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Full text of "Spiegel der Natur : ein Lesebuch zur Belehrung und Unterhaltung"

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838. 


Spiegel der Natur 


ein Leſebuch zur Belehrung und Un⸗ 5 


7 terhaltung 
von 
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Dr. Gotthilf Heinrich von Schubert, 
r Hofrath und Profeſſor in München. 
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244 14. 2 
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er +: Erlangen 1845 


bei J. J. Palm und Ernſt Enke. 


Seiner Majeſtät 


dem Könige Otto 


von Griechenland. 


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Eure Königliche Majeſtät 


mögen allergnädigſt erlauben, daß der Gedanke einer ehr⸗ 
furchtsvollen Liebe, der mit dem Andenken an Eure Maje⸗ 
ſtät, in dem Herzen aller treuen Bayern ſo feſt verwachſen 


iſt, auch auf dem erſten Blatte dieſes unbedeutenden Buches 


ſich ausſpreche. Vielleicht wird der Inhalt der nachftehen- 
den Blätter hin und wieder in Eurer Majeſtät Erinnerun⸗ 
gen wecken an die Jahre eines friedlichen Wohlbefindens, 
von welchem der Schreiber derſelben ein glücklicher Zeuge 
ſeyn durfte; an die Jahre des Verweilens in dem liebenden 
Familienkreiſe des hochtheuren, königlichen Elternhauſes. Doch 
der Quell jenes innren Wohlbefindens iſt nicht verſiegt: der 
Frieden des Herzens; das beſeeligende Gefühl der Liebe, zu 
Gott und den Brüdern iſt mit Eurer Majeſtät über das 
Meer hinüber, in die neue Heimath gezogen. Mögen denn 


die Kräfte dieſes Friedens und dieſer treuen Liebe von ihrem 
Mittelpunkte aus mehr und mehr das Land durchdringen, 
deſſen Boden das ſtille, ſorgenvolle Wirken ſeines Herrſchers, 
gleich einem fruchtbaren Saamenkorn, auf Hoffnung anver⸗ 
traut iſt. 


In tiefſter Ehrfurcht 


Eurer Königlichen Majeſtät 


allerunterthänigſt dankbarer 


Dr. G. H. v. Schubert. 


Vorrede. 


Nur einige Worte über die Veranlaſſung zu dem 
Erſcheinen dieſes Büchleins und über den Zweck deſ— 
ſelben. Freunde hatten mir öfters geſagt, daß ich in 
einigen meiner Bücher, die ich zunächſt zum Dienſt 
und Nutzen der reiferen Jugend geſchrieben, Kennt: 
niſſe, namentlich aus dem Gebiet der Chemie und 
Phyſik, als ſchon bekannt, vorausgeſetzt habe, zu de 
ren Erlangung nicht Jedem und nicht überall die Ge— 
legenheit gegeben ſey. Ihr Wunſch war es, daß ich, 
in einer anſprechenden und möglichſt leicht faßlichen 
Weiſe die hieher gehörigen Gegenſtände beſprechen ſol— 
le, welche, neben ihrem beſondren Intereſſe für das 
bürgerliche Leben und ſeinen Verkehr, auch noch ein 
allgemeines, für das Verſtändniß der Erſcheinungen 
des Lebens überhaupt, haben. Hierzu kam mir noch 
eine Anregung von außen, welche mir durch den An⸗ 
blick und bei dem Leſen des trefflichen Schul- und 
Hausbuches von Claus Harms: „Gnomon“ ge— 
nannt, ſich aufdrang. Ein Buch in ſolcher Art, zur 
Belehrung der reiferen Jugend, in einem mir nahe 
liegenden Gebiet des menſchlich Wiſſenswürdigen zu 
ſchreiben, dies war mein Wunſch, hinter welchem frei— 
lich die That der Ausführung weit zurückgeblieben. 
Ueber die doppelte Richtung, welche ich übrigens 
bei dieſer Ausführung nahm, deute ich nur noch Ei— 


VIII 
niges an, das beim Leſen des Buches ſelber hin und 
wieder verſtändlicher werden wird. 

Wer noch vor etlichen Jahrzehnden die herrlichen 
Kreidefelſen von Stubbenkammer auf der Inſel Rü⸗ 
gen, oder den Gipfel des Rigiberges in der Schweiz 
beſtieg, der fand dort nicht ſo, wie ein jetziger Wand⸗ 
rer in dieſe Gegenden ein ſtattliches Gaſthaus, das 
ihm zu ſeiner Bewirthung und Aufnahme alle Be⸗ 
quemlichkeiten darbot, ſondern er war mit dem An⸗ 
blick und dem Genuß der hehren Natur, wie mitten 
in einer Wüſte, allein gelaſſen. Da wo ſonſt nur 
der Seeadler oder die einſame Alpenkrähe hauſte; wo 


| 


man nichts vernahm als das Pfeifen des Murmelthie⸗ 


res oder das Sauſen des Windes; da iſt jetzt ein 
muntrer, geſelliger Verkehr der beſuchenden Gäfte; 
man hört Muſik und Geſang, wie auf den Gaſſen 
der Städte. Dennoch wird es der Reiſende, während er 
hungernd und ermüdet wie er war, die Bewirthung 
genieſt und vielleicht der aufgefundenen Geſellſchaft 
ſich freut, dem ortskundigen Führer Dank wiſſen, wenn 
ihn dieſer aus dem traulichen Zimmer hinausruft ins 
Freie, weil ſo eben die untergehende Sonne die Hoch— 
alpen oder das Meer mit dem wunderherrlichſten Glan⸗ 
ze beſtrahlt. 

Eine nicht unähnliche Veränderung hat ſich mit 


dem wiſſenſchaftlichen Gebiet der Phyſik und Chemie 


zugetragen. Noch vor wenig Menſchenaltern konnte 
ein großer Theil dieſes Gebietes, dem Forſcher, der 
durch daſſelbe ſich ergieng, zunächſt nur jenen geiſti⸗ 


na 


Bi 
* 


IX 


gen Genuß gewähren, den die tiefere Einſicht in das 
Weſen und in die Kräſte der Sichtbarkeit mit ſich 
führt; man kannte die Wirkung des Lichtes auf das 
ſalzſaure Silber, kannte die Kraft des Waſſerdampfes 
wie die Wirkſamkeit des Galvanismus, niemand aber 
hätte die Benutzung dieſer Kenntniſſe zur Erfindung 


des Daguerrotypes, oder der Dampfbote und Dampf⸗ 


wägen, der Galvanoplaſtik und all den mannichfachen 
Menſchenkünſten geahnet, welche anjetzt aus dem Er— 
kenntnißkreiſe der Phyſik und Chemie herüber, in alle 
Zweige des Verkehres und des Haushaltes der Völ— 
ker auf ſo mächtige Weiſe eingreifen. Faſt könnte es 
uns geſchehen, daß wir über dem Verweilen bei die— 
ſem neuen Aufbau, über der theilnehmenden Betrach— 
tung jener fruchttragenden Zweige, des Stammes ver— 
gäßen, der die Zweige trägt und nährt; des Stam— 
mes, welcher unverändert zu allen Jahreszeiten der— 
ſelbe bleibt, während die Blätter und Blüthen der 
Zweige einer fortwährenden Veränderung unterliegen. 
Deshalb wollte der Verfaſſer dieſes oft getrübten 
„Spiegels der Natur“ ſeine Leſer nicht allein 
zur Betrachtung jener einflußreichen Erfindungen der 
neueren und neueſten Zeit hinführen, welche 
ein Geſpräch des Tages bilden, ſondern zugleich ihre 
Blicke auf den gemeinſamen Stamm eines wiſſenſchaft— 
lichen Erkennens hinleiten, auf dem jene Früchte wuch— 
ſen, ja auf den Boden, in welchem der Stamm wur— 
zelt, auf die Sonne, deren Strahlen von oben her 
ſeine Säfte beleben. Nicht ohne Abſicht geſchahe es, 


x 


daß er, namentlich bei einigen der ſpäteren Abfchnitte, fehr 
ausführlich in die Geſchichte und Beſchreibung der einzel⸗ 
nen Entdeckungen eingieng; er wollte feinen Leſern zei⸗ 
gen, daß jene Gaben der Wiſſenſchaft an das bürger⸗ 
liche Leben, die unſre Zeit in ſo reichem Maaße ge⸗ 
nießt, nicht leichten Kaufes, wie auf der Gaſſe lie⸗ 
gend gefunden, ſondern mit ſaurer Anſtrengung aus 
ihren verborgenen Tiefen hervorgearbeitet und errun: 
gen werden mußten. 

Das Gebiet, in welchem der Inhalt dieſes Bu: 
ches ſich verbreitet, gehört zwar keinem beſondren 
Herrn an, ſondern iſt, mit ſeinen Erkenntniſſen, ein 
Gemeingut; doch hat der Verfaſſer nicht verſäumt, 
theils in der Inhaltsanzeige, theils im Texte ſelber, 
jene Schriften anzuführen, welche den Leſern weitere 
Belehrung gewähren könnten, oder die ihm ſelber zu 
Wegweiſern dienten. Als ſeinen alten, ihm durch 
längeren Umgang vertraut gewordenen Hausfreund 
erwähnt er übrigens hier noch dankbar der Naturleh: 
re von Baumgärtner und von Ettinghauſen 
(7te Auflage, Wien 1842), fo wie Munckes Hand: 
buch der Naturlehre. 

Pähl im Ammerthale den 26. Sept. 1845. 


D. V. 


3. 


Juhaltsanzeige. 


1. Der Antrieb zum Leben und zum Erkennen, S. 1 
— 107. 


Allem fehlt Etwas. S. 1. Der Mangel, ein Antrieb zur Fort⸗ 
bewegung des Lebens. 

Was Jedes haben muß, das giebts im Ueberfluß. S. 2. 
Die Luft, das unentbehrlichſte Element zum Leben iſt zugleich das 


gemeinſte, allverbreitetſte. S. 3, 4. 


Die Hausmutter. S. 5. Wichtigkeit des Waſſers für den Haus⸗ 
halt des Lebens; Kreislauf des Gewäſſers in der irdiſchen Natur. 
S. 5, 6. f 


Die lebendigen Waſſerquellen. S. 7. Das Vermögen der 


Pflanzen das dampfförmige Waſſer aus der Atmoſphäre anzuziehen 
und demſelben in ihren Gefäßen die tropfbar flüßige Form zu geben. 
S. 8, 9. 


Das allgemeine Koſthaus S. 10. Verborgene Weiſe in 


welcher die Pflanzen ihren Nahrungsſtoff anziehen und zu ſich neh— 
men. S. 11. Allwaltende Vorſorge für ſolche Thiere denen die 
Fortbewegung, das Aufſuchen und Erfaſſen der Nahrungsmittel nach 
ihrem Bau ſehr erſchwert iſt S. 12; für folche die bei Nacht auf 
die Weide gehen 13. Weite Wanderungen nach Speiſe 14. Das 
Vermögen der Pflanzen aus ſolchen Stoffen, welche für das Thier 
ungenießbar ſind, genießbare zu bereiten S. 15. Einfache und ab⸗ 
wechslende Koſt 16. Ein Arbeiten für Andre S. 16. Vorſorge am 
rechten Ort und zur rechten Zeit 17. Die Raubthiere und ihre Bes 
ſtimmung S. 18. f 


Das Heimweh S. 19. Fortbewegung des Lebens welche das 


Ende ſeines Laufes immer wieder an den Anfang und Ausgangspunkt 
deſſelben anknüpfet S. 20. Zug und Wandertrieb nach dem Ort der 
Geburt oder nach einer früher bewohnten Heimathsſtätte S. 21, 22. 


Der Inſtinkt S. 23. Juſtinktartige Vorahnungen bei Men⸗ 


ſchen 24, 25. Der eigenthümliche Naturtrieb des Thieres iſt dieſem 
von ſeiner Geburt an eingepflanzt, nicht von außen in ihm angeregt 
26, 27. Angebornes Vorgefühl für das was der Erhaltung des 
Lebens ſchaden oder nützen kann S. 27, 28. Naturtrieb der Eltern: 
liebe und der Vorſorge für ein künftiges Geſchlecht 29, 30; felbft 
für die hülfloſen Jungen einer fremden Mutter 30, 31. Naturtrieb 
mancher Thiere der ſie ſelber zum Untergang führt, dabei aber zur 


XII 


Erhaltung der Geſammtheit der lebendigen Weſen dient 32. Allwal⸗ 
tende Vorſorge die dem Bedürfniß der Einzelweſen entgegenkommt; 
Verſchmelzung des Bildungstriebes mit dem Inſtinkt 33; bauende und 
zerſtörende Kräfte des Bildungstriebes S. 34, 35. Allbewegende 
Kraft der Seele S. 36. 


8. Der Compaß S. 37. Seine Erfindung und Benutzung 37. 
Der Grund des Entſtehens und die Wirkſaͤmkeit der Polaritäten in 
der Körperwelt 38. Dieſe beruhen zuletzt auf dem Gegenſatz zwiſchen 
einem Höheren und einem Niedren, Obren und Untren; zwiſchen 
einem Bewegenden und Bewegten, einem Schöpfer und ſeinen Ge— 
ſchöpfen 39. 

9. Der Wandertrieb des Geiſtes S. 40. Des Columbus Aus⸗ 
lauf nach einem unbekannten, niegeſehenen Ziele 40. Naturtrieb und 
Drang des Menſchengeiſtes zum Wiſſen und vernünftigen Erkennen 41; 
dienendes Verhältniß der äußren Glieder, vor Allem der Sinnorgane 
zu dieſem Zweck 42. Die Macht des Dranges zum Erkennen, die 
ſich durch alle äußren Hemmungen, ſelbſt durch den Mangel der 
höchſten Sinnorgane, wie durch eine Wüfte ihre Bahn bricht 43. 
Beiſpiel der Laura Bridgmann (m. v. Burdachs Blicke ins 
Leben B. III) die in ihrem 2ten Lebensjahre durch eine ſchwere 
Kinderkrankheit die Sinne des Geſichts, des Gehöres, Geruches und 
ſelbſt des feineren Geſchmackes verloren hatte und bloß auf den Sinn 
des Gefühles beſchränkt war 43 u. f. Früheſte Regungen der kind⸗ 
lichen Wißbegier bei derſelben S. 44. Freude am Erfahren des 
Neuen bei ihrem Eintritt in das Blindeninſtitut zu Boſton; angeborz. 
nes Schicklichkeitsgefühl; Trieb wie Geſchick zur Selbſtbeſchäftigung 45. 
Dankbare Anhänglichkeit an die Mutter und an geiſtige Pfleger 46. 
Die Unentbehrlichkeit einer Gedankenſprache für die Erinnrung und 
für das vernünftige Erkennen der Menſchenſeele S. 47. b. 49. Na⸗ 
türlicher Zuſammenhang des Dranges zum Sprechen bei dem Men: 
ſchen mit der Anregung der Stimmorgane S. 49. Die Geberden⸗ 
ſprache und ihre Leiſtungen bei Taubſtummen und Taubblinden 50. 
Die Ausbildung der Gedankenſprache iſt ein gemeinſames, geiſtiges 
Kunſtwerk der Menſchenſeelen, wie der Bau im Bienenſtocke ein 
gemeinſames leibliches Kunſtwerk vieler Einzelweſen 51. (vergl. mit 
S. 57). Erweitrung und Geſtaltung des Erkenntnißkreiſes mit dem 
Eintritt der Sprache, durch welche die Außenwelt des ſinnlich Wahr— 
nehmbaren zu einer Innenwelt des Erkannten wird 53. Die Weiſe 
des Unterrichts in der Gedankenſprache bei Taubblinden 54. Das 
innre Wunder der plötzlichen Geſtaltung der Sprache aus den von 
außen empfangenen Elementen und Anregungen 55; deutliches Selbſt— 
gefühl; das Denken in Worten der gewöhnlichen hörbar vernehmlichen 
oder durch Bewegung und Stellung der Finger ſich äußernden Sprache 
56. Rege Wißbegier 57. Drang zur Mittheilung 58. Bewußtſeyn 
des eignen Selbſt und feiner individuellen Stellung zu andren Men: 
ſchen 59. Gefühl der Selbſtbefriedigung, bei dem Drang zum Er⸗ 
kennen S. 60. f | 


XIII 


10. Valentin Jameray Duval S. 61. Die Kraft mit welcher der An⸗ 
trieb zum Erkennen durch alle Hemmungen hindurchbricht, welche die Geburt 
in niedren Stand, Armuth und verſäumter Unterricht in der frühe⸗ 
ſten Jugend in den Weg legten 61, 62. Duvals Herkunft und 
ſeine erſten Lebensjahre 63; der harte Winter von 1708 auf 1709. 
Duvals, des 13jährigen Knaben erſte Wanderung 64; fein Kranken: 
lager in einem Schafftalle 65 b. 67; in der Pfarrwohnung 68; feine 
Geneſung und fortgeſetzte Wanderſchaft 69; Vorſtellungen des Knaben 
von der ſichtbaren Welt 69; das Elend in der Champagne 70; Wohl⸗ 

ſtand in Lothringen 72; ein Hirtendienſt angenommen und nach einiger 
Zeit in Folge des noch ungeſtillten Dranges zum Weiterziehen wieder 
verlaſſen 73: der Aufenthalt in der Einſiedelei la Rochette und die 
daſelbſt gemachten Erfahrungen S. 74. b. 76. Duval kommt als 
Diener in die Einſiedelei von St. Anna bei Luneville 77, 78; er lernt 
die Kunſt des Schreibens 79; liest bei ſeinem Geſchäft als Kuhhirt 
allerhand Bücher 80; will die Sternkunde betreiben 81; glücklicher 
Fund von Hilfsmitteln 82; mühſames Aufſuchen des Polarſternes 83; 
verſuchte Selbſtbelehrung in der Erd- und Länderkunde 84; ein will⸗ 
kommner Aufſchluß und feine Benutzung 85, 86. Gelbverlegenheit 
beim Ankauf der Bücher und andrer Hülfsmittel durch ein Jagdgeſchäft 
gehoben 87. b. 91. Duval, der magiſchen Künſte verdächtig geräth 
in Kampf und Mißverhältniße mit den Einſiedlern 92, 93; der Friede 
der Einſtedelei wird wieder hergeſtellt S. 94. Der Ring mit dem 
Wappen 95; Bekanntſchaft mit dem Engländer Forſter 96; Sehnen 
nach weitrer Ausbildung und Sorge wegen der Zukunft 97, 98; 
Eine Schulprüfung im Walde 99; folgenreiche Empfehlung bei dem 
Herzog von Lothringen 100; der Schmerz des Scheidens aus dem 
Leben in der freien Natur 101; erſter Eintritt in den Kreis des 
Hoflebens 102; Studienzeit zu Pont a Mouſſon und Anſtellung 
als Bibliothekar fo wie als Lehrer an der Hochſchule zu Luneville 
103. Duvals großmüthige Benutzung ſeiner reichlichen Einkünfte 
104, 105; feine Verſetzung und Weiterbeförderung nach Florenz und 
nach Wien 106, 107. 


II. Der Vorhof des natürlichen Erkennens. S. 108. 


11. Das Reichwerden ohne Mühe 108. Verſtärkung und Anre⸗ 
gung des Antriebes zum Erkennen im ſiegreichen Kampfe mit den 
äußren Hemmungen 109, 110. 


12. Die Kalenderzeichen 111. Der Zug zum Wiſſen und zum 
Erkennen nimmt feinen erſten Auslauf ebenſo nach den Höhen der 
ſichtbaren Welt (nach den Sternen), als nach ihren Tiefen (nach 
dem Erforſchen der Elemente der leiblichen Geſtaltung); uraltes 
Herkommen der Sternkunde wie des Forſchens nach den Grundſtoffen 
der Körperwelt 111,112; doppelſinnige Bedeutung der Kalenderzeichen 
zur Bezeichnung der Metalle und der Weltkörper unſres Planeten⸗ 


XIV 


ſyſtems 112. Anziehende Reize, welche die Metalle für den Men⸗ 
ſchen haben S. 113. Ihre Unzerlegbarkeit 114. 


13. Die Elemente 114. Lehre des Alterthumes von den 4 Elemen⸗ 


14. 


15. 


16. 


17. 


18. 


19. 


ten 114. 


Die Grundſtoffe 115. Beiſpiele von Zerlegung der chemiſch zu⸗ 
ſammengeſetzten Körper in unzerlegbare Grundſtoffe, 116. Cohäſton 
und chemiſche Anziehung 117. f f 
Die Metalle im engeren Sinne 117. Ihr allgemeiner Cha⸗ 
rakter 118. Das Gold 119. Die Art ſeines Vorkommens 119, 
120; ſeine relative Seltenheit 120; ſein Werth ſo wie der Ein⸗ 
fluß ſeiner Gewinnung auf einzelne Völker und Zeitalter 121; der 
Goldreichthum einzelner Länder 122; Vergebliche Verſuche das Gold 
in mehrere Elemente zu zerlegen oder aus dieſen zuſammenzuſetzen 
122 b. 125. Platina, und die mit ihm ſo wie in ſeiner Miſchung vor⸗ 
kommenden Metalle 125. Beiläufige Erwähnung einiger, meiſt erſt in 
neuerer Zeit entdeckten Metalle, von ſeltenem Vorkemmen und unbe⸗ 
deutenden Eigenſchaften S. 126. Das Silber 126. Kurze Anfüh: 
rung der übrigen bekannten Metalle S. 127, 128. Benutzung des 
Kupfers ſo wie des Zinns 129; des Eiſens 130, 131; Eigenſchwere 
und Schmelzbarkeit der Metalle 132. 

Der verſchwenderiſche Arme 133. Erſt in neuerer Zeit hat 
man eine Weiſe erfunden durch welche das Gold leichter und wohl⸗ 
feiler aus ſeinen Verbindungen mit andren Metallen abgeſchieden wer⸗ 
den kann, daher kommt es daß viele Silbermünzen, namentlich die aus 
ungariſchem und fiebenbürgifchen Silber geprägten Viertels⸗ fo wie 
halben und ganzen Kronenkhaler eine nicht unbedeutende Beimiſchung 
von Gold enthalten, welches man, ſeitdem jene Münzſorten in ver⸗ 
ſchiedenen Ländern im Werth etwas herabgeſetzt und in Folge hier⸗ 
von für die Münzſtätten eingewechslet wurden, mit Vortheil ausge⸗ 
ſchieden hat. Auf dieſe Ausſcheidung des vorher unbemerkten Gold⸗ 
gehaltes aus den eben genannten ſo wie aus andren, kleineren Münz⸗ 
ſtücken bezieht ſich der von S. 134 b. 136 beiſpielweiſe aufgeftellte 
Fall. Die Methode des Ausſcheidens, nach Liebigs chemiſchen Brie⸗ 


fen beſchrieben S. 136 b. 139. 


Die Verwandlung des Niedren in ein Höheres 139. Das 
Cäment⸗ Kupfer 141. a 


Die metalliſchen Grundſtoffe der Alkalien und Erden 


S. 141. Die ſogenannten Erden, früher für einfache Grundſtoffe 
gehalten 141; Humphry Davys Entdeckung ihrer Zuſammengeſetztheit 


142. Das Kalimetall 142; Eigenſchaften der metalliſchen Grundla⸗ 


gen der Erden und Kalien 143 b. 145; das maſſenhafte Vorkommen 
4 146; Verbindung des Natronmetalles mit Chlor zum Koch⸗ 
alz 147. N 

Ein Kapitel über die Reinlichkeit 148. Gebrauch der Seife 
149 , 150; ihre Bereitung 151; die Soda 152; Ausſcheidung des 
Natrons aus dem Kochſalz 153; das Chlorgas 154; die zur Seifen⸗ 


20. 


XV 


bereitung benutzten Fettarten 154; Pflanzen mit ſeifenartigen Stof⸗ 
fen 155. 


Eine Augenfabrication im Großen 155; Bildung des thieri⸗ 
ſchen Auges 156, 157; Durchſichtigkeit der Luft 157; Tageshelle 
und nächtliches Dunkel 158; Erfindung des Glaſes 159; ſeine Zu⸗ 
ſammenſetzung 160; die Brillen 161 b. 163; ihre Erfinder 164; 
Brenngläſer 165; Brechung der Lichtſtrahlen in durchſichtigen Me⸗ 
dien S. 166 b. 168; darauf gründet ſich die Eigenſchaft der con⸗ 
veren Gläſer die Gegenſtände, welche man durch dieſelben betrachtet, 
vergrößert darzuſtellen 169, und ſie hierdurch ſcheinbar näher an das 
Auge heranzurücken 170. Erfindung des Fernrohres und ſeine allmä⸗ 
lige Vervollkommnung 170, 171. Die Entdeckungen am Sternen⸗ 


himmel, welche eine unmittelbare Folge jener Erfindung waren 


S. 172 b. 175. Anwendung der vergrößernden Kraft der Glaslinſen 


zur Betrachtung naher, kleiner Gegenſtände; Erſindung der Mikroſcope 


und die mittelſt derſelben gemachten Entdeckungen S. 176. b. 178. 


Die Grundſtoffe der Säuren S. 178; Das Selen 178; der 


Schwefel und die durch ſein Verbrennen entſtehenden Säuren 179. 


Der Phosphor und die Phosphorſäure, die Flußſäure 180. Das Waf- 
ſerſtoffgas 181; das Chlor und die Salzſäure 182; Brom, Jod, 


22. 


23. 


25 


* 


Boraxſäure 183; der Grundſtoff der Kieſelerde 183, 184. Verſuche 


mit Pflanzenſaamen, wodurch das Vermögen der lebenden Weſen 


Grundſtoffe zu erzeugen oder zu verwandeln eine gewiſſe Wahrſchein—⸗ 
lichkeit gewinnen koͤnnte 185. 

Die Schwefelſäure und die Salzſäure 185. Bemerkungen 
über die vielſeitige Bedeutung der atmosphäriſchen Gasarten S. 186, 
187. Glaubers Entdeckung der Grundſtoffe des Kochſalzes, bei der 
Zerlegung deſſelben durch die Schwefelſäure 188, 189. Das Verhält⸗ 
niß des Schwefels zu den Metallen gleicht dem der Lebensluft zu den 
brennbaren Körpern 190. Die Schwefelſäure gewaͤhrt in England 
mittelbar, durch das Gewinnen des Chlors einen auſſerordentlichen 
Vortheil für die dortigen Bleichereien 191 b. 194. Gewinnung des 
Leims aus den Knochen durch Anwendung der Salzſäure erleichtert S. 
194. Gewinnung der Schwefelſäure aus Schwefeleiſen oder Schwe- 
felkies S. 195; die Bereitung der Schwefelſaͤure im Großen, vor 
Allem in England S. 196, 197. 

Die ehemiſche Polariſation S. 197. Begriff und Erläuterung 
det Ausdruckes: chemiſche Verwandſchaft 198, 199. 


Die Grundſtofſe der organiſchen Körper S. 200. Der 


Kohlenſtoff S. 201; Steinkohlen und Erdharze 202; Kohlenſäure 203; 
Waſſerſtoffgas 204; das Sauerſtoffgas oder die Lebensluft 205, 206 
(vom Stickſtoff im 26ten Cap.). 

Die Luftſchifferkunſt S. 207. Aellere Verſuche in der Luft 
zu fliegen oder zu ſchiffen 208, 209. Mongolfier und Charles 210, 
211; Pilatre de Roziers erſte, aeroftatifche Unternehmungen 212; 
Franz Blanchard und ſeine Abentheuer 213 b. 217. Die Brüder Ro⸗ 
bert und der Graf Zambeccari 217. Roziers unglückliches Ende, bei 


26. 


27. 


28. 


29. 


— 


XVI 


dem Verſuch den Canal von Oſt nach Weſt in der Luft zu überſchiffen 
218, 219. Crosbies Flug von Irland nach England 219; Zam⸗ 
beccaris Ende 220. Geſchwindigkeit der Luftſchiffe 221; erreichte Hoͤ⸗ 
hen 222; Beobachtungen der Luftſchiffer im Allgemeinen 223. An⸗ 
wendung der Aäronautik im Kriege 224; Robertſon, Green 225, 226. 


Die Lebensluft und das Stickgas S. 226. Eigenſchaften 
und Wirkungen der Lebensluft oder des Sauerſtoffgaſes auf die Kör- 
per der unorganiſchen ſo wie der organiſchen Natur im Allgemeinen 
S. 227 b. 230. Allgemeine Verbreitung deſſelben S. 230, 231. 
Das Stickgas und ſeine Eigenſchaften 232 b. 234. Die Salpeter⸗ 
ſäure 235, 236; Gewinnung des Salpeters 237, 238. 


Großer Erfolg aus kleiner Urſache S. 238. Die Wirkſam⸗ 
keit der mikroſcopiſchen Thierwelt eine Quelle der Erzeugung oder Ent⸗ 
bindung der Lebensluft S. 239 b. 241. 


Druck und Gegendruck S. 242. Die Naturkräfte welche beim 
Bau der organiſchen Leiblichkeit mitwirken. Die Laſt des Luftdruckes 
auf unſrem Körper nach Wiener Pfunden berechnet S. 243. Em⸗ 
porſteigen des Waſſers in den leeren Raum einer Pumpenröhre S. 
244; Torricellis richtige Deutung dieſer Erſcheinung und feine Erfin⸗ 
dung des Barometers S. 245. Beſtättigung der Torricelliſchen An⸗ 
ſichten durch unmittelbare Beobachtungen S. 246. Otto von Gueri⸗ 
kes Erfindung der Luftpumpe und Verſuche mit derſelben S. 247. 
Das Barometer als ſogenanntes Wetterglas benutzt S. 248. Höhen⸗ 
meſſungen durch das Barometer mit Grundlegung eines von Mariotte 
vorausgeſetzten Verhältniſſes S. 249; Federkraft (Elaſtizität) der Luft 
S. 249, 250. Wirkung des verſtärkten Luftdruckes auf den menſch⸗ 
lichen Körper S. 251. Unbequemlichkeiten und läſtige Folgen welche 
der ſehr verminderte Lufdruck: (die Verdünnung der Luft), namentlich 
auf großen Höhen mit ſich führt S. 251, 252. Vermuthungen und 
Angaben über die Höhe und aͤußerſte Gränze des Luftkreiſes; Antheil 
den die verſchiedenen Gasarten der Atmoſphäre an dem Geſammtge⸗ 
wicht und Druck der Luftſäule haben S. 252, 253. Die Veränder⸗ 
lichkeit der Menge des in der Atmoſphäre aufgelöſten Waſſerdunſtes, 
und die Folgen welche dieſes auf den Stand des Barometers hat 254, 
255. Andre Urſachen welche den Stand des Barometers ändern S. 255 
und welche Witterungsveränderungen bewirken 256. Verwandlung 
des Waſſers in Dampf S. 256; hemmender Einfluß den der Druck 
der Luft hierauf hat S. 257. Verſchiedene Grade der Sjedehitze, 
in verſchiedenen Höhen über dem Meere S. 257. Verhältniß des Ge⸗ 
gendruckes den die inuwohnende Kraft der Einzelweſen erregt zu dem 
Druck von außen, (namentlich der Luft) S. 258, 259. 


Die Wärme S. 259. Gewinnung des irdiſchen Feuers S. 259, 


260. Wärmeerzeugung und Entzündung der brennbaren Körper durch 
Reibung S. 261, 262; durch Stoß und Druck, ſo wie durch Zu⸗ 
ſammenpreſſen und Zuſammenziehung elaſtiſcher Flüſſigkeiten S. 263. 
Heitzung durch Daͤmpfe, bei dem Uebergang in den tropfbar flüßigen 


30, 


XVII 


Zuſtand des Waſſers ſich Waͤrme entwickelt S. 264. Nachweiſung 


einer ähnlichen Erſcheinung in der äußren Natur S. 264. Ein um⸗ 
gekehrtes Verhältniß der Wärmebindung (Abkühlung der Umgebung 
bei dem Uebergang des Waſſers aus dem tropfbar flüßigen in den 
Dampfzuſtand S. 265. Allgemeine Folgerungen aus dieſen Erfah⸗ 
rungen S. 266. Die Wärmecapacität der verſchiedenen Körper ©. 
267. Einfluß der Wärme auf die Formänderung der Körper und ge⸗ 
legentliche Entwicklung der Wärme in Folge ſolcher Formänderungen 
S. 268, 269. | 

Die Wärmeleitung ©. 269. Körper, welche die Wärme leicht 
und ſchnell ſo wie ſolche welche dieſelbe ſchwer und langſam leiten S. 


270. Die Metalle ſind die beſten Wärmeleiter S. 271. Wärmelei⸗ 


31. 


32. 


tung bei flüßigen Körpern S. 271. Emporſteigen der erwärmteren 
und hierdurch leichter gewordnen Theilchen in den kälteren und deshalb 
ſchwereren S. 272. Die ſogenannte Luftheitzung der Wohngebaͤude S. 
273. Die Ausdehnung der Körper durch die Wärme S. 274. 


Das Thermometer 274. Die Vorzüge welche die Anwendung 
eines Werkzeuges, das uns die Wärme unmittelbar an der Ausdeh⸗ 
nung eines leiblichen Stoffes ermeſſen läßet, vor den unſichren Aus⸗ 
ſprüchen unſres ſinnlichen Gefühles hat S. 275. Die erſte Darſtel⸗ 
lung eines unvollkommenen Thermometers durch Cornelius Drebbel 
S. 276. Fahrenheits Queckſilber⸗Thermometer S. 277. Gleichmäßig⸗ 
keit der menſchlichen Blutwärme bei verſchiednen Völkern fo wie unter 
verſchiednen Himmelsſtrichen S. 278. Verſchiedne feſte Anhalts⸗ 
punkte der Fahrenheitſchen Scala S. 279. Reaumurs Weingeiſtthermo⸗ 
meter S. 280, 281. Verhältniß der Reaumurſchen Scala zur Fah⸗ 
renheitſchen ſo wie zur hunderttheiligen S. 282. Meſſung der Grade 
der Gluthhitze die zum Schmelzen der Metalle nöthig iſt S. 283. 


Die Dampfbildung durch Wärme S. 284. Vielſeitiger ge⸗ 
waltiger Einfluß der Benutzung der Dampfkräfte, zu Leiſtungen welche 
einem früheren Zeitalter unerreichbar erſchienen wären S. 285, 286. 
Wirkſamkeit des Schießpulvers und Grund derſelben S. 287. Schnel⸗ 
ligkeit und Kraft, welche die Exploſion des Schießpulvers den abge⸗ 
ſchoſſenen Körpern mittheilt S. 288, 289; Erfindung und frühefte 
Benutzung des Schießpulvers S. 289, 290; der Waſſerdampf 291; 
Ausdehnung des Waſſers dei der Eisbildung S. 291, 292; geringe 
Elaſtizität des Waſſers 293; Spannkraft feiner Dämpfe bei ploͤtzli⸗ 
cher Entwicklung durch die Wärme S. 294; die Bewegungen durch mechani⸗ 
ſche Urſachen herv orgerufen, enden, ſobald der äußre Anlaß für ſte 
hinwegfällt, die Bewegungen eines belebten Körpers erneuern ſich von 
ſelber durch wechſelſeitige Anregung der polariſchen Spannungen 295; 
ein Freiwerden und ein Gebundenwerden der Stoffe, gegenſeitig ſich 
bedingend und mit einander wechslend; Druck und Gegendruck 296. 
Die Einrichtung und Wirkſamkeit der Dampfmaſchinen erſcheint wie 
ein Abbild der wechslenden Bewegungen in einem beſeelten Körper 


297; kurze Beſchreibung der Dampfmaſchinen 298; Benutzungen der 
17 * 


33. 


34. 


36. 


XVIII 


| Dampffraft in früheren Zeiten S. 299; Erfindung der Dampfmaſchi⸗ 


nen S. 300; der Dampfſchiffe 300, 3013 Folgen der letztern Erfin- 
dung 301, 302. Die Dampfwägen 302, 303 ; atmoſphäriſche Eiſen⸗ 
bahnen 304. Schnelligkeit und einflußreiche Leiſtungen der Dampf⸗ 
wägenfahrten auf den Verkehr der Menſchen 305. Berechnung der Kräfte 
der einzelnen ſo wie der geſammten Dampfmaſchinen mancher ga 
ſchen Länder 306; Koſtenaufwand 307. 


Das Entſtehen der Wärme beim Verbrennen der Kör⸗ 
per 307. Eigentliches Verbrennen 308; langſame und allmälige Ver⸗ 
bindung des Sauerſtoffgaſes mit brennbaren Körpern 309; eigenthüm⸗ 
liche Bewegungen an ſtaubartig fein zertheilten Stoffen beobachtet 310: 
Platinaſtaub und Platinaſchwamm; ihre Anziehungskraft gegen das 
Sauerſtoffgas mit welchem dann das Waſſerſtoffgas flammend ſich 
verbindet 310; Vortheile zur Föderung der Eſſiggährung 311; an⸗ 
ſteckende Gewalt des Gährungs- und Verweſungsprozeſſes 312, 313; 
Einfluß des Hitzgrades auf das Verbrennen 313; ſchwächender Ein⸗ 
fluß der Verdünnung der Luft auf das Verbrennen 315; ſcheinbare 
Ausnahmen davon beim armirten Phosphor 315. Schwerere und 
leichtere Entzündbarkeit 315. Verlöſchen der Flamme; Abhaltungsmit: 
tel gegen ihren anzündenden Einfluß 316. Mittel zur Verſtärkung 
der Lichthelle der flammenden Körper 317. Das ſelbſtſtändige Weſen 
des Lichtes und der Wärme 318. 


Die Bereitung gegorner Getränke S. 318. Aufregende 
Eigenſchaften derſelben 319, gegründet auf die Steigerung des Ath⸗ 
mungsprozeſſes 320. Verhalten der Hefe zum Vorgang der Gährung 
321 verändernder Einfluß der Wärme 322; Flüſſigkeiten deren Zu⸗ 
ſammenſetzung dem Traubenſaft verwandt it S. 323; Gründe der 
Eſſiggährung 323; Verſchiedne Grade der Temperatur, welche die 
Verbindung des Alkohols und die des ſtickſtoffhaltigen Fermentes mit 
dem Sauerſtoffgas zum Eſſig und zur unauflöslichen Hefe nöthig hat 
324; Anwendung dieſer Erfahrungen S. 325. Erfindung und allge⸗ 
meiner Gebrauch der bierartigen Getränke 325; Auch bei ihrer Gäh⸗ 
rung iſt die Erhaltung einer niedren, gleichmäßigen Temperatur ſehr 
vortheilhaft 326, 327. 


Die eigenthümliche Wärme der lebenden organiſchen 


Körper S. 328. Beobachtungen an Pflanzen 328; an Bienen 329; 
an Fiſchen 330; Amphibien, Vögeln, Säugthieren 331; Einfluß des 
Athmens darauf S. 332, 333; das Walten der Lebenskraft 333, 334. 


Die Erzeugung der Wärme durch Elektrizität 334. 
Aelteſte Beobachtung der Elektrizität am Bernſtein S. 335; polariſch 
verſchiedene elektriſche Spannung bei verſchiednen Körpern S. 336; 
derſelbe Körper kann gegen einen andren ſich poſitiv, gegen einen drit⸗ 


ten negativ verhalten 337; Verſchiednes Verhalten der Metalle und 


der andren leicht durchs Reiben elektriſirbaren Körper 338; gute und 
ſchlechte Leiter der Elektrizität 339; Eigenſchaft des Glaſes an zwei 
einander gegenäßsr gelangen Flächen eine verſchiedne elektriſche Polari⸗ 


XIX 


N ſation oder Spannung anzunehmen 340; elektriſche Batterieen und Leidner 


Flaſchen 341. Blitzartige Wirkſamkeit des ſtarken eleftrifchen Funkens auf 


llebende Thiere und Menſchen 341; zur Entzündung und Verbindung der 


37. 


gasartigen Grundſtoffe des Waſſers ſowie zur Zerſetzung des Waſſers 342; 
zur Erzeugung der Wärme und Anregung der Lebenskraft 342; Ge⸗ 


ſchwindigkeit der Fortpflanzung des elektriſchen Schlages 343. 
Die Gewitter S. 343. Künſtliche Nachahmung der Gewitter 343; 


verſchiedne elektriſche Spannung zwiſchen dem Luftkreis und der Erd⸗ 


oberfläche 344; das St. Elmusfeuer; berechneter Betrag der elektri— 


ſchen Spannung eines von Pflanzen bedeckten Landſtriches S. 345 
Einfluß der Winde auf die elektriſche Spannung 346; der Wärme, in 


11 verſchiednen Jahreszeiten und Länderſtrichen 346; Höhe der Wetter⸗ 
wolken; Einſchlagen des Blitzes am Boden 347; Gegenſchläge; Blitze 


die nicht zünden 348; Wirkung des einſchlagenden Blitzes auf Metalle 


348, 349; Entladungen die in den Wolken aufwärtsgehen 349. Der 
Hagel und die ſtrichweiſe Art ſeiner Verbreitung 349, 350. Allmälige 
Auflöſung der elektriſchen Spannung der Wolkenſchichten; das Wetter⸗ 


lleuchten 351. 


38. 
Vorſichtsmaaßregeln gegen das Einſchlagen des Blitzes 352; Nollets 
annähernde Schritte zur Erfindung des Blitzableiters 352; Benjamin 


39. 


40. 


Die Blitzableiter 351. Uebermäßige Gewitterfurcht und lächerliche 


Franklin S. 353; die Verdienſte deſſelben um die geiſtige Entwicklung 
ſeiner Landsleute 354. Seine tiefer gehenden Forſchungen über das 
Weſen der Elektrizität 354; Verſuche zur Herableitung der Lufteleftri- 
zität S. 355. Richmanns Tod 355. Der Franklinſche Blitzableiter; 
ſeine Anwendung und Begränzung ſeiner Wirkſamkeit S. 356, 357. 
Polariſche Wechſelwirkung auf das Verhältniß einer Vielheit der klein 


ſten Theile der Körper zu den allgemein verbreiteten Elementen und 


Kräften der äußren Umgebung gegründet S. 357. Condenſation der 
Gasarten durch die Anziehung einer vielzertheilten körperlichen Sub⸗ 
ſtanz und Verſchiedenheit dieſes Vorganges von der Zuſammenpreſſung 
durch mechaniſche Gewalt, am Beiſpiel der Kohlen erläutert S. 358, 


359. Die anziehenden Organe, in Form feiner Spitzen und Borſten, 


an der Außenfläche der Pflanzenkörper 359, 360. 
Eine Art von Blitzableiter, benutzt zur Befruchtung 


der Felder S. 360. Ableitung der Luftelektrizität durch die lebende 
Pflanzenwelt S 361. Fördernder Einfluß der gemeinen Elektrizität 


auf das Wachsthum und die Entwicklung der Pflanzen, nach Maim⸗ 
brei's und Bertholon's Verſuchen 361. Benutzung der Luftelektrizität 
zur Anregung des Pflanzenwuchſes im Großen 361 b. 364. 


Das Pflanzenleben und der Feldbau 364. Das Syſtem der 
Saftbehältniſſe und Gefäße der Pflanzen S. 365. J. Liebigs Anſicht 
daß die Gewächſe einen großen Theil des Kohlenſtoffes und Stickſtof⸗ 
fes ihrer Körpermaſſe aus der Atmoſphäre empfangen, auf Erfahrung 
gegründet 366, 367; anziehende Kraft der fein zertheilten Erdſcholle 
S. 368. Die Bodenbeſtandtheile, deren Aufnahme durch die Wurzeln 


41. 


42. 


43. 


44. 


45. 


46. 


XX 


die Pflanze zu ihrer Ernährung bedarf 369, 370; künſtliche Mittel 
dieſen Ernährungsprozeß zu erleichtern 371. 

Der Galvanismus 372. Polariſch⸗ elektriſche Spannung in zwei 
verſchiednen Metallen durch ihre bloße wechſelſeitige Berührung erweck⸗ 
bar 373; Stufenleiter dieſer Erregbarkeit der poſitiven oder negavtien 
Spannung bei verſchiednen Körpern 373, 374. Die Voltaiſche Säule 
und der Trogapparat S. 375, 376; Zerſetzung des Waſſers durch die 
elektriſche Polariſation dieſer Apparate 377. Entdeckungsgeſchichte des 
Galvanismus 377, 378; Wirkung des Galvanismus auf die thieriſchen 
Nerven der Bewegung und ſinnlichen Empfindung 378; die ruhigere 
fortwährende Strömung beim Galvanismus begründet einige Verſchieden⸗ 
heit zwiſchen dieſem und der Reibungselektrizität 379; Licht⸗ und 
Wärmeerzeugung durch Galvanismus 379, 380. 


Ein Wettkampf der Naturkunde mit der Kunſt: die 
Galvanoplaſtik 380. Bündniß der Menſchenkraft mit Naturkräf⸗ 
ten 381, 382. Beſchreibung der Vorgänge und der Leiſtungen der 
Galvanoplaſtik 383 b. 385. 


Die Nerven des thieriſchen Körpers 385. Eigenſchaften und 
Verrichtungen der lebenden Nerven 386. Ergebniſſe der mikroſcopiſchen 
Betrachtungen der Theile des menſchlichen Körpers an den Blutkügel⸗ 
chen 387; den Muskeln 388; den Nervenröhrchen, ſo wie ihre Ver⸗ 
theilung und ihren Verlauf 389, 390. 


Elektriſche Erſcheinungen an lebenden Thieren 390. Der 
Zitterroche und ſeine Eigenſchaften ſo wie ſein äußrer und innrer Bau 
391, 392; der Zitteraal und feine Kräfte 393; fo wie fein Fang 394. 
Uebereinſtimmung und Verſchiedenheit dieſer thieriſchen Elektrizität mit 
und von der gewöhnlichen 395; Schwächung der Lebenskraft des Thieres 
durch öftere Entladungen 396. Elektriſche Funken aus lebenden menſch⸗ 
lichen Körpern 397. Epilepſie — Fabius Columna 397. 


Magnetismus und Elektrizität als Formen der weſent⸗ 
lich einen polariſchen Spannung S. 397. Magnetiſirende Ein⸗ 
wirkung des Blitzes auf eiſerne Geräthſchafteu 398; die Richtung einer 
elektriſchen Strömung, welche quer über einen Eiſenſtab gehet, macht 
dieſen magnetiſch 399; außerordentliche Steigerung der magnetiſchen 
Kraft in Eiſenſtäben um welche ein Draht ſchraubenförmig herumge⸗ 
führt und mit den Strömungen einer Voltaiſchen Säule in Verbin⸗ 
dung geſetzt wird S. 400. Die Richtung der Windungen des Drahtes 
von der Rechten zur Linken oder von der Linken zur Rechten ſind hier⸗ 
bei nicht ohne Einfluß 400, 401. Schweiggers Entdeckung einer ro⸗ 
tirenden und kreisförmig bahnenden Bewegung, welche der Elektromag⸗ 
netismus bewirkt S. 401: Folgerungen hieraus 402. 


Der elektriſche Telegraph 402. Frühere Verſuche einer Mitthei⸗ 
lung an Fernwohnende: Nothfeuer 403; die gewöhnlichen Tele⸗ 
graphen 404. Vorzug der Mittheilung durch Elektrizität wegen der 
Schnelle und Sicherheit der Leitung 405; Einrichtung eines Telegra⸗ 
phen, der auf die Wirkung des Elektromagnetismus gegründet iſt und 


47. 


48. 


49. 
50. 


51. 


52. 


XXI 


die Weiſe ſeiner Anwendung 406; Steinheils elektriſcher Telegraph 407, 
408; Verſuche in England 408. 


Die Bedeutung der Wärme, für Magnetismus und 
Elektrizität 409. Schwächende Wirkung der Wärme auf die mag— 
netiſche Kraft 410; Erregung der elektriſchen Eigenſchaften durch die 
Wärme im Turmalin 410, 411; Borazit und Galmei 411, 412. 
Elektriſch⸗ polariſche Spannung an verſchiednen in Berührung ge: 
brachten Metallen, namentlich Wismuth und Spießglanz, durch einen 
ſehr geringen Grad der Erwärmung oder Abkühlung erzeugt 412, 413, 
bemerkbar durch die Elektrizitäts- Multiplicatoren 413; Folgerun⸗ 
gen 413. 

Das Nordlicht 414. Elektriſche und magnetiſche Ungewitter 414; 
der Einfluß der Temperatur iſt auf beide ein entgegengeſetzter 415; 
Südlichter; Höhe zu welcher die Polarlichterſcheinung hinanreicht, 
die in ſehr verſchiednen Gegenden zugleich ſtatt finden kann 415. Ge⸗ 
waltſame und zerſtörende Wirkſamkeit des elektriſchen Gewitters im Ver⸗ 
gleich mit dem ſtillen, nur dem Geſichtsſinn wahrnehmbaren Auftreten des 


Nordlichtes, 416, 417; dennoch geht die Wirkſamkeit des Nordlichtes, die 


ſich an den Bewegungen der Magnetnadel kund giebt, über ungleich größre 
Strecken der Erde als die des elektriſchen Gewitters 417, 418. Vergleich 
des Magnetismus mit dem Licht; der Elektrizität mit der Wärme 418. 
Beſchreibung des Nordlichtes 419, 420; Ende der Erſcheinung 421. 


Das Erdenlicht 421. Eigenthümliches (phosphoriſches) Leuchten 
der atmoſphäriſchen Dünſte 422; der Erdoberfläche und des Meeres 423. 
Erzeugung der Wärme durch das Sonnenlicht 423. Ver⸗ 
gleich des Ausſehens der Polarländer mit der Naturſchönheit und 
Fülle der kräftiger von der Sonne beſtrahlten Länder 424, 425. 


Die Sonne 426. Ihre Entfernung 426; Größe 427; ihre 
Stellung als ein Unteres, Tragendes 427, 428; Wärme der Erd⸗ 
mitte analog der Wärme des Mittelpunktes oder Innerſten des Pla⸗ 
netarſyſtems 428. Rotation der Sonne; ihre Lichtſphäre und Ober⸗ 
fläche 429, 430; Fortbewegung durch den Weltenraum des Fix⸗ 
ſternenhimmels 431; polariſches Verhältniß der Sonne zu ihrer plane= 
tariſchen Umgebung 432. Vergleich dieſes polariſchen Verhältniſſes mit 
manchen uns näher bekannten Erſcheinungen, namentlich den elektro⸗ 
magnetiſchen 433. Raumdurchdringende Kraft der Schwere 434; 
Vermuthliche Wechſelbeziehung der alt der Weltkörper mit ihrer 
Rotation 435, 436. ö 


Einfluß der Sonne anf die Temperatur der Erdober— 
fläche S. 436. Aeltere Bedeutung und Eintheilung der Klimaten 437; 
Zeit der Beleuchtung unmittelbar durch die Sonne oder durch ihren 
Reflex in der Atmosphäre, als Dämmrung 438; mittlere Jahres⸗ 
wärme der verſchiedenen Klimaten 439; Zeit des Eintretens der höch— 
ſten und niedrigſten Temperatur des Tages und des Jahres AAO, 
441; Grund der Abnahme der Wärme in größeren Höhen über 
der Meeresfläche 442; die Schneelinie 443, 444. Mildernder Einfluß 


53. 


[71 


57. 


XXII k 


der Nähe des Meeres, beſonders feiner. weftlichen Angränzung auf 


die Temperatur der Erdgegenden 445 — 447; extreme Wärme ⸗ und 
Kältegrade an einem und demſelben Orte, 447. Milde Winter und 
kühle Sommer ſind der Entwicklung mancher Pflanzenformen nicht ſo 
günſtig als etwas kältre Winter und wärmre Sommer 448 — 449. 
Einfluß der Angränzung und Richtung eines Landes gegen Feſtländer und 
Wüſten die von der Sonne der Wendekreiſe beſtrahlt werden 449; 
Tageshitze der Wüſten 450; Natürliche Vorzüge der nördlichen und 
öſtlichen Halbkugel vor der ſüdlichen und weſtlichen 450; Herrſchende 
Oſtwinde zwiſchen den Wendekreiſen; vorherrſchende Weſtwinde in den 
temperirten Zonen 451; Meeresſtrömungen 451; Raumverhältniße 
des Feſtlandes der verſchiedenen Zonen 452; Verhältniß der Erdnähe 
und Erdferne zu den Solſtitial- und Aequinoctialpunkten 455; Die 
mittlere Temperatur der Erdgegenden ſeit Jahrtauſenden dieſelbe 
455. Die mikroscopiſche Thierwelt der Polarzonen 456. 

Das Daguerrotyp und die Photographie oder Licht— 
zeichnung S. 457. Einfluß des Lichtes auf Färbung und Geſtal⸗ 
tung der organiſchen Körper 458; Daguerre's Berfah: 
ren zur Erzeugung von Lichtzeichnungen mittelſt der Ausſchei⸗ 
dung des Silbers aus ſeiner Jodverbindung und der Vereinigung 
deſſelben mit dem dampfförmigen Queckſilber 459, 460; Talbots 
Kalotyp-Papiere 461. Leiſtungen des Daguerrotypes 462. 


Das Prisma S. 463. Entſtehung des Farbenbildes im Prisma 
464, 465. Chemiſche Wirkung des violetten Strahles und ſeiner An⸗ 
grenzung außerhalb des Farbenbildes 465, 466; wärmende des ro⸗ 
then 466. 

Der Mond und ſein Licht S. 467. Stärke des Mondlichts 
im Vergleich mit dem Sonnenlichte 468; jenes hat keine erwärmende 
Kraft 468, 469; der violette Strahl ſeines Spectrums keine chemiſche 
469; Naturbeſchaffenheit des Mondes, mit der unſrer Erde verglichen 
S. 469 — 473. 5 5 


Das Verhältniß des Lichtes zu den Farben 473. Dunkle 
Linien im Farbenbild des Prismas, erzeugt durch das Licht der Sonne, 
ſo wie durch andere Arten des Lichtes S. 475. Verhältniß der Far⸗ 
ben der Körper gegen das Licht und die Wärme 476; eine geſchwärzte 
Thermometerkugel als Lichtmeſſer 477; andre Arten den Grad der 
Helle eines Lichtes zu e durch die Dunkelheit des Schattens 


u. ſ. w. 478; Vergleichung der Helle bei verſchiedenen leuchtenden Kör⸗ 
pern 478; Farbenſtoffe der unorganiſchen Körper: Kohle und metal⸗ 
liſche Oxyde 479, 480, ihre Entfärbung S. 480. Die Farben der 
Pflanzen und die Wirkung des Lichtes darauf S. 481. Einfluß der 
Farben auf die Affecten der Thiere und des Menſchen 482, 483. 
Angebliche Wirkungen der Farben und des Glanzes der Edelſteine 
483. f 

Der Nachtſchimmer oder die Phosphorescenz der Kör⸗ 
per S. 483. Der Bolognefer Leuchtſtein und die Entdeckung feiner 


XXIII 


Eigenſchaft durch Vincent Cascariolo S. 484, 485; andre na: 
türliche und künſtlich bereitete ſogenannte Lichtträger oder Phosphoren 
S. 486. Leuchten der Edelſteine und andrer feſten Steinmaſſen im Dunk— 
len, nach vorausgegangner Beſtrahlung 486. 487 Leuchten des 
Meeres S. 487. Clektriſches Licht, an dem ſogenannten Feuerregen 
beobachtet S. 488; Phosphorescenz der todten wie mancher lebenden 
organiſchen Körper S. 488. | 


58. Bermuthungen über die leibliche Natur des Lich tes 
Si. 488. Die Lehre von der Ausſtrömung (Emanation) des Lichtes, 
als eines feinen, körperlichen Stoffes, durch Empedokles und 5 
Newton aufgeſtellt und wiſſenſchaftlich durchgeführt S. 489, 490. Die 

ſogenannte Undulationstheorie, von Ariſtoteles, Huyghens 

und Euler angenommen S. 490. Die Lehre von dem Lichtaͤther 

S. 491. Neuere Erklärung des Beugungsphänomens der Lichtſtrah—⸗ 

len aus einem wechſelſeitigen ſich Aufheben und Hemmen zweier, aus 

verſchiedenen Richtungen kommenden Bewegungen (Interferenz) 491, 
4792. Interferenz der Töne S. 493; der ſchwingenden Bewegungen 
zweier Flüßigkeiten von verſchiedenem Gewicht und Zuſammenhalt der 
Theile 494. Zahl der Schwingungen, welche durch die verſchiedenen 
Tone in einer und derſelben Zeit der Luft mitgetheilt werden 495; 

Leänge der Schwingungswellen bei den verſchiedenen Tönen 4963 

Vermuthungen über die Raum- und Zeitverhältniſſe der Lichtwellen 
496, 497. 


59. Das Verhältniß des Lichtes zu anderen bewegenden 
Naturkräften S. 497. Die beſondre Schwere (das Gewicht) 
der irdiſchen Körper als bewegende Kraft 497; Magnetismus, Elek⸗ 

trizität, Wärme S. 498; Vergleich der bewegenden (anregenden) 

Kraft des Lichtes mit jener der Nerven 499, 500. Beförderung des 

Kryſtalliſirens durch mechaniſche Erſchütterung und Anregung 501, 

beim Schmiedeeiſen 502; Erregung der magnetiſchen wie elektriſchen 

Kräfte der Wärme und des Lichtes, durch mechaniſche Bewegungen 

503. Dreiheit der Vermögen im Lichte vereint 504. Gründe, welche 

gegen die Annahme ſprechen, daß mit den Lichtſtrahlen der Sonne beſon— 

dre Wärmeſtrahlen vereint ſeyen 505; Lichterzeugung durch hohe Stei— 
gerung der Wärme und umgekehrt 505. Große Hitze ohne eine ver— 
hältnißmäßig eben fo ſtarke Helle 506. Einfluß der Richtung der 

I bewegenden Kräfte 506; Einfluß der leiblichen Stellung, in der Eut⸗ 

wicklungsgeſchichte mancher Thiere 507 — 509. Vergleich der Wärme 

mit dem centrifugalen, des Lichtes mit dem contripetalen Antriebe im 

0 Bewegen der Weltkörper in ihren Bahnen 509 — 512. Beſtändi⸗ 
ges Zuſammenwirken und gegenſeitiges ſich Hervorrufen der beiden 
Richtungen des Bewegens 513; Lichterſcheinungen beim plötzlichen 

Ausdehnen ſo wie Zuſammenpreſſen der Körper; beim Entſtehen wie 
beim Zerbrechen der Kryſtalle 514. Ausſcheidender, zerſetzeuder Ein— 
fluß des Lichtes 515. Innere Verwandtſchaft zwiſchen Licht und 

Schwere 516; zwiſchen Licht und Magnetismus, Elektrizität und 


60. 


61. 


62. 


63. 


XXIV 


Wärme 517. Unverſiegbarer Licht- und Waͤrmequell in der Sonne, 
77 pl verwandt in feiner Wirkſamkeit mit der Wirkſamkeit der 
eele 517. 


Bewegung bei ſcheinbarer Ruhe S. 518. Verſchiedenheit 
zwiſchen der ſchwingenden Bewegung der Luft beim Tönen und bei 
mechaniſcher Fortbewegung ihrer Maſſe 518. Die Wärme beſteht, 
wie das Licht, in einem ſchwingenden Bewegen 519. Ein ſolches iſt 
bab im ſtarren Stein vorhanden und macht dieſen zu einem Fühl- 
aren 520. 


Einwirkung und Nachwirkung S. 521. Langfortdauernde 
Schwingungen an einer durch den Schlag des Hammers zum Tönen 
gebrachten Glocke S. 521. Verſtärkender Einfluß den die zurückblei⸗ 
bende innre Bewegung oder Nachwirkung auf die Wirkung einer neuen 
Anregung von außen hat S. 521. Befähigung zum Leuch ten oder 
Phosphoresziren im Dunklen, an Diamanten S. 522. Die durch öf⸗ 
tere Anregung von außen zunehmende Befähigung läßt ſich als Stim⸗ 
mung bezeichnen S. 522. Beobachtung an tönenden Inſtrumenten S. 
523. Fortwährender Einfluß den die Richtung des Geſtaltens in ei⸗ 
nem ſchon gebildeten Kryſtall auf die Geſtaltung einer noch in kry⸗ 
ſtalliniſcher Bildung begriffnen Subſtanz hat S. 523, 524. Lang⸗ 
anhaltende Lebens» und Keimkraft an Pflanzenſaamen S. 524, 525. 
Fortwährende neue Bildungen inmitten der ſchon zum feſten Be⸗ 
ſtand gelangten Felſenmaſſen S. 525. 


Väterlicher und mütterlicher Einfluß auf Geſtaltung 
und Wirkſamkeit der neu entſtehenden Körper ©. 526. 
Der Einfluß den die Beſchaffenheit der Elemente, aus denen ein Kör- 
per ſich bildet, auf ſeine Geſtaltung hat, läßt ſich als ein mütterlich 
bildender bezeichnen S. 526. Stellvertretendes Verhältniß in wel⸗ 
chem manche Elemente der Körper mit einander ſtehen S. 527 — 529; 
das Entſtehen ganz verſchiedener Kryftalls Geſtalten aus denſelben 
Grundſtoffen, durch den Einfluß verſchiedener Wärmegrade auf die in 
der Bildung begriffene Maſſe vermittelt S. 527. Verändernder Ein⸗ 
fluß der Siedehitze auf die Gährungsfähigkeit und Stimmung orga⸗ 
niſcher Verbindungen S. 528. Ein Genießbarwerden des Ungenieß⸗ 
baren, ja des Giftigern durch den Einfluß der Hitze bewirkt S. 
529. Gay Luſſacs Erfindung eines einfachen Mittels die ſchon 
durch die Hitze zubereiteten Speißen auf lange Zeiten vor der Ver⸗ 
derbniß zu ſchützen S. 531. Innre Verwandtſchaft von Stimmung 
und Geſtaltung S 533. Einfluß des Lichtes und der Elektrizität 
auf Stimmung und Geſtaltung der unorganiſchen Körper S. 533; 
Einfluß des Klimas anf Stimmung und Geſtaltung der organiſchen 
Weſen; die Abänderungen der Meuſchen⸗ und Thierform S. 533. 


Die beſtimmten Proportionen in welchen die Grund: 
ſtoffe ſich verbinden (Stöchiometrie) S. 534; Mechaniſche 
und zufällige Miſchungen der Stoffe S. 534. Chemiſche Verbindun⸗ 
gen z. B. der Schwefelſäure und Kalkerde S. 535; von Richter 


64. 


65. 


XXV 


entdeckte die feſtſtehende Proportion der Gewichtsmengen nach be: 
nen die Stoffe chemiſch ſich verbinden S. 537; Proportionsverhält⸗ 
niß der Maaßtheile oder Voluminen S. 537; zum Theil auch noch 
bei der Zuſammenziehung in engeren Raum ſichtbar S. 539, die 
Summe des Gewichts der einzelnen Stoffe findet ſich in der ganzen 
Miſchung unverändert wieder S. 539. Scheinbarer Einfluß ber Ei⸗ 
genſchwere der Grundſtoffe auf die Kraft ihrer gegenſeitigen Anziehung 
S. 540. Vermuthliche Proportion der Formen und Größen der Fleins 
ſten Körpertheile (Atomen) daraus die Stoffe beſtehen S. 541. 


Das Vermögen der Lebenskraft, zu ſchaffen und zu 
erhalten S. 541. Verſchiedene Wirkung der Brutwärme auf 
befruchtete und unbefruchtete Eier S. 541. Beſtändige Neigung der 
organiſchen Verbindungen ſich zu zerſetzen S. 542. Künſtliche Zu⸗ 
ſammenſetzung der Grundſtoffe des Waſſers S. 542. Das Verhält- 
niß in dem die Atome der Grundſtoffe in den organifchen Körpern 
verbunden ſind, weicht ganz von dem ab, das in der unorganiſchen 


Natur ſtatt findet S. 543. Vergleich der Lebenskraft mit den elek⸗ 


tromagnetiſchen Naturkräften S. 543. Verſchiedenartig chemiſche 
Zuſammenſetzung der verhältnißmäßig wenigen Hauptformen und 
Arten der unorganiſchen Körper, einfache Zuſammenſetzung der faſt 
unzählbar vielen Formen und Arten der organiſchen Körper S. 545. 
Chemiſche Wirkſamkeit der Lebenskraft der Pflanze S. 545. Man⸗ 
gel und Fülle S. 545. 


Die Entwicklungsſtufen des Lebens S. 546. Rückblick auf 
die Grundſtoffe der organiſchen Körper S. 546. Lebenskraft und Licht 
S. 546. Wirkſamkeit und Dauer des leiblichen Lebens in Pflanzen 
und niedren Thierarten S. 546; das höhere Werk des Lebens zu wel⸗ 
chem die Seele der vollkommenen Thiere ſchon durch das Wahrnehmen 
ſeiner Sinne befähigt iſt S. 548; die innre Schöpfung des erken⸗ 
nenden Menſchengeiſtes S. 549; ihre Dauer und Beſtimmung für 
die Ewigkeit S. 551. Schlußbetrachtung S. 552. 


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77 


I. Der Antrieb zum Leben und zum Erkennen. 


1. Allen fehlt etwas. 


Wenn man, namentlich die lebenden Weſen der Erde, die 
Thiere und die Pflanzen betrachtet, da möchte man von ihnen 
ſagen: es ſind Dinge denen beſtändig etwas fehlt. Bei dem 
Bild aus Marmorſtein iſt das nicht ſo; dieſes hungert nicht 
und durſtet nicht; ihm wird es niemals weder zu heiß noch 
zu kalt; es braucht nicht Athem zu ſchöpfen; ihm thut kein 
Glied weh. Und ſo würde jeder Stein, wenn er zum Reden 
Verſtand und Kraft hätte, zu uns ſagen: ich bin ſatt und 
verlange Nichts. Dagegen gebricht uns Menſchen, gleich wie 
den Thieren, ſo lange wir leben, bald Dies bald Jenes. 
Der muntre Vogel des Waldes hat immer etwas Nöthiges 
zu ſchaffen; jetzt treibt ihn der Hunger, dann der Durſt von 
ſeinem Neſte hinweg; viele tauſend Male in einem Tage 
muß er friſche Luft ſchöpfen, wenn er nicht erſticken ſoll; am 
Abend, wenn die Sonne zu Rüſte geht, ſehnt er ſich nach 
dem Dunkel und nach der Erquickung des Schlafes, dann 
wieder, wenn die Nacht zu Ende geht, nach dem Morgen— 
licht und nach dem Vergnügen des Wachens. Und zu die— 
ſem alltäglichen, kleineren Gedränge der Bedürfniſſe kommt 
ihm noch alljährlich ein viel größeres; denn im Frühling hat 
er für den Haushalt ſeiner Jungen zu ſorgen, im Herbſte 
muß er weithin über Land und Meer ziehen um in der 
Fremde ſein Unterkommen für die Zeit des Winters zu ſuchen. 

Wie dem Vogel des Waldes, ſo ergeht es jedem Thiere 
und ſelbſt der Pflanze. Denn auch dieſe bedarf der Nah— 
rung aus der Luft und dem Boden; ſie muß Wärme und 


2 


Licht haben, wenn fie leben und gedeihen fol. Das Kraut 
des Feldes, wie das Thier und der Menſch, ſind darin ſich 
gleich, daß ſie alleſammt ihr zugemeſſenes Gewicht von des 
Leibes Mangelhaftigkeit und Nothdurft zu ertragen haben. 
Aber wenn auch dieſes Gewicht je zuweilen ſelbſt zur 
Laſt werden ſollte, möchte dennoch Keiner von uns deſſelben 
ledig, Keiner fo immer fatt und ohne allen Mangel ſeyn, 
wie der Stein es iſt. Denn wenn ich gar nichts mehr empfinz 
de von des Winters Froſt und des Sommers Hitze, wenn 
mich nicht mehr hungert noch durſtet, wenn meine Bruſt nie— 
mals mehr zu athmen begehrt, dann bin ich todt. Wie der 
Zeiger an einer Wanduhr ſtille ſteht, wenn die Gewichte 
hinweggenommen oder abgelaufen ſind, welche ihre Räder in 
Bewegung ſetzten; ſo ſteht auch der Lauf des Lebens ſtill 
und iſt zu Ende, wenn ſich kein Bedürfniß mehr regt, nach 
einem Etwas, das des Lebens Mangel ausfüllt; das Leben 
ſelber erhält ſich nur durch einen beſtändigen Wechſel zwiſchen 
Begehren und Empfangen, zwiſchen dem Verlangen und ſei⸗ 
ner Befriedigung. Allen Lebendigen fehlt bald Dieſes bald 
Jenes, aber es iſt auch reichlich dafür geſorgt, daß ſie Alle, 
a Yin nach feinem Maaße, das bekommen was ihnen 
abgehet. 6 


2. Was Jedes haben muß, 
Das giebts im Ueberfluß. 


Wenn man unter uns Menſchen eine Umfrage darüber 
halten wollte, was Jeder zu ſeines Lebens Unterhalt bedürfe? 
dann würde die Antwort darauf ſehr verſchieden ausfallen. 
Der reiche, an hunderterlei Bequemlichkeiten und Genüſſe ge⸗ 
wöhnte Bewohner der Städte würde meinen er könne nicht 
leben ohne mehrere Gerichte von Fleiſch und Zuſpeiſe, Wein 
und Bier, nicht aushalten ohne für die Zeit der Ruhe feine 
Matrazzen und Polſter, zu ſeiner Bedeckung Pelzwerk oder 
ſeidnes Gewand, zu ſeinem gewöhnlichen Aufenthalt ein ſchön 
verziertes Zimmer zu haben. Der arme Bewohner unſerer 
Gebirgsdörfer giebt es freilich viel kleiner zu, er iſt zufrieden 
wenn er nur Brod und Kartoffeln, an den Werktagen Waſ⸗ 
ſer und etwa an Feiertagen einen Trunk Bier zur Stillung 
ſeines Hungers und Durſtes hat. Auf ſeinem Strohpolſter 
ſchläft er feſter als der Reiche; unter dem leinenen Kittel 


3 


ſchlägt ihm fein Herz eben fo fröhlich, ja oftmals fröhlicher 
als dem vornehmen Manne unter dem Ordensband. N 
Wenn aber nun dieſe beiden, der arme Gebirgsbauer 
und der verwöhnte Städter mit einander auf einem Schiffe 
führen, und das Schiff ſcheiterte, ſie jedoch retteten ſich auf einen 


Felſen im Meere, wo es nichts zu eſſen und zu trinken gäbe, 


ſo würden ſie dennoch, in Hoffnung auf das rettende Boot, 
das ihnen, wenn auch erſt nach etlichen Tagen vom Lande 


her zu Hülfe kommen ſollte, vergnügt und froh ſeyn, denn 
ſie hätten doch da, auf dem frei über das Waſſer hervorra- 
genden Felſen Etwas, das zur Erhaltung des Lebens noth— 


wendiger iſt als Speiſen und Getränke, Betten und Kleider: 
die Luft welche kein Menſch, er ſey reich oder arm, jung 
oder alt, auch nur zehn Minuten lang entbehren kann. 


Bei den Thieren fällt die Verſchiedenheit der Dinge, an 
welchen jede Art ihr Belieben hat, noch viel mehr in die 
Augen. Der Adler wie der Löwe würden in einem Garten, 
voll der köſtlichſten Früchte und Gemüſe, auf einer Wieſe 


voller Klee und Gras verhungern: ſie begehren friſches Fleiſch 
und Blut zu ihrer Nahrung und müſſen die Sättigung oft 
weit umher und mit Mühe ſuchen, welche das Lamm in ſei— 


nem Grasgarten ganz nah und ohne Mühe findet; der Storch 


zieht das Fleiſch der Fröſche, der Eidechſen und Schlangen, 
der Feldmäuſe und Heuſchrecken jeder andern Koſt vor; ſein 


Vetter, der Kranich, lobt ſich dagegen den Genuß der grü— 
nen Saat wie der Saatkörner, junger Erbſen und nebenbei 
der Inſekten. Die ſtachlichen Gewächſe, an denen das Ka— 
meel in ſeiner armen Wüſte ſich vergnügt, würde, wenn ſie 


bei uns wüchſen, weder Roß noch Hirſch anrühren; der 
mächtige Wallfiſch ſättigt ſich an den Weichthieren und Gal⸗ 
lertthieren des Meeres, an denen der gefräßige Haifiſch und 


mancher viel kleinere Raubfiſch vornehm, ohne anzubeißen, 
vorüber ſchwimmt. Und ſo iſt der Geſchmack an den oder 
jenen genießbaren Dingen bei den Thieren faſt fo verſchie— 


den als ihre Art und Geſtalt, ihr Wohnort und Vaterland 
es ſind, ein Element des Unterhaltes aber giebt es, welches 


ſie ohne Ausnahme Alle begehren, ohne welches der Löwe 


eben ſo wenig als die Maus, der Hirſch eben ſo wenig als 


die Schnecke leben kann, das iſt die Luft, welche nicht wie 


Speiſe und Trank erſt in den Magen und in die Eingeweide 


eingeführt und hier zum Nahrungsſaft werden muß, um 
1 * 


4 


dann weiter ins Blut zu gehen, fondern auf geradem Wege 
unmittelbar zu dieſem Quell des thieriſchen Lebens ſich hinab⸗ 
ſenkt. Alle Thiere, ſie mögen den Namen haben wie ſie 
wollen, ſie mögen bei den Kräutern des Feldes und Wal⸗ 
des, oder bei der Fülle des thieriſchem Fleiſches, im Meere 


oder auf dem Lande in Koſt gehen, müſſen athmen, wenn 


ſie zum Bewegen, zum Eſſen und Trinken kräftig bleiben, 
wenn ſie leben ſollen. 

Aber gerade von jenem unentbehrlichen Element, das 
die Thiere wie die Menſchen zu ihrem Leben und Beſtehen 
haben müſſen, nicht nur etwa gern haben möchten, 
gilt das am meiſten was das alte Sprüchwort fee 

Wo unſre Kraft iſt viel zu klein 
Stellt Hülfe ſich von ſelber ein. 


Müßten die Leute in Neapel, welche meinen fie könnten 


im Sommer keinen Tag hinbringen und vergnügt ſeyn, wenn 
ihnen nicht, über die Meeresbucht herüber, aus den Schnee— 
gruben des Gebirges, friſches Eis zugeführt würde „ fo lange 
auf die friſche Luft, die mit jedem Athemzug in ihre Lungen 
dringt, warten als auf das friſche Eis, da würde es bei 
ihnen mit dem Vergnügtſeyn wie mit dem Leben bald ein 
Ende haben. Ja wenn der ſchnellſte Vogel ſo weit darnach 
fliegen müßte um einen friſchen Athemzug zu thun, als nach 
einem Trunk aus dem Bache, der am Walde vorbeifließt, 
da würde er ſchon auf ee Wege erſtickt ſeyn. Aber eben 
für dieſe, nicht nur tägliche oder ſtündliche, ſondern in jedem 
Augenblick ſich erneuernde Noth iſt auch draußen, im großen 
Haushalt der Natur am gründlichſten und ausreichendſten 
geſorgt. Denn Luft iſt überall wo lebende Weſen wohnen, 
auf den Höhen und in den Tiefen; ſie drängt ſich dem neu⸗ 
gebornen Kinde von ſelber in den Mund und in die Lun⸗ 
l ſie findet durch die kleinen Oeffnungen, am dicken Ende 
der Schaale, den Zugang, ſchon zu dem Kügelchen im Ei; 
ſie ſenkt ſich hinab ins Waſſer, bis zum tiefeſten Grund des 
Meeres und wird da, von den Waſſerthieren, eingeathmet; 

in alle Höhlen und offne Gruben der Erde, ja ſelbſt in das 
Innre der Pflanzen- und Thierkörper dringt die Luft hinein 
und erfüllt dieſelben. 


So erinnert uns die Luft, welche alle Lebenden umfaßet 


und durchdringet, wie ein Bild im Spiegel an eine allerhal⸗ 


tende Fürſorge, in und durch deren Walten alles Geſchaffene 


5 0 


beſtehet, in deten ſchöpferiſchem Vermögen wir Alle leben, 
weben und ſind. 


3. Die Haus mutter. N 

Ein anderes Bild, im Spiegel der Natur: das Bild 
einer guten Hausmutter, ſtellt ſich uns in dem Waſſer dar. 
Ohne das Waſſer würde gar bald die ganze Oberfläche der 
Erde zu einer Einöde werden, gleich den afrikaniſchen Wü— 
ſten in der dürren Zeit des Jahres; ohne daſſelbe würden 
alle Gewächſe verdorren, alle Thiere dahinſterben. Aber 
gleich einer ſorgſamen Mutter, die ohne Aufhören in allen 
Räumen ihres Hauſes herumwandelt, bald hinab zu dem 
Keller, bald zum Speicher des Oberbodens ſteigt, um alle 
die Ihrigen mit dem, was ihnen noth thut, zu verſehen, 
ſtrömt das Waſſer der Erde in den Flüſſen und Bächen 
hinab zu dem Meere, ſteigt von da, nach kurzem Verweilen, 
als Dampf hinauf in die Luft, träufelt als Thau, ergießt 
ſich als Regen über das durſtende Land, ſammlet ſich auf 
dem kühlen Gebirge oder auf dem waldigen Hügel zum 
Quell oder Bach, und rinnt, indem es ſeine nährenden Ga— 
ben rings umher , von neuem hinab zur Tiefe. Das 
Waſſer folgt dem Bergmann nach in ſeine Gruben, wie dem 
Kryſtallgräber auf ſeine kahlen Berghöhen; denn eben ſo wie 
die Luft ins Waſſer eindringt und in dieſes ſich verſenkt, ſo 
drängt ſich das Waſſer, in luftiger Geſtalt, in die Atmo⸗ 
fpbäre ein, und giebt den Alpenpflanzen und Mooſen des 
Hochgebirges in ſolcher Fülle zu trinken, daß kaum die Mit⸗ 
tagsſonne die perlenden Tropfen hinwegnimmt. Nur da wo 
kein Kraut mehr gedeihen, wo kein durſtendes Leben ſich 
mehr erhalten kann, in den kalten Höhen, dahin ſich nur 
Luftſchiffer und kühne Gebirgsbeſteiger erheben, ſcheint das 
Waſſer ſeiner hausmütterlichen Mühen und Sorgen entbun— 
den, dort kommt es nur wenig hin, die Luft iſt da waſſer— 
leerer als anderwärts. 

Wie im Schooße der Mutter, ſind im Waſſer die zar— 
teften, feinſten Thierarten verwahrt und, geborgen, die Po⸗ 
lypen, welche die Gorallengebaude anlegen und die vielfachen 
Formen der gallertartigen Scheibenthiere (Quallen). Ueber⸗ 
aupt Pau man A. daß die e eee Anfänge 
5 (eu Min FE HB, 


6 


des Thierreiches, aus denen gleichſam die höheren, vollkomm⸗ 
neren Geſtaltungen der Landthiere erſt ausgeboren werden, 
im Mutterſchooß des Gewäſſers beſchloſſen ſind. 

Waſſer giebt es freilich viel auf Erden, denn mehr als 
drei Viertheile ihrer Oberfläche ſind vom Meere bedeckt, und 
Ströme wie Seen und Sümpfe finden ſich in den verſchie— 
denen Welttheilen und Ländern in großer Zahl. Dennoch 


kommt dieſes wohlthätige Element den Landthieren, die nach 


ihm dürſten, nicht ſo von ſelber entgegen, wie die Luft die 
ſie athmen, ſondern es muß von ihnen oft in weiter Ferne 
und mühſam aufgeſucht werden. Denn das dampfförmige 
Waſſer, das in der Luft ſchwebt, ſtillt ihren Durſt nicht, 
und das ſalzige Waſſer des Meeres, welches ihn nur ver⸗ 
mehren würde, iſt meiſt für ſie ungenießbar. Aber dazu hat der 
Vogel ſeine Flügel, das vollkommnere Landthier ſeine rüſti⸗ 
gen Füße empfangen, daß es mit Hülfe derſelben das auf⸗ 
ſuchen kann, was ihm fehlt und in wenig Minuten iſt die 
Schwalbe, die in den Felſenritzen des peträiſchen Arabiens 
niſtet, wenn ſie der Durſt treibt, bei der Lache angelangt, 
in der ſich, von der Regenzeit her, noch einiges Waſſer ver⸗ 


halten hat; die Heerden der ſchnellfüßigen afrikaniſchen Ga⸗ 


zellen ziehen von einem Landſtrich zum andern, dem Regen⸗ 
gewölk nach, wenn dieſes jetzt hier dann dort ſeine Segens⸗ 
fülle ergießt, und jeden Morgen, wie jeden Abend finden 
fie, von der fernen Weide her, am Tränkplatze ſich ein. 
Viel anders als bei den Thieren, verhält es ſich bei 
den Gewächſen des Landes. Dieſe können nicht von ihrem 
Orte hinweg um nach dem Waſſer zu ſuchen, ſie müſſen es 
abwarten bis dieſes ihnen ſelber entgegenkommt. Und ven: 
noch bedürfen ſie des Waſſers noch viel mehr als die Thiere. 
Denn dieſe finden zum Theil ſchon in ihrem Futter Säfte, 
die ihren Durſt zu ſtillen vermögen; der Raubvogel im fri⸗ 


ſchen Fleiſch und Blut der erbeuteten Thiere, der Stier und 
die Gemſe in den Stengeln und Blättern der Kräuter. Bei 


der Pflanze dagegen iſt das Waſſer nicht bloß eine Zugabe 


zur Speiſe, ſondern es iſt für ſie das Hauptnahrungsmittel 


ſelber, wie für den Säugling die Muttermilch. Der zarte 


Säugling, wie übel wäre er daran, wenn er ſeine Nahrung 
ſelber aufſuchen müßte, er, der noch nicht ſtehen, noch gehen 
kann, ſondern in ſeinen Windeln es erwarten muß, daß die 


Mutter ihn tränkt. Und er darf nicht vergeblich harren; die x 


— 


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55 


7 


Liebe treibt feine Mutter mächtiger zu ihm hin als fein Hun- 
ger ihn zur Mutter. 

Gleich wie dem Säugling, ergeht es dem Reiche der 
Pflanzen. Nicht nur das flüſſige Waſſer des Bodens dringt 
in ihre feinen Wurzelzaſern ein, ſondern wie die Milch dem 


neugebornen Kinde, genügt vielen Gewächſen das dampfför⸗ 


mige Waſſer, das neben der andern luftförmigen Nahrung, 
in der Atmoſphäre ſchwebt. Wie die Hausmutter ungerufen 
und von ſelber ihrem Säuglinge naht, ſo kommt das Waſ— 
ſer aus der Luft herab den Pflanzen entgegen; wo viel Wald 
und reiches Grün iſt, da giebt es Quellen und Bäche, und 
das Regengewölk zieht ſich am meiſten nach der pflanzenrei⸗ 
5 Gegend hin: wo aber der Menſch im unbedachtſamen 
Eifer ſeines Culturtriebes oder aus Barbarei, die Hügel und 
Thäler ihrer Wälder und Gebüſche beraubt hat, da verſie⸗ 
gen Quellen und Bäche und das Land wird zur dürren 
Einöde. 

So kann ſich ſelbſt an der Pflanze, welche ohne Auge 
und Ohr, ohne jeden erkennenden Sinn für die Mutter, 
die ſich ihr nahet, nichts thun kann als nur kräftig die Nah⸗ 
rung ſaugen, die ſich ihr darbeut, die Liebe dieſer Mutter 
nicht verläugnen: jene Fürſorge, die all ihrer Geſchöpfe 
gedenkt. Wie der Adler ſeinen Jungen, ſo lange ſie noch 
unbefiedert und ſchwach im Neſte liegen, die Nahrung her— 
beiträgt, die fie nicht in eigner Kraft erfaſſen können, fo 
»ſendet Er, der Allen ihr Weſen gab, feinen hülfloſeſten 
Geſchöpfen das was ihnen noth thut, zu ſeiner Zeit. Es 


heißt da mit Recht: 
u. Der Starfe für fich felber wacht, | 
Den Schwachen nimmt der Herr in Acht. 4 


4. Die lebendigen Waſſerquellen. 


Als Nachtrag zu dem, was wir ſo eben über die Gabe 
ſagten, welche dem Gewächsreich verliehen iſt, das belebende 
waer ſelbſt von oben, aus der Luft anzuziehen und daſſelbe 
in Saft und Kraft zu verwandeln, führen wir hier einige 
Beiſpiele an, indem es ſich recht deutlich zeigt wie jene uns 
ſichtbare Nahrung die das Gewächs empfängt, ſelbſt für 
andere Band Weſen zu einer ſichtbaren Gabe der Erquik⸗ 


8 


In er heißen Küſtengegenden von Sierra Leone giebt 
es ein Gewächs, das an andren ſich emporwindet, die Trink⸗ 
geſchirrſtaude (Tetracera potatoria) deren ſich die Bewoh⸗ 
ner des Landes als eines lebendigen Waſſerbrunnens bedie⸗ 
nen. Denn wenn man die friſchen Stengel oder Blätter 
dieſer Pflanze durchſchneidet, dann fließt in reichlicher ige 
ein klares, trinkbares Waſſer heraus. An dem großen Waſ⸗ 
ferquellbaum (Phytocrene gigantea) in Dftindien, haben 
die dortigen Bewohner ein ähnliches ſich von ſelber füllendes 
Trinkgefäß und die gleiche Eigenſchaft wird noch an verſchie⸗ 
denen andern Gewächſen beobachtet. An den Blättern des 
ſchlauchtragenden Nepenthes, der auf Ceylon und den Mol⸗ 
lucken wächſt, finden ſich länglich ſackartige Behältniſſe, „ die 
mit einem lieblich ſchmeckenden, erfriſchenden Waſſer gefüllt 
find. Sechs bis acht ſolche Schläuche reichen hin um den 
Durſt eines ſchmachtenden Mannes zu ſtillen. Aus den 
jungen Zweigen einer braſilianiſchen Cäſalpinia träufelt ohne 
Aufhören Waſſer wie ein Regen herunter. 1 

Am bewunderungswürdigſten erſcheint das Vermögen 
den Waſſerdampf der Luft in tropfbar flüſſiges Waſſer um⸗ 
zuwandeln an einigen jener, von Säften ſtrotzenden Ge⸗ 
wächſe aus der Familie der Fackeldiſteln, welche auf dürren 
Lavafelſen und auf anderm Boden wachſen, in welchem für 
ihre Wurzeln auch nicht ein Tröpflein Feuchtigkeit zu finden 
iſt. Die melonenartigen Fackeldiſteln (die Melocacten) wach⸗ 
ſen und gedeihen in den heißeſten Länderſtrichen von Amerika. 
Wenn in der dürren Jahreszeit alles andere Grün des Bo⸗ 
dens verwelkt und erſtorben iſt, wenn die Thiere der Wild⸗ 
niß vergeblich nach Waſſer lechzen und weit umher fein ger 
nießbarer Tropfen zu finden iſt, dann giebt es noch allein 
im Innern der Melocacten Waſſer im Ueberfluß. Das flei⸗ 
ſchige Gewebe ihres Stammes iſt von wäßrigem Safte ganz 
erfüllt und durchdrungen. Die Heerden der verwilderten 
Rinder und Pferde wittern den Labetrunk und wiſſen ſich 
ihn zu verſchaffen, indem ſie, ehe ſie den Mund nahen, zuerſt 
mit den Hufen die feſten, ſcharfen Stacheln, womit die Au⸗ 
ßenfläche der Melocacten bedeckt iſt, hinwegzuſtoßen fü en, 
wobei freilich manches der durſtenden Thiere auf lange Zeit 
hinkend wird, wenn ihm beim Geſchäft des Abpu: ens a 
und der andre Stachel ins Fleiſch hineindringt. Dieſe St 
cheln aber, die den verſchmachteten e ſo e u. 


* jr 
n 


2 * 
3 


9 


gefährlich ſind, ſcheinen dem merkwürdigen Gewächs deßhalb 
verliehen zu feyn, daß es mitten in der dürren Jahreszeit 
und auf dem dürren Boden darauf es ſtehet, nicht ſelber 
vor Mangel an Waſſer verſchmachten und abſterben müſſe, 
denn jene ſcharfen Spitzen, die wie kleine Gewitterableiter 
hervorſtehen „ mögen wohl für das Herbeiziehen und bei der 
Ausſcheidung des eee eee Waſſerdunſtes von weſent— 
lichem 11 ſeyn. 

Manche Gewächſe können ſogar durch die Beſchaffenheit 
ihrer Säfte daran erinnern, daß ſie Säuglinge der Natur 
nd. Der amerikaniſche Hoa⸗ hyabaum giebt, wenn man 
\ inſchnitte in ſeine jungen Triebe macht, eine Flüßigkeit von 
ic 3 Bel e an 0 


Geſchmack und Beſchaffenheit ſo ganz einer 
milch gleicht, daß man ſie als Rahm zum 
Kaffee del Thee 141 5 kann. Auch in dem gemeinen Kuh⸗ 
baum (Galactodendron utile) findet ſich ein milchähnlicher 


Sit, der jedoch ftatt des buttrigen Fettes einen wachsarti- 


en Stoff enthält. Ohne alle Mühe empfängt der Menſch 


ger 
dus den Früchten der Oelpalmen (Elais und Alfonfia olei- 


a ein e d 1 aus denen des nu 


ar Bereitung 10 cher f Menſchen und Thie 1 


barer Stoffe, deren das Gewächsreich außer den eben ge— 


nannten noch viel tauſenderlei andre hervorbringt, bedarf 
ie wie wir dies weiter unten noch näher betrachten 
werden, keines andern Materiales als des dunſtförmigen 
oder flüffigen Waſſers aus der Luft und dem Boden, fo wie 


weniger andrer ebenfalls in der Luft und dem Boden enthal⸗ 


er oder mit dem Waſſer vermiſchten Elemente, unter denen 
wichtigſte der ſpäter zu beſchreibende Kohlenſtoff iſt. Mit 
inſt und Wiſſenſchaft können wir fo etwas nicht 
en; wir können uns nicht einmal, wie der Melocac— 


% 10 


tus, mitten in der dürren Wüſte aus der Luft eine Waf- 
ſerquelle verſchaffen. Alle ſolche Werke des Gewächsreiches 
ſind ein Wunder der Schöpferkraft, und die Wiſſenſchaft 
thut keine Wunder. Man muß da bekennen: 


Wenns daſteht greift man's mit der Hand 
Doch wie es kam iſt unbekannt. 0 


5. Das allgemeine Koſthaus. 


Welche menſchliche Anſtalt für Pflege und Bewirthung 
der Gäſte, wäre wohl mit jener zu vergleichen, die unſer 
Schöpfer hier auf Erden für ſeine Gefen behrinezt und 
angeordnet hat. In ihr werden in je em Augenblick, bei 
Tage wie bei Nacht, Millionen der lebendigen Weſen ge⸗ 
ſpeiſt und getränkt; manche Gäſte kommen ſpät, die andern 
früh und immer iſt es ſo eingerichtet, daß die für Jeden 
beſtimmte Speiſe gerade in dem Augenblicke wo er eintritt, 
fertig und bereitet ſteht. Da ſättigen ſich die Großen wie 
die Kleinen, Starke wie Schwache und ſelbſt die Kranken 
finden Alles, was ihnen zur Stärkung und Heilung dienen 
kann, ganz nahe vor ſich hingeſtellt; noch ehe die Noth eintrat 
iſt ſchon für ihre Linderung geſorgt. 

Was war alle Fülle an Salomo's Königshofe gegen 
die Fülle im großen Haushalt der Schöpfung, und doch 
wird in dieſem nirgends Etwas verſchwendet; kein Broſamen 
und kein Tropfen des Genießbaren bleibt ungenützt; für jede, 
auch die kleinſte Gabe der Natur findet ſich ein Abnehmer; 
was die Großen übrig laſſen, das kommt den Kleinen zu 
Gute; was die Einen von ſich ſtoßen, das nehmen die An⸗ 
dern mit Begierde auf; was Jenen zum Eckel, oder ein Gift 
wäre, das dienet dieſen zur gedeihlichen Nahrung. i 
ö Bei den Indiern, welche noch dem alten Götzendienſt 
anhangen, beſteht der Gebrauch, daß Keiner der nicht ſelber 
von ſolchem Prieſterſtande iſt, der Mahlzeit eines Brahmi⸗ 
nen (Brahmaprieſters) zuſehen, noch weniger aber mit dies 
ſem aus derſelben Schüſſel eſſen, aus demſelben Becher trin⸗ 
ken darf. So giebt es auch auf unſrer Erde eine Ordnung 
der lebenden Weſen, welche ihre Mahlzeit vor dem Auge 
der andern Lebendigen geheim hält und welche aus einer 
Schüſſel ſpeiſt, aus der die Andren ſich niemals laben 
nen. Dieſe Ordnung iſt, wie wir eigentlich ſchon 


11 


beiden vorhergehenden Capiteln ſahen, das Pflanzenreich. 
Sorgfältiger noch als der Brahmine ſein Eßzimmer vor neu⸗ 
gierigen Blicken, verbirgt der Baum ſeine nahrungnehmende 
Wurzel in der Tiefe des Bodens, und welches Auge eines 
Menſchen oder ſelbſt eines ſcharfblickenden Falken vermöchte 
den dampfartigen Stoff der Luft zu ſehen, von welchem, wie 


wir ſo eben ſahen, die Fackeldiſtel ſich nährt, wenn ſie 


am dürren Felſengeſtein ihre ſaftvollen Blattkörper, ihre 
großen, ſchönen Blüthen und ihre fleiſchigen Früchte entfal- 


tet. Auch verbietet es ſich von ſelbſt, daß weder Thier noch 


Menſch mit der hohen Palme aus einer Schüſſel ſich ſätti— 


gen, denn keines von ihnen würde am Thau des Himmels 
und am moderich feuchten Erdreich des Bodens ſich begnügen 
können. Der Tiſch, an welchem das Pflanzenreich durch die 
mütterlichen Kräfte und Säfte der Erde und des Sonnen— 
lichtes geſpeiſt und getränkt wird, damit die Rebe ihren 
Wein, der Getreidehalm ſein Waizenmehl und ſeine Gerſte 
gebe, iſt und bleibt für Gäſte unſrer Art ein unzugänglicher 
und verborgner. 5 
Wohl aber iſt unſerm beobachtenden Auge der Zutritt 
erlaubt zu den meiſten Speiſetiſchen des Thierreiches, und 
hier wird uns die Einrichtung der großen Bewirthungsanſtalt 
verſtändlicher. Fürs Erſte gilt es auch hier, daß den Klei- 
nen oder den Gebrechlichen, die nicht ſelber nach ihrem Fut— 
ter gehen können, die Speiſe zugebracht und in den Mund 
gereicht wird. Dem jungen Vogel, der noch ſchwach und uns 
befiedert im Neſte liegt, erweiſt die Liebe der Eltern dieſen 
Dienſt, für ſolche Thiere, welche der Pflege der Eltern ent— 
behren müſſen und dennoch ſich nicht fortbewegen können, 
ſorgt eine Liebe welche mächtiger und allumfaſſender iſt als 


alle Liebe der Eltern. Die Auſter, gleich manchem andren 
ihr ähnlichen Muſchelthier, ſitzt an ihrem Felſen feſtgebannt; 


ſie hat weder Augen noch irgend etwas Andres das zu einem 
eigentlichen Kopf gehört, nichts als einen Mund der nach 
Futter verlangt und einen Leib der genährt ſeyn will, und 
dennoch braucht ſie nur ihre Schaalen zu öffnen, um bald 
das zu empfangen was ſie bedarf. Das Würmchen, woraus 
der Haſelnußkäfer kommt, würde übel daran ſeyn, wenn es 
mit ſeinen kleinen Fußſtummeln weit nach Futter gehen müßte, 
gleich jenem Knaben im Mährchen, der in einen Pfann— 
berg eingeſchloſſen war, von deſſen wohlſchmeckenden 


12 


Wänden er fi nach Belieben fättigte und nährte, bis er 
ſich bis ans Tageslicht hindurchgegeſſen hatte, ſitzt es mitten 
innen in dem ſüßen Kern und braucht nur anzubeißen, ohne 
dabei von der Stelle zu gehen. Und in ähnlicher Weiſe iſt 
den meiſten Inſektenlarven ihre Tageskoſt unmittelbar vor 
den Mund hingeſtellt, oder doch leicht erreichbar. 

Aber nicht blos bei den Thieren der ſogenannten niedren 
Ordnungen iſt für die Unbeholfenen die Anordnung getrof— 
fen, daß ihnen die Hülfe von ſelber entgegenkommt, ſondern 
auch für die Thiere von vollkommnerem Bau, wenn ſie ſchlecht 
zu Fuße oder durch andre Urſachen gehindert ſind ſich ihren 
Lebensunterhalt ſo leicht wie andere Thiere zu erwerben, 
giebt es Reichenſpitäler und Verſorgungsplätze „ wo ihnen ihr 
Fortkommen erleichtert wird. Das Faulthier iſt unten am 
Boden ein ſchlechter Fußgänger und müßte, wenn es da feiz 
ner Nahrung nachgehen ſollte, Hunger und Kummer leiden. 
So aber ſind ihm die dichtbelaubten Bäume, auf denen es 
mit ſeinen langen Klauen ganz bequem ſich feſthalten und 
herumklettern kann, zum Invalidenhaus angewieſen, worin 
ihm die Fülle der Blätter, die ihm zur Nahrung dienen, 
reichlich genug in den Mund wächſt. Der Ameiſenbär oder 
Tamandua mag zu ſeiner Koſt weder Baumblätter noch 
Früchte, er bedarf der Inſecten. Aber was ſollte aus ihm 
werden, wenn er jenen behenden Thierlein mit ſeinen unbe— 
holfenen, langklauigen Füßen nachlaufen müßte? Doch auch 
für dieſen Invaliden ſind mitten in der Einöde nicht nur ein⸗ 
zelne, ſondern gar viele Tiſche gedeckt und ſo reichlich mit 
Speiſe beſetzt, daß er nur zulangen darf um ſich mit leichter 
Mühe ſatt zu eſſen. Dieſes ſind die Ameiſenhaufen, die er 
mit ſeinen langen Klauen aufgräbt, dann ſeine klebriche Zunge 
unter das Gewimmel der kleinen, ſtreitluſtigen Thiere hinein⸗ 
ſteckt und wenn dieſelbe nach wenig Augenblicken ganz dick von 
Ameiſen beſetzt iſt, ſie hineinzieht in den Mund und den le⸗ 
bendigen Biſſen, der übrigens darinnen ſogleich zu leben 
aufhört, hinabſchlingt in den Magen. 

Selbſt unter den Vögeln, die doch außer den Füßen auch 
noch ihre Flügel zur Fortbewegung haben, wird, je nach 
Bedürfniß Manchen der Erwerb ihres Unterhaltes auf eine 
recht auffallende Weiſe erleichtert. Wie bequem iſt zum 
Beiſpiel dem Reiher, der viel bedarf und im Vergleich mit 
der Löffelgans nur wenig Geſchick dazu hat, ſein Fiſchfang 


13 


gemacht, wenn ſich, ſobald er in das Waſſer eines Teiches 
hinneintritt, die kleinen Fiſche, für welche die natürlichen 
Ausſonderungen dieſes Vogels eine Lockſpeiſe find, ſchaaren⸗ 
weiſe um ſeine Füße verſammlen, und ſich dem eßluſtigen 
Gaſte von ſelber darbieten. 

Einer eigenthümlichen Begünſtigung genießen auch für 


ihren Lebensunterhalt die bei Nacht oder in der Dämmerung 


auf Nahrung ausgehenden Thiere. Die Fledermaus hat nur 


| wenig Zeit zu ihrer Jagd, denn die Zeit der langen Winter⸗ 


nächte verſchläft ſie und im Sommer, wenn ſie für ſich und 


ihre Jungen das Meiſte bedarf, ſind die Nächte nur kurz. 


* 


Aber ihre nächtliche Jagd iſt dafür auch viel einträglicher als 
die der andren een en Thiere, die am Tage auf 
Beute ausgehen. Denn in den Zeiten der Dämmrung und 
des nächtlichen Dunkels giebt es die fetten, wohlbeleibten 
Braten der großen Dämmrungs- und Nachtſchmetterlinge, ſo 
wie der Maikäfer und andrer ähnlicher Käfer. Die Nacht— 
eule, deren Revier während des Tages von manchem andren 
Raubvogel durchſucht und ausgebeutet iſt, kommt freilich erſt 
dann, wenn die andren Gäſte abgeſpeiſt und ſich nach Hauſe 
begeben haben. Dennoch iſt auch auf dieſen ſpäten Gaſt 
noch Bedacht genommen und ihm, deſſen Blick nicht ſo weit 
wie der des Falken in die Ferne reicht, ſind auf den nach⸗ 
barlichen Feldern und Wieſen die beiten, kräftigſten Biſſen 
in ſolcher Menge aufgeſpart, daß für ihn die kurze Zeit der 
Dämmrung zur Sättigung und Verſorgung ſeiner Jungen 


hinreicht. Denn gerade dann, bei Anbruch der Nacht und 


beim Grauen des Tages, oder bei Mondlicht geht das zar⸗ 


teſte Wildpret der Auen: das Heer der Feldmäuſe aus ſei⸗ 


nem Bau hervor auf die Weide, und wird dem Käuzlein 
zur leichten Beute, während der große Schuhu mit gleichem 


Glück auf die Jagd der wilden Kaninchen und Haſen, ja 
ſelbſt der jungen Rehe ausgehet. 


Es iſt freilich nicht der hörbare Ton einer Glocke, der 


die Gäſte zur beſtimmten Stunde an ihren Tiſch, zur berei⸗ 


teten Mahlzeit rufet, aber der Ruf der alle Thiere dahin 


führt, wo für ihre Sättigung geſorgt iſt, muß ein ungleich 
mächtigerer ſeyn, als jeder unſren Sinnen vernehmbarer, 


denn er dringet weit über Meere und Länder durch alle Re— 


gionen der ob erirdiſchen Schöpfung. Er wird auch von den 
Thieren nicht durch die gewöhnlichen äußerlichen, ſondern 


14 


durch einen andren, innren Sinn vernommen (nach Cap. 7.). 
Denn obgleich der Wandervogel Augen hat, welche weit in 
die Ferne ſchauen, dabei ein ſcharfes Gehör und feinen Ge⸗ 
ruch, können dennoch ſeine geſunden Sinne ihm wenig oder 
nichts helfen, wenn jetzt die Winterkälte herannahet, die von 
ſeiner Heimath Alles hinwegnimmt, was ihm zum Lebensun⸗ 
terhalt nöthig iſt. Wenn er ſich auch auf den Gipfel des 
höchſten Baumes oder des Felſens am Strande ſetzet und 
weit hinausblickt über das Meer, kann er doch das Land 
nicht ſehen, das ihm zum Winteraufenthalt dienen ſoll. Der 
Trieb zum Wandern ergreift auch den Vogel im wohlver⸗ 
wahrten Käfich, wo er von der herbſtlichen Abkühlung der 
Luft und von der Abnahme der Nahrungsmittel nichts zu 
leiden hat, mit ſo unwiderſtehlicher Macht, daß er bei Tag 
wie bei Nacht keine Ruhe hat; der junge Kukuk, der ſeine 
eigentlichen Eltern niemals geſehen hat, fliegt, ſobald er der 
Haft, in welcher ihn der Menſch hielt, entkommen kann, vom 
Wandertrieb geführt, auf geradem Wege gen Süden, in ein 
wärmeres Land. Allerdings geht dieſer Zug zu dem Gaſt⸗ 
mahle, das in der Fremde auf die Wandrer wartet, in un⸗ 
gemein viel weitre Fernen als der Zug der den Mund der 
feſtſitzenden Auſter zu ſeiner Nahrung, und dieſe zu ihm lei⸗ 
tet; aber der Vogel wie die Auſter folgen hier beide blind⸗ 
lings einem Rufe, der kein andrer iſt als jener ſchöpferiſche, 
welcher ſie entſtehen hieß und ins Leben rief. 
Was die verſchiedenen Gerichte betrifft, womit im großen 
Haushalt der Natur die einzelnen Arten der Thiere bewirthet 
werden, fo find dieſe Speiſen ihrer Beſchaffenheit und Zu⸗ 
bereitung nach eben ſo mannichfach als die Gäſte welche ſie 
genießen. Namentlich den Thieren, welche auf dem Lande 
leben, iſt zunächſt und im Allgemeinen das Gewächsreich zu 
ſeiner Erhaltung angewieſen. Denn, wenn es keine Pflanzen 
gäbe, dann würde es gar bald auch jenen Thieren, die ſich 
vorzugsweiſe vom Fleiſch der Pflanzenfreſſer nähren, an Un⸗ 
terhalt fehlen. Die Pflanzen vor Allem ſind es, welche die 
Kräfte und Säfte des Lebens die ſie aus ihrem geheimniß⸗ 
vollen Mahle (nach S. 11.) empfingen, den Lebendigen von 
thieriſcher Natur mittheilen, und nicht nur auf dem Lande, 
auch im Meere hat das Gewächsreich, in der Form der Tang⸗ 
arten oder Seegräſer dieſe Beſtimmung für das Thierreich. 
Die Pflanzen, ſobald ſie nur in dem ihnen ange⸗ 


15 


meffenen Element, im Waſſer oder an der Luft ſeyn können 
und den Grad der Wärme wie des Sonnenlichtes genießen, 
der ihnen zuträglich iſt, finden überall was ihnen zur Erhal— 
tung nöthig iſt. Denn das Waſſer und die andren Grund⸗ 
ſtoffe der Luft und des Bodens, welche den Gewächſen zur 
Nahrung dienen, ſind überall dieſelben, in Norden wie in 
Süden, in Oſten wie in Weſten und es iſt dabei keine weitre 
Zubereitung nöthig als die, welche das Sonnenlicht 
und die Wärme bewirken. Andre Anforderungen an die 
Beſchaffenheit der Nahrungsmittel macht das Thierreich. Faſt 
jede Art deſſelben will die Gerichte, die es genießen ſoll, erſt 
auf eine beſondere Weiſe zubereitet haben, entweder in den 
Gefäßen und in der Küche eines Pflanzenkörpers oder eines 
Thierleibes. Setzte man uns Menſchen oder ſelbſt den Hun⸗ 
den und Schaafen ſtatt des gewohnten Mittagseſſen eine 
Suppe vor, die aus Waſſer und aus den Stoffen die ſich 
im modrigen Erdreich und in der Luft (als Kohlenſtoff und 
Stickſtoff nach Cap. 24.) befinden zuſammengebräut wäre, wir 
alle drei, der Menſch, der Hund und das Schaaf würden 
nicht zulangen mögen und bei der vollen Schüſſel verhungern. 
Wenn aber die nämlichen Stoffe im Körper der Pflanzen 
zu Blättern und Stengeln des Graſes und Klees, zum 
mehligen Knollen des Kartoffels, zu Körnern des Waizens 
oder zur ſonſtigen Frucht des Weinſtockes und Obſtbaumes 
ausgekocht, oder wenn ſie im noch weiteren Fortgang der 
Verfeinerung im Magen, etwa des Rindes zum Blut und 
Fleiſch, zu Milch und Käße geworden ſind, dann finden ſich 
Schaaf wie Hund und Menſch zufrieden geſtellt. 

Viele Arten, namentlich der unvollkommneren Thiere, 
begehren immer nur ein und daſſelbe Gericht, wie etwa die 
Blätter und Früchte dieſer oder jener Pflanzenart und nur 
nothgedrungen ſuchen ſie ihre Sättigung an einem andren 
Gewächs, in welchem ähnliche Säfte bereitet werden als in 
ihrem Lieblingsgericht ſich finden. Andre Thierarten ſind 
hierin von vornehmerem Geſchmack, ſie lieben und ſuchen die 
Abwechslung mehrerer Gerichte, nehmen ihr Futter aus den 
verſchiedenſten Familien der Kräuter die auf Wieſen und 
Feldern wachſen, und der Menſch verlangt neben den vieler— 

ei Gemüſen, Körnern und ſaftigen Früchten, die ihm zur 
Erquickung dienen, öfters auch noch eine Zuthat von thieri⸗ 
ſcher Ratur: Fleiſch wie Milch und Eier, 


16 


Bei der Befriedigung ſolcher mannichfachen Gelüſte kann 
es ſich freilich der Menſch ſehr leicht machen, er benutzt nicht 
nur andre Menſchenhände dazu daß ſie für ihn ſammlen, 
kochen und backen, und der gebildete Europäer empfängt aus 
allen Weltgegenden ſolche Gaben der fremden Hände, ſondern 
auch die Thiere müſſen dem Menſchen das herbeiſchaffen hel⸗ 
fen, was er für Küche und Vorrathskammer begehrt. Für 
ihn jagt der Falke in den Lüften, der Cormoran, dem da⸗ 
bei ein metallener Ring um den Hals gelegt wird, damit er 
die Beute nicht ſelbſt verſchlinge, fängt für ihn Fiſche, der 
Hund treibt ihm die Beute des Wildprets herbei und ſucht 
ihm die im Boden verſteckten Trüffeln, die Biene muß ihm 
einen Theil ihres Honigvorrathes, der kleine vierfüßige Korn⸗ 
wucherer, der hartherzige Hamſter ſeinen Fruchtſpeicher abge⸗ 
ben. Aber nicht nur der Menſch, auch das Thier macht ſich 
hin und wieder ſein Leben dadurch bequem, daß es andre 
Thiere für ſich kochen oder doch arbeiten und ſammlen läßet. 
Die Heerden der Blattläuſe ſitzen an der zarten Rinde, an 
den Blättern und Blüthenhüllen mancher Pflanzen wie auf 
einer grünen Waide, und ſaugen fo emfig, daß ihr zarter Kör— 
per, gleich dem Euter der Milchkühe auf einer Frühlingswieſe 
von Säften anſchwillt. Dieſe Ueberfülle kommt dann den Amei⸗ 
fen bei der Ernährung ihrer Brut wohl zu ſtatten, dieſe berüh— 
ren leiſe mit ihren Mundtaſtern die beiden Röhrchen, welche am 
Rückenende der Blattläuſe ſitzen und alsbald ergießt ſich die näh— 
rende Flüßigkeit in den Mund der Sammlerinnen und wird 
von dieſen den hungernden Pflegekindern überbracht. Es giebt 
ſogar unter den Ameiſen ſolche, welche wie der Menſch, 
Ameiſen von andrer Art (gleichſam von andrem Stand) in 
ihre Dienſte nehmen, dieſe für ſich arbeiten, bauen, ſamm⸗ 
len laßen und ihnen ſelbſt die Pflege ihrer Jungen übertra⸗ 
gen. Nimmt doch der ſüdafrikaniſche Honigkukuk ſogar den 
Menſchen zu Hilfe um ſich durch dieſen die verſchloſſenen 
Schatzkammern der wilden Bienenſchwärme eröffnen zu laſſen. 
Auch unter den Vögeln, die ſich vom Fleiſch der Fiſche näh⸗ 
ren, giebt es ſolche, welche ſich mit dem Fange ſelber nur 
wenig abgeben, ſondern dieſes Geſchäft andren Waſſervögeln 
überlaſſen, denen fie die gewonnene Beute, ſelbſt wenn dieſe 
ſchon in den Kropf eingebracht war, gewaltfam wieder ab- 
zwingen. re ee 
Solche Ausnahmen, bei denen das eine Thier ſich den 

9 Ueberfluß 


1 


Ueberfluß oder die Kräfte des andren zu Nutze macht um 
ſich ſeine Koſt zu verſchaffen, bringen übrigens keine Störung 
in jener wundervollen Ordnung hervor, welche in der großen, 
ſchönen Pflegeanſtalt der Natur herrſchet. Da iſt jedem der 
Gäſte ſein beſondrer Tiſch wie ſeine beſondre Eſſenszeit be— 
ftimmt; während die langhalſige Giraffe ihr reichliges Futter 
in der Höhe, an den Blättern und Zweigen der Akazienbäu— 
me findet, nährt ſich die zarte, flüchtige Gazelle von den 
Kräutern welche nebenan, unten am Boden wachſen. Für 
dieſe grünen die ſaftigen Blätter der hochwüchſigen Bäume 
vergebens, ſie kann ſie nicht erreichen, für die Giraffe dage— 
gen wäre das Niederbücken zum Graswuchs des Bodens eine 
faſt unerträgliche Laſt, während ihrem hochgeſtellten Kopfe, 
der bis in das Laubdach der Bäume hineinragt auch noch 
die lange Zunge zu Hülfe kommt, mit welcher das Thier, 
wie mit einer ausgeſtreckten Hand, die höheren Zweige zum 
Munde herabzieht. Wie ungeſtört von andren Gäſten nimmt 
der Schneeammer, der uns zuweilen im Winter beſucht, ſeine 
Mahlzeit zu ſich, wenn er dem Rufe ſeines Triebes folgend, 
im Sommer hinwegzieht zu den Meeresklippen der fernen 
Polargegend, auf denen in der Zeit des dortigen kurzen 
Sommers ein Hirſegras grunet, blühet und feine Körner zur 
Reife bringt, für welches die Schaaren der Schneeammer faſt 
die einzigen Abnehmer ihrer Klaſſe ſind. Wenn den 
Kreuzſchnabel, nicht etwa, wie man für manche Wandervögel 
dies annahm, der warme ihm entgegenkommende Lufthauch, 
oder ein Duft der auf ſeinen Geruchsſinn einwirkt, ſondern 
ein in der Tiefe ſeines eignen Weſens ſich regender Trieb 
mitten im Winter von ferne her in die heimathlichen Fich— 
tenwälder führt, wo jetzt die Saamen, noch verſchloſſen in 
den Schuppen der Tannen- oder Fichtenzapfen zur Reife 
kamen, dann iſt er auch, in ſolcher Jahreszeit, faſt der ein— 
zige Koſtgänger an ſeiner Tafel. 

Gäbe es nur neben ſolchen harmloſen Gäſten, denen 
die Ueberfülle des Pflanzenreiches zu ihrem Unterhalt ange— 
wieſen ift, keine Raubmörder, welche nicht etwa nur zu der— 
ſelben Schüſſel ſich herzudrängen und dem Gaſte einen Theil 
ſeiner Mahlzeit, ſondern welche ihm ſeine Eier, ſeine Jun— 
gen, ja das Leben ſelber nehmen. Dem Schneeammer und 
ſeiner Brut ſtellt in der Nähe des Polareiſes der nordiſche 
Falke, dem Kreutzſchnabel der Marder, der Giraffe der Löwe 

2 


18 


nach; allenthalben geht von den fleiſchfreſſenden Thieren Krieg 
und Kriegsgeſchrei aus. Und dennoch gehört auch dieſes zur 

Ordnung des großes Haushaltes. Denn abgeſehen davon, 
daß ein großer Theil der Lebendigen, welche an der Tafel 
des thieriſchen Fleiſches zu Gaſte gehen, nur das Abgeſtor— 
bene, das Todte und Verweſende zu ihrer Nahrung wählen, 
müſſen die Familien der Raubthiere die Stelle der Dämme 
und Schutzmauren gegen jenen andern Theil der Thierwelt 
vertreten, in welchem eine Ueberfülle des Wachsthums und 
der Fruchtbarkeit waltet. Eben ſo wie die Dämme das 
Ueberfluthen der Ströme und Meereswogen über das niedere 
Land verhüten, find auch die Raubthiere den Auen und Fel- 
dern ſo wie der ganzen oberirdiſchen Natur als Schutz- und 
Grenzwächter aufgeſtellt. Das einſeitige Anwachſen, hier der 
einen, dort der andren Art der Formen und Geſtalten, wird 
dadurch in rechtem Maaß gehalten, daß immer zur rechten 
Zeit und am rechten Orte ein verzehrendes Thier ſich einfinz 
det, welches wie das Käuzlein und ſeine an demſelben Tiſch 
zu Gaſte gehenden Gehülfen der übermäßigen Vermehrung 
der Feldmäuſe ihre Gränzen ſetzt. 

Bei einem Tempelbau, welchen die Menſchen begründen 
und aufführen, werden die Stein- oder - Holzmaſſen, die zu 
Werkſtücken beſtimmt ſind, von Menſchenhand behauen und 
jedem einzelnen wird dabei die feſt abgegränzte Form gege— 
ben, in welcher es an die andren Theile des Baues ange— 
paßt und angefügt werden ſoll. Das eine Werkſtück wird 
von dieſem Ort des Felſens oder Waldes, das andre von 
jenem Ort genommen, das eine hier, das andre dort bear— 
beitet und zugehauen, und wenn die rechte Zeit kommt, wers 
den beide durch menſchliche Kraft auf den gemeinſamen Bau— 
platz zu einander hingeführt und durch menſchliche Kunſt zu— 
ſammengefügt. Ganz anders iſt dieſes bei dem großen, heh— 
ren Tempelbau der ſichtbaren Schöpfung, der in ſeiner be— 
ſtändigen Wiedererneuerung ohne Aufhören es bezeugt, daß 
der Meiſter des Baues, der dieſen im Anfang der Weltzeit 
begründete, noch lebe, und inmitten Seines Werkes thätig 
ſey. In dieſem großen Baue behauen und bemeſſen die 
Werkſtücke ſich ſelber, indem der Eſſer der Ueberfülle deſſen, 
was er verzehrt, feine Gränzen ſetzt; fie ſelber erheben ſich 
von ihrem Ort und fügen ſich nach weislich beſtimmtem Plane 
zuſammen, weil das, was an dem todten Stein als Zug 


19 


der Schwere fich kund giebt an ihnen ein Zug des einzelnen 
Lebens zum Geſammtleben der Natur geworden iſt. Denn 
der Stein, ſobald er von ſeinem Ruhepunkt hinweggehoben 
worden, fällt oder rollt ſo lange hinab bis er die Ruhe, in 
ſeinem Zuſammenſeyn mit dem Erdganzen wieder gefunden 
hat; ſo geht auch das Bewegen der Lebendigen unaufhaltſam 
dahin, daß jedes Einzelne die Stellung finden möge, welche 
ihm in der Mitte der Schöpfung zu feiner Ernährung und 
Erhaltung angewieſen iſt. Namentlich ſelbſt bei den Aeuße— 
rungen des Triebes, der das Thier zu der bereiteten Speiſe 
immer zur rechten Zeit und am rechten Ort hinführt, mögen 
wir erkennen was der Quell der Luſt und der Freude des 
Lebens ſey. Es iſt als ob jedes lebendige Weſen, in dem 
Augenblick da es ſo zu ſeinem Ziele geführt wird die Nähe 
ſeines Schöpfers empfände, der ſeine milde Hand aufthut 
7 ſättiget Alles was da lebet, mit Strömen voll Wohlge— 
allen. 

Wenn wir dieſe ſo wie alle andren Züge von der weis— 
lichen Zuſammenfügung des großen Baues der ſichtbaren 
Welt der Lebendigen recht bedenken, dann ſtellt ſich uns der 
Mangel, an welchem nach Cap.! jedes einzelne Leben leidet, 
noch in einem andren Lichte dar. Allen Einzelnen fehlt 
Etwas, aber es bekommt ihnen gut, daß ihnen etwas fehlt, 
denn der Mangel, das Bedürfniß daran ſie leiden, bewegt 
ſie, als ein Zug der kräftigen Hinneigung zu der Hand hin, 
die mit ihrem allmächtigen Walten Alles umfaßet und zu— 
ſammenhält; bringt ſie, ein Jedes nach ſeinem Maaße, in 
eine Art von Umgang ihres Weſens mit der Kraft und Liebe 
des Schöpfers ſelber. In einer freilich nur vorbildlichen 
Weiſe giebt ſich hierbei ſelbſt an den thieriſchen Seelen etwas 
Aehnliches kund als für den Geiſt des Menſchen in dem 
Sprichwort ausgedrückt iſt: »Die Noth lehrt beten, » 


6. Das Heimweh. 


Wenn der Stein oder irgend ein anderer todter Körper 
von dem Orte, da er ruhete, hinweggetragen, und dann an 
einem anderen, vielleicht weit entfernten Orte in Bewegung 
geſetzt wird, da beharrt er in dieſer Bewegung ſo lange bis 
er wieder einen Halt- und Ruhepunkt gefunden hat. Für 
den Zug der Schwere bleibt es übrigens gleichgültig ob 

2 


20 


der Ruhepunkt nahe oder fern von dem Felſen ift, aus wel: 
chem der Stein gebrochen war, ober am Grund eines Sees, 
ob er auf der ihn anfaßenden Menſchenhand, oder unmittel- 
bar an der feſten Oberfläche der Erde ſich finde; der Stein 
wird niemals durch eigne Kraft zurückkehren zu dem Ort 
daher er kam. | 

Etwas ganz andres iſt es bei jenen lebendigen Weſen, 
welche durch inwohnenden Trieb und durch eigne Kraft hin— 
weggehoben werden von dem Orte da ſie entſtanden ſind und 
fortgeführt in weite Fernen. Der Lachs wird weit von den 
Mündungen der großen Ströme und von der Meeresküſte in 
dem friſchen Süßwaſſer der Bäche und Flüße, in der Nähe 
ihrer Quellen geboren. Dort findet er, wenn er aus dem Ei 
hervorgeht, für die erſte Zeit ſeines Lebens das zuträglichſte 
Element und die paſſendſte Nahrung. Sobald er etwas grö— 
ßer wird und erſtarkt, verläßt er dieſen Geburtsort, ſchwimmt 
ſtromabwärts und geht an der Seeküſte ſo wie tiefer im 
Meere ſeinem räuberiſchen Gewerbe — dem Fange der an— 
dern Waſſerthiere nach. Wenn ſich aber die Zeit nahet wo 
er gebären ſoll, da läßt ihm der Zug zur Heimath, mitten 
in der Fülle der Nahrung, die ihn umgiebt, keine Ruhe 
mehr; die eierlegenden Weibchen, in Begleitung der Männ⸗ 
chen, ſchwimmen ſchaarenweiſe in den Strömen und ihren 
Nebenflüſſen hinauf, um an dem Orte wo ſie ſelber aus dem 
Ei hervorgingen auch ihre Brut ins Leben einzuführen. Wenn 
man ein Weibchen an der Stelle da es laichte fängt, und 
ihm ein Zeichen an eine ſeiner Floſſen macht, kann man 
ſich davon überzeugen, daß der Wandertrieb es alljährlich 
wieder zu derſelben Stätte führt, und wenn man die Eier, 
welche daſſelbe abgeſetzt hat, aus dem Waſſer herausnimmt 
und ſie in einem Gefäß voll Waſſer an einen andren Ort, 
in einen ganz andren Fluß bringt, in welchem man vorher 
noch keine Lachſe bemerkt hatte, dann iſt hiermit der Grund 
gelegt zu einer allmäligen Bevölkerung des neuen Standor— 
tes, mit Lachſen. Denn obgleich die Fiſche, bei zunehmen 
dem Wachsthum, ihren Geburtsort verlaſſen und in weiter 
Entfernung davon ihren gewöhnlichen Aufenthalt nehmen, 
kehren ſie dennoch, wenn ſie zum Gebären eines neuen, jun⸗ 
gen Geſchlechtes ihrer Art reif ſind, alljährlich dahin zurück, 
wo ſie ſelber jung geworden. Und ſo weiß man es von 
allen Fiſchen, welche zur Zeit des Laichens eine gewiſſe Ge⸗ 


21 


end am Ufer auffuchen, daß ſie alljährlich zu demſelben 
Orte — der Stätte ihrer eigenen Geburt — zurückkehren. 
In ſolchen Fällen ſcheint allerdings der Trieb des Wanderns 
nach der Heimath einen Anhaltspunkt und leitenden Faden 
in der Erinnerung der thieriſchen Seele zu haben, denn der 
ältere Lachs kehret auf demſelben Wege nach der Heimath 


zurück auf welchem er aus dieſer hinwegzog. Aber auch ohne 


ſolch einen leitenden Faden kommt der Zug, der die beiden 
Enden der Richtung des Lebens verknüpfet und den Auslauf 
in die Weite wieder zu ſeinen Anfangspunkt zurückführt, zum 
beſtimmten Ziele. Eine Seeſchildkröte war bei der Inſel As⸗ 
cenſion gefangen und zu Schiffe gebracht worden; man hatte 
ſie an ihrem Bruſtſchild durch eingebrannte Buchſtaben und 
Ziffern bezeichnet. Sie ſollte mit nach Europa geführt werden. 
Da ſie aber auf der Fahrt krank wurde und zuletzt dem Tode 
nahe ſchien, warf man ſie im brittiſchen Kanal ins Waſſer. 
Zwei Jahre darauf wurde dieſelbe Schildkröte, jetzt bei fri— 
ſcher Geſundheit, in der Nähe derſelben Inſel Ascenſion wie: 
der gefangen. Sie hatte, geführt vom Zuge des NHeiwehes, 
durch das Gewäſſer hindurch einen Weg von mehr denn 800 
Meilen gemacht. Ueber zum Theil eben ſo große oder nicht 
viel geringere Räume dehnt ſich der Reiſeweg der Wander— 
vögel aus, und dennoch kehren ſie alle, zur Zeit der Paarung, 
in die Gegend zurück wo ſie ſelber geboren wurden und legen 
in der Nähe des Neſtes, in welchem ſie ſelber aus dem Ei 
kamen, das Neſt für ihre Jungen an. 

Nicht blos aus ganz andren Ländern und Himmelsſtri— 
chen ſondern auch aus ganz verſchiedenen Elementen kehrt der 
weit auslaufende Kreis des thieriſchen Lebens wieder zu ſei— 
nem Anfangspunkte zurück. Die Libelle wie die Singmücke 
ſind im Waſſer aus dem mütterlichen Ei hervorgegangen 
und haben die erſte Zeit ihres Lebens im Waſſer zugebracht. 
Später ſind ſie zu Bewohnern der Luft geworden und haben 


die Luſt und Freiheit des geflügelten Zuſtandes genoſſen. 
Dennoch kehret die Mutter, wenn ſie ihre Eier legen muß, 


ans Waſſer, ſo wie das Weibchen des Maikäfers vom Wi— 
pfel der hohen Eiche zu dem Boden des Feldes zurück, worin 
es ſelber jung geweſen, und auch der Laubfroſch verläßt ſein 
grünendes Haus um ſeine Brut an der Stätte da er ſelber 
ans Licht trat — ins Waſſer zu bringen. Umgekehrt wagt 
ſich die unbeholfene Seeſchildkröte, in der Zeit des Gebärens 


22 


heraus aufs Land, um ihre Eier in das ſonnich-warme 
Sandbette zu legen, in welchem ſie ſelber geboren worden. 
Der Schmetterling, der in ſeinen ſchönen Tagen von Blume 
zu Blume ſchwebte und ihren Honig ſaugte, ſucht dennoch, 
wenn ſeine Zeit kommt, die unſcheinbare Neſſel auf, um 
ſeine Eier an die Blätter zu legen, aus denen er ſelber ſeine 
erſte Nahrung empfieng. 

In etwas veränderter Form tritt der Zug, der die Le— 
bendigen an einen gewiſſen Wohnort kettet, bei jenen Säug⸗ 
thieren auf, welche der Menſch in ſeine Zucht und Pflege 
genommen hat. Auch bei dieſen iſt es zwar öfters die Ger 
wöhnung an einen beſtimmten Weideplatz oder Stall welche 
ſie aus weiter Ferne wieder herbeizieht, oder welche die Kühe, 
wenn ſie von dem ſchönen Sommeraufenthalt auf den Alpen 
in die Nähe des heimathlichen Dorfes kommen, freudig blök— 
ken und ſpringen machet. Auch mag die Gewöhnung an die 
Geſellſchaft ihrer eigenen thieriſchen Genoſſen dabei zuweilen 
ſo mächtig wirken, daß jene Ziege, welche der menſchlichen 
Obhut entlaufen, einige Jahre das freie Leben der Gemſen 
genoſſen hatte, dem Zuge zur alten Geſellſchaft und dem ge— 
wohnten Stalle nicht widerſtehen konnte, als einſt die Heerde 
ihrer vorigen Gefährtinnen, mit dem Geläute der Halsglöck— 
chen an ihr vorüberzog. Dennoch giebt ſich in vielen andren 
Fällen an dem vollkommenen Säugthier ein tieferer Grund 
des Heimwehs zu erkennen. Es iſt nicht allein die Krippe, 
es iſt die Krippe ſeines Herrn nach deren Nähe das edle 
Roß ein Verlangen trägt und der treue Hund eilt, der Ge— 
fangenſchaft entkommen, viele Tagmärſche weit, nicht zur 
Wohnung ſeines Herrn ſondern zu dieſem ſelber zurück, an 
deſſen Perſon er durch liebende Dankbarkeit gebunden iſt. 
So mag bei allen Lebendigen das Weſen jenes Zuges, der 
ſie zu dem Wohnort der Eltern oder zu der Stätte da ihr 
Leben auch ohne Vermittlung der Eltern ſeine erſte Pflege 
empfieng, zurückführt, mit den Regungen verwandt ſeyn, 
die ſich in der Seele des Menſchen zur Dankbarkeit und 
Liebe geſtalten. 


Er ſelber, der Menſch, kann auch in manchen Fällen | 


einem Heimweh nach dem äußerlichen Ort der Geburt, nach 
dem Aufenthalt feiner erſten Kinderjahre unterliegen. Den⸗ 
noch iſt er von dieſem Zuge, der ihn an die leibliche Hei⸗ 
math kettet, ungleich weniger gebunden als alle Lebendige 


23 


feiner Sichtbarkeit. Vielmehr ziehet er, feiner leiblichen Nei- 
gung nach, gleich der Wandertaube, jenen Orten des Verwei— 
lens zu, wo für ſeinen Lebensunterhalt und Nothdurft am 
Reichlichſten und Beſten geſorgt iſt. Seinem innren geiſti— 
gen Weſen aber wird es nur da heimathlich wohl zu Muthe, 
wo Die ſind, welche er liebt. Darum empfand Jacob de 
Vries mitten in dem irdiſchen Paradies der Capkolonie ein 
beſtändiges Heimweh nach dem armen, kalten Grönland, weil 
er dort eine Liebe der Menſchenherzen erfahren hatte, die 
ihm werther und köſtlicher war als aller Duft der Blumen 
und Wohlgeſchmack der Früchte eines ſchönen, warmen Lan- 
des. Am meiſten zuletzt bei dem Menſchen, deſſen rechte 
Heimath und geiſtige Geburtsſtätte nicht in der Welt des 
Sichtbaren iſt, giebt es ſich kund, daß der Zug nach der 
Heimath bei allen Lebendigen einer Hinneigung der bewußt— 
loſen oder bewußten Dankbarkeit zu dem Urſprung und Quell 
des Lebens und all ſeiner Freuden ſey. In das leiblich 
krankmachende Heimweh, das den Auswandrer aus dem armen 
Lappland eben ſo wie den Schweitzer mitten in dem geräuſch— 
vollen Paris befällt, miſcht ſich, mit dem Verlangen nach 
der hehren Stille, deren Frieden das Kind empfand, unver— 
merkt die Erinnerung an die erſte Liebe, die der Menſch bei 
ſeinem Eintritt ins Leben, im Arme der Mutter genoß. 
War er auch arm, der Eltern Herd; 
Er bleibt uns doch vor Allem werth. 


7. Der Inſtinct. ER 
Das Wort Inſtinct, Antrieb, wurde vor Alters vor— 
zugsweiſe dann gebraucht, wenn man jene Anregung der 
Menſchenſeele zu irgend einer Handlung bezeichnen wollte, 
welche nicht aus Ueberlegung und vorbedachtem Rathe, ſon— 
dern wie aus einer höheren Eingebung hervorgeht, daher die 
Alten in ſolchem Falle nicht von einem Antriebe ſchlechthin, 
ſondern von einem göttlichen Antriebe (instinctus divinus) 
ſprachen. | 
Ein Bekannter der berühmten franzöſiſchen Schriftſtelle— 
rin, der Madame Beaumont, wollte mit einer Geſellſchaft 
von Freunden eine Luſtfahrt auf dem Fluße machen. Als 
jetzt Alles bereit iſt und er ſo eben mit den Andren ins 
Fahrzeug hineinſteigen will, da kommt ſeine taubſtumme 


24 


Schweſterin ängſtlicher Eile herbei, ſie ſucht ihn am Arm 
und am Gewand feſtzuhalten, und da ihn dies nicht zum 
Bleiben bewegen kann, wirft ſie ſich ihm zu Füßen, umfaßt 
ſeine Kniee und giebt durch die flehentlichſten Geberden die 
Bitte zu erkennen, daß er von der Waſſerfahrt zurückbleiben 
möge. Der Ausdruck des ſchmerzlichen Sehnens in den Mie— 
nen und Geberden der Taubſtummen hat für mehrere Perſo— 
nen in der Geſellſchaft etwas Rührendes; ſie bitten den Bru⸗ 
der er ſolle dem Wunſche ſeiner ohnehin bemitleidenswerthen 
Schweſter nachgeben und von der Waſſerfahrt abſtehen. Er 
gehorcht zu ſeinem Glücke, denn das Boot ſchlug auf dem 
Wege um und Mehrere der darin Fahrenden ertranken; ein 
Loos das auch ihn, der nicht ſchwimmen konnte, würde be— 
troffen haben, wenn nicht die taubſtumme Schweſter wie durch 
einen göttlichen Antrieb ihn gewarnt hätte. 

Jenes dreijährige Kind, das bei der Belagerung von 
Wien durch die Türken im Jahr 1683 eine Bombe mit Erde 
auslöſchte, die an einem Orte, wo ſie hätte viel Schaden 
thun können, in die Stadt gefallen war, handelte auch aus 
1 ſolchen göttlichen Antrieb, zum Heil für Viele. 

Ein reicher Gutsbeſitzer fühlte ſich einſtmals, als es 
ſchon ziemlich ſpät in der Nacht war, gedrungen, einer armen 
Familie in ſeiner Nachbarſchaft allerhand Lebensmittel zu ſen⸗ 
den. Warum gerade heute noch, fragten ſeine Leute, ſollte 
das nicht bis morgen am Tage Zeit haben? — Nein, ſagte 
der Herr, es muß noch heute geſchehen. Der Mann wußte 
nicht, wie dringend nothwendig ſeine Wohlthat für die Be— 
wohner der armen Hütte war. Dort war der Hausvater, 
der Verſorger und Ernährer, plötzlich krank geworden, die 
Mutter war gebrechlich, die Kinder weinten ſchon ſeit geftern 
vergeblich nach Brod und das Kleinſte war dem Erhungern 
nahe, jetzt ward auf einmal die Noth geſtillt. So wurde 
auch ein andrer Herr, der, wenn ich nicht irre, in Schleſien 
wohnte, in ſeiner nächtlichen Ruhe durch den unwiderſtehli— 
chen Antrieb geſtört, hinunter in den Garten zu gehen. Er 
erhebt ſich vom Lager, geht hinunter, der innre Drang führt 
ihn hinaus, durch die Hinterthür des Gartens auf das Feld, 
und hier kommt er gerade zur rechten Zeit um der Rette 
eines Bergmannes zu werden, der beim Herausſteigen 


der Fahrt (Leiter) ausgeglitten war und im , 


ſic an dem Kübel mit Steinkohlen feſtgehalten hatte, den 


— 4 


25 


fein Sohn fo eben an der Winde heraufzog, jetzt aber die 
vergrößerte Laſt nicht mehr allein bewältigen konnte. Ein 
ehrwürdiger Geiſtlicher in England fühlte ſich auch einſtmals, 
noch bei ſpäter Nacht gedrungen, einen an Schwermuth lei⸗ 
denden Freund zu beſuchen, der in ziemlicher Entfernung 
von ihm wohnte. So müde er auch iſt, von den Arbeiten 
und Anſtrengungen des Tages, kann er doch dem Drange 
nicht widerſtehen; er macht ſich auf den Weg, kommt in der 
That wie gerufen zu ſeinem armen Freunde, denn dieſer ſtund 
ſo eben im Begriff ſeinem Leben durch eigne Hand ein Ende 
zu machen, und wurde durch den Beſuch und das tröſtliche Zu⸗ 
reden ſeines nächtlichen Gaſtes auf immer aus diefer Gefahr 
gerettet. 

Solcher Fälle ließen ſich noch viele erzählen, in denen 
ein Menſch durch einen ihm plötzlich kommenden Antrieb zu 
einem Helfer für einen andren Menſchen, oder wie Arnold 
von Winkelried, als er in der Schlacht bei Sempach mit 
heldenmüthigem⸗ Entſchluß die feindlichen Spieße erfaßte, ſie 
mit ſeinem durchbohrten Leibe zu Boden drückte, und ſo die 
feſte Reihe der Feinde brach, zu einem Retter ſeines Vater— 
landes wurde. Aber nicht immer betrifft der wohlthätige 
Antrieb das Wohl und die Rettung eines fremden Lebens, 
ſondern eben ſo oft und vielleicht noch öfter die des eigenen. 
So fühlte ſich Profeſſor Böhmer in Marburg, einſtmals, 
da er in traulicher Geſellſchaft war, innerlich gedrungen nach 
Hauſe zu gehen und hier ſein Bett von dem Ort an dem es 
ſtund hinweg, an einen andren zu rücken. Als dieſes ge⸗ 
ſchehen war ließ die innre Unruhe nach, er konnte zur Ges 
ſellſchaft zurückkehren. Aber in der Nacht, als er an der 
nun für ſein Bett gewählten Stelle ſchlief, ſtürzte die Decke 
über dem Theil des Zimmers ein, wo früher feine Lager— 


ſtätte war, und ohne jene Vorkehrung, zu der ein innrer 


Trieb ihn geführt hatte, würde er zerſchmettert worden ſeyn. 
Wie ſich in großer Noth und Lebensgefahr, in welche 


der Menſch geräth, ſo oft ein Zug nach dem Ergreifen eines 


Hülfsmittels in ihm regt, das ſich in der Folge gerade als 


das beſte, zweckmäßigſte bewährt, das haben Viele an ſich 
erfahren und wir werden ſpäter mehrere ſolche Fälle erwäh⸗ 


nen. Und fo kommen auch an der menſchlichen Natur Er⸗ 


9 


ſcheinungen vor, welche ganz ähnlich jenen Regungen und 
Bewegungen des Inſtinctes find, die das Thier bei der 


* 


26 


Wahl der Mittel leiten, welche zur Erhaltung und Rettung 
ſeines eigenen Lebens, zur Verſorgung ſeiner Jungen und 
zum Wohl des großen Ganzen der ſichtbaren Welt dienen, 


deren Theil das einzelne Thier iſt. — 


Das Thier kann ohnehin nicht, wie der Menſch, durch 
vernünftige Ueberlegung bei ſeinem Handeln geleitet werden, 
eben ſo wenig aber durch Erfahrung, weil es die Rolle, die 


f der Inſtinct ihm auferlegt, ſogleich, von ſeinem Eintritt in 
die Welt an mit vollkommner Fertigkeit ſpielt. Ein Hühn⸗ 


chen das nicht von der Mutter, ſondern von der Lampen⸗ 


wärme eines kleinen künſtlichen Brutofens ausgebrütet war, 
erblickte als es ſo eben ſich aus der Schaale des Eies heraus— 
gearbeitet hatte, eine Spinne, ſprang ſogleich zu ihr hin und 
ergriff dieſelbe fo geſchickt als ob es ſchon lang im Inſecten— 
fang geübt wäre. Wenn die Jungen der Seeſchildkröte in 
dem Bette des Sandes, das ihre Geburtsſtätte war, aus 
dem Ei gekrochen ſind, dann eilen ſie ſogleich, in gerader 
Richtung auf das Meer zu. Man mag ſie während dieſes 
Laufes drehen und wenden wie man will, kann ſie hinter 
Mauern oder Sandhügel verſtecken die ihnen den geraden Weg 


abſchneiden, immer wenden ſie ſich wieder der Richtung nach 


dem Meere zu. Umgekehrt gehen die Jungen der Landkrabbe 
die ſich im Waſſer aus dem Ei entwickelt haben, bald nach 
ihrer Geburt heraus ans Land und ſuchen hier ſich eine Um— 
gebung auf, die für ihren Lebensunterhalt die angemeſſenſte 
iſt. Kaum iſt die Ameiſe aus ihrer Puppenhülle (dem ſoge— 
nannten Ameiſenei) gekrochen, da geht ſie auch ungeſäumt, 


wenn ſie vom Geſchlecht der Arbeiterinnen iſt, mit ihren 


älteren Genoſſinnen auf das Geſchäft des Sammlens und 
Eintragens von Nahrungsſtoffen für die hülfloſen, kleinen 
Larven ihrer Gemeinde aus, und hilft emſig am Bauen der 
Wohnung, wie beim Hin- und Hertragen der Puppen und 
der eigentlichen Eier. Und es iſt nicht etwa nur die Nachah— 
mung der fremden Geſchäftsthätigkeit, welche dem Neuling 
auf die Bahn ſeiner natürlichen Beſtimmung führt, denn 
wenn die eben ans Licht getretne Ameiſe nicht vom Geſchlecht 
der Arbeiterinnen, ſondern von dem der Männchen oder der 
vollkommneren Weibchen iſt, dann läßt ſie ſich von dem Ge— 
ſchäſtsdrange der Andren nicht mit fortreißen, fie gehet ungez 
hemmt den Weg ihres eigenen Berufes, mitten durch die 


Schaaren der andren hindurch, hinaus ins Freie, wo ſie 


27 


ſich mit den zarten Flügeln, welche den Männchen und voll 
kommnen Weibchen verliehen ſind, zum Schwärmen, in die 
Luft erhebt. 

Daß es überhaupt nicht die Nachahmung der inſtinctmä⸗ 
ßigen Handlungen der andren Thiere ſeiner Art ſey, welche 
das einzelne Thier zu den eigenen Handlungen dieſer Art 
antreiben, zeigt ſich bei jeder Gelegenheit. Nachtigallen und 
Amſeln, die man ganz jung aus dem Neſte nahm und fern 
von ihres Gleichen im Zimmer erzog, bauen, wenn man im 
Frühling ein Pärchen von ihnen hinausläßt ins Freie eben 

ſolche Neſter für ihre Jungen als die andren Vögel ihrer 
Art. Ein Biber der ſeinen Eltern geraubt worden als er 
noch blind war und welchen ein Weib um ihn am Leben zu 
erhalten an ihren Brü ſten geſäugt hatte, bis er zum Genie— 
ßen der gewöhnlichen Nahrungsmittel fähig geworden, ſchich— 
tete die zerſtückten Zweige, deren Rinde er geſreſſen hatte, 
in einem Winkel ſeines Käfichs über einander, und als man 
ihm Erde gab, formte er dieſe mit den Vorderfüßen in kleine 
Ballen, legte dieſe über einander, drückte ſie mit der Schnautze 
feſt und fügte ein Stück Holz in dieſelben hinein. An ihm 
außerte ſich mithin, ab gin von jedem, Nachahmung wek— 
kenden, fremden Einfluß, derſelbe Kunſttrieb des Bauens, 
den wir an andren Bibern beobachten. 

Es iſt der eingeborne Inſtinct, welcher den Thieren, 
auch wenn man ſie in ein ganz andres Klima, in eine ihm 
ganz neue Pflanzen- und Thierwelt verſetzt, es kund giebt 
was der Erhaltung ihres Lebens förderlich ſey oder derſelben 
gefährlich werden könne. Pferde, die man aus Europa nach 
dem ſüdlichen Afrika gebracht hatte, und die noch niemals in 
die Nähe eines lebenden Löwen gekommen waren, zitterten 
dennoch vor Angſt an allen Gliedern, als ſie zum erſten 
Salben. das Brüllen des Löwen in ihrer Nähe vernahmen. 

welche in der Gefangenſchaft der Menſchen gebo— 

en a ren und erwachſen ſind und noch niemals eine giftige Viper 
ſahen, greifen dieſe mit großer Vorſicht an, indem ſie vor 
allem ihr den Kopf zu zermalmen ſuchen, während ſie ſchon 
öfters über ungiftige Schlangen und Blindſchleichen, die ſie, 
ohne einen Augenblick zu zögern, bei jedem Theil des Kör— 
pers anfaßten, den leichten Sieg errungen hatten. Ueber- 
haupt weiß jedes Thier, im Kampf mit einem andren, als— 
hald die ſchwächſte, am leichteſten verwundbare Seite oder 


28 


jenen Theil deffelben zu finden, der ihm am meiſten zu ſcha— 
den vermag, ſo wie umgekehrt jene Stelle des eignen Leibes 
am meiſten zu ſchützen und zu verbergen, welche die verletz— 
barſte iſt. So ſpringt der Tiger, im Kampf mit dem Ele— 
phanten, zunächſt nach dem Rüſſel deſſelben, welchen da— 
gegen der Elephant aufs Sorgfältigſte dem Angriff zu ent— 
ziehen ſucht, um ihn, zur rechten Zeit, deſto kräftiger zu ge— 
brauchen; das Pferd der Wildniß, vom Raubthier angefallen, 
ſucht gegen dieſes Kopf und Bruſt zu ſchützen, während es 
dem Feind deſto kräftiger mit den Hufen der Hinterfüße ent— 
gegen kommt. Das amerikaniſche Hausſchwein, im Kampf 
mit der Klapperſchlange, bemüht ſich vor allem den Biſſen 
des ſpringenden Thieres ſeinen borſtigen Nacken entgegen zu 
halten, die Schnautze aber demſelben zu entziehen und hier⸗ 
bei den rechten Augenblick zu finden um den Kopf des ge— 
fährlichen Feindes mit ſeinen Hufen zu zertreten. 

Auch in einer dem Thiere ſo wie ſeinen Voreltern neuen 


Landesnatur weiß das Schaaf wie die Ziege das geſunde 


Futter alsbald zu finden und das giftige zu meiden; der 
Affe gräbt Wurzeln, die er noch niemals genoſſen, durch den 
Geruch geleitet aus, und läßt ſich niemals durch das uns 
ſchädliche Ausſehen einer giftigen zum Genuß derſelben ver— 
locken. Die Kühe von europäiſcher Abkunft, welche ein ame— 
rikaniſcher Koloniſt mit ſich in ſein neues Beſitzthum genom— 
men, waren im erſten Winter, auf deſſen längere Dauer 
man ſich nicht vorgeſehen hatte, in großer Gefahr zu verhun— 
gern und glichen bereits nur lebenden Gerippen. Man hatte 
an ihnen bemerkt, daß ſie, ſo oft die Stallthür geöffnet 
wurde, ihre Köpfe Alle nach einer Gegend hinrichteten und 
mit lautem Gebrüll ihr thieriſches Verlangen zu erkennen 
gaben. Endlich ließ man ſie von den Ketten los und ver— 
ſtattete ihnen das Hinauslaufen ins Freie, obgleich weder 
auf Feldern noch auf Wieſen noch im Wald ein genießbares 
Grün unter der Schneedecke hervortrat. Alsbald rannten die 
hungernden Thiere in unaufhaltſamer Eile hinab nach dem 
Thale, wo im ſumpfigen Grunde, am Ufer des Flußes ein 
Gewächs ſtund, in welchem keiner der Koloniſten ein Futter⸗ 
kraut erkannt hätte, denn es glich vollkommen den Arten 
unſres Schachtelhalmes. Die Kühe aber durch ihren Inſtinct 
ſichrer geleitet, als der Menſch durch feinen vergleichenden 
und berechnenden Verſtand, fraßen begierig von dem Ger 


29 


wächs und kamen durch den fortgefeßten Genuß deſſelben 
bald wieder zu Fleiſch und Kräften. a 

Mächtiger noch und in ungleich augenfälligerer Weiſe 
als da, wo es blos die Ernährung und die Erhaltung des 
eigenen Leibes und Lebens gilt, äußert ſich der Inſtinct in 
ſeiner Verbindung mit der Elternliebe. Das Thier vergißt, 
wenn es zur Vertheidigung ſeiner Jungen aufgeregt wird, 
jeder Gefahr die ſeinem eigenen Leben drohet; die mütter— 
liche Zärtlichkeit führt ſelbſt das plumpe Wallfiſchweibchen, 
dem man ſein Junges raubte, immer wieder zu der Nähe 
der Räuber hin, wo es dann insgemein eine leichte Beute 
der Wallfiſchfänger wird, und dieſelbe Treue der Mutterliebe, 
bis zum Tode, wird an dem Geeotter fo wie bei mehreren 
Säugthieren des Meeres bemerkt. 


Wenn bei dem fruchtbaren Ameiſenweibchen die Zeit ge— 
kommen, wo daſſelbe ſeine Eier gebären ſoll, da nimmt der 
Drang, der daſſelbe wenig Tage vorher ſo unaufhaltſam 
hinausführte in die Lüfte und zu den fröhlichen Tänzen im 
warmen Sonnenſchein eine ganz andre, entgegengeſetzte Rich— 
tung an. Die Schaar der Tänzer und Tänzerinnen, die 
man noch kurz vorher, in manchen Ebenen an der Seeküſte, 
wie Wolken oder Rauchſäulen emporſteigen ſahe, ſenken ſich 
zur Erde, die Männchen ſterben oder werden mit vielen Tau— 
ſenden der Schaar den Inſecten freſſenden Thieren zur Beute, 
die übrigen Weibchen aber, als ob ſie der wilden Luſtbar— 
keiten ſich ſchämten, kriechen am Boden nach dem Bau von 
Ameiſen ihrer Art hin. Mag es nun derſelbe ſeyn, in wel— 
chem ſie geboren und erzogen wurden, oder ein andrer, ſie 
tragen jetzt, in der Hoffnung eines künftigen Geſchlechtes, 

die ſie mit ſich bringen, das Zeichen einer Majeſtät und 
Herrſchermacht an ſich, das von allen Weſen ihrer Art hoch 
beachtet und mit liebender Ehrfurcht empfangen wird; überall 
gan ſolchem Ort find fie der entgegenkommenden Pflege ge— 
wiß. Aber die zarten, feingewebten Flügel, auf deren Be: 
ſitz noch kurz vorher des Lebens höchſte Luſt und Freude be— 
ruhte, find dem Thiere, auf dem jetzigen Theile des Weges 
feiner Beſtimmung ſtatt zur Luft, nun zur Laſt. Die Ne 
gungen des Inſtinctes lehren ihm dieſes, und mit Anſtren— 
gung der eigenen Kräfte und Glieder, reißt es ſich den 
glänzenden Schmuck von ſeinem Rücken ab und kriecht flü— 


30 


gellos, um ihn nie wieder zu verlaffen in den Bau, zu dem 
Volk der ungeflügelten Arbeiterinnen hinein. 

Die ſinnvoll ‚Bone Dichtung, daß der Pelikan im Feuer 
der Liebe zu ſeinen Jungen, um dieſe vom Tode zu retten die eigne 
Bruſt aufreiße, dann die Verſchmachtenden mit ſeinem Blute 
tränke und neu belebe, iſt freilich nicht wörtlich ſo zu neh— 
men, denn das Blut womit man zuweilen das weiße Bruſt⸗ 
gefieder dieſes Vogels beſprengt ſieht, wenn er mit dem in 
ſeinem Kehlſack herbeigetragenen Fiſchen ſeine Kinder ſpeiſt, 
kommt von den zerbiſſenen Fiſchen, oder, wenn es, in ſelt⸗ 
nen Fällen ein eigenes ſeyn ſollte, aus den kleinen Wunden, 
welche die jungen Pelikane ihren Alten durch die ſcharfen 
Widerhaken ihrer Schnäbel im Kehlſack beibringen, in den 
ſie, ſo lang ſie noch klein ſind, wie in eine Schüſſel hinein⸗ 
langen. Uebrigens aber iſt das keine Dichtung, ſondern die 
Erfahrung zeigt es täglich, daß die Mutterliebe im Thierreich 
ſtärker ſey als des eignen Leibes Noth und des Todes Schmerz. 
Daß es nicht, ſo zu ſagen eine Verwandtſchaft der leiblichen 
Elemente, etwa des Fleiſches und Blutes ſey, die zwiſchen 
der Mutter und den aus ihr gebornen Jungen beſtehet, ſon⸗ 
dern der Antrieb, der Inſtinct einer Liebe, welcher aus einer and— 
ren, höheren Quelle kommt, was dem Zuge der Mutterliebe ſeine 
Macht giebt, dies lehrt uns die Zärtlichkeit der Thiere gegen 
ſolche hülfloſe Brut, die eine höhere, göttliche Fürſorge ihrer 
Pflege anvertraut hat. Zwiſchen der Bachſtelze und dem ar— 
men von der eignen Mutter vorwahrlosten Kinde, dem jun⸗ 
gen Kukuk, der als Ei in ihr Neſt ſo wie unter ihre Fittige 
kam, iſt doch gar keine eee des Fleiſches und Blu— 
tes, und dennoch mühet ſich die zärliche Pflegemutter bis zur 
Ermattung des Todes ab, um den hungernden Pflegbefohle— 
nen zu ſättigen. Ein berühmter Naturforſcher (Bechſtein) ſahe 
einſtmals als es ſchon tief im Spätherbſt war, wo es in der 
Nacht ſchon Reif und ſelbſt Eis giebt, eine Bachſtelze am Bache, 
den die Sonne beſchien, emſig hin und her fliegen und lau⸗ 
fen. Wer es weiß in welcher unwiderſtehlichen Weiſe der 
Wandertrieb das Thier ergreift, wenn jetzt die Zeit gekommen 
iſt wo das ganze Heer der Seinigen fort ziehet und ihm zu⸗ 
gleich, beim Herannahen des Winters das Futter zu gebre— 
chen anfängt, der wird es begreiflich finden daß das Zurück⸗ 
bleiben einer Bachſtelze, die von Inſekten lebt, bei uns bis 
tief in den Oktober hinein, wo draußen im Freien kaum noch 


31 


einzelne Fliegen zu ſehen find, etwas Außerordentliches ſey. So 
erſchien dies auch dem eben erwähnten Beobachter und er 
gieng deshalb dem Thiere nach, das ſo eben, als ob es Junge 
zu verſorgen hätte, ein erbeutetes Inſect in ſeinem Schnabel 
hinwegtrug. Da ſahe er, daß der Kopf eines ziemlich gro— 
ßen Vogels aus der Oeffnung eines hohlen Baumes ſich 
herausſtreckte, der ſeinen Schnabel begierig nach dem Futter 
aufſperrte, das die Pflegemutter ihm brachte. Es war ein 
junger Kukuk, deſſen rechte Mutter ihr Ei wahrſcheinlich im 
Schnabel zu dem Loch des Baumes hinaufgetragen und in das 
dort innen befindliche Neſt der Bachſtelze hatte hineingleiten 
laſſen. Das junge Thier war in der Höhlung des Baumes 

gewachſen, hatte auch vorne am Kopf und Hals ſein vollkom— 
menes Gefieder erlangt, zugleich aber ein Gefangener ge— 
blieben, denn die Oeffnung war zum Hindurchlaſſen ſeines 
Körpers zu klein. Die zärtliche Pflegemutter aber würde 
eher mit ihrem Pflegling geſtorben ſeyn als ihn in ſeiner 
. verlaſſen haben. 

Welche Mutterpflege und Muttertreue kann jene über— 
treffen, die das arbeitende Volk der Bienen und Ameiſen 
an den Eiern und der jungen Brut ihrer Königinnen übt; 
welche Ausdauer einer menſchlichen Erzieherin mag jene über 
ſteigen, die das Weibchen des Puterhahnes an den Küchlein 
von fremder Abkunft erweist, die man von ihm ausbrüten 
ließ. In der großen Pflegeanſtalt der Natur ſind jene We⸗ 
fen nicht zu beklagen, welche unſrem Auge als die Verlaſſen⸗ 
ſten und Hülfloſeſten erſcheinen, denn gerade für dieſe iſt 
mit der größeſten Freigebigkeit und Milde geſorgt. 

In einer ganz beſonders en Form erfcheint 
der Inſtinct, als Antrieb einer allerhaltenden Fürforge, wo 
derſelbe nicht für ein Einzelweſen oder für eine Familie der 
eignen oder fremden Jungen, ſondern für die Geſammtheit der 
lebenden Weſen in heilſamer Weiſe wirkſam iſt. Der Drang, 
welcher hierbei die Thierwelt ergreift, ſtehet mit dem Trirbe 
der Selbſterhaltung in ſo entgegengeſetztem, widerffechendem 
Verhältniß, daß er oft Myriaden der Einzelweſen, zum Heil 
des Landes ihrem ſicheren Untergange entgegenführt. Alle 
Kräfte der Menſchen und jener hülfreichen Thiere, welche 
dem Ueberhandnehmen des ſchädlichen Kohlweißlings, deſſen 
Raupen das Verderben unſer Gemüſegärten ſind, zu ſteuern 
vermögen, werden zu manchen Zeiten unzulänglich gefunden; 


= 


32 


ginge dann die Vermehrung in gleichem Schritte weiter, da 


würde all unſren Kohlgewächſen die Vernichtung drohen. Doch 
gegen dieſen Unfall hat die Natur ihre mächtigen Gegenmit⸗ 
tel. Man ſiehet auf einmal ganze Wolken jener Schmetter⸗ 
linge das Land, deſſen Plage ſie waren, verlaſſen, und ſich 
in einer Richtung entfernen, welche insgemein ihr Endziel 
im Meere findet. Ein ſolcher, ſich ſelber den Fiſchen zur Speiſe 
darbringender Zug dauerte nach Lindleys Beobachtung mehrere 
Tage und behielt unverändert die Richtung nach dem nahen 
Meere bei; Kalm ſahe Schmetterlinge dieſer Art über dem 
Gewäſſer des brittiſchen Kanales. Auch die Schwärme der 
Heuſchrecken, wenn ſie zur furchtbarſten Anzahl angewachſen 
ſind, nehmen zuletzt insgemein ihren Weg nach dem Meere 


oder in das wüſte Land, und daſſelbe hat man bei ſehr ver⸗ 
ſchiedenen Arten der ſchädlichen Inſecten bemerkt. Auch die 


Lemminge, dieſe Feldmäuſe des hohen Nordens, ſammlen 
ſich, wenn ihre Ueberzahl im Lande der Heimath zu groß 
geworden, zu ungeheuren Schaaren und ziehen in gerader 
Richtung, öfters den Meeresarmen und Strömen zu, in de⸗ 
nen ſie ihr Grab finden. Selbſt im günſtigſten Falle kehrt 
nur ein kleiner Theil dieſer Auswandrer zur Heimath zurück. 
Wie ſich ein lebender Körper bei dem Wachsthum ſeiner 
Glieder aus eigner, innerer Kraft, gewiſſe Gränzen ſetzt; ſo 
thut dies auch die Geſammtheit der lebenden Natur, durch 
die eigne Macht des den Weſen eingehauchten Inſtinctes. 
Das Waſſer eines Springbrunnens ſteigt durch den Druck 
der höheren Waſſerſäule bis zu einem gewiſſen Punkte, wo 
aber die Wirkſamkeit jenes Druckes ein Ende hat, da ſtuͤrzt 
es ſich unaufhaltſam hinab zum Boden. 

Das Band, welches als Inſtinct die einzelnen Dinge 
zu einem Verhältniß des wechſelſeitigen Nutzens und Dienſtes 
zuſammenfaßet und mit ihnen zum Wohle des Ganzen wal- 
tet, findet ſich nicht nur um die einzelnen Weſen der Außen⸗ 
welt geſchlungen, ſondern zeigt ſich auch im Innern eines je— 
den beſeelten Leibes wirkſam, wenn es alle einzelnen Ele— 
mente und Organe deſſelben für den Geſammtzweck ſeines 


Lebens geſtaltet. Es iſt da jeder Theil zum Dienſt der an⸗ 


dren Theile, alle zuletzt ſind für die Wirkſamkeit der Seele da. 
Daſſelbe, was der Inſtinet an den Weſen der äußern 


Natur in augenfälliger Weiſe verrichtet, das bewirkt in ſei⸗ 
nem verborgneren, innrem Kreiſe der Bildungstrieb. Der 


Vogel 


33 


Vogel muß ein Neſt bauen für die Eier welche er in dieſem 
ausbrüten ſoll, ein Neſt das um ſo ſorgfältiger angelegt, um 


ſo wärmer von ihm ausgefüttert wird, je hülfsbedürftiger 
der Zuſtand der Jungen iſt, welche aus den Eiern hervor⸗ 
ru Wenn die Jungen des Singvogels blind und unbes 
tedert zur Welt gekommen find, dann müſſen die Alten für 


ſie die Nahrung aufſuchen, welche für die erſte Lebenszeit 


derſelben am geeignetſten iſt, und bei dieſer Gelegenheit ent⸗ 


4 


wickelt fich bei den aus dem Schnabel fütternden Vögeln, in 
vielen Fällen ein auffallendes Zartgefühl des Inſtinctes, in⸗ 
dem das Futter, welches die Alten den neugebornen Jungen 
bringen, ein andres iſt als das, was ſie ihnen mehrere Tage 


nachher und dieſes wieder ein andres als das, was ſie ihnen 


im Zuſtande der höheren Reife darreichen. Alle dieſe augen⸗ 


fälligeren Aeußerungen eines bauenden Kunſttriebes und des 


Inſtinctes der Mutterliebe fallen bei dem Säugthier von 
ſelbſt hinweg; dieſes bedarf nicht der Anlegung eines Neſtes 


zum Bebrüten der Eier, denn ſeine Jungen werden nicht 


außer, ſondern innerhalb ſeines Leibes zur Ausgeburt reif; 
es bedarf nicht der Mühe, nicht eines Triebes der vom In⸗ 
ſtinct geleitet wird, zum Aufſuchen der erſten Nahrung für 
ſeine Jungen, denn jene Nahrung wird ohne ſein äußerlich 
ſichtbares Zuthun, als Muttermilch, von den Gefäßen ſei⸗ 
ner Brüſte bereitet. | 

Umgekehrt aber muß der ſonſt fo hochbegabte Menſch 
durch den ſinnreichen Fleiß ſeiner Hände ſich die Kleidung 
und Decke des Leibes bereiten die ihn in der heißen Zeit des 


Jahres nur leiſe umhüllt, während der kalten Zeit des Win⸗ 
ters aber gegen die Kälte ſchützt, während das Gefieder der 


Gänſe und Enten, eben ſo wie das Fell der Säugthiere ohne 
ihr Zuthun beim Herannahen des Winters die wärmende 


Flaume und das Wollenhaar anſetzt, welche im Frühling 


mit einem leichteren Naturgewand vertauſcht werden. Wel⸗ 


ches menſchliche Gewand, bereitet von auserleſenen Stoffen 


und gebildet mit höchſter Kunſt kommt an Schönheit und 
Pracht dem glänzenden, mit allen Farben der Edelſteine 

angenden Gefieder mancher Vögel gleich, womit dieſe in 
der Zeit der Vermählung geziert ſind, und wie arm würde 
es überhaupt in der Garderobe des Menſchen, vornämlich 
für die Zeit des Winters ausſehen, wenn er nicht zur Fer⸗ 
tigung und Ausſchmückung ſeiner Gewänder das Wollenhaar 

3 


> 


34 


und das feine Pelzwerk zu Hülfe nehmen könnte, womit die 
bildende Naturkraft das Thier ohne fein: Zuthun verſforgt. 
Der Menſch bedarf vieler Mühe und Kunſt um ſich die Waf⸗ 
fen deren er ſich im Kampf bedient, oder die Werkzeuge zu berei⸗ 
ten mit denen er den Stein behauen und das Holz bearbei⸗ 
ten will, dem Hirſch wachſen die Waffen zum Kampfe von 
ſelber, ebenſo der Holzſägewespe ihre Säge, der Steindat⸗ 
telmuſchel das feilenartig geſtaltete Mundſtück, durch das ſie 
ſich in den Felſen hineinarbeitet. Noch mehr als beidem Men⸗ 
ſchen und beim Thier iſt das, was bei dieſen der Verſtand 
und die Anregung des Inſtinctes in äußerlich augenfälliger 
Weiſe bewirkt, bei der Pflanze in den verborgenen, innren 
Kreis der bildenden und geſtaltenden Kräfte hineingetreten. 
Das Gewächs bedarf keines künſtlichen Anlegens von Vor⸗ 
rathskammern, keines Sammlens von Nahrungsſtoffen für 
die Saamen und Keime die es nach ſeinem Abſterben hin⸗ 
terläßt, ſondern dem Weizenkorn wie der Knolle des Kar⸗ 
toffels iſt von ihrer erſten Bildung an eine Fülle des Nah⸗ 
rungsſtoffes mitgegeben, welche für das Bedürfniß der Ent⸗ 
wicklung des Keimes vollkommen ausreicht. age 

Hier find die Leiſtungen des Inſtinctes die fich bei den 
Thieren als ein Zug in die Ferne im Auffinden der Nah⸗ 
rung, und in den jährlichen Wanderungen, als Kunſtſinn 
im Fertigen der Gewebe und Wohngebäude kund geben, auf 
die innren Elemente und Theile eines einzelnen Pflanzen- 
oder Thierleibes übergetragen, ohne hierbei ihrem Weſen 
und ihrer Bedeutung nach eine Aenderung zu erleiden. Denn 
wenn jeder Stoff den das Thier in ſeiner Nahrung aufnahm, 
fobald er in den Kreis des beſondern Lebens und. feiner 


Wechſelwirkungen getreten durch alle Regionen des Leibes 
den Weg zu ſeinem beſtimmten Ziele: die Kalkerde zum Kno⸗ 


chen, die Kiefelerde zum Haar, das Eiſen zum Blut, der 
Schwefel und Phosphor zum Gehirn und Nerven, und von 


da zum Knochen findet, ſollte dies weniger wunderbar ſeyn, 
als die Wanderungen des ſchnell und leicht beweglichen Vo⸗ 


gels zu dem Ort ſeiner Ernährung und Verſorgung? Wenn 
ganze Maſſen des untauglich gewordenen, leiblichen Elemen⸗ 


tes ſich nach der Oberfläche des Leibes hindrängen, um in 
der Ausdünſtung der Haut ſich auszuſcheiden, und im Meere 
der Luft ſich zu verlieren, iſt dies etwas Andres als jener 
Antrieb, der manche ſchädliche Thiere (nach S. 32.) zu gan⸗ 


35 


* 

zen Wolken zuſammenſchaart und fie hinausführt ins Meer, 
damit das Land von ihrer Ueberfülle entlaſtet werde? Wir 
bewundern die hülfreiche Aufregung, die ſich alsbald einem 
Ameiſenhaufen oder einem Bienenſchwarm mittheilt, wenn 
eine Gewaltthätigkeit von außen ihren Bau zerbrochen hat, 
oder wenn eine andre Gefahr der Zerrüttung und Auflöſung 
durch innre Feinde demſelben droht. Wenn aber nach einem 
verwundeten Gliede, nach einem zerbrochenen Knochen des 
Thierleibes ſich alle Kräfte und Säfte deſſelben in flammen⸗ 
der Eile hindrängen, um das Verwachſen und Heilen des 
tiſſes oder des Bruches einzuleiten, und wenn dieſes Stre⸗ 
ben ſeinen Zweck erreicht; wenn ſich im allgemein krankenden 
Zuſtand des Leibes der Sturm eines Fiebers erhebt, der, 
wenn er kräftig genug iſt, den innren Krankheitsſtoff zer⸗ 
ſetzt und entfernt, ſollte dies in mindrem Grad unfrer Be⸗ 
wunderung werth ſeyn? Die Spinne bereitet künſtliche Netze, 
um die Beute, die ihr zur Ernährung dient, zu erhaſchen; 
iſt etwa der Bau der einzelnen Ausſonderungsorgane, die 
ſich mitten im Leibe bilden, um in der Leber die Galle, in 
der Knochenhaut den Knochen, aus den Elementen, die 
durch das Blut nahe gebracht wurden, zu erzeugen, nicht 
eben ſo kunſtreich und ſtehen etwa die feinen Gewebe und 
Geſtaltungen aus denen der Thierleib gebaut, und immer 
wieder neu geſtaltet wird, den Geweben des Seidenſpinners 
und den Bauen der Bienen, oder der Biber nach? 
Im Allgemeinen iſt, wie wir im vorhergehenden Capitel 
(6) ſahen, der Inſtinct jenes Walten der Schöpferkraft, durch 
welches die Weſen der Sichtbarkeit ſo aneinander gepaßt und 
zuſammengefügt werden, wie die Werkſtücke eines Hauſes 

oder Tempels, durch einen einſichtsvollen Baumeiſter und 
ſeine ihm dienenden Arbeitsleute. Jedes lebende Weſen 
unſrer Sichtbarkeit iſt, in der Reihe jener Arbeitsleute, beim 
Bau des Ganzen angeſtellt und beſchäftigt. Der einzelne 
Arbeitsmann, der oben an der Zinne die Steine des Mauern⸗ 
kranzes aufeinanderlegt und durch Mörtel verbindet, ſieht 
und beachtet nur dieſes Werk ſeiner Hände, er nimmt nichts 
wahr von dem was die Handlanger unter ihm, zu ſeinen 
Füßen thun, wie ſie den Stoff, der tief aus dem Boden 
a Ziegelfteinen oder Mörtel verarbeiten und dieſe von 
Hand zu Hand hinauffördern, bis zum Arbeitsmann, der 
den Bauplan des Tempels vollführen hilft. Nur der Bau⸗ 

3 


25 


36 


meiſter, dem die Fürſorge für das Ganze auferlegt iſt, gehet, 
mit ſeinem anordnenden Blicke, unten am Boden dem Hand⸗ 
langer nach, der das Material zum Gemäuer gräbt und be⸗ 
reitet, wie der Reihe der Andren, die ſich den Stein von 
Hand in Hand reichen, und der Werkthätigkeit des Maurers, 
der oben an der Zinne die Werkſtücke nach dem Geſammt⸗ 
plan des Gebäudes aneinander fügt. | 
Wenn der Biffen der Nahrung, wenn der erquickende 
Trank durch unſren Mund eingegangen und in den Magen 
gekommen iſt, dann nehmen wir nicht mehr wahr, wie aus 
ihm der Speiſeſaft und das Blut bereitet, wie durch das 
Athmen aus dem Blute die wärmende Flamme, anf dem 
Herd des Lebens entzündet und erhalten werde; wir bemer⸗ 
ken nichts von all den Bildungen und Wiederauflöſungen 
der einzelnen Theile, die in unſrem Leibe vor ſich gehen. 
Das Werk der Seele an ihrem Leibe und an allen Elemen⸗ 
ten deſſelben gleicht einem mächtigen Bewegen, welches alles 
Bewegliche, das in ſeine Nähe kommt, mit ſich fort reißet 
in ſeiner Richtung. Der Strahl der Sonne, wohin er auch 
dringt, kann nur leuchten und wärmen, die Flamme des 
Feuers kann und muß in allem Brennbaren, das ſie berührt, 
nur ein gleiches Entflammen bewirken. So liegt auch in 
dem Leben der Seele, das ein Wirken und Bewegen zu 
einem beſtimmten Zwecke iſt, die Macht, alles Das, was in 
ihren Bereich kommt, zur Erreichung dieſes Zweckes zu Hülfe 
zu nehmen und auf ihrem Laufe, nach beſtimmtem Ziele, mit 
ſich hinwegzuführen. N 
Das Wehen des Windes reißt alle leichte Körper mit 
ſich fort, in der Richtung, die ihm ſelber angewieſen iſt. 
Wenn ein Adler, der am Boden des Feldes hinfliegt, durch 
ſeinen mächtigen Flügelſchlag dieſes Wehen erregt, dann 
folgt ſeinem Laufe die leichte Spreu, die am Boden liegt, 
ohne daß der Adler, der nur das Ziel ſeines Fluges 
im Auge hat, dieſes beachtet, denn die Spreu iſt außer und 
unter ihm. So theilt auch die Seele des Thieres und der 
Pflanze die Richtung ihres Lebens dem Erdenſtoffe mit, den 
fie, als Leib, zum Werkzeug ihrer Thätigkeit bildet und zu 
ihrem Dienſt in Bewegung ſetzt. Der Stoff iſt ihr von 
außen zugebracht und zur Förderung des allgemeinen Baues 
in die Hand gereicht, aus einer Tiefe, zu welcher ihr Blick 
nicht hinabreicht, Der aber, deſſen Werk der Stoff und ſeine 


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a al. 


37 


Bereitung, deſſen That und Wille die Förderung deſſelben 

von Hand in Hand bis hinauf zur augenfälligen Zinne des 

Baues iſt, ſieht und weiß den ganzen Hergang der Ausfüh— 

a 1 Seinem Geiſte vorbedachten und entwickelten 
anes. 


8. Der Compaß. 


Dier Erfte, der die Entdeckung machte, daß es einen 
Eiſenſtein — den Magnet — giebt, welcher andres Eiſen 
an ſich ziehet, mag über dieſe Eigenſchaft eines unſcheinbaren 
Steines nicht wenig erſtaunt ſeyn. Wie das Thier ſeine 
Speiſe, ſo erfaßt der Magnet das Eiſen, aber er verzehrt 
daſſelbe nicht, ſondern macht daſſelbe nur zu Seinesgleichen, 
denn wenn eine ſtählerne Nadel (etwa eine Nähnadel) eine Zeit— 
lang in Vereinigung mit dem Magnet geblieben war, und 
man ſie nun von dieſem hinwegnimmt, dann wird ſie nicht 
bloß ſtärker von dem Magnet angezogen, ſondern ſie ſelber 
zieht nun auch andere Nadeln oder leichte Eiſentheile zu ſich 
hin. Mit einer ſolchen magnetiſch gewordenen eiſernen Nadel 
hat man, wahrſcheinlich zuerſt nur ſpielweiſe, den Verſuch 
gemacht, ſie auf einem Stückchen leichten Holzes, einem klei— 
nen Spahn oder einem Korkſcheibchen in einer Schüſſel voll 
Waſſer herumſchwimmen zu laſſen um ihre Beweglichkeit nach 
dem Magnet hin, wie an unſren künſtlichen magnetiſchen 

Fiſchchen, leichter beobachten zu können. Bei ſolcher Gele⸗ 

genheit mußte man bemerken, daß die magnetiſche Nadel mit 

ihren beiden Enden ſich beſtändig nach einer beſtimmten Welt⸗ 
gegend hinwende. In dergleichen Weiſe iſt der Compaß 
erfunden worden, welcher ſeiner älteſten Einrichtung nach 
wohl nichts Andres war, als eine auf leichter Unterlage 
ruhende auf dem Waſſer ſchwimmende, oder an einen Faden 
ſchwebende magnetiſche Nadel, welche durch ihre beſtändige 

Richtung nach Norden und Süden auch bei ganz trübem Him⸗ 

mel die Lage der Weltgegenden andeutete, und hierdurch, 
ſeitdem man ihr beſonders eine bequemere, beſſere Einrich- 

tung ertheilt hatte, zu einem guten, ſichren Wegweiſer der 

Reiſenden über Land und Meer wurde. 

Wenn die Zugvögel über Land und Meer oder wenn 
andre Thiere aus ihrem bisherigen Lebenskreiſe hinaus, durch 
den ſie beherrſchenden Naturtrieb zu einem ſinnlich fernen 


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38 


Ziele geführt werden, da bedürfen ſie freilich unſres Com⸗ 
paſſes nicht, uns aber, wenn wir mit unſrem forſchenden 
Verſtande dem thieriſchen Inſtincte auf ſeinen vielverſchlun⸗ 
genen, dunklen Bahnen folgen wollen, kommt dabei die Er⸗ 
kenntniß der Natur des Compaſſes gut zu ſtatten. 

Die Gegenden, nach denen die freiſchwebende Magnet⸗ 
nadel von ſelber ſich hinrichtet, iſt im Allgemeinen die der 
Weltpole, des Nordens und Südens; jedes der beiden En⸗ 
den der Nadel ſtellt im Kleinen einen Pol des Erdganzen 
dar und wird bei ſeinem Bewegen gegen den ihn befreunde⸗ 
ten Erdpol hingelenkt. Die Eigenſchaft, auf welcher jenes 
Bewegen beruhet, wird deshalb Polarität genannt. Wenn 
man zwei ſolche Nadeln oder an Stärke ſich gleiche Magnete 
einander nähert, dann bemerkt man, daß jene Enden welche 
an ihnen beiden nach Norden oder nach Süden gekehret ſind, 

ſich nicht gegenſeitig anziehen ſondern abſtoßen, dagegen zieht 
der Nordpol des einen den Südpol des andren, und umge⸗ 
kehrt an. Ueberhaupt, ſo kann man ſagen, ſucht alſo jeder 
Pol an einem Körper von gleichen polariſchen Eigenſchaften 
nicht das, was er ſelber, ſondern vielmehr das, was er 
nicht ſelber iſt. 

Wenn wir nun weiter darnach fragen „ worauf alle Po⸗ 
larität in der Natur ſich gründe, ſo iſt die Antwort kurz 
die: auf das Daſeyn eines Schöpfers, gegenüber Seiner 
Schöpfung; auf die fortwährende Einwirkung einer ſchaffen⸗ 
den und erhaltenden göttlichen Kraft, in die Welt alles Ge⸗ 
ſchaffenen. b 

Der Schöpfer hat in jedes ſeiner Geſchöpfe, in die mäch⸗ | 
tigen Geſtirne des Himmels wie in die Sandkörnlein der 
Erde, in den Geiſt des Menſchen wie in die bildende Seele 
des kleinſten Mooſes, ein beſtimmtes Maaß ſeiner eigener 
Kraft: ein ſchöpferiſches Wirken und Vermögen gelegt, dure 
welches das einzelne Weſen entſteht und fort beſteht. Dieſ 
inwohnend verliehene Kraft iſt es, welche, wie wir dies il 
vorhergehenden Capitel ſahen, in jedem lebenden Leibe ein 
Werk der Schöpfung im Kleinen wiederholt, indem es die 
einzelnen Elemente und Theile zu einem wohl⸗ und zweck⸗ 
mäßig „ Ganzen vereint. Wie der Magnet jedem 
Stücklein Eiſen, das er an ſich zog, ſeine magnetiſche Eigen⸗ 
ſchaft oder Polarität mittheilt, ſo thut dies auch die Schö⸗ 
pferkraft der Seele an den Stoffen , welche fie in den ale 


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ihrer e e hereinzieht; jeder von dieſen empfängt ein 
aaß des ſchaffenden Vermögens: er wird pola⸗ 
1 Denn die Polarität beſteht darinnen, daß ein Ding, 
| vermöge der ihm eingepflanzten Kraft ſich zu einem andren 
ältniß ſtellen kann, wie das Bewegende zum 
Bewegten, wie der Schöpfer zu ſeiner Schöpfung, während 
40 umgekehrt auch wieder gegen ein andres die untergeord— 
nei Stellung, eines Bewegten zu ſeinem Beweger N 


nn. 

Die Wirkſamkeit jener Polaritäten, die in allen Thei⸗ 
len, in jedem Blutstropfen wie in jeder Faſer, von der 
Seele deſſelben aus, hervorgerufen wird, iſt dann eben das, 
was wir vorhin (S. 35.) als ein Sefchäft der Handlanger, 
von unten herauf, bezeichnet haben. Den Seelen kommt 
der Anfang und der Fortgang all ihres lebendigen Wirkens 
und Bewegens aus der Kraft des Schöpfers ſelber, und 
dieſe iſt es, deren allbedenkende Vorſorge dem Antriebe oder 
Inſtinct, der ſeinen Urſprung aus ihrem allumfaſſenden Wal⸗ 
ten nahm, ſeine ſichere Bahn beſtimmt. Der Nordpol der 
Erde oder jenes magnetiſche Wirken das aus der Tiefe des 
Planeten kommt, liegen auch von der Nadel unſeres Com⸗ 
paſſes in weiter Ferne ab, und dennoch findet der Drang 
des Bewegens nach den Polen hin immer wieder ſeine rechte 
Richtung, mag ihn auch ein äußrer, gewaltthätiger Einfluß 
noch ſo oft aus ihr entfernen; daſſelbe geſchieht auch dem 
Drange des Inſtinctes der aus einem Wirken ſeinen Anfang 
nimmt, vor deſſen Macht die Entfernung der get Raus 
5 me wie der Zeiten gleich wie Nichts iſt. 
So giebt uns der Compaß, mit welchem der Schiffer 
1 ſich kühn auf das weite Meer waget, nach ſeinem kleinen 
Maaße ein Abbild, nicht nur des Erdkörpers und ſeiner 
i Polarität, ſondern der geſammten Anordnung alles Seyns 

und Lebens der geſchaffenen Welt. Wie die Schöpfung nur 
Award und beſteht, durch den Einfluß eines bildenden, ord⸗ 
nenden und erhaltende Schöpfers, ſo wird und beſtehet 
jedes einzelne Ding nur durch die ſchöpferiſche Kraft, die in 
ſein Weſen gelegt ward, und jedes derſelben ſtellt in ſich 
den Gegenſatz zwiſchen einem Schaffenden und 3 fenen 
dar; jedes der Myriaden von Weſen iſt ein Comm 5, Def 
Anfang und Ende beſtändig nach einem und demſelben Puncte 
hinweiſet. Dieſer Richtpunct aber, nach dem alles Seyn und 


40 


Leben der Dinge ſich hinwendet, iſt Gott der Herr, der uns 
und alle Dinge gemacht hat und ſie alle durchwirket mit ſei⸗ 
nem allmächtigen Worte, hochgelobet in Ewigkeit! 


9. Der Wandertrieb des Geiſtes. 


Es war den Gefährten des großen Columbus nicht zu 
verargen, wenn ſie auf der kühnen Fahrt mitten durch den 
atlantiſchen Ocean, gerade in der Richtung in welcher dieſer 
am breiteſten iſt, der kleinmüthigen Sorge und Furcht ſich 
hingaben. Ihr Vertrauen und ihr Hoffen giengen nicht viel 
weiter als die Augen ſahen; Ihr Denken und Dichten war 
nicht auf das Vollbringen einer kühnen That, auf das Er⸗ 
reichen eines geiſtig hohen Zieles gerichtet, ſondern nur auf 
ein möglichſt ſchnelles Erwerben von Geld und Gut, auf 
den Genuß der Sinnen, bei voller Sicherheit und Ruhe des 
Leibes. Nach den öſtlichen Küſten des goldreichen Indiens 
wollten ſie gelangen, dort mit Edelſteinen, mit Perlen und 
Gold ſich bereichern, eine Zeit lang im Genuß der Früchte 
und Naturgaben des Landes ſchwelgen, dann in die Hei⸗ 
math zurückkehren und da die erbeuteten Schätze in Ruhe 
genießen. Als ſie ſich aber jetzt, auf ihren ſchlecht verwahr⸗ 
ten und nothdürftig verſorgten Fahrzeugen mitten im Meere 
ſahen, als der Paſſatwind aus Oſt ihre Segel erfaßte und 
die Fahrt nach Weſten, in die unüberſehliche Weite des Welt⸗ 
meeres ſo beſchleunigte, daß ſie bald viele Hunderte von 
Seemeilen vom Vaterlande hinwegkamen, als die Hoffnung 
auf ein nahes Land, welche das Erſcheinen der ſchnellflie⸗ 
genden Seevögel und einzelner Strecken des grünen Seegra⸗ 
ſes erregt hatten, immer wieder unerfüllt blieb und nach län⸗ 
ger als einem Monat das lang erſehnte Land noch immer 
nicht erſcheinen wollte, da war ihr Vertrauen ſo ganz zu 
nichte geworden, daß ſie nur an die Heimkehr dachten und 
allein noch die unerſchütterte Ruhe und Feſtigkeit des Füh⸗ 
rers den völligen Ausbruch des Aufruhrs zurückhalten konnte. 

Es empörte ſich hier das Fleiſch gegen den Geiſt, denn 
während jene nur mit fleiſchlichem Auge ſahen, mit fleifihlie 
chem Herzen hofften und vertrauten, erblickte der große Ko⸗ 
lumbus mit geiſtigem Auge, weit über das Meer hinüber das 
Ziel der Fahrt, das den Andren verborgen war. Er hatte 
noch einen ſicherern Führer bei ſich, als den Compaß: das 


41 


war das fefte Vertrauen feines frommen Herzens auf Gottes 
Beiſtand und Hülfe, bei einem Unternehmen, welches beſtimmt 
war den unabweisbaren Drang des Menſchengeiſtes das noch 
Unbekannte zu erforſchen, und das Licht das aus Oſten kam, 
auch über das Dunkel der weſtlichen Erdtheile zu verbreiten. 
Was den Andren Furcht und Sorge machte, die mächtige 
Beſchleunigung der über mehr denn 900 Meilen weiten Fahrt 
durch Wind und Wogen, das gab ihm Freude und ſtärkte fei- 
en Muth, denn fein Sinn war nicht ruͤckwärts, ſondern nur 
vorwärts gerichtet, dahin der Bote des Himmels, der gün⸗ 
Wind, ihn ſelber geleitete; ſein feſtes Hoffen ruhete be— 
reits aus auf dem Lande, das ſein Auge noch nie geſehen 
hatte, ja von welchem noch keine ſichre Kunde zu ſeinem 
oder der Seinigen Ohr gelangt war. | 
Die Heere der Schwalben ziehen von der nordweſtlichen 
Küfte von Europa aus faſt denſelben weiten Weg über das 
Meer hinüber und keine von ihnen wird auf dieſer großen 
Reiſe von Muthloſigkeit ergriffen, keine fühlt ſich zur Umkehr 
geneigt, weil in der Seele Aller ein Antrieb waltet der ſei— 
nen leitenden Faden mit dem einen Ende hinüberſpannt an 
das ferne, noch unerreichte Ziel, und an dieſem eben ſo feſt 
hält als an dem Boden der eben verlaſſenen Heimath, an 
den das andre Ende ſich anknüpfet. Der Antrieb des Inſtinc⸗ 
tes erſcheint überall als ein Suchen welches durch kein Hin— 
derniß in ſeinem Gange ſich irre machen läßet, weil das, nach 
welchem die äußre Natur des Thieres ſich hinbewegt, im 
Innern, in der Seele deſſelben ſchon vorhanden und bereits 
zun einem Gegenſtand des Genußes geworden iſt, verwandt, 
# nach feinem Maaße, dem Genuße und der Freude, welche die 
Hoffnung uns Menſchen gewährt. | 
Es giebt einen Wandertrieb von viel höherer, mächtigerer 
Art als jene ift, der den Vogel über den Ocean führt oder 
das Inſect aus einem Element und Kreiſe des Lebens in die an— 
dren; einen Trieb, welchen die Seele die er erfaſſet nicht nur von 
einem Ende der Erde zum andren, ſondern hinausführt über 
Mond und Sterne, über alle Gränzen der unermeßbaren 
Sichtbarkeit, in eine unſichtbare Welt des Geiſtigen und Ewi- 
gen. Dieſer Wandertrieb liegt in dem Geiſte des Menſchen; 
es iſt der Drang nach einem vernünftigen Erkennen, nach 
einem Verſtehen des Zuſammenhanges, in welchem die Dinge N 
der ſichtbaren Welt unter einander ſich befinden und vor Als 


918 
Vu 


42 


lem der Bedeutung die fie für unſer eignes Leben haben. 
Der Drang nach dem Erforſchen des unſichtbaren Anfanges 
und Endes unſres eignen Daſeyns, nach dem Verſtehen andrer 
Menſchenſeelen ſo wie das innige Verlangen nach der geiſti⸗ 
gen Gemeinſchaft und Zuſammengeſellung mit dieſen, auf 
dem gleichartigen Wege des Wiſſens und Erkennens. Ein 
Hoffen liegt jenem Wandertriebe zu Grunde, das noch ſtär⸗ 
ker und feſter iſt denn das, welches den Columbus auf ſeiner 
Fahrt belebte; ein Hoffen das hinüberreicht über das Grab, 
in ein Leben der Ewigkeit, und deſſen Anker auf einem Grun⸗ 
de ruhet der in allen Stürmen feſt hält. Win 
Dem Antriebe des thieriſchen Inſtinctes ſind die äußern 
Glieder zu ſeinem Dienſt gegeben; beim Wandervogel die 
ſchnellbeweglichen Flügel, bei der Arbeitsbiene die Körbchen 
gleichenden Anſätze an den Füßen, darinnen der Blüthen⸗ 
ſtaub befeſtigt und eingetragen wird, bei dem Biber das meiſſelar⸗ 
tige Gebiß zum Zerſchneiden der Holzſtämme und Aeſte, und 
der kellenartige Schwanz, bei der Spinne die Drüſen aus 
denen die zähe Flüßigkeit kommt, die an der Luft zum Fa⸗ 
den erhärtet. Der Antrieb regt ſich öfters ſchon, ehe noch 
die leiblichen Werkzeuge, durch die er ſpäter ſich kund giebt 
vorhanden oder ausgebildet ſind; das Zicklein verſucht ſchon 
zu ſtoßen, ehe es noch Hörner hat; ein kleines Krokodil das 
ſo eben aus dem Ei gekrochen war, biß ſchon, im Vorgefühl 
ſeiner künftigen Kraft und Stärke, zornwüthig in einen Stock 
hinein, den ein Engländer ihm vorhielt. Die Seele über⸗ 
haupt iſt eher als der Leib und dieſer wird erſt allmählig 
den Strebungen ihres Weſens zugegeben und angebildet, da⸗ 
rum regt ſich auch der Inſtinct noch ehe ihm das Mittel ſich 
zu äußern vollkommen gewährt iſt. | ! 
Schon im Allgemeinen find die eigenthümlichen Vorzüge 
des Thieres vor der Pflanze: die ſinnliche Wahrnehmung 
und die willkürliche Bewegung auf dem Beſitz der Sinnor⸗ 
gane, vor Allem des Sehens und Hörens, ſo wie der bewe⸗ 
genden Muskeln gegründet; je weiter das Auge eines 
Thieres blickt, deſto weiter kann es auch in der Regel ſich 
bewegen; je größer die Kraft und die Beweglichkeit ſeiner 
Glieder iſt, deſto näher liegt ihm die Beſtimmung andre 
Thiere zu bewältigen und von ihrem Fleiſche ſich zu nähren. 
Bei dem Menſchen ſind alle Sinnorgane in ſolcher Gleich⸗ 
mäßigkeit ausgebildet, ſeine Glieder ſind von ſo vollkommner 


43 


Beweglichkeit, daß fein Leib ſchon hierdurch das geeignetſte 
Werkzeug wird, dem Alles forſchenden und verſtehenden 
Geiſte, ſo wie dem vernünftigen Willen zu dienen. Sein 
Auge ſiehet alle Herrlichkeiten der Schöpfung, deren harmo— 
niſches Bewegen das Ohr vernimmt; ſeine Hand mit ihren 
kunſtreich wirkenden Fingern, bildet Alles nach, was das Auge 
ſieht und verleihet dem todten Inſtrument eine Macht der Tö— 
ne, wodurch daſſelbe mit allen Melodien des Vogelgeſanges 
und der Menſchenſtimme ſelber zu wetteifern vermag. Dem 
innren Antriebe der menſchlichen Natur zu einem Erkennen 
und Verſtehen der Werke Gottes und zu einem Wirken und 
Bewegen ſeiner Kräfte, welches mit der göttlichen Weltord⸗ 
nung übereinſtimmend iſt, findet ſich demnach ſein Leib, mit 
all ſeinen Gliedern und Kräften vollkommen anpaſſend und 
entſprechend. Dennoch können wir auch hier deutlich wahr⸗ 
nehmen daß die innre, geiſtige Kraft mit ihren Antrieben 
zum vernünftigen Erkennen und Handeln nicht aus dem ver⸗ 
gänglichen Körper und aus der Einrichtung ſeiner Theile 
komme, fondern daß fie dem Geiſt angehöre und eins ſey 
mit ſeinem Weſen ſelber. Sie iſt deshalb vorhanden und 
der ihr eingepflanzte Antrieb giebt ſich kund, auch dann wenn 
die Beſchaffenheit des Leibes ihrer Wirkſamkeit ungünſtig und 
in hohem Grade hinderlich erſcheint und läßt uns hierdurch 
erkennen daß ſie fortbeſtehen werde, auch dann, wenn der 
Leib nicht mehr iſt, eben ſo wie ſie beſtanden iſt, noch ehe 
der Leib war. Wir ſuchen dies an einem Beiſpiele zu erläutern. 
Ign den vereinigten Staaten von Nordamerika zu Han⸗ 
nover in der Grafſchaſt New-Hampſhire wurde im Jahr 1829 
Laura Bridgmann, als Tochter achtbarer und gebildeter 
Eltern geboren, an welcher es ſich, wie an manchen andren 
Taubblinden, gezeigt hat, daß der Geiſt des Menſchen in 
ſeinen Kräften und Aeußerungen derſelbe bleibe, auch dann 
wenn die Pforten des äußeren Erkennens, die oberen Sinne, 


für ihn ganz verſchloßen find. Laura war bis zu dem zwan⸗ 


zigſten Monat ihres Lebens in einem Zuſtand des beftändi- 
gen Hinſterbens, denn ſie litt faſt ſeit ihrer Geburt an den 
ſchmerzhafteſten Krämpfen und war überaus ſchwächlich. Erſt 
von ihrem ein und zwanzigſten Monat an hatte ſie ſich etwas 
erholt und vor dem Ende des zweiten Lebensjahres einige 
Worte ſprechen gelernt. Aber dieſe ſcheinbar leibliche Beße— 
rung war nur der Anfang eines noch viel ſchwereren Leidens 


44 


geweſen. Die innre, bisher auf der Wurzel des Lebens 
aſtende Krankheit, welche vorher die lebensgefährlichen 
Krämpfe erregt hatte, zog ſich vom Gehirn hinweg und warf 
ſich auf die Organe des Geſichtes und Gehöres; dieſe gien⸗ 
gen in Vereiterung über und wurden ganz zerſtört; das Le⸗ 
ben des Kindes war gerettet, aber Laura war von nun an 
eben ſo ſehr ſtockblind als gänzlich taub, ja, wie ſich dies 
ſpäter ergab, ſie hatte auch den Sinn des Geruches und 
des Geſchmackes verloren, denn ob man ihr Rhabarbertrank 
in den Mund giebt oder Thee, das kann ſie nicht unter⸗ 
ſcheiden. Das arme Kind iſt am Leben erhalten worden 
um die andren Menſchen zu lehren, daß in ihnen noch ein 
andres Weſen und Leben ſey als das wandelbare, vergäng— 
liche des Fleiſches. b 
Während ihrer letzten ſchwerſten Kinderkrankheit und 
eine kurze Zeit nachher ſprach Laura noch einige ihrer erlern— 
ten Worte, da ſie aber ihre Stimme nicht mehr hörte, ver⸗ 
ſtummte ſie bald ganz. Sie erholte ſich langſam und erſt 
mit dem Anfang des fünften Jahres war ſie, abgeſehen von 
dem Verluſt der Sinne, vollkommen geſund zu nennen. Aber 
kaum war ſie dieſes geworden, da gab ſich auch der Geiſt 


des innerlich reichbegabten, äußerlich ſo verarmten Kindes, 


mit all ſeinen ihm eingebornen Kräften und Beſtrebungen, 
in einer ſo augenfälligen Weiſe kund, als wäre nichts ge⸗ 
ſchehen, das ihn von außen beeinträchtigen konnte. Alsbald 
regte ſich, in derſelben Stärke wie bei talentvollen Kindern 
mit geſunden Sinnen der Antrieb zum Erkennen und die 
Wißbegierde. Laura fing an, munter im Hauſe herumzu⸗ 


laufen und alle Gegenſtände mit ihren Händen zu betaften. - 
Vor Allem folgte ſie der Mutter, auf allen ihren Tritten 


und Schritten, forſchte, wenn dieſe beſchäftigt war, mit ihren 


fühlenden Händen nach dem Thun der Mutter, ahmte die⸗ 


ſes ſorgfältig nach und lernte auf dieſe Weiſe mehrere weib⸗ 
liche Arbeiten. Wie andre Mädchen ihres Alters verſtund 
ſie und trieb ſie mit Luſt das Spiel mit Puppen und andren 
Gegenſtänden der kindlichen Ergötzung; ihre höchſte Freude 


jedoch genoß ſie dann wenn ſie etwas Neues erlernt, oder 
den Nutzen eines Gegenſtandes, den Zweck einer Arbeit 


erforſcht hatte. > 
Ign ihrem angehenden neunten Jahre, 1837, kam Laura 


nach Boſton, in das dortige Blindeninſtitut, unter die Lei⸗ 


45 


tung des trefflichen Vorſtandes, des Doctor Howe. Als 
das Kind ſich auf einmal von ſeiner treueſten, liebſten Pfle— 
gerin und Freundin getrennt, unter ganz fremden Menſchen 
und in fremder Umgebung fühlte, war es allerdings eine 
Zeit lang furchtſam und verlegen, aber es zeigte ſich auch 
in dieſem Falle, daß der tiefſte, innerfte Antrieb unfrer Na 
tur, der im Weſen des Geiſtes liegt, mächtiger und gewal⸗ 
tiger ſey als der Zug und die Neigungen des Fleiſches. 
Der Trieb, Neues zu erkennen und zu erforſchen fand in 
der neuen Umgebung mehr Nahrung; das Streben nach gei⸗ 
ſtiger Zuſammengeſellung wurde noch ungleich vielſeitiger ber 
friedigt als im elterlichen Hauſe, darum fand ſich die Kleine 
am neuen Aufenthaltsort bald eben ſo glücklich, ja noch 
glücklicher als daheim. Kamen doch dem ſchönen, lebhaften, 
geiſtvollen Kinde, das ſo ſanft und liebevoll anſchmiegend 
war wie ein Lamm, alsbald alle Mitglieder der Blindenan⸗ 
ſtalt mit Liebe entgegen, und wenn die blinden Pflegeſchwe— 
ſtern mit ihr ſpielten, wenn ſelbſt Doctor Howe ihrer Puppe 
mit der ſie einmal, als ob dieſelbe krank ſey, die Rolle einer 
Krankenwärterin ſpielte, den Puls fühlte und ihr ein Pfla— 
ſter auf den hölzernen Kopf legte, da jauchzte ſie laut und 
hüpfte vor Freude. Ä 
Das von Andren fo viel bedauerte Kind, wie war es 
dennoch ſo glücklich in ſich ſelber, ſo froh und heiter! Es 
wußte daß ihm Vieles, daß ihm Wahrnehmungen der Außen- 
welt mangeln, welche die andren, geſunden Menſchen haben, 
zugleich aber fühlte es, daß es dennoch das beſitze, was 
mehr iſt als die äußern Sinne und was allen andren Men— 
ſchen es gleich ſtellte; es war in der Thätigkeit ſeines for— 
ſchenden Geiſtes und in der Liebe zu andren Menſchenſeelen 
glücklich. Bald war die Kleine mit ihrer neuen Umgebung 


5 ſo vertraut, daß ſie wie ein ſehendes Kind die Treppen des 


Hauſes auf und ab lief, und alle vierzig Bewohner deſſelben 
durch Berührung kannte. Bei Tiſche, wie bei jeder andren 
Gelegenheit betrug ſie ſich mit einem Anſtand, der nicht durch 
das Sehen von fremdem Beiſpiel erlernt war, ſondern von 
innen hervorging; ſie kleidete ſich ohne fremde Hülfe von 
ſelber aus und an und verrieth hierbei, ſelbſt beim Flechten 
des Haares, ein ihrem Geſchlecht eigenthümliches Streben 
nach Nettigkeit und Zierlichkeit; in den weiblichen Arbeiten 
des Strickens, Stickens, Nähens bewieß ſie eben ſo viel 


46 


Fleiß und Geſchick als ihre blinden, dabei aber hörenden 
Mitſchülerinnen. So war ſie in das günſtigſte Element zur 
Entwicklung der Antriebe der innren Menſchennatur gekom⸗ 
men und befand ſich wohl in ihm. 

Mitten aber in der geiſtigen Aufregung waren die Kei⸗ 
me der natürlichen Liebe und dankbaren Anhänglichkeit an 
die erſte Pflegerin des Lebens, an die Mutter keineswegs 
erſtickt worden, ſondern dieſe wuchſen mit der geiſtigen Ent⸗ 
wicklung zugleich, immer kräftiger, menſchlich veredelter auf. 
Etwa ein halbes Jahr nach Lauras Eintritt in die Blinden⸗ 
anſtalt erhielt dieſelbe einen Beſuch von ihrer Mutter. Das 
Perſonengedächtniß der kleinen Taubblinden war ſeitdem mit 
ſo vielen neuen Eindrücken überfüllt worden, daß ſie die 
Mutter in den ihr wahrſcheinlich noch unbekannten Reiſeklei⸗ 
dern nicht erkannte, obgleich ſie forſchend ihre Hände wie 
ihren Anzug betaſtet hatte. Sie wendete ſich deßhalb bald 
wieder von derſelben, wie von einer Fremden ab, ja ſie ent⸗ 
zog ſich mit Widerſtreben ihren Liebkoſungen, obgleich die 
wohlbekannte Perlenſchnur, die ſie im elterlichen Hauſe ge⸗ 
tragen und welche die Mutter ihr mitgebracht hatte, ihr große 
Freude machte und ſie beim Empfang derſelben dem Doctor 
Howe andeutete, daß dies aus der Heimath komme. Die 
Mutter reichte ihr hierauf noch einen andren wohlbekannten 
Gegenſtand aus dem Elternhauſe in die Hand, Laura wurde 
lebhaft bewegt, unterſuchte ſie genauer, gab dem Herrn Ho⸗ 
we zu verſtehen, daß dieſe Dame gewiß aus Hannover käme, 
ließ ſich auch einige Liebkoſungen von ihr gefallen, gieng aber 
dann doch wieder von ihr weg. Die ſchmerzlich betrof⸗ 
fene Mutter nahte ſich ihr von neuem, da erwachte in der 
Kleinen auf einmal der Zug der kindlichen Liebe mit all ſei⸗ 
nen Erinnerungen, ſie betaſtete ſehr eifrig die Hände der 
vermeintlich Fremden, wurde bald bleich, bald glühend roth 
und als jetzt die Mutter ſie an ſich zog, da verſchwand aller 
zurückhaltende Zweifel, ſie warf ſich mit dem lebendigſten 
Ausdruck des Entzückens in die Arme derſelben und 4 
nicht mehr von ihr; weder von ihren Spielſachen noch von 
den Geſpielinnen nahm fie jetzt weiter Kunde. 

Der nach Entwicklung ringende, geiſtige Antrieb zeigte 
übrigens auch bei dieſer Gelegenheit ſeine entſchiedene Macht. 
Als die Mutter wieder abreiſen wollte, begleitete das Kind 
dieſelbe, ſie feſt umſchlingend bis vor das Haus, tappte 


if 92 . 7 


47 


dann mit der einen freien Hand umher um zu forſchen wer 
in der Nähe ſey, und da ſie hierbei eine ihrer geliebteſten 
Lehrerinnen entdeckte faßte ſie dieſe bei der Hand, drückte 
noch einmal die Mutter innig feſt an ihr Herz, entließ ſie 
aber dann und warf ſich laut ſchluchzend in die Arme der 
Lehrerin. | 


Daß, wie wir vorhin fagten, der natürliche Trieb des 


menſchlichen Gemüthes, der mehr dem Fleiſche inwohnt, durch 


das Wachſen des geiſtigen Antriebes keinesweges geſchwächt, 


ſondern nur veredelt und durch das geiſtige Element das er 


empfängt, nur noch mehr verſtärkt werde, dies zeigte ſich bei 
Laura am deutlichſten als ſie, in einer freilich nicht hörbaren 
ſondern nur fühlbaren, oder in Buchſtabenſchrift ſichtbar wer⸗ 
denden Gedankenſprache ſich ausdrücken gelernt hatte. Mit 
der Gabe der Sprache wuchs auch das Vermögen der deut— 
lichen Erinnrung an die Perſonen und Gegenſtände der Außen⸗ 
welt; die Züge der Zuneigung und Abneigung traten in 
deutlicherer Geſtalt hervor. Sobald die Taubblinde durch 
die Geſchäftigkeit ihrer Finger hatte Worte bilden lernen, 
war die Mutter und das Verlangen nach ihr ein öfterer Ge— 
genſtand ihres Geſpräches, ihr erſter Brief war an dieſelbe 
gerichtet und wenn etwa die Lehrerin eines der andren bins 
den Mädchen liebkoſend in ihre Arme ſchloß, wobei ſich viel- 
leicht in der armen, der fremden Liebe ſo bedürftigen Laura 


eine kleine Eiferſucht regte, dann fprachen ihre zarten Fin— 


ger die Worte aus: » meine Mutter wird mich lieb haben. « 
Diem Inſtinct, der im Thiere waltet, kommt die leib⸗ 
liche Bildung jener Glieder entgegen und zu Hülfe, durch 


welche die innere Regung des Antriebes ſich zu äußern ver⸗ 
mag, dieſer Antrieb ſchafft und geſtaltet ſich ſein beſtimmtes, 


ihm zugehöriges Organ. Dem Inſtinct, welcher das Thier 
zum Nahrungnehmen leitet, dienen beim Raubvogel die 
ſchnellen Schwingen beim Ereilen der Beute, Füße mit ihren 
Klauen, ſo wie der Schnabel beim Erfaſſen und Zerlegen 
derſelben, dann der Magen und Därme, in welchen das Ge— 
noßene aufgelöſt, die Gefäße durch welche es zur Ernährung 


der Theile weiter gefördert wird. Auch der geiſtige Antrieb 
der Menſchennatur, zum Erfaßen des Erfennbaren und zum 


Verarbeiten deſſelben in eine innre Geſtalt des vernünftigen 


Wiſſens ſo wie in die Kräfte zum vernünftigen Handeln 


ſchaffet und bildet ſich ſein eigenthümliches Organ; die Ge⸗ 
Aa 


48 


dankenſprache, deren Worte zuerſt ein innres, überſinnliches 
Element ſind, dann aber in ein äußerlich vernehmbares ſich 
verwandeln. Der Flug des Adlers, wenn er mit Sturmes⸗ 
eile ſich auf ſeine Beute ſturzt, oder der der Schwalbe, wenn 
ſie über das Meer zieht, iſt ſchnell, die Gedankenſprache des 
Menſchen aber iſt noch unvergleichbar ſchneller, denn kaum 
iſt das Wort gedacht oder geſprochen, da iſt der erkennende 
Geiſt auf der Schwinge der Sprache auch ſchon zu dem 
Gegenſtande hingelangt, den das Wort bezeichnete; wir ſind 
im Geiſt bei dem Freunde den wir nannten oder an der 
vormals von uns beſuchten und geſehenen Stätte, auch wenn 
beide, der Leiblichkeit nach, in einem weit entfernten Welt⸗ 
theile ſich befinden. Mit dem Denken und Sprechen des 
Wortes hat auch der Menſchengeiſt zugleich das Vermögen 
empfangen, das leiblich Geſehene und Empfundene in ein 
Weſen von geiſtiger Natur zu verwandeln, welches als fol- 
ches zu feinem: bleibenden Eigenthum wird, eben fo unzer⸗ 
ſtörbar und unvergänglich als der Geiſt, ſeinem Weſen nach, 
dies ſelber iſt. | | | 
Sobald die Biene in ihrer vollkommnen geflügelten Ge⸗ 
ſtalt ans Licht getreten iſt, kann ſie, auch wenn man in 
dieſem Augenblick ſie unter einem Glas, bei einer Fülle von 
Nahrungsmitteln gefangen hält, nicht ruhen, ſie fliegt ängſt⸗ 
lich hin und her in ihrem Gefängniß und ſobald man ſie 
hinausläßt braucht ſie ſogleich die Flügel ſo wie die andren 
Glieder zum Aufſuchen und Herbeiführen des Materials und 
zur Geſchäftigkeit für den gemeinſamen Bau, den ſie mit 
den andren Bienen ihres Schwarmes als Pflegeanſtalt für 
die junge Brut und zu Vorrathskammern errichtet. Auch 
der eingeborne Antrieb des Menſchengeiſtes führet dieſen 
unaufhaltſam, als ein Kunſttrieb von höherer Art, zur Mit⸗ 
wirkung für einen Bau hin, deſſen Aufführung ein gemein⸗ 
ſames Werk der Menſchenſeelen iſt: zu der Bildung einer 
jedem Einzelnen verſtändlichen Menſchenſprache. Dieſe iſt 
das mächtige Bauwerk, in welchen ſchon die längſt vergan⸗ 
genen Geſchlechter den Vorrath der Gedanken und Erkennt⸗ 
niſſe für uns niedergelegt haben, und auch wir vertrauen 
ihm die fruchtbaren Saamen für künftige Zeiten an. 
Die Lebenskraft, die im Weſen der Biene waltet, kann 
nicht anders, ſie muß ſich in der Geſtaltung der Flügel 
und all jener andren Glieder kund geben, welche ii 
ende 


49 


ſchende Antrieb zum Sammlen und Bauen zu feinem Dienfte 
bedarf. So kann auch der vernünftig erkennende und wol⸗ 
lende Menſchengeiſt nicht anders, er muß ſich eine Gedan— 
kenſprache ſchaffen, muß mit dieſer die Welt des Erkennba⸗ 
ren, ſo weit ihm dieſe offen ſtehet, umfaßen und in der 
Mittheilung ſeiner Gedanken an andre Menſchenſeelen zu dem 
gemeinſamen Kunſtwerk des Wiſſens mitwirken. Die Seele 
unſerer armen Taubblinden glich in ihrer leiblichen Beſchrän— 
kung durch den Mangel der höheren Sinnorgane, jener 
Biene, die man bei ihrem Hervorgehen aus der Puppenhülle 
unter einem Glaſe gefangen hält, ſie ſtrebte emſig hinaus 
in den Kreis jenes freiern Wirkens, darin ſie eine Gedan— 
kenſprache, zum Empfangen der fremden Erkenntniſſe von 
außen, und der Mittheilung ihrer innren Regungen an Andre 
erringen konnte. 

Wenn die Menſchenſeele das Werk der Bildung eines 
Mittelgliedes von halb geiſtiger, halb leiblicher Art, wie dies 
die Sprache iſt, beginnt, da folgt ſie zunächſt dem Laufe 
den der leibliche Athem nimmt. Wie der Odem ein Auf 
nehmen und ein Hinausgeben des Lebenselementes der Luft, 
ſo begründet die Sprache ein Aufnehmen und Ausgeben der 
Elemente des Erkennens. Der Drang zu ſprechen, dem 
Geiſte fo weſentlich eingepflanzt als dem Leibe der Drang 
zu athmen, macht deshalb im Menſchen alsbald gemeinſame 
Sache mit ſeinem leiblichen Gefährten und Abbild, er be— 
dient ſich der Stimme zu ſeiner Befriedigung. Auch der 
Taubgeborene, welcher niemals die Stimme eines Menſchen 
vernommen hat, fühlt ſich unwillkührlich dazu gedrungen ſeine 
Empfindungen wie feine Vorſtellungen durch Töne auszu⸗ 
drücken. Ein Taubſtummer der durch den empfangenen Un⸗ 
terricht ſo weit gebracht war, daß er ſeine Gedanken in der 
Wortſprache kund geben konnte, erzählt von ſich, daß er 
vorher, ehe er Worte gelernt hatte, zu jenen Geberden, wo— 
mit er einzelne Gegenſtände bezeichnen wollte, immer auch 
eine beſondere Anregung ſeiner Stimme hinzugefügt habe, für 
jede ihm bekannte Perſon habe er einen freilich zunächſt nur 
ihm durch das Gefühl verſtändlichen Ausdruck der Stimme 
oder gleichſam Namen gehabt. | 

Bei der taubblinden Laura war dieſer nothwendige Zu— 
ſammenhang, in welchem die Gefühle und Vorſtellungen der 
Seele des Menſchen mit ſeiner Stimme ſtehen, in ganz be⸗ 

4 | 


50 


ſonders deutlicher Weiſe zu bemerken. Wenn fie in ein Zim⸗ 
mer trat, in welchem eine Anzahl ihrer blinden Hausgenoffin- 
nen verſammlet war, dann umarmte ſie jede derſelben und 
gab dabei einen beſondren Laut von ſich, den die blinden 
Mädchen, hierinnen aufmerkſamer und geübter als die ſehen⸗ 
den Menſchen, eben ſo gut verſtunden, als einen ausgeſpro⸗ 
chenen Namen. Auch dann, wenn ſie ganz allein war und 
etwa an eine der Freundinnen dachte, der ſie mit vorzüglicher 
Liebe zugethan war, ließ ſie den Laut vernehmen der die 
geliebte Freundin bezeichnete unde wenn man ſie fragte wa⸗ 
rum ſie den Namen nicht ſo wie bei den Gedanken an andre 
Gegenſtände durch das Fingeralphabet ſich ausdrücke, ſondern 
durch einen Laut, da antwortete ſie: ich denke nicht daran 
ihren Namen zu buchſtabiren, — — weil ich denke wie ſehr 
ſie mich liebt und wie ſehr ich ſie liebe. 

Der Menſch, auf der niedren Stufe der Sprachfähigkeit, 
auf welcher der noch ununterrichtete Taubſtumme ſtehet, iſt 
wie der Vogel oder wie andre mit einer Stimme begabte 
Thiere, welche auch die Gefühle des leiblichen Wohlſeyns 
oder des Schmerzens, der wechſelſeitigen Zuneigung oder Ab⸗ 
neigung, des Zornes wie des Schreckens, durch Töne der 
Stimme kund geben, und auch ſpäter ſucht das Stimmorgan . 
bei jeder lebhaften Aufregung des Gemüthes das Recht zu 
behaupten, ein Träger und Verkündiger der Gefühle zu ſeyn. 

Bei Taubſtummen, und ſelbſt bei Taubblinden, macht 
ſich der Drang der Menſchenſeele, zu ſprechen noch auf einem 
andren Wege, durch die Sprache der Geberden Bahn, welche 
eben ſo in inſtinctmäßiger Weiſe erzeugt wird, wie das Be⸗ 
wegen der Hand nach einem Gegenſtand hin „welchen der 
Menſch zu ergreifen wünſcht. Manche Vögel, wie ſchon der 
gemeine Staar, begleiten die Töne ihres Geſanges mit tact⸗ 
mäßigen Bewegungen der Flügel, einige Arten der Kraniche 
werden ſelbſt durch Muſik, die ſich in der Nähe ihres Kä— 
ſiches vernehmen läßt, zu tanzenden Bewegungen der Füße 
und Flügel bewogen. Solche äußerlich verarmte Menſchen⸗ 
naturen, welche nicht allein taub, ſondern zugleich blind ſind, 
können keine Geberden, welche ſehende Menſchen ihnen vor⸗ 
machten, nachahmen, ſie können ihre Zeichenſprache nicht von 
Andren erlernen und dennoch erfinden ſie ſich von ſelbſt eine 
für all ihre Bedürfniſſe vollkommen ausreichende. Eine Taub⸗ 
blinde aus Oſtende ' die Anna Timmermanns vermochte ſich 


51 


ſo gut und deutlich in ihrer Geberdenſprache auszudrücken, 
daß jedes ſehende Kind ſie verſtund und daß man ſie zu 
kleinen Einkäufen außer dem Haufe, bei den Krämern ge- 
brauchen konnte. Ein andrer Taubblinder, der dieſes eben 
fd wie die Anna Timmermanns von feiner Geburt an gewe— 
ſen war, der Schottländer James Mitchell, konnte ganze 
kleine Geſchichten, aus dem engen Kreis ſeiner Erfahrung, 
durch die Geberdenſprache erzählen. Auch Laura unterhielt 
ſich mit ſolchen Perſonen, welche der Sprache des Fingeral— 
phabets unkundig waren, ſehr geläufig in der Sprache der 
Geberden und wenn man ihr Fremde vorſtellte, war gewöhn— 
lich ihre erſte Frage, ob dieſelben blind ſeyen oder ſehen 
könnten? damit ſie hiernach die Weiſe der Mittheilung be— 
ſtimmen konnte. Ohnehin ſprachen bei dieſem lebhaften und 
gefühlvollen Kinde die Mienen des Angeſichts alle Bewegun— 
gen des Innren: Hoffnung wie Furcht, Vergnügen und 
Schmerz, Selbſtzufriedenheit und Reue in der unverkennbar⸗ 
ſten Deutlichkeit aus. 

Obgleich jedoch ſelbſt bei Taubſtummen und bei Taub⸗ 
blinden der vernünftig erkennende Geiſt des innren, einge— 
bornen Antriebes, der zur Bildung einer Sprache führt, nicht 


beraubt iſt, ſondern denſelben in kräftiger Weiſe kund giebt, 


ergeht es ihm dabei immerhin, ehe ſich ihm das Verſtändniß 
der eigentlichen Wortſprache eröffnet, wie der vereinzelten 
Biene oder Wespe, die man von ihrem Schwarme getrennt 
und in ein Behältniß gebracht hat, in welchem übrigens für 
Alles geſorgt iſt, was zum Unterhalt ihres Lebens wie ſeiner 
Geſchäftigkeit gehört. So lange in ihr das Leben noch kräf⸗ 


tig iſt regt ſich der Inſtinct noch in jener Weiſe, in welcher 


er beim gemeinſamen Bau des Stockes thätig war, dies 
aber nur in höchſt unvollkommener Weiſe: die Tröpflein des 
Honigs werden planlos, da oder dort verſtreut, die Wespe 
benagt zwar noch das morſche Holz und verarbeitet ſeine 
Faſern zu einer dem Löſchpapier ähnlichen Maſſe, aber es 
wird aus dieſer kein regelmäßiges Bauwerk geſtaltet. In 
der Wortſprache, die der Menſch aus den fernſten Zeiten 
des Urſprunges ſeines Geſchlechtes zum gemeinſamen Erbe 
mit andren Menſchen empfangen hat, waltet ein Geiſt des 
allgemeinen, vernünftigen Erkennens, welcher auf alle See⸗ 
len, die durch das Erlernen der Sprache ſeine Weihe 
empfangen haben, eben ſo anregend, ordnend und belebend 
4 * 


52 


wirkt, wie die Macht des Bienenweiſels auf die Seelen aller 
Bienen ihres Stockes. Mit der Wortſprache geht in dem 
Dunkel der Menſchennatur ein Licht auf, welches das ganze 
Reich des ſichtbar Geſchaffenen ſo wie ihr eignes Innres 
erleuchtet. Der Wandrer der in der Nacht nur hier in ſei⸗ 
ner Nähe einen einzelnen Baum, einen einzelnen Felſen be⸗ 
merkte, überblickt, wenn ihm der helle Tag anbricht, auf ein⸗ 
mal die ganze Landſchaft, mit ihren Wäldern, Bergen und 
Flüßen; er erkennt ihre vereinzelten Theile als ein zuſam⸗ 
mengehoriges Ganze und fuhlt ſich jetzt zu dem gemeinſchaft⸗ 
lichen Tagwerk mit andren Menſchen freudig hingezogen und 
geftärit. So ergeht es dem Taubſtummen, wenn er aus 
dem engen Kreiſe feiner Geberdenſprache in den weiten der 
PWortſprache eingeführt wird, und noch viel auffallender als 
ihm muß ſich der Gewinn, den die Wortſprache bringt, dem 
Taubblinden kund eben. 

