatte wird mit Silber überzogen (plattirt) und 
dann forgfältig polirt, um ihr eine möglichft glatte, veine Fläche 
zu geben; fie wird hierauf an einem dunklen Orte in ein Behaͤlt⸗ 
niß geftellt, auf defien Boden Jod fich befindet, das durch bie 
von unten herauf wirkende Erhigung fih in Dampf verwanbelt 
und als folder mit dem Silber an feiner Oberfläche ſich verbin- 
det, welches dadurch eine faft goldgelbe Färbung erhaͤlt. Sobald 
biefe Verbindung vollendet ift, wird die Metaliplatte mit ihrem 
feinen Sodfilberüberzug unmittelbar aus bem dunklen Behaͤltniß 
heraus in eine Camera obfeura gebracht, in welcher das Bild bes 
von der Sonne beleuchteten Gegenftandes in einem Spiegel auf 
gefangen, und von diefem in eine Sammellinfe hineingeftrahit 
wird, welche das empfangene Bild, nach verkleinertem Maaßſtab 
auf bie in ihrer Brennweite ſtehende Metallflaͤche eben fo wie auf 
andere Flaͤchen auffallen läßt. Nach wenig Augenbliden bat bas 
Licht, das von dem beleuchteten Körper hinein in die Camera 
obfeura und aus diefer auf dem Sobfilberüberzug abgeftrahlt wird, 
an diefem ſchon feine zerfegende Wirkung geäußert: das Silber 
ft in einen Zuſtand ber Ausfcheibung von dem Jod uͤbergegan⸗ 
gen, Noch aber wird, wenn man die Platte fchnell genug heraus 
zieht (bevor auch das ſchwaͤchere Licht der umgebenden Luft feinen 
zerfegenden Einfluß außern Tonnte), feine Spur von einem Bild 
auf ihrer Oberfläche bemerkt, wohl aber wird daſſelbe fidhtbar, 
wenn man die Platte aus der Camera obfeura heraus abermals 
auf einige Minuten in einen dunklen Kaften bringt, auf befien 
bis zu 52 oder 56 Grad Reaumur erwärmten Boden Quedfil 
ber fic befindet, welches bei diefer erhöhten Temperatur die Form 
bed Dampfes annimmt und in biefer Form mit dem Silber, fo 
weit dieſes duch die Einwirkung bes Lichtes aus feiner Gebunden 
heit mit dem Jod frei herausgetreten ift, fich vereint. Es bleibt 
nun nichts mehr zu thun übrig, als den zarten Ueberzug ber Sils 
berbelegung, ber aus Jodſilber befteht, fo weit er noch in feiner 





55. Die Photographie, 379 


anfänglihen Form vorhanden iſt, hinwegzuſchaffen, damit die 
Zerfegung und Farbenveränderung befielben durch bas Licht nicht 
über jene Gränzen gehen möge, die ihm die Kunſt des Menfchen 
zue Erzeugung bes Bildes in ber Camera obfeura vorgegeichnet 
hatte. Diefes gefchieht, indem man die Platte in eine Löfung 
von unterfhweflisfaurem Natron in Waſſer oder auch in eine 
fiedendheiße Kochfalzauflöfung eintaucht, indem hier das Jod feine 
Berbindung mit dem Silber verläßt und mit dem Natron fich 
vereint. Die Platte wird hierauf in volllommen reinem (beftillir: 
tem), kochendem Waſſer abgeſpuͤlt. Dem Quedfilberamalgam, 
bas ſich an ben Stellen gebildet bat, wo dad Silber aus dem 
Jod hervorgetreten war, konnte die ſchwache fchwefligfaure Natron⸗ 
auflöfung oder das fiedende Salzwaffer nichts anhaben, dieſes 
ſteht jegt, freie Erhabenheiten bildend, auf ber wieder ganz von 
ihrem Sodanflug gereinigten, hellglänzenden Silberbelegung ber 
Platte da, und das Bild iſt fertig. 

Das fo eben befchriebene, von bem Erfinder der Photographie 
zuerſt angemwendete Verfahren kann auf verfchiedene Weifen abs 
geändert werben, indem man flatt des Jods in feiter Form eine 
mit Waſſer verbünnte Auflöfung beffelben in Weingeifl anwendet, 
zum Hinwegſchaffen des Jodſilberuͤberzugs reiche auch eine kalte 
Kochfalzauflöfung hin, wenn man die Platte, die in bie Auflöfung 
‚ eingetaucht ift, mit einem Zinkftäbchen berührt und fo durch galva⸗ 
nifhen Einfluß die hemifche Anziehung verſtaͤrkt. Auch hat man 
die Empfindlichkeit des Silberauflöfungs-Anfluges auf der Platte 
gegen bie Einwirkung bes Lichtes, dadurch auf einen noch höheren 
Grad gefteigert, daß man ftatt des reinen Jods eine Verbindung 
defielden mit Chlor anmwendete, oder daß man feiner flüffigen Aufs 
lLöfung etwas Brom zufeste, ja fhon dadurch, daß man die Platte, 
wenn die Bildung des Sodfilberanfluges vollendet war, einige Aus 
genblicke über ſchwaches Chlorwaſſer hielt, wobei ihre gelbliche in 
eine vöthliche Färbung übergeht. Dazu find noch jene zweckmaͤßi⸗ 
gen Abärfberungen an der Camera obseura durch zufammengefegte 
Obiectivglaͤſer gekommen, mittelft deren eine größere Deffnung für 
das einfallende Licht und fomit eine Verſtaͤrkung feines Einfluffes 
gewonnen wurde. Erſt durch diefe Verbeſſerungen ift es eigentlich 
möglich geworden, die vom Lichte fichtbae gemachte Welt der Er⸗ 
fheinungen in ihrem eiligſten Vorüberfluge zu ergreifen und als 
Bild feſtzuhalten. 

Statt der mit Silber überzogenen Platten hat man auch 
Papier angewendet, das mit einer ſchwachen Loͤſung von ſalpeter⸗ 
ſaurem Silber (12/, Quentchen in 12 Loth Waſſer) beſtrichen, 
hierauf getrocknet, dann in eine waͤſſerige Aufloͤſung von Jodkalium 
getaucht, hierauf durch gewoͤhnliches Waſſer gezogen und wieder 
getrocknet wird. Man ſchuͤtzt das Papier vor dem Zutritt des 
Lichtes; unmittelbar vor dem Gebrauch beſtreicht man es mit einer 
Miſchung der ſalpeterſauren Silberaufloͤſung mit ?/, Eiffigfäure 


380 55. Die Photographie. 


und mit einer gefättigten Auflöfung :von Gallusfäure. Nachdem 
das fo behandelte Papier in der Camera obscura kurze Zeit ber 
Einwirkung des Lichts ausgefest worden, beftreiht man es aber 
mals mit der eben erwähnten Mifchung, erwärmt es gelind, und 
wendet zulegt eine Auflöfung von Bromkalium zum Feftftellen der 
Umgränzung des Bildes an. Freilich erfcheint an der Lichtzeich⸗ 
nung, fo wie man fie da erhält, das dunkel, was an dem dar: 
geftellten Gegenftand heil, das hell, was an ihm dunkel war; 
biefer Uebelftand laͤßt ſich aber dadurch heben, daß man die Licht: 
zeichnung zwifchen zwei Glasplatten auf ein anderes in gleicher 
Art vorbereiteted, noch unbenugtes Papier legt und beide hierauf 
der Einwirkung des Sonnenlichtes ausfest. Denn dann bringt 
das Licht, durch die hellen Stellen ber Lichtzeihnung hindurch⸗ 
fheinend, im darunter liegenden Papier jene Zerfegung hervor, wo⸗ 
durch das bunkelfarbige Silberorpd heraustritt, und dba wo die 
dunkleren Stellen der LKichtzeihnung aufliegen, entilehen nach dem 
Maaße der größeren oder geringeren Undurchfichtigkeit heilere Par- 
thieen. In folher Art kann man auch durch ziveimalige Webers 
tragung Kopien von Handzeihnungen und Kupferftihen möglich 
machen, Die Bereitung jedoch eben fowohl als die Anwendung 
der von ihrem Erfinder Talbot fogenannten Talotypen Papiere 
hatte noch viele Schwierigkeiten und gemährte nicht die Genauig- 
keit und Sicherheit der Ausführung ber Lichtzeichnungen, welche 
ein Vorzug der nach Daguerre's Verfahren behandelten Metallplat- 
ten war. Deshalb bat in neuerer Zeit die. übrigens "durch ihre 
leichte Benugbarkeit fo fehr fich empfehlende Photographie auf 
Papier viele bedeutende Verbeſſerungen erhalten: M. v. hierüber 
—F anderen A. Loͤcherer's Abhandlung uͤber „Photographie auf 
apier.“ 

Es iſt in der That bewundernswuͤrdig, was durch die Erfin⸗ 
bung der photographifhen Apparate, dieſer einfachen Zufammen- 
fügung einer Camera obscura mit einer von Sobfilberanflug über: 
Eleideten Papier ober Metaliplatte, geleiftet werden Tann. Der 
Meifende, den fein Weg durch eine Gegend führt, weiche noch nie 
mals durch eine Menfchenhand abgebildet: war, darf nur, während 
er felber im Schatten eines Felfen oder eines Baumes ruht, in 
fein Daguerreotyp . einige Secunden lang das Bild der von ber 
Sonne beftrahlten Landſchaft fallen laffen, oder er darf die Licht 
Öffnung deſſelben nach einem Meifterwert der Baukunſt laͤngſt ver 
gangener Zeiten bin richten, und er hat eine Abzeichnung der Land⸗ 
Ihaft fo wie des Gebäudes erhaften, mit deren Treue, bie. in’s 
Kleinfte hinein, die Kunft der zeichnenden Menfchenhand kaum den 
Wettkampf beftehen Tann. ‚Zum Abzeichnen von muͤhſam lefer- 
lichen, noch unenträthfelten Inſchriften, dergleihen man hin und 
wieder in der Wuͤſte an Felſen oder an Gebäuden der Vorzeit fin- 
det, beburften früher felbft die gelehrten Reifenden viele Stunden, 
‚ja. mehrere Tage; fie koͤnnen jegt auf dem Grund ber Metallplatte 





55. Die Photographie. 381 


ihres Daguerrotyps durch das Licht die Abzeichnung fertigen laſſen; 
Die Hieroglyphen der Obelisten oder der fleinernen Säulen, bie 
Grabſchrift auf der Marmortafel, an’ der fie nur ſchnell vorüber- 
eilen tonnten, finb mit einee Genauigkeit, melde nichts zu wuͤn⸗ 
fhen übrig laͤßt, auf den Silbergrund übergetragen und können 
fpäter in der Heimath eine Grundlage ber tiefer eingehenden For- 
fhung werben. Der Naturforfcher, den fein Weg an einer reichen 
Meerestüfte der heißen Zone hinführt, wo fi ihm eine Menge 
der noch niemals von ihm in frifhem Buftand gefehenen Thiere 
Darbietet, kann in Zeit von einer Stunde eine große Zahl derfelben, 
dem Umriß der äußeren Geftalt wie den Zügen des inneren Baues 
nach, zu welchem fein Meffer ben Einblick eröffnete, getreulich ab⸗ 
gebildet erhalten, fo daß er fpäter einen ficheren Anhalt für feine 
Beſchreibung des Gefehenen hat. 

Allerdings iſt e8, damit die Lichtzeihnung einen feſtſtehenden 
Umriß empfangen tünne, nöthig, daß der Gegenfland, welchen fie 
darftellen fol, feine Stellung, wenigſtens etlihe Secunden lang, 
nicht verändere; die fchmwingende Bewegung, in melde ein leifer 
Mind eine im Freien fehwebende Fahne verfegt, macht e8 unmög- 
lich einen folhen Gegenftand im feharfen Umriß feiner Ränder 
darzuftellen, weil fich derfelbe Punkt des Randes in den menig 
Augenbliden, in denen die Kichtzeihnung entfleht, jest hier, dann 
ba abbildet, und fo der eine Zug den anderen durchkreuzt. Den- 
noch ift auch felbft in diefer Beziehung, feitdem man bem Anflug 
der zerfegbaren Metaliverbindung nah S. 379 eine höhere Em: 
pfindfichkeit gegeben, das vorhin unmöglich Erfcheinende ausführ- 
bar geworben. Der Berfaffer diefer kleinen Schrift hat eine Me 
tallplatte mit einer Kichtzeihnung gefehen, welche von einem Pho- 
tographen aus Wien in dem Augenblid aufgenommen morden 
war, ald Sr Majeftät der Kaifer Ferdinand einen feftlichen 
Einzug in Linz hielt. Nicht nur die Gebäude und alle andere 
feftftehende Gegenftände, fondern die aus den Senftern ſchauen⸗ 
den Menfchen, der große, eng zufammengedrängte Volkshaufen auf 
ber Straße, mar darauf mit ausreichender Schärfe aller einzelnen 
Umriſſe, dargeftellt; wäre unter der gewaltigen Maffe ber Zufchauer, 
melde in dem Augenblid, wo bie Sonne bie ganze Scene be 
leuchtete und ihr Wiederfchein in das Daguerreotyp fiel, nach dem 
Kaifer hinblidten, ein naher Bekannter gewefen, dann würde ber 
Befchauer bes Bildes ihn alsbald, menigftens unter ben Naͤher⸗ 
ftebenden aufgefunden haben. 

Ein Reiz allerdings geht ben Lichtzeichnungen des Daguerreo- 
types ab, das iſt ber der Karben, Ihre Bilder find nur Schat- 
tenumriffe, duch den Wechfel bes Dunkeln und Hellen, in al 
feinen, auch feinften Abftufungen dargeftelft und gebildet. Herr⸗ 
fi) genug und des meiteren Nachdenkens werth bleibt jeboch, felbft 
bet diefem Mangel, bie bildende — durch Zerfegung bildende — 
Macht des Lichtes, bie uns das Daguerreotyp kennen Ichrte, Nach 


3832 56, Das Prisma. 


ihrem Maaße ift diefe Wirkſamkeit des Lichtes mit dem Weſen ber 
Einbildung und ber Erinnerung der lebenden Seele zu vergleichen, 
Ein Lichtſtrahl des allgemeinen, durch That und Werke offenbarten 
göttlihen Erkennens fällt in das Dunkel unferes Berfländniffes 
hinein, wird (wie das Silber vom Merkur) von diefem erfaßt, 
mit ihm vereint, und hierdurch zu einem bleibenden Eigenthum 
unferes Weſens (nad) Cap, 74). 


56. Das Prisma. 


Ehe wir weiter von den Eigenfchaften bes Kichtes reden, wol: 
(en wir zuerft eine allgemein bekannte Sache: die Zerlegung bes 
Sonnenftrahls in mehrere bunte Farben, betrachten, welche alsbald 
eintritt, wenn wir unter den erforderlihen Nebenumftänden den 
Strahl durch ein durchſichtiges, in gleihmäßig breifeitige Säulen- 
form gefchliffenes Glas (Prisma) gehen, und auf eine Wand ober 
auf einen anderen, das Licht zurudftrahlenden Gegenſtand fallen 
laften. Das FSarbenbild oder Spectrum, das ſich uns bei biefer 
Gelegenheit vor Augen ftellt, ift im Grunde, nur nad) Eleinerem 
Maaßſtabe, eine Wiederholung bed prachtvollen Schauſpiels, das 
uns jeber Regenbogen gewährt. Beide Erfcheinungen haben ihren 
Urfprung in einer Auseinanderlegung bed Sonnenlichtes, in Folge 
ber Brehung, welche baffelbe beim Hindurchwirken duch einen 
Körper erleidet, der ein volltommener Leiter bes Lichtes — durch⸗ 
ſichtig if. 

Die Brehung, melde hierbei dem ftrahlenden Lichte wider⸗ 
fährt, ift eine andere, als die gewöhnliche. Würbe ein volllommen 
ebenes, tafelartiges Stud Glas, von ber gleihen Dide, als bie 
des Prisma’s ift, an eine Beine, fenflerartige Deffnung bingeftellt, 
die aus einem übrigens verdunkelten Zimmer hinausführt an’ 
Tageslicht, (in’d Freie), dann würde biefelbe im Ganzen (nad 
Berhältnig ihrer Größe und Dide) diefelben Dienfte thun, wie 
jedes gewöhnliche Senfter; beim Hinausbliden nad der Sonne 
würden wir (abgefehen von der fcheinbar veränderten Stellung 
mittelft der gewöhnlichen Strahlenbrehung nad) Cap. 22) ihre 
Scheibe in der natürlichen, runden Form erbliden, durch die kleine 
Senfteröffnung würde ſich das hereinftrahlende Sonnenlicht auf ber 
gegenüber gelegenen Wand in berfelben Form, welche bie Lichtöff: 
nung hat, darſtellen. Wir halten aber jest, ftatt der Glastafel 
das dreiedige Prisma vor die Deffnung, durch welche die Sonne 
hereinftrahlt, in horizontaler Stellung, fo daß die eine Kante biefer 
dreiedigen Glasſaͤule nah unten, nah dem Boben gekehrt ifl. 
Das Sonnenlicht fält auf eine der Flächen der Säule und nimmt 
feinen Weg durch das duchfichtige Glas hinüber nach der ande 
ren, gegenübergelegenen Flaͤche. Da aber in biefer Richtung bas 
Prisma nicht die gleiche Dice hat, fondern nad unten, wo beide 
Sachen in die ſcharfe Kante auslaufen, viel duͤnner iſt, als nad 





56. Das Prisma, 383 


oben, wo es nach der eben liegenden, dritten Fläche fi) ausbreitet, 
baben die Strahlen der Sonnenfcheibe duch die verfchiedenen 
Durchmeſſer ber dreifeitigen Glasſaͤule einen fehr verfchiedenen, nad) 
unten einen kuͤrzeren, nad) oben einen längeren Weg zu machen. 
Sn dem nämlichen Grade erleiden dieſelben auch eine fehr ver- 
fhiedene, ber untere Strahl, beffen Meg ber kürzere ift, eine 
fhwächere, der obere eine ftärkere Brechung. Bon diefer flärkeren 
oder ſchwaͤcheren Brechung hängt nicht nicht nur allein (nad) Cap. 
22) die Richtung ab, in welcher der einfallende Strahl an ber 
anderen Seite bes durchfichtigen Körpers heraustritt, fondern aud) 
dad Maaß ber erhellenden Kraft, welche das Licht nach feinem 
Hindurchgehen durch das Glas noch übrig behält. Denn aud) ber 
ducchfichtigfte Körper nimmt bem Lichte, das ihn durchſtrahlt, einen 
Theil feiner erhellenden Kraft, je dichter derfelbe ift, deſto mehr, 
Wafler mithin mehr als Luft, Glas noch mehr, denn Wafler. 
Wir werden deshalb, wenn wir das Priema in der erwähnten 
Richtung vor die Kleine FSenfteröffnung bringen, das Lichtbild an 
der gegenüber ftehenden Wand nicht nur vermöge der verfchiedenen 
Grade der Brehung und Stellungsveränderung in einer flark von 
oben nach unten verlängerten Geftalt erbliden, fondern zugleich 
auch Strahlentheile von verfchiedener Lichtftärke, welche bei den 
nach oben ftärker gebrochenen am meiften, bei ben unteren am 
wenigften vermindert ift. Hierbei ift mit dem Erfcheinen des Lich⸗ 
ted für unfere Augen eine auffallende Veränderung vorgegangen, 
Es ift nicht mehr in berfelben Form der gewöhnlichen, farblofen 
Tageshelle geblieben, in der es ſich uns in der Luft oder durch 
eine Glastafel kund giebt, fondern es hat ſich In Streifen von 
verſchiedener Färbung auseinander gelegt, welche freilich nicht beut- 
lid) von einander abgegränzt find, fondern durch allmähliges Ueber⸗ 
geben der einen Farbe in die andere an ihrer Grenze ſich verfchmel- 
zen. Die Farben, von unten nach oben (oder im Regenbogen ums» 
gekehrt von oben nach unten) folgen ſich fo, daß zuerft roth, über 
diefem orange, dann gelb, grün, blau und zulegt, ganz nach oben, 
violett hervortritt, oder, wenn man mit dem berühmten Newton 
fieben Sarbenftufen unterfcheiden will, auf das Cyanblau zuerft das 
Indigoblau, dann das Wiolette folgt, Der violette Kichtftreifen 
giebt unter allen die geringfte Helle, nächft ihm hat das ſchwaͤchſte 
Licht der blaue; die Helligkeit wird am größten nad dem gelben 
Streifen hin, und auch im orangefarbenen übertrifft fie die Stärke 
des grünen, wie nach unten bes rothen Strahles. 

Aber die Wirkſamkeit der Lichtftrahlen, bie ſich uns hier in 
mehreren Farben auseinanbergelegt haben, ift nicht allein auf bie 
Örenzen des fichtbaren Zarbenbildes beſchraͤnkt; fie erſtreckt fich 
über diefe Grenzen hinaus, auch in die für unfer Auge licht und 
farblofe Nachbarſchaft des Bildes. Wenn man bie nach Cap. 55 
jubereitete Metallplatte mit ihrem für ben zerfegenden Einfluß der 
Lichtſtrahlen hoͤchſt empfindlichen Zodfilberanfauf, oder wern man 


384 56. Das Prisma. 


felbft das forgfältigft bereitete photographifche Papier den Strahlen 
eines Prismas ausfegt, dann bemerkt man, baß ber rothe Strahl 
gar Feine MWirkfamkeit darauf habe: das Papier oder die Platte 
bleiben eben fo unverändert, als ob fie in einem dunklen Kaften 


‚lägen. Auch ber gelbe Strahl aͤußert kaum eine Spur bes che—⸗ 


mifchen, zerfegenden Einfluffes, erft gegen den blauen Streifen 
hin fängt diefer Einfluß an merklich zu werden und. er wird am 
ftärkften im blauen felber, noch mehr im violetten, ja noch über 
die Grenze von diefem hinaus, an einer Stelle, wo unfer Auge 
fein Licht und Beine Farbe mehr bemerkt. Wir fchrieben die Zer⸗ 
feßung, welche die Verbindungen des Silbers in unferem Daguer- 
reotyp etleidet, dem Licht und der Zagedhelle im Allgemeinen zu, 
und konnten nicht anders als annehmen, daß dba, wo bas Licht 
am heifften, von den im Sonnenglanz ftehenden Körpern, in un 
fere Camera obfeura hereinfällt, auch feine hemifche Wirkfamfeit 
am ftärkften fei; hier werben wir vom ©egentheil belehrt, benn 
nicht nur der violette Strahl, der unter allen die am moenigften 
erhellende Kraft hat, fondern felbft noch eine andere, unſichtbare 
Ausfteömung des Lichts, welche über den ſchwaͤchſt leuchtenden 
Strahl hinaus, in ben völlig unbeleuchteten Raum fällt, zeigt ſich 
zum Hervorbringen des chemifchen Effects am wirkfamften. Auch 
an dem Einfluß der prismatifchen Farben auf andere chemifde 
Vorgänge wird dieſes erkannt, Eine Mifhung von trocknem Chlor- 
gas und Waſſerſtoffgas, die ſich an einem dunklen Orte unveran- 
dert erhält, bleibt diefes, auch wenn wir fie dem rothen und gel 
ben Farbenftrahl ausfegen, ihre allmählige Verbindung zur Salz 
fäure tritt eben fo wie am gewöhnlichen Tageslichte allmaͤhlig ein, 
wenn mir den blaulich=grünen, fie geht raſch und ploͤtzlich von 
flatten, wenn wir den violetten Strahl in fie hineinfallen laſſen. 
Mit dem eben erwähnten Einfluß der verfchiedenen Farben 
des Prismas wird aud in Beziehung gebracht die bier nur bei 
läufig zu erwähnende Unempfindlichkeit der daguerreotppifchen Plat⸗ 
ten, ober der photographifchen Papiere, gegen die grüne Farbe ber 
Blätter, die fich deshalb, auch wenn fie unbewegt find, in der Licht: 


zeichnung nicht, oder nur unvollkommen barftellen. 


Nicht allein die chemifch wirkende, auch die waͤrmende Eigen: 
(haft des Lichtes Fällt bei der prismatifchen Auseinanderlegung 
befielben an die Seite bes Sarbenbildes hin, und felbft noch über 
die Graͤnze von bdiefem hinaus, in den unbeleuchteten Raum, 
Hierbei iſt es aber nicht der violette, ſondern ber entgegengefegte 
eothe Strahl, welcher die ſtaͤrkſte Wirkfamkeit zeigt, Wenn man 
ein Blatt dünnes Papier auf der einen Seite durch eine ſchwache, 
rußende Flamme ſchwaͤrzt, auf diefer geſchwaͤrzten Seite mit flars 
tem MWeingeift benest und nun das Farbenbild eines Prismas 
darauf fallen läßt, bemerkt man beutlih, daß das Papier am 
Ihnelften bei dem rothen Streifen, am Iangfamften unter dem 
violetten trocken wird, daß mithin bie Wärme, welche das Ber 





57. Der Mond und fein Licht. 385 


bunften und Abteodinen bewirkt, im rothen Strahle am kraͤftigſten 
fein müffe. Unter allen durchſichtigen Körpern laͤßt das kryſtalli⸗ 
nifhe, wafjerhelle Steinfalz die Wärme am ungeſchwaͤchteſten hin- 
durch, ohne fie merklich zurkdzuftrahlen oder einen wahrnehmbaren 
Theil derfelben zur Erhöhung ber Temperatur feiner eigenen Maffe 
zuruͤckzuhalten. Wenn man beshalb einem Stüd folchen durch⸗ 
fihtigen Steinfalzes, durch Zufchleifen, die Form eines breifeitigen 
Prismas giebt, dann erhält man nicht blos ein vollkommenes Far⸗ 
benfpectrum , fondern auch eine Zerlegung des Sonnenftrahls in 
einen merklich wärmenden und in einen nicht wärmenden Theil. 
Duch einen empfindlihen Wärmemefjer kann man ſich uͤberzeu⸗ 
gen, daß die Temperatur unter dem violetten Strahle dieſelbe fet, 
wie in der ganz unerleuchteten Umgebung, daß fie aber fortmäh- 
vend fleige, je mehr man den Wärmemeffer dem rothen Strahle 
nähere. Und felbft unter dem rothen Strahle erreicht fie noch 
nicht ihren hoͤchſten Stand, fondern meift erft außerhalb deſſel⸗ 
ben, im dunklen Raume, in einer Entfernung von der Außerften 
Gränze des Roth, melde dem britten Theile der ganzen Ausbreis 
tung des Spectrums gleich kommt. Nach beiden Seiten hin dußern 
mithin die Sonnenftrahlen noch ihre Wirkfamkeit, und zwar ftärker 
da, wo fie für unfer Auge nicht mehr als Licht wahrnehmbar find, 


57. Der Mond und fein kidhe 


Die Betrachtung der mwärmenden Eigenfhaft bed Sonnen: 
lihtes führt uns zu jener der nichtmärmenden Eigenfchaft eines 
Lichtes der Sternenwelt, welches näcft dem der Sonne, für un» 
feren Planeten das bedeutungsvollfte if. Mit dem fcheinbaren 
Laufe der Sonne zugleich geben der Kauf und die Stellung bes 
Mondes den Bewohnern ber Erde die Mittel an bie Hand zur 
Beflimmung und Anordnung der Zeiten. Das langmwährende 
Dunkel der Polarzonen im Winter wird von dem anhaltenden 
Schein des Mondes in tröftlicher Weife gemildert und auch bei 
uns, ja felbft in dem hochbegünftigten Klima der märmeren Zonen, 
verleiht das milde Licht des Mondes der Nacht ihren vorzüglich. 
fen Reiz. In diefen Ländern, deren faft immer Flares Himmels⸗ 
blaw von bebeutenderer Durchfichtigkeit ift, als das unfrige, hat 
das Mondenliche einen folhen Grad der Helligkeit, daß man da= 
bei ohne Befchwerung. dee Augen zu lefen vermag. Dennod) hat 
man berechnet und aus unmittelbarer Abfhäsung ber Grade, ber 
Lichtſtaͤrke gefunden, daß das Mondlicht 800,000 mal ſchwaͤcher 
fei als das Sonnenliht. Es ift ja auch nur ein Widerfchein bes 
Sonnenlichtes, das allerdings an der Mondfläche einen koͤrperli⸗ 
hen Stoff finden muß, welcher der Zuruͤckſtrahlung in vorzügfi- 

- dem Maafße günftig ift, denn der Glanz des Mondes gleicht dem 
biendenden Scheine, ben, aus der Ferne gefehen, ein Hochgebirgs⸗ 
feld des Schnees und der Gletſcher hat, 


25 


386 57. Der Mond und fein Licht. 


Wenn unferer Wohnung gegenüber, ſelbſt in nicht unmittel⸗ 
barer Nähe, ein Haus fteht, welches ber unbefcheidene Nachbar an 
feiner Außenwand weiß hat betünden laffen, dann wird im Som: 
mer nicht nur unfer Auge von dem biendenden Widerfchein be- 
läftige, fondern es flrahle auch von jener weißen Mauer eine 
Wärme zuruͤck, welche während der heißen Stunden bed Tages 
und felbft fhon in den Morgenftunden öfters bis zu einer uner 
träglihen Höhe fich fteiger. Wäre die Hauptmaffe der Mond⸗ 
fläche ein weißliches, etwa unferem Kalkgebirge ähnliches, feſtes 
Geſtein, dann, fo follte man meinen, müßte uns felbft bier auf 
Erden Etwas von der Wärme bemerkbar werben, welche mit bem 
Sonnenlichte zugleich auf das meißlihe Gefteinfeld herab und von 
dieſem wieder zu uns herüber geftrahlt würde. Aber das Mond 
liche theilt der Erde Feine für uns bemerfbare Wärme mit. a 
faft hätte man ſich verfucht fühlen koͤnnen, auf einige, freilich nur 
ſehr vereinzelt bdaftehende Beobachtungen von Lichtenberg ein 
befonderes Gewicht zu legen, nach welchem der Mond als ein nur 
Kälte verbreitender Körper erfcheinen müßte. Denn ale biefer be 
rühmte Phyſiker mit befonderer Aufmerkfamkeit bie mittlere Tem⸗ 
peratur ſolcher Tage beachtete, an denen unfere Erde auf bem 
Wege ihrer Bahn genau an die Stelle trat, an der fich wenige 
Stunden vorher der Mond befunden hatte, fand er das eine Mal 
(im Juni) eine für biefe Jahreszeit ungewöhnliche Kälte, ein an- 
deres Mal, im Herbft, eine überaus heftige, ftürmifhe Witterung. 
Dennod hat man in neuerer Zeit aus Melloni’s Verſuchen, der 
das Mondliht durch eine Sammellinfe um das 10000 fache ver 
bichtete und diefen feinen verdichteten Strahl auf einen Eunftreichen 
MWärmemeffer (m. v. oben S. 339) fallen ließ, davon überzeugt, daf 
auch das vom Mond zurkdgeftrahlte Sonnenlicht nicht ganz ohne 
wärmeerregende Kraft fei. 

Zur prißmatifchen Zerlegung, in die Farben des Regenbogens, 
eignet ſich das Mondlicht, wiewohl in einem überaus viel ſchwaͤ⸗ 
cheren Maaße, auf eine ähnliche MWeife als das Sonnenlicht; das 
fahle, kaum für unfer Auge erkennbare Roth, fowie das Violett 
des Mondregenbogegs und feines durch das Prima erzeugten 
Spectrums find übrigens eben fo wenig einer merklich chemifchen 
als mwärmeerregenden Wirkſamkeit fähig. 

Allerdings läßt uns auch die ganze Naturbefchaffenheit bes 
Mondes, fo meit wir diefelbe feit dem Gebrauch der Sernröhre 
tennen gelernt haben, Feine große Erwartung von feiner eigenen 
Wärme und darum auch Wärme mittheilenden Einwirkung begen. 
Das Gewaͤſſer hat bei uns auf der Erde, nach Cap. 54, die wohl 
thätige Beſtimmung, die Ertreme des Temperaturwechſels auszu⸗ 
gleichen 5 die Strömungen der mwärmeren Luft, weiche in unferem 


Erdtheil aus Suͤd und Suͤdweſt, auf der ſuͤdlichen Halbkugel aus Nord _ 


und Nordweſt kommen, führen auch ben weiter vom Aequator abs 
gelegenen Länderftrichen einen Theil der Wärme zu, an woelder 


| 





5. Der Mond und fein Licht. 3857 


bie heiße Zone Üiberreich tft, und zugleich wird die Dige der Tro⸗ 
penländer durch den kühlen Luftftrom, der aus den Lälteren Zonen 
tommt, gemäßigt. Welche mohlthätige Dede unfer Luftkreis für 
bie Oberflähe des Planeten bilde, bamit dieſe nicht alsbald die 
von der Sonne empfangene Wärme buch Ausftrahlung wieder 
verliere, dies lehrt uns die Kälte, welche in ber Region ber duͤn⸗ 
neren Luft, auf dem Gipfel der Hochgebirge herrfcht, fo wie bie 
Kälte jener Nächte des Winters und Vorfruͤhlings, in benen ber 
Himmel wolkenlos und heiter Ift, und mo feine warme Luftſtroͤ⸗ 
mung von Suͤden her das Sinken ber Temperatur verhindert. 
Wenn mir in der Aufzählung der Vorzüge, deren unfere fchöne 
Erde vor dem Monde fo viele bat, noc weiter fortfahren wollen, 
fo iſt das Fein unbebeutenber, daß, mit Ausnahme ber beiden Po⸗ 
larzonen, in allen Klimaten, in dem kurzen 24 ftündigen Verlauf 
eines Tages einmal die Sonne auf und unter geht, einmal das 
Dunkel der Mitternacht mit ber Helle des Mittags wechfelt, und 
die Bewohner der gemäßigten Zonen, deren Zahl unter den Ex 
benbürgern die größte, deren leibliche, wie geiftige Kraft und Wirk 
ſamkeit die ſtaͤrkſte ift, erfahren es in jedem Jahre, daß auch der 
Wechſel des Herbftes, und felbft des ruhebringenden Winters mit 
dem Fruͤhling nnd Sommer, zur Erquidung und Bekräftigung ber 
lebenden Natur heilfam und förderlich fei. 

Welch' ein ganz anderes Loos ift nah al? diefen Beziehun⸗ 
gen hin dem Gefährten unferes Planeten auf ber Bahn feiner 
Jahre; dem Monde befchieden! Auf diefem giebt es weder Waſſer 
no Wind, kein Morgens noch Abendroth, Feine Srühlinges noch 
Sommertage, fondern jeder Monat hat einen (nad unſerem Zeit 
maaß gerechnet) vierzgehntägigen Sommer feiner Zonen, denen die 
zur fenkcechten Höhe des Aequatord oder zum niederen Stande 
der polarnahen Gegenden emporfteigende Sonne in diefer Zeit nur 
einmal auf und unter geht, dann eine eben fo lang dauernde 
Winternacht. Gaͤbe es auf dem Monde ein Meer, gäbe es dort 
einen See, von dem Umfang unferer größeren Landſeen, dann 
hätte man fie durch's Fernrohr längft an der Glätte ihres Spies 
geld erkannt, fo aber begegnet dafelbft überall, wohin mir das 
taufendfältig durch die Kunft gefchärfte Auge richten, uns 
ferem Blide ein Zufammengehäufe von Höhen und Tiefen, 
von Gebirgen, die bis zu dem Maaß unferer Alpen emporragen 
und von unzählbaren Eeffelartigen Abgründen, zum Theil fo weit 
und fo tief, daß kaum die gefammte Maffe eines Montblanc, ja 
eines Chimboraffo fie auszufüllen vermoͤchte. Ja nicht blos Fein 
Meer und Fein See, fondern überhaupt Eein teopfbar flüffiges Waſ⸗ 
fer kann auf dem Monde fein. Raͤnne dort ein einziger Fluß, 
drängen aus den Abhängen und am Fuß der Berge Quellen, fo 
tie bei uns, hervor, dann würde da ober bort eine ber grauens 
vollen keſſelartigen Tiefen fich ausgefüllt haben oder noch ausfuͤl⸗ 
len; das Maſſer, ja ſelbſt der Schnee, wärben unter dem Einfluß 


25 * 


388 5. Der Mond und fein Licht. 


ber ftrahlenden Sonne ſich in Dampfform erheben, und um ben 
Mond ber einen Dunſtkreis bilden, der fih, wenn die Gegend 
feines Entftehens auf der anderen, von und abgekehrten Hälfte 
bes Mondes läge, nadı dem Gefeg der Schwere alsbald um alle 
Gegenden der Oberfläche her ergießen und ausbreiten würde. Un- 
ſerem durch's Fernrohr blidenden Auge würde ein folcher Dunſt⸗ 
reis nicht blos durch feine, vom Wechſel ber Temperatur abhän- 
gigen Veränderungen: Verdichtungen und Verduͤnnungen, fondern 
durch alle andere Kolgen der Strahlenbrehung ſich verrathen ; gäbe 
es irgend eine Art von Luftkreis, verwandt dem unfrigen, bod 
um das Rund ber Mondkugel ber, dann müßte fih dort an ben 
Grenzen zwifhen Tag und Nacht eine, wenn auch noch fo Furze 
Dämmerung zeigen, bie genaueften Sorfhungen ber neueften Zeit 
haben jedoch nichts dieſer Art mit Sicherheit entdeden koͤnnen; 
bie frühere Annahme, welche für das Dafein einer, obwohl im 
Vergleich mit der unfrigen fehr dünnen, unvolllommenen Atmo- 
fpbäre auf dem Monde fprehen follte, ſcheint ſich nicht befkätigen 
zu koͤnnen. Der arme Mond, er fcheint in faft noch höherem 
Grade, als dies bei uns ein Gebirgsgipfel in einer Höhe von adıt 
bis neun Meilen fein würde, ohne fchirmende Dede den Einſtrah⸗ 
Iungen bee Sonne während der Dauer feines langen Tages und 
den Ausftrahlungen der Wärme während der eben fo langen Nadıt 
ausgeſetzt. 

Allerdings klar genug, und niemals durch Gewoͤlk noch Nebel 
getruͤbt, muͤßte von dort aus der Himmel erſcheinen; niemals ein 
Sturm, niemals ein Gewitter, das Wetter einen Tag wie den an⸗ 
deren, volle Gelegenheit, um trockenen Fußes uͤberall hinzuwan⸗ 
deln, wohin man moͤchte — — und welche tiefe Stille auf jener 
kleinen Nachbarwelt! 

Ja wohl, eine Stille, wie die des Grabes, ein beſtaͤndiges, 
tiefes Schweigen der Natur. Dort auf dem Monde kann kein 
Vogel ſingen, keine Floͤte, noch Orgel, noch Aeolsharfe ertoͤnen, 
denn es fehlt zum Athmen, wie zur Fortpflanzung des Tones die 
Luft! Wenn wir bier auf Erden, beim Erſteigen ſehr hoher Ge 
birge, oder beim Emporfluge in einem Luftfchiffe eine Region ber 
Höhen erreichen, in welcher zwar noch immer Luft, nur aber eine 
fehr verbünnte ſich findet, dann erfcheint uns auch der ftärkfte 
Ton der Menfchenfliimme nur mie ein dumpfer, ſchwacher Laut, 
felbft ber Knall eines abgefeuerten Gewehres ift dem Ohr in ber 
Entfernung von wenigen hundert Fuß unvernehmbar. Da aber, 
wo gar kein Luftkreis fich finder, koͤnnte ber Schall, etwa beim 
Zufammenftürzen eines Gebirges, nur ald Erfhütterung des feften 
Bodens fich fortpflanzen; der Leib der tief im Grabe Liegenden 
würde mehr davon berührt merden, ald das Ohr eines noch 
aufrecht über dem Boden Stehenden. Und mit dem Ohre zugleich 
würde da6 Auge, würden alle Sinne, wären fie von ber Natur 
beichaffenheit der unfrigen, die Folgen des Mangels eines Luftkreis 





57. Der Monbd und fein Licht. 389 


fe empfinden, denn ohne Luft gäbe es hier bei uns auf Erden 
keine Flamme des Lichtes oder des Heerdes, ohne ein Sauerftoffs 
9086 und feinen Zutritt zum orpdirbaren Metal, oder zu einem 
anderen brennbaren Element würde fein Grün ber Pflanze noch des 
Smaragds, kein Roth der Wangen nod des Rubins, kein Far: 
benfhmud der Btlüthen und der Xhierwelt, ja, mit wenigen Auss 
nahmen, felbft kein buntes Geftein vorhanden fein. Unſere Erde 
würde, wenn das Waſſer und die Luft fie verlaffen könnten, mes 
dere Thiere noch Gewaͤchſe, noch auch einen Anflug von Feldboden 
(Dammerde) haben, in welchem ein Pflanzgenfaame keimen und 
fi entfalten Fönntez; die Gebirge würden zwar weder durch Luft 
noch durch Wafler zertrümmert werben, oder vermittern, 'aber fie 
würden nadt und dürr, zulegt wie ein weißgebleichtes Gebein, den 
Stanz des Snnnenlichtes zuruͤckſtrahlen. 

Wir wollen uns bie vergeblihe Mühe erfparen, das Gemälde 
der Naturbeſchaffenheit des Mondlörpers, von welchem mir ja 
ohnehin immer nur bie eine uns zugemendete Seite, niemals bie 
andere , beftändig von uns abgewendete (freilich wohl eben fo bes 
fhaffene) fehen, mit den Farben, die unfer menfchliches Verſtehen 
und Erkennen uns barreicht, weiter auszumalen. Diefe Karben 
find denen gleich, welche wir durch Fünftliche Zerlegung des Licht: 
ftrahles mit dem Prisma auf das MWaizenmehl eines Bäders bins 
fallen laſſen. In dem Lichte diefer Farben könnte uns das ge 
nießbare Mehl als ein nie gefehenes Gehäufe von rothem, gelbem, 
grünem, blauem und violettem Staub erfcheinen, defien Verwand⸗ 
lung in Brod oder Kuchen aufer dem Spielraum unferer Phans 
tafie läge, Wir legen das Prisma aus der Hand und fiehe, ber 
vothe, wie der grüne und blaue Staub find nichts Anderes, ale 
das eine längft bekannte, überall gebraͤuchliche, nutzbare Mehl. 
Unfee menfchliches Urtheil zerlegt auch das Licht des Erkennens, 
das in den Kreis feiner Auffaffung fällt, in die Farbenſtrahlen fel- 
nes auf finnlihe Erfahrung gegründeten Wiflens und diefe Karben 
mögen öfters eben fo wenig dem wahren Weſen der Gegenftände 
anpafiend und zugehörig fein, al& die flreifig bunte Färbung durch 
dag Prisma dem Waizenmehl. Wer konnte im Voraus, ehe bie 
Sorfhung der Reiſenden dies ermittelte, das Dafein jener uner 
meßlihen Fülle von kleinen, mikrofeopifchen Thieren errathen, die 
fih unter ben eifigen Maffen, ja auf dem niemals hinwegthauen- 
den Schnee der Polarzone finden, und dort ihres Lebens fich 
freuen? Wenn wir auch von ber eigentlihen Naturbefchaffenheit 
des Mondes nur wenig errathen, und noch Wenigeres mit Sicher: 
heit wiſſen können, wiffen wir doch das Eine, daß auch diefer 
Weltkörper, mit Allem, was auf und in ihm ift, unter dem Wal⸗ 
ten derfelben Schöpferkraft entftanden fei und beflche, welche über: 
all Bewegung wedt und lebenskraͤftiges Wirken, weil fie felber 
das Leben iſt. Daß auch dort auf dem weißen, fcheinbaren Todten⸗ 
felde der Mondoberfläche Sormmwandlungen, und: ein Wechſel des 


890 58. Verhaͤltniß bes Lichtes gu ben. Farben. 


Vergehens und Entſtehens flat finde, fcheint ſelbſt aus einigen 
Beobachtungen der Naturforfher hervorzugehen. Zu Was aber 
und für Wen jene unferem Menfchenauge fo unheimlich erfchei- 
nenden, rundlichen Löcher und keſſelartigen Tiefen ba find, welche, 
eine faft an der anderen, ben gerablinigen Verlauf der Mondfläce 
unterbrechen; auf welche Wefen dort der biendend heile Schein 
ber Sonne und das aſchgrau fahle Kicht der großen Ev 
denfcheibe fallen, das werden mir, fe lange wir Mitgenofien ber 
iedifchen Leiblichkeit find, niemals erforſchen und erfahren, 


58 Das Verhältniß des Lichtes zu den Karben. 


Das Sonnenliht, fo nimmt man gemwöhnlid an, laͤßt ſich 
duch das Prisma in die Strahlen ber bunten Farben zertheilen, 
weil es felber aus diefen Farben zufammengefegt ift, denn bie 
Farben des Prismas, fo feheinen dies die oft wiederholten Verſuche 
des großen Newton zu lehren, machen, in ihrer unfcheidbaren Ge 
fammtheit, auf das Auge den Eindrud des meißen Lichtes. Man 
pflegt fi hiervon dadurch zu Überzeugen, daß man das Prisma 
in eine ſchnelle ſchwingende Bewegung verfest, melche ſich dann 
bem Farbenbild mittheilt und die einzelnen Strahlen deffelben in 
fo unfenntlicher Weife in einander fließen macht, baß fie zufammen 
nur noch als ein weißlich heller Streifen erfcheinen. Auch in eb 
nem Sammelglas vereinigen fi die einzelnen Sarbenftreifen bes 
prismatifhen Bildes fo untrennbar, daß man nur noch eine Tages: 
heile des Sonnenfcheines, nicht mehr Farben bemerkt. 

