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838.
Spiegel der Natur
ein Leſebuch zur Belehrung und Un⸗ 5
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von
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Dr. Gotthilf Heinrich von Schubert,
r Hofrath und Profeſſor in München.
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244 14. 2
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er +: Erlangen 1845
bei J. J. Palm und Ernſt Enke.
Seiner Majeſtät
dem Könige Otto
von Griechenland.
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Eure Königliche Majeſtät
mögen allergnädigſt erlauben, daß der Gedanke einer ehr⸗
furchtsvollen Liebe, der mit dem Andenken an Eure Maje⸗
ſtät, in dem Herzen aller treuen Bayern ſo feſt verwachſen
iſt, auch auf dem erſten Blatte dieſes unbedeutenden Buches
ſich ausſpreche. Vielleicht wird der Inhalt der nachftehen-
den Blätter hin und wieder in Eurer Majeſtät Erinnerun⸗
gen wecken an die Jahre eines friedlichen Wohlbefindens,
von welchem der Schreiber derſelben ein glücklicher Zeuge
ſeyn durfte; an die Jahre des Verweilens in dem liebenden
Familienkreiſe des hochtheuren, königlichen Elternhauſes. Doch
der Quell jenes innren Wohlbefindens iſt nicht verſiegt: der
Frieden des Herzens; das beſeeligende Gefühl der Liebe, zu
Gott und den Brüdern iſt mit Eurer Majeſtät über das
Meer hinüber, in die neue Heimath gezogen. Mögen denn
die Kräfte dieſes Friedens und dieſer treuen Liebe von ihrem
Mittelpunkte aus mehr und mehr das Land durchdringen,
deſſen Boden das ſtille, ſorgenvolle Wirken ſeines Herrſchers,
gleich einem fruchtbaren Saamenkorn, auf Hoffnung anver⸗
traut iſt.
In tiefſter Ehrfurcht
Eurer Königlichen Majeſtät
allerunterthänigſt dankbarer
Dr. G. H. v. Schubert.
Vorrede.
Nur einige Worte über die Veranlaſſung zu dem
Erſcheinen dieſes Büchleins und über den Zweck deſ—
ſelben. Freunde hatten mir öfters geſagt, daß ich in
einigen meiner Bücher, die ich zunächſt zum Dienſt
und Nutzen der reiferen Jugend geſchrieben, Kennt:
niſſe, namentlich aus dem Gebiet der Chemie und
Phyſik, als ſchon bekannt, vorausgeſetzt habe, zu de
ren Erlangung nicht Jedem und nicht überall die Ge—
legenheit gegeben ſey. Ihr Wunſch war es, daß ich,
in einer anſprechenden und möglichſt leicht faßlichen
Weiſe die hieher gehörigen Gegenſtände beſprechen ſol—
le, welche, neben ihrem beſondren Intereſſe für das
bürgerliche Leben und ſeinen Verkehr, auch noch ein
allgemeines, für das Verſtändniß der Erſcheinungen
des Lebens überhaupt, haben. Hierzu kam mir noch
eine Anregung von außen, welche mir durch den An⸗
blick und bei dem Leſen des trefflichen Schul- und
Hausbuches von Claus Harms: „Gnomon“ ge—
nannt, ſich aufdrang. Ein Buch in ſolcher Art, zur
Belehrung der reiferen Jugend, in einem mir nahe
liegenden Gebiet des menſchlich Wiſſenswürdigen zu
ſchreiben, dies war mein Wunſch, hinter welchem frei—
lich die That der Ausführung weit zurückgeblieben.
Ueber die doppelte Richtung, welche ich übrigens
bei dieſer Ausführung nahm, deute ich nur noch Ei—
VIII
niges an, das beim Leſen des Buches ſelber hin und
wieder verſtändlicher werden wird.
Wer noch vor etlichen Jahrzehnden die herrlichen
Kreidefelſen von Stubbenkammer auf der Inſel Rü⸗
gen, oder den Gipfel des Rigiberges in der Schweiz
beſtieg, der fand dort nicht ſo, wie ein jetziger Wand⸗
rer in dieſe Gegenden ein ſtattliches Gaſthaus, das
ihm zu ſeiner Bewirthung und Aufnahme alle Be⸗
quemlichkeiten darbot, ſondern er war mit dem An⸗
blick und dem Genuß der hehren Natur, wie mitten
in einer Wüſte, allein gelaſſen. Da wo ſonſt nur
der Seeadler oder die einſame Alpenkrähe hauſte; wo
|
man nichts vernahm als das Pfeifen des Murmelthie⸗
res oder das Sauſen des Windes; da iſt jetzt ein
muntrer, geſelliger Verkehr der beſuchenden Gäfte;
man hört Muſik und Geſang, wie auf den Gaſſen
der Städte. Dennoch wird es der Reiſende, während er
hungernd und ermüdet wie er war, die Bewirthung
genieſt und vielleicht der aufgefundenen Geſellſchaft
ſich freut, dem ortskundigen Führer Dank wiſſen, wenn
ihn dieſer aus dem traulichen Zimmer hinausruft ins
Freie, weil ſo eben die untergehende Sonne die Hoch—
alpen oder das Meer mit dem wunderherrlichſten Glan⸗
ze beſtrahlt.
Eine nicht unähnliche Veränderung hat ſich mit
dem wiſſenſchaftlichen Gebiet der Phyſik und Chemie
zugetragen. Noch vor wenig Menſchenaltern konnte
ein großer Theil dieſes Gebietes, dem Forſcher, der
durch daſſelbe ſich ergieng, zunächſt nur jenen geiſti⸗
na
Bi
*
IX
gen Genuß gewähren, den die tiefere Einſicht in das
Weſen und in die Kräſte der Sichtbarkeit mit ſich
führt; man kannte die Wirkung des Lichtes auf das
ſalzſaure Silber, kannte die Kraft des Waſſerdampfes
wie die Wirkſamkeit des Galvanismus, niemand aber
hätte die Benutzung dieſer Kenntniſſe zur Erfindung
des Daguerrotypes, oder der Dampfbote und Dampf⸗
wägen, der Galvanoplaſtik und all den mannichfachen
Menſchenkünſten geahnet, welche anjetzt aus dem Er—
kenntnißkreiſe der Phyſik und Chemie herüber, in alle
Zweige des Verkehres und des Haushaltes der Völ—
ker auf ſo mächtige Weiſe eingreifen. Faſt könnte es
uns geſchehen, daß wir über dem Verweilen bei die—
ſem neuen Aufbau, über der theilnehmenden Betrach—
tung jener fruchttragenden Zweige, des Stammes ver—
gäßen, der die Zweige trägt und nährt; des Stam—
mes, welcher unverändert zu allen Jahreszeiten der—
ſelbe bleibt, während die Blätter und Blüthen der
Zweige einer fortwährenden Veränderung unterliegen.
Deshalb wollte der Verfaſſer dieſes oft getrübten
„Spiegels der Natur“ ſeine Leſer nicht allein
zur Betrachtung jener einflußreichen Erfindungen der
neueren und neueſten Zeit hinführen, welche
ein Geſpräch des Tages bilden, ſondern zugleich ihre
Blicke auf den gemeinſamen Stamm eines wiſſenſchaft—
lichen Erkennens hinleiten, auf dem jene Früchte wuch—
ſen, ja auf den Boden, in welchem der Stamm wur—
zelt, auf die Sonne, deren Strahlen von oben her
ſeine Säfte beleben. Nicht ohne Abſicht geſchahe es,
x
daß er, namentlich bei einigen der ſpäteren Abfchnitte, fehr
ausführlich in die Geſchichte und Beſchreibung der einzel⸗
nen Entdeckungen eingieng; er wollte feinen Leſern zei⸗
gen, daß jene Gaben der Wiſſenſchaft an das bürger⸗
liche Leben, die unſre Zeit in ſo reichem Maaße ge⸗
nießt, nicht leichten Kaufes, wie auf der Gaſſe lie⸗
gend gefunden, ſondern mit ſaurer Anſtrengung aus
ihren verborgenen Tiefen hervorgearbeitet und errun:
gen werden mußten.
Das Gebiet, in welchem der Inhalt dieſes Bu:
ches ſich verbreitet, gehört zwar keinem beſondren
Herrn an, ſondern iſt, mit ſeinen Erkenntniſſen, ein
Gemeingut; doch hat der Verfaſſer nicht verſäumt,
theils in der Inhaltsanzeige, theils im Texte ſelber,
jene Schriften anzuführen, welche den Leſern weitere
Belehrung gewähren könnten, oder die ihm ſelber zu
Wegweiſern dienten. Als ſeinen alten, ihm durch
längeren Umgang vertraut gewordenen Hausfreund
erwähnt er übrigens hier noch dankbar der Naturleh:
re von Baumgärtner und von Ettinghauſen
(7te Auflage, Wien 1842), fo wie Munckes Hand:
buch der Naturlehre.
Pähl im Ammerthale den 26. Sept. 1845.
D. V.
3.
Juhaltsanzeige.
1. Der Antrieb zum Leben und zum Erkennen, S. 1
— 107.
Allem fehlt Etwas. S. 1. Der Mangel, ein Antrieb zur Fort⸗
bewegung des Lebens.
Was Jedes haben muß, das giebts im Ueberfluß. S. 2.
Die Luft, das unentbehrlichſte Element zum Leben iſt zugleich das
gemeinſte, allverbreitetſte. S. 3, 4.
Die Hausmutter. S. 5. Wichtigkeit des Waſſers für den Haus⸗
halt des Lebens; Kreislauf des Gewäſſers in der irdiſchen Natur.
S. 5, 6. f
Die lebendigen Waſſerquellen. S. 7. Das Vermögen der
Pflanzen das dampfförmige Waſſer aus der Atmoſphäre anzuziehen
und demſelben in ihren Gefäßen die tropfbar flüßige Form zu geben.
S. 8, 9.
Das allgemeine Koſthaus S. 10. Verborgene Weiſe in
welcher die Pflanzen ihren Nahrungsſtoff anziehen und zu ſich neh—
men. S. 11. Allwaltende Vorſorge für ſolche Thiere denen die
Fortbewegung, das Aufſuchen und Erfaſſen der Nahrungsmittel nach
ihrem Bau ſehr erſchwert iſt S. 12; für folche die bei Nacht auf
die Weide gehen 13. Weite Wanderungen nach Speiſe 14. Das
Vermögen der Pflanzen aus ſolchen Stoffen, welche für das Thier
ungenießbar ſind, genießbare zu bereiten S. 15. Einfache und ab⸗
wechslende Koſt 16. Ein Arbeiten für Andre S. 16. Vorſorge am
rechten Ort und zur rechten Zeit 17. Die Raubthiere und ihre Bes
ſtimmung S. 18. f
Das Heimweh S. 19. Fortbewegung des Lebens welche das
Ende ſeines Laufes immer wieder an den Anfang und Ausgangspunkt
deſſelben anknüpfet S. 20. Zug und Wandertrieb nach dem Ort der
Geburt oder nach einer früher bewohnten Heimathsſtätte S. 21, 22.
Der Inſtinkt S. 23. Juſtinktartige Vorahnungen bei Men⸗
ſchen 24, 25. Der eigenthümliche Naturtrieb des Thieres iſt dieſem
von ſeiner Geburt an eingepflanzt, nicht von außen in ihm angeregt
26, 27. Angebornes Vorgefühl für das was der Erhaltung des
Lebens ſchaden oder nützen kann S. 27, 28. Naturtrieb der Eltern:
liebe und der Vorſorge für ein künftiges Geſchlecht 29, 30; felbft
für die hülfloſen Jungen einer fremden Mutter 30, 31. Naturtrieb
mancher Thiere der ſie ſelber zum Untergang führt, dabei aber zur
XII
Erhaltung der Geſammtheit der lebendigen Weſen dient 32. Allwal⸗
tende Vorſorge die dem Bedürfniß der Einzelweſen entgegenkommt;
Verſchmelzung des Bildungstriebes mit dem Inſtinkt 33; bauende und
zerſtörende Kräfte des Bildungstriebes S. 34, 35. Allbewegende
Kraft der Seele S. 36.
8. Der Compaß S. 37. Seine Erfindung und Benutzung 37.
Der Grund des Entſtehens und die Wirkſaͤmkeit der Polaritäten in
der Körperwelt 38. Dieſe beruhen zuletzt auf dem Gegenſatz zwiſchen
einem Höheren und einem Niedren, Obren und Untren; zwiſchen
einem Bewegenden und Bewegten, einem Schöpfer und ſeinen Ge—
ſchöpfen 39.
9. Der Wandertrieb des Geiſtes S. 40. Des Columbus Aus⸗
lauf nach einem unbekannten, niegeſehenen Ziele 40. Naturtrieb und
Drang des Menſchengeiſtes zum Wiſſen und vernünftigen Erkennen 41;
dienendes Verhältniß der äußren Glieder, vor Allem der Sinnorgane
zu dieſem Zweck 42. Die Macht des Dranges zum Erkennen, die
ſich durch alle äußren Hemmungen, ſelbſt durch den Mangel der
höchſten Sinnorgane, wie durch eine Wüfte ihre Bahn bricht 43.
Beiſpiel der Laura Bridgmann (m. v. Burdachs Blicke ins
Leben B. III) die in ihrem 2ten Lebensjahre durch eine ſchwere
Kinderkrankheit die Sinne des Geſichts, des Gehöres, Geruches und
ſelbſt des feineren Geſchmackes verloren hatte und bloß auf den Sinn
des Gefühles beſchränkt war 43 u. f. Früheſte Regungen der kind⸗
lichen Wißbegier bei derſelben S. 44. Freude am Erfahren des
Neuen bei ihrem Eintritt in das Blindeninſtitut zu Boſton; angeborz.
nes Schicklichkeitsgefühl; Trieb wie Geſchick zur Selbſtbeſchäftigung 45.
Dankbare Anhänglichkeit an die Mutter und an geiſtige Pfleger 46.
Die Unentbehrlichkeit einer Gedankenſprache für die Erinnrung und
für das vernünftige Erkennen der Menſchenſeele S. 47. b. 49. Na⸗
türlicher Zuſammenhang des Dranges zum Sprechen bei dem Men:
ſchen mit der Anregung der Stimmorgane S. 49. Die Geberden⸗
ſprache und ihre Leiſtungen bei Taubſtummen und Taubblinden 50.
Die Ausbildung der Gedankenſprache iſt ein gemeinſames, geiſtiges
Kunſtwerk der Menſchenſeelen, wie der Bau im Bienenſtocke ein
gemeinſames leibliches Kunſtwerk vieler Einzelweſen 51. (vergl. mit
S. 57). Erweitrung und Geſtaltung des Erkenntnißkreiſes mit dem
Eintritt der Sprache, durch welche die Außenwelt des ſinnlich Wahr—
nehmbaren zu einer Innenwelt des Erkannten wird 53. Die Weiſe
des Unterrichts in der Gedankenſprache bei Taubblinden 54. Das
innre Wunder der plötzlichen Geſtaltung der Sprache aus den von
außen empfangenen Elementen und Anregungen 55; deutliches Selbſt—
gefühl; das Denken in Worten der gewöhnlichen hörbar vernehmlichen
oder durch Bewegung und Stellung der Finger ſich äußernden Sprache
56. Rege Wißbegier 57. Drang zur Mittheilung 58. Bewußtſeyn
des eignen Selbſt und feiner individuellen Stellung zu andren Men:
ſchen 59. Gefühl der Selbſtbefriedigung, bei dem Drang zum Er⸗
kennen S. 60. f |
XIII
10. Valentin Jameray Duval S. 61. Die Kraft mit welcher der An⸗
trieb zum Erkennen durch alle Hemmungen hindurchbricht, welche die Geburt
in niedren Stand, Armuth und verſäumter Unterricht in der frühe⸗
ſten Jugend in den Weg legten 61, 62. Duvals Herkunft und
ſeine erſten Lebensjahre 63; der harte Winter von 1708 auf 1709.
Duvals, des 13jährigen Knaben erſte Wanderung 64; fein Kranken:
lager in einem Schafftalle 65 b. 67; in der Pfarrwohnung 68; feine
Geneſung und fortgeſetzte Wanderſchaft 69; Vorſtellungen des Knaben
von der ſichtbaren Welt 69; das Elend in der Champagne 70; Wohl⸗
ſtand in Lothringen 72; ein Hirtendienſt angenommen und nach einiger
Zeit in Folge des noch ungeſtillten Dranges zum Weiterziehen wieder
verlaſſen 73: der Aufenthalt in der Einſiedelei la Rochette und die
daſelbſt gemachten Erfahrungen S. 74. b. 76. Duval kommt als
Diener in die Einſiedelei von St. Anna bei Luneville 77, 78; er lernt
die Kunſt des Schreibens 79; liest bei ſeinem Geſchäft als Kuhhirt
allerhand Bücher 80; will die Sternkunde betreiben 81; glücklicher
Fund von Hilfsmitteln 82; mühſames Aufſuchen des Polarſternes 83;
verſuchte Selbſtbelehrung in der Erd- und Länderkunde 84; ein will⸗
kommner Aufſchluß und feine Benutzung 85, 86. Gelbverlegenheit
beim Ankauf der Bücher und andrer Hülfsmittel durch ein Jagdgeſchäft
gehoben 87. b. 91. Duval, der magiſchen Künſte verdächtig geräth
in Kampf und Mißverhältniße mit den Einſiedlern 92, 93; der Friede
der Einſtedelei wird wieder hergeſtellt S. 94. Der Ring mit dem
Wappen 95; Bekanntſchaft mit dem Engländer Forſter 96; Sehnen
nach weitrer Ausbildung und Sorge wegen der Zukunft 97, 98;
Eine Schulprüfung im Walde 99; folgenreiche Empfehlung bei dem
Herzog von Lothringen 100; der Schmerz des Scheidens aus dem
Leben in der freien Natur 101; erſter Eintritt in den Kreis des
Hoflebens 102; Studienzeit zu Pont a Mouſſon und Anſtellung
als Bibliothekar fo wie als Lehrer an der Hochſchule zu Luneville
103. Duvals großmüthige Benutzung ſeiner reichlichen Einkünfte
104, 105; feine Verſetzung und Weiterbeförderung nach Florenz und
nach Wien 106, 107.
II. Der Vorhof des natürlichen Erkennens. S. 108.
11. Das Reichwerden ohne Mühe 108. Verſtärkung und Anre⸗
gung des Antriebes zum Erkennen im ſiegreichen Kampfe mit den
äußren Hemmungen 109, 110.
12. Die Kalenderzeichen 111. Der Zug zum Wiſſen und zum
Erkennen nimmt feinen erſten Auslauf ebenſo nach den Höhen der
ſichtbaren Welt (nach den Sternen), als nach ihren Tiefen (nach
dem Erforſchen der Elemente der leiblichen Geſtaltung); uraltes
Herkommen der Sternkunde wie des Forſchens nach den Grundſtoffen
der Körperwelt 111,112; doppelſinnige Bedeutung der Kalenderzeichen
zur Bezeichnung der Metalle und der Weltkörper unſres Planeten⸗
XIV
ſyſtems 112. Anziehende Reize, welche die Metalle für den Men⸗
ſchen haben S. 113. Ihre Unzerlegbarkeit 114.
13. Die Elemente 114. Lehre des Alterthumes von den 4 Elemen⸗
14.
15.
16.
17.
18.
19.
ten 114.
Die Grundſtoffe 115. Beiſpiele von Zerlegung der chemiſch zu⸗
ſammengeſetzten Körper in unzerlegbare Grundſtoffe, 116. Cohäſton
und chemiſche Anziehung 117. f f
Die Metalle im engeren Sinne 117. Ihr allgemeiner Cha⸗
rakter 118. Das Gold 119. Die Art ſeines Vorkommens 119,
120; ſeine relative Seltenheit 120; ſein Werth ſo wie der Ein⸗
fluß ſeiner Gewinnung auf einzelne Völker und Zeitalter 121; der
Goldreichthum einzelner Länder 122; Vergebliche Verſuche das Gold
in mehrere Elemente zu zerlegen oder aus dieſen zuſammenzuſetzen
122 b. 125. Platina, und die mit ihm ſo wie in ſeiner Miſchung vor⸗
kommenden Metalle 125. Beiläufige Erwähnung einiger, meiſt erſt in
neuerer Zeit entdeckten Metalle, von ſeltenem Vorkemmen und unbe⸗
deutenden Eigenſchaften S. 126. Das Silber 126. Kurze Anfüh:
rung der übrigen bekannten Metalle S. 127, 128. Benutzung des
Kupfers ſo wie des Zinns 129; des Eiſens 130, 131; Eigenſchwere
und Schmelzbarkeit der Metalle 132.
Der verſchwenderiſche Arme 133. Erſt in neuerer Zeit hat
man eine Weiſe erfunden durch welche das Gold leichter und wohl⸗
feiler aus ſeinen Verbindungen mit andren Metallen abgeſchieden wer⸗
den kann, daher kommt es daß viele Silbermünzen, namentlich die aus
ungariſchem und fiebenbürgifchen Silber geprägten Viertels⸗ fo wie
halben und ganzen Kronenkhaler eine nicht unbedeutende Beimiſchung
von Gold enthalten, welches man, ſeitdem jene Münzſorten in ver⸗
ſchiedenen Ländern im Werth etwas herabgeſetzt und in Folge hier⸗
von für die Münzſtätten eingewechslet wurden, mit Vortheil ausge⸗
ſchieden hat. Auf dieſe Ausſcheidung des vorher unbemerkten Gold⸗
gehaltes aus den eben genannten ſo wie aus andren, kleineren Münz⸗
ſtücken bezieht ſich der von S. 134 b. 136 beiſpielweiſe aufgeftellte
Fall. Die Methode des Ausſcheidens, nach Liebigs chemiſchen Brie⸗
fen beſchrieben S. 136 b. 139.
Die Verwandlung des Niedren in ein Höheres 139. Das
Cäment⸗ Kupfer 141. a
Die metalliſchen Grundſtoffe der Alkalien und Erden
S. 141. Die ſogenannten Erden, früher für einfache Grundſtoffe
gehalten 141; Humphry Davys Entdeckung ihrer Zuſammengeſetztheit
142. Das Kalimetall 142; Eigenſchaften der metalliſchen Grundla⸗
gen der Erden und Kalien 143 b. 145; das maſſenhafte Vorkommen
4 146; Verbindung des Natronmetalles mit Chlor zum Koch⸗
alz 147. N
Ein Kapitel über die Reinlichkeit 148. Gebrauch der Seife
149 , 150; ihre Bereitung 151; die Soda 152; Ausſcheidung des
Natrons aus dem Kochſalz 153; das Chlorgas 154; die zur Seifen⸗
20.
XV
bereitung benutzten Fettarten 154; Pflanzen mit ſeifenartigen Stof⸗
fen 155.
Eine Augenfabrication im Großen 155; Bildung des thieri⸗
ſchen Auges 156, 157; Durchſichtigkeit der Luft 157; Tageshelle
und nächtliches Dunkel 158; Erfindung des Glaſes 159; ſeine Zu⸗
ſammenſetzung 160; die Brillen 161 b. 163; ihre Erfinder 164;
Brenngläſer 165; Brechung der Lichtſtrahlen in durchſichtigen Me⸗
dien S. 166 b. 168; darauf gründet ſich die Eigenſchaft der con⸗
veren Gläſer die Gegenſtände, welche man durch dieſelben betrachtet,
vergrößert darzuſtellen 169, und ſie hierdurch ſcheinbar näher an das
Auge heranzurücken 170. Erfindung des Fernrohres und ſeine allmä⸗
lige Vervollkommnung 170, 171. Die Entdeckungen am Sternen⸗
himmel, welche eine unmittelbare Folge jener Erfindung waren
S. 172 b. 175. Anwendung der vergrößernden Kraft der Glaslinſen
zur Betrachtung naher, kleiner Gegenſtände; Erſindung der Mikroſcope
und die mittelſt derſelben gemachten Entdeckungen S. 176. b. 178.
Die Grundſtoffe der Säuren S. 178; Das Selen 178; der
Schwefel und die durch ſein Verbrennen entſtehenden Säuren 179.
Der Phosphor und die Phosphorſäure, die Flußſäure 180. Das Waf-
ſerſtoffgas 181; das Chlor und die Salzſäure 182; Brom, Jod,
22.
23.
25
*
Boraxſäure 183; der Grundſtoff der Kieſelerde 183, 184. Verſuche
mit Pflanzenſaamen, wodurch das Vermögen der lebenden Weſen
Grundſtoffe zu erzeugen oder zu verwandeln eine gewiſſe Wahrſchein—⸗
lichkeit gewinnen koͤnnte 185.
Die Schwefelſäure und die Salzſäure 185. Bemerkungen
über die vielſeitige Bedeutung der atmosphäriſchen Gasarten S. 186,
187. Glaubers Entdeckung der Grundſtoffe des Kochſalzes, bei der
Zerlegung deſſelben durch die Schwefelſäure 188, 189. Das Verhält⸗
niß des Schwefels zu den Metallen gleicht dem der Lebensluft zu den
brennbaren Körpern 190. Die Schwefelſäure gewaͤhrt in England
mittelbar, durch das Gewinnen des Chlors einen auſſerordentlichen
Vortheil für die dortigen Bleichereien 191 b. 194. Gewinnung des
Leims aus den Knochen durch Anwendung der Salzſäure erleichtert S.
194. Gewinnung der Schwefelſäure aus Schwefeleiſen oder Schwe-
felkies S. 195; die Bereitung der Schwefelſaͤure im Großen, vor
Allem in England S. 196, 197.
Die ehemiſche Polariſation S. 197. Begriff und Erläuterung
det Ausdruckes: chemiſche Verwandſchaft 198, 199.
Die Grundſtofſe der organiſchen Körper S. 200. Der
Kohlenſtoff S. 201; Steinkohlen und Erdharze 202; Kohlenſäure 203;
Waſſerſtoffgas 204; das Sauerſtoffgas oder die Lebensluft 205, 206
(vom Stickſtoff im 26ten Cap.).
Die Luftſchifferkunſt S. 207. Aellere Verſuche in der Luft
zu fliegen oder zu ſchiffen 208, 209. Mongolfier und Charles 210,
211; Pilatre de Roziers erſte, aeroftatifche Unternehmungen 212;
Franz Blanchard und ſeine Abentheuer 213 b. 217. Die Brüder Ro⸗
bert und der Graf Zambeccari 217. Roziers unglückliches Ende, bei
26.
27.
28.
29.
—
XVI
dem Verſuch den Canal von Oſt nach Weſt in der Luft zu überſchiffen
218, 219. Crosbies Flug von Irland nach England 219; Zam⸗
beccaris Ende 220. Geſchwindigkeit der Luftſchiffe 221; erreichte Hoͤ⸗
hen 222; Beobachtungen der Luftſchiffer im Allgemeinen 223. An⸗
wendung der Aäronautik im Kriege 224; Robertſon, Green 225, 226.
Die Lebensluft und das Stickgas S. 226. Eigenſchaften
und Wirkungen der Lebensluft oder des Sauerſtoffgaſes auf die Kör-
per der unorganiſchen ſo wie der organiſchen Natur im Allgemeinen
S. 227 b. 230. Allgemeine Verbreitung deſſelben S. 230, 231.
Das Stickgas und ſeine Eigenſchaften 232 b. 234. Die Salpeter⸗
ſäure 235, 236; Gewinnung des Salpeters 237, 238.
Großer Erfolg aus kleiner Urſache S. 238. Die Wirkſam⸗
keit der mikroſcopiſchen Thierwelt eine Quelle der Erzeugung oder Ent⸗
bindung der Lebensluft S. 239 b. 241.
Druck und Gegendruck S. 242. Die Naturkräfte welche beim
Bau der organiſchen Leiblichkeit mitwirken. Die Laſt des Luftdruckes
auf unſrem Körper nach Wiener Pfunden berechnet S. 243. Em⸗
porſteigen des Waſſers in den leeren Raum einer Pumpenröhre S.
244; Torricellis richtige Deutung dieſer Erſcheinung und feine Erfin⸗
dung des Barometers S. 245. Beſtättigung der Torricelliſchen An⸗
ſichten durch unmittelbare Beobachtungen S. 246. Otto von Gueri⸗
kes Erfindung der Luftpumpe und Verſuche mit derſelben S. 247.
Das Barometer als ſogenanntes Wetterglas benutzt S. 248. Höhen⸗
meſſungen durch das Barometer mit Grundlegung eines von Mariotte
vorausgeſetzten Verhältniſſes S. 249; Federkraft (Elaſtizität) der Luft
S. 249, 250. Wirkung des verſtärkten Luftdruckes auf den menſch⸗
lichen Körper S. 251. Unbequemlichkeiten und läſtige Folgen welche
der ſehr verminderte Lufdruck: (die Verdünnung der Luft), namentlich
auf großen Höhen mit ſich führt S. 251, 252. Vermuthungen und
Angaben über die Höhe und aͤußerſte Gränze des Luftkreiſes; Antheil
den die verſchiedenen Gasarten der Atmoſphäre an dem Geſammtge⸗
wicht und Druck der Luftſäule haben S. 252, 253. Die Veränder⸗
lichkeit der Menge des in der Atmoſphäre aufgelöſten Waſſerdunſtes,
und die Folgen welche dieſes auf den Stand des Barometers hat 254,
255. Andre Urſachen welche den Stand des Barometers ändern S. 255
und welche Witterungsveränderungen bewirken 256. Verwandlung
des Waſſers in Dampf S. 256; hemmender Einfluß den der Druck
der Luft hierauf hat S. 257. Verſchiedene Grade der Sjedehitze,
in verſchiedenen Höhen über dem Meere S. 257. Verhältniß des Ge⸗
gendruckes den die inuwohnende Kraft der Einzelweſen erregt zu dem
Druck von außen, (namentlich der Luft) S. 258, 259.
Die Wärme S. 259. Gewinnung des irdiſchen Feuers S. 259,
260. Wärmeerzeugung und Entzündung der brennbaren Körper durch
Reibung S. 261, 262; durch Stoß und Druck, ſo wie durch Zu⸗
ſammenpreſſen und Zuſammenziehung elaſtiſcher Flüſſigkeiten S. 263.
Heitzung durch Daͤmpfe, bei dem Uebergang in den tropfbar flüßigen
30,
XVII
Zuſtand des Waſſers ſich Waͤrme entwickelt S. 264. Nachweiſung
einer ähnlichen Erſcheinung in der äußren Natur S. 264. Ein um⸗
gekehrtes Verhältniß der Wärmebindung (Abkühlung der Umgebung
bei dem Uebergang des Waſſers aus dem tropfbar flüßigen in den
Dampfzuſtand S. 265. Allgemeine Folgerungen aus dieſen Erfah⸗
rungen S. 266. Die Wärmecapacität der verſchiedenen Körper ©.
267. Einfluß der Wärme auf die Formänderung der Körper und ge⸗
legentliche Entwicklung der Wärme in Folge ſolcher Formänderungen
S. 268, 269. |
Die Wärmeleitung ©. 269. Körper, welche die Wärme leicht
und ſchnell ſo wie ſolche welche dieſelbe ſchwer und langſam leiten S.
270. Die Metalle ſind die beſten Wärmeleiter S. 271. Wärmelei⸗
31.
32.
tung bei flüßigen Körpern S. 271. Emporſteigen der erwärmteren
und hierdurch leichter gewordnen Theilchen in den kälteren und deshalb
ſchwereren S. 272. Die ſogenannte Luftheitzung der Wohngebaͤude S.
273. Die Ausdehnung der Körper durch die Wärme S. 274.
Das Thermometer 274. Die Vorzüge welche die Anwendung
eines Werkzeuges, das uns die Wärme unmittelbar an der Ausdeh⸗
nung eines leiblichen Stoffes ermeſſen läßet, vor den unſichren Aus⸗
ſprüchen unſres ſinnlichen Gefühles hat S. 275. Die erſte Darſtel⸗
lung eines unvollkommenen Thermometers durch Cornelius Drebbel
S. 276. Fahrenheits Queckſilber⸗Thermometer S. 277. Gleichmäßig⸗
keit der menſchlichen Blutwärme bei verſchiednen Völkern fo wie unter
verſchiednen Himmelsſtrichen S. 278. Verſchiedne feſte Anhalts⸗
punkte der Fahrenheitſchen Scala S. 279. Reaumurs Weingeiſtthermo⸗
meter S. 280, 281. Verhältniß der Reaumurſchen Scala zur Fah⸗
renheitſchen ſo wie zur hunderttheiligen S. 282. Meſſung der Grade
der Gluthhitze die zum Schmelzen der Metalle nöthig iſt S. 283.
Die Dampfbildung durch Wärme S. 284. Vielſeitiger ge⸗
waltiger Einfluß der Benutzung der Dampfkräfte, zu Leiſtungen welche
einem früheren Zeitalter unerreichbar erſchienen wären S. 285, 286.
Wirkſamkeit des Schießpulvers und Grund derſelben S. 287. Schnel⸗
ligkeit und Kraft, welche die Exploſion des Schießpulvers den abge⸗
ſchoſſenen Körpern mittheilt S. 288, 289; Erfindung und frühefte
Benutzung des Schießpulvers S. 289, 290; der Waſſerdampf 291;
Ausdehnung des Waſſers dei der Eisbildung S. 291, 292; geringe
Elaſtizität des Waſſers 293; Spannkraft feiner Dämpfe bei ploͤtzli⸗
cher Entwicklung durch die Wärme S. 294; die Bewegungen durch mechani⸗
ſche Urſachen herv orgerufen, enden, ſobald der äußre Anlaß für ſte
hinwegfällt, die Bewegungen eines belebten Körpers erneuern ſich von
ſelber durch wechſelſeitige Anregung der polariſchen Spannungen 295;
ein Freiwerden und ein Gebundenwerden der Stoffe, gegenſeitig ſich
bedingend und mit einander wechslend; Druck und Gegendruck 296.
Die Einrichtung und Wirkſamkeit der Dampfmaſchinen erſcheint wie
ein Abbild der wechslenden Bewegungen in einem beſeelten Körper
297; kurze Beſchreibung der Dampfmaſchinen 298; Benutzungen der
17 *
33.
34.
36.
XVIII
| Dampffraft in früheren Zeiten S. 299; Erfindung der Dampfmaſchi⸗
nen S. 300; der Dampfſchiffe 300, 3013 Folgen der letztern Erfin-
dung 301, 302. Die Dampfwägen 302, 303 ; atmoſphäriſche Eiſen⸗
bahnen 304. Schnelligkeit und einflußreiche Leiſtungen der Dampf⸗
wägenfahrten auf den Verkehr der Menſchen 305. Berechnung der Kräfte
der einzelnen ſo wie der geſammten Dampfmaſchinen mancher ga
ſchen Länder 306; Koſtenaufwand 307.
Das Entſtehen der Wärme beim Verbrennen der Kör⸗
per 307. Eigentliches Verbrennen 308; langſame und allmälige Ver⸗
bindung des Sauerſtoffgaſes mit brennbaren Körpern 309; eigenthüm⸗
liche Bewegungen an ſtaubartig fein zertheilten Stoffen beobachtet 310:
Platinaſtaub und Platinaſchwamm; ihre Anziehungskraft gegen das
Sauerſtoffgas mit welchem dann das Waſſerſtoffgas flammend ſich
verbindet 310; Vortheile zur Föderung der Eſſiggährung 311; an⸗
ſteckende Gewalt des Gährungs- und Verweſungsprozeſſes 312, 313;
Einfluß des Hitzgrades auf das Verbrennen 313; ſchwächender Ein⸗
fluß der Verdünnung der Luft auf das Verbrennen 315; ſcheinbare
Ausnahmen davon beim armirten Phosphor 315. Schwerere und
leichtere Entzündbarkeit 315. Verlöſchen der Flamme; Abhaltungsmit:
tel gegen ihren anzündenden Einfluß 316. Mittel zur Verſtärkung
der Lichthelle der flammenden Körper 317. Das ſelbſtſtändige Weſen
des Lichtes und der Wärme 318.
Die Bereitung gegorner Getränke S. 318. Aufregende
Eigenſchaften derſelben 319, gegründet auf die Steigerung des Ath⸗
mungsprozeſſes 320. Verhalten der Hefe zum Vorgang der Gährung
321 verändernder Einfluß der Wärme 322; Flüſſigkeiten deren Zu⸗
ſammenſetzung dem Traubenſaft verwandt it S. 323; Gründe der
Eſſiggährung 323; Verſchiedne Grade der Temperatur, welche die
Verbindung des Alkohols und die des ſtickſtoffhaltigen Fermentes mit
dem Sauerſtoffgas zum Eſſig und zur unauflöslichen Hefe nöthig hat
324; Anwendung dieſer Erfahrungen S. 325. Erfindung und allge⸗
meiner Gebrauch der bierartigen Getränke 325; Auch bei ihrer Gäh⸗
rung iſt die Erhaltung einer niedren, gleichmäßigen Temperatur ſehr
vortheilhaft 326, 327.
Die eigenthümliche Wärme der lebenden organiſchen
Körper S. 328. Beobachtungen an Pflanzen 328; an Bienen 329;
an Fiſchen 330; Amphibien, Vögeln, Säugthieren 331; Einfluß des
Athmens darauf S. 332, 333; das Walten der Lebenskraft 333, 334.
Die Erzeugung der Wärme durch Elektrizität 334.
Aelteſte Beobachtung der Elektrizität am Bernſtein S. 335; polariſch
verſchiedene elektriſche Spannung bei verſchiednen Körpern S. 336;
derſelbe Körper kann gegen einen andren ſich poſitiv, gegen einen drit⸗
ten negativ verhalten 337; Verſchiednes Verhalten der Metalle und
der andren leicht durchs Reiben elektriſirbaren Körper 338; gute und
ſchlechte Leiter der Elektrizität 339; Eigenſchaft des Glaſes an zwei
einander gegenäßsr gelangen Flächen eine verſchiedne elektriſche Polari⸗
XIX
N ſation oder Spannung anzunehmen 340; elektriſche Batterieen und Leidner
Flaſchen 341. Blitzartige Wirkſamkeit des ſtarken eleftrifchen Funkens auf
llebende Thiere und Menſchen 341; zur Entzündung und Verbindung der
37.
gasartigen Grundſtoffe des Waſſers ſowie zur Zerſetzung des Waſſers 342;
zur Erzeugung der Wärme und Anregung der Lebenskraft 342; Ge⸗
ſchwindigkeit der Fortpflanzung des elektriſchen Schlages 343.
Die Gewitter S. 343. Künſtliche Nachahmung der Gewitter 343;
verſchiedne elektriſche Spannung zwiſchen dem Luftkreis und der Erd⸗
oberfläche 344; das St. Elmusfeuer; berechneter Betrag der elektri—
ſchen Spannung eines von Pflanzen bedeckten Landſtriches S. 345
Einfluß der Winde auf die elektriſche Spannung 346; der Wärme, in
11 verſchiednen Jahreszeiten und Länderſtrichen 346; Höhe der Wetter⸗
wolken; Einſchlagen des Blitzes am Boden 347; Gegenſchläge; Blitze
die nicht zünden 348; Wirkung des einſchlagenden Blitzes auf Metalle
348, 349; Entladungen die in den Wolken aufwärtsgehen 349. Der
Hagel und die ſtrichweiſe Art ſeiner Verbreitung 349, 350. Allmälige
Auflöſung der elektriſchen Spannung der Wolkenſchichten; das Wetter⸗
lleuchten 351.
38.
Vorſichtsmaaßregeln gegen das Einſchlagen des Blitzes 352; Nollets
annähernde Schritte zur Erfindung des Blitzableiters 352; Benjamin
39.
40.
Die Blitzableiter 351. Uebermäßige Gewitterfurcht und lächerliche
Franklin S. 353; die Verdienſte deſſelben um die geiſtige Entwicklung
ſeiner Landsleute 354. Seine tiefer gehenden Forſchungen über das
Weſen der Elektrizität 354; Verſuche zur Herableitung der Lufteleftri-
zität S. 355. Richmanns Tod 355. Der Franklinſche Blitzableiter;
ſeine Anwendung und Begränzung ſeiner Wirkſamkeit S. 356, 357.
Polariſche Wechſelwirkung auf das Verhältniß einer Vielheit der klein
ſten Theile der Körper zu den allgemein verbreiteten Elementen und
Kräften der äußren Umgebung gegründet S. 357. Condenſation der
Gasarten durch die Anziehung einer vielzertheilten körperlichen Sub⸗
ſtanz und Verſchiedenheit dieſes Vorganges von der Zuſammenpreſſung
durch mechaniſche Gewalt, am Beiſpiel der Kohlen erläutert S. 358,
359. Die anziehenden Organe, in Form feiner Spitzen und Borſten,
an der Außenfläche der Pflanzenkörper 359, 360.
Eine Art von Blitzableiter, benutzt zur Befruchtung
der Felder S. 360. Ableitung der Luftelektrizität durch die lebende
Pflanzenwelt S 361. Fördernder Einfluß der gemeinen Elektrizität
auf das Wachsthum und die Entwicklung der Pflanzen, nach Maim⸗
brei's und Bertholon's Verſuchen 361. Benutzung der Luftelektrizität
zur Anregung des Pflanzenwuchſes im Großen 361 b. 364.
Das Pflanzenleben und der Feldbau 364. Das Syſtem der
Saftbehältniſſe und Gefäße der Pflanzen S. 365. J. Liebigs Anſicht
daß die Gewächſe einen großen Theil des Kohlenſtoffes und Stickſtof⸗
fes ihrer Körpermaſſe aus der Atmoſphäre empfangen, auf Erfahrung
gegründet 366, 367; anziehende Kraft der fein zertheilten Erdſcholle
S. 368. Die Bodenbeſtandtheile, deren Aufnahme durch die Wurzeln
41.
42.
43.
44.
45.
46.
XX
die Pflanze zu ihrer Ernährung bedarf 369, 370; künſtliche Mittel
dieſen Ernährungsprozeß zu erleichtern 371.
Der Galvanismus 372. Polariſch⸗ elektriſche Spannung in zwei
verſchiednen Metallen durch ihre bloße wechſelſeitige Berührung erweck⸗
bar 373; Stufenleiter dieſer Erregbarkeit der poſitiven oder negavtien
Spannung bei verſchiednen Körpern 373, 374. Die Voltaiſche Säule
und der Trogapparat S. 375, 376; Zerſetzung des Waſſers durch die
elektriſche Polariſation dieſer Apparate 377. Entdeckungsgeſchichte des
Galvanismus 377, 378; Wirkung des Galvanismus auf die thieriſchen
Nerven der Bewegung und ſinnlichen Empfindung 378; die ruhigere
fortwährende Strömung beim Galvanismus begründet einige Verſchieden⸗
heit zwiſchen dieſem und der Reibungselektrizität 379; Licht⸗ und
Wärmeerzeugung durch Galvanismus 379, 380.
Ein Wettkampf der Naturkunde mit der Kunſt: die
Galvanoplaſtik 380. Bündniß der Menſchenkraft mit Naturkräf⸗
ten 381, 382. Beſchreibung der Vorgänge und der Leiſtungen der
Galvanoplaſtik 383 b. 385.
Die Nerven des thieriſchen Körpers 385. Eigenſchaften und
Verrichtungen der lebenden Nerven 386. Ergebniſſe der mikroſcopiſchen
Betrachtungen der Theile des menſchlichen Körpers an den Blutkügel⸗
chen 387; den Muskeln 388; den Nervenröhrchen, ſo wie ihre Ver⸗
theilung und ihren Verlauf 389, 390.
Elektriſche Erſcheinungen an lebenden Thieren 390. Der
Zitterroche und ſeine Eigenſchaften ſo wie ſein äußrer und innrer Bau
391, 392; der Zitteraal und feine Kräfte 393; fo wie fein Fang 394.
Uebereinſtimmung und Verſchiedenheit dieſer thieriſchen Elektrizität mit
und von der gewöhnlichen 395; Schwächung der Lebenskraft des Thieres
durch öftere Entladungen 396. Elektriſche Funken aus lebenden menſch⸗
lichen Körpern 397. Epilepſie — Fabius Columna 397.
Magnetismus und Elektrizität als Formen der weſent⸗
lich einen polariſchen Spannung S. 397. Magnetiſirende Ein⸗
wirkung des Blitzes auf eiſerne Geräthſchafteu 398; die Richtung einer
elektriſchen Strömung, welche quer über einen Eiſenſtab gehet, macht
dieſen magnetiſch 399; außerordentliche Steigerung der magnetiſchen
Kraft in Eiſenſtäben um welche ein Draht ſchraubenförmig herumge⸗
führt und mit den Strömungen einer Voltaiſchen Säule in Verbin⸗
dung geſetzt wird S. 400. Die Richtung der Windungen des Drahtes
von der Rechten zur Linken oder von der Linken zur Rechten ſind hier⸗
bei nicht ohne Einfluß 400, 401. Schweiggers Entdeckung einer ro⸗
tirenden und kreisförmig bahnenden Bewegung, welche der Elektromag⸗
netismus bewirkt S. 401: Folgerungen hieraus 402.
Der elektriſche Telegraph 402. Frühere Verſuche einer Mitthei⸗
lung an Fernwohnende: Nothfeuer 403; die gewöhnlichen Tele⸗
graphen 404. Vorzug der Mittheilung durch Elektrizität wegen der
Schnelle und Sicherheit der Leitung 405; Einrichtung eines Telegra⸗
phen, der auf die Wirkung des Elektromagnetismus gegründet iſt und
47.
48.
49.
50.
51.
52.
XXI
die Weiſe ſeiner Anwendung 406; Steinheils elektriſcher Telegraph 407,
408; Verſuche in England 408.
Die Bedeutung der Wärme, für Magnetismus und
Elektrizität 409. Schwächende Wirkung der Wärme auf die mag—
netiſche Kraft 410; Erregung der elektriſchen Eigenſchaften durch die
Wärme im Turmalin 410, 411; Borazit und Galmei 411, 412.
Elektriſch⸗ polariſche Spannung an verſchiednen in Berührung ge:
brachten Metallen, namentlich Wismuth und Spießglanz, durch einen
ſehr geringen Grad der Erwärmung oder Abkühlung erzeugt 412, 413,
bemerkbar durch die Elektrizitäts- Multiplicatoren 413; Folgerun⸗
gen 413.
Das Nordlicht 414. Elektriſche und magnetiſche Ungewitter 414;
der Einfluß der Temperatur iſt auf beide ein entgegengeſetzter 415;
Südlichter; Höhe zu welcher die Polarlichterſcheinung hinanreicht,
die in ſehr verſchiednen Gegenden zugleich ſtatt finden kann 415. Ge⸗
waltſame und zerſtörende Wirkſamkeit des elektriſchen Gewitters im Ver⸗
gleich mit dem ſtillen, nur dem Geſichtsſinn wahrnehmbaren Auftreten des
Nordlichtes, 416, 417; dennoch geht die Wirkſamkeit des Nordlichtes, die
ſich an den Bewegungen der Magnetnadel kund giebt, über ungleich größre
Strecken der Erde als die des elektriſchen Gewitters 417, 418. Vergleich
des Magnetismus mit dem Licht; der Elektrizität mit der Wärme 418.
Beſchreibung des Nordlichtes 419, 420; Ende der Erſcheinung 421.
Das Erdenlicht 421. Eigenthümliches (phosphoriſches) Leuchten
der atmoſphäriſchen Dünſte 422; der Erdoberfläche und des Meeres 423.
Erzeugung der Wärme durch das Sonnenlicht 423. Ver⸗
gleich des Ausſehens der Polarländer mit der Naturſchönheit und
Fülle der kräftiger von der Sonne beſtrahlten Länder 424, 425.
Die Sonne 426. Ihre Entfernung 426; Größe 427; ihre
Stellung als ein Unteres, Tragendes 427, 428; Wärme der Erd⸗
mitte analog der Wärme des Mittelpunktes oder Innerſten des Pla⸗
netarſyſtems 428. Rotation der Sonne; ihre Lichtſphäre und Ober⸗
fläche 429, 430; Fortbewegung durch den Weltenraum des Fix⸗
ſternenhimmels 431; polariſches Verhältniß der Sonne zu ihrer plane=
tariſchen Umgebung 432. Vergleich dieſes polariſchen Verhältniſſes mit
manchen uns näher bekannten Erſcheinungen, namentlich den elektro⸗
magnetiſchen 433. Raumdurchdringende Kraft der Schwere 434;
Vermuthliche Wechſelbeziehung der alt der Weltkörper mit ihrer
Rotation 435, 436. ö
Einfluß der Sonne anf die Temperatur der Erdober—
fläche S. 436. Aeltere Bedeutung und Eintheilung der Klimaten 437;
Zeit der Beleuchtung unmittelbar durch die Sonne oder durch ihren
Reflex in der Atmosphäre, als Dämmrung 438; mittlere Jahres⸗
wärme der verſchiedenen Klimaten 439; Zeit des Eintretens der höch—
ſten und niedrigſten Temperatur des Tages und des Jahres AAO,
441; Grund der Abnahme der Wärme in größeren Höhen über
der Meeresfläche 442; die Schneelinie 443, 444. Mildernder Einfluß
53.
[71
57.
XXII k
der Nähe des Meeres, beſonders feiner. weftlichen Angränzung auf
die Temperatur der Erdgegenden 445 — 447; extreme Wärme ⸗ und
Kältegrade an einem und demſelben Orte, 447. Milde Winter und
kühle Sommer ſind der Entwicklung mancher Pflanzenformen nicht ſo
günſtig als etwas kältre Winter und wärmre Sommer 448 — 449.
Einfluß der Angränzung und Richtung eines Landes gegen Feſtländer und
Wüſten die von der Sonne der Wendekreiſe beſtrahlt werden 449;
Tageshitze der Wüſten 450; Natürliche Vorzüge der nördlichen und
öſtlichen Halbkugel vor der ſüdlichen und weſtlichen 450; Herrſchende
Oſtwinde zwiſchen den Wendekreiſen; vorherrſchende Weſtwinde in den
temperirten Zonen 451; Meeresſtrömungen 451; Raumverhältniße
des Feſtlandes der verſchiedenen Zonen 452; Verhältniß der Erdnähe
und Erdferne zu den Solſtitial- und Aequinoctialpunkten 455; Die
mittlere Temperatur der Erdgegenden ſeit Jahrtauſenden dieſelbe
455. Die mikroscopiſche Thierwelt der Polarzonen 456.
Das Daguerrotyp und die Photographie oder Licht—
zeichnung S. 457. Einfluß des Lichtes auf Färbung und Geſtal⸗
tung der organiſchen Körper 458; Daguerre's Berfah:
ren zur Erzeugung von Lichtzeichnungen mittelſt der Ausſchei⸗
dung des Silbers aus ſeiner Jodverbindung und der Vereinigung
deſſelben mit dem dampfförmigen Queckſilber 459, 460; Talbots
Kalotyp-Papiere 461. Leiſtungen des Daguerrotypes 462.
Das Prisma S. 463. Entſtehung des Farbenbildes im Prisma
464, 465. Chemiſche Wirkung des violetten Strahles und ſeiner An⸗
grenzung außerhalb des Farbenbildes 465, 466; wärmende des ro⸗
then 466.
Der Mond und ſein Licht S. 467. Stärke des Mondlichts
im Vergleich mit dem Sonnenlichte 468; jenes hat keine erwärmende
Kraft 468, 469; der violette Strahl ſeines Spectrums keine chemiſche
469; Naturbeſchaffenheit des Mondes, mit der unſrer Erde verglichen
S. 469 — 473. 5 5
Das Verhältniß des Lichtes zu den Farben 473. Dunkle
Linien im Farbenbild des Prismas, erzeugt durch das Licht der Sonne,
ſo wie durch andere Arten des Lichtes S. 475. Verhältniß der Far⸗
ben der Körper gegen das Licht und die Wärme 476; eine geſchwärzte
Thermometerkugel als Lichtmeſſer 477; andre Arten den Grad der
Helle eines Lichtes zu e durch die Dunkelheit des Schattens
u. ſ. w. 478; Vergleichung der Helle bei verſchiedenen leuchtenden Kör⸗
pern 478; Farbenſtoffe der unorganiſchen Körper: Kohle und metal⸗
liſche Oxyde 479, 480, ihre Entfärbung S. 480. Die Farben der
Pflanzen und die Wirkung des Lichtes darauf S. 481. Einfluß der
Farben auf die Affecten der Thiere und des Menſchen 482, 483.