Wir beſitzen verſchiedene ſchriftliche Berichte von Taub- 
ſtummen, welche ſich in der Schriftſprache, und ohne ſich 
ſelber zu hören, ſelbſt mündlich ausdrücken lernten, über die 
ae die fie auf dem Wege der Entwicklung ihrer 

Sprachfähigkeit gemacht haben. Sie kommen alle darinnen 
überein, daß die Vorſtellungen, die ein noch wort⸗ſprachlo⸗ 
ſer, tauber Menſch von den Dingen und Begegnißen der 
Außenwelt hat, im höchſten Grade unvollkommen und 
einſeitig ſind, dabei ſo wenig ein Eigenthum ſeines Geiſtes, 
ii er ſich i ihrer großentheils nur dunkel erinnern kann, viele 
aber nur wie alsbald wieder verſchwindende Schattenbilder 
ner Seele vorübergehen. »Ich beſinne mich, » ſagt 
ber unterrichteten Taubſtummen, » nur noch dunkel, auf 


einer der 
welche Weiſe ich gedacht habe, ehe ich in das Heiligthum 
der Wort) Sprache eingeführt worden bin. 

Wie könnte dieſes auch anders ſeyn. Wird doch der 
Eindruck, der auf unſre Sinnen geſchieht, erſt dadurch zu 
etwas Geiſtigem und hiermit der Natur des Geiſtes verein- 
bar, daß er ſich im Wort der Sprache zu einem vernehmba⸗ 
ren (vernünftigen) Gedanken geſtaltet. Wie ſich ſchon der 
Sinn des Wortes » denken» einem bloß durch Geberden re— 
denden Taubſtummen kaum erklären läßet, ſo iſt wohl über⸗ 
haupt dem Menſchen, der nur ſolche Zeichen ſtatt der Worte 
hat, ein klares Denken unmöglich. Die ſinnlichen Eindrücke, 
ſo wie ſie der Taubſtumme in ihrer einſeitigen Rohheit er⸗ 


53 


faßet, gleichen in ihrer Beziehung auf die innere, niedrere 
wie höhere Natur des Menſchen, dem Grün und den Früch— 
ten des Feldes, bei deren Genuß das Thier unfrer Heerden 
kräftig gedeihet und feiſt, wird. Uns gewähren jene waſſer⸗ 
reichen Rüben und Kohlgemüſe für ſich ſelber kaum eine 
nothdürftige Nahrung, wohl aber eine ſehr gute und gedeih⸗ 
liche wenn ſie durch die Verdauung des Thieres in Fleiſch 
und Milch verwandelt find, Eine Verwandlung die uns ein 
Vorbild deſſen ſeyn kann, was mit den fahrung der 


Sinne vor ſich geht, wenn fie die Form der Wort- und 


Gedankenſprache annehmen. 
Und eben dieſes iſt es ja, was der inwohnende Geiſt 


in uns ſucht und begehrt. Er verlangt eben ſo nach dem 


Leben als der Leib, und damit er dies könne bedarf er eben 
ſo ſeine ihm zuträgliche Nahrung, als der Leib der ſeinigen. 
Unvergleichbar vielmehr als der Blindgeborene, wenn dem⸗ 


ſelben in einzelnen ſeltenen Fällen durch eine glückliche Ope⸗ 
ration das Geſicht, und hierdurch die Anſchauung der fihor 


nen, ſichtbaren Welt geſchenkt wird, freut ſich der Geiſt des 
Zaubblinden, wenn ihm mit dem Verſtändniß und dem Ge⸗ 
brauch der Wortſprache auf einmal die Erkenntniß einer gan— 
zen Welt des ſichtbaren wie des unſichtbaren Seyns aufdäm⸗ 
mert und allmählig in immer helleres Licht tritt. Wir kön⸗ 
nen dies an Lauras Beiſpiel wahrnehmen. Wie ein Hun— 
gernder, dem man nach langer Entbehrung Speiſe und Trank 
reicht, mit ſolcher Luſt und Begierde erfaßte die Seele dieſes 
Kindes das ihm dargebotne Verſtändniß der Wortſprache. 
Der Unterricht in dieſer iſt bei einem Taubblinden un⸗ 
gleich ſchwieriger als bei einem ſehenden Taubſtummen. Wenn 
man dieſem ein aus mehreren Buchſtaben beſtehendes Wort, 
wie etwa Baume, an die Tafel . und ihm den Sinn 


auf den Gegenſtand, den das Wor 13 
dann geſchieht es öfters, daß aub 

lich abmühet eine Aehnlichkeit zwiſchen dem bee nei Wort 
und dem Baume zu finden. Leichter zum Ziele führend iſt 
für einen ſolchen Lernenden ſchon der Weg des Unterrichtes, 
bei welchem ihm der Lehrer die Geſtaltung des Wortes in 
der Bewegung der Lippen, der Zunge, des Unterkiefers und 
des Kehlkopfes vormacht und ihn de 1 dieſe Bewegun— 
gen, welche er am Körper des Lehrers theils mit den Augen 


54 


ſieht, theils mit der Hand fühlt, nachzuahmen. Das Ge⸗ 
fühl, welches der Taubſtumme bei dem allmähligen beſſeren 
Gelingen ſeines Nachahmungsverſuches hat, prägt ſich ſeinem 
Gedächtniß ein, er lernt zugleich daſſelbe nach Willkühr wie⸗ 
der hervorrufen und wenn er nun das Wort Baum oder Hand 
ausſpricht und der Lehrer ihn in der Geberdenſprache oder 
durch Hindeuten auf den Gegenſtand es andeutet, daß er 
das Wort verſtund, dann wird ihm mit dem Gebrauch der 
Sprache zugleich das Verſtändniß ihrer Beſtimmung wie 
ihrer Bedeutenheit gegeben. 

Wie viel ſchwerer iſt es dagegen für einen Taubblin⸗ 
den, daß er die innre, geiſtige Beziehung, in welcher das 
nur für ſeine Finger fühlbare, aus erhabenen Buchſtaben 
gebildete Schriftwort zu dem mit ihm bezeichneten Gegenſtand 
ſtehet, errathe und begreife. Er betreibt allerdings, dem 
Lehrer zu Gefallen, das Geſchäft des Hinlegens der Zettel 
oder Bleche auf denen das fühlbare Wort ſteht zu dem ihm 
entſprechenden Gegenſtand, wie etwa Buch, Brod, Blatt, 
die man ihm anfangs mit ihren buchſtäblichen Zeichen zu⸗ 
gleich an die fühlenden Finger brachte, aber jenes Geſchäft 
kommt ihm lange Zeit nur wie ein Spiel vor, deſſen Nutzen 
er nicht begreift, und welches ihm vielleicht, wie dem taub⸗ 
blinden James Mitchell, mit dem man dieſen Unterricht erſt 
im 19ten Jahre beginnen wollte, bald zum Eckel und Ueber⸗ 
druß wird. 

In dieſe Gefahr gerieth die kleine, geiſtig begabte Laura 
nicht. Als ſie zum erſten Male das ſchriftlich fühlbare Wort 
für Schlüſſel (key) nicht an jenen Schlüſſel legte, der bei 
dem bisherigen Unterrichtsverſuch gebraucht worden war, ſon— 
dern an den hierzu niemals benutzten Schlüſſel, der an der 
Thüre ſtack, da ſprachen all ihre Mienen die freudigſte Selbft: 
zufriedenheit aus; die Bedeutung und Beſtimmung des Schrift⸗ 
zeichens, als eines Mittels die Gedanken Andrer zu verſte⸗ 
hen und ſeine eignen denſelben mitzutheilen, war ihr jetzt 
auf einmal klar geworden, ein Widerſchein menſchlicher Ver⸗ 
nunft ſtrahlte aus ihrem Angeſicht hervor. f 

Das was ganz aus dem Geiſt hervorgeht, erſcheint 
unſrem leiblichen Auge ſtets als ein Wunder, denn es wird 
auf einmal und ſteht vollendet vor uns da, ohne daß wir 
den verborgnen Grund bemerken aus dem es kam; es geht 
ſeinen Weg der vielſeitigen Wirkſamkeit durch das Leibliche, 


1 e vr j 
Zap) 7 i 


55 


ohne daß wir ſehen wohin? Ein ſolches täglich, an jedem 
geſunden Menſchenkind wiederkehrendes Wunder iſt das Ent— 
ſtehen der Menſchenſprache aus den einzelnen Elementen 
welche die Seele von außen empfängt. Wer möchte einem, 
mit geſunden Sinnen begabten Kinde, um es zum vollkomm⸗ 
nen Sprechen zu befähigen die Grammatik, die Aneinander⸗ 
fügung der einzelnen Worte zu einem lebendigen Ganzen der 
Rede lehren und wer könnte dieſes bei einem Taubblinden 
thun, wie Laura war? Dennoch gab ſich an ihr dieſelbe 
ſchöpferiſche Kraft des Geiſtes kund, die wir an unſren ges 
ſundſinnigen Kindern bei der Bildung der Sprache bemerken, 
ohne daß es uns an dieſen ſo ſehr auffällt, weil uns die 
Meinung nahe liegt die Kinder hätten den vernünftigen Zus 
ſammenhang und jenen treffenden Ausdruck ihrer Rede, durch 
den ſie uns oft in Erſtaunen ſetzen, dennoch den Erwachſe— 
nen abgehorcht. Dieſes konnte nun bei Laura keineswegs der 
Fall geweſen ſeyn, als ſie auf einmal die Worte, deren Ge— 
ſtaltung durch Schriftzeichen und Bewegung der Finger ſammt 
ihrer Bedeutung man ihr gelehrt hatte, zu einer vernünfti— 
gen Rede zuſammenfaßte, deren Sinn im Ganzen ſehr ver— 
ſtändlich war, wenn er auch bei einzelnen Worten verfehlt 
erſchien. So fragte ſie, als H. Howe verreiſt war um meh— 
rere Erziehungsanſtalten des Landes zu beſuchen: » werden 
da auch taube Knaben und Mädchen in den Schulen ſeyn? 
Wird Doctor ſehr müde ſeyn; bleibt er, für viele kleine 
Mädchen zu ſorgen? » Und als im Kreiſe ihrer blinden Ge— 
ſpielinnen in der Unterhaltung mit ihr durch die Fingerbuch— 
ſtaben⸗Sprache die Rede von den bevorſtehenden Ferien und 
den Ferienreiſen geweſen war, äußerte ſie gegen die Lehrerin: 
»ich muß nach Hannover gehen, meine Mutter zu ſehen; 
doch nein ich werde ſehr ſchwach ſeyn, ſo weit zu gehen; ich 
will nach Halifax gehen, wenn ich mit Ihnen gehen kann; 
wenn Doctor fort iſt, denke ich, will ich mit Janette gehen; 
wenn Doctor zu Hauſe iſt, kann ich nicht gehen, weil er 
nicht allein bleiben mag, und wenn Janette fort iſt, kann er 
nicht feine Kleider ausbeſſern und Alles allein beſorgen. » 
Mit der Wortſprache, der eigentlichen Sprache der Ge— 
danken, empfängt der Menſch zugleich das deutliche, klare 
Erkennen ſeines Selbſt: Selbſtgefühl und Selbſtbewußtſeyn. 
Auch dieſer Gewinn des Geiſtes, durch das ihm zu eigen 
gewordene Organ der Mittheilung, wird uns an Lauras Betz 


56 


ſpiel erſichtlich. So äußerte das merkwürdige Kind eines 
Tages gegen die Lehrerin: » Doctor wird in vierzehn Ta⸗ 
gen kommen, denke ich in meinem Kopfe und auf die Frage 
ob ſie denn nicht in ihrem Herzen denke? antwortete ſie: 
»nein, ich kann nicht denken im Herzen, ich denke im Kopfe.“ 
Als ſie weiter gefragt wurde, warum ſie nicht im Herzen 
denke? äußerte ſie: »ich kann da nicht wiſſen; alle kleine 
Mädchen können im Herzen nicht wiffen.» Dagegen ſagte 
ſie, als ſie einmal traurig war: »mein Herz thut weh. 
Wenn Herz wehe thut, fließt dann Blut? » Wieder zu einer 
andern Zeit, da ſie, wie es ſchien vom Lernen ermüdet war, 
that fie die merkwürdige Aeußerung: » warum kann ich nicht 
aufhören zu denken? Hören Sie auf zu denken? Hört Har⸗ 
riſon » (fie meinte den Präſidenten, deſſen unglückliches Ende 
ſo eben ein Gegenſtand der Unterhaltung und lebhaften Theil⸗ 
nahme bei den Kindern in der Anſtalt war) »auf zu den⸗ 
ken, da er todt iſt? 

Das Bewegen des Geiſtes muß nothwendig in dem ihm 
zugeordneten Kreiſe feiner Leiblichkeit ein entſprechendes, ver- 
wandtes Bewegen wecken. Ein lebhaftes Kind, wenn es 
ganz allein, ſeinem Spiele dahingegeben iſt, denkt ſprechend, 
im lauten oder leiſen Selbſtgeſpräch, ſpäter geſellt ſich zu 
dem Denken ein innres Hören, denn wenn wir denken haben 
wir mehr oder minder das Gefühl als ob wir die gedachten 
Worte in unſrem Innren vernähmen. Bei dem zum Beſitz 
der Wortſprache gelangten Gehörloſen fällt die Möglichkeit 
eines ſolchen innren Vernehmens hinweg, weil er niemals 
das Menſchenwort gehört, ſondern nur etwa durch gelunge— 
nes Nachahmen der Bewegungen eines fremden Mundes und 
Stimmorgans die äußre, leibliche Geſtaltung deſſelben in 
der eignen Kehle empfunden hat. Darum äußerte ſich ein 
der Sprache fähig gewordener Taubſtummer über das, was 
in ſeinem Innren, beim Denken vorgieng alſo: »ich kann 
nicht anders als in mir ſprechend denken. Auch wenn ich 
ſtill vor mich denke, empfinde ich die Laute, die ich beim 
Sprechen hervorbringe, es geſellt ſich eine Art Zuckung in 
den Sprachorganen bei. Die arme Laura hatte für die Ge⸗ 
ſtaltung und Mittheilung der Worte kein andres vermittlen⸗ 
des Glied als die Finger. Ihr innres Denken war von 
einem Bewegen der Finger begleitet, wie man dies deutlich 
wahrnehmen konnte, wenn man ſie in ihren Selbſtgeſprächen 


9957 ah 


57 


beobachtete. Selbſt in lebhaften Träumen bewegte ſie die 
Finger, und auch dann, wenn dieſe Bewegung während 
dem Zuſtand des Wachens keine ſichtbare war, mußte ſich 
bei ihr zu dem Denken eines Wortes die Erinnerung an das 
leibliche Gefühl geſellen, das ſie beim Hervorbringen deſſel— 
ben in den Fingern empfunden hatte. 

Die Wortſprache iſt ein gemeinſames Kunſtwerk der 
Seelen, zu deſſen Vollführung dieſe durch einen Antrieb des 
Geiſtes geführt werden, welcher jenem ähnlich iſt, der, 
als Kunſttrieb die Biene zum gemeinſchaftlichen Bau ihrer 
Waben anregt. Die denkendſprechende Seele fühlt ſich deß— 
halb gedrungen, durch die Sprache ihr eignes innres Bewe— 
gen andren Seelen mitzutheilen und die gleiche Mittheilung 
von dieſen zu empfangen. Die taubblinde Laura war eben 
ſo geſprächig wie andre lebhafte Kinder ihres Alters und 
ihres Geſchlechts. Wo ſie nur beim Zuſammenſeyn oder Zu— 
ſammentreffen mit einer der Hausgenoſſinnen oder auch mit 
ſolchen Freunden des Hauſes, welche die Sprache des Fin— 
geralphabets verſtunden, Zeit und Gelegenheit fand, da 
knüpfte ſie das muntre Geſpräch an; mit Kindern welche die 
gleiche Uebung hatten als ſie, nahm das fühlbare Sprechen 
einen ſo ſchnellen Gang an, daß der Blick der Sehenden 
der Bewegung der zarten Finger kaum zu folgen vermochte. 
Die Gegenſtände der Unterhaltung waren im Ganzen dieſel— 
ben, wie bei andren gutartigen, klugen Kindern, doch äuſ— 
ſerte ſich bei jeder Gelegenheit in Laura ein ganz beſondres 
Verlangen Neues zu wiſſen und zu erforſchen. 

Dieſe Wißbegier eines nach Erkenntniß ſtrebenden Gei— 
ſtes äußerte ſich auch beſtändig beim Unterricht ihrer Lehrer 
und, als ſie die Bücher für Blinde mit erhabenen Buchſta— 
ben zu leſen anfieng, auch in Beziehung auf das Geleſene. 
Sie mochte auf dieſem Wege Etwas von Würmern erfahren 
haben, da fragte ſie die Lehrerin: »hält Ihre Mutter auch 
Würmer?» (Nein, Würmer leben nicht im Haufe). — 
»Warum ? (Weil fie außer dem Haufe Dinge zu eſſen 
finden). — »Und zu ſpielen?» — »Sahen Sie Wurm? 
hatte er Augen, hatte er Ohren, hatte er Gedanken?? — 
»Athmet er?» — »Stark?» — Wenn er müde ift?» — 
»Kennt Wurm Sie? » — »Erſchrickt er wenn Henne ihn 
frißt? » 
Ein andres Mal fragte ſie: »kann Kuh Pferd mit Hör— 


58 


nern ſtoßen? » — »Schlafen Pferd und Kuh im Stalle 2 » 
— »Sitzt Pferd des Nachts?» — »Warum haben Kühe 
Horner?» (Um böſe Kühe zu ſtoßen, wenn fie von ihnen 
beunruhigt werden). — »Verſtehen böſe Kühe weggehen, 
wenn gute Kuh fie ſtößt?» — »Warum haben Kühe zwei 
Hörner? Um zwei Kühe zu ftoßen ? >» N 

Fand Laura bei ihren kleinen Leſeübungen einzelne Worte, 
die ſie nicht verſtund, dann hörte ſie nicht auf zu fragen und 
zu forſchen, und wenn die Lehrerin ſich unvermögend fühlte 
ihr den Sinn eines Wortes, wie etwa »hochachtungs voll? 
begreiflich zu machen, da konnte der Eifer der Wißbegierde 
die Geſtalt des Unwillens annehmen. »Ich will, ſagte ſie, 
den Doctor fragen, denn ich muß es wiſſen. » 

Das natürliche Verlangen nach Mittheilung, das in 
jeder Menſchenſeele liegt, äußerte ſich bei unſerer Taubblin⸗ 
den namentlich auch in dem Bemühen andren taubblinden 
Kindern, welche in Howes Anſtalt kamen, zum Verſtändniß 
und zum Gebrauch der Wortſprache zu verhelfen. Hierbei 
zeigte ſie ſich ſo erfinderiſch und ſo emſig bemüht, daß ſie 
den Lehrerinnen eine weſentliche Mithülfe bei ihrem ſchweren 
Geſchäft leiſtete. Dem kleinen, zwar nicht talentloſen, dabei 
aber bequemen taubblinden Oliver Caswell, ſo wie der ſchon 
ältern und viel weniger begabten Lucy Reed gab Laura, 
durch einen glücklichen Einfall das erſte Licht über die Bezie— 
hung, in welcher die Schriftzeichen eines Wortes mit dem 
Gegenſtand ſtehen, den das Wort benennt, indem ſie dem 
Erſteren, deſſen Geruchs- und Geſchmacksſinn vollkommen ge⸗ 
ſund waren, zur Deutung des Wortes Brod ein Stück 
Brod, handgreiflich fühlbar an Mund und Naſe brachte und 
bei Lucy zu ähnlichem Zwecke eine Feige benutzte. f 

In demſelben Maaße in welchem die Seele ihre Kräfte 
zum Erkennen nach außen gebraucht und benutzt, wird ſie auch 
wie ſchon erwähnt dieſer Kräfte an ſich ſelber inne und ge— 
langt hierdurch zu einem Gefühl und Bewußtſeyn ihrer ſelbſt. 
Kleine Kinder reden anfangs, wenn ſie zu ſprechen anfangen, 
eben ſo wie blödſinnige Menſchen von ſich ſelber in der drit— 
ten Perſon, wie von einem Fremden. Auch unſre Taubblinde 
that, als ſie die Wortſprache zu erlernen anfing daſſelbe 
und ſagte, wenn ſie Hunger oder Durſt hatte »Laura Brod 
geben« oder »Waſſer trinken Laura.« Sobald ſich jedoch 
bei der beſfren Uebung in der Wortſprache der Kreis ihrer 


59 


Erkenntniße nach außen wie nach innen erweiterte, gab ſich 
auch das vollkommnere Selbſtbewußtſeyn dadurch zu erkennen, 
daß ſie jetzt ſagte (nach S. 55) ich will oder ich muß da 
oder dorthin gehen, dieſen oder einen andren Brief ſchreiben. 
Mit dieſer Beſitznahme ſeines eignen Selbſt gelangt der ver— 
nünftig erkennende Geiſt des Menſchen zugleich auch zu einer 
Macht über ſein äußres Benehmen und all ſeine Handlungen, 
wodurch dieſe das Gepräge einer ſittlichen Ordnung empfan⸗ 
gen. Der jungfräuliche Anſtand, das feine Gefühl für das 
was ſchicklich oder unſchicklich, was recht oder unrecht ſey, 
war der Taubblinden nicht durch Nachahmung andrer ver— 
nünftig handelnden Menſchen, nicht durch äußre Belehrung 
gekommen, ſondern es ging aus ihrem eignen Innren, aus 
dem eingebornen Antriebe des vernünftig erkennenden und 
wollenden Geiſtes hervor. Wie tief konnte ſich das muntre 
Kind betrüben, wie ſprach ſich in allen Zügen ſeines Ange— 
ſichtes eine innige Reue aus, wenn es bemerkte, daß es mit 
ſeinen kleinen Neckereien einer der Geſpielinnen wehe gethan 
hatte. Die jungfräuliche Verſchämtheit der kleinen Taubblin— 
den ging ſo weit, daß ſie in Gegenwart des Herrn Howe 
nicht einmal ihre Puppe, die ſie ſo eben hatte zu Bette brin— 
gen wollen, auskleidete, ſondern erſt abwartete, bis ſie mit 
der Lehrerin allein war. So freundlich dankbar ſie alle Be— 
zeugungen der theilnehmenden Liebe erwiederte, welche ihr 
von Perſonen ihres Geſchlechtes erwieſen wurden, ſo ängſtlich 
zurückhaltend benahm ſie ſich gegen Perſonen von andrem 
Geſchlecht, denen ſie nicht einmal die Hand zur Begrüßung 
reichen wollte. Fremdes Eigenthum beachtete ſie, wie man 
dies auch an andren Taubblinden bemerkt hat, mit ungemei— 
ner Gewiſſenhaftigkeit, bei Tiſche benahm ſie ſich mit feiner, 
ſittlicher Mäßigung. Mit dem Sinn für das was wohlan— 
ſtändig iſt, verband ſich bei ihr auch der für das was äußer— 
lich ſchön und wohlgefällig iſt in einer Weiſe wie derſelbe 
überhaupt dem weiblichen Geſchlecht eigenthümlich iſt. Selbſt 
beim Flechten ihres Haares und in ihrem Anzuge war ein 
Streben nach Zierlichkeit unverkennbar und an neuen Klei— 
dern, wie an jeder Kleinigkeit die zum Schmuck des weibli— 
chen Körpers gehört, bezeugte ſie große Freude und konnte 
bei ſolcher Gelegenheit den Wunſch auch andren Sehenden 
ſich zu zeigen, nicht verbergen. 8 

An dem Beiſpiel dieſer, ſo wie andrer Taubblinden, die 


| 


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mitten in ihrer äußren Mangelhaftigkeit und finnlichen Verar⸗ 
mung ſich eben ſo fröhlich und glücklich, eben ſo vernünftig 
thätig zeigten, wie Menſchen von geſunden Sinnen, lernen 
wir, daß der geiſtige Beſitzſtand der menſchlichen Natur ſelbſt 
durch den Verluſt all der herrlichen Güter, welche die Wahr— 
nehmung der äußren Sinne ihm gewährt, nicht vernichtet wer— 
den könne. Der Menſch gleichet hierin einem bemittelten 
Eigenthümer, deſſen Vermögen nicht einem Schiffe anvertraut 
iſt, welches fern über das Meer gehet, oder in prachtvollen 
Gebäuden und Geräthſchaften beſtehet, die der Blitz entzünden 
und eine Feuersbrunſt einäſchern kann, ſondern einem Sol— 
chen der ſeinen größeſten Schatz, vielleicht in Geſtalt eines 
koſtbaren Demantes bei ſich ſelber trägt, und noch immer als 
reicher Mann aus dem geſcheiterten Schiffe oder dem zuſam— 
menſtürzenden Wohnhaus ſich rettet. Freilich iſt ihm, mit 
den Sinnen des Geſichts, des Gehörs, des Geruches und 
Geſchmackes eine ganze Welt der äußren Wahrnehmungen 
und Genüſſe geraubt, aber er behält den Erbbrief und das 
Beſitzerrecht auf jene äußre Welt in ſeinem Innren und hier⸗ 
mit zugleich den eigentlichen Genuß derſelben, denn es wohnt 
in ihm eine Schöpferkraft, welche das was ihr in der Außen— 
welt genommen iſt, in der Innenwelt aufbauet. Der Inſtinct 
des Thieres gehet auf etwas nahes oder fernes, gegenwärti— 
ges oder künftiges Leibliches hin, dagegen iſt der inwohnende 
Antrieb, welcher die menſchliche Natur bewegt, nicht auf ein 
bloß Leibliches ſondern auf ein Reich des Geiſtigen gerichtet. 
Das was der Kunſttrieb des Thieres webt und baut, iſt, ſo 
ſchön es auch ſeyn mag, dennoch leicht zerſtörbar und ver— 
gänglich, wie der Leib der daſſelbe gemacht hat; das aber 
was der innre Antrieb der Menſchennatur baut und ſchaffet, 
iſt wie der Geiſt ſelber, in und aus dem es erzeugt wurde, 
von unvergänglicher, ewiger Natur und kann mit den Sin⸗ 
nen ſo wie mit den andren Gliedern des Leibes nicht hinweg— 
genommen werden oder im Grabe verweſen. Denn wie die 
Wachtel, wenn ſie über das Meer ziehet, zwar auf mancher 
Inſel ausruhet, nirgends aber lange verweilet, bis ſie ihren 
Zug nach dem Ziel ihrer Wanderungen, das jenſeits des 
Meeres liegt, vollendet hat, ſo findet auch das innig tiefe 
Verlangen nach Erkennen und Wiſſen, das der Menſchenſeele 
eingeboren iſt, nirgends eine bleibende Ruhe und volle Ge⸗ 
nüge, bis es das Ziel ſeines Strebens, die Erkenntniß eines 


61 


2 * 
Göttlichen, den Schöpfer, mitten in den@errlichen Werken 
ſeiner Schöpfung gefunden hat. Und das, was ſich zur Er— 
kenntniß eines Göttlichen erheben kann, muß ſelber von gött— 
licher Art und Natur ſeyn. f 


10. Valentin Jameray Duval. 


Wir wollen noch ein andres Beiſpiel betrachten, welches 
uns lehren kann, daß der Antrieb der den Menſchengeiſt, wie 
der Wandertrieb den Vogel fortreißet, und ihn aus der Heiz 
math eines ſinnlichen Wahrnehmens in die Welt eines gei— 
ſtigen Erkennens führt, durch alle Hinderniſſe und äußere 
Hemmungen ſich hindurcharbeite, und ſein fernes Ziel zuletzt 
eben ſo ſicher erreiche, wie der Storch, wenn er aus Afrika 
zurückkehret, ſein Neſt. 

Bei der vorhin erwähnten Laura Bridgmann, ſo wie 
bei andren nicht talentloſen Taubblinden, könnte man zu der 
Vermuthung kommen, daß gerade nur der Umſtand, daß die— 
ſelben von allen Beluſtigungen der oberen Sinne ſo verlaſſen 
waren, den heftigen Drang nach innrer geiſtiger Beſchäftigung 
und das Verlangen Neues zu erfahren entzündet habe. Hätte 
Laura, wie andre geſunde Kinder, ſehen und hören können, 
dann, fo möchte man vielleicht meinen, hätte ſich ihre Wiß⸗ 
und Forſchbegier nicht in ſo mächtiger Weiſe gezeigt, als 
dies bei ihr der Fall war; ſie wäre mit dem gewöhnlichen 
a des Wiſſens und Erkennens andrer Kinder zufrieden 
geweſen. 

Daran iſt freilich etwas Wahres, daß der geiſtige Drang 
im Menſchen deſto leichter und kräftiger ſich entfalte, je we— 
niger er durch den Genuß der Sinne zerſtreut und aus ſei— 
ner innren Bahn aufs Aeußerliche hinweggezogen wird. Die 
Hütte der Armuth iſt gar oft die Geburtsſtätte großer, hoch— 
verdienter, dabei auch weltberühmter Männer geweſen, aber 
weder die Hütte noch die Armuth ihrer Eltern hat ſie zu dem 
gemacht, was ſie geworden ſind, ſondern der innre Beruf 
den der Geiſt des Schöpfers in ihren Geiſt legte. Laura 
wäre, auch wenn ſie die gewöhnlichen Kräfte der Sinnen 
beſeßen hätte, ein ausgezeichnetes Kind geworden; der be— 
rühmte italieniſche Maler Giotto, der als armer Hirtenknabe 
allerhand Figuren mit Kohle an den Felſen zeichnete, wäre 
ein großer Künſtler geworden, wenn ihn ſein Lehrer, der 


62 


m 

Meiſter Cimabutz auch nicht auf dem Felde bei den Kühen, 
ſondern als den Sohn eines Edelmannes, in einem reichen 
Wohnhauſe aufgefunden hätte. Denn der innre Beruf, den 
Gott in die Menſchenſeele gelegt hat, fragt nach keinem 
Stand noch Ort der Geburt; er kann, wie dies geſchehen 
iſt, den Sohn eines leibeigenen Bauern zum Stand eines 
berühmten Feldoberſten, den Sohn eines Bauern zur Würde 
eines Miniſters hinanführen; wer zu einem großen Wirken 
im Gebiet der Kunſt oder der Wiſſenſchaft berufen iſt, dem 
wird weder ſeine reiche, adliche Geburt mit all ihren ſinnli⸗ 
chen Zerſtreuungen, noch auch die Dürftigkeit der Eltern von 
ſeinem Ziele abhalten können. Der Schöpfer, der die jungen 
Raben ſpeiſet, wenn ſie nach Futter fliegen, der weiß auch 
das Talent, das er in ſeine Menſchen legte, zur rechten Zeit 
zu wecken und mitten in einer Wüſte, welche ſie umgiebt, mit 
der nöthigen Nahrung und Pflege zu verſorgen. Die große 
Mannichfaltigkeit in dem Weſen der Kräuter und Bäume, 
ſo wie der Thiere auf Erden, ſtellt ſich im Geſchlecht der 
Menſchen auf geiſtige Weiſe, in der großen Verſchiedenheit 
der Anlagen und der Arten des innren Berufes dar und ſo 
wie draußen dafür geſorgt iſt daß jedes Thier feine ange- 
meſſene Weide und Wohnſtätte finde, fo läßt ſich dieſe zärt⸗ 
liche Vorſorge einer ewigen Weisheit noch viel herrlicher da 
erkennen, wo ſie die einzelnen Menſchen für den künftigen 
Beruf ihres Lebens begabt, zubereitet und fortziehet. 

Mit einer beſondren Theilnahme wird deshalb Jeder 
der an der Betrachtung der Wege Gottes unter den Men— 
ſchenkindern ſeine Freude hat die Lebensgeſchichte des Valen⸗ 
tin Jameray, genannt Duval betrachten, der durch wunder⸗ 
bare Leitung des in ihm liegenden geiſtigen Antriebes aus 
einem unwiſſenden hungernden Bettelbuben der hochvertraute 
Bibliothekar und Vorſtand der Münzſammlung eines großen 
Kaiſers, und durch den Drang und Aufſchwung der eignen 
Kraft zu einem berühmten Gelehrten wurde. 

Die Zeit der Geburt des Jameray Duval, das Jahr 
1695, fällt in die Tage von Frankreichs glänzenden äußeren 
Eroberungen, zugleich aber auch ſeiner großen innren Noth 
unter Ludwig XIV. Schwere Abgaben drückten das Land, 
ein großer Theil der Blüthe ſeiner Jugend wurde für den 
Kriegsdienſt ausgehoben und in demſelben aufgeopfert, an 
vielen Orten lag das Land unbebaut, weil es an den nöthi⸗ 


63 


gen Arbeitern fehlte, dazu kam öfterer Mißwachs; Handel 
und Gewerbe waren durch den Krieg geſtört; überall gab es 
trauernde Familien über den Tod eines Bruders oder Soh— 
nes oder rüſtigen Vaters, welcher gefallen war in dem Kriege 
der für des Königs Ehrgeiz geführt wurde. Der Landſtrich 
der Champagne iſt einer der ärmſten in ganz Frankreich, in 
ihm liegt das kleine Dorf Artenay, in welchem das Haus 
von Duvals Eltern eines der dürftigſten war. Denn der 
Vater, ein armer Bauersmann, ſtarb, als Valentin erſt 
zehen Jahre alt war und hinterließ der Mutter die Sorge 
für eine zahlreiche Familie, zu deren Unterhalt die geringen 
Mittel, welche der Wittwe geblieben waren, bei der dama⸗ 
ligen großen Theurung nicht hinreichten. Da gab es täglich 
Jammer und Klagen, Geſchrei der kleineren Kinder nach Brod 
und eine Uebung der größeren im Hunger und in der Arbeit. 
Doch in Valentin war eine Naturkraft welche ſich nur um 
ſo muthiger äußerte, je größer die äußere Noth war; was 
ihm an äußeren Freuden abgieng das erſetzten ihm reichlich 
die innren Freuden, die ſeine fröhliche Sinnesart ihm ge— 
währte, denn er war der munterſte Knabe im ganzen Dorfe, 
der die andren Kinder durch ſeine Luſtigkeit ergötzte und 
ihre Spiele durch ſeine heitren Einfälle belebte. Er hatte 
in der Schule ſeines Dorfes nur nothdürftig leſen gelernt, 
als er im zwölften Jahr ſeines Alters in den Dienſt eines 
Bauern trat. Das Hüten der jungen Welſchhühner, das 
ihm fein Herr während des Sommers anvertraute, war frei— 


lich für ſeinen lebhaften Geiſt eine langweilende Beſchäfti— 
gung, deshalb darf es uns nicht verwundern, daß der Knabe 
beſtändig auf Mittel zu ſeiner Unterhaltung ſann, die nicht 
immer glücklich gewählt waren. Unter andrem hatte er ge— 


hört, daß man die kalekutiſchen Hühner durch die rothe Farbe 
wie toll machen könne. Er wollte die Wahrheit dieſer Aus— 


ſage prüfen und hieng deshalb einem Stück ſeiner Heerde 


einen rothen Tuchlappen um den Hals. Das Thier gerieth 
in heftigen Zorn, zerarbeitete ſich vergeblich um den Lappen 
los zu werden, und flatterte dann, ohne ſich fangen und auf— 
halten zu laſſen ſo lange herum, bis es todt zur Erde fiel. 
Alsbald jagte ihn der Bauer aus ſeinem Dienſt und da ſich 
in ſeinem Dorfe kein andres Geſchäft für ihn fand, die Mut⸗ 
ter aber zu arm war ihn zu ernähren, machte er ſich auf um 


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auswärts ein Unterkommen zu finden. 


64 


Es war im Winter von 1708 auf 1709, ohnfehlbar 
dem härteſten den man aus dem Verlauf des ganzen vori— 
gen Jahrhunderts kennt, als der Knabe Duval ſeine erſte 
Wanderung in die weite Welt antrat. Die Kälte, welche 
nach dem h. Dreikönigsfeſte 1709 ihren höchſten Grad er⸗ 
reichte, war ſo furchtbar, daß Niemand ohne die höchſte 
Noth ſich aus den Wohnungen und aus der Nähe des Feuer⸗ 
herdes hinauswagte ins Freie, denn man hörte täglich von 
Menſchen die man an den Wegen, zum Theil aber auch 
ſelbſt in ihren Häuſern, erfroren gefunden hatte. Alle Orte 
der öffentlichen Verſammlungen, auch die Gerichtshöfe und 
ſelbſt die Kirchen waren verlaſſen, man konnte nicht einmal 
den Wein und das Waſſer zum Dienſt des Altares flüßig 
erhalten. Der Wein in den Kellern erſtarrte zu Eis, das 
Vieh in den Ställen erlag zum Theil dem Froſt, die Thiere 
des Waldes, vierfüßige wie Geflügel, nahten ſich den Woh— 
nungen und ſelbſt dem Herd der Menſchen, um da Schutz 
gegen die grauſenhafte Kälte und Futter zu ſuchen, das 
ihnen draußen im Freien der hohe Schnee verdeckte. Viele 
Vögel fielen gelähmt aus der Luft, die Fiſche ſtarben in 
den bis zu ihrem tiefſten Grund ausgefrornen Weihern, die 
Saat auf den Feldern wie die Reben der Weinſtöcke wurden 
von der Kälte zerſtört, die Bäume in den Gärten und ſelbſt 
die Stämme des Laubholzes in den Wäldern zerbarſten, 
Felſenſtücke wurden zerſprengt und ſtürzten herab. Es dauerte 
mehrere Jahre, bis die Spuren der Verheerungen, welche je— 
ner Winter durch ſeine Kälte und ſpäter durch den Eisgang 
der Flüße angerichtet hatte, nur einigermaße nverlöſcht werden 
konnten; Weinberge wie Oelbaumpflanzungen mußten neu 
angelegt werden, länger als ein Menſchenalter hindurch ſahe 
man verſtümmelte Leute an Krücken gehen, welche ihre Glie— 
der nicht im Krieg, ſondern in Folge des Erfrierens unter 
den Meſſern und Sägen der Wundärzte verloren hatten. 

Eben in jenen Tagen, da der Winter am ſtrengſten zu 
werden begann, irrte der junge Duval von Ort zu Ort auf 
den menſchenleeren Landſtraßen umher, um einen Dienſt und 
eine Freiſtätte gegen Froſt und Hunger zu ſuchen. Da kam 
zu dieſen beiden Arten der Noth und Plage noch eine dritte, 
die härteſte von allen, die feinem Leben plötzlich ein Ende 
zu machen drohete und welche ihm dennoch zu ſeiner Ret⸗ 
tung, von dem ſonſt unvermeidlichen Tode des Game c 

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65 


und Verhungerns zugeſendet war. Auf dem Wege zwiſchen 
Provins und Brie, in der Nähe einer Pächterwohnung über⸗ 
fiel ihn ein fo furchtbares Kopfweh, daß es ihm ſchien als 
würden die Knochen des Schädels zerſprengt und die Augen 
aus ihren Höhlen herausgedrängt werden. Er konnte nur 
noch mit Mühe zur Thüre der nahen Pächterwohnung ſich 
hineinſchleppen und der Perſon die ſie ihm öffnete die demü⸗ 
thig flehendliche Bitte ausſprechen, daß man ihm einen Winkel 
anweiſen möchte, wo er ſich erwärmen und von dem lähmen⸗ 
den Schmerz erholen könne. Man öffnete ihm den Schaaf⸗ 
ſtall und jene gelinde Wärme welche die zahlreich dort ver— 
ſammleten Thiere durch Odem und Ausdünſtung verbreite— 
ten, war ihm wohlthätiger, als ihm in dieſem Augenblick 
das geheizte Zimmer des beſten Wohnhauſes hätte ſeyn kön⸗ 
nen. Bald loſte ſich die Erſtarrung feiner Glieder auf, zu- 
gleich aber wurde das Kopfweh ſo heftig, daß es dem Kran— 
ken die Beſinnung raubte. Als am andren Morgen der Päch— 
ter in den Stall trat und die fieberhaft entzündeten, funkeln⸗ 
den Augen, das angeſchwollene mit rothen Puſteln bedeckte 
Angeſicht des Knaben ſahe, erſchrak er nicht wenig. Ohne 
Rückhalt erklärte er dem armen Kranken, daß er die Kinder- 
pocken habe und ohnfehlbar ſterben müße, weil er viel zu 
ſchwach und elend ſey um an einen Ort der beßren Verpfle⸗ 
gung hinzugehen oder gebracht zu werden, hier aber in die— 
ſem armen Hauſe nicht ſo viel vorhanden ſey, um ihn, wäh— 
rend einer ſo lang dauernden Krankheit den nothdürftigſten 
Unterhalt zu gewähren. Der kranke Knabe war unvermö— 
gend ein Wort zu ſprechen. Da rührte ſein Zuſtand den 
Pächter, er gieng nach ſeinem Wohnhaus und brachte von 
dort einen Bündel alten Linnenzeuges, in das er den Kran- 
ken, nachdem er ihn mit Mühe entkleidet hatte, wie eine 
Mumie einwickelte. Dort im Stalle lag der Dünger der 
Schaafe in Schichten aufgehäuft, zwiſchen dieſe hinein machte 
der Pächter ein Lager aus Spreu, die vom geſichteten Has 
fer abfällt, legte den Knaben darauf und deckte ihn dann 
bis an den Hals zuerſt mit Spreu, dann mit den hinweg— 
gehobenen Lagen des Düngers zu. Wie über einen Todten, 
den man ins Grab geſenkt hat, machte der mitleidige Mann, 
als er das Geſchäft des Eingrabens beendigt hatte, ein Kreuz 
über Duval, empfahl dieſen Gott und ſeinen Heiligen und 
ſprach beim Weggehen nochmals die Verſicherung gegen ihn 
5 


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66 


aus, daß nur ein göttliches Wunder ihn von dem, allem 
Anſcheine zu Folge nahem Tode retten könne. 

Es hätte dieſer Verſicherung nicht bedurft um den armen 
Kranken mit Gedanken an ſein Ende zu erfüllen; er fühlte 
ſich zum Sterben matt und die Betäubung der Sinnen, die 
ihn von Zeit zu Zeit beſchlich, ſchien ihm bereits der Anfang 
des Todesſchlummers, dem er, in ſeinem Halbtraum, ohne 
Furcht und Scheu entgegen ſahe. Aber das Wunder einer 
göttlichen Vorſorge, das allein, nach der Ausſage des Päch⸗ 
ters ihn retten konnte, hatte ja bereits ſeinen Anfang ge⸗ 
nommen; er war gerade im rechten Augenblick zu dieſem 05 
ihn heilſamen Obdach gekommen und eine Art von Inſtinct 
hatte dem Pächter das zwar ſonderbare und den Sinnen wi⸗ 
derwärtige, zugleich aber für dieſen Fall zweckdienlichſte Mit⸗ 
tel in den Sinn gegeben, um der Krankheit ihre tödtende 
Macht zu nehmen. Der warme Aushauch der Schaafheerde, 
die ſich um ſein Grab herumlagerte, die Wärme welche die 
Grabſtätte ſelber von allen Seiten über ſeine kranken Glieder 
ausgoß, erregte einen wohlthätigen Schweiß und erleichterte 
hierdurch den Ausbruch der Pocken. Das heftige Kopfweh 
und die Betäubung waren hiermit gehoben; das Leiden war 
zu einem äußerlichen geworden, für ein fremdes Auge frei⸗ 
lich gräßlich anzuſehen, für das Gefühl des Kranken aber 
ſehr erträglich. 

Während Duval ſo in ſeinem Schaafſtall geborgen lag 
und über nichts zu klagen hatte als über eine außerordent⸗ 
liche Schwäche und über den allmälig ſich wieder anmelden⸗ 
den Hunger, wüthete draußen im Freien der Froſt des Win⸗ 
ters mit noch immer zunehmender Heftigkeit. Mehrmalen 
wurde er des Nachts aus ſeinem Schlafe durch ein Getöſe 
aufgeweckt das dem Donner oder dem Abfeuern einer Artil⸗ 
leriefalve glich und wenn er am Morgen den Pächter um 
die Urſache des nächtlichen Schreckens fragte, erzählte ihm 
dieſer, daß der Froſt wieder einen oder etliche der Wallnuß⸗ 
und Eichenbäume, die in der Nähe des Stalles ſtunden, 
bis auf die Wurzel hinab zerſpalten, oder durch das Ge⸗ 
frieren der tief in den Klüften verborgnen Feuchtigkeit ein 
benachbartes Felſenſtück wie durch Pulver zerſprengt habe. 
Draußen auf den Landſtraßen wie in den Hütten erfroren 
noch täglich Menſchen; der Pächter ſelber in ſeiner armen 
Wohnung konnte ſich bei dem immer flammenden Ofenfeuer 


E. 1 5 
. 


67 


der Erſtarrung kaum erwehren, nur Duval hatte es in ſei⸗ 
nem ſeltſamen Behältniß und zwiſchen ſeiner thieriſchen Die⸗ 
nerſchaft eben ſo warm wie der König oder ein Prinz von 
Frankreich in ihren wohlverwahrten Zimmern. 

Dennoch war dieſes Glück fein ungeſtörtes, denn mitten 
in dem wohlthuenden Gefühl des Ausruhens und der gleich— 
mäßigen Erwärmung der kraftloſen Glieder, ſtellte ſich jetzt, 
als die Krankheit ſich milderte, die Plage des Hungers ein. 
Der Schäfer, der ſich der Pflege des Knaben nach Kräften 
annahm, war ein ſehr armer Mann, ihn hatten die uner⸗ 
ſchwinglichen Abgaben und Steuern, welche Frankreichs rei- 
cher König auf ſeine armen Unterthanen legte, ſo ganz zu 
Grunde gerichtet, daß ihm von den hartherzigen Einnehmern 
bereits ſein ganzer Hausrath genommen war, dazu auch ſein 
Zugvieh, bis auf einige zum Anbau ſeiner Felder unentbehr⸗ 
liche Stücke; nur die Schaafheerde war in feiner Obhut ges 
blieben, weil ſie nicht ſein, ſondern dem Eigenthümer des 
Gutes gehörte. Indeß that der gute Mann dennoch was er 
konnte; er ließ ſeinen armen Pflegling täglich zweimal einen 
dünnen Waſſerbrei reichen, an welchem keine andere Zuthat 
war als Salz, und auch dieſes ſo ſparſam, daß man es 
kaum ſchmeckte, denn ſelbſt das Salz war ſo hoch beſteuert, 
daß es dem armen Volke ſchwer fiel ſich nach Bedürfniß da⸗ 
mit zu verſorgen. Eine Art von zugeſtöpſelter Flaſche war 
das Gefäß worin man den Hafermus überbrachte, hierdurch 
allein war es möglich dieſe Speiſe vor dem Gefrieren zu 
bewahren, indem der Kranke die Flaſche zu ſich in ſein war⸗ 
mes Lager hineinnahm, um ſich von Zeit zu Zeit an einem 
Schluck derſelben zu erquicken; das Trinkwaſſer, das man ihm 
brachte, war häuſig halb gefroren. 

Einige Wochen hindurch war dieſe Koſt zur Stillung 
des Hungers hinreichend, dann aber verlangte die wieder 
ſtärker werdende Natur eine kräftigere Koſt. Aber auch 
dieſe konnte der arme Pächter nur durch Waſſerſuppe und 
einige Stücken Schwarzbrod gewähren, welches ſo feſt gefro— 
ren war, daß man es mit dem Beil zerſchlagen mußte und 
daß nur die Wärme des Mundes oder der Lagerſtätte es 
genießbar machte. So gering auch dieſe Gaben einer Liebe, 
welche ihren Lohn auf Erden nicht dahin nahm, in den Au⸗ 
gen der Menſchen ſeyn mochten, überſtiegen ſie dennoch das 
Vermögen des Pächters, dieſer ſahe ſich genöthigt den Pfar⸗ 

5 


68 


rer des Dorfes um Hülfe für feinen Kranken anzufprechen, 
und ſeine Fürbitte fand Erhörung. Die Wohnung des Pfar⸗ 
rers war faſt eine Stunde weit von dem Schaafſtall entfernt, 
dorthin wurde Duval gebracht, nachdem man ihn vorſichtig 
aus ſeinem Grabe genommen, in andre Lumpen und einige 
Bündel Heu eingewickelt und auf einen Eſel geſetzt hatte. 
Noch immer war, als er dieſen Umzug antrat, die Kälte ſo 
groß, der Wechſel zwiſchen der Wärme ſeines Lagers und 
der freien Luft ſo wehethuend, daß er halb todt und mit 
erſtarrten Gliedern an feinem neuen Bergungsort anlangte. 
Hier ſuchte man den gefährlichen Folgen der Froſtbeſchaͤdi— 
gung dadurch zuvorzukommen, daß man den Kranken mit 
Schnee rieb und ihn dann in ein Lager brachte, welches an 
Beſchaffenheit ſo wie für Erhaltung einer gleichmäßigen 
Wärme faſt eben ſo eingerichtet war, als das im Schaafſtalle 
des Pächters. Erſt nach acht Tagen, als die Kälte ſehr 
bedeutend nachgelaſſen hatte, brachte man den wieder kräfti⸗ 
ger gewordenen Kranken in ein Zimmer und in ein ordentli⸗ 
ches Bett. Die Pflege und Koſt im Pfarrhaus waren frei— 
lich viel beßer denn die, welche der arme Pächter hatte ge— 
währen können; bald fuͤhlte ſich Duval wieder eben fo ge 
ſund und ſtark, als er vor ſeinem Erkranken geweſen Mi 
Gleich nach der Zurückkehr der Geſundheit kam nun aber 
auch die Reihe wieder an das Wandern. Der gute Pfarrer 
konnte in ſeinem kleinen Haushalt keinen neuen Diener brau— 
chen, er deutete dem kräftigen Burſchen, welchem das Stille— 
ſitzen ſchon ſelber nicht lang behagte, an, daß er ſich jetzt 
nach einem Dienſte umſehen ſolle, verſorgte ihn mit einem 
kleinen Reiſegeld und entließ ihn mit freundlichen Segens— 
wünſchen aus ſeiner freigebigen Pflege. 

Gerade zu jener Zeit hielt es ganz beſonders ſchwer in 
der Champagne ein Unterkommen zu finden. Zwar hätte 
man überall der arbeitenden Hände bedurft, denn durch das 
rückſichtsloſe, gewaltthätige Ausheben der Jünglinge und 
Männer zum Soldatenſtande war das Land eines großen 
Theiles ſeiner Anbauer, die Heerden ihrer Hirten beraubt 
worden, aber ſo gut man auch einen jungen rüſtigen Arbei⸗ 
ter hätte brauchen können, mußte man dennoch in ſolcher Zeit 
der Noth von dem Wunſche abſtehen: jeder Hausvater, wo 
anders noch einer war, hatte Mühe um nur für ſich und die 
Seinigen das nöthige Brod herbeizuſchaffen; man konnte das 


N 


. 
Ei. 


69 


Wenige, das noch aufzubringen war, mit keinem neuen Anz 
kömmling theilen. Wie ſchon erwähnt hatte der außerordent— 
lich harte Winter faſt alle Hoffnung des Ackerbauers und 
Winzers auf eine Ernte für dieſes Jahr vernichtet; die Ein— 
nehmer der Steuern und Kriegslaſten, die Kornwucherer 
welche mit dem Verkauf ihrer Getreidevorräthe zurückhielten, 
damit der Preis für dieſelben noch immer höher ſteigen möge, 
fragten nicht nach dem Jammer des armen Volkes, ſie wa— 
ren faſt eben ſo hartherzig als ihr König Ludwig XIV.; ſo 
wie dieſer, waren ſie nur auf Befriedigung ihrer Selbſtſucht 
bedacht, und wenn auch Tauſende dabei im Elend verderben, 
Säuglinge an der Bruſt der ausgehungerten Mütter ver— 
ſchmachten mußten. 

Jameray Duval, da er fo, ohne ein Unterkommen zu 
finden von Dorf zu Dorfe, von Meierhof zu Meierhof zog 
und überall Nichts ſahe als bittren Mangel, von Nichts 
hörte als von Mißwachs, Theurung und Hungersnoth, fragte 
endlich ob es denn nicht etwa irgend wo anders eine Gegend 
geben möge, in welcher das Getreide nicht erfroren wäre. 
Man ſagte ihm, daß vielleicht gegen Morgen und Mittag hin 
Länderſtriche ſeyn könnten, welche der wärmendere Einfluß 
der Sonne gegen die Verheerungen des harten Winters ge— 
ſchützt habe. Dieſe Andeutung erfüllte das Herz des jungen 
Wanderers mit Hoffnung und Freude. Seiner damaligen 
Vorſtellung nach war die Welt, ſo wie ſie dem Auge eines 
Bewohners der Ebene an heitren Tagen erſcheint, eine tel— 
lerförmig ausgebreitete Fläche, auf deren Saum das kryſtal— 
lene Gewölbe des Himmels feſtgeſtellt iſt, über welches die 
Sonne am Tage ihren Lauf nimmt und an welchem bei 
Nacht die Sterne wie Lampen ſich entzünden, die am Mor— 
gen verlöſchen. Die Sonne ſelber, wie ſie im Kalender ähn⸗ 
lich einem Menſchenhaupte dargeſtellt iſt, hielt der Knabe 
für ein lebendiges Feuerweſen, von welchem es ihm aller— 
dings ganz glaublich erſchien, daß es da, wo es der Erde, 
wie ſcheinbar am öſtlichen Horizont, bei ſeinem Aufgang, am 
nächſten ſey, die meiſte Wärme verbreiten müſſe. Dieſer 
Anſicht vertrauend richtete jetzt unſer Jameray ſeinen Lauf 
unverwandt dahin, wo ihm am Morgen die Sonne aufgieng. 
Der Anfang ſeines Weges ſchien nicht ſehr geeignet ihm zur 
de ane deſſelben Muth zu machen; er führte ihn durch 
ie armſeligſten Gegenden der Champagne. Die niedren, 


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70 


aus Lehm gebauten, mit Rohr oder Stroh gedeckten Hütten, 
mit ihren in Lumpen gehüllten Bewohnern, deren von Man⸗ 
gel und Kummer gebleichte, welke Wangen keines frohen Lächlens, 
ſondern nur wie das abgezehrte Angeſicht ihrer halbnackten 
Kinder des Weinens fähig ſchienen, waren recht geeignet 
auch dem wanderluſtigſten Sinn zurückzuſchrecken. Dazu ka⸗ 
men noch die harten Entbehrungen auch der alltäglichſt ge⸗ 
wohnten Nahrungsmittel, denen der durchreiſende Wandrer 
mit den Einheimiſchen zugleich ausgeſetzt war. Statt des 
eigentlichen Brodes ſtillte ein gebackenes Machwerk aus zer⸗ 
ſtampftem Hanfſaamen den Hunger des dortigen Landvolkes; 
Duval mußte froh ſeyn, wenn er nur von dieſer ungeſunden 
Speiſe ſo viel gegen ſein baares Geld erkaufen konnte, als 
zur nothdürftigſten Sättigung hinreichte. Aber dieſe Sätti⸗ 
gung war nur ſcheinbar; ſie gewährte keine Stärkung der 
Glieder, ſondern bewirkte ein Gefühl des Mißbehagens und 
der Eingenommenheit des Kopfes, an welcher unſer Wand⸗ 
rer noch einige Zeit nachher zu leiden hatte. Doch das Alles 
konnte ihn nicht in ſeinem, durch einen mächtigen innren 
Antrieb erregten Laufe hemmen, er ſetzte, ſo eilig als mög⸗ 
lich ſeinen Weg nach Oſten fort. In dieſer Richtung kam 
er eines Tages auf einen Hügel, an deſſen Fuß eine nicht 
ſehr anſehnliche Ortſchaft Bourbonne les Bains) lag. Der 
dichte Dampf, welcher aus ihrer Mitte emporſtieg, ſchien 
dem jungen Wandrer der Rauch von einer im Erlöſchen be⸗ 
griffenen Feuersbrunſt zu ſeyn. Er ſtaunte nicht wenig, da 
man ihm ſagte, daß dieſer Rauch von heißen Waſſerquellen 
käme, welche dort aus der Tiefe hervordrängen. Ein ſolcher 
unerwarteter Bericht reizte ſeine Neugier im hohen Grade. 
Er lief hin zu den Quellen, legte ſich auf den Boden, ſteckte 
ſeine Hand mehrmalen in das hervorſprudelnde Waſſer, mußte 
ſie aber immer wieder ſchnell zurückziehen, weil die Hitze 
ihm unerträglich war. Hierauf begann er, in kindiſchem 
Unverſtand, ſeine weitren Unterſuchungen. Nirgends war 
ein Ofen oder ein Feuerherd zu ſehen, der das Waſſer ſo 
ſieden machte, »was konnte man (nach ſeinem Bedünken) wohl 
andres annehmen, als daß hier die Nachbarſchaft der Hölle ſey, 
und daß ein großer Leichtſinn dazu gehöre um an einem ſol⸗ 
chen Ort ſich anzubauen und zu wohnen.» 

Aus dieſer vermeintlichen Nachbarſchaft der Hölle kam 
unſer junger Wandersmann ſchon am andren Morgen in eine 


71 

Landſchaft, welche ihn durch ihren blühenden Zuſtand an die 
Nähe des Himmels zu erinnern ſchien. Man kannte damals 
noch nicht jene Plagen und peinliche Unterſuchungen, welche 
heutigen Tages den Reiſenden den Uebergang aus einem 
Land oder Ländchen in das andre erſchweren; Duval war, 
ohne es zu wiſſen, über die Gränzen des hartbedrückten, aus⸗ 
geſogenen Frankreichs hinaus nach Lothringen gekommen, das 
um jene Zeit noch unter feinen eignen, milden Herrſchern, 
aus deutſchem Fürſtenſtamme, ſtund. Welcher Unterſchied war 
ſchon zwiſchen dem erſten lothringiſchen Dorf Senaide und 
jenen Ortſchaften der Champagne, an denen der gerade Lauf 
von Weſt nach Oſt ſeit 8 Tagen vorüber geführt hatte. Da 
ſahe man nicht jene armſeligen mit Schilf gedeckten, niederen 
Lehmhütten mit ihren todtenbleichen, abgezehrten Bewohnern, 
ſondern hoch und ſchön gemauerte Häuſer, gedeckt mit Zie⸗ 
geldächern, bewohnt von Menſchen, deren gutgenährte Ge— 
ſtalt und friſche Geſichtsfarbe von Glück und Wohlſtand zeugte. 
Wie munter, wie vollwangig und ſchön waren hier die gut⸗ 
bekleideten Kinder, im Vergleich zu den halbnackten, durch 
Schmutz und Elend verkümmerten Kindergeſtalten des fran⸗ 
zöſiſchen Gränzlandes. 

Es war eben Sonntag; der Ton der Glocken rief die Be⸗ 
wohner des Ortes zum Gottesdienſt in die wohlgebaute, geräu⸗ 
mige Kirche; auch Duval, ſo dankbar froh geſtimmt als kaum 
jemals ſonſt in ſeinem Leben, eilte dahin. Hier erſchien ihm Alles 
neu und herrlich was er ſah; der doppelte Wappenadler über 
dem Thor des Vorplatzes, die in ſeinen Augen prachtvolle 
Kleidung der Landleute, die Menge der jungen Burſchen, 
welche hier kein tyranniſcher Zwang ihrer Heimath und ihren 
Familien entriß, um ſie, wie damals in Frankreich geſchahe, 
als Soldaten der unerſättlichen Habgier eines unheilbringen⸗ 
den Königes aufzuopfern. Statt der armſeligen Kittel aus 
Trillich und Sackleinwand, die ſeine Landsleute trugen, ſahe 
unſer junger Wandersmann das Mannsvolk von Senaide in 
anſtändigen Zeug und Tuchkleidern, mit ſilbernen Knöpfen 
einhergehen, die Frauen mit Halbermeln und Manſchetten, 
ſo reich und zierlich gekleidet, wie in der Champagne die 
wohlhabendſten Bewohnerinnen der Städte. Hier ward nir⸗ 
gends das Geklapper der ſchweren Holzſchuhe gehört, in 
welche das Landvolk der Champagne ſeine nackten Füße ſteckt, 
denn ſelbſt die Aermeren waren mit Strümpfen und Schuhen 


72 


verſehen. Und nicht nur die ſchauluſtigen Augen, ſondern 
auch der ausgehungerte Magen des Fremdlings fand hier 
ſeine Weide. Statt des eckelhaften Gebäckes aus zerſtoßenem 
Hanfſaamen, gab es da wohlſchmeckendes Waizenbrod, dazu 
Fleiſch und kräftige Zuſpeiſe, welches Alles die Freigebigkeit 
der Dorfbewohner ganz, oder faſt umſonſt darreichte. Hier 
war gut ſeyn, hier war, nach Duvals Bedünken das Land, 
dem die wärmende Sonne bei ihrem Aufgehen näher iſt, 
denn der übrigen Erde, hier wollte er bleiben. Und dieſer 
Wunſch gieng bald in Erfüllung; das hieſige Volk konnte 
Arbeiter beſchäftigen und ernähren; der Schaafhirt des nahen 
Dorfes Clezantaine nahm den rüſtigen, muntren Knaben in 
ſeine Dienſte. 

Zwei Jahre lang hatte Duval die Schaafe auf den 
Hügeln von Clezantaine gehütet und hatte ſich dabei leiblich 
ſehr wohl befunden. Er war jetzt 16 Jahre alt und zu die⸗ 
ſem Alter groß und ſtark geworden, da regte ſich jener An⸗ 
trieb, der ihn wie den Wandervogel ſein Inſtinct, hieher ge— 
führt hatte, von neuem. Diesmal nicht in jener mehr thieri⸗ 
ſchen Art, welche nur auf Sättigung des Hungers und nach 
einem Ort der leiblichen Erholung ausging, ſondern in einer 
menſchlich geiſtigeren, darum auch mächtigeren Weiſe. Die— 
ſer Antrieb, der dem Jüngling keine Ruhe ließ, ſtrebte nach 
einer andren Sättigung, verlangte nach einem andren Frie- 
den als das Leibliche uns gewähren kann; er war auf die 
Erhaltung und Entwicklung nicht des äußren ſinnlichen, ſon⸗ 
dern des innren, geiſtigen Menſchen gerichtet. Unſer Hirten⸗ 
knabe fühlte zwar, daß ihm etwas fehle, was dieſes aber 
eigentlich ſey, das wußte er nicht. Wenn er in ſeiner Ein⸗ 
ſamkeit draußen auf dem Felde die Blumen und Bäume, die 
Thiere und Steine ſahe, wenn der Mond jetzt als Sichel 
oder wachſende Scheibe am Abendhimmel ſtund und ihm 
ſeinen Nachhauſeweg beleuchtete, dann, als abnehmender 
Mond, die Morgenſtunden erhellete, da gerieth er oft in ein 
ſo tiefes Nachſinnen über all dieſe Dinge und die Verände⸗ 
rungen die ſich an ihnen zutrugen, daß er weder Anfang 
noch Ende finden konnte. Wo das Bächlein ſeinen Anfang 
nahm das bei dem Dorf vorüber floß, das wußte er, denn 
er kam im Sommer faſt täglich zu der Quelle hin, woher 
aber das Waſſer komme, das immer von neuem aus dem 
Boden hervordrang, das hatte er weder durch ſeinen Stab 


73 


noch mit dem eifernen Spathen erforfchen können, und daß 
die Bäche zu Flüßen ſich vereinen, dann in ein großes Waſſer: 
in das Meer verlaufen, das wußte er zwar vom Hörenſagen, 
aber er hätte es auch gern mit eignen Augen geſehen und 
erfahren. Wenn die Nachbarn zuweilen im Hirtenhaus zu— 
ſammen kamen, oder wenn an Sonn- und Feiertagen die 
Dorfleute und vielleicht auch ein Fremder darunter, außen 


vor der Kirche der Unterhaltung pflegten, da horchte er, mit 


ganz beſondrer Spannung auf Alles was ſie von Krieg und 
Frieden, von Geſchichten welche da und dort ſich zugetragen 
und von andren Orten und Ländern ſprachen. Er hatte 
immer nur zu fragen, wollte immer mehr wiſſen und erfahren, 
das aber, was dieſe guten Leute ihm ſagten, das regte ſeine 
Wißbegier nur noch mehr auf, ſtatt ſie zu befriedigen. Von 


der Anhöhe aus, auf welcher Duval öfters ſeine Schaafe 


hütete, konnte man gegen Morgen hin, eine Landſchaſt über- 
ſchauen, die zu den fruchtbarſten gehört, welche Lothringen 
umfaßet. Grüne Wieſen und Felder, dazwiſchen eine Menge 
der kleinen Ortſchaften und Meierhöfe ziehen ſich, fo. weit 
das Auge reicht, von Norden gegen Süden am Fuße des 
blauen Bergzuges der Vogeſen hin, welcher in Oſten die 
Ausſicht begränzt. Dort, auf dem Gipfel jener blauen Ber— 
ge hätte unſer junger Wandersmann ſo gern einmal ſtehen 
mögen und ſchauen was über ſie hinüber, jenſeit derſelben 
läge, denn ſo viel hatte er jetzt ſchon gelernt daß die Welt 
viel größer und weiter ausgedehnt ſey als der Kreis, den 
ſein Auge überblickte. 

Das, was einige Zeit hindurch nur eine Luſt der Augen 
geweſen war, das wurde zuletzt zu einer Luſt und Begierde 
des Herzens; Duval konnte dem Antriebe, der ihn aus ſei— 
nem bisherigen Stand hinausführte nicht länger widerſtehen; 
er verabſchiedete ſich bei ſeinem Dienſtherrn und trat abermals 
die Wanderung gegen Oſten an. Dort, am Fuße der Vo— 
geſen unweit Deneuvre hatte um jene Zeit ein frommer Ein— 
ſiedler, der Bruder Palämon ſeine Klauſe, welche bei dem 
Landvolk unter dem Namen la Rochette bekannt war. Ein 
lieblicherer Wohnſitz für einen Einſamen, welcher fern von 
dem Alltagstreiben und von der Unruhe der Welt mit den 
Gedanken an feinen Gott allein ſeyn mochte, kann ſchwerlich 
gefunden werden als la Rochette war. Von der Spitze des 
Felſens, an welchem die Einſiedelei lag, ſahe man am Abend 


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74 


die Sonne jenſeits einer grünenden, wellenförmigen Fläche 
untergehen, durch die ein Fluß ſich ſchlängelt, welcher 


das Schiffsbauholz, zu großen Flößen verbunden, der Meeres: 


küſte zuführt. Nach der andren @ftlichen) Seite hin fallen 
die Strahlen des untergehenden Geſtirns auf den Abhang 
des Gebirges, welches von herrlichen Thälern und Schluchten 
durchſchnitten und bis hinan zu feinem Gipfel mit anſehnlichen 
Dörfern und Landhäuſern bebaut iſt. Mit dem Dufte der 
blühenden Bäume und Gebüſche ſteigen zugleich die Töne 
der ſingenden Nachtigallen herauf zu den Sinnen des Wand⸗ 
rers, der auf der Felſenplatte ſitzt. Duval kann ſich von dieſem 
Orte nicht trennen; wenigſtens eine Nacht und den nächſten 
Morgen möchte er hier zubringen; zutraulich bittet er den 
Einſiedler ihm einen Ruheplatz in ſeiner Hütte anzuweiſen; 
ſein Wunſch wird ihm gerne gewährt. 

Es war jene allbedenkende Fürſorge geweſen, die Alles 


was zuſammengehört zur rechten Zeit und am rechten Orte 


zuſammenführt, welche auch dieſes Mal Duvals Schritte zur 
Einſiedelei la Rochette gelenkt hatte. Der Bruder Palämon 
konnte ſo eben einen jungen, dienenden Gehülfen brauchen, 
der ihm den Anbau ſeines Gartens beſorgen half und ihm 
noch ſonſt mancherlei Handreichungen that. Der treuherzige 
Burſche, den ihm Gott ſelber zugeführt hatte, gefiel ihm 
wohl und auch dieſem hätte ja nichts Angenehmeres und 
Lieblicheres begegnen können, als bei Bruder Palämon in 


Dienſte zu treten. 


Wir erwähnten ſchon oben, daß Jameray, als die große 
Dürftigkeit feiner Mutter ihn nöthigte die Dorfſchule zu ver⸗ 


laſſen, und als Hüter des Geflügels bei einem Bauer zu 


dienen, nur ſo eben leſen gelernt hatte. Dieſe Kunſt, welche, 
ohne daß wir es recht beachten und erkennen, eine der höchſten 
und folgenreicheſten iſt, unter allen Künſten die der Menſch ſich 
zu eigen machen kann, war ihm immer beſonders lieb und werth 
geblieben, er hatte nicht leicht eine Gelegenheit verſäumt ſie 
zu üben. Solche Gelegenheiten aber gab es ſeither für ihn 
nur wenige. Was von lesbaren Sachen im Hauſe ſeines 
gewesnen Dienſtherrn, des Schäfers ſich fand, das beſtund 
nur etwa aus einem Kalender und aus dem Meßbuche; die 
lebhafte Wißbegier des Knaben fand darin nur wenig Nah⸗ 
rung. Hier aber, bei Bruder Palämon fand ſich eine ganze 
Bibliothek, von bisher noch niemals geſehenen Büchern, wel⸗ 


* 


75 


che vielleicht mehr denn zwölf Bände zählte. Außer einem 
oder etlichen Theilen eines damals beliebten Volksbuches, 
das den Namen der » blauen Bibliothek« führte, beſtund der 
Proviant der Gelehrſamkeit des frommen Einſiedlers nur in 
ſolchen Büchern, welche Anleitungen zum beſchaulichen Leben, 
Gebete und Betrachtungen, ſo wie Geſchichten der Heiligen 
und Berichte über das Leben einzelner Mönche und Einſiedler 
enthielten. f | 
Mit einer brennenden Begierde ergriff Duval dieſe gei— 
ſtige Nahrung. Es lag ihm ernſtlich an, nicht nur in den 
äußren Arbeiten der Hände, ſondern auch im Gebet und from: 
men Leben ein Gefährte und Genoſſe des guten Palämon zu 
werden. Wenn er dann, an einem Frühlingsmorgen, wenn 
der Thau an den Blumen der Wieſen perlete und der Ge⸗ 
ſang der Nachtigallen ertönte, oben über der Einſiedelei auf 
der Spitze des Felſens ſaß und nun die Sonne über die 
Höhen der Vogeſen hinaufſtieg, da erhub ſich auch bei ihm 
Sinn und Gemüth zu Gedanken von göttlicher Art und Kraft, 
welche er bis dahin noch niemals gekannt hatte. Hierbei 
mußte er jedoch daſſelbe erfahren, was vor und nach ihm 
Mancher erfuhr der in dieſem höchſten, geiſtigen Aufſchwung 
ſich geübt hat, ſo lange er nicht von der Lerche und vom auf— 
ſteigenden Adler es lernte, daß beim Emporfluge das Auge 
nach oben, nicht nach unten ſich richten müſſe. Wer in die⸗ 
ſer Weiſe der Lerche ſeine Schwingen übt, der ſiehet wohl, 
wenn er auch höher ſchwebt als die Dächer der Häuſer und 
ſelbſt der Gipfel des Thurmes, daß es von da an noch weit 
iſt bis zum Gipfel der Gebirge, noch weiter bis hinan zu 
den Wolken und viel weiter noch bis hinauf zum Sternen⸗ 
himmel. Wer aber, wenn er in der Höhe ſchwebt, nur ab- 
wärts, nicht aufwärts ſchauet und da unter ſich die Eichen 
des Waldes, die doch hoch ſind, nur noch in Geſtalt eines 
niedrigen Gebüſches erblicket, dem mag es leicht geſchehen, 
daß er vom Schwindel des Hochmuths ergriffen in Gefahr 
kommt zum Boden zu ſtürzen. Unſrem jungen Anfänger im 
Einſiedlerleben erging es ſo. Weil das jugendliche Feuer in 
ſeinem Herzen lebhafter war, als das im Herzen feines altern— 
den Gefährten, weil die äußerlichen Geberden ſeiner Fröm⸗ 
migkeit von augenfälligerem Zuſchnitt waren, als bei dem 
killen, fanften Bruder Palämon, dünkte er ſich hoch und groß 
gegen dieſen. Wenn ihm derſelbe ein Geſchäft im Garten 


76 


oder einen Gang nach Deneuvre auftrug, der Burſch aber, 
ſtatt zu arbeiten oder zu laufen, ſich andächtigen Betrachtuns 
gen im Schatten des Felſen, oder unter einem Baume dem 
Gebete hingab und dann den wohlverdienten Verweis nur durch 
bittre Bemerkungen über die Lauheit und den weltlichen Sinn 
des älteren Bruders erwiederte, da regte ſich allerdings, in 
unverkennbarer Weiſe, der Schwindel des Hochmuthes. An 
Erfahrungen von zurechtweiſender Art hätte es freilich unſrem 
jungen Einſiedler nicht gefehlt, wenn derſelbe nur für ſolche 
Belehrungen immer zugänglich geweſen wäre. So an jenem 
Abend als vier Stiftsherrn aus Deneuvre bei der Einſiedelei 
von dem mitgebrachten Vorrath ihre Mahlzeit hielten, und 
Duval, dem man die Ueberreſte zu ſeiner Erquickung Preis 
gegeben, zum erſten Mal in ſeinem Leben die Kräfte des 
Weines an ſich erfuhr, deren Regungen er als Wirkungen 
der höchſten Andacht und der Verſenkung in ein göttliches 
Seyn betrachtete, bis das Gefühl der Abſpannung ſchon am 
nächſten Tage ihn eines Andren belehrte. 5 
Der Aufenthalt bei dem Bruder Palämon dauerte nur 
kurze Zeit. Die Oberen der Eremitengeſellſchaft ſendeten einen 
andren Einſiedlergehülfen nach la Rochette; dieſem mußte 
Duval weichen, doch gab ihm ſein bisheriger freundlicher 
Meiſter im beſchaulichen Leben ein Empfehlungsſchreiben mit 
auf den Weg, das ihn zu den Einſiedlern von St. Anna 
bei Luneville geleitete. Es war ein Weg, welchen der junge 
Eremit nicht aus eignem Antrieb und eigner Neigung einſchlug, 
ſondern gleich wie er diesmal in leiblicher Beziehung von 
ſeiner ſelbſterwählten Richtung nach Oſten hinweggeführt wur— 
de, ſo lenkte auch eine höhere Hand in dieſem Augenblick 
ſeine Lebensbahn gegen ſeinen Wunſch und Willen nach dem 
rechten Ziele hin. Das Herzeleid und die Sorgen womit 
er beim Abſchied von dem ſtillen Obdach la Rochette und 
von Bruder Palämon ſich quälte, waren eben ſo unſtatt⸗ 
haft und ſchnell vergänglich als jene, die ihn damals nieder— 
beugten, als man ihn aus ſeinem ſeltſamen Krankenlager im 
Schaafſtalle hervorzog und in Heu und Lumpen gehüllt in 


das Haus des guten Pfarrers brachte, in welchem er erſt völ⸗ 


lig genaß und von feiner Krankheit ſich erholte. Jene We⸗ 
ge unſres Gottes, welche zu unſrem ganz beſondren Heile 
dienen, wollen insgemein unſrem Herzen nicht wohlgefallen; 
ſie durchkreuzen meiſt unſre eignen Wege, und doch führen 


. 


27 


nur jene zur Stätte des Friedens, während dieſe in bahnloſer 
Wüſte ſich verlieren. 

Mit bekümmertem Herzen hatte Duval den Wald von 
Modon durchwandelt und trat jetzt heraus ins Freie, da lag 
vor ihm die zu jener Zeit ganz beſonders blühende Stadt 
Luneville mit dem prächtigen Reſidenzſchloß des Herzogs von 
Lothringen. Unheimlich wie einem ſcheuen Vogel, welcher in 
dem ihm noch neuen Gefängniß des Käfichs zum erſten Mal 
unter das Menſchengedränge eines Marktplatzes gebracht wird, 
war es dem jungen Waldbruder unter den geputzten, ſtattlich 
einhergehenden Bewohnern der Reſidenzſtadt zu Muthe, nur 
ſchüchtern wagte er ſein Auge zu dem Glanz des Fürſten⸗ 
ſchloßes aufzuheben, das ihn an das Daſeyn und die Nähe 
von Weſen einer höheren Art zu erinnern ſchien. Er athmete 
erſt wieder froh und frei als er ſich von neuem außer der Stadt 
im Freien ſahe, auf der Straße gegen Weſten hin, die man 
ihm drinnen in der Stadt als den Weg nach St. Anna 
bezeichnet hatte. 

Die Einſiedelei dieſes Namens liegt eine halbe Stunde 
jenſeits Luneville an der Mittagsſeite eines Hügels, nahe 
bei der Stelle, an welcher die beiden Flüße Meurtre und 
Veſouze ſich vereinen. Der Wald von Vitrimont, der ſie in 
Norden umgränzt, damals noch dichter und holzreicher als 
er jetzt iſt, vermehrt den Reiz dieſer Gegend, indem er im 
Winter den kalten Winden aus Norden den Zutritt wehrt, 
im Sommer aber Schatten und Kühlung gewährt. Nur 
wenige Jahrzehende vorher war hier, an der Stelle des 
wohlangetauten Feldes und Gartenlandes eine Wüſte voller 
Diſteln und Dorngebüſch geweſen, welche die Spuren der 
Verheerung noch aus den Zeiten des dreißigjährigen Krieges 
an ſich trug. Ein geweſener Lieutenant der Cavallerie, wel⸗ 
cher während einer Schlacht, zum Tode verwundet, unter den 
Huftritten der Pferde liegend von der Welt Abſchied genom⸗ 
men hatte, und, als er dennoch mit dem Leben davon kam, 
die alte Bekanntſchaft mit ihr, nicht wieder anknüpfen wollte, 
war der Stifter der Einſiedelei von St. Anna geweſen und 
war erſt vor wenig Jahren in einem Alter von faſt hundert 
Aren heorben. Bruder Michael, ſo nannte ſich dieſer Stifter, 
hatte ein altes Haus, Alba genannt, am Walde von Vitri⸗ 
mont gekauft, einige andre Männer geſellten ſich zu ihm und 

mit ihrer Hülfe verwandelte er bald das verödete Grundftüd, 


78 


welches zwölf Morgen Landes umfaßte, in ein Beſitzthum, von 
deſſen Ertrage ſechs Kühe und vier bis fünf Einſiedler, ohne 
einen Zuſchuß von außen ſich nähren und hierbei noch man⸗ 
ches Almoſen ſpenden konnten. Auch in mehreren andren 
Gegenden hatte der gute Bruder Michael, durch ähnliche 
Stiftungen ſich nicht nur um die Cultur des Landes, ſondern 
um die Veredlung der Menſchenſeelen verdient gemacht, denn 
mehrere der Genoßen ſeines einſamen Lebens waren vorher 
heimathloſe Landſtreicher geweſen, welche die Noth zu ihm 
führte, die Liebe aber an ihn feßelte und der Einfluß ſeines 
Beiſpieles, die Macht ſeiner ungeheuchelten Frömmigkeit zu 
beßren Menſchen umſchuf. 
Duval, in ſorgenvoller Erwartung ſeines Schickſales, 
zeigte ſich an der Thüre der Einſiedelei. Bruder Martinian, 
einer der vier Bewohner derſelben, that ihm auf, nahm, den 
Gruß erwiedernd, das Empfehlungsſchreiben aus ſeiner Hand, 
ſtellte ihn den andren Brüdern als künftigen Diener des 
Hauſes vor, hieß ihn dann niederſitzen und die ländliche Koſt 
genießen, die er ihm auftrug. Der neue Ankömmling fühlte 
ſich unter dieſen guten Leuten bald einheimiſch. Es waren 
Männer von bäuriſchem Ausſehen, aber von wohlmeinend 
treuherziger Art. Jenes feine Gefühl der Weltbildung, wel- 
ches lehrt was höflich und zierlich ſey, hatten ſie nicht, wohl 
aber jenes noch zartere Gefühl eines unter göttlicher Zucht 
ſtehenden Herzens, welches uns ſagt was gut und recht ſey 
und unſre Schritte leitet auf ebener Bahn. Duval vorzüg⸗ 
lich giebt dreien von ihnen das Zeugniß: daß ſie zwar nie⸗ 
mals von Tugend ſprachen wohl aber dieſelbe, ungeſehen von 
den Augen der Welt durch die That übten. Sein fünfjähri⸗ 
ger Aufenthalt unter ihnen ließ ihm an dieſen einfältigen 
Seelen keine Züge der Unlauterkeit und der Heuchelei, ſon⸗ 
dern nur etwa der menſchlichen Uebereilungen bemerken. Na⸗ 
mentlich war das Gemüth des alten Bruder Paul, der ſchon 
ſeit 32 Jahren als Einſiedler lebte, ſo ganz zu einem Tem⸗ 
pel der Demuth und der Liebe geworden, daß ſich der innre 
Frieden, der eine ſolche Stimmung giebt, in ſeinem ganzen 
Weſen kund gab. Er ſprach weniger, that aber mehr als 
alle die Andren, denn, ſo ſagte er, es geſchieht uns, auch 
bei dem beßten Willen leichter und öfter, daß wir in Wor⸗ 
ten fehlen, als in Thaten. Er war ſanft, gedultig, von Her⸗ 
zen mitleidig und ohne Aufhören in einer ſolchen fröhlich 


79 


ftillen, gelaffenen Stimmung, daß es ſchien als könnte in ſei⸗ 


nem Herzen keine Regung menſchlicher Affecten und Leiden⸗ 


ſchaften aufkommen. Ihn ſetzte nichts in Erſtaunen, er blieb 
unter Blitz und Donner, wie in der Stille eines Frühlings- 


morgens, im Froſt wie in der Wärme des Sommers in ſei⸗ 

nem gleichmäßigen Tacte. Ihm ſchien es unbegreiflich, daß 

ein Menſch haſſen könne und als Duval einſt im Scherz 

ihn fragte ob man nicht wenigſtens den Satan haſſen dürfe, 
* der einfältig gute Mann: man muß Niemand 
aſſen. 

Das nächte Geſchäft, welches die hochbetagten Einſied— 
ler dem jungen, rüſtigen Gehülfen anvertrauten, war die 
Obhut ihrer Kühe, welche er in den nahen Wald auf die 
Weide führen mußte. Dieſe Aufgabe war nicht ganz nach 
men. Sinne; er glaubte ſich, ſeit dem Hinweggehen aus 
Clezantaine, fuͤr immer von ſolchen niedren Dienſten losge⸗ 
macht zu haben; ſein Aufenthalt bei Bruder Palämon hatte 
in ihm den Wahn erzeugt und genährt, er ſei zu etwas 
Höherem beſtimmt als zum Hüten des Viehes. Doch ein 
Blick auf den freundlich ſanften Bruder Paul und auf das ernſte 
Geſicht des Bruder Martinian lehrten ihm ſchweigen und ge— 
horchen, er zog, mit der Peitſche in der Hand, ſeinen Kühen 
nach in den Wald. Die Selbſtüberwindung, der Sieg über 
den eignen, ſtolzen Willen iſt zu jeder Zeit ein reicher Quell 
des innren Friedens, unſer junger Hirt that in Kurzem den 
Dienſt mit Freuden; dem er ſich anfangs nur mit Wider⸗ 
willen unterzogen hatte. | 

Die ehrlichen Väter wollten übrigens ihren Pflegling 
nicht nur zu ländlichen Beſchäftigungen heranbilden, ſondern 
fie wollten zugleich einen Frommen ihrer Art, ja einen Ge- 
lehrten aus ihm erziehen. Einer unter ihnen der im Ver⸗ 
gleich mit ſeinen drei Gefährten den Gelehrten darſtellte, und 
ſich auf dieſen Vorzug Etwas zu gute that, hatte die Kunſt 
des Schreibens erlernt und als er die außerordentliche Be— 
gierde bemerkte, mit welchem Duvals Auge, ſo oft Gelegen⸗ 
heit dazu war, den Zügen ſeiner Feder folgte, beſchloß er ihn 
zum Theilnehmer ſeiner Kunſt zu machen. Mit ſeiner vor 
Alter und täglichen Anſtrengung beim Landbau zitternden 

and zeichnete er dem jungen Menſchen die Züge der Buch⸗ 
aben vor, welche dieſer treulich, und darum eben ſo ſchlecht 
nachbildete als ſie ihm dargeboten wurden. Aber der Eifer 


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des Schülers war größer und mächtiger als der Fleiß ſeines 
alten Lehrers; dieſer hatte ſelten Zeit zu lehren jener aber 
ohne Aufhören Luſt zu lernen. Duval erfand ſich deshalb ein 
Mittel auch ohne fremde Hülfe ſich im Schreiben zu üben, 
indem er aus dem Fenſter feiner Zelle eine Scheibe heraus⸗ 
hob, ſie auf ein beſchriebenes Blatt legte und dann auf dem 
Glaſe ſo lange die Züge der Buchſtaben mit der wieder leicht 
abwaſchbaren Tinte nachmachte, bis er am Ende die Fertig⸗ 
keit erlangte, eine ohngefähr eben fo altmodiſch ſteife Hand⸗ 
ſchrift zu ſchreiben, als ſein Lehrer hatte, da ſeine Glieder 
noch nicht von Zittern befallen waren. Was die religiöſen 
Uebungen der Klausner betrifft, welche für gewöhnlich täg— 
lich in ſechs gemeinſamen Andachten beſtunden, ſo fand ſich 
auch hierbei der künftige Eremit regelmäßig ein, wenn ihn 
en die Hut des Viehes in zu weiter Ferne beſchäf— 
tigt hielt. Ae 
Duvals gelehrte Bildung in der Einſiedelei von Sanct 
Anna war nicht allein auf die Kunſt des Schreibens be— 
ſchränkt, er fand noch andre Quellen auch ſeine täglich wach— 
ſende Wißbegier zu befriedigen. Die guten Väter beſaßen 
etliche Bücher; der Umſchlag des einen von dieſen gewährte 
unſrem jungen Forſcher einen reichen Fund: es war darauf 
eine Anweiſung zu den vier erſten Regeln der Rechenkunſt 
enthalten. Das Vergnügen, welches etwa ein armer Mann 
empfindet, wenn er unvermutheter Weiſe unter dem Boden 
ſeines kleinen Gartens einen nach feinem Bedünken unermeß— 
lich reichen Schatz entdeckt, kann nicht größer ſeyn, als das 
von Duval war, als er den Schlüſſel zu einer Kunſt fand, 
welche ſeinem hierin richtigen Gefühle gleich einer äußerſten 
Pforte erſchien, die zu einem wahrhaft unermeßbaren Reiche 
der Erkenntniſſe führte, Summen unter feinen Augen entſte⸗ 
hen und vergehen zu ſehen, indem man durch Addition ſie 
vereint oder noch mehr, durch Multiplication ſie vervielfacht, 
durch Subtraction und noch mehr durch Diviſion fie verklei— 
nert, welchen Genuß mochte dieſes einem Geiſte gewähren, 
der in der Bedeutung der Zahlen das Mittel ahnete am 
leiblich Erſcheinenden das zu erfaſſen, was ein allbedenken⸗ 
der, ſchaffender Geiſt, als Kraft, als Eigenſchaft in daſſelbe 
legte. Unſer junger Einſiedler hatte immer während ſeines 
d ein beſondres Vergnügen an der Stille der 
zälder und abgelegenen Weideplätze gefunden. Hier er 


u 


81 


St. Anna konnte er dieſes Vergnügens im hohen Maaße 
genießen; denn kaum glich ein andrer Wald an hehrer Ein— 
ſamkeit und Stille jenem von Vitrimont, mit ſeinen klei⸗ 
nen Thälern und Felſenklüften. An ſeinem Lieblings— 
platze, einer Art von Grotte, die von einem vormaligen 
Steinbruche zurückgeblieben, war der eifrige Rechner öfters, 
ſelbſt in den Stunden der Sommernächte mit der Löſung 
jener Aufgaben beſchäftigt, die er im Geiſt ſich ſtellte, oder 
mit dem Gewebe der Gedanken, die ihm aus dem zwar be— 
ſchränkten dafür aber deſto fruchtbareren Boden ſeiner tägli— 
chen Erfahrungen hervorkeimten. 


Mächtiger denn Alles, was er um ſich ſahe, zog ihn 
Being der Sterne des nächtlichen Himmels an. 
b Leſen im Kalender hatte ihm ſchon bei dem 
gewährt, weil darinnen der Lauf des Mondes in einer ihm 
unbegreiflichen, prophetiſchen Weiſe, für ein ganzes Jahr 
vorausgeſagt war. Bei dieſer Gelegenheit erfuhr er auch 
Etwas von jenen himmliſchen Zeichen eines Widders, eines 
Stieres, eines Löwen und Krebſes, in welche zu gewiſſen 
Zeiten die Sonne und der Mond einträten. Bruder Palä— 
mon hatte ihm geſagt, daß dieſe Zeichen, von denen der 
Kalender ſpricht, unter den Sternen des Himmels zu finden 


ſeyen, wie aber, oder wo? das wußte er nicht. Auch die 
Einſiedler in St. Anna konnten darüber keinen Beſcheid 


geben; unſrem Duval aber ließ es keine Ruhe, er mußte 
forſchen und wiſſen wo ſich der Steinbock oder Widder, mit- 
ten unter den Sternen des Himmels verborgen hielten. Auf 
einer der höchſten Eichen, am Saume des Waldes flocht er 
ſich aus Weidenruthen und Epheu ein Throngeſtell, das 
einem Storchneſte glich; der Thron ſelber, auf dem er dort 
oben ſaß, war der Reſt eines alten Bienenkorbes. Hier 
brachte er bei heitren. Nächten manche Stunden zu, während 
deren er mit angeſtrengter Aufmerkſamkeit alle Gegenden des 
Himmels durchforſchte, um etwa unter den Sternen die Ge⸗ 
ſtalt eines der himmliſchen Thiere zu entdecken. Doch es 
ergieng ihm hierbei wie jenem Taubſtummen, dem man das 
Wort Baum an die Tafel ſchrieb und in der Geberdenſprache 
oder im Bild die Bedeutung des Wortes zeigte und welcher 
nun vergeblich ſeinen Witz anſtrengte, um ” Aehnlichkeit 


Schgafhirten im Clezantaine ein unbeſchreibliches Vergnügen 


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82 


der Schriftzeichen an der Tafel mit der Geſtalt eines Bau⸗ 
mes zu entdecken. 

Wie ſich in der Welt der leiblichen Dinge zur rechten 
Zeit für den Hunger ſeine Speiſe, für jedes erwachte Be⸗ 
dürfniß ſeine Befriedigung findet, ſo iſt es auch im Reiche 
des Geiſtigen. Der geſunde und redliche Drang nach Erken⸗ 
nen und Wiſſen ſtehet unter dem Walten derſelben Für⸗ 
ſorge, die den Antrieb des thieriſchen Inſtinctes zu ſeinem 
Ziele führt; was zu ſeiner Bekräftigung und Entwicklung 
dienet, das wird ihm immer zur rechten Zeit dargereicht. 


Es war gerade der große Jahresmarkt (die Dult oder Meſſe) 


von St. Georgentag in Luneville, da ſendeten die Einſiedler 
ihren jungen Gehülfen hinein in die Stadt, um einige Auf 
träge zu beſorgen. Indem dieſer neugierig die zum Verkauf 
ausgebotenen Herrlichkeiten betrachtet, entdeckt er, zu ſeiner 
unbeſchreiblichen Freude, unter den Bildern die an eine 
Mauer aufgehängt waren, eine Himmelscharte, dann die 
Abbildung einer künſtlichen Erdkugel und vier Charten, wel⸗ 
che die verſchiedenen Welttheile darſtellten. Der Dienſtlohn, 
den er beim Schäfer in Clezantaine ſich erworben, war noch | 
faft ganz ungeſchmälert in feinem Beſitz und dieſen Schatz, 
der ſich auf 5 bis 6 Franken belaufen mochte, trug er immer 
bei ſich in der Taſche. Jetzt war der Augenblick gekommen 
um von dieſem bisher todten und ungenützten Capital die 
rechte Anwendung zu machen; mit Freuden gab er Alles 
um den Beſitz der für ihn unſchätzbaren Charten hin. 


In wenig Tagen hatte ſich der durch feinen Fund glück⸗ 
ſelige Duval ſo weit in das Verſtändniß der Himmelscharte 
gefunden, daß ihm die wechſelſeitige Stellung der meiſten 
Sternbilder bekannt war, auch war es ihm deutlich gewor— 
den, daß nicht jene Bilder, welche die Hand des Menſchen 
auf ihre Charten zeichnet, am Himmel geſchrieben ſtehen, 
ſondern daß zu jedem Bild eine Gruppe von Sternen ge— 
höre, welche mit der Geſtalt eines Stieres oder eines Wid⸗ 
ders nur wenig zu ſchaffen hat. Wäre nur jemand da ge 
weſen, der ihm eine einzige dieſer Sternengruppen bei ihrem 
Namen genannt und erläutert hätte, dann wäre es ihm ein 
Leichtes geweſen, nach der wechſelſeitigen Stellung, die ſeine 
Charte angab, auch die andern Bilder aufzufinden, ſo aber 
mußte er ſelber auf ein Mittel ſinnen, das ihn aus der Ver⸗ 


er 


eu 


7 


83 


legenheit ziehen könnte, und ſein Nachdenken führte ihn bald 
auf das rechte. | 
Er hatte vernommen daß der Polarſtern, welcher den 
Nordpol am Himmel wie an der Erde bezeichnet, immer an 
derſelben Stelle des Himmels ſtehe. Konnte er, fo ſchloß 
er weiter, nur dieſen auffinden, dann hätte er zu jeder Zeit 
der Nacht, im Sommer wie im Winter, einen feſt bleiben⸗ 
den Punkt von welchem aus ihm alle Sternenbilder, in ihrer 
wechſelſeitigen Stellung erkennbar werden müßten. Aber wer 
ſollte ihm ſagen wo man am Himmel den Nordpol zu ſuchen 
habe? Auch bei dieſer Ungewißheit kam ihm eine Kenntniß 
zu ſtatten, die ihm durch Hörenſagen geworden. Er hatte 
nämlich vernommen, daß es eine ſtählerne Nadel gebe, die 
das eine ihrer Enden immer gegen Norden wende und hier⸗ 
durch zum ſichern Auffinden dieſer Weltgegend dienen könne. 
Dem jetzt lebhaft und laut gewordenen Verlangen eine ſolche 
wunderbare Nadel zu ſehen und ihrer ſich zu bedienen, kam 
einer der alten Einſiedler entgegen; dieſer beſaß ſelber einen 
Sonnencompaß und ließ ſich bereitwillig finden ihn dem wiß⸗ 
begierigen Duval zu leihen. Die Richtung nach welcher ſich 
das Auge wenden müſſe um den Polarſtern zu ſehen, war 
dieſem jetzt bekannt, aber wie tief oder wie hoch der Stern 
am nördlichen Himmel ſtehe, das wußte er nicht. Doch auch 
dieſe wichtige Entdeckung wurde nach mehreren vergeblichen 
Anſtrengungen und mislungenen Verſuchen gemacht. Zuerſt 
ſollte ein Baumaſt der gerade gegen einen im Norden ſtehen⸗ 
den Stern der dritten Größe ſeine Richtung hatte, das Mit⸗ 
tel gewähren, den Polarſtern aufzufinden. Mittelſt eines 
Bohrers wurde der Aſt zu einem ziemlich weiten Seherohr 
umgeſchaffen; war dann der Stern auf den dieſes hinzielte 
der rechte, dann mußte er ſich immer, bei dem Hindurch— 
blicken durch das Rohr finden laſſen. Aber ach! das Rohr 
war kaum gebohrt, da hatte ſich der erzielte Stern ſchon 
weit aus feinem Geſichtsfeld entfernt und nicht minder glüd- 
lich waren die andren Verſuche dieſer Art, bis zuletzt bei 
einem derſelben der Bohrer abbrach. Doch die Wißbegier 
unſres jungen Forſchers ließ ſich durch kein ſolches Fehlſchla— 
gen ihrer Erwartungen aus der Bahn bringen; ein Hol⸗ 
lunderſtab, der durch das Herausbohren ſeines Markes in 
ein Seherohr umgewandelt war, wurde jetzt an dem höchſten 
Aſt der großen Eiche, die zur Kane diente, ſo befe⸗ 


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4 igt, daß er ſich nach Belieben Biber oder niedriger, zur 
I SIE Rechten oder zur Linken richten ließ. Dieſe Vorrichtung 
= führte endlich zu dem gewünſchten Zwecke; der Polarſtern 
2 war aufgefunden und hiermit zugleich der Schlüſſel zur allmä⸗ 
, ligen Ausdeutung der Sterngruppen, zur Erkenntniß aller 
%, Sternbilder des Himmels. 
1—— Wenn der rechte, lebendige Antrieb zum Erkennen in 
ane, der menſchlichen Natur erwacht ift, dann läßt er ſich nicht 
1 2 an der Erforſchung deſſen, was ſichtbar und äußerlich vor 
j 40 Y Augen liegt, genügen. Läßt doch ſelbſt der Lachs, wenn 
. Aug der Wandertrieb in ihm erwacht, nicht ab von ſeinem Zuge, 
—— bis er jetzt ſtromaufwärts die Nähe des Quelles, dann 
ö ſtromabwärts das weite Meer gefunden, darinnen der Fluß 
| endet. So will auch der Geiſt des Menſchen mitten in dem 
ſinnlich Aeußeren den Anfang und das Ende der Erſcheinun— 
gen wiſſen. Was ſind, ſo fragte ſich Duval, dieſe Sterne 
und wie weit mag es, von meiner Eiche aus, bis zu ihnen 
N hinan ſeyn? Vergeblicher noch denn ſein Auge, als er vor 
dem Beſitz der Sterncharte die Zeichen des Thierkreiſes am 
Himmel finden wollte, müheten ſich feine lebhafte Phantaſie 
| und der kräftige Verſtand ab, einen Maaßſtab im Irdiſchen 
N zu finden, für das was überirdiſch iſt; nach allen Seiten 


| hin zog ſich das gefuchte Ende, je näher er ihm zu kommen 
ſchien, deſto mehr in die Tiefen einer Unendlichkeit zu— 
rück, welcher ſich kein äußres, ſinnliches Forſchen, ſondern 
ö nur das innre Schauen und Erfahren des Geiſtes nahen 
| kann. 
Wie groß die Erde ſey, das müſſe ſich, fo urtheilte 
| unſer angehender Gelehrter, leichter ergründen laſſen, wenn 
man nur die Abbildung der Erdkugel, die jetzt als Eigen⸗ 
thum vor ihm lag, recht verſtehen könnte. Seine Charten 
begleiteten ihn überall hin, mitten im einſamen Walde brei⸗ 
tete er ſie vor ſich am Boden aus, während die Kühe neben 
ihm auf die Weide giengen. Was die vielen Linien bedeu⸗ 
ten möchten, welche der Länge wie der Queere nach über 
die Abbildung der Erdkugel und der Welttheile gezogen wa⸗ 
ren, darüber ſann er Tage lang mit großer Anſtrengung 
nach. Endlich brachte ihn der breitere Gürtel, der um die 
Mitte der Erdkugel gezogen und in 360 kleine, ſchwarze und 
weiße Felder getheilt war, auf den Gedanken daß hierdurch 
Räume und Entfernungen angezeigt werden ſollten. 1 3 


er 


85 


Licht gieng ihm auf, das auf einmal Alles klar machte; das 
Räthſel war gelöſt; die kleinen Felder bedeuten Meilen (einen 
andren Maaßſtab für irdiſche Räume kannte er noch nicht) 
und hienach beträgt der Umfang der Erde nicht mehr und 
nicht weniger als 360 franzöſiſche Meilen oder Wegſtunden. 

Er konnte kaum die Zeit des Mittagseſſens erwarten 


um ſeine herrliche Entdeckung den Einſiedlern mitzutheilen. 


Der Gelehrte unter ihnen ſchüttelte den Kopf, wußte aber 
nichts darauf zu ſagen, einer aber unter den drei übrigen 
war in feinen jüngern Jahren zu St. Nicolas de Barry in 
Kalabrien geweſen. Dieſer bemerkte daß er auf jener Reiſe 
wohl weiter als 360 Wegſtunden gekommen ſey, aber das 
Land und das Waſſer giengen viel weiter, ein Weg von 
a Meilen reiche noch lange nicht um den Umfang der Erde 
erum. . 
Da ſtund nun der arme Duval mit ſeiner Entdeckung 
beſchämt und rathlos da; entweder mußten die ſchönen Char- 
ten, für deren Beſitz er ſein ganzes Vermögen aufgeopfert 
hatte, nichts taugen, oder der Schlüſſel zu ihrem Verſtänd— 
niß lag für ihn ſo verborgen, daß er die Hoffnung aufgeben 
mußte, ihn zu finden. Aber auch diesmal kam, wie dies 
im Leiblichen und Geiſtigen immer zur rechten Zeit geſchieht, 
dem erwachten Antriebe ſeine Befriedigung und Sättigung 
entgegen. Unſer junger Einſiedler pflegte an jedem Sonntag 
ſeine Meſſe zu Luneville in der Karmeliterkirche zu hören und 
bei dieſer Gelegenheit mancherlei Aufträge der Brüder in der 
Stadt zu beſorgen. Auch am andren Tage nach dem nie— 
derſchlagenden Ereigniß, das ihn auf dem Weg ſeiner For- 
ſchungen betroffen hatte, war er zum Beſuch des ſonntägli— 
chen Gottesdienſtes in der Stadt geweſen, und wollte nach 
Beendigung deſſelben noch ein wenig in den Kloſtergarten 
ſich ergehen, da ſahe er Herrn Remy, den Gärtner, in einem 


Buche leſend, am Ende einer Allee ſitzen. Seine immer rege 


Wißbegier trieb ihn an zu fragen, was der Herr läſe, und 
zu ſeiner freudigen Ueberraſchung erfuhr er, daß das Buch 
eine Anleitung zum Erlernen der Erd- und Länderkunde ent—⸗ 
halte. Es war die, zu jener Zeit ſehr beliebte kleine Geo— 
graphie von Delaunai. Dem armen Duval brannte ſein 
Herz vor Begierde dieſes Buch zu leſen, er wagte die flehent- 
liche Bitte, daß Herr Remy ihm daſſelbe leihen möge, und 


| ven BBunich wurde ihm gewährt. Mit dem Vorſatz ſich daſ⸗ 


j 


86 


ſelbe abzuſchreiben nahm er es dankbar in Empfang, konnte 
aber der Begierde nicht widerſtehen ſeinen Inhalt ſogleich zu 
erfahren; ſchon auf dem Heimwege hatte er fo viel aus dem⸗ 
ſelben gelernt, daß er jetzt wußte, daß die kleinen, ſchwar⸗ 
zen und weißen Felder der Mittellinie ſeiner abgebildeten 
Erdkugel Grade bedeuteten, deren jeder 25 franzöſiſche, 15 
deutſche geographiſche und ſo in jedem Lande, nach Verſchie⸗ 
denheit des Meilenmaaßes, eine gewiſſe Zahl von Meilen 
groß ſey. Zugleich erfuhr er auch, was die andren Linien 
bedeuteten, welche von Nord nach Süd die breite Mittel- 
linie oder den Aequator durchſchneiden. Er hatte jetzt nichts 
Angelegentlicheres zu thun, als zur beßren Verſtändigung 
des Erlernten ſich ſelber eine Erdkugel zu verfertigen. Haſel⸗ 
nußſtäbe, zirkelrund gebogen, die einen um die Eintheilung 
der Erde nach der Länge, die andren um jene nach der 
Breite zu verſinnlichen, wurden in horizontaler und fenfrech- 
ter Richtung zuſammengefügt, dann mit dem Meſſer die 
Eintheilung dort in 360, hier in 90 Grade eingeſchnitten. 
Erſt jetzt war dem jungen, wißbegierigen Eremiten das eigent- 
liche Verſtändniß ſeiner Welt- und Ländercharten eröffnet; 
wenn er dieſe unter dem Dach des Waldes auf dem Boden 
ausgebreitet, vor ſich liegen, und dann mittelſt feines gelie— 
henen Sonnencompaßes ſie nach den Weltgegenden gerichtet 
und an einander geordnet hatte, da konnte ſein forſchender 
Geiſt von dem Punkte aus, darauf Luneville lag, bald in 
dieſe, bald in jene Länder ſo wie von einem Welttheil zum 
andren wandern, und in Kurzem wußte er jede Frage nach 
der Lage des einen oder andren Landes alſogleich und mit 
voller Sicherheit zu beantworten. Hiermit noch nicht zufrie⸗ 
den forſchte er auch, nach der Anleitung des Buches von 
Delaunai dem Laufe der Flüße und dem Umriße der Mee— 
resküſten nach, bemerkte an beiden die Lage der merkwürdig⸗ 
ſten Städte und prägte ſich vor Allem die der Hauptſtädte 
ein. Es gelang ihm dieſes Alles fo gut, daß er nach eini⸗ 
ger Zeit mit der verkleinerten Welt auf ſeinen Charten und 
allen ihren einzelnen Städte- wie Ländernamen eben fo vertraut 
und bekannt war, als mit den einzelnen Parthieen und alten 
Baumſtämmen im Wald bei St. Anna. Uebrigens kamen 
ihm auch bei dieſer Gelegenheit mancherlei Gedanken in den 
Sinn, welche zu immer weitren Fragen und Forſchungen 
reizten. Die weite Ausdehnung des Gewäſſers im Vergl. ich 


. 4 
hal 75 


u 


87 


mit der viel geringeren des bewohnbaren Landes, ſetzte ihn 
in Erſtaunen; welche Arten der lebendigen Weſen ‚fo fragte 
er ſich, mögen in den Tiefen der Meere ſich bewegen und 
für welchen Zweck ſind dieſelben erſchaffen, da doch der Herr 
der Erde, der Menſch, ſie nicht einmal alle zu ſehen und zu 
kennen, geſchweige zu benutzen vermag. 

Der Antrieb zum Erkennen 5 Wiſſen hatte ſich bei 
Duval bis zu einer leidenſchaftlichen Höhe geſteigert. Vor 
Allem war es zwar jetzt die Länderkunde die ihm beim Wa⸗ 
chen am Tage und ſogar bei Nacht im Traume beſchäftigte, 
doch hatte ſich der Kreis ſeines Erkennens nebenher auch nach 
andren Seiten erweitert. In jedem Hauſe, dahin die Auf— 
träge ſeiner alten Dienſtherrn ihn führten, fragte er nach, 
ob man da wohl Bücher habe? und wenn dies ſo war, ob 
man ihm nicht eines, dann das andre davon zum Leſen lei⸗ 
hen wolle? Auf diefe Weiſe waren ihm ſchon die Ueberſe⸗ 
gungen von Plutarchs Leben berühmter Männer, ſo wie die 
Geſchichte des Quintus Curtius in die Hände gekommen und 
ſeine Unterhaltung in der abgelegenen Grotte des alten Stein— 
bruches geworden. Aber alle dieſe neuen Elemente des Wiſ⸗ 
ſens waren nur Funken geworden die den innren Brand ſei⸗ 
nes Verlangens „noch immer mehr zu wiſſen, entzündet hat⸗ 
ten. Die ganze Erde mit ihren Ländern nicht nur wie dieſe. 
jetzt ſind, ſondern wie ſie auch vormals waren, als noch 
andre Volter ſie bewohnten, hätte er kennen lernen mögen; 
vor jedem alten Gemäuer, vor jedem Denkmal vergangener 
Zeiten ſtund er mit ehrfurchtsvollem Nachſinnen ſtill; er be⸗ 
ſchaute jeden Stein, jeden Schriftzug, hätte gern ihre Spra— 
che verſtanden um zu erfahren wer hier gewohnt, was hier 
ſich zugetragen habe. 

Die Bücher, ſo dachte er in ſeiner unſchuldigen Ueber— 
ſchätzung der menſchlichen Wiſſenſchaft, lehren und ſagen 
Alles; wie aber ſollte er, nach der Verwendung ſeines gan— 
zen, kleinen Beſitzthumes auf den Ankauf der Charten, zu 
ſolchen Büchern kommen? Die Verkäufer der alten und neuen 
Bücher in der Stadt, deren Läden er oft beſuchte, und da⸗ 
bei mit wißbegierigen Auge, wenn Nichts weiter erlaubt 
war, wenigſtens die äußren Aufſchriften der Titel betrachtete, 
mochten auf ein bloßes Herleihen ihrer Schätze ſich nicht ein— 
laßen; was man von ihnen haben wollte, das mußte mit 


A Nies! 


d bezahlt ſeyn; Geld aber, woher dieſes nehmen? 


. 


88 


Ein Drang von geiſtiger Art, wie der in Duval war, 
bricht ſich durch alle äußren, leiblichen Hemmungen ſeine 
Bahn, und weiß in dieſem Kampfe nach außen Kräfte zu 
entwicklen, welche dem in äußerem Ueberfluß erwachsnen 
Menſchen fremd find. Felle von gewiſſen Thieren der Wild⸗ 
niß, ſo wie das Fleiſch von andren, werden in der Stadt, 
das hatte er erfahren, bald mehr, bald minder theuer verkauft. 
Den Beſitzern von St. Anna ſtund in dem zu ihrem Grund⸗ 
beſitz gehörigen Stück Waldes eben ſo das Recht, dort ihr 
Vieh zu weiden, als auch eine gewiſſe Berechtigung zur 
Jagd und zum Fange der vierfüßigen wie geflügelten Be— 
wohner deſſelben zu. Die Beſitzer des vormaligen Wald— 
hauſes Alba mochten die letztere Berechtigung in ihrer ganz 
zen Ausdehnung und Strenge geübt haben; ſeitdem aber 
jenes Obdach der Jagdfreunde durch Bruder Michaels An— 
kauf ganz andren Bewohnern eingeräumt, der Wald mit 
ſeinen Thieren ein Eigenthum frommer, friedliebender Ein— 
ſiedler geworden war, hatten ſich die ungeſtörte Ruhe dieſes 
Dickiges vornämlich ſolche vierfüßige Tyrannen des Waldes 
zu Nutze gemacht, welche von den Jägern als ſchädliche 
Thiere mit Recht verfolgt werden. Marder und Sitiffe, 
Füchſe und wilde Katzen verübten von hier aus ungeſtört 
ihre Mordthaten, denn die guten, alten Brüder in der Ein— 
ſiedelei hatten weder Flinten noch andre Gewehre, bedienten 
ſich weder der Fallen noch des Giftes, um, was ihre Pflicht 
geweſen wäre, an den Mördern und Räubern in ihrem Herr— 
ſchaftsgebiet Recht und Gerechtigkeit zu üben. Duval, wenn 
er die Nachtigall, deren Geſang ihn entzückte, unter den 
Klauen der wilden Katze verbluten ſahe, oder die Jungen 
der Singdroſſel und des Rothkehlchens durch einen nächtlichen 
Ueberfall des blutdürſtigen Marders hinweggeraubt und ver— 
tilgt fand, dachte anders. Der Klaglaut den die Alten am 
andren Morgen an dem leeren Neſt erhuben, rührte ihn tief. 
Dieſe ſprachen nur wehmüthiges Sehnen aus nach dem das 
ſie geliebt hatten und beſeßen, in ihm regte ſich ein weh⸗ 
müthiges Sehnen nach Etwas, das er liebte und nicht be— 
ſaß. Es konnte nach beiden Seiten geholfen werden. Die 
Klage der unſchuldig Beraubten foderte zur Ahndung und 
Rache auf, die Mörder mußten ihre Schuld mit Blut und 
Gut bezahlen, und wem konnte das Letztere anders anheim 
fallen als dem, welcher mit mächtiger Hand des Richte 


89 


und Herrſcherrechtes pflegte. Man fand bei den Schuldigen 
kein andres Mobiliarvermögen als ihr Fell und dieſes eignete 
Duval ſich zu. 
Die alten Väter in St. Anna ſo neutral und friedlie— 
bend ſie ſich auch zu den thieriſchen Bewohnern des nachbar— 
lichen Waldes verhielten, mochten doch zuweilen eine Regung 
des Unmuthes gegen die unbeſcheidnen, vierfüßigen Nachbarn 
empfunden haben, wenn ſie am Morgen bemerkten, daß bei 
Nacht der Fuchs ihre Gänſe geraubt, der Marder oder Iltiß 
ihre Hühner gemordet habe, ſie ließen deshalb gern geſche— 
hen, daß ihr junger Gehülfe neben ſeinem Hirtenamt auch 
das Geſchäft des Jägers übte, und bald mit den Trophäen 
eines Fuchspelzes, bald mit denen eines Marderfelles nach 
Hauſe kam. Wie der ſeltſame Burſch das anfieng, daß er 
ohne Flinte, Blei und Pulver, nur mit Bogen und Bolzen 
bewaffnet und durch allerhand, witzig genug erfundene Fal⸗ 
len den liſtigen Fuchs und den ſcheuen Marder in ſeine Ge— 
walt brachte, das hörten ſie ihn oft mit Verwunderung be— 
richten; doch gieng es dabei auch nicht immer ohne Schrecken 
ab. So eines Tages, da er aus vielen Kopfwunden blu— 
tend, und ganz von Blute bedeckt, mit einer todten, wilden 
Katze, die als Trophäe an ſeinem Stocke hieng, in das ge— 
meinfame Zimmer hereintrat. Er hatte dieſes mörderiſche 
Thier mit kühnem Klettern und Sprüngen verfolgt, bis daſ— 
ſelbe, von ſeinem Stabe am Kopfe getroffen, doch nicht ge— 
tödtet, in die Höhlung eines Baumes ſich rettete. Der Stab 
des jungen Jägers ſetzte ihr in dieſen Schlupfwinkel nach 
und ängſtigte ſie mit ſeinen Stößen ſo ſehr, daß ſie zuletzt 
wüthend heraus und auf ſeinen Kopf ſprang, den ſie mit 
Zähnen und Klauen zerfleiſchte, bis fie der ruͤſtige Burſche 
an ihren Hinterfüßen herabriß und ihr den Kopf am Baum— 
ſtamm zerſchmetterte. Den erſchrockenen Vätern rief er ruhig 
zu: fürchten Sie nicht, ehrwürdige Väter, daß mir ein Leides 
geſchehen ſey. Sehen Sie hier den Mörder unſerer Sing— 
vögel. Ich habe ihn beſiegt, und das Waſchen mit ein we— 
nig Waſſer und Wein wird bald meine Wunden heilen. 
Dem rechtmäßigen Vollzieher der Gerichtsbarkeit und 
der Todesſtrafe an den ihres Mordgewerbes überwieſenen Ver— 
brechern, fiel rechtmäßiger Weiſe nicht nur ihr Mobiliarver— 
dgen, ſondern auch ihr übriges Beſitzthum und Einkommen 
anheim, da die natürlichen Erben gleich ihren Vätern geäch— 


4 A e 
7 we 


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tet und landesflüchtig waren. Die Revenüen der Füchſe und 
Marder beſtunden, innerhalb des Waldes und benachbarten 
Feldes, vornemlich in dem Fleiſche der Hafen und Wald⸗ 
hühner, ſo wie im Herbſte hin und wieder aus Schnepfen. 
Auch von dieſen eignete ſich Duval zum Beſten ſeines Han⸗ 
delsgeſchäftes mit den Kürſchnern, Hutmachern und Köchen 
ſo viele zu, als in ſeine Schlingen gehen wollten, und in 
der irrigen Meinung, daß all das Wildpret welches im 
Walddiſtrict des vormaligen Jagdhauſes Alba und der jetzi— 
gen Einſiedelei St. Anna ſich zeigte ein Eigenthum der letz⸗ 
teren ſey, hätte er vielleicht ſelbſt Hirſche und Rehe, deren 
Erlegung nur den herzoglichen Jägern zuſtund, überliſtet, 
wenn dieſe in jener Gegend häufiger und hierbei eben ſo 
leicht durch Nachgrabungen, Räucherungen, Fallen und Fang⸗ 
eiſen wären zu erhaſchen geweſen als Fuchs und Marder, 
oder als die unverſchämte Feindin der harmlos ſpielenden 
Fiſche, die unerſättliche Fiſchotter. x 

Der Verkauf der erbeuteten Felle ſo wie des Fleiſches 
der Haſen und Waldſchnepfen an Kürſchner, Hutmacher und 
Köche war für unſren jungen Jäger in ganz unerwarteter Weiſe 
ergiebig geweſen, er hatte demſelben in wenig Monaten 30 
bis 40 Thaler eingetragen. Dieſe, nach ſeinem Bedünken 
ungemein große Summe in der Taſche, lief derſelbe, mit 
Erlaubniß der Einſiedler, nach der ſechs Stunden weit abge— 
legenen Stadt der Gelehrſamkeit und Künſte: nach Nancy. 
Denn dort, ſo hatte er vernommen, gab es viel mehr und 
ſchätzbarere Bücher zu kaufen, als in der, weniger der Gunſt 
der Muſen als jener des Fürſtenhofes nachſtrebenden Reſi— 
denzſtadt Luneville. Für ihn hatte jedes Buch, das ihm 
etwas Neues lehren konnte, einen unſchätzbaren Werth; was 
aber im gewöhnlichen Handelsverkehr ſein Werth ſei, das 
wußte er nicht. Darum pflegte er, ein Anfänger im Um⸗ 
gang mit der Welt, den Bücherverkäufern ſein Geld auf 
ihren Zahltiſch hinzulegen, indem er dieſelben flehentlich bat, 
ſeiner Armuth nicht mehr abzunehmen, als nach chriſtlich 
billiger Schätzung die von. ihm ausgewählten Bücher werth 
ſeyen. Leider fand ſich nur einer unter dieſen Handelsleu— 
ten, welcher der böſen Lockung des zur Verfügung hingeleg⸗ 
ten Geldes redlich widerſtund, und von dem unbegränzten 
Vertrauen des unerfahrnen Jünglinges keinen ſchlechten Ge⸗ 
brauch machte. Dieſer eine war Herr Truain, ein Buch⸗ 


* 


91 


händler, der, aus der Bretagne gebürtig, in Nancy fich 
anſäßig gemacht hatte. Er behandelte den treuherzigen Jüng⸗ 
ling als theilnehmender Freund, ließ ihm alle Bücher die 
er begehrte, um den möglichſt billigen Preis ab und gab 
ihm, als der Reſt des baaren, mit der Jagd verdienten 
Geldes nicht mehr ausreichte, auf ſein ehrliches Geſicht hin 
Credit, für mehrere Bücher die er zu haben wünſchte. Herr 
Truain ahnete in dieſem Augenblick es nicht, daß der bäue— 
riſche Burſche, der da vor ihm ſtund, nach wenig Jahren 
Vorſtand der königlichen Bibliothek in Lothringen, und dann 
im Stande ſeyn werde, ihm dadurch, daß er ihn zum Haupt— 
lieferanten für dieſelbe wählte, ſein wohlwollendes Benehmen 
reichlich zu belohnen. | 

Unter den Schätzen welche ſich Duval für dieſes Mal ers 
handelt hatte, befanden ſich namentlich eine Ueberſetzung des 
Plinius, dann von Theophraſts Charakteren, von des Livius 
Geſchichte, erläutert von Vigenere, ferner die Geſchichte der 
Inkas, des Barthelemy las Caſas Schilderung der von den 
Spaniern in Amerika verübten Grauſamkeiten, Lafontaines 
Fabeln, Louvois Teſtament, Rabutins Briefe und mehrere 
Landcharten. Die eben genannten und noch mehrere nicht 
benannte Bücher bildeten eine für unſeren Einſiedler in dop— 
peltem Sinne theure Laſt. Er hatte mit Freuden den gan— 
zen Gewinn, den ſeine Jagden ihm eingebracht, für dieſen 
Bücherhaufen dahin gegeben und bei Herrn Truain noch 
Einiges auf Credit genommen, mit Freuden lud er die Bürde 
auf ſeine rüſtigen Schultern und ſchleppte ſie, von Zeit zu 
Zeit ausruhend, noch an demſelben Tage nach ſeiner um ein 
ſo gut Stück Weges von Nancy entfernten Einſiedelei. 

Die Zelle, welche man Duval zu ſeiner Schlaf- und 
Wohnſtätte angewieſen hatte, war faſt zu klein dazu um mit 
dem Bewohner zugleich auch das Eigenthum deſſelben aufzu— 
nehmen. Sie wurde jetzt zu einer Welt im Kleinen, denn 
an ihrer Decke prangte das Abbild des Himmels: die Stern— 
charte, die Wände waren mit den Charten der verſchiedenen 
Welttheile und Länder verziert. a 

Wir haben bereits oben, S. 78 es angedeutet, daß unter 
den vier alten Bewohnern der Einſiedelei einer war, der ſich 
in mancher Hinſicht von den andren dreien, vor Allen von 
dem ſanften Bruder Paul unterſchied. Jener Eine Bruder, 
Anton genannt, war aus Bar gebürtig, deſſen Bewohner 


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im Allgemeinen in dem Rufe ſtehen, daß fie leicht aufregbar 
und ſtreitſüchtig ſind. Obgleich er an Jahren der älteſte und 
in allen frommen Uebungen der eifrigſte war, hatte er den— 
noch ſeine zur Heftigkeit geneigte Naturart nicht ganz beſiegen 
können; er war hart und ſtreng in der Behandlung wie in 
der Pflege des eignen Leibes, dabei aber auch hart und 
ſtreng in ſeinem Urtheil über die Handlungen Andrer, ſo 
daß, wenn er ſprach, Bruder Paul am liebſten ſchwieg. Jener 
etwas ſtürmiſche Bruder, welcher als Aelteſter der kleinen 
Geſellſchaft über dieſe eine Art von Regiment führte, bemerkte 


zu ſeinem großen Verdruß daß Duval, ſeitdem das Leſen 


der Bücher und die Beſchäftigung mit den Landcharten ihn 
ſo mächtig anzog, im Beſuche der gemeinſamen Gebetsübun⸗ 
gen minder eifrig geworden ſey und daß er mit Dingen 
umginge, welche, wie es dem Bruder Klausner ſchien, für 
einen Frommen weder nöthig noch heilſam ſeyen. Er ſelber 
machte ſich Vorwürfe darüber, daß er dem jungen Menſchen 
den Sonnencompaß geliehen und dadurch vielleicht etwas 
beigetragen habe zu ſeinen Verirrungen, doch hoffte er, daß 
dafür auch ſeine Ermahnungen einen beßren Eingang bei 
demſelben finden ſollten. Da er jedoch ſahe, daß Duval von 
Tag zu Tag immer eifriger dem Antrieb zum Wiſſen ſich 
hingab, wollte er dem eigentlichen Treiben deſſelben noch beſ— 
ſer auf den Grund kommen und verſchaffte ſich deshalb Ge— 
legenheit, als der junge Tauſendkünſtler gerade abweſend 
war, in ſeine verſchloßene Zelle einzudringen. Wie erſtaunte 
der gute Bruder Anton als er da lauter ſolche Dinge erblickte, 
die er noch nie bei einem Andächtigen geſehen hatte und welche 
ihm deshalb nicht anders als verdächtig vorkommen mußten. 
Was ſollte die aus Pappe gemachte Himmelskugel mit ihren 
weißen und ſchwarzen Kreiſen, die ſich Duval zur Verſinn— 


lichung des Ptolemäiſchen Syſtems mühſam zuſammengeſetzt 


hatte; was bedeutete die aus kreisrund gebogenen Haſelnuß— 
ſtecken gefertigte Erdkugel; was die ſeltſamen (geometriſchen) 
Figuren und vielen Zahlen, die der wißbegierige Duval aus 
einem entlehnten Buche von mathematiſchem Inhalte ſich ab— 
gezeichnet und abgeſchrieben hatte. Mehr jedoch denn alle 
dieſe Dinge ſetzte ein Wort den Bruder Anton in Schauder 
und Schrecken, das er in der Aufſchrift auf einer großen mit 
aſtronomiſchen Figuren und Rechnungen angefüllten Charte 
des Tycho de Brahe las. Die Aufſchriſt hieß: Calendarium 


9 


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naturale magi cum... Magicum? brummte voll Entſetzen 
der alte Klausner. Hier an gottgeweihter Stätte will er 
Magie, das heißt Zauberei und Hexerei treiben? Das kann 
nicht länger nachgeſehen werden. 

| Gleich in feiner erſten Aufwallung machte ſich der alte 
Mann auf den Weg nach Luneville, zum Hauſe des Beicht— 
vaters, einem von Gemüth wie an Kenntniſſen vorzüglichen 
Manne. Er machte dieſem eine ſo ſeltſame Beſchreibung von 
Duvals Thun und Treiben, ſo wie von dem was er in ſeiner 
Zelle geſehen hatte, daß der Mann neugierig wurde, die 
Sache ſelber zu ſehen. Duval, der indeß nach Hauſe gekommen 
war, ließ den wackern Pater alles betrachten und durchforſchen 
was in feiner Zelle war, beantwortete unbefangen alle Fra— 
gen die er an ihn that und das Ende dieſer Prüfung war, 
daß der Pater den Bruder Anton über ſeine Unwiſſenheit 
und ſeinen grundloſen Argwohn lächlend zurechtwies, dem 
Duval aber wegen ſeiner Wißbegier und ſeines Fleißes belobte 
indem er ihn zugleich aufmunterte auf dieſem Wege fortzu— 
fahren, weil ihm ſolche Kenntniſſe einſt noch ſehr zum Nutzen 
gereichen könnten. 

Für einige Zeit ſchien jetzt der Frieden hergeſtellt, doch 
konnte der Bruder Anton das nicht verſchmerzen, daß er 
wegen dieſes jungen Menſchen vom Beichtvater belacht und 
zurechtgewieſen worden ſey. In jeder Miene des unbefang— 
nen Jünglinges glaubte er einen Nachhall jener tadelnden 
Zurechtweiſung zu leſen und ſo faßte er einen wahrhaften 
Widerwillen gegen denſelben. In dieſer unglücklichen Stim— 
mung entfuhr ihm einſt die Drohung, daß er dem Duval 
ſeine Charten zerreißen, ſeine Bücher hinwegnehmen wolle, 
eine Drohung bei welcher der blinde Eiferer zu wirklichen Thät— 
lichkeiten Miene machte. Dieſe Schätze, deren Erwerb ihrem 
Beſitzer ſo viele Mühe und Sorgen gemacht hatten, ſich neh— 
men und zerſtören zu laſſen, welches jugendlich warme Blut 
hätte einen ſolchen Gedanken ohne heftige Aufwallung ertra— 
gen können! Zum erſten, und, ſo viel bekannt auch zum 
letzten Male in ſeinem Leben gerieth Duval in einen ſo ge— 
waltigen Zorn, daß er ſeiner nicht mehr mächtig war. Als 
Vertheidigungswaffe gegen die Gewaltthätigkeiten einer un— 
wiſſenden Barbarei an ſeinen lieben Büchern, ergriff er die 
Feuerſchaufel und ſtellte ſich mit einer ſolchen entſchloßnen, 
wilden Miene dem Bruder Anton, dieſem Nachahmer des 


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Zerſtörers der Bibliothek von Alexandrien entgegen, daß der 
Alte mit lauter Stimme um Hülfe rief. Die drei andren 
Brüder, welche nahe bei auf dem Felde arbeiteten, kamen her⸗ 
bei, der junge Menſch, noch immer fuͤr ſeine Bücher Alles 
fürchtend, treibt fie durch das bloße Drohen mit der Feuer: 
ſchaufel aus ihrer eignen Wohnung hinaus, deren Thüre er 
verſchließt und die Bewegungen des Feindes durchs Fenſter 
beobachtet. ö 

Es war ein glückliches Zuſammentreffen, daß gerade in 
dieſem Augenblick der Prior der Eremiten nach St. Anna 
zum Beſuche kam. Er ſahe und hörte den Tumult, vernahm 
die Klagen über den jungen Empörer gegen das Anſehen 
des Alters, dieſer aber zum Fenſter heraus, erzählte in ſei⸗ 
ner Weiſe den Hergang der Sache. Der Prior hörte ihn 
mit einer Gelaßenheit und Ruhe an, die auch dem Jüng— 
ling ſeine Faßung zurückgab, welcher den ernſten Verweis, 
den der Prior ihm gab, eben ſo ſchweigend hinnahm, als 
Bruder Anton jenen der ihm zugetheilt wurde. Dennoch 
erklärte Duval, gleich einem Commandanten der im Begriff 
ſtehet ſeine Feſtung den Belagerern zu übergeben, daß er, noch 
vor Wiedereröffnung der Thüre um Zuſicherung folgender 
Puncte bitten müſſe: 1) um vollkommne Vergebung des Vor⸗ 
gefallenen; 2) um Geſtattung von täglich zwei freien Stun⸗ 
den für ſeine wiſſenſchaftlichen Arbeiten, eine Vergünſtigung 
auf welche er übrigens von ſelber in der Zeit der Ausſaat, 
der Ernte und der Weinleſe Verzicht leiſte. Dagegen ver— 
ſprach er ſeinerſeits der Gemeinſchaft der Eremiten noch zehn 
Jahre lang, ohne allen Gehalt, nur gegen Koft und Klei- 
dung mit allen Kräften und mit gewißenhafter Treue zu 
dienen. Dieſer Vertrag wurde eingegangen, die Thüre den 
Belagerern aufgethan und dieſe ließen ſich ſogar willig finden, 
am darauf folgenden Tage den ſchriftlich aufgeſetzten Ver— 
gleich, der Eine mit Buchſtaben, die Andren durch Kreuze 
ſtatt der Namen zu unterzeichnen. ' ; 

Der Friede unter den Bewohnern von St. Anna war 
jetzt aufs Vollkommenſte wieder hergeſtellt und mit dem Fries 
den zugleich erblüheten die gewöhnlichen Früchte deſſelben, 
Wiſſenſchaften und Künſte bei Duval. Seine Wißbegier 
brachte ihn freifich nicht ſelten auf Irrwege, die zu keinem 
Ziele des wahren Erkennens führten, denn mit ungemeiner 
Ausdauer las er Werke, wie die des Raymund Lullus mehr⸗ 


95 


malen Wort für Wort durch, und plagte ſich Wochenlang 
ab, um da einen deutlichen Sinn und weſentlichen Gehalt 
zu finden, wo keiner war. Die in Nancy und ſonſt hin und 
wieder erkauften Bücher hatte er alle nicht nur geleſen, ſon— 
dern ſo weit ſie dies möglich machten, für ſeine geiſtige Bil— 
dung ausgebeutet; er ſann nun auf Mittel, noch mehr ſolchen 


Nahrungsſtoff in feine Hände zu bekommen. Die jagdbaren 


Raubmörder des Waldes waren theils vertilgt, theils aus— 
gewandert; einen andren Weg um ſich das Nöthige zu ver— 
ſchaffen, ſuchte er vergebens, da that ſich ungeſucht von ſelber 
einer für ihn auf. An einem Herbſttage, als er, durch den 
Wald gehend, in gedankenloſem Spiele das abgefallene Laub 
mit den Füßen vor ſich her ſtieß, bemerkte er etwas Glänzen⸗ 
des. Es war ein fein gearbeitetes goldnes Petſchaft, deſſen 
Wappenſchild von ganz beſondrer Schönheit war. Duval, 
welcher wußte, daß ſolche Wappen nicht ſelten auf Thaten 
und Schickſale der Familien ſich beziehen, welche dieſelben 
führen, und welcher ſich nach Meneſtriers Anleitung ſelbſt 
mit den Grundzügen der Heraldik vertraut gemacht hatte, be— 
trachtete mit reger Aufmerkſamkeit die einzelnen Theile des 
dargeſtellten Schildes, ohne ihren Sinn zu errathen. Am 
nächſten Sonntag ließ er in Luneville von den Kanzeln ſei— 
nen Fund bekannt machen und nach wenig Tagen meldete 
ſich bei ihm ein Engländer, ein Mann der an äußren Glücks— 
gütern wie an Gaben des Herzens und Geiſtes in gleichem 
Maaße reich war, als rechtmäßiger Inhaber des Petſchafts 


an. Herr Forſter, fo hieß der Engländer, lebte ſchon ſeit 


mehreren Jahren in Luneville, und widmete all ſeine Zeit 
und Kräfte den wiſſenſchaftlichen Forſchungen ſo wie wohl— 
thätigen Zwecken. Duval war bereit den Fund zurückzugeben, 
doch machte er dabei die Bedingung: daß zuvor noch der 
Herr des Petſchaftes ihm die Bedeutung ſeines Wappenſchil— 


des, bis in die einzelnen Theile hin beſchreiben möchte. Wie 


dieſer junge Menſch in armſelig bäueriſchem Kittel ein Inte— 
reſſe an adlichen Wappen haben könne, begriff Herr Forſter 
nicht; er hielt die Bitte für eine Aeußerung des plumpen Vor⸗ 
witzes. Indeß fügte er ſich in die Bedingung die der ehr— 
liche Finder machte und war nicht wenig erſtaunt als er aus 
den Fragen und Bemerkungen des jungen Einſiedlers erkannte, 
daß dieſer in der Geſchichte und ihren Hülfswiſſenſchaften, 
ja ſelbſt in der Wappenkunde gründlicher unterrichtet und 


96 


beßer bewandert ſey, als die meiften in den Gelehrtenſchulen 
gebildeten Leute ſeines Alters. Die Wißbegierde dieſes Jüng⸗ 
linges hatte in der That etwas Rührendes; ſie kam aus 
einem ſo lauteren, innigen Drange zum Erkennen des Wah⸗ 
ren und des Gewißen, ſie nahm mit ſo dankbarer Liebe das 
auf, was ihr dargeboten wurde, daß der menſchenfreundliche 


Engländer gleich bei dieſem erſten Zuſammentreffen eine herz⸗ 
liche Zuneigung zu Duval faßte. Er belohnte den Fund 


deſſelben durch ein ſehr reiches Geldgeſchenk und lud ſeinen 
jungen Freund ein ihn an jedem Sonn- und Feiertag in 
Luneville zu beſuchen. Bei dieſen Beſuchen lernte Duval, 
mit ſeiner leichten Faſſungskraft in einer Stunde mehr denn 
mancher Studirende bei einem wochen- ja monatlangen Be⸗ 
ſuche der Schulen, denn Herr Forſter hatte die Welt geſe⸗ 
hen, er war, wie dies ſeine Zeitgenoſſen und ſeine Arbeiten 
bezeugten, nicht nur ein Liebhaber und Förderer, ſondern ein 
Selbſtkenner der Geſchichte und Alterthumskunde. Ueberdieß 
ließ es der wohlthätige Engländer bei den geiſtigen Gaben, 
womit er ſeinen lehrbegierigen Schüler bereicherte, nicht allein 
bewenden, ſondern beſchenkte denſelben bei jedem Beſuch auch 
noch mit Geld. 

So hatte ſich für Duval auf einmal wieder eine reiche 
Quelle von Einkünften aufgethan, von denen er niemals auch 
nur einen Heller zu ſeinen ſinnlichen Vergnügungen oder zu 
Kleidern, ſondern Alles nur zur Befriedigung ſeiner Wißbe⸗ 
gierde anwendete. Während er niemals in andrer Tracht 
als in dem Einſiedlerkittel einhergieng, niemals, ſelbſt auf 
ſeinen ſtarken Tagmärſchen zu den Bücherverkäufern in Nancy 
und wieder zurück, etwas Andres genoß als das vom Hauſe 
mitgenommene Brod oder die Nahrungsmittel des armen 
Volkes, war die Zahl der Bücher ſeiner kleinen Bibliothek 
auf 400 angewachſen und dieſe enthielt, ſeitdem Herr For⸗ 


ſter die Auswahl leitete, Werke von bedeutendem innren Ge⸗ 


halt und Werth. In Wald und Feld wie in der kleinen 

Zelle war, bei Tag und zum Theil auch bei Nacht, unſer 
junger Einſiedler mit dem eifrigen Leſen ſeiner Bücher, mit 
der Betrachtung ſeiner Landcharten und Abbildungen beſchäf⸗ 
tigt. Wie dankbar wußte er es jetzt zu ſchätzen, daß ihm 
noch immer, als Hauptgeſchäft, die Hütung der kleinen 
Heerde der Einſiedelei anvertraut war; gerade dieſes Geſchäft 
war für ſeine wiſſenſchaftlichen Beſchäftigungen das günſtigſtt, 


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in der Stille des Waldes oder in der Grotte des verfallenen 
Steinbruches gab es Nichts, das ihn zerſtreuen und von feis 
nem Gegenſtand abziehen konnte, er lernte hier in einer 
Weiſe ſich ſammlen, welche ihm für ſein ganzes übriges 
Leben einen mord vor tauſend Andren, ſogenannten Gelehr⸗ 
ten gab. Denn Duval las ſchon damals nicht, wie ſo oft dieſe 
en mit nur halber und getheilter Aufmerkſamkeit, weil 
ihr innrer Sinn dabei in den verſchiedenſten Richtungen auf 
den Zerſtreuungen, Sorgen und Genüßen des Weltlebens 


herumſchweift; ſondern ſeine ganze Seele, all ſein Denken 


und Dichten war bei Dem, was ſein tieferes Eindringen in 
das Reich des Erkennens zu fördern ſchien. Das Gebäude 
ſeines Wiſſens war nicht auf Sand errichtet, ſondern ruhete 
auf der Grundlage einer Liebe, von ſeltner Innigkeit zur 
Wahrheit und zum geiſtigen Verſtändniß. 

Aber mitten in dem ſtillen Genuße feines jetzigen Glük⸗ 
kes regte ſich in unſrem jungen Einſamen ein Verlangen das 
ihn hinaus zu dem Verkehr mit Menſchen, hinaus in die 
Welt zog. Der innre, geiſtige Antrieb der ihn bis hieher 
geführt hatte, war noch nicht zu ſeinem Ziel und Ruhepunkt 
gekommen; durch die Nahrung, die er in den Büchern fand, 
waren ihm nur die Schwingen gewachſen und ſtärker gewor⸗ 
den, er wollte und ſollte immer weiter und weiter. Damals, 
als ihn jener innre Trieb von dem Schaafhirten in Clezan⸗ 
taine hinwegführte, war ſichs der wandernde Hirtenknabe 
noch nicht bewußt, weßhalb er eigentlich fort und wohin er 
ziehen wolle? jetzt aber wußte er deutlicher was das Ziel 


garz der Wiſſenſchaft, dem Gelehrtenſtande widmen. 
Wie fern, wie unerreichbar müßte dem Verſtande des 
rmen Burſchen ein ſolches Ziel erſchienen ſeyn, wenn er 
hierbei nur auf die Ausſage ſeines Verſtandes nicht vielmehr 
auf das feſte Gottvertrauen ſeines Herzens geachtet hätte. 
Die Rettung vom Tode des Verhungerns und Erfrierens, 
welche er gerade zur rechten Zeit und Stunde im Schaafſtall 
des armen Pächters erfahren, die glückliche Geneſung aus 
ſchwerer Krankheit durch ſeltſame und dennoch höchſt heilſame 
Pflege; der kindiſche und dennoch glückliche Einfall der ihn 
nach Lothringen geführt, die gute Hand ſeines Gottes die 
ihn auch hier, im Fremdlingslande, auf all ſeinen Wegen 
geſegnet und wunderbar geleitet hatte, sun es ihn erken⸗ 


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feiner Neigungen und fein wahrer Beruf fey: er wollte ſich 


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nen, daß über feinem innren wie über feinem äußren Leben 
eine Vorſehung walte, welche jedes Werk, das fie begonnen, 
aufs Herrlichſte hinauszuführen weiß. Dieſe Vorſehung hatte 
ihn in der Theurung und Hungersnoth ernährt, ſeinem Leibe 
auf der mühſeligen Wanderſchaft Obdach und Herberge be⸗ 


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ſchert, warum ſollte ſie nicht auch Mittel finden den Hunger 


und das ſehnliche Bedürfniß ſeines Geiſtes zu befriedigen, 
das ſie ja ſelber in dieſen gelegt und groß genährt hatte. 

Freilich ergieng es dem Duval bei dieſen Gedanken wie 
einem Wandrer der auf einem ſchmalen Baumſtamme oder 
Brückenſtege über einen tiefen Abgrund hinübergeht; er darf 
nicht neben ſich hinabſchauen in die Tiefe, wenn ihn nicht 
der Schwindel ergreifen ſoll. Für einen zehnjährigen Dienſt, 
bloß gegen Koſt und Kleidung hatte er ſich bei fe einen Ein⸗ 
ſiedlern verpflichtet, wenn dieſe Zeit um war, dann hatte 
er eben ſo wenig Geld zum Studiren als er jetzt beſaß; ſein 
redliches Herz konnte ſich keine Möglichkeit denken, wie jener 
ſogar ſchriftliche Vergleich aufgelöſt werden möge. Dennoch war 
dieſer Gedanke für ihn kein Gegenſtand der Sorgen oder 
Bekümmerniß. Wenn er mit ſeinem leichten Sinn auf 
die vielen Jahre hinblickte, die bis zum Ablauf des Ver⸗ 
gleiches noch übrig waren, da dünkte es ihm als wären es 
nur einzelne Tage; ihm fiel es nicht ein, daß auch er älter 
werde; der Uebergang in eine Schule oder Bildungsanſtalt, 
wo er endlich für den Beruf ſich bilden könnte, zu welchem er 
ſich beſtimmt fühlte, erſchien ihm als Etwas, das ſich eben 
ſo von ſelber ergeben und ſo leicht von ſtatten gehen werde, 
wie ſeine Wanderung aus der Champagne nach Lothringen 
oder aus Clezantaine nach la Rochette. Sein lebhaftes Ge⸗ 
müth ſtellte ihm Das, was noch fern und künftig war, ſo 
vor als werde es ſchon morgen oder heute ſich einſtellen; die 
Hoffnung eines Jünglinges gleicht einem ſtarken, guten Fern⸗ 
rohr, welches die weit abgelegenen Gegenſtände ſo nahe an 
den Geſichtskreis heranzieht, daß es ſcheint als könne man 
die Zielſcheibe, welche kaum von der Kugel der Büchſe erreicht 
wird, mit der Hand ergreifen. 

In einer ſolchen glücklichen Stimmung, welche von kei⸗ 


nem Morgen und ſeinen Sorgen, ſondern nur von einem 


Heute und ſeiner Freude weiß, mochte er ſich befinden, er 
er einmal an einem ſchönen Frühlingstage des Jahres 170 
im Walde neben ſeinen am Boden ausgebreiteten . — 


99 


ten da lag und in dieſen mit angeſtrengter Aufmerkſamkeit 
herumforſchte. Plötzlich hört er eine männliche Stimme, wel⸗ 
che ihm »guten Tag» wünſcht. Er blickt über ſich und ſieht 
einen Herrn auf deſſen Angeſicht ein edles Selbſtgefühl, ar 
paart mit Milde ſich ausſpricht; dieſer fragt ihn freundlich 
was er hier auf den Charten ſo eifrig ſuche? — »Ich ſu⸗ 
che und betrachte, » antwortete Duval, »den Weg von Frank⸗ 
reichs Küſte nach Quebeck in Canada. » — »Nach Quebeck? » 
fragte der Herr weiter. »Und was habt ihr gerade mit Quebeck 
zu thun? — »Ich habe geleſen, » ſagte Duval, » daß es dort 
ein franzöſiſches Seminar oder eine Hochſchule giebt, darin: 
nen ſehr viel gute Sachen gelehrt, und wo auch manche Kinder 
armer Leute umſonſt aufgenommen und unterrichtet werden, 
darum gedenke ich dorthin zu reiſen und in Quebeck zu ſtu⸗ 
diren. » — »Ei, s ſagte der Herr, » um etwas Gutes und 
Gründliches zu lernen, braucht man nicht ſo weit zu reiſen, 
und Freiſtellen für junge Leute, welche beſondre Neigung 
und Talente zum Studiren haben, giebt es in unſren bie 
figen Seminarien und Hochſchulen auch. » 

Während dieſes Geſprächs hatten ſich noch mehrere Herrn 
bei Duval eingefunden, an deren Kleidern und äußerer Hal⸗ 
tung ſich ein ungewöhnlich hoher Stand verrieth. Sie befrag⸗ 
ten den Oberſthofmeiſter, Grafen von Vidampiere, denn die— 
ſer war es, der mit dem jungen Eremiten ſprach, über den 
Gegenſtand ſeiner Unterhaltung und über den merkwürdigen 
Burſchen, mit welchem er da redete und richteten dann ſel— 
ber mehrere Fragen an Duval, welche dieſer mit Verſtand 
und edler Offenheit beantwortete. Er ahnete nicht von wel⸗ 
cher Wichtigkeit, von welchen Folgen für ſein ganzes Leben 
der Ausgang des Examens ſey, welches er in dieſem Augen⸗ 
blick beſtund und vielleicht war dieſe Unwiſſenheit zu ſeinem 
Vortheil, denn ſo ſprachen ſich ſein geſunder Verſtand, ſein 
treffender Witz und guter Humor, ſeine für ſolchen Stand 
bewundernswerthe Beleſenheit in jener natürlichen Unbefan⸗ 
genheit aus, in welcher ſie gerade am meiſten gefielen. 

Die hohe Verſammlung in deren Mitte das Examen 
ſtatt fand, welches für diesmal mehr zu bedeuten hatte, als 
irgend ein Doctorexamen in Paris oder London, beſtund 
zunächſt aus dem Hofſtaat der Prinzen von Lothringen. 
Dieſe beiden Prinzen, Leopold Clemens und Franz, ſammt 
ihren beiden Oberſthofmeiſtern, dem en von Vidampiere 


100 


und Baron von Pfutſchner ftellten die Examinatoren vor, 
welche ihrem Candidaten im Bauernkittel Fragen vorlegten 
‚und von ihm zu ihren Vergnügen beantwortet erhielten, bei 
welchen ſchwerlich irgend ein junger, in unſren Schulen ge⸗ 
zogener und kunſtgerechter Candidat ſo zu Ehren gekommen 
wäre als Duval, der Zögling der Natur, aus deſſen ganzem 
einfältigen Weſen es hervorleuchtete, daß er Nichts aus⸗ 
Lacher was er nicht in Wahrheit ſo fühlte und ſelber ſo 
achte. a 


Baron von Pfutſchner, der Erzieher der beiden Prinzen 
fragte am Ende der Unterhaltung den Duval, ob er wohl 
Luſt habe in der gelehrten Schule zu Pont a Mouſſon ſeine 
Studien fortzuſetzen? Duval fragte ob man ihm dort, in 
der klöſterlich eingerichteten Anſtalt, wohl auch die Freiheit 
geſtatten werde herauszugehen in die Wälder und Felder, 
denn er könne nicht beſtändig im Zimmer bleiben. Man gab 
ihm hierüber eine beruhigende Zuſicherung und beim Abſchied 
verſprach ihm Baron von Pfutſchner, daß er ihn in Kurzem 
wieder beſuchen werde. 

Die Prinzen erzählten bei ihrem Nachhauſekommen ihrem 
Herrn Vater, dem mildthätigen, menſchenfreundlichen Herzog 
Leopold, welche ſeltſame Beute ſie heute auf ihrer Jagd, 
an der Bekanntſchaft eines jungen Viehhirten gemacht hät⸗ 
ten, welcher durch ſeine Kenntniſſe in der Länder- und Völ⸗ 
kerkunde, wie in der Geſchichte ſie Alle in Erſtaunen geſetzt 
habe. Es koſtete nur wenig Worte, um den guten Herzog 
für die wohlthätige Abſicht zu gewinnen, welche Baron von 
Pfutſchner in Beziehung auf Duval ausſprach; Seine Durch⸗ 
laucht bewilligten, daß Duval auf Ihre Koſten in die ge⸗ 
lehrte Bildungsanſtalt zu Pont a Mouſſon gebracht, und 
dort, ſo lange es zu ſeiner Ausbildung nöthig ſchiene, unter⸗ 
halten werde. Auf herzogliche Koſten ſolle er auch gekleidet 
und mit Allem reichlich verſorgt werden, was ſeiner Auf⸗ 
nahme in der Schule und der beſten Benutzung des dortigen 
Unterrichts förderlich ſeyn könne. 

Duval war damals 22 Jahre alt. Jetzt, im Mai 1717 
waren es faſt 8 Jahre geworden, ſeitdem er als bettelarmer 
Knabe, mit Holzſchuhen und im Gewand aus Sackleinwand 
nach Lothringen gekommen, vier ganze Jahre ſeitdem er als 
1 in die Dienſte der Einſiedler von St. Anna getre⸗ 
en war. e een l 


101 


Mit den Gedanken des Abſchiedes von dem ihm werth und 
theuer gewordenen St. Anna und ſeinen herzlich befreunde— 
ten Bewohnern beſchäftigt, fühlte er erſt in ganzer Stärke, 
was er hier gehabt und empfangen habe. Er hatte den 
Brüdern mitgetheilt welches ſeltſame Abentheuer ihm heute 
begegnet ſey, ſie wünſchten ihm Glück dazu, gaben jedoch 
auch zugleich in ihrer einfältigen, unverſtellten Weiſe das 
Bedauern über die wahrſcheinlich nahe Trennung zu erken⸗ 
nen; ein Bedauern das ihnen die wahrhaft herzliche Liebe 
zu dem jungen Freunde eingab. Hierbei blieb Bruder Anton 
nicht hinter den andren zurück; die Liebe mit welcher er dem 
Duval ſchweigend und mit einer Thräne im Auge die Hand 
drückte, und ihm den einzigen wiſſenſchaftlichen Schatz den er 
beſaß, den Sonnencompaß zum Geſchenke aufdrang, war 
eine ungeheuchelte. Solchen heftigen Naturen, wie die des 
Bruder Anton war, hat der Schöpfer insgemein neben jenem 
abſtoßenden Zuge der nicht ſelten aus ihnen hervorbricht, 
auch den entgegengeſetzten, der kräftig waltenden, anziehen- 
den Liebe in gleichem Maaße eingepflanzt, ſo daß bei ihnen 
der Haß öfters, wenn der erwärmende Sonnenſtrahl von 
oben in das Dunkel des Herzens hereinfällt, zur innigſten, 
feurigſten Liebe wird. Dieſe aufwallende] Kraft gleicht in 
ihrer Wirkung dem Weine, welche in guten Stunden die 
Seele zu edler That beſtärken, wie in bofen fie hinabreißen 
kann zum Falle, zu jeder Zeit aber ihre Gefahren mit ſich 
bringet. | 

Die Hörſäle oder Lehrzimmer in denen wir Andren den 
Unterricht der Schule empfangen, ſind bald zu kalt, bald zu 


heiß; die Feuchtigkeit ihrer graulich weißen Wände ſcheint 


auf den öfteren leiblichen Ausbruch jener Beängſtigung hin— 


deuten zu wollen, den wir in der dumpfigen Luft dieſer \ 
beengten Räume empfinden. Während wir die belehrenden » 
Worte des Lehrers vernehmen möchten, zupft oder ſtößt uns 


hier der eine Nachbar auf der Schulbank; es huſtet ein 
Andrer und ein Dritter lispelt uns oder ſpricht uns durch 


dra 
fitzen und ſchwitzen da zwiſchen den Mauern. Mit einer 


mehr denn gewöhnlich gefpannten Theilnahme vernimmt man Wr 


da, wie einſt Plato, wie Ariſtoteles und Theophraſt im 
Schatten der Hallen oder Bäume, in freier Luft ihre Hörer 


die Feder auf einem Blättchen Papier etliche Worte zu; c 5 
ußen iſt Frühling oder liebliches Herbſtwetter und wir — 


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102 


durch die Gewalt ihrer Rede begeifterten und belehrten. Man 
denkt vielleicht fpäter mit Freuden an die wohlbenutzten Jahre 
der Schulzeit, man ſegnet, mit dankbarer Liebe, das Anden⸗ 
ken der theuren Lehrer, aber an die ſchwarzen oder weißen 
Bänke, an die Oefen und Wände, Dielen und Decken der 
Schulſtuben oder Hörſäle gedenkt man nicht gern; ihr Duft 
war nicht wie ein Geruch der Wälder oder der grünenden 
Felder, die der Herr geſegnet hat. 

Ganz anders war dieſes bei Duval. Die hehre Stille 
der Nächte, nur ſelten unterbrochen von den Lauten mit de⸗ 
nen der Schuhu oder die Rohrdommel ihr Geſchäft beglei- 
ten, das Schweigen des Waldes, und der erfriſchende Duft 
ſeines Schattens, mußten für die Erinnerung einen andren 
Reiz haben als unſre Anbaue um Oefen und Kamine. Die 
Stimme der Belehrung, welche wir Andren durch das äußre 
Ohr vernehmen, war für ihn eine innerliche, deſto unmit⸗ 
telbarer und tiefer zum Gemüth ſprechende geweſen. Mit 
Thränen einer Wehmuth, durch welche wir bei der Abfahrt in 
das weite Meer von der vaterländiſchen Küſte Abſchied neh⸗ 
men, betrachtete er noch einmal ſeinen ſtorchenneſtähnlichen 
Sitz auf der hohen Eiche, dort wo die vorüberwandelnden 
Geſtirne der Nacht in ſeiner Bruſt die Ahnung einer Welt 
des Unendlichen und Ewigen weckten, die uns überall um- 
fängt; mit ähnlichen Gefühlen nahm er von der Grotte, bei 
dem verfallenen Steinbruch und von jedem Stamme der alten 
Eichen und Buchen Abſchied, in deren Schatten er bei den 
unſichtbaren und dennoch vernehmlichen Lehrmeiſtern der alten 
wie neuen Zeit zur Schule gegangen war. 

Baron von Pfutſchner 17 ſein Verſprechen nicht ver⸗ 
geſſen; es vergingen nur wenig Tage nach der erſten Bekannt⸗ 
ſchaft mit Duval, da kam er nach damaliger Hofſitte im 
ſechsſpännigen Wagen fahrend nach St. Anna und nahm 
den jungen Einſiedler mit ſich in die Reſtdenz. Das Examen 
hatte dieſer glücklich beſtanden, heute vor dem Angeſichte des 
Herzogs und den zahlreich, aus Neugier verſammelten Herren 
und Damen des Hofes, kam es zur Promotion. Auch bei 
dieſer benahm ſich unſer Duval ehrenhaft. Hier gab es ja 
keine ſolchen Gefahren und Schmerzen zu fürchten wie bei 
den Kämpfen mit dem wilden Kater oder mit den heftig 
beißenden Füchſen und Mardern; er ſprach und antwortete 
mit kindlicher Offenheit und gab durch ſeine Reden wie durch 


105 


fein Benehmen wenigſtens eben fo viel Stoff zur Bewund⸗ 
rung als 1155 Belachen. Man fand den Bauernburſchen 
über alle Erwartung klug und in ſeiner Weiſe liebenswürdig. 
Einige Damen, die ſich nach beendigter Promotion, welcher 
die Gnadenverſichrungen des Herzogs die Krone aufgeſetzt 
hatten, mit Duval in ein Geſpräch eingelaßen hatten, bewun⸗ 
derten ſeine ſchönen Zähne. »Es iſt dies,« ſagte der treu⸗ 
herzige Burſche, »nur ein Vorzug den ich mit allen Hunden 
gemein habe. 
Duval, deſſen Jugendgeſchichte vor andren geeignet iſt, 
uns den eingebornen Inſtinct des Menſchengeiſtes in ſeiner 
ganzen Kraft und Wirkſamkeit kennen zu lehren, war nun 
zu einem Ruhepuncte ſeines Lebenslaufes gelangt, jenſeits 
deſſen dieſer zu einem minder augenfälligen, gewöhnlicheren 
wird. Aehnlich einem Fluße der ſeinen Urſprung auf einem 
hohen Felſengebirge nimmt und der am Anfang ſeines Lau— 
fes das Auge durch manchen maleriſch ſchönen Waſſerfall 
entzückt, der aber erſt dann, wenn er in die Ebene herab— 
kommt, wo ſein Gang kaum bemerkbar ſtill und ruhig ge— 
worden, ſeine Segnungen durch Felder und Fluren verbreitet, 
war der merkwürdige Mann ſeit ſeinem Eintritt in die Welt 
mehr durch ſeine Wirkſamkeit auf Andre als durch den Wech— 
ſel feiner eignen Schickſale beachtenswerth. Der mildthätige 
Herzog Leopold hatte ihn ganz beſonders in ſeine Gunſt ge— 
nommen, hatte ihm ſchon während der zweijährigen Studir— 
eit zu Pont a Mouſſon einen Jahresgehalt ausgeſetzt, dann 
ihm Gelegenheit zu einer Reiſe nach Paris und den Nieder— 
landen gegeben. Und welches andre Amt hätte einen ſolchen 
Freund der Bücher als Duval war, angemeßner und lieber 
ſeyn können als das eines Bibliothekars, welches bei ſeiner 
Rückkehr nach Luneville durch die Huld des Herzogs ihm 
anvertraut wurde. Zugleich ward er auch zum Lehrer der 
Geſchichte und Alterthumskunde an der Hochſchule zu Lune— 
ville ernannt. Dieſe Anſtalt war zu jener Zeit von vielen 
Ausländern, namentlich von den Söhnen reicher, engliſcher 
Familien beſucht. Duvals Vorträge hatten durch ihre Leben— 
digkeit und Originalität etwas ſo Anziehendes; das ganze 
Weſen des Mannes weckte ſo viel Liebe und Vertrauen, daß 
er einen ganz beſonderen, bildenden Einfluß auf die ſtudi— 
rende Jugend gewann. Unter den jungen Engländern welche 
nicht nur an feinen öffentlichen Vorträgen den wärmſten Ans 


BET 


104 


theil nahmen, ſondern auch ſeines näheren Umganges fich 
erfreuten, war einer, welchem Duval bei mehreren Gelegen⸗ 
heiten die bedeutende Wirkſamkeit vorausſagte, die er bald 
nachher in ſeinem Vaterland erlangte. Dies war der nach⸗ 
malige große Staatsmann, der engliſche Miniſter Lord 
Chatam. f 

Zur Befriedigung ſeiner eigenen Bedürfniſſe bedurfte 
unſer geweſener Einſiedler überaus wenig. Statt aller andren 
ſogenannten Vergnügungen blieb ihm das die liebſte, daß er 
von Zeit zu Zeit die ſtillen, einſamen Waldungen und Flu⸗ 
ren beſuchte, die ihm theurer waren und ſchöner vorkamen 
als alle Herrlichkeiten von Paris. Er konnte ſich niemals 
entſchließen die eingezogene Stille und Unabhängigkeit des 
ledigen Standes aufzugeben; feine Pflegbefohlenen oder Kin⸗ 
der waren ſeine Schüler und die Armen; ein treuer Freund 
von gleicher Geſinnung und gleichen Schickſalen erheiterte 
ihn durch ſeinen Umgang die Stunden der Muſezeit. Dieſer 
Freund war Herr Varinge, den der edle Herzog Leopold 
aus der Werkſtatt eines Schloſſers, wo man ihn mit dem 
Euklides in der Hand gefunden hatte, hervorzog, und ihm 
Gelegenheit gab, ſich zum Lehrer der Mathematik in Luneville 
auszubilden. 

Einen Theil des nicht unbedeutenden Vermögens, wel- 
ches durch die Freigebigkeit ſeines Fürſten und ſeiner reichen 
Zuhörer in Duvals Hände kam, wendete dieſer zu Werken 
reiner Dankbarkeit für früher empfangene Wohlthaten an, 
deren lebendige Erinnerung ihn nie verließ. Namentlich 
wurde das geliebte St. Anna von ihm aufs Beſte bedacht. 
Statt des baufälligen hölzernen Wohnhauſes der Einſiedler 
ließ er für dieſe auf ſeine Koſten ein anſehnliches ſteinernes 
Gebäude mit einer Kapelle aufführen und kaufte zugleich noch 
einen anſehnlichen Strich Landes an, deſſen Felder und 
Baumgärten durch ihren Ertrag zur reichlichen Unterhaltung 
der Bruderſchaft hinreichten. Zu den neuen Anlagen, welche 
nach ſeinem Plane bei St. Anna begründet wurden, gehörte 
auch die einer Baumſchule. In Beziehung auf dieſe verord⸗ 
nete er, daß die Einſiedler nicht bloß auf die Zucht der jun⸗ 
gen Bäume für ihren eigenen Bedarf einen beſondren Fleiß 
wenden, ſondern auch ihrer Nachbarſchaft damit nützlich wer⸗ 
den ſollten. Es ward ihnen aufgegeben, jedem Anwohner 
der Gegend, bis auf die Entfernung von 3 Stunden um 


105 


St. Anna her, fobald es verlangt würde, junge Bäume 
aus ihrer Pflanzſchule unentgeldlich abzugeben und dieſelben, 
wenn man es wünſchte, eben ſo unentgeldlich an dem be— 
ſtimmten Orte einzuſetzen. Nicht einmal etwas zu eſſen ſoll— 
ten ſie annehmen, es müßte denn die Entfernung des Ortes 
der Einpflanzung von St. Anna fo groß ſeyn, daß die Brü— 
der nicht wieder zum Mittagseſſen nach Haufe kommen könn⸗ 
ten. Ein Kapital von 30,000 Franken wurde in dieſer 
Weiſe für St. Anna verwendet, welches lange nachher noch, 
namentlich für die Baumcultur der Landſchaft, einen großen 
Gewinn brachte. 

Zwei Meilen weſtwärts von Nancy, zu St. Joſeph von 
Meſſin lebte noch in einer ſchon von dem oben (S. 77.) 
erwähnten Bruder Michael erbauten Klauſe der hochbetagte 
Eremit, der ihm vormals die Kunſt des Schreibens gelehrt 
hatte. Seine Hütte war ſo baufällig, daß ſie früher zuſam— 
men zu brechen drohete, als der vielleicht neunzigjährige Leib. 
Duval ließ aus Dankbarkeit für den Alten und ſeine Nach— 
folger ein Haus erbauen, welches durch ſein anſtändiges 
Aeußre und feine innre Bequemlichkeit in keinem fo grellen 
Kontraſt mit der herrlichen Umgegend ſtund, als die ſchmu— 
tzige Hütte. Auch ſein Geburtsort Artenay und die etwa 
noch lebenden Verwandten empfingen reiche Gaben ſeiner 
Milde; ſtatt des armſeligen, ſeitdem in fremde Hände 
gekommenen Hauſes ſeiner Eltern, ließ er ein geräumiges 
Gebäude aufführen, welches durch »ſeine ſteinernen Mauern 
und ſein Ziegeldach bedeutend gegen die mit Schilf gedeckten 
Lehmhütten der armen Landſchaft abſtach. Dieſes Gebäude 
ſchenkte er der Gemeinde, indem er es zu einem Schulhaus 
und zur Wohnung des Schulmeiſters beſtimmte. Ein kleines 
Dorf unweit Artenay ermangelte zur großen Beſchwerde ſei— 
ner dürftigen Bewohner eines Brunnens; Duval ließ der 
Gemeinde einen graben. Und wenn damals der arme Päch— 
ter bei dem Schaafſtall, der ihn im Winter 1709 in Pflege 
nahm, ſo wie der gute Pfarrer des Ortes noch gelebt hätten, 
dann würde ſich die Dankbarkeit ihres gewesnen Pfleglings 
gewiß auch an ihnen bezeigt haben. 

Duval hatte ſich bei feiner erſten Wanderung in die 
Fremde einem inſtinctmäßigen Zuge hingegeben, der ihn, wie 
er meinte in die der Sonne näheren Gegenden führen ſollte, 
denen der Winterfroſt kein ſo hartes Leid zufügen konnte 


2 


1 * N, 
1 4 1. “ 


106 


als feinem armen Vaterlande im Jahr 1709. In Dften 
und Süden, ſo hatte man ihm geſagt, möchten dieſe von der 
Natur begünſtigteren Landſtriche ſich finden und ſein dama⸗ 
liger Zug von Weſt nach Oſt hatte die vorgefaßte Meinung 
beftätigt und überdies für fein ganzes Leben glückliche Fol⸗ 
gen gehabt. Was ihn jedoch noch in feinem 42 ſten Jahre 
aus dem von ihm ſo dankbar geliebten Lothringen, anfangs 
in der Richtung gen Süden dann aber nach Oſten, zu einem 
eben ſo geliebten Wohnſitz als ihm Luneville geweſen, hin⸗ 
wegführte, das war noch ein andrer Zug als jener erſte, 
welcher dem Naturtriebe eines hungernden Thieres ähnlich 
geweſen war. Der Schwiegervater des franzöſiſchen Königes! 
Ludwig XV., König Stanislaus von Polen ſollte für den 
verlornen Thron entſchädigt werden, da nöthigte der Einfluß 
Frankreichs und der mit ihm verbündeten Mächte, das Hertz 
ſcherhaus von Lothringen zu einem Tauſche, welcher in man⸗ 
cher Hinſicht für dieſes kein unvortheilhafter war. Es ſollte 
ſeinen bisherigen Fürſtenthron, der freilich durch Frankreichs 
unruhige und gefährliche Nachbarſchaft beſtändig bedroht war, 
verlaſſen und dafür die Herrſchaft über das reiche, ſchöne 
Toscana empfangen. So wehe die Trennung dem Herzog 
von ſeinen geliebten Unterthanen und dieſen von ihm that, 
mußte der erzwungene Tauſch dennoch im Jahr 1737 einge: 
gangen werden. Der väterliche Freund Herzog Leopold war 
geftorben, fein Erbe, der Herzog Franz trat den Umzug nach 
Florenz an und Duval, ſo wie ſein Freund Varinge ließen 
durch keine fremden Anerbietungen ſich halten, ſie hielten treu 
an dem Hauſe des Fürſten, dem ſie ihr ganzes Lebensglück 
verdankten, wanderten mit dieſem aus nach Italien. Duval 
bekleidete bei Herzog Franz in Florenz dieſelbe Stelle als 
Bibliothekar, welche er in Luneville verſehen hatte. Als we⸗ 
nige Jahre nachher der Herzog mit der Erbin des Oeſter— 
reichiſchen Hauſes ſich vermählte und nach Wien zog und bald 
nach dieſer Zeit auch der Mathematiker Varinge, der ver— 
trauteſte Freund unſres Duval ſtarb, da hatte für dieſen das 
ſchöne Florenz alle ſeine Reize verloren. Er folgte deshalb 
gerne dem Rufe des ſeitdem zur Kaiſerwürde gelangten 
Franz I. nach Wien, wo er Begründer und erſter Aufſeher 
der kaiſerlichen Münzſammlung wurde. Einſam und anſpruchs⸗ 
los lebte und wirkte Duval auch hier am Kaiſerhofe. Sein 
Forſchen nach dem das allein wahr und ſicher iſt, im e 


107 


Kreis unſres Erkennens, wurde immer inniger und tiefer be— 5 
gründet, dabei hatte er ſich von allen Vorurtheilen frei ge— A 
macht, welche dieſes Forſchen hemmen und beſchränken Fon- 
nen. Alle ſeine Kräfte, ſein ganzes Vermögen gehörten dem 
Dienſt des Nächſten. Er erlebte ein heitres Alter von 81 
Jahren, war bis zum letzten Augenblick ſeiner Geiſteskräfte 
mächtig und trat die Wanderung in die Welt eines ewigen 
Jenſeits eben fo muthig und froh, und mit noch beßer begrün— 
deten Hoffnungen an, als einſt in ſeinem Knabenalter die 
Wandrung aus der verarmten Champagne in das ſchöne, 
friedliche Lothringen. | 


II. Der Vorhof des natürlichen Erkennens. 


11. Das Reichwerden ohne Mühe. 


Wie mußte ſich der gute Duval abarbeiten um nur 
hinter das zu kommen, was bei uns jedes Stadtkind in der 
deutſchen Schule erfährt; wie manche ſchlafloſe Nacht koſtete 
es ihn, bis er verſtehen lernte was und wo die Sternbilder 
ſeyen und was die Grade an dem Aequator einer Erdkugel 
bedeuten? Dergleichen ehrenwerthe Männer wie Duval, wel— 


che ſich den Schatz ihres Wiſſens ſo mühſam erwerben und 


aus der Tiefe herausgraben mußten, ſind mit ſolchen wohlhabend 


gewordnen Leuten zu vergleichen, welche, vom Hauſe aus arm, 


ihr Vermögen ganz durch eignen Fleiß und Sparſamkeit zu⸗ 
ſammen gebracht haben, während wir Andren, denen man 
ſchon in der Schule mit alle Dem entgegen kam was die 
Wißbegier befriedigen kann, jenen ähnlich ſind, die ihr Ver— 
mögen nicht ſelbſt verdient, ſondern von ihren reichen Eltern 
ererbt haben. 

Noch viel ſchwerer als dem Duval und ſeinem Freunde 
Varinge, war die Befriedigung der tief in ihrer Seele liegen- 
den Wißbegier ſolchen Menſchen gemacht, denen etwa von 
Geburt an jener Sinn fehlte, der uns die meiſte Belehrung 
über die Welt des Erkennbaren verſchaffen kann: der Sinn 
des Geſichtes. Am ſchwereſten aber hatten es hierbei ohn— 


fehlbar jene Bedauernswürdigen, denen ſo wie der Laura 


Bridgman (nach Cap. 9) mit dem Sinne des Geſichte 
auch noch die des Gehörs, des Geruches und Geſchmacke 
mangelten. Duval, als er gleich den Erbauern des 
mes zu Babel, durch das Anlegen ſeines Storchneſte 
der hohen Eiche mit ſeiner Wißbegier in den Ster 


109 


mel eindringen wollte, ſahe doch dieſe leuchtenden Welten 
mit ſeinen Augen, und jeder Strahl derſelben ließ ihn etwas 
von ihren Kräften an ſich ſelber empfinden; wenn aber die 
bedauernswürdige Laura, in einem jener Bücher, die für 
Blinde gedruckt ſind, mit ihren feinfühlenden Fingern etwa 
von den Sternen las, wie mußte ſie da all ihr Denken und 
Sinnen in gewaltſame Aufregung ſetzen, um in ihrem Geiſte 
das Weſen jener nie geſehenen Dinge zu begreifen. Und 
dennoch blieb eine ſolche Anſtrengung bei ihr, in ähnlichen 
Fällen, wohl niemals ohne Erfolg und Lohn. Das eigent- 
liche, wahre Weſen des Erkennbaren vermag der Geiſt des 
Menſchen zu verſtehen, ohne daß ſeine Sinnen die leibliche 
Erſcheinung deſſelben bemerken; der Antrieb zum Erkennen, 
der im Menſchengeiſte liegt, iſt zuletzt doch auf etwas gerich— 
tet, das von der Natur des Geiſtes iſt; das Ziel feines Stre⸗ 
bens iſt eine gewiße Zuverſicht Deſſen, das man hoffet und 
innerlich erfaßet, auch ohne es mit dem äußerlichen Auge 
zu ſehen. 

Der Taubblinde James Mitchell hatte dadurch einen 
großen Vorzug vor Laura, daß er nicht bloß den Sinn des 
Geruches und Geſchmackes in beſondrer Schärfe beſaß, ſon— 
dern daß auch bei ihm wenigſtens in das eine Auge noch ein 
ſchwacher Schimmer des Tageslichtes hereindämmern konnte. 
Welche Wißbegierde und welche Luſt am Erkennen ſprach ſich 
da oftmals in all ſeinen Mienen und Geberden aus, wenn 
er ſich in eine ſolche Stellung verſetzte, daß ein Strahl der 
Sonne gerade auf den Punct ſeines Auges traf, welcher 
dem Licht nicht ganz verſchloßen war und wenn er etwa durch 
ein Stück Spiegel den Wiederſchein jenes Strahles nach Ge— 
fallen auf jenen Punct lenken, oder ein brennendes Licht in 
die Nähe des Auges bringen konnte. Ein eifriger Freund 
der Sternkunde kann keine größre Luft empfinden, wenn ihm 
das Fernrohr den Eingang in das tiefere Geheimniß des 
Sternenhimmels eröffnet, als James fühlte, wenn ihm ſo, 
aus einer für ihn verſchloßenen Welt des Erkennbaren, ein 
ſchwacher Strahl in ſeine beſtändige Nacht herüber kam. Je 
abgeſchnittner und vereinſamter die Lage des Menſchengeiſtes 
nach außen hin, nach der Welt des ſichtbaren Weſens iſt, 
deſto begieriger greift derſelbe nach Allem, was dem Kreife feines 
Erkennens nahe kommt. Die Begleiter des berühmten Parry, 
if feiner Reife nach der Polargegend, ſchauten einem vor— 


g 110 


überfliegenden Waſſervogel mit einer Neugier nach, mit wel⸗ 
cher wir etwa ein ſeltenes Thier aus Afrika beſchauen, weil 
ſie auf den großen, ſchwimmenden Eisinſeln, über die ſie ihr 
Schlittenboot hinzogen, ſonſt gar nichts Lebendiges zu ſehen 
bekamen. Ein Menſch, der ganz allein auf einer abgele⸗ 
genen Inſel ausgeſetzt iſt, blickt begierig nach jedem aus dem 
Meere aufſteigenden Wölkchen hin, weil er in jeder ſolchen 
Gefrbeinung ein Schiff ahnet, das ihm Kunde von der Welt 
der andren Menſchen bringen könnte. 

Je weiter der Weg iſt, den ein fallender Stein zu durch⸗ 
laufen hat, bis dahin wo er ſeinen feſten Ruhepunct an dem 
Erdboden findet, deſto ſchneller und kräftiger wird bei ihm 
dieſer Lauf; wenn ſich ein Bergſturz hinab in das Thal er⸗ 
gießt, dann rollen jene Felſenſtücke am weiteſten, die aus der 
fernſten Höhe herab kommen. So kann. man freilich auch 
in ſolchen Fällen, wie die find, die uns in der Entwicklungs- 
geſchichte des Duval und der Laura Bridgman entgegentre⸗ 
ten, es nicht verkennen, daß gerade die großen Hinderniße, 
welche der geiſtige Antrieb zum Erkennen bei ihnen zu über: 
winden hatte, dieſem Antrieb eine ganz beſondre und unge⸗ 
wöhnliche Kraft gaben. Aber jener Antrieb liegt in jeder 
Menſchennatur; wir Alle haben ein natürliches Verlangen 
zum Wiſſen und Erkennen, es mag uns nun die Befriedigung 
dieſes Verlangens ſchwerer oder leichter gemacht ſeyn. Uns 
iſt es freilich, im Vergleich mit Duval und noch mehr mit 
der taubblinden Laura verliehen, daß wir, bei den vielen 
Erkenntnißmitteln die uns zu Gebote ſtehen, reich werden 
können ohne große Mühe, aber ſollten wir eben deshalb, 
weil uns das leichter gemacht iſt, jene Mittel unbenutzt und 
ungebraucht laſſen? 

Ich meine nicht. Es iſt eine gute Sache um das Ha⸗ 
ben und Beſitzen, und wenn wir die dargebotne Gelegenheit 
dazu verſäumen, ſo kommt dies nur daher, daß wir uns ſchon 
von vorn herein als reich und geſättigt anſtellen, nicht als be- 
dürftig, während es doch nur der Hunger iſt, welcher der Spei⸗ 
ſe des Lebens ihre Würze und ihr Gedeihen in uns verleihet. 
Möchten daher die nachfolgenden Blätter, welche wie kleine 
Schaalen und Teller, Manches für den Antrieb zum Wiſſen 
Genießbare darbieten ſollen, in mancher jungen Seele 
die En zum Zulangen und den rr zum bee 
erwecken. a 


111 


12. Die Kalenderzeichen. 


Wenn Duval in ſeinen jüngeren Jahren, als er noch 
als unwiſſender Schaafhirt zu Clezantaine in Dienſten war, 
den Kalender, der ihm immer ſo viel zu ſinnen gab, in die 
Hand nahm, da mochten öfters auch jene Zeichen ſeine Neu— 
gier reizen, durch welche die Sonne und die Planeten, ſo 
wie die einzelnen Wochentage angedeutet werden. Daß die 
Mondsſichel den Mond und unter den Wochentagen den Mond— 
tag; der Kreis mit dem Punct in der Mitte die Sonne, und 
in der Woche den Sonntag anzeigen ſollten, das war ihm 
bald bekannt geworden; den Abendſtern und Morgenſtern 
hatte er auch bei ſeinem Hirtengeſchäft ſattſam kennen gelernt 
und zugleich erfahren, daß der kleine Kreis, der unten ein 
Kreuz hat im Kalender ihn bedeuten ſoll; ehe er jedoch die 
andren augenfälligeren Planeten: den Jupiter, den Mars, 
den Saturn am Himmel und ihre Zeichen im Kalender ken— 
nen lernte, da verging noch eine lange Zeit. 

Die unerſättliche Wißbegier des Duval ließ ihn, wie wir 
oben geſehen haben, bei der Kenntniß der Sternbilder nicht 
ſtille ſtehen, bald wollte er auch erfahren wie es auf unſrer 
Erde ausſähe, wie groß dieſelbe ſey und was für Länder 
und Meere es auf ihr gäbe. Hätte der wackre Burſche ein— 
mal einen Blick werfen können auf einen ſolchen großen Erd— 
globus mit angedeuteten Erhabenheiten und Tiefen der Ge— 
birge, Thäler und Ebenen (einen Reliefglobus) dergleichen 
Karl Wilhelm Kummer in Berlin fertigt, mit welchem 
Entzücken würde ihn das erfüllt haben; wie wäre ihm da 
auf einmal Vieles ſo deutlich und verſtändlich geworden, über 
dem er ſich lange vergeblich den Kopf zerbrach. Aber ſolche 
herrliche Hülfsmittel zum Lernen, dergleichen der jetzt auf— 
wachſenden Jugend ſo reichlich dargeboten find, gab es da— 
mals noch nicht einmal in den Lehrzimmern der königlichen 
Prinzen. 5 

Auch mit dem Erlernen der Erdkunde, wiewohl dieſe, 
ſo lang er lebte eine ſeiner liebſten geiſtigen Beſchäftigungen 
blieb, begnügte ſich der forſchende Geiſt des jungen Einſied— 
lers nicht; er wußte ſich die Bücher der verſchiedenſten Art 
zu verſchaffen, und gerade die, deren Inhalt und Sprache 
die geheimnißvollſte, dunkelſte war, ſpannten ſeine Neugier 
am höchſten; mit einer bewundernswürdigen Ausdauer 

. * 


* 1 0 


112 


quälte er ſich ab, die Schriften des Raimund Lullus, eines 
berühmten Gelehrten des Mittelalters zu verſtehen. In ſolchen 
Büchern der damaligen Zeit, welche durch ihre pomphaften 
Titel und durch ihre Vorreden dem Leſer das Verſprechen 
geben, ihn in alle Geheimniße der Natur einzuführen, wie 
dies vor Allen die Werke thun, welche von der Scheidekunſt 
(damals Alchymie genannt) handlen, findet man gar häufig 
dieſelben Zeichen wieder, die im Kalender die Sonne und 
die Planeten bedeuten, aber ſie ſind hier in ganz andrem 
Sinne gebraucht als in den Kalendern. Denn was in die— 
ſen als Zeichen der Sonne ſtehet, das bedeutet in jenen 
Schriften das Gold; die Zeichen für Mond, Venus, Merkur, 
Mars, Jupiter, Saturn ſind von den alten Scheidekünſtlern 
dem Silber, Kupfer, Queckſilber, Eiſen, Zinn und Blei bei— 
gelegt worden. 

N Wir dürfen jene doppelſinnigen Zeichen der Kalenderma— 
cher und Scheidekünſtler nicht zu ſehr mit verächtlichen Blicken 
anſchauen, ſie verdienen ſchon wegen ihres hohen Alters eine 
gewiße Achtung, denn ſie ſind durch die Hand gar manches 
Volkes und durch eine lange Reihe von Jahrhunderten ge— 
gangen, ehe ſie bis zu uns und in unſre Kalender kamen. 
Die Sternkunde iſt eine uralte Wiſſenſchaft. Den älteſten 
Vätern unſres Geſchlechtes, die an Geiſt und Leib einer jugend— 
lichen Geſundheit genoßen, die noch nicht durch ſo tauſender— 
lei Dinge unſres jetzigen Weltlebens und durch Zeitungsnach— 
richten zerſtreut waren, ſondern in ſtiller Gemeinſchaft mit der 
Natur lebten wie Duval als Hirt und Einſiedler, erging es 
auch gerade ſo wie dieſem; der Antrieb zum Erkennen, der 
in ihnen war, richtete ſich zuerſt nach der Höhe, auf den 
Sternenhimmel hin. Schauen doch die kleinen Kinder, ſo— 
bald ſie ihr Köpfchen bewegen können, am begierigſten nach 
dem Lichte und nach dem Monde hin und zappeln fröhlich 
mit ihren Händchen, wenn ſie etwas Glänzendes ſehen. So 
wurde auch die Wißbegierde der Menſchen in älteſter Zeit 
mit der größeſten Macht von den glänzenden Geſtirnen des 
Himmels und von den glänzenden Edelſteinen und Metallen 
der Erde angezogen. 

Als Duval die Länder und Meere der Erdoberfläche 
kennen gelernt hatte, wie gerne hätte er da wohl weiter er⸗ 
fahren mögen, was man von Dem weiß, das in der Tiefe 
verborgen iſt; wenn ein Indianer oder ein armer Knabe en 

erſten 


e 1 
er 


113 
erften Mal in feinem Leben eine Uhr in feine Hände bekommt 
und das Bewegen ihrer Zeiger, das Pickern ihres Getriebes 
eine Zeit lang bewundert hat, dann möchte er auch gern 
erfahren, was inwendig in der Uhr iſt und er befriedigt 
ſeine Neugier oft zum größeſten Nachtheil des Kunſtwerkes. 
So iſt überall der Antrieb zum Erkennen, der im Menſchen⸗ 
geiſte waltet, auf das Eindringen in den tiefen Grund eben 
ſo wie auf das Ausbreiten nach der Höhe und Weite alles 
ſichtbaren Weſens hingewendet; der Menſch will nicht bloß 
wiſſen, daß ein Ding und wie es beſteht, ſondern er will 
auch erforſchen woraus und wodurch es beſteht. 

Wir kommen aber noch einmal auf die Kalenderzeichen 
zurück, welche die doppelte Bedeutung von Geſtirnen des 
Himmels und von Metallen hatten. Der Zug des Menſchen 
zu den Metallen iſt nicht zufällig bloß durch den Gebrauch 
entſtanden, den man von ihnen machen konnte und durch 
den Werth den man ihnen allmälig im Tauſch gegen andre 
Dinge beilegte, auch iſt es nicht allein ihr Glanz, der ſie 
in den Augen der Menſchen zu Abbildern der Geſtirne erhob 
und dadurch ſo hoch ſtellte; ſondern jener Zug mag noch 
einen andren natürlichen Grund haben, deſſen Entwicklung 
uns hier vor der Hand zu weit führen würde. Die Aerzte 
und andre Beobachter wiſſen es, daß die Metalle eine gewiße 
Einwirkung auf die innren Organe der Empfindung (die 
Nerven) haben und daß in manchen krankhaften Zuſtänden 
die Reizbarkeit für Metalle ſo groß iſt, daß die Menſchen 
die Nähe der Metalle fühlen, auch wenn ſie dieſelben nicht 
ſehen. In ſolchen Fällen hat ſich gezeigt, daß einige Me- 
talle, vor Allem Gold, ein wohlthuendes, andre, wie Zink 
und Eiſen, ein unangenehmes, ſchmerzhaftes Gefühl erreg— 
ten. Der geiſtig krankhafte Zug zu den Metallen, welchen 
wir, als Geiz, mit Recht verabſcheuen, kann hierdurch nicht 
entſchuldigt, wohl aber feine äußre Veranlaßung einigermaſ— 
ſen begreiflich werden. 

Wir haben es jedoch hier noch nicht mit jenem Berhält- 
niß zu thun, in welchem die Metalle zu der leiblichen Natur 
des Menſchen unmittelbar ſtehen; ſondern nur mit der Be— 
deutung, welche dieſelben für die Förderung unſerer Erkennt⸗ 
niß der geſammten Sichtbarkeit haben. Und in ſolcher Hin⸗ 
ſicht kann man ſagen, daß dieſe Glanzkörper, welche das 
Licht nicht zwar wie die Sonne von eh ausſenden, wohl 


* & 5 — 
114 | 5 


aber fo wie die Planeten, wie der ſchöne Abend- und Mor⸗ 
genſtern das empfangene Sonnenlicht kräftig zurückſtrahlen, 
für die Erdkunde eben ſo wichtig ſind als die Weltkörper, 
deren Zeichen ihnen die Forſchung des Alterthums aufprägte, 
für die Himmelskunde. Die Metalle gehören zu den wahr⸗ 
haft einfachen Grundſtoffen, aus denen die irdiſchen Natur⸗ 
körper zuſammengeſetzt ſind; ihre Betrachtung bahnt uns den 
Weg zur Erkenntniß der eigentlichen Elemente. Und, anſtatt 
den Antrieb zum Wiſſen zuerſt nach oben, nach den Geſtir⸗ 
nen zu richten, wollen wir den umgekehrten Weg einſchla— 
gen, zuvörderſt nach unten, nach den Elementen unſres Erd- 
körpers uns wenden, um dann, von der feſten Unterlage 
aus, deſto kräftiger uns hinaufwärts erheben zu können. 


13. Die Elemente. 


Unſre Alten nahmen bekanntlich vier Elemente an: das 
Feuer, die Luft, das Waſſer und die Erde. Aus dieſen 
vier Urſtoffen ſollten, nach ihrer Meinung, alle körperliche 
Weſen gebildet und erwachſen ſeyn. Mit unſrer jetzigen wif- 
ſenſchaftlichen Sprache und Ausdrucksweiſe will ſich freilich. 
die Annahme jener vier Elemente, in dem Sinne, in wel 
chem ſie Urſtoffe bedeuten ſollten, nicht mehr vertragen, denn 
unſere Scheidekunſt hat uns nicht vier, ſondern vierzehn mal 
vier Grundſtoffe der irdiſchen Körper kennen gelehrt, und das 
was wir etwa als Erde benennen möchten, iſt, je nachdem 
wir eine Probe davon da oder dorther entnehmen, aus einer 
bald größeren bald geringeren Zahl von Grundftoffen zuſam— 
mengeſetzt, das Waſſer aus zweien; die atmoſphäriſche Luſt 
iſt, wenn wir den Waſſerdampf der ſich gewöhnlich in ihr 
findet, in Anſchlag bringen, ein Gemenge aus wenigſtens 
vier ſolchen Grundſtoffen. Und neben jenen drei anderen, 
durch Gewicht und Maaß beſtimmbaren ſogenannten Elemen— 
ten nimmt ſich dann vollends das vierte, das Feuer, ſo aus 
wie die Tugend neben drei Bratwürſten, oder wenn man, 
nach unſren jetzigen Begriffen von den Urſtoffen, das Feuer 
dazu zählen wollte, dann wäre dieſes eben ſo geredet als 
wenn man ſpräche, der menſchliche Körper beſteht aus Kno 
chen, aus Fleiſch, aus Häuten und aus Bewegung. Denn 
das Feuer iſt kein Urſtoff im gewöhnlichen Sinne, ſondern 
es iſt feinem Weſen nach eine Bewegung der Urſtoffe, fo 


115 


wie der Ton der Klavierfaite, den mein Ohr vernimmt, kein 
Meſſingdraht und keine Luft iſt, ſondern eine Bewegung des 
angeſpannten Meſſingdrathes und der Luft, deren Anregung 
auf mein Gehörorgan wirkt. 
Dennoch darf ſich unſere jetzige Einſicht in die Natur 
der Grundſtoffe gegen die alte Eintheilung in die vier Ele— 
mente, nicht ſo gar groß machen. Es liegt in dieſer Ein— 
theilung eine tiefe Wahrheit, wie uns dies vielleicht ſpäter 
einleuchtend werden wird, wenn wir zuerſt das erläutert 
haben, was unter irdiſchen Grundſtoffen zu verſtehen iſt. 


— 


14. Die Grundſtoffe. 


Die Statue von Marmor, welche ſich als ein Gleichniß 
der menſchlichen Geſtalt vorſtellt, enthält weder Adern noch 
Fleiſch und Knochen in ihrem Innren, ſondern, wenn ein 
Zufall oder eine barbariſche Hand ſie zertrümmert hat, fin— 
den wir in allen Theilen derſelben vom Haupte an bis zur 
Sohle, von der Oberfläche bis zum innerſten Kern hinein, 
überall in und an ihr nichts Andres als weißen, körnigen 
Kalkſtein oder Marmor. Wenn wir ſie noch ſo fein zerſtük— 
ken und zerſchlagen, ſie bleibt immer und überall Daſſelbe, 
jedes Körnlein iſt wie das Ganze ein weißer Marmor, und 
im Felde eines ſtarken Mikroſcopes betrachtet, zeigen ſich an 
dem Körnlein dieſelben, in verſchiedenartiger Richtung an 
einander gefügten Flächen, derſelbe Glanz, die gleiche Farbe, 
wie, mit bloßen Augen betrachtet, an einem fauſtgroßen oder 
noch größeren Bruchſtücke. 

Dennoch ſind die unzähligen Stäubchen und Körnchen, 
in welche die Maſſe des Kalkblockes, dem der Künſtler die 
Menſchengeſtalt gab, ſich zertrümmern läßet, keinesweges die 
Grundſtoffe jener Maſſe, ſondern jedes dieſer Körner iſt aus 
mehreren Grundſtoffen zuſammengeſetzt. Daß dieſes ſo ſey, 
erfährt jeder Kalkbrenner, wenn er den Marmor in die Gluth— 
hitze ſeines Ofens bringt. Der Kalk verliert hier das Waſ— 
fer und die Kohlenſäure, mit denen feine Erde verbunden 
war und dieſe bleibt als ſogenannte reine Kalkerde oder 
ätzender Kalk zurück. Aber auch ſo noch iſt dieſe Erde kein 
reiner Grundſtoff, ſondern wie die fortgeſetzte Forſchung der 
neueren Zeit gezeigt hat, beſteht ſelbſt die reine Kalkerde aus 
einem Metall und aus einem Grundſtoff der atmoſphäriſchen 

8 


116 
Luft, von welchem wir bald noch mehr reden werden: dem 
Sauerſtoffgas oder der Lebensluft. 

Der Zinnober, dies ſchöne, rothe Farbmaterial, iſt 
Jedem bekannt, der ſich mit bunten Malereien beſchäftigt 
hat. Wenn man ein Stück Zinnober durch Zerſtoßen und 
Zerreiben auch noch ſo ſehr verkleinert, bleibt dennoch jedes 
Stäubchen Daſſelbe was das Ganze war: Zinnober. Wenn 
man aber Eifenfeilfpäne mit dieſem zerſtoßenen Zinnober 
zuſammen mengt und dieſes Gemiſch der Hitze ausſetzt, dann 
832900 ſich alsbald im Zinnober zwei verſchiedene Grundſtoffe 
kund: Schwefel und Queckſilber, denn der Schwefel, der 


einen ſtärkeren Zug zum Eiſen hat, als zum Queckſilber, 
verbindet ſich mit jenem zu Schwefeleiſen und das Letztere 


wird aus der bisherigen Vereinigung frei. 


Das Kupfer, woraus ein Theil der ruſſiſchen Kupfer⸗ 
münzen der ſogenannten Kopeken geprägt iſt, kommt aus den 


goldreichen Uraliſchen Bergwerken und enthält in ſeiner Zu⸗ 
ſammenſetzung öfters einen gewißen Antheil an Gold. Ein 
ſolches goldhaltiges Kupfer, dergleichen vor Allem das 
Surungakupfer aus Japan iſt, unterſcheidet ſich freilich durch 
ſeine ſchöne rothe Farbe und große Dehnbarkeit von dem 
gemeinen Kupfer, wenn man aber das erſtere auch noch ſo 
fein zerreibt und zermalmt, bleibt dennoch jedes Stäubchen 
ein eben ſolches Gemiſch aus Kupfer und Gold wie die größere 
Maſſe dies war. Sobald man jedoch mit Waſſer verdünnte 
Schwefelſäure darauf ſchüttet, dann nimmt dieſe das Kupfer 
aus der Miſchung hinweg, indem ſie Kupfervitriol mit demſelben 
hildet und das Gold bleibt in ſeiner metalliſchen Reinheit als 
feiner Bodenſatz zurück, den man alsbald zu einer vereinten 
Maſſe jufammenichmelgen kann. 

In allen dieſen Fällen bemerken wir, daß es ein zwei⸗ 
facher Antrieb ſey, der die kleinſten Theile oder Atome der 
Körper zuſammenführt und vereint. Wenn die Zugvögel, 
von einem allgemeinen Antrieb ergriffen, in die Ferne aus⸗ 
wandern wollen, dann ſchaaren ſie ſich in großer Menge 
zuſammen. Auch im Frühlinge, ehe die Zeit der Paarung 
eingetreten iſt, halten Viele von ihnen ſich noch in ganzen 
Schaaren zu einander. Wenn aber die Zeit des Niſtens her⸗ 
beikommt, dann ſondern ſich die großen Haufen in einzelne 
Familien. Der Naturtrieb welcher dieſe Vereinigung der 
einzelnen Paare und die zärtliche Vorſorge für die Jungen 


Ss 


117 


begründet, ift viel ſtärker als der Trieb zur allgemeinen Zus 
ſammengeſellung und dieſer letztere kann ſich erſt dann wie— 
der geltend machen, wenn der ſtärkere Antrieb die einzelnen 
Weſen aus ſeinen Banden entläßt, und nun das Walten 
jenes allgemeinen Weltlebens die Schaaren der Lebendigen 
ergreift, welches den Zug einer Geſammtheit der Einzelwe— 
ſen zur Geſammtheit der Räume und Länder der Erde be— 
gründet. 
Auf ähnliche Weiſe wirkt auch bei der Aneinanderfügung 
der gleichartigen Theile des Zinnobers oder des mit Gold 
vermiſchten Kupfers eine allgemeine Anziehung, bei der Verei— 
nigung aber des Schwefels mit dem Eiſen oder des Kupfers 
mit der Vitriolſäure eine beſondre, welche ſtärker iſt denn die 
allgemeine. Die Cohäſionskraft, welche den mehr oder min- 
der feſten Zuſammenhang der einzelnen Theile bewirkt, iſt 
von gleicher Natur mit jener allgemeinen Anziehung, welche 
als Schwere (Gravitation) die einzelnen irdiſchen Körper— 
maſſen zu dem Erdganzen vereint; ſie kann deshalb auf ſo— 
genannt mechaniſchem Wege dadurch aufgehoben werden, daß 
zum Beiſpiel ein großer Stein durch die Macht ſeiner Schwere 
einen andren, kleinen zerdrückt und zermalmt, oder daß der 
Druck, den in dieſem Fall die Schwere bewirkte, durch eine 
andre Kraft des menſchlichen Armes und ſeiner Kunſt her— 
vorgerufen wird. Dagegen iſt die chemiſche Verwandtſchaft 
auf jene Polariſirung (geſchlechtliche Entgegenſetzung) be— 
gründet, mit welcher überall das beſondere Leben und ſchö— 
pferiſche Wirken der Dinge ſeinen Anfang nimmt, weil es 
aus dem Quell des Lebens und Schaffens ſelber hervorgeht 
(nach Cap. 8.). Die Cohäſionskraft hat die Erhaltung des 
Gewordenen, die chemiſche Verwandtſchaft ein neues Werden 
zu ihrem Ziel und Endpunkt. Wir ſind hiermit noch immer 
nicht zur Erläuterung deſſen gelangt, was man unter Grund⸗ 
ſtoffen verſteht, zu dieſem Zwecke müſſen wir einen ſcheinba— 
ren Umweg, durch die nähere Betrachtung der Metalle, 
machen. 


15. Die Metalle im engeren Sinne. 


Wenn wir uns mit unſerem Leibe und ſeinen Sinnen 
auf einmal von der Erde hinweg in jene große Weite ver— 
ſetzen könnten, welche unſere Planeten von der Sonne und 


N N ; ö Wi 9 — 


118 


ihren Wandelſternen trennt, da würden wir uns, mitten 
am Tage, in keiner Tageshelle befinden. Denn hier auf 
der Oberfläche der Erde ſtrahlt das Licht der Sonne von 
allen Körpern wieder, ſelbſt von der Luft, wie uns dies die 
Morgen- und Abenddämmerung lehret, deren Schein bloß 
aus dem Luftkreiſe herkommt, welcher von dem Glanz der 
Sonne beleuchtet wird, noch ehe dieſer die Spitzen der Berge 
trifft. Dort aber, im Weltraume, giebt es weder Luft noch 
Berge noch andere Körper, welche das Sonnenlicht zurüd- 
ſtrahlen und hierdurch nach allen Richtungen hin eine Ta⸗ 
geshelle verbreiten können; denn wenn der Weltraum eines 
ſolchen Wiederſcheines fähig wäre, würden wir niemals ein 
vollkommen nächtliches Dunkel auf Erden haben. Deshalb 
würde ein Menſchenauge, das in jener ungeheuren Weite ſich 
nach der Sonne wendete, dieſe als eine hellglänzende Scheibe 
auf dunkelſchwarzem Grunde ſtehend, erblicken, wenn es 
dagegen von der Sonne hinweg nach der entgegengeſetzten 
Seite ſich wendete, da ſähe es auf demſelben dunklen Grun⸗ 
de die Geſtirne der Nacht. Der wohlthätige, beleuchtende und 
erwärmende Einfluß der Sonne kann ſich erſt da kund geben, 
wo er Körpern begegnet, welche durch die polariſche Verſchie— 
denheit ihres ganzen Weſens vom Weſen der Sonne für 
jenen Einfluß am empfänglichſten ſind, vor Allem ſolchen, 
u ui die größeſte Dichtigkeit mit Undurchſichtigkeit verbun⸗ 
en iſt. | 

Solche Körper find vorzugsweiſe die Metalle. Diefe 
ſind für ſich ſelber vollkommen lichtlos und mehr denn andre 
Körper der eignen Wärme beraubt, eben darum aber im 
höchſten Maaße für die Anregung durch Licht und Wärme 
empfänglich. Aber nicht allein für die Anregung durch Licht 
und Wärme, ſondern auch durch alle andre Kräfte des allge— 
meinen Naturlebens welche die Polarität wecken, wie für 
Magnetismus und den Zug der chemiſchen Verwandtſchaft. 
Die geſammten Steinmaſſen der Gebirge, welche wir um 
uns her erblicken, ſind bei ihrer Geſtaltung von einem me— 
talliſchen Urzuſtande ausgegangen; ein metalliſches Weſen 
liegt ihnen zu Grunde, das mit dem allgemeinen Gegenſatz 
des Metalliſchen, mit dem Sauerſtoffgaſe der Luft vereint, 
erſt zur Erdart wurde; die erſten Regungen eines ſelbſtſtändi⸗ 
gen Bildens und Geſtaltens nahmen im Reich der Metalle 
ihren Anfang. 


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119 


Die Sonne des Himmels hat in der irdiſchen Korper: 
welt ihre Gegenſonne in dem Golde. Seine augenfällige 
Farbe, ſein ſtarker Glanz, der ſich auch an der rauhen Ober— 
fläche des Goldklumpens durch ein leicht zu bewirkendes Po— 
liren hervorrufen läßet, ſeine große Schwere, ſeine Nachgie— 
bigkeit (Geſchmeidigkeit und Dehnbarkeit) unter der Hand 
des Menſchen, mußten dieſen ſchon in früher Zeit auf dieſes 
Metall aufmerkſam machen. In dieſer früheren Zeit der 


Völkergeſchichte war das Gold in vielen Gegenden der Erde 


ee 


ungleich leichter zu haben, als in unſren Tagen und feine 
Bearbeitung machte bei weitem keine ſolche Mühe als die 
des Eiſens und Kupfers. Denn das Eiſen muß erſt durch 
große Feuersgewalt aus den Eiſenſteinen ausgeſchmolzen wer— 
den, in denen es nicht in reinem Zuſtand, ſondern mit 
andren Grundſtoffen vermiſcht, geſunden wird, dagegen kam 
das Gold in vollkommner Reinheit in die Hände ſeiner Fin— 
der, es ließ ſich, gleich ſo wie es war, hämmern und ver— 
arbeiten; die Hitze die es um flüßig zu werden bedarf, iſt 
ungleich geringer als die, bei welcher das Eiſen zum Flie— 
ßen kommt. Ueberdies lud auch das Gold ſchon durch die 
Art ſeines Vorkommens den Menſchen zu ſeiner Benützung 
ein. Denn obgleich dieſes edle Metall urſprünglich eben ſo 
wie andre Metalle in Felſengeſteine eingeſchloßen und einge— 
wachſen war, iſt es doch, bei der Zertrümmerung ſeiner 
anfänglichen Lagerſtätten herunter auf das Rollgeſtein ſo wie 
den Sand der Thäler und der Ebenen gekommen. Hier hat 
es, wegen ſeiner Geſchmeidigkeit nicht ſo zermalmt und zer— 
ſtäubt, wegen ſeiner großen Schwere nicht ſo leicht hinweg— 
gewaſchen und fortgeſchwemmt werden können als die Stein— 
trümmer und der Sand zwiſchen denen es gebettet lag. Darum 
fand der Menſch, der an dergleichen reiche Plätze kam, das 
Gold öfters in Klumpen von bedeutender Größe offen am 
Tage liegend, oder wenn über ein ſolches uraltes goldreiches 


Stein- oder Sandfeld im Verlauf der Jahrhunderte ſich Ra— 


ſen, Torf und Haideland hingebreitet hatten, da gelangte 


man auf einmal zur Kunde feiner Schätze, wenn etwa beim 


Hindurchführen eines Waſſergrabens oder bei andrer Gele— 
genheit die verhüllende Decke hinweggenommen wurde. In 
einer dieſem ähnlichen Weiſe war der Goldreichthum einer 
großen, ſandigen Fläche am Uraliſchen Gebirge in Rußland 
bis auf unſre Tage unbekannt und verborgen geblieben und 


120 


als man endlich vor etlichen Jahrzehenden ihn entdeckte, da 
konnte man ſich eine deutliche Vorſtellung machen von dem 
was die Alten uns über den Goldreichthum der indiſchen 
und arabiſchen, neuere Schriftſteller über den des ſuͤdlichen 


Amerikas berichten. Denn fo fand man in jenem Uraliſchen 


Golddiſtricte im Jahr 1825 einen Klumpen Goldes von 18 
Pfund Gewicht und noch neun andre Stücken, davon jedes 
mehrere Pfund wog. Bei Miäsk, im Gouvernement Dren- 
burg, wurde ein Goldklumpen entdeckt, welcher 7 Pfund an 
Gewicht enthielt. Wenn ſich dieſe Maſſen auch noch nicht 
mit ſolchen meſſen konnten, wie die im Jahre 1730 bei la 
Paz in Amerika aufgefundene war, welche 45 Pfund wog 
und aus der 5620 Ducaten geprägt wurden, oder gar mit 
der zu Bahia in Braſilien im Jahr 1785 aus der Tiefe ges 
wonnenen dichten Goldmaſſe, deren Gewicht auf 2560 Pfund, 
deren Geldwerth auf faſt eine und eine Viertel Million 
Gulden geſchätzt wurde, waren ſie dennoch der bedeutendſte 
Fund dieſer Art, welcher, ſo weit die hiſtoriſche Kunde reicht, 
in einer ſo nördlichen Gegend der Erde gemacht wurde. Denn 
wenn uns früher die Alten von dem Golde Arabiens, das 
in Stücken von der Größe einer Kaſtanie gefunden wurde, 
oder von dem Golde Indiens oder Aethiopiens, die Neueren 
aber von den Goldmaſſen des heißeren Amerikas erzählten, 
da konnte man allerdings auf die Meinung kommen, daß 
die Länder zwiſchen den Wendekreiſen oder in der Nachbar⸗ 
ſchaft von dieſen faſt die ausſchließliche Heimath des Goldes 


ſeyen. 

Das Gold iſt freilich ſelbſt in den goldreichſten Ländern, 
im Vergleich mit andren Metallen eine Seltenheit. Denn 
obgleich man die Ausbeute an dieſem edlen Metall in den 
reichen ſpaniſchen und portugieſiſchen Beſitzungen von Amerika 


ſeit drei Jahrhunderten im Mittel alljährlich auf etwas mehr 
als anderthalb hundert Zentner anſchlagen kann, fo iſt dies 


ſes dennoch nicht einmal der hundertſte Theil der Menge des 
Silbers, welche dieſelben Länder im Verlauf eines Jahres 
liefern, ja, wenn wir nur ein Land in Anſchlag bringen, noch 
nicht der dreizehenhundertſte Theil der Gewichtsmaſſe des Kup⸗ 
fers, kaum der ſechszehen hundertſte des Bleies, noch lange 
nicht der dreitauſendſte des Eiſens, der allein in dem verhält⸗ 
nißmäßig kleinen England alljährlich gewonnen wird. 

Schon wegen dieſer ſeiner Seltenheit, noch mehr aber 


Seinigen auf lebenslang genug daran, denn jedes Pfund 
iſt gegen 415 Preuß. Thaler oder 727 rheiniſche Gulden werth. 


121 


wegen ſeinen übrigen empfehlenden Eigenſchaften, hat ſich 
das ſchöne, ſonnenſtrahliche Gold ſeit alten Zeiten in einem 
Tauſch⸗ und Handelswerth erhalten, welcher den des Sil— 
bers um 12, ja in unſren Tagen um mehr als 14 mal über— 


trifft. Wenn Einer von uns auf einer unbewohnten Inſel 


oder bei einem Fiſchzug im Meere einen Klumpen Goldes 
fände, ſo ſchwer daß er ihn ohne große Anſtrengung ſtun⸗ 
denweit mit ſich forttragen könnte, der hätte für ſich und die 


Und dennoch, um dies hier nur nebenbei zu erwähnen, 
bliebe bei Gelegenheit eines Fundes der Art Mancherlei zu 
bedenken. Es liegt etwas Verführeriſches und Gefährliches 
in einem ſolchen Reichwerden ohne Mühe. Im liten und 
12ten Jahrhundert legten ſich viele Leute in Böhmen darauf, 
aus dem Sande einiger Flüße dieſes Landes das Gold her— 
aus zu waſchen, welches darinnen enthalten war. Manche 
von ihnen gewannen damit mehr, als bei dem damaligen 
wohlfeilen Fruchtpreis der Ackerbau und die Viehzucht ab— 
warfen. Aber, was geſchahe? Als die andren Bewohner 
des Landes ſahen, daß Hunderte und zuletzt Tauſende aus 
ihrer Mitte bei einem ſolchen ſchlechten, leichten Geſchäft mehr 
verdienten als fie mit ihrer ſchweren Arbeit, da ſhten viele 
von ihnen: ſo gut als Jene können wir es ja auch haben, 
und ließen ihre Aecker unbebaut. Da entſtund eine große 
Theurung und ſchwere Hungersnoth im Lande. Was half 
jetzt, auch den glücklichſten Goldwäſchern, die in Jahresfriſt 
ein Pfund und darüber von dem edlen Metall erbeutet hat— 
ten, all ihr Reichthum? Sie konnten um ſchweres Geld 
nicht ſo viel Brod erkaufen, als für ſie und die Ihrigen zur 
Sättigung hinreichte; Viele mußten Hungers ſterben und die 
Regierung, um ähnliche unglückliche Folgen zu vermeiden, 
mußte das Gewerbe des Goldwaſchens bei ſchwerer Straſe 


unterſagen. (M. v. Hagecius in feiner böhmiſchen Chronik, 
überſetzt von Sandel S. 329.). i 


Und hat ſich denn das, was damals einem kleinen Land— 
ſtriche und ſeinen Bewohnern wiederfuhr, nicht auch in der 
Geſchichte ganzer mächtiger Reiche und Völkerſchaften recht im 
Großen wiederholt? Was hat in unſren Tagen das arme 
Spanien, was hat Portugal von all den Tauſenden der 
Centner Goldes in wirklichem Beſitz und Vermögen behalten, 


* 9 1 


122 


die den harmloſen Völkern von Peru, die den Völkern und 
Herrſchern von Mexiko und Braſilien abgenommen wurden? 
An welche Erben iſt bald nachher das Vermächtniß des im 
Jahr 1605 verſtorbenen Sultans Großmoguls) Akbar ges 
kommen, welches an Werth, großentheils in Gold und Sil— 
ber, 348 Millionen Gulden betrug? 

Unter den europäiſchen Mächten gewinnt nächſt Rußland, 
deſſen Goldausbeute am Ural von 1814 bis 1824 gegen 24 Mill. 
Preuß. Thaler an Werth geſchätzt war, Oeſtreich aus ſeinen 
Bergwerken in Ungarn und Siebenbürgen am meiſten, nämlich 
im Durchſchnitt jährlich 4700 Mark (jede zu 16 Loth), aus 
Böhmen 23, aus Salzburg gegen 165 Mark. Frankreich 
erhielt früher, vorzüglich aus feinen Goldwäſchereien in Lanz 
guedoc gegen 200 Mark. England hat freilich keine Gold— 
bergwerke, dagegen empfängt es, ſeit Abſchaffung des Skla⸗ 
venhandels allein aus Senegambien über 3400 Mark und 
fchon feine Eiſen- und Stahlfabriken, abgeſehen von allen 
andren einträglichen Erwerbsquellen, bringen dem Lande viel 
größre Einkünfte als vormals Portugal und Spanien von 
ihren amerikaniſchen Beſitzungen an lauterem Golde bezogen. 

Wir haben uns hier, in unſrer Betrachtung der Metalle, 
ſcheinbar ſelber jenem Zuge hingegeben, welchen das Gold 
auf die Natur des Menſchen ausübt. Doch ſind wir dabei 
noch immer auf der Heerſtraße geblieben die zu unſrem dies— 
maligen Ziele, zur Erörterung deſſen was die Grundſtoffe 
ſind, hinführet. 

Mehr denn irgend ein andrer Körper der irdiſchen Na— 
tur iſt das Gold geeignet uns zu zeigen was ein Grundſtoff 
oder ein eigentliches nicht weiter durch chemiſchen Gegenſatz 
zerlegbares Element ſey. Ein Grundſtoff kann durch ſeine 
Verbindung mit andren Elementen die Grundlage geben zu 
verſchiedenen Producten der Natur und der Kunſt; zu feinem 
eignen Entſtehen bedarf er aber keines andren Elementes als 
des weſentlich eigenen; in all den Verbindungen und polari⸗ 
ſchen Wechſelwirkungen die er mit andren Körpern eingeht 
bleibt er immer derſelbe und geht unverändert, ſtets als der— 
ſelbe aus ſolchem Wechſelverkehr wieder hervor. 

Wie ganz anders iſt dies bei jenen Naturkörpern, welche 
keine reinen Grundſtoffe find. Der Zinnober wie der Blei- 
glanz ſcheinen, wenn man ſie durch mechaniſche Kräfte zer- 
ſtößt und zermalmet auch in ihren kleinſten Theilchen noch 


f 2! 
3 
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123 


unverändert dieſelben geblieben zu ſeyn; unter dem Mikroſcop 
erkennt man an den Stäubchen des Bleiglanzes ſogar noch die 
Würfelform und die glänzenden Flächen, welche feine gröͤßren 
Bruchſtücke dem bloßen Auge zeigen. Wenn man aber beide 
Körper, den Zinnober wie den Bleiglanz, etwa in Geſell— 
ſchaft des Eiſens einem gewißen Grade der Erhitzung aus— 
ſetzt, dann ſieht man gar bald den Schein der Einfachheit 
verſchwinden, denn der Schwefel verläßt bei dem erſteren 
ſeine Verbindung mit dem Queckſilber, bei dem letzteren die 
mit dem Blei, und vereint ſich mit dem Eiſen zu Schwefel— 
eiſen; man erkennt nun, daß jene beiden Körper nicht ſelber 
Grundſtoffe, ſondern nur Zuſammenſetzungen aus eigentlichen 
Grundſtoffen ſind. 

Als die Menſchen anfingen das Gold im Kauf und Ver— 
kauf zur Verwerthung der verſchiedenſten Gegenſtände zu 
benutzen und die Erfahrung machten, daß ſich um Gold alle 
Sättigung und Luſt der Sinne erkaufen laſſe, da trachteten 
ſie eifriger nach dem Beſitz jenes koſtbaren Metalles. Auf 
den vielfach durchſpürten Lagerſtätten der Rollgeſteine und 
des Sandes war es im Verlauf der Zeit nicht mehr zu fin— 
den, ſondern man mußte es großentheils aus ſeiner eigent— 
lichen Geburtsſtätte — den Gebirgsgeſteinen — hervorholen 
und ausſchmelzen, darum klopfte man jetzt an jedem Felſen 
an, ſetzte die verſchiedenſten Steine der Schmelzhitze aus, 
um zu forſchen ob etwa Gold darinnen verſteckt fey? Man 
brauchte damals, wo ganze Länderſtriche von mächtigen Ur— 
wäldern bedeckt waren, das Feuerungsmaterial noch nicht ſo zu 
fparen als in unſren Tagen; Schmelzöfen, dieſe kleinen 
Abbilder der Vulkane, lernte man auch frühzeitig genug er— 
bauen, darum fanden ſchon die älteſten Völker, wie noch jetzt 
unſre Kinder, ein ganz beſondres Vergnügen am Schmelzen 
der metallhaltigen Steine, die ſich meiſt ſchon durch ihre 
Schwere kennbar machten. Bei dieſen Verſuchen gelang es 
gar bald allerhand Metalle, wie das Zinn, wie den Zink, 
wie ſelbſt das Kupfer und Eiſen aus Steinen zu gewinnen, 
die eine ganz andre Geſtalt und Farbe hatten als ihre Me— 
talle und bei weitren Verſuchen der Art fand man, daß zum 
Beiſpiel aus dem Zuſammenſchmelzen von Zink und Kupfer 
das Meſſing — ein Metall entſtehe das an Farbe und Glanz 
eine gewiße Aehnlichkeit mit dem Golde hat. Da kam man 
auf den Gedanken ob man nicht das Gold auch machen kön— 


124 


ne, entweder dadurch, daß man einen Körper auffände, der 
ſich, wie der Galmey in Zink, ſo in Gold verwandlen laſſe, 
oder dadurch, daß man es durch Zuſammenmiſchung eines 
andren, leichter zu habenden Metalles mit irgend einem an— 
dren Stoff künſtlich erzeugte. 

Das edle Gold hat in ſeiner Art viele Eigenſchaften 
mit einem edlen, guten Gemüthe gemein, namentlich die Ge⸗ 
duld und Milde. Es läßt ſich ohne ſeine Faſſung, das heißt 
ſein eigenthümlich körperliches Zuſammenhalten zu verlieren, 
zu Drath ausziehen und zu Blättchen ſchlagen wie kein 
andrer Körper und ſchon die Nürnberger Goldſchläger haben 
das Sprüchwort, daß man mit einen Ducaten einen Reuter 
mit ſeinem Pferd übergolden könne. Dabei benimmt ſich 
auch das Gold dem ſchneidenden Meſſer gegenüber ſo weich 
und mild, läßt ſich ſo biegen und drehen wie kaum ein 
andrer Körper. Darum ließ ſich das Gold auch durch alle 
die Verſuche, welche der Zweifel an der Einfachheit und 
Lauterkeit ſeines Weſens dem Menſchen eingab, nicht aus 
ſeiner gleichmäßigen Haltung bringen, man warf es in Eſſig, 
der das Kupfer und Eiſen ſo leicht angreift, man brachte es 
in Geſellſchaft der gemeinen Schwefelſäure und vieler andrer 
künſtlichen Erzeugniſſe die ſo manche feſte Bande der Kör⸗ 
perlichkeit auflofen, aber das Gold verſchmähete die Vermi⸗ 
ſchung ſeiner altadeligen Natur mit dieſen neugemachten Stof— 
fen der Menſchenkunſt; es behielt im Eſſig, wie in der 
Schwefelſäure und in der Schmelzhitze ſeine Lauterkeit und 
Einfachheit bei. Ja die Hitze, welche ſo manche andre Erzarten 
in Metallkalke und Schlacken verwandelt, diente dem Golde 
nur zur Reinigung, indem ſie nur das verflüchtigte und zer— 
ſtörte, was jener Reinigkeit noch entgegen war. 

Die Scheidekunſt der neueren Zeit hat es freilich hierin 
viel weiter gebracht. Sie hat ſich noch ganz andre, ſtärkere 
Waffen erfunden, denen ſelbſt die ſtandhafteſten Metalle, ſo 
wie der gute Demant und Rubin nicht widerſtehen konnten. 
Ihr iſt es gelungen das Gold in Dampfform zu verwandlen 
und daſſelbe in Säuren von ungleich ſtärkerer Art als die 
den Alten zu Gebote ſtehenden, aufzulöſen. Sie hat durch 
ihre kunſtreichen elektriſchen und elektromagnetiſchen Werkzeu⸗ 
ge dem Blitze ſeine Macht abgeborgt und durch dieſe iſt es 
ihr möglich geworden das fonft immer zu den einfachen Ele: 


menten gezählte Waſſer, ſo wie die Kalkerde und andre Er⸗ 


125 


den in mehrere Grundſtoffe zu zerlegen. Aber mit all diefen 
hoch geſteigerten Mitteln hat man auf die lautere Einfalt 
des Goldes keinen Verdacht bringen können; aus den meiſten 
ſeiner künſtlich erzwungenen Vermiſchungen hat es ſich ſchon 
in der Hitze des Feuers los gemacht, welche ihm Kraft giebt 
das Fremdartige von ſich zu ſtoßen; es hat ſich als ein 
Grundſtoff, als eine jener einfachſten Urformen der polariſchen 
Entgegenſetzung bewährt, welche die Macht des Schöpfers 
am Anfang in der irdiſchen Natur hervorrief. 