Das zurüdgeftrahlte Sonnenlicht, welches von der Scheibe 
ber in Zageshelle leuchtenden Planeten, vor allen der Venus und 
des Mars, in ein Prisma fällt, erzeugt ein ähnliches Karbembild 
als die Strahlen der Sonne. Im prismatifchen Farbenbild, wel 
ches bie Flamme der brennenden Körper gibt, zeigen ſich zwar 
großentheild mehrere Farben, zumellen aber herrfcht nur eine ber: 
felben auf Koften der anderen vor, fo daß diefe anderen kaum nod 
unterfheibbar find. Wenn ber Weingeift fehr ſtark verbünnt ift, 
dann hat feine Flamme ein gleichmäßig gelbes Licht, deſſen Farbe 
auch in den Strahlen bes Spectrums vorherrſcht, und biefelbe 
Erfheinung zeigt fi bei allen mit Schwierigkeit, unvolllommen 
verbrennenden Körpern. Selbft im Farbenbilde eines gewöhnlichen 
hellen Herzens oder Slammenlichtes, wenn man bafjelbe durch eine 
enge Spalte in's Prisma gelangen laͤßt, erfcheint zwifchen Roth 
und Gelb ein Lichter Streifen, welcher das Weberwiegen des Gelb 
in der Flamme andeutet. Dagegen erzeugt die Flamme des Phos- 
phors, wenn biefer mit Salpeter verbrannt wird, ein Farbenbild, 
in welchem keine ber einzelnen Farben vorwaltet, und baffelbe gilt 
von bem Licht, das die meißglühende Platina und einige andere 
gluͤhende Körper ausſtrahlen. 


8. Berbälmiß des Lichtes zu den Farben, 391 


Eine auffallende Erfcheinung, mitten im Lichte bed Karben» 
Bildes, in welches durch die Vermittlung bes Prismas das Sons 
nenlicht zerlegt wird, find jene dunklen, zum Theil ganz ſchwarzen 
Linien, die man öfters fchon mit blofen Augen entdedit, wenn man 
mit biefen das Farbenbild (flatt e8 an die Wand fallen zu laflen) 
in gehöriger Sehweite auffängt, noch befier aber, wenn man das⸗ 
ſelbe durd) ein Fernrohr betrachtet. Man fiehe diefe Linien immer 
in verhältnigmäßig gleicher Stärke und gleicher Ordnung erfcheinen, 
das Prisma mag aus diefem oder aus einem anderen durdhfichtigen 
Körper gebildet fein, nur ift vor Allem die vergrößernde Kraft bes 
Fernrohres auf die Deutlichteit ihres Erfcheinens von bedeutendem 
Einfluß. Im rothen Strahle zeigen ſich verhaͤltnißmaͤßig die we⸗ 
nigfien, obgleich ziemlih augenfällige Streifen, im Grün der 
fhwärzefte von allen, im Blau mehrere, unter anderen ein aus 
vielen feinen Linien zufammengefegter breiter Streifen. Die Zahl 
der feinen Linien, darunter auch ein aus vielen enggebrängten zu: 
fanımengefegter breiter Doppelftteifen, nimmt hierauf nody mehr 
gegen das Indigoblau, und in demfelben zu; im Violetten folgen 
abermals, nad) längerer Unterbrechung, zwei fehr augenfällige, im 
geringer Entfernung von einander ftehende, breite Streifen, dann 
noch vier Gruppen von Linien, an denen man bei der erflen eben 
fo wie bei der zmeiten erſt drei, dann fünf deutlich unterfheiden 
kann. Viele der Linien, welche, duch ſchwaͤchere Sernröhre gefehen, 
einfach erfcheinen, zeigen fi durch flärkere aus mehreren Linien 
an engeie6t, fo daß fhon Fraunhofer nahe an 600 berfelben 
zählte. 

Obgleich diefe Erfcheinung, auf welhe Fraunhofer in Mün- 
hen zuerft aufmerkſam gemacht hat, nur wenig bebeutend, und 
auch die Weife, in der man fie bisher zu erklären fuchte, nicht fehr 
ausreichend erfcheinen mag, ift fie dennoch fchon jest der aufmerk⸗ 
famften Beachtung werth, ba fie uns Auffchlüffe über manche 
Verfchiedenheit der fonnenartig leuchtenden Firfterne zu geben ver- 
ſpricht. Sm Lichte des Sirius namentlich zeigen ſich drei breite 
Steeifen, davon der eine im Blau, zwei im Grün fich befinden, 
und ganz bafjelbe findet am Farbenbild des Caſtor ftatt. Dagegen 
entdedt man im Farbenbilde des Pollur und noch mehr des Betes 
geuze, wie in dem ber Sonne, eine große Menge fehr feiner, zarter 
Linien, davon fich im Procyon nur eine Kleine Zahl findet. Statt 
diefer dunklen Linien im Sarbenbild der Sonne und mehrerer Fir 
fterne, zeigen fich viele helle Linien im Farbenbild des elektrifchen 
Funkens, deren Zahl und Anordnung nad) Verfchiedenheit des Mes 
tolles, aus welchem ber Funke gezogen wurde, verfchieden tft. 

In jeder Hinſicht erfiheint e8 ber Beachtung werth, daß felbft 
mitten im Glanze bes Lichtes, fogar in dem vollfommenften, das 
wir kennen: im Sonnenlichte, noch ein Wechfel von Licht und 
Dunkel, von höherer Steigerung und Abnahme gefunden wird. 
Es ift übrigens dieſes Nebeneinanderfein, diefe Aufeinanderfolge von, 


39 58. Verhaͤltniß des Lichtes zu ben. Karben, 


Steigen und Sinten, Anfpannumg und Abfpannung ein gemein 
fames 2008 der ganzen gefchaffenen Natur und ihrer Kräfte. 

Die Farben, die fih im Sonnenlichte finden, find in den 
mannichfaltigften Abftufungen und Mifchungen der einen mit ber 
anderen an die Körper der irdifhen Natur vertheilt. Da, wo 
diefelben mit Durchſichtigkeit gepaart find, zeigt das hinducchfallende 
Tageslicht diefelbe Wirkung, melche an bem gleichfarbigen Strahl 
des prismatifchen Farbenbildes wahrgenommen wird. So wird 
das Chlorfilber fchnell gefhwärzt, wenn man das Licht Durch ein 
violetted Glas darauf fallen läßt, während daſſelbe unter einem 
eothfarbigen Lichte unverändert bleibt, oder nur eine blos rofenrothe 
Tarbe (wie beim Erhigen) annimmt. 

An den Farben, melche in der irdifhen Körpermwelt vorkom⸗ 
men, bemerken wir ein fehr verfchiedenes Verhältniß in Beziehung 
auf das Zurüdftrahlen bes Lichtes und der Wärme, welde- fie 
von der Sonne und anderen leuchtenden Körpern empfangen. Das 
Schwarz bildet den vollftommenften Gegenfag zum Licht überhaupt 
wie zu al feinen Farben; es deutet einen gänzlihen Mangel an 
beiden an. Defto Eräftiger findet auch hier die ausgleihende An- 
ziehung des Gegenfages flatt; es nimmt alles ihm zufallende Licht 
auf, ohne daſſelbe zurüdzuftrahlen, es wird babei ſtaͤrker als alle 
andere Karben von der wÄärmenden Kraft der Sonnenftrahlen ans 
geregt. Wenn man mehrere Tuchſtuͤcken von gleihem Gewebe und 
gleiher Größe, dabei aber von verfchiedener Färbung, auf eine 
Schneeflaͤche legt, wo fie dem Sonnenlichte ausgefegt find, dann 
bemerft man, daß der Schnee unter dem fehmarzen Zuchlappen 
am frühften und tiefiten, unter dem: weißen am wenigften unb 
kaum bemerkbar hinwegthbaue. Nah dem fchwarzen Zuchfleden 
zeichnen ſich durch ihre die Wärme aufnehmende und mittheilende 
Kraft am meiften der dunkelbraune, dann ber blutrothe (ſchwaͤrz⸗ 
lichrothe) aus, 

Die erwähnte Eigenfhaft der ſchwarzen Farbe, eine Erwaͤr⸗ 
mung buch das Licht zu begünfligen, hat zur Erfindung eines 
Lichtmeſſers Veranlaffung gegeben, deſſen Anwendung freilich in 
neuerer Zeit durch andere Werkzeuge verdrängt ift, welche ihren 
Hauptzwed beffer erfüllen, welcher aber zur Verfinnlichung ber 
Wärme gebenden Kraft des Lichtes noch immer feinen Werth be 
hält. Wenn man nämlich zwei Thermometer zu dem Verſuche 
wählt, welche bei ihrem Steigen und Sinken die möglihft voll 
kommene Sleihmäßigfeit beweifen, und dann die Kugel des einen 
ſchwaͤrzt, zeigen zwar beide, fo lange fie im Dunklen ftehen, bie 
äußere Temperatur auf gleiche Weife an, fobald aber das Tages 
licht darauf fällt, dann fleigt alsbald, das Quedfilber oder ber 
MWeingeift, in dem Thermometer mit gefchwärzter Kugel höher als 
im anderen. Diefer Unterfchied wird um fo größer und bedeuten: 
ber, je flärker der Grad ber Helligkeit bes Lichtes if. Leslie be 
nutzte dieſen Verſuch, den Pictet zuerft in ber gleichen Abficht 


a 











58, Berhaͤltniß des Lichtes zu den Farben, 398 


angeftellt hatte, um bie Stärfe des Sonnenlichtes im Vergleich 
mit dem Licht einer gewöhnlichen Slamme zu meſſen. Er fand, 
daß der Einfluß des Sonnenlichtes zur Steigerung des Quedfils 
berftandes im gefchmwärzten Thermometer verhältnißmäßig 12000 mal 
wirkfamer fei, als der des Kerzenlichtes, fo daß ein Theilchen ber 
Sonnenfcheibe, das bie Größe einer Kerzenflamme hat, ein Wärme 
erregendes Licht ausftrahle, melches dem von 12000 Wachskerzen 
gleich kommt. Andere Beobachtungen haben jedoch gelehrt, daß 
die Strahlen des Feuerlichtes, im Verhaͤltniß zu ihrer erhellenden 
Kraft, zwar viel weniger Wärme erregen, als die bes Sonnen: 
lichtes, daß aber zugleich die Wärme des Feuerlichtes fehneller zur 
Temperaturerhöhung bucchfichtiger Körper, durch welche fein Strahl 
fällt, verwendet werde als die Wärme des Sonnenlihtes. Wenn 
man beshalb die Strahlen des Flammenlichtes in einem Brennglas 
fammelt, dann wird biefes erwärmt; während aber das Licht in 
feinem Brennpunft eine fehr verflärkte Helligkeit hat, bringt das⸗ 
felbe nur eine fehr geringe Erwärmung hervor. Wenn man bas 
gegen zu dem naͤmlichen Verſuch ein Brennglas anwendet, von 
fo dunkler Färbung, daß es gar Feine Lichtftrahlen durchläßt (uns 
durchſichtig ift), dann fteigt die Erwärmung in feinem Brenn- 
punfte ungleich höher, fo daß ed feheinen koͤnnte, daß im erfleren 
Falle die. erwärmende Kraft des Slammenlichtes im Glaſe ſich er⸗ 
fhöpft und zurüdbleibt, während feine erhellende Kraft ohne auf- 
fallende Hemmung durch dafjelbe hindurchwirkt, im anderen alle 
aber das Umgefehrte flatt finde, 
Nur im Voruͤbergehen erwähnen wir bei diefer Gelegenheit 
jener anderen, neuerdings in allgemeineren Gebrauch gefommenen 
Weiſe, die Helligkeit zu mefien, bie ein leuchtender Körper von fich 
gibt, welche fich fehr einfach auf die Stärke des Schattens grüns 
det, die etwa ein Metallftab auf eine weiße Fläche wirft. Will 
man das Licht zweier folcher Körper vergleichen, dann läßt man von 
beiden den Schatten des Stabes auf das Weiß fallen, und wenn 
z.B. der eine Schatten von dem Lichte eines meißglühenden Pla⸗ 
tinableches, der andere von dem Licht einer Wachskerze herkam, 
dann entfernt man ben einen heller leuchtenden Körper oder nähert 
ben anderen fchmächer leuchtenden fo weit, bis beide Schatten bie 
gleihe Dunkelheit haben. Beim Vergleich der Sonnenftrahlen mit 
- anderem Lichte wendet man auch eine Meine, mit Quedfilber ge 
füllte Glaskugel an, läßt auf diefe einen Strahl des Sonnenlich⸗ 
tes fallen und vergleicht alsdann die Stärke des zurüditcahlenden 
Sonnenlichtes mit der einer Kerzenflamme, indem man jenes mit 
dem einen Auge durch ein Fernrohr, dieſes mit dem anderen durch 
eine Gonverlinfe betrachtet, und dann die Entfernungen fo meit 
abändert, bis beide in gleicher Helle erfcheinen. Auf diefen, fo 
mie auf verfchiedenen anderen Wegen iſt es gelungen, dad Ver: 
hältniß der Lichtftärke bei leuchtenden Körpern genau zu beflimmen, 
und man hat gefunden, daß 5563 Kerzenflammen in einer Ent: 


a 


394 BB. Verhaͤltniß des Lichtes zu ben Farben. 


fernung von 1 Fuß eine Helligkett geben würden, welche ber des 
Sonnenlichtes gleich kaͤme. Das Licht des Sirius ift 20,000 Mit 
lionenmal ſchwaͤcher als das Sonnenlicht und neunmal ftärker als 
das der Wega in ber Leier. Das Mondlicht wurde auch in biefen 
Vergleich gezogen und berechnet, daß feine erleuchtende, hell ma- 
chende Kraft um nahe 25000 mal (24966) größer fei als die des 
Sirius, obgleich, wie ſchon erwähnt, erſt 800,000 Mondfcheiben, 
am beiteren Himmel leuchtend, eine eben fo ſtarke Zageshelle 
über die Oberfläche der Erde verbreiten würden, ale bie hoch am 
Himmel ftrahlende Mittagfonne. Da die Erbe in gleicher Entfer- 
nung von der Sonne fteht ald der Mond, Tann man das Licht, 
das fie ald Stern unter den Sternen ausftrahlt, fowohl an jenen 
Stellen ber Oberfläche, welche der Zurüdftrahlung am günftigften 
find, als aud für die Meere, nad) Abzug deſſen was die Dichtig⸗ 
keit der Atmofphäre an biefer Zuruͤckſtrahlung ändert, berechnen. 
Man finder dann, daß, nach Verhaͤltniß ihrer Größen, Merkur 
ein 62/,, Venus ein Zmal helleres Licht zuruͤckſtrahlen als die Erde; 
während das planetarifche Kicht des Mars nur ungefähr */, mal 
fo heil iſt als das unferer Erde. Wenn man übrigens hei ben 
am meiteften von der Sonne entfernten Planeten das Licht, das 
fie ausftrahlen, mit dem vergleicht, das fie, der Berechnung nad, 
bei ihrem Abftand von ber Sonne zurüdwerfen würden, wenn bei 
ihnen bie Naturverhältnifie diefelben wären wie bei unferem Pla: 
neten, dann findet man, daß ihre Licht, und zwar bei den am 
allerfernften fiehenden am meiften, ftärker fei, ald die Berechnung 
e6 ergab. Diefe Weltkörper muͤſſen befhalb, außer dem Lichte, das 
fie von ber Sonne empfangen, noch eine Zugabe von eigenthuͤm⸗ 
licher Kraft der Lichterregung haben. Ohne dieſe Zugabe, die wahr: 
ſcheinlich zugleich mit einer Ecäftigen, eigenen Wärmeerzeugung ver: 
bunden ift, möchte ſich's auch in der fernftehenden Vorſtadt bee 
Sonnenfuftemes gar unbehaglid für alle lebendige Welen wohnen 
lafien. So aber wird man dort, aud an trüben Tagen, keiner 
tünftlihen Gasbeleuchtungen bedürfen, weil durch die Befchaffenheit 
der Atmofphären für eine fortwährende, natürliche geforgt ift. 

Doch wir gehen von der Betrachtung der heil machenden Kraft 
des Lichtes der Sonne, der Planeten und ber Feuerflammen, wie 
ber auf die der Farben gebenden über. 

Nicht nur die Farben des Prismas, fondern aud jene Far- 
ben, welche wir im gewöhnlichen Leben fo nennen: die Sarbftoffe, 
womit wir unferen Kleidern, unferen Gemälden, Gtasflüffen und 
anderen Kunftergeugniffen ihren Reiz für dad Auge geben, find 
Kinder bes Lichtes, und zeigen bei ihrem Entftehen, bei ihren Ber 
wandlungen, wie bei ihrem Vergehen eine durchgängige Abhaͤngig⸗ 
keit von dem Lichte, | 

Wenn jene beiden brennbaren Körper, welche in ber irdiſchen 
Natur die gemeinften und gewoͤhnlichſten find: Kohlenſtoff und 
Waſſerſtoffgas in reinem Buftande mit dem Sauerſtoffgas verbren⸗ 





58. Verhaͤltniß des Lichtes zu den. Farben, 395 


nen, dann ift nicht nur das Licht der Flamme ein. vorzüglich helles, 
fondern die neu entftandenen Verbindungen (Koblenfäure und 
Waſſer) find auch durchſichtig und Elar, ohne eine vorherrſchende 
Farbe. Wenn wir dagegen unter biefe volllommneren Brennitoffe 
andere Stoffe von metallifcher oder erdiger Natur mifhen, welche 
das Verbrennen hemmen und unvolllommner machen, bann erhält 
fhon die Flamme jene bunte Farben, die wir namentlich unferen 
Luftfeuern zu ertheilen wiſſen. Ein Eleiner Beifag von Strontians 
pulver zum Weingeift gibt der Flamme befjelben einen ausge⸗ 
zeichnet purpurcothen Schein. Der Beiſatz eines ſolchen Stoffes, 
welcher hemmend dem Vorgang des hellen Flammens entgegen- 
teitt, wirkt hier in derſelben Weife wie das Priema, menn dieſes 
mit feinem ſchwaͤchenden und ablentenden Einfluß zwiſchen bie 
ausftrahlende Helle des Sonnenlihtes und den beleuchtbaren 
Körper tritt. 

Jene Sarbe, die wir in der eben erwähnten Weife ber Flamme 
geben, ift eine vorübergehende Erfheinung; fie kann jedod), je nach 
ber Natur der Stoffe, welhe mit dem Sauerfloffgad ſich ver- 
einten, oder eine Art von Verbrennung erlitten, zu einer mehr 
ober nlinder feftftehenden werden. Das Entflehen der metallifhen 
Drpde gleicht feinem MWefen nach einem Verbrennen, es verhält 
fi) aber zu dem Verbrennen mit heller Flamme und mit Feuer: 
gluth, wie fi) das unferem Sinne unmerkliche, fanfte Weberftrömen, 
wodurch bie elektrifhen Spannungen, namentlich zwifchen der At⸗ 
mofphäre und ber Erdoberfläche ſich ausgleihen (nah C. 42) zu 
dem Blig der Wetterwolken. Jene innere, ſchwingende Bewegung, 
die in unferem Auge ben Eindrud des Lichtes und ber Karben ber: 
vorruft (nah C. 60), wird bei der unvollkommnen Berbrennung 
ober DOrpbation, namentlih ber Metalle, zu einer fortwirdenden, 
bleibenden, und theilt fich in feiner flätigen Fortwirkung den durch⸗ 
fihtigen, feften Körpern mit. Darum leuchtet das herrliche Grün 
des Chrom⸗Oxyds, mit unveränderlicher Kraft, feit den Jahrtauſen⸗ 
den, bie un der Erdveſte vorübergingen, aus dem Smaragd, fein 
Roth aus dem Spinel, wie das Grün bes Nidelorybes aus dem 
CEhryſopras. Am häufigften find es die Oxyde des Eifens, welche 
ben Körpern bes Steinreiches, und zum Theil felbft der organifchen 
Natur, eine große Mannichfaltigkeit ber bunten Farben: Die rothe, 
in ihren verfchiebenen Abftufungen, tie die gelbe, grüne, blaue 
und violette geben. Dabei ift gu bemerken, daß öfters die bunten 
Farben, welche ein metalliihes Element auf den Stufen feiner 
unvolllommneren Sättigung mit dem Sauerſtoffgas den durchſich⸗ 
tigen Körpern, namentlich unferen Glasfluͤſſen, mitcheilt, wieder 
verfhwinden und in die mafferhelle (weiße) Faͤrbung übergehen, 
wenn die Sättigung (gleihfam Verbrennung) eine volllommmere 
wird. Daſſelbe gefchieht auch dem Koblenfloff, wenn biefer bei 
unvolllommener Berbrennung, in jener dunklen Faͤrbung auftritt, 
in welcher er und öfters, auch in feiner Beimiſchung unter andere 


396 58, Verhaͤltniß bes Lichtes zu den Karben. 


Körper, vor Augen kommt, denn er nimmt beim vollkommnem 
Verbrennen zur Kohlenfäure die waſſerhelle Klarheit ber Gasarten 
an, Hierauf gründet fi die entfärbende Wirkung, welche, wie 
wir oben im 17. Cap. fahen, die Beimifhung des Graubraunftein- 
erzes auf unfere Glasfluͤſſe hat; das Sauerftoffgas, welches jenes 
Erz in Ueberfülle in ſich führt, wird bei diefem Verfahren zur voll 
tommnen Sättigung und Verbrennung der unvollkommen orpbir- 
ten, farbigen Stoffe verwendet; fie werden klar und waſſerhell, 
wie die reine gefchmolzene Kiefelerde des Glaſes und der Berg 
kryſtalle felber diefes find. 

In der organifchen Natur fehen wir öfters den ganz entgegen 
gefegten Vorgang eintreten. Die Blätter einer Pflanze, welche in 
einem warmen, dunklen Keller bervorfproffen, haben nicht die na 
türliche, grüne Farbe, fondern find weißlich bleih; wenn wir fie 
aber dem Sonnenlicht ausfesen, dann nehmen fie bald ihre frifches 
Gruͤn an. Wie wir früher erwähnten, hat das Sonnenlicht auf 
das lebende Pflanzenblatt die Wirkung, daß es das Sauerftoffgas 
daraus entbindet. Der Kohlenftoff der Kohlenfäure wird hierdurch 
in einen unvollkommnen Zuftand der Orydation verfegt und zus 
gleich farbig. Je Eräftiger die Entwicklung und bie innere Lebens 
thätigkeit des Pflanzenblattes ift, deſto mehr ift das Sauerftoffgas 
in einem Zuſtand ber beitändigen Löfung und bes Freiwerdens 

"begriffen, worin bee Grund liegen mag, aus weldhem junge 
Dflanzenblätter das Lakmuspapier gleich einer ſchwachen Säure 
roͤthlich färben. 

Der eigentliche, grünfärbende Stoff der Pflanzen (das Blatt 
gruͤn) gleicht in vielen feiner Eigenfchaften ben Harzarten; an fer 
ner chemifchen Zufammenfegung nimmt der Kohlenfloff und mit 
ihm das Wafferftoffgas einen überwiegend vorwaltenden Antheil. 
Das Blattgrün löft fi, eben fo wie die Harze, nicht im Waſſer, 
wohl aber in Weingeift und noch leichter in Delen auf, behält aber 
feine grüne Farbe in dieſen Auflöfungen nur dann eine Zeit lang, 
wenn man ben Einfluß des Tageslichtes davon abhältz ſobald die 
Sonne darauf fcheint, wird es zuerft braun, dann meiß. Diefer 
entfärbende Einfluß des Sonnenlichtes zeigt fi) an ber grünen 
Zinktur, die man aus Kirfch> und Fliederblättern durch Weingeifl 
auszieht, fhon nad 20 Minuten. Umgekehrt ift der Indigſtoff, 
welcher namentlih aus den Wurzeln ber Indigopflanze gewonnen 
wird, fo lange das Sauerfloffgas noch einen Zutritt zu ihm hatte, 
weiß, wenn er aber der Luft ausgefegt wird, zieht er mit Begierde 
das Sauerfloffgas an fih und erhält nun die blaue Färbung. 
Auf die Sarbeftoffe, welche aus dem Pflanzenreih gewonnen wer: 

. ben, bat das Licht, vor. Allen jenes der unmittelbar auffallenden 
Sonnenftrahlen,, einen fehr bedeutenden, verändernden und zuletzt 
zerftörenden Einfluß. Selbſt ein hoher Grad der Wärme kann 
folhe Veränderungen bewirken; manche Pflanzenfarben, bie fi 
an der Sonne nur langſam entfärben, werden, wenn man fie 





58. Verhaͤltniß des Lichtes zu den Farben. 397 


einem Luftſtrome ausſetzt, deſſen Hitze die des kochenden Waſſers 
uͤberſteigt, ohne jedoch ein wirkliches Verbrennen zu bewirken, in 
wenig Minuten gebleiht. Die gelbe Farbe, die man dem Papier 
durch Quajactinktur mittheilte, wird, wenn man baffelbe unter ben 
violetten Lichtfirahl des Prismas bringt, durch Aufnahme von 
Sauerſtoffgas in Grün verwandelt,- kehrt aber wieder zuruͤck, 
wenn man Wärme, aud in keinem hohen Grade, barauf ein» 
wirken läßt. 

Wie die Farben fchon auf das Reich der todten Elemente ei- 
nen fehr augenfälligen, bewegenden Einfluß haben, fo kommt ih- 
nen auch ein folcher, und zwar in noch viel höherem Maaße, auf 
die befeelten Wefen zu. Abgefehen von der chemifchen Wirkung 
des violetten Strahles, auch auf die Lebensthätigkeit des Pflan- 
zenblattes, zeigt fi bei manchen Thieren eine Vorliebe oder auch 
ein Abfcheu vor gewifien Farben. Ein gesähmter Kranich, welchen 
Herr v. Schauroth längere Zeit beobachtete, zeigte bie entfchies 
denfte Abneigung gegen einige mit ihm auf demfelben Landgut zus . 
fammenlebenden Hausthiere, offenbar weil biefelben von ſchwarzer 
Sarbe waren, benn gegen Thiere der gleichen Art, die von anderer 
Farbe waren, bewies er ſich fehr verträglich. Namentlich aud 
von der rothen Farbe weiß man, baß fie für ſehr viele Thiere et 
mas Auftegendes hat, das zum heftigen Widerfireben und zu Aeu⸗ 
ferungen einer blinden thierifhen Wuth führen kann. Kühe von 
other Farbe find in unferen Alpenheerden häufig den Verfolgun⸗ 
gen ihrer Genoffinnen ausgefegtz fie find ein Gegenftand des Haſ— 
fe& für die anderen Kühe, fo daß man bei manchen Heerden ge- 
noͤthigt iſt, ſolche Thiere zu entfernen. Es tft gefährlich, mit einem 
Kleidungsftüd von rother Farbe einer Hornviehheerde in den Alpen 
fih zu nahen, felbft ein vothes Tuch veizt diefelbe zu mwüthenden 
Angriffen auf den unvorfichtigen Fremden. ' Unferen, eigentlih aus 
Amerika ſtammenden Welfhhühnern ift die rothe Farbe zunächft 
ein Gegenftand von Furcht erregender Ark, ber aber das Thier, 
wenn es ſich Eräftig genug fühlt, zum Gegentampf antreibt. Wir 
lafen oben in der Gefchichte des Jameray Duval, welhe Wir⸗ 
tung ein rother Tuchlappen, an ben Hals eined jungen Welfch- 
huhns gehangen, auf das arme, geängftete Thier hatte: eine Wirs 
tung, die für den Hirtentnaben felber, ohne Gottes befondere Für- 
forge, eben fo traurige Kolgen hätte haben können, als für feinen 
gefiederten Pflegling. In Südfrankreich fieht man öfters, daß 
ganze Heerden von Welfhhühnern flatt der Peitfche oder dem Hir⸗ 
tenftab nur durch einen Steden in Ordnung gehalten werben, an 
welhem oben ein ſcharlachrother Zuchftreifen befeflige iſt; diefen 
bewegt man, indem man eine ganze Schaar folchen Geflügeld vom 
Lande herein zu Markte treibt, Uber die zur Seite ausfchweifenden 
oder zuruͤckbleibenden hin und erzwingt fid) dadurch, mie bei ande⸗ 
Bent Heerdenthieren durch Ruthe und Steden, unbedingten Ges 

am, 


+ 


398 59. Die Hhosphorescenz ber Körper. 


Selbſt auf die Gemuͤthsſtimmung des Menfchen aͤußern die 
herrſchenden Farben der ihn umgebenden Sichtbarkeit vielleicht ei- 
nen größeren Einfluß, ale er in der Zerftreutheit des alltäglichen 
Kebens fich defien bewußt wird. Die Völker des Alterthums ha- 
ben dieſen Gegenfland einer defonderen Beachtung unterworfen, 
haben von dem Einfluß der Karben, wie bes Glanzes ber Edel 
fteine, viel geredet und auch gefabelt. Wir brauchen es ihnen 
allerdings nicht nachzufprehen und noch weniger zu glauben, daß 
der Anblid des fchön violettfarbigen Amethyſtes tieffinnige Traͤu⸗ 
mereien aufrege, das Hineinbliden in den Strahlenglanz eines De 
mantes oder Rubins dem Krieger in der Schlaht Muth und 
Feſtigkeit verleihen follte, etwa fo wie man dem grünen Farben⸗ 
fhein des Smaragds Stillung heftiger Leidenſchaft zufchrieb. Der 
Anblick grünender Auen wird für bie Stimmung eines reizbaren, 
menfhlichen Gemuͤthes immer etwas lieblich Beſaͤnftigendes haben, 
der lange Anblid eines vorberrfchenden Gelb zum Ueberreiz und 
Ekel führen, das Roth, je nah dem Grab feiner Mifhung mit 
Selb oder Blau, oder feiner vollkommenen Reinheit im Garmin, 
eine fanftere oder heftigere Aufregung der Region der Affekten ber 
vorrufen. Es liegt in dem reinen Weiß der Lille ein Etwas, das 
ber Werkthaͤtigkeit des ftillen, geiſtigen Erkenntnißvermoͤgens för 
derlich erfcheint und verwandt, 


59. Der Nahtfhimmer oder die Phosphorescenz 
ber Körper. 


Mir möchten vor Allem dem hehren Lichte, fo wie fpäterhin 
auch noch den Wärme, gern ben ihnen wohlgebührenden Ruhm 
bewahren, daß ihre tiefeingreifende, alldurchdringende Wirkung auf 
bie Körper, welche die rechte Empfänglichkeit baflır befigen, keine 
vorübergehende, fondern eine lang, ja zum Xheil mit der ganzen 
Dauer folder Körper fortbeftehende fe. Die Gtode, an welde 
der Stundenhammer fehlug, tönte noch einige Zeit hindurch unfe 
rem Ohre vernehmbar fort und lange nachher, wenn wir nichts 
mehr davon hören, mögen die Schwingungen bes Metalles, welche 
ber Hammer ober Klöppel erregten, noch fortdauern. So wirkt 
auch der Einfluß des Lichtes in feiner Farben» und Erleuchtung 
gebenden Eigenfchaft noch fort, wenn die Sonne, die daſſelbe aus: 
ſtrahlte, Längft untergegangen, die Flamme, die es erzeugte, laͤngſt 
verlofhen iſt. 

Mie mohte jener Schuhmacher in Bologna, der Vincens 
Cascariolo, in Erflaunen gerathen, als er die Steine, bie er 
mehrere Stunden vorher im, Feuer feines Kohöfhens zum Gluͤhen 
gebracht hatte, im Dunkel der Nacht noch fortglühen fah, obgleich 
das Kohlenfeuer laͤngſt erlofchen war, und der Dfen, wie die leuch⸗ 
tenden Steine ſich ganz kalt anfühlten. Freilich hätte ihm nicht 
jede Art von Steinen diefe merkwürdige Erfcheinung gewährt, fer 





59, Die Phosphorescenz der Körper. 309 


dern es war eben ein befonbers glüdticher Zufall, ber ihm gerade 
auf dem Paternoberge bei Bologna biefen afchgrau ausfehenden, 
fchroefelfauren Schwerfpath in die Hand führte Auch wäre nicht 
jeder andere Schuhmacher, und fo Leicht auch Fein Gelehrter ber 
Damaligen Zeit auf die merfwürdige Entdedung gekommen, welche 
der Vincens an dem fogenannten Bononifchen Leuchtilein machte; 
und wäre irgend ein berühmter Mann durch die gleiche. Veranlafe 
fung darauf geführt worden, als unfer bolognefer Schuhmacher, 
fo hätte er fich vielleicht gefhämt, den wahren Dergang zu erzäh- 
len. Das war aber bei dem Vincens Gascariolo keineswegs der 
Sall, er geftand es und alle feine Nachbarn und Bekannten wuß⸗ 
ten e6 von ihm, daß ihn fein Verlangen „Gold zu machen“ zu 
dem erften Verſuch mit jenem Stein geführt habe. Es war nur 
zu befannt, daß der Mann, flate fleißig und ordentlich durch fein 
- Handwerk ſich zu nähren, bei Tag, wie bei Nacht fi dem Dange 
hingab, den „Grundſtoff aller Grundftoffe”, die „prima materia‘ 
zu finden, „aus welder der Schöpfer aller Dinge namentlich 
auch das Gold gemacht habe, was der Menfch allerdings, wenn 
er nur erft im Beſitz jenes Urſtoffes fei, dem lieben Bott nachah⸗ 
men koͤnne.“ Der Schuhmader-Verdienft, fo Kreuzer bei Kreuzer, 
mochte ihm gar zu Bleinlich vorfommen, — „taufend Goldgülden 
bei tanfend Goldgälden, und morgen wieder taufend, dann fünf 
Tage in jeder Woche Feiertage mit Schmauß und Luftbarkeiten, 
das klingt fchon beſſer.“ Aber dieſer gute Klang, ber ihn in fei- 
nen Xräumereien befländig vor den Ohren tönte, hatte ben Bin- 
cens gar lange Beit getäufcht, und ihn nur in Noth und Sorgen 
gebracht, als er eines Tages (im Sahre 1630) am Monte Pa- 
terno den grauen, in platten Kugeln geformten, an feiner Förnig- 
rauhen Außenfläche hin und wieder glänzenden Stein in feine Hand 
nahm, und daran eine Schwere bemerkte, welche andere, gewöhn- 
liche Steine niemals haben. Gleich fiel ihm dabei fein beliebter 
Srundfloff der Grundftoffe ein, follte diefer, fo dachte er, nicht hier 
in meinem Steine zu finden fein? Er füllt ſich bamit feine Ta⸗ 
ſchen, zünbee zu Haufe in feinem einen, alchymiſtiſchen Dfen ein 
tuͤchtiges Kohlenfener an, glüht und röftet den Stein, der dadurch 
frettid, zu Eeiner prima materia, wohl aber zu einem Gegenſtand 
wurde, an welchem die Naturforfcher bi auf amfere Zeit noch im⸗ 
mer eine Luft und Ergögung der Augen finden. Denn nicht nur 
jederzeit, wenn man den bononifhen oder bolognefer Leuchtſtein 
{fo heißt er nach feinem erften Fundort noch immer) der gemöhn- 
chen Seuergluth, fondern wenn man ihn and) nur dem hellftrah- 
lenden Sonnenlicht auf einige Augenblicke ausfegt, dann leuchten 
feine Truͤmmerſtuͤcke eine Zeit lang mit farbigem Lichte im Dunk 
len, gleih den Gluͤhwuͤrmchen oder Johanniskaͤferchen. 

Dem Bincens Cascariolo mag feine Entdedung manchen Ge- 
winn, auch an Gelb, gebracht haben, als er diefelbe nicht bios den 
damaligen berihmteſten Phyſikern feiner Vaterſtadt mitcheilte, ſon⸗ 


300 59. Die Phosphorescenz der Körper, 


dern als die Naturfreunde in ganz Stalin und in manchen an- 
beren europäifchen Ländern ſich Leine Koften reuen ließen, um ein 
und das andere Stud des merkwürdigen Steined in ihren Beſitz 
zu betommen. Der Gewinn aber war noch viel größer, ben bie 
Naturkunde felber aus der Erkenntniß eines ſolchen Vorganges 
30g, bei welchem fi, ohne daß dabei irgend eine Art von Ber 
brennung ftattfindet, die Bewegung, welche im Licht ifl, einem fe 
ſten Körper mittheilt, und in dieſem noch eine Zeit lang feine An- 
regungen fortfegt, die uns als ein Leuchten erfcheinen. 

Der Demant, weil er, wie bereits erwähnt, aus reinem Kob- 
lenſtoff befteht, tft freilich, fo unverwuͤſtlich feſt er ſich anftellt, ein 
brennbarer Körper, zugleich aber weiß auch jedermann, welche aus 
Berordentlihe Erhigung, etwa im Focus des Brennſpiegels ober 
in ber höchften Gluth der Schmelzöfen dazu nöthig fei, um biefes 
Eoftbare Feuerungsmaterial zu entzünden, welches dabei dennod 
Beine helle Flamme giebt, fondern nur mit einem funfenfprühenden 
Scheine fid) zerfegt. Wenn man aber mande Demante (denn 
niht an allen gelingt es im fehr augenfälliger Weife) eine Zeit 
lang dem Sonnenlichte ausfebt und fie hierauf in einen dunklen 
Raum bringt, dann leuchten fie, als ob fie glühten. Bei Nert⸗ 
fhinst in Sibirien finder fi eine Abänderung bed Flußſpathes, 
(Chlorsphan genannt), welche die Eigenfhaft, im Dunklen fort zu 
leuchten, wenn man fie vorher dem Lichte ausfegte, in ganz be 
fonders hohem Grabe an ſich hat, und auch unfer vaterländifcher 
Slußfpath zeigt, mehr ober minder deutlich, biefelbe Erfcheinung. 
Der bolognefer Leuchtftein befteht, wie wir oben fagten, aus einer 
Berbindung der Schwererde (Barpterde) mit Schwefelfäure und 
auf diefer feiner Zufammenfegung beruht hauptſaͤchlich fein Ber 
mögen der beharrlihen Lichtftrahlung. Deshalb thut unfer ges 
meiner Schwerfpath (ſchwefelſaurer Baryt), ber in gar vielen Ge 
genden, auch von Deutfchland, gefunden wird, diefelben Dienfte 
al8 der kuglich geformte bononifhe, den man übrigens außer bei 
Bologna auch bei Amberg in Bayern u. a, entdedt hat. Und 
niht nur der Schwerfpath, fondern aud) ber fehwefelfaure Stron- 
tian und eine Menge anderer einfacher wie zufammengefester Koͤr⸗ 
per behalten bie Fähigkeit, noch fortzuleuchten, wenn man fie aus 
bem Licht in's Dunkle bringt. Vor den meiften anderen am leich⸗ 
teften zu bereiten ift der fogenannte Canton'ſche Phosphor (nad 
feinem Erfinder, dem Engländer Sohn Canton fo genannt) den 
man dadurch bereitet, daß man Aufterfchaalen, die man ſchon vor 
ber für ſich allein geglüht und dann gepulvert hatte, noch einmal, 
mit einem Viertheil ihres Gewichtes Schwefelblumen vermifcht, 
eine Stunde lang in einem Ziegel einer ſtarken Glühhige ausſetzt. 
Eine noch beffer für den Verſuch brauchbare, gegen die Einwirkung 
des Lichtes empfindlichere Mifchung iſt die der gebrannten Auſter⸗ 
ſchaalen mit Schwefelfpiesglanz. Und fo giebt es noch eine Menge 
anderer kuͤnſtlich bereiteter und natürlicher Subflanzen, welche bis 


59. Die Phosphorrscen, der Aupr. : 801 


Eigenſchaft des bononifchen Leuchtſteines zeigen, dem man felber 
auch noch dadurch zu dem Verſuch geſchickter machen Tann, daß 
man fein Pulver mit Zraganthfchleim zu Beinen platten Kuchen 
bitdet, die. man eine Stunde lang gluͤht. Ä 
Wäre unfer Gefichtsfinn für ſchwaͤchere Grade des Lichtes fo 
empfindlih, vie der mander Thiere, dann würden wir an ben 
meiften Felsarten und Steinen, die am Tage von der Sonne bes 
ſtrahlt waren, im Dunkeln nody ein Fortleuchten bemerken, wie 
dies v. Charpentier an mehreren Granit⸗ unb Gneißfelfen be⸗ 
obachtet hat. Und nicht nur die feften Körper, auch das fihffige 
Element des Meeres gibt, wenn am Tage die Sonne der Wende 
Ereife es beftrahlte, waͤhrend der Nacht ein Licht von fih, das 
(wie bereit erwähnt) nicht allein von thierifcher Abkunft ift. 
Selbſt in unferen Meeren hat man eine, wenn auch ſchwaͤchere, 
Phosphorescenz des Seewaſſers bemerkt. U 
In raͤlterer Zeit find gar vielerlei maͤhrchenhafte Berichte im 
Umlauf seweien, welche meift aus. dem Orient, aus dem Lande, 
wo die Sonne heller ftrahit als bei uns, ihren Urfprung. genoms 
wen hatten? von einem wunderbaren Steine, dem Karfunkel, der 
aus eigener, felberleuchtender Kraft, mitten in dem Dunkel der 
Gruͤfte fo wie der unterirdifchen Schatzkammern, eine Delle um 
fh ber verbreiten follte, ‚die dem Lücht einer Kerze: gleich Täme: 
Mährchen waren dies, ſo wie fie da erzählt wurden, allerdings; 
aber der Dichtung lag .dody etwas Wahres, eine Beobachtung: zu 
Grunde, die man nicht nur am Demant, fondern an manchem 
Edelſtein gemacht haben konnte. ' 
Bei allen den Körpern, welche ſich duch die erwähnte Eigen- 
fchaft eines Fortwirkens der empfangenen Beleuchtung, aud im 
Dunkeln auszeihnen, ift zu bemerken, daß fomohl das Sonnen» 
licht ale auch das Licht der verbrennenden Körper (das Flammen⸗ 
licht), nicht aber das ſchwache Mondlicht, fie in den Zufland bes 
Hortleuchtens verfegen könne. Bemerkenswerth HE auch der Um⸗ 
ftand, daß unter den prismatifchen Farbenftrahlen zunaͤchſt unb: 
vorzugsweiſe der. violette das Fortleuchten beguͤnſtige, während dass 
felbe augenblidtiih endet, wenn. man jene Körper dem rothen 
Strahle des Farbenbildes ansfest. 
Mit den eben erwähnten Arten der Lichtftrahlung im Dun⸗ 
keln, welche fi auf eine Fortvauer ber Anregung gründen, bie 
Das Licht an der Oberfläche eines Körpers hervorgesufen hat, duͤr⸗ 
fen nicht jene verwechfelt werben, welche die Kolge einer langſam 
fortfchreitenden WBerbindung mit dem Sanerftoffgas. find, ober 
welche in ihrem Kreife, fo wie der elektriſche Funke/ das Anzeichen 
einer Ausgleihung (Entladung) der polarifhen Spannung zreis 
fen der Atmofphäre und der Erdoberfläche find, Zu den Erſchei⸗ 
nungen der letzteren Art. gehörten jene Feuerregen, deren fcheinbare 
Schreckniſſe außer dem Auge keinen anderen Sinn berühren: 
Ein berkämter und durchaus glaubmwärbiger Naturferfcer, 


26 


42 60. Vermuchungen Aber das Weſen des Lichtes. 


2. Bergmann, bat im September des Jahres 1759 zwei foldye 
Keuerregen beobachtet, bei denen jeder fchwere Tropfen, wenn er 
auf das Selfengeflein oder auf den Boden bed Feldes traf, einen 
flarten Funken gab, fo daß in jenen zweien, Übrigens ganz dun⸗ 
kein Nächten die Fluren ein Ausfehen hatten, ald würden fie mit 
einem ſchwachleuchtenden, flüchtigen Feuer uͤbergoſſen. Es wird 
uͤbrigens nicht noͤthig ſein, daran zu erinnern, daß ein ſolches Feuer 
weder Erhitzung verbreite noch verzehrende Kraͤfte habe. 