Angebliche Wirkungen der Farben und des Glanzes der Edelſteine
483. f
Der Nachtſchimmer oder die Phosphorescenz der Kör⸗
per S. 483. Der Bolognefer Leuchtſtein und die Entdeckung feiner
XXIII
Eigenſchaft durch Vincent Cascariolo S. 484, 485; andre na:
türliche und künſtlich bereitete ſogenannte Lichtträger oder Phosphoren
S. 486. Leuchten der Edelſteine und andrer feſten Steinmaſſen im Dunk—
len, nach vorausgegangner Beſtrahlung 486. 487 Leuchten des
Meeres S. 487. Clektriſches Licht, an dem ſogenannten Feuerregen
beobachtet S. 488; Phosphorescenz der todten wie mancher lebenden
organiſchen Körper S. 488. |
58. Bermuthungen über die leibliche Natur des Lich tes
Si. 488. Die Lehre von der Ausſtrömung (Emanation) des Lichtes,
als eines feinen, körperlichen Stoffes, durch Empedokles und 5
Newton aufgeſtellt und wiſſenſchaftlich durchgeführt S. 489, 490. Die
ſogenannte Undulationstheorie, von Ariſtoteles, Huyghens
und Euler angenommen S. 490. Die Lehre von dem Lichtaͤther
S. 491. Neuere Erklärung des Beugungsphänomens der Lichtſtrah—⸗
len aus einem wechſelſeitigen ſich Aufheben und Hemmen zweier, aus
verſchiedenen Richtungen kommenden Bewegungen (Interferenz) 491,
4792. Interferenz der Töne S. 493; der ſchwingenden Bewegungen
zweier Flüßigkeiten von verſchiedenem Gewicht und Zuſammenhalt der
Theile 494. Zahl der Schwingungen, welche durch die verſchiedenen
Tone in einer und derſelben Zeit der Luft mitgetheilt werden 495;
Leänge der Schwingungswellen bei den verſchiedenen Tönen 4963
Vermuthungen über die Raum- und Zeitverhältniſſe der Lichtwellen
496, 497.
59. Das Verhältniß des Lichtes zu anderen bewegenden
Naturkräften S. 497. Die beſondre Schwere (das Gewicht)
der irdiſchen Körper als bewegende Kraft 497; Magnetismus, Elek⸗
trizität, Wärme S. 498; Vergleich der bewegenden (anregenden)
Kraft des Lichtes mit jener der Nerven 499, 500. Beförderung des
Kryſtalliſirens durch mechaniſche Erſchütterung und Anregung 501,
beim Schmiedeeiſen 502; Erregung der magnetiſchen wie elektriſchen
Kräfte der Wärme und des Lichtes, durch mechaniſche Bewegungen
503. Dreiheit der Vermögen im Lichte vereint 504. Gründe, welche
gegen die Annahme ſprechen, daß mit den Lichtſtrahlen der Sonne beſon—
dre Wärmeſtrahlen vereint ſeyen 505; Lichterzeugung durch hohe Stei—
gerung der Wärme und umgekehrt 505. Große Hitze ohne eine ver—
hältnißmäßig eben fo ſtarke Helle 506. Einfluß der Richtung der
I bewegenden Kräfte 506; Einfluß der leiblichen Stellung, in der Eut⸗
wicklungsgeſchichte mancher Thiere 507 — 509. Vergleich der Wärme
mit dem centrifugalen, des Lichtes mit dem contripetalen Antriebe im
0 Bewegen der Weltkörper in ihren Bahnen 509 — 512. Beſtändi⸗
ges Zuſammenwirken und gegenſeitiges ſich Hervorrufen der beiden
Richtungen des Bewegens 513; Lichterſcheinungen beim plötzlichen
Ausdehnen ſo wie Zuſammenpreſſen der Körper; beim Entſtehen wie
beim Zerbrechen der Kryſtalle 514. Ausſcheidender, zerſetzeuder Ein—
fluß des Lichtes 515. Innere Verwandtſchaft zwiſchen Licht und
Schwere 516; zwiſchen Licht und Magnetismus, Elektrizität und
60.
61.
62.
63.
XXIV
Wärme 517. Unverſiegbarer Licht- und Waͤrmequell in der Sonne,
77 pl verwandt in feiner Wirkſamkeit mit der Wirkſamkeit der
eele 517.
Bewegung bei ſcheinbarer Ruhe S. 518. Verſchiedenheit
zwiſchen der ſchwingenden Bewegung der Luft beim Tönen und bei
mechaniſcher Fortbewegung ihrer Maſſe 518. Die Wärme beſteht,
wie das Licht, in einem ſchwingenden Bewegen 519. Ein ſolches iſt
bab im ſtarren Stein vorhanden und macht dieſen zu einem Fühl-
aren 520.
Einwirkung und Nachwirkung S. 521. Langfortdauernde
Schwingungen an einer durch den Schlag des Hammers zum Tönen
gebrachten Glocke S. 521. Verſtärkender Einfluß den die zurückblei⸗
bende innre Bewegung oder Nachwirkung auf die Wirkung einer neuen
Anregung von außen hat S. 521. Befähigung zum Leuch ten oder
Phosphoresziren im Dunklen, an Diamanten S. 522. Die durch öf⸗
tere Anregung von außen zunehmende Befähigung läßt ſich als Stim⸗
mung bezeichnen S. 522. Beobachtung an tönenden Inſtrumenten S.
523. Fortwährender Einfluß den die Richtung des Geſtaltens in ei⸗
nem ſchon gebildeten Kryſtall auf die Geſtaltung einer noch in kry⸗
ſtalliniſcher Bildung begriffnen Subſtanz hat S. 523, 524. Lang⸗
anhaltende Lebens» und Keimkraft an Pflanzenſaamen S. 524, 525.
Fortwährende neue Bildungen inmitten der ſchon zum feſten Be⸗
ſtand gelangten Felſenmaſſen S. 525.
Väterlicher und mütterlicher Einfluß auf Geſtaltung
und Wirkſamkeit der neu entſtehenden Körper ©. 526.
Der Einfluß den die Beſchaffenheit der Elemente, aus denen ein Kör-
per ſich bildet, auf ſeine Geſtaltung hat, läßt ſich als ein mütterlich
bildender bezeichnen S. 526. Stellvertretendes Verhältniß in wel⸗
chem manche Elemente der Körper mit einander ſtehen S. 527 — 529;
das Entſtehen ganz verſchiedener Kryftalls Geſtalten aus denſelben
Grundſtoffen, durch den Einfluß verſchiedener Wärmegrade auf die in
der Bildung begriffene Maſſe vermittelt S. 527. Verändernder Ein⸗
fluß der Siedehitze auf die Gährungsfähigkeit und Stimmung orga⸗
niſcher Verbindungen S. 528. Ein Genießbarwerden des Ungenieß⸗
baren, ja des Giftigern durch den Einfluß der Hitze bewirkt S.
529. Gay Luſſacs Erfindung eines einfachen Mittels die ſchon
durch die Hitze zubereiteten Speißen auf lange Zeiten vor der Ver⸗
derbniß zu ſchützen S. 531. Innre Verwandtſchaft von Stimmung
und Geſtaltung S 533. Einfluß des Lichtes und der Elektrizität
auf Stimmung und Geſtaltung der unorganiſchen Körper S. 533;
Einfluß des Klimas anf Stimmung und Geſtaltung der organiſchen
Weſen; die Abänderungen der Meuſchen⸗ und Thierform S. 533.
Die beſtimmten Proportionen in welchen die Grund:
ſtoffe ſich verbinden (Stöchiometrie) S. 534; Mechaniſche
und zufällige Miſchungen der Stoffe S. 534. Chemiſche Verbindun⸗
gen z. B. der Schwefelſäure und Kalkerde S. 535; von Richter
64.
65.
XXV
entdeckte die feſtſtehende Proportion der Gewichtsmengen nach be:
nen die Stoffe chemiſch ſich verbinden S. 537; Proportionsverhält⸗
niß der Maaßtheile oder Voluminen S. 537; zum Theil auch noch
bei der Zuſammenziehung in engeren Raum ſichtbar S. 539, die
Summe des Gewichts der einzelnen Stoffe findet ſich in der ganzen
Miſchung unverändert wieder S. 539. Scheinbarer Einfluß ber Ei⸗
genſchwere der Grundſtoffe auf die Kraft ihrer gegenſeitigen Anziehung
S. 540. Vermuthliche Proportion der Formen und Größen der Fleins
ſten Körpertheile (Atomen) daraus die Stoffe beſtehen S. 541.
Das Vermögen der Lebenskraft, zu ſchaffen und zu
erhalten S. 541. Verſchiedene Wirkung der Brutwärme auf
befruchtete und unbefruchtete Eier S. 541. Beſtändige Neigung der
organiſchen Verbindungen ſich zu zerſetzen S. 542. Künſtliche Zu⸗
ſammenſetzung der Grundſtoffe des Waſſers S. 542. Das Verhält-
niß in dem die Atome der Grundſtoffe in den organifchen Körpern
verbunden ſind, weicht ganz von dem ab, das in der unorganiſchen
Natur ſtatt findet S. 543. Vergleich der Lebenskraft mit den elek⸗
tromagnetiſchen Naturkräften S. 543. Verſchiedenartig chemiſche
Zuſammenſetzung der verhältnißmäßig wenigen Hauptformen und
Arten der unorganiſchen Körper, einfache Zuſammenſetzung der faſt
unzählbar vielen Formen und Arten der organiſchen Körper S. 545.
Chemiſche Wirkſamkeit der Lebenskraft der Pflanze S. 545. Man⸗
gel und Fülle S. 545.
Die Entwicklungsſtufen des Lebens S. 546. Rückblick auf
die Grundſtoffe der organiſchen Körper S. 546. Lebenskraft und Licht
S. 546. Wirkſamkeit und Dauer des leiblichen Lebens in Pflanzen
und niedren Thierarten S. 546; das höhere Werk des Lebens zu wel⸗
chem die Seele der vollkommenen Thiere ſchon durch das Wahrnehmen
ſeiner Sinne befähigt iſt S. 548; die innre Schöpfung des erken⸗
nenden Menſchengeiſtes S. 549; ihre Dauer und Beſtimmung für
die Ewigkeit S. 551. Schlußbetrachtung S. 552.
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77
I. Der Antrieb zum Leben und zum Erkennen.
1. Allen fehlt etwas.
Wenn man, namentlich die lebenden Weſen der Erde, die
Thiere und die Pflanzen betrachtet, da möchte man von ihnen
ſagen: es ſind Dinge denen beſtändig etwas fehlt. Bei dem
Bild aus Marmorſtein iſt das nicht ſo; dieſes hungert nicht
und durſtet nicht; ihm wird es niemals weder zu heiß noch
zu kalt; es braucht nicht Athem zu ſchöpfen; ihm thut kein
Glied weh. Und ſo würde jeder Stein, wenn er zum Reden
Verſtand und Kraft hätte, zu uns ſagen: ich bin ſatt und
verlange Nichts. Dagegen gebricht uns Menſchen, gleich wie
den Thieren, ſo lange wir leben, bald Dies bald Jenes.
Der muntre Vogel des Waldes hat immer etwas Nöthiges
zu ſchaffen; jetzt treibt ihn der Hunger, dann der Durſt von
ſeinem Neſte hinweg; viele tauſend Male in einem Tage
muß er friſche Luft ſchöpfen, wenn er nicht erſticken ſoll; am
Abend, wenn die Sonne zu Rüſte geht, ſehnt er ſich nach
dem Dunkel und nach der Erquickung des Schlafes, dann
wieder, wenn die Nacht zu Ende geht, nach dem Morgen—
licht und nach dem Vergnügen des Wachens. Und zu die—
ſem alltäglichen, kleineren Gedränge der Bedürfniſſe kommt
ihm noch alljährlich ein viel größeres; denn im Frühling hat
er für den Haushalt ſeiner Jungen zu ſorgen, im Herbſte
muß er weithin über Land und Meer ziehen um in der
Fremde ſein Unterkommen für die Zeit des Winters zu ſuchen.
Wie dem Vogel des Waldes, ſo ergeht es jedem Thiere
und ſelbſt der Pflanze. Denn auch dieſe bedarf der Nah—
rung aus der Luft und dem Boden; ſie muß Wärme und
2
Licht haben, wenn fie leben und gedeihen fol. Das Kraut
des Feldes, wie das Thier und der Menſch, ſind darin ſich
gleich, daß ſie alleſammt ihr zugemeſſenes Gewicht von des
Leibes Mangelhaftigkeit und Nothdurft zu ertragen haben.
Aber wenn auch dieſes Gewicht je zuweilen ſelbſt zur
Laſt werden ſollte, möchte dennoch Keiner von uns deſſelben
ledig, Keiner fo immer fatt und ohne allen Mangel ſeyn,
wie der Stein es iſt. Denn wenn ich gar nichts mehr empfinz
de von des Winters Froſt und des Sommers Hitze, wenn
mich nicht mehr hungert noch durſtet, wenn meine Bruſt nie—
mals mehr zu athmen begehrt, dann bin ich todt. Wie der
Zeiger an einer Wanduhr ſtille ſteht, wenn die Gewichte
hinweggenommen oder abgelaufen ſind, welche ihre Räder in
Bewegung ſetzten; ſo ſteht auch der Lauf des Lebens ſtill
und iſt zu Ende, wenn ſich kein Bedürfniß mehr regt, nach
einem Etwas, das des Lebens Mangel ausfüllt; das Leben
ſelber erhält ſich nur durch einen beſtändigen Wechſel zwiſchen
Begehren und Empfangen, zwiſchen dem Verlangen und ſei⸗
ner Befriedigung. Allen Lebendigen fehlt bald Dieſes bald
Jenes, aber es iſt auch reichlich dafür geſorgt, daß ſie Alle,
a Yin nach feinem Maaße, das bekommen was ihnen
abgehet. 6
2. Was Jedes haben muß,
Das giebts im Ueberfluß.
Wenn man unter uns Menſchen eine Umfrage darüber
halten wollte, was Jeder zu ſeines Lebens Unterhalt bedürfe?
dann würde die Antwort darauf ſehr verſchieden ausfallen.
Der reiche, an hunderterlei Bequemlichkeiten und Genüſſe ge⸗
wöhnte Bewohner der Städte würde meinen er könne nicht
leben ohne mehrere Gerichte von Fleiſch und Zuſpeiſe, Wein
und Bier, nicht aushalten ohne für die Zeit der Ruhe feine
Matrazzen und Polſter, zu ſeiner Bedeckung Pelzwerk oder
ſeidnes Gewand, zu ſeinem gewöhnlichen Aufenthalt ein ſchön
verziertes Zimmer zu haben. Der arme Bewohner unſerer
Gebirgsdörfer giebt es freilich viel kleiner zu, er iſt zufrieden
wenn er nur Brod und Kartoffeln, an den Werktagen Waſ⸗
ſer und etwa an Feiertagen einen Trunk Bier zur Stillung
ſeines Hungers und Durſtes hat. Auf ſeinem Strohpolſter
ſchläft er feſter als der Reiche; unter dem leinenen Kittel
3
ſchlägt ihm fein Herz eben fo fröhlich, ja oftmals fröhlicher
als dem vornehmen Manne unter dem Ordensband. N
Wenn aber nun dieſe beiden, der arme Gebirgsbauer
und der verwöhnte Städter mit einander auf einem Schiffe
führen, und das Schiff ſcheiterte, ſie jedoch retteten ſich auf einen
Felſen im Meere, wo es nichts zu eſſen und zu trinken gäbe,
ſo würden ſie dennoch, in Hoffnung auf das rettende Boot,
das ihnen, wenn auch erſt nach etlichen Tagen vom Lande
her zu Hülfe kommen ſollte, vergnügt und froh ſeyn, denn
ſie hätten doch da, auf dem frei über das Waſſer hervorra-
genden Felſen Etwas, das zur Erhaltung des Lebens noth—
wendiger iſt als Speiſen und Getränke, Betten und Kleider:
die Luft welche kein Menſch, er ſey reich oder arm, jung
oder alt, auch nur zehn Minuten lang entbehren kann.
Bei den Thieren fällt die Verſchiedenheit der Dinge, an
welchen jede Art ihr Belieben hat, noch viel mehr in die
Augen. Der Adler wie der Löwe würden in einem Garten,
voll der köſtlichſten Früchte und Gemüſe, auf einer Wieſe
voller Klee und Gras verhungern: ſie begehren friſches Fleiſch
und Blut zu ihrer Nahrung und müſſen die Sättigung oft
weit umher und mit Mühe ſuchen, welche das Lamm in ſei—
nem Grasgarten ganz nah und ohne Mühe findet; der Storch
zieht das Fleiſch der Fröſche, der Eidechſen und Schlangen,
der Feldmäuſe und Heuſchrecken jeder andern Koſt vor; ſein
Vetter, der Kranich, lobt ſich dagegen den Genuß der grü—
nen Saat wie der Saatkörner, junger Erbſen und nebenbei
der Inſekten. Die ſtachlichen Gewächſe, an denen das Ka—
meel in ſeiner armen Wüſte ſich vergnügt, würde, wenn ſie
bei uns wüchſen, weder Roß noch Hirſch anrühren; der
mächtige Wallfiſch ſättigt ſich an den Weichthieren und Gal⸗
lertthieren des Meeres, an denen der gefräßige Haifiſch und
mancher viel kleinere Raubfiſch vornehm, ohne anzubeißen,
vorüber ſchwimmt. Und ſo iſt der Geſchmack an den oder
jenen genießbaren Dingen bei den Thieren faſt fo verſchie—
den als ihre Art und Geſtalt, ihr Wohnort und Vaterland
es ſind, ein Element des Unterhaltes aber giebt es, welches
ſie ohne Ausnahme Alle begehren, ohne welches der Löwe
eben ſo wenig als die Maus, der Hirſch eben ſo wenig als
die Schnecke leben kann, das iſt die Luft, welche nicht wie
Speiſe und Trank erſt in den Magen und in die Eingeweide
eingeführt und hier zum Nahrungsſaft werden muß, um
1 *
4
dann weiter ins Blut zu gehen, fondern auf geradem Wege
unmittelbar zu dieſem Quell des thieriſchen Lebens ſich hinab⸗
ſenkt. Alle Thiere, ſie mögen den Namen haben wie ſie
wollen, ſie mögen bei den Kräutern des Feldes und Wal⸗
des, oder bei der Fülle des thieriſchem Fleiſches, im Meere
oder auf dem Lande in Koſt gehen, müſſen athmen, wenn
ſie zum Bewegen, zum Eſſen und Trinken kräftig bleiben,
wenn ſie leben ſollen.
Aber gerade von jenem unentbehrlichen Element, das
die Thiere wie die Menſchen zu ihrem Leben und Beſtehen
haben müſſen, nicht nur etwa gern haben möchten,
gilt das am meiſten was das alte Sprüchwort fee
Wo unſre Kraft iſt viel zu klein
Stellt Hülfe ſich von ſelber ein.
Müßten die Leute in Neapel, welche meinen fie könnten
im Sommer keinen Tag hinbringen und vergnügt ſeyn, wenn
ihnen nicht, über die Meeresbucht herüber, aus den Schnee—
gruben des Gebirges, friſches Eis zugeführt würde „ fo lange
auf die friſche Luft, die mit jedem Athemzug in ihre Lungen
dringt, warten als auf das friſche Eis, da würde es bei
ihnen mit dem Vergnügtſeyn wie mit dem Leben bald ein
Ende haben. Ja wenn der ſchnellſte Vogel ſo weit darnach
fliegen müßte um einen friſchen Athemzug zu thun, als nach
einem Trunk aus dem Bache, der am Walde vorbeifließt,
da würde er ſchon auf ee Wege erſtickt ſeyn. Aber eben
für dieſe, nicht nur tägliche oder ſtündliche, ſondern in jedem
Augenblick ſich erneuernde Noth iſt auch draußen, im großen
Haushalt der Natur am gründlichſten und ausreichendſten
geſorgt. Denn Luft iſt überall wo lebende Weſen wohnen,
auf den Höhen und in den Tiefen; ſie drängt ſich dem neu⸗
gebornen Kinde von ſelber in den Mund und in die Lun⸗
l ſie findet durch die kleinen Oeffnungen, am dicken Ende
der Schaale, den Zugang, ſchon zu dem Kügelchen im Ei;
ſie ſenkt ſich hinab ins Waſſer, bis zum tiefeſten Grund des
Meeres und wird da, von den Waſſerthieren, eingeathmet;
in alle Höhlen und offne Gruben der Erde, ja ſelbſt in das
Innre der Pflanzen- und Thierkörper dringt die Luft hinein
und erfüllt dieſelben.
So erinnert uns die Luft, welche alle Lebenden umfaßet
und durchdringet, wie ein Bild im Spiegel an eine allerhal⸗
tende Fürſorge, in und durch deren Walten alles Geſchaffene
5 0
beſtehet, in deten ſchöpferiſchem Vermögen wir Alle leben,
weben und ſind.
3. Die Haus mutter. N
Ein anderes Bild, im Spiegel der Natur: das Bild
einer guten Hausmutter, ſtellt ſich uns in dem Waſſer dar.
Ohne das Waſſer würde gar bald die ganze Oberfläche der
Erde zu einer Einöde werden, gleich den afrikaniſchen Wü—
ſten in der dürren Zeit des Jahres; ohne daſſelbe würden
alle Gewächſe verdorren, alle Thiere dahinſterben. Aber
gleich einer ſorgſamen Mutter, die ohne Aufhören in allen
Räumen ihres Hauſes herumwandelt, bald hinab zu dem
Keller, bald zum Speicher des Oberbodens ſteigt, um alle
die Ihrigen mit dem, was ihnen noth thut, zu verſehen,
ſtrömt das Waſſer der Erde in den Flüſſen und Bächen
hinab zu dem Meere, ſteigt von da, nach kurzem Verweilen,
als Dampf hinauf in die Luft, träufelt als Thau, ergießt
ſich als Regen über das durſtende Land, ſammlet ſich auf
dem kühlen Gebirge oder auf dem waldigen Hügel zum
Quell oder Bach, und rinnt, indem es ſeine nährenden Ga—
ben rings umher , von neuem hinab zur Tiefe. Das
Waſſer folgt dem Bergmann nach in ſeine Gruben, wie dem
Kryſtallgräber auf ſeine kahlen Berghöhen; denn eben ſo wie
die Luft ins Waſſer eindringt und in dieſes ſich verſenkt, ſo
drängt ſich das Waſſer, in luftiger Geſtalt, in die Atmo⸗
fpbäre ein, und giebt den Alpenpflanzen und Mooſen des
Hochgebirges in ſolcher Fülle zu trinken, daß kaum die Mit⸗
tagsſonne die perlenden Tropfen hinwegnimmt. Nur da wo
kein Kraut mehr gedeihen, wo kein durſtendes Leben ſich
mehr erhalten kann, in den kalten Höhen, dahin ſich nur
Luftſchiffer und kühne Gebirgsbeſteiger erheben, ſcheint das
Waſſer ſeiner hausmütterlichen Mühen und Sorgen entbun—
den, dort kommt es nur wenig hin, die Luft iſt da waſſer—
leerer als anderwärts.
Wie im Schooße der Mutter, ſind im Waſſer die zar—
teften, feinſten Thierarten verwahrt und, geborgen, die Po⸗
lypen, welche die Gorallengebaude anlegen und die vielfachen
Formen der gallertartigen Scheibenthiere (Quallen). Ueber⸗
aupt Pau man A. daß die e eee Anfänge
5 (eu Min FE HB,
6
des Thierreiches, aus denen gleichſam die höheren, vollkomm⸗
neren Geſtaltungen der Landthiere erſt ausgeboren werden,
im Mutterſchooß des Gewäſſers beſchloſſen ſind.
Waſſer giebt es freilich viel auf Erden, denn mehr als
drei Viertheile ihrer Oberfläche ſind vom Meere bedeckt, und
Ströme wie Seen und Sümpfe finden ſich in den verſchie—
denen Welttheilen und Ländern in großer Zahl. Dennoch
kommt dieſes wohlthätige Element den Landthieren, die nach
ihm dürſten, nicht ſo von ſelber entgegen, wie die Luft die
ſie athmen, ſondern es muß von ihnen oft in weiter Ferne
und mühſam aufgeſucht werden. Denn das dampfförmige
Waſſer, das in der Luft ſchwebt, ſtillt ihren Durſt nicht,
und das ſalzige Waſſer des Meeres, welches ihn nur ver⸗
mehren würde, iſt meiſt für ſie ungenießbar. Aber dazu hat der
Vogel ſeine Flügel, das vollkommnere Landthier ſeine rüſti⸗
gen Füße empfangen, daß es mit Hülfe derſelben das auf⸗
ſuchen kann, was ihm fehlt und in wenig Minuten iſt die
Schwalbe, die in den Felſenritzen des peträiſchen Arabiens
niſtet, wenn ſie der Durſt treibt, bei der Lache angelangt,
in der ſich, von der Regenzeit her, noch einiges Waſſer ver⸗
halten hat; die Heerden der ſchnellfüßigen afrikaniſchen Ga⸗
zellen ziehen von einem Landſtrich zum andern, dem Regen⸗
gewölk nach, wenn dieſes jetzt hier dann dort ſeine Segens⸗
fülle ergießt, und jeden Morgen, wie jeden Abend finden
fie, von der fernen Weide her, am Tränkplatze ſich ein.
Viel anders als bei den Thieren, verhält es ſich bei
den Gewächſen des Landes. Dieſe können nicht von ihrem
Orte hinweg um nach dem Waſſer zu ſuchen, ſie müſſen es
abwarten bis dieſes ihnen ſelber entgegenkommt. Und ven:
noch bedürfen ſie des Waſſers noch viel mehr als die Thiere.
Denn dieſe finden zum Theil ſchon in ihrem Futter Säfte,
die ihren Durſt zu ſtillen vermögen; der Raubvogel im fri⸗
ſchen Fleiſch und Blut der erbeuteten Thiere, der Stier und
die Gemſe in den Stengeln und Blättern der Kräuter. Bei
der Pflanze dagegen iſt das Waſſer nicht bloß eine Zugabe
zur Speiſe, ſondern es iſt für ſie das Hauptnahrungsmittel
ſelber, wie für den Säugling die Muttermilch. Der zarte
Säugling, wie übel wäre er daran, wenn er ſeine Nahrung
ſelber aufſuchen müßte, er, der noch nicht ſtehen, noch gehen
kann, ſondern in ſeinen Windeln es erwarten muß, daß die
Mutter ihn tränkt. Und er darf nicht vergeblich harren; die x
—
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55
7
Liebe treibt feine Mutter mächtiger zu ihm hin als fein Hun-
ger ihn zur Mutter.
Gleich wie dem Säugling, ergeht es dem Reiche der
Pflanzen. Nicht nur das flüſſige Waſſer des Bodens dringt
in ihre feinen Wurzelzaſern ein, ſondern wie die Milch dem
neugebornen Kinde, genügt vielen Gewächſen das dampfför⸗
mige Waſſer, das neben der andern luftförmigen Nahrung,
in der Atmoſphäre ſchwebt. Wie die Hausmutter ungerufen
und von ſelber ihrem Säuglinge naht, ſo kommt das Waſ—
ſer aus der Luft herab den Pflanzen entgegen; wo viel Wald
und reiches Grün iſt, da giebt es Quellen und Bäche, und
das Regengewölk zieht ſich am meiſten nach der pflanzenrei⸗
5 Gegend hin: wo aber der Menſch im unbedachtſamen
Eifer ſeines Culturtriebes oder aus Barbarei, die Hügel und
Thäler ihrer Wälder und Gebüſche beraubt hat, da verſie⸗
gen Quellen und Bäche und das Land wird zur dürren
Einöde.
So kann ſich ſelbſt an der Pflanze, welche ohne Auge
und Ohr, ohne jeden erkennenden Sinn für die Mutter,
die ſich ihr nahet, nichts thun kann als nur kräftig die Nah⸗
rung ſaugen, die ſich ihr darbeut, die Liebe dieſer Mutter
nicht verläugnen: jene Fürſorge, die all ihrer Geſchöpfe
gedenkt. Wie der Adler ſeinen Jungen, ſo lange ſie noch
unbefiedert und ſchwach im Neſte liegen, die Nahrung her—
beiträgt, die fie nicht in eigner Kraft erfaſſen können, fo
»ſendet Er, der Allen ihr Weſen gab, feinen hülfloſeſten
Geſchöpfen das was ihnen noth thut, zu ſeiner Zeit. Es
heißt da mit Recht:
u. Der Starfe für fich felber wacht, |
Den Schwachen nimmt der Herr in Acht. 4
4. Die lebendigen Waſſerquellen.
Als Nachtrag zu dem, was wir ſo eben über die Gabe
ſagten, welche dem Gewächsreich verliehen iſt, das belebende
waer ſelbſt von oben, aus der Luft anzuziehen und daſſelbe
in Saft und Kraft zu verwandeln, führen wir hier einige
Beiſpiele an, indem es ſich recht deutlich zeigt wie jene uns
ſichtbare Nahrung die das Gewächs empfängt, ſelbſt für
andere Band Weſen zu einer ſichtbaren Gabe der Erquik⸗
8
In er heißen Küſtengegenden von Sierra Leone giebt
es ein Gewächs, das an andren ſich emporwindet, die Trink⸗
geſchirrſtaude (Tetracera potatoria) deren ſich die Bewoh⸗
ner des Landes als eines lebendigen Waſſerbrunnens bedie⸗
nen. Denn wenn man die friſchen Stengel oder Blätter
dieſer Pflanze durchſchneidet, dann fließt in reichlicher ige
ein klares, trinkbares Waſſer heraus. An dem großen Waſ⸗
ferquellbaum (Phytocrene gigantea) in Dftindien, haben
die dortigen Bewohner ein ähnliches ſich von ſelber füllendes
Trinkgefäß und die gleiche Eigenſchaft wird noch an verſchie⸗
denen andern Gewächſen beobachtet. An den Blättern des
ſchlauchtragenden Nepenthes, der auf Ceylon und den Mol⸗
lucken wächſt, finden ſich länglich ſackartige Behältniſſe, „ die
mit einem lieblich ſchmeckenden, erfriſchenden Waſſer gefüllt
find. Sechs bis acht ſolche Schläuche reichen hin um den
Durſt eines ſchmachtenden Mannes zu ſtillen. Aus den
jungen Zweigen einer braſilianiſchen Cäſalpinia träufelt ohne
Aufhören Waſſer wie ein Regen herunter. 1
Am bewunderungswürdigſten erſcheint das Vermögen
den Waſſerdampf der Luft in tropfbar flüſſiges Waſſer um⸗
zuwandeln an einigen jener, von Säften ſtrotzenden Ge⸗
wächſe aus der Familie der Fackeldiſteln, welche auf dürren
Lavafelſen und auf anderm Boden wachſen, in welchem für
ihre Wurzeln auch nicht ein Tröpflein Feuchtigkeit zu finden
iſt. Die melonenartigen Fackeldiſteln (die Melocacten) wach⸗
ſen und gedeihen in den heißeſten Länderſtrichen von Amerika.
Wenn in der dürren Jahreszeit alles andere Grün des Bo⸗
dens verwelkt und erſtorben iſt, wenn die Thiere der Wild⸗
niß vergeblich nach Waſſer lechzen und weit umher fein ger
nießbarer Tropfen zu finden iſt, dann giebt es noch allein
im Innern der Melocacten Waſſer im Ueberfluß. Das flei⸗
ſchige Gewebe ihres Stammes iſt von wäßrigem Safte ganz
erfüllt und durchdrungen. Die Heerden der verwilderten
Rinder und Pferde wittern den Labetrunk und wiſſen ſich
ihn zu verſchaffen, indem ſie, ehe ſie den Mund nahen, zuerſt
mit den Hufen die feſten, ſcharfen Stacheln, womit die Au⸗
ßenfläche der Melocacten bedeckt iſt, hinwegzuſtoßen fü en,
wobei freilich manches der durſtenden Thiere auf lange Zeit
hinkend wird, wenn ihm beim Geſchäft des Abpu: ens a
und der andre Stachel ins Fleiſch hineindringt. Dieſe St
cheln aber, die den verſchmachteten e ſo e u.
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2 *
3
9
gefährlich ſind, ſcheinen dem merkwürdigen Gewächs deßhalb
verliehen zu feyn, daß es mitten in der dürren Jahreszeit
und auf dem dürren Boden darauf es ſtehet, nicht ſelber
vor Mangel an Waſſer verſchmachten und abſterben müſſe,
denn jene ſcharfen Spitzen, die wie kleine Gewitterableiter
hervorſtehen „ mögen wohl für das Herbeiziehen und bei der
Ausſcheidung des eee eee Waſſerdunſtes von weſent—
lichem 11 ſeyn.
Manche Gewächſe können ſogar durch die Beſchaffenheit
ihrer Säfte daran erinnern, daß ſie Säuglinge der Natur
nd. Der amerikaniſche Hoa⸗ hyabaum giebt, wenn man
\ inſchnitte in ſeine jungen Triebe macht, eine Flüßigkeit von
ic 3 Bel e an 0
Geſchmack und Beſchaffenheit ſo ganz einer
milch gleicht, daß man ſie als Rahm zum
Kaffee del Thee 141 5 kann. Auch in dem gemeinen Kuh⸗
baum (Galactodendron utile) findet ſich ein milchähnlicher
Sit, der jedoch ftatt des buttrigen Fettes einen wachsarti-
en Stoff enthält. Ohne alle Mühe empfängt der Menſch
ger
dus den Früchten der Oelpalmen (Elais und Alfonfia olei-
a ein e d 1 aus denen des nu
ar Bereitung 10 cher f Menſchen und Thie 1
barer Stoffe, deren das Gewächsreich außer den eben ge—
nannten noch viel tauſenderlei andre hervorbringt, bedarf
ie wie wir dies weiter unten noch näher betrachten
werden, keines andern Materiales als des dunſtförmigen
oder flüffigen Waſſers aus der Luft und dem Boden, fo wie
weniger andrer ebenfalls in der Luft und dem Boden enthal⸗
er oder mit dem Waſſer vermiſchten Elemente, unter denen
wichtigſte der ſpäter zu beſchreibende Kohlenſtoff iſt. Mit
inſt und Wiſſenſchaft können wir fo etwas nicht
en; wir können uns nicht einmal, wie der Melocac—
% 10
tus, mitten in der dürren Wüſte aus der Luft eine Waf-
ſerquelle verſchaffen. Alle ſolche Werke des Gewächsreiches
ſind ein Wunder der Schöpferkraft, und die Wiſſenſchaft
thut keine Wunder. Man muß da bekennen:
Wenns daſteht greift man's mit der Hand
Doch wie es kam iſt unbekannt. 0
5. Das allgemeine Koſthaus.
Welche menſchliche Anſtalt für Pflege und Bewirthung
der Gäſte, wäre wohl mit jener zu vergleichen, die unſer
Schöpfer hier auf Erden für ſeine Gefen behrinezt und
angeordnet hat. In ihr werden in je em Augenblick, bei
Tage wie bei Nacht, Millionen der lebendigen Weſen ge⸗
ſpeiſt und getränkt; manche Gäſte kommen ſpät, die andern
früh und immer iſt es ſo eingerichtet, daß die für Jeden
beſtimmte Speiſe gerade in dem Augenblicke wo er eintritt,
fertig und bereitet ſteht. Da ſättigen ſich die Großen wie
die Kleinen, Starke wie Schwache und ſelbſt die Kranken
finden Alles, was ihnen zur Stärkung und Heilung dienen
kann, ganz nahe vor ſich hingeſtellt; noch ehe die Noth eintrat
iſt ſchon für ihre Linderung geſorgt.
Was war alle Fülle an Salomo's Königshofe gegen
die Fülle im großen Haushalt der Schöpfung, und doch
wird in dieſem nirgends Etwas verſchwendet; kein Broſamen
und kein Tropfen des Genießbaren bleibt ungenützt; für jede,
auch die kleinſte Gabe der Natur findet ſich ein Abnehmer;
was die Großen übrig laſſen, das kommt den Kleinen zu
Gute; was die Einen von ſich ſtoßen, das nehmen die An⸗
dern mit Begierde auf; was Jenen zum Eckel, oder ein Gift
wäre, das dienet dieſen zur gedeihlichen Nahrung. i
ö Bei den Indiern, welche noch dem alten Götzendienſt
anhangen, beſteht der Gebrauch, daß Keiner der nicht ſelber
von ſolchem Prieſterſtande iſt, der Mahlzeit eines Brahmi⸗
nen (Brahmaprieſters) zuſehen, noch weniger aber mit dies
ſem aus derſelben Schüſſel eſſen, aus demſelben Becher trin⸗
ken darf. So giebt es auch auf unſrer Erde eine Ordnung
der lebenden Weſen, welche ihre Mahlzeit vor dem Auge
der andern Lebendigen geheim hält und welche aus einer
Schüſſel ſpeiſt, aus der die Andren ſich niemals laben
nen. Dieſe Ordnung iſt, wie wir eigentlich ſchon
11
beiden vorhergehenden Capiteln ſahen, das Pflanzenreich.
Sorgfältiger noch als der Brahmine ſein Eßzimmer vor neu⸗
gierigen Blicken, verbirgt der Baum ſeine nahrungnehmende
Wurzel in der Tiefe des Bodens, und welches Auge eines
Menſchen oder ſelbſt eines ſcharfblickenden Falken vermöchte
den dampfartigen Stoff der Luft zu ſehen, von welchem, wie
wir ſo eben ſahen, die Fackeldiſtel ſich nährt, wenn ſie
am dürren Felſengeſtein ihre ſaftvollen Blattkörper, ihre
großen, ſchönen Blüthen und ihre fleiſchigen Früchte entfal-
tet. Auch verbietet es ſich von ſelbſt, daß weder Thier noch
Menſch mit der hohen Palme aus einer Schüſſel ſich ſätti—
gen, denn keines von ihnen würde am Thau des Himmels
und am moderich feuchten Erdreich des Bodens ſich begnügen
können. Der Tiſch, an welchem das Pflanzenreich durch die
mütterlichen Kräfte und Säfte der Erde und des Sonnen—
lichtes geſpeiſt und getränkt wird, damit die Rebe ihren
Wein, der Getreidehalm ſein Waizenmehl und ſeine Gerſte
gebe, iſt und bleibt für Gäſte unſrer Art ein unzugänglicher
und verborgner. 5
Wohl aber iſt unſerm beobachtenden Auge der Zutritt
erlaubt zu den meiſten Speiſetiſchen des Thierreiches, und
hier wird uns die Einrichtung der großen Bewirthungsanſtalt
verſtändlicher. Fürs Erſte gilt es auch hier, daß den Klei-
nen oder den Gebrechlichen, die nicht ſelber nach ihrem Fut—
ter gehen können, die Speiſe zugebracht und in den Mund
gereicht wird. Dem jungen Vogel, der noch ſchwach und uns
befiedert im Neſte liegt, erweiſt die Liebe der Eltern dieſen
Dienſt, für ſolche Thiere, welche der Pflege der Eltern ent—
behren müſſen und dennoch ſich nicht fortbewegen können,
ſorgt eine Liebe welche mächtiger und allumfaſſender iſt als
alle Liebe der Eltern. Die Auſter, gleich manchem andren
ihr ähnlichen Muſchelthier, ſitzt an ihrem Felſen feſtgebannt;
ſie hat weder Augen noch irgend etwas Andres das zu einem
eigentlichen Kopf gehört, nichts als einen Mund der nach
Futter verlangt und einen Leib der genährt ſeyn will, und
dennoch braucht ſie nur ihre Schaalen zu öffnen, um bald
das zu empfangen was ſie bedarf. Das Würmchen, woraus
der Haſelnußkäfer kommt, würde übel daran ſeyn, wenn es
mit ſeinen kleinen Fußſtummeln weit nach Futter gehen müßte,
gleich jenem Knaben im Mährchen, der in einen Pfann—
berg eingeſchloſſen war, von deſſen wohlſchmeckenden
12
Wänden er fi nach Belieben fättigte und nährte, bis er
ſich bis ans Tageslicht hindurchgegeſſen hatte, ſitzt es mitten
innen in dem ſüßen Kern und braucht nur anzubeißen, ohne
dabei von der Stelle zu gehen. Und in ähnlicher Weiſe iſt
den meiſten Inſektenlarven ihre Tageskoſt unmittelbar vor
den Mund hingeſtellt, oder doch leicht erreichbar.
Aber nicht blos bei den Thieren der ſogenannten niedren
Ordnungen iſt für die Unbeholfenen die Anordnung getrof—
fen, daß ihnen die Hülfe von ſelber entgegenkommt, ſondern
auch für die Thiere von vollkommnerem Bau, wenn ſie ſchlecht
zu Fuße oder durch andre Urſachen gehindert ſind ſich ihren
Lebensunterhalt ſo leicht wie andere Thiere zu erwerben,
giebt es Reichenſpitäler und Verſorgungsplätze „ wo ihnen ihr
Fortkommen erleichtert wird. Das Faulthier iſt unten am
Boden ein ſchlechter Fußgänger und müßte, wenn es da feiz
ner Nahrung nachgehen ſollte, Hunger und Kummer leiden.
So aber ſind ihm die dichtbelaubten Bäume, auf denen es
mit ſeinen langen Klauen ganz bequem ſich feſthalten und
herumklettern kann, zum Invalidenhaus angewieſen, worin
ihm die Fülle der Blätter, die ihm zur Nahrung dienen,
reichlich genug in den Mund wächſt. Der Ameiſenbär oder
Tamandua mag zu ſeiner Koſt weder Baumblätter noch
Früchte, er bedarf der Inſecten. Aber was ſollte aus ihm
werden, wenn er jenen behenden Thierlein mit ſeinen unbe—
holfenen, langklauigen Füßen nachlaufen müßte? Doch auch
für dieſen Invaliden ſind mitten in der Einöde nicht nur ein⸗
zelne, ſondern gar viele Tiſche gedeckt und ſo reichlich mit
Speiſe beſetzt, daß er nur zulangen darf um ſich mit leichter
Mühe ſatt zu eſſen. Dieſes ſind die Ameiſenhaufen, die er
mit ſeinen langen Klauen aufgräbt, dann ſeine klebriche Zunge
unter das Gewimmel der kleinen, ſtreitluſtigen Thiere hinein⸗
ſteckt und wenn dieſelbe nach wenig Augenblicken ganz dick von
Ameiſen beſetzt iſt, ſie hineinzieht in den Mund und den le⸗
bendigen Biſſen, der übrigens darinnen ſogleich zu leben
aufhört, hinabſchlingt in den Magen.
Selbſt unter den Vögeln, die doch außer den Füßen auch
noch ihre Flügel zur Fortbewegung haben, wird, je nach
Bedürfniß Manchen der Erwerb ihres Unterhaltes auf eine
recht auffallende Weiſe erleichtert. Wie bequem iſt zum
Beiſpiel dem Reiher, der viel bedarf und im Vergleich mit
der Löffelgans nur wenig Geſchick dazu hat, ſein Fiſchfang
13
gemacht, wenn ſich, ſobald er in das Waſſer eines Teiches
hinneintritt, die kleinen Fiſche, für welche die natürlichen
Ausſonderungen dieſes Vogels eine Lockſpeiſe find, ſchaaren⸗
weiſe um ſeine Füße verſammlen, und ſich dem eßluſtigen
Gaſte von ſelber darbieten.
Einer eigenthümlichen Begünſtigung genießen auch für
ihren Lebensunterhalt die bei Nacht oder in der Dämmerung
auf Nahrung ausgehenden Thiere. Die Fledermaus hat nur
| wenig Zeit zu ihrer Jagd, denn die Zeit der langen Winter⸗
nächte verſchläft ſie und im Sommer, wenn ſie für ſich und
ihre Jungen das Meiſte bedarf, ſind die Nächte nur kurz.
*
Aber ihre nächtliche Jagd iſt dafür auch viel einträglicher als
die der andren een en Thiere, die am Tage auf
Beute ausgehen. Denn in den Zeiten der Dämmrung und
des nächtlichen Dunkels giebt es die fetten, wohlbeleibten
Braten der großen Dämmrungs- und Nachtſchmetterlinge, ſo
wie der Maikäfer und andrer ähnlicher Käfer. Die Nacht—
eule, deren Revier während des Tages von manchem andren
Raubvogel durchſucht und ausgebeutet iſt, kommt freilich erſt
dann, wenn die andren Gäſte abgeſpeiſt und ſich nach Hauſe
begeben haben. Dennoch iſt auch auf dieſen ſpäten Gaſt
noch Bedacht genommen und ihm, deſſen Blick nicht ſo weit
wie der des Falken in die Ferne reicht, ſind auf den nach⸗
barlichen Feldern und Wieſen die beiten, kräftigſten Biſſen
in ſolcher Menge aufgeſpart, daß für ihn die kurze Zeit der
Dämmrung zur Sättigung und Verſorgung ſeiner Jungen
hinreicht. Denn gerade dann, bei Anbruch der Nacht und
beim Grauen des Tages, oder bei Mondlicht geht das zar⸗
teſte Wildpret der Auen: das Heer der Feldmäuſe aus ſei⸗
nem Bau hervor auf die Weide, und wird dem Käuzlein
zur leichten Beute, während der große Schuhu mit gleichem
Glück auf die Jagd der wilden Kaninchen und Haſen, ja
ſelbſt der jungen Rehe ausgehet.
Es iſt freilich nicht der hörbare Ton einer Glocke, der
die Gäſte zur beſtimmten Stunde an ihren Tiſch, zur berei⸗
teten Mahlzeit rufet, aber der Ruf der alle Thiere dahin
führt, wo für ihre Sättigung geſorgt iſt, muß ein ungleich
mächtigerer ſeyn, als jeder unſren Sinnen vernehmbarer,
denn er dringet weit über Meere und Länder durch alle Re—
gionen der ob erirdiſchen Schöpfung. Er wird auch von den
Thieren nicht durch die gewöhnlichen äußerlichen, ſondern
14
durch einen andren, innren Sinn vernommen (nach Cap. 7.).
Denn obgleich der Wandervogel Augen hat, welche weit in
die Ferne ſchauen, dabei ein ſcharfes Gehör und feinen Ge⸗
ruch, können dennoch ſeine geſunden Sinne ihm wenig oder
nichts helfen, wenn jetzt die Winterkälte herannahet, die von
ſeiner Heimath Alles hinwegnimmt, was ihm zum Lebensun⸗
terhalt nöthig iſt. Wenn er ſich auch auf den Gipfel des
höchſten Baumes oder des Felſens am Strande ſetzet und
weit hinausblickt über das Meer, kann er doch das Land
nicht ſehen, das ihm zum Winteraufenthalt dienen ſoll. Der
Trieb zum Wandern ergreift auch den Vogel im wohlver⸗
wahrten Käfich, wo er von der herbſtlichen Abkühlung der
Luft und von der Abnahme der Nahrungsmittel nichts zu
leiden hat, mit ſo unwiderſtehlicher Macht, daß er bei Tag
wie bei Nacht keine Ruhe hat; der junge Kukuk, der ſeine
eigentlichen Eltern niemals geſehen hat, fliegt, ſobald er der
Haft, in welcher ihn der Menſch hielt, entkommen kann, vom
Wandertrieb geführt, auf geradem Wege gen Süden, in ein
wärmeres Land. Allerdings geht dieſer Zug zu dem Gaſt⸗
mahle, das in der Fremde auf die Wandrer wartet, in un⸗
gemein viel weitre Fernen als der Zug der den Mund der
feſtſitzenden Auſter zu ſeiner Nahrung, und dieſe zu ihm lei⸗
tet; aber der Vogel wie die Auſter folgen hier beide blind⸗
lings einem Rufe, der kein andrer iſt als jener ſchöpferiſche,
welcher ſie entſtehen hieß und ins Leben rief.
Was die verſchiedenen Gerichte betrifft, womit im großen
Haushalt der Natur die einzelnen Arten der Thiere bewirthet
werden, fo find dieſe Speiſen ihrer Beſchaffenheit und Zu⸗
bereitung nach eben ſo mannichfach als die Gäſte welche ſie
genießen. Namentlich den Thieren, welche auf dem Lande
leben, iſt zunächſt und im Allgemeinen das Gewächsreich zu
ſeiner Erhaltung angewieſen. Denn, wenn es keine Pflanzen
gäbe, dann würde es gar bald auch jenen Thieren, die ſich
vorzugsweiſe vom Fleiſch der Pflanzenfreſſer nähren, an Un⸗
terhalt fehlen. Die Pflanzen vor Allem ſind es, welche die
Kräfte und Säfte des Lebens die ſie aus ihrem geheimniß⸗
vollen Mahle (nach S. 11.) empfingen, den Lebendigen von
thieriſcher Natur mittheilen, und nicht nur auf dem Lande,
auch im Meere hat das Gewächsreich, in der Form der Tang⸗
arten oder Seegräſer dieſe Beſtimmung für das Thierreich.
Die Pflanzen, ſobald ſie nur in dem ihnen ange⸗
15
meffenen Element, im Waſſer oder an der Luft ſeyn können
und den Grad der Wärme wie des Sonnenlichtes genießen,
der ihnen zuträglich iſt, finden überall was ihnen zur Erhal—
tung nöthig iſt. Denn das Waſſer und die andren Grund⸗
ſtoffe der Luft und des Bodens, welche den Gewächſen zur
Nahrung dienen, ſind überall dieſelben, in Norden wie in
Süden, in Oſten wie in Weſten und es iſt dabei keine weitre
Zubereitung nöthig als die, welche das Sonnenlicht
und die Wärme bewirken. Andre Anforderungen an die
Beſchaffenheit der Nahrungsmittel macht das Thierreich. Faſt
jede Art deſſelben will die Gerichte, die es genießen ſoll, erſt
auf eine beſondere Weiſe zubereitet haben, entweder in den
Gefäßen und in der Küche eines Pflanzenkörpers oder eines
Thierleibes. Setzte man uns Menſchen oder ſelbſt den Hun⸗
den und Schaafen ſtatt des gewohnten Mittagseſſen eine
Suppe vor, die aus Waſſer und aus den Stoffen die ſich
im modrigen Erdreich und in der Luft (als Kohlenſtoff und
Stickſtoff nach Cap. 24.) befinden zuſammengebräut wäre, wir
alle drei, der Menſch, der Hund und das Schaaf würden
nicht zulangen mögen und bei der vollen Schüſſel verhungern.
Wenn aber die nämlichen Stoffe im Körper der Pflanzen
zu Blättern und Stengeln des Graſes und Klees, zum
mehligen Knollen des Kartoffels, zu Körnern des Waizens
oder zur ſonſtigen Frucht des Weinſtockes und Obſtbaumes
ausgekocht, oder wenn ſie im noch weiteren Fortgang der
Verfeinerung im Magen, etwa des Rindes zum Blut und
Fleiſch, zu Milch und Käße geworden ſind, dann finden ſich
Schaaf wie Hund und Menſch zufrieden geſtellt.
Viele Arten, namentlich der unvollkommneren Thiere,
begehren immer nur ein und daſſelbe Gericht, wie etwa die
Blätter und Früchte dieſer oder jener Pflanzenart und nur
nothgedrungen ſuchen ſie ihre Sättigung an einem andren
Gewächs, in welchem ähnliche Säfte bereitet werden als in
ihrem Lieblingsgericht ſich finden. Andre Thierarten ſind
hierin von vornehmerem Geſchmack, ſie lieben und ſuchen die
Abwechslung mehrerer Gerichte, nehmen ihr Futter aus den
verſchiedenſten Familien der Kräuter die auf Wieſen und
Feldern wachſen, und der Menſch verlangt neben den vieler—
ei Gemüſen, Körnern und ſaftigen Früchten, die ihm zur
Erquickung dienen, öfters auch noch eine Zuthat von thieri⸗
ſcher Ratur: Fleiſch wie Milch und Eier,
16
Bei der Befriedigung ſolcher mannichfachen Gelüſte kann
es ſich freilich der Menſch ſehr leicht machen, er benutzt nicht
nur andre Menſchenhände dazu daß ſie für ihn ſammlen,
kochen und backen, und der gebildete Europäer empfängt aus
allen Weltgegenden ſolche Gaben der fremden Hände, ſondern
auch die Thiere müſſen dem Menſchen das herbeiſchaffen hel⸗
fen, was er für Küche und Vorrathskammer begehrt. Für
ihn jagt der Falke in den Lüften, der Cormoran, dem da⸗
bei ein metallener Ring um den Hals gelegt wird, damit er
die Beute nicht ſelbſt verſchlinge, fängt für ihn Fiſche, der
Hund treibt ihm die Beute des Wildprets herbei und ſucht
ihm die im Boden verſteckten Trüffeln, die Biene muß ihm
einen Theil ihres Honigvorrathes, der kleine vierfüßige Korn⸗
wucherer, der hartherzige Hamſter ſeinen Fruchtſpeicher abge⸗
ben. Aber nicht nur der Menſch, auch das Thier macht ſich
hin und wieder ſein Leben dadurch bequem, daß es andre
Thiere für ſich kochen oder doch arbeiten und ſammlen läßet.