Dergleichen Grundſtoffe ſind alle eigentlichen Metalle, 
deren man, ohne die metalliſchen Grundlagen der Erden und 
Alkalien ſchon 30 zählt. Freilich kommen manche von dieſen 
in ganz außerordentlich geringer Menge, ſo wie Seltenheit 
in der Natur und zum Theil ſogar nur als kleine Beimi— 
ſchung in andren Metallen vor, faſt ſo wie die lebenden 
Thiere, die in den Eingeweiden andrer lebenden Thiere ge— 
funden werden, wie man dies von dem Rhodium und 
Palla diummetall ſagen könnte, wenn fie ſich in überaus 
kleiner Quantität dem Platinametall beigemengt finden. 

Wenn es nur auf die große Seltenheit und nicht viel— 
mehr auf andre empfehlende Eigenſchaften ankäme, dann müß— 
ten gar viele Metalle einen höheren oder faſt eben ſo hohen 
Geldwerth haben als das Gold, wie das letztere wirklich 
eine Zeit lang bei der Platina der Fall war. Denn dieſes 
Metall erwies ſich, abgeſehen von der Benutzung ſeiner Ver— 
bindung mit Eiſen zur Fertigung von damaszirten Raſirmeſſern 
oder zu ſtark glänzenden Metallſpiegeln u. ſ. w. durch feine außer: 
ordentlich ſchwere Schmelzbarkeit, ſo wie durch ſeine Aus— 
dauer ſelbſt in unſren ſtärkſten Säuren, fo brauchbar zur 
Bereitung mancher chemiſcher Geräthſchaften, daß man daſſelbe 
gern um jenen hohen Preis bezahlte. Noch jetzt wo man 
auch am Uraliſchen Gebirge in Rußland Platina endeckt hat, 
ſteht wegen dieſer Benutzbarkeit der Preis derſelben viermal 
höher denn der des Silbers, denn man verarbeitet dieſes theure 
Material ſelbſt zu Keſſeln, welche bei der Bereitung der 
Schwefelſäure benutzt werden können. Nicht ſo bedeutend iſt 
die Benutzbarkeit bei manchem andren eben ſo ſeltnen oder 
noch ſeltenern Metall, wohin auch noch zwei andre in und 
mit der Platina vorkommende: das Iridium und Os— 
mium gerechnet werden können, deren Namen man, wenn 

von einer Anwendung für den menſchlichen Haushalt die Rede 


* 


ar Fin 


126 


ift, eben fo wenig nennen hört, als die des Banadin, Ser 
und Lanthanmetalles, ja ſelbſt die des Tantalums, 
Titans und Tellurs, während allenfalls noch das Ka d— 
mium, das man, obwohl in ſehr geringer Menge in einigen 
Arten der Zinkerze endeckt hat, wegen ſeiner Benutzbarkeit 
zur Bereitung einer goldgelben Farbe für Frescomalereien 
der Erwähnung werth iſt. g 

Nächſt dem Golde, deſſen Anerkennung uralt iſt und dem 
erſt in neuerer Zeit bekannt gewordnen Platinametall, hat 
der Menſch dem Silber im Handel und Wandel den höch— 
ſten Geldwerth beigelegt. Sein ganz beſonders heller, ftar- 
ker Glanz, ſeine weiße Farbe, ſeine Geſchmeidigkeit und, 
wenn es nicht mit Kupfer verſetzt iſt, jene empfehlende Eigen⸗ 
ſchaft vermöge welcher es ſich rein vom Roſt erhält, haben 
ihm auf die Beachtung im bürgerlichen Leben ein gewißes 
Recht gegeben. Es kommt, wie ſchon erwähnt, in ungleich 
größeren Maſſen auf der Erde vor als das Gold und man 
hat berechnet daß allein jenes Silber das man ſeit dem Be— 
ginne des dortigen Bergbaues im J. 1492 bis 1803 aus 
Amerika gebracht hat, hinreichen würde um eine Schatzkam— 
mer, welche 50 Fuß hoch, 50 breit und eben ſo viel tief wäre 
von oben bis unten damit auzufüllen. Freilich überſteigt 
auch die Maſſe des in Amerika aufgefundnen Silbers die in 
Europa und im nördlichen Aſien in derſelben Zeit erbeutete 
um ein Bedeutendes, und man darf wohl ſagen um mehr 
als das Zehnfache, obgleich ſelbſt Deutſchland ſeine bergmän— 
niſchen Glückszeiten gehabt hat, in denen es im Stande war, 
nach einem freilich beſcheidneren Maßſtabe die Schatzkammern 
ſeiner Fürſten zu füllen, und zu gleicher Zeit einen großen 
Theil ſeiner Bürger zu bereichern. Von dem reinen Silber 
ſteht die Mark (zu 16 Loth) in Werth von 24 Gulden. Da 
jedoch ein Geldſtuck von Silber, das die gleiche Größe hat 
mit einem Geldſtück von Gold, nicht viel mehr denn halb ſo 
ſchwer iſt als das Goldſtück, ſo würde das letztere, wenn es 
zum Beiſpiel die Größe eines Silberguldens hätte, gegen 
27 Gulden werth ſeyn. Denn das Gold, in feinem 14 
mal größrem Werth wiegt 19½, das Silber nur 10 %½ mal 
ſchwerer denn das Waſſer. | 

Bei den andren, für den menſchlichen Haushalt nützli— 
chen Metallen, rechnet man, wenn man etwa von dem Werth 
derſelben reden will, nicht mehr nach Mark und nach Pfun⸗ 


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127 


den, ſondern gleich nach Centnern. So ſchon bei dem viel- 
fach benutzbaren Queckſilber, das zwiſchen dreißig und 
vierzig mal, bei dem Kupfer, welches mehr denn 80 mal, bei 
dem Eiſen, welches mehr denn tauſend Mal wohlfeiler zu 
haben iſt als das Silber. Nächſt dem Eiſen und Kupfer 
ſind wohl ſeit den älteſten Zeiten am meiſten das Zinn, 
das Blei und das Zinkmetall für den Nutzen und Dienſt 
des menſchlichen Haushaltes in Gebrauch genommen worden. 
Denn die bedeutende Anwendung des Spiesglanzes na— 
mentlich in der Arzneikunde gehört doch erſt dem Mittelalter 
und der neueren Zeit an, welcher wir auch die Kenntniß der 
Eigenſchaften, ſo wie der Anwendung der andren nutzbaren 
Metalle verdanken: namentlich die des Chrommetalles 
für Glas- und Porzellanmalereien, ſo wie des Mangans 
ebenfalls zur Färbung des Glaſes, zugleich aber auch zur 
leichten Gewinnung des Sauerſtoffgaſes, welches durch bloße 
Erhitzung des gewöhnlichſten Manganerzes (des Graubraun— 
ſteinerzes) erhalten wird. Denn dieſe Luft- oder Gasart 
zerftort in der ſchmelzenden Glasmaſſe, welcher man eine 
kleine Menge des gepulverten Manganerzes beigemiſcht hatte, 
die Farbe der verunreinigenden Theile und wenn man den 
Graubraunſtein vermiſcht mit gemeiner Salzſäure erhitzt, dann 
bildet ſich aus dieſer Säure das Chlorgas, welches mit 
Waſſer verbunden den Bleichern ein Mittel an die Hand 
giebt, alle Gewebe, ſo wie andre Stoffe die mit Farben aus 
dem Thier- oder Pflanzenreich gefärbt ſind, weiß zu bleichen, 
indem es jene Farben zerſtort. Einer ſolchen Miſchung des 
Chlorgaſes mit Waſſer kann ſelbſt das Gold nicht widerſtehen, 
denn in ihr löst ſich daſſelbe auf. Die Verkalkungen oder 
Oxyde (davon ſpäter) des ziemlich ſeltnen Kobaltmetalles 
benutzt man zur Bereitung ſehr dauerhafter, blauer Farben, 
davon die eine Art dem Ultramarinblau an Schönheit gleich 
kommt; das noch ſeltnere Nickelmetall, welches ſelbſt in 
den meiſten aus der Luft herabfallenden Meteorſteinen ge— 
funden wird, hält ſich gegen Verroſtung ſo rein wie ein edles 
Metall, giebt, mit andren Erzen verbunden, koſtbare Compo— 
fitionen (wie das Argentan u. g.), iſt für Magnetismus 
ſehr empfänglich und kann zur Bereitung namentlich einer 
ſehr ſchönen, grünen Farbe benutzt werden. Das leicht 
ſchmelzbare Wismuthmetall theilt einigen feiner Metall— 
compoͤſitionen, wie dem Schnellloth der Klempner eine ſolche 


“ 1 Yo 8 Bi‘ * * 


128 


Leichtflüßigkeit mit, daß dieſelben ſchon in der Siedhitze des 
Waſſers zum ſchmelzen kommen. Deſto größre Hitze koſtet 
es um das (ſehr ſeltne) Wolframmetall zum Fließen zu 
bringen, das ſich durch mehrere merkwürdige Eigenſchaften 
auszeichnet, namentlich durch ſeine außerordentliche Schwere, 
welche der des Goldes nahe kommt und auch dadurch, daß 
es beim Glühen, faſt wie Zunder verbrennt (ſich oxydirt). Auch 
das Waſſerblei oder Molybdän iſt ſehr ſchwer ſchmelz⸗ 
bar und noch ſchwerer das Uran, deſſen gelbes und 
lichtgrünes Oxyd man hin und wieder zu Porzellanfarben 
benutzt. Indeß haben auch die eben genannten Erze für den 
menſchlichen Haushalt eine ſo geringe Wichtigkeit, daß man 
die kleine Quantität in der ſie gefunden werden, gern unge⸗ 
ſchmolzen an die Mineralienſammlungen abgiebt, wo ſie, ge⸗ 
rade in der urſprünglichen Form ihres Vorkommens den mei⸗ 

ſten Werth haben. ’ 
Wenn es der Mißbrauch, welchen der Menſch von irgend 
einer Gabe der Natur macht, allein wäre, der uns eine ſol— 
che verleiten müßte, dann möchte man auch von dem Arſe- 
nik wünſchen, daß er eben ſo ſelten vorkommen und eben ſo 
ſchwer aus ſeinen Vererzungen darzuſtellen wäre, als manche 
der zuletzt erwähnten Metalle. Dennoch beſitzt der Arſenik 
neben ſeiner höchſtgiftigen Wirkſamkeit auch mehrere ihn 
empfehlende Eigenſchaften, namentlich die, daß er ſolche 
ſchwer ſchmelzbare Metalle wie die Platina, leichter ſchmelz— 
bar und dadurch zu Legirungen geſchickt macht, dann jene, 
daß er in ſeiner Verbindung mit manchen andren Metallen, 
wie mit Kupfer, augenfällig ſchöne Compoſitionen bildet und 
daß ſeine Säure (die arſenige Säure) die Farbſtoffe zerſtört, 
weshalb ſie in manchen Gewerben zum Entfärben der Zeuge 
benutzt worden iſt. Die magnetifche Kraft des Anziehens 
und Abſtoßens, welche in ganz beſondrem Maaße dem Eiſen 
und dem Nickel, im geringeren auch dem Kobaltmetall und 
der Platina zukommt, zeigt ſich auch darinnen der Lebens— 
kraft verwandt, daß ihr durch einen geringen Zuſatz von 
Arſenik an das magnetiſche Metall, eben ſo gut ein Ende 
gemacht wird, als dem Leben eines Thieres, dem man Arſenik 
beibringt. Selbſt der ſchöne Klang, den einige Metalle haben, 
wird durch einen Beiſatz des Arſeniks zerſtört. Doch gerade die 
giftige Eigenſchaft des Arſeniks hat ſich der Menſch als einer 
ſtarken Waffe gegen die gefahrdrohende Thierwelt zu Nutze 
i ge⸗ 


129 


gemacht; Wölfe und Schlangen wie der zerſtörende Bohr⸗ 
wurm müſſen dieſer Waffe erliegen. : 

Giebt es doch felbft unter den nutzbarſten Metallen, 
welche zugleich, vermöge einer allbedenkenden Fürſorge des 
Schöpfers, am allgemeinſten und leichteſten zu gewinnen ſind, 
einige, welche neben ihren empfehlenden Eigenſchaſten zu⸗ 
gleich der Geſundheit des Menſchen ſchädlich, ja todgefährlich 
werden können. So das Kupfer durch ſeinen leicht ent⸗ 
ſtehenden Grünſpan, und das Blei durch ſeine ebenfalls 
leicht ſich erzeugenden Oxyde und Verbindungen mit der 
Kohlenſäure. Wem ſollte aber deshalb das Kupfer, dieſer 
bedeutendſte Schatz mancher Gebirgsreviere, minder ſchätzens— 
werth erſcheinen: das Metall das ſich durch ſeine Geſchmei— 
digkeit und Dehnbarkeit, ſo wie durch ſeine ſchönen Compoſi⸗ 
tionen mit Zinn zu Bronze, mit Zink zu Meſſing für den 
Haushalt, überdieß als deckender Schutz für Gebäude und 
Schiffe als ein Hauptmaterial, für Erzgießereien fo nutzbar er- 
weiſt und das ſich ſelbſt dem Ohr durch den Klang der Saiten 
und Glocken, in denen das Kupfer einen vorzüglichen Be— 
ſtandtheil bildet, dem Auge durch feine ſchönen Farben, na⸗ 
mentlich für Glas und Frescomalereien empfiehlt. 

Das Zinn hat fi) auch, ſeit den älteſten Zeiten, bei 
dem Menſchen in ganz beſondre Gunſt geſetzt. Es findet ſich 
freilich nicht ſo wie vor allem das Eiſen und nächſt ihm das 
Blei und Kupfer faſt in allen Ländern der Erde maſſenweis 
verbreitet, ſondern bildet vorzugsweiſe nur den Reichthum 
einzelner Erdſtriche; wo es aber einmal vorkommt, da iſt es 
in faſt unerſchöpflicher Menge zu finden. So gewinnt Eng— 
land allein jährlich 60,000 Centner, obgleich ſeine Zinngru— 
ben ſchon ſeit zwei Jahrtauſenden ausgebeutet werden; Oſtin⸗ 
dien, namentlich ſeine öſtliche Halb inſel, ſo wie die Inſeln 
Banca und Lingin bei Sumatra ſind ſo unermeßlich reich 
an Zinn, daß man ſeine Erze faſt ohne alle bergmänniſche 
Mühe und Arbeit von der Erdoberfläche hinwegnimmt; in 
Malaka erſtrecken ſich die reichen Zinnlagerſtätten über einen 
Landſtrich von nahe 200 geographiſchen Meilen. Eben ſo 
leicht, als wegen der Art ſeines maſſenhaften Vorkommens, 
das Gewinnen dieſes Metalles iſt, wird auch, im Vergleich 
mit Eiſen, ſein Ausſchmelzen, aus dem ſogenannten Zinn⸗ 
ſtein (Zinnoryd) gefunden, und ein bloßes ſtarkes Kohlen⸗ 
feuer im ummauerten Heerde war e den älteſten 


130 


Entdeckern jenes Erzes das ſchöne, in feinem reinen Zuſtand 
ſilberweiße, glänzende Metall zu Geſicht zu bringen, und 
hierdurch ſeine Verarbeitung zu veranlaſſen. 

Bei dem Eiſen hielt dieſes freilich nicht ſo leicht, denn 
um dieſes nützlichſte unter allen Metallen aus ſeinen Erzen 
herauszuſchmelzen, bedarf es ſchon einer bedeutenderen, län⸗ 
ger fortwirkenden Hitze der Hochöfen. Dagegen kam auch 
kein andres Metall dem Menſchen ſo oft und ſo häufig in 
die Hände als dieſes. Denn nicht nur giebt es ganze Berge, 
ja Bergzüge, welche faſt ganz von Eiſenerz durchdrungen, und 
weite, große Ebenen, welche von Eiſenerzlagern bedeckt ſind, 
ſondern der Eiſengehalt, der ſich in den über Hunderte von 
Quadratmeilen ausgebreiteten Sandſteinen und Baſalten (wo⸗ 
von ſpäter) findet, hat ſich auch bald da bald dort in Maſ⸗ 
ſen von reicherem Eiſenerz ausgeſchieden. Jene höhere 
Fürſorge, die ſich in der reichlichen Begabung aller, von 
Menſchen bewohnbaren Länder der Erde mit dem Eiſen im 
Allgemeinen kund gethan hat, wird auch im Beſonderen 
darinnen ſichtbar, daß ſie gerade ſolchen Völkern, denen ſie 
die meiſte Gewerbthätigkeit und Betriebſamkeit verlieh, auch 
die meiſten Mittel zur Aeußerung dieſer Anlagen in die 
Hand reichte. Ein Beiſpiel dieſer Art iſt uns an den ge- 
werbthätigen Engländern gegeben, welche zunächſt an ſolchen 
Metallen, die den Gewerben dienen, in bewundernswürdiger 
Weiſe reich ſind. Denn England allein baut alljährlich 
60,000 Zentner Zinn, mithin mehr denn 12 mal ſo viel als 
alle Länder des übrigen Europa's zuſammengenommen, über⸗ 
dieß 250,000 Zentner Blei, was mehr als die Hälfte des 
ganzen europäiſchen Bleiertrags iſt, an Kupfer 200,000 Zent⸗ 
ner, an Eiſen ein Drittel des ganzen europäiſchen Eiſenge⸗ 
winns, nämlich 5 Millionen Zentner, an Galmei (kohlen⸗ 
ſaurem Zinkoxyd) 50,000 Zentner. 

Ein ſolcher Schatz an benutzbaren Material, das man 
nicht ſo wie andre Naturgaben eines überreichen Erdbodens 
gleich mit der Hand nehmen und in den Mund ſtecken kann, 
ſondern erſt vielfach verarbeiten muß um die Arbeit in Geld, 
das Geld aber in Brod umzuſetzen, mag freilich ſehr dazu 
geeignet ſeyn, um die Kräfte und den Fleiß eines Volkes 
zu wecken, indeß hängt dabei dennoch auch gar viel von 
der Naturanlage und Verfaſſung des Volkes ab. Denn in 
wie vielen Ländern, wo es Noth- und Hungerleidende genug 


131 


giebt, wie namentlich in dem türkiſchen Reiche, liegen die 
herrlichſten, reichſten Schätze ſolcher Art unbenutzt in der 
Erde. Die Engländer aber, denen bei ihrer Gewerbthätig⸗ 
keit auch noch die Menge der Steinkohlen gut zu ſtatten 
kommt, die ſich in ihrem Lande findet (nach Cap. 21.) wiſ⸗ 
ſen von dem Eiſen das ihnen ihre Inſel darbietet und zum 
Theil ſelbſt noch andre Länder zuführen, eine ſo vortheilhafte 
Anwendung zu machen, daß ſich der Werth der Stahl- und 
Eiſenarbeiten, welche ſie fertigen, jährlich auf 192 Millionen 
Gulden anſchlagen läßet; ein Gewinn von welchem freilich 
ein großer Theil den Capitaliſten, welche die Vorſchüße lei⸗ 
ſteten und Inhaber der Fabriken ſind, zufällt, an welchem 
aber dennoch auch die 270,000 Arbeiter, die ſich mit Eiſen⸗ 
fabrication beſchäftigen, nach ihrem Maaße Theil nehmen. 
In England, fo wie in einigen andren Ländern, wo der 
Anbau und die Fabrication des Eiſens mit beſonderem Fleiß 
und Glück betrieben wird, möchte es einem immer ſcheinen 
als ob der Umgang mit dieſem Metall für die Betriebſam⸗ 
keit des Volkes etwas eigenthümlich Belebendes habe. Steht 
doch, ſo könnte man ſagen, das Eiſen unter allen Metallen, 
durch ſeine Eigenſchaften dem Leben am nächſten. Denn an 
ihm zunächſt zeigt ſich eine Bewegung des Suchens und Flie⸗ 
hens, des Anziehens und Abſtoßens, welche den uranfängli⸗ 
chen Erſcheinungen des thieriſchen Lebens ähnlich und ver- 
wandt ſind; das Eiſen, als Magnet, iſt einer Anregung 
durch die Kraft eines allgemeinen Bewegens fähig, wie das 
Thier, wenn es dem Walten des Inſtinctes dahin gegeben 
iſt. Unſre Kunſt, auch wenn ſie die Grundſtoffe bald ſo 
bald anders zuſammenfügt und in Wechſelwirkung bringt, 
vermag auf keinerlei Weiſe aus dieſen Stoffen ſolche zuſam⸗ 
mengeſetzte Elemente zu erzeugen, die man organiſche nennt, 
weil der Körper der organiſchen Weſen: der Pflanzen und 
Thiere, vorherrſchend aus ihnen gebildet iſt, wir können 
keine Gallert, keinen Eiweisſtoff, keine Butter und keinen 
Käſe aus den uranfänglichen Grundſtoffen, in die wir die 
Körperwelt zerlegen, hervorbringen. Das Eiſen macht jedoch 
ſchon einen kleinen Eingriff in die ausſchließenderen Rechte 
der Lebenskraft, denn der Bodenſatz den man aus einer Auf⸗ 
loͤſung des Kohle enthaltenden Gußeiſens in Salpeterſäure durch 
Ammoniak erhält, giebt beim Auskochen im Waſſer eine mo⸗ 
derartige Subſtanz, ähnlich jener, welche zuletzt aus der 
9 


. 
132 | 


Verweſung abgeftorbener Pflanzen- und Thierkörper entſteht. 
Allerdings alſo nur eine Annäherung an die organiſche Ele⸗ 
mentenbildung, von der unterſten, tiefſten Stufe her. Uebri⸗ 
gens zeigt das Eiſen auch noch auf andere Weiſe, daß es 
in einer näheren Beziehung denn alle andren Metalle auf 
die Vorgänge des Lebens ſtehe, indem es als ein weſentli⸗ 
cher, höchſt einflußreicher Beſtandtheil in das Blut des Men⸗ 
ſchen und der vollkommneren Thiere eingehet, dem es vor⸗ 
zugsweiſe ſeine rothe Farbe ertheilt. f 

Alle die bisher betrachteten Grundſtoffe geben ſich leicht 
als eigentliche Metalle zu erkennen und wurden zum 
Theil auch ſchon von den Völkern des Alterthumes als Me⸗ 
talle erkannt. Denn viele von ihnen, namentlich Gold, Sil⸗ 
ber, Platina, Queckſilber, Kupfer und ſelbſt das Eiſen, we⸗ 
nigſtens in ſeinen hin und wieder nicht unbedeutenden, aus 
der Luft gefallenen Maſſen, werden in ganz reinem (gediege⸗ 
nen) Zuſtand in der Natur gefunden, ebenſo auch Wismuth, 
Arſenik, Spießglanz u. ſ. w. Und wenn auch die ebenge⸗ 
nannten, ſowie andre eigentliche Metalle nicht rein oder ge⸗ 
diegen, ſondern als Erze, verbunden mit Schwefel ſo wie 
irgend einem andren Metall, oder als Oxyde, verbunden 
mit dem Sauerſtoff der Luft vorkommen, laſſen fie ſich den⸗ 
noch meiſt ohne ſehr große Schwierigkeit nach den Geſetzen 
der gewöhnlichen chemiſchen Verwandtſchaft in ihrer eigentlich 
metalliſchen Form darſtellen. Ueberdieß zeichnen ſich alle Me⸗ 
talle im engeren Sinne durch eine Eigenſchwere aus, welche 
die des Waſſers wenigſtens fünfmal übertrifft. Denn, ab⸗ 
geſehen vom Titan und Tantalmetall, deren Gewicht nicht 
viel über 5 beträgt, haben unter den bekannteren Metallen nur 
Arſenik und Chrom nicht ganz das ſechsfache, Tellur und 
Spießglanz noch nicht das ſiebenfache, Zink, Zinn, Wis⸗ 
muth und Eiſen noch nicht das achtfache Gewicht des Waf- 
ſers, während ſchon das Mangan mehr denn acht, das Kad⸗ 
mium, Molybdän, Kobalt mehr den 8 Nickel und Ku: 
pfer faſt 9, das Uranmetall 9, das Silber 101%, Rhodium 
und Palladium über 11, Queckſilber über 14, das Wolfram⸗ 
metall über 17, Gold 19 ½, Platina und Iridium 21 bis 
23 mal ſchwerer ſind denn das Waſſer. 


133 


16. Der verſchwenderiſche Arme. 


Bei der Erwähnung des Goldmachens im vorigen Cap. 
iſt mir eine Geſchichte eingefallen von einem Manne, der 
zwar das Gold nur vergeudet, nicht gemacht hat, aus deſſen 
Verſchwendung aber dennoch die alten Goldmacher, ſobald 
ihnen das Wie oder Wenn der Verſchwendung deutlich ge— 
worden wäre, nicht bloß einen anſehnlichen Profit für ihren 
Beutel, ſondern auch wichtige Aufſchlüſſe über ihre falſchbe- 
rühmte Kunſt hätten entnehmen können. 

An der C* * Gränze lebt ein Krämer von welchem man 
mit Recht ſagen kann, daß er in ſeinem Leben mehr wegge— 
ſchenkt hat als mancher reiche Graf, mehr als der gutthätige 
Fürſtbiſchof von ** Und noch dazu machte der Mann feine 
Geſchenke nicht in Kupfer oder Silber, denn dieſe beide gab 
er nicht leicht umſonſt hinweg, ſondern in lauterem Golde. 
Auch ſahe derſelbe bei ſeinen täglichen Verſchenkungen nicht 
darauf, ob der, in deſſen Hand er, gleich einem großmüthi— 
gen Wohlthäter, der nicht wiſſen laſſen will, was er thut, 
die koſtbare Gabe hineingleiten ließ, ſein Freund oder ſein 
Feind, Chriſt oder Jud, arm oder reich ſey, ſondern er übte 
ſeine Freigebigkeit an Einheimiſchen wie an Fremden und 
namentlich wurde Jeder der einen Kronenthaler bei ihm wechs— 
len ließ mit einem Geſchenke an Gold von ihm bedacht. 

Meine jungen Leſer werden dabei mit Recht fragen: 
war denn der Mann ſo gar vermögend oder war er nur recht 
unſinnig verſchwenderiſch? . 

Ich kann darauf in Wahrheit verſichern, daß der Krä— 
mer weder reich noch unſinnig war und daß Keiner von alle 
Denen, die ihn kannten, ihn jemals für einen Verſchwender 
gehalten hat. Im Gegentheil hielt man ihn in ſeinem Land⸗ 
ſtädtchen ſo wie in der ganzen Umgegend für einen Mann, 
deſſen Sparſamkeit eher über das rechte Maaß hinausgieng 
als unter demſelben blieb und der auch im Handel und Wan— 
del, wo es ſeinen Vortheil galt, eher zu viel als zu wenig 
der Klugheit ſich befleißigte. Der Mann war kein Spieler 
und kein Trinker, in ſein Haus wie in ſeinen Mund kam 
ſelten ein Glas von dem geringſten, wohlfeilſten Franken— 
wein. Denn obgleich er ſelber einen kleinen Weinberg be— 
ſaß, ſo fand er es, bei der Qualität ſeiner Trauben dennoch 
rathſamer, dieſe an den Eſſigfabrikanten zu verkaufen, als 


TER TRE N 


für ſich und die Seinen ein Getränk daraus zu machen. 
Und ſo ſparte der haushälteriſche Krämer auch in andren 
Stücken ſo viel als nur möglich war, litt an ſich und den 
Seinen weder Kleiderpracht noch Aufwand im Eſſen und 
Trinken, denn, wie er das alte Sprüchwort oft im Munde 
führte »Gutgeſchmäcke macht Bettelſäcke.s Auch war ihm 
eine ſolche Sparſamkeit gar nicht zu verdenken, denn der 
Mann hatte eine Frau und acht Kinder, dazu auch ſeine 
alten Schwiegerältern zu ernähren, und von dem Ertrag 
ſeines Krämergewerbes konnte er Nichts zurücklegen; wäre 
in den Kiſten und Käſten des Mannes, welcher in ſeinem 
Leben vielleicht Tauſende von Gulden in Gold weggeſchenkt hatte, 
Nachſuchung gehalten worden, der Sparpfennig, den man 
da gefunden hätte, würde ſich kaum auf etliche hundert Gul⸗ 
den belaufen haben. 

Dies Alles klingt freilich höchſt ſonderbar und doch muß 
ich noch Etwas hinzufügen, welches noch ſonderbarer lautet. 
Es war als ob in der ſeltſamen Freigebigkeit jenes Krämers 
etwas Anſteckendes auch für andre Menſchenſeelen läge, denn 
alle die Leute, an welche er ſein Gold verſchenkte, gaben 
daſſelbe wieder an andre Leute weg, ohne ſich ſelber Etwas 
davon zu Nutze zu machen, bis zuletzt faſt alle dieſe Geſchenke 
aus Hand in Hand zu einer königlichen Münzſtätte kamen, 
welche das Gold nicht mehr ſo ohne Weitres an Jedermann 
wegſchenkte, ſondern für ihren Landesherrn einen guten Ge⸗ 
winn daraus zog. Ich will nun auch ſagen, wie das Ganze 
zugegangen iſt, was ohnehin ſchon oben S. 116 zum Theil 
geſchehen iſt. i 

In einem benachbarten Lande waren unter einer der vo⸗ 
rigen Regierungen kleine Silbermünzen: Sechskreuzer⸗- und 
Dreikreuzerſtücke geprägt worden, die ſich, wenn ſie eine 
Zeit lang in Curs geweſen waren, durch ein ganz beſondres 
Colorit auszeichneten. Vielleicht war dem Landesherren, def- 
ſen Gepräge ſie trugen, daran gelegen, daß auch das Bild— 
niß auf ſeinen Münzen ein Zeugniß von ſeinem fortwähren⸗ 
den leiblichen Wohlbefinden geben ſollte, denn dieſes Bild— 
niß, anſtatt mit dem Alter bleicher zu werden, bekam viel⸗ 
mehr ein fo rothbackiges Ausſehen wie die jungen Burſchen in 
unſren Gebirgsgegenden haben; ſo blühend, wie man zu ſagen 
pflegt, als eine bayeriſche Dampfnudel. Die Kunſt worauf 
jene Verjüngung des Ausſehens beruhete, beſtund darin, daß 


134 


135 


dem Silber jener kleinen Münzſtücke etwas mehr Kupfer bei⸗ 
gemiſcht war als gewöhnlich, und da die Welt, ſo wie ſie 
nun einmal iſt, weniger Werth auf die Kunſt und auf das 
Bildniß, als auf die Beſchaffenheit der rohen Maſſe legte, 
aus der die Münzen geprägt waren, ſo wollte man dieſe 
bald außer dem Lande und ſpäterhin ſelbſt im Lande nicht 
mehr zu dem Werthe annehmen der auf dem Stempel aus⸗ 
gedrückt ſtund: der Werth der Sechskreuzerſtücke wurde all⸗ 
mälig auf vier, der der Dreikreuzerſtücke auf zwei Kreuzer 
herabgeſetzt. Unſer Krämer war ſchon früher, weil er an 
der Gränze wohnte, für ſeinen Rauch- und Schnupftabak, 
ſo wie für Kaffee und Zucker faſt in lauter ſolchen Münz⸗ 
ſorten ausbezahlt worden und er ſelber kaufte, was er für 
ſein Haus bedurfte, wieder um ſolches Geld ein. Als aber 
die Zeit der Herabſetzung zuerſt in einem, dann in mehreren 
andren Ländern herbei kam, da war hin und wieder mit 
dem Einwechslen um den geringern und mit dem Auswechs⸗ 
len um den da und dort noch beſtehenden höheren Preis etwas 
zu gewinnen, und der Krämer nahm an diefem Wech⸗ 
ſelgeſchäft mit vielen Andren welche es betrieben, einen thä⸗ 
tigen Antheil, indem er ſich dabei oft mit einem ſehr kleinen 
Gewinn begnügte. Der gute Mann wußte nicht was für 
ein Schatz dabei durch ſeine Hand gieng, und die Andren 
ahneten das auch nicht, und wenn ſie es auch wirklich ges 
wußt hätten, ſo wären ſie doch nicht im Stande geweſen 
den verborgenen Schatz zu heben, wie dies die wohlunterrich— 
teten Scheidekünſtler in der Münze thaten. 

Die Sache verhielt ſich ſo: Jene rothwangigen, ſoge⸗ 
nannten Silbermünzen waren doch nicht fo ſehr zu verachten 
als man gemeint hatte. Für den gewöhnlichen Gebrauch in 
Handel und Gewerbe hatten ſie freilich nicht ihren angeblichen 
Werth und es war nothwendig, daß man ſie außer Curs 
ſetzte, aber das Silber das man zu ihrer Ausmünzung ge⸗ 
nommen hatte, enthielt, wie dies öfters beim Silber und 
ſelbſt beim Kupfer der Fall iſt, etwas Gold, deſſen Quan⸗ 
tität, aus großen Maſſen, einen nicht unanſehnlichen Gewinn 
brachte. Die Scheidekünſtler giengen nun ſo zu Werke: Sie 

arfen die kleingemachte (granulirte) Maſſe jener Münzen 
in kochende, ſtarke Schwefelſäure und alsbald löſte dieſe das 
Silber und das Kupfer auf; dem Golde aber konnte ſie 
nichts anhaben, dieſes fiel als ein freilich ſehr unanſehnli— 


136 


ches, Schwarzes Pulver zu Boden und konnte aus der Auflö⸗ 
ſung faſt ganz rein herausgewaſchen werden. 

Wie aber, was wurde aus dem Silber? ſollte dieſes 
verloren gehen? Keinesweges, auch kein Gran deſſelben gieng 
verloren. Man brachte jetzt die Flüßigkeit in bleierne Tröge 
und ſetzte ihr hier eine ſo große Portion altes Kupfer zu, 
daß die Schwefelſäure nicht hinreichte um alles aufzulößen. 
Augenblicklich verließ die Schwefelſäure, die ſich mit dem 
Silber vereint hatte, dieſe Verbindung und warf ſich ganz 
auf das Kupfer; das Silber, in ſchönem, reinen Zuſtand, 
als ſogenanntes bergfeines Silber, wurde ausgeſchieden, die 
Schwefelſäure aber bildete, ſo weit ihre angewendete Menge 
dies zuließ, mit dem Kupfer den Kupfervitriol, der ein vor⸗ 
treffliches Farbematerial abgiebt, das bei unſren Gewerbs⸗ 
leuten in ziemlich hohem Werth und Preiſe ſteht. 

Daraus iſt viel zu lernen, was ſich dem Verſtand in 
ſehr einfachem Gleichniß verdeutlichen läſſet. Es ſteht Waſ⸗ 
fer auf unſern Feldern, wir machen eine Grube in den Bo: 
den und das Waſſer, durch ſeine Schwere gezogen, fließt 
ſogleich in die Grube ab. Wir machen neben der erſtern 
eine noch tiefere Grube und das Waſſer verläßt jene und 


fließt in dieſe hinein und ſo kann man zehen Gruben graben, 


eine tiefer als die andre, das Waſſer wird ſich immer in die 

tiefſte hineinſtürzen und umgekehrt erſt dann, wenn die tie— 

ſieß ganz voll iſt, wird das Waſſer in die nächſt höhere ab— 
ießen. 

Ganz in ähnlicher Weiſe als der Zug der Schwere auf 
das Waſſer und ſeine Bewegungen, wirkt auch der Antrieb 
der chemiſchen e auf die verſchiedenen Grundftoffe, 
Wenn man eine Miſchung von Eiſen und Blei mit Schwe— 
fel in einem Tiegel zuſammenſchmilzt, dann tritt alsbald der 
Schwefel an das Eiſen und verbindet ſich mit dieſem zu 
Schwefeleiſen. So lange nun noch eine Spur von Eiſen in 
dem Blei iſt, geht kein Theilchen des Schwefels an dieſes 
über; erſt dann wenn alles Eiſen von dem Schwefel durch— 
drungen und von demſelben aufgenommen iſt, verbindet ſich 
der noch übrige Schwefel auch mit dem Blei zu Schwefelblei 

Was in dieſem Falle der Schwefel that, das geſchahl 
bei dem vorhin erwähnten Vorgang der Ausſcheidung des 
Goldes und Silbers mit der Schwefelſäure. Wie ein Stück, 
Holz, das in der Grube lag, zu welcher man dem Waſſer 


137 


den Zufluß eröffnet hat, durch dieſes von feiner Stelle ver: 
drängt, und weil es in ihm nicht unterſinken kann, auf die 
Oberfläche ausgeworfen wird, ſo drängt die Schwefelſäure, 
indem fie ſich in die Verbindung mit dem Kupfer und Sil⸗ 
ber verſenkt, das Gold aus ſeiner Einmiſchung in dieſe Me— 
talle heraus. Freilich ſtellt ſich hierbei unſerem Auge der 
Vorgang der Ausſcheidung gerade umgekehrt ſo dar als bei 
dem Holz und dem Waſſer, durch welches daſſelbe ſeiner 
Ruheſtätte am Boden des Grabens enthoben und nach der 
Oberfläche geworfen wurde; denn das Gold fällt als ſchwe— 
res Pulver in der Flüſſigkeit zu Boden, ſtatt auf derſelben 
zu ſchwimmen, wir haben es aber überhaupt in dem Gebiet 
der ſogenannten chemiſchen Anziehungen mit einer Kraft zu 
thun, welche zwar zuletzt nach demſelben allgemeinen Geſetz 
wirkt als der mechaniſche Druck und Gegendruck der Schwere, 
welche aber dennoch hierbei von ganz andrer, verſchiedenarti— 
ger Natur und Abkunft iſt, ſo daß die Erſcheinungen, welche 
ſie hervorruft, oftmals jene, welche die Verſchiedenheit der 
eigenthümlichen ſo wie der allgemeinen Schwere bewirkt, 
durchkreuzen und die ganz entgegengeſetzte Richtung nehmen. 

Die bis zum Sieden erhitzte Schwefelſäure verbreitet 
anfangs ihre Wirkung, ſo wie ſich ein austretendes Waſſer 
über Felder und Wieſen ergießt, über beide noch übrige, für 
ihren Einfluß zugängliche Metalle; ſie löſt das Kupfer wie 
das Silber auf. Wenn man aber die Auflöſung in bleierne 
Tröge bringt und hier der Säure das Kupfer in Ueberfülle 
zu ihrer Sättigung darbietet, da thut man etwas Aehnliches 
als der Landmann thut, wenn er einen tiefen Graben zum 
Abfluß des Waſſers eröffnet, das ſein Grundſtück überſchwemmt 
hat. Die Schwefelſäure ergießt ſich mit abwärts dringender 
Kraft durch alle kleinſte Theilchen des Kupfers und wird 
nur dann auch noch Silber in ſich aufgelöſt halten, wenn 
nicht genug Kupfer ihr dargeboten iſt, um in der Verbin— 
dung mit dieſem ganz aufzugehen. 

Wir kehren noch einmal zur Beachtung des Goldes zu— 
rück, das, bei der Abtrennung von den beiden andren Me— 
tallen in der Auflöſung zu Boden fiel. So wie daſſelbe da, 
nach dem Auswaſchen, als ein ſchwärzliches Pulver vor Au— 
gen liegt, würde Niemand, dem Das was hier geſchahe un— 
bekannt wäre, es für das halten was es iſt: für jenes edle 
Metall, dem hier faſt keine ſeiner ſinnlich wahrnehmbaren 


138 


Eigenſchaften geblieben iſt als die Schwere. Doch eine leichte, 
weitre Behandlung im Feuer giebt dem Metall ſeinen Glanz 
und ſeine Farbe, ſo wie jenen Zuſammenhalt der Theile zu⸗ 
rück, der es (nach Cap. 15) zu ſo vielen Verarbeitungen ge⸗ 
ſchickt macht. | 

In unſren Tagen weiß es jeder unterrichtete Goldſchmidt 
daß auſſer dem Kupfer faſt in jedem Silber, welches unſre 


Bergwerke liefern, etwas Gold enthalten ſey. Das Kupfer 


bildet in dieſem Rohſilber drei Fünftheile, ja zuweilen die 
Hälfte des Geſammtgewichtes, das Gold freilich meiſt nur 


den tauſendſten, ja den zweitauſendſten Theil des Gewichtes 


des Silbers. Dennoch iſt, bei dem hohen Werthe des Gol⸗ 
des, das Gewinnen auch dieſes kleinen Antheiles von Gold 
ſo lohnend, daß die Scheidekünſtler ſich der Mühe uns das 
Silber vollkommen vom Kupfer zu reinigen, umſonſt unter⸗ 
ziehen; wir erhalten von ihnen ſo viel Silber und Kupfer, 
als in dem Geräthe oder Barren die wir ihnen zur Behand⸗ 
lung übergaben, enthalten waren, die kleine Quantität des 
Goldes die bei der Auflöſung zu Boden fiel, dient ihnen als 
Bezahlung für die Mühe. 

Dieſes Alles iſt nun, wie ſchon geſagt, in unſren Ta⸗ 
gen eine bekannte Sache. Wenn aber, noch vor hundert 
oder vor anderthalb hundert Jahren ein Scheidekünſtler, der, 
wie faſt alle ſeine damaligen Kunſtgenoſſen voll von dem 
Hirngeſpinnſt des Goldmachens geweſen wäre, aus dem Ku— 
pfer oder Silber durch chemiſche Scheidung ſolch ein ſchwar— 
zes Pulver gewonnen hätte, welches, bei weiterer Behand: 
lung, unter der Hand zum lauteren Golde wird, der wäre 
dadurch nicht wenig in ſeinem Wahn beſtärkt worden, daß 
man ein Metall ins andre verwandlen, daß man namentlich 
aus Kupfer, indem man ihm einen gewiſſen, giftähnlichen 
Beſtandtheil nähme, Gold machen könne. 

In Helmſtädt lebte noch zu Anfang dieſes Jahrhunderts 
ein gar merkwürdiger Genoſſe der edlen Scheidekunſt, der Profef- 
ſor Beireis; ein Mann welcher gerne von ſich ſelber ſprach 
und Andre von ſich ſelber ſprechen machte, weil ſein Herz 
von dem Wohlgefallen an ſeinem eignen Selbſt voll war. 
Da er immer nur ſich und was ihn ſelber betraf ſahe, und 
zum Beſchauen der Dinge, die auſſer ihm lagen nur das 
Licht ſeines eignen, menſchlich armen Selbſt mitbrachte, be⸗ 
gegnete es ihm vielfältig, daß er jene Dinge nicht auf rechte, 


139 * 


wahre Weiſe ſahe und daß er dann auch auf unwahre Weiſe 
über ſie urtheilte und ſprach. So zeigte er zuweilen auch 
ſeinen Zuhörern Goldſtücke und ſagte das Gold dazu habe 
er ſelber gemacht. Es mag ſich aber mit dieſer Ausſage 
wohl ſo verhalten haben, wie mit ſeiner ruhmredigen Erzäh— 
lung von dem großen Demant den er angeblich beſaß und 
der ſo groß und koſtbar ſeyn ſollte, daß alle Kaiſer, Könige 
und hohe Herrſchaften der Erde ihn nicht bezahlen könnten. 
Gold konnte er allerdings aus Silber und auch aus japa⸗ 
neſiſchem ſo wie manchen ruſſiſchen Kopekenkupfer, auf dem 
vorhin beſchriebenen Wege abgeſchieden oder auch durch die 
Karminbereitung, darinnen er Meiſter war, gewonnen, nicht 
aber gemacht haben. Der gute Mann kannte zwar die Be⸗ 
nutzung der Dämpfe zu allerhand künſtlichen Arbeiten und für 
Dampfwägen noch nicht, aber in ſeinem Innern arbeitete er 
immer mit Dampf und fuhr auf Dampf hoch daher. 


17. Die Verwandlung des Niederen in ein 
Höheres. 


Ich will, obgleich ich ſo eben von der Unmöglichkeit 
ſprach, durch unſre jetzige, menſchliche Kunſt ein Metall in 
ein andres zu verwandeln, dennoch meinen jungen Leſern, 
wenn ſie ihn noch nicht kennen, einen Fall erzählen, wo 
ſtatt des Eiſens auf einmal Kupfer geworden iſt, und wenn 
ſie an Ort und Stelle gehen wollen, können ſie noch jetzt 
durch einen Wurf und den Zug eines Fiſchernetzes ſtatt eines 
alten roſtigen eiſernen Hufeiſens ein ſchön glänzendes kupfer 
nes gewinnen. 

Ein Bergmann, ſo erzählt man, hatte einen eiſernen 
Maßſtab, der in Nürnberg gefertigt und mit einer ſehr ge— 
nauen Eintheilung in Zolle, in Linien und Zehntellinien ver— 
ſehen war, beim Ausfahren aus der Grube, das heißt 
beim Hinaufſteigen auf der Leiter (Fahrt) des Bergſchachtes, 
verloren. Es war dem armen Manne viel an jenem freilich 
ſchon ziemlich alten Meßſtab gelegen, aber bei aller ange— 
wandten Mühe konnte er ihn nicht wieder finden; er war 
allem Anſchein nach in das Grubenwaſſer gefallen Nach 
einiger Zeit wurde der Sumpf (die Waſſeranſammlung in 
der Tiefe) vielleicht durch Anlegung eines Stollens (Ablei— 
tungskanals für das Waſſer) trocken gelegt und bei dieſer 


140 


Gelegenheit fand man den Meßſtab. Aber, wie merkwürdig, 


dieſer war zu Kupfer geworden, und daſſelbe war auch an 


einigen urſprünglich eiſernen Nägeln geſchehen, die man beim 


Aufräumen am Boden des vormaligen Sumpfes fand. Es 
gab noch Waſſer genug in jenem Grubengebäude, man wie⸗ 
derholte den Verſuch, legte alte eiſerne Hufeiſen, becherartige 
Schalen und allerhand andre aus Eiſen gefertigte Dinge 
hinein, und ſtatt des roſtigen eiſernen Hufeiſens zog man 
nach einiger Zeit ein kupfernes hervor, aus der eiſernen 
Schale war eine kupferne geworden. Wer hätte nicht jetzt 
den Alchymiſten beiſtimmen und an eine Verwandlung des 
einen Metalls in ein andres, des Eiſens in Kupfer glauben 
mögen? * 
Und doch verhielt es ſich damit ganz anders und ganz 
einfach ſo wie in den Cap. 16 erwähnten Fällen. Derglei⸗ 


2 


chen Waſſer, aus welchem man durch das Hineinlegen von 


Eiſen das reine, ſogenannte Cämentkupfer gewinnt, finden 
ſich an mehreren Orten, namentlich in Ungarn bei Neuſohl. 
Insgemein ſind ſie da zu finden wo aus den Bergwerken das 
Schwefelkupfer (der Kupferkies) in großer Menge gewonnen 
wird. Denn wenn über das fein zertheilte Erz das Waſſer 
hinfließt oder lange über ihm ſtehen bleibt, da verbinden ſich 


der Schwefel und das Kupfer mit dem Sauerſtoffgas (davon 


weiter nachher) und es entſteht ſchwefelſaures Kupfer (Vi⸗ 
triol), das ſich im Waſſer auflöſt, welches hierdurch einen 
widerwärtig ſcharfen (grünſpanartigen) Geſchmack bekommt. 
Wenn man nun Eiſen in ſolches Vitriolwaſſer legt, dann 
äuſſert ſich alsbald in der Schwefelſäure der ſtärkere Zug, 


das ſtärkere Fallen ſeines Stromes nach dem Eiſen. Dieſes 


wird aufgelöſt in der Schwefelſäure und dem Waſſer, es 
verſchwindet von ſeiner Stätte, an welche ſich jetzt in 
vollkommen reinem, metalliſch glänzenden Zuſtand das Kupfer 
anſetzet. Und weil an die Stelle jedes einzelnen, in der 
Auflöſung aufgehenden Theilchens des Eiſens ein Theilchen 
Kupfer tritt, ſo nimmt dieſes allerdings, dem Hauptumriſſe 
nach, die Geſtalt an, welche das von ihm verdrängte Me⸗ 
tall beſaß, obwohl dabei ſeine Oberfläche oft ſehr uneben, 
ſeine Maſſe nicht vollkommen dicht iſt. en 

So müſſen wir auch hierinnen keine eigentliche Verwand⸗ 
lung des einen Grundſtoffes in einen andren, ſondern nur 
eine Verdrängung des einen durch den andren anerkennen. 


141 


Ein im Werthe höher ſtehendes Metall hat ſich an diekStelle 
des gemeineren, niedriger im Preiſe ſtehenden geſetzt, und die⸗ 
ſes Niedrigere iſt vergangen. Im Reiche des Geiſtigen ſind 
ſolche Vorgänge der Veredlung, bei denen ſich das höhere, 
beſſere Element der Strebungen und Geſinnungen an die 
Stelle eines niedrerern, ſchlechteren Elementes ſetzt, nichts Un⸗ 
gewöhnliches noch ganz Seltenes. Aber in dieſem Reiche 
giebt es auch Erſcheinungen die von einer wirklichen Vers 
wandlung (Verklärung) des Niederen und Schlechteren in 
ein Höheres und Beſſeres zeugen, denn es waltet da ein 
Neues ſchaffender Geiſt, welcher wirket was und wo er will. 


18. Die metalliſchen Grundſtoffe der Alkalien 
und Erden. 


Schon die Menge und die Allgemeinheit in welcher das 
Eiſen auf unſerer Erde und noch mehr in den unzugängli— 
chen Tiefen derſelben vorkommt, muß unſre hohe Beachtung 
erregen. Aber es giebt noch andre metalliſche Körper, welche 
wenigſtens auf der Oberfläche der Erde, in einer noch un— 
verhältnißmäßig viel größeren Maſſe vorkommen, als alle 
im vorhergehenden Capitel erwähnte, eigentliche Metalle zu— 
ſammengenommen bilden würden. 

Noch zu Anfang dieſes Jahrhunderts hätte kein Natur— 
forſcher daran gedacht, die ſogenannten Erdarten, wie die 
Kalk⸗, die Talk⸗, die Baryt- und die Thonerde für 
etwas Andres zu halten als für einfache Elemente oder Grund— 
ſtoffe. Daſſelbe galt von den ätzenden Laugenſalzen oder 
Alkalien. Wenn unſre Scheidekünſtler den gewöhnlichen 
edlen Granat in Thonerde, Kieſelerde und in die Oxyde des 
Eiſens und Mangans zerlegt, wenn fie im böhmiſchen Gra- 
naten auſſer den eben genannten Erden und Metallen auch 
noch Kalk- und Talkerde fo wie Chrommetall aufgefunden 
haben, dann glaubten ſie auf den letzten, tiefſten Grund der 
chemiſchen Zuſammenſetzung jener Steine gekommen zu ſeyn; 
an die Möglichkeit einer noch weitern Zerlegung dieſer Ele— 
mente dachte Niemand. Zu den ſchon bekannten Erden hatte 
man auch noch im Smaragd und Beryll die Beryll-, im 
Hyazinth die Zirkonerde, im Strontian die Strontian— 
erde, fo wie in einigen andren Steinarten die Ytter⸗ und 
Thorerde entdeckt und auch noch ein neues Kali das Li— 


142 


thin unterfchieden und fie alle wurden eben fo wie die 
Kalk- und Thonerde für einfache Elemente gehalten. Da 
that ſich auf einmal im Jahr 1807 durch die Entdeckung 
eines großen engliſchen Scheidekünſtlers, des Humphry 
Da vy eine Pforte auf, durch welche man einen tiefen Blick 
in das geheime Weſen der Grundſtoffe zu thun vermochte. 
Dieſe ſcheinbaren oder wirklichen Grundſtoffe ſind ja überall 
nichts Andres als Polariſationen der Materie, durch eine 
Kraft der Natur, welche der des Lebens verwandt, ja Eins 
mit ihr iſt. Wie das Leben ſelber, ſo iſt auch der Seele 
des Menſchen in gewiſſem Maaße ein Gebrauch jener Natur⸗ 
kraft in ihre Gewalt gegeben, namentlich auf dem Wege der 
elektromagnetiſchen Wechſelwirkungen, zu denen, wie wir 
ſpäter ſehen werden, der Galvanismus gehört. Der eine 
Pol einer Voltaiſchen Säule der deßhalb als Säure-Pol 
bezeichnet werden kann, bringt überall den Grundſtoff aller 
Grundſtoffe, das Sauerſtoffgas, aus ſeiner Verborgenheit her⸗ 
vor ans Licht, der andre Pol läßt den eigenthümlichen Ge⸗ 
genſatz (die Baſis) kund werden, welche gerade in dieſem 
beſondren Körper jenem allgemeinen Centrum des irdiſchen 
Weſens als äuſſerer Leib ſich zugeſellt hat. Wenn deshalb 
die gewöhnlichen metalliſchen Oxyde dem Einfluß der beiden 
Pole einer Voltaiſchen Säule ausgeſetzt werden, da tritt an 
dem einen das Metall in ſeiner reinen ſogenannt elementa⸗ 
ren Form hervor. ; 

Eine Verbindung des Kali mit Waſſer wurde in eben- 
erwähnter Weiſe von Da vy der Einwirkung einer ſehr ſtar— 
ken Voltaiſchen Säule ausgeſetzt und auf einmal zeigte ſich 
der vermeintliche Grundſtoff polariſirt oder zerlegt; an dem 
einen (negativen) Pole der Säure kam ein glänzendes Me⸗ 
tall zum Vorſchein: das Kaliummetall. Aus beiden ſo⸗ 
genannt feuerfeſten Alkalien: dem Pflanzen- wie dem Mine⸗ 
ralkali, eben fo wie aus der Kalk-, der Talk-, Baryt⸗, 
Strontian- und Thonerde, mit einem Worte aus allen oben 
genannten Erden und Alkalien gelang es auf gleichem Wege 
eine metalliſche Grundlage darzuſtellen, ſo daß nun alle jene 
vermeintlichen Elemente als Oxyde (Metallverbindungen mit 
Sauerſtoff) erſcheinen, wie zwar der Zinnſtein, der Magnet⸗ 
eiſenſtein und der Rotheiſenſtein oder Blutſtein ihrer äußren 
Beſchaffenheit nach dieſes auch ſind, nur darinnen aber von 
dieſen verſchieden, daß bei ihnen das Sauerſtoffgas auf eine 


143 


Weiſe mit ſeiner metalliſchen Grundlage ſich verleiblicht hat, 
wie dieſes bei keinem der im 15. Cap. beſchriebenen Metalle 
geſchehen konnte. Denn darin iſt ſchon bei den eigentlichen 
Metallen ein bedeutender Unterſchied zu finden, das einige 
von ihnen, wie namentlich Platina, Gold, Silber, Queck— 
ſilber, Iridium, Palladium, Rhodium, das Sauerſtoffgas, 
durch deſſen Verbindung fie zu Oxyden werden können, nicht 
bloß ſehr ſchwer aufnehmen, ſondern daß ſie dieſe durch 
Menſchenkunſt erzwungne Verbindung auch wieder aufgeben 
und das Sauerſtoffgas entlaſſen, wenn man ſie nur einer 
ſtarken Erwärmung ausſetzt, welche bei den meiſten von ihnen 
noch nicht einmal bis zum Glühen noch viel weniger aber 
bis zum Schmelzen geſteigert zu werden braucht. Dagegen 
muß man ſchon das Nickelmetall, wenn es zum Oxyd ge— 
worden iſt, der Hitze des Porzellanofens ausſetzen, damit 
ſein Sauerſtoffgas wieder frei werde und bei andren Metal⸗ 
len muß man dieſem geflügelten (luftartigen) Gaſte noch 
eine andre Lockſpeiſe darreichen, wenn man ihn dazu bewe⸗ 
gen will, ſeine Verbindung mit dem Metall zu verlaſſen. 
In vielen Fällen erweiſt ſich zu dieſem Zweck ſchon die Kohle 
für ſich allein wirkſam, welche man mit dem glühenden Me— 
talloryd in Berührung bringt, indem der Zug des Sauer- 
ſtoffgaſes zu der brennbaren Kohle ein natürlich größerer iſt 
als der zu dem bloß oxydirbaren Metalle. Schon bei den 
Oxyden jedoch, namentlich des Tantalmetalles reicht das 
Glühen derſelben im Schmelztiegel in Berührung mit der 
gepulverten Kohle nicht mehr dazu hin, ſie in ihren metalli— 
ſchen Zuſtand zurückzuführen; es gehört eine noch größere 
Steigerung der chemiſchen Polariſation dazu, um den Zug 
des Sauerſtoffgaſes zu dem Metall zu überwinden. 

Gerade das Tantal ſo wie das Titanmetall nähern ſich 
aber auch ſchon darinnen den metalliſchen Grundlagen der 
Erden, daß fie viel leichter als die andren, eigentlichen Me- 
talle ſind. Und in noch viel höherem Maaße iſt dies bei den 
Metallen der Erden und der Alkalien der Fall. A 

Wenn man noch vor wenig Jahrzehenden die Vermu— 
thung hätte ausſprechen wollen, daß es mehrere Metalle 
gebe, welche leichter wären als das Waſſer, ſo daß ſie auf 
dieſem ſchwimmen könnten wie Holz, da würde man damit 
verlacht worden ſeyn. Ein Metall und dabei ſo leicht zu 
ſeyn, das ſtund mit dem früher feſtgeſtellten Begriff, den 


144 


man mit dieſer Art der Körper verband, in einem fo großen 
und entſchiedenen Widerſpruch, daß man im Voraus lieber 
würde geneigt geweſen ſeyn, den leichten Grundlagen der 
Erden und Alkalien ihre metalliſche Natur abzuſprechen. Wer 
könnte aber dieſes, wenn er nur einmal das aus der Kalk⸗ 
erde hergeſtellte Calcium, das aus dem Kali gewonnene 
Kalium oder einen andren Körper dieſer Art geſehen hat. 
Die ſilber- oder zinnweiße Farbe, welche einige von ihnen, 
der ſtärkere oder ſchwächere metalliſche Glanz den alle zeigen, 
die Eigenſchaft ſich mit dem Queckſilber oder mit einem Me⸗ 
tall von ihrer eignen Familie und ſelbſt mit Spießglanz, 
Zinn, Wismuth, Blei zu verbinden, (zu amalgamiren) ihre 
Schmelzbarkeit, ja bei einigen die Geſchmeidigkeit, ſprechen 
zu deutlich für ihre metalliſche Natur. | 
Man darf wohl fagen, daß kaum ein andres Gebiet der 
Naturwiſſenſchaft dem Antrieb der zum Erkennen des Grun⸗ 
des der Dinge im Menſchengeiſte liegt, eine ſo mannichfache 
Nahrung darbiete, als die Chemie oder Scheidekunſt. Eine 
ſo jugendlich friſche Wißbegier, wie die des Duval war, 
würde mit demſelben regen Intereſſe, mit welchem die alten 
Alchymiſten die Wandlungen der in ihren gläſernen Retorten 
vermiſchten, dem Feuer ausgeſetzten Stoffe, — ihr Farben⸗ 
ſpiel, ihre Bewegungen — beobachteten, bei jenen Erſchei— 
nungen verweilen, die ſich uns in der unentdeckten Welt der 
Erd > und Kalimetalle kund geben, und würde mit Luft den 
Faden der Aehnlichkeiten folgen, der ſich aus dieſem Gebiet 
der Natur durch die andren hindurchzieht. Wir legen eine 
Kugel des ſilberweißen, glänzenden Kalimetalles auf die Ober— 
fläche einer Queckſilbermaſſe, der wir vorher durch Anhau— 
chen eine Befeuchtung mittheilten und alsbald ſetzt ſich die 
Kugel in eine drehende (rotirende) Bewegung und beſchreibt 
zugleich eine Bahn auf dem Queckſilber, deſſen Oberfläche 
hierbei im erſten Augenblick von dem Beſchlag der Feuchtig⸗ 
keit rein geworden iſt, jetzt aber dagegen ſich von auſſen her 
mit einem andren feinen Ueberzug bedeckt, der aus einer Ver⸗ 
bindung von Kali mit dem anfänglich von dem Queckſilber 
dann aus der Luft angezogenen Waſſer beſteht. Die Kugel 
des Kaliums, das bei der Bewegung deſſelben zum Oxyd 
(zum Kali) und feiner wäſſrichen Verbindung (zum Hydrat) 
geworden iſt, beſchreibt, ſo wie rings umher der Ueberzug 
anwächſt, einen immer kleineren, engeren Kreis und in 85 
U: 


145 


Augenblick, in welchem fie ganz verſchwindet, iſt das Queck— 
ſilber ganz mit der dünnen Lage des Kalihydrats bedeckt. 
Wenn man eine Metallkugel derſelben Art auf das Waſſer 
legt, dann geräth dieſelbe alsbald in eine raſche Fortbe— 
wegung, dabei entwickelt ſich große Wärme und eine röthli⸗ 
che Flamme, bei deren Verlöſchen eine kleine, perlenklare 
Kugel zurückbleibt, die jedoch gleich nach ihrem Erſcheinen 
mit einem knallenden Geräuſch ſich zerſetzt. Das Kalimetall 
it hierbei durch fein Verbrennen mit dem Sauerſtoffgas des 

Waſſers in Oxyd (in Kali) verwandelt worden und die Er— 
hitzung hatte zugleich einen ſo hohen Grad erreicht, daß 
ſelbſt das frei werdende Waſſerſtoffgas (wovon ſpäter) ſich 
entflammte. Von ähnlichen Erſcheinungen iſt die Oxydation 
mehrerer Kali- und Eiſenmetalle begleitet und wir begegnen 
hier zum erſten Male der Wirkſamkeit jener Naturkräfte, 
welche, wenn auch der Urſache nach verſchieden, dennoch nach 
einem und demſelben Geſetz ſelbſt die Bewegungen der Welt— 
körper um ihre Axe und in ihren Bahnen begründen. 

Noch räthſelhafter als die Natur und die Eigenſchaften 
der bisher erwähnten Kali- und Erdmetalle, erſcheint uns 
ein andrer metalliſcher Körper: die Grundlage des flüchtigen 
Laugenſalzes oder Ammoniaks, — deshalb Ammonium 
genannt. Wir hielten, in Folge der bisherigen Erfahrun— 
gen, den Grundſatz feſt, daß die Metalle einfache, nicht 
weiter zerlegbare Grundſtoffe oder Elemente ſeyen. Hier, 
am Ammonium, finden wir auf einmal ein Metall das 
ſeinem Weſen nach einer Polariſation, einer Zerlegung in 
zwei geſchlechtlich ſich entgegenſtehende Stoffe, den Stickſtoff 
und Waſſerſtoff fähig iſt. Welche Erweiterungen, welche 
Veränderungen mögen noch unſren Anſichten über die Ele— 
mente und den eigentlichen Grund ihres Auftretens ſo wie 
ihres feſten Beharrens in der Körperwelt bevorſtehen, davon 
ir Wiſſenſchaft in ihrem jetzigen Zuſtand noch keine Ahnung 
hat | | 


Die metalliſchen Grundlagen der Alkalien und Erden 
unterſcheiden ſich auch dadurch von den eigentlichen Metallen, 
daß ſie in reinem Zuſtand oder ſelbſt in dem der Vermen— 
gung des einen von ihnen mit dem andren ſich nirgends da 
erhalten können, wo Waſſer oder Luft mit ihnen in Berüh— 
rung kommen, ſondern ſie müſſen in dieſem Falle alsbald 
mit dem Sauerſtoffgas ſich verbinden und oxydiren. Hierin 

10 


146 


nen ſind ſie ſchon dem Waſſer, jenem bedeutungsvollen Ele⸗ 
ment, verwandt, das überall bei den Vorgängen des orga⸗ 
niſchen Lebens ſo wie den polariſchen Spannungen der unor⸗ 
ganiſchen Körperwelt als Vermittler und Theilnehmer ein⸗ 
tritt. Denn auch jener Grundſtoff des Waſſers, welcher dem 
Metall der Oxyde entſpricht: das Waſſerſtoffgas, kann ſich 
in reinem Zuſtand in der Außenwelt nicht Teicht erhalten, 

fondern wird bald wieder in Verbindung mit dem Sauer⸗ 
ſtoffgas zu Waſſer. | 4 

Waſſer auf der einen und die Erdveſte der Gebirge, an 
die ſich das ganze bewohnbare Land anſchließt, auf der 
andren Seite, bilden die Oberfläche unſerer Erde. Das 
aber, was der Erdveſte ihren Hauptbeſtand, dem Meere ſeinen 
eigenthümlichen Gehalt giebt, ſind die Oxyde der Erd- und 
Kalimetalle, oder mit andren Worten die Erden und Alka⸗ 
lien ſelber. Die Thonerde iſt ein Hauptbeſtandtheil der Ur⸗ 
oder Hochrückengebirge, aus Kalkerde beſteht ein unermeßli⸗ 
cher Theil der Gebirgszüge, der Hügel, ſo wie des ebenen 
Landes, das Mineralkali oder Natron erfüllt als Hauptbe⸗ 
ſtandtheil des Kochſalzes das ganze Weltmeer ſo wie die 
Salzſeen und Salzlager einzelner Länder. Selbſt in dem 
Reiche der organiſchen Natur: in den Pflanzen- wie in den 
Thierkörpern werden die Kalkerde und die Alkalien gefunden, 
jene, ſelbſt noch im menſchlichen Leibe zum Knochen geſtal⸗ 
tet, während von den Alkalien das Natron, in Form des 
Kochſalzes den Säften beigemiſcht iſt; ſtatt des Natrons oder 
Mineralkalis kommt in den meiſten Gewächſen das Pflan⸗ 
zenkali vor. 

Eben ſo wie ſich an den Metallen dieſer Ordnung ein 
auſſerordentlich ſtarker Zug zum Sauerſtoff kund giebt, wird 
auch noch an ihren aus der Verbindung mit dem Sauerſtoff 
entſtandenen Oxyden derſelbe Zug gefunden, Und zwar in 
geſteigertem Grade, indem er nicht mehr an dem feineren, 
luftartigen Sauerſtoffgas ſeine Befriedigung findet, ſondern 
ſtatt ſeiner nach den ſchon gröber körperlichen Säuren gerich⸗ 
tet iſt. Das Oxyd des Kalkmetalles iſt der ätzende oder ſo⸗ 
genannt ungelöſchte Kalk, die Oxyde des Kaliums oder 
Natriums ſind die ätzenden Kalien. Der gebrannte oder un⸗ 
gelöſchte Kalk zieht nicht nur das Waſſer mit einer ſolchen Heftig⸗ 
keit an, daß hierbei eine große Hitze ſich erzeugt, ſondern 
auch die Kohlenſäure, oder, mit noch größerer Begierde die 


147 


Schwefel⸗, die Phosphor- und Flußſäure; ſehr häufig wird 
er auch mit der Kieſelſäure (nach Cap. 21) vereint gefunden. 
Das Oxyd des Natriums: das ätzende Mineralkali oder 
Natron hat bei ſeinem polariſchen Hervortreten in der irdi⸗ 
ſchen Körperwelt Gelegenheit gefunden, ſich mit einem Stoffe 
zu verbinden, von deſſen intereſſanten Eigenſchaften wir in 
einem der nächſten Capitel ſprechen werden: mit dem Chlor 
oder der früher ſogenannten Salzſäure. Ohne das Er⸗ 
zeugniß dieſer Verbindung: ohne Kochſalz würde es um 
den Haushalt des einzelnen Menſchen, wie ganzer Staaten, 
übel beſtellt ſeyn. f 
Die Oxyde der Alkalien, fo wie der vier alkaliſchen Er⸗ 
den: des Kalkes, Barytes, Strontians und Talkes, haben 
vor ihrer Verbindung mit dem Waſſer und den verſchiedenen 
Säuren eine zerſtörende (ätzende) Wirkung auf die organi⸗ 
ſchen Körper, welche namentlich bei dem Oxyd des Baryt— 
metalles ſo weit geht, daß man daſſelbe in Beziehung auf 
den Menſchen und das Thierreich in die Reihe der lebens⸗ 
gefährlichen Gifte ſtellen kann. Die Oxyde der andren oben 
genannten Erden erhalten ſich auch ohne eine weitere Ver⸗ 
bindung mit Säuren und Waſſer als ſelbſtſtändige Körper 
und zeigen keine ätzend-zerſtörende Wirkſamkeit. 

Selbſt noch in ihrem vielfach verhüllten und verkleideten 
Zuſtand wirken die Metalle der Kalien und kaliſchen Erden 
mächtig aufregend in die Naturverhältniſſe der Erde und ihrer 
lebenden Weſen ein, noch viel gewaltiger mußte ihre Wirk⸗ 
ſamkeit ſeyn, wenn ſie einſt in reinem Zuſtand, in ihrer 
entſchiedenen metalliſchen Polarität hervortraten. Welche 

Gluth der Wärme mußte bei der Verbindung der unermeß- 
lichen Mengen des Kalkmetalles mit dem Sauerſtoffgas ſich 
erzeugen, welche Bewegungen mußten bei dieſem Vorgange 
in den einzelnen Theilen ſo wie in der Geſammtmaſſe der 

5 e edo erregt werden! Noch jetzt mag es in den 

riefen der Erdveſte hin und wieder einzelne Maſſen der Erd— 
metalle geben, welche, bei dem Feſtwerden ihrer Umgebung, 
von dem Zutritt des Waſſers und der Luft abgeſchloſſen 
wurden, und die nun, wenn ſich dem Waſſer auf irgend eine 

Weiſe Zugang zu ihnen eröffnet, jene Erderſchütterungen, und, 

wo die Möglichkeit dazu da iſt, manche jener feurigen Durchbrüche 
durch die obere Rinde des Planeten bewirken, die wir an 

den Vulkanen der Erde kennen lernen. 1 

10 


ey . Wr 


148 


19. Ein Capitel über die Reinlichkeit.⸗ 


Auf meiner Reiſe und während meines kurzen Aufent⸗ 
haltes in Aegypten habe ich öfters mit innigem Erbarmen 
die kleinen Kinder der dortigen, in Noth und Elend ſchmach⸗ 
tenden Fellahs oder Bauern betrachtet. Dieſe armen Klei⸗ 4 
nen ſaßen ganz nackt oder in einige Lumpen gehüllt vor den 
lehmenen Hütten und waren im Geſicht wie am ganzen Kör⸗ 
per ſo von Schmutz bedeckt, daß man ihre eigentliche Haut⸗ 
farbe nicht erkennen konnte. Vor Allem hatte ſich an den 
Augenliedern und Augenwinkeln der Staub und Schmutz ſo ange⸗ 
ſetzt, daß die Augen ſelber dadurch in große Gefahr kamen, denn 
dieſe ſahen auch meiſt roth und entzündet aus und mochten ſo 
ſchmerzhaft ſeyn, daß die bedauernswürdigen Kinder vor dem 
größeren Schmerz den kleineren, den ihnen die vielen Flie- 
gen machten, die ſich an ihre Augen ſetzten, gar nicht zu be⸗ 
merken ſchienen, denn ſie machten nur ſelten eine Bewegung 
um dieſes Ungeziefer zu verfcheuchen; ihr halberblindetes Auge 
ſchaute ſtarr und verlangend auf den Fremden hin, ob ihnen die⸗ 
ſer vielleicht einen Biſſen Brodes reichen möchte. Eine wohl— 
thätige europäiſche Dame hat mehrere ſolche unglückliche Kin— 
der in ihre Pflege genommen, hat ſie gewaſchen, gereinigt 
und gekleidet, namentlich an die Reinigung der Augen große 
Sorgfalt gewendet, und die Kinder, als ſie aus dem Elend 
ihres Schmutzes heraus waren, wurden ſo hübſch, ſo fröhlich 
und ſo munter, daß man ſie nach wenig Wochen gar nicht 
wieder erkannte. 

An Waſſer, zum Reinigen ihrer Kinder und der Lum— 
pen welche dieſe bekleiden, fehlt es jenen ägyptiſchen Fellahs 
in der That nicht. Sie haben meiſt den Nil und ſeine Ka— 
näle, oder einen Theil des Jahres hindurch, die Waſſermaſſen 
in ihrer Nähe, welche der austretende Strom in den Tiefen 
des Landes zurückläßet. Aber der ſchwere Druck der auf ihnen 
laſtet, der Frohndienſt, härter noch als jener, unter welchem 
einſt hier die Israeliten ſeufzten, macht ſie für alle menſchliche 
Gefühle auſſer für das der täglichen thieriſch leiblichen Be⸗ 
dürfniſſe, und der Müdigkeit unempfindlich, ſie denken nur 
an die nothdürftige Sättigung, ſonſt aber an keine weitere 
Pflege des Leibes. 


Auch die Beduinen, welche uns durch die Wüſte nach 
dem Sinai und dann weiter nach Akaba, ſo wie jene die uns 


. 149 


durch die Wüſte der Araba geleiteten, rieben ſich, während 
der Reiſe, meiſt nur mit Sand ab, ſtatt ſich mit Waſſer 
zu waſchen; aber ſie hatten dazu guten Grund, denn das 
Waſſer in den Schläuchen die ihre Kamele trugen, war 
ihnen kaum hinreichend zum Trinken zugemeſſen. Und wenn 
dieſe Leute, auf denen kein ſo hartes Joch drückt als auf 
den ägyptiſchen Fellahs, ſondern welche in ihrer Wüſte freier 
aufathmen und freier ſich bewegen, eine Gelegenheit fanden 
mit Waſſer ſich zu reinigen, da benutzten ſie dieſelbe gern; 
man konnte es den einzelnen Leuten dieſer Art, denen man 
begegnete, an ihrer Reinlichkeit anſehen, ob ſie zu einem 
freieren, ſich wohler befindenden Stamme oder zu einem äuſ— 
ſerlich minder glücklichen gehörten. 

Ein mit Recht berühmter, einſichtsvoller Gelehrter, J. 
Liebig in ſeinen chemiſchen Briefen (S. 100) ſpricht den 
Satz aus: daß der gröſſere oder geringere Verbrauch der 
Seife einen Maaßſtab für den Wohlſtand und die Cultur 
der Staaten abgeben könne, denn der Verbrauch dieſes Rei— 
nigungsmittels »hängt nicht von der Mode, nicht von dem 
Kitzel des Gaumens ab, ſondern von dem Gefühl des Schö— 
nen, des Wohlſeyns, der Behaglichkeit, welches aus der 
Reinlichkeit entfpringt.» Ein Land, in welchem bei gleicher 
Einwohnerzahl ungleich mehr Seife verbraucht wird als in 
einem andren, berechtigt uns zu dem Schluſſe, daß der Zu— 
ſtand ſeiner Bewohner ein äuſſerlich wohlhabenderer und ge— 
bildeterer ſey als der Zuſtand der andren, die von Seife 
weniger Gebrauch machen. Und nicht nur auf den Stand⸗ 
punkt der äuſſeren Cultur, auch auf die tiefere innerliche Bil- 
dung des Geiſtes und Herzens, auf das wahre Wohlbefin⸗ 
den des inwendigen Menſchen, läßt uns die Reinlichkeit im 
Aeuſſerlichen einen Schluß machen. Ein Gottesgelehrter des 
vorigen Jahrhunderts ſprach einmal die Behauptung aus, 
daß ein unreinlicher Menſch kein Chriſt ſeyn und daß ein guter 
Chriſt auch an ſeinem auswendigen Menſchen keine Unſau⸗ 
berkeit dulden könne. Und in der That jene Wahrheit: daß 
auch der Leib des Menſchen dazu beſtimmt ſey ein Tempel Gottes 
zu werden und zu ſeyn, iſt unſrer Natur nicht von außen als ein 
gegebenes Gebot aufgedrungen worden, ſondern ſie gehet aus 
einem tiefen, lebendigen Bedürfniß unſres Weſens ſelber her— 
vor. Es giebt Hütten der Armuth, in denen die größte 
Reinlichkeit herrſcht, weil in den Herzen ihrer Bewohner 


I n 7 N 
60 
He“ 


7 
150 4 


ein Geiſt der Zucht und der höheren Ordnung waltet und 
es giebt wohlgebaute Häuſer, deren innerer Zuſtand von dem 
Gegentheil zeuget. | 

Zum Reinigen unfrer Wäſche, unfrer Zimmerdielen und 
vor Allem unſres Leibes, gewährt die Seife eines der beſten, 
wirkſamſten Mittel. Sie ſelber beſtehet zwar ſchon aus der 
Verbindung eines ätzenden Laugenſalzes mit einem öligen 
oder fettartigen Stoffe, aber die ätzende, auflöſende Eigen⸗ 
ſchaft wirkt aus ihr noch immer ſo kräftig hervor, daß ſie 
eine Verunreinigung mit allerhand organiſchem Anflug und 
Abſatz leicht hinwegzunehmen vermag. Nicht nur uns, ſon⸗ 
dern ſchon den Völkern des früheſten Alterthums iſt deshalb 
der Gebrauch der Seife bekannt und ein weſentliches Bedürf- 
niß geweſen. Wir finden eine Erwähnung dieſes Gebrau⸗ 
ches ſchon in den Schriften des alten Teſtamentes bei Je- 
remias Cap. 2 V. 22 und Maleachi 3. Cap. V. 2. Zu 
des römiſchen Naturforſchers Plinius Zeit nahm man an, 
daß die alten Gallier unter allen Völkern des Abendlandes 
zuerſt die Bereitung und Anwendung der Seife gekannt hät⸗ 
ten (Plin. H. n. XXVIII, 12, 2) und auch für unſer deut⸗ 
ſches Volk erſcheint es, nach dem vorhin Geſagten als kein 
unbedeutender Ruhm, daß zu jener Zeit die Völker Italiens 
ihre Seife aus Deutſchland bezogen. Sind es doch jetzt noch 
die Nachkommen, oder wenigſtens in Beziehung auf die Wohn⸗ 
ſtätte die Nachfolger der beiden genannten Völker: die Fran⸗ 
zoſen und unter den deutſchen Stämmen die reinlichen Nie⸗ 
derländer und Bewohner der Nordſee-Küſtenländer, welche 
im allgemeinen Verbrauch jenes Reinigungsmittels allen an⸗ 
dern Völkern von Europa vorangehen. 

Nicht nur den höheren Ständen ſondern auch dem Volke 
des Mittelſtandes hat ſich, bei allen gebildeten Völkern, der 
Gebrauch der Seife unentbehrlich gemacht. Als deshalb einſt 
durch die ſtarke Auflage, welche auf dem Gewerbe der Seifen⸗ 
ſieder und dem Verkauf ihrer Arbeit laſtete, der Ankauf der 
gebräuchlichen Seife für das ärmere Volk ſehr erſchwert war, 
da erfanden ſich die Landleute in England ein Erſatzmittel 
aus der Aſche des Farrenkrautes, deren ausgelaugte Potaſche 
5 a thieriſchem Fett zu einem guten Reinigungsmittel ver⸗ 

anden. 5 

Eben ſo wie dieſe engliſchen Bauern benutzten ſonſt und 

benutzen zum Theil noch jetzt unſre Seifenſieder das Pflan⸗ 


151 


zenfali zur Bereitung der Seife. Man gewinnt dieſes da⸗ 
durch, daß man die Aſche verſchiedener Gewächſe auslaugt 
und dann die Lauge abdampft bis zuletzt ein blaulich oder 
graulich weißer Bodenſatz zurückbleibt, der unter dem Na⸗ 
mender Potaſche bekannt iſt. Aus ſehr vielerlei Arten von Ge⸗ 
wächſen, Bäumen, Geſträuchen und Stauden, aus der Aſche 
unſres (vornämlich des harten) Brennholzes wie aus der 
der Weinranken und des Strohes läßt ſich dieſe bereiten, 
und in ſolchen Ländern in denen noch weit ausgedehnte Wal— 
dungen den Boden bedecken, deren Holzüberfluß großentheils 
unbenutzt verfaulen müßte, verbrennt man ganze Maſſen des bei 
uns ſo koſtbaren Holzes nur um aus der Lauge der Aſche den 
am leichteſten verſendbaren Gehalt der Potaſche herauszuzie⸗ 
hen. Auf ſolche Weiſe erzeugte man früher und zum Theil 
noch jetzt in Nordamerika eine ungemeine Menge von Pota⸗ 
ſche, von welcher jährlich nur allein über Neuyork 20 bis 
30,000 Fäſſer nach Europa ausgeführt wurden. Eben ſo 
lieferten die Walddiſtricte des ruſſiſchen Reiches fo wie Nor: 
wegens große Maſſen von Potaſche, und auch in Deutſchland 
wie anderwärts bereitete man ſie aus der Aſche der Herd— 
feuer und großen Heitzſtätten der Fabriken in nicht unbedeu⸗ 
tender Menge. Aber die Potaſche iſt kein reines Pflanzen⸗ 
kali, ſondern ſie enthält von dieſem aufs Höchſte nur 60 bis 
63 Prozent, ja weniger als die Hälfte ihres Gewichtes, denn 
auſſer dem Waſſer und der Kohlenſäure, welche in die Ver⸗ 
bindung eingiengen, enthält ſie erdige Theile, vornämlich 
Kieſelerde und Schwefelſäure. Auch ſteht die Seife, die 
man unmittelbar mit der Lauge der Holzaſche (dem Pflan⸗ 
zenkali) bereitet, an Feſtigkeit und Güte jener weit nach, 
welche mittelſt des Mineralkalis gewonnen wird, weshalb 
man auch der Miſchung der Held eng und des Fettes, 
wenn man ſie zu Seife einſott, um ihr mehr Feſtigkeit zu 
geben, Kochſalz zuſetzte, deſſen Mineralkali oder Natron ſich 
zum Theil mit dem Fette verband, während ſeine Salzſäure 
ſich mit dem Pflanzenkali der Lauge vereinte. 

Man konnte ſich indeß dieſe Mühe erſparen und oben⸗ 
drein noch eine viel beſſere Seife ſich verſchaffen, wenn man gleich 
von vorn herein eine Auflöſung des Natrons ſtatt der Holz⸗ 
aſchenlauge verwendete. Dieſes kräftig ätzende Laugenſalz 
iſt, wie ſchon erwähnt, in unermeßlicher Menge auf der Erde 
vorhanden, denn mit der Salzſäure verbunden bildet es das 


152 


Koch- und Seeſalz, durch welches das Gewäffer der Meere 
zur ſalzigen Fluth wird. Aus jedem Pfund des Seewaſſers 
läßt ſich, wo nicht große Flüſſe in der Nähe ihren Auslauf 
nehmen, durch Abdampfen ein Loth und darüber an Koch⸗ 
ſalz gewinnen und wo das Klima dies erlaubt, bedarf man 
zu dieſem Gewinnen des Salzes keines künſtlichen Feuers, 
ſondern nur der Einwirkung der Sonnenwärme auf das in 
ſeichten Buchten oder in künſtlich angelegten Gräben ſtehende 
Seewaſſer. Und nicht nur das Meer, auch das Land, in 
den Lagern ſeiner Gebirgsarten, enthält ungeheure Maſſen 
von Kochſalz, welches theils durch Auswaſchen aus den mit 
ihm verbundenen Thon und vormaligen Meeresſchlamm, ſo 
wie in vollkommen reinem Zuſtand gewonnen wird. 

Aber all dieſer Reichthum an Natron des Kochſalzes 
wäre für ſich allein weder den Seifenſiedern noch den Glas- 
fabricanten benutzbar, denn es iſt mit dem Chlor (der Salz⸗ 
ſäure) verbunden und muß erſt mit vieler Arbeit aus dieſer 
Verbindung hervorgezogen werden. Darum erhielt man frü— 
her die Soda oder das ungereinigte Mineralkali auf andren 
leichter gebahnten Wegen. Daſſelbe wird in einigen Län⸗ 
dern, namentlich in Aegypten, an den dortigen Natronſeen, 
ſo wie in Ungarn, im bihorer Comitat, zwiſchen Debrezin 
und Großwardein und an andren Salzſeen, als kohlenſaures 
Natron gefunden, welches ſich ziemlich leicht von dem ihm 
beigemiſchten ſchwefelſauren Natron und Kochſalz reinigen 
läſſet und von ſeiner Kohlenſäure eben ſo wie der kohlenſaure 
Kalk und die Potaſche durch die Hitze befreit wird. Aber 
auch ein Theil des Pflanzenreiches bietet in ſeiner Aſche dem 
Menſchen das Mineralkali oder die Soda dar. Dieſes ſind 
vor Allem einige Familien der am Meeresſtrand oder auch 
auf ſalzreichem Boden mancher Binnenländer vorkommenden 
Gewächſe, namentlich die Salſola- und Salicornienarten, 
ſo wie manche Seegräſer oder Tangarten. Durch das Ver— 
brennen dieſer Pflanzen und das Auslaugen ihrer Aſche er- 
hält man in den ſpaniſchen Küſtengegenden eine ſolche Men- 
ge Soda, daß davon jährlich viele Schiffsladungen (meift 
nach Holland) ausgeführt werden. Eine nicht minder große 
Ausbeute an Soda gewinnt man auf die gleiche Weiſe in 
Sizilien und vornämlich auf der kleinen Inſel Uſtic a; bei 
Aſtrachan ſo wie ſelbſt an der norwegiſchen Küſte, laugt 
man die Aſche der Seetangarten aus. 


153 


Der menſchliche Verſtand und feine Erfindungsgabe follte 
übrigens nicht auf halbem Wege ſtehen bleiben; was die 
Katurfraft im lebenden Körper der Pflanze that, die Aus— 
ſcheidung des Natrons im Seeſalz aus feiner Verbindung 
mit dem Chlor, ſollte auch ſeiner Kunſt gelingen. Wie einſt 
die Noth das Landvolk in England zum Auffinden eines 
Stoffes in den Wurzeln der Farrenkräuter hintrieb, der bei 
der Seifenbereitung dienen konnte, ſo leitete die Noth die 
Gewerbsleute Frankreichs auf einen Weg zum Gewinnen des 
reinen Natrons, welcher zwar nicht unbekannt, bis dahin 
aber noch wenig betreten war. Frankreich, das Vaterland 
der großartigſten Seifenfabrication hatte jährlich zunächſt aus 
Spanien um 20 bis 30 Millionen Franken Soda bezogen, 
obgleich der Preis für den Centner nicht über 24 bis 30 Fr. 
betrug. Als aber während des Krieges, den Napoleon mit 
England angefangen hatte, die Zufuhr dieſes Stoffes gro— 
ßentheils abgeſchnitten war, da mußten viele Seifen- und 
Glasfabriken ihre Arbeiten einſtellen und der Preis für Seife 
wie für Glas ſtieg zu einer unverhältnißmäßigen Höhe. Aber 
wenn auch nicht der freie Verkehr auf dem Meere, war doch 
das Meer ſelber dem erfindungsreichen Volke geblieben. Man 
wußte ſchon längſt, daß man aus dem Kochſalz dadurch das Na— 
tron gewinnen könne, daß man die Salzſäure deſſelben durch 
eine ſtärkere Säure austreibt. Wenn man 100 Pfund Koch— 
ſalz mit ohngefähr 80 Pfund concentrirter Schwefelſäure ver— 
miſcht, dann entweicht das Chlor in Dampfform, und es 
bleibt ſchwefelſaures Natron oder Glauberſalz zurück. Auch 
dieſe neue Verbindung des Natrons mit der Schwefelſäure 
wird dadurch getrennt und aufgelöſt, daß man Potaſche, 
noch beſſer Kreide, mit dem Glauberſalz vermiſcht und dieſe 
Miſchung in einem Reverberirofen ſo lange der Erhitzung 
ausſetzt, bis die Maſſe weich zu werden anfängt, wo ſie 
dann auf eiſernen oder ſteinernen Platten herausgezogen und 
zerſtückt wird. Statt der Kreide kann man auch dem Glau— 
berſalz vier Fünftheile Kreide und zwei Fünftheile Kohle zu— 
ſetzen. Die Kohlenſäure, welche in der Kreide mit Kalkerde 
verbunden oder bei dem andren Verfahren durch den Sauer— 
ſtoff, den ſie der Schwefelſäure entzog, gebildet war, vereint 
ſich bei dieſem Verfahren mit dem Natron, während die 
Kalkerde, der die Kohle ebenfalls ihren Sauerſtoff entriſſen 
hat, und die hierdurch in metalliſchen Zuſtand zurückgekehrt 


* * ae 1 1 


154 


iſt, zum Schwefel⸗Kalkmetall wird, welches ſchwerauflöslich 

im Waſſer iſt. So war auf einmal eine Weiſe gefunden, 
das Natron, ſtatt es von auswärts her zu beziehen, im 
Lande ſelber zu gewinnen und ſtatt daß während der Han⸗ 
delsſperre der Preis für das Kilogram Soda auf 160 Fr. 
geſtiegen war, ſank er jetzt ſogleich für das reine, kohlenſaure 
Natron auf 80, ſpäter ſogar auf 20 Fr. herab. 

Das, was man erſt in neueſter Zeit als einen ergiebi⸗ 
gen Nebengewinn bei jener Natronbereitung ſchätzen gelernt 
hat, das Chlorgas, war für die Sodafabriken anfangs eine 
höchſt läſtige Erſcheinung, und iſt ihnen dieſes zum Theil 
noch. Da wo dieſes Gas den Oefen und Schornſteinen jener 
Fabriken entweicht, verbreitet es allenthalben Tod und Ver⸗ 
derben in der Pflanzenwelt, macht jedes Blatt, jedes grüne 
Gras welken und abſterben. Auch für Thiere und Menſchen 
iſt die Wirkung jener Dämpfe ſchädlich und beläſtigend, doch 
wiſſen die Letzteren dem verderblichen Einfluß auf ihren eige⸗ 
nen Leib eher zu begegnen als ihn von der Pflanzenwelt ab⸗ 
zuhalten. Man hat deshalb die Gebäude, welche zur So— 
dabereitung aus Kochſalz und Schwefelſäure dienen, wo mög⸗ 
lich in unbewohnte und unangebaute Gegenden verwieſen und 
im ſüdlichen Frankreich hat man ſie in die öden Gebirgs⸗ 
ſchluchten von Septieme verlegt, deren dürrem Boden ſchon 
an ſich kein grüner Halm entfproßt. - 

Schon lange vor der Handelsſperre, um 1791, hatte 
derſelbe Chemiker, der einige Jahrzehende nachher den oben 
erwähnten beſten, wohlfeilſten Weg zur Gewinnung des Na⸗ 
trons für Alle eröffnete, Leblanc zu St. Denis eine So⸗ 
dafabrik errichtet und war für dieſes nützliche Unternehmen 
von dem Herzog von Orleans mit einer bedeutenden Sum⸗ 
me unterſtützt worden. Anjetzt haben auſſer Frankreich noch 
manche andre Länder an dem nützlichen Unternehmen Theil 
genommen, und, um hier nur die vaterländiſchen zu nennen, 
ſo ſind die Sodafabriken zu Schönebeck bei Magdeburg und 
ſelbſt die zu Wolfrathshauſen bei München in ihren Leiſtun? 
gen, verhältnißmäßig hinter den franzöſiſchen nicht zurückge⸗ 

leben. 

Bei der Seifebereitung durch das Zuſammenſieden eines 
Fettes mit der Auflöſung des Laugenſalzes muß, unter Ein⸗ 
fluß der Hitze, das Fett erſt mit Sauerſtoffgas ſich verbin⸗ 
den und zur Fettſäure werden. Denn der polariſche Gegen⸗ 


155 


fat des Laugenſalzes ift die Säure, jeder Stoff, mit dem 
ein Kali oder eine kaliſche Erde ſich chemiſch vereinen ſoll, 
muß zu ihr in das Verhältniß einer Säure treten. In jenen 
Ländern, da der Oelbaum gedeiht und ſeine Früchte reift, 
benutzt man ſchon feit alter Zeit das Oel ftatt des thieri— 
ſchen Fettes zur Seifenbereitung. Vormals, ehe Rußland 
feine Gränzen dem Zugang alles auswärtigen Verkehres ver- 
ſchloſſen hatte, bezog England aus jenem Reiche hunderttau⸗ 
ſende von Centnern an Talg und Hanföl, anjetzt führen 
ihm feine Schiffe hunderttauſende von Centnern an Palm— 
butter und Cocusnußöl zu und hiermit ein eben ſo gutes, 
dabei feineres Material zur Seifebereitung als der ruſſiſche 
Talg war. 

— Noch erwähnen wir, daß in einigen Pflanzen die Le— 
benskraft einen Seifenſtoff hervorbringt, der in ſeiner Zu— 
ſammenſetzung fo wie in feinen Eigenſchaften unſrer künſtli⸗ 
chen Seife ſehr ähnlich iſt. Namentlich findet ſich dieſer ſei— 
ſenartige Stoff in den Säften der Wurzel ſo wie der andren 
Theile des gemeinen Seifenkrautes (Saponaria officinalis) 
fo wie einer Begonia welche unter dem Namen der ägyypti⸗ 
ſchen Seifenwurzel in den Handel gekommen iſt und deren 
ſchleimig ſeifenartiger Aufguß zum Waſchen der Schafe, vor 
der Schur, empfohlen wird. 


20. Eine Augenfabrication im Großen. 


Das Auge iſt des Leibes Licht, und wenn das Auge 
unklar iſt und ſeinen Schein verliert, dann iſt der ganze 
Leib dunkel. Ein wundervolles Glied iſt das Auge in ſeinem 
ganzen Bau wie in all ſeinen Eigenſchaften und Kräften. 
Durch die kleine runde Oeffnung (Pupille), welche der Augen— 
ſtern (die Iris oder Regenbogenhaut) wie ein blaulicher oder 
bräunlicher Strahlenkreis rings umher umſchließet, kann man 
hineinblicken bis zum tiefeften Grund der innren, hinterſtend 
Augenwand. Das was uns aus dieſer Tiefe faſt ſilberartig 
weiß entgegenſchimmert und was im Auge der Katzen, ſo 
wie mancher andren Thiere ſelbſt bei Nacht (im Dunklen) 
einen ſchwachen Lichtſchein von ſich wirft, das iſt ein ſichtba— 
res Hervortreten des ſonſt überall verborgnen Innerſten unſrer 
leiblichen Natur: es iſt das Mark des Sehenerven, das dort 
mit ſeinem zarten Röhrchen als Gewebe der Netzhaut ſich 


156 


ausbreitet. Nirgends anders als an dieſer Stelle des Leibes 
liegt ein Nerv, ein unmittelbarer Ausfluß der Maſſe des 
Gehirns und Rückenmarkes, erkennbar vor unſren Blicken 
da; das Gehirn und Rückenmark ruhen tief verſchloſſen in 
dem Gewölbe ihrer Knochen ſo wie unter der Decke des 
Fleiſches und der Häute; auch in allen andren Gliedern ſind 
die zarten Röhrenfädchen der Nerven verhüllt und verdeckt 
von dem Fleiſch der Muskeln und dem mehrfachen Gewebe 
der Häute. Hier iſt es wo das innere Licht des Leibes dem 
äußren Licht der Welt entgegenkommt, wo das Aeußre dem 
Innren und das Innre dem Aeußren bemerkbar und erfenn- 
bar wird. 

Wenn wir den Bau des Auges etwas genauer betrachten, 
dann finden wir: daß der Lichtſchimmer, der von der Netz— 
haut her, aus dem hinterſten, tiefeſten Grunde des Auges 
uns bemerkbar wird, ſo wie der Lichtſtrahl, der von außen 
hinein bis auf das Nervenmark der Netzhaut fällt und hier 
das Sehen bewirkt, nicht nur ſo, wie im klaren Waſſer eines 
Teiches, durch ein einiges durchſichtiges Mittelweſen (Me— 
dium) hindurchgehen muß, ſondern, gleich wie in den nach— 
her zu erwähnenden achromatiſchen Gläſern, durch mehrere. 
Denn zuerſt nach vornen findet ſich die durchſichtige, waſſer— 
helle Hornhaut, deren gewölbtes Fenſter in die undurchſich— 
tige, weiße Harthaut des Auges kunſtreich eingefügt iſt, 
hinter dieſer, zwiſchen ihr und dem in ſeiner Mitte offnen 
Kreisgewölbe der Regenbogenhaut (Iris) ſteht eine wäßrige 
Flüſſigkeit, welche ſich durch die geöffnete Mitte (Pupille) 
der Iris hinein, auch hinter dieſer zwiſchen ihr und der 
Kryſtalllinſe ausgießt, ſo daß die Regenbogenhaut, ausge— 
breitet in dieſer zarten Flüſſigkeit, ungehemmt ihren Bewe— 
gungen des Ausdehnens und Zuſammenziehens ihres Gefäß— 
gewebes obliegen, und hierdurch, wenn ein hellerer Licht— 

Pupille verengern und mehr verſchließen, wenn weniger 
Licht da iſt, ſie erweitern und mehr eröffnen kann. Jenſeits 
dieſer vorderſten Kammer des Auges und ihrer wäßrigen 
Flüßigkeit, in welcher das Gewölbe der Regenbogenhaut 
ſchwebt, folgt die feſtere Kryſtalllinſe; im Auge des Men 
ſchen ſo wie der vollkommneren Thiere eine von vorn nach 
hinten etwas platt gedrückte Kugel, im Auge der Fiſche, wo 
ſie durchs Kochen weiß und hart wird, ein faſt vollkommen 


ſtrahl eindringt, die Eingangspforte des Seheloches oder der 


157 


runder Körper. Auch dieſe ift im gefunden Auge durchſich— 
tig, fo wie die halbflüſſige Maſſe, der ſogenannte Glaskör— 
per, welche den ganzen hintren Grund des Augapfels aus— 
füllt, und in welche die Kryſtalllinſe, wie der Kern einer 
Nuß in dem Becher der halbgeöffneten Schale, eingebettet 
liegt. Der Lichtſtrahl, wenn er von außen herein die für 
ſeinen Einfluß empfängliche, ihn empfindende Netzhaut tref— 
fen, und hier ein Sehen bewirken ſoll, muß, abgeſehen von 
der feinen Haut, welche, gleich einer Kapſel, die Kryſtall— 
linſe umſchließt und von der häutigen Umgränzung des Glas— 
körpers vier durchſichtige Mittelweſen von verſchiedener Dich— 
tigkeit: die Hornhaut, die wäßrige Flüſſigkeit, die Kryſtall— 
linſe und den Glaskörper durchdringen. 

Dies iſt die Art in welcher das Leben überall zu Werke 
geht. Es iſt nur eine Seele da, welche dem Leibe inwol— 
nend, dieſen bildet und bewegt, durch ihn die Außenwelt 
erkennt und empfindet, aber dieſe eine Seele erzeugt und 
bildet ſich in dem Stoffe ihrer Leiblichkeit eine große Man— 
nichfaltigkeit von Gliedertheilen, davon jeder im Kleinen wie— 
der das Verhältniß der Seele zu ihrem Leibe, des Schöpfers 
zu ſeiner Schöpfung darſtellt, damit ſie, die Seele, in dem 
Reiche der ihr gleichgeſtimmten Weſen überall der wirkſame 
Grundton, Er aber der Schöpfer Alles in Allem ſey. 

Was das Auge für den einzelnen Leib eines Thieres 
oder Menſchen, das ſind die Luft und das Waſſer, in frei— 
lich viel einfacherer Weiſe, für alle lebendigen Weſen der Erde. 
Wenn die Luft unklar und trüb iſt, dann geht uns ſogleich 
ein großer Theil des Lichtes der Sonne und der Geſtirne 
ab; der Nebel der uns mitten am Tage oben auf den Fel— 
ſenhöhen der Alpen oder auf den Feldern des beſtändigen 
Winters, auf den Gletſchern überfällt, macht uns alsbald 
das Weitergehen auf dem gefährlichen Pfad unmöglich, und 
der Rauchdampf der zuweilen bei ſtarken Ausbrüchen den 
isländiſchen Vulkanen entſteigt, wie ſelbſt der Kohlendampf 
der Feuerherde der großen europäiſchen Hauptſtadt London, 
macht es zuweilen unten im Thal und der Ebene, ſo wie in 
den Gaſſen ſo dunkel, daß man ſelbſt am Mittag ein Licht 
anzünden muß. Was würde aus uns, was würde aus den 
meiſten Thieren und Pflanzen, wenn unſere Planeten nicht 
dieſe durchſichtige Hülle des Luftkreiſes umgäbe, welche die 
Strahlen des Lichtes wie der Wärme bis hinab zur tiefen 


158 


U 


Ebene hindurchläſſet; was würde aus den lebenden Bewoh⸗ 
nern des Meeres, wenn nicht auch zu ihnen, durch die klare 
Fluth des Gewäſſers, das Sonnenlicht hinabſchiene, oder 
ſelbſt in große Tiefen wenigſtens hinabdämmerte. 

Sonſt ſieht es freilich unten in den Tiefen ſehr dunkel 
aus. Die Luft kann allerdings beim Verbrennen der Körper 
(wovon weiter unten die Rede ſeyn wird) eine Sonne im 
Kleinen, eine Quelle des Lichtes und der Wärme werden, 
aber für gewöhnlich gleichen dennoch das Waſſer wie die 
Luft nur einem Auge, das erſt durch ein äußres Licht zu 
ſeinem Mitleuchten oder Sehen geweckt und geſtärkt werden 
muß; unten in die Höhlen, wie dies Baker erfuhr als er 
ſich mit ſeiner Familie in der großen Höhle bei Levington 
verirrt hatte, dämmert kein Strahl des Sonnenlichts hinein, 
obgleich der Strom der Luft, der ſie erfüllt, mit ſeinem einen 
Ende von dem Tageslicht erhellt und erwärmt wird. Die 
größere Maſſe der Geſteine aus denen der Umriß unſres Pla- 
neten gebildet wird, wie der erdige Boden, der die Gebirgs— 
arten bedeckt, iſt fuͤr das Licht, wenigſtens für das unſrem 
Auge bemerkbare, undurchdringlich — vollkommen undurch⸗ 
ſichtig. Denn die wenigen durchſichtigen oder durchſcheinen⸗ 
den Steine und Salze, welche es darinnen giebt, liegen meiſt 
ſo in der dunklen Maſſe verborgen, daß kein Tagesſtrahl ſie 
treffen kann. Das große Auge der Erde, der Luftkreis ſammt 
dem Gewäſſer, hat ſein Vermögen zur Aufnahme und Ver⸗ 
breitung des Sonnenlichtes zunächſt nur für die lebenden 
Weſen der Erde empfangen, überall dahin wo ſolche ſind, 
die des Lichtes bedürfen, reicht jenes Vermögen. | 

Aber innerhalb der undurchſichtigen Mauern unfrer Häu⸗ 
ſer giebt es auch lebendige Weſen, die des Tageslichtes be— 
dürfen und am Sonnenſchein ſich erfreuen: das ſind wir und 
unſere Kinder. Wir haben uns die Häuſer erbaut, damit 
ihr Dach und ihre Wände gegen die Sonnenhitze uns Schat⸗ 
ten, gegen Regen, Wind und Froſt uns Schutz gewähren 
ſollen. Bringen wir, auſſer der Thüre, auch noch hin und 
wieder an den Wänden große Oeffnungen für den Zutritt 
des Tageslichtes an, dann dringen mit dem Licht zugleich 
die Hitze oder der Wind, Regen und Froſt herein und wir 
ſind wie der Hamſter und die Haſelmaus, wenn ſie ſich zur 
Winterruhe anſchicken, genöthigt, alle dieſe Oeffnungen 
zu verſchließen und im Dunklen zu bleiben. Wir müſſen 


159 


daran denken den dunklen Räumen unſrer Wohnſtätte ein 
Auge zu geben, welches das Licht aufnimmt und nach innen 
hinein verbreitet. Ein Körper welcher für das Licht durchs 
wirkbar, für Luft und Näſſe aber undurchdringlich iſt und 
der ſelbſt für äußre Wärme, wenn nicht zugleich mit ihr ein 
Sonnenſtrahl hereinfällt ziemlich unzugänglich iſt, wird am 
* ſeyn unſren Zimmern und Kammern die Stelle 

er Augen zu vertreten. 

Das thieriſche Horn, in dünne Blätter geſpalten, läßt 
allerdings das Tageslicht durchſcheinen; aber dieſer Schein 
gleicht nur einer ſchwachen Dämmerung und gar bald verän- 
dert ſich durch den Einfluß des Lichtes und der Witterung 
das Horn ſo ſehr, daß es ſeine Durchſichtigkeit einbüßt. Den⸗ 
noch hat es vor Alters hin und wieder an den Hüttenwoh— 
nungen hornene Fenſterchen wie Laternen von Horn gegeben. 
Leichter iſt es ſchon den Bewohnern von Sibirien gemacht, 
wenn fie ihre Wohnungen mit Augen verſehen wollen. In 
einigen Gebirgen jenes Erdſtriches giebt es große Maſſen 
einer Steinart, Glimmer genannt, welche ſich leicht in Tafeln 
und dünne Blätter ſpalten läſſet, und die, beſonders wenn 
ſie eine hellere Färbung hat, in ziemlich hohem Grade durch— 
ſichtig iſt. Aber ſo große Stücken des Glimmers, daß man 
Tafeln, mehrere Zoll groß daraus ſchneiden könnte, giebt es, 
außer Sibirien, doch nur an ſehr wenig Orten und wenn 
man nur dieſen Stoff hätte um unſren Wohnſtätten Licht zu 
jeben, dann müßten mehr den 99 Hunderttheile unfrer Häu— 
fer ohne Augen bleiben. Dieſer Uebelſtand würde noch größer 
werden wenn man etwa ſtatt des Glimmers und des Hornes 
die ſchön durchſcheinenden Schaalen der Fenſterſcheibenmuſchel 
(Placuna placenta) benutzen wollte, die ſich vorzugsweiſe in 
dem chineſiſchen Meere findet, denn dann könnte, wegen der 
Seltenheit des Materiales kaum der tauſendſte, ja der hun—⸗ 
derttauſendſte Theil der menſchlichen Wohnungen mit Augen 
verſehen werden. 

Den Phöniziern, ſo erzählt man, gelang es zuerſt, 
eine Weiſe zu entdecken, auf welche dem überall fühlbaren, 
dringenden Bedürfniß abgeholfen werden konnte. Die Er- 
findung lag übrigens, namentlich den Aegyptern ſo nahe, daß 
dieſe die Glasbereitung vielleicht noch vor den Phöniziern 
mögen gekannt, und, wenn auch nur in einſeitiger Weiſe 
geübt haben. Denn die Glasflüſſe, die man bei ihren vor 


160 


3 und vielleicht 4 Jahrtauſenden begrabenen Todten in den 
Mumiengrüften findet, bezeugen es, daß die Aegypter uralte 
Meiſter in jener Kunſt waren. Es brauchte nur der feine 
Sand des Nilthales mit etwas Mineralkali oder Natron, das 
fi an ihren Landſeen findet und das man an manchen Stel⸗ 
len der nordafrikaniſchen Küſtengegenden, wie bei Tripolis 
(die Trona-Soda) von den Felſen abkratzen kann, der Gluth 
eines ſtarken Hirtenfeuers ausgeſetzt zu werden, und es bildete 
ſich eine Verbindung in welcher die Kieſelerde im Gegenſatz 
zu dem Kali die Stelle der Säure (als Kieſelſäure) vertrat; 
dieſe Verbindung war und iſt das Glas. Und nicht blos 
Natron, auch das Pflanzenkali, als Potaſche, ja als gemei⸗ 
ne Holzaſche der Kieſelerde beigemiſcht, und mit ihr dem 
Feuer der Verglaſung ausgeſetzt, giebt ein mehr oder minder 
durchſcheinendes Glas. Denn zu der Maſſe, daraus man 
hin und wieder unſre dunkelfarbigen Bouteillen fertigt, kommt 
kein reines Kali, ſondern ſie beſtehet zunächſt (abgeſehen von 
dem zuweilen nach Willkühr dem Fluſſe beigemiſchten Koch⸗ 
ſalz oder Kalk) aus 160 Theilen Holzaſche, 100 Theilen 
Quarzſand und 50 Theilen Baſalt. Wenn bei dieſen Ver⸗ 
bindungen der Kieſelerde mit dem Kali das letztere vorherrſcht, 
wenn dabei zum Beiſpiel vier Theile ätzendes Laugenſalz auf 
nur einen Theil Kieſelerde kommen, dann entſtehet die Kie⸗ 
ſelfeuchtigkeit, welche im Waſſer leicht auflöslich iſt. Zur 
Bereitung des eigentlichen Glaſes, wenn man dazu reines 
Kali anwendet, gehören 6 Theile Kieſelerde und ein Theil 
Kali; dem Fluſſe der das ſogenannte Spiegelglas geben ſoll, 
wird meiſt noch Salpeter und ſo wie eine geringe Quantität des 
Graubraunſteinerzes (nach S. 127) beigemiſcht und bei Ferti— 
gung des Flintglaſes wird ſelbſt ein kleiner Beiſatz von weißem 
Arſenik und ein größrer von rothem Bleioxyd zur Entfärbung 
(zum Klarmachen) der Maſſe zuträglich gefunden. 

Vor allen andren Stoffen iſt es, auſſer der allenthalben 
in Menge verbreiteten Kieſelerde doch wieder das Laugenſalz 
und vorzugsweiſe das Natron, welches der menſchlichen Kunſt 
es möglich machet, Licht in das Dunkel der Wohnungen zu 
bringen und zunächſt, fuͤr den überall ſühlbaren, täglichen 
Hausbedarf Fenſterſcheiben zu bereiten. Dieſe Anwendung 
der alten Erfindung kannten und übten ſchon die Römer, 
wie dies die Entdeckung der einzelnen Fenſterſcheiben an 
Häuſern der Stadt Pompeji bezeugt hat, welche im J. 10 

. na 


161 


nach Chr. bei einem Ausbruch des Veſuv von einem Aſchen⸗ 
regen überfluthet und begraben ward. Das Glas, in Tafeln 
geformt, läßet zwar, je heller es iſt deſto beſſer, das Licht 
durch ſich hindurchwirken, kann aber gegen die Wärme, etwa 
eines Ofens, in eben ſolcher Weiſe einen abhaltendern Schirm 
bilden, als die undurchſichtigen, nicht metalliſchen Körper. 
Deshalb find in demſelben alle jene günſtigen Eigenfchaften 
vereint, welche, wie wir S. 158 ſehen, ein wohleingerichtetes, 
zur Abwehr des Einflußes der Witterung eben ſo wie zur 
Mittheilung des Lichtes geeignetes Medium haben ſoll. 
Schon durch ihre Anwendung zum Verfertigen der Fen⸗ 
ſterſcheiben, wodurch der größeſte Theil der menſchlichen Wohn⸗ 
ſtätten erſt wahrhaft wohnlich und annehmlich wurde, hatte 
die Erfindung des Glaſes den Völkern der Erde einen hohen 
Vortheil gebracht. Jene Anwendung war in ihren Folgen 
ungleich bedeutungsvoller als die andren Benutzungen der 
Glasmacherkunſt, zur Bereitung bunter Glasflüße, welche 
den Farbenreiz der Edelſteine nachzuahmen ſtrebten, oder 
zum Hervorbringen von allerhand Geſchirren, die ſich ſchon 
durch die Leichtigkeit womit man ſie rein zu halten vermag 
wie durch ihre Durchſichtigkeit und Form dem menſchlichen 
Haushalt empfahlen. Aber noch eine andre Anwendung der 
Kunſt des Glasmachens war einem ſpäteren Zeitalter vorbe⸗ 
halten, welche nicht nur den Wohnhäuſern ihre Helle gab, 
—— dem Menſchen ſelber ein neues höheres Augenlicht 
rachte. | 
Der erſte Schritt in dieſem neuen Gebiet der Erfindun⸗ 
gen war der, daß man dem alternden Auge des Menſchen, 
auf künſtliche Weiſe die Kraft des jugendlichen Sehens zu⸗ 
rückzugeben lernte. | | 
Man erzählt, daß ein armer Schiffsjunge, deſſen Vater 
ein Brillenmacher war, einſtmals, als das Schiff, deſſen 
Küche er bediente, zu einer Handelsreiſe, an die Weſtküſte 
von Afrika ſich rüſtete, als Mitgabe von ſeinem Vater, eine 
Parthie Brillen erhalten habe, mit der Weiſung dieſelben in 
Liſſabon, wo dergleichen Waare in einigem Werth ſtund, zu 
verkaufen. Das Schiff wurde durch Stürme verhindert, 
zuerſt in den Hafen von Liſſabon, wie die Abſicht des Capi⸗ 
täns geweſen war, einzulaufen, es ſetzte ſeinen Lauf, ſpäter 
von beßrem Wind begünſtigt, nach Süden fort, und landete 
glücklich an der Goldküſte, welche das letzte Ziel der Reiſe 
11 


162 


war. Der Tauſchhandel mit europäiſchen Waaren, gegen 
Gold, Elfenbein und andre Koſtbarkeiten der heißen Zone, 
nahm ſeinen Anfang und hatte ſich eines günſtigen Erfolges 
zu erfreuen; nicht nur der Capitän und der Steuermann, 
auch mehrere Matroſen kamen täglich mit reicher Beute nach 
dem Schiffe zurück; fie hatten ihre europäiſchen Waaren gegen 
Dinge von vielfach höherem Werthe umgeſetzt. Da fiel es 
dem Schiffsjungen ein auch mit den Brillen, aus der Werk⸗ 
ſtätte ſeines Vaters einen Handelsverſuch zu machen; er ging 
ans Land und hatte das Glück mit ſeiner neuen, von den 
Negern noch niemals geſehenen Waare den Zutritt zu dem 
König des Landes zu finden. Er verdankte dieſe Vergünſti⸗ 
gung einem alten Häuptling, der im täglichen Dienſte des 
Königes war; jenem hatte er, um ihm den Nutzen ſeines 
Handelsartikels begreiflich zu machen, eine Brille auf die 
Naſe geſetzt und der Alte war dadurch auf einmal wieder 
eines klaren Erkennens der nahen Gegenſtände, wie in ſei⸗ 
nen jüngeren Jahren fähig geworden. Aber auch der König 
ſelber, ein hochbetagter Mann, und noch mancher ſeiner alten 
Freunde, bedurfte einer ſolchen Verjüngung und Wiederbrin⸗ 
gung des erloſchenen Augenlichtes und war nicht wenig erfreut 
als die Kunſt der Weißen ein Mittel dazu ihm darbot. Der 
ſchwarze Herrſcher probirte alle Brillen auf ſeiner platten 
Naſe; die Wahl fiel ihm ſchwer; er beſchloß dieſe jungen, 
wunderbaren Augen alle für ſich und ſeine Freunde zu be⸗ 
halten. Durch ein Mißverſtändniß, das der Steuermann, 
welcher den Dolmetſcher machte, entweder aus wohlwollender 
Abſicht für den armen Schiffsjungen oder zufällig veranlaßt 
hatte, war die Forderung welche der beſcheidne Eigenthümer 
der Brillen für ſeine Waare machte, faſt hundertfach größer 
zu den Ohren des Negerköniges gebracht worden. Dennoch 
beſann ſich dieſer an Goldſtaub und Elfenbein überreiche 
Mann keinen Augenblick, den Preis für die Brillen, den 
man ihm angeſetzt hatte, zu bezahlen. Vielleicht weil er in 
dem Wahne ſtund, daß durch die künſtliche Verjüngung der 
Kraft des edelſten Gliedes auch dem ganzen übrigen Leibe 
die Kraft der Jugend wiedergebracht werden könne. Der 
Schiffsjunge hatte unter allen Gefährten und Theilnehmern 
jener Reiſe den glücklichſten, einträglichſten Handel gemacht, 
er kam als ein, nach ſeinem Stande reichbegüterter Mann 
in das Haus ſeines Vaters, des alten Brillenſchleifers, zurück. 


163 


Begreiflicher noch als die Freude des alten Negerfürſten 
über eine ſolche künſtliche Verjüngung ſeiner Augen, war das 
Entzücken jenes alten Brahminen, als ihn die treffliche Brille, 
welche ein Engländer ihm ſchenkte, auf einmal wieder in den 
Stand ſetzte, die heiligen Bücher ſeines Geſetzes zu leſen, 
was er ſeit vielen Jahren nicht mehr vermocht hatte. Denn 
gerade bei ſolchem Geſchäft, wie das Bücherleſen iſt, bemerk⸗ 
ten die Alten, wenn ihnen auch für ferne Gegenſtände noch 
immer ein weitreichender Blick blieb, die Abnahme der Seh⸗ 
kraft für nahe Gegenſtände am ſchmerzlichſten, und wenn 
der Greis, der keine Schrift mehr mit bloßem Auge zu un⸗ 
terſcheiden vermag, ſeine Brille zu Hülfe nimmt, dann kann 
er auf einmal leſen. Dennoch darf man in ſolcher Hinſicht 
ſeine Anforderungen an die Kunſt der Brillenſchleifer nicht 
ſo weit treiben, wie jener Bauer, der auf einen Jahrmarkt 
gekommen war, um daſelbſt Allerhand für ſein Haus zu kau⸗ 
fen. Er ſtund an der Bude eines Brillenhändlers ſtill und 
ſahe wie da mehrere Leute ihre Einkäufe machten. Ein Buch, 
mit feiner Schrift, wurde ihnen hingegeben; ſie ſetzten eine 
oder die andre Brille auf und blickten dann aufmerkſam in 
das Buch hinein. » Können Sie durch dieſe gut leſen 2» 
fragte der Brillenhändler und wenn der Andre die Frage 
bejahte, war der Handel bald abgeſchloſſen. Da bekam der 
Bauer Luſt ſich auch eine Brille zu kaufen. Er trat an den 
Tiſch hin, nahm das Buch, ſetzte eine Brille nach der andren 
auf und blickte damit in das Buch hinein, legte jedoch eine 
nach der andren kopfſchüttelnd wieder aus der Hand. Der 
Kaufmann wollte ihm bei der Wahl zu Hülfe kommen, er 
bot ihm verſchiedne Brillen an, die er für die paſſendſten 
hielt; die Ausſage des Bauern » ich kann dadurch nicht leſen 
blieb jedoch immer dieſelbe. Endlich fragte ein Bürgers⸗ 

mann, der von ohngefähr zu dem Handel gekommen war: 

» Freund! ſagt mir doch, könnt und verſteht ihr denn über: 

haupt zu leſen? » »Ei, ſagte der Bauer, ihr Narr, wenn 
ich leſen könnte, würde ich mir keine Brille kaufen.“ 
So alltäglich uns jetzt der Anblick und die Anwendung 
der Brillen iſt, war dennoch die Erfindung derſelben auch 
dann, als man das durchſichtige Glas ſchon in Händen hatte, 
nicht ſogleich gemacht. Zwar machte ſchon ein Schriftſteller 
des alten Roms, Seneca, auf die Thatſache aufmerkſam, 
daß man durch eine mit Waſſer gefüllte Glaskugel die Buch⸗ 

11 


164 


ſtaben eines Buches vergrößert ſehe und ein arabiſcher Schrift: 
ſteller aus dem 11ten Jahrhundert, Alhazen genannt, weiß 
es, daß man ſich einer gläſernen Kugel dazu bedienen könne 
um allerhand kleine Gegenſtände im größerem Maaßſtabe zu 
ſehen. Indeß war doch von dieſer Wahrnehmung aus immer 
noch ein weiter Schritt zu thun zur Darſtellung ſolcher flach⸗ 
kuglich (conver) geſchliffener Gläſer, welche auf viel beque⸗ 
mere und beſſere Weiſe dieſelben Dienſte leiſten. Die Be⸗ 
nutzung ſolcher an einer oder an beiden Seiten erhaben ge⸗ 
formten Gläſer zu Augengläſern oder Brillen, haben die 
Italiener den neueren Völkern gelehrt. Als der erſte Erfin⸗ 
der der Brillen wird ein toscaniſcher Adlicher, Salvino 
degli Armati, auf der Inſchrift genannt, die ſich auf ſei⸗ 
nem Grabſtein in der Kirche Maria Maggiore zu Florenz be⸗ 
findet. Er war im Jahr 1317 geſtorben. Nach andren Zeug⸗ 
niffen gebührt aber auch dem Dominicanermönch, Alexan⸗ 
der de Spina welcher 1313 ſtarb, ein Antheil an dem 
Ruhm der Erfindung oder doch ihrer gemeinnützigeren Anwen⸗ 
dung. Denn als dieſer Spina bei einem Manne eine Brille 
geſehen und bewundert, vergeblich aber nach der Weiſe ſie 
zu verfertigen gefragt hatte, begab er ſich ſelber an die Arbeit 
und kam ohne weitre Anleitung auf den Einfall in ſchüſſel⸗ 
artig vertieften (concaven) Schaalen, aus Stein oder Me⸗ 
tall, mittelſt eines feinen Pulvers von Tripel oder Schmir⸗ 
gel einer runden Glasſcheibe durch ein länger fortgeſetztes 
Drehen (Abſchleifen) in der kleinen Schaale eine flachrund⸗ 
lich erhabene (converxe) Oberfläche zu geben. Zwei ſolche 
Gläſer, mit einer Randeinfaſſung wurden anfangs, dem Ab⸗ 
ſtand der Augen von einander entſprechend, an eine Mütze 
befeſtigt, die man über die Stirne und bis an die Augen 
hereinzog, wenn man ſich der Brille bedienen wollte und nach 
gemachtem Gebrauch wieder hinwegſchob, bald aber fügte man 
die Gläſer den beiden Armen eines kleinen aus Horn gefer⸗ 
tigten Bogens an, deſſen Auswölbung gerade auf die Naſe 
paßte und auf dieſe ſich ſtützte. Es ſcheint hier der Ort dazu zu 
ſeyn, um Einiges über die Einrichtung und die Wirkung 
der Vergrößerungsgläſer und über den Grund ihrer Wirkung 
im Allgemeinen zu ſagen. 4 90 
Auſſer der Eigenſchaft des Vergrößerns der Gegenſtände 
kennt Jeder von uns an den linſenförmig geſtalteten Gläſern 
noch eine andre Eigenſchaft, vermöge welcher man ſich ihrer 


* 


163 


als Brenngläſer zum Anzünden von brennbaren Körpern be⸗ 
dienen kann: die Eigenſchaft alle Strahlen, welche von der 
hellleuchtenden Sonnenſcheibe auf verſchiedene Punkte der 
Glaslinſe auffallen, auf einen Punkt (den Brennpunkt) hin⸗ 
zuleiten. Je größer die Oberfläche eines Brennglaſes iſt, 
je näher vermöge der converen Geſtaltung feiner Oberfläche 
der Brennpunkt an daſſelbe herangerückt liegt, deſto ſtärker 
iſt ſeine Wirkung. Noch jetzt kann man dieſes an den gro⸗ 
ßen Brenngläſern ſehen, welche Tſchirnhauſen, ein deut⸗ 
ſcher Edelmann aus der Oberlauſitz, mittelſt einer hierzu ein⸗ 
gerichteten Mühle ſchleifen ließ. Zwei dieſer rieſenhaften, 
mehr als centnerſchweren, etwa im J. 1686 gefertigten Brenn⸗ 
gläſer befinden ſich noch jetzt in Paris, ihr Durchmeſſer be⸗ 
trägt 33 Zoll, die Brennweite des einen iſt 7, die des an⸗ 
dern 12 Fuß. Ganz naſſes Holz entzündet ſich, ja ſelbſt im 
Waſſer liegendes Fichtenholz verkohlt angenblicklich, ein Me⸗ 
tall ſchmilzt, Waſſer ſiedet ſogleich, wenn man all dieſe Gegen⸗ 
ſtände in den Brennpunkt eines ſolchen Werkzeuges bringt. 
Tſchirnhauſen hatte große Koſten auf die Fertigung dieſer 
Brenngläſer verwendet, welche eigentlich doch keinen weſent⸗ 
lichen Nutzen für die Wiſſenſchaft brachten; er hätte dieſelben 
Leiſtungen ungleich leichter und wohlfeiler durch ein Brenn⸗ 
glas von andrer Art bewerkſtelligen können. Wenn man 
nämlich zwei flachrundlich hohle Gläſer (ähnlich etwa den 
großen Uhrgläſern) mit ihren Rändern zuſammenfügt und 
den hohlen Zwiſchenraum derſelben mit Terpentin aus füllt, 
dann erhält man ein Werkzeug in deſſen Brennpunkt die 
Wirkung der hier in eins geſammleten Sonnenſtrahlen 
noch ungleich höher geſteigert iſt als bei einer Glaslinſe. 
Zwei franzöſiſche Gelehrte, Briſſon und Lavoiſier haben 
im Jahr 1774 ein ſolches mit Terpentinöl gefülltes Brenn⸗ 
glas gefertigt, welches vier Fuß im Durchmeſſer hält und in 
feiner Mitte acht Zoll Dicke hat. In Verbindung mit noch 
einer andren gewöhnlichen Glaslinſe, welche zwiſchen jenes 
größere Werkzeug und ſeinen Brennpunkt geſtellt, die Strah⸗ 
lenmaſſe deſſelben auf einen näheren, engeren Brennpunkt 
verſammlete, hatte das gefüllte Hohlglas eine ſolche unge⸗ 
meine Wirkſamkeit, daß man auch die ſchwerflüſſigſten Me⸗ 
kalle durch daſſelbe ſchmelzen konnte. Kupfermünzen, welche 
ua des Tſchirnhauſiſchen Glaſes drei Minuten 

zu ihrem Flüſſigwerden bedurften, ſchmolzen hier ſchon 


* 


1 


166 


in einer halben Minute, Eiſen auf eine Kohle gelegt faſt ag 
blicklich. Kann doch im Kleinen ſchon eine rundliche Flaſche, 
mit Waſſer gefüllt, wenn die Sonne hindurchſcheinet und 
der Brennpunkt einen brennbaren Körper trifft, etwas Aehn⸗ 
liches leiſten und man weiß, daß auf dieſe Weiſe Feuers⸗ 
brünſte entſtanden ſind. 

Die alten Griechen, welche die Eigenſchaft rundlicher 


Kryſtallkugeln, dergleichen in manchen Flüſſen gefunden wer⸗ 


den (namentlich als ſogenannte Rheinkieſel im Rheine) leicht 
entzündliche Stoffe in Brand zu ſetzen, gar wohl kannten, 
bewunderten das Verhalten 5 Kryſtallkugel zu dem Feuer 
das fie hervorruft. Sie ſelber bleibt kalt, während fie auf 
fer ſich andre Körper zum Glühen bringt. Der Grund die⸗ 
ſes Verhaltens liegt übrigens ziemlich nahe und er wird uns 
auch an der Betrachtung eines ſogenannten Brennſpiegels 
deutlich. Wenn man nämlich einem Spiegel oder einem ſpie⸗ 
gelglänzenden Metallblech die Geſtalt eines flachen, weiten 
Beckens giebt und daſſelbe mit ſeinem Mittelpunkt in gera⸗ 
der Linie nach der Sonne richtet, dann werden alle Strah⸗ 
len der flammenden Sonnenſcheibe, in umgekehrter Weiſe 
wie das Waſſer das man in einen Trichter ſchüttet, nach 
einen gemeinſamen Punkt hingeleitet, der in gerader Linie 
mit der Mitte des Beckens liegt. Jeder einzelne Punkt des 
Brennſpiegels wird hierbei von dem ihn treffenden Sonnen⸗ 
ſtrahle nicht ſtärker erwärmt, als irgend ein andres Stück N 
Metall oder Spiegelglas, aber die Kraft des von ihnen allen, 
nach einem gemeinſamen Punkte hin zurückgeſtrahlten Son⸗ 
nenlichtes iſt ſo groß, daß man im Brennpunkt eines großen 
Brennſpiegels die ſchwerflüſſigſten Metalle . und den 
Demant verflüchtigen (verglimmen laſſen) kann. 

Bei dem durchſichtigen Glaſe jedoch, dem man die ein⸗ 


rs 


fenform der Vergrößerungs⸗ und Brenngläfer gab, kommt 


der menſchlichen Kunſt vor allem eine weſentliche allgemeine 
Eigenſchaft der durchſichtigen 4 zu Hülfe, dies iſt die 
lichtbrechende Kraft derſelben. 
Jedes Kind mag die Bemerkung machen, daß eine Stan⸗ 
ge, welche man in ſchiefer Richtung in das klare Waſſer 
eines Teiches oder Fluſſes hineinſtellt, wenn man ſie darin von 
der Seite her betrachtet, oben bei der Oberfläche des Was 
ſers wie gebrochen erſcheint, als ob ſie aus zwei Stangen⸗ 
mann beſtünde, davon das eine gerade bis an den W e 


6 


167 


fpiegel reichte, das andre aber, etwas ſeitwärts von dem 
Ende des andren, an demſelben Waſſerſpiegel begänne und 
zwar in abweichender Richtung, nicht in gleicher Linie mit 
dem andren ſtehend, nach unten hin ſich fortſetzte. Wenn 
man auf den Boden eines Gefäßes irgend einen ſchweren, 
glänzenden Körper legt, dann ſich ſo weit zurückſtellt, daß 
man jenen Körper jenſeits des Randes der Gefäßmündung 
nicht mehr ſehen kann und nun Waſſer in das Gefäß füllt, 
da wird auf einmal der glänzende Körper dem Auge wieder 
ſichtbar; es iſt als ſey er von dem Orte wo er lag weiter 
hinüber, nach der unſrem Auge entgegengeſetzten Seite des 
Gefäßes gerückt, und doch iſt dies nur ſcheinbar, er iſt un⸗ 
verrückt an ſeiner Stelle geblieben. Eine ähnliche Täuſchung 
als in dieſem Fall unſer Auge erleidet, wiederfuhr dem hol— 
ländiſchen Seefahrer Berenz und ſeinen Leidensgefähr⸗ 
ten als fie das furchtbare Ungemach einer langen Polar- 
winternacht überſtanden und nun den wieder anbrechenden 
Morgen erlebt hatten. Die Sonne erſchien neunzehn Tage frü⸗ 
her über dem Eis und den Schneefeldern des Horizontes, als 
dieſes der genauen Berechnung nach erwartet werden konnte; 
aber dieſes Sichtbarwerden ihrer leuchtenden Scheibe, welche 
eigentlich noch unter dem Horizont ſtund, war nur durch die 
Strahlenbrechung in den dichteren Schichten der Atmoſphäre 
veranlaßt worden. N 147105 n 
Wenn man, in oben erwähnter Weiſe, die Stange ge⸗ 
rade ſtehend in das Waſſer ſtellt und dann in gerader Linie 
von ihrem oberen Ende nach dem untern hinabblickt, da bes 
merkt man keine Brechung; die Stange ſetzt ſich für unſer 
Auge unterhalb dem Waſſerſpiegel in derſelben Richtung fort, 
die ſie oben in der Luft hatte. Jene gerade Linie die man 
ſich in Gedanken durch zwei durchſichtige Körper von verſchie— 
dener Art und Dichtigkeit kann von oben nach unten gezogen 
denken, nennt man das Einfallsloth. Menn nun ein Licht⸗ 
ſtrahl der von einem leuchtenden oder beleuchteten Körper 
ausgeht, in einer ſchiefen Richtung unter einem größeren oder 
kleineren Winkel von dem einen jener durchſichtigen Me⸗ 
dien in das andre ſich fortſetzt, dann wird er für unſren 
Augenſchein, wenn das zweite Medium dichter iſt als 
das erſte, in einer Richtung gebrochen, welche näher her— 
über nach der geraden Linie die von oben nach unten geht 
(nach dem Einfallslothe hin) gelegen iſt, wie aus jenem Bei⸗ 


168 


fpiel hervorgeht, deſſen wir vorhin erwähnten, wonach ein 
glänzender Körper der an der einen Wand eines Gefäßes 
lag, nachdem man Waſſer hineingeſchüttet, auf einmal nä⸗ 
her gegen die Mitte des Gefäßbodens hin geſehen wird. Das 
Umgekehrte wird ſich aber zutragen, wenn wir durch ein Ge⸗ 
fäß blicken, deſſen obere Hälfte mit Waſſer, die untere aber 
mittelſt einer durchſichtigen Scheidewand getrennt, von Luft 
erfüllt iſt. Ein glänzender Körper, der auf dem Grunde 
dieſes Gefäßes, unten in der luftigen Hälfte liegt, wird 
uns, in einer angemeßnen Stellung unſres Auges von der 
geraden Linie, die wir uns von oben nach unten durch die 
Mitte des Gefäßes gezogen denken können, herüber nach dem 
dieſſeitigen Rande gerückt, mithin von jener Linie weiter ent⸗ 
fernt erſcheinen. 

Wenn der Lichtſtrahl eines von der Sonne beſchienenen 
Körpers aus dem luftleeren Raum einer Luftpumpe in die 
gewöhnliche Luft unſrer Zimmer fällt, dann erleidet er eine 
Brechung der zuletzt erwähnten Art; umgekehrt, aus der Luft 
oder aus dem Waſſer in einen feſten durchſichtigen Körper 
übertretend, die entgegengeſetzte. Hierbei nun iſt es nicht 
die Dichtigkeit der Körper allein, welche den höheren oder 
niedrern Grad der Brechungskraft der Lichtſtrahlen begründet, 
ſondern hierauf hat die Beſchaffenheit ihrer Grundſtoffe einen 
weſentlichen Einfluß. Brennbare Körper, welche bei ihrem 
Entzünden ein Quell des Lichtes werden können, üben auch 
auf das Licht, das durch ſie hindurchwirkt, den kräftigſten 
verändernden Einfluß aus: ſie brechen die Lichtſtrahlen am 
ſtärkſten. Als der große Iſaak Newton aus der ſtarken 
Brechung des Lichtes im durchſichtigen Demant den Schluß 


zog, daß dieſer Stein der Steine, dieſer härteſte Körper der 


Erde von brennbarer Natur, gleich dem Oel und Wachs 
ſey und ſeine Vermuthung über die Verbrennbarkeit des 
Diamantes in ſeiner Optik öffentlich ausſprach, wie mögen 


ihn damals manche der gelehrten Zeitgenoſſen verlacht haben, 


und dennoch bewährte ſich ſeine Anſicht bald hernach als 


Kosmus III. zu Florenz im Jahr 1694 im Brennpunkt 


eines großen Tſchirnhauſiſchen Brennſpiegels zum erſten 


* 


reg 


einen Demant verbrannte. Wie der Demant, wie der Phos⸗ 


.169 


unter den tropfbar flüffigen die leicht entzündbar ätheriſchen 
Oele, ſo wie der Weingeiſt, unter den luftartigen Körpern 
das Waſſerſtoffgas oder die brennbare Luft die ſtärkſte, ſtrah⸗ 
lenbrechende Kraft. 11 


Daſſelbe, was nach dem Augenſchein der Stange wie⸗ 
derfährt, wenn wir ſie in ſchiefgeneigter Richtung ins Waſ⸗ 
ſer ſtellen, muß ſich für jeden Lichtſtrahl zutragen, der 
aus der Luft in einen dichteren durchſichtigen Körper fällt, 
deſſen Fläche nicht gerade, ſondern wie bei der Glaskugel 
oder Glaslinſe bogig gekrümmt, flachrundlich erhaben tft. 
Die Lichtſtrahlen fallen nach dem dünneren Randtheile einer 
ſolchen Linſe hin immer ſchiefer auf die Oberfläche auf, und 
werden nach dem Geſetz, das bei dem Uebergange des Lichtes 
aus dem dünneren, durchſichtigen Medium in das dichtere 
herrſcht, nach der Mitte hin (nach der Linie des Einfallslo⸗ 
thes, welche mitten durch die Glaslinſe geht) gebrochen oder 
gebogen. Blicken wir durch eine ſolche Linſe hindurch, dann 
kommen nicht bloß die unveränderten, geradlinigen Strahlen, 
die ein beleuchteter Körper mitten durch die Linſe fallen läſſet, 
ſondern auch jene zu unſrem Auge, welche auf die krummablau⸗ 
fenden Flächen deſſelben treffen, und der Körper ſcheint uns in 
einem ausgedehnten Verhältniß vergrößert. j 
In dieſer nur ohngefähr angedeuteten Weiſe wirken denn die 
künſtlichen Augen, welche der Menſch ſeit der Anwendung des 
Glaſes zur Fertigung der Brillen und Vergrößerungsgläſer 
in ſeine Macht bekommen hat. Nur in wenig Zügen wollen 
wir hier erwähnen, zu welchem Umfange ſich das Erkennen 
der Sichtbarkeit für uns durch jene großen Erfindungen 
erweitert hat. Ä 
Die ſtrahlenſammlende, vergrößernde Kraft der convexen 
Brenngläſer war längſt bekannt und für nähere Gegenſtände 
benutzt worden. Ein vergrößerter Körper erſcheint unſrem 
Auge zugleich näher gerückt; hatte man erſt das Mittel ge⸗ 
funden die vergrößernden Glaslinſen auch zur Betrachtung 
weit entfernter Gegenſtände ſo anzuwenden, daß die in ſie 
hin allenden und durch ſie gebrochenen Strahlen eines Bil— 
18 


E 


5 


jo 
des ſich ungeſtört durch das ſtärkere, von nahen Gegenſtän⸗ 
den zurückſtrahlende Licht im Auge ſammlen konnten, dann 
0 bar dem menſchlichen Blicke wie dem menſchlichen Geiſte die 

Macht verliehen auch das räumlich Ferne wie das längſt Ver⸗ 
gangene in ein nahe Gegenwärtiges zu verwandeln. Der 


170 


Ruhm der eigentlichen Erfindung des Fernrohres zu Anfang 
des 17ten Jahrhunderts mag wohl dem Hans Lippersheim, 
einem Brillenmacher zu Middelburg, gebürtig aus Weſel, 
nicht wie man früher annahm dem Zacharias Janſen ge⸗ 
bühren. Ein Spiel der Kinder des Erſteren, welche einige 
von ihrem Vater gefertigte Brillengläſer in eine papierne 
Röhre brachten und dadurch die Wetterfahne des Thurmes 
ſehr vergrößert ſahen, ſoll, ſo erzählte man, zur Entdeckung 
geführt haben. Da die entfernteren Gegenſtände ein ſchwäche⸗ 
res Licht zurückſtrahlen als die näheren, wird der Eindruck, 
den ſie auf unſer Auge machen, durch das ſtärkere Licht 
aus der Nähe eben ſo überglänzt als das Licht der Sterne 
von der aufgehenden Sonne. Daher pflegen wir ferne Ge⸗ 
genſtände, wenn wir ſie deutlicher ſehen wollen, durch die 
hohle Hand zu betrachten und ſchon die Alten beobachteten 
die Sterne lange vor Erfindung der Kunſt des Glasſchlei⸗ 
fens durch große Rohre, damit beim Hindurchblicken durch eine 
ſolche dunkle Höhlung das Licht welches von andren Seiten 
herkommt, vom Auge abgehalten, und dieſes hierdurch zur unge⸗ 
ſtörten Aufnahme der Lichtſtrahlen irgend eines einzelnen 
Gegenſtandes geſchickter werden möge. Kann man doch aus 
einem tiefen Bergſchacht oder Brunnen mitten am Tage ein 
Geſtirn ſehen, wenn ſo eben ein recht großer, heller Stern in 
gerader Richtung über der dunklen Grube oben am heitren 
Himmel ſteht, denn die Wände einer ſolchen tiefen Höhlung 
halten die Strahlen der Sonne und der von ihr beleuchteten 
Erdoberfläche ſo vollkommen von dem Auge ab, daß dieſem 


EI 


felbft das Licht eines Sternes mitten in der gewöhnlichen Helle, 


welche der Luftkreis am Tage hat, ohngefähr eben ſo ſichtbar wird, 
wie am Morgen in der Dämmerung, noch ehe die aufgehende 
Sonne die Gipfel der höchſten Berge beleuchtet hat. Kam 
jetzt in das Rohr das dabei zugleich die Befeſtigung des 


Glaſes in der rechten Entfernung möglich machte, noch ein 
ſtrahlenſammlendes convex geſchliffenes Glas, ja zu dieſem 


noch ein zweites, in der ſogenannten Brennweite des erſteren 
ſtehendes, welches das von jenem empfangene vergrößerte 
Bild noch einmal vergrößert an das Auge weiter gab, dann 
war das Mittel gegeben entfernte Gegenſtände eben ſo groß 


das Bild der Gegenſtände in umgekehrter Richtung in da 


1 


zu ſehen als wären fie zwanzig ja dreißigmal näher an unſer 
Auge gerückt worden. Da die convexe Linſe für ſich 11 £ 
8 


. 


** 


2 


171 


Auge bringt, fügte man anfangs zu dem Objectivglas, das 
am äußerſten Ende des Rohres die Lichtſtrahlen von außen 
aufnimmt, ein concav geſchliffenes Ocularglas an jenem Ende 
des Rohres hinzu, in welches das Auge aus unmittelbarer 
Nähe hineinblickt. Dieſes Ocularglas hat die entgegenge— 
ſetzte Wirkung der convexen Linſe beim Auffaßen und Dar⸗ 
ſtellen der Gegenſtände, es giebt deshalb dem Bilde, das 


ihm aus dem Objectivglas in umgekehrter Lage zugeſtrahlt 
wird wieder ſeine wahre, aufrechte Stellung zurück. Statt 


® 


a 


. x 


4 


der Hohllinſe wendete man jedoch ſpäter in den Fernröhren 
für irdiſche Gegenſtände mehrere, vielleicht 3 oder 4 Ocular⸗ 
gläſer an, durch deren Zuſammenwirken der Gegenſtand eben- 
falls ſeine aufrechte Stellung für das Auge erhält. Zur 
Betrachtung der Geſtirne gab man übrigens auch dem Aus 
genglas die ſtark vergrößernde flachkugliche Form. 

Die Anwendung der Vergrößerungsgläſer zur Betrach- 
tung fernſtehender Gegenſtände lag der menſchlichen Erfin— 
dungskraft fo nahe, daß jeder Sachverſtändige, der nur eins 
mal ein Fernrohr geſehen oder von der Einrichtung deſſelben 
eine deutliche Kunde bekommen hatte, ſich ſelber ein Fern⸗ 
rohr erfinden konnte. Mit Lippersheim faſt zugleich trat 
daher auch ſein Mitbürger und Kunſtgenoſſe Janſen mit den 
von ihm gefertigten Fernröhren auf und es war vergeblich, 
daß, wie man ſagt Prinz Moriz von Naſſau, welcher die 
Wichtigkeit der Erfindung für die Geſchäfte des Krieges 
erkannte, die Entdeckung wollte geheim gehalten haben; ſchon 
im Jahr 1608 ward ein in Holland gefertigtes Fernrohr zu 
Frankfurt a. M. auf der Meſſe zum Verkauf um ungeheuren 
Preis feilgeboten. Ein vornehmer Mann aus Ansbach, der 
Geheimerath Fuchs von Bimbach hatte daſſelbe geſehen und 
beſchrieb nach ſeiner Zurückkunft dem berühmten Sternkundi⸗ 
gen, Simon Marius (Maier) zu Ansbach die Einrichtung. 
Gewöhnliche Brillengläſer waren zu conver, die Gläſer aber, 
welche Marius von flachrundrer Form in Nürnberg nach feis 
ner Angabe ſchleifen ließ, thaten nicht die gehörige Wirkung, 
welche erſt durch Gläſer aus Venedig erreicht wurde, womit 
Marius jenes Fernrohr zuſammenſetzte, das ihm ſchon im 


November 1609 die vier Jupitermonde erkennen ließ. Aber 


in demſelben Jahre ſetzte ſich auch der berühmte Galilei 


e der Beſchreibung nach, die er in Venedig vernom⸗ 
men hatte, ein Fernrohr zuſammen und brachte es ſpäter 


*. 
„ 


172 


ſo weit, daß einige der von ihm gefertigten Werkzeuge rail 
Art eine mehr den 60 fache Vergrößerung gaben. Auch die 
Engländer waren ſchon im J. 1610 1 0 ſolcher, wahr⸗ 
ſcheinlich ſelbſt gefertigter Fernröhre, daß ſie die Jupitermonde 
dadurch erkennen konnten, wozu freilich keine ſehr ſtarkwir⸗ 


kenden Werkzeuge nöthig ſind. Ein Jahr darauf (1611) gab 


der große deutſche Mathematiker und Aſtronom J. Keppler 


in einem beſondren Werk über dieſen Gegenſtand die erſte 


eines eigentlichen aſtronomiſchen Fernrohres. 


genaue, ſtrengwiſſenſchaftliche Anleitung zur Zuſammenſetzung 


Der Antrieb zum Wiſſen und zum Erforſchen der bis 


dahin unbekannten Wunder der ſichtbaren Welt empfing ſeit 
dieſer Zeit einen überaus mächtigen Aufſchwung. Was 
mag das für den wackren Marius eine Freude geweſen ſeyn, 
als er ſahe daß, wie die Erde einen Mond bei ſich hat, 
Jupiter von vieren derſelben begleitet werde; mit welchem 
Staunen und Entzücken mag Galilei erfüllt worden ſeyn, 
als er durch ſein Fernrohr den Saturn betrachtete, und an 
den Seiten ſeiner Scheibe zwei Körper erblickte, welche er 
anfangs auch für zwei große, niemals von ihrer Stelle wei⸗ 


chende Monden hielt, in denen er aber ſpäter ein merkwür⸗ 
diges Ringgewölbe erkannte, welches einzig in ſeiner Art 


dieſen Planeten umgiebt und in ſchneller Bewegung umkreist. 
Zugleich erkannte dieſer berühmte Mann auch durch ſein 
Fernrohr, daß die Planeten Mercur und Venus, weil ſie auf 
einem Theil ihrer Bahn zwiſchen uns und der Sonne oder 
ſeitwärts dieſer Linie ſtehen, zuweilen eben ſo wie der Mond 
in Sichelgeſtalt oder halbvoll, in zunehmendem wie abnehmen⸗ 
den Lichte erſcheinen können, indem ſie uns dann, mit dem 


von der Sonne beleuchteten Theil ihrer Kugel auch einen 


von der Sonne abgekehrten, unbeleuchteten Theil, und wenn 


ſie genau in einer Linie mit uns und der Sonne ſich befin⸗ 


den, einmal, wie der Neumond nur die unbeleuchtete, das 


andre Mal, wie der Vollmond, nur die ganz beleuchtete 
Seite zuwenden. Erhielt man doch jetzt ſelbſt über die 
Erkenntniß der eigentlichen Naturbeſchaffenheit der Sonne 
ganz neue, unerwartete Aufſchlüße, als in den Jahren 1610 
und 1611 faſt zu gleicher Zeit Chriſtoph Scheiner in In⸗ 


golſtadt, Johann Fabricius in Oſtfriesland und Thomas 


et 


Harriot in England mitten in dem reinen Lichtquell der 


planetariſchen Welt dunkle Flecken endeckten und beobachteten. 


173 


Diefe Flecken find, wie wir ſpäter ſehen werden, Erſcheinun⸗ 
gen welche ſich in der Dunſthülle des rieſenhaft großen Son⸗ 
nenkörpers erzeugen. Sie ſtehen nicht an einem Puncte der 
Sonnenſcheibe ſtill, ſondern bewegen ſich über dieſelbe von 
Weſt nach Oſt. Ein Sonnenflecken welcher heute am weſt⸗ 
lichen Rande der leuchtenden Scheibe zum Vorſchein kam, 
hat ſich nach faſt 14 Tagen bis zum ganz entgegengeſetzten, 
öſtlichen Rande fortbewegt, verſchwindet dann aus unſren 
Augen und kommt uns nach abermals faſt 14 Tagen von 
neuem am weſtlichen Rande zu Geſicht, woraus ſchon die 
eben genannten, erſten Entdecker der Sonnenflecken den ganz 
richtigen Schluß zogen, daß die Sonne ſich, eben ſo wie unſre 
Erde, von Weſt nach Oſt um ihre Axe bewege; nicht aber 
in Zeit von 24 Stunden, ſondern von faſt vier Wochen. 
Mit welch ungleich edlerer, geiſtig höherer Theilnahme em⸗ 
pfteng damals das gebildete Europa die Kunde von den 
Eroberungen, welche der Antrieb zum Wiſſen am Sternen⸗ 
himmel gemacht hatte, als in ſpäterer Zeit die Zeitungsnach⸗ 
richten von den Eroberungen, welche irgend ein kriegsluſtiger 
König in den Ländern ſeiner Nachbarn erlangt hatte. 
Und dennoch waren die herrlichen Entdeckungen jener 
Zeit nur der erſte Anlauf zur Erweiterung des menſchlichen 
Wiſſens über die Natur des Sternenhimmels. Mit welchem Ent: 
zücken würde ein Duval den Bericht über das vernommen haben 
was unſre jetzige Aſtronomie über die Sterne weiß; den 
Bericht darüber, daß ſich dort in jenen oberen, ferneren Re⸗ 
gionen des Weltgebäudes Sonnen um Sonnen (wie unſer 
Mond um feine Erde) bewegen; daß nicht nur das bleich⸗ 
ſchimmernde Licht unſrer Milchſtraße aus den Strahlen von 
vielen Millionen weit entfernter Sterne beſtehe, ſondern daß 
in unermeßbarer Ferne, jenſeits der Region unſrer Milch— 
ſtraße noch andre millionenſtarke Heere von Sternen ſich fin⸗ 
ben „deren vereintes Licht, aus ſolchem Abſtande, nur noch 
wie ein Lichtnebel in unſer Auge fällt. Denn die Abſtände 
ſelbſt der nächſten Firfterne von uns find fo groß, daß der 
Lichtſtrahl, deſſen Fortbewegung ſo ſchnell iſt, daß ſie in jeder 
Seecunde gegen 41518 Meilen durchmiſſet, den Weg von 
dieſen Sternen bis zu uns erſt in 3 in 9 und 12 Jahren 
zurücklegen könnte; ja aus jenen fernſten Gebieten des Wel⸗ 
kenraumes, deren leuchtende Welten nur noch wie ein kaum 
erkennbarer Schimmer in unſer Auge hereindämmern, würde 


174 


SH Lichtſtrahl erſt nach Jahrtauſenden bei uns angelangen 
önnen. | | Maat af 
Und einer nicht minderen Beachtung als dieſer Hinaus⸗ 


blick in die unmeßbaren Fernen des Sternenhimmels ſind 


jene Wahrnehmungen durch das aſtronomiſche Fernrohr 


werth, welche man an den nähern Weltkörpern gemacht hat. 


Auf unſrem Nachbarplaneten Mars läßt uns der Hindurch⸗ 
blick durch gute Fernröhre die weißen Schneemaſſen erblicken, 
womit ſich, wenn es dort Winter iſt, ſeine Polargegenden 
bedecken. Wenn bei ihm die nördliche Halbkugel, auf dem 
einem Theil der jährlichen Bahn, der Sonne ſich zuwendet, 
und wenn es hierdurch Frühling und Sommer auf derſelben 
wird, dann ſieht man den großen weißen Fleck auf ihr immer 
kleiner werden, denn der Schnee thaut durch die Sonnen⸗ 
wärme hinweg. Aber zu gleicher Zeit tritt jetzt auf der ſüd⸗ 
lichen Halbkugel des Planeten der Winter ein und die weiße 
Schneezone wird größer, breitet ſich immer weiter aus, und 
ſo wieder umgekehrt wenn die ſüdliche Halbkugel ihren Som⸗ 
mer, die nördliche aber ihren Winter hat, ſo daß man es 
von der Erde aus faſt bemerken kann, wenn der Nachbar 
Mars einmal, etwa auf der nördlichen Halbkugel, wo bei uns 
Europa, Aſien und ein Theil von Amerika liegen, einen recht 


lang anhaltenden oder einen milden Winter hat. Aber außer 


den Schneemaſſen bemerkt man durch gute Fernrohre auf 
dem Planeten Mars auch die dunkelfarbigeren Gebiete der 
Meere und die hellfarbigeren der Feſtländer, ja ſogar die 
Wolken wollen einige Beobachter wahrgenommen haben, ſo 
daß man annehmen kann, daß es auf dem Mars faſt eben 
ſo zugeht und beſchaffen iſt wie bei uns auf Erden. 

Auf Jupiter und Saturn hat man auch durch die Fern⸗ 
röhre ſeltſame Entdeckungen gemacht, die ſich freilich mit unfren 
irdiſchen Naturverhältniſſen nicht ſo gut zuſammen reimen 


laſſen, wie das was man auf dem Mars ſieht. Denn um 


die Oberfläche dieſer großen Planeten ziehen ſich Gürtel von 
Wolken herum, welche nicht wie unſre Wolken, heute kom⸗ 
men, morgen verſchwinden, fondern, wie dies freilich für uns 
ein unheimlicher Gedanke iſt, länger als hundert Jahre, 
mit weniger Veränderung über denſelben Gegenden der Pla⸗ 


netenfläche ſtehen bleiben, ſo daß, wenn dort Leute De il 


von unſrer Art, mancher hochbetagte Greis, wenn er imme 


in derſelben Gegend blieb, in ſeinem ganzen langen Leben ' 


* 
ch 


175 


nur felten einmal die Sonne würde gefehen haben. Deſto 
weniger mögen ſich die Bewohner der Venus und des Mer⸗ 
cur über vielen Regen zu beklagen haben, denn dort ſcheint 

es faſt beſtändig heitren Himmel zu geben. ie 
Cben fo, wie man feit der Anwendung der Fernröhre, 
aus der Bewegung der Sonnenflecken über die Sonnenſcheibe 
hin die Entdeckung gemacht hat, daß die ſchöne Königin des 
Tages auch nicht unbeweglich feſt und ſtille ſtehe, ſondern 
ſich in faſt 4 Wochen um ihre Axe bewege, ſo hat man, mit 
Hülfe des Fernrohres, faſt an allen Weltkörpern unſres 
Sonnenſyſtemes eine ähnliche Entdeckung gemacht. Mercur, 
Venus und Mars bewegen ſich auch faſt in derſelben Zeit 
einmal um ihre Axe als die Erde; von einem Mittag bis 
zum andren, haben die Leute dort, wenn welche da wohnen, 
auch nicht viel länger oder viel kürzer als 24 Stunden zu 
warten. Dagegen dauert auf Jupiter die Zeit von einem 
Mittag zum andren nur 9 Stunden 56 Minuten, auf Sa⸗ 
turn nur 10 Stunden 16 Minuten. Als ob dieſer ſchnelle 
Wechſel der Tageszeiten ein Erſatz ſeyn ſollte für den lang⸗ 
ſamen Wechſel der Jahreszeiten; denn auf dem Jupiter dauert 
die Zeit des Winters faſt 6 Erdenjahre, auf Saturn gar 
faſt 15 Erdenjahre, während das luſtige Völklein auf dem 
Mercur von Winters Anfang bis Frühlingsanfang nur 3 
Wochen (22 Tage) zu warten hat, freilich aber auch eben 
ſo geſchwind den Frühling in den Sommer, den Sommer 
in den Herbſt muß hinüber gehen ſehen. | 
Der allernächſte Nachbar an uns, der Mond, hat zwar 
ein eben ſo langes Jahr als die Erde, denn mit dieſer zu⸗ 
gleich legt er den Weg um die Sonne zurück, dabei aber 
einen 28 mal längeren Tag als wir, fo daß dort 14 Erden⸗ 
tage lang die Sonne immer am Himmel ſteht, dann aber 
auch, eben ſo lang, auf ihm ein nächtliches Dunkel herrſcht. 
Ueber die Naturbeſchaffenheit dieſer nächſten Nachbarwelt, 
dahin ein guter Fußgänger, wenn es einen Weg zum Monde 
gäbe und wenn er jeden Tag 10 Stunden weit gienge ſchon 
nach 28 Jahren (zu der Sonne erſt nach 11000 Jahren) 
ommen könnte, durfte man allerdings durch die Fernröhre 
die meiſten Aufſchlüße erwarten. Doch muß man dieſe Erwar⸗ 
g auch nicht gar zu hoch ſpannen. Der Mond iſt 51800 
Meilen weit von uns entfernt, wenn uns nun eines unſrer 
beſten jetzigen Fernröhre eine 1000 fache Vergrößerung gewährt, 


ee 


* * R N 


176 


ſo wird dadurch nur ſo viel gewonnen, daß wir die Mond⸗ 
fläche gleich wie aus einer Entfernung von 50 Meilen über⸗ 
blicken. Von dort aus könnte freilich kein Luftſchiffer den 
Bewohnern der Erdoberfläche in ihre Fenſter ſchauen, wohl 
aber künnte man, bei vollkommen heitrer Luft, die Meere, die 
Seen, und Gebirgszüge unterſcheiden. Und darum weiß man, 
wie wir dies ſpäter beſprechen wollen, von dem Mond gar 
viele merkwürdige Dinge. 73 

Durch die neuen Augen, welche ſich der Menſch mit ſei⸗ 
ner großen Kunſt aus dem Zuſammenſchmelzen des Kalis 
und der Kieſelerde geſchaffen, hat ſich, wie wir fo eben ſahen, 
ſein Geſichtskreis nach der Ferne hin um das Tauſendfältige 
erweitert und ganz in demſelben Maaße hat ſich ſeine Sehe⸗ 
kraft auch für das Nahe verſtärkt. Wie der Glasſchleifer 
Brillen für ſolche Augen der alten Leute zu bereiten weiß, 
welche in der Ferne noch gut, in der Nähe aber ſchlecht ſehen 
und zugleich auch andre Brillen, welche für Augen gemacht 
ſind, die in der Nähe gut und ſcharf, in der Ferne aber 
ſchlecht ſehen, ſo hat ſeine Kunſt auch die Teleſcope oder 
Fernrohre zu Mikroſcopen umgeſchaffen, welche für die unmit⸗ 
telbar nahe liegende Körperwelt eine ſolche eindringende 
Schärfe haben, daß man Gegenſtände durch dieſelben dent: 
tich erkennt, welche mehrere tauſend Male feiner als ein 
. viele hundert Male kleiner als ein Sonnenſtäubchen 
ind. 

Wenn man an Menſchen, welche ſehr kurzſichtig ſind 
den Bau und Umriß des Auges genau betrachtet und den⸗ 
ſelben mit dem Bau und Umriß weitſichtiger Menſchenaugen ver⸗ 
gleicht, dann wird man bald bemerken, daß die kurzſichtigen 
Augen nach vorn mehr gewölbt, von mehr erhabener kugli⸗ 
ger Form, die fernſichtigen aber viel flachkuglicher gebildet 
ſind. Wenn beiderlei Arten der Augen, die hoch und rund⸗ 
gewölbten wie die flachgewölbten übrigens von geſunder, 
kräftiger Beſchaffenheit ſind, dann taugen die erſteren beſſer 
zum ſcharfen Sehen in der Nähe, die letzteren aber mehr 
zum ſcharfen Blick in die Ferne. Da das Menſchenauge bei 
zunehmendem Alter, wo überall die anſchwellende Fülle der 
Säfte ſich verringert, einen Theil ſeiner Wölbung einbüßt 
(flacher wird) kommt es häufig vor, daß Leute, welche in 
der Jugend ſehr kurzſichtig waren, bei zunehmendem Alter 
fernſichtiger werden, ohne daß dabei ihr gutes Geſicht 10 | 

nahe 


r 


177 


nahe Gegenſtände allzuſehr leidet. Dagegen müſſen ſehr weit 
ſichtige Augen im Alter ſich der Brillen bedienen, wenn ſie 
einen nahen Gegenſtand genau betrachten wollen und zwar 
einer ſolchen Brille deren Gläſer conver geſchliffen find, wäh⸗ 
rend die Brillengläſer, mit denen der Kurzſichtige die ent⸗ 
fernteren Dinge ſehen will, etwas concav müſſen geſchliffenſeyn. 
„Die Erfinder der Fernröhre haben in der Geſtaltung 
ihrer Gläſer die Form der weitſichtigen, die Erfinder der Mi⸗ 
kroſcope die Form der kurzſichtigen Menſchenaugen nachgeahmt. 
Jene Mikroſcope, welche gleich nach dem Bekanntwerden des 
Fernrohres von Zacharias Janſen und ſeinem Sohne ge⸗ 
fertigt wurden, leiſteten deshalb zur Vergrößerung ſehr klei— 
ner, naher Gegenſtände bei weitem nicht ſo viel als die ſpä⸗ 
ter (etwa um 1660) von Hook zuſammengeſetzten, weil die⸗ 
ſer faſt kuglich gebildete Glaslinſen dazu anwendete, wäh⸗ 
rend man ſich früher nur der flachkuglichen Convexlinſen be- 
dient hatte. 

So hatte man nun auch künſtliche Augen, an denen die 
Vorzüge, welche das geſunde kurzſichtige Auge durch ſeinen 
Scharfblick für ganz nahe Gegenſtände hat, um das Tau⸗ 
ſendfältige geſteigert waren, ſo wie durch das Fernrohr der 
Scharfblick des fernſichtigen Auges. Seitdem hat ſich dem 
Antriebe zum Erkennen und Wiſſen eine Tiefe der Schöpfun⸗ 
gen Gottes nach dem vorhin unbekannten Kleinen und Klein⸗ 
ſten hin aufgethan, welche eben ſo unermeßbar und voller 
Wunder iſt als die Welt der großen Dinge, deren Erkennt⸗ 
niß uns das Fernrohr aufſchließt. In jedem Waſſertropfen, 
in jedem von Auflöſung ergriffenen Stoffe der thieriſchen oder 


vegetabiliſchen Körper zeigt ſich uns durch das Mikroſcop 
eine Thierwelt, die an Verſchiedenheit der Formen und Arten 


wohl eben ſo mannichfaltig ſeyn mag als die Welt der gro⸗ 
ßen Land⸗ und Waſſerthiere, die wir mit bloßen Augen 
ſehen. Allenthalben, wo nur eine nährende Flüſſigkeit da 
iſt, regt ſich Wachsthum, bewegt ſich ein Leben, ſelbſt auf 
dem Schnee wohnen hin und wieder Millionen der mikroſco⸗ 
piſchen Thiere; ein Raum, ſo groß als eine Quadratlinie 
kann viele Tauſende derſelben umfaſſen; ein Abſtand, ſo groß 
als die Breite eines Haares, iſt für manche dieſer Kleinſten 
ſo viel als für uns der Weg einer Viertelſtunde; durch die 
7 Her zarteften Gefäßchen unſres Leibes, welche für das 
einſte Haar zu eng wären, könnten dieſe Thierlein eben fo 

J ' 12 


178 


ohne Anſtoß hindurch gehen, als wir durch die Thore und 
Straßen unſrer Städte 

Aber nicht nur in den größern Räumen der Außenwelt, | 
auch in der Innenwelt unſres eignen Leibes ſo wie der Lei⸗ 
ber der Thiere und Pflanzen hat man durch das Mikroſcop 
Dinge entdeckt, von denen die Gelehrten der früheren Zeiten 
keine Ahnung hatten. So die Geſtalt und Beſchaffenheit der 
kleinen, linſenförmigen Körnchen des Blutes, die feinen 
Röhrchen der Nerven, erfüllt von einer Flüſſigkeit, in wel⸗ 
cher die Kräfte des Lebens all ihre Wunder wirken. Man 
erkennt durch das Mikroſcop die Bewegung der nährenden 
Säfte im durchſichtigen Flügel einer Mücke, den Bau der 
Eingeweide im Leibe einer Käſemilbe, den Verlauf der Ner⸗ 
venfäden und die Zuſammenfügung der „Muskeln im Fuße 
einer Spinne, die allmälige Bildung des Jungen im Ei eines 
Flohkrebſes. 

Dieſes Alles iſt aus der Erfindung des Glaſes und ihrer 
immer weitren Benutzung hervorgegangen, unſer Glas aber 
könnten wir aus der Kieſelerde nicht darſtellen, hätten wir 
nicht die Kalien; hätten wir nicht Potaſche und Soda, oder 
das aus dieſer in gereinigtem Zuſtand hervorgehende Natron. 
So hängt ſelbſt der Entwicklungsgang unſres Wiſſens und 
Forſchens an Fäden, deren letztes Ende ſich an ein Ereigniß 
knüpft, welches vielleicht bei einem Hirtenfeuer ſich zugetra⸗ 
gen hat, an deſſen Gluth ein Klumpen Natron aus einem 
ägyptiſchen Natronſee, mit dem Sand der Wüſte zu einer 
Mutchigen Maſſe zuſammenſchmolz. 


21. Die Grundſtoffe der Säuren. 


Zum Theil ſind die Elemente, welche wir hier betrach⸗ 
ten wollen, unter dem Namen der brennbaren Körper zu⸗ 
ſammengefaßt worden. Das Selen, welches man hieher 
rechnet, hat noch mehrere Eigenſchaften mit den eigentlichen 
Metallen gemein, namentlich den metalliſchen Glanz und die 
Schwere, welche viermal die des Waſſers übertrifft. Durch 
andre Eigenthümlichkeiten nähert ſich daſſelbe, mehr noch als 
der Arſenik dem Schwefel. Als Stellvertreter von dieſem 
findet ſich dasſelbe in den Tellurerzen mit dem Tellurmetall 
und mit dem Eiſen in einigen Schwefelkieſen verbunden, ſo 
wie auch hin und wieder in Geſellſchaft des vulkaniſchen 


179 


Schwefels. Wie alle Mittelweſen in der Natur, die weder 
recht das Eine noch das Andre ſind, ſpielt das Selen in 
unſrer irdiſchen Sichtbarkeit eine ſehr zweideutige Rolle; ſeine 
Verbindung mit dem Waſſerſtoffgas ſcheint zu den ſtärkſten 
Giften zu gehören und wir dürfen es keinesweges bedauern, 
daß das Selen ſo ſelten in der Natur vorkommt. BEL 
Ungleich entſchiedner als der eben erwähnte Grundſtoff 
hat der Schwefel die Natur der brennbaren Körper an 
ſich genommen, auch behauptet dieſer, ſchon durch die Menge 
in welcher er vorkommt, einen ungleich höheren Rang unter 
den bildenden und geſtaltenden Mächten der Erdveſte. Er 
findet ſich in reinem Zuſtand und in ganzen Maſſen vor 
allem in Italien und Sizilien, ſo wie in Spanien und Po⸗ 
len. Bei Scanſano in Toscana betrug die Maſſe des 
ausgegrabenen Schwefels in 8 Monaten 4 Millionen Pfund; 
Sizilien führte noch vor Kurzem alljährlich zwiſchen 20,000 
und 30,000 Centner aus; an den Kratern der Vulkane, na⸗ 
mentlich in Südamerika und Java ſetzt er ſich in reinem Zu⸗ 
ſtand anz auch aus dem Schwefeleiſen (Schwefelkies) gewinnt 
man ihn häufig. Der Schwefel vertritt bei ſeinen Verbin⸗ 
dungen mit den Metallen die Stelle des Sauerſtoffgaſes und 
wo von dieſem irgend eine Gewichtsmenge hinreicht um das 
Oxyd zu erzeugen, wird das doppelte Gewicht des Schwe⸗ 
fels erfordert um aus demſelben Metall das Schwefelerz 
hervorzubringen. Bei der Verbindung des Schwefels mit den 
Metallen wird in vielen Fällen eben ſo ein Aufflammen von 
Licht wahrgenommen, wie bei dem Verbrennen der Körper 
mit Sauerſtoffgas. | 
Der Schwefel gehet aber auch ſeinerſeits ſehr leicht eine 
Verbindung mit dem Sauerſtoffgas ein. Er entzündet ſich bei 
der Berührung mit der Lichtflamme und wird nun zur ſchwef⸗ 
ligen Säure, deren erſtickend widriger Geruch uns Allen be⸗ 
kannt iſt. Wenn ſich das Sauerſtoffgas in noch größerer 
Menge mit dem Schwefel verbindet, dann entſteht daraus 
die Schwefelſäure des höheren Grades, welche in ihrem, von 
Waſſer gereinigten Zuſtand Vitriolöl genannt wird. In 
großer Menge hat ſich die Schwefelſäure bei der Geſtaltung 
der Erdveſte gebildet und mit der Kalkerde ſich zu Gyps ver⸗ 
bunden; hin und wieder trifft man dieſelbe, aufgelöſt in 
aſſer, in der Nähe der vulkaniſchen Krater an. Der Schwer 
fel wird öfters unter den Beſtandtheilen der Gewächſe, ſehr 
. 12 


Bw 


180 


beſtändig ſelbſt in dem Körper der Menſchen gefunden, wo 


er in den innerſten wie in den äuſſerſten Theilen — im Ge⸗ 
hirne wie ſelbſt in den Haaren — ſeine Beimiſchung ver⸗ 


räth. ie a 4 | 

Weſentlicher jedoch als der Schwefel gehört der Phos⸗ 
phor unter die Grundſtoffe des Körpers der Menſchen, ſo wie 
der vollkommneren Thiere; er iſt in der Maſſe des Gehirns 
und der Nerven wie in der Form der Säure mit Kalkerde 
verbunden, im Knochen vorhanden und kann ſelbſt noch aus 
den flüſſigen Ausſcheidungen des Urins gewonnen werden. 
Kunkel, ein Scheidekünſtler welcher der Kunſt des Gold⸗ 
machens nachgieng, hat jenen merkwürdigen, leicht entzünd⸗ 
lichen Körper entdeckt, welcher ſelbſt ohne wirklich aufzuflam⸗ 
men, den mit ihm beſtrichenen Körpern die Eigenſchaft im 


Dunklen zu leuchten mittheilt. Der Menſch hatte ihn, ſo 


lange ſein Geſchlecht beſtund in dem Innerſten ſeines Leibes 
gehegt und mit ſich herumgetragen, von der Geburt an bis 
zum Grabe, ohne ſich jemals dieſes Beſitzes bewußt zu wer⸗ 
den. So Vieles iſt in uns, geht mit uns, von dem wir 
Nichts wiſſen; ſo wenig kennen wir uns ſelber! | 

In der äuſſeren Natur wird der leicht entzündliche Phos⸗ 


phor nicht in reinem Zuſtand, ſondern nur in ſeiner Verbin⸗ 


dung mit dem Sauerſtoffgas — als Phosphorſäure, und 
auch als ſolche nicht rein, ſondern mit Metallen, wie z. B 
dem Blei, dem Eiſen, und mit der Kalkerde vereint gefun⸗ 
den. Obgleich er ſelbſt unter den Beſtandtheilen unfres Kör⸗ 
pers vorkommt, kann er dennoch auf dieſen als ſtarkes Gift 
wirken. Eine ſehr kleine Quantität des reinen Phosphors in 
den Magen gebracht, wirkt tödtlich. 

Der Phosphorſäure in mancher ihrer Eigenſchaften ähn⸗ 


lich iſt die Flußſäure, die mit der Kalkerde vereint den 


meiſt buntfarbigen Flußſpath, mit der Thonerde und Kie⸗ 
ſelerde den Topas bildet. Die Natur ihrer Grundlage iſt 
noch wenig bekannt, eine ihrer augenfälligſten Eigenſchaften 
iſt die, daß ſie die Kieſelerde ſehr ſtark angreift und auflöſt, 
ſo daß man namentlich mit ihr in Glas ätzen kann. Auch auf 
die meiſten Metalle wirkt die Flußſäure als Auflöſungsmittel, 
ſo, daß man dieſelbe, um ſie rein zu erhalten, in Flaſchen 
von Platina oder Gold aufbewahren muß. Flußſäure, von 
einem höheren Grade der Reinheit und Stärke, gehört zu 
jenen Körpern, welche denen die ſie entdecken und auffinden 


181 


große Schmerzen und Gefahren bringen können. Wenn man 
nur die Spitze einer Nadel in ſie eintaucht und dann einen 
Finger damit berührt, wird eine ſchlafloſe Nacht und ein 
leichter Fieberanfall davon die Folge ſeyn. Wenn die Haut 
15 Finger auch nur auf Augenblicke den Dämpfen der Fluß⸗ 
ſäure (Fluor⸗Waſſerſtoffſäure) ausgeſetzt war, bilden ſich, 
nach heftigem Schmerz, eiternde Stellen und bösartige Schä⸗ 
den, welche nur ſchwer und langſam wieder heilen. Dabei 
nehmen ſelbſt die umliegenden Theile der Hand die weiße 
Farbe des Todes an. | | 92 ind 

Der Scheidekünſtler wird bei dieſer, wie bei vielen and⸗ 

ren Gelegenheiten daran erinnert, daß er durch ſeine Kunſt 
die verhüllende Decke hinweghebt, unter welcher die Endpunkte 
des irdiſch körperlichen Entſtehens und Vergehens verborgen 
liegen: die urkräſtigen Anfänge eines beſondren leiblichen 
Werdens, das ſich nicht entfalten kann ohne das ſchon Ge⸗ 
wordene, welches in ſeine Nähe kommt, ſo weit ſeine Macht 
an demſelben reicht, zu zerſtören. Findet ſich doch ſelbſt im 
Waſſer (nach Cap. 23) ein Element, welches durch ſeinen 
polariſchen Gegenſatz in fo wohlthätiger Gebundenheit gehal⸗ 
ten iſt, daß es in dieſem Verein zum Nahrungs- und La⸗ 
bemittel aller Lebendigen der Erde wird. Dieſes Element, 
als Waſſerſtoffgas bekannt, giebt zum großen Theil den 
Früchten die Lieblichkeit ihres Geſchmackes, dem Wein ſeine 
erquickende Stärke; es iſt in den meiſten Speiſen, welche 
wir genießen ein unentbehrlicher Beſtandtheil. Dennoch kann 
das Waſſerſtoffgas, wenn es aus ſeinen Banden ent⸗ 
laſſen als reines Urelement hervortritt, zu einer furchtbaren 
Macht werden, indem es, mit atmoſphäriſcher Luft vermiſcht, 
an jedem Funken ſich entzündet und gleich dem entzündeten 
Schießpulver Alles um ſich her in Flammen ſetzt und zer⸗ 
ſchmettert. Selbſt in ſeiner ungewöhnlicheren Verbindung mit 
Kohle, Phosphor und Schwefel bildet es Luftarten, die 
beim Einathmen ſchnell tödten können und auch in unver⸗ 

miſchtem Zuſtand, ſtatt der gewöhnlichen Luft eingeathmet, 
nimmt es dem Leben die Macht ſeines Fortbeſtehens. Es 
iſt eine höhere Ordnung des Seyns und Beſtehens, nach 
welcher alle einzelnen Dinge der Sichtbarkeit zu dem heilfa- 
1 Del der Erhaltung und beſtändigen Wiedererneuerung 
des Ganzen vereint ſind. Der Menſch kann durch ſeine Kunſt 
jene höhere Ordnung verändern und die Elemente von dem 


182 


Geſetz, dem fie unterworfen waren, entbinden, aber dieſe Frei⸗ 
ge find nicht mehr, wie bei ihrer Gebundenheit im 
zienſte des Lebens, ſondern jener auflöſenden Gewalt, welche 
öfters ihren anſteckenden Einfluß auch über die Elemente 
eines lebenden Körpers verbreitet, der in ihren Bereich kommt, 
indem ſie auch dieſe aus der Unterwerfung unter die Geſetze 
des Lebens und ſeines Bildungstriebes losreist. | 
Von der Entbindung des Chlors aus jenem Verein 
mit dem Natronmetall, welcher als Kochſalz ein faſt unent⸗ 
behrlicher Beſtandtheil des menſchlichen Haushaltes iſt, ſpra⸗ 
chen wir im Allgemeinen ſchon oben (S. 153). Wenn man 
in einer Retorte ein Gemiſch aus Kochſalz, Graubraunſtein⸗ 
erz und aus einer mit Waſſer verdünnten Schwefelſäure der 
Erhitzung ausſetzt, dann wird das Natronmetall mit dem 
Sauerſtoffgas des Manganerzes vereint zum Oxyd (zum 
Mineralalkali), welches alsbald von der Schwefelſäure in 
Beſitz genommen wird, während das Chlor, aus ſeinem bis⸗ 
herigen Beſitz des Metalles durch die ſtärkere Säure ver⸗ 
drängt, als ein dunkelgelber (faſt zeiſiggrüner) Dampf her⸗ 
vortritt. Obgleich ein brennendes Wachslicht das man in’ 
dieſe Dampf- oder Gasart bringt, nicht verlöſcht, ſondern 
mit rauchender Flamme darinnen fortbrennt, wirkt dieſelbe 
dennoch auf das Leben der Thiere und Menſchen, welche ſie 
einathmen, vernichtend; dieſe ſterben augenblicklich davon und 
ſelbſt dann wenn etwas Chlorgas unter die athembare, atmo⸗ 
ſphäriſche Luft gebracht wird, macht das Einathmen eines 
ſolchen Gemiſches heftige Reizung der Luftröhre und drückende 
Schmerzen in der Bruſt. Viele brennbare Körper, ſo⸗ 
gar die meiſten Metalle, entzünden ſich, wenn ſie in gepul⸗ 
vertem Zuſtand dem Chlorgas ausgeſetzt werden, von ſelbſt 
in dieſem, und verbinden ſich während des Fortglühens mit 
ihm zu ſalzartigen Chlormetallen. Während uns bereits 
manche der eben erwähnten Eigenſchaften an jene des Sauer⸗ 
ſtoffgaſes erinnern, hat das Chlorgas auch darinnen Aehn⸗ 
lichkeit mit der Lebensluft, daß es mit Waſſerſtoffgas ge⸗ 
mengt eine Knallluft bildet, welche ſchon durch die Strahlen 
der Sonne mit zerſchmetternder Gewalt ſich entzündet. Unter 
Einwirkung einer ſchwächeren Tageshelle vereint es ſich allmälig 
mit dem Waſſerſtoff zu dem farbloſen Chlorwaſſerſtoffgas, das 
mit außerordentlicher Heftigkeit von dem gewöhnlichen Waſſer 
eingeſogen wird und mit dieſem eine der ſtärkſten Säuren: 


183 


die Salzſäure bildet. Man gewinnt biefe auch mittelſt 
der Zerſetzung des Kochſalzes durch Schwefelſäure unter aller⸗ 
hand dabei nöthigen Vorſichtigkeitsmaaßregeln. Unſer eigner, 
lebender Körper bedarf ſolcher Vorrichtungen nicht; er ent⸗ 
bindet in ſeinem verborgnen Laboratorium das Chlor aus 
dem Kochſalz und wendet daſſelbe als einen gewöhnlichen 
Beſtandtheil des Magenſaftes, in einem freilich vielfach ge⸗ 
bundenen Zuſtand, zur Zerſetzung der genoßenen Speiſen an. 
Von unvergleichbar viel geringerer Bedeutſamkeit in der 
irdiſchen Natur als das Chlor ſind zwei andre nicht minder 
zu den Grundſtoffen gezählte Körper, welche ebenfalls das 
Meer zu ihrer vorzüglichen Wohnſtätte haben: das Brom 
und das Jod. Das Brom findet ſich, obwohl immer nur 
in ganz geringer Menge, mit dem Kochſalz verbunden im 
Seswaſſer und wird wie das Jod auch aus der Aſche einiger 
Seepflanzen gewonnen. Bei gewöhnlicher Temperatur der 
Luft bildet daſſelbe eine Flüßigkeit, deren leicht ſich entwick⸗ 
lende, übelriechende Dämpfe eben ſo wie das Chlor zur Zer⸗ 
ſtörung thieriſcher Anſteckungsſtoffe und ſchädlicher Dünſte, 
die in der Luft enthalten ſind, dienlich ſeyn ſollen. Das 
Jod wird in verſchiedenen Seethieren und Seepflanzen, ſo 
wie in einigen Mineralquellen gefunden, zeigt ſich beim Er⸗ 
hitzen als veilchenblauer Dampf, beim Erkalten in kleinen 
ſtahlgrauen, metalliſch glänzenden Kryſtallen, welche beim 
Anfeuchten verdunſten und dabei einen Geruch von ſich geben, 
der jenem des Chlores ähnlich iſt. In großen Gaben wirkt 
das Jod als Gift, während es in kleinen ohne allen Nach⸗ 
kheil als Arzneimittel, z. B. gegen Kröpfe angewendet wird. 
Auch der brennbare Grundſtoff der Borarfäure, von den 
Chemikern Bor genannt, hat in der irdiſchen Körperwelt 
eine ſehr geringe Verbreitung und Wichtigkeit. Melt 
Ein ganz andrer Fall iſt dieſes mit dem Grundſtoff jener 
Erde, welche einen der Hauptbeſtandtheile unſrer Gebirge, 
und zwar den vorherrſchendſten bildet: mit dem Grundſtoff 
der Kieſelerde. Dieſer erſcheint als ein dunkelbraunes 
Pulver, das ſich nicht ſchmelzen läßet, an der Luft aber leicht 
entzündlich iſt und mit lebhafter Flamme verbrennt. Das 
fo entſtandene Oxyd, obgleich es auf unſrer Zunge keinen 
ſauren Geſchmack erregt, hat alle übrigen Eigenſchaften einer 
Säure und würde deshalb richtiger Kieſelſäure als Kieſelerde 
benannt werden. In ihrer polariſchen Stellung als Säure 


= Re * aan 


184 


verbindet ſich die Kieſelerde mit den verſchiedenſten Erden 
und Alkalien, und ein großer Theil der Steinarten unſrer 
Erdrinde gehört zu dieſen Verbindungen. Der Menſch hat, 
wie bereits erwähnt, ſeit alter Zeit dieſes Verhältniß der Kie⸗ 
ſelerde zu andren Stoffen für ſeinen Haushalt benutzt, indem 
er aus der Zuſammenſchmelzung des Kieſels mit Alkalien 
das Glas, aus der Vermengung deſſelben mit der Kalkerde 
den Mörtel, aus der Verbindung kieslicher Theile mit thoni⸗ 
gen. und kalkigen allerhand feuerfeſte oder ſteinartig dichte 
Geſchirre für Küche und Keller bereitet. Auch unter den Ele⸗ 
menten des Menſchenleibes kommt die Kieſelerde, wiewohl in 
ſehr geringer Menge, namentlich im Haare vor, während ſie 
ungleich allgemeiner und häufiger in verſchiedenen Pflanzenar⸗ 
ten gefunden wird. 10 
Bei dieſer Gelegenheit wollen wir es nicht unterlaſſen 
an gewiſſe Beobachtungen zu erinnern denen man freilich oft, 
durch mancherlei Ausdeutungen ihren eigentlichen Werth zu 
benehmen, oder welche man ganz hinwegzuläugnen verſucht 
hat, die aber dennoch immer von neuem ſich in der Erfahrung 
bewährt haben und allerdings in der Lehre von den Grund⸗ 
ſtoffen einer Erwähnung werth ſind. Hat doch ſelbſt ein ſo 
roßer Chemiker wie Berzelius keinen Anſtand genommen 
jene Thatſachen in einem eignen Kapitel ſeines Lehrbuches, 
das zur Ueberſchrift die Frage hat: »ſind die Metalle ein⸗ 
fach? « zu beachten. | 
Mehrere namhafte Naturforfcher, wie Schrader, Bra⸗ 
connet, Greif haben Samen, z. B. von Kreſſe in ver⸗ 
ſchiedenen Subſtanzen, deren Zuſammenſetzung wir als genau 
bekannt zu betrachten pflegen, ausgeſäet, ſo namentlich in zer⸗ 
ſtoßenen Schwefelblumen oder Kieſel, in gepulvertem Bleioxyd, 
Bleiſchrot u. ſ. w. Die keimenden Samen wurden mit deſtil⸗ 
lirtem Waſſer begoſſen; die Pflanzen wuchſen, man ſchnitt 
ſie von Zeit zu Zeit ab, trocknete und verbrannte ſie. Die 
Aſche, welche von dieſem Verbrennen zurückblieb, wog meh⸗ 
rere Drachmen, während das Gewicht des Samens, aus dem 
man die Pflanzen gezogen hatte, nur eine Drachme betrug. 
Bei der näheren chemiſchen Unterſuchung jener Aſche entdeckte 
man in ihr die nämlichen alkaliſchen, erdigen und ſalzigen 
Beſtandtheile, welche in der Aſche derſelben Pflanzenart ge⸗ 
funden wird, wenn dieſe auf freiem Felde erwachſen iſt, z. 
B. (auch bei denen die in Schwefelblumen oder Blei erwach⸗ 


— 


185 


fen waren) Kieſelerde, Thonerde, phosphorſaure und kohlen⸗ 
ſaure Kalkerde, kohlenſaure Talkerde, ſchwefelſaures und koh⸗ 
lenſaures Kali, Eifenoryd. Dieſe Stoffe konnten weder aus 
den Subſtanzen, die der Pflanze zum Boden dienten, noch 
aus dem Waſſer gezogen werden, und die ohnehin gewagtere 
Vermuthung, daß ſie in der Luft enthalten ſeyen, wurde in 
neurer Zeit namentlich von Dr. Vogel dadurch großentheils 
beſeitigt, daß er den zum Verſuch angewendeten Pflanzen den 
Luftwechſel durch Glasglocken möglichſt verwehrte. Es ſchien uns 
deshalb kaum eine andre Erklärungsweiſe für das Vorkom⸗ 
men jener Stoffe unter den Beſtandtheilen des Gewächſes 
übrig zu bleiben als die, daß dieſelben durch den Vegetations- 
prozeß ſelbſt aus den gegebenen, nach unſrem Begriff allerdings 
ganz andersartigen Elementen, durch einen Vorgang der Um⸗ 
wandlung erzeugt ſeyen. Möchte es doch, eben ſo wie bei 
ſolchen in Schwefelblumen oder Bleipulver aufkeimenden 
Pflanzen das Vorkommen der Kieſel- und Thonerde, ſchwer 
erklärlich ſeyn, woher dem Leibe eines Küchleins im Eie die 
Kalkerde zur Bildung ſeiner Knochen gekommen ſey, die ſich 
weder aus einem Verluſt der Eierſchaale, noch aus dem 
Kalkgehalt der flüßigen Beſtandtheile des unbebrüteten Eies 
in genügender Weiſe aufzeigen läßet. > 

Doch ſolche Verwandlungen, welche die Lebenskraft be— 
wirkt, werden uns in näher eingehender Weiſe bei der Be— 
trachtung der Zuſammenſetzung organiſcher Körper beſchäfti⸗ 
gen, von deren Grundſtoffen wir in einem der nächſten Ca— 
pitel handeln wollen, wenn wir vorher noch im Vorübergehen 
we von der Anwendung der Säuren werden gefprochen 
haben. 5 


22. Die Schwefelſäure und die Salzſäure. 


Natel / 

In einer kleinen Bürgerſchule fragte der Schulinſpector 
die Knaben wozu die Luft diene? welchen Nutzen dieſelbe in 
der irdiſchen Natur habe. Der eine der gefragten Knaben 
war am ſchnellſten mit der Antwort bei der Hand, er ſagte: 
‚fie dient zum Abkühlen. Ein zweiter ſagte: zum Anblaſen 
des Feuers und als dem fragenden Herren auch dieſe Ant— 
wort noch nicht genügte, ſagte ein dritter, die Luft treibt die 
Flügel der Windmühlen um, in denen das Korn gemahlen 
wird zum Brodbacken; ein vierter holte ſeine Antwort aus 


186 


noch weitrer Ferne her, er ſprach: die Luft führt die Schiffe 
über das Meer. An das was am nächſten lag und zugleich 
das Bedeutendſte war, das man von dem Nutzen der Luft 
ſagen konnte, dachte keiner der jungen Leute, daran nämlich 
daß ohne die Luft die ganze Natur um uns her ſtumm, 
kalt und todt ſeyn würde. Denn nur durch die Luft wird 
dir der Ton der Glocke vernehmbar, oben in den höchſten 
Höhen dahin der Menſch kam, wo die Luft ſchon ungemein 
dünn iſt, hört man die Menſchenſtimme bereits in der Ent⸗ 
fernung von wenig Schritten nicht mehr; das Abfeuern eines 
Piſtoles giebt nur einen ſchwachen Hall und in dem voll⸗ 
kommen luftleeren Raume kann ſich der Ton einer Schlaguhr⸗ 
glocke nicht mehr hörbar machen. Aber dieſe Entbehrung für 
das Ohr, wann es keine Luft um die Erde her gäbe, wäre 
noch immer das minder ſchwere Uebel. Das Auge hätte 
dabei nicht minder, auf mehr denn eine Weiſe zu leiden. 
Denn wäre kein Luftkreis um die Erde her, dann gäbe es 
auch am Morgen wie am Abend keine Dämmerung, die uns 
nur daher kommt, daß die von der Sonne beſtrahlte Luft 
den Widerſchein des empfangenen Lichtes herab auf die Erde 
fallen läſſet; am Morgen, beim Aufgang der Sonne, würde 
die Tageshelle, ohne ſich vorher anzumelden, plötzlich in die 
dunkle Nacht hereinbrechen und am Abend, wenn das letzte 
Stückchen des Sonnenrandes unter den Horizont ſänke, würde 
das Licht des Tages ohne Abſchied zu nehmen, ohne uns 
noch einmal beim Scheiden aus den vergoldeten Wolken und 
aus dem Abendroth einen freundlichen Blick zuzuwenden, in 
einem Nu von uns ſcheiden und auch die Finſterniß der 
Nacht träte ſo unangemeldet zu uns herein, daß der Wand⸗ 
rer auf gefährlichem Gebirgsweg, ohne den Fuß weiter zu 
ſetzen, da Halt machen müßte, wo die Sonne ſeinem Auge 
unterging. Und auch dieſes wäre noch immer nicht die ſchreck⸗ 
lichſte der Folgen, welche das Hinwegnehmen der Luft für 
uns Erdenbewohner haben würde. Die Luft, und zwar vor 
allen jener in ihr enthaltene Grundſtoff, den wir ſchon öfter 
genannt haben und gleich nachher näher betrachten wollen: 
das Sauerſtoffgas hat für Alles was da lebet und webet 
auf Erden noch einen viel weſentlicheren Einfluß und Nutzen: 
ohne die Luft könnte namentlich kein Feuer noch Lämpchen 
brennen, kein Bier, noch Wein, noch Eſſig werden. Und 
zwar nicht in dem Sinne, in welchem jener Junge es meinte, 


187 


als er ſagte: die Luft diene dazu das Feuer anzublaſen, ſon⸗ 
dern weil das Sauerſtoffgas der Luft zum Entſtehen der 
leuchtenden und wärmenden Flamme eben ſo nothwendig iſt, 
als das Aufgehen der Sonne, dazu, daß es auf Erden Tag 
werde. Dränge keine Sonne mit ihrer ſtrahlenden Macht in 
unſre irdiſche Welt herab, dann hätten wir keinen Tag; 
dränge nicht das Sauerſtoffgas mit ſeiner anzündenden Kraft 
in die Maſſe des brennbaren (entzündlichen) Körpers hinein 
um mit dieſer ſich zu vereinen, dann gäbe es kein Licht in 
unſrem Zimmer, kein Feuer auf unſren Herden; aus Hopfen 
und Malz könnte kein Bier, aus dem Safte der Trauben 
kein Wein, aus den Abgängen der mancherlei Naturerzeug⸗ 
niſſe kein Eſſig werden. Und auch hiermit wäre noch nicht 
Alles geſagt, was ſich über den Nutzen der Luft für die irdi⸗ 
ſche Natur ſagen ließe. Nähme man uns die Luft, vor 
Allem das Sauerſtoffgas, das in ihr iſt, von dem Munde 
hinweg, ſo wäre es bei dir und mir in etlichen Minuten mit 
dem Leben aus; kein Froſch und kein Fiſch, kein Dachs un⸗ 
ten in ſeiner Höhle und kein Vogel oben in den hohen Lüf⸗ 
ten kann leben ohne Luft zu ſchöpfen. Und nicht nur ohne den 
Sauerſtoff, auch ohne den Stickſtoff der Atmosphäre, wenn er auf 
einmal hinwegkäme, würden wir und andre lebendige We⸗ 
ſen nicht beſtehen können. Denn im Fleiſche der Thiere 
das wir genießen, wie in dem Brode das uns nährt und 
in der Milch die das Kind trinkt, in den meiſten Labeträn⸗ 
ken, damit wir Alle uns erquicken, iſt der Stickſtoff ein gar 
weſentlich bildendes Element. | 
So dient die Luft auſſer zur Abkühlung, auffer zum 
Feueranblaſen, auſſer zum Bewegen der Windmühlen und 
Forttreiben der Schiffe gar noch zu vielfach andrem Nutzen, 
wie wir dies bald ausführlicher betrachten wollen. f 
Aber nicht bloß dann, wenn man manche Leute nach 
dem Nutzen der Luft fragte, würde man ſolche ungenügende 
Antworten erhalten, ſondern noch mehr würde das geſchehen, 
wenn man um den Nutzen gewiſſer andrer Grundſtoffe und 
Körper ſich erkundigen wollte. Hätte man vor mehreren Men⸗ 
ſchenaltern auch einen gelehrten Mann, nicht bloß den Zög⸗ 
ling einer Bürgerſchule gefragt: welchen Nutzen mag wohl 
die Soda (das Natron) in der irdiſchen Natur haben? — 
er würde kaum einen andren bedeutenden haben angeben können 
als jenen, den, wie wir oben ſahen, die Seifen- und Glas⸗ 


188 


fabricanten daraus ziehen. Seitdem aber die Scheidekunſt es 
nachgewieſen hatte, daß das Natron einer der Hauptbeſtand⸗ 
theile des Kochſalzes ſey, welches in der ganzen irdiſchen Na⸗ 
tur, nicht nur im Haushalt des Menſchen eines der bedeu⸗ 
tungsvolleſten Elemente iſt, konnte man freilich auf jene 
Frage noch eine ganz andre, vielumfaſſendere Antwort geben. 

Bei der Betrachtung der wichtigſten Eigenſchaften einiger 
der im vorigen Capitel erwähnten Säuren wollen wir uns 
an einen Mann erinnern, der von ſeinen ſeltnen Gaben eine 
zum Theil ſeltſame und dennoch glückliche Anwendung ge⸗ 
macht hat. Dieſes war der deutſche Arzt, Johann Rudolph 
Glauber, der im Jahr 1604 zu Karlſtatt geboren, gar 
vieler Herren Brod gegeſſen hat, indem er zuerſt nach den 
Niederlanden zog, dann aber ſeinen Pilgerſtab noch ſehr oft 
weiter ſetzte, bald in Salzburg, bald in Frankfurt a. Main, 
in Kitzingen und in Köln, ſo wie noch an manchem andren 
Orte ſich aufhielt und zuletzt im Jahr 1668 die Ruheſtätte 
für ſeine viel gewanderten Gebeine in Amſterdam fand. Glau⸗ 
ber hat bei ſeinen alchymiſtiſchen Verſuchen, welche auf nichts 
Geringeres als auf die Entdeckung der Goldmacherkunſt und 
eines Lebenselixires hinausgiengen, eine ſo vertraute Bekannt⸗ 
ſchaft mit mehreren der kräftigſten Säuren geſchloſſen, daß 
er durch ihre Hülfe der Wiſſenſchaft mehr denn eine vorhin 
verborgene Tiefe aufſchloß. Wir wollen es dem ſeltſamen 
Manne gern zu gute halten, daß er ſich, wie viele andere 
ſeiner Zeit- und Kunſtgenoſſen etwas hinreiſſen ließ von 
der Lüſternheit nach den Früchten vom Baume des Lebens: 
nach dem Univerſalmittel das gegen alle Krankheiten, ja wi⸗ 
der den Tod ſelber helfen ſollte; nach dem Steine der Wei⸗ 
ſen, »durch den ſich Gold aus andren Metallen und Grund⸗ 
ſtoffen ſchaffen läffet.» Denn obgleich der Baum des Lebens vor 
ſeinen wie vor andrer Menſchen Händen wohl verwahrt blieb, 
hatte er doch auf dem Irrweg, den er danach einſchlug, im 
Schweiß ſeines Angeſichtes Manches Brauchbare gefunden. 
Seine Verdienſte um die Scheidekunſt erſtrecken ſich bis her⸗ 
unter auf die Verbeſſerung der chemiſchen Oefen, ſein ge⸗ 
wandter Geiſt entdeckte mancherlei Mittel und Wege, durch 
welche dem Scheidekünſtler ſeine Arbeiten erleichtert und aus⸗ 
träglicher gemacht werden konnten. Die concentrirte Schwe⸗ 
felſäure oder das Vitriolöbl war unter den Stoffen die der 
Chemiker zu ſeinem Dienſte braucht, einer ſeiner vertrauteſten 


189 


Lieblinge, mit welchem er viel auszurichten pflegte. Unter 
andrem ſchüttete er jene ſtarke Säure auf Kochſalz; da ent⸗ 
ſtund eine ſehr merkliche Erhitzung, die Vitriolſäure be⸗ 
mächtigte ſich des kaliſchen Grundſtoffes des Salzes, das 
Chlor aber, mit Waſſerſtoffgas zur Salzſäure verbunden, 
entwich in Dampfform. Nach dieſer Austreibung eines Star⸗ 
ken durch einen noch Stärkeren blieb dem fleißigen Manne 
ein durch ſeine Kunſt erzeugtes Salz: das ſchwefelſaure Na⸗ 
tron übrig, das derſelbe gegen mancherlei Beſchwerden und 
Leiden des menſchlichen Leibes mit ſo günſtigem Erfolge an⸗ 
wendete, daß er, ſo wie andre, dem Salze den Beinamen 
eines » wunderbaren» gaben. Es iſt noch jetzt als Glau⸗ 
bers Wunderſalz „(Sal mirabile Glauberi) » in Ehren und 
im Gebrauch und viele meiner jungen Leſer werden dieſes 
zwar ſehr ſchlecht ſchmeckende, dabei aber gut wirkende Pur⸗ 
dieren aus eigener Erfahrung kennen. 

Wir ſind bei dieſer Gelegenheit auf eine Benutzung des 
Schwefels und ſeiner Säure zu ſprechen gekommen, von wel⸗ 
cher zwar ſchon oben (S. 153) beiläufig die Rede war, wel⸗ 
che ſich aber dennoch erſt hier in ihrem ganzen Umfange 
überblicken läßet. 

Bei einer Frage über den Nutzen des Schwefels wür⸗ 
den wir von vielen unſrer Landsleute, alten wie jungen, 
eben ſo ungenügende Antworten erhalten, als bei dem oben 
erwähnten Examen über den Nutzen der Luft ſich vernehmen 
ließen. Es würde nicht an Solchen fehlen die keinen andren 
Gebrauch des Schwefels für die menſchlichen Gewerbe anzuge- 
ben wüßten als den: daß man Schwefelhölzchen damit bereite, 
daß man die Fäßer, in welche der Wein, oder an manchen 
Orten auch das Bier gefüllt werden ſollen, damit ausſchwefle 
oder daß man den Schwefel zur Bereitung des Schieß⸗ 
pulvers gebrauche. Dieſen Angaben würden dann manche 
beßer Unterrichtete noch hinzufügen, daß die Schwefelſäure 
in der Färberei zum Auflöſen des Indigos, ſo wie zur Fer— 
tigung des Alauns und des Kupfervitriols, von den Oelläu⸗ 
terern zum Entſchleimen des Oeles angewendet werde, auch 
würden Etliche es wiſſen, daß man, wie wir dies oben aus— 
einander ſetzten, mit der Schwefelſäure das Natron für die 
Fabrication der Seife und des Glaſes gewinne. 

Dennoch wäre mit dieſem Allen nur erſt ein ſehr kleiner 
Theil jener Anwendungen genannt, welche die menſchliche 


190 


Kunſt von dem Schwefel und von der Schwefelſäure macht. 
In dem Reiche der unterirdiſchen Natur, namentlich für die 
Metalle, vertritt wie ſchon erwähnt der Schwefel die Stelle 
des Oberherrſchers über die Grundſtoffe: des Sauerſtoffgaſes, 
von welchem wir bald weiter ſprechen werden. Eben ſo wie 
ein brennbarer Körper im Sauerſtoffgas, verbrennt auch ein 
Silber oder Kupferblech fo wie ein Eiſendrath mit heller Flam⸗ 
me, wenn man dieſe Metalle dem Dampfe ausſetzt, der ſich 
aus dem Schwefel in einem verſchloßenen Gefäße bei der 
Hitze von 114 Gr. Reaumur bildet. Macht man dagegen 
das Kupfer oder Eiſen glühend und bringt Schwefel darauf, 
dann geräth das ſchwerflüßige Metall alsbald ins Schmel⸗ 
zen; es träufelt wie Wachs an der Lichtflamme hinab. 
Aber obgleich der Schwefel unter den Metallen eben ſo 
eine Rolle des Herrſchers ſpielt, als das Sauerſtoffgas im 
geſammten Reiche der Grundſtoffe, unterwirft er ſich dennoch 
ern und leicht dieſem noch gewaltigeren Herrſcher; er ſelber 
tellt ſich zu dieſem in das Verhältniß eines brennbaren Kör⸗ 
pers, und beide, Schwefel und Sauerſtoff vereint bilden 
dann eine Macht, welcher die Scheidekunſt ihre erfolgreich⸗ 
ſten Siege, ihre meiſten Herrſcherthaten in der Welt der 
irdiſchen Grundſtoffe verdankt. Nicht nur die Salzſäure, 
auch die meiſten andren Säuren, namentlich die Salpeter⸗ 
ſäure hätte der Menſch nicht, oder wenigſtens nicht ſo leicht 
in ſeine Gewalt bekommen, ohne die Schwefelſäure zu Hülfe 
zu nehmen, welche ihre ſchwächeren Schweſtern aus ihren 
Verbindungen mit andren Stoffen hervorzieht. Die ſonder⸗ 
barſten Werke bringt die Kunſt mittelſt der Schwefelſäure 
hervor, ſogar eine Verwandlung des Stärkmehles und man⸗ 
cher andren organiſchen Stoffe in Zucker (Süßes aus Sau⸗ 
rem zu bereiten) iſt ihr durch die Anwendung der Schwefel⸗ 
ſäure gelungen. Was wäre die Chemie, was wären die 
meiſten Gewerbe, von denen des Seifenſieders und Stearin⸗ 
kerzenfabricanten an bis hinauf zu jenen Arbeiten in edlen 
Metallen, welche das Gold ausſcheiden, ohne die Schwefel⸗ 
ſäure! Ä N b 
In der Bereitung dieſes wichtigen Stoffes hat keine 
andre Nation ſo Großes geleiſtet als die der Engländer. 
Man hört zuweilen das Sprüchwort: Amſterdam iſt auf 
Häringe gebaut, welches andeuten ſoll, daß Holland zum gro⸗ 
ßen Theil die erſte Begründung ſeines Wohlſtandes dem 


€ 


191 


115555 Negſerung bet 12 des en in er 
lien, Pe Errichtung eines Monopoles für den Schwefel⸗ 
En zu erſchweren gedachte, da fehlte nicht viel, daß ein 

ieg zwiſchen England und Neapel ausgebrochen wäre. Der 
reine Schwefel, welchen, wie wir oben (S. 179) ſahen in 
der größeſten Menge aus Sizilien gebracht wurde, gieng in 
ganzen Schiffsladungen nach England und wurde hier mit 
ſolchem Vortheil in den Bleikammern verbrannt, daß man 
aus einem Centner Schwefel drei Centner ſtarke Schwefel⸗ 
ſäure gewann. Dieſe, ſchon allein durch die Ausſcheidung 
des Natrons aus dem Kochſalz, (m. v. C. 19) gab den 
Glas⸗ und Seifenfabriken einen ſolchen Aufſchwung, daß dieſel⸗ 
ben mit ihren verhältnißmäßig wohlfeileren Waaren Portugal 
und Spanien, einen großen Theil von Amerika, Aegypten 
füt das aſiatiſch-türkiſche Reich, Perſien und Indien er⸗ 
üllten. 

Aber für die eben genannten Länder bereitet England 
nicht bloß Seife und Glas, ſondern für ſie, wie noch für 
manche andre Länder, ſpinnen ſeine rieſenhaften Spinnma⸗ 
ſchinen, weben, drucken und färben ſeine kunſtreichen Fabri⸗ 
ken eine ungeheure Menge von wollenen Zeugen. Nament⸗ 
lich iſt das Bleichen dieſer Stoffe ein ſehr weſentliches Stück 
zu ihrer Vervollkommnung und Vollendung. Bei unſrer ge⸗ 
wöhnlichen Art zu bleichen, ſetzen wir das Garn oder die 
gewebten Zeuge, welche aus Pflanzenfaſern gefertigt find, 
auf Raſen gelegt dem Sonnenlichte und der Luft aus, indem 
wir dieſelben durch Benetzen fortwährend feucht zu erhalten 
ſuchen. Wenn wir genau wiſſen wollen, welche Wirkung 
dieſe Behandlungsweiſe hat, dürfen wir nur irgend eines 
unſrer künſtlichen Gewebe lang über die gewöhnliche Zeit 
hinaus der Anfeuchtung, der Luft und dem Lichte ausſetzen. 
Wir werden finden, daß das Zeug fortwährend an Gewicht 
abnehme und zuletzt geht es in eine Auflöſung ſeiner Faſern 
über wobei es einem lockren, zwiſchen den Fingern zerreibli⸗ 

piergewebe gleicht, bis am Ende auch dieſer Reſt 
zerſtäu t und von Wind und Regen nach allen Richtungen 


1 8 
192 


hin zerſtreut wird. Jeder weggeworfne Tuch- oder alte Lein⸗ 
wandlappen, wenn Luft und Feuchtigkeit auch nur bel ganz 
mäßiger Wärme auf ihn einwirken, kann uns durch dieſe all⸗ 
mälige Zerſetzung bezeugen, daß die Faſer der Leinwand, des 
Hanfes oder der Baumwolle ebenſo einer Verweſung unter⸗ 
liege wie das faulende Holz. Wir werden ſpäter weiter es 
zu entwicklen ſuchen, daß der Kohlenſtoff, der ein Hauptbe⸗ 
ſtandtheil der Pflanzenfaſer iſt, wenn Feuchtigkeit und Luft 
dies begünſtigen, ſich fortwährend mit dem Sauerſtoffgas 
verbinde, und daß hierbei nicht minder als bei dem Verbren⸗ 
nen, obwohl ungleich langſamer, Kohlenſäure gebildet werde. 
Bei dem gewöhnlichen Bleichen unſrer Zeuge nehmen wir 
deshalb eine Kraft zur Hülfe, deren Wirkung zunächſt zwar 
eine langſam zerſtörende, dennoch aber zu unſrem Zweck die⸗ 
nende iſt, weil vor Allem jene der Zerſetzung ſchon näher⸗ 
ſtehenden organiſchen Anhängſel und Einmengungen, welche 
der Faſer eine beſchmutzende Färbung geben, angegriffen und 
hinweggeführt werden, wobei freilich auch das Gewebe ſelber 
einen Abgang und Verluſt erleidet, der ſich ſchon durch 
die Gewichtsabnahme zu erkennen giebt. Damit jene auflö⸗ 
ſenden, reinigenden Einflüße ihre gehörige Wirkung thun 
können, iſt ein wochen- ja monatelanges Bleichen, und je 
nachdem die Zahl der Zeuge groß iſt, die Benutzung eines 
verhältnißmäßigen Grundſtuͤckes zum Bleichplatz nöthig. Für 
unſren Haushalt reichen die zu ſolchen Zweck uns dargebo— 
tenen Mittel und Kräfte aus, wie ſollten aber die Fabriken 
Englands damit auskommen, welche nicht für einzelne Haus⸗ 
haltungen oder für ein einzelnes Land ſondern für ganze 
Völker und große Ländergebiete der Erde zu weben und zu 
bleichen haben. Was würde in dem reichbevölkerten Eng— 
land, wo jeder Fußbreit des Bodens angebaut und benutzt 
iſt, ein Bleichplatz koſten, auf welchem zehntauſend Stücke 
Baumwollenzeug mehrere Monate lang gebleicht werden ſoll⸗ 
ten; wie hoch würde ſich dabei das Tagelohn für die Arbei⸗ 
ter belaufen, welche die Zeuge benetzen müßten. Dieſelbe 
Menge der Zeuge aber wird in einer Bleicherei bei Glasgow 
(nach Liebigs chemiſchen Briefen S. 107) ſchon in weni⸗ 
ger denn 8 Tagen gebleicht und zwar auf einem 8 mal klei⸗ 
neren Raume; denn jene Fabrik bleichet täglich 1400 Stück 
und kann dabei ihre Arbeit nicht nur im Sommer ſondern 
auch im Winter fortſetzen, wenn unſre Raſenbleichereien gro⸗ 
ßentheils feiern müſſen. Fra⸗ 


— 


193 


Fragen wir was den engliſchen Bleichereien dieſen ganz 
auſſerordentlichen Vortheil und Vorzug verſchafft habe? dann 
erfahren wir, daß die Kunſt eines ſolchen ſchnellen und hier⸗ 
bei qugteich vollkommenen Bleichens nicht hätte erlangt wer⸗ 
den können ohne die Kunſt der Schwefelſäurebereitung. Wenn 
nämlich bei der oben (S. 153) erwähnten Gewinnung des 
Natrons aus dem Kochſalze vier Gewichtstheile der concen- 
trirten Schwefelſäure mit fünf Gewichtstheilen Kochſalz in 
chemiſchen Wechſelverkehr verſetzt werden, dann bildet ſich, 
aus dem Vereine der Schwefelſäure mit dem Natron das 
auf S. 189 erwähnte, nach Glauber benannte Salz. Aber 
bei dieſem Hinabdringen der übermächtigen Schwefelſäure in 
die Beſitznahme des zum Natron werdenden metalliſchen 
Grundſtoffes (C. 18) wird das Chlor (S. 154) aus feinem 
bisherigen Verband entlaſſen, das mit Waſſerſtoffgas vereint 
die Salzſäure bildet. i 

Das Chlorgas, von deſſen zerſtörenden Eigenſchaften 
wir oben ſprachen, wurde früher, bei der Bereitung des 
Natrons, öfters zum großen Nachtheil der benachbarten Pflan⸗ 
zenwelt aus den Schlöten der Fabriköfen entlaſſen. Bald 
jedoch lernte der Menſch dieſe ihm vorhin feindliche Macht 
in eine ihm freundliche umſchaffen, indem er ſie in ſein Bünd⸗ 
niß nahm, da wo es ihn um ſchnelle Zerſtörung andrer ihn 
beläſtigender und feindſeliger Stoffe zu thun war. Jenes 
für unſre Sinnen öfters gar nicht bemerkbare, furchtbare 
Gift, das ſich als Anſteckungsſtoff (Miasma) in den Spi⸗ 
tälern erzeugt, wo viele an todgefährlichem Fieber Erkrankte 
beiſammen liegen, das Miasma der Peſt, der Aushauch der 
Verweſung welcher den Grüften entſteigt, in die man in Zei⸗ 
ten eines gewaltſamen Hinſterbens Haufen von Leichnamen 
warf, alle dieſe Mächte der Zerſtörung, gegen welche die 
menſchliche Kunſt früher Nichts vermochte, hat man durch 
die Anwendung der Dämpfe des Chlors zu beſiegen gewußt. 
Dieſe, in ihrer eignen gasartigen Form, gehen ſelbſt den 
gasartigen, organiſchen Dämpfen in alle die Räume nach, 
wo dergleichen ſich befinden und nimmt denſelben, durch Entzie⸗ 
hung des Waſſerſtoffgaſes, ihre große Macht. 
Augenfälliger noch als auf ſolche luftartige Formen des 
organiſchen Stoffes wirkt das Chlor auf jene gröberen, wel- 
che als Schmutz, namentlich an den künſtlichen Geweben aus 
Pflanzenfaſern an unſren linnenen, ö oder thie⸗ 

1 | 


BR . Su nr — 


194 


riſch wollenen Zeugen haften. Ueberall wo jene Dämpfe ſol⸗ 
chen loſe, anklebenden Beimiſchungen begegnen, löſen ſie 
dieſelben in auſſerordentlicher Schnelle auf, ſie betreiben, im 
Grunde genommen, einen ähnlichen Vorgang der Verweſung 
und Zerſetzung als der Einfluß des Lichtes, der Luft und 
des Waſſers auf unſren Bleichplätzen, aber jener Vorgang 
iſt mehr in der Hand des Menſchen, als der andre ſo ſehr 
von der Witterung und dem langwährendem Befeuchten ab⸗ 
hängige. Man hat das Chlor in Verbindung mit Kalk: als 
ſogenannten Chlorkalk zur leichteren Aufbewahrung und wei⸗ 
ten Verſendung geſchickt gemacht und ſeitdem iſt es, nament⸗ 
lich aus den Fabriken der Natronbereitung weit und breit 
nach den Bleichereien ausgegangen, denen es alle die vor⸗ 
hin erwähnten Erleichterungen ihres Geſchäftes gewährt. In 
wenig Stunden und mit überaus geringen Koſten befreit man 
durch Anwendung des Chlorkalkes und ſeiner wäßrigen Auf⸗ 
löſung die Baumwollenzeuge von den ihnen anhaftenden, fär⸗ 
benden (ſchmutzenden) Stoffen und bei dieſer Art des Blei⸗ 
chens, wenn ſie mit Geſchick und Sachverſtand gehandhabt 
wird, leiden die Zeuge weit weniger als durch die Raſen⸗ 
bleiche, fo daß hin und wieder ſelbſt die Landleute in unf 
rem deutſchen Vaterlande ſich des Chlorkalks zum Bleichen 
bedienen. g 
Unter den vielen andren Anwendungen der Salzſäure 
zum Nutzen und Dienſt des menſchlichen Haushaltes fuhrt 
Liebig (chem. Briefe S. 108) noch eine namentlich auf, an 
welche fruher, ehe die Salzſäure ſo leicht zu haben war, 
wenigſtens im Großen nicht gedacht werden konnte. Die 
thieriſchen Knochen beſtehen, den Gewichtstheilen nach aus 
ohngefähr zwei Drittheilen phosphorſaurer Kalkerde und einem 
Drittel thieriſcher Gallert oder Leim. Bringt man die Kno⸗ 
chen in eine mit Waſſer verdünnte Salzſäure, dann loſt 
dieſe alsbald die Knochenerde auf und läßt den damit ver⸗ 
bundenen Leim, ganz in Form der Knochen, biegſam wie 
Leder zurück, welcher, von der ihm etwa anklebenden Salz⸗ 
ſäure gereinigt, wie andrer Leim benutzt werden kann. So 
iſt die Salzſäure den Arbeitern in allerhand Stoffen, von 
den Metallen an bis zum hinweggeworfenen Knochen, von 
auſſerordentlicher Nutzbarkeit. Daß ſie aber in dieſe allge⸗ 
meinere Anwendung kam, das hatte doch auch nur durch Hülfe 
der Schwefelſäure erlangt werden können. aa 


195 


Dieſe, welche in vieler Hinſicht vor allen andren Säu⸗ 
ren auf den Rang einer Königin Anſpruch machen kann, 
wurde zuerſt in Deutſchland, aus einem faſt in all unfren 
Gebirgsarten vorkommenden Eiſenerze: aus dem ſpäter noch 
zu erwähnenden Schwefelkieſe gewonnen, der aus einer Ver⸗ 
bindung von beiläufig fünf Theilen Eiſen mit ſechs Theilen 
Schwefel beſtehet. Da, wo dieſes Schwefeleiſen häufig aus 
den Bergwerken heraus gefördert wurde, wie bei Goßlar am 
Harz und im böhmiſch⸗ſächſiſchen Erzgebirge legte man es 
auf einen Roſt, unter welchem man Feuer anmachte. In 
der lang fortwirkenden Gluth des Feuers verbrannte ein Theil 
des Schwefels, ein Theil des Eiſens bildete mit dem Sauer- 
ſtoffgas das rothe Eiſenoxyd. Das ſo geröſtete Erz wurde 
dann auf einen feſten, etwas geneigten Boden zuſammenge— 
häuft und mehrere Jahre der Luft, dem Regen und Schnee 
ausgeſetzt. Allmälig bildet ſich hierbei der Eiſenvitriol, wel⸗ 
cher leicht aufloslich im Waſſer, von dem auffallenden Regen 
durch die Rinnen zu den Behältniſſen hingeleitet wird, aus 
denen man ihn öfters von neuem über die geröſteten Kieſe 
ſchüttet, bis die Auflöſung eine gewiße Stärke erreicht hat, in 
welcher man ſie im Keſſeln über dem Feuer abdampft und 
erſt jetzt den grünen, ſehr herbe ſchmeckenden Eiſenvitriol ge— 
winnt, der bei den Färbereien auf mancherlei Weiſe benutzt 
wird. Aus dieſem Eiſenvitriol wird aber durch die Glühe— 
hitze die Schwefelſäure gewonnen, die ſich durch fortgeſetzte 
Abdampfung über Feuer mehr und mehr von dem noch mit 
ihr verbundenen Waſſer befreien und hierdurch zu einem ho— 
hen Grad der Stärke bringen läſſet. Aber die auf ſolchem 
mühſamen und langwierigen Wege gewonnene Schwefelſäure 
würde dem großen Bedürfniß der europäifchen, vor allem der. 
engliſchen nicht genügen, obgleich nur allein das Vitriolwerk 
zu Beierfeld im ſächſiſchen Erzgebirge jährlich gegen und über 
1200 Centner concentrirte Schwefelſäure oder Vitriolbl berei— 
tet. Um ſo weniger war die in verſchiedenen Ländern auf 
die Weiſe der ſächſiſchen gewonnene Schwefelſäure für Eng— 
lands Handel und Gewerbe ausreichend, da dieſes Land 
auch andre Welttheile mit dieſem vielfach nützlichen Erzeug— 
niß zu verſorgen hat. Daher muß man jenen erſten Verſuch, 
welchen, wie man ſagt, ein nach England eingewanderter 
Deutſcher Namens Möller dort machte, die Schwefelſäure 
auf näherem Wege, aus dem Verbrennen, des reinen Schwe⸗ 

13 


RN 7 * RER wi. * 3 


196 


fels zu erzeugen, als den Anfang eines ganz neuen Auf 


ſchwunges der Gewerbthätigkeit betrachten. | 

Bewunderung, mit einer Art von unheimlichem Grauen 
vermiſcht, überfällt den Fremden der zum erſten Mal in eine 
jener rieſenhaften Bleikammern hineinblickt und, ſo weit dies 
geſchehen kann, die Weiſe ſich anſchaulich machet, in welcher 
darinnen der erſtickende Schwefeldampf zur Säure verdichtet 
wird. Der Menſch ſcheint ſich hier mit den Mächten der 
vulkaniſchen Krater in einen Wettkampf begeben zu haben. 
Räume, ſieht man welche 120 Fuß lang, 40 breit und 20 Fuß hoch, 


ja zum Theil von jener noch größeren Weite ſind, daß man 


ein zweiſtöckiges Haus von mittlerer Größe in ſie hineinſtel⸗ 
len könnte. Dieſe rieſenhaften Kammern ſind in ihrem Inn⸗ 
ren ganz mit bleiernen Platten, welche dicht mit Blei zuſam⸗ 
mengelöthet find, ausgekleidet, unten auf ihrem Boden ſtehet 
einige Zoll hoch Waſſer. Der Schwefel wird auf einer Stein⸗ 
platte, in der Kammer ſelber oder in einem Ofen unter derſelben 
verbrannt, deſſen Ausführungsrohr in die Kammer hinein⸗ 
geht. Aber das Verbrennen des Schwefels giebt nur fchwef- 
lichte Säure, welcher man einen größern Antheil von Sauer⸗ 
ſtoffgas zuführen muß, wenn ſie zur eigentlichen Schwefel- 
ſäure werden ſoll. Und dieſen größeren Antheil empfängt 
ſie durch ein Recht des Stärkeren über den Schwächeren. 
Wenn man nämlich mit der Maſſe des Schwefels etwa ein 
Zehntel ihres Gewichtes ſalpeterſaures Kali (gemeinen Sal- 
peter) oder ſalpeterſaures Natron vermiſcht, dann entreißt bei 
ſeinem Verbrennen der Schwefel der Salpeterſäure einen 
Theil ihres Sauerſtoffes, und, jetzt zur Schwefelſäure ge— 
worden, vertreibt dieſer mächtige Stoff die Salpeterſäure 
ganz aus ihrem Beſitz, bildet ſchwefelſaures Natron oder 
Kali. Die verdrängte Säure iſt bei ihrem Hinaustritt aus 
der bisherigen Wohnſtätte, durch den Raub des Sauerſtof— 
fes, den der verbrennende Schwefel an ihr begieng, zu jenem 
niedreren Range einer Halbſäure herabgeſunken, den auch der 
Dampf der ſchweflichten Säure einnimmt, welcher die Kam⸗ 
mer erfüllt. Aber auch in dieſer Form (als Stickſtoffoxyd⸗ 
gas) bleibt die ſchon einmal Beraubte von der ſtärkeren 
Schweſter nicht unangetaſtet; die ſchweflichte Säure, welcher 
hierbei ihr Drang zur Verbindung mit dem Waſſer zu Hülfe 
kommt, entreißt dem Stickſtoff, von deſſen Anweſenheit in 
der Salpeterſäure wir ſpäter reden werden, auch noch jenen 


8 


197 


Antheil des Sauerſtoffgaſes, durch den es als halbſaures 
Gas beſtund, jene wird jetzt zur eigentlichen Schwefelſäure, 
welche ſich begierig mit den Waſſerdämpfen vereint und von 
der Decke wie von den Wänden tropfenweis in das Waſſer 
hinabrinnt, das ſich am Boden der Kammer oder der Ne— 
benkammer befindet. Jetzt jedoch bleibt der chemiſchen Kunſt 
noch ein Hauptgeſchäft übrig: das Abdampfen des Waſſers 
durch einen zuletzt überaus hoch geſteigerten Hitzegrad und 
die endliche Darſtellung der Schwefelſäure in dem möglichſt 
ſtarken, waſſerfreien Zuſtand. Hierbei kommt denn das Pla- 
tinametall zu der Ehre und vorzugsweiſen Benutzung, die 
es vor allen andren Materialien der Geräthſchaften verdient. 
Dieſes Metall wird ſelbſt bei der Hitze, welche der Schwe— 
felfäure das Waſſer entriß, das fie fo kräftig feſthielt, nicht 
geſchmolzen, auch die ſtärkſte Schwefelſäure vermag daſſelbe 
nicht aufzulöſen, darum nehmen die Beſitzer der Schwefel— 
ſäurefabriken keinen Anſtand für einen einzigen Keſſel aus 
jenem edlen Metall 10,000 ja 20,000 fl. aufzuwenden, denn 
wenn einige dieſer Fabriken (nach Liebigs Angabe) im Ver⸗ 
lauf eines Jahres 60,000 Centner und ſelbſt die von mittle— 
rem Belange 20,000 Centner Schwefelſäure darſtellen und 
in den Verkehr der Gewerbe bringen, dann trägt jenes auf 
die Anlage verwendete Capital ſeine reichlichen Zinſen. 
Wir genießen in unſeren Tagen wohlfeilen Kaufes eine 
Ueberfülle von Bequemlichkeiten, welche unſre Väter auch um 
vieles Geld ſich nicht hätten verſchaffen können; zum großen 
Theil verdanken wir dieſen Vorzug der Schwefelſäure und 
ihrer Macht über die andren Grundſtoffe. Wie ſich die 
Schnelligkeit, in welcher wir durch ein bloßes Reiben unſrer 
Zündhölzchen, zu denen ebenfalls die Wirkſamkeit der Schwe⸗ 
felſäure uns den Stoff gab, ein Feuer entzünden zu der 
früheren, langſameren Entzündungsweiſe durch Stahl, Stein 
und Zunder verhält, fo die Erleichterung des jetzigen Betrie— 
bes vieler der einflußreichſten Gewerbe zu der vormaligen 
Weiſe des Betriebes. 5 i 


23. Die chemiſche Polariſation. 
So mächtig der Zug war, der die Schwefelſäure, wenn 


man ſie mit Kochſalz vermiſchte, zur Verbindung mit dem 
Natron bewegte, und ſo überwiegend ſich auch hierbei die 


198 


anziehende Kraft jener Säure über die Kraft der Salzſäure 
zeigte, giebt es dennoch ein Mittel die ſiegreiche Macht aus 
dem feſt ergriffenen Beſitzthum wieder heraus zu ziehen. Doch 
iſt dies auf gewöhnlichem Wege nur dadurch möglich, daß 
man der Schwefelſäure einen andren Grundſtoff darbietet, 
zu deſſen Verbindung ſie noch einen ſtärkern Zug hat als zu 
der Vereinigung mit Natron. Dieſes wird durch die Be⸗ 
handlung des Glauberſalzes oder ſchwefelſauren Natrons mit 
Pflanzenkali oder Potaſche bewirkt. Eben ſo wie bei dem 
oben (C. 16) erwähnten Raffiniren des Silbers die Schwe⸗ 
felſäure das Silber, mit dem ſie vereint war, fahren läſſet 
und ſich in die Verbindung mit dem Kupfer verſenkt, ſo ent⸗ 
läßt auch die ſtarke Säure das Natron aus ihrem Beſitzſtande 
um ſich das Pflanzenkali der Potaſche zuzueignen, deren 
Kohlenſäure ſich jetzt dem Natron beigeſellt, aus deſſen Ver⸗ 
band ſie leicht, durch bloße Erhitzung, wieder ausgetrieben 
werden kann. f 

Bei dieſer Gelegenheit müſſen wir, nach Liebigs Vor⸗ 
gang, Einiges über einen Sprachgebrauch erwähnen, der 
ſeit längerer Zeit in das Gebiet der Scheidekunſt eingeführt 
worden iſt. 2 

An zwei Magnetnadeln ſind ſich ohnläugbar jene Enden 
ihren Weſen und Eigenſchaften nach verwandt, welche beide 
die gleiche Richtung nach Norden oder nach Süden haben. 
Dennoch ziehen ſich dieſe gleichartigen Enden nicht gegenſei⸗ 
tig an, ſondern ſie ſtoßen ſich ab und fliehen ſich, während 
jene, deren Richtung die ganz entgegengeſetzte iſt, ſich leb— 
haft anziehen und zu vereinigen ſuchen. Eben ſo bemerken 
wir auch bei dem chemiſchen Verkehr der Stoffe, daß in 
einer aus vielfachen Elementen zuſammengemengten Auflöſung 
nicht eine Säure die andre, nicht ein Kali das andre an— 
ziehe und mit ihm ſich verbinde, ſondern vielmehr jene Stoffe 
ſich vereinen, die von ganz entgegengeſetzter Natur und Bez 
ſchaffenheit ſind: die Säuren mit den Kalien oder alkaliſchen 
Erden und umgekehrt. Selbſt von jenem wechſelſeitigen Ab⸗ 
ſtoßen und Abſcheiden der gleichartigen Stoffe, das ſich mit 
dem Abſtoßen der gleichnamigen Pole zweier Magnete ver: 
gleichen läſſet, geben uns die vorhin erwähnten Vorgänge 
mehrere augenfällige Beiſpiele. 