Das faule Holz, faules Fleiſch, faule Fiſche geben auch im 
Dunkeln einen Lichtſchein von ſich, ber keine Erwärmung mit fid 
führt, biefer Lichtfchein fteht aber in Zufammenhang mit einer Art 
jenes langfamen Verbrennens, davon wir oben im C. 38 fpraden. 
Wenn man deshalb dergleichen phosphoreszirende Körper in folde 
Luftarten bringt, barinnen das Licht der Kerzen verlöfht, dann 
nimmt aud ihr Leuchten ein Ende. Selbſt mandye lebende Thiere, 
aamentlich die vom Gefchlecht der einen, fchleimigen Quallen im 
Meere ftrahlen bei Nacht ein Licht aus, umd bei unferen Johan⸗ 
niswuͤrmchen ſteht diefes Licht ebenfo im Zuſammenhang mit ber 
Inneren Aufregung der thieriſchen Lebenskraft und des thierifchen 
Willens als die Entladung des eleftrifhen Schlages bei ben Zit- 
terfifchen nah Gap. 48. Einen ähnlihen Zufammenhang des 
nächtlichen phosphoreszirenden Leuchtens mit den Willensregungen 
bes Thieres hat man auch an den Augen der Katzen wahrge⸗ 
nommen, in denen das zurhdfirahlende Licht, das fie aus der 
Dämmerung aufnehmen, offenbar durch leidenfchaftlihe Aufwal- 
lungen ſehr verftärkt wird. 


60. Vermuthungen über das Wefen bes Lichtes. 


Seit ättefter Zeit hat wohl kaum ein anderer Segenftand der 
Sichtbarkeit das Nachdenken des menfchlihen Geifles fo fehr an- 
geregt als das Licht. Man hat die Frage über das Wefen dee 
Lichtes vom Standpunft der Naturwiſſenſchaft aus in zweifacher 
Weile zu loͤſen gefucht: entweder, fo nahm man an, ift das Licht 
ein feines Edrperlihes Wefen, das aus der Sonne befländig aus⸗ 
fließt und fi durch den Weltraum verbreitet, da aber, wo «6 
einen mehr oder minder unburdfichtigen Körper trifft, von biefem 
zuruͤckgeſtoßen Gurädgeftrahit) wird, oder fein Weſen befteht in 
einer ſchwingenden Bewegung, welche von der Sonne fo wie von 
jedem anderen leuchtenden Körper angeregt, fi dem Aether mit- 
theilt, und bis zu unferem Sehneruen, fo wie bis zu jedem an⸗ 
deren erleuchtbaren Körper ſich fortpflanzt. Die erflere Anficht 
wurde ald die des Ausfließens (Emanation), die andere als bie 
des wogenden Bewegens (der Undulation) bezeichnet. 

Der erfte bekannte Naturkundige, welcher die Anſicht von eis 
nem. Ausfluß des Lichtes, gleich dem eines leiblichen Stoffes, zu 
einer wiſſenſchaftlichen Lehre ausbildete, ift, fo viel man weiß, 


Um 





6. Vermuthungen uͤber das Weſen des Lichtes, 403 


Empedokles geweſen, welcher in. der Mitte. des "fünften Jahr⸗ 
hunderts vor Chriſti Geburt zu Agrigent, einer Stadt in Sizilien 
lebte, in und bei welcher ſich, damals beſonders, der Menſch des 
Lichtes freuen und an feinem Alles erhellenden Glanz ergoͤtzen 
tonnte, wie an veenig anderen Drten der Erbe. . Denn .diefes 
Agrigent, welches in feiner blühendften Zeit von 800,000 Menfchen 
bewohnt war, bot Alles dar, maß zur Luft ber Auge gehört; 
und noch jegt möchte fich der Reiſende jur Betrachtung der wun⸗ 
derhertlichen Ruinen der alten Stadt, weiche, wie Edelſteine in 
Gold gefaßt, in einer ungemein ſchoͤnen Gegend liegen, einen bes 
fländigen Tag, gar keine Unterbrechung dureh die Nat wuͤnſchen, 
weil man kaum anderswo fo ſehr an den Spruch: „dad Ange 
fiebt ſich nimmer ſatt,“ erinnert wird; Es darf uns deshalb nicht 
befremden, daß der tieffinnige Em pedokles fi ſolche Mühe gab, 
das fluͤchtig voruͤbereilende Weſen des Lichtſtrahles für feine Ben 
trachtung feſtzuhalten, in einem Lande, mo das Licht mit Luſt vers 
weilte, und wo fein Erſcheinen in jeder gefunden Menſchenbruſt 
nur Luft und Fteude weden konnte. | u 
Einundzwanzig Jahrhunderte hernach hat ein «ben. fo großer 
Naturkundiger als Empedokles war, der beruͤhmte Engländer 
Iſaak Newton die Lehre: daß das Licht. ein leiblicher Ausfluß 
fei, mit großem Scharfſinn bearbeitet und ausgeführt. „Obgleich 
dieſer uͤberaus feine, ausfließende Stoff ungehemmt die durchfich⸗ 
tigen Körper durchdringe, erleide er dennoch won ihnen eine Ann 
ziehung nad, der Befammtheit ihrer Theile Cihrer Maſſe) hin, wos 
durch der Lichtſtrahl von feiner geradlinigen Richtung abgelenkt 
(gebrochen) werde, von undurchſichtigen Körpern dagegen werde 
der Lichtſtoff, je glätter und fpiegelnder ihre Flächen find, deſto 
vollkommner abgefloßen und zurüdgemworfen, während bie farbigen 
Körper nur einen Zheil der Strahlen des auf fie fallenden weißen 
Lichtes wieder von ſich geben follten.“ 
Der Lehre, weiche das Licht als ein koͤrperlich Ausfließendes 
darftellte, widerſprach ſchon einer: der fcharffinnigften Denker aller 
Zeiten, Arifioteles Cim Aten Sahrhundere vor Chr. Beb.), 
Diefer ſprach eine Anficht aus, welche ebenfalls zwei Jahrtauſende 
fpäter von einem. Ihm verwandten Geifte, von dem Holländer 
Huyghens, dann von dem deutihen Mathematiter Euler meis 
ter auögeflhrt worden ift, bie Lehre: daß das Richt ein alldurch⸗ 
deingendes Bewegen, daß es nicht ſowohl ein Körper felber, al 
eine Kraft: der Köcpermelt (Undulation) ſei. Diefe Anſicht darf 
anjetzt als dis herrſchende im Gebiet der Phyſik betrachtet werben: 
Der Schall wird von einem tönenden Körper dadurd zu un⸗ 
ſerem Ohre fortgepflanzt,. daß die Luft an der Schwingung, in 
die jemer Körper verſetzt ift, Theil nimmt. Obgleich kein anderer 
irdiſcher Körper vom dem Licht fo leicht durchdringbar, fo dutch⸗ 
ſichtig iſt als die Luft, Tann dennoch nicht fie es fein, welche bie 
Schwingungen des leuchtenden Körpers der beleuchtenden Um⸗ 


26* 


430860. Vermuthungen Uber das Weſen bes Lichte. 


gebung, oder unſerem Auge mittheilt, denn eben fo wie ein ſoge⸗ 
nannt Iuftleerer Raum, in welchem jeber Ton verflummt, eim 
Demant oder ein fpiegeindber Körper, wenn der Sonnenftraht auf 
ihn hineinfaͤllt, wenigſtens eben fo heil glänzt: und leuchtet als 
außen in ber freien Luft, kommt uns ja aud das Sonnenlicht 
wie das Licht der Sirfterne durch Weltenraͤume zu, in denen kein 
unferer Luft gleichender Körper zu finden if. Will man nun an 
der. Meinung fefthalten, daB der ‚Antrieb zu einem leiblihen Be⸗ 
wegen auf ein durch. weite Entfernung getrenntes Leiblihes nicht 
anders einwirken koͤnne als dadurch, daß ein leiblidhes Mittel da 
ift, defien Bewegung von einem Ende eine gleichartige Bewegung 
am anderen Ende begründet, (etwa fo wie bei einer Reihe von 
Billarblugeln, an deren eine Äußerfte man eine andere Kugel an⸗ 
flogen laͤßt, worauf die andere Äußerfte, ale hätte der Stoß fie 
getroffen, in fortrollende Bewegung gefegt wird), dann muß man 
das Dafein eines allenthatben in der Leiblichkeit verbreiteten, dieſe 
umfangenden und durchdringenden Wefens annehmen, welches mit 
einem ſchon bei dem Alterthume ‚vielbebeutenden Namen: Aether 
betannt wird, Ueberall gegenwärtig wie die allgemeine Schwere, 
welche freilich Fein Körper, ſondern auch nur eine die Körperlich- 
Leit durchwirkende Kraft iſt, foll der Ather im MWeltenraume, fo 
wie im duchfihtigen Bergkryſtall oder im feſten Demant, in un 
ferem Auge und Sehnerven : fo mie in. den miteinander verbren- 
nenden gasartigen Grundſtoffen des Waſſers und. in jeder Flamme 
ohne Aufhören zu einer ſchwingenden Bewegung fähig fein, die 
fich anfheinend in gerabliniger Richtung von einem feiner Theile 
auf den anderen Äberträgt. In dem leuchtenden Sonnenkörper, 
fo. wie an den fonnenartig leuchtenden Firſternen fände ein unauf⸗ 
hoͤrliches Anregen des Aethers zu feinen Schwingungen ftatt; ein 
Unregen, welches nod aus unermeßbaren Fernen als Licht em⸗ 
pfunden wird. 

Mir nannten fo eben die Fortpflanzung der wellenförmigen 
Bewegung bes Kichtes eine anfheinend gerablinige, denn als 
sine ſolche, und nur als eine ſolche iſt fie auch durch die feineren 
Beobachtungen der neueften Zeit erfannt worden. Den meiften 
Aufſchluß Über dieſen Orgenftand hat die beffere, beuttichere Er⸗ 
kenntniß einer Erfcheinung gegeben, welche man früher unter dem 
Kamen der Beugung des Lichtes in die Naturlehre einführte. Wenn 
man nämlich in ein verdunkeltes Zimmer durch eine -Heine Deffnung 
oder Spalte. des Ladens Sonnenlicht auf einen geradftcehenden Draht 
hereinfallen laͤßt, Gede Stridnadel ift zu-dem Verſuche anmend- 
bar), dann wirft biefer feine, unduchfichtige Körper nicht, wie 
man es bei Annahme der ausfchliegend nur gerablinigen Kort- 
pflanzung des Lichtes erwarten müßte, einen einfrmigen dunkeln 
Schatten auf den hinter ihm ftehenden Schirm; einen Schatten, 
deſſen Breite mit der Entfernung bed Schirmes fo wie ber Lichts 
inung genau im Verhaͤltniß ſteht, fondeen fein Schatten iſt viel 





60. Vermuthungen über das Weſen des Lichtes. 405 


breiter, als er der Berechnung nad fein follte, und gerade in der 
Mitte, wo ſich nad, der Lehre von ber geradlinigen Strahlung 
die größte Dunkelheit zeigen müßte, erſcheint ein heller Streifen, 
der zu beiden Seiten von dunkeln Rinien begrenzt ift, deren man, 
wenn der Schiem näher an dem Drahte ficht, mehrere, wenn 
man ihn weiter davon hinwegruͤckt, nur zwei, außer ihnen aber 
nod einige farbige Nänder wahrnimmt. Diefe letzteren macht 
freilich exft das Vergrößerungsglas recht fihtbar, und mittelft des⸗ 
felden kann man die ganze Erſcheinung, wenn man damit gegen 
den Draht hinblidt, auch ohne Schirm, in der blofen Luft zu 
fehen befommen; das. Schattenbild ftellt fid, dann als eine Anzahl 
von gleidy weit von einander abflehenden Dunkeln Linien dar, melde 
durch feine helle Streifen getrennt find. Auch am Umfang bes 
Schattens breiterer Körper, 3.3. kleiner Scheibchen, bemerkt man, 
wenn man das Licht in ähnlicher Weile auf fie fallen läßt, farbige 
Mänder, wie fie in einem vergrößerten Maafftabe um den Mond» 
ſchatten, bei totalen Finfterniffen fich zeigen. 

Man bat nun den Verfuh auch auf andere, zuerft von 
Fraunhofer angegebene Weiſen gemacht. Das Licht, das durch 
die eine enge Spalte in's dunkle Zimmer hereinfällt, wird duch 
eine zweite enge Spalte, welde in gerader Linie mit der erften 
und in einiger Entfernung von diefer, etwa In einem Schirme 
angebracht ift, mittelft eines Fernrohres betrachtet, und man fieht 
jest eine Lichterfheinung in der Mitte von einem hellweißen Streis 
fen durchzogen, deffen Höhe jener der Lichtöffnung glei, deſſen 
Breite aber um fo größer erfcheint, je ſchmaͤler die Spalte ift, 
durch welche das bewaffnete Auge hindurchſchaut. "An jeder Seite 
dieſes hellen Mittelſtreifens zeigen fich drei prismatifche Farbenbil⸗ 
der, bei zweien von diefen, melde rechts und links zunaͤchſt an 
das Helle grenzen, find alle Farben des Prismas (zu innerft das 
Violett) fihtbar, während an den beiden folgenden das Violett 
febit, fo dag fi gleich das Indigoblau an der rothen Seite des 
vorhergehenden einſtellt; an den beiden Außerften fehlen mit den 
violetten Strahlen zugleich auch bie blauen, fo daß hier ber 'grüne 
Strahl den Anfang macht. Das innerfte Farbenbild ift uͤberhaupt 
das deutlichfte, das äußerfte das undeutlichfle, und der ganze, 
innen einfach weißlih helle, nad den Seiten dreifach vielfarbige 
Lichtgfirtel wird um defto breiter, je ſchmaͤler und feiner die Spalte 
im Schirme ift, durch die man den einfallenden Lichtftreifen 
beobachtet. 

Die Erklärung der eben angeführten Erfcheinungen mödte . 
in blofen Worten, ohne die miathematifche Zeichen» und Figurens 
ſprache Thwerlih in einer vollkommenen Weife zu geben fein. 
Mir begnuͤgen uns nur damit, zu fagen, daß durd die enge, fpal- 
tenartige Deffnung nicht nur in gerader, ihrer Mitte gleichlaufen- 
den Linie, fondern auch in anderen Linien Lichtwellen hereindrin- 
gen, von denen die, welche die gleichlangen, in der Mitte zufams 


206 60. Vermuthungen uͤber das Weſen des Lichtes; 


mentreffenden Wege zu durchlaufen haben, ſich in ihrer erhellenden 
Kraft verftärken, waͤhrend bie anderen, zu beiden Seiten von der 
Mitte hingusfallenden Strahlen, bis zu dem Punkte ihres Auf- 
treffens Wege zuruͤcklegen mhlien, welche fih an Länge immer 
ungkicher werben. Hier aber gefhieht nun Etwas, bad wir aud 
an tönenden Saiten, ja, im Grunde genommen, an jeder Klüffigs 
feit bemerken Fönnen, vom welcher irgend ein Theil zu gleicher 
Zeit im ungleihe Schwingungen gefegt wird. Wenn man an er 
nem gewiſſen, durch ſchnelle Drebung lautbar werdenden Juſtru⸗ 
ment, das in der Phyſik ben Namen der Sirene führt, in bie 
flötenartig tönenden Deffaungen nur einen Luftſtrom von gleicher 
Richtung und gleicher Starke der Bewegung hereindsingen Läßt, 
dann hört man einen Ton, Har unterfcheibbar und hell, läßt man 
aber die Anregung von zwei Luftſtroͤmen von verfhiedener Rich⸗ 
tung und beiyegender Kraft kommen, dann hebt die Wirkung beis 
der wegen ber Werfchiedenheit der Schnelle der Schwingungen, 
die fich in gleicher Zeit hervorrufen, ſich auf: man hört gar Eeinen 
Ton. Und fo Bann man in manniafacher Weife den Verſuch fo 
abändern, daß man in einem Kalle zwei Toͤne, 3. B. Detaven, im ans 
deren wur einen vernimmt, während der andere unhoͤrbar wird. 
Dieſelbe Erfahrung läßt ſich auf ſehr verfchisdene Weife an Roͤh⸗ 
ren wiederholen, welche durch eine in Schwingung gefeßte Platte 
zum Toͤnen gebracht werben, je nachdem man die Mündung der 
Roͤhre an den einen ober den anderen, auf oder nieder, mebr oder 
minder fhwingenden Punkte ber Platte auffest. 

‚Dt man doc, auf eine ähnliche Meife eine Thatfache zu 
erklaͤren gefucht, welche den Schiffen auf dem Meere aus Er⸗ 
fohrung bekannt fein fol, jewe namlich, daß die Meereswellen, 
wenn fie bei heftigem Stusme und Brandung in der furdhtbars 
fen Bewegung find, dur Del, das man aus den geöffneten 
Faͤſſern auf fie ſchuͤttete, berubigtes und niedriger wurden. Der 
gleihe Anſtoß bringe dann. in den beiden Fluͤſſigkeiten von ungleis 
em Gewicht und Zufammenhalt der Theile, ungleihe Schwin⸗ 
gungen hervor, wovon bie eine ‚ber anderen bemmend und maͤßi⸗ 
gend entgegenwirkt. 

So bat man aus der Deutung, bi man in neuerer Zeit 
für die fchon vor zwei Johrhunderten durch Grimaldi beobad- 
teten Erfcheinungen ber ſogenannten Beugung der Lichtſtrahlen 
auffand, den Schluß gezogen, daß die von zwei ungleichen Wegen 
zuſammentreffenden Lichtftrahlen fih, wie ungleiche, den Ton an⸗ 
regende Schwingungen gegenſeitig gufheben und unſichtbar machen, 
die auf gleichmaͤßigem Wege hommenden aber fi verſtaͤrken. 
Mir ſehen deshalb nur dis latzteren, zunaͤchſt gradlinigen; von den 
anderen uud der almähligen Aufhebung der einen durch die ans 
bay, erhalten wir nur Push Anwendung folder kuͤnſtlichen Vor⸗ 
richtzngen einige Kunde, dergleichen bie vorhin erwähnten find, 
Die Naturkunde faßt dieſes ganze Gebiet der Erſcheinungen, 


60. Vermurdungen uͤber dad Weſen des Lichtes. 407 


aus deffen Beachtung bie Lehre: dag das Licht nicht ein koͤrper⸗ 
licher Stoff, fondern ein ſchwingendes Bewegen der Körperlichkeit 
fei, eine. Beftätigung zu empfangen ſcheint, unter dem Namen den 
Interferenz der Lichtſtrahlen zufammen, und, wie fhon er⸗ 
wähnt, man kann nicht. nur von einer Interferenz des Lichtee 
und des Schalled, fondern aller fhwingungsartigen Bewegungen 
der Körperweit reden. Selbſt in der Welt des Geiſtigen kann 
eine anzegende Bewegung die andere, von anderer Seite herkom⸗ 
mende fören und hemmen, während zwei nach gleicher Michtung 
firebende fich verfiärken. 
Die Erfheinungen ber Interferenz der Lichtſtrahlen hat die 
Naturkundigen unferer Zeit noch um einen Fühnen Schritt weiter 
geführte, als zur blofen Erläuterung und Betätigung der Lichts 
[dwingungs = (Undulationsr) Lehre nöthig war. Sie haben es ges 
wagt, die Zahl der Schwingungen der Kichtflrahlen in einer ges 
voiffen Zeit abzuſchaͤtzen. Wire dies eben fo leicht, wie bei dem 
Schwingungen reiner tönenden Saite oder eined anderen toͤnenden 
Körpers,. dann wuͤrde bie Kühnheit nicht fonderlidh groß erſchei⸗ 
nen. Denn um bie Schallfhmingungen deutlich abzufshägen, darf 
man nur in Ehladni’s Weife recht elafifche, flähleene Stäbe mit 
dem einen Ende feit in einen Schraubftod fpanuen, und fie dann 
am anderen Ende, dadurch, daB man fie feitwärts biegt und ſchnell 
wieder fahren läßt, in pendelartige Schreingungen: verſezen. Wenn 
man hierbei die Schwingungen, fo weit fie bei den laͤngeren Staͤ⸗ 
ben noch unterfcheidbar find, zählt, fo uͤberzeugt man ſich, daß 
ein zweimal kuͤrzerer Stab von übrigens gleicher Beſchaffenheit 
in derfelben Zeit 4, eim dreimal kürzerer 9 mal fo viele Schwin⸗ 
gungen made, als ber längere, Die Schnelligkeit der Aufeinans 
derfolge des Bewegens nimmt alfo in quadratifhem Verhaͤltniß 
mit der Verkürzung zu. In gleiher Art ruͤckwaͤrte gehend kann 
man dann, durch genaue Beahtung der Länge eines Stahlſtabes, 
defien Schwingungen zwar einen börbaren Zon geben, babei aber 
nicht mehr für das Auge erfennbar find, die Zahl der Schwins 
gungen in Zeit einer Serunde auffinden, indem man Stäbe von 
immer größerer Länge zu dem Verſuche anwendet, bis zulegt die 
Schwingungen fibtbar und zählbar werden, Auch an gefpannten 
Seiten läßt fih die Zahl der Schwingungen ermitteln. Bei bier 
fen weiß man, daß, wenn die Spannung biefelbe bleibt, die Länge 
der Saiten aber um bie Hälfte verkürzt wird, bie Zahl der Schwinr 
gungen im gleicher Zeit auf das Doppelte wacht, und bdaffelbe 
findet an Orgelpfeifen ſtatt. Auf diefe Erfahrung geftägt, hat 
man berechnet, daB auf den tieflten für ein menfchlidhes Ohr noch 
börbaren Ton 16 Schwingungen in einer Secunde kommen. 
(Chladni hatte gerade die Zahl dafür angenommen.) Diefer tiefe 
hoͤrbare Ton fol jenem entſprechen, dem eine 32flgige, an beiden 
Seiten offene Drgelpfeife bei dem Hindurchſtroͤmen ber Luft ver⸗ 
nehmen läßt. Mit jeder höheren Detave wählt die Zahl der 


28 60. Vermuthungen fiber das Weſen bes Lichtes, 


Schwingungen auf das. Doppelte, fie "beträgt deshalb bei dem 
Contra C, das eine 16fuͤßige Orgelpfeife angiebt, und welches zu⸗ 
gleich das tieffte C unferer Klaviere tft, 32, bei der höheren Des 
tave von biefem, dem fogenannten. geoßen C, dad dem Ton einer 
8fuͤßigen Orgelpfeife entfpriht, und zugleich bes tieffte Ton des 
Violoncells ift, 64, bei der naͤchſten Octave (dem Eleinen ©) 128 
und fo weiter bei dem eins, zwei⸗, dreis, viermal geftrihenen C 256, 
512, 1024, 2048 Schwingungen. Der Ton ber höhften Saite 
unferer neueren Klaviere, das viermal geflrihene G hat 3072 Vi⸗ 
brationen; auf den tiefſten Ton, den eine männliche Baßſtimme 
bervorbringen kann, (das große F) kommen 86, auf ben hHödhiten, 
ben fogenannten Bruſtton des einmal geſtrichenen A 427 Schwin⸗ 
gungen, der tieffle Ton einer weiblihen Singftimme (das Keine 
6) zaͤhlt 192, der hoͤchſte, das dreigeftrihene e 1280 Schwingun- 
gen in einer Secunde. Uebrigens gebt die Gränze der Hörbaren 
Toͤne nach der Höhe hinauf viel weiter, al6 die Tonleiter umferer 
mufitalifhen Inſtrumente, und man meint, daß unfer Ohr einen 
Umfang von wenigftens 9, ja 10 börbaren Dectaven „umfaffen 
tönne, wiewohl eine Zahl der Schwingungen, welche uͤber 1 

in einer Secunde fleigt, gewiß nicht mehr als Ton, fondern nur 
wie ein Zifhen vernommen wird. oo 

Mir kommen nun unferem Gegenftande, in den Berehnuns. 
gen der Schwingungen, welche der Lichtſtrahl in einer Secunde 
macht aus der Analogie der Berechnung der Schallfhwingungen, 
wieder näher. Man kann fi die Weife, in der fih der Schal 
oder Ton durch die Luft, bis zu unferem Ohre fortfest, wie eine 
Aufeinanderfolge von Wellen (größeren und zugleih längeren, 
Heineren und zugleih kuͤrzeren) denken. Der Schall durchlaͤuft 
in einer Secunde 1024 Parifer Fuß. Wenn wir in diefem Ab⸗ 
ftand den tiefften Ton einer Z2fuͤßigen Orgelpfeife vernehmen, der 
16 Schwingungen in einer Secunde madt, dann muß jede Schall 
weile, die von dieſem Tone erregt wird, an Länge ben 16 ten 
Theil von 1024, d. h. 64 Fuß gleih fein, während die Schall: 
welle der hoͤchſten, noch wohl umterfcheidbaren Töne nur wenige, 
ja kaum eine Linie lang ift. 

Riefenhaft groß nun, mie bie Verfchiedenheit der Geſchwin⸗ 
digkeiten des Schalles und des Kichtes, müßte auch die Verſchie⸗ 
denheit ber Zahl der Schwingungen fein, welche die Bewegung 
des einen und des anderen in einer Secunde madt. An den 
Erfcheinungen der Beugung oder vielmehr der Interferenz der 
Lichtfirahlen, welche nah einem Verfahren, das mit dem oben (S. 
405) befchriebenen den gleihen Zweck hatte, und bei welchem das 
Licht aus einer Eleinen Deffnung durch ein feines Drahtgitter in 
den verduntelten Raum fiel, maß Fraunhofer die Wellengänge 
ber verfchiedenfarbigen prismatifchen Lichtftrahlen nach Hunderttau⸗ 
fendftein eines Parifer Zolles. Solche Überaus feine Maaßtheile 
find es, nad denen die Phyſik bei dieſer Gelegenheit ihre Angas 





61. Das Licht und die anderen bewegenden Naturkräfte. 400 


ben gemadt bat und gefunden zu haben glaubt, daß die Zahl 
der Schwingungen des von der Sonne zur Erde gehenden Lichtes 
nicht weniger als 576 Billionen in einer Secunde betrage. Für 
den rothen Lichtſtrahl des prismatiſchen Harbenbilded wäre bie 
Zahl diefer Schwingungen, nah John Herſchel's Berechnung, 
eine geringere, für den violetten eine größere, fo baß der rothe 
Strahl dem tiefften, der violette dem hoͤchſten Ton einer Octave 
entſprechend gefunden wird. 

Wie der Freund der Natur mit XTheilnahme und innigem 
Vergnügen dem Gange der Entwidlung des Pflanzenlebens . aus 
der Erfheinungsform des keimenden Saamens zu der des aufs 
fproffenden, Blätter tragenden Gewaͤchſes, dann zu der bes bihs 
henden und Früchte erzeugenden folgt, wie er mit Luft den Bes 
wegungen eines Eindlich fpielenden, oder eines in ber vollen Mirks 
ſamkeit begriffenen, gereifteren Xhieres zuſieht; fo noch vielmehr 
empfindet der Geiſt des Menſchen eine theilnehmende Freude an 
dem Entwidlungsgang der Gedandenformen, die aus feinem eiges 
nen Wefen hervorgehen. Wir bewundern mit Recht alle die ſcharf⸗ 
finnigen, gründlich berechneten Vermuthungen Über die Wirkfams 
keit und das Weſen des Lichtes, und dem, was der helle Blid 
ber Forſcher vor ſich hatte, lag allerdings eine mathematifch Klare 
Anfhauung zu Grunde. Aber dies fcheint in Beziehung auf 
die Erkenntniß vom wahren Weſen des Lichtes noch ‘immer nur 
der genauen Unterſcheidung der Zonzeihen einer Melodie zu gleis 
hen, deren Klang das Ohr nicht vernimmt, und zu welcher nod 
der urfprünglihe Text fehle. Was diefer Vergleih meine, das 
darf vielleicht in einigen der legten Gapitel diefes Buches, worin 
‚vie von dem Mefen bes organifchen Lebens und der befeelenden 
Kraft reden wollen, nody näher angedeutet werben. - u 


61. Das Verhältniß des Lichtes zu anderen’ bene 
genden Naturträften 


Unter allen Kräften der Sichtbarkeit giebt fich zuerfl und zus 
naͤchſt die Schwere als eine Urfache der Bewegungen fund, Shre 
Gewalt ift es, welche die Monde um ihre Planeten, beide um bie 
mächtige Sonne, und auch diefe Herrfcherin felber duch den Welt- 
raum ficher in abgemeffenen Bahnen bewegt. Die Schwere tft 
es, welche die zerkihftete Felfenwand von der Höhe eined Berges 
abtöft und ihr Herabſtuͤrzen in die Tiefe bewirkt, welche die Las 
wine herunter zieht ins Thal, den Kal eines Stromes aus ber 
Höhe und fein allmähliges Abfließen nach dem Meere verurfacht. 
Da, wo der Menfch die flarke Naturkraft der Schwere in feinen 
Dienft nimmt, indem er die Schwere der Luftfäule oder des Mafs 
ſers oder irgend einer Lörperlihen Maſſe zum Gegengewicht bes 
nugt, vermag auch er Bewegungen zu begründen, zu welchen die 
Kräfte feines Armes niemals hinreichend wären; er laͤßt durch 


410 61. Das Lichte und die anderen bewegenden Naturkraͤfte. 


den Drud der Luft das Waſſer in feinen Pumpenröbren empor 
fteigen, ober duch den Druck einer höher ſtehenden Wafferfäute 
die Springbrunnen entfliehen, Räder umtreiben und große, fchwer- 
fällige Mafchinen bewegen; der Dammer in feiner Band, das 
Gewicht an feiner Uhr verrichten alle die Künfte, zu denen bie 
Erfindungskraft der Menfchen fie benugt, nur mittelft der Schwere. 

Der Magnetismus. wie die Elektrizität zeigen ſich als bewe⸗ 
gende Kräfte ſchon durch die Anziehung und Abſtoßung, melde 
fie begründen; die Anregungen von magnetifcher Art. geben fi 
zu gleicher Zeit Über ganze Erdtheile bin an ben Bewegungen 
der Magnetnadeln (nah Cap, 50) kund, die elektrifhe Strömung 
durdläuft mit einee Schnelle, welche die bes Lichtes noch zu 
Übertreffen fcheint, jene Räume, durch melde wir ihr, etwa mit⸗ 
telft eines leitenden Metallidrahtes den Weg bezeichnen (C. 48). 
Mir bringen ein Stuͤck verroftetes Eifen in eine ſchwache Auflö- 
fung des fchmwefelfauren Aupferorydes und alsbald beginnt ba ein 
Bewegen von allen Seiten ber, wie in einem gefhäftigen Amei- 
fenhaufen. Die Xheilden des Kupfervitriols treten ſchaarenweiſe 
ihren Zug nad dem Eifenfthl an, das im Sumpf des vitriolhal- 
tigen Quelles liegt; hier beginnen fie im Verkehr mit den Theils 
hen des Eifens ein Merk des Zerftörens und des Geſtaltens, des 
Miederreißend und des neuen Aufbaues, aus welchem Die oben 
(8. 19 erwähnte, ſcheinbare Verwandlung des eifernen Stabes 
in einen Eupfernen hervorgeht, Kin Körnlein Zinkmetall geräch 
in das Waſſer, worin der geringe Beifag einer ſchwachen Säure 
vertheitt ift, und alsbald fallen die weitzerfireuten Theilchen ber 
Säure in Gefellfhaft des Sauerftoffgafes - des Waſſers gleich 
hungernden Xhieren über das Metall ber, fie zertbeilen und vers 
zehren die Beute, während in unzähligen Bläschen das Waſſer⸗ 
ſtoffgas emporfteigt, 

Zu den mächtigften bewegenden Kräften in den Reichen uns 
ferer irdifhen Natur gehört die Wärme. Selbit aus dem Kampf 
mit der allbeberrfihenden Schwere, geht jene ſtarke Naturkraft, 
wenn beide im kleineren Kreife ſich begegnen, als Siegerin her⸗ 
vor; das Waſſer, das duch die Macht der Schwere aus ben 
Wolken oder aus der Bergquelle herab, bis zu. unferen gemauer⸗ 
ten Brunnen geführt war, und welches hier, in dem künftlichen 
Behaͤltniß, durch den Zug der Schwere feflgehalten wirb, reißt 
jih alsbald, wenn es duch die Dige zum Dampf wird, mit einer 
ſolchen Uebergewalt aus jenen Banden lod, daß es, im Dienfte 
unferee Dampfmaſchinen die Laft vieler Centner mit fi fortbes 
west (nah Lay. 3). Wenn fihb am Morgen vor Sonuenauf- 
Hang die abgekuͤhlte Luft, ruhend, mit dem Zug ihrer Schwere 
auf unfere Ebenen hingelagert hat, und nun auf- einmal die Strab- 
len der aufgehenden Sonne fie erwärmen, da beginnt alsbald das 
Bewegen der aufwärts fleigenden, duch die Wärme verdünnten 
Luftſchichten, das Auf⸗ und Niederwogen ber Luftſtroͤme; und bie 





64. Dos Licht und die anderen bewegenden Naturkraͤfte. 311 


Waͤrme, bush das verfhiedene Maaß ihrer Austheilung an bie 
eine oder die andere Gegend der Erdfläche, an biefe oder jene Re⸗ 
ion der Höhen, iſt au ein Hauptgrund der Bewegungen ber 
Luft, die fih vom erfriihenden Windhauch bis zum Sturme fleis 
gern können. Das, was ein Gewicht von vielen Centnern nit 
vermochte, das bewirkt ein Strahl der von einem glühend heißen 
Körper -ausgchenden und im Forus eines Brennfpiegele geſam⸗ 
melten Wärme, wenn fie eine Stange von Metal, welche fehr 
bedeutende Laften nicht zu zerreißen vermochten, weich wie Wachs, 
und tyopfbar fließend macht. i 

Mitten unter dieſen anderen Naturkraͤften, deren bewegendes 
alten fo deutlich in unfere Augen fällt, ſteht das Licht in ele 
nem Verhaͤltniß da, weiches uns an das Verhältnif des Nerven 
zu den Gliedern des lebenden Leibes erinnert. Während die Muss 
keln unferer. Arme, unferer Bände in der Eräftigften, lebhafteſten 
Bewegung ſind, faͤllt uns an den zarten Faͤden und Roͤhrchen 
der Nerven äußerlich gar kein deutliches Bewegen in die Sinne; 
und dennoch, das wiflen wir, geht eigentlich al? der Antrieb zum 
Bewegen durch den Willen der Seele von dem Nerven aus; 
ohne den Nerven wäre der Muskel, wären alle Glieder eine 
lahme, todte Mafle (m. ſ. C. 71). Mie könnte aber der Nerv 
Bewegung wirken, wenn nicht in feinem Weſen felber ein Bewes 
gen, und zwar ein fehr vielfeitiges, maͤchtiges wäre, welches die 
verbauenden Eingeweide, wie das raftlofe Derz, die redende Zunge, 
wie den gehenden Fuß zu ihrer MWirkfamfeit anregt. Denn nur 
Die Kraft. welche felber zu einem leiblichen Bewegen wird, kann 
anderen teibliden Dingen ein Bewegen mittheilen; | 

Wie daB geheimnifvolle Wirken des Nerven, fo fagten wir, 
durchdringt ber Einfluß des Lichte die Geſammtheit dee leiblichen 
Dinge: Der Antrieb, der von dem Nerver ausgeht, bewirkt Die 
Zerfegung und Umbildung des Stoffe, die Orydation des Blutes 
in den Zungen; begründet nicht. minder chemiſche Zerſetzungen und 
Umbildungen, ein . Aufnehmen und Ausſcheiden des Sauerfloffs 
gaſes. Der Nero regt die Muskelfafera zur Fröftigen Zuſam⸗ 
menziehung an und erzeugt hierdurch die Bewegung der Glieder, 
einen Vorgang, der fih auf die Erregung einer ähnlichen polaris 
fhen Spannung zu gründen fiheint, ald jeme ift, welche in unfes 
ten electtomagnetifchen Apparaten fo leicht hervorgerufen und zur 
Kraftaͤußerung gefteigert wird. Vor Allem ift es daB Herz, wels 
ches mit der erſten Lebeusregung, die in der Mitte des Nervev⸗ 
fofleme® erwacht, fein lebendiges Bewegen begiant, und deſſen 
Wirkſamkeit mis jener, bie aus dem Gehirn ihren Ausgang nimmt, 
in fortwährendem, ungertrennlichem Verein fortbefleht, bis zum 
Ende des Lebens. In derfeiben Meife gefelle fi alsbald zum 
Hereinſtrahlen des Lichtes die Wärme; biefe wird duch das Licht 
gewedt und erhalten, eben fa wie das Schlagen bed Herzens und 
der Pulsadern durch das Lebende Weſen des Nerven. Beide 


412 61. Das Licht und bie anderen bewegenden Naturkraͤfte. 


Wirkfamkeiten find zwar im :Karbenbitb des Prisma’s, wie im 
Leibe der Thiere und des Menſchen polarifh auseinander gelegt, 
fo dag am Herzen nur der Muskel, ohne einen eigentlidh bewe⸗ 
genden Nerven, im Gehirn nur der Nerv, ohne Mustelfiber ber- 
vortritts dennoh aber find auch zugleich beide im gemeinfamen 
Strahl’ des erhellenden, wie bes belebenden Einfluffes vereint. 
Das Licht, in feinem Bund mit der Wärme, wedt dann - weiter 
überall in der Natur die electromaanetifhen Gegenfäge und ihr 
gegenfeitiges Bewegen auf. " 

Man nimmt (nah C. 60) an, daß das Leuchten des Lichtes, 
welches unfer Auge fieht, eben fo wie das Zönen, welches unfer 
Dhr Hört, auf einem fihmingenden Bewegen beruhe; man hat 
fih bemüht, die ungeheure Schnelligkeit jener Schwingungen, 
welche die Farben des Prisma's erzeugen, auf’d Ungefähre hin 
zu berechnen. In jedem: Falle kann diefe Berechnung uns nur 
lehren, daß der Gegenftand, mit welchem fie fi befchäftigt, außer 
den Graͤnzen unferer eigentlihen, finnlihen Wahrnehmung liege. 
Daffelbe gilt von dem, wenn man fo fagen will, Innerlichen Be⸗ 
wegen, das in jenem Wefen ftattfindet, welches im Nerven ein 
Träger ber Lebenskraft if. Auch die Art und Meife, wie und 
wodurdy es gefchehe, daB die Bewegung, die im. Lichte -wie im 
Nerven ift, in fo vielfahen Formen hier diefes, dort ein anderes 
Bewegen hervorrufen, daß fie Wärme, wie hemifche Thätigkeit, 
magnetifhe, wie elettrifhe Spannung unmittelbar, tie mittelbar 
begründen könne, liegt zunächit außer. dem Bereih der finnlichen 
Auffaffung und Betrachtung. Dennoch iſt es diefe allein, bie 
uns, indem wir das deutlich Erkennbare mit dem in feiner Wirk 
ſamkeit ähnlichen, feinem Welen nad Unbelannten vergleichen, 
den leitenden Faben in die Hand geben muß. u 

Wir ermägen bier zuerft, in welden Zügen der Geſchichte 
ihres Entftchens, fo wie ihrer eigenthäimlihen Wirkfamkeit, bie 
bewegenden Naturkraͤfte einander ähnlich, find, und in welchen ans 
deren eine. Verfchledenartigkeit ihrer dußeren Richtung und Bes 
ziehung auf die Natur ber Körpermelt. ſich Fund giebt. 

Daß die Bewegung: der einen, ſcheinbar niederen Art, Bewe⸗ 
gung auch von ganz anderer Art, daB eine mechanifhe Anregung 
zum Beifpiel das Gegeneinanderbewegen weden könne, welches 
die Beinen Theile der Körper zum kryſtalliniſchen Geflge vereint, 
dies bezeugen viele, zum Theil allgemein bekannte Thatfachen, 
deren. Reihe Juſtus Liebig in feinen chemiſchen Briefen zufam- 
menftellt. Man kann Waſſer, wenn biefes ganz ruhig fleht, bie 
tief unter den Gefrierpunft erkälten, ‚ohne daß es gefriert, das 
heißt: aus feinem geſtaltlos flüffigen, in den Erpflallinifhen Zu⸗ 
fand des Eifes übergeht. Die leiſeſte Erſchuͤtterung aber, das 
Anrhhren der Mafferflähe duch eine Nabelfpige, reicht hin, um 
auf einmal jenes Bewegen im Waffer zu wecken, wodurch daffelbe 
zu Eis erflarst, Eben. ſo bemerkt man an manden Aufldfungen 








614.. Das Licht und die anderen bewegenden Naturfräfte. 413: 


der Salze in fiedenb heißem Waller, daß fi, wenn man fie ganz 
vuhig ſtehend erkalten läßt, keins Kryſtalle aus ihnen abfegen, bie 
durch irgend eine Bewegung von aufen bie zum Keyflallifiven 
nnöthige, polarifhe Spannung und Zufammenbewegung der klein⸗ 
ſten Theile des Salzes geweckt und angeregt wird. Das Hinein- 
fallen eines Sandkornes oder eines anderen Stäubchens in bie 
Ftäffigkert reicht Hin, um die Bewegung des Kryſtalliſirens ein 
zuleiten, und wenn diefe nur erft an einem Punkte begonnen bat, 
dann theilt fie fih non dieſem allen anderen mit, in einem fo zu⸗ 
nehmend ſich befchleunigenden Fortgange, wie eine Lawine, die 
mit jedem Moment ihres Fortrollens ftärker anwaͤchſt. Jener uns 
anſehnliche ſchwarze Weberzug, der fich Über dem Quekſilber bis 
det, Wenn. wie eine Auflöfung von Schwefelkali (Schwefelleber) 
daruͤber ſchuͤtten, ſteht zu dem fchönfarbigen, feintörnigen Zinnos. 
ber ganz in demfelben Verbältnig, wie das im Waſſer noch ger 
ſtaltlos aufgelöfte zum kryſtalliniſchen Salze, oder das noch teopfa 
bar. flüffige Waſſer zum Eis. So oft’ wir den ſchwaͤrzlichen 
Ueberzug, der aus einer geſtaltloſen Camorphen) Verbindung. des 
Schwefels mit dem Quedfilber befteht, von dem Metall hinweg 
nebmen, büdet.fih ein neuer, denn der Zug zur Vereinigung mit 
dem Quedfitber iſt im Schwefel viel ftärker, als jener Zug, wel⸗ 
cher' feine. Bexrbinbung mit dem Sali,bewirkte.e Wenn wir auf 
ſolche Weile. Schwefelquedfilber m Menge gewinnen, dann haben 
wir. im Grunde nur etwas Achnliches erlangt, ald wenn wir ‚die 
Srundfioffe, aus denen der Demant und ber Rubin. beſtehen: 
den reinen Kohlenftoff des Graphits und die vollkommen reine, 
aus dem Alaun gewonnene Thonerde in unferer Dand bielten, 
nicht aber die herrlich glänzenden, feften Edelſteine felber, welche 
die Natur daraus bildet... Unfer Schwefelmerkur iſt noch ein miß⸗ 
farbig ſchwaͤrzliches Pulver, welchem Bein Zärber die Fünftige 
Brauchbarkeit zu einem .der fchönften, prunkendſten Farbenmate⸗ 
rialien anfieht. Wenn wir. aber daffelbe in eine wohlverfchloffene 
Glasflaſche bringen und diefe an den Rahmen der Säge einer 
Sägemühle befeftigen, welche mehrere taufendmal mährend einer 
Stunde fi aufs und abbewegt, dann wird das geftalt- und farb- 
kofe Pulver in den fchönften, rothen Zinnober verwandelt, deſſen 
volllommen kryſtalliniſches Gefuͤge ſchon das blofe Auge, noch 
mehr aber das durch Vergroͤßerungsglaͤſer blickende, erkennt. Bei 
einer Verbindung des Queckfilbers mit Jod (dem Quekkſilber⸗ 
Jode) wird eine aͤhnliche Veraͤnderung, in Folge des Ueberganges 
der einen Kryſtallform ini eine ganz andere, dürch eine leiſe Erz 
ſchuͤtterung, ja ſchon durch eine Berührung. mit. den Fingern her⸗ 
vorgebracht. 

Das reine Schmiedeeiſen ift duch kuͤnſtliche Behandlung ins 
Feuer feines anfänglichen Kohlengehaltes, zugleich aber auch jenes 
kryſtalliniſchen Gefüges beraubt worden, durch weldes das kohlen⸗ 
ſtoffhaltige Roh⸗ ober Gußeiſen ſich auszeichnet: es iſt in geſtalt⸗ 


414 61. : Das Licht und die anderen bewegenden Naturkraͤfte. 


lofen Camorphen Zuſtand verfegt worden. Diefer künſtlich berbeis 
geführte Mangel wird in ben Augen des Menfchen, und in der 
Anwendung, die er von dem Schmiebeeifen macht, zu einem Vor⸗ 
zug, denn dieſes iſt zähe, zerbricht und zerfpringt nicht fo leicht, 
wie das Ernftallinifche Eifen feinem Gefüge gemäß dies thut; bie 
Bruchflaͤchen des Iepteren zeigen überall glatte und glänzende 
Stellen, der Bruch des Schmiebeeifens hat Achnlichkeit mit den 
auseinander geriffenen Städen eines dehnbaren Körpers, ift hakig 
und glei wie faͤdbig. Wenn man aber eine Stange Roheifen 
den lang und oft wiederholten, dabei nicht fehr ſtarken Schlägen 
eines Hammers ausfegt, dann geht in feinem Inneren eine aͤhn⸗ 
liche Veränderung in dem Gefüge der Eeinften Theile vor ſich, 
wie im geftaltiofen Schwefelquedfilber, durch die ruͤttelnde Bewe⸗ 
gung am Rahmen ber Sägemähle: es wird auf einmal zum koͤr⸗ 
nig (wuͤrflig) kryſtalliniſchen Eifen. Eine Vervollkommnung des 
Inneren Weſens dieſes nüglihen Metalles, welche der Menſch 
wegen ihrer Folgen nur zu beklagen hat. Denn daſſelbe, was 
die lang anhaltenden, oft wiederholten ſchwachen Hammerſchlaͤge 
thun. das bewirkt auch die lang anhaltende Erſchuͤtterung, welche 
die eiſernen Axen unſerer Reiſewaͤgen und der Locomotiven ber 
Dampfwägen erleiden. Auch durch dieſe Erſchuͤtterungen geht in 
kuͤrzerer oder laͤngerer Zeit das Eifen aus dem unvollkommen kry⸗ 
ſtalliniſchen Zuſtand feinfaferigen Gefuͤges, darin es viel zaͤher und 
ſchwerer zerſpringbar war, in den kryſtalliniſchen, leichter zerbrech⸗ 
lichen uͤber und giebt dadurch nicht ſelten Veranlaſſung zu man⸗ 
nigfachen Unfaͤllen. 