Die Heerden der Blattläuſe ſitzen an der zarten Rinde, an
den Blättern und Blüthenhüllen mancher Pflanzen wie auf
einer grünen Waide, und ſaugen fo emfig, daß ihr zarter Kör—
per, gleich dem Euter der Milchkühe auf einer Frühlingswieſe
von Säften anſchwillt. Dieſe Ueberfülle kommt dann den Amei⸗
fen bei der Ernährung ihrer Brut wohl zu ſtatten, dieſe berüh—
ren leiſe mit ihren Mundtaſtern die beiden Röhrchen, welche am
Rückenende der Blattläuſe ſitzen und alsbald ergießt ſich die näh—
rende Flüßigkeit in den Mund der Sammlerinnen und wird
von dieſen den hungernden Pflegekindern überbracht. Es giebt
ſogar unter den Ameiſen ſolche, welche wie der Menſch,
Ameiſen von andrer Art (gleichſam von andrem Stand) in
ihre Dienſte nehmen, dieſe für ſich arbeiten, bauen, ſamm⸗
len laßen und ihnen ſelbſt die Pflege ihrer Jungen übertra⸗
gen. Nimmt doch der ſüdafrikaniſche Honigkukuk ſogar den
Menſchen zu Hilfe um ſich durch dieſen die verſchloſſenen
Schatzkammern der wilden Bienenſchwärme eröffnen zu laſſen.
Auch unter den Vögeln, die ſich vom Fleiſch der Fiſche näh⸗
ren, giebt es ſolche, welche ſich mit dem Fange ſelber nur
wenig abgeben, ſondern dieſes Geſchäft andren Waſſervögeln
überlaſſen, denen fie die gewonnene Beute, ſelbſt wenn dieſe
ſchon in den Kropf eingebracht war, gewaltfam wieder ab-
zwingen. re ee
Solche Ausnahmen, bei denen das eine Thier ſich den
9 Ueberfluß
1
Ueberfluß oder die Kräfte des andren zu Nutze macht um
ſich ſeine Koſt zu verſchaffen, bringen übrigens keine Störung
in jener wundervollen Ordnung hervor, welche in der großen,
ſchönen Pflegeanſtalt der Natur herrſchet. Da iſt jedem der
Gäſte ſein beſondrer Tiſch wie ſeine beſondre Eſſenszeit be—
ftimmt; während die langhalſige Giraffe ihr reichliges Futter
in der Höhe, an den Blättern und Zweigen der Akazienbäu—
me findet, nährt ſich die zarte, flüchtige Gazelle von den
Kräutern welche nebenan, unten am Boden wachſen. Für
dieſe grünen die ſaftigen Blätter der hochwüchſigen Bäume
vergebens, ſie kann ſie nicht erreichen, für die Giraffe dage—
gen wäre das Niederbücken zum Graswuchs des Bodens eine
faſt unerträgliche Laſt, während ihrem hochgeſtellten Kopfe,
der bis in das Laubdach der Bäume hineinragt auch noch
die lange Zunge zu Hülfe kommt, mit welcher das Thier,
wie mit einer ausgeſtreckten Hand, die höheren Zweige zum
Munde herabzieht. Wie ungeſtört von andren Gäſten nimmt
der Schneeammer, der uns zuweilen im Winter beſucht, ſeine
Mahlzeit zu ſich, wenn er dem Rufe ſeines Triebes folgend,
im Sommer hinwegzieht zu den Meeresklippen der fernen
Polargegend, auf denen in der Zeit des dortigen kurzen
Sommers ein Hirſegras grunet, blühet und feine Körner zur
Reife bringt, für welches die Schaaren der Schneeammer faſt
die einzigen Abnehmer ihrer Klaſſe ſind. Wenn den
Kreuzſchnabel, nicht etwa, wie man für manche Wandervögel
dies annahm, der warme ihm entgegenkommende Lufthauch,
oder ein Duft der auf ſeinen Geruchsſinn einwirkt, ſondern
ein in der Tiefe ſeines eignen Weſens ſich regender Trieb
mitten im Winter von ferne her in die heimathlichen Fich—
tenwälder führt, wo jetzt die Saamen, noch verſchloſſen in
den Schuppen der Tannen- oder Fichtenzapfen zur Reife
kamen, dann iſt er auch, in ſolcher Jahreszeit, faſt der ein—
zige Koſtgänger an ſeiner Tafel.
Gäbe es nur neben ſolchen harmloſen Gäſten, denen
die Ueberfülle des Pflanzenreiches zu ihrem Unterhalt ange—
wieſen ift, keine Raubmörder, welche nicht etwa nur zu der—
ſelben Schüſſel ſich herzudrängen und dem Gaſte einen Theil
ſeiner Mahlzeit, ſondern welche ihm ſeine Eier, ſeine Jun—
gen, ja das Leben ſelber nehmen. Dem Schneeammer und
ſeiner Brut ſtellt in der Nähe des Polareiſes der nordiſche
Falke, dem Kreutzſchnabel der Marder, der Giraffe der Löwe
2
18
nach; allenthalben geht von den fleiſchfreſſenden Thieren Krieg
und Kriegsgeſchrei aus. Und dennoch gehört auch dieſes zur
Ordnung des großes Haushaltes. Denn abgeſehen davon,
daß ein großer Theil der Lebendigen, welche an der Tafel
des thieriſchen Fleiſches zu Gaſte gehen, nur das Abgeſtor—
bene, das Todte und Verweſende zu ihrer Nahrung wählen,
müſſen die Familien der Raubthiere die Stelle der Dämme
und Schutzmauren gegen jenen andern Theil der Thierwelt
vertreten, in welchem eine Ueberfülle des Wachsthums und
der Fruchtbarkeit waltet. Eben ſo wie die Dämme das
Ueberfluthen der Ströme und Meereswogen über das niedere
Land verhüten, find auch die Raubthiere den Auen und Fel-
dern ſo wie der ganzen oberirdiſchen Natur als Schutz- und
Grenzwächter aufgeſtellt. Das einſeitige Anwachſen, hier der
einen, dort der andren Art der Formen und Geſtalten, wird
dadurch in rechtem Maaß gehalten, daß immer zur rechten
Zeit und am rechten Orte ein verzehrendes Thier ſich einfinz
det, welches wie das Käuzlein und ſeine an demſelben Tiſch
zu Gaſte gehenden Gehülfen der übermäßigen Vermehrung
der Feldmäuſe ihre Gränzen ſetzt.
Bei einem Tempelbau, welchen die Menſchen begründen
und aufführen, werden die Stein- oder - Holzmaſſen, die zu
Werkſtücken beſtimmt ſind, von Menſchenhand behauen und
jedem einzelnen wird dabei die feſt abgegränzte Form gege—
ben, in welcher es an die andren Theile des Baues ange—
paßt und angefügt werden ſoll. Das eine Werkſtück wird
von dieſem Ort des Felſens oder Waldes, das andre von
jenem Ort genommen, das eine hier, das andre dort bear—
beitet und zugehauen, und wenn die rechte Zeit kommt, wers
den beide durch menſchliche Kraft auf den gemeinſamen Bau—
platz zu einander hingeführt und durch menſchliche Kunſt zu—
ſammengefügt. Ganz anders iſt dieſes bei dem großen, heh—
ren Tempelbau der ſichtbaren Schöpfung, der in ſeiner be—
ſtändigen Wiedererneuerung ohne Aufhören es bezeugt, daß
der Meiſter des Baues, der dieſen im Anfang der Weltzeit
begründete, noch lebe, und inmitten Seines Werkes thätig
ſey. In dieſem großen Baue behauen und bemeſſen die
Werkſtücke ſich ſelber, indem der Eſſer der Ueberfülle deſſen,
was er verzehrt, feine Gränzen ſetzt; fie ſelber erheben ſich
von ihrem Ort und fügen ſich nach weislich beſtimmtem Plane
zuſammen, weil das, was an dem todten Stein als Zug
19
der Schwere fich kund giebt an ihnen ein Zug des einzelnen
Lebens zum Geſammtleben der Natur geworden iſt. Denn
der Stein, ſobald er von ſeinem Ruhepunkt hinweggehoben
worden, fällt oder rollt ſo lange hinab bis er die Ruhe, in
ſeinem Zuſammenſeyn mit dem Erdganzen wieder gefunden
hat; ſo geht auch das Bewegen der Lebendigen unaufhaltſam
dahin, daß jedes Einzelne die Stellung finden möge, welche
ihm in der Mitte der Schöpfung zu feiner Ernährung und
Erhaltung angewieſen iſt. Namentlich ſelbſt bei den Aeuße—
rungen des Triebes, der das Thier zu der bereiteten Speiſe
immer zur rechten Zeit und am rechten Ort hinführt, mögen
wir erkennen was der Quell der Luſt und der Freude des
Lebens ſey. Es iſt als ob jedes lebendige Weſen, in dem
Augenblick da es ſo zu ſeinem Ziele geführt wird die Nähe
ſeines Schöpfers empfände, der ſeine milde Hand aufthut
7 ſättiget Alles was da lebet, mit Strömen voll Wohlge—
allen.
Wenn wir dieſe ſo wie alle andren Züge von der weis—
lichen Zuſammenfügung des großen Baues der ſichtbaren
Welt der Lebendigen recht bedenken, dann ſtellt ſich uns der
Mangel, an welchem nach Cap.! jedes einzelne Leben leidet,
noch in einem andren Lichte dar. Allen Einzelnen fehlt
Etwas, aber es bekommt ihnen gut, daß ihnen etwas fehlt,
denn der Mangel, das Bedürfniß daran ſie leiden, bewegt
ſie, als ein Zug der kräftigen Hinneigung zu der Hand hin,
die mit ihrem allmächtigen Walten Alles umfaßet und zu—
ſammenhält; bringt ſie, ein Jedes nach ſeinem Maaße, in
eine Art von Umgang ihres Weſens mit der Kraft und Liebe
des Schöpfers ſelber. In einer freilich nur vorbildlichen
Weiſe giebt ſich hierbei ſelbſt an den thieriſchen Seelen etwas
Aehnliches kund als für den Geiſt des Menſchen in dem
Sprichwort ausgedrückt iſt: »Die Noth lehrt beten, »
6. Das Heimweh.
Wenn der Stein oder irgend ein anderer todter Körper
von dem Orte, da er ruhete, hinweggetragen, und dann an
einem anderen, vielleicht weit entfernten Orte in Bewegung
geſetzt wird, da beharrt er in dieſer Bewegung ſo lange bis
er wieder einen Halt- und Ruhepunkt gefunden hat. Für
den Zug der Schwere bleibt es übrigens gleichgültig ob
2
20
der Ruhepunkt nahe oder fern von dem Felſen ift, aus wel:
chem der Stein gebrochen war, ober am Grund eines Sees,
ob er auf der ihn anfaßenden Menſchenhand, oder unmittel-
bar an der feſten Oberfläche der Erde ſich finde; der Stein
wird niemals durch eigne Kraft zurückkehren zu dem Ort
daher er kam. |
Etwas ganz andres iſt es bei jenen lebendigen Weſen,
welche durch inwohnenden Trieb und durch eigne Kraft hin—
weggehoben werden von dem Orte da ſie entſtanden ſind und
fortgeführt in weite Fernen. Der Lachs wird weit von den
Mündungen der großen Ströme und von der Meeresküſte in
dem friſchen Süßwaſſer der Bäche und Flüße, in der Nähe
ihrer Quellen geboren. Dort findet er, wenn er aus dem Ei
hervorgeht, für die erſte Zeit ſeines Lebens das zuträglichſte
Element und die paſſendſte Nahrung. Sobald er etwas grö—
ßer wird und erſtarkt, verläßt er dieſen Geburtsort, ſchwimmt
ſtromabwärts und geht an der Seeküſte ſo wie tiefer im
Meere ſeinem räuberiſchen Gewerbe — dem Fange der an—
dern Waſſerthiere nach. Wenn ſich aber die Zeit nahet wo
er gebären ſoll, da läßt ihm der Zug zur Heimath, mitten
in der Fülle der Nahrung, die ihn umgiebt, keine Ruhe
mehr; die eierlegenden Weibchen, in Begleitung der Männ⸗
chen, ſchwimmen ſchaarenweiſe in den Strömen und ihren
Nebenflüſſen hinauf, um an dem Orte wo ſie ſelber aus dem
Ei hervorgingen auch ihre Brut ins Leben einzuführen. Wenn
man ein Weibchen an der Stelle da es laichte fängt, und
ihm ein Zeichen an eine ſeiner Floſſen macht, kann man
ſich davon überzeugen, daß der Wandertrieb es alljährlich
wieder zu derſelben Stätte führt, und wenn man die Eier,
welche daſſelbe abgeſetzt hat, aus dem Waſſer herausnimmt
und ſie in einem Gefäß voll Waſſer an einen andren Ort,
in einen ganz andren Fluß bringt, in welchem man vorher
noch keine Lachſe bemerkt hatte, dann iſt hiermit der Grund
gelegt zu einer allmäligen Bevölkerung des neuen Standor—
tes, mit Lachſen. Denn obgleich die Fiſche, bei zunehmen
dem Wachsthum, ihren Geburtsort verlaſſen und in weiter
Entfernung davon ihren gewöhnlichen Aufenthalt nehmen,
kehren ſie dennoch, wenn ſie zum Gebären eines neuen, jun⸗
gen Geſchlechtes ihrer Art reif ſind, alljährlich dahin zurück,
wo ſie ſelber jung geworden. Und ſo weiß man es von
allen Fiſchen, welche zur Zeit des Laichens eine gewiſſe Ge⸗
21
end am Ufer auffuchen, daß ſie alljährlich zu demſelben
Orte — der Stätte ihrer eigenen Geburt — zurückkehren.
In ſolchen Fällen ſcheint allerdings der Trieb des Wanderns
nach der Heimath einen Anhaltspunkt und leitenden Faden
in der Erinnerung der thieriſchen Seele zu haben, denn der
ältere Lachs kehret auf demſelben Wege nach der Heimath
zurück auf welchem er aus dieſer hinwegzog. Aber auch ohne
ſolch einen leitenden Faden kommt der Zug, der die beiden
Enden der Richtung des Lebens verknüpfet und den Auslauf
in die Weite wieder zu ſeinen Anfangspunkt zurückführt, zum
beſtimmten Ziele. Eine Seeſchildkröte war bei der Inſel As⸗
cenſion gefangen und zu Schiffe gebracht worden; man hatte
ſie an ihrem Bruſtſchild durch eingebrannte Buchſtaben und
Ziffern bezeichnet. Sie ſollte mit nach Europa geführt werden.
Da ſie aber auf der Fahrt krank wurde und zuletzt dem Tode
nahe ſchien, warf man ſie im brittiſchen Kanal ins Waſſer.
Zwei Jahre darauf wurde dieſelbe Schildkröte, jetzt bei fri—
ſcher Geſundheit, in der Nähe derſelben Inſel Ascenſion wie:
der gefangen. Sie hatte, geführt vom Zuge des NHeiwehes,
durch das Gewäſſer hindurch einen Weg von mehr denn 800
Meilen gemacht. Ueber zum Theil eben ſo große oder nicht
viel geringere Räume dehnt ſich der Reiſeweg der Wander—
vögel aus, und dennoch kehren ſie alle, zur Zeit der Paarung,
in die Gegend zurück wo ſie ſelber geboren wurden und legen
in der Nähe des Neſtes, in welchem ſie ſelber aus dem Ei
kamen, das Neſt für ihre Jungen an.
Nicht blos aus ganz andren Ländern und Himmelsſtri—
chen ſondern auch aus ganz verſchiedenen Elementen kehrt der
weit auslaufende Kreis des thieriſchen Lebens wieder zu ſei—
nem Anfangspunkte zurück. Die Libelle wie die Singmücke
ſind im Waſſer aus dem mütterlichen Ei hervorgegangen
und haben die erſte Zeit ihres Lebens im Waſſer zugebracht.
Später ſind ſie zu Bewohnern der Luft geworden und haben
die Luſt und Freiheit des geflügelten Zuſtandes genoſſen.
Dennoch kehret die Mutter, wenn ſie ihre Eier legen muß,
ans Waſſer, ſo wie das Weibchen des Maikäfers vom Wi—
pfel der hohen Eiche zu dem Boden des Feldes zurück, worin
es ſelber jung geweſen, und auch der Laubfroſch verläßt ſein
grünendes Haus um ſeine Brut an der Stätte da er ſelber
ans Licht trat — ins Waſſer zu bringen. Umgekehrt wagt
ſich die unbeholfene Seeſchildkröte, in der Zeit des Gebärens
22
heraus aufs Land, um ihre Eier in das ſonnich-warme
Sandbette zu legen, in welchem ſie ſelber geboren worden.
Der Schmetterling, der in ſeinen ſchönen Tagen von Blume
zu Blume ſchwebte und ihren Honig ſaugte, ſucht dennoch,
wenn ſeine Zeit kommt, die unſcheinbare Neſſel auf, um
ſeine Eier an die Blätter zu legen, aus denen er ſelber ſeine
erſte Nahrung empfieng.
In etwas veränderter Form tritt der Zug, der die Le—
bendigen an einen gewiſſen Wohnort kettet, bei jenen Säug⸗
thieren auf, welche der Menſch in ſeine Zucht und Pflege
genommen hat. Auch bei dieſen iſt es zwar öfters die Ger
wöhnung an einen beſtimmten Weideplatz oder Stall welche
ſie aus weiter Ferne wieder herbeizieht, oder welche die Kühe,
wenn ſie von dem ſchönen Sommeraufenthalt auf den Alpen
in die Nähe des heimathlichen Dorfes kommen, freudig blök—
ken und ſpringen machet. Auch mag die Gewöhnung an die
Geſellſchaft ihrer eigenen thieriſchen Genoſſen dabei zuweilen
ſo mächtig wirken, daß jene Ziege, welche der menſchlichen
Obhut entlaufen, einige Jahre das freie Leben der Gemſen
genoſſen hatte, dem Zuge zur alten Geſellſchaft und dem ge—
wohnten Stalle nicht widerſtehen konnte, als einſt die Heerde
ihrer vorigen Gefährtinnen, mit dem Geläute der Halsglöck—
chen an ihr vorüberzog. Dennoch giebt ſich in vielen andren
Fällen an dem vollkommenen Säugthier ein tieferer Grund
des Heimwehs zu erkennen. Es iſt nicht allein die Krippe,
es iſt die Krippe ſeines Herrn nach deren Nähe das edle
Roß ein Verlangen trägt und der treue Hund eilt, der Ge—
fangenſchaft entkommen, viele Tagmärſche weit, nicht zur
Wohnung ſeines Herrn ſondern zu dieſem ſelber zurück, an
deſſen Perſon er durch liebende Dankbarkeit gebunden iſt.
So mag bei allen Lebendigen das Weſen jenes Zuges, der
ſie zu dem Wohnort der Eltern oder zu der Stätte da ihr
Leben auch ohne Vermittlung der Eltern ſeine erſte Pflege
empfieng, zurückführt, mit den Regungen verwandt ſeyn,
die ſich in der Seele des Menſchen zur Dankbarkeit und
Liebe geſtalten.
Er ſelber, der Menſch, kann auch in manchen Fällen |
einem Heimweh nach dem äußerlichen Ort der Geburt, nach
dem Aufenthalt feiner erſten Kinderjahre unterliegen. Den⸗
noch iſt er von dieſem Zuge, der ihn an die leibliche Hei⸗
math kettet, ungleich weniger gebunden als alle Lebendige
23
feiner Sichtbarkeit. Vielmehr ziehet er, feiner leiblichen Nei-
gung nach, gleich der Wandertaube, jenen Orten des Verwei—
lens zu, wo für ſeinen Lebensunterhalt und Nothdurft am
Reichlichſten und Beſten geſorgt iſt. Seinem innren geiſti—
gen Weſen aber wird es nur da heimathlich wohl zu Muthe,
wo Die ſind, welche er liebt. Darum empfand Jacob de
Vries mitten in dem irdiſchen Paradies der Capkolonie ein
beſtändiges Heimweh nach dem armen, kalten Grönland, weil
er dort eine Liebe der Menſchenherzen erfahren hatte, die
ihm werther und köſtlicher war als aller Duft der Blumen
und Wohlgeſchmack der Früchte eines ſchönen, warmen Lan-
des. Am meiſten zuletzt bei dem Menſchen, deſſen rechte
Heimath und geiſtige Geburtsſtätte nicht in der Welt des
Sichtbaren iſt, giebt es ſich kund, daß der Zug nach der
Heimath bei allen Lebendigen einer Hinneigung der bewußt—
loſen oder bewußten Dankbarkeit zu dem Urſprung und Quell
des Lebens und all ſeiner Freuden ſey. In das leiblich
krankmachende Heimweh, das den Auswandrer aus dem armen
Lappland eben ſo wie den Schweitzer mitten in dem geräuſch—
vollen Paris befällt, miſcht ſich, mit dem Verlangen nach
der hehren Stille, deren Frieden das Kind empfand, unver—
merkt die Erinnerung an die erſte Liebe, die der Menſch bei
ſeinem Eintritt ins Leben, im Arme der Mutter genoß.
War er auch arm, der Eltern Herd;
Er bleibt uns doch vor Allem werth.
7. Der Inſtinct. ER
Das Wort Inſtinct, Antrieb, wurde vor Alters vor—
zugsweiſe dann gebraucht, wenn man jene Anregung der
Menſchenſeele zu irgend einer Handlung bezeichnen wollte,
welche nicht aus Ueberlegung und vorbedachtem Rathe, ſon—
dern wie aus einer höheren Eingebung hervorgeht, daher die
Alten in ſolchem Falle nicht von einem Antriebe ſchlechthin,
ſondern von einem göttlichen Antriebe (instinctus divinus)
ſprachen. |
Ein Bekannter der berühmten franzöſiſchen Schriftſtelle—
rin, der Madame Beaumont, wollte mit einer Geſellſchaft
von Freunden eine Luſtfahrt auf dem Fluße machen. Als
jetzt Alles bereit iſt und er ſo eben mit den Andren ins
Fahrzeug hineinſteigen will, da kommt ſeine taubſtumme
24
Schweſterin ängſtlicher Eile herbei, ſie ſucht ihn am Arm
und am Gewand feſtzuhalten, und da ihn dies nicht zum
Bleiben bewegen kann, wirft ſie ſich ihm zu Füßen, umfaßt
ſeine Kniee und giebt durch die flehentlichſten Geberden die
Bitte zu erkennen, daß er von der Waſſerfahrt zurückbleiben
möge. Der Ausdruck des ſchmerzlichen Sehnens in den Mie—
nen und Geberden der Taubſtummen hat für mehrere Perſo—
nen in der Geſellſchaft etwas Rührendes; ſie bitten den Bru⸗
der er ſolle dem Wunſche ſeiner ohnehin bemitleidenswerthen
Schweſter nachgeben und von der Waſſerfahrt abſtehen. Er
gehorcht zu ſeinem Glücke, denn das Boot ſchlug auf dem
Wege um und Mehrere der darin Fahrenden ertranken; ein
Loos das auch ihn, der nicht ſchwimmen konnte, würde be—
troffen haben, wenn nicht die taubſtumme Schweſter wie durch
einen göttlichen Antrieb ihn gewarnt hätte.
Jenes dreijährige Kind, das bei der Belagerung von
Wien durch die Türken im Jahr 1683 eine Bombe mit Erde
auslöſchte, die an einem Orte, wo ſie hätte viel Schaden
thun können, in die Stadt gefallen war, handelte auch aus
1 ſolchen göttlichen Antrieb, zum Heil für Viele.
Ein reicher Gutsbeſitzer fühlte ſich einſtmals, als es
ſchon ziemlich ſpät in der Nacht war, gedrungen, einer armen
Familie in ſeiner Nachbarſchaft allerhand Lebensmittel zu ſen⸗
den. Warum gerade heute noch, fragten ſeine Leute, ſollte
das nicht bis morgen am Tage Zeit haben? — Nein, ſagte
der Herr, es muß noch heute geſchehen. Der Mann wußte
nicht, wie dringend nothwendig ſeine Wohlthat für die Be—
wohner der armen Hütte war. Dort war der Hausvater,
der Verſorger und Ernährer, plötzlich krank geworden, die
Mutter war gebrechlich, die Kinder weinten ſchon ſeit geftern
vergeblich nach Brod und das Kleinſte war dem Erhungern
nahe, jetzt ward auf einmal die Noth geſtillt. So wurde
auch ein andrer Herr, der, wenn ich nicht irre, in Schleſien
wohnte, in ſeiner nächtlichen Ruhe durch den unwiderſtehli—
chen Antrieb geſtört, hinunter in den Garten zu gehen. Er
erhebt ſich vom Lager, geht hinunter, der innre Drang führt
ihn hinaus, durch die Hinterthür des Gartens auf das Feld,
und hier kommt er gerade zur rechten Zeit um der Rette
eines Bergmannes zu werden, der beim Herausſteigen
der Fahrt (Leiter) ausgeglitten war und im ,
ſic an dem Kübel mit Steinkohlen feſtgehalten hatte, den
— 4
25
fein Sohn fo eben an der Winde heraufzog, jetzt aber die
vergrößerte Laſt nicht mehr allein bewältigen konnte. Ein
ehrwürdiger Geiſtlicher in England fühlte ſich auch einſtmals,
noch bei ſpäter Nacht gedrungen, einen an Schwermuth lei⸗
denden Freund zu beſuchen, der in ziemlicher Entfernung
von ihm wohnte. So müde er auch iſt, von den Arbeiten
und Anſtrengungen des Tages, kann er doch dem Drange
nicht widerſtehen; er macht ſich auf den Weg, kommt in der
That wie gerufen zu ſeinem armen Freunde, denn dieſer ſtund
ſo eben im Begriff ſeinem Leben durch eigne Hand ein Ende
zu machen, und wurde durch den Beſuch und das tröſtliche Zu⸗
reden ſeines nächtlichen Gaſtes auf immer aus diefer Gefahr
gerettet.
Solcher Fälle ließen ſich noch viele erzählen, in denen
ein Menſch durch einen ihm plötzlich kommenden Antrieb zu
einem Helfer für einen andren Menſchen, oder wie Arnold
von Winkelried, als er in der Schlacht bei Sempach mit
heldenmüthigem⸗ Entſchluß die feindlichen Spieße erfaßte, ſie
mit ſeinem durchbohrten Leibe zu Boden drückte, und ſo die
feſte Reihe der Feinde brach, zu einem Retter ſeines Vater—
landes wurde. Aber nicht immer betrifft der wohlthätige
Antrieb das Wohl und die Rettung eines fremden Lebens,
ſondern eben ſo oft und vielleicht noch öfter die des eigenen.
So fühlte ſich Profeſſor Böhmer in Marburg, einſtmals,
da er in traulicher Geſellſchaft war, innerlich gedrungen nach
Hauſe zu gehen und hier ſein Bett von dem Ort an dem es
ſtund hinweg, an einen andren zu rücken. Als dieſes ge⸗
ſchehen war ließ die innre Unruhe nach, er konnte zur Ges
ſellſchaft zurückkehren. Aber in der Nacht, als er an der
nun für ſein Bett gewählten Stelle ſchlief, ſtürzte die Decke
über dem Theil des Zimmers ein, wo früher feine Lager—
ſtätte war, und ohne jene Vorkehrung, zu der ein innrer
Trieb ihn geführt hatte, würde er zerſchmettert worden ſeyn.
Wie ſich in großer Noth und Lebensgefahr, in welche
der Menſch geräth, ſo oft ein Zug nach dem Ergreifen eines
Hülfsmittels in ihm regt, das ſich in der Folge gerade als
das beſte, zweckmäßigſte bewährt, das haben Viele an ſich
erfahren und wir werden ſpäter mehrere ſolche Fälle erwäh⸗
nen. Und fo kommen auch an der menſchlichen Natur Er⸗
9
ſcheinungen vor, welche ganz ähnlich jenen Regungen und
Bewegungen des Inſtinctes find, die das Thier bei der
*
26
Wahl der Mittel leiten, welche zur Erhaltung und Rettung
ſeines eigenen Lebens, zur Verſorgung ſeiner Jungen und
zum Wohl des großen Ganzen der ſichtbaren Welt dienen,
deren Theil das einzelne Thier iſt. —
Das Thier kann ohnehin nicht, wie der Menſch, durch
vernünftige Ueberlegung bei ſeinem Handeln geleitet werden,
eben ſo wenig aber durch Erfahrung, weil es die Rolle, die
f der Inſtinct ihm auferlegt, ſogleich, von ſeinem Eintritt in
die Welt an mit vollkommner Fertigkeit ſpielt. Ein Hühn⸗
chen das nicht von der Mutter, ſondern von der Lampen⸗
wärme eines kleinen künſtlichen Brutofens ausgebrütet war,
erblickte als es ſo eben ſich aus der Schaale des Eies heraus—
gearbeitet hatte, eine Spinne, ſprang ſogleich zu ihr hin und
ergriff dieſelbe fo geſchickt als ob es ſchon lang im Inſecten—
fang geübt wäre. Wenn die Jungen der Seeſchildkröte in
dem Bette des Sandes, das ihre Geburtsſtätte war, aus
dem Ei gekrochen ſind, dann eilen ſie ſogleich, in gerader
Richtung auf das Meer zu. Man mag ſie während dieſes
Laufes drehen und wenden wie man will, kann ſie hinter
Mauern oder Sandhügel verſtecken die ihnen den geraden Weg
abſchneiden, immer wenden ſie ſich wieder der Richtung nach
dem Meere zu. Umgekehrt gehen die Jungen der Landkrabbe
die ſich im Waſſer aus dem Ei entwickelt haben, bald nach
ihrer Geburt heraus ans Land und ſuchen hier ſich eine Um—
gebung auf, die für ihren Lebensunterhalt die angemeſſenſte
iſt. Kaum iſt die Ameiſe aus ihrer Puppenhülle (dem ſoge—
nannten Ameiſenei) gekrochen, da geht ſie auch ungeſäumt,
wenn ſie vom Geſchlecht der Arbeiterinnen iſt, mit ihren
älteren Genoſſinnen auf das Geſchäft des Sammlens und
Eintragens von Nahrungsſtoffen für die hülfloſen, kleinen
Larven ihrer Gemeinde aus, und hilft emſig am Bauen der
Wohnung, wie beim Hin- und Hertragen der Puppen und
der eigentlichen Eier. Und es iſt nicht etwa nur die Nachah—
mung der fremden Geſchäftsthätigkeit, welche dem Neuling
auf die Bahn ſeiner natürlichen Beſtimmung führt, denn
wenn die eben ans Licht getretne Ameiſe nicht vom Geſchlecht
der Arbeiterinnen, ſondern von dem der Männchen oder der
vollkommneren Weibchen iſt, dann läßt ſie ſich von dem Ge—
ſchäſtsdrange der Andren nicht mit fortreißen, fie gehet ungez
hemmt den Weg ihres eigenen Berufes, mitten durch die
Schaaren der andren hindurch, hinaus ins Freie, wo ſie
27
ſich mit den zarten Flügeln, welche den Männchen und voll
kommnen Weibchen verliehen ſind, zum Schwärmen, in die
Luft erhebt.
Daß es überhaupt nicht die Nachahmung der inſtinctmä⸗
ßigen Handlungen der andren Thiere ſeiner Art ſey, welche
das einzelne Thier zu den eigenen Handlungen dieſer Art
antreiben, zeigt ſich bei jeder Gelegenheit. Nachtigallen und
Amſeln, die man ganz jung aus dem Neſte nahm und fern
von ihres Gleichen im Zimmer erzog, bauen, wenn man im
Frühling ein Pärchen von ihnen hinausläßt ins Freie eben
ſolche Neſter für ihre Jungen als die andren Vögel ihrer
Art. Ein Biber der ſeinen Eltern geraubt worden als er
noch blind war und welchen ein Weib um ihn am Leben zu
erhalten an ihren Brü ſten geſäugt hatte, bis er zum Genie—
ßen der gewöhnlichen Nahrungsmittel fähig geworden, ſchich—
tete die zerſtückten Zweige, deren Rinde er geſreſſen hatte,
in einem Winkel ſeines Käfichs über einander, und als man
ihm Erde gab, formte er dieſe mit den Vorderfüßen in kleine
Ballen, legte dieſe über einander, drückte ſie mit der Schnautze
feſt und fügte ein Stück Holz in dieſelben hinein. An ihm
außerte ſich mithin, ab gin von jedem, Nachahmung wek—
kenden, fremden Einfluß, derſelbe Kunſttrieb des Bauens,
den wir an andren Bibern beobachten.
Es iſt der eingeborne Inſtinct, welcher den Thieren,
auch wenn man ſie in ein ganz andres Klima, in eine ihm
ganz neue Pflanzen- und Thierwelt verſetzt, es kund giebt
was der Erhaltung ihres Lebens förderlich ſey oder derſelben
gefährlich werden könne. Pferde, die man aus Europa nach
dem ſüdlichen Afrika gebracht hatte, und die noch niemals in
die Nähe eines lebenden Löwen gekommen waren, zitterten
dennoch vor Angſt an allen Gliedern, als ſie zum erſten
Salben. das Brüllen des Löwen in ihrer Nähe vernahmen.
welche in der Gefangenſchaft der Menſchen gebo—
en a ren und erwachſen ſind und noch niemals eine giftige Viper
ſahen, greifen dieſe mit großer Vorſicht an, indem ſie vor
allem ihr den Kopf zu zermalmen ſuchen, während ſie ſchon
öfters über ungiftige Schlangen und Blindſchleichen, die ſie,
ohne einen Augenblick zu zögern, bei jedem Theil des Kör—
pers anfaßten, den leichten Sieg errungen hatten. Ueber-
haupt weiß jedes Thier, im Kampf mit einem andren, als—
hald die ſchwächſte, am leichteſten verwundbare Seite oder
28
jenen Theil deffelben zu finden, der ihm am meiſten zu ſcha—
den vermag, ſo wie umgekehrt jene Stelle des eignen Leibes
am meiſten zu ſchützen und zu verbergen, welche die verletz—
barſte iſt. So ſpringt der Tiger, im Kampf mit dem Ele—
phanten, zunächſt nach dem Rüſſel deſſelben, welchen da—
gegen der Elephant aufs Sorgfältigſte dem Angriff zu ent—
ziehen ſucht, um ihn, zur rechten Zeit, deſto kräftiger zu ge—
brauchen; das Pferd der Wildniß, vom Raubthier angefallen,
ſucht gegen dieſes Kopf und Bruſt zu ſchützen, während es
dem Feind deſto kräftiger mit den Hufen der Hinterfüße ent—
gegen kommt. Das amerikaniſche Hausſchwein, im Kampf
mit der Klapperſchlange, bemüht ſich vor allem den Biſſen
des ſpringenden Thieres ſeinen borſtigen Nacken entgegen zu
halten, die Schnautze aber demſelben zu entziehen und hier⸗
bei den rechten Augenblick zu finden um den Kopf des ge—
fährlichen Feindes mit ſeinen Hufen zu zertreten.
Auch in einer dem Thiere ſo wie ſeinen Voreltern neuen
Landesnatur weiß das Schaaf wie die Ziege das geſunde
Futter alsbald zu finden und das giftige zu meiden; der
Affe gräbt Wurzeln, die er noch niemals genoſſen, durch den
Geruch geleitet aus, und läßt ſich niemals durch das uns
ſchädliche Ausſehen einer giftigen zum Genuß derſelben ver—
locken. Die Kühe von europäiſcher Abkunft, welche ein ame—
rikaniſcher Koloniſt mit ſich in ſein neues Beſitzthum genom—
men, waren im erſten Winter, auf deſſen längere Dauer
man ſich nicht vorgeſehen hatte, in großer Gefahr zu verhun—
gern und glichen bereits nur lebenden Gerippen. Man hatte
an ihnen bemerkt, daß ſie, ſo oft die Stallthür geöffnet
wurde, ihre Köpfe Alle nach einer Gegend hinrichteten und
mit lautem Gebrüll ihr thieriſches Verlangen zu erkennen
gaben. Endlich ließ man ſie von den Ketten los und ver—
ſtattete ihnen das Hinauslaufen ins Freie, obgleich weder
auf Feldern noch auf Wieſen noch im Wald ein genießbares
Grün unter der Schneedecke hervortrat. Alsbald rannten die
hungernden Thiere in unaufhaltſamer Eile hinab nach dem
Thale, wo im ſumpfigen Grunde, am Ufer des Flußes ein
Gewächs ſtund, in welchem keiner der Koloniſten ein Futter⸗
kraut erkannt hätte, denn es glich vollkommen den Arten
unſres Schachtelhalmes. Die Kühe aber durch ihren Inſtinct
ſichrer geleitet, als der Menſch durch feinen vergleichenden
und berechnenden Verſtand, fraßen begierig von dem Ger
29
wächs und kamen durch den fortgefeßten Genuß deſſelben
bald wieder zu Fleiſch und Kräften. a
Mächtiger noch und in ungleich augenfälligerer Weiſe
als da, wo es blos die Ernährung und die Erhaltung des
eigenen Leibes und Lebens gilt, äußert ſich der Inſtinct in
ſeiner Verbindung mit der Elternliebe. Das Thier vergißt,
wenn es zur Vertheidigung ſeiner Jungen aufgeregt wird,
jeder Gefahr die ſeinem eigenen Leben drohet; die mütter—
liche Zärtlichkeit führt ſelbſt das plumpe Wallfiſchweibchen,
dem man ſein Junges raubte, immer wieder zu der Nähe
der Räuber hin, wo es dann insgemein eine leichte Beute
der Wallfiſchfänger wird, und dieſelbe Treue der Mutterliebe,
bis zum Tode, wird an dem Geeotter fo wie bei mehreren
Säugthieren des Meeres bemerkt.
Wenn bei dem fruchtbaren Ameiſenweibchen die Zeit ge—
kommen, wo daſſelbe ſeine Eier gebären ſoll, da nimmt der
Drang, der daſſelbe wenig Tage vorher ſo unaufhaltſam
hinausführte in die Lüfte und zu den fröhlichen Tänzen im
warmen Sonnenſchein eine ganz andre, entgegengeſetzte Rich—
tung an. Die Schaar der Tänzer und Tänzerinnen, die
man noch kurz vorher, in manchen Ebenen an der Seeküſte,
wie Wolken oder Rauchſäulen emporſteigen ſahe, ſenken ſich
zur Erde, die Männchen ſterben oder werden mit vielen Tau—
ſenden der Schaar den Inſecten freſſenden Thieren zur Beute,
die übrigen Weibchen aber, als ob ſie der wilden Luſtbar—
keiten ſich ſchämten, kriechen am Boden nach dem Bau von
Ameiſen ihrer Art hin. Mag es nun derſelbe ſeyn, in wel—
chem ſie geboren und erzogen wurden, oder ein andrer, ſie
tragen jetzt, in der Hoffnung eines künftigen Geſchlechtes,
die ſie mit ſich bringen, das Zeichen einer Majeſtät und
Herrſchermacht an ſich, das von allen Weſen ihrer Art hoch
beachtet und mit liebender Ehrfurcht empfangen wird; überall
gan ſolchem Ort find fie der entgegenkommenden Pflege ge—
wiß. Aber die zarten, feingewebten Flügel, auf deren Be:
ſitz noch kurz vorher des Lebens höchſte Luſt und Freude be—
ruhte, find dem Thiere, auf dem jetzigen Theile des Weges
feiner Beſtimmung ſtatt zur Luft, nun zur Laſt. Die Ne
gungen des Inſtinctes lehren ihm dieſes, und mit Anſtren—
gung der eigenen Kräfte und Glieder, reißt es ſich den
glänzenden Schmuck von ſeinem Rücken ab und kriecht flü—
30
gellos, um ihn nie wieder zu verlaffen in den Bau, zu dem
Volk der ungeflügelten Arbeiterinnen hinein.
Die ſinnvoll ‚Bone Dichtung, daß der Pelikan im Feuer
der Liebe zu ſeinen Jungen, um dieſe vom Tode zu retten die eigne
Bruſt aufreiße, dann die Verſchmachtenden mit ſeinem Blute
tränke und neu belebe, iſt freilich nicht wörtlich ſo zu neh—
men, denn das Blut womit man zuweilen das weiße Bruſt⸗
gefieder dieſes Vogels beſprengt ſieht, wenn er mit dem in
ſeinem Kehlſack herbeigetragenen Fiſchen ſeine Kinder ſpeiſt,
kommt von den zerbiſſenen Fiſchen, oder, wenn es, in ſelt⸗
nen Fällen ein eigenes ſeyn ſollte, aus den kleinen Wunden,
welche die jungen Pelikane ihren Alten durch die ſcharfen
Widerhaken ihrer Schnäbel im Kehlſack beibringen, in den
ſie, ſo lang ſie noch klein ſind, wie in eine Schüſſel hinein⸗
langen. Uebrigens aber iſt das keine Dichtung, ſondern die
Erfahrung zeigt es täglich, daß die Mutterliebe im Thierreich
ſtärker ſey als des eignen Leibes Noth und des Todes Schmerz.
Daß es nicht, ſo zu ſagen eine Verwandtſchaft der leiblichen
Elemente, etwa des Fleiſches und Blutes ſey, die zwiſchen
der Mutter und den aus ihr gebornen Jungen beſtehet, ſon⸗
dern der Antrieb, der Inſtinct einer Liebe, welcher aus einer and—
ren, höheren Quelle kommt, was dem Zuge der Mutterliebe ſeine
Macht giebt, dies lehrt uns die Zärtlichkeit der Thiere gegen
ſolche hülfloſe Brut, die eine höhere, göttliche Fürſorge ihrer
Pflege anvertraut hat. Zwiſchen der Bachſtelze und dem ar—
men von der eignen Mutter vorwahrlosten Kinde, dem jun⸗
gen Kukuk, der als Ei in ihr Neſt ſo wie unter ihre Fittige
kam, iſt doch gar keine eee des Fleiſches und Blu—
tes, und dennoch mühet ſich die zärliche Pflegemutter bis zur
Ermattung des Todes ab, um den hungernden Pflegbefohle—
nen zu ſättigen. Ein berühmter Naturforſcher (Bechſtein) ſahe
einſtmals als es ſchon tief im Spätherbſt war, wo es in der
Nacht ſchon Reif und ſelbſt Eis giebt, eine Bachſtelze am Bache,
den die Sonne beſchien, emſig hin und her fliegen und lau⸗
fen. Wer es weiß in welcher unwiderſtehlichen Weiſe der
Wandertrieb das Thier ergreift, wenn jetzt die Zeit gekommen
iſt wo das ganze Heer der Seinigen fort ziehet und ihm zu⸗
gleich, beim Herannahen des Winters das Futter zu gebre—
chen anfängt, der wird es begreiflich finden daß das Zurück⸗
bleiben einer Bachſtelze, die von Inſekten lebt, bei uns bis
tief in den Oktober hinein, wo draußen im Freien kaum noch
31
einzelne Fliegen zu ſehen find, etwas Außerordentliches ſey. So
erſchien dies auch dem eben erwähnten Beobachter und er
gieng deshalb dem Thiere nach, das ſo eben, als ob es Junge
zu verſorgen hätte, ein erbeutetes Inſect in ſeinem Schnabel
hinwegtrug. Da ſahe er, daß der Kopf eines ziemlich gro—
ßen Vogels aus der Oeffnung eines hohlen Baumes ſich
herausſtreckte, der ſeinen Schnabel begierig nach dem Futter
aufſperrte, das die Pflegemutter ihm brachte. Es war ein
junger Kukuk, deſſen rechte Mutter ihr Ei wahrſcheinlich im
Schnabel zu dem Loch des Baumes hinaufgetragen und in das
dort innen befindliche Neſt der Bachſtelze hatte hineingleiten
laſſen. Das junge Thier war in der Höhlung des Baumes
gewachſen, hatte auch vorne am Kopf und Hals ſein vollkom—
menes Gefieder erlangt, zugleich aber ein Gefangener ge—
blieben, denn die Oeffnung war zum Hindurchlaſſen ſeines
Körpers zu klein. Die zärtliche Pflegemutter aber würde
eher mit ihrem Pflegling geſtorben ſeyn als ihn in ſeiner
. verlaſſen haben.
Welche Mutterpflege und Muttertreue kann jene über—
treffen, die das arbeitende Volk der Bienen und Ameiſen
an den Eiern und der jungen Brut ihrer Königinnen übt;
welche Ausdauer einer menſchlichen Erzieherin mag jene über
ſteigen, die das Weibchen des Puterhahnes an den Küchlein
von fremder Abkunft erweist, die man von ihm ausbrüten
ließ. In der großen Pflegeanſtalt der Natur ſind jene We⸗
fen nicht zu beklagen, welche unſrem Auge als die Verlaſſen⸗
ſten und Hülfloſeſten erſcheinen, denn gerade für dieſe iſt
mit der größeſten Freigebigkeit und Milde geſorgt.
In einer ganz beſonders en Form erfcheint
der Inſtinct, als Antrieb einer allerhaltenden Fürforge, wo
derſelbe nicht für ein Einzelweſen oder für eine Familie der
eignen oder fremden Jungen, ſondern für die Geſammtheit der
lebenden Weſen in heilſamer Weiſe wirkſam iſt. Der Drang,
welcher hierbei die Thierwelt ergreift, ſtehet mit dem Trirbe
der Selbſterhaltung in ſo entgegengeſetztem, widerffechendem
Verhältniß, daß er oft Myriaden der Einzelweſen, zum Heil
des Landes ihrem ſicheren Untergange entgegenführt. Alle
Kräfte der Menſchen und jener hülfreichen Thiere, welche
dem Ueberhandnehmen des ſchädlichen Kohlweißlings, deſſen
Raupen das Verderben unſer Gemüſegärten ſind, zu ſteuern
vermögen, werden zu manchen Zeiten unzulänglich gefunden;
=
32
ginge dann die Vermehrung in gleichem Schritte weiter, da
würde all unſren Kohlgewächſen die Vernichtung drohen. Doch
gegen dieſen Unfall hat die Natur ihre mächtigen Gegenmit⸗
tel. Man ſiehet auf einmal ganze Wolken jener Schmetter⸗
linge das Land, deſſen Plage ſie waren, verlaſſen, und ſich
in einer Richtung entfernen, welche insgemein ihr Endziel
im Meere findet. Ein ſolcher, ſich ſelber den Fiſchen zur Speiſe
darbringender Zug dauerte nach Lindleys Beobachtung mehrere
Tage und behielt unverändert die Richtung nach dem nahen
Meere bei; Kalm ſahe Schmetterlinge dieſer Art über dem
Gewäſſer des brittiſchen Kanales. Auch die Schwärme der
Heuſchrecken, wenn ſie zur furchtbarſten Anzahl angewachſen
ſind, nehmen zuletzt insgemein ihren Weg nach dem Meere
oder in das wüſte Land, und daſſelbe hat man bei ſehr ver⸗
ſchiedenen Arten der ſchädlichen Inſecten bemerkt. Auch die
Lemminge, dieſe Feldmäuſe des hohen Nordens, ſammlen
ſich, wenn ihre Ueberzahl im Lande der Heimath zu groß
geworden, zu ungeheuren Schaaren und ziehen in gerader
Richtung, öfters den Meeresarmen und Strömen zu, in de⸗
nen ſie ihr Grab finden. Selbſt im günſtigſten Falle kehrt
nur ein kleiner Theil dieſer Auswandrer zur Heimath zurück.
Wie ſich ein lebender Körper bei dem Wachsthum ſeiner
Glieder aus eigner, innerer Kraft, gewiſſe Gränzen ſetzt; ſo
thut dies auch die Geſammtheit der lebenden Natur, durch
die eigne Macht des den Weſen eingehauchten Inſtinctes.
Das Waſſer eines Springbrunnens ſteigt durch den Druck
der höheren Waſſerſäule bis zu einem gewiſſen Punkte, wo
aber die Wirkſamkeit jenes Druckes ein Ende hat, da ſtuͤrzt
es ſich unaufhaltſam hinab zum Boden.
Das Band, welches als Inſtinct die einzelnen Dinge
zu einem Verhältniß des wechſelſeitigen Nutzens und Dienſtes
zuſammenfaßet und mit ihnen zum Wohle des Ganzen wal-
tet, findet ſich nicht nur um die einzelnen Weſen der Außen⸗
welt geſchlungen, ſondern zeigt ſich auch im Innern eines je—
den beſeelten Leibes wirkſam, wenn es alle einzelnen Ele—
mente und Organe deſſelben für den Geſammtzweck ſeines
Lebens geſtaltet. Es iſt da jeder Theil zum Dienſt der an⸗
dren Theile, alle zuletzt ſind für die Wirkſamkeit der Seele da.
Daſſelbe, was der Inſtinet an den Weſen der äußern
Natur in augenfälliger Weiſe verrichtet, das bewirkt in ſei⸗
nem verborgneren, innrem Kreiſe der Bildungstrieb. Der
Vogel
33
Vogel muß ein Neſt bauen für die Eier welche er in dieſem
ausbrüten ſoll, ein Neſt das um ſo ſorgfältiger angelegt, um
ſo wärmer von ihm ausgefüttert wird, je hülfsbedürftiger
der Zuſtand der Jungen iſt, welche aus den Eiern hervor⸗
ru Wenn die Jungen des Singvogels blind und unbes
tedert zur Welt gekommen find, dann müſſen die Alten für
ſie die Nahrung aufſuchen, welche für die erſte Lebenszeit
derſelben am geeignetſten iſt, und bei dieſer Gelegenheit ent⸗
4
wickelt fich bei den aus dem Schnabel fütternden Vögeln, in
vielen Fällen ein auffallendes Zartgefühl des Inſtinctes, in⸗
dem das Futter, welches die Alten den neugebornen Jungen
bringen, ein andres iſt als das, was ſie ihnen mehrere Tage
nachher und dieſes wieder ein andres als das, was ſie ihnen
im Zuſtande der höheren Reife darreichen. Alle dieſe augen⸗
fälligeren Aeußerungen eines bauenden Kunſttriebes und des
Inſtinctes der Mutterliebe fallen bei dem Säugthier von
ſelbſt hinweg; dieſes bedarf nicht der Anlegung eines Neſtes
zum Bebrüten der Eier, denn ſeine Jungen werden nicht
außer, ſondern innerhalb ſeines Leibes zur Ausgeburt reif;
es bedarf nicht der Mühe, nicht eines Triebes der vom In⸗
ſtinct geleitet wird, zum Aufſuchen der erſten Nahrung für
ſeine Jungen, denn jene Nahrung wird ohne ſein äußerlich
ſichtbares Zuthun, als Muttermilch, von den Gefäßen ſei⸗
ner Brüſte bereitet. |
Umgekehrt aber muß der ſonſt fo hochbegabte Menſch
durch den ſinnreichen Fleiß ſeiner Hände ſich die Kleidung
und Decke des Leibes bereiten die ihn in der heißen Zeit des
Jahres nur leiſe umhüllt, während der kalten Zeit des Win⸗
ters aber gegen die Kälte ſchützt, während das Gefieder der
Gänſe und Enten, eben ſo wie das Fell der Säugthiere ohne
ihr Zuthun beim Herannahen des Winters die wärmende
Flaume und das Wollenhaar anſetzt, welche im Frühling
mit einem leichteren Naturgewand vertauſcht werden. Wel⸗
ches menſchliche Gewand, bereitet von auserleſenen Stoffen
und gebildet mit höchſter Kunſt kommt an Schönheit und
Pracht dem glänzenden, mit allen Farben der Edelſteine
angenden Gefieder mancher Vögel gleich, womit dieſe in
der Zeit der Vermählung geziert ſind, und wie arm würde
es überhaupt in der Garderobe des Menſchen, vornämlich
für die Zeit des Winters ausſehen, wenn er nicht zur Fer⸗
tigung und Ausſchmückung ſeiner Gewänder das Wollenhaar
3
>
34
und das feine Pelzwerk zu Hülfe nehmen könnte, womit die
bildende Naturkraft das Thier ohne fein: Zuthun verſforgt.