Aus dieſem Grunde muß freilich der gewöhnliche Aus⸗ 
druck, welcher das Zuſammenſtreben der polariſch entgegen⸗ 


199 


geſetzten Stoffe, wie der Säuren und Alkalien, als chemi⸗ 
ſche Verwandtſchaft und die größere oder geringere Stärke, 
in welcher ein Stoff nach der Verbindung mit dieſem oder 
jenem verſchiedenen Stoffe ſtrebt, als nähere oder fernere 
Grade der Verwandtſchaft bezeichnet, in einem andren Sinne 
verſtanden werden als der iſt, den wir im gemeinen Leben 
mit dem Worte Verwandtſchaft verbinden. Die Kinder eines 
und deſſelben Elternpaares, die ſich in ihren äußren Zügen 
ſo wie an Eigenſchaften ähnlich ſind, Brüder und Schwe— 
ſtern ſind ſich verwandt, ſolche die aus ganz andren Fami— 
lien und Völkerſchaften herſtammen, ſind dieſes nicht. Wollte 
man denſelben Begriff des Wortes auf die Grundſtoffe und 
ihre Verbindungen ausdehnen, dann müßte man die Säuren 
unter einander als nahe Verwandte betrachten und eben ſo 
auch wieder die Alkalien und alkaliſchen Erden. Was jedoch 
dem Streben nach chemiſcher Vereinigung zu Grunde liegt 
und dieſem ſeine eigenthümliche Stärke giebt, das iſt nicht 
die gemeinſame Abſtammung und die nahe Uebereinſtimmung 
der Eigenſchaften und Kräfte, ſondern gerade die Verſchie—⸗ 
denheit. Je weiter in dieſer Beziehung die Stoffe von ein- 
ander entfernt ſtehen, deſto ſtärker iſt der Drang, der unter 
günſtigen Umſtänden ihre Vereinigung herbeiführt und wie 
dagegen der Fall eines Körpers aus geringerer Höhe von minderer 
Kraft und Geſchwindigkeit iſt, ſo wird auch die gegenſeitige 
Anziehung der Stoffe immer ſchwächer, je näher fich diefel- 
ben ihrer eigenthümlichen Beſchaffenheit nach ſtehen. 
Uebrigens findet auch hierbei noch Etwas ſtatt, was uns 
an die unſrem eigenen Weſen näher ſtehenden Naturverhält— 
niſſe erinnert. Der Zug der Freundſchaft des Menſchen zu 
einem Thiere kann nie ſo groß ſeyn als der des Menſchen 
zu andren Menſchen, oder der des Thieres zu Seinesgleichen. 
So ſtehen zwar das Sauerſtoffgas und das Waſſerſtoffgas 
ihren Eigenſchaften nach in weitem Abſtand von dem Gold und 
Platinametall, es iſt aber in dieſen Gegenſätzen kein natür⸗ 
licher Zug zur Vereinigung, während dagegen das Gold mit 
dem Queckſilber, das Sauerſtoffgas mit dem Kohlenſtoff, da 
wo dieſer durch die Kräfte des organiſchen Lebens dem atmo— 
ſphäriſchen Zuſtand näher getreten iſt, oder mit dem ſchnell 
r Phosphor und Schwefel leicht Verbindungen 
eingehen. At 
Derſelbe Grundſtoff der ſich in Beziehung zu einem 


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200 


andren als Säure verhalten kann, übernimmt öfters im Ver⸗ 
hältniß zu einem Dritten die entgegengeſetzte Rolle eines ka⸗ 
liſchen Grundſtoffes. So der Schwefel, wenn er jetzt mit 
dem Waſſerſtoffgas, dann mit dem Sauerſtoffgas, einmal 
als die Säure bildend, das andre Mal als dem Zuſtand 
der Säuerung ſich ergebend ſich zur Waſſerſtoffſchwefelſäure 
oder zur eigentlichen Schwefelſäure vereint. 


1 


Wir haben hier, nach einem ſehr erweiterten Maaßſtabe, 


daſſelbe vor uns, was wir ſchon oben (Cap. I als Polari⸗ 
tät und polariſche Spannung am Magnet kennen lernten und 


der Grund der polariſchen Entgegenſetzung ſo wie des Stre⸗ 


bens nach Vereinigung dieſer Gegenſätze iſt hier derſelbe, 
welcher er dort war. Im Allgemeinen, ſo kann man ſagen, 
wiederholt ſich durch alle Gebiete und Reihenfolgen der chemi⸗ 
ſchen Polariſation der Unterſchied und Gegenſatz den wir zwi⸗ 
ſchen Säuren und Alkalien, zuletzt aber jener den wir zwi⸗ 
ſchen der Atmoſphäre und dem Körper der Planeten bemer— 
ken, den ſie umhüllt. Denn wie der herrſchende Beſtandtheil 
der Atmoſphäre: das Sauerſtoffgas den allgemeinſten Ge⸗ 
genſatz zu allen andren Grundſtoffen der irdiſchen Sichtbar⸗ 
h bilde, das ſoll uns eine nähere Betrachtung deſſelben 
ehren. 


24. Die Grundſtoffe der organiſchen Körper. 


Ein Häuflein Aſche, großentheils aus Kalkerde beſtehend, 
iſt der einzige Reſt der nach dem Verweſen, ſelbſt des voll- 
kommenſten unter allen organiſchen Körpern: des menſchli⸗ 
chen Leibes zurückbleibt. Die andren Elemente deſſelben ha⸗ 
ben auch aus dem ſcheinbar wohlverſchloſſenen, durchſichtigen 
Sarge, in welchem man den Leichnam eines Alexander des 


Großen verwahrt hatte, ihren Ausgang gefunden, denn ſie 


waren von luftartiger Natur, oder leicht geneigt aus der 
ſcheinbar feſten in die Luftform überzugehen. 5 
Zwei Drittel der Beſtandtheile des Leibes der Menſchen 
und der vollkommneren Thiere macht das Waſſer aus und 
auch von dem übrigen Drittel gehört nur ein ſehr geringer 
Theil jenen mehr zum feſten Zuſtand geneigten Stoffen an, 
die wir in dem letztvorhergehenden Capitel betrachteten. 
Der Grundſtoffe, die zunächſt den organiſchen Leib, im 
Pflanzen- wie im Thierreiche bilden, find viere: Kohlen— 


201 


und Waſſerſtoff, Stickſtoff und Sauerſtoff. Wir 
betrachten hier zunächſt nur die beiden erſteren, während den 
beiden letzteren ein beſonderes Capitel angewieſen iſt. 
Selten nur wird der Kohlenſtoff in unſrer irdiſchen 
Körperwelt rein und unvermiſcht gefunden und die Eigen— 
ſchaften, in denen dann dieſes reine Element auftritt, ſind 
von ſo beſondrer Art, daß ſie ſchon ſeit älteſter Zeit die 
Beachtung der Menſchen auf ſich gezogen haben. Die reinſte 
Form in welcher ſich die Kohle in der irdiſchen Natur dar— 
ſtellt, giebt als Demant den goldnen Kronen wie den Diaz 
demen der Fürſten ihren höchſten Werth und Glanz. Daß 
Kohle und Demant, beide ihrem Grundbeſtand nach ein und 
daſſelbe ſeyen; welcher Weiſe des Alterthums hätte dieſen 
ſcheinbaren Widerſpruch für Wahrheit halten mögen! Und 
dennoch iſt es ſo: der Demant, dieſer härteſte und feſteſte 
der Steine, mit deſſen ſcharfen Splittern man ſelbſt in den 
Sapphir einſchneiden kann und deſſen glatte Flächen auch 
von der härteſten engliſchen Feile nicht angegriffen werden, 
kann der Hitze der zuſammengefaßten Sonnenſtrahlen im 
Brennpunkt des Brennſpiegels nicht widerſtehen; er verbrennt 
mit glimmendem Lichte und löſt ſich, durch ſeine Verbindung 
mit dem Sauerſtoffgas, in Kohlenſäure auf. 

Das was dem Kohlenſtoff im Demant ſeine regelmäßige 
Geſtalt, ſeinen wundervollen Glanz, ſeine auſſerordentliche 
Härte gab, das war die Kraft der Kryſtalliſation, welche 
wir der Kohle unſrer Oefen, auch wenn wir aus ihr den 
Kohlenſtoff in möglichſter Reinheit ausſchieden, eben fo we— 
nig durch unſre Kunſt mittheilen können, als die Kraft 
des Lebens jenen Elementen aus denen ein ſo eben noch le— 
bender, jetzt aber durch unſre Hand zertheilter organiſcher 
Leib beſtund. 

Der Kohlenſtoff, ſo dürfen wir uns ausdrücken, nimmt 
auſſerordentlich ſchwer, und nur unter Naturverhältniſſen die 
uns unbekannt ſind, die Kryſtalliſationsgeſtalt an. Zur be— 
ſondren Vergünſtigung gereicht dies dem organiſchen Leben; 
denn wenn jener Grundſtoff eben ſo leicht zum Demant, als 
das Chlornatrium zum Salzkryſtall, der kohlenſaure Kalk 
zu kleinen Kryſtallen des Kalkſpathes, das Jod zu ſeinen 
kryſtalliniſchen Geſtalten werden könnte, welche Kraft der 
Verdauung und Zerlegung ſollte dann hinreichen um den 


202 


unentbehrlichen Nahrungsſtoff in den Kreis des Lebens und 
Wachsthums hineinzuziehen! f 
Eine der gewöhnlichſten und am häufigſten verbreiteten 


Formen, in denen der Kohlenftoff ſchon als Beſtandtheil der 


Erdveſte vorkommt, ſind die Steinkohlen. Wenn in eini⸗ 
gen Arten derſelben, zu denen die Glanzkohle (der Anthrazit) 
gehört, der Kohlenſtoff in größerer Reinheit vorherrſcht, dann 
zeigen ſich dieſelben ungleich ſchwerer verbrennbar als die 
andren gewöhnlichen Arten der Schwarz- wie der Braun⸗ 
kohle, in denen jener Stoff mit dem an Waſſerſtoffgas und 


Sauerſtoff reichen Bitumen, und zum Theil wie in der Holz⸗ 


kohle, mit den metalliſchen Stoffen den Alkalien und Erden 
verbunden iſt. Lager von Stein- und Braunkohlen finden 


ſich in allen Weltgegenden der Erde, im höchſten Norden 


wo jetzt kaum noch ein Strauch gedeiht, wie in den reich 
bewachſenſten Ländern der warmen Zonen. England allein 
gewinnt alljährlich gegen 150 Millionen Centner an Stein⸗ 
kohlen, deren Werth auf 48 Millionen Gulden geſchätzt wird, 
und deren Gewinnung wie Verſendung über 150,000 Men⸗ 
ſchen beſchäftigt. Allerdings iſt dieſer Verbrauch überaus be⸗ 
deutend und man hat berechnet, daß die Steinkohlenvorräthe 
von England bei einem in gleichem Maaße fortgeſetzten Berg⸗ 
bau in 350 Jahren erſchöpft ſeyn könnten. Sollte jedoch 
auch wirklich dieſes geſchehen, dann würden ſich dem Herr⸗ 
ſcher und Durchforſcher der Erde gar bald anderwärts die 
noch verborgenen Schatzkammern ſolcher Art aufthun. 

Auch in andren Formen als in jener der Steinkohle 
wird der Kohlenſtoff unter den Beſtandtheilen der Erdveſte 
gefunden, namentlich als Erdpech, Erdöl und feinere Erd- 
naphtha. Es giebt Gegenden der Erde, in denen dieſe brenn— 
baren, feſten oder flüſſigen Stoffe ſich von ſelber aus der 
Tiefe hervordrängen, wie in den Quellen des Erdöles und 
der Naphtha, die ſich an der Weſtſeite des kaspiſchen Mee⸗ 
res und namentlich im Reiche der Birmanen finden, deſſen Be⸗ 
wohner, ohne alle Mühe, jährlich gegen 400,000 Oxthoff (einen 
zu 3 Eimern) Bergöl ſammlen. Auch auf der Oberfläche 
des todten Meeres erſcheint nicht ſelten der Asphalt (das 
Erdpech) in häufigen ſchwimmenden Maſſen und Bruchſtücken. 
Zu jenen Foſſilien, welche reich an Kohlenſtoff find, gehört 
auch 1 Bernſtein — ein Erzeugniß der vormaligen Pflan⸗ 
zenwelt. 


203 


In einer noch weiteren Ausdehnung und größeren Mäch⸗ 
tigkeit als in den eben genannten Formen der brennbaren 
Foſſilien findet ſich der Kohlenſtoff, mit dem Sauerſtoffgas 
vereint, als Kohlenſäure in der irdiſchen Natur. Der bei 
weitem größeſte Theil unſrer Kalkgebirge beſtehet aus einer 
Verbindung der Kohlenſäure mit der Kalkerde; das Waſſer 
unſrer Quellen enthält in großer Allgemeinheit und zum Theil 
in einer unſrem Geſchmack auffallenden Menge die Kohlen⸗ 
ſäure, welche auch hin und wieder in Luftform die Höhlun⸗ 
gen und tiefer gelegenen Stellen der Erdfläche erfüllt. Selbſt 
in unſrem Luftkreiſe wird die Kohlenſäure als einer der bes 
ſtändigeren Gemengtheile nachgewieſen, obgleich ſeine Menge, 
im Vergleich zu den Hauptgasarten der Atmoſphäre nur ſehr 
gering iſt. Vor dieſen andren zeichnet ſich die Kohlenſäure 
namentlich durch ihr ungleich größeres, ſpezifiſches Gewicht aus, 
vermöge welchem ſie ſich, wo ſie dies ungeſtört thun kann, 
gern an tieferen Punkten anſammlet. 

Dem athmenden Thiere iſt die luftförmige Kohlenſäure 
tödtlich, dieſes erſtickt in derſelben nach wenigen Athemzügen 
und die Flamme der brennenden Kerze verlöſcht in ihr. 
Dagegen iſt dem Leben der Gewächſe die Kohlenſäure, da 
wo dieſe mit Waſſer verbunden in ihren Bereich kommt, in 
vorzuͤglichem Maaße zuträglich, indem die Pflanzen den Koh⸗ 
lenſtoff als Nahrung aufnehmen und den mit dieſem verbun⸗ 
denen Sauerſtoff, wenn die Sonne auf ihre grünen Blätter 
ſcheint, aushauchen. Auch das Thier und namentlich der 
Menſch nimmt keine Speiſe zu ſich, deren wahrhaft nährende 
Kraft nicht vorzugsweiſe dem Kohlenſtoff zuzuſchreiben wäre, 
den ſie, mit Stickſtoff und Waſſerſtoff vereint, in ſich enthält. 
Es iſt kein Theil unſres Körpers, der ganz ohne Kohlenſtoff 
wäre; jeder Athemzug, jede Welle des Blutes hat den Aus— 
oder Eingang jenes Stoffes zum Antrieb des Bewegens, weil der— 
ſelbe in dieſen höheren Kreiſen des geſchaffenen Weſens in 
ähnlicher Weiſe zur Unterhaltung des Feuers auf dem Herd 
des Lebens dient als die Kohle auf dem Herd der Hütten wie 
der Palläſte. | 
Das Waſſer, in feinem Geſchäft als allernährende, all- 
verſorgende Amme und Hausmutter betrachteten wir bereits 
oben (Cap. 3). Viele ſeiner Eigenſchaften waren ſchon in 
älterer Zeit bekannt, auch hatte man es, wie eine Art von 
Ahnung ausgeſprochen, daß das Waſſer aus Luft entſtehen 


204 


und wieder zu Luft werden könne. Es iſt aber ein großer 
Unterſchied zwiſchen einer ſolchen Ahnung des Menſchengei⸗ 


ſtes und zwiſchen dem wirklichen, auf ſichre Erfahrungen 


gegründetem Wiſſen. Wie ſchnell wird der Lichtblitz, der aus 
einer in weiter Ferne abgefeuerten Kanone kommt, unſrem 


Auge ſichtbar und wie viel länger dauert es, bis der don— 


nernde Laut des Schuſſes zu unſrem Ohre gelangt; eben ſo 
iſt der vorahnende Gedanke des Geiſtes, der Vorſatz zu 
irgend einer That plötzlich in uns da, die Bewährung aber 
durch wirkliches Erforſchen und Ausführen hat meiſt noch 


einen langen Weg durch mancherlei Schwierigkeiten und Hem⸗ 


mungen bis zu ihrem Ziele zu machen. 

Das Waſſer beſteht wirklich aus Luft, nicht aber aus 
einer, ſondern wie dies ſeit dem Jahre 1781 durch die bez 
rühmten Chemiker Cavendiſh und Lavoiſier dargethan 
iſt, aus zwei Luftarten, in welche es ſich durch Kunſt des 
Menſchen zerlegen, und aus denen es ſich von Neuem zu⸗ 
ſammenſetzen läſſet. Mit der Erfahrung, die jedes Kind 


machen kann, nach welcher ſich das Waſſer als das am leich⸗ 


teſten zu habende, natürliche Gegenmittel gegen die Verhee⸗ 
rungen des Feuers kund giebt, konnte wohl kaum eine andre 
Entdeckung in einem ſcheinbar größeren Widerſpruche ſtehen 
als die, daß im Waſſer ſelber ein Grundſtoff enthalten ſey, 
der ſich entzuͤnden und mit gewaltigem Aufflammen verbrennen 


kann. Wenn man aber das Waſſer durch elektriſche Kraft 


(davon ſpäter die Rede ſeyn wird) in feine beiden Gegen⸗ 
ſätze zerlegt (polariſirt), dann erhält man aus ihm die 
brennbare Luft, von deren verheerender Macht wir ſchon 
oben (C. 21) ſprachen. Die Bergleute, namentlich in den 
Steinkohlengruben, kennen dieſelbe unter dem Namen der 
ſchlagenden Wetter, und ſchon Mancher von ihnen iſt von 
ihren Flammen verzehrt und durch die Schußgewalt, welche 


ſie, gleich dem Schießpulver bei ihrer Entzündung ausübt, 
zerſchmettert worden, und ähnliche Ereigniſſe haben ſich zuge 


tragen, wenn ſich in Kellern oder andren verſchloſſenen Räu⸗ 
men, darinnen Gefäße voll Moſt oder voll andrer gährenden 


Flüſſigkeiten aufbehalten wurden, durch den Vorgang der. 


Gährung das brennbare Waſſerſtoffgas, verbunden mit 
Kohle entwickelt hatte. Dem Weingeiſt wie dem Oel und 
allen fett⸗ oder harzartigen Körpern giebt das Waſſerſtoffgas 
im Verein mit dem Kohlenſtoff ihre Brennbarkeit; der Koh⸗ 


205 


lenwaſſerſtoff liefert uns das Material zur Gasbeleuchtung 
der Häuſer und Gaſſen. In noch größerem Maaßſtabe bildet 
derſelbe das Brennmaterial jener natürlichen Herde eines be— 
ſtändig flammenden Feuers, die ſich in der Nähe der Naph— 
thaquellen und mancher Salzlager durch bloßes Hineinboh— 
ren in die Erde und Anzünden der aufſteigenden Dämpfe 
bilden laſſen. | | 
Auſſer der Macht der Elektrizität, durch welche freilich 
aus dem Waſſer das reinſte Waſſerſtoffgas dargeſtellt wird, 
ſtehen uns auch noch verſchiedne andre Mittel zu Gebote, die 
brennbare Luft leicht und in ziemlicher Menge zu gewinnen. 
Das Element was dieſelbe in unſrer irdiſchen Sichtbarkeit 
am öfterſten gebunden hält und fie. in der tropfbar flüſſigen 
Form des Waſſers zu Boden zieht, iſt das Sauerſtoff— 
gas oder die Lebensluft, dieſer oberſte Herrſcher unter 
den uns bekannten Grundſtoffen, der bei allen chemiſchen 
Verbindungen, bei allen leiblichen Geſtaltungen den Ton ans 
giebt; nach deſſen Gemeinſchaft und Verein die meiſten and— 
ren Grundſtoffe eine lebhafte Begierde zeigen. Denn wäh— 
rend zum Beiſpiel das Gold wie ein Einſamer in der Welt 
der oberirdiſchen Urelemente daſtehet und von ſelber weder 
mit Waſſer noch mit Luft, ſondern nur mit feinen unterir— 
diſchen Mitbürgern, wie etwa dem Queckſilber, Verbindun— 
gen eingehen mag, ergreifen das leicht roſtende Eiſen, das 
Kupfer und die meiſten andren Metalle jede Gelegenheit, bei 
welcher ſie aus Waſſer oder Luft das Sauerſtoffgas an ſich 
reißen und mit ihm zum Oxyd werden können. Wenn 
man deshalb Eiſenfeilſpähne oder verkleinertes Zinkmetall mit 
Waſſer überſchüttet und dem letztern etwa den fünften oder 
ſechſten Theil ſeines Gewichtes an concentrirter Schwefelſäure 
hinzufügt, dann bewirkt die Säure eine ähnliche Polariſa— 
tion oder Zerſetzung des Waſſers als der elektriſche Funke, 
der Zug des einen Poles zur Vereinigung mit dem Eiſen 
wird ſo hoch geſteigert, daß er mit dieſem das Oxyd dar— 
ſtellt und in demſelben Maaße ſteigert ſich auch die andre 
polariſche Richtung, welche in der Natur des Waſſers liegt, 
bis zur Geſtaltung des Waſſerſtoffgaſes, welches, in Ver— 
bindung mit der Kohle, davon faſt jedes Eiſen einen kleinen 
Antheil enthält, aus dem Waſſer emporſteigt. 

Wenn man die beiden, durch die Polariſation des Waſ— 
ſers entſtandenen Gasarten ihrem Gewichte nach vergleicht, 


206 


dann findet man, daß das Sauerſtoffgas achtmal mehr an 


Gewicht betrage als das Waſſerſtoffgas. Genau genommen 
it hierbei das Verhältniß zwiſchen beiden wie 8891 zu 1109, 


Wenn man aber den Raum beachtet, den beide in ihrer 
Luftform einnehmen, dann bemerkt man, daß das Waſſer⸗ 
ſtoffgas gerade auf einen doppelt ſo großen Raum ſich aus⸗ 
gedehnt habe, als der iſt, den das Sauerſtoffgas einnimmt, 
ſo daß ein Cubikfuß von jenem gegen 16 mal leichter wiegt 
als ein Cubikfuß von dieſem. Wenn man deshalb aus bei⸗ 
den das Waſſer wieder zuſammenſetzen will, ſo muß man 
von dem erſtern einen Gewichtstheil auf acht Gewichtstheile 
des letzteren, oder, der Ausdehnung im Raume nach, zwei 
Maaßtheile auf einen nehmen. Werden in dieſem Verhält⸗ 
niß beide Gasarten zuſammen gemengt, und dem Gemenge 
ein brennendes Licht genaht oder ein Funke in daſſelbe hin⸗ 
eingelaſſen, dann entzündet ſich daſſelbe mit einem heftigen 
Knalle und wird durch die Hitze, die ſich beim Verbrennen 
erzeugt, ſo plötzlich ausgedehnt, daß dabei das Gefäß, worin 
die Verbindung geſchahe, wenn es von zerbrechlicher Natur 
iſt, in unzählige Splitter zertrümmert wird. 

Was ſchon die Kraft der Elektrizität, welche doch nur 
ein ſchwaches Abbild der Lebenskraft iſt, die in dem beſeel— 
ten Weſen waltet, an dem Waſſer vermag, das wird, in 
noch viel allgemeinerer Weiſe, im Kreiſe des organiſchen Le— 
bens bewirkt: Hier wird das Waſſer ohne Aufhören polari⸗ 
ſirt, und zwar ſo, daß jeder der beiden polariſchen Grund— 
ſtoffe alsbald zur Bildung und Geſtaltung der flüſſigen 
oder ſeſteren Theile benutzt wird. Namentlich iſt in jedem, 
auch dem kleinſten Theile des menſchlichen Leibes, mit dem 
ſchon erwähnten Kohlenſtoff zugleich auch Waſſerſtoffgas 
enthalten. Aber zu dieſen beiden kommen noch zwei andre 
Grundſtoffe, aus deren Gemenge zunächſt der Luftkreis zus 
ſammengeſetzt iſt, welcher unſren Planeten von allen Seiten 
umhüllt. Ein Uebergang aber zur näheren Betrachtung der 
Gemengtheile der Atmoſphäre und der Eigenſchaften derſelben 
ſoll uns eine kurze Erwähnung der Luftſchifffahrten gewäh⸗ 
ren, welche uns vorläufig Gelegenheit geben werden den 
Luftkreis und einige der Bildungen, die in ihm vorgehen, 
im Ganzen, wie der hindurch fliegende Vogel dies vermag, 
ins Auge zu faſſen. U 


207 
25. Die Luftſchifferkunſt. 


Ein eiſerner Anker, den wir ins Meer hinablaſſen, ſinkt, 
durch ſeine eigne Laſt gezogen, ſogleich in den Fluthen unter 
und reißt ſogar das Seil, an dem er befeſtigt iſt, mit ſich 
hinab, bis dahin, wo er auf einen feſten Grund trifft, der 
ihn nicht tiefer ſinken läſſet. Das Waſſer des todten Mee- 
res iſt, vermöge der vielen ſalzigen Theile, die es aufgelöſt 

enthält, ſo dicht und ſchwer, daß ein Menſch, der auch nie— 

mals ſchwimmen gelernt hat, ohne alle Mühe ſich auf dem⸗ 
ſelben ſchwimmend erhalten kann, während ein Stück Kreide, 
obgleich daſſelbe verhältnißmäßig viel weniger wiegt als ein 
Kieſelſtein in demſelben zu Boden ſinkt. Aber ſelbſt ein 
Stück Eiſen geht in dem flüſſigen Queckſilber nicht unter, 
ſondern ſchwimmt darauf ſo leicht wie ein Stük Korkholz 
auf dem Waſſer. Wie ein kleines längliches Stück Hollun⸗ 
dermark, deſſen eines Ende mit ein wenig Blei beſchwert iſt, 
zur Beluſtigung unſerer Kinder ſich immer wieder mit dem 
beſchwerten Ende nach unten, mit dem leichteren nach oben 
aufſtellt, ſo ſteigt in jeder Flüſſigkeit der Körper, der leich— 
ter iſt denn ſie, empor, der aber welcher ſchwerer iſt, ſinkt 
unter in ihr. 

Die Kunſt, auf dem Waſſer zu fahren, wurde ſchon in 
früheſter Zeit von dem Menſchen erfunden und geübt, denn 
ihre Erfindung war denſelben ſehr nahe gelegt. Die Mittel 
zur Beſchiffung des Gewäſſers bot ihm die ganze Pflanzen⸗ 
welt, bot ihm faſt jeder Baum dar, denn nur wenig Arten 
des Holzes ſind, wie das Buxbaum- und Mahagonyholz, 
ſchwerer denn Waſſer, ſo daß ſie in dieſem unterſinken, die 
meiſten andren ſchwimmen, weil die feſten Theile, aus denen 
ſie zuſammengefügt ſind, nicht ſo dicht und feſt an einander 
ſchließen, wie die Gemengtheile eines Steines. Schwimmt 
doch ſelbſt ein Schiff, das aus dünn ausgetriebenem Eiſen 
geformt iſt auf dem Waſſer, weil feine weite Höhlung zu— 
nächſt nur atmoſphäriſche Luft enthält, welche 770 mal leich⸗ 

ter iſt als das Waſſer. 

Der Wunſch, nicht nur auf dem Waſſer, ſondern in 
und auf dem luftigen Meere der Atmoſphäre herumzufahren, 
mußte ſich dem Menſchen öfters aufdrängen, wenn er die 
Bewohner der Lüfte, die Vögel und geflügelten Inſecten, ſo 
leicht in der Luft ſchweben und herumfliegen ſahe. Den Vö⸗ 


208 


geln namentlich ift.idiefed dadurch möglich gemacht, daß ihr 
Leib in ſeinem Innren wie nach außen eine Menge hohler 


Behältniſſe hat, die mit Luft erfüllt find, denn die Spuhle 
jeder Feder, ja ſelbſt die Röhren ihrer Knochen ſind ſolche 


Behältniſſe und mitten im Innern ihres Leibes finden ſich ſack⸗ 
artige Weitungen, welche mit den Lungen in Verbindung 
ſtehen und beim Athmen ſich mit Luft füllen. Hierzu kommt 
die wunderbar weisliche Einrichtung ihrer Flügel und ihrer 
Schwanzfedern, welche bei ihrer Ausbreitung nicht nur einen 
natürlichen Fallſchirm bilden, ſondern deren rudernde Bewe⸗ 
gung durch ein Getriebe und durch Lebenskräfte der Mus⸗ 
keln bewirkt, ſo wie unterhalten wird, deren Vollkommenheit 
die menſchliche Kunſt vergeblich zu erreichen ſtrebt. Was 
jedoch der Geſchicklichkeit der Hände nicht gelingen wollte, 
das gelang deſto leichter der Phantaſie und ihren mährchen⸗ 
haften Dichtungen; denn wie einſt Dädalus und Ikarus mit 
wächſernen Flügeln ſich der Gefangenſchafſt des Minos ent⸗ 
zogen haben ſollten, ſo fabelte man auch von einem großen 
Mathematiker des Alterthums: von Archytas, daß er das 
Kunſtwerk einer hölzernen Taube zuwege gebracht habe, wel— 
che, gleich einer natürlichen, in der Luft flog. 

Dieſe und ähnliche, ſpäter erfundene Dichtungen fanden 
dennoch hin und wieder Leute, die ſie für wahr hielten und 
hierdurch zu Verſuchen ſich verführen ließen, welche Mehre— 
ren von ihnen das Leben koſteten. Ob der Italiener Gio— 
vanni Battiſta Dantes aus Perugia, zu Ende des löten 
Jahrhunderts, mittelſt ſeiner Flugmaſchine wirklich mehrere 
Male glücklich über den Thraſimener See gekommen ſey, ehe 
er, bei einem ſpätern Verſuche der Art, wo er ſich von einer 
Anhöhe über die unten liegende Ortſchaft hinwegſchwingen 
wollte, herabſtürzte, laſſen wir dahin geſtellt ſeyn. Wenig⸗ 
ſtens kam der kühne Abentheurer mit dem Leben, bloß mit 
einem zerbrochenen Bein davon, weil er zu ſeinem Glück auf 
einen Thurm gefallen war, während ein ähnlicher Flugver⸗ 
ſuch den gelehrten Olivier de Malmesbury in England und 
dem Backwelle in Padua den Tod brachte. „ 

Etwas ganz Andres iſt es für den Menſchen im Waſſer 
zu ſchwimmen, als in der Luft. Denn ſein lebender Körper 
iſt in der Regel nicht ſchwerer, ja ſogar noch ein wenig 
leichter als das Waſſer, während das Eigengewicht des Men⸗ 
ſchenleibes zu jenem der leichten Luft in einem fait. 1 21 

a 


209 


fach größerem Verhältniß ſtehet, als die Schwere des Eiſens 
zu der des Waſſers. Durch Erwägung dieſer Schwierigkeit 
ſprachen einige andre Gelehrte, namentlich Lana in Brescia 
und Sturm zu Altdorf (bei Nürnberg) jener im J. 1670, 
dieſer 1678 den Gedanken aus, daß die Erhebung eines fe— 
ſten, vielleicht ſchiffartigen Körpers in die Luft nur dadurch 
könne möglich gemacht werden, daß man denſelben mit Hohl- 
kugeln in Verbindung ſetze, welche leichter wögen als die 
Luft und deshalb von ſelbſt in dieſer emporſtiegen. Die Er⸗ 
findung der Luftpumpe, welche Otto von Guerike zwei 
Jahrzehende vorher gemacht hatte, ſchien ein Mittel darzu- 
bieten zur Ausführung jenes Gedankens. Denn eine luftleere 
Hohlkugel, wenn die Maſſe aus welcher fie beſtünde, nicht 
zu ſchwer wäre, müßte ſich, ſo ſchien es, in der Luft erheben 
können. Allein woraus ſollte eine ſolche, inwendig luftleere 
Hohlkugel gemacht werden, wenn man derſelben eine Feſtig— 
keit geben wollte, hinreichend, um dem ungeheuren Druck zu 
widerſtehen, den die Atmoſphäre auf jeden Punkt der Erd- 
oberfläche ausübt (m. v. C. 27). Dieſer Druck beträgt auf 
jeden Flächenraum von einem Quadratfuß 2216 Pfund; 
ein dünnes Metallblech wird von ihm zuſammengepreßt; die 
dichteſte Blaſe, über einen luftleeren Raum geſpannt, wird 
zerſprengt. Daher war der Gedanke des Pater Galien zu 
Avignon, den derſelbe im Jahr 1755 ausſprach, daß ſolche 
Hohlkugeln nicht leer, ſondern nur mit einer ſpeziſiſch Leichte: 
ren Luftart gefüllt ſeyn müßten, deren Dehnkraft dem Druck 
von außen das Gleichgewicht halten könne, nicht ganz un— 
richtig, ſo abentheuerlich auch der Vorſchlag zur Ausführung 
erſcheint, daß man jene Luftart aus den oberen, luftdünne— 
ren Räumen der Atmoſphäre herabholen ſolle. Man bedurfte 
dieſes wunderlichen Mittels nicht um die Hohlkugeln oder 
luftdichten Säcke nach Galiens Angabe mit einer Gasart zu - 
füllen, an Dehnkraft der atmoſphäriſchen Luft gleich und 
dabei um eben ſo viel leichter als das Waſſer, im Vergleich 
zum Queckſilber. Der berühmte engliſche Chemiker Henry 
Ca vendiſh (geb. zu Nizza im J. 1731, geſt. 1810 zu 
London), dieſer an innren Gaben wie an äußren Glücksgü— 
tern gleich reiche Mann, entdeckte im J. 1766 die große 
Leichtigkeit des Waſſerſtoffgaſes und hiermit war für 
die Geſchichte der Luftſchifferei eine neue Bahn gebrochen. 
Seifenblaſen, mit brennbarer Luft gefüllt, ſahe ſchon Kratzen⸗ 
14 


4 e 1 
Ae 


ſtein im J. 1776 auſſerordentlich ſchnell in der Luft empor⸗ 
fſteigen, Ca vallos Verſuche im J. 1782 mislangen jedoch, 
weil das Seidenpapier die Luft durchließ, Rinderblaſen aber 
Es war, verhältnißmäßig, nur noch eine kleine Schwie⸗ 
rigkeit zu überwinden, welche in der Zubereitung des luft⸗ 
dichten Materials lag, aus dem der Ballon gebildet werden 
ſollte; dieſer letzte Schritt, der noch zu thun war, gelang bald 
hernach zweien Männern, welche ſich dadurch, obgleich 
keine Gelehrten von Profeſſion, einen bleibenden Namen in 
der Geſchichte der Erfindungen erworben haben: den Brüdern 
Stephan und Robert Mongolfier, Beſitzern einer Papier⸗ 
fabrik zu Annonay in Vivarais. Schon im Jahr 1782 war 
es ihnen im Kleinen gelungen, bloß durch erhitzte Luft Bal⸗ 
lons zur Höhe der Zimmer, dann zur Höhe der Häuſer 
emporſteigen zu laſſen, und ſchon dieſe Verſuche, welche an⸗ 
jetzt Jeder von uns als ſtümperhaft verlachen würde, fanden 
in der Nähe wie in der Ferne eine große Theilnahme, die 
ſich noch viel höher ſteigerte als den beiden Brüdern die Fer⸗ 
tigung eines ziemlich luftdichten Leinwandballons gelang, deſ⸗ 
ſen Innres mit Papier gefüttert war und deſſen Umfang 
110 Fuß betrug. Dieſer Ballon hatte nach unten eine Oeff⸗ 
nung, in welche man die erhitzte Luft eines Feuers, das mit 
Stroh und mit gekrempelter Wolle unterhalten wurde, hinein⸗ 
ſteigen ließ. Die verhältnißmäſſig größere Leichtigkeit der 
durch die Wärme verdünnten Luft bewirkte nicht bloß, ſobald der 
Ballon damit gefüllt war, daß dieſer ſelber, obgleich ſein 
Gewicht 450 Pfund betrug, emporſtieg, ſondern daß er auch 
noch eine Laſt von mehr denn 400 Pfund mit ſich emporhub, 
und zwar ſo ſchnell, daß er in Zeit von 10 Minuten die 
Höhe von 6000 Fuß erreichte, wobei er durch die Luftſtrö⸗ 
mung, welche an jenem Tage (es war der fünfte Juny) 
nicht ſehr ſtark war, eine Strecke Weges von faſt drei vier⸗ 
tel Stunden hinweggeführt wurde, und dort zu Boden fiel, 
»Die Zeitungen waren voll von den Berichten über dieſen 
erſten gelungenen Sieg des Menſchen über ein Hinderniß ſei⸗ 
ner Natur, das dieſe unter die Natur des Vogels ſtellt, ſie 
hatten aber wenig Monate nachher von viel wichtigeren Sie⸗ 
gen derſelben Art zu reden. Profeſſor Charles in Paris, 
der zur Fertigung ſeines aus Taffet gebildeten und mit dem 
Firniß des elaſtiſchen Harzes überzogenen ſcheinbar vollkom⸗ 


211 


men geſchloßnen Ballons die Gebrüder Robert zu Hülfe 
nahm, wendete zuerſt, ſtatt der durch Wärme verdünnten 
Luft das leichte Waſſerſtoffgas zur Füllung anz ſein Ballon, 
der nur 12 Fuß im Durchmeſſer betrug, ſtieg bei dem erſten 
Verſuche, der am 27. Auguſt 1783 auf dem Marsfelde bei 
Paris mit ihm gemacht wurde, in Zeit von 2 Minuten ge⸗ 
gen 3000 Fuß hoch empor, verlor ſich dann von den Wol⸗ 
ken verdeckt aus den Augen, nahm aber drei Viertelſtunden 
nachher ſeine Richtung wieder hinabwärts nach dem mütter⸗ 


lichen Erdboden, auf welchem er, fünf Stunden Weges von 


dem Ort ſeines Aufſteigens ſich niederließ. 

Den Phyſikern ſo wie allen Freunden der neugebornen 
Luftſchifferkunſt wäre es lieber geweſen, wenn der Ballon, 
wie Noahs zuletzt aus der Arche entlaſſene Taube niemals 


zum heimathlichen Boden zurückgekehrt wäre, ſondern ſeinen, 
für Menſchenaugen unerforſchbaren Lauf, wer weiß wie lan⸗ 


ge? in den Höhen des Luftkreiſes fortgeſetzt hätte, denn die⸗ 
ſes wäre ein Zeichen geweſen, daß die Wände der taffeten 
Hohlkugel dicht genug waren, um der emporhebenden, brenn⸗ 
baren Luft gar keinen Ausgang zu geſtatten, welcher jeder⸗ 
zeit das Niederſinken zur Folge haben muß. Um dieſe Un⸗ 
durchdringlichkeit der Wände zu bewirken, wendete H. Ro⸗ 
main zu Paris einen neu erfundenen Firniß an und ein 
Ballon, den der Bierbrauer Kaps zu Danzig gefertigt hatte, 
ſchien wirklich die Aehnlichkeit mit Noahs nicht zurückkehren⸗ 
der Taube erreicht zu haben, denn, nachdem er drei Monate 
lang die brennbare Luft in ſeinem Innren, ohne Verminde⸗ 
rung erhalten hatte, entflog er, bei einem Verſuch im Freien, 
den leichten Banden daran man ihn halten wollte, und man 
weiß nicht, welchen Weg derſelbe ſeitdem über Meer und 
Land genommen hat. 8 5 
Noch war kein lebendiges Weſen mit den aeroftatifchen 
Hohlkugeln in die Luft geſtiegen, und die erſten, denen man 
dieſe Ehre vergönnte, konnten über die gemachten Erfahrun⸗ 
en bei ihrer Luftreiſe nichts ausſagen, obgleich man ihnen 
ein Barometer mit in ihren Korb gegeben hatte, denn dieſe 
erſten Luftſchiffer, welche der jüngre Montgolfier am 19. Sep⸗ 
tember zu Verſailles, in Gegenwart des Königes in die Höhe 
ſteigen ließ, waren ein Hammel, ein Hahn und eine Ente. 
Dieſen dreien gelang die erzwungene Luſtfahrt aufs Beſte, 
ſie kamen eine Stunde weit von Paris unverſehrt zum Bo⸗ 
14 


212 


den nieder. Was dem Hammel, dem Hahn und der Ente 
ſo wohl gelungen war, das durfte doch jetzt wohl auch der 


Menſch wagen, doch wurde der erſte Verſuch der Art noch 


mit großer Behutſamkeit gemacht, man hielt den Ballon, mit 
welchem der Phyſiker Pilatre de Rozier, vier Wochen 
ſpäter als der Hammel, der Hahn und die Ente emporſtieg, 
an Stricken feſt, ſo daß er ſich nur zu 84 Fuß Höhe erhe⸗ 
ben konnte und ſchon nach 4 Minuten zog man ihn wieder 
zum Boden. Noch eine etwas kühnere Luftfahrt, welche 
derſelbe Gelehrte vier Tage nachher (am 19. Oct.) unter⸗ 
nahm, war gelungen, obgleich ſich der Ballon zuerſt mit. 
ſeinen Stricken in Thurmeshöhe an Bäumen verfangen hatte 
und ſchon hatte der Muth zu ſolchem Unternehmen ſich ſo 
geſteigert, daß ſelbſt der Marquis von Arlandes ſich dem 
jungen Phyſiker zum Geſellſchafter anbot für die erſte, 
etwas größere Luftreiſe, die am 21. November vom Schloſſe 
la Muette unternommen wurde, und welche die beiden Rei⸗ 
ſenden in Zeit von 25 Minuten zuerſt in bedeutende Höhe, 
dann faſt 3 Stunden weit von la Muette hinwegführte. Sie 
kamen wohlbehalten, und nicht wenig erfreut über das Ge— 
lingen ihrer Fahrt, zum Boden. Ihr Beiſpiel reizte alsbald 
auch Andre zur Nacheiferung auf. Namentlich wollte Char⸗ 
les, der unter den Begründern der Aeroſtatik einer der Er— 
ſten geweſen war, bei der wichtigſten Anwendung dieſer 
neuen Kunſt nicht dahinten bleiben, auch er trat jetzt, in 
Geſellſchaft des einen der Gebrüder Robert, am 1. Dec. eine 
Luftreiſe an, welche an prunkhafter und wohlgelungener Aus— 
führung die Verſuche der Vorgänger weit hinter ſich ließ. 
Der möglichſt vornehmſte Punct der Hauptſtadt, die Tuile⸗ 
rien, waren zur Stätte des Aufſteigens beſtimmt. Zwanzig 
Minuten vor zwei Uhr des Nachmittags ſah man, vom Glanz 
der Sonne beleuchtet, den ſchönen aus buntem Taffet gebil⸗ 
deten Ballon ſich erheben, welcher eine Art von Triumph⸗ 
wagen, an Seilen gehalten, mit ſich in die Lüfte trug, darin⸗ 
nen die beiden Beſtürmer der Wolkenregion ihren Sitz hat- 
ten. Bald erhuben fie ſich zur 5 und 6 fachen Höhe der 
Thürme der Hauptſtadt und in dieſer Höhe von nahe 1800 
Fuß überließen ſie zwei Stunden lang ihren Ballon der mä⸗ 
ſigen Strömung des Windes, die ſie neun Stunden Weges 
von Paris in die Gegend von Nesle führte. Herr Robert 
hatte jetzt genug an dem Vergnügen der kühlen Fahrt, man 


213 


öffnete, um den Ballon zum Sinken zu bringen, einige Klap⸗ 
pen an demſelben, durch welche ein Theil der leichten, brenn⸗ 
baren Luft aus⸗, und eben ſo viel ſchwerere atmoſphöriſche 
Luft einſtrömt; der Gefährte trat heraus auf den ſichren Bo⸗ 
den, H. Charles aber ſtieg mit dem von neuem geſchloſſenen 
Ballon, der jetzt 130 Pfund weniger zu tragen hatte, noch 
einmal bis zu einer Höhe von 9000 Fuß (gleich jener des 
Aetnagipfels) empor. Die Beſchwerden der eiſigen Kälte 
und der dünnen Luft, dort in der Region des beſtändigen 
Froſtes wurden nicht allein durch den Genuß aufgewogen, 
den die mächtig weite Ausſicht auf das von der Abendſonne 
beleuchtete Land gewährte, ſondern faſt mehr noch durch den 
Reiz des Gedankens, daß bisher noch keinem Erdenbürger 
ein ſolcher kühner Aufſchwung in die Höhen gelungen ſey. 
Die Gondel, darin der glückliche Sterbliche ſaß, hatte nicht 
umſonſt die Geſtalt eines Triumphwagens; als dieſelbe nach 
35 Minuten bei einem Gehölz unweit Tour du Lay ſich zur 
Erde niederließ und Herr Charles wohlgemuth und unverſehrt 
aus derſelben ausſtieg, da feierte die Kunſt des Menſchen 
einen ihrer augenfälligſten Siege. N 
Es trat aber jetzt ein andrer Mann, einer der glücklich— 
ſten Abentheurer ſeiner Zeit, auf den Schauplatz, Franz 
Blanchard, der die Leute der verſchiedenſten Länder mehr 
von ſich zu reden machte als alle ſeine Vorgänger und Mit⸗ 
genoſſen auf jener neuen Bahn des Ruhmes. Blanchard, 
geboren 1738 zu Andely im Departement der Eure, war 
Mechaniker von Profeſſion und hatte ſich von Jugend an mit 
allerhand Entwürfen und Verſuchen zur Erfindung einer Flug⸗ 
maſchine beſchäftigt. Ohne Aufhören, im Schlafen wie im 
Wachen übte ſeine lebhafte Einbildungskraft die Kunſt des 
Fliegens, endlich, nachdem er zwölf Jahre lang gearbeitet 
hatte um ſein Traumbild zu verwirklichen, glaubte er am 
Ziele zu ſeyn, er trat im Jahr 1782, einige Monate vorher, 
als Montgolfier ſeinen Ballon durch Dämpfe zum Steigen 
brachte, in Paris, zuerſt mit einer Anforderung ihn mit 
Geld zur Fertigung ſeines Luftſchiffes zu unterſtützen, dann, 
nach Erreichung ſeines Zweckes, mit einer pomphaften An- 
kündigung ſeiner bevorſtehenden Luftreiſe auf, wobei er ver⸗ 
ſprach, ſich mittelſt der vier Flügel ſeines ſeltſamen Schiffes 
bis in die höchſten Regionen der Lüfte zu erheben. Dort 
angelangt wolle er einen unermeßlichen Weg in kurzer Zeit 


214 | 


zurücklegen, wolle ſich nach Belieben da oder dort niederlaf- 
* 52 ſelbſt auf dem Waſſer, weil ſein Schiff auch zum Be⸗ 
fahren der Fluthen eingerichtet ſey. Schneller denn ein Rabe 
wolle er die Luft durchſchneiden, ohne dabei auſſer Athem zu 
kommen, denn eine Larve, von kunſtreicher Erfindung, vor 
ſein Geſicht gebunden, werde dies hindern. Selbſt bei wid⸗ 
rigem Winde, nur nicht bei Stürmen, werde er, zwar lang⸗ 
ſamer als gewöhnlich, dennoch aber geſchwinder als das beſte 
Segelſchiff bei gutem Winde, ſeinen Lauf verfolgen. 
Dieſe prahleriſche Anzeige war in dem vielgelesnen Tag⸗ 
blatt von Paris erſchienen und hatte in tauſenden von un⸗ 
wiſſenſchaftlichen Köpfen die lebhafteſte Neugier und Theilnahme 
erregt. Der Schwindel verbreitete ſich unter allen Ständen, 
ſo daß der große Mathematiker und Aſtronom la Lande 
es für ſeine Pflicht hielt, einen Brief an die Herausgeber 
des Tagblattes zu veröffentlichen, worin er das Ungereimte 
und Unausführbare des Blanchard'ſchen Planes: in die Luft, 
durch mechaniſche Kräfte zu fliegen, ſattſam aufdeckte. Die 
anſteckende Macht jedoch welche die Narrheit eines Menſchen, 
wenn ſie mit ungewöhnlichem Selbſtvertrauen gepaart iſt, 
auf andre Menſchen äuſſert, bewährte ſich auch bei dieſer 
Gelegenheit. Viele zwar zweifelten, Andre ſpotteten, noch 
Andre aber, unter denen ſelbſt der Ingenieur und königliche 
Graveur Martinet war, vertheidigten die Möglichkeit und 
dieſe Alle waren eben ſo wie der große, leichtgläubige Hau⸗ 
fen, begierig den Verſuch zu ſehen. Als der halb närriſche 
Mechanikus einen Tag beſtimmte, an dem er ſein geflügeltes 
Luftſchiff dem wißbegierigen Publicum zeigen wollte, war 
die Nachfrage nach den Plätzen zum Zuſchauen ſo groß, daß 
der Raum, der zu jener Schaubeluſtigung beſtimmt war, 
nicht zureichte, und die Sache unterbleiben mußte. Die all⸗ 
gemeine Neugier wurde indeß auf einen andren Tag verwie⸗ 
ſen, am 26. Aug. (1782) ſollte, nach einer öffentlichen An⸗ 
kündigung der Ingenieur Martinet, wenn nicht bedeutende Hinder⸗ 
niffe dazwiſchen träten, Blanchard vor den Augen von ganz Pas 
ris in die Luft fahren. Solche Hinderniſſe mochten ſich aber 
wirklich eingeſtellt haben, Herr Blanchard, welcher, weil ihm 
das Windmachen ſo wohl gelang, ſich zur Herrſchaft über 
Luft und Winde befähigt hielt, ließ am feſtgeſetzten Tage 
zwar viel von ſich hören, Nichts aber von ſich ſehen; das 
ſchauluſtige Publicum mochte ſich für feine getäuſchte Erwar⸗ 


215 7 


tung an dem Anblick der vier Kupfertafeln ſchadlos halten, 
auf denen Herr Martinet das abentheuerliche Luftſchiff von 
9 und von hinten, von auſſen und innen vorgeſtellt 
Blanchard mit ſeinen Prahlereien trat jetzt in die 
Vergeſſenheit zurück, aus welcher er ſchwerlich . 
taucht ſeyn würde, wenn nicht ihm, dem wahrhaften Glück 
kinde, die kurz nachher gemachten Entdeckungen der Gebrüder 
Montgolfier und des Profeſſor Charles bei der Verwirklichung 
ſeiner Träumereien zu ſtatten gekommen wären. Plötzlich, 
nachdem durch Hülfe der Ballons ſchon manche Luftreiſe ge⸗ 
lungen war, trat der dem Winde befreundete Mann von 
neuem öffentlich auf, mit einem von ihm erfundenen Luft⸗ 
ſchiff, an welchem zwar der Ballon die eigentliche Hauptſache 
war, daran jedoch vor Allem die zu beiden Seiten ange- 
brachten Paare von Flügeln, das Steuerruder, Ankerſeil 
und nach unten ein mächtig großer Fallſchirm ins Auge fie⸗ 
len. Der Mann wollte alle ſeine Vorgänger in der Luftfahrt 
darinnen weit übertreffen, daß er nicht nur in die Höhe 
ſtiege, ſondern daſelbſt auch nach Belieben, wie ein Vogel, 
da oder dorthin ſeinen Flug lenkte. 5 

Vielleicht kam der Unfall, der das künſtliche Machwerk 
bei dem erſten Verſuch zur Auffahrt, im Anfang des März 
1784 traf, nicht ganz ungelegen. Ein Student, der ſich 
dem Blanchard zum Reiſegefährten aufdringen wollte, zer⸗ 
brach in ſeinem ungeſtümen Eifer die Flügel und den Fall⸗ 
ſchirm des Luftſchiffes, und als Blanchard mit dem bloßen 
Steuerruder und Ankerſeil verſehen, dennoch emporſtieg, durfte 
man den verſprochenen Vogelflug nicht von ihm erwarten, 
ſondern mußte ſich genügen laſſen an der Verſicherung des 
ſelbſtzufriednen Luftſchiffers, daß er bei feiner Fahrt gerade 
ſo hoch als Rozier, nämlich bis zu 9000 Fuß geſtiegen 
ſey. Noch in demſelben Monat entzückte Blanchard die Be⸗ 
wohner von Rouen mit einer Luftfahrt, wobei abermals ein 
Unfall eintrat, indem der Wind das Steuerruder zerbrach 
und nur die Flügel unverſehrt ließ. Einmal noch in Rouen, 
dann aber mehrmalen kurz hinter einander in England, be⸗ 


7 
7 


trieb er ſein einträgliches Gewerbe und jetzt war das Ver⸗ 


trauen auf fein Gluck ſo gewachſen, daß er ſich zu feiner 
kühnſten That erhub: zur Ueberfahrt von England nach Frank⸗ 
reich über den Kanal. Ein Ballon, mit Waſſerſtoffgas ges 


216 


füllt, der bereits 5 Luftfahrten glücklich beſtanden hatte, trug 
die Gondel, in welcher neben Blanchard der Amerikaner Dr. 
Jeffor ins ſaß; aus einer unüberſehlichen Menge der Zu⸗ 
ſchauer erhuben ſich die beiden Lufthelden am 7. Januar 1785 
bei Dover, und trieben, vom Winde geführt, mehrere Thür⸗ 
me hoch über das wogende Meer hin. Bald aber hätten ſie 
Urſache gefunden ihre Kühnheit zu bereuen. Das Gas ent⸗ 
wich ſchnell aus dem Ballon, dieſer drohete ins Meer zu 
ſinken; die Luftſchiffer warfen ihren 30 Pfund betragenden 
Ballaſt, warfen dann alle ihre Geräthſchaften und ſelbſt einen 
Theil ihrer Kleider in das, nahe unter ihnen brauſende 
Meer. Dennoch wären ſie verloren geweſen, wenn der Wind 
ſie nicht noch zur rechten Zeit hinübergebracht hätte zur fran⸗ 
zöſiſchen Küſte, in deren Nähe zu ihrer großen Freude der 
Ballon ſich wieder hob und ſie unverſehrt bis in den Wald 
von Guienne, eine Stunde Weges von Calais, brachte. Ein Denk⸗ 
mal, das man dort dem Blanchard zu Ehren errichtete, ſollte 
das Andenken an ſeine That erhalten, deren glückliches Ge⸗ 
lingen ihm der König von Frankreich mit einem Geſchenk von 
12000 Franken und durch die Zuſicherung eines Jahresgehal⸗ 
tes von 1200 Fr. belohnte. 

Dem abentheuerlichen Manne, dem es an allen tiefen 
gründlichen Kenntniſſen in der Naturlehre und ſelbſt in der 
angewandten Mathematik fehlte, der ſich in ſeiner eitlen 
Selbſterhebung bald hernach überall als den »Aeronauten 
beider Hemiſphären, Bürger der vorzüglichſten Städte beider 
Welten, Mitglied fremder Akademien? ankündigte, war ohne 
viele Ueberlegung und angewendete Vorſicht das Unternehmen 
gelungen, bei deſſen Verſuch bald nachher ein trefflicher, 
gründlich unterrichteter Phyſiker, der erſt nach langer Ueber⸗ 
legung, mit allen Fördernißmitteln welche die Wiſſenſchaft 
an die Hand gab, die Ueberfahrt wagte, ſeinen Tod fand. 
Blanchards Geſchichte kann uns zeigen, wie aufblähend das 
Glück wirkt, wenn es viel größer iſt als der Verſtand und 
daß die laute Bewundrung der mitlebenden Menge, keinen 
Maaßſtab des wirklichen Verdienſtes abgebe. Mit all ſeinen 
glücklich gelungenen Luftfahrten, deren er bei ſeinem Tode, 
im J. 1809, 66 zählte, hat er der Wiſſenſchaft ſo wie der 
Nachwelt keinen eigentlichen Nutzen gebracht, obgleich Einige 
die Erfindung des Fallſchirms, welche eigentlich dem Etien⸗ 
ne Montgolfier gebührt, ihm zuſchreiben wollten. Jenes 


217 


Fallſchirmes, mittelſt deſſen er ſich zur Beluſtigung der Zuſchauer, 
in verſchiedenen Ländern von Europa und Amerika, mehr⸗ 
malen, aus bedeutender Höhe herabließ und deſſen Kenntniß 
dennoch ſeiner Gemahlin, die nach ſeinem Tode das Gewerbe 
der Luftſchifffahrten fortſetzte, Nichts nützte, als ſie im J. 
1819 in Paris in die Luft ſtieg, um die Zuſchauer in der 
ſchönen Sommernacht durch ein oben abgebranntes Feuerwerk 
zu ergötzen, wobei der Ballon in Brand gerieth und die 
bedauernswürdige Heldin ſich zu Tode fiel. N 
Während Blanchards Name fo wie feine Thaten allent- 
halben die lauteſte Bewundrung erregten, und alle ähnliche 
Unternehmungen zu verdunkeln ſchienen, waren die wiſſenſchaft⸗ 
lich gebildeten Förderer und Begründer der Luftſchifffahrt, 
ohne viel Lärmen damit zu machen, bemüht, ihrer Kunſt 
eine größere Sicherheit und beſſere Vollendung zu geben. 
Der Phyſiker Rozier war nach Lyon zum ältern Mongolfier 
gegangen und hatte mit dieſem einen Ballon von mehr denn 
12000 Fuß Flächeninhalt gefertigt. Es zeigte ſich indeß bei 
der Auffahrt, bei der noch 7 andere Perſonen den Phyſiker 
begleiteten, daß mit der Größe zugleich auch die Möglichkeit 
einer Beſchädigung ſich ſteigere, denn der rieſenhafte Ballon 
als er bis zur Hohe von 3000 Fuß ſich erhoben, bekam nach 
15 Minuten einen Riß, ſank jedoch, zum Glück, nur lang⸗ 
ſam nieder. Alle Verſuche, ſelbſt die der Brüder Robert und 
der Herren Alban und Vallet, dem Luftſchiff durch An⸗ 
wendung von Rudern eine beſtimmte Richtung feiner hori- 
zontalen Fortbewegung zu geben, blieben zweifelhaft und ha— 
ben ſich wenigſtens, bei ihrer Wiederholung durch Andere, 
nicht bewährt. Dagegen gelang es dem Phyſiker Rozier und 
nach ihm Mehreren, namentlich dem Grafen Zambeccari 


durch ein ſehr einfaches Mittel eine größere Erhebung ſo wie 


das Sinken der Montgolfiere in ihre Gewalt zu bringen. 
Dieſes Mittel war durch die Anwendung einer Weingeiſtlam— 
pe gegeben, an der ſich durch Oeffnen oder Schließen von 
eben ſo viel Klappen eine gewiſſe Zahl von Flammen ent— 
zünden und wieder verlöfchen ließ. Die Erhitzung und die 
hiermit bewirkte Ausdehnung der Luft im Ballon konnte ſchon 
durch eine geringe Vermehrung oder Verminderung der Wein— 
geiſtflamme ſo merklich geſteigert oder herabgeſetzt werden, 
daß der Ballon, je nachdem man wollte, binnen wenig Se— 
cunden in größere Höhen getrieben oder binnen wenig Mi- 


1 


unten am Halſe der Montgolſiere, die möglichſte Vorſicht 


218 


unten zum Boden geſenkt wurde. Obgleich jedoch bei der 
Stellung eines ſolchen, etwa ringförmigen e 

eo⸗ 
bachtet wurde, war dieſes Mittel dennoch mit großer Gefahr 
verbunden, da bei den öfteren, ſtarken Windſtößen, denen der 
leichte Ballon oben in der Höhe ausgeſetzt iſt, der Weingeiſt 
verſchüttet werden und hierbei ſich der Ballon entzünden 
kann. Vielleicht durch einen ähnlichen Unfall wurde der un⸗ 
glückliche Ausgang des zweiten Verſuches herbeigeführt den 
die franzöſiſchen Luftſchiffer zur Ueberfahrt über den Kanal 


machten. Man hatte ſich für dieſen zweiten Verſuch in der 


Luft über das Meer zu gehen, einen wenigſtens eben ſo gün⸗ 
ſtigen Ausgang verſprochen als bei dem erſten von Blanchard 
gewagten, denn der diesmalige Unternehmer war ein gründ⸗ 
lich unterrichteter Phyſiker, die Jahreszeit war ſchein⸗ 
bar die günſtigſte, und alle Vorkehrungen zu der Fahrt wa⸗ 
ren, wie ſchon erwähnt, mit der ſorgfältigſten Ueberlegung 
getroffen. Rozier hatte, um mittelſt ſeines Lampenapparates 
das Emporſteigen und Sinken des Aeroſtaten mehr in die 


Gewalt zu bekommen, unten an dem mit Waſſerſtoffgas ge⸗ 


fuͤllten Ballon noch eine Montgolfiere angebracht. So wie 
Blanchard gethan hatte, nahm auch Rozier einen Gefähr⸗ 
ten und Zeugen mit ſich: den Parlamentsadvocaten Ro⸗ 
main aus Boulogne. Blanchard war von England aus 
herüber nach Frankreich geflogen; der diesmalige Flug ſollte 
umgekehrt von der franzöſiſchen Kuͤſte bei Calais, hinüber 
nach der engliſchen, bei Dover gehen. Der 14. Juny war 
zu der Auffahrt beſtimmt; des Morgens bald nach 7 Uhr 
ſtieg der Ballon mit den beiden Gelehrten majeſtätiſch empor; 
der Südoſtwind, in deſſen Strom fie in einiger Höhe gerie⸗ 
then, ſchien das Fahrzeug in gerader Richtung ſeinem Ziele 
entgegen zu führen. Bald aber ſetzte ſich der Südoſt in ent⸗ 
ſchiedenen Oſtwind um und dieſer Veränderung folgte eine 
noch viel ungünſtigere: eine Luftſtrömung aus Südweſt trieb 
den Ballon von dem Meere her wieder zurück nach der fran⸗ 
zöſiſchen Küſte. Die beiden wackern Männer ſollten wenig⸗ 
ſtens ihr Grab nicht in den Fluthen, ſondern im vaterländi⸗ 


ſchen Boden finden. Die brennbare Luft des oberen Ballons 


mochte in der gefährlichen Nachbarſchaft der Montgolfiere ent⸗ 
zündet worden ſeyn, die ganze Vorrichtung ſtürzte, aus gro⸗ 
ßer Höhe mit unbeſchreiblicher Heftigkeit und Schnelle nieder; 


219 


ihre Trümmer lagen anderthalb Stunden weit von Boulogne, nur 
wenige hundert Schritte vom Meere entfernt, am Boden zer⸗ 
ſtreut; die Körper der beiden Luftſchiffer waren ſo zerſchmet⸗ 
tert, daß man kaum noch die menſchliche Geſtalt an ihnen 
zu erkennen vermochte. Man begrub ihre Reſte zu Vimile. 
So endigte der Mann, dem man ſo gerne ein beßres Glück 
gewünſcht hätte, weil er unter Allen der Erſte geweſen war, 
welcher ſeine eigne Perſon einem Luftſchiff anvertraut, ung 
mit ihm ſich in das unſichre Element emporgehoben, und 
weil er ſeitdem ſchon ſo Vieles zur Verbeſſerung jener Kunſt 
gethan hatte, welche ihm jetzt das Leben koſtete. 

Es war dies der erſte Fall, in welchem die neuerfuns 
dene Kunſt der Aeronautik ein ſo abſchreckendes Unglück her⸗ 
beigeführt hatte. Denn, mit Ausnahme des franzöſiſchen 
Malers Bouche, der ſich bei Aranjuez, als ſein Ballon in 
Flammen gerieth, doch noch durch einen Sprung gerettet hatte, 
waren damals (im J. 1785) ſchon 35 Luftfahrten, von 58 
verſchiedenen Perſonen, ganz glücklich zurückgelegt worden. Unter 
dieſen war Madame Thible zu Lyon, die erſte ihres Ge- 
ſchlechts, die das Wagſtück am 4. Juny 1784 beſtund. Ueber⸗ 
haupt war der Reiz den das Erproben der herrlichen, neuer— 
fundenen Kunſt auf die Menſchenſeelen ausübte, fo gewal⸗ 
tig, und wurde durch Blanchards fo wie ähnlicher Abentheu— 
rer fortwährendes Glück fo genährt, daß Roziers und Ro- 
mains Tod es nicht verhindern konnte, daß die Luftreiſen 
immer häufiger und allgemeiner wurden. Zu den intereſſan⸗ 
teſten ihrer Art gehörte namentlich die von Crosbie, wel⸗ 
cher in Dublin emporſtieg, um über den Kanal zwiſchen Ir⸗ 
land und England zu fliegen. Seine Gondel war zum Fah— 
ren in der Luft wie auf dem Waſſer gleich bequem gebaut, 
und dieſer Einrichtung verdankte er die Rettung ſeines Le⸗ 
bens. Denn der anfangs günſtige Weſtwind, der ihn gera⸗ 
den Weges nach England zu führen verſprach, ſetzte ſich in 
Nordoſtwind um; der kühne Mann fand ſich jetzt, 40 engli⸗ 
ſche Meilen von der irländiſchen Küſte, in einer Höhe, von 
welcher ſich ihm zwar der Anblick von England wie von Irland zus 
gleich darbot, wo aber der Genuß, welchen dieſe herrliche Ausſicht 
unter andren Umſtänden hätte gewähren können, gar ſehr 
durch den Einfluß geſchwächt wurde, den die umgebende Luft 
auf ſeinen Körper hatte. Denn obgleich unten am Boden 
die heiße Julyſonne mit voller Kraft ſchien, war es dennoch 


u N s a. f a A 
N \ + 3 —— 
7 


220 


in der Höhe, in der ſich der Luftſchiffer befand, ſo kalt, daß 
die Tinte des Schreibzeuges zu Eis wurde und das Queck⸗ 
ſilber im Thermometer bis in die Kugel herabſank. Dennoch 
war dies noch bei weitem nicht die größeſte Beſchwerde jener 
Luftfahrt. Crosbie hatte einen Theil des Gaſes aus dem 
Ballon entlaſſen, um ſich in eine tiefere, mildere Region 
herunter zu laſſen, da ergriff ihn ein Luftſtrom aus Norden, 
führte ſein immer tiefer ſinkendes Fahrzeug durch eine Wolke, 
darin ſich Blitze ſehen, Donnerſchläge vernehmen ließen und 
trieb ihn dann herab auf das Meer, deſſen Wellen in die 
Gondel ſchlugen, während der noch immer oben ſchwebende 
Ballon vom Winde getrieben, das Fahrzeug mit ſich gegen 
die engliſche Küſte hinüberriß, wo ein Schiff von Dunleary 
dem Aeronauten hülfreich begegnete und ihn, ſammt ſeinen 
Ballon mit ſich in den ſichren Hafen nahm. | | 

Ein Luftſchiffer, deſſen kühne Fahrten und Abentheuer 
in Luft und Waſſer zu ihrer Zeit in mehreren Ländern von 
Europa große Theilnahme erregten, war der italieniſche Graf 
Zambeccari. Schon im Jahr 1783 hatte er in London 


einen Ballon von anſehnlicher Größe in die Luft ſteigen lafs 


ſen und hatte ſeitdem Vieles zur Vervollkommnung der Luft⸗ 
ſchifferkunſt beigetragen. Als er ſpäter — im October 1803 
— mit zwei Begleitern in Bologna in die Luft fuhr, gelangte 
der Ballon zuerſt in eine ſolche Höhe, daß die Luftſchiffer 
vor Kälte erſtarrten und der Graf jelber ſpäter, in Folge 
dieſer Froſtbeſchädiguug, ſich 3 Finger mußte abnehmen laſ⸗ 
ſen. Aus dieſer Höhe wollte man den Ballon herablaſſen, 
er ſank aber ins adriatiſche Meer, wo ein Schiffer die drei 
Männer rettete, der Ballon aber, nachdem man die Seile 
zerſchnitten, vom Winde bis zur türkiſchen Feſtung Vihacz 
geführt wurde. Der daſige Commandant ließ die vermeint⸗ 
liche Gabe des Himmels in kleine Stücke zerſchneiden, welche 
er unter ſeine Freunde vertheilte. Auch bei einer zweiten 
Fahrt im Auguſt 1804 ſtieg Zambeccari zuerſt in die Region 
des ſtärkſten Froſtes und ſank dann abermals gegen das 


adriatiſche Meer herab. Dennoch konnte der Mann feinem 


Eifer in immer neuen Verſuchen keinen Einhalt thun, bis er 
ſich im J. 1812 zu Bologna bei einer ſolchen Luftfahrt zu 
Tode fiel. " 
Was im Allgemeinen die bisherigen Leiſtungen der Luft⸗ 
ſchifferkunſt, ſo wie die Erfahrungen betrifft, welche man bei 


221 


den Auffahrten in die Höhe gemacht hat, fo iſt man hierin: 
nen in ſechszig Jahren noch nicht viel weiter vorgeſchritten, 
als man in den erſten fünf Jahren nach der Entdeckung 
Montgolfiers gekommen war. Man hat noch eben ſo wenig 
als damals ein ſichres Mittel gefunden die Luftfahrzeuge ſo 
nach Belieben zu lenken, wie die Fahrzeuge auf dem Waſſer, 
nur eine Erhebung in größere Höhen und eine Senkung nach 
der Tiefe kann man ihnen mitten in ihrem Fluge geben und. 
hierdurch bewirken, daß das Fahrzeug aus einer feinem Laufe 
ungünſtigen Luftſtrömung in eine vielleicht günſtigere komme. 
Im Ganzen iſt der Luftſchiffer der Macht der Winde dahin— 
gegeben, von deren Schnelligkeit und Richtung faſt ausſchlie⸗ 
ßend die Schnelligkeit ſeiner Fahrt abhängt. Die größeſte 
horizontale Geſchwindigkeit die man an einem Luftfahrzeug 
beobachtete, war die von 17 ½ deutſchen Meilen in einer 
Stunde. Einen ſolchen Raum in der angegebenen Zeit hatte 
das Luftſchiff zurückgelegt, in welchem Garnerin in Geſell— 
ſchaft des Capitän Sowdon im J. 1802 von London nach 
Colcheſter fuhr. Der große Ballon den man am 16. Dec. 
1804 zu Paris aufſteigen ließ, fiel nach 22 Stunden am 
darauffolgenden Tage unweit Rom nieder, die mittlere Geſchwin— 
digkeit womit er den gegen 230 Meilen betragenden Weg zum 
Theil über hohe Alpengebirge zurückgelegt hatte, betrug dem— 
nach mehr denn 10 geogr. Meilen in einer Stunde. Die 
faſt gleiche Geſchwindigkeit zeigte Robertſons Luftfahrzeug 
bei Hamburg. Ein kleiner Ballon den man am 16. Juny 
1804 in Gröningen aufſteigen ließ, fiel nach längſtens 12 
Stunden bei Halle nieder, hatte mithin faſt 5 Meilen in 
einer Stunde durchlaufen. 17 ½ Meilen in einer Stunde 
giebt 110 Fuß 10 Meilen 64 Fuß in einer Secunde; der 
Adler fliegt in jeder Sec. 95 F. weit. | 
Die lothrechte Geſchwindigkeit mit welcher die gut gebau— 
ten Ballons in die Höhe ſteigen, wurde in manchen Fällen 
zu 30, in einem ſogar zu 50 Fuß in der Secunde berech— 
net. Da das Auge hierbei in ſeiner Nähe keinen feſtſtehen— 
den Gegenſtand hat, nach welchem es die Schnelligkeit des 
Fortbewegens abmeſſen kann, ſondern da es dem Luftſchiffer 
auch bei der raſcheſten Bewegung ſeines Fahrzeuges ſcheint, 
als ob daſſelbe ſtill an einem Orte ſtände, fo kann die mitt- 
lere Geſchwindigkeit nur nach der Zeit berechnet werden, in 
welcher ein gewiſſer Endpunkt des Laufes erreicht wird, der 


222 


bei dem- Hinauffteigen in die Höhe nur aus der Beobachtung 
des Barometers (davon fpäter) erkannt werden kann. Wenn 
bei der Auffahrt der Weg mitten durch Wolken hindurch füh⸗ 
ret, ſtellen ſich dieſe dem Auge des Luſtſchiffers nicht wie 
uns von der Tiefe aus, als feſt umgränzte Maſſen, ſondern etwa 
als herabhängende, lappig zerriſſene Gewebe dar, die eben 
ſo ſchnell als das Fahrzeug emporfährt, hinabzuſtürzen ſchei⸗ 
nen. Der höchſte, mit wiſſenſchaftlicher Genauigkeit, durch 
den Stand des Barometers beſtimmte Punkt, bis zu welchem 
ein Luftſchiffer ſich emporhub, iſt der, welchen der berühmte 
franzöſiſche Naturkundige Gay Luſſac, bei ſeiner Auffahrt 
am 16. Sept. 1804 erreichte. Derſelbe betrug faſt 22000 
Fuß, übertraf mithin die Höhe des Chimboraſſogipfels um 
2000 Fuß. Die Beobachtungen über die allmählige, einem 
gewiſſen Geſetze unterworfene Abnahme der Dichtigkeit der 
Luft und zugleich der Wärme, ſind im Ganzen dieſelben, 
welche man auch beim Beſteigen ſehr hoher Gebirge gemacht 
hat und wovon wir nachher mehr reden werden, hier wollen 
wir nur einige minder allgemeine Erſcheinungen erwähnen, 
welche manche Luftfahrer, wenn ſie in große Höhen kamen, 
beobachteten. 

Vögel, welche nur in den niedreren Regionen der Luft, 
in der Nähe der Erdoberfläche zu leben gewohnt ſind, wie 
etwa Tauben, zeigten ſich für den Einfluß der überaus dün⸗ 
nen, kalten Luft großer Höhen ſehr empfindlich. Wenn man 
ſie in jene höchſten Regionen mit hinaufnahm und ihnen 
dann ihre Freiheit gab, da benahmen ſie ſich ängſtlich, biel- 
ten ſich entweder mit den Füſſen an den Seilen und Rand 
der Gondel feſt, oder wenn man ſie über dieſe hinauswarf, 
ließen ſie wie gelähmt, ſich hinabfallen, wahrſcheinlich 
bis dahin, wo ſie in einer niedreren Region jenen Grad der 
Dichtigkeit der Luft wiederfanden, in welchem ſie zu leben 
und zu fliegen gewohnt waren. Die Verwandlung des Waſ⸗ 
ſers in Dämpfe oder das Sieden deſſelben hängt nicht allein 
von dem Grade der Hitze ab, den man demſelben mittheilt, 
ſondern auch von dem Druck der Luft. Je weiter nach der 
Tiefe, deſto größer iſt dieſer Druck und deſto größere Erhitz⸗ 
ung muß man anwenden, um das Waſſer zum Sieden zu 
bringen, je höher man ſich über den Spiegel des Meeres 
und über die Erdebenen erhebt, deſto geringer wird der Druck 
der aufliegenden Luftſäule und deſto weniger Wärme braucht 


223 


man dazu, um das Waſſer in Dampf zu verwandeln oder 
ſiedend zu machen. Auf dem Gipfel des Dhavalagiri würde 
das Waſſer ſieden und dabei doch nur eine verhältnißmäßig 
ſo geringe Hitze haben, daß man kaum ein Ei darinnen hart 
zu ſieden vermöchte. | | 
Der Dampf, welcher vor Allem bei ftarfer Bewegung 
aus der Oberfläche unſres Körpers, als Ausdünſtung ent⸗ 
weicht, und hier zum Theil als tropfbar flüſſiger Schweiß 
erſcheint,en tſtehet durch die innre Wärme unſres Leibes, auf 
eine verwandte Weiſe als die Dämpfe des Waſſers, wenn 
dieſes zum Sieden gebracht wird. Obgleich unten in der 
Nähe der Erdoberfläche das Gewicht der Luftſäule das auf 
unſren Körper drückt, wie wir nachher ſehen wollen, ein viel 
geringeres iſt als oben, in großen Höhen, gerathen wir den— 
noch in der dünnen, kalten Luft der Hochgebirgsgipfel bei 
jeder kleinen Bewegung in ſtarke Ausdünſtung und Schweiß, 
ſelbſt dann, wenn hierbei die innre Wärme ſo wenig erhöht 
wird, daß wir unten in der Ebene kaum eine Veränderung 
des gewöhnlichen Zuſtandes unſrer Haut bemerken würden. 
Die Luftſchiffer, wie Biot und Gay Luſſac empfanden 
wenig von jener Beſchwerde, weil ſie, in ihrer Gondel ruhig 
hingelehnt, keine Bewegung zu machen hatten, auſſer etwa 
eine ganz geringe der Finger und Hände. Dennoch iſt ein 
gewiſſes Gefühl von Beängſtigung, verbunden mit einem 
ofter wiederholten Ein- und Ausathmen fo wie Beſchleuni⸗ 
gung des Pulſes eine nothwendige Folge des verdünnten 
Zuſtandes der Luft, weil die Lunge beim Einathmen zwar 
an Rauminhalt dieſelbe Quantität an Sauerſtoffgas oder Le⸗ 
bensluft aufnimmt, der Gehalt aber derſelben dem Gewicht 
nach ein geringerer iſt, als zur Erhaltung des gefunden Ber: 
laufes des Lebens hinreicht. Dabei wird auch, in dem gleis 
chen Maaße, in welchem der Gegendruck von auſſen abnimmt, 
die Ausdehnung der innren Flüſſigkeiten ſo geſteigert, daß 
nach der Auſſenfläche des Leibes eine Anſchwellung und ein 
ſtarker Zudrang des Blutes entſteht, das aus der feinen 
Haut der Augenlieder, der Naſe und des Mundes tropfen⸗ 
weis ausſchwitzt. An Luftſchiffern, die ſich zu ſehr großen 
Höhen erhoben hatten, fand man, bei ihrer Rückkehr zum 
Boden, das Angeſicht aufgedunſen und misfarbig gebräunt. 
Einige klagten über einen Zuſtand des Uebelſeyns und der 
Betäubung, der ſie in der höheren Region befallen hatte; 


224 


über ein unangenehmes Gefühl im Trommelfell des Ohres, 
als wollte dieſes, durch einen Drang von innen her, zerpla⸗ 
tzen, dabei wird der Laut auch einer ſtark ſprechenden Men⸗ 
ſchenſtimme oder der Knall eines abgefeuerten Piſtoles und 
des zerquetſchten Knallſalzes in einer ſehr verdunnten Luft 
ungleich ſchwächer vernommen, greift aber zugleich die Gehör⸗ 
nerven viel ſtärker an, als in der tieferen Region. Selbſt 
die Eindrücke, welche das Auge des Luftſchiffers in ſehr be⸗ 
deutenden Höhen empfängt, ſind zum Theil von andrer Art, 
als man vielleicht erwarten mochte. Zwar kann ſich derſelbe 
beim Emporſteigen ſeines Ballons, wenn dieſer von hinrei⸗ 
chend guter Einrichtung iſt, meiſt leicht und ſchnell über die 
Region der dichteren Wolken erheben, welche ſelten über 
14000 Fuß hinanreicht (obgleich Gay Luſſac noch über der 
1½ mal ſo großen Höhe Gewölke ſahe) und während die 
Bewohner des Landes, das unter ihnen liegt, trüben Him⸗ 
mel oder Regen haben, kann er vielleicht ungehemmt das Licht der 
Sonne oder der Geſtirne genießen, dennoch aber wird auch 
in jenen großen Höhen dem Himmel nicht ſelten wie durch 
einen feinen, ſtreifigen Nebel ſeine volle Klarheit benommen, 
und wenn dies nicht iſt, da werden die leuchtenden Geſtirne 
in einem dem Auge wehethuenden Glanze wie auf blaulich 
ſchwarzem Grunde geſehen; die Ausſicht nach dem in ferner 
Tiefe liegenden Lande, iſt ſelbſt bei heitrem Wetter bald 
da, bald dorthin, wie durch einen Glasſchleier geſchwächt. 
Die Luftreiſe welche bald nach Erfindung der Aeroſtatik 
die Gebrüder Robert über eine Strecke von 50 Stunden 
Weges, von Paris nach Beuvry, in Zeit von 2 Stunden 
zurucklegten, ſo wie manche andre ſolcher Art, iſt in neuerer 
Zeit durch die Fahrt des Luftſchiffers Green verdunkelt wor— 
den, welcher in London aufſtieg, 48 Stunden lang in der 
Luft blieb und hierbei über das Meer hinüber, dann über 
ganz Holland und Belgien, bis in das Naſſauiſche flog, wo 
er ſich herabließ. Ein Verſuch, die Aeronautik zum 
Dienſt des öffentlichen Weſens anzuwenden, wurde während 
der Kriege der franzöſiſchen Republik dadurch gemacht, daß 
man Luftſchiffe, in denen ſachverſtändige Beobachter ſaßen, 
in die Höhe ſteigen ließ, damit fie die Stellung des feindli⸗ 
chen Heeres in Augenſchein nehmen möchten. So ſtiegen 
franzöſiſche Offiziere im J. 1795, am Tage der Schlacht von 
Fleures, zu einer mäßigen Thurmeshöhe empor, em. das 
| ager 


295 


Lager und die Stellung des öſterreichiſchen Heeres auszuſpä⸗ 
hen. Der Ballon deſſen ſie ſich bedienten, war derſelbe, mit 
welchem ſpäter der Luftſchiffer Robertſon in Hamburg ſeine 
Luftfahrt anſtellte, er hatte 57 Fuß im Umfang und war dabei 
von elliptiſcher Geſtalt. Die Kraft, mit welcher der ſtarke, 
winterliche Luftſtrom ihn aus ſeiner Stellung fortzureißen 
ſtrebte, war ſo groß, daß man an ſeine zur Erde hinabhän⸗ 
genden Seile 30 bis 40 Pferde anſpannen mußte, um ihn 
feſt zu halten. Die in der Luft ſchwebenden Kundſchafter 
ſchrieben ihre Beobachtungen auf Zetteln, welche ſie, mit Blei 
beſchwert, an einer Schnur hinabließen. Im Verlauf des 
damaligen Krieges waren gegen 34 Luftballons für das Ge— 
ſchäft der Kundſchafter beſtimmt, gegen einen derſelben war 
am 13. Juny zu Maubege eine Batterie von 17 Kanonen 
gerichtet, ohne ihn beſchädigen zu konnen. Dennoch wurde 
ſpäter die Anwendung der Luftſchiffe zum Kriegsgebrauch 
wieder aufgegeben, wahrſcheinlich ſchon deshalb, weil die 
Füllung des Ballons mit brennbarer Luft zu lange Zeit erfor— 
derte. Denn obgleich man es ſchon im erſten Jahrzehend 
nach Erfindung der Luftſchifferkunſt ſo weit gebracht hatte, 
daß man die hinlängliche Quantität des Gaſes, zur Anfül— 
lung eines ziemlich großen Ballons, aus der Behandlung 
von Eiſenfeilſpänen mit verdünnter Schwefelſäure, ſchon nach 
wenigen Stunden erhalten konnte, ein Geſchäft das früher 
ganze Tage in Anſpruch genommen hatte, ſo erſchien den— 
noch, bei der eiligen Wendung des Ganges der Schlachten 
Auge auch ſchon die Zeit von etlichen Stunden als eine zu 
ange. ’ 


Die fo eben erwähnte Schwierigkeit lernte der oben ge— 
nannte engliſche Luftfahrer Green dadurch beſeitigen, daß 
er ſeinen Ballon mit jenem gekohlten Waſſerſtoffgas anfüllte, 
welches durch Deſtillation der Steinkohlen leicht und in Men⸗ 
ge erhalten und zur Gasbeleuchtung (m. v. S. 224) angewen⸗ 
det wird. Das ſogenannte Steinkohlengas iſt zwar etwas Cfaft 
im Verhältniß wie 1½ zu 1) ſchwerer als das mit Eifen- 
feilſpänen erhaltene Waſſerſtoffgas, dabei aber gewährt es 
den Vortheil, daß es ungleich ſchwerer aus den Wänden des 
Ballons entweicht und ſehr viel wohlfeiler und ſchneller zu 
haben iſt. In Englands Städten, wo man die Gasbeleuch⸗ 
tung im größeſten Maaßſtabe anwendet, giebt es beſtändig 

15 


226 


anſehnliche Vorräthe jener Luftart, woraus fi) Green ohne 
viele Umſtände ſein Füllungsmaterial verſchaffen konnte. 

Auch zur Hebung eines andren, für die Ausübung der 
Luftſchifferkunſt noch ungleich größeren Uebelſtandes, der in 
der Wahl des Materials zur Bereitung des Ballons lag, 
hat man in neueſter Zeit mehrere zweckmäßig erſcheinende 
Vorſchläge gemacht. So gut als man Waſſerfahrzeuge aus 
dünn getriebenem Metalle (z. B. Eiſen⸗) blech gefertigt hat, 
ließen ſich auch, ſo hat man berechnet, Luftballons aus dün⸗ 
nem Kupferblech herſtellen, welche bei gehöriger Größe eine 
ſolche Menge des brennbaren Gaſes in ſich faſſen könnten, 
daß die verhältnißmäßig größere Leichtigkeit von dieſem hin⸗ 
reichen würde, um ſowohl das Gewicht des Ballons als die 
Laſt der an ihm befeſtigten Gondel in der atmoſphäriſchen 
Luft emporſteigen zu machen. Durch einen ſolchen Ballon 
könnte das Gas nicht entweichen, dagegen bliebe es zweifel⸗ 
haft, ob die Maſſe des dünnen Bleches, eben ſo wie die 
freilich ungleich nachgiebigere jenes Zeuges daraus man bisher 
die Ballons fertigte, geeignet ſeyn würde, die Veränderungen 
des Luftdruckes in den verſchiedenen Höhen der Atmoſphäre 
auszuhalten, ohne aufs Vielfachſte verbogen oder vielleicht 
gar durch Riſſe ſchadhaft zu werden. Indeß dürfen wir nicht 
zweifeln, daß der menſchliche Scharfſinn noch Mittel finden 
werde, um alle die Hemmungen und Beſchränkungen zu über⸗ 
winden, welche bis auf heutigen Tag der Vervollkommnung 
und allgemeineren Benutzbarkeit der Luftſchiffe entgegenſtehen. 


26. Die Lebensluft und das Stickgas. 


Unter allen Grundſtoffen der irdiſchen Sichtbarkeit iſt 
der einflußreichſte und darum wichtigſte der Sauerſtoff. 
Für ſich allein, in ſeinem vollkommneren, reinen Zuſtand 
erſcheint dieſer Stoff niemals anders als in Luftform und in 
dieſer Geſtalt iſt er als Sauerſtoffgas oder Lebensluft 
durch alle Regionen der Atmoſphäre verbreitet. Mit noch 
viel größerem Rechte als dem Golde hätte der Lebensluft das 
chemiſch⸗aſtrologiſche Zeichen der Sonne gebührt, denn was 
die Sonne iſt unter allen Weltkörpern ihres Syſtemes, das 
iſt das Sauerſtoffgas im Verhältniß zu allen Grundſtoffen 
ſeiner planetariſchen Welt. Es iſt die anziehende Macht der 
Sonne, welche den Lauf der Planeten und Cometen in ſei⸗ 


227 


ner feft beſtimmten Bahn hält, welche über fie Alle Licht und 
Wärme ausſtrahlet; fo iſt es auch das Sauerſtoffgas, wel- 
ches der irdiſchen Körperwelt ihr innres Gleichgewicht und 
ihre feſtſtehenden Umriſſe giebt, und das überall da, wo es 
in kräftigen Wechſelverkehr mit ſeinem brennbaren Gegenſatz 
— Ba einer irdiſchen Sonne Licht und Wärme aus⸗ 
trahlet. 5 | ' 
Der bewegende und zuſammenhaltende Einfluß fo wie 
die leuchtende und wärmende Kraft der Sonne wirken aus 
weiter Ferne her; das Sauerſtoffgas bedarf zu ſeiner Wirk⸗ 
ſamkeit der unmittelbaren Nähe ſo wie der wechſelſeitigen 
Durchdringung mit den irdiſchen Grundſtoffen. Wie ſich der 
Nervenäther, welcher zwar alle Bewegung und Empfindung 
und ſelbſt die beſondre Geſtaltung des lebenden Leibes 
vermittelt, dabei aber nicht zu einem Stoffe der Bildung 
und Geſtaltung ſelber werden kann, zum Blute verhält, in 
welchem ſich neben dem Antriebe zur Erhaltung des Lebens 
auch die Stoffe zur Geſtaltung der Theile finden, ſo verhält 
ſich der ſternweltliche (ſideriſche) Einfluß der Sonne auf unſre 
irdiſche Natur zu jenem, welchen das Sauerſtoffgas in die⸗ 
ſer ausübt. e 

Nach der Vereinigung mit dem Blute, nach der Auf⸗ 
nahme deſſelben in ihre Miſchung ſtreben alle Theile des 
Leibes, und das was dieſem Zuge ſeine Macht und ſeine An⸗ 
dauer giebt iſt vor allem der Gehalt an Sauerſtoff, der ſich 
im Blute der Pulsadern oder Arterien findet. Eben fo iſt 
in den Elementen der irdiſchen Natur ein mehr oder minder 
kräftiger Zug nach der Vereinigung mit dem Sauerſtoffgas, 
das ihnen theils als ein Hauptbeſtandtheil des Waſſers, theils 
als weſentlicher Gemengtheil der atmoſphäriſchen Luft entge⸗ 
gen tritt. | | 

Am leichteſten und reinften wird das Sauerſtoffgas aus 
jenen Körpern erhalten, welche aus der Verbindung deſſel⸗ 
ben mit einem Metall entſtanden ſind — aus Metallkalken 
oder Oxyden. So namentlich nach S. 127 durch das Glü⸗ 
hen des Graubraunſteinerzes, das jene Luftart in einer ver⸗ 
hältnißmäßig viel größeren Menge als andre Metalloxyde 
enthält. Auch aus dem rothen Queckſilberoxyd läßt ſich daſ⸗ 
ſelbe durch Glühen darſtellen und die friſchen Blätter der 
Pflanzen hauchen, wenn das Sonnenlicht ſie beſtrahlt, Le⸗ 
bensluft aus. Aber, ſo nahe die Entdeckung zu liegen 

15 


* * * 


228 


ſchien, haben dennoch erſt im J. 1774 die beiden Chemiker 
Scheele und Prieſtley, jener in Schweden, dieſer in 
England, und zwar zu gleicher Zeit, das Sauerſtoffgas in 
ſeiner Reinheit dargeſtellt und daſſelbe nach ſeiner eigenthüm⸗ 
lane Natur und Verſchiedenheit von andern Luftarten er⸗ 
annt. 751 

Das reine Sauerſtoffgas iſt geruch- und geſchmacklos. 
Während unter allen uns bekannten durchſichtigen Körpern 
das Waſſerſtoffgas das hindurchſtrahlende Licht am ſtärkſten 
bricht (die Strahlen von ihrer geraden Richtung ablenkt) 
bricht das Sauerſtoffgas daſſelbe am ſchwächſten und wenig⸗ 
ſten. Von ſeiner Eigenſchwere ſprachen wir ſchon oben S. 
205. Das Sauerſtoffgas ſtrahlt ſchon dann Licht aus, wenn 
man es in einer Glasröhre, mittelſt eines gut ſchließenden 
Stempels zuſammen preßt, eine Eigenſchaft welche weder an 
dem reinen Stickgas noch am Waſſerſtoffgas, wohl aber an 
der Kohlenſäure und am Waſſer bemerkt wird, welche beide 
Sauerſtoffgas in ihrer Miſchung enthalten. Schon dieſe 
Erſcheinung läßt uns zunächſt das Sauerſtoffgas als einen 
Quell jenes Lichtes anerkennen, das bei ſeiner Verbindung mit 
andren Körpern während des Verbrennens ſichtbar wird. 
Am augenfälligſten, als Erzeuger und Geber der Flamme, 
zeigt ſich das Sauerſtoffgas, wenn es in reinem Zuſtande 
iſt und wenn man dann in ihm einen brennbaren Körper 
anzündet. Der Phosphor verbrennt in reinem Sauerſtoffgas 
mit einer Flamme, welche an Stärke und Helligkeit ihres 
Lichtes dem Sonnenlichte nahe kommt; eine glimmende Kohle 
ſo wie ein glimmender Feuerſchwamm gerathen darinnen in 
helle Flammen, ja ſelbſt eine ſtählerne Uhrfeder oder eine 
eiſerne Haarnadel fangen an hell zu brennen, wenn man an 
ihrem Ende ein Stückchen glimmende Kohle oder glimmen- 
den Feuerſchwamm beſeſtigt, und fie dann in reines Sauer: 
ſtoffgas hineintaucht. Dabei ſchmilzt das von unten herauf 
allmälig abbrennende Eiſen zu einer Kugel zuſammen, aus 
welcher, mit lautem Ziſchen, in ſternförmiger Richtung helle 
Funken hervorſprühen. Die Kugel des ſchmelzenden Eiſens 
fallt, wenn ſie eine gewiſſe Schwere erreicht hat, ab und 
hat eine ſo große Hitze, daß ſie im Waſſer noch lange Zeit 
fortglühet und ſich in den Boden des gläſernen oder porzel- 
lanenen Gefäßes tief hineinſchmelzen, ja den Boden deſſel⸗ 
ben, wenn dieſer nicht durch aufgeſtreuten Sand geſchützt iſt, 


Re 


. 229 


durchlöchern kann. Das reine Sauerſtoffgas wird durch das Ver— 
brennen einer verhältnißmäßigen Menge von Phosphor ganz 
aufgezehrt, während dieſer brennbare Körper, wenn man ihn 
in einem verſchloſſenen, mit atmoſphäriſcher Luft gefülltem 
Gefäß entzündet, kaum den vierten Theil derſelben aufnimmt, 
die übrigen drei Viertheile aber frei zurückläſſet, weil dieſe 
kein Sauerſtoffgas, ſondern Stickluft ſind. dee 
Wenn man auf ſolche Weiſe den Phosphor verbrennt, 
dann entſteht eine Säure, welche im trocknen Zuſtand in 
zarten weißen Flocken ſich anſetzt, das Waſſer aber begierig, 
und mit ziſchendem Geräuſch an ſich zieht. Dieſe mit Waſ— 
ſer vermiſchte Säure hat einen ſtarken, dabei nicht unange— 
nehmen Geſchmack, ihr Gewicht beträgt gerade ſo viel, als 
das des Phosphors zuſammen mit dem, beim Verbrennen 
verzehrten Sauerſtoffgas ausmachte. Auf dieſelbe Weiſe ent: 
ſteht auch beim Verbrennen des Schwefels die Schwefelſäure, 
beim Verbrennen des Kohlenſtoffes die Kohlenſäure, welche, 
wenn ſie in hinlänglicher Menge vorhanden iſt, vielen unſrer 
Geſundbrunnen ihren angenehmen ſäuerlichen Geſchmack er— 
theilt. Auch bei der Gährung vieler Pflanzenſäfte findet eine 
Art von langſamem Verbrennen, eine Verbindung des Koh— 
lenſtoffes mit dem Sauerſtoffgaſe ſtatt, wobei ein Theil des 
Waſſerſtoffgaſes entweicht. Da hierbei der ſüße Geſchmack 
des Traubenſaſtes in den ſäuerlichen des Weines, ja bei einer 
noch höher geſteigerten Gährung in den ganz ſauren des 
Eſſigs verwandelt wird, zeigt ſich abermals das Sauerſtoff— 
gas, wie beim unmittelbaren Verbrennen der Kohle, als 
eine veranlaſſende Urſache des ſauren Zuſtandes, und dies 
war der Grund, aus welchem man jener wichtigen, merk— 
würdigen Luftart den Namen des Sauerſtoffgaſes gab. 

Aber auch unter dem Namen der Lebensluft machte ſich 
dieſelbe, durch eine andre ihrer weſentlichen Eigenſchaften be— 
kannt. Wenn man ein kleines warmblütiges Thier unter 
eine Glasglocke einſperrt, welche mit gemeiner atmoſphäriſcher 
Luft gefüllt iſt, dann muß daſſelbe nach einiger Zeit, wenn 
es durch ſein Einathmen das darin enthaltene Sauerſtoffgas 
fo weit als möglich verzehrt hat, erſticken. Wenn die näm⸗ 
liche Glasglocke, ſtatt mit atmoſphäriſcher Luft mit reinem 
Sauerſtoffgas angefüllt war, dann wird ein Thier derſelben 
Art gerade viermal ſo lange darin am Leben bleiben. Nur 
ſo lange in ſeiner Umgebung noch chemiſch unvermiſchtes 


230 


Sauerſtoffgas vorhanden iſt, kann ein Licht fortbrennen, ein 
Thier aber beim Athmen und mithin beim Leben erhalten 
werden. Denn, wie wir dies ſpäter erwähnen werden, auch 
das, was beim Athmen und durch alle Folgen deſſelben be: 
wirkt wird, läßt ſich in ſeinem Kreiſe als ein Vorgang des 
Verbrennens betrachten, von welchem die innre Wärme des 
lebenden Leibes ausgehet und mit ihr, gleich dem Lichte, meh⸗ 
rere andre der Fortdauer und Wirkſamkeit des Lebens die- 
nende Kräfte. 12111 | 
So iſt es das Sauerſtoffgas, welches unter allen Ele⸗ 


menten der Erde am nothwendigſten erſcheint, zur Erhaltung 


des äußren Haushaltes des Menſchen, wie des innren ſeiner 


eignen leiblichen Natur. Ohne jenen König und Herrſcher 
im Reiche der Grundſtoffe hätten wir kein Licht, unſre Nächte 
oder das Dunkel der Tiefe zu erleuchten, kein Feuer um uns 
gegen das Erſtarren im Winter oder auf den kalten Gebirgs⸗ 


höhen zu ſchützen, kein Mittel um die meiſten unſrer Speiſen 


zu bereiten. Durch die Flamme, die dem Sauerſtoffgas ent⸗ 
quillt, wird dem Menſchen die Macht gegeben zum Aus⸗ 
ſchmelzen und Bearbeiten der Metalle, zur häuslichen Nie⸗ 
derlaſſung ſelbſt in der Nähe des beſtändigen Eiſes der Po⸗ 


* 


larländer und der beſchneiten Alpengipfel; erſt durch das 


Feuer, das die Lebensluft ihm gewährt, wird der Menſch 
der ihn umgebenden Körperwelt mächtig; ohne ihren beſtän⸗ 
digen, hülfreichen Einfluß würde ſeine lebende Seele ſelber 
nach wenig Augenblicken die Macht verlieren, den eigenen 
Körper zu bewegen und als Eigenthum zu beſitzen. 

Wie ſich durch den Wechſelverkehr des Sauerſtoffgaſes mit 
den andren Elementen auch in dem Reiche der unbeſeelten 


Körper jene Bewegungen und Regungen erzeugen, welche 


den Regungen der Lebenskraft ähnlich und verwandt ſind, 
und welche unter dem Namen der elektriſch-chemiſchen zuſam⸗ 
mengefaßt werden, davon wird noch ſpäter die Rede ſeyn. 
Darüber, daß alle Gebirgsmaſſen, aus denen die Oberfläche 
der Erde beſtehet, daß die meiſten Erze und beſondere Stein— 
arten die in den Lagerſtätten jener Maſſen vorkommen, aus 
einem meiſt metalliſchen Grundſtoffe beſtehen, welcher durch 
ſeine Verbindung mit dem Sauerſtoffgas erſt ſein jetziges 
dauerhaftes Beſtehen und ſeine beſtimmte Geſtaltung erhielt, 
fprachen wir oben (im C. 19). | 

Bis in die größeſten uns bekannten Tiefen, bis in die 


251 


höchſten Höhen unſrer planetariſchen Welt, erſtreckt ſich das 
Reich und die Verbreitung des Sauerſtoffgaſes. Dort hat 
es, als Beſtandtheil des Waſſers wie der feſten Körper, ſich 
zur Ruhe, wie in einem bleibenderen Wohnſitz niederge— 
laſſen, hier, in dem Luftkreis, beſtehet es noch in einem Zu⸗ 
ſtand der Freiheit und ungehemmten Beweglichkeit. Wenn 
man auch annehmen wollte, daß all jenes Sauerſtoffgas, 
welches durch die Menge der flammenden Vulkane, wie der 
vom Menſchen entflammten Feuer, durch die unzählbaren 
athmenden Lungen der lebenden Thiere und Menſchen ſo wie 
durch alle Vorgänge der Gährung der Oxydation und jeder 
andren langſamen Verbrennung täglich verzehrt wird, nie— 
mals wieder in reinem Zuſtand ausgeſchieden und zur Atmo— 
ſphäre zurückkehren könnte, läßt ſich dennoch der Luftkreis als 
eine, nach unſrem Ermeſſen unerſchöpfliche Vorrathskammer 
an Lebensluft betrachten. Selbſt nach einer Berechnung der 
Phyſiker beträgt die Geſammtmenge des Sauerſtoffgaſes in 
unfrer Atmoſphäre ſo viel, daß alle die oben erwähnten Vor⸗ 
gänge, wodurch ein Theil deſſelben verzehrt wird, im Zeit⸗ 
raume vieler Jahrtauſende keine ſehr bemerkbare Abnahme der— 
ſelben herbeiführen würden. Denn obgleich ein geſunder, 
erwachsner Menſch durch das Athmen täglich etwas über 26 
Kubikfuß, im Verlauf eines Jahres 9505 Kubikfuß, mithin 


luft hervorruft. | 7 
Nächſt dem Kohlenſtoff bildet der Sauerſtoff ſeiner Ge— 
wichtsmenge nach den wichtigſten und bedeutendſten Grund— 
ſtoff der organiſchen Körper. Selbſt noch im menſchlichen 
Leibe, wenn man dabei den Sauerſtoffgehalt des Waſſers, welches 
drei Viertheile ſeines Geſammtgewichtes beträgt, unberückſich⸗ 


232 


tigt läſſet, mag ſich die Gewichtsmenge des Sauerſtoffes in 
den feſteren Theilen auf 7 Pfund belaufen, eine Summe 
die nur von der Gewichtsmenge des Kohlenſtoffes (zu 10 Pfd.) 
übertroffen wird. 

Wir haben jetzt drei jener Grundſtoffe betrachtet, aus 
denen das Material zu dem wunderherrlichen Bau des Lei⸗ 
bes der Pflanzen, der Thiere und ſelbſt des Menſchen berei⸗ 
tet iſt. Noch ein vierter bleibt uns zu betrachten übrig, der 
ſich zwar ſeltener unter den Beſtandtheilen der Pflanzenkör⸗ 


per, deſto allgemeiner aber in denen des Thierleibes findet: 
dies iſt der Stickſtoff, der für ſich allein, in reinem Zur 


ſtand niemals anders denn in Luftform — als Stickſtoffgas 5 


— vorkommt. 
Wenn man unter einer oben mit atmoſphäriſcher Luft unten 


mit Waſſer gefüllten Glasglocke Phosphor verbrennt und hierbei 
nicht mehr und nicht weniger Phosphor als nöthig iſt (auf 12 bis 


13 Cubikzoll Luft etwa 1 Gran) anwendet, dann wird das 
Sauerſtoffgas, das in der Luft ſich befand, vollkommen auf⸗ 


gezehrt, die dabei entſtandene Phosphorſdure verbindet ſich £ 


mit dem Waſſer und das noch übrig gebliebene atmoſphäri⸗ | 


ſche Gas iſt, wenn nicht etwa durch eine kleine Beimiſchung 


von dampfförmigem Phosphor verunreinigt, nichts andres 


als Stickgas. Auch eine angezündete Soirituslampe, die 
man auf dem Waſſer im untern Raum der Glasglocke ſchwim⸗ 
men läſſet, verlöſcht erſt dann, wenn das Sauerſtoffgas der 


Luft bis auf einen kaum merklichen Reſt ehrt iſt und 


wenn man hierauf aus dem noch unverzehrt zu ückgeblie benen 


Antheil der Luft das kohlenſaure Gas, welches beim Berbre: . i 


nen des Weingeiſtes ſich bildete, dadurch hinweggeſchafft hat, 
daß man ätzendes Ammoniak unter das Waſſer der Glas- 
glocke miſchte, behält man nur das faſt ganz reine Stickgas 
übrig. 

Noch reiner als durch die Anwendung der beiden ſo eben 
erwähnten Verbrennungsmittel ſcheidet man das Stickgas aus 
der atmoſphariſchen Luft ab, wenn man eine flüffige Auflö⸗ 
ſung (ein Amalgam) von Blei im Queckſilber in einem wohl— 
verſchloſſenen Gefäß, darin / des Metallgemenges mit %, 
gemeiner Luft zuſammengeſperrt iſt, etliche Stunden lang 
ſchuttelt. Das fein zertheilte Blei zieht dann das Sauer⸗ 


ſtoffgas an ſich, um ſich mit ihm zu n und was zus 


rüdbleibt ift reines Stickgas. 


f 
r 
5 


233 


Wenn das Waſſer, das in den beiden erſterwähnten 
Verfahrungsarten den unteren Theil der Glasglocke anfüllte, 
mit dem Waſſer einer Wanne in Verbindung ſtund, ſo daß 
dem letzteren ein Zutritt unter die Glocke möglich war, dann 
bemerkt man, daß während des Verbrennens des Phosphors 
oder Alkohols das Waſſer höher in der Glocke oder im Glas— 
cylinder hinaufſteigt, weil durch den Abgang des Sauerſtoff— 
gaſes ein leerer Raum entſtanden iſt, welcher über ein Fünftel 
des geſammten Rauminhaltes ausmacht. Denn das Stickgas 
iſt faſt um ein Siebentel leichter als das Sauerſtoffgas, ſo 
daß dem Rauminhalte nach, den jene Gasarten in der At- 
moſphäre einnehmen, das Sauerſtoffgas nur 21, das Stick— 
gas 79, dem Gewichtsverhältniſſe nach jenes 23, dieſes 77 
Hunderttheile des Luftkreiſes bildet. Dieſes Verhältniß er— 
weiſt ſich als ein durchaus beſtändiges. So weit bisher der 
Menſch in die Höhen hinauf kam, oder in die Tiefe der 
Gruben, zu denen die Luft Zutritt hat, hinabſtieg, haben 
die chemiſchen Unterſuchungen es überall ergeben, daß, ab⸗ 
geſehen von jenen fremdartigen Gasarten, die ſich nebenbei 
eindrängen, ja die eigentlichen atmoſphäriſchen Luftarten zum 

Theil verdrängen können auf 21 Raum- oder 23 Gewichts- 
teile des vorhandenen Sauerſtoffes 79 Raum- oder 77 Öe- 
wichtstheile Stickgas kommen. Freilich kann dabei die Ver— 
dünnung in ſehr großen Höhen und die Verdichtung in den 
Tiefen ſo weit gehen, daß der Luftgehalt einer Glasglocke, 
welcher unten in der Ebene hinreichend war um eine gewiſſe 
Portion des Phosphors in ſich abbrennen zu laſſen und in 
Phosphorſäure zu verwandeln, hierzu nicht mehr auslangt, 
ſondern daß ein Theil des brennbaren Körpers unverbrannt 
zurückbleibt, obgleich dabei der Sauerſtoffgehalt, der in der 
Luftmaſſe war, vollkommen aufgezehrt wurde. Denn obgleich 
in dem Luftgemenge das ſich in den höheren Regionen findet 
die beiden atmoſphäriſchen Gasarten dem Gewichte wie dem 
Volumen nach in demſelben Verhältniß vorhanden ſind, als 
unten, in der Ebene, finden ſich dennoch beide auf einen viel 
großeren Raum ausgedehnt, ſo daß in einem Gefäß welches 
einen Cubikfuß Maaßweite hat, dem Gewicht nach nur zwei 
Drittel, ja die Hälfte ſo viel Luft enthalten ſeyn kann als 
unten, auf der Oberfläche des Meeres oder der Küſtenebenen 
(nach Cap. 28). 
Die beiden eben genannten Hauptgasarten der Atmo⸗ 


ſphäre find in dieſer nicht in der Weiſe einer chemiſchen Durch⸗ 
dringung, wie Sauerftoff und Kohle in dem kohlenſauren 
Gas oder Waſſerſtoff und Sauerſtoff im Waſſer vereint. 
Auch läßt ſich ihr Gemenge nicht als ein mechaniſches be⸗ 
trachten, weil ſonſt das Sauerſtoffgas, wegen ſeiner größeren 
Eigenſchwere zur Tiefe ſinken und in vorherrſchender Menge 
die niederen Regionen des Luftkreiſes erfüllen würde, wäh⸗ 
rend das Stickgas ſich mehr in die höheren Räume hinauf⸗ 
zöge. Beide müſſen deshalb durch eine polariſche Anziehung 
von andrer Art, Theil für Theil vereint ſeyn, welche mehr 
der magnetiſchen und elektriſchen, als der chemiſchen gleichet. 
Auch jene Anziehung die das Gewäſſer der Erde, welches 
bis zu ſeiner Tiefe hinab von Luft durchdrungen iſt, gegen 
dieſe ausübt, muß von verwandter Art ſeyn, denn das Waſ⸗ 
ſer nimmt hierbei die Gasarten der Atmoſphäre nicht in dem 
Verhältniß auf, in welchem fie feiner Oberfläche ſich darbie⸗ 
ten, ſondern mit einer Art von Auswahl, indem es ein Drit- 
tel mehr an Sauerſtoff- als an Stickgas abſorbirt. 
Das einhüllende Verhältniß, in welchem das an Menge 
übermächtige Stickgas in unſrem Luftkreiſe zum Sauerſtoffe 
ſtehet, erſcheint als ein überaus wohlthätiges und zur Er— 
haltung des jetzigen Fortbeſtandes der irdiſchen Natur noth⸗ 
wendiges. Beſtünde die Atmoſphäre aus lauterem Sauer⸗ 
ſtoffgas, dann könnte jede Flamme, die der Menſch auf ſei⸗ 
nem Heerd entzündet, zum unauslöſchlichen Brande werden, 
auch das Leben der organiſchen Weſen würde in einen ord- 
nungswidrigen Verlauf gerathen. Thiere, welche man etwas 
längere Zeit im Sauerſtoffgas athmen ließ, ſchienen anfangs 
überaus wohl, dann aber ſich unbehaglich zu befinden, man 1 
fand ihre Lungen in einer Art von entzündlichem Zuſtandz; 
die geſammte Maſſe des Blutes war in ungewöhnlicher Weiſe 
gerothet. Menſchen, welche an den Lungen leiden, fühlen 
faſt augenblicklich den ſchmerzhaft nachtheiligen Einfluß, den 
das Einathmen des reinen Sauerſtoffgaſes auf fie hat. 
Wir betrachten jedoch hier vorerſt nur die Eigenſchaften 
des Stickgaſes und einige ſeiner Verbindungen. Gegen das 
Sauerſtoffgas verhält ſich daſſelbe wie ein brennbarer Kör⸗ 
per, welcher freilich zum Glücke nicht ſo leicht wie die meiſten 
andren brennbaren Stoffe, die Verbinduug eingehet. Denn 
während ſich bei dem Verbrennen des Waſſerſtoffgaſes mit 
dem Sauerſtoffgas das wohlthätig nährende, milde Waſſer 


234 


235 


bildet, entſtehen aus dem chemiſchen Vereine des Stickſtoffes 
mit dem Sauerſtoff Verbindungen, welche den athmenden 
Weſen für Erhaltung des Lebens nachtheilig und gefährlich 
werden müßten. KB: 
Eine unſrer ftärkften Säuren: die Salpeterſäure, 
welche, ſo wie ſie etwas verdünnt in Handel und Gewerben 
vorkommt, Scheidewaſſer beannnt wird, iſt nichts Andres als. 
eine Verbindung des Stickſtoffes mit dem Sauerſtoffgas, wel— 
che aus 1 Maßtheilen des erſteren und aus 3 des letzteren 
beſtehet. Die zerſtörende, auflöſende Kraft, mit welcher dieſe 
Säure auf die organiſchen Körper wirkt, iſt bekannt. Auch 
der röthliche Dampf der ſich bei Bereitung der Salpeterſäure, 
z. B. durch Deſtillation des Salpeters mit Schwefelſäure 
erzeugt, iſt eine Säure von geringerem Sauerſtoffgehalt als 
die Salpeterſäure, und darum minder ſtark als dieſe, den— 
noch wirkt er auf die athmende Lunge der Thiere als ein 
zerſtörendes Gift. Es gilt dieſes ſelbſt noch von dem Sal— 
petergas oder nitröſen Gas, das aus zwei Maaßtheilen Sauer— 
ſtoffgas und einem Maaßtheile Stickgas chemiſch zuſammen 
geſetzt iſt, denn auch in dieſem verlöſchen die Lichter und ſter⸗ 
ben nach wenig Augenblicken die Thiere. Am unſchädlichſten 
und ſogar durch einige feiner Eigenſchaften für den Menſchen 
anlockend erſcheint unter allen Verbindungen der beiden atmo— 
ſphäriſchen Gasarten das oxydirte Stickgas oder das Luſt— 
gas, zu deſſen Bereitung nur ein Maßtheil Sauerſtoffgas 
auf ein Maßtheil Stickſtoffgas verwendet werden. Dieſe 
Luftart welche am reinſten aus ſalpeterſaurem Ammoniak, üb⸗ 
rigens auch ſchon durch Auflöſung von Eiſen oder Zink in 
einer ſehr mit Waſſer verdünnten Salpeterſäure gewonnen 
wird, erhöht die Flamme eines angezündeten, brennbaren 
Körpers faſt in demſelben Maaße wie das reine Sauerſtoff— 
gas. Selbſt Kohle und Eiſen verbrennen in dem oxpydirten 
Stickgas mit heller Flamme, doch bedarf es zu ihrer Ent— 
zündung eines höheren Grades der Hitze als in der reinen 
Lebensluft. Kleine Thiere welche man in oxpydirtes Stickgas 
einſperrt, verrathen eine Zeit lang einen hohen Grad von 
Munterkeit; Menſchen welche dieſe Luftart in ihre, vorher 
durch ſtarkes Ausathmen entleertere Lunge zogen, empfanden 
dabei einen angenehm ſüßlichen Geſchmack und verfielen da— 
durch in einen Zuſtand des behaglichen Rauſches, welcher 
freilich, bei länger fortgeſetztem Einathmen des oxydirten 


236 


Stickgaſes bis zum Verluſt der Beſinnung anwachſen kann. 
Indeß ſind dieſe Erſcheinungen bei Menſchen von keinen nach⸗ 
theiligen Folgen, während kleine Thiere, die man ohne ihnen 
dazwiſchen wieder einmal reinere Luft zu geben, lange fortge— 
ſetzt in dem oxydirten Stickgaſe athmen ließ, wie im Rauſche 
dahin ſtarben. 

Das Stickgas läßt ſich zwar durch den elektriſchen Fun⸗ 
ken mit dem Sauerſtoffgas verbinden und verbrennen, aber 
nur mit ſehr großer Schwierigkeit und durch öfter wieder⸗ 
holte elektriſche Entladungen, weil ſich bei dem Vorgang je: 
ner Vereinigung eine verhältnißmäßig überaus geringe Wärme 
entwickelt. Wenn man atmoſphäriſche Luft mit viermal ſo 
viel Maaßtheilen von feuchtem Sauerſtoffgas vermiſcht und 
dann einen elektriſchen Funken hindurchſchlagen läſſet, dann 
verbrennt nur jener kleine Theil des Stickſtoffes der unmit— 
telbar von dem Funken getroffen wurde und es gehören meh— 
rere hundert Entladungen einer gewöhnlichen Elektriſirma— 
ſchine dazu, um nur ſo viel Salpeterſäure zu erzeugen, daß ihre 
Anweſenheit durch Röthen der Lakmustinktur oder durch Ver⸗ 
bindung mit einer Auflöſung von ätzendem Kali zu Salpeter 
(ſalpeterſaurem Kali) merklich wird. Dennoch mag ſich auf ſol— 
che Weiſe auch in der Atmoſphäre durch bemerkbare, gewit— 
terhafte oder unmerkliche elektriſche Entladungen etwas Sal— 
peterſäure erzeugen, denn nicht ſelten findet ſich eine Spur 
derſelben in verſchiedenen atmoſphäriſchen Niederſchlägen. 

Nur in etwas andrer Weiſe als der Kohlenſtoff ſetzt 
auch der Stickſtoff der menſchlichen Kunſt gewiſſe Gränzen 
bei ſeiner Handhabung. Wir wiſſen es, daß der koſtbarſte 
Edelſtein der Erde, der Demant, aus nichts andrem als aus 
reinem Kohlenſtoff beſtehe und dennoch vermögen wir es nicht 
aus Kohle Demant zu machen, weil wir wie bereits erwähnt 
durch all unſre Kunſt eben fo wenig im Stande find, den Kohen— 
ſtoff in kryſtalliniſchen Zuſtand zu verſetzen, als die Elemente, 
aus denen der Leib eines Thieres beſteht, zum Leben zu erwecken. 
Eben ſo ſehen wir durch die Kraft des Lebens, welche den Pflan— 
zen und Thieren inwohnt, ohne Aufhören und mit Leichtig⸗ 
keit den Stickſtoff mit dem Sauerſtoff ſich vereinen, während 
wir dieſen Vorgang nur äuſſerſt ſchwer durch unſre Wiſſen⸗ 
ſchaft und Kunſt nachahmen können. Wir machen uns des— 
halb die Darſtellung der Verbindung der beiden atmoſphäri⸗ 
ſchen Luftarten zur Salpeterſäure und all ihren Abarten nur 


237 


dadurch im Großen möglich, daß wir dabei die Kraft des Lebens, 
in der organiſchen Natur, uns vorarbeiten laſſen. Denn bei der 
langſamen Zerſetzung der vegetabiliſchen ſo wie noch mehr der thie— 
riſchen Körper erzeugt ſich ohne große Mühe das ſalpeterſaure 
Kali oder der Salpeter, aus welchem, wie ſchon erwähnt, 
die Salpeterſäure dadurch gewonnen wird, daß man ihr, mit- 
telſt einer Behandlung durch Schwefelfäure, von dieſer ſtär— 
teren Säure das Kali entreiſſen läſſet. In unſren Salpeter— 
hütten wird der Salpeter ganz einfach ſo bereitet, daß 
man unter ein Dach, welches den Regen abhalten ſoll, ein 
Gemenge von lockrer Erde, von Aſche und Mergel mit aller⸗ 
hand thieriſchen und vegetabiliſchen Abgängen aufſchüttet, die— 
ſes Gemenge öfters umſchaufelt, um alle feine Theile in Be- 
rührung mit der Luft zu bringen und daſſelbe von Zeit zu 
Zeit mit Urin begießt. Auf ſolche Weiſe wird im Verlauf 
von 2 bis 3 Jahren der (organiſche) Stickſtoff in Salpeter 
ſäure verwandelt, die ſich mit dem wenigſtens zum Theil in 
den zerſetzten organiſchen Maſſen enthaltenen Laugenſalze zu 
Salpeter verbindet. Aber auch ſchon ganz bereitet, ſo daß er 
nur des Auslaugens bedarf, findet ſich der Salpeter in mans 
chen Kalkfelſenhöhlen und Erdlagern der heißen, von üppi— 
gem Pflanzenwuchs bedeckten und von einer zahlreichen Thier— 
welt bewohnten Ländern. Einige Pflanzen, wie der Boretſch 
(Borago officinalis) enthalten den Salpeter in merklicher 
Menge in ihren Säften. 

Bei der Verweſung und Zerſetzung organiſcher Körper 
gehet der Stickſtoff auch eine Verbindung mit dem andren 
Grundſtoff des Waſſers: mit dem Waſſerſtoffgas ein, indem 
drei Maaßtheile von dieſem mit einem Maaßtheile Stickſtoff 
das flüchtige Laugenſalz oder Ammoniak bilden, das ſich durch 
ſeinen ſtechend ſcharfen Geruch überall da kund giebt, wo 
thieriſche Abgänge von ſehr ſtickſtoffhaltiger Beſchaffenheit in 
Zerſetzung übergehen. Bei dieſer Verbindung zeigt ſich am 
Stickſtoff eine Eigenſchaft, welche wir ſonſt an keinem andren 
brennbaren Körper bemerken. Während ſich nämlich z. B. 
die Verbindungen des Phosphors und des Schwefels mit 
dem Waſſerſtoffgas wie Säuren verhalten, ſtellt die Verbin— 
dung des Stickſtoffes mit demſelben ein vollkommenes Lau— 
genſalz dar, welches dadurch, daß man ihm mittelſt elektri— 
ſcher Polariſation noch einen Maaßtheil des Waſſerſtoffgaſes 
zuſetzt, zu einem metalliſchen mit Queckſilber ſich amalgami⸗ 


238 


renden Körper, ähnlich den Grundlagen der andren Laugen; 
ſalze wird (ſ. S. 145). Hierbei haben ſich alle die gewöhn⸗ 
lichen Verhältniſſe umgekehrt. Statt daß anderwärts die me⸗ 
talliſche Grundlage dadurch zum Vorſchein kommen könnte, 
daß der Waſſerſtoff ihr den Sauerſtoff, womit ſie verbunden 
(oxydirt) war, entriſſe, vereint ſich jener mit ihr und nun 
erſt tritt die metalliſche Natur hervor. Uebrigens beſtehen 
ſelbſt über die Grundlagenwürde des Stickſtoffes noch einige 
Zweiſel und aus manchen Beobachtungen könnte es ſcheinen, 
daß er ſelber ſchon aus der Verbindung einer noch wenig ge⸗ 
kannten Grundlage mit den Sauerſtoff beſtehe. In jeder Hin⸗ 
ſicht erſcheint dieſe merkwürdige atmoſphäriſche Luftart als ein 
Wendepunkt, bei welchem die Herrſchaft andrer, höherer 
Kräfte als die unſrer chemiſchen Werkſtätten ſind: der Kräfte 
des Lebens ihren Anfang nimmt. Aus dem Reiche der Grund⸗ 
lagen, welche die unorganiſchen Körper bilden, iſt der Stick⸗ 
ſtoff wie ausgeſtoßen und ausgeſchloſſen, in dieſen regt ſich 
faſt nirgends ein Zug nach der Vereinigung mit ihm, und 
ſelbſt die Lebenskraft der Pflanzen zwingt jenen zur freien, 
unvermählten Luftform geſchaffenen Stoff nur in ſehr gerin⸗ 
gem Maaße zur Entäufferung feiner Freiheit. Erſt die thie- 
riſche Lebenskraft iſt ſtark genug ihn ganz in den Bereich der 
Bildung ihrer Leiblichkeit hereinzuziehen, denn auſſer dem 
Fette, das nur Kohlenſtoff, Sauerſtoff und Waſſerſtoff enthält, 
haben alle feſte wie flüſſige, organiſche Beſtandtheile, aus denen 
der thieriſche Körper zuſammengeſetzt iſt, den Stickſtoff unter 
ihren Elementen. N | 

So ift die organiſche Natur in einem faſt ungetheilten 
Gebrauchsrecht des Stickſtoffes und ſie wendet dieſes Recht 
in ſo ſparſamer Weiſe an, daß der Abgang, den etwa 
die unermeßlichen Vorräthe, welche der Luftkreis enthält, 
ſchon allein durch jenen Zugang an Stickſtoff erſetzt werden 
könnte, den manche Quellen, wie z. B. die Warmbrunnen 
von Mehadia, mit ſich aus der Tiefe heraufbringen und zu 
Tage fördern. | | 


27. Großer Erfolg aus kleiner Urſache. 
Jener Brahmine, der nach dem Gebot das. feine Reli⸗ 


gion und ſein Stand ihm auferlegten, niemals das Fleiſch 
eines Thieres genoſſen, ſondern mit Abſcheu von all ſolcher 


239 


Speiſe ſich hinweggewendet hatte, gerieth in keinen geringen 
Schrecken als ein Engländer ihm durch ein Mikroſcop in 
jedem Tropfen des Waſſers, davon der Brahmine ſo eben 
trank, eine unzählbare Schaar der kleinen Thiere zeigte, wel— 
che uns das künſtliche Auge der geſchliffenen Gläſer (nach 
S. 177) ſichtbar machet. Es fehlte nicht viel, er wäre lieber 
Durſtes geſtorben als noch einmal in Gefahr gerathen Tau⸗ 
ſenden jener Lebendigen bei jedem Trunke den Tod zu brin- 


gen, wenn der Andre, der ihn ſo ſchreckte, nicht etwa den 


Troſt hinzugefügt hätte, daß ſolche faſt unmeßbar kleine We⸗ 
ſen, wie ſie lebend mit jedem Tropfen den wir genießen, ja 
mit jedem Lufthauch in uns eingehen, auch lebend und 
unverletzt aus uns ausgehen könnten. 

Die Thierwelt unſrer Mikroskope, welche anfangs nur 
eine Beluſtigung der Augen war, iſt in neuerer Zeit nicht 
nur ein Gegenſtand der aufmerkſamen Beachtung für den 
Forſcher in der Geſchichte des Thierreiches, ſondern auch für 
den Forſcher in der Geſchichte der Geſtaltung unfrer Erdober— 
fläche und des Fortbeſtehens der Verhältniſſe zwiſchen dem 
Luftkreis und der ganzen oberirdiſchen Natur geworden. 
Ganze große Lager von kieſelerdigen Bergarten zeigen ſich 
unter dem Vergrößerungsglas als ein feſt zuſammen gebacke— 
nes Gehäufe aus unzählbaren Panzergehäuſen, womit einſt 
jene faſt unmeßbar kleinen Weſen bekleidet waren, denn an die— 
ſen ſtäubchenartigen Thierchen zeigt ſich eine Vollkommenheit 
und Zierlichkeit des Baues, eine Stattlichkeit und verhältniß⸗ 
mäßige Stärke der äußren Bekleidung und Bewaffnung, welche 
den beobachtenden Naturforſcher mit dem höchſten Erſtaunen 
erfüllt. In der Zeit, als dieſe kieſelerdigen Lager ſich bilde— 
ten, da muß in jedem Tropfen des flüſſigen Elementes die 


Schöpfung der lebenden Geſtalten ſich geregt haben. 


Die Aufmerkſamkeit der Naturforſcher iſt in neuerer Zeit 
noch in andrer Weiſe auf dieſe kleinſten Thiere und auf ihre 
Wichtigkeit für den Haushalt der irdiſchen Natur hingelenkt 
worden. Wir ſprachen im vorhergehenden Capitel von dem 
Verbrauche, welchen das Sauerſtoffgas der Atmoſphäre durch 

Athmen der Thiere wie durch jede Flamme eines bren- 
nenden Körpers, durch die vielfachen Vorgänge der Gährung 
und Oxydirung erleidet. Zwar entwickelt ſich nach S. 231 aus der 
lebenden Pflanzenwelt, durch Zerſetzung der Kohlenſäure, un— 
ter dem Einfluß des Sonnenlichtes eine bedeutende Menge von 


240 


Sauerſtoffgas, aber ein andrer, vielleicht nicht minder ergie⸗ 
biger Quell der Wiedererſtattung der vom athmenden Thier⸗ 
reich aufgezehrten Lebensluft iſt im Thierreich ſelber, und 
zwar in dem Gebiet der mikroſcopiſch kleinſten Weſen zu fin⸗ 
den. Wir wollen hiervon nur Einiges erwähnen. N 
Schon vor mehreren Menſchenaltern bemerkte ein be⸗ 
rühmter Naturforſcher (der Graf Rumford), daß ſich aus 
verſchiedenen organiſchen Körpern, wie Seide, Wolle und 
dergleichen, wenn dieſelben in einem mit Waſſer erfüllten 
Gefäße dem Sonnenlicht ausgeſetzt werden, eine Menge des 
reinſten Sauerſtoffgaſes entwickle. Zugleich nimmt dabei das 
Waſſer eine grünliche Farbe an, welche, wie die mikroſcopiſche 
Unterſuchung zeigt, von einer zahlloſen Menge kleiner, rund: 
licher Thiere herrührt. In den Soolkaſten einer Saline ſieht 
man eine ſchleimige, durchſcheinende Maſſe ſich bilden, wel- 
che den Boden einen oder zwei Zoll hoch bedeckt und an de⸗ 
ren Oberfläche überall mächtig große Luftblaſen ſich emporhe⸗ 
ben. Wenn man mit einem Stocke die ſchleimig häutige 
Decke dieſer Luftblaſen durchſtößt, dann dringt aus ihnen 
eine Luft herauf, die ſich nach allen mit ihr angeſtellten Ver⸗ 
ſuchen als vollkommen reines Sauerſtoffgas oder als Lebensluft 
zu erkennen giebt. Wenn man aber noch weiter die dicke, zähe 
Fluüſſigkeit, aus der die Luft heraufkam, unterſucht, dann 
erkennt man unter dem Mikroſcop, daß ſie faſt ganz aus 
einem Gewimmel von eben ſolchen lebenden Thierchen beſtehe 
als die waren, aus deren Panzern der Kieſelguhr von Fran— 
zensbad in Böhmen und andre ähnliche Lagen unſrer Berg- 
arten zuſammengeſetzt ſind. Selbſt in der weißen Aſche, die 
nach dem Glühen der dickflüſſigen Maſſe im Feuer zurück⸗ 
bleibt, erkennt man die Kieſelſkelete jener kleinen Thiere aus 
denen ſie zum größeſten Theil zuſammengeſetzt iſt. Dieſe 
zeigen fo deutlich die Form der Thierchen denen fie anz 
gehörten, daß es dem Auge vorkommt, als hätte es noch 
den friſchen, von ihnen erfüllten Schleim, nur in einem be 
wegungslos ſtarrem Zuſtande vor ſich. Auch anderes Waſ— 
fer, in welchem organiſche Stoffe enthalten find, belebt ſich 
nach vielfach wiederholten neueren und neueſten Unterſuchun⸗ 
gen, namentlich unter Einwirkung des Sonnenlichtes mit 
dichten Haufen von kleinen rothen und grünen, nur durch das 
Mikroſcop wahrnehmbaren Thierchen und ſo wie dies geſchieht, 
entwickelt ſich eine Luftart aus dem Waſſer, in der ſich, wenn 
man 


241 


man in einem Glaſe fie aufſammlet, ein glimmender Spahn 
eben ſo mit heller Flamme wieder entzündet als in reinem 
Sauerſtoffgas und welche auch durch andre Kennzeichen als 
gen oder faſt ganz reines Sauerſtoffgas ſich zu erkennen 
giebt. N 

ECrinnern wir uns bei dieſer Gelegenheit an die weitaus— 
gebreiteten Lachen unſerer ſeichten Seeküſtengegenden, gefüllt 
wie die vorhin erwähnte Flüſſigkeit auf dem Boden eines 
Soolenkaſtens mit ſalzigen Theilen, untermiſcht von einer 
Maſſe organiſcher Ueberreſte der im Meere lebenden Weſen; 
erinnern wir uns weiter an die unzählig vielen Anſammlun— 
gen von ſtillſtehendem Waſſer in unſren Sümpfen und Grä— 
ben, denen nicht weniger organiſche Ueberreſte des Pflanzen— 
und Thierreiches beigemengt ſind, dann wird es uns leicht ſeyn, 
die ganz überaus wichtige Beſtimmung zu errathen, welche 
jene Kleinſten unter allen Lebendigen für unſre irdiſche Na— 
tur haben. Sie zehren ohne Aufhören die in Auflöſung be— 
griffenen Stoffe auf, welche, wenn ſie in gewöhnlicher Art 
verweſten, die Luft mit dem Aushauch ihrer Fäulniß verpe— 
ſten würden. Und wenn ſie dieſem Uebelſtand in ſumpfigen 
Gegenden auch nicht ganz abhelfen können, ſo iſt doch ſchon 
das, was ſie zu der Abhülfe beitragen, ſehr wichtig. Aber 
nicht allein dieſes Werk der Reinigung und des Aufräumens 
iſt jenen kleinen belebten Stäubchen übertragen, ſondern da— 
bei auch noch die ungleich wichtigere Aufgabe aus den orga— 
niſchen Stoffen und aus dem Waſſer das darin enthaltene Sauer 
ſtoffgas in vollkommner Reinheit auszuſcheiden und darzu— 
ſtellen. Hier müſſen auch die ſchwächſten und geringſten 
Weſen Das herbeiſchaffen, was den ſtärkſten und mächtigſten 
das Hauptelement zur Erhaltung ihres Lebens, und zugleich das 
Hauptvermögen ihrer Wirkſamkeit darreicht. Das was dem 
gewöhnlichen Menſchenauge verächtlich dünkt und von nie— 
drigſter Art erſcheint, das kommt durch ein tiefer eindringen- 
des Forſchen zur höchſten Anerkennung und Ehre. 

Wir werden ſpäter noch einmal, am Ende des Capitels 
ier den Blitzableiter darauf zu ſprechen kommen, was das 
leiblich Kleine und Kleinſte in der ſichtbaren Welt, dem 
maſſenhaft Großen gegenüber zu bedeuten habe. Das Große 
bleibt ſeinem Gewicht und herrſchaftlichen Einfluſſe nach 
immer groß, was aber unſrem Auge daran gefällt und wich⸗ 
tig erſcheint, das wäre nicht da, gäbe es nicht daneben, 

16 


| 
a 


242 


darüber und darunter eine andre Welt der Dinge, die unſer 
Auge nicht ſieht. 


28. Druck und Gegendruck. | 

Wir haben jetzt im Allgemeinen die ſogenannten Grund⸗ 
ſtoffe oder bisher noch nicht künſtlich zerlegten Elemente be⸗ 
trachtet, aus denen die Körper unſrer irdiſchen Sichtbarkeit 
zuſammengeſetzt ſind. In der unorganiſchen Natur finden ſich 
dieſe Grundſtoffe zur Bildung der Steine, des Waſſers und 
andrer Körper, denen keine eigne Seele innen wohnt, unmit⸗ 
telbar gleich roh behauenen Bauſteinen angewendet, dagegen 
benutzt dieſelben die Lebenskraft der Thiere und Pflanzen 
nur als einen Stoff, durch deſſen weitere Verarbeitung und 
vielfache Zuſammenmiſchung ſie, wie der Architekt ſeinen Mörtel, 
ſeine Ziegelſteine, ſeine Stuckatur und ſelbſt Porzellanmaſſe, das 
vollkommene, organifche Material zu ihrem Bau gewinnt. 

Wie der Anblick der noch unbenutzt am Boden liegen⸗ 
den Bauſteine oder der noch nicht in Backſtein gebrannten Erd⸗ 
und Sandhaufen nur wenig Intereſſe gewährt, wie dagegen 
jeder Vorübergehende gern ſtehen bleibt und mit Theilnahme 
zuſieht, wenn ganze Schaaren der Bauleute das todte Ma⸗ 
terial in Bewegung ſetzen und wenn unter ihren Händen alle 
mälig der kunſtreich ſchöne Bau ſich erhebt, ſo ergeht es uns 
auch, wenn wir von der minder anſprechenden Betrachtung 
der Grundſtoffe zu der Erkenntniß jener Vorgänge übergehen, 
durch welche das hehre Gebäu unſrer irdiſchen Sichtbarkeit 
aus feinen Elementen zuſammengefügt und errichtet wird. 
Die Bauleute, welche ſich hierbei geſchäftig zeigen, find theils 
die Kräfte einer elektriſchen und chemiſchen Anziehung (nach 
Cap. 23), theils die einer lebenden Seele; die Mittel welche 
beide, wie die Maurer oder Zimmerer ihre Hebel und ihre 
Handwerksgeräthe zu Hülfe nehmen, ſind theils von mecha⸗ 
niſcher Art, auf Druck und Gegendruck berechnet, theils von 
eigenkräftigerer, auf Polariſation (nach Cap. 8) begründeter 
Natur. Wir betrachten hier zuerſt die Mittel, welche mehr 
zur Klaſſe der allgemeinen mechaniſchen zu gehören ſcheinen, 
obgleich auch aus ihrer Wirkſamkeit allenthalben die ſelbſt⸗ 
thätige Theilnahme eigenthümlicher Kräfte hervorleuchtet. 
Vor Allem tritt uns hier der Einfluß entgegen, den der 
Druck der Atmoſphäre auf alle Vorgänge des Entſtehens und 
Beſtehens der oberirdiſchen Körperwelt ausübet. win 


243 


Wenn man ein Kind fragt: was wiegt ſchwerer, ein 
Pfund Luft oder ein Pfund Blei, dann werden wir 
in den meiſten Fällen die Antwort hören: das Pfund 
Blei wiegt ſchwerer. Das Kind bedenkt eben nicht, 
daß ein Centner immer ein Centner, das Loth ein Loth in 
der Wagſchale bleibt, es mag nun vom Gewicht des Waſſers 
oder der Luft oder des Goldes die Rede ſeyn. Denn die 
Pferde, welche vor einem Karren angeſpannt ſind auf dem ein Ei⸗ 
merfäßchen voll Ducaten liegt, haben daran ohngefähr eben ſo 
ſchwer zu ziehen, als zwei andre deren Ladung ein großes 
Märzenfaß iſt, in welchem 19 Eimer Waſſer enthalten ſind 
(m. ſ. S. 132). Und dennoch hat das Kind, wenn es jene 
Frage ſcheinbar ſo verkehrt beantwortet, auch nicht ganz un⸗ 
recht, es ſollte ſich nur anders ausdrücken und vielleicht ſa⸗ 
gen, ein Pfund Blei laſtet ſchwerer als ein Pfund Luft. 
Dier Laſtträger, welcher 400 Pfund Blei auf feinem 
Rücken davon trägt, muß ſchon ein ſehr ſtarker Mann ſeyn, 
etwa ein ſolcher wie man einzelne unter den türkiſchen Laſt⸗ 
trägern in Konſtantinopel findet. Ein berühmter Starker in 
alter Zeit, der ſich gar uhmredig Athamas der Unbezwing⸗ 
bare, nannte, hatte es noch weiter gebracht; er trug eine 
Waffenrüſtung an ſich, welche tauſend Pfund wog, und be— 
wegte ſich in und mit dieſer Laſt. Wir haben aber Beiſpiele 
von noch viel mächtigeren Laſtträgern ganz in unſrer Nähe 
und ich ſelber kenne vor Allen einen, welcher ein Gewicht, 
das faſt dreißigmal ſchwerer iſt als das des Athamas, ſo 
ganz ohne alle Beſchwerde trägt, daß er es nicht einmal bei 
Nacht im Schlafe ablegt, und am Tage damit ganz leicht 
über Berg und Thal wandelt. Ja dieſer Laſtträger iſt ſchon 
als kleiner Knabe mit einem Gewicht, welches vielmal grö— 
ßer war, denn jenes, das Athamas auf ſeinem Leibe trug, 
umhergehüpft und geſprungen, iſt damit an Bäumen und an 
Mauern emporgeklettert und im Waſſer geſchwommen, ohne 
unterzuſinken. | 
Der Mann, von welchem ich dieſes ohne alle Uebertrei⸗ 
ausſagen kann, bin nicht nur ich ſelber, ſondern iſt 
r von uns. Jeder Menſch von vollkommenem Wuchſe 
ind vollkräftigem Umfang der Glieder hat bei Tag wie bei 
Racht einen allſeitig auf die Oberfläche ſeines Körpers ein⸗ 
wirkenden Druck der Luft zu ertragen, welcher auf jeden 
Quadratzoll einem Gewicht von 12 55 Pfund, mithin auf 
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* 


244 


jeden Quadratfuß von 1836 und im Ganzen wenn die ge⸗ 
ſammte Oberfläche des Körpers 15 bis 16 Quadratfuß miſ⸗ 
fet, einem Gewicht von 27540 bis 29376 Pfunden entſpricht. 

Daß in einer Röhre, in welcher man einen gut an ihre 
innren Wände anſchließenden Stempel emporzieht, das 
Waſſer, in das der untere Theil der Röhre eingetaucht iſt, 
aufwärts ſteige, das wußte ſeit uralten Zeiten jedes Kind, denn 
das Spiel mit den ſogenannten Spritzbüchſen oder Spritz⸗ 
röhren iſt nicht erſt ſeit geſtern erfunden. Der Anblick jeder 
Waſſerpumpe, welche im Großen auf dieſelbe Weiſe einge⸗ 
richtet iſt, wie das Spritzrohr im Kleinen, die Betrachtung 
jedes Hebers in welchem die Flüſſigkeit, wenn man die in 
ihm enthaltene Luft mit dem Munde herauszieht, alsbald 
emporſteigt, lehrte ganz daſſelbe: daß nämlich das Waſſer, 
wie jede andre Flüſſigkeit, wenn ſie Zugang dazu finden 
kann, in einen Raum ſich hinaufdränge, den man von der 
Luft entleert hat. Die Thatſache war demnach längſt und 
wohl bekannt, nicht aber die Urſache auf der ſie beruhet. Ein 
berühmter Philoſoph des Alterthumes, Ariſtoteles, hatte die 
Meinung ausgeſprochen: daß in ge Welt der natürlichen 
Dinge ein Abſcheu vor der Leere”fey, weshalb auch das 
Waſſer, ſeiner Schwere entgegen, in luftleeren Röhren auf⸗ 
wärts ſteige und bei dieſer ſonderbaren Erklärung, weil ſie 
von einem großen, berühmten Gelehrten kam, hatte man ſich 
faſt zwei Jahrtauſende lang beruhigt, ohne der Sache weiter 
nachzudenken. b 6 

Da jedoch ein luftleerer Raum immer daſſelbe bleibt 
und mithin auch daſſelbe wirken muß, er mag groß oder 
klein ſeyn, da im Gegentheil der Abſcheu der Natur vor der 
Leere nur deſto ſtärker ſich äuſſern ſollte, je größer die Leere 
iſt, mußte es auffallen, daß das Waſſer in einer Saug⸗ 
pumpe, auch wenn dieſe noch ſo genau und vollkommen ein⸗ 
gerichtet iſt, niemals höher in den künſtlich erzeugten, luft⸗ 
leeren Raum hinanſteigt, als 32 Fuß. Ein Gärtner in Flo⸗ 
renz machte dieſe Erfahrung in recht auffallender Weiſe, als 
er eine Waſſerpumpe ganz kunſtgerecht hatte fertigen laſſen, 
welche über 40 Palmen hoch war. Das Waſſer folgte dem 
ganz luftdicht anſchließenden Stempel bei ſeinem Heraufzie⸗ 
hen nach bis zur Höhe von 18 Ellen oder 32 pariſer Fuß, 
bei dieſer Höhe aber blieb es ſtehen, ohne ſich weiter in dem 
luftleeren Raume erheben zu laſſen. Der berühmte Galilei, 


. ar 


245 


einer der tiefblickendſten Phyſiker der neueren Zeiten, hörte 
von dieſer Beobachtung, aber obgleich ſein ſelbſtkräftiger Geiſt 
in vieler Hinſicht von der Befangenheit unter den Ausſprü— 
chen des Ariſtoteles ſich frei gemacht hatte, vermochte er doch 
bei dieſer Gelegenheit nicht ganz davon los zu kommen, er 
urtheilte, daß der Abſcheu vor der Leere, welcher das Waſ— 
fer in den Saugpumpen ſteigen machet, feine gewiſſe Grän⸗ 
zen habe. Und dennoch konnte die richtige Anſicht von jener 
Erſcheinung Keinem ſo nahe liegen als dem ſcharfſinnigen 
und tiefforſchenden Galilei, welcher nicht nur die Schwere 
der Luft kannte, die er, freilich noch immer zu hoch, 400 
mal geringer ſchätzte, als die Eigenſchwere des Waſſers, 
ſondern der bei andrer Gelegenheit auch an die Wirkun⸗ 
gen des Druckes der Luft auf die Oberfläche der Erde 
gedacht zu haben ſcheint. Er ſah diesmal die Wahrheit wie aus 
der weiten unſicheren Ferne, in die ſich ein Luftſchiffer er- 
hebt; die deutliche Anſchauung aus einem näheren Stand⸗ 
punkt fehlte ihm noch, denn die Schwierigkeit bei der Her— 
ſtellung eines vollkommen luftleeren Raumes in einer Röhre 
von 32 Fuß Höhe, war zu groß. Seinem Schüler aber und 
Nachfolger auf dem Lehrſtuhl der Phyſik zu Bologna, To- 
ricelli, gelang es, den näheren Standpunkt zu finden, von 
welchem aus die Erſcheinung des Luftdruckes ſich leicht und 
bequem überblicken ließ, weil ſie mit ihren Wirkungen auf 
einen kleinen Raum beſchränkt und mit nur geringer Mühe 
hervorzurufen war. Wenn, ſo urtheilte Toricelli, der Luft⸗ 
druck es iſt, welcher auf den Waſſerſpiegel wirkend, in wel— 
chen man das untre Ende der Saugpumpe verſenkt hat, die 
Flüſſigkeit in den luftleeren Raum hinauftreibt: dann muß 
dieſer Druck auf jeden Punkt der Erdoberfläche, er muß auf 
Flüſſiges wie auf Feſtes in gleicher Kraft einwirken. Die 
Höhe, bis zu welcher eine Flüſſigkeit vermittelſt des Luft— 
druckes in dem luftleeren Raum emporſteigt, wird, fo ſchloß 
er weiter, im Verhältniß mit ihrer Eigenſchwere ſtehen, 
Weingeiſt oder Oel, weil fie leichter find als Waſſer, wer⸗ 
den böher ſteigen denn dieſes, Queckſilber, weil es viel ſchwe⸗ 
rer iſt als Waſſer, wird auch, in demſelben Verhältniß, viel 
weniger hoch emporſteigen. Bei dieſem letzteren Glied der 
Zuſammenſtellungen blieb Torricelli ſtehen. Er füllte eine 
Glasröhre, welche an ihrem einen Ende zugeſchmolzen war, 
mit Queckſilber an, ſchloß das andre offne Ende mit dem 


246 


Finger und brachte daſſelbe in ein über 2 Zoll tief mit Queck⸗ 
ſilber gefülltes Gefäß. Er hob jetzt das verſchloſſene Ende 
empor, zog den Finger hinweg, und das Queckſilber blieb 
27 ½ Zoll hoch in der Glasröhre ſtehen und ließ zugleich jenen 
Raum in dem oberen, verſchloſſenen Ende leer, welcher über 
dieſe Höhe hinanreichte. Aber die Höhe von 27% Zoll vers 
hält ſich zur Höhe von 32 Fuß eben ſo wie ſich (umge⸗ 
kehrt) die Schwere des Waſſers zu der des Queckſilbers ver⸗ 
hält, nämlich faſt wie 1 zu 14. In der Glasrößhre mit 
ihrem, durch das Umſtürzen entſtandenen, luftleeren Raume 
des oberen Endes wiederholte ſich im Kleinen ganz daſſelbe 
was dem Gärtner in Florenz an feiner über 40 Palmen ho⸗ 
hen Saugpumpe geſcheben war. In dieſer hatte es auch 
noch einen verhältnißmäßig eben ſo großen leeren Raum ge⸗ 
geben und doch hatte ſich das Waſſer über eine beſtimmte 
Höhe nicht erbeben mögen, eben fo blieb auch das Queckſil— 
ber im luftleeren Raume der Torricelliſchen Röhre, oder wie 
wir das Inſtrument jetzt nennen: des Barometers und Wet— 
terglaſes, in einer gewiſſen, mittleren Höhe ſtehen. Dieſe 
große, in all ihren Folgen ſo wichtige Entdeckung wurde im 
Jahr 1643 gemacht. | | 

Die offenkundige Wahrheit wurde auch diesmal, wie ihr 
ſo oft geſchieht, von Vielen bezweifelt. Zwei der tiefſten 
Denker jedoch, welche in jener Zeit lebten, Carteſius und 
Pascal, hielten ſie der weiteren Prüfung werth. Iſt es 
wirklich das Gewicht der aufliegenden Luftſäule, welches das 
Waſſer wie das Queckſilber in einem luftleeren Raume empor⸗ 
hebt, dann muß ſich, je weiter man über die Oberfläche der 
tiefen Ebenen oder des Meeresſpiegels hinanſteigt, deſto mehr 
jener Druck vermindern: das Queckſilber in der Torricelli⸗ 
ſchen Leere wird auf dem Gipfel eines hohen Berges eine 
niedrigere Stellung einnehmen, als in der Tiefe bei der Mee⸗ 
reskuſte. Pascal ſchloß fo und veranlaßte im J. 1648 feinen 
Schwager Perrier, zu Clermont in der Auvergne, mit einem 
Barometer den 4541 Fuß hohen Puy de Dome zu beſteigen, 
um dort die Höhe des Queckſilberſtandes zu beobachten. 
Perrier that es, und fand dieſen Stand auf dem Gipfel des 
Berges um drei Zoll niedriger als unten, am Fuß deſſel⸗ 
ben. Ein Verſuch im Kleinen, welchen Pascal ſelber an⸗ 
ſtellte, beſtätigte Daſſelbe, denn ein Barometer, das er mit 
ſich auf den Thurm der Kirche St. Jacques hinaufnahm, 


247 - 


zeigte dort einen um etliche Linien niedrigeren Stand, als 
unten auf dem Boden der Straße. Abgeſehen demnach von 
dieſen im Verlauf eines Jahres und Monates öfter wieder— 
kehrenden, ja an jedem Tage im Kleinen merklichen Ver⸗ 
änderungen im Stand der Queckſilberſäule unſerer Barome⸗ 
ter, wovon wir nachher noch weiter reden werden, gieng es aus 
dieſen Verſuchen ganz offenbar hervor, daß die Emporhebung 
der Fluͤſſigkeiten in dem luftleeren Raume in einem feſt⸗ 


beſtimmten Verhältniß mit der Höhe, und darum auch mit 


dem Gewicht des auf der Erdoberfläche aufruhenden Luft⸗ 
kreiſes ſtehe. | 

Was der atmosphäriſche Druck und feine Wirkung fey, 
das zeigte auf eine, der größeren Menge noch einleuchtendere 
Weiſe Otto von Guerike, Churbrandenburgiſcher Bür— 
germeiſter zu Magdeburg, als er im Jahre 1654 auf dem 
Reichstage zu Regensburg vor den Augen Kaiſer Ferdi— 
nands III., deſſen Sohnes, des römiſchen Königes FFerdi— 
nands IV.) mehrerer hoher Reichsfürſten und einer großen 
Zahl des anweſenden Adels fo wie der Schaaren des Bol 
kes ſeine Verſuche, mit der von ihm erfundenen Luftpumpe 
anſtellte. In ähnlicher Weiſe, wie man durch das Zurück⸗ 
ziehen eines dicht anſchlieſſenden Stempels das Waſſer aus— 
pumpt, zog er die Luft aus einer hohlen metallenen Kugel 


heraus, und indem die Einrichtung getroffen war, daß nach 


jedem Zuge die Mündung der Saugröhre nach dem Innren 
der Kugel geſchloſſen, die herausgezogene Luft aber durch 
eine beſondere Oeffnung hinaus gelaſſen werden konnte, ge— 
lang es ihm, einen faft vollkommen luftleeren Raum herzu⸗ 
ſtellen. Der Hauptkörper ſeiner Luftpumpe, deſſen Durch⸗ 


meſſer eine Magdeburgiſche Elle betrug, beſtund aus zwei 


kupfernen Halbkugeln, welche genau in einander gefügt, und 


da wo ſie zuſammentraten von einem mit Wachs und Ter⸗ 


ei 


5 


pentin getränkten ledernen Ring luftdicht umſchloſſen waren. 


An den Halbkugeln waren außen metallene Ringe ange: 


bracht, durch welche man Seile ziehen konnte um Pferde 
daran anzuſpannen. So lange aus dieſen zuſammen geſetz⸗ 
ten Kugeln die Luft noch nicht herausgezogen war, konnte 


Jeder ohne alle Anſtrengung die Halbkugeln von einander 


trennen, wenn aber die inwendige Luft, fo weit als mög— 
lich hinaus gepumpt war, dann drängte der äußere Luft⸗ 


druck die beiden Halbkugeln ſo feſt und kräftig an einander 


248 


daß mehrere ſtarke Männer zuſammen, ſie nicht mehr von 
einander bringen konnten. Man ſpannte an jede Halbkugel 
2 Pferde, dann 4 und 6 an, und reizte die Thiere zur 
möglichſten Aeuſſerung ihrer Kraft; ſie vermochten es nicht 
die beiden Halbkugeln von einander zu ziehen. Erſt als 
man 8 und bei einem ſpätern Verſuch mit einer etwas grö— 
ßern Kugel 12 Pferde an jede Halbkugel anlegte, da gelang 
der 16 und 24 fachen Pferdekraft das was ohne den Luft⸗ 
druck für die Kraft eines Knaben ausführbar war. Auf 
vielfache Weiſe wurden dann, bei den verſchiedenſten For⸗ 
men und äußeren Einrichtungen welche man der Luftpumpe 
gab, die Verſuche wiederholt, die zum Beweis für die auſ⸗ 
ſerordentliche Kraft des Luftdruckes dienen konnten. Man 
erkannte aus ihnen allen, daß jener Druck mit derſelben 
Macht auf eine Fläche, etwa von einem Quadratfuß Raum⸗ 
inhalt einwirkte, als z. B. eine ſchwere metallene Maſſe von 
gleichem Flächeninhalt, deren Gewicht über 18 Centner beträgt. 
Der Erfinder der Luftpumpe war zu ſeiner Entdeckung 
durch die Betrachtung der Torricelliſchen Leere in der Glas- 
röhre des Barometers geführt worden. Es erleidet keinen 
Zweifel, daß ſchon Torricelli die Veränderung beobachtet 
habe, welcher der Stand des Queckſilbers im Barometer, 
auch wenn dieſes unverändert an einem Orte ſtehen bleibt, 
unterworfen iſt, auch hatte er daraus geſchloſſen, daß die 
Schwere, mit welcher die Luft auf die Erdfläche drückt, ſel— 
ber veränderlich ſey. Der erſte jedoch, welcher nicht nur den 
Zuſammenhang jener Veränderungen mit einem wandelbaren 
Zuſtand der Atmoſphäre, ſondern mit den Witterungsverän— 
derungen erkannte und der das Barometer zu einem Wetter⸗ 
glaſe umſchuf, mag dennoch Otto von Guerike geweſen ſeyn, 
der ſchon in einem Briefe von 1661 die ſpielende Einrichtung 
ſeines Wetterglaſes beſchreibt, in welchem oben auf dem 
Queckſilber ein hölzernes Männchen ſtund, das mit dem 
Queckſilber ſtieg und wieder ſank und mit ſeinen Fingern 
auf die neben angeſchriebenen vermuthlichen Witterungszu⸗ 
ſtände hindeutete. N i 
So hat zwar das Barometer den Schiffern auf dem 
Meere, welche es durch das Fallen ſeines Queckſilbers vor 
dem nahen Einbruch der Stürme warnte, wie den Bewoh— 
nern des Landes fortwährend als eine Art von Witterungs- 
verkündiger gedient, faſt noch wichtiger iſt es jedoch durch 


249 


feine Anwendung zum Meſſen der Höhen geworden, weil hier 
feine Angaben ſichrer find als die der bevorſtehenden Witte— 
rungswechſel. Die Luft iſt 10467 mal dünner als das 
Queckſilber. Wenn man deshalb zwei Barometer, eines un— 
ten am Boden, das andre auf dem platten Dach eines Ge— 
bäudes, das gegen 73 Fuß höher iſt als die Fläche des Bor 
dens, aufſtellt, dann wird man finden, daß der Queckſilber⸗ 
ſtand in dem Barometer auf dem Dach um eine Linie niedri⸗ 
ger iſt als in dem andren. Denn 72 äñ Fuß find gleich 
10467 Linien; um ſo viel muß die Luftſäule kürzer ſeyn, 
wenn ihr Gewicht ſo weit abnehmen ſoll, daß es einer um 
nur eine Linie verkürzten Queckſilberſäule gleichkommt. Wenn 
nun dieſes Verhältniß in derſelben Art ſich fortſetzte, ſo daß 
der Queckſilberſtand ſich bei je 73 Fuß Erhöhung um eine 
Linie verkürzte, dann wäre die Berechnung der Bergeshöhen 
und der Lage der Ortſchaften über dem Meeresſpiegel etwas 
ſehr Einfaches und Leichtes. Aber es kommen dabei noch 
andre Punkte in Betracht. Mit den Schichten der Luft, die 
man ſich von der Erdoberfläche an bis zur oberſten Gränze 
der Atmoſphäre auf einander gelagert denken könnte, verhält 
es ſich nicht ſo wie mit den Lagen feſter Körper. Wenn man 
z. B. eine gewiſſe Zahl von Steinplatten in der Dicke von 
zwei Zollen, davon jede einen Centner wöge, in einer Fracht— 
laſtenwage auf einander legte und hierauf eine oder mehrere 
ſolcher Platten hinwegnähme, dann würde die auf einander 
geſchichtete Maſſe bei dem Hinwegnehmen jeder einzelnen 
Platte um einen Centner leichter und zugleich um 2 Zoll 
niedriger werden. Aber die Schichten der Luft ſind keine ſol— 
chen, in ihrer Größe unveränderlichen Maſſen wie die Stein— 
platten, die ſich durch die auf ihnen liegende Laſt nicht zu⸗ 
ſammendrücken laſſen, ſondern ähnlich hierin den elaſtiſchen 
Federn unſrer Ruhebetten oder Polſter läßt fie ſich durch 
einen auf fie einwirkenden Druck in engeren Raum zuſam— 
menpreſſen und dehnt ſich in demſelben Maaße, in welchem 
der Druck nachläſſet, zu einem größeren Raume aus. 

Die nämliche Maſſe Luft dem Gewicht nach, welche un— 
ten an der Meeresebene, wo der mittlere Barometerſtand zu 28 
Zoll 2% Linien (338,8 Linien) angenommen wird, zu einer 
Schicht zuſammengedrückt iſt, deren Dicke ſich auf nahe 73 
Fuß beläuft, wird ſich oben in einer Höhe, wo der Baro— 
meterſtand nur 169,4 Linien (14 Zoll 1 L.) hoch ift, wo 


250 | 


mithin das Gewicht und der Druck der oberen Luftſäule um 
die Hälfte geringer geworden iſt, zu einer Schicht von dop⸗ 
pelter Dimenſion ausgedehnt haben. Dort in jener Höhe, 
welche der des Chimboraſſogipfels nahe gleich kommt, muß 
man, um das Barometer wieder um eine Linie fallen zu ſehen, 
2 mal 73 d. h. 146 F. hoch ſteigen und könnte man bis zu 
einer Höhe hinankommen, wo der Druck der von oben herab⸗ 
wirkenden Luftſäule nur noch dem Gewicht einer Queckſilber⸗ 
ſäule von etwa 7 Zoll gleich käme, dann müßte man viermal 
73 oder 292 Fuß höher ſteigen, um den Barometerſtand um 
1 Linie vermindert zu ſehen. | 
Auf dieſe Weiſe wird dann die Höhe irgend eines Punk⸗ 
tes der Erdoberfläche über dem Meeresſpiegel berechnet. An 
dieſem beträgt, wie erwähnt, der Barometerſtand 338,8 oder 
genau 338,826 Linien. In einer Höhe von 888 (genauer 
886,1) Pariſer Fuß ſteht die Queckſilberſä ule um einen ganz 
zen Zoll niedriger (auf 337,8 C.); in einer Höhe von 1807 
Fuß um 2, bei 2762 Fuß um 3, bei 3756 Fuß um 4, bei 
4790 Fuß um 5 Zoll. So wie ſich 338,8 zu 336,8 oder 
335,8 zu 334,8 u. ſ. w. verhält, in demſelben Verhältniß hat 
auch die Höhendimenſion der einzelnen Luftſchichten, deren 
Gewicht jenem gleicht kommt das eine Schicht Queckſilber von 
der Höhe eines Zolles hat, zugenommen: ſie iſt von 888 auf 
919, 955, 994, 1035 gewachſen. Bei der Höhe von 21 Zoll 
hat ſich der Druck der Luftſäule beiläufig um ein Viertel 
ſeines Betrages an der Meeresfläche vermindert, dort miſſet 
auch die Ausdehnung der Luftſäule welche dem Gewicht nach 
der Queckſilberhöhe von einem Zoll entſpricht über 1100 Fuß. 
Um nun einige Beiſpiele zu geben: ſo wird auf dem 
Gipfel des Hekla in Island der Barometerſtand 278,8 Linien 
(23 Zoll 2,8 L.) gefunden. Die Berechnung lehrt, daß die⸗ 
ſes dem Luftdruck einer Höhe von nahe 3790 Fuß entſpreche, 
denn von Zoll zu Zoll des Queckſilberſtandes hat ſich die 
Luftſäule von 888 auf 919, 955, 994, 1035 ausgedehnt und 
dieſe Zahlen zuſammen ſummirt geben 3790. In dem Kloſter 
auf dem St. Gotthard in der Schweiz iſt der Barometer⸗ 
ſtand etwas über 21 Zoll 9 Linien, daraus berechnet ſich die 
Höhe über dem Meer zu 6400 Fuß; auf dem Gipfel der 
Lomnitzerſpitze in den Karpathen iſt der Barometerſtand 20 
5 2,8 Linien, daraus ergiebt ſich eine Höhe von 8180 
uß. 


251 


Wegen der nach oben immer mehr zunehmenden Dünne 
der Luft geſchieht es auch, daß ein kleiner Ballon aus luft— 
dichtem Stoffe den man unten am Meeresniveau nur halb 
mit Luft füllte, fo daß feine Wände ganz ſchlaff und zuſam⸗ 
mengefallen ausſahen, wenn man ihn mit ſich auf eine be— 
deutende Höhe hinaufnimmt, auf einmal, durch die Feder— 
kraft der in ihn eingeſchloßnen Luft ganz anſchwillt, und ſich 
zu einer ſolchen Volle ausdehnt, daß er wie eine zugebundene 


Blaſe, aus der man die Luft ſo gut als möglich mit den 


Händen herausgedrückt hatte unter der Glocke der Luftpumpe, 
zerplatzt. Ein Umſtand der die Luftſchiffer manchmal in Le⸗ 
bensgefahr gebracht hat. Denn welche ungemeine Stärke die 
Federkraft der zuſammengedrückten Luft habe, das lehrt uns 
die Wirkung unſerer Windbüchſen, bei denen es nur die 
ſtark zuſammengepreßte, in der angeſchraubten Hohlkugel be- 
findliche Luft iſt, welche, wenn man ihr plötzlich den Aus— 
gang in den Flintenlauf verſtattet, die Kugel mit ſo großer 
Macht und Schnelligkeit fortſchleudert. Ä 

In einer Luft welche fo dicht iſt als die am todten 
Meere, deſſen Spiegel um mehr als 1200 Fuß niedriger 
liegt als der des Mittelmeeres, wo mithin der mittlere Ba— 
rometerſtand nahe gegen 30 Zoll beträgt, fühlen wir kein 
Unbehagen, ja wir befinden uns meiſt bei einem hohen Ba— 
rometerſtand beſonders wohl. Selbſt in der künſtlich verdich— 
teten Luft des Windgewölbes eines Hochofens, wo der Druck 
vielleicht den Druck der Luftſäule am Meere um das Dop- 
pelte und Dreifache übertraf, fühlten zwei Beobachter, welche 
ſich eine Stunde lang darin einſchließen ließen, keine andre 
Unbequemlichkeit als einen Druck von außen her auf das 
Trommelfell des Ohres und dieſelbe Erfahrung machten Per— 
ſonen die unter einer Taucherglocke in ſehr verdichteter Luft 
ſich befanden. Der Schall iſt in einer ſolchen dichten Atmo— 
ſphäre ganz überaus verſtärkt; die Ausdünſtung des Körpers 
etwas zurückgehalten. 

Ungleich größer ſind, abgeſehen von der mit der Höhe 
zugleich zunehmenden Kälte der Luft, jene Unbequemlichkei⸗ 
ten welche wir bei einem längern Verweilen in der verdünn— 
ten Luft der höheren Regionen empfinden. Den ungünſtigen 
Einfluß ſolch dünner Luft beweiſt ſchon die kurze Lebensdauer, 
das bleiche Ausſehen, die Kränklichkeit, das ſchwere Heilen 
von Wunden bei den Bewohnern des Hospitiums auf dem 


252 


St. Bernhard, deſſen Höhe 8460 Fuß, der mittlere Baro⸗ 
meterſtand wenig über 20 Zoll beträgt. Jenſeits der Höhe 
von 1½ bis 2 Meilen würde kaum noch ein Thier zu leben 
und zu athmen vermögen, in einer Höhe von etwa 5 Meilen 
über der Meeresebene hat die Verdünnung der Luft einen 
Grad erreicht, den wir auch durch unſre beſten Luftpumpen 
nicht herbeiführen können. ; 

Was übrigens die Bewohnbarkeit der Höhenregionen der 
atmoſphäriſchen Luft betrifft, ſo hat hierauf auch die Wärme 
einen nicht unbedeutenden Einfluß. Da, wo (zwiſchen den 
Wendekreiſen) das ganze Jahr hindurch eine höhere Wärme 
herrſcht, muß durch die ausdehnende Kraft der Wärme (davon 
ſpäter) die Luftſäule höher ſeyn als in einem kälteren Klima, 
obgleich der Druck (die Geſammtſchwere) der Luft ſich gleich 
bleibt. Deshalb ſpüren die Bewohner des hohen Thales 
von Quito nichts von den Unbequemlichkeiten der Bewohner 
des St. Bernhards-Hospitiums, obgleich ihr Aufenthaltsort 
8900 Fuß über dem Meere gelegen, der Barometerſtand un⸗ 
ter 20 Zoll iſt. Denn Quito liegt faſt unter dem Aequator, 
der St. Bernhard ſchon jenſeits des halben Weges vom 
Aequator nach dem Nordpol, im 47. Grad der nördlichen 
Breite. a 

Man hat ſich bemüht die Frage zu beantworten: wie 
hoch der Luftkreis und wo feine äuſſerſte Gränze fey? Wenn 
man nach dem vorhin (S. 250) erwähnten von Mariotte auf⸗ 
geſtellten Geſetz die Höhe der einzelnen Luftſchichten von glei⸗ 
chem Gewicht berechnet, dann würde z. B. jene Schicht, in 
welcher der Barometerftand nur noch 1 Zoll beträgt / d. 
h. 28 mal dünner und zugleich ihre Höhe von jenem Gränz- 
punkte an, wo der Stand des Queckſilbers noch 2 Zoll bes 
trug, ſich auf 28 mal 888 d. h. auf 24864 Fuß belaufen, 
während bei der nächſt vorhergehenden Schicht, in welcher 
der Barometerſtand zwiſchen 2 — 3 Zoll war, dieſe Höhe 
nur 14 mal 888 oder 12432 Fuß betrug. In demſelben Ver⸗ 
hältniß würde dann, ſo wie es ſich jetzt nicht mehr um Zoll 
ſondern nur um Linien handelte, die Höhe der einzelnen 
Luftſchichten ſich ſteigern. Denn ſo wie die unterſte Luftſchicht 
am Spiegel des Meeres eine ſolche Dichtigkeit hat, daß man 
nur 73 Fuß hoch ſteigen muß, um das Barometer um 1 
Linie, von 338 auf 337 finfen zu ſehen, hat ſich dagegen 
die Dichtigkeit der Luft, da wo der Barometerſtand nur noch 


253 


2 Linien miſſet, bis auf °°%, oder den 169. Theil vermin- 
dert und zugleich die Höhe jener Schicht auf 169 mal 73, 
d. h. 12337 geſteigert. Ja dieſe Höhe beträgt für jene näch⸗ 
ſte Schicht, an deren Gränze die Queckſilberſäule nur noch 
1 Linie hoch ſtünde 338 mal 73 oder 24528 und ſo würde 
ſich in ähnlicher Weiſe die Dichtigkeit der Luftſchichten vers 
mindern, ihre Höhe ſich ſteigern, auch da wo das Gewicht 
der noch übrigen Luftſäule nur auf Hunderttheile, ja auf 
Zehntauſendtheile einer Linie des Queckſilberſtandes ſich be— 
liefe. So wie wir es deshalb mit all unſrer Mühe kaum 
dahin bringen werden, in dem Hohlgefäß unſrer Luftpumpen 
einen vollkommen luftleeren Raum darzuſtellen, ſondern die- 
ſer auch nach lang fortgeſetztem Auspumpen immer noch mit 
einer ganz überaus verdünnten Luft gleichmäßig erfüllt bleibt, 
fo können auch unſre Berechnungen über den Aufferft mögli- 
chen Grad der Verdünnung und mithin über die oberſte 
Gränze unſres Luftkreiſes nur ſehr ſchwer zu einem ſichren 
Ende kommen. Doch iſt es wahrſcheinlich, daß jene Gränze 
da ſey, wo die eigenthümliche Federkraft oder Elaſtizität der 
Luft mit ihrer Schwere in ein vollkommenes Gleichgewicht 
tritt, welches der Berechnung nach unter dem Aequator in 
einer Höhe von 27½ in der Nähe der Pole von 27/0 
Meile über der Erdoberfläche ſtatt finden ſoll. In jener 
Höhe müßte jedoch die Luft ſo dünn ſeyn, daß ſie keiner für 
unſer Auge merklichen Erleuchtung durch die Sonnenſtrahlen 
fähig wäre, denn, wie wir dies aus den Berechnungen wiſ— 
ſen, die uns die Morgen- und Abenddämmerung an die 
and giebt, die Höhe, bis zu welcher die Luft jenen körper- 
lichen Beſtand hat, bei welchem ſie noch ein ſchwaches 
Sonnenlicht auf die nächtliche Erdfläche herunterſtrahlen kann, 
gehet nicht ganz bis zu 10 geographiſchen Meilen hinan. 
Schon dort käme die Dichtigkeit der Luft, wenn anders ihre 
Abnahme überall dem oben erwähnten Mariotteſchen Geſetz 
folget, kaum noch dem 5000ten Theil der Dichtigkeit der 
untren Luftſchichten gleich. N 
An jenem Drucke, den die geſammte Luftſäule am Ni⸗ 
veau des Meeres auf die Erdfläche ausübt und welcher dem 
Gewicht einer Queckſilberſäule von 28 Zoll gleich kommt, 
haben nicht nur die beiden Hauptgasarten der Atmoſphäre, 
Stickſtoffgas und Sauerſtoffgas Theil, davon das erſtere einer 
Queckſilberſäule von mehr denn 21%, das letztere von faft 


—— 


254 


6 ½ Zoll entſpricht, ſondern es kommen dabei noch zwei 
andre luftartige Subſtanzen in Betracht, die ſich in großer 
Allgemeinheit den beiden Hauptgasarten beigemengt finden. 
Die eine davon iſt der Waſſerdampf, welcher im Mittel ge⸗ 
gen vierzehn Tauſendtheile, das andre die Kohlenſäure, wel⸗ 
che ein Tauſendtheil des atmoſphäriſchen Luftgemenges aus⸗ 
macht. Der Druck des erſteren kommt indeß kaum drei Sie⸗ 
bentheilen, denen der letzteren etwa dem vierzigſten Theil 
eines Zolles der Barometerhöhe gleich. Doch ſtehen dieſe 
Verhältniſſe nirgends ſo feſt, als das Verhältniß der Men⸗ 
gen des Sauerſtoffes und Stickſtoffes. Namentlich iſt das 
kohlenſaure Gas wegen ſeiner großen Dichtigkeit und Eigen⸗ 
ſchwere keiner ſchnellen und gleichmäßigen Verbreitung fahig, 
ſondern es häuft ſich leicht da, wo es durch Verbrennen und 
die Gährung der Körper oder durch das Athmen der Thiere 
entſtanden iſt, unverhältnißmäßig an, und auch in andren 
Regionen der Atmoſphäre bemerkt man, daß im Allgemeinen 
bei trocknem Wetter der Gehalt an jener Gasart zu-, bei feuchtem 
abnimmt, daß er an windſtillen Tagen, ſo wie über dem Flach⸗ 
land und über dem Meere geringer iſt als bei windigem Wetter 
ſo wie über bergigem Feſtlande. Noch größeren Abweichun⸗ 
gen iſt die Menge des Waſſerdunſtes unterworfen, der ſich 
in der Atmoſphäre findet, denn dieſe hängt noch viel mehr 
von der feuchten oder trocknen Beſchaffenheit des Wetters 
oder der Lage eines Landſtriches ab. i 

Mit dieſer Veränderlichkeit der Menge des atmoſphäri⸗ 
ſchen Waſſerdunſtes ſtehet denn auch ein Theil jener täglichen 
und jährlichen Veränderungen in Zuſammenhang, welche am 
Stand des Barometers beobachtet werden. In den wärmſten 
Monaten des Jahres, im Juli und Auguſt, wird mehr Waſ— 
ſerdunſt gebildet und in die Säule der beiden Hauptgasarten 
eingemengt als im Winter, ſo daß hierdurch der Geſammt⸗ 
betrag des Luftdruckes im Sommer um 4 bis 6 Linien, im 
Winter nur um I bis 2 Linien vermehrt wird. Aber nicht 
nur in den verſchiedenen Zeiten des Jahres, ſondern in de— 
nen jedes einzelnen Tages iſt der Betrag des Dunſtgehaltes 
und ſeines Gewichtes einem Wechſel ausgeſetzt. Am Mor⸗ 
gen, bei Sonnenaufgang, wenn die Abkühlung der Luft 
ihren höchſten Grad erreicht, iſt die Verdunſtung am gering⸗ 
ſten, ſie nimmt jedoch dann einige Stunden nach Sonnen⸗ 
aufgang bis gegen 8 oder 9 Uhr zu, nimmt noch vor Mittag 


255 


wie in den heißeſten Nachmittagsſtunden wieder ab, vermehrt 
ſich jedoch von neuem am Abend, und wird gegen 10 Uhr 
am bedeutendſten. Statt dieſes zweimaligen Steigens und 
Fallens des Barometerſtandes durch den vermehrten oder ver 
minderten Dunſtdruck, zeigt ſich in der kalten Jahreszeit nur 
einmal täglich ein ſolches Fallen, früh zwiſchen 6 und 8, 
und ein Steigen um 4 Uhr Nachmittags, wo die Dunftbils 
dung am ſtärkſten iſt. Doch find dieſe täglichen Verände⸗ 
rungen des Barometerſtandes nur ſehr wenig bemerkbar, da 
fie im Sommer nur ½ im Winter nur Y,, Linie austragen. 

Ueberhaupt find dieſes zunächſt nicht jene Barometerän⸗ 
derungen, aus denen ſich die etwa bevorſtehenden Witterungs— 
wechſel beſtimmen laſſen, ſondern dies gilt nur von ſolchen, 
welche von einer Störung des Gleichgewichtes der Luftſäu— 
ren, die über verſchiednen Punkten der Erdfläche ſtehen, ihren 
Urſprung nehmen. Das Gleichgewicht wird vornämlich durch 
die verſchiedenen Grade der Erwärmung geſtört. Die wär— 
mere Luftſäule dehnt ſich zu einer größeren Hohe aus und da ihr 
oberes Ende hierdurch ſeinen Stützpunkt in der nachbarlich 
angränzenden Luftmaſſe verliert, ergießt es ſich über dieſe 
niedreren kälteren Regionen, die Säule ſelber aber wird hier— 
durch leichter, ihr Druck auf die Erdfläche vermindert. In 
die dünner gewordne, wärmere Luftſchicht ſenken ſich dann, 
nach dem Geſetz des Gleichgewichtes, die dichteren, kälteren 
Luftmaſſen herein und ſo entſteht namentlich ein oberes Strö— 
men der Luft der wärmeren Zone gegen die kältere und ein 
unteres der Luft der kalten Zone zur warmen hin. Der letz⸗ 
tere kommt aus einer Gegend der Erde, wo die Axendrehung 
derſelben (wovon ſpäter) nur wenig merklich iſt; je mehr er 
deshalb den Gegenden der Wendekreiſe ſich nahet, wo die 
Axendrehung den höchſten Einfluß hat, bleibt er gegen dieſe 
von Weſt nach Dit gehende Bewegung zurück und wird zum 
herrſchenden Oſtwind. Eben ſo wie es uns geſchieht, wenn 
wir in einem vorher ruhenden oder langſam fahrenden Was 
gen nach hinten, zur Lehne zurückſinken, ſobald das Fuhrwerk 
plötzlich in ſchleunige Bewegung geſetzt wird. 

Eine in lebhafter Fortbewegung begriffene Luft übt nach 


unten einen geringeren Druck aus als vorher, im Zuſtand 


der Ruhe, aus demſelben Grund nach welchem die durch eine 
enge Röhre hindurchſtrömende ſtark zuſammen gepreßte Luft 
ihre Spannkraft weniger auf die Wände der Röhre als nach 


256 


der Richtung hin wirken läſſet, welcher die Strömung folgt. 
Darum ſinkt der Barometerſtand öfters bei und vor ſtarkem 
Winde. Die wechslenden Luftſtrömungen, als eine Folge 
des verſchiedenen Wärmegrades, der ihre Bewegung bewirkte, 
geben dann auch zu den wäßrigen Niederſchlägen Veranlaſ⸗ 
ſung, die ſich in der Atmoſphäre bilden und aus ihr zum 
Boden herabſenken. Der Waſſerdunſt erhält ſich in ſeiner 
luftartigen Form nur durch jene Spannkraft, welche ihm die 
Wärme mittheilt. Das gasartige Waſſer unfrer Atmoſphäre 
verräth ſich an keinem unſrer Werkzeuge durch das wir die 
Feuchtigkeit der Luft meſſen, es kann eine große Menge des 
Waſſerdunſtes im Luftkreis vorhanden ſeyn und den Druck 
feiner Säule, wie uns das Barometer lehrt, ſehr augenfäl- 
lig vermehren und dabei kann dennoch zugleich die höchſte 
Trockenheit herrſchen. Wenn aber eine warme Luftmaſſe, 
deren Wärme hinreichend war um den Waſſerdampf mit wel⸗ 
chem ſie bis zur Sättigung erfüllt iſt, die zur Erhaltung 
ſeiner Luftform nöthige Spannung zu geben, mit einem kal⸗ 
ten Luftſtrom vermiſcht und hierdurch abgekühlt wird, dann 
verliert ein mehr oder minder großer Theil ihres Waſſerdun⸗ 
ſtes ſeine Federkraft, er geſtaltet ſich zu kleinen Tröpfchen, 
welche entweder in der Luft ſchweben bleiben und nur eine 
Trübung des Himmels verurſachen, oder, wenn ſie eine be— 
deutendere Größe und Schwere erreicht haben, als Regen 
zum Boden fallen. Uebrigens giebt ſich das Verſchwinden 
der nöthigen Spannkraft des Waſſergaſes alsbald durch ein 
Feuchtwerden der Luft zu erkennen, und im Ganzen erreicht 
dieſer Zuſtand der Feuchtigkeit im Winter ſeinen höchſten 
Grad, iſt im April am geringſten und nimmt von da wie⸗ 
der zu, ſo wie an jedem einzelnen Tage die Luft während 
den kühlſten Morgenſtunden am feuchteſten iſt. 

Wenn das Waſſer beim Sieden in die Gasform ſeines 
Dampfes übergeht, dehnt es ſich auf den 1700 fachen Raum 
aus, wird mithin um eben ſo viel leichter. Die atmosphä⸗ 
riſche Luft dehnt ſich bei der Siedehitze nur ſo weit aus, daß 
ſie 1050 mal leichter wird als das Waſſer, deſſen Dampf 
mithin noch immer um ein Merkliches leichter bleibt, indem er 
nur %s des Gewichtes der umgebenden heißen Luft hat. Aber 
der Waſſerdunſt bildet ſich nicht nur in der Siedehitze, ſon⸗ 
dern auch bei einer Kälte, welche weit unter dem Gefrier⸗ 
punkt iſt; als Eis und als Schnee iſt das Waſſer noch bs 

er⸗ 


257 


Verdampfung unterworfen. Der Waſſerdunſt, der fich uns 
ter ſolchen niedrigen Temperaturen bildet, hat zwar nicht 
jene Spannkraft, welche ihm die Siedehitze mittheilt; doch 
bleibt das Verhältniß ſeiner Dichtigkeit zur Dichtigkeit oder 
Eigenſchwere der eben ſo kalten Luft daſſelbe: er wird um drei 
Achttheile leichter gefunden als dieſe. 

Waſſerdunſt bildet ſich ſelbſt im luftleeren Raume der 
Luftpumpe und wenn unſre Erde ihrer luftartigen Atmoſphäre 
beraubt wäre, würde ſich aus dem Dampf ihrer Gewäſſer 
eine Dunſthülle um dieſelbe erzeugen. Dennoch zeigt ſich das 
Entſtehen der Waſſerdämpfe durch Erhitzen des Waſſers: 
das Sieden, in einem Verhältniß der Abhängigkeit zu dem 
Druck der Atmoſphäre. Während an der Meeresebene eine 
Erhitzung bis zu 80 Grad Reaumur (davon weiter unten) 
nöthig iſt, um das Waſſer kochend zu machen, reicht in der 


> 


bewegen, bei jeder Linie, um welche der Barometerſtand fich 
verändert um nahe 100 Pfünd ſich vermehre oder vermindere. 
In einer Höhe von 7000 Fuß, wo das Waſſer in den Pum- 
pen, die man dort anlegt, ſtatt 32 Fuß nur 24 Fuß hoch 
ſteigt, der mittlere Barometerſtand nur 21 Zoll beträgt, hat 
ſich auch der Luftdruck auf die Außenfläche des Menſchenlei— 
bes um ein Viertel ſeiner Stärke vermindert und da wo das 
Waſſer in den Pumpen nur noch 16 Fuß emporſteigt, in 
der Höhe von 17000 Fuß, hat der kühne Gebirgsbeſteiger, 
17 


258 


der in dieſe Höhe vordrang, nur noch einen halb ſo großen 
atmoſphäriſchen Druck auf ſich ruhen, als der Bewohner der 
Meeresküſtenebene. 97 73 dn 

Dennoch gewährt eine ſolche Verminderung des Luftdruckes 
dem Leben ſelber, ſo wie all ſeinen Bewegungen keineswegs 
eine Erleichterung, ſondern (nach S. 252) vielmehr eine Er⸗ 
ſchwerung. Unſre eigne leibliche Natur iſt von Luft durch⸗ 
drungen und ihren Beſtandtheilen nach ein Weſen der Luft, 
darum wirkt ſie dem äußren Druck der Atmoſphäre mit einem 
Gegendruck der eigenthümlichen Federkraft entgegen, wodurch 
ſie ihm bis zu einer gewiſſen Gränze das Gleichgewicht hält. 
Dieſe natürliche Gränze reichet bis dahin, wo die verdünnte 
Luft noch jene Gewichtsmenge des Sauerſtoffgaſes enthält, 
welche bei jedem Athemzug dem Blute zur Erhaltung ſeiner 
Lebenskräftigkeit nöthig iſt (n. C. 26). Da wo das Ath⸗ 
men mit Beſchwerde vor ſich geht, if der zuſammenhaltende 
Druck von außen zu einem Grad vermindert, bei welchem 
das Gleichgewicht zwiſchen den luft- oder tropfbar flüſſigen 
und feſten Theilen des organiſchen Leibes nicht mehr beſtehen 
kann; die Federkraft der erſteren ſteigert ſich ungehemmt bis 
zu einem ſolchen Uebermaaße, daß ſie die Hüllen, darein das 
Flüſſige geſchloſſen iſt, allenthalben durchdringt und zuletzt 
ihre Zerſtörung bewirkt. Der atmoſphäriſche Druck gehört 
für alle organiſche, aus flüſſigen und feſten Theilen zuſam⸗ 
mengeſetzte Körper, zu dem ihnen angemeſſenen Loos des Le⸗ 
bens und des geſunden Fortbeſtehens. Ä 

Geht es doch ſelbſt im Reiche des Geiſtigen auf ähnliche 
Weiſe zu. Das Loos welches der Schöpfer jeder Menſchen⸗ 
ſeele auferlegte, iſt eine Schule, welche bald da, bald dort 
von auſſen hemmend und beſchränkend wirkt, wie der atmo— 
ſphäriſche Druck auf die Federkraft der leiblichen Dinge. Das 
Gemüth bleibt bei all dieſem hemmenden Druck fröhlich und 
geſund, ſo lange in ihm der freudig machende Geiſt deſſelben 
Schöpfers der den äußren Druck gab, lebt und waltet, ja, 
der innre Gegendruck des Geiſtes verſtärkt ſich in demſelben 
Maaße, in welchem die Laſt von außen zunimmt. Würde 
die Seele des Menſchen auf einmal all den Regungen und 
Strebungen ihrer Natur allein überlaſſen, ohne jenen Ein⸗ 
fluß von oben, der ihre Wege ordnet und all ihre Regungen 
zuſammenfaſſet, dann würde bald ihr ganzes Thun ein Mü⸗ 
hen um Nichts ſeyn, ihr ganzes Weſen der Nichtigkeit an⸗ 


259 


heimfallen. Aber nicht nur ober und auſſer ihr, auch in ihr, 
in der höheren Sphäre des Erkennens waltet, ſo lange die 
Seele geſund iſt, gleich dem luftartig Flüſſigen, das in dem 
Gewebe ihres Leibes enthalten iſt, jener Geiſt, der das Auf- 
ſteigen des gröberen, thieriſchen Weſens in das ihm zugehb⸗ 
rige, höhere Herrſchergebiet verhindert. Wo dieſer innre 
Herrſcher ſein Wirken aufgiebt, da geſchieht in dem Weſen 
der Menſchenſeele etwas Aehnliches als in der Röhre, darin 
durch den aufwärts gezogenen Stempel ein luftleerer Raum 
erzeugt wurde, in welchen jetzt, von untenher, das Waſſer 
aus dem Sumpf der Tiefe hinanſteiget: das thieriſch Sinn⸗ 
liche ſetzt ſich dann an die Stelle des geiſtig Menſchlichen. 


29. Die Wärme. 


Wir lernen hier einen andren Gehülfen des Lebens am 
Bau der ſichtbaren Leiblichkeit kennen, ungleich wichtiger und 
von allgemeinerem Einfluß als der zuſammenhaltende Druck 
der Atmoſphäre, dennoch aber häufig mit dieſem Drucke, ſo 
wie mit der Wirkſamkeit der Luftarten, welche ihn erzeugen, 
Hand in Hand verbunden. Dieſer mächtige Gehülfe am 
Bau der irdiſchen Sichtbarkeit und an ſeiner Erhaltung iſt 
die Wärme. Was wäre die Welt der leiblichen Dinge, 
wenn nicht das Licht, mit väterlicher Kraft, in ihr das Leben 
weckte und die mütterliche Wärme dieſes Leben nährte und 
hegte! Vor Allem zwar, kommen der Erde das Licht wie 
die Wärme aus der allgewaltigen Mitte ihres Weltganzen, 
aus der Sonne, dennoch enthält ſie auch in dem Innren 
ihrer Gebirgsmaſſen, in den brennenden Vulkanen und Naph⸗ 
thaquellen, manchen natürlichen, niemals verlöſchenden Herd 
des Feuers. 

Bei Baku, am Caspiſchen Meere, wo das Erdöl an 
verſchiedenen Stellen dem Boden entquillt, und wo in der 
Nähe dieſer Quellen aus jedem Loche, das man in die Erde 
gräbt, ein Dampf herausſteigt, der ſich (nach S. 205) an 
der genäherten Flamme eines Lichtes entzündet und in unver⸗ 
löſchlicher Ausdauer fortbrennt, bis man ihm, etwa durch 
Aufſchütten von Erde, den Zutritt des atmoſphäriſchen Sauer⸗ 
ſtoffgaſes abſchneidet, finden ſich noch einzelne, kleine Ges 
meinſchaften der alten perſiſchen Feueranbeter. Dieſen er⸗ 
ſcheint das Feuer, mit ſeinem Licht und ſeiner Wärme, nach 

17 


260 


einer Verirrung des fleiſchlichen Sinnes, nicht nur als ein 
Sinnbild der allbelebenden und erhaltenden Kraft des Schö⸗ 
pfers, ſondern als das Weſen dieſes Schöpfers ſelber, vor 
dem ſie ſich beugen. | 

In der That es war ein wichtiger Zuwachs zu dem 
Herrſchergebiet des Menſchen, über die ihn umgebende Natur, 
als ihm die Macht in ſeine Hand gegeben wurde, das Feuer, 
das ihm die Sonne während des Tages entgegenſtrahlt, auch 
bei Nacht hervorzurufen, und daſſelbe, wo und wie er wollte, 
in ſeine Dienſte zu nehmen. War die Flamme einmal ent⸗ 
zündet, dann ließ ſie ſich leicht durch das Hinzuthun eines 
brennbaren Stoffes erhalten, am leichteſten und ohne alles 
menſchliche Bemühen da, wo der brennbare Stoff, wie bei 
den Quellen des Erdöles, oder wie über den Lagern des 
Steinſalzes von ſelber aus der Tiefe hervordrang. 

Wir wollen uns nicht fragen, wer der erſte Erfinder des 
irdiſchen Feuers war. Noch jetzt und zu allen Zeiten ent⸗ 
zündet ſich ein Feuer am andren; fo könnte man wohl ſa⸗ 
gen: die Erfindung des Feuers gieng nothwendig und uran⸗ 
fänglich aus der Natur des menſchlichen, erkennenden Geiſtes 
hervor, der ſelber vom Weſen des Lichtes iſt, oder, mit 
andren Worten: der Gebrauch des Feuers im Haushalte des 
Menſchen iſt ſo alt als dieſer Haushalt ſelber. Die erzählende 
Geſchichte, welche nur die äuſſerlich ſichtbare That des Le— 
bens, nicht den innren Anfang derſelben zu beſchreiben hat, 
nennt uns Namen der erſten Erfinder oder Beherrſcher des 
Feuers. Ein Blitz, fo berichten einige Schriftſteller des Al— 
terthumes, habe einen Baum in Flammen geſetzt, oder ein 
Sturmwind habe dürre Bäume eines Waldes ſo lange und 
ſo ſtark gegen einander gerieben, daß ihr Holz erhitzt und in 
Brand gerathen ſey, und die einmal entzündete Flamme ſey 
dann, wie ein Heiligthum, durch unausgeſetzte Wachſamkeit 
und Pflege erhalten worden. Selbſt ein durchſichtiger, auf 
beiden Flächen halbrund erhabener Kryſtall, wie dergleichen 
unter den abgerundeten Rollſteinen der Gebirgsſtröme hin 
und wieder gefunden werden, könne, nach der Meinung 
Andrer, als ein natürliches Brennglas benutzt worden ſeyn, 
um dadurch, in den Strahlen der Sonne, das erſte Feuer 
des menſchlichen Herdes zu entzünden. 

Noch jetzt verſchaffen ſich einige Völker, denen die Kün⸗ 
ſte der Europäer unbekannt ſind, das Feuer für ihren Haus⸗ 


261 


halt auf dieſelbe Weiſe, wie dies ein uralter Herrſcher von 
China, der Sage nach, ſeinem Volke lehrte: durch Zuſam— 
menreiben von dürren Hölzern, ſo etwa, daß das eine in 
eine Vertiefung des andren hineingeſteckt und dann ſchnell 
und kräftig darin herumgedreht wird. Jeder ſchnelle, ſtarke 
Druck, jedes Aneinanderſchlagen feſter Körper, jede heftige 
Bewegung, dies mußte ſchon den älteſten menſchlichen Be— 
wohnern der Erde als Thatſache der Erfahrung in die Sin— 
nen fallen, ruft ein Erſcheinen der Wärme und hiermit zus 
gleich öfters auch des Lichtes hervor. 

Die Entdeckung, welche, wie ſo eben erwähnt, ein Herr— 
ſcher von China, der Sage nach, machte, daß ein Stück 
Holz, in eine Höhlung geſteckt und in dieſer raſch umgedreht, 
bis zur Entflammung ſich erhitzen könne, hat, zu ſeinem 
Schrecken, bei uns ſchon mancher Fuhrmann gemacht, wenn 
er feine Wagenaxen nicht hinlänglich geſchmiert hatte und 
nun die Reibung ſo ſtark wurde, daß das erhitzte Holz— 
werk der Räder in Flammen gerieth. Eben ſo können ſich 
die Zapfen ſchnell und ſtark bewegter Maſchinenräder bis 
zum Glühen erhitzen. Ein Radſchuh der beim Herabfahren 
von einem hohen Berge dem Druck des Wagens und der 
Reibung am Boden ausgeſetzt war, wird dabei, eben ſo wie 
ein Bohrer oder eine Säge bei einem kräftigen, länger an— 
haltenden Gebrauche, ſehr ſtark erhitzt. Die Wärme die beim 
Reiben erzeugt wird, hängt nicht von der Beſchaffenheit der 
Körper ab, welche dabei gewählt werden; Platten von Me— 
tall, von Marmorſtein und von Holz werden bei gleich ſtarkem 
Druck und bei gleich ſtarker Heftigkeit des Zuſammenbewegens in 
faſt gleichem Maaße erhitzt. Auch nimmt die Wärme, welche zwei 
aneinander geriebene Körper von ſich geben und rings um ſich her 
verbreiten, nicht ab, man mag den Verſuch noch ſo oft und in der 
kürzeſten Zeit nach einander wiederholen. Es ſind hierbei 
offenbar nicht die Körper ſelber, welche, etwa ſo wie ein 
naſſer Schwamm beim Zuſammendrücken das Waſſer ſich 
auspreſſen läſſet, die Wärme aus ihrem Innren herauslaſſen, 
ſondern es iſt die äuſſere Bewegung welche ſich den einzelnen 
Theilen der Körper bis in ihr Innerſtes hinein mittheilt und 
hier jene eigenthümliche Anregung und Umſtimmung der wech— 
ſelſeitigen Anziehung der kleinſten Theile bewirkt, welche wir 
Wärme nennen. g 

Wenn man eine plattgedrückte Stange von reinem Zinn 


Zu 
262 


mit den Fingern biegt, vernimmt man dabei einen eigen: 
thümlichen Ton: das ſogenannte Schreien des Zinnes. Wenn 
man das Hin- und Herbiegen der Stange länger fortſetzt, 
dann wird dieſelbe warm und immer wärmer, ſo daß man 
zuletzt ihre Hitze nicht mehr in der Hand vertragen kann. 
Durch das Biegen wurde der Zuſammenhang der einzelnen 
Theile geſtört und die veränderte Stimmung, im Verhältniß 
jenes Zuſammenhanges, hat ſich von einem Punkt zum and⸗ 
ren der ganzen Maſſe der Metallſtange mitgetheilt. 
Wenn man in der vorhin erwähnten Weiſe zwei Metall⸗ 
oder Stein- oder Holzplatten übereinanderlegt und dann die 
eine auf der andren ſtark und ſchnell bewegt, mithin eine 
Reibung erregt, dann könnte es ſcheinen, daß die Erzeugung 
der Wärme ganz in ähnlicher Weiſe vor ſich gehe als bei 
dem Hin⸗ und Herbiegen der Zinnſtange. In den beiden 
auf einander gedrückten Körpern entſteht eine gegenſeitige 
Anziehung der genäherten Flächen, ein Verhältniß des Zu⸗ 
ſammenhanges ihrer Theile, deſſen Spannung durch das 
Reiben in Anregung und vibrirende Bewegung, gleich der 
angeſpannten, tönenden Saite verſetzt wird. Selbſt der Um⸗ 
ſtand, daß unter zwei gegen einander geriebenen Platten 
jene mehr erwärmt wird, deren Oberfläche geritzt, als die 
andre, deren Oberfläche glatt iſt, ließe ſich vielleicht ſchon dar: 
aus erklären, daß die erzeugte Wärme von den Unebenheiten 
der erſteren Platte wie die Elektrizität von den Metallſpitzen 
(davon ſpäter) leichter aufgenommen wird. 
Jaenes vibrirende Bewegen, welches durch das Reiben 
der Finger an den Glasglocken einer Harmonika hervorgeru— 
fen wird und durch die Anregung der Luft zu gleicher Bes 
wegung bis zu unſrem Ohre ſich fortpflanzt, wo wir daſſelbe 
als Ton vernehmen, kann auch durch einen Stoß oder Schlag 
an die Glas- ſo wie Metallglocke erzeugt werden. Denn der 
Stoß wirkt in gleicher Art verändernd auf die Spannung 
des Zuſammenhaltes der Körpertheile ein, als das Reiben. 
Auf dieſelbe Weiſe wird auch die Wärme durch Stoß und 
Schlag erzeugt. So kann man eine Eiſenſtange durch das 
bloſe Hämmern auf einem Amboß bis zum Gluͤhen erhitzen. 
Wenn man den harten Feuerſtein mit Stahl zuſammenſchlägt, 
dann entſteht eine ſolche Hitze, daß die kleinen Theilchen des 
Stahles, welche der Schlag von dieſem abriß, nicht nur glü⸗ 
hend werden, ſondern ſchmelzen, denn die dunklen Stäub⸗ 


263 


chen, welche man dabei aufſammlen kann, erſcheinen unter 
dem Vergrößerungsglas als geſchmolzne Stahlkügelchen. Beim 
Aneinanderſchlagen von zwei Steinen ſind es abgeſprungene 
Theilchen der Steine, welche glühend werden. Das Percuſ⸗ 
ſionspulver entzündet ſich durch einen einzigen, kräftigen 
Schlag; die Knallſalze ſchon bei dem geringſten Stoße, eben 
ſo wie die brennbare Maſſe an unſren Zündhölzchen, bei der 
Reibung derſelben. 97770 

In den meiſten jener Fälle, in denen die Wärme durch 
einen Stoß oder Druck erzeugt wird, bemerkt man deutlich, 
daß der Rauminhalt der geſchlagenen oder gedrückten Körper 
ſich verringert habe. Eine Kupferplatte die zur Fertigung 
von Geldſtücken benutzt wurde, zeigte nach dem erſten Druck 
des Stempels am Münzprägeſtock eine Wärmeerhöhung von 
faft 9%, nach dem zweiten von 14% Grad. Zugleich aber 
hatte fie auch eine Verminderung des Rauminhaltes erfah- 
ren, denn ihre Dichtigkeit ſo wie ihre Eigenſchwere war im 
Vergleich mit der Eigenſchwere des Waſſers von 8,86 auf 
8,91 geſtiegen. Eine Silberplatte, die man auf dieſelbe Weiſe 
dem Münzprägeſtock ausſetzte, erhitzte ſich nur um 8 Grad, 
ihre Verdichtung hatte aber auch nur von 10,467 auf 10,484 
zugenommen. Das Gold verändert unter dem Drucke des 
Prägſtockes ſeinen Rauminhalt noch weniger als das Silber, 
wird aber dabei auch noch weniger erwärmt als dieſes. Da⸗ 
gegen wird bei dem raſchen Zuſammendrücken der Luft in der 
Röhre eines ſogenannten Luftfeuerzeuges bis etwa zum fünf- 
ten Theil der anfänglichen Ausdehnung eine ſolche Hitze er— 
zeugt, daß ein darinnen liegender Feuerſchwamm ſich entzün⸗ 
det und auf ähnliche Weiſe kann man durch das Zuſammen⸗ 
drücken aller reinen Gasarten oder bloſen Gasgemenge einen 
ſo hohen Wärmegrad hervorrufen, daß ſelbſt leicht flüſſige 
Metallgemenge darin zum Schmelzen kommen. 

Namentlich bei dieſen luftartigen Flüſſigkeiten ſtehet die 
Erzeugung der Wärme, durch das Zuſammenpreſſen, in näch⸗ 
ſter Beziehung mit ihrer Federkraft. Das Waſſer hat eine 

anz überaus geringe Federkraft; auch durch den ſtärkſten Druck 
laßt ſich daſſelbe nur wenig verdichten; darum kann auch der 
Druck auf das Waſſer und ähnliche tropfbare Flüſſigkeiten 
keine merkliche Wärmeerzeugung begründen. Etwas andres 
dagegen erfolgt in Beziehung auf die Steigerung der Wärme, 
wenn das Waſſer aus ſeiner tropfbaren Form in die Form 


264 


des Dunſtes übergegangen iſt. Wenn dieſe Verwandlung 
durch die Siedehitze von 80° Reaumur bewirkt wurde, dann 
bemerkt man, daß der heiße Dampf, indem er ſich an der 
kälteren Umgebung wieder fo weit abkühlt, daß er die Luft- 
form verliert und von neuem zu Waſſer wird, an jene Um⸗ 
gebung im Ganzen eine Wärme mittheilt, welche 424% Grad 
R. (531 der hunderttheiligen Scala) entſpricht. Hierauf grün⸗ 
det ſich das in neuerer Zeit ſo oft und vielfältig angewendete Ver⸗ 
fahren nicht nur die Treibhäuſer der Gärtner, ſondern auch 
Zimmer und ganze Gebäude durch den Dampf des ſiedenden 
Waſſers zu heitzen, den man durch Gußeiſenröhren in die 
verſchiedenen Räume, unter den Dielen und in den Wänden 
leitet, und das Waſſer, das bei ſeiner Zurückkehr aus der 
Dampfform noch die Siedehitze hat, durch die nach der ent— 
gegengeſetzten Richtung ſchief abwärts geneigten Röhren wie— 
der ablaufen und in den Dampfkeſſel zurückfließen läſſet, wo 
es noch ziemlich warm ankommt. Mit einem Pfund des 
immer neu ſich bildenden Dampfes kann man im Winter die 
Zimmer und Säle eines Gebäudes heitzen, welche zuſammen 
einen Rauminhalt von 1000 bis 1200 Fuß umfaſſen. 


Aber das Waſſer wird nicht nur durch die Siedehitze in 
Dunſt verwandelt, ſondern, wie wir bereits erwähnten, auch 
bei der niedren Temperatur unſrer Herbſt- und Wintertage 
kann es in Luftform übergehen. Damit es aber dies vermöge, 
muß es den Einfluß der Wärme eben ſo zu Hülfe nehmen 
als beim Sieden und bei ſeinem Zurückſinken in die Form 
des tropfbar flüſſigen Waſſers giebt es ebenfalls Wärme an 
feine Umgebung ab. Wir erfahren dies ſelbſt mitten im Win; 
ter, wenn auf einmal bei und vor dem Eintritt des Schnee— 
geſtöbers die Kälte nachläßt, oder im Sommer, wenn wir 
vor dem Ausbruch eines Gewitters und Regenguſſes eine 
drückende Hitze in der Luft empfinden. Draußen in der freien 
Natur ſind jedoch bei dem Entſtehen der Dämpfe ganz andre 
Räume zu heitzen als in unſren Wohngebäuden; dort wird 
die Wärme, die ſich bei der Umgeſtaltung von einem Pfund 
Dampf zu einem Pfund Waſſer erzeugt, nicht nur an Hun⸗ 


derte, ſondern an Tauſende und Hunderttauſende von Cubik⸗ 


fußen vertheilt, und die Umgeſtaltung ſelber geſchieht ſo all⸗ 
mälig und in einer ſolchen Vertheilung dem Raume nach, 
daß wir die bedeutende Wirkung ſolcher Vorgänge auf die 


265 


Veränderung der Luftwärme weniger durch unfre Sinnen als 
durch unſre Berechnungen wahrnehmen. 

Der umgekehrte Vorgang jedoch: der Verbrauch von 
Wärme aus der umgebenden Körperwelt, bei der Verwand⸗ 
lung des tropfbar flüſſigen Waſſers in gasförmiges, fällt 
ſchon ſtärker in den Bereich unfrer ſinnlichen Wahrnehmung. 
Der Schiffer, wenn er erfahren will aus welcher Gegend der 

ſonſt kaum merkliche Luftſtrom herkomme, befeuchtet den Fin- 
ger im Munde und ſtreckt ihn in die Höhe. Das Gefühl 
der ſtärkern Abkühlung an dieſer oder jener Stelle des Fin⸗ 
gers verräth es ihm, daß der Wind, der die Verdünſtung 
der Feuchtigkeit bewirkt, von dorther wehe. So haben wir 
bei jedem Verdunſten des Waſſers, das von außen her als 
Regen und bei dem Waſchen, oder von innen her als Schweiß 
auf unſre Haut kam, ein Gefühl von Abkühlung, ja von 
Kälte und wir können auch auſſer unſrem Körper dadurch 
eine niedrigere Temperatur hervorrufen, daß wir eine Ver— 
wandlung des Waſſers in die Luftform herbeiführen. Denn 
wie ſich nach jedem Regen durch das Verdunſten des nieder— 
gefallenen Waſſers, wenn nicht etwa zu gleicher Zeit in der 
Atmoſphäre noch mehrere Dunſtmaſſen in den tropfbar flüſſi— 
gen Zuſtand übergehen, eine Abkühlung der Luft merklich 
machet, ſo können wir auch im Kleinen, durch das Beſpren— 
gen des Fußbodens unſrer Zimmer die eindringende Sonnen— 
hitze mäßigen. Die Bewohner von Aegypten trinken auch in 
der heißeſten Zeit des Jahres ein angenehm abgekühltes 
Waſſer, welches ſie ſich dadurch verſchaffen, daß ſie das für 
unſren Geſchmack lauwarme Waſſer ihres Nilſtromes durch 
eine Art der irdenen Gefäße filtriren, welche dort ſeit uralten 
Zeiten in Gebrauch iſt. Die Thonmaſſe, aus denen man 
dieſe Kruggefäße formt und dann an der Sonnenwärme feſt 
werden läſſet, iſt nicht wie unſre glaſirten Töpfe waſſerdicht, ſon— 
dern läſſet die Feuchtigkeit überall aus ihrer Oberfläche durch 
unzählige, dem Auge unbemerkbare, kleine Oeffnungen heraus— 
ſickern. Die Oberfläche bleibt hierbei in einem beſtändigen 
Zuſtand der Anfeuchtung, und indem ein Theil des Waſſers, 
das dieſe Feuchtigkeit bildet, in Dunſtform übergehet, wird 
dabei ſo viel Wärme aus der Umgebung verbraucht, und 
eine ſolche Abkühlung des Gefäßes ſo wie ſeines Inhaltes 
bewirkt, daß die Tropfen, welche ſich außen anſammlen und 
in das untergeſtellte Glas hinabrinnen, einen ſo kühlen Trank 


ae ij 
1 


266 


liefern, als das Trinkwaſſer, in welches der Neapolitaner zu 
ſeiner Erquickung ein Stück Eis hineingelegt hat. In Oſt⸗ 
indien weiß man ſich den Wein und andre Getränke dadurch 
abzukühlen, daß man über die Flaſchen ein ihrer Form an⸗ 
gemeſſenes Gewebe von der Beſchaffenheit unſrer geſtrickten 
Strümpfe hinwegzieht, und, indem man dieſen Flaſchen⸗ 
ſtrumpf immer wieder anfeuchtet, eine Verdunſtung des Waſ⸗ 
ſers unterhält, durch welche eine ſehr merkliche Abkühlung 
herbeigeführt wird. Eben ſo verſchafft ſich der dort wohnende 
ſinnreiche Europäer dadurch kühlere Zimmer, daß er bei Tage 
vor die Oeffnung ſeiner Thüren wie ſeiner Fenſter Matten 
hängt, die aus dem wohlriechenden Kuskus (einer Art von 
Cyperngraſe) geflochten find und welche beſtändig durch auf⸗ 
gegoßnes oder angeſpritztes Waſſer feucht erhalten werden, 
hiermit aber zugleich zur Waſſerdunſtbildung dienen. Ja, 
durch eine andre Einrichtung, bei welcher auf fachweis über 
einander angebrachten Stangen angefeuchtete Lagen von Reis⸗ 
ſtroh dem kühlen Nachtwind einen friſchen Durchzug geftat- 
ten, hat man ſich in den heißeſten Gegenden von Oſtindien 
ein Abkühlungsmittel zu verſchaffen gewußt, das von ähnli⸗ 
cher Wirkung iſt als der in unſren künſtlichen Eiskellern auf— 
bewahrte Schnee, darin die vermöglichen Bewohner unſrer 
Gegenden im heißen Sommer ſich ihre ſogenannt „gefrornen“ 
Erfriſchungen bereiten. 
Es iſt demnach eine durch tägliche Erfahrung erwieſene 
Thatſache, daß bei dem Uebergang eines Körpers aus einem 
höheren Grad der Dichtigkeit in einen niedreren Abkühlung 
herbeigeführt werde und daß umgekehrt, wenn ein Körper 
aus einem ausgedehnten Umfang in einen beſchränkteren über⸗ 
geführt wird, ſich Wärme erzeuge. Die Luft, die wir in 
unſrem Windbüchſenrohr oder im Luftfeuerzeug bis auf ein 
Fünftel ihres vorherigen Rauminhaltes zuſammenpreſſen und 
welche dabei eine ſolche Wärme von ſich giebt, daß ſich ein 
brennbarer Körper in ihr entzündet, ſcheint uns lehren zu 
wollen, daß die Wärme dennoch als ein Stoff, vergleichbar 
dem Waſſer in einem Badeſchwamm, in den innren, für 
unſer Auge unbemerkbaren Zwiſchenräumen zwiſchen den klein⸗ 
ſten Theilen (den Atomen) der Körper enthalten ſey, und 
daß ſie durch mechaniſchen Einfluß aus dieſer Wohnſtätte 
herausgepreßt und fühlbar werden könne. Ja ſie ſcheint uns 
darauf hinzuweiſen, daß überhaupt durch den inwohnenden 


267 


Wärmeſtoff den körperlichen Dingen ihre natürliche Geſtalt 
und Form gegeben und erhalten werde. Es iſt jedoch an 
dieſer Vorſtellung, je nachdem wir ihr dieſen Ausdruck beile⸗ 
gen oder für ſie einen andren, paſſenderen wählen, eben ſo 
viel Irriges als Wahres. Wir werden dieſes ſpäter deutli⸗ 
cher erkennen, wenn wir vorerſt noch andre Eigenſchaften und 
Wirkungen der Wärme, ſo wie die allgemeinſten und zugleich 
wirkſamſten Wege zur Erzeugung derſelben etwas näher ins 
Auge gefaßt haben. HN 
Wenn man ein Pfund Waſſer, welches 80 Grad Wärme 
hatte mit einem andren Pfund Waſſer vermiſcht, das bis 
zum 0 oder Eispunkt erkältet war, dann wird die Tempera⸗ 
tur, welche das Gemenge annimmt, die mittlere aus beiden, 
40 Grad werden. Wenn man dagegen ein Pfund Eiſenfeil⸗ 
ſpäne, das man bis zu 80 Grad Wärme erhitzt hat, in ein 
Pfund Waſſer ſchüttet, deſſen Wärme 0 war, dann empfängt 
dieſes nur eine Wärme von 8 Grad, und das Eiſen muß 
bis zu 861 Grad erhitzt ſeyn, wenn es die Temperatur einer 
gleich großen Gewichtsmenge von Waſſer bis zum Siede— 
punkt erhöhen ſoll. An einem Gemeng von erhitztem Queck— 
ſilber und kaltem Waſſer wird dieſes Verhältniß noch viel auffal- 
lender, denn wenn man ein Pfund Queckſilber, dem man eine 
Erwärmung von 60 Grad mittheilte, mit einem Pfund Waſ— 
ſer vermiſcht, deſſen Temperatur auf dem Nullpunkt ſtund, 
dann wird dieſem, von dem heißen Metall nur eine Wärme 
von 3 Grad mitgetheilt. Noch dürftiger als bei dem Queck— 
ſilber fällt die Mittheilung der Wärme von dem erhitzten 
Gold und der gewalzten Platina, oder ſelbſt vom Blei und 
Wismuthmetall aus, denn während man durch ein Pfund 
Waſſer welches eine Wärme von 60 Grad hat, ein Pfund 
Eis zum Aufthauen bringen kann, bedarf man, um daſſelbe 
zu bewirken 30 Pfund bis zu demſelben Grad erwärmtes 
Queckſiilber, vom Gold, Platina, Blei und Wismuth aber 
gegen 31 bis 33 Pfund. Dennoch iſt es hier nicht allein 
die Dichtigkeit und die mit ihr im Zuſammenhang ſtehende 
Eigenſchwere, welche das größere oder das geringere Maaß 
der Wärme bedingt das die Körper von außen aufnehmen 
und an ihre kältere Umgebung wieder ablaſſen können, denn 
das Blei ſteht im Vermögen der Wärmeaufnahme oder Ca⸗ 
pazität dem Gold wie dem Platinametall nach, und das un⸗ 
gleich leichtere Wismuthmetall dem Golde wie dem Blei. 