Auch hierbei begegnen wir uͤbrigens oͤfters ſolchen Erſcheinun⸗ 
gen, welche darauf hindeuten, daß die Wirkfamkeit der einen Bewe⸗ 
gung durch die einer anderen, wenn ſie auch von gleicher Art iſt, 
aufgehoben oder gehemmt werden koͤnne, wenn beide in ihrer 
Richtung und in dem Grad ihrer Staͤrke ſehr verſchieden find. 
Was die ſchwaͤchere, lang anhaltende, mechaniſche Erſchuͤtterung 
herbeifuͤhrt, das wird durch die heftige, ploͤtzlich eintretende und 
wieder abbrechende mechaniſche Anregung geſtoͤrt oder vernichtet. 

Bewegung erzeugt nad allen Richtungen hin ihres Gleichen, 
erzeugt wieder Bewegung; die des fcheinbar oder wirklich niederen 
Kreifes, wenn fie in den höheren hineintriet, wedt da jene Bewer 
gung: auf, welche diefem Kreife eigenthuͤmlich iſt, und umgekehrt, 
in noch viel allgemeinerem, höherem Maaße ruft Pie Bewegung, 
die aus dem höheren Kreiſe kommt, ein augenfälliges, kraͤftiges 
Bewegen in den Vörperlihen Stoffen einer niederen Region her⸗ 
vor. Das Reiben, das Haͤmmern, namentlid wenn ed an einem 
Eifenftabe immer in berfelben Richtung gefhieht, der Stoß, ber 
Druck etzeugen, je nach dem Verhältniß der Körper, welche fie 
treffen, die magnetiſche Prlarifation, die Bewegung des Kryſtalli⸗ 
firens, ‚die elekttiſche Spahnung, ober, wie wir dies bereits Früher 
erwähnten, bie Wärme, und ſchon bei dem Zuſammenſchlagen bes 





61. Das Licht und bie anderen bewegenden Naturkraͤfte. 415 


einem Kiefrifleines mit dem anderen erzeugt fi die Erfiheinung 
des Lichtes. Umgekehrt aber auch zieht mit dem Strahl der Sonne 
das ganze Deer der bewegenden Raturkräfte in dad Reich der ir⸗ 
diſchen Sichtbarkeit ein: mit der Wärme zugleich der gefammte 
elektromagnetiſche Wechſelverkehr. Und daffelbe gilt von der Leo 
bendfraft der Seele, wenn fie in den Kreis ihrer Leiblichkeit eins 
tritt, und bier nad allen Richtungen hin, fo wie in den ver⸗ 
fchiedenflen Formen, eine lebendige Anregung wedt. Dem Werfen 
alt? diefer Raturkräfte Liegt allerdings etwas Gemeinfames: ein 
Bewegen zu Grunde, dieſes aber, nady ber Verfchiedenheit feiner 
Richtung giebt zugleich jeder von ihnen einen befonderen, feſt be= 
Himmten Charafter, eine Verfchiedenheit der Natur, wodurd, die 
eine non ber anderen aufs Beftimmtefte fi abgrenzt. Wir wol⸗ 
len diefes zuerft durch einen Vergleich des Lichtes und der Wärme 
deutlidy zu maden fuchen. 

In dem Lichte, fo fahen wir, ift eine Drriheit von Vermögen 
vereint: das Vermögen der Erhellung oder Erleuchtung, das Ver⸗ 
mögen, die Wärme zu erzeugen und enbli das, bie chemiſche 
Wechſelwirkung zu erzegen. Bei der Zerlegung durch das Prisma 
find diefe drei Richtungen der weſentlich einen Kraft an drei vera 
fchiedene Stellen des Farbenbildes vertheilt: die lichtgebende an 
den gelben und naͤchſt biefem an den grünen Strahl, die warm⸗ 
madende an den rothen, die chemiſch wirkende an ben violetten. 
Hietaus hat ſich oͤfters die Frage entfponnen, ob die Wärme 
ſchon ale Wärme. mit dem Lichte aefellfchaftlih verbunden von 
ber Sonne zur Erbe komme, oder ob fie erſt upon dem Kicht er» 
zeugt werde, wenn dieſes mit der planetarifchen Köcpermelt in Be⸗ 
suhruug Temmit. . j F 

Von der chemiſchen Wirkſamkeit leuchtet es von ſelber ein, 
daß fir une da ſich aͤußern könne, wo chemiſche Polaritaͤten, zur 
wechſelſeitigen Verbindung oder Abſcheidung geneigt, fich vorfinden; 
gegen die Meinung, daß ed in und bei dem Lichte eigene Wärme 
ſtrahlen gäbe, weiche nur etwa wie bei etettrifche Funke durch 
den Kupferdraht ‚mit dem Sonnenlicht zugleich zur Erde geleitet 
würden, zulett aber eben fo trenn⸗ und ſcheidbar von dem Licht 
felber wären wie bie Kohlenſaͤute von der Kalkerde, mit welcher 
fie verbunden iſt, fpricht Vieles. 

Die Waͤrme vermag fich ſchon durch einen Raum, in welchem 
die Luft (nach C. 31) noch nicht bis zu dem hoͤchſtmoͤglichen Grade 
verduͤnnt iſt, nur mit großer Schwierigkeit. und langſam zu ver⸗ 
breiten; im volltemmen leeren Raume kann fie nur dann ſich 
forspflangen, wenn fie ſtrahlend (ſchan mehr ober minder deutlich 
unchtend) if. Auch eine dünne Glastafel läßt die bunkis Wärme 
nit hindurch, fo lange diefe die Siebhige nicht uͤberſteigt, während 
ſelbſt das ſchwaͤchſte Licht dur das Has hindurch ſtrahlt. Um⸗ 
gekehrt. täßt eine undurchſichtige Metaliplatte die Wärme fehr leicht, 
bad Licht nicht hindurch brechen. Die warmmachende Kraft dee 


416 61. Das Licht und die anderen bewegenden Naturkräfte. 


Lichtes Hänge durchaus nur von dem Srad der’ Helligkeit, wicht 
von .der Temperatur des Mittels ab, burdy welches feine Strahlen 
dringen; ob man daſſelbe durch eine heiße oder durch eine Kalte, 
durchſichtige Fluͤſſigkeit, durch warmes oder kaltes Glas fallen Läßt, 
Died vermehrt weder nody vermindert es die erwärmende Kraft des 
auf einen ygegenüberftehenden Gegenftand treffenden Strahles. 
Munde machte einft bei einem flarken Feuer die Erfahrung, daß 
die ſtrahlende Helle deffelben in einer Entfernung von 130 Fuß 
innerhalb eines Zimmers eine wahrnehmbare Erwärmung hervor: 
brachte, obgleih das Eid an den Senfterfcheiben, durch welche das 
Flammenlicht in das Zimmer hereinftrahlte, ‚bei einer Kälte von 
— 5 Grad nidye thaute. Wenn das Licht aus eigenthuͤmlichen 
feuchtenden und wärmenden Strahlen zufammengefegt wäre, welche 
nur ein Band der gegenfeitigen Anziehung mit einander vereinte, 
dann wuͤrde ber Lichtftraht, während er ein ſtark erwärmtes durch⸗ 
fihtiges Mittel durchdraͤnge, ohne Zweifel mit den darin enthals 
tenen Wärmeftrahlen fich vereinen, und diefe mit fi nehmen auf 
feinem weiteren Wege, oder, wenn ihn fein Lauf duch ein fehr 
kaltes Medium führte, würde ihn feine Begleiterin, die Wärme, 
verlaffen, und in dem oben erwähnten Salle würde dadurch das 
Eis der Fenſtertafeln aufgethaut worden fein. 

Wie das Licht, je heller es ſtrahlt, deſto mehr die Wärme er⸗ 
zeugt, fo kann man auch auf der anderen Seite von der Wärme 
fagen, daß fih aus ihr, bei zinem gewiſſen Grad ihrer Steigerung, 
das Licht erzeuge. Das Metall wie der Stein werden in’ ber 
Stuthhige leuchtend; der im Strom. einer ſtarken eleftromagnes 
tifchen Entladung. gluͤhende Ptatinadraht leuchtet in einem das 
Auge blendenden, fonnenhellen Lichte. Die verfchiedenen brenn- 
baren Körper erfordern‘, wie wir früher fahen,. wenn. fie bei ihrer 
Verbindung mit dem Sauerſtoffgas ſich wirklich entzänden und 
entflammen follen, einen gewiſſen Grab der Erhigung, und erfl 
dann, wenn aus: dem Dampf oder Rauch die helle Flamme ber 
vorbricht, gibt fich die waͤrmende Kraft des Feuers in ihrer ganzen 
Stärke fund. Es Liegt nicht an der. Geſchwindigkeit des Bewegens, 
daß die Wärme in diefen Fällen auf einmal zum heilen Lichte wird, 
‚denn der langfame Gang, ben die Mittheilung der Wärme von 
einem Körper an den anderen nimmt, hängt allein von ber beffer 
oder ſchlechter leitenden VBefchaffenheit der Körper ab, und wenn 
man die ausftrahlende dunkle Wärme eines erhisten Körpers in 
einem Hohlſpiegel fammelt und aus dieſem herausftrahlen Läßt, 
dann erdennt man, nah Bios und Pietet's Beobachtung, an 
der Wärme eine eben. fo unmeßbar fchnelle Fortbewegung duch 
ben Raum, wie an bem Licht und an der: Eiektihität, ohne daß 
fie hierbei ihre Dunkelheit. ablegt und leuchtend wird. 

In manchen Fällen kann auch bei dem chemiſchen Vorgang 
des Verbrennens ein ganz außerordentlich hoher Grad von Ers 
hitzung eintveten, ohne eine, biefem Diggrabe entfpeechende Erbellung. 











1. Das Licht und die anderen bewegenden Naturkraͤfte. 417 


Se bebient man fih, um eine Hige bervorzubringen, bei welcher 
die Metalle ganz befonbers leicht und ſchnell zum Schmelzen kom⸗ 
men koͤnnen, einer Vorrichtung, vermöge welcher ein gasartiger 
DBrennfloff mit dem Sauerfloffgas, aus einem engen Roͤhrchen 
beroorftrömend, den Stoff zur Iangfortwährenden Flamme darbietet: 
bes fogenannten Knallgeblaͤſes. Obgleich diefe Flamme eine außer: 
ordentlich heftige Gluthitze erzeugt, iſt das Licht, das fie ausſtrahlt, 
dennoch nur ein fehr ſchwaches, und zeigt fid, überdies nicht von 
der Farbe des vöthlichen, märmegebenden, fonbern des bläulichen 
prismatifhen Strahles. 

Nicht von unbebeutendem Einfluß ift an den bewegenden Na⸗ 
turkräften etwas fcheinbar nur wenig Wefentlihes: die Richtung, 
welche ihr Bewegen nimmt, Selbft die mechaniſche Erfchütterung, 
buch ben Schlag des Hammerd auf eine Eifenflange, ruft in 
diefer blod dann eine magnetifche Polarifation hervor, wenn bie 
Schläge immer nur von dem einen Ende nad) dem anderen, nicht 
etwa abmwecfelnd von diefem anderen Ende aus nad jenem hin 
geführt werden. Auch dadurch wird ein Eifenftab magnetifh, daß 
man ihn eine längere Zeit hinduch in ber Richtung von Nord 
nah Süd, oder mit bem einen Ende in bem Boden feit ftellt, 
denn auch auf bie letztere Weife wird der untere Theil deffelben 
auf unfere Halbkugel zu einem nach Norden ſich hinkehrenden (fo= 
genannten) Nordpol In biefem Falle ſcheint es die natürliche 
magnetifhe Steömung zu fein, melde, von der Erbe ausgehend, 
‚ihr eigenthümliches Bewegen dem Eifen mitgetheilt hat. Wir koͤn⸗ 
‚nen aber in einem noch viel hüher gefleigerten Maaße ben Eifen- 
ftab.magnetifh machen, wenn wir elektrifhe Strömungen, nicht 
feiner Länge, fondern der Queere nad), von einer Seite bes Sta⸗ 
bes zur anderen, über ihn binftreihen laffen. Hierauf grünbet 
‚fih, wie wir oben im ATten Gap. fahen, die Einrichtung, fo wie 
bie außerordentlihe Wirkfamkeit der elektromagnetifhen Vorrich⸗ 
tungen. Wie fih am Holz, wenn es zuerft auf ber heißen Platte 
immer mehr und flärker erhigt wird, und wenn nun- bei dem hoch⸗ 
‚ gefleigerten Diggrab auf einmal bie heile Flamme aus ihm hervor: 
‚bright, durch das Zuſammenwirken der Wärme und bes Fichtes 
‚die heftigſte Flammenglut entwidelt, fo gefchieht es auch in den 
Vorgängen des Elektromagnetismus, daß beide beivegende Naturs 
träfte, die der Elektrizität und jene bes Magnetismus, welche dem 
Wefen nach Eines, der -urfprünglichen, inmwohnenden Richtung nad) 
‚zwei find, in ihrer Verfchmelzung zu einem weder augfchiießend 
von Nord nad Sud, noch von Oft nad Welt gehenden, ſondern 
zwifchen beiben rotirenden Bewegen, eine ganz überaus gefleigerte 
‚Wirkfamfeit erlangen. - 

Wir erwähnen bier im Vorbeigehen eines Beifpieles aus ei⸗ 
nem ganz anderen Meiche der irdifhen Sichtbarkeit, an. welchem 
fi die hohe Bedeutſamkeit der blofen, räumlichen Richtung nad: 
‚weifen laͤßt. Das. vierfüßige Thier feht fo auf dem Boden und 


. 9 


418 61. Das Licht und die anderen bewegenden Naturkraͤfte. 


geht To auf biefem einher, daß die Ruͤckenwirbelfaͤule mit dem 
Schädel und mit dem ganzen Kopf in horizontale Richtung, in 
gleihe Linie mit dem Boden tritt; der Menſch allein fteht aufrecht, 
fo daß die Ruͤckenwirbelſaͤule die Richtung von oben nach unten, 
nur das Haupt die horizontale Stellung hat. Wir miffen aber, 
welche vielfeitige Vorzüge unferer Natur an diefe aufrechte Stel 
lung geknüpft find. Scheint es body felbft auf anderen viel nie 
drigeren Stufen ber thierifchen Geftaltung fo, ald ob mit der vor 
herrihenden Richtung zugleich, die der Körper annimmt, die ganze 
wefentliche Befchaffenheit eines Thieres eine Aenderung erleiden 
Tonne. Go lang die Larve der Singmüde, die im Waſſer lebt, 
noch auf ber erflen Stufe ihrer Entwidlung als Larve fteht, ift 
ihr Kopf und der ganze Morbertheil des Körperd nad unten, nad 
dem Boden, der Hintertheil, an welhem die Athmungsdorgane 
ihren Ausgang nehmen, nad oben gekehrt. Die Larvenhaut wird 
abgeftreift, die Stellung des Leibes wird auf einmal eine ganz 
andere, entgegengefegte, denn Kopf und Bruft richten ſich nad 
oben, das ſchwanzaͤhnliche Ende Lehre fi dem Boden zu. Mit 
dieſer veränderten Richtung ift zugleicd das hier ein ganz anderes 
geworben, feine Athmungsorgane haben jest ihre Stellung an der 
Region der Bruſt erhalten, die Art feiner Bewegungen, feiner ge 
fammten Lebensäußerungen ift verändert: es tft aus dem Zuſtand 
der Larve in den der Puppe übergegangen, an welcher die höheren 
Sinnorgane, fo wie alle dem nahe künftigen geflügelten Zuſtand 
dienenden Glieder in einer ungleich vollfommneren Form ale bei 
der Larve hervortreten. Ein Beifpiel von ähnlicher Bedeutung gibt 
uns die Stellung ber Brutzellen im Bienenftod. Alle die, in 
welchen fich die Larven der kuͤnftigen Arbeiterinnen fo mie der 
Drohnen entwideln, flehen in der vorherrfchend "horigontalen Rich⸗ 
tung; in der nämlihen, weldye die mit Honig gefkllten Bellen 
haben. Din und wieder jedoch fieht man im Inneren des kunſt—⸗ 
"reihen Baues Zellen von ganz anderer Form, in einer vorherrfchend 
fentrechten Stellung: es find die Zellen, in denen ſich die Larven 
der künftigen Weifel oder Bienenköniginnen entwideln; die Karven 
der vollkommnen, fruchtbaren Mütter des ganzen Schwarmes. 
Auch die gemeinen Arbeitöbienen find eigentlich von dem Gefchledht 
dieſer Mütter: es find unvolllommen geftaltete, meiſt unfruchtbare 
Weibchen, und als folche geben fie, wenn bie Zeit ihrer Ver—⸗ 
pflegung zu Ende tft, und fie nun auch den Schlaf bes Puppen: 
zuſtandes genoffen haben, als geflügeltes- Inſeet aus der Wiege 
ihrer Kindheit hervor. Wenn man aber einem -munteren Bienen- 
ſthwarm mitten in der Zeit des Frühlings, wo alle die horizontal 
ftehenden Brutzellen voller Eier oder ganz Kleiner, junger Laͤrvchen 
find, aus’ denen nach dem gewöhnlichen Verlauf der Entwicklung 
'gemeitte Arbeitöbtenen kommen würden, feine Königin, und zugleich 
mit dieſer noch alle die fenkrecht flehenden, flafchenförmig geftalte- 
‘ten Zellen hinweg’ nimmt, welche bie Larven oder Puppen von 


614. Das Licht und die anderen bewegenden Naturkräfte 419 


künftigen Königinnen enthalten, dann begeben fich die vermwaiften 
und beraubten Bienen an ein Gefchäft der Verwandlung, deffen 
Wirkſamkeit eine hoͤchſt bedeutungsvolle für ben ganzen Eleinen 
Staat diefer gefellig lebenden Thiere iſt. Eine Anzahl von Zellen, 
worin das junge Volk der Arbeiterinnen feine Wiege hat, wird 
hinweggerifien, unb bierbuch der Raum zur Anlage einer ſenk⸗ 
echt ſtehenden größeren Zelle gewonnen, welcher die funftfinnigen 
Baumeifter die Geftalt einer Eöniglihen Brutzelle geben. Da hin- 
ein bringen fie jest eine erft feit wenig Stunden oder Tagen aus 
dem Ei hervorgegangene Arbeiterinnenlarve, verforgen diefelbe mit 
jenem Sräftigeren, auserlefeneren Sutter, womit die jungen Kos 
niginnen groß gezogen werden, und das Heine Thier, das durch 
feine Geburt zu dem niedrigeren Stand der gewöhnlichen Unter: 
thanen beflimmt war, empfängt mit der volllommneren leiblichen 
Geſtalt und Bekraͤftigung zugleich ben Rang einer Herrſcherin; es 
wich zu einer fruchtbaren Mutter und Königin. Wenn hierzu bie 
veränderte Stelung ber Brutzelle auch nicht Alle® beitrug, fo er⸗ 
fheint fie .dennod, ein nicht minder wefentliches Element zur eigen⸗ 
thümlichen, Eräftigen Anregung des noch unentwidelten Lebens- 
keimes der Larve geweſen zu fein, als die flärker veizende Koſt. 
Dem inneren Wefen nach bleibt die Larve der Biene wie der Müde - 
diefelbe, die fie vor ber Veränderung ber vorherrfchenden Stellung 
war, in Beziehung aber auf ihre Wirkſamkeit, auf das Verhältniß 
zu ihrer äußeren Umgebung ift zugleich mit jener anderen ebenfalls 
eine Veränderung vorgegangen. Auch bie Wärme und das Licht 
find ihrem Wefen nad Eines, duch die Richtung aber, melde 
fie nad) den verfchtebenen Kreifen der irdifchen Leiblichkeit nehmen, 
und durch die Art ihrer Wirkſamkeit auf diefe, find fie unterfchieden. 

Eine ungleich allgemeinere und bedeutungsvollere Erfcheinung 
als. die ebenerwähnten find, Liegt und hier nahe, bie uns beffer 
benn alle anberen das Einsfein der Wärme und des Lichte nad) 
innen, fo wie ihre Verfchiebenheit in der Wirkſamkeit und Richtung 
nad) außen zeigen kann: dies tft der Lauf ber Planeten oder Mon⸗ 
den um ihren Gentralkörper. 

Die jährlihe Bewegung der Erde in ihrer Bahn um bie 
Sonne ift im Ganzen nur eine, fie ift in jedem Augenblid, fie 
war und bleibt zu allen Zeiten nur die eine, welche ben Planeten 
feinen faft Ereisförmigen Weg um die Sonne führe. Wenn mir 
aber genauer auf die Weife diefer Bewegung achten, dann finden 
wir, daß, eigentlich zwei verfchiedene Richtungen ihr zu Grunde 
liegen, die eine nach bem Gentrallörper, nach dem Mittelpunkt 
der Bahn hinabwaͤrts, die andere nur in geraber Linie vorwärts 
und nah außen gehend auf dieſer. Der Zug ber allgemeinen 
Schwere hält den Mond an feiner Erde, hält die Planeten an 
ihrer .Sonne feſt; wenn dieſer nah dem Mittelpunkt der Kräfte 
hingehende Antrieb (die Gentripetalkvaft) allein, ohne den anderen 
noch qußen hinführenden Antrieb wirkte, dann würde der Mond 


27 * 


420 61. Das Licht und bie anderen bewegenden Naturkraͤfte. 


an die Erde, bie Planeten würden an die Sonne herangezogen 
werden, es wuͤrde ber eine Meinere Weltkörper an den anderen 
größeren, von mächtigerer Maffe fi anfügen und mit diefem nur 
eine und bdiefelbe gemeinfame Maſſe bilden. Könnte dagegen ber 
andere, centrifugale Antrieb allein wirken, dann würden alle dieſe 
Lichtfunten des Sternenhimmels, alle diefe Staubkörner oder Atome 
der Schöpfung, deren jedes nach unferem menfhlihen Maaßftab 
eine große, herrliche Welt ift, fi) im unermeßbaren Weltraume 
zerftreuen, ohne Ordnung und Zufammenhalt. Die abftoßende 
Bewegung für fih allein würde die Atome von einander reißen 
und zerftäuben, die anziehende würde biefelben zur ftarren be 
wegungslofen Maffe mahen. So aber burchdringen fich beide 
Richtungen des Bewegens ohne Aufhören, eine wirft nur mit der 
anderen vereint und gemeinfam. . | 

Mas den Punkt des Ausgehend ſowohl des einen als des 
anderen Zuges der Bewegung betrifft, fo fallt es leicht in die Au: 
gen, baß der Zug nad dem Mittelpunkt der Bahn, nad) ber 
Sonne bin, aus diefer felber eben ſowohl feinen Anfang, als in 
ihe fein Ziel und fein Ende habe, und eben fo allgemein anerkannt 
ift es, daß der centrifugafe, zunächft geradlinig auf der Bahn vor: 
wärts ftrebende Antrieb, der Maſſe des Planeten oder des Mondes 
felber eingepflanzt, diefem felbfiftändig einmohnend fe. Der erftere 
Antrieb, der nad der Sonne oder Überhaupt nad) dem Mittel: 
punkt der Anziehung binführt, bezeugt fi aber dennoch, unge 
achtet der fcheinbaren Befonderheit von dem anderen, als der Ur 
grund beider, denn je näher ein Planet an der Sonne fteht, je 
kräftiger der Zug nach biefer Mitte iſt, deſto gewaltiger und kraͤf— 
tiger äußert fich auch der andere, in der Eigenheit des Planeten 
kiegende, centrifugale Antrieb der Bahnbemegung. Jupiter, Sa 
turn, Uranus und Neptun, die vier Außerften, von dem anziehen 
den Mittelpunkt entfernteften Planeten, find "einem, nach bem 
(quadratiſchen) WVerhältniß ihrer zunehmenden Abftände immer 
Ihwädher werdenden Zuge der allgemeinen Schwere, nach der 
‚Sonne hin, unterworfen, der ihrer planetarifchen Maffe eigenthäm: 
‚lich eingepflanzte, fortbewegende Antrieb follte demnach, fo könnte 
man meinen, immer ungehemmter und hierdurd, Eräftiger werben, 
etwa fo mie die Luft, je höher bie Region ift, in die fie hinauf 
fleigt und je mehr fie von dem Drud der oberen, auf ihr ruhen: 
den Luftfäule entlaftet wird, deſto tafcher und ungehemmter fich 
ausdehnt. Aber gerade das Gegentheil erfolgt; die fortfchreitende, 
centrifugale Bewegung nimmt mit dem Zuge ber allgemeinen 
Schwere, der fie nad) der Sonne hinführt; zugleih ab. Während 
unfere Erde in jeder Stunde Zeit eine Strede von faft 15000 Met: 
‚ten zurüdtegt, macht der mächtige Jupiter, deſſen Maffe dreimal 
fo groß iſt als die Maffe aller Übrigen Planeten zufammengenom: 
men, ber aber zugleich etwas mehr denn fünfmal fo weit von de 
Sonne abſteht, als unfere Erde, im derſelben Zeit nur einen Weg 








61; Das Licht und bie anderen bewegenden Naturkräfte, 421 


von 6500 Meilen; Saturn bringe es noch nicht. einmal auf 5000 
Meilen (geht in einer Stunde nur 4836 M. weit), Uranus legt 
nur 3400 Meilen zuruͤck und wenn es moͤglich wäre, manche un 
ferer weiteſt abgelegenen, befannteren Cometen auf der Strede 
ihrer Bahn duch die Sonnenferne zu begleiten, dann koͤnnte ein 
Reiter zu Pferd oder wenigſtens ein Dampfwagen ganz bequem 
mit ihnen gleichen Fortgang halten, 

Abgeſehen von dem Einfluffe, den die Interferenz der Lichts 
firablen hierbei, wie wir im 60. Gap. fahen, bat, dußert ſich ben- 
noch bie Wirkfamkeit des Lichtes, welche zunaͤchſt und vor Allem 
eine erleuchtenbe,. hellmachende ift, als eine vorherrfhend in gerader 
Linie und Richtung gehende. Das Licht ift ein Herrfcher, deſſen 
übermächtiger Einfluß weder Einſpruch nod Abänderung erleidet. 
Eben fo hält auch die Zunahme oder Abnahme des Zuges ber 
Schwere mit ber Zunahme ober Abnahme der Annäherung an 
die Sonne, gleihen Schritt. Ein dunkler Körper, welcher zwei 
oder dreimal weiter von einem Lichte abfteht, ald ein anderer, wird 
(nad quadratifhem Verhaͤltniß) von ben Strahlen befjelben vier 
oder neunmal ſchwächer erleuchtet, gerade fo mie auch ein Welt: 
törper, welcher zwei ober dreimal weiter von feinem anziehenden 
Mittelpunkt abfleht, als ein anderer, einem vier oder neunmal 
ſchwaͤcheren Zuge des allgemeinen Schwere, nad dieſem Mittel: 
punkte hin unterliegt. it der erhellenden, eigentlich leuchtenden 
Kraft des Lichtes nimmt aber auch, mie wir früher fahen, fein 
wärmeerzeugendes Vermögen zu ober ab. Und was ift die Wärme? 
Iſt fie niche im unferer irdiſchen Sichtbarkeit ganz daffelbe, mas 
die centrifugale Richtung in ber Bahnbewegung bed Planeten ift? 
Dürfen wie nicht in ihrer Wirkfamkeit, wenn fie das Ernftallinifche 
Eis, ober als Schmelzhige das feftefte Metall in flüffigen Zuſtand 
verfeßt, Die einzelnen Theilchen dieſer Körper von einander, ale 
Macht der Abſtoßung entfernt, etwas Aehnliches anerkennen, als 
in jenem Antriebe bes planetarifhen Bewegens, der jedes diefer 
berrlihen, majeſtaͤtiſchen Weltenftäublein eines von dem anderen, 
fie alle aber von ber feftbannenden Mitte hinmwegführt? 

Das Sonnenlicht ift die mächtigfte, zugleich die einfachfte, die 
reinfte unter allen Arten des uns bekannten Lichtes. Sein Strahl 
teifft nirgends. hin, ohne, nad) dem Maaße feines geradlinigeren 
und Eräftigeren Auftreffens und der Capacität der beleuchteten Körs 
per zugleich Wärme zu mweden. Das Licht gleicht jenem Zuge, 
der für fi allein die polarifch gefchiedenen Maſſen der Sonne 
und der Planeten zufammenführen und verbinden würde. In 
unferer irdiſchen Natur hat diefer Zug öfters einen ganz unge 
hemmten, freien Lauf, wenn er ben. brennbaren Körper mit bem 
Sauerftoffgas der Atmofphäre zufammenführt und beide, eins mit 
dem anderen, zu einem neuen Element dee Körperlichkeit geflaltet. 
Je mächtiger aber hierbei diefer.centripetale, die Vereinigung bewir⸗ 
fende Antrieb wirkt, deſto Eräftiger tritt auch zu gleicher Zeit der 


422 61. Das Licht und die anderen bewegenden Naturkraͤfte. 


centrifugale, von der feften Zuſammenfuͤgung hinwegführende An- 
trieb, als Wärme, als Flammenhige hervor, welche jedoch bei diefer 
Verſenkung in den irdifhen Stoff, mie im Farbenbild des Pris⸗ 
ma's, als ein befonderer Strahl der Wirkfamkeit, außer dem Mit 
telpunft, in welchem die Vereinigung ftatt findet, in die umge- 
bende Körperwelt fällt. Se gemaltiger der Zug ift, der den Brenn⸗ 
floff zur Verbindung mit dem Zuͤndſtoff hinreißt, defto flärker wer⸗ 
den auch bie Theile der benachbarten Körper von dem Streben er⸗ 
griffen, ſich gegenfeltig von einander abzuftoßen — zu ſchmelzen 
oder fich zu verflüchtigen; je langfamer und träger dagegen der 
centripetale Zug bei der Wereinigung jener beiden chemifchen Ge- 
genfäge wirkt, defto ſchwaͤcher kann fich der ihn begleitende, centri- 
fugale Zug als Erwärmung dufern. Darum erfheint faules 
Holz, obgleich es im Dunkeln leuchtet, unferem Gefühl als Kalt, 
und baffelbe gilt von allen im Zuſtand der Gdhrung und Verwe⸗ 
fung langfam verbrennenden organifhen Subftanzen. 

Es ift ein Gefeg der gegenfeitigen Ausgleichung der verfchie 
benartigen Bewegungen, welches in allen Reichen der Sichtbarkeit 
feine fefte Geltung bat, daß, wenn auf der einen Seite ein Bor: 
gang der Zerfegung und des Abſtoßens ſtatt findet, in einer nach⸗ 
barlichen Region zugleih dee Drang zur neuen Seftaltung, zur 
Erfegung des entftandenen Mangels rege wird, Wie das Waffer 
in den luftdünnen Raum hinauffteige, und die Luft fi) mit Ge 
walt einen Weg in bie entftandene Leere zu bahnen fucht, fo 
fchließt fi) der Zug zur gegenfeitigen Anjiehung und neuen Ver—⸗ 
einigung der Elemente unmittelbar an den der Auflöfeng an. 
Umgekehrt aber auch eben fo nothmendig an ben centripetalen An- 
trieb, welcher der allgemeinen Schwere und ber Anziehung der 
einzelnen Körpertheile entfpricht, der centrifugale. Wir prefien im 
Münzprägftod (nah Gap. 33) ein Stuͤck Metal auf einen ens 
geren Umfang zufammen; feine Heinften Theile ruͤcken näher an- 
einander, ziehen ſich flärker an, zugleich aber vegt ſich jenes ent 
gegengefegte Bewegen, das in ber nachbarlichen Körperwelt ein 
Trennen und Abftoßen der einzelnen Theile bewirkt; es wirb eine 
Wärme erzeugt, durch welche leicht fchmelzbare Körper zum Fließen 
kommen, mande flüffige in Dampf verwandelt werden. Selbft 
bei dem feften, Erpflallinifhen Geftalten (beim Gefrieren) des Waß 
ſers ift diefe Waͤrmeentwicklung bemerkbar. Aber die Gliederung, 
das Auseinanberfchließfen ber einen Bewegung an bie andere, po= 
lariſch entgegengefegte, erſtreckt fich weiter, denn in bemfelben Maaße, 
in welchem das Prinzip der Abſtoßung der einzelnen Theile, des 
Ueberganges in den formlofen Zuftand mächtig wird, erhält auch 
der Zug zur Miedervereinigung, zur mwechfelfeitigen Anziehung neue 
Kraft. Das MWaffer wird durch die Märme zum Verdunſten ge 
bracht, zugleich aber wird in einer nachbarlichen Region des Fluͤſ 
figen die Wirkfamkeit jenes Antriebes- erleichtert und gefördert, 
welcher, der Schwere verwandt, bie Zufammenziehung in engeren 


61, Das echt und bie anderen bewagenden Naturkeifte.. 423 


Raum, ja bie fefte Geftaltung zur Folge hat; bie Werbampfung 
auf der einen Seite kann eine Reif: ober Eisbildung auf der an; 
deren nach fich ziehen: eine Erſcheinung, die fich unferem Gefühl 
als Kälte zu erkennen giebt. 

Der Drud, das Reiben und der Stoß rufen gleichzeitig beide 
höhere Richtungen des Bewegens: Licht und Wärme hervor; da, 
wo flatt ber Wärme eine mechaniſche Gewalt ben engeren Zuſam⸗ 
menhalt der Theile auflöft, fie von einander reißt: beim Zerbrechen 
und Zerftoßen mancher Körper, wird nad demſelben -Gefeg, nach 
welhem ein Metalidraht durch die Hige glühend. und heilleuchtend 
wird, eine fchnell vorübergehende Lichterfcheinung bemerkt. Diefe 
zeigt fich felbft da, wo fich Luftarten plöglic aus einem engeren 
in weiteren Raum ausdehnen, fo namentlid, wenn man Glasku⸗ 
geln, mit Sauerftoffgas gefüllt, im Iuftleeren Raume zerbricht, ober 
wenn ſich die aͤußere Luft. nady bem Berfprengen einer Blafe, melche 
über das kuͤnſtlich Iuftleer gemachte Behältnig einer Luftpumpe 
gefpannt war, augenblidlih ausbreitet. Die fogenannten- Knall: 
bomben aus Glas zeigen biefelbe Erfeheinung, wenn fie an einem 
dunklen Drt auf den feflen Boden hingeworfen merden und zer 
plogen; auch beim Abfeuern ber Windblichfen, wobei bie vorher 
in engem Raume ſtark zufammengepreßte Luft fi plöglih aus⸗ 
dehnt, hat man öfters ein Leuchten wahrgenommen. 

Zunädft flimmt in feinem ganzen Weſen und Wirken. das 
Licht mit jenem centripetalen Zuge überein, durch welchen bie ver 
einzelten Elemente der Körpermwelt zufammmengeführt und zuſan⸗ 
mengebalten werden; mit dem Zuge, welcher in der unorganifchen 
Körperwelt die Kıpftallifation, in der organifhen das Wahsthum- 
und die Entwidlung bewirkt. Der Kampher und der Salpeter (in 
ber Salpeterlauge) fo tie verfchiedene andere Subſtanzen werden 
duch das Einfallen des Lichtitrahles zum Kryſtalliſiren gebracht, 
fo daß die entſtehenden Kryſtalle in Glaͤſern, welche Außerlih zum 
Theil mit Papier überzogen find, ſich vorzugsmeife an bie freien, 
dem Lichtftrahle zugänglichen Stellen anlegen. Der Antheil, wels 
her dem Licht an dem Entflehen der Kıyflalle gebührt, macht fich 
auch auf andere Weife erfennbar, Bei dem Anſchießen der Kry⸗ 
flalle der Benzoefäure durch Deftillation zeigten. fih (nah Bud: 
ner) fprühende Lichtfunten, das phosphorfaure Blei Ieuchtete bei 
feinem Uebergehen in bie flarre, Erpftallinifhe Form, nad einer 
Beobachtung von Fuchs fo heil, als ob es weißglühend. ſei; das 
Gefaͤß, worin eine fehmwefelfaure. Kobaltauflöfung, mit Kali ver: 
mifcht, bei 12 Grad unter dem Eispunkt buch Hermann zum 
Krnftallificen gebracht war, warf einen hellen, funkelnden Lichtſchein 
von fih, als die Lauge davon abgegoflen murde, und etwas Aehn⸗ 
liches beobachtete man beim Sepltatifieen des Slauberfalzes, [o mie 
verſchiedener anderer falziger Körper. Und wie beim, Entflehen der 
Kryſtalle, fo zeigt ſich aud eine Lichterfheinung bei dem Zerflören 
derſelben durch .eine ftärkere mechanifhe Gewalt. Denn. vorzuge- 


A2A 61. Das Licht und die anderen bewegenden Naturkeaͤfte. 


weife und faft ausfchließlich find es nur Erpftallinifhe, feſte Koͤr⸗ 
per, an benen, wenn man fie zerbricht, zerftößt, oder heftig reibt, 
ein Leuchten beobachtet wird. 

Der centripetale Zug, welcher die Anelnanderfügung, die fefte 
Vereinigung der leiblichen Elemente herbeiführt, theilt die polariſche 
Spannung, melde der Aneinanderfügung derfelben zur regelmaͤßi⸗ 
gen Form vorausgehen muß, zunaͤchſt jenen Theilen einer £örper- 
lichen Maſſe mit, die für eine ſolche Polarifation am leichteften 
empfänglich find. Andere, etwa gleichzeitig in einer Auflöfung ent- 
haltenen Theile nehmen an jenem Zuge Eeinen Antheil, fie werden 
von der Bewegung des kryſtalliniſchen Bildens ausgefchloffen. 
Menn deshalb das Seewafler bei einem hinreihenden Kältegrabe 
zum Kryſtalliſiren (zum Gefrieren) kommt, dann werden alsbald 
die Salze, mit denen e8 vorher vermifcht war, ausgeftoßen ; das 
Eis des Meerwaflers befteht zunähft nur aus füßem, falzlofem 
Waſſer. Umgekehrt werden manche metallifche Oxyde, obgleich fie 
ſchon für fih allein einer Ernftallinifhen Geftaltung fähig find, 
noch ungleih empfänglicher für den polarifirenden Einfluß, der das 
Entftehen ber regelmäßigen Korm begründet, wenn fie noch mit 
einer Säure zum Salz (VitrioD fi verbinden ; diefer fremdartige, 
in der Auflöfung enthaltene Stoff wird dann in bie Bewegung 
Pr Kryſtalliſirens aufgenommen, er wirkt zur Verſtaͤrkung des⸗ 
ſelben. | 

Menn ber bildende und geftaltende Einfluß bes Lichtes nad 
C. 55 ein Ausfcheiden des Sauerftoffgafes aus dem falpeterfauren 
Silber bewirkt, fo thut er diefes in derfelben Weiſe, als die ift, 
in welcher er bei dem geftierenden Seewaſſer das Salz aus feiner 
Vermiſchung mit dem Waſſer hinmwegführt; die Theile des ſchwer 
orpdirbaren Silbers mie Goldes find vielmehr für fich allein zu 
einer polarifhen Entgegenfegung und Bufammenfügung geneigt, 
als in ihrer nur unter gewiſſen Umftänden erreichbaren Verbin⸗ 
dung mit dem Sauerſtoffgas. Wenn dagegen das Licht beim 
Bleichen ber organifhen Stoffe (nah C. 29) eine Berbindung 
mit dem Sauerftoffgas herbeiführt, dann geſchieht dies aus dem- 
felben hemifchen Beweggrund, aus welchem das Streben zur re 
gelmäfigen Geftaltung das ſchwer Ernftallificende Kupferoryd Cm 
feiner volltommenften Form als Rothtupfererz bekannt) in Ber: 
bindung mit der Schmwefelfäure zum leichter kryſtalliſirenden Kupfer- 
vitriol umſchafft. Der Erfheinung nad find diefe beiden Vor⸗ 
gänge ber Ausſcheidung und der Anziehung des Sauerftoffgafes 
fehr verfchteden und fich entgegengefegt, und dennod find beide ih- 
rem Weſen nad) daſſelbe. 