Der Menſch bedarf vieler Mühe und Kunſt um ſich die Waf⸗
fen deren er ſich im Kampf bedient, oder die Werkzeuge zu berei⸗
ten mit denen er den Stein behauen und das Holz bearbei⸗
ten will, dem Hirſch wachſen die Waffen zum Kampfe von
ſelber, ebenſo der Holzſägewespe ihre Säge, der Steindat⸗
telmuſchel das feilenartig geſtaltete Mundſtück, durch das ſie
ſich in den Felſen hineinarbeitet. Noch mehr als beidem Men⸗
ſchen und beim Thier iſt das, was bei dieſen der Verſtand
und die Anregung des Inſtinctes in äußerlich augenfälliger
Weiſe bewirkt, bei der Pflanze in den verborgenen, innren
Kreis der bildenden und geſtaltenden Kräfte hineingetreten.
Das Gewächs bedarf keines künſtlichen Anlegens von Vor⸗
rathskammern, keines Sammlens von Nahrungsſtoffen für
die Saamen und Keime die es nach ſeinem Abſterben hin⸗
terläßt, ſondern dem Weizenkorn wie der Knolle des Kar⸗
toffels iſt von ihrer erſten Bildung an eine Fülle des Nah⸗
rungsſtoffes mitgegeben, welche für das Bedürfniß der Ent⸗
wicklung des Keimes vollkommen ausreicht. age
Hier find die Leiſtungen des Inſtinctes die fich bei den
Thieren als ein Zug in die Ferne im Auffinden der Nah⸗
rung, und in den jährlichen Wanderungen, als Kunſtſinn
im Fertigen der Gewebe und Wohngebäude kund geben, auf
die innren Elemente und Theile eines einzelnen Pflanzen-
oder Thierleibes übergetragen, ohne hierbei ihrem Weſen
und ihrer Bedeutung nach eine Aenderung zu erleiden. Denn
wenn jeder Stoff den das Thier in ſeiner Nahrung aufnahm,
fobald er in den Kreis des beſondern Lebens und. feiner
Wechſelwirkungen getreten durch alle Regionen des Leibes
den Weg zu ſeinem beſtimmten Ziele: die Kalkerde zum Kno⸗
chen, die Kiefelerde zum Haar, das Eiſen zum Blut, der
Schwefel und Phosphor zum Gehirn und Nerven, und von
da zum Knochen findet, ſollte dies weniger wunderbar ſeyn,
als die Wanderungen des ſchnell und leicht beweglichen Vo⸗
gels zu dem Ort ſeiner Ernährung und Verſorgung? Wenn
ganze Maſſen des untauglich gewordenen, leiblichen Elemen⸗
tes ſich nach der Oberfläche des Leibes hindrängen, um in
der Ausdünſtung der Haut ſich auszuſcheiden, und im Meere
der Luft ſich zu verlieren, iſt dies etwas Andres als jener
Antrieb, der manche ſchädliche Thiere (nach S. 32.) zu gan⸗
35
*
zen Wolken zuſammenſchaart und fie hinausführt ins Meer,
damit das Land von ihrer Ueberfülle entlaſtet werde? Wir
bewundern die hülfreiche Aufregung, die ſich alsbald einem
Ameiſenhaufen oder einem Bienenſchwarm mittheilt, wenn
eine Gewaltthätigkeit von außen ihren Bau zerbrochen hat,
oder wenn eine andre Gefahr der Zerrüttung und Auflöſung
durch innre Feinde demſelben droht. Wenn aber nach einem
verwundeten Gliede, nach einem zerbrochenen Knochen des
Thierleibes ſich alle Kräfte und Säfte deſſelben in flammen⸗
der Eile hindrängen, um das Verwachſen und Heilen des
tiſſes oder des Bruches einzuleiten, und wenn dieſes Stre⸗
ben ſeinen Zweck erreicht; wenn ſich im allgemein krankenden
Zuſtand des Leibes der Sturm eines Fiebers erhebt, der,
wenn er kräftig genug iſt, den innren Krankheitsſtoff zer⸗
ſetzt und entfernt, ſollte dies in mindrem Grad unfrer Be⸗
wunderung werth ſeyn? Die Spinne bereitet künſtliche Netze,
um die Beute, die ihr zur Ernährung dient, zu erhaſchen;
iſt etwa der Bau der einzelnen Ausſonderungsorgane, die
ſich mitten im Leibe bilden, um in der Leber die Galle, in
der Knochenhaut den Knochen, aus den Elementen, die
durch das Blut nahe gebracht wurden, zu erzeugen, nicht
eben ſo kunſtreich und ſtehen etwa die feinen Gewebe und
Geſtaltungen aus denen der Thierleib gebaut, und immer
wieder neu geſtaltet wird, den Geweben des Seidenſpinners
und den Bauen der Bienen, oder der Biber nach?
Im Allgemeinen iſt, wie wir im vorhergehenden Capitel
(6) ſahen, der Inſtinct jenes Walten der Schöpferkraft, durch
welches die Weſen der Sichtbarkeit ſo aneinander gepaßt und
zuſammengefügt werden, wie die Werkſtücke eines Hauſes
oder Tempels, durch einen einſichtsvollen Baumeiſter und
ſeine ihm dienenden Arbeitsleute. Jedes lebende Weſen
unſrer Sichtbarkeit iſt, in der Reihe jener Arbeitsleute, beim
Bau des Ganzen angeſtellt und beſchäftigt. Der einzelne
Arbeitsmann, der oben an der Zinne die Steine des Mauern⸗
kranzes aufeinanderlegt und durch Mörtel verbindet, ſieht
und beachtet nur dieſes Werk ſeiner Hände, er nimmt nichts
wahr von dem was die Handlanger unter ihm, zu ſeinen
Füßen thun, wie ſie den Stoff, der tief aus dem Boden
a Ziegelfteinen oder Mörtel verarbeiten und dieſe von
Hand zu Hand hinauffördern, bis zum Arbeitsmann, der
den Bauplan des Tempels vollführen hilft. Nur der Bau⸗
3
25
36
meiſter, dem die Fürſorge für das Ganze auferlegt iſt, gehet,
mit ſeinem anordnenden Blicke, unten am Boden dem Hand⸗
langer nach, der das Material zum Gemäuer gräbt und be⸗
reitet, wie der Reihe der Andren, die ſich den Stein von
Hand in Hand reichen, und der Werkthätigkeit des Maurers,
der oben an der Zinne die Werkſtücke nach dem Geſammt⸗
plan des Gebäudes aneinander fügt. |
Wenn der Biffen der Nahrung, wenn der erquickende
Trank durch unſren Mund eingegangen und in den Magen
gekommen iſt, dann nehmen wir nicht mehr wahr, wie aus
ihm der Speiſeſaft und das Blut bereitet, wie durch das
Athmen aus dem Blute die wärmende Flamme, anf dem
Herd des Lebens entzündet und erhalten werde; wir bemer⸗
ken nichts von all den Bildungen und Wiederauflöſungen
der einzelnen Theile, die in unſrem Leibe vor ſich gehen.
Das Werk der Seele an ihrem Leibe und an allen Elemen⸗
ten deſſelben gleicht einem mächtigen Bewegen, welches alles
Bewegliche, das in ſeine Nähe kommt, mit ſich fort reißet
in ſeiner Richtung. Der Strahl der Sonne, wohin er auch
dringt, kann nur leuchten und wärmen, die Flamme des
Feuers kann und muß in allem Brennbaren, das ſie berührt,
nur ein gleiches Entflammen bewirken. So liegt auch in
dem Leben der Seele, das ein Wirken und Bewegen zu
einem beſtimmten Zwecke iſt, die Macht, alles Das, was in
ihren Bereich kommt, zur Erreichung dieſes Zweckes zu Hülfe
zu nehmen und auf ihrem Laufe, nach beſtimmtem Ziele, mit
ſich hinwegzuführen. N
Das Wehen des Windes reißt alle leichte Körper mit
ſich fort, in der Richtung, die ihm ſelber angewieſen iſt.
Wenn ein Adler, der am Boden des Feldes hinfliegt, durch
ſeinen mächtigen Flügelſchlag dieſes Wehen erregt, dann
folgt ſeinem Laufe die leichte Spreu, die am Boden liegt,
ohne daß der Adler, der nur das Ziel ſeines Fluges
im Auge hat, dieſes beachtet, denn die Spreu iſt außer und
unter ihm. So theilt auch die Seele des Thieres und der
Pflanze die Richtung ihres Lebens dem Erdenſtoffe mit, den
fie, als Leib, zum Werkzeug ihrer Thätigkeit bildet und zu
ihrem Dienſt in Bewegung ſetzt. Der Stoff iſt ihr von
außen zugebracht und zur Förderung des allgemeinen Baues
in die Hand gereicht, aus einer Tiefe, zu welcher ihr Blick
nicht hinabreicht, Der aber, deſſen Werk der Stoff und ſeine
1 s ee
a al.
37
Bereitung, deſſen That und Wille die Förderung deſſelben
von Hand in Hand bis hinauf zur augenfälligen Zinne des
Baues iſt, ſieht und weiß den ganzen Hergang der Ausfüh—
a 1 Seinem Geiſte vorbedachten und entwickelten
anes.
8. Der Compaß.
Dier Erfte, der die Entdeckung machte, daß es einen
Eiſenſtein — den Magnet — giebt, welcher andres Eiſen
an ſich ziehet, mag über dieſe Eigenſchaft eines unſcheinbaren
Steines nicht wenig erſtaunt ſeyn. Wie das Thier ſeine
Speiſe, ſo erfaßt der Magnet das Eiſen, aber er verzehrt
daſſelbe nicht, ſondern macht daſſelbe nur zu Seinesgleichen,
denn wenn eine ſtählerne Nadel (etwa eine Nähnadel) eine Zeit—
lang in Vereinigung mit dem Magnet geblieben war, und
man ſie nun von dieſem hinwegnimmt, dann wird ſie nicht
bloß ſtärker von dem Magnet angezogen, ſondern ſie ſelber
zieht nun auch andere Nadeln oder leichte Eiſentheile zu ſich
hin. Mit einer ſolchen magnetiſch gewordenen eiſernen Nadel
hat man, wahrſcheinlich zuerſt nur ſpielweiſe, den Verſuch
gemacht, ſie auf einem Stückchen leichten Holzes, einem klei—
nen Spahn oder einem Korkſcheibchen in einer Schüſſel voll
Waſſer herumſchwimmen zu laſſen um ihre Beweglichkeit nach
dem Magnet hin, wie an unſren künſtlichen magnetiſchen
Fiſchchen, leichter beobachten zu können. Bei ſolcher Gele⸗
genheit mußte man bemerken, daß die magnetiſche Nadel mit
ihren beiden Enden ſich beſtändig nach einer beſtimmten Welt⸗
gegend hinwende. In dergleichen Weiſe iſt der Compaß
erfunden worden, welcher ſeiner älteſten Einrichtung nach
wohl nichts Andres war, als eine auf leichter Unterlage
ruhende auf dem Waſſer ſchwimmende, oder an einen Faden
ſchwebende magnetiſche Nadel, welche durch ihre beſtändige
Richtung nach Norden und Süden auch bei ganz trübem Him⸗
mel die Lage der Weltgegenden andeutete, und hierdurch,
ſeitdem man ihr beſonders eine bequemere, beſſere Einrich-
tung ertheilt hatte, zu einem guten, ſichren Wegweiſer der
Reiſenden über Land und Meer wurde.
Wenn die Zugvögel über Land und Meer oder wenn
andre Thiere aus ihrem bisherigen Lebenskreiſe hinaus, durch
den ſie beherrſchenden Naturtrieb zu einem ſinnlich fernen
bi
NE 8
Ne 7
ei
.
* A
5
Mei 1
38
Ziele geführt werden, da bedürfen ſie freilich unſres Com⸗
paſſes nicht, uns aber, wenn wir mit unſrem forſchenden
Verſtande dem thieriſchen Inſtincte auf ſeinen vielverſchlun⸗
genen, dunklen Bahnen folgen wollen, kommt dabei die Er⸗
kenntniß der Natur des Compaſſes gut zu ſtatten.
Die Gegenden, nach denen die freiſchwebende Magnet⸗
nadel von ſelber ſich hinrichtet, iſt im Allgemeinen die der
Weltpole, des Nordens und Südens; jedes der beiden En⸗
den der Nadel ſtellt im Kleinen einen Pol des Erdganzen
dar und wird bei ſeinem Bewegen gegen den ihn befreunde⸗
ten Erdpol hingelenkt. Die Eigenſchaft, auf welcher jenes
Bewegen beruhet, wird deshalb Polarität genannt. Wenn
man zwei ſolche Nadeln oder an Stärke ſich gleiche Magnete
einander nähert, dann bemerkt man, daß jene Enden welche
an ihnen beiden nach Norden oder nach Süden gekehret ſind,
ſich nicht gegenſeitig anziehen ſondern abſtoßen, dagegen zieht
der Nordpol des einen den Südpol des andren, und umge⸗
kehrt an. Ueberhaupt, ſo kann man ſagen, ſucht alſo jeder
Pol an einem Körper von gleichen polariſchen Eigenſchaften
nicht das, was er ſelber, ſondern vielmehr das, was er
nicht ſelber iſt.
Wenn wir nun weiter darnach fragen „ worauf alle Po⸗
larität in der Natur ſich gründe, ſo iſt die Antwort kurz
die: auf das Daſeyn eines Schöpfers, gegenüber Seiner
Schöpfung; auf die fortwährende Einwirkung einer ſchaffen⸗
den und erhaltenden göttlichen Kraft, in die Welt alles Ge⸗
ſchaffenen. b
Der Schöpfer hat in jedes ſeiner Geſchöpfe, in die mäch⸗ |
tigen Geſtirne des Himmels wie in die Sandkörnlein der
Erde, in den Geiſt des Menſchen wie in die bildende Seele
des kleinſten Mooſes, ein beſtimmtes Maaß ſeiner eigener
Kraft: ein ſchöpferiſches Wirken und Vermögen gelegt, dure
welches das einzelne Weſen entſteht und fort beſteht. Dieſ
inwohnend verliehene Kraft iſt es, welche, wie wir dies il
vorhergehenden Capitel ſahen, in jedem lebenden Leibe ein
Werk der Schöpfung im Kleinen wiederholt, indem es die
einzelnen Elemente und Theile zu einem wohl⸗ und zweck⸗
mäßig „ Ganzen vereint. Wie der Magnet jedem
Stücklein Eiſen, das er an ſich zog, ſeine magnetiſche Eigen⸗
ſchaft oder Polarität mittheilt, ſo thut dies auch die Schö⸗
pferkraft der Seele an den Stoffen , welche fie in den ale
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39 &
ihrer e e hereinzieht; jeder von dieſen empfängt ein
aaß des ſchaffenden Vermögens: er wird pola⸗
1 Denn die Polarität beſteht darinnen, daß ein Ding,
| vermöge der ihm eingepflanzten Kraft ſich zu einem andren
ältniß ſtellen kann, wie das Bewegende zum
Bewegten, wie der Schöpfer zu ſeiner Schöpfung, während
40 umgekehrt auch wieder gegen ein andres die untergeord—
nei Stellung, eines Bewegten zu ſeinem Beweger N
nn.
Die Wirkſamkeit jener Polaritäten, die in allen Thei⸗
len, in jedem Blutstropfen wie in jeder Faſer, von der
Seele deſſelben aus, hervorgerufen wird, iſt dann eben das,
was wir vorhin (S. 35.) als ein Sefchäft der Handlanger,
von unten herauf, bezeichnet haben. Den Seelen kommt
der Anfang und der Fortgang all ihres lebendigen Wirkens
und Bewegens aus der Kraft des Schöpfers ſelber, und
dieſe iſt es, deren allbedenkende Vorſorge dem Antriebe oder
Inſtinct, der ſeinen Urſprung aus ihrem allumfaſſenden Wal⸗
ten nahm, ſeine ſichere Bahn beſtimmt. Der Nordpol der
Erde oder jenes magnetiſche Wirken das aus der Tiefe des
Planeten kommt, liegen auch von der Nadel unſeres Com⸗
paſſes in weiter Ferne ab, und dennoch findet der Drang
des Bewegens nach den Polen hin immer wieder ſeine rechte
Richtung, mag ihn auch ein äußrer, gewaltthätiger Einfluß
noch ſo oft aus ihr entfernen; daſſelbe geſchieht auch dem
Drange des Inſtinctes der aus einem Wirken ſeinen Anfang
nimmt, vor deſſen Macht die Entfernung der get Raus
5 me wie der Zeiten gleich wie Nichts iſt.
So giebt uns der Compaß, mit welchem der Schiffer
1 ſich kühn auf das weite Meer waget, nach ſeinem kleinen
Maaße ein Abbild, nicht nur des Erdkörpers und ſeiner
i Polarität, ſondern der geſammten Anordnung alles Seyns
und Lebens der geſchaffenen Welt. Wie die Schöpfung nur
Award und beſteht, durch den Einfluß eines bildenden, ord⸗
nenden und erhaltende Schöpfers, ſo wird und beſtehet
jedes einzelne Ding nur durch die ſchöpferiſche Kraft, die in
ſein Weſen gelegt ward, und jedes derſelben ſtellt in ſich
den Gegenſatz zwiſchen einem Schaffenden und 3 fenen
dar; jedes der Myriaden von Weſen iſt ein Comm 5, Def
Anfang und Ende beſtändig nach einem und demſelben Puncte
hinweiſet. Dieſer Richtpunct aber, nach dem alles Seyn und
40
Leben der Dinge ſich hinwendet, iſt Gott der Herr, der uns
und alle Dinge gemacht hat und ſie alle durchwirket mit ſei⸗
nem allmächtigen Worte, hochgelobet in Ewigkeit!
9. Der Wandertrieb des Geiſtes.
Es war den Gefährten des großen Columbus nicht zu
verargen, wenn ſie auf der kühnen Fahrt mitten durch den
atlantiſchen Ocean, gerade in der Richtung in welcher dieſer
am breiteſten iſt, der kleinmüthigen Sorge und Furcht ſich
hingaben. Ihr Vertrauen und ihr Hoffen giengen nicht viel
weiter als die Augen ſahen; Ihr Denken und Dichten war
nicht auf das Vollbringen einer kühnen That, auf das Er⸗
reichen eines geiſtig hohen Zieles gerichtet, ſondern nur auf
ein möglichſt ſchnelles Erwerben von Geld und Gut, auf
den Genuß der Sinnen, bei voller Sicherheit und Ruhe des
Leibes. Nach den öſtlichen Küſten des goldreichen Indiens
wollten ſie gelangen, dort mit Edelſteinen, mit Perlen und
Gold ſich bereichern, eine Zeit lang im Genuß der Früchte
und Naturgaben des Landes ſchwelgen, dann in die Hei⸗
math zurückkehren und da die erbeuteten Schätze in Ruhe
genießen. Als ſie ſich aber jetzt, auf ihren ſchlecht verwahr⸗
ten und nothdürftig verſorgten Fahrzeugen mitten im Meere
ſahen, als der Paſſatwind aus Oſt ihre Segel erfaßte und
die Fahrt nach Weſten, in die unüberſehliche Weite des Welt⸗
meeres ſo beſchleunigte, daß ſie bald viele Hunderte von
Seemeilen vom Vaterlande hinwegkamen, als die Hoffnung
auf ein nahes Land, welche das Erſcheinen der ſchnellflie⸗
genden Seevögel und einzelner Strecken des grünen Seegra⸗
ſes erregt hatten, immer wieder unerfüllt blieb und nach län⸗
ger als einem Monat das lang erſehnte Land noch immer
nicht erſcheinen wollte, da war ihr Vertrauen ſo ganz zu
nichte geworden, daß ſie nur an die Heimkehr dachten und
allein noch die unerſchütterte Ruhe und Feſtigkeit des Füh⸗
rers den völligen Ausbruch des Aufruhrs zurückhalten konnte.
Es empörte ſich hier das Fleiſch gegen den Geiſt, denn
während jene nur mit fleiſchlichem Auge ſahen, mit fleifihlie
chem Herzen hofften und vertrauten, erblickte der große Ko⸗
lumbus mit geiſtigem Auge, weit über das Meer hinüber das
Ziel der Fahrt, das den Andren verborgen war. Er hatte
noch einen ſicherern Führer bei ſich, als den Compaß: das
41
war das fefte Vertrauen feines frommen Herzens auf Gottes
Beiſtand und Hülfe, bei einem Unternehmen, welches beſtimmt
war den unabweisbaren Drang des Menſchengeiſtes das noch
Unbekannte zu erforſchen, und das Licht das aus Oſten kam,
auch über das Dunkel der weſtlichen Erdtheile zu verbreiten.
Was den Andren Furcht und Sorge machte, die mächtige
Beſchleunigung der über mehr denn 900 Meilen weiten Fahrt
durch Wind und Wogen, das gab ihm Freude und ſtärkte fei-
en Muth, denn fein Sinn war nicht ruͤckwärts, ſondern nur
vorwärts gerichtet, dahin der Bote des Himmels, der gün⸗
Wind, ihn ſelber geleitete; ſein feſtes Hoffen ruhete be—
reits aus auf dem Lande, das ſein Auge noch nie geſehen
hatte, ja von welchem noch keine ſichre Kunde zu ſeinem
oder der Seinigen Ohr gelangt war. |
Die Heere der Schwalben ziehen von der nordweſtlichen
Küfte von Europa aus faſt denſelben weiten Weg über das
Meer hinüber und keine von ihnen wird auf dieſer großen
Reiſe von Muthloſigkeit ergriffen, keine fühlt ſich zur Umkehr
geneigt, weil in der Seele Aller ein Antrieb waltet der ſei—
nen leitenden Faden mit dem einen Ende hinüberſpannt an
das ferne, noch unerreichte Ziel, und an dieſem eben ſo feſt
hält als an dem Boden der eben verlaſſenen Heimath, an
den das andre Ende ſich anknüpfet. Der Antrieb des Inſtinc⸗
tes erſcheint überall als ein Suchen welches durch kein Hin—
derniß in ſeinem Gange ſich irre machen läßet, weil das, nach
welchem die äußre Natur des Thieres ſich hinbewegt, im
Innern, in der Seele deſſelben ſchon vorhanden und bereits
zun einem Gegenſtand des Genußes geworden iſt, verwandt,
# nach feinem Maaße, dem Genuße und der Freude, welche die
Hoffnung uns Menſchen gewährt. |
Es giebt einen Wandertrieb von viel höherer, mächtigerer
Art als jene ift, der den Vogel über den Ocean führt oder
das Inſect aus einem Element und Kreiſe des Lebens in die an—
dren; einen Trieb, welchen die Seele die er erfaſſet nicht nur von
einem Ende der Erde zum andren, ſondern hinausführt über
Mond und Sterne, über alle Gränzen der unermeßbaren
Sichtbarkeit, in eine unſichtbare Welt des Geiſtigen und Ewi-
gen. Dieſer Wandertrieb liegt in dem Geiſte des Menſchen;
es iſt der Drang nach einem vernünftigen Erkennen, nach
einem Verſtehen des Zuſammenhanges, in welchem die Dinge N
der ſichtbaren Welt unter einander ſich befinden und vor Als
918
Vu
42
lem der Bedeutung die fie für unſer eignes Leben haben.
Der Drang nach dem Erforſchen des unſichtbaren Anfanges
und Endes unſres eignen Daſeyns, nach dem Verſtehen andrer
Menſchenſeelen ſo wie das innige Verlangen nach der geiſti⸗
gen Gemeinſchaft und Zuſammengeſellung mit dieſen, auf
dem gleichartigen Wege des Wiſſens und Erkennens. Ein
Hoffen liegt jenem Wandertriebe zu Grunde, das noch ſtär⸗
ker und feſter iſt denn das, welches den Columbus auf ſeiner
Fahrt belebte; ein Hoffen das hinüberreicht über das Grab,
in ein Leben der Ewigkeit, und deſſen Anker auf einem Grun⸗
de ruhet der in allen Stürmen feſt hält. Win
Dem Antriebe des thieriſchen Inſtinctes ſind die äußern
Glieder zu ſeinem Dienſt gegeben; beim Wandervogel die
ſchnellbeweglichen Flügel, bei der Arbeitsbiene die Körbchen
gleichenden Anſätze an den Füßen, darinnen der Blüthen⸗
ſtaub befeſtigt und eingetragen wird, bei dem Biber das meiſſelar⸗
tige Gebiß zum Zerſchneiden der Holzſtämme und Aeſte, und
der kellenartige Schwanz, bei der Spinne die Drüſen aus
denen die zähe Flüßigkeit kommt, die an der Luft zum Fa⸗
den erhärtet. Der Antrieb regt ſich öfters ſchon, ehe noch
die leiblichen Werkzeuge, durch die er ſpäter ſich kund giebt
vorhanden oder ausgebildet ſind; das Zicklein verſucht ſchon
zu ſtoßen, ehe es noch Hörner hat; ein kleines Krokodil das
ſo eben aus dem Ei gekrochen war, biß ſchon, im Vorgefühl
ſeiner künftigen Kraft und Stärke, zornwüthig in einen Stock
hinein, den ein Engländer ihm vorhielt. Die Seele über⸗
haupt iſt eher als der Leib und dieſer wird erſt allmählig
den Strebungen ihres Weſens zugegeben und angebildet, da⸗
rum regt ſich auch der Inſtinct noch ehe ihm das Mittel ſich
zu äußern vollkommen gewährt iſt. | !
Schon im Allgemeinen find die eigenthümlichen Vorzüge
des Thieres vor der Pflanze: die ſinnliche Wahrnehmung
und die willkürliche Bewegung auf dem Beſitz der Sinnor⸗
gane, vor Allem des Sehens und Hörens, ſo wie der bewe⸗
genden Muskeln gegründet; je weiter das Auge eines
Thieres blickt, deſto weiter kann es auch in der Regel ſich
bewegen; je größer die Kraft und die Beweglichkeit ſeiner
Glieder iſt, deſto näher liegt ihm die Beſtimmung andre
Thiere zu bewältigen und von ihrem Fleiſche ſich zu nähren.
Bei dem Menſchen ſind alle Sinnorgane in ſolcher Gleich⸗
mäßigkeit ausgebildet, ſeine Glieder ſind von ſo vollkommner
43
Beweglichkeit, daß fein Leib ſchon hierdurch das geeignetſte
Werkzeug wird, dem Alles forſchenden und verſtehenden
Geiſte, ſo wie dem vernünftigen Willen zu dienen. Sein
Auge ſiehet alle Herrlichkeiten der Schöpfung, deren harmo—
niſches Bewegen das Ohr vernimmt; ſeine Hand mit ihren
kunſtreich wirkenden Fingern, bildet Alles nach, was das Auge
ſieht und verleihet dem todten Inſtrument eine Macht der Tö—
ne, wodurch daſſelbe mit allen Melodien des Vogelgeſanges
und der Menſchenſtimme ſelber zu wetteifern vermag. Dem
innren Antriebe der menſchlichen Natur zu einem Erkennen
und Verſtehen der Werke Gottes und zu einem Wirken und
Bewegen ſeiner Kräfte, welches mit der göttlichen Weltord⸗
nung übereinſtimmend iſt, findet ſich demnach ſein Leib, mit
all ſeinen Gliedern und Kräften vollkommen anpaſſend und
entſprechend. Dennoch können wir auch hier deutlich wahr⸗
nehmen daß die innre, geiſtige Kraft mit ihren Antrieben
zum vernünftigen Erkennen und Handeln nicht aus dem ver⸗
gänglichen Körper und aus der Einrichtung ſeiner Theile
komme, fondern daß fie dem Geiſt angehöre und eins ſey
mit ſeinem Weſen ſelber. Sie iſt deshalb vorhanden und
der ihr eingepflanzte Antrieb giebt ſich kund, auch dann wenn
die Beſchaffenheit des Leibes ihrer Wirkſamkeit ungünſtig und
in hohem Grade hinderlich erſcheint und läßt uns hierdurch
erkennen daß ſie fortbeſtehen werde, auch dann, wenn der
Leib nicht mehr iſt, eben ſo wie ſie beſtanden iſt, noch ehe
der Leib war. Wir ſuchen dies an einem Beiſpiele zu erläutern.
Ign den vereinigten Staaten von Nordamerika zu Han⸗
nover in der Grafſchaſt New-Hampſhire wurde im Jahr 1829
Laura Bridgmann, als Tochter achtbarer und gebildeter
Eltern geboren, an welcher es ſich, wie an manchen andren
Taubblinden, gezeigt hat, daß der Geiſt des Menſchen in
ſeinen Kräften und Aeußerungen derſelbe bleibe, auch dann
wenn die Pforten des äußeren Erkennens, die oberen Sinne,
für ihn ganz verſchloßen find. Laura war bis zu dem zwan⸗
zigſten Monat ihres Lebens in einem Zuſtand des beftändi-
gen Hinſterbens, denn ſie litt faſt ſeit ihrer Geburt an den
ſchmerzhafteſten Krämpfen und war überaus ſchwächlich. Erſt
von ihrem ein und zwanzigſten Monat an hatte ſie ſich etwas
erholt und vor dem Ende des zweiten Lebensjahres einige
Worte ſprechen gelernt. Aber dieſe ſcheinbar leibliche Beße—
rung war nur der Anfang eines noch viel ſchwereren Leidens
44
geweſen. Die innre, bisher auf der Wurzel des Lebens
aſtende Krankheit, welche vorher die lebensgefährlichen
Krämpfe erregt hatte, zog ſich vom Gehirn hinweg und warf
ſich auf die Organe des Geſichtes und Gehöres; dieſe gien⸗
gen in Vereiterung über und wurden ganz zerſtört; das Le⸗
ben des Kindes war gerettet, aber Laura war von nun an
eben ſo ſehr ſtockblind als gänzlich taub, ja, wie ſich dies
ſpäter ergab, ſie hatte auch den Sinn des Geruches und
des Geſchmackes verloren, denn ob man ihr Rhabarbertrank
in den Mund giebt oder Thee, das kann ſie nicht unter⸗
ſcheiden. Das arme Kind iſt am Leben erhalten worden
um die andren Menſchen zu lehren, daß in ihnen noch ein
andres Weſen und Leben ſey als das wandelbare, vergäng—
liche des Fleiſches. b
Während ihrer letzten ſchwerſten Kinderkrankheit und
eine kurze Zeit nachher ſprach Laura noch einige ihrer erlern—
ten Worte, da ſie aber ihre Stimme nicht mehr hörte, ver⸗
ſtummte ſie bald ganz. Sie erholte ſich langſam und erſt
mit dem Anfang des fünften Jahres war ſie, abgeſehen von
dem Verluſt der Sinne, vollkommen geſund zu nennen. Aber
kaum war ſie dieſes geworden, da gab ſich auch der Geiſt
des innerlich reichbegabten, äußerlich ſo verarmten Kindes,
mit all ſeinen ihm eingebornen Kräften und Beſtrebungen,
in einer ſo augenfälligen Weiſe kund, als wäre nichts ge⸗
ſchehen, das ihn von außen beeinträchtigen konnte. Alsbald
regte ſich, in derſelben Stärke wie bei talentvollen Kindern
mit geſunden Sinnen der Antrieb zum Erkennen und die
Wißbegierde. Laura fing an, munter im Hauſe herumzu⸗
laufen und alle Gegenſtände mit ihren Händen zu betaften. -
Vor Allem folgte ſie der Mutter, auf allen ihren Tritten
und Schritten, forſchte, wenn dieſe beſchäftigt war, mit ihren
fühlenden Händen nach dem Thun der Mutter, ahmte die⸗
ſes ſorgfältig nach und lernte auf dieſe Weiſe mehrere weib⸗
liche Arbeiten. Wie andre Mädchen ihres Alters verſtund
ſie und trieb ſie mit Luſt das Spiel mit Puppen und andren
Gegenſtänden der kindlichen Ergötzung; ihre höchſte Freude
jedoch genoß ſie dann wenn ſie etwas Neues erlernt, oder
den Nutzen eines Gegenſtandes, den Zweck einer Arbeit
erforſcht hatte. >
Ign ihrem angehenden neunten Jahre, 1837, kam Laura
nach Boſton, in das dortige Blindeninſtitut, unter die Lei⸗
45
tung des trefflichen Vorſtandes, des Doctor Howe. Als
das Kind ſich auf einmal von ſeiner treueſten, liebſten Pfle—
gerin und Freundin getrennt, unter ganz fremden Menſchen
und in fremder Umgebung fühlte, war es allerdings eine
Zeit lang furchtſam und verlegen, aber es zeigte ſich auch
in dieſem Falle, daß der tiefſte, innerfte Antrieb unfrer Na
tur, der im Weſen des Geiſtes liegt, mächtiger und gewal⸗
tiger ſey als der Zug und die Neigungen des Fleiſches.
Der Trieb, Neues zu erkennen und zu erforſchen fand in
der neuen Umgebung mehr Nahrung; das Streben nach gei⸗
ſtiger Zuſammengeſellung wurde noch ungleich vielſeitiger ber
friedigt als im elterlichen Hauſe, darum fand ſich die Kleine
am neuen Aufenthaltsort bald eben ſo glücklich, ja noch
glücklicher als daheim. Kamen doch dem ſchönen, lebhaften,
geiſtvollen Kinde, das ſo ſanft und liebevoll anſchmiegend
war wie ein Lamm, alsbald alle Mitglieder der Blindenan⸗
ſtalt mit Liebe entgegen, und wenn die blinden Pflegeſchwe—
ſtern mit ihr ſpielten, wenn ſelbſt Doctor Howe ihrer Puppe
mit der ſie einmal, als ob dieſelbe krank ſey, die Rolle einer
Krankenwärterin ſpielte, den Puls fühlte und ihr ein Pfla—
ſter auf den hölzernen Kopf legte, da jauchzte ſie laut und
hüpfte vor Freude. Ä
Das von Andren fo viel bedauerte Kind, wie war es
dennoch ſo glücklich in ſich ſelber, ſo froh und heiter! Es
wußte daß ihm Vieles, daß ihm Wahrnehmungen der Außen-
welt mangeln, welche die andren, geſunden Menſchen haben,
zugleich aber fühlte es, daß es dennoch das beſitze, was
mehr iſt als die äußern Sinne und was allen andren Men—
ſchen es gleich ſtellte; es war in der Thätigkeit ſeines for—
ſchenden Geiſtes und in der Liebe zu andren Menſchenſeelen
glücklich. Bald war die Kleine mit ihrer neuen Umgebung
5 ſo vertraut, daß ſie wie ein ſehendes Kind die Treppen des
Hauſes auf und ab lief, und alle vierzig Bewohner deſſelben
durch Berührung kannte. Bei Tiſche, wie bei jeder andren
Gelegenheit betrug ſie ſich mit einem Anſtand, der nicht durch
das Sehen von fremdem Beiſpiel erlernt war, ſondern von
innen hervorging; ſie kleidete ſich ohne fremde Hülfe von
ſelber aus und an und verrieth hierbei, ſelbſt beim Flechten
des Haares, ein ihrem Geſchlecht eigenthümliches Streben
nach Nettigkeit und Zierlichkeit; in den weiblichen Arbeiten
des Strickens, Stickens, Nähens bewieß ſie eben ſo viel
46
Fleiß und Geſchick als ihre blinden, dabei aber hörenden
Mitſchülerinnen. So war ſie in das günſtigſte Element zur
Entwicklung der Antriebe der innren Menſchennatur gekom⸗
men und befand ſich wohl in ihm.
Mitten aber in der geiſtigen Aufregung waren die Kei⸗
me der natürlichen Liebe und dankbaren Anhänglichkeit an
die erſte Pflegerin des Lebens, an die Mutter keineswegs
erſtickt worden, ſondern dieſe wuchſen mit der geiſtigen Ent⸗
wicklung zugleich, immer kräftiger, menſchlich veredelter auf.
Etwa ein halbes Jahr nach Lauras Eintritt in die Blinden⸗
anſtalt erhielt dieſelbe einen Beſuch von ihrer Mutter. Das
Perſonengedächtniß der kleinen Taubblinden war ſeitdem mit
ſo vielen neuen Eindrücken überfüllt worden, daß ſie die
Mutter in den ihr wahrſcheinlich noch unbekannten Reiſeklei⸗
dern nicht erkannte, obgleich ſie forſchend ihre Hände wie
ihren Anzug betaſtet hatte. Sie wendete ſich deßhalb bald
wieder von derſelben, wie von einer Fremden ab, ja ſie ent⸗
zog ſich mit Widerſtreben ihren Liebkoſungen, obgleich die
wohlbekannte Perlenſchnur, die ſie im elterlichen Hauſe ge⸗
tragen und welche die Mutter ihr mitgebracht hatte, ihr große
Freude machte und ſie beim Empfang derſelben dem Doctor
Howe andeutete, daß dies aus der Heimath komme. Die
Mutter reichte ihr hierauf noch einen andren wohlbekannten
Gegenſtand aus dem Elternhauſe in die Hand, Laura wurde
lebhaft bewegt, unterſuchte ſie genauer, gab dem Herrn Ho⸗
we zu verſtehen, daß dieſe Dame gewiß aus Hannover käme,
ließ ſich auch einige Liebkoſungen von ihr gefallen, gieng aber
dann doch wieder von ihr weg. Die ſchmerzlich betrof⸗
fene Mutter nahte ſich ihr von neuem, da erwachte in der
Kleinen auf einmal der Zug der kindlichen Liebe mit all ſei⸗
nen Erinnerungen, ſie betaſtete ſehr eifrig die Hände der
vermeintlich Fremden, wurde bald bleich, bald glühend roth
und als jetzt die Mutter ſie an ſich zog, da verſchwand aller
zurückhaltende Zweifel, ſie warf ſich mit dem lebendigſten
Ausdruck des Entzückens in die Arme derſelben und 4
nicht mehr von ihr; weder von ihren Spielſachen noch von
den Geſpielinnen nahm fie jetzt weiter Kunde.
Der nach Entwicklung ringende, geiſtige Antrieb zeigte
übrigens auch bei dieſer Gelegenheit ſeine entſchiedene Macht.
Als die Mutter wieder abreiſen wollte, begleitete das Kind
dieſelbe, ſie feſt umſchlingend bis vor das Haus, tappte
if 92 . 7
47
dann mit der einen freien Hand umher um zu forſchen wer
in der Nähe ſey, und da ſie hierbei eine ihrer geliebteſten
Lehrerinnen entdeckte faßte ſie dieſe bei der Hand, drückte
noch einmal die Mutter innig feſt an ihr Herz, entließ ſie
aber dann und warf ſich laut ſchluchzend in die Arme der
Lehrerin. |
Daß, wie wir vorhin fagten, der natürliche Trieb des
menſchlichen Gemüthes, der mehr dem Fleiſche inwohnt, durch
das Wachſen des geiſtigen Antriebes keinesweges geſchwächt,
ſondern nur veredelt und durch das geiſtige Element das er
empfängt, nur noch mehr verſtärkt werde, dies zeigte ſich bei
Laura am deutlichſten als ſie, in einer freilich nicht hörbaren
ſondern nur fühlbaren, oder in Buchſtabenſchrift ſichtbar wer⸗
denden Gedankenſprache ſich ausdrücken gelernt hatte. Mit
der Gabe der Sprache wuchs auch das Vermögen der deut—
lichen Erinnrung an die Perſonen und Gegenſtände der Außen⸗
welt; die Züge der Zuneigung und Abneigung traten in
deutlicherer Geſtalt hervor. Sobald die Taubblinde durch
die Geſchäftigkeit ihrer Finger hatte Worte bilden lernen,
war die Mutter und das Verlangen nach ihr ein öfterer Ge—
genſtand ihres Geſpräches, ihr erſter Brief war an dieſelbe
gerichtet und wenn etwa die Lehrerin eines der andren bins
den Mädchen liebkoſend in ihre Arme ſchloß, wobei ſich viel-
leicht in der armen, der fremden Liebe ſo bedürftigen Laura
eine kleine Eiferſucht regte, dann fprachen ihre zarten Fin—
ger die Worte aus: » meine Mutter wird mich lieb haben. «
Diem Inſtinct, der im Thiere waltet, kommt die leib⸗
liche Bildung jener Glieder entgegen und zu Hülfe, durch
welche die innere Regung des Antriebes ſich zu äußern ver⸗
mag, dieſer Antrieb ſchafft und geſtaltet ſich ſein beſtimmtes,
ihm zugehöriges Organ. Dem Inſtinct, welcher das Thier
zum Nahrungnehmen leitet, dienen beim Raubvogel die
ſchnellen Schwingen beim Ereilen der Beute, Füße mit ihren
Klauen, ſo wie der Schnabel beim Erfaſſen und Zerlegen
derſelben, dann der Magen und Därme, in welchen das Ge—
noßene aufgelöſt, die Gefäße durch welche es zur Ernährung
der Theile weiter gefördert wird. Auch der geiſtige Antrieb
der Menſchennatur, zum Erfaßen des Erfennbaren und zum
Verarbeiten deſſelben in eine innre Geſtalt des vernünftigen
Wiſſens ſo wie in die Kräfte zum vernünftigen Handeln
ſchaffet und bildet ſich ſein eigenthümliches Organ; die Ge⸗
Aa
48
dankenſprache, deren Worte zuerſt ein innres, überſinnliches
Element ſind, dann aber in ein äußerlich vernehmbares ſich
verwandeln. Der Flug des Adlers, wenn er mit Sturmes⸗
eile ſich auf ſeine Beute ſturzt, oder der der Schwalbe, wenn
ſie über das Meer zieht, iſt ſchnell, die Gedankenſprache des
Menſchen aber iſt noch unvergleichbar ſchneller, denn kaum
iſt das Wort gedacht oder geſprochen, da iſt der erkennende
Geiſt auf der Schwinge der Sprache auch ſchon zu dem
Gegenſtande hingelangt, den das Wort bezeichnete; wir ſind
im Geiſt bei dem Freunde den wir nannten oder an der
vormals von uns beſuchten und geſehenen Stätte, auch wenn
beide, der Leiblichkeit nach, in einem weit entfernten Welt⸗
theile ſich befinden. Mit dem Denken und Sprechen des
Wortes hat auch der Menſchengeiſt zugleich das Vermögen
empfangen, das leiblich Geſehene und Empfundene in ein
Weſen von geiſtiger Natur zu verwandeln, welches als fol-
ches zu feinem: bleibenden Eigenthum wird, eben fo unzer⸗
ſtörbar und unvergänglich als der Geiſt, ſeinem Weſen nach,
dies ſelber iſt. | | |
Sobald die Biene in ihrer vollkommnen geflügelten Ge⸗
ſtalt ans Licht getreten iſt, kann ſie, auch wenn man in
dieſem Augenblick ſie unter einem Glas, bei einer Fülle von
Nahrungsmitteln gefangen hält, nicht ruhen, ſie fliegt ängſt⸗
lich hin und her in ihrem Gefängniß und ſobald man ſie
hinausläßt braucht ſie ſogleich die Flügel ſo wie die andren
Glieder zum Aufſuchen und Herbeiführen des Materials und
zur Geſchäftigkeit für den gemeinſamen Bau, den ſie mit
den andren Bienen ihres Schwarmes als Pflegeanſtalt für
die junge Brut und zu Vorrathskammern errichtet. Auch
der eingeborne Antrieb des Menſchengeiſtes führet dieſen
unaufhaltſam, als ein Kunſttrieb von höherer Art, zur Mit⸗
wirkung für einen Bau hin, deſſen Aufführung ein gemein⸗
ſames Werk der Menſchenſeelen iſt: zu der Bildung einer
jedem Einzelnen verſtändlichen Menſchenſprache. Dieſe iſt
das mächtige Bauwerk, in welchen ſchon die längſt vergan⸗
genen Geſchlechter den Vorrath der Gedanken und Erkennt⸗
niſſe für uns niedergelegt haben, und auch wir vertrauen
ihm die fruchtbaren Saamen für künftige Zeiten an.
Die Lebenskraft, die im Weſen der Biene waltet, kann
nicht anders, ſie muß ſich in der Geſtaltung der Flügel
und all jener andren Glieder kund geben, welche ii
ende
49
ſchende Antrieb zum Sammlen und Bauen zu feinem Dienfte
bedarf. So kann auch der vernünftig erkennende und wol⸗
lende Menſchengeiſt nicht anders, er muß ſich eine Gedan—
kenſprache ſchaffen, muß mit dieſer die Welt des Erkennba⸗
ren, ſo weit ihm dieſe offen ſtehet, umfaßen und in der
Mittheilung ſeiner Gedanken an andre Menſchenſeelen zu dem
gemeinſamen Kunſtwerk des Wiſſens mitwirken. Die Seele
unſerer armen Taubblinden glich in ihrer leiblichen Beſchrän—
kung durch den Mangel der höheren Sinnorgane, jener
Biene, die man bei ihrem Hervorgehen aus der Puppenhülle
unter einem Glaſe gefangen hält, ſie ſtrebte emſig hinaus
in den Kreis jenes freiern Wirkens, darin ſie eine Gedan—
kenſprache, zum Empfangen der fremden Erkenntniſſe von
außen, und der Mittheilung ihrer innren Regungen an Andre
erringen konnte.
Wenn die Menſchenſeele das Werk der Bildung eines
Mittelgliedes von halb geiſtiger, halb leiblicher Art, wie dies
die Sprache iſt, beginnt, da folgt ſie zunächſt dem Laufe
den der leibliche Athem nimmt. Wie der Odem ein Auf
nehmen und ein Hinausgeben des Lebenselementes der Luft,
ſo begründet die Sprache ein Aufnehmen und Ausgeben der
Elemente des Erkennens. Der Drang zu ſprechen, dem
Geiſte fo weſentlich eingepflanzt als dem Leibe der Drang
zu athmen, macht deshalb im Menſchen alsbald gemeinſame
Sache mit ſeinem leiblichen Gefährten und Abbild, er be—
dient ſich der Stimme zu ſeiner Befriedigung. Auch der
Taubgeborene, welcher niemals die Stimme eines Menſchen
vernommen hat, fühlt ſich unwillkührlich dazu gedrungen ſeine
Empfindungen wie feine Vorſtellungen durch Töne auszu⸗
drücken. Ein Taubſtummer der durch den empfangenen Un⸗
terricht ſo weit gebracht war, daß er ſeine Gedanken in der
Wortſprache kund geben konnte, erzählt von ſich, daß er
vorher, ehe er Worte gelernt hatte, zu jenen Geberden, wo—
mit er einzelne Gegenſtände bezeichnen wollte, immer auch
eine beſondere Anregung ſeiner Stimme hinzugefügt habe, für
jede ihm bekannte Perſon habe er einen freilich zunächſt nur
ihm durch das Gefühl verſtändlichen Ausdruck der Stimme
oder gleichſam Namen gehabt. |
Bei der taubblinden Laura war dieſer nothwendige Zu—
ſammenhang, in welchem die Gefühle und Vorſtellungen der
Seele des Menſchen mit ſeiner Stimme ſtehen, in ganz be⸗
4 |
50
ſonders deutlicher Weiſe zu bemerken. Wenn fie in ein Zim⸗
mer trat, in welchem eine Anzahl ihrer blinden Hausgenoffin-
nen verſammlet war, dann umarmte ſie jede derſelben und
gab dabei einen beſondren Laut von ſich, den die blinden
Mädchen, hierinnen aufmerkſamer und geübter als die ſehen⸗
den Menſchen, eben ſo gut verſtunden, als einen ausgeſpro⸗
chenen Namen. Auch dann, wenn ſie ganz allein war und
etwa an eine der Freundinnen dachte, der ſie mit vorzüglicher
Liebe zugethan war, ließ ſie den Laut vernehmen der die
geliebte Freundin bezeichnete unde wenn man ſie fragte wa⸗
rum ſie den Namen nicht ſo wie bei den Gedanken an andre
Gegenſtände durch das Fingeralphabet ſich ausdrücke, ſondern
durch einen Laut, da antwortete ſie: ich denke nicht daran
ihren Namen zu buchſtabiren, — — weil ich denke wie ſehr
ſie mich liebt und wie ſehr ich ſie liebe.
Der Menſch, auf der niedren Stufe der Sprachfähigkeit,
auf welcher der noch ununterrichtete Taubſtumme ſtehet, iſt
wie der Vogel oder wie andre mit einer Stimme begabte
Thiere, welche auch die Gefühle des leiblichen Wohlſeyns
oder des Schmerzens, der wechſelſeitigen Zuneigung oder Ab⸗
neigung, des Zornes wie des Schreckens, durch Töne der
Stimme kund geben, und auch ſpäter ſucht das Stimmorgan .
bei jeder lebhaften Aufregung des Gemüthes das Recht zu
behaupten, ein Träger und Verkündiger der Gefühle zu ſeyn.
Bei Taubſtummen, und ſelbſt bei Taubblinden, macht
ſich der Drang der Menſchenſeele, zu ſprechen noch auf einem
andren Wege, durch die Sprache der Geberden Bahn, welche
eben ſo in inſtinctmäßiger Weiſe erzeugt wird, wie das Be⸗
wegen der Hand nach einem Gegenſtand hin „welchen der
Menſch zu ergreifen wünſcht. Manche Vögel, wie ſchon der
gemeine Staar, begleiten die Töne ihres Geſanges mit tact⸗
mäßigen Bewegungen der Flügel, einige Arten der Kraniche
werden ſelbſt durch Muſik, die ſich in der Nähe ihres Kä—
ſiches vernehmen läßt, zu tanzenden Bewegungen der Füße
und Flügel bewogen. Solche äußerlich verarmte Menſchen⸗
naturen, welche nicht allein taub, ſondern zugleich blind ſind,
können keine Geberden, welche ſehende Menſchen ihnen vor⸗
machten, nachahmen, ſie können ihre Zeichenſprache nicht von
Andren erlernen und dennoch erfinden ſie ſich von ſelbſt eine
für all ihre Bedürfniſſe vollkommen ausreichende. Eine Taub⸗
blinde aus Oſtende ' die Anna Timmermanns vermochte ſich
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ſo gut und deutlich in ihrer Geberdenſprache auszudrücken,
daß jedes ſehende Kind ſie verſtund und daß man ſie zu
kleinen Einkäufen außer dem Haufe, bei den Krämern ge-
brauchen konnte. Ein andrer Taubblinder, der dieſes eben
fd wie die Anna Timmermanns von feiner Geburt an gewe—
ſen war, der Schottländer James Mitchell, konnte ganze
kleine Geſchichten, aus dem engen Kreis ſeiner Erfahrung,
durch die Geberdenſprache erzählen. Auch Laura unterhielt
ſich mit ſolchen Perſonen, welche der Sprache des Fingeral—
phabets unkundig waren, ſehr geläufig in der Sprache der
Geberden und wenn man ihr Fremde vorſtellte, war gewöhn—
lich ihre erſte Frage, ob dieſelben blind ſeyen oder ſehen
könnten? damit ſie hiernach die Weiſe der Mittheilung be—
ſtimmen konnte. Ohnehin ſprachen bei dieſem lebhaften und
gefühlvollen Kinde die Mienen des Angeſichts alle Bewegun—
gen des Innren: Hoffnung wie Furcht, Vergnügen und
Schmerz, Selbſtzufriedenheit und Reue in der unverkennbar⸗
ſten Deutlichkeit aus.
Obgleich jedoch ſelbſt bei Taubſtummen und bei Taub⸗
blinden der vernünftig erkennende Geiſt des innren, einge—
bornen Antriebes, der zur Bildung einer Sprache führt, nicht
beraubt iſt, ſondern denſelben in kräftiger Weiſe kund giebt,
ergeht es ihm dabei immerhin, ehe ſich ihm das Verſtändniß
der eigentlichen Wortſprache eröffnet, wie der vereinzelten
Biene oder Wespe, die man von ihrem Schwarme getrennt
und in ein Behältniß gebracht hat, in welchem übrigens für
Alles geſorgt iſt, was zum Unterhalt ihres Lebens wie ſeiner
Geſchäftigkeit gehört. So lange in ihr das Leben noch kräf⸗
tig iſt regt ſich der Inſtinct noch in jener Weiſe, in welcher
er beim gemeinſamen Bau des Stockes thätig war, dies
aber nur in höchſt unvollkommener Weiſe: die Tröpflein des
Honigs werden planlos, da oder dort verſtreut, die Wespe
benagt zwar noch das morſche Holz und verarbeitet ſeine
Faſern zu einer dem Löſchpapier ähnlichen Maſſe, aber es
wird aus dieſer kein regelmäßiges Bauwerk geſtaltet. In
der Wortſprache, die der Menſch aus den fernſten Zeiten
des Urſprunges ſeines Geſchlechtes zum gemeinſamen Erbe
mit andren Menſchen empfangen hat, waltet ein Geiſt des
allgemeinen, vernünftigen Erkennens, welcher auf alle See⸗
len, die durch das Erlernen der Sprache ſeine Weihe
empfangen haben, eben ſo anregend, ordnend und belebend
4 *
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wirkt, wie die Macht des Bienenweiſels auf die Seelen aller
Bienen ihres Stockes. Mit der Wortſprache geht in dem
Dunkel der Menſchennatur ein Licht auf, welches das ganze
Reich des ſichtbar Geſchaffenen ſo wie ihr eignes Innres
erleuchtet. Der Wandrer der in der Nacht nur hier in ſei⸗
ner Nähe einen einzelnen Baum, einen einzelnen Felſen be⸗
merkte, überblickt, wenn ihm der helle Tag anbricht, auf ein⸗
mal die ganze Landſchaft, mit ihren Wäldern, Bergen und
Flüßen; er erkennt ihre vereinzelten Theile als ein zuſam⸗
mengehoriges Ganze und fuhlt ſich jetzt zu dem gemeinſchaft⸗
lichen Tagwerk mit andren Menſchen freudig hingezogen und
geftärit. So ergeht es dem Taubſtummen, wenn er aus
dem engen Kreiſe feiner Geberdenſprache in den weiten der
PWortſprache eingeführt wird, und noch viel auffallender als
ihm muß ſich der Gewinn, den die Wortſprache bringt, dem
Taubblinden kund eben.