ä — 


268 


Eben ſo haben das Zinn und noch mehr das Spießglanzme⸗ 
tall eine geringere Wärmecapazität als das Silber, obgleich 
beide (nach S. 132) um ein Merkliches leichter ſind denn dieſes. 
Dagegen iſt es von dem Blei wie vom Zinn aus Erfahrung 
bekannt, daß ſie beim Harthämmern keine Veränderung ihrer 
Wärmecapazität erfahren, weil ſie dabei nicht, wie Kupfer, 
wie Silber und ſelbſt Gold dichter, ſo wie ſpezifiſch ſchwerer 
werden. Daß an einem und demſelben Grundſtoffe die Be- 
fähigung zur Wärmeaufnahme ſehr von feinem Formzu— 


ſtand abhängig ſey, lehrt uns namentlich die Betrachtung 


der Kohle. Die Capazität des reinen kryſtalliniſchen Kohlen⸗ 
ſtoffes im Demant beträgt noch nicht einmal ½ der Capazi⸗ 
tät des Graphits, noch nicht / der Capazität der Holzkohle. 
Doch findet zwiſchen Demant und gemeiner Kohle ein wirk— 
licher, bis ins innerſte Weſen des Zuſammenhaltes gehender 
Unterſchied ſtatt; daß aber nicht die bloſe Vermehrung oder 
Verminderung der Dichtigkeit und räumlichen Ausdehnung 
den Maaßſtab für die Wärmecapazität abgebe, ſondern daß 
dabei noch andre Umſtände in Betracht kommen, wird am 
deutlichſten an jenen Körpern erkannt, die unter allen des 
höchſten Grades der Dichtigkeitsveränderung fähig ſind: an 
den Luftarten. Wenn der Druck, der die Dichtigkeit der atmoſ— 
phäriſchen Luft beſtimmt, um die Hälfte veringert, das Vo⸗ 
lumen derſelben um das Doppelte vermehrt wird, nimmt 
dennoch die Wärmecapazität derſelben nur um ein Zehntheil 
zu, erſt bei einer 18 fachen Verdünnung ſteigert fie ſich ums 
Doppelte. | 

Eine der bekannteſten, wahrhaften Formenänderungen der 
Kbrper durch den Einfluß der Wärme, iſt das Schmelzen 
derſelben. Wenn man, wie vorhin erwähnt, ein Pfund Eis 
mit einem Pfund ſiedenden Waſſers vermiſcht, dann ſchmilzt 
das Eis, und die Wärme des entſtandenen Waſſers ſteigt 
auf 10 Grad. 60 Grade der Wärme des Waſſers ſind mit— 
hin zum Schmelzen des Eiſes verwendet worden; eine ſolche 
Menge der Wärme hat gerade hingereicht um der neuent— 
ſtandnen Flüßigkeit die Temperatur des Nullpunktes zu geben, 
die überſchüßigen 20 Grad der Wärme ſteigerten die Tem- 


peratur der beiden Pfunde Waſſer, gleichmäßig ſich verthei⸗ 


lend auf 10 Grad. Ein Stück Eis behält, indem es in 
unſrer warmen Hand ſchmilzt, immer dieſelbe Kälte bei, weil 
alle die Wärme, welche es unſrer Haut entzieht, zur Aen⸗ 


269 


derung feiner Form, aus den feften in den flüßigen Zu: 
ftand verwendet wird. Aus dieſem Grunde kann man auch 
eine bleierne Kugel, welche man dicht in ein Stück Papier 
einwickelte über der Lichtflamme zum Schmelzen bringen ohne 
daß dabei das Papier ſich entzündet; der Einfluß den die 
geſteigerte Wärme auf einen ſchmelzbaren Körper ausübt, 
wird bis zum Augenblick ſeiner Formänderung nur auf dieſe 
verwendet. 

Das Umgekehrte erfolgt bei der Formänderung eines 
Körpers von dem flüßigen in den feſten Zuſtand. Wenn 
man in ſiedendem Waſſer ſo viel Glauberſalz auflößt, als 
jenes bei der Temperatur von 80 Grad aufzunehmen vermag, 
dann dieſe geſättigte Auflöſung luftdicht verſchloſſen an einen 
ruhigen Ort ſtellt, da bleibt dieſelbe flüßig bis man ſie 
erſchüttert oder fie mit einem feſten Körper in Berührung 
bringt. In dem Augenblick aber, wo dieſes geſchieht, geht 
die Flüßigkeit in einen feſten Zuſtand über und hierbei 
erzeugt ſich eine ſehr merkliche Wärme. Etwas Aehnliches 
wird auch bei dem Uebergehen des ſalzſauern Kalkes aus 
dem flüßigen in den feſten Zuſtand bemerkt. Bei dem lang- 
ſamen Gefrieren des Waſſers nimmt zwar unſer Gefühl das 
Steigen der Temperatur, welches bei einem ſchnelleren Vor— 
gang der Formwandlung 60° betragen würde, nicht in Dies 
ſem Maaße wahr, dennoch giebt ſich jenes Steigen dadurch 
kund, daß die Wärme eines Waſſers, welches vor ſeinem 
Starrwerden um 4° unter dem Eispunkt erkaltet war, im 
Augenblick des Gefrierens um jene 4 Grad wieder zunimmt 
und während des Vorganges der Formwandlung ſich bei die— 
ſer Temperatur erhält. 

Jene Wärme welche ein Körper zu ſeinem Flüſſigwerden 
verwendet, bezeichnet man mit dem Namen einer gebundenen 
Wärme, welche, beim Erſtarren deſſelben, aus ihrer Gebun— 


* 


denheit wieder frei wird. 


30. Die Wärmeleitung. 


Wenn man ein Stück Metall nach der einen Seite hin 
einer bis zu ſeiner Schmelzhitze geſteigerten Wärme ausſetzt, 
dann beginnt zwar an dieſem Punkte das Flüßigwerden 
oder Schmelzen zuerſt, aber die Formänderung geht bald 
auf ſeine ganze Maſſe über, während dagegen ein Stück 


270 


Zucker das man mit der einen Seite der Flamme nähert hier 
zum Schmelzen kommt, ohne daß dabei die andre Seite nur 
in ſehr merklicher Weiſe erhitzt wird. Ein Holzſpahn kann 
an dem einen Ende brennen nnd glühen, während wir fein 
andres Ende ohne Beſchwerde in unfrer Hand halten. Die eben 
ſo lange Eiſenſtange dagegen, deren eines Ende im Feuer roth⸗ 
glühend gemacht wurde, erhält dabei auch an ihrem and⸗ 
ren Ende einen hohen Grad der Erhitzung und an einer 
Stange von Gold iſt die Verbreitung der Wärme von dem 
einen, im Feuer erhitzten Ende an das andre, noch viel merk⸗ 
licher. Umgekehrt aber nimmt auch eine Stange von Eiſen 
oder noch mehr eine von Gold, wenn wir ſie mit dem einen Ende 
in Schnee oder Eis hineinſtecken, an ihrem andren Ende 
in Kurzem eine ſehr niedrige Temperatur an, während eine 
Stange von Holz, an ihrem freien Theile nur langſam 
und kaum merklich kälter wird. Dieſes verſchiedene Verhalten 
der Körper gründet ſich auf das Vermögen derſelben die 
Wärme, welche der eine Theil derſelben empfing, den 
andren Theilen und ihrer ganzen Umgebung mitzutheilen: 
auf ihre Fähigkeit die Wärme zu leiten. Ein Körper wel⸗ 
cher die Wärme (ſo wie die Kälte) die aus ſeiner Umgebung 
auf ihn einwirkte, leicht und ſchnell durch alle ſeine Theile 
ſo wie an andre, mit ihm in Berührung kommende Körper 
fortpflanzt, heißt ein guter, ein andrer, der dies nur in ſehr 
geringem Grade vermag, ein ſchlechter Wärmeleiter. 


Trügen wir, ſtatt unſrer Kleidung aus Leinen oder Wolle 
ein Gewand aus Metall, dann würde im Winter die Kälte 
der Luft, im Sommer die Hitze der Sonnenſtrahlen uns 
unerträglich fallen, denn eine ſolche Bedeckung würde die 
Hautwärme unſres eignen Körpers ſchnell hindurch leiten 
und in die umgebende Luft verſtreuen, der Hitze aber, wie 
der Kälte von außen eben ſo ſchnell einen Zugang zu unſrem 
Körper geſtatten. Wird doch dieſer Einfluß der beßren Wär⸗ 
meleiter ſchon in den oberſten Räumen jener Gebäude merk⸗ 
lich deren Dach mit Blei gedeckt iſt; die Gefangenen, wel— 
chen man vormals in Venedig unter ſolchen Bleidächern ihre 
Wohnung anwies, hatten eine Sommerhitze zu erleiden bei 
der Manche von ihnen bis zur Raſerei erkrankten. Schon 
ſolche Dächer welche ſtatt der Ziegel oder der Dachſchieferr⸗ 
platten mit hölzernen Schindeln oder mit Stroh gedeckt ſind, 


* A 


271 


gewähren einen beßren Schutz gegen Froſt und Hitze denn 
jene, weil ſie ſchlechtere Wärmeleiter ſind. 

Jene natürliche Decke, welche eine allbedenkende Vorſehung 
den Thieren in ihren Federn oder Haaren ertheilt hat, ſo 
wie jene Stoffe aus denen ein natürlicher Antrieb den Men⸗ 
ſchen ſeine Kleider fertigen lehrte, ſind nach Verſchiedenheit 
der Jahreszeiten und des Klima's der Wohnorte mehr oder 
minder ſchlechte Wärmeleiter, wie ſelbſt der Schnee verhält: 
nißmäßig ein ſocher iſt und hiedurch der Saat zur ſchirmenden 
Decke gegen die heftige Winterkälte wird. Zum Schutz 
unſrer Hände und Füße gegen das Gefühl des Froſtes ums 
wickeln wir deshalb im Winter die Steigbügel mit Stroh, 
bringen an metallenen Gefäßen hölzerne Handgriffe an und 
belegen den Boden unſrer Zimmer mit bretternen Dielen 
oder mit wollenen Decken; ſelbſt die werthvollen Bäume 
ſchirmt der Gärtner durch Umwickeln mit Stroh vor der 
Kälte. Und eben daſſelbe was die Kälte abhält, dient zur 
Abwehr der äußren Hitze; in den brennend heißen Sandflä— 
chen von Perſien ſchutzt ſich der Reuter durch einen leichten 
Pelz, in welchen er ſich kleidet, vor der ausdörrenden Gluth 
der Sommerhitze, wie der Bewohner von Sibirien gegen die 
Kälte ſeines Winters. 

Im Ganzen ſind die dichteſten Körper, wie die Metalle 
die beſten Wärmeleiter, doch beſtehet auch bei ihnen hierin 
eine große Verſchiedenheit, denn Gold leitet die Wärme 2 
mal beſſer dem Eiſen, um faſt 6 mal beſſer denn Blei. Noch 
ſtärker wird jedoch der Unterſchied, wenn wir die Leitungs- 
fähigkeit der nichtmetalliſchen Körper mit der des Goldes ver— 
gleichen, denn dann findet ſich, daß dieſelbe bei dem Marmor 
42, beim Porzellan 80, beim Ziegelſtein gegen 90 mal gerin- 
ger ſey als bei dem Golde. Die zumeiſt aus gasartigen Grund— 
ſtoffen gebildeten organiſchen Körper ſind noch unvergleichbar 
ſchlechtere Wärmeleiter als die Metalle und Steine, doch hat 
man bemerkt, daß von den Hölzern die Wärme etwas beſſer 
in der Richtung ihrer Längsfaſern als der Quere nach 
fortgepflanzt werde, woher es kommt, daß die Gewächſe leich— 
ter die Wärme des Bodens als die der äußren Umgebung 
annehmen. | | 

Bei den tropfbar fo wie luftartig flüßigen Körpern, 
welche ſämmtlich zu den verhältnißmäßig ſchlechteren Wärme⸗ 
leitern gehören, kommt noch ein andrer Umſtand hinzu, wel⸗ 


272 


cher an dem bisher betrachteten Vorgang der Temperatur: 
mittheilung Einiges abändert. Vermöge der größeren Ver⸗ 
ſchiebbarkeit der Theile, worinnen der Hauptcharakter des 
flüßigen Zuſtandes begründet iſt, erheben ſich hier die leich— 
teren Theilchen in den ſchwereren, die minder dichten in den 
dichteren (nach S. 209). Da nun, wie wir noch weiter 
ſehen werden, die Wärme ausdehnend, vor Allem auf die 
flüßigen Körper wirkt, mithin auch zugleich ſie leichter macht, 
ſteigt nicht blos die erhitzte Luft, die wir in eine Montgol- 
fiere hineinfüllten (nach S. 210) in der kälteren, und mithin 
ſchwereren empor und reißet das Luftſchiff mit ſich hinauf 
in die Höhe, ſondern wir können vor unſren Augen Hundert⸗ 
tauſende der kleinen Montgolfieren emporſteigen ſehen, wenn 
wir eine durchſichtige Flüßigkeit mit einem gepulverten Kör⸗ 
per vermiſchen, deſſen Stäubchen ohngefähr von gleicher 
Schwere mit der Flußigfeit find. Wenn dann dieſe von unten 
her erwärmt wird, dann ſteigen die Stäubchen mit den leich⸗ 
ter gewordenen Theilen der Flüßigkeit in ganzen Reihen 
empor, gleich wie die Luftbläschen, welche die 5 


im ausgeſchütteten Selzerwaſſer oder im Champagnerwein bil⸗ 
det. Indem die vom Boden her erhitzte Flüßigkeit, welche 


in einem über dem Feuer ſtehenden Keſſel enthalten iſt 
von unten nach oben ſteigt, theilt ſie den dichteren, kälteren 
Schichten, durch welche ſie hindurch zieht ihre Wärme mit, 
bis dieſe zuletzt Alle die Wärme des Siedepunktes erreicht 
haben und nun die Verwandlung der tropfbaren Flüßigkeit 


in die Luftform erfolgt. Weil dieſes bei allen Fluͤßigkeiten 


die leichteſte Weiſe der Wärmemittheilung, von der zunächſt 
erhitzten Schicht an die andren iſt, läßt ſich das Waſſer, wie 
jede andre Flüßigkeit ungleich ſchneller zum Sieden bringen, 
wenn die Flamme oder die erhitzte Metallplatte, von welcher 
das Erwärmen, wie auf unſren Sparherden ausgehet, von 
unten her, auf den Boden des Gefäßes wirkt als in jenen 
Fällen, in denen die Hitze nur von der Seite her, wie neben 
einem auf der Herdfläche entzündeten Feuer an das Koch- 
geſchirr anſchlägt. Am allerſchwierigſten aber wird immer 
die Erwärmung einer Flüßigkeit von obenher ſein, weil dann 


die zunächſt angewärmten Schichten, als die leichteren, oben 


ſchweben bleiben und die geringe Befähigung der Flüßigkeiten, 
zur Fortleitung der Wärme, die Mittheilung von dieſer, an 


die untren Schichten nur ſehr langſam vor ſich gehen läßet. 
Etwas 


273 


Etwas Aehnliches als im Waſſer, das von unten her 
erwärmt wird, erfahren wir an jedem Wintertage, bei der 
Heizung unſrer Zimmer. Die Luft, welche in der Nähe des 
Ofens erwärmt und hierdurch verdünnt worden iſt, ſteigt 
nach oben, nach der Decke zu und die kalte, zugleich auch 
ſchwerere, ſenkt ſich herunter. Wenn dann auch dieſe zweite, 
kältere Schicht den Wärmegrad der erſten erlangt hat, ſteigt auch 
ſie empor und wir, wenn wir nicht ganz in dem Kreiſe der 
merklich ausſtrahlenden Wärme des Ofens ſitzen, empfinden 
noch immer wenig von der Anwärmung des Zimmers, bis 
zuletzt alle Schichten einen gewiſſen Grad der Erwärmung 
und Ausdehnung erreicht haben, bei welchem das immer 
neue Herabſinken der kälteren, dichteren Schichten nach dem 
Boden ſeinen beläſtigenden Einfluß auf unſer Gefühl verliert. 
In einem, zu öffentlichen Verſammlungen beſtimmten Ger 
bäude, dergleichen die Theater ſind, befinden ſich, wenn die 
Heitzung durch gewöhnliche Oefen geſchieht, jene Zuſchauer, 
welche in den oberen Räumen ſitzen, öfters in einer bis zum 
Uebermaaß erwärmten Luft, während die Zuſchauer des Par- 
terres durch das fortwährende Hereinſtrömen des kälteren, 
ſchwereren Luftzuges von dem ganz entgegengeſetzten Gefühl 
der Kälte ſich beſchwert fühlen. | 

Die beſtändige Strömung der erwärmten Luft nach oben, 
der kalten aber nach unten iſt in den eingeſchloßnen Räumen 
unſrer Zimmer zu einer Art der Heizung benutzt worden, 
welche unter dem Namen der Luftheizung bekannt und in 
manchen Gebäuden in Anwendung gebracht iſt. In einem 
beſonders hierzu beſtimmten Gemach (der Heizkammer) wird 
die Luft durch einen Ofen zu einem hohen Grad der Erhiz— 
zung gebracht und aus derſelben durch Röhren in jene Zim⸗ 
mer geführt, welche erwärmt werden ſollen. Die Oeffnung 
dieſer Zuführungskanäle iſt in einer Höhe von 4 bis 5 Fuß 
über dem Boden angebracht, unten aber am Boden finden 
ſich die Mündungen andrer Röhren, welche die kältere, dich— 
tere Luft wieder hinüberführen in die Heizkammer. Wenn 
man durch einen gewöhnlichen Ofen eine Röhre oder einen 
andren geſchloßnen Kanal hindurchleitet, deren beide Mün⸗ 
dungen, die untere wie die obere in das Zimmer führen, dann 
wird ein ähnliches Hindurchſtrömen der kälteren Luft von un⸗ 
ten nach oben bewirkt, und die Erwärmung des Zimmers nicht 
wenig erleichtert. 8 

1 


274 


Wir ſind hier, bei der Erwähnung der Wärmeleitung 
der Flüſſigkeiten zu dem Betrachten einer Eigenſchaft der 
Wärme gekommen, welche für das Verſtändniß des Weſens 
dieſer Naturerſcheinung, ſo wie durch ihre vielfältige Anwen⸗ 
dung für den menſchlichen Haushalt die höchſte Wichtigkeit 
erlangt hat. Dieſe Eigenſchaft ift das Ausdehnen der Kör- 
per, ſelbſt der feſten, im vorzüglichſten Maaße aber der flüf 
b bei ihrer Erwärmung. Bei mehreren Körpern geſchieht 
dieſe Ausdehnung bei allmälig ſich ſteigernder Wärme bis 
5 Eintritt des Siedens oder des Gefrierens fo gleichmä⸗ 
ßig, daß man dieſelben ſeit langer Zeit zur Bildung von 
Wärmemeſſern oder Thermometern benutzt hat. Die Anwen⸗ 
dung des eben erwähnten Werkzeuges hat für die Wiſſenſchaft 
wie ſelbſt fur den menſchlichen Haushalt eine ſolche Wichtig⸗ 
keit gewonnen, daß wir der Betrachtung deſſelben ein be⸗ 
ſondres Capitel einräumen wollen. 


31. Das Thermometer. 


In Aegypten läßt man bekanntlich die jungen Hühner 
nicht durch ihre Mütter, die Hennen, ausbrüten, ſondern 
man legt die Eier in Oefen von ganz beſondrer Einrichtung, 
in denen der Boden ſo wie die hindurchſtreichende Luft durch 
ein ſchwaches, bald hier bald da angezündetes Feuer mäßig 
erwärmt iſt. Käme bei dieſem Gewerbe den ägyptiſchen 
Bauern nicht die kräftige Wärme der Sonne zu Hülfe, dann 
würde wohl all ihre Mühe vergeblich ſeyn: ſie würden auf 
die Vortheile ſo wie auf das Vergnügen Verzicht leiſten müſ⸗ 
fen, welche ihnen ihre Brutöfen gewähren, in denen öfters 
mehrere taufend Eier auf einmal bebrütet werden. So aber. 
werden das Dach und die Wände des aus Lehm erbauten 
Ofens von außen durch die Strahlen der Sonne eben fo 
ſtark erwärmt als das Innre deſſelben durch die Luft, die 
über das Feuer hinzog, und es iſt dabei auf die gleichmä⸗ 
ßige, auch in die Stunden der Nacht hinein, lang nachhal⸗ 
tige Wärme der Sonne wenigſtens eben ſo viel gerechnet 
als auf die Wärme, welche das Feuer giebt, weshalb auch 
die Brutöfen nicht früher als gegen Ende März oder im 
April in Gebrauch geſetzt werden, weil dann erſt die Tage 
heiß genug für das Geſchäft ſind. Und wenn dann jeßt 
aus der einen Abtheilung des Ofens, welche man zuerſt mit 


275 


Eiern belegte, dann aus einer zweiten, dritten u. ſ. f. öfters 
Hunderte von Kuchelchen am 2iten Tage nach dem Anfang 
der kunſtlichen Betrütung herausgenommen und nachdem man 
ſie etwa noch einen Ta gin den unteren Räumen des Bruthauſes 
innen behalten, hinausgelaſſen werden an die freie Luft, 
dann muß auch dort die Sonne die Stelle des wärmenden, 
mütterlichen Gefieders vertreten und fie thut dies in einem fo 
überkräftigen Grade, daß die zarten Thierchen während der 
heißeſten Stunden des Tages eben ſo begierig den Schatten 
ſuchen, als bei uns, wenn ein rauhes Luftchen wehet, den 
Schirm unter den Flügeln der Mutter. 

Wenn man bei uns zu Lande die Hühnereier künſtlich in 
der Wärme unſrer kleinen Brutöfen ausbrüten will, was 
durch eine oder, wenn der Ofen größer iſt, durch mehrere 
unten angebrachte Weingeiſtlampen ohne große Mühe bewerk— 
ſtelligt wird, da muß man ſorgfältig darauf ſehen, daß die 
Eier eine Wärme erhalten, die weder zu groß noch zu klein 
iſt, und fortwährend unterhalten wird. Es iſt ohngefähr die 
Wärme, welche das menſchliche Blut hat, weshalb auch 
Menſchen, die etwa wegen eines Beinbruches oder bei einem 
andren, gerade nicht lebensgefährlichen Unfall, lange zu Bett 
liegen, oder in einer ruhigen Stellung bleiben mußten, ſich 
zuweilen den Zeitvertreib gemacht haben, ein Hühnerei, etwa 
unter ihren Achſelhöhlen, auszubrüten. Die Wärme, welche 
der Körper einer brütenden Henne von ſich giebt, iſt übri⸗ 
gens noch etwas größer als die Lebenswärme des Menſchen, 
daher es auch der Entwicklung der Küchelchen in den Eiern 
unſrer kleinen, künſtlichen Brutöfen nicht ſchadet, wenn die 
Temperatur, die wir ihnen zukommen laſſen, noch ein wenig 
höher iſt als die menſchliche. 

Aber gerade dieſe Wärme, womit wollen wir ſie beſtim— 
men und meſſen? Etwa durch unſer Gefühl? Wie ver- 
ſchieden fällt das Urtheil dieſes Gefühles bei verſchiedenen 
Stimmungen unſrer Hautthätigkeit über einen und denſelben 
Grad der Temperatur aus. Es dünkte uns an einem Wintertage 
in unſrem Zimmer zum längeren Verweilen faſt zu kalt; wir 
gingen hinaus ins Freie, machten uns da eine ſtarke Bewe— 
gung, traten dann wieder ins Zimmer herein und jetzt kam 
uns die Luft deſſelben angenehm warm, ja vielleicht zu warm 
vor. Oder wir treten aus dem innerſten Gemach eines tür— 
kiſchen Bades, in deſſen Waſſer und Re man und ges 

1 


276 


bähet hat wieder heraus in das nächſt angränzende, und die 
Luft in dieſem erſcheint uns angenehm kühl, obgleich ſie ſo 
warm iſt, daß ſie uns bei andrer Stimmung der Haut uner⸗ 
träglich heiß erſcheinen würde. Jene Täuſchung, welcher hier 
im Großen die geſammte Oberfläche unfred Körpers unter: 
worfen iſt, wiederfährt im Kleinen der Haut unfrer Finger 
und Hände, wenn wir uns derſelben zur Beſtimmung einer 
äußren Wärme bedienen wollen, und wie oft müſſen dies 
unſre kleinen, zarten Kinder, denen die Amme das Waſſer 
zum Bade nur nach dem Ermeſſen des Gefühles ihrer Hände 
bereitete, mit einem Schmerz erfahren, den ſie durch lautes 
Weinen zu erkennen geben; wie ſollte es manchen Kranken, 
denen das Verweilen in einer beſtändig ſich gleich bleibenden 
Temperatur nöthig iſt, ergehen, wenn dieſe Temperatur bloß 
nach dem Gefühl der Geſunden beſtimmt werden müßte; was 
würde aus den Eiern in unſren Lampen-Brutöfen heraus⸗ 
kommen, wenn wir die Wärme nur nach jenem unſichren 
Maaßſtabe abſchätzen wollten. In dieſen und tauſend andren 
Fällen war es daher längſt als nothwendig erkannt, ein 
Mittel zu erfinden und zu haben, bei welchem das Ermeſſen 
755 e keinen ſolchen leicht möglichen Irrungen ausge⸗ 
etzt iſt. N 

Ein Landmann aus Alkmaar im nördlichen Holland, 
Cornelius Drebbel, der ſein großes Geſchick der Hände 
und feine Erfindungsgabe auch ſchon auf andre Weiſe ber 
währt hatte, ſcheint der Erſte geweſen zu ſeyn, der mit 
einem von ihm erfundenen Wärmemeſſer im Jahr 1638 
öffentlich auftrat. Sein Thermometer war einfach genug 
und dazu mancherlei Mängeln unterworfen. Es beſtund oben 
aus einer gläſernen Kugel, nach unten aus einer engen 
Röhre die mit ihrer Oeffnung in ein Gefäß geſtellt wurde, 
das mit Waſſer gefüllt war, welches man durch den Zuſatz 
einer Auflöſung von Kupfer in Scheidewaſſer gefärbt hatte. 
Die Flüſſigkeit ſtieg, bei gewöhnlicher, mittlerer Temperatur, 
durch die Anziehung des Glaſes, bis zu einem gewiſſen Punkt 
in der Röhre aufwärts, wenn aber die Luft in der Kugel 
bei zunehmender Wärme ſich ausdehnte, wurde die Flüffig- 
keit tiefer hinabgedrückt; wenn bei der Kälte die Luft ſich zu⸗ 
ſammenzog, ſtieg die Flüſſigkeit höher in der Röhre hinauf. 
Aber abgeſehen davon, daß für die Beſtimmung der Grade 
des Aufſteigens oder Niederſinkens ſehr unvollſtändig geſorgt 


277 


war, wirkte auch der Druck der Luft auf die Flüſſigkeit des 
Gefäßes mit ein, und dieſer Druck iſt nach S. 255 großen 
Veränderungen unterworfen. 

Dieſen Schwierigkeiten half eine Verbeſſerung ab, wel— 
che die Florentiner Akademie del Cimento einige Jahrzehende 
hernach dem Thermometer gab, und die ſeit 1673 ziemlich 
allgemein in Anwendung kam. Im Ganzen bildet die Ein— 
richtung des Florentiner Thermometers noch jetzt die Grund— 
form unſrer künſtlichen Wärmemeſſer, denn es beſtund aus 
einer Glasröhre die an ihrem oberen Ende zugeſchmolzen 
war, von unten aber in eine Kugel endigte. Statt des 
Queckſilbers, das anjetzt meiſt zur Füllung unſrer Thermo— 
meter angewendet wird, enthielt das Florentiner und enthält, 
wo es im Gebrauch geblieben iſt, noch jetzt gefärbten Wein— 
geiſt. Bei zunehmender Wärme dehnte dieſe Flüſſigkeit ſich 
aus, in der Kälte zog ſie ſich zuſammen und deutete ſo beide 
Temperaturveränderungen durch ihr Aufſteigen oder Nieder— 
ſinken in der Röhre an. Zu dieſer Verbeſſerung fügte ein 
Profeſſor in Padua, Renaldini, im Jahr 1694 noch eine 
wichtigere hinzu, indem er auf den Gedanken kam, den Ge— 
frier- wie den Siedpunkt des Waſſers als zwei Gränzpunkte 
zu benutzen, zwiſchen denen das Steigen oder Sinken des 
Weingeiſtes nach einer Art von Gradabtheilung abgemeſſen 
war. Da man jedoch die Bemerkung gemacht haben wollte, 
daß am Weingeiſt im Verlauf der Zeit die Fähigkeit durch 
die Wärme ſich auszudehnen geringer werde, that ein andrer 
berühmter Gelehrter: Halley den Vorſchlag zur Anwendung 
des Queckſilbers, oder der in einer Kugel verſchloſſenen Luft, 
welche auf das Queckſilber, das in einer langen, mit der 
Kugel verbundenen Röhre enthalten iſt, bei ihrer Ausdeh— 
nung einwirkt. i 

Allen den Unbequemlichkeiten, welchen dieſe ſo wie andre da— 
malige Thermometer ausgeſetzt waren, half Daniel Fahren⸗ 
heit ab, ein kunſtreicher Mechanikus, von Geburt ein Danziger, 
ſpäter Bürger in Holland. Der nämliche ſtrenge Winter 
von 1709, der in Duvals Lebensgeſchichte (nach Cap. 10) 
von fo großer Wichtigkeit war, half jenem kunſtreichen Manz 
ne zur Erfindung einer Thermometerſcala, deren ſich noch 
jetzt die Engländer bedienen. Die Kälte, welche damals 
lang fortwährend auch in den Gegenden herrſchte, wo der 
Einfluß der Meeresnähe die Strenge des Winters um ein 


RR 


278 


Bedeutendes mäßiget, hatte Fahrenheit künſtlich nachmachen 
gelernt. Er hatte bemerkt, daß wenn man ſelbſt im war⸗ 
men Zimmer Salmiak und Schnee zu gleichen Theilen zu⸗ 
ſammenmiſche, der Weingeiſt in einer Florentiner Thermo— 
meterröhre eben ſo tief herabſinke, als er dies im Winter 1709 
in freier Luft that. So war ein feſtſtehender Anhaltspunkt 
für ſeine Eintheilung der Thermometergrade gefunden, deſſen 
Jeder mit leichter Mühe ſich verſichern konnte. Ein zweiter, 
ſo ziemlich ſicherer Anhaltspunkt zur gradweiſen Eintheilung 
des Steigens des Thermometers war noch leichter in der 
Natur zu haben, weil dieſen jeder geſunde Menſch bei ſich 
trägt und in ſich hegt. Dieſer zweite Anhaltspunkt iſt die 
naturliche Wärme (die Blutwärme) unſeres Leibes, welche 
dadurch am leichteſten gemeſſen wird, daß man die Kugel 
eines Thermometers unter die Zunge legt und in dieſer Lage 
ſie 10 bis 15 Minuten lang behält. Die Beobachtungen 
welche man über dieſen Gegenſtand an den Bewohnern der 
verſchiedenſten Länder und Himmelsſtriche machte, haben nur 
einen ſehr geringen Unterſchied ergeben. Die Malayen auf 
Ceylon und die Bewohner von Sibirien, die Hottentotten in 
Südafrika und die Eskimos in Grönland, die wilden, nack— 
ten Vaidas, welche die Wälder der indiſchen Halbinſel be— 
wohnen und der wohlgekleidete Europäer der in Palläſten 
lebt, ſie alle haben, mit nur wenigen Abweichungen, dieſelbe 
übereinſtimmende Wärme des Blutes, von wenig unter bis 
wenig über 29 Grade Réaumur, und wenn einige Gelehrte 
der fortwährenden Einwirkung der Hitze eines Himmelsſtri— 
ches die Macht zuſchreiben wollen, die Blutwärme um etwa 
einen Thermometergrad zu erhöhen, giebt es dagegen andre, 
welche behaupten, daß die Eskimos in Grönland eine faft 
höhere Blutwärme zeigen, als die Neger an der Goldküſte; 
eine Verſchiedenheit der Anſichten, über welche ſich nur das 
durch entſcheiden ließe, daß man nicht die Wärme verbrei⸗ 
tende Nähe des Menſchenkörpers, ſondern die Temperatur 
ſeines Junren in der Mundhöhle einer Unterſuchung unter⸗ 
zöge. Die Haut des Negers, bei einer für das Gefühl des 
Europäers unerträglich erſcheinenden Hitze fühlt ſich dennoch 
kühl an, weil die Kraft der innren Blutwärme durch die 
geſteigerte Ausdünſtung der Außenfläche gemäßigt wird (n. 
S. 265); die Haut des Eskimos, wie der Aushauch ſeines 
Athems, verbreitet in dem eingeſchloſſenen Raum eines engen 


279 


Zimmers eine Erwärmung, welche, wenn mehrere ſolcher 
Leute beiſammen find, die Heitzung durch einen Ofen ents 
behrlich machet, die Blutwärme aber bei beiden iſt kaum 
merklich verſchieden, und ſelbſt bei Kranken, im Zuſtand des 
heftigſten Entzündungsfiebers, ſteigert ſich dieſelbe höchſtens 
um 4 Grad unſres Réaumurſchen Thermometers. Dennoch 
war dieſer zweite natürliche Wärmegrad des Fahrenheitſchen 
Thermometers bei weitem kein ſo gewiſſer als der erſte, ſon⸗ 
dern nur, wie wir vorhin ſagten, ein ſo ziemlich ſichrer. 
Denn kleine Abweichungen von dem gewöhnlichen Grad der 
Blutwärme zeigen ſich ſelbſt bei einem und demſelben Men⸗ 
ſchen in unverkennbarer Weiſe; das Lebensalter, die innre 
oder äußre Aufregung ſind dabei nicht ohne Einfluß, und 
ſchon jenes Verfahren des Fahrenheit, wobei er den Abſtand 
der Temperaturen zwiſchen der Kälte ſeiner Miſchung aus Sal⸗ 
miak und Schnee und der Blutwärme nur in 96 Grade (ſtatt in 
98 und 99) theilte, beweiſt, daß er die Wärme des menſchlichen 
Leibes zu niedrig angefchlagen habe, wahrſcheinlich deshalb, weil 
er das Thermometer durch das er ſie meſſen wollte, zunächſt 
nur an die Fläche der geſchloßnen Hände oder an andre Stel⸗ 
len der außren Haut anlegte. Drei andre Richtpunkte zur 
Eintheilung der Thermometerſcala wurden deshalb auch von 
ihm für allgemein anwendbar angeſehen: der Gefrierpunkt 
des Waſſers, der Siedpunkt deſſelben und als äuſſerſter Grenz— 
punkt die Hitze, bei welcher das Queckſilber ſiedet, oder in 
Dämpfe ſich auflöſt. Von dem mittleren Kältegrade des 
Winters von 1709 bis zu der Temperatur bei welcher das 
Waſſer gefriert, zählte Fahrenheit 32 Grad ſeines Thermo⸗ 
meters, bis zur Siedhitze 212, bis zum Kochpünkt des Queck⸗ 
ſilbers 600. Bis zu dieſem höchſten durch Queckſilber-Ther⸗ 
mometer erkennbaren Grade der Hitze bedürfen wir nicht ſo 
leicht der Zurechtweiſung eines ſolchen gebrechlichen Führers, 
daher wurde auch bald für die Fahrenheit'ſchen Thermometer 
beim gewöhnlichen Gebrauch eine kürzere Glasröhre, welche 
die Steigerung der Wärme nur bis zum Siedepunkt des 
Waſſers oder nicht viel höher hinan angab, den unbequem 
längeren vorzogen, deren Eintheilung nach aufwärts bis 600° 

ieng. 
| s den großen Vorzug, welchen bei der Wahl der Flüſſig⸗ 
keiten zur Füllung der Thermometerröhren das Queckſilber 
nächſt der Luft verdient, hatte ſchon Fahrenheit ganz richtig 


280 


anerkannt. Das Queckſilber, als ein vortrefflicher Wärme⸗ 
leiter, iſt für die Aenderungen der Temperatur ungleich em⸗ 
pfindlicher als andre tropfbare Flüſſigkeiten, es läßt ſich viel 
leichter in vollkommen reinem Zuſtand darſtellen, als etwa 
der Weingeiſt, welcher ſelbſt bei ſehr vorſichtiger Zubereitung 
und Anwendung auſſer andren Verunreinigungen öfters Luft 
in ſich enthält, bei einer ſtarken Kälte zuletzt dickflüſſig wird 
und bei höheren Graden der Wärme ſich in ungleich geſtei— 
gertem Maaße ausdehnt. Allerdings gefriert das Queckſilber 
bei einer Kälte, welche 31) Grad unſres gewöhnlichen 
Réaumurſchen Thermometers unter dem Gefrierpunkt des 
Waſſers beträgt und iſt dann für die genauere Beſtimmung 
einer noch ſtärkeren Kälte nicht mehr brauchbar, aber es dehnt 
ſich bei ſeinem Starrwerden nicht ſo wie das Waſſer zu einem 
größeren Rauminhalt aus, und auch in ſolchem Falle geht 
die Zuverläſſigkeit der Kältemeſſungen durch Alkohol nicht 
über einen gewiſſen Grad. 

Bei all den eben erwähnten entſchiedenen Vorzügen, wel⸗ 
che die Luft und das Queckſilber in ihrer Verwendung zu 
Wärmemeſſern vor dem Weingeiſt haben, fand dieſe Fül— 
lungsflüſſigkeit der Thermometer dennoch einen neuen Ver— 
theidiger an dem franzöſiſchen Phyſiker Réaumur. So wie 
der Name des Americus Vespucius auf den Welttheil über— 
gieng, für deſſen Entdeckung vielmehr dem Columbus der 
Ruhm gebühret, fo wird jetzt noch Réaumurs Name bei unf- 
ren Thermometern genannt, auch wenn ſie nach Fahrenheits 
Verfahren gearbeitet und mit Queckſilber gefüllt ſind. Der 
genau und gründlich prüfende Fahrenheit der nur der Erfah— 
rung feine Belehrung verdankte, war kein eigentlicher Gelehr— 
ter, ſondern nur mechaniſcher Künſtler, Réaumur dagegen 
hatte den Ruf der Wiſſenſchaft für ſich. Auch ließ es der— 
ſelbe bei der Beſtimmung der beiden natürlichen Grenzpunkte 
ſeines Thermometers, welche zunächſt nur die Momente der 
Formenwandlung des Waſſers, den Gefrier- und Siedepunkt 
deſſelben ins Auge faßten, an eifrigem Bemühen nicht feh⸗ 
len. In eine 2 Fuß lange Glasröhre mit einer Kugel, de— 
ren Durchmeſſer über 2 Zoll betrug, wurde von ihm ein Wein⸗ 
geiſt gefüllt, der ſeine große Stärke durch das Entzünden 
des Schießpulvers erwieſen hatte und dann durch Zuſatz eines 


ünftels 'von Waſſer verdünnt war. Dieſes Fundamental⸗ 
thermometer wurde in ein Gefäß mit Waſſer geſenkt, das mit 


3 


er 


281 


einem Gemiſch von Salz und Eis umgeben war. In dem 
Augenblick, in welchem das Waſſer im Gefäß durch ſeine 
Umgebung ſo weit erkältet war, daß es zu gefrieren anfieng, 
wurde der Stand des Weingeiſtes in der Glasröhre genau 
bemerkt. Daſſelbe geſchahe nach dem Einſenken des Thermo— 
meters in ſiedendes Waſſer. Mit mühevoller Genauigkeit 


war der Weingeiſt, der ſich in dem Werkzeug befand, durch 


kleine Becherchen in jenem Zuſtand der Ausdehnung die er 
beim Gefrierpunkte hat, abgemeſſen und hiernach in 1000 
gleiche Maaßtheile getheilt worden. Damit derſelbe bei ſol— 
cher niedriger Temperatur und geringer Ausdehnung die Glas— 
röhre eben fo hoch anfüllen könnte als bei feiner ſtärkern 
Ausdehnung in der Siedehitze, mußten 80 der kleinen Maaß— 
theile oder Becherchen zugegoſſen, die Geſammtmaſſe von 
1000 auf 1080 vermehrt werden. Dies gab die Grundlage 
zur Eintheilung der Réaumurſchen Thermometerſcala in 80 
gleiche Grade. 

Es war im Jahr 1730 als der berühmte Reaumur das 
von ihm benannte Thermometer in den vielgeleſenſten Zeit— 
ſchriften von Frankreich beſchrieb und zugleich die Veranſtal— 
tung traf, daß jetzt auch kleinere Thermometer für den allge— 
meinen Gebrauch gefertigt würden, deren Scala für die Be— 
ſtimmung der Luftwärme in verſchiedenen Gegenden und Jah— 
reszeiten der Erde, ſo wie des Hitzegrades der Flüſſigkeiten 
bis zur Dampfbildung des Waſſers hinreichte. Der natür— 
liche Vorzug ſeiner Anhaltspunkte, welche ſich ohne alle künſt— 
liche Bemühung von ſelber darbieten, dazu der große Ruf 
des Mannes und feiner Nation verſchafften ihm einen leich- 


ten, wenn auch nicht völlig allgemeinen Sieg über ſeinen 


u * ar 


Nebenbuhler Fahrenheit, gegen deſſen künſtlichen Nullpunkt 


allerdings Manches einzuwenden tft. Auch ließen es Réau⸗ 


murs Landsleute, ihrer Nationalehre eingedenk, an allen je— 
nen Bemühungen nicht fehlen, durch welche die großen Män— 
gel, welche die Füllung des Thermometers mit Weingeiſt 
ſtatt mit Queckſilber bei ſich führet, verdeckt und unmerklich 
gemacht werden ſollten. Unter andrem ſuchte man die un— 
gleichmäßigere Ausdehnung und Zuſammenziehung des Wein— 
geiſtes im Vergleich mit dem Queckſilber dadurch zu verber— 


gen, daß man an der 80 theiligen Scala der mit dem lebte: 


n gefüllten Thermometer die Grade welche über 40 fo wie 
er Null waren, nach einer nicht ſehr genauen Berechnung 


282 


kleiner machte. Die ehrliche Wahrheit machte ſich indeß den⸗ 
noch zuletzt wieder Bahn, man ſahe ſich genöthigt die Ther⸗ 
mometer nach Fahrenheits vielgeprüfter Weiſe zu geſtalten 
und zu füllen, behielt jedoch die Réaumurſche Eintheilung 
bei und für jene hohen Grade der Kälte, bei denen das 
Queckſilber ſtarr wird, ſelbſt die Füllung durch Weingeiſt. 

Die Grade welche Fahrenheit feſtſetzte und an ſeinen 
mit bewundernswürdiger Genauigkeit gearbeiteten Thermome⸗ 
tern vollkommen gleichmäßig durchführte, ſind kleiner als die 
der Réaumur'ſchen Scala, ſo daß neun Grad Fahrenheit nur 4 
Grad Réaumur ausmachen, 2½ Grad der erſtern Scala 
einen Grad der letzteren gleich ſind. Fahrenheits Nullpunkt 
fällt auf einen Kältegrad der etwas mehr denn 14 Grad un⸗ 
ter dem Nullpunkt der so theiligen Scala liegt; dieſer letztere, 
der Gefrierpunkt des Waſſers, entſpricht am Fahrenheit'ſchen 
Thermometer ſchon einer Wärme von 32 Graden. Man muß 
deshalb bei den Angaben der Wärme nach Fahrenheit, wenn 
dieſe über 32 hinangehen, dieſe Zahl 32 von der Summe 
abziehen und den Reſt mit 2 ¼ dividiren, wenn man den 
Wärmegrad nach der Réaumurſchen Scala finden will. So 
entſprechen dann z. B. 77 Grad F. 20 Gr. R., denn 32 
von 77 abgezogen giebt 45°, dieſe durch 2 ½ getheilt find 
20 Grad; 50° F. find 8 R.; 122 F. entſprechen 409 R. 
Dagegen muß man bei den Temperaturangaben nach F., 
wenn fie unter Null find, 32° hinzufügen und dann die er⸗ 
haltene Summe durch 2 ½ theilen. So findet man daß — 
130 F. gleich find 20° R., — 22° F. entſprechen 24° R. 
Denn 13 zu 32 giebt 45, 22 zu 32 giebt 54 und durch 
eine Theilung mit 2 ½ erhält man aus jener Zahl 20 aus 
dieſer 24. a 

Noch immer haben beide Arten die Grade der Wärme 


oder der Kälte zu beſtimmen, ſich neben einander im Gebrauch 
erhalten und ſich in die Herrſchaft des Reiches der Gewohn⸗ 


heiten bei verſchiedenen Nationen getheilt. Eine dritte Art 
der Gradetheilung der Thermometerſcalen hat ſich indeß in 
neueſter Zeit eine ſolche allgemeine Beachtung erworben, daß 
ſie vielleicht bald zur Alleinherrſchaft gelangen und bei allen 
europäiſchen Nationen in Anwendung kommen wird, dies iſt 
die ſchon von dem ſchwediſchen Gelehrten Celſius vorge⸗ 


ſchlagene, welche den Zwiſchenraum zwiſchen dem Gefrier⸗ 
und Siedepunkt des Waſſers ſtatt in 80 in 100 Theile theilt, 


* 


285 


fo daß 50 Grade der Wärme an dieſer Scala 40 Graden 
der Reaumurſchen und 122 der Fahrenheit'ſchen entſprechen, 
überhaupt aber 4 Grad R. gleich find 5° Celſius und 9° 
Fahrenheit. | 4 

Um eine größere Hitze zu meſſen als jene iſt, bei wel— 
cher das Queckſilber ſich in Dampf verwandelt und hierdurch 
zu weitren Wärmebeſtimmungen unfähig wird, was bei 350 


Grad der hunderttheiligen Scala (280 Gr. R.) der Fall iſt, 


hat man die Ausdehnung des Platinametalles durch die Wär— 


me in Beachtung genommen, weil dieſes Metall (n. S. 125) 
eines der ſchwerſt ſchmelzbaren iſt. Auch das Flüſſigwerden 
der Metalle bei verſchiedenen Hitzegraden hat man (wie den 
Thaupunkt des Waſſers bei der Einrichtung der Thermome— 


ter) zu Anhaltspunkten gewählt, um danach die Stärke der 


Feuergluth zu meſſen und auf dieſe Weiſe für die Pyrome- 
trie oder Feuergluthmeſſung viele Anhaltspunkte ſtatt eines 
einzigen gewonnen. Ein Stücklein Metall von der Größe 
eines Stecknadelkopfes, welches nicht nur einmal, ſondern 
bei ſchwerer oxydirbaren Metallen wie Silber, Gold, Platina, 
zu jedem neuen Verſuch gebraucht werden kann, reicht zu 
jenem Zwecke aus. Die Schmelzpunkte des Silbers und des 
Goldes liegen um 10 Grade von einander ab, der erſte die— 
fer Grade iſt der, wobei eine Miſchung von 9 Theilen Sil⸗ 


ber und ein Theil Gold, der zweite der, wobei eine Mi— 


ſchung von S Theilen Silber mit 2 Theilen Gold zum Schmel— 
zen kommt. Zwiſchen dem Hitzegrad, der das reine Gold 
und jenem der das reine Platinametall zum Fließen bringt, 
werden 100 Grade angenommen und dieſe eben ſo beſtimmt, 
daß man 1, 2, 3, 4 u. ſ. w. Hunderttheile Platina mit 99, 
98, 97, 96 Procent Gold miſcht. Auſſer dieſem hat man 
noch tiefer herabgehende Scalen an den leichtflüſſigen Metal— 


len. Das Silvanerz ſchmilzt ſchon bei 200 Grad Wärme 


der hunderttheiligen Scala, Zinn braucht 227, Blei 312, 
Gut 371, Kupfer 2596, Gold 2884, (Gußeiſen 11380) 
rade. | 
Wir haben uns lange bei der Betrachtung der künſtli— 
chen Wärmemeſſer aufgehalten. Das Thermometer hat nicht 
nur unter allen Erfindungen der Phyſik, nebſt dem Barome— 
ter den allgemeinſten Eingang in alle einzelne Haushaltungen 
des Menſchen gefunden, ſondern es iſt fur dieſen ein lehrrei— 


cher Begleiter auf allen ſeinen Wegen durch die verſchiedenen 


284 


Länder und Regionen ſeiner Sichtbarkeit geworden. Seiner 
Anwendung allein verdanken wir unſre gründlichere Kennt— 
niß der Unterſchiede des Klimas der verſchiedenen Erdgegen- 
den und Gebirgshöhen, die Kunde von dem Unterſchied des 
mittleren Wärmegrades der einzelnen Zeiten des Jahres und 
der Tage, und was wir noch weiterhin über die Wärme und 
ihre Wirkungen werden ſagen können, das würde großentheils 
ſeiner feſten, ſichren Beſtimmung entbehren, wenn uns kein 
Mittel gegeben wäre die Kraft der Wärme ſicher zu ermeſſen. 


32. Die Dampfbildung durch Wärme. 


Es ſind erſt zwei Jahrhunderte vergangen, ſeitdem ſich 
dem Menſchen durch die Erfindung des Barometers und des 
Thermometers ein ganz neuer, vorhin noch ungebahnter Weg 
des Erforſchens der Höhen und Tiefen ſo wie eines nähern 
Erkennens jener Naturkraft aufgethan hat, die ſich als eine 
Mutter und Pflegerin des leiblichen Lebens betrachten läſſet. 
Wir find an den Gebrauch jener beiden phyſikaliſchen Geräth— 
ſchaften ſo ſehr gewöhnt, daß Manche von uns es kaum be— 
greifen können, wie es ſich in alter Zeit im Gebiet der Wiſ— 
ſenſchaft ohne jene beiden Hülfsmittel habe haushalten und 
gewerbtreiben laſſen. Und dennoch hat damals, als man 
noch weder Barometer noch Thermometer kannte, die Luft— 
ſäule durch ihren Druck ein eben ſo wohlthätiges Gegenge— 
wicht gegen die ausdehnende Federkraft der lebenden Körper 
gebildet, die Strahlen der Sonne haben mit derſelben Macht 
das Grün der Wieſen hervorgerufen, die Saaten des Ge— 
treides wie die Beeren des Weinſtockes gereift, als in unſren 
Tagen. Jene Entdeckungen haben zunächſt nur auf die Be⸗ 
lebung und Erhöhung des geiſtigen Verkehres im Gebiet der 
Wiſſenſchaften, nicht auf den leiblichen Verkehr der Menſchen 
und Völker eingewirkt. Es giebt aber andre Erfindungen der 
neueren und neueſten Zeit, welche in die Verhältniſſe des 
täglichen Lebens ſo mächtig und umgeſtaltend eingegriffen ha— 
ben, daß ein nachkommendes Geſchlecht der Menſchen es 
kaum begreiflich finden wird, wie man früher ohne jene Hülfs⸗ 
mittel habe bequem und vergnügt auf Erden leben können. 
Zu dieſen Erfindungen, welche aus dem Boden der Wiſſen⸗ 
ſchaft aufwuchſen, ihre Zweige aber über alle Geſchäfte und 
Gewerbe des menſchlichen Haushaltes verbreitet haben, ge— 


285 


hört namentlich die der Dampfmaſchine, durch welche der 
Menſch eine der ſtärkſten bewegenden Kräfte der Natur in 
feine Gewalt bekommen hat. Fahrenheit, als er den künſt—⸗ 
lichen Nullpunkt ſeines Thermometers erfand, hatte dem ſtren— 
gen Winter von 1709 ſeine Kunſt abgelernt, wodurch dieſer Land 
und Gewäſſer mit den Schreckniſſen des Froſtes erfüllte; die 
Erfinder der Dampfmaſchinen haben ſich die Kunſt der Vul⸗ 
kane zu eigen gemacht, durch welche die Geſteinmaſſen der 
Tiefe bis zu einer Höhe von Tauſenden der Fuße emporge— 
ſchleudert, Felſen zerſchmettert und mitten in der Ebene neue 
Gebirge, bis hinan zur Gränze des nimmer ſchmelzenden 
Schnees aufgethürmt werden. 

Einer der tiefſinnigſten, vielumfaßendſten Gelehrten uns 
ſres deutſchen Vaterlandes: Leibnitz, vergnügte ſich in 
ſeinen Mußeſtunden an den Entwürfen zu allerhand mecha— 
niſchen Vorrichtungen, durch welche es möglich werden ſollte einen 
Wagen ohne Pferdekraft, bloß durch die Wirkſamkeit einer 
in ſeinem Innren angebrachten Maſchinerie in Bewegung 
zu ſetzen. Seinem ſcharfſinnigen Geiſte gelang der große 
Fund nicht, welchen in unſern Tagen die Bewohner jedes 
kleinen amerikaniſchen Landſtädtchens ſich zu Nutze machen: 
der Fund mit der Kraft des Waſſerdampfes, der jedem Koch— 
topf, jedem Waſchkeſſel unbenutzt und unvermerkt entſteiget, 
ein Bündniß einzugehen, durch das es Menſchenkunſt mög— 
lich wird die Schnelligkeit des Roſſes zu übertreffen und den 
Sturmwind in ſeinem Laufe einzuholen. 

Im Mittelalter, wo die meiſten unſrer Flüße nur an 
wenig Orten mit Brücken verſehen, die Berge und Hügel mit 
Wald, die tiefen Thäler und Ebenen an vielen Stellen von 
Flugſand und Moorgrund bedeckt waren, brauchten die Fuhr— 
leute, welche über Böhmen her oder von Franken nach Goß— 
lar fuhren, mehrere Wochen, ehe ſie mit vielfachen Umwegen 
und tauſendfältigen Beſchwerden ihr Ziel erreichten. Selbſt 
in ſpäterer Zeit, als zwar die Wege über Land und Ströme, 
durch Wald und Gebirge gebahnt, dabei aber noch nicht in 
die bequemere Geſtalt unſrer jetzigen Chauſſeen umgeſchaffen 
waren, gehörte das weite Reiſen im Wagen mehr zu den 
Beſchwerden als zu den Vergnügungen, während der Rei— 
ſende der jetzigen Zeit im bequemen Sitze des Dampfwagens 
im Fluge weniger Stunden über eine Strecke dahinfährt, wel— 
che der Fußgänger erſt nach mehreren Tagen zurücklegt. Und 


286 


mehr noch als die Reifen zu Lande find die zu Waſſer durch 
die Anwendung des Dampfes zur Fortbewegung der Schiffe 
erleichtert worden. Der Erfolg der Seefahrten in fruherer 
Zeit hing faſt ganz von Wind und Wetter ab, derfelie Weg 
von Smyrna nach Alexandria wurde von einem guten Se— 
gelſchiff zuweilen bei anhaltend günſtigem Wind in 4 bis 5, 
andre Male bei Windſtille oder ungünſtigem Wind erſt in 30 
Tagen zurückgelegt; der Seefahrer fand ſich im Angeſicht des 
nahen Landes, glaubte in jedem Augenblick daſſelbe zu errei— 
chen und konnte dennoch nicht in den Haſen einlaufen, weil: 
der antreibende Lufthauch ihn verlaſſen hatte oder ein plötzlich 
ſich erhebender Wind vom Lande her ihn wieder weit ins 
Meer hinausführte. Anjetzt fährt der Menſch auf ſeinen 
Schiffen, deren Bewegung nicht mehr von einem äußren, 
ſondern nur von dem innren Antrieb des Dampfes abhängt, 
gleich dem Seevogel dem Winde entgegen und ſieht ſich durch 
keine Windſtille in ſeinem Laufe gehemmt; er kann mit eini⸗ 
ger Sicherheit die Zeit vorausbeſtimmen, in welcher er von 
einem Hafen, ja von einem Welttheil zum andren ſeinen 
Weg zurücklegen wird. f 

Wo wir hinblicken, da iſt es in unſeren Tagen der 
Dampf, welcher im Dienſte des Menſchen Arbeiten verrichtet, 
zu denen ſonſt das Vermögen von vielen Armen, die Kraft 
vieler Roſſe nicht hinreichte. Fragen wir wer für den Berg— 
mann das Waſſer und die Bergarten aus der Tiefe herauf⸗ 
zieht oder wer die Räder der Spinner in Bewegung ſetze, 
ſo erfahren wir: es iſt der Dampf; dieſer hilft dem Menſchen 
bauen und zerſtören, heben und tragen, Dampf, auch in leib- 
licher Form, iſt es, was unſre Buchdruckerpreſſen in Bewer 
gung ſetzt. a 

Wie ungeheuer groß die in den irdiſchen Köpern ruhen⸗ 
de Federkraft ſey, wenn ſie, den Banden des Gegendruckes, 
der ſie im Zaum hält entlaſſen, auf einmal frei wird, wenn 
ſie, bei dieſem Freiwerden irgend einem feſten oder tropfbar 
flußigen Stoffe die Luftform wieder giebt, zu der feine Na⸗ 
tur ihn eignet, das hatte ſchon früher die Wirkung des 
Schießpulvers gelehrt. Der Salpeter iſt, wie wir oben ſahen, 
eine Verbindung des Pflanzenkalis mit Salpeterſäure, dieſe 
aber ihrerſeits beſtehet aus einer Verbindung der beiden 
Hauptluftarten der Atmoſphäre: des Stickſtoff- und Sauer⸗ 
ſtoffgaſes, welche durch gegenſeitigen Zuſammenhalt ihrer 


287 


urſprünglichen Luftform ſich entrückt und zum tropfbar flüßi⸗ 
gen Zuſtand ſich herabgeſenkt haben. Der Salpeter bildet, 
dem Gewicht nach, den Hauptbeſtandtheil der Maſſe des 
Schießpulvers, denn um eine Menge von 100 Pfund von 
dieſem zu bereiten muß man 76 Pfund Salpeter mit 15 Pfund 
Kohle und mit 9 Pfund Schwefel verbinden. Zieht man jedoch, 
ſtatt des Gewichtes, jenen Raumumfang in Betracht, welz 
chen die beiden atmoſphäriſchen Gasarten vor ihrer Verſen— 
kung in der tropfbar flüßigen Form einnahmen, dann wird 
man an das morgenländiſche Mährchen von jenem Rieſen 
erinnert, der durch eine höhere Zaubermacht in ein kleines 
Gefäß verſchloſſen war und den ein Fiſcher, welcher das Gefäß 
aus der Tiefe zog, zu ſeiner eigenen, höchſten Gefahr aus 
dem kleinen, engen Gefängniß in Freiheit ſetzte. Die Kunſt 
des Menſchen hat es bei der Bereitung und Anwendung des 
Schießpulvers mit einer ſolchen, in den kleinen Raum der 
Pulverkörnchen gebundenen Rieſenkraft zu thun, welche nur 
zu oft, da wo er es nicht erwartete, ihre Verderben bringende 
Macht gegen ihn erhoben hat. Denn wenn das Schießpulver 
etwa durch einen Funken entzündet wird, da verbinden ſich 
die Kohle und der Schwefel nicht ſo, wie in der gewöhnli— 
chen freien Luft mit dem Sauerſtoffgas der Atmoſphäre, 
ſondern mit jenem, das in Verbindung mit dem Stickſtoff die 
Salpeterſäure des Salpeters bildete, denn dieſer in feiner 
gebundenen, gröberkörperlichen Form ſtehet der Form der Kohle 
und des Schwefels ungleich näher als der luftformige Sauer— 
ſtoff der Atmoſphäre, wird deshalb auch, wie aller in den Säu— 
ren tropfbar flüßig gewordene Sauerſtoff mit ungleich ſtärkrer 
Macht angezogen als dies beim Verbrennen in der Luft ge— 
ſchieht. Das Entflammen des Pulvers tritt deshalb mit 
augenblicklicher Schnelle ein; es bilden ſich Schwefelſäure und 
Kohlenſäure, die erſte bleibt in Verbindung mit dem Kali 
des Salpeters, ein Theil der Kohlenſäure aber nimmt mit 
dem Stickſtoff zugleich die Luftform an und dieſe beiden 
Gasarten, deren gewöhnlicher, mittlerer Rauminhalt durch 
die Glühehitze des Verbrennens der Kohle und des Schwefels 
noch vermehrt iſt, dehnen ſich jetzt, in einem Nu zu einem 
Umfange aus, welcher viel tauſendfältig größer iſt als der, 
welchen ſie in ihrer Gebundenheit zur feſten Form einnahmen. 
Was den Antheil der einzelnen Gemengtheile des Schießpul— 
vers an der gewaltigen Wirkſamkeit deſſelben betrifft, ſo dient 


Dee u Lac x e ” 
7 


288 


der Schwefel blos dazu die Maſſe leichter entzündlich zu 
machen, während die Kohle, durch ihre theilweiſe Formwand⸗ 
lung in kohlenſaures Gas weſentlich zur Verſtärkung der 
Exploſion beiträgt. Eine Miſchung die blos aus Kohle und 
Salpeter beſtünde, würde ein Schießpulver von noch größrer 
Wirkſamkeit geben, was aber dabei nicht ſo leicht und ſicher 
zu entzünden wäre. So iſt es mithin zunächſt nur die Ver⸗ 
wandlung der feſten und tropfbar flüßigen Form einiger Ge⸗ 
mengtheile und ihre gewaltige Ausdehnung durch die Wärme, 
was die Exploſion bewirkt. ut 
Wie viel der Menſch dieſem durch feine Kunſt hervor⸗ 
gerufenen Bundesgenoſſen in Krieg und Frieden verdanke, 
daran brauchen wir kaum zu erinnern. Die Furcht und der 
Schrecken, welche ihn nach dem jetzigen Lauf der Natur zu 
einem Herrſcher der Thierwelt machen, haben ſich, ſeit der 
Einführung des Gebrauches der Schießgewehre in vielfachem 
Maaße vermehrt, denn die Kugel einer Flinte durchmiſſet 
in ihrer vollen Kraft den Raum zehnmal ſchneller als der 
Flug des Adlers, dreiſigmal ſchneller als ein in der Renn⸗ 
bahn laufendes Pferd, ja die Schnelligkeit einer Kanonen— 
kugel iſt in der erſten Secunde nach ihrem Abfeuern noch 
mehr denn anderthalbmal größer als die der Kugel einer 
guten Flinte oder Büchſe (jene beträgt nahe 2300 dieſe nahe 
an 1400 Fuß). Und mit der Schnelligkeit, welche das Pul⸗ 
ver dem Wurfgeſchoß unſrer Flinten oder Kanonen giebt, 
ſtehet die ungeheure Kraft in Verbindung, mit welcher der 
abgeſchoſſene Stein oder die metallne Kugel auf die Körper 
einwirken, die von ihnen getroffen werden. Wenn ſchon der 
Bachkieſel, deſſen ruhende Laſt auf der Handfläche kaum ge— 
fühlt wird, als jener Hirtenknabe ihn aus ſeiner Schleuder 
warf, eine ſolche Macht hatte, daß er den Rieſen, deſſen Stirn 
er getroffen, ſinnlos zu Boden ſtreckte, wie viel höher muß 
dieſe Macht ſich ſteigern wenn das entzündete Pulver den 
Stein in Bewegung ſetzt. Denn der Menſchenarm kann aller⸗ 
dings einem Stein, den er mit angeſtrengter Kraft aus der 
Hand wirft, eine Geſchwindigkeit mittheilen, welche der des 
Sturmwindes gleich kommt (50 Fuß in einer Secunde durch- 
miſſet), und die Bewegung der Schleuder mag dieſe Geſchwin— 
digkeit noch um das Doppelte vermehren; die Schnelligkeit 
aber, mit der die Kugel aus der Flinte unſrer Krieger fährt 
iſt zehn, ja vierzehnfach größer und ſie allein iſt es die ſelbſt 
eine 


289 


einem Talglicht, das man in den Lauf einer Büchſe lud 
und dann abſchoß die Kraft giebt ein ſtarkes Brett oder meh⸗ 
rere hinter einander geſtellte, aus Rinderhaut gefertigte Schil- 
de zu durchbohren. Gerade fo wie in der Welt des Geifti- 
gen der ſchnelle, kräftige Entſchluß und die Macht der Be⸗ 
geiſterung eines Einzelnen Ungewöhnliches und Auſſerordentli⸗ 
ches bewirkt, wenn ſie mit ihrer Gewalt die träge, ruhende 
Menge des Volkes erfaßt und in Bewegung ſetzt. 

Immerhin aber, obgleich der Feuerrieſe der im Pulver 
ſchläft, wenn er durch die Wärme geweckt wird, gar Vieles 
für den Menſchen durch Zerſprengen der Felſenmaſſen und 
als kriegeriſche Macht arbeiten und wirken muß, bleibt uns 
derſelbe ein gefährlicher Verbündeter. Kann uns doch das 
eigne Gewehr ſchon dann in Lebensgefahr bringen, wenn wir 
aus Unvorſichtigkeit beim Laden deſſelben zwiſchen dem Pul- 
ver und Pfropf einen kleinen, leeren Raum ließen, weil dann 
nicht nur alles Pulver mit ungemeiner Heftigkeit verbrennt, 
ſondern auch die im leeren Raum enthaltene Luft durch die 
Feuergluth eine ungeheure Ausdehnung gewinnt, ſo daß der 
Lauf der Flinte zerſpringt und ſeine Stücken als Geſchoſſe 
umher fliegen. Und welche Verheerungen hat oft ein einziger 
Pulverwagen in der Mitte der Städte angerichtet, wenn 
durch Reibung die Axe eines Wagenrades in Gluth gerathen 
und das Schießpulver dadurch entflammt worden war; wie 
oft hat die entzundete Pulverkammer eines Schiffes den Un⸗ 
tergang einer ganzen Flotte, oder, wie in Leiden, die Zer— 
ſtörung eines ganzen Stadttheiles bewirkt! 

Der Salpeter iſt, vornämlich in wärmern Ländern, in 
ſo großer Menge verbreitet, ſein Gebrauch ſeit uralter Zeit 
ſo vielfältig, die Gelegenheiten bei welchen er mit Kohle in 
Berührung und Vermiſchung trat, konnten ſo oft ſich ergeben, 
daß die Beobachtung ſeiner ſchleunigen Zerſetzung bei dem 
Entzünden der mit ihm vermiſchten Kohle ſchon den älteren 
Völkern ſehr nahe lag. Immerhin kann man es deshalb 
den Forſchern der Geſchichte der aſiatiſchen Völker zugeben, 
daß die Chineſen die Zuſammenſetzung und die Wirkung des 
Schießpulvers lange vor den Europäern kannten und daß 
dieſe Kenntniß von China aus auch an andre Völker des 
Morgenlandes übergegangen ſey. Auch mag gar mancher 
Scheidekünſtler und Feuerarbeiter des Mittelalters, in dem 
und jenem Lande, wie der Grieche Marcus im 9ten Jahr⸗ 

19 


290 


hundert, der Engländer Roger Baco und der deutſche Albert 
der Große, ſo wie ſein Landsmann, der vielgenannte Ber⸗ 
thold Schwarz im 13ten Jahrhundert auf die Entdeckung der 
feuerfangenden Materie gerathen ſeyn, die mit der Gewalt 
und dem lauten Krachen des Donners losbrennt, und nach 
Roger Bacos Behauptung die Macht haben ſollte Städte zu 
zertrümmern und Kriegsheere zu vertilgen. Die Bergleute 
im Rammelsberge bei Goßlar bedienten ſich ſchon im 12ten 
Jahrhundert des Schießpulvers zum Sprengen der Geſteine, 


und durch ſolche ſachverſtändige Männer und zweckdienliche 


Mittel fol Pfalzgraf Heinrich, der Sohn Heinrichs des W- 
wen, im Jahr 1200 die Mauern eines feſten Schloſſes bei 
Tyrus, im Kriege der Kreuzfahrer, geſprengt haben. Die 
Völker hatten ſeit Jahrhunderten die plötzlich entbundene Fe⸗ 
derkraft, die im Pulvergemenge lag, zu ihrem Freund und zu 
ihrem Feind gehabt, ohne dieſelbe ſo in ihre Gewalt zu be⸗ 
kommen, daß ſie dieſelbe zu einem ſtätig fortwirkenden Ge⸗ 
hülfen bei ihrem Tagsgeſchäft benutzen konnten. Dieſe frem⸗ 
de Macht glich einem Löwen, den man unter das Heer der 
Feinde hineintreibt und der hier allerdings Schrecken verbrei⸗ 


ten kann, der aber bald nachher ſeine ungezähmte Wuth an 


den eigenen Verbündeten ausläßt, während ein gezähmter 


Hund, auf den Ruf ſeines Herrn merkend, jetzt zum Angriff 


des Feindes oder des Wildprets ſich aufmacht, dann, wenn 
der Herr ihn gebietet, wieder zur Ruhe ſich bequemt. 

Ein andrer Körper, welcher nicht erſt durch die Kunſt 
muß zuſammengeſetzt werden, ſondern welcher allenthalben in 
größeſter Menge ohne Mühe und Arbeit zu haben iſt, zeigte 
ſich ungleich mehr geeignet mit der Spannkraft ſeines Dam⸗ 
pfes in den Hausdienſt des Menſchen zu treten: dies iſt das 
Waſſer. Wir haben ſchon viel von dieſem mütterlich näh⸗ 
renden Element, ſo wie von den Grundſtoffen geſprochen, in 
welche es ſich zerlegen und aus denen es ſich zuſammenſetzen 


läſſet, dennoch wird es gut ſeyn, wenn wir hier noch einige 


merkwürdige Eigenſchaften deſſelben ins Auge faſſen, durch 
welche dieſe Urflüſſigkeit von den meiſten andren Körpern der 
Erde ſich unterſcheidet. 

Wir kennen das Waſſer in drei verſchiedenen Formen: 
in der feſten des Eiſes oder Schnees, in der gemeinen, tropf⸗ 


bar flüſſigen und in der des Dampfes oder Gaſes. Wenn 
daſſelbe aus der gewöhnlichen, unſrem Auge ſichtbaren, unſ⸗ 


f * 


291 


rer Zunge ſchmeckbaren, unſren Händen ſo wie allen Theilen 
des Körpers fühlbaren Form in die des gasartigen Dampfes 
übergeht, dann entzieht es ſich, wie eine aus dem erſtorbe⸗ 
nen Leibe abgeſchiedene Seele der Wahrnehmung unſrer Sinne. 
Das vollkommen gasartige Waſſer iſt unſrem Auge nicht 
mehr ſichtbar, dem Gefühl unſrer Haut nicht mehr bemerk⸗ 
bar, fein Daſeyn wird ferner durch keinen unſrer Feuchtig⸗ 
keitsmeſſer angezeigt, es iſt wie aus dem Verkehr der grob⸗ 
ſinnlichen irdiſchen Körperwelt ausgetreten und kehrt erſt dann 
zu dieſem Verkehr zurück, wenn es als feuchter Dunſt wie⸗ 
der der tropfbaren Geſtalt ſich nahet. | 
Der flüffige Zuftand des Waſſers wird eben fo wie der 
des Queckſilbers durch einen gewiſſen Grad der Wärme er- 
halten, wenn dieſe fehlt gehen beide Flüſſigkeiten in feſten 
Zuſtand über. Zum Schmelzen des Queckſilbers reicht ſchon 
eine Wärme hin, die ſich unſrem Gefühle als faſt unerträg- 
liche Kälte darſtellt und bei welcher Land und Gewäſſer von 
Schnee und Eis ſtarren. Zum Schmelzen des feſten Wafs 
ſers bedarf es ſchon einer Wärme, welche um 31 Grad höher 
iſt als die Schmelzwärme des Queckſilbers, zum Schmelzen 
des Schwefels muß dieſelbe auf das Vierfache zum Flüſ⸗ 
ſigwerden der meiſten Metalle auf das viel Hundert- ja Tau⸗ 
ſendfache geſteigert werden. Dieſe eben genannten Körper 
nehmen, wenn ſie in den flüſſigen Zuſtand übergehen, in 
großer Allgemeinheit einen größern Raum ein als im feſten, 
ziehen ſich dagegen beim Erſtarren mehr oder minder merk— 
lich zuſammen. Hierbei werden ſie zugleich dichter und mit- 
hin ſchwerer: das feſte Metall ſinkt in dem geſchmolznen zu 
Boden, weil dieſes leichter iſt denn jenes. 
Ganz anders verhält ſich in dieſer Beziehung das Waſ— 
ſer. Dieſes nimmt im ſtarren Zuſtand einen größeren Raum 
ein als im flüſſigen; es kann beim Gefrieren durch ſeine 
Ausdehnung, wie dies im Winter von 1709 geſchahe, Fel⸗ 
ſen zerſprengen und Bäume zerſpalten. Zugleich wird es 
auch leichter; das Eis fällt nicht durch ſein größeres Gewicht 
in dem flüſſig gebliebenen Waſſer zu Boden, ſondern bildet 
ſich über ſeine Oberfläche hin als leichtere Decke, welche erſt durch 
einen Zuwachs von unten her allmälig dicker wird. Seine 
größte Dichtigkeit und Schwere hat das merkwürdige Element 
wenn es bis zu 4 Grad unter dem Gefrierpunkt erkältet iſt; 
ſo bald es feſt zu werden anfängt, entwickelt ſich fo viel Wär⸗ 
19 


292 


me aus demfelben, daß die Temperatur der Umgebung wie- 
der auf den Nullpunkt hinanſteigt. 

Sehr bedeutend ſind die Folgen dieſer Eigenſchaft, wel⸗ 
che eine ewige Weisheit in das Urelement des Waſſers ge⸗ 
legt hat. Würde dieſes beim Erſtarren ſo wie die meiſten 
andren ſchmelzbaren Körper dichter und ſchwerer und das 
Eis ſänke deshalb, ſo wie es auf dem Waſſer entſtünde, auf 
den Grund unſrer Seen hinab, dann würden dieſe von unten 
herauf ausgefrieren und ſelbſt in den milderen Ebenen unſres 
Vaterlandes zu einer gletſcherartigen Eismaſſe anwachſen, 
welche zuletzt das ganze Becken des Sees ausfüllte. Wenn 
dann die wärmere Jahreszeit wiederkehrte, da würde die Eis⸗ 
maſſe bei ihrer ungemeinen Dicke nur von der Oberfläche 
hinein, mehr oder minder tief, ſchwerlich aber bis an den 
Grund hinab aufthauen, weil die wärmende Kraft der Son— 
nenſtrahlen, hindurchgehend durch die hohe Säule des Waſ— 
ſers je tiefer hinab, deſto mehr ſich ſchwächen müßte. Könnte 
aber auch ein minder tiefer See durch die Sonnenwärme bis zu 
ſeinem Boden hinab aufthauen, ſo würde er dennoch einen 
großen Theil ſeiner Reize für uns verloren haben, denn bald 
würde weder Fiſch noch Froſch in ihm zu ſehen ſeyn; ſie alle 
hätte der Froſt beim Eingefrieren in das Eis getödtet. So 
aber ſinket zuerſt die oberſte Schicht des Waſſers, wenn ſie 
durch die Winterluft bis zu 4 Grad unter dem Eispunkt er⸗ 
kaltet iſt, als die ſchwerere, hinab zum Boden, ihr folgt eine 
zweite und fo die andren bis ſich allen die ohngefähr gleiche 
Kälte mitgetheilt hat und nun die Bildung der Eisdecke be 
ginnen kann, welche gegen die kalte Luft einen wohlthätigen 
Schutz von oben gewaͤhrt, während unten von der Tiefe her 
die mittlere Temperatur des Bodens, welche unter unſrem 
Himmelsſtrich gewöhnlich um 8 bis 12 Grad über dem Ges 
frierpunkt iſt, dem Waſſer fortwährend jene Wärme mittheilt, 
welche den thieriſchen Bewohnern des Gewäſſers zur Erhal— 
tung ihres Lebens nothwendig iſt. 

Dort im Weltmeere, wo die Tiefe des Gewäſſers eine 
vielfach höhere iſt als in unſren Landſeen, kommt der Erhal⸗ 
tung und lebenskräftigen Bewegung jener thieriſchen Bewoh— 
ner noch eine andre Eigenſchaft des Waſſers zu ſtatten, jene 
nämlich, daß ſeine Federkraft während ſeines gewöhnlichen, 
tropfbar flüſſigen Zuſtandes ganz überaus gering iſt. Die 
Federkraft der atmoſphäriſchen Luft iſt die Urſache der ſehr 


295 


merklich zunehmenden Dichtigkeit der einzelnen Luftſchichten, 
von oben nach unten. Könnten wir ein Schacht graben, wel— 
ches 7 Meilen tief unter die Oberfläche der Erde hinabreichte, dann 
würde die dort befindliche Luft durch den Druck der mächti— 
gen auf ihr ruhenden Luftſäule ſchon eine Dichtigkeit haben, 
welche der des Waſſers; in 11 Meilen Tiefe, ſo hat man 
berechnet, eine ſolche die der Dichtigkeit der Platina gleich 
käme. Hätte das Waſſer eine ſolche Federkraft wie die Luft, 
dann würde in der mittleren Tiefe unfrer Meere feine Dich— 
tigkeit ſo groß ſeyn, daß kaum noch ein Stein darinnen zu 
Boden ſinken könnte, ſondern nur wie ein Hanfkorn im dünn⸗ 
flüſſigen Honig darin ſchweben bleiben würde; Fiſche, ſelbſt 
die ſtärkſten, würden ſich ſchwieriger noch als eine Waſſerratte 
durch zähen Schlamm und in gewiſſer Tiefe gar nicht mehr 
durch die gleich Mauern ſtehende Fluth hindurcharbeiten kön— 
nen; während dagegen das Waſſer, vermöge ſeiner geringen 
Federkraft in der Tiefe faſt noch eben ſo leicht durchdringbar 
iſt für die Kraſt der thieriſchen Bewegung als in der Nähe der 
Oberfläche, zu gleicher Zeit aber allerdings auf todte Körper, in 
denen die Kraft des Lebens dem mechaniſchen Gewicht keinen 
Widerſtand entgegenſetzt, durch die Schwere ſeiner Säule 
einen vielfachen Einfluß übt. 

Die Eigenſchaften, die ſich am Waſſer in ſeiner dritten 
Verwandlung zur gasartigen Form kund geben, wenn daſſelbe 
gleich einer aus dem Leibe geſchiedenen Seele dem Verkehr 
mit unſren Sinnen und mit der gröberen irdiſchen Körper— 
welt enthoben wird, ſind für uns hier, bei der Betrachtung 
der Kraft der Wärme, die wichtigſten. Wenn die Salpeter- 
ſäure bei manchen ihrer chemiſchen Verbindungen eine lang⸗ 
ſame, allmälige Zerſetzung erleidet, wobei der Stickſtoff aus 
ſeiner Gebundenheit frei wird, dann zeigt ſich keine Spur 
einer ſolchen Exploſion, durch welche das Schießpulver ſeine 
zerſchmetternde Gewalt empfängt. Auch der gasartige Dampf, 
der beim Verdünſten des Waſſers allmälig ſich entbindet, 
wirkt auf feine Umgebung kaum merklich verändernd ein. Wie 
aber der Stein, der fo lange er ruhend auf unfrer Hand 
lag, von dieſer kaum mehr gefühlt wurde, wenn man ihn 
aus einem Geſchütz abfeuert eine Kraft empfängt, durch wel— 
che er nicht nur die Hand, ſondern den ganzen Arm eines 
Menſchen zerſchmettern und hinwegreißen kann, ſo wird dem 
Waſſerdampf durch die Schnelligkeit ſeiner Entbindung in 


294 


der Hitze des Siedens eine Macht mitgetheilt, welche ähnlich 
der Macht des entzündeten Schießpulvers, ſchwere Laſten 
emporhebt und die Wände des Gefäßes, die ſeine Entwick⸗ 
lung hemmen wollen, zerſprengt. Aber die rieſenhafte Fe⸗ 
derkraft, die bei ſolcher Gelegenheit an dem ſchleunig ausbre⸗ 
chenden Waſſerdampf ſich kund giebt, läßt alsbald durch den 
Willen des Menſchen ſich bändigen; eine verhältnißmäßig ge⸗ 
ringe, plötzliche Abkühlung bewirkt ein Zurückſinken des luft⸗ 
artigen Stoffes in die Form des tropfbar flüſſigen Waſſers. 
Der aufſteigende Dampf eines Waſchkeſſels oder ſiedenden 
Topfes wird vor unſren Augen, wenn er in die kalte Win⸗ 
terluft aufſteigt, wieder zum ſichtbaren, wäſſrigen Nebel oder 
zu einem in Tropfen zuſammenrinnenden Waſſer. Wenn 
deshalb in ein Gefäß, das von ſpannkräftigem Waſſerdampf 
erfüllt war, nur eine kleine Menge kalten Waſſers hineinge⸗ 
ſpritzt wird, dann giebt der Dampf ſogleich ſeine Spannkraft 
auf und ſchmiegt ſich nachgiebig wieder in die harmloſe Form 
des Ruhezuſtandes, aus dem er hervorgieng. Schon durch 
dieſes einfache Mittel kann der Menſch den Waſſerdampf, 
bei einiger Vorſicht, gleich einem mächtig ſtarken, durch die 
Kunſt gezähmten Elephanten lenken und leiten und zu ſei⸗ 
nem Dienſt benutzen. 1 

Das Waſſer welches durch die Siedehitze in Dampf ver— 
wandelt wird, dehnt ſich hierbei gegen den frühern Raumin— 
halt ſeiner tropfbaren Form, bei mittlerer Temperatur, zu 
einem gegen 1700 fachen Umfang aus und dieſe Ausdehnung, 
mit der Spannkraft zugleich, wächſt in einem verſchloſſenen 
Gefäß durch den Einfluß einer höher geſteigerten Wärme. 
Die Spannkraft des Waſſers, wenn dieſes plötzlich durch die 
Hitze zur Dampfform ſich erhebt, übertrifft ſelbſt die des ab— 
brennenden Schießpulvers, denn durch den Dampf der aus 
einem Pfund Waſſer erhalten wird, kann man ein Gewicht 
von 550 Pfund, durch die Entzündung von einem Pfund 
Pulver nur eine Laſt von kaum 229 Pfund Gewicht fortbe— 
wegen. Wie der zahme Elephant in heftig gereiztem, zornz 
müthigem Zuſtand des ohnmächtigen Widerſtandes der Men— 
ſchen nicht achtet, ſondern ihre Hütten darniederreiſt, und 
mit vernichtender Stärke in ihre Haufen hineinbricht, ſo hat 
auch ſchon öfter der Waſſerdampf, wenn man ihn nicht in 
wachſamer Obhut hielt, Gebäude und Schiffe der Menſchen 
zertrümmert und ganze Geſellſchaften derſelben vernichtet. 


295 


Der Unterſchied der Bewegungen, welche durch eine ſelbſt⸗ 
ſtändig inwohnende Kraft des Lebens bewirkt werden, von 
ſolchen die eine bloße mechaniſche Gewalt hervorruft, beruhet 
vor Allem darauf, daß die letzteren alsbald nachlaſſen, wenn 
die mechaniſche Urſache zu wirken aufhört durch die ſie erzeugt 
wurden, während die erſteren ſich dadurch immer wieder er- 
neuen, daß abwechſelnd mit dem Zuſtand der Fülle an dem 
einen Punkte, der Zuſtand des Mangels an dem andren, 
polariſch entgegengeſetzten, hervortritt und umgekehrt, mit der 
Sättigung des letzteren das Bedürfniß des erſteren wieder 
erwacht. Die beiden Eimer am Brunnen des Lebens, die 
rechte und linke Herzkammer fo wie jede dieſer einzelnen Kam⸗ 
mern und ihre Vorkammern ſtehen in einem ſolchen regelmä⸗ 
ßig abwechslenden Verhältniß ihrer Bewegungen, daß, wenn 
die Kammer durch Zuſammenziehung ihrer Wände ſich ent— 
leert, die Vorkammer ſich aufthut und wenn die linke Kam— 
mer das Blut das ſie durch ihre Vorkammer aus den Lun⸗ 
gen empfieng, hinaustreibt, durch die Pulsadern, in alle 
Theile des Leibes, da thut zu gleicher Zeit die rechte Kam- 
mer ſich auf für den Empfang des Blutes das ihr durch 
ihre Vorkammer aus den Blutadern zuſtrömt. Während die 
eine dieſer Höhlungen ſich von der Fülle ihres flüſſigen In⸗ 
haltes entleert, nimmt die andre fie auf; abwechslend verz 
wandelt ſich jetzt hier, dann dort die Anziehung in ein Abe 
ſtoßen und umgekehrt. | | 

Dieſer von felber fich erneuernde Wechſel zwiſchen Ans 
ziehen und Abſtoßen, Aufnehmen und Ausgeben fällt uns, 
im Vergleich mit den unbeſeelten, unorganiſchen Körpern an 
den beſeelten Weſen alsbald ins Auge. Das Thier athmet 
nicht nur ein, ſondern es athmet auch aus; die Kohle, ſo 
kann man ſagen, athmet auch, indem ſie verbrennt, das 
Sauerſtoffgas ein und wird zur Kohlenſäure, aber ſie kann 
das aufgenommene Gas nicht durch eigne Kraft wieder aus- 
ſtoßen, kann, wenn fie etwa vor ihrem Verbrennen ein Des 
mant war, nicht wieder zum Demant ſich geſtalten und ſo 
abwechslend bald einmal Kohlenſäure, dann wieder Demant 
werden. Wenn die ätzende, aus dem Kalkmetall (nach S. 
146) entſtandene Kalkerde ſich mit der Kohlenſäure geſättigt 
hat und nun zum feſten Kalkſtein oder Marmor geworden 
iſt, dann kann ſie dieſe aufgenommene Nahrung nicht wieder 
aus eigener Kraft ausſondern, fonft würde es um das Felt: 


296 


ſtehen unſerer Gebirge und das beſtändige Verbleiben ihrer 
Geſtalten und Umriſſe ſehr zweifelhaft und bedenklich ausſe⸗ 
hen, ſondern nur eine äuſſere Macht, wie das Hinzutreten 
einer ſtärkeren Säure, oder ein hoher Grad von Hitze, wel- 
cher die Expanſivkraft der Kohlenſäure ſo hoch ſteigert, daß 
dieſelbe die Luftform anzunehmen vermag, kann die feſte Ver⸗ 
bindung aufheben und die Kalkerde ihres, vielleicht ſchon vor 
ee Jahrtauſenden aufgenommenen Sättigungsmittels be⸗ 
rauben. N 


Bleiben wir bei dem zuletzt erwähnten Verfahren ſtehen 
das ſeit uralter Zeit beim Brennen des Kalkes zur Bereitung 
des Mörtels angewendet wird. Das Uebergewicht, welches 
die ausdehnende Federkraft in der Kohlenſäure über den Zug 
des Zuſammenhaltes mit dem erdartigen Stoffe gewinnt, iſt 
der Grund ihres Austretens, die Urſache jenes Wechſels, 
durch welchen auf einmal die Anziehung in Abſtoßung über⸗ 
gehet. Faſſen wir die Vorgänge der Lebensthätigkeit im Inn⸗ 
ren eines beſeelten, lebenden Körpers etwas näher ins Auge, 
dann wird es uns klar, daß die Aufeinanderfolge dieſer Vor⸗ 
gänge blos auf einer jetzt zunehmenden, dann wieder abneh— 
menden Steigerung der Spannkraft der organiſchen Gebilde 
beruhe, auf einem Wechſel des Freiwerdens und der Gebun— 
denheit der eigenthümlichen Wirkſamkeit, auf dem Wechſel 


eines gleichſam Druckes von außen und eines Gegendruckes 


von innen. Die auf der Oberfläche unſres Leibes ruhende 
Atmoſphäre iſt für unſren Geſammtleib ein Aeußeres und 
der Ausgangspunkt eines auf dieſen wirkenden, ſeine Form 
begränzenden Druckes. Für die Nerven ſind alle andren 


Theile des Leibes ein Aeußeres, für die Seele iſt ſelbſt das 


Gehirn und das Syſtem der Nerven ein ſolch Aeußeres. 
Während bei dem Vorgang der Verdauung, der Blutberei— 
tung, der Bildung der Theile die Lebenskraft der Vereinis 
gung mit einer ihr gegenüberſtehenden, äußeren Leiblichkeit 
hingegeben iſt, erſcheint ſie gebunden und von dem Gegenge— 
wicht des äußren Stoffes beherrſcht, wenn ihr dagegen ſtatt 
der Sättigung das Bedürfniß, ſtatt der Ruhe das Streben 
wiederkehrt, wenn ſie von dem ſchon gewordenen Alten zu 
einem Werden des Neuen ſich hinwendet, dann iſt ſie wieder 


ur freien Wirkſamkeit erwacht. Der Kohlenſäure im Kalk⸗ 


ein geben wir durch die Wärme unſrer Kalköfen die Spann⸗ 


* 


1 


Pr 


5 


297 


kraft wieder; was hier die Wärme thut, das wirkt im leben⸗ 
den Leibe die Seele. 

Die Einrichtung und Wirkung unſrer Dampfmaſchinen 
ahmt in abbildlicher Weiſe die Vorgänge des Lebens, den 
fortwährenden Wechſel zwiſchen Druck und Gegendruck, zwi— 
ſchen einem freien Aufſtreben und Gebundenwerden der Spann⸗ 
kraft nach. Bei einer Dampfmaſchine von jener Einrichtung, 
welche früher in ausſchließendem Gebrauch war, tritt der 
Waſſerdampf, der ſich aus dem ſiedenden Waſſer des Keſſels 
entwickelt, in einen metallenen Cylinder hinein, hebt dort 
durch die Gewalt ſeiner Ausdehnung den gleich einem wohl— 
ſchließenden Stöpſel eingefügten Kolben empor, bis dieſer an 
einem gewiſſen Punkt ſeines Emporſteigens eine künſtliche 
Vorrichtung in Bewegung ſetzt, durch welche die Mündung 
jener Röhre, aus welcher der Dampf eindrang, verſchloſſen 
und zugleich der verſchloßne Hahn einer Röhre geöffnet wird, 
durch die ſich ein Strahl kalten Waſſers in den Cylinder er- 
gießt. Mit der Abkühlung zugleich kehrt der Dampf in die 
tropfbar flüſſige Form des Waſſers zurück und es entſtehet ein 
leerer Raum, in welchen der Druck der Atmoſphäre den Kol— 
ben alsbald wieder hinabſtößt, bis dieſer bei ſeinem Hinab— 
ſinken abermals dem zudringenden Dampf den Eingang in 
den Cylinder eröffnet und von neuem durch die Gewalt der 
Spannkraft emporgehoben wird. So wirken abwechslend der 
Druck der Atmoſphäre und der Gegendruck des Dampfes, und 
bei dem Auf- und Niederſteigen des Kolbens wird durch die 
Stange, die in dieſem befeſtigt iſt, jenes mannigfache Ge— 
triebe in Bewegung geſetzt und darin erhalten, welches dazu 
dient, die gewaltigſten Laſten emporzuheben oder die Schau— 
felräder der Dampfſchiffe und die Räder der Dampfwägen 


in einen fortwährenden Gang zu bringen. 


Eine ſpätere, mit vieler Umſicht getroffene, ſehr nutzbare 
Einrichtung der Dampfmaſchinen läßt den Druck der Atmo— 
ſphäre ganz auſſer Spiel, indem ſie das Aufſteigen wie das 
Niederſinken des Kolben, in dem nach oben geſchloſſnen Cy— 
linder, blos durch die Spannkraft der Waſſerdämpfe bewirkt, 
denen ſie abwechslend den Zutritt bald in den oberen, bald 
in den unteren Theil des Cylinders eröffnet und zugleich den 
Dampf aus jener Abtheilung des Cylinders, worinnen jetzt 
ſeine Spannkraft ihre Dienſte gethan hat, hinausläſſet in 
einen weiten Kanal (den ſogenannten Condenſator), der von 


298 


kaltem Waſſer umgeben ift, deſſen niedere Temperatur dem 
Dampf alsdald ſeine Luftgeſtalt nimmt und ihn wieder zum 
Waſſer werden läſſet. Bei dieſem Entlaſſen des Dampfes 
in den kühlen Raum wird dem Cylinder jetzt hier, dann dort 
jener leere Raum wieder gegeben, ohne deſſen Vorhandenſeyn 
das Auf- und Niederbewegen des Kolbens nicht möglich ſeyn 
würde. Bei dieſer Einrichtung, nach welcher der Druck wie 
der Gegendruck beide nur ein Werk des Dampfes ſind, kann, 
zur Bewegung der Maſchinen bald eine Spannkraft der Däm⸗ 
pfe, welche geringer iſt als die Macht des atmoſphäriſchen 
Druckes, bald eine ſolche angewendet werden, welche durch 
den höheren Grad der Hitze geſteigert, den äußren Luftdruck 
vielfach überſteiget. Dieſe erhöhte Spannkraft (der Hoch⸗ 
en wird namentlich zum Fortbewegen der Dampfwägen 
enutzt. 

In unſren Tagen und in unſren Länderſtrichen, darinnen 
kaum eine Gegend gefunden wird, in welcher nicht in der 
Entfernung weniger Stunden eine Dampfmaſchine zum Ge⸗ 
brauch der verſchiedenen Gewerbe oder an den Locomotiven 
der Dampfwägen, theils feſt an einem Ort verbleibend, theils 
als ein von Zeit zu Zeit ankommender und wieder abgehen⸗ 
der Gaſt geſehen werden kann, wäre es wohl ein eben ſo 
überflüſſiges Bemühen den ganzen Bau einer Dampfmaſchine 
und die Zuſammenwirkung ihrer einzelnen Theile zu beſchrei⸗ 
ben, als den Bau und die Einrichtung einer Waſſermühle. 
Jeder von uns weiß es aus eigner Anſchauung, wie das 
Waſſer, das im Dampfkeſſel iſt, nicht zunächſt durch die an 
den Boden deſſelben anſchlagende Gluth der Kohlen, ſondern 
durch die metallenen Röhren, im Innren des Keſſels erhitzt 
werde, durch welche die glühend heiße Luft des Herdes hin— 
durchſtreicht, und wobei dem Waſſer eine viel größere Ausdeh⸗ 
nung der Hitzflächen dargeboten wird. Jeder von uns hat das 
ſchnaubende Aus- und Einathmen der Luft und des Kohlen⸗ 
dampfes vernommen und geſehen, das die vorüber eilende 
Locomotive eines Dampfwagens oder die Dampfſchiffe in den 
Augen ungebildeter Völker oder der Kinder gleich einem ath⸗ 
menden Weſen, gleich einem wilden, lebenden Thiere erſchei⸗ 
nen ließ und die Viehherden, in deren Nähe der Zug vor⸗ 
übergieng, ehe ſie daran gewohnt waren, zu eiliger Flucht 
bewegte. | 
Um die Erfindung und Vervollkommnung der Dampf 


2 


299 


mafchinen fo wie um die Anleitung zu ihrer mannichfachen 
Benutzung haben ſich vor allen Andren die Meiſter in den 
mechaniſchen Erfindungen und Künſten, die Engländer, ver- 
dient gemacht. Hin und wieder mochte bei Betrachtung jener 
metallenen, mit Waſſerdampf gefüllten Kugel, welche Hero 
von Alexandrien (um 120 J. v. Chr.) beſchreibt; wenn 
man dieſelbe durch die Rückwirkung des aus einer engen 
Röhre herausſtrömenden Dampfes um ihre eigene Are ſich 
bewegen ſahe, der Gedanke an eine Anwendung des Waſſer⸗ 
dampfes zu verſchiedenen Kraftäuſſerungen erwacht ſeyn; die 
erfte, ſichre Spur jedoch von einer Anwendung der Dämpfe 
zur Hebung eines 40 Fuß hohen Waſſerſtrahles, finden wir 
vom Jahr 1655 in dem Werk eines Engländers, des Mar— 
quis von Worceſter. Ein andrer Engländer, Sir Samuel 
Moreland war es, welcher im Jahre 1683 dem franzöſi⸗ 
ſchen Könige Ludwig XIV. einen ſehr wohldurchdachten, rich— 
tigen Plan zur Anfertigung einer Vorrichtung gab, durch 
welche das Waſſer mittelſt der Dämpfe aus der Tiefe empor⸗ 
gehoben werden könnte. Fünfzehn Jahre nachher (1698) löſte 
ſich der engliſche Capitän Sa very ein Patent für feine Er- 
findung einer Dampfmaſchine zum Auspumpen des Waſſers. 
Die ganze Einrichtung derſelben beſtund darin, daß man 
in eine Röhre (den Pumpenſtiefel) Dämpfe hineinleitete, dann 
durch Abkühlung der Röhre und wäſſrigen Niederſchlag des 
Dampfes eine Leere erzeugte, in die das Waſſer von unten 
hinanſtieg. Ein engliſcher Handwerksmann, der Schmidt 
Newcomen lehrte 1705 die Weiſe das Niederſchlagen des 
Dampfes in kurzer Zeit durch eingeſpritztes Waſſer und das 
Niedergehen des Kolbens durch den atmoſphäriſchen Druck 
zu bewirken; unſer um die Mechanik ſehr verdienter Lands⸗ 
mann Leupold machte (1720) feine Angaben zur kräftigern 
Anwendung des Dampfes (im Hochdruck nach S. 298) be- 
kannt, in denen die Mechaniker der ſpäteren Zeit Vieles für 
ſie Benutzbare gefunden haben. Noch immer war jedoch die An— 
wendung der Dampfmaſchinen eine ſehr beſchränkte; auſſer 
den Dienſten, welche ſie hin und wieder in den Bergſchachten 
um Heraufziehen des Grubenwaſſers aus der Tiefe leiſteten, 
ſahe man ſie faſt nur zu den Waſſerkünſten benutzt, an denen 
die höheren Stände und reichen Privatleute ſich ergötzten. 
Den Weg zur allgemeinen, leichteren Benutzbarkeit der 
einflußreichen Erfindung bahnte erſt der Engländer James 


300 


Watt. Aus feiner in Gemeinſchaft mit dem Maſchinenbau⸗ 
meiſter Matthew Boulton im J. 1769 begründeten Fabrik 
ſind Dampfmaſchinen von der zweckmäßigſten Einrichtung her⸗ 
vorgegangen, mit denen alle Gegenden von Europa verſorgt 
wurden. Er war es, der das unmittelbare Einſpritzen des 
kalten Waſſers in den Cylinder dadurch vermeiden lehrte, 
daß er den Dampf in den oben (S. 297) beſchriebenen Con⸗ 
denſator ableitete. Während man vorher durch die Spann⸗ 
kraft des Dampfes nur ein einfaches Auf- und Niederſteigen 
des Kolbens und mithin das Arbeiten des Zuges der Mar 
ſchine nur nach einer Richtung zu bewirken wußte, machte 
Watt durch ſeine vorhin (S. 298) erwähnte Erfindung der 
doppelt wirkenden Maſchinen erſt das Hervorbringen ſolcher 
Bewegungen möglich, die zu ihrer Unterhaltung einer unun⸗ 
terbrochen fortwirkenden Kraft bedürfen. 

Es war jetzt nur noch ein Schritt zur Erfindung der 
Dampfſchiffe und dann ein andrer zur Erfindung der Dampf— 
wägen zu thun. Den erſteren that Robert Fulton, von 
Geburt ein Penſylvanier, der ſich zuerſt als Goldſchmids⸗ 
Lehrling in Philadelphia den Ruhm eines guten Zeichners 
erworben und hierauf zu viel vertrauend, nach London bege— 
ben hatte, um ſich hier in der Schule des berühmten Weſt 
zum großen Maler zu bilden. Aber der vortreffliche ameri⸗ 
caniſche Zeichner war nicht dazu befähigt in England als 
Maler zu glänzen; er fühlte dieß ſelber und ergab ſich der 
Mechanik und in Gemeinſchaft mit Ramſey, einem Genof- 
ſen dieſes Gewerbes, der Fertigung von Dampfmaſchinen, 
die für Virginien beſiimmt waren. Bei dieſen Arbeiten kam 
ihm der Gedanke zur Benützung der Dampfmaſchinen für die 
Fortbewegung von Fahrzeugen auf dem Waſſer. Mit zu 
wenig äußeren Mitteln wagte er ſich an die Ausführung fei- 
nes Planes, doch wurden ſeine wenig augenfälligen Verſuche 
in Frankreich wie in England keiner beſondern Theilnahme 
gewürdigt. Zwölf Jahre lang hatte der innre Antrieb des 
thatfräftigen Mannes mit den äußren Hemmungen gekämpft, 
welche vor Allem der Mangel an Geldmitteln der Ausfüh- 
rung ſeines ſinnreichen, wohlüberlegten Planes in den 
Weg legte, da hatte er es endlich im J. 1807 ſo weit ge⸗ 
bracht, daß zu Newyork ein nach ſeiner Angabe erbautes 
Dampfſchiff von 160 Tonnen, bewegt mit einer Kraft die 
jener von 20 Pferden gleich kam, auslaufen konnte, das den 


301 


Weg von 120 Seemeilen von Newyork bis Albany ſtrom⸗ 
aufwärts in 32 Stunden zurücklegte. Durch dieſes glückliche 
Gelingen des Unternehmens war das Mißtrauen feiner Lands— 
leute beſeitigt worden, welches vornämlich durch den verun— 
glückten Verſuch erregt war, welchen ſchon im J. 1788 der 
Uhrmacher Fitch in Philadelphia, dem gleich bei der erſten 
kleinen Fahrt der Keſſel zerſprang, gemacht hatte. Aber auch 
Fulton, der Begründer eines ganz neuen, gewaltigen Auf— 
ſchwunges der Schifffahrtskunde, hatte von ſeiner folgenreichen 
Erfindung keinen äußren Gewinn. Er hatte zwar von den 
vereinigten Staaten die Patente für den Betrieb der Dampf— 
ſchifffahrt auf allen größeren Flüſſen des Landes erhalten, 
mußte jedoch dieſe aus Noth großentheils verkaufen und da⸗ 
bei noch die Kränkung erfahren, daß ein Advocat, in liſti— 
gen Kunſtgriffen gewandt, ihm den Ruhm und Vortheil der 
erſten Erfindung ſtreitig zu machen ſuchte. Er war erſt 48 
Jahre alt, als er, ohne die Vollendung einer großen, nach 
ſeinem Plane erbauten Dampffregatte zu erleben, im J. 1815 
ſtarb. Viele Andre ſind, als man jetzt in allen Ländern von 
Europa anfieng Dampfſchiffe nach Fultons Angabe zu bauen 
und zur Waſſerfahrt zu benutzen, durch ſeine Erfindung reich 
geworden; ihm ſelber hatte ſie nicht ſo viel eingetragen, daß 
er ſich und die Seinigen aus der Laſt der Schulden, die er 
für die großen, zu ſeinem Unternehmen nöthigen Auslagen 
hatte machen müſſen, herauszuarbeiten vermochte. 

Welche Dienſte die Dampfſchifffahrt dem Verkehr der 
Völker zu leiſten vermöge, das liegt ſchon jetzt vor Augen. 
Vasco de Gama's welthiſtoriſches, ruhmgekröntes Unter— 
nehmen, von Europa nach Oſtindien zu ſegeln, hatte zwar, 
ſeit er ihnen kühn vorangegangen, Tauſende von Nachahmern 
gefunden, dennoch gehörten die Fahrten nach Oſtindien, ab— 
geſehen von allen möglichen Gefahren, bis in die neueſte Zeit 
zu den langwierigſten und ſchwierigeren. Anjetzt legen die Dampf— 
bote von England den Weg bis an die ägyptiſche Küſte, dann 
en das rothe und indische Meer bis nach den Küſten von 

Sftindien, dahin vormals unſre Segelſchiffe kaum nach 6 
bis 8 Monaten gelangten, ſchon in 5 bis 6 Wochen zurück. 
Durch ihre Dampfſchiffe ſind die Europäer in noch ungleich 
höherem Maaße als vorher Beherrſcher der Meere und Be— 
ſchützer der Küſtenbewohner gegen den Raubmord der See— 
räuber geworden. Wie ſchwer war es oft vormals die ſchnell 


302 


rudernden malayiſchen und chinefifchen Seeräuber in ihren 
Jonken einzuholen, wenn ſie vor den Augen der Europäer 
Städte und Dörfer an den Küſten der Philippinen entzündet 
und die harmloſen Bewohner derſelben ermordet, oder wenn 
ihre Schaaren ein europäiſches Handelsſchiff überfallen, ſeine 
Mannſchaft umgebracht, ſeine Ladung geraubt hatten. Anjetzt 
fürchtet dieſes mordluſtige Geſindel die Dampfſchiffe der Eu⸗ 
ropäer wie der ſchnellläufige Haſe den noch ungleich ſchneller 
fliegenden Adler und bald werden alle die Meere, dahin die 
Dampfſchifffahrt der Europäer reicht, von Seeräubern geſäu⸗ 
bert, ihre Küſtenbewohner gegen ſolche Ueberfälle geſichert 
e 


n. 

Einen ähnlichen umgeſtaltenden, Neues ſchaffenden Ein⸗ 
fluß auf den Verkehr der Städte und Völker als die Erfin- 
dung der Dampfſchiffe, hat ſchon jetzt die Erfindung der 
Dampfwägen. Ihre Vervollkommnung und zweckmäßige Be⸗ 
nützung fällt in eine etwas ſpätere Zeit als die der Dampf— 
ſchiffe, denn obgleich der Engländer Robinſon ſchon im J. 
1759 dem vorhin erwähnten Meiſter im Dampfmaſchinenbau, 
dem James Watt einen Plan zur Errichtung von Dampf⸗ 
wägen mittheilte, fand er dennoch hiermit wenig Theilnahme, 
und die Verſuche zur Ausführung, welche ſpäter von ihm und 
Andren gemacht wurden, mislangen entweder ganz oder hat— 
ten doch nicht den erwarteten Erfolg. Ueberhaupt mußte die 
Erfindung der Dampfwägen, wenn ſie ihren Zweck vollkom— 
men erreichen ſollte, eine andre ungleich ältere Erfindung: 
die der Eiſenbahnen zu Hülfe nehmen, denn für Landſtraßen 
von gewöhnlicher Einrichtung paßte ſie nicht. Hierzu bot 
abermals England die günſtigſte Gelegenheit dar. Denn ob— 
gleich der Gebrauch der vollkommen ebenen Holzbahnen mit ſicherem 
Geleiſe zum Fortziehen großer Laſten urſprünglich durch deutſche 
Bergleute, welche die Königin Eliſabeth ins Land berief, nach Eng⸗ 
land verpflanzt worden und zunächſt nur in den Bergwerken ein⸗ 
geführt war, hatte man dennoch zuerſt in England den Grund 
zu den jetzigen Eiſenbahnen gelegt, als Curr im Jahr 1776 
über der Unterlage des Holzes eiſerne Schienen anbrachte 
und Barns ſeit 1797 ſtatt des in vielen Gegenden ſchwer 
und theuer zu habenden Holzes den Schienen eine ſteinerne 
Grundlage gab. Seit 1825 ſahe man nach dieſer Einrich⸗ 
tung zuerſt in England, dann in Frankreich, Oeſterreich und 
Amerika Eiſenbahnen von größrer Ausdehnung zur Erleichte⸗ 


303 


rung des Verkehres einzelner bedeutender Handelsplätze ent⸗ 
ſtehen und auf einer ſolchen Eiſenbahn gewann der erſte, in 
vollkommner Weiſe ausgeführte Dampfwagen, jener des 
Stephenſon im Jahr 1829 den Preis von 6000 Gulden, 
der für dieſe neue Art des Transportes ausgeſetzt war. Sein 
Locomotio bewegte eine Laſt von 250 Centnern mit einer 
Schnelligkeit, welche für jede Stunde auf 11 engliſche Mei⸗ 
len berechnet war; eine Leiſtung, welche von jener unſrer 
jetzigen, noch ungleich mehr vervollkommneten Dampfwägen 
weit übertroffen wird, bei denen ſich die Schnelligkeit auf 
das Doppelte, ja auf das mehr denn Dreifache geſteigert hat. 

Die Dampfbereitung zur Fortbewegung der Locomotiven 
geſchieht, um die Gefahr des Zerſpringens der Keſſel zu ver— 
meiden, in Röhren aus Kupfer oder Eiſenblech, welchen das 
nöthige Waſſer durch einen, von der Maſchine ſelber in fort— 
währender Thätigkeit erhaltenen Nachfüller zugeführt und 
erſetzt wird. Der Dampf der ſich in den zahlreichen, der 
Feuergluth ausgeſetzten Röhren bildet, ſammlet ſich in den 
Dampfkaſten und ſetzt von hier aus die Kolbenſtangen zweier 
Cylinder in jene fortwährende Bewegung, die ſich den um— 
laufenden Rädern mittheilt. Bei den Dampfwägen mußte 
auf Erſparung des Raumes wie der Laſten eine vorzügliche 
Rückſicht genommen werden. Schon aus dieſem Grunde hat 
man ſich genöthigt geſehen zu ihrer Bewegung den Hochdruck 
(S. 298), der in kleinem Raume viel zu leiſten vermag, an— 
zuwenden, den gebrauchten Dampf jedoch, ſtatt in den ſchwer— 
fälligen Condenſator und ſein abkühlendes Waſſerbehältniß, 
in die Luft entweichen zu laſſen. 

Die Ausdehnung der Dampfwagenfahrten auf den Eifen- 
bahnen geht ſchon jetzt ins Ungeheure. In England ſind ſie 
nach allen Richtungen hin über Strecken verbreitet, welche 
zuſammen gegen 550 geographiſche Meilen betragen und in 
den vereinigten Staaten von Amerika hat die geſammte Aus- 

en aller dortigen Eiſenbahnen faſt das Doppelte erreicht. 

| en ſahe man die erſte Dampfeiſenbahn im Jahr 

1835 entſtehen; es war die kleine, welche von dem gewerb— 

thätigen Nürnberg nach Fürth angelegt wurde. Jetzt theilen 

E80 h faſt alle deutſchen Provinzen in die Vortheile der großen 
ung. 


Nur im Vorübergehen erwähnen wir hier auch der ſoge⸗ 
nannten atmoſphäriſchen Eiſenbahnen, auf denen das Loco⸗ 


304 


motiv nicht durch Dämpfe, fondern durch den atmoſphäriſchen 
Druck bewegt wird. Schon Otto von Guerike (n. S. 247) 
der Erfinder der Luftpumpe ſetzte ſeine Zuſchauer auf dem 
Reichstage zu Regensburg durch jenen Verſuch in Erſtaunen, 
bei welchem ein gutſchließender Kolben durch den Luftdruck 
in einer Röhre, aus welcher er die Luft herauspumpte, mit 
ſolcher Gewalt emporgeführt wurde, daß viele ſtarke Männer 
ſich vergeblich bemühten, ſein Aufſteigen durch Herabziehen 
zu hindern. Da die Kraft des Luftdruckes in der Ebene auf 
jeden Quadratfuß Fläche nahe gegen 2000 Pfund beträgt, muß 
ein Kolben von etwa 1½ Fuß Fläche mit ſolcher Gewalt in 
eine durch Auspumpen luſtleer gemachte Röhre hineingeſto— 
ßen werden, daß er dadurch fähig wird, eine Laſt von 3000 
Pfund mit ſich fortzuziehen. In Irland zwiſchen Dalkey und 
Kingstown haben Clegg und die Gebrüder Samuda auf 
einer Strecke von 1½¼ Stunde Weges das erſte bis jetzt ge⸗ 
lungene Unternehmen gewagt, das auf jene Wirkung des 
Luftdruckes gegründet iſt. In der Mitte der Schienen ihrer 
Eiſenbahn liegt ein 9200 Fuß langer, gußeiſerner Cylinder, 
an beiden Enden durch Ventile geſchloſſen, verbunden durch 
ein Saugrohr, mit einer über 5 Fuß im Durchmeſſer hal— 
tenden Luftpumpe, welche zum Betrieb des Auspumpens der 
Luft aus dem Cylinder durch eine Dampfmaſchine in Bewe— 
gung geſetzt wird, deren Zugkraft jener von 100 Pferden 
gleich kommt. In 6 bis 8 Minuten iſt die Luftentleerung 
des Eylinders, deſſen innrer Durchmeſſer 15 Zoll beträgt, 
ſo weit gediehen, daß derſelbe, wenn nun hinter feinen luft 
dicht ſchließenden Kolben atmoſphäriſche Luft hereingelaſſen 
wird, mit einer Gewalt in den Cylinder hineingetrieben wird, 
welche ihn fähig macht, mittelſt einer an ihn befeſtigten 
Stange eine Laſt, welche über 2000 Pfund beträgt, mit einer pfeil⸗ 
ſchnellen Geſchwindigkeit von mehr denn einer Stunde Weges 
in einer Minute fortzubewegen. Die plattenartige Stange 
des Kolbens muß dabei freilich durch eine Spalte laufen, 
von welcher der obere Theil des Cylinders ſeiner ane 
Länge nach durchſchnitten iſt, aber dieſe ſchmale Spalte, wel⸗ 
che mit einer aus Leder und Eiſenblech gebildeten Klappe 
bedeckt iſt, wird durch eine am Kolben angebrachte Vorrich⸗ 
tung geöffnet und wieder geſchloſſen. Obgleich die eben ge⸗ 
nannte, kleine atmoſphäriſche Eiſenbahn an ihrem Orte, 
zum Herbeiſchaffen von Steinen zu einem en Ae 

ienſte 


RUN | 


305 


Dienſte leiſtet, ſtehen dennoch einer Nachahmung derſelben 
im Großen ſolche Schwierigkeiten entgegen, daß man bis jetzt 
daran nicht denken konnte. 

Es bleibt demnach bis jetzt nur die Wärme, als Bild— 
nerin des Dampfes, in der Alleinherrſchaft unfrer Dampf⸗ 
eiſenbahnen, und ſie iſt es ja auch, welche ſelbſt auf den 
atmoſphäriſchen Eiſenbahnen die Entleerung des Treibcylin— 
ders von atmoſphäriſcher Luft allein möglich macht. Was 
war ſelbſt jene unſichre Beſchleunigung des Fortbewegens, die 
man nach S. 221 an Luftſchiffen im günſtigſten Falle bemerkt 
hat, gegen die Geſchwindigkeit unfrer Dampfwägen, welche 

bereits an mehreren Orten eine Stunde Weges in 4 Minus 
ten, 15 Wegſtunden in einer Stunde durchmiſſet. Könnten 
wir mit ſolcher ununterbrochenen Schnelle forteilen, dann 
würden wir eine Strecke, welche dem Umfang der Erde gleich 
käme, in 30 Tagen zurücklegen; Reiſen von mehreren Ta⸗ 
gen, die man ſonſt in England, um von London nach mans 
chen andren Orten zu gelangen, machen mußte, find jetzt zu 
einer Spazierfahrt von wenig Stunden geworden, ein Freund 
lädt den andern 18 Stunden von ihm entfernt wohnenden 
zum Mittagseſſen ein, und dieſer beſorgt zu Hauſe noch ſein 
Tagesgeſchäft, trifft zur rechten Zeit bei der Mahlzeit ein 
und ſchläft bei Nacht wieder unter ſeinem Dache. Die Zahl 
der Reiſenden allein, die Waaren und Laſten welche zugleich 
mit fortgeſchafft werden, nicht gerechnet, beträgt auf den Ei— 
ſenbahnen Englands alljährlich gegen 20 Millionen; ganze 
vorhin ruhende Maſſen der Völker und Güter der Erde ſind 
durch den Waſſerdampf in lebhafte, ſich immer erneuernde 
Bewegung gerathen und hiermit zu und durch einander ge— 
führt worden; Greiſe, welche gebunden an die Geſchäfte ihres 
Berufes wegen der weiten Entfernung ihrer Wohnorte auf 
immer von ihren Freunden und Jugendgenoſſen Abſchied ges 
nommen hatten, ſind ſeitdem nicht nur einmal, ſondern öfters 
wieder h dieſen gekommen; die Entfernung macht keine Tren⸗ 
nung mehr. 
ER wir alles Das zuſammen was über die Leiſtun⸗ 
gen des Waſſerdampfes, ſeit dieſer durch Erfindung der 
Dampfmaſchinen in die Gewalt des Menſchen kam, geſagt 
werden kann, dann muß uns beſonders die Erſparung 117 
tig ſeyn, welche dadurch an den Kräften lebendiger Weſen 
gewonnen worden iſt. In der Regel berechnet man die Kraft 
5 20 


| 
| 
| 


einer Dampfmaschine nach dem Gewicht einer Laſt Waſſers, 
welche ſie, wenn ſie etwa zum Heraufziehen deſſelben ange⸗ 
wendet würde, in einer gewiſſen Zeit zu erheben vermöchte. 
Hebt ſie eine Laſt dieſer Art welche gegen 4 Centner be⸗ 
trägt in Zeit einer Sekunde 1 Fuß hoch, dann leiſtet ſie ſo 
viel als ein Pferd; vermag ſie die doppelte, die drei-, die 
vierfache Laſt in derſelben Zeit eben ſo hoch zu heben, dann 
arbeitet ſie für 2, für 3, für 4 Pferde und das Nämliche 
gilt beiläufig von ihr, wenn fie 440 Centner in //, ½, Ya 
Secunde einen Fuß hoch hebt. Mit der Kraft des Menſchen 
verglichen kann man im Durchſchnitt annehmen, daß etwa 
fünf Männer daſſelbe vermögen, was ein einziges Pferd lei⸗ 
ſtet. Hiernach hat man berechnet, daß die Dampfmaſchinen 
welche im Jahre 1833 in England thätig waren, fo viel ber 
wirkten, als man nur durch die Kraftanſtrengung von nahe 
2 ½ Millionen Pferden oder 12 ¼ Millionen Menſchen hätte 
ausrichten können; in Frankreich arbeiteten damals die ſämmt⸗ 
lichen Dampfmaſchinen für 1,785500 Pferde, mithin für 
mehr denn 8 Millionen Menſchen, in Preußen für 915,000 
Pferde oder für mehr denn 4% Mill. Menſchen. 

Aus einigen unſichren Andeutungen in den Schriften der 
Alten hat man die Vermuthung geſchöpft, daß ſchon die 
Aegypter die bewegende Kraft der Waſſerdämpfe nicht nur 
gekannt, fondern auch zu verſchiedenen Zwecken angewendet 
jätten. Wäre dieſes bei ihnen in demſelben Maaße wie bei 
uns ſeit der Einführung der Dampfmaſchinen der Fall gewe⸗ 
ſen, dann hätten ſie nicht nöthig gehabt zum Bau ihrer grö⸗ 
ßeſten Pyramide unweit Ghizeh 100,000 Menſchen 20 Jahre 
lang zu bemühen, denn man hat berechnet, daß ſich die 
Steinlaſten dieſes Rieſenbauwerkes, deren Geſammtgewicht 
man zu 186 Mill. Centner anſchlägt, mittelſt der Dampfma⸗ 
ſchine unter der Leitung von 36,000 Menſchen in Zeit von 
18 Stunden hätten von ihrem Orte fortbewegen, emporheben 
und auf einander legen laſſen. Doch in unſren Tagen wen: 
det man dieſe durch die Kunſt gewonnenen Kräfte nicht wie 
die Knoblauch, Zwiebeln und Linſen⸗ effenden Aegypter zum 
Bau von Pyramiden, ſondern mehr zum Gewinnen und Be⸗ 
reiten der Erwerbsmittel für Thee, Kaffee und Zucker an. 

Die Vollkommenheit der Einrichtung einer Dampfma⸗ 
ſchine wird nicht bloß nach den Kraftäuſſerungen derſelben, 
ſondern auch nach dem mäßigeren oder größeren Aufwand 


| 


307 


der Mittel beurtheilt, deren man zur Unterhaltung ihrer Bes 
wegungen bedarf. Für die Dampfbereitung einer Dampfe 
maſchine nach Watts Einrichtung, deren man ſich im J. 1811 
in Amerika bediente, brauchte man, um ihr die Kraſt zur 
Hebung von 15 Mill. Pfund Waſſer zu geben, in jeder Mi⸗ 
nute 1 Scheffel Kohlen; durch manche an ihr angebrachte 
Verbeſſerungen war im J. 1815 der Verbrauch der Kohlen 
auf nicht viel über / des Betrags herab..efebt worden, ja 
eine nach Woolfs Angaben gebaute Hochdruckmaſchine lei— 
ſtete mit denſelben Mitteln das Dreifache. Eben ſo bedarf 
man auch in England ſeit den neueren Vervollkommnungen 
der Dampfmaſchinen nur , ja nur halb fo viel Feuerungs⸗ 
material als man vor 30 Jahren bei den Leften Werken die⸗ 
fer Art nͤthig hatte. So hoch aber auch ein ſolcher Aufs 
wand ſammt den Zinſen des Auslage-Capitals ſich belaufen 
mag, ſo hoch man auch die Summe anſchlagen muß, welche 
der Bau der Ciſenbahnen (im günſtigſten Falle die deutſche Meile 
240,000, im minder günſtigen aker mehrere Millionen Tha— 
ler) koſtet, immerhin bleibt noch der Gewinn den die Dampfs 
maſchinen ihren Eigenthümern und dem Aufſchwung der Ger 
werbthatigkeit der Lander bringen, ein überaus hoher. 

So haben wir hier eine für unſre Zeit im vorzüglichſten 
Maaße nutzbar gewordene Wirkung der Wärme beiramtet; 
wir kehren jedoch von der Wirkung zu der Urſache ſelber zu⸗ 
ruck, ja, noch einige Schritte weiter gehend, faſſen wir eini⸗ 
ge der gewöhnlichiten Mittel ins Auge, durch welche die 
Wärme in der irdiſchen Körperwelt, theils Par theils ohne 
unſer Zuthun erzeugt wird. 


Das Entſtehen der Wärme beim Verbrennen 
der Korper. 


Zum Entflammen eines irdiſchen Feuers ſind zwei ver⸗ 
ſchiedene körperliche Gegenſätze nöthig, davon man den einen 
den Zündſtoff, den andren den Brennſtoff genannt hat. Bei 

nfren Kohlen- und Herdfeuern bildet der Kohlenſtoff und 

der meiſt mit dieſem verbundene Waſſerſtoff den brennbaren, 

das hinzutretende Sauerſtoffgas der Atmoſphäre aber den 

12 aden Gegenſatz. In einigen Fällen kann ein und ders 

elbe Körper einmal als Vrennſtoff, dann als Zundſtoff 

auftreten. So bildet der Schwefel, wenn man in ſeinen 
20 * 


308 


Dämpfen das glühende Kupfer verbrennt, den Zündſtoff, das 
Kupfer den Brennſtoff, und bei ſolchen Verbindungen des 
Schwefels mit den Metallen zeigen ſich dieſelben Erſcheinun⸗ 
gen des Feuers wie beim Entflammen eines gewöhnlichen 
brennbaren Körpers in der atmoſphäriſchen Luft. Aber der⸗ 
ſelbe Schwefel, wenn er auf gewöhnliche Weiſe verbrennt 
und hierbei mit dem Sauerſtoffgas ſich verbindet, ſtellt ſich 
zu dieſem als Brennſtoff dar und überläſſet dem Gas die 
Rolle des Zündſtoffes. 

Bei der Betrachtung der Waſſerdämpfe ſahen wir, daß 
zwiſchen der Wirkung eines langſam und allmälig ſich bilden⸗ 
den oder wieder verdichtenden Dampfes und zwiſchen der eines 
ſolchen, welcher ſchneller durch die Hitze gebildet wird, ein 
großer Unterſchied ſey; die Anwendung des Hochdruckes lehrt 
uns, daß die Federkraft deſſelben Waſſerdampfes durch ei⸗ 
nen vermehrten Grad der zur Dampfbereitung benutzten Hitze 
vielfach höher geſteigert werden könne. Es iſt nicht die Be 
wegung allein, ſondern die Schnelligkeit derſelben, welche 
das Maaß ihrer Wirkung beſtimmt (nach S. 289). | 

Daſſelbe was wir hier von der Wirkſamkeit der auf vers | 
ſchiedene Weiſe erzeugten Waſſerdämpfe ausſagten und was 
jeder Sturmwind uns lehrt, wenn dieſelbe Maſſe der Luft, 
deren Druck ſo lange ſie ruhend über und um uns ſtund, wir 
kaum bemerkten, durch ihr ſchnelles Bewegen Bäume ent⸗ 
wurzelt und Häuſer umſtürzt, gilt auch von dem Vorgang 
des Verbrennens oder von der Verbindung eines brennbaren 
Körpers mit dem Sauerſtoffgas. Fein zerſtücktes, trockenes 
Holz wird ſich an einer genäherten Lichtflamme alsbald ent⸗ 
zünden und dabei werden die Erſcheinungen des vollkomme⸗ 
nen Verbrennens: Licht und Wärme, hervortreten. Der Koh- 
lenſtoff der im Holz war, hat ſich bei der Verbindung mit 
dem atmoſphäriſchen Sauerſtoffgas in Kohlenſäure, das Waſ⸗ 
ſerſtoffgas in dampfförmiges Waſſer verwandelt, das beim 
Abkühlen allmälig zum tropfbar flüſſigen Zuſtand zurückkehrt. 
Wenn das Verbrennen der dürren Holzſtückchen in einem 
verſchloßnen Gefäße ſtatt fand und wenn dabei das Sauer⸗ 
ſtoffgas ganz oder großentheils in der Bildung der Kohlen— 
ſäure aufgegangen iſt, dann verlöſcht ein brennender Holz— 
ſpan, den wir in das Gefäß hineinhalten, denn das kohlen⸗ 
ſaure Gas kann weder das Verbrennen, noch das thieriſche 
Athmen unterhalten. Aber ganz daſſelbe geſchieht auch, wenn 


309 


wir einen ſolchen brennenden Holzſpan in die Luft eines ver- 
ſchloßnen Gefäßes hineintauchen darin ſich angefeuchtete Holz⸗ 
ſtückchen oder naſſe Sägeſpäne befinden. Schon nach wenig 
Stunden iſt das atmoſphäriſche Sauerſtoffgas das im Gefäß 
enthalten war eben ſo, als wenn wir das Holz in getrockne— 
tem Zuſtand darin verbrannt hätten, in eine Verbindung mit 
der Kohle zur Kohlenſäure eingegangen; der brennende Span 
verlöſcht darin ſo ſchnell als ob wir ihn in Waſſer getaucht hätten. 
Das Sonnenlicht hat allerdings einen ſtörenden Einfluß auf 
den Vorgang dieſes langſamen Verbrennens oder Verweſens, 
wie ſich dies ſchon bei dem Bleichen der Leinwand zeigt, bei 
welchem auch eine Verbindung des Sauerſtoffgaſes, vor allem 
mit den leichter zerſetzlichen Theilen des Pflanzengewebes, 
oder mit jenen andren Subſtanzen von organiſcher Natur vor 
ſich gehet, welche durch ihren freier hervortretenden Kohlen— 
ſtoff die dunkle und ſchmutzende Färbung bewirken. Dennoch 
kommt jener Einfluß des Sonnenlichtes, wenn er beim Blei— 
chen und bei andren ähnlichen Vorgängen eben fo das lang⸗ 
ſame Verbrennen oder Verweſen befördert, als die Gluth 
einer genäherten Lichtflamme das ſchnelle Verbrennen, nicht 
der trocknen, ſondern der angefeuchteten Leinwand zu ſtatten. 
Daß jene allmälige Verbindung des Brennſtoffes mit 
dem Zündſtoffe, die namentlich bei der Verweſung organi— 
ſcher Körper ſtatt findet, kein eigentliches Verbrennen genannt 
werden könne, iſt jedem Kinde verſtändlich. Das Beginnen 
und die Fortdauer des Verbrennens hängt, wie wir auf 
unſren Herden ſehen, von einem Grad der Erhitzung ab, 
welcher durch aufgeſchüttetes Waſſer oder durch die Feuchtig⸗ 
keit des brennenden Holzes ſchon dadurch von feiner Höhe 
herabgeſtimmt wird, daß die Verdünſtung des Waſſers auf 
Koften der Wärme geſchieht (nach S. 265). Wir haben es bes 
reits (Cap. 31) als die nächſte und vorzüglichſte Wirkung der 
Wärme erkannt, daß fie den Zuſammenhalt der kleinſten Theile 
a 25 Körper aufhebe. Die beginnende Auflöſung jenes Zuſammen— 
haltes giebt ſich in der vermehrten Ausdehnung, ihr weitrer 
Fortgang im Flüßigwerden (Schmelzen) oder im Verdam— 
pfen der Körper kund. | 
Die Naturforſcher haben an ſolchen feſten Körpern, welche 
durch mechaniſche Gewalt in die möglichſt kleinſten Theilchen 
zerlegt, aufs Feinſte zerſtäubt wurden, eine merkwürdige 
Beobachtung gemacht. Dieſe, dem bloßen Auge nicht mehr 


1 
310 


wahrnehmbaren Stäubchen, zeigen, wenn man ſie auf einem 
Tropfen Oel oder Waſſer ſchwimmend, unter das Mikroſcop 
bringt, eine Bewegung gegen und von ſo wie durch einander, 
welche nicht aus dem Einfluß der Verdünſtung der Flüſſig⸗ 
keit erklärt werden kann. Denn jene Bewegung gründet ſich 
auf ein polariſches Anziehen und Abſtoßen, auf ein Suchen 
und Fliehen, auf ein wechſelſeitiges ſich Umkreiſen, wodurch 
daffelıe ganz den Bewegungen kleiner mikroſcopiſcher Thiere 
(S. 177) gleich wird. Mit der Auflöſung des Zuſammen— 
haltes der Körper, ſelbſt durch mechaniſche Gewalt, werden 
die kleinen Theile derſelben einer gegenſeitigen Bewegung 
fähig, die ſich auf die allgemeine Urſache alles Bewegens 
— auf polariſche Entgegenſetzung gründet. 

Das Verbrennen der Körper ſelber beftehet in einer lebbaf— 
ten Gegeneinanderbewegung der kleinſten Theile des Brenn- 
ſtoffes und des Zundſtoffes, in einem Bewegen das ſich unſfren 
Sinnen als Licht und als Wärme mittheilt und in dieſer 
Form auf die umgebende Körperwelt einwirkt. Wenn man 
Platinametall aus einer Flüßigkeit ausſcheidet in welcher daſ— 
felte chemiſch aufgelöst war, dann erſcheinen feine fein zertheilten 
Stäubchen nicht mehr metallglänzend, ſondern ſie ſtellen ſich als 
ein ſchwarzes Pulver dar. Wenn man daſſelbe in dieſem Zu— 
ftand trocknet und der Luft ausſetzt, dann zieht es das Sauer⸗ 
ſtoffgas mit ſolcher Kraft an, daß es nach Maaßtheilen 800 
mal mehr von demſelben aufnimmt als der Rauminhalt ſei- 
ner geſammten Stäubchen beträgt. Es hat ſich hiebei der 
Zug des Metalliſchen zu ſeinem allgemeinen Gegenſatz, zum 
Sauerſtoff geregt, ohne daß daraus ein wirkliches Verbren⸗ 
nen hervorgieng. Sobald man aber Waſſerſtoffgas über ein 
ſolches, von 800 fach verdichtetem Sauerſtoffgas erfülltes Plas 
tinapulver hinſtreichen läßet, dann fängt das Metall an zu 
glüben, denn nun iſt ein Verbrennen des Waſſerſtoffgaſes ent- 
ſtanden, das ſeine Gluth durch die ganze, fein zertheilte 
Maſſe verbreitet; es bildet ſich Waſſer. Man kann dieſen 
Vorgang des Glühens ſo oft hervorrufen als man will, 
denn wenn wir dem Zuſtrömen der brennbaren Luft und 
hierdurch dem Verbrennen Einhalt thun, dann füllt ſich das 
Platinapulver augenblicklich wieder mit Sauerſtoffgas an, 
das ein neu hinzuſtrömendes Waſſerſtoffgas entzünden kann. 
Dieſelbe Eigenſchaft wie an dem erwähnten metalliſchen Pul⸗ 
ver, bemerken wir auch an dem ſogenannten Platinaſchwamm, 


311 


welcher durch Glühen aus Platinſalmiak erhalten wird, und 
im Grunde genommen lehrt uns ſchon die leichte Entzünd⸗ 
lichkeit eines kunſtgerecht bereiteten Pulvers, welches För⸗ 
derungsmittel für das Verbrennen in der feinen Zertheilung 
der Körper, in der Aufhebung des gegenſeitigen Zuſammen⸗ 
haltes ihres Stoffes liege. | 

Auf ähnliche Weiſe wie das eigentliche, ſchnelle Verbren⸗ 
nen mit Flamme, kann auch das langſame Verbrennen: die 
Verbindung der gegorenen Flüßigkeiten mit dem Sauerſtoff⸗ 
gas der Luft und ihre Verwandlung hierdurch in Eſſig, durch 
mechaniſche Mittel befördet werden, wobei man die gährende Flü⸗ 
ßigkeit fo weit als möglich vertheilt und dem Raume nach ausdehnt. 
Wenn man früher aus den Neigen des Bieres, aus ſchlechtem 
Wein, Brandwein oder andren ähnlichen Flüßigkeiten Eſſig 
bereiten wollte, indem man ſie in Fäßern dem unvollkommne⸗ 
ren Zutritt der Luft ausſetzte, da dauerte es Wochen ja Mo⸗ 
nate lang bis die Säuerung zum Eſſig vollendet war; anjetzt 
kann man den Brandwein im Verlauf eines einzigen Tages 
zu Eſſig machen, wenn man ihn, mit Waſſer verdünnt lang⸗ 
ſam durch Fäßer fließen läßet, die mit Hobelſpänen angefüllt 
ſind, durch deren lockere Lagen die Luft von außen ſanft hin⸗ 
durchſtrömen kann. Die Oberfläche der gährenden Flüßigkeit 
iſt bei dieſem Verfahren um das mehr Tauſendfältige ver⸗ 
größert, ihre vorher genäherten Theile ſind weit von einander 
entfernt, der Zuſammenhang derſelben iſt zwar nur auf me⸗ 
chaniſche Weiſe aufgelöst, was indeß dennoch etwas Aehnli⸗ 
ches bewirkt, als die Auflöfung des Zuſammenhanges der 
Theile eines brennbaren Körpers durch die Wärme. 

Selbſt bei jenen feuergebenden Miſchungen, die ſich von 
ſelbſt entzünden, ſobald man ſie der Luft oder dem Sauer⸗ 
ſtoffgas ausſetzt, dergleichen jene iſt, welche durch das Unter⸗ 
einanderreiben von 8 Gewichtstheilen überſauren Bleikalk 
(Bleiſuperoxyd) und 2½ Theilen waſſerfreier Weinſteinſäure 
bereitet wird, mag die feine Zertheilung der ſtaubartig zer⸗ 
kleinerten Maſſe die Entzündlichkeit befördern, und im Grun⸗ 
de genommen bedienen wir uns bei der Bereitung des Schieß⸗ 
pulvers der mechaniſchen Zerkleinerung mit gleichem Erfolge. 
Auch jene Fälle, in denen ſich zuweilen mit verheerenden Fol— 

en für einzelne Häuſer oder ganze Städte kleingepulverte 
zohle oder fein zertheilte verkohlte Pflanzenſtoffe, dergleichen 
die ſogenannten Kaffeeſurrogate ſind, auch ohne daß ein 


312 

ſtarker mechaniſcher Druck (nach S. 263) hinzukam, von fel- 
ber entzündet hat, gehöhren hieher. ö | 

Wie das Schießpulver ein einzelner Funke entzündet, fo 
theilt ſich überhaupt die Entflammung von einem brennenden 
Körper dem andren mit, indem jeder entflammte Theil jene 
Wärme ausſtrahlt, welche den an ihn gränzenden Theilen 
zur Auflöſung des Zuſammenhanges ihrer Theile und mithin 
zur nothwendigen Vorbereitung auf den Zuſtand des Ver⸗ 
brennens dienen kann. un, 


Obgleich, wie wir ſchon erwähnten, die Gährung der 


Stoffe, wobei dieſelben ungleich langſamer als beim Ver⸗ 
brennen das Sauerſtoffgas an ſich ziehen, nur im uneigent⸗ 
lichen Sinne ein Verbrennen genannt werden kann, iſt es 
doch von Intereſſe auch hierin auf eine Uebereinſtimmung 
auſmerkſam zu machen, die ſich zwiſchen beiden Vorgängen 
zeigt. Ebenſo wie ſich beim Brennen die Flamme mit ihrer 
Glühehitze von einem Punkte der entzündlichen Maſſe über 
die andren verbreitet, ſo geſchieht dies auch bei der Gährung 
und Verweſung der zu ſolcher Art der Zerſetzung fähigen 
organiſchen Stoffe. In den meiſten von dieſen regt ſich als— 
bald ein ftarfer Zug nach der Verbindung mit dem Sauer— 
ſtoffgas, auch bei ganz gewöhnlicher Temperatur, ſobald ſie 
mit einer gährenden oder verweſenden Subſtanz in Berüh⸗ 
rung kommen. Um das Waſſerſtoffgas zu entzünden, um 
ſeine Verbindung mit dem Sauerſtoffgas zu Waſſer unter 
Erſcheinung von Licht und Wärme zu bewirken, bedarf es 
eines Hitzegrades von 2409 Réaumur (3009 Celſius). 
Wenn man bei gewöhnlicher Temperatur der Luft eine Mi— 
ſchung von Sauerſtoffgas und Waſſerſtoffgas in einer las 
ſche oder einem andren wohlverſchloßenen Gefäß aufbewahrt, 
dann verharren beide in ihrem abgeſonderten Zuſtand bis 
etwa die Gluthhitze einer Flamme, mit der ſie in Berührung 
kommen oder der Strahl des elektriſchen Funkens ihre Vereinigung 
(Entzündung) bewirkt. Wenn man dagegen in eine mit 
atmoſphäriſcher Luft und einer Beimiſchung von Waſſerſtoff— 
gas gefüllte Flaſche einen Leinwandbeutel aufhängt in wel⸗ 
chem ſich angefeuchtete Sägeſpäne, Rinde, Modererde oder 
andre einer gährungsartigen Auflöſung fähige Stoffe finden, 
dann ſetzt ſich in dieſen die Verweſung eben ſo, wie in freier 
Luft, fort; ſie verwandeln das Sauerſtoffgas, das in der ſie 
umgebenden Luft enthalten war, zum Theil in Kohlenſäure, 


313 


zugleich aber nimmt auch das Waſſerſtoffgas an den Bewegungen 
des Vorganges der Verweſung Antheil, es verbindet ſich 
eben ſo wie beim Verbrennen mit dem Sauerſtoffgas zu 
Waſſer. Ganz in derſelben Weiſe und aus demſelben Grunde 
gehet auch der Dampf von Weingeiſt in einem Raume, darin 
faulendes Holz oder andre verweſende Stoffe enthalten ſind, 
die Vereinigung mit dem Sauerſtoffgas ein, deren letztes 
Erzeugniß die Eſſigſäure iſt. N 

Obgleich bei der Gährung wie bei der Verweſung der 
Körper, welche hierzu geneigt ſind, beſonders dann, wenn 
dieſelben in größrer Maſſe beiſammen liegen, eine Wärme⸗ 
zunahme bemerkt wird, iſt dennoch dieſe auf unſer Gefühl 
wie auf unſre Thermometer einwirkende Wärme keinesweges 
Das, was bei der Uebertragung der Gährung oder Verwe— 
ſung von einem hiervon ergriffenen Körper an einen gleichartigen 
anderen den Haupteinfluß ausübt. Auch bei der kühlen Witterung 
unſrer feuchten Herbſttage theilt ein faulender Apfel dem andren, 
noch friſchen, mit welchem er in Berührung ſtehet, ſeine Fäulniß 
mit und je mehr ihrer zuſammengehäuft find, je mehrere auf ein⸗ 
mal von der Anſteckung ergriffen werden, deſto ſtärker wird die 
Gewalt von dieſer. Auch unten in den Grüften gehet die 
Verweſung mitten in der kühlen Temperatur der Tiefe ihren 
Gang. Dennoch wirkt auch auf dieſe Vorgänge einer allmä— 
ligen Verbindung der entzündbaren Stoffe die äußre Wärme 
beſchleunigend, zugleich aber, wie wir ſpäter ſehen werden, 
verändernd ein. 

Selbſt mit den Erſcheinungsformen des eigentlichen Ver— 
brennens ſtehet der Hitzgrad, der dabei ſtatt findet, in naher 
Beziehung, denn das langſamere Verglimmen eines brennba— 
ren Körpers gehet bei bloßer Rothglühehitze vor ſich, das 
vollkommene Verbrennen mit heller Flamme iſt mit Weiß— 
glühehitze verbunden. Wenn man deshalb über dem Dochte 
eines Alkohollämpchens einen ſpiralförmig gewundenen Pla— 
tinadraht oder eine mit Platina überzogene Glaskugel befe— 
ſtigt und das Lämpchen ſo lange brennen läſſet, bis das 
Platinametall rothglühend geworden iſt, hierauf aber auslö— 
ſchet und dauert das langſame Verbrennen des Weingeiſtes 
noch in der Weiſe fort, daß man zwar keine helle Flamme, 
wohl aber im Dunklen das Glühen des Platinadrahtes oder 
Ueberzuges ſieht, bis aller Weingeiſt verzehrt iſt. 

Ohngefähr in demſelben Verhältniß, in welchem die 


314 


brennbaren Körper zu ihrer Entzündung einer größeren oder 
geringeren Hitze bedürfen, iſt auch ihr Verbrennen unter den⸗ 
ſelben äußren Umſtänden mehr oder minder andauernd. 
Wenn man in einem verſchloßnen, mit atmoſphäriſcher Luft 
erfülltem Gefäß zu gleicher Zeit eine Wachskerze, einen Strom 
von Waſſerſtoffgas, ein Stück Schwefel und ein Stück Phos⸗ 
phor anzündet, dann verlöſcht, bei der allmäligen Abnahme 
des Sauerſtoffgaſes die Wachskerze zuerſt, hierauf das Waſ⸗ 
ſerſtoffgas, dann der Schwefel, ganz zuletzt der Phosphor. 
Aber zum Entzünden des Phosphors bedarf es auch nur einer 
Wärme von 45, zu der des Schwefels 235, zu jener des 
Waſſerſtoffgaſes von 240 Gr. R. Ein bloßer Ueberzug von 
Lampenrus kann das Entzünden des Phosphors ſelbſt in 
gewöhnlicher Luftwärme bewirken, und das Leuchten deſſel⸗ 
ben im Dunklen iſt, wie bei dem vorhin erwähnten Glühe⸗ 
lämpchen, ein langſames Verglimmen. a 
Auf die Stärke und Heftigkeit der Anziehung zwiſchen 
dem brennbaren Körper und dem Sauerſtoffgas hat der Maſ— 
ſenzuſtand der beiden ſich anziehenden Gegenſätze einen ent⸗ 
ſchiedenen Einfluß. In derſelben Ordnung, in welcher, wie 
wir vorhin erwähnten, dieHitzgrade ſich folgen, bei denen die 
brennbaren Körper ſich entflammen, bedürfen dieſelben auch 
zur Erhaltung ihres Brennens eines maſſenhaften Andranges 
des Sauerſtoffgaſes. Brennende Kerzen die man dem hellen 
Sonnenlicht ausſetzt, brennen nicht bloß ſcheinbar, ſondern 
wirklich ſchwächer, weil der Einfluß des Sonnenlichtes die 
umgebende Luft ausdehnt und verdünnt. Schon im Schat⸗ 
ten gehet der brennbare Stoff der Kerze eine reichlichere Ver⸗ 
bindung mit dem Sauerſtoffgas ein und die Flamme wird 
lebhafter, am meiſten jedoch iſt dies der Fall an einem ganz 
dunklen Orte, wo in gleicher Zeit am meiſten Zünd- wie 
Brennſtoff verzehrt wird. Das ſonſt zur Waſſerbildung voll⸗ 
kommen geeignete Gemenge aus zwei Maaßtheilen Waſſer⸗ 
ſtoffgas und einem Maaßtheile Sauerſtoffgas läßt ſich, wenn 
man es durch Auspumpen um das Achtzehnfache verdünnt 
hat, ſelbſt durch den elektriſchen Funken nicht mehr entzün⸗ 
den und für die gewöhnliche Art des Entflammens wird daſ— 
ſelbe ſchon bei der achtfachen Verdünnung der Luft unem⸗ 
pfänglich. Dagegen entzündet ſich der Phosphor, wenn man 
ihn mit Baumwolle umwickelt oder mit dem Pulver von 
Schwefel, von Kohle, von Salpeter und mancher Metalle 


315 


beſtreut, ſogar leichter in der verdünnten Luft als in der 
dichteren; er brennt auch bei einer 63 maligen Verdünnung 
in der Luft fort, und während ein Gemenge von Wafferftoff- 
gas und atmoſphäriſcher Luft durch den gewöhnlichen Luftdruck 
bei mittlerer Temperatur vor der Selbſtentzündung bewahrt 
wird, entflammt ſich dagegen daſſelbe, wenn es bei vermin- 
dertem Druck in verdünnter Luft ſich ſtärker ausdehnen kann. 

Der Wärmegrad, deſſen die ſchwerer entzündbaren 
Körper zur Erhaltung ihres Ber'vennend bedürfen, wird 
alsbald herabgeſetzt, wenn das Sauerſtoffgas nicht in hin— 
länglicher Menge und mit einer gewiſſen auf der Geſchwin— 
digkeit des Bewegens beruhenden Wirkſamkeit ſeiner Maſſe 
zuſtrömen kann. Um Steinkohlen und Coaks beim Brennen 
zu erbalten, muß man ſie auf Roſte legen und (durch die 
Einrichtung des Ofens) einen ſtarken Luftzug nach ihnen fo 
wie unter ihnen hin bewirken, während das leichter ent— 
zündliche Holz ſchon auf dem freien Boden verbrennt, weil 
zur Erhaltung feines Flammens ſchon jener ſchwächere Luft: 
ſtrom hinreicht, der durch das Emporſteigen der leichteren, 
heißen Luft und das Eindringen der kälteren in die entleerte 
Stelle bewirkt wird. Und nicht allein dann, wenn die Maſſe 
des Sauerſtoffaaſes durch die Geſchwindigkeit ihres Stromes 
eine größre Wirkſamkeit hat, ſondern auch dann, wenn dieſe 
Wirkſamkeit durch ihre Gewichtsmenge geſteigert wird, beför— 
dert fie das Verbrennen. In einer atmoſphäriſchen Luft, 
welche um das Fünffache verdichtet wurde, brennt ein glü— 
hender Eiſendraht oder eine Stahlfeder eben ſo lebhaft als 
nach S. 228 in reinem Sauerſtoffgas, denn da die atmoſphä— 
riſche Luft aus einem Gemenge von 4 Gewichtstheilen Stick— 
gas und einem Gewichtstheil Sauerſtoffgas beſtehet, hat der 
verbrennende Körper in einer fünffach verdichteten Luft eben 
ſo viel Sauerſtoffgasmaſſe um ſich, als wenn er bei gewöhn— 
lichem Luftdruck in ein Behältniß gebracht wird, welches ganz 
von dieſer Gasart erfüllt iſt. 

Das mehr oder minder plötzliche Verlöſchen der Flamme 
iſt eine nothwendige Folge aller der äußren Einflüſſe, durch 
welche der Zutritt des Sauerſtoffgaſes zum Brennſtoff ver— 
hindert, oder durch plötzliche Abkühlung und einen Vorgang 
der Verdampfung der Hitzegrad zu tief herabgeſetzt wird. 
Aber eben ſo wie das aufgegoßne Waſſer, aufgeſchüttete Erde 
u. a. das Weiterbrennen hindern, können fie auch dazu Die: 


316 


nen einen brennbaren Körper felbft bei Berührung der 
Flamme vor der Entzündung zu bewahren. Schon das ge⸗ 
meine Feuerſicherungskleid aus Schaafwolle, von Salzſoole 
durchdrungen, über welches noch ein Panzer aus einem ſehr 
kleinmaſchigen Drahtnetz gezogen wird, vermag einem menſch⸗ 
lichen Körper, der ſich auf einige Augenblicke in die Flam— 
men wagt, einen gewiſſen Schutz dagegen zu gewähren. 
Ueberhaupt zeigt ein feinmaſchiges Drahtnetz die beachtens— 
werthe Eigenſchaft, daß es die Mittheilung der Flamme von 
einem brennbaren Körper an einen andren verhindert. Eine 
Laterne, welche mit Drahtgeflechte umgeben iſt, kann man 
mit brennender Kerze in Heu und Stroh ſtellen, ohne dabei 
Gefahr zu laufen; mit der von Da vy erfundenen Sicher⸗ 
heitslampe — einer kleinen Laterne aus dünnem Drathge— 
flechte, in dem ſich wie in einem feinen Siebe nur ganz klei⸗ 
ne Löcher finden, kann man ſelbſt in ſolche Kohlenbergwerke 
oder Keller voll gährender Flüſſigkeiten hineingehen, darin 
ſich Knallluft gebildet hat, ohne fürchten zu dürfen, daß 
dieſes leicht entzündliche Gemenge aus Waſſerſtoff und Sauer: 
ſtoffgas ſich an dem Kerzenlicht im Innren der Laterne entflamme. 

Beim Verbrennen der aus mehreren entzündbaren Stof— 
fen zuſammengeſetzten Körper verbindet ſich zuerſt jenes Ele— 
ment mit dem Sauerſtoffgas, welches die ſtärkſte Neigung 
zu dieſer Vereinigung hat, und aus demſelben Grunde wie 
bei einigen früher (S. 136) erwähnten Vorgängen, kommt 
die Reihe des Verbrennens erſt dann an den ſchwerer brenn⸗ 
baren Stoff, wenn der leichter entzündliche ſich mit dem 
Sauerſtoffgas geſättigt hat. Wenn deshalb Kohlenwaſſer— 
ſtoffgas verbrannt wird, reißt zuerſt der Waſſerſtoff aus der 
luftartigen Umgebung ſo viel Sauerſtoffgas an ſich als zu 
ſeiner Mitgeſtaltung zum Waſſer nöthig iſt, und nur dann, 
wenn noch Sauerſtoffgas genug übrig blieb, verbindet ſich auch 
der Kohlenſtoff mit ihm zum kohlenſauren Gas, iſt aber je— 
ner nicht in hinlänglicher Menge vorhanden, dann ſcheidet 
ſich die Kohle in unvermiſchtem Zuſtand ab. Auch dann, 
wo bei dem Verbrennen eines Körpers, welcher Kohlenſtoff 
und Waſſerſtoff in ſeiner Miſchung enthält, der Grad der 
Hitze nicht hoch genug iſt, wird die Kohle unverbrannt ab⸗ 
geſchieden; ſie ſteigt dann von einem ſolchen nicht durch und 
durch entflammten Körper als Rauch, mit Waſſerdampf ver⸗ 
bunden, empor. 


317 


Die fühlbare Wärmeverbreitung beim Verbrennen der 
Körper hängt nicht allein von der Beſchaffenheit ihres Brenn— 
ſtoffes und der größeren Menge des aufgenommenen Sauer— 
ſtoffgaſes, ſondern auch von der Schnelligkeit ab, in welcher 
das Brennen vor ſich geht. Unter den unverkohlten Brenn⸗ 
materialien unſrer Herde giebt die Holzrinde, in kleine 
Stücken zerbrochen, die meiſte Wärme, nächſt dieſem Eichen-, 
Eſchen⸗ und Buchenholz. Im Durchſchnitt erhält man beim 
Verbrennen von einem Pfund Holzkohlen eine dreimal grö— 
ßere Wärme als beim Verbrennen von einem Pfund trocknen 
Brennholz. Eine noch ſtärkere Wärmeverbreitung als mit— 
telſt der Holzkohlen, wird durch das Entflammen von wei— 
ßem Wachs ſo wie von ätheriſchen und fetten Oelen erhal— 
ten, während der verbrennende Weingeiſt an wärmegebender 
Kraft den Holzkohlen nicht ganz gleich kommt. Das Licht, 
welches bei einem flammenden Körper die Wärme begleitet, 
iſt im Durchſchnitt ſtärker beim Verbrennen von dichten, fe— 
ſten und tropfbaren als beim Verbrennen von gasförmigen 
Körpern. Das ſchwache Licht, das eine Waſſerſtoffgasflam— 
me von ſich giebt, wird ſogleich vermehrt, wenn man das 
Gas vor feiner Entzündung durch Terpentinöl leitet und 
hierdurch mit den Dämpfen von dieſem vermiſcht; die Flam— 
me unſrer Weingeiſtlampen leuchtet ungleich ſtärker als ge— 
wöhnlich, wenn man den baumwollenen Docht derſelben mit 
kohlen- oder ſchwefelſauren Natron getränkt, oder dem Wein— 
geiſt ein wenig Terpentinöl beigeſetzt hat. Wenn der Brenn— 
ſtoff eines durch die Gluth entzündeten Körpers, ſo wie dies 
bei gut ausgebrannten Holzkohlen und Coaks der Fall iſt, 
eine geringe Neigung zur Verflüchtigung und Dampfbildung 
hat, dann glüht er ohne Flamme; das Holz entwickelt in 
der Hitze flüchtige Theile, darum flammt und glüht es zu— 
gleich. Wenn der Platinadraht durch die Einwirkung einer 
Lichtflamme weiß glühend wird, dann vermehrt er durch ſein 
ausſtrahlendes Licht die Helligkeit aller flammenden Körper. 

Was uns alle die hier erwähnten Erſcheinungen der 
Wärme und des Lichtes, welche das Verbrennen der Körper 
begleiten, über das eigentliche Weſen dieſer beiden Mächte 
der Sichtbarkeit lehren konnen, ob fie beide Körper, nur einer 
höheren Ordnung ſind, welche mit den Körpern der niedren 
Ordnung, die dem Zuge der Schwere nach unſrer Planeten— 
maſſe unterliegen, Verbindungen eingehen, aus deren Feſſeln 


318 


jene unter gewiſſen Umſtänden frei werden, oder ob fie ſel⸗ 
ber nur ein Bewegen der Leiblichkeit ſind, das von einem 
leiblich gewordenen Weſen dem andren ſich mittheilt, das 
wollen wir hier noch nicht zu entſcheiden ſuchen. Die Beant⸗ 
wortung der Frage ſcheint von tiefen Folgen über das Ver⸗ 
ſtandniß ſelbſt jenes Verhältniſſes zu ſeyn, das ſich zwiſchen 
Seele und Leib findet. Die Seele zwar iſt kein Kör⸗ 
per in dem Sinne, in welchem das Fleiſch, das Blut und 
die Knochen dieſes ſind, aber ihr Seyn und Wirken gehet 
auch nicht blos aus einem Gegeneinanderbewegen des Flei⸗ 
ſches und Blutes, der Häute und Knochen hervor, ſondern 
ſie iſt ein ſelbſtſtändiges Weſen wie nach ſeinem Maaße der 
Leib dieſes iſt. Die Betrachtung der Warme und des Lichtes 
giebt unſrem nachſinnenden Geiſte ein Räthſel auf, grußer 
an Umfang und tiefer an Inhalt als jemals das Ratbſel 
einer Sphinx war. Wir muſſen, ehe wir nur aus der Fer⸗ 
ne zu dem Verſuch einer Löſung deſſelben auffordern konnen, 
den großen Gegenftand auch von andren Seiten her ins 
Auge faſſen; vorher aber im Vorübergehen noch von etwas 
ſcheinbar Unbedeutendem reden, das uns hier am Wege liegtz 
von einer Form des (gleichſam) Verbrennens, welches nicht 
in unſeren Küchen und Oefen, ſondern in den Kellern vor 


ſich gehet. 


34. Die Bereitung der gegohrnen Getränke. 


Es iſt wohl der Beachtung werth, daß der Menſch vor 
allen Lebendigen der Sichtbarkeit das Bedürfniß fühlt zur 
Bereitung ſeiner Nahrungsmittel das Feuer zu Hulfe zu 
nehmen. Erſt durch das Kochen und Braten oder Röſten 
werden manche Stoffe für uns zu einer gedeihlichen Speiſe, 
die in ihrem rohen Zuſtand ungenießbar oder ſeloſt ſchadlich 
ſeyn würden, ſo namentlich die Kartoffel, wie die Wurzel 
einiger Aronarten und das Manihot. Aber es ſind nicht 
allein die Speiſen, welchen wir durch Anwendung des Feuers 
die rechte Annehmlichkeit für unfren Magen und unfren Gaus 
men geben, ſondern auch die Getränke, an denen die Be⸗ 
wohner der verſchiedenſten Länder ſich laben, bekommen gro- 
ßentheils erſt mit Hülfe des Feuers ihre rechte Kraft und 
Wirkſamkeit. Das Feuer, wenn man es überall ſo nennen 
will, wird aber zur Bereitung jener Getränke auf zweifache 


319, 


Weiſe angewendet, einmal im gewöhnlichen Verbrennungs⸗ 
prozeß unſrer Herde und Kochöfen, dann aber auch im Vor⸗ 
gang der Gährung, welche, wie wir vorhin ſahen, ja auch 
nichts Andres iſt als ein gleichſam langſames Verbrennen. Selbſt 
die Speiſen werden von einigen Volkern einer Gährung oder 
angehenden Verweſung unterworfen und dieſer für uns eckel⸗ 
hafte Appetit findet ſich namentlich bei den Negerſtämmen 
ſüdwärts vom Senegal und bei den aſiatiſchen Völkerſtäm⸗ 
men in Pegu, Arrakan, Siam, die ſich aus faulen Fiſchen 
den ihnen ſehr beliebigen Balachian-Brei bereiten, welchen 
ſie, reichlicher denn wir den Senf als Zuſatz zu andren Spei⸗ 
ſen nehmen. 

Unter den Getränken ſind freilich die naturgemäßeſten 
das reine Waſſer, ſo wie die Milch der reinen Thiere unſrer 
Herden, und in heißen Ländern kann man öfters die Bewoh— 
ner im Schatten der Felſen an einer Quelle eben ſo fröhliche 
Gelage halten ſehen, als unſre Landsleute bei den Krügen 
voll Bier oder Wein. Aber an jenen natürlichen Getränken 
läßt ſich der Menſch nicht immer genügen: er fühlt in ſeinem 
Innerſten das Sehnen nach einem Zuſtand der freudigen 
Erhebung und geiſtigen Bekräftigung (Begeiſterung), für wel— 
chen ſein Weſen beſtimmt und geſchaffen iſt, und nur in dies 
ſem Zuſtand hält er ſich, ſeinem Gefühle nach, für recht 
wohlauf und beglückt, denn jene Bekräftigung theilt ſich der 
Seele wie dem Leibe mit. Aber der rechte, wahre Weg, 
der zu der freudigen Stimmung und Erhebung des Gemu— 
thes führt, und auf welchem dieſe zu etwas Bleibendem, mits 
ten unter allem Wechſel des äußren Lebens werden kann, 
nimmt im Geiſte ſelber ſeinen Anfang, und von dieſem aus 
feinen Verlauf durch unſre leibliche Natur. Die rechte, höch⸗ 
ſte Freudigkeit iſt doch die, welche aus dem Genuß eines 
unvergänglichen, geiſtigen Gutes, nicht aus dem eines ſchnell— 
vergänglichen, körperlichen hervorgeht. Bei dem innigen Zu— 
ſammenhang und dem Verhältniß des wechſelſeitigen Durch— 
drungenſeyns des einen von dem andren, in welchem Geiſt 
und Leib während des irdiſchen Lebens mit einander ſtehen, 
kann jedoch auch zuerſt in der leiblichen Natur eine höhere 
Bekräftigung und Anregung hervorgerufen werden, an wel— 
cher der Geiſt ſeinerſeits Antheil zu nehmen vermag. Und 
ſo lange er dieſes auf rechte Weiſe und in rechtem Maaße 
thut, bringt ihm dieſer umgekehrte Weg der innren Selbſter— 


320 


hebung keinen Nachtheil und Schaden; die fröhliche Stim⸗ 
mung des Herzens, welche der mäßige Genuß des Weines 
bewirkt, kann einem wohlgeordneten Gemüth je zuweilen 
ſeine geſunde Wirkſamkeit und den Kampf mit den Hemmun⸗ 
gen und trübenden Einflüſſen die aus der Leiblichkeit kom⸗ 
men, erleichtern. Nur muß daſſelbe ſich vor dem Irrthum 
hüten, in welchen nach S. 76 unſer Duval verfiel, als er 
die ſchnell vorübergehende Begeiſterung der leiblichen Art mit 
einer bleibenden, höheren der Seele verwechslete. 

Unter den Getränken, welche der Menſch ſich erfunden 
hat, um ſeiner zum Aufſchwung trägen, geiſtigen Natur 
durch leibliche Anregung zu Hülfe zu kommen, ſtehen an 
Wirkſamkeit die gegohrnen, ſo wie Kaffee und Thee, oben 
an. Der Vorgang des Athmens, durch welchen (n. S. 229) 
das Feuer auf dem Herd des leiblichen Lebens, das Gefühl 
der Leichtigkeit und des körperlichen Wohlbefindens erhalten 
wird, empfängt in jenen Getränken einen Stoff, der ihm 
zur kräftigen Unterſtützung und Förderung dient, indem er 
mit dem Sauerſtoffgas das durchs Athmen in den Körper 
kommt, leichte Verbindungen eingeht. Jener Stoff iſt ſei— 
nem chemiſchen Beſtand nach ein zuſammengeſetzter, vor 
Allem aus dem Kohlen- und Waſſerſtoff, welche in beftimm- 
tem Verhältniß mit Sauerſtoffgas oder mit den Grundlagen 
beider herrſchenden Luftarten der Atmoſphäre verbunden ſind. 

Der Vorgang der Gährung ſtehet in ſo genauem Zu— 
ſammenhang mit dem Einfluß der Wärme, daß wir denſel— 
ben in dieſer Beziehung hier noch etwas näher, als im vor— 
ſtehenden Capitel geſchahe, ins Auge faſſen müſſen. 

Die einer Gährung fähigen Elemente der organiſchen 
Körper können nur dann in dieſen Zuſtand gelangen, wenn 
ſie mit Sauerſtoff- und Waſſerſtoffgas unter Einwirkung 
eines gewiſſen Grades der Wärme in Berührung kommen. 
Der Moſt kann ſich, wenn man ihn vollkommen vor dem 
Zutritt der Luft ſchützt, Jahre lang unverändert erhalten und 
ſo kann man auch Milch, Fleiſchſuppen, gekochte Gemüſe 
wie Fleiſchſpeiſen, in vorher möglichſt luftleer gemachten und 
vollkommen luftdicht verſchloſſenen blechernen Büchſen weit 
über Land und Meer ſenden und Jahre lang friſch und un—⸗ 
verdorben erhalten. In England kocht man für Tauſende 
von Reiſenden und fernwohnenden Europäern die Mahlzeit, 
welche dieſe auf dem Meere oder in der heißen Wüſte - 

en, 


321 


ßen, wo keine frifchen Lebensmittel zu haben find; die Wär⸗ 
me, ſelbſt die des afrikaniſchen und oſtindiſchen Klimas für 
ſich allein, kann keine Gährung und Zerſetzung bewirken, es 
muß hierzu nothwendig die Luft mitwirken. . 
Sobald aber dieſe den Zutritt, etwa zum Moſte ge⸗ 
winnt, dann tritt alsbald eine Bewegung in den flüſſigen 
Theilen und eine lebhafte Gasentwicklung ein, der Zucker 
verſchwindet, denn dieſer iſt in Weingeiſt und in Kohlenſäure 
verwandelt worden, welche in Luftform entwichen iſt; der 
Saft wird allmälig klar und hell, indem er die gelbliche Hefe 
zu Boden fallen läſſet. Wenn man hierauf die klare Flüſ— 
ſigkeit abfließen läſſet, fo daß die Hefe abgeſondert zurück⸗ 
bleibt, dann zeigt ſich dieſe fähig in friſchem Zuckerwaſſer, 
unter das man fie miſcht, eine gleiche Gahrung wie die im 
Moſte war, zu begründen; der Zucker wird dabei in Wein- 
geiſt und Kohlenſäure zerſetzt und auch die Hefe nimmt zu⸗ 
letzt, wiewohl langſamer, an dieſer Zerſetzung Theil: ſie 
verſchwindet ganz. Wenn der Moſt, wie dies in den 
ſüdlichen Weinen der Fall iſt, den Zucker in ſehr reicher 
Menge in ſich enthält, dann wird die Hefe bei der Gährung 
theils zerſetzt, theils als unauflöslich ausgeſchieden und es 
bleibt noch ein großer Ueberſchuß an Zucker zurück, während 
dagegen der zuckerarme Traubenſaft der nördlicheren, für den 
Weinbau benutzten Länder nach der Gährung noch immer 
jenes hefenartige Element in ſich führt, das die Weingäh— 
rung unter Zutritt der Luft zur Eſſiggährung überführt. 
Die Hefe wird dadurch zur Anregung jener Bewegung 
fähig, in welcher das Weſen der gährenden Zerſetzung beſte— 
het, daß ſie ſelber vermöge ihrer Zuſammenſetzung leichter 
als andre Stoffe einer Zerſetzung unterliegt, indem ſie auſſer 
den drei Beſtandtheilen des Zuckers, auſſer dem Kohlen-, 
Waſſer⸗ und Sauerſtoff, auch noch Stickſtoff und nicht ſelten 
etwas Schwefel enthält. Die Bewegung des Gährens pflanzt 
ſich unter den Theilen des gährenden oder faulenden Körpers 
wie durch eine Art von Anſteckung fort, ſo daß dieſelbe, wenn 
fie einmal begonnen hat, auch nach Entfernung des Luſtzu— 
trittes, der zu ihrem Beginnen nothwendig war, noch fort⸗ 
dauert. Eben in dieſer Weiſe der Mittheilung des Bewe- 
gens, von einem Theile der Flüſſigkeit an den andren, liegt 
auch der Grund, daß die Gährung nicht plötzlich und auf 
einmal vor ſich gehen kann, ſondern Do fie einem allmäli⸗ 
| 1 


322 


gen Verlauf unterworfen ift. Und diefer allmälige Verlauf 
der Gährung iſt zur beſſeren Erreichung des Zweckes, den 
wir durch ihre Anregung gewinnen wollen, ein durchaus we⸗ 
ſentliches Erforderniß; die Temperatur des Raumes, darin⸗ 
nen die Flüſſigkeit gährt, muß ſo ſehr als möglich ſich gleich 
bleiben, ſie darf durch ihren höheren Wärmegrad den Vor⸗ 
gang der Umbildung und Zerſetzung nicht allzuſehr beſchleu⸗ 
nigen. Bil; 
Denn welchen verändernden Einfluß ein höherer Grad 
der Wärme auf die Erzeugniſſe der Gährung ausübe, das wird 
in ſehr vielen Fällen erkannt. So erhält man aus dem zuk⸗ 
kerreichen Safte mancher Wurzeln, wie der Runkelrüben und 
Mohrrüben, wenn man ihn in gewöhnlicher Temperatur eines 
Kellers gähren läſſet, auf ähnliche Weiſe als aus dem Saft 
der Birnen oder der Trauben eine weingeiſtige Flüſſigkeit, bei 
deren Bildung gleichzeitig die Kohlenſäure entwickelt wird 
und eine ſtickſtoffreiche Hefe ſich abſetzt. Wenn dagegen die 
Gährung jenes Saftes in einer Wärme von 32 bis 36 Gr. 
Réaumur vor ſich geht, dann entſteht kein Weingeiſt, es. 
wird nur wenig Kohlenſäure entwickelt, der Zucker hat 
ſich in Milchſäure und in Gummi zerlegt, dabei iſt eine 
kryſtalliniſche Maſſe entſtanden, welche mit dem ſüßen Be⸗ 
ſtandtheil der Manna die größeſte Aehnlichkeit hat. Dagegen 
entſteht bei der Gährung der Milch in gewöhnlicher Tempe⸗ 
ratur aus dem Zucker derſelben die Milchſäure, in höherer 
Temperatur eine weingeiſtige Flüſſigkeit, aus welcher durch 
Deſtillation ein ſtarker Branntwein gewonnen werden kann. 
Dieſe leicht anwendbare Behandlung der Milch bloß 
durch den Einfluß eines noch nicht ſehr großen Hitzegrades 
hat den Bewohnern einiger mittelaſiatiſchen Steppenländer 
ein Mittel an die Hand gegeben, ſich ein berauſchendes gei⸗ 
ſtiges Getränke ſtatt aus dem Saft der Rebe aus Pferde⸗ 
milch zu bereiten. | 
Die am häufigſten bei den verſchiedenſten Völkern und 
ſeit den älteſten Zeiten der hiſtoriſchen Kunde in Gebrauch 
gewesnen gegohrnen Getränke ſind der Wein, aus dem Saft 
der Trauben oder einiger andren, dieſem verwandten zuder 
reichen Pflanzenſäften, und das Bier, zuſammengeſetzt aus einer 
zuckerhaltigen Flüſſigkeit von vegetabiliſcher Natur und einem bit⸗ 
teren Stoffe. Jenes weinartige Getränke das aus dem Safte 
verſchiedener Palmenarten gewonnen wird, bedarf der kürzeſten 


323 


Zeit zur Reife feiner Gährung, es wird zum Theil ſchon 
nach wenig Stunden genießbar und empfängt hierbei mit den 
anregenden, zugleich auch lieblich kühlende Kräfte. Mehrere bee⸗ 
renartige Früchte (wie Johannis- und Stachelbeeren) ſo wie 
der ſüße Saft unſres Kernobſtes, wenn dieſes bei ſeiner 
Ueberreife ſchon in ſeiner eignen Subſtanz den erſten Grad 
der Gährung (durch das Taigwerden) erlitten hat, ſind zur 
Bereitung von weinartigen Getränken brauchbar, doch erſchei⸗ 
nen dieſe alle in ihrem Geſchmack wie andren Eigenſchaften 
nur als mehr oder minder unvollkommene Nachgebilde ihres 
Urbildes, das aus der Traube kommt. Jene Nachgebilde 
enthalten in ungleich größerer Menge als die vollkommen ge⸗ 
reifte Traube ſolche fremdartige Stoffe, welche bei dem Zu⸗ 
tritte der Luft die Eſſigſäurung herbeiführen und durch ihren 
Geſchmack der Zunge, durch ihre in der Wärme des Ma- 
gens noch weiter gehende Zerſetzung dem Gefühl der Einge⸗ 
weidehöhle ihre unedlere Abkunft verrathen. In dem Safte 
der vollkommen gereiften, zuckerreichen Traube der wärmeren 
Zonen iſt es großentheils nur der Farbeſtoff der rothen Wei⸗ 
ne, welcher bei dem Zutritt der Luft Veränderungen erleidet, 
deren Einfluß, gleich jenem der Hefe, eine Säuerung bewir⸗ 
ken kann, während die weißen ſüdlichen Weine einer ſolchen 
Veränderung den kräftigſten Widerſtand leiſten. 

In unſren vakerländiſchen Weinen, welche demohngeach— 
tet ſeit länger als 16 Jahrhunderten (denn ſchon im J. 231 
n. Chr. gab es dieſſeits des Rheines in Deutſchland einen 
Weinbau) auf mehrfache Weiſe das Herz der Menſchen er⸗ 
freut und geſtärkt haben, bleibt nach der Gährung noch ein 
Theil jener ſtickſtoffhaltigen Elemente zurück, welche, als 
Hefe, den Vorgang der Gährung anregten. Wenn jetzt der 
ganze Vorrath des Zuckers zerſetzt iſt, dann wendet ſich die 
Wirkſamkeit jener Elemente auf den Alkohol oder Weingeiſt, 
deſſen fortgehende Säuerung ſie begünſtiget. Könnte man 
dieſe zur ſauren Gährung anregenden Stoffe ganz entfernen, 
dann würde niemals ein Wein zum Eſſig werden; ihre Ver⸗ 
wandtſchaft aber zum Sauerſtoffgas der Atmoſphäre iſt fo 
groß, daß ſchon bei dem Hinüberfüllen des Weines aus 
einem Faß in das andre eine Säuerung deſſelben eintritt, 
welche nun auch in der Abgeſchloſſenheit durch die Wände 
des hölzernen Gefäßes ſeinen weitren Fortgang nehmen wür⸗ 
de, wenn man nicht auf künſtliche eiſe ihm Einhalt zu 

21 


324 


thun vermochte. Dieſes ift durch das Ausſchwefeln der Fäſ⸗ 
ſer möglich geworden, denn die ſchweflige Säure, die ſich 
beim Verbrennen des Schwefelſpans erzeugt, wird von den 
feuchten Wänden des Faſſes, in welchem das Verbrennen 
geſchahe, eingeſogen, und da dieſelbe eine größere Verwandt⸗ 
ſchaft zum Sauerſtoffgas hat als die noch im Wein enthal- 
tenen die Gährung fördernden Beſtandtheile, ſo entzieht 
ſie, indem ſie allmälig in der Maſſe der Flüſſigkeit ſich ver⸗ 
theilt, dieſer das Sauerſtoffgas, das ſie bei dem Abfüllen 
von einem Faß ins andre, aus der Luft aufgenommen hatte. 
Die ſchweflige Säure ſteigert ſich übrigens hierbei zur Schwer 
felſäure, deren kleiner Antheil mit dem Weine gemiſcht bleibt. 
Uebrigens findet durch die Holzwände der Fäſſer fortwährend 
der Zutritt einer kleinen Quantität von Luft ſtatt, der in 
dieſer enthaltene Sauerſtoff verbindet ſich aber zunächſt 
nur mit den gährungfördernden Beſtandtheilen, zu denen er 
einen ſtärkeren Zug der Verwandtſchaft hat als zu dem Al⸗ 
kohol; jene ſetzen ſich nach und nach als Unterhefe zu Boden, 
der Weingeiſtgehalt hat von dem Einfluß einer in ſo gerin⸗ 
ger Menge zutretenden Luft bei einem gehaltreichen Weine 
nicht zu leiden, dieſer wird, bis zu einer gewiſſen Gränze, 
durch das lange Lagern, bei ſonſt zweckmäßiger Behandlung, 
nur beſſer. 

Auch hierauf hat übrigens die Temperatur, in der ſich 
das gegohrne, noch mehr aber das in der Gährung begriffene 
Getränke befindet, einen ſehr bedeutenden, veredlenden oder 
verſchlechternden Einfluß. Die Säuerung des Alkohols (der 
Uebergang des Weingeiſtes in Eſſigſäure) wenn derſelbe in 
Berührung mit einem hefenartigen Stoffe iſt, geht am ra⸗ 
ſcheſten in einer Wärme vor ſich, welche von 28 bis 20 
Grad Réaumur beträgt, minder raſch, in immer abnehmen— 
dem Verhältniß bei einer Wärme von 20 bis 10 Grad, und 
wenn die Abkühlung noch weiter, bis zu 8 und 7 Grad herun⸗ 
tergeht, dann findet ferner gar keine Verbindung des Alko— 
hols mit dem Sauerſtoffgas ſtatt, während die Verbindung 
der ſtickſtoffhaltigen Beſtandtheile mit demſelben und die Bil- 
dung der Hefe dabei ungeſtört ihren Gang fortgehet. Mit 
Recht hat deshalb einer der einſichtsvollſten Chemiker unſerer 
Zeit: J. Liebig, auf die Vortheile aufmerkſam gemacht, 
welche zur Veredlung des Weines ein Verfahren haben müßte, 
bei welchem man den Traubenmoſt (auch Obſtmoſt) nicht wie 


325 


bisher in faft freien, über der Erde gelegenen, dem Wär: 
mewechſel ausgeſetzten Räumen, fondern in einem Keller, bei 
einer gleichmäßigen Temperatur von wo möglich nur 8 Grad 
oder nicht viel darüber, in offenen weiten Gefäßen der Gäh⸗ 
rung überließe. Der die Gährung erregende und bei großer 
Wärme die Eſſigſäurung herbeifuͤhrende, ſtickſtoffhaltige Be— 
ſtandtheil verbindet ſich dabei mit dem Sauerſtoffgas und 
ſcheidet ſich als Hefenſchaum ab, der Wein wird klar und hat 
bei dieſer Behandlung in der kürzeſten Zeit die nämliche Ver⸗ 
vollkommnung und Güte erlangt, die man ihm ſonſt nur 
durch jahrelanges Lagern giebt. | 
' Ganz nach denſelben Grundſätzen als bei der Bereitung 
des Weines aus zuckerhaltigen Pflanzenſäften wird bei der 
des Bieres verfahren; dieſes in ſeiner beſſeren Form ge— 
ſunden, kräftigen Getränkes, welches ſchon ſeit alter Zeit bei 
den verſchiedenſten Völkern der Erde in Gebrauch waͤr und 
noch fortwährend es iſt. Die Bewohner des alten Peluſiums 
in Aegypten ſchrieben ſeine Erfindung dem Oſiris ſelber zu 
und auch bei den Griechen knüpfte ſich eine hochehrende Sage 
an die älteſte Geſchichte dieſes auch unter ihnen beliebten Ge— 
tränkes. In Italien wie in Frankreich und in den Urwäl⸗ 
dern des deutſchen Vaterlandes fo wie in dem fkandinavi⸗ 
ſchen Norden trank man ſchon in der älteſten, geſchichtlich 
bekannten Zeit ein bierartiges Getränk, welchem die alten 
Gallier eine ſolche Vollkommenheit zu geben wußten, daß 
ſich daſſelbe mehrere Jahre lang aufbewahren ließ. Bei den 
Bewohnern von Peru wie der nördlicheren Landſtriche von 
Amerika, in Kamtſchatka wie in Arabien, in Japan, China, 
Nubien und Abyffinien fand und findet ſich derſelbe Gebrauch, 
und ſelbſt die Bewohner des von der Natur ſo reich begab— 
ten Caplandes, denen der beſte auf Erden bekannte Wein 
gedeiht, erquicken ſich an einem ſchnellbereiteten, dem Biere 
ahnlichen Getränke. 

In all unſren Getreidarten finden ſich die Elemente des 
Zuckers, zum Theil ſchon zu wirklichem Zucker gebildet, in 
bedeutender Menge. Durch das Keimen und Dörren (Mal⸗ 
zen) zum Beiſpiel der Gerſte, werden die zuckerartigen, mit 
Stickſtoff verbundenen Beſtandtheile im Waſſer aufloslich, 
was ſie vor dem Keimen nicht waren, ſie ſind hierdurch in 
jenen der Gährung dienlichen Zuſtand verſetzt worden, in 
welchem ſich die ſtickſtoffhaltigen Beſtandtheile des Trauben⸗ 


326 


faftes von Anfang her befinden. In dem concentrirten Auf⸗ 
guß des Malzes oder in der Bierwürze ſind bereits alle jene 
Elemente enthalten, welche dem Entſtehen des Alkohols bei 
gleichzeitiger Entwicklung der Kohlenſäure und Ausſcheidung 
der Hefe dienen und hierdurch die Gährung fördern können, deren 
Beginnen durch einen Zuſatz von ſchon gebildeter Hefe beſchleu⸗ 
500 wird. Vor allem ſoll dieſer Vorgang als Form einer Art 
des Verbrennens, nach den ſtickſtoffhaltigen Beſtandtheilen 
ſeine vorherrſchende Richtung nehmen, dieſe, nicht der Alko⸗ 


hol, ſollen mit dem Sauerſtoffgas ſich verbinden und zur 
ausſcheidenden Hefe werden. Hierbei kommt nun die vorhin 


erwähnte Erfahrung über die am beſten geeignete, niedere 
Temperatur, der Bierbereitung zu Hülfe. Sie iſt jener ver⸗ 
wandt, die man (nach S. 315) bei dem eigentlichen Ver⸗ 
brennen der entzündbaren Körper gemacht hat. Der Phos⸗ 
phor verbrennt ſchon bei einer Wärme, welche nur 48 Gr. 
R. beträgt; damit der Schwefel ohne unmittelbare Berüh⸗ 
rung einer Lichtflamme ſich entzünden könne, muß die Hitze 
zu einem faſt 5 mal höheren Grade verſtärkt werden. Ein 
ähnliches Verhältniß findet auch zwiſchen dem Gährungsſtoffe 
und dem Alkohol der gährenden Bierwürze ſtatt. Der erſtere 
verbindet ſich mit dem Sauerſtoffgas ſchon bei einer Wärme, 
welche nur wenig Grade über dem Gefrierpunkt ſtehet; die 
Säuerung des Weingeiſtes (zu Eſſig) fordert zu ihrem Fort⸗ 
gang eine verhältnißmäßig viel höhere Wärme. Das Sauer⸗ 
ſtoffgas, welches zur Bildung der ſauerſtoffreichen Hefe, die 
zugleich wegen ihrer ſchwerern Löslichkeit im Waſſer aus der 
Flüſſigkeit ausſcheidet, nöthig iſt, kommt theils durch Zerſez⸗ 
zung des Waſſers oder einer kleinen Menge Zucker aus der 
zährenden Flüſſigkeit ſelber, theils aus der atmoſphäriſchen 
Luft, deren freiem Zutritt ihre Oberfläche bis zur vollende⸗ 
ten Abklärung ausgeſetzt wird. Der Zuſatz einer Abkochung 
des Hopfens oder eines ähnlichen bittren Stoffes, dient auſ— 
ſer ſeiner wohlthätigen Wirkung auf den Magen auch noch 
dazu, daß dem Alkohol die Neigung benommen werde zu jener 
nachtheiligen Formwandlung, die namentlich auch dem ſoge⸗ 
nannten Fuſelöl der Branntweine zu Grunde liegt. Denn 
auch beim Branntweinbereiten wird das Entſtehen dieſes 
ſchädlichen und widerwärtigen Productes durch Zuſatz eines 
bittren Stoffes zur Maiſche vermieden. 

Man hat nicht ſelten aus Gegenden, in denen ein we⸗ 


gen feiner. Güte beſonders berühmtes Bier bereitet wird, 
Brauer nach andren Gegenden berufen, in denen die Bier⸗ 
bereitung nicht ſo wohl gelingen wollte. Man gab ihnen. 
dieſelbe Menge der beſten Gerſte, des beſten Hopfens, wel⸗ 
che im Vaterlande des guten Bieres zur Fertigung dieſes 
Getränkes genommen werden, und doch blieb ihr Machwerk 
unvergleichbar weit hinter dem Muſter zurück, das man zu 
erreichen ſtrebte. Nicht die Verſchiedenheit des Waſſers, ſon— 
dern zunächſt nur der Mangel an einem Raum, in welchem 
bei einer gleichmäßigen, niedrigen Temperatur die Gährung 
ihren allmäligen Verlauf nehmen konnte, war der Grund 
des Mislingens ſolcher Verſuche. Tiefe Felſenkeller, deren 
mittlere Jahrestemperatur nicht über 8 Grad iſt, oder denen 
man durch das in einem Theil ihrer Räume angebrachte Eis 
dieſe Tempeatur auch bei friſchem Luftzutritt zu erhalten weiß, ſo 
wie anderwärts wo die Felſen ſammt ihren Kellern mangeln, 
ein mitten in der Ebene dick aufgemauerter, mit Schutt uͤber⸗ 
deckter, bald mit Raſen und Bäumen ſich überkleidender, 
künſtlicher Berg, ſind bei der Bereitung eines guten Bieres 
eben ſo weſentlich nothwendig, als die gehörige Menge und 
Güte des Materials, aus dem man die Bierwürze, die in 
jenem kühlen Raume gähren ſoll, bereitet. Ein Meiſterwerk 
dieſer Art iſt der rieſenhafte, künſtliche Berg mit ſeinen wei⸗ 
ten, zweckmäßig abgekühlten innren Räumen, welchen der zu 
ſeiner Zeit weitberühmte, ehrenhafte Bürger und Bierbrauer 
Joſeph Pſchorr der Aeltere zu München aufgeführt hat. 

Alle Arten des Getreides, doch vor allem Gerſte, ſind 
zur Biergewinnung günſtig. In Südafrika nehmen die hol⸗ 
ländiſchen Koloniſten Honig in Waſſer gelöſt, ſtatt der ge⸗ 
wöhnlichen Bierwürze und bereiten daraus mit Zuſetzung des 
. einer bittren Wurzel eine ſehr geſunde Art des 

ieres. 

Wir ſind ſcheinbar auf einen weiten Um- und Abweg 
gerathen, der uns aus dem weiteren, bedeutungsvolleren 
Kreiſe des Allgemeinen, von einem Standpunkt der uns eine 
vielumfaſſende Ausſicht über die Geſchichte unſrer irdiſchen 
Sichtbarkeit darbot, auf den engen Raum eines Gewerbes 
für unſren Haushalt geführt hat. Und dennoch iſt der Ge— 
genſtand nicht nur für Einzelne, er iſt für Jeden von uns, 
auch für den Waſſertrinker, von Bedeutung und Wichtigkeit, 
denn er gehet zum Theil das Wohl ganzer Völker und Län⸗ 


328 


der an. Wie beklagenswürdig anders wirket der Genuß des Brannt⸗ 
weins auf die leibliche wie geiſtige Geſundheit des Menſchen 
ein, als der Genuß eines gut und gedeihlich bereiteten Bie⸗ 
res oder Weines. Und wenn auch nicht der Wein, ſo würde 
dennoch für jedes Land der gemäßigten wie kalten Zone das 
Getränk, deſſen Stoff auf ſchlanken Halmen wächſt: das 
Bier zu haben ſeyn. h 


35. Die eigenthümliche Wärme der lebenden 
organiſchen Körper. | 


Von der Wärme des lebenden, menſchlichen Leibes ſpra⸗ 
chen wir ſchon oben (S. 278). Nicht aber nur durch die 
Vorgänge der Geſtaltung und Bewegungen in unſrem eige⸗ 
nen Körper wird fortwährend Erwärmung und Wärmever⸗ 
breitung an die umgebende Körperwelt hervorgerufen, ſon— 
dern überall wo eine Seele den leiblichen Stoff zu dem Zweck 
ihres Wirkens bildet und belebt, regt ſich, mit der Bewe— 
gung zugleich, in einem gewiſſen Maaße auch die Wärme. 
Manche Pflanzen, wie die Brunnenkreſſe, erhalten ſich 
nicht nur unter dem Schnee ungefroren, ſondern ſie bilden 
rings um ſich her in dieſem ein Gewölbe; ſie erhalten jenen 
Theil eines Waſſers, welches durch den Froſt erſtarrt, 
der ſie zunächſt umgiebt, flüſſig. Gerade dann, wenn die 
Temperatur der äußren Luft den niedrigſten Grad erreicht 
hat, am Morgen, gegen Sonnenaufgang herrſcht im Innren 
der Bäume, wie dies die hineingebrachten Thermometer er— 
kennen laſſen, eine höhere Wärme, als ſelbſt die mittlere 
der Frühlingsmonate iſt, während ſich in den Mittagsſtun— 
den, wo die Verdünſtung ſtärker wird, die Wärme bis unter 
den mittlern Stand des Monates vermindert. Während der Vor— 
gänge des Blühens und der erſten Entwicklung der Fruchtkeime 
hat man in mehreren Gewächſen eine Erwärmung beobachtet. 

Der Quell der Lebenswärme bei den Thieren iſt in noch 
unverkennbar deutlicherer Weiſe als bei den Pflanzen, ein 
ähnlicher, als der, welcher im Verbrennen, in dem Bor: 
gang einer mehr oder minder ſchnellen und lebhaften Verbin⸗ 
dung der brennbaren Elemente mit dem Sauerſtoffgas liegt. 
Das Thier bedarf zur Erhaltung ſeines Lebens nicht nur des 
Zuganges der Nahrungsmittel, ſondern vor Allem (nach C. 
26) des Einathmens der Luft, und zwar, je vollkommner es 


329 


iſt, deſto mehr der Aufnahme des Sauerſtoffgaſes oder der 
Lebensluft der Atmoſphäre. | 

Wie warm es, ſelbſt im Winter oder an kalten Herbſt⸗ 
und Frühlingstagen in einem gut bevölkerten Bienenkor⸗ 
be ſey, dies weiß jeder Pfleger und Beſitzer von Bienen. 
Wenn auſſen in der freien Luft das Thermometer nur ei— 
nen Grad über den Gefrierpunkt hat, dann herrſcht darin— 
nen eine Wärme von 18 Grad Réaumur; im Frühling, wenn 
der Thermometerſtand an freier Luft noch nicht 10 Grad er⸗ 
reicht, überſteigt die Wärme im Innren des Bienenſtockes 
22 Grad. 

Allerdings hat auf die Steigerung dieſer Wärme, wie 
überall im Thierreich, auch die Bewegung Einfluß. Wenn 
im Mai oder Juni zur Zeit des Schwärmens eine faſt allge— 
meine Aufregung die Bevölkerung des Stockes ergreift, ſo 
daß ganze Schaaren der Unterthanen einer zum Auszug be 
reiten Königin in unruhiger Haft ſich neben und unter einans 
der bewegen, dann erreicht zuweilen die Wärme in einem 
Bienenkorb einen ſo hohen Grad, daß die Zellen des Wach— 
ſes anfangen zu ſchmelzen. Unmittelbarer jedoch als der 
Einfluß der Bewegung fällt jener Einfluß in die Augen, den 
die Nahrung auf die Wärmeentwicklung des lebenden Inſec— 
tenleibes hat. Die Temperatur eines Bienenkorbes ſinkt als— 
bald herab, es tritt eine merkliche Abkühlung ein, wenn die 
darin wohnenden Thiere an Futter Mangel leiden, dagegen 
ſteigt die Wärme von neuem, wenn man den hungernden 
Bienen, die im Freien für ſich und ihre Brut noch nicht die 
hinlängliche Speiſe finden, eine kräftige Nahrung reichet. 
Die gleiche Bemerkung, welche man an allen in freier Luft les 
benden Inſecten gemacht hat, daß ihr Körper eine eigenthüm— 
liche Wärme habe und daß dieſe Wärme zu- oder abnehme 
mit der Zu⸗ oder Abnahme der Nahrung, führt uns zu 
einem weitren Schluß auf die Urſache des Entſtehens dieſer 
Wärme. Das Futter, das die Inſecten zu ſich nehmen, be— 
ſtehet, wie alle organiſche Körper überhaupt, zunächſt aus 
brennbaren Grundſtoffen, vor allem aus Kohlenſtoff und 
Waſſerſtoffgas, welche nebſt dem mit ihnen verbundenen Stick— 
ſtoff und Sauerſtoff in die Säfte und feſteren Gebilde des 
lebenden Körpers eingehen. Der Verbrauch an atmoſphäri— 
ſchem Sauerſtoffgas durch das Einathmen der Inſecten iſt 
ein ſehr bedeutender, und das Bedürfniß darnach ein fo drin- 


330 


gendes, daß eine Biene, wenn man alle an der Seite ihres 
Körpers liegenden Oeffnungen der Luftkanäle durch Firniß 
oder eine ähnliche Subſtanz verſchließt, eben ſo wie ein 
warmblütiges Thier, dem man das Athmen gewaltſam ver⸗ 
wehrt, erſticken muß. Das Product das aus der Verbindun 

des eingeathmeten Sauerſtoffgaſes mit dem Kohlenſtoff und 
Waſſerſtoffgas der leiblichen Beſtandtheile des Thieres ent⸗ 
ſteht, iſt, wie die Unterſuchung der ausgeathmeten Luft dies 
lehrt, eben ſo wie beim Verbrennen kohlenſaures Gas und 
Waſſer. Der Vorgang des Athmens läßt ſich demnach un⸗ 
gleich mehr denn jener der Gährung, als ein Verbrennen 
von eigenthümlicher Art betrachten, deſſen unſichtbare Flamme 
zwar zunächſt zur Lebensbewegung wird, dennoch aber bei 
Thieren deren Luftathmen ein ſehr vollkommenes iſt, auch 
eine Quelle der äußerlich fühlbaren Wärme wird. 

Wenn nach unſrer alltäglichen Erfahrung ein naſſes 
Holz ungleich ſchlechter brennt, und zugleich bei gleicher 
Maſſe viel weniger Wärme ausgiebt als ein trockenes, dann 
läßt ſich der Grund davon leicht darin erkennen, daß bei der 
Verwandlung des Waſſers in Dampf (nach S. 265) viel 
Wärme verbraucht und hierdurch eine große Herabſtimmung 
des Hitzegrades herbeigeführt wurde. Denn ein friſch ges 
fälltes Holz enthält 42, das an der Luft getrocknete nur 25 
Prozent Waſſer in ſeinem Faſergewebe. Ein großer Theil 
der im Waſſer lebenden und nicht durch Lungen, ſondern 
durch Kiemen athmenden Thiere, zeigt aus einem ähnlichen 
Grunde auch dann, wenn es ihnen weder an Nahrung noch 
an der vom Waſſer eingeſogenen Luft fehlt, nur eine ſehr 
geringe, eigenthümliche Wärme des Leibes. Die Luft, wel— 
che die auſſer dem Waſſer lebenden Thiere unmittelbar aus 
der Atmoſphäre einathmen, iſt zwar niemals von Waſſer⸗ 
dämpfen frei, ſie verhält ſich aber zu jener, die der Fiſch 
mit dem umgebenden Waſſer in ſeine Kiemen zieht und hier 
in das Gewebe der blutführenden Gefäße aufnimmt wie beim 
Verbrennen ein naſſes Holz zu einem gut getrockneten. Und 
nicht allein dieſe Beigeſellung des Waſſers zur eingeathme⸗ 
ten Luft, ſondern ſchon der langſamere, unvollkommnere Ver⸗ 
lauf, den das Athmen bei den Fiſchen und Amphibien nimmt, 
macht uns die geringere Leibeswärme derſelben begreiflich. 
Junge Kaimans (americaniſche Krokodile) können ohne Nach⸗ 
theil für ihr Wohlbefinden, ziemlich lange in Stickſtoff aus⸗ 


331 


dauern und auch von andren Amphibien weiß man, daß ſie 
in einer Luft leben können, welche ſehr arm an Sauerſtoff⸗ 
gas, zur Erhaltung eines vollkommenen Thierlebens nicht 
ausreichend ſeyn würde. In demſelben Maaße iſt denn auch 
bei ſolchen Thieren die Bildung der Kohlenſäure, im Ver⸗ 
gleich mit Säugethieren, Vögeln und ſelbſt Inſecten ſehr viel 
geringer. Dennoch hat man auch an Fiſchen ein gewiſſes, 
wenn auch nur ſchwaches Maaß von Eigenwärme bemerkt, 
welches im Bauch einer Forelle, die man aus dem winterlich 
kalten Waſſer des Sklavenſees gezogen hatte, zwei, bei einem 
Weißfiſch 4 Grad höher war als die Wärme der äußren Um⸗ 
gebung, ja bei Thunfiſchen bis auf 8 Grad über die äußre 
Temperatur ſich ſteigern ſoll. Auch im Körper mancher dick— 
ſchuppigen Schlangen bemerkte man eine Wärme, welche die 
äußre Luftwärme um einen oder etliche Grade übertraf, wäh— 
rend dagegen bei den nackthäutigen Amphibien, wie bei Frö⸗ 
ſchen durch die ſtarke Verdunſtung der Feuchtigkeit, die 
ohne Aufhören an ihrer Haut ſtatt findet, eine merkliche Ab⸗ 
kühlung bewirkt und hierdurch die Eigenwärme ihres Leibes 
öfters unter den Betrag der Außenwärme herabgeſetzt wird. 
Etwas Aehnliches findet auch an Schnecken ſtatt. 

Bei den Thieren welche durch Lungen athmen iſt es un— 
verkennbar, daß die Wärme des Leibes mit der Menge ſo 
wie mit jener Schnelligkeit in Beziehung ſtehe, in welcher 
ſich bei ihnen, während des Athmens der Kohlen- und Waſ— 
ſerſtoff ihrer Säftemaſſe mit dem Sauerſtoffgas zur Kohlen⸗ 
ſäure und zu Waſſer verbindet. Je mehr von dieſen beiden 
beim Athmen erzeugt wird, deſto höher ſteigert ſich auch der 
Grad der Eigenwärme, welche deshalb bei Vögeln ein oder 
etliche Grade mehr beträgt als bei Säugethieren. Dieſe letz⸗ 
teren, deren innrer Bau jenem des Menſchen am nächſten 
ſteht, zeigen auch eine Blutwärme, die der menſchlichen ſehr 
nahe kommt, indem ſie im Durchſchnitt gegen 29 bis faſt 32 
Grade beträgt. Denn bei jenem Schuppenthiere, in deſſen 
Leibe man eine Wärme von nur 24 Grad R. beobachtete, 
hatte wohl der kranke Zuſtand, in welchem es ſich befand, 
einen bedeutenden Einfluß auf die Abweichung von der Re⸗ 
gel gehabt. Daß die Temperatur des Menſchenleibes, im 
Vergleich mit der der Säugethiere eher etwas niedriger als 
höher erſcheint, mag wohl auch in der Beſchaffenheit ſeiner 
Haut und in der Dunſtbildung durch dieſelbe ſeinen Grund 


332 


haben. Daß aber auch noch an den höchſten Gipfelpunkt der 
irdiſch leiblichen Geſtaltung — am Menſchenleibe — die eigen⸗ 
thümliche, innre Wärme ihren Urſprung aus dem Vorgang 


des Athmens nehme, dies zeigen uns ſchon einzelne Beobach⸗ 


tungen am Krankenbette. Wenn während lang anhaltender 
Ohnmachten und im Zuſtand der Starrſucht das Athmen ge⸗ 
hemmt und kaum noch vorauszuſetzen iſt, dann bemächtigt 
ſich der Glieder eine Todtenkälte. Es geſchieht dabei faſt 
etwas Aehnliches als bei manchen warmblütigen Thieren ſich 
zuträgt, wenn fie in den Zuſtand des Winterſchlafes verfal- 
len, in welchem das Athmen nur ſehr langſam vor ſich geht 
oder für einige Zeit ganz aufgehört hat. Die Wärme eines 
ſolchen Thierleibes ſinkt dann faſt ganz bis auf die winter⸗ 
liche Temperatur der nächſten Umgebung herab und wenn in 
ſeinem Innren vielleicht ein oder anderthalb Grad Wärme 
mehr beobachtet werden, dann bleibt es ungewiß, ob dieſe 
Wärme aus dem mit der Lebenskraft zugleich noch fortdauernden 
Vorgang der Bildung und Zerſetzung hergeleitet werden müſſe, 
oder ob ſein Grund in der Zuſammenhaltung der innren 
Wärme durch die Maſſe des Thierkörpers ſelber geſucht wer⸗ 
den muß. 

Jener eben erwähnte Vorgang einer fortwährenden Bil- 
dung und Zerſetzung, welcher, ſo lange das Leben dauert in 
allen Theilen des Leibes ſtatt findet, iſt im Grunde genom- 
men auch nichts andres als ein Athmen, denn er beruhet 
durchaus nur auf einem beſtändigen Austauſch und Berbin- 
den zunächſt des Kohlenſtoffes oder Waſſerſtoffes gegen und 
mit dem Sanerſtoffgas. Der zuletzt genannte Grundſtoff 
und nächſt ihm die beiden andren ſind zwar für dieſen innren 
Verkehr der Lebenskräfte die wichtigſten Elemente, aber ſo 
wie draußen in der Geſammtheit der irdiſchen Natur vertritt 
auch zuweilen das Chlor (nach S. 182) die Stelle des Sauer⸗ 
ſtoffgaſes oder dieſes letztere geht mit dem Phosphor eine 
Verbindung zur Phosphorſäure ein, um die alkaliniſche Natur 
der Kalkerde zum Bau des Knochens zu gewinnen. 

Die genauere Erwägung der thieriſchen Wärme, das Beach⸗ 
ten ihrer Entſtehung fo wie ihrer Vermehrung und Vermin⸗ 
derung, hat die frühere Vermuthung zu einer Gewißheit erho⸗ 
ben, daß auch das Feuer, welches nicht als ſichtbare Flam— 
me, ſondern als bewegende Kraft auf dem Herd des Lebens 
waltet, nach demſelben Geſetz erzeugt und erhalten werde, 


333 


als jenes Feuer in der Nachbarſchaft der Naphthaquellen (n. 
S. 205) in welchem der Parſe am kaspiſchen Meere ein Sinn- 
bild der göttlichen Schöpferkraft verehrt. Je mehr ein ath⸗ 
mendes Thier Sauerſtoffgas aufnimmt und für die innren 
Bildungen und Zerlegungen ſeiner Leiblichkeit verwendet, 
deſto höher ſtehet feine Eigenwärme. Dieſe aber, die Wär— 
me auch unſres Körpers, wird nicht allein bei dem Einath— 
men der Luft in den Lungen erzeugt, ſondern in allen Theis 
len und Räumen des Leibes, wohin das in den Lungen von 
Sauerſtoff durchdrungene, dann in der linken Herzkammer 
geſammlete, und von da mittelſt der Pulsader nach allen 
Richtungen hinausſtrömende Blut hindringen kann. Es iſt 
keine Faſer, kein Häutchen des lebenden Korpers, dahin nicht 
unmittelbar oder mittelbar der belebende Strom des Sauer— 
ſtoffgaſes ſich verbreitete und wie die bei dem Verbrennen 
eines dichten, feſten Körpers zur leichten Luftform übergegan— 
gene Kohle (als kohlenſaures Gas) vom Herd emporſteigt, 
ſo erhebt ſich das Blut, wenn es an den Endpunkten der Puls— 
adern die Vereinigung des Sauerſtoffgaſes mit den brennba— 
ren Grundſtoffen vermittelt hat, in den Blutadern oder Ve— 
nen von den Füßen, von Unterleib und Händen wieder hin— 
auf nach dem Herzen, in deſſen rechte Kammer es zugleich 
mit den Nahrungsſtoffen, die aus Magen und Eingeweiden, 
ſo wie aus allen einſaugenden Häuten kamen und mit den 
Nebenflüſſen, deren Quellen oben in der Region des Haup- 
tes ſind, hineinſtrömt. 

Aber das Holz wie alles Andre was auf Erden brenn— 
bar iſt, war vorhanden und die Atmoſphäre mit ihrem Sauer— 
ſtoffgas wehete darüber hin und an ihm vorbei, ohne daß 
daraus ein Feuer entſtund, ohne daß ein Menſch am Baum⸗ 
ſtamm und ſeinen Aeſten, ſo wie an dem Sturmwind, der 
die Aeſte bewegte, ſich wärmen und das Dunkel ſeiner Hütte 
damit erleuchten konnte, bis, nach einer alten Sage, Pro— 
metheus den anzündenden Funken vom Himmel brachte. Je— 
ner arme Muſikus, deſſen Freunde, die ihn beſucht hatten, in 
ſeinem ungeheitzten Zimmer froren, der aber keine Mittel be⸗ 
ſaß, um ſeinen Ofen in gewöhnlicher Weiſe zu heitzen, ſuchte 
ſeinen Gäſten dadurch guten Muth zu machen, daß er ihnen 
ſagte, er habe für mehrere Thaler Holz in den Ofen gelegt 
und auch an einer anzündenden Flamme es nicht fehlen laſ— 
ſen. Als aber einer der Gäſte, nach Beendigung des kurzen 


334 


Beſuches, in den Ofen hineinſchaute, ſahe er darin auf der 
einen Seite eine Violine liegen, auf der andren Seite aber, 
Hehe von dem theuren Holze entfernt, eine brennende Lampe 
ſtehen. | 
So würden auch die brennbaren Grundſtoffe, die fich 
im Körper der Thiere finden, eben ſo wenig eine Macht ha⸗ 
ben, ſich durch einen Vorgang des Athmens mit dem Sauer⸗ 
ſtoffgas zu vereinen und hierdurch ein Quell der thieriſchen 
Wärme zu werden, als die Bäume des Waldes für ſich fel- 
ber vermögend ſind ſich zu entflammen und rings um ſich her 
Wärme wie Licht zu verbreiten. Ein Prometheus höherer 
Art, die Lebenskraft ſelber, muß den zündenden Funken von 
oben, aus einem Reiche des geiſtigen Bewegens, herab in 
die Tiefe der irdiſchen Leiblichkeit bringen und dieſes Ver⸗ 
hältniß der anzündenden Urſache zur wärmenden Flamme fel- 
ber ſoll uns vorerſt noch durch ein andres Bild im großen 
Spiegel der äußerlich ſichtbaren Natur etwas begreiflicher ge⸗ 
macht werden. 


36. Die Erzeugung der Wärme durch Elektri⸗ 
zität. } 


Zuvörderſt müſſen wir hier einige Worte über das Ent- 
ſtehen und über das Weſen der Elektrizität ſelber ſagen. 

Der ſchöne, glänzende, öfters durchſichtige, meiſt gelb— 
farbige, wohlriechende Körper, von der Natur eines brenn— 
baren Harzes, Bernſtein genannt, welcher vorzugsweiſe 
aus den Küſtengegenden der Oſtſee zu uns gebracht wird, 
iſt wohl jedem meiner jungen Leſer bekannt. Man verarbei⸗ 
tet ihn in verſchiedene Formen, vornämlich als Kugeln, in 
Schnüre vereint, zu einem Schmuck für Damen, als Mund⸗ 
ſtück zu einer Zierde der Tabakspfeifen und noch ſonſt auf 
mannichfaltige Weiſe; benutzt ihn, indem man ihn auf ein 
Kohlenfeuer freut, zum Räucherungsmittel oder aufgelöft in 
Weingeiſt ſowie in verſchiedenen Oelen zur Bereitung eines 
guten Firniſſes. | | 

Die Völker der früheren Jahrtauſende haben eben ſo wie 
wir ein Wohlgefallen an dem Bernſtein gehabt, und denſel⸗ 
ben, obgleich er weder die Härte noch das Gewicht der eigent⸗ 
lichen Edelſteine hat, an Werth dieſen gleichgeſchätzt. Man 
hält dafür, daß ſchon die alten Hebräer den Bernſtein ge⸗ 


335 


kannt haben und daß er es vielleicht ſey, der bei Jeſajas 54 
V. 12 als Ekdach (der ſich Entzündende) genannt iſt. Ein 
Weiſer des Alterthumes, der Grieche Thales, welcher 
600 Jahre vor Chriſti Geburt lebte, dachte ſchon viel über 
die Eigenſchaft nach, welche bei uns jedes Kind an dem 
Bernſtein ſo wie an den Siegellackſtangen, an Glasröhren 
und einigen andren Körpern, wenn es dieſelben reibt, beo- 
bachten kann, über die Eigenſchaft nämlich: leichte Körperchen, 
wie Papierſtückchen, Spreu, Aſche u. ſ. w. anzuziehen. Aber 
nicht nur die Kraft leichte Körper anzuziehen, empfängt eine 
Kugel von Bernſtein oder Schwefel durch das leiſe Reiben, 
ſondern auch das Vermögen dieſelben abzuſtoßen, wie man 
dies ſehen kann, wenn man zarte Flaumfedern zu dem Ver⸗ 
ſuch anwendet oder leichte Kügelchen aus Hollundermark, die 
frei an feinen Fädchen hängen, dazu benutzt. Obgleich nun 
gar vielerlei Körper, namentlich auch die Pechkohle oder der 
Gagat, die Edelſteine, ja ſelbſt das Fell der Katzen bei dem 
Reiben ähnliche Erſcheinungen zeigen als der Bernſtein, hat 
man dabei dennoch dieſem ſeinen alten Vorrang gelaſſen, weil 
er der erſte Körper war, an dem man ſolche Beobachtungen 
machte; man hat nach dem Bernſtein oder Elektrum die vor⸗ 
hin erwähnten Aeuſſerungen einer anziehenden und abſtoßen⸗ 
den Kraft der geriebenen Körper Elektrizität genannt. 

Mit Recht ſann ſchon der große Thales dem Räthſel 
nach, welches uns die Erſcheinungen der Elektrizität aufge⸗ 
ben. Eine verborgene Kraft wirkt aus dem Steine hervor 
und ſetzt aus der Ferne her andre Körper in Bewegung; 
jener ſcheint ſich, im Verhältniß zu dieſen andren Körpern 
zu dem Range eines beſeelten Weſens erhoben zu haben, in 
welchem und aus welchem hervor ein bewegender Wille wal— 
tet, der die umgebenden Stoffe zu einem gewiſſen Zwecke 
verbindet und wieder trennt. Thales ſprach bei der Betrach— 
tung der Elektrizität den Gedanken an eine Weltſeele aus, 
welche alle Weſen der Sichtbarkeit durchdringt, deren Kräfte 
in allen ſchlummern und die bei gewiſſen, äußren Veranlaſ— 
ſungen erwachen können. 

Vor Allem mußte die Uebereinſtimmung der Elektrizität 
mit dem Magnetismus (m. v. S. 38) ins Auge fallen. Auch 
das magnetiſche Eiſen zieht andres Eiſen an. Es wird aber 
hierbei an den beiden Enden einer Magnetnadel ein entge- 
gengeſetztes Verhalten bemerkt: das eine Ende der Nadel, 


336 


wenn dieſe frei ſchwebt, kehrt ſich nach Norden, das andre 
nach Süden hin, wenn zwei Magnetnadeln einander genä⸗ 
hert werden, ſtoßen jene Enden derſelben, die nach gleicher 
Richtung hinſtreben, ſich ab, während das Nordende des 
einen die Vereinigung mit dem Südende des andren ſucht, 
das Südende aber lebhaft nach dem Nordende des andren 
ſich hinbewegt. Es ſind mithin hier die beiden nach verſchie⸗ 
denen Richtungen hinſtrebenden Gegenſätze oder Pole an ein 
und demſelben Eiſenſtäbchen vereint; an den elektriſchen Kör⸗ 
erſcheint dieſes anders. Wenn man nämlich ein Hollunder- 
markkügelchen, das an einem feinen Seidenfädchen hängt, in 
die Nähe einer geriebenen Siegellackſtange oder Bernſteinku⸗ 
gel bringt, dann wird daſſelbe von dieſen Körpern, während 
ihrer elektriſchen Aufregung, angezogen, bleibt jedoch nicht 
wie die angezogenen Eiſenfeilſpäne an einem Magnet, fo an 
dem Siegellack oder Bernſtein hängen, ſondern wird nach 
einiger Zeit abgeſtoßen. Es hat mithin die gleichnamige 
Elektrizität dieſer geriebenen Körper angenommen; wie der 
Südpol des einen Magnetes vom Südpol des andren, 
ſcheidet es ſich von ihnen ab. Bringt man jetzt in die Nähe 
des Kügelchens, während dieſes vermoge der wechſelſeitigen 
Abſtoßung in einiger Ferne von dem gleichnamigen elektriſchen 
Körper ſchwebt, eine andre durch Reiben elektriſch gewordne 
Stange von Pech, Schwefel oder Bernſtein, dann wird daſ— 
ſelbe auch von dieſen Körpern abgeſtoßen, nicht aber von 
einer geriebenen Glasſtange, nach welcher es ſich alsbald mit 
Lebhaftigkeit hinbewegt und ſo lange an ihr hängen bleibt, 
bis es auch von dieſer die gleichartig polariſche Spannung 
angenommen hat, wo es dann vom Glaſe ſcheidet und mit 
lebhafter Bewegung zu der geriebenen Siegellackſtange hin— 
fliegt, bis das Wechſelſpiel der Abſtoßung und Anziehung 
von Siegellack zum Glaſe, von dieſem zu jenem von neuem 
ſich wiederholt. Man kann den Verſuch unmittelbar mit 
Glas- und Siegellackſtangen anſtellen, welche man frei ſchwe⸗ 
bend aufhängt. Sobald ſie durch Reiben elektriſch geworden 
ſind, ſtößt eine Siegellackſtange oder Bernſteinkugel die andre 
ab, bewegt ſich aber kräftig nach der Glasſtange hin, welche 
ganz auf dieſelbe Weiſe von andren elektriſchen Glasſtangen 
ſich hinweg, nach der Siegellackſtange aber hinbewegt. In 
dieſem Falle find demnach die beiden polariſchen Gegenſätze 
nicht an einem und demſelben Körper, wie am Magnet, der 

b ern 


337 


dern an zwei Körpern von ganz verſchiedener Art hervorge⸗ 
treten. Es iſt indeß weder die Zuſammenſetzung der gerie⸗ 
benen Körper noch der Grad ihrer Feſtigkeit, nicht, bei dem 
Harz die brennbare, beim Edelſtein die unverbrennliche Na⸗ 
tur, was die Art der polariſchen Spannung begründet, ſo 


daß man der einen dieſer polariſchen Spannungen den Na⸗ 


men der Harz⸗, der andren den der Glaselektrizität geben 
könnte, ſondern das Entſtehen der beiden verſchiedenen Rich⸗ 
tungen hängt von andren Umſtänden ab. Reibt man näm⸗ 
lich Glas mit Wollenzeug, Seide oder an einem Lederkiſſen 
das mit einer Verbindung (einem Amalgam) von Queckſilber, 
Zinn und Zink überzogen iſt, dann tritt allerdings an der 
Glastafel in ſehr auffallendem Maaße jene elektriſche Span⸗ 
nung hervor, welche der einer geriebenen Siegellackſtange 
vollkommen entgegengeſetzt iſt; reibt man dagegen das Glas mit 
einem Katzenfelle, dann nimmt das letztere die Glaselektrizi— 
tät, das Glas aber die Harzelektrizität an ſich. Eben ſo 
zeigt ſich zwar an dem Siegellack, das man mit Wollenzeug 
reibt, die Harzelektrizität, hat man aber zum Reiben deſſel⸗ 
ben den Schwefel angewendet, dann erhält der letztere die 
Harz — das erſtere, gegen feine ſonſtige Natur die Glaselek— 
trizität. Eine Umkehrung, welche ſelbſt dem Bernſtein wider- 
fährt, wenn man ihn mit Schwefel reibt. Die Richtung der 
elektriſchen Spannung hängt mithin nicht von der Beſchaffen— 
heit des Körpers, an welchem ſie erregt wird allein, ſondern 
auch von der Natur des Einfluſſes ab, welcher ſie erregt hat, 


zwei Körper welche durch ihr Gegeneinanderbewegen in einen 


Wechſelverkehr treten, bilden einen polariſchen Gegenſatz ge— 
gen einander, gleich jenem des Sauerſtoffgaſes zum Brenn⸗ 


ſtoff; einen Gegenſatz dabei der eine von beiden (n. C. 8) 


als das Bewegende, der andre als das Bewegte, jener als 
gebend, dieſer als nehmend betrachtet werden kann, oder nach 
dem wiſſenſchaftlichen Ausdruck jener als poſitiv, dieſer als 
negativ ſich verhält. 