Mir verglihen weiter oben das Verhaͤltniß, in welhem bad 
Licht zur Wärme fteht, mit jenem, das fich zwifchen ben beiden 
Richtungen ber bewegenden Kraft findet, vermöge deren die Pla⸗ 
neten ihren Lauf um die Sonne volführen. Der allgemeinen, 
allumfaflenden Schwere, melde für unfer Pianetenfpflem ihren 





61. Das Licht und die anderen bewegendein Natırkräfte 423 


Ausgangspunkt des Wirkens vorwaltend in ber Sonne hat, ent⸗ 
fpriht, bei al? feiner Verſchiedenheit von der: Schwere, das Licht; 
mit jener Wurfkraft, die dem Planeten, als einem für ſich beſte⸗ 
henden Meltenfläublein, abgefonbert und entfernt von ber Sonne 
zum Snhaber und Herrfcher feiner Bahn made, iſt bie Wärme 
vergleihbar. Sie iſt ein Bewegen, welches durch - alle einzelnen 
Theile der Körper, bis in das Innerfte berfeiben hinein feine Macht 
ausuͤbt; die MWirkfamkeit des Lichtes, wie die ber allgemeinen 
Schwere bezieht ſich auf das VBerbundenfein und Einsfein aller 
einzelnen Elemente bed Körpers zu einer Geſammtheit. In biefer 
ihrer Beziehung erfcheint die Märme als eine Kraft, melde bie 
Leiblichkeit auch in ihrer Tiefe burchbringt, das Licht als eine folde, 
welche zunaͤchſt nur auf ben Außeren Umfang der Körper gerichtet 
iſt. Wie aber der Zug der ‚Schwere mit und in ber Geſammt⸗ 
maſſe des Planeten zugleich auch alle einzelnen Xheile, jeden Stein 
und jeden Baum deſſelben mit dem Gentrallörper — mit ber 
Sonne — verbindet, und’ hierbei gleichzeitig in allen biefen einzel- 
nen Xheilen die Kraft ſich regt, die ben ganzen Weltkörper, zu 
welchem fie alle gehören, auf der Bahnlinie fortbewegt, fo. kommt 
auch aus jedem Stein, aus jedem Baum, den der Strahl .bev 
Sonne triffe, dem Lichte die Regung und Bewegung der. Wärme 
entgegen. on FP 

Das weſentliche Einsſein der Elektrizitaͤt und des Magnetis— 
mus iſt durch die Erſcheinungen des oben erwaͤhnten Elektromag⸗ 
netismus (Cap. 45) erwieſen worden. In vielen ſeiner Eigen⸗ 
ſchaften zeigt ſich das Weſen des Magnetismus nahe verwandt 
und uͤbereinſtimmend mit dem Weſen des Lichtes, das der Eieftri« 
zität mit dem ber Wärme. Auch biefe beiden Bewegungen der 
Naturkräfte rufen ſich überall gegenfeltig hervor, obgleich ihr mes 
fentliches Beifammenfein und Einsfein erſt dann deutlich in die 
Sinne fällt, wenn die eine von beiden einen hoben Grad der 
Wirkſamkeit erreicht hat, wie uns aud das Licht des Mondes, iw 
feiner verhaͤltnißmaͤßig großen Schwäche, ohne Vermögen ber Wärs 
meerzeugung erfcheint und dennoch nicht gan; ohne waͤrmende 
Kraft iſt. Das magnetifhe Eifen behält Sahrhunderte lang bie 
Macht, anderes Eifen anzuziehen und ihm feine polarifhe Eigen: 
[haft mitzutheilen; ein Magnet kann Taufende von: Stahlfläben 
durch Beſtreichen maägnetifh machen, ohne dabei an feiner Kraft 
Etwas zu verlieren, eben fo wie fi) an der Flamme einer Fadel 
taufend andere Fackeln entzuͤnden können, ohne dag bie Flamme 
der erften duch diefe Mittheilung fehwächer wird, So kann aud 
bie Scheibe einer Elektrifirmafchine, abgefehen von bem, was bie 
mehaniihe Einwirkung hierbei verändert, Tauſende von Malen 
zum Hervorrufen gewaltiger eleftrifcher Effecte, burd, Reibung, bes 
nugt werden, ohne an biefer Kraft etwas -einzubüßen. Es find 
dies nur kleinliche Abbilder won dem Weſen mund Wirken dev 
Sonne, beten Licht und Waͤrmequell niemals -verfiegt, fordern in: 


426 62. Bewegung bei fcheinharer. Ruhe 


einer fich immer erneuernden Kraft das Weltgebäube durchſtroͤmt. Dem 
Magnet kommt die erfie Anregung zu feinem inneren, anziehenden 
und abfloßenden Bewegen aus einem allgemeineren magnetifhen 
Bewegen, das bie ganze Körperwelt bed Planeten durchdringt, ohne 
feldft ein Körper zu fein; ben Sliedern bes lebenden Leibe wird die Kraft 
ihres Geſtaltens und Wirkens ohne Aufhören durch ein inwohnen bes 
Etwas gegeben, welches nicht von ber Natur des Leibes ift: durch 
die Seele. So bürfen wir auch bei ber Betrachtung der herrlich 
firahlenden und mwärmemwedenden Sonne nicht vergefien, baß bie 
Regungen ihres Leuchtens, ihres. Erwaͤrmens und ihres chemifchen 
Einfluffes auch noch einen anderen Urgrund haben Tonnen, als 
das Vorhandenfein eines Stoffes, welcher (wie man felbft von dem 
fogenannten Wärmeftoff annahm) herauffttömen follte aus bem 
mächtigen Gentralkörper, nah den ihn umkreiſenden Planeten, 
und ans diefen wieder hinab zur Alles tragenden, haltenden Mitte, 


62. Bewegung bei fheinbarer Ruhe. 


So lange wir die Saite eines muſikaliſchen Inflrumentes, 
oder den dünnen, elaftifchen Metaliftab, den wir flark zu uns ber 
überbogen und dann in feine vorige Lage zurüdfchnellen ließen, 
noch ſchwingen fehen und fogar feine einzelnen Schwingungen noch 
zu zählen vermögen, hoͤrt unfer Dhr keinen eigentlihen Ton bei 
feinem Bewegen. Die Luft wird durch einen Faͤchel oder durch ein 
fhwingendes Rad mit einer Schnelligkeit fortgeftoßen, welche meh⸗ 
rere Fuß: in einer Secunde beträgt; wir fühlen ihre Wellen an 
unferen Körper, feben den Staub fi bewegen, vernehmen viel- 
leicht ein undeutliches Saufen, einen eigentlihen Ton aber hören 
wir nicht. Wenn dagegen eine Nachtigall neben uns im Gebüfde 
fingt, oder ein kunſtreicher Finger die Saiten einer Harfe rührt, 
dann hören wir die mannichfaligen Töne, und wir wifien, daß 
uns diefes Hören nur durch ein Bewegen ber Luft möglich wird, 
welches ungleich weiter veichend iſt, als das Bewegen der Luft 
durch den Fächel, das nur über einen Raum von wenig Schritten 
fih verbreitet. Dennoch fühlt unfer übriger Körper nichts von 
dem Zittern ber Luftwellen, fein Staub wird davon aufgeregt, 
nur das Ohr, zur Empfänglichkeit für den Laut gefchaffen, unter 
terfcheidet und bemerkt dieſe flüchtigen Wellen, welche, Die eine 
zehn⸗, die andere viel hundertfach fihneller denn die anderen neben 
einander her wogen, ohne fidy gegenfeitig in ihrem Laufe zu flören. 
. Ein Bewegen ift ohne Aufhoͤren in der Luft vorhanden; 
fetbft dann, menn das Schiff wochenlang von ber ſcheinbar gänz- 
lichen Windftille unter dem gluͤhenden Strahle der Sonne an ei: 
ner Stelle feftgehalten wird, fteigt neben und über ihm der warme 
Luftſtrom in die .Döhe und der Bältere fenkt ſich nah der Tiefe 
herab, wenn auch von biefer ſchwachen Megung weber das Segel 
angefhwellt, noch irgend eine Empfindung ber Sinne hervorges 


62, Bewegung ber ſcheinbarer fuhr, RT: 


enfen wird. Was von dieſem befländigen Bewesen in ber Luft 
und von dem Hörbarwerden, fo wie von dem Unhoͤrbarſein befiels 
ben gilt, das läßt fi von all’ jenen Bewegungen der Sichtbarkeit. 
ſagen, welche ſich unter gewiflen Umſtaͤnden unferem Wahrneh⸗ 
mungsvermögen als Magnetismus, als Elektuizität, als Licht und 
als Wärme kund geben. Sie wirkten immerwährend fort; der 
Strom der magmetifchen Anregung ergebe ſich ohne Aufhören durch 
die ganze. iedifche Natur, ohne baß wir etwas von ihm fühlen ober 
hoͤren; erſt dann, wenn er fi bes Eifens bemächtigt und dieſes, 
magnetiſch macht, werden auch wir etwas von ihm gewahr; erſt 
dann, wenn ein verhäftnißmäßig feft in feinen Theilen zuſammen⸗ 
haltender, elaftifcher Körper in kraͤftige Schwingungen gefegt wird, 
nimmt auch bie elaftifihe Luft ſolche Schwingungen an, melde 
fih zur beutlich unterfcheibbaren Form der Töne erheben, fo wie 
hr Lichtſtrahl am planetariſch dichten Körper zer Form ben 


Aber dennoch, obgleih nur ein und baffelbe urfchöpferifche 
Bewegen es ift, das in feinen verſchledenen Richtungen, verwandt 
hierin dem Lichtftrahl, der als ununterfcheitbare Einheit m's 
Prisma fällt, und hier in die Newtoniſche Siebenzahl ber Farben 
ſich theilt, in ben Erſcheinungsſormen der Schwere und Triebkraft, 
des Lichtes und der Wärme, des Magnetismus und der Elektrizi⸗ 
tät, wie bes Chemismus ſich kund giebt, wird dennoch jede diefer 
Richtungen ein Etwas für ſich, das in ſeiner eigenthuͤmlichen Art 
und Weiſe auf unfer ſinnliches Wahrnehmen, fo mie ‚auf die irdir 
ſche Koͤrperwelt einwirkt. Wir verweilen jeboch hier zunaͤchſt nur 
bei dem, was in ihnen Allen das Gemeinſame iſt. 

Nur Bewegung kann Bewegung wecken; die Schwingungen 
des Lichtaͤthers wie der Tonwellen regen die gleichen Schwingun⸗ 
gen in dem gerade für ſie geſtimmten Sinnesnerven an, ſollte nur 
die Wirkſamkeit des Gefuͤhles hierin eine Ausnahme maden? Ein 
geiftreicher Phyſiker, ©. Fr. Pohl in feiner Gedaͤchtnißſchrift auf 
Eopernicus ‚über das Leben ber unorganifhen Natur, hat 
den Zweifel hieran befeitigt, er hat in einleuchtenber Weiſe eö dar⸗ 
gethan, daß auch in dem ſcheinbar todtenftarren Steine, ben wir 
in der Hand halten, ein für die anderen Sinne unermeßbares, 
nar auf unfere Gefühle wirkendes, fchwingendes Bewegen fei. 

Wir konmen hierbei no einmal zurüd. auf das Verhaͤltniß 
ber Schwere, diefer allburchdringenden, allvereinenden Raturkraft 
zu dem Lichte. Man hat die Schnelligkeit, mit welcher fich Die 
Weilenſchwingungen irgend eines Tones bush die Luft bewegen, an 
der genau berechenbaren, allgemeinen Geſchwindigkeit des Schalles 
gemeſſen; die. Schnelligkeit der Schwingungen, welche die Licht⸗ 
ſtrahlen beim Hindurchgehen durch ein Prisma::in den verfchiebes 
nen Theilen des Farbenbildes Haben, ſchaͤtzte man nach der bes 
fannten allgemeinen Geſchwindigkeit bes Lichtes. So mächtig groß 
aber auch dieſe letztere Geſchwindigkeit im DBergleich: mis. der des 


» 


228 63. Einwirkung und Nachwitfung. 


Schalles ift, fo unermeßbar weit ſteht fie jener, über all’ unfer Beit- 
maaß erhabenen nah, mit welcher die allgemeine Schwere bie 
Räume der Sichtbarkeit durchdringt. Diefes gemeinfame Band 
der Anziehung, das alle Stäublein, alle Elemente der Körperlid- 
keit zufammenführt und vereint, das dem Körper des Planeten, 
wie jedem Stein und jeden Tropfen Waſſers auf ihm ihren Zus 
ſammenhalt giebt, wirkt ohne Aufhören fort; koͤnnte fein Zug aud 
nur auf einen einzigen Augenblick nachlaffen, dann würde alöbald 
alles Leibliche auseinander ſtaͤuben; fein Weben und Walten füh- 
len wir, wenn mir irgend einen buch bie anziehende Kraft der 
einzelnen Theile entflandenen und durch dieſe Kraft befichenden 
Körper anruͤhren. Das Stilleftehen der Starrheit ift nur ein 
Schein; eben fo wie bei dem Kreislauf der Weltkörper bie anzie⸗ 
bende Macht des Gentraltörgerd ohne Aufhoͤren, in Verbindung 
mit der centrifugalen Richtung, Bewegung wirkt, weil fie felber 
ein Bewegen ift, find auch biefe beiden Regungen, davon die eine 
(als Erpanfion) dem einzelnen Körper feine Ausbehnung, die an: 
dere (als Contraktion) feine feſte Begraͤnzung giebt, ohne Unterlaß 
in Wirkfamkeit und gegenfeitiger Bewegung. ' . 

Es iſt diefelbe Macht unferes Gottes, die fi in dem Werk 
der Erfchaffung, und welche in dem Wert der Erhaltung der fichts 
baren Dinge ſich fund giebt. Denn die Erhaltung felber iſt nächte 
Anderes, als eine fortwährende Schöpfung, ein befländiges Hervor⸗ 
gehen aus dem Nichtſein zu dem Sen. Das Wirken jener 
Schoͤpfermacht, welches den Dingen ihren Leib gab, unb ben 
Staub diefes Leibes zufammenhält, nimmt unfer Gefühl bei dem 
Anrühren jedes Steine wahr; ein Abbild dee Kraft, bie jenen 
Staub bewegt und belebt, erfcheint unferem Auge im Lichte. Noch 
ein anderes Wirken jedoch ber Schöpfermaht al& jenes, das in 
bie äußeren Sinne fällt, giebt fich dem inneren Sinne des Men- 
fhen und: es ift das Weben und Walten des Geiftes in und- an 
feinem Gott ertennenden Geifte. 


63. Einwirfung und Nachwirkung. 


Eine große Glocke, an melde ber Stundenhammer fchlägt, 
tönt, unmittelbar nah dem empfangenen Schlage, fo laut, daß 
man ihren Ton in einem weiten Umkreiſe vernimmt. Aber aud) 
dann, wenn man in einem Abfland von wenig hundert Schritten 
fhon längft nichts mehr von dem Glockenſchlage hört, bemerkt ein 
unmittelbar am Thurme Stehender noch ein Forttönen ber Glocke, 
und wenn felbft für diefen das Tönen nicht mehr. hörbar ift, ver 
nimmt baffelbe noch immer ein britter Zuhörer, welcher auf dem 
Thurme felber, in unmittelbarer Nähe der Glocke, ſich befindet. 
Die Schwingungen, burd ben Anftoß von ‚außen erregt, mögen 
aber’ felbft dann noch fortbauern, wenn umfer finnlichee Wahrneh⸗ 
men ſchon laͤngſt ihre Fegte Spur verloren hat; für Werkzeuge 


83. Emörkuny. und: Nachwickung. 429 


"son Iehhterer Erregbarkeit wären fie vielleicht noch immer bemerkt 
bat, wie für das Geruchsorgan bes Jagdhundes bie nachgelaffenen 
Spuren des Wildprets, das fehon laͤngſt aus unferen Bliden und 
aus dem Kreis unferer finnlihen Wahrnehmung entſchwunden tft. 
Wenn zwei Stimmen ein Lied mit einander fingen, dann 
wird dies lauter ertönen, als nur mit einer, von zehn Stimmen 
noch lauter, als von zweien; wenn in einem Zimmer von ber 
vorhergegangenen Heizung noch Wärme zurücdgeblieben. ift, dann 
wird ein neu hinzukommendes Anfchüren bes Feuers .viel ſchneller 
und fräftiger Erwärmung -verbreiten, als die erfimalige Heizung 
eines Raumes, der nod niemals durchwaͤrmt war. So fcheint 
ſich auch: die fehnellere und ftärkere Erregbarkeit eines Körpers für 
irgend eine Bewegung, zu weldyer ibm der Anſtoß von außen kam, 
öfters darauf zu gründen, daß die Bewegung, die der vorberge 
bende Anftoß gab, noch nicht ganz aufgehört hat, fondern ale 
Nachhall fortdauert, und hierdurch zur Verſtaͤrkung des ‚neuen Bes 
wegens ein Mefentliches beiträgt. 

Zuvoͤrderſt lehren uns biefe® ſolche Erſcheinungen, melche in 
"den ſchaͤrfeſt unterfcheidenden dar Sinne, in ben bes Gefichtes, fal⸗ 
Ten, Wir erwähnten früher, daß der Diamant nicht nur beim 
Reiben ein mehr oder minder deutliches elektriſches Leuchten zeige, 
fondern daß berfeibe auch durch Beſtrahlung von der Sonne ober 
von hellem Kerzenlichte bie Eigenfchaft empfange, einige Zeit nach⸗ 
her im Dunklen ſelbſtſtaͤndig fort zu leuchten: Nicht alle Dias 
manten find dieſes Selberleuchtens fähig, und man hat bemerkt, 
daß ſolche, die beim Heiden kein Licht von ſich geben, auch. nad 
der Beſtrahlung von dee Sonne, im Dunklen nidyt phoßphores- 
ren. Als man jedoch zmei folche, ber Phosphorescenz unfähige 
Diamanten ſtark gegeneinander fließ, gaben nicht nur beide einen 
ELichtſchein von fi, fondeen fie erhielten;von nun an bie Fähigkeit, 
fowohl duch das Reiben, als auch duch das Sonnenlidht im 
Dunklen teuchtend zu werben. Mit einem anderen fchön polirten 
Diamant twutde der Verſuch gemacht, ihn burd; das öftere Ans 
[lagen mit einer Feile zum Selberleuchten zu bringen. Zwei 
"Tage lang blieb diefes Bemühen vergebli, erſt am. dritten Tage 
zeiöten ſich die erften Spuren einst Phosphorescenz, welche aber 
von nun an Immer augenfälliger wurbe, immer ſich erregen tie, 
fo daß nicht nur das Anſtoßen eines hölzernen Körpers die Licht⸗ 
‚erfheinung hervorrief, ſondern auch die Beftrahblung von der Sonne 
ein Leuchten im Dunklen zur Folge hatte, wozu früher der Die- 
mant ganz unfählg gefhienen hatte. - 

Das im Inneren eines Eörperlichen Weſens noch immer fort 
twährende, wenn aud unferem Sinne nicht mehr bemerkbare Be 
"wegen wird zuweilen, nad dem gewöhnlichen Sprachgebrauc, als 
'„ Stimmung‘ bezeichnet. Im Grunde genommen ift die magne 
tiſche Kraft, welche wir. nad) Seite 417 in dem Stahlftabe durch 
in, befkändig in derſelben Richtung beharrendes Schlagen mit 


430 63. Enwirkung und Nachwirkung. 


dem Hammer hervorgerufen ‚haben, fo wie die auf gleichen Wege 
des mechanifhen Anſtoßes erlangte kryſtalliniſche Zuſammenfuͤgung 
der Theile eine folche Stimmung zu nennen. Die Freunde und 
Meifter des Saitenfpieles, wor Allen des Biolinfpieles, wiffen es 
aber, daß nicht nur das mieberholte Anregen eines Stahlitabes 
durch den Hammer in gewiffer harmoniſch folgeredhter Weife eine 
magnetifche Stimmung deſſelben erzeuge, fondern daß auch in einer 
Violine, deren mittönendes, hölzernes Gefüge oͤfters durch den 
"Klang der Saiten in harmonifche Schwingungen verfegt murde, 
ja baß in jeder Saite, in jeder Glode einer Harmonika eine mufi- 
Ealifche Stimmung erzeugt werben könne, melde in einem Fort⸗ 
wirken jenes fehwingenden Bewegens feinen Grund hat, das der 
Konkünftler zu oft wiederholten Malen in ben Saiten ober in der 
Glasglocke hervorrief. ' 

Wenn fih ein Kryſtall aus der tropfbar= ober dampffoͤrmig⸗ 
fluͤſſigen Auflöfung gebildet hat, dann .fcheint er für immer fertig; 
dad Gegeneinanderbewegen ber einzelnen Theile diefer Heinen Mag- 
nete mit ihren anziehenden und abftoßenden Enden ſcheint abgethan 
and beendige zu fein Dies ift aber keineswegs der Hal. Wir 
koͤnnen durch unfere Kunft, wie duch ein Hoͤrrohr, das der 
Schwerhörtge vor fein Ohr hält, bie Schwingungen bed Bewegens, 
"die bei der Bildung bed Kenftalles wirkfam waren, und welche, 
fo fange er in dieſer Form beſteht, fortHauern, von Neuem zur 
Kunde unferer finnlihen Anſchauung bringen, wenn wir den fchon 
längft fertigen Kryſtall in eine Auflöfung von Stoffen legen, die 
für die Mittheilung jenes Bewegens empfänglicd find. Das Chrom- 
oxyd, in einem beſtimmten Verhaͤltniß mit Schwefelfüure fo wie 
mit Kali, und mit Theilen des Waflers vermifcht, in welchem, 
fammt ihm, diefe Stoffe .aufgelöft waren, bildet; beim Verdampfen 
des auflöfenden Waſſers, dunkelgruͤne, achtflaͤchige Kryſtalle. Wenn 
dieſe Kryſtalle, nachdem ſie ſchon ſeit Jahren gebildet und frei im 
Trocknen geſtanden waren, von Neuem in eine waͤſſerige Aufloͤſung 
von gemeinem Alaun gebracht werden, dann ſetzt ſich das Bewegen 
der kryſtalliniſchen Geſtaltung gerade da weiter fort, mo es vorher 
Huch Mangel an Stoff zum Abbrechen und Stillehalten genöthigt 
worden mar; die regelmäßig anfchieffenden Theilhen des Alauns 
legen fich, eines amı anderen, und über dem anderen, an bie ſchon 
‚gebildeten Flächen des Octaeders an; diefes. führt das in Stillftand 
:gerathene, unterkeochene Werk feines Wahschums von Neuem fort, 
gleich einem ‚noch lebenden Gewaͤchs, dem man nach langem 
Schmachten wieder Waller zu feiner Rahrung giebt; es entftehen 
‚achtfinchige Kepftalle, die in ihrem Innerſten ‚einen dunkelgruͤnen 
Kern von derfelben Geftalt zeigen, um melchen her, ‚wie eine Kapfel, 
ſich der Anfag des gemeinen, durchſichtigen Alaunſalzes gelagert 
hat. Sahrhunderte, ja die Zeiträume von Jahrtauſenden ˖ſchwaͤchen 
nicht dieſes Vermoͤgen eines Fortwirkens ber anfänglich, beim Ent⸗ 
ſtehen der Kryſtalle wirkſamen Bewegung Ihrer Theile. Die Aus⸗ 











68, Einwirkung und Nachwirkung.441 


fülungsmaffe der Sangfpalten ber Gebirge mag ſich in ſehr weit 
von einander gefihiebenen Zeiträumen gebildet haben; Kryftalle, aus 
den Aufloͤſungen einer fpäteren Periode, haben ſich jedoch auf die 
Flächen oder Kanten von anderen fhon laͤngſt gebildeten Kryſtallen 
in einer Ordnung und Weiſe angelegt, aus der man deutlich mer- 
ten kann, daß bie Bewegung, die bei dem Entfiehen bes Kryſtalles, 
auf dem die Ablagerung gefhah, tbätig war, noch in ihm fort 
wirkte. Mir wiſſen nicht, vor mie vielen Jahrtaufenden fi ber 
ſchoͤne grüne oder gelbe, in Wuͤrfeln oder Achtflächen kryſtalliſirte 
Flußſpath, in den Erjflüften unferer Urgebivge gebildet hat. Er 
war vielleicht ſchon feit länger als einem Sahrhundert aus ber 
Ziefe heraufgebraht worden, und lag feitdem in einer mineralo- 
giſchen Sammlung unter Glas und Schrant, Beine Kraft zum 
Wachſen und Geftalten bat ihn aber noch keineswegs verlaffen, 
wie fich dies bald verräth, wenn wir ihn in eine Auflöfung von 
falzfaurem Kalk, etwa erft heute entnommen aus dem Wafler des 
todten Meeres, hineinftellen; benn alsbald fangen, fo wie. das 
überflüfftge Waffer verdünftet, feine Flaͤchen an, in gehöriger Weiſe 
zu wachſen; nicht zwar in derſelben Farbe, in derfelben Härte und 
mit demfelben Slanze, wohl aber in bderfelden Form nimmt ber 
Kryſtall an Umfang zu. In berfelden Weife fegt ein freilich ganz 
anders als der Flußſpath geformter Kryſtall des ſchwefelſauren 
Kalkes (Fraueneifes) fein Wahsthum fort, wenn mir ihn in Be 
rührung mit der kryſtalliniſch ſich geftaltenden fchmwefelfauren Talk⸗ 
erde ’(mit dem Bitterſalz) bringen. | 
Man hat m'den Särgen der ägyptifhen Mumien und zum 
Theil in den verdorrten Händen berfelben, zufammengefthrumpfte, 
bürre Zwiebeln von Knoblaud oder aͤhnlichen Gewaͤchſen, fo. wie 
die reifen Körner und Achren von Walzen gefunden. Vor meh: 
teren Jahrtauſenden ‚waren biefe Zwiebeln oder Körner, mit-den 
einbalfamirten Leichnamen zugleih in den Gruftgemölben beigefegt 
mworben, unb in diefer langen Zeit war ihr Vermögen zum Keimen 
und Wachfen nicht erlofchen; man hat fie in eine feuchte gute Erde 
gebracht und die Kwiebeln ſchlugen aus, die Waizenkoͤrner keimten 
zu’Halmen auf und trugen reichlihe Saamen. Ganz baffelde hat 
man:an jenen Saamenkoͤrnern und Wurzelkeimen beobachtet, weiche 
feit Jahrhunderten unter dem Grundgemaͤuer uralter Gebäude ver- 
börgen gelegen waren, ‚wenn jegt auf einmal ber wärmende und 
belebende ‚Strahl :der Sonne, fo wie der Thau und Regen des 


| Himmels auf fie herabfiel. 


Selbſt im Großen, an ganzen Maſſen ber Gebirgsgeſteine 
laͤßt ſich ein folches Fortwirken bes inneren Bewegens ertennen, 
das ihre anfängliche Geftaltung bewirkte. Ein berühmter Reiſender 
und trefflicher Bergmann, Rußegger, hat Über biefen Gegenſtand 
ſehr werthvolle Beobadjtungen befannt gemacht, zu welchen ihm 
fein. Aufenthalt und ‚feine:bergmännifchen Forſchungen, namentlich 
‚am Ranrusgebirge, Vreranlaſſung gaben, Die. Befhaffenheit und 


432 64. Elementare Geſtaltung und fiberifcher ‚Einfluß. 


Seftaltung einiger Gebirgelagerungen jener Gegenden, fanımt der 
Sorm und Stellung, in welcher fidy die im bortigen Kalkſtein ent- 
baltenen Erzmaſſen zufammengehäuft finden, läßt es deutlich er- 
kennen, daß bier noch lange nachher in diefen Maffen Kräfte der 
Anziehung gewirkt und kugliche Bildungen hervorgerufen haben. 
An ber Bewegung eines folchen fortgehenden Geftaltens nahmen 
zunaͤchſt nur die einen, nicht alle Befteinarten des Gebirges einen 
Antheil, fo daß die Lagerung ber Geſteinmaſſen, in deren Mitte 
bie fremdartigen Beſtandtheile das Wert ihrer wechfelfeitigen An- 
einanderfügung fortfegten, dadurch in einen Zuftand der Zerrüttung 
gerietben, welcher deutlich beweift, daß der Vorgang der Fortbil- 
dung der Erzniederlagen in ihrem Inneren zu einer Zeit flatt fand, 
‚in welcher fie ſchon laͤngſt ihre volllommene, fefte Geftaltung ge 
wonnen hatten. Auch mande andere, fleinbildende Stoffe, wie 
namentlich die Kiefelerde, ſetzen in einem fchon gebildeten Kalkge⸗ 
birge das Gefchäft der wechfelfeitigen Anziehung und Zuſammen⸗ 
fügung ihrer Theile fort; da befonders, wo irgend eine Kluft oder 
ein anderer leerer Raum im Inneren der Gebirge ſich findet, ver- 
fammeln fi) die Fremdlinge, welche darin zerftreut wohnen, eine 
Landsmannſchaft zur anderen, ber Baryt zu anderem Baryt, das 
fhwefelfaure Blei zu anderem Blei feiner Art, Eiſenoxyd ober 
‚Scwefeleifen zu feines Gleichen. Es find Bande, ähnlich jenen 
‚der Blussverwandtfchaft oder. der Sreundfchaft unter und Menfchen, 
bie, in ihrer befonderen Weiſe, felbft in dem Reihe der todten 
Stoffe walten, bamit die verſtreut wirkenden Kräfte vieler Einzelnen 
gu einer gemeinfamen Kraftäußerung vereint, den Alles bildenden, 
Alles ‚tragenden Einfluß des allgemeinen Seins und Lebens em- 
pfangen möchten. 


64. Die elementare Seftaltung und ber fiderifche 
. Einfluß. 


Als von elementarer oder mütterlich bilbender Art kann jengr 
‚Einfluß betrachtet werden, den die Belchaffenheit der Grundſtoffe 
sauf bie Geſtalt eines werdenden Kryſtalles hat. Daß biefer Ein- 
fluß ein ſehr bedeutender und entfcheidender fei, das fällt bald in 
die Augen; denn wo nur die Kiefelerde zur kryſtalliniſchen Geſtal⸗ 
tung kommen Tann, es fei in den Riefen der Schächte ober auf 
den Höhen der Gebirge,. in der Nähe der Pole oder zwifchen den 
Mendekreifen, überall nimmt fie eine Form an, welche aus jener 
Urform ſich herleiten laͤßt, bie ihrer doppelt fechöfeitigen Pyramide 
‚fammt der an ihren Berbindungstanten hervortretenden fech6feitigen 
Säule zu Grunde liegt. . 

Bei ſolchen Kryſtallen, welche aus eimer größeren Zahl von 
‚Stoffen zufammengefest find, bleibt die Geſtaltung biefelbe, auch 
dann, wenn flatt ded einen biefer Steffe. ein anderer eingetreten 
iſt, deſſen kleinſte Theile die Faͤhigkeit befigen, mit ben Übrigen 





63. Elementare Seftaltung und fiderifcher Einfluß, A433 


ganz in daſſelbe Verhaͤltniß des polariſchen Gegenfages und der 
Anziehung ihrer Pole zu treten, welches der regelmäßigen Anein- 
anderfügung zu Grunde liegt. Ungefähr ein aͤhnliches Verhaͤltniß 
als das tft, welches fi an einer aus Heinen, magnetifchen Eifen- 
ftäbchen gefchloffenen Kette zeigen könnte, wenn man einzelne dleſer 
Stäbchen heraus nähme und an ihre Stelle gleichgeftaltete magnes 
tifhe Stäbchen aus Nidelmetall hineinftellte, deren Nordpol ſich 
eben fo durch polarifche Anziehung an den Südpol eines nachbar⸗ 


lich angränzenden Eifenmagnets anfügen wuͤrde, als dies das her- 


ausgenommene Stäbhen that. Aus bemfelben Grunde bleiben 
auch viele Trnftallinifhe, aus Erdarten und metallifhen Oxyden 
gebildete Steinarten in ihrer Außeren Seftaltung fo wie in anderen 
Eigenfchaften ſich gleich, wenn in ihrer hemifhen Mifhung ftatt 
der Thonerde das Eifenoryd, flatt der Kalkerde die Talkerde, das 
Mangan oder Eifenorybul eintreten. Solche Stoffe, davon ber 
eine die Stelle bes anderen einnehmen kann, ohne daß die Aeußerung 
des möütterlich bildenden Einfluffes eine Abänderung erleidet, nennt 
man gleichgeftaltige (iſomorphe). 

Der berühmte Chemiler, welcher über die Lehre von der Gleich⸗ 
geftaltigkeit mancher Elemente zuerſt ein wiffenfchaftliches Licht vers 
breitet hat: Mitſcherlich macht zugleich auf eine andere Eigen⸗ 
fhaft der regelmäßig ſich geftaitenden (kryſtalliſirenden) Stoffe 
aufmerffam, welche er als Dimorphismus (Zweigeſtaltigkeit) der: 
felben bezeichnet: Es gründet fich diefe Eigenfchaft auf einen Ein- 
fluß von außen, deſſen eigenthümliches Wirken nicht durch die Be⸗ 
fchaffenheit der Beſtandtheile beftimmt wird, und welchen man; 
gegenüber dem elementaren ober mäütterlichen Einfluß als einen 
väterlichen bezeichnen könnte. In diefer, von dem chemifchen Be⸗ 
ftand unabhängigen Weife wirken die Wärme, das Licht, bie Elek⸗ 
trizität, fo wie andere diefen verwandte Bewegungen der dußeren 
Leiblichkeit auf die befondere Richtung des Geſtaltens ein. 

Eines der befannteften Beifpiele unter allen benen, welche hie 
her gehören, ift und in zwei Steinarten des kohlenſauren Kalkge⸗ 
fhlechtes: im Aragonit und im gemeinen Kalffpath gegeben, Die 
erftere Steinart, bie ſich namentlich auch in Aragonien zu anfehn- 
lichen fechsfeitigen, meift ſchmutzig amethnflfarbenen Säulen ges 
flaltet, in Gyps eingewachfen findet, unterfcheibet fich mefentlich 
von dem gemeinen Kalkfpath durch einen höheren Grad der Härte, 
und duch ein größeres fpecififches Gewichte. Wenn der gemeine, 
Erpftallinifche Kalk, z. B. als isländifcher Doppelfpath, vollkommen 
durchſichtig ift, dann hat er eine ausgezeichnete doppelte Strahlen⸗ 
brechung, das heißt, man fieht Bulhftaben, Linten und andere Ges 
genftände, die man durch ihn betrachtet, nicht einfach, ſondern 
doppelt; dem hucchfichtigen Aragonit (aus Böhmen u. ſ. m.) man- 
gelt diefe Art ber Strahlenbrehung; bie Grundform, von der feine 
Keyftaligeftalten ausgehen, ift eine ganz andere als die, auf welche 
ſich die mannichfaltigen Formen des Kalkſpathes zuruͤckfuͤhren laſſen, 


28 


434 64. Elementare Geftaltung und fiderifcher Einfluß. 


der fchon beim Zerſchlagen in lauter rautenflaͤchige Bruchſtuͤcke zer⸗ 
theilbar iſt. An bdiefer großen und bucchgehenden Berfchiebenheit 
der beiden Steinarten bat die Befchaffenheit der hemifchen Beſtand⸗ 
theile durchaus Beinen Antheil; denn bei der forgfältigften Zerlegung 
findet man in einer wie in der anderen bie Kalterde ganz in dem⸗ 
felben Verhältniß mit der Kohlenfäure vereint. Was aber die Be 
ſtandtheile nicht thaten, das hat bei der verfchiebenartigen Geſtal⸗ 
tung der Einfluß ber Wärme bewirkt, der von außen fam. Denn 
wenn man tohlenfauren Kalk aus einer Auflöfung in kaltem Waf- 
fer zu Kryſtallen anfchießen läßt, dann zeigen diefe die Geftalt fo 
wie alle Eigenfhaften bes gemeinen Kalkipathes, läßt man ihn 
dagegen aus warmem Waſſer ſich Erpflallifiren, dann wird er zum 
Aragonit. Aber noch einmal, und zwar in ganz entgegengefegter 
Weiſe äußert die Erhöhung der Temperatur auf diefen merkwürdigen 
Stein ihren umgeflaltenden Einfluß Wenn man nämlid einen 
Aragonitkryſtall einer ſchwachen Gtühhige ausfegt, dann gerathen 
alle Theile feiner Maſſe in lebhafte Bewegung; er bläht ſich zu 
einer fchaumartig= blafigen Form auf, und verwandelt fih in ein 
Gehaͤufe von Leinen Kryſtallen, die nichts Anderes find denn ge 
meiner Kalkfpath. 

Etwas ganz Achnliches zeigt ſich am Schwefel, der bei nieberer 
Temperatur ale Rhomben⸗Achtflach Erpflallifict, beim Anfchießen 
aber aus gefhmolzenem Zuftend eine ganz andere Grundform (die 
2= und eingfiebrige) erhält. Der reine Kohlenftoff im Graphit kry⸗ 
ſtalliſirt in 6 feitigen Kormen, im Demant als regelmäßiges Acht⸗ 
flach; das fchwefelfaure Eifen nimmt im gemeinen Schwefelkies bie 
wöürflichen, im Strahlkies rhombifhe Formen an, Ebenfo nimmt 
das aus ber Schmelzhige kryſtalliſirende Kupfer, fo wie der bei 
höherer Temperatur anfchießende Zinkvitriol eine ganz andere Form 
als die gewöhnliche an, und daffelbe gilt vom Bitterfalz, und der 
arfenigen Säure; ja das fchmefelfaure Nideloryb erfcheint fogar bei 
3 verfchtedenen Steigerungsgraden der Temperatur in dreimaliger 
Berfchiedenheit der Formen. 

Waelchen verändernden Einfluß die Verfchledenheit des Wärme 
grades felbft auf den Elementarbefland und durch fo wie mit diefem 
zugleich auf die regelmäßige Geflaltung habe, das mag uns hier aud) 
noch ein ganz nahe liegendes Beifpiel zeigen, Wenn das Kochſalz 
aus feiner Auflöfung im Waſſer durch Verdampfung oder Abküh- 
lung der auflöfenden Stüffigkeit zum Kryſtalliſiren gebracht wich, 
dann empfängt es die Geftalt des Wuͤrfels oder des mit ihm ver 
wandten Achtflaches, auch wohl des Rautenzwölfflaches, denen allen 
der Würfel als Stammform zu Grunde liegt. Doch nur dann 
tritt diefes ein, wenn bie Abkühlung der Fluͤſſigkeit nicht bis unter 
den Geftierpunft ging. Wenn man dagegen eine gefättigte Roche 
ſalzaufloͤſung dem Winterfeoft oder einer Tünftlichen Erkältung ſelbſt 
nur von 40° unter dem Gefrierpunkt ausfegt, dann entfliehen, ftett 
der Kryſtalle vonder Verwandiſchaft des Wuͤrfels, große, ſchoͤne 


vo 


64. Elementare Geftaltung und fiderifcher Einfluß. 495 


Säulen, fo Mar und duchfichtig als Waffer, die zu einer ganz 
anderen Sippſchaft ber Kryſtallformen gehören als der Würfel. 


. Bet der keifeften Berührung mit den Fingern’ werden diefe helfen 


Kryſtalle milchweiß und undurdfidhtig, und wenn man fie auf bie 
Fläche der warmen Hand legt, dann zerfließen fie zu einem Brei, 
in welchem ſich alsbald Beine Kochfalztrnftalle von ber gewöhnlichen 
Mürfelform erzeugen. Zu dieſer auffallenden Veränderung ber 
Form des Salzes hat offenbar der verfchiedene Grad der Tempe: 
ratur, bei welchem das Krnftallifiren eintrat, das Meifte und We⸗ 
fentlichfte beigetragen, denn eine unmittelbare Folge von dieſem 
war es, daß mit dem bei flarker Kälte anfchießenden Chlornatron 
fi) eine bedeutende Quantität von Waffer (gegen 30 Prozent) 
verbinden konnte, welches in der Mifchung des gemeinen, würfel 
artig kryſtalliniſchen Kochſalzes gänzlich fehlt und welches dann hier 
aHerdings an der Kormmwandlung bedeutenden Antheil nahm. 
Dergteihen Zälle, wo an Körpern von zweifacher Geftaltung, 
bei dem Uebergang ber einen kryſtalliniſchen Form in die andere 
auch die phnfitatifhen Eigenſchaften eine große Veränderung erlet- 
den, lernten wir ſchon oben im C. 35 und im ©. 61 kennen. 
Aber nicht allein an den unorganifchen Berbindungen der 
Stundftoffe, fondern auh an jenen, melde durch die Kraft des 
organifchen Lebens entftanden find, giebt fich der umgeftaltende Eins 
fluß der Wärme wie des Lichtes Fund. Das Eiweiß eines Huͤh⸗ 
nereies iſt in feinem gewöhnlichen, friſchen Zuftand flüffig, im 
Waſſer auflöslid und in ziemlid hohem Grade durchſichtig; wenn 
wir es aber einer Wärme von 609 R. und barüber ausfegen, 
dann wird es porzellanartig weiß, es verliert feinen flüffigen Zus 
fland und feine Durchfichtigkeit, zugleich, mit feiner Auflöstichkeie 
im Waffer. Die Wurzeln der in heißen Ländern wild wachfenden 
Manihotpflanzen find in ihrem rohen Zuftand für den Menfchen 
nicht bloß ungenießbar, fondern fogar giftig; wenn fie aber einer 
kuͤnſtlichen Erhitzung ausgefest, wenn fie in der heißen Afche ge⸗ 
röftet ader gebraten werden, dann geben fie ein nicht nur wohl⸗ 
ſchmeckendes, ſondern durchaus gefundes und gedeihliches Nahrungs: 
mittel. Welche vortheilhafte Veränderung mit den Knollen des 
Kartoffels vergehen, wenn dieſe in der heißen Aſche geroͤſtet, oder 
im Waſſer weich geſotten werden, das wiſſen wir Alle; es iſt jene 
Verwandlung in einem fuͤr unſeren Gaumen wohlſchmeckenden, fuͤr 
die Säfte unſeres Magens auflöslihen und darum leicht verdau⸗ 
tihen Zuſtand, welchen wir den meiften Gemüfen durch die Zube- 
reitung in unfren Küchen mittheilen. Wenn einige Völkerfchaften 
des Dochlandes von Perftien das Mehl der eßbaren Eicheln, das 
fle durch Berreiben der trodenen Frucht zwifchen zwei Steinen ge 
wonnen haben, mit Waffer zu einem Teig oder Brei machen, dann 
koͤnnen fie dieſes für fie fehr annehmliche, nahrhafte Gericht auf 
mehrere Tage aufbehalten, ohne daß es eine Gährung ober andere 
nachtheilige Veränderung erleidet. Der ganze Mundvorrath, bem 


28 * 


436 64. Elementare Seftaltung und fiderifher Einfluß. 


ein wandernder Badhemi für eine zuweilen wochenlange Fußreife 
mit fih nimmt, befteht in einem folchen Zeig von Eichelmehl, 
den er in einem ledernen Beutel trägt. Wollten wir einen Teig 
unferes Getreidemehles in eben fo warmer Luft, wie die des mitt 
leren Perfiens ift, Tage lang aufbehalten oder mit uns nehmen, 
da wuͤrde auch ohne Zufag von Hefe oder Sauerteig gar bald eine 
Gaͤhrung beginnen, bie beim Eichelmehl durch den in ihm enthal: 
tenen, adftringirenden Stoff verzögert wird. Aber felbft dem in 
Gaͤhrung gerathenen oder durch unfere künftlichen Zuthaten in Gaͤh⸗ 
rung verfegten, und hierdurch wiberwärtig ungenießbar gewordenen 
Mehiteige, geben wir durch die Hitze des Backens jene Eigenfchaft, 
wodurch derfelbe zu einem für unferen Körper zuträglihen, wohl 
fhmedenden Nahrungsmittel wird, das fih als Schiffözwiebad 
lange aufbehalten läßt. 
Die Gährung des Traubenfaftes fo wie das Sauerwerden der 
Milch können wir ebenfalls durch die Siebehige verhindern, und 
beide laſſen ſich burch ein öfter wiederholtes Abſieden auf einige 
Zeit in ungegohrenem Zuftand erhalten. Zunaͤchſt wird jedoch, durch 
bie höher gefleigerte Zemperatur, bei biefen Slüffigkeiten nur eine 
Unterbrechung, ein Auffhub der Gährung bewirkt, welche bei fort: 
währendem Zutritt der atmofphärifchen Luft, in ber mittleren Tem⸗ 
peratur unferer Himmelsgegend, bennocd in Kurzem wieder eintritt. 
Auch das thierifche Fleifch, deſſen ſchnelles Faulwerden durch Bras 
ten oder Abkochen verhindert wurde, gebt durch die gleichen Ur- 
fachen fpäterhin wieder in Verderbniß über. Daher ift die Anwen⸗ 
dung ber Siedehige erft dadurch zu einem recht braudbaren Er 
haltungsmittel der Speifen, für lange Zeiten, geworden, baß Gap 
Luſſac in überaus einfacher Weife den europäifhen Köchen es 
lehrte, wie man heute in Frankreich eine Fleifchfpeife mit feinem 
Gemuͤſe oder allerhand füße Srüchte kochen und zubereiten koͤnne, 
welche, nach länger als Sahresfrift, noch eben fo friſch als wären 
fie vor wenig Stunden erſt gar geworben, mitten in den afrikani⸗ 
fhen Wüften, ober auf fernen Meeren fih zur Tafel bringen 
ließen (m. v. das 39. Cap.). Es war bies eine Erfindung, die, 
wegen ihrer außerordentlichen Nuͤtzlichkeit, und hierbei dennoch leich- 
ten Anwendbarkeit, eines folhen großen Naturforfchers vollkommen 
würdig erfcheint. In jedem einzelnen Haushalt ift es jegt möglich 
gemorben, die feineren Gemüfe des Gartens, fo wie das Fleiſch des 
jungen Geflügels, oder andere, leicht verberbende Speifen dieſer 
Art, gerade dann, wenn fie am beften zu haben find, zum Genuß 
für den kuͤnftigen Winter oder für ein nächftes Jahr friſch zu er- 
halten; ja ed würde durch Gay Luffac’s Aufbewahrungsweife mög- 
lich fein, die Säfte, bei der Hochzeit eines Enkels, mit einem Ge 
richte zu bewirthen, davon aud bie Säfte an der Pochzeitstafel 
ber Großmutter ihren. Theil genoffen hatten. Abgefehen jedoch von 
diefer Anwendung im Kleinen, wodurd bie Alten wie bie kraͤnklich 
Schwachen zu jeber Zeit bes Jahres mit jungen friſchen Erbfen 


64. Elementare Geſtaltung und ſideriſcher Einfluß. 43% 


und Bohnen, nicht aus den Kreibhäufeen ber Fuͤrſten, fondern aus 
ihrem eigenen Eleinen Garten verforgt werden koͤnnten, ift vorzüge 
lich die Benugbarkeit ber Erfindung im Großen einer Beachtung 
werth. Jene großartigen Kochanſtalten, namentlich in Schottland 
und in Frankreich, welche täglich ganze Maffen der Eräftigften Sup: 
pen, ber Gemüfe, des gebratenen und gefottenen Fleiſches wie ber 
fügen Speifen für Hunderte, nicht der einheimifchen, ſondern der 
in weiter Berne weilenden Gäfte, nicht für einen nahe gegenmärs 
tigen, fondern für einen auf Fünftige Zeiten aufgefparten Genuß 
bereiten, könnten eben fo wie fie einzelne Schiffe, ja ganze Flotten 
berfelben, und wie fie Karavanen, die durch weit ausgedehnte Wuͤ⸗ 
ften reifen, mit ausreichenden Vorrath frifher Speifen verfehen, 
auch Feſtungen auf Jahre ang mit gefunden Nahrungsmitteln 
verforgen; Hungersnoth und Gefahr des Erkrankens wird in allen 
folhen Fällen, zu Land wie zu Waffe, abgewendet. 

Wir haben in diefem Buche fo manche, für das Leben und 
den Verkehr der Völker nügliche Erfindung ausführlicher betrachtet: 
darum fol aud) die eben ermähnte des Gay Luffac hier noch eine 
kurze Befchreibung finden. Die Fleiſch- oder Pflanzenfpeifen wer- 
den zuerſt fo, wie man fie für unferen Tiſch zurichtee, gar gekocht 
oder gebraten, dann fogleich heiß, wie fie vom Herb oder aus ber 
Bratröhre kommen, in Buͤchſen aus verzinntem Eifenblech vertheitt, 
die man bamit bis oben anfült. Wenn dieß gefchehen ift, dann 
wird der wohlanpafiende Dedel, aus gleicher Blechmaffe beftehend, 
auf die Büchfe gefest, und an diefe Tuftdicht angelöthet. Aber 
auch jest find die Speifen noch nicht zur Verfendung über Meer 
und Land, wie zur Jahre langen Aufbewahrung geeignet; die feft 
verfhloffenen Buͤchſen werden noch einmal in ein größeres, keſſel⸗ 
artiges Behältnig mit fiedendem Waſſer geftellt und hier, nad) Ver: 
hältniß ihrer Größe, ftundenlang ber Siedehige ausgefest, fo daß 
diefe von Neuem die ganze Maſſe bis in ihre Mitte bucchdringen 
Tann. Die fhon gebrauchten blehernen Büchfen laſſen fih, nad 
forgfältiger Reinigung, wieder zu gleihem Zweck benügen. 