Wir beſitzen verſchiedene ſchriftliche Berichte von Taub-
ſtummen, welche ſich in der Schriftſprache, und ohne ſich
ſelber zu hören, ſelbſt mündlich ausdrücken lernten, über die
ae die fie auf dem Wege der Entwicklung ihrer
Sprachfähigkeit gemacht haben. Sie kommen alle darinnen
überein, daß die Vorſtellungen, die ein noch wort⸗ſprachlo⸗
ſer, tauber Menſch von den Dingen und Begegnißen der
Außenwelt hat, im höchſten Grade unvollkommen und
einſeitig ſind, dabei ſo wenig ein Eigenthum ſeines Geiſtes,
ii er ſich i ihrer großentheils nur dunkel erinnern kann, viele
aber nur wie alsbald wieder verſchwindende Schattenbilder
ner Seele vorübergehen. »Ich beſinne mich, » ſagt
ber unterrichteten Taubſtummen, » nur noch dunkel, auf
einer der
welche Weiſe ich gedacht habe, ehe ich in das Heiligthum
der Wort) Sprache eingeführt worden bin.
Wie könnte dieſes auch anders ſeyn. Wird doch der
Eindruck, der auf unſre Sinnen geſchieht, erſt dadurch zu
etwas Geiſtigem und hiermit der Natur des Geiſtes verein-
bar, daß er ſich im Wort der Sprache zu einem vernehmba⸗
ren (vernünftigen) Gedanken geſtaltet. Wie ſich ſchon der
Sinn des Wortes » denken» einem bloß durch Geberden re—
denden Taubſtummen kaum erklären läßet, ſo iſt wohl über⸗
haupt dem Menſchen, der nur ſolche Zeichen ſtatt der Worte
hat, ein klares Denken unmöglich. Die ſinnlichen Eindrücke,
ſo wie ſie der Taubſtumme in ihrer einſeitigen Rohheit er⸗
53
faßet, gleichen in ihrer Beziehung auf die innere, niedrere
wie höhere Natur des Menſchen, dem Grün und den Früch—
ten des Feldes, bei deren Genuß das Thier unfrer Heerden
kräftig gedeihet und feiſt, wird. Uns gewähren jene waſſer⸗
reichen Rüben und Kohlgemüſe für ſich ſelber kaum eine
nothdürftige Nahrung, wohl aber eine ſehr gute und gedeih⸗
liche wenn ſie durch die Verdauung des Thieres in Fleiſch
und Milch verwandelt find, Eine Verwandlung die uns ein
Vorbild deſſen ſeyn kann, was mit den fahrung der
Sinne vor ſich geht, wenn fie die Form der Wort- und
Gedankenſprache annehmen.
Und eben dieſes iſt es ja, was der inwohnende Geiſt
in uns ſucht und begehrt. Er verlangt eben ſo nach dem
Leben als der Leib, und damit er dies könne bedarf er eben
ſo ſeine ihm zuträgliche Nahrung, als der Leib der ſeinigen.
Unvergleichbar vielmehr als der Blindgeborene, wenn dem⸗
ſelben in einzelnen ſeltenen Fällen durch eine glückliche Ope⸗
ration das Geſicht, und hierdurch die Anſchauung der fihor
nen, ſichtbaren Welt geſchenkt wird, freut ſich der Geiſt des
Zaubblinden, wenn ihm mit dem Verſtändniß und dem Ge⸗
brauch der Wortſprache auf einmal die Erkenntniß einer gan—
zen Welt des ſichtbaren wie des unſichtbaren Seyns aufdäm⸗
mert und allmählig in immer helleres Licht tritt. Wir kön⸗
nen dies an Lauras Beiſpiel wahrnehmen. Wie ein Hun—
gernder, dem man nach langer Entbehrung Speiſe und Trank
reicht, mit ſolcher Luſt und Begierde erfaßte die Seele dieſes
Kindes das ihm dargebotne Verſtändniß der Wortſprache.
Der Unterricht in dieſer iſt bei einem Taubblinden un⸗
gleich ſchwieriger als bei einem ſehenden Taubſtummen. Wenn
man dieſem ein aus mehreren Buchſtaben beſtehendes Wort,
wie etwa Baume, an die Tafel . und ihm den Sinn
auf den Gegenſtand, den das Wor 13
dann geſchieht es öfters, daß aub
lich abmühet eine Aehnlichkeit zwiſchen dem bee nei Wort
und dem Baume zu finden. Leichter zum Ziele führend iſt
für einen ſolchen Lernenden ſchon der Weg des Unterrichtes,
bei welchem ihm der Lehrer die Geſtaltung des Wortes in
der Bewegung der Lippen, der Zunge, des Unterkiefers und
des Kehlkopfes vormacht und ihn de 1 dieſe Bewegun—
gen, welche er am Körper des Lehrers theils mit den Augen
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ſieht, theils mit der Hand fühlt, nachzuahmen. Das Ge⸗
fühl, welches der Taubſtumme bei dem allmähligen beſſeren
Gelingen ſeines Nachahmungsverſuches hat, prägt ſich ſeinem
Gedächtniß ein, er lernt zugleich daſſelbe nach Willkühr wie⸗
der hervorrufen und wenn er nun das Wort Baum oder Hand
ausſpricht und der Lehrer ihn in der Geberdenſprache oder
durch Hindeuten auf den Gegenſtand es andeutet, daß er
das Wort verſtund, dann wird ihm mit dem Gebrauch der
Sprache zugleich das Verſtändniß ihrer Beſtimmung wie
ihrer Bedeutenheit gegeben.
Wie viel ſchwerer iſt es dagegen für einen Taubblin⸗
den, daß er die innre, geiſtige Beziehung, in welcher das
nur für ſeine Finger fühlbare, aus erhabenen Buchſtaben
gebildete Schriftwort zu dem mit ihm bezeichneten Gegenſtand
ſtehet, errathe und begreife. Er betreibt allerdings, dem
Lehrer zu Gefallen, das Geſchäft des Hinlegens der Zettel
oder Bleche auf denen das fühlbare Wort ſteht zu dem ihm
entſprechenden Gegenſtand, wie etwa Buch, Brod, Blatt,
die man ihm anfangs mit ihren buchſtäblichen Zeichen zu⸗
gleich an die fühlenden Finger brachte, aber jenes Geſchäft
kommt ihm lange Zeit nur wie ein Spiel vor, deſſen Nutzen
er nicht begreift, und welches ihm vielleicht, wie dem taub⸗
blinden James Mitchell, mit dem man dieſen Unterricht erſt
im 19ten Jahre beginnen wollte, bald zum Eckel und Ueber⸗
druß wird.
In dieſe Gefahr gerieth die kleine, geiſtig begabte Laura
nicht. Als ſie zum erſten Male das ſchriftlich fühlbare Wort
für Schlüſſel (key) nicht an jenen Schlüſſel legte, der bei
dem bisherigen Unterrichtsverſuch gebraucht worden war, ſon—
dern an den hierzu niemals benutzten Schlüſſel, der an der
Thüre ſtack, da ſprachen all ihre Mienen die freudigſte Selbft:
zufriedenheit aus; die Bedeutung und Beſtimmung des Schrift⸗
zeichens, als eines Mittels die Gedanken Andrer zu verſte⸗
hen und ſeine eignen denſelben mitzutheilen, war ihr jetzt
auf einmal klar geworden, ein Widerſchein menſchlicher Ver⸗
nunft ſtrahlte aus ihrem Angeſicht hervor. f
Das was ganz aus dem Geiſt hervorgeht, erſcheint
unſrem leiblichen Auge ſtets als ein Wunder, denn es wird
auf einmal und ſteht vollendet vor uns da, ohne daß wir
den verborgnen Grund bemerken aus dem es kam; es geht
ſeinen Weg der vielſeitigen Wirkſamkeit durch das Leibliche,
1 e vr j
Zap) 7 i
55
ohne daß wir ſehen wohin? Ein ſolches täglich, an jedem
geſunden Menſchenkind wiederkehrendes Wunder iſt das Ent—
ſtehen der Menſchenſprache aus den einzelnen Elementen
welche die Seele von außen empfängt. Wer möchte einem,
mit geſunden Sinnen begabten Kinde, um es zum vollkomm⸗
nen Sprechen zu befähigen die Grammatik, die Aneinander⸗
fügung der einzelnen Worte zu einem lebendigen Ganzen der
Rede lehren und wer könnte dieſes bei einem Taubblinden
thun, wie Laura war? Dennoch gab ſich an ihr dieſelbe
ſchöpferiſche Kraft des Geiſtes kund, die wir an unſren ges
ſundſinnigen Kindern bei der Bildung der Sprache bemerken,
ohne daß es uns an dieſen ſo ſehr auffällt, weil uns die
Meinung nahe liegt die Kinder hätten den vernünftigen Zus
ſammenhang und jenen treffenden Ausdruck ihrer Rede, durch
den ſie uns oft in Erſtaunen ſetzen, dennoch den Erwachſe—
nen abgehorcht. Dieſes konnte nun bei Laura keineswegs der
Fall geweſen ſeyn, als ſie auf einmal die Worte, deren Ge—
ſtaltung durch Schriftzeichen und Bewegung der Finger ſammt
ihrer Bedeutung man ihr gelehrt hatte, zu einer vernünfti—
gen Rede zuſammenfaßte, deren Sinn im Ganzen ſehr ver—
ſtändlich war, wenn er auch bei einzelnen Worten verfehlt
erſchien. So fragte ſie, als H. Howe verreiſt war um meh—
rere Erziehungsanſtalten des Landes zu beſuchen: » werden
da auch taube Knaben und Mädchen in den Schulen ſeyn?
Wird Doctor ſehr müde ſeyn; bleibt er, für viele kleine
Mädchen zu ſorgen? » Und als im Kreiſe ihrer blinden Ge—
ſpielinnen in der Unterhaltung mit ihr durch die Fingerbuch—
ſtaben⸗Sprache die Rede von den bevorſtehenden Ferien und
den Ferienreiſen geweſen war, äußerte ſie gegen die Lehrerin:
»ich muß nach Hannover gehen, meine Mutter zu ſehen;
doch nein ich werde ſehr ſchwach ſeyn, ſo weit zu gehen; ich
will nach Halifax gehen, wenn ich mit Ihnen gehen kann;
wenn Doctor fort iſt, denke ich, will ich mit Janette gehen;
wenn Doctor zu Hauſe iſt, kann ich nicht gehen, weil er
nicht allein bleiben mag, und wenn Janette fort iſt, kann er
nicht feine Kleider ausbeſſern und Alles allein beſorgen. »
Mit der Wortſprache, der eigentlichen Sprache der Ge—
danken, empfängt der Menſch zugleich das deutliche, klare
Erkennen ſeines Selbſt: Selbſtgefühl und Selbſtbewußtſeyn.
Auch dieſer Gewinn des Geiſtes, durch das ihm zu eigen
gewordene Organ der Mittheilung, wird uns an Lauras Betz
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ſpiel erſichtlich. So äußerte das merkwürdige Kind eines
Tages gegen die Lehrerin: » Doctor wird in vierzehn Ta⸗
gen kommen, denke ich in meinem Kopfe und auf die Frage
ob ſie denn nicht in ihrem Herzen denke? antwortete ſie:
»nein, ich kann nicht denken im Herzen, ich denke im Kopfe.“
Als ſie weiter gefragt wurde, warum ſie nicht im Herzen
denke? äußerte ſie: »ich kann da nicht wiſſen; alle kleine
Mädchen können im Herzen nicht wiffen.» Dagegen ſagte
ſie, als ſie einmal traurig war: »mein Herz thut weh.
Wenn Herz wehe thut, fließt dann Blut? » Wieder zu einer
andern Zeit, da ſie, wie es ſchien vom Lernen ermüdet war,
that fie die merkwürdige Aeußerung: » warum kann ich nicht
aufhören zu denken? Hören Sie auf zu denken? Hört Har⸗
riſon » (fie meinte den Präſidenten, deſſen unglückliches Ende
ſo eben ein Gegenſtand der Unterhaltung und lebhaften Theil⸗
nahme bei den Kindern in der Anſtalt war) »auf zu den⸗
ken, da er todt iſt?
Das Bewegen des Geiſtes muß nothwendig in dem ihm
zugeordneten Kreiſe feiner Leiblichkeit ein entſprechendes, ver-
wandtes Bewegen wecken. Ein lebhaftes Kind, wenn es
ganz allein, ſeinem Spiele dahingegeben iſt, denkt ſprechend,
im lauten oder leiſen Selbſtgeſpräch, ſpäter geſellt ſich zu
dem Denken ein innres Hören, denn wenn wir denken haben
wir mehr oder minder das Gefühl als ob wir die gedachten
Worte in unſrem Innren vernähmen. Bei dem zum Beſitz
der Wortſprache gelangten Gehörloſen fällt die Möglichkeit
eines ſolchen innren Vernehmens hinweg, weil er niemals
das Menſchenwort gehört, ſondern nur etwa durch gelunge—
nes Nachahmen der Bewegungen eines fremden Mundes und
Stimmorgans die äußre, leibliche Geſtaltung deſſelben in
der eignen Kehle empfunden hat. Darum äußerte ſich ein
der Sprache fähig gewordener Taubſtummer über das, was
in ſeinem Innren, beim Denken vorgieng alſo: »ich kann
nicht anders als in mir ſprechend denken. Auch wenn ich
ſtill vor mich denke, empfinde ich die Laute, die ich beim
Sprechen hervorbringe, es geſellt ſich eine Art Zuckung in
den Sprachorganen bei. Die arme Laura hatte für die Ge⸗
ſtaltung und Mittheilung der Worte kein andres vermittlen⸗
des Glied als die Finger. Ihr innres Denken war von
einem Bewegen der Finger begleitet, wie man dies deutlich
wahrnehmen konnte, wenn man ſie in ihren Selbſtgeſprächen
9957 ah
57
beobachtete. Selbſt in lebhaften Träumen bewegte ſie die
Finger, und auch dann, wenn dieſe Bewegung während
dem Zuſtand des Wachens keine ſichtbare war, mußte ſich
bei ihr zu dem Denken eines Wortes die Erinnerung an das
leibliche Gefühl geſellen, das ſie beim Hervorbringen deſſel—
ben in den Fingern empfunden hatte.
Die Wortſprache iſt ein gemeinſames Kunſtwerk der
Seelen, zu deſſen Vollführung dieſe durch einen Antrieb des
Geiſtes geführt werden, welcher jenem ähnlich iſt, der,
als Kunſttrieb die Biene zum gemeinſchaftlichen Bau ihrer
Waben anregt. Die denkendſprechende Seele fühlt ſich deß—
halb gedrungen, durch die Sprache ihr eignes innres Bewe—
gen andren Seelen mitzutheilen und die gleiche Mittheilung
von dieſen zu empfangen. Die taubblinde Laura war eben
ſo geſprächig wie andre lebhafte Kinder ihres Alters und
ihres Geſchlechts. Wo ſie nur beim Zuſammenſeyn oder Zu—
ſammentreffen mit einer der Hausgenoſſinnen oder auch mit
ſolchen Freunden des Hauſes, welche die Sprache des Fin—
geralphabets verſtunden, Zeit und Gelegenheit fand, da
knüpfte ſie das muntre Geſpräch an; mit Kindern welche die
gleiche Uebung hatten als ſie, nahm das fühlbare Sprechen
einen ſo ſchnellen Gang an, daß der Blick der Sehenden
der Bewegung der zarten Finger kaum zu folgen vermochte.
Die Gegenſtände der Unterhaltung waren im Ganzen dieſel—
ben, wie bei andren gutartigen, klugen Kindern, doch äuſ—
ſerte ſich bei jeder Gelegenheit in Laura ein ganz beſondres
Verlangen Neues zu wiſſen und zu erforſchen.
Dieſe Wißbegier eines nach Erkenntniß ſtrebenden Gei—
ſtes äußerte ſich auch beſtändig beim Unterricht ihrer Lehrer
und, als ſie die Bücher für Blinde mit erhabenen Buchſta—
ben zu leſen anfieng, auch in Beziehung auf das Geleſene.
Sie mochte auf dieſem Wege Etwas von Würmern erfahren
haben, da fragte ſie die Lehrerin: »hält Ihre Mutter auch
Würmer?» (Nein, Würmer leben nicht im Haufe). —
»Warum ? (Weil fie außer dem Haufe Dinge zu eſſen
finden). — »Und zu ſpielen?» — »Sahen Sie Wurm?
hatte er Augen, hatte er Ohren, hatte er Gedanken?? —
»Athmet er?» — »Stark?» — Wenn er müde ift?» —
»Kennt Wurm Sie? » — »Erſchrickt er wenn Henne ihn
frißt? »
Ein andres Mal fragte ſie: »kann Kuh Pferd mit Hör—
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nern ſtoßen? » — »Schlafen Pferd und Kuh im Stalle 2 »
— »Sitzt Pferd des Nachts?» — »Warum haben Kühe
Horner?» (Um böſe Kühe zu ſtoßen, wenn fie von ihnen
beunruhigt werden). — »Verſtehen böſe Kühe weggehen,
wenn gute Kuh fie ſtößt?» — »Warum haben Kühe zwei
Hörner? Um zwei Kühe zu ftoßen ? >» N
Fand Laura bei ihren kleinen Leſeübungen einzelne Worte,
die ſie nicht verſtund, dann hörte ſie nicht auf zu fragen und
zu forſchen, und wenn die Lehrerin ſich unvermögend fühlte
ihr den Sinn eines Wortes, wie etwa »hochachtungs voll?
begreiflich zu machen, da konnte der Eifer der Wißbegierde
die Geſtalt des Unwillens annehmen. »Ich will, ſagte ſie,
den Doctor fragen, denn ich muß es wiſſen. »
Das natürliche Verlangen nach Mittheilung, das in
jeder Menſchenſeele liegt, äußerte ſich bei unſerer Taubblin⸗
den namentlich auch in dem Bemühen andren taubblinden
Kindern, welche in Howes Anſtalt kamen, zum Verſtändniß
und zum Gebrauch der Wortſprache zu verhelfen. Hierbei
zeigte ſie ſich ſo erfinderiſch und ſo emſig bemüht, daß ſie
den Lehrerinnen eine weſentliche Mithülfe bei ihrem ſchweren
Geſchäft leiſtete. Dem kleinen, zwar nicht talentloſen, dabei
aber bequemen taubblinden Oliver Caswell, ſo wie der ſchon
ältern und viel weniger begabten Lucy Reed gab Laura,
durch einen glücklichen Einfall das erſte Licht über die Bezie—
hung, in welcher die Schriftzeichen eines Wortes mit dem
Gegenſtand ſtehen, den das Wort benennt, indem ſie dem
Erſteren, deſſen Geruchs- und Geſchmacksſinn vollkommen ge⸗
ſund waren, zur Deutung des Wortes Brod ein Stück
Brod, handgreiflich fühlbar an Mund und Naſe brachte und
bei Lucy zu ähnlichem Zwecke eine Feige benutzte. f
In demſelben Maaße in welchem die Seele ihre Kräfte
zum Erkennen nach außen gebraucht und benutzt, wird ſie auch
wie ſchon erwähnt dieſer Kräfte an ſich ſelber inne und ge—
langt hierdurch zu einem Gefühl und Bewußtſeyn ihrer ſelbſt.
Kleine Kinder reden anfangs, wenn ſie zu ſprechen anfangen,
eben ſo wie blödſinnige Menſchen von ſich ſelber in der drit—
ten Perſon, wie von einem Fremden. Auch unſre Taubblinde
that, als ſie die Wortſprache zu erlernen anfing daſſelbe
und ſagte, wenn ſie Hunger oder Durſt hatte »Laura Brod
geben« oder »Waſſer trinken Laura.« Sobald ſich jedoch
bei der beſfren Uebung in der Wortſprache der Kreis ihrer
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Erkenntniße nach außen wie nach innen erweiterte, gab ſich
auch das vollkommnere Selbſtbewußtſeyn dadurch zu erkennen,
daß ſie jetzt ſagte (nach S. 55) ich will oder ich muß da
oder dorthin gehen, dieſen oder einen andren Brief ſchreiben.
Mit dieſer Beſitznahme ſeines eignen Selbſt gelangt der ver—
nünftig erkennende Geiſt des Menſchen zugleich auch zu einer
Macht über ſein äußres Benehmen und all ſeine Handlungen,
wodurch dieſe das Gepräge einer ſittlichen Ordnung empfan⸗
gen. Der jungfräuliche Anſtand, das feine Gefühl für das
was ſchicklich oder unſchicklich, was recht oder unrecht ſey,
war der Taubblinden nicht durch Nachahmung andrer ver—
nünftig handelnden Menſchen, nicht durch äußre Belehrung
gekommen, ſondern es ging aus ihrem eignen Innren, aus
dem eingebornen Antriebe des vernünftig erkennenden und
wollenden Geiſtes hervor. Wie tief konnte ſich das muntre
Kind betrüben, wie ſprach ſich in allen Zügen ſeines Ange—
ſichtes eine innige Reue aus, wenn es bemerkte, daß es mit
ſeinen kleinen Neckereien einer der Geſpielinnen wehe gethan
hatte. Die jungfräuliche Verſchämtheit der kleinen Taubblin—
den ging ſo weit, daß ſie in Gegenwart des Herrn Howe
nicht einmal ihre Puppe, die ſie ſo eben hatte zu Bette brin—
gen wollen, auskleidete, ſondern erſt abwartete, bis ſie mit
der Lehrerin allein war. So freundlich dankbar ſie alle Be—
zeugungen der theilnehmenden Liebe erwiederte, welche ihr
von Perſonen ihres Geſchlechtes erwieſen wurden, ſo ängſtlich
zurückhaltend benahm ſie ſich gegen Perſonen von andrem
Geſchlecht, denen ſie nicht einmal die Hand zur Begrüßung
reichen wollte. Fremdes Eigenthum beachtete ſie, wie man
dies auch an andren Taubblinden bemerkt hat, mit ungemei—
ner Gewiſſenhaftigkeit, bei Tiſche benahm ſie ſich mit feiner,
ſittlicher Mäßigung. Mit dem Sinn für das was wohlan—
ſtändig iſt, verband ſich bei ihr auch der für das was äußer—
lich ſchön und wohlgefällig iſt in einer Weiſe wie derſelbe
überhaupt dem weiblichen Geſchlecht eigenthümlich iſt. Selbſt
beim Flechten ihres Haares und in ihrem Anzuge war ein
Streben nach Zierlichkeit unverkennbar und an neuen Klei—
dern, wie an jeder Kleinigkeit die zum Schmuck des weibli—
chen Körpers gehört, bezeugte ſie große Freude und konnte
bei ſolcher Gelegenheit den Wunſch auch andren Sehenden
ſich zu zeigen, nicht verbergen. 8
An dem Beiſpiel dieſer, ſo wie andrer Taubblinden, die
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mitten in ihrer äußren Mangelhaftigkeit und finnlichen Verar⸗
mung ſich eben ſo fröhlich und glücklich, eben ſo vernünftig
thätig zeigten, wie Menſchen von geſunden Sinnen, lernen
wir, daß der geiſtige Beſitzſtand der menſchlichen Natur ſelbſt
durch den Verluſt all der herrlichen Güter, welche die Wahr—
nehmung der äußren Sinne ihm gewährt, nicht vernichtet wer—
den könne. Der Menſch gleichet hierin einem bemittelten
Eigenthümer, deſſen Vermögen nicht einem Schiffe anvertraut
iſt, welches fern über das Meer gehet, oder in prachtvollen
Gebäuden und Geräthſchaften beſtehet, die der Blitz entzünden
und eine Feuersbrunſt einäſchern kann, ſondern einem Sol—
chen der ſeinen größeſten Schatz, vielleicht in Geſtalt eines
koſtbaren Demantes bei ſich ſelber trägt, und noch immer als
reicher Mann aus dem geſcheiterten Schiffe oder dem zuſam—
menſtürzenden Wohnhaus ſich rettet. Freilich iſt ihm, mit
den Sinnen des Geſichts, des Gehörs, des Geruches und
Geſchmackes eine ganze Welt der äußren Wahrnehmungen
und Genüſſe geraubt, aber er behält den Erbbrief und das
Beſitzerrecht auf jene äußre Welt in ſeinem Innren und hier⸗
mit zugleich den eigentlichen Genuß derſelben, denn es wohnt
in ihm eine Schöpferkraft, welche das was ihr in der Außen—
welt genommen iſt, in der Innenwelt aufbauet. Der Inſtinct
des Thieres gehet auf etwas nahes oder fernes, gegenwärti—
ges oder künftiges Leibliches hin, dagegen iſt der inwohnende
Antrieb, welcher die menſchliche Natur bewegt, nicht auf ein
bloß Leibliches ſondern auf ein Reich des Geiſtigen gerichtet.
Das was der Kunſttrieb des Thieres webt und baut, iſt, ſo
ſchön es auch ſeyn mag, dennoch leicht zerſtörbar und ver—
gänglich, wie der Leib der daſſelbe gemacht hat; das aber
was der innre Antrieb der Menſchennatur baut und ſchaffet,
iſt wie der Geiſt ſelber, in und aus dem es erzeugt wurde,
von unvergänglicher, ewiger Natur und kann mit den Sin⸗
nen ſo wie mit den andren Gliedern des Leibes nicht hinweg—
genommen werden oder im Grabe verweſen. Denn wie die
Wachtel, wenn ſie über das Meer ziehet, zwar auf mancher
Inſel ausruhet, nirgends aber lange verweilet, bis ſie ihren
Zug nach dem Ziel ihrer Wanderungen, das jenſeits des
Meeres liegt, vollendet hat, ſo findet auch das innig tiefe
Verlangen nach Erkennen und Wiſſen, das der Menſchenſeele
eingeboren iſt, nirgends eine bleibende Ruhe und volle Ge⸗
nüge, bis es das Ziel ſeines Strebens, die Erkenntniß eines
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2 *
Göttlichen, den Schöpfer, mitten in den@errlichen Werken
ſeiner Schöpfung gefunden hat. Und das, was ſich zur Er—
kenntniß eines Göttlichen erheben kann, muß ſelber von gött—
licher Art und Natur ſeyn. f
10. Valentin Jameray Duval.
Wir wollen noch ein andres Beiſpiel betrachten, welches
uns lehren kann, daß der Antrieb der den Menſchengeiſt, wie
der Wandertrieb den Vogel fortreißet, und ihn aus der Heiz
math eines ſinnlichen Wahrnehmens in die Welt eines gei—
ſtigen Erkennens führt, durch alle Hinderniſſe und äußere
Hemmungen ſich hindurcharbeite, und ſein fernes Ziel zuletzt
eben ſo ſicher erreiche, wie der Storch, wenn er aus Afrika
zurückkehret, ſein Neſt.
Bei der vorhin erwähnten Laura Bridgmann, ſo wie
bei andren nicht talentloſen Taubblinden, könnte man zu der
Vermuthung kommen, daß gerade nur der Umſtand, daß die—
ſelben von allen Beluſtigungen der oberen Sinne ſo verlaſſen
waren, den heftigen Drang nach innrer geiſtiger Beſchäftigung
und das Verlangen Neues zu erfahren entzündet habe. Hätte
Laura, wie andre geſunde Kinder, ſehen und hören können,
dann, fo möchte man vielleicht meinen, hätte ſich ihre Wiß⸗
und Forſchbegier nicht in ſo mächtiger Weiſe gezeigt, als
dies bei ihr der Fall war; ſie wäre mit dem gewöhnlichen
a des Wiſſens und Erkennens andrer Kinder zufrieden
geweſen.
Daran iſt freilich etwas Wahres, daß der geiſtige Drang
im Menſchen deſto leichter und kräftiger ſich entfalte, je we—
niger er durch den Genuß der Sinne zerſtreut und aus ſei—
ner innren Bahn aufs Aeußerliche hinweggezogen wird. Die
Hütte der Armuth iſt gar oft die Geburtsſtätte großer, hoch—
verdienter, dabei auch weltberühmter Männer geweſen, aber
weder die Hütte noch die Armuth ihrer Eltern hat ſie zu dem
gemacht, was ſie geworden ſind, ſondern der innre Beruf
den der Geiſt des Schöpfers in ihren Geiſt legte. Laura
wäre, auch wenn ſie die gewöhnlichen Kräfte der Sinnen
beſeßen hätte, ein ausgezeichnetes Kind geworden; der be—
rühmte italieniſche Maler Giotto, der als armer Hirtenknabe
allerhand Figuren mit Kohle an den Felſen zeichnete, wäre
ein großer Künſtler geworden, wenn ihn ſein Lehrer, der
62
m
Meiſter Cimabutz auch nicht auf dem Felde bei den Kühen,
ſondern als den Sohn eines Edelmannes, in einem reichen
Wohnhauſe aufgefunden hätte. Denn der innre Beruf, den
Gott in die Menſchenſeele gelegt hat, fragt nach keinem
Stand noch Ort der Geburt; er kann, wie dies geſchehen
iſt, den Sohn eines leibeigenen Bauern zum Stand eines
berühmten Feldoberſten, den Sohn eines Bauern zur Würde
eines Miniſters hinanführen; wer zu einem großen Wirken
im Gebiet der Kunſt oder der Wiſſenſchaft berufen iſt, dem
wird weder ſeine reiche, adliche Geburt mit all ihren ſinnli⸗
chen Zerſtreuungen, noch auch die Dürftigkeit der Eltern von
ſeinem Ziele abhalten können. Der Schöpfer, der die jungen
Raben ſpeiſet, wenn ſie nach Futter fliegen, der weiß auch
das Talent, das er in ſeine Menſchen legte, zur rechten Zeit
zu wecken und mitten in einer Wüſte, welche ſie umgiebt, mit
der nöthigen Nahrung und Pflege zu verſorgen. Die große
Mannichfaltigkeit in dem Weſen der Kräuter und Bäume,
ſo wie der Thiere auf Erden, ſtellt ſich im Geſchlecht der
Menſchen auf geiſtige Weiſe, in der großen Verſchiedenheit
der Anlagen und der Arten des innren Berufes dar und ſo
wie draußen dafür geſorgt iſt daß jedes Thier feine ange-
meſſene Weide und Wohnſtätte finde, fo läßt ſich dieſe zärt⸗
liche Vorſorge einer ewigen Weisheit noch viel herrlicher da
erkennen, wo ſie die einzelnen Menſchen für den künftigen
Beruf ihres Lebens begabt, zubereitet und fortziehet.
Mit einer beſondren Theilnahme wird deshalb Jeder
der an der Betrachtung der Wege Gottes unter den Men—
ſchenkindern ſeine Freude hat die Lebensgeſchichte des Valen⸗
tin Jameray, genannt Duval betrachten, der durch wunder⸗
bare Leitung des in ihm liegenden geiſtigen Antriebes aus
einem unwiſſenden hungernden Bettelbuben der hochvertraute
Bibliothekar und Vorſtand der Münzſammlung eines großen
Kaiſers, und durch den Drang und Aufſchwung der eignen
Kraft zu einem berühmten Gelehrten wurde.
Die Zeit der Geburt des Jameray Duval, das Jahr
1695, fällt in die Tage von Frankreichs glänzenden äußeren
Eroberungen, zugleich aber auch ſeiner großen innren Noth
unter Ludwig XIV. Schwere Abgaben drückten das Land,
ein großer Theil der Blüthe ſeiner Jugend wurde für den
Kriegsdienſt ausgehoben und in demſelben aufgeopfert, an
vielen Orten lag das Land unbebaut, weil es an den nöthi⸗
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gen Arbeitern fehlte, dazu kam öfterer Mißwachs; Handel
und Gewerbe waren durch den Krieg geſtört; überall gab es
trauernde Familien über den Tod eines Bruders oder Soh—
nes oder rüſtigen Vaters, welcher gefallen war in dem Kriege
der für des Königs Ehrgeiz geführt wurde. Der Landſtrich
der Champagne iſt einer der ärmſten in ganz Frankreich, in
ihm liegt das kleine Dorf Artenay, in welchem das Haus
von Duvals Eltern eines der dürftigſten war. Denn der
Vater, ein armer Bauersmann, ſtarb, als Valentin erſt
zehen Jahre alt war und hinterließ der Mutter die Sorge
für eine zahlreiche Familie, zu deren Unterhalt die geringen
Mittel, welche der Wittwe geblieben waren, bei der dama⸗
ligen großen Theurung nicht hinreichten. Da gab es täglich
Jammer und Klagen, Geſchrei der kleineren Kinder nach Brod
und eine Uebung der größeren im Hunger und in der Arbeit.
Doch in Valentin war eine Naturkraft welche ſich nur um
ſo muthiger äußerte, je größer die äußere Noth war; was
ihm an äußeren Freuden abgieng das erſetzten ihm reichlich
die innren Freuden, die ſeine fröhliche Sinnesart ihm ge—
währte, denn er war der munterſte Knabe im ganzen Dorfe,
der die andren Kinder durch ſeine Luſtigkeit ergötzte und
ihre Spiele durch ſeine heitren Einfälle belebte. Er hatte
in der Schule ſeines Dorfes nur nothdürftig leſen gelernt,
als er im zwölften Jahr ſeines Alters in den Dienſt eines
Bauern trat. Das Hüten der jungen Welſchhühner, das
ihm fein Herr während des Sommers anvertraute, war frei—
lich für ſeinen lebhaften Geiſt eine langweilende Beſchäfti—
gung, deshalb darf es uns nicht verwundern, daß der Knabe
beſtändig auf Mittel zu ſeiner Unterhaltung ſann, die nicht
immer glücklich gewählt waren. Unter andrem hatte er ge—
hört, daß man die kalekutiſchen Hühner durch die rothe Farbe
wie toll machen könne. Er wollte die Wahrheit dieſer Aus—
ſage prüfen und hieng deshalb einem Stück ſeiner Heerde
einen rothen Tuchlappen um den Hals. Das Thier gerieth
in heftigen Zorn, zerarbeitete ſich vergeblich um den Lappen
los zu werden, und flatterte dann, ohne ſich fangen und auf—
halten zu laſſen ſo lange herum, bis es todt zur Erde fiel.
Alsbald jagte ihn der Bauer aus ſeinem Dienſt und da ſich
in ſeinem Dorfe kein andres Geſchäft für ihn fand, die Mut⸗
ter aber zu arm war ihn zu ernähren, machte er ſich auf um
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auswärts ein Unterkommen zu finden.
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Es war im Winter von 1708 auf 1709, ohnfehlbar
dem härteſten den man aus dem Verlauf des ganzen vori—
gen Jahrhunderts kennt, als der Knabe Duval ſeine erſte
Wanderung in die weite Welt antrat. Die Kälte, welche
nach dem h. Dreikönigsfeſte 1709 ihren höchſten Grad er⸗
reichte, war ſo furchtbar, daß Niemand ohne die höchſte
Noth ſich aus den Wohnungen und aus der Nähe des Feuer⸗
herdes hinauswagte ins Freie, denn man hörte täglich von
Menſchen die man an den Wegen, zum Theil aber auch
ſelbſt in ihren Häuſern, erfroren gefunden hatte. Alle Orte
der öffentlichen Verſammlungen, auch die Gerichtshöfe und
ſelbſt die Kirchen waren verlaſſen, man konnte nicht einmal
den Wein und das Waſſer zum Dienſt des Altares flüßig
erhalten. Der Wein in den Kellern erſtarrte zu Eis, das
Vieh in den Ställen erlag zum Theil dem Froſt, die Thiere
des Waldes, vierfüßige wie Geflügel, nahten ſich den Woh—
nungen und ſelbſt dem Herd der Menſchen, um da Schutz
gegen die grauſenhafte Kälte und Futter zu ſuchen, das
ihnen draußen im Freien der hohe Schnee verdeckte. Viele
Vögel fielen gelähmt aus der Luft, die Fiſche ſtarben in
den bis zu ihrem tiefſten Grund ausgefrornen Weihern, die
Saat auf den Feldern wie die Reben der Weinſtöcke wurden
von der Kälte zerſtört, die Bäume in den Gärten und ſelbſt
die Stämme des Laubholzes in den Wäldern zerbarſten,
Felſenſtücke wurden zerſprengt und ſtürzten herab. Es dauerte
mehrere Jahre, bis die Spuren der Verheerungen, welche je—
ner Winter durch ſeine Kälte und ſpäter durch den Eisgang
der Flüße angerichtet hatte, nur einigermaße nverlöſcht werden
konnten; Weinberge wie Oelbaumpflanzungen mußten neu
angelegt werden, länger als ein Menſchenalter hindurch ſahe
man verſtümmelte Leute an Krücken gehen, welche ihre Glie—
der nicht im Krieg, ſondern in Folge des Erfrierens unter
den Meſſern und Sägen der Wundärzte verloren hatten.
Eben in jenen Tagen, da der Winter am ſtrengſten zu
werden begann, irrte der junge Duval von Ort zu Ort auf
den menſchenleeren Landſtraßen umher, um einen Dienſt und
eine Freiſtätte gegen Froſt und Hunger zu ſuchen. Da kam
zu dieſen beiden Arten der Noth und Plage noch eine dritte,
die härteſte von allen, die feinem Leben plötzlich ein Ende
zu machen drohete und welche ihm dennoch zu ſeiner Ret⸗
tung, von dem ſonſt unvermeidlichen Tode des Game c
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und Verhungerns zugeſendet war. Auf dem Wege zwiſchen
Provins und Brie, in der Nähe einer Pächterwohnung über⸗
fiel ihn ein fo furchtbares Kopfweh, daß es ihm ſchien als
würden die Knochen des Schädels zerſprengt und die Augen
aus ihren Höhlen herausgedrängt werden. Er konnte nur
noch mit Mühe zur Thüre der nahen Pächterwohnung ſich
hineinſchleppen und der Perſon die ſie ihm öffnete die demü⸗
thig flehendliche Bitte ausſprechen, daß man ihm einen Winkel
anweiſen möchte, wo er ſich erwärmen und von dem lähmen⸗
den Schmerz erholen könne. Man öffnete ihm den Schaaf⸗
ſtall und jene gelinde Wärme welche die zahlreich dort ver—
ſammleten Thiere durch Odem und Ausdünſtung verbreite—
ten, war ihm wohlthätiger, als ihm in dieſem Augenblick
das geheizte Zimmer des beſten Wohnhauſes hätte ſeyn kön⸗
nen. Bald loſte ſich die Erſtarrung feiner Glieder auf, zu-
gleich aber wurde das Kopfweh ſo heftig, daß es dem Kran—
ken die Beſinnung raubte. Als am andren Morgen der Päch—
ter in den Stall trat und die fieberhaft entzündeten, funkeln⸗
den Augen, das angeſchwollene mit rothen Puſteln bedeckte
Angeſicht des Knaben ſahe, erſchrak er nicht wenig. Ohne
Rückhalt erklärte er dem armen Kranken, daß er die Kinder-
pocken habe und ohnfehlbar ſterben müße, weil er viel zu
ſchwach und elend ſey um an einen Ort der beßren Verpfle⸗
gung hinzugehen oder gebracht zu werden, hier aber in die—
ſem armen Hauſe nicht ſo viel vorhanden ſey, um ihn, wäh—
rend einer ſo lang dauernden Krankheit den nothdürftigſten
Unterhalt zu gewähren. Der kranke Knabe war unvermö—
gend ein Wort zu ſprechen. Da rührte ſein Zuſtand den
Pächter, er gieng nach ſeinem Wohnhaus und brachte von
dort einen Bündel alten Linnenzeuges, in das er den Kran-
ken, nachdem er ihn mit Mühe entkleidet hatte, wie eine
Mumie einwickelte. Dort im Stalle lag der Dünger der
Schaafe in Schichten aufgehäuft, zwiſchen dieſe hinein machte
der Pächter ein Lager aus Spreu, die vom geſichteten Has
fer abfällt, legte den Knaben darauf und deckte ihn dann
bis an den Hals zuerſt mit Spreu, dann mit den hinweg—
gehobenen Lagen des Düngers zu. Wie über einen Todten,
den man ins Grab geſenkt hat, machte der mitleidige Mann,
als er das Geſchäft des Eingrabens beendigt hatte, ein Kreuz
über Duval, empfahl dieſen Gott und ſeinen Heiligen und
ſprach beim Weggehen nochmals die Verſicherung gegen ihn
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aus, daß nur ein göttliches Wunder ihn von dem, allem
Anſcheine zu Folge nahem Tode retten könne.
Es hätte dieſer Verſicherung nicht bedurft um den armen
Kranken mit Gedanken an ſein Ende zu erfüllen; er fühlte
ſich zum Sterben matt und die Betäubung der Sinnen, die
ihn von Zeit zu Zeit beſchlich, ſchien ihm bereits der Anfang
des Todesſchlummers, dem er, in ſeinem Halbtraum, ohne
Furcht und Scheu entgegen ſahe. Aber das Wunder einer
göttlichen Vorſorge, das allein, nach der Ausſage des Päch⸗
ters ihn retten konnte, hatte ja bereits ſeinen Anfang ge⸗
nommen; er war gerade im rechten Augenblick zu dieſem 05
ihn heilſamen Obdach gekommen und eine Art von Inſtinct
hatte dem Pächter das zwar ſonderbare und den Sinnen wi⸗
derwärtige, zugleich aber für dieſen Fall zweckdienlichſte Mit⸗
tel in den Sinn gegeben, um der Krankheit ihre tödtende
Macht zu nehmen. Der warme Aushauch der Schaafheerde,
die ſich um ſein Grab herumlagerte, die Wärme welche die
Grabſtätte ſelber von allen Seiten über ſeine kranken Glieder
ausgoß, erregte einen wohlthätigen Schweiß und erleichterte
hierdurch den Ausbruch der Pocken. Das heftige Kopfweh
und die Betäubung waren hiermit gehoben; das Leiden war
zu einem äußerlichen geworden, für ein fremdes Auge frei⸗
lich gräßlich anzuſehen, für das Gefühl des Kranken aber
ſehr erträglich.
Während Duval ſo in ſeinem Schaafſtall geborgen lag
und über nichts zu klagen hatte als über eine außerordent⸗
liche Schwäche und über den allmälig ſich wieder anmelden⸗
den Hunger, wüthete draußen im Freien der Froſt des Win⸗
ters mit noch immer zunehmender Heftigkeit. Mehrmalen
wurde er des Nachts aus ſeinem Schlafe durch ein Getöſe
aufgeweckt das dem Donner oder dem Abfeuern einer Artil⸗
leriefalve glich und wenn er am Morgen den Pächter um
die Urſache des nächtlichen Schreckens fragte, erzählte ihm
dieſer, daß der Froſt wieder einen oder etliche der Wallnuß⸗
und Eichenbäume, die in der Nähe des Stalles ſtunden,
bis auf die Wurzel hinab zerſpalten, oder durch das Ge⸗
frieren der tief in den Klüften verborgnen Feuchtigkeit ein
benachbartes Felſenſtück wie durch Pulver zerſprengt habe.
Draußen auf den Landſtraßen wie in den Hütten erfroren
noch täglich Menſchen; der Pächter ſelber in ſeiner armen
Wohnung konnte ſich bei dem immer flammenden Ofenfeuer
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der Erſtarrung kaum erwehren, nur Duval hatte es in ſei⸗
nem ſeltſamen Behältniß und zwiſchen ſeiner thieriſchen Die⸗
nerſchaft eben ſo warm wie der König oder ein Prinz von
Frankreich in ihren wohlverwahrten Zimmern.
Dennoch war dieſes Glück fein ungeſtörtes, denn mitten
in dem wohlthuenden Gefühl des Ausruhens und der gleich—
mäßigen Erwärmung der kraftloſen Glieder, ſtellte ſich jetzt,
als die Krankheit ſich milderte, die Plage des Hungers ein.
Der Schäfer, der ſich der Pflege des Knaben nach Kräften
annahm, war ein ſehr armer Mann, ihn hatten die uner⸗
ſchwinglichen Abgaben und Steuern, welche Frankreichs rei-
cher König auf ſeine armen Unterthanen legte, ſo ganz zu
Grunde gerichtet, daß ihm von den hartherzigen Einnehmern
bereits ſein ganzer Hausrath genommen war, dazu auch ſein
Zugvieh, bis auf einige zum Anbau ſeiner Felder unentbehr⸗
liche Stücke; nur die Schaafheerde war in feiner Obhut ges
blieben, weil ſie nicht ſein, ſondern dem Eigenthümer des
Gutes gehörte. Indeß that der gute Mann dennoch was er
konnte; er ließ ſeinen armen Pflegling täglich zweimal einen
dünnen Waſſerbrei reichen, an welchem keine andere Zuthat
war als Salz, und auch dieſes ſo ſparſam, daß man es
kaum ſchmeckte, denn ſelbſt das Salz war ſo hoch beſteuert,
daß es dem armen Volke ſchwer fiel ſich nach Bedürfniß da⸗
mit zu verſorgen. Eine Art von zugeſtöpſelter Flaſche war
das Gefäß worin man den Hafermus überbrachte, hierdurch
allein war es möglich dieſe Speiſe vor dem Gefrieren zu
bewahren, indem der Kranke die Flaſche zu ſich in ſein war⸗
mes Lager hineinnahm, um ſich von Zeit zu Zeit an einem
Schluck derſelben zu erquicken; das Trinkwaſſer, das man ihm
brachte, war häuſig halb gefroren.
Einige Wochen hindurch war dieſe Koſt zur Stillung
des Hungers hinreichend, dann aber verlangte die wieder
ſtärker werdende Natur eine kräftigere Koſt. Aber auch
dieſe konnte der arme Pächter nur durch Waſſerſuppe und
einige Stücken Schwarzbrod gewähren, welches ſo feſt gefro—
ren war, daß man es mit dem Beil zerſchlagen mußte und
daß nur die Wärme des Mundes oder der Lagerſtätte es
genießbar machte. So gering auch dieſe Gaben einer Liebe,
welche ihren Lohn auf Erden nicht dahin nahm, in den Au⸗
gen der Menſchen ſeyn mochten, überſtiegen ſie dennoch das
Vermögen des Pächters, dieſer ſahe ſich genöthigt den Pfar⸗
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rer des Dorfes um Hülfe für feinen Kranken anzufprechen,
und ſeine Fürbitte fand Erhörung. Die Wohnung des Pfar⸗
rers war faſt eine Stunde weit von dem Schaafſtall entfernt,
dorthin wurde Duval gebracht, nachdem man ihn vorſichtig
aus ſeinem Grabe genommen, in andre Lumpen und einige
Bündel Heu eingewickelt und auf einen Eſel geſetzt hatte.
Noch immer war, als er dieſen Umzug antrat, die Kälte ſo
groß, der Wechſel zwiſchen der Wärme ſeines Lagers und
der freien Luft ſo wehethuend, daß er halb todt und mit
erſtarrten Gliedern an feinem neuen Bergungsort anlangte.
Hier ſuchte man den gefährlichen Folgen der Froſtbeſchaͤdi—
gung dadurch zuvorzukommen, daß man den Kranken mit
Schnee rieb und ihn dann in ein Lager brachte, welches an
Beſchaffenheit ſo wie für Erhaltung einer gleichmäßigen
Wärme faſt eben ſo eingerichtet war, als das im Schaafſtalle
des Pächters. Erſt nach acht Tagen, als die Kälte ſehr
bedeutend nachgelaſſen hatte, brachte man den wieder kräfti⸗
ger gewordenen Kranken in ein Zimmer und in ein ordentli⸗
ches Bett. Die Pflege und Koſt im Pfarrhaus waren frei—
lich viel beßer denn die, welche der arme Pächter hatte ge—
währen können; bald fuͤhlte ſich Duval wieder eben fo ge
ſund und ſtark, als er vor ſeinem Erkranken geweſen Mi
Gleich nach der Zurückkehr der Geſundheit kam nun aber
auch die Reihe wieder an das Wandern. Der gute Pfarrer
konnte in ſeinem kleinen Haushalt keinen neuen Diener brau—
chen, er deutete dem kräftigen Burſchen, welchem das Stille—
ſitzen ſchon ſelber nicht lang behagte, an, daß er ſich jetzt
nach einem Dienſte umſehen ſolle, verſorgte ihn mit einem
kleinen Reiſegeld und entließ ihn mit freundlichen Segens—
wünſchen aus ſeiner freigebigen Pflege.
Gerade zu jener Zeit hielt es ganz beſonders ſchwer in
der Champagne ein Unterkommen zu finden. Zwar hätte
man überall der arbeitenden Hände bedurft, denn durch das
rückſichtsloſe, gewaltthätige Ausheben der Jünglinge und
Männer zum Soldatenſtande war das Land eines großen
Theiles ſeiner Anbauer, die Heerden ihrer Hirten beraubt
worden, aber ſo gut man auch einen jungen rüſtigen Arbei⸗
ter hätte brauchen können, mußte man dennoch in ſolcher Zeit
der Noth von dem Wunſche abſtehen: jeder Hausvater, wo
anders noch einer war, hatte Mühe um nur für ſich und die
Seinigen das nöthige Brod herbeizuſchaffen; man konnte das
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Wenige, das noch aufzubringen war, mit keinem neuen Anz
kömmling theilen. Wie ſchon erwähnt hatte der außerordent—
lich harte Winter faſt alle Hoffnung des Ackerbauers und
Winzers auf eine Ernte für dieſes Jahr vernichtet; die Ein—
nehmer der Steuern und Kriegslaſten, die Kornwucherer
welche mit dem Verkauf ihrer Getreidevorräthe zurückhielten,
damit der Preis für dieſelben noch immer höher ſteigen möge,
fragten nicht nach dem Jammer des armen Volkes, ſie wa—
ren faſt eben ſo hartherzig als ihr König Ludwig XIV.; ſo
wie dieſer, waren ſie nur auf Befriedigung ihrer Selbſtſucht
bedacht, und wenn auch Tauſende dabei im Elend verderben,
Säuglinge an der Bruſt der ausgehungerten Mütter ver—
ſchmachten mußten.
Jameray Duval, da er fo, ohne ein Unterkommen zu
finden von Dorf zu Dorfe, von Meierhof zu Meierhof zog
und überall Nichts ſahe als bittren Mangel, von Nichts
hörte als von Mißwachs, Theurung und Hungersnoth, fragte
endlich ob es denn nicht etwa irgend wo anders eine Gegend
geben möge, in welcher das Getreide nicht erfroren wäre.
Man ſagte ihm, daß vielleicht gegen Morgen und Mittag hin
Länderſtriche ſeyn könnten, welche der wärmendere Einfluß
der Sonne gegen die Verheerungen des harten Winters ge—
ſchützt habe. Dieſe Andeutung erfüllte das Herz des jungen
Wanderers mit Hoffnung und Freude. Seiner damaligen
Vorſtellung nach war die Welt, ſo wie ſie dem Auge eines
Bewohners der Ebene an heitren Tagen erſcheint, eine tel—
lerförmig ausgebreitete Fläche, auf deren Saum das kryſtal—
lene Gewölbe des Himmels feſtgeſtellt iſt, über welches die
Sonne am Tage ihren Lauf nimmt und an welchem bei
Nacht die Sterne wie Lampen ſich entzünden, die am Mor—
gen verlöſchen. Die Sonne ſelber, wie ſie im Kalender ähn⸗
lich einem Menſchenhaupte dargeſtellt iſt, hielt der Knabe
für ein lebendiges Feuerweſen, von welchem es ihm aller—
dings ganz glaublich erſchien, daß es da, wo es der Erde,
wie ſcheinbar am öſtlichen Horizont, bei ſeinem Aufgang, am
nächſten ſey, die meiſte Wärme verbreiten müſſe. Dieſer
Anſicht vertrauend richtete jetzt unſer Jameray ſeinen Lauf
unverwandt dahin, wo ihm am Morgen die Sonne aufgieng.