Was die Erregung ſo wie die Mittheilung der Elektri⸗ 
zität betrifft, ſo findet hierin bei verſchiedenen Körpern ein 
ſehr augenfälliger Unterſchied ſtatt. Die bereits namentlich 
angeführten Körper werden durch Reiben elektriſch, immer 
jedoch zunächſt an ſolchen Stellen ihrer Oberfläche, welche dem 
anregenden Einfluß ausgeſetzt waren, Metalle dagegen wer⸗ 
den durch Reiben gar nicht merklich oder nur unter gewiſſen 

22 


338 


Umſtänden elektriſch, ſind jedoch in hohem Grade für eine 
Mittheilung der Elektrizität empfänglich, deren Spannung 
dabei nicht nur auf den Theil ihrer Oberfläche übergetragen 
wird, welcher mit dem elektriſchen Körper in Berührung oder 
Annäherung kam, ſondern über ihren ganzen Umfang ſich 
ausbreitet. c 

Dieſes verſchiedene Verhalten der Körper gegen die An⸗ 
regung und Mittheilung der Elektrizität erinnert ſehr an das, 
was wir oben (S. 270) über die Befähigung derſelben ſag⸗ 
ten, die Wärme zu leiten oder dieſe Fortleitung zu erſchwe⸗ 
ren. Gerade ſolche Körper, welche die meiſte Anlage dazu 
haben durch Verbrennen mit dem atmoſphäriſchen Sauerſtoff⸗ 
gas aus ſich ſelber Wärme zu entwickeln, ſind die ſchlechte⸗ 
ſten Leiter der Wärme, während die unverbrennlichen oder 
ſchwer entzündbaren Steine und Metalle die beſten Wärme⸗ 
leiter ſind. In derſelben Weiſe ſind denn auch die Metalle 
für die Mittheilung und Verbreitung der Elektrizität höchſt 
empfänglich, während jene vorhin genannten Korper, die 
ſich durch Reiben ſelber leicht elektriſch machen laſſen, wie 
Glas, Bernſtein, Pech, Seide ſich einer ſolchen Verbreitung 
ſo wenig fähig zeigen, daß man dieſelben gleich Dämmen 
zum Abhalten der elektriſchen Kraft oder zum Anſammlen 
derſelben an einem gewiſſen Punkte benutzen kann. Vermöge 
dieſer Iſolatoren oder Abſcheidungsmittel der Elektrizität iſt 
es erſt möglich geworden, dieſe merkwürdige Naturerſcheinung 
in ihrer ganzen Kraft und Wirkſamkeit zur Anſchauung zu 
bringen. Wenn man nämlich ein Metall oder einen andren 
Körper der die Elektrizität gut leitet, wohin auch die Kohle, 
feuchte Erde, die meiſten Salze, lebende Pflanzen und Thie- 
re, das Waſſer und viele andre Flüſſigkeiten gehören auf 
Pech, auf Glas oder Seide ſtellt, mithin auf ſolche Dinge, 
welche der ſchnellen Vertheilung der empfangenen Elektrizität 
an die umgebende Körperwelt eine Hemmung entgegenſetzen, 
dann kann man durch Mittheilung die elektriſche Spannung 
ihrer Oberfläche bis zu einem ſehr hohen Grad verſtärken. 
Denn die Körper der andren Ordnung, wie Glas oder har— 
zige Stoffe, welche durch Reiben oder andre Einflüſſe leicht 
elektriſch werden, tragen dieſe Anregung auf das Metall oder 
einen andren gut leitenden Körper über, auf deſſen ganzer 
Oberfläche jene alsbald ſich ausbreitet, während ſie bei dem 
ſelbſtelektriſchen Stoffe entweder nur an einer Stelle der Ober⸗ 


339 


fläche haftete oder aus einer einzelnen Stelle ſich hinüber⸗ 
zog an den aufnehmenden Körper. Das was hierbei ge: 
ſchieht iſt dem ähnlich, was wir zwiſchen einem brennen⸗ 
den Stück Holz und einem Metalldrahte bemerken. Das 
Holz theilt von jenem Ende aus, an welchem es brennt, 
dem Metalldraht ſeine Glühehitze mit und dieſer wird, wenn 
er nicht zu lang iſt, ſo daß ſich verhältnißmäßig zu viel von 
ſeiner empfangenen Wärme an die umgebende Luft zerſtreuen 
muß, in feiner ganzen Ausdehnung glühend heiß, während 
wir das Holzſcheit oder den Span an dem andren nicht 
brennenden Ende mit der Hand anfaſſen können, ohne von 
ſeiner Hitze zu leiden. Denn das Holz iſt ein ſchlechter Lei⸗ 
ter für die Wärme, wie das Glas oder Pech für die Elef- 
trizität; nur der in Entzündung verſetzte Theil von jenem 
glühet und verbreitet feine Hitze an die ihm genahten Kör⸗ 
per. Oder, um zur Verdeutlichung noch einen andren, etwas ro— 
heren Vergleich zu brauchen: ein Tropfen Tinte, der auf ein 
ſtark lakirtes Holz oder geglättetes Papier fiel, bleibt auf 
ſeiner Stelle ſtehen, bis er allmählich verdünſtet, bringt man 
aber ein Stück Fließpapier mit ihm in Berührung, dann 
ſaugt dieſes alsbald den Tropfen an ſich, der ſich weit ums» 
her in ſeiner Maſſe ausbreitet. Ein gutes Löſchpapier, ſo 
wie ein Docht oder ein Schwamm füllt ſich, wenn auch nur 
die eine Seite derſelben in eine hinreichende Menge von Flüf- 
ſigkeit eingetaucht wird, bald ganz mit dieſer an und kann 
auf dieſe Weiſe zu einem Behältniß derſelben werden, aus 
dem ein Druck ſie wieder hervortreibt. Wenn man den glü⸗ 
hend gemachten Metalldraht auch nur mit einem Ende in 
kaltes Waſſer ſtellt, dann theilt er in wenig Augenblicken 
feine ganze Wärme an dieſes mit und kühlt ſich in feiner gan⸗ 
zen Maſſe ab, während der Holzſpan mit einem Ende zwi— 
ſchen Eistafeln ſtecken, an dem andren brennen kann. 

Auch die iſolirte Metallkugel, auf welche man die elek⸗— 
triſche Spannung, die etwa durch Reiben in einer Glas— 
ſcheibe erregt wurde, übergetragen hat, giebt, wenn ſie von 
einem gut leitenden Körper berührt wird, nicht nur von 
der zunächſt berührten Stelle, ſondern von ihrer ganzen Ober— 
fläche die empfangene Anregung ab, während die elektriſch 
gewordene Glasſcheibe dem Finger der ſie berührte nur jenen 
Theil ihrer Elektrizität mittheilt, der an dem berührten Punkte 
haftete. Hierdurch wird es moglich mit einem Male und in 

22 


340 


einem Augenblick ſehr ſtarke elektriſche Wirkungen hervorzu⸗ 
rufen und dieſen Zweck hat man ganz beſonders bei der Ein⸗ 
richtung der ſogenannten Elektriſirmaſchinen und der mit ihnen 
verbundenen Elektrizitätsaufnehmer vor Augen gehabt. Hier⸗ 
bei kommt noch ein andrer Unterſchied der gutleitenden von 
den ſchlechtleitenden Körpern in Betracht. Bei den erſteren, 
wie namentlich den Metallen, theilt ſich die empfangene Elek⸗ 
trizität nur über die Oberfläche aus, während ſie bei den 
letzteren, wie bei Glas eine Anregung hervorbringt, wel⸗ 
che bis zu einem gewiſſen Grade auch auf die Maſſe nach 
innen hinein einwirkt. Wenn deshalb an einer Glasſcheibe 
beide Flächen mit Metall oder mit Zinnfolie bis nahe an ihren 
Rand belegt, die Ränder aber mit Firniß oder Siegellack über⸗ 
zogen werden, ſo daß die Metallbelegungen vollkommen von 
einander iſolirt ſind, dann entſteht durch die Mittheilung der 
Elektrizität an die eine Fläche in der andren gegenüber lie⸗ 
genden Fläche die polariſch entgegengeſetzte elektriſche Span⸗ 
nung, ſo daß dieſe als negativ (nach S. 337) ſich erweiſt, 
wenn jene poſitiv war und umgekehrt. Dieſelbe Erſcheinung 
zeigt ſich an gläſernen Flaſchen, die man an der äuſſeren 
wie an der inneren Fläche mit Zinnfolie, oben aber am 
äuſſren und innren Rande mit einer harzigen Auflöſung über: 
zogen hat. Setzt man die innre Metallbelegung einer ſolchen 
Flaſche durch einen metallenen Leiter in Verbindung mit 
einem durch Reibung elektriſirten Cylinder- oder Scheiben⸗ 
glas, dann nimmt dieſer die poſitive Elektrizität des Glaſes 
an, während die äuſſere Belegung in dem gleichen Grad der 
Stärke die negative erhält. Daß beide Spannungen einan⸗ 
der gegenüber ſich bilden konnten, wird der Fähigkeit des 
Glaſes zugeſchrieben an zwei ſeiner entgegen geſetzten Stellen 
eine elektriſche Polarität anzunehmen, daß aber beide Span⸗ 
nungen ſo nahe bei einander beſtehen, ohne ſich gegenſeitig 
durch ihr Zuſammenwirken aufzuheben, dies wird abermals 
nur durch das Glas und den oben am Rande angebrachten 
Ueberzug möglich, weil dieſe das Ineinanderfließen und 
Ausgleichen der beiden Elektrizitäten hindern. Während die 
äuſſere Belegung im Gegenſatz zu der innren negativ wurde, 
ruft ſie zugleich wie der Nordpol eines Magnetes an dem 
ihm genäherten Eiſendraht einen Südpol, ſo an den nicht elektri⸗ 
ſchen Körpern die in ihre Nähe kommen, die poſitive Span⸗ 
nung hervor und in dem Maaße, in welchem ſie dieſes thut, 


341 


wächſt die Stärke ihrer eigenen Elektrizität. Durch dieſes 
entgegengeſetzte elektriſche Verhalten der beiden Seiten einer 
belegten Glasſcheibe oder Flaſche dient die eine Spannung, 
je kräftiger ſie iſt, deſto mehr zur Verſtärkung der andren; 
beide ſteigern ſich gegenſeitig bis zu einem Grade, daß zu— 
weilen die zwiſchen beiden gelegene Glasmaſſe nicht mehr fä— 
hig iſt dem wechſelſeitigen Zuge der Polaritäten zur Verei— 
nigung und Ausgleichung zu widerſtehen: der Funke von der 
einen ſchlägt durch die iſolirende Zwiſchenwand hindurch und 
durchbohrt oder zertrümmert das Glas. Wenn aber die po— 
lariſche Spannung nicht bis zu dieſem Uebermaaß geſteigert 
und wenn zugleich mehrere Flaſchen ſolcher Art fo vereint 
werden, daß die innren Flächen der einen durch leitende Me— 
talldrähte mit den innren Flächen der andren verbunden und 
daß zugleich auch die äußren Flchen unter ſich in Vereini— 
gung geſetzt ſind, dann entſtehen die ſogenannten elektriſchen 


Batterien, durch deren ungemeine Wirkſamkeit die menſchliche 


Kunſt den Blitz der Gewitter nachgeahmt hat. Wir wollen 
hier nur im Allgemeinen der Erſcheinungen erwähnen, welche 
man an einer ſo hoch geſteigerten, künſtlichen Elektrizität 
beobachtet hat. f 
Wenn man das kugelförmige Ende eines Metalldrahtes, 
der mit den äuſſeren Belegungen einer elektriſchen Batterie 
in Verbindung ſtehet dem kugelförmigen Ende nähert, deſſen 
Draht ſich durch die inneren Belegungen der Flaſchen hin— 
durchziehet, dann entſtehet nach kleinerem Maaßſtabe ein 
Blitz und Donner wie der Gewitterwolken, denn ein Licht— 
ſtrahl von bedeutender Helligkeit bricht aus den beiden ge⸗ 
näherten Enden der Verbindungsdrähte hervor und zugleich 
vernimmt man einen Knall, deſſen Stärke mit der Stärke 
der Ladung im Verhältniß ſteht. Wenn bei einer ſehr kräftig wir⸗ 
kenden Batterie ein Thier der Entladung der beiden Drähte 
ausgeſetzt wird, ſo daß man es zwiſchen dieſe Enden hinein⸗ 
ſtellt und den Schlag durch daſſelbe hindurch gehen läſſet, 
dann wird es davon eben ſo plötzlich getödtet wie von dem 
Blitz einer Gewitterwolke. Wenn man bei minder ſtarken, 
gefahrloſen Vorrichtungen dieſer Art mit der einen Hand 
die äuſſere Belegung einer geladenen Flaſche, mit der and— 
ren das Drahtende der inneren berührt, dann fühlt man 
eine eigenthümliche Erſchütterung in den Knochengelenken 
der Arme und dieſe Erſchütterung theilt ſich einer ganzen 


342 


Reihe von Perſonen mit, die ſich wechſelſeitig die Hand 
geben und davon die an dem einen Ende ſtehende mit der 
äußren Belegung, die am andren Ende mit der innren ſich 
in Berührung ſetzt. Der elektriſche Funke, auch wenn er 
ſchwächer iſt, entzündet das oben erwähnte Gemenge von 
Sauerſtoffgas und Waſſerſtoffgas und verbindet hiemit dieſe 
beiden polariſch entgegengeſetzten Gasarten zu Waſſer, ſo wie 
er umgekehrt, bei höherer Steigerung ſeiner Wirkſamkeit das 
Waſſer, durch welches ſein Schlag gehet, in ſeine gasartigen 
Grundſtoffe zerſetzt, welche bei dieſer plötzlichen Formwand— 
lung ſelbſt ſtarkere gläſerne Gefäße zerſprengen. Papier wird 
ſchon von einem ſchwachen elektriſchen Funken, welcher durch 
daſſelbe hindurch fährt durchbohrt, durch einen ſtärkeren auch 
Holzplatten und Glas; leicht entzündliche Körper werden 
dadurch entzündet, Metalldrähte werden glühend und zer⸗ 
ſtäuben in Funken. | 

Und hier zuerft begegnen wir jener Eigenſchaft der 
Elektrizität durch welche ſich dieſelbe, gleich dem Feuer des 
verbrennenden Körpers als ein Quell der Wärme kund 
giebt, wie denn ſchon das Alterthum eine Verwandtſchaft 
der Wärme und der Elektrizität darinnen erkannte, daß 
die elektriſchen Körper, wie der Bernſtein, leichter durch 
Reiben elektriſch werden, wenn ſie erwärmt ſind. 

Wie die Wärme das Wachsthum und Gedeihen der 
Pflanzen und Thiere fördert, ſo thut dies auch die Elek— 
trizität. Man hat deshalb Pflanzenſaamen die man einer 
ſanften elektriſchen Strömung ausſetzte leichter und früher 
zum Aufkeimen und Ausſchlagen gebracht und ſelbſt bei 
Menſchen, die man auf ein Geſtell ſetzte, das durch Glas 
oder Pech iſolirt war, und dann mit einer fortwährenden 
elektriſchen Strömung in Verbindung brachte, wollte man 
in verſchiedenen krankhaften Zuſtänden einen heilſamen Ein⸗ 
fluß der Elektrizität bemerkt haben. 

Auch eine eigenthümlich bildende Kraft giebt ſich an 
den elektriſchen Strömungen kund, wenn dieſelben durch 
Kolophoniumſtaub geleitet werden, der ſich unter ihrer Ein— 
wirkung zu Figuren ordnet, welche namentlich im poſitiven 
Strome von regelmäßig ſtrahlenförmigem Umriſſe ſind. 

Die Geſchwindigkeit in der ſich ein elektriſcher Schlag 
durch einen Metalldraht von einem Ort zu dem andern fort⸗ 
pflanzt iſt ſo groß, daß ſie ſelbſt die des Lichtes noch über⸗ 


343 


trifft. Denn der Lichtſtrahl durchdringt in jeder Sekunde 
einen Raum von nahe 41000 Meilen, der elektriſche Schlag 
aber in derſelben Zeit einen räumlichen Abſtand von mehr 
denn 70000 Meilen. Obgleich die Räume, an denen man 
dieſes meſſen konnte, nicht wie bei dem Licht, — mittelſt der 
Beobachtung der Jupitermonden Verfinſterungen — Erdbahn⸗ 
durchmeſſer von vielen Millionen Meilen, fondern nur Ab— 
ſtände der Orte eines einzelnen Landſtriches der Erde waren, 
fo erſetzte dennoch bei dieſen Beobachtungen die auſſeror— 
dentliche Vollkommenheit der Zeit und Raum meſſenden 
* das was ihnen am Umfang der äußren Baſis 
abging. 

5 Wir haben hier zuvörderſt nur jene Beziehung zur 
Wärme berückſichtigt, welche in den polariſirenden Eigen— 
ſchaften der ſogenannt gemeinen, durch Reibung erzeugten 
Elektrizität begründet iſt, ehe wir jedoch auf dem Wege dieſer 
Betrachtung weiter fortſchreiten, müſſen wir zuerſt, im Vor⸗ 
übergehen einer großartigen Naturerſcheinung gedenken, welche 
ihrer Entſtehung ſowie ihrer Wirkſamkeit nach, gleichen Ger 
ſchlechtes mit der Elektrizität iſt. 


37. Die Gewitter. 


Jenes künſtliche Gewitter, mit Blitz und Donner, wel⸗ 
ches ein gewiſſer Anthemius, ein geſchickter Mechaniker 
und Baukünſtler der in den Zeiten des Kaiſer Juſtinian im 
6ten Jahrh. nach Chriſto lebte, zum Staunen der Zuſchauer 
hervorbringen konnte, mag etwa jenen künſtlichen Gewittern 
ähnlich geweſen ſein, die man auf unſren Theatern durch 
eine beſondere Maſchinerie und durch plötzliches Entzünden 
fein zertheilter brennbarer Stoffe zuwege bringt. Dieſe Art 
der Nachbildungen hat mit dem Urbild das ſie vorſtellen 
ſoll, ihrem Weſen nach eben fo wenig innere Uebereinſtim— 
mung, als das Wachsbild mit dem lebenden Menſchen nach 
deſſen Figur es geformt iſt. Etwas andres iſt es dagegen 
mit jenen gewitterähnlichen Erſcheinungen welche man aus 
jedem elektriſchen Apparat hervorrufen kann. Wenn da im 
zwergartig kleinem Maaßſtabe das Modell eines Hauſes 
aus Papier und Holzſtäbchen oder aus einem andren brenn— 
baren Stoffe gebildet, von dem hindurchſchlagenden elektri- 
ſchen Funken entzündet wird; wenn man an einem andren 


344 


Modell dieſer Art einen Gewitterableiter im Kleinen, mit 
einer metallenen Spitze und einem leitenden Metalldrahte 
anbringt, deſſen untres Ende mit der Belegung der andren 
Seite einer geladenen Flaſche in Verbindung ſteht und wenn dann 
der elektriſche Schlag ohne das leicht entzündliche Modell zu 
treffen, durch die Spitze und den Draht des kleinen Wetter⸗ 
ableiters hinabfährt, da hat man es, obwohl in ſehr ver— 
jüngtem Maaßſtabe, mit der Naturkraft ſelber zu thun, die 
in den oberen Regionen der Atmoſphäre den Blitz und den 
Donner erzeugt. | 

Dieſelbe elektriſche Spannung welche wir durch Reiben, 
oder, wie wir nachher ſehen werden, bei den Metallen durch 
das bloſe Aneinanderlegen und wieder Trennen ihrer Flä⸗ 
chen hervorbringen, findet ohne Aufhören zwiſchen dem Luft⸗ 
kreis und der Erdoberfläche ſtatt. Sie nimmt bis zu einer 
gewiſſen Höhe hinan zu, ſo daß die Elektrizität der oberen 
Luftſchichten meiſt in einem ſtärkeren Gegenſatz zur Elektrizität der 
Erdfläche ftebet als die der ' unteren Schichten. Bei heitrem 
Himmel zeigt in der Regel die Atmoſphäre poſitive, die 
Erde negative Elektrizität; bei umwölktem Himmel wird, we⸗ 
nigſtens an den unterſten Regionen, das umgekehrte Verhält— 
niß wahrgenommen. Denn nicht nur die Luft im Ganzen 
bildet zur Erde einen elektriſchen Gegenſatz, ſondern auch 
einzelne Schichten und Dunſtmaſſen der Atmoſphäre können 
eine mehr oder minder ſtarke Spannung zu einander annehmen, 
da der Grund des Entſtehens dieſer Spannunavorzugsweiſe in 
der Bildung der Waſſerdämpfe und der Zurückkehr derſelben in 
die tropfbar flüſſige Form zu ſuchen iſt. Denn jeder Verſuch 
im Kleinen lehrt uns, daß wenn Waſſer durch die Wärme 
verdampft, der entſtebende Dampf eine merklich poſitive, das 
Gefäß negative Elektrizität annehme, da aber, wo ſich in 
den oberen Regionen der Luft der Dampf wieder zu Waſſer 
verdichtet, tritt er zu der Atmoſphäre, dieſem Gefäß von 
rieſenhafterer Art, in den umgekehrten Gegenſatz, indem er 
ſelber negativ elektriſch wird. 

Alle dieſe Verhältniſſe der gegenſeitigen Spannung zwi⸗ 
ſchen Erde und Luft, wie zwiſchen den einzelnen Dunft- 
und Luftmaſſen der oberen Regionen ſelber löſen ſich in der 
Regel durch eine kaum merkliche Ausgleichung und Entladung 
auf; die emporſteigenden Dünſte, das niederfallende atmos⸗ 
phäriſche Waſſer, die tief am Boden ſchwebenden Nebel 


345 


und Wolken ſtrömen die an ihnen haftende Elektrizität an 
die Körpermaſſen von entgegengeſetzter Spannung aus, und 
gleichwie das Aufflammen des Schießpulvers endet, ſo bald 
die brennbaren Stoffe mit dem Sauerſtoffgas ſich vereint 
haben, fo verſchwindet auch jede Spur der electrifchen 
Spannung, wenn die eine der beiden entgegengeſetzten Be— 
wegungen und Richtungen an der andren, wie der nieder— 
fallende Ball an der ihm entgegenkommenden Menſchenhand zum 
Stillſtand gelangt iſt. Doch wird auch dieſes ſanfte Aus— 
ſtrömen der Elektrizität von oben nach unten, ſo wie von 
der Erdoberfläche nach der Luft dem Auge in jenen Licht— 
erſcheinungen ſichtbar, die man zuweilen bei Nacht an den 
Spitzen der Thürme, der Maſtbäume und andern empor— 
gerichtet ſtehenden Körper, ja ſelbſt, unter gewiſſen Umſtän⸗ 
den, an den emporgeſtreckten Fingern der Hand wahrnehmen 
kann. Eine Erſcheinung welche die Völker der alten Welt der 
hülfreichen Nähe der Dioskuren: des Kaſtor und Pollux zuſchrie— 
ben, unſere Vorfahren aber als St. Elmusfeuer benannten. 
Auf die Entwicklung der elektriſchen Spannung hat 
auch die Vegetation einen ſehr bedeutenden Einfluß, und 
man bat berechnet daß die Elektrizität welche durch eine 
Flur von 25 Quadrat⸗-Klaftern bervorgerufen wird, ſchon 
hinreichen könnte um damit die ſtärkſte Batterie zu laden, 
deren Schläge Stiere wie Roſſe tödten würden. Auch das 
Verdünſten des Seewaſſers hat einen ſehr bedeutenden Ein— 
fluß auf die Verſtärkung der Luftelektrizität, denn nicht das 
reine, deſtillirte Waſſer ſondern das mit fremdartigen, vor 
Allem mit ſalzigen Theilen vermiſchte, iſt beiſſeinem Verdam— 
pfen der elektriſchen Spannung ſehr günſtig. Dieſe jedoch, wie 
ſchon erwähnt, wird durch jeden wäſſrigen Niederſchlag, 
durch jeden Lufthauch, durch den Schatten einer vorüber— 
ziehenden Wolke, der an den Stellen die er trifft eine Ab— 
kühlung hervorruft, ausgeglichen; mehr denn zwanzigmal 
im Verlauf eines Tages kann in unſrer Umgebung die 
elektriſche Stimmung wechſeln, jetzt als ein poſitiver dann 
als ein negativer Ueberſchuß ſich an unſren Inſtrumenten kund 
geben, ohne daß unſer ſinnliches Gefühl dieſes wahrnimmt. 
Im Ganzen bemerkt man, daß bei herrſchenden Nord— 

und Oſtwinden die elektriſche Stimmung der Luft mehr po— 
ſitiv, bei Süd⸗ und Weſtwinden mehr negativ ſey, doch 
wird ſie dem Grade nach bei windſtillem Wetter immer viel 


346 


ſtärker gefunden, als bei windigem, bei Tage ſtärker als bei 
Nacht, wo der Niederſchlag der wäſſrigen Dünſte die Aus⸗ 
gleichung der entgegengeſetzten Spannungen vermittelt. So 
mannichfaltig aber auch die Wege zu einer ſolchen fortwäh⸗ 
renden Ausgleichung ſind, reichen ſie dennoch nicht immer 
aus zur Verhütung jener Anſammlung und Steigerung der 
Elektrizität in den Wolken, daraus die Erſcheinungen des Ge⸗ 
witters hervorgehen. 


Wenn in den warmen Tagen des Sommers, wo das 
Gewächsreich in ſeinem vollen Grün ſteht, die emporſteigen⸗ 
den Dämpfe häufiger werden und mit ihrer poſitiv elektriſchen 
Spannung die oberen Regionen der Luft erfüllen, wenn dann 
zu gleicher Zeit die Wolken in ſolcher Höhe ſchweben, daß 
die Ausgleichung zwiſchen ihnen und der Erdoberfläche mehr 
erſchwert iſt, dann treten allmälig jene Bedingungen ein, 
unter denen die Gewitter am leichteſten ſich erzeugen. Die 
trocknen Luftſchichten zwiſchen den Wolken und der Erde mö— 
gen hierbei auch noch iſolirend, wie die Glaswand zwiſchen 
den beiden Belegungen einer Leidner Flaſche wirken und 
dadurch die elektriſche Ladung verſtärken; die Sonnen⸗ 
ſtrahlen, welche von oben auf die Wolken fallen, bewirken 
zu gleicher Zeit in dieſen eine fortwährende Verwandlung der 
ſchon gebildeten wäſſrigen Niederſchläge in Dämpfe und rufen 
hierdurch in den Wolkenmaſſen ſelber elektriſche Spannun- 
gen hervor. 


In den eigentlichen Wintermonaten, vom November bis 
zum Februar gehören die Gewitter zu den ſehr ſeltenen Er⸗ 
fieinungen. Die niedriger ſtehenden Wolken, die feuchte 
Luft, die geringe Wärme des Bodens, die ſehr verminderte 
Verdampfung des Waſſers läßt dann keinen bedeutenden 
Grad der Spannung aufkommen. Auch im Oktober und 
im Marz ereignen ſich nur wenig Gewitter. Im April ſind ſie 
ſchon, ein Jahr ins andre gerechnet, fünfmal häufiger als im 
März, im Mai iſt ihr Vorkommen im Durchſchnitt mehr 
denn doppelt, im Juni mehr denn drei, im Juli faſt vier⸗ 
mal, im Auguſt mehr denn dreimal häufiger als im April, 
dagegen ſinkt ihre Zahl im September faſt wieder zu der im 
April herunter. In kälteren Ländern find zwar, aus denſel⸗ 
ben Gründen, die Gewitter ſeltner als in den wärmeren, 
doch hat man ſelbſt noch unter dem Töten Grad der nördli⸗ 


347 


chen Breite, in dem Klima von Neu: Sibirien und Spitzber⸗ 
gen heftige Gewitter beobachtet. f 

Die eigentlichen Wetterwolken unterſcheiden ſich meiſt 
durch ihre dunklere Färbung, rundlichen Umriſſe und ſchär⸗ 
fere Begränzung; lauter Züge, welche nebſt der ftarfen Ab» 
ſtufung ihrer Beleuchtung auf den höheren Grad ihrer Ver— 
dichtung ſchließen laſſen. Die Höhe in der ſie über der Erd— 
oberfläche ſtehen, erreicht in wärmeren Gegenden und in der 
Nähe der Gebirge zuweilen 9000, in den Ebenen des mittlern 
Europas zwiſchen 3000 bis 7000 Fuß; in dem kalten Kli⸗ 
ma von Tobolsk ſinkt dieſe Höhe öfters bis auf 600 oder 
700 Fuß herab. Vor dem Ausbruch des Gewitters iſt die 
Luft meiſt ſehr ſchwül; ihre elektriſche Spannung erleidet 
große und plötzliche Wechſel. Die Entladung beginnt, ſo— 
bald durch die Feuchtigkeit der Luft eine Leitung von einer 
dieſer großartigen Batterien zur andren hergeſtellt iſt; der 
elektriſche Schlag, deſſen Funke hier die rieſenhafte Form des 
Blitzes angenommen, deſſen Knall zum Donner geworden iſt, 
gehet dabei öfters nur von einer Wolke, von einer mit Düns 
ſten erfüllten Luftſchicht zur andren. Da jedoch die elektriſche 
Spannung der höheren Luftregion zugleich in der niedreren und 
an der Körperwelt der Erdoberfläche die ihr entgegengeſetzte, in 
derſelben Stärke hervorgerufen hat, nimmt die Entladung 
öfters auch dahin ihre Richtung: der Blitz ſchlägt unten auf 
der Erde ein; er entlädt ſich dabei vorzugsweiſe an ſolchen 
Körpern, welche gute Leiter der Elektrizität ſind, wozu na— 
mentlich die Metalle, nächſt ihnen jedoch auch lebende orga— 
niſche Körper, Pflanzen und Thiere gehören. Aus dieſem 
Grunde iſt es gefährlich unter hohen Bäumen Schutz gegen 
Gewitterregen zu ſuchen und da auch der thieriſche wie der 
menſchliche Kürper durch ſtarke Bewegung in eine Stimmung 
geräth, worin er die Elektrizität beſſer leitet denn gewöhn⸗ 
lich, iſt dem Wandrer bei ſtarken Gewittern ein ruhiges Ver— 
halten zu empfehlen. Was übrigens das Verhalten der Ve— 
getation bei Gewittern betrifft, ſo ſagt man, daß der Blitz 
niemals in Birkenbäume einſchlage uud von dem Lorbeerbaum 
behaupteten die Alten das Gleiche, daher man bei ſtarken 
Gewittern Lorbeerkränze als Schutzmittel auf das Haupt 
ſetzte. Auch das Hauslaub (Sempervivum tectorum) das 
man auf die Dächer pflanzt, hält unſer Landvolk für ein 
blitzabwehrendes Mittel. 


348 


Von der Stärke der elektriſchen Spannung des Bodens 
hängt es zunächſt ab, ob und in welcher Heftigkeit die Ent⸗ 
ladung der Gewitter dahin ihre Richtung nehmen, ob der 
Blitz einſchlagen werde. Die Erwärmung der Erdoberfläche, 
ſo wie die Fähigkeit der zwiſchenliegenden Luftſchichten, ihn 
herabzuleiten, iſt dabei von großem Einfluß. Darum ſind 
in einigen Gegenden der heißen Erdſtriche die Gewitter ſo 
gefährlich, wie nach Azaras Bericht in der Stadt Buenos 
Ayres im ſüdlichen Amerika (Republik Bolivia) ein einziges 
Gewitter im Jahr 1793 in Zeit von kaum einer Stunde 37 
Mal einſchlug und 19 Menſchen tödtete. 

Bei dem Einſchlagen der Blitze in dem Boden wird 
nicht nur während großer vulkaniſcher Eruptionen, ſondern 
auch auſſer dieſen nicht ſelten, eben ſo wie im Kleinen an 
unſren elektriſchen Apparaten ein Gegenſchlag wahrgenommen, 
der aus der Erde hinauf nach der Luft geht, oder von einem 
Punkte des Bodens ſich weithin verbreitet. Solche aus der 
Erde hervorbrechende Blitze ſchleudern zuweilen die Steine 
undErdlagen empor und haben in einzelnen Fällen nicht min⸗ 
der zerſtörend und tödtend gewirkt als die von oben fommen- 
den. Die letzteren aber, wenn fie in ſandigen Boden ein- 
ſchlagen, bringen hin und wieder eine Schmelzung des Quarz— 
ſandes zu wege, aus welcher die ſogenannten Blitzröhren 
entſtehen. 

Nicht immer zündet der Blitz die brennbaren Stoffe an, 
durch welche er hindurch ſchlägt. Er ſcheint ſich in ſolchen 
Fällen auf ähnliche Weiſe zu verhalten wie der elektriſche 
Funke ſtarker künſtlicher Batterien, welcher manche Metall⸗ 
drähte zum Glühen und Schmelzen bringt, durch Schießpul⸗ 
ver aber hindurchfährt ohne daſſelbe zu entzünden, „vielleicht 
weil die Leitungsfähigkeit der Kohle ihn hiezu nicht Zeit läßt) 
bis man ihn durch eine weniger gut leitende, naſſe Schnur 
nach dem Pulver hinabfahren läſſet, das dann alsbald in 
Brand geräth. Auf einem Schiffe, Newyork genannt, ſchlug 
einſt der Blitz bei einem Gewitter zweimal ein, er verbreitete 
ſich über das ganze Schiff ohne zu zünden und ohne einen 
Menſchen zu tödten, ja es ereignete ſich hiebei, daß ein Paf- 
ſagier, der ſeit längerer Zeit an Lähmung litt, ſey es nun 
in Folge des Schreckens oder des elektriſchen Einfluſſes, auf 
einmal des Gebrauches ſeiner Glieder wieder mächtig wurde. 
Uebrigens waren alle Meſſer und Gabeln im Schiffe durch 


349 


die Wirkung des Blitzes magnetiſch geworden; an den Mag: 
netnadeln, die ſämmtlich in einem Zimmer beiſammen ſtun— 
den, bemerkte man, daß bei einigen die magnetiſche Wirk⸗ 
ſamkeit verſtärkt, bei andren geſchwächt worden war. Auch 
bei andren Gelegenheiten ſahe man den elektriſchen Einfluß 
blos auf die Metalle ſich beſchränken, welche ſich in der Nähe 
der Stelle fanden die vom Blitz getroffen war. So in einem Hauſe 
darin es eingeſchlagen hatte ohne zu zünden und ohne einen 
der Bewohner zu verletzen, obgleich man die metallenen Glof- 
kenzuge und ſelbſt die Drähte in den verrohrten Decken ge⸗ 
ſchmolzen fand. Ein andres Mal hatte der Blitz das Gold 
an einem vergoldeten Urzeiger geſchmolzen und daſſelbe auf 
das Blei des darunter gelegenen Daches geführt, welches 
dadurch vergoldet worden war. 

Zwar iſt es die leitende Fähigkeit der feuchten Luft, 
welche das Einſchlagen des Blitzes in den Boden vermitteln 
muß, denn ſchon durch eine trockne Luftſchicht von einer oder 
etlichen Klafterndicke würde er ſchwerlich hindurch brechen 
können, doch trägt auch zugleich der Regen zur allgemeinen, 
viel ausgedehnten und dadurch minder gewaltſamen Ent— 
ladung der elektriſchen Wetterwolken das Seinige bei, denn 
jeder Tropfen des ſtarken Platzregens bringt einen ver— 
hältnißmäſſig anſehnlichen Theil der Luftelektrizität mit ſich 
herab zum Boden, an deſſen polariſch entgegengeſetzter 
Spannung ſich dieſelbe ausgleicht. Daher loöſt ſich die Hefe 
tigkeit der Gewitter, wenn der Regen der dieſelben begleitet 
hat, eine Zeit lang angehalten, allmälig auf. 

Namentlich in unſren mittleren Graden der Breite ge— 
ſchieht es nicht ſelten, daß die Wetterwolken unterhalb der 
Gipfel der Berge ſich bilden. Oben iſt heiterer Himmel, 
unter ſich hört man den Donner, ſieht man das Blitzen 
der Wolken. Nicht immer jedoch iſt der Beobachter, der von 
der Höhe herab die gewaltige Naturerſcheinung beobachtet, 
gegen ihre Wirkung geſchützt; denn der Blitz ſchlägt durch 
den aufſteigenden Nebeldunſt aus den Wolken zuweilen auch 
heraufwärts nach den höheren Stellen des Berges, wie denn 
auf dieſe Weiſe vor mehreren Jahren ein Engländer getödtet 
wurde, der am Felſenabhang des Rigikulms ſitzend, der 
Entladung eines Gewitters über dem Zugerſee zuſah. 

Am niedrigſten unter den Wetterwolken ſtehen in der 
Regel jene, aus denen der Hagel kommt, der nicht ſelten 


350 


ein Begleiter heftiger Gewitter iſt. Die Hagelwolken, die 
ſich durch das unregelmäßig zackige, wie zerriſſene Aus⸗ 
ſehen ihrer Ränder und weißlichere Färbung unterſcheiden, 
ſcheinen, wenn ſie ſo niedrig ſtehen (denn es giebt auch 
ſehr hoch ſchwebende Hagelwolken) die untre Schicht oder 
Lage einer Maſſe von Wetterwolken zu bilden, an denen 
ſich nach rieſenhaftem Maßſtabe eine Reihe ſolcher polariſch 
gegeneinander geſpannten Eleftrizitätträger erzeugt hat, der⸗ 
gleichen, wie wir ſpäter ſehen werden, die Plattenpaare 
einer Voltaiſchen Säule vorſtellen. Es iſt ſchon öfters vor⸗ 
gekommen, daß Wandrer in Gebirgsgegenden in die Mitte 
einer Hagelwolke geriethen, deren Eisforner, in ihrer Bil- 
dung begriffen, noch in der Luft ſchwebten. Ein aufmerk⸗ 
ſamer Beobachter (Lecoc) bemerkte bei einer ſolchen Gelegen⸗ 
heit, daß die Hagelforner in einer rotirenden (um ſich ſelber 
drehenden) Bewegung begriffen waren. Die Kälte, welche 
dergleichen Eismaſſen in einer ziemlich hohen Temperatur 
der umgebenden Luft entſtehen läſſet, ſoll nach der Anſicht 
einiger Naturforſcher aus der Verdünſtung des Waſſers 
allein ſich kaum herleiten laſſen, ſo daß man die Mitwirkung 
noch andrer Kräfte der polariſchen Spannung dabei voraus- 
ſetzen muß. Die Hagelkörner erſcheinen meiſt wie aus ſchaa— 
lenartigen Lagen, eine über der andren zuſammengeſetzt; 
in ihrer Mitte iſt ein ſchneeähnlicher Kern oder auch wohl 
ein fremdartiger, feſter Körper eingeſchloſſen, den der Wind 
von den Abhängen der Gebirge oder vom Boden herzu 
führte. Ihre Größe ſteigt von mehreren Linien bis zu mehreren 
Zollen, denn bei dem Hagelwetter das 1827 die Umgegend 
von Maſtricht traf, hob man Stücke von 6 Zoll Durchmeſ— 
ſer auf; bei Clermont 1835 ellipſoidiſche Körner von der 
Größe eines Hühnereies, und wenn eine große Menge dieſer 
Körner beim Herabfallen ſich vereinen dann bilden dieſelben 
zuweilen eine gewaltige Eismaſſe. Gleichwie die graulich 
weißen Hagelwolken unter und zwiſchen den ſchwärzlich 
dunklen Gewitterwolken nur dünne Schichten und Streifen 
bilden, ſo trifft auch ihr verheerender Schlag unten am 
Boden öfters nur einen Strich Landes, der nicht über tauſend 
ja nur einige hundert Fuß Breite, dabei aber eine Länge 
von einer oder etlichen Meilen hat. Indeß gibt es Schloſſen⸗ 
wetter welche dieſe Gränze der Ausdehnung um ein ſehr 
Bedeutendes überſchreiten. So bildete jene furchtbare Ha⸗ 


351 


gelſchauer, der im Jahre 1788 über Frankreich ausbrach 
zwei von einander getrennte Streifen, deren Länge über 
hundert Meilen, die Breite des einen gegen 2 bis 3, die 
des andren über eine Meile betrug. Das Land das ſich 
zwiſchen und jenſeits der Gränzen dieſer beiden Streifen 
befand, war verſchont geblieben. Nur ſelten fällt Hagel bei 
Nacht, noch ſeltner im Winter. Auch die Länder zwiſchen 
den Wendekreiſen haben in den heißen niedrigen Ebenen faſt 
niemals, die kalten, in der Nähe der Pole gelegenen nur 
ſehr wenig vom Hagel zu leiden. 

So wie der Regen bringt auch der Hagel die elektriſche 
Spannung der Wolken mit ſich nach dem Boden herab und 
dient hiedurch zur allmäligen Ausgleichung derſelben. Jene 
Spannung löft ſich jedoch auch nicht ſelten auf eine für uns 
noch weniger bemerkbare Weiſe durch ein ſanftes Ueberſtrö— 
men der entgegengeſetzten Spannungen aus der einen Wolke 
in die andre oder aus der Luft in einzelne hervorragende, 
einer Leitung fähige Punkte der Erdoberfläche auf. Aus 
einem ſolchen ruhigeren, minder gewaltſamen Ueberſtrömen 
der Elektrizität von einer Schicht der Wolken oder atmoſphä— 
riſchen Dünſte in die andre mag zuweilen das ſogenannte 
Wetterleuchten entſpringen, wiewohl dieſes in den meiſten 
Fällen nichts anders iſt als der Wiederſchein der Blitze eines 
fernen, unter unſerm Horizont ſtehenden Gewitters in den un— 
teren dichteren Lagen der Atmoſphäre. Die Möglichkeit jedoch 
eine allmälige, oder, ſelbſt beim Einſchlagen des Blitzes ge— 
fahrloſe, Entladung der Luftelektrizität zu bewirken, war der 
menſchlichen Kunſt, ſeit ihrer näheren Bekanntſchaft mit den 
elektriſchen Erſcheinungen auf eine ſehr wirkſame Weiſe 
dargeboten. 


38. Die Blitzableiter. 


Wenn man bei unſren elektriſchen Vorrichtungen an 
einer ſtark geladnen Leidner Flaſche oder Batterie die Be— 
legungen der beiden Seiten mit gläſernen Stangen berührt, 
dann hat man von keiner Entladung zu leiden; man kann 
den geladenen Conductor einer Elektriſirmaſchine, wenn man 
die Hand mit dichten, ſeidnen Handſchuhen bekleidet, ans 
rühren, ohne daß ein Funke entſteht oder eine Erſchütterung 
im Arme empfunden wird, während beides in ziemlicher 


352 


Stärke ſich zeigt, wenn man den Conductor mit einem Me⸗ 
talldraht berührt, der etwa in einen metallenen Knopf ſich 
endigt. Seitdem dieſe Eigenſchaft mehrerer Körper den Ein⸗ 
fluß der Elektrizität abzuwehren und zu hemmen bekannt war, 
fehlte es nicht an Solchen, die ſich der iſolirenden Stoffe 
als eines Schutzmittels gegen den Wetterſtrahl bedienen 
wollten. Ein reicher Adeliger im vorigen Jahrhundert der 
ſich ganz außerordentlich vor Gewittern fürchtete, ließ alle 
Zimmer ſeines Sommerhauſes an den Wänden, an der 
Decke und am Boden dicht mit ſeidenen Stoffen belegen, 
alles ſilberne und metalliſche Geräthe hatte er aus dieſem 
Gebäude entfernen laſſen, er ſpeiſte aus gläſernen Schüſſeln 
und Tellern; Meſſer, Gabeln und Löffel waren aus Elfen⸗ 
bein bereitet, das wenigſtens nicht zu den vorzüglicheren 
Elektrizitätsleitern gerechnet wurde, er ſelber, ganz in Seide 
gekleidet, ſaß auf möglichſt vollkommen iſolirten Stühlen, 
ſchlief zwiſchen ſeidenen Decken und Polſtern in einer aus 
dem gleichen Stoff gewebten Hängematte, die durch ſtarke 
ſeidene Schnüre an dem Gebälke der Decke befeſtigt war. 
Dennoch, ſo erzählt man, nahm der furchtſame Mann zwar 
nicht durch den gewöhnlichen Blitz, wohl aber durch ein dem 
Blitze ähnliches Ereigniß ein gewaltſames Ende, indem er 
einmal im Spätherbſt, wo er kein Gewitter zu fürchten 
hatte, auf einer Jagdparthie durch ſein eignes Schießgewehr, 
das er aus dem Geſträuch darein es von ihm geſtellt war, 
Siem all Ende des Laufes herauszog, tödtlich verletzt 
wurde. 

Allerdings iſt jede Vorſichtsmaaßregel, die man für ſich 
und ſein Haus gegen den Wetterſchlag treffen kann zu billi⸗ 
gen, ſobald ſie nur mit Maaß und Verſtand angewendet wird. 
Es bedarf dabei weder der Seide noch des Peches oder Gla⸗ 
ſes, welche doch nur in einem ſehr eng beſchränkten Kreiſe 
einigen Schutz gewähren könnten, ſondern einer kühnen 
Handhabung der furchtbaren Naturgewalt ſelber, durch Mit⸗ 
tel welche dieſer einen großen Theil ihrer Kraft benehmen und 
ihrer Strömung einen Weg anweiſen, auf welchem ſie ohne 
dem Leben, dem Hab und Gut der Menſchen Gefahr zu brin⸗ 
gen, ihren Lauf aus der Luft nach der Erde oder dem Ge- 
wäſſer verfolgen kann. 

Ein franzöſiſcher Gelehrter, der Abt Nollet hatte 
ſchon vor der Mitte des vorigen Jahrhunderts i 

117 


353 


aufmerkſam gemacht, daß eine ſtark geladne Leidner Flaſche 
oder elektriſche Batterie ihre Ladung ganz allmälig und un⸗ 
bemerkbar ausſtröme, wenn man nahe an dem haken⸗ oder 
knopfförmigen Drahtende ihrer innren Belegung eine eiferne 
Spitze anbrächte, die das Verbreiten der Elektrizität in der 
Umgebung vermittelte. Eine 18 Fuß lange blecherne Röhre, 
die in horizontaler Stellung in ſeidnen Schnüren ſo aufge⸗ 
hängt war, daß die eine Hälfte derſelben über das Fenſter 
hinaus ins Freie ragte, die andre ins Zimmer hineinging, 
wurde, wenn Gewitter am Himmel waren, ſtark elektriſch. 
An einigen eiſernen Kreutzen und metallenen Knöpfen der 
Thurmſpitzen wollte man bemerkt haben, daß die feurigen 
Strahlen, die ſich vor und während Gewittern an ihnen 
zeigten, übereinſtimmend mit dem, was ſchon die Völker des 
Alterthumes hierüber gelehrt hatten, ein günſtiges Zeichen 
für die Bewohner der Nachbarſchaft wären, denn wo und 
wenn dieſe Erſcheinung ſich zeige, da ſei keine Gefahr vom 
Blitz zu befürchten. Dieſe Elemente der Erkenntniß waren 
vorhanden und es bedurfte nur ihrer Anwendung zum Dienſt 
und Nutzen des menſchlichen Haushaltes. 

In Amerika lebte damals, als Nollet in Frankreich ſeine 
Beobachtungen über die Elektrizität machte ein Mann, deſſen 
Andenken nicht nur bei unſren Zeitgenoſſen noch in hoher 
Achtung ſteht, ſondern auch in fernkünftigen Zeiten eine 
ehrende Anerkennung finden wird: Benjamin Franklin. 
Der große Lauf des Lebens dieſes trefflichen Mannes hat im 
Jahre 1706 einen gar kleinen Anfang genommen, auf einer 
Inſelvorſtadt der amerikaniſchen Stadt Boſton, wo ſein Va— 
ter ein armer Seifenſieder war. Bis in ſein zwölftes Jahr 
mußte Benjamin ſeinem Vater bei der Profeſſion helfen, dann 
zog ihn der kräftige, innre Antrieb zum Erkennen und Wif- 
ſen vom Talg und von den Laugenfäßern hinweg, in einen 
Beruf, der ſeinen innerſten Neigungen beſſer entſprach. Sein 
älterer Bruder, ein Buchdrucker, war ſo eben aus England 
zurückgekehrt, bei dieſem trat er als Lehrling und Gehülfe 
in das Geſchäft ein. Aber das Bücherleſen zog ihn noch 
mehr an als das Bücherdrucken; jede freie Stunde des Ta⸗ 
ges und öfters auch einen Theil der Nacht benützte er mit 
einem Eifer der dem des Duval gleichkam, zum Leſen nütz⸗ 
licher gut geſchriebener Bücher. Benjamin war erſt 14 Jahre 
alt, da ſei Bruder, der Buchdrucker, er den Einfall kam, 

2 a 


334 


eine Art von Zeitung oder Unterhaltungsblatt heraus zu 

geben. Aber gerade an der Hauptſache, an ſolchen Aufſäßzen 
die ſich recht zur Unterhaltung eigneten und dabei zugleich 

belehrend waren, fehlte es im Anfang ganz. Da entſchloß 
ſich Bejamin dem Mangel abzuhelfen und ſeine jugendlichen 
Arbeiten fanden ſo allgemeinen Beifall, daß der Gouverneur 
der Provinz, Val. Keith, ihn aufforderte ein ſelbſtſtändiges 
Buchdruckergeſchäft zu begründen und ihm eine Summe gab, 
mit welcher er nach England reiſen und dort alles Das ein⸗ 
kaufen konnte, was zu einer Buchdruckerwerkſtatt gehört. 
Dieſes geſchahe im J. 1724, aber erſt 1726 gelangte Franklin, 
damals 20 Jahre alt, dazu, den Plan auszuführen. Der 
geiſtig reich begabte junge Mann begnügte ſich jedoch nicht 
damit fremde Bücher zu drucken, ſondern er ſelber ſchrieb 
für ſeine Druckerei Werke, wie damals noch keine aus Ame⸗ 
rika hervorgegangen waren. In dieſen Schriften, ſo wie in 
ſeiner pennſylvaniſchen Zeitung und in dem Almanach, den er 
jährlich herausgab, lebte und webte ein Geiſt der Einſicht 
und der Liebe zum Vaterland wie zu ſeinem Volke, der 
überall Eingang zu dem Verſtand und zu dem Herzen der 
Menſchen fand. In ſolchen Büchern wie ſeine »Sprüch⸗ 
wörter des guten Heinrich» iſt ein Ton getroffen, welcher 
Allen, den Vornehmen wie den Geringen, den Bürgern wie den 
Bauern wohl that; allenthalben wußte er den Antrieb zum 
geiſtigen Erkennen und zur Veredlung des Herzens zu wecken 
und Mittel zu erfinden oder nachzuweiſen, welche den Män⸗ 
geln und Beſchwerden des menſchlichen Lebens abhelfen, und 
das äußre wie innre Wohlbefinden des Volkes fördern 
konnten; ſelbſt die Einrichtung der Sparöfen beſchäftigte ihn. 
Eine ganz beſondre Freude gewährte ihm das Forſchen in 
den Tiefen der Naturwiſſenſchaft. Zum Verſtändniß vieler 
bis dahin räthſelhaft gebliebener Naturerſcheinungen ſchien ihm 
die gründlichere Erkenntniß der Elektrizität den Schlüſſel zu 
enthalten. Seine Forſchungen verbreiteten über das Weſen 
und die Wirkungen dieſer Naturkraft ein neues Licht; na⸗ 
mentlich hatte er zuerſt über den Grund der elektriſchen Pola⸗ 
ritäten eine klare Anſicht aufgeſtellt; denn von ihm ſchreibt 
ſich die Anerkennung eines poſitiven und eines negativen 
Verhältnißes der elektriſchen Spannung her. Er auch, der 
ſeltne Mann, welcher von der Vorſehung dazu beſtimmt war, 
feinem, Baterland und deſſen Bewohnern in der Zeit großer 


355 


Ungewitter, welche über die damals noch engliſchen Colonieen 
der jetzigen amerikaniſchen Freiſtaaten kam, ein vermittlen⸗ 
der Ableiter zu werden, der durch ſeine Weisheit und Milde 
die drohenden Gefahren hinweglenkte und verminderte, iſt der 
wahre Erfinder jener Blitzableiter geworden, die man jetzt 
über den Häuſern und an den Thürmen faſt aller Städte, 
ſo wie vieler Dörfer unſres Vaterlandes ſiehet. Schon im 
Jahr 1751 theilte er feine Vorſchläge zur zweckmäßigſten 
Einrichtung dieſer menſchlichen Schutz- und Trutzmittel gegen 
die verheerende Macht des Blitzes in einem Briefe mit, der 
nebſt andren Briefen ähnlichen Inhaltes an den Engländer 
Colliſon gerichtet iſt. Die erſten Verſuche, durch welche 
die Kraft des Gewitterblitzes aus den Wolken herabgezogen 
wurde in die Gewalt des Menſchen, wobei ſich dann deut— 
lich ergab, daß ſie eines Weſens ſei mit der Elektrizität die 
man dem Glas oder Pech durch Reiben entlockt, wurden 
theils mit aufrecht ſtehenden, oben in eine Spitze auslaufen⸗ 
den, nach unten iſolirten eiſernen Stangen, theils mit Pa⸗ 
pierdrachen, dieſem Spielzeug unſrer Kinder gemacht, die 
nach vorn in einer Metallſpitze endigten und mit einer, die 
Elektrizität leitenden, großentheils hänfenen Schnur in Ber: 
bindung ſtunden, an deren unterem Ende ein Schlüſſel oder 
ähnliches Metallſtück hieng. Dieſes untre Ende wurde, um 
jede Gefahr zu vermeiden, an einem ſeidenen Seil gehalten 
und zu dem Beobachter hingezogen. Wenn der Papierdrache 
bei gewitterhafter Stimmung der Atmoſphäre emporgeſtiegen 
war, dann zeigte das Metall, am untren Ende der Schnur, 
eine öfters ſehr auffallend ſtarke elektriſche Ladung. Eine 
Stange oben mit einer Spitze, zeigte dieſelbe Fähigkeit zum 
Herableiten der Luftelektrizität, und bei ſolcher Gelegenheit 
beobachtete Franklin, daß dieſe nicht immer von gleicher po: 
lariſcher Art, ſondern zuweilen poſitiv (wie in der Regel die 
des Glaſes) andre Male negativ (wie die des Peches oder 
Bernſteines) ſei. Beim Ausbruch der Gewitter bemerkte man, 
daß, ſo oft die atmoſphäriſche Spannung unter Blitz und 
Donner (mithin in gewißer Nähe) ſich entladen hatte, die 
elektriſche Spannung an der Stange ſich verminderte oder 
verlor, bald nachher aber wieder ſich einfand und ſteigerte. 
Dieſe erſten Verſuche mit der Luftelektrizität bei Gewit⸗ 
tern ſind nicht immer ohne Gefahr und Schaden der Beob— 
achter abgelaufen. Profeſſor Richmann in Petersburg 
23 


356 


wollte am sten Auguſt 1753 ebenfalls die Stärke der Elek 
trizitätsleitung einer eiſernen Stange prüfen und ward dabei 
durch den Schlag, der ſtarken elektriſchen Spannung, die 
ſich der Stange aus der Gewitterluft mitgetheilt hatte, wie 
vom Blitz getödtet. Auch Andre bemerkten, daß ſolche iſolirte 
Stangen bei gewißen Stimmungen der Atmoſphäre eine 
elektriſche Ladung annehmen, welche jene unſrer kräftigſten 
elektriſchen Apparate überſteigt. 5 

Franklin, in ſeinem großen, viel umfaßenden Berufe, 
als Pfleger und Schützer der Unabhängigkeit und Selbſt⸗ 
ſtändigkeit der amerikaniſchen Freiſtaaten, deren Bewohnern 
er ſchon durch feine Schriften den rechten und würdigen Ge— 
brauch der Freiheit gelehrt hatte, verſäumte es nicht, ſeiner 
Erfindung der Blitzabeiter die möglichſt beſte Vollendung und 
Anwendbarkeit zu geben. Als er im Jahr 1790 ſtarb, da 
hatte man ſich nicht nur in allen Städten des nördlichen 
Amerikas, ſondern auch auf Schiffen im Meere und in Eu⸗ 
ropas Feſtland davon überzeugt, daß dieſer große Amerikaner 
nicht fruchtlos und vergebens ſich bemüht habe, die Span— 
nung, welche während der Gewitter zwiſchen der Erde und 
ihrem leiblichen Himmel beſteht, friedlich auszugleichen und 
beizulegen, eben ſo wie er als Staatsmann die gefahrdro— 
hende Spannung zwiſchen den jugendlich aufkeimenden Frei- 
ftaaten und dem mächtigen Mutterſtaat England mit glück- 
lichem Erfolge beigelegt hatte. 

Die Einrichtung unſrer Blitzableiter iſt kürzlich folgende: 
Eine eiſerne Stange, deren Stärke etwa ein und ein Viertel 
Zoll beträgt und deren ſpitziges Ende, um ſein Roſten zu 
verhüten, vergoldet, oder aus Platina gebildet iſt, wird bis 
zu einer Höhe von 3 bis 4 Fuß über dem Dach des Gebäus 
des, das man dadurch vor Gewitterſchaden ſchützen will, er— 
richtet, und mit einer andren Stange von Metall, oder mit 
ſtarken Drähten verbunden, welche zuerſt horizontal über den 
Giebel des Daches, dann von dieſem nach der feuchten Erde 
oder in das Waſſer herablaufen. Wenn die Stange vier 
Fuß hoch iſt, erſtreckt ſich der Kreis ihrer Wirkſamkeit rings 
umher auf eine Weite von 8 Fuß, deßhalb müßen die 
Dächer großer Gebäude, über deren Schützung etwa mit be⸗ 
ſondrer Aengſtlichkeit gewacht wird, in verhältnißmäßigen 
Abſtänden mit mehreren ſolchen Stangen verſehen ſeyn, wel⸗ 
che unter ſich in gut leitender Verbindung ſtehen, und in 

* 


ni m A 8 4 


357 


dieſe Leitung müßen auch, durch Nebendrähte oder Stangen, 
alle etwa in dem Gebäude enthaltnen größren Metallmaſſen 
aufgenommen ſeyn. In den meiſten Fällen werden die Ge— 
witterableiter von ſolcher Einrichtung das Einſchlagen des 
Blitzes verhüten, und ſelbſt da wo ihrer viele in einem nicht 
ſehr großen Raume vereint ſtehen, die Heftigkeit der Gewit— 
ter mindern. In Beziehung hierauf will man bemerkt haben, 
daß, ſeit der Errichtung der Blitzableiter der Ausbruch hefti— 
ger Gewitter über manchen Städten ſeltner geworden ſey 
als er dies in früheren Zeiten war. Indeß kann es doch auch 
einzelne Fälle geben, in denen all unſre menſchliche Kunſt 
und Vorſicht zur Abwehr des Blitzes nicht ausreichend 
befunden wird. Der Blitz kann ſo ſtark ſeyn, daß der Draht 
oder die Stange ihn nicht ganz zu erfaßen und zu leiten 
vermag; er kann dann nach einen andren in der Nähe des 
Leitungsapparates befindlichen metalliſchen oder organiſchen 
Kbrper abſpringen und, wie dies die Erfahrung gelehrt hat, 
einen Menſchen der während eines Gewitters, mit einem 
metallenen Geräth beſchäftigt am Fenſter eines Zimmers, in 
der Nähe des ableitenden Drahtes ſtund, auf einige Zeit 
lähmen. Auch das Schmelzen des Drahtes kann die Ablei— 
tung unterbrechen und Gefahr bringen, ſo wie zuweilen ein 
heftiger Regenguß mit ſeinen Strömen den Schlag des Wet— 
ters unmittelbar auf die Gebäude, nicht auf die Blitzableiter 
ziehen kann, wobei freilich die Gefahr des Zündens ſehr ge— 
ring iſt, weil die Näſſe des Daches durch weite Verbreitung 
ſeiner Spannung die Heftigkeit des Blitzes mindert und mit 
dem hinabrinnenden Waſſer ihn zum Boden hinableitet. 

An der Geſtalt und Wirkſamkeit der elektriſchen Spitzen 
wie der Blitzableiter können wir abermals bemerken, welche 
natürliche Macht, der Maſſe des Großen gegenüber, in dem 
Kleinen liege. Die feinzertheilte Metallmaſſe im Platina- 
ſchwamm, übt, nach S. 310, gegen die Federkraft der Luft 
eine Gewalt aus, die den ſonſt ſo unumſchränkt herrſchenden 
Einfluß des Luftdruckes vielfach, überlegen iſt, indem fie dem 
Gas, das ſie in ihre Zwiſchenräume einſaugt, eine Verdichtung 
mittheilt, welche kaum der Druck von mehreren hundert At— 
moſphären bewirken könnte. In ähnlicher Weiſe ziehen die 
fein und klein zerſtäubten Theile der oberſten Erdlagen unſrer 
Aecker und Garten die Feuchtigkeit und vor andren atmo⸗ 
ſphäriſchen Gasarten die Kohlenſäure und das Sauerſtoffgas 


358 


in ihre Zwiſchenräume ein und bringen hierdurch den Pflan⸗ 
zenkeimen, die in ihnen liegen, die Elemente der Belebung und 
Ernährung. 

Ein auffallendes Beiſpiel kann uns hierbei lehren, wie 
ſo viel anders die anziehende, im Verborgnen ſich äußernde 
Kraft der kleinſten Theile im Vergleich mit der Kraft der 
großen Maſſen oder des mechaniſchen Druckes wirke. Die 
menſchliche Kunſt, mit den Werkzeugen zum Hervorbringen 
einer räumlichen Zuſammenpreſſung, hatte es verſucht, auf 
mehrere gasförmige Körper einen Druck anzuwenden, welcher 
den Druck der atmoſphäriſchen Luftſäule auf die Oberfläche 
der Erdebenen und des Meeres um viele Male übertraf. 
Schon bei einer ſechs mal größeren Verdichtung als die iſt, 
welche es in der atmoſphäriſchen Luft empfängt, wird das 
Ammoniakgas faſt ganz zu einem tropfbar flüßigen Körper, 
der ſich jedoch, ſobald der Druck nachläßt, alsbald wieder 
zur Luftform ausdehnt. Am leichteſten wird eine ſolche über⸗ 
gewöhnliche Verdichtung erhalten, wenn man eine mit metal⸗ 
liſchen oder erdigen Grundſtoffen zum feſten Körper verbun⸗ 
dene, luftförmige Säure durch eine ſtärkere Säure in einem 
luftdicht verſchloßenen Gefäß austreibt und hierbei dem Inn— 
ren des Gefäßes einen ſo engen Raum giebt, daß die ent⸗ 
bundene Säure nur einen kleinen Theil ihres gewöhnlichen 
Umfanges einnehmen kann. Man miſcht in einem gut ver⸗ 
ſchloßnen eiſernen Gefäß Schwefelſäure und gemeinen, koh— 
lenſauren Kalkſtein zuſammen; die Schwefelſäure vereint ſich, 
eben ſo wie ſie an freier Luft thun würde, mit der Kalkerde, 
die Kohlenſäure entweicht, unter heftigem Aufbrauſen, als 
Gas. Wenn die zuſammengemiſchte Maſſe groß genug war, 
kann man auf dieſem Wege mehrere Pfunde der Kohlenſäure 
entbinden, in einem Raume, welchen unter dem gewöhnlichen 
Luftdruck ſchon einige Loth jenes ſauren Gaſes vollkommen 
ausfüllen würden. Wenn dann eine Parthie der entſtehen⸗ 
den Kohlenſäure nach der andren in den engen Raum ein⸗ 
dringt und die Maſſen derſelben ſich ſo zuſammendrängen, 
daß ihre Geſammtausdehnung nur etwa noch den 36ten Theil 
des natürlichen Umfanges einnehmen kann, dann gehet mit 
dem kohlenſauren Gas eine merkwürdige Veränderung vor. 
Daſſelbe nimmt jetzt die Form einer tropfbaren Flüßigkeit an, 
dehnt ſich jedoch, ſobald ihm hierzu der nöthige Raum gege⸗ 
ben wird, mit ſo ungeheurer Kraft und Schnelligkeit wieder 


359 


zu ſeinem natürlichen Umfang aus, daß wir nur wenige Beifpiele 
von ſolcher gewaltthätigen Entbindung eines Stoffes aus den 
Banden kennen, in welche die menſchliche Kunſt ihn geſchlo— 
ßen hielt. Fürs Erſte wird bei dem außerordentlich ſchnellen 
Uebergang der flüßigen in die Luftform der Umgebung Wär⸗ 
me entzogen; es entſtehet eine ſo große Kälte, daß ein Theil 
der künſtlichen Flüßigkeit zu einer weißen, fehneeättigen 
Maſſe erſtarrt. Der Grad dieſer Kälte, wenn man mit 
ſolch feſter Kohlenſäure Aether zuſammenmiſcht, iſt für unſre 
thermometriſchen Werkzeuge unmeßbar groß, denn in Be 
rührung mit dieſem Aethergemenge kann man eine Queckſil⸗ 
bermaſſe von vielen Pfund Gewicht in wenig Augenblicken 
ſo feſt gefrieren machen, daß ſich dieſelbe hämmern läßet. 
Dagegen nimmt die einmal feſt gewordne Kohlenſäure unter 
andren Umſtänden die Gasform nur allmälig an, man kann 
fie in die Hand nehmen, ohne eine andre Unbequemlichkeit 
davon zu ſpüren als das Gefühl einer außerordentlich ſtar⸗ 
ken Kälte. Nur die tropfbar flüßige, der Gasform noch 
näher ſtehende, verdichtete Kohlenſäure iſt es, welche bei 
ihrem plötzlichen Herausſtrömen aus einer Glasröhre, dieſe 
in zahlloſe Splitter zerſchlägt und welche vor einiger Zeit 
im Laboratorium der politechniſchen Schule zu Paris einen 
Unglücksfall erzeugte, welcher vielfach in öffentlichen Blättern 
beſprochen worden iſt. Ein Gehülfe des Lehrers der Chemie 
hatte auf die oben erwähnte Weiſe in einem gußeiernen 
Cylinder von 2½ Fuß Länge und 1 Fuß Durchmeſſer, der 
ſchon oft zu dieſen Verſuchen benutzt worden war die flüßige 
Kohlenſäure bereitet, da zerſprengte die gewaltſam verdichtete 
Gasart den Cylinder und ſchleuderte die Bruchſtücke mit ſo 
furchtbarer Gewalt umher, daß ſie dem Gehülfen beide Beine 
abſchlugen und fo ihn plotzlich tödteten. Wäre die Erplofion 
eine Viertelſtunde ſpäter in dem von Zuhörern erfüllten Lehr⸗ 
ſaale erfolgt, dann würde dieſelbe vielen Menſchenleben ein 
gewaltſames Ende geſetzt haben. 

Jene kleinen, zarten Härchen und Borſten, welche die 
Oberfläche mancher, namentlich in Gebirgsgegenden wachſen⸗ 
den Pflanzen bedecken, ziehen, eben ſo wie die aufgelockerte, 
fein zertheilte Ackererde die atmoſphäriſchen Luftarten und 
Dämpfe an und führen dieſelben, im Innren der Zwiſchen— 
räume des Pflanzenkörpers wie der Erdſtäubchen einer Ver⸗ 
dichtung entgegen, deren Grad unſre Kunſt kaum zu erreichen 


360 


vermag. Hierbei zeigt fich jedoch keine Spur eines gewalt⸗ 
thätigen, zerſtörend wirkenden Anſtrebens der mächtig ver⸗ 
dichteten Stoffe nach der Zurückkehr in ihren urſprünglichen 
Zuſtand, ſondern wo eine ſolche Umwandlung geſchiehet, da 
geht ſie eben ſo unbemerkbar ſtill und ſanft von ſtatten, als 
die Verdichtung dieſes that. f 

Auch die metallenen Spitzen benehmen ihrer atmoſphä— 
riſchen Umgebung wie jedem mit Elektrizität geladenen Kör⸗ 
per in deſſen Nähe ſie kommen, in einer oft kaum merklichen 
oder doch gefahrloſen Weiſe die gegenſeitige Spannung; ſie 
heben hierdurch den gewaltſamen Charakter der Entladung 
auf und theilen dem Boden in größeſter Fülle den elektriſchen 
Einfluß mit. Der ſtillere, verborgnere Gang der Wirkſam— 
keit, welcher die anſcheinend kleinſten Mittel in Bewegung 
ſetzt, zeigt ſich auch hier als der erfolgreichſte, durch welchen 
das Meiſte erlangt wird und der am Sicherſten und Leich— 
teſten zum Ziele führt. 


39. Eine Art von Blitzableiter benutzt zur Be⸗ 
fruchtung der Felder. a 


Die Naturkunde unfrer Tage hat durch ihre Erfindun⸗ 
gen Dinge möglich gemacht, deren Erreichbarkeit und Aus— 
führbarkeit auch den einſichtsvolleſten Männern der älteren 
Zeiten nicht im Traume eingefallen wäre. Wir haben in 
den vorhergehenden Capiteln dieſes Büchleins ſchon viele 
Beiſpiele dieſer Art angeführt, hier aber geben wir ein neues, 
das manchem Landwirth, wenn es ſich in ſeiner Wirkſamkeit 
bewähren ſollte, zum großen Vergnügen und Nutzen, der 
Naturkunde aber zur Ehre gereichen könnte. 

Der Blitz, wenn er in ſeiner Majeſtät und Gewalt aus 
ſeinen Höhen herabfährt nach unſren Tiefen, hat etwas Er— 
ſchütterndes und Zerſtörendes, das kein lebendes Weſen zu 
ertragen vermag; wenn er dagegen, wie im ſanften, ſtillen 
Säuſeln, als ein fortwährendes, ruhiges Ueberſtrömen der 
Elektrizität zur irdiſchen Körperwelt ſich naht, dann iſt er 
aus einem Zerſtörer zu einem väterlichen Ernährer und Er⸗ 
halter des Lebens geworden. Das elektriſche Gewitter mit 
den Schreckniſſen ſeiner Blitze und ſeines Donners, ſtellt 
uns einen Zuſtand der Natur vor Augen, bei welchem das 
Untere, der Boden, dem Höheren oder dem Lufthimmel 


361 


fremdartig geworden mit ihm in jene ſtärkere elektriſche 
Spannung getreten iſt, die ſich nur durch den gewaltſamen 
Vorgang der Entladung wieder ausgleichen kann. Dagegen 
ſtehen dieſe beiden Gegenſätze, Erde und Luft, Unteres und 
Oberes bei dem Vorgang der ſtillen Ueberſtrömung, des 
gegenſeitigen Gebens und Nehmens in einem fortwährenden, 
friedlichen Verein und Verkehr; es kommt dabei zu keiner 
ſtärkeren Spannung, zu keiner gewaltſamen Entladung. 

Ein ſolcher ſtiller, friedlicher Wechſelverkehr findet im 
Grunde genommen beſtändig zwiſchen der grünenden, leben⸗ 
dig friſchen Pflanzenwelt und der von elektriſchen Kräften 
durchwirkten Atmoſphäre ſtatt; jeder Baum, jedes Kraut iſt 
nach ſeinem Maaße durch alle ſeine Blätter und andre 
Theile ein Leiter der Elektrizität. Daß dieſe Naturkraft 
fördernden Einfluß auf das Wachsthum der Pflanzen, auf 
das ſchnellere und kräftigere Keimen ihrer Samen habe, das 
weiß man ſchon ſeit hundert Jahren: die beiden Myrten— 
bäume, welche Maimbrai zu Edimburg im October des 
Jahres 1745 mehrere Wochen lang elektriſirte, trieben Knos— 
pen und friſche Aeſte, während ſich andre Bäume ihrer Art 
in derſelben Zeit ſchon der Ruhe und Abſpannung des her— 
annahenden Winters hingaben und der gelehrte Abt Bar 
tholon ſprach es mit großer Beſtimmtheit aus, daß die 
Elektrizität auf die Ernährung und das Wachsthum der 
Pflanzen den bekräftigendſten Einfluß habe. Ohnehin, dies 
ſahen wir ſchon oben, im 5. Cap. nimmt der wundervolle 
Organismus eines großen Theiles der Gewächſe ſeine Nah— 
rung in einer uns unſichtbaren Weiſe aus der Atmoſphäre. 
Deshalb lag der Einfall nahe, den abermals ein wackrer 
Schottländer, hundert Jahre nach dem Vorgang ſeines 
Landsmannes Maimbrai, Herr Forſter zu Findraſſie gehabt 
und ausgeführt hat: die Elektrizität auch einmal im Großen 
zur Förderung des Wachsthums und Früchtetragens unſrer 
nutzbaren Gewächſe anzuwenden. Und zwar nicht jene ftüd- 
und ruckweiſe kleinliche, welche wir künſtlich durch unſre Rei⸗ 
bungsmaſchinen, immerhin als einen gewaltthätigen Blitz im 
Kleinen erzeugen, auch nicht die Strömungen einer galvani— 
ſchen oder elektromagnetiſchen Vorrichtung, ſondern den Strom 
der aus jenem unverfiegbaren, unerſchöpflichen Quell hervor— 
dringt, welcher in dem Wechſelverhältniß der Luft und der 
Oberfläche unſres Planeten liegt. Der Verſuch den man 


362 


mit dem Strome der Luftelektrizität zu ſolchem Zwecke an⸗ 
ſtellte, war folgender: 

Von einem Gerſtenfeld, das in einer der nördlicheren Ge⸗ 
genden von Schottland ſeine Lage hat, und das in allen ſei⸗ 
nen Theilen auf gleiche Weiſe gepflügt, beſäet und gedüngt 
war, wurde ein Stück das 80 Ellen lang, 55 Ellen breit 
war dem fortwährenden Einfluß und Strömungen der Luft⸗ 
eleftrizität dadurch zugänglich gemacht, daß man an den 


vier Ecken des länglichen, genau von Nord nach Süden ge⸗ 


richteten Viereckes Pflöcke einſchlug, an denen, von einem 
zum andern gebend, ein ſtarker Eiſendraht befeſtigt war, 
welcher drei Zoll tief unter der Oberfläche des Bodens ſeinen 
Verlauf nahm. In der Mitte der kürzeren Seiten des Vier⸗ 
eckes (kin Nord und Süden) wurden 15 Fuß hohe Stangen 
aufgerichtet, von deren Spitzen oben in der Höhe ein Ber: 
bindungsdraht über das abgegränzte Stück des Feldes der 
größeren Länge deſſelben nach hinlief und zugleich an ſeinen 
Enden die ſich zum Fuße der beiden Stangen hinabſenkten 
mit den vorhin erwähnten, das Feldſtück umſpannenden 
Drähten in Verbindung geſetzt war. Der Einfluß der Luft⸗ 
eleftrität kann bei einer ſolchen Einrichtung noch durch einen 
Vorgang der galvaniſch elektriſchen Strömung nach Willkühr 
verſtärkt werden, indem man außen am Rande der beiden 
längeren Seiten (in Oſt und Weſt), an der einen Seite 
einen Sack mit Holzkohlen, an der andren mit Zinkplatten 
in die Erde gräbt und dieſe beiden zur ſtarken polariſchen 
Spannung geeigneten Subſtanzen durch einen Metalldraht 
in Verbindung ſetzt. Auch dieſer dritte Draht wird in der⸗ 
ſelben Höhe, in welcher der zweite von den Luftelektrizität⸗ 
leitenden Stangen verläuft, oben durch die Luft gezogen, 
indem man an jeder der beiden Seiten, da wo der eine und 
der andre Sack vergraben iſt, eine Stange errichtet, an wel⸗ 
cher der Draht bis zu ihrem Ende hinaufgezogen wird. 
Gerade in der Mitte über dem Feldſtück durchkreutzen ſich 
der von Nord nach Süd verlaufende, zur Leitung der Luft⸗ 
elektrizität und der von Oſt nach Weſt gehende zur Leitung 
der galvaniſchen Strömung beſtimmte Draht. So wird 
durch den Draht, welcher unter dem Boden hin von einem 
der vier Eckpfähle zum andren und ſo um das ganze Feld⸗ 
ſtück an allen vier Seiten herumläuft, eine beſtändige elek⸗ 
triſche Strömung in der Tiefe fortgeleitet, welche aus einer 


363 


andren, oben in der Höhe ftatt findenden aus dem Wechfel- 
verkehr der Luft und des Bodens, ſo wie aus der Spannung 
zweier polariſch entgegengeſetzten galvaniſchen Elemente ihren 
Urſprung nimmt, ſo daß auf dieſe Weiſe das Feldſtück von 
oben und von unten wie von einem Fadengewebe der elektri— 
ſchen Einflüße umſponnen und durchwirkt iſt. 

Der Einfluß dieſer Vorrichtung auf das Gedeihen der 
Saat war ein überaus augenfälliger. Der Morgen Feldes, 
den man zum Verſuch benutzt und in welchem man die 
Pflöcke mit ihren unterirdiſchen Verbindungsdrähten ſo wie 
mit ihren oberen Stangendrähten angebracht hatte, trug 
13 ½ Viertel Gerſte, während der Ertrag der angränzenden, 
ganz auf gleiche Weiſe behandelten Feldſtücken nur der ge— 
wöhnliche von 5 bis 6 Viertel auf den Morgen war. Ueber⸗ 
dieß waren auch die auf dem elektriſirten Feldſtück gewonne— 
ner Körner fo ſubſtanzibs, daß der Scheffel derſelben 2 Pfund 
mehr wog als der Scheffel der andren, in gewöhnlicher 
Weiſe gezogenen Gerſte. N 
Auch im Kleinen wurde ein ähnlicher Verſuch mit gleich 
günſtigem Erfolge angeſtellt. Zwei Gartenbeete wurden mit 
Senfſaamen beſäet, für das eine derſelben der Einfluß der 
Elektrizität angewendet, das andre ſich ſelber überlaſſen. Im 
erſteren erreichten die Pflanzen in derſelben Zeit eine Höhe 
von 3 ½ Zoll, in welcher fie im andren bis zu einem Zoll 
emporwuchſen. Wenn demnach der Einfluß der oben beſchriebenen 
Zuleitung der Luftelektrizität auf das Pflanzenwachsthum auch 
kein ſolcher übermäßig beſchleunigender iſt, wie der eines 
ſtarken, künſtlich erregten elektriſchen Stromes, mittelſt deſſen 
ein franzöſiſcher Phyſiker und Freund der Gärtnerei die 
Wette gewann, daß er den Saamen von Kreſſe in derſelben 
Zeit zur Benutzung für die Tafel wollte hervorſproſſen und 
aufwachſen laſſen als ein Andrer nöthig hatte, um eine 
Kalbskeule gar zu braten, ſo könnte dafür jener Einfluß deſto 
naturkräftiger und nachhaltiger ſeyn. 

Die Koſten zur Anlegung des elektriſchen Leitungsappa— 
rates wurden von dem Erfinder deſſelben für den Acker Lan— 
des zu 12 fl. berechnet. Doch verringert ſich dieſe Auslage 
verhältnißmäßig deſto mehr, je größer die Ausdehnung des 
von Drähten umſponnenen Raumes iſt, und ohnfehlbar wird 
eine ſolche Vorrichtung ſür 10 bis 15 Jahre brauchbar ſeyn, 
wenn man die Drähte jedes Jahr, wenn ſie ihre Dienſte 


364 


geleiſtet haben aus dem Boden heraus und von den Stan 
gen hinwegnimmt, und dann zur Saatzeit wieder einſetzt. 

Dieſe ſonderbaren Verſuche mit einer Befruchtungsweiſe 
der Felder, welche die Kunſt des Menſchen aus der Luft 
herabzieht, wären allerdings der Wiederholung werth und 
es läßt ſich Vieles und Bedeutendes für die Möglichkeit, ja 
ſelbſt für die Wahrſcheinlichkeit ihres Gelingens anführen, 
obgleich auch auf der andren Seite manches Bedenken dage⸗ 
gen erhoben werden könnte. Um beides beſſer würdigen zu 
können wollen wir hier eine kleine Abſchweifung machen, in⸗ 
dem wir die Ernährung und Bildung des Pflanzenleibes 
etwas genauer betrachten. | 


40. Das Pflanzenleben und der Feldbau. 


Wenn das Menſchenauge mit Luſt und Bewundrung 
die Herrlichkeiten betrachtet hat, die ein blühender Roſen— 


ſtrauch oder ein Apfelbaum im Frühling ſo wie zur Zeit des 


Früchtereifens zur Schau trägt, wenn es an der hohen Lilie 
oder an der prangenden Tulpe ſich kaum ſatt ſehen konnte, 
dann bleibt ihm noch immer ein großer Theil der täglich ſich 
erneuernden Wunder des Pflanzenkörpers unbekannt, bis ihm 
der Blick durch die Vergrößrungsgläſer die Pforten zu der 
Schatzkammer dieſer verborgnen Wunder aufthut. Ein klei— 
ner Streifen, den wir etwa aus einem Blatt- oder Blüthen— 
ſtengel herausſchnitten und von welchem wir ein abgerißnes 
Stückchen in das Geſichtsfeld eines Mikroscops legen, ſtellt 
uns in ſeinem innren Bau ein Kunſtwerk der höheren Ord— 
nung dar, bei deſſen Betrachtung wir nicht minder gerne 
verweilen als bei jener der zierlich gebildeten Blätter und 
buntfarbigen Blüthen. Da ſteht man recht, wie ſich die 
Kräfte des Lebens vorzugsweiſe zu dem Kleinen und Zarten 
geſellen, wie ſie ihr Spiel in einer zahlloſen Vielheit von 


Gliedertheilen haben, welche alleſammt zu einem organiſchen 


Ganzen verbunden ſind, welches dem Wirken einer gemeinſamen 


Seele dient. Denn an einem ſolchen Pflanzentheilchen erkennt 
man eine Zuſammenhäufung von Zellen, von röhrenartigen 


Saftbehältniſſen und ſchraubenförmig gewundnen Gefäßen, 

von deren kunſtreicher Anordnung und Zuſammenfügung das 

unbewaffnete Auge Nichts erfährt. . | 
In dem innren Gewebe der unvollkommneren Pflanzen: 


> 


365 


arten, wie der Mooſe und der Schwämme, fieht man 
nur ſolche Saftbehältniſſe, welche kleinen Zellen — wie Bie⸗ 
nenzellen — gleichen und welche da neben und übereinander 
gereiht den Körper der Pflanze zuſammenſetzen. Auch in 
der Oberhaut der vollkommneren Gewächſe ſo wie in den 
Blättern und Stämmen derſelben bemerkt man unzählige 
dergleichen Zellen, welche aber häufig zur Röhrenform, zu 
ſchlauchartigen Saftbehältniſſen ausgedehnt ſind, deren, für 
ein bloßes Auge kaum unterſcheidbaren Wände, zuſammen⸗ 
genommen eine ſolche Feſtigkeit haben, daß man ſie aus der 
Unterlage der Rinde mancher Bäume zu Baſt benutzt oder 
aus dem Stengel des Flachſes, des Hanfes, der Neſſeln 
und des Papiermaulbeerbaumes zu Fäden ſpinnt und zu 
allerhand Webereien benutzt. Mitten unter all dieſen zel⸗ 
lenförmigen und cylindriſchen Behältniſſen erſcheinen aber, im 
Innren der vollkommneren Gewächſe die ſchon oben erwähn⸗ 
ten ſchraubenartig, wie eine auseinander gezogene Uhrfeder 
gebildeten (Spiral⸗) Gefäße, welche mehr fur den Verkehr 
mit den luftförmigen Stoffen beſtimmt ſcheinen, deren die 
Pflanze zu ihrem Wachsthum und ihrer Ernährung bedarf, 
als für die Weiterführung der tropfbar flüſſigen und im 
Waſſer aufgelöften erdigen wie ſalzigen Beſtandtheile. 

Vornämlich durch die zellenförmigen und länglichen Saft— 
behältniſſe wird man an eine Art von Polariſation dieſer 
zarten Körpertheile erinnert, auf die ſich ja zuletzt in der 
ganzen irdiſchen Sichtbarkeit alle Wechſelwirkung und Lebens⸗ 
thätigkeit der Dinge gründet. Die einzelnen Schläuche oder 
Röhrchen münden eigentlich nicht das eine in das andre, bilden 
nicht, wie die Adern eines thieriſchen Körpers einen fort— 
laufenden Kanal, ſondern ſie ſind an ihren Enden durch ein 
feines Hautgewebe geſchloſſen, durch welches der Saft aus 
einem der kleinen Schläuche in den andren 9 leichſam hindurch 
ſchwitzen muß. 

Bis ins Kleinſte hinein, wie im Großen beruhet die 
innre Lebensthätigkeit des Gewächſes, feine Ernährung und 
8 usbildung, auf dem polarifchen Gegenſatz eines Oberen 

und eines Untren, wodurch ein beſtändiges Hinauf- und 
Hhabſteigen der Säfte, eine Art von Kreislauf derſelben 
bewirkt wird. Der Baum empfängt ſeine Nahrung, empfängt 
namentlich das Waſſer, die Kohlenſäure und den Stickſtoff 
nicht aus dem Boden allein, ſondern auch aus der Luft; 


* 


die dem Boden entnommenen emporſteigenden Säfte, bedür⸗ 
fen, wenn ſie die eigenthümlichen Kräfte empfangen ſollen, 
durch welche die verſchiednen Arten der Gewächſe ſich aus⸗ 
zeichnen, der von oben ihnen entgegen kommenden polariſchen 
Strömung, welche durch den Einfluß des Sonnenlichtes, durch 
den Zudrang der aus der Luft aufgenommenen Stoffe, an⸗ 
geregt ſo wie unterhalten wird. Wenn durch einen ringför⸗ 
mig herumgehenden Ausſchnitt ein Baumſtamm eines Thei⸗ 
les ſeiner Rinde beraubt wird, dann ſieht man zwar durch 
die Strömung der Säfte welche von oben her ſo wie durch 
jene welche von unten her kommt einen Anſatz der neuen 
Rinde ſich bilden, welcher über die beiden Ränder der Ver⸗ 
wundung ſich ein wenig hinaus erſtreckt, dennoch ſtirbt, wenn 
die Beſchädiz ung hinreichend eingreifend und ausgedehnt war, 
der Baum ab, denn die polariſche Wechſelwirkung zwiſchen 
oben und unten iſt gehemmt, der Kreislauf der beiden 
Strömungen iſt aufgehoben worden. 

Daß die grünen Blätter und Stengel der Pflanzen den 
Hauptnahrungsſtoff des Gewächsreiches: den Kohlenſtoff in 
reichlicher Menge nebſt dem Waſſer aus der Atmosphäre an 
ſic ziehen, das iſt durch vielfältige Beobachtungen erwieſen. 
Im Kleinen kann man es ſchon wahrnehmen wie Weinblätter, 
die man in einem Glasballon einſchließt, der hindurch ge— 
leiteten Luft ihren ganzen Gehalt an Kohlenſaure entziehen, 
auch dann wenn man die Luft mit der größeſten Schnelligkeit 
hindurch ſtrömen läſſet. Und nicht allein den Kohlenſtoff, 
ſondern auch den Stickſtoff, in fo weit derſelbe als Beſtand⸗ 
theil ihrer Säfte, ihrer Früchte oder Rinden in ihnen vor⸗ 
kommt, können die Gewächſe unmittelbar aus der Luft auf⸗ 
nehmen und in die Subſtanz ihres Körpers umbilden. 4 

J. Liebig in ſeinen chemiſchen Briefen weist uns im 
Großen auf jene Thatſachen hin, aus denen dieſe Luftauf⸗ 1 
nahme der Vegetabilien erkannt wird. Unſre befferen Wieſen 
geben, ohne Zufuhr von kohlenſtoff- oder ſtickſtoffhaltigem 
Dünger alljährlich einen reichlichen Ertrag an Heu, unter deſſen 4 
Beſtandtheilen die Scheidekunſt gegen 46 Prozent Kohlenſtoff 
ſo wie 1½ Prozent Stickſtoff nachgewieſen hat. Namentlich 
iſt der Ertrag an Stickſtoff auf einer ſolchen Wieſe, welche 
keinen ſtickſtoffhaltigen Dünger empfieng, weit größer als der 
eines Weizenfeldes, das in gewöhnlicher Weiſe gedüngt wor⸗ 
den war. Seit Jahrhunderten erntet man in Ungarn von 


366 


367 


einem und demfelben Feld Tabak und Weizen, ohne alle Zus 
fuhr von ſtickſtoffhaltigem Dünger; jener Beſtandtheil konnte 
demnach den Gewächſen nicht aus dem Boden, ſondern nur 
aus der Luft kommen. Jedes Jahr belauben ſich unſre 
Buchen⸗, Kaſtanien- und Eichenwälder; die Blätter, der 
Saft, die Eicheln, die Kaſtanien, die Bucheckern, wie die 
Kokosnuß und die Frucht des Brodbaumes ſind reich an 
Stickſtoff, der dem Boden nicht zugeführt wurde. Von einem 
Morgen Landes, den wir mit Maulbeerbäumen bepflanzen, 
beziehen wir in der Form der Seidenwürmer und ihres Ge⸗ 
ſpinnſtes den Stickſtoff der Blätter, von welchem fie ſich er— 
nährten; die Seide allein enthält in ihren Beſtandtheilen 
über 17 Prozent Stickſtoff und dieſe Ernte erneuert ſich jedes 
Jahr, ohne daß wir nöthig hätten dem Boden Stickſtoff 
durch Dünger aus der organiſchen Körperwelt zuzuführen. 
In Virginien erntete man auf einem und demſelben Felde 
ſo viel Weizen, daß man den Stickſtoffgehalt deſſelben auf 
jeden Morgen mindeſtens zu 22 Pfund anſchlagen konnte. 
Sollte dieſer Stoff aus dem Felde gekommen ſeyn, dann 
würden zur Ausſcheidung dieſer 22 Pfund viele Tauſende 
von Pfunden thieriſcher Excremente kaum hingereicht haben. 
Mit der Stickſtoffaufnahme durch die Blätter gehet die Auf— 
nahme des Kohlenſtoffs fortwährend ihren beſtimmten Gang, 
der letztere, deſſen Menge in den Gewächſen unſrer Wieſen ſo 
wie in den gewöhnlichen Culturpflanzen unſrer Felder um 
mehr denn dreißig ja faſt vierzig Male den Stickſtoffgehalt 
überſteigt, kann augenſcheinlich eben ſo wenig blos aus dem 
Boden herkommen als der letztere. Wenn wir deshalb na— 
mentlich bei den Runkelrüben und Kartoffeln den Kohlenſtoff 
und Stickſtoff nicht bloß der Knollen und der Ruben, ſon— 
1 dern auch der Blätter und Stengel in Anſchlag bringen, 
dann ergiebt es ſich, daß in dieſen Gewächſen bei all der 
Zufuhr des Kohlenſtoffes und Stickſtoffes der im Dünger 
enthalten war auch kein größerer Gehalt an dieſen beiden 
Stoffen hervorgerufen worden ſey, als in den Gräſern und 
intern, welche auf dem an Rauminhalt eben fo großen 
Grundſtück einer Wieſe erwuchſen und welche zu ihrer Nah- 
rung gar keinen gewöhnlichen Dünger, ſondern nur Boden⸗ 
beſtandtheile von mineraliſcher Art und atmoſphäriſche Stoffe 
erhielten. ö 
Wenn indeß aus den eben angeführten Thatſachen her- 


* 
% 


368 


vorgeht, daß die Gewächſe den Vorrath der Nahrungsmittel 
deſſen ſie zu ihrem Gedeihen bedürfen, zum Theil wenigſtens 
auch aus der umgebenden Atmoſphäre aufnehmen und an 
ſich ſaugen können, was allerdings durch die elektriſchen 
Strömungen aus der Atmoſphäre (nach C. 39) befördert und 
beſchleunigt werden könnte, ſo darf dabei dennoch auch der 
unverkennbar günſtige Einfluß nicht überſehen werden, den 
die Zufuhr des Nahrungsſtoffes durch die Wurzeln auf das 
Pflanzenwachsthum hat. Die Aufnahme des Kohlenſtoffes 
aus der Atmoſphäre hängt ganz von der Größe der Blatt⸗ 
oberflächen ab; eine Pflanze derſelben Art, deren Blätter⸗ 
oberflächen nur halb ſo viel betragen als die einer andren, 
reicher und größer-blättrigen, kann der Wahrſcheinlichkeit 
nach auch nur halb ſo viel atmoſphäriſche Kohlenſäure aus 
der Luft einſaugen als die letztere. Die junge Pflanze unſ— 
rer Felder könnte, wenn fie bloß aus der Atmoſphäre ihren 
Lebensunterhalt empfangen müßte, im Verhältniß ihrer noch 
kleinen grünenden (blattartigen) Oberflache nur wenig Koh- 
lenſtoff zu ſich nehmen und ihre Entwicklung würde einen 
langſamen Verlauf haben, wenn ſie nicht zu gleicher Zeit 
aus dem mehr oder minder reichlich gedüngtem Boden Koh⸗ 
lenſäure empfienge. So wie ſich aber mit Hülfe dieſer 
reicheren Nahrungsquelle ihre Oberflache vergrößert, ſteigert 
ſich auch ihr Vermögen jenen Nahrungsſtoff aus der Luft 
aufzunehmen und dieſes Vermögen bleibt ihr dann ſelbſt 
noch über jene Zeit hinaus, in welcher die Zuführung des 
Kohlenſtoffes durch die Wurzeln abnimmt oder endigt. 
Ueberhaupt darf neben der aufſaugenden Thätigkeit der 
Blätter auch die ſchon früher erwähnte des Bodens ſelber 
nicht überſehen werden. Die durch den Pflug und andre 
Werkzeuge von ähnlicher Wirkung zerriſſene und verkleinerte 
Erdſcholle zieht (nach S. 310) die Gasarten der Atmoſphäre, 
namentlich die ſpezifiſch ſchwerſte von allen; die Kohlenſäure 
mit bedeutender Stärke an ſich und verdichtet dieſelbe; das 
Stickſtoffgas geht nicht bloß in der Atmoſphäre, ſondern 
auch in den kleinen Zwiſchenräumen der Erdenſtäubchen eine % 
Verbindung mit dem Waſſerſtoffgas ein, in welcher es, als 
Ammoniak, der unmittelbaren Aufnahme in den Körper 
der Pflanze und den Kreislauf ihrer Säfte in vorzuüglichem 
Maaße fähig wird. . ar 
Aber der Kohlenſtoff, obgleich er der 3 
na 


* = 


369 


nach als ein Hauptbeſtandtheil des Pflanzenkörpers, ungleich 
mehr als der viel ſeltner darin vorkommende Stickſtoff er: 
ſcheint, empfängt ſeine Bedeutung für die Ernährung und 
Entwicklung des Gewächsreiches dennoch nur in der polari⸗ 
ſchen Wechſelwirkung mit andren Stoffen, welche zunächſt 
nicht aus der Luft, ſondern aus dem Boden kommen. 
Der Ertrag unſrer Wieſen kann durch Beſtreuung derſelben 
mit Aſche und Gyps, bei gleichzeitig hinzukommender, hin— 
länglicher Bewäſſerung auf das Doppelte geſteigert werden. 
In ähnlicher Weiſe wendet man ſchon ſeit einem Jahrhun⸗ 
dert in England den gebrannten Kalk als Düngungsmittel 
an. Vom October an ſieht man dort in manchen Gegenden 
des Landes die Felder weiß, wie von friſch gefallenem Schnee, 
mit gelöſchtem oder an der Luſt zerfallenem Kalk bedeckt, der 
während der feuchten Wintermonate ſich zerſetzt und mit dem 
Ackerboden ſich vermiſcht. Wer mit den weitren Folgen die— 
ſer Beimiſchung unbekannt iſt, dem kann es kaum anders 
vorkommen, als müſſe der ätzende Kalk nur nachtheilig auf 
den Ackerboden einwirken, weil er gerade das in ihm zer⸗ 
ſtört, was man bisher als das alleinige Mittel zur Frucht— 
barmachung deſſelben betrachtete: die kohlenſtoff- und ſtickſtoff⸗ 
haltige, aus organiſchen Elementen gebildete Modererde. 
Ganz im Gegenſatz zu dieſer vorgefaßten Meinung zeigt ſich 
aber die Fruchtbarkeit der Aecker durch das Aufſtreuen des 
ätzenden Kalkes überaus vermehrt. Wie dies zu erklären 
ſey, das hat J. Liebig in feinen chemiſchen Briefen in ein- 
fach klarer Weiſe auseinander geſetzt. Alle unſre Feldge— 
wächſe: die Getreidearten, Rüben, Erbſen und Klee bedurs 
fen zu ihrem Wachsthum, wie bereits erwähnt, auſſer dem 
Waſſer und den atmoſphäriſchen Elementen gewiſſer, eigen— 
thümlicher feſter Stoffe aus dem Boden. Das eine Feld 
giebt einen reichlichen Ertrag an Weizen, dagegen bei glei— 
cher Düngung nur einen ſehr ſpärlichen an Erbſen, es zeigt 
ſich für den Bau der Rüben vortrefflich geeignet, nicht aber 
für den des Klees oder des Tabaks. Daſſelbe Feld, das 
mehrere Jahre hindurch eine ſehr gute Ernte an Weizen oder 
"irgend einer andren Feldfrucht trug, wird allmälig für dies 
ſelbe Gewächsart immer unergiebiger, obgleich man ihm die 
gleiche Menge, ja ſelbſt eine größere des beſten Düngers zu— 
führt. Der Grund hiervon liegt darinnen, daß der Vorrath 
der mineraliſchen Stoffe des Bodens, in ſo weit derſelbe 
24 


370 


ſchon in einem Zuſtand der Auflöslichkeit und Zerſetzung ſich 
befand, erſchöpft iſt. Was dies für mineraliſche Beſtand⸗ 
theile ſind, die einen ſo weſentlichen Antheil an den Mi⸗ 
ſchungsverhältniſſen jeder beſondren Pflanzenart nehmen, das 
erfährt man bei dem Verbrennen derſelben aus der chemi⸗ 
ſchen Unterſuchung ihrer Aſche. Hieraus weiß man, daß 
namentlich die Getreidearten eine nicht unbedeutende Menge 
von Kieſelſäure (Kieſelerde) in ihrer Miſchung tragen, daß 
überhaupt die Kieſelſäure, in ihrer leichter auflöslichen Ver⸗ 
bindung mit Kalien oder alkaliſchen Erden (z. B. Kalk), 
daß nebſt dieſer verſchiedene Salze weſentliche Elemente der 
Geſtaltung vieler unfrer Feldfrüchte ſind. Einige Arten des 
kieſelhaltigen Bodens find ſchneller und leichter zur Verwitts 
rung und Zerſetzung durch den Einfluß der Atmoſphäre, des 
Regens und der in ihrer Nachbarſchaft befindlichen minerali⸗ 
ſchen Beſtandtheile geneigt, als andre: in manchen Gegen⸗ 
den von Ungarn baut man ſeit Menſchengedenken fortwäh⸗ 
rend auf einem und demſelben Felde das eine Jahr Weizen, 
das andre Jahr Tabak, ohne daß dabei der Ertrag ſich ver— 
ringert; der Granit von Korſika verwittert zu Pulver, man⸗ 
che Sandſteine löſen ſich auf, während andre Geſteine der⸗ 
ſelben Art, die neben ihnen zu Bau- und Kunſtwerken ber 
nutzt, denſelben Einflüſſen der Witterung ausgeſetzt waren, 
noch ganz feſt und wohlerhalten daſtehen. Da wo die Zer⸗ 
ſetzung der kieslichen Bodentheile und ihre Verbindung mit 
Alkalien zu einem leicht annehmbaren Nahrungsſtoff für die 
Pflanze einen zwar fortwährenden, dabei aber langſamen 
Verlauf nehmen, ſieht man ſich genöthigt die Felder, welche 
dem Getreidebau beſtimmt ſind, von Zeit zu Zeit entweder 
brach liegen zu laſſen, oder ſie abwechslend zum Bau der 
Kartoffeln und Rüben zu beſtimmen, welche dem Boden gar 
kein Theilchen der aufgelöften Kieſelerde entführen, ſondern 
eine neue Anſammlung des Vorrathes derſelben für ein näch— 
ſtes Jahr möglich machen. Aber die Erzeugung eines ſolchen 
Vorrathes kann auch ohne dieſe Mittel bewirkt und ſehr ver⸗ 
mehrt werden, wenn der Menſch mit ſeiner Kunſt der fort⸗ 
währenden Auflöſung zu Hülfe kommt. So enthält nament⸗ 
lich der ſchwere, thonerdige Boden eine Fülle von kieslichen 
und alkaliſchen Beſtandtheilen, und dennoch ſind die Lagen 
von Töpferthon für den Wuchs der meiſten Pflanzen und 
für den Ackerbau höchſt ungünſtig, weil ſich jene mineraliſche 


371 


Stoffe in einem für die Gewächſe nicht aneigenbaren, gebund⸗ 
nen Zuſtand finden. Schon das Brennen des Lettens zu 
Ziegelſteinen löſt dieſe Gebundenheit und Geſchloſſenheit auf; 
der gebrannte Thon iſt in Berührung mit der Luft einer 
fortwährenden Verwitterung ausgeſetzt, bei welcher Salze, 
aus Kalien und Kohlen- oder Schwefelſäure gebildet, an 
die Oberfläche des Steines hervortreten, die dem Pflanzen— 
wuchs höchſt förderlich ſind. Am meiſten zeigt ſich eine ſolche 
Auswitterung an jenen Stellen der Mauern wo der Kalk 
als Mörtel mit den Ziegelſteinen in Berührung kommt und 
ſchon dieſes deutet auf den vortheilhaften Einfluß hin, den 
die Vermiſchung der Kalkerde mit thonigem Boden, auf die 
Zerſetzung von dieſem hat. Ein Mann, der ſich um ſeine 
Wiſſenſchaft wie um das bürgerliche Leben gleich große Ver: 
dienſte erworben hat, weil er bei all feinen tiefgehenden wif- 
ſenſchaftlichen Forſchungen zunächſt immer das Wohl und 
den Nutzen des Gemeinweſens vor Augen hatte, der berühmte 
Chemiker Fuchs in München machte die Entdeckung, daß 
eine Auflöfung von fettem Thone (Pfeifenthon), wenn fie 
mit einer dünnen Auflofung von ätzendem Kalk (Kalkmilch) 
vermiſcht wird, alsbald in einen dickflüſſigen Zuſtand über- 
gehe; daß nach einiger Zeit die mit der Thonerde vermiſch— 
ten Alkalien frei werden, der Thon ſelber aber die Fähigkeit 
erhalte, mit Säuren eine gallertartige Subſtanz zu bilden. 
Daſſelbe was hier die in dem Thon häufig vorhandenen kies— 
lichen Beſtandtheile erfuhren, wiederfährt denſelben, wenn 
bei der oben erwähnten, in England gebräuchlichen Dün— 
gungsweiſe der gelöſchte Kalk längere Zeit mit dem thonig— 
kieslichen Ackerboden in Berührung bleibt. Es geht dabei 
eine Zerſetzung vor ſich, welcher das feine, mechaniſche Zer— 
theilen durch Pflügen und dergl. noch mehr zu Hülfe kommt; 
die Verwitterung der Kieſel- und Kali-haltigen Steinarten wird 
beſchleunigt und hiermit eben ſo, wie bei dem Aufſtreuen 
von Aſche auf die Wieſen, dem Boden der zum Pflanzen— 
wuchs nöthige Vorrath der mineraliſchen Stoffe gegeben. 
Das Uebergehen dieſer Stoffe in den Pflanzenkörper kann 
aber nur durch das Waſſer, das im feuchten Boden enthal— 
ten iſt, möglich gemacht werden. Aus der Oberfläche der 
Blätter verdunſtet ohne Aufhören Waſſer, je größer die 
Wärme der Umgebung iſt, deſto ſtärker und raſcher iſt das 
Verdampfen, während zu gleicher Zeit die Wurzelzaſern wie 
24 


372 


Saugpumpen wirken, in denen aus dem feuchten Boden eben 
ſo viel Waſſer eindringt und in den Gefäßen aufwärts ſteigt, 
als zum Erſatz, zur Ausfüllung der beim Verdunſten ent⸗ 
ſtandenen Leere hinreicht. In dem aufſteigenden Waſſer fin⸗ 
den ſich aber die mineraliſchen Bodenbeſtandtheile aufgelbſt 
und dieſe nehmen an der Verdampfung keinen Antheil, fon- 
dern bleiben als weſentliche Elemente der Pflanzengeſtaltung 
zurück. Wenn mit den mineraliſchen Stoffen zugleich auch 
die Stoffe des organiſchen Düngers im aufgelöften Zuſtand 
aufgeſogen und der Pflanze zugeführt werden, dann nimmt 
allerdings die Entwicklung derſelben einen noch raſcheren 
Verlauf. 

Aus den hier gegebenen Zügen einer Darſtellung des 
Vorganges des Pflanzenwachsthumes läßt ſich die Wahr⸗ 
ſcheinlichkeit entnehmen, daß die elektriſche Strömung auf 
das Wachsthum und Gedeihen der Pflanzen wohlthätig 
wirken müſſe. Schon die Verſchiedenheit der Nahrungsſtoffe 
wie ihres Herkommens aus dem Boden und der Luft muß 
eine der Lebensthätigkeit nothwendige polariſche Entgegenſez⸗ 
zung und Spannung begründen, auf deren Steigerung die 
Elektrizität nicht ohne Einfluß bleiben kann. 


41. Der Galvanis mus. 


Unter allen Körpern der Erde ſind im Allgemeinen die 
Metalle für die Mittheilung und Leitung der Elektrizität, der 
Wärme und des Magnetismus am empfänglichſten. Sie 
find in ihrem reinen Zuſtand für die Lichtſtrahlen undurch⸗ 
dringbar, und wenn ſie nicht, wie zuweilen das Gold, in 
auſſerordentlich dünne Blättchen geſchlagen werden, vollkom⸗ 
men undurchſichtig, zugleich aber ſind ſie die erleuchtbarſten 
von allen Körpern, denn die ſpiegelnd glatte Fläche der po⸗ 
lirten Metalle ſtrahlt das Licht der Sonne in ſeiner volleſten 
Stärke zurück; der metallene Brennſpiegel giebt das Licht 
eines einzigen Lämpchens in einem bis zum Sonnenlicht ver— 
ſtärkten Maaße wieder. Wie in dieſem Verhalten gegen das 
Licht glaubte man auch in dem gegen die Elektrizitat eine 
Berechtigung zu finden die Metalle als bloße Empfänger, 
nicht als Selbſterzeuger und Geber der elektriſchen Span⸗ 
nung zu betrachten und hierauf gründete ſich die Eintheilung 
der Korper in ſelbſtelektriſche und in leite Die Entdek⸗ 


373 


kungen im Gebiet des Galvanismus haben in dieſer Bezie- 
hung eine andre Anſicht begründet und zu großen Aufſchlüſ— 
ſen geführt über die Bedeutung und Wirkſamkeit der Metalle 
in der irdiſchen Natur. * uf 

Wenn man zwei polirte Metallplatten, eine etwa von 
Zink, die andre von Kupfer, jede an eine beſondre Siegel— 
lackſtange oder an einen andren iſolirenden Handgriff befe— 
ſtigt, und hierauf beide mit einander in Berührung bringt, 
dann zeigt ſich bei der Trennung die eine (die Zink-) Platte 
poſitiv, die andre (die Kupfer-) Platte negativ elektriſch. 
Die in ſolcher Weiſe durch bloße Berührung erzeugte Elek— 
trizität läßt ſich, eben ſo wie die durch Reiben am Glas 
oder Pech erregte an einen Condenſator — eine iſolirt ſte— 
hende Metallplatte — übertragen und hier zu einer ſehr au⸗ 
genfälligen Verſtärkung bringen. Zwei Platten von gleichem 
Metall gerathen, wenn man ſie mit einander in Berührung 
bringt, in keine elektriſche Spannung, wenn man aber von 
zwei einander vollkommen gleichen Zinkplatten die eine mit 
einer Silberplatte reibt oder fie mit dieſer einige Zeit in Be— 
rührung läßt, dann wird ſie einer elektriſchen Spannung ge— 
gen die andre Zinkplatte fähig, zu der ſie durch die wechſel— 
ſeitige Berührung in ein negatives Verhältniß tritt. 
+ Man kennt bisher noch keinen Korper, der mit folcher 
Beharrlichkeit bei der Berührung mit allen andren einer glei— 
chen Anregung fähigen Körpern die poſitive elektriſche Span— 
nung annähme als der Zink, nächſt ihm folgen das metalli— 
ſche Blei, Zinn, Eiſen, Wismuth, Kobalt, Kupfer u. ſ. w. 
Während aber das Blei zu allen den Metallen, welche in 
der eben genannten Reihe nach ihm genannt ſind, ſich poſi— 
tiv verhält, zeigt es ſich negativ gegen den Zink; Eiſen nes 
gativ gegen Zinn, Blei und vor allem gegen Zink, poſitiv 
aber gegen Wismuth, Kobalt, Kupfer. Und auch das Ku⸗ 
pfer, negativ gegen alle in der Reihe voranftehende, nimmt 
in Berührung mit Spießglanz, Platin, Gold, Queckſilber, 
Silber, Kohle, Graphit oder Reisblei und kryſtalliſirtem 
Graubraunſteinerz eine poſitive Spannung an, welche um ſo 
ſtärker ift, je weiter in der eben angeführten Reihe der Kör— 
per von ihm abliegt. Wenn man deshalb Zink mit kryſtal— 
liſirtem Graubraunſteinerz in Wechſelverkehr ſetzt, dann wird 
der elektriſche Gegenſatz am ſtärkſten hervortreten, weil dieſe 
beiden Körper auf der Stufenleiter am weiteſten auseinander 


374 


liegen; auch bei der wechſelſeitigen Berührung einer Zink⸗ 
und einer Silberplatte wird der Zink eine ſtärkere poſitive, 
das Silber eine ſtärkere negative Spannung annehmen, als 
die iſt, welche durch Zink und Kupfer bewirkt wird. 

Der polariſche Gegenſatz den wir hierbei erwachen ſehen, 
ſcheint in gewiſſem Maaße jenem ähnlich, der zwiſchen dem 
Sauerſtoffgas und allen brennbaren oder orydirbaren Kör⸗ 
pern beſtehet und zwar vertritt in der aufgeführten Reihe 
der Körper von poſitiv elektriſcher Spannung die Stelle des 
brennbaren Stoffes, der negative die des Sauerſtoffes. Selbſt 
in der chemiſchen Zuſammenſetzung ſcheint dieſes angedeutet, 
denn das Graubraunſteinerz, der beharrlichſt negative Kör⸗ 
per, enthält in ſeiner Miſchung eine bedeutende Menge von 
Sauerſtoffgas und während das Zinn, in feinem reinen, 
metalliſchen Zuſtand zu allen andren Körpern der Stufenlei⸗ 
ter, mit Ausnahme des Bleis und des Zinks, als poſitiv 
daſtehet, benimmt es ſich dagegen in ſeiner Verbindung mit 
dem Sauerſtoffgas (als ſogenannte Zinngraupe oder Zinn⸗ 
ſtein) ſelbſt gegen Kohle, Silber, Gold und Platina, noch 
mehr aber gegen eine Platte von ſeinem eignen, reinen Me⸗ 
tall augenfällig negativ. In faſt gleichem Maaße als das 
Sauerſtoffgas ſcheint auch der Schweſel durch ſeine Verbin⸗ 
dung mit den Metallen den vorhin poſitiven Character der⸗ 
ſelben in den negativen umzuwandeln, denn das Blei ſo 
wie das Eiſen in ihrem Verein mit Schwefel (als Bleiglanz 
und Schwefelkies) treten im Grad ihres negativen Verhal⸗ 
tens nach unter Silber und Kohle zurück und nur um eine 
Stufe über den Zinnſtein hinauf. f 

Die elektriſche Spannung welche in zwei Metallen oder 

andren Körpern der oft erwähnten Reihe durch die bloße, 
gegenſeitige Berührung hervorgerufen wird, zeigt aber als⸗ 
bald noch einen andren Charakter, wodurch ſie ſich weſentlich 
von der früher betrachteten gemeinen, durch Reiben erzeug⸗ 
ten Elektrizität unterſcheidet. Wenn man eine Zinkplatte für 
ſich allein in verdünnte Schwefelſäure hineinlegt, da beginnt 
alsbald der früher erwähnte Vorgang der Zerſetzung des 
Waſſers. Denn das Metall in ſeiner chemiſchen Spannung 
mit der Säure zieht das Sauerſtoffgas des Waſſers an, um 
in der hieraus entſtandenen Form des Oxydes fi ſich mit der 

Schwefelſäure verbinden zu können. Hierbei wird dann das 
Waſſerſtoffgas frei, das in zahlloſen Bläschen in der Flüſ⸗ 


375 


figfeit emporſteigt und die Platte wird in demſelben Maaße 
an ihrer Oberfläche aufgelöſt. In ganz andrer Weife geftal- 
tet ſich aber dieſer gewöhnliche Vorgang, wenn mit der Zink— 
platte zugleich auch eine Kupferplatte in die Säure gebracht 
und dann beide Metalle unmittelbar oder durch einen leiten: 
den Draht in Berührung geſetzt werden. Denn auch jetzt 
löſt ſich zwar der Zink in der Säure auf, das Waſſer wird 
zerſetzt, aber die Luftblaſen des Waſſerſtoffgaſes zeigen ſich 
nicht mehr wie vorher an ihm, ſondern an der Oberfläche 
der Kupferplatte, von welcher ſie wie ſonſt gewöhnlich von 
dem Zink ſich entbinden und emporſteigen. Die polariſche 
Spannung und Wirkſamkeit der beiden Metalle läßt fi) das 
durch bedeutend erhöhen, daß man, wie dies in der von 
Volta erfundenen und nach ihm benannten Säule geſchieht, 
rundliche oder viereckige Platten in größrer Zahl mit Lappen, 
welche mit Salzwaſſer oder mit einer Salmiakauflöſung be— 
feuchtet find, zwiſchen Glas oder Holzſtangen fo über einanz. 
der aufſchichtet, daß man etwa zu unterſt eine Kupfer- 
dann eine Zinkplatte, dann einen feuchten Tuchlappen und 
ſo immerfort eine ſolche dreigliedrige Ordnung von Kupfer, 
Zink, feuchtem Stoff über die andre legt. An die oberſte 
Zink⸗ und eben ſo auch an die unterſte Kupferplatte wird 
ein Draht angebracht. Das oberſte Zinkende zeigt jetzt in 
einer Stärke, deren Grad mit der Größe und mit der Zahl 
der angewendeten Plattenpaare in geradem Verhältniß ſteht, 
poſitive, das unter Kupferende negative Elektrizität, über: 
haupt jede mehr nach unten liegende Platte im Verhältniß 
zu den mehr nach oben geſtellten negative, dieſe zu jener por 
ſitive Spannung. Wenn man den Polardraht des einen 
Endes der Säule mit der äußeren, den des andren Endes 
mit der innren Belegung einer früher erwähnten Leidner 
Flaſche in Berührung bringt, dann wird hierdurch auch einer 
ſehr anſehnlichen Batterie augenblicklich eine ſehr ſtarke, elek— 
triſche Ladung mitgetheilt, wie ſie etwa durch eine gewiſſe 
Zahl von Umdrehungen der größeſten Glasſcheiben unſrer 
Elektriſirmaſchinen erzeugt werden könnte. Hierdurch zeigt 
es ſich, daß die Elektrizität, welche die Berührung der po— 
lariſch entgegengeſetzten Metalle hervorbrachte, mit der durch 
Reibung entſtandenen weſentlich übereinſtimme. 
Eine bequemere und hierbei kräftiger wirkende Einrich— 
tung iſt die des ſogenannten Trogapparates, bei welchem in 


376 


ein kleines, aus Kupferblech gebildetes Behältniß die Säure 
geſchüttet, und in dieſe die Zinkplatte ſo hineingeſtellt wird, 
daß ſie (etwa durch Glas) von dem Boden und Wänden * 
des kleinen Gefäßes abgeſondert, das Kupfer nirgends ber 
ee kann. Von dem Kupfer wie von dem Zink gehen 
Drähte aus, an denen ſich die polariſchen Erſcheinungen 
eben ſo zeigen laſſen, als an den Enden einer, auf die vor⸗ 
hin erwähnte Weiſe zuſammengeſetzten Voltaiſchen Säule 
und mehrere ſolcher Troge in einer Weiſe mit einander ver⸗ 
bunden, daß der Draht von der Zinkplatte des einen immer 
mit dem Kupfer des andren in Berührung ſteht, bringen 
eine ſehr hoch een Spannung hervor. f 

Jene Erſcheinung, deren wir vorhin bei Beſchreibung 
des einfachen Verſuches erwähnten, welchen man durch Ein⸗ 
tauchen einer Zink- und einer Kupferplatte in verdünnte 
Schwefelſäure anſtellen kann, läßt ſich nun an der Voltaiſchen 
Säule oder an irgend einer andern Vorrichtung von gleicher 
Wirkſamkeit in ungleich größerem, augenfälligerem Umfange 
darſtellen. Der Zink löst ſich in in der Flüßigkeit auf und 
hierbei wird das Waſſer in feine beiden Grundſtoffe zerſetzt, 
ſo aber, daß das Sauerſtoffgas von dem poſitiven Pole: dem 
Zink, das Waſſerſtoffgas von dem negativen Kupferpole an⸗ 
gezogen wird. Oder anders ausgedrückt, der negative Pol, 
der bei der Wirkſamkeit der Säule im Verhältniß zu dem 
poſitiven Pole das Sauerſtoffgas darſtellte, ruft im Waſſer 
ſeinen natürlichen Gegenſatz: das Waſſerſtoffgas hervor, der 
andre Pol aber, welcher die Stelle des Waſſerſtoffgaſes ver⸗ 
trat, bewirkt durch ſeine polariſche Spannung ein Hervortre⸗ 
ten des Sauerſtoffgaſes aus dem Waſſer in deſſen Verbin⸗ 
dung jene Spannung ſich aufzulöſen und auszugleichen ver⸗ 
mag. Die Menge des an dem einen Pole hervorgerufenen 
Sauerſtoffgaſes beträgt genau ſo viel als jene, des am an⸗ 
dren Pole in Gasform aufſteigenden Waſſerſtoffgaſes bedür⸗ 
fen würde, um, damit vereint, wieder in der gewößnlichen 
Geſtalt des Waſſers aufzutreten. 

Daß dieſes ſo ſey erfährt man am leichteſten, wenn man 
die Pole einer vorhin beſchriebenen Säule in Platinadrähte 
ausgehen läßet, weil dieſes Metall mit dem hervortretenden 
Sauerſtoffgas feine Verbindung eingehet. Von dem einen 
Platinadraht, der mit dem negativen (Kupfer-) Ende der Säule 
verbunden iſt, ſteigen dann in einem mit Waſſer gefüllten 


7 


377 


Behältniß eben ſo wohl Luftblaſen auf, als von dem andren, 
der vom poſitiven (Zink) Ende ausgeht; die Luftblaſen an 
dem letzteren betragen, wenn man fie aufſammlet, ein Maaß⸗ 
theil reines Sauerſtoffgas, die am negativen Gupfer⸗) Pole 
zwei Maaßtheile reines Waſſerſtoffgas, oder dem Gewicht 
nach jene 88,94 dieſe 11,06 Prozent, mithin gerade ſo viel 


als von beiden dazu nöthig ſind, um bei der Wiedervereini— 


gung durch den elektriſchen Funken Waſſer zu geben. 


* 


Dieſe Kraft der Voltaiſchen Säule, nicht nur das Waſ⸗ 
ſer, ſondern alle Körper die aus mehreren Grundſtoffen zu— 
ſammengeſetzt ſind, davon der eine Sauerſtoffgas iſt, oder in 
Beziehung auf einen andren dem Sauerſtoffgas entſpricht, 
der andre aber als Waſſerſtoffgas oder als Grundſtoff von 
andrer Art den brennbaren Gegenſatz darſtellt, wenn ſolche 


Körper nur in den flüßigen Zuſtand einer Auflöſung verſetzt 


werden, ſo zu zerlegen, daß an dem poſitiven Pole das ſauer— 
ſtoffige am andren das ihm polariſch entgegengeſetzte Element 
hervortritt, hat dann eben zu jenen großen Entdeckungen ge— 
führt, deren wir oben im Cap. 18 gedachten. Die Salzſäure 
wird in Chlor und in Waſſerſtoffgas, die Kalien oder die 
kaliſchen Erden in Sauerſtoffgas und in ihre, dem früheren 
Zeitalter unbekante, metalliſche Grundlage geſchieden. In 
andrer Form nur zeigt ſich die polariſirende Eigenſchaft der 
Voltaiſchen Säule ſelbſt an einem Silberdraht, den man ekwa 
eine Stunde lang abwechslend an einem Ende mit dem po— 
ſitiven am andren mit dem negativen Pole in Verbindung 
ſetzt. Hierdurch empfängt das eine Ende des Drahtes nega— 
tive, das andre poſitive Elektrizität und dieſe polariſche Span⸗ 
nung verliert ſich erſt allmälig. | 
Eine Erſcheinung, welche die Aufmerkſamkeit der Natur: 
forſcher auf die bisher betrachtete Form der Elektrizität zuerſt 
hinzog, iſt der Einfluß, welchen die Berührung zweier pola— 
riſch verſchiednen Metalle auf die Nerven eines in ihre Nähe 
gebrachten thieriſchen Körpers hat. Dieſe Eigenſchaft wurde 
im Jahr 1790 von Galvani, dem Profeſſor der Anatomie 
in Padua, entdeckt und deßhalb erhielt die Elektrizität der Me- 
tallberührung von ihm den Namen des Galvanis mus. 
Als ein kupferner Hacken, welcher durch den zerſchnittenen 
Körper eines ſoeben getödteten Froſches geſtochen war, mit 
dem eiſernen Nagel an welchen er aufgehangen werden ſollte 
in Berühruug kam, trat alsbald ein Zuſammenziehen der 


RE 


378 


Muskeln, ein ſtarkes Zucken des thieriſchen Gliedes ein und 
dieſe Zuckungen wiederholten ſich ſo oft die Metalle von neuem 
mit einander in Berührung kamen, bis mit dem gänzlichen 
Abſterben des Gliedes ſeine Erregbarkeit verſchwand. Am 
ſtärkſten wurden die thieriſchen Bewegungen, wenn man das 
eine der polariſch verſchiedenen Metalle an den Nerven, das 
andre an den Muskel oder an das den Nerven entgegenge⸗ 
ſetzte Ende des Gliedes brachte und dann beide Metalle durch 


„ 


einen guten Leiter der Elektizität — etwa durch einen Me 


talldraͤht in Verbindung ſetzte. Die Wirkung blieb auch 
dann nicht aus, wenn der anregende Einfluß der Metallbe⸗ 
rührung in einiger Entfernung von dem Nerven gehalten 
wurde, und die Voltaiſche Säule ſo wie ſelbſt ſchon einzelne 
Metallplatten brachte die Erſcheinung auch an ſolchen Glie⸗ 
dern und ganzen thieriſchen Körpern hervor, deren Nerven 
nicht gewaltſam blos gelegt waren ſondern tief unter der Hülle 
des Fleiſches und der häutigen Decken lagen, am meiſten dann 
wenn die Außenfläche des zum Verſuch gewählten Theiles 
befeuchtet war. Durch jenen ſogenannt Galvaniſchen Ein⸗ 
fluß der Metallpolarität wird jeder Nerv zu der beſondren 
Wirkſamkeit aufgeregt, für welche er im lebenden Körper be— 
ſtimmt iſt: der Sinnesnerv zu Empfindungen die feiner ge— 
wöhnlichen Verrichtung entſprechen, der Bewegungsnerv zum 
Hervorrufen der Thätigkeit der Muskeln. Bringt man den 
einen Pol der Säule in Berührung mit der Stirne, den 
andren mit der Hand, dann bemerkt man vor den Augen 
einen Lichtſchein, während die Finger in zuckende Bewegung 
gerathen; an der Zunge erzeugt der poſitive Pol einen ſau— 
ren, der negative einen alkaliniſchen Geſchmack; auch im Ohre 
wird durch den galvaniſchen Einfluß ein Tönen bemerkt, das 
nach Verſchiedenheit der beiden Pole höher oder tiefer iſt. 
Der Körper geſchlachteter Thiere geräth durch jene Einwir- 
kung in Zuckungen, welche denen gleichkommen, die man bei 
heftigen Anfällen der Epilepſie beobachtet, und auch an dem 
Körper hingerichteter Verbrecher hat man bemerkt, daß alle 
Nerven, ſelbſt die, welche das Athmen bewirken, durch die 
elektriſche Strömung einer Voltaiſchen Batterie noch einige 
Zeit nach dem Tode in ihre Lebensthätigkeit zurükgerufen 
werden können, denn ein Leichnam, an welchem man dieſe 
Verſuche machte, fing ſelbſt von neuem an zu athmen. Doch 
verſchwindet dieſer Anſchein eines wiedergekehrten Lebens mit 


379 


dem Abfterben des Nerven bei dem Menſchen fo wie bei an⸗ 
dren warmblütigen Thieren ſchon in einer oder etlichen Stun⸗ 
den nach dem Tode, während er bei Thieren von kaltem Blute 
länger andauert. Auch dann, wenn die Erregbarkeit ſchon 
ganz erloſchen ſcheint, läßt ſie ſich durch Anwendung von 
Säuren oder Alkalien wieder auf einige Zeit anfachen. 
Ce'ben in jener Weiſe, in welcher die Elektrizität der Vol⸗ 
taiſchen Säule auf die Kräfte des thieriſchen Lebens einwirkt, 
glaubte man anfangs eine Berechtigung zu finden den Gal— 
vanismus als weſentlich verſchieden von der Reibungselektri⸗ 
zität zu betrachten. Der Unterſchied beider Formen jedoch 
beruhet nur darauf, daß in dem innren Kreiſe der Voltaiſchen 
Säule die wechſelſeitige Spannung der Gegenſätze, wie im 
Verlauf eines ruhiger dahin fließenden Sromes ohne Auf⸗ 
hören ausgeglichen und wiedererneuet wird; in einem beſtän— 
digen Wechſel des Vergehens und neuen Entſtehens begriffen 
iſt, während jene elektriſche Spannung, welche durch Reiben 
hervorgerufen wird, einſeitig in dem einem Körper bis zu einer 
gewiſſen Stärke ſich ſteigert und dann plötzlich an einem 
Körper von verhältnißmäßig entgegengeſetzter Spannung ſich 
entlädt. Die erſtere Form gleichet deshalb mehr der ruhigen 
Flamme eines brennenden Lichtes, dieſe der Entzündung eines 
Körpers, der bei ſeinem Aufflammen plötzlich ſich zerſetzte. 
Daß indeß jener ruhigere Brand in ſeiner weſentlichen 
Wirkſamkeit von nicht minderkräftiger Natur ſey als die ſchnell 
hervorbrechende Flamme des Blitzes, das wird namentlich an 
der Eigenſchaft der Licht- und Wärmeerzeugung erkannt, 
durch welche der galvaniſch-elektriſche Strom ſich auszeichnet. 
Schon durch den einfachen, vorhin beſchriebenen Trogappa⸗ 
rat, bei welchem nur eine Zinkplatte und nur ein mit Säure 
gefülltes kupfernes Behältniß zum Verſuch angewendet wer— 
den, kann man einen dünnen Platinadraht, durch welchen 
die elektriſche Srömung gehet, zum hellen Glühen, ja zum 
Schmelzen bringen; durch eine Säure die aus 20 Doppel- 
platten von 6 Fuß Länge und 2%, Fuß Breite erbaut war, 
wurde ein Draht, der aus dem im gewöhnlichen Feuer ſo 
außerordentlich ſchwer ſchmelzbaren Platinametall beſtund und 
der bei einer Dicke von / Zoll 18 Zoll lang war, fo hellglühend, 
daß das Auge ſeinen Glanz kaum zu ertragen vermochte, und 
kam zuletzt ganz zum Schmelzen. In der Glühehitze eines 
ſolchen elektriſchen Stromes ſchmolz ſelbſt das Iridium. 


380 


Uebrigens hängt das Heiß- und Glühendwerden nicht allein 
von der Stärke der Säule ſondern eben ſo ſehr von der 
Beſchaffenbeit des Verbindungsdrahtes der Polarenden ab: 
Ein Silberdraht kann die Strömung hindurch laſſen ohne 
ſich zu erhitzen, wird aber alsbald glühend, wenn er nicht 
ganz aus Silber beſteht, ſondern abwechslend aus Stücken von 
Platina und Silber zuſammengeſetzt iſt. Auch Kohlen ge- 
rathen zwiſchen den Strömen einer ſtarken Voltaiſchen Bat⸗ 
terie (in England hat man eine ſolche die aus 2000 Doppel⸗ 
platten von 32 Quadratzoll Oberfläche beſteht) in ein fo helles 
Glühen, daß ihr Licht, faſt gleich dem der Sonne, das Auge 
blendet und wenn die ruhige Entladung durch zwei, etliche 
Zoll voneinander abſtehende Kohlen geleitet wird, dann kom— 
men beide zum Glühen und es bildet ſich zwiſchen ihnen ein 
nach oben gekrümmter heller Lichtbogen in welchem eine fol- 
che Gluthhitze herrſcht, daß alle ſchmelzbare Körper in ihr ges 
ſchmolzen werden, andre, wie Quarz, Kalk, ja ſelbſt Sap— 
phir ſich verflüchtigen. Mer ü 

Die Licht und Wärmeerſcheinungen im Strom der Vol— 
taiſchen Säule zeigen ſich übrigens von denen, die bei der 
Entladung einer ftarfen, durch Reibung erzeugten Elektrizität 
beobachtet werden, dadurch verſchieden, daß bei jenen die 
Funken ungleich kürzer, von ungleich geringerer Schlagweite 
find. Die Funken, welche aus den Polardrähten der vorhin 
erwähnten rieſenhaft großen Säule in England hervorbra— 


chen, hatten nur eine Länge von / Zoll, welche von der Länge 


der Funken der großen van Marumſchen Scheiben-Elektriſir⸗ 
maſchine faſt um das Hundertfache übertroffen wird, wobei 
auch noch die mechaniſche Gewalt, mit welcher dieſe letztere 
unter gewiſſen Umſtänden Gefäße und andre Körper plötzlich 
zerſchmettert, einer Kraft von 9840 Pf. gleich zu ſchötzen iſt. 


42. Ein Wettkampf der Naturkunde mit der 
Kunſt: die Galvanoplaſtik. 


Wem unter uns ſollte nicht manchmal, wenn er die Arbei⸗ 
ter unſrer großen, berühmten Meiſter in der Kunſt des Ku⸗ 
pferſtechens, des Steinzeichnens, oder des Schneidens in 
Steine ſo wie in Münzſtempel geſehen und bewundert hat, der 
Wunſch eingekommen ſeyn, daß er doch auch etwas der Art 
möchte leiſten können. Mancher von uns, der ſich mit der 


N 


381 


Beſchreibung und Betrachtung der Naturkörper beſchäftigt 
hat und dabei ſich aufs Zeichnen verſtund, mag es auch ver— 
ſucht haben, den Gegenſtand ſeiner Forſchung nicht blos ge— 
nau auf dem Papier nachzubilden, ſondern eine ſolche Zeich— 
nung nach der Natur mit eigner Hand in Kupfer oder Stahl 
zu ſtechen, weil eine ſolche Arbeit doch kaum von einem 
Andren, der nicht ſelber den Gegenſtand mit höchſtem In— 
tereſſe betrachtet und erfaßt hat, mit ſolcher Genauigkeit und 
in ſo lehrreicher, gerade das Weſentlichſte beachtenden Weiſe 
gefertigt werden kann, als von ihm ſelber. Aber freilich iſt 
dieſes Bemühen nur wenigen Naturforſchern, die zugleich 
Künſtler waren, in ſolchem Maaße gelungen, wie im vori— 
gen Jahrhundert dem bewundernswerthen Röſel von Ro— 
ſenhoff in Nürnberg, ſo wie ſeinem kunſtreichen Nachfolger 
in unſrer Zeit, dem Jac. Sturm, oder dem jugendlichen 
Talent und Fleiß des trefflichen Beobachters und Zergliede— 
rers der Thierwelt: Profeſſor Michael Erdl in München. 
Denn die Arbeiten des Stechens der Kupfer- und Stahl⸗ 
platten, des Schneidens der Steine und der metallenen Prä— 
geſtöcke für Münzen und Medaillen, gehören zu den mühſam— 
ſten Leiſtungen der Kunſt und der Grabſtichel oder der De— 
mantſplitter muß viele Hunderttauſende von Strichen, Sti— 
chen und kleinen Sprengarbeiten verrichten, ehe nur ein ein— 
ziges ſeiner Kunſtwerke zur Vollendung kommt. 

In unſren Tagen wo man von allen Seiten nur darauf 
ſinnt, recht große, augenfällige Sachen in der möglichſt kür— 
zeſten Zeit und mit den geringſten, wohlfeilſten Mitteln ins 
Werk zu ſetzen, iſt man auch auf mancherlei Wege gekom⸗ 
men, durch welche ſich der Kunſt wenigſtens ein großer 
Theil ihrer vormaligen Mühe abnehmen läſſet. Dahin ge— 
hört unter andrem die ſpäter zu erwahnende Erfindung des 
Daguerrotyps, vermöge welcher man, ohne eine Hand an 
den Bleiſtift oder die Zeichenfeder anzulegen, bloß das Licht 
für ſich zeichnen laſſen kann, welches dieſe Arbeit, wenn der 
abzubildende Gegenſtand in die rechte Stellung und in das 
rechte Licht geſtellt worden iſt, mit großer Genauigkeit und 
in auſſerordentlicher Schnelligkeit vollbringt. 

Wenn man die Beduinen, in deren Geſellſchaft man 
etwa durch Arabien oder manche andre Gegenden des Mor— 
genlandes reiſt, beim Anblick alter Gemäuer von vormaligen 
kunſtreichen Bauwerken fragt, von wem dieſe Kunſtwerke 


382 


herrühren, dann antworten ſie, wenn ſie nicht etwa vor dem 
aufgeklärten Europäer ſich ſcheuen: „das haben die Dfchen- 
nin (Genien) in alter Zeit gebaut.“ Der Morgenländer 
hält nämlich häufig an der Meinung feſt, daß es eine Gei- 
ſterwelt um den Menſchen gebe, mit welcher dieſer, wenn er 
die Zauberkunſt verſteht, in ein Bündniß treten und durch 
deren mitwirkende Kraft er dann Ungeheures und Ueber⸗ 
menſchliches leiſten könne. Die Naturkunde unſrer Tage hat 
auf natürlichem Wege einen ſolchen Zauber geübt, ſie hat 
Kräfte und Gewalten der Sichtbarkeit in ihren Bund gezo— 
gen, durch deren Hülfe ſie auch Uebergewöhnliches geleiſtet 
hat. Dahin gehört ſchon, wie wir im 32. Cap. ſahen, der 
Waſſerdampf, der für Hunderttauſende von Menſchenhänden 
und für viele Tauſende von Pferden Laſten hebt und fortbe- 
wegt, Eiſen hämmert, Bücher druckt, Garn ſpinnt und hundert⸗ 
terlei andre Arbeiten verrichtet. Die Elektrizität und der 
Elektromagnetismus leiſten dem Menſchen, der ſich ihrer Kräf— 
te zu bedienen weiß, nicht minder bewundernswerthe Dienſte. 
Namentlich iſt auch das ein ſehr bedeutender, daß man durch 
eine bloße galvaniſche Strömung, ohne ſelber etwas Andres 
dabei zu thun, als etwa ein und das andre Mal Säure 
zuzuſchutten, Platten für Kupferſtiche, Münzſtempel, Me⸗ 
daillen und andre Bildwerke fertigen oder das Geſchäft des 
Vergoldens aufs Trefflichſte nachahmen kann. Von dieſer 
ſeltſamen Kunſt, welche durch Jacobi und noch mehr durch 
F. v. Kobel zu einer hohen Vollendung gebracht worden 
iſt, wollen wir hier nur Einiges erwähnen. 

Wir ſprachen oben, im 17. Cap. von einer ſcheinbaren 
Verwandlung des einen Metalles ins andre: des Eiſens in 
Kupfer. Was wir hier betrachten wollen, das ſteht jenem 
Vorgange ſeinem innren Grunde und ſelbſt dem äußren An⸗ 
ſcheine nach nicht ferne. 

Wenn man zur Füllung eines in der vorhin erwähnten 
Weiſe eingerichteten Trogapparates ſtatt der verdünnten Schwe— 
felſäure eine Auflöſung von Kupfervitriol anwendet, dann 
wird, während der elektriſch chemiſchen Wechſelwirkung des 
Zinks und des Kupfers das Waſſer zwar zerſetzt und ſein 
Sauerſtoffgas zur Oxydation des Zinkes verwendet, aber 
der hierbei frei werdende Waſſerſtoff ſteigt nicht als Gas in 
Bläschenform auf, ſondern geht ſogleich mit dem Sauerſtoff⸗ 


gas des Kupferoxydes, das in der Vitriolauflöſung enthalten 


5 
0 
1 


383 


iſt, eine Verbindung zu Waſſer ein und das zum reinen, 
metalliſchen Zuſtand zurückgekehrte Kupfer legt ſich an die 
Kupferplatte an, was dadurch noch befördert wird, daß man 
durch eine porbſe Scheidewand, z. B. von Leinwand, das 
gleichzeitige Hinübertreten des Zinkes hindert. Wenn ſich der 
Ueberzug aus dem zum metalliſchen Zuſtand zurückkehrenden 
Kupfer nicht zu raſch, ſondern unter dem Einfluß eines ge— 
mäßigten elektriſchen Stromes allmälig bildet, dann fügen 
ſich die aus ihrer Auflöſung hervortretenden Kupfertheilchen 
zu einer dichten Maſſe von gleichförmiger Stärke übereinan⸗ 
der und ſchmiegen ſich dabei fo innig feſt an alle Erhöhun—⸗ 
en und Vertiefungen der Platte an, daß, wenn man ſie von 
ihrer Unterlage hinwegnimmt, auch die feinſten Züge derſel⸗ 
ben an der innren Fläche des Ueberzuges ſich abgedrückt und 
abgeformt zeigen. Es braucht übrigens keine Kupſerplatte 
zu dieſem Verſuch angewendet zu werden, ſondern jeder an— 
dre Körper, in ſo fern er nur zu dem Zink in polariſchen 
Gegenſatz ſich ſtellt, leiſtet hierbei daſſelbe. Daher kann man 
Münzen oder Medaillen von Gold, von Silber eben ſo wie 
von dem Kupferſtecher bearbeitete Kupfer- oder Stahlplatten 
zu gleichem Zwecke benutzen und man erhält dann von dieſen 
vollkommen treue, bis ins Kleinſte genaue Abdrücke. Auch 
iſt es nicht einmal nöthig, daß man die Münzen, Medaillen 
oder andre Kunſtwerke dieſer Art ſelber, im Original, der 
galvaniſchen Strömung ausſetze, ſondern ein Abdruck derſel— 
ben in einem leichtflüßigen Metallgemiſch, zu welchem man 
8 Theile Wismuth, s Theile Blei und 3 Theile Zinn in 
Vorſchlag gebracht hat, ja ſogar ein Abdruck in Gyps, in 
Wachs und andren nicht metalliſchen Körpern, deren Ober— 
fläche man da, wo der Niederſchlag des Kupfers hingeleitet 
werden ſoll, etwa mit Graphit fein überzogen hat, leiſtet 
dieſelben Dienſte. Uebrigens empfiehlt ſich zu dieſer Art 
von galvaniſchen Kunſtgebilden die Kupferauflöſung am mei— 
ſten, weil ſich der Ueberzug des metalliſchen Kupfers mit 
Leichtigkeit von feiner Unterlage ablöſen läſſet. 

In der gleichen Weiſe, wie man durch die elektriſchen 
Strömungen über irgend einen beliebigen Körper den Ue— 
berzug von Kupfer, mit vollkommen glatter Auſſenfläche 
darſtellen kann, läßt ſich auch Silber, Meſſing, Stahl mit 
Gold oder mit Platina überziehen, wenn man eine verhält⸗ 
nißmäßig ſehr geringe Quantität der Verbindung dieſer bei— 


384 


den Metalle mit Chlor (Chlorgold oder Chlorplatina) in 
Waſſer, worin Kochſalz aufgeloft iſt, oder in eine Löſung 
von Cyaniſenkalk bringt. Der Körper, welcher vergoldet oder 
mit Platina überzogen werden ſoll, wird einige Male in die 
Flüſſigkeit eingetaucht und dabei mit dem Kupferpol der gal⸗ 
vaniſchen Vorrichtung in Verbindung geſetzt; nach einem je⸗ 
desmaligen kurzen Verweilen in dieſem Bade zieht man ihn 
heraus, trocknet dann zuletzt ihn ab und die Silberdoſe, die 
man etwa zum Verſuch anwendete, hat jetzt durch die neue, 
fremde Ueberkleidung ganz den Anſchein des Goldes bekom— 
men; die ſtählerne Doſe wird Jeder, der ihr Gewicht nicht 
ſorgfältig in der Hand prüft, für Platina halten. So kann 
man denn auch mit leichter Mühe auf dem Wege der Gal- 
vanoplaſtik kupferne oder eiſerne Geſchirre verzinnen oder ſie 
mit Zink überziehen. Wenn man die große Mühe und den 
nachtheiligen Einfluß auf die Geſundheit erwägt, denen ſich 
bisher die Vergolder unterziehen mußten, wenn fie eine Ver— 
bindung des Goldes mit Queckſilber (Goldamalgam) über 
den zu vergoldenden Körper herſtrichen und dann das Queck— 
ſilber durch die Hitze abdampften, ſo daß das Gold allein 
in vollkommener Reinheit zurückblieb, dann muß man wün— 
ſchen, daß dieſe Leiſtung der Galvanoplaſtik noch einer viel 
weiteren Anwendung gewürdigt werden moͤge als bisher. 

Auch andre augenfällige Bildungen hat man in Abnli- 
cher Weiſe durch den elektriſchen Strom hervorgebracht. So 
namentlich wenn man den Zinkpol in eine Spitze ausgehen 
läſſet, an den Kupferpol aber eine metallene Scheibe, z. B. 
von Silberblech befeſtigt, und dann beide Polarenden in eine 
flüſſige Miſchung von eſſigſaurem Kupfer und Salpeter bringt. 
Das aus der Miſchung hervortretende Metall legt ſich dann 
ſehr bald, auch bei einer ſchwachen elektriſchen Strömung, 
in regelmäßig ſchönen concentriſchen Ringen auf der Metall- 
platte an. N a 

Läßt man einen ſehr ſchwachen elektriſchen Strom durch 
dünne Drähte in eine Aufloſung gehen, deren Zerſetzung 
man bewirken will, dann gefchieht, es in manchen Fällen, 
daß der ausſcheidende Körper eine vollkommen regelmäßige 
ckryſtalliniſche) Geſtaltung annimmt, fo daß man auf dieſe 
Weiſe ſchon manche Stoffe zum Kryſtalliſiren gebracht hat, 
die man unter keinen andren Verhältniſſen in dieſer Geſtal⸗ 
tung darſtellen konnte. | 

Doch 


385 


Doch wir kommen noch einmal auf die zuerft erwähnte 
Anwendung der Galvanoplaſtik zur Vervielfältigung von 
Kupferſtichplatten, Steinzeichnungen, eingeſchnittenen Geprä⸗ 
gen, Reliefgebilden u. ſ. w. zurück, wobei man das, was 
auf dem Original vertieft war, zunächſt in erhabener Form 
erhält, von der ſich in eben ſo leichter Weiſe wieder die ver⸗ 
tiefte gewinnen läſſet. Selbſt Handſchriften laſſen ſich in 
gleicher Weiſe mit großer Genauigkeit auf eine Kupferplatte 
abformen und von dieſer in einer Menge von Abdrücken ver— 
vielfältigen, wenn man die Buchſtaben mit einem Stoffe übers 
zieht, den die ſchwache Säure der Fluſſigkeit nicht angreift 
und durch eine Preſſe die Schriftzüge auf eine Kupferplatte ab— 
drückt, die man dann mit dem poſitiven Pol der Strömung 
in Verbindung ſetzt, wobei das Kupfer rings um die Schrift 
aufgeloft wird, dieſe ſelber aber erhaben ſtehen bleibt. Bei ge— 
druckten Büchern gelingt ein ſolches Verfahren leichter, weil 
ſich von dieſen die Schwärze der Schrift mittelſt der Preſſe 
meiſt unmittelbar an die Kupferplatte übertragen läſſet. 

Aus dem bisher Gefagten erkennt man, was die Gal— 
vanoplaſtik zu leiſten und was fie nicht zu leiſten vermöge. 
Die eigentliche, wahre Kunſt, dieſe ſchöpferiſche Macht des 
Menſchengeiſtes, muß dennoch zuerſt das Bette dazu gras 
ben, in welches der elektriſche Strom ſich ergießen ſoll, da— 
mit er ſo, nach dem Willen des Menſchen, der eine zwar 
wundervoll leibliche, dennoch aber nicht geiſtige Macht in 
ſein Bündniß gezogen hat, ſeine feſt beſtimmte Bahn be⸗ 
ſchreiben könne. Ein Wettkampf der in unſren Dienſt ge— 
nommenen Naturkräfte, mit ſolchen Werken der Menſchen⸗ 
hand, welche mehr nur von mechaniſcher Art, wie Spinnen 
und Weben, wie das Aufeinanderfügen von Steinmaſſen iſt, 
wird ſich leichter beſtehen laſſen, wo aber die leibliche Natur 
mit dem Geiſt des Menſchen in die Schranken treten will, 
da kommt es bald an den Tag, welches von Beiden der 
Meiſter und Herrſcher und welches bloß der, wenn auch noch 
ſo tüchtige und treuergebene Diener ſey. 


43. Die Nerven des thieriſchen Körpers. 


Wir haben im Verlauf unſrer diesmaligen Unterhaltun⸗ 
gen über die Welt der ſichtbaren Dinge ſchon mehrmalen der 
Nerven des thieriſchen und menſchlichen Körpers Erwähnung 

25 


Be. Fun. ä 1 
m 


386 


gethan und werden dies in dem zunächſt folgenden Capitel 
noch mehr thun müſſen. Es ſcheint deshalb nöthig ſo wie 
vorhin über den Bau und die Wirkſamkeit unſrer elektriſchen 
und magnetiſchen Werkzeuge, auch über die äußre Beſchaffen⸗ 
heit und die Eigenſchaften der Nerven Einiges zu ſagen. 

Es hat lange gedauert bis dahin wo die Forſcher der 
Natur und vor allen Andern die Aerzte, die ſich mit der 
Betrachtung des innren Baues des Menſchenleibes beſchäfti⸗ 
gen, zu der Erkenntniß gelangten, daß nicht das Fleiſch oder 
irgend ein andrer Theil des Leibes das Gefühl ſo wie die 
Kraft zum willkürlichen Bewegen in ſich ſelber habe, ſondern 
daß ihnen beides durch die kleinen weißlichen Fädchen, (Ner⸗ 
ven genannt) komme, die ſich wegen ihrer Zartheit und Fein⸗ 
heit unter der Maſſe des Fleiſches, der Häute, der Gefäße 
und Eingeweide ſo unſcheinbar ausnehmen, das man ſie öf— 
ters ganz überſieht. Der Anſchein war dafür, daß zunächſt 
der Muskel (das Fleiſch) die Wunden oder die Stöße fühle, 
die eine äußre Gewalt ihm zufüget und ſo lag die Meinung 
ganz nahe, daß unſer leibliches Fühlen im Fleiſch ſeinen 
Sitz habe, während das Haar, die Nägel, die Oberhaut 
welche den Körper umkleidet, kein Gefühl hat. 

Aber eine weiter fortgehende Unterſuchung hat gelehrt, 
daß, wenn man an einem noch lebenden Gliede die weichen, 
zarten Stämme oder Zweige der Nerven welche in demſelben 
ihren Verlauf nehmen, durchſchneidet oder unterbindet, der 
Muskel ebenſo gefühlos werde, als dies für gewöhnlich die 
Nägel oder die Oberhaut ſind. In ein Glied deſſen Nerven 
gelähmt oder durch gewaltſame Mittel unwirkſam gemacht 
ſind, kann man ſchneiden und ſtechen, man kann daſſelbe 
brennen und quetſchen, es empfindet von dieſen Allem nichts 
mehr und zugleich iſt es auch außer Stande irgend eine Bes 
wegung, welche der Wille anregen möchte, zu vollbringen. 
Ein gelähmter Menſch kann ſeine Füße, ſeine Hände nicht 
mehr zu ihren gewöhnlichen Verrichtungen gebrauchen, kann 
weder gehen noch zugreifen, ſo gern er auch möchte. Hat 
die Lähmung den Sehenerven getroffen, der ins Innre des 
Auges geht, dann kann dies nicht mehr ſehen, es befindet 
ſich, ſelbſt am hellen Mittag, im tiefſten nächtlichen Dunkel. 

Und doch hat ein ſolches gelähmtes Glied großentheils 
noch ſeine gewöhnliche, geſunde Geſtalt; dem Auge, das am 
ſchwarzen Staar,“ an der Lähmung des Sehenerven erblin⸗ 


387 


det ift, merkt man kaum Etwas von feinem großen Mangel 
an, in dem gelähmten Arme bewegt ſich noch fortwährend 
in den meiſten Fällen das Blut und fließt aus der gemachten 
Wunde, von welcher das Glied keinen Schmerz empfand, her— 
vor; nicht ſeine größere Maſſe, ſondern nur ein ganz kleines 
Theilchen derſelben: den Nervenfaden hat das Uebel betroffen 
und doch gieng dadurch dem ganzen Gliede der eigentlichite, 
höchſte Vorzug ſeines Lebens verloren. 5 

Es erinnert uns dies abermals an die hohe Macht und 
Bedeutung, welche, wie wir dies öfters erwähnten, in dem 
leiblich Kleinen und Kleinſten liegt. Und nicht nur der 
Nerv, ſondern der geſammte Leib eines Thieres oder Mens 
ſchen, in der innerſten Zuſammenfügung ſeiner Theile zeigt 
uns das große Vermögen vieler Kleinen, welche zu einem 
gemeinſamen Wirken verbunden ſind. Wenn wir einen 
Blutstropfen dünn ausſtreichen und ihn fo durch das Mikro- 
ſkop betrachten, dann erkennen wir alsbald in ihm eine zahl⸗ 
loſe Menge kleiner, linſenförmiger Körperchen, welche in 
dem Blutwaſſer ſchwimmen. Sie ſind ſo klein, daß ihrer 5 
bis 6, wenn man ſie ihrer Länge nach an einander reihete, 
zwiſchen 20 und 30 aber, wenn man ſie ihrer Dicke nach 
über einander legte erſt ſo viel meſſen würden als die Dicke 
eines Menſchenhaares ausmacht. Denn der Durchmeſſer ih— 
rer zarten Scheiben beträgt nur den 250ten oder 300ten, die 
Dicke derſelben nur etwa den 1100ten bis 1350ten Theil einer 
Linie, während die Dicke des Menſchenhaares dem 50ten Theil 
einer Linie gleichkommt. Jedes dieſer Blutkörnchen beſteht aber 
wieder aus einem faſt kryſtallhellen Körper, der von einem roth 
färbenden Stoffe, gleich wie von einer Atmoſphäre umgeben iſt 
und welcher etwas Eiſen, mit einem brennbaren Element vereint, 
zu feinen Beſtandtheilen hat. Die rothe Hülle der unzähl⸗ 
baren Blutkörnchen iſt es auch allein, welche dem ganzen 
Blut ſeine rothe Farbe giebt, denn in der Flüſſigkeit darin⸗ 
nen jene Linſenkörperchen ſchwimmen, zeigen ſich zwar auch 
ähnliche Körnchen, doch mangelt dieſen die rothfarbige und 
rothfärbende Atmoſphäre. So erkennen wir ſchon im Blute 
des lebenden Thieres eine Geſammtheit von überaus kleinen 
Einzelweſen, deren Millionen in ihrer beſtändigen lebendigen 
Bewegung dem Werke der Bildung, der Ernährung und Er— 
haltung des Leibes dienen. a 

Die Muskeln oder das thieriſche Fleiſch ſind von einer 

25 


388 


Art der Zuſammenſetzung, deren Beſchaffenheit leichter ins 
Auge zu fallen ſcheint als die des Blutes. Schon durch ein 
gemeines Tafelmeſſer können wir das Fleiſch in Faſern zer⸗ 
legen, welche durch ein zartes, häutiges Gewebe unter ein— 
ander verbunden ſind. Aber mit dieſer groben Zerlegung ſind 
wir noch keinesweges bis zum Ziel oder Ende der Zertheil— 
barkeit der Muskeln gekommen, dieſes wird abermals nur 
unter dem Mikroſkop möglich, durch welches wir zuletzt die 
urſprünglichen, äuſſerſten Anfänge der Zuſammenſetzung des 
Fleiſches erkennen: Faſern, deren Dicke kaum den 40ten Theil 
der Dicke eines Menſchenhaares beträgt. Und dieſe zarten, 
feinen Körperchen, von denen viele Millionen zuſammenwir⸗ 
ken müſſen, damit nur einer unſrer Finger ſich beugen und 
ausſtrecken könne, ſind es, durch welche das Thier wie der 
Menſch alle die wundervollen, kräftigen Bewegungen verrich— 
ten, in denen die waltende Seele deſſelben ſich kund giebt. 
Wie der erregende Schlag einer elektriſchen Spannung, wirkt 
der Einfluß des Nerven in das Muskelfleiſch hinein und jene 
dem bloßen Auge unſichtbaren Kleinen, ziehen in der Zick— 
zackform oder in dem geſchlängelten Umriß eines Blitzes ſich 
zuſammen und wirken in einer Kraft, welche die mechaniſche 
Gewalt der großen Körpermaſſen unvergleichbar viel über⸗ 
trifft. Wie klein ſind, im Vergleich mit der Größe und dem 
Umfang des ganzen Körpers die Muskeln des Gebiſſes am 
Mund des Menſchen und dennoch wirken dieſelben, wenn 
wir damit manche Kerne des Steinobſtes aufbeißen, mit 
einer Kraft, welche die Laſt unſres ganzen Körpers, 
wenn dieſe bloß durch den Druck ihres Gewichtes ſich äuſ— 
ſerte, bei weitem überwiegt. Denn zum Zerdrücken eines 
Morellen- oder eines Pfirſichkernes wäre die aufgelegte Laſt 
einer Steinmaſſe von mehreren Centnern nöthig, während 
ein kräftiger junger Mann dieſelbe Wirkung durch fein Ger 
biß hervorbringt. 

Wieder eine andre bewundernswerthe Weiſe der Zus 
ſammenfügung aus überaus kleinen Theilchen wird an den 
Nerven bemerkt. Dieſe find nicht, wie der Muskel, aus klei— 
nen Faſern, ſondern aus überaus feinen, mit einem wie 
ölartigen, flüſſigen Weſen erfullten Röhrchen zuſammenge— 
ſetzt, die vom Gehirn oder Rückenmark aus bis zu dem Theil 
des Leibes, zu deſſen Dienſt ſie beſtimmt ſind, fortlaufen. 
Sechs ſolcher Röhrchen, der Reihe nach an einander gelegt, 


* 


389 


würden erſt die Dicke eines feinen Menſchenhaares ausmas 
chen, denn ihr Durchmeſſer beträgt nur den 300ten Theil 
einer Linie. Bei der Theilung eines Nervenſtammes in ſei— 
ne Aeſte, Zweige und Zweiglein findet nicht jene Anord— 
nung ſtatt, wie bei der Vertheilung der Blutgefäße in ihre 
Aeſte und Zweige, ſo daß aus dem Stamm oder Aſt von 
größrem innrem Durchmeſſer ein Zweig von kleinerem Durchs 
meſſer hervorbricht, ſondern dieſelben Röhrchen, welche den 
ganzen Stamm bildeten, löſen ſich am Punkt der Bertheis 
lung von einander ab und eine gewiſſe größere oder gerin— 
gere Zahl von ihnen geſellt ſich zur Geftaltung des Zweiges 
zuſammen, bis zuletzt bei der endlichen ſeinſten Zertheilung 
nur noch wenige dieſer Röhrchen bei einander bleiben, von 
denen jedes einzelne an einem beſtimmten Punkt das Ziel 
ſeines Laufes findet, wenn anders jene Vermuthung ſich nicht 
beſtätigen ließe, daß die meiſten Röhrenfädchen der vollkom— 
menen Nerven ſich von dem Ort ihrer Endung wieder herum 
nach ihrem Ausgangspunkte beugen ſollten, ſo daß ſchon 
in dieſem Bau die doppelte Verrichtung der Nerven, zum 
Bewirken der Muskelbewegung, wie der Empfindung ange— 
deutet wäre. In dem eben beſchriebenen Verlauf durch die 
Theile des Leibes erleiden die einzelnen Nervenröhrchen keine 
augenfällige Veranderung, jedes derſelben iſt in den Zwei— 
en an Geſtalt daſſelbe geblieben, das es im Stamme war; 
1 * hat man in der Maſſe des Gehirns und Rückenmar⸗ 
kes, darin alle Nerven unmittelbar (12 Paare im Gehirn, 30 
im Rückenmark) oder mittelbar ihren Urſprung und ihr Ende 
nehmen, hin und wieder blaſenartige Erweiterungen und 
andre Formen kleiner Behaltniffe entdeckt, deren Innres 
zum Theil mit kugelförmigen, halbflüſſigen Körperchen (den 
ſogenannten Markkügelchen) erfüllt iſt. Wir erwähnten ſchon 
früher (im 21. und 24. Cap.) der Elemente, aus denen das 
Gehirn zuſammengeſetzt iſt. Der Phosphor und der Schwe— 
fel in ihrer Verbindung mit der Hauptmaſſe des halbgeron— 
nenen Eiweißſtoffes, mögen unter dieſen Beſtandtheilen von 
weſentlicher Bedeutung ſeyn, was aber dieſem von Millio— 
nen der Röhrchen zuſammengefügten Gewebe, daraus das 
Hirn gebildet iſt, was dieſen blafenformig zarten Behältniſ— 
ſen, die unter dem Gewebe zerſtreut ſind und in welche ein 
Theil der Röhrchen ſich erweitert das Vermögen ertheilt, die 
Eindrücke der Auſſenwelt, die auf die Sinnen wie auf andre 


390 


Theile des Leibes einwirken, als Empfindung und Wahr⸗ 
nehmung der Seele zuzuführen und die Anregungen des Wil⸗ 
lens nach allen Gliedern hinzutragen, das wird weder aus 
dem kunſtreichen Bau der Nerven und Muskeln erkannt, noch 
aus der chemiſchen Zuſammenſetzung errathen. Alles, was 
wir bei dieſer Gelegenheit bemerken können, gehet darauf 
hinaus, daß auch dieſen Aeuſſerungen des Lebens ein pola- 
riſcher Gegenſatz und die beſtändige Wechſelwirkung eines ſol— 
chen zu Grunde liege (nach Cap. 83. Der unbewegte Nerv 
und der bewegte Muskel bilden einen Gegenſatz dieſer Art, 
bei welchem der Nerv die Stelle des Höheren (eines Schaf— 
fenden und Bewegenden) darſtellt. Schon an ſichtbarem 
Umfang übertrifft der Muskel den Nervenfaden, der ihm Be⸗ 
wegung verleiht, ſehr augenfällig, ja in vielen Fällen ent— 
zieht ſich die Weiſe des leiblichen Zuſammentretens des Ner⸗ 
venendes und des Muskelfleiſches unſrer ſinnlichen Wahr— 
nehmung gänzlich. Noch mehr wird das Bewegen des Mus— 
kels, das doch vom Nerven ausgeht, in dieſem ſelber zu 
einem unſichtbaren Vorgang, eben ſo wie ſich die Anregung 
um Wahrnehmen und Empfinden die dem Leibe durch einen 
ſnnlich erfaßbaren Gegenſtand kommt, nach innen hinein, 
im Nerven, jeder weitren Erkennbarkeit entzieht. Zuletzt hat 
alles ſichtbare und ſinnlich wahrnehmbare Bewegen und Ge— 
ſtalten, aller Wechſelverkehr unſres Leibes mit der äußren 
Körperwelt ſeinen Anfang und ſein Ende in einem Etwas, 
deſſen Bewegen, wie das welches im Nerven vorgeht, nicht 
nur, ſondern deſſen weſentliches Seyn für unſer ſinnliches 
Erkennen nicht mehr erfaßbar iſt: in die Seele, welche vor 
dem ſichtbaren Entſtehen des Leibes war und nach der Auf— 
löſung des Leibes noch beſtehen wird, weil ihrem Weſen ein 
wahrhaftes, nothwendiges Seyn zukömmt, gegen welches 
das Seyn des Körpers, ohne den waltenden und beftimmenz 
den Einfluß der Seele mehr nur einem Scheine zu vergleichen iſt. 


44. Elektriſche Erſcheinungen an lebenden 
Thieren. 


Nicht allein die Metalle und andre feſte Körper, ſondern 
auch ſehr viele tropfbare Flüſſigkeiten zeigen, wenn fie unter 
einander oder mit feſten Körpern in Berührung kommen, 
eine elektriſche Spannung. Daß ſelbſt die Wirkſamkeit des 


E 


=: 


lebenden Nerven mit der un einer elektriſchen Pola⸗ 
riſation ſehr nahe verwandt ſey, geht ſchon aus den vorhin 
erwähnten Erſcheinungen hervor, in denen die galvaniſche 
Strömung gleich dem lebendigen Einfluß des Nerven in den 
verſchiedenen Theilen des Leibes theils cee e der 
Sinnen, theils Bewegung hervorbringt. Ungleich deutlicher 
jedoch wird dieſes namentlich an einigen Arten der Fiſche 
erkannt, welche nach Willkühr mehr oder minder ſtarke elek— 
triſche Schläge an Menſchen und Thiere, ſo wie an andre 
Körper mittheilen können. Dieſe aus einem lebenden thieri— 
ſchen Körper hervorgehende, Elektrizität kann eben ſo wie die 
gewöhnliche, zur Ladung einer Leidner Flaſche, zum Hervor⸗ 
bringen von Funken und andrer ſolcher Erſcheinungen benutzt 
werden, die an unſren künſtlichen elektriſchen Apparaten von 
bedeutender Stärke vorkommen. 

Einer der weitverbreitetſten elektriſchen Fiſche iſt der 
Narke oder Zitterrochen der in verſchiedenen Arten ſchon 
in unſren nachbarlichen Meeren, im Mittelmeer, in der 
Nordſee, im Kanal, im atlantiſchen ſo wie im indiſchen 
Meere gefunden wird. Ein ſeltſames Thier, deſſen Körper 
faſt den Umriß einer Geige hat und deſſen weichliches Fleiſch 
keine ſehr beliebte Koſt iſt. Schon die Völker des Alter— 
thums kannten die Eigenſchaft des Zitterrochens, nicht nur Kir 
ſche und andre Seethiere, theils zu ſeiner Vertheidigung, 
theils auch um ihrer als einer Beute habhaft zu werden, ſo 
zu betäuben, daß fie wenigſtens für einige Zeit bewegungs⸗ 
los werden. Wenn man ihn mit der Hand berührt, fühlt 
man durch den ganzen Arm eine elektriſche Entladung „ wel⸗ 
che ein Zittern und bebendes Zucken, zuweilen aber auch, 
wie eine Leidner Flaſche, eine plötzliche Erſchütterung be 
wirkt. Doch iſt dieſe Wirkung nicht bei jeder Berührung 
bemerkbar; es hängt offenbar von der Willkühr des Thieres 
ab, ob es ſich dieſer Nothwehr bedienen will oder nicht und 
erſt dann, wenn es gereizt wird, läßt es jene in ihm 
ſchlummernde Kraft kund werden. Allerdings kann die 
elektriſche Spannung, deren dieſer Fiſch fähig iſt, ihm ein 
Erſatz für einen Mangel werden, an welchem ſein Körper 
im Vergleich mit dem von andren Rochenarten leidet. Sein 
weicher Leib iſt nicht durch jene feſten Hautdecken, nicht durch 
jene harten Vorſprünge und Stacheln geſchützt, womit die 
Oberfläche der meiſten Rochenarten bedeckt iſt, auch iſt ihm 


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a 392 


ſein Fortkommen und Bewegen im Element das er bewohnt 
dadurch etwas erſchwert, daß bei ihm die Bruſtfloſſen ſich 
nicht bis an die Seiten des Kopfes verlängern und übers 
haupt von ſchwächerem Baue ſind. Der Zitterroche iſt des⸗ 
balb kein ſehr behender Schwimmer, ſondern liegt gewöhn⸗ 
lich am Boden des Gewäſſers, im Sand oder Schlamm. 
Was ihm aber auf dieſe Weiſe in ſeinem Körperbau man⸗ 
gelt, das erſetzt er durch feine phyſikaliſchen Kunſtſtücke, mit- 
telſt welcher er auch die ſchnellſten Mitbewohner feines Ele 
mentes, wenn ſie an Größe ihm nicht gar zu ſehr überlegen 
find, mitten in ihrem raſchen Laufe zu lähmen vermag. Dieſe 
Wirkſamkeit beruhet auf dem Daſeyn einer ganz eigenthüm⸗ 
lichen Vorrichtung im Innren des Leibes. Gerade in der 
Gegend des zugerundeten Vordertheiles, wo die Fortſetzung 
der Bruſtfloſſen mangelt, entſprechend der Gegend des Nackens, 
liegt unter den häutigen Decken zu beiden Seiten des Kör— 
pers eine bedeutende, bis an 1200 ſich belaufende Menge 
von 4 bis 6 eckigen Zellen von ſennigem Bau, welche mit 
einer aus Gallert und Eiweißſtoff gemiſchten Flüſſigkeit er- 
füllt ſind. Starke Nervenäſte verbreiten ſich in dieſen gleich 
den Wachswaben der Bienen zuſammengeordneten Zellen, 
und jene Nerven find es, vermöge welchen die Seele des Thie⸗ 
res, vom Gehirn aus, eine elektriſche Spannung in dem 
feſten und flüſſigen Gebilde der Zellen hervorruft, durch die 
es die Kräfte eines in die Ferne wirkenden Blitzes em— 
pfängt. 

Der kräftigſte unter allen bisher bekannten elektriſchen 
Fiſchen iſt der Zitteraal, welcher zwar nicht in unſren 
nachbarlichen Meeren, deſto häufiger aber in den Bächen 
und ſtehenden Gewäſſern des ſüdlichen Americas gefunden 
wird. Das mächtige Thier erreicht zuweilen die Länge eines 
Menſchen und dabei die Dicke eines ſtarken Mannsarmes. 
So ſehr es auch in andrer Hinſicht unſren Aalen ähnlich 
iſt, unterſcheidet es ſich dennoch, ſcheinbar zu ſeinem großen 
Nachtheil, durch einen Mangel, der gleich auf den erſten 
Blick ins Auge fällt; ihm fehlt die lange Rückenfloße, die 
über den Oberkörper unſrer Aale ſich hinzieht und mit die⸗ 
ſer Floße zugleich auch großentheils die Schaar kleiner 
Muskeln, welche den Bewegungen derſelben dienen. Ueber⸗ 
dieß fehlt dem merkwürdigen Thiere die Ausbildung des Vor⸗ 
derleibes, die unſer Aal hat; der größte Theil feiner Körper⸗ 


a 


393 
länge gehört dem Schwanze an. Doch dieſer Mangel nach 
außen iſt durch eine Gabe im Innren des Körpers erſetzt, 
welche von mächtigerer Wirkſamkeit iſt als alle Floßen und 
Muskeln. Am Rücken hinab, und an beiden Seiten findet ſich 
eine unzählige Menge kleiner, unregelmäßiger Zellen, welche 
durch horizontal laufende und ſenkrecht dieſe durchſchneidende 

ſennige Häute gebildet werden und von einer dickflüſſigen, 

gallertartigen Maſſe erfüllt ſind. In ihnen verbreiten ſich 
bedeutende Nervenäſte. Dieſe innre Einrichtung des Baues, 
mit welcher die großen Schwimmblaſen in hülfereicher Be— 
ziehung ſtehen, giebt dem Thiere jene ftarfe elektriſche Span⸗ 
nung in feine Gewalt, durch welche daſſelbe zu einem Schrecken 
der Menſchen wie der andren Thiere wird. Denn die Bewohner 
jener Gegenden in denen die Schaaren des Zitteraales alle 

Sümpfe und kleinen Gewäſſer erfüllen, fürchten die geheim⸗ 

nißvolle Kraft dieſes Fiſches fo ſehr, daß fie ſelbſt um gro— 
ßen Lohn den Fang deſſelben kaum wagen mögen, und wenn 
fie endlich ſich dazu entſchließen, mit der höchſten Vorſicht 
dabei zu Werke gehen. Und ihre Furcht iſt nicht ungegrün⸗ 
bet. Stürzen doch ſelbſt ſtarke Pferde gelähmt zuſammen, 
wenn ſie durch ein Waſſer gehen darin Zitteraale ſind, denn 
der furchtbare Fiſch legt ſich mit ſeinem Rücken unter den 
Bauch des ſchwimmenden oder hindurch watenden Laſtthieres 
und verſetzt demſelben einen ſo gewaltigen elektriſchen Schlag, 
daß es entweder regungslos im Waſſer unterſinkt und darin 
erſäuft, oder, wenn es noch das Land erreicht, ſich da— 
ſelbſt betäubt auf den Boden hinſtreckt und erſt langſam 

ſich wieder erholt. Auch ſchwimmende Menſchen ſind auf 
dieſe Weiſe umgekommen. Deshalb iſt es öfters geſchehen, 
daß man in ſolchen Gegenden, wo es noch keine eigentlichen 
Kunſtſtraßen und nur ſelten über die Lachen und kleinen 
Flüße eine Brücke giebt, die frühere Richtung der Wege 
verlaſſen mußte, wenn man dabei hin und wieder auf Maul— 
tbieren und Pferden durch Waſſer zu paſſiren genöthigt war. 
Denn bei dieſer Gelegenheit gingen viele Laſtthiere mit ihrer 
Bürde, öfters auch mit ihren Reutern zu Grunde, weil der 
Zitteraal auch ungereizt, mit der Tücke einer zornwüthigen 
Schlange, ſeine Angriffe auf alle in ſeine Gewäſſer kommen— 
de Thiere richtet. Eben ſo wie eine giftige Schlange durch 
öfteres Beiſſen ihren Giftvorrath fo erſchöpft, daß fie für 
einige Zeit faſt gefahrlos wird, kann auch der Zitteraal, durch 


* 
394 


mehrmaliges Entladen ſeiner elektriſchen Batterie ſo ohnmäch⸗ 
tig werden, daß man faſt ohne alle Furcht vor feinen Schlä> 
gen ihn zu fangen vermag. Wenn deshalb vornehme Euro— 
päer an ſolchem Fange ſich beluſtigen wollen, dann laſſen ſie 
eine Schaar der verwilderten, ſüdamerikaniſchen Pferde, wel⸗ 
che um ſehr wohlfeilen Preis zu haben ſind, in das Waſſer 
hineintreiben und zuerſt an dieſen die Zitteraale ihre Kraft 
erſchöpfen. Aber auch dann, wenn der Fiſch fo kraftlos ges 
worden iſt, daß er wie ohnmächtig, mit halbem Leibe her⸗ 
vorragend auf dem Waſſer ſchwimmt, die Berührung der 
Pferde ängſtlich meidet und die Nähe des Ufers ſucht, iſt er 
feiner elektriſchen Spannung noch nicht ganz beraubt. Um 
terrichtete Europäer, welche die kleinen Harpunen, die man 
gegen den Fiſch ſchleudert, aus ſeinem Fleiſche herauszogen, 
empfanden hierbei eine elektriſche Erſchütterung, welche die 
Wirkung der ſtärkſten Leidner Flaſche übertraf. 

Die Wirkung des Schlages der Zitteraale auf die Em— 
pfindung iſt übrigens, nach der Ausſage der Beobachter ver— 
ſchieden und ſie hängt ſehr von der Größe und dem Wohl— 
befinden des Fiſches ab. Wenn dieſer im hohen Grade ge— 
ſchwächt iſt, dann erregt ſeine Berührung nur ein Zittern 
in den Sennen des Armes bis zum Ellenbogen und eine 
ſolche wellenförmig anregende Ausſtrömung hat man auch 
häufig bei Verſuchen mit dem Zitterrochen bemerkt. Wenn 
dagegen das Thier groß und noch unentkräftet iſt, dann 
wirkt der Schlag, den daſſelbe den Füßen oder Händen mit 
denen man es berührt, mittheilt ſo furchtbar, durch alle Ge— 
lenke und Theile des Körpers, daß der Menſch kaum ſich auf— 
recht erhalten kann und Tage lang nachher noch an Schwäche 
und Schmerz in den Gliedern, Betäubung des Kopfes und 
dem Gefühl eines allgemeinen Unwohlſeins zu leiden hat. 
Wenn man ſich zum Fang der Zitteraale ider Netze bedient 
und nur eines dieſer Thiere, von ſchon reiferem Alter, zu— 
gleich mit jungen Krokodilen ſelbſt von der halben Länge 
eines Menſchenkörpers in das Garn geräth und mit heraus— 
gezogen wird, dann findet man dieſe ſo wie alle etwa in 
dieſelbe Geſellſchaft gekommene Fiſche, beim Ausſchütten des 
Netzes todt und nur der Aal, der Mörder derſelben iſt, frei— 
lich mit etwas geſchwächter Kraft, am Leben geblieben. 

An dieſen Fiſchen iſt es auch möglich geweſen alle jene 
Verſuche anzuſtellen, durch welche die weſentliche Uebereinſtin⸗ 


* 
395 


mung ihrer polariſchen Spannung mit der Elektrizität erwie⸗ 
ſen wurde. Man hat Funken bei ihrer Entladung geſehen, 
welche freilich an Größe und Helligkeit mit der Stärke der 
Erſchütterung die der lebende Körper bei der Berührung em— 
pfindet, noch weniger in Verhältniß ſtunden als die Funken 
einer großen Voltaiſchen Säule nach S. 380). Wenn man 
den Fiſch mit einer Stange von Glas oder Pech berührt, 
oder die Hand mit ſtarkem Seidenzeug umgiebt, iſt man eben 
fo gegen feine Schläge geſchützt, als wenn man unter ähn— 
lichen iſolirenden Vorkehrungen eine ſtark geladne Leidner 
Flaſche oder den Conductor einer Elektriſirmaſchine berührt; 
dagegen entlädt ſich die Spannung durch Metalle in ibrer 
ganzen Stärke. Der Zitteraal kann aus allen Gegenden 
ſeiner ſchleimigen Oberfläche Schläge ertheilen, nicht aber 
wenn man das Innre ſeines Mundes berührt. Wenn übri— 
gens ſchon beim Galvanismus die elektriſche Ausgleichung 
dadurch, daß ſie (nach S. 379) mehr einer andauernden 
Strömung als einer plötzlichen Ausſchüttung gleicht, in einer 
Weiſe wirkt, welche der Lebensthätigkeit der thieriſchen Ner— 
ven näher verwandt iſt als die Wirkung der gemeinen, durch 
Reiben erzeugten Elektrizität, ſo gilt dies noch viel mehr 
von den elektriſchen Strömungsſchlägen der beiden bereits er— 
wähnten Fiſcharten, ſo wie des mit gleicher Eigenſchaft be— 
gabten elektriſchen Stachelbauchfiſches im indiſchen Ocean und 
des Zitteraals, der den Nil fo wie einige Ströme des mitt— 
leren Afrikas bewohnt. Die Erregung ſo wie die Aeuſſerung 
der elektriſchen Spannung dieſer Thiere gehet von ihrem Ge— 
hirn zum Nerven aus und hängt ganz von ihrer Willkühr 
ab, fo daß der Zitteraal, der ſtärkſte unter allen, feinen 
Schlägen, die ſich in ziemliche Weite durch das Waſſer fort— 
pflanzen, eine beſtimmte Richtung, nach einem gewiſſen Ge— 
genſtand hin ertheilen, und, wenn er in Waſſerbehältern 
aufbewahrt, an die Nähe des Menſchen gewöhnt iſt, ſie auch 
ſo zurückhalten kann, daß er nur dann, wenn er gereizt wird, 
nicht bei jeder Berührung von ſeiner Kraft Gebrauch machet. 
Auch ſcheint es öfters, als wenn die elektriſchen Fiſche vor 
der Entladung zuerſt durch ihr Gefühl es prüften, ob der 
Kreis, durch den ſie den Schlag wollen gehen laſſen, ge— 
ſchloſſen ſey; der Zitteral ſetzt ſich zuweilen ſchon mehrere 
Augenblicke vorher mit dem fremden thieriſchen Körper in 
Berührung, bis er plötzlich und auf einmal demſelben ſeine 


396 


lähmende Macht fühlen läſſet, und mit noch mehr Zurückhal⸗ 
tung und Vorſicht benimmt ſich dabei der ſchwächere Zitter- 
roche. Es iſt der natürliche Trieb der Selbſterhaltung, wel— 
cher dieſe Thiere dazu bewegt, daß ſie bei der Erregung ihrer 
elektriſchen Spannung mit einer gewiſſen Sparſamkeit zu 
Werke gehen. Wenn man ſie zu einer öfteren Wiederholung 
ihrer Schläge in kurzen Zwiſchenzeiten nach einander an⸗ 
treibt, dann wird nicht bloß ihre elektriſche, ſondern mit dies 
ſer zugleich ihre Lebenskraft erſchöpft, ſo daß ſie bald darauf 
abſterben. An zwei Fiſchen der Art bemerkte man, daß der 
eine, an welchem man den Nerven des elektriſchen Organs 
durchſchnitten und hierdurch die Verbindung deſſelben mit dem 
Gehirn, den anregenden Einfluß des letzteren, aufgehoben 
hatte, von nun an zwar keine Schläge mehr ertheilen konn— 
te, dabei aber länger am Leben erhalten wurde, als der 
andre, der mit jener Verwundung verſchont geblieben, dafür 
aber öfter zu ſeinen Entladungen gereizt worden war. 

Von ganz andrer, vielleicht mit der durch Reibung er— 
zeugten näher verwandt, iſt jene Elektrizität, die man zu— 
weilen in ſehr augenfälliger Weiſe an lebenden menſchlichen 
Körpern beobachtet hat. Bei manchen Perſonen geben die 
Haare beim Auskämmen oder beim Reiben elektriſche Fun⸗ 
ken, eben fo wie das Haar des Löwen, des Luchſes und 
andrer Thiere vom Katzengeſchlecht. An andren bemerkt man 
Funken, wenn ihre Haut gerieben wird oder beim Ausziehen 
des Gewandes, und als ſolche Funken gebende Männer wer— 
den namentlich Theodorich der Große, ſo wie Carl Gon— 
zaga, der Herzog von Mantua, genannt. Vielleicht ſchlie— 
ßen ſich hieran ſelbſt ſolche Falle, wie die allerdings Aufferft 
ſeltnen einer plötzlichen Selbſtentzündung menſchlicher Körper. 

Wenn wir, bei einer der bedauernswürdigſten, zum 
Glück nicht immer unheilbaren Krankheiten, welche unſer 
Geſchlecht betreffen können, bei der fallenden Sucht, Erſchüt⸗ 
terungen und Zuckungen der Glieder entſtehen ſehen, welche 
ganz jenen gleichen, die der Einfluß der Voltaiſchen Säule 
oder die Entladung einer gewöhnlichen elektriſchen Spannung 
hervorruft, dann werden wir zu der Vermuthung geführt, 
daß hierbei der ſonſt unmerkliche, ſich immer erhebende 
und ausgleichend ſich wieder ſenkende Strom der elektriſchen 
Anregung, die mit der Wirkſamkeit der Nerven verbunden 
iſt, in ſeinem geſunden Verlauf gehemmt und gleich wie an⸗ 


397 


gedämmt ſey, bis er, den Damm durchbrechend, in feiner 
ganzen Schrecken erregenden Macht über alle Bewegungsner⸗ 
ven des Körpers ſich ergießt. Nicht immer leider wird die 
unmerkliche und geſunde Ableitung der polariſchen Spannung, 
in den verſchiedenen Gebieten des Nervenſyſtems in ſolcher 
leichten und lieblichen Weiſe wieder hergeſtellt, als bei dem 
berühmten neapolitaniſchen Gelehrten Fabius Columna. 
Diefer litt in feiner Jugend an heftigen epileptiſchen Anfal⸗ 
len, welche der Kunſt der damals berühmteſten Aerzte ſeines 
Vaterlandes nicht weichen wollten. Da beſchloß er, der mit 
den Schriften der alten Griechen und Römer ſehr vertraut 
war, zu der Weisheit dieſer Alten ſeine Zuflucht zu nehmen; 
er forſchte in den Werkern ihrer Aerzte und Naturforſcher 
nach der Angabe eines Heilmittels gegen ſein beunruhi— 
gendes Leiden. Einige Gebirgskräuter waren darin als hülf— 
reich empfohlen, ſie waren genannt und beſchrieben, aber kei— 
ner der damals in Italien lebenden Aerzte konnte eine ſichre 
Auskunft über ſie geben. Da machte er ſich ſelber auf in 
die Gebirgsgegenden ſeines Vaterlandes, er ſuchte und forſchte 
und fand die Pflanzen auf, deren Geſtalt und Eigenſchaften 
der Beſchreibung in den Schriften der Alten entſprachen. 
Mehr noch als der Gebrauch derſelben mochte jedoch zu der Heiz 
lung von ſeiner Krankheit die anhaltende äußere Bewegung 
in der freien Luft und die innre, freudige Aufregung beige— 
tragen haben, weiche ihm aus der Erkenntniß und Betrach— 
tung der ſchönen Pflanzenwelt kam. Denn er verwendete 
jetzt alle die Zeit, welche ihm von feinen Studien der Rechts⸗ 
gelehrſamkeit und von der ehrenvollen Ausübung dieſes Be— 
rufes übrig blieb, auf den Umgang mit der Natur und vor al⸗ 
lem mit dem Pflanzenreich und dieſer Umgang wurde für ihn 
eine unverſiegbare Quelle von Erquickung und Vergnügen, 
ein Mittel ſelbſt der Lebensverlängerung. Denn als er im 
J. 1640 ſtarb, da hatte er bei einer faſt bis zum Ende ſich 
gleichbleibenden Munterkeit des Geiſtes, ein Alter von 73 
Jahren erreicht, er, der ſchon als 18 jähriger Jüngling, am 
Rande des Grabes zu ſchweben ſchien. 


45. Magnetismus und Elektrizität als Formen 
der weſentlich einen polariſchen Spannung. 


Man hat die Erſcheinungen, von denen wir hier zu re— 


398 


den gedenken, unter dem Namen des Elektromagnetis⸗ 
mus zuſammengefaßt, womit man jene Einigung der elektri⸗ 
ſchen mit der magnetiſchen Naturkraft andeuten wollte, die ſich 
darin unmittelbar durch Beachtung nachweiſen läſſet. 

Schon bei einer andren Gelegenheit, als wir von den 
mächtigen Wirkungen des Blitzes fprachen, erwähnten wir fol 
cher Fälle, aus denen es deutlich wird, daß die Elektrizität 
in dem Eiſen, dem ſie ſich mittheilt, zur magnetiſchen Kraft 
werden könne. Auf jenem Schiffe, in welches wegen der 
unvollkommenen Einrichtung des Wetterableiters der Blitz 
einſchlug, wurden alle eiſernen Meſſer und Gabeln magne— 
tiſch; von den Magnetnadeln die ſich darauf fanden, hatten 
einige eine verſtärkte magnetiſche Kraft erhalten, bei andren 
war dagegen dieſe Kraft geſchwächt, ja bei etlichen ganz ver— 
nichtet worden. Das, was hierbei die hochgeſteigerte atmo— 
ſphäriſche Elektrizität that, das leiſtet unter andren Umſtan— 
den auch die Elektrizität der geriebenen Körper, ſo wie die 
der Voltaiſchen Säule. Ein kleiner Stab von Eiſen oder 
Stahl wird alsbald magnetiſch, wenn man einen elektriſchen 
Strom ſchief, noch mehr wenn man denſelben rechtwinklich über 
den Eiſenſtab hinleitet. Während man jedoch die magneti— 
ſche Polariſation dadurch Funftlich hervorruft, daß man mit 
einem kräftigen Magnet der Länge nach und immer in der— 
ſelben Richtung über einen Stab von Eiſen oder Stahl hin— 
ſtreicht, kann man auch einer Magnetnadel dadurch ihre Kraft 
benehmen, daß man die Entladung einer ſtarken elektriſchen 
Batterie durch ſie hindurchſchlagen läſſet, wobei allem An— 
ſcheine nach die Richtung, welche der elektriſche Schlag durch 
die Nadel nimmt, von weſentlichem Einfluß iſt. Das Eine 
ſeyn des Weſens der Polarifation in ihrer magnetifchen wie 
elektriſchen Form wird übrigens auch darinnen erkannt, daß 
die Polardrähte einer Voltaiſchen Säule, ſelbſt dann, wenn ſie aus 
einem Stoffe beſtehen, welcher für die Mittheilung des Mag⸗ 
netismus unter andern Umſtänden ganz unempfanglich erſcheint, 
ohne Unterſchied, gleich einem Magnet, Eifen anziehen, und 
mit dem Staube der Eiſenfeilſpähne, hierin etwas verſchieden 
von der Wirkſamkeit der eigentlichen Magnete, ihrer ganzen 
Länge nach ſich überziehen. Uebrigens dauert dieſe magne— 
tiſche Eigenſchaft nur fo lange als der elektriſche Strom wäh- 
ret und nimmt mit dieſem zugleich ihr Ende. 

Die vorhin erwähnte Erfahrung, nach welcher ein klei⸗ 


399 


ner Stab von Eiſen oder Stahl magnetiſch wird, wenn man einen 
elektriſchen Strom der Queere nach uber ihn hinleitet, und zugleich 
jene daß die magnetiſche Kraft immer höher geſteigert werde, 
je mehr ſolche Ströme zugleich über den Eiſenſtab hinſtrei— 
chen, hat zu einem andren ſehr erfolgreichen Verſuche Veran— 
laſſung gegeben. Man hat ein noch unmagnetiſches Eiſen, 
dem man Stab⸗ oder Hufeiſenform gab, mit einem Draht, 
etwa von Kupfer, ſo umwickelt, daß die elektriſchen Strömungen, 
welche man von den Polarenden einer Voltaiſchen Säule 
aus durch den Draht leitete, ſämmtlich ihre Richtung queer 
über das Eiſen nahmen. Damit ſich aber die elektriſche 
Spannung als ſolche vom Drahte aus dem Eiſen, als einem 
gleich guten Leiter nicht mittheilen könnte, wurde entweder das 
Eiſen oder der Draht überfirnißt oder mit Seide, mit Woll— 
band und andren iſolirenden Subſtanzen überzogen, ja ſelbſt 
der Draht in feinen ſchraubenformigen Windungen um eine 
Glasröhre herumgeführt, in deſſen Innrem das zu magneti— 
ſirende Eiſen enthalten war. Denn die Wirkſamkeit der mag— 
netiſchen Polarität unterſcheidet ſich darin augenfällig von 
der elektriſchen, daß ſie durch alle jene Körper, welche ſich 
gegen die elektriſche Kraft iſolirend und hemmend verhalten, 
faſt ſo ungehindert hindurch wirkt, als wären dieſelben nicht 
vorhanden und nur bei dem Hindurchgehen durch Eiſenplat— 
ten eine bemerkbare Schwächung erleidet. Während deshalb 
die iſolirende Vorrichtung den Einfluß der Strömung in fei- 
ner elektriſchen Form von dem Eiſen abhält, verſtattet ſie 
demſelben in ſeiner magnetiſchen Form einen ungehemmten 
Zutritt und giebt hierdurch ein Mittel an die Hand, die 
magnetiſche Wirkſamkeit des Eiſens zu einer Höhe zu ſtei— 
gern, welche die Kraft der natürlichen oder der in gewöhnli— 
cher Weiſe künſtlich bereiteten Magnete niemals erreicht hat. 
Denn obgleich auch im Gebiete des Magnetismus die verhält— 
nißmäßig bedeutendere Macht des Kleinen darinnen erkannt 
wird, daß Magnete von nur etlichen Gran Gewicht ein 
vierzigmal größres Gewicht (einer von 7 Gran 1 ½ Loth) 
tragen und daß dieſe Kraft durch Armirung ihrer Pole mit 
flachen, in dicke Enden auslaufenden Stücken Eiſen noch viel— 
fach vermehrt werden kann, fo hat man doch bei größeren 
Magneten, deren Gewicht ein Pfund und darüber beträgt, 
die Wirkſamkeit nur ſelten höher, als zum Tragen eines 
zehnfachen Gewichtes zu ſteigern vermocht. Ja die Trag⸗ 


400 


kraft des größeſten bekannten Magnetes, der fich im Tey⸗ 
ler'ſchen Muſeum befindet, kommt nicht einmal dem eigenen 
Gewicht deſſelben gleich, denn dieſes beträgt mit der Arma⸗ 
tur 307 Pfund und das Gewicht, das man an den Haken 
ſeines Ankers hängt, darf 230 Pfund nicht überſteigen. Da⸗ 
gegen hat man einem hufförmig gebogenen Eiſenſtabe, wel— 
(her 59½ Pfund wog, durch die elektriſche Strömung mit⸗ 
telſt eines ſchraubenformig um ihn herumlaufenden Metall⸗ 
drahtes eine Tragkraft von 2963 Pfund mitgetheilt, ein 
andres, zu gleichem Verſuch angewendetes, plattenförmiges 
Stück Eiſen, welches 16 Pfund wog, trug 2500 Pfund, 
ein Hohlcylinder von Eiſen, 8 Zoll lang, von mehreren iſo— 
lirten Drähten umwickelt, welche ihre Strömungen leiteten, 
hielt 2775 Pfund. Die Stärke der magnetiſchen Wirkſam⸗ 
keit, die in ſolcher Weiſe dem Eiſen mitgetheilt wird, hängt 
ganz von der Stärke der elektriſchen Strömungen ab und 
von der Menge dieſer Strömungen (Drahtwindungen), welche 
queer über das Metall oder über die Glasröhre hingehen, in 
welcher die Magnetnadel enthalten iſt. Die Polariſation des 
Eiſens zeigt ſich erſt in ihrer ganzen Stärke, wenn die elek⸗ 
triſche Strömung einige Zeit gedauert hat, ſie nimmt aber 
ſogleich wieder ab, wenn jener Einfluß aufhört und verliert 
ſich in den meiſten Fällen nach einiger Zeit gänzlich. Ohne⸗ 
hin iſt nicht das geſtahlte Eiſen, das den Magnetismus am 
längſten feſthält, ſondern das weiche Eiſen, das Gußeiſen, 
für die Mittheilung und möglichſt hohe Steigerung der elek— 
tromagnetiſchen Kraft am empfänglichſten. Doch läßt ſich 
die Kraft des elektromagnetiſchen Eiſens, während der Anz 
dauer ſeiner Polariſation, zum Magnetiſiren von Stahl durch 
Streichen anwenden und namentlich empfängt ein Stahlſtab, 
wenn man ihn in glühendem Zuſtand mit jedem Ende an 
den Pol eines ftarfen Elektromagnetes anlegt und in dieſer 
Lage ihn ablöſcht, eine ſehr bedeutende magnetiſche Kraft. 
Eine weitere Betrachtung des Einfluſſes jener Drehun⸗ 
gen, welche der gewundene Draht um den Eiſenſtab oder 
die Nadel macht, hat indeß noch zu weitren Aufſchlüſſen 
über das Zuſammenwirken der Elektrizität und des Magne⸗ 
tismus geführt. Die Lage der magnetiſchen Pole bleibt bei 
einer Verſchiedenheit der Richtung, welche die Windungen 
des Strömungsdrahtes nehmen, nicht dieſelbe; bei einer von 
Rechts zu Links verlaufenden Nichtung der een 
jenes 


401 


jenes Ende des Eiſenſtabes die ſüdpolariſche Spannung, das 
bei der von Links zu Rechts gehenden Windung des Drah— 
tes nordpolariſch wird. Ein geiſtvoller Naturforſcher unſrer 
Zeit, Schweigger, hat aber, noch einen Schritt weiter 
gehend, die Drehungen der elektriſchen Ströme um den Mag— 
net auch in einer tieferen Beziehung erfaßt. Er hat durch 
eine ſinnreich erfundene Vorrichtung es vor Augen gelegt, 
daß eine frei ſchwebende Magnetnadel, durch welche eine elek— 
triſche Strömung geleitet wird, um den Pol eines in ihre 
Nähe gebrachten Magnetes eine wirklich kreisförmige Bewe— 
gung mache. Auf einem andren Wege der Verſuche iſt es gelungen 
auch eine kreisförmige Bewegung des Magnetes um einen in 
der Mitte des Kreiſes liegenden Leitungsdraht der elektriſchen 
Strömung zur Anſchauung zu bringen. Zu dieſem Verſuch 
hat man kleine, dabei aber kräftig wirkſame Magnetſtabe 
angewendet, welche man in ein mit Queckſilber gefülltes Ger 
fäß brachte, in deſſen Mitte die beiden Enden der Polar— 
drähte eines elektriſchen Apparates ihre Strömungen verein— 
ten. Die ſtählernen Magnetſtäbe würden für ſich allein auf 
dem doppelt ſo ſchweren Queckſilber ſchwimmen, wie Holz 
auf Waſſer, man hängt deshalb an eines ihrer Enden ein 
Stückchen Platinametall, welche 1½ mal ſo ſchwer iſt als 
Queckſilber und bewirkt auf dieſe Weiſe was man bewirken 
wollte: die Metallſtäbchen ſchwimmen, wie ein an dem einen 
Ende mit Blei beſchwertes Stück Holz im Waſſer, ſenkrecht 
ſtehend im Queckſilber. Und in dieſer Stellung, das Feſte 
im leicht trennbaren Flüſſigen ſchwebend, ſieht man die Mag⸗ 
nete alsbald eine kreisformige Bahn um den Punkt beſchrei⸗ 
ben, an welchem die Ströme der elektriſchen Wirkſamkeit ſich 
concentriren. Und nicht nur die Magnetſtäbe um den Mit⸗— 
telpunkt einer kräftigen elektriſchen Entladung, ſelbſt das 
ſchwere Queckſilber wird in eine kreisförmig bahnende, wel— 
lenartige Bewegung geſetzt, wenn man in ein Gefäß, das 
mit dieſem flüſſigen Metall gefüllt iſt, die Polarenden einer 
kräftig wirkenden Voltaiſchen Säule in einiger Entfernung 
von einander einſenkt und dann einen ſtarken Magnet in der 
Mitte zwiſchen den Entladungspunkten der Polardrähte oder 
in der Nähe des einen dieſer Punkte über das Queckſilber 
hinhält. Alsbald entſtehen im Queckſilber oder in augen- 
fälligerer Weiſe in dem mit ein wenig Säure vermiſchten 
Waſſer, das man auf ſeine Oberfläche A hat, um 
2 


402 


die beiden Enden der elektriſchen Polardrähte herum, Bewe⸗ 
gungen nach entgegengeſetzter Richtung, die eine von der 
Linken zur Rechten, die andre umgekehrt, von der Rechten 
zur Linken. Hatte man zuerſt den Nordpol eines ſtarken 
Magnetes an die Oberfläche des Queckſilbers gebracht und 
man wendet nun zu demſelben Zwecke den Südpol an, dann 
tritt auf einmal die entgegengeſetzte Richtung der Strömun⸗ 
gen ein: der welcher vorhin von der Rechten zur Linken 
gieng, nimmt jetzt ſeinen Lauf von der Linken zur Rechten, 
und umgekehrt. Dieſelbe Veränderung des Bewegens tritt 
ein, wenn man den Magnet, ſtatt wie vorhin von oben, ſo 
jetzt von unten dem Gefäß mit Queckſilber und den beiden 
Ausgängen der elektriſchen Entladung nahet. 

Dieſe Erſcheinungen laſſen uns im Kleinen und gleich 
wie in einem Spiegel das Abbild eines Werkes, einer That 
des Schöpfers ſehen, deren offenkundiges Geheimniß in 
Schriftzügen, die aus leuchtenden Sternen gebildet ſind, am 
Himmel ſtehet. Da droben unter dieſen leuchtenden Welten 
iſt nirgends ein Stillſtand, alle, wie der Gang eines leben⸗ 
den Menſchen, nach ſeinem Ziele, ſind ſie in Bewegung. Und 
es iſt freilich nur ein und dieſelbe Kraft des Lebens, die 
den Schritt eines gehenden Menſchen beflügelt; aber dieſe 
Kraft tritt dabei in zwei Momenten oder Formen auf: der 
fortſchreitende Fuß wird jetzt durch die Anregung des Lebens 
emporgehoben und ſinkt dann, dem Geſetz der Hinneigung 
nach dem Alles tragenden Mittelpunkt folgend, wieder nie⸗ 
der. So wirkt auch, wie wir ſpäter noch weiter erwägen 
wollen, bei den Bewegungen des Mondes um ſeine Erde, 
der Planeten um ihre Sonne, ja aller Sonnen, wir wiſſen 
nicht, um welchen geheimnißvollen Ziel und Mittelpunkt ein 
und dieſelbe Kraft in einer zweifachen Form und Richtung, 
davon die eine nach der Gemeinſchaft mit dem leiblich tra⸗ 
genden Mittelpunkt, die andre aber nach dem eigenthümlichen 
Verkehr, der nach ſeinem Maaße jedem Dinge verliehen iſt, 
mit dem die Mitte wie ſeine Enden umfaſſenden Urſprung 
alles Seyns und Bewegens hingewendet iſt. 


46. Der elektriſche Telegraph. 


Es iſt freilich eine anſcheinend ſeltſame Anordnung, nach 
welcher wir hier, etwa an die Beſchreibung der Elektrizität der 


3 
* 


403 


Fiſche die Erwähnung eines Mittels anreihen, das in unſren 
Tagen die Phyſik erfunden hat, um die Gedanken einer 
Menſchenſeele einer andren in weiter Ferne wohnenden Men⸗ 
ſchenſeele in einer Schnelligkeit mitzutheilen, welche man faſt 
mit der Schnelligkeit der Gedanken vergleichen kann. Eini⸗ 
15 läßt ſich indeß dennoch zu Gunſten jener Anordnung an⸗ 
führen. 

Wenn der elektriſche Fiſch, wie etwa der Zitteraal, ein 
andres Thier, das in ſeinem Gewäſſer lebt oder in daſſelbe 
hineinkommt, tödten oder betäuben will, dann hat er nicht 
nöthig, daſſelbe mit den gewöhnlichen Waffen andrer Fiſche, 
mit dem Gebiß zu packen, ja er braucht daſſelbe weder zu 
berühren, noch auch nur in großer Nähe zu haben, ſondern 
dabei nur der unſichtbaren, gleich wie zauberhaften Kraft ſei⸗ 
ner elektriſchen Spannung ſich zu bedienen, um mit der 
1 des Blitzes ſeinen thieriſchen Willen in That zu 
etzen. 5 
Was dem Thiere durch eine beſondre Zuſammenſtellung 
feiner Nerven mit den häutig⸗-ſennigen Behältniſſen verlie⸗ 
hen iſt, in denen eine leicht zerſetzbare Flüſſigkeit ſich befin⸗ 
det, das hat der Menſch in einer ungleich höheren, vielſei⸗ 
tigeren Weiſe durch den denkenden Geiſt empfangen, in def 
ſen Kraft er ein Herrſcher über ſich ſelber und über die ganze 
ihn umgebende Sichtbarkeit geworden iſt. Nicht nur durch 
das hörbare Wort, ſondern auch durch das ſichtbar gemachte 
Zeichen dieſes Wortes vermag der Menſch die Regungen ſei⸗ 
nes Willens, feiner Gefühle, wie das Licht ſeines Erfen- 
nens auf andre lebende und verſtehende Weſen überzutra⸗ 
gen: Er bewegt und lenkt durch ſein Wort den abgerichte⸗ 
ten Hund wie das ſchnelle Roß und den mächtigen Elephan⸗ 
ten; ſeine Rede, in der Form der Buchſtaben, ſpricht, als 
ob er gegenwärtig bei dieſem ſtünde, zu einem in fernem 
Welttheil wohnenden Menſchen, ſpricht noch dann, wenn 
ſein Leib ſchon ſeit Jahrhunderten zur Aſche geworden iſt, 
zu einem noch lebenden Geſchlecht der Menſchen. 

Den entfernt Wohnenden ſich ſchnell, beſonders in Zei⸗ 
ten der Noth mitzutheilen, das hat man ſchon in älterer 
Zeit durch die Feuerſignale verſtanden. Wenn indeß von 
einem Hügel zum andren, über einen ganzen Landſtrich hin⸗ 
über, die Flammen der Nothfeuer ſich erhuben, da konnten 
dieſe, denen die ſie ſahen, nichts Wee verkünden über 

2 


404 


den Grund, aus dem man ſie angefacht hatte; man erfuhr 
durch ſie nur im Allgemeinen, daß etwa dem Land und ſei⸗ 
nem Volke oder auch nur den Bewohnern einer einzelnen 
Gegend eine große Noth zugeſtoßen ſey. Deßhalb leiſteten 
die Telegraphen, davon wohl die Meiſten von uns einen in 
Natur oder in Abbildungen geſehen haben, ſchon ungleich 
mehr, indem fie durch die verſchiedenen Stellungen der Glie⸗ 
derſtücke und Klappen ihrer Maſchinerie verſchiedene Buch⸗ 
ſtaben, Silben und ganze Worte ausdrückten und ſo eine 
förmliche Unterredung zwiſchen Menſchen möglich machten, 
welche durch ein Heer der Feinde oder andre unüberwindliche 
Hinderniſſe von einander getrennt waren. Noch dazu beruhte 
die Sprache, welche die Telegraphen vor den Augen der 
Feinde oder vor Tauſenden der Neugierigen von einem 
Thurme zum andren mit einander redeten, auf einer Ueber⸗ 
einkunft derer, welche ſich Mittheilungen durch dieſelbe zu 
machen hatten; nur ihnen war ſie verſtändlich; Andre, denen 
der Schlüſſel zu ihrer Deutung fehlte, erriethen ſchwerlich 
den Sinn der ſchnell wechslenden Stellungen der Maſchine. 
Dieſe gewöhnlichen Telegraphen kamen zuerſt in Spa⸗ 
nien und Frankreich in einen allgemeinen Gebrauch; die erſte 
eigentliche Telegraphenpoſt wurde (durch Herrn Chappe) von 
Paris nach Lille, auf eine Entfernung von 30 Meilen an⸗ 
gelegt und beſtund aus 12 Telegraphen. Der Einrichtung 
dieſer Telegraphenlinie folgte bald die vieler andrer in und 
auſſer Frankreich. Der Vortheil, den dieſelben zur ſchnellen 
Weiterbeförderung von Nachrichten darboten, war unver— 
kennbar: die Eroberung von Quesnay wurde mittelſt der 
Telegraphenpoſt ſchon in einer Stunde in Paris bekannt und 
bei der jetzigen noch ungleich beſſeren Einrichtung der Tele— 
graphen würde vielleicht nur die halbe Zeit dazu nöthig ſeyn, 
um aus gleicher Entfernung eine ſolche Kunde zu empfan- 
gen. Auch bei Nacht war in möglichſter Weiſe durch Be— 
leuchtung des Telegraphen, oder dadurch für die fortwahren- 
de Wirkſamkeit deſſelben geſorgt, daß man Laternen in ge⸗ 
wiſſer Zahl und Stellung, ſo wie in abwechslender Dämpfung 
oder Steigerung ihres Lichtes für die Zeichenſprache benützte. 
Es leuchtet übrigens von ſelber ein, wie oft das Eintreten 
von dichtem Nebel, heftigem Gußregen und Stürmen den 
Gang der Telegraphenpoſten unterbrechen mußte und wie 
leicht auf einer der vielen Zwiſchenſtationen ſich ein Verſe⸗ 


405 


hen einſchleichen konnte, deſſen Folgen ſich durch alle Glieder 
bis zum Ziele hin fortſetzten. 

Wie ganz anders iſt dagegen die Wirkſamkeit jener Te⸗ 
legraphen, welche wir hier betrachten wollen. Durch ihre 
Anwendung iſt das als unmöglichſt Erſcheinende möglich ge— 
worden; zwei Menſchen, welche fünfzig ja mehrere Hunderte 
von Meilen von einander entfernt wohnen, können ſich irgend 
eine Nachricht, einen Gedanken, nicht, wie auf dem Wege 
der gewöhnlichen Telegraphenpoſten in Zeit von einer Stun— 
de oder halben Stunde, ſondern augenblicklich, als wenn ſie 
an einem Tiſche beiſammen ſäßen in der Wortſprache mit- 
theilen, ja, wenn eine Verbindung durch Kupſerdrähte zwi: 
ſchen St. Petersburg und Peking hergeſtellt und der Kraft— 
verluſt der dem elektriſchen Strome auf ſolchen Weg zuſtie— 
ße, vollkommen vermieden werden könnte, dann wuͤrde der 
Sprechende in Chinas Hauptſtadt nach etwa anderthalb Ter— 
tien ſchon und ſelbſt ein Bewohner des Mondes, wenn unſre 
elektromagnetiſche Strömung bis dorthin geleitet werden könn⸗ 
te, würde noch vor Ablauf einer Secunde von der Erde aus 
Kunde empfangen, denn die Mittheilung der Gedanken auf 
dem Wege der elektriſchen Leitung iſt ſchneller als das Licht; 
die elektriſche Strömung durch einen Kupferdraht durchläuft 
in einer Secunde gegen 72,000, der Lichtſtrahl nur 41,518 
Meilen. Aber auſſer der Alles überflügelnden Schnelligkeit, 
hat eine ſolche Mittheilung der Gedanken durch elektriſche 
Strömung noch ganz andre Vorzüge vor der Mittheilung 
durch telegraphiſche Poſten. Das, was der Sprecher dem 
weit entfernt wohnenden Hörer ſagen will, wird nicht durch 
Tauſende von Augen geſehen, ſondern erſt an dem Orte, 
für den die Rede beſtimmt war, giebt es ſich dem Andren 
kund; der Lauf den das Menſchenwort in der unſichtbaren 
Form einer elektriſchen Entladung nimmt, gehet tief unter 
der Erde verborgen, oder in der Metallmaſſe des Kupfer— 
drahtes hoch über die Dächer hin. Dort aber, wo es bei 
ſeinem Ziele ankommt, macht es ſich nicht nur wie das ge— 
wöhnliche telegraphiſche Zeichen dem Auge, ſondern auch dem 
Ohre vernehmlich. Der Freund, mit welchem ein Andrer, 
in ſtiller, nächtlicher Stunde zu reden hat, ſitzt vielleicht in 
Gedanken vertieft an ſeinem Schreibtiſche, oder er hat ſich 
ſchon dem Schlummer hingegeben, da weckt ihn der Ton 
eines Glöckchens; er horcht auf, die Töne, jetzt des tiefer, 


406 


dann des höher geſtimmten Glöckchens wiederholen ſich, die 
Zahl der Glockenſchläge und die Verſchiedenheit ihrer Töne 
hat Etwas zu bedeuten; erſt ein tiefer, dann ſchnell darauf 
ein hoher, dann wieder ein tiefer Ton bedeutet ein A, ein 
tiefer, dann gleich darauf 2 hohe und wieder ein tiefer das 
B, ein tiefer, dann in gleichem Moment kein hoher, oder ein 
hoher, dem kein tiefer folgt, bedeuten, jener das E, dieſer 
das J; drei tiefe, gleich hinter einander das O. Und ſo iſt 
jeder Buchſtabe durch eine gewiſſe Aahl und durch die ſchnelle 
Aufeinanderfolge der höheren und tieferen Töne vollkommen 
genau bezeichnet. Zwiſchen jedem Buchſtaben tritt eine klei⸗ 
ne, zwiſchen den Worten eine größere Pauſe ein. So 
ſchnell als ein fähiges Kind die Worte durch Buchſtabieren 
auffinden kann, wird es, durch Uebung möglich die Wort⸗ 
ſprache der Glöckchen zu verſtehen. 

Aber, wir nehmen an, der Freund an den die Rede des 
entfernt wohnenden Freundes gerichtet war, ſey bei dem er⸗ 
ſten Anſchlag des Glöckchens nicht erwacht, er habe einen 
Theil deſſen das dieſer zu ihm ſprach, oder das Ganze über⸗ 
hört? Auch dann iſt nichts Weſentliches für ihn verſäumt; 
er findet, wenn er mit dem Licht nach dem Tiſche hintritt, 
auf welchem ſein elektriſcher Telegraph ſeine Zauberkünſte 
verrichtet, oder auch dann, wenn er erſt am lichten Morgen 
dahin kommt, Alles das, war er überhört hatte, in ſichtba⸗ 
rer Weiſe verzeichnet; er findet einen Brief der zwar nicht 
in eigentlichen Buchſtaben, wohl aber in Punkten geſchrieben 
iſt, deren höhere oder tiefere Stellung (entſprechend den vers 
ſchiedenen Tönen der Glöckchen) und Zuſammenordnung die 
einzelnen Buchſtaben alsbald erkennen, und durch die gleich 
den Tonpauſen zwiſchen fie tretenden Intervallen, von eins 
ander unterſcheiden läſſet. | 

Es bedarf nicht der Erinnerung, daß weder Sturm 
noch Regen, weder Nebel noch lichter Sonnenſchein einen 
bedeutenden Unterſchied in der Leichtigkeit der Mittheilung 
bewirke. Ja, noch etwas Andres ſteht in der Macht der 
Sprecher, welche durch elektriſche Strömung ihre Gedanken 
ſich mittheilen wollen. Es kann von dem einen Orte aus 
durch verſchiedene Drähte eine Leitung und Verbindung mög⸗ 
lich gemacht ſeyn, nach ſehr verſchiedenen Punkten hin, da⸗ 
von der eine nur 2 Meilen, der andre 5, ein dritter 8 Mei⸗ 
len weit gegen Oſt, noch andre vielleicht in Süd oder in 


Weſt gelegen find. Der Sprecher will jetzt Dem der 5 Mei⸗ 
len weit in Oſten wohnt eine Mittheilung machen, welche 
den 2 ſo wie den 8 Meilen Entfernten, welche die in Süd 
und Weſt verweilenden telegraphiſchen Correſpondenten Nichts 
angeht, und er darf nur die Leitung nach dem hiezu be⸗ 
ſtimmten Drahte hingehen laſſen, während er die nach den 
andren abſperrt, dann hat er ſeinen Zweck erreicht; eben ſo 
wie ein Freund in leiblicher Gegenwart einen andren Freund 
auf ſeinem Zimmer beſuchen, und mit dieſem ein vertrautes 
Geſpräch halten kann, von welchem die andren, nahen oder 
fernen Bewohner der Stadt Nichts hören, ſo vermag der 
Redner durch den elektriſchen Strom nach dem 5 Meilen 
weit entlegenen Wohnort eines telegraphiſchen Zuhörers ſeine 
Anrede hinzurichten, ohne daß auf all den andren mit 
ihm verbundenen Stationen ein Glöckchen ertönt oder ein 
ſichtbarer Punkt auf das Papier ſich zeichnet. | 
Man wird fragen, ob und wie eine ſolche vielſeitige 
Aufgabe gelöſt worden ſey? Sie iſt vollſtändig gelöſt wor⸗ 
den durch C. A. v. Steinheil in München, deſſen ſinnreiche 
telegraphiſche Vorrichtung die Bewunderung der Einheimi⸗ 
ſchen ſo wie vieler durchreiſenden Fremden erregt hat. Das 
Mittel wodurch die ganze vielſeitige Thätigkeit des Telegra⸗ 
phen hervorgerufen und im Gang erhalten wird, iſt ein 
höchſt einfaches, zugleich aber auch auſſerordentlich mächtiges. 
Es gründet ſich ganz auf die vorhin erwähnte Ablenkung einer 
Magnetnadel oder eines Magnetſtabes von ihrer, dem Zuge 
des Erdmagnetismus folgenden Richtung, wenn die elektro⸗ 
magnetiſche Strömung eines ſchraubenförmig mit Kupferdraht 
umwundenen (hufeiſenförmigen) Magnetes darauf einwirkt. 
Die Bewegung iſt verſchieden, je nachdem die Strömung 
des einen oder des andren Poles nach den Magnetſtäben 
hingeleitet wird; ſie geſchieht in dem einen Falle von der 
Linken zur Rechten, im andren von der Rechten zur Linken, 
und dieſes Bewegen iſt um ſo raſcher und kräftiger, je ſtär⸗ 
ker die Wirkſamkeit des elektromagnetiſchen Apparates ſich 
erweiſt und je ſchneller und plötzlicher man durch die Dre— 
hungen der Maſchine die Entladungen entſtehen und abbre⸗ 
chen ſo wie wechslen läſſet. Wenn die Strömung von dem 
Punkte an, wo ſich ihre Entladung endet, den längeren 
oder kürzeren Raum durchlaufen hat, dann ſetzt ſie die En⸗ 
den der Magnetſtäbchen in eine raſche und kräftige, nach 


408 


der einen oder andren Richtung gehende Schwingung; bei 
ſolcher Gelegenheit ſchlagen die Magnetſtäbe an kleine Glas- 
oder Metalldrahtglocken und bewirken hierdurch den hörbaren 
Ton, fo wie das Bewegen eines kleinen Gefäßchens, das mit dunk⸗ 
ler Oelfarbe gefüllt iſt und in ein röhrenförmiges Schnäbelchen 
endigt. Vermöge der Anziehung der Wände dieſes Röhrchens 
dringt ohne Aufhören ein Tröpflein der Farbe bis zu ſeiner 
Mündung vor. Ein Streifen Papier, mit Linien, zur Un⸗ 
terſcheidung der höheren und tieferen Töne verſehen, wird 
außen, am Rande der Vorrichtung, vermittelſt eines Uhr— 
werkes in einer beſtändigen, von einem Cylinder auf den 
andren ſich auf und abwickelnden Bewegung erhalten, welche 
dem Bewegen des kleinen Schreibezeuges, das am Ende der 
Magnetſtäbe befeſtigt ift, fo entgegen kommt, daß jedesmal 
der Stab, deſſen bewegtes Ende uber den Saum der Vor— 
richtung heraustritt, mit ſeinem färbenden Röhrchen einen 
ſchwarzen Punkt auf das Papier, je nach der Richtung der 
Bewegung und der Stelle der Hinabneigung jetzt höher dann 
tiefer aufträgt. 

Im Ganzen nach denſelben Grundſätzen errichtet, ſind 
jene elektriſchen Telegraphen, welche London mit Windſor 
und Southampton verbinden und eine augenblickliche Mit— 
theilung von dem einen dieſer Orte nach dem andren hin 
möglich machen. Nicht bloß Drähte, zu deren Zweck der 
Leitung Kupfer ſich am meiſten eignet, ſondern auch die 
Schienen der Eiſenbahnen, welche ſchon jetzt einen Theil der 
Länder nach weiter Ferne hin durchziehen, ja ſelbſt hin und 
wieder, mittelſt großer, an den abbrechenden Enden der me— 
tallenen Leiter angebrachten Metallflächen, das Erdreich oder 
das Waſſer, können vielleicht für den Verkehr der elektriſchen 
Telegraphen benutzt werden, ſo daß der Weg dieſer Mit— 
theilung nach allen Richtungen hin ſich einſchlagen ließe. 

In ſolchen Erſcheinungen, wie das Bewegen der elektri— 
ſchen Ströme und des Lichtes, welche der Geiſt des Men— 
ſchen in ſeinen Dienſt zu nehmen und nach Willkühr zu lei— 
ten vermag, wird uns, wenn auch nur in vorbildlicher Weiſe 
jener Unterſchied anſchaulich, der ſich zwiſchen der Macht 
und Wirkſamkeit des Geiſtes und jener des Leibes findet. 
Die Elektrizität wie das Licht, ſo faſt unermeßlich auch ihre 
den Raum durchdringende Kraft iſt, gehören zwar beide 
noch immerhin der Leiblichkeit an und dennoch iſt die Ent⸗ 


409 


fernung für fie faft gar nicht mehr vorhanden, die Beſchrän— 
kung durch Zeitverluſt iſt faſt ganz aufgehoben; der Rap— 
port, wenn auch nur durch die leibliche Vermittlung des 
metallenen Leiters hergeſtellt, iſt ein wahrhaft wundervoll na— 
her und inniger. Was mag erſt jener verbindende Zug der 
Seelen ſeyn, welcher keine Vermittlung mehr durch das Kör— 
perliche bedarf, ſondern unmittelbar durch ein allvereinendes 
geiſtiges Element von einer der Körperlichkeit entbundenen 
Seele zur andren geht! Kann ſchon der Lenker und Meiſter 
eines elektriſchen Telegraphen nach Willkühr feine Zuſprache 
jetzt nach dieſem, dann nach einem andren Freunde hinrich⸗ 
ten, mit ſeinem Denken und Wollen bei dieſem gegenwärtig 
ſeyn, obgleich er durch die Laſt ſeines Leibes an einen and— 
ren, räumlich fernen Ort gebunden iſt, was wird erſt dann. 
möglich ſeyn, wenn dieſe Feſtgebundenheit an die Gränzen 
des planetariſchen Raumes mit dem Leibe aus Erde zugleich 
hinwegfällt. | 


47. Die Bedeutung der Wärme für Magnetis— 
mus und für Elektrizität. | 


Auf dem bisherigen Wege unſrer Betrachtungen über 
das Weſen und die Eigenſchaften der Wärme ergieng es 
uns wie Reiſenden, die in der geraden Richtung nach einem 
beſtimmten Ziele jetzt durch dieſe Landſchaft oder Stadt, dann 
durch eine andre kommen und die an manchen dieſer Punkte 
verweilend der Betrachtung der Merkwürdigkeiten zur Rech— 
ten und zur Linken ſich hingeben. Auf diefe Weiſe haben 
wir uns, obgleich nur als Vorübergehende mit dem Gebiet 
der elektriſchen, wie der elektromagnetiſchen Erſcheinungen 
beſchäftiget und auch hier verweilen wir wieder auf einige 
Augenblicke bei den undeutlichen Inſchriften einer Stunden— 
ſäule, die uns zwar über die Entfernung, die wir noch zu 
unſrem Ziele zu durchlaufen haben, nicht aber darüber in 
Ungewißheit laſſen, daß wir noch immer auf dem rechten, 
geraden Wege ſind. 