Bei dem Eohlenfauren Kalk wie beim Chlornatrium oder Koch⸗ 
falz, fo wie bei vielen anderen unorganifchen, kryſtalliſirbaren Sub: 
ftanzen, wirkt, dies lehrten uns bie erften in dieſem Capitel ermähns 
ten Fälle, ber väterlich anregende Einfluß ber Wärme verändernd 
auf die Geftaltung ein. Das, was in den zulegt erwähnten Faͤl⸗ 
len durch jenen Einfluß umgeänbert wird, läßt ſich, feiner dußeren 
Erfcheinung nach, weniger als Geftaltung, denn als Stimmung be: 
zeichnen. Wie nahe jedoch ihrer inneren Kraft und Wirkſamkeit 
nad, Seftaltung und Stimmung in der Körpermelt fid) verwandt 
find, das lehrte uns ber Inhalt des 63. Capitels. Denn bie fort: 
währende Einwirkung eines ſchon gebildeten Kryflalles auf andere 
zur kryſtalliniſchen Geftaltung geneigte Stoffe hat ihren Grund in 
einer Stimmung, ähnlich jener, welche in dem Nachtoͤnen einer 
angefchlagenen Glocke und in der leichteren Befähigung zum mohl- 


433 64. Eismentare Seflaltung und fiberifhher Einfluß. 


lautenden Tönen an sinem muſikaliſchen Inſtrumente ſich kund 
giebt, deſſen kuͤnſtlicher Bau öfters duch eine Meifterhand in har: 
monifhe Schwingungen verfest wurde. 

Mie die Wärme, fo wirken auch bie anderen, aus dem allge 
meineren Wechſelverkehr der polarifhen Gegenfäge hervorgehenden 
Bewegungen der Außenwelt, verändernd auf bie Stimmung ber 
einzelnen Körper ein. Was hierbei fhon die mechanifhe Bewegung, 
und noch mehr was Elektrizität und Magnetismus bewirken koͤn⸗ 
nen, das erwähnten wir ſchon bei anderer Gelegenheit. Nament- 
ih gab Becquerel dem kryſtalliniſch anfchießenden, Tohlenfauren 
Kalk durch die elektrifche Strömung gerade fo die Aragonitgeftalt, 
als dies, wie wie vorhin fahen, die Wärme thut. Auch von dem 
Einfluß, welchen das Licht auf die Stimmung der leiblichen Stoffe 
bat, wollen wir, zu ben vielen bereits angeführten hier nachträglich 
noch ein Beifpiel anführen. Der Phosphor, der in feinem gemöhn- 
lichen Zuftand durchſcheinend hellgelb, und ſchon bei 28° Reaumur 
fhmelzbar ift, verwandelt fih, wenn man ihn im Juftleeren Raume 
auf längere Zeit der Wirkung des Lichtes ausfegt, in einen rothen, 
undurchſichtigen, ſchwerer fehmelzbaren Körper, welcher nicht mehr 
fo feiht zu entzünden ift, als er dies vorher war. Der violette 
Strahl des Farbenbildes bewirkt diefe Veränderung eben fo Eräftig 
als das ungetheilte Sonnenlicht; der rothe Strahl zeigt ſich dazu 
am unvermögendften. 

Es lägen uns jeboh auch noch andere, zur Entwicklungsge⸗ 
fhichte der organifchen Weſen gehörige Beifpiele nahe, aus denen 
hervorgeht, in welhem Maafe das allgemeine Bewegen ber duße- 
ven Sichtbarkeit, namentlich als Wärme und Licht, auf Stimmung 
und Geftaltung einwirke. Denn obgleih der Charakter der Arten 
bei Thieren mie bei Pflanzen in gewiſſe, feftftehende Graͤnzen ein- 
gefhloffen ift, wird dennoch durch den Einfluß des Klimas an bie 
fem Grundriß fo Vieles verändert, daß wir jhn öfters nur mit 
Mühe wieber erfennen. Selbſt der Menfh erleidet bei feinem län 
geren Verweilen, bier in der temperirten oder Kalten, bort in der 
heißen Zone, fo viele von ber Befchaffenheit des Klimas ausgehende 
Veränderungen der dußeren Geftalt und leiblihen Stimmung (des 
Zemperamentes), daß hierdurch nicht felten der ungegründete Zwei⸗ 
fel erregt. voorden ift, an der gemeinfamen Abkunft des Megers, 
des Mongolen und des Europders aus einem und demfelben elter: 
lichen Urftamme. In dem jegigen Zuftand der Dinge hat fich die 
Kraft des Einfluffes, den die fchon beftehende Form siner Pflanze 
auf die Seftaltung der neuen Pflanze ausübt, die fi aus ihrem 
Saamenkorn entwidelt, mit ber Kraft des allgemeineren, klimati⸗ 
[hen Einfluffes fo in's Gleichgewicht gefegt, daß, mie bereits er- 
wähnt, das Klima an dem Hauptcharakter ber Arten nichts zu än- 
dern vermag. Dennoch fcheint dieſes nicht immer fo gewefen zu 
fein. Denn felbft die Ueberrefte einer Thier- und Pflanzenwelt, 
welche noch nahe vor, fowie bald nad) ber legten großen Rataftrophe 





65. Finsfein und Werfihiebenheit ber kosmiſchen Naturkräfte. 439 


gebebt hat, die ber Erdoberflaͤche ihre jegige Geſtaltung gab, begeugen 
es buch bie Auferft mannigfachen und ſtarken Abänderungen, in 
welche die. Grundform ihrer einzelnen Arten fidy zerlegt bat, daß 
zu ihrer Zeit der (Blimatifche) Einfluß des Lichtes und der Wärme, 
welcher den Unterſchied der Spielarten und Raſſen begründet, ein 
ungleich mächtigerer gewefen fei als in unferen Tagen. Se weiter 
wir von dem jegigen Beſtand der irdifchen Körperwelt hinaufwärts 
und zurüd zu ihrem Urfprung geben, beflo mächtiger fehen mir 
den väterlich formenden Einfluß der kosmiſchen Naturkräfte an den 
möütterlich bildenden der irdiſchen Elemente fich bezeugen. 


6 Einsfein und Verfhiebenheit der fosmifhen 
Naturkraͤfte. 


Die Schwere, welche den Zug der Planeten nach ihrer Sonne 
hin begruͤndet, iſt ihrer Wirkſamkeit nach ganz verſchieden von der 
Schwungkraft, welche die Weltkoͤrper in jedem Augenblick von dem 
Kreiſe ihrer Bahn hinwegwaͤrts zu führen ſtrebt, und dennoch bil- 
den beide einander volllommen entgegengefegte Bewegungen eine fo 
unzertrennbare Einheit, daß keine ohne die andere, jede nur in ei> 
nem feftftehenden Verhaͤltniß zu der Wirkfamkeit der anderen fi 
fund zu geben vermag. Mit dem allgemeinen Bug der Schwere, 
ber unfern Planeten nach ber Sonne hinführt, ift jener befondere, 
der als Schwere im engeren Sinn den Stein, ja der jedes Staͤub⸗ 
hen nach der Mitte des Erdganzen hinabfallen macht, von aner= 
kannt gleichartigem Weſen. Hier ift die angiehende Kraft der pla= 
netarifchen Geſammtmaſſe zur übermächtigen Alleinherrfcherin ges 
worden; ber einzelne Körper, ber auf ihrer Oberfläche ruht, nimmt 
mit allen anderen Theilen des Erbganzen an ber um die gemein 
fame Are rotirenden, fo wie an der fortrüdenden Bewegung auf 
der Bahn um bie Sonne Theil. 

Sn einer anderen Korm als bei den Bewegungen der Welt 
körper um ihre tragende Mitte tritt dad Zwillingspaar der beiden 
Kräfte bei der Geftaltung der einzelnen, irdiſchen Körper auf. Es 
erfcheint bier ald Zufammenhalt (Cohäfion) und als Ausdehnung 
(Triebkraft) der einzelnen Theile. Die innere wefentliche Verwandt⸗ 
fhaft aber ber zweierlei Erfcheinungsformen zeigt fi) und nament- 
lich ſelbſt noch in jenem feftftehenden Verhältniß dee räumlichen 
Maaße und ber Gewichte, das (nad) E. 26) bei den Gasarten 
bemerkt wird, dba mo fie ald chemifche Polaritäten, in abgefchloffenen 
Einheiten einander entgegentreten. Bei ben ihrer Natur nach feſten 
Körpern teitt zwifchen den Aeußerungen der Zufammenziehung oder 
Cohäfion der Theile und ihrer Triebkraft ein ähnliches Verhältniß 
ein, als zwifchen dem centripetalen Zug der allgemeinen Schwere 
und der Schwungtraft. bei folchen Körpern, die wie ber Feld oder 
der am Boden ruhende Stein als zufammengehörige Theile mit 
dem Erdganzen verbunden find. Der Zug der allgemeinen Schwere 


480 65. Einsfeln und BVerfchiedenheit der kosmiſchen Naturkraͤfte. 


ift hier mit dem Drange der allgemeinen Schwungkraft zugleich ein 
fo überwiegend mächtiger geworden, daß beide nur in Gemeinfchaft 
mit der Gefammtmaffe, nicht am einzelnen Körper, fi kund geben 
tönnen. Bei jenen Körpern, beren Naturzuftand der gasförmige 
ift, hat fich dieſes Verhaͤltniß geändert; an ihnen ift die Wirkfam- 
keit der allgemeinen Schwere fo gering geworden, daB fie wie bei 
ben frei im Weltenraum fchwebenden Planeten, in ihrem Verhaͤlt⸗ 
niß zu der Schwungkraft oder Triebkraft fi) Eund geben kann. 
Und dieſes gegenfeitige Verhättniß fcheint unter bemfelben Geſetz 
zu _flehen wie der Lauf der Planeten um ihre Sonne. Bei diefen 
wächft die Ausdehnung der Bahnen (die räumliche Entfernung von 
dem Gentrum), während zugleich ber Zug der Schwere im qua 
bratifhen Verhaͤltniß fich verringert. Es iſt in beiden Fällen bie 
Schwere, welhe der Schwungkraft ber Weltkörper und den lim» 
fang ihrer Bahnen, fo wie der räumlichen Ausdehnung ber Sat: 
arten ihr feſt beſtimmtes Maaß giebt. 

Auch das, was wir im C. 26 von dem flöchiometrifchen Ver: 
hältniß erwähnten, nach weldhem die Grundftoffe ihre chemifchen 
Verbindungen nur in feftbeflimmten Gewichtömengen eingehen, be 
zeugt ed uns, daß biefe Vorgänge zundcft unter dem mwaltenden 
Einfluß des Zuges der allgemeinen Schwere ftehen. 

Während aber dieſer Einfluß auf den drei eben erwähnten 
Stufen der Geftaltungen und Bewegungen ber Leiblichkeit unver: 
fennbar ift, tritt derfelbe auf einmal zurüd in den Erfcheinungen 
bes Magnetismus, der Elektrizität, der Wärme und des Lichtes. 
Daß auch diefe ihrem Weſen nad fich verwandt und gleichartig 
feien, da6 haben die Entdeckungen im Gebiet des Elektromagnetis⸗ 
mus gelehrt, daß aber diefe ganze Siebenzahl der Kraftäußerungen, 
eben fo mie die Newtonifche Stebenzahl der Farben im Spectrum 
des Prismad und im Regenbogen, von einer gemeinfanmen bewe- 
genden Urſache ausgehen und in diefer nur Eines find, das foll 
und nur noch, in einigen andeutenden Zügen bie Betrachtung bie 
fer Einheit, in ihrem enblichen und vergänglichen Abbild: im ben 
Aeußerungen der Lebenskraft zeigen. Ä 


— — 


IV. 


Das Leben der organifchen Natur. 
66. Die Selbftherrfhaft bes Lebens. 


Auf den nadten Felfen im tropifhen Meer, wie auf dem be 
ftändigen Schnee der Himalayagipfel wirken die Naturkräfte unſe⸗ 
rer Sichtbarkeit täglich in ihrem ungehemmten Laufe ein; der Zug 
der Schwere fest ihr abgelöftes Geftein, fo wie ihre flürzenden 
Laminen in Bewegung; der Strahl der Sonne wedt bie Trieb⸗ 
Craft des kryſtalliniſch flarren, wie des flüffigen Gewaͤſſers; dieſes 
fteigt als Dampf empor und kehrt, dem Zug feines Zufammen- 
baltes folgend, von Neuem als Thau ober Reif zurüd. Liegt etwa 
in dem uralten Rrappgeftein das magnetifche Eifen verborgen, fo 
wird diefes nicht minder als anderswo für ben Einfluß des plane: 
tarifhen Magnetismus anregbar gefunden, und bie Stellung ber 
Magnetnadel wie ihre Veränderungen bezeugen ed und, auf dem 
Sebirgsgipfel, mie auf der Selfeninfel und dem fie umgebenden 
Meere, daß in allen diefen Regionen der Erbmagnetismus fein 
Meich habe. Dort auf den befchneiten Höhen, wie auf dem nad: 
ten Selfen der heißen Bone regt fih ber Zug ber chemifcken 
Verwandtſchaften und verräth fein Wirken wenigſtens noch durch , 
die Bildung des Ammoniaks, das fi ben Waſſerdaͤmpfen beige 
felt, Schon hierbei ift dee Mechfelverkehr der elektrifhen Gegen- 
fäge thätig gewefen, deſſen beftändige Spannungen in ber Luft und 
dem Boden, unferen Werkzeugen ſich Eund geben. Und mas biefe 
uns nicht fund machen, das zeigt uns der Blig, welcher den Fel⸗ 
fen der Tiefe, wie die befchneite Höhe trifft. Die Sonne geht 
über dieſen beiden täglich auf wie unter; fie führt auf dem höhe: 
ren ober nieberern Wege ihrer Bahn, den Wechſel der Jahreszeiten 
herbei; in dem Gefolge ihrer Strahlen nehmen alle eleftrosmagne:- 
tifchen Regungen ihren Lauf über den kalten Berggipfel, wie über 
den bald heißen, bald kühlen Felfen am Spiegel des Meeres, und 
beide bleiben unverändert, bei Zage, mie bei Nacht, im Sommer 
wie im Winter das, was fie vor Sahrtaufenden waren. 

Könnte man bo, das hat fhon Mancher von uns gefagt, 
im Sommer bie Wärme, im Winter die Kälte aufbewahren und 


442 67. Die elementare Schöpferkraft des Lebens. 


fammeln und beide aus ihrem Gemwahrfam entlaffen, wenn und wo 
man ihrer bedarf! — Der menfhlihen Kunft und Sorgfalt ift 
diefes, nad ihrem Maaße gelungen; fie weiß das Eis des Winters 
zu ihrem Gebrauh im Sommer aufjubehalten; fie weiß nicht nıw 
in der Ziefe des Bodens bie mittlere Wärme des Jahres aufzu- 
fuhen, ſondern durch manderlei Mittel das Dunkel der Nadıt 
mit Zageshelle zu erleuchten, ja, in ihren galvanifchen, fowie elek 
tromagnetifhen Vorrichtungen felbſt das Feuer eines Schmelzofens 
ohne Mühe Iangfortwährend zu unterhalten. Ale die Natur: 
kraͤfte, welche dem Leben und feinen Bequemlichkeiten dienen, ver 
mag unfere Kunft nah ihrem Willen zu ihrem Gebrauch herbei 
zu ziehen und zu ihren Zwecken zu leiten. 

Wo wäre aber diefe Kunft, ohne den fchöpferifchen Geift im 
Menfhen; wie könnte diefer Geift fi) Eund thun, ohne fein In⸗ 
wohnen in einem Leben, das bie irdifche Leiblichkeit und al? ihre 
Kräfte beherrfcht? 

Diefes Leben, das die buntfarbige Welt der Pflanzen bildet, 
das im Thiere empfindet und Bewegungen wirkt, bat in feinem 
Dienfte ganz andere Träger und Sammler (Eondenfatoren) ber fibe: 
tifch anregenden Kräfte der Körperwelt, als die find, welche die 
Kunft des Menfchen ſich erzeugte, mir nennen diefe Sammler, bie 
in den mannicdhfaltigften Formen ber inneren Gebilde und dußeren 
Glieder ſich zeigen: Organe und deshalb heißen bei uns die beleb- 
ten Körper insgeſammt organifhe In ihnen, fo lange das 
Leben währt, verlifcht niemals, weber bei Tage nody bei Nacht, 
niht im Winter noh im Sommer, nicht auf der hellbeleuchteten 
Höhe, noch in der dunklen Tiefe jener anregende Strahl, ber, wie 
von einer inwohnenden Sonne ausgehend, die ganze Siebenzahl ber 
bemegendenNaturkräfte (nad) C. 65) wedt und in Thaͤtigkeit erhält. 
Wie die aus eigenem Antriebe und eigener Kraft jest laut ertö- 
nende, dann fehweigende Stimme zu dem Eco, das den auf Au: 
genblicke ihm verliehenen Hau zurüdigiebt, verhält fich die lebende 
"Natur zu der leblofen Maſſe, auf der fie wurzelt und wandelt fowie 
zu ben an biefer Maffe vorüberwanbelnden kosmiſchen Kräften. 


67. Die elementare Schöpfertraft des Lebens. 


Menn die mütterliche Wärme einer brütenden Henne bie Eier, 
die man ihr unterlegte, kraͤftig durchwirkt, dann regt fih in je 
nen, welche den Keim eines noch Fünftigen Lebens enthalten, ale 
bald die Kraft diefes Lebens; es öffnen fich mitten in dem gelb: 
lihweißen, durchſichtigen Eiweiß, an verfchiedenen Punkten, Quel- 
len des rothfarbigen Blutes, deren Kleinere Strömungen fi ver: 
einen und ben Ereisförmigen Lauf um einen nod kaum erkennbaren 
Mittelpunft beginnen; unter dem Walten ded Lebens, das ein 
Wirken zum feftbeflimmten Zwecke ift, geftaltet fih, dem Zwecke 
des Lebens entfprechend, der Leib, mit al? feinen Sliedern. Wenn 


67. Die elementare Schöpferkraft des Lebens, 443 


bagegen kein ſolcher, ber Entwidiung fühiger Keim im Ei mar, 
dann bewirkt bdiefelbe mütterlihe Wärme etwas ganz Anberes; es 
entfteht in den Flüffigkeiten des Eies eine Auflöfung und Fäulnif, 
bei welcher alle die Grundſtoffe, bie in ihm enthalten find, aus 
dem bisherigen Verband, in welchem fie während des frifchen Zur 
ftandes ftanden, ſich losfagen, und jenem Zuge zur Vereinigung 
folgen, der über die Elemente im Reiche der unorganifhben Natur 
herrſcht. Der Schwefel, wie der Phosphor, anftatt in das Ges 
bilde einer lebenden Nervenmaffe einzugehen, vereinen fih mit dem 
Waſſerſtoffgas und bilden jenen gasartigen Stoff, der dem fau⸗ 
lenden Ei feinen eigenthümlichen, wibderlihen Geruch giebt; ber 
Stickſtoff, ſtatt in organiſcher Weife mit den drei anderen gasartis 
gen Elementen verbunden (nah C. 27 und 29) ben Faferfloff 
des Fleifches zu bilden, entmweicht mit dem Waſſerſtoffgas vereint, 
als flüchtiges Laugenfalz (Ammoniat), welches ſich durch feinen 
et fharfen Geruch verräth, und fo löft Alles in Verweſung 
ih auf. 

Dasfelbe Loos der mehr oder minder fchleunigen ZBerfegung 
trifft jeden organifchen, durch die Kraft des Lebens gebildeten Koͤr⸗ 
per, wenn der waltende Einfluß ber Seele zu wirken aufhört; 
die Außere Wärme und Feuchtigkeit, welche, im Dienfte bes Lebens 
flehend, feinen Entwidiungsgang befördern, zeigen ſich jetzt der Zer⸗ 
flörung guͤnſtig. Wie am Traubenſaft kuͤnſtlich, durd die Ans 
wendung der Siebehige, die Gaͤhrung verhindert oder gehemmt, wie 
die Mil durch das AReden vor den Säuren gefhüst wird, fo 
bewirkt, in jedem Augenblid, der unausgefegte Einfluß der Lebens⸗ 
traft ein Fortbeſtehen des organifhen Vereines der Grunbfloffe, 
der feinem ganzen Weſen nad) ein anderer ift, als ber mechaniſche, 
und felbft als der chemifche. 

an darf fih, wenn man die organifhen Verbindungen ber 
Elemente den unorganifhen gegenüberftellt, wohl einen Vergleich 
erlauben, der aus einem Gebiet unferes geifligen Erkennens ent- 
nommen ift. Die einzelnen Grundftoffe, welche wir oben im 2ten 
Abſchnitt diefes Buches betrachteten, verhalten fih zu den Elemen- 
ten, deren fich die Lebenskraft zur Geftaltung und befländigen Wie⸗ 
dererneuerung ber prganifchen Körper bedient, wie die einzelnen Buch» 
flaben, oder bie an fi) bedeutungslofen Sylben bee AB ab zu 
den Morten, in denen ein geiftig lebendiger Sinn iſt. Die fchös 
pferifche Kraft des Lebens hat es bei ihrer Wirkfamkeit nicht mehr 
mit den einzelnen Srundfloffen und ihren ftöchiometrifhen Vers 
hältniffen zu thun, fondern die Elemente, über deren Zuſammen⸗ 
fügung und Trennung fie ohne Aufhören verfügt, und welche fi 
zu dem Aufbau ihrer mannichfachen Formen fo verhalten, wie die 
hemifchen Srundfloffe der Metalle, der Metalloide und der Sau: 
erfloff, Schwefel oder Chlor zur Geftaltung der Kruftalle, das 
find ſchon von vorn herein Verbindungen biefer Grundftoffe zu den 
Elementen einer ‚höheren, nur im Reiche der organifchen Natur 


444 67. Die elementare Schoͤpferkraft des Lebens. 


vorkommenden Ordnung. So würde das Verhaͤltniß, in welchem 
fi) 8 Theile Kohlenftoff, mit den beiden Grundftoffen von 11 
Theiten Waſſer zur Hervorbringung des Zuckers vereint haben, aus 
der geroöhnlichen chemifchen Zerlegung ſchwerlich errathen laſſen. 
Aber der Zuder zerlegt fi bei feiner Verbindung mit Bleioxyd 
ober durch die Gaͤhrung in Koblenfäure und Alkohol, zwei Ber: 
bindungen, von denen die chemifchflöchtometrifchen Verhaͤltniſſe der 
Srundftoffe genau beſtimmbar find. Wie diefe Verhältniffe, fo 
waren auch die bekannt, durch welche die Benzoefäure entftanden 
ift, jene aber, welche im Bittermandelöl beftehen, kannte man nidt. 
Da entdedte man, daß das Bittermandelöl an der Luft einen fe 
ften, kryſtalliniſchen Körpes bilde, welcher fi in al? feinen Eigen 
haften ganz wie die VBenzoöfäure verhalte. Diefe Veränderung 
war dadurch entftanden, daß jenes Del eine gewiſſe, durch die che: 
mifche Zerfegung genau beflimmbare Menge von Sauerftoff aufge 
nommen hatte. Wenn aber nun au auf ſolche Weiſe bie or 
ganifchschemifhe Zuſammenſetzung des Zuckers, wie bes Bitter: 
manbelöls erforfcht waren, fo wäre man dennoch über die ſtoͤchio⸗ 
metrifhe Grundlage im Dunkeln geblieben, auf welcher bie Bil 
dung des Amygdalins (Mandelmildhftoffes, nahe ftehend dem Käfe, 
der aus der Milch der Säugethiere gewonnen wird) beruht, wenn 
man nicht jenen Stoff in VBittermandelöl, Zuder und in Blau 
fäure zerlegt, und auch von ber zulegt genannten, burch die de 
mifche Kunft darftellbaren und zerlegbaren Verbindung des Kohlen: 
ftoffes mit Stickſtoff und Sauerftoff die Tochiometrifchen Verhaͤlt⸗ 
niffe genau gekannt hätte. 

Wie aber das blofe mechhanifche Zufammenreihen der einzelnen 
Buchſtaben durch die Hand eines Kindes, oder duch ein Verhält⸗ 
niß der Größen und Gewichte der einzelnen Lettern kein Wort, 
noch weniger einen ganzen Sag ber Rede mit feinem verftändigen 
Sinn hervorbringen kann, fo ift auch das Wirkende, was aus den 
unorganifchen Grundfloffen die vielfach zufammengefegten organi: 
fhen Verbindungen hervorbringt, ein anderes, höheres, als das ge 
ftaltende Prinzip der unorganifhen Natur. Unſere chemifche Kunft 
lehrt e8 uns, daß die Grundſtoffe, aus denen das Stärfemehl, bie 
Holzfafer und das Zellengewebe der Pflanzen beftehen, 12 Ge 
wichtstheile Koblenftoff und 10 Theile Waſſer find, fie vermag 
aber nicht aus 12 Loth Kohlenftoff und 10 Loth Waſſer, 22 Loch 
nahrhaftes Stärkemehl oder eben fo viel Brennholz hervorzubrin- 
gen; fie vermag aus Wafler und Kohle Fein Del, oder menn fie 
auch noch den Stidftoff u. f. w. hinzunimmt, einen Wein, keine 
Mich zu erzeugen. 

Aber alle folhe, durch die Macht der bildenden und beleben: 
ben Seele bewirkten Verbindungen find nur vorübergehende, nicht 
wie das Waſſer, oder mie die Kohlenfäure und Salpeterfäure, in 
ihren chemifchen Verbindungen mit den Erden und Alkalien, län: 
ger ausdauernde oder beftänbig bleibende Erſcheinungen; das Leben 





67. Die elementare Schöpferkraft des Lebens. 445 


fhwindet, und alsbald kehren die Grundſtoffe wieder in ihre frühere 
Form, zu ihren alten Verbindungen zurüd. - 

Mir erinnern hierbei an einige allbefannte Erfcheinungen, de 
ven wir im Vorhergehenden bei mehreren Gelegenheiten gedacht 
baben. Die Stoffe, aus denen der Zurmalin befleht, haben an 
fi) felber Keinen Zug bee chemifchen Verwandtſchaft zu der Holzs 
afhe oder zu Kleinen Städlein Spreu und Papier; fobald aber 
jener merkwürdige Stein durch Erwaͤrmen elektifh wird, dann 
zieht er alle deichte Körper folher Art an fi und läßt fie, wenn 
feine eleftrifche Kraft ihm entſchwindet, wieder fallen. Die Spreu, 
wie die Afche find durch jenen vorübergehenden Verein nicht ver- 
ändert worben, fie Eehren, ihrem vorherigen Zug der Schwere fol- 
gend, wieder zu dem Boden zurüd, auf dem fie lagen. Die Kraft 
des Zufammenhaltes (der Cohäfion und Adhäfion) bei zwei Eifen- 
platten, die man aneinanderlegt, zeigt fih von ihrer Form und 
Größe abhängig. Nicht fo jene anziehende Kraft, welche das Ei- 
fen, wenn ed zum Magnet geworden ift, auf anderes Eifen aus⸗ 
übt. Denn wie wie oben, im AT. Cap. fahen, ein durch bie elektro: 
magnetifche Strömung magnetifh gewordenes, gleichfam befeeltes 
Eifen, vermag ein: Webergewicht von anderem Eifen an ſich zu 
ziehen und feft zu halten‘, welches mit dem Gewicht feiner eigenen 
Maſſe in gar keinem Verhaͤltniß ſteht. Sobald aber, bei bem 
Aufhören der Strömung, dem Eifen feine, dem Leben nahe ſte⸗ 
bende Kraft entzogen wird, dann Laßt es den Stoff, ben es in 
den Kreis feiner Wirkſamkeit hineingenommen, fahren, diefer folgt 
wieber dem alten, inmohnenden Zug der Schwere; er fällt zum. 

oben. 

In derfelben Weife ift es bei den organifchen Wefen bie in 
ihnen wohnende Lebenskraft, welche bie Elemente nicht nad) den 
gewöhnlichen Verhaͤltniſſen ihrer Formen und Gewichtsmengen 
vereint, ſondern nad) einem neuen, eigenthümlichen Gefes, das 
nur fo lange feine Gleichguͤltigkeit hat, ald das Leben dauert. Wie 
fihh in dem Weltengebiet ber Firfterne, bei den Doppelfternen, eine 
leuchtende Sonne zur anderen gefellt und um fie fich bemegt,. 
fo find, was die vorherrfchenden Beftandtheile betrifft, in den or⸗ 
ganifhen Körpern nicht Metalle zum Schwefel oder Sauerftoff, 
Erden zu Erden gefellt, fondern Luftarten mit Luftarten verbun- 
den; wie fchon die magnetifche und elektrifhe Anziehung der Kör- 
per etwas ganz Anderes iſt, ald die mechanifche oder chemifche, fo 
noch vielmehr die anziehende und abfloßende Kraft des Lebens. 

Wenn man die Formen der unorganifchen Koͤrperwelt mit 
denen der organifchen vergleicht, dann findet man bei jenen unges 
fähr nur eine ähnliche Zahl und Mannichfaltigkeit der Arten, ale 
Kombinationen der Grunbfloffe, daraus fie beftehen, möglich find. 
Hier mwaltet nah C. 64 der muͤtterlich geftaltende Einfluß vor, 
denn jede eigentliche, durd, befondere Form unterfcheidbare Art. der 
Steine hat ihre eigenthümliche Zufammenmifhung ber Grundftoffe 


446 68. Die Verwandten und Diener ber Lebenskraft. 


und nur felten bringt ein gleihfam väterlich geftaltender Einfluf 
son außen, bei gleichbleibendem, chemifchem Beftand eine Formver⸗ 
wandlung hervor. Bei bdiefer Verfchiedenheit der Zufammenfegung 
ift die Zahl der befannten Familien und Arten in der unorgani- 
ſchen Koͤrperwelt verhättnifmäßig gering und belaͤuft fih nur etwa 
auf ein halbes Tauſend. Dagegen ift die Verſchiedenheit der For: 
men, die Zahl dee Arten bei den Pflanzen und Thieren fo groß, 
daß man beide zufammen auf Hunderte von Zaufenden fchägen 
kann und babei find diefe mannichfaltigen Formen ale, in großer 
Einförmigkeit, vorzugsmeife nur aus den vier Iuftartigen Grund 
ftoffen anferbaut, zu denen bie Baumeifterin Seele noch etliche 
wenige andere Srundftoffe hinzunimmt und dann das ganze ein- 
fahe Material den Zwecken ihres Lebens entfprechend zufammen- 
fügt. 

Das magnetifhe Eifen fcheint feine Kraft des Bewegens aus 
einer magnetifhen Strömung zu empfangen, welche von dem Erb- 
törper ausgeht; die Seele ber organifhen Weſen entnimmt bie 
Macht zu den wundervollen Zufammenfegungen und Geſtaltungen 
des Außeren Stoffes, zum Anziehen und Abftoßen desſelben aus 
einem allgemeinen Queill der allerhaltenden Schöpferkraft. Ihrem 
mütterlihen Walten iſt am meiſten das unmündige, der eigenen, 
freien Bewegung noch unfähige Gefchlecht bee Säuglinge der irdi⸗ 
[hen Sichtbarkeit: die Pflanzenwelt hingegeben. Darum fiegt vors 
zugsweiſe der Natur der Pflanzen, fo mie jenen Theilen des thie 
tifchen Körpers, tmwelche, wie bie verbauenden Eingemweide jener Na⸗ 
tur verwandt find, das Gefchäft der organifchen Verbindung und 
Umbildung der Grundftoffe ob. 

Der Fortbeftand des Lebens, fo fahen wir fhon im 1. C., 
gründet fi) auf einen Antrieb, ber den Mangel des Einzelweſens 
zu der Fuͤlle hinführt, welche ihn zu ergänzen vermag. Endlos 
und unermeßbar, wie der Reichthum der Schöpferkraft, dee allen 
Mangel ausfüllt, alle Verlangen ſtillt, ift die Vielheit der Crea⸗ 
turen, welche diefer Sättigung genießt und ihrer fi erfreut. Die 
Schöpfung felber, in der Mannichfaltigkeit ihrer kebenden Weſen, 
ift ein Zeugniß jener Luſt, welche der Schöpfer an dem Leben und 
an der Freude feiner Sefchaffenen hat. 


68. Die Bermandten und Diener der Lebenskraft. 


Wir koͤnnen uns beidem, was wir hier von dem Verhaͤltniß 
ber Lebenskraft zu dem Material und den Kräften der aͤußeren 
Natur fagen wollen, beren fie zu ihren Werken bedarf, ganz kurz 
faffen, da wir von beiden fchon in den vorhergehenden Abfchnitten 
dieſes Buches ausführlicher gefprochen haben. Was die nährenden 
Elerhente betrifft, aus denen das Leben feine Formen fchafft, fo ers 
innern wir hierbei an ben Inhalt der Gap. 2, 3, 5, fo wie 27 
und 29, und bemerken nur noch, daß ſelbſt bei den Pflanzen bie 


68. Die Verwandten und Diener der Lebenskraft. 447 


Elemente, aus denen fie ihre Nahrung ziehen, faft durchgängig 
nicht die einfachen Grundſtoffe (C. 16) find, fondern die Verbin- 
dungen dieſer Grundfloffe: das Waſſer, die Kohlenfäure, das 
Ammoniak, die Mifchungen der Erdarten und Metalle oder Mes 
talloide mit Säuren und mit dem Waſſer. Tür die Pflanze find 
deshalb das Waſſer und die Luft die vorzüglichflen Vorrathskam⸗ 
mern, aus benen fie den Bedarf ihres Lebens entnimmt, Selbſt 
Dann, wenn man dem tropfbarsflüffigen Waffer durch Deftillation, 
feine Beimifchungen von Koblenfäure, erdigen, fo wie falzigen 
u. a, Theilen ganz entzieht, weicht die Luft mit den in ihr ſchwe⸗ 
benden, aufgelöften Stoffen noch zur Beförderung des Wahsthums 
bin. So pflanzte van Delmont einen Weidenbaum, mweldyer 5 
Dfund wog, in einen mit 100 Pfund Erde gefüllten, mit Blei⸗ 
platten bedeckten Kaften, begoß ihn nur mit deftillittem Waſſer 
und fand, daß die Weide nad) 5 Jahren 119 Pfund und 3 Un: 
zen wog, während das Gewicht der Erde im Kaften nur um 3 
Unzen fidy verringert hatte. in gleiches Zeugniß für den nähren- 
den Gehalt, weichen ſchon bie Atmosphäre den Pflanzen zufuͤhrt, 
geben die in Schwefelblumen, ja in gewundenem Platinadraht ges 
legten und nue mit deſtillirtem Waſſer begoffenen Saamen, bie 
ſich in dieſer Abgefchiedenheit von allen Nahrungsquellen des Bo⸗ 
dens zu Pflanzen entwideln. Auch das Gefträucd, wie ber Baum, 
die aus den Spalten kahler Felſen hervorwachſen, fo wie nad) 
C. 4 die Arten ber Fadetdifteln, lehren uns dasſelbe. 

Aber die Lebenskraft, welche in der Pflanze und im Xhiere 
baut und wirkt, wäre zu Beidem unfähig, wenn nicht ihre Ver: 
wandten in ber aͤußeren Natur: jene tosmifchen Kräfte (Dy⸗ 
namiben) ihr dabei beftändig zu Huͤlfe kaͤmen, von denen wir im 
III. Hauptabſchnitt (C. 32 u. f.) bandelten. Die meiflen voll 
fommeneren Pflanzen können nicht einmal keimen, wenn die äußere 
Wärme unter 4 Grad herunterfintt, und melden Einfluß bie 
Wärme bed Himmelsftrihes auf die Entwidlung der Pflanzen-. 
und Thierwelt im Allgemeinen habe, das erkennen wir im C. 54. 
Mit der Wärme zugleich bedarf die Lebenskraft zu ihrem Schö- 
pferwerk der Beihuͤlfe des Lichtes, denn bie Pflanze vermöchte nicht 
einmal die Kohlenfäure zu zerfeßen, um aus ihre den Kohlenftoff 
zu ihrer Nahrung zu beziehen, den Sauerftoff aber zu zu entbin- 
ben, ohne den begünftigenden Einfluß des Sonnenlichtes. Eben 
fo, wie die Wärme und das Licht, ift auch bie Elektrizität (nach 
C. 44) der Lebensthaͤtigkeit förderlich. 

Dennoch könnten alle diefe näheren oder ferneren Verwandten 
ber Lebenskraft, auch wenn fie vereint auf die Stoffe wirkten, dar⸗ 
aus die Körper der Pflanzen und der Thiere erbaut find, nah C. 
66 und 67, nicht den Wein, das Mehl und das Del, nicht ein- 
mal eine. einzelne Zelle, gefchweige eine Lille oder einen Weinſtock 
hervorbringen. Wir. wollen biefe höheren, eigenthämlicheren Werke der 
Lebenskraft in den nachfiehenden Eapiteln noch etwas mäher beteachten. 


448 69. Das Pflanzeniehen. 


69. Das Pflanzenleben. 


Wenn das Menfchenauge mit Luft und Bewunderung die Her: 
lichkeiten betrachtet hat, die ein blühender Roſenſtrauch oder Apfel: 
baum im Frühling, fo wie in der Zeit des Früchtereifens zur 
Schau trägt, wenn es an der hohen Lille, oder an der prangenden 
Zulpe fi) kaum fatt fehen Eonnte, dann bleibt ihm noch immer 
ein Theil der täglich fi erneuernden Wunder des Pflanzenkörpers 
unbetannt, bis ihm der Blick durch die Vergrößerungsgläfer bie 
Dforten zu der Schagtammer diefer verborgenen Wunder aufthut. 
Ein zarter Streifen, den wir etwa aus einem Blatt: oder Bluͤ⸗ 
tbenftengel herausfchnitten, und von welchem wir ein abgeriffenes 
Stuͤckchen in das Gefichtsfeld eines Mikroskopes legen, ſtellt uns 
in feinem inneren Bau ein Kunſtwerk der höheren Ordnung dar, 
bei defien Betrachtung wir nicht minder gern verweilen, als bei 
jener der zierlich gebildeten Blätter und buntfarbigen Blüchen. Da 
fieht man recht, wie fi die Kräfte des Lebens vorzugsweife zu 
bem Kleinen gefellen; wie fie ihr Spiel in einer zahllofen Vielheit 
von anderen Sliedertheilen (Organen) haben, welche allefammt zu 
einem organifchen Ganzen verbunden find, das dem Wirken einer 
gemeinfamen Seele dient. Denn an einem folhen Pflanzentheil- 
hen erkennt man eine Zufanmenhäufung von Zellen, von röhren- 
artigen Saftbehäftniffen und fehraubenförmig gewundenen Gefäßen, 
von deren kunſtreicher Einrichtung und wechfelfeitigen Anorbnung 
das unbewaffnete Auge Nichts erfährt. Ä 

Ohne vorerft hier noch tiefer auf die große Mannichfaltigkeit 
der Formen diefer inneren Theile einzugehen, verweilen wir zunaͤchſt 
bei jener Form, welche die Grundlage von Allem ift, und mit 
welcher die Lebenskraft das Werk ihrer Schöpfungen beginnt. Es 
iſt dieſes die Zelle. Sie befteht aus einer zarthäutigen Hülle, 
hut Fe einem chemifchzorganifchen Fluͤſſigen — dem Bellfaft, 
erfuͤllt ift, 

Vergleichen wir dieſe uranfänglichfte Erfiheinungsform der or- 
ganifhen Geftattung mit den Gebilden ber unorganifhen Natur, 
dann muß uns an jenen gleich zuerft das umgekehrte Ber: 
hältniß auffallen, in welchem ein fehon gebildetes, verhältnigmäßig 
Teftes zu dem bildungsfähigen Fluͤſſigen ſteht. Selbft im Großen, 
bei unferer Erde und allen MWeltkörpern, bilden bie tropfbarsflüffi- 
gen oder gasartig geftaltiofen Elemente die äußere Hülle um ben 
geftalteten, feileren Kern, und im Kleinen wiederholt fich dieſes 
Verhaͤltniß bei dem Entſtehen jedes einzelnen Kruftalles, im ber 
Mitte und in der Umgebung ber elementaren Fluͤſſigkeit, aus ber 
er fi bildete, In diefem mütterlihen Element find die Grunde 
ftoffe des Kryſtalles bereits fo vorhanden, mie fie in feine Geſtal⸗ 
tung eingehen Tönnen. Ganz anders ift diefes im Belffaft, wel⸗ 
her durch die Wechſelwirkung mit der ihn umgebenden, gebildeten 
Zelle ein Element wird, das aus den aͤußeren Grundfloffen als 








69. Das Pflanzenleben. 449 


in ein eigenthuͤmlich neues hervorgeht. Offenbar ftellt ſich hier das, 
was in der unorganifchen Natur ein Inneres, in dem dußerlich 
umgebenden mütterlichen Elemente Liegendes war, als ein Aeuße⸗ 
red dar, welches das Werk des mütterlich geftalteten Stoffes über- 
nommen hat; das Slüffige im Innern der Zellen ift vielmehr ein 
Erzeugniß als ein Erzeugendes feiner feften Umgränzung gemorben, 

Schon auf biefer erften, unterften Stufe ihrer Geſtaltungen 
zeigt fid) uns die Lebenskraft als eine von ber Beſchaffenheit der 
iedifchen Grundſtoffe unabhängige, diefe beherrfhende Macht. Sie 
iſt es, welche diefen ihre Umgränzung, ihre Form giebt, Aber die 
neue, kleine Weit, die fi in dem Kreife biefer Form bildet, be= 
greift nicht nur das bildfam Fluͤſſige, fondern auch, als eine Kern- 
form der höhgren Orbnung, ein Feſtes in fih, das ſich in vielen 
. Pflanzenzellen findet. Der fogenannte Bellenkern befteht zumeilen 
aus Stärkmehl, andere Male aus dem harzigen Stoffe bes Blatt 
grüns oder überhaupt aus folchen.organifhen Elementen, welche 
ben einzelnen Arten der Pflanzen ihre befonderen Eigenfchaften und 
wirkenden Kräfte geben. , 

Als nicht hierher gehörig übergehen wir die Beichreibung all’ 
ber verfchiebenen Abänderungen und Entwidjungsitufen der Bellen 
und ihrer Uebergänge in die langgeſtreckte Form ber Baſtſchlaͤuche, der 
Spiralgefäße, fo wie der Gentralfaftgänge, die zum Theil ald Milch⸗ 
faftgefäße benannt find. Was uns hier näher anliegt, das find bie 
Lebensbewegungen, welche in al’ jenen Behältniffen des bildfam 
Fluͤſſigen flattfinden. 

Bereits in den zarten bucchfichtigen Theilen mander unvoll- 
tommenen Gewaͤchſe, namentlich der Armleuchter-Pflanze (Chara) 
fo. wie in ben baarähnlichen Gebilden mancher Blätter, bemerkt 
man, bei ftarker Vergrößerung, eine drehende, umkreiſende Bewe⸗ 
gung.ber Bellenfäfte, welche zuweilen um einen Zellentern flattfins 
bet. Was aber hier, im Heinften Kreife beobachtet wird, das er- 
hebt fi) in einem größeren Kreife zu einem volllommneren Umlauf 
ber Säfte, welche aus dev Wurzel herauf durch die Reihenfolge 
ihrer Gefäße und Behdltniffe nach den oberſten Theilen des Ge 
wächfes fleigen, dort in den Blättern und anderen Theilen ſich vers 
breiten, dann von Neuem nah den Wurzeln hinabfenten und im 
ſolcher Weife, bald dem Lichte, bald dem Dunkel ſich zumendenbd, 
bie vollendete Ausbildung und Bekräftigung des flüffigen und feſte⸗ 
ren Elementargehaltes der Gewächſe herbeiführen. 

Daß diefes nicht ein Spiel der anziehenden und abfloßenden 
elettromagnetifhen und Eosmifchen Kräfte, fondern ein Bewegen 
und Schaffen von höherer Natur fei, dad bezeugen uns bie eigen: 
thümlichen Erfcheinungen, die aus dem Verein des Zellgewebes unb 
ber Gefaͤßbuͤndel der Pflanze, in jeder nad) ihrer befonderen Art, her 
vorgehen. Nicht die Elemente, nicht die Stärke ber elektromagne⸗ 
tifhen hülfreihen Kräfte, geben hierbei ben Ton an, fondern bie 
anerfchaffene Form, die von Zeugung zu Zeugung fich wieder ers 


29 


450- 69. Das Pflangenieben. 


neut und fortpflanzt, ja deren Fortbeitehen fchon eine ohne Auf 
hören fich wiederholende neue Schöpfung iſt. Denn die eben er 
wähnten Grundformen bes Zellgemebed und ber Gefaͤßbuͤndel fo 
wie die aus ihrer Zufammenfügung gebildeten Organe der Pflanze 
find eine feftftehende Erſcheinung, wie die Geflaltungen der Key: 
ftatte, fondern fie find nur die Vermittler einer beffändigen Bewe⸗ 
gung des Lebens, vergleichbar der Luft, durch deren Vermittlung 
die Schwingungen des Schalles zu unferem Ohre gelangen. Und 
eben fo wie die Luft, welche fchnell von binnen eilt und der neu 
von DOften oder Weften herfommenden Luftıhaffe ihren Raum über- 
läßt, fo wandelt fi) der Stoff des organifchen Leibes; denn das, 
was wir hören, ift nicht die Luft, fondern ber tönende Körper; was 
die Pflanze zur Pflanze, dad Thier zum Thiere madıt, das find 
nicht die Elemente, aus denen die Glieder beftehen, fordern bie 
Kräfte des Inmwohnenden Lebens, deren Bewegen alle diefe Glieder 
durchibirkt. Wir wollen hier nur in einigen Zügen diefe Wirkſam⸗ 
keit befchreiben. 