Der Anfang ſeines Weges ſchien nicht ſehr geeignet ihm zur
de ane deſſelben Muth zu machen; er führte ihn durch
ie armſeligſten Gegenden der Champagne. Die niedren,
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aus Lehm gebauten, mit Rohr oder Stroh gedeckten Hütten,
mit ihren in Lumpen gehüllten Bewohnern, deren von Man⸗
gel und Kummer gebleichte, welke Wangen keines frohen Lächlens,
ſondern nur wie das abgezehrte Angeſicht ihrer halbnackten
Kinder des Weinens fähig ſchienen, waren recht geeignet
auch dem wanderluſtigſten Sinn zurückzuſchrecken. Dazu ka⸗
men noch die harten Entbehrungen auch der alltäglichſt ge⸗
wohnten Nahrungsmittel, denen der durchreiſende Wandrer
mit den Einheimiſchen zugleich ausgeſetzt war. Statt des
eigentlichen Brodes ſtillte ein gebackenes Machwerk aus zer⸗
ſtampftem Hanfſaamen den Hunger des dortigen Landvolkes;
Duval mußte froh ſeyn, wenn er nur von dieſer ungeſunden
Speiſe ſo viel gegen ſein baares Geld erkaufen konnte, als
zur nothdürftigſten Sättigung hinreichte. Aber dieſe Sätti⸗
gung war nur ſcheinbar; ſie gewährte keine Stärkung der
Glieder, ſondern bewirkte ein Gefühl des Mißbehagens und
der Eingenommenheit des Kopfes, an welcher unſer Wand⸗
rer noch einige Zeit nachher zu leiden hatte. Doch das Alles
konnte ihn nicht in ſeinem, durch einen mächtigen innren
Antrieb erregten Laufe hemmen, er ſetzte, ſo eilig als mög⸗
lich ſeinen Weg nach Oſten fort. In dieſer Richtung kam
er eines Tages auf einen Hügel, an deſſen Fuß eine nicht
ſehr anſehnliche Ortſchaft Bourbonne les Bains) lag. Der
dichte Dampf, welcher aus ihrer Mitte emporſtieg, ſchien
dem jungen Wandrer der Rauch von einer im Erlöſchen be⸗
griffenen Feuersbrunſt zu ſeyn. Er ſtaunte nicht wenig, da
man ihm ſagte, daß dieſer Rauch von heißen Waſſerquellen
käme, welche dort aus der Tiefe hervordrängen. Ein ſolcher
unerwarteter Bericht reizte ſeine Neugier im hohen Grade.
Er lief hin zu den Quellen, legte ſich auf den Boden, ſteckte
ſeine Hand mehrmalen in das hervorſprudelnde Waſſer, mußte
ſie aber immer wieder ſchnell zurückziehen, weil die Hitze
ihm unerträglich war. Hierauf begann er, in kindiſchem
Unverſtand, ſeine weitren Unterſuchungen. Nirgends war
ein Ofen oder ein Feuerherd zu ſehen, der das Waſſer ſo
ſieden machte, »was konnte man (nach ſeinem Bedünken) wohl
andres annehmen, als daß hier die Nachbarſchaft der Hölle ſey,
und daß ein großer Leichtſinn dazu gehöre um an einem ſol⸗
chen Ort ſich anzubauen und zu wohnen.»
Aus dieſer vermeintlichen Nachbarſchaft der Hölle kam
unſer junger Wandersmann ſchon am andren Morgen in eine
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Landſchaft, welche ihn durch ihren blühenden Zuſtand an die
Nähe des Himmels zu erinnern ſchien. Man kannte damals
noch nicht jene Plagen und peinliche Unterſuchungen, welche
heutigen Tages den Reiſenden den Uebergang aus einem
Land oder Ländchen in das andre erſchweren; Duval war,
ohne es zu wiſſen, über die Gränzen des hartbedrückten, aus⸗
geſogenen Frankreichs hinaus nach Lothringen gekommen, das
um jene Zeit noch unter feinen eignen, milden Herrſchern,
aus deutſchem Fürſtenſtamme, ſtund. Welcher Unterſchied war
ſchon zwiſchen dem erſten lothringiſchen Dorf Senaide und
jenen Ortſchaften der Champagne, an denen der gerade Lauf
von Weſt nach Oſt ſeit 8 Tagen vorüber geführt hatte. Da
ſahe man nicht jene armſeligen mit Schilf gedeckten, niederen
Lehmhütten mit ihren todtenbleichen, abgezehrten Bewohnern,
ſondern hoch und ſchön gemauerte Häuſer, gedeckt mit Zie⸗
geldächern, bewohnt von Menſchen, deren gutgenährte Ge—
ſtalt und friſche Geſichtsfarbe von Glück und Wohlſtand zeugte.
Wie munter, wie vollwangig und ſchön waren hier die gut⸗
bekleideten Kinder, im Vergleich zu den halbnackten, durch
Schmutz und Elend verkümmerten Kindergeſtalten des fran⸗
zöſiſchen Gränzlandes.
Es war eben Sonntag; der Ton der Glocken rief die Be⸗
wohner des Ortes zum Gottesdienſt in die wohlgebaute, geräu⸗
mige Kirche; auch Duval, ſo dankbar froh geſtimmt als kaum
jemals ſonſt in ſeinem Leben, eilte dahin. Hier erſchien ihm Alles
neu und herrlich was er ſah; der doppelte Wappenadler über
dem Thor des Vorplatzes, die in ſeinen Augen prachtvolle
Kleidung der Landleute, die Menge der jungen Burſchen,
welche hier kein tyranniſcher Zwang ihrer Heimath und ihren
Familien entriß, um ſie, wie damals in Frankreich geſchahe,
als Soldaten der unerſättlichen Habgier eines unheilbringen⸗
den Königes aufzuopfern. Statt der armſeligen Kittel aus
Trillich und Sackleinwand, die ſeine Landsleute trugen, ſahe
unſer junger Wandersmann das Mannsvolk von Senaide in
anſtändigen Zeug und Tuchkleidern, mit ſilbernen Knöpfen
einhergehen, die Frauen mit Halbermeln und Manſchetten,
ſo reich und zierlich gekleidet, wie in der Champagne die
wohlhabendſten Bewohnerinnen der Städte. Hier ward nir⸗
gends das Geklapper der ſchweren Holzſchuhe gehört, in
welche das Landvolk der Champagne ſeine nackten Füße ſteckt,
denn ſelbſt die Aermeren waren mit Strümpfen und Schuhen
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verſehen. Und nicht nur die ſchauluſtigen Augen, ſondern
auch der ausgehungerte Magen des Fremdlings fand hier
ſeine Weide. Statt des eckelhaften Gebäckes aus zerſtoßenem
Hanfſaamen, gab es da wohlſchmeckendes Waizenbrod, dazu
Fleiſch und kräftige Zuſpeiſe, welches Alles die Freigebigkeit
der Dorfbewohner ganz, oder faſt umſonſt darreichte. Hier
war gut ſeyn, hier war, nach Duvals Bedünken das Land,
dem die wärmende Sonne bei ihrem Aufgehen näher iſt,
denn der übrigen Erde, hier wollte er bleiben. Und dieſer
Wunſch gieng bald in Erfüllung; das hieſige Volk konnte
Arbeiter beſchäftigen und ernähren; der Schaafhirt des nahen
Dorfes Clezantaine nahm den rüſtigen, muntren Knaben in
ſeine Dienſte.
Zwei Jahre lang hatte Duval die Schaafe auf den
Hügeln von Clezantaine gehütet und hatte ſich dabei leiblich
ſehr wohl befunden. Er war jetzt 16 Jahre alt und zu die⸗
ſem Alter groß und ſtark geworden, da regte ſich jener An⸗
trieb, der ihn wie den Wandervogel ſein Inſtinct, hieher ge—
führt hatte, von neuem. Diesmal nicht in jener mehr thieri⸗
ſchen Art, welche nur auf Sättigung des Hungers und nach
einem Ort der leiblichen Erholung ausging, ſondern in einer
menſchlich geiſtigeren, darum auch mächtigeren Weiſe. Die—
ſer Antrieb, der dem Jüngling keine Ruhe ließ, ſtrebte nach
einer andren Sättigung, verlangte nach einem andren Frie-
den als das Leibliche uns gewähren kann; er war auf die
Erhaltung und Entwicklung nicht des äußren ſinnlichen, ſon⸗
dern des innren, geiſtigen Menſchen gerichtet. Unſer Hirten⸗
knabe fühlte zwar, daß ihm etwas fehle, was dieſes aber
eigentlich ſey, das wußte er nicht. Wenn er in ſeiner Ein⸗
ſamkeit draußen auf dem Felde die Blumen und Bäume, die
Thiere und Steine ſahe, wenn der Mond jetzt als Sichel
oder wachſende Scheibe am Abendhimmel ſtund und ihm
ſeinen Nachhauſeweg beleuchtete, dann, als abnehmender
Mond, die Morgenſtunden erhellete, da gerieth er oft in ein
ſo tiefes Nachſinnen über all dieſe Dinge und die Verände⸗
rungen die ſich an ihnen zutrugen, daß er weder Anfang
noch Ende finden konnte. Wo das Bächlein ſeinen Anfang
nahm das bei dem Dorf vorüber floß, das wußte er, denn
er kam im Sommer faſt täglich zu der Quelle hin, woher
aber das Waſſer komme, das immer von neuem aus dem
Boden hervordrang, das hatte er weder durch ſeinen Stab
73
noch mit dem eifernen Spathen erforfchen können, und daß
die Bäche zu Flüßen ſich vereinen, dann in ein großes Waſſer:
in das Meer verlaufen, das wußte er zwar vom Hörenſagen,
aber er hätte es auch gern mit eignen Augen geſehen und
erfahren. Wenn die Nachbarn zuweilen im Hirtenhaus zu—
ſammen kamen, oder wenn an Sonn- und Feiertagen die
Dorfleute und vielleicht auch ein Fremder darunter, außen
vor der Kirche der Unterhaltung pflegten, da horchte er, mit
ganz beſondrer Spannung auf Alles was ſie von Krieg und
Frieden, von Geſchichten welche da und dort ſich zugetragen
und von andren Orten und Ländern ſprachen. Er hatte
immer nur zu fragen, wollte immer mehr wiſſen und erfahren,
das aber, was dieſe guten Leute ihm ſagten, das regte ſeine
Wißbegier nur noch mehr auf, ſtatt ſie zu befriedigen. Von
der Anhöhe aus, auf welcher Duval öfters ſeine Schaafe
hütete, konnte man gegen Morgen hin, eine Landſchaſt über-
ſchauen, die zu den fruchtbarſten gehört, welche Lothringen
umfaßet. Grüne Wieſen und Felder, dazwiſchen eine Menge
der kleinen Ortſchaften und Meierhöfe ziehen ſich, fo. weit
das Auge reicht, von Norden gegen Süden am Fuße des
blauen Bergzuges der Vogeſen hin, welcher in Oſten die
Ausſicht begränzt. Dort, auf dem Gipfel jener blauen Ber—
ge hätte unſer junger Wandersmann ſo gern einmal ſtehen
mögen und ſchauen was über ſie hinüber, jenſeit derſelben
läge, denn ſo viel hatte er jetzt ſchon gelernt daß die Welt
viel größer und weiter ausgedehnt ſey als der Kreis, den
ſein Auge überblickte.
Das, was einige Zeit hindurch nur eine Luſt der Augen
geweſen war, das wurde zuletzt zu einer Luſt und Begierde
des Herzens; Duval konnte dem Antriebe, der ihn aus ſei—
nem bisherigen Stand hinausführte nicht länger widerſtehen;
er verabſchiedete ſich bei ſeinem Dienſtherrn und trat abermals
die Wanderung gegen Oſten an. Dort, am Fuße der Vo—
geſen unweit Deneuvre hatte um jene Zeit ein frommer Ein—
ſiedler, der Bruder Palämon ſeine Klauſe, welche bei dem
Landvolk unter dem Namen la Rochette bekannt war. Ein
lieblicherer Wohnſitz für einen Einſamen, welcher fern von
dem Alltagstreiben und von der Unruhe der Welt mit den
Gedanken an feinen Gott allein ſeyn mochte, kann ſchwerlich
gefunden werden als la Rochette war. Von der Spitze des
Felſens, an welchem die Einſiedelei lag, ſahe man am Abend
Fee
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an
74
die Sonne jenſeits einer grünenden, wellenförmigen Fläche
untergehen, durch die ein Fluß ſich ſchlängelt, welcher
das Schiffsbauholz, zu großen Flößen verbunden, der Meeres:
küſte zuführt. Nach der andren @ftlichen) Seite hin fallen
die Strahlen des untergehenden Geſtirns auf den Abhang
des Gebirges, welches von herrlichen Thälern und Schluchten
durchſchnitten und bis hinan zu feinem Gipfel mit anſehnlichen
Dörfern und Landhäuſern bebaut iſt. Mit dem Dufte der
blühenden Bäume und Gebüſche ſteigen zugleich die Töne
der ſingenden Nachtigallen herauf zu den Sinnen des Wand⸗
rers, der auf der Felſenplatte ſitzt. Duval kann ſich von dieſem
Orte nicht trennen; wenigſtens eine Nacht und den nächſten
Morgen möchte er hier zubringen; zutraulich bittet er den
Einſiedler ihm einen Ruheplatz in ſeiner Hütte anzuweiſen;
ſein Wunſch wird ihm gerne gewährt.
Es war jene allbedenkende Fürſorge geweſen, die Alles
was zuſammengehört zur rechten Zeit und am rechten Orte
zuſammenführt, welche auch dieſes Mal Duvals Schritte zur
Einſiedelei la Rochette gelenkt hatte. Der Bruder Palämon
konnte ſo eben einen jungen, dienenden Gehülfen brauchen,
der ihm den Anbau ſeines Gartens beſorgen half und ihm
noch ſonſt mancherlei Handreichungen that. Der treuherzige
Burſche, den ihm Gott ſelber zugeführt hatte, gefiel ihm
wohl und auch dieſem hätte ja nichts Angenehmeres und
Lieblicheres begegnen können, als bei Bruder Palämon in
Dienſte zu treten.
Wir erwähnten ſchon oben, daß Jameray, als die große
Dürftigkeit feiner Mutter ihn nöthigte die Dorfſchule zu ver⸗
laſſen, und als Hüter des Geflügels bei einem Bauer zu
dienen, nur ſo eben leſen gelernt hatte. Dieſe Kunſt, welche,
ohne daß wir es recht beachten und erkennen, eine der höchſten
und folgenreicheſten iſt, unter allen Künſten die der Menſch ſich
zu eigen machen kann, war ihm immer beſonders lieb und werth
geblieben, er hatte nicht leicht eine Gelegenheit verſäumt ſie
zu üben. Solche Gelegenheiten aber gab es ſeither für ihn
nur wenige. Was von lesbaren Sachen im Hauſe ſeines
gewesnen Dienſtherrn, des Schäfers ſich fand, das beſtund
nur etwa aus einem Kalender und aus dem Meßbuche; die
lebhafte Wißbegier des Knaben fand darin nur wenig Nah⸗
rung. Hier aber, bei Bruder Palämon fand ſich eine ganze
Bibliothek, von bisher noch niemals geſehenen Büchern, wel⸗
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che vielleicht mehr denn zwölf Bände zählte. Außer einem
oder etlichen Theilen eines damals beliebten Volksbuches,
das den Namen der » blauen Bibliothek« führte, beſtund der
Proviant der Gelehrſamkeit des frommen Einſiedlers nur in
ſolchen Büchern, welche Anleitungen zum beſchaulichen Leben,
Gebete und Betrachtungen, ſo wie Geſchichten der Heiligen
und Berichte über das Leben einzelner Mönche und Einſiedler
enthielten. f |
Mit einer brennenden Begierde ergriff Duval dieſe gei—
ſtige Nahrung. Es lag ihm ernſtlich an, nicht nur in den
äußren Arbeiten der Hände, ſondern auch im Gebet und from:
men Leben ein Gefährte und Genoſſe des guten Palämon zu
werden. Wenn er dann, an einem Frühlingsmorgen, wenn
der Thau an den Blumen der Wieſen perlete und der Ge⸗
ſang der Nachtigallen ertönte, oben über der Einſiedelei auf
der Spitze des Felſens ſaß und nun die Sonne über die
Höhen der Vogeſen hinaufſtieg, da erhub ſich auch bei ihm
Sinn und Gemüth zu Gedanken von göttlicher Art und Kraft,
welche er bis dahin noch niemals gekannt hatte. Hierbei
mußte er jedoch daſſelbe erfahren, was vor und nach ihm
Mancher erfuhr der in dieſem höchſten, geiſtigen Aufſchwung
ſich geübt hat, ſo lange er nicht von der Lerche und vom auf—
ſteigenden Adler es lernte, daß beim Emporfluge das Auge
nach oben, nicht nach unten ſich richten müſſe. Wer in die⸗
ſer Weiſe der Lerche ſeine Schwingen übt, der ſiehet wohl,
wenn er auch höher ſchwebt als die Dächer der Häuſer und
ſelbſt der Gipfel des Thurmes, daß es von da an noch weit
iſt bis zum Gipfel der Gebirge, noch weiter bis hinan zu
den Wolken und viel weiter noch bis hinauf zum Sternen⸗
himmel. Wer aber, wenn er in der Höhe ſchwebt, nur ab-
wärts, nicht aufwärts ſchauet und da unter ſich die Eichen
des Waldes, die doch hoch ſind, nur noch in Geſtalt eines
niedrigen Gebüſches erblicket, dem mag es leicht geſchehen,
daß er vom Schwindel des Hochmuths ergriffen in Gefahr
kommt zum Boden zu ſtürzen. Unſrem jungen Anfänger im
Einſiedlerleben erging es ſo. Weil das jugendliche Feuer in
ſeinem Herzen lebhafter war, als das im Herzen feines altern—
den Gefährten, weil die äußerlichen Geberden ſeiner Fröm⸗
migkeit von augenfälligerem Zuſchnitt waren, als bei dem
killen, fanften Bruder Palämon, dünkte er ſich hoch und groß
gegen dieſen. Wenn ihm derſelbe ein Geſchäft im Garten
76
oder einen Gang nach Deneuvre auftrug, der Burſch aber,
ſtatt zu arbeiten oder zu laufen, ſich andächtigen Betrachtuns
gen im Schatten des Felſen, oder unter einem Baume dem
Gebete hingab und dann den wohlverdienten Verweis nur durch
bittre Bemerkungen über die Lauheit und den weltlichen Sinn
des älteren Bruders erwiederte, da regte ſich allerdings, in
unverkennbarer Weiſe, der Schwindel des Hochmuthes. An
Erfahrungen von zurechtweiſender Art hätte es freilich unſrem
jungen Einſiedler nicht gefehlt, wenn derſelbe nur für ſolche
Belehrungen immer zugänglich geweſen wäre. So an jenem
Abend als vier Stiftsherrn aus Deneuvre bei der Einſiedelei
von dem mitgebrachten Vorrath ihre Mahlzeit hielten, und
Duval, dem man die Ueberreſte zu ſeiner Erquickung Preis
gegeben, zum erſten Mal in ſeinem Leben die Kräfte des
Weines an ſich erfuhr, deren Regungen er als Wirkungen
der höchſten Andacht und der Verſenkung in ein göttliches
Seyn betrachtete, bis das Gefühl der Abſpannung ſchon am
nächſten Tage ihn eines Andren belehrte. 5
Der Aufenthalt bei dem Bruder Palämon dauerte nur
kurze Zeit. Die Oberen der Eremitengeſellſchaft ſendeten einen
andren Einſiedlergehülfen nach la Rochette; dieſem mußte
Duval weichen, doch gab ihm ſein bisheriger freundlicher
Meiſter im beſchaulichen Leben ein Empfehlungsſchreiben mit
auf den Weg, das ihn zu den Einſiedlern von St. Anna
bei Luneville geleitete. Es war ein Weg, welchen der junge
Eremit nicht aus eignem Antrieb und eigner Neigung einſchlug,
ſondern gleich wie er diesmal in leiblicher Beziehung von
ſeiner ſelbſterwählten Richtung nach Oſten hinweggeführt wur—
de, ſo lenkte auch eine höhere Hand in dieſem Augenblick
ſeine Lebensbahn gegen ſeinen Wunſch und Willen nach dem
rechten Ziele hin. Das Herzeleid und die Sorgen womit
er beim Abſchied von dem ſtillen Obdach la Rochette und
von Bruder Palämon ſich quälte, waren eben ſo unſtatt⸗
haft und ſchnell vergänglich als jene, die ihn damals nieder—
beugten, als man ihn aus ſeinem ſeltſamen Krankenlager im
Schaafſtalle hervorzog und in Heu und Lumpen gehüllt in
das Haus des guten Pfarrers brachte, in welchem er erſt völ⸗
lig genaß und von feiner Krankheit ſich erholte. Jene We⸗
ge unſres Gottes, welche zu unſrem ganz beſondren Heile
dienen, wollen insgemein unſrem Herzen nicht wohlgefallen;
ſie durchkreuzen meiſt unſre eignen Wege, und doch führen
.
27
nur jene zur Stätte des Friedens, während dieſe in bahnloſer
Wüſte ſich verlieren.
Mit bekümmertem Herzen hatte Duval den Wald von
Modon durchwandelt und trat jetzt heraus ins Freie, da lag
vor ihm die zu jener Zeit ganz beſonders blühende Stadt
Luneville mit dem prächtigen Reſidenzſchloß des Herzogs von
Lothringen. Unheimlich wie einem ſcheuen Vogel, welcher in
dem ihm noch neuen Gefängniß des Käfichs zum erſten Mal
unter das Menſchengedränge eines Marktplatzes gebracht wird,
war es dem jungen Waldbruder unter den geputzten, ſtattlich
einhergehenden Bewohnern der Reſidenzſtadt zu Muthe, nur
ſchüchtern wagte er ſein Auge zu dem Glanz des Fürſten⸗
ſchloßes aufzuheben, das ihn an das Daſeyn und die Nähe
von Weſen einer höheren Art zu erinnern ſchien. Er athmete
erſt wieder froh und frei als er ſich von neuem außer der Stadt
im Freien ſahe, auf der Straße gegen Weſten hin, die man
ihm drinnen in der Stadt als den Weg nach St. Anna
bezeichnet hatte.
Die Einſiedelei dieſes Namens liegt eine halbe Stunde
jenſeits Luneville an der Mittagsſeite eines Hügels, nahe
bei der Stelle, an welcher die beiden Flüße Meurtre und
Veſouze ſich vereinen. Der Wald von Vitrimont, der ſie in
Norden umgränzt, damals noch dichter und holzreicher als
er jetzt iſt, vermehrt den Reiz dieſer Gegend, indem er im
Winter den kalten Winden aus Norden den Zutritt wehrt,
im Sommer aber Schatten und Kühlung gewährt. Nur
wenige Jahrzehende vorher war hier, an der Stelle des
wohlangetauten Feldes und Gartenlandes eine Wüſte voller
Diſteln und Dorngebüſch geweſen, welche die Spuren der
Verheerung noch aus den Zeiten des dreißigjährigen Krieges
an ſich trug. Ein geweſener Lieutenant der Cavallerie, wel⸗
cher während einer Schlacht, zum Tode verwundet, unter den
Huftritten der Pferde liegend von der Welt Abſchied genom⸗
men hatte, und, als er dennoch mit dem Leben davon kam,
die alte Bekanntſchaft mit ihr, nicht wieder anknüpfen wollte,
war der Stifter der Einſiedelei von St. Anna geweſen und
war erſt vor wenig Jahren in einem Alter von faſt hundert
Aren heorben. Bruder Michael, ſo nannte ſich dieſer Stifter,
hatte ein altes Haus, Alba genannt, am Walde von Vitri⸗
mont gekauft, einige andre Männer geſellten ſich zu ihm und
mit ihrer Hülfe verwandelte er bald das verödete Grundftüd,
78
welches zwölf Morgen Landes umfaßte, in ein Beſitzthum, von
deſſen Ertrage ſechs Kühe und vier bis fünf Einſiedler, ohne
einen Zuſchuß von außen ſich nähren und hierbei noch man⸗
ches Almoſen ſpenden konnten. Auch in mehreren andren
Gegenden hatte der gute Bruder Michael, durch ähnliche
Stiftungen ſich nicht nur um die Cultur des Landes, ſondern
um die Veredlung der Menſchenſeelen verdient gemacht, denn
mehrere der Genoßen ſeines einſamen Lebens waren vorher
heimathloſe Landſtreicher geweſen, welche die Noth zu ihm
führte, die Liebe aber an ihn feßelte und der Einfluß ſeines
Beiſpieles, die Macht ſeiner ungeheuchelten Frömmigkeit zu
beßren Menſchen umſchuf.
Duval, in ſorgenvoller Erwartung ſeines Schickſales,
zeigte ſich an der Thüre der Einſiedelei. Bruder Martinian,
einer der vier Bewohner derſelben, that ihm auf, nahm, den
Gruß erwiedernd, das Empfehlungsſchreiben aus ſeiner Hand,
ſtellte ihn den andren Brüdern als künftigen Diener des
Hauſes vor, hieß ihn dann niederſitzen und die ländliche Koſt
genießen, die er ihm auftrug. Der neue Ankömmling fühlte
ſich unter dieſen guten Leuten bald einheimiſch. Es waren
Männer von bäuriſchem Ausſehen, aber von wohlmeinend
treuherziger Art. Jenes feine Gefühl der Weltbildung, wel-
ches lehrt was höflich und zierlich ſey, hatten ſie nicht, wohl
aber jenes noch zartere Gefühl eines unter göttlicher Zucht
ſtehenden Herzens, welches uns ſagt was gut und recht ſey
und unſre Schritte leitet auf ebener Bahn. Duval vorzüg⸗
lich giebt dreien von ihnen das Zeugniß: daß ſie zwar nie⸗
mals von Tugend ſprachen wohl aber dieſelbe, ungeſehen von
den Augen der Welt durch die That übten. Sein fünfjähri⸗
ger Aufenthalt unter ihnen ließ ihm an dieſen einfältigen
Seelen keine Züge der Unlauterkeit und der Heuchelei, ſon⸗
dern nur etwa der menſchlichen Uebereilungen bemerken. Na⸗
mentlich war das Gemüth des alten Bruder Paul, der ſchon
ſeit 32 Jahren als Einſiedler lebte, ſo ganz zu einem Tem⸗
pel der Demuth und der Liebe geworden, daß ſich der innre
Frieden, der eine ſolche Stimmung giebt, in ſeinem ganzen
Weſen kund gab. Er ſprach weniger, that aber mehr als
alle die Andren, denn, ſo ſagte er, es geſchieht uns, auch
bei dem beßten Willen leichter und öfter, daß wir in Wor⸗
ten fehlen, als in Thaten. Er war ſanft, gedultig, von Her⸗
zen mitleidig und ohne Aufhören in einer ſolchen fröhlich
79
ftillen, gelaffenen Stimmung, daß es ſchien als könnte in ſei⸗
nem Herzen keine Regung menſchlicher Affecten und Leiden⸗
ſchaften aufkommen. Ihn ſetzte nichts in Erſtaunen, er blieb
unter Blitz und Donner, wie in der Stille eines Frühlings-
morgens, im Froſt wie in der Wärme des Sommers in ſei⸗
nem gleichmäßigen Tacte. Ihm ſchien es unbegreiflich, daß
ein Menſch haſſen könne und als Duval einſt im Scherz
ihn fragte ob man nicht wenigſtens den Satan haſſen dürfe,
* der einfältig gute Mann: man muß Niemand
aſſen.
Das nächte Geſchäft, welches die hochbetagten Einſied—
ler dem jungen, rüſtigen Gehülfen anvertrauten, war die
Obhut ihrer Kühe, welche er in den nahen Wald auf die
Weide führen mußte. Dieſe Aufgabe war nicht ganz nach
men. Sinne; er glaubte ſich, ſeit dem Hinweggehen aus
Clezantaine, fuͤr immer von ſolchen niedren Dienſten losge⸗
macht zu haben; ſein Aufenthalt bei Bruder Palämon hatte
in ihm den Wahn erzeugt und genährt, er ſei zu etwas
Höherem beſtimmt als zum Hüten des Viehes. Doch ein
Blick auf den freundlich ſanften Bruder Paul und auf das ernſte
Geſicht des Bruder Martinian lehrten ihm ſchweigen und ge—
horchen, er zog, mit der Peitſche in der Hand, ſeinen Kühen
nach in den Wald. Die Selbſtüberwindung, der Sieg über
den eignen, ſtolzen Willen iſt zu jeder Zeit ein reicher Quell
des innren Friedens, unſer junger Hirt that in Kurzem den
Dienſt mit Freuden; dem er ſich anfangs nur mit Wider⸗
willen unterzogen hatte. |
Die ehrlichen Väter wollten übrigens ihren Pflegling
nicht nur zu ländlichen Beſchäftigungen heranbilden, ſondern
fie wollten zugleich einen Frommen ihrer Art, ja einen Ge-
lehrten aus ihm erziehen. Einer unter ihnen der im Ver⸗
gleich mit ſeinen drei Gefährten den Gelehrten darſtellte, und
ſich auf dieſen Vorzug Etwas zu gute that, hatte die Kunſt
des Schreibens erlernt und als er die außerordentliche Be—
gierde bemerkte, mit welchem Duvals Auge, ſo oft Gelegen⸗
heit dazu war, den Zügen ſeiner Feder folgte, beſchloß er ihn
zum Theilnehmer ſeiner Kunſt zu machen. Mit ſeiner vor
Alter und täglichen Anſtrengung beim Landbau zitternden
and zeichnete er dem jungen Menſchen die Züge der Buch⸗
aben vor, welche dieſer treulich, und darum eben ſo ſchlecht
nachbildete als ſie ihm dargeboten wurden. Aber der Eifer
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80
des Schülers war größer und mächtiger als der Fleiß ſeines
alten Lehrers; dieſer hatte ſelten Zeit zu lehren jener aber
ohne Aufhören Luſt zu lernen. Duval erfand ſich deshalb ein
Mittel auch ohne fremde Hülfe ſich im Schreiben zu üben,
indem er aus dem Fenſter feiner Zelle eine Scheibe heraus⸗
hob, ſie auf ein beſchriebenes Blatt legte und dann auf dem
Glaſe ſo lange die Züge der Buchſtaben mit der wieder leicht
abwaſchbaren Tinte nachmachte, bis er am Ende die Fertig⸗
keit erlangte, eine ohngefähr eben fo altmodiſch ſteife Hand⸗
ſchrift zu ſchreiben, als ſein Lehrer hatte, da ſeine Glieder
noch nicht von Zittern befallen waren. Was die religiöſen
Uebungen der Klausner betrifft, welche für gewöhnlich täg—
lich in ſechs gemeinſamen Andachten beſtunden, ſo fand ſich
auch hierbei der künftige Eremit regelmäßig ein, wenn ihn
en die Hut des Viehes in zu weiter Ferne beſchäf—
tigt hielt. Ae
Duvals gelehrte Bildung in der Einſiedelei von Sanct
Anna war nicht allein auf die Kunſt des Schreibens be—
ſchränkt, er fand noch andre Quellen auch ſeine täglich wach—
ſende Wißbegier zu befriedigen. Die guten Väter beſaßen
etliche Bücher; der Umſchlag des einen von dieſen gewährte
unſrem jungen Forſcher einen reichen Fund: es war darauf
eine Anweiſung zu den vier erſten Regeln der Rechenkunſt
enthalten. Das Vergnügen, welches etwa ein armer Mann
empfindet, wenn er unvermutheter Weiſe unter dem Boden
ſeines kleinen Gartens einen nach feinem Bedünken unermeß—
lich reichen Schatz entdeckt, kann nicht größer ſeyn, als das
von Duval war, als er den Schlüſſel zu einer Kunſt fand,
welche ſeinem hierin richtigen Gefühle gleich einer äußerſten
Pforte erſchien, die zu einem wahrhaft unermeßbaren Reiche
der Erkenntniſſe führte, Summen unter feinen Augen entſte⸗
hen und vergehen zu ſehen, indem man durch Addition ſie
vereint oder noch mehr, durch Multiplication ſie vervielfacht,
durch Subtraction und noch mehr durch Diviſion fie verklei—
nert, welchen Genuß mochte dieſes einem Geiſte gewähren,
der in der Bedeutung der Zahlen das Mittel ahnete am
leiblich Erſcheinenden das zu erfaſſen, was ein allbedenken⸗
der, ſchaffender Geiſt, als Kraft, als Eigenſchaft in daſſelbe
legte. Unſer junger Einſiedler hatte immer während ſeines
d ein beſondres Vergnügen an der Stille der
zälder und abgelegenen Weideplätze gefunden. Hier er
u
81
St. Anna konnte er dieſes Vergnügens im hohen Maaße
genießen; denn kaum glich ein andrer Wald an hehrer Ein—
ſamkeit und Stille jenem von Vitrimont, mit ſeinen klei⸗
nen Thälern und Felſenklüften. An ſeinem Lieblings—
platze, einer Art von Grotte, die von einem vormaligen
Steinbruche zurückgeblieben, war der eifrige Rechner öfters,
ſelbſt in den Stunden der Sommernächte mit der Löſung
jener Aufgaben beſchäftigt, die er im Geiſt ſich ſtellte, oder
mit dem Gewebe der Gedanken, die ihm aus dem zwar be—
ſchränkten dafür aber deſto fruchtbareren Boden ſeiner tägli—
chen Erfahrungen hervorkeimten.
Mächtiger denn Alles, was er um ſich ſahe, zog ihn
Being der Sterne des nächtlichen Himmels an.
b Leſen im Kalender hatte ihm ſchon bei dem
gewährt, weil darinnen der Lauf des Mondes in einer ihm
unbegreiflichen, prophetiſchen Weiſe, für ein ganzes Jahr
vorausgeſagt war. Bei dieſer Gelegenheit erfuhr er auch
Etwas von jenen himmliſchen Zeichen eines Widders, eines
Stieres, eines Löwen und Krebſes, in welche zu gewiſſen
Zeiten die Sonne und der Mond einträten. Bruder Palä—
mon hatte ihm geſagt, daß dieſe Zeichen, von denen der
Kalender ſpricht, unter den Sternen des Himmels zu finden
ſeyen, wie aber, oder wo? das wußte er nicht. Auch die
Einſiedler in St. Anna konnten darüber keinen Beſcheid
geben; unſrem Duval aber ließ es keine Ruhe, er mußte
forſchen und wiſſen wo ſich der Steinbock oder Widder, mit-
ten unter den Sternen des Himmels verborgen hielten. Auf
einer der höchſten Eichen, am Saume des Waldes flocht er
ſich aus Weidenruthen und Epheu ein Throngeſtell, das
einem Storchneſte glich; der Thron ſelber, auf dem er dort
oben ſaß, war der Reſt eines alten Bienenkorbes. Hier
brachte er bei heitren. Nächten manche Stunden zu, während
deren er mit angeſtrengter Aufmerkſamkeit alle Gegenden des
Himmels durchforſchte, um etwa unter den Sternen die Ge⸗
ſtalt eines der himmliſchen Thiere zu entdecken. Doch es
ergieng ihm hierbei wie jenem Taubſtummen, dem man das
Wort Baum an die Tafel ſchrieb und in der Geberdenſprache
oder im Bild die Bedeutung des Wortes zeigte und welcher
nun vergeblich ſeinen Witz anſtrengte, um ” Aehnlichkeit
Schgafhirten im Clezantaine ein unbeſchreibliches Vergnügen
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der Schriftzeichen an der Tafel mit der Geſtalt eines Bau⸗
mes zu entdecken.
Wie ſich in der Welt der leiblichen Dinge zur rechten
Zeit für den Hunger ſeine Speiſe, für jedes erwachte Be⸗
dürfniß ſeine Befriedigung findet, ſo iſt es auch im Reiche
des Geiſtigen. Der geſunde und redliche Drang nach Erken⸗
nen und Wiſſen ſtehet unter dem Walten derſelben Für⸗
ſorge, die den Antrieb des thieriſchen Inſtinctes zu ſeinem
Ziele führt; was zu ſeiner Bekräftigung und Entwicklung
dienet, das wird ihm immer zur rechten Zeit dargereicht.
Es war gerade der große Jahresmarkt (die Dult oder Meſſe)
von St. Georgentag in Luneville, da ſendeten die Einſiedler
ihren jungen Gehülfen hinein in die Stadt, um einige Auf
träge zu beſorgen. Indem dieſer neugierig die zum Verkauf
ausgebotenen Herrlichkeiten betrachtet, entdeckt er, zu ſeiner
unbeſchreiblichen Freude, unter den Bildern die an eine
Mauer aufgehängt waren, eine Himmelscharte, dann die
Abbildung einer künſtlichen Erdkugel und vier Charten, wel⸗
che die verſchiedenen Welttheile darſtellten. Der Dienſtlohn,
den er beim Schäfer in Clezantaine ſich erworben, war noch |
faft ganz ungeſchmälert in feinem Beſitz und dieſen Schatz,
der ſich auf 5 bis 6 Franken belaufen mochte, trug er immer
bei ſich in der Taſche. Jetzt war der Augenblick gekommen
um von dieſem bisher todten und ungenützten Capital die
rechte Anwendung zu machen; mit Freuden gab er Alles
um den Beſitz der für ihn unſchätzbaren Charten hin.
In wenig Tagen hatte ſich der durch feinen Fund glück⸗
ſelige Duval ſo weit in das Verſtändniß der Himmelscharte
gefunden, daß ihm die wechſelſeitige Stellung der meiſten
Sternbilder bekannt war, auch war es ihm deutlich gewor—
den, daß nicht jene Bilder, welche die Hand des Menſchen
auf ihre Charten zeichnet, am Himmel geſchrieben ſtehen,
ſondern daß zu jedem Bild eine Gruppe von Sternen ge—
höre, welche mit der Geſtalt eines Stieres oder eines Wid⸗
ders nur wenig zu ſchaffen hat. Wäre nur jemand da ge
weſen, der ihm eine einzige dieſer Sternengruppen bei ihrem
Namen genannt und erläutert hätte, dann wäre es ihm ein
Leichtes geweſen, nach der wechſelſeitigen Stellung, die ſeine
Charte angab, auch die andern Bilder aufzufinden, ſo aber
mußte er ſelber auf ein Mittel ſinnen, das ihn aus der Ver⸗
er
eu
7
83
legenheit ziehen könnte, und ſein Nachdenken führte ihn bald
auf das rechte. |
Er hatte vernommen daß der Polarſtern, welcher den
Nordpol am Himmel wie an der Erde bezeichnet, immer an
derſelben Stelle des Himmels ſtehe. Konnte er, fo ſchloß
er weiter, nur dieſen auffinden, dann hätte er zu jeder Zeit
der Nacht, im Sommer wie im Winter, einen feſt bleiben⸗
den Punkt von welchem aus ihm alle Sternenbilder, in ihrer
wechſelſeitigen Stellung erkennbar werden müßten. Aber wer
ſollte ihm ſagen wo man am Himmel den Nordpol zu ſuchen
habe? Auch bei dieſer Ungewißheit kam ihm eine Kenntniß
zu ſtatten, die ihm durch Hörenſagen geworden. Er hatte
nämlich vernommen, daß es eine ſtählerne Nadel gebe, die
das eine ihrer Enden immer gegen Norden wende und hier⸗
durch zum ſichern Auffinden dieſer Weltgegend dienen könne.
Dem jetzt lebhaft und laut gewordenen Verlangen eine ſolche
wunderbare Nadel zu ſehen und ihrer ſich zu bedienen, kam
einer der alten Einſiedler entgegen; dieſer beſaß ſelber einen
Sonnencompaß und ließ ſich bereitwillig finden ihn dem wiß⸗
begierigen Duval zu leihen. Die Richtung nach welcher ſich
das Auge wenden müſſe um den Polarſtern zu ſehen, war
dieſem jetzt bekannt, aber wie tief oder wie hoch der Stern
am nördlichen Himmel ſtehe, das wußte er nicht. Doch auch
dieſe wichtige Entdeckung wurde nach mehreren vergeblichen
Anſtrengungen und mislungenen Verſuchen gemacht. Zuerſt
ſollte ein Baumaſt der gerade gegen einen im Norden ſtehen⸗
den Stern der dritten Größe ſeine Richtung hatte, das Mit⸗
tel gewähren, den Polarſtern aufzufinden. Mittelſt eines
Bohrers wurde der Aſt zu einem ziemlich weiten Seherohr
umgeſchaffen; war dann der Stern auf den dieſes hinzielte
der rechte, dann mußte er ſich immer, bei dem Hindurch—
blicken durch das Rohr finden laſſen. Aber ach! das Rohr
war kaum gebohrt, da hatte ſich der erzielte Stern ſchon
weit aus feinem Geſichtsfeld entfernt und nicht minder glüd-
lich waren die andren Verſuche dieſer Art, bis zuletzt bei
einem derſelben der Bohrer abbrach. Doch die Wißbegier
unſres jungen Forſchers ließ ſich durch kein ſolches Fehlſchla—
gen ihrer Erwartungen aus der Bahn bringen; ein Hol⸗
lunderſtab, der durch das Herausbohren ſeines Markes in
ein Seherohr umgewandelt war, wurde jetzt an dem höchſten
Aſt der großen Eiche, die zur Kane diente, ſo befe⸗
*
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Lied. 1 By 2 44 eber , a e . WR
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4 igt, daß er ſich nach Belieben Biber oder niedriger, zur
I SIE Rechten oder zur Linken richten ließ. Dieſe Vorrichtung
= führte endlich zu dem gewünſchten Zwecke; der Polarſtern
2 war aufgefunden und hiermit zugleich der Schlüſſel zur allmä⸗
, ligen Ausdeutung der Sterngruppen, zur Erkenntniß aller
%, Sternbilder des Himmels.
1—— Wenn der rechte, lebendige Antrieb zum Erkennen in
ane, der menſchlichen Natur erwacht ift, dann läßt er ſich nicht
1 2 an der Erforſchung deſſen, was ſichtbar und äußerlich vor
j 40 Y Augen liegt, genügen. Läßt doch ſelbſt der Lachs, wenn
. Aug der Wandertrieb in ihm erwacht, nicht ab von ſeinem Zuge,
—— bis er jetzt ſtromaufwärts die Nähe des Quelles, dann
ö ſtromabwärts das weite Meer gefunden, darinnen der Fluß
| endet. So will auch der Geiſt des Menſchen mitten in dem
ſinnlich Aeußeren den Anfang und das Ende der Erſcheinun—
gen wiſſen. Was ſind, ſo fragte ſich Duval, dieſe Sterne
und wie weit mag es, von meiner Eiche aus, bis zu ihnen
N hinan ſeyn? Vergeblicher noch denn ſein Auge, als er vor
dem Beſitz der Sterncharte die Zeichen des Thierkreiſes am
Himmel finden wollte, müheten ſich feine lebhafte Phantaſie
| und der kräftige Verſtand ab, einen Maaßſtab im Irdiſchen
N zu finden, für das was überirdiſch iſt; nach allen Seiten
| hin zog ſich das gefuchte Ende, je näher er ihm zu kommen
ſchien, deſto mehr in die Tiefen einer Unendlichkeit zu—
rück, welcher ſich kein äußres, ſinnliches Forſchen, ſondern
ö nur das innre Schauen und Erfahren des Geiſtes nahen
| kann.
Wie groß die Erde ſey, das müſſe ſich, fo urtheilte
| unſer angehender Gelehrter, leichter ergründen laſſen, wenn
man nur die Abbildung der Erdkugel, die jetzt als Eigen⸗
thum vor ihm lag, recht verſtehen könnte. Seine Charten
begleiteten ihn überall hin, mitten im einſamen Walde brei⸗
tete er ſie vor ſich am Boden aus, während die Kühe neben
ihm auf die Weide giengen. Was die vielen Linien bedeu⸗
ten möchten, welche der Länge wie der Queere nach über
die Abbildung der Erdkugel und der Welttheile gezogen wa⸗
ren, darüber ſann er Tage lang mit großer Anſtrengung
nach. Endlich brachte ihn der breitere Gürtel, der um die
Mitte der Erdkugel gezogen und in 360 kleine, ſchwarze und
weiße Felder getheilt war, auf den Gedanken daß hierdurch
Räume und Entfernungen angezeigt werden ſollten. 1 3
er
85
Licht gieng ihm auf, das auf einmal Alles klar machte; das
Räthſel war gelöſt; die kleinen Felder bedeuten Meilen (einen
andren Maaßſtab für irdiſche Räume kannte er noch nicht)
und hienach beträgt der Umfang der Erde nicht mehr und
nicht weniger als 360 franzöſiſche Meilen oder Wegſtunden.
Er konnte kaum die Zeit des Mittagseſſens erwarten
um ſeine herrliche Entdeckung den Einſiedlern mitzutheilen.
Der Gelehrte unter ihnen ſchüttelte den Kopf, wußte aber
nichts darauf zu ſagen, einer aber unter den drei übrigen
war in feinen jüngern Jahren zu St. Nicolas de Barry in
Kalabrien geweſen. Dieſer bemerkte daß er auf jener Reiſe
wohl weiter als 360 Wegſtunden gekommen ſey, aber das
Land und das Waſſer giengen viel weiter, ein Weg von
a Meilen reiche noch lange nicht um den Umfang der Erde
erum. .
Da ſtund nun der arme Duval mit ſeiner Entdeckung
beſchämt und rathlos da; entweder mußten die ſchönen Char-
ten, für deren Beſitz er ſein ganzes Vermögen aufgeopfert
hatte, nichts taugen, oder der Schlüſſel zu ihrem Verſtänd—
niß lag für ihn ſo verborgen, daß er die Hoffnung aufgeben
mußte, ihn zu finden. Aber auch diesmal kam, wie dies
im Leiblichen und Geiſtigen immer zur rechten Zeit geſchieht,
dem erwachten Antriebe ſeine Befriedigung und Sättigung
entgegen. Unſer junger Einſiedler pflegte an jedem Sonntag
ſeine Meſſe zu Luneville in der Karmeliterkirche zu hören und
bei dieſer Gelegenheit mancherlei Aufträge der Brüder in der
Stadt zu beſorgen. Auch am andren Tage nach dem nie—
derſchlagenden Ereigniß, das ihn auf dem Weg ſeiner For-
ſchungen betroffen hatte, war er zum Beſuch des ſonntägli—
chen Gottesdienſtes in der Stadt geweſen, und wollte nach
Beendigung deſſelben noch ein wenig in den Kloſtergarten
ſich ergehen, da ſahe er Herrn Remy, den Gärtner, in einem
Buche leſend, am Ende einer Allee ſitzen. Seine immer rege
Wißbegier trieb ihn an zu fragen, was der Herr läſe, und
zu ſeiner freudigen Ueberraſchung erfuhr er, daß das Buch
eine Anleitung zum Erlernen der Erd- und Länderkunde ent—⸗
halte. Es war die, zu jener Zeit ſehr beliebte kleine Geo—
graphie von Delaunai. Dem armen Duval brannte ſein
Herz vor Begierde dieſes Buch zu leſen, er wagte die flehent-
liche Bitte, daß Herr Remy ihm daſſelbe leihen möge, und
| ven BBunich wurde ihm gewährt. Mit dem Vorſatz ſich daſ⸗
j
86
ſelbe abzuſchreiben nahm er es dankbar in Empfang, konnte
aber der Begierde nicht widerſtehen ſeinen Inhalt ſogleich zu
erfahren; ſchon auf dem Heimwege hatte er fo viel aus dem⸗
ſelben gelernt, daß er jetzt wußte, daß die kleinen, ſchwar⸗
zen und weißen Felder der Mittellinie ſeiner abgebildeten
Erdkugel Grade bedeuteten, deren jeder 25 franzöſiſche, 15
deutſche geographiſche und ſo in jedem Lande, nach Verſchie⸗
denheit des Meilenmaaßes, eine gewiſſe Zahl von Meilen
groß ſey. Zugleich erfuhr er auch, was die andren Linien
bedeuteten, welche von Nord nach Süd die breite Mittel-
linie oder den Aequator durchſchneiden. Er hatte jetzt nichts
Angelegentlicheres zu thun, als zur beßren Verſtändigung
des Erlernten ſich ſelber eine Erdkugel zu verfertigen. Haſel⸗
nußſtäbe, zirkelrund gebogen, die einen um die Eintheilung
der Erde nach der Länge, die andren um jene nach der
Breite zu verſinnlichen, wurden in horizontaler und fenfrech-
ter Richtung zuſammengefügt, dann mit dem Meſſer die
Eintheilung dort in 360, hier in 90 Grade eingeſchnitten.
Erſt jetzt war dem jungen, wißbegierigen Eremiten das eigent-
liche Verſtändniß ſeiner Welt- und Ländercharten eröffnet;
wenn er dieſe unter dem Dach des Waldes auf dem Boden
ausgebreitet, vor ſich liegen, und dann mittelſt feines gelie—
henen Sonnencompaßes ſie nach den Weltgegenden gerichtet
und an einander geordnet hatte, da konnte ſein forſchender
Geiſt von dem Punkte aus, darauf Luneville lag, bald in
dieſe, bald in jene Länder ſo wie von einem Welttheil zum
andren wandern, und in Kurzem wußte er jede Frage nach
der Lage des einen oder andren Landes alſogleich und mit
voller Sicherheit zu beantworten. Hiermit noch nicht zufrie⸗
den forſchte er auch, nach der Anleitung des Buches von
Delaunai dem Laufe der Flüße und dem Umriße der Mee—
resküſten nach, bemerkte an beiden die Lage der merkwürdig⸗
ſten Städte und prägte ſich vor Allem die der Hauptſtädte
ein. Es gelang ihm dieſes Alles fo gut, daß er nach eini⸗
ger Zeit mit der verkleinerten Welt auf ſeinen Charten und
allen ihren einzelnen Städte- wie Ländernamen eben fo vertraut
und bekannt war, als mit den einzelnen Parthieen und alten
Baumſtämmen im Wald bei St. Anna. Uebrigens kamen
ihm auch bei dieſer Gelegenheit mancherlei Gedanken in den
Sinn, welche zu immer weitren Fragen und Forſchungen
reizten. Die weite Ausdehnung des Gewäſſers im Vergl. ich
. 4
hal 75
u
87
mit der viel geringeren des bewohnbaren Landes, ſetzte ihn
in Erſtaunen; welche Arten der lebendigen Weſen ‚fo fragte
er ſich, mögen in den Tiefen der Meere ſich bewegen und
für welchen Zweck ſind dieſelben erſchaffen, da doch der Herr
der Erde, der Menſch, ſie nicht einmal alle zu ſehen und zu
kennen, geſchweige zu benutzen vermag.
Der Antrieb zum Erkennen 5 Wiſſen hatte ſich bei
Duval bis zu einer leidenſchaftlichen Höhe geſteigert. Vor
Allem war es zwar jetzt die Länderkunde die ihm beim Wa⸗
chen am Tage und ſogar bei Nacht im Traume beſchäftigte,
doch hatte ſich der Kreis ſeines Erkennens nebenher auch nach
andren Seiten erweitert. In jedem Hauſe, dahin die Auf—
träge ſeiner alten Dienſtherrn ihn führten, fragte er nach,
ob man da wohl Bücher habe? und wenn dies ſo war, ob
man ihm nicht eines, dann das andre davon zum Leſen lei⸗
hen wolle? Auf diefe Weiſe waren ihm ſchon die Ueberſe⸗
gungen von Plutarchs Leben berühmter Männer, ſo wie die
Geſchichte des Quintus Curtius in die Hände gekommen und
ſeine Unterhaltung in der abgelegenen Grotte des alten Stein—
bruches geworden. Aber alle dieſe neuen Elemente des Wiſ⸗
ſens waren nur Funken geworden die den innren Brand ſei⸗
nes Verlangens „noch immer mehr zu wiſſen, entzündet hat⸗
ten. Die ganze Erde mit ihren Ländern nicht nur wie dieſe.
jetzt ſind, ſondern wie ſie auch vormals waren, als noch
andre Volter ſie bewohnten, hätte er kennen lernen mögen;
vor jedem alten Gemäuer, vor jedem Denkmal vergangener
Zeiten ſtund er mit ehrfurchtsvollem Nachſinnen ſtill; er be⸗
ſchaute jeden Stein, jeden Schriftzug, hätte gern ihre Spra—
che verſtanden um zu erfahren wer hier gewohnt, was hier
ſich zugetragen habe.