Für die Wirkſamkeit der magnetiſchen Polarität zeigt 
ſich die Wärme zunächſt nicht begünſtigend. Die Beobach— 
tung zeigt es, daß die Tragkraft und mithin die Stärke der 
Polariſation unſrer gewöhnlichen Magnete, ſchon bei einer 
Temperatur der heißen Sommertage, wenn dieſelbe etwa in 


410 


unſren nach Weſt oder Südweſt gelegenen Dachkammern bis 
auf 32 Grad Réaumur und darüber ſich ſteigert, augenfäl⸗ 
lig vermindert werde, noch mehr da, wo ſie, wie in den 
Trockenſtuben 40 Grad erreicht. Das Gewicht das man an 
den Anker eines künſtlichen Magneten gehangen hatte und 
welches derſelbe bei gewöhnlicher Temperatur ganz gut zu 
tragen vermochte, fällt dann plötzlich herab. So weiß man 
auch, daß ſelbſt der kräftigſte Magnetſtab durch abwechslen⸗ 
des Eintauchen in ſiedendes Waſſer und darauf ſolgendes 
Abkühlen allmählich, durch ein Erhitzen aber bis zum Glü⸗ 
hen plötzlich ſeine ganze anziehende und abſtoßende Kraft 
verliere und zugleich mit dieſer ſeine nach den Erdpolen ſich 
hinlenkende und von ihnen unter einem feſtſtehenden Verlauf 
der Zeiten ſich entfernende, fo wie wieder nähernde Bewe⸗ 
gung. Zwar auch ein ſehr hoher Grad der Kälte ſoll den 
Magnetismus ſchwächen, doch hält dieſe Schwächung keines⸗ 
weges der durch die Hitze das Gleichgewicht. Das Licht da— 
gegen ſcheint nach mehreren Beobachtungen die magnetiſche 
Polariſation zu verſtärken und vor Allem wird dieſer begün— 
ſtigende Einfluß dem violetten Strahle des Prismas zuge— 
ſchrieben. Ä 

Daß die elektriſche Spannung in den hierzu befähigten 
Körpern durch die Wärme angeregt und verſtärkt werde, da 
von war ſchon früher im Allgemeinen die Rede, ſo daß wir 
hier die Thatſache nur noch durch einige beſondre Beiſpiele 
erläutern wollen, welche uns die elektriſch magnetiſche Wirk⸗ 
ſamkeit mancher kryſtalliſirten Steine und vor Allem der Me— 
talle an die Hand giebt. 

Vom Turmalin wußten es die Beobachter der Natur 
ſchon in alter Zeit, daß er, wenn man ihn erwärmt, leichte 
Körper anziehe, denn das Foſſil, welchen ein alter römiſcher 
Schriftſteller (Plinius) unter dem Namen Jonia beſchreibt, 
ſcheint nichts Andres geweſen zu ſeyn, als ein ſolcher, durch 
feine verſchiedene Färbung und feine ſchönen, dreiſeitig-ſäu⸗ 
lenförmigen Geſtalten ausgezeichneter Stein. Wenn man 
einen Turmalinkryſtall, vor Allen einen ſolchen der von hel- 
ler Farbe, in ſeinem Innren ohne Riſſe und Sprünge und 
dabei etwas durchſichtig iſt, auch nur einer gleichmäßigen 
Erwärmung von 24 Grad Réaumur ausſetzt, dann iſt er 
wie ein kleiner Magnet polariſch geworden, nur mit dem 
Unterſchied, daß ſeine Polarität in elektriſcher Form auftritt. 


411 


Denn an der einen Hälfte, feiner Länge nach, zeigt er ſich 
entſchieden poſitiv, an der andren negativ elektriſch, und dieſe 
polariſche Spannung wird immer ſtärker, je höher der Grad 
ſeiner Erwärmung ſteigt, verſchwindet aber allmälig, wenn 
die Erhitzung nicht mehr zunimmt, ſondern auf demſelben 
Grade ſtehen bleibt. Und nicht nur das Erwärmen, auch 
das Abkühlen eines erwärmten Turmalinkryſtalles macht die⸗ 
ſen elektriſch; denn wenn ein ſolcher eben ſo gleichmäßig als 


er vorhin erhitzt war, wieder erkaltet, dann kommt auf eine 
mal die polariſche Spannung, auch wenn fie bei der auf 


gleichem Grade ſtehen gebliebenen Wärme ſich verloren hatte, 
wieder zum Vorſchein, jedoch in verſchiedner Richtung, denn 
das Ende, das vorher poſitiv elektriſch war, verhält ſich 
jetzt negativ und umgekehrt. Wenn man einen Turmalin⸗ 
kryſtall während ſeiner elektriſchen Spannung in mehrere 
Stücke theilt, dann zeigt jedes derſelben die zweifache Elef- 
trizität, ja die kleinſten Splitter, in welche man ihn zerſtößt, 
ſind noch einer elektriſchen Polariſirung durch Erwärmung 
und Abkühlung fähig. Doch hat auf dieſe Eigenſchaft offen 
bar die Art der regelmäßigen Geſtaltung des merkwürdigen 
Steines einen beſondren Einfluß, denn nur wenn ſeine klei— 
nen, oftmals faſt nadelförmig dünnen Säulen die dreiſeitige 
Form haben, werden ſie polariſch, mit ſolchen Kryſtallen, 
welche die Form einer ſechsſeitigen Säule haben, gelingt der 
Verſuch nicht. 

Turmaline von den erwähnten Eigenſchaften kommen 


meift nur aus fernen Ländern wie Braſilien, Sibirien u. f. 


zu uns, dagegen giebt es in Deutſchland, im Lüneburgi— 
ſchen einen andren Stein, Borazit genannt, welcher in 
jener Hinſicht noch viel merkwürdiger iſt, als der Turmalin. 
Der Borazit, meiſt von graulich- oder gelblichweißer Farbe 
und einem freilich nicht ſehr ſtarken, demantartigen Glanze, 
findet ſich in der Form kleiner Würfel, deren Ecken öfters alle 
oder doch zum Theil wie abgeſchnitten (abgeſtumpft), die Kanten 
mit zwei Flächen zugeſchärft ſind, in Gyps eingewachſen. Wenn 
man einen ſolchen kleinen Würfel erwärmt, dann findet man, 
daß ſich an ihm nicht nur wie am Turmalin ein Paar, ſondern 
vier Paare der elektriſchen Polaritäten eingeſtellt haben, denn 
je zwei, an der oberen und unteren vordren und hintren 
Seite des Würfels ſchief ſich gegenüberſtehende Ecken bil- 
den ein ſolches Paar, indem die eine poſitive, die andre 


412 


negative Elektrizität zeigt, und um die obere wie um die 
untere Seite herum, immer eine Ecke von poſitiver Span⸗ 
nung mit einer von negativer abwechslet. Auch der Galmei 
(das kohlenſaure Zinkoxyd) der in manchen unſrer Gebirge 
gegraben wird, zeigt, wenn er kryſtalliniſch iſt, eine elektri— 
ſche Polarität und dieſes ſchon bei der gewöhnlichen, mitt— 


leren Temperatur der Atmoſphäre. Selbſt an den Kryſtal⸗ 


len des Bitterſalzes wie am kryſtalliniſchen Zucker kann man 
urch Erwärmen eine (ſchwache) elektriſche Polarität hervor⸗ 


ch mehr im Großen als in den eben erwähnten Fäl- 
man den Einfluß der Wärme auf die Erzeugung der 
y elektriſchen Spannung an den Metallen beobachtet. 
Wenn man von zwei Metallftüden derſelben Art, mithin 
von zwei Stücken Kupfer oder Silber das eine erwärmt und 
hierauf mit dieſem das andre nicht erwärmte berührt, dann 
entſteht alsbald zwiſchen beiden eine elektriſche Spannung. 
In einem Kupferdraht, den man zu einem Viereck zuſam— 
menbiegt, aus welchem das eine Endſtück frei hervorragt, 
entſteht bei der Erhitzung dieſes vorſtehenden Endes ein 
merklicher elektriſcher Strom, der von dem Punkt der Er— 
wärmung aus nach dem andren eingebogenen Ende hin ſeine 
Richtung nimmt. Wenn man zwei Stäbe den einen von 
Wismuth, den andren von Spiesglanz zu einem größern 
Stabe zufammenlöthet, und den Punkt der Zuſammenlöthung 


erwärmt, dann entſteht eine Strömung die vom Wismuth - 


zum Spießglanz, beim Erkalten eine ſolche, die umgekehrt 
vom Spießglanz zum Wismuth ihre Richtung nimmt. Auf 
ſolche Weiſe kann man eine große Zahl von Wismuth und 
Spießglanzſtäbchen, indem man immer das eine dieſer Me— 
talle mit dem andren abwechslen läſſet, zu einer Geſammt— 
ſäule zuſammenlöthen, deren elektriſche Wirkſamkeit durch 
bloße Erwärmung ſo hoch geſteigert wird, daß man mittelſt 
ihrer Strömungen präparirte Froſchſchenkel zum Zucken bringt, 
Waſſer und Salze zerlegt, Funken und ſelbſt eine Erhitzung 
der Verbindungsdrähte hervorruft. Während zur Begrün— 


dung der freilich ungleich ſtärkeren galvanifhen Spannungs⸗ 


thätigkeit das Zuſammenwirken des Zinkes, des Zinnes oder 
des Eiſens mit Kupfer, Silber u. f. ſich am förderlichſten 
erweiſt, werden die elektriſchen Wärmeſäulen am vortheilhaf⸗ 
teſten aus Wismuth und Spießglanz gebildet, denn in der 


4 


413 


Reihe der polarifchen Entgegenſetzungen, welche durch bloße 
Temperaturveränderung in verſch iedenen Metallen erweckt wird, 
bilden die beiden eben genannten die äuſſerſten Enden und 
nur das Tellur ſcheint das Spießglanzmetall im Gegenſatz 
zum Wismuth oder Nickel, noch an Spannungsfähigkeit zu 
übertreffen. Zarte, dünne, aus vielen abwechslenden Stück— 
chen von Wismuth und Spießglanz zuſammengeſetzte Stäns 
elchen von 1 bis 2 Zoll Länge, davon mehrere in einer 
ternförmig aus einander ſtrahlenden Richtung zuſammen— 
geordnet werden, zeigen ſich für den Einfluß auch einer ger 
ringen Veränderung der Temperatur ſo empfindlich, daß ſie 
ſchon durch eine Erwärmung oder Abkühlung in elektriſche 
Spannung gerathen, deren Betrag man dem 6000ten Theile 
eines Grades der Réaumurſchen Wärmeſcala gleich geſchätzt 
hat. Freilich wird eine ſolche leiſe elektriſche Anregung nur 
durch dergleichen künſtlich bereitete, elektriſch magnetiſche 
Werkzeuge bemerkbar, welche aus einer von iſolirtem Metall— 
draht, in der früher erwähnten Weiſe umwundenen Magnet- 
nadel gebildet find. Wenn auch die ſchwächſte elektriſche 
Strömung durch die vielen Windungen des Drahtes auf die 
magnetiſche Wirkſamkeit der Nadel einen ſo verſtärkten Ein— 
fluß gewinnt, daß ſie eine Abweichung derſelben aus ihrer 
Stellung bewirkt, hat man dergleichen Werkzeuge Elektrizi— 
täts⸗-Vermehrer (Multiplicatoren) genannt. Bi 5 
Die Erkenntniß und nähere Beachtung des Einfluſſes 

der Wärme auf elektriſche Polariſation und Wechſelwirkung 
der Körper, iſt wegen der Folgerungen, zu denen ſie führen 
kann, von großer Wichtigkeit. Die Verſchiedenheit des Gra— 
des der Erwärmung an den Theilen der Erdoberfläche durch 
die Sonne, und in der Tiefe durch die Wärme des Erdinn— 
ren begründet ohne Aufhören eleftrifch = magnetifihe Strö— 
mungen, welche gleich der Regung eines gemeinſamen Le— 
bensantriebes durch die Geſammtheit der irdiſchen Naturrei— 
che hindurch gehen. Und ſelbſt in den lebenden, aus flüſſi— 
gen und feſten Theilen, aus Gefäßen, Nerven und Mus— 
keln, Häuten und Organen der Verdauung wie Abſonderung 
zuſammengefügten Korpern der Thiere wie der Menſchen, 
mag die Veränderung und der unaufhörliche Wechſel der 
äußeren wie inneren Temperaturen eine beſtändige Anregung 
und Verminderung der polariſchen Wechſelwirkung begrün— 
den, wobei nicht ſelten, wie am erkaltenden Turmalin, die 


414 


verſchiedenen Pole ihre gegenfeitige Lage und Stellung, fo 
wie die Richtung ihrer Thätigkeit verändern, ſo daß hierbei 
Das was vorhin poſitiv war, zu einem Andren in negatives 
Verhältniß tritt und umgekehrt. a 


48. Das Nordlicht. 


Mit demſelben Rechte, mit welchem wir weiter oben die 
Betrachtung des Blitzes und der gewöhnlich ihn begleitenden 
Erſcheinungen des Gewitters an die Erwähnung der Licht⸗ 
und Schläge gebenden Wirkſamkeit der elektriſchen Entla⸗ 
dungen anreihten, dürfen wir hier, wo ſo eben von dem 
Einfluß der Temperaturveränderungen auf den Elektromag⸗ 
netismus die Rede war, die Beſchreibung des Nordlichtes, 
oder vielmehr des Polarlichtes folgen laſſen. Ohnehin ſchei⸗ 
nen beide Erſcheinungen, jene unſrer gewöhnlichen, von Blitz 
und Donner begleiteten Gewitter und die der Polarlichter 
in einem ähnlichen Verhältniß unter einander zu ſtehen als 
die Wirkſamkeit der Elektrizität und des Magnetismus über⸗ 
haupt, ſo daß ein berühmter Forſcher der Natur: A. v. 
Humboldt die Nordlichter » magnetifche Ungewitter, » im 
Gegenſatz zu den elektriſchen (unſren gemeinen Gewittern) be- 
nannt hat. 

Beide, die Gewitter und das Polarlicht, ſtehen in viel⸗ 
facher Hinſicht mit einander im Gegenſatz. Die Polarlichter 
kommen in Gegenden vor, in denen die Erſcheinung eines 
elektriſchen Gewitters zu den großen Seltenheiten gehören; 
die Punkte des gewöhnlichſten Erſcheinens der erſteren fallen 
zwar nicht, wie man früher erwähnte, an die beiden Erd- 
pole ſelber, wohl aber nicht fern von den Polarkreiſen, na⸗ 
mentlich auf der nördlichen Halbkugel zwiſchen den 60ten bis 
66ten Grad der Breite. Obgleich es wahrſcheinlich iſt, daß 
nach Cap. Franklins Anſicht auch im Sommer Nord- 
lichter vorhanden, nur aber wegen der Länge des Tages und 
ſeiner hellen Dämmerung für das Auge nicht ſichtbar ſind, 
kann man doch nicht umhin ſelbſt darin einen Gegenſatz zwi⸗ 
ſchen dem Nordlicht und dem Gewitter anzuerkennen, daß 
jenes vorherrſchender den kälteſten Monaten des Winters, 
wie dieſes den heißeſten Monaten des Sommers angehöre. 
Denn obgleich Cap. Roß unter 66° 30“ N. Br. ſchon im 
September und October Nordlichter beobachtete, werden dieſe 


415 


dennoch erſt in der Mitte des Winters fo überaus häufig, daß 
Henderſon auf Island in jeder hellen Nacht den Himmel 
von Nordſchein erleuchtet ſahe, und ihr Aufflammen iſt dann 
von folder Stärke, daß Löbwenörn am 29ten Januar bei 
hellem Sonnenſchein die Strahlenſchwingung eines Nordlich— 
tes erkannte. Unſre elektriſchen Gewitter ſind in der Regel 
von einer großen Schwüle der Luft begleitet, das magneti- 
ſche Ungewitter des Polarlichtes dagegen tritt, wenigſtens dann 
wenn es ſeine glänzendſten Erſcheinungen bildet, meiſt in Geſell⸗ 
ſchaft jener furchtbaren, in ſeiner Nachbarſchaft einheimiſchen 
Winterkälte auf, welche ſelbſt das Eis zerberſten machet. 
Denn von dieſer zuſammenziehenden Wirkung der Kälte lei— 
ten die meiſten neueren Beobachter jenes ziſchende und kra— 

chende Geräuſch her, welches einige frühere Beſchreiber des 
Nordſcheines dieſem magnetiſchen Ungewitter ſelber, — gleich 
wie dem Erſcheinen des Blitzes das Getöſe des Donners — 
beigelegt hatten. 

Nicht nur in der Nachbarſchaft des Nordpoles, auch 
dieſſeit der Polargegend der ſüdlichen Erdhälfte kommen die 
magnetiſchen Ungewitter, oder die Polarlichter in einem be— 
deutenden Glanze vor und zum Theil mag wohl der Grund, 
weshalb Sübdlichter viel weniger oft als Nordlichter beobach— 
tet worden ſind, nicht bloß in der größren Seltenheit ihres 
Vorkommens, ſondern in dem Mangel der Gelegenheit und der 
günſtigen, von aufmerkſamen Beobachtern bewohnten Standorte 
gelegen ſeyn. Denn der geübte Forſcherblick eines Dalton hat oft 
ſelbſt in England den fernen, abgeſpiegelten Schimmer eines 
Südlichtes bemerkt, ſo wie Andre (am 14. Jan. 1831) das 
Aufflammen eines Nordſcheins noch unter dem 45ten Breite- 
grad der ſüdlichen Halbkugel wahrgenommen haben. Das 
Sichtbarwerden der Polarlichter in ſo ungeheuren Fernen iſt 
übrigens nicht daraus erklärbar, daß dieſes Meteor bis zu 
einer Höhe ſich ausdehne, welche mehrere Hunderte von Mei— 
len erreicht; vielmehr weiß man, daß dieſe Höhe die dreifa— 
che unſrer höchſten Gebirge kaum jemals überſteigt und gro— 
ßentheils nur auf einige tauſend Fuß geſchätzt werden kann. 
Eben ſo wie ſtarke elektriſche Gewitter zu gleicher Zeit, wenn 
auch in einem immer abnehmenden Grade der Stärke, über 
große Landſtriche hinüber ausbrechen, ſo zwar, daß der 
Beobachter in Preßburg in derſelben Stunde ſeine eignen 
donnernden und blitzenden Gewitterwolken über dem Haupte 


416 


hat, in welcher andre Wolken, von derſelben, weithin ver⸗ 
breiteten elektriſchen Anregung ergriffen über Wien und Linz 
ſich entladen, ſo mag auch, nach A. v. Humboldt's Anſicht 
die ſtärkere und ſchwächere Erſcheinung des Nordlichtes zu 
gleicher Zeit in der Nähe der Polarzone in ihrer höchſten 
Glanzform, weiter davon entfernt als eine minder augenfal— 
ligere Strahlung, aus den höheren Regionen der Atmoſphäre 
ſich kund geben. Ja ſelbſt in der Weiſe der unter andren 
Verhältniſſen wahrgenommenen Luftſpiegelung, kann eine 
weite Verbreitung eines ſolchen Meteores möglich werden. 
Was wir von dem Polarlicht Genaueres wiſſen, das 
verdanken wir zunächſt der näher liegenden Beobachtung der 
einen ſeiner Erſcheinungsformen: des Nordſcheines, daher auch 
unſre diesmalige Beſchreibung vorzugsweiſe nur dieſem gilt. 
Darinnen werden beide, das elektriſche wie das magne— 
tiſche Ungewitter als innerlich übereinſtimmend betrachtet, daß 
beide auf einer Störung des Gleichgewichtes, jenes in der 
Vertheilung der planetariſch atmoſphariſchen Elektrizität, Diez 
ſes des Magnetismus der Erde beruhen. Das Gleichgewicht 
dieſer Vertheilung, die Ausgleichung des Ueberfluſſes mit 
dem Mangel wird in beiden Fällen durch eine Entladung 
hergeſtellt, die mit einer Lichterſcheinung, dort des Blitzes, 
hier des Polarſcheines verbunden iſt. Freilich zeigt ſich in 
der Stärke, wie in der Richtung, welche dieſe Entladungen 
annehmen, ein ſehr auffallender Unterſchied. Das gewöhn— 
liche (elektriſche) Gewitter wirkt bei ſeinen Entladungen auf 
all unſre Sinnen; wir fühlen, ſehen, hören die Kräfte ſei— 
ner Erſchütterungen, ſelbſt unſer Geruchsſinn wird durch den 
einſchlagenden Blitz angeregt, welcher Häuſer entzündet, 
Mauern und Bäume zerſchmettert, den Hirten wie die Thie— 
re ſeiner Heerde tödtet, den Löwen der afrikaniſchen Wüſte 
wie die flüchtige Gazelle mit ſeinem Geſchoß erlegt. Die 
elektriſchen Ungewitter bleiben deshalb immer für die beleb— 
ten Weſen der Erdoberfläche eine furchtbare und ſelbſt für 
e e der todten Maſſen eine zerſtörende Naturge⸗ 
ee | 
Ganz anders verhält fich dies bei den magnetiſchen Un⸗ 
gewittern, bei den Nordlichtern. Dieſe wirken nur auf einen 
Sinn: auf den des Geſichtes, denn die früheren Berichte 
von einem Ziſchen und Brauſen, das von dem Nordſchein 
ſelber ausgehen ſollte, find, aufs Wenigſte geſagt, höchſt 
zwei 


417 


zweifelhaft. Kap. Franklin der, nebft feinen Begleitern 
mehr denn 200 Nordlichter in der eigentlichen Heimath ders 
ſelben beobachtete, hat ſich ſehr oft mitten in einem ſolchen 
Nordſcheine befunden, und weder er noch Andere fühlten die 
leiſeſte Erſchütterung, hörten Etwas oder rochen, wie in der 
Nähe einer elektriſchen Entladung, einen ſchweflichen Aus⸗ 
hauch; das Auge allein, von jeder andren Sinnesempfindung 
ungeſtört, konnte ſich dem Genuſſe der unvergleichbaren 
Schönheit der herrlichen Naturerſcheinung hingeben. Nicht 
einmal ein Einfluß der Nordlichter auf die Witterung läßt 
ſich als etwas Entſchiedenes betrachten, obwohl die elektriſche 
Stimmung der Atmoſphäre aus welcher die Anregung zu 
Stürmen und Regen oder Schnee hervorgeht, nicht ohne 
Einwirkung auf das höhere oder niedrere Anſteigen und über— 
haupt auf den Grad des Sichtbarwerdens der Nordlichter 
zu ſeyn ſcheint. 8 

Und dennoch, ſo darf man ſagen, iſt die Wirkſamkeit 
der magnetiſchen Ungewitter eine unvergleichbar viel weiter 
gehende als die der elektriſchen Gewitter. In der Regel ver⸗ 
breitet ſich der Entladungskreis der letzteren nur über einen 
kleinen Raum der Erdoberfläche; über irgend eine Stadt 
und ihre Nachbarſchaft, oder in einem waldigen Gebirgs— 
thal zünden und zerſchmettern die Blitze, kracht der Donner, 
ſtürzt der Regen wie eine Fluth herab, während wenige 
Meilen davon der Himmel heiter, das Gleichgewicht der Elek— 
trizität ungeſtört blieb, und nur ſelten zieht eine große elek⸗ 


triſche Entladung, als eine fortlaufende Reihe von Gewit⸗ 


tern über Strecken von mehreren Breitengraden, zu gleicher 
Zeit fort. Dagegen breitet ſich die Wirkung der magneti— 
ſchen Uugewitter über Hunderte, ja über Tauſende von 
Meilen, über ganze Welttheile und Erdhälften aus. Denn 


nicht ſelten iſt es geſchehen, daß man zu gleicher Zeit in 
den Nacht⸗ oder Dämmerungsſtunden eines und deſſelben Ta⸗ 


ges das Nordlicht in England und in Pennſylvanien, in 
Rom und in Pecking beobachtet hat. Und wenn auch das 
Menſchenauge nichts von den Lichterſcheinungen des Nord— 
lichtes gewahr wird, ſo kann es doch die weit hingehende 
Wirkſamkeit deſſelben auf andere Weiſe: an den Bewegun— 
gen der Magnetnadeln, bemerken. Denn an dieſen werden, 
in den verſchiedenſten Gegenden zu gleicher Zeit, Abweichuns 
gen ſichtbar; ein Sturmwind der magnetiſchen Anregung der 
27 


418 


unſrer leiblichen Empfindung in keiner andren Weiſe merk. 
lich iſt, gehet durch alle polariſirte Stahlnadeln von Island 
und dem nördlichen Schweden bis hinab nach den magneti⸗ 
ſchen Warten der ſüdlichſten Länder des gebildeten Europas, 
giebt ſich in Oſten wie in Weſten kund und theilt ſich, wahr⸗ 
ſcheinlich an ihnen ſich erſchöpfend, auch andren Eiſenmaſſen 
der Erdfläche in ſeinem ſtillen Gange mit. 

Die Betrachtung dieſes auffallenden Unterſchiedes der Wirk⸗ 
ſamkeit der elektriſchen und der magnetiſchen Ungewitter führt uns 
ſchon hier auf einen Vergleich zwiſchen dem Licht und dem Mag⸗ 
netismus, ſo wie zwiſchen der Elektrizität und der Wärme. 
Das Licht aus der Flamme eines Feuers iſt in weiter Ferne 
fihtbar, die Wärme wird in der Nähe fühlbar; das Licht 
nimmt ſeinen ſtillen Gang durch die Glastafel und alle durch⸗ 
ſichtige Körper, ohne dieſe, auch wenn es ſich bis zum höch⸗ 


ſten Grad der Helligkeit geſteigert hat, aufzulöſen oder ſonſt 
gewaltthätig auf ſie zu wirken, die Wärme aber, zur Schmelz⸗ 


hitze geſteigert, löſt den Zuſammenhang der Theile der Me⸗ 
talle ſo wie mancher andrer feſten Körper auf, verwandelt ſie 


in Dämpfe, zerſtört ſie gewaltſam. Das Licht in ſeiner 


allerfreuenden, belebenden, bildenden Wirkſamkeit würde 
dennoch zur Erhaltung der lebenden Weſen der Erde nicht 
hinreichend ſeyn, wenn nicht die, bis ins Innerſte derſelben 


dringende Wirkſamkeit der Wärme, daſſelbe begleitete; ſo ſtehet 


auch der Einfluß der Elektrizität der Lebenskraft, ſelbſt jener 
der vollkommenſten organiſchen Weſen ungleich näher, iſt die— 
ſer viel mehr verwandt als der Einfluß des Magnetismus. 
Eine zwar nur beiläufige und nicht ſehr tief gehende Ueber⸗ 
einſtimmung zwiſchen dem Magnetismus nnd dem Lichte könnte 
allerdings darin geſucht werden, daß der Magnetismus 
wie das Licht, ohne eine bedeutende Hemmung und Schwä⸗ 
chung zu erleiden das durchſichtige Glas wie den durchſichti⸗ 
gen Bernſtein und die trockne Luft durchwirken, während 
dieſe Körper in Beziehung auf den elektriſchen Einfluß ab⸗ 
wehrend (iſolirend) wirken und ſelbſt der Fortpflanzung der 
gewöhnlichen Wärme Abbruch thun. Eine eiſerne Tafel da⸗ 
gegen leitet die Wärme wie die Elektrizität, ſchwächt jedoch 
den hindurchwirkenden Zug des Magnetes auf andre Mag⸗ 


nete. Von Magnet aber zu Magnet, durch die polariſchen 


Stahlnadeln eines ganzen Welttheiles hindurch, wirkt die An⸗ 
regung eines magnetiſchen Ungewitters, ebenſo wie der Strahls 


| 


419 


aufgehenden Sonne durch die weiten Räume des Luftkreiſes, 
des Gewäſſers und durch alle durchſichtigen Körper. 
Darinnen gleichet ſich der Verlauf beider Meteore, des 
elektriſchen wie des magnetiſchen, daß ſich ihre Spannung 
zuletzt in einer Lichterſcheinung auflöſet. Mit und durch den 
Blitz ſtellt ſich das geftörte Gleichgewicht in der Vertheilung 
der Elektrizität, mit und bei dem Nordlicht das Gleichgewicht 
des Erdmagnetismus wieder her. Die Form der Lichterſchei⸗ 
nungen iſt freilich ſehr abweichend. Nicht dann, wenn, wie bei 
dem Gewitter dunkle, ſchwere Maſſenwolken tief am Himmel 
ſchweben, ſondern wenn in den höheren Regionen ſich jene 
zarten Federwölkchen (Schäfchen) zeigen, die ſo durchſichtig 
dünn ſind, daß ſie nur etwa durch die Bildung eines Hofes 
um den Mond ſich verrathen, darf das Erſcheinen eines hö— 
her anſteigenden, bis zum ſtärkſten Glanz ſich entwicklenden 
Nordlichtes vermuthet werden. Ein Vorzeichen des Meteors 
wird, gewöhnlich ſchon am Morgen vor ſeinem nächtlichen 
Ausbruch in den Unregelmäßigkeiten gefunden, die am ſtund⸗ 
lichen Gange der Magnetnadel ſich einſtellen. Statt der 
Wetterwolken, aus denen der Blitz kommt, ſteigt zuerſt ein 
bräunliches oder violettes Nebelgebilde, durch welches die 
Sterne, wie durch einen Höherauch hindurchglänzen am nörd— 
lichen Horizont, bis zu einer Höhe von 16 bis 20 Durch⸗ 
meſſern einer Mondſcheibe herauf. Bald rundet ſich der Ne⸗ 
bel, der in den Gegenden des höchſten Nordens von heller, 
weißlicher Färbung erſcheint; ein breiter, hellleuchtender Licht⸗ 
bogen, erſt weiß, dann gelb, wölbt ſich über das Dunkel her, 
und der Geſammtumriß der Erſcheinung gleichet jetzt dem 
Abſchnitt einer Kugel, von welcher nur ein Theil ſich über 
den Horizont hervorhebt, ähnlich einer im Aufgehen begriffnen, 
mächtig großen, an ihrem Rande prächtig glänzenden, in der 
Mitte dunklen Sonnenſcheibe. Das Lichtgewölbe ſelber bleibt 
faſt keinen Augenblick in gleicher Geſtalt und Farbe ſtehen, 
ſondern es iſt in einem beſtändigen Aufwallen und ſchwingen⸗ 
dem Bewegen begriffen; ſeine Farbe, bald hier bald dort 
lebhafter ſich entflammend, erhöht ſich von dem Violetten 
und Blaulichweißen zum Gelben und Sapphirblauen, zum 
Roth des Purpurs und zum Grün des Smaragds, und alle 
dieſe Farben wechslen und ſpielen ohne Aufhören eine in die 
andre hinüber. So ſteht der Lichtbogen zuweilen Stunden 
lang da, ehe das herrliche Meteor l, hochſte Vollendung 


420 


feiner Form erreicht, zu welcher es ſich nur bei ſehr ſtarken 
magnetiſchen Entladungen erhebt. Es brechen jetzt Strahlen 


oder Feuerſäulen aus dem Umfang des Lichtgewölbes hervor, 


welche von ungleicher Länge, meiſt in gerader, zuweilen auch 
in geſchlängelter Richtung, zum Theil bis hinan zum Schei- 
telpunkt, bis zur Mitte des Himmels ſteigen. Zuweilen wechs⸗ 
len die Feuerſtrahlen mit ſchwärzlichen, einem dunklen Rauche 
gleichenden Strahlen ab, andre Male fehlen dieſe Begleiter. 
Bei ſehr ſtarken Nordlichtern brechen jene Feuerſäulen nicht 
nur aus dem Umfange des breiten Lichtbogens hervor, ſon— 
dern ſie ſteigen an vielen Punkten des Horizontes wie aus 
dem Boden auf und bilden, mit ihren wogenden Rändern 
zuſammenſchlagend ein Flammenmeer das in jedem Augen- 
blick den Geſichtsſinn des Beobachters durch andre Farben, 
andre Geſtalten und andere Grade des Glanzes entzückt. 
Die Helle ſo wie die Farbenpracht des majeſtätiſchen Licht— 
gebildes ſtehen in genauem Verhältniß mit den Bewegungen 
deſſelben; je ſchneller und kräftiger dieſe ſind deſto ſtärker 
wird der Glanz, deſto ſchöner das Farbenſpiel. Zuletzt, 
wenn auch dieſe Erſcheinung der zerſtreut, von verſchiednen 
Punkten aufſteigenden Gluthſäulen eine längere oder kürzere 
Zeit gedauert hat, rücken dieſelben mit ihren unteren Enden 


an einem gemeinſamen Punkte des Horizontes der gegen den. 


magnetiſchen Erdpol feine Lage hat, nach der Höhe des Licht 
bogens hin zuſammen, während die oberen Enden, von einander 
abweichend, eine ſternförmig aus einander ſtrahlende Ge— 
ſtalt bilden. Dieſes iſt die eigentliche, ſogenannte Krone 
des Nordlichtes, welche nur ſelten in jener Vollſtändigkeit 
auftritt, in der wir zuweilen in phyſikaliſchen Werken fie abs 
gebildet ſehen. Mit der Vollendung dieſer Gipfelform des 


majeſtätiſchen Meteores gewinnt die ganze Erſcheinung einen 


Anſchein von Ruhe und Stetigkeit, welcher vorhin ihr ab— 
ging. Das Licht der Krone, die wie ein aus goldenen, 
an ihrem Fuß zuſammenſtrebenden Säulen gebildeter Giebel 
das Glanzgezelt nach oben überwölbt, iſt ein ruhig ausſtrah— 
lendes, an welchem kein Wogen und Wallen, wohl aber zu⸗ 
weilen ein Zerlegen des Lichtes in ſeine prismatiſchen Farben 
bemerkt wird; auch das Wogen und Wallen im Lichtbogen 
legt ſich jetzt; denn mit dem Entſtehen der Krone iſt ein 
Weg der Entladung gefunden in welcher die magnetifche 
Spannung ſich auflöst. Bald wird eine Lichtſäule nach der 


1 
9 
7 
5 


421 


andren, wie von unſichtbaren Händen abgebrochen und ver: 
ſchwindet, der Lichtbogen verbleicht und iſt dahin, am Him— 
melsgewölbe ſieht man, da wo noch ſo eben der unbeſchreib— 
lich ſchöne Pallaſt der Feuerſtrahlen ſtund, nur graulichbleiche, 
da und dort vereinzelte Flecken, gleich jenen zu Aſche ge— 
wordenen Stücken, die wenn man ein Papier verbrannt hat, 
in der leichten, warmen Luft emporgeſtiegen ſind, und auch 
dann, wenn dieſe aſchgrauen Flecken vergangen ſind, zeigt 
ſich noch, wie das ſtehen gebliebene geſchwärzte Gemäuer eines 
niedergebrannten Hauſes, auf kurze Zeit das trübe, ſchein— 
bare Nebelgebilde, über welches vorher der unvergleichbar 
ſchöne Lichtbogen hingewölbt war. Wenn dann endlich Alles, 
was zum Gebilde des Nordlichtes gehörte vergangen iſt, dann 
ſieht man noch am Himmel das zarte, weiße an feinen Rän⸗ 
dern gefiederte, oder in rundliche Häufchen (Schäfchen) zer— 
theilte Gewölk ſtehen, welches für das magnetiſche Polar— 
licht, ſo wie die ſchweren, dunklen Wetterwolken für das ges 
wöhnliche, elektriſche Gewitter, die Grundlage und die Rich— 
tung der Entladung begründen. Denn dieſe Wölkchen zei⸗ 
gen ſich zuweilen am Tage, vor dem darauf folgenden nächt— 
lichen Auflammen des Nordlichtes in einer ähnlichen, ſtrah— 
lenartigen Anordnung als dieſes, und wirken auch dann 
bereits in beunruhigender Weiſe auf die Stellung der Mag— 
netnadel; auch erkannte man, nach großen, während der 
Nacht vorübergegangenen Nordlichtern am darauf folgenden 
Tage, in der ſtrahlenförmig auseinanderlaufenden Form 
des leichten Gewölkes noch die ganze Geſtalt des verſchwun— 
denen Nordlichtes wieder; da wo in der Nacht eine Feuer: 
ſäule ſtund, zeigte ſich jetzt ein weißlicher Wolkenſtreif. Des— 
halb erſcheint die Anſicht des Erdbeſchauers nach großem 
Maaßſtabe: Al. v. Humboldts, daß die ſtrahlenartigen 
Gebilde des leichten Gewölkes, die man da und dort in Ge— 
genden beobachtet, welche weit von den Gränzen der eigent⸗ 
lichen Geburtsſtätte der Nordlicher, gegen den Aequator hin 
liegen, von ähnlicher magnetiſcher Wirkſamkeit ſind, als die 
augenfälliger glänzende Erſcheinung des Polarlichtes, als eine 
höchſt beachtenswerthe und wahrſcheinliche. 


49. Das Erdenlicht. 
Abgeſehen von jener großartigen, weitgehenden Wirk 


422 


ſamkeit, welche das Nordlicht in Beziehung auf die magne⸗ 
tiſche Polarität des Eiſens über ganze Welttheile, ja über 
die ganze Erde hin entfaltet, ſteht dieſes Naturereigniß nur 
als eine Erſcheinung für das Auge, nur als Lichtphänomen 
da, womit weder eine Entwicklung der Wärme, noch ir⸗ 
gend ein andrer, tiefer in die Geſchichte der lebenden, irdi⸗ 
ſchen Natur eingreifender Einfluß verbunden iſt. Das Licht 
der Sonne, deſſen genauere Betrachtung uns in dem nächſt⸗ 
folgenden Capitel beſchäftigen ſoll, iſt freilich an Kraft und 
Wirkſamkeit ein ganz andres; es tritt nicht vereinzelt und 
getrennt in das Gebiet der irdiſchen Körperwelt ein, ſondern 
wie einem Herrſcher, von feinen dienenden Schaaren beglei- 
tet, folgen ibm, auf allen feinen Schritten die Kraft der 
Wärme, der Elektrizität und die Anregungen des Lebens. Im 
Vergleich mit ihm erſcheint das eigenthümlichedeuchten unfrer Pla⸗ 
neten, davon wir hier einige Worte ſagen wollen, nur wie 
ein Gebilde der nächtlichen Träume, gegen die Welt der 
wirklichen, weſentlichen Anſchauungen des Wachens. 

Die Erde, wie alle andre Planeten und Monde unſres 
Weltgebäudes empfängt, wie uns dies jede einbrechende und 
jede zu Ende gehende Nacht lehrt, ihr Tageslicht von der 
Sonne. Dennoch ſieht man zuweilen unſren Nachbarplaneten 
Venus auf ſeiner von der Sonne abgekehrten, nächtlichen 
Seite von einem allerdings ſchwachem Lichte erhellt, welches 
nur von ſeiner eigenen Oberfläche ausgehen kann. Die weiter 
von der Sonne abſtehenden Planeten: Jupiter, Saturn und 
Uranus könnten, dies hat man berechnet, unſrem Auge nicht 
in fo hellem Glanz erfcheinen, wenn ihr Licht ein bloß von 
der Sonne empfangenes, nicht auch zugleich ein eignes wäre. 

Selbſt von der Oberfläche und aus der Atmoſphäre unſ— 
res Planeten gehet zuweilen ein Licht aus, das nicht aus 
der Sonne ſeinen Urſprung hat, wie dies die Beobachtung 
des trocknen, ſelbſt bei Nacht leuchtenden Nebels, in den 
Jahren 1783 und 1831, und jene dämmernden Licht⸗ 
ſchimmer bezeugen, die nicht ſelten in ſolchen dichtbewölkten 
Herbſt⸗ und Winternächten am Boden bemerkt werden, wo 
auf dieſem weder die weiße Decke des Schnees liegt, noch 
etwa, unter dem Gewölk verhüllt der Mond oder irgend ein a 


hellleuchtender Planet am Himmel ſteht. Zuweilen fällt dies 
ſes eigenthümliche Licht gleich wie aus den höheren Regionen 
des Luftkreiſes auf die obere Seite der Wolken herab, andre 


423 


Male kommt es allem Anſchein nach von der Oberfläche der 

Erde, und allerdings kann alsdann daſſelbe in den Vorgän⸗ 

gen der Verweſung und Gährung der im Herbſte abge— 

ſtorbenen organiſchen Stoffe, zum Theil wenigſtens, ſeinen 

Urſprung haben. 

Auch das bewegte Gewäſſer des Meeres ſtrahlt ein Licht 
von ſich, das im Dunkel der Nächte öfters ſehr deutlich ins 
Auge fällt, und welches nicht allein den kleinen, die Wogen 
bevölkernden Thieren oder ihren aufgelöſten Elementen, ſon⸗ 
dern dem Seewaſſer und vielleicht feiner elektriſchen Span⸗ 
nung ſelber zugeſchrieben werden muß. 

Wir ſind hier noch nicht auf dem Wege unſrer Betrach— 
tungen der Naturereigniſſe bis zu dem Aufzählen der Er— 
fahrungen über die Wirkſamkeit und das Weſen des Lichtes ges 
langt, vorläufig nur, und im Vorübergehen, erinnern wir 
an den Bericht jenes Bergmannes, dem, durch das Einſtürzen 
eines Theiles ſeines Grubengebäudes, einige Tage lang der 
Ausweg zum Tageslicht verſperrt war, und der zuletzt, in 
dem langwährenden nächtlichen Dunkel, wenn er ſeine eigne 
Hand in die Richtung vor das Auge ſtellte, von dieſer aus⸗ 
gehend einen ſchwachen Lichtſchein bemerkte. In allen leiblich 
gewordnen Dingen, ſelbſt in jedem Steine, noch mehr in der 
Geſammtmaſſe eines Planeten, liegt, wenn auch unſrem Auge 
unmerklich, eine Kraft des Selberleuchtens. Jene Tempera— 
tur der kälteſten Wintertage eines nordiſchen Klimas, welche 
unſrem Gefühl als eine faft unerträgliche Kälte erſcheint, iſt 
für das Queckſilber noch immer eine ſo hohe, daß es dabei 
zum Schmelzen kommt; die herbſtlich trübe Nacht in einem 
Felſenthal erſcheint unſrem Geſichtsſinn im tiefſten Dunkel, 

während das Geflügel der Nächte dort noch ein Licht findet, 
das zur Beleuchtung ſeines Weges und des Zieles, nach 
welchem die Richtung jenes Weges geht, vollkommen aus⸗ 
reichend iſt. | 


50, Erzeugung der Ma durch das Sonnen⸗ 
| icht. 


Was ver möchte der Einfluß all der andren, bisher be⸗ 
trachteten Quellen der Wärme auch nur zur Erhaltung der 
Bäume und Saaten die in einem unſrer Länder wachſen, 
wenn nicht die hehre Zeugin der Majeſtät und Herrlichkeit 


424 


unſres Gottes: die Sonne, da wäre, die mit ihrem Glanze 
zugleich die belebende Wärme ausgießt über alle Gewächſe 
und Thiere der Erde. Seefahrer, welche den Winter zu⸗ 
brachten an den öden Küſten eines Eilandes das mitten in 
dem Eis der nördlichen Polarzone liegt, konnten an dem 
mächtig auflodernden Feuer, das ſie in ihrer Hütte angezün⸗ 
det hatten, ſich kaum vor dem Erſtarren ſchützen; die glü⸗ 
henden Kanonenkugeln ſprüheten vergeblich ihre Gluth in 
die eiſigkalte Luft des Zimmers aus, ſie konnten in dieſem 
keine behagliche Wärme bewirken. Nowaja Semlja ſo wie 
einige andre ihm hierin ähnliche Punkte der Erdoberfläche 
find nicht nur durch die furchtbare Kälte ihrer Winter fon- 
dern auch durch die Wärmearmuth ihrer Sommer ſo un: 
wirthbar für Menſchen, ſo ungünſtig für das Gedeihen der 
Gewächſe. Denn während in manchen andren Küſtengegen⸗ 
den und Inſeln der Polarzone die kurz andauernde, dabei 
aber ſtarke Sommerwärme dem Boden wie der auf ihm woh— 
nenden Pflanzen- und Thierwelt eine Bekräftigung verleihet, 
welche dieſelbe auch in die Zeit des Winters hinein begleitet, 1 
laſtet auf Nowaja Semlja fo wie auf Spistergen ſelbſt im 
Sommer ein faſt niemals vergehender Nebel, der ſich aus 
den aufthauenden Eismaſſen des Polarmeeres und des Schnees 
der Anhöhen über jene Inſeln verbreitet. Ein Land, wel⸗ 
ches im Verlauf eines ganzen Jahres nur für wenige Tage 
oder Stunden den Einfluß des Sonnenlichtes vollkommen 
rein und ungetrübt von den ſchweren Dünſten der Luft 
empfängt, kann dem leiblichen Menſchen niemals das freu⸗ 
dige Gefühl von Wohlbefinden gewähren oder erhalten. 
Was auf unſre leibliche Stimmung ein Monate lang verhüll⸗ 
ter, neblichter Himmel, oder die Wochen lange Andauer 
kalter Regengüſſe wirkt, das thut dort, in noch unberechen⸗ h 
bar viel größerem Maaße die faſt beſtändige bb eines ® 
heitren, vom Sonnenlicht durchwirkten Himmels. i 
Der Bewohner von Arabien, in der Naturfülle W ũ7ũ2e:/ 
einige Gegenden ſeines Landes begabt ſind, kann es kaum 
glauben, daß in unſren Ländern ſchöne, kräftige, fröhliche 
Menſchen leben. Und doch wiſſen wir alle, daß dies ſo iſt 
und danken Gott für unſren reichbegabten Wohnſitz, dem das 
Licht der Sonne in ſeiner lebenweckenden und wärmenden Kraft in 
ſo genügendem Maaße zugetheilt iſt, daß alle für des Leibes 
Nahrung und Nothdurft unentbehrliche Pflanzen wie Thiere da 


ö 


425 


gedeihen können. Aber bei all dieſer Genügſamkeit und Fröh⸗ 
lichkeit des Herzens erfahren wir dennoch erſt dann, wenn 
wir einmal in ein Land kommen, auf welches die Sonne in 
ihrer ſtärkeren Kraft und Lieblichkeit herunterblickt, was die 
volle Herrlichkeit und Schönheit der irdiſchen Natur ſey. Da, 
wo das reine Blau des . den größeſten Theil des 
Jahres durch kein Gewölk „durch keinen Nebel getrübt wird, 
wo ſelbſt der Mond ſein bleiches Licht in ſolcher Helle aus⸗ 
ſtrahlt, daß man vom Kameel herab am Boden jedes kleine, 
blühende Gewächs erkennt; wo neben den duftenden Wäl⸗ 
dern der Orangen die majeſtätiſch ſchöne Palme ihre Früchte 
reift, in den Wipfeln der Bäume ein Heer der prachtvoll 
buntfarbigen Vögel ſich regt und munter bewegt, da könnte 
man wohl, wenn der Reiz des Vaterlandes in nichts And— 
| rem läge als in dem finnli Schönen, der lieben, deutſchen 
Heimath auf einige Zeit vergeſſen. Wenn man dort viel⸗ 
leicht zum erſten Male im Leben den Blüthenſchaft des Pi— 
ſangs zur vollen Pracht entfaltet, wenn man hundert andre 
Arten, der een Gewächſe der Erde, von denen man 
nur einzelne krüppelhafte Formen in unſren Treibhäuſern 
oder gemalte Abbildungen geſehen hat, angethan mit dem 
Feierkleid ihrer wunderſchönen „ duftenden Blüthen ſieht, 
wenn uns eine große Zahl von Arten der Früchte zum Ge⸗ 
nuß dargeboten werden, die an gewürzhaft ſüßem Wohlge— 
ſchmack oder lieblich kühlender Kraft alle Früchte unſres Va⸗ 
terlandes übertreffen und die wir vorher kaum dem Namen 
nach kannten, wenn dabei vom Gipfel der Palme oder des 
Tamarindenbaumes die orientaliſche Nachtigall (der Bulbul) 
eeinen volltönigen Gelen vernehmen läßet, ein Heer der 
muntren, ſchöngeſtalteten Thiere ſich rings um uns her erz 
-  gößt, dann gerathen all unſre Sinnen in eine Aufregung der 
5 Freude die wir, in dieſer eigenthümlichen Art, kaum ſonſt 
jemals empfunden haben. Der Geiſt in uns fühlt ſich von 
dem Anblick und dem Genuß der Werke zu dem Gedanken 
aan den Schöpfer und zu der Luſt erhoben, welche in dieſem 
Gedanken liegt. 
. Fuhlt ſich doch der Bewohner von Deutſchland ſchon 
dann in ganz eigenthüml icher Weiſe ergriffen von der Schön- 
heit der Natur, wenn er zum erſten Mal über ſeine nach— 
barlichen Alpen hinüber in ein Land kommt, da der Oel— 
baum ſeine Früchte reift, die Waldungen der Citronen und 


426 


Orangen im Freien gedeihen, die blühende Myrte den Ab⸗ 
hang der Hügel, der Kappernſtrauch mit ſeinen großen Blu⸗ 
men die Mauern und Felſenwände bekleidet, der Weinſtock, 
kaum der pflegenden Menſchenhand bedürftig von den Stäm⸗ 
men und Zweigen des einen Baumes zu denen des andren 
ſich hinüberſchlinget. Und all dieſe Fülle der Lebenskräfte, 
die lockenden Früchte, wie das Gedeihen des Thierreiches 
wird der irdiſchen Natur zunächſt durch den Einfluß der 
Sonne vermittelt. Es will ſich deshalb geziemen, daß wir, 
ehe wir dieſen Einfluß auf uns und unſren planetariſchen 
Wohnſitz weiter erwägen, zuerſt von dem mächtigen Quell 
des Lichtes unſrer Tage: von der Sonne, einige Worte 
ſagen. 
51. Die Sonne. 


Was iſt (nach Cap. 49) das arme, bleiche Erdenlicht 


unſrer Nächte, welches keine Spur der fühlbaren Wärme in 
ſich trägt, gegen das Licht der Sonne; was iſt unſer Planet gegen 
deſſen ungeheure Maſſen des Landes und der Gewäſſer der Menſch 
ſo klein da ſtehet, was iſt überhaupt alle uns näher bekannte leib⸗ 
liche Größe und Herrlichkeit gegen die Größe und Herrlichkeit 
der Sonne! Dieſe iſt mehr denn alle Körper der uns 
verwandten Sichtbarkeit nach ihrem Maaße ein Abbild und 
Träger der Majeſtät und alldurchwirkenden Kraft des Schöp— 
fers. Wenn für den Flug eines Adlers durch die Räume 
des Weltgebäudes eine Bahn wäre, dann würde die ſchnellſte 
Eile eines ſolchen Fluges, auch wenn ſie in jeder Sekunde 
nahe an hundert Fuß weiter durchmäße, dennoch kaum nach 
anderthalb Jahrhunderten von der Erde hinweg bis zur 
Sonne führen, denn der Raum der unſren Planeten von 
dieſem herrſchenden Mittelpunkt ſeiner Bahn trennt, dehnt 
ſich nahe über 21 Millionen Meilen aus, die Bahnen der 
drei äußerſten Planeten unſres Syſtemes: des Jupiter, Sa— 
turn und Uranus, umkreiſen die Sonne in Abſtänden von 
107, 197 und 396 Millionen Meilen, und dennoch dringet die 
alldurchwirkende Macht des Sonnenlichtes bis in alle dieſe 
Räume, ja zuletzt als Sternenlicht in noch tauſendfältig 
größere Weiten hinaus. | 

Aber dieſer Macht entfpricht ſchon die Größe der Herr⸗ 


ſcherin, in der Mitte ihrer Welten. Der Ziegelſtein, wel⸗ 


chen dort, beim Bau eines Hauſes ein Handlanger dem and— 


* 


427 : 

ren darreicht, ſteht in demſelben Verhältniß zu der Größe 
des ganzen Gebäudes, deſſen Theil er werden ſoll, als unſre 
Erdkugel zu dem rieſenhaften Ball der Sonne, denn faſt 
anderthalb Millionen (1,415,225) Erdkugeln müßten zuſam⸗ 
mengethürmt werden, wenn daraus ein Weltkörper entſtehen 
ſollte, der an Größe der Sonne gleich käme, deren Ober— 
flächeninhalt jenen unſrer Erde mit ihren 5 Welttheilen und 
all ihren Meeren 12598 mal, den Erddurchmeſſer 112 ¼½ mal 
übertrifft. Unſer kleiner Begleiter auf dem Weg der Jahres— 
bahn der Erde um die Sonne: der Mond ſteht in einer Ent— 
fernung von faſt 52000 Meilen von uns. Gliche die Sonne 
einer hohlen Kugel, in deren Mitte die Erde ihre Stellung 
hätte, dann wäre in der mächtigen Weite auch noch für die 
Mondbahn überflüßiger Raum vorhanden, denn von der 
Mitte der Sonne bis zu ihrer Oberfläche beträgt der Ab— 
ſtand 96468 Meilen. Ja wenn alle Planeten unſres Syſte— 
mes, nicht nur unſre Erde, die gegen die Sonne daſtehet 
wie eine Zuckererbſe zu einem mäßig großen Thurmknopf, 
ſondern alle 11, wie ſie der Reihe nach von der Sonne aus 
ſich folgen: Mercur, Venus, Erde, Mars, die 4 Aſteroiden 
(Veſta, Juno, Ceres, Pallas) dann die im Vergleich mit 
der Erde rieſengroßen Planeten Jupiter und Saturn, zuletzt 
Uranus, dazu auch noch alle die Monde die um unſre Erde 
ſo wie um die 3 letzten Planeten umlaufen, und das Ring— 
gewölbe des Saturn in eine Geſammtmaſſe vereint wären, 
würde ſich dieſe dennoch zur Maſſe des Sonnenkorpers nur 
verhalten, wie eine Kugel von 4 Loth an Gewicht zu einer 
Kugel von Centnerlaſt, das heißt wie 1 zu 775. 

Wenn man ein Kind oder jeden Menſchen der hierbei 
nur dem alltäglichen Augenſchein folgt fragen wollte, was 
iſt oben und was iſt unten, die Sonne oder die Erde, dann 
würde die Antwort ſeyn: die Sonne iſt oben denn ſie nimmt 
den Lauf ihrer Tage und Jahre hoch über unſrem Haupte 
am Himmel hin, die Erde aber iſt unten. Und dennoch ver— 
hält es ſich damit umgekehrt. Eben ſo wie nicht die Sonne 
Nees iſt, welche täglich und jährlich ihren Lauf um die Erde 
macht, ſondern es iſt die Bewegung der Erde um ihre eigne 
Are welche das tägliche Auf- und Niedergehen, die Bewe— 
gung der Erde in ihrer Bahn, welche das jährliche, ſchein— 
bare Fortſchreiten der Sonne durch die Zeichen des Thier— 
kreiſes am Himmel begründet; ſo iſt auch jener Augenſchein, 


428 


der die Erde zu einem Unten oder zur Mitte, die Sonne zu 
einem Oben, ihre Stellung zu uns zur Außenfläche machet, 
eine Selbſttäuſchung. Eben ſo wie der gehende Menſch, der 
an der Oberfläche der Erde hinſchreitet oder das Schiff, wel— 
ches über das Meer fähret in Beziehung auf den Planeten 
der beide trägt ein Oberes und Aeußeres ſind, ſo iſt unſre 
Erde und fo find alle Weltkörper unſres Syſtems in Bezie- 
hung auf die Sonne um welche ſie den Lauf ihrer Bahn 
führen ein Oberes und Aeußeres. Die Erdmitte, das Innre 
unſrer Erde iſt es, nach welcher der Zug der Schwere in 
der ganzen irdiſchen Körperwelt hingehet; was die Erdmitte 
als ein tiefes Unteres zu den Dingen der Planetenoberfläche 
oder der Körpermaſſen iſt, welche zwiſchen ihr und der Ober— 
fläche liegen, das ſtellt die Sonne zu den Bahnen der Pla- 
neten und zu dieſen ſelber dar. Ja es liegt darin ein hoher 
Vorzug der Herrſcherin der Welten über das ihr untergeord— 
nete Heer von dieſen, daß ſie es iſt welche trägt, nicht 
welche getragen wird, daß ſie es iſt welche den Grund bil— 
det, nicht aber auf den Stäubchen, die um ſie her fliegen, 
aufruhet und gegründet iſt. Laſſen wir es deshalb ſo gelten 
daß jene Welt, die ihren Kräften und Vorzügen nach hoch 
über alle andren erhaben iſt, der Stellung ihrer Maſſe nach 
in der Tiefe aller andren ſtehet. 
Wiſſen wir doch auch von der eigentlichen Naturbeſchaf— 
fenheit, von der bewirkenden Urſache ihres Leuchtens wie 
ihrer wärmenden Eigenſchaft faſt eben ſo wenig als wir von 
der leiblichen Geſtaltung und Natur unſres Erdinnren wiſſen, 
deſſen Mitte wir uns durch all unſre bergmänniſchen For- 
ſchungen, ſo wie durch jene Berechnungen mit denen wir 
etwa den keſſelförmig in große Tiefen ſich hinabbeugenden 
dann wieder herauflenkenden Steinkohlenlagern nachgehen nur 
in ſehr unbedeutendem Maaße genaht haben. Wenn wir 
den hohen Wärmegrad, den das aus der Tiefe quellende Waſ— 
ſer der Arteſiſchen Brunnen, ſo wie die, der Berechnung 
nach mit jeder weiteren Tiefe zunehmende Wärme der Berg— 
ſchächte, als einen Beweiß annehmen für eine fortwäh— 
rende Wärmerzeugung im tiefen Innren der Erde, dann tritt 
uns auch hier eine Aehnlichkeit entgegen in den Eigenſchaften 
der tiefen Mitte eines einzelnen Planeten und der herrſchen⸗ 
den Mitte des geſammten Planetenſyſtemes: der Sonne. Eine 
Aehnlichkeit, welche freilich wohl nicht viel weiter gehen mag, 


429 


nz zwiſchen dem Erdenlicht (nach C. 49) und dem Son- 
nenlicht. | 
Die einzige Erſcheinung, welche uns eine Art von Eins 
blick in das Weſen und in die Naturbeſchaffenheit des Son— 
nenkörpers gewähren könnte, ſind die dunklen Flecken die 
ſich bald in größrer bald in geringrer Ausdehnung, bald auf 
längere, bald auf kürzere Zeit an ihrer Oberfläche zeigen, 
und zwar nicht ſtillſtehend an einem Punkte, ſondern in einer 
beſtändigen fortrückenden Bewegung von Weſt nach Oſt be— 
griffen, vermöge welcher fie ihren Lauf von einem Rande 
der Sonnenſcheibe zum andren in nahe 14, den ganzen Um⸗ 
lauf, von der Erde aus geſehen in 27½ Tag zurücklegen. 
Wir haben hierdurch fürs Erſte ſchon die Gewißheit empfan— 
gen, daß der ungeheure Sonnenkörper nicht unbeweglich ſtill 
ſtehe, ſondern eben ſo um ſeine Axe, von Weſt nach Oſt 
ſich bewege, als unſre Erde und alle in dieſer Beziehung ge— 
nauer bekannte Planeten. Und obgleich die Sonne zu einer 
ſolchen Umdrehung auch wenn wir jene ſcheinbare Verlän— 
gerung abziehen, welche dieſelbe, weil unſer Planet indeß 
auch in ſeiner Bahn von Weſt nach Oſt fortgerückt iſt, von 
der Erde aus geſehen erleidet, 25 ½ mal mehr Zeit gebraucht 
als unſre Erde zu ihrer nur 24 ſtündigen, iſt ſie dennoch, 
wenn wir das Verhältniß der fortrückenden Bewegung der 
Oberflächen berückſichtigen, keineswegs eine ſehr langſame zu 
nennen, denn jeder Punkt des Aequators unſrer Erde durch— 
läuft zwar bei der täglichen Umdrehung in einer Stunde 
225 ½, die Punkte des Sonnenäquators in derſelben Zeit 
aber 992 Meilen. 

Die Sonnenflecken, welche man früher als Schlackenaus— 
würfe hetrachtete, die auf der Oberfläche des beſtändig feuer— 
flüßigen Sonnenkörpers ſchwimmen ſollten, oder als Rauch 
und Dampfmaſſen, welche dieſem Feuermeer entſtiegen, ſind, 
wie die genaure Betrachtung der neuern Zeit gelehrt hat, 
Oeffnungen oder örtliche Zertrennungen einer leuchtenden 
Dunſthülle, welche den eigentlichen Sonnenkörper nach allen 
Seiten hin umgiebt. Wie ganz anders erſcheint hierbei das 
Verhältniß der Sonne zu ihrer Atmoſphäre als das der Erde. 

Wenn bei uns der höhere Luftkreis durch die meteoriſchen 
Maſſen der Bewölkung getruͤbt iſt, und es entſteht in dieſer 
verhüllenden Decke da oder dort eine Zerreißung, dann er— 
blicken wir durch die Oeffnung den klaren blauen Himmel 


430 


und das Licht der Sonne bricht in den verdunkelten Raum 
herein; wenn ſich aber die leuchtende Wolkenhülle der Sonne 
zerreißt und aufthut, da öffnet ſich zwar auch ein Zugang 
der Strahlen der nächtlichen Geſtirne, hinab zur Oberfläche 
des rieſenhaften Weltkörpers, aber der Punkt, der gerade 
unterhalb der Oeffnung liegt, erleidet eine Schwächung 
der gewöhnlichen Tageshelle; ihm wird in gewißem Maaße 
das Licht entzogen, das ihm nicht, wie den Planeten, aus 


einem mächtigen leuchtenden Centralkörper, ſondern aus ei⸗ 


nem Theil ſeines eignen leiblichen Weſens kommt. Denn 
die lichtflammende Dunſthülle der Sonne ſcheint der eigent⸗ 
liche Quell des Lichtes und der belebenden Wärme, nicht 
nur für alle Weltkörper zu ſeyn, welche ihre Bahn um dieſe 
Weltkörper beſchreiben, ſondern auch fie ſelber, die Herr— 
ſcherin, wäre, entkleidet von ihrer Lichtſphäre, ein dunkler 
Körper. Wenn ſich zuweilen bei ſehr großen Sonnenflecken 
in dieſer Lichtſphäre Oeffnungen gebildet hatten, welche über 
eine Strecke von 6 ja von 10000 Meilen ſich ausdehnten, 
dann glaubte man die eigentliche an ſich dunkle Oberfläche 
der Sonne durch gute Fernröhe wahrgenommen zu haben. 
Berge, von einer Höhe, welche im Verhältniß zur Größe 
des Weltkörpers ſtünde (von 100 Meilen) ja zwiſchen der 
feſten Oberfläche und der höheren, leuchtenden Atmoſphäre 
wolkenartige, dunkle Meteore, gleich jenen unſres Luftkreiſes, 
ſollen ſich dann gezeigt haben. Die Höhe bis zu welcher ſich 
die Luftſphäre über der Sonnenoberfläche erſtreckt, wurde bei 
ſolcher Gelegenheit auf 500 Meilen geſchätzt. 

Wenig und unſicher genug iſt das, was uns die Betrachtung 
der Sonnenflecken lehrt; andre Aufſchlüße über das Wirken 
und Bewegen unſres Centralkorpers find nicht durch die Beob— 
achtungen gefunden worden die man unmittelbar an der 
Sonne ſelber, ſondern die man an andren Körpern der Ster⸗ 
nenwelt gemacht hat. Wie man nämlich die ſchnellere oder 
langſamere Bewegung eines Fuhrwerkes oder eines Dampf— 
ſchiffes, auf dem man ſich befindet, am leichteſten an der 
ſcheinbaren, in entgegengeſetzter Richtung verlaufenden Be— 
wegung der Bäume, Häuſer, Berge an denen die Fahrt 
vorbeigeht erkennen und ermeſſen kann, ſo iſt es auch in 
Beziehung auf die Sonne geſchehen, daß man die eigne, 
fortrückende Bewegung, welche derſelben im unmeßbar großen 
Weltenraume zukommt, an der ſcheinbaren Bewegung er⸗ 


431 


kannt hat, welche an den ſogenannten Firfternen oder Ber 
ſtenſternen des Himmels beobachtet worden iſt. Denn auch 
dieſe, welche das Alterthum für unbeweglich an ihrem Ort 
verbleibende Lichter des Himmels hielt, haben keine Ruhe 
noch Raſt, ſondern beſchreiben einen Lauf der Bahnen oder 
Bogenlinien, wir wiſſen nicht um welche unſichtbare Mitte. 
Freilich erſcheint von der Erde aus geſehen das Fortrücken 
jener ſonnenartig leuchtenden Weltkörper wegen des ungeheu— 
ren Abſtandes von uns ſo gering, daß es in 100 Jahren 
noch kaum bemerkbar iſt, dennoch ſummirt es ſich im Ver— 
lauf der Zeit bei einigen der ſchneller beweglichen Fixſterne 
ſo bedeutend, daß die berühmten Sternkundigen Aegyptens, 
welche vor 1700 und 2000 Jahren lebten, wenn ſie jetzt 
wieder einmal durch Menſchenaugen von der Sternwarte in 
Alexandrien den nächtlichen Himmel betrachten könnten, den 
Ort, zum Beiſpiel des großen Sternes im Bärenhüter Ark 
tur) ganz auffallend verändert finden würden. 

Wenn dort, in jenen Fernen, da die Firfterne find, ein 
Menſchenauge unſre ſchöne Sonne als einen Stern unter 
andren Sternen glänzen ſähe, würde ihm dieſelbe auch als 
ein unveränderlich feſtſtehender Glanzpunkt des Himmelsge— 
wölbes erſcheinen; denn was iſt der kleine Betrag des Fort— 
rückens der meiſten Firfterne, ſelbſt von einem nachbarlichen 
Weltgebiet aus geſehen, nach dem Raum- und Zeitmaaß der 
menſchlichen Leiblichkeit; wie machen doch dort 70 und 80 
Jahre einen ſo geringen Unterſchied! Dennoch iſt der Schritt, 
den unſre Sonne auf ihrem Weg durch den Weltraum inne 
hält kein ganz langſamer, denn er beträgt in jeder Stunde 
34750 Meilen. Allerdings mag der Weg, den ſie in dem uns 
unbekannten Lauf eines ihrer großen Jahre zu durchmeſſen 
hat, ein unvergleichbar viel weitrer ſeyn, als der Weg, den 
unſre Erde, in ihrer Bahn um die Sonne zu durchwandern 
hat, denn unſer Planet, obgleich einer der ſchnellſten unter 
allen ihm verwandten Weltkörpern des Sonnenſyſtems, legt 
in jeder Stunde nur 14937 Meilen zurück, wenn man je 
doch die kleine Spanne des Raumes von 21 Mill. Meilen, 
welche zwiſchen Erde und Sonne liegt, mit jenem vermuth— 
lichen Abſtand vergleicht, in welchem ſich der unbekannte 

Mittelpunkt oder Centralkörper befinden könnte, deſſen Ein— 
wirkung die Sonne in Bewegung ſetzt, dann hat man Ur— 
ſache genug das Vorhandenſeyn einer anziehenden Kraft vor- 


432 


auszuſetzen, welche alles ihr Aehnliche, das in der und na 
her liegenden Sichtbarkeit des Weltgebietes gefunden wird, 
unermeßbar weit überſteigt. Die Bewegung unfrer Sonne 
geht nach dem Sternbild des Herkules, einem nur wenig 
in die Augen fallenden hin. Was die Mitte der ungeheuren 
Bahn ſey wiſſen wir nicht; unſer Planet, und wir auf ihm, 
gehen mit, öhne den Fortſchwung des täglichen Bewegens 
unſres Weltſyſtemes zu bemerken; wir gehen auch hier, wie 
im ganzen Verlauf unſres leiblichen Seyns ohne zu ſehen 
woher? und wohin? den ſicherſten Weg den ein Kind ma 
chet, wenn es nicht von den eignen Füßen, ſondern von den 
Armen einer liebenden Mutter getragen wird. 

Die Macht welche die Sonne an unſrer Erde, ſo wie 
an allen Weltkörpern ihres Syſtemes übt, läßt uns, nach 
rieſenhaft großem Maaßſtabe alle jene Formen wieder erken— 
nen, in denen ſich in unſrer irdiſchen Sichtbarkeit der pola⸗ 
riſche Gegenſatz zwiſchen einem ſelbſtkräftig wirkenden und 
einem leiblich Bewirkbaren äußert. Wie der Blitz der aus 
den Wolken hervorbricht und an der metallenen Spitze ſich 
entlädt, ſo brechen überall aus einer oberen, allumfaſſenden 
Welt des Lebens Kräfte der Belebung und des Bewegens her— 
vor, wenn ſich ein leibliches Element aus der Gebundenheit 
und todten Ruhe des maſſenhaften Zuſammenhaltes, zu ei— 
ner Stellung erhebt, in welcher es ein Innres zu einem 
Aeußren, ein Bilden des für ein Bildungsfähiges wird. Ein 
ſolches Hereindringen der Kräfte eines oberen, überleiblichen 
Seyns und Lebens erkannten die Weiſen des Alterthumes ſeit 
Thales dem Mileſier, in der Wirkſamkeit des Magnetes 
an, obgleich ſich uns in dieſer noch nichts Andres kund giebt 
als ein Bewegen und Bewegtwerden, das ſeinen Anfang 
nimmt in dem polariſchen Gegenſatz der ohne Aufhören um 
die eigne Achſe und um die Sonne bewegten Erde, zu dem 
Eiſen, in welchem unter günſtigen Umſtänden alsbald der 
gleiche polariſche Gegenſatz erwacht. Als die Naturkunde der 
neueren Zeit das Mittel erfand, durch ſchraubenförmiges 
Umwinden eines Magnetes die Strömung der elektri— 
ſchen Naturkräfte mit jener der magnetiſchen zu vereinen; 
als man den elektromagnetiſchen Einfluß auf den magne⸗ 
tiſchen Eiſenſtab einwirken ließ, da zeigte ſich alsbald an 
dieſem das Bewegen einer zweiten, höheren Ordnung: 
ein kreiſender (rotirender) Umlauf um einen bewegenden gi; 

el⸗ 


433 


telpunkt, ein Auf⸗ und Niederwogen ſelbſt des flüſſigen Dued- 
ſilbers, das bis zu den Anfängen einer Achſendrehung ſich 
erhebt. Die ältere Zeit kannte das Feuer des Blitzes, das mit au- 
genblicklicher Schnelle herab oder herauffährt, und, wenn es 
den Baum oder andre entzündbare Körper trifft, dieſe in 
Flammen ſetzt, während es ſelber eben ſo ſchnell wieder da— 
hinſchwindet und verliſcht als es aus dem Dunkel der Ges 
witternacht hervorgetreten war. Die neuere Zeit, als ſie 
ſeit Erfindung der Elektrizität erregenden fo wie der galva— 
niſchen und elektromagnetiſchen Werkzeuge die Kräfte des 
Blitzes in ihre Hand bekam, hat durch Anwendung dieſer 
Kräfte Etwas geleiſtet, das kein Naturforſcher der früheren 
Jahrhunderte für möglich gehalten hätte, ihr iſt es gelun— 
gen den Blitz mitten in ſeiner unermeßbar ſchnellen Eile 
feſtzuhalten, ſie hat ihn in ein ſtätig fortglühendes Feuer 
verwandelt. Der Gluthſtrom, der ſich aus den Enden der 
Polardrähte einer ſtarken Voltaiſchen Säule oder eines kräf— 
tigen elektromagnetiſchen Apparates in gleichmäßiger Fort— 
wirkung ergießt, gleicht einem Fluße deſſen Lauf niemals 
abbricht, während die blitzähnliche, elektriſche Entladung 
kaum einem plötzlich herabſtürzenden, plötzlich wieder nach— 
laßenden Regenguß ähnlich war. Während die Völker der 
alteften Zeit das Feuer ihrer Herde nur unmittelbar am 
Strahle des Blitzes entzündet hatten und dieſe Gabe des 
Himmels mit ängſtlicher Sorgfalt ſich zu erhalten und zu 
ernähren ſuchten, iſt anjetzt (kin dem Voltaiſchen Apparat) 
der Gluthſtrom des Blitzes ſelber zu einer Art von Herd— 
feuer geworden, das zu ſeinem Unterhalt weder des Holzes 
noch des Oeles, zu ſeiner Pflege keiner bei Nacht wie bei 
Tage fortwährenden Obhut der Prieſter bedarf. | 
Und wie ganz anders wirft dieſes, wenn auch vor der 
Hand nur noch in unvollkommenem Maaße gewonnene Herd— 
feuer der höheren Ordnung, im Vergleich mit dem Feuer 
unſrer brennenden Kohlen oder des Holzes! Metalle, welche 
durch die Macht des gemeinen Feuers kaum zum Erweichen 
kommen, ſchmelzen an dem Entladungsſtrom unſrer elektromagne— 
tiſchen Apparate in wenig Augenblicken; andre Stoffe, die 
wir im gewöhnlichen Lauf der Dinge als feuerbeſtändig zu 
betrachten pflegen, verglaſen ſich oder zerſetzen ſich in Dämpfez 
während wir in der Hitze unſrer Schmelzöfen nur den Oxy⸗ 
den der eigentlichen Metalle ihr Sauerſtoffgas entführen kön⸗ 
28 


434 


nen, indem wir diefem feine reine Luftform, oder in Ber 
bindung mit Kohle, die Form der Kohlenſäure ertheilen, hat 
man durch die Macht des galvaniſchen Feuers das Sauer: 
ſtoffgas ſelbſt aus dem unvergleichbar viel feſteren Verband 
mit den metallähnlichen Grundlagen der Alkalien und Er⸗ 
den losgemacht. Was iſt der Glanz aller Fackeln und Herd⸗ 
feuer gegen die blendende, dem Sonnenlicht gleichende Helle 
eines Metalldrahtes, durch welchen der Gluthſtrom einer gal— 
vaniſchen oder elektromagnetiſchen Batterie ſeinen Lauf nimmt; 
wo könnte zunächſt nur die zerſtörende Flamme, die beim 
Verbrennen der Körper entſteht, mit der bildenden Kunſt 
auf ſolche Weiſe in ein Verhältniß der Nacheiferung treten 
wie die galvaniſche oder elektromagnetiſche Strömung, in 
Won e (Cap. 42) erwähnten Anwendung zur Galvano⸗ 
plaſtik. | 

Die Wiſſenſchaft hat fich für die verſchiedenen Formen 
in denen das Feuer eines allgemeinen Lebens und Bewegens 
die Elemente unſrer Körperwelt durchdringt, verſchiedene Na⸗ 
men erfunden: Magnetismus, Elektrizität, Galvanismus 
und Elektromagnetismus; für jenen fortwährenden Wechſel⸗ 
verkehr der Sonne mit den planetarifchen Welten, aus wel- 
chem Licht und Wärme, der Antrieb zum Bewegen um die 
eigne Achſe und in der Bahn der Jahre hervorgeht, iſt noch 
kein paffender Name, eben fo wenig als ein Schlüſſel zum 
tiefer eindringenden Verſtändniß in das eigentliche Weſen dieſes 
Weſelverkehres gefunden worden. Das aber wiſſen wir, daß 
die bewegende Kraft, welche als allgemeine Schwere, von der 
Sonne aus wirkend, die Planeten ſo wie von dieſen aus die 
Monde in ihren Bahnen erhält, und ihnen allen, in quadra- 
tiſchem Verhältniß mit den Abſtänden, das verſchiedne Maaß 
der Geſchwindigkeiten verleihet, durch mehrere ihrer Eigen— 
ſchaften ſich als eine polariſche Wirkſamkeit von noch höherer 
Ordnung erweiſet als die iſt, welche wir an den elektriſchen und 
magnetiſchen Erſcheinungen kennen lernen. Obgleich die 
Schnelligkeit des Lichtſtrahles und noch mehr die der elektri⸗ 
ſchen Strömung nach dem Maaßſtabe des irdiſch körperlichen 
Bewegens als ungeheuer groß erſcheint, iſt ſie doch noch eine 
meßbare, denn man hat den Weg, den das Licht in einer 
Stunde durch den Aether des Weltraumes zurücklegt aus dem 
früheren oder ſpäteren Bemerkbarwerden der Jupitermonden⸗ 
Verfinſterungen in näheren oder ferneren Abſtänden der Er⸗ 


435 


de vom Jupiter auf 140, den Stundenweg der elektriſchen 
Strömung zu 259 Millionen Meilen berechnet. Dagegen iſt 
die Wirkſamkeit der anziehenden Kraft der Sonne gar keiner 
meßbaren Zeitdauer unterworfen. Die Geſchwindigkeit des 
raumdurchdringenden Einflußes der allgemeinen Schwere wür— 
de fuͤr uns noch meßbar ſeyn, an der allmaligen Beſchleuni— 


rung (dem Kürzerwerden) des Jahresumlaufes der Planeten, 


ua 


auch wenn fie zehn Millionen mal größer wäre als die Schnel— 
ligkeit des Lichtes; aber mit all dieſer millionenfachen Stei— 
gerung der Zahlen erreichen wir das Ziel nicht, weil es außer 
den Gränzen einer menſchlichen Berechnung liegt. Wie der 
Gedanke, in demſelben Augenblick da er gedacht wird bei ſei⸗ 
nem Gegenſtand iſt und dieſen erfaßt, wie der lebende Arm in 
jedem Augenblick zu einem Glied ſeines Leibes wird, weil er 
niemals aufgehört hat, noch jemals während des Lebens auf⸗ 
hören wird und kann, dieſes zu ſeyn, ſo iſt die bewegende 
Kraft der Sonne gleichzeitig in dieſer wie bei dem Planeten; 
für dieſe Macht find die Schranken der Zeit und des Rau⸗ 
mes nicht mehr vorhanden, ſie iſt allzeitlich und allgegenwär⸗ 
tig, wie ein allumfaßendes, alldurchdringendes Walten des 
Schöpfers ſelber. 

Dennoch muß die hehre Sonne, dieſer ſichtbare Abglanz 
einer Majeſtät des Schöpfers es ſich gefallen laſſen, wenn 
wir nach unſrem Menſchenwitz die rotirenden ſo wie umkrei— 
ſenden Bewegungen der Welten, an denen ſie ihre Macht 
übt, mit jenen vergleichen, welche die elektromagnetiſche Strö⸗ 
mung an unſren Magnetnadeln und Mangnetſtäben hervor⸗ 
ruft. Indem wir einen magnetiſchen Eiſenſtab, deſſen po— 
lariſche Strömungen der Richtung der Länge des Stabes fol⸗ 
gen, mit einem iſolirten Kupferdraht von der Richtung der 
beiden Seiten her, faſt unter einem rechten Winkel mit der 
Längenausdehnung umwinden, thun wir im Kleinen Daſſelbe, 
was die Schöpferkraft gethan als ſie jene Gebirgsmaſſen 
und planetariſchen Stoffe ſo um die Achſenlinie, welche durch 
beide Pole gehet, ringformig herumlegte, daß daraus die ku— 
gelahnliche Geſtalt der Weltkorper entſtund. Dieſe Kugel: 
form läßt ſich eben ſo wohl als eine Urſache, denn als eine 
Folge der rotirenden Bewegung betrachten. Der elektriſch— 
polariſche Gegenſatz zwiſchen den Theilen und Punkten der 
Erdoberfläche, welcher da ſeine höchſte Wirkſamkeit erreicht 
wo der Durchſchnitt, welcher der Queere nach (unter einem 

28 


436 


rechten Winkel) von dem Kugelumfang nach der Achſenlinie 
der Pole gehet am größeſten iſt, ſcheint den täglichen Um⸗ 
ſchwung der Welten, von Weſt nach Oſt zu begründen, wäh⸗ 
rend von dem magnetiſchen, im Allgemeinen an die Richtung 
der Pole gebundenen Gegenſatz die feſte Stellung in dem 
beſtimmten Abſtand der Bahnen, die Neigung der Axe und 
der jährliche Umlauf um den Centralkörper abhängen mag. 
Die Sonne ſelber nimmt an dieſer Geſtaltung ſo wie an 
den Bewegungen Theil, von denen uns unſre elektromagnetiſchen 
Apparate durch ihre Zuſammenfügung wie durch ihre Wirkſam⸗ 
keit ein kleines ſchwaches Abbild geben; die rotirende Be— 
wegung ihres feſten Körpers, im Zuſammenhang mit der Beſchaf— 
fenheit der Dunſthülle, mag auf die Erzeugung des Lichtes 
und der Wärme nicht von unbedeutendem Einfluß ſeyn; aus 
welchem Quell aber zuletzt der Strom der Bekräftigungen 
komme, welcher das große Werk des Weltgebäudes mit all 
ſeinen einzelnen Theilen und Triebrädern in Bewegung ſetzt, 
und in ſeinem ſich immer in unverrückbarer Genauigkeit gleich⸗ 
bleibenden Fortgange erhält, das erforſchen die ſterblichen, 
aus Erdenſtaub gebildeten Sinnen nicht. 

Es liegen jedoch andre Eigenſchaften der Sonne der täg— 
lich wiederkehrenden Beobachtung unſrer Sinnen näher, als 
die Macht des Bewegens, welche ohnabläßig aus ihr hervor— 
wirkt; wir wollen deshalb vor allem dieſe Eigenſchaft in 
nähere Betrachtung ziehen, welche ſelbſt dem Kinde ſo wie 
allen auf der Stufe der Kindheit ſtehenden Völkern ſich be— 
merkbar machen. 


52. Der Einfluß der Sonne auf die Temperatur 
der Erdoberfläche. ö 


Daß in jener Zeit des Jahres, in welcher die Tage wie⸗ 
der um ein Bedeutendes länger werden mit der ſtärkeren und 
andauernderen Beleuchtung durch die Sonne auch die Wär⸗ 
me zunehme, weiß und erfährt in jedem Frühlinge ſelbſt der 
roheſte Indianer, der die ſumpfigen Waldgegenden des nörd— 
lichſten Amerikas bewohnt. Daß indeß die Wärme eines 
Landes nicht allein von der längeren oder kürzeren Beleuch⸗ 
tung ſodern auch von dem höheren oder niedreren Stand der 
Sonne und in gewiſſem Maaße vielleicht ſelbſt von der ro⸗ 
tirenden Bewegung, die unter dem Aequator am ſtärkſten iſt 


457 


abhänge, das lehrt eine genauere Beobachtung. Wenn nur 
im Allgemeinen von dem Unterſchied zwiſchen Tag und Nacht, 
von Tageshelle und nächtlichem Dunkel die Rede ſeyn dürfte, 
dann könnte man ſagen, daß die Bewohner der eiſigkalten 
Polarländer hierin mit den Bewohnern der heißen Zone, wo 
die Vanille wachſt und Palmenwälder gedeihen, ganz in glei— 
chem Vortheil ſtünden, ja ſogar noch etwas beſſer daran wä— 
ren als dieſe; denn ſelbſt unmittelbar unter dem Pole dauert 
die Tageshelle im Verlauf eines ganzen Jahres nicht nur 
eben ſo lang wie in den heißen Ländern, welche unter der 
Aequinoctiallinie oder dem Aequator liegen, ſondern wegen 
der vor dem Wiederaufgehen und nach dem Untergehen der 
Sonne eintretenden Dämmerung ſogar noch länger. Nur 
mit dem Unterſchiede, daß unter dem Aequator jeder einzelne 
Tag des Jahres, an den Polen aber das ganze Jahr, in zwei 
gleiche Hälften getheilt iſt, davon die eine die Beleuchtung 
der Sonne genießt die andre dem Dunkel der Nacht an— 
heimfällt; denn unter dem Aequater ſteht die Sonne täglich 
12 Stunden, an den Polen jährlich 6 Monate am Himmel; 
hier hat man vor der Frühlings- und nach der Herbſtnacht— 
gleiche eine viele Wochen lang anhaltende Dämmerung, dort 
aber an jedem Morgen und Abend nur eine ſehr kurze. 
Dagegen fallen die Strahlen der Sonne, wenn ſie über 
den Himmel des heißen Erdgürtels ihren Tageslauf machet, 
nicht flach und ſchief, geſchwächt durch die unteren, dichteren 
Luftſchichten der Atmoſphäre und in dieſen großentheils ſich 
verlaufend, auf den Boden, ſondern ſie treffen dieſen während 
der Mittagsſtunden in meiſt ſenkrechter Richtung und in ih⸗ 
rer vollen Gewalt. Und hierauf kommt für die Wärmeer— 
zeugung durch das ſtrahlende Licht der Sonne Vieles, ja 
das Meiſte an, wie dies ſchon durch die zweifache Bedeu— 
tung des Wortes Klima angedeutet iſt. Denn urſprüng⸗ 
lich nannte man fo jene Kreiſe die man ſich in Norden und 
Süden in gleicher Breite um den Aequator gezogen dachte 
und deren Gränze durch die Verſchiedenheit der Dauer des 
längſten Tages, ſo wie der längſten Nacht beſtimmt war. 
Da wo die Dauer des längſten Tages nicht mehr wie unter 
dem Aequator gerade 12 ſondern 12 ½ Stunden iſt, war die 
Gränze des erſten, bei 13 ſtündiger Dauer des Mittſommer⸗ 
tages die Gränze des zweiten Klimas. Und ſo ergab ſich 
bei jedem Zuwachs der Dauer des längſten Tages um eine 


438 


halbe Stunde die Gränze eines neuen Klimas, deren Zahl 
mithin vom Aequator bis zu den Polen wo die Länge des 
Mittſommertags 24 Stunden beträgt, das heißt wo dann die 
Sonne gar nicht untergeht, auf 24 geſetzt war, ſo daß zum 
Beiſpiel jene Gegenden wo der längſte Tag zwiſchen 16 bis 
16 %, die kürzeſte Nacht zwiſchen 8 bis 7½ Stunden wäh- 
ret, in das neunte Klima fallen. Die Andauer jenes lan— 
gen fortwährenden Polartages, an welchem die Sonne gar 
nicht untergeht, iſt von der Grenze des Polarkreiſes unter 
66 Grad 32 Min. bis zum Pole (unter 909) ſelber, mithin 
durch das ganze 24te Klima ſehr verſchieden. Denn in Lapp⸗ 
land, unter dem 66 ½ten Grade der Breite giebt es nur 
einen einzigen Tag im Jahre an welchem die Sonne gar 
nicht untergeht, dies ift der Mittſommertag (2ite Juny). 
Schon einige Tagreiſen weiter nach Norden unter der Breite 
von 67° 18“ kommt man in eine Gegend, wo die Sonne 
einen ganzen Monat lang im Sommer über, im Winter un- 
ter dem Horizont bleibt; in Wadſoés (76 / Grad Breite) 
dehnt ſich die Zeit in welcher die Sonne ſtets am Himmel 
ftebt über 2 Monate und ebenſo lang jene aus, in der fie 
gar nicht aufgeht; in Melvilles Eiland (unter 75 Gr.) auf 
3 Monate 12 Tage, unter dem 80 Gr. auf mehr denn 4, 
unter 839 auf 5, unter 90° auf 6 Monate. Obgleich jedoch 
der Zeitpunkt an welchem die Sonne, am Ende des langen 
Sonnentages für die Gegend am Pole unter den Horizont 
ſinken ſollte, auf den Tag des Herbſtacquinoctiums, für 
Nowaja Semlja unter 76 Gr. d. Br. der Anfang der drei— 
monatlichen Nacht auf den letzten Oktober, das Ende der 
Winterpolarnacht und der Wiederaufgang der Sonne für 
die erſtere Gegend auf den 21. März für den andren Ort 
auf den 11. Februar treffen müßte, bleibt dennoch vermöge 
der Strahlenkrechung der Atmoſphäre (nach S. 167) das 
Bild der Sonnenſcheibe mehrere Wochen länger über dem 
Horizont und wird um mehrere Wochen früher ſichtbar, und 
auch nach, ſo wie vor ſeinem Hinab- oder Herauftreten, giebt 
es eine ſo lange Dämmrung, daß ſelbſt an den Polen das 
eigentliche nächtliche Dunkel, das durch den Schein der lan⸗ 
gen Mondnächte ſehr gemildert wird, nur 13% Wochen an⸗ 
hält. Im Grunde genommen kann man deshalb, wie ſchon 
oben erwähnt, ſagen, daß die Vertheilung der Tageshelle 
und der Andauer des nächtlichen Dunkels eher zum Vortheil 


439 


als zum Nachtheil der beiden Polargegenden, im Vergleich mit 
den Aequatorealgegenden ausfällt. Dennoch knüpfen wir mit 
Recht an das Wort Klima auch den Begriff der herrſchenden 
Wärme der Länderſtriche an und halten uns im Voraus davon 
überzeugt, daß die Gegenden, welche unter den erſten Klimaten 
(Ibis 3) liegen die wärmſten, jene welche unter den letzten, dem 
22ten bis 24ten Klima ſtehen die kälteſten ſeyn müßen. 

Hiebei wird die mittlere Temperatur des ganzen Jahres 
in Betracht gezogen, welche nicht das Mittel zwiſchen der 
höchſten Sonnenwärme und der ſtärkſten Winterkälte, ſon— 
dern aus den Summen der Wärmegrade iſt, welche an je— 
dem einzelnen Tage des Jahres aus dreimaliger Beobach— 
tung gefunden wurden. Obgleich dieſe mittlere Temperatur 
des ganzen Jahres außen an der Erdoberfläche zu verſchiednen 
Zeiten des Jahres, wie ſogar jedes einzelnen Tages großen 
Abänderungen unterworfen iſt, verhält ſie ſich dennoch in 
einer gewißen Tiefe der Keller und Höhlen ſo wie in den 
meiſten Quellen im Sommer wie im Winter auf dem glei— 
chen Grade, ſo daß man aus der Temperatur der Felſen— 
quellen einer Gegend mit einer gewißen Sicherheit auf ihre 
mittlere Jahreswärme ſchließen kann. 

Im Allgemeinen findet man, daß die mittlere Jahres— 
wärme der 3 erſten Klimaten, von dem Aequator bis gegen 
und etwas über die Wendekreiſe 20% bis 22½ Grad der 
Réaumur'ſchen (25% bis 26/80 Gr. der hunderttheiligen) 
Scala betrage. Schon in Kairo, deſſen Lage 30 Gr. 2 
M. N. Br. iſt, erreicht die mittlere Temperatur nur 17/0 
Gr. R., in Neapel, unter dem Alten Breitengrad 14 ½, in 
Paris, bei 48° 50“ Breite etwas über 9½ Gr. R., in Lon⸗ 
don unter 51½ Gr. N. Br. 8 Gr. R., in Copenhagen 55 
Gr. 41 M. N. Br. nur wenig über 6, in Moskau unter 
55% Gr. N. Br. nur noch 3%, Gr. R., in Wadſoé unter 
70% Gr. N. Br. 1% Gr. Neaumur, Am Nordcap, obs 
gleich deſſen Lage noch um keinen ganzen Grad nördlicher 
iſt als die von Wadſoé, thaut das Erdreich in einer Tiefe 
von wenig Fußen auch im Sommer nicht auf, die mittlere 
Temperatur des Jahres kommt dort dem Eispunkte gleich, 
während ſie auf Melvilles Eiland noch beinahe um 15 Grad 
unter den Eispunkt herunterſinkt. 

Selbſt auf den Eis⸗ und Schneefeldern der Polargegen— 
den, unter den achtziger Graden der Breite, bemerkt man, in 


Ne 
140 


jener Jahreszeit, wo die Sonne ſchon lange nicht mehr un⸗ 
tergeht noch einen bedeutenden Einfluß ihres täglichen höhe⸗ 
ren und niedreren Standes. Obgleich dieſelbe dort auch um 
Mitternacht am Himmel bleibt, iſt dann ihr Licht nicht nur 
auffallend viel bleicher als 12 Stunden vorher, wo es Mittag 
war, ſondern auch die wärmende Kraft ihrer Strahlen iſt 
ſo viel ſchwächer, daß wenn die Sonne immer tiefer nach 
dem mitternächtlichen Horizont herunterſinkt, der in den Stun⸗ 
den ihres höheren Standes gethaute Schnee wieder feſt wird. 
Deshalb benützten die kühnen Unternehmer eine Reiſe nach 
dem Nordpol zum mühſamen Fortziehen ihrer Schlittenboote über 
die Treibeismaſſen jederzeit die Stunden in denen es bei 
uns auch im Sommer Nacht iſt, und machten längſtens dann, 
wenn es an ihren Uhren etwa 7 oder 8 Uhr Morgens war, 
Halt, weil um dieſe Zeit das höher emporſteigende Geſtirn 
des Tages ſchon wieder kräftiger zum Aufthauen des Schnees 
wirkte. Noch ungleich merklicher wird uns der Einfluß eines 
höheren Standes der Sonne bei der Betrachtung des vorhin 
erwähnten Verhältniſſes der Lage der Erdſtriche zu ihrer mitt— 
leren Jahreswärme, von dem Aequator an, wo die Sonne 
jeden Mittag ſenkrecht oder faſt ſenkrecht über dem Scheitelpunkt 
des Himmels dahingehet, bis zu den Ländern der kalten Zone, indes 
nen ſie auch in den Sommermittagen tief unter dem Scheitelpunkt 
zurückbleibt. Dennoch kommt jenem Verhältniß nur eine all⸗ 
gemeine Gültigkeit zu, und daſſelbe ift den vielfältigſten Aus⸗ 
nahmen und Abweichungen unterworfen. Nur einige von 
dieſen, nebſt den Urſachen durch die ſie veranlaßt werden, 
wollen wir hier etwas genauer betrachten. 

Selbſt die künſtliche Wärme unſrer geheizten Zimmer ſtei— 
gert ſich erſt dann in allen Räumen des Gemaches zu einer gewiſ— 
ſen Höhe, wenn auch die Wände, die Decke, ſo wie alle in— 
nerhalb und unter dieſen befindlichen Gegenſtände einen ge- 
wiſſen Grad der Wärme angenommen haben, und die unſ— 
rem Gefühle zuſprechende Temperatur der geheizten Räume er⸗ 
hält ſich noch einige Zeit nachher, wenn die anfangs ſtärkere 
Flamme des Feuers allmälig vermindert wird, oder ganz 
ausgeht. Ein Ofen, welcher nach der in Rußland gebräuch⸗ 
lichen Weiſe gebaut iſt, theilt, wenn ſeine dichten Geſtein⸗ 
maſſen recht durchheizt ſind, die empfangne Wärme noch 
viele Stunden lang ſeiner Umgebung mit, obgleich das 
Feuer in feinem Innren ſchon längſt verloſchen iſt. In ähn⸗ 


441 


licher Weiſe, als ein Sammler und Verbreiter der Wärme 
an ſeine Umgebung, verhält ſich auch die Erdoberfläche, vor 
Allem die feſte. Je mehr der Boden von dem Einfluß der 
Sonnenſtrahlen ſchon durchwärmt iſt, deſto kräftiger vermag, 
ſo lange er ſich noch auf einer gewißen Stufe erhält, dieſer 
Einfluß ſich zu äußern. Darum fällt in der Regel die höch— 
ſte Temperatur des einzelnen Tages nicht unmittelbar in die 
Zeit des Mittages, die größeſte Wärme des Jahres nicht in 
die Zeit des längſten Tages und des höchſten Standes der 
Sonne, ſondern in die erſte und zweite Nachmittagsſtunde 
ſo wie in den Julymonat. Eben ſo trifft auch die niedrigſte 
Temperatur des Winters, die ſtärkſte Kälte in der Regel 
erſt auf die ſchon wieder zunehmenden Tage des Januars; 
die größeſte Kühle der einzelnen Tage in die Stunden vor 
Sonnenaufgang. Uebrigens iſt die Zeit, in welcher im Mit— 
tel die größeſte Kälte ſo wie die größte Wärme eintritt ſelbſt 
in Gegenden deſſelben Erdtheiles, deren Mittagskreiſe nicht 
weit von einander abliegen ſehr verſchieden. In Paris fällt 
die größeſte Kälte im Mittel auf den 14ten in Padua auf 
den 15ten, in Rom auf den 17ten, in Turin dagegen ſchon 
auf den 3ten Januar; die ſtärkſte Wärme tritt im Mittel in 
Paris am löten, in Padua am 26ten, in Turin am 27ten 
July, in Rom aber erſt am iten Auguſt ein. Selbſt zwi- 
ſchen den Wendekreiſen fällt der zweimalige höchſte Stand 
des Thermometers nicht mit dem höſten Stand der Sonne 
in den Tag- und Nachtgleichen zuſammen, ſondern auf den 
19ten oder 20ten April und auf den 22ten oder 23ten Oc⸗ 
tober; die Zeit der um wenige Grade kühleren Tage auf den 
19ten bis 20ten Januar fo wie auf den 22ten bis 23ten 
July. Auch auf der ſüdlichen Halbkugel tritt die höchſte 
Wärme ihrer Sommer ſpäter als der höchſte Sonnenſtand 
ein, ſo zu Capſtadt am 2ten Februar, die niedrigſte Tempe— 
ratur des Jahres am 6ten July. 

Nicht nur der feſte Boden, ſelbſt das Gewäſſer das den 
größeſten Theil deſſelben bedeckt, und die Luft, die über ihm 
ſteht, werden durch den Einfluß der Sonnenſtrahlen erwärmt, 
obwohl die Erhöhung ihrer Temperatur durch die oben, S. 255 
beſchriebene Bewegung fortwährend wieder ausgeglichen wird. 
Namentlich die Atmosphäre ſtellt ſich hierbei in ein zweiſei— 
tiges Verhältniß zur Erdoberfläche. Während ſie die Kraft 
der Sonnenſtrahlen, welche durch ſie hindurch gehen müſſen, 


442 


ſchwächt, wirkt ſie dennoch zugleich auch günftig auf die Stei⸗ 
gerung der Erdflächenwärme, denn, gleich einem Gewand 
oder einer Decke, womit wir uns gegen die Erkältung ſchützen, 
thut ſie wohlthätig der Ausſtrahlung und Zerſtreuung jener 
Wärme in den umgebenden Weltenraum einigen Einhalt, und 
nimmt ſelber Antheil an der Erwärmung, welche von unten, 
aus der Erdoberfläche, und von oben durch den Einfluß der 
Sonne (weniger jedoch durch dieſen als durch die Mittheilung 
aus jener) ihr zukommt. Indem aber die Luft in der Nähe 
der Erdoberfläche, ſich erwärmt, wird ſie auch ausgedehnt 
und hierdurch leichter; ſie ſteigt in die Höhe. Bei dieſem 
Emporſteigen in Regionen, wo der Luftdruck, je höher je 
mehr ſich verringert, nimmt der von unten kommende Strom 
eine immer dünnere Beſchaffenheit, einen immer größeren 
Raumumfang ein und durch dieſe Verdünnung wird, eben 
ſo wie durch die Bildung des Dampfes nach S. 265 eine 
Temperaturerniedrigung herbeigeführt, die ſich in abkühlender 
Weiſe auf die Umgebung äußert. Umgekehrt aber, wenn an 
die Stelle der emporgeſtiegenen erwärmten Luftſchichten die 
kälteren aus den oberen Regionen ſich herabſenken, dann er— 
leiden dieſe durch den auf ſie wirkenden Druck der höheren 
Luftſäule eine Verdichtung, bei welcher ſich, ſo wie nach 
S. 264 überall da, wo ein elaſtiſch flüßiger Körper in einen 
engeren Raum zuſammengepreßt wird, Wärme erzeugt und 
an die umgebende Körperwelt mittheilt. | 
Hierinnen wird, wenigſtens zum Theil, der Grund gefun— 
den von der Abnahme der Wärme in größeren Höhen über 
der Meeresfläche, von welcher wir bereits bei andrer Gele— 
genheit ſprachen. Wenn wir mit Schmidt annehmen, daß 
ſchon in einer Höhe von 726 / Fuß über der Meereskuüſten⸗ 
ebene die mittlere Jahreswärme eines Ortes um 1 Grad 
R. niedriger ſey, dann würde in der Gegend von Kairo, deſ— 
ſen mittlere Jahreswärme über 17 Gr. R. iſt ein Berg, 
welcher die Höhe des Finſteraarhornes in der Schweiz 
(13205 F.) erreichte auf feinem Gipfel eine herrſchende Tem⸗ 
peratur haben, welche noch etwas unter jener des Nordcaps, 
noch unter dem Eispunkt ſtünde. Doch wird die Warme: 
abnahme bei dem Hinaufſteigen in größere Höhen ſehr ver⸗ 
ſchieden gefunden, je nachdem dieſe Höhen einem vereinzelt 
oder abgeſondert daſtehenden Berge oder einem maſſigen zu— 
ſammenhängenden Gebirgsrücken oder endlich gar einem 


443 


weit ausgebreiteten Hochlande angehören. Auf einem abge: 
ſondert ſtehenden Berge iſt bei gleicher Erhebung über die 
Meeresebnen eine ſtärkere Abnahme der Temperatur bemerk— 
bar als in ſolchen Gegenden, wo das Land eine größere, weis 
ter ausgedehnte Maſſe bildet. Schon deßhalb, ſo wie noch 
aus andren, gleich weiter zu erörternden Gründen iſt auch 
jene frühere Annahme eine unſichere, nach welcher ein Unter— 
ſchied zwiſchen der Lage verſchiedner Orte über dem Meeres— 
ſpiegel welcher gegen 240 bis 260 Fuß betrüge einen gleichen 
Einfluß auf die mittlere Temperatur des Jahres haben ſoll— 
te als eine weitre Entfernung vom Aequator von einem Gra— 
de, ſo daß die Jahreswärme eines in der Meeresebene geleg— 
nen Ortes unter dem 50. Gr. der Breite jener gleichen würde, 
welche unter dem 40. Gr. der Breite auf einer Höhe von 
etwa 2500 Fuß gefunden wird. Jene Annahme ging von 
der Vorausſetzung aus, daß die Abnahme der Jahreswärme 
überall von einem Grad der Breite zum andren in einem 
gleichen regelmäßigen Verhältniß ftatt finde. Dies iſt aber 
keinesweges der Fall, denn die mittlere Temperatur vom 
Aequator bis zum 10. Grad der Breite bleibt ſich faſt ganz 
gleich, vom 10. Grade bis zum nördlichen Wendekreis be— 
trägt ſie an der Oſtküſte von Amerika ohne Abnahme für jeden 
Breite-Grad im Mittel nur gegen / „F vom Wendekreis bis 
zum 33. Grade etwas mehr als / Grad R., von da bis 
zum 43 Breitengrad ſchon nahe / Grad des Réaumur'ſchen 
Thermometers, während ſie näher gegen den Pol hin wieder 
langſamer anwächſt, bis zuletzt jenſeits des 79 bis 80. Brei— 
tengrades die Qberfläche des Meeres oder des feſten Bodens 
in gleichmäßiger Weiſe von beſtändig bleibendem Eis oder 
Schnee überzogen iſt, ſo daß dort ein Grad der Breite 
näher nach dem Pole hin oder ferner von dieſem ſchwerlich 
noch einen merklichen Temperaturunterſchied begründen kann. 
Nur das mittlere Europa zeigt rückſichtlich der Abnahme der 
mittleren Temperatur ein beſtändiger bleibendes Verhältniß 
zur geographiſchen Lage, denn hier kann man nach A. v. 
Humboldt annehmen, daß vom 38. bis 71. Grad der Breite 
die Jahreswärme auf jeden Breitengrad um %, Grad des 
Réaumur'ſchen Thermometers herabſinke. Die mittlere Tem: 
peratur des 8460 F. hohen St. Bernhardtkloſters würde ſich 
demnach in der Ebene unter dem 77. Grad der Breite an— 
treffen laſſen. 


444 
Von der Abnahme der Wärme bei der allmähligen Er⸗ 


hebung über das Meeresniveau hängt vor Allem auch die 
Höhe der Grenze des ſogenannten ewigen Schnees ab. Im 


Ganzen kann man annehmen daß man unter dem Aequator, 


nachdem man beim Hinaufſteigen auf ein dort gelegenes Hoch⸗ 
gebirge durch Regionen gekommen iſt, deren mittlere Wär— 
me ſo wie die herrſchende Form der Pflanzen zuerſt denen 
der gemäßigten, dann der kalten, für Menſchen noch bewohn— 
baren Zone entſpricht, in einer Höhe von etwa 15000 bis 
17000 Fuß (in den Cordilleren von Quito von faſt 14800, 
in denen von Chili von 17260 F.) jene Temperaturgränze errei⸗ 
chen werde, jenſeits welcher der Alpenſchnee das ganze Jahr 
hindurch, ohne hinwegzuthauen, liegen bleibt; zwiſchen dem 
42. und 43. Grade der Breite, in den Pyrenäen wie am 
Kaukaſus haben ſchon jene Gebirsgipfel einen bleibenden 
Schnee, welche nur gegen 8400 Fuß hoch ſind; in unſren 
Schweitzeralpen, unter dem 46. Grade der Breite, geht der 
bleibende Alpenſchnee bis etwas unter 8200 F. herunter; 
in den Karpathen unter dem 50. Breitengrade findet man 
bereits in einer Höhe von 7000 F. den ganzen Sommer hin⸗ 
durch Schnee. Die Bewohner von Norwegen unter dem 62. 
Grade der Breite können ſich mitten im heißen Sommer ſchon 
aus einer Höhe von 5000 Fuß den Schnee und das Glet— 
ſchereis zum Abkühlen ihrer Getränke holen; die Bewohner 
des 72. Breitegrades ſehen, ſelbſt an der milder gelegenen 
Küſte, auch ſolche Berge das ganze Jahr hindurch mit Schnee 
bedeckt, welche nur 2200 Fuß hoch ſind, und noch weiter nach 
dem Nordpol hin kann der langanhaltende Einfluß der flach 
auffallenden Sommer-Sonnenſtrahlen den Schnee ſelbſt nicht 
mehr von den niedren Hügeln, ja, wenn es dergleichen dort 
gäbe, nicht einmal von den hohen Dächern der Thürme 
und Häuſer hinwegthauen; zuletzt liegt die Gränze des blei⸗ 
benden Froſtes auf dem Boden der tiefen Ebenen auf und 
die Eismaſſen des Meeres thauen nie mehr ganz hinweg. 
Das weitere Herabrücken des fortwährenden Winters 
von den Gebirgshöhen nach den Ebenen ſteht übrigens kei— 
nesweges in einem feſt abgewogenen ſichren Verhältniß mit 
der Entfernung von dem Aequator, ſondern hängt, wie die 
mittlere Temperatur der Gegenden überhaupt, noch von ganz 
andren Einflüßen ab. Allerdings ſenkt ſich die Schneelinie 
nach den Beobachtungen die man in Amerika darüber ange— 


N 


445 


ſtellt hat, nordwärts von dem Aequator, mit der Entfernung 
von dieſem fo bedeutend, daß man ſchon unter dem 19. Gr. 
der Breite im Hochlande von Mexico ſie um 960 Fuß nie— 
driger findet als in den Cordilleren von Quito, dagegen ſteht 
ſie, wie bereits erwähnt, in Chili, da wo die Hochgebirge in 
Weſten dem Meere ſich nahen, um mehr denn 2000 F. höher 
als unter dem Aequator, obgleich dieſe Gebirge im 16. bis 

18. Grade der ſüdlichen Breite liegen. Die bedeutendſte Aus— 
nahme von der ſcheinbaren Regel macht jedoch die Stellung 
der Schneelinie in den Hochgebirgen des Himalaya, unter 
dem 31. Grade der Breite. Am ſüdlichen Abhang, gegen 
Indien, erreicht dieſelbe nur die Höhe von etwa 12180 Fuß, 
was nur wenig über das Maaß des Oertlesgipfels in Ty— 
rol hinaufgeht, dagegen zieht ſich dieſelbe an den faſt unter 
gleicher Breite gelegenen Gebirgshöhen, welche den nördlichen 
Abhang gegen Tübet hin bilden, bis auf eine Höhe von 15600 F. 
zurück, ſo daß an dieſer nördlichen Seite noch Cultur- und 
Weideland auf einer Erhebung gefunden wird, die am indi— 
ſchen Abhange ſchon unter der Decke des beſtändigen Schnees 
liegt. Dieſe Thatſache, auf welche zuerſt Al. v. Humboldt 
die allgemeine Aufmerkſamkeit hinlenkte, und die zwar von 
Hutton beſtritten war, von Batten aber neuerdings wie— 
der außer Zweifel geſetzt iſt, bezeugt in vorzüglichem Maa— 
ße den wärmeverbreitenden Einfluß der feſten Erdoberfläche; 
denn das Hochland von Tübet, im Norden des Himalaya, 
hebt ſich bis 10800 Fuß herauf, ſo daß ſeine von der Son— 
ne empfangene, ausſtrahlende Wärme auf das Zurückweichen 
der Schneelinie in den nachbarlich angrenzenden Gebirgen 
ohnfehlbar von bedeutender Wirkung ſeyn muß. Eben aud 
vermöge dieſer maſſigen Zuſammenfuͤgung genießt das Hoch— 
land von Tübet ſelber einer ſo milden Temperatur, daß um 
H'Laſſa (Vuleſung) deſſen Höhe über dem Meere nahe ges 
gen 9000 Fuß betragen mag, noch Weinbau, begünſtigt viel— 
leicht durch die Stellung der tief eingeſchnittenen Thäler, be— 

trieben wird. 
| Auch wenn wir bei dem Vergleich der mittleren Jahres— 
wärmen verſchiedener Orte und Gegenden der Erdoberfläche 
uns nur an die Ebenen oder geringeren Erhebungen über die 
Meeresfläche halten, begegnen wir ganz auffallenden Aus⸗ 
nahmen von der Regel: daß die Wärme in gleichem Schritt 
mit der Entfernung vom Aequator abnehme. Bereits die 


446 


erften europäiſchen Anſiedler im nördlichen Amerika, in den 
Gebieten der jetzigen Freiſtaaten, ſo wie die Reiſenden an 


den Küftengegenden des öſtlichen Aſiens fanden es auffallend, 


daß in dieſen beiden Erdgegenden die Winterkälte ſo viel 
ſtrenger, und ſelbſt die Sommermonate im Ganzen ſo viel 
kühler ſeyen als in ſolcken Gegenden von Europa wel— 
che unter den gleichen Graden der Breite und ſelbſt noch 
etwas nördlicher gelegen find. Wenn man nach Al. v. Hum⸗ 
boldts lehrreicher Zuſammenſtellung die mittlere Jahreswär⸗ 
me der an der Oſtküſte von Amerika gelegnen Orte mit jener 
vergleicht welche unter ähnlichen Graden der Breite in Eu⸗ 
ropa und im nördlichen Afrika beobachtet wird, dann erkennt 
man, daß jemehr die Entfernung vom Aequator zunimmt, deſto 
augenfälliger der Vorzug werde, den unſer Welttheil in Be— 
ae auf die Milde feines Klimas vor der gegenüber ge- 
egnen Seite von Amerika genießt. Nain, an der Küſte von 
Labrador, liegt nur unter 57 Grad 8 Min. N. B. während 
Chriſtianig in Norwegen faſt 60 Grade (59° 55) von dem 
Aequator entfernt iſt und dennoch ſteht dort die mittlere Tem— 
peratur des Jahres 2½ Gr. R. unter dem Gefrierpunkt 
während fie in Chriſtiania nahe 4% Grad über dem Eis— 
punkte iſt. Quebecks mittlere Jahreswärme beträgt nur 4%, 
Gr. R. obgleich es um volle 5½ Grad ſüdlicher liegt als 
Amſterdam, deſſen mittlere Temperatur nahe 9 Gr. R. iſt. 
Halifax liegt mit Bordeaux, New Pork mit Neapel unter 
gleicher Breite, und dennoch ſteht die mittlere Temperatur 
der beiden genannten amerikaniſchen Städte merklich niedri— 
ger als die der beiden europäiſchen, bei Halifax um mehr 
denn 6, bei dem ſuͤdlicher gelegnen New York um 3 Grade. 
Weiter hin, gegen den Aequator hebt der Unterſchied allmä— 
lig ſich auf und ſchon bei 30° N. Br. genießen St. Augu⸗ 
ſtin und Kairo mit der gleichen geographiſchen Lage auch faſt 
denſelben Grad der mittleren Wärme. 

Und nicht nur gegen die Weſtküſte von Europa ſondern 
auch gegen die Weſtküſte ſeines eigenen Welttheiles ſtehet 
das öſtliche Küftenland von Amerika rückſichtlich der Milde 


des Klimas in großem Nachtheil. Neu⸗Archangelsk, an der 


Weſtküſte von Nordamerika liegt faſt in gleicher Breite mit 
Nain in Labrador und dennoch übertrifft die Jahreswärme 
des erſteren Ortes, die des letzteren um 8½ Gr. R, denn 
nicht nur die mittlere Sommerwärme ſteigt in Neu⸗Archan⸗ 


ee 


447 


gelsk um 6 Grad höher, ſondern auch die Winter find daſelbſt 
milder. Daſſelbe Verhältniß wiederholt ſich dann auch ver— 
gleichungsweiſe zwiſchen der Weſtküſte von Europa und 
der Oſtkuſte von Aſien. An der letzteren hat Peking eine 
Lage welche noch etwas ſüdlicher iſt als die von Neapel, 
und dennoch ſteht ſeine mittlere Temperatur um mehr 
denn 4 Grad niedriger als die von Neapel. Namentlich iſt 
der Winter in Peking, ſehr ſtreng, denn die mittlere Tem— 
peratur deſſelben kommt nahe an 2½ Grad R. unter dem Ge⸗ 
frierpunkt, die Winterkälte iſt mithin dort noch um etliche 
Grad ftärfer als in Kopenhagen, welches doch um 17 Grad 
nördlicher gelegen iſt. 

Das Angrenzen eines Meeres von Weſten her, dieß 
iſt offenbar, hat auf das Klima der Länder einen mildernden, 
begünſtigenden Einfluß, überhaupt aber wirkt die Nähe des 
Meeres ſehr bedeutend auf den Zuſtand der Temperatur 
der Erdoberfläche ein. Das Waſſer, als ein minder em— 
pfindlicher Wärmeleiter nimmt weder die Wärme des Sommers 
noch die Kälte des Winters in dem Grade an ſich als der 
feſte Boden. Die Wärme, ſelbſt jene welche die ſenkrecht 
auffallenden Sonnenſtrahlen im Gewäſſer erzeugen, wird 
überdieß durch die fortwährende Verdünſtung gemindert, 
der Einfluß der kalten Winterluft dadurch gemäßigt, daß 
ſich die Erkältung des Waſſers feiner ganzen Maſſe, bis in 
die Tiefe hinab mittheilt und hierdurch nur allmälig einen 
feſtſtehenden tieferen Grad erreicht, während zugleich das 
Waſſer nur wenig Wärme durch Ausſtrahlung an die kalte 
Luft abgiebt. Uebrigens iſt der Einfluß der Verdünſtung 
des Meeres mehr noch an der Abkühlung der auf ſeinem 
Spiegel aufliegenden Luft als an der Temperatur ſeiner 
Oberfläche ſelber zu bemerken; denn dieſe wird vom Aequas 
tor an bis zum 48° nördlicher wie fudlicher Breite immer 
um etwas hoher gefunden als die der zunächſt angrenzenden 
Luftſchichten. Durch all dieſe Beziehungen bewirkt das Meer 
eine Ausgleichung der Temperaturen, eine Mäßigung ſowohl 
der höheren Grade der Hitze als der Kälte des angränzenden 

Erdbodens, ſo daß die Küſtenländer und Inſeln keine ſolche auf— 
fallenden Temperaturunterſchiede zu erleiden haben als die weit 
vom Meere ab im Innern großer Feſtländer gelegenen Ge— 
genden. So haben nach v. Humboldts Bemerkung einige 
Städte im tiefen Innren des nördlichen Aſiens, wie Tobolsk, 


448 


(58° 12° N. Br.) Barnaul am Obi 53° 19 N. Br.) und 
Irkurtsk (52° 17) rückſichtlich der Temperatur eben ſolche 
Sommer wie Berlin 52° 31“) wie Münſter 51° 57) und 
wie Cherbourg in der Normandie (49° 389) ja das Ther⸗ 
mometer behält an jenen Orten zuweilen wochenlang ſeinen 
Stand auf 24 und faſt 25 Gr. R., aber auf dieſe Sommer 
folgen Winter in denen man einen Monat lang anhaltend 
eine mittlere Temperatur von 15 bis 16 Grad unter dem 
Eispunkt zu dulden hat. 

Vornämlich iſt es die Milde des Winters durch welche 
die mittlere Temperatur mancher Orte eine höhere Steigerung 
empfangen kann, ohne daß deshalb die Lage, für gewiſſe 
Erzeugniſſe der Pflanzenwelt eine günſtigere wird. Im Nord- 
oſten von Irland unter 54 Gr. 56 Min., mithin unter 
gleicher Breite mit Königsberg in Preußen, erhält ſich die mittlere 
Temperatur des Winters auf faſt 3½ Grad über dem Ge— 
frierpunkt, mithin höher als in Mailand, als in Padua und 
der ganzen Lombardei, wo der mittlere Thermometerſtand 
der Wintermonate nur etwa 2 Grad über dem Gefrierpunkt 
erreicht. Obgleich aber nun, wenn dieſe Milde des Winter— 
halbjahres allein den Ausſchlag gäbe, Dublin in Irland ein 
noch milderes Klima haben muͤßte als Mailand, wird den— 
noch jener ſcheinbare Vorzug ganz wieder durch den nach— 
theiligen Einfluß aufgehoben, den die geringe Wärme des 
Sommers von nur 12 G. R. im Mittel auf einen ſolchen 
faſt immer „nebelverſchleierten!“ Himmelsſtrich hat. Die 
mittlere Jahreswärme von Mailand iſt 10%, die von Dub— 
lin nicht viel über 8 Gr. R. Ofen in Ungarn giebt ein 
Beiſpiel vom Gegentheil. Dort iſt der Winter im Durchſchnitt 
ſo kalt, daß ſeine mittlere Temperatur faſt bis auf 2 Grad 
R. unter den Eispunkt herabſinkt, mithin über 5 Grad tiefer 
als in den erwähnten Gegenden von Irland; dagegen ſteigt 
die mittlere Wärme des Sommers in Ungarn bis über 16 ja 
bis gegen 17 Gr. R. Noch auffallender iſt der Contraſt 
zwiſchen den mittleren Temperaturen der Winter und der 
Sommer an einigen andren Küſtenpunkten und Inſeln des 
nordweſtlichen Europas. Auf den Orkneys Inſeln (3. B. Strom: 
neß) keinen halben Grad ſüdlicher als Stockholm, iſt (nach 
ml. v. Humpoldt) der Winter milder als in Paris, faſt ſo 
mild als in London. Selbſt auf den Farber Inſeln, in 
620 N. Br. gefrieren die Binnenwaſſer niemals. e 

ieb⸗ 


449 


lieblichen Küſte von Devonſhire, wo der Hafen Salcombe 
wegen ſeines milden Klimas das Montpellier des Nordens 
genannt worden iſt, hat man die ſogenannte amerikaniſche 
Alve (Agave americana) eben fo wie in Südfrankreich und 


Italien im Freien blühen ſehen. Dort, wie zu Pozana und 


Gosport und an den Küſten der Normandie zu Cherbourg 


ſteigt die mittlere Wintertemperatur über 4¼0 R. d. i. kaum 


1 Gr. R. weniger hoch als in Montpellier und Florenz. — 


Und dennoch würden wir weit irre gehen, wenn wir von der 
Kraft des Klimas jener weſtlichen Küſtengegenden im Allge— 
meinen daſſelbe erwarten wollten, was das Klima von Mont⸗ 
pellier, von Florenz und einigen andren, ähnlich gelegenen 
Gegenden zu wirken vermag. Während in der Umgegend von 
London der Erdbeerbaum und die Myrte eben ſo den Win— 
ter im Freien ausdauern, eben ſo im Freien ihre Blüthen 
tragen wie im botaniſchen Garten zu Montpellier, während 
auch in Irland der neuſeeländiſche Flachs im Freien gezogen 
werden kann, bringt daſelbſt der Weinſtock ſeine Trauben 
niemals zur vollkommnen Reife, und das gleiche widerfährt 
allen den andren Gewächſen, welche zur Reifung ihrer Früch— 
te und zu ihrer vollkommenſten Entwicklung einer hohen, an— 
haltenden Sommerwärme bedürfen, welche allerdings, damit 
die Pflanzen vom Froſt nicht verdorben werden, auch von 


einer gewiſſen Milde des Winters unterſtützt werden muß. 


Auf beides zuſammen wirkt nicht bloß der im Allgemeinen hö— 


here Stand der Sonne, ſondern mit ihm zugleich die Lage eines 


Erdſtriches gegen die angränzenden Meere und Länder ein. 
Der Einfluß der höhern, der zuletzt ſenkrecht ſtehenden Son— 
ne unter dem Aequator und zwiſchen den Wendekreiſen äußert 
ſich wie wir vorhin ſahen in viel ſtärkerem Maaße auf den 
feſten Boden als auf das Meer. Von dem feſten Boden, 
vor allen wenn dieſer trocken, ſteinig und ſchattenlos iſt, wie 
der Boden der afrikaniſchen und aſiatiſchen Sandwüſten, 
erheben ſich, wenn die hochſtehende Sonne ſie beſtrahlt, 
am Tage die heißen Luftſtrömungen, die ſich in die kälteren 
Gegenden der weiter nach den Polen hin gelegenen Erdſtriche 
ergießen, während aus dieſen ſo wie von oben die ſchwerere, 
kältere Luft ſich hinzudrängt. Der Boden der ſteinigen und 


ſandigen, zwiſchen den Wendekreiſen gelegenen Wüſten wird 


während des Tages nicht ſelten bis zu 42 ja zu mehr als 
48 Gr. R. erhitzt. Den zuletzt erwähnten Grad der Erhiz— 


80 


450 


zung beobachtete Al. v. Humboldt in dem weißen Granit⸗ 
ſand an den Waſſerfällen des Orinoco, während die Wärme 
der Luft doch kaum 24 Gr. R. betrug; dagegen ſahe J. v. 
Roth, der Begleiter des Capitän Harris auf der engliſchen 
Expedition nach Schoa, das Thermometer über der ſteinigen 
Wüſte unter dem 9. Grade der Breite im Schatten auf nahe 41 
Grade R. ſteigen. Ein ſolches Uebermaaß der Tageswärme 
kann ſich jedoch im Verhältniß zu den kälteren Luftſchichten 
der oberen ſo wie der polariſchen Regionen nicht lange hal⸗ 
ten, gewöhnlich zeichnen ſich die Nächte der tagheißen Wü⸗ 
ſten durch eine empfindliche Abkühlung ihrer Nächte aus. 

Die Linie des höchſten Standes der Sonne trifft nur 
mit dem ſechſten Theil ihres Verlaufes auf feſtes Land, mit 
den übrigen fünf Sechstheilen auf das Gewäſſer auf. Je⸗ 
nes vorzugsweiſe begünſtigte Sechstheil gehört faſt zur Hälfte 
dem Erdtheil von Afrika an, über deſſen Ländermaſſen der 
Aequator ſich hinzieht; auch über einigen Gegenden des Feſt⸗ 
landes und der größeren Inſeln von Aſien ſo wie von Auſtra⸗ 
lien ſtehet die Sonne zweimal im Jahre ſenkrecht, während 
nur / des unter dem Aequator gelegenen Landes zu Ameri⸗ 
ka gehören. Schon hierin liegt eine Urſache jener höheren 
Jahreswärme, durch welche ſich namentlich Europa vor dem 
größten Theil der andren Feſtländer auszeichnet. Die war— 
men Luftſtrömungen, die ſich durch den Einfluß der Sonne 
auf dem zwiſchen den Wendekreiſen gelegenen Boden von 
Afrika erzeugen, nehmen an einigen Punkten nur einen ganz 
kurzen Verlauf über das Mittelmeer, und ſelbſt da wo die⸗ 
ſes eine größre Breite zwiſchen beiden Welttheilen einnimmt, 
vermag es die wärmende Kraft der aus Süden kommenden 
Winde ſo wenig zu ſchwächen, daß dieſelben als heißer Siroc⸗ 
co durch ganz Italien und bis herauf an die Tiroler 
Alpen fühlbar ſind. Faſt dieſelben Vortheile der Erwärmung 
genießen die weſtlichen Länder von Aſien bis an die mittleren 
Grade der Breite und namentlich die oſtindiſchen Halbinſeln 
mit der Nachbarſchaft ihrer großen Inſeln. f 

Den ganz entgegengeſetzten erkältenden Einfluß haben 


die Luftſtrömungen welche aus den Polargegenden kommen, 


auf ein Feſtland, das ſich in ununterbrochenem Verlaufe bis 


weit hin gegen den Pol erſtreckt. Europa gränzet mit ſeinen 


nördlichſten Küſten an ein Meer an, welches ſich bis über 
den Polarkreis hinaus, großentheils frei von Eiſe hält, wäh⸗ 


451 


rend das nördlichſte Feſtland von Aſien zum Theil über den 
Polarkreis ſich ausbreitet und eben fo wie der nöͤrdlichſte Kü⸗ 
ſtenſaum von Amerika von einem Meer umgürtet iſt, welches 
nur ſtellenweis vom Eiſe frei wird. Von daher kommen jene 
rauhen Luftſtrömungen, welche den Wintern ſelbſt in den 
ſüdlicheren Gegenden von Sibirien einen ſo hohen Grad von 
Kälte bringen. 

| Das Zurückbleiben der atmosphäriſchen Luftmaſſen gegen 
die rotirende Bewegung des Erdaequators von Weſt nach 
Oſt erzeuget zwiſchen den Wendekreiſen den beſtändigen Strom 
der Oſtwinde (Paſſatwinde). Das hierdurch geſtörte Gleich- 
gewicht der Luftſäulen ſtellt ſich durch die Weſt- und Süd⸗ 
weſtwinde wieder her, welche in den angränzenden gemäßig⸗ 
ten Zonen den größeſten Theil des Jahres hindurch vorherr— 
ſchen. Wo dieſe vorwaltende Luftſtrömung über ein weit- 
ausgedehntes Meer dahinſtreicht, ehe ſie das Land erreicht, 
da nimmt ſie die auch im Winter mildere Temperatur des 
Meeres an und theilt dieſelbe den Küſtengegenden mit; wenn 
ſie dagegen einen weiten Lauf über Feſtländer nimmt, dann 
wird ſie durch die winterliche Kälte derſelben ſo abgekühlt, 
daß fie die Jahreswärme der Landſtriche, über welche ſie ſich 
ergießt, um ein Bedeutendes herabſtimmt. Hierin liegt der 
Hauptgrund der milderen Winter der an der Weſtküſte, der 
härteren Winter der an der Oſtküſte gelegnen Gegenden 
unſrer Feſtländer. 

Ueberhaupt bewirkt aber, wie ſchon oben erwähnt, das 
Meer eine Ausgleichung der Temperaturen des Sommers 
und des Winters, daher die Bildung des Landes zu Halbin— 
ſeln, das tiefe Hineintreten von Meeresbuchten, das Bor: 
kommen von anſehnlichen Binnenmeeren, überall zur Milde⸗ 
rung des Klimas beiträgt. Vor Allem bringen die Strö— 
mungen des Meeres, wenn ſie eine erhöhte Temperatur be— 
ſitzen, den Ländern, deren Ufer ſie beſpülen, den Vortheil 
einer Wärmeerhöhung, wie dies Sabine an dem Golfſtro— 
me nachgewieſen hat, der von den Küſten von Mexico her— 
über feinen Lauf gegen die Weſtküſten von Afrika und Euro- 
pa nimmt. In all dieſen Beziehungen erſcheinen deshalb 
Europa und das weſtliche an das Mittelmeer wie an das 
ſchwarze und caspiſche Meer gränzende Aſien für das Ge— 
deihen und Wohlbefinden ihrer Bewohner eben ſo vorzugs⸗ 
weiſe geeignet als für den Verkehr der Völker, und faſt die⸗ 

29 


452 


felben Vorzüge genießen die zu Halbinſeln ausgedehnten, von 
tief hereintretenden Meeresarmen durchſchnittenen Länder des 
ſüdlichen Aſiens ſo wie mehrere Erdſtriche des mittleren 
Amerikas. 

Einem örtlichen Einfluß von entgegengeſetzter Art, zur 
Herabſtimmung der Jahreswärme, üben in der gemäßigten 
und kälteren Zone das Vorkommen von Sümpfen und ſeich⸗ 
ten Waſſern, die ſich im Winter mit Eis bedecken und im 
Frühling ſpät aufthauen, ſo wie die Nachbarſchaft von iſolirt da— 
ſtehenden hohen Bergen, von deren beſchneiten Gipfeln kalte 
Luftſtröme ſich nach der Tiefe herabſenken, weit ausgedehnte 
Waldungen, welche durch die Verdünſtung der angeſogenen 
Feuchtigkeiten und durch Beſchattung des Bodens dieſen ab— 
kühlen, endlich auch die Richtung von lang fortlaufenden Ge- 
birgszügen, welche den Zutritt der warmen Luftſtrömungen 
aufhalten. 

Da, wo der Himmel im Sommer von beſtändigem Ne— 
bel und atmosphäriſchen Niederſchlägen getrübt, der Winter 
dagegen heiter iſt, ſo daß die Wärme des Bodens ungehemmt 
durch Ausſtrahlung ſich zerſtreuen kann, kann die Erde kein 
anmuthiger Wohnſitz für den Menſchen ſeynz deſto höher aber 
ſteigen die Reize der Natur in Gegenden, wo der Himmel 
faſt beſtändig heiter und zugleich dennoch zu gewiſſen Jah— 
reszeiten nicht ganz arm an Ergüſſen des Regens iſt. 

Wenn wir die Ausdehnung der verſchiedenen, nach dem 
Stand der Sonne und der herrſchenden Jahreswärme abge— 
gränzten Zonen betrachten, dann ſtellt ſich im Ganzen fur 
die geſammte Erdoberfläche ein ſehr günſtiges Verhältniß 
heraus. Die heiße Zone, welche ſich vom Aequator nach bei— 
den Seiten bis zu den Wendekkeiſen erſtreckt, umfaßet einen 
Flächenraum von 3,700,000 Quadratmeilen, jede der beiden 
gemäßigten Zonen von den Wendekreiſen bis zu den Polar⸗ 
kreiſen 2¼ Millionen, beide zuſammen 4% Millionen Mei⸗ 
len, jede der kalten, für den Menſchen faſt durchaus unwirth⸗ 
baren Polarzonen nur 384,000 Quadratmeilen. Bloß für den 
eilften Theil der Erdoberfläche iſt deshalb die Einwirkung 
der Sonnenſtrahlen ſo unkräftig, daß ſie zum Theil ſelbſt 
im Sommer das Eis und den Schnee nicht mehr hinwegzu— 
thauen vermag. 

An den beiden Extremen, in der heißen wie in der Po— 
larzone wird im Ganzen, wie bereits erwähnt, unter gleichen 


453 


Breiten die größeſte Uebereinſtimmung der mittleren Tempe— 
ratur gefunden; wenn wir dagegen unter gleicher Parallele 
von den Küſten des atlantiſchen Meeres, von Frankreich 
aus durch Deutſchland, Polen und Rußland immer oſtwärts 
zur Uralkette die Jahreswärme der Gegenden vergleichen, 
dann ſehen wir dieſe immer tiefer herabſinken. Jenſeits des 
Urals werden die milden Weſtwinde ſchon zu erkältenden 
Landwinden; das Klima des weſtlichen Sibiriens unterliegt 
all den nachtheiligen Einflüßen, denen ein lang fortlaufendes, 
von einförmigen Steppen, ſalzigen Lachen und Sümpfen 
bedecktes Feſtland ausgeſetzt iſt. Umgekehrt, wenn wir uns 
über die Oberfläche der Erdkugel, neben und zwiſchen jenen 
Linien, welche die Breitegrade andeuten, andre Linien ge— 
zogen denken, welche die gleichen Grade der Jahreswärme 
bezeichnen (die Iſothermlinien), dann finden wir daß eine 
ſolche Linie von der Oſtküſte von Amerika herüber nach der 
Weſtküſte von Europa ſich bedeutend aufwärts krümme, in— 
dem hier nahe am 70. Grade der Breite noch dieſelbe mitt— 
lere Temperatur herrſcht, wie dort kaum unter dem 57. und 
60. Folgen wir aber derſelben Linie von der Küſte von 
Lappland weiter oſtwärts nach Aſien hinüber, ſo ſehen wir 
ſie abermals ſich bedeutend abwärts krümmen, ſo daß im 
öſtlichſten Aſien unter dem 57. bis 60. Grad der Breite die 
mittlere Temperatur auch nicht höher ſteht als im nördlich— 
ſten Lappland. Von neuem ſteigt jedoch dieſe Iſothermlinie, 
wenn wir ihr über das Gebiet des ſtillen Meeres hinüber— 
folgen, nach der Weſtküſte von Nordamerika, wieder aufwärts; 
die mittlere Jahreswärme kommt hier jener nahe, welche 
die unter gleichen Breiten gelegenen Punkte der euro— 
päiſchen Weſtküſte auszeichnet. Auf dieſe Krümmungen der 
iſothermen Linien, auf ihr Hinabſinken unter, ſo wie ihr Hin— 
anſteigen über die Linien der geographiſchen Breiten denen 
ihre Richtung im Ganzen am nächſten kommt, hat an vielen 
Punkten, wo dieſelben über Meer und Inſeln oder einzelne 
Theile des Feſtlandes ſich hinziehen, dieſe Verſchiedenheit der 
Geſtaltung der Erdfläche einen augenfälligen Einfluß, ſo daß 
auf einmal da, wo die iſothermen Linien vom Meere oder von 
kleineren Inſeln aus eine langgedehnte Landzunge oder eine 
größere Inſel durchſchneiden, unter den oben erwähnten be— 
günſtigenden Umſtänden eine Erhöhung, unter den entgegen— 
geſetzten eine Erniedrigung des Temperaturgrades eintritt. 


454 


In einigen nachbarlichen Gegenden ſelbſt eines und deſſelben 
Feſtlandes bewirkt bei Orten, welche ganz in derſelben geo⸗ 
graphiſchen Breite und in gleicher Höhe über dem Meere lie⸗ 
gen, ſchon das eine bedeutende Verſchiedenheit in der mittle⸗ 
ren Temperatur, wenn der eine davon am Abhange eines 
Gebirges, der andre auf einer weit ausgedehnten Hochebene 
deſſelben ſich befindet. Die letztere Lage gewährt in den Cor⸗ 
dilleren eine Erhöhung der Jahreswärme von 1 bis nahe 
an 1½ Gr. R. 

Daß ſeit Jahrtauſenden die allgemeine, mittlere Wär⸗ 
me unſres Planeten keine bemerkbare Veränderung erlitten 
habe beweist nicht allein die hiſtoriſche Kunde, ſondern ſelbſt 
die mit der größten Schärfe geführte Rechnung der Aſtrono⸗ 
men. Mit der abnehmenden Wärme würden ſich zugleich 
andre, ſehr tief eingreifende Naturverhältniße geändert haben, 
mit welchen die Dauer der Bewegung um die Achſe, die Län— 
ge des Tages im Zuſammenhang ſtehet, von der ſich erwei— 
ſen läſſet, daß ſie ſeit Jahrtauſenden dieſelbe geblieben ſey. 
Die Abweichungen der Temperatur einzelner Jahre, ja ſelbſt 
mehrerer Jahrgänge ſind eben ſo örtlich als vorübergehend, 
und während der eine Länderſtrich einen ungewöhnlich har— 
ten Winter hat, oder an einer lang dauernden Hitze und Dürre 
leidet, herrſcht in einem andren Länderſtrich zur gleichen Zeit 
ein feuchtwarmer Winter, oder ſein Boden wird bis zum 
Uebermaaß vom Regen überfluthet. In der jetzigen Welt— 
zeit hat die nördliche Halbkugel unſres Planeten auch darin 
einen Vorzug vor der ſüdlichen, daß die Mitte ihrer Som— 
mer nahe mit jener Zeit ihres Jahreslaufes zuſammenfällt, 
während welcher ſich die Erde in ihrer Sonnenferne befindet, 
die Mitte des Winterhalbjahres mithin mit der Zeit der 
Sonnennähe. Da ſich, nach dem Geſetz der allgemeinen 
Schwere, oder der polariſchen Wechſelwirkung zwiſchen dem 
Centralkörper und den ihm zugeordneten Körpern, die Ger 
ſchwindigkeit der Bahnbewegung in einem quadratiſchen Ver⸗ 
hältniß mit der größeren Annäherung an den Centralkörper 
ſteigert, ſo iſt die Folge jenes Zuſammentreffens der beiden 
Hauptjahreszeiten mit den verſchiedenen Abſtänden von der 
Sonne die, daß das Winterhalbjahr auf der nördlichen Halb— 
kugel um faſt 8 Tage (7 Tage 18 Stunden) kürzer dauert 
als das Sommerhalbjahr, dieſes mithin um eben ſo viel 
länger. Da jedoch dieſes Verhältniß veränderlich iſt, indem 


455 


auch die Punkte der Erdbahn, dahin die Sonnennähe und 
die Sonnenferne fallen, nicht immer in derſelben Stellung 
bleiben, ſondern jährlich um 61¼ Secunden (faſt um den 29. 
Theil des Durchmeſſers einer Mondenſcheibe) vorrücken, ſo 
folgt hieraus: daß der Unterſchied zwiſchen der Länge des 
Sommers und des Winters, auf beiden Halbkugeln, nicht im⸗ 
mer derſelbe war, noch derſelbe bleiben könne. Schon jetzt 


fällt die Zeit der Sonnennähe nicht mehr genau mit Win⸗ 


‚terdanfang zuſammen, ſondern am 1 Januar, auch die Son⸗ 
nenferne tritt nach der eigentlichen Mitte des Sommerhalb— 
jahres (nach dem Sommerſonnenſtillſtand), erſt am 3. Juli 
ein und jedesmal nach etwa 58 Jahren rücken dieſe Zeit— 
punkte um einen Kalendertag weiter vorwärts. Wenn man 
deshalb zurückrechnet, dann findet man daß vor faſt 6000 
Jahren die Sonnennähe mit dem Anfang des Herbſtes, die 
Sonnenferne mit der des Frühlinges zuſammentrafen und 
daß damals die beiden Hauptjahreszeiten für beide Halbku— 
geln die vollkommen gleiche Dauer hatten. Deshalb war 
aber, zu jener Zeit, die nördliche Halbkugel weder wärmer 
noch kälter, als ſie jetzt iſt. Denn außerdem daß, wie ſchon 
erwähnt, die berechnende Aſtronomie aus der ſich gleichblei— 
benden Dauer der täglichen Umdrehung der Erde um ihre 
Achſe es erwieſen hat, daß die mittlere Erdwärme ſeit Jahr— 
tauſenden dieſelbe geblieben ſei, hat ohnehin auch die Um⸗ 
laufszeit der Erde um die Sonne, oder das Jahr, die voll⸗ 
kommen gleiche Länge behalten, der mittlere Abſtand der Erde 
von ihrem Centralkörper iſt noch genau derſelbe wie vormals. 
Die Beleuchtung und Erwärmung des Feſtlandes zwiſchen 
den Wendekreiſen, durch die ſenkrecht oder faſt ſenkrecht ſtehen⸗ 
de Sonne, hat ſich mithin im Ganzen an Dauer wie an 
Kraft unverändert erhalten; die warmen Luftſtrömungen, wel⸗ 
che von dem beſtrahlten Feſtboden auffteigen, die Meeresſtrö⸗ 
mungen welche aus der heißen Zone dieſſeits wie jenſeits 
dem Aequator und von der Oſtküſte des weſtlichen Feſtlan⸗ 
des kommend hinan gegen die Weſt- und Nordküſte des Feſt⸗ 
landes der öſtlichen Halbkugel ſich ergießen, ſind die nämlichen 
geblieben; das Verhältniß der periodiſchen Ausgleichungen 


der Wärme der einen mit der Kälte der andren Gegend be— 


ſtund vor Jahrtauſenden in derſelben Weiſe und wird nach 
Jahrtauſenden noch eben ſo beſtehen als es jetzt vorhanden 
iſt. Selbſt die Zu- wie die Abnahme des Eiſes der Polar⸗ 


456 


meere wie der Hochgebirgsgipfel ftehet innerhalb gewiſſer 


Grenzen der wechſelſeitigen, periodiſchen Ausgleichung. Der 
Vorzug, welchen die nördliche Halbkugel vor allem rückſicht⸗ 


lich ihrer wärmeren Sommer vor der ſüdlichen hat, gründet 


ſich vorzugsweiſe auf die größere Maſſe der Feſtländer, die 
ſich auf ihr zuſammengedrängt findet. Die vorherrſchende 
Menge des Gewäſſers auf der ſüdlichen Halbkugel gewährt 
dieſer zwar eine gewiſſe Milderung der Winterkälte, giebt 
aber auch zugleich Veranlaßung zur Ueberfüllung der Atmos⸗ 
phäre mit wäßrigen Dünſten und Niederſchlägen, welche 
die Wärme des Sommers niemals recht aufkommen, die 
ſtrahlende Kraft der Sonne niemals durch ihre nebliche Hülle 


in ihrem vollem Maaße hindurchbrechen laſſen. Furchtbar 


muß deshalb, im Vergleich ſelbſt mit den Polarländern 
der nördlichen Halbkugel der Zuſtand des neuentdeckten, ſüd— 
lichen Polarlandes ſeyn. Das erſtere hängt doch zum Theil 
mit Feſtlandmaſſen zuſammen, aus denen vom ſonnenbeſtrahl— 
ten Boden noch warme Luftſtrömungen ausgehen können, 
ohne über dem Meer ihre höhere Temperatur zu verlieren; 
das ſüdliche Polarland aber iſt durch ein weites Meer und 
zuletzt durch die Eismaſſen welche dieſes erfüllen, von ſolchen 
Zuflüßen der Luftwärme abgeſchnitten. 

Dennoch regt ſich auch noch in der Nähe dieſer umnebel— 
ten, niemals thauenden Eismaſſen eine Welt der kleinſten 
mikroſcopiſchen Thiere, in ſolcher Verſchiedenheit der Arten 
und in ſolcher unermeßbaren Menge der Einzelweſen, daß 
allein Capitän Roß von ſeiner Reiſe nach dem Südpol 
unter 78 Gr. 10 Min. ſüdlicher Breite, aus den Stücken 
des herumſchwimmenden Eiſes über 15 Arten ſolcher Klei⸗ 
nen mit ihren kieſelhaltigen Schaalen mitgebracht hat. 
In einigen derſelben ließen die grünlichen Eierſtöcke keinen 
Zweifel darüber, daß die Thiere nicht etwa zu längſt geitor- 
benen ſondern zu den noch lebenden Weſen, zu den fortwäh⸗ 
renden Bewohnern der kälteſten Zone der Erde gehörten.“ 

Wenn aber auch dieſes kleine Gewimmel des Thierrei- 
ches durch die zahlloſe Menge, in der es ſowohl die ſüͤdliche 


als die nördliche Polarzone bewohnt, einen Beweis giebt, 
daß ſelbſt noch in dem winterlichen Halbdunkel jener Gegen⸗ 
den, wie in der Tiefe der Schächte ein Leben möglich fey, 


ſo gilt dieſes doch nur zunächſt von dieſen unvollkommnen 
Formen unter den Lebendigen. Die andren, höher ſtehenden, 


* 


e 


E 


457 


bedürfen, wie dies Al. v. Humboldt dargethan hat, nicht 
nur des Einflußes einer höheren, mittleren Jahreswärme, 
ſondern auch des klar, durch unumwölkten Himmel und aus 
einem gewißen höheren Stande herabſtrahlenden Lichtes der 
Sonne. Ein Gemiſch von Chlor und Waſſerſtoffgas ent— 
zündet ſich bei derſelben Höhe der Lufttemperatur nicht, wenn 
der Himmel getrübt und hierdurch der Strahl auch der hoch— 
ſtehenden Sonne etwas geſchwächt iſt; ſein Entflammen mit 
heftiger Exploſion tritt aber alsbald ein, wenn das Licht in 
voller Klarheit aus dem atmosphäriſchen Höhendunſt hervor— 
bricht. So finden wir auch daß in manchen weſtlichen Kü— 
ſtengegenden unſres Welttheiles zwar bei der hohen mittleren 
Jahreswärme die Myrte wie der Lorbeerbaum im Freien 
grünen, und dennoch kommen dort manche Arten der Früchte 
nicht zur Reife, weil der meiſt von wäßrigen Dünſten ver— 
ſchleierte Himmel das Sonnenlicht nur ſelten in voller Klar— 


heit hindurchbrechen läßet, und die geographiſche Stellung 


der Gegenden eine zuweit gehende Abweichung der Strahlen 
von der geradlinigen Richtung mit ſich bringt. Es führt 
uns dieſes von der Betrachtung der Sonnenwärme und ihres 
Einfluſſes auf die Erdoberfläche zur Betrachtung des Lichtes 
der Sonne und ſeiner Eigenſchaften. 


53. Das Daguerrotyp und die Photographie 
i oder Lichtzeichnung. 


Wir verweilen hier zuerſt auf einige Augenblicke bei 
einer der merkwürdigſten Entdeckungen der neueſten Zeit, weil 
uns dieſelbe in anſchaulichſter Weiſe mit einer Eigenſchaft 
des Lichtes bekannt macht, durch welche dieſes die innre Ver— 
wandtſchaft ſeines Weſens mit jenem der früher betrachteten 
elektromagnetiſchen Naturkräfte kund giebt. 

Man wußte es längſt, daß die ſchwingende Bewegung 
der tönenden Körper, die ſich als hörbaren Ton der Luft 
und hierdurch unſrem Ohre mittheilt, eine gewiſſe, Geſtalten 
bildende Kraft habe. Wenn man auf Glastafeln, die beim 
Streichen ihres Randes durch den Violinbogen verſchiedene 
Töne von ſich geben, den zarten Staub eines fein gepulver— 
ten Körpers, wie den von Kolophonium aufſtreut, dann be— 
merkt man daß ſich beim Tönen der Glastafeln oder der and— 
ren in hörbare Schwingung geſetzten Körper aus der verſchie— 


458 


denartigen Aneinanderfügung des Staubes eben ſo verſchied⸗ 
ne Figuren bilden als Töne waren. Auch die Schwingung 
in welche der elektriſche und elektromagnetiſche Strom die 


Körper verſetzt, bringen in ähnlicher Weiſe Geſtaltungen her⸗ 


vor, und ſchon frühe erkannte man die Verſchiedenheit in 


der ſich hierbei die poſitive wie die negative Elektrizität 


äußern. Im Lichte, und zwar vor Allem in dem der 
Sonne, mußte ſchon die Beobachtung der früheſten Men⸗ 
ſchenalter die Farben gebende wie die geſtaltende Wirkſamkeit 
anerkennen. Jene verkrüppelten misfarbigen Anomien, (ein 
Geſchlecht der zweiſchaaligen Muſcheln) welche durch die An⸗ 
ker und andre in das Meer geſenkte Werkzeuge aus einer 
Tiefe des Gewäſſers heraufgezogen werden, in welcher nur 
noch ein ſchwachdämmernder Lichtſchein von oben hinabfällt, 
laſſen uns, eben ſo wie die in dunklen Gruben oder Kellern 
hervorbrechenden bleichfarbigen, unvollkommen ausgebildeten 
Sproſſen der Kartoffelknollen oder andrer Gewächſe die Ab— 
hängigkeit erkennen, in welcher die Bildung der belebten Kör— 
per von dem Einfluß des Tageslichtes ſtehet. Die kryſtal— 
liniſche Geſtaltung der unorganiſchen Stoffe ſcheint allerdings 
jenes unmittelbaren Einflußes nicht zu bedürfen; deſto wich⸗ 
tiger iſt jedoch derſelbe für viele chemiſche Bildungen, Zer— 
ſetzungen und Umgeſtaltungen der Elemente. 

Namentlich wirkt das Sonnenlicht in zerſetzender Eigen⸗ 
ſchaft auf die Verbindungen, des Goldes und Silbers, mit 
verſchiedenen Grundſtoffen; beide Metalle empfangen hiebei 
das Vermögen ſich in einer metalliſchen Form oder im Zu— 
ſtand einer niedren unvollkommenen Oxydation auszuſcheiden. 
Wir ſprachen oben S. 183 von dem Jod, das durch Aus— 
laugung der Aſche mehrerer Seegewächſe gewonnen, übers 
dieß auch dem Waſſer mancher Quellen in geringer Menge 
beigemiſcht iſt. Dieſer im Waſſer ſchwer, im Weingeiſt leicht 
auflösliche, faſt metalliſch glänzende Grundſtoff, der ſich 
durch die Wärme in ein Gas von veilchenblauer Farbe ver- 
wandelt, geht eben fo wie das Chlor und das Brom (feine 
beiden Mitbewohner des Meeres und der Seegewächſe) mit 
dem Silber Verbindungen ein, aus denen dieſes Metall 
durch Einwirkung des Lichtes alsbald ausgeſchieden wird. 
Auf die leichte Zerſetzbarkeit des Jodſilbers gründet ſich 
denn die jetzt näher zu beſchreibende, im Jahr 1839 von 
Niepce und Daguerre gemachte Erfindung. 


N 


459 


Eine Kupferplatte wird mit Silber überzogen (plattird) 
und dann ſorgfältig polirt um ihr eine möglichſt glatte, reine 
Fläche zu gebenz ſie wird hierauf an einem dunklen Orte in 
ein Behältniß geſtellt, auf deſſen Boden Jod ſich befindet, 
das durch die von unten herauf wirkende Erhitzung ſich in 
Dampf verwandelt und als ſolcher mit dem Silber an ſeiner 
Oberfläche ſich verbindet, welches dadurch eine dunkle faſt 
goldgelbe Färbung erhält. Sobald dieſe Verbindung vollen— 
det iſt, wird die Metallplatte mit ihrem feinen Jodſilber— 
überzug unmittelbar aus dem dunklen Behältniß heraus in 
eine Camera obſcura gebracht, in welcher das Bild des von 
der Sonne beleuchteten Gegenſtandes in einem Spiegel auf— 
gefangen, und von dieſem in eine Sammellinſe hineingeſtrahlt 
wird, welche das empfangene Bild, nach verkleinertem Maaß— 
ſtab auf die in ihrer Brennweite ſtehende Metallfläche eben ſo wie 
auf jede andre Fläche auffallen läßet. Nach wenig Augenblicken 
hat das Licht, das von dem beleuchteten Körper hinein in 
die Camera obſcura und aus dieſer auf dem Jodſilberüber— 
zug abgeſtrahlt wird, an dieſem ſchon ſeine zerſetzende Wir— 
kung geäußert: das Silber iſt in einen Zuſtand der Ausſchei— 
dung von dem Jod übergegangen. Noch aber wird, wenn 
man die Platte ſchnell genug heraus zieht, (bevor auch das 
ſchwächere Licht der umgebenden Luft ſeinen zerſetzenden Ein— 
fluß äußern konnte) keine Spur von einem Bild auf ihrer 
Oberfläche bemerkt, wohl aber wird daſſelbe ſichtbar, wenn 
man die Platte aus der Camera obſcura heraus abermals 
auf einige Minuten in einen dunklen Kaſten bringt, auf deſ— 
fen bis zu 52 oder 56 Grad Réaumur erwärmten Boden 
Queckſilber ſich befindet, welches bei dieſer erhöhten Tempera— 
tur die Form des Dampfes annimmt und in dieſer Form 
mit dem Silber, ſo weit dieſes durch die Einwirkung des 
Lichtes aus ſeiner Gebundenheit mit dem Jod frei herausge— 
treten iſt, ſich vereint. Es bleibt nun nichts mehr zu thun 
übrig als den zarten Ueberzug der Silberbelegung, der aus 
Jodſilber beſteht, ſo weit er noch in ſeiner anfänglichen 
Form vorhanden iſt, hinwegzuſchaffen, damit die Zerſetzung 
und Farbenveränderung deſſelben durch das Licht nicht über 
jene Gränzen gehen möge, die ihm die Kunſt des Menſchen 
zur Erzeugung des Bildes in der Camera obſcura vorgezeich— 
net hatte. Dieſes geſchieht, indem man die Platte in eine 
Löſung von unterſchweflichſaurem Natron in Waſſer oder 


460 


auch in eine ſiedendheiße Kochſalzauflöſung eintaucht, indem hier 
das Jod ſeine Verbindung mit dem Silber verläßt und mit 
dem Natron ſich vereint. Die Platte wird hierauf in voll 
kommen reinem (deſtillirtem), kochenden Waſſer abgeſpült. Dem 
Queckſilberamalgam, das ſich an den Stellen gebildet hat 
wo das Silber aus dem Jod hervorgetreten war, konnte die 
ſchwache ſchwefelſaure Natronauflöſung oder das ſiedende 
Salzwaſſer nichts anhaben, dieſes ſteht jetzt, freie Erhaben⸗ 
heiten bildend, auf der wieder ganz von ihrem Jodanflug 
gereinigten, hellglänzenden Silberbelegung der Platte da, und 
das Bild iſt fertig. 

Das ſo eben beſchriebene, von dem Erfinder der Photo⸗ 
graphie zuerſt angewendete, Verfahren kann auf verſchiedene 
Weiſen abgeändert werden, indem man ſtatt des Jods in 
feſter Form eine mit Waſſer verdünnte Auflöſung deſſelben 
in Weingeiſt anwendet; zum Hinwegſchaffen des Jodſilber— 
überzuges reicht auch eine kalte Kochſalzauflöſung hin, wenn 
man die Platte, die in die Auflöſung eingetaucht iſt, mit 
einem Zinkſtäbchen berührt und ſo durch galvaniſchen Einfluß 
die chemiſche Anziehung verſtärkt. Auch hat man die Em— 
pfindlichkeit des Silberauflöſungs-Anfluges auf der Platte, 
gegen die Einwirkung des Lichtes, dadurch auf einen noch 
höheren Grad geſteigert, daß man ftatt des reinen Jods eine 
Verbindung deſſelben mit Chlor anwendete, oder daß man ſei— 
ner flüßigen Auflöſung etwas Brom zuſetzte, ja ſchon dadurch, 
daß man die Platte, wenn die Bildung des Jodſilberanflu⸗ 
ges vollendet war, einige Augenblicke über ſchwaches Chlor⸗ 
waſſer hielt, wobei ihre gelbliche in eine röthliche Färbung 
übergeht. Dazu ſind noch jene zweckmäßigen Abänderungen 
an der Camera obſcura durch zuſammengeſetzte Objectivgläſer 
gekommen, mittelſt deren eine größer Oeffnung für das ein⸗ 
fallende Licht und ſomit eine Verſtärkung ſeines Einflußes 
gewonnen wurde. Erſt durch dieſe Verbeſſerungen iſt es eigent⸗ 
lich möglich geworden, die vom Lichte ſichtbar gemachte Welt 
der Erſcheinungen in ihrem eiligſten Vorüberfluge zu ergrei— 
fen und als Bild feſtzuhalten. 

Statt der mit Silber überzogenen Platten hat man auch 
Papier angewendet, das mit einer ſchwachen Löſung von fal- 
peterſaurem Silber (17, Quentchen in 12 Loth Waſſer) be⸗ 
ſtrichen, hierauf getrocknet, dann in eine wäßrige Auflöſung 
von Jodkalium getaucht, hierauf durch gewöhnliches Waſſer 


461 


gezogen und wieder getrocknet wird. Man ſchützt das Pas 
pier vor dem Zutritt des Lichtes; unmittelbar vor dem Ge⸗ 
brauch beftreicht man es mit einer Miſchung der ſalpeterſau— 
ren Silberauflöſung mit / Eſſigſäure und mit einer geſät— 
tigten Auflößung von Gallusſäure. Nachdem das ſo behan⸗ 
delte Papier in der Camera obſcura kurze Zeit der Einwir— 
kung des Lichtes ausgeſetzt worden, beſtreicht man es aber⸗ 


mals mit der eben erwähnten Miſchung, erwärmt es gelind, 


N 
BER 


und wendet zuletzt eine Auflöfung von Bromkalium zum Feſt⸗ 
ſtellen der Umgränzung des Bildes an. Freilich erſcheint 
an der Lichtzeichnung, ſo wie man ſie da erhält, Das dunkel, 
was an dem dargeſtellten Gegenſtand hell, Das hell was an 
ihm dunkel war; dieſer Uebelſtand läßt ſich aber dadurch be- 
ben, daß man die Lichtzeichnung zwiſchen zwei Glasplatten 
auf ein andres in gleicher Art vorbereitetes, noch unbenutztes 
Papier legt und beide hierauf der Einwirkung des Sonnenlich— 
tes ausſetzt. Denn dann bringt das Licht, durch die hellen 
Stellen der Lichtzeichnung hindurchſcheinend, im darunter 
liegenden Papier jene Zerſetzung hervor, wodurch das dun— 
kelfarbige Silberoxyd heraustritt, und da wo die dunkleren 
Stellen der Lichtzeichnung aufliegen, entſtehen nach dem Maa⸗ 
ße der größeren oder geringeren Undurchſichtigkeit, hellere 
Parthieen. In ſolcher Art kann man auch durch zweimalige 
Uebertragung Copien von Handzeichnungen und Kupferſti⸗ 
chen möglich machen. Die Bereitung jedoch eben ſowohl 
als die Anwendung der von ihrem Erfinder Talbot ſoge⸗ 
nannten kalotypen Papiere hat viel größere Schwierigkeiten 
und gewährt keine ſolche genaue Ausführung der Lichtzeichnun⸗ 
gen, als die Anwendung der mit Silber belegten Metallplat— 
ten nach Daguerres Methode. 

Es iſt in der That bewundernswürdig was durch die 
Erfindung des Daguerrotypes, dieſer einfachen Zuſammenfü⸗ 
gung einer Camera obſcura mit einer von Jodſilberanflug 
überkleideten Metallplatte, geleiſtet werden kann. Der Rei⸗ 
ſende, den ſein Weg durch eine Gegend führt welche noch nie— 


mals durch eine Menſchenhand abgebildet war, darf nur, wäh— 


rend er ſelber im Schatten eines Felſen oder eines Baumes 
ruhet, in ſein Daguerrotyp einige Secunden lang das Bild 
der von der Sonne beſtrahlten Landſchaft fallen laſſen, oder 
er darf die Lichtöffnung deſſelben nach einem Meiſterwerk der 
Baukunſt längſt vergangener Zeiten hin richten und er hat 


462 


eine Abzeichnung der Landſchaft ſo wie des Gebäudes erhal⸗ 
ten, mit deren Treue, bis ins Kleinſte hinein, die Kunſt der 
zeichnenden Menſchenhand kaum den Wettkampf beſtehen kann. 
Zum Abzeichnen von mühſam leſerlichen, noch unenträthſelten 
Inſchriften, dergleichen man hin und wieder in der Wüſte 
an Felſen oder an Gebäuden der Vorzeit findet, bedurften 
früher ſelbſt die gelehrten Reiſenden viele Stunden, ja meh- 
rere Tage; ſie können jetzt auf dem Grund der Metallplatte 
ihres Daguerrotyps durch das Licht die Abzeichnung fertigen 
laſſen; die Hieroglyphen des Obelisken oder der ſteinernen 
Säule, die Grabſchrift auf der Marmortafel, an der ſie nur 
ſchnell vorübereilen konnten, find mit einer Genauigkeit, wel⸗ 
che nichts zu wünſchen übrig läßet, auf den Silbergrund über⸗ 
getragen und können ſpäter in der Heimath eine Grundlage 
der tiefer eingehenden Forſchung werden. Der Naturforſcher, 
den ſein Weg an einer reichen Meeresküſte der heißen Zone 
hinführt, wo ſich ihm eine Menge der noch niemals von ihm 
in friſchem Zuſtand geſehenen Thiere darbietet, kann in Zeit 
von einer Stunde eine große Zahl derſelben, dem Umriß der 
äußren Geſtalt wie den Zügen des innren Baues nach, zu 
welchem ſein Meſſer den Einblick eröffnete, getreulich abgebil— 
det erhalten, ſo daß er ſpäter einen ſichren Anhalt für ſeine 
Beſchreibung des Geſehenen hat. 

Allerdings iſt es, damit die Lichtzeichnung einen feſt— 
ſtehenden Umriß empfangen könne, nöthig, daß der Gegen— 
ſtand, welchen ſie darſtellen ſoll, ſeine Stellung, wenigſtens 
etliche Secunden lang nicht verändere; die ſchwingende Be— 
wegung in welche ein leiſer Wind eine im Freien ſchwebende 
Fahne verſetzt, macht es unmöglich einen ſolchen Gegenſtand 
im ſcharfen Umriß ſeiner Ränder darzuſtellen, weil ſich 
derſelbe Punkt des Randes, in den wenig Augenblicken in 
denen die Lichtzeichnung entſtehet, jetzt hier dann da abbildet 
und ſo der eine Zug den andern durchkreuzt. Dennoch iſt 
auch ſelbſt in dieſer Beziehung, ſeitdem man dem Anflug 
der zerſetzbaren Metallverbindung nach S. 460 eine höhere Em⸗ 
pfindlichkeit gegeben, das vorhin unmöglich Erfcheinende aus- 
führbar geworden. Der Verfaſſer dieſer kleinen Schrift hat 
eine Metallplatte mit einer Lichtzeichnung geſehen, welche 


von einem Photographen aus Wien in dem Augenblick auf; 


genommen worden war, als Sr. Majeſtät der jetzt regie⸗ 
rende Kaiſer Ferdinand einen feſtlichen Einzug in Linz 


463 


hielt. Nicht nur die Gebäude und alle andre feſtſtehende 
Gegenſtände, ſondern die aus den Fenſtern ſchauenden 
Menſchen, der große, eng zuſammengedrängte Volkshau— 
fen auf der Straße, war darauf mit der größeſten Schärfe 
aller einzelnen Umriſſe, dargeſtellt; wäre unter der gewal— 
tigen Maſſe der Zuſchauer, welche in dem Augenblick wo 
die Sonne die ganze Scene beleuchtete und ihr Wiederſchein 
in das Daguerrotyp fiel, nach dem Kaiſer hinblickten, ein naher 
Bekannter geweſen, dann würde der Beſchauer des Bildes 
ihn alsbald, wenigſtens unter den Näherſtehenden aufgefun— 
den haben. 

Ein Reiz allerdings gehet den Lichtzeichnungen des Da— 
guerrotypes ab, das iſt der der Farben. Ihre Bilder ſind 
nur Schattenumriſſe, durch den Wechſel des Dunklen und 
Hellen, in all ſeinen, auch feinſten Abſtufungen dargeſtellt 
und gebildet. Herrlich genug und des weitern Nachdenkens 
werth bleibt jedoch, ſelbſt bei dieſem Mangel, die bildende 
— durch Zerſetzung bildende — Macht des Lichtes, die uns 
das Daguerrotyp kennen lehrte. Nach ihrem Maaße iſt dieſe 
Wirkſamkeit des Lichtes mit dem Weſen der Einbildung und 
der Erinnerung der lebenden Seele zu vergleichen. Ein Licht— 
ſtrahl des allgemeinen, durch That und Werke offenbarten 
göttlichen Erkennens fällt in das Dunkel unſres Verſtändniſſes 
hinein, wird (wie das Silber vom Merkur) von dieſem er— 
faßt, mit ihm vereint, und hierdurch zu einem bleibenden 
Eigenthum unſres Weſens (nach Cap. 65). 


54. Das Prisma. 


Ehe wir weiter von den Eigenſchaften des Lichtes reden, 
wollen wir zuerſt eine allgemein bekannte Sache: die Zer⸗ 
legung des Sonnenſtrahles in mehrere bunte Farben betrach— 
ten, welche alsbald eintritt, wenn wir unter den erforderlichen 
Nebenumſtänden den Strahl durch ein durchſichtiges, in gleich— 
mäßig dreiſeitige Säulenform geſchliffenes Glas (Prisma) 
gehen, und auf eine Wand oder auf einen andren, das Licht 
zurückſtrahlenden Gegenſtand fallen laſſen. Das Farbenbild 
oder Spectrum, das ſich uns bei dieſer Gelegenheit vor Au— 
gen ſtellt, iſt im Grunde, nur nach kleinerem Maaßſtabe, 
eine Wiederholung des prachtvollen Schauſpieles, das uns 
jeder Regenbogen gewährt. Beide Erſcheinungen haben ihren 


464 


Urſprung in einer Auseinanderlegung des Sonnenlichtes, in 
Folge der Brechung, welche daſſelbe beim Hindurchwirken 
durch einen Körper erleidet, der ein vollkommner Leiter des 
Lichtes — durchſichtig iſt. | 

Die Brechung welche hierbei dem ſtrahlenden Lichte wir 
derfährt iſt eine andre als die gewöhnliche. Würde ein voll— 
kommen ebenes, tafelartiges Stück Glas, von der gleichen 
Dicke als die des Prismas iſt an eine kleine, fenſterartige 
Oeffnung hingeſtellt, die aus einem übrigens verdunkelten Zim⸗ 
mer hinausfuhrt ans Tageslicht, (ins Freie), dann würde 
dieſelbe im Ganzen (nach Verhältniß ihrer Größe und Dicke) 
dieſelben Dienſte thun wie jedes gewöhnliche Fenſter; beim 
Hinausblicken nach der Sonne würden wir (abgeſehen von 
der ſcheinbar veränderten Stellung mittelſt der gewöhnlichen 
Strahlenbrechung nach Cap. 20) ihre Scheibe in der natür⸗ 
lichen, runden Form erblicken, durch die kleine Fenſteröffnung 
würde ſich das hereinſtrahlende Sonnenlicht auf der gegen⸗ 
über gelegnen Wand in l welche die Lichtöffnung 
hat, darſtellen. Wir halten aber jetzt, ſtatt der Glastafel 
das dreieckige Prisma vor die Oeffnung durch welche die 
Sonne hereinſtrahlet, in horizontaler Stellung, ſo daß die 
eine Kante dieſer dreieckigen Glasſäule nach unten, nach dem 
Boden gekehrt iſt. Das Sonnenlicht fällt auf eine der Flä⸗ 
chen der Säule und nimmt fe inen Weg durch das durchſich— 
tige Glas hinüber nach der andren, gegenübergelegnen 
Fläche. Da aber in dieſer Richtung das Prisma nicht die 
gleiche Dicke hat, ſondern nach unten, wo beide Flächen in 
die ſcharfe Kante auslaufen, viel dünner iſt als noch oben, wo 
es nach der eben liegenden, dritten Fläche ſich ausbreitet, haben 
die Strahlen der Sonnenſcheibe durch die verſchiedenen Durch⸗ 
meſſer der dreiſeitigen Glasſäule einen ſehr verſchiedenen, 
nach unten einen e nach oben einen längeren Weg 
zu machen. In dem nämlichen Grade erleiden dieſelben auch 
eine ſehr verſchiedene, der untere Strahl deſſen Weg der 
kürzere iſt eine ſchwächere, der obere eine ſtärkere Brechung. 
Von dieſer ſtärkeren oder ſchwächeren Brechung hängt nicht 
allein (nach Cap. 20) die Richtung ab in welcher der ein 
fallende Strahl an der andren Seite des durchſichtigen Kör⸗ 
pers heraustritt, ſondern auch das Maaß der erhellenden 
Kraft, welche das Licht nach ſeinem Hindurchgehen durch das 
Glas noch übrig behält. Denn auch der durchſichtigſte Kör⸗ 


per 


Br 


an. 4 


465 


per nimmt dem Lichte das ihn durchſtrahlt einen Theil feiner 
erhellenden Kraft, je dichter derſelbe iſt, deſto mehr, Waſſer 
mithin mehr als Luft, Glas noch mehr denn Waſſer. Wir 


werden deshalb, wenn wir das Prisma in der erwähnten 


Richtung vor die kleine Fenſteröffnung bringen das Lichtbild 
an der gegenüberſtehenden Wand nicht nur vermöge der ver⸗ 


ſchiedenen Grade der Brechung und Stellungs veränderung 


in einer ſtark von oben nach unten verlängerten Geſtalt er⸗ 
blicken, ſondern zugleich auch Strahlentheile von verſchiedner 
Lichtſtärke, welche bei den nach oben, ſtärker gebrochnen am 
meiſten, bei den untren am wenigſten vermindert iſt. Hier⸗ 
bei iſt mit dem Erſcheinen des Lichtes für unfre Augen eine 
auffallende Veränderung vorgegangen. Es iſt nicht mehr in 
derfelben Form der gewöhnlichen, farbloſen Tageshelle ge— 
blieben, in der es ſich uns in der Luft oder durch eine Glas— 
tafel kund giebt, ſondern es hat ſich in Streifen von ver- 
ſchiedner Färbung auseinander gelegt, welche freilich nicht 
deutlich von einander abgegrenzt find, ſondern durch allmäli⸗ 
ges Uebergehen der einen Farbe in die andre an ihrer Gren⸗ 


ze ſich verſchmelzen. Die Farben, von unten nach oben (oder 


im Regenbogen umgekehrt von oben nach unten) folgen ſich 
ſo, daß zuerſt roth, über dieſem Orange, dann gelb, grün, 
blau und zuletzt, ganz nach oben, violett hervortritt, oder, wenn 
man mit dem berühmten Newton ſieben Farbenſtufen unter⸗ 
ſcheiden will, auf das Blau zuerſt das Indigoblaue dann 
das Violette folgt. Der violette Lichtſtreifen giebt unter allen 
die geringſte Helle, nächſt ihm hat das ſchwächſte Licht der 
blaue; die Helligkeit wird am größeſten nach dem gelben 
Streifen hin, und auch im orangefarbenen übertrifft ſie die 
Stärke des grünen wie nach unten des rothen Strahles. 
Aber die Wirkſamkeit der Lichtſtrahlen, die ſich uns hier 
in mehrern Farben auseinandergelegt haben, iſt nicht allein 
auf die Grenzen des ſichtbaren Farbenbildes beſchränkt; ſie 
erſtreckt ſich über dieſe Grenzen hinaus, auch in die für un⸗ 
ſer Auge licht und farbloſe Nachbarſchaft des Bildes. Wenn 


man die nach Cap. 53 zubereitete Metallplatte mit ihrem für 
den zerſetzenden Einfluß der Lichtſtrahlen höchſt empfindlichen 


Jodſilberanlauf, oder wenn man, ſelbſt das ſorgfältigſt be— 

reitete photographiſche Papier den Strahlen eines Prismas 

ausſetzt, dann bemerkt man daß der rothe Strahl gar keine 

Wirkſamkeit darauf habe: das Papier SM die Platte blei⸗ 
0 


466 


ben eben fo unverändert als ob fie in einem dunklen Kaſten 
lägen. Auch der gelbe Strahl äußert kaum eine Spur des 
chemiſchen, zerſetzenden Einflußes, erſt gegen den blauen Strei⸗ 
fen hin fängt dieſer Einfluß an merklich zu werden und er 
wird am ſtärkſten im blauen ſelber, noch mehr im violetten 
ja noch über die Grenze von dieſem hinaus, an einer Stelle, 
wo unſer Auge kein Licht und keine Farbe mehr bemerkt. 
Wir ſchrieben die Zerſetzung, welche die Verbindungen des 
Silbers in unſrem Daguerrotyp erleidet, dem Licht und der 
Tageshelle im Allgemeinen zu und konnten nicht anders als 
annehmen, daß da, wo das Licht am hellſten, von den im 
Sonnenglanz ſtehenden Körpern, in unſre Camera obſcura 
hereinfällt auch ſeine chemiſche Wirkſamkeit am ſtärkſten ſey; 
hier werden wir vom Gegentheil belehrt, denn nicht nur der 
violette Strahl, der unter allen die am wenigſten erhellende 
Kraft hat, ſondern ſelbſt noch eine andre, unſichtbare Aus⸗ 
ſtrömung des Lichtes, welche über den ſchwächeſt leuchtenden 
Strahl hinaus, in den völlig unbeleuchteten Raum fällt, zeigt 
ſich zum Hervorbringen des chemiſchen Effectes am wirkſam⸗ 
ſten. Auch an dem Einfluß der prismatiſchen Farben auf 
andre chemiſche Vorgänge wird dieſes erkannt. Eine Miſchung 
von trocknem Chlorgas und Waſſerſtoffgas, die ſich an einem 
dunklen Ort unverändert erhält, bleibt dieſes auch wenn wir 
fie dem rothen und gelben Farbenſtrahl ausſetzen, ihre all- 
mälige Verbindung zur Salzſäure, tritt eben fo wie am ge⸗ 
wöhnlichen Tageslichte allmälig ein, wenn wir den blaulich 
grünen, ſie geht raſch und plötzlich von ſtatten, wenn wir 
den violetten Strahl in ſie hineinfallen laſſen. 

Mit dem eben erwähnten Einfluß der verſchiednen Farben 
des Prismas, wird auch in Beziehung gebracht die hier nur bei- 
läufig zu erwähnende Unempfindlichkeit der daguerrotypſchen 
Platten, oder der photographiſchen Papiere, gegen die grüne 
Farbe der Blätter, die ſich deshalb, auch wenn ſie unbewegt 
55 in der Lichtzeichnung nicht, oder nur unvollkommen dar⸗ 
tellen. 

ö Nicht allein die chemiſch wirkende, auch die wärmende 
Eigenſchaft des Lichtes, fällt bei der prismatiſchen Auseinan⸗ 
legung deſſelben an die eine Seite des Farbenbildes hin, und 
ſelbſt noch über die Grenze von dieſem hinaus, in den unbe⸗ 
leuchteten Raum. Hierbei iſt es aber nicht der violette, ſon⸗ 
dern der entgegengeſetzte rothe Strahl, welcher die ſtärkſte 


467 


Wirſamkeit zeigt. Wenn man ein Blatt dünnes Papier auf 
der einen Seite durch eine ſchwache, rußende Flamme ſchwärzt, 
mit dieſer geſchwärzten Seite es auf ein Brett aufzieht, dann 
die weiße Seite mit ſtarkem Weingeſt benetzt und nun das 
Farbenbild eines Prismas darauf fallen läßet, bemerkt man 
deutlich, daß das Papier am ſchnellſten bei dem rothen Strei⸗ 
fen, am langſamſten unter dem violetten trocken wird, daß mithin 
die Wärme, welche das Verdunſten und Abtrocknen bewirkt, 
im rothen Strahle am kräftigſten ſeyn müße. Unter allen 
durchſichtigen Körpern läßt das kryſtalliniſche, waſſerhelle 
Steinſalz die Wärme am ungeſchwächteſten hindurch, ohne 
ſie merklich zurückzuſtrahlen oder einen wahrnehmbaren Theil 
derſelben zur Erhöhung der Temperatur ſeiner eignen Maſſe 
zurückzuhalten. Wenn man deshalb einem Stück ſolchen 
durchſichtigen Steinſalzes, durch Zuſchleifen, die Form eines 
dreiſeitigen Prismas giebt, dann erhält man nicht blos ein 
vollkommnes Farbenſpectrum, ſondern auch eine Zerlegung 
des Sonnenſtrahles in einen merklich wärmenden und in einen 
nicht wärmenden Theil. Durch einen empfindlichen Wärme⸗ 
meſſer kann man ſich überzeugen, daß die Temperatur unter 
dem violetten Strahle dieſelbe ſey wie in der ganz uner⸗ 
leuchteten Umgebung, daß ſie aber fortwährend ſteige, je mehr 
man den Wärmemeſſer dem rothen Strahle nähert. Und 
ſelbſt unter dem rothen Strahle erreicht ſie noch nicht ihren 
höchſten Stand, ſondern meiſt erſt außerhalb demſelben, im 
dunklen Raume, in einer Entfernung von der äußerſten Gren⸗ 
ze des Roth, welche dem dritten Theile der ganzen Ausbrei— 
tung des Spectrums gleich kommt. Nach beiden Seiten hin 
äußert mithin das Licht noch ſeine Wirkſamkeit, und zwar 
ſtärker, da wo es für unſer Auge nicht mehr als Licht wahr⸗ 
nehmbar iſt. 


55. Der Mond und ſein Licht. 


Die Betrachtung der wärmenden Eigenſchaft des Son— 
nenlichtes führt uns zu jener der nichtwärmenden Eigenſchaft 
eines Lichtes der Sternenwelt, welches nächſt dem der Sonne, 
für unſren Planeten das bedeutungsvolleſte iſt. Mit der 

ſcheinbaren Laufe der Sonne zugleich geben der Laufe 

die Stellung des Mondes den Bewohnern der Erde di "IN? 

tel an die Hand, zur Beſtimmung und Anordnung ber Zei⸗ 
30 


4 


. 
468 


ten. Das langwährende Dunkel der Polarzonen im Winter, 
wird von dem anhaltenden Schein des Mondes in tröſtlicher 
Weiſe gemildert und auch bei uns, ja ſelbſt in dem hochbe⸗ 
günſtigten Klima der wärmeren Zonen verleihet das milde 
Licht des Mondes der Nacht ihren vorzüglichſten Reiz. In 
dieſen Ländern, deren faſt immer klares Himmelsblau von 
bedeutenderer Durchſichtigkeit iſt als das unſrige, hat das Mon⸗ 
denlicht einen ſolchen Grad der Helligkeit, daß man dabei, 
ohne Beſchwerung der Augen, zu leſen vermag. Dennoch hat 
man berechnet und aus unmittelbarer Abſchätzung der Grade 
der Lichtſtärke gefunden, daß das Mondlicht 800,000 mal 
ſchwächer ſey als das Sonnenlicht. Es iſt ja auch nur ein 
Widerſchein des Sonnenlichtes, das allerdings an der Mond- 
fläche einen körperlichen Stoff finden muß, welcher der Zu⸗ 
rückſtrahlung in vorzüglichem Maaße günſtig iſt, denn der 
Glanz des Mondes gleichet dem blendenden Scheine, den, 
aus der Ferne geſehen, ein Hochgebirgsfeld des Schnees und 
der Gleſcher hat. 

Wenn unſrer Wohnung gegenüber, ſelbſt in nicht un⸗ 
mittelbare Nähe, ein Haus ſtehet, welches der unbeſcheidne Nach⸗ 
bar an ſeiner Auſſenwand weiß hat betünchen laßen, dann 
wird im Sommer nicht nur unſer Auge von dem blendenden 
Widerſchein beläſtigt, ſondern es ſtrahlt auch von jener wei- 
ßen Mauern eine Hitze zurück, welche während der heißen 
Stunden des Tages und ſelbſt ſchon in den Morgenſtunden 
öfters bis zu einer unerträglichen Höhe ſich ſteigert. Wäre 
die Hauptmaſſe der Mondfläche ein weißliches, etwa unſrem 
Kalkgebirge ähnliches, feſtes Geſtein, dann, ſo ſollte man 
meinen, müßte uns ſelbſt hier auf Erden Etwas von der 
Wärme bemerkbar werden, welche mit dem Sonnenlichte zu⸗ 
gleich auf das weißliche Geſteinfeld herab und von dieſem 
wieder zu uns herüber geſtrahlt würde. Aber das Mondlicht 
theilt der Erde keine bemerkbare Wärme mit, und ſelbſt im 
Sammelpunkt feiner Strahlen durch das rieſenhafteſte Brenn 
glas oder den wirkſamſten Brennſpiegel wird mit der Verſtär⸗ 
kung des Lichtes zugleich keine durch das gewöhnliche Thermome⸗ 
ter meßbare Verſtärkung der Wärme empfunden. Ja faſt 1 
möchte man auf einige, freilich nur noch vereinzelt daſtehen⸗ 
lee Beobachtungen von Lichtenberg ein beſondres Gewicht 
der nach welchen der Mond als ein nur Kälte verbreiten⸗ 

er Aber erſcheinen müßte. Denn als dieſer berühmte Phy⸗ 


469 


ſiker mit beſondrer Aufmerkſamkeit die mittlere Temperatur 
ſolcher Tage beachtete, an denen unſre Erde auf dem Wege 
ihrer Bahn genau an die Stelle trat, an der ſich wenige 
Stunden vorher der Mond befunden hatte, fand er das eine 
Mal (im Juny) eine für dieſe Jahreszeit ungewöhnliche Käl- 
te, ein anders Mal, im Herbſt, eine überaus heftige, ſtürmi⸗ 
ſche Witterung. Dennoch hat man in neueſter Zeit, ſeit der 
Anwendung ähnlicher Wärmemeſſer als die S. 413 beſchrie⸗ 
benen find ſich überzeugt, daß auch das vom Mond zurückge- 
ſtrahlte Sonnenlicht nicht ganz ohne wärmeerregende Kraft 
e 


y. 
N Zur prismatiſchen Zerlegung, in die Farben des Regen— 
bogens, eignet ſich das Mondlicht, wiewohl in einem überaus 
viel ſchwächeren Maaße, auf eine ähnliche Weiſe als das 
Sonnenlicht; das fahle, kaum für unſer Auge erkennbare Roth, 
ſo wie das Violett des Mondregenbogens und ſeines durch 
das Pisma erzeugten Spectrums ſind übrigens eben ſo we— 
nig einer merklich chemiſchen als wärmeerregenden Wirkſam— 
keit fähig. 

Allerdings läßt uns auch die ganze Naturbeſchaffenheit 
des Mondes, ſo weit wir dieſelbe ſeit dem Gebrauch der 
Fernröhre kennen gelernt haben, keine große Erwartung von 
ſeiner eignen Wärme und darum auch Wärme mittheilender 
Einwirkung hegen. Das Gewäſſer hat bei uns auf der Erde, 
nach Cap. 52 die wohlthätige Beſtimmung, die Extreme des 
Temperaturwechſels auszugleichen, die Srömungen der wär⸗ 
meren Luft, welche in unſrem Erdtheil aus Süd und Süd⸗ 
weſt, auf der ſüdlichen Halbkugel aus Nord und Nordweſt 
kommen, führen auch den weiter vom Aequator abgelegnen 
Länderſtrichen einen Theil der Wärme zu, an welcher die 
heiße Zone überreich iſt, und zugleich wird die Hitze der Tro- 
penländer durch den kühlen Luftſtrom, der aus den kälteren 
Zonen kommt, gemäßigt. Welche wohlthätige Decke unſer 


Luftkreis für die Oberfläche des Planeten bilde, damit dieſe 


nicht alsbald die von der Sonne empfangene Wärme durch 
Ausſtrahlung wieder verliere, dies lehrt uns die Kälte, wel⸗ 
che in der Region der dünneren Luft, auf dem Gipfel der 
Hochgebirge herrſcht, ſo wie die Kälte jener Nächte des Win⸗ 
ters und Vorfrühlinges, in denen der Himmel wolkenlos 
und heiter iſt, und wo keine warme Luftſtrömung von Süden 
her das Sinken der Temperatur verhindert. Wenn wir in der 


* 0 
Mi er 
3 2 
< 


470 


Aufzählung der Vorzüge, deren unſre ſchöne Erde vor dem 
Monde ſo viele hat, noch weiter fortfahren wollen, ſo iſt 
das kein unbedeutender, daß, mit Ausnahme der beiden Po⸗ 
larzonen, in allen Klimaten, in dem kurzen 24 ſtündigen Ver⸗ 
lauf eines Tages einmal die Sonne auf und unter gehet, 
einmal das Dunckel der Mitternacht mit der Helle des Mit- 
tages wechslet, und die Bewohner der gemäßigten Zonen, 
deren Zahl unter den Erdenbürgern die größeſte, deren leib— 
liche wie geiſtige Kraft und Wirkſamkeit die ſtärkſte iſt, er⸗ 
fahren es in jedem Jahre, daß auch der Wechſel des Herb— 
ſtes, und ſelbſt des ruhebringenden Winters mit dem Früh— 
ling und Sommer, zur Erquickung und Bekräftigung der le— 
benden Natur heilſam und förderlich ſey. | 
Welch' ein ganz andres Loos ift, nach all dieſen Be- 
ziehungen hin, dem Gefährten unſres Planeten auf der Bahn 
ſeiner Jahre: dem Monde beſchieden! Auf dieſem giebt es 
weder Meer noch Wind, kein Morgen- noch Abendroth, keine 
Frühlings⸗ noch Sommertage, ſondern jeder Monat hat einen 
(nach unſrem Zeitmaaß gerechnet) vierzehntägigen Sommer, 
denen die zur ſenkrechten Höhe des Aequators oder zum nie— 
dren Stande der polarnahen Gegenden emporſteigende Son⸗ 
ne in dieſer Zeit nur einmal auf und unter geht, dann eine 
eben ſo lang dauernde Winternacht. Gäbe es auf dem Monde 
ein Meer, gäbe es dort einen See, von dem Umfang unſrer 
größren Landſeen, dann hätte mann ſie durchs Fernrohr längſt 
an der Glätte ihres Spiegels erkannt, ſo aber begegnet daſelbſt 
überall, wohin wir das tauſendfältig durch die Kunſt geſchärfte 
Auge richten, unſrem Blicke ein Zuſammengehäufe von Höhen 
und Tiefen, von Gebirgen, die noch über das Maaß unſrer 
Alpen und Cordilleren emporragen und von keſſelartigen 
Abgründen, zum Theil ſo weit und ſo tief, daß kaum die ge⸗ 
ſammte Maſſe eines Montblanc, ja eines Chimboraſſo fie aus⸗ 
zufüllen vermöchte. Ja nicht bloß kein Meer und kein See, 
ſondern überhaupt kein tropfbar flüßiges Waſſer kann auf 
dem Monde ſeyn Ränne dort ein einziger Fluß, drängen 
aus den Abhängen und am Fuß der Berge Quellen, ſo wie 
bei uns hervor, dann würde da oder dort eine der grauen⸗ 
vollen keſſelartigen Tiefen ſich ausgefüllt haben oder noch aus⸗ 
füllen; das Waſſer, ja ſelbſt der Schnee, würden unter dem 
Einfluß der ſtrahlenden Sonne ſich in Dunſtform erheben, 
und um den Mond her einen Dunſtkreis bilden, der ſich, auch 


REN 2 2 
1 A 5 1 
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8 0 

| 471 


wenn die Gegend feines Entſtehens auf der andren, von uns 
abgekehrten Hälfte des Mondes läge, nach dem Geſetz der 
Schwere alsbald um alle Gegenden der Oberfläche her ergie— 
ßen und ausbreiten würde. Unſrem durchs Fernrohr blicken— 
den Auge würde ein ſolcher Dunſtkreis nicht bloß durch ſeine, 
vom Wechſel der Temperatur abhängigen Veränderungen: 
Verdichtungen und Verdünnungen, ſondern durch alle andre 
Folgen der Strahlenbrechung ſich verrathen; gäbe es irgend 
eine Art von Luftkreis, verwandt dem unfrigen, hoch um das 
Rund der Mondkugel her, dann müßte ſich dort an den Gren— 
zen zwiſchen Tag und Nacht eine, wenn auch noch ſo kurze 
Dämmerung zeigen, die genaueſten Forſchungen der neueſten 
Zeit haben jedoch Nichts dieſer Art mit Sicherheit entdecken 
können; die frühere Annahme welche für das Daſeyn einer, 
obwohl im Vergleich mit der unſrigen ſehr dünnen, unvoll- 
kommnen Atmoſphäre auf dem Monde ſprechen ſollte, ſcheint 
ſich nicht mehr beſtätigen zu wollen. Der arme Mond, er 
iſt in faſt noch höherem Grade als dies bei uns ein Gebirgs— 
gipfel in einer Höhe von acht bis neun Meilen ſeyn würde, ohne 
ſchirmende Decke den Einſtrahlungen der Sonne, während 
der Dauer ſeines langen Tages, und den Ausſtrahlungen der 
Wärme, während der eben ſo langen Nacht ausgeſetzt. 

Allerdings klar genug, und niemals durch Gewölk noch 
Nebel getrübt, müßte von dort aus der Himmel erſcheinen; 
niemals ein Sturm, niemals ein Gewitter, das Wetter einen 
Tag wie den andren, volle Gelegenheit um trocknen Fußes 
überall hin zu wandeln wohin man möchte — — und welche 
tiefe Stille auf jener kleinen Nachbarwelt! 

Ja wohl, eine Stille wie die des Grabes, ein beſtän— 
diges tiefes Schweigen der Natur. Dort auf dem Monde 
kann kein Vogel ſingen, keine Flöte noch Orgel noch Aeols— 
harfe ertönen, denn es fehlt zum Athmen wie zur Fortpflan⸗ 
zung des Tones die Luft! Wenn wir hier auf Erden, beim 
Erſteigen ſehr hoher Gebirge, oder beim Emporfluge in einem 
Luftſchiffe eine Region der Höhen erreichen, in welcher zwar 
noch immer Luft, nur aber eine ſehr verdünnte ſich findet, 
dann erſcheint uns auch der ſtärkſte Ton der Menſchenſtimme 
nur wie ein dumpfer, ſchwacher Laut, ſelbſt der Knall eines 
abgefeuerten Gewehres iſt dem Ohr in der Entfernung von 
wenigen hundert Fuß unvernehmbar. Da aber, wo gar kein 
Luftkreis ſich findet, könnte der Schall, etwa beim Zufam- 


a 
. $ 


menſtürzen eines Gebirges, nur als Erſchütterung des feſten 
Bodens ſich fortpflanzen; der Leib der tief im Grabe Liegen⸗ 
den würde mehr davon erfahren, als das Ohr eines noch aufrecht 
über dem Boden Stehenden. Und mit dem Ohre zugleich 
würde das Auge, würden alle Sinnen wären fie von der Na⸗ 
turbeſchaffenheit der unſrigen, die Folgen des Mangels eines 
Luftkreiſes empfinden, denn ohne Luft gäbe es hier bei uns 
auf Erden keine Flamme des Lichtes oder des Herdes, ohne 
ein Sauerſtoffgas und ſeinen Zutritt, zum oxydirbaren Metall, 
oder zu einem andren brennbaren Element, würde kein Grün 
der Pflanze noch des Smaragds, kein Roth der Wangen 
noch des Rubins, kein Farbenſchmuck der Blüthen und der 
Thierwelt, ja, mit wenigen Ausnahmen, ſelbſt kein buntes 
Geſtein vorhanden ſeyn. Unſre Erde würde, wenn das 
Waſſer und die Luft ſie verlaſſen könnten, weder Thiere noch 
Gewächſe noch auch einen Anflug von Feldboden (Dammerde) 
haben, in welchem ein Pflanzenſaame keimen und ſich ent- 
falten könnte; die Gebirge würden zwar weder durch Luft 
noch durch Waſſer zertrümmert werden, oder verwittern, 
aber fie würden nackt und dürr, zuletzt wie ein weißgebleich- 
tes Gebein, den Glanz des Sonnenlichtes zurückſtrahlen. 
Wir wollen uns die vergebliche Mühe erfparen das Ge— 
mälde der Naturbeſchaffenheit des Mondkörpers, mit den Far⸗ 
ben die unſer menſchliches Verſtehen und Erkennen uns dar- 
reicht, weiter aus zumahlen. Dieſe Farben ſind denen gleich, 
welche wir durch künſtliche Zerlegung des Lichtſtrahles mit 
dem Prisma auf das Waizenmehl eines Bäckers hinfallen 
laßen. In dem Lichte dieſer Farben könnte uns das genieß⸗ 
bare Mehl als ein niegeſehenes Gehäufe von rothem, gel⸗ 
bem, grünem, blauem und violettem Staub erſcheinen, deſſen 
Verwandlung in Brod oder Kuchen außer dem Spielraum 
unſrer Phantaſie läge. Wir legen das Prisma aus der 
Hand, und ſiehe der rothe wie der grüne und blaue Staub 
find nichts Andres als das eine längſt bekannte, überall ge⸗ 
bräuchliche, nutzbare Mehl. Unſer menſchliches Urtheil zer⸗ 
leget auch das Licht des Erkennens, das in den Kreis ſeiner 
Auffaßung fällt, in die Farbenſtrahlen ſeines auf ſinnliche 
Erfahrung gegründeten Wiſſens und dieſe Farben mögen 
öfters eben fo wenig dem wahren Weſen der Gegenſtände 
anpaſſend und zugehörig ſeyn, als die ſtreifig bunte Färbung 
durch das Prisma dem Waizenmehl. Wer konnte im Voraus, 


si 


472 


Sp: 


5 
473 


ehe die Forſchung der Reiſenden dies ermittelte, das Daſeyn 
jener unermeßlichen Fülle von kleinen, mikroſcopiſchen Thieren 
errathen, die ſich unter den eiſigen Maſſen, ja auf dem nie— 
mals hinwegthauenden Schnee der Polarzone finden, und 
dort ihres Lebens ſich freuen? Wenn wir auch von der 
eigentlichen Naturbeſchaffenheit des Mondes nur wenig errathen, 
und noch Wenigeres mit Sicherheit wiſſen können, wiſſen wir 
doch das Eine, daß auch dieſer Weltkörper, mit Allem das 
auf und in ihm iſt, unter dem Walten derſelben Schöpfer— 
kraft entſtanden ſey und beſtehe, welche überall Bewegung 
wecket und lebenskräftiges Wirken, weil ſie ſelber das Leben 
iſt. Daß auch dort auf dem weißen, ſcheinbarem Todtenfelde 
der Mondoberfläche Formwandlungen, und ein Wechſel des 
Vergehens und Entſtehens ſtatt finde, ſcheint ſelbſt aus eini— 
gen Beobachtungen der Naturforſcher hervorzugehen. Zu 
Was aber und für Wen, jene unſrem Menſchenauge ſo un— 
heimlich erſcheinenden, rundlichen Löcher und keſſelartigen Tie— 
fen da ſind, welche, eine faſt an der andren, den geradlinigen 
Verlauf der Mondfläche unterbrechen; auf welche Weſen dort 
der blendend helle Schein der Sonne und das aſchgrau fahle 
Licht, der für die dieſſeitige Mondhälfte faſt unbeweglich in 
einer Stelle ſtehenden großen Erdenſcheibe fallen, das werden 
wir, ſo lange wir Mitgenoſſen der irdiſchen Leiblichkeit ſind, 
niemals erforſchen und erfahren. 


56. Das Verhältniß des Lichtes zu den Farben. 


Das Sonnenlicht, ſo nimmt man gewöhnlich an, läßt 
ſich durch das Prisma in die Strahlen der bunten Farben 
ertheilen, weil es ſelber aus dieſen Farben zuſammengeſetzt 
iſt, denn die Farben des Prismas, ſo ſcheinen dies die oft 
wiederholten Verſuche des großen Newton zu lehren, machen, 
in ihrer unſcheidbaren Geſammtheit, auf das Auge den Eins 
druck des weißen Lichtes. Man pflegt ſich hiervon dadurch 
zu überzeugen, daß man das Prismaqin eine ſchnelle ſchwin⸗ 
gende Bewegung verſetzt, welche ſich dann dem Farbenbild 
mittheilt und die einzelnen Strahlen deſſelben in ſo unkenntlicher 
Weiſe in einander fließen machet, daß ſie zuſammen nur noch 
als ein weißlich heller Streifen erſcheinen. Auch in einem 
Sammelglas vereinigen ſich die einzelnen Farbenſtreif 


ar 


474 


prismatiſchen Bildes fo untrennbar, daß man nur noch eine 
Tageshelle des Sonnenſcheines, nicht mehr Farben bemerkt. 

Das zurückgeſtrahlte Sonnenlicht, welches von der Schei— 
be der in Tageshelle leuchtenden Planeten, vor allen der Ve⸗ 
nus und des Mars, in ein Prisma fällt, erzeugt ein ähnli⸗ 
ches Farbenbild als die Strahlen der Sonne. Im prisma⸗ 
tiſchen Farbenbild, welches die Flamme der brennenden Kör⸗ 
per gibt, zeigen ſich zwar großentheils mehrere Farben, zuweilen 
aber herrſcht nur eine derſelben auf Koſten der andren vor, 
ſo daß dieſe andren kaum noch unterſcheidbar ſind. Wenn 
der Weingeiſt ſehr ſtark verdünnt iſt, dann hat feine Flam⸗ 
me ein gleichmäßig gelbes Licht, deſſen Farbe auch in den 
Strahlen des Spectrums vorherrſcht, und dieſelbe Erſcheinung 
zeigt ſich bei allen mit Schwierigkeit, unvollkommen verbrens 
nenden Körpern. Selbſt im Farbenbilde eines gewöhnlichen 
hellen Kerzen- oder Flammenlichtes, wenn man daſſelbe durch 
eine enge Spalte ins Prisma gelangen läßet, erſcheint zwi⸗ 
ſchen Roth und Gelb ein lichter Streifen, welcher das 
Ueberwiegen des Gelb in der Flamme andeutet. Dagegen 
erzeugt die Flamme des Phosphors, wenn dieſer mit Sal— 
peter verbrannt wird, ein Farbenbild in welchem keine der 
einzelnen Farben vorwaltet, und daſſelbe gilt von dem Licht 
das die weißglühende Platina und einige andre glühende 
Körper ausſtrahlen. 

Eine auffallende Erſcheinung, mitten im Lichte des Far— 
benbildes, in welches durch die Vermittlung des Prismas das 
Sonnenlicht zerlegt wird, ſind jene dunklen, zum Theil ganz 
ſchwarzen Linien, die man öfters ſchon mit bloßen Augen 
entdeckt, wenn man mit dieſen das Farbenbild (ſtatt es an 
die Wand fallen zu laſſen) in gehöriger Sehweite auffängt, 
noch beſſer aber, wenn man daſſelbe durch ein Fernrohr be- 
trachtet. Man ſieht dieſe Linien immer in verhältnißmäßig 
gleicher Stärke und gleicher Ordnung erſcheinen, das Pris⸗ 
ma mag aus dieſem oder aus einem andren durchſichtigen 
Körper gebildet ſeyn, nur iſt vor Allem die vergrößernde 
Kraft des Fernrohres auf die Deutlichkeit ihres Erſcheinens 
von bedeutendem Einfluß. Im rothen Strahle zeigen ſich ver- 
hältnißmäßig die wenigſten, obgleich ziemlich augenfällige 
Streifen, im Grün der ſchwärzeſte von allen, im Blau meh— 
rere, unter andren ein aus vielen feinen Linien zuſammen⸗ 
geſetzter breiter Streifen. Die Zahl der feinen Linien, da⸗ 


475 


runter auch ein aus vielen enggedrängten zuſammengeſetzter 
breiter Doppelſtreifen, nimmt hierauf noch mehr gegen das 
Indigoblau, und in demſelben zu, im Violetten folgen abers 
mals, nach längerer Unterbrechung zwei ſehr augenfällige, in 
geringer Entfernung von einander ſtehende, breite Streifen, 
dann noch vier Gruppen von Linien an denen man bei der 
erſten eben fo wie bei der zweiten erſt drei dann fünf deut— 
lich unterſcheiden kann. Viele der Linien welche durch ſchwä— 
chere Fernröhre geſehen einfach erſcheinen, zeigen ſich durch 
ſtärkere aus mehreren Linien zuſammengeſetzt, fo daß ſchon 
Fraunhofer nahe an 600 derſelben zählte. 

Obgleich dieſe Erſcheinung, auf welche Fraunhofer 
in München zuerſt aufmerkſam gemacht hat, nur wenig be— 
deutend, und auch die Weiſe, in der man ſie bisher zu er— 
klären ſuchte, nicht ſehr ausreichend erſcheinen mag, iſt ſie 
dennoch ſchon jetzt der aufmerkſamſten Beachtung werth, da 
ſie uns Aufſchlüſſe, über manche Verſchiedenheit der ſonnenar— 
tig leuchtenden Fixſterne zu geben verſpricht. Im Lichte des 
Sirius namentlich, zeigen ſich drei breite Streifen, davon 
der eine im Blau, zwei im Grün ſich befinden, und ganz 
daſſelbe findet am Farbenbild des Caſtor ſtatt. Dagegen ent— 
deckt man im Farbenbilde des Pollux und noch mehr des Bete— 
geuze, wie in dem der Sonne, eine große Menge ſehr feiner, 
zarter Linien, davon ſich im Procyon nur eine kleine Zahl 
findet. Statt dieſer dunklen Linien, im Farbenbild der Son— 
ne und mehrerer Firiterne, zeigen ſich viele helle Linien im 
Farbenbild des elektriſchen Funkens, deren Zahl und Anord— 
nung nach Verſchiedenheit des Metalles, aus welchem der 
Funke gezogen wurde, verſchieden iſt. 

In jeder Hinſicht erſcheint es der Beachtung werth, daß 
ſelbſt mitten im Glanze des Lichtes, ſogar in dem vollkom— 
menſten das wir kennen: im Sonnenlichte, noch ein Wechſel 
von Licht und Dunkel, von höherer Steigerung und Abnahme 
gefunden wird. Es iſt übrigens dieſes Nebeneinanderſeyn, 
dieſe Aufeinanderfolge von Steigen und Sinken, Anſpan— 
nung und Abſpannung ein gemeinſames Loos der ganzen 
geſchaffenen Natur und ihrer Kräfte. 

Die Farben, die ſich im Sonnenlichte finden, ſind in 
den mannichfaltigſten Abſtufungen und Miſchungen, der einen 
mit der andren, an die Körper der irdiſchen Natur vertheilt. 
Da, wo dieſelben mit Durchſichtigkeit gepaart ſind, zeigt das 


476 


hindurchfallende Tageslicht dieſelbe Wirkung, welche an dem 
gleichfarbigen Strahl des prismatiſchen Farbenbildes wahrge- 


nommen wird. So wird das Chlorſilber ſchnell geſchwärzt, 


wenn man das Licht durch ein violettes Glas darauf fallen 
läßet, während daſſelbe unter einem rothfarbigen Lichte un⸗ 
verändert bleibt, oder nur eine bloß roſenrothe Farbe (wie 
beim Erhitzen) annimmt. 

An den Farben, welche in der irdiſchen Körperwelt vor— 
kommen, bemerken wir ein ſehr verſchiednes Verhältniß in 
Beziehung auf das Zurückſtrahlen des Lichtes und der Wär⸗ 
me, welche fie von der Sonne und andren leuchtenden Kür: 
pern empfangen. Das Schwarz bildet den vollkommenſten 
Gegenſatz zum Licht überhaupt wie zu all ſeinen Farben; es 
deutet einen gänzlichen Mangel an beiden an. Deſto kräfti⸗ 
ger findet auch hier die ausgleichende Anziehung des Gegen⸗ 
ſatzes ſtatt; es nimmt alles ihm zufallende Licht auf, ohne 
daſſelbe zurückzuſtrahlen, es wird dabei ſtärker als alle andre 
Farben von der wärmenden Kraft der Sonnenſtrahlen ange- 
regt. Wenn man mehrere Tuchſtücken von gleichem Gewebe und 
gleicher Größe dabei aber von verſchiedner Färbung auf eine 
Schneefläche legt wo ſie dem Sonnenlicht ausgeſetzt ſind, 
dann bemerkt man, daß der Schnee unter dem ſchwarzen Tuch⸗ 
lappen am früheſten und tiefeſten, unter dem weißen am we⸗ 
nigſten und kaum bemerkbar hinwegthaue. Nach dem ſchwar⸗ 
zen Tuchflecken zeichnen ſich durch ihre die Wärme aufneh⸗ 
mende und mittheilende Kraft am meiſten der dunkelbraune 
dann der blutrothe (ſchwärzlichrothe) aus. 

Die erwähnte Eigenſchaft der ſchwarzen Farbe, eine Er— 
wärmung durch das Licht zu begünſtigen, hat zur Erfindung 
eines Lichtmeſſers Veranlaſſung gegeben, deſſen Anwendung 
freilich in neuerer Zeit durch andre Werkzeuge verdrängt iſt, 
welche ihren Hauptzweck beſſer erfüllen, welcher, aber zur Ver⸗ 
ſinnlichung der Wärme gebenden Kraft des Lichtes noch im— 
mer feinen Werth behält. Wenn man nämlich zwei Ther- 
mometer zu dem Verſuche wählt, welche bei ihrem Steigen 
und Sinken die möglichſt vollkommene Gleichmäßtgkeit bewei⸗ 
ſen, und dann die Kugel des einen ſchwärzt, zeigen zwar bei⸗ 


de, ſo lange ſie im Dunklen ſtehen, die äußre Temperatur 


auf gleiche Weiſe an, ſobald aber das Tageslicht darauf fällt, 
dann ſteigt alsbald, das Queckſilber oder der Weingeiſt, in 
dem Thermometer mit geſchwärzter Kugel höher als im andren. 


477 


Dieſer Unterſchied wird um ſo größer und bedeutender, je 
ſtärker der Grad der Helligkeit des Lichtes iſt. Leslie be- 
nutzte dieſen Verſuch, den Pictet zuerſt in der gleichen Abs 
ſicht angeſtellt hatte, um die Stärke des Sonnenlichtes im 
Vergleich mit dem Licht einer gewöhnlichen Flamme zu meſ— 
ſen. Er fand, daß der Einfluß des Sonnenlichtes, zur Stei— 
gerung des Queckſilberſtandes im geſchwärzten Thermometer ver- 
hältnißmäßig 12000 Mal wirkſamer ſey, als der des Kerzen— 
lichtes, ſo daß ein Theilchen der Sonnenſcheibe, das die Grö— 
ße einer Kerzenflamme hat, ein Wärme erregendes Licht aus— 
ſtrahlt, welches dem von 12000 Wachskerzen gleich kommt. 
Andre Beobachtungen haben jedoch gelehrt, daß die Strahlen 
des Feuerlichtes, im Verhältniß zu ihrer erhellenden Kraft, 
viel weniger Wärme erregen, als die des Sonnenlichtes, daß 
aber zugleich die Wärme des Feuerlichtes ſchneller zur Tem— 
peraturerhöhung durchſichtiger Körper, durch welche ſein Strahl 
fällt, verwendet werde als die Wärme des Sonnenlichtes. 
Wenn man deshalb die Strahlen des Flammenlichtes in 
einem Brennglas ſammlet, dann wird dieſes erwärmt; wäh— 
rend aber das Licht in ſeinem Brennpunkt eine ſehr verſtärkte 
Helligkeit hat, bringt daſſelbe nur eine ſehr geringe Erwärmung 
hervor. Wenn man dagegen zu dem nämlichen Verſuch ein Brenn⸗ 
glas anwendet, von ſo dunkler Färbung, daß es gar keine 
Lichtſtrahlen durchläßt (undurchſichtig iſt), dann ſteigt die Er⸗ 
wärmung in ſeinem Brennpunkte ungleich höher, ſo daß es 
ſcheinen könnte, daß im erſteren c er die erwärmende Kraft 
des Flammenlichtes im Glaſe ſich erſchöpft und zurückbleibt, 
während ſeine erhellende Kraft ohne auffallende Hemmung 
durch daſſelbe hindurchwirkt, im andren Falle aber das Um— 
gekehrte ſtatt finde. 

Nur im Vorübergehen erwähnen wir bei dieſer Gelegen— 
heit jener andren, neuerdings in allgemeineren Gebrauch gekom⸗ 
menen Weiſe die Helligkeit zu meſſen, die ein leuchtender Kör⸗ 
per von ſich giebt, welche ſich ſehr einfach auf die Stärke 
des Schattens gruͤndet, die etwa ein Metallſtab auf eine 
weiße Fläche wirft. Will man das Licht zwei ſolcher Kör— 
per vergleichen, dann läßt man von beiden den Schatten des 
Stabes auf das Weiß fallen, und wenn z. B. der eine Schat⸗ 
ten von dem Lichte eines weißglühenden Platinableches, der 
andre von dem Licht einer Wachskerze herkam, dann entfernt 
man den einen heller leuchtenden Korper oder nähert den an— 


478 


dren ſchwächer leuchtenden fo weit, bis beide Schatten die 
gleiche Dunkelheit haben. Beim Vergleich der Sonnenſtrah—⸗ 
len mit andrem Lichte wendet man auch eine kleine, mit 
Queckſilber gefüllte Glaskugel an, läßt auf dieſe einen Strahl 
des Sonnenlichtes fallen und vergleicht alsdann die Stärke 
des zurückſtrahlenden Sonnenlichtes mit der einer Kerzen- 
flamme, indem man jenes mit dem einen Auge durch ein 
Fernrohr, dieſes mit dem andren durch eine Convexlinſe be⸗ 
trachtet, und dann die Entfernungen ſo weit abändert, bis 
beide in gleicher Helle erſcheinen. Auf dieſen, ſo wie auf 
verſchiednen andren Wegen iſt es gelungen, das Verhältniß 
der Lichtſtärke bei leuchtenden Körpern genau zu beſtimmen, 
und man hat gefunden, daß 5563 Kerzenflammen in einer 
Entfernung von 1 Fuß eine Helligkeit geben würden, welche 
der des Sonnenlichtes gleich käme. Das Licht des Sirius 
iſt 20,000 Millionenmal ſchwächer als das Sonnenlicht und 
neunmal ſtärker als das der Wega in der Leier. Das Mond- 
licht wurde auch in dieſen Vergleich gezogen und berechnet, 
daß ſeine erleuchtende, helle machende Kraft um nahe 25000 
mal (24966) größer ſey als die des Sirius, obgleich, wie 
ſchon erwähnt, erſt 800,000 Mondſcheiben, am heitren Him⸗ 
mel leuchtend, eine eben ſolche ſtarke Tageshelle über die 
Oberfläche der Erde verbreiten würden, als die hoch am Him— 
mel ſtrahlende Mittagſonne. Da die Erde in gleicher Ent— 
fernung von der Sonne ſtehet als der Mond, kann man das 
Licht, das ſie als Stern unter den Sternen ausſtrahlet, ſo— 
wohl an jenen Stellen der Oberfläche, welche der Zurückſtrah— 
lung am günſtigſten ſind, als auch für die Meere, nach Ab— 
zug deſſen was die Dichtigkeit der Atmoſphäre an dieſer Zu— 
rückſtrahlung ändert, berechnen. Man findet dann, daß, nach 
Verhältniß ihrer Größen, Merkur ein 6%, Venus ein 2 mal 
helleres Licht zurückſtrahlen als die Erde; während das plane⸗ 
tariſche Licht des Mars nur ohngefähr / mal fo heil iſt als 
das unſrer Erde. Wenn man übrigens bei den am weiteſten 
von der Sonne entfernten Planeten das Licht das fie aus— 
ſtrahlen mit dem vergleicht, das ſie, der Berechnung nach, 


bei ihrem Abſtand von der Sonne zurückwerfen würden, wenn 


bei ihnen die Naturverhältniße dieſelben wären wie bei unſrem 
Planeten, dann findet man, daß ihr Licht, und zwar bei den 
am allerfernſten ſtehenden am meiſten, ſtärker ſey, als die 
Berechnung es ergab. Dieſe Weltkörper müſſen deßhalb, außer 


479 


dem Lichte das fie von der Sonne empfangen, noch eine Zus 
gabe von eigenthümlicher Kraft der Licherregung haben. Ohne 
dieſe Zugabe, die wahrſcheinlich zugleich mit einer kräftigen, 
eigenen Wärmeerzeugung verbunden iſt, möchte ſichs auch in 
der fernſtehenden Vorſtadt des Sonnenſyſtemes gar unbehäg— 
lich, für alle lebendige Weſen, wohnen laſſen. So aber wird 
man dort, auch an trüben Tagen, keiner künſtlichen Gasbe— 
leuchtungen bedürfen, weil durch die Beſchaffenheit der At— 
moſphären für eine fortwährende, natürliche geſorgt iſt. 

Doch wir gehen von der Betrachtung der hell machen— 
den Kraft des Lichtes der Sonne, der Planeten und der 
Feuerflammen, wieder auf die der Farben gebenden über. 

Nicht nur die Farben des Prismas, ſondern auch jene 
Farben, welche wir im gewöhnlichen Leben ſo nennen: die 
Farbſtoffe damit wir unſren Kleidern, unſren Gemälden, 
Glasflüſſen und andren Kunſterzeugniſſen ihren Reiz für das 
Auge geben, ſind Kinder des Lichtes, und zeigen bei ihrem 
Entſtehen, bei ihren Verwandlungen, wie bei ihrem Vergehen 
eine durchgängige Abhängigkeit von dem Lichte. 

Wenn jene beiden brennbaren Körper, welche in der irdi— 
ſchen Natur die gemeinſten und gewöhnlichſten ſind: Koh— 
lenſtoff und Waſſerſtoffgas in reinem Zuſtand mit dem Sauer— 
ſtoffgas verbrennen, dann iſt nicht nur das Licht der Flamme 
ein vorzüglich helles, ſondern die neu entſtandenen Verbin— 
dungen (Kohlenſäure und Waſſer) ſind auch durchſichtig und 
klar, ohne eine vorherrſchende Farbe. Wenn wir dagegen 
unter dieſe vollkommneren Brennſtoffe andre Stoffe von me— 
talliſcher oder erdiger Natur miſchen, welche das Verbrennen 
hemmen und unvollkommner machen, dann erhält ſchon die 
Flamme jene bunte Farben, die wir namentlich unſren 
Luſtfeuern zu ertheilen wiſſen. Ein kleiner Beiſatz von 
Strontianpulver, zum Weingeiſt, giebt der Flamme deſſelben 
einen ausgezeichnet purpurrothen Schein. Der Beiſatz eines 
ſolchen Stoffes, welcher hemmend dem Vorgang des hellen 
Flammens entgegentritt, wirkt hier in derſelben Weiſe wie 
das Prisma, wenn dieſes mit ſeinem ſchwächenden und 
ablenkenden Einfluß, zwiſchen die ausſtrahlende Helle des 
Sonnenlichtes, und den beleuchtbaren Körper tritt. 

Jene Farbe, die wir in der eben erwähnten Weiſe der 
Flamme geben, iſt eine vorübergehende Erſcheinung; ſie kann 
jedoch, je nach der Natur der Stoffe welche mit dem Sauer- 


PR MER, Fir 9 En 


480 


ſtoffgas ſich vereinten, oder eine Art von Verbrennung 
erlitten, zu einer mehr oder minder feſtſtehenden werden. 
Das Entſtehen der metalliſchen Oxyde gleicht ſeinem Weſen 
nach einem Verbrennen, es verhält ſich aber zu dem Ver⸗ 
brennen mit heller Flamme und mit Feuergluth, wie ſich das 
unſrem Sinne unmerkliche, ſanfte Ueberſtrömen, wodurch 
die elektriſchen Spannungen, namentlich zwiſchen der At⸗ 
moſphäre und der Erdoberfläche ſich ausgleichen (nach C. 37) 
zu dem Blitz der Wetterwolken. Jene innre, ſchwingende Be⸗ 
wegung, die in unſrem Auge den Eindruck des Lichtes und 
der Farben hervorruft (nach C. 58) wird bei der unvoll⸗ 
kommnen Verbrennung oder Oxydation, namentlich der Mer 
talle, zu einer fortwirkenden, bleibenden, und theilt ſich in 
ſeiner ſtättigen Fortwirkung den durchſichtigen, feſten Körpern 
mit. Darum leuchtet das herrliche Grün des Chrom-Oxyds, 
mit unveränderlicher Kraft, ſeit den Jahrtauſenden die an 
der Erdveſte vorübergingen, aus dem Smaragd, ſein Roth 
aus dem Spinel, wie das Grün des Nickeloxydes aus dem 
Chryſopras. Am häufigſten find es die Oxyde des Eiſens, 
welche den Körpern des Steinreiches, und zum Theil ſelbſt 
der organiſchen Natur, eine große Mannichfaltigkeit der bun⸗ 
ten Farben: die rothe, in ihren verſchiedenen Abſtufungen, 
wie die gelbe, grüne, blaue und violette geben. Dabei iſt 
zu bemerken, daß öfters die bunten Farben, welche ein me— 
talliſches Element auf den Stufen ſeiner unvollkommneren 
Sättigung mit dem Sauerſtoffgas den durchſichtigen Körpern, 
namentlich unſren Glasflüßen mittheilt, wieder verſchwinden 
und in die waſſerhelle (weiße) Färbung übergehen, wenn 
die Sättigung (gleichſam Verbren nung) eine vollkommnere 
wird. Daſſelbe geſchieht auch dem Kohlenſtoff, wenn dieſer 
bei un vollkommener Verbrennung, in jener dunklen Fär⸗ 
bung auftritt, in welcher er uns öfters, auch in ſeiner Bei⸗ 
miſchung unter andre Körper, vor Augen kommt, denn er 
nimmt beim vollkommnen Verbrennen zur Kohlenſäure, die 
waſſerhelle Klarheit der Gasarten an. Hierauf gründet ſich 
die entfärbende Wirkung, welche, wie wir oben S. 127 
ſahen, die Beimiſchung des Graubraunſteinerzes auf unſre 1 
Glasflüße hat; das Sauerſtoffgas, welches jenes Erz in 
Ueberfülle in ſich führt, wird bei dieſem Verfahren zur volle 
kommnen Sättigung und Verbrennung der unvollkommen 
oxy⸗ 


481 


oxydirten, farbigen Soffe verwendet; fie werden klar und waſ⸗ 
ſerhell, wie die reine geſchmolzene Kieſelerde des Glaſes und 
der Bergkryſtalle ſelber dieſes ſind. 

In der organiſchen Natur ſehen wir öfters den ganz 
entgegengeſetzten Vorgang eintreten. Die Blätter einer Pflan⸗ 
ze, welche in einem warmen, dunklen Keller hervorſproßen, 
haben nicht die natürliche, grüne Farbe, ſondern ſind weiß— 
lich bleich, wenn wir ſie aber dem Sonnenlicht ausſetzen, dann 
nehmen ſie bald ihr friſches Grün an. Wie wir früher er⸗ 
wähnten, hat das Sonnenlicht auf das lebende Pflanzenblatt 
die Wirkung, daß es das Sauerſtoffgas daraus entbindet. 
Der Kohlenſtoff der Kohlenſäure wird hierdurch in einen un⸗ 
vollkommnen Zuſtand der Oxpdation verſetzt und zugleich 
farbig. Je kräftiger die Entwicklung und die innre Lebens- 
thätigkeit des Pflanzenblattes iſt, deſto mehr ift das Sauer- 
ſtoffgas in einem Zuſtand der beſtändigen Löſung und des 
Freiwerdens begriffen, worinnen der Grund liegen mag, aus 
welchem junge Pflanzenblätter das Lakmuspapier gleich einer 
ſchwachen Säure röthlich färben. 