Im Samenkorne beginnt das Leben, unter Mitwirkung der 
äußeren Wärme, feine erften Bewegungen: Es zieht das Waſſer 
und mit, wie in ihm den Sauerſtoff in den Kreis feines Bewer 
gens herein, es bilder firh die Kohlenſaͤure, dur einem Vorgang, 
der zwar dem Verbrennen verwandt ifl, zu tkm aber in Demfelben 
Verhaͤltniß ſteht wie die wohlthuend anregende elektriſche Stroͤ⸗ 
mung zwiſchen der Luft und dem Boden, zum zerſchmetkernden 
Blitze. Hierbei entfteht, wie überall bei diefem, wern-man fo will, 
„organiſchen ·Verbrennungsproceß““, Waͤrme, und ber Gehalt bes 
Zellſtoffes wird zum Theil in Stärkegummnit ud Staͤrkezucker um- 
gewandelt. Aber an biefes im Innern des Samenkornes verbor⸗ 
gene Bewegen fehließe fich alsbald ein aͤußeres, augenfälliges an, 
defien Kraft die Hide des Samend zerbricht und als kuͤnftige 
Wurzel feine Richtung vom Lichte hinweg nad unten, nach dem 
Boden nimmt, während em anderes entgegengefedtes: Bewegen, 
das nach oben, nach dem Lichte Hin gebt, den Keim des künftigen 
Stanimes oder Stengels Bervorträibt. Diefe beiden polarifchen 
Richtungen find fo weſentlich feft an jene beiden. Organe, ben nie 
derwaͤtts dringenden Wurzelkeim und den aufwärts fleigenden 
Stammkeim gebunden, daß fie fi, man mag dem Samenkorne 
eine Richtung geben, welche man molle, in ihrem das Licht fliehens 
den oder fuchenden Bewegen nicht flören oder irre wachen laſſen; 
der Entwidlung des Wurzelkeimes, welcher vorzugsweiſe ben Stärke 
zuder in feinen elementaren Beſtand aufgensmmen bat, fehadet 
der Einfluß des Lichtes eben p ſehr als er dem Gedeihen bes 
Stammkeimes nothwendig an — iſt, und zwiſchen beiden 
ſtehen in diefem Verhaͤltniß zum Lichte die Huͤlfgorgane der Keim⸗ 
lappen (Koͤtyledonen), welche zwar mit dem Stammkeime zugleich 
hervortreten an's Licht, hier aber bald vergehen. Von dem inneren 
Bewegen bes Kreislaufes der Saͤfte das im ben Zellen und Zellen⸗ 











6: Das. Pfanzenleben. 451 


roͤhren wie-in den Gefaͤßen vorgeht unb von unten nach oben, von 
oben wieder. nad) unten bald dem Lichte, bald dem Dunkel fi) zu- 
kehrt, ſprachen mir bereits vorhin, Aber zu Diefem inneren -Bewes 
gen gafellt. ich, im Verlauf der weitern Eygtwidlung des Stammes, 
ein aͤußeres, in dem Dervorbrechen der Knospen und Blätter, in 
dem Wachsthaum ber Blüchen und im Reifen der Früchte An 
dem. Blatte ſtahen die beiden Seiten: die obere und die untere in 
einem. aͤhnlichen Gegenſatz als der Wurzel: und Stammkeim. Die 
obere wenbet fi dem Lichte zu und bedarf: feiner Mitwirkung bei 
dem Geſchaͤft der Zerfegung der atmofphärifchen Kohlenfäure, Die 
untere, weiche in ihren taufenhfältigen Poren und Höhlenräumen, 
(wie ber kuͤnſtlich feinzertheilte Aderboden), zum Einſaugen und 
Verkihten, namentlich der luftfoͤrmigen Zlüffigkeiten, beſtimmt ift, 
mird. durch den auf fie fallenden Sonnenftrahl in ihrer Thaͤtigkeit 
mehr gehrmams als gefördert. Es ift eine höhere Stufe des Ver⸗ 
kehrs mit dee Yußenwelt, auf welche das Leben der Pflanze mit 
der Entmidlung dev Blätter getreten if. Obgleich, wie wir bies 
Öfen, erwähnten, der. Kohlenfloff, den die Lebensthätigkeit ber Blät- 
ter am Lichte aus, der. Kohlenfäure entwidelt, ein Hauptnahrungs⸗ 
mittel für die Phanze ift, und mit deu Kohlenfäure zugleich auch 
dev Stickſtoff, der in ihren Säften gefunden wird, mwenigftens zum 
großen Theil aus bee Atmofphäre aufgenommen wird, darf man 
dennoch die Blaͤtter nicht ald Drgane betrachten, weiche zunaͤchſt dem 
Vorgang der Ernährung des Gewaͤchſes dienen. Denn ber Baum 
bebarf und verhraucht gerade dann, wenn er die Blätter noch nicht 
bat, fondern fie erſt erzeugt, zur Bildung diefer neuen Organe fo 
wie des Holzes des meiften Kohlenftoffes, während umgekehrt dann, 
wenn bie Blaͤtter in vollefter Kraft und Thätigkeit ftehen, dieſer Be⸗ 
barf- om geninaften if, Den Wurzeln und den in ihnen fid ent- 
wichelnden einſaugenden Gefäßen, fcheint defhatb im Allgemeinen, 
vorzugämaife vor den Blättern die Beflimmung zuzulommen, dem. 
Innern der Pflanze die Nahrungsmittel zyzuführen, deren fie zu 
ihrer Eatwicklung und ihrem Wachsthum bedarf. Wir zeigen dies 
ſes nach J. Liebig (chem. Briefe) zuerft an dem uns nächft lie 
genden Beifpiel des Feldgewaͤchſe. Die duch den Pflug oder aͤhn⸗ 
liche Geraͤthſchaften des Landbaues zerrifiene und verkleinerte Erd⸗ 
ſcholle zieht, vergleichbar hierin nach ihrem geringeren Maaße dem 
Platinaſchwamm (m, v. ©. 269) die Gasarten der Atmofphäre, 
namentlich die fpecififch ſchwerſte von allen: die Kohlenfäure mit bes 
deugender Stärke an fid) und verdichtet biefelbe ; das Stickſtoffgas 
geht nicht bios in ber Atmofphäre, fondern auch in ‚den Kleinen 
Zwiſchenraͤumen der Erdenſtaͤubchen eine Verbigbung mit dem Waſ⸗ 
ſerſtoffgas ein, in welchem es ald Ammoniak, der unmittelbaren Auf: 
nahme in den Körper der Pflanze und in ben Kreislauf ihrer Säfte 
fähig wird. Aber alle unfere Feldgewaͤchſe bedürfen zu ihrem Wachs⸗ 
thum aufer dem Waſſer und ben atmofphärifchen Elementen, ges 
wiſſer, zum Theil eigenthümlicher fefter Stoffe aus dem Boden, 


29 * 


452 69. Das Pflangenieben. 


Das eine Feld giebt einen reichlichen Ertrag an Walzen, bagegen 
bei gleicher Düngung nur einen fehr fpärlihen an Erbſen; es zeigt 
fi für den Bau von Rüben vortrefflich geeignet, nicht aber für 
den des Klees oder des Tabaks. Dasfelbe Feld, welches mehrere 
Jahre hindurch immer fehr guten Ertrag an Weizen oder anderen 
Feldfruͤchten gab, wird allmälig für diefelbe Gewächsart immer un- 
ergiebiger, obgleich man ihm die gleiche Menge, ja felbft eine grö- 
Bere des beften Düngers zuführt. Der Grund hiervon liegt darin, 
daß der Vorrath der mineralifhen Stoffe des Bodens, in fo weit 
derfelbe ſich ſchon in einem Zuftand der Auflöslichteit und Zer- 
fegung befand, erfchöpft if. So lehrt uns 3. B. die chemifche 
Unterfuhung der Afche, daß namentlich unfere Getreidearten eine 
nicht unbedeutende Menge von Kiefelerde in ihrer Mifhung haben, 
fo wie mehrere altalifche Stoffe und Salze. Die Kiefelerde Tann 
zundchft nur in ihrer leichter auflöslichen Verbindung mit Alkalien 
und altalifhen Erden (vorndämlicd mit Kalt) in die Mifhung der 
vegetabilifhen Elemente eingehen und je nad der Befchaffenheit 
des Bodens ift fie mehr oder weniger zu folchen, ihren Eingang 
erleihternden Verbindungen geneigt. Deshalb baut man in Un- 
garn fortwährend auf ein und demfelben Feld das eine Jahr Wei⸗ 
zen, das andere Jahr Tabak, ohne daß dabei der Ertrag ſich ver- 
tingert, und fo giebt e8 noch verfchiedene Gegenden, mo ſelbſt das 
fefte, kieſel- und kalkhaltige Geftein des Bodens durch den Einfluß 
der Atmofphäre, des Regens und mancher mit ihm nachbarlich zu- 
fammengefellten mineralifhen Stoffe fehr ſchnell in einem auflös- 
lichen, für das Gewaͤchs aneigenbarent Zuftand übergeht. Wo je- 
boch diefer Vorgang, wie auf unferen melften Feldern, einen lang- 
fameren Verlauf nimmt, da fieht man ſich genöthigt, die Getreide 
felder entweder von Zeit zu Zeit brady Liegen zu laſſen, oder fie 
abwechſelnd zum Bau der Kartoffeln und Rüben zu beflimmen, 
welche dem Boden Bein Theilchen der aufgelösten Kiefelerde ent- 
führen und deshalb eine neue Anfammlung des Vorrathes berfels 
ben für das naͤchſte Fahr möglih machen. Was jedoch der Kauf 
der Natur auf längerem Wege langfam vollbringt, dad vermag die 
Kunft des Menſchen auf kuͤrzerem zu befchleunigen. Sie kann ſelbſt 
dem ſchweren thonerdigen Boden, welcher dem Ackerbau und Pflan⸗ 
zenwuchs ſehr unguͤnſtig iſt, obgleich er eine Fuͤlle von kieslichen und 
alkaliſchen Beſtandtheilen in gebundenem Zuſtand enthaͤlt, in einen 
fruchttragenden Grund vewandeln. Die Erfahrung lehrt, daß an 
jenen Stellen der Mauern, daran der Kalk, als Moͤrtel mit dem 
bereits durch das Brennen zu Ziegelſteinen aufſchließbar gewor⸗ 
denen Thon in Beruͤhrung kommt, ein Auswittern von Salzen, 
(aus Kalien und aus Kohlen- oder Schwefelſaͤure gebildet), ſtatt⸗ 
finde, welche dem Pflanzenwuchs hoͤchſt foͤrderlich ſind. Wenn man 
nah I N. Fuchs’ Entdeckung eine Aufloͤſung von fettem Thone 
mit einer dünnen Auflöfung von aͤtzendem Kalt (Kalkmilch) ver- 
mifche, dann geht diefe Miſchung in einen bidflüffigen Zuſtand 

















vu . “ se vu 





69. Das Pflanzenichen. 453 


über, bie mit der Thonerde verbundenen Alkalien werden allmälig 
frei, der an Kiefelerde reichhaltige Thon erhält die Faͤhigkeit, mit 
Säuren eine im Waffer auflösliche Gallerte zu bilden. Die für die 
Förderung des Pflanzenwuchfes günftige Veränderung des Thons, 
welche uns bdiefe Erfahrungen im Kleinen lehren, wird im Großen 
duch das Aufſtreuen von Aſche und Gyps bei gleichzeitiger ‚bins 
laͤnglicher Bewaͤſſerung an unferen Wiefen bewirkt, deren Ertrag hiers 
durch öfters auf das Doppelte gefleigert wird, Mit gleichem Vortheil 
ftreut man in England auf mande Felder im Oktober gelöfchten, 
oder an ber Luft zerfallenen Kalk auf, der fi während der feuch⸗ 
ten Wintermonate zerfegt und mit dem Aderboden vermifcht, was 
durch das feine, mechanifhe Zertheilen beim Pfluͤgen, noch beför 
dert wird. Was fonft das Verwittern der Kiefel- und Kali-halti⸗ 
gen Steinarten langfamer bewirkt, das wird in folder Weife durch 
ihre Vermengung mit dem Kalk befchleunigt und es wird hiermit 
dem Boden der zum Pflanzenwuchs nöthige Vorrath Der minera- 
liſchen Stoffe gegeben. Das Uebergehen diefer Stoffe in den Pflan« 
zenkörper kann aber nur durch das Waſſer, das im feuchten Bo— 
den enthalten ift, möglic) gemadyt werden. Aus der Oberfläche 
der Blätter verbunftet ohne Aufhören Wafler; je größer die Wärme 
der Umgebung ift, deſto ftärker und rafcher ift das Verdampfen, 
während zu gleicher Zeit die Wurzelfafern wie Saugpumpen wir⸗ 
ten, in denen aus dem feuchten Boden eben fo viel Waſſer eins 
dringt und in den Gefäßen aufwärts feige, als zur Ausfüllung 
der beim Verdunſten entflandenen Leere hinreiht. In dem Wafe 
fer finden fih aud die Beſtandtheile des Bodens aufgelöft, bie 
als. wefentliche Elemente der Pflanzengeftaltung zurüdbleiben. Un⸗ 
ter dieſen Beftandtheilen des Bodens find aber nicht die minera- 
liſchen allein begriffen, fondern auch bie in den meiften Fällen für 
das künftige Gedeihen unferer Feldfrüchte nothwendigen Beſtand⸗ 
theile des Düngers. Denn obgleich der Stidfloffgehalt unferer 
Wiefengewächfe fo wie der Blätter, Blüthen und Früchte der Wald» 
und Gartenbäume zum Theil aus der Atmofphäre, zum Theil aus 
ben nah) S. 451 im Boden verdichteten Luftarten, audy ohne Zu: 
fuhr eines anderen Düngers zu kommen fcheint, fo ift dennoch für 
die enggebrängt flehenden Saaten unferer Felder, welchen der reiche 
Gehalt an aufgelösten organifhen Stoffen abgeht, der fi im 
Nilſchlamm und in dem Boden Virginiens findet, ber naturgemäße 
Weg der Düngung zuträglid und nothwendig. Auch hierbei flehen 
fih das Pflanzen» und das Thierreich in mwechfelfeitig ſich ergän- 
zender, hülfreicher Weife gegenüber. Das Thierreich iſt es, deſſen 
aufgelöste Elemente dem Pflanzenreich durch die Wurzeln die kraͤf⸗ 
tigfte Nahrung gewähren. Die Ernährung der beiden Reiche zeigt 
hierbei baffelbe Verhältniß wie das Athmen. Denn mie bie Wur⸗ 
zelfaſern der Gewaͤchſe den Enden der einſaugenden Gefaͤße im 
Thierleibe, ſo entſprechen, wie ſchon erwaͤhnt, die Blaͤtter von je⸗ 
nen den Lungen der letzteren. Das, was beim Athmen der Lungen 


454 69. Das Pflanzenteden. 


bes Blute und "durch diefes allen Theilen des Leibes zur mweuen 
Bekräftigung des Lebens mitgetheilt wird, ift aber nidyt da® Sau⸗ 
erftoffga® allein, welches mit dem Kohlenftoff zur Kohlenſaͤure fi 
vereint, fondern ein Wirkfames jener höheren Ordnung, zu "welcher 
die elettromagnetifchen Kräfte gehören. Etwas Aehnliches "geht dud) 
bei dem Athmen der Pflanzenblätter vor und zugleich iſt es ein höhe 
red (kosmiſches) Verhaͤltniß des Pflanzen: zum Thierreich, in wel⸗ 
des beide durdy den Vorgang ihres Athmens treten, wobei das 
eine der beiden Reiche das aus fich erzeugt und hinwegſtoͤßt, def 
fen das andere am nothwenbdigften bedarf. 

Aber diefer allgemeinere kosmiſche Gegenfag, der fit) in Be 
ziehung auf die im Gewebe der thierifhen Lunge und des Blattes 
der Pflanze aus: und eingehende Luft, zwifchen dem Thier⸗ ‘und 
dem Gemwächsreich findet, tritt noch einmal in dem engeren Kreife 
des Pflanzenlebens felber hervor. Schon die Bluͤthe, noch mehr 
aber die Frucht, nimmt, wie das athmende Thier, :die Lebensluft 
auf und haucht Kohlenfäure aus. Auf diefer Stufe feiner Ent 
widlung hat das Pflanzenleben einen Höhenpuntt erreicht, auf 
welchem bie beiden entgegengefegten Richtungen, die fid) bereits am 
Saamenktorn in dem abwärts firebenden Wurzelkeim unb dem 
aufwärts fltigenden Stammkeim kund gaben, und welche bei dem 
weiter fortfhreitenden Wahsthum immer meiter "ansemanber tre 
ten, von Neuem fich einander nähern und zulegt durch fhre Verei⸗ 
nigung den Kreis, ben die Bewegung bucchlief, ifchließen. Hier 
kehrt die Schöpferkraft des Lebens von Nenem im den geheimnif- 
vollen Graͤnzpunkt des Saamenfornes zuruͤck, von welchem :fie 
ihren Lauf begann, nicht aber um ihr Bewegen, fo wie die beiden 
Stundfloffe, aus denen das gefchmefelte Blei (der Bleiglanz) oder 
aus denen der Bergkrnftall befteht, in der Verſchmelzung der bei- 
den, vorhin weit aus einander reichenden Richtungen zu enden. Denn 
wenn ber Grundſtoff der KHiefelerde durch Erhigung: in jenen Eräftigen, 
polarifhen Gegenfag mit der Lebensluft getreten ift, der ihn zur 
Vereinigung mit diefer gefchidft macht, dann bilden beide zufam: 
men den feſten Körper, welcher ohne weitere Veränderung als ber- 
ſelbe, der er tft, auf diefen jenem Beſtand beruhen bleibt, wie ber 
emporgeworfene Stein, wenn ihn der Zug der Schwere wieder zum 
Boden geführt hat. Etwas ganz Anderes findet: im der Entwick⸗ 
lungsgefchichte des organifchen Lebens flat. Wenn wir bie beiden 
entgegengefegten Richtungen, bie auf jeder Stafe'diefer Entwicklung 
neben einander auftreten, mit ben chemiſch⸗polariſchen Gegenſaͤtzen, 
3. B. zwifchen Schwefel und Kupfer, oder zwifhen "Sauerftoff und 
Kohlenstoff vergleichen, dann ſchließen jeme Richtungen zwar an 
jedem Durchgangspuntte ihrer ‚werdenden Leiblichkeit, welcher dem 
Zuftand der Knospe zu vergleichen ift, einen Verein, der Aber bald 
ſich wieder auflöft, und aus welchem fie mur noch weiter, als anf 
ber vorhergehenden Stufe auseinander gehen. Wenr. aber endlich 
auch ba, wo. ber. polarifche Gegenfag vor and. bei’ der Erzeugung 


. 
. 


—4 
— 


— 


A AR ER A TE NT 77 





70. Das thieriſche Leben. 455 


der Feucht feinen hoͤchſten Gipfel erreicht hat und nun jn feinem 
Verein zum Stillftand gekommen ift, das Ende der Bewegungen 
gefommen fcheint, fo ift diefes Ende dennoch nur ein Durchgangs⸗ 
‚punkt zu einem neuen, fräftigeren Bewegen. Denn aus dem Saa- 
mentorn, in welchem die Lebenskraft der verblühten Pflanze er: 
ftarb, geht eine Pflanze derfelben Art hervor, die das gleiche Werk 
des fchaffenden Lebens in gleicher Weiſe fortführt, 

Und hierin liegt var Allem das unterfcheidende Merkmal der 
‚unbelebten, unorganifchen Körpermwelt von der organifhen und ‚zus 
gleich belebten. In jener find es die Stoffe, die einzeln für ſich 
ober in ihrer Verbindung zu feftftehenden Einzelmefen bie Art dar⸗ 
ftellen.; die Eosmifchen Kräfte des Lichtes, der Wärme, der Elek: 
‚trigität ziehen an der Erfcheinung diefer Einzelwefen (der Kryſtalle 
und Steinmaffen) vorüber, ohne eine Spur ihres Einfluffes, es 
ſei denn .ein zerftörender, zu hinterlaffen. Im Reiche der organi- 
ſchen Natur find es nicht die Stoffe, nicht die Einzelwefen, melche 
.der Art ihre Beſtehen geben; denn beide, die Stoffe, wie die batd 
vergehenden Kinzelmefen find einem befländigen Wandel unterwor⸗ 
fen, fondern es ift eine Schöpferkraft von Ahnlihem Wefen, als 


ber in und denkende Geift, welche bie Form ihrer Werke inmitten 


der Wandelbarkeit ded Materials eben fo feithält, wie der denkende 
Geiſt das Bild feiner Gedanken, welches in dem vorlbereilenden 
Strome der unzählbaren anderen Gebilde des Denkens nicht un⸗ 


‚tergeht oder verlifcht, fondern zu dem Beſtandtheil eines Gebäudes 


der Erkenntniſſe wird, das auf unvergänglihdem Grunde ruht. 
Diefe Gedankenbilder des. Menfhengeiftes, was find fie im Ver: 
‚gleid) mit den Gedanken des Schöpfers, welche mit dem Weſen 
der Sichtbarkeit und ‚Zeitlichkeit zugleich alles Weſen der Unficht- 
barkeit und Ewigkeit umfaffen! Hier wird jeder Gedanke zu einer, 
aus PN ‚Unfichtbarkeit in die Sichtbarkeit ſich fortfegenden Tha 
des Lebens. | 


70. Das thieriſche Leben. 


:&8: wiederholt ſich in einem weiteren Kreife im Leben. des 
Thieres daſſelbe, was mir im vorhergehenden Gapitel von dem 
Pflanzenleben fagten. Die fhaffende Kraft, Seele genannt, welche 
in der Pflanze, gleichwie im Zuftand des Sclafes das Gefchäft 
der elementaren Ummandlung ber Stoffe, der Ernährung und des 
Wachsthums übte, ift im Wefen des Thieres zum Erwachen ge: 
kommen. Wenn man im allgemeinen Ueberblick das Verhältniß 
der. beiden. mefentlich zufammengehörenden und fid) .gegenfeitig er 
gänzenden Reiche, der Gewaͤchſe und ber Thiere, betrachtet, dann 
erkennt man leicht, daß fi) in ihm baffelbe: wigberhole, was zwij 
fhen der Nahrung aufnehmenden, fo mie verarbeitenden Wurzel 
und bem Stamme mit feinen Blättern und Blüthen ftatt findet. 
Das Beftehen des Thierreiches ift, wie wir fchon oben, im 5. Cap. 


456 71. Die Nerven des thierifchen Leibe. 


bemerkten, fo wefentlich auf das Dafein des Pflanzenreiches, aus 
dem es feine Nahrung empfängt, begründet, als das Beſtehen des 
Baumftammes auf dad Vorhandenſein der Wurzeln. 

Das Kortbewegen der Lebenskraft von einem Punkt ihrer 
Bahn zum anderen giebt ſich in ber Leiblichkeit bes Thieres durch 
ein viel augenfälligeres Auseinandergehen in zwei einander entge⸗ 
gengefeste und ohne Aufhören ſich vereinende Richtungen kund, 
als in der Leiblichkeit der Gewaͤchſe. Da zeigt fih uns im inne 
ven Bau, mie in der äußeren Gliederung eine Mannichfaltigkeit 
der Gebilde und Drgane, mit welcher die organiſche Gliederung 
des Pflanzenkörpers ſich nicht vergleichen laͤßt. Jene einzelnen 
Sliedertheile und Theilchen find zwar nach ihrer Art auch den Ein- 
zelwefen der Knospen, ber Blätter und Bluͤthen zu vergleichen, 
die fih am Baum zu einem Eleinen Gefammtreich des Lebens ver- 
eint finden, und die noch als ein unzahlbares Volk der Polypen 
den lebenden Corallenſtamm bilden, aber fie fteben im volllomm» 
neren Thiere unter der Herrfchaft einer alle bewegenden und zuſam⸗ 
menfaflenden Einheit, melche hier, vorzugsweife vor der in ber 
Pflanze wirkenden Lebenskraft, den Namen Seele empfangen bat, 
obmohl beide, eben fo, wie das lebendige Bewegen in ber Wurzel 
und im Stamme bes Baumes, von gleihem Urfprung und We: 
fen find, 

Es liegt außer dem Kreife diefer andeutenden Umriſſe, den 
inneren und dußeren Bau bes Thierkörpers und die Bewegungen 
feines Lebens zu befchreiben, und Vieles hierher Gehörige iſt ſchon 
im vorhergehenden Verlauf biefer Betrachtungen gefagt und wird 
noch unten, in den nadıjfolgenden legten Capiteln gefagt werden: 
Das Gefeg, nah welhem die Bahnbewegung des thierifchen Le 
bens an dem Anfangspunkt eines Keimes beginnt, und nur fchein- 
bar, um einen neuen Auslauf zu machen, an einem foldyen endet, 
ift daffelbe, wie bei der Gefchichte des Pflanzenlebens. Was aber 
inmitten diefes Außerlich fichtbaren Bahnlaufes die bewegende Mitte, 
ber Anfang und Endpunkt des inneren Bahnlaufes fei, das mol: 
len wir noch zulegt (im Cap. 74) ſehen. Aus ber Belchreibung 
des thierifchen Organismus heben wir zunähft bier nur als An- 
knuͤpfung an ben Inhalt des II. Hauptabfchnittes, die der Nerven 
hervor, durch welche das Thier erft eigentlich zum Thiere wird. 


11. Die Nerven bes thierifhen Keibes. 


Wir haben im Verlauf unferer diesmaligen Unterfuchungen 
über die Melt ber fichtbaren Dinge fchon mehrmals den Nerven 
des thierifchen und menſchlichen Körpers Erwähnung gethan und 
‚werden dies in den nächftfolgenden Gapiteln nody mehr thun müf- 
fen. Es fcheint deshalb nöthig, fo wie vorhin über den Bau und 
die Wirffamkeit unferer eleftrifchen und magnetifhen Werkzeuge, 
aud) über die aͤußere Beichaffenheit und die Eigenfchaften der Ner⸗ 











71. Die Nerven bes thieriſchen Leibes. 451 


ven Einiges zu fagen, obgleich uns dieſes zunaͤchſt in der Erkennt 
niß jenes überfinnlichen Etwas, das im Nerven lebt und wirkt, 
nicht weiter fördern kann, als die Bekanntfhaft mit dem Bau 
einer Elektriſirmaſchine in der Erkenntniß von dem eigentlihen Wes 
fen der Elektrizität. | 

Es hat lange gedauert, bis dahin, wo die Forſcher der Na⸗ 
tur, und vor allem Anbern bie Aerzte, die fich mit der Erkennt 
niß des inneren Baues des Menſchenleibes befchäftigten, zu der 
Erkenntniß gelangten, daß nicht das Fleifch oder irgend ein ande 
ter Theil unferes Leibes das Gefühl, fo wie bie Kraft zum wills 
türlihen Bewegen in ſich felber habe, fondern daß ihnen beides 
durch bie Eleinen, mweißlichen Faͤdchen (Merven genannt) komme, bie 
fi) wegen ihrer Zartheit und Feinheit unter der Maſſe des Flei⸗ 
fches, der Häute, ber Gefäße und Eingeweide fo unfcheinbar aus: 
nehmen, daß ein Nichtkenner fie gar leicht ganz uͤberſieht. Der Anz 
ſchein war dafür, daß zunähft der Muskel (das Fleifh), bie 
Wunden oder die Stöße fühle, die eine dußere Gewalt ihm zus 
fügt, und fo lag die Meinung ganz nahe, daß unfer leibliche6 Fuͤh⸗ 
len nur im Fleifch feinen Sig habe, während das Haar, die Nä- 
-gel, die Oberhaut, welche ben Körper zu aͤußerſt überkleidet, Kein 
Gefühl haben. 

Aber eine weiter fortgehende Unterfuhung lehrte es, daß, 
wenn man an einem nod lebenden Gliede die weichen, zarten 
Stämme der Nerven, welche in bemfelben ihren Verlauf nehmen, 
ducchfchneidet oder unterbindet, das Fleifh (der Muskel) eben fo 
gefühllo6 werde, als dies für gewoͤhnlich die Nägel oder die Ober: 
haut find, In ein Glied, deſſen Nerven gelähmt, oder durch ges 
waltfame Mittel unwirkfam gemacht wurden, kann man fehneiden 
und ſtechen, man ann baffelbe brennen und quetfchen, es empfin⸗ 
det von bdiefem Allen nichts mehr und zugleich ift ed auch außer 
Stande, irgend eine Bewegung, welche der Wille anregen möchte, 
zu vollbringen. Ein gelähmter Menfh kann feine Füße, feine 
Hände nice mehr zu ihren gewöhnlichen Verrichtungen gebrau- 
hen, kann weder gehen noch zugreifen, fo eifrig er auch dieſes zu 
bewirken ſucht. Hat: die Lähmung den Sehnerven getroffen, der 
in's Innere des Auges geht, dann kann biefes nicht mehr fehen; 
5 befindet fih, felbft am hellen Mittag, im tiefften nächtlichen 

unkel. 

Und doch hat ein ſolches gelaͤhmtes Glied großentheils noch 
ſeine gewoͤhnliche, natuͤrliche Geſtalt; dem Auge, das am „ſchwar⸗ 
zen Staar“ d. h. an der Laͤhmung des Sehnerven, erblindet iſt, 
merkt man kaum Etwas von ſeinem großen Mangel an, in dem ge⸗ 
laͤhmten Arme bewegt ſich noch fortwaͤhrend in den meiſten Faͤllen das 
Blut und fließt aus der gemachten Wunde, von welcher das Glied 
feinen Schmerz empfand, hervor; nicht feine größere Maſſe, ſon⸗ 
dern nur ein ganz kleines Theilchen derfelben: den Mervenfaden 


A58 71. Die Nerven des thiexifchen Leibes. 


bat das Webel betsoffen und body ‚ging dadurch dem ganzen Gliede 
ber eigentlihfte, hoͤchſte Vorzug feines Lebens verloren. 

Es erinnert und died abermals an die hohe Macht und Be 
deutung, welche, wie mir dies öfterd erwähnten, in dem leiblich 
Kleinen und Kleinften liegt. Und nicht nur ber Nerv, fondern 
ber gefammte Leib eines Thieres oder Menfchen, in der innerfien 
Bufammenfügung feiner Theile zeigt uns das ‚große Vermögen vie 
ler Kleinen, welche zu einem gemeinfamen Wirken verbunden find. 
Wenn wir einen Blutstropfen dünn ausftreihen und ihn fo durch 
das Mikroscop betrachten, dann erkennen wir al8bald in ihm eine 
zahlloſe Menge kleiner, Linfenförmiger Körperchen, welche in dem 
Blutwaffer ſchwimmen. Sie find fo Klein, daß ibrer 5 bis 6, 
wenn man fie ihrer Länge nad) an einander reihte, zwifchen 20 
und 30 aber, wenn man fie ihrer Dicke nach über einander legte, 
erft fo viel meſſen würden, als die Dide eines Menfchenhaares 
ausſsmacht. Denn ber Durdymeffer ihrer zarten Scheiben beträgt 
nur ben 250ten oder 300ten, die Dicke derfelben etwa nur den 
1100ten bis 1350ten Theil einer Linie, während die Dicke des 
Menfchenhaares dem 5Hten Theil einer Linie gleihfommt. Jedes 
dieſer Blutlörnchen befteht aber wieder aus einem faft kryſtallhellen 
Körper, der von einem roth färbenden Stoffe, gleich. wie von einer 
. Atmosphäre, umgeben ift amd welcher etwas Eiſen, mit einem 
brennbaren Element -vereint, zu feinen Beflandtheilen hat. Die 
rothe Hülle ber unzählbaren Biutkörnchen ift e8 auch allein, welche 
bem ganzen Blut feine rothe Karbe giebt, denn -in ber. Slüffigkeit, 
darinnen jene Linfenkörperchen fhwimmen, zeigen ſich zwar aud 
ähnliche Koͤrnchen, doch mangelt diefen die rothfarbige und roth- 
färbende Atmosphäre. So erkennen mir [hen im Blute des le 
benden XZhieres eine Sefammtheit von überaus Fleinen Einzelwe⸗ 
fen, deren Millionen in ihrer befländigen Jebendigen Bewegung 
bem Werke der Bildung, ber Ernährung und Erhaltung des Lei: 
bes dienen. 

Die Muskeln ober das thierifche Fleifh find von einer Art 
der Zufammenfegung, deren Befchaffenheit leichter in’® Auge zu 
fallen foheint, als die bes Blutes. Schon buch ein gemeines 
Tafelmeſſer können wir das Fleifeh in Safern zerlegen, welche duch 
ein zarted, häutiges Gewebe unter einander verbunden find. Aber 
mit dieſer groben Zerlegung find wir noch keinesweges bis 
zum Biel oder Ende der Zertheilbarkeit der Muskeln gekom⸗ 
men, diefed wird .abermald nur unter dem Mikroskop moͤglich, 
durch welches wir zulegt die urfprünglihen, aͤußerſten An: 
fünge der Zuſammenſetzung des Fleiſches erkennen: Safern, 
deren Dide kaum den Alten Theil der Die eines Menfchenhaa- 
res beträgt. Und diefe zarten, feinen Körperchen, von denen viele 
Millionen zufammenmirken müffen, demit nur einer unferer Finger 
fi) beugen und ausſtrecken könne, find es, duch welche das Thier 
wie der Menſch alle die wundervollen, Eräftigen Bewegungen ver: 


U. Die Newen bes thieriſchen Leibes. 50 


richten, im denen ‚die mwaltende Seele berfeiben ſich kund giebt. 
Wie Ser erregende Schlag einer eleftrifhen Spannung wirkt der 
Einfluß des Nerven in das Muskelfleifch hinein und jene, dem 
biofen Auge unfidytbaren Kleinen, zieben in ber Zickzackform oder 
in bem gefchlimgelten Umriß eines Bliges fi zufammen und ir 
ten in einer Kraft, welche die mechanifhe Gewalt ber großen Kor: 
permaſſen unvergleichbar viel übertrifft. Wie Hein find, im Ver 
gleich mit der Größe und dem Umfang des ganzen Körpers die 
Muskeln des Gebiffes am Mund des Menfchen und dennod wir: 
ten diefelben, wenn wir damit manche Kerne des Steinobites auf: 
beißen, mit einer Kraft, welche die Kaft unferes ganzen Körpers, 
wenn diefe blos durch den Drud ihres Gewichtes ſich dußerte, bei 
‚weitem überwiegt. Denn zum Zerbräden eines Morellen: oder 
eines Pfirfichkernes wäre die aufgelegte Laft einer‘ Steinmaffe von 
mehreren Gentnern nöthig, waͤhrend ein Eräftiger junger Mann 
diefelbe Wirkung durch fein Gebiß hervorbringt. 

Wieder eine andere bewundernswerthe Weife der Zuſammen⸗ 
fügung aus überaus Heinen Theilchen wird an den Nerven be 
merkt, Diefe find nicht, wie der Muskel, aus Eleinen Fafern, 
fondern aus überaus feinen, mit einem wie ölartigen, halbflüffigen 
Weſen erfüllten Sadenröhrchen zufammengefest, die vom Gebien 
ober Rüdenmart aus, bis zu "dem Theil des Leibes, zu deſſen 
Dienft fie beftimmt :find, fortlaufen. Sechs folcher Fadenroͤhrchen, 
der Reihe nach an einander gelegt, wuͤrden erſt die Dicke eines 
feinen Menfchenhaares ausmachen, benn ihr Durchmeſſer beträgt 
‚nur den 300ten Theil einer Linie. Bei der Theilung eines Ner- 
venftannmes in feine Aefte, Zweige und Zweiglein findet nicht jene 
Anordnung flatt, wie bei der Vertheilung der Blutgefäße in ihre 
Aeſte und Zweige, fo daß aus dem Stumm oder Aft_ von größe: 
rem, imnerem Durchmeſſer ein Zweig von kleinerem Durchmeſſer 
hervorbeicht, fondern dieſelben Faͤdchen, welche den ganzen Stamm 
bildeten, loͤſen fih am Punkt der Bertheilung von einander ab 
und eine gewifle :geößere oder geringere Zahl von ihnen gefellt fich 
zur Oeflaltung bes. Zweiges zuſammen, bis zulegt bei der endlichen 
feinften Iertheilung nur noch wenige diefer Röhrchen bei einanber 
bleiben, von denen jedes einzelne an einem .beflimmten Punkt das 
Ziel feines :Laufes "findet, wenn anders jene Vermuthung ſich 
nicht: beftätigen ließe, daß die meiſten Roͤhrenfaͤdchen ber vollkom⸗ 
menen ‚Nerven fi) von dem Ort ihrer Endung wieder herum nach 
ihrem Ausgangspunkte beugen follten, fo daß fehon in diefem Bau 
die ‚doppelte Verrichtung ber Nerven, zum Bewirken der Muskel⸗ 
bewegung, mie der Empfindung angedeutet wäre. In dem eben 
befchriebenen Verlauf durch die Theile des Leibes erleiden die ein- 
zelnen Mervenröhrchen Feine augenfällige Veränderung; jedes der⸗ 
felben ift in den Zweigen an Geftalt daffelbe geblieben, das es im 
Stamme war; dagegen hat man in der Maffe des Gehirns und 
Ruͤckenmarkes, darin alle Nerven unmittelbar (12 Paare im Ge: 


460 71. Die Nerven bes thieriſchen Leibes. 


bien, 30 im Rüdenmart) ober mittelbar ihren Urfprung unb ihr 
Ende nehmen, hin und wieder blafenartige Erweiterungen und 
andere Formen Kleiner Behältniffe entbedit, deren Inneres zum 
Theil mit Tugelförmigen, halbflüffigen Koͤrperchen (den fogenannten 
Markkuͤgelchen) erfüllt if. Wir erwähnten ſchon früher (im 23, 
und 27. Cap.) der Elemente, aus denen das Gehirn zufammen- 
gefegt if. Der Phosphor und der Schwefel in ihrer Verbindung 
mit der Hauptmaffe des halbgeronnenen Eiweißſtoffes mögen un⸗ 
ter dieſen Beltandtheilen von mefentliher Bedeutung fein; was 
aber diefem von Millionen ber Röhrchen zufammengefügten Ge: 
webe, daraus das Hirn gebildet ift, was diefen blafenförmig zarten 
Behältniffen,, die unter dem Gewebe zerftreut find, und in welche 
ein Xheil der Röhrchen fich erweitert, das Vermögen ertheilt, die 
Eindrüde ber Außenwelt, die auf die Sinnen, wie auf andere 
Theile des Leibes einwirken, als Empfindung und Wahrnehmung 
ber Seele zuzuführen und die Anregungen des Willens nad) allen 
Stliedern hinzutragen, das wird weder aus dem Eunftreichen Bau 
der Nerven und Muskeln erfannt, noch aus der chemifchen Zu: 
fammenfegung errathen. Alles, was wir bei biefer Gelegenheit bes 
merken Tünnen, geht darauf hinaus, daß auch diefen Aeußerungen 
des Lebens ein polarifher Gegenfas und bie befländige Wechfel: 
wirkung eines folchen zu Grunde liege (nah) Gap. 8). Der un: 
bewegte Nerv und der bewegte Muskel bilden einen Gegenfag die 
fer Art, bei welhem der Nerv die Stelle des Höheren (eines 
ı Schaffenden und Bewegenden darſtellt. Schon an fihtbarem Um- 
fang übertrifft dee Muskel den Nervenfaden, der ihm Bewegung 
verleiht, fehr augenfällig, ja in vielen Fällen entzieht ſich die Weife 
des leiblichen Zufammentretend des Nervenendes und bed Muss 
kelfleiſches unferer finnlichen Wahrnehmung gaͤnzlich. Noch mehr 
wird das Bewegen des Muskels, das doch vom Nerven ausgeht, 
in biefem felber zu einem unfihtbaren Vorgang, eben fo. wie fid 
die Anregung zum Wahrnehmen und Empfinden, die dem Leibe 
duch einen ſinnlich erfaßbaren Gegenftand kommt, nach innen 
hinein, im Nerven, jeder weiteren Erkennbarkeit entzieht. Zuletzt 
hat alles fichtbare und finnlih mwahrnehmbare Bewegen und Ge 
ftalten, aller MWechfelverkehr unferes Leibes mit der Auferen Kör- 
perwelt feinen Anfang und fein Ende in einem Etwas, deſſen 
Bewegen, wie das, welches im Nerven vorgeht, nicht nur, fondern 
deſſen wefentliches Sein für unfer finnliches Erkennen nicht mehr 
erfaßbar ift: in die Seele, welche vor dem fihtbaren Entftehen des 
Leibes war und nad) der Auflöfung des Leibes noch befteben wird, 
weil ihrem Wefen ein wahrhaftes, nothwendiges Sein zukoͤmmt, 
gegen welches das Sein ded Körpers, ohne den waltenden und 
beflimmenden Einfluß der Seele, mehr nur einem Scheine zu ver 
gleichen ift. 


72. Eektriſche Erſcheinungen an lebenden Thieren. 461 


"72. Elektriſche Erfheinungen an lebenden Thieren. 


Nicht allein die Metalle und andere fefle Körper, fondern auch 
ſehr viele tropfbare Flüffigkeiten zeigen, wenn fie unter einander, 
oder mit feften Körpern in Berührung kommen, eine elektrifche 
Spannung Daß felbft die Wirkfamkeit des lebenden Nerven mit 
der Anregung einer elektrifhen Polarifation. fehr nahe verwandt 
fei, gebt fhon aus den vorhin erwähnten Erfcheinungen hervor, 
in denen bie galvanifhe Strömung gleid dem lebendigen Einfluß 
des Nerven in den verfchiedenen Theilen des Leibes theild Empfin- 
bung der Sinne, theild Bewegung hervorbringt. Ungleich deut 
licher jedoch wird diefes namentlich an einigen Arten der Fifche er- 
fannt, welche nah Willkür mehr oder minder ftarke elektrifche 
Schläge an Menfchen und Thiere, fo wie an andere Körper mit- 
theilen können. Diefe, aus einem lebenden thierifhen Körper 
bervorgehenbe Elektrizitaͤt kann eben fo, wie die gewöhnliche, zur 
Ladung einer Leidner Flaſche, zum Hervorbringen von Funken und 
anderer folder Exfcheinungen benust werden, die an unferen kuͤnſt⸗ 
lichen elettrifhen Apparaten von bedeutender Stärke vortommen. 

Einer der weitverbreitetften elektrifchen Fiſche ift der Narke 
ober Zitterrochen, ber in verfhiebenen Arten fihon in unferen 
nahbarlihen Meeren, im Mittelmeer, in der Nordſee, im Kanal, 
im atlantifhen, fo wie im indifchen Meere gefunden wird. Ein 
feltfames Thier, deſſen Körper faft den Umriß einer Geige hat und 
beffen weichliches Steifch Feine fehr beliebte Koft if. Schon bie 
Dölker des Alterthums kannten bie Eigenfchaft des Zitterrochens, 
nicht nur Fifhe und andere Seethiere, theild zu feiner Vertheidi⸗ 
gung, theils auch um ihrer als eine Beute habhaft zu werben, fo. 
zu betäuben, daß fie wenigſtens für einige Zeit bewegungslos 


werden. Wenn man ihn mit der Hand berühtt, fühlt man durd) 


den ganzen Arm eine elektrifche Entladung, welche ein Zittern und 
bebendes Zucken, zumellen aber auch, wie eine Leidener Slafche, 
eine plöglihe Erſchuͤtterung bewirkt, Doch ift dieſe Wirkung nicht 
bei jeder Berührung bemerkbar; es hängt offenbar von ber Will 
kuͤr des Thieres ab, ob es fich dieſer Nothwehr bedienen will oder 
nicht, und erſt dann, wenn es gereizt wird, läßt es jene in ihm 
fhlummernde Kraft kund werden. Allerdings kann die elektrifche 
Spannung, deren biefer Fifch fähig ift, ihm ein Erfag für einen. 
Mangel werden, an welchem fein Körper im Vergleich mit dem 
von anderen Rochenarten leidet. Sein meicher Leib ift nicht durch 
jene feften Hautdecken, nicht durch jene harten Borfprünge und 
Stacheln gefhügt, womit die Oberfläche der meiften Rochenarten 
bedeckt iſt, auch ift ihm fein Forkommen und Bewegen im Ele 
ment, das er bewohnt, dadurch etwas erfchwert, daß bei ihm die 


Bruſtſloſſen fih nicht bis an bie Seiten bes Kopfes verlängern 


und überhaupt von ſchwaͤcherem Baue find. Der Zitterroche ift 
deshalb keln fehr behender Schwimmer, fonbern liegt gewöhnlich 


462 72. Elektriſche Erſcheinungen an. lebenden. Tieren. 


am Boden des Gewaͤſſers, im Sand oder Schlamm Was ihm 
aber auf diefe Weife in feinem Körperbau mangelt, das erfegt er 
durch feine phyſikaliſchen Kunſtſtuͤcke, mittelft welcher ee audy bie 
ſchnellſten Mitbewohner feined Elementes, wenn fie an Größe ihm 
nicht gar zu fehr überlegen find, mitten in. ihrem rafchen Laufe zu 
lähmen vermag. Diefe Wirkfamteit beruht auf dem Daſein einer 
ganz eigenthümlihen Vorrichtung im Inneren bed Leibes. Gerade 

in dev Gegend des zugerundeten. Varbertheiles, wo die Fortfegung 
der Brufifloffen mangelt, entſprechend der. Gegend des Nadens, 
liegt unter den häutigen Deden zu beiden Seiten bed Kürpers eine 
bedeutende, bi6 an 1200 fich beinufende Menge von 4 bis Gedigen 
Zellen von fonnigem Bau, welche mit einer aus Gallert und Ei: 
weißftoff gemifchten Fluͤſſigkeit erfüle find, Starke Nervenaͤſte ver- 
breiten fich in biefen, gleich den Wachswaben der Bienen zuſam⸗ 
mengeorbneten Zellen, und jene Nerven find es, vermöge welchen 
Die Seele des Thieres, vom. Gehirn aus, eine eleftrifhe Spannung 
in dem feften und flüffigen Gebilhe der Zellen hervoxruft, durch bie 
ed die Kräfte eines in die Ferne wirkenden Blitzes empfängt. 