Die Bücher, ſo dachte er in ſeiner unſchuldigen Ueber—
ſchätzung der menſchlichen Wiſſenſchaft, lehren und ſagen
Alles; wie aber ſollte er, nach der Verwendung ſeines gan—
zen, kleinen Beſitzthumes auf den Ankauf der Charten, zu
ſolchen Büchern kommen? Die Verkäufer der alten und neuen
Bücher in der Stadt, deren Läden er oft beſuchte, und da⸗
bei mit wißbegierigen Auge, wenn Nichts weiter erlaubt
war, wenigſtens die äußren Aufſchriften der Titel betrachtete,
mochten auf ein bloßes Herleihen ihrer Schätze ſich nicht ein—
laßen; was man von ihnen haben wollte, das mußte mit
A Nies!
d bezahlt ſeyn; Geld aber, woher dieſes nehmen?
.
88
Ein Drang von geiſtiger Art, wie der in Duval war,
bricht ſich durch alle äußren, leiblichen Hemmungen ſeine
Bahn, und weiß in dieſem Kampfe nach außen Kräfte zu
entwicklen, welche dem in äußerem Ueberfluß erwachsnen
Menſchen fremd find. Felle von gewiſſen Thieren der Wild⸗
niß, ſo wie das Fleiſch von andren, werden in der Stadt,
das hatte er erfahren, bald mehr, bald minder theuer verkauft.
Den Beſitzern von St. Anna ſtund in dem zu ihrem Grund⸗
beſitz gehörigen Stück Waldes eben ſo das Recht, dort ihr
Vieh zu weiden, als auch eine gewiſſe Berechtigung zur
Jagd und zum Fange der vierfüßigen wie geflügelten Be—
wohner deſſelben zu. Die Beſitzer des vormaligen Wald—
hauſes Alba mochten die letztere Berechtigung in ihrer ganz
zen Ausdehnung und Strenge geübt haben; ſeitdem aber
jenes Obdach der Jagdfreunde durch Bruder Michaels An—
kauf ganz andren Bewohnern eingeräumt, der Wald mit
ſeinen Thieren ein Eigenthum frommer, friedliebender Ein—
ſiedler geworden war, hatten ſich die ungeſtörte Ruhe dieſes
Dickiges vornämlich ſolche vierfüßige Tyrannen des Waldes
zu Nutze gemacht, welche von den Jägern als ſchädliche
Thiere mit Recht verfolgt werden. Marder und Sitiffe,
Füchſe und wilde Katzen verübten von hier aus ungeſtört
ihre Mordthaten, denn die guten, alten Brüder in der Ein—
ſiedelei hatten weder Flinten noch andre Gewehre, bedienten
ſich weder der Fallen noch des Giftes, um, was ihre Pflicht
geweſen wäre, an den Mördern und Räubern in ihrem Herr—
ſchaftsgebiet Recht und Gerechtigkeit zu üben. Duval, wenn
er die Nachtigall, deren Geſang ihn entzückte, unter den
Klauen der wilden Katze verbluten ſahe, oder die Jungen
der Singdroſſel und des Rothkehlchens durch einen nächtlichen
Ueberfall des blutdürſtigen Marders hinweggeraubt und ver—
tilgt fand, dachte anders. Der Klaglaut den die Alten am
andren Morgen an dem leeren Neſt erhuben, rührte ihn tief.
Dieſe ſprachen nur wehmüthiges Sehnen aus nach dem das
ſie geliebt hatten und beſeßen, in ihm regte ſich ein weh⸗
müthiges Sehnen nach Etwas, das er liebte und nicht be—
ſaß. Es konnte nach beiden Seiten geholfen werden. Die
Klage der unſchuldig Beraubten foderte zur Ahndung und
Rache auf, die Mörder mußten ihre Schuld mit Blut und
Gut bezahlen, und wem konnte das Letztere anders anheim
fallen als dem, welcher mit mächtiger Hand des Richte
89
und Herrſcherrechtes pflegte. Man fand bei den Schuldigen
kein andres Mobiliarvermögen als ihr Fell und dieſes eignete
Duval ſich zu.
Die alten Väter in St. Anna ſo neutral und friedlie—
bend ſie ſich auch zu den thieriſchen Bewohnern des nachbar—
lichen Waldes verhielten, mochten doch zuweilen eine Regung
des Unmuthes gegen die unbeſcheidnen, vierfüßigen Nachbarn
empfunden haben, wenn ſie am Morgen bemerkten, daß bei
Nacht der Fuchs ihre Gänſe geraubt, der Marder oder Iltiß
ihre Hühner gemordet habe, ſie ließen deshalb gern geſche—
hen, daß ihr junger Gehülfe neben ſeinem Hirtenamt auch
das Geſchäft des Jägers übte, und bald mit den Trophäen
eines Fuchspelzes, bald mit denen eines Marderfelles nach
Hauſe kam. Wie der ſeltſame Burſch das anfieng, daß er
ohne Flinte, Blei und Pulver, nur mit Bogen und Bolzen
bewaffnet und durch allerhand, witzig genug erfundene Fal⸗
len den liſtigen Fuchs und den ſcheuen Marder in ſeine Ge—
walt brachte, das hörten ſie ihn oft mit Verwunderung be—
richten; doch gieng es dabei auch nicht immer ohne Schrecken
ab. So eines Tages, da er aus vielen Kopfwunden blu—
tend, und ganz von Blute bedeckt, mit einer todten, wilden
Katze, die als Trophäe an ſeinem Stocke hieng, in das ge—
meinfame Zimmer hereintrat. Er hatte dieſes mörderiſche
Thier mit kühnem Klettern und Sprüngen verfolgt, bis daſ—
ſelbe, von ſeinem Stabe am Kopfe getroffen, doch nicht ge—
tödtet, in die Höhlung eines Baumes ſich rettete. Der Stab
des jungen Jägers ſetzte ihr in dieſen Schlupfwinkel nach
und ängſtigte ſie mit ſeinen Stößen ſo ſehr, daß ſie zuletzt
wüthend heraus und auf ſeinen Kopf ſprang, den ſie mit
Zähnen und Klauen zerfleiſchte, bis fie der ruͤſtige Burſche
an ihren Hinterfüßen herabriß und ihr den Kopf am Baum—
ſtamm zerſchmetterte. Den erſchrockenen Vätern rief er ruhig
zu: fürchten Sie nicht, ehrwürdige Väter, daß mir ein Leides
geſchehen ſey. Sehen Sie hier den Mörder unſerer Sing—
vögel. Ich habe ihn beſiegt, und das Waſchen mit ein we—
nig Waſſer und Wein wird bald meine Wunden heilen.
Dem rechtmäßigen Vollzieher der Gerichtsbarkeit und
der Todesſtrafe an den ihres Mordgewerbes überwieſenen Ver—
brechern, fiel rechtmäßiger Weiſe nicht nur ihr Mobiliarver—
dgen, ſondern auch ihr übriges Beſitzthum und Einkommen
anheim, da die natürlichen Erben gleich ihren Vätern geäch—
4 A e
7 we
90
tet und landesflüchtig waren. Die Revenüen der Füchſe und
Marder beſtunden, innerhalb des Waldes und benachbarten
Feldes, vornemlich in dem Fleiſche der Hafen und Wald⸗
hühner, ſo wie im Herbſte hin und wieder aus Schnepfen.
Auch von dieſen eignete ſich Duval zum Beſten ſeines Han⸗
delsgeſchäftes mit den Kürſchnern, Hutmachern und Köchen
ſo viele zu, als in ſeine Schlingen gehen wollten, und in
der irrigen Meinung, daß all das Wildpret welches im
Walddiſtrict des vormaligen Jagdhauſes Alba und der jetzi—
gen Einſiedelei St. Anna ſich zeigte ein Eigenthum der letz⸗
teren ſey, hätte er vielleicht ſelbſt Hirſche und Rehe, deren
Erlegung nur den herzoglichen Jägern zuſtund, überliſtet,
wenn dieſe in jener Gegend häufiger und hierbei eben ſo
leicht durch Nachgrabungen, Räucherungen, Fallen und Fang⸗
eiſen wären zu erhaſchen geweſen als Fuchs und Marder,
oder als die unverſchämte Feindin der harmlos ſpielenden
Fiſche, die unerſättliche Fiſchotter. x
Der Verkauf der erbeuteten Felle ſo wie des Fleiſches
der Haſen und Waldſchnepfen an Kürſchner, Hutmacher und
Köche war für unſren jungen Jäger in ganz unerwarteter Weiſe
ergiebig geweſen, er hatte demſelben in wenig Monaten 30
bis 40 Thaler eingetragen. Dieſe, nach ſeinem Bedünken
ungemein große Summe in der Taſche, lief derſelbe, mit
Erlaubniß der Einſiedler, nach der ſechs Stunden weit abge—
legenen Stadt der Gelehrſamkeit und Künſte: nach Nancy.
Denn dort, ſo hatte er vernommen, gab es viel mehr und
ſchätzbarere Bücher zu kaufen, als in der, weniger der Gunſt
der Muſen als jener des Fürſtenhofes nachſtrebenden Reſi—
denzſtadt Luneville. Für ihn hatte jedes Buch, das ihm
etwas Neues lehren konnte, einen unſchätzbaren Werth; was
aber im gewöhnlichen Handelsverkehr ſein Werth ſei, das
wußte er nicht. Darum pflegte er, ein Anfänger im Um⸗
gang mit der Welt, den Bücherverkäufern ſein Geld auf
ihren Zahltiſch hinzulegen, indem er dieſelben flehentlich bat,
ſeiner Armuth nicht mehr abzunehmen, als nach chriſtlich
billiger Schätzung die von. ihm ausgewählten Bücher werth
ſeyen. Leider fand ſich nur einer unter dieſen Handelsleu—
ten, welcher der böſen Lockung des zur Verfügung hingeleg⸗
ten Geldes redlich widerſtund, und von dem unbegränzten
Vertrauen des unerfahrnen Jünglinges keinen ſchlechten Ge⸗
brauch machte. Dieſer eine war Herr Truain, ein Buch⸗
*
91
händler, der, aus der Bretagne gebürtig, in Nancy fich
anſäßig gemacht hatte. Er behandelte den treuherzigen Jüng⸗
ling als theilnehmender Freund, ließ ihm alle Bücher die
er begehrte, um den möglichſt billigen Preis ab und gab
ihm, als der Reſt des baaren, mit der Jagd verdienten
Geldes nicht mehr ausreichte, auf ſein ehrliches Geſicht hin
Credit, für mehrere Bücher die er zu haben wünſchte. Herr
Truain ahnete in dieſem Augenblick es nicht, daß der bäue—
riſche Burſche, der da vor ihm ſtund, nach wenig Jahren
Vorſtand der königlichen Bibliothek in Lothringen, und dann
im Stande ſeyn werde, ihm dadurch, daß er ihn zum Haupt—
lieferanten für dieſelbe wählte, ſein wohlwollendes Benehmen
reichlich zu belohnen. |
Unter den Schätzen welche ſich Duval für dieſes Mal ers
handelt hatte, befanden ſich namentlich eine Ueberſetzung des
Plinius, dann von Theophraſts Charakteren, von des Livius
Geſchichte, erläutert von Vigenere, ferner die Geſchichte der
Inkas, des Barthelemy las Caſas Schilderung der von den
Spaniern in Amerika verübten Grauſamkeiten, Lafontaines
Fabeln, Louvois Teſtament, Rabutins Briefe und mehrere
Landcharten. Die eben genannten und noch mehrere nicht
benannte Bücher bildeten eine für unſeren Einſiedler in dop—
peltem Sinne theure Laſt. Er hatte mit Freuden den gan—
zen Gewinn, den ſeine Jagden ihm eingebracht, für dieſen
Bücherhaufen dahin gegeben und bei Herrn Truain noch
Einiges auf Credit genommen, mit Freuden lud er die Bürde
auf ſeine rüſtigen Schultern und ſchleppte ſie, von Zeit zu
Zeit ausruhend, noch an demſelben Tage nach ſeiner um ein
ſo gut Stück Weges von Nancy entfernten Einſiedelei.
Die Zelle, welche man Duval zu ſeiner Schlaf- und
Wohnſtätte angewieſen hatte, war faſt zu klein dazu um mit
dem Bewohner zugleich auch das Eigenthum deſſelben aufzu—
nehmen. Sie wurde jetzt zu einer Welt im Kleinen, denn
an ihrer Decke prangte das Abbild des Himmels: die Stern—
charte, die Wände waren mit den Charten der verſchiedenen
Welttheile und Länder verziert. a
Wir haben bereits oben, S. 78 es angedeutet, daß unter
den vier alten Bewohnern der Einſiedelei einer war, der ſich
in mancher Hinſicht von den andren dreien, vor Allen von
dem ſanften Bruder Paul unterſchied. Jener Eine Bruder,
Anton genannt, war aus Bar gebürtig, deſſen Bewohner
92
im Allgemeinen in dem Rufe ſtehen, daß fie leicht aufregbar
und ſtreitſüchtig ſind. Obgleich er an Jahren der älteſte und
in allen frommen Uebungen der eifrigſte war, hatte er den—
noch ſeine zur Heftigkeit geneigte Naturart nicht ganz beſiegen
können; er war hart und ſtreng in der Behandlung wie in
der Pflege des eignen Leibes, dabei aber auch hart und
ſtreng in ſeinem Urtheil über die Handlungen Andrer, ſo
daß, wenn er ſprach, Bruder Paul am liebſten ſchwieg. Jener
etwas ſtürmiſche Bruder, welcher als Aelteſter der kleinen
Geſellſchaft über dieſe eine Art von Regiment führte, bemerkte
zu ſeinem großen Verdruß daß Duval, ſeitdem das Leſen
der Bücher und die Beſchäftigung mit den Landcharten ihn
ſo mächtig anzog, im Beſuche der gemeinſamen Gebetsübun⸗
gen minder eifrig geworden ſey und daß er mit Dingen
umginge, welche, wie es dem Bruder Klausner ſchien, für
einen Frommen weder nöthig noch heilſam ſeyen. Er ſelber
machte ſich Vorwürfe darüber, daß er dem jungen Menſchen
den Sonnencompaß geliehen und dadurch vielleicht etwas
beigetragen habe zu ſeinen Verirrungen, doch hoffte er, daß
dafür auch ſeine Ermahnungen einen beßren Eingang bei
demſelben finden ſollten. Da er jedoch ſahe, daß Duval von
Tag zu Tag immer eifriger dem Antrieb zum Wiſſen ſich
hingab, wollte er dem eigentlichen Treiben deſſelben noch beſ—
ſer auf den Grund kommen und verſchaffte ſich deshalb Ge—
legenheit, als der junge Tauſendkünſtler gerade abweſend
war, in ſeine verſchloßene Zelle einzudringen. Wie erſtaunte
der gute Bruder Anton als er da lauter ſolche Dinge erblickte,
die er noch nie bei einem Andächtigen geſehen hatte und welche
ihm deshalb nicht anders als verdächtig vorkommen mußten.
Was ſollte die aus Pappe gemachte Himmelskugel mit ihren
weißen und ſchwarzen Kreiſen, die ſich Duval zur Verſinn—
lichung des Ptolemäiſchen Syſtems mühſam zuſammengeſetzt
hatte; was bedeutete die aus kreisrund gebogenen Haſelnuß—
ſtecken gefertigte Erdkugel; was die ſeltſamen (geometriſchen)
Figuren und vielen Zahlen, die der wißbegierige Duval aus
einem entlehnten Buche von mathematiſchem Inhalte ſich ab—
gezeichnet und abgeſchrieben hatte. Mehr jedoch denn alle
dieſe Dinge ſetzte ein Wort den Bruder Anton in Schauder
und Schrecken, das er in der Aufſchrift auf einer großen mit
aſtronomiſchen Figuren und Rechnungen angefüllten Charte
des Tycho de Brahe las. Die Aufſchriſt hieß: Calendarium
9
93
naturale magi cum... Magicum? brummte voll Entſetzen
der alte Klausner. Hier an gottgeweihter Stätte will er
Magie, das heißt Zauberei und Hexerei treiben? Das kann
nicht länger nachgeſehen werden.
| Gleich in feiner erſten Aufwallung machte ſich der alte
Mann auf den Weg nach Luneville, zum Hauſe des Beicht—
vaters, einem von Gemüth wie an Kenntniſſen vorzüglichen
Manne. Er machte dieſem eine ſo ſeltſame Beſchreibung von
Duvals Thun und Treiben, ſo wie von dem was er in ſeiner
Zelle geſehen hatte, daß der Mann neugierig wurde, die
Sache ſelber zu ſehen. Duval, der indeß nach Hauſe gekommen
war, ließ den wackern Pater alles betrachten und durchforſchen
was in feiner Zelle war, beantwortete unbefangen alle Fra—
gen die er an ihn that und das Ende dieſer Prüfung war,
daß der Pater den Bruder Anton über ſeine Unwiſſenheit
und ſeinen grundloſen Argwohn lächlend zurechtwies, dem
Duval aber wegen ſeiner Wißbegier und ſeines Fleißes belobte
indem er ihn zugleich aufmunterte auf dieſem Wege fortzu—
fahren, weil ihm ſolche Kenntniſſe einſt noch ſehr zum Nutzen
gereichen könnten.
Für einige Zeit ſchien jetzt der Frieden hergeſtellt, doch
konnte der Bruder Anton das nicht verſchmerzen, daß er
wegen dieſes jungen Menſchen vom Beichtvater belacht und
zurechtgewieſen worden ſey. In jeder Miene des unbefang—
nen Jünglinges glaubte er einen Nachhall jener tadelnden
Zurechtweiſung zu leſen und ſo faßte er einen wahrhaften
Widerwillen gegen denſelben. In dieſer unglücklichen Stim—
mung entfuhr ihm einſt die Drohung, daß er dem Duval
ſeine Charten zerreißen, ſeine Bücher hinwegnehmen wolle,
eine Drohung bei welcher der blinde Eiferer zu wirklichen Thät—
lichkeiten Miene machte. Dieſe Schätze, deren Erwerb ihrem
Beſitzer ſo viele Mühe und Sorgen gemacht hatten, ſich neh—
men und zerſtören zu laſſen, welches jugendlich warme Blut
hätte einen ſolchen Gedanken ohne heftige Aufwallung ertra—
gen können! Zum erſten, und, ſo viel bekannt auch zum
letzten Male in ſeinem Leben gerieth Duval in einen ſo ge—
waltigen Zorn, daß er ſeiner nicht mehr mächtig war. Als
Vertheidigungswaffe gegen die Gewaltthätigkeiten einer un—
wiſſenden Barbarei an ſeinen lieben Büchern, ergriff er die
Feuerſchaufel und ſtellte ſich mit einer ſolchen entſchloßnen,
wilden Miene dem Bruder Anton, dieſem Nachahmer des
94
Zerſtörers der Bibliothek von Alexandrien entgegen, daß der
Alte mit lauter Stimme um Hülfe rief. Die drei andren
Brüder, welche nahe bei auf dem Felde arbeiteten, kamen her⸗
bei, der junge Menſch, noch immer fuͤr ſeine Bücher Alles
fürchtend, treibt fie durch das bloße Drohen mit der Feuer:
ſchaufel aus ihrer eignen Wohnung hinaus, deren Thüre er
verſchließt und die Bewegungen des Feindes durchs Fenſter
beobachtet. ö
Es war ein glückliches Zuſammentreffen, daß gerade in
dieſem Augenblick der Prior der Eremiten nach St. Anna
zum Beſuche kam. Er ſahe und hörte den Tumult, vernahm
die Klagen über den jungen Empörer gegen das Anſehen
des Alters, dieſer aber zum Fenſter heraus, erzählte in ſei⸗
ner Weiſe den Hergang der Sache. Der Prior hörte ihn
mit einer Gelaßenheit und Ruhe an, die auch dem Jüng—
ling ſeine Faßung zurückgab, welcher den ernſten Verweis,
den der Prior ihm gab, eben ſo ſchweigend hinnahm, als
Bruder Anton jenen der ihm zugetheilt wurde. Dennoch
erklärte Duval, gleich einem Commandanten der im Begriff
ſtehet ſeine Feſtung den Belagerern zu übergeben, daß er, noch
vor Wiedereröffnung der Thüre um Zuſicherung folgender
Puncte bitten müſſe: 1) um vollkommne Vergebung des Vor⸗
gefallenen; 2) um Geſtattung von täglich zwei freien Stun⸗
den für ſeine wiſſenſchaftlichen Arbeiten, eine Vergünſtigung
auf welche er übrigens von ſelber in der Zeit der Ausſaat,
der Ernte und der Weinleſe Verzicht leiſte. Dagegen ver—
ſprach er ſeinerſeits der Gemeinſchaft der Eremiten noch zehn
Jahre lang, ohne allen Gehalt, nur gegen Koft und Klei-
dung mit allen Kräften und mit gewißenhafter Treue zu
dienen. Dieſer Vertrag wurde eingegangen, die Thüre den
Belagerern aufgethan und dieſe ließen ſich ſogar willig finden,
am darauf folgenden Tage den ſchriftlich aufgeſetzten Ver—
gleich, der Eine mit Buchſtaben, die Andren durch Kreuze
ſtatt der Namen zu unterzeichnen. ' ;
Der Friede unter den Bewohnern von St. Anna war
jetzt aufs Vollkommenſte wieder hergeſtellt und mit dem Fries
den zugleich erblüheten die gewöhnlichen Früchte deſſelben,
Wiſſenſchaften und Künſte bei Duval. Seine Wißbegier
brachte ihn freifich nicht ſelten auf Irrwege, die zu keinem
Ziele des wahren Erkennens führten, denn mit ungemeiner
Ausdauer las er Werke, wie die des Raymund Lullus mehr⸗
95
malen Wort für Wort durch, und plagte ſich Wochenlang
ab, um da einen deutlichen Sinn und weſentlichen Gehalt
zu finden, wo keiner war. Die in Nancy und ſonſt hin und
wieder erkauften Bücher hatte er alle nicht nur geleſen, ſon—
dern ſo weit ſie dies möglich machten, für ſeine geiſtige Bil—
dung ausgebeutet; er ſann nun auf Mittel, noch mehr ſolchen
Nahrungsſtoff in feine Hände zu bekommen. Die jagdbaren
Raubmörder des Waldes waren theils vertilgt, theils aus—
gewandert; einen andren Weg um ſich das Nöthige zu ver—
ſchaffen, ſuchte er vergebens, da that ſich ungeſucht von ſelber
einer für ihn auf. An einem Herbſttage, als er, durch den
Wald gehend, in gedankenloſem Spiele das abgefallene Laub
mit den Füßen vor ſich her ſtieß, bemerkte er etwas Glänzen⸗
des. Es war ein fein gearbeitetes goldnes Petſchaft, deſſen
Wappenſchild von ganz beſondrer Schönheit war. Duval,
welcher wußte, daß ſolche Wappen nicht ſelten auf Thaten
und Schickſale der Familien ſich beziehen, welche dieſelben
führen, und welcher ſich nach Meneſtriers Anleitung ſelbſt
mit den Grundzügen der Heraldik vertraut gemacht hatte, be—
trachtete mit reger Aufmerkſamkeit die einzelnen Theile des
dargeſtellten Schildes, ohne ihren Sinn zu errathen. Am
nächſten Sonntag ließ er in Luneville von den Kanzeln ſei—
nen Fund bekannt machen und nach wenig Tagen meldete
ſich bei ihm ein Engländer, ein Mann der an äußren Glücks—
gütern wie an Gaben des Herzens und Geiſtes in gleichem
Maaße reich war, als rechtmäßiger Inhaber des Petſchafts
an. Herr Forſter, fo hieß der Engländer, lebte ſchon ſeit
mehreren Jahren in Luneville, und widmete all ſeine Zeit
und Kräfte den wiſſenſchaftlichen Forſchungen ſo wie wohl—
thätigen Zwecken. Duval war bereit den Fund zurückzugeben,
doch machte er dabei die Bedingung: daß zuvor noch der
Herr des Petſchaftes ihm die Bedeutung ſeines Wappenſchil—
des, bis in die einzelnen Theile hin beſchreiben möchte. Wie
dieſer junge Menſch in armſelig bäueriſchem Kittel ein Inte—
reſſe an adlichen Wappen haben könne, begriff Herr Forſter
nicht; er hielt die Bitte für eine Aeußerung des plumpen Vor⸗
witzes. Indeß fügte er ſich in die Bedingung die der ehr—
liche Finder machte und war nicht wenig erſtaunt als er aus
den Fragen und Bemerkungen des jungen Einſiedlers erkannte,
daß dieſer in der Geſchichte und ihren Hülfswiſſenſchaften,
ja ſelbſt in der Wappenkunde gründlicher unterrichtet und
96
beßer bewandert ſey, als die meiften in den Gelehrtenſchulen
gebildeten Leute ſeines Alters. Die Wißbegierde dieſes Jüng⸗
linges hatte in der That etwas Rührendes; ſie kam aus
einem ſo lauteren, innigen Drange zum Erkennen des Wah⸗
ren und des Gewißen, ſie nahm mit ſo dankbarer Liebe das
auf, was ihr dargeboten wurde, daß der menſchenfreundliche
Engländer gleich bei dieſem erſten Zuſammentreffen eine herz⸗
liche Zuneigung zu Duval faßte. Er belohnte den Fund
deſſelben durch ein ſehr reiches Geldgeſchenk und lud ſeinen
jungen Freund ein ihn an jedem Sonn- und Feiertag in
Luneville zu beſuchen. Bei dieſen Beſuchen lernte Duval,
mit ſeiner leichten Faſſungskraft in einer Stunde mehr denn
mancher Studirende bei einem wochen- ja monatlangen Be⸗
ſuche der Schulen, denn Herr Forſter hatte die Welt geſe⸗
hen, er war, wie dies ſeine Zeitgenoſſen und ſeine Arbeiten
bezeugten, nicht nur ein Liebhaber und Förderer, ſondern ein
Selbſtkenner der Geſchichte und Alterthumskunde. Ueberdieß
ließ es der wohlthätige Engländer bei den geiſtigen Gaben,
womit er ſeinen lehrbegierigen Schüler bereicherte, nicht allein
bewenden, ſondern beſchenkte denſelben bei jedem Beſuch auch
noch mit Geld.
So hatte ſich für Duval auf einmal wieder eine reiche
Quelle von Einkünften aufgethan, von denen er niemals auch
nur einen Heller zu ſeinen ſinnlichen Vergnügungen oder zu
Kleidern, ſondern Alles nur zur Befriedigung ſeiner Wißbe⸗
gierde anwendete. Während er niemals in andrer Tracht
als in dem Einſiedlerkittel einhergieng, niemals, ſelbſt auf
ſeinen ſtarken Tagmärſchen zu den Bücherverkäufern in Nancy
und wieder zurück, etwas Andres genoß als das vom Hauſe
mitgenommene Brod oder die Nahrungsmittel des armen
Volkes, war die Zahl der Bücher ſeiner kleinen Bibliothek
auf 400 angewachſen und dieſe enthielt, ſeitdem Herr For⸗
ſter die Auswahl leitete, Werke von bedeutendem innren Ge⸗
halt und Werth. In Wald und Feld wie in der kleinen
Zelle war, bei Tag und zum Theil auch bei Nacht, unſer
junger Einſiedler mit dem eifrigen Leſen ſeiner Bücher, mit
der Betrachtung ſeiner Landcharten und Abbildungen beſchäf⸗
tigt. Wie dankbar wußte er es jetzt zu ſchätzen, daß ihm
noch immer, als Hauptgeſchäft, die Hütung der kleinen
Heerde der Einſiedelei anvertraut war; gerade dieſes Geſchäft
war für ſeine wiſſenſchaftlichen Beſchäftigungen das günſtigſtt,
97
in der Stille des Waldes oder in der Grotte des verfallenen
Steinbruches gab es Nichts, das ihn zerſtreuen und von feis
nem Gegenſtand abziehen konnte, er lernte hier in einer
Weiſe ſich ſammlen, welche ihm für ſein ganzes übriges
Leben einen mord vor tauſend Andren, ſogenannten Gelehr⸗
ten gab. Denn Duval las ſchon damals nicht, wie ſo oft dieſe
en mit nur halber und getheilter Aufmerkſamkeit, weil
ihr innrer Sinn dabei in den verſchiedenſten Richtungen auf
den Zerſtreuungen, Sorgen und Genüßen des Weltlebens
herumſchweift; ſondern ſeine ganze Seele, all ſein Denken
und Dichten war bei Dem, was ſein tieferes Eindringen in
das Reich des Erkennens zu fördern ſchien. Das Gebäude
ſeines Wiſſens war nicht auf Sand errichtet, ſondern ruhete
auf der Grundlage einer Liebe, von ſeltner Innigkeit zur
Wahrheit und zum geiſtigen Verſtändniß.
Aber mitten in dem ſtillen Genuße feines jetzigen Glük⸗
kes regte ſich in unſrem jungen Einſamen ein Verlangen das
ihn hinaus zu dem Verkehr mit Menſchen, hinaus in die
Welt zog. Der innre, geiſtige Antrieb der ihn bis hieher
geführt hatte, war noch nicht zu ſeinem Ziel und Ruhepunkt
gekommen; durch die Nahrung, die er in den Büchern fand,
waren ihm nur die Schwingen gewachſen und ſtärker gewor⸗
den, er wollte und ſollte immer weiter und weiter. Damals,
als ihn jener innre Trieb von dem Schaafhirten in Clezan⸗
taine hinwegführte, war ſichs der wandernde Hirtenknabe
noch nicht bewußt, weßhalb er eigentlich fort und wohin er
ziehen wolle? jetzt aber wußte er deutlicher was das Ziel
garz der Wiſſenſchaft, dem Gelehrtenſtande widmen.
Wie fern, wie unerreichbar müßte dem Verſtande des
rmen Burſchen ein ſolches Ziel erſchienen ſeyn, wenn er
hierbei nur auf die Ausſage ſeines Verſtandes nicht vielmehr
auf das feſte Gottvertrauen ſeines Herzens geachtet hätte.
Die Rettung vom Tode des Verhungerns und Erfrierens,
welche er gerade zur rechten Zeit und Stunde im Schaafſtall
des armen Pächters erfahren, die glückliche Geneſung aus
ſchwerer Krankheit durch ſeltſame und dennoch höchſt heilſame
Pflege; der kindiſche und dennoch glückliche Einfall der ihn
nach Lothringen geführt, die gute Hand ſeines Gottes die
ihn auch hier, im Fremdlingslande, auf all ſeinen Wegen
geſegnet und wunderbar geleitet hatte, sun es ihn erken⸗
N.
**
nie
feiner Neigungen und fein wahrer Beruf fey: er wollte ſich
Ya;
1 7 0
1 1
17
e
'
1
nen, daß über feinem innren wie über feinem äußren Leben
eine Vorſehung walte, welche jedes Werk, das fie begonnen,
aufs Herrlichſte hinauszuführen weiß. Dieſe Vorſehung hatte
ihn in der Theurung und Hungersnoth ernährt, ſeinem Leibe
auf der mühſeligen Wanderſchaft Obdach und Herberge be⸗
98
ſchert, warum ſollte ſie nicht auch Mittel finden den Hunger
und das ſehnliche Bedürfniß ſeines Geiſtes zu befriedigen,
das ſie ja ſelber in dieſen gelegt und groß genährt hatte.
Freilich ergieng es dem Duval bei dieſen Gedanken wie
einem Wandrer der auf einem ſchmalen Baumſtamme oder
Brückenſtege über einen tiefen Abgrund hinübergeht; er darf
nicht neben ſich hinabſchauen in die Tiefe, wenn ihn nicht
der Schwindel ergreifen ſoll. Für einen zehnjährigen Dienſt,
bloß gegen Koſt und Kleidung hatte er ſich bei fe einen Ein⸗
ſiedlern verpflichtet, wenn dieſe Zeit um war, dann hatte
er eben ſo wenig Geld zum Studiren als er jetzt beſaß; ſein
redliches Herz konnte ſich keine Möglichkeit denken, wie jener
ſogar ſchriftliche Vergleich aufgelöſt werden möge. Dennoch war
dieſer Gedanke für ihn kein Gegenſtand der Sorgen oder
Bekümmerniß. Wenn er mit ſeinem leichten Sinn auf
die vielen Jahre hinblickte, die bis zum Ablauf des Ver⸗
gleiches noch übrig waren, da dünkte es ihm als wären es
nur einzelne Tage; ihm fiel es nicht ein, daß auch er älter
werde; der Uebergang in eine Schule oder Bildungsanſtalt,
wo er endlich für den Beruf ſich bilden könnte, zu welchem er
ſich beſtimmt fühlte, erſchien ihm als Etwas, das ſich eben
ſo von ſelber ergeben und ſo leicht von ſtatten gehen werde,
wie ſeine Wanderung aus der Champagne nach Lothringen
oder aus Clezantaine nach la Rochette. Sein lebhaftes Ge⸗
müth ſtellte ihm Das, was noch fern und künftig war, ſo
vor als werde es ſchon morgen oder heute ſich einſtellen; die
Hoffnung eines Jünglinges gleicht einem ſtarken, guten Fern⸗
rohr, welches die weit abgelegenen Gegenſtände ſo nahe an
den Geſichtskreis heranzieht, daß es ſcheint als könne man
die Zielſcheibe, welche kaum von der Kugel der Büchſe erreicht
wird, mit der Hand ergreifen.
In einer ſolchen glücklichen Stimmung, welche von kei⸗
nem Morgen und ſeinen Sorgen, ſondern nur von einem
Heute und ſeiner Freude weiß, mochte er ſich befinden, er
er einmal an einem ſchönen Frühlingstage des Jahres 170
im Walde neben ſeinen am Boden ausgebreiteten . —
99
ten da lag und in dieſen mit angeſtrengter Aufmerkſamkeit
herumforſchte. Plötzlich hört er eine männliche Stimme, wel⸗
che ihm »guten Tag» wünſcht. Er blickt über ſich und ſieht
einen Herrn auf deſſen Angeſicht ein edles Selbſtgefühl, ar
paart mit Milde ſich ausſpricht; dieſer fragt ihn freundlich
was er hier auf den Charten ſo eifrig ſuche? — »Ich ſu⸗
che und betrachte, » antwortete Duval, »den Weg von Frank⸗
reichs Küſte nach Quebeck in Canada. » — »Nach Quebeck? »
fragte der Herr weiter. »Und was habt ihr gerade mit Quebeck
zu thun? — »Ich habe geleſen, » ſagte Duval, » daß es dort
ein franzöſiſches Seminar oder eine Hochſchule giebt, darin:
nen ſehr viel gute Sachen gelehrt, und wo auch manche Kinder
armer Leute umſonſt aufgenommen und unterrichtet werden,
darum gedenke ich dorthin zu reiſen und in Quebeck zu ſtu⸗
diren. » — »Ei, s ſagte der Herr, » um etwas Gutes und
Gründliches zu lernen, braucht man nicht ſo weit zu reiſen,
und Freiſtellen für junge Leute, welche beſondre Neigung
und Talente zum Studiren haben, giebt es in unſren bie
figen Seminarien und Hochſchulen auch. »
Während dieſes Geſprächs hatten ſich noch mehrere Herrn
bei Duval eingefunden, an deren Kleidern und äußerer Hal⸗
tung ſich ein ungewöhnlich hoher Stand verrieth. Sie befrag⸗
ten den Oberſthofmeiſter, Grafen von Vidampiere, denn die—
ſer war es, der mit dem jungen Eremiten ſprach, über den
Gegenſtand ſeiner Unterhaltung und über den merkwürdigen
Burſchen, mit welchem er da redete und richteten dann ſel—
ber mehrere Fragen an Duval, welche dieſer mit Verſtand
und edler Offenheit beantwortete. Er ahnete nicht von wel⸗
cher Wichtigkeit, von welchen Folgen für ſein ganzes Leben
der Ausgang des Examens ſey, welches er in dieſem Augen⸗
blick beſtund und vielleicht war dieſe Unwiſſenheit zu ſeinem
Vortheil, denn ſo ſprachen ſich ſein geſunder Verſtand, ſein
treffender Witz und guter Humor, ſeine für ſolchen Stand
bewundernswerthe Beleſenheit in jener natürlichen Unbefan⸗
genheit aus, in welcher ſie gerade am meiſten gefielen.
Die hohe Verſammlung in deren Mitte das Examen
ſtatt fand, welches für diesmal mehr zu bedeuten hatte, als
irgend ein Doctorexamen in Paris oder London, beſtund
zunächſt aus dem Hofſtaat der Prinzen von Lothringen.
Dieſe beiden Prinzen, Leopold Clemens und Franz, ſammt
ihren beiden Oberſthofmeiſtern, dem en von Vidampiere
100
und Baron von Pfutſchner ftellten die Examinatoren vor,
welche ihrem Candidaten im Bauernkittel Fragen vorlegten
‚und von ihm zu ihren Vergnügen beantwortet erhielten, bei
welchen ſchwerlich irgend ein junger, in unſren Schulen ge⸗
zogener und kunſtgerechter Candidat ſo zu Ehren gekommen
wäre als Duval, der Zögling der Natur, aus deſſen ganzem
einfältigen Weſen es hervorleuchtete, daß er Nichts aus⸗
Lacher was er nicht in Wahrheit ſo fühlte und ſelber ſo
achte. a
Baron von Pfutſchner, der Erzieher der beiden Prinzen
fragte am Ende der Unterhaltung den Duval, ob er wohl
Luſt habe in der gelehrten Schule zu Pont a Mouſſon ſeine
Studien fortzuſetzen? Duval fragte ob man ihm dort, in
der klöſterlich eingerichteten Anſtalt, wohl auch die Freiheit
geſtatten werde herauszugehen in die Wälder und Felder,
denn er könne nicht beſtändig im Zimmer bleiben. Man gab
ihm hierüber eine beruhigende Zuſicherung und beim Abſchied
verſprach ihm Baron von Pfutſchner, daß er ihn in Kurzem
wieder beſuchen werde.
Die Prinzen erzählten bei ihrem Nachhauſekommen ihrem
Herrn Vater, dem mildthätigen, menſchenfreundlichen Herzog
Leopold, welche ſeltſame Beute ſie heute auf ihrer Jagd,
an der Bekanntſchaft eines jungen Viehhirten gemacht hät⸗
ten, welcher durch ſeine Kenntniſſe in der Länder- und Völ⸗
kerkunde, wie in der Geſchichte ſie Alle in Erſtaunen geſetzt
habe. Es koſtete nur wenig Worte, um den guten Herzog
für die wohlthätige Abſicht zu gewinnen, welche Baron von
Pfutſchner in Beziehung auf Duval ausſprach; Seine Durch⸗
laucht bewilligten, daß Duval auf Ihre Koſten in die ge⸗
lehrte Bildungsanſtalt zu Pont a Mouſſon gebracht, und
dort, ſo lange es zu ſeiner Ausbildung nöthig ſchiene, unter⸗
halten werde. Auf herzogliche Koſten ſolle er auch gekleidet
und mit Allem reichlich verſorgt werden, was ſeiner Auf⸗
nahme in der Schule und der beſten Benutzung des dortigen
Unterrichts förderlich ſeyn könne.
Duval war damals 22 Jahre alt. Jetzt, im Mai 1717
waren es faſt 8 Jahre geworden, ſeitdem er als bettelarmer
Knabe, mit Holzſchuhen und im Gewand aus Sackleinwand
nach Lothringen gekommen, vier ganze Jahre ſeitdem er als
1 in die Dienſte der Einſiedler von St. Anna getre⸗
en war. e een l
101
Mit den Gedanken des Abſchiedes von dem ihm werth und
theuer gewordenen St. Anna und ſeinen herzlich befreunde—
ten Bewohnern beſchäftigt, fühlte er erſt in ganzer Stärke,
was er hier gehabt und empfangen habe. Er hatte den
Brüdern mitgetheilt welches ſeltſame Abentheuer ihm heute
begegnet ſey, ſie wünſchten ihm Glück dazu, gaben jedoch
auch zugleich in ihrer einfältigen, unverſtellten Weiſe das
Bedauern über die wahrſcheinlich nahe Trennung zu erken⸗
nen; ein Bedauern das ihnen die wahrhaft herzliche Liebe
zu dem jungen Freunde eingab. Hierbei blieb Bruder Anton
nicht hinter den andren zurück; die Liebe mit welcher er dem
Duval ſchweigend und mit einer Thräne im Auge die Hand
drückte, und ihm den einzigen wiſſenſchaftlichen Schatz den er
beſaß, den Sonnencompaß zum Geſchenke aufdrang, war
eine ungeheuchelte. Solchen heftigen Naturen, wie die des
Bruder Anton war, hat der Schöpfer insgemein neben jenem
abſtoßenden Zuge der nicht ſelten aus ihnen hervorbricht,
auch den entgegengeſetzten, der kräftig waltenden, anziehen-
den Liebe in gleichem Maaße eingepflanzt, ſo daß bei ihnen
der Haß öfters, wenn der erwärmende Sonnenſtrahl von
oben in das Dunkel des Herzens hereinfällt, zur innigſten,
feurigſten Liebe wird. Dieſe aufwallende] Kraft gleicht in
ihrer Wirkung dem Weine, welche in guten Stunden die
Seele zu edler That beſtärken, wie in bofen fie hinabreißen
kann zum Falle, zu jeder Zeit aber ihre Gefahren mit ſich
bringet. |
Die Hörſäle oder Lehrzimmer in denen wir Andren den
Unterricht der Schule empfangen, ſind bald zu kalt, bald zu
heiß; die Feuchtigkeit ihrer graulich weißen Wände ſcheint
auf den öfteren leiblichen Ausbruch jener Beängſtigung hin—
deuten zu wollen, den wir in der dumpfigen Luft dieſer \
beengten Räume empfinden. Während wir die belehrenden »
Worte des Lehrers vernehmen möchten, zupft oder ſtößt uns
hier der eine Nachbar auf der Schulbank; es huſtet ein
Andrer und ein Dritter lispelt uns oder ſpricht uns durch
dra
fitzen und ſchwitzen da zwiſchen den Mauern. Mit einer
mehr denn gewöhnlich gefpannten Theilnahme vernimmt man Wr
da, wie einſt Plato, wie Ariſtoteles und Theophraſt im
Schatten der Hallen oder Bäume, in freier Luft ihre Hörer
die Feder auf einem Blättchen Papier etliche Worte zu; c 5
ußen iſt Frühling oder liebliches Herbſtwetter und wir —
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durch die Gewalt ihrer Rede begeifterten und belehrten. Man
denkt vielleicht fpäter mit Freuden an die wohlbenutzten Jahre
der Schulzeit, man ſegnet, mit dankbarer Liebe, das Anden⸗
ken der theuren Lehrer, aber an die ſchwarzen oder weißen
Bänke, an die Oefen und Wände, Dielen und Decken der
Schulſtuben oder Hörſäle gedenkt man nicht gern; ihr Duft
war nicht wie ein Geruch der Wälder oder der grünenden
Felder, die der Herr geſegnet hat.
Ganz anders war dieſes bei Duval. Die hehre Stille
der Nächte, nur ſelten unterbrochen von den Lauten mit de⸗
nen der Schuhu oder die Rohrdommel ihr Geſchäft beglei-
ten, das Schweigen des Waldes, und der erfriſchende Duft
ſeines Schattens, mußten für die Erinnerung einen andren
Reiz haben als unſre Anbaue um Oefen und Kamine. Die
Stimme der Belehrung, welche wir Andren durch das äußre
Ohr vernehmen, war für ihn eine innerliche, deſto unmit⸗
telbarer und tiefer zum Gemüth ſprechende geweſen. Mit
Thränen einer Wehmuth, durch welche wir bei der Abfahrt in
das weite Meer von der vaterländiſchen Küſte Abſchied neh⸗
men, betrachtete er noch einmal ſeinen ſtorchenneſtähnlichen
Sitz auf der hohen Eiche, dort wo die vorüberwandelnden
Geſtirne der Nacht in ſeiner Bruſt die Ahnung einer Welt
des Unendlichen und Ewigen weckten, die uns überall um-
fängt; mit ähnlichen Gefühlen nahm er von der Grotte, bei
dem verfallenen Steinbruch und von jedem Stamme der alten
Eichen und Buchen Abſchied, in deren Schatten er bei den
unſichtbaren und dennoch vernehmlichen Lehrmeiſtern der alten
wie neuen Zeit zur Schule gegangen war.
Baron von Pfutſchner 17 ſein Verſprechen nicht ver⸗
geſſen; es vergingen nur wenig Tage nach der erſten Bekannt⸗
ſchaft mit Duval, da kam er nach damaliger Hofſitte im
ſechsſpännigen Wagen fahrend nach St. Anna und nahm
den jungen Einſiedler mit ſich in die Reſtdenz. Das Examen
hatte dieſer glücklich beſtanden, heute vor dem Angeſichte des
Herzogs und den zahlreich, aus Neugier verſammelten Herren
und Damen des Hofes, kam es zur Promotion. Auch bei
dieſer benahm ſich unſer Duval ehrenhaft. Hier gab es ja
keine ſolchen Gefahren und Schmerzen zu fürchten wie bei
den Kämpfen mit dem wilden Kater oder mit den heftig
beißenden Füchſen und Mardern; er ſprach und antwortete
mit kindlicher Offenheit und gab durch ſeine Reden wie durch
105
fein Benehmen wenigſtens eben fo viel Stoff zur Bewund⸗
rung als 1155 Belachen. Man fand den Bauernburſchen
über alle Erwartung klug und in ſeiner Weiſe liebenswürdig.
Einige Damen, die ſich nach beendigter Promotion, welcher
die Gnadenverſichrungen des Herzogs die Krone aufgeſetzt
hatten, mit Duval in ein Geſpräch eingelaßen hatten, bewun⸗
derten ſeine ſchönen Zähne. »Es iſt dies,« ſagte der treu⸗
herzige Burſche, »nur ein Vorzug den ich mit allen Hunden
gemein habe.
Duval, deſſen Jugendgeſchichte vor andren geeignet iſt,
uns den eingebornen Inſtinct des Menſchengeiſtes in ſeiner
ganzen Kraft und Wirkſamkeit kennen zu lehren, war nun
zu einem Ruhepuncte ſeines Lebenslaufes gelangt, jenſeits
deſſen dieſer zu einem minder augenfälligen, gewöhnlicheren
wird. Aehnlich einem Fluße der ſeinen Urſprung auf einem
hohen Felſengebirge nimmt und der am Anfang ſeines Lau—
fes das Auge durch manchen maleriſch ſchönen Waſſerfall
entzückt, der aber erſt dann, wenn er in die Ebene herab—
kommt, wo ſein Gang kaum bemerkbar ſtill und ruhig ge—
worden, ſeine Segnungen durch Felder und Fluren verbreitet,
war der merkwürdige Mann ſeit ſeinem Eintritt in die Welt
mehr durch ſeine Wirkſamkeit auf Andre als durch den Wech—
ſel feiner eignen Schickſale beachtenswerth. Der mildthätige
Herzog Leopold hatte ihn ganz beſonders in ſeine Gunſt ge—
nommen, hatte ihm ſchon während der zweijährigen Studir—
eit zu Pont a Mouſſon einen Jahresgehalt ausgeſetzt, dann
ihm Gelegenheit zu einer Reiſe nach Paris und den Nieder—
landen gegeben. Und welches andre Amt hätte einen ſolchen
Freund der Bücher als Duval war, angemeßner und lieber
ſeyn können als das eines Bibliothekars, welches bei ſeiner
Rückkehr nach Luneville durch die Huld des Herzogs ihm
anvertraut wurde. Zugleich ward er auch zum Lehrer der
Geſchichte und Alterthumskunde an der Hochſchule zu Lune—
ville ernannt. Dieſe Anſtalt war zu jener Zeit von vielen
Ausländern, namentlich von den Söhnen reicher, engliſcher
Familien beſucht. Duvals Vorträge hatten durch ihre Leben—
digkeit und Originalität etwas ſo Anziehendes; das ganze
Weſen des Mannes weckte ſo viel Liebe und Vertrauen, daß
er einen ganz beſonderen, bildenden Einfluß auf die ſtudi—
rende Jugend gewann. Unter den jungen Engländern welche
nicht nur an feinen öffentlichen Vorträgen den wärmſten Ans
BET
104
theil nahmen, ſondern auch ſeines näheren Umganges fich
erfreuten, war einer, welchem Duval bei mehreren Gelegen⸗
heiten die bedeutende Wirkſamkeit vorausſagte, die er bald
nachher in ſeinem Vaterland erlangte. Dies war der nach⸗
malige große Staatsmann, der engliſche Miniſter Lord
Chatam. f
Zur Befriedigung ſeiner eigenen Bedürfniſſe bedurfte
unſer geweſener Einſiedler überaus wenig. Statt aller andren
ſogenannten Vergnügungen blieb ihm das die liebſte, daß er
von Zeit zu Zeit die ſtillen, einſamen Waldungen und Flu⸗
ren beſuchte, die ihm theurer waren und ſchöner vorkamen
als alle Herrlichkeiten von Paris. Er konnte ſich niemals
entſchließen die eingezogene Stille und Unabhängigkeit des
ledigen Standes aufzugeben; feine Pflegbefohlenen oder Kin⸗
der waren ſeine Schüler und die Armen; ein treuer Freund
von gleicher Geſinnung und gleichen Schickſalen erheiterte
ihn durch ſeinen Umgang die Stunden der Muſezeit. Dieſer
Freund war Herr Varinge, den der edle Herzog Leopold
aus der Werkſtatt eines Schloſſers, wo man ihn mit dem
Euklides in der Hand gefunden hatte, hervorzog, und ihm
Gelegenheit gab, ſich zum Lehrer der Mathematik in Luneville
auszubilden.
Einen Theil des nicht unbedeutenden Vermögens, wel-
ches durch die Freigebigkeit ſeines Fürſten und ſeiner reichen
Zuhörer in Duvals Hände kam, wendete dieſer zu Werken
reiner Dankbarkeit für früher empfangene Wohlthaten an,
deren lebendige Erinnerung ihn nie verließ. Namentlich
wurde das geliebte St. Anna von ihm aufs Beſte bedacht.
Statt des baufälligen hölzernen Wohnhauſes der Einſiedler
ließ er für dieſe auf ſeine Koſten ein anſehnliches ſteinernes
Gebäude mit einer Kapelle aufführen und kaufte zugleich noch
einen anſehnlichen Strich Landes an, deſſen Felder und
Baumgärten durch ihren Ertrag zur reichlichen Unterhaltung
der Bruderſchaft hinreichten. Zu den neuen Anlagen, welche
nach ſeinem Plane bei St. Anna begründet wurden, gehörte
auch die einer Baumſchule. In Beziehung auf dieſe verord⸗
nete er, daß die Einſiedler nicht bloß auf die Zucht der jun⸗
gen Bäume für ihren eigenen Bedarf einen beſondren Fleiß
wenden, ſondern auch ihrer Nachbarſchaft damit nützlich wer⸗
den ſollten. Es ward ihnen aufgegeben, jedem Anwohner
der Gegend, bis auf die Entfernung von 3 Stunden um
105
St. Anna her, fobald es verlangt würde, junge Bäume
aus ihrer Pflanzſchule unentgeldlich abzugeben und dieſelben,
wenn man es wünſchte, eben ſo unentgeldlich an dem be—
ſtimmten Orte einzuſetzen. Nicht einmal etwas zu eſſen ſoll—
ten ſie annehmen, es müßte denn die Entfernung des Ortes
der Einpflanzung von St. Anna fo groß ſeyn, daß die Brü—
der nicht wieder zum Mittagseſſen nach Haufe kommen könn⸗
ten. Ein Kapital von 30,000 Franken wurde in dieſer
Weiſe für St. Anna verwendet, welches lange nachher noch,
namentlich für die Baumcultur der Landſchaft, einen großen
Gewinn brachte.
Zwei Meilen weſtwärts von Nancy, zu St. Joſeph von
Meſſin lebte noch in einer ſchon von dem oben (S. 77.)
erwähnten Bruder Michael erbauten Klauſe der hochbetagte
Eremit, der ihm vormals die Kunſt des Schreibens gelehrt
hatte. Seine Hütte war ſo baufällig, daß ſie früher zuſam—
men zu brechen drohete, als der vielleicht neunzigjährige Leib.