Der eigentliche, grünfärbende Stoff der Pflanzen (das 
Blattgrün) gleicht in vielen ſeiner Eigenſchaften den Harzar⸗ 
ten; an ſeiner chemiſchen Zuſammenſetzung nimmt der Koh⸗ 
lenſtoff und mit ihm das Waſſerſtoffgas einen überwiegend 
vorwaltenden Antheil. Das Blattgrün löst ſich, eben ſo wie 
die Harze, nicht im Waſſer, wohl aber in Weingeiſt und 
noch leichter in Oelen auf, behält aber ſeine grüne Farbe 
in dieſen Auflöſungen nur dann eine Zeit lang, wenn man 
den Einfluß des Tageslichtes davon abhält; ſobald die Sons 
ne darauf ſcheint wird es zuerſt braun, dann weiß. Dieſer 
entfärbende Einfluß des Sonnenlichtes zeigt ſich an der grü— 
nen Tinktur, die man aus Kirſch- und Fliederblättern durch 
Weingeiſt auszieht, ſchon nach 20 Minuten. Umgekehrt iſt 
der Indigſtoff, welcher namentlich aus den Wurzeln der In⸗ 
digopflanze gewonnen wird, ſo lange das Sauerſtoffgas noch 
keinen Zutritt zu ihm hatte, weiß, wenn er aber der Luft aus⸗ 
geſetzt wird, zieht er mit Begierde das Sauerſtoffgas an ſich und 
erhält nun die blaue Färbung. Auf die Farbeſtoffe, welche aus 
dem Pflanzenreich gewonnen werden, hat das Licht, vor al— 
lem jenes der unmittelbar auffallenden Sonnenſtrahlen einen 
ſehr bedeutenden, verändernden und zuletzt zerſtörenden Ein⸗ 
fluß. Selbſt ein hoher Grad der e ſolche Verän⸗ 

1 


482 


drungen bewirken; manche Pflanzenfarben, die ſich an der Son: 
ne nur langſam entfärben, werden, wenn man ſie einem Luft⸗ 
ſtrome ausſetzt, deſſen Hitze die des kochenden Waſſers über⸗ 
ſteigt, ohne jedoch ein wirkliches Verbrennen zu bewirken, in 
wenig Minuten gebleicht. Die gelbe Farbe, die man dem 
Papier durch Quajactinktur mittheilte, wird, wenn man das⸗ 
ſelbe unter den violetten Lichtſtrahl des Prismas bringt, 
durch Aufnahme von Sauerſtoffgas in Grün verwandelt, 
kehrt aber wieder zurück, wenn man Wärme, auch in kei⸗ 
nem hohen Grade, darauf einwirken läßet. 

Wie die Farben ſchon auf das Reich der kodten Elemen⸗ 
te einen ſehr augenfälligen, bewegenden Einfluß haben, ſo 
kommt ihnen auch ein ſolcher, und zwar in noch viel höherem 
Maaße auf die beſeelten Weſen zu. Abgeſehen von der cher 
miſchen Wirkung des violetten Strahles, auch auf die Le⸗ 
bensthätigkeit des Pflanzenblattes, zeigt ſich bei manchen 
Thieren eine Vorliebe oder auch ein Abſcheu vor gewiſſen 
Farben. Ein gezähmter Kranich, welchen H. v. Schauroth 
längere Zeit beobachtete, zeigte die entſchiedenſte Abneigung 
gegen einige mit ihm auf demſelben Landgut zufammenleben- 
den Hausthiere, offenbar weil dieſelben von ſchwarzer Farbe 
waren, denn gegen Thiere der gleichen Art, die von andrer 
Farbe waren, bewies er ſich ſehr verträglich. Namentlich 
auch von der rothen Farbe weiß man, daß ſie für ſehr viele 
Thiere etwas Aufregendes hat, das zum heftigen Widerſtre— 
ben und zu Aeußerungen einer blinden thieriſchen Wuth 
führen kann. Kühe von rother Farbe find in unfren Alpen- 
herden häufig den Verfolgungen ihrer Genoſſinnen ausgeſetzt; 
ſie ſind ein Gegenſtand des Haſſes für die andren Kühe, ſo 
daß man bei manchen Herden genbthigt iſt ſolche Thiere zu 
entfernen. Es iſt gefährlich mit einem Kleidungsſtück von 
rother Farbe einer Hornviehherde in den Alpen ſich zu nahen, 
ſelbſt ein rothes Tuch reizt dieſelbe zu wüthenden Angriffen 
auf den unvorſichtigen Fremden. Unſren, eigentlich aus 
Amerika ſtammenden Welſchhünern iſt die rothe Farbe zu⸗ 
nächſt ein Gegenſtand von Furcht erregender Art, der aber 
das Thier, wenn es ſich kräftig genug fühlt, zum Gegen⸗ 
kampf antreibt. Wir laſen oben in der Geſchichte des Ja- 
meray Duval, welche Wirkung ein rother Tuchlappen, an 
den Hals eines jungen Welſchhuhns gehangen, auf das ar⸗ 
me, geängſtete Thier hatte: eine Wirkung die für den Hir⸗ 


7 
15 
4 


483 


tenknaben felber, ohne Gottes beſondre Fürſorge, eben fo 
traurige Folgen hätte haben können, als für ſeinen gefieder⸗ 
ten Pflegling. In Südfrankreich ſieht man öfters, daß ganze 
Herden von Welſchhühnern ſtatt der Peitſche oder dem Hir⸗ 
tenſtab nur durch einen Stecken in Ordnung gehalten werden, 
an welchem oben ein ſcharlachrother Tuchſtreifen befeſtigt 
iſt; dieſen bewegt man, indem man eine ganze Schaar ſol⸗ 
chen Geflügels vom Lande herein zu Markte treibt, über die 
zur Seite ausſchweifenden oder zurückbleibenden hin und er⸗ 
zwingt ſich dadurch, wie bei andren Herdenthieren durch Ruthe 
und Stecken, unbedingten Gehorſam. 

Selbſt auf die Gemüthsſtimmung des Menſchen äußern 
die herrſchenden Farben der ihn umgebenden Sichtbarkeit viel⸗ 
leicht einen größeren Einfluß, als er in der Zerſtreutheit des 
alltäglichen Lebens ſich deſſen bewußt wird. Die Völker des 
Alterthumes haben dieſen Gegenſtand einer beſondren Beach⸗ 
tung unterworfen, haben von dem Einfluß der Farben, wie 
des Glanzes der Edelſteine, viel geredet und auch gefabelt. 
Wir brauchen es ihnen allerdings nicht nachzuſprechen und 
noch weniger zu glauben, daß der Anblick des ſchön violett— 
farbigen Amethyſtes tieffinnige Träumereien aufrege, das 
Hineinblicken in den Strahlenglanz eines Demantes oder Ru⸗ 


bins dem Krieger in der Schlacht Muth und Feſtigkeit ver⸗ 


leihen ſollte, etwa ſo wie man dem grünen Farbenſchein des 
Smaragdes Stillung heftiger Leidenſchaft zuſchrieb. Der 
Anblick grünender Auen wird für die Stimmung eines reiz⸗ 
baren, menſchlichen Gemüthes immer etwas lieblich Beſänfti— 
gendes haben, der lange Anblick eines vorherrſchenden Gelb 
zum Ueberreiz und Ekel führen, das Roth, je nach dem Grad 
ſeiner Miſchung mit Gelb oder Blau, oder ſeiner vollkomm⸗ 
nen Reinheit im Carmin, eine ſanftere oder heftigere Aufre⸗ 
gung der Region der Affecten hervorrufen. Es liegt in dem 
reinen Weiß der Lilie ein Etwas, das der Werkthätigkeit 
des ſtillen, geiſtigen Erkenntnißvermögens förderlich erſcheint 
und verwandt. 


57. Der Nachtſchimmer oder die Phosphorescenz 
der Körper. 


Wir möchten vor Allem dem hehren Lichte, ſo wie ſpä— 
terhin * noch der Wärme, gern den ihnen wohlgebühren⸗ 
31 


484 


den Ruhm bewahren, daß ihre tiefeingreifende, alldurchdrin⸗ 
gende Wirkung auf die Körper, welche die rechte Empfänglich⸗ 
keit dafür beſitzen, keine vorübergehende, ſondern eine lang, 
ja zum Theil mit der ganzen Dauer ſolcher Körper fortbe— 
ſtehende ſey. Die Glocke, an welche der Stundenhammer 
ſchlug, tönte noch einige Zeit hindurch unſerem Ohre vernehm⸗ 
bar fort und lange nachher, wenn wir nichts mehr davon 
hören, mögen die Schwingungen des Metalles, welche der 
Hammer oder Klöppel erregten, noch fortdauern. So wirft 
auch der Einfluß des Lichtes in ſeiner Farben- und Erleuch⸗ 
tung gebenden Eigenſchaft noch fort, wenn die Sonne, 
die daſſelbe ausſtrahlte, längſt untergegangen, die Flamme, 
die es erzeugte, längſt verloſchen iſt. 

Wie mochte jener Schuhmacher in Bologna, der Vin⸗ 
cens Cascariolo in Erſtaunen gerathen, als er die Steine, 
die er mehrere Stunden vorher im Feuer ſeines Kochöfchens 
zum Glühen gebracht hatte, im Dunkel der Nacht noch fort⸗ 
glühen ſahe, obgleich das Kohlenfeuer längſt erloſchen war 
und der Ofen, wie die leuchtenden Steine ſich ganz kalt an⸗ 
fühlten. Freilich hätte ihm nicht jede Art von Steinen dieſe 
merkwürdige Erſcheinung gewährt, ſondern es war eben ein 
beſonders glücklicher Zufall, der ihm gerade auf dem Paterno⸗ 
berge bei Bologna dieſen aſchgrau ausſehenden, ſchwefelſauren 
Schwerſpath in die Hand führte. Auch wäre nicht jeder an— 
dre Schuhmacher, und ſo leicht auch kein Gelehrter der dama— 
ligen Zeit auf die merkwürdige Entdeckung gekommen, welche 
der Vincens an dem ſogenannten Bononiſchen Leuchtſtein 
machte; und wäre irgend ein berühmter Mann durch die glei— 
che Veranlaſſung darauf geführt worden als unſer bologneſer 
Schuhmacher, ſo hätte er ſich vielleicht geſchämt den wahren 
Hergang zu erzählen. Das war aber bei dem Vincens Cas⸗ 
cariolo keinesweges der Fall, er geſtund es und alle ſeine 
Nachbarn und Bekannten wußten es von ihm, daß ihn ſein 
Verlangen »Gold zu machen« zu dem erſten Verſuch mit 
jenem Stein gefüht habe. Es war nur zu bekannt, daß der 
Mann ſtatt fleißig und ordentlich durch ſein Handwerk ſich 
zu nähren; bei Tag wie bei Nacht ſich dem Hange hingab den 
»Grundſtoff aller Grundſtoffe, « die »prima Materia « zu 
finden »aus welcher der Schöpfer alle Dinge, namentlich 
auch das Gold gemacht habe, was der Menſch allerdings, 
wenn er nur erſt im DBefiß jenes Urſtoffes ſey, dem lieben 


485 


Gott nachmachen könne.« Der Verdienſt, ſo Kreuzer bei 
Kreuzer, mochte ihm gar zu kleinlich vorkommen, — »tau— 
ſend Goldgülden bei tauſend Goldgülden und morgen wieder 
tauſend, dann fünf Tage in jeder Woche Feiertage mit 
Schmauß und Luſtbarkeiten, das klingt ſchon beßer.« Aber 
dieſer gute Klang der ihm in ſeinen Träumereien beſtändig 
vor den Ohren tönte, hatte den Vincens gar lange Zeit ge— 
täuſcht und ihn nur in Noth und Sorgen gebracht, als er 
eines Tages (im Jahre 1630) am Monte Paterno den grauen, 
in platten Kugeln geformten, an ſeiner körnigrauhen Außen— 
fläche hin und wieder glänzenden Stein in ſeine Hand nahm, 
und daran eine Schwere bemerkte, welche andre, gewöhnliche 
Steine niemals haben. Gleich fiel ihm dabei ſein beliebter 
Grundſtoff der Grundſtoffe ein, ſollte dieſer, ſo dachte er, 
nicht hier in meinem Steine zu finden ſeyn? Er füllt ſich 
damit feine Taſchen, zündet zu Haufe in feinem kleinen, al— 
chymiſtiſchen Ofen ein tüchtiges Kohlenfeuer an, glühet und 
röſtet den Stein, der dadurch freilich zu keiner prima mate- 
ria, wohl aber zu einem Gegenſtand wird an welchem die 
Naturforſcher bis auf unſre Zeit noch immer eine Luſt und 
Ergötzung der Augen finden. Denn nicht nur jederzeit, wenn 
man den bononiſchen oder bologneſer Leuchtſtein (ſo heißt er 
nach ſeinem erſten Fundort noch immer) der gewöhnlichen 
Feuergluth, ſondern wenn man ihn auch nur dem hellſtrah— 
lenden Sonnenlicht auf einige Augenblicke ausſetzt, dann 
leuchten ſeine Trümmerſtücke eine Zeit lang mit farbigem 
Lichte im Dunklen, gleich den Glühwürmchen oder Johannis- 
käferchen. 

Dem Vincens Cascariolo mag ſeine Entdeckung man— 
chen Gewinn, auch an Geld gebracht haben, als er dieſelbe 
nicht bloß den damaligen beruͤhmteſten Phyſikern ſeiner Va— 
terſtadt mittheilte, ſondern als die Naturfreunde in ganz 
Italien und in manchen andren europäiſchen Ländern ſich 
keine Koſten reuen ließen, um ein und das andre Stück des 
merkwürdigen Steines in ihren Beſitz zu bekommen. Der 
Gewinn aber war noch viel größer, den die Naturkunde ſel— 
ber aus der Erkenntniß eines ſolchen Vorganges zog, bei 
welchem ſich, ohne daß dabei irgend eine Art von Verbren— 
nen ſtatt findet, die Bewegung, welche im Licht iſt, einem 
feſten Körper mittheilt, und in dieſem noch eine Zeit lang 
ſeine Schwingungen fortſetzt, die uns als ein Leuchten erſcheinen. 


486 


Der Demant, weil er, wie bereits erwähnt, aus reinem 
Kohlenſtoff beſteht, iſt freilich, fo unverwüſtlich feſt er ſich 
anſtellt, ein brennbarer Körper, zugleich aber weiß auch 
jedermann welche außerordentliche Erhitzung, etwa im Focus 
des Brennſpiegels, oder in der höchſten Gluth der Schmelzöfen 
dazu nöthig ſey, um dieſes koſtbare Feuerungsmaterial zu 
entzünden, welches dabei dennoch keine helle Flamme giebt, 
ſondern nur mit einem funkenſprühendem Scheine ſich zerſetzt. 
Wenn mann aber manche Demante (denn nicht an allen ge⸗ 
lingt es in ſehr augenfälliger Weiſe) eine Zeit lang dem 
Sonnenlichte ausſetzt und ſie hierauf in einen dunklen Raum 
bringt, dann leuchten ſie, als ob ſie glüheten. Bei Nert— 
ſchinsk in Sibirien findet ſich eine Abänderung des Flußſpathes, 
(Chlorophan genannt), welche die Eigenſchaft im Dunklen 
fort zu leuchten, wenn man ſie vorher dem Lichte ausſetzte, 
in ganz beſonders hohem Grade an ſich hat, und auch unſer 
vaterländiſcher Flußſpath zeigt, mehr oder minder deutlich, 
dieſelbe Erſcheinung. Der bologneſer Leuchtſtein beſtehet, wie 
wir oben ſagten, aus einer Verbindung der Schwererde (Bas 
ryterde) mit Schwefelſäure und auf dieſer feiner Zuſammen— 
ſetzung beruhet hauptſächlich ſein Vermögen der beharrlichen 
Lichtſtrahlung. Deshalb thut unſer gemeiner Schwerſpath 
(ſchwefelſaurer Baryt) der in gar vielen Gegenden, auch von 
Deutſchland gefunden wird, dieſelben Dienſte als der kuglich 
geformte bononiſche, den man übrigens außer bei Bologna 
auch bei Amberg in Bayern u. a. entdeckt hat. Und nicht nur 
der Schwerſpath, ſondern auch der ſchwefelſaure Strontian und 
eine Menge andrer einfacher wie zuſammengeſetzter Körper 
behalten die Fähigkeit noch fortzuleuchten, wenn man ſie aus 
dem Licht ins Dunkle bringt. Vor den meiſten andren am 
leichteſten zu bereiten iſt der ſogenannte Cantonſche Phosphor 
(nach ſeinem Erfinder, dem Engländer John Canton ſo 
genannt) den man dadurch bereitet, daß man Auſterſchaalen, 
die man ſchon vorher für fich allein geglüht und dann g 
pulvert hatte, noch einmal, mit einem Viertheil ihres Ge— 
wichtes Schwefelblumen vermiſcht, eine Stunde lang in einem 
Tiegel einer ſtarken Glühehitze ausſetzt. Eine noch beßer für 
den Verſuch brauchbare, gegen die Einwirkung des Lichtes 
empfindlichere Miſchung iſt die der gebrannten Auſterſchaalen 
mit Schwefelſpiesglanz. Und ſo giebt es noch eine Menge 
andrer künſtlich bereiteter und natürlicher Subſtanzen, welche 


H 
1 
| 


487 


die Eigenſchaft des bononiſchen Leuchtſteines zeigen, den man 
ſelber auch noch dadurch zu dem Verſuch geſchickter machen 
kann, daß man ſein Pulver mit Traganthſchleim zu kleinen 
platten Kuchen bildet, die man eine Stunde lang glühet. 

Wäre unſer Geſichtsſinn für ſchwächere Grade des 
Lichtes ſo empfindlich, wie der mancher Thiere, dann würden 
wir an den meiſten Felsarten und Steinen, die am Tage von 
der Sonne beſtrahlt waren, im Dunklen noch ein Fortleuch— 
ten bemerken, wie dies v. Char pentier an mehreren Gra⸗ 
nit⸗ und Gneißfelſen beobachtet hat. Und nicht nur die feſten 
Körper, auch das flüſſige Element des Meeres giebt, wenn 
am Tage die Sonne der Wendekreiſe es beſtrahlte, während 
der Nacht ein Licht von ſich, das nicht allein von der nach— 
her zu erwähnenden thieriſchen Abkunft iſt. Selbſt in unſren 
Meeren hat man eine, wenn auch ſchwächere Phosphorescenz 
des Seewaſſers bemerkt. 

In älterer Zeit ſind gar vielerlei mährchenhafte Berich— 
te im Umlauf geweſen, welche meiſt aus dem Orient, aus 
dem Lande da die Sonne heller ſtrahlt als bei uns, ihren 
Urſprung genommen hatten: von einem wunderbaren Steine, 
dem Karfunkel, der aus eigner, ſelberleuchtender Kraft, mitten 
in dem Dunkel der Grüfte ſo wie der unterirdiſchen Schatz— 
kammern, eine Helle um ſich her verbreiten ſollte, die dem 
Licht einer Kerze gleich käme. Mährchen waren dies, ſo wie 
ſie da erzählt wurden, allerdings, aber der Dichtung lag doch 
etwas Wahres, eine Beobachtung zu Grunde, die man nicht 
nur am Demant, ſondern an manchem Edelſtein gemacht 
haben konnte. 

Bei allen den Körpern, welche ſich durch die erwähnte Ei— 
genſchaft eines Fortwirkens der empfangenen Beleuchtung, 
auch im Dunklen auszeichnen, iſt zu bemerken, daß ſowohl das 
Sonnenlicht als auch das Licht der verbrennenden Körper 
(das Flammenlicht) nicht aber das ſchwache Mondlicht ſie in 
den Zuſtand des Fortleuchtens verſetzen könne. Bemerkens— 
werth iſt auch der Umſtand, daß unter den prismatiſchen Far— 
benſtrahlen zunächſt und vorzugsweiſe der violette das Fort— 
leuchten begünſtige, während daſſelbe augenblicklich endet, 
Dale mat jene Körper dem rothen Strahle des Farbenbildes 
ausſetzt. 

Mit den eben erwähnten Arten der Lichtſtrahlung im 
Dunkeln, welche ſich auf eine Fortdauer der Bewegung grün— 


488 


den, die das Licht an der Oberfläche eines Körpers hervor⸗ 
gerufen hat, dürfen nicht jene verwechslet werden, welche die 
Folge einer langſam fortſchreitenden Verbindung mit dem 
Sauerſtoffgas ſind, oder welche in ihrem Kreiſe, ſo wie der 
elektriſche Funke, das Anzeichen einer Ausgleichung (Entla⸗ 
dung) der polariſchen Spannung zwiſchen der Atmosphäre und 
der Erdoberfläche ſind. Zu den Erſcheinungen der letzteren Art 
gehörten jene Feuerregen, deren ſcheinbare Schreckniſſe, außer 
dem Auge, keinen andren Sinn berührten. Ein berühmter 
und durchaus glaubwürdiger Naturforſcher, T. Bergmann 
hat im September des Jahres 1759 zwei ſolche Feuerregen 
beobachtet, bei denen jeder ſchwere Tropfen, wenn er auf das 
Felſengeſtein oder auf den Boden des Feldes traf, einen ſtar⸗ 
ken Funken gab, ſo daß in jenen zweien, übrigens ganz 
dunklen Nächten die Fluren ein Ausſehen hatten, als würden 
ſie mit einem ſchwachleuchtenden, flüchtigen Feuer übergoſſen. 
Es wird übrigens nicht nöthig ſeyn daran zu erinnern, daß 
ein ſolches Feuer weder Erhitzung verbreite noch verzehrende 
Kräfte habe. 

Das faule Holz, faules Fleiſch, faule Fiſche geben auch 
im Dunklen einen Lichtſchein von ſich, der keine Erwärmung 
mit ſich führt, dieſer Lichtſchein ſteht aber in Zuſammenhang 
mit einer Art jenes langſamen Verbrennens, davon wir oben 
im C. 34 ſprachen. Wenn man deshalb dergleichen phos— 
phoreszirende Körper in ſolche Luftarten bringt, darinnen 
das Licht der Kerzen verlöſcht, dann nimmt auch ihr Leuchten 
ein Ende. Selbſt manche lebende Thiere, namentlich die vom 
Geſchlecht der kleinen, ſchleimigen Quallen im Meere ſtrahlen 
bei Nacht ein Licht aus, und bei unſren Johanniswürmchen 
ſteht dieſes Licht ebenfo im Zuſammenhang mit der innren 
Aufregung der thieriſchen Lebenskraft und des thieriſchen 
Willens als die Entladung des elektriſchen Schlages bei den 
C. 44 erwähnten Zitterfiſchen. Einen ähnlichen Zuſammen⸗ 
hang des nächtlichen phosphoreszirenden Leuchtens mit den 
Willensregungen des Thieres, hat man auch an den Augen 
der Katzen wahrgenommen. 0 | 


58. Vermuthungen über die leibliche Natur 
des Lichtes. 


Seit älteſter Zeit hat wohl kaum ein andrer Gegenſtand 


489 


der Sichtbarkeit das Nachdenken des menſchlichen Geiſtes fo 
ſehr angeregt als das Licht. Man hat die Frage über das 
Weſen des Lichtes vom Standpunkt der Naturwiſſenſchaft 
aus in zweifacher Weiſe zu löſen geſucht, entweder, ſo nahm 
man an, iſt das Licht ein feines körperliches Weſen, das aus 
der Sonne beſtändig ausfließt und ſich durch den Weltraum 
verbreitet, da aber, wo es einen mehr oder minder undurch— 
ſichtigen Körper trifft, von dieſem zurückgeſtoßen (zurückge— 
ſtrahlt) wird, oder ſein Weſen beſtehet in einer ſchwingenden 
Bewegung, welche von der Sonne ſo wie von jedem andren 
leuchtenden Körper angeregt, ſich dem Aether mittheilt, und 
bis zu unſerem Sehnerven, ſo wie bis zu jedem andren er— 
leuchtbaren Körper fortpflanzt. Die erſtere Anſicht wurde als 
die des Ausfließens (Emanation), die andre als die des wo— 
genden Bewegens (der Undulation) bezeichnet. Ä 

Der erſte befannnte Raturkundige welcher die Anficht 
von einem Ausfluß des Lichtes, gleich dem eines leiblichen 
Stoffes zu einer wiſſenſchaftlichen Lehre ausbildete, iſt, ſo 
viel man weiß, Empedokles geweſen, welcher in der 
Mitte des fünften Jahrhunderts vor Chriſti Geburt zu Agri— 
gent, einer Stadt in Sizilien lebte, in und bei welcher ſich, 
damals beſonders, der Menſch des Lichtes freuen und an 
ſeinem Alles erhellenden Glanz ergötzen konnte, wie an we— 
nig andren Orten der Erde. Denn dieſes Agrigent, welches 
in feiner blühendſten Zeit von 800000 Menſchen bewohnt war, 
bot Alles dar, was zur Luſt der Augen gehört, und noch jetzt 
möchte ſich der Reiſende zur Betrachtung der wunderherrlichen 
Ruinen der alten Stadt, welche wie Edelſteine in Gold ge— 
faßt, in einer ungemein ſchönen Gegend liegen, einen beſtän— 
digen Tag, gar keine Unterbrechung durch die Nacht wün— 
ſchen, weil man kaum anderswo ſo ſehr an den Spruch: 
»das Auge ſieht ſich nimmer ſatt,« erinnert wird. Es darf 
uns deshalb nicht befremden, daß der tiefſinnige Empedok— 
les ſich ſolche Mühe gab das flüchtig vorübereilende Weſen 
des Lichtſtrahles für ſeine Betrachtung feſtzuhalten, in einem 
Lande da das Licht mit Luſt verweilte und wo ſein Erſcheinen in 
jeder gefunden Menſchenbruſt nur Luft und Freude wecken konnte. 

Ein und zwanzig Jahrhunderte hernach hat ein eben ſo 
großer Naturkundiger als Empedokles war, der berühmte 
Engländer Iſaak Newton die Lehre: daß das Licht ein 
leiblicher Ausfluß ſey, mit großem Scharfſinn bearbeitet und 


— — 


490 


ausgeführt. »Obgleich dieſer überaus feine, ausfließende Stoff 
ungehemmt die durchſichtigen Körper durchdringe, erleide er den⸗ 
noch von ihnen eine Anziehung nach der Geſammtheit ihrer 
Theile (ihrer Maſſe) hin, wodurch der Lichtſtrahl von ſeiner 
geradlinigen Richtung abgelenkt (gebrochen) werde, von un⸗ 
durchſichtigen Körpern dagegen werde der Lichtſtoff, je glätter 


und ſpiegelnder ihre Flächen find, deſto vollkommner abgefto- 


) 
1 
\ 


ßen und zurückgeworfen, während die farbigen Körper nur 


einen Theil der Strahlen des auf ſie fallenden weißen Lich⸗ 


tes wieder von ſich geben ſollten.« 

Der Lehre welche das Licht als ein leibliches Ausfließen 
darſtellte, widerſprach ſchon einer der ſcharfſinnigſten Denker 
aller Zeiten, Ariſtoteles (im 4ten Jahrhundert vor Chr. 
Geb.). Dieſer ſprach eine Anſicht aus, welche ebenfalls zwei 
Jahrtauſende ſpäter von einem ihm verwandten Geiſte, von 


dem Holländer Huyghens, Fann von dem deutſchen Mas 
thematiker Euler mit großer Klarheit durchgeführt worden 


iſt, die Lehre: daß das Licht ein alldurchdringendes Bewegen, 


daß es nicht ſowohl ein Körper ſelber, als eine Kraft der 


Körperwelt (Undulation) ſey. Dieſe Anſicht hat ſich durch 


die immer weiter gehenden und tiefer eindringenden For— 


ſchungen der neueren Zeit ſo beſtättigt, daß ſie jetzt als die 


herrſchende im Gebiet der Phyſik betrachtet werden darf. 

Der Schall wird von einem tönenden Körper dadurch 
zu unſrem Ohre fortgepflanzt, daß die Luft an der Schwin⸗ 
gung, in die jener Körper verſetzt iſt Theil nimmt. Obgleich 
kein andrer irdiſcher Körper von dem Licht ſo leicht durch— 
dringbar, ſo durchſichtig iſt als die Luft, kann dennoch nicht ſie 
es ſeyn welche die Schwingungen des leuchtenden Körpers 
der beleuchtenden Umgebung, oder unſrem Auge mittheilt, 
denn eben ſo wie ein ſogenannt luftleerer Raum, in welchem 
jeder Ton verſtummt, ein Demant oder ein ſpiegelnder Kör— 
per, wenn der Sonnenſtrahl auf ihn hineinfällt, wenigſtens 
eben ſo hell glänzt und leuchtet als außen in der freien Luft, 
kommt uns ja auch das Sonnenlicht wie das Licht der Fir- 
ſterne durch Weltenräume zu, in denen kein unſrer Luft glei= 
chender Körper zu finden iſt. Will man nun ein für allemal 
an der Meinung feſthalten, daß der Antrieb zu einem leib- 
lichen Bewegen, auf ein durch weite Entfernung getrenntes 
Leibliches nicht anders einwirken könne als dadurch, daß ein 
leibliches Mittel da iſt, deſſen Bewegung von einem Ende 


491 


eine gleichartige Bewegung am andren Ende begründet, (et 
wa fo wie bei einer Reihe von Billardkugeln, an deren eine 
äußerſte man eine andre Kugel anſtoßen läßt, worauf die 
andre äußerſte, als hätte der Stoß ſie getroffen, in fortrol— 
lende Bewegung geſetzt wird), dann muß man das Daſeyn 
eines allenthalben in der Leiblichkeit verbreiteten, dieſe ums 
fangenden und durchdringenden Weſens annehmen, welches 
mit einem ſchon bei dem Alterthume vielbedeutenden Namen: 
Aether genannt wird. Ueberall gegenwärtig wie die allge- 
meine Schwere, welche freilich kein Körper, ſondern auch 
nur eine die Körperlichkeit durchwirkende Kraft iſt, ſoll der 
Aether im Weltenraume, fo wie im durchſichtigen Bergkryſtall 
oder im feſten Demant, in unſrem Auge und Sehenerven 
ſo wie in den miteinander verbrennenden gasartigen Grund— 
ſtoffen des Waſſers und in jeder Flamme ohne Aufhören 
zu einer ſchwingenden Bewegung fähig ſeyn, die ſich anſchei— 
nend in geradliniger Richtung von einem ſeiner Theile auf 
den andren überträgt. In dem leuchtenden Sonnenkörper, ſo 
wie an den ſonnenartig leuchtenden Fixſternen fände ein un— 
aufhörliches Anregen des Athers zu ſeinen Schwingungen 
ſtatt; ein Anregen welches noch aus unermeßbaren Fernen 
als Licht empfunden wird. 5 
Wir nannten ſoeben die Fortpflanzung der wellenför— 
migen Bewegung des Lichtes eine anſcheinend geradlinige, 
denn als eine ſolche, und nur als eine ſolche iſt ſie auch 
durch die feineren Beobachtungen der neueſten Zeit erkannt 
worden. Den meiſten Aufſchluß über dieſen Gegenſtand hat 
die beßere, deutlichere Erkenntniß einer Erſcheinung gegeben, 
welche man früher unter den Namen der Beugnng des Lich— 
tes anerkannte. Wenn man nämlich in ein verdunkeltes 
Zimmer durch eine kleine Oeffnung oder Spalte des Ladens 
Sonnenlicht auf einen geradſtehenden Draht hereinfallen lä— 
ßet, (jede Stricknadel iſt zu dem Verſuche anwendbar), dann 
wirft dieſer feine, undurchſichtige Körper nicht, wie man es 
bei Annahme der ausſchließend nur geradlinigen Fortpflan— 
zungl des Lichtes erwarten müßte, einen einförmigen dunklen 
Schatten auf den hinter ihm ſtehenden Schirm; einen Schat— 
ten deſſen Breite mit der Entfernung des Schirmes ſo wie 
der Lichtöffnung genau im Verhältniß ſtehet, ſondern ſein 
Schatten iſt viel breiter, als er der Berechnung nach ſeyn 
ſollte, und gerade in der Mitte, wo ſich nach der Lehre von 


492 


der geradlinigen Strahlung die größeſte Dunkelheit zeigen 
müßte, erſcheint ein heller Streifen, der zu beiden Seiten von 
dunklen Linien begrenzt iſt, deren man, wenn der Schirm 
näher an dem Drahte ſteht, mehrere, wenn man ihn weiter 
davon hinwegrückt nur zwei, außer ihnen aber noch einige 
farbige Ränder wahrnimmt. Dieſe letzteren macht freilich 
erſt das Vergrößerungsglas recht ſichtbar, und mittelſt deſſel— 
ben kann man die ganze Erſcheinung, wenn man damit ges 
gen den Draht hinblickt, auch ohne Schirm, in der bloßen 


Luft zu ſehen bekommen; das Schattenbild ſtellt ſich dann“ 


als eine Anzahl von gleich weit von einander abſtehenden 
dunklen Linien dar, welche durch feine helle Streifen getrennt 
ſind. Auch am Umfang des Schattens breiterer Körper, z. 
B. kleiner Scheibchen bemerkt man, wenn man das Licht in 
ähnlicher Weiſe auf ſie fallen läßet, farbige Ränder, wie ſie 
in einem vergrößerten Maaßſtabe um den Mondſchatten, bei 
totalen Finſternißen ſich zeigen. 


Man hat nun den Verſuch auch auf andre, zuerſt von 
Fraunhofer angegebene Weiſen gemacht. Das Licht 
das durch die eine enge Spalte, ins dunkle Zimmer herein— 
fällt, wird durch eine zweite enge Spalte, welche in gerader 
Linie mit der erſten und in einiger Entfernung von dieſer, 
etwa in einem Schirme angebracht iſt, mittelſt eines Fern— 
rohres betrachtet und man ſieht jetzt eine Lichterſcheinung 
in der Mitte von einem hellweißen Streifen durchzogen, 
deſſen Höhe jener der Lichtöffnung gleich, deſſen Breite aber 
um ſo größer erſcheint, je ſchmäler die Spalte iſt, durch 
welche das bewaffnete Auge hindurchſchaut. An jeder Seite 
dieſes hellen Mittelſtreifens zeigen ſich drei prismatiſche 
Farbenbilder, bei zweien von dieſen, welche rechts und links 
zunächſt an das Helle grenzen, find alle Farben des Pris⸗ 
mas (zu innerſt das Violett) ſichtbar, während an den beiden 
folgenden das Violett fehlt, fo daß ſich gleich das Indigo⸗ 
blau an der rothen Seite des vorhergehenden einſtellt; an 


den beiden äußerſten fehlen mit den violetten Strahlen zu⸗ 


gleich auch die blauen, ſo daß hier der grüne Strahl den 


Anfang macht. Das innerſte Farbenbild iſt überhaupt das 
deutlichſte, das äußerſte das undeutlichſte, und der ganze, 


innen einfach weißlich helle, nach den Seiten dreifach viel⸗ 
farbige Lichtgürtel wird um deſto breiter, je ſchmäler und 


0 
1 
4 


* 


493 


feiner die Spalte im Schirme iſt, durch die man den ein— 
fallenden Lichtſtreifen beobachtet. 

Die Erklärung der eben angeführten Erſcheinungen möchte 
in bloßen Worten, ohne die mathematiſche Zeichen- und 
Figurenſprache ſchwerlich in einer vollkommenen Weiſe zu 
geben ſeyn. Wir begnügen uns nur damit, zu ſagen, daß 
durch die enge, ſpaltenartige Oeffnung nicht nur in gerader, 
ihrer Mitte gleichlaufenden Linie, ſondern auch in andren 
Linien Lichtwellen hereindringen, von denen die, welche die 
gleichlangen, in der Mitte zuſammentreffenden Wege zu 
durchlaufen haben, ſich in ihrer erhellenden Kunſt verſtär— 
ken, während die andren, zu beiden Seiten von der Mitte bins 
ausfallenden Strahlen, bis zu dem Punkte ihres Auftreffens 
Wege zurücklegen müßen, welche ſich an Länge immer un⸗ 
gleicher werden. Hier aber geſchiehet nun Etwas, das wir 
auch an tönenden Saiten, ja, im Grunde genommen, an 
jeder Flüßigkeit bemerken konnen von welcher irgend ein 
Theil zu gleicher Zeit in ungleiche Schwingungen geſetzt wird. 
Wenn man an einem gewißen, durch ſchnelle Drehung laut— 
bar werdenden Inſtrument, das in der Phyſik den Namen der 
Sirene führt, in die flötenartig tönenden Oeffnungen nur 
einen Luftſtrom von gleicher Richtung und gleicher Stärke 
der Bewegung hereindringen läßt, dann hört man einen Ton 
klar unterſcheidbar und hell, läßt man aber die Anregung von 
zwei Luftſtrömen von verſchiedner Richtung und bewegender 
Kraft kommen, dann hebt die Wirkung beider wegen der Ver— 
ſchiedenheit der Schnelle der Schwingungen, die ſie in glei— 
cher Zeit hervorrufen, ſich auf: man hört gar keinen Ton. 
Und ſo kann man in mannichfacher Weiſe den Verſuch ſo ab— 
ändern, daß man in einem Falle zwei Töne, z. B. Octaven, 
im andren nur einen vernimmt, während der andre unhörbar 
wird. Dieſelbe Erfahrung läßt ſich auf ſehr verſchiedne Weiſe 
an Röhren wiederholen, welche durch eine in Schwingung 
geſetzte Platte zum Tönen gebracht werden, je nachdem man 
die Mündung der Röhre an den einen oder den andren, 
auf oder nieder, mehr oder minder ſchwingenden Punkt der 
Platte aufſetzt. 

Hat man doch auf ähnliche Weiſe eine Thatſache zu 
erklären geſucht, welche den Schiffern auf dem Meere aus 
Erfahrung bekannt ſeyn ſoll, jene nämlich daß die Meeres— 
wellen, wenn ſie bei heftigem Sturme und Brandung in der 


D a 33°. ha 
ar ) 


494 


furchtbarſten Bewegung find, durch Oel, das man aus den 
geöffneten Fäſſern auf ſie ſchüttete, beruhigter und niedriger 
wurden. Der gleiche Anſtoß bringt dann in den beiden Fluſ— 

ſigkeiten von ungleichem Gewicht und Zuſammenhalt der 
Theile, ungleiche Schwingungen hervor, davon die eine der 
andren, hemmend und mäßigend entgegenwirkt. 

So hat man aus der Deutung, die man in neuerer 
Zeit für die ſchon vor zwei Jahrhunderten durch Grimaldi 
beobachteten Erſcheinungen der ſogenannten Beugung der Licht⸗ 
ſtrahlen auffand, den Schluß gezogen, daß die von zwei un⸗ 
gleichen Wegen zuſammentreffenden Lichtſtrahlen ſich, wie 
ungleiche, den Ton anregende Schwingungen gegenſeitig 
aufheben und unſichtbar machen, die auf gleichmäßigem Wege 
kommenden aber ſich verſtärken. Wir ſehen deshalb nur die 
letzteren, zunächſt gradlinigen; von den andern und der all 
mäligen Aufhebung der einen durch die andre, erhalten wir 
nur durch Anwendung ſolcher künſtlichen Vorrichtungen einige 
Kunde, dergleichen die vorhin erwähnten ſind. 

Die Naturkunde faßet dieſes ganze Gebiet der Erſchei— 
nungen, aus deſſen Beachtung die Lehre: daß das Licht nicht 
ein körperlicher Stoff ſondern ein ſchwingendes Bewegen der 
Körperlichkeit ſey, eine vorzügliche Beſtättigung empfängt, unter 
dem Namen der Interferenz der Lichtſtrahlen zuſam⸗ 
men, und, wie ſchon erwähnt, man kann nicht nur von einer 
Interforenz des Lichtes und des Schalles, fondern aller 
ſchwingungsartigen Bewegungen der Körperwelt reden. 
Selbſt in der Welt des Geiſtigen kann eine anregende Be— 
wegung die andre, von andrer Seite herkommende ſtören 
und hemmen, während zwei nach gleicher Richtung ſtrebende 
ſich verſtärken. 

Die Erſcheinungen der Interforenz der Lichtſtrahlen hat 
die Naturkundigen unſrer Zeit noch um einen kühnen Schritt 
weiter geführt, als zur bloßen Erläutrung und Veſtatzung 
der Lichtſchwingungs-(Undulations-) Lehre nöthig war. Sie 
haben es gewagt die Zahl der Schwingungen der Lich 
len, in einer gewiſſen Zeit abzuſchätzen. Wäre dies eben 
ſo leicht wie bei den Schwingungen einer tönenden Saite 
oder eines andren tönenden Körpers, dann würde die Kühn⸗ 
heit nicht ſonderlich groß erſcheinen. Denn um die Schall? 
ſchwingungen deutlich abzuſchätzen darf man nur in Chladnis 
Weiſe recht elaſtiſche, ſtahlerne Stäbe mit dem einem Ende 


en 


495 


feft in einen Schraubſtock ſpannen, und fie dann am andren 
Ende, dadurch daß man ſie ſeitwärts biegt und ſchnell wieder 
fahren läßet, in pendelardige Schwingungen verſetzen. Wenn 
man hierbei die Schwingungen, ſo weit ſie bei den längeren 
Stäben noch unterſcheidbar ſind, zählt, ſo überzeugt man ſich 
daß ein zweimal kürzerer Stab von übrigens gleicher Be— 
ſchaffenheit in derſelben Zeit 4, ein dreimal kürzerer 9 mal 
ſo viele Schwingungen mache als der längere. Die Schnellig— 
keit der Aufeinanderfolge des Bewegens nimmt alſo in quaz 
dratiſchem Verhältniß mit der Verkürzung zu. In gleicher 
Art rückwärts gehend kann man dann, durch genaue Beach— 
tung der Länge eines Stahlſtabes, deſſen Schwingungen 
zwar einen hörbaren Ton geben, dabei aber nicht mehr für 
das Auge erkennbar ſind, die Zahl der Schwingungen in 
Zeit einer Secunde auffinden, indem man Stäbe von immer 
größerer Länge zu dem Verſuche anwendet, bis zuletzt die 
Schwingungen ſichtbar und zählbar werden. Auch an ge— 
ſpannten Saiten läßt ſich die Zahl der Schwingungen ermit— 
teln. Bei dieſen weiß man daß, wenn die Spannung die— 
ſelbe bleibt, die Länge der Saiten aber um die Hälfte ver— 
kuͤrzt wird, die Zahl der Schwingungen in gleicher Zeit auf 
das Doppelte wächſt, und daſſelbe findet an Orgelpfeifen 
ſtatt. Auf dieſe Erfahrung geſtützt hat man berechnet, daß 
auf den tiefſten für ein menſchliches Ohr noch hörbaren Ton 
16 Schwingungen in einer Secunde kommen. CChladni 
hatte gerade die doppelte Zahl dafür angenommen). Dieſer 
tiefe hörbare Ton ſoll jenem entſprechen den eine 32 füßige 
an beiden Seiten offne Orgelpfeife bei dem Hindurchſtrömen 
der Luft vernehmen läßet. Mit jeder höheren Octave wächſt 
die Zahl der Schwingungen auf das Doppelte, ſie beträgt 
deshalb bei dem Contra C das eine 16 füßige Orgelpfeife 
angiebt, und welches zugleich das tiefſte C unſrer Klaviere 
iſt 32, bei der höheren Octave von dieſem, dem ſogenannten 
großen C, das dem Ton einer 8 füßigen Orgelpfeife ent— 
ſpricht, und zugleich der tiefſte Ton des Violoncells iſt 64, 
bei der nächſten Octave (dem kleinen C) 128 und ſo weiter 
bei dem ein, zwei, drei, viermal geſtrichenen C 256, 512, 
1024, 2048 Schwingungen. Der Ton der höchſten Saite 
unſrer neueren Klaviere, das viermal geſtrichne 6 hat 3072 
Vibrationen; auf den tiefſten Ton den eine männliche Baß— 
ſtimme hervorbringen kann, (das große F) kommen 86, auf 


496 


den höchſten, den fogenannten Bruſtton des einmal geftrich- 
nen A 427 Schwingungen, der tiefſte Ton einer weiblichen 
Singſtimme (das kleine 6) zählt 192, der höchſte, das drei⸗ 
geſtrichne e 1280 Schwingungen in einer Secunde. Uebri⸗ 
gens geht die Grenze der hörbaren Töne nach der Höhe 
hinauf viel weiter als die Tonleiter unſrer muſikaliſchen In⸗ 
ſtrumente, und man meint, daß unſer Ohr einen Umfang von 
wenigſtens 9, ja 10 hörbaren Octaven umfaßen könne, wie⸗ 
wohl eine Zahl der Schwingungen welche über 16000 in 
einer Secunde ſteigt, gewiß nicht mehr als Ton ſondern nur 
wie ein Ziſchen vernommen wird. i 
Wir kommen nun unſrem Gegenſtande, in den Berechnungen 
der Schwingungen, welche der Lichtſtrahl in einer Secunde 
macht aus der Analogie der Berechnung der Schallſchwin— 
gungen, wieder näher. Man muß ſich die Weiſe in der ſich 
der Schall oder Ton durch die Luft, bis zu unſrem Ohre 
fortſetzt, wie eine Aufeinanderfolge von Wellen (größeren und zu— 
gleich längeren, kleineren und zugleich kürzeren)denken. Der Schall 
durchläuft in einer Secunde 1024 Pariſer Fuß. Wenn wir 
in dieſem Abſtand den tiefſten Ton einer 32füßigen Orgel— 
pfeife vernehmen, der 16 Schwingungen in einer Secunde 
macht, dann muß jede Schallwelle, die von dieſem Tone 
erregt wird an Länge den 16ten Theil von 1024 d. h. 64 Fuß 
gleich ſeyn, während die Schallwelle der höchſten, wohl unter— 
ſcheidbaren Töne nur wenige, ja kaum eine Linie lang iſt. 
Rieſenhaft groß nun, wie die Verſchiedenheit der Ge— 
ſchwindigkeiten des Schalls und des Lichtes, muß auch die 
Verſchiedenheit der Zahl der Schwingungen ſeyn, welche die 
Bewegung des einen und des andern in einer Secunde 
macht. An den Erſcheinungen der Beugung oder vielmehr 
der Interforenz der Lichtſtrahlen, welche nach einem Ver— 
fahren, das mit dem oben (S. 492) beſchriebenen den glei⸗ 
chen Zweck hatte, und bei welchem das Licht aus einer kleinen 
Oeffnung durch ein feines Drahtgitter in den verdunkelten 
Raum fiel, maß Fraunhofer die Wellenlänge der ver⸗ 
ſchiedenfarbigen prismatiſchen Lichtſtrahlen nach Hunderttau⸗ 
ſenden eines Pariſer Zolles. Solche überaus feine Maß⸗ 1 
theile ſind es, nach denen die Phyſik bei dieſer Gelegenheit 
ihre Angaben gemacht hat und gefunden zu haben glaubt, 
daß die Zahl der Schwingungen des von der Sonne zur 
Erde gehenden Lichtes nicht weniger als 576 Billionen in 
einer 


497 


einer Secunde betrage. Für den rothen Lichtſtrahl des pris⸗ 
matiſchen Farbenbildes iſt die Zahl dieſer Schwingungen, 
nach Herſchels Berechnung eine geringere, für den violetten 
eine größere, ſo daß der rothe Strahl dem tiefſten, der 
. a höchſten Ton einer Octave entſprechend gefun— 
en wird. 

So hat der denkende Geiſt des Menſchen, gleich wie 
überall, ſo auch hier, über die Grenzen des noch ſinnlich 
Erkennbaren hinaus ſich eine Bahn gebrochen, in eine Welt 
der Anſchauungen, nicht mehr des leiblich Erſcheinenden, 
ſondern deſſen das geiſtig iſt und beſtehet. Wenn auch das 
Ende des Weges nicht allenthalben in den Kreis eines ſich— 
ren und klaren Erkennens fällt, wenn wir oft in Ungewißheit 
bleiben, ob überhaupt ein ſolches Ende erreicht worden ſey, 
ſind wir doch darüber verſichert, daß der Antrieb, welcher 
unſren Geiſt auf dieſen Weg führte, ein unſrer Natur in 
unabweisbarer Art eingepflanzter ſey. 


59. Das Verhältniß des Lichtes zu andren bewe— 
genden Naturkräften. 


Unter allen Kräften der Sichtbarkeit giebt ſich zuerſt 
und zunächſt die Schwere als eine Urſache der Bewegungen 
kund. Ihre Gewalt iſt es, welche die Monde um ihre Pla- 
neten, beide, um die mächtige Sonne und auch dieſe Herr— 
ſcherin ſelber durch den Weltraum ſicher in abgemeſſenen 
Bahnen bewegt. Die Schwere iſt es, welche die zerklüftete 
Felſenwand von der Höhe eines Berges ablöſt und ihr Herab— 
ſtürzen in die Tiefe bewirkt, welche die Lawine herunter zieht 
ins Thal, den Fall eines Stromes aus der Höhe und ſein 
allmäliges Abfließen nach dem Meere verurſachet. Da, wo 
der Menſch die ſtarke Naturkraft der Schwere in ſeinen Dienſt 
nimmt, indem er die Schwere der Luftſäule, oder des Waſ— 
ſers oder irgend einer körperlichen Maſſe zum Gegengewicht 
benutzt, vermag auch er Bewegungen zu begründen, zu wel⸗ 
chen die Kräfte ſeines Armes niemals hinreichend wären; 
er läßt durch den Druck der Luft das Waſſer in ſeinen Pum⸗ 
penröhren emporſteigen, oder durch den Druck einer höher 
ſtehenden Waſſerſäule die Springbrunnen entſtehen, Räder 
umtreiben und große, ſchwerfällige Maſchinen bewegen; der 
Hammer in ſeiner Hand, das Gewicht er feiner Uhr verrich⸗ 

2 


498 


ten alle die Künſte, zu denen die Erfindungskraft der Men⸗ 
ſchen ſie benutzte nur mittelſt der Schwere. 

Der Magnetismus wie die Elektrizität zeigen ſich als bewe⸗ 
gende Kräfte, ſchon durch die Anziehung und Abſtoßung wel⸗ 
che ſie begründen; die Anregungen von magnetiſcher Art ge⸗ 
ben ſich zu gleicher Zeit über ganze Erdtheile hin an den 
Bewegungen der Magnetnadeln (nach C. 48) kund, die elek⸗ 
triſche Strömung durchläuft mit einer Schnelle, welche die 
des Lichtes noch zu übertreffen ſcheint, jene Räume, durch 
welche wir ihr, etwa mittelſt eines leitenden Metalldrahtes den 
Weg bezeichnen (C. 46). Wir bringen ein Stück verroſtetes 
Eiſen in eine ſchwache Auflößung des ſchwefelſauren Kup⸗ 
ferorydes und alsbald beginnt da ein Bewegen von allen 
Seiten her wie in einem geſchäftigen Ameiſenhaufen. Die 
Theilchen des Kupfervitriols treten ſchaarenweis ihren Zug 
nach dem Eiſenſtück an, das im Sumpf des vitriolhaltigen 
Quelles liegt; hier beginnen ſie im Verkehr mit den Theilchen 
des Eiſens ein Werk des Zerſtörens und des Geſtaltens, des 
Niederreißens und des neuen Aufbaues, aus welchem die 
oben (C. 17) erwähnte, ſcheinbare Verwandlung des eiſernen 
Stabes in einen kupfernen hervorgeht. Ein Körnlein Zink⸗ 
metall geräth in das Waſſer, darin der geringe Beiſatz einer 
ſchwachen Säure vertheilt iſt, und alsbald fallen die weit⸗ 
zerftreuten Theilchen der Säure, in Geſellſchaft des Sauer⸗ 
ſtoffgaſes des Waſſers, gleich hungernden Thieren über das 
Metall her, ſie zertheilen und verzehren die Beute, während 
in unzählichen Bläschen das Waſſerſtoffgas emporſteigt. 

Zu den mächtigſten bewegenden Kräften in den Reichen 
unſrer irdiſchen Natur gehört die Wärme. Selbſt aus dem 
Kampfe mit der allbeherrſchenden Schwere gehet jene ſtarke 
Naturkraft, wenn beide im kleineren Kreiſe ſich begegnen, als 
Siegerin hervor; das Waſſer, das durch die Macht der 
Schwere aus den Wolken oder aus der Bergquelle herab, 
bis zu unſren gemauerten Brunnen geführt war, und welches 
hier, in dem künſtlichen Behältniß, durch den Zug der Schwere 
feſtgehalten wird, reißt ſich alsbald wenn es durch die Hitze 
zum Dampf wird, mit einer ſolchen Uebergewalt aus jenen 
Banden los, daß es, im Dienſte unſrer Dampfmaſchinen 
die Laſt vieler Centner mit ſich fortbewegt (nach Cap. 325. 
Wenn ſich am Morgen vor Sonnenaufgang, die abgekühlte 
Luft, ruhend, mit dem Zug ihrer Schwere auf unſre Ebenen 


N 
4 
A 
Al 


1 
4 
1 
4 


499 


hingelagert hat, und nun auf einmal die Strahlen der auf⸗ 
gehenden Sonne ſie erwärmen, da beginnt alsbald das Be⸗ 
wegen der aufwärts ſteigenden, durch die Wärme verdünnten 
Luftſchichten, das Auf- und Niederwogen der Luftſtröme; und 
die Wärme, durch das verſchiedne Maaß ihrer Austheilung 
an die eine oder die andre Gegend der Erdfläche, an dieſe 
oder jene Region der Höhen, iſt auch ein Hauptgrund der 
Bewegungen der Luft, die ſich vom erfriſchenden Windhauch 
bis zum Sturme ſteigern können. Das was ein Gewicht von 
vielen Centnern nicht vermochte, das bewirkt ein Strahl der 
von einem glühend heißen Körper ausgehenden und im Fo⸗ 
cus eines Brennſpiegels geſammleten Wärme, wenn ſie eine 
Stange von Metall, welche ſehr bedeutende Laſten nicht zu 
zerreiſſen vermochten, weich wie Wachs, und tropfbar fließend 
macht 


Mitten unter dieſen andren Naturkräften deren bewegen⸗ 
des Walten ſo deutlich in unſre Augen fällt, ſtehet das Licht 
in einem Verhältniß da, welches uns an das Verhältniß des 
Nerven zu den Gliedern des lebenden Leibes erinnert. Wäh⸗ 
rend die Muskeln unſrer Arme, unſrer Hände in der kräftig⸗ 
ſten, lebhafteſten Bewegung ſind, fällt uns an den zarten 
Fäden und Röhrchen der Nerven äußerlich gar kein deutliches 
Bewegen in die Sinnen; und dennoch, das wiſſen wir, geht 
eigentlich all der Antrieb zum Bewegen, durch den Willen 
der Seele von dem Nerven aus; ohne den Nerven wäre der 
Muskel, wären alle Glieder, eine lahme, todte Maſſe. (Cap. 
43) Wie könnte aber der Nerv Bewegung wirken, wenn nicht 
in ſeinem Weſen ſelber ein Bewegen, und zwar ein ſehr viel⸗ 
ſeitiges, mächtiges wäre, welches die verdauenden Eingeweide 
wie das raſtloſe Herz, die redende Zunge wie den gehenden 
Fuß zu ihrer Wirkſamkeit anregt. Denn nur die Kraft, wel⸗ 
che ſelber zu einem leiblichen Bewegen wird, kann andren 
leiblichen Dingen ein Bewegen mittheilen. 

Wie das geheimnißvolle Wirken des Nerven, ſo ſagten 
wir, durchdringt der Einfluß des Lichtes die Geſammtheit 
der leiblichen Dinge. Der Antrieb, der vom Nerven aus⸗ 
geht, bewirkt die Zerſetzung und Umbildung der Stoffe, die 
Oxydation des Blutes in den Lungen; das Licht begründet 
nicht minder chemiſche Zerſetzungen und Umbildungen, ein Aufneh⸗ 
men und Ausſcheiden des Sauerſtoffgaſes. Der Nerv reget 
die Muskelfaſern zur kräftigen Zusammenziehung an und er⸗ 

32 


500 


zeugt hierdurch die Bewegung der Glieder, einen Vorgang 
der ſich auf die Erregung einer ähnlichen polariſchen Span⸗ 
nung zu gründen ſcheint, als jene iſt, welche in unſren elek— 
tromagnetiſchen Apparaten ſo leicht hervorgerufen und zur 
Kraftäußerung geſteigert wird. Vor Allem iſt es das Herz, 
welches mit der erſten Lebensregung, die in der Mitte des 
Nervenſyſtemes erwacht, ſein lebendiges Bewegen beginnt, 
und deſſen Wirkſamkeit mit jener, die aus dem Gehirn ihren 
Ausgang nimmt, in fortwährendem, unzertrennlichem Verein 
fortbeſtehet, bis zum Ende des Lebens. In derſelben Weiſe ge⸗ 
ſellt ſich alsbald zum Hereinſtrahlen des Lichtes die Wärme; 
dieſe wird durch das Licht geweckt und erhalten, eben ſo wie 
das Schlagen des Herzens und der Pulsadern durch das 
lebende Weſen des Nerven. Beide Wirkſamkeiten ſind zwar 
im Farbenbild des Prismas wie im Leibe der Thiere und 
des Menſchen polariſch auseinander gelegt, ſo daß am Her⸗ 
zen nur der Muskel, ohne einen eigentlich bewegenden Ner⸗ 
ven, im Gehirn nur der Nerv, ohne Muskelfieber hervortritt; 
dennoch aber ſind auch zugleich beide im gemeinſamen Strahl 
des erhellenden wie des belebenden Einflußes vereint. Das 
Licht, in ſeinem Bund mit der Wärme, weckt dann weiter 
überall in der Natur die elektromagnetiſchen Gegenſätze und 
ihr gegenſeitiges Bewegen auf. 

Von dem Lichte wiſſen wir, daß es ſeinem Weſen nach 
ein Bewegen ſey und der Berechnung iſt es, nach S. 496 
gelungen, ſelbſt die ungeheure Schnelligkeit ſeiner Schwin⸗ 
gungen aufs Ohngefähre hin zu ſchätzen; von dem Weſen, 
das im Nerven ein Träger der Lebenskraft iſt, dürfen wir 
mit Sicherheit Daſſelbe vermuthen, obgleich dieſes weder 
durch Beobachtung noch durch Berechnung deutlich ermittelt 
iſt. Wie es aber geſchehe, daß die Bewegung, die im Lichte 
wie im Nerven iſt, in ſo vielfachen Formen hier dieſes, dort 
ein andres Bewegen hervorrufen; daß ſie Wärme wie chemi⸗ 
ſche Thätigkeit, magnetiſche wie elektriſche Spannung unmit⸗ 
telbar wie mittelbar begründen könne, das liegt außer dem 
Bereich der ſinnlichen Auffaſſung und Betrachtung. Dennoch 
iſt es dieſe allein, die uns, wenn auch nur zu einem von 
weiten annähernden Verſtändniß, den leitenden Faden in die 
Hand geben kann. A 
Wir erwägen hier zuerſt in welchen Zügen der Geſchichte 
ihres Entſtehens, ſo wie ihrer eigenthümlichen Wirkſamkeit, 


501 


die bewegenden Naturkräfte einander ähnlich find, und in wels 
chen andren eine Verſchiedenartigkeit ihrer äußren Richtung 
und Beziehung auf die Natur der Körperwelt ſich kund giebt. 

Daß die Bewegung der einen, ſcheinbar niedreren Art, 
Bewegung auch von ganz andrer Art, daß eine mechaniſche 
Anregung zum Beiſpiel das Gegeneinanderbewegen wecken 
könne, welches die kleinſten Theile der Körper zum kryſtalli⸗ 
niſchen Gefüge vereint, dies bezeugen jene zum Theil allge— 
meiner bekannten Thatſachen welche Ju ſtus Liebig in 
ſeinen chemiſchen Briefen S. 137 anführt. Man kann Waſ⸗ 
fer, wenn dieſes ganz ruhig ſteht, bis tief unter den Ge- 
frierpunkt erkälten, ohne daß es gefriert, das heißt: aus 
feinem geſtaltlos flüßigen, in den kryſtalliniſchen Zuſtand des 
Eiſes übergeht. Die leiſeſte Erſchüttrung aber, das Anrüh— 
ren der Waſſerfläche durch eine Nadelſpitze, reicht hin, um 
auf einmal jenes Bewegen im Waſſer zu wecken, wodurch 
daſſelbe zu Eis erſtarrt. Eben fo bemerkt man an vielen Auf— 
löſungen der Salze in ſiedend heißem Waſſer, daß ſich, wenn 
man ſie ganz ruhig ſtehend erkalten läßt, keine Kryſtalle aus 
ihnen abſetzen, bis durch irgend eine Bewegung von außen 
die zum Kryſtalliſiren nöthige, polariſche Spannung und 
Zuſammenbewegung der kleinſten Theile des Salzes geweckt, 
und angeregt wird. Das Hineinfallen eines Sandkornes 
oder eines andren Stäubchens in die Flüßigkeit, reicht hin, 
um die Bewegung des Kryſtalliſirens einzuleiten und wenn 
dieſe nur erſt an einem Punkte begonnen hat, dann theilt 
fie ſich von dieſem aus allen andren mit, in einem fo zu⸗ 
nehmend ſich beſchleunigendem Fortgange, wie eine Lawine, 
die mit jedem Moment ihres Fortrollens ſtärker anwächſt. 
Jener unanſehnliche ſchwarze Ueberzug, der ſich über dem 
Queckſilber bildet, wenn wir eine Auflöſung von Schwefelkali 
(Schwefelleber) darüber ſchütten, ſtehet zu dem ſchönfarbigen 
feinkörnigen Zinnober ganz in demſelben Verhältniß, wie das 
im Waſſer noch geſtaltlos aufgelöfte, zum kryſtalliniſchen Salze, 
oder das noch tropfbar flüßige Waſſer zum Eis. So oft 
wir den ſchwärzlichen Ueberzug, der aus einer geſtaltloſen 
(amorphen) Verbindung der Schwefels mit dem Queckſilber 
beſtehet, von dem Metall hinwegnehmen, bildet ſich ein neuer, 
denn der Zug zur Vereinigung mit dem Queckſilber iſt im 
Schwefel viel ſtärker als jener Zug, welcher ſeine Verbin⸗ 
dung mit dem Kali bewirkte. Wenn wir auf ſolche Weiſe 


502 


Schwefelqueckſilber in Menge gewinnen, dann haben wir im 
Grunde nur etwas Aehnliches erlangt, als wenn wir die Grund⸗ 
ſtoffe, aus denen der Demant und der Rubin beſtehen: den 
reinen Kohlenſtoff des Graphits und die vollkommen reine, 
aus dem Alaun gewonnene Thonerde in unſrer Hand hiel⸗ 
ten, nicht aber die herrlich glänzenden, feſten Edelſteine ſelber, 
welche die Natur daraus bildet. Unſer Schwefelmerkur iſt 
noch ein misfarbig ſchwärzliches Pulver, welchem kein Färber 
die künftige Brauchbarkeit zu einem der ſchönſten, prunkend⸗ 
ſten Farbenmaterialien anſieht. Wenn wir aber daſſelbe in 
eine wohlverſchloſſene Glasflaſche bringen und dieſe an den 
Rahmen der Säge einer Sägemühle befeſtigen, welche meh⸗ 
rere tauſendmal während einer Stunde ſich auf und abbewegt 
dann wird das geſtalt- wie farbloſe Pulver in den ſchönſten, 
rothen Zinnober verwandelt, deſſen vollkommen kryſtalliniſches 
Gefüge ſchon das bloße Auge, noch mehr aber das durch Ver⸗ 
größerungsgläſer blickende, erkennet. 8 

Das reine Schmideeiſen iſt durch künſtliche Behandlung 
im Feuer ſeines anfänglichen Kohlengehaltes, zugleich aber 
auch jenes kryſtalliniſchen Gefüges beraubt worden, durch 
welches das kohlenſtoffhaltige Roh- oder Gußeiſen ſich aus⸗ 
zeichnet: es iſt in geſtaltloſen (amorphen) Zuſtand verſetzt 
worden. Dieſer künſtlich herbeigeführte Mangel wird in den 
Augen des Menſchen, und in der Anwendung die er von dem 
Schmideeiſen macht, zu einem Vorzug, denn dieſes iſt zähe, 
zerbricht und zerſpringt nicht ſo leicht wie das kryſtalliniſche Eiſen 
ſeinem Gefüge gemäß dieſes thut; die Bruchflächen des letzteren 
zeigen überall glatte und glänzende Stellen, der Bruch des 
Schmideeiſens hat Aehnlichkeit mit den auseinandergerißnen 
Stücken eines dehnbaren Körpers, iſt hakig und gleich wie 
fädig. Wenn man aber eine Stange Gußeiſen den lang und 
oft wiederholten, dabei nicht ſehr ſtarken Schlägen eines Ham⸗ 
mers ausſetzt, dann geht in ſeinem Innren eine ähnliche 
Verändrung in dem Gefüge der kleinſten Theile vor ſich, wie 
im geſtaltloſen Schwefelqueckſilber, durch die rüttelnde Bewe⸗ 
gung am Rahmen der Sägemühle: es wird auf einmal zum 
kryſtalliniſchen Eiſen. Eine Vervollkommnung des innren 
Weſens dieſes nützlichen Metalles, welche der Menſch, wegen 
ihrer Folgen, nur zu beklagen hat. Denn Daſſelbe, was die 
lang anhaltenden, oft wiederholten ſchwachen Hammerſchläge 
thun, das bewirkt auch die lang anhaltende Erſchütterung, 


17 
u 
r 

2 


503 


welche die eiſernen Axen unſrer Reiſewägen und der Loco— 
motiven der Dampfwägen erleiden. Auch durch dieſe Er— 
ſchütterungen geht in kürzerer oder längerer Zeit das Eiſen aus 
dem geſtaltloſen Zuſtand, darin es viel zäher und ſchwerer 
zerſpringbar war, in den kryſtalliniſchen, leichter zerbrechlichen 
uber und giebt dadurch nicht ſelten Veranlaſſung zu mans 
nigfachen Unfällen. * 
„Auch hierbei begegnen wir übrigens öfters ſolchen Er⸗ 
ſcheinungen, welche darauf hindeuten, daß die; Wirkſamkeit der 
einen Bewegung durch die einer andren, wenn ſie auch von 
gleicher Art iſt, aufgehoben oder gehemmt werden könne, 
wenn beide in ihrer Richtung und in dem Grad ihrer Stärke 
ſehr verſchieden ſind. Was die ſchwächere, lang anhaltende 
mechaniſche Erſchütterung herbeiführt, das wird durch die 
heftige, plötzlich eintretende und wieder abbrechende mechani— 
ſche Anregung geſtört oder vernichtet. N 
Bewegung erzeugt nach allen Richtungen hin ihres Glei— 
chen, erzeugt wieder Bewegung; die des ſcheinbar oder wirk— 
lich niedreren Kreiſes, wenn ſie in den höheren hineintritt, 
weckt da jene Bewegung auf, welche dieſem Kreiſe eigenthüm⸗ 
lich iſt, und umgekehrt, in noch viel allgemeinerem, höherem 
Maaße ruft die Bewegung, die aus dem höheren Kreiſe 
kommt, ein augenfälliges, kräftiges Bewegen in den körper⸗ 
lichen Stoffen einer niedreren Region hervor. Das Reiben, 
das Hämmern, nammentlich wenn es an einem Eiſenſtabe 
immer in derſelben Richtung geſchieht, der Stoß, der Druck 
erzeugen, je nach dem Verhältniß der Körper welche ſie treffen, 
die magnetiſche Polariſation, die Bewegung des Kryſtalliſi— 
rens und die elektriſche Spannung, eben ſo, wie wir dies 
Alles bereits früher erwähnten, die Wärme, und wie ſchon 
bei dem Zuſammenſchlagen des einen Kieſelſteines mit dem 
andren, die Erſcheinung des Lichtes. Umgekehrt aber auch 
ziehet mit dem Strahl der Sonne das ganze Heer der bewe— 
genden Naturkräfte in das Reich der irdiſchen Sichtbarkeit 
ein: mit der Wärme zugleich der geſammte elektromagnetiſche 
Wechſelverkehr; und daſſelbe gilt von der Lebenskraft der Seele, 
wenn ſie in den Kreis ihrer Leiblichkeit eintritt und hier 
nach allen Richtungen hin, ſo wie in den verſchiedenſten For— 
men, eine lebendige Anregung weckt. Dem Weſen all dieſer 
Naturkräfte liegt allerdings etwas Gemeinſames: das Bewe⸗ 
gen zu Grunde, dieſes aber, nach der Verſchiedenheit ſeiner 


504 


Richtung giebt zugleich jeder von ihnen einen beſondren, feſt 
beſtimmten Charakter, eine Verſchiedenheit der Natur, wodurch 


die eine von der andren aufs Beſtimmteſte ſich abgrenzt. Wir 


wollen dieſes zuerſt durch einen Vergleich des Lichtes und 
der Wärme deutlich zu machen ſuchen. 

In dem Lichte, ſo ſahen wir, iſt eine Dreiheit von Ver⸗ 
mögen vereint: das Vermögen der Erhellung oder Erleuch⸗ 
tung, das Vermögen die Wärme zu erzeugen und endlich 
das, die chemiſche Wechſelwirkung zu erregen. Bei der Zer⸗ 
legung durch das Prisma ſind dieſe drei Richtungen der we⸗ 
ſentlich einen Kraft an drei verſchiedne Stellen des Farben⸗ 
bildes vertheilt: die lichtgebende an den gelben und nächſt 
dieſem an den grünen Strahl, die warmmachende an den 
rothen, die chemiſch wirkende an den violetten. Hieraus hat 
ſich öfters die Frage entſponnen ob die Wärme ſchon als 
Wärme mit dem Lichte geſellſchaftlich verbunden von der Son⸗ 
ne zur Erde komme, oder ob ſie erſt von dem Licht erzeugt 
werde wenn dieſes mit der planetariſchen Körperwelt in Be— 
rührung kommt. 

Von der chemiſchen Wirkſamkeit leuchtet es von ſelber 
ein, daß ſie nur da ſich äußern könne wo chemiſche Polari⸗ 
täten zur wechſelſeitigen Verbindung oder Abſcheidung ges 
neigt ſich vorfinden; gegen die Meinung daß es in und bei 
dem Lichte eigne Wärmeſtrahlen gäbe, welche nur etwa wie 
der elektriſche Funke durch den Kurpferdraht mit dem Son⸗ 
nenlicht zugleich zur Erde geleitet würden, zuletzt aber eben 
fo trenn- und ſcheidbar von dem Licht ſelber wären wie die 
Kohlenſäure von der Kalkerde, mit welcher ſie verbunden iſt, 
ſpricht vieles. 

Die Wärme vermag ſich ſchon durch einen Raum, in 
welchem die Luft (nach C. 28) noch nicht bis zu dem höchſt⸗ 
möglichen Grade verdünnt iſt, nur mit großer Schwierigkeit 
und langſam zu verbreiten; der vollkommen leere Raum ver⸗ 
mag ſie nur dann fortzupflanzen, wenn ſie ſtrahlend (schon 
mehr oder minder deutlich leuchtend) iſt. Auch eine dünne 
Glastafel läßt die dunkle Wärme nicht hindurch, ſo lange 
dieſe die Siedhitze nicht überſteigt, während ſelbſt das ſchwäch⸗ 
ſte Licht durch das Glas hindurch ſtrahlt. Umgekehrt läßt 
eine undurchsichtige Metallplatte die Wärme ſehr leicht, das 
Licht nicht hindurch brechen. Die warmmachende Kraft des 
Lichtes hängt durchaus nur von dem Grad der Helligkeit, 


„ N 


505 


nicht von der Temperatur des Mittels ab, durch welches 
ſeine Strahlen dringen; ob man daſſelbe durch eine heiße 
oder durch eine kalte, durchſichtige Flüßigkeit, durch warmes 
oder kaltes Glas fallen läßet, dies vermehrt weder noch ver⸗ 
mindert es die erwärmende Kraft des auf einen gegenüber— 
ſtehenden Gegenſtand treffenden Strahles. Muncke machte 
einſt bei einem ſtarken Feuer die Erfahrung, daß die ſtrahlen— 
de Helle deſſelben in einer Entfernung von 130 Fuß inner⸗ 
halb eines Zimmers eine wahrnehmbare Erwärmung hervor— 
brachte, obgleich das Eis an den Fenſterſcheiben, durch wel— 
che das Flammenlicht in das Zimmer hereinſtrahlte, bei einer 
Kälte von — 5 Grad nicht thaute. Wenn das Licht aus 
eigenthümlichen leuchtenden und wärmenden Strahlen zuſam— 
mengeſetzt wäre, welche nur ein Band der gegenſeitigen Anz 
ziehung mit einander vereinte, dann würde der Lichtſtrahl, 
während er ein ſtark erwärmtes durchſichtiges Mittel durch— 
dränge, ohne Zweifel mit den darin enthaltenen Wärmeſtrah— 
len ſich vereinen, und dieſe mit ſich nehmen auf ſeinem wei— 
tren Wege, oder, wenn ihn ſein Lanf durch ein ſehr kaltes 
Medium führte, würde ihn ſeine Begleiterin, die Wärme 
verlaſſen, und in dem oben erwähnten Falle würde dadurch 
das Eis der Fenſtertafeln aufgethaut worden ſeyn. 

Wie das Licht, je heller es ſtrahlt deſto mehr die Wär— 
me erzeugt, ſo kann man auch auf der andren Seite von 
der Wärme ſagen, daß ſich aus ihr, bei einem gewißen Grad 
ihrer Steigerung, das Licht erzeuge. Das Metall wie der 
Stein werden in der Gluthhitze leuchtend; der im Strom 
einer ſtarken elektromagnetiſchen Entladung glühende Plati— 
nadraht leuchtet in einem das Auge blendenden, ſonnenhellem 
Lichte. Die verſchiedenen brennbaren Körper erfordern, wie 
wir früher ſahen, wenn ſie bei ihrer Verbindung mit dem 
Sauerſtoffgas ſich wirklich entzünden und entflammen ſollen, 
einen gewiſſen Grad der Erhitzung, und erſt dann wenn aus 
dem Dampf oder Rauch die helle Flamme hervorbricht, giebt 
ſich die wärmende Kraft des Feuers in ihrer ganzen Stärke 
kund. Es liegt nicht an der Geſchwindigkeit des Bewegens, 
daß die Wärme in dieſen Fällen auf einmal zum hellen Lichte wird, 
denn der langſame Gang, den die Mittheilung der Wärme 
von einem Körper an den andren nimmt, hängt allein von 
der beſſer oder ſchlechter leitenden Beſchaffenheit der Körper 
ab, und wenn man die ausſtrahlende dunkle Wärme eines 


506 


erhitzten Körpers in einem Hohlſpiegel ſammlet und aus die⸗ 
ſem herausſtrahlen läßet, dann erkennt man nach Biots 
und Pictets Beobachtung an der Wärme eine eben ſo un⸗ 
meßbar ſchnelle Fortbewegung durch den Raum, wie an dem 
Licht und an der Elektrizität, ohne daß ſie hierbei ihre Dunkel⸗ 
heit ablegt und leuchtend wird. 


In manchen Fällen kann auch bei dem chemiſchen Vor⸗ 
gang des Verbrennens ein ganz außerordentlich hoher Grad 
von Erhitzung eintreten, ohne eine, dieſem Hitzgrade entſpre⸗ 
chende Erhellung. So bedient man ſich, um eine Hitze her⸗ 
vorzubringen, bei welcher die Metalle ganz beſonders leicht 
und ſchnell zum Schmelzen kommen können einer Vorrichtung, 
vermöge welcher ein gasartiger Brennſtoff mit dem Sauer: 
ſtoffgas, aus einem engen Röhrchen hervorſtrömend den Stoff 
zur langfortwährenden Flamme darbietet: des ſogenannten 
Knallgebläſes. Obgleich dieſe Flamme eine außerordentlich 
heftige Gluthhitze erzeugt, iſt das Licht das ſie ausſtrahlt 
dennoch nur ein ſehr ſchwaches, und zeigt ſich überdies nicht 
von der Farbe des röthlichen, wärmegebenden, ſondern des 
blaulichen prismatiſchen Strahles. 


Nicht von unbedeutendem Einfluß iſt an den bewegenden 
Naturkräften etwas ſcheinbar nur wenig Weſentliches: die 
Richtung welche ihr Bewegen nimmt. Selbſt die mechaniſche 
Erſchütterung, durch den Schlag des Hammers auf eine Ei⸗ 
ſenſtange, ruft in dieſer bloß dann eine magnetiſche Polariſa⸗ 
tion hervor, wenn die Schläge immer nur von dem einen 
Ende nach dem andren, nicht etwa abwechslend von dieſem 
andren Ende aus nach jenem hin geführt werden. Auch da⸗ 
durch wird ein Eiſenſtab magnetiſch, daß man ihn eine län⸗ 
gere Zeit hindurch in der Richtung von Nord nach Süd, 
oder mit dem einen Ende in dem Boden feſt ſtellt, denn auch 
auf die letztere Weiſe wird der untere Theil deſſelben zu einem 
nach Norden ſich hinkehrenden (ſogenannten) Nordpol. In die⸗ 
ſem Falle ſcheint es die natürliche magnetiſche Strömung zu 
ſeyn, welche, von der Erde ausgehend, ihr eigenthümliches 
Bewegen dem Eiſen mitgetheilt hat. Wir können aber in 
einem noch viel höher geſteigerten Maaße den Eiſenſtab mag⸗ 
netiſch machen, wenn wir elektriſche Strömungen, nicht ſeiner 
Länge, ſondern der Queere nach, von einer Seite des Stabes 
zur andren, über ihn hinſtreichen laſſen. Hierauf gründet 


507 


ſich, wie wir oben im 45ten Cap. ſahen, die Einrichtung, fo 
wie die außerordentliche Wirkſamkeit der elektromagnetiſchen 
Vorrichtungen. Wie ſich am Holz, wenn es zuerſt auf der hei— 
ßen Platte immer mehr und ſtärker erhitzt wird und wenn 
nun bei dem hochgeſteigerten Hitzgrad auf einmal die helle 
Flamme aus ihm hervorbricht, durch das Zuſammenwirken der 
Wärme und des Lichtes die heftigſte Flammengluth entwickelt, 
ſo geſchieht es auch in den Vorgängen des Elektromagnetis⸗ 
mus, daß beide bewegende Naturkräfte, die der Elektrizität 
und jene des Magnetismus, welche dem Weſen nach Eines, 
der urſprünglichen, inwohnenden Richtung nach zwei ſind, in 
ihrer Verſchmelzung zu einem weder ausſchließend von Nord 
nach Süd, noch von Oſt nach Weſt gehenden, ſondern zwiſchen 
beiden rotirendem Bewegen, eine ganz überaus geſteigerte 
Wirkſamkeit erlangen. 

Wir erwähnen hier im Vorbeigehen eines Beiſpieles 
aus einem ganz andren Reiche der irdiſchen Sichtbarkeit, an 
welchem ſich die hohe Bedeutſamkeit der bloßen, räumlichen 
Richtung nachweiſen läßt. Das vierfüßige Thier ſteht ſo 
auf dem Boden und geht ſo auf dieſem einher, daß die 
Rückenwirbelſäule mit dem Schädel und mit dem ganzen 
Kopf in horizontale Richtung, in gleiche Linie mit dem 
Boden tritt; der Menſch allein ſtehet aufrecht, ſo daß die 
Rückenwirbelſäule die Richtung von oben nach unten, nur 
das Haupt die horizontale Stellung hat. Wir wißen aber 
welche vielſeitige Vorzüge unfrer Natur an dieſe aufrechte 
Stellung geknüpft ſind. Scheint es doch ſelbſt auf andren 
viel niedrigeren Stufen der thieriſchen Geſtaltung ſo, als ob 
mit der vorherrſchenden Richtung zugleich, die der Körper 
annimmt, die ganze weſentliche Beſchaffenheit eines Thieres 
eine Aenderung erleiden könne. So lang die Larve der 
Singmücke, die im Waſſer lebt, noch auf der erſten Stufe 
ihrer Entwicklung als Larve ſteht, iſt ihr Kopf und der 
ganze Vordertheil des Körpers nach unten, nach dem Boden, 
der Hintertheil, an welchem die Athmungsorgane ihren Aus- 
gang nehmen, nach oben gekehrt. Die Larvenhaut wird abge— 
ſtreift, die Stellung des Leibes wird auf einmal eine ganz 
andre, entgegengeſetzte, denn Kopf und Bruſt richten ſich 
nach oben, das ſchwanzähnliche Ende kehrt ſich dem Boden 
zu. Mit dieſer veränderten Richtung iſt zugleich das Thier 
ein ganz Andres geworden, ſeine Athmungsorgane haben jetzt 


508 ö 


ihre Stellung an der Region der Bruſt erhalten, die Art 
ſeiner Bewegungen, ſeiner geſammten Lebensäußerungen iſt 
verändert: es iſt aus dem Zuſtand der Larve in den der 
Puppe übergegangen an welcher die höheren Sinnorgane, 
ſo wie alle dem nahe künftigen geflügelten Zuſtand dienenden 
Glieder in einer ungleich vollkommneren Form als bei der 
Larve hervortreten. Ein Beiſpiel von ähnlicher Bedeutung 
giebt uns die Stellung der Brutzellen im Bienenſtock. Alle 
die, in welchen ſich die Larven der künftigen Arbeiterinnen 
ſo wie der Drohnen entwicklen, ſtehen in der vorherrſchend 
horizontalen Richtung; in der nämlichen welche die mit Ho⸗ 
nig gefüllten Zellen haben. Hin und wieder jedoch ſieht 
man im Innren des kunſtreichen Baues Zellen von ganz ans 
drer Form, in einer vorherrſchend ſenkrechten Stellung: es 
ſind die Zellen in denen ſich die Larven der künftigen Weiſel 
oder Bienenköniginnen entwicklen; die Larven der vollkomm⸗ 
nen, fruchtbaren Mütter des ganzen Schwarmes. Auch die 
gemeinen Arbeitsbienen ſind eigentlich von dem Geſchlecht 
dieſer Mütter: es find unvollkommen geſtaltete, meiſt un- 
fruchtbare Weibchen, und als ſolche gehen ſie, wenn die Zeit 
ihrer Verpflegung zu Ende iſt, und ſie nun auch den Schlaf 
des Puppenzuſtandes genoſſen haben, als geflügeltes Inſect 
aus der Wiege ihrer Kindheit hervor. Wenn man aber 
einem muntren Bienenſchwarm mitten in der Zeit des Früh 
linges, wo alle die horizontal ſtehenden Brutzellen voller Eier 
oder ganz kleiner, junger Lärvchen ſind, aus denen nach dem 
gewöhnlichen Verlauf der Entwicklung gemeine Arbeitsbienen 
kommen würden, ſeine Königin, und zugleich mit dieſer noch 
alle die ſenkrecht ſtehenden, flaſchenförmig geſtalteten Zellen 
hinweg nimmt, welche die Larven oder Puppen von künftigen 
Königinnen enthalten, dann begeben ſich die verwaiſten und 
beraubten Bienen an ein Geſchäft der Verwandlung, deſſen 
Wirkſamkeit eine höchſt bedeutungsvolle für den ganzen klei⸗ 
nen Saat dieſer geſellig lebenden Thiere iſt. Eine Anzahl 
von Zellen, darinnen das junge Volk der Arbeiterinnen ſeine 
Wiege hat, wird hinweggeriſſen, und hierdurch der Raum 
zur Anlage einer ſenkrecht ſtehenden größeren Zelle gewonnen, 
welcher die kunſtſinnigen Baumeiſter die Geſtalt einer könig⸗ 
lichen Brutzelle geben. Da hinein bringen ſie jetzt eine erſt 
ſeit wenig Stunden oder Tagen aus dem Ei hervorgegangene 
Arbeiterinnenlarve, verſorgen dieſelbe mit jenem kräftigeren, 


40 
9 
N 
DR 
N. 
4 
1 


509 


auserleſenerem Futter, womit die jungen Königinnen groß gezo—⸗ 
gen werden und das kleine Thier, das durch ſeine Geburt zu 
dem niedrigen Stand der gewöhnlichen Unterthanen beſtimmt 
war, empfängt mit der vollkommneren leiblichen Geſtalt und 
Bekräftigung zugleich den Rang einer Herrſcherin; es wird 
zu einer fruchtbaren Mutter und Königin. Wenn hierzu die 
veränderte Stellung der Brutzelle auch nicht Alles beitrug, 
ſo erſcheint ſie dennoch ein nicht minder weſentliches Element 
zur eigenthümlichen, kräftigen Anregung des noch unentwickel- 
ten Lebenskeimes der Larve geweſen zu ſeyn, als die ſtärker 
reizende Koſt. Dem innren Weſen nach bleibt die Larve der 
Biene wie der Mücke dieſelbe, die ſie vor der Verändrung 
der vorherrſchenden Stellung war, in Beziehung aber auf 
ihre Wirkſamkeit, auf das Verhältniß zu ihrer Außren Um- 
gebung iſt zugleich mit jener andren ebenfalls eine Verän⸗ 
drung vorgegangen. Auch die Wärme und das Licht ſind 
ihrem Weſen nach Eines, durch die Richtung aber welche ſie 
nach den verſchiednen Kreiſen der irdiſchen Leiblichkeit nehmen, 
und durch die Art ihrer Wirkſamkeit auf dieſe, find fie un⸗ 
terſchieden. ö | 

Eine ungleich allgemeinere und bedeutungsvollere Er: 
ſcheinung als die ebenerwähnten ſind, liegt uns hier nahe, 
die uns beſſer denn alle Andren das Einsſeyn der Wärme 
und des Lichtes nach innen, ſo wie ihre Verſchiedenheit in 
der Wirkſamkeit und Richtung nach außen zeigen kann: 
dies iſt der Lauf der Planeten oder Monden um ihren Cen- 
tralkörper. | 

Die jährliche Bewegung der Erde in ihrer Bahn um 
die Sonne iſt im Ganzen nur eine, fie iſt in jedem Augen⸗ 
blick, ſie war und bleibt zu allen Zeiten nur die eine, welche 
den Planeten ſeinen faſt kreisförmigen Weg um die Sonne 
führt. Wenn wir aber genauer auf die Weiſe dieſer Bewe— 
gung achten dann finden wir daß eigentlich zwei verſchiedne 
Richtungen ihr zu Grunde liegen, die eine nach dem Cen— 
tralkörper, nach dem Mittelpunkt der Bahn hinabwaäͤrts, die 
andre nur in gerader Linie vorwärts und nach auſſen gehend 
auf dieſer. Der Zug der allgemeinen Schwere hält den 
Mond an ſeiner Erde, hält die Planeten an ihrer Sonne 
feſt; wenn dieſer nach dem Mittelpunkt der Kräfte hinge— 
hende Antrieb (die Centripetalkraft) allein, ohne den and— 
ren nach auſſen hinführenden Antrieb wirkte, dann würde 


510 


der Mond an die Erde, die Planeten würden an die Sonne 
herangezogen werden, es würde der eine kleinere Welt⸗ 
körper an den andren größren, von mächtigerer Maſſe ſich 
anfügen und mit dieſem nur eine und dieſelbe gemeinſame 
Maſſe bilden. Könnte dagegen der andere, centrifugale Antrieb 
allein wirken, dann würden alle dieſe Lichtfunken des Ster⸗ 
nenhimmels, alle dieſe Staubkörner oder Atome der Schöp⸗ 
fung, deren jedes nach unſrem menſchlichen Maaßſtab eine 
große, herrliche Welt iſt, ſich im unermeßbaren Weltraume 
zerſtreuen, ohne Ordnung und Zuſammenhalt. Die ab⸗ 
ſtoßende Bewegung für ſich allein würde die Atome von 
einander reißen und zerſtäuben, die anziehende würde dieſel⸗ 
ben zur ſtarren bewegungsloſen Maſſe machen. So aber 
durchdringen ſich beide Richtungen des Bewegens ohne 
Aufhören, eine wirkt nur mit der andren vereint und ge⸗ 
meinſam. 


Was den Punkt des Ausgehens ſowohl des einen als 
des andren Zuges der Bewegung betrifft, ſo fällt es leicht 
in die Augen, daß der Zug nach dem Mittelpunkt der Bahn, 
nach der Sonne hin, aus dieſer ſelber eben ſowohl ſeinen 
Anfang, als in ihr ſein Ziel und ſein Ende habe, und eben 
ſo allgemein anerkannt iſt es, daß der centrifugale, zunächſt 
geradlinig auf der Bahn vorwärts ſtrebende Antrieb, der 
Maſſe des Planeten oder des Mondes ſelber eingepflanzt, 
dieſem ſelbſtſtändig einwohnend ſey. Der erſtere Antrieb, 
der nach der Sonne oder überhaupt nach dem Mittelpunkt 
der Anziehung hinführt, bezeugt ſich aber dennoch, ungeachtet 
der ſcheinbaren Beſonderheit von dem andren, als der Ur⸗ 
grund beider, denn je näher ein Planet an der Sonne ſte⸗ 
het, je kräftiger der Zug nach dieſer Mitte iſt, deſto ge⸗ 
waltiger und kräftiger äußert ſich auch der andre, in der 
Eigenheit des Planeten liegende, centrifugale Antrieb der 
Bahnbewegung. Jupiter, Saturn und Uranus, die drei 
äußerſten, von dem anziehenden Mittelpunkt entfernteſten 
Planeten, ſind einem, nach dem (quadratiſchen) Verhältniß 
ihrer zunehmenden Abſtände immer ſchwächer werdenden 
Zuge der allgemeinen Schwere, nach der Sonne hin unter⸗ 
worfen, der ihrer planetariſchen Maſſe eigenthümlich einge⸗ 
pflanzte, fortbewegende Antrieb ſollte demnach, ſo könnte 
man meinen, immer ungehemmter und hierdurch kräftiger 


511 


werden, etwa fo wie die Luft, je höher die Region ift, in 
die ſie hinaufſteigt und je mehr ſie von dem Druck der oberen, 
auf ihr ruhenden Luftſäule entlaftet wird, deſto raſcher und 
ungehemmter ſich ausdehnt. Aber gerade das Gegentheil 
erfolgt; die fortſchreitende, centrifugale Bewegung nimmt 
mit dem Zuge der allgemeinen Schwere, der ſie nach der 
Sonne hinfuͤhrt zugleich ab. Während unſre Erde in jeder 
Stunde Zeit eine Strecke von faſt 15000 Meilen zurücklegt 
macht der mächtige Jupiter, deſſen Maſſe dreimal ſo groß 
iſt als die Maſſe aller übrigen Planeten zuſammengenommen, 
der aber zugleich etwas mehr denn fünfmal ſo weit von der 
Sonne abſteht als unſre Erde, in derſelben Zeit nur einen 
Weg von 6500 Meilen; Saturn bringt es noch nicht einmal 
auf 5000 Meilen (geht in einer Stunde nur 4836 M. weit) 
Uranus legt nur 3400 Meilen zurück und wenn es möglich 
wäre manche unſrer weiteſt abgelegenen bekannteren Gome- 
ten auf der Strecke ihrer Bahn durch die Sonneferne zu 
begleiten, dann könnte ein Reiter zu Pferd oder wenigſtens 
ein Dampfwagen, ganz bequem mit ihnen gleichen Fort- 
gang halten. | 

Abgeſehen von dem Einfluße, den die Interferenz der 
Lichtſtrahlen hierbei, wie wir im 58. Cap. ſahen, hat, äußert 
ſich dennoch die Wirkſamkeit des Lichtes welche zunächſt und 
vor Allem eine erleuchtende, hellmachende iſt, als eine vor— 
herrſchend in gerader Linie und Richtung gehende. Das 
Licht iſt ein Herrſcher, deſſen übermächtiger Einfluß weder 
Einſpruch noch Abänderung erleidet. Eben ſo hält auch 
die Zunahme oder Abnahme des Zuges der Schwere mit 
der Zunahme oder Abnahme der Annäherung an die Sonne, 
gleichen Schritt. Ein dunkler Körper welcher zwei oder 
dreimal weiter von einem Lichte abſteht als ein andrer, wird 
(nach quadratiſchem Verhältniß) von den Strahlen deſſelben 
vier= oder neunmal ſchwächer erleuchtet, gerade fo wie auch 
ein Weltkörper, welcher zwei oder dreimal weiter von ſeinem 
anziehenden Mittelpunkt abſtehet als ein andrer, einem vier 
oder neunmal ſchwächeren Zuge der allgemeinen Schwere, 
nach dieſem Mittelpunkte hin unterliegt. Mit der erhellenden, 
eigentlich leuchtenden Kraft des Lichtes nimmt aber auch, 
wie wir früher ſahen, ſein wärmeerzeugendes Vermögen zu 
oder ab. Und was iſt die Wärme? Iſt ſie nicht in unſrer 
irdiſchen Sichtbarkeit ganz daſſelbe, was die centrifugale 


512 


Richtung in der Bahnbewegung des Planeten iſt? Dürfen 
wir nicht in ihrer Wirkſamkeit, wenn ſie das kryſtalliniſche 


Eis, oder als Schmelzhitze das feſteſte Metall in flüßigen 


Zuſtand verſetzt, die einzelnen Theilchen (Atome) dieſer Kor⸗ 
per von einander, als Macht der Abſtoßung entfernt, etwas 
Aehnliches anerkennen, als in jenem Antriebe des planetari⸗ 
ſchen Bewegens, der jedes dieſer herrlichen, majeſtätiſchen 
Weltenſtäublein eines von dem andren, ſie alle aber von der 
feſtbannenden Mitte hinwegführt? 

Das Sonnenlicht iſt die mächtigſte, zugleich die einfach 
ſte, die reinſte unter allen Arten des uns bekannten Lichtes. 
Sein Strahl trifft nirgends hin, ohne, nach dem Maaße ſei⸗ 
nes geradlinigeren und kräftigeren Auftreffens und der Capa⸗ 
zität der beleuchteten Körper zugleich Wärme zu wecken. 
Das Licht gleicht jenem Zuge, der für ſich allein die pola- 
riſch geſchiedenen Maſſen der Sonne und der Planeten zu⸗ 
ſammenführen und verbinden würde. In unſrer irdiſchen 
Natur hat dieſer Zug öfters einen ganz ungehemmten, freien 
Lauf, wenn er den brennbaren Körper mit dem Sauerſtoff⸗ 
gas der Atmoſphäre zuſammenführt und beide, eins mit dem 
andren, zu einem neuen Element der Körperlichkeit geſtaltet. 
Je mächtiger aber hierbei dieſer centripetale, die Vereinigung 
bewirkende Antrieb wirkt, deſto kräftiger tritt auch, zu glei⸗ 
cher Zeit der centrifugale, von der feſten Zufammenfügung 
hinwegführende Antrieb, als Wärme, als Flammenhitze her⸗ 
vor, welche jedoch bei dieſer Verſenkung in den irdiſchen Stoff, 
wie im Farbenbild des Prismas, als ein beſondrer Strahl 
der Wirkſamkeit, außer dem Mittelpunkt, in welchem die 
Vereinigung ſtatt findet, in die umgebende Körperwelt fällt. 
Je gewaltiger der Zug iſt, der den Brennſtoff zur Verbindung 
mit dem Zündſtoff hinreißt, deſto ſtärker werden auch die 
Theile der benachbarten Körper von dem Streben ergriffen 
ſich gegenſeitig von einander abzuſtoßen — zu ſchmelzen oder 
ſich zu verflüchtigen; je langſamer und träger dagegen der 
centripetale Zug bei der Vereinigung jener beiden chemiſck 
Gegenſätze wirkt, deſto ſchwächer kann ſich der ihn begleite 


f 1 1 „ 
de, centrifugale Zug, als Erwärmung äußern. Darum erſcheint 


E 


faules Holz, obgleich es im Dunklen leuchtet, unſrem Gefühl 


als kalt, und daſſelbe gilt von allen im Zuſtand der Gährung 
FR Verweſung langſam verbrennenden organiſchen Sub⸗ 
tanzen. RI, 1 


Es 


513 


Es iſt ein Geſetz der gegenſeitigen Ausgleichung der 
verſchiedenartigen Bewegungen, welches in allen Reichen der 
Sichtbarkeit ſeine feſte Geltung hat, daß, wenn auf der einen 
Seite ein Vorgang der Zerſetzung und des Abſtoßens ſtatt 
findet, in einer nachbarlichen Region zugleich der Drang zur 
neuen Geſtaltung, zur Erſetzung des entſtandnen Mangels 
rege wird. Wie das Waſſer in den luftdünnen Raum hinauf⸗ 
ſteigt, und die Luft mit Gewalt ſich einen Weg in die ent⸗ 
ſtandene Leere zu bahnen ſucht, ſo ſchließt ſich der Zug zur 
gegenſeitigen Anziehung und neuen Vereinigung der Elemente 
unmittelbar an den der Auflöſung an. Umgekehrt aber auch 
eben ſo nothwendig an den centripetalen Antrieb, welcher der 
allgemeinen Schwere und der Anziehung der einzelnen Kör⸗ 
pertheile entſpricht, der centrifugale. Wir preſſen im Münz⸗ 
prägſtock (nach S. 263) ein Stück Metall auf einen engeren 
Umfang zuſammen; ſeine kleinſten Theile rücken näher an⸗ 
einander, ziehen ſich ſtärker an, zugleich aber regt ſich jenes 
entgegengeſetzte Bewegen, das in der nachbarlichen Körper: 
welt ein Trennen und Abſtoßen der einzelnen Theile bewirkt; 
es wird eine Wärme erzeugt, durch welche leicht ſchmelzbare 
Körper zum Fließen kommen, manche flüßige in Dampf ver⸗ 
wandelt werden. Selbſt bei dem feſten, kryſtalliniſchen Ge⸗ 
ſtalten (beim Gefrieren) des Waſſers iſt dieſe Wärmeent⸗ 
wicklung bemerkbar. Aber die Gliederung, das Aneinander- 
ſchließen der einen Bewegung an die andre, polariſch entge- 
gengeſetzte, erſtreckt ſich weiter, denn in demſelben Maaße, in 
welchem das Prinzip der Abſtoßung der einzelnen Theile, 
des Ueberganges in den formloſen Zuſtand mächtig wird, 
erhält auch der Zug zur Wiedervereinigung, zur wechſelſeitigen 
Anziehung neue Kraft. Das Waſſer wird durch die Wärme 
zum Verdunſten gebracht, zugleich aber wird in einer nach⸗ 
barlichen Region des Flüßigen die Wirkſamkeit jenes Antrie⸗ 
bes erleichtert und gefördert, welcher, der Schwere verwandt, 
die Zuſammenziehung in engeren Raum, ja die feſte Geſtal⸗ 
15 zur Folge hat; die Verdampfung auf der einen Seite 


8 


ann eine Reif⸗ oder Eisbildung auf der andren nach ſich 
ziehen: eine Erſcheinung, die ſich unſrem Gefühl als Kälte 
zu erkennen giebt. 

Der Druck, das Reiben und der Stoß rufen gleichzeitig 
beide Richtungen des Bewegens: Licht und Wärme hervor; 
da wo ſtatt der Wärme eine mechaniſche ran den engeren 


514 


Zuſammenhalt der Theile auflöft, fie von einanderreißt: beim 
Zerbrechen und Zerſtoßen mancher Körper, wird nach demſel⸗ 
ben Geſetz nach welchem ein Metalldraht durch die Hitze 
glühend und hellleuchtend wird, eine ſchnell vorübergehende 
Lichterſcheinung bemerkt. Dieſe zeigt ſich ſelbſt da, wo ſich 
Luftarten plötzlich aus einem engeren in weiteren Raum aus⸗ 
dehnen, ſo namentlich wenn man Glaskugeln mit Sauerſtoff⸗ 
gas gefüllt, im luftleeren Raume zerbricht, oder wenn ſich die 
äußre Luft nach dem Zerſprengen einer Blaſe, welche über 
das künſtlich luftleer gemachte Behältniß einer Luftpumpe ge⸗ 
ſpannt war, augenblicklich ausbreitet. Die ſogenannten Knall⸗ 
bomben aus Glas zeigen dieſelbe Erſcheinung, wenn ſie an 
einem dunklen Ort auf den feſten Boden hingeworfen wer⸗ 
den und zerplatzen, auch beim Abfeuern der Windbüchſen, 
wobei die vorher in engem Raume ſtark zuſammen gepreßte 
Luft ſich plötzlich ausdehnt, hat man öfters ein Leuchten 
wahrgenommen. 

Zunächſt ſtimmt in ſeinem ganzen Weſen und Wirken 
das Licht mit jenem centripetalen Zuge überein, durch wel⸗ 
chen die vereinzelten Elemente der Körperwelt zuſammenge⸗ 
führt und zuſammengehalten werden; mit dem Zuge welcher 
in der unorganiſchen Körperwelt die Kryſtalliſation, in der 
organiſchen das Wachsthum und die Entwicklung der Formen 
bewirkt. Der Kampfer und der Salpeter (in der Salpeter⸗ 
lauge) ſo wie verſchiedne andre Subſtanzen werden durch 
das Einfallen des Lichtſtrahles zum Kryſtalliſiren gebracht, 
ſo daß die entſtehenden Kryſtalle in Gläſern, welche äußer— 
lich zum Theil mit Papier überzogen ſind, ſich vorzugsweiſe 
an die freien, dem Lichtſtrahle zugänglichen Stellen anlegen. 
Der Antheil, welcher dem Licht an dem Entſtehen der Kry⸗ 
ſtalle gebührt, macht ſich auch auf andre Weiſe erkennbar. 
Bei dem Anſchießen der Kryſtalle der Benzoéſäure durch De⸗ 
ſtillation, zeigten ſich (nach Buchner) ſprühende Lichtfun⸗ 
ken, das phosphorſaure Blei leuchtete bei ſeinem Uebergehen 
in die ſtarre, kryſtalliniſche Form, nach einer Beobachtung 
von Fuchs ſo hell als ob es weißglühend ſey; has e 
worin eine ſchwefelſaure Kobaltauflöſung, mit Kali vermiſcht, 
bei 12 Grad unter dem Eispunkt durch Hermann zum Kry⸗ 
ſtalliſiren gebracht war, warf einen hellen funkelnden Licht⸗ 
ſchein von ſich, als die Lauge davon abgegoſſen wurde, und 
etwas Aehnliches beobachtete man beim Kryftallifiven des 


515 


Glauberſalzes, ſo wie verſchiedner andrer ſalziger Körper. 
Und wie beim Entſtehen der Kryſtalle, ſo zeigt ſich auch eine 
Lichterſcheinung, bei dem Zerſtören derſelben, durch eine ſtär⸗ 
kere mechaniſche Gewalt. Denn vorzugsweiſe und faſt aus— 
ſchließlich ſind es nur kryſtalliniſche feſte Körper, an denen, 
wenn man fie zerbricht, zerſtößt, oder heftig reibt, ein Leuch⸗ 
ten beobachtet wird. 

Der centripetale Zug, welcher die Aneinanderfügung, 
die feſte Vereinigung der leiblichen Elemente herbeiführt, 
theilt die polariſche Spannung, welche der Aneinanderfügung 
derſelben zur regelmäßigen Form vorausgehen muß, zunächſt 
jenen Theilen einer körperlichen Maſſe mit, die für eine fol- 
che Polariſation am leichteſten empfänglich ſind. Andre, etwa 
gleichzeitig in einer Auflöſung enthaltenen Theile nehmen an 
jenem Zuge keinen Antheil, fie werden von der Bewegung 
des kryſtalliniſchen Bildens ausgeſchloſſen. Wenn deshalb 
das Seewaſſer bei einem hinreichenden Kältegrade zum Kry— 
ſtalliſiren (zum Gefrieren) kommt, dann werden alsbald die 
Salze, mit denen es vorher vermiſcht war, ausgeſtoßen; das 
Eis des Meerwaſſers beſteht zunächſt nur aus ſüßem, ſalz— 
loſem Waſſer. Umgekehrt werden manche metalliſche Oxy- 
de, obgleich ſie ſchon für ſich allein einer kryſtalliniſchen 
Geſtaltung fähig ſind, noch ungleich empfänglicher für den 
polarifirenden Einfluß, der das Entſtehen der regelmäßigen 
Form begründet, wenn ſie noch mit einer Säure, zum Salz 
(Vitriol) ſich verbinden; dieſer fremdartige, in der Auflö⸗ 
fung enthaltne Stoff wird dann in die Bewegung des Kry- 
1 aufgenommen, er wirkt zur Verſtärkung des⸗ 
ſelben. | 

Wenn der bildende und geſtaltende Einfluß des Lichtes 
nach C. 53 ein Ausſcheiden des Sauerſtoffgaſes aus dem 
ſalpeterſauren Silber bewirkt, ſo thut er dieſes in derſelben 
Weiſe als die iſt, in welcher er bei dem gefrierenden See— 
waſſer das Salz aus ſeiner Vermiſchung mit dem Waſſer 
hinwegführt; die Theile des ſchwer oxydirbaren Silbers wie 
Goldes find vielmehr für ſich allein zu einer polariſchen Ent- 
gegenſetzung und Zuſammenfügung geneigt, als in ihrer nur 
unter gewiſſen Umſtänden erreichbaren Verbindung mit dem 
Sauerſtoffgas. Wenn dagegen das Licht beim Bleichen der 
organiſchen Stoffe (nach C. 22) eine Verbindung mit dem 
Sauerſtoffgas herbeiführt, dann gefibieht dieß aus demſelben 

3 


516 


chemiſchen Beweggrund, aus welchem das Streben zur regel⸗ 
mäßigen Geſtaltung das ſchwer kryſtalliſirende Kupferoryd 
(in ſeiner vollkommenſten Form als Rothkupfererz bekannt) in 
Verbindung mit der Schwefelſäure zum leichter kryſtalliſirenden 
Kupfervitriol umſchaffet. Der Erſcheinung nach ſind dieſe 
beiden Vorgänge der Ausſcheidung und der Anziehung des 
Sauerſtoffgaſes ſehr verſchieden und ſich entgegengeſetzt, und 
dennoch ſind beide ihrem Weſen nach daſſelbe. | 

Wir verglichen weiter oben das Verhältniß, in welchem 
das Licht zur Wärme ſteht, mit jenem, das ſich zwiſchen den 
beiden Richtungen der bewegenden Kraft findet, vermöge de— 
ren die Planeten ihren Lauf um die Sonne vollführen. Der 
allgemeinen allumfaſſenden Schwere, welche für unſer Planeten⸗ 
ſyſtem ihren Ausgangspunkt des Wirkens vorwaltend in der 
Sonne hat, entſpricht, bei all ſeiner Verſchiedenheit von der 
Schwere, das Licht; mit jener Wurfkraft, die dem Plane— 
ten, als einem für ſich beſtehenden Weltenſtäublein, abge— 
ſondert und entfernt von der Sonne zum Inhaber und Herrs 
ſcher ſeiner Bahn macht, iſt die Wärme vergleichbar. Sie 
iſt ein Bewegen welches durch alle einzelnen Theile der Kör— 
per, bis in das Innerſte derſelben hinein feine Macht aus: 
bet; die Wirkſamkeit des Lichtes, wie die der allgemeinen 
Schwere beziehet ſich auf das Verbundenſeyn und Einsſeyn 
aller einzelnen Elemente des Körpers zu einer Geſammtheit. 
In dieſer ihrer Beziehung erſcheint die Wärme als eine 
Kraft, welche die Leiblichkeit auch in ihrer Tiefe durchdringt, 
das Licht als eine ſolche, welche zunächſt nur auf den äuß⸗ 
ren Umfang der Körper gerichtet iſt. Wie aber der Zug der 
Schwere mit und in der Geſammtmaſſe des Planeten zu⸗ 
gleich auch alle einzelnen Theile, jeden Stein und jeden 
Baum deſſelben mit dem Centralkörper — mit der Sonne — 
verbindet, und hierbei gleichzeitig in allen dieſen einzelnen 
Theilen die Kraft ſich regt, die den ganzen Weltkörper, zu 
welchem ſie Alle gehören auf der Bahnlinie fortbewegt, ſo 
kommt auch aus jedem Stein, aus jedem Baum, den der 
Strahl der Sonne trifft, dem Lichte die Regung und Bewe⸗ 
gung der Wärme entgegen. 6 n 1 

Das weſentliche Einsſeyn der Elektrizität und des Mag⸗ 
netismus iſt durch die Erſcheinungen des oben erwähnten Elek⸗ 
tromagnetismus (Cap. 45) erwieſen worden. In vielen ſei⸗ 
ner Eigenſchaften zeigt ſich das Weſen des Magnetismus 


>17 


nahe verwandt und übereinſtimmend mit dem Weſen des 

Lichtes, das der Elektrizität mit dem der Wärme. Auch 
dieſe beiden Bewegungen der Naturkräfte rufen ſich überall 
gegenſeitig hervor, obgleich ihr weſentliches Beiſammenſeyn 
und Einsſeyn erſt dann deutlich in die Sinnen fällt, wenn 
die eine von beiden einen hohen Grad der Wirkſamkeit er— 
reicht hat, wie uns auch das Licht des Mondes, in ſeiner 
verhältnißmäßig großen Schwäche, ohne Vermögen der Wär⸗ 
meerzeugung erſcheint und dennoch wohl nicht ganz ohne wärmen— 
de Kraft iſt. Das magnetiſche Eiſen behält Jahrhunderte 
lang die Macht andres Eiſen anzuziehen und ihm ſeine po— 
lariſche Eigenſchaft mitzutheilen; ein Magnet kann Tauſende 
von Stahlſtäben durch Beſtreichen magnetiſch machen, ohne 
dabei an ſeiner Kraft Etwas zu verlieren, eben ſo wie ſich 
an der Flamme einer Fackel tauſend andre Fackeln entzün⸗ 
den können, ohne daß die Flamme der erſten durch dieſe 
Mittheilung ſchwächer wird. So kann auch die Scheibe einer 
Elektriſirmaſchine, abgeſehen von dem was die mechaniſche 
Einwirkung hierbei verändert, Tauſende von Malen zum 
Hervorrufen gewaltiger elektriſcher Effecte, durch Reibung, 
benutzt werden, ohne an dieſer Kraft Etwas einzubüßen. 
Es ſind dies nur kleinliche Abbilder von dem Weſen und 
Wirken der Sonne, deren Licht und Wärmequell niemals 
verſiegt, ſondern in einer ſich immer erneuernden Kraft das 
Weltgebäude durchſtrömt. Dem Magnet kommt die erſte 
Anregung zu ſeinem innren, anziehenden und abſtoßenden 
Bewegen aus einem allgemeineren magnetiſchen Bewegen, 
das die ganze Körperwelt des Planeten durchdringt, ohne 
ſelbſt ein Körper zu ſeyn; den Gliedern des lebenden Leibes 
wird die Kraft ihres Geſtaltens und Wirkens ohne Aufhö— 
ren durch ein innwohnendes Etwas gegeben, welches nicht 
von der Natur des Leibes iſt: durch die Seele. So dürfen 
wir auch bei der Betrachtung der herrlich ſtrahlenden und 
wärmeweckenden Sonne nicht vergeſſen, daß die Regungen 
ihres Leuchtens, ihres Erwärmens und ihres chemiſchen Ein— 
flußes auch noch einen andren Urgrund haben können als das 
Vorhandenſeyn eines Stoffes, welcher (wie man ſelbſt von 
dem ſogenannten Wärmeſtoff annahm) heraufſtrömen ſollte 
aus dem mächtigen Centralkörper, nach den ihn umkreiſenden 
Planeten, und aus dieſen wieder hinab zur Alles tragenden, 
haltenden Mitte. | 


518 “ 


60, Bewegung bei ſcheinbarer Ruhe. 


So lange wir die Saite eines muſikaliſchen Inſtrumen⸗ 
tes, oder den dünnen, elaſtiſchen Metallſtab den wir ſtark zu 
uns herüberbogen und dann in ſeine vorige Lage zurückſchnel⸗ 
len ließen, noch ſchwingen ſehen und ſogar ſeine einzelnen 
Schwingungen noch zu zählen vermögen, hört unſer Ohr 
keinen eigentlichen Ton bei ſeinem Bewegen. Die Luft 
wird durch einen Fächel oder durch ein ſchwingendes Rad 
mit einer Schnelligkeit fortgeſtoßen, welche mehrere Fuß 
in einer Secunde beträgt; wir fühlen ihre Wellen an 
unſrem Körper, ſehen den Staub ſich bewegen, vernehmen 
vielleicht ein undeutliches Sauſen, einen eigentlichen Ton 
aber hören wir nicht. Wenn dagegen eine Nachtigall neben 
uns im Gebüſche ſingt, oder ein kunſtreicher Finger die Sai⸗ 
ten einer Harfe rührt, dann hören wir die mannichfaltigen 
Töne und wir wiſſen, daß uns dieſes Hören nur durch ein 
Bewegen der Luft möglich wird, welches viel tauſendmal 
ſchneller und weiter reichend iſt als das Bewegen der Luft 
durch den Fächel, das nur über einen Raum von wenig 
Schritten ſich verbreitet. Dennoch fühlt unſer übriger Kör⸗ 
per nichts von dem Zittern der Luftwellen, kein Staub wird 
davon aufgeregt, nur das Ohr, zur Empfänglichkeit für den 
Laut geſchaffen, unterſcheidet und bemerkt dieſe flüchtigen 
Wellen, welche, die eine zehn, die andre viel hundertfach 
ſchneller denn die andren neben einander her wogen, ohne 
ſich gegenſeitig in ihrem Laufe zu ſtören. 

Ein Bewegen iſt ohne Aufhören in der Luft vorhanden; 
ſelbſt dann, wenn das Schiff wochenlang von der ſcheinbar 
gänzlichen Windſtille unter dem glühenden Strahle der Son⸗ 
ne an einer Stelle feſtgehalten wird, ſteigt neben und über 
ihm der warme Luftſtrom in die Höhe und der kältere ſenkt 
ſich nach der Tiefe herab, wenn auch von dieſer ſchwachen 
Regung weder das Segel angeſchwellt, noch irgend eine Em- 
pfindung der Sinnen hervorgerufen wird. Was von dieſem 
beſtändigen Bewegen in der Luft und von dem Hörbar⸗ 
werden ſo wie von dem Unhörbarſein deſſelben gilt, das läßt 
ſich von all jenen Bewegungen der Sichtbarkeit ſagen, welche 
ſich unter gewiſſen Umſtänden unſerm Wahrnehmungsvermöb⸗ 
gen als Magnetismus, als Elektrizität, als Licht und als 
Wärme kund geben. Sie wirken immerwährend fort; der 


519 


Strom der magnetifchen Anregung ergehet ſich ohne Aufhö— 
ren durch die ganze irdiſche Natur, ohne daß wir etwas von 
ihm fühlen oder hören, erſt dann wenn er ſich des Eiſens 
bemächtigt und dieſes magnetiſch macht, werden auch wir et— 
was von ihm gewahr; erſt dann wenn ein verhältnißmäßig 
feſt in ſeinen Theilen zuſammenhaltender, elaſtiſcher Körper 
in kräftige Schwingungen geſetzt wird, nimmt auch die ela⸗ 
ſtiſche Luft ſolche Schwingungen an, welche ſich zur deutlich 
unterſcheidbaren Form der Töne erheben, ſo wie der Licht— 
ſtrahl am planetariſch dichten Körper zur Form der Wärme. 
Seitdem man ſich in der Lehre von dem Lichte genöthigt 
geſehen hat, die frühere Meinung aufzugeben, daß daſſelbe 
ein feiner, flüſſiger Stoff ſey, und die wahre Anſicht, nach 
welcher das Leuchten ein faſt unmeßbar ſchnelles Bewegen 
iſt, allgemeineren Eingang fand, hat man einen Schlüſſel ge— 
funden, der nach vielen Seiten hin das beßre, tiefere Ver— 
ſtändniß der ſichtbaren Natur zu eröffnen vermochte. Gründ⸗ 
lich forſchende Männer, wie Muncke (in ſeinem Handbuch 
der Naturlehre §. 86 und §. 149) haben auch die eigenthüm⸗ 
liche Wirkſamkeit der Wärme aus einem ſchwingenden Be— 
wegen hergeleitet; daß der Ton ein ſolches ſey, wußte man 
längſt, und jene elektriſche Anregung, jene Verbindungen und 
Zerſetzungen in den dampf- und luftartigen Stoffen, welche 
den Eindruck eines Riechbaren auf unſren Geruchsſinn ma— 
chen, ſo wie die Einwirkung der chemiſchen Gegenſätze auf 
unſre Zunge laſſen ſich nicht leicht als etwas Andres be— 
trachten, denn als Bewegungen, die in ihrem Kreiſe nach 
demſelben Geſetz erzeugt werden, als die Schwingungen der 
Licht- und Wärmeſtrahlen. Die Lebensthätigkeit unſres eig— 
nen Leibes beſtehet nur in einem vielſeitigen und vielartigem 
Bewegen; die Kraftäußerung des Muskels beruhet auf zit— 
ternden Schwingungen ſeiner zarten Faſern; jeder Eindruck 
auf die Nerven, welcher ein Wahrnehmen und Empfinden 
erregt, muß eben ſo eine Undulation des ätheriſch Flüſſigen, 
das in den Nervenröhrchen woget, hervorrufen, als nach der 
andern Seite hin von einer ſolchen Undulation im Nerven 
die een der Muskelfibern durch den Willen bewirkt 
wird. 
Nur Bewegung kann auch wieder Bewegung wecken; 
die Schwingungen des Lichtäthers wie der Tonwellen regen die 
gleichen Schwingungen in dem gerade für ſie geſtimmten Sinnes— 


520 


nerven an, ſollte nur die Wirkſamkeit des Gefühles hierin eine 
Ausnahme machen? Ein geiſtreicher Phyſiker, G. Fr. Pohl 


in ſeiner Gedächtnißſchrift auf Copernicus „über das Le⸗ 


ben der unorganiſchen Natur,“ hat den Zweifel hieran be⸗ 
ſeitigt, er hat in einleuchtender Weiſe es dargethan, daß auch 
in dem ſcheinbar todtenſtarren Steine, den wir in der Hand 
halten, ein für die andren Sinne unermeßbares, nur auf 
unſer Gefühle wirkendes, ſchwingends . ſey. 

Wir kommen hierbei noch einmal zurück auf das Ver⸗ 


hältniß der Schwere, dieſer alldurchdringenden, allvereinen⸗ 


den Naturkraft zu dem Lichte. Man hat die Schnelligkeit, 
mit welcher ſich die Wellenſchwingungen irgend eines Tones 
durch die Luft bewegen nach S. 495 an der genau berechen⸗ 
baren, allgemeinen Geſchwindigkeit des Schalles gemeſſen; 
die Schnelligkeit der Schwingungen welche die Lichtſtrahlen 
beim Hindurchgehen durch ein Prisma in den verſchiedenen 
Theilen des Farbenbildes haben, nach der bekannten allge— 
meinen Geſchwindigkeit des Lichtes. So mächtig groß aber 
auch dieſe letztere Geſchwindigkeit im Vergleich mit der des 
Schalles iſt, ſo unermeßbar weit ſteht ſie jener, über all 
unſer Zeitmaaß erhabenen nach, mit welcher die allgemeine 
Schwere die Räume der Sichtbarkeit durchdringt. Dieſes 
gemeinſame Band der Anziehung das alle Stäublein, alle 
Elemente der Körperlichkeit zuſammenführt und vereint, das 
dem Körper des Planeten wie jedem Stein und jedem Tro⸗ 
pfen Waſſers auf ihm ihren Zuſammenhalt giebt, wirkt ohne 


Aufhören fort; könnte ſein Zug auch nur auf einen einzigen 


Augenblick nachlaſſen, dann würde alsbald alles Leibliche 
aus einander ſtäuben; ſein Weben und Walten fühlen wir 
wenn wir irgend einen durch die anziehende Kraft der ein⸗ 
zelnen Theile entſtandenen und durch dieſe Kraft beſtehenden 
Körper anrühren. Das Stilleſtehen der Starrheit iſt nur 
ein Schein; eben ſo wie bei dem Kreislauf der Weltkörper 
die anziehende Macht des Centralkörpers ohne Aufhören, in 
Verbindung mit der centrifugalen Richtung, Bewegung wirkt, 
weil ſie ſelber ein Bewegen iſt, ſind auch dieſe beiden Re⸗ 
gungen, davon die eine (als Expanſion) dem einzelnen Kör⸗ 
per ſeine Ausdehnung, die andre (als Contraktion) ſeine 
feſte Begränzung giebt, ohne Unterlaß in Wirkſamkeit und 
gegenſeitiger Bewegung. 

Es iſt dieſelbe Macht unſres Gottes, die ſich in dem 


7 


321 


Werk der Erſchaffung und welche in dem Werk der Erhal— 
tung der ſichtbaren Dinge ſich kund giebt. Denn die Erhal⸗ 
tung ſelber iſt nichts andres als eine fortwährende Schöpfung, 
ein beſtändiges Hervorgehen aus dem Nichtſeyn zu dem Seyn. 
Das Wirken jener Schöpfermacht, welches den Dingen ihren 
Leib gab, und den Staub dieſes Leibes zuſammenhält, 
nimmt unſer Gefühl bei dem Anrühren jedes Steines wahr; 
ein Abbild der Kraft, die jenen Staub bewegt und belebt, 
erſcheint unſfrem Auge im Lichte. Noch ein andres Wirken 
jedoch der Schöpfermacht als jenes das in die äußren Sinnen 
fällt, giebt ſich dem innren Sinne des Menſchen kund: es iſt 
das Weben und Walten des Geiſtes in und an feinem Gott— 
erkennendem Geiſte. 


61. Einwirkung und Nachwirkung. 


Eine große Glocke, an welche der Stundenhammer ſchlägt, 
tönet, unmittelbar nach dem empfangenen Schlage ſo laut, 
daß man ihren Ton in einem weiten Umkreiſe vernimmt. 
Aber auch dann, wenn man in einem Abſtand von wenig 
hundert Schritten ſchon längſt nichts mehr von dem Glocken— 


ſchlage hört, bemerkt ein unmittelbar am Thurme Stehender 


noch ein Forttönen der Glocke, und wenn ſelbſt für dieſen das 
Tönen nicht mehr hörbar iſt, vernimmt daſſelbe noch immer 
ein dritter Zuhörer, welcher auf dem Thurme ſelber, in 
unmittelbarer Nähe der Glocke ſich befindet. Die Schwin— 
gungen, durch den Anſtoß von außen erregt, mögen aber 
ſelbſt dann noch fortdauern, wenn unſer ſinnliches Wahr: 
nehmen ſchon längſt ihre letzte Spur verloren hat; für Werk— 
zeuge von leichterer Erregbarkeit wären ſie vielleicht noch 
immer bemerkbar, wie für das Geruchsorgan des Jagdhun— 
des die nachgelaßnen Spuren des Wildprets das ſchon längſt 
aus unſren Blicken und aus dem Kreis unſrer ſinnlichen 
Wahrnehmung entſchwunden iſt. 

Wenn zwei Stimmen ein Lied mit einander ſingen, 
dann wird dieß lauter ertönen als nur mit einer, von zehn 
Stimmen noch lauter als von zweien; wenn in einem Zim— 
mer von der vorhergegangenen Heizung noch Wärme zurück— 
geblieben iſt, dann wird ein neu hinzukommendes Anſchü— 
ren des Feuers viel ſchneller und kräftiger Erwärmung ver— 
breiten als die erſtmalige Heizung eines Raumes, der noch 


12 
322 


niemals durchwärmt war. So ſcheint ſich auch die ſchnellere 
und ſtärkre Erregbarkeit eines Körpers für irgend eine Be— 
wegung, zu welcher ihn der Anſtoß von außen kam, öfters 
darauf zu gründen, daß die Bewegung die der vorhergehende 
Anſtoß gab, noch nicht ganz aufgehört hat, ſondern als 
Nachhall noch fortdauert, und hierdurch zur Verſtärkung des 
neuen Bewegens, ein Weſentliches beiträgt. 

Zuvörderſt lehren uns dieſes ſolche Erſcheinungen, welche 
in den ſchärfeſt unterſcheidenden der Sinne, in den des Ge: 
ſichtes fallen. Wir erwähnten früher, daß der Diamant 
nicht nur beim Reiben ein mehr oder minder deutliches elek— 
triſches Leuchten zeige, ſondern daß derſelbe auch durch Be— 
ſtrahlung von der Sonne oder von hellem Kerzenlichte die 
Eigenſchaft empfange einige Zeit nachher im Dunklen ſelbſt— 
ſtändig fort zu leuchten. Nicht alle Diamanten find dieſes Sel— 
berleuchtens fähig, und man hat bemerkt, daß ſolche, die. 
beim Reiben kein Licht von ſich geben, auch nach der Beſtrah— 
lung von der Sonne, im Dunklen nicht phosphoresciren. 
Als man jedoch zwei ſolche der Phosphorescenz unfähige 
Diamanten ſtark gegeneinander ſtieß, gaben nicht nur beide 
einen Lichtſchein von ſich, ſondern ſie erhielten von nun an 
die Fähigkeit, ſowohl durch das Reiben als auch durch das 
Sonnenlicht im Dunklen leuchtend zu werden. Mit einem 
andren ſchön polirten Diamant wurde der Verſuch gemacht 
ihn durch das öftre Anſchlagen mit einer Feile, zum Selber— 
leuchten zu bringen. Zwei Tage lang blieb dieſes Bemühen 
vergeblich; erſt am dritten Tage zeigten ſich die erſten Spu— 
ren einer Phosphorescenz, welche aber von nun an immer 
augenfälliger wurde, immer leichter ſich erregen ließ, ſo daß 
nicht nur das Anſtoßen eines hölzernen Körpers die Licht— 
erſcheinung hervorrief, ſondern auch die Beſtrahlung von 
der Sonne ein Leuchten im Dunklen zur Folge hatte, wozu 
früher der Diamant ganz unfähig geſchienen hatte. 

Das im Innren eines körperlichen Weſens noch immer 
fortwährende, wenn auch unſrem Sinne nicht mehr bemerk— 
bare Bewegen wird zuweilen, nach dem gewöhnlichen Sprach— 
gebrauch als „Stimmung“ bezeichnet. Im Grunde genom⸗ 
men iſt die magnetiſche Kraft, welche wir nach Seite 399 
in dem Stahlſtabe durch ein, beſtändig in derſelben' Rich⸗ 
tung beharrendes Schlagen mit dem Hammer hervorgerufen 
haben, ſo wie die auf gleichem Wege des mechaniſchen An⸗ 


#4 
523 | 
ſtoßes erlangte kryſtalliniſche Zuſammenfügung der Theile 


eine ſolche Stimmung zu nennen. Die Freunde und Mei⸗ 
ſter des Saitenſpieles, vor Allen des Violinſpieles wiſſen 


es aber, daß nicht nur das wiederholte Anregen eines 


\ 


Stahlſtabes durch den Hammer in gewißer harmoniſch folge: 
rechter Weiſe eine magnetifche Stimmung desſelben erzeuge, 
ſondern daß auch in einer Violine, deren mittönendes, höl⸗ 
zernes Gefüge öfters durch den Klang der Saiten in har⸗ 
moniſche Schwingungen verſetzt wurde, ja daß in jeder Saite 
in jeder Glocke einer Harmonika eine muſikaliſche Stimmung 
erzeugt werden könne, welche in einem Fortwirken jenes 
ſchwingenden Bewegens feinen Grund hat, das der Ton— 
künſtler zu oft wiederholten Malen in den Saiten oder in der 
Glasglocke hervorrief. | 

Wenn ſich ein Kryſtall aus der tropfbar- oder dampf⸗ 
förmig ⸗flüßigen Auflöſung gebildet hat, dann ſcheint er für 
immer fertig; das Gegeneinanderbewegen der einzelnen Theile 
dieſer kleinen Magnete mit ihren anziehenden und abftoßen- 
den Enden ſcheint abgethan und beendigt zu ſeyn. Dies iſt 
aber keineswegs der Fall. Wir können durch unſre Kunſt, 
wie durch ein Hörrohr, das der Schwerhörige vor ſein Ohr 
hält, die Schwingungen des Bewegens, die bei der Bil— 
dung des Kryſtalles wirkſam waren, und welche, ſo lange 
er in dieſer Form beſteht, fortdauern, von neuem zur Kunde 
unſrer ſinnlichen Anſchauung bringen, wenn wir den ſchon 
längſt fertigen Kryſtall in eine Auflöſung von Stoffen legen, 
die für die Mittheilung jenes Bewegens empfänglich ſind. 
Das Chromoryd, in einem beſtimmten Verhältniß mit Schwe⸗ 
felſäure ſo wie mit Kali, und mit Theilen des Waſſers vermiſcht, 
in welchem, ſammt ihm, dieſe Stoffe aufgelöst waren, bildet, 
beim Verdampfen des auflöſenden Waſſers, dunkelgrüne, acht— 
flächige Kryſtalle. Wenn dieſe Kryſtalle, nachdem ſie ſchon 
ſeit Jahren gebildet und frei im Trocknen geſtanden waren, 
von neuem in eine wäffrige Auflöſung des gemeinen Alauns 
gebracht werden, dann ſetzt ſich das Bewegen der kryſtallini— 
ſchen Geſtaltung gerade da weiter fort, wo es vorher durch 
Mangel an Stoff zum Abbrechen und Stillehalten genöthigt 
worden war; die regelmäßig anſchießenden Theilchen des Alauns 
legen ſich eins am andren, und über dem andren, an die 
fon gebildeten Flächen des Octaeders an; dieſes ſetzt fein 
vormals unterbrochenes Wachsthum von neuem fort, gleich 


524 


% 

einem noch lebenden Gewächs, dem man nach langem Schmach⸗ 
ten wieder Waſſer zu ſeiner Nahrung giebt; es entſtehen 
achtflachige Kryſtalle, die in ihrem Innerſten einen dun⸗ 
kelgrünen Kern von derſelben Geſtalt zeigen, um welchen 
her, wie eine Kapſel, ſich der Anſatz des gemeinen, durch— 
ſichtigen Alaunſalzes gelagert hat. Jahrhunderte, ja die 
Zeiträume von Jahrtauſenden ſchwächen nicht dieſes Vermögen 
eines Fortwirkens der anfänglich, beim Entſtehen des Kry⸗ 
ſtalles wirkſamen Bewegung der Theile. Die Ausfüllungs⸗ 
maſſe der Gangſpalten der Gebirge mag ſich in ſehr weit 
von einander geſchiedenen Zeiträumen gebildet haben; Kry— 
ſtalle, aus den Auflöſungen einer ſpäteren Periode, haben 
ſich jedoch auf die Flächen oder Kanten von andren ſchon 
längſt gebildeten Kryſtallen in einer Ordnung und Weiſe an: 
gelegt, aus der man deutlich merken kann, daß die Bewe- 
gung, die bei dem Entſtehen des Kryſtalles, auf dem die 
Ablagerung geſchahe, thätig war, noch in ihm fortwirkte. 
Wir wiſſen nicht vor wie vielen Jahrtauſenden ſich der ſchöne 
grüne oder gelbe, in Würfeln oder Achtflächen kryſtalliſirte 
Flußſpath, in den Erzklüften unſrer Urgebirge gebildet hat. 
Er war vielleicht ſchon ſeit länger als einem Jahrhundert 
aus der Tiefe heraufgebracht worden, und lag ſeitdem in 
einer mineralogiſchen Sammlung unter Glas und Schrank. 
Seine Kraft zum Wachſen und Geſtalten hat ihn aber noch 
keinesweges verlaßen, wie ſich dies bald verräth, wenn wir 
ihn in eine Auflöſung von ſalzſaurem Kalk, etwa erſt heute 
entnommen aus dem Waſſer des todten Meeres, hineinſtellen, 
denn alsbald fangen, fo wie das überflüßige Waſſer ver— 
dünſtet, feine Flächen an, in gehöriger Weiſe zu wachfen; 
nicht zwar in derſelben Farbe, in derſelben Härte und mit 
demſelben Glanze, wohl aber in derſelben Form nimmt der 
Kryſtall an Umfang zu. In derſelben Weiſe ſetzt ein freilich 
ganz anders als der Flußſpath geformter Kryſtall des ſchwe⸗ 
felſauren: Kalkes (Fraueneiſes) fein Wachsthum fort, wenn 
wir ihn in Berührung mit der kryſtalliniſch ſich geſtaltenden 
ſchwefelſauren Talkerde (mit dem Bitterſalz) bringen. 

Man hat in den Särgen der ägyptiſchen Mumien und 
zum Theil in den verdorrten Händen derſelben, zuſammenge⸗ 
ſchrumpfte, dürre Zwiebeln von Knoblauch oder ähnlichen 
Gewächſen, ſo wie die reifen Körner und Aehren von 
Waizen gefunden. Vor mehreren Jahrtauſenden waren dieſe 


525 


Zwiebeln oder Körner, mit den einbalſamirten Leichnamen 
zugleich in den Gruftgewölben beigeſetzt worden, und in dieſer 
langen Zeit war ihr Vermögen zum Keimen und Wachſen nicht 
erloſchen; man hat ſie in eine feuchte gute Erde gebracht 
und die Zwiebeln ſchlugen aus, die Waizenkörner keimten 
zu Halmen auf und trugen reichliche Saamen. Ganz das— 
ſelbe hat man an jenen Saamenkörnern und Wurzelkeimen 
beobachtet, welche ſeit Jahrhunderten unter dem Grundge— 
mäuer uralter Gebäude verborgen gelegen waren, wenn jetzt 
auf einmal der wärmende und belebende Strahl der Sonne, 
jo wie der Thau und Regen des Himmels auf fie her— 
a 


el. | 

Selbſt im Großen, an ganzen Maſſen der Gebirgsge— 
ſteine läßt ſich ein ſolches Fortwirken des innern Bewegens 
erkennen, das ihre anfängliche Geſtaltung bewirkte. Ein 
berühmter Reiſender und trefflicher Bergmann, Rußegger 
hat über dieſen Gegenſtand ſehr werthvolle Beobachtungen 
bekannt gemacht, zu welchen ihm ſein Aufenthalt und ſeine 
bergmänniſchen Forſchungen, namentlich am Taurusgebirge 
Veranlaſſung gaben. Die Beſchaffenheit und Geſtaltung einiger 
Gebirgslagerungen jener Gegenden, ſammt der Form und 
Stellung, in welcher ſich die im dortigen Kalkſtein enthaltenen 
Erzmaſſen zuſammengehäuft finden, läßt es deutlich erkennen 
daß hier noch lange nachher in dieſen Maſſen Kräfte der 
Anziehung gewirkt und kugliche Bildungen hervorgerufen 
haben. An der Bewegung eines ſolchen fortgehenden Ge— 
ſtaltens nahmen zunächſt nur die einen, nicht alle Geſteinarten 
des Gebirges einen Antheil, ſo daß die Lagerung der Ge— 
ſteinmaſſen in deren Mitte die fremdartigen Beſtandtheile das 
Werk ihrer wechſelſeitigen Aneinanderfügung fortſetzten, da— 
durch in einen Zuſtand der Zerrüttung geriethen, welcher 
deutlich beweißt, daß der Vorgang der Fortbildung der Erz— 
niederlagen in ihrem Innren zu einer Zeit ſtatt fand, in 
welcher fie ſchon längſt ihre vollkommne, feſte Geſtaltung 
gewonnen hatten. Auch manche andre, ſteinbildende Stoffe, 
wie namentlich die Kieſelerde, ſetzen in einem ſchon gebilde— 
ten Kalkgebirge das Geſchäft der wechſelſeitigen Anziehung und 
Zuſammenfügung ihrer Theile fort; da beſonders, wo irgend 
eine Kluft oder ein andrer leerer Raum im Innren der 
Gebirge ſich findet, verſammlen ſich die Fremdlinge welche 
darin zerſtreut wohnen, eine Landsmannſchaft zur andren, 


526 


der Baryt zu andrem Baryt, das ſchwefelſaure Blei zu 
andrem Blei feiner Art, Eiſenoxyd oder Schwefeleiſen zu 
ſeines Gleichen. Es ſind Bande, ähnlich jenen der Blutsver⸗ 
wandtſchaft oder der Freundſchaft unter uns Menſchen, die, 
in ihrer beſondren Weiſe ſelbſt in dem Reiche der todten 
Stoffe walten, damit die verſtreut wirkenden Kräfte vieler 
Einzelnen zu einer gemeinſamen Kraftäußerung vereint, den 
Alles bildenden, Alles tragenden Einfluß des allgemeinen 
Seyns und Lebens empfangen möchten. 


62. Väterlicher und mütterlicher Einfluß auf 
Geſtaltung und Wirkſamkeit der neu ent⸗ 
ſtehenden Körper. 


Als von mütterlich bildender Art kann jener Einfluß 
betrachtet werden den die Beſchaffenheit der Elemente auf 
die Geſtalt eines werdenden Kryſtalles hat. Daß dieſer Ein— 
fluß ein ſehr bedeutender und entſcheidender ſey, das fällt 
bald in die Augen; denn wo nur die Kieſelerde zur kryſtallini⸗ 
ſchen Geſtaltung kommen kann, es ſey in den Tiefen der 
Schächte oder auf den Höhen der Gebirge, in der Nähe der 
Pole oder zwiſchen den Wendekreiſen, überall nimmt ſie eine 
Form an, welche aus jener Urform ſich herleiten läßet, die 
ihrer doppelt ſechsſeitigen Pyramide ſamt der an ihren Ber: 
ei | hervortretenden ſechsſeitigen Säule zu Grunde 
iegt. 

Bei ſolchen Kryſtallen, welche aus einer größren Zahl 
von Stoffen zuſammengeſetzt find, bleibt die Geſtaltung die— 
ſelbe, auch dann wenn ſtatt des einen dieſer Stoffe ein 
andrer eingetreten iſt, deſſen kleinſte Theile die Fähigkeit be⸗ 
ſitzen mit den übrigen ganz in dasſelbe Verhältniß des pola⸗ 
riſchen Gegenſatzes und der Anziehung ihrer Pole zu treten, 
welches der regelmäßigen Aneinanderfügung zu Grunde liegt. 
Ohngefähr ein ähnliches Verhältniß als das iſt, welches ſich 
an einer aus kleinen, magnetiſchen Eiſenſtäbchen geſchloßenen 
Kette zeigen könnte, wenn man einzelne dieſer Stäbchen heraus 
nähme und an ihre Stelle gleichgeſtaltete magnetiſche Stäbchen 
aus Nickelmetall hineinſtellte, deren Nordpol ſich eben ſo 
durch polariſche Anziehung an den Südpol eines nachbarlich 
angränzenden Eiſenmagnets anfügen würde, als dies das 
herausgenommene Stäbchen that. Aus demſelben Grunde 


527 


bleibt auch die Geſtalt des insgemein aus Kieſelerde, Thon: 
erde und Eiſenoxyd zuſammengeſetzten Granates dieſelbe, 
wenn ſtatt der Thonerde die Kalkerde, ſtatt dieſer die Talk— 
erde, ſtatt des Eiſenoxyds das Manganoxyd an der Ver— 
bindung Theil genommen haben. Solche Stoffe, davon 
der eine die Stelle des andren einnehmen kann, ohne daß 
die Aeußerung des mütterlich bildenden Einflußes eine Abän- 
derung erleidet, nennt man gleichgeſtaltige (iſomorphe) und 
mit ganz beſondrer Klarheit hat dieſen ganzen Vorgang 
Juſtus Liebig in ſeinen chemiſchen Briefen (im ſechsten 
derſelben) entwickelt. 

Der nämliche, um ſeine Wiſſenſchaft hoch verdiente 
Schriftſteller macht aber auch zugleich auf einen andren, für 
die Geſtaltung der Kryſtalle ſehr bedeutenden Einfluß auf— 
merkſam, deſſen eigenthümliches Wirken nicht durch die Be— 
ſchaffenheit der Beſtandtheile beſtimmt wird, und welchen 
man, gegenüber dem elementaren oder mütterlichen Einfluß 
als einen väterlichen bezeichnen könnte. In dieſer, von dem 
chemiſchen Beſtand unabhängigen Weiſe wirken die Wärme, 
das Licht, die Elektrizität, ſo wie andre dieſen verwandte 
Bewegungen der äußeren Leiblichkeit auf die beſondre Rich— 
tung des Geſtaltens ein. 

Eines der bekannteſten Beiſpiele unter allen denen welche 
hieher gehören, iſt uns in zwei Steinarten des kohlenſauren 
Kalkgeſchlechtes: im Arragonit und im gemeinen Kalkſpath 
gegeben. Die erſtere Steinart, die ſich namentlich auch in 
Arragonien geſtaltet, zu anſehnlichen ſechsſeitigen, meiſt 
ſchmutzig amethyſtfarbenen Säulen, in Gyps eingewachſen 
findet, unterſcheidet ſich weſentlich von dem gemeinen Kalk— 
ſpath durch einen höheren Grad der Härte, und durch ein 
größeres ſpecifiſches Gewicht. Wenn der gemeine, kry— 
ſtalliniſche Kalk, z. B. als isländiſcher Doppelſpath, vollkom— 
men durchſichtig iſt, dann hat er eine ausgezeichnete doppelte 
Strahlenbrechung, das heißt man ſieht Buchſtaben, Linien 
und andre Gegenſtände, die man durch ihn betrachtet, nicht 
einfach ſondern doppelt; dem durchſichtigen Arragonit (aus 
Böhmen u. ſ. w.) mangelt dieſe Art der Strahlenbrechung; 
die Grundform von der ſeine Kryſtallgeſtalten ausgehen iſt 
eine ganz andre als die, auf welche ſich die mannichfaltigen 
Formen des Kalkſpathes zurückführen laſſen, der ſchon beim 
Zerſchlagen in lauter rautenflächige Bruchſtücke zertheilbar iſt. 


528 


An dieſer großen und durchgehenden Verſchiedenheit der bei⸗ 
den Steinarten hat die Beſchaffenheit der chemifchen Beſtand⸗ 
theile durchaus keinen Antheil; denn bei der ſorgfältigſten 
Zerlegung findet man in einer wie in der andren die Kalk⸗ 
erde ganz in demſelben Verhältniß mit der Kohlenſäure ver⸗ 
eint. Was aber die Beſtandtheile nicht thaten, das hat bei 
der verſchiedenartigen Geſtaltung der Einfluß der Wärme be⸗ 
wirkt, der von außen kam. Denn wenn man kohlenſauren 
Kalk aus einer Auflöſung in kaltem Waſſer zu Kryſtallen 
anſchießen läßt, dann zeigen dieſe die Geſtalt ſo wie alle 
Eigenſchaften des gemeinen Kalkſpathes, läßt man ihn da⸗ 
gegen aus warmem Waſſer ſich kryſtalliſiren „dann wird er 
zum Arragonit. Aber noch einmal, und zwar in ganz ent⸗ 
gegengeſetzter Weiſe äußert die Erhöhung der Temperatur 
auf dieſen merkwürdigen Stein ihren umgeſtaltenden Einfluß. 
Wenn man nämlich einen Arragonitkryſtall einer ſchwachen 
Glühehitze ausſetzt, dann gerathen alle Theile ſeiner Maſſe 
in lebhafte Bewegung; er bläht ſich zu einer ſchaumartig⸗ 
blaſigen Form auf, und verwandelt ſich in ein Gehäufe von 


kleinen Kryſtallen die nichts Andres ſind denn gemeiner 


Kalkſpath. 

Etwas ganz Aehnliches zeigt ſich am Schwefel, der 
bei niedrer Tempratur als Rhomben Achtflach kryſtalliſirt, beim 
Anſchießen aber aus geſchmolzenem Zuſtand eine ganz andre 
Grundform annimmt. Ebenſo nimmt das aus der Schmelz⸗ 
hitze kryſtalliſirende Kupfer, ſo wie der bei höherer Tempe⸗ 
ratur anſchießende Zinkvitriol eine ganz andre Form als die 
gewöhnliche an, und daſſelbe gilt vom Bitterſalz, und der 
arfenigen Säure; ja das ſchwefelſaure Nickeloxyd erſcheint ſo⸗ 
gar bei 3 verſchiedenen Steigerungsgraden der Temperatur 
in dreimaliger Verſchiedenheit der Formen. 

Wenn, um noch ein näher liegendes Beiſpiel zu erwäh⸗ 
nen, das Kochſalz aus ſeiner Auflöſung im Waſſer durch 
Verdampfung oder Abkühlung der auflöſenden . zum 
re gebracht wird, dann nimmt es die Ge 

Würfels oder des mit ihm verwandten Achtfla 
wohl des Raudenzwölfflaches an, denen in beiden der Wür⸗ 


fel als Stammform zu Grunde liegt. Doch nur dann tritt : 


dieſes ein, wenn die Abkühlung der Flüßigkeit nicht bis un⸗ 
ter den Gefrierpunkt gieng. Wenn man dagegen eine ge⸗ 
ſättigte Kochſalzauflöſung dem Winterfroſt oder einer lichen 


— 


529 


lichen Erkältung ſelbſt nur von 109% unter dem Gefrierpunkt 
ausſetzt dann entſtehen, ſtatt der Kryſtalle von der Ver⸗ 
wandtſchaft des Würfels, große, ſchöne Säulen, ſo klar 
und durchſichtig als Waſſer, die zu einer ganz andren Sipp⸗ 
ſchaft der Kryſtallformen gehören als der Würfel. Bei der 
leiſeſten Berührung mit den Fingern werden dieſe hellen 
Klryſtalle milchweiß und undurchſichtig, und wenn man fie 
auf die Fläche der warmen Hand legt, dann zerfließen ſie 
zu einem Brei, in welchem ſich alsbald kleine Kochſalzkry⸗ 
ſtalle von der gewöhnlichen Würfelform erzeugen. Zu die⸗ 
ſer auffallenden Veränderung der Form, deſſelben, aus 
Chlor und Natron beſtehenden Salzes, hat offenbar der ver⸗ 
ſchiedne Grad der Temperatur, bei welchem das Kryſtalliſi⸗ 
ren erfolgte, das Meiſte und Weſentlichſte beigetragen, ob⸗ 
gleich dieſer Einfluß auch noch die Wirkung hatte, daß mit 
dem bei ſtarker Kälte anſchießenden Chlornatron ſich eine be— 
deutende Quantität von Waſſer (gegen 30 Prozent) verband, 
welches in der Miſchung des gemeinen, würfelartig kryſtalli⸗ 
niſchen , gänzlich fehlt. 

Deergleichen Fälle, in denen ein und derſelbe Stoff „eine 
und dieſelbe Miſchung der Elemente in ganz verſchiedner Ge⸗ 
ſtaltung fo wie Eigenſchaft auftritt, und hierdurch eine Ver⸗ 
ſchiedenheit des anregenden väterlichen Einfluſſes andeutet, 
der bei der Bildung des Körpers wirkſam war, giebt es 
noch mehrere, denn es gehören hieher namentlich jene Stein⸗ 
arten oder metalliſchen Foſſilien, die man als zweigeſtaltig 
e aufgeführt hat. 

Aber nicht allein an den unorganiſchen Verbindungen 
der Grundſtoffe, ſondern auch an ſolchen, welche durch die 
Kraft des organiſchen Lebens entſtanden ſind, giebt ſich der 
umgeſtaltende Einfluß der Wärme wie des Lichtes kund. 
Das Eiweiß eines Hühnereies iſt in ſeinem gewöhnlichen, 
friſchen Zuſtand flüſſig, im Waſſer auflöslich und in ziem⸗ 
lich hohem Grade durchſichtig; wenn wir es aber einer 
Wärme von 60° R. und darüber ausſetzen, dann wird es 
porzellanartig weiß, es verliert feinen flüffigen Zuſtand und 
ſeine Durchſichtigkeit, zugleich mit ſeiner Auflöslichkeit im 
Waſſer. Die Wurzeln der in heißen Ländern wachſenden 
Manihokpflanzen ſind in ihrem rohen Zuſtand für den Men⸗ 
ſchen nicht bloß ungenießbar, ſondern ſogar giftig; wenn ſie 
aber einer künſtlichen Erhitzung N wenn fie in der 


330 


heißen Aſche geröſtet oder gebraten werden, dann geben ſie 
ein nicht nur wohlſchmeckendes, ſondern durchaus geſundes 
und gedeihliches Nahrungsmittel. Welche vortheilhafte Ver⸗ 
änderung mit den Knollen des Kartoffels vorgehen, wenn dieſe 
in der heißen Aſche geröſtet, oder im Waſſer weich geſotten 
werden, das wiſſen wir Alle; es iſt jene Verwandlung in 
einem für unſern Gaumen wohlſchmeckenden, für die Säfte 
unſres Magens auflöslichen und darum leicht verdaulichen 
Zuftand, welchen wir den meiften Gemüſen durch die Zube— 
reitung in unſren Küchen mittheilen. Wenn einige Bolfer- 
ſchaften des Hochlandes von Perſien das Mehl der eßbaren 
Eicheln, das ſie durch Zerreiben der trockenen Frucht zwiſchen 
zwei Steinen gewonnen haben, mit Waſſer zu einem Teig 
oder Brei machen, dann können fie dieſes für fie ſehr an- 
nehmliche, nahrhafte Gericht auf mehrere Tage aufbehalten, 
ohne daß es eine Gährung oder andre nachtheilige Verände⸗ 
rung erleidet. Der ganze Mundvorrath den ein wandernder 
Backhemi für eine zuweilen wochenlange Fußreiſe mit ſich 
nimmt, beſtehet in einem ſolchen Teig von Eichelmehl, den 
er in einem ledernen Beutel trägt. Wollten wir einen Teig 
unſeres Getreidemehles in eben ſo warmer Luft, wie die des 
mittleren Perſiens iſt, Tage lang aufbehalten oder mit uns 
nehmen, da würde auch ohne Zuſatz von Hefe oder Sauer⸗ 
teig gar bald eine Gährung beginnen, die beim Eichelmehl 
durch den in ihm enthaltenen, adſtringirenden Stoff verzo- 
gert wird. Aber ſelbſt dem in Gährung gerathenen oder 
durch unſre künſtlichen Zuthaten in Gährung verſetzten, und 
hierdurch widerwärtig ungenießbar gewordenen Mehlteige, 
geben wir durch die Hitze des Backens jene Eigenſchaft, wo⸗ 
durch derſelbe zu einem für unſren Körper zuträglichen, wohl⸗ 
ſchmeckenden Nahrungsmittel wird, das ſich als Schiffszwie⸗ 
back lange aufbehalten läſſet. ’ EHE 
Die Gährung des Traubenſaftes fo wie das Sauer⸗ 
werden der Milch können wir ebenfalls durch die Siedehitze 
verhindern, und beide laſſen ſich durch ein öfter wiederholtes Ab⸗ 
ſieden auf einige Zeit in ungegohrnem Zuſtand erhalten. Zu⸗ 
nächſt wird jedoch, durch die höher geſteigerte Temperatur 
bei dieſen Flüſſigkeiten nur eine Unterbrechung, ein Aufſchub 
der Gährung bewirkt, welche bei fortwährendem Zutritt der 
atmoſphäriſchen Luft, in der mittleren Temperatur unſrer 
Himmelsgegend, dennoch in Kurzem wieder eintritt. Auch 


531 


das thieriſche Fleiſch, deſſen ſchnelles Faulwerden durch Braten 
oder Abkochen verhindert wurde, geht durch die gleichen Urs 
ſachen ſpäterhin wieder in Verderbniß über. Daher iſt die 
Anwendung der Siedehitze erſt dadurch zu einem recht brauch— 
baren Erhaltungsmittel der Speiſen, für lange Zeiten, gewor⸗ 
den, daß Gay Luſſac in überaus einfacher Weiſe den 
europäiſchen Köchen es lehrte, wie man heute in Frankreich 
eine Fleiſchſpeiſe mit feinem Gemüſe oder allerhand ſüße 
Früchte kochen und zubereiten könne, welche, nach länger als 
Jahresfriſt, noch eben fo friſch als wären fie vor wenig Stun— 
den erſt gar geworden, mitten in den afrikaniſchen Wüſten, 
oder auf fernen Meeren ſich zur Tafel bringen ließen (m. v. 
oben S. 320 u. 321). Es war dies eine Erfindung, die, 
wegen ihrer außerordentlichen Nützlichkeit, und hierbei dennoch 
leichten Anwendbarkeit, eines ſolchen großen Naturforſchers 
vollkommen würdig erſcheint. In jedem einzelnen Haushalt 
iſt es jezt möglich geworden die feineren Gemuͤſe des Gartens, 
ſo wie das Fleiſch des jungen Geflügels, oder andre, leicht 
verderbende Speiſen dieſer Art, gerade dann wenn ſie am 
beſten zu haben ſind, zum Genuß für den künftigen Winter 
oder für ein nächſtes Jahr friſch zu erhalten; ja es würde 
durch Gay Luſſac's Aufbewahrungsweiſe möglich ſeyn, die 
Gäſte, bei der Hochzeit eines Enkels, mit einem Gerichte zu 
bewirthen, davon auch die Gäſte an der Hochzeitstafel der 
Großmutter ihren Theil genoſſen hatten. Abgeſehen jedoch 
von dieſer Anwendung im Kleinen, wodurch die Alten wie 
die kränklich Schwachen zu jeder Zeit des Jahres mit jungen 
friſchen Erbſen und Bohnen, nicht aus den Treibhäuſern 
der Fürſten, ſondern aus ihrem eigenen kleinen Garten ver— 
ſorgt werden könnten, iſt vorzüglich die Benutzbarkeit der 
Erfindung im Großen einer Beachtung werth. Jene groß⸗ 
artigen Kochanſtalten, namentlich in Schottland und in 
Frankreich, welche täglich ganze Maſſen der kräftigſten Sup— 
pen, der Gemüſe, des gebratenen und geſottenen Fleiſches 
wie der ſüßen Speiſen für Hunderte, nicht der einheimiſchen, 
ſondern der in weiter Ferne weilenden Gäſte, nicht für einen 
nahe gegenwärtigen, ſondern für einen auf künftige Zeiten 
aufgeſparten Genuß bereiten, könnten eben ſo wie ſie ein⸗ 
zelne Schiffe, ja ganze Flotten derſelben, und wie ſie Karawanen, 
die durch weit ausgedehnte Wüſten reiſen, mit ausreichendem 
Vorrath friſcher Speiſen verſehen, . auf Jahre 
1 


532 


lang mit geſunden Nahrungsmitteln verſorgen; Hungersnoth 
und Gefahr des Erkrankens wird in allen 1 Fällen, zu 
Land wie zu Waſſer, abgewendet. 


Wir haben in dieſem Buche ſo manche, für das Leben 
und den Verkehr der Völker nützliche Erfindung ausführlicher 
betrachtet: darum ſoll auch die eben erwähnte des Gay Luſ⸗ 
ſac hier noch eine kurze Beſchreibung finden. Die Fleiſch⸗ 
oder Pflanzenſpeiſen werden zuerſt fo, wie man fie für unſ⸗ 
ren Tiſch zurichtet, gar gekocht oder gebraten, dann ſogleich 
heiß, wie ſie vom Herd oder aus der Bratröhre kommen, in 
Büchſen, aus verzinntem Eiſenblech vertheilt, die man damit 
bis oben anfüllt. Wenn 1 geſchehen iſt, dann wird der 
wohlanpaſſende Deckel aus gleicher Blechmaſſe beſtehend, auf 
die Büchſe geſetzt, und an dieſe luftdicht angelöthet. Aber 
auch jetzt ſind die Speiſen noch nicht zur Verſendung 
über Meer und Land, wie zur Jahre langen Aufbewahrung 
geeignet; die feſt verſchloßnen Büchſen werden noch einmal 
in ein größeres, keſſelartiges Behältniß mit ſiedendem Waſſer 
geſtellt und hier, nach Verhältniß ihrer Größe, ſtundenlang 
der Siedehitze ausgeſetzt, ſo daß dieſe von neuem die ganze 
Maſſe bis in ihre Mitte durchdringen kann. Die ſchon ge⸗ 
brauchten blechernen Büchſen laſſen ſich, nach ſorgfältiger 
Reinigung, wieder zu gleichem Zweck benützen. 


Bei dem kohlenſauren Kalk wie beim Chlornatrium oder 
Kochſalz, fo wie bei vielen andren unorganiſchen, kryſtalli⸗ 
ſirbaren Subſtanzen, wirkt, dies lehrten uns die erſten in 
dieſem Capitel erwähnten Fälle, der väterlich anregende Ein⸗ 
fluß der Wärme verändernd auf die Geſtaltung ein. Das, 
was in den zuletzt erwähnten Fällen durch jenen Einfluß um⸗ 
geändert wird, läßt ſich, ſeiner äußren Erſcheinung nach we⸗ 
niger als Geſlaltung, denn als Stimmung Pageihurn. Wie 
ſtaltung und Stimmung in der Körperwelt ſich derben 
ſind, das lehrte uns der Inhalt des 61. Capitels. Den 
fortwährende Einwirkung eines ſchon gebildeten Kryſt 
auf andre zur kryſtalliniſchen Geſtaltung geneigte Stoffe 
(nach Cap. 61) hat ihren Grund in einer Stimmung, ähn⸗ 
lich jener, welche in dem Nachtönen einer angeſchlagenen 
Glocke und in der leichteren Befähigung zum wohllautenden 
Tönen an einem muſikaliſchen Inſtrumente ſich kund giebt, 


533 


deſſen künſtlicher Bau öfters durch eine Meiſterhand in har⸗ 
moniſche Schwingungen verſetzt wurde. 

Wie die Wärme, ſo wirken auch die andren, aus dem 
allgemeineren Wechſelverkehr der polariſchen Gegenſätze her⸗ 
vorgehenden Bewegungen der Außenwelt, verändernd auf die 
Stimmung der einzelnen Körper ein. Was hierbei ſchon die 

mechaniſche Bewegung, und noch mehr was Elektrizität und 
Magnetismus bewirken können, das erwähnten wir ſchon bei 
andrer Gelegenheit. Namentlich gab Becquerel dem kry⸗ 
ſtalliniſch anſchießenden, kohlenſauren Kalk durch die elektriſche 
Strömung gerade ſo die Arragonitgeſtalt, als dies, wie wir 
vorhin ſahen, die Wärme thut. Auch von dem Einfluß, wel⸗ 
chen das Licht auf die Stimmung der leiblichen Stoffe hat, 
wollen wir, zu den vielen bereits angeführten hier nachträg⸗ 
lich noch ein Beiſpiel anführen. Der Phosphor, der in ſei— 
nem gewöhnlichen Zuſtand durchſcheinend hellgelb, und ſchon 
bei 25° Réaumur ſchmelzbar iſt, verwandelt ſich, wenn man 
ihn im luftleeren Raume auf längere Zeit der Wirkung des 
Lichtes ausſetzt, in einen rothen, undurchſichtigen, ſchwerer 
ſchmelzbaren Körper, welcher nicht mehr ſo leicht zu entzün⸗ 
den iſt, als er dies vorher war. Der violette Strahl des 
Farbenbildes bewirkt dieſe Veränderung eben ſo kräftig als 
das ungetheilte Sonnenlicht; der rothe Strahl zeigt ſich da⸗ 
zu am unvermbgendſten. | a MU 
Es lägen uns jedoch auch noch andre, zur Entwicklungs⸗ 
geſchichte der organiſchen Weſen gehörige Beiſpiele nahe, aus 
denen hervorgehet, in welchem Maaße das allgemeine Bewe— 
gen der äußren Sichtbarkeit, namentlich als Wärme und 
Licht, auf Stimmung und Geſtaltung einwirke. Denn ob— 
gleich der Charakter der Arten bei Thieren wie bei Pflanzen 
in gewiſſe, feſtſtehende Gränzen eingeſchloſſen iſt, wird den— 
noch durch den Einfluß des Klimas an dieſem Grundriß ſo 
Vieles verändert, daß wir ihn öfters nur mit Mühe wieder 
erkennen. Selbſt der Menſch erleidet bei ſeinem längern 

Verweilen, hier in der temperirten oder kalten, dort in der 
heißen Zone, ſo viele von der Beſchaffenheit des Klimas 
ausgehende Veränderungen der äußren Geſtalt und leiblichen 
Stimmung (des Temperamentes), daß hierdurch nicht ſelten 
der ungegründete Zweifel erregt worden iſt, an der gemein⸗ 
ſamen Abkunft des Negers, des Mongolen und des Euro— 
päers aus einem und demſelben elterlichen Urſtamme. In 


* 


* 


534 


dem jetzigen Zuſtand der Dinge hat ſich die Kraft des Ein⸗ 
fluſſes, den die ſchon beſtehende Form einer Pflanze auf die 
Geſtaltung der neuen Pflanze ausübt, die ſich aus ihrem 
Saamenkorn entwickelt, mit der Kraft des allgemeineren, 
klimatiſchen Einfluſſes ſo ins Gleichgewicht geſetzt, daß, wie 
bereits erwähnt, das Klima an dem Hauptcharakter der Ar⸗ 
ten nichts zu ändern vermag; die Betrachtung jedoch der 
mannichfaltigen Ueberreſte einer vormaligen Thier⸗ und Pflan⸗ 
zenwelt lehrt uns, daß es eine Zeit gab, wo dieſes Verhält⸗ 
niß ein andres war; eine Zeit, in welcher die Macht jenes 
allgemeinen Bewegens, deſſen abgeleitete Form das Licht und 
die Wärme ſind, ſo übermächtig vorwaltend auf die erſchaf⸗ 
fenen Keime der Einzelweſen einwirkte, daß hierdurch ſelbſt 
jene weſentlichen Züge der Geſtaltung und Stimmung verän⸗ 
han 1 von denen die Verſchiedenheit der Arten ab⸗ 
ang 


63. Die beſtimmten Proportionen, in welchen 
die Grundſtoffe ſich verbinden. (Stöchiometrie.) 


Ein Tintentropfen, den wir in ein Weinglas voll reinen 
Waſſers fallen laſſen, vertheilt ſich allmälig in dieſem, und 
daſſelbe thut ein zweiter „ ein dritter Tropfen; das Waſſer 
nimmt ſo viel von dem färbenden Stoffe auf, als wir ihm 
geben wollen, und wenn wir der Vertheilung deſſelben durch 
ein mechaniſches Mittel, wie durch Umrühren zu Hülfe kom⸗ 
men, dann geſchieht dieſe ſo gleichförmig, daß jeder einzelne 
Tropfen des Waſſers ſo viel Tinte an ſich zieht als der 
andre. Daſſelbe geſchieht, wenn wir ein Salzkorn nach dem 
andern in das Glas voll Waſſer werfen; die Flüſſigkeit 
nimmt, je mehr wir ihr davon zuſetzen, deſto ſtärker, in all 
ihren Theilen, den Geſchmack des Salzes an; denn dieſes hat 
ſich gleichmäßig in ihrer ganzen Maſſe verbreitet. In den 
beiden oben erwähnten Fällen hat ſich keine eee che⸗ 
miſche Verbindung, ſondern ein, mechaniſches Gemei 
zeugt, bei welchem das Salz wie das Waſſer in ihren Ei⸗ 
genſchaften unverändert, das erſtere Salz, das andre Waſ⸗ 
ſer geblieben ſind. h 

Etwas ganz Andres gefchieht da, wo die Grundſtoffe 4 
eine eigentliche chemiſche Verbindung mit einander eingehen. 
Wenn man in ſolches Waſſer, darinnen Kalkerde mechaniſch 


535 


aufgelöſt iſt, einen Tropfen Vitriolſäure ſchüttet, dann ver— 
theilt ſich dieſer nicht gleichmäßig in der Flüſſigkeit, ſondern 
die Schwefelſäure verbindet ſich mit einem gewiſſen Theile der 
Kalkerde und bildet mit dieſem ſchwefelſauren Kalk oder 
Gyps, der ſich als Pulver zu Boden ſenkt, während die 
ganze übrige Flüſſigkeit, ohne nur noch eine Spur von 
Schwefelſäure in ſich zu führen, das bleibt was ſie vorher 
war: ätzendes Kalkwaſſer. Bei dem Hinzuſchütten jedes 
neuen Tropfens von Vitriolſäure wiederholt ſich das Nämli— 
che, bis zuletzt aller in dem Waſſer enthaltene Kalk mit der 
Säure geſättigt, und zu Gyps geworden iſt. Wenn man 
aber jetzt, nachdem jedes Theilchen der Kalkerde fein beſtimm— 
tes Theilchen der Säure dahin genommen, noch etwas mehr 
von der letzteren hinzuſetzt, dann wird dieſe nicht mehr, wie 
die Tinte vom Waſſer, ſo von dem pulverartigen Niederſchlage 
aufgenommen, ſondern ſie bleibt dem Waſſer, darin der 
Kalk aufgelöſt war, beigemengt, ohne daß von nun an ein 
Zug der Säure zur Erde oder dieſer zu jener ſich kund giebt. 
In dem eben erwähnten Falle ſind aber auch zugleich die 
beiden Elemente, die ſich zum Gyps vereinten, ihren Eigen— 
ſchaften nach ganz andre geworden; an der Verbindung bei— 
der, am Gyps, iſt ferner weder die Natur der Säure noch 
des ätzenden Kalkes zu erkennen; die Wirkung auf den Ges 
ſchmacksſinn, welche beide in ganz verſchiedner Art hatten, 
ſo wie die auf das Lackmuspapier und andre durch Säuren 
und Alkalien leicht veränderliche Stoffe, hat ſich ganz verlo— 
ren, es hat ſich ein Körper gebildet, der weder Aetzkalk noch 
Säure, ſondern ein ganz Neues, ein Drittes iſt. Der 
Gyps, den wir auf dieſe Weiſe künſtlich erzeugten, wird als 
eine der gemeineren Gebirgsarten der feſten Erdrinde in den 
verſchiedenſten Ländern und Welttheilen gefunden; wenn wir 
aber den Gyps aus Perſien oder Aegypten, wenn wir den 
aus Frankreich und Deutſchland, aus Amerika und Neuhol⸗ 
land genauer unterſuchen und chemiſch zerlegen, dann wer— 
den wir finden, daß in demſelben, woher er auch ſey, dem 
Gewicht nach immer die Kalkerde mit der Schwefelſäure, nach 


runder Summe ausgedrückt, in dem Verhältniß von 13 zu 


18 vereint ſey, während in allen Mineralarten, in allen 
Abänderungen des kohlenſauren Kalkes, aus welcher Gegend 
er auch kommen, von welcher Geſtalt er auch ſeyn möge, 
das Verhältniß der Erde zur Säure, in runder Summe 


336 


ausgedrückt wie 13 zu 10 iſt. Die Gewichtsmenge der Koh⸗ 
lenſäure, welche die Kalkerde zu ihrer Sättigung bedarf, ver⸗ 
hält ſich mithin zur Gewichtsmenge der hiezu nülhigen Schwe⸗ 
felſäure wie 5 zu 9. Die Baryterde bedarf freilich eine ge⸗ 
ringere Quantitat der Säuren zu ihrer Sättigung als die 
Kalkerde; das Verhältniß aber von jener bleibt daſſelbe, denn 
etwas mehr denn 17 Theile Schwerſpatherde nehmen 5 Theile 
Kohlenſäure oder 9 Theile Schwefelſäure auf. Aber die 
eben genannten Säuren ſind keine einfachen Grundſtoffe, ſon⸗ 
dern ſelber ſchon aus Kohle oder Schwefel und aus Sauer⸗ 
ſtoff zuſammengeſetzt. Und auch hierin zeigt ſich ein feſtſte⸗ 
hendes Verhältniß der Gewichtsmengen, denn 3 Theile . 
le bilden mit 4 Theilen Sauerſtoffgas die Kohlenſäure; 8 

Theile Schwefel wit 4 Theilen Sauerſtoff die Schwefelſäure 
oder mit eben ſo viel Theilen von Phosphor die Phosphor⸗ 
ſäure. Auch das Waſſerſtoffgas verbindet ſich mit dieſen 3 
Grundſtoffen, und zwar mit der Kohle im Verhältniß wie 1 
zu 6, mit dem Sauerſtoff 1 zu 8, mit Schwefel oder Phos⸗ 
phor 1 zu 46. Hier wie dort tritt zwiſchen den Gewichts⸗ 
mengen der Kohle, des Sauerſtoffes und des Schwefels das 
gleiche Verhältniß in den Zahlen 3, 4, 8 hervor. Das Kupfer 
und das Zink gehen freilich nur mit viel geringeren Mengen 
des Sauerſtoffs und des Schwefels Verbindungen ein, aber 
die Gewichte der beiden letzteren Stoffe, die zu ihrer Sät⸗ 
tigung nöthig find, behalten genau denſelben Abſtand, denn 
4 Theile Kupfer oder Zink nehmen 1 Theil Sauerſtoff oder 
2 Theile Schwefel auf. In ähnlicher Weiſe beſtehet das 
Drid des Molybdäns aus 6 Theilen Metall und einem 
Theile Sauerſtoff, an Schwefel nimmt daſſelbe gerade das 
Doppelte, nämlich ein Drittheil auf; bei dem Wolfframme⸗ 
tall ſind die Verhältniſſe zu jenen beiden Stoffen wie 12 
und wie 6 zu 1. Und fo kann man, wenn man die Ge 
wichtsmenge kennt, in welcher irgend einer der oben im Cap. 
14 genannten Grundſtoffe mit einem andren die 1 1 7 
Verbindung eingeht, es genau berechnen, welche Quantitä 

von einem der andren Stoffe er zu ſeiner Sättigung edi 
fen werde. Wenn man z. B. auch nur aus der Zerlegt 
des Silberhornerzes es wüßte, daß in ihm das Silber im 
Verhältniß wie 3 zu 1 mit dem Chlor verbunden ſey, ſo 
könnte man daraus berechnen, daß dieſer Stoff mit dem 
Blei in faſt gleichem Verhältniß, mit dem Kupfer aber wie 


537 


177 zu 160, mit dem e m Kochſalz faſt wie 3 zu 
2, mit dem Schwefel nahe wie 22, mit dem Sauerſtoff wie 
44 zu 10, endlich mit dem Waſſerſtoffgas wie 354 zu 10 
ſich vereinen müſſe. Dieſes Alles gienge, nach einer andren 
Seite hin, daraus hervor, daß man erkannt hätte, daß im 
Silberoryd 13% Theile des Metalles mit 1 Theil Sauer: 
ſtoff, im Schwefelſilber 6 Theile des Metalles mit A Theil 
Schwefel verbunden ſind. 

Aber die Grundſtoffe finden, ſich nicht immer nach dem 
einfachen Maaß der im Allgemeinen feſtſtehenden chemiſchen 
Proportionen vereint, ſondern nicht ſelten nach dem doppelten, 
dem drei⸗, dem vier⸗ und noch mehrfachen. So iſt aller⸗ 
dings das gewöhnliche ſtöchiometriſche Verhältniß des Me⸗ 
talles zum Schwefel und Sauerſtoffgas beim Eiſen nahe wie 
17½ und wie 35 zu 10; mit beiden Stoffen kann aber auch 
jenes Metall Verbindungen eingehen, in denen dasſelbe einen 
größeren oder einen geringeren Antheil ausmacht als den 
gewöhnlichen, ſo daß die Steigerung des Miſchungsverhält— 
nißes, von den niederen zu den höheren Stufen gerechnet; 
von 4 zu 6 oder 8, zu 12 und 16 gehet. 

Die erſte Entdeckung und wiſſenſchaftliche Begründung 
der Lehre von den ſtöchiometriſchen Miſchungsverhältnißen der 
Elemente dankt die Wiſſenſchaft zwei deutſchen Chemikern 
des vorigen Jahrhunderts: Wenzel und Richter. Nicht 
minder folgenreich erſcheint jedoch eine andre Entdeckung 
von der wir jetzt reden wollen, deren Verdienſt dem ſchon 
bh franzöſiſchen Naturforſcher G ay Luſſac ge 

ührt 

Durch die Zerlegung des Waſſers (nach S. 206 und 
342) kennt man das Verhältniß, in we lchem ſeine beiden 
Grundſtoffe mit einander verbunden ſind mit großer Genauig⸗ 
keit; man weiß daß 11,09 Gran Waſſerſtoffgas bei ihrem 
Verbrennen mit 88,91 Sauerſtoffgas 100 Gran Waſſer 
geben; ein Gewichtstheil des erſteren Gaſes reicht demnach 
hin um 8 Theilen des letzteren die nöthige Grundlage darzu— 
reichen, zur Bildung einer neuen tropfbar flüßigen Körperform. 
Vergleicht man jedoch die beiden Luftarten aus denen unter 
unſren Augen das Waſſer entſtehet, ihrer Ausdehnung nach, 
dann erkennt man daß der Raum, den das Waſſerſtoffgas 
vor der Verbindung mit dem Sauerſtoffgas einnahm, genau 
doppelt ſo viel betrug, als der Raumumfang des Letzteren; 


538 


will man einem Cubikzoll Sauerſtoffgas gerade ſo viel Waſ— 
ſerſtoffgas geben, als es bedarf um beim Verbrennen ganz 
in der Waſſerbildung aufzugehen, dann ſind zwei Cubikzoll 
des letztren dazu erforderlich. Nicht nur an den luftartigen 
Grundſtoffen des Waſſers, ſondern an allen Stoffen welche 
vor ihrer chemiſchen Verbindung mit einander gasartig ſind, 
hat man die Bemerkung gemacht daß die räumliche Aus⸗ 
dehnung, die ſie vor ihrer Vereinigung einnehmen, von 
ſolchem Betrag iſt, daß ſie bei beiden ſich auf eine gemein⸗ 
ſame Einheit zurückführen läßet. Nennen wir dieſe Einheit 
einen Cubikzoll, dann finden wir daß bei manchen chemiſchen 
Verbindungen der Gasarten ein Cubikzoll der einen Art 
mit einem Cubikzoll oder auch mit zwei mit vier Cubikzollen 
der andren, die neue Erſcheinungsform bilde, darinnen die 
Eigenthümlichkeiten beider ſich aufgelöst und verloren haben. 
Wenn in dem gewöhnlichen Feuerungsmaterial unfrer Herde 
die Kohle verbrennen, mit dem Sauerſtoffgas chemiſch ſich 
verbinden ſoll, dann muß ſie erſt durch die Hitze in luft⸗ 
förmigen Zuſtand verſetzt werden. Ein Cubikzoll ſolcher gas⸗ 
artigen Kohle bildet mit einem Cubikzoll Sauerſtoffgas das 
ſogenannte Kohlenoxydgas; damit aber die eigentliche Koh— 
lenſäure entſtehen könne muß noch ein zweiter Cubikzoll der 
Lebensluft hinzukommen. Zur chemiſchen Durchdringung die 
ſer beiden Maaßtheile reicht ein Maaßtheil der in der Glüh— 
hitze verflüchtigten Kohle hin, all die andre Menge des in 
die Nähe des brennenden Körpers kommenden Sauerſtoff— 
gaſes bleibt unverändert, ohne an der Verbindung Theil zu 
nehmen, das was es vorher war. Wie das Sauerſtoffgas, 
ſo geht auch das Kohlengas mit dem Waſſerſtoffgas eine 
chemiſche Verbindung ein, welche unter dem Namen des Koh⸗ 
lenwaſſerſtoffgaſes bekannt iſt. Während aber zur Sättigung 
von einem Cubikzoll Sauerſtoffgas ſchon zwei Cubikzolle 
Waſſerſtoffgas hinreichen, ſind zur Sättigung von einem 
Maaßtheil gasförmiger Kohle vier Maaßtheile desſelben 
erforderlich. et 
Der Rauminhalt, welchen in all diefen Fällen die neu 
entſtandene chemiſche Verbindung einnimmt, läßt zuweilen 
noch ganz deutlich die Ausdehnung erkennen, welche die 


beiden Gasarten vorher beſaßen. Wenn nur ein Cubikzoll 


Lebensluft zur Verbindung mit einem Cubikzoll gasförmiger 
Kohle vorhanden iſt, dann nimmt das neuentſtandene Koh⸗ 


d 


539 


lenoxydgas, ohne eine Zuſammenziehung zu erleiden, den 
vollen Raum von zwei Cubikzollen ein, wenn aber der Flamme 
die zur Bildung der eigentlichen Kohlenſäure nöthige Menge 
der Lebensluft, zwei Cubikzolle ſtatt einem zugeführt werden, 
dann findet eine Verdichtung ſtatt; die gasartige Flüßigkeit 
hat nur den Umfang von zwei Cubikzollen ſtatt von dreien. 
Aus der Verbindung von zwei Maaßtheilen Waſſerſtoff- und 
einem Maaßtheil Sauerſtoffgas kann nicht nur das eigentliche, 
tropfbar flüßige Waſſer ſondern auch ein luftförmiger Körper 
entſtehen, deſſen wir namentlich auf S. 254 unter dem 
Namen des Waſſerdunſtes (richtiger Waſſergas) erwähnten. 
Auch bei dem Entſtehen dieſes Waſſergaſes ziehen ſich die 
drei Maaßtheile der beiden Luftarten, die zu ſeiner Bildung 
verwendet wurden, zu dem Umfang von zwei Maaßtheilen 
zuſammen, ſo wie die vier Cubikzolle Waſſerſtoffgas, die ſich 
mit einem Cubikzoll gasförmiger Kohle zum Kohlenwaſſer⸗ 
ſtoffgas verbinden nach der geſchehenen Vereinigung nur den 
Raum von 3 Kubikzollen einnehmen, weil ſich das Waſſer— 
ſtoffgas dabei zur Hälfte feiner anfänglichen Größe zuſam— 
mengezogen hat. Vermöge einer ähnlichen Verdichtung des— 
ſelben zu ½ der gewöhnlichen Ausdehnung, oder beider 
Grundſtoffe zu / geben 3 Maaßtheile Waſſerſtoff- und 
1 Maaßtheil Stickſtoff, bei ihrer Verbindung zu Ammoniak- 
gas nur 2 Maaßtheile ſtatt vier. Mit der Zuſammenziehung 
in engeren Raum nimmt auch zugleich die Eigenſchwere der 
neuentſtehenden Verbindungen zu, und wenn man nament— 
lich das ſpezifiſche Gewicht des Waſſers mit jenem vergleicht 
welches die beiden Maaßtheile des Waſſerſtoffgaſes ſammt dem 
Maaßtheile des Sauerſtoffgaſes vor ihrer chemiſchen Ver— 
einigung hatten, dann findet man zwiſchen dem mittleren 
Geſammtgewicht der beiden Gasarten und dem ihres tropf— 
bar flüßigen Zuſtandes ein Verhältniß von I zu faft 13000. 
Uebrigens zeigt ſich bei jeder Gelegenheit die Schwere der 
Stoffe als ein unveränderlicher, unvertilgbarer Zug ihres We— 
ſens, denn die neu entſtehenden Verbindungen haben aufs 
Genaueſte die Summe des Gewichtes, das den einzelnen 
Grundſtoffen, aus welchen fie ſich bildeten, zuſammengenom— 
men zukam; das Waſſer das aus 11 Lth. Waſſerſtoff- und 
88,9 Lth. Sauerſtoffgas entſtund wiegt genau 3 Pf. 4 Lth. oder 
100 Lth. Wenn das Chlor in Verbindung mit dem Natrium 
ſeine flüchtige Natur, ſeine ganze zerſtörende Kraft, wenn 


540 


das Natrium ſeine leichte Entzündbarkeit und Metallähnlich⸗ 
keit verloren hat, und beide zu dem für Menſchen wie für 
Thiere wohlthätigem Kochſalz geworden ſind, dann iſt zwar 
an dieſem neu entſtandenen Körper keine Spur mehr der 
andren Eigenſchaſten ſeiner beiden Grundſtoffe, wohl aber 
noch genau daſſelbe Gewicht zu finden das ſie vor der Ver⸗ 
bindung hatten. Denn das Chlor wog 60½ das Natrium 
39% Prozent und das Gewicht des entſtandenen Salzes iſt 
genau die Summe von beiden. So bleibt, bei allem äußern 
Wechſel der die Erſcheinungsform der körperlichen Dinge 
trifft, jenes Band (der Schwere) welches die Einzelnen 
an ein höheres Ganze knüpfet, als ein Zug der all erhal⸗ 
ae und zuſammenfaßenden Schöpfermacht ſich felber 
5 Selbſt auf die wechſelſeitige chemiſche Anziehung der 
Grundſtoffe, ſcheint, auf den erſten Blick, die Schwere ſchon 
für ſich allein einen gewißen Einfluß zu haben. Wenn ſich, 
ſtatt der viel kleineren Maſſe des Mondes in demſelben Ab- 
ſtand von der Erde ein Weltkörper wie Venns, der an Maſſe 
der Erde gleich käme, befände, dann würden beide ſich un— 
gleich ſtärker anziehen als unſer Planet und ſein jetziger Be⸗ 
gleiter; die Bewegung eines ſolchen großen Mondes würde 
viel ſchneller, ſein Umlauf viel kürzer ſeyn als der des jetzi— 
gen. Zwei polirte Metallplatten hängen, wenn man ſie auf 
einander legt, durch wechſelſeitige Anziehung ungleich kräfti— 
ger zuſammen als 2 polirte Holztafeln; ein Felſenberg von 
Eiſen würde das ſchwebende Bleiloth viel ſtärker gegen ſich 
hinziehen als ein eben ſo großer Fels aus Granit oder aus 
Kalkſtein. In derſelben Weiſe könnte man es vielleicht er⸗ 
klärlich finden wollen daß die ſchweren Metalle, wie Queck⸗ 
ſilber und Gold, oder Queckſilber und Silber viel ſtärker, 
und mithin in größeren Maſſen, (faſt wie 1 zu 1) ſich an⸗ 
ziehen und chemiſch vereinen als ein ſchwerer Grundſtoff 
und ein leichter (Silber und Sauerſtoffgas) dies thun. Bei 
genauerer Betrachtung finden wir jedoch bald daß nicht 
Eigengewicht allein es ſeyn könne, welches der chemiſchen 2 
ziehung ihr Maaß beſtimmt, denn eine Regel, die man etwa 
auf dieſe Annahme gründen wollte, würde bei jedem Schritte 


auf Ausnahmen ſtoßen. Deßhalb ſcheint uns Gay Luſſacs 


vorhin erwähnte Entdeckung nach der ſich einige Grundſtoffe, 
deren Gasform dieſes zu meſſen erlaubt, in Verhältnißen 


* 


541 


verbinden, bei denen die räumlichen Größen, die Ausdehnung 
und der Umfang von vorzüglicher Bedeutung find, einen and⸗ 
ven, näher zum Ziele führenden Fingerzeig zu geben. Es 
iſt eine gewiße Proportion der Formen und Größen, wor: 
auf zuletzt das Maaß der chemiſchen Anziehung ſich gründen 
mag; eine Proportion, welche bis auf die unermeßbar klein— 
ſten Theile (die 3 Atome) der Stoffe ſich erſtreckt 
und mit der Empfänglichkeit für eine polariſche Spannung 
verbunden iſt. Wenn, nach der am leichteſt faßlichen Annahme 
die Atome von verſchiedenen Größen, und mithin auch von 
verſchiedenem Gewicht angenommen; werden, dann iſt ihre che— 
miſche Anziehung den © etzen der allgemeinen Anziehung 
und Schwere analog. ie unorganiſche Körperwelt iſt 
zugleich das Reich der regelmäßigen feſtbeſtimmten Geſtalten, 
der vorherrſchenden Macht der Schwere, und der elektromag⸗ 
netiſchen Polaritäten. Viele Arten der Kryſtalle laſſen 
beim ee und mechaniſchen Zertheilen eine Grund» 
form ihrer Geſtaltung erkennen, wie der Bleiglanz den Wür⸗ 
fel, der Kalkſpath den Rhombus; die elektriſche Polariſation 
bedarf öfters nur einer leiſen Anregung von außen, um zu er⸗ 
wachen. Wenn wir in dieſem Gebiet nach allen Seiten hin 
der Geſtalt und Größe, ſelbſt der Elementartheile einen vorzüg— 
lich hohen Werth beilegen, dann darf dies . auf 
Wahrſcheinlichkeit Anſpruch machen. 


64. 5 Vermögen der n ft, zu ſchaffen 
und zu erhalten. 


Wir dürfen uns bei dieſem Abſchnitte kurz faffen, denn 
das Meifte was in feinen Kreis gezogen werden könnte 
Bene bereits in einigen der ſrüheren Kapitel genau er⸗ 
brtert. — 

Wenn die mütterliche Wärme einer brütenden Henne 
die Eier, die man ihr untergelegt, kräftig durchwirkt, dann 
regt ſich in jenen, welche den Keim eines noch künftigen 
Lebens enthalten, alsbald die Kraft dieſes Lebens, es öffnen 
ſich mitten in dem gelblichweißen, durchſichtigen Eiweiß, an 
verſchiedenen Punkten Quellen des rothfarbigen Blutes, 
deren kleinere Strömungen ſich vereinen und den kreisförmi⸗ 
gen Lauf um einen noch kaum erkennbaren Mittelpunkt be⸗ 
ginnen; unter dem Walten des Lebens, das ein Wirken 


542 


zum feſtbeſtimmten Zwecke ift, geftaltet fich, dem Zwecke des 
Lebens entſprechend, der Leib, mit all ſeinen Gliedern. 


Wenn dagegen kein ſolcher, der Entwicklung fähiger Keim 


im Ei war, dann bewirkt dieſelbe mütterliche Wärme etwas 
ganz Andres; es entſteht in den Flüßigkeiten des Eies eine 
Auflöſung und Fäulniß, bei welcher alle die Grundſtoffe, 
die in ihm enthalten ſind, aus dem bisherigen Verband, in 


welchem fie während des friſchen Zuſtandes ſtunden, ſich los- 


ſagen, und jenem Zuge zur Vereinigung folgen, der über 
die Elemente im Reiche der unorganiſchen Natur herrſchet. 
Der Schwefel wie der Phosphor, anſtatt in das Gebilde 
einer lebenden 1 einzugehen, vereinen ſich mit 
dem Waſſerſtoffgas und bilden jenen gasartigen Stoff, der 
dem faulenden Ei ſeinen eigenthümlichen, widerlichen Geruch 
giebt; der Stickſtoff, ſtatt in organiſcher Weiſe mit den drei 
andren gasartigen Elementen verbunden (nach K. 24 und 26) 
den Faſerſtoff des Fleiſches zu bilden, entweicht mit dem 
Waſſerſtoffgas vereint, als flüchtiges Laugenſalz (Ammoniak), 
welches ſich durch ſeinen ſtechend ſcharfen Geruch verräth, und 
ſo löst Alles in Verweſung ſich auf. 

Dasſelbe Loos der mehr oder minder ſchleunigen Zer— 
ſetzung trifft jeden organiſchen, durch die Kraft des Lebens 
gebildeten Körper, wenn der waltende Einfluß der Seele zu 
wirken aufhört; die äußre Wärme und Feuchtigkeit, welche 
im Dienſte des Lebens ſtehend, ſeinen Entwicklungsgang 
befördern, zeigen ſich jetzt der Zerſtörung günſtig. Wie am 
Traubenſaft kuͤnſtlich, durch die Anwendung der Siedehitze 
die Gährung verhindert oder gehemmt, wie die Milch durch 
das Abſieden vor den Säuren geſchützt wird, ſo bewirkt, 
in jedem Augenblick, der unausgeſetzte Einfluß der Lebens⸗ 
kraft ein Fortbeſtehen des organiſchen Vereines der Grund⸗ 
ſtoffe, der ſeinem ganzen Weſen nach ein andrer iſt als der 
mechaniſche, und ſelbſt als der chemiſche. h d 

Um hier nur eines Beiſpieles zu erwähnen, ſo ſind im 
Waſſer zwei Atome oder Maaßtheile des Waſſerſtoffes mit 
einem Atom des Sauerſtoffes durch chemiſche Kraft ver 


eint. 
Dieſe chemiſche, im Reiche des Unorganiſchen wirkende Kraft 
vermag für ſich allein nicht jenes Verhältniß zu ändern; 
der menſchlichen Kunſt nur iſt es gelungen, zuweilen, auf 
einige Momente, die beiden Grundſtoffe ſo aneinander zu 
ketten daß ſie in gleichen Maaßtheilen, ein Atom Sauerſtoff 


3 


543 


mit einem Atom Waſſerſtoff eine Flüßigkeit bildeten, der 
man, da ſie verhältnißmäßig reicher an Lebensluft iſt, 
vielleicht noch einen wohlthätig bekräftigerenden Einfluß auf 
das organiſche Leben zutrauen möchte, als dem gemeinen 
Waſſer. Aber dieſes künſtlich erzeugte, an Lebensluft über— 
reich gewordne Waſſer iſt ein Gift, welches auf unſre Haut 
wie auf die grünen Blätter der Pflanzen entfärbend, ſo wie 
zerſtörend einwirkt, und welches bei der leiſeſten Berührung 
den gewaltſam, gegen das Geſetz der Natur erzwungenen 
Verein verläßt und ſich zerſetzt. | 
Die Lebenskraft, welche von der thieriſchen wie von der 
N flanzen- Seele ausſtrahlet, kann noch ganz andre, gewal— 
tigere Werke vollbringen als die Kunſt unſrer chemiſchen 
Werkſtätten, im Bunde mit der Wärme und dem Lichte 
ſo wie mit allen elektromagnetiſchen, ihr dienſtbar gewordnen 
Kräften. In einer Menge von organiſch zuſammengeſetzten 
Stoffen iſt das Sauerſtoffgas nicht nur in gleichem Verhält— 
niß der Atome, ſondern in einem überwiegenden oder auch 
in einem weit unter der Regel ſtehendem Maaße mit dem 
Waſſerſtoffgas vereint, und dieſelben Abweichungen von dem 
im Reiche der chemiſchen Anziehungen herrſchenden Geſetz 
finden auch in den organiſchen Verbindungen des Kohlenſtof— 
fes, mit der Lebensluft oder dem Waſſerſtoffe, ſtatt. Ja ſelbſt 
der Stickſtoff, dieſer Republikaner unter den Grundſtoffen, 
der ſich die Freiheit feiner Gasform am längſten und hart— 
näckigſten zu bewahren weiß, indem er nur in äußerſt we— 
nig Fällen eine unorganiſch chemiſche Verbindung mit andren 
Grundſtoffen eingehet, muß der Herrſchermacht des organi— 
ſchen Lebens nachgehen, und ſich ſummariſche Anreihungen ſei— 
ner Atome an die der andren drei Gasarten gefallen laſſen, 
welche außer den Gränzen des Reiches der Lebenskraft nie— 
mals auftreten könnten. Aber alle dieſe durch die Macht 
der bildenden und belebenden Seele bewirkten Verbindungen 
ſind nur vorübergehende, nicht wie das Waſſer, oder wie 
die Kohlenſäure und Salpeterſäure, in ihren chemiſchen Ver— 
bindungen mit den Erden und Alkalien, länger ausdauernde 
oder beſtändig bleibende Erſcheinungen; das Leben ſchwindet, 
und alsbald kehren die Grundſtoffe wieder in ihre frühere 
Form, zu ihren alten Verbindungen zurück. 
Wir erinnern hierbei an einige allbekannte Erſcheinun— 
gen, deren wir im Vorhergehenden bei mehreren Gelegen— 


7 


544 


heiten gedacht haben. Die Stoffe aus denen der Turmalin 
beſtehet haben an ſich ſelber keinen Zug der chemiſchen Ver⸗ 
wandtſchaft zu der Holzaſche oder zu kleinen Stücklein 
Spreu und Papier, ſobald aber jener merkwürdige Stein 
durch Erwärmen elektriſch wird dann zieht er alle leichte 
Körper ſolcher Art an ſich und läßt ſie, wenn ſeine elek⸗ 
triſche Kraft ihm entſchwindet wieder fallen. Die Spreu 
wie die Aſche ſind durch jenen vorübergehenden Verein nicht 
verändert worden, ſie kehren, ihrem vorherigen Zug der 
Schwere folgend, wieder zu dem Boden zurück, auf dem ſie 
lagen. Die Kraft des Zuſammenhaltes (der Cohäſion und 
Adhäſion) bei zwei Eiſenplatten, die man aneinanderlegt, 
zeigt ſich von ihrer Form und Größe abhängig. Nicht ſo 
jene anziehende Kraft, welche das Eiſen, wenn es zum 
Magnet geworden is auf andres Eifen ausübt. Denn, 
wie wir oben S. 400 ſahen, ein durch die elektromagnetiſche 
Strömung magnetiſch gewordnes, gleichſam beſeeltes Eiſen, 
vermag ein Uebergewicht von andrem Eiſen an ſich zu ziehen 
und feſt zu halten, welches mit dem Gewicht ſeiner eigenen 
Maſſe in gar keinem Verhältniß ſtehet. Sobald aber, bei 
dem Aufhören der Strömung, dem Eiſen ſeine dem Leben 
ähnliche Kraft entzogen wird, dann läßt es den Stoff, den 
es in den Kreis ſeiner Wirkſamkeit hineingenommen, fahren, 
dieſer folgt wieder dem alten, inwohnenden Zug der Schwere; 
er fällt zum Boden. 

In derſelben Weiſe iſt es bei den organiſchen Weſen 
die in ihnen wohnende Lebenskraft, welche die Elemente nicht 
nach den gewöhnlichen Verhältniſſen ihrer Formen und Ge⸗ 


— 


wichtsmengen vereint, ſondern nach einem neuen, eigenthüm⸗ 


lichen Geſetz, das nur ſo lange ſeine Gültigkeit hat als das 
Leben dauert. Wie ſich in dem Weltengebiet der Firfterne, 
bei den Doppelſternen, eine leuchtende Sonne zur andren 
geſellt und um ſie ſich bewegt, ſo ſind ſchon, was die vor⸗ 
Verrſchenden. Beſtandtheile betrifft, in den organif 
pern nicht Metalle zum Schwefel oder Sauerſtoff, 
Erden geſellt ſondern Luftarten mit Luftarten verbunden; 
ſchon die magnetiſche und elektriſche Anziehung der Körper 
etwas ganz Andres iſt als die mechaniſche oder ene 
8 vielmehr die anziehende und abſtoßende Kraft des 
ebens 
Wenn man die Formen der marganiſhen Körper 
mit 


4 


545 


mit denen der organiſchen vergleicht, dann findet man bei 
jenen ohngefähr nur eine ähnliche Zahl und Mannichfaltig⸗ 
keit der Arten, als Combinationen der Grundſtoffe, daraus 
ſie beſtehen, möglich ſind. Hier waltet nach C. 62 der müt⸗ 
terlich geſtaltende Einfluß vor, denn jede eigentliche, durch 
beſondre Form unterſcheidbare Art der Steine hat ihre eigen— 
thümliche Zuſammenmiſchung der Grundſtoffe und nur ſelten 
bringt ein gleichſam väterlich geſtaltender Einfluß von außen, 
bei gleichbleibendem chemiſchen Beſtand, eine Formverwand— 
lung hervor. Bei dieſer Verſchiedenheit der Zuſammenſetzung 
iſt die Zahl der Familien und Arten in der unorganiſchen 
Körperwelt ſehr gering und beläuft ſich nur etwa auf ein 
halbes Tauſend. Dagegen iſt die Verſchiedenheit der For— 
men, die Zahl der Arten bei den Pflanzen und Thieren ſo 
groß, daß man beide zuſammen auf Hunderte von Tauſenden 
ſchätzen kann und dabei ſind dieſe mannichfaltigen Formen 
alle, in großer Einförmigkeit, vorzugsweiſe nur aus den 
vier luftartigen Grundſtoffen auferbaut, zu denen die Bau⸗ 
meifterin Seele noch etliche wenige andre Grundſtoffe hin- 
zunimmt und dann das ganze einfache Material den Zwecken 
ihres Lebens entſprechend zuſammenfügt. 

Das magnetiſche Eiſen ſcheint ſeine Kraft des Bewegens 
aus einer magnetiſchen Strömung zu empfangen, welche 
von dem Erdkörper ausgehet; die Seele der organiſchen We⸗ 
ſen entnimmt die Macht zu den wundervollen Zuſammen⸗ 
ſetzungen und Geſtaltungen des äußern Stoffes, zum An⸗ 
ziehen und Abſtoßen deſſelben aus einem allgemeinen Quell 
der allerhaltenden Schöpferkraft. Ihrem mütterlichen Walten 
iſt am meiſten das unmündige der eigenen, freien Bewegung 
noch unfähige Geſchlecht der Säuglinge der irdiſchen Sicht— 
barkeit: die Pflanzenwelt hingegeben. Darum liegt vorzugs⸗ 
weiſe der Natur der Pflanzen ſo wie jenen Theilen des thie⸗ 
riſchen Körpers, welche, wie die verdauenden Eingeweide 
jener Natur verwandt ſind, das Geſchäft der organiſchen 
Verbindung und Umbildung der Grundſtoffe ob. 

Der Fortbeſtand des Lebens, ſo ſahen wir ſchon im 
m? C., gründet ſich auf einen Antrieb, der den Mangel des 
Einzelweſens zu der Fülle hinführt, welche ihn zu ergänzen 
vermag. Endlos und unermeßbar, wie der Reichthum der 
Schöpferkraft, der allen Mangel ausfüllt, alles Verlangen 
ſtillt, iſt die Vielheit der Creaturen weng dieſer Sättigung 


u: 
546 ch 


genießt und ihrer fich erfreut. Die Schöpfung ſelber, in der 
Mannichfaltigkeit ihrer lebenden Weſen, iſt ein Zeugniß jener 
Luſt, welche der Schöpfer an dem Leben und an der Freude 
ſeiner Geſchaffenen hat. 


65. Die Entwicklungsſtufen des Lebens. 


Schon dadurch empfängt die organiſche Leiblichkeit etwas 
Bedeutendes vor der unorganiſchen Körperwelt voraus, daß 
ſie ihrer chemiſchen Zuſammenſetzung nach vorherrſchend aus 
jenen Grundſtoffen erbaut iſt, welche das Reich des Flüßi⸗ 
gen und Beweglichen: das Gewäſſer und den Luftkreis bil⸗ 
den. Die Luft wie das Waſſer werden ohne Aufhören von 
den leuchtenden und wärmenden Strahlen der Sonne, wie 
von den elektriſchen Naturkräften durchwirkt; der Organis⸗ 
mus, aus der Luft geboren, nimmt ſchon vermöge dieſer 
Abſtammung und Gleichartigkeit an den Bewegungen Theil, 
die vor Allem der Einfluß des Sonnenlichtes der Atmoſphäre 
mittheilt; mit jedem Athemzug, mit jedem Einhauch des 
Pflanzenblattes aus der Luft, dringt die äußere Anregung 
hinein in das Innre des lebenden Leibes. 

Die Kraft durch welche dieſer lebt und ſich entwickelt, 
hat in der Richtung ihrer Wirkſamkeit allerdings viel Ver⸗ 
wandtes mit dem Lichte, aber ſie ſtehet dennoch ungleich 
höher als dieſes, denn kein Sonnenftrahl vermag aus Waf- 
ſer, Luft und Erde die organiſchen Elemente des Brodes 
und des Weines, des Blutes, des Fleiſches und der Nerven 
zu bilden und noch weniger vermag derſelbe ein ſich ſelber 
bewegendes Weſen hervorzubringen, oder eine Pflanze, wel— 
cher die Schöpferkraft beiwohnt: fruchtbaren Saamen, Kei⸗ 
me von Weſen ihrer Art in ſich zu tragen und aus ſich zu 
gebären. Mit dem Eintritt der Seele in das Weſen der 
Sichtbarkeit beginnt eine neue Schöpfung, deren Urſprung 
nicht, wie bei dem Lichte das aus der Sonne kommt, ein 
ſinnlich wahrnehmbarer, ſondern ein unſichtbarer, überſinnli⸗ 
cher iſt. Unſre Kunſt hat der Lebenskraft ſelbſt ihr al täg⸗ 
lichſtes, offenkundigſtes Geheimniß, das Hervorbringen der 
organiſchen Elemente aus unorganiſchen Grundſtoffen noch 
nicht abgelernt; unſer Verſtand ſpüret vergeblich dem W 
der Meiſterin ſelber, die das Alles thut, der Seele 
wir können dieſem Weſen das Inſtrument nehmen, auf 


— 


gr 347 


es ſich vernehmen läßet, können feinen ſichtbaren Leib durch leibli— 
che Kraft vernichten, an ihm ſelber jedoch vermögen wir Nichts 
zu ſchaffen noch zu ändern. Wie ein Kind, das den Wiederz 


ſchein des Lichtſtrahles mit der Hand zu haſchen ſucht, 
der aus einem hin und her bewegten Spiegel an die Wand 


fällt, hat ſich die Naturweisheit aller Zeiten umſonſt bemüht, 


die Seele in ihrem flüchtigen Laufe feſt zu halten und zur 


unmittelbaren Anſchauung zu bringen. 


Wenn wir auf dem Wege unſrer Betrachtung das Leben 
von den niederen Stufen ſeiner Entwicklung aufwärts zu 
den höheren und zuletzt zu den höchſten in der Natur des 
Menſchen begleiten, dann erſcheint uns die Seele, je weiter 
hinan, deſto weniger im Hauſe der irdiſchen Körperlichkeit 
einheimiſch und feſtſtehend; ſie verhält ſich zu dieſem immer mehr 
nur wie ein vorübergehender Gaſt und Fremdling, der ſeine 
eigentliche Heimath in einem höheren Reiche des Seyns wie 
des Bewegens hat. Namentlich wird die Dauer des Lebens 
und der Widerſtand, den die Lebenskraft ihrer Trennung von 
dem Leibe entgegen ſetzt, von Stufe zu Stufe geringer. 

Jener mächtig große indiſche Feigenbaum (Banianenbaum) 
an den Ufern der Nerbudda in Indien, deſſen rieſenhaft 
weit ausgebreiteten, immer wieder zum Boden herabgeneigten 
und in dieſem Wurzeln ſchlagenden Zweige, wie man ſagt, 
einer Verſammlung von 7000 Pilgrimen Schatten zu geben 
vermöchten, kann allerdings, nach der Behauptung eines 
neueren, engliſchen Reiſenden, derſelbe ſeyn, der nach des 
Griechen Nearchus Bericht, hier an der nemlichen Stelle 
ſchon zu Alexanders des Macedoniers Zeiten ein Gegenſtand 
der Bewunderung war. Und über jenes mehr denn zweitau— 
ſend jährige Lebensalter eines Baumes ſcheint das noch 
hinauszureichen, welches man, ihrem überaus langſamen 
Wachsthume nach, den rieſenhaft dicken Stämmen der alten 
Adanſonien oder Affenbrodbäume in Afrika zuſchreiben muß. 
Noch immer bringt die große Platane auf Cos (Stanchio) 
in jedem Jahr ihre Blätter, reift ihre Saamen, eben ſo 
friſch als ſie dies, einer nicht ganz unwahrſcheinlichen Sage 
nach, ſchon zu Hippokrates Zeiten gethan hat; in der 
Nachbarſchaft mancher unſrer älteſten, dickſtämmigen Linden 
hat ſich das Geſchlecht der umwohnenden Menſchen vielleicht 
mehr denn dreißigmal verjüngt, Tauſende ſind geboren wor— 
den und haben den Lauf des Lebens bis zum Grabe in Leid 

35 


* 


* 


548 


und Freud zurückgelegt, der Baum aber, den die längſt ver⸗ 
geßenen Urväter pflanzten, behauptet noch immer, in friſcher 


x 


Kraft feine Stelle. So innig hat ſich die Seele, welche auf dieſen 


ſcheinbar niedren Stufen der organiſchen Entwicklung waltet 
mit der bewegungsloſen Maſſe der planetariſchen Köoͤrperlich⸗ 
keit verwebt, daß ſie an dieſem Wohnhaus feſthält, faft 
wie die kryſtalliniſche Kraft, die den Stein geſtaltet hat, an 
den Grundſtoffen des Steines; der Baum wetteifert zum 
Theil an Ausdauer mit dem Sandſteinfelſen, in dem er ſeine 
Wurzeln ſchlug und ſetzt hierbei, aus eigener ihm inwohnend 
verliehener Kraft, in augenfälliger Weiſe das Werk der 
Schöpfung fort, als deſſen ſtarrer Zeuge der Sandſteinfelſen 
daſtehet. Auch bei den niederſten Formen des Thierreiches 
iſt die Ausdauer der Lebenskraft faſt unbeſiegbar. 

Von ganz andrer Art iſt das Verhältniß auf den höhe⸗ 
ren Entwicklungsſtufen des Thierreiches. Dieſes wurzelt 
nicht wie das Pflanzenreich unmittelbar in den Elementen 
der planetariſchen Maſſe, ſondern es nimmt zunächſt ſeinen 
äußren Fortbeſtand aus der unter ihm ſtehenden Stufe des 
organiſchen Daſeyns: aus dem Pflanzenreich und ſelbſt aus 
der ihm näher verwandten thieriſchen Leiblichkeit. Es bedarf 
zu ſeiner Ernährung der ſchon organiſch gebildeten Elemente, 
und mit dieſem Boden, der in ſich ſelber einer beſtändigen 
Umwandlung und Zerſetzung unterworfen iſt, theilt es das 
Loos der Wandelbarkeit; es iſt, ſeiner Lebenskraft nach von 
ungleich mindrer Ausdauer und Unzerſtörbarkeit als der in⸗ 
diſche Feigenbaum oder ſelbſt die weichholzige Linde. Aber 
ein Neues bereitet hiermit zugleich ſich vor; der Natur des 
vollkommenen Thieres ſind andre Wurzeln verliehen als der 
Pflanze; Wurzeln, welche nicht wie bei dem Baume nach 
unten hin ſich ausſtrecken und im Boden der planetariſchen 
Leiblichkeit ſich befeſtigen, ſondern die nach oben, in ein 
Reich der höheren Naturkräfte ſich ausbreiten und in dieſem 
ihren Anhalt finden. Dieſes ſind die Sinnorgane, welche 
die Eindrücke des Lichtes und der Beleuchtung, der Schwin⸗ 
gungen der mechaniſch ſo wie der elektromagnetiſch 9 
miſch bewegten Körper vernehmen. 1 


Von hier an zeigt ſich uns die Schöpferkraft der Seele 79 
noch in einem ganz andren, höheren Sinne als in dem Kreiſe 


des Pflanzenlebens und in dem Werke der bloß leibliche 


Geſtaltungen. Ein Wunder das unſre Kunſt nicht nachahmen, 4 


K 


549 


unſer Menſchenwitz nicht ergründen kann, ſind allerdings 
ſchon jene Verwandlungen der planetariſchen Elemente in 
den Saft der Traube, in das Oel des Oelbaums oder in 
das Mehl des Getraidekornes, von denen wir öfter ſprachen. 
Ein Wunder iſt das zum gemeinſamen Zweck des Lebens, 


Er harmoniſch ſchön vereinte Gewebe der Gefäße, der Faſern, 


5 08 


8 


der athmenden Blätter oder Lungen ſo wie das Hervorbringen 


der Lebenskeime: der fruchtbaren Saamen eines künftigen 


Geſchlechtes. Aber bei all dieſen Werken der Geſtaltung 


errſcheint dennoch die Seele nur auf den kleinen Kreis ihrer 

eignen Verleiblichung beſchränkt; der Stoff den fie von außen 
bherbeiführt und zu ihren Schöpfungen verwendet dienet 
nur dazu um den Bau einer gewiſſen Form zu vollführen; 


4 g 


dieſe ganze Lebensthätigkeit bleibt in der Richtung ſo wie in 
dem Maaß jener Bewegung befangen, welche ihr bei der 
Erzeugung mitgetheilt war; es iſt der Antrieb den der 
Urkeim dieſer Art des lebendigen Weſens bei ſeinem an— 
fänglichen Entſtehen von dem Schöpfer empfieng, welcher 
nun als ſelbſtſtändige Schöpferkraft von Zeugung zu Zeugung ſich 
fortpflanzt. Einen Anlauf zu neuen Wundern der inwoh— 
nenden Schöpferkraft nimmt jedoch die Seele in dem mit 
vollkommneren Sinnorganen begabten Thier, und vor Allem in 
der Natur des Menſchen. Sie empfängt hier das Vermögen 
auch an andren Thaten des Schöpfers als an jener welche 
ihr ſelber den Leib und das Leben gab, einen ſelbſtkräftigen 
Antheil zu nehmen. Wenn ich mich mitten im Dunkel der 
Nacht an den Eindruck erinnre, den eine von der Sonne 
hellbeleuchtete Landſchaft oder ein ſichtbarer Gegenſtand, der 
meine ganze Theilnahme erregte, auf meine Augen machte, 
wie wäre mir das anders möglich als dadurch, daß meine 
eigne Seele die Welt der Dinge deren ſie gedenkt, ſich nach— 
erſchaffet und ein Licht dazu, das, gleich jenem der Sonne, 
dieſe Welt erleuchtet. 

Mit dem Vermögen des Wahrnehmens und des Erken— 
nens der Werke und Thaten des Schöpfers iſt der Menſchen— 
ſeele zugleich die Macht verliehen dieſe Werke in dem Kreiſe 
1 2 inneren Wirkſamkeit nachzuſchaffen, jene Thaten nach 


ihrem Maaße nachzuthun. Die Welt unſrer Erinnerungen 


1 


und Erkenntniſſe erſcheint freilich gegen die Außenwelt, deren 
Formen und Bewegungen ſie umfaßet, nur wie ein Abglanz 
im Spiegel, gegen die wirkliche Geſtalt, die vor dem Spie— 


550 


gel ſtehet; aber ſie iſt dennoch eine ſelbſtſtändig bleibende 
Welt, von ungleich längerer und feſterer Lebensdauer als der 
indiſche Feigenbaum an dem Ufer der Nerbudda oder die 
Zwiebel die man ganz vertrocknet aus der Hand einer ägyp⸗ 
tiſchen Mumie nahm, und die im befeuchteten Boden nach 
mehreren Jahrtauſenden noch Wurzeln, Blätter und Blüthen 
trieb. Von all den Elementen, aus denen ſich unſre Seele 
ihren Leib erſchaffet, bleibt auch nicht eines im Verlauf der 
Tage oder der Jahre unſres Lebens unverändert; es kommt 
neuer Nahrungsſtoff in den Leib herein, wird unter dem Ein⸗ 
fluß der Lebenskraft zu neuem Blut, zu neuem Fleiſch, das 
alte wird aufgelöst und aus dem Leibe entfernt; ſelbſt der 
feſte Knochen iſt von dieſer raſtlos fortgehenden Verwand⸗ 
lung und Erneuerung nicht ausgeſchloſſen: es find und blei⸗ 
ben zwar dieſelben Augen durch die wir früher ſahen, dieſelben 
Hände, durch die wir früher wirkten, der Stoff aber aus 
dem ſie leiblich gebildet ſind, iſt nach kurzer Zeit von dem 
neuen Stoff verdrängt worden. Dagegen iſt der Stoff unſrer 
Erinnerungen derſelbe geblieben; dieſe altern und welken 
nicht mit den Gliedern zugleich dahin, ſondern in einer ſehr 
beachtenswerthen Weiſe find die Erinnerungen aus der Kind- 
heit und friſchen Jugendzeit in der Seele des Greiſes gerade 
die lebendigſten und kräftigſten. Und das Wunder dieſer 
innren Schöpfung geht noch viel weiter; in der Welt unſrer 
Erinnerungen und Gedanken ſtehen Geſchöpfe und Weſen 
da, welche älter ſind, als die hohen ägyptiſchen Pyramiden, 
älter denn die dickſtämmigen Adanſonien am Senegal, und 
welche unverändert als dieſelben werden ſtehen bleiben, wenn 
jene Pyramiden und Bäume nicht mehr ſind. Das Wirken 
ſolcher Wunderwerke wird unſrem Geiſte durch die ke 
möglich. In Schrift und Wort vernehmen wir die Kunde 
von dem Leben und Thaten der älteſten Väter unſres Ge⸗ 
ſchlechts, von dem Thun und den Schickſalen der Könige, 
welche die Pyramiden bauten; was wir von den Thaten 
eines Alexander des Macedoniers, eines Kaiſer Augu 
leſen und hören, das nimmt in unſrer Seele die feſte C 
ſtalt der Vorſtellungen und Erinnerungen an, es wird ur 
bleibt da fo friſch als ſey es erſt heute oder g vor 
ren Augen geſchehen; das Alter der Jahrtauſer 
Nichts anhaben; Achill iſt da ein heldenkräf 
Aſtyanax ein blühender Knabe geblieben, wi 


40 


4 
. 


551 


zu den Zeiten der Kämpfe vor Trojas Mauern waren. Und 
nicht nur das menſchlich Irdiſche, nicht nur das in ſeiner 


Leiblichkeit Vergängliche bildet den Beſtand der innren, gei— 
fſtigen Schöpfung unſrer Vorſtellungen und Gedanken, dieſe 
Schöpfung umfaſſet noch ein ganz andres, unendlich höheres 


Reich des Seyns und Weſens: es umfaſſet die Erkenntniß 


des Schöpfers und ſeiner Thaten der Ewigkeit ſelber. In 


dem Vermögen unſres Geiſtes, dieſe Gedanken der Ewigkeit 
i denken, Gott nach dem Maaße unſres kreatürlichen Ver⸗ 
tändniſſes zu erkennen, liegt die ſicherſte, gewiſſeſte Bürg⸗ 
ſchaft für eine Fortdauer unſres Weſens auch nach dem To⸗ 
de des Leibes; für ein ewiges Fortleben des Geiſtes. Denn 
nur das nach ſeinem Maaße Gleichartige vermag das Gleich— 
artige zu erkennen; wäre in unſren Sehnerven nicht ſelbſt 
eine Art von Quell des Lichtes, dann könnten wir kein Licht 
ſehen; wäre unſer denkender Geiſt nicht ſelbſt von ewiger, 
göttlicher Natur, dann würde er Nichts von Gott und Ewig— 
keit wiſſen und erfaſſen. So finden wir, daß zwar die 
Seele, auf den höheren Entwicklungsſtufen ihrer Verleibli— 
chung, von der Pflanze und dem niedern Thiere an bis zur 
Form des Menſchen, innerhalb der Welt der planetariſchen 
Körperwelt immer mehr nur als ein ſchnell vorübereilender 
Fremdling und Gaſt erſcheine; daß die Banden, durch welche 
ſie mit ihrem Leibe vereint iſt, lockerer, das Leben in der 
Zeit wandelbarer und vergänglicher werde, daß ſie aber zu— 
gleich mit dem vergänglichen Leib aus Staub noch einen 
andren Leib: das Reich ihrer Erkenntniſſe empfangen habe, 
welcher nicht aus irdiſch vergänglichem, ſondern aus unver— 
gänglichem Stoffe gebildet iſt. Der ſinnlich wahrnehmbare 
Leib mag dann immer nach kurzer Lebenszeit verweſen, bleibt 
uns doch ein dem jetzigen Auge unſichtbarer Leib der Ewigkeit. 

Das Verhältniß der Seele! zu dieſem höheren Leib ihrer 
Erkenntniſſe, ihrer Beſtrebungen, ihrer Neigungen und Hoff— 
nungen iſt ein treues Abbild des Verhältniſſes in welchem 
der Schöpfer ſelber zu den Werken und Thaten ſeiner ge— 
ſchaffenen Welt und ihrem Weſen ſtehet. Die Vorſtellungen 


und Erinnerungen, die Gedanken und Erkenntniſſe, welche 
die innre Welt unſres Geiſtes bilden, ſind nicht der Geiſt 


ſelber: ſie ſind das Werk einer Schöpfung, zu welchem er 


zwar die Anregung und den Stoff von außen entnahm, die 


aber dennoch durch ſeine Kraft ihre Geſtaltung und innre 


552 * 


Anordnung empfieng. Derſelbe erkennende Geiſt der dieſe 
ihm eigenthümliche Schöpfung hervorruft, wann und wie er 
will: jetzt die Erinnrung an dieſes, dann an jenes vormals 
Empfundene oder Erlebte, hält fie auch zuſammen; er legt 
in jeden Gedanken, in jedes Wort die Kraft Ruch e 
Samen bei ſich zu tragen, Seinesgleichenzu erzeugen. 

Ueber der Welt des Geiſtigen wie des Leiblichen waltet 
und herrſchet ein Gott und Schöpfer aller Dinge. Er, der 
ewige Anfang alles Seyns bedurfte und bedarf keiner Anre- 
gung von außen, keines Stoffes zu den Werken und Tha⸗ 
ten ſeiner Schöpfung; ſeine Gedanten waren und ſind Wirk⸗ 
lichkeiten, jeder Gedanke ward zu einem Weſen und Geſchöpf. 
Aber dieſe herrliche Schöpfung der Sichtbarkeit iſt nicht, wie 
das Heidenthum in ſeiner Erblindung es lehrte, der Schö⸗ 
pfer ſelber, ſondern alle die Heere des Himmels, alle die 
ſonnenartig leuchtenden Sterne welche mein Auge ſieht, ver⸗ 
halten ſich zu Ihm, unſrem Gott und Herrn, nur ſo, wie 
ſich die Vorſtellung von einer in hundertfältigem Schmuck 
der Blumen prangenden Alpenwieſe, die unſer Auge ſahe, 
und welche ſeitdem, durch die Erinnerung, zu einem Theil 
der innren Schöpfung unſrer Seele geworden iſt, zu dieſer 
ſelber, zu der Seele verhält. Nicht aber dieſe unzählbaren 
Sternenheere ſind die erhabenſten zur Wirklichkeit und zur 
That gewordenen Gedanken und Willensäuſſerungen unſres 
Gottes, ſondern höher noch ſind jene Thaten des Erbarmens 
und der Liebe, in denen der Schöpfer zu dem kleinen Ge— 
ſchöpf ſeiner Hand, zu dem Menſchen, ſich herabläßt, ihm, 
wie ein Freund dem Freunde, ſich ſelber zu erkennen giebt, 
und wie ein Liebender des Geliebten, ja wie eine Mutter 
ihres Säuglinges und mehr noch, des armen wee 
ſich annimmt. 

Der Antrieb zum Erkennen liegt darum ſo tief gewur⸗ 
zelt, und iſt ſo mächtig ſtark in unſrem Geiſte, weil er uns 
zuletzt, wenn er nur vorwärts ſeines Weges geht, ſelbſt 
nach manchen Abirrungen, zu Dem hinführet, Deffen Grfen- 
nen, auch mit dem ſchwächſten feiner Strahlen, wie das 
Sonnenlicht die Wärme, die Liebe zu Ihm, dem Erkannten, 


wecket. Und nur in dieſer Liebe iſt das rechte Leben 1 “4 


ligkeit und . EN 


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