Der träftigfte unter allen bisher befannten elektrifchen Fiſchen 
ift der Zitteraal, weicher zwar nicht in unſeren nadbarlichen 
Meeren, defto häufiger aber in den Bächen und fiehenden Gemäß 
feen des füdlichen Amerikas gefunden wird. Das mächtige Thier 
erreicht zuweilen bie Länge eines Menſchen und dabei die Dicke ei- 
nes ſtarken Mannesarmes. So fehr es au in anderer Dinficht 
unferen Aalen ähnlich iſt, wunterfcheidet es ſich dennoch, ſcheinbar 
zu feinem großen Nachtheil, burd einen Mangel, der gleich auf 
ben erſten Blick in’s Auge fallt; ibm fehlt die lange Rüdenflofle, 
bie Über ben Oberkörper unferer Aale ſich hinzieht und mit dieſer 
Hoffe zugleich auch großentheils die Schar Kleiner Muskeln, 
welche ben Bewegungen berfelben dienen. Ueberdies fehlt dem 
mertwürdigen Thiere bie Ausbildung des Vorderleibes, die unfer 
Hat hat; der größte Theil feiner Körperlänge. gehört be Schwanze 
an. Doch dieſer Mangel nah außen if durch eine Gabe im 
Inneren des Körpers erfegt, melde von. waͤchtigerer Wirkſamkeit 
if, als alle Hoffen und Muskeln Am Rüden hinab, und an 
beiten Seiten findet ſich eine unzählige Menge kleiner, unregel⸗ 
mäßiger Bellen, welche durch horizontal laufende und ſenkrecht dieſe 
bindyichneidende, fennige Häute gebildet werden und von einer dick 
fläffigen, gallerartigen Maſſe erfüllt find. In ihnen verbreiten ſich 
bedeutende Nervendfte. Diefe innere Einrichtung des Baues, mit 
wolcher die großen Schwimmblaſen in huͤlfreicher Begiehung fiehen, 
giebt dem Thiere jene ſtarke eleftrifche Spannung in feine Gewalt, 
duch, welche daſſelbe zu einem Schreden ber Menſchen, wie ber 
anberen Xhiere wir, Denn die. Bewohner jener Gegenden, in 
denen die Schaaren bes. Zitteraaled alle Suͤmpfe und kleinen Ge: 
waͤſſer erfüllen, fürchten die geheimnißvolle Kraft dieſes Fiſches fo 
fee, daß fie feibit um großen Zehn ben Fang befielben kaum wa⸗ 


72, Elektrifche Erfeheinungen an lebenden Thieren. A635 


gen mögen, und wenn fieendlich fich dazu entfchließen, mit ber Höchften- 
Dorficht dabei zu Werke gehen, Und ihre Furcht iſt nicht unge: 
gründe. Stuͤrzen doch felbft ſtarke Pferde gelähmt zufammen, 
wenn fie duch ein Waffer gehen, darin Zittersale find, denn der 
furchtbare Fiſch legt fi mit feinem Rüden unter den Bauch de 
fhywimmenden ober hindurch watenden Laſtthieres und verfegt dem⸗ 
felben einen fo gewaltigen, elektrifhen Schlag, daß es entweder 
regungslos im Waſſer unterfinkt und darin erfäuft, oder, wenn es 
noch das Fand erreicht, ſich dafelbft betäubt auf den Boden hin- 
ftredt und erft langfam ſich wieder erholt. Auch ſchwimmende 
Menfchen find auf diefe Weife umgefommen. Deshalb ift es öfs 
ters geſchehen, daß man in folchen Gegenden, wo es noch feine 
eigentlihen Kunftfiraßen und nur felten über die Lachen und klei⸗ 
nen Fluͤſſe eine Bruͤcke giebt, die frühere Richtung der Wege ver- 
laffen mußte, wenn man dabei hin und wieder auf Maulthieren 
und Pferden durch Waſſer zu pafficen genöthigt war. Denn bei 
dieſer Gelegenheit gingen viele Laſtthiere mit ihrer Bürbe, oͤfters 
auch mit ihren Reiteen zu Grube, weil dee Zitterani, auch ungen 
reizt, mit der Tuͤcke einer zornwuͤthigen Schlange, feine Angriffe 
auf alle im ſeine Gewaͤſſer kommenden Thiere richtet. Eben fo, mie 
eime giftige Schlange durch oͤfteres Beißen ihten Giftvorrath fo 
erſchoͤpft, daß fie für einige Zeit faſt gefahrlos wird, Tann auch 
der Zitteraal, durch mehrmaliges Entladen feiner elektriſchen Bat 
terte.-fo ohnmaͤchtig werden, dag man, faft ohne alle Furcht vor 
fimen Schlägen, ihn zu fangen vermag. Wenn deshalb vornehme 
Europaͤer an ſolchem Fange fi) beluftiger wollen, dann lafien fie 
eine Schaar der verwilderten, fübamerikanifchen Pferde, welche um 
ſehr wohlfeilen Preis zu haben find, in das Waſſer hineintreiben 
und zuerſt an dieſen bie Bitteraale ihre Kraft erfchöpfen. Aber 
auch dann, wenn der Fiſch fo kraftlos geworden If, daß er wie 
ohnmaͤchtig, mit halbem Leibe hervorragend auf dem Wafler 
ſchwimme, dio Berähtumg ber Pferde aͤngſtuüch meider und die Nähe 
es Ufers fucht, iſt er feiner elektrifchen Spannung noch nicht 
ganz beraubt. Wnterrichtete Europder, welche die Kleinen Harpu⸗ 
wen, die man gegen. den Fiſch fchleuders, aus feinem Fleiſche her 


auszogen, empfanden Hierbei sine elebtriſche Erſchuͤtterung, welche 


die Wirkung des ſtaͤrkſten Leidener Flaſche uͤbertraf. 

Die Wirkung des Schlages der Zitteraale auf die Empfin⸗ 
dung iſt uͤbrigens, nach der Ausſage der Beobachter verſchieben 
und ſie haͤngt ſehr von der Groͤße und dem Wohlbefinden des 
Fiſches ad. Wenn dieſer im hohen Grade geſchwaͤcht iſt, dann em 
regt ſeine Beruͤhrung nur ein Zittern in den Sennen des Armes 
bie zum Ellenbogen und eine ſolche wellenfoͤrmig anregende Aus⸗ 
ſtroͤmung hat man auch haͤufig bei Verſuchen mit dem Zitterrochen 
bemerkt, Wenn dagegen das Thier groß und noch unentkraͤftet 
iM, dann wirt dee Schlag, den daffelbe den Füßen oder Händen, 
mit Denon man es beruͤhrt, mittheilt, fo furchtbar durch alle Ges 


364 72. Elektriſche Erſcheinungen an lebenden Thieren. 


lenke und Theile des Körpers, daß der Menſch kaum fich aufrecht 
erhalten Tann und Tage lang naher noch an Schwaͤche und 
Schmerz in ben Bliedern, Betäubung bed Kopfes und dem Ge 
fühl eines allgemeinen Unwohlfeins zu leiden hat, Wenn man fi 
zum Fang ber Zitternale der Nege bedient, und nur eines biefer 
Thiere, von ſchon reiferem Alter, zugleich mit jungen Krokodilen 
felbft von der halben Länge eines Menfchenkörpers in das Garn 
geräth und mit berausgezogen wird, bann findet man diefe fo wie 
alle etwa im diefelbe Gefellfchaft gefommene Fifche, beim Ausſchuͤt⸗ 
ten des Netzes tobt, und nur ber Aal, dee Mörder derfelben, ift, 
freilich mit etwas geſchwaͤchter Kraft, am Leben geblieben. 

An diefen Fiſchen ift es auch möglich gewefen, alle jene Ver⸗ 
ſuche anzuftelen, durch welche die mefentliche Webereinftimmung 
ihrer polarifhen Spannung mit ber Elektrizitaͤt erwieſen wurde. 
Man hat Funken bei ihrer Entladung geſehen, welche freilih an 
Größe und Helligkeit mit ber Stärke der Erfchütterung die der le 
bende Kötper bei der Berührung empfindet, noch weniger in Ber: 
haͤltniß ftanden als die Funken einer großen Voltaiſchen Säule. 
Wenn man den Fifh mit einer Stange von Glas oder Pech 
berührt, oder die Hand mit ſtarkem Seidenzeug umgiebt, ifl 
man eben fo gegen feine Schläge gefhüst, als wenn man uns 
ter ähnlichen ifolirenden Vorkehrungen eine ſtark geladene Leidner 
Flaſche oder den Conductor einer Elektrificmafchine berührt; da⸗ 
gegen entlädt fi) die Spannung buch Metalle in ihrer ganzen 
Stärke, Der Bitteraal kann aus allen Gegenden feiner fchleimigen 
Oberfläche Schläge ertheilen, nicht aber, wenn man das Innere 
feines Mundes berührt, Wenn übrigens fchon beim Galvanismus 
bie elektrifche Ausgleihung dadurch, daß fie (nad) C. A5) mehr 
einer andauernden Strömung als einer plöglihen Ausſchuͤttung 
gleicht, in einer Meile wirkt, welche ber Lebensthätigkeit der thie 
riſchen Nerven näher verwandt iſt ald die Wirkung der gemeinen, 
durch Reiben erzeugten Elektrizität, fo gilt dies noch wiel mehr von 
den elektrifhen Stroͤmungsſchlaͤgen bee beiden bereits erwähnten 
Sifeharten, fo mie des mit gleicher Eigenfchaft begabten elektrifchen 
Stachelbauchfiſches im indifchen Ocean und jenes Zitterfifches, der 
den Nil fo wie einige Ströme des mittleren Afrikas bewohnt. Die 
Erregung fo wie die Aeußerung der elektrifhen Spannung biefer 
Thiere geht von ihrem Gehirn zum Nerven aus und hängt ganz 
von ihrer Willkuͤr ab, fo daß ber Bitteraal, der flärkfte unter 
allen, feinen Schlägen, bie fich in ziemliche Weite durch das Waſ⸗ 
fer fortpflanzen, eine beflimmte Richtung, nad einem gewiſſen Se 
genitand hin, ertheilen, und wenn er, in Waflerbehältern aufbe: 
wahrt, an bie Nähe bes Menfchen gewöhnt ift, fie auch fo zuruͤck⸗ 
halten Tann, daß er nur dann, wenn er gereizt wird, nicht bei 
jeder Berührung von feiner Kraft Gebraud macht. Auch fcheint 
ed öfters, als wenn die elektrifchen Fifche vor der Entladung zus 
erſt durch ihe Gefühl es prüften, ob der Kreis, durch den fie den 











72. Eiektriſche Erſcheinungen an lebenden Thieren. 468 


Schlag wollen gehen laſſen, gefchloffen ſei; ber Zitteraat fest fich 
zuweilen ſchon mehrere Augenblide vorher mit dem fremden thie- 
riſchen Körper in Berührung, bis er plöglid und auf einmal dem⸗ 
felben feine lähmende Macht fühlen läßt, und mit noch mehr Zus 
ruͤckhaltung und Vorſicht benimmt ſich dabei ber fhmwächere Zitter- 
rohe. Es ift der natürliche Trieb der Selbfterhaltung, welcher 
biefe Thiere dazu bemegt, daß fie bei der Erregung ihrer elektrifchen 
Spannung mit einer gemwiffen Sparfamteit zu Werke gehen. Wenn 
man fie zu einer öfteren Wiederholung ihrer Schläge in kurzen 
Zwifchenzeiten nach einander antreibt, dann wird nicht blos ihre 
elektriſche, ſondern mit diefer zugleich ihre Lebenskraft erfchöpft, fo 
daß fie bald darauf abfterben. An zwei Fifhen der Art bemerkte 
man, daß der eine, an welchem man ben Nerven des eleftrifchen 
Organs durchſchnitten und hierdurdy die Verbindung beffelben mit 
dem Gehirn, den anregenden Einfluß des le&teren, aufgehoben 
hatte, von nun an zwar Feine Schläge mehr ertheilen konnte, da» 
bei aber länger am Leben erhalten wurde, als der andere, der mit 
jener Verwundung verfchont geblieben, dafür aber. öfter zu feinen 
Entladungen gereizt worden war. 

Bon ganz anderer, vielleicht mit der durch Reibung erzeugten 
näher verwandt, ift jene Elektrizität, die man zumeilen in fehr 
augenfälliger Weife an lebenden menfchlichen Körpern beobachtet 
hat. An manchen Perfonen geben die Haare beim Auskaͤmmen 
oder beim Reiben elektrifche Funken, eben fo mie das Haar bes 
Löwen, des Luchfes und anderer Thiere vom Kasengefchledht. An 
anderen bemerkt man Funken, wenn ihre Haut gerieben wird ober 
beim Ausziehen des Gemwandes, und als folhe Funken gebende 
Männer werden namentlih Theodorich der Große, fo wie Carl 
Gonzaga, der Herzog von Mantua, genannt. Vielleicht ſchließen 
ſich hieran felbft ſolche Fälle, wie die allerdings zweifelhaften einer 
plöglichen Selbftentzundung menfchlicdyer Körper. 

Menn wir, bei einer der bedauernswürdigften, zum Glüd 
nicht immer unheilbaren Krankheiten, welche unfer Gefchlecht be 
treffen Eönnen, bei der fallenden Sucht, Erfchütterungen und 
Zudungen der lieder entftehen fehen, welche ganz jenen gleichen, 
die der Einfluß der Voltaiſchen Säule oder die Entladung einer 
gewöhnlichen elektrifchen Spannung hervorruft, dann merden wir 
zu der Vermuthung geführt, daß hierbei der fonft unmerkliche, fi 
immer erhebende und ausgleihend ſich wieder fentende Strom der 
eleftrifhen Anregung, die mit der Wirkfamkeit der Nerven verbuns 
den ift, in feinem gefunden Verlauf gehemmt und gleid wie ans 
gedämmt fei, bis er, den Damm burchbrechend, in feiner ganzen, 
Schreden erregenden Macht über alle Bewegungsnerven des Kör- 
pers ſich ergießt. Nicht immer, leider, wird die gefunde Ableitung 
der polarifchen Spannung, in den verfchiedenen Gebieten des Ners 
venfpflemes in ſolcher leichten und lieblihen Weife wieder herges 
ſtellt, als bei dem berühmten neapolitanifchen Gelehrten: Fabius 


30 





466 73. Die kosmische Wirkſamkeit der Lebenskraft. 


Columna. Diefer litt in feiner Jugend an heftigen epifeptifchen 
Anfällen, welche der Kunft der damals berühmteften Aerzte feines 
Baterlandes nicht meichen wollten. Da befchloß er, der mit den 
Schriften der alten Griechen und Römer fehr vertraut war, zu ber 
Meisheit diefer Alten feine Zuflucht zu nehmen; er forfchte im den 
Merten ihrer Aerzte und Naturforfher nad ber Angabe eines 
Heilmittel gegen fein beunruhigendes Leiden. Einige Gebirge 
fräuter waren in jenen Werten als hilfreich in ſolchen Fällen em: 
pfohlen ; fie waren genannt und befchrieben, aber Feiner ber damals 
in Italien lebenden Aerzte Tonnte eine fichere Auskunft über fie 
geben. Da madıte er ſich felber auf in die Gebirgsgegen den feines 
Vaterlandes, er fuchte und forfchte, und fand die Pflanzen auf, 
deren Geſtalt und Eigenfchaften der Befchreibung in den Schriften 
der Alten entfprahen. Mehr noch, als der wohlthuende Gebrauch 
berfelben mochte jedoch zu der Heilung von feiner Krankheit bie an- 
haltende Außere Bewegung in ber freien Luft, und Die innere, 
freudige Aufregung beigetragen haben, weldhe ihm aus ber Erfennt- 
niß und Betrachtung der fchönen Pflanzenwelt kam. Denn er 
verwendete jebt alle bie Zeit, welche ihm von feinen Stubien ber 
Rechtsgelehrſamkeit und von ber ehrenvollen Ausübung diefes Be- 
rufes übrig blieb, auf den Umgang mit der Natur und vor Allem 
mit dem Pflanzenteih und diefer Umgang wurde für ihn eine un- 
verfiegbare Quelle von Erquidung und Vergnügen; ein Mittel, 
fetbft der Lebensverlängerung. Denn als er im J. 1640 farb, 
da hatte er bei einer faft bis zum Ende fich gleichbleibenden Mun⸗ 
terkeit des Geiftes, ein Alter von 73 Jahren erreicht; er, der ſchon 
als 18jähriger Jüngling am Rande des Grabes zu ſchweben fchien. 


73. Die kosmiſche Wirkſamkeit der Lebenskraft. 


Der Strahl der Sonne, welder in der irdifchen Körpermelt 
mit der Wärme und mit den polarifhen Spannungen ber dhe- 
mifdyen Elemente fowie der ausdehnenden und zufammenzicehenden 
Kräfte alle anderen elektromagnetifhen (kosmifhen) Bewegungen 
wedt, kommt jener Körperwelt von außen und oben, aus einer 
fremden Quelle, Die Lebenskraft wedt in gleicher Weife wie ber 
Strahl der Sonne in ihrer organifchen Leiblichkeit mit der Wärme 
und mit der Wechſelwirkung der chemiſchen Polaritäten alle die 
anderen elektromagnetifhen Bewegungen auf, welche denen der 
äußeren Körperwelt verwandt, ja mit ihnen von gleiher Natur 
find. Aber der Urfprung diefer Bewegungen liegt nicht in einer 
Sonne, die von außen hereinftrahlt oder in einem mädtigen 
Träger der elektromagnetifhen Kräfte, bdeffen Strömungen in bie 
organifchen Gebilde fich ergießen, fondern er wohnt in der beleb⸗ 
ten Leiblichkeit felber, wirkt aus ihrem Snneren heraus. Der Les 
benskraft der Pflanze, oder wenn fie als allbewegender Mittels 
punkt zur herrſchenden Einheit wirb: ber Seele des Thieres bies 





73. Die kosmiſche Wirkſamkeit der. Lebenskraft. 467 


nen allerbings zum Aufbau wie zur befländigen Wiedererneuerung 
ihrer organifhen Gebilde die Elemente der irdifchen Körpermwelt, 
aber fie ficht mit diefen Elementen nicht unmittelbar, fondern 
nur mittelbar durch ihre näheren Verwandten, durch jene kosmi⸗ 
(hen Kräfte in Wechfelverkehr, von melden wir fo eben Cim 
Kap. 72) die eine: die Elektrizität als das Prinzip der Muskel⸗ 
bewegung kennen lernten, Wie ſchon das ätherifche. Wefen der 
Nerven einen inneren Leib in der Leiblichkeit des thierifchen Orga⸗ 
nismus darſtellt, durch weldhen das Thier erft zum Thiere wird, 
fo bildet die Gefammtheit der Eosmifchen (elektromagnetiſchen) 
Kräfte, welde die Seele in ihren Herrfcherfreis hereinzog und 
durdy welche fie die Thaten des Lebens hervorbringt, einen inners 
fien Leib derfelben, einen Organismus der höheren Ordnung, zu 
welchem fich der äußere, irdifch elementare Organismus nur fo 
verhält, wie der dDurchleuchtige Aether des Himmelsraumes zu dem 
Licht der Sonne, das ihn mit feinem anregenden Bewegen 
durchwirkt. 

Und nicht nur in dem engeren Kreiſe, ihrer eigenen Natur, 
zeigt ſich die Seele als Herrſcherin uͤber die kosmiſchen Kraͤfte 
mit denen ſie ſich uͤberkleidet hat, und mittelſt derſelben als eine 
Gewalthaberin uͤber das Reich der irdiſchen Elemente, ſondern 
weit uͤber jenen Kreis hinaus geht die Macht und das Walten 
der Herrſcherin. Wir erinnern hiebei nur an einige wenige jener 
im vorhergehenden Hauptabſchnitt dieſes Buches beſchriebenen Er⸗ 
findungen des Menſchengeiſtes, die nur als der Anfang einer 
Wirkſamkeit unſeres Geſchlechtes erſcheinen, deren kuͤnftige Aus⸗ 
dehnung ſich auch durch die kuͤhnſten Ahnungen nicht durchmeſſen 
laͤßt. Durch den Dienſt der Waͤrme iſt es dem Menſchen (nach 
Kap. IT) gelungen, den Waſſerdampf in eine Schwinge zu vers 
wandeln, mit welcher er wie ber Vogel tiber Land und Meer 
dahin eilt; er hat das Licht zu einem Finger umgefhaffen, der für 
ihn zeichnet (Kap. 55), den Salvanismus zu einer Hand, die 
für ihn die Eünftlichften Metallarbeiten verrichtet (Kap. 46)., es 
ift ihm (nah Kap. 48) durch den Dienfl der eleftromagnetifchen 
Kräfte gelungen, in vernehmbarem Laute oder durch leicht verftänd- 
lihe Schriftzeihen Worte zu fprechen zu einem Zaufende von 
Meilen entfernten Genoffen, welche faft mit der Schnelle des Ges 
dankens den weiten Raum durchlaufen; der Befehl eines Herr⸗ 
ſchers vermoͤchte dur den eleftrifhen Zelegraphen ein ganzes 
Heer, das an ferner Graͤnze fteht, in Bewegung zu fehen, nod 
ehe die Millionen der Menſchen, die in dem weiten Landftrich 
zwifchen ihm und feinem Herrn wohnen, von ihrer Mittagstafel 
aufftänden, an die fie, als der Befehl erging, ſich fegten. 

Sene Indianer, welche noch nie ein Pferd, viel weniger einen 
Reiter gefehen hatten, hielten die erften europäifchen Weiter, die 
zu ihnen kamen, für furchtbare Doppelwefen welche außer ihren 
zwei menfchlichen Beinen noch vier thierifhe, außer dem eigenen 


30* 


468 74. ‚Die Entwicklungoſtufen des Lebens. 


Mund nod einen thierifhen Rachen, Überhaupt mit ihrem Leibe 
verwachfen noch einen zweiten Leib hätten. In der That ber 
Menſch bat fih ſchon auf der jegigen Stufe feiner Kunft duch 
den Dienft der eleftromagnetifhen Kräfte auh nah außen hin 
einen zweiten Leib gefhaffen, defien Wirkungskreis zu dem feiner 
leiblichen Glieder ein ähnliches Verhaͤltniß zu erreihen verfpricht 
als das ift zwifchen ber Tragweite unferes Sehens durch das 
künftiiche Auge der Teleskope zu der des gewöhnlichen natärlichen 
Sehens. 


74. Die Entwicklungsſtufen des Lebens. 


Wir faſſen hier noch einmal die in den vorhergehenden Ka⸗ 
piteln zerſtreuten Zuͤge zuſammen. 

Schon dadurch empfaͤngt die organiſche Leiblichkeit etwas 
Bedeutendes vor der unorganiſchen Koͤrperwelt voraus, daß fie 
ihrer chemiſchen Zuſammenſetzung nach vorherrſchend aus jenen 
Grundſtoffen erbaut iſt, welche das Reich des Fluͤſſigen und Be⸗ 
weglichen: das Gewaͤſſer und den Luftkreis bilden. Die Luft 
wie das Waſſer werden ohne Aufhoͤren von den leuchtenden und 
waͤrmenden Strahlen der Sonne, wie von den elektriſchen Na⸗ 
turkraͤften durchwirkt; der Organismus, aus der Luft geboren, 
nimmt ſchon vermoͤge dieſer Abſtammung und Gleichartigkeit an 
den Bewegungen Theil, die vor Allem der Einfluß des Sonnen⸗ 
lichtes der Atmoſphaͤre mittheilt; mit jedem Athemzug, mit jedem 
Einhauch des Pflanzenblattes aus der Luft, dringt die aͤußere 
Anregung hinein in das Innere des lebenden Leibes. 

Die Kraft, durch welche dieſer lebt und ſich entwickelt, hat in 
der Richtung ihrer Wirkſamkeit allerdings viel Verwandtes mit 
dem Lichte, aber ſie ſteht dennoch ungleich hoͤher als dieſes, denn 
kein Sonnenſtrahl vermag aus Waſſer, Luft und Erde die orga⸗ 
niſchen Elemente des Brodes und des Weines, des Blutes, des 
Fleiſches und der Nerven zu bilden, und noch weniger vermag 
derſelbe ein ſich ſelber bewegendes Weſen hervorzubringen, ober 
eine Pflanze, welcher die Schoͤpferkraft beiwohnt: fruchtbaren 
Saamen, Keime von Weſen ihrer Art in ſich zu tragen und aus 
ſich zu gebaͤren. Mit dem Eintritte der Seele in das Weſen der 
Sichtbarkeit beginnt eine neue Schoͤpfung, deren Urſprung nicht, 
wie bei dem Lichte, das aus der Sonne kommt, ein ſinnlich wahr⸗ 
nehmbarer, fondern ein unfichtbarer, überfinnlicher iſt. Unfere 
Kunft hat der Lebenskraft felbft ihr autäglichftes, offenkundigſtes 
Geheimniß, das Dervorbringen der organifhen Elemente aus uns 
organifhen Grundftoffen, noch nicht abgelernt; unfer Verſtand 
fpurt vergeblih dem Weſen der Meifterin felber, die das Alles 
thut, der Seele nad; wir können diefem Wefen das Inftrument 
nehmen, auf dem es fich vernehmen läßt, innen feinen ſichtba⸗ 
ven Leib durch Teibliche Kraft vernichten, an ihm felber jedoch verz 











74. Die Entwidtungsftufen bes: Lebens. 469 


mögen wir nichts zu ſchaffen noch zu aͤndern. Wie ein Kind, 
das den Widerſchein des Lichtftrahles mit der Hand zu haſchen 
ſucht, der aus einem bin und her bewegten Spiegel an die Wand 
faͤllt, hat ſich die Naturweisheit aller Zeiten umfonft bemüht, bie 
Seele in’ ihrem flüchtigen Laufe feft zu halten und zur unmittels 
baren Anfchauung zu bringen. 

Wenn wir auf dem Wege unferer Betrachtung das Reben 
von den niederen Stufen feiner Entmwidelung aufwärts zu den 
höheren und zulegt zu den hödften in der Natur des Menfchen 
begleiten, dann erfcheint uns die Seele, je weiter hinan, deſto 
weniger im Daufe ber irdifhen Körperlichkeit einheimifh und feſt⸗ 
ſtehend; fie verhäte fich zu diefem immer mehr nur wie ein vor⸗ 
übergehender Gaft und Fremdling, ber feine eigentlihe Heimath 
in einem höheren Reiche des Seyns wie des Bewegens hat. 
Namentlich wird die Dauer des Lebens und der Widerfland, den 
die Lebenskraft ihrer Trennung von dem Leibe entgegen fest, von 
Stufe zu Stufe geringer. 

Sener mächtig große indifhhe Feigenbaum (Banianenbaum) 
an den Ufern der Nerbudda in Indien, befien riefenhaft weit 
außsgebreiteten, immer wieber zum Boden herabgeneigten und in 
biefen Wurzeln fchlagenden Zweige, wie man fagt, einer Ver⸗ 
fammlung von 7000 Pilgeimen Schatten zu geben vermödten, 
kann allerdings, nah der Behauptung eines neueren, englifhen 
Neifenden, in gewiffem Sinne berfelbe fein, der nach des Griechen 
Nearchus Bericht, hier an dee naͤmlichen Stelle fhon zu Ale⸗ 
randers des Macedoniers Zeiten ein Gegenſtand der Bewunderung 
mar, denn die Aeſte diefes Baumes fenten fi zum Boden, ſchla⸗ 
gen hier Wurzeln, und wenn auch ber alte Stamm felber nicht 
mehr ba tft, lebt er doch noch in feinen Zweigen, die zu neuen 
Stämmen wurden, fort. Noch immer bringt die große Platane 
auf Cos (Stanchio) in jedem Jahre ihre Blätter, reift ihre 
Saamen, eben fo frifch als fie dies, einer nicht ganz unwahr⸗ 
fheinlihen Sage nah, Thon zu Hippokrates' Zeiten gethan 
hat; in der Nachbarſchaft mancher unferer älteften, dickſtaͤmmigen 
Linden hat fih das Sefchleht der ummohnenden Menfchen viel- 
leicht mehr denn breißigmal verjiingt, Taufende find geboren wor⸗ 
den und haben den Lauf des Lebens bie zum Grabe in Leid’ und 
Freud’ zuruͤckgelegt, der Baum aber, den die laͤngſt vergeffenen 
Urväter pflanzten, behauptet noch immer in frifcher Kraft feine 
Stelle. So innig bat fi die Seele, weldhe auf dieſen fcheinbar 
niederen Stufen der organifhen Entwidelung waltet, mit der bes 
wegungslofen Maſſe der planetarifchen Körperlichkeit verwebt, daß 
fie an diefem Wohnhaus fefthält, faft mie, die Eryftallinifche Kraft, 
die den Stein geftaltet hat, an den Grundfloffen des Eiteines; 
der Baum wetteifere zum Theil an Ausdauer mit dem Sand⸗ 
fteinfelfen, in dem er feine Wurzeln ſchlug und fest hierbei aus 
eigener ihm inwohnend verlichener Kraft, in augenfälliger Weiſe 


470 14. Die Entwidtungsftufen des Lebens. 


das Merk der Schöpfung fort, als befien flarrer Zenge der Sands 
fleinfelfen daſteht. Auch bei den niederſten Formen des Thier⸗ 
reiches ift die Ausdauer der Lebenskraft fat unbefiegbar. 

Von ganz anderer Art ift das Verhältnig auf den höheren 
Entwidiungsftufen des Thierreiches. Diefes wurzelt nicht wie 
das Pflanzenreih, unmittelbar in den Elementen der planetarifhen 
Maſſe, fondern es nimmt zunädft feinen äußeren Fortbeftand aus 
der unter ihm ftehenden Stufe des organifhen Daſeins: aus 
bem Pflanzenreihe und felbft aus der ihm näher verwandten 
thieriſchen Leiblichkeit. Es bedarf zu feiner Ernährung der ſchon 
organifch gebildeten Elemente, und mit diefem Boden, der in fi 
felber einer beftändigen Ummandlung und Zerfegung unterworfen 
ft, theilt e8 das Loos der Wandelbarkeit; es iſt, feiner Lebens⸗ 
kraft nach, im Allgemeinen von ungleich minderer Ausdauer und 
Unzerftörbarkeie als der indifche Seigenbaum ober felbit die weich⸗ 
holzige Linde. Aber ein Neues bereitet hiermit zugleich fi vor; 
der Natur des volllommenen Thieres find andere Wurzeln vers 
lichen als der Pflanze; Wurzeln, welche nicht wie bei dem Baume 
nach unten hin fi ausfireden und im Boden der planetarifhen 
Leiblichkeit fich befeftigen, fondern die nady oben, in ein Reich der 
höheren Naturkräfte fih ausbreiten und in diefem ihren Anhalt 
finden. Diefes find die Sinnorgane, melde die Eindrüde des 
Lichtes und der Beleudtung, der Schwingungen der mechaniſch 
fowie der eletttomagnetifh ober chemifch bemegten Körper ver: 
nehmen. F 
Von hier an zeigt ſich uns die Schoͤpferkraft der Seele noch 
in einem ganz anderen, hoͤheren Sinne als in dem Kreiſe des 
Pflanzenlebens und in dem Werke der blos leiblichen Geſtaltun⸗ 
gen. Ein Wunder, das unſere Kunſt nicht nachahmen, unſer 
Menſchenwitz nicht ergruͤnden kann, ſind allerdings ſchon jene Ver⸗ 
wandlungen der planetariſchen Elemente in den Saft der Traube, 
in das Del des Oelbaumes oder in das Mehl des Getraidekornes, 
von denen wir öfter ſprachen. Ein Wunder ift das zum gemeins 
famen Zwed des Lebens harmoniſch fhön vereinte Gewebe ber 
Gefäße, der Faſern, ber athmenden Blätter oder Lungen fo wie 
das Hervorbringen der Lebenskeime: ber fruchtbaren Saamen eines 
künftigen Geſchlechtes. Aber bei all? diefen Werken der Geftaltung 
erfcheint dennoch die Seele nur auf den Eleinen Kreis ihrer eigenen 
Verleiblichung beſchraͤnkt; der Stoff, den fie von außen herbeiführt 
und zu ihren Schöpfungen verwendet, dient nur dazu, um ben 
Bau einer gewiffen Form zu volführen; diefe ganze Kebensthätigs 
Seit bleibt in der Richtung fo wie in dem Maaß jener Bewegung 
befangen, welche ihr bei der Erzeugung mitgetheilt war; es ift der 
Antrieb, den der Urkeim bdiefer Art des lebendigen Weſens bei feis 
nem anfänglichen Entftehen von dem Schöpfer empfing, welder 
nun als felbftitändige Schöpferkraft von Zeugung zu Zeugung fid 
fortpflanzt, Einen Anlauf zu neuen Wundern der inwohnenden 








74. Die Entwidiungsftufen des Lebens. ai 


Schöpferkraft nimmt jedoch die Seele in dem mit volllommneren 
Sinnorganen begabten Thiere, und vor Allem in der Natur des 
Menſchen. Sie empfängt hier das Vermögen auch an anderen 
Thaten des Schöpfere als an jener, welche ihre felber den Leib 
und das Leben gab, einen felbftkräftigen Antheil zu nehmen, Wenn 
ih mich mitten im Dunkel der Nacht an den Eindruck erinnere, 
ben eine von ber Sonne helibeleuchtete Landſchaft oder ein ficht- 
barer Gegenftand, der meine ganze Theilnahme erregte, auf meine 
Augen machte, wie voäre mir das anders möglich als dadurch, 
bag meine eigene Seele die Welt der Dinge, deren fie gedenkt, fich 
naderfhafft und ein Licht dazu, das, gleich jenem der Sonne, 
diefe Welt erleuchtet. 

Mit dem Bermögen des Wahrnehmens und des Erkennens 
ber Werke und Thaten des Schöpfers ift der Menfchenferle zus 
gleich bie Macht verliehen, biefe Werke in dem Kreife ihrer inneren 
Wirkſamkeit nachzuſchaffen, jene Thaten nad ihrem Maaße nach⸗ 
zuthbun. Die Wett unferer Erinnerungen und Erkenntniſſe er⸗ 
ſcheint freitih gegen die Außenwelt, deren Formen und Beweg⸗ 
ungen fie umfaßt, nur wie ein Abglanz im Spiegel, gegen bie 
wirkliche Geſtalt, die vor dem Spiegel ſteht; aber fie ift dennoch 
eine felbfikändig bleibende Welt, von ungleich längerer und fefterer 
Lebensdauer als der indifche Feigbaum an dem Ufer der Nerbudda 
oder die Bwiebel, bie man ganz vertrodinet aus der Hand einer 
aͤgyptiſchen Mumie nahm, und bie im befeuchteten Boden nad 
mehreren Sahrtaufenden no Wurzeln, Blätter und Bluͤthen trieb. 
Bon al? den Elementen, aus denen ſich unfere Seele ihren Leib 
erfafft, Bleibe auch nicht eines im Verlauf der Tage oder der 
Jahre unferes Lebens unverändert; es kommt neuer Nahrungs 
fioff in den Leib herein, wird unter dem Einfluß der Lebenskraft 
zu neuem Blut, zu neuem Fleiſch, das alte wirb aufgelöft und 
aus dem Leibe entfernt; ſelbſt der feſte Knochen iſt von dieſer raft« 
106 fortgehenden Berwandlung und Erneuerung nicht ausgefchlofs 
fen: es fin und bleiben zwar diefelben Angen, durch die wir früher 
ſahen, dieſelben Hände, dur die wir früher wirkten, der Stoff 
aber, aus dem fie leiblich gebilber find, tft nad Burger Zeit von 
dem neuen Stoff verdrängt worden. Dagegen tft der Stoff uns 
ferer Erinnerungen derfelbe geblieben; dieſe altern und welken nicht 
mit den Gliedern zugleich dahin, fondern in einer fehr beachtens⸗ 
werthen Weife find die Erinnerungen aus der Kindheit und frifchen 
Jugendzeit in der Seele des Greiſes gerade die lebendigften und 
Eräftigften. Und das Wunder diefer inneren Schöpfung geht noch 
viel weiter; in der Welt unferer Erinnerungen und Gedanken 
fichen Geſchoͤpfe und Wefen da, welche älter find, als die hoben 
ägyptifchen Pyramiden, älter denn die didftämmigen Adanfonien 
am Senegal, und weldye unverändert als diefelben werben ſtehen 
bleiben, wenn jene Pyramiden und Bäume nicht mehr fmd. Das 
Wirken folder Wunderwerke wird unferem Geiſte durch die Sprache 


472 74, Die Entwicklungeſtufen des Lebens. 


moͤglich. In Schrift und Wort vernehmen wir die Kunde von 
dem Leben und Thaten der aͤlteſten Väter unſeres Geſchlechts, von 
dem Thun und den Schidfalen der Könige, welche die Pyramiden 
bauten; was wir von den Thaten eines Alerander des Macedo⸗ 
niers, eines Kaifer Auguftus lefen und hören, das nimmt in un⸗ 
ferer Seele die feſte Geſtalt der Vorftelungen und Erinnerungen 
an, es wird und bleibt da fo frifh als fei es erfi-heute oder 
geflern vor unferen Augen gefchehen; das Alter der Sahrtaufende 
kann ihm nichts anhaben; Achill iſt da ein heidenfräftiger Juͤng⸗ 
ling, Aftvanar ein blühender Knabe geblieben, wie fie dies beide 
zu den Zeiten ber Kämpfe vor Troja’s Mauern waren. Und nicht 
nur das menfhlih Irdiſche, nit nur das in feiner Leiblichkeit 
Vergängliche bildet den Beſtand der inneren, geiftigen Schöpfung 
unferer Vorſtellungen und Gedanken; diefe Schöpfung umfaßt 
noch ein ganz anderes, unendlich höheres Reich des Seins und 
Weſens: es umfaßt die Erkenntniß des Schöpfers und feiner Tha⸗ 
ten der Ewigkeit feiber. In dem Vermögen unferes Geiſtes, diefe 
Gedanken der Ewigkeit zu denken, Gott nad dem Maaße unferes 
kreatuͤrlichen Verſtaͤndniſſes zu erkennen, liegt bie ficherfle, ge⸗ 
wifjefte Bürgfhaft für eine Fortdauer unferes Weſens auch nad 
dem Tode bes Leibes; für ein ewiges Fortleben des Geiſtes. Denn 
nur das nad feinem Maaße Gleichartige vermag das Gleichartige 
zu erkennen; wäre in unferen Sehnerven nicht felbft eine Art von 
Duell des Lichtes, dann könnten wir Bein Licht ſehen; wäre unfer 
denkender Geift nicht felbft von ewiger, göttlicher Natur, bann 
würde er Nichte von Gott und Ewigkeit wiffen und erfafien. So 
finden wir, daß zwar die Seele, auf den höheren Entwicklungs⸗ 
flufen ihrer Berleiblihung, von der Pflanze und dem niederen 
Thiere an bis zur Form des Menfchen, innerhalb der Welt der 
planetarifchen Körperwelt immer mehr nur als ein ſchnell vorKber- 
eilender Fremdling und Gaſt erſcheine; daß die Banden, durd 
welche fie mit ihrem Leibe vereint ift, Ioderer, das Leben in der 
Zeit wandelbarer und vergänglicher. werde, daß fie aber zugleich 
mit dem vergänglichen Leib aus Staub noch einen anderen Leib: 
das Reich ihrer Erkenntniffe empfangen habe, welcder nicht aus 
iedifch vergänglichem, fondern aus unvergänglibem Stoffe gebildet 
iſt. Der finnlih wahrnehmbare Leib mag dann immer nad kurs 
zer Lebenszeit verwefen, bleibt uns doc, ein dem jegigen Auge uns 
fihtbarer Leib der Ewigkeit. | 

Das Verhaͤltniß der Seele zu diefem höheren Leib ihrer Er- 
Eenntniffe, ihrer Befteebungen, ihrer Neigungen und Hoffnungen 
ift ein treues Abbild des Verhältniffes,. in welchem der Schöpfer 
felbee zu den Merken und Thaten feiner gefchaffenen Welt und 
ihrem Weſen fteht. Die VBorftelungen und Erinnerungen, bie 
Gedanken und Erkenntniffe, welche die innere Welt unferes Geiftes 
bilden, find nicht der Geift felber: fie find das Werk einer 
Schöpfung, zu welchem er ‚zwar die Anregung und den Stoff 

















74. Die Entwidlungsftufen des Lebens. 473 


von außen entnahm, die aber dennoch durch feine Kraft: ihre Ges 
ftaltung und innere Anordnung empfing. Derfelbe erkennende 
Geiſt, der diefe ihm eigenthümlihe Schöpfung hervorruft, wann 
und wie er will: jegt die Erinnerung an diefes, dann an jenes 
vormald Empfundene oder Erlebte, hält fie aud zufammenz er 
legt in jeden Gedanken, in jedes Wort die Kraft, fruchtbaren Sa⸗ 
men bei fih zu tragen, Seinesgleihen zu erzeugen. 

Ueber der Welt des Geiſtigen mie des Leiblihen waltet und 
herrfchet ein Gott und Schöpfer aller Dinge. Er, der ewige Ans 
fang alles Seins, bedurfte und bedarf Feiner Anregung von außen, 
keines Stoffes zu den Werken und Thaten feiner Schöpfung; 
feine Gedanken waren und find Mirktichkeiten, jeder Gedanke 
ward zu einem Wefen und Gefchöpf. Aber diefe herrliche Schöpfs 
ung ber Sichtbarkeit ift nicht, wie das Heidenthum in feiner Er⸗ 
blindung es lehrte, der Schöpfer felber, fondern alle die Heere 
des Himmels, alle die fonnenartig leuchtenden Sterne, welde 
mein Auge fieht, verhalten fih zu Shm, unferem Gott und Herrn, 
nur fo, wie fih die Vorſtellung von einer in hundertfältigem 
Schmuck der Blumen prangenden Alpenwiefe, die unfer Auge 
ſah, und melde feitbem, durch die Erinnerung, zu einem Theil 
der inneren Schöpfung unferer Seele geworben ift, zu diefer felber, 
zu der Seele verhält, Nicht aber diefe unzählbaren Sternenheere 
find die erhabenften zur Wirktichkeit und zur That gewordenen 
Gedanken und Willensäußerungen unferes Gottes, fondern höher 
noch find jene Thaten des Erbarmens und der Kiebe, in denen der 
Schöpfer zu dem Eleinen Geſchoͤpf feiner Hand, zu dem Menfchen, 
ſich herabläßt, ihm, wie ein Freund dem Freunde fich felber zu 
erkennen giebt, und wie ein Liebender des Geliebten, ja wie eine 
Mutter ihres Säuglinges. und mehr noch, des armen Menfchen- 
kindes fih annimmt. 

Der Antrieb zum Erkennen liegt darum fo tief gewurzelt, 
und ift fo mächtig ſtark in unferem Geifte, weil er uns zulegt, 
wenn er nur vorwärts feines Weges geht, felbft nah manden 
Abirrungen, zu Dem hinführt, Deflen Erkennen, audy mit dem 
Thwächften feiner Strahlen, wie das Sonnenlicht die Wärme, die 
Liebe zu Shm, dem Erfannten, wedt. Und nur in bdiefer Liebe 
ift das rechte Leben, Seligkeit und Freude.