Duval ließ aus Dankbarkeit für den Alten und ſeine Nach—
folger ein Haus erbauen, welches durch ſein anſtändiges
Aeußre und feine innre Bequemlichkeit in keinem fo grellen
Kontraſt mit der herrlichen Umgegend ſtund, als die ſchmu—
tzige Hütte. Auch ſein Geburtsort Artenay und die etwa
noch lebenden Verwandten empfingen reiche Gaben ſeiner
Milde; ſtatt des armſeligen, ſeitdem in fremde Hände
gekommenen Hauſes ſeiner Eltern, ließ er ein geräumiges
Gebäude aufführen, welches durch »ſeine ſteinernen Mauern
und ſein Ziegeldach bedeutend gegen die mit Schilf gedeckten
Lehmhütten der armen Landſchaft abſtach. Dieſes Gebäude
ſchenkte er der Gemeinde, indem er es zu einem Schulhaus
und zur Wohnung des Schulmeiſters beſtimmte. Ein kleines
Dorf unweit Artenay ermangelte zur großen Beſchwerde ſei—
ner dürftigen Bewohner eines Brunnens; Duval ließ der
Gemeinde einen graben. Und wenn damals der arme Päch—
ter bei dem Schaafſtall, der ihn im Winter 1709 in Pflege
nahm, ſo wie der gute Pfarrer des Ortes noch gelebt hätten,
dann würde ſich die Dankbarkeit ihres gewesnen Pfleglings
gewiß auch an ihnen bezeigt haben.
Duval hatte ſich bei feiner erſten Wanderung in die
Fremde einem inſtinctmäßigen Zuge hingegeben, der ihn, wie
er meinte in die der Sonne näheren Gegenden führen ſollte,
denen der Winterfroſt kein ſo hartes Leid zufügen konnte
2
1 * N,
1 4 1. “
106
als feinem armen Vaterlande im Jahr 1709. In Dften
und Süden, ſo hatte man ihm geſagt, möchten dieſe von der
Natur begünſtigteren Landſtriche ſich finden und ſein dama⸗
liger Zug von Weſt nach Oſt hatte die vorgefaßte Meinung
beftätigt und überdies für fein ganzes Leben glückliche Fol⸗
gen gehabt. Was ihn jedoch noch in feinem 42 ſten Jahre
aus dem von ihm ſo dankbar geliebten Lothringen, anfangs
in der Richtung gen Süden dann aber nach Oſten, zu einem
eben ſo geliebten Wohnſitz als ihm Luneville geweſen, hin⸗
wegführte, das war noch ein andrer Zug als jener erſte,
welcher dem Naturtriebe eines hungernden Thieres ähnlich
geweſen war. Der Schwiegervater des franzöſiſchen Königes!
Ludwig XV., König Stanislaus von Polen ſollte für den
verlornen Thron entſchädigt werden, da nöthigte der Einfluß
Frankreichs und der mit ihm verbündeten Mächte, das Hertz
ſcherhaus von Lothringen zu einem Tauſche, welcher in man⸗
cher Hinſicht für dieſes kein unvortheilhafter war. Es ſollte
ſeinen bisherigen Fürſtenthron, der freilich durch Frankreichs
unruhige und gefährliche Nachbarſchaft beſtändig bedroht war,
verlaſſen und dafür die Herrſchaft über das reiche, ſchöne
Toscana empfangen. So wehe die Trennung dem Herzog
von ſeinen geliebten Unterthanen und dieſen von ihm that,
mußte der erzwungene Tauſch dennoch im Jahr 1737 einge:
gangen werden. Der väterliche Freund Herzog Leopold war
geftorben, fein Erbe, der Herzog Franz trat den Umzug nach
Florenz an und Duval, ſo wie ſein Freund Varinge ließen
durch keine fremden Anerbietungen ſich halten, ſie hielten treu
an dem Hauſe des Fürſten, dem ſie ihr ganzes Lebensglück
verdankten, wanderten mit dieſem aus nach Italien. Duval
bekleidete bei Herzog Franz in Florenz dieſelbe Stelle als
Bibliothekar, welche er in Luneville verſehen hatte. Als we⸗
nige Jahre nachher der Herzog mit der Erbin des Oeſter—
reichiſchen Hauſes ſich vermählte und nach Wien zog und bald
nach dieſer Zeit auch der Mathematiker Varinge, der ver—
trauteſte Freund unſres Duval ſtarb, da hatte für dieſen das
ſchöne Florenz alle ſeine Reize verloren. Er folgte deshalb
gerne dem Rufe des ſeitdem zur Kaiſerwürde gelangten
Franz I. nach Wien, wo er Begründer und erſter Aufſeher
der kaiſerlichen Münzſammlung wurde. Einſam und anſpruchs⸗
los lebte und wirkte Duval auch hier am Kaiſerhofe. Sein
Forſchen nach dem das allein wahr und ſicher iſt, im e
107
Kreis unſres Erkennens, wurde immer inniger und tiefer be— 5
gründet, dabei hatte er ſich von allen Vorurtheilen frei ge— A
macht, welche dieſes Forſchen hemmen und beſchränken Fon-
nen. Alle ſeine Kräfte, ſein ganzes Vermögen gehörten dem
Dienſt des Nächſten. Er erlebte ein heitres Alter von 81
Jahren, war bis zum letzten Augenblick ſeiner Geiſteskräfte
mächtig und trat die Wanderung in die Welt eines ewigen
Jenſeits eben fo muthig und froh, und mit noch beßer begrün—
deten Hoffnungen an, als einſt in ſeinem Knabenalter die
Wandrung aus der verarmten Champagne in das ſchöne,
friedliche Lothringen. |
II. Der Vorhof des natürlichen Erkennens.
11. Das Reichwerden ohne Mühe.
Wie mußte ſich der gute Duval abarbeiten um nur
hinter das zu kommen, was bei uns jedes Stadtkind in der
deutſchen Schule erfährt; wie manche ſchlafloſe Nacht koſtete
es ihn, bis er verſtehen lernte was und wo die Sternbilder
ſeyen und was die Grade an dem Aequator einer Erdkugel
bedeuten? Dergleichen ehrenwerthe Männer wie Duval, wel—
che ſich den Schatz ihres Wiſſens ſo mühſam erwerben und
aus der Tiefe herausgraben mußten, ſind mit ſolchen wohlhabend
gewordnen Leuten zu vergleichen, welche, vom Hauſe aus arm,
ihr Vermögen ganz durch eignen Fleiß und Sparſamkeit zu⸗
ſammen gebracht haben, während wir Andren, denen man
ſchon in der Schule mit alle Dem entgegen kam was die
Wißbegier befriedigen kann, jenen ähnlich ſind, die ihr Ver—
mögen nicht ſelbſt verdient, ſondern von ihren reichen Eltern
ererbt haben.
Noch viel ſchwerer als dem Duval und ſeinem Freunde
Varinge, war die Befriedigung der tief in ihrer Seele liegen-
den Wißbegier ſolchen Menſchen gemacht, denen etwa von
Geburt an jener Sinn fehlte, der uns die meiſte Belehrung
über die Welt des Erkennbaren verſchaffen kann: der Sinn
des Geſichtes. Am ſchwereſten aber hatten es hierbei ohn—
fehlbar jene Bedauernswürdigen, denen ſo wie der Laura
Bridgman (nach Cap. 9) mit dem Sinne des Geſichte
auch noch die des Gehörs, des Geruches und Geſchmacke
mangelten. Duval, als er gleich den Erbauern des
mes zu Babel, durch das Anlegen ſeines Storchneſte
der hohen Eiche mit ſeiner Wißbegier in den Ster
109
mel eindringen wollte, ſahe doch dieſe leuchtenden Welten
mit ſeinen Augen, und jeder Strahl derſelben ließ ihn etwas
von ihren Kräften an ſich ſelber empfinden; wenn aber die
bedauernswürdige Laura, in einem jener Bücher, die für
Blinde gedruckt ſind, mit ihren feinfühlenden Fingern etwa
von den Sternen las, wie mußte ſie da all ihr Denken und
Sinnen in gewaltſame Aufregung ſetzen, um in ihrem Geiſte
das Weſen jener nie geſehenen Dinge zu begreifen. Und
dennoch blieb eine ſolche Anſtrengung bei ihr, in ähnlichen
Fällen, wohl niemals ohne Erfolg und Lohn. Das eigent-
liche, wahre Weſen des Erkennbaren vermag der Geiſt des
Menſchen zu verſtehen, ohne daß ſeine Sinnen die leibliche
Erſcheinung deſſelben bemerken; der Antrieb zum Erkennen,
der im Menſchengeiſte liegt, iſt zuletzt doch auf etwas gerich—
tet, das von der Natur des Geiſtes iſt; das Ziel feines Stre⸗
bens iſt eine gewiße Zuverſicht Deſſen, das man hoffet und
innerlich erfaßet, auch ohne es mit dem äußerlichen Auge
zu ſehen.
Der Taubblinde James Mitchell hatte dadurch einen
großen Vorzug vor Laura, daß er nicht bloß den Sinn des
Geruches und Geſchmackes in beſondrer Schärfe beſaß, ſon—
dern daß auch bei ihm wenigſtens in das eine Auge noch ein
ſchwacher Schimmer des Tageslichtes hereindämmern konnte.
Welche Wißbegierde und welche Luſt am Erkennen ſprach ſich
da oftmals in all ſeinen Mienen und Geberden aus, wenn
er ſich in eine ſolche Stellung verſetzte, daß ein Strahl der
Sonne gerade auf den Punct ſeines Auges traf, welcher
dem Licht nicht ganz verſchloßen war und wenn er etwa durch
ein Stück Spiegel den Wiederſchein jenes Strahles nach Ge—
fallen auf jenen Punct lenken, oder ein brennendes Licht in
die Nähe des Auges bringen konnte. Ein eifriger Freund
der Sternkunde kann keine größre Luft empfinden, wenn ihm
das Fernrohr den Eingang in das tiefere Geheimniß des
Sternenhimmels eröffnet, als James fühlte, wenn ihm ſo,
aus einer für ihn verſchloßenen Welt des Erkennbaren, ein
ſchwacher Strahl in ſeine beſtändige Nacht herüber kam. Je
abgeſchnittner und vereinſamter die Lage des Menſchengeiſtes
nach außen hin, nach der Welt des ſichtbaren Weſens iſt,
deſto begieriger greift derſelbe nach Allem, was dem Kreife feines
Erkennens nahe kommt. Die Begleiter des berühmten Parry,
if feiner Reife nach der Polargegend, ſchauten einem vor—
g 110
überfliegenden Waſſervogel mit einer Neugier nach, mit wel⸗
cher wir etwa ein ſeltenes Thier aus Afrika beſchauen, weil
ſie auf den großen, ſchwimmenden Eisinſeln, über die ſie ihr
Schlittenboot hinzogen, ſonſt gar nichts Lebendiges zu ſehen
bekamen. Ein Menſch, der ganz allein auf einer abgele⸗
genen Inſel ausgeſetzt iſt, blickt begierig nach jedem aus dem
Meere aufſteigenden Wölkchen hin, weil er in jeder ſolchen
Gefrbeinung ein Schiff ahnet, das ihm Kunde von der Welt
der andren Menſchen bringen könnte.
Je weiter der Weg iſt, den ein fallender Stein zu durch⸗
laufen hat, bis dahin wo er ſeinen feſten Ruhepunct an dem
Erdboden findet, deſto ſchneller und kräftiger wird bei ihm
dieſer Lauf; wenn ſich ein Bergſturz hinab in das Thal er⸗
gießt, dann rollen jene Felſenſtücke am weiteſten, die aus der
fernſten Höhe herab kommen. So kann. man freilich auch
in ſolchen Fällen, wie die find, die uns in der Entwicklungs-
geſchichte des Duval und der Laura Bridgman entgegentre⸗
ten, es nicht verkennen, daß gerade die großen Hinderniße,
welche der geiſtige Antrieb zum Erkennen bei ihnen zu über:
winden hatte, dieſem Antrieb eine ganz beſondre und unge⸗
wöhnliche Kraft gaben. Aber jener Antrieb liegt in jeder
Menſchennatur; wir Alle haben ein natürliches Verlangen
zum Wiſſen und Erkennen, es mag uns nun die Befriedigung
dieſes Verlangens ſchwerer oder leichter gemacht ſeyn. Uns
iſt es freilich, im Vergleich mit Duval und noch mehr mit
der taubblinden Laura verliehen, daß wir, bei den vielen
Erkenntnißmitteln die uns zu Gebote ſtehen, reich werden
können ohne große Mühe, aber ſollten wir eben deshalb,
weil uns das leichter gemacht iſt, jene Mittel unbenutzt und
ungebraucht laſſen?
Ich meine nicht. Es iſt eine gute Sache um das Ha⸗
ben und Beſitzen, und wenn wir die dargebotne Gelegenheit
dazu verſäumen, ſo kommt dies nur daher, daß wir uns ſchon
von vorn herein als reich und geſättigt anſtellen, nicht als be-
dürftig, während es doch nur der Hunger iſt, welcher der Spei⸗
ſe des Lebens ihre Würze und ihr Gedeihen in uns verleihet.
Möchten daher die nachfolgenden Blätter, welche wie kleine
Schaalen und Teller, Manches für den Antrieb zum Wiſſen
Genießbare darbieten ſollen, in mancher jungen Seele
die En zum Zulangen und den rr zum bee
erwecken. a
111
12. Die Kalenderzeichen.
Wenn Duval in ſeinen jüngeren Jahren, als er noch
als unwiſſender Schaafhirt zu Clezantaine in Dienſten war,
den Kalender, der ihm immer ſo viel zu ſinnen gab, in die
Hand nahm, da mochten öfters auch jene Zeichen ſeine Neu—
gier reizen, durch welche die Sonne und die Planeten, ſo
wie die einzelnen Wochentage angedeutet werden. Daß die
Mondsſichel den Mond und unter den Wochentagen den Mond—
tag; der Kreis mit dem Punct in der Mitte die Sonne, und
in der Woche den Sonntag anzeigen ſollten, das war ihm
bald bekannt geworden; den Abendſtern und Morgenſtern
hatte er auch bei ſeinem Hirtengeſchäft ſattſam kennen gelernt
und zugleich erfahren, daß der kleine Kreis, der unten ein
Kreuz hat im Kalender ihn bedeuten ſoll; ehe er jedoch die
andren augenfälligeren Planeten: den Jupiter, den Mars,
den Saturn am Himmel und ihre Zeichen im Kalender ken—
nen lernte, da verging noch eine lange Zeit.
Die unerſättliche Wißbegier des Duval ließ ihn, wie wir
oben geſehen haben, bei der Kenntniß der Sternbilder nicht
ſtille ſtehen, bald wollte er auch erfahren wie es auf unſrer
Erde ausſähe, wie groß dieſelbe ſey und was für Länder
und Meere es auf ihr gäbe. Hätte der wackre Burſche ein—
mal einen Blick werfen können auf einen ſolchen großen Erd—
globus mit angedeuteten Erhabenheiten und Tiefen der Ge—
birge, Thäler und Ebenen (einen Reliefglobus) dergleichen
Karl Wilhelm Kummer in Berlin fertigt, mit welchem
Entzücken würde ihn das erfüllt haben; wie wäre ihm da
auf einmal Vieles ſo deutlich und verſtändlich geworden, über
dem er ſich lange vergeblich den Kopf zerbrach. Aber ſolche
herrliche Hülfsmittel zum Lernen, dergleichen der jetzt auf—
wachſenden Jugend ſo reichlich dargeboten find, gab es da—
mals noch nicht einmal in den Lehrzimmern der königlichen
Prinzen. 5
Auch mit dem Erlernen der Erdkunde, wiewohl dieſe,
ſo lang er lebte eine ſeiner liebſten geiſtigen Beſchäftigungen
blieb, begnügte ſich der forſchende Geiſt des jungen Einſied—
lers nicht; er wußte ſich die Bücher der verſchiedenſten Art
zu verſchaffen, und gerade die, deren Inhalt und Sprache
die geheimnißvollſte, dunkelſte war, ſpannten ſeine Neugier
am höchſten; mit einer bewundernswürdigen Ausdauer
. *
* 1 0
112
quälte er ſich ab, die Schriften des Raimund Lullus, eines
berühmten Gelehrten des Mittelalters zu verſtehen. In ſolchen
Büchern der damaligen Zeit, welche durch ihre pomphaften
Titel und durch ihre Vorreden dem Leſer das Verſprechen
geben, ihn in alle Geheimniße der Natur einzuführen, wie
dies vor Allen die Werke thun, welche von der Scheidekunſt
(damals Alchymie genannt) handlen, findet man gar häufig
dieſelben Zeichen wieder, die im Kalender die Sonne und
die Planeten bedeuten, aber ſie ſind hier in ganz andrem
Sinne gebraucht als in den Kalendern. Denn was in die—
ſen als Zeichen der Sonne ſtehet, das bedeutet in jenen
Schriften das Gold; die Zeichen für Mond, Venus, Merkur,
Mars, Jupiter, Saturn ſind von den alten Scheidekünſtlern
dem Silber, Kupfer, Queckſilber, Eiſen, Zinn und Blei bei—
gelegt worden.
N Wir dürfen jene doppelſinnigen Zeichen der Kalenderma—
cher und Scheidekünſtler nicht zu ſehr mit verächtlichen Blicken
anſchauen, ſie verdienen ſchon wegen ihres hohen Alters eine
gewiße Achtung, denn ſie ſind durch die Hand gar manches
Volkes und durch eine lange Reihe von Jahrhunderten ge—
gangen, ehe ſie bis zu uns und in unſre Kalender kamen.
Die Sternkunde iſt eine uralte Wiſſenſchaft. Den älteſten
Vätern unſres Geſchlechtes, die an Geiſt und Leib einer jugend—
lichen Geſundheit genoßen, die noch nicht durch ſo tauſender—
lei Dinge unſres jetzigen Weltlebens und durch Zeitungsnach—
richten zerſtreut waren, ſondern in ſtiller Gemeinſchaft mit der
Natur lebten wie Duval als Hirt und Einſiedler, erging es
auch gerade ſo wie dieſem; der Antrieb zum Erkennen, der
in ihnen war, richtete ſich zuerſt nach der Höhe, auf den
Sternenhimmel hin. Schauen doch die kleinen Kinder, ſo—
bald ſie ihr Köpfchen bewegen können, am begierigſten nach
dem Lichte und nach dem Monde hin und zappeln fröhlich
mit ihren Händchen, wenn ſie etwas Glänzendes ſehen. So
wurde auch die Wißbegierde der Menſchen in älteſter Zeit
mit der größeſten Macht von den glänzenden Geſtirnen des
Himmels und von den glänzenden Edelſteinen und Metallen
der Erde angezogen.
Als Duval die Länder und Meere der Erdoberfläche
kennen gelernt hatte, wie gerne hätte er da wohl weiter er⸗
fahren mögen, was man von Dem weiß, das in der Tiefe
verborgen iſt; wenn ein Indianer oder ein armer Knabe en
erſten
e 1
er
113
erften Mal in feinem Leben eine Uhr in feine Hände bekommt
und das Bewegen ihrer Zeiger, das Pickern ihres Getriebes
eine Zeit lang bewundert hat, dann möchte er auch gern
erfahren, was inwendig in der Uhr iſt und er befriedigt
ſeine Neugier oft zum größeſten Nachtheil des Kunſtwerkes.
So iſt überall der Antrieb zum Erkennen, der im Menſchen⸗
geiſte waltet, auf das Eindringen in den tiefen Grund eben
ſo wie auf das Ausbreiten nach der Höhe und Weite alles
ſichtbaren Weſens hingewendet; der Menſch will nicht bloß
wiſſen, daß ein Ding und wie es beſteht, ſondern er will
auch erforſchen woraus und wodurch es beſteht.
Wir kommen aber noch einmal auf die Kalenderzeichen
zurück, welche die doppelte Bedeutung von Geſtirnen des
Himmels und von Metallen hatten. Der Zug des Menſchen
zu den Metallen iſt nicht zufällig bloß durch den Gebrauch
entſtanden, den man von ihnen machen konnte und durch
den Werth den man ihnen allmälig im Tauſch gegen andre
Dinge beilegte, auch iſt es nicht allein ihr Glanz, der ſie
in den Augen der Menſchen zu Abbildern der Geſtirne erhob
und dadurch ſo hoch ſtellte; ſondern jener Zug mag noch
einen andren natürlichen Grund haben, deſſen Entwicklung
uns hier vor der Hand zu weit führen würde. Die Aerzte
und andre Beobachter wiſſen es, daß die Metalle eine gewiße
Einwirkung auf die innren Organe der Empfindung (die
Nerven) haben und daß in manchen krankhaften Zuſtänden
die Reizbarkeit für Metalle ſo groß iſt, daß die Menſchen
die Nähe der Metalle fühlen, auch wenn ſie dieſelben nicht
ſehen. In ſolchen Fällen hat ſich gezeigt, daß einige Me-
talle, vor Allem Gold, ein wohlthuendes, andre, wie Zink
und Eiſen, ein unangenehmes, ſchmerzhaftes Gefühl erreg—
ten. Der geiſtig krankhafte Zug zu den Metallen, welchen
wir, als Geiz, mit Recht verabſcheuen, kann hierdurch nicht
entſchuldigt, wohl aber feine äußre Veranlaßung einigermaſ—
ſen begreiflich werden.
Wir haben es jedoch hier noch nicht mit jenem Berhält-
niß zu thun, in welchem die Metalle zu der leiblichen Natur
des Menſchen unmittelbar ſtehen; ſondern nur mit der Be—
deutung, welche dieſelben für die Förderung unſerer Erkennt⸗
niß der geſammten Sichtbarkeit haben. Und in ſolcher Hin⸗
ſicht kann man ſagen, daß dieſe Glanzkörper, welche das
Licht nicht zwar wie die Sonne von eh ausſenden, wohl
* & 5 —
114 | 5
aber fo wie die Planeten, wie der ſchöne Abend- und Mor⸗
genſtern das empfangene Sonnenlicht kräftig zurückſtrahlen,
für die Erdkunde eben ſo wichtig ſind als die Weltkörper,
deren Zeichen ihnen die Forſchung des Alterthums aufprägte,
für die Himmelskunde. Die Metalle gehören zu den wahr⸗
haft einfachen Grundſtoffen, aus denen die irdiſchen Natur⸗
körper zuſammengeſetzt ſind; ihre Betrachtung bahnt uns den
Weg zur Erkenntniß der eigentlichen Elemente. Und, anſtatt
den Antrieb zum Wiſſen zuerſt nach oben, nach den Geſtir⸗
nen zu richten, wollen wir den umgekehrten Weg einſchla—
gen, zuvörderſt nach unten, nach den Elementen unſres Erd-
körpers uns wenden, um dann, von der feſten Unterlage
aus, deſto kräftiger uns hinaufwärts erheben zu können.
13. Die Elemente.
Unſre Alten nahmen bekanntlich vier Elemente an: das
Feuer, die Luft, das Waſſer und die Erde. Aus dieſen
vier Urſtoffen ſollten, nach ihrer Meinung, alle körperliche
Weſen gebildet und erwachſen ſeyn. Mit unſrer jetzigen wif-
ſenſchaftlichen Sprache und Ausdrucksweiſe will ſich freilich.
die Annahme jener vier Elemente, in dem Sinne, in wel
chem ſie Urſtoffe bedeuten ſollten, nicht mehr vertragen, denn
unſere Scheidekunſt hat uns nicht vier, ſondern vierzehn mal
vier Grundſtoffe der irdiſchen Körper kennen gelehrt, und das
was wir etwa als Erde benennen möchten, iſt, je nachdem
wir eine Probe davon da oder dorther entnehmen, aus einer
bald größeren bald geringeren Zahl von Grundftoffen zuſam—
mengeſetzt, das Waſſer aus zweien; die atmoſphäriſche Luſt
iſt, wenn wir den Waſſerdampf der ſich gewöhnlich in ihr
findet, in Anſchlag bringen, ein Gemenge aus wenigſtens
vier ſolchen Grundſtoffen. Und neben jenen drei anderen,
durch Gewicht und Maaß beſtimmbaren ſogenannten Elemen—
ten nimmt ſich dann vollends das vierte, das Feuer, ſo aus
wie die Tugend neben drei Bratwürſten, oder wenn man,
nach unſren jetzigen Begriffen von den Urſtoffen, das Feuer
dazu zählen wollte, dann wäre dieſes eben ſo geredet als
wenn man ſpräche, der menſchliche Körper beſteht aus Kno
chen, aus Fleiſch, aus Häuten und aus Bewegung. Denn
das Feuer iſt kein Urſtoff im gewöhnlichen Sinne, ſondern
es iſt feinem Weſen nach eine Bewegung der Urſtoffe, fo
115
wie der Ton der Klavierfaite, den mein Ohr vernimmt, kein
Meſſingdraht und keine Luft iſt, ſondern eine Bewegung des
angeſpannten Meſſingdrathes und der Luft, deren Anregung
auf mein Gehörorgan wirkt.
Dennoch darf ſich unſere jetzige Einſicht in die Natur
der Grundſtoffe gegen die alte Eintheilung in die vier Ele—
mente, nicht ſo gar groß machen. Es liegt in dieſer Ein—
theilung eine tiefe Wahrheit, wie uns dies vielleicht ſpäter
einleuchtend werden wird, wenn wir zuerſt das erläutert
haben, was unter irdiſchen Grundſtoffen zu verſtehen iſt.
—
14. Die Grundſtoffe.
Die Statue von Marmor, welche ſich als ein Gleichniß
der menſchlichen Geſtalt vorſtellt, enthält weder Adern noch
Fleiſch und Knochen in ihrem Innren, ſondern, wenn ein
Zufall oder eine barbariſche Hand ſie zertrümmert hat, fin—
den wir in allen Theilen derſelben vom Haupte an bis zur
Sohle, von der Oberfläche bis zum innerſten Kern hinein,
überall in und an ihr nichts Andres als weißen, körnigen
Kalkſtein oder Marmor. Wenn wir ſie noch ſo fein zerſtük—
ken und zerſchlagen, ſie bleibt immer und überall Daſſelbe,
jedes Körnlein iſt wie das Ganze ein weißer Marmor, und
im Felde eines ſtarken Mikroſcopes betrachtet, zeigen ſich an
dem Körnlein dieſelben, in verſchiedenartiger Richtung an
einander gefügten Flächen, derſelbe Glanz, die gleiche Farbe,
wie, mit bloßen Augen betrachtet, an einem fauſtgroßen oder
noch größeren Bruchſtücke.
Dennoch ſind die unzähligen Stäubchen und Körnchen,
in welche die Maſſe des Kalkblockes, dem der Künſtler die
Menſchengeſtalt gab, ſich zertrümmern läßet, keinesweges die
Grundſtoffe jener Maſſe, ſondern jedes dieſer Körner iſt aus
mehreren Grundſtoffen zuſammengeſetzt. Daß dieſes ſo ſey,
erfährt jeder Kalkbrenner, wenn er den Marmor in die Gluth—
hitze ſeines Ofens bringt. Der Kalk verliert hier das Waſ—
fer und die Kohlenſäure, mit denen feine Erde verbunden
war und dieſe bleibt als ſogenannte reine Kalkerde oder
ätzender Kalk zurück. Aber auch ſo noch iſt dieſe Erde kein
reiner Grundſtoff, ſondern wie die fortgeſetzte Forſchung der
neueren Zeit gezeigt hat, beſteht ſelbſt die reine Kalkerde aus
einem Metall und aus einem Grundſtoff der atmoſphäriſchen
8
116
Luft, von welchem wir bald noch mehr reden werden: dem
Sauerſtoffgas oder der Lebensluft.
Der Zinnober, dies ſchöne, rothe Farbmaterial, iſt
Jedem bekannt, der ſich mit bunten Malereien beſchäftigt
hat. Wenn man ein Stück Zinnober durch Zerſtoßen und
Zerreiben auch noch ſo ſehr verkleinert, bleibt dennoch jedes
Stäubchen Daſſelbe was das Ganze war: Zinnober. Wenn
man aber Eifenfeilfpäne mit dieſem zerſtoßenen Zinnober
zuſammen mengt und dieſes Gemiſch der Hitze ausſetzt, dann
832900 ſich alsbald im Zinnober zwei verſchiedene Grundſtoffe
kund: Schwefel und Queckſilber, denn der Schwefel, der
einen ſtärkeren Zug zum Eiſen hat, als zum Queckſilber,
verbindet ſich mit jenem zu Schwefeleiſen und das Letztere
wird aus der bisherigen Vereinigung frei.
Das Kupfer, woraus ein Theil der ruſſiſchen Kupfer⸗
münzen der ſogenannten Kopeken geprägt iſt, kommt aus den
goldreichen Uraliſchen Bergwerken und enthält in ſeiner Zu⸗
ſammenſetzung öfters einen gewißen Antheil an Gold. Ein
ſolches goldhaltiges Kupfer, dergleichen vor Allem das
Surungakupfer aus Japan iſt, unterſcheidet ſich freilich durch
ſeine ſchöne rothe Farbe und große Dehnbarkeit von dem
gemeinen Kupfer, wenn man aber das erſtere auch noch ſo
fein zerreibt und zermalmt, bleibt dennoch jedes Stäubchen
ein eben ſolches Gemiſch aus Kupfer und Gold wie die größere
Maſſe dies war. Sobald man jedoch mit Waſſer verdünnte
Schwefelſäure darauf ſchüttet, dann nimmt dieſe das Kupfer
aus der Miſchung hinweg, indem ſie Kupfervitriol mit demſelben
hildet und das Gold bleibt in ſeiner metalliſchen Reinheit als
feiner Bodenſatz zurück, den man alsbald zu einer vereinten
Maſſe jufammenichmelgen kann.
In allen dieſen Fällen bemerken wir, daß es ein zwei⸗
facher Antrieb ſey, der die kleinſten Theile oder Atome der
Körper zuſammenführt und vereint. Wenn die Zugvögel,
von einem allgemeinen Antrieb ergriffen, in die Ferne aus⸗
wandern wollen, dann ſchaaren ſie ſich in großer Menge
zuſammen. Auch im Frühlinge, ehe die Zeit der Paarung
eingetreten iſt, halten Viele von ihnen ſich noch in ganzen
Schaaren zu einander. Wenn aber die Zeit des Niſtens her⸗
beikommt, dann ſondern ſich die großen Haufen in einzelne
Familien. Der Naturtrieb welcher dieſe Vereinigung der
einzelnen Paare und die zärtliche Vorſorge für die Jungen
Ss
117
begründet, ift viel ſtärker als der Trieb zur allgemeinen Zus
ſammengeſellung und dieſer letztere kann ſich erſt dann wie—
der geltend machen, wenn der ſtärkere Antrieb die einzelnen
Weſen aus ſeinen Banden entläßt, und nun das Walten
jenes allgemeinen Weltlebens die Schaaren der Lebendigen
ergreift, welches den Zug einer Geſammtheit der Einzelwe—
ſen zur Geſammtheit der Räume und Länder der Erde be—
gründet.
Auf ähnliche Weiſe wirkt auch bei der Aneinanderfügung
der gleichartigen Theile des Zinnobers oder des mit Gold
vermiſchten Kupfers eine allgemeine Anziehung, bei der Verei—
nigung aber des Schwefels mit dem Eiſen oder des Kupfers
mit der Vitriolſäure eine beſondre, welche ſtärker iſt denn die
allgemeine. Die Cohäſionskraft, welche den mehr oder min-
der feſten Zuſammenhang der einzelnen Theile bewirkt, iſt
von gleicher Natur mit jener allgemeinen Anziehung, welche
als Schwere (Gravitation) die einzelnen irdiſchen Körper—
maſſen zu dem Erdganzen vereint; ſie kann deshalb auf ſo—
genannt mechaniſchem Wege dadurch aufgehoben werden, daß
zum Beiſpiel ein großer Stein durch die Macht ſeiner Schwere
einen andren, kleinen zerdrückt und zermalmt, oder daß der
Druck, den in dieſem Fall die Schwere bewirkte, durch eine
andre Kraft des menſchlichen Armes und ſeiner Kunſt her—
vorgerufen wird. Dagegen iſt die chemiſche Verwandtſchaft
auf jene Polariſirung (geſchlechtliche Entgegenſetzung) be—
gründet, mit welcher überall das beſondere Leben und ſchö—
pferiſche Wirken der Dinge ſeinen Anfang nimmt, weil es
aus dem Quell des Lebens und Schaffens ſelber hervorgeht
(nach Cap. 8.). Die Cohäſionskraft hat die Erhaltung des
Gewordenen, die chemiſche Verwandtſchaft ein neues Werden
zu ihrem Ziel und Endpunkt. Wir ſind hiermit noch immer
nicht zur Erläuterung deſſen gelangt, was man unter Grund⸗
ſtoffen verſteht, zu dieſem Zwecke müſſen wir einen ſcheinba—
ren Umweg, durch die nähere Betrachtung der Metalle,
machen.
15. Die Metalle im engeren Sinne.
Wenn wir uns mit unſerem Leibe und ſeinen Sinnen
auf einmal von der Erde hinweg in jene große Weite ver—
ſetzen könnten, welche unſere Planeten von der Sonne und
N N ; ö Wi 9 —
118
ihren Wandelſternen trennt, da würden wir uns, mitten
am Tage, in keiner Tageshelle befinden. Denn hier auf
der Oberfläche der Erde ſtrahlt das Licht der Sonne von
allen Körpern wieder, ſelbſt von der Luft, wie uns dies die
Morgen- und Abenddämmerung lehret, deren Schein bloß
aus dem Luftkreiſe herkommt, welcher von dem Glanz der
Sonne beleuchtet wird, noch ehe dieſer die Spitzen der Berge
trifft. Dort aber, im Weltraume, giebt es weder Luft noch
Berge noch andere Körper, welche das Sonnenlicht zurüd-
ſtrahlen und hierdurch nach allen Richtungen hin eine Ta⸗
geshelle verbreiten können; denn wenn der Weltraum eines
ſolchen Wiederſcheines fähig wäre, würden wir niemals ein
vollkommen nächtliches Dunkel auf Erden haben. Deshalb
würde ein Menſchenauge, das in jener ungeheuren Weite ſich
nach der Sonne wendete, dieſe als eine hellglänzende Scheibe
auf dunkelſchwarzem Grunde ſtehend, erblicken, wenn es
dagegen von der Sonne hinweg nach der entgegengeſetzten
Seite ſich wendete, da ſähe es auf demſelben dunklen Grun⸗
de die Geſtirne der Nacht. Der wohlthätige, beleuchtende und
erwärmende Einfluß der Sonne kann ſich erſt da kund geben,
wo er Körpern begegnet, welche durch die polariſche Verſchie—
denheit ihres ganzen Weſens vom Weſen der Sonne für
jenen Einfluß am empfänglichſten ſind, vor Allem ſolchen,
u ui die größeſte Dichtigkeit mit Undurchſichtigkeit verbun⸗
en iſt. |
Solche Körper find vorzugsweiſe die Metalle. Diefe
ſind für ſich ſelber vollkommen lichtlos und mehr denn andre
Körper der eignen Wärme beraubt, eben darum aber im
höchſten Maaße für die Anregung durch Licht und Wärme
empfänglich. Aber nicht allein für die Anregung durch Licht
und Wärme, ſondern auch durch alle andre Kräfte des allge—
meinen Naturlebens welche die Polarität wecken, wie für
Magnetismus und den Zug der chemiſchen Verwandtſchaft.
Die geſammten Steinmaſſen der Gebirge, welche wir um
uns her erblicken, ſind bei ihrer Geſtaltung von einem me—
talliſchen Urzuſtande ausgegangen; ein metalliſches Weſen
liegt ihnen zu Grunde, das mit dem allgemeinen Gegenſatz
des Metalliſchen, mit dem Sauerſtoffgaſe der Luft vereint,
erſt zur Erdart wurde; die erſten Regungen eines ſelbſtſtändi⸗
gen Bildens und Geſtaltens nahmen im Reich der Metalle
ihren Anfang.
U
/
119
Die Sonne des Himmels hat in der irdiſchen Korper:
welt ihre Gegenſonne in dem Golde. Seine augenfällige
Farbe, ſein ſtarker Glanz, der ſich auch an der rauhen Ober—
fläche des Goldklumpens durch ein leicht zu bewirkendes Po—
liren hervorrufen läßet, ſeine große Schwere, ſeine Nachgie—
bigkeit (Geſchmeidigkeit und Dehnbarkeit) unter der Hand
des Menſchen, mußten dieſen ſchon in früher Zeit auf dieſes
Metall aufmerkſam machen. In dieſer früheren Zeit der
Völkergeſchichte war das Gold in vielen Gegenden der Erde
ee
ungleich leichter zu haben, als in unſren Tagen und feine
Bearbeitung machte bei weitem keine ſolche Mühe als die
des Eiſens und Kupfers. Denn das Eiſen muß erſt durch
große Feuersgewalt aus den Eiſenſteinen ausgeſchmolzen wer—
den, in denen es nicht in reinem Zuſtand, ſondern mit
andren Grundſtoffen vermiſcht, geſunden wird, dagegen kam
das Gold in vollkommner Reinheit in die Hände ſeiner Fin—
der, es ließ ſich, gleich ſo wie es war, hämmern und ver—
arbeiten; die Hitze die es um flüßig zu werden bedarf, iſt
ungleich geringer als die, bei welcher das Eiſen zum Flie—
ßen kommt. Ueberdies lud auch das Gold ſchon durch die
Art ſeines Vorkommens den Menſchen zu ſeiner Benützung
ein. Denn obgleich dieſes edle Metall urſprünglich eben ſo
wie andre Metalle in Felſengeſteine eingeſchloßen und einge—
wachſen war, iſt es doch, bei der Zertrümmerung ſeiner
anfänglichen Lagerſtätten herunter auf das Rollgeſtein ſo wie
den Sand der Thäler und der Ebenen gekommen. Hier hat
es, wegen ſeiner Geſchmeidigkeit nicht ſo zermalmt und zer—
ſtäubt, wegen ſeiner großen Schwere nicht ſo leicht hinweg—
gewaſchen und fortgeſchwemmt werden können als die Stein—
trümmer und der Sand zwiſchen denen es gebettet lag. Darum
fand der Menſch, der an dergleichen reiche Plätze kam, das
Gold öfters in Klumpen von bedeutender Größe offen am
Tage liegend, oder wenn über ein ſolches uraltes goldreiches
Stein- oder Sandfeld im Verlauf der Jahrhunderte ſich Ra—
ſen, Torf und Haideland hingebreitet hatten, da gelangte
man auf einmal zur Kunde feiner Schätze, wenn etwa beim
Hindurchführen eines Waſſergrabens oder bei andrer Gele—
genheit die verhüllende Decke hinweggenommen wurde. In
einer dieſem ähnlichen Weiſe war der Goldreichthum einer
großen, ſandigen Fläche am Uraliſchen Gebirge in Rußland
bis auf unſre Tage unbekannt und verborgen geblieben und
120
als man endlich vor etlichen Jahrzehenden ihn entdeckte, da
konnte man ſich eine deutliche Vorſtellung machen von dem
was die Alten uns über den Goldreichthum der indiſchen
und arabiſchen, neuere Schriftſteller über den des ſuͤdlichen
Amerikas berichten. Denn fo fand man in jenem Uraliſchen
Golddiſtricte im Jahr 1825 einen Klumpen Goldes von 18
Pfund Gewicht und noch neun andre Stücken, davon jedes
mehrere Pfund wog. Bei Miäsk, im Gouvernement Dren-
burg, wurde ein Goldklumpen entdeckt, welcher 7 Pfund an
Gewicht enthielt. Wenn ſich dieſe Maſſen auch noch nicht
mit ſolchen meſſen konnten, wie die im Jahre 1730 bei la
Paz in Amerika aufgefundene war, welche 45 Pfund wog
und aus der 5620 Ducaten geprägt wurden, oder gar mit
der zu Bahia in Braſilien im Jahr 1785 aus der Tiefe ges
wonnenen dichten Goldmaſſe, deren Gewicht auf 2560 Pfund,
deren Geldwerth auf faſt eine und eine Viertel Million
Gulden geſchätzt wurde, waren ſie dennoch der bedeutendſte
Fund dieſer Art, welcher, ſo weit die hiſtoriſche Kunde reicht,
in einer ſo nördlichen Gegend der Erde gemacht wurde. Denn
wenn uns früher die Alten von dem Golde Arabiens, das
in Stücken von der Größe einer Kaſtanie gefunden wurde,
oder von dem Golde Indiens oder Aethiopiens, die Neueren
aber von den Goldmaſſen des heißeren Amerikas erzählten,
da konnte man allerdings auf die Meinung kommen, daß
die Länder zwiſchen den Wendekreiſen oder in der Nachbar⸗
ſchaft von dieſen faſt die ausſchließliche Heimath des Goldes
ſeyen.
Das Gold iſt freilich ſelbſt in den goldreichſten Ländern,
im Vergleich mit andren Metallen eine Seltenheit. Denn
obgleich man die Ausbeute an dieſem edlen Metall in den
reichen ſpaniſchen und portugieſiſchen Beſitzungen von Amerika
ſeit drei Jahrhunderten im Mittel alljährlich auf etwas mehr
als anderthalb hundert Zentner anſchlagen kann, fo iſt dies
ſes dennoch nicht einmal der hundertſte Theil der Menge des
Silbers, welche dieſelben Länder im Verlauf eines Jahres
liefern, ja, wenn wir nur ein Land in Anſchlag bringen, noch
nicht der dreizehenhundertſte Theil der Gewichtsmaſſe des Kup⸗
fers, kaum der ſechszehen hundertſte des Bleies, noch lange
nicht der dreitauſendſte des Eiſens, der allein in dem verhält⸗
nißmäßig kleinen England alljährlich gewonnen wird.
Schon wegen dieſer ſeiner Seltenheit, noch mehr aber
Seinigen auf lebenslang genug daran, denn jedes Pfund
iſt gegen 415 Preuß. Thaler oder 727 rheiniſche Gulden werth.
121
wegen ſeinen übrigen empfehlenden Eigenſchaften, hat ſich
das ſchöne, ſonnenſtrahliche Gold ſeit alten Zeiten in einem
Tauſch⸗ und Handelswerth erhalten, welcher den des Sil—
bers um 12, ja in unſren Tagen um mehr als 14 mal über—
trifft. Wenn Einer von uns auf einer unbewohnten Inſel
oder bei einem Fiſchzug im Meere einen Klumpen Goldes
fände, ſo ſchwer daß er ihn ohne große Anſtrengung ſtun⸗
denweit mit ſich forttragen könnte, der hätte für ſich und die
Und dennoch, um dies hier nur nebenbei zu erwähnen,
bliebe bei Gelegenheit eines Fundes der Art Mancherlei zu
bedenken. Es liegt etwas Verführeriſches und Gefährliches
in einem ſolchen Reichwerden ohne Mühe. Im liten und
12ten Jahrhundert legten ſich viele Leute in Böhmen darauf,
aus dem Sande einiger Flüße dieſes Landes das Gold her—
aus zu waſchen, welches darinnen enthalten war. Manche
von ihnen gewannen damit mehr, als bei dem damaligen
wohlfeilen Fruchtpreis der Ackerbau und die Viehzucht ab—
warfen. Aber, was geſchahe? Als die andren Bewohner
des Landes ſahen, daß Hunderte und zuletzt Tauſende aus
ihrer Mitte bei einem ſolchen ſchlechten, leichten Geſchäft mehr
verdienten als fie mit ihrer ſchweren Arbeit, da ſhten viele
von ihnen: ſo gut als Jene können wir es ja auch haben,
und ließen ihre Aecker unbebaut. Da entſtund eine große
Theurung und ſchwere Hungersnoth im Lande. Was half
jetzt, auch den glücklichſten Goldwäſchern, die in Jahresfriſt
ein Pfund und darüber von dem edlen Metall erbeutet hat—
ten, all ihr Reichthum? Sie konnten um ſchweres Geld
nicht ſo viel Brod erkaufen, als für ſie und die Ihrigen zur
Sättigung hinreichte; Viele mußten Hungers ſterben und die
Regierung, um ähnliche unglückliche Folgen zu vermeiden,
mußte das Gewerbe des Goldwaſchens bei ſchwerer Straſe
unterſagen. (M. v. Hagecius in feiner böhmiſchen Chronik,
überſetzt von Sandel S. 329.). i
Und hat ſich denn das, was damals einem kleinen Land—
ſtriche und ſeinen Bewohnern wiederfuhr, nicht auch in der
Geſchichte ganzer mächtiger Reiche und Völkerſchaften recht im
Großen wiederholt? Was hat in unſren Tagen das arme
Spanien, was hat Portugal von all den Tauſenden der
Centner Goldes in wirklichem Beſitz und Vermögen behalten,
* 9 1
122
die den harmloſen Völkern von Peru, die den Völkern und
Herrſchern von Mexiko und Braſilien abgenommen wurden?
An welche Erben iſt bald nachher das Vermächtniß des im
Jahr 1605 verſtorbenen Sultans Großmoguls) Akbar ges
kommen, welches an Werth, großentheils in Gold und Sil—
ber, 348 Millionen Gulden betrug?
Unter den europäiſchen Mächten gewinnt nächſt Rußland,
deſſen Goldausbeute am Ural von 1814 bis 1824 gegen 24 Mill.
Preuß. Thaler an Werth geſchätzt war, Oeſtreich aus ſeinen
Bergwerken in Ungarn und Siebenbürgen am meiſten, nämlich
im Durchſchnitt jährlich 4700 Mark (jede zu 16 Loth), aus
Böhmen 23, aus Salzburg gegen 165 Mark. Frankreich
erhielt früher, vorzüglich aus feinen Goldwäſchereien in Lanz
guedoc gegen 200 Mark. England hat freilich keine Gold—
bergwerke, dagegen empfängt es, ſeit Abſchaffung des Skla⸗
venhandels allein aus Senegambien über 3400 Mark und
fchon feine Eiſen- und Stahlfabriken, abgeſehen von allen
andren einträglichen Erwerbsquellen, bringen dem Lande viel
größre Einkünfte als vormals Portugal und Spanien von
ihren amerikaniſchen Beſitzungen an lauterem Golde bezogen.
Wir haben uns hier, in unſrer Betrachtung der Metalle,
ſcheinbar ſelber jenem Zuge hingegeben, welchen das Gold
auf die Natur des Menſchen ausübt. Doch ſind wir dabei
noch immer auf der Heerſtraße geblieben die zu unſrem dies—
maligen Ziele, zur Erörterung deſſen was die Grundſtoffe
ſind, hinführet.
Mehr denn irgend ein andrer Körper der irdiſchen Na—
tur iſt das Gold geeignet uns zu zeigen was ein Grundſtoff
oder ein eigentliches nicht weiter durch chemiſchen Gegenſatz
zerlegbares Element ſey. Ein Grundſtoff kann durch ſeine
Verbindung mit andren Elementen die Grundlage geben zu
verſchiedenen Producten der Natur und der Kunſt; zu feinem
eignen Entſtehen bedarf er aber keines andren Elementes als
des weſentlich eigenen; in all den Verbindungen und polari⸗
ſchen Wechſelwirkungen die er mit andren Körpern eingeht
bleibt er immer derſelbe und geht unverändert, ſtets als der—
ſelbe aus ſolchem Wechſelverkehr wieder hervor.
Wie ganz anders iſt dies bei jenen Naturkörpern, welche
keine reinen Grundſtoffe find. Der Zinnober wie der Blei-
glanz ſcheinen, wenn man ſie durch mechaniſche Kräfte zer-
ſtößt und zermalmet auch in ihren kleinſten Theilchen noch
f 2!
3
1 2 “ s . 7 0 4
123
unverändert dieſelben geblieben zu ſeyn; unter dem Mikroſcop
erkennt man an den Stäubchen des Bleiglanzes ſogar noch die
Würfelform und die glänzenden Flächen, welche feine gröͤßren
Bruchſtücke dem bloßen Auge zeigen. Wenn man aber beide
Körper, den Zinnober wie den Bleiglanz, etwa in Geſell—
ſchaft des Eiſens einem gewißen Grade der Erhitzung aus—
ſetzt, dann ſieht man gar bald den Schein der Einfachheit
verſchwinden, denn der Schwefel verläßt bei dem erſteren
ſeine Verbindung mit dem Queckſilber, bei dem letzteren die
mit dem Blei, und vereint ſich mit dem Eiſen zu Schwefel—
eiſen; man erkennt nun, daß jene beiden Körper nicht ſelber
Grundſtoffe, ſondern nur Zuſammenſetzungen aus eigentlichen
Grundſtoffen ſind.
Als die Menſchen anfingen das Gold im Kauf und Ver—
kauf zur Verwerthung der verſchiedenſten Gegenſtände zu
benutzen und die Erfahrung machten, daß ſich um Gold alle
Sättigung und Luſt der Sinne erkaufen laſſe, da trachteten
ſie eifriger nach dem Beſitz jenes koſtbaren Metalles. Auf
den vielfach durchſpürten Lagerſtätten der Rollgeſteine und
des Sandes war es im Verlauf der Zeit nicht mehr zu fin—
den, ſondern man mußte es großentheils aus ſeiner eigent—
lichen Geburtsſtätte — den Gebirgsgeſteinen — hervorholen
und ausſchmelzen, darum klopfte man jetzt an jedem Felſen
an, ſetzte die verſchiedenſten Steine der Schmelzhitze aus,
um zu forſchen ob etwa Gold darinnen verſteckt fey? Man
brauchte damals, wo ganze Länderſtriche von mächtigen Ur—
wäldern bedeckt waren, das Feuerungsmaterial noch nicht ſo zu
fparen als in unſren Tagen; Schmelzöfen, dieſe kleinen
Abbilder der Vulkane, lernte man auch frühzeitig genug er—
bauen, darum fanden ſchon die älteſten Völker, wie noch jetzt
unſre Kinder, ein ganz beſondres Vergnügen am Schmelzen
der metallhaltigen Steine, die ſich meiſt ſchon durch ihre
Schwere kennbar machten. Bei dieſen Verſuchen gelang es
gar bald allerhand Metalle, wie das Zinn, wie den Zink,
wie ſelbſt das Kupfer und Eiſen aus Steinen zu gewinnen,
die eine ganz andre Geſtalt und Farbe hatten als ihre Me—
talle und bei weitren Verſuchen der Art fand man, daß zum
Beiſpiel aus dem Zuſammenſchmelzen von Zink und Kupfer
das Meſſing — ein Metall entſtehe das an Farbe und Glanz
eine gewiße Aehnlichkeit mit dem Golde hat. Da kam man
auf den Gedanken ob man nicht das Gold auch machen kön—
124
ne, entweder dadurch, daß man einen Körper auffände, der
ſich, wie der Galmey in Zink, ſo in Gold verwandlen laſſe,
oder dadurch, daß man es durch Zuſammenmiſchung eines
andren, leichter zu habenden Metalles mit irgend einem an—
dren Stoff künſtlich erzeugte.
Das edle Gold hat in ſeiner Art viele Eigenſchaften
mit einem edlen, guten Gemüthe gemein, namentlich die Ge⸗
duld und Milde. Es läßt ſich ohne ſeine Faſſung, das heißt
ſein eigenthümlich körperliches Zuſammenhalten zu verlieren,
zu Drath ausziehen und zu Blättchen ſchlagen wie kein
andrer Körper und ſchon die Nürnberger Goldſchläger haben
das Sprüchwort, daß man mit einen Ducaten einen Reuter
mit ſeinem Pferd übergolden könne. Dabei benimmt ſich
auch das Gold dem ſchneidenden Meſſer gegenüber ſo weich
und mild, läßt ſich ſo biegen und drehen wie kaum ein
andrer Körper. Darum ließ ſich das Gold auch durch alle
die Verſuche, welche der Zweifel an der Einfachheit und
Lauterkeit ſeines Weſens dem Menſchen eingab, nicht aus
ſeiner gleichmäßigen Haltung bringen, man warf es in Eſſig,
der das Kupfer und Eiſen ſo leicht angreift, man brachte es
in Geſellſchaft der gemeinen Schwefelſäure und vieler andrer
künſtlichen Erzeugniſſe die ſo manche feſte Bande der Kör⸗
perlichkeit auflofen, aber das Gold verſchmähete die Vermi⸗
ſchung ſeiner altadeligen Natur mit dieſen neugemachten Stof—
fen der Menſchenkunſt; es behielt im Eſſig, wie in der
Schwefelſäure und in der Schmelzhitze ſeine Lauterkeit und
Einfachheit bei. Ja die Hitze, welche ſo manche andre Erzarten
in Metallkalke und Schlacken verwandelt, diente dem Golde
nur zur Reinigung, indem ſie nur das verflüchtigte und zer—
ſtörte, was jener Reinigkeit noch entgegen war.
Die Scheidekunſt der neueren Zeit hat es freilich hierin
viel weiter gebracht. Sie hat ſich noch ganz andre, ſtärkere
Waffen erfunden, denen ſelbſt die ſtandhafteſten Metalle, ſo
wie der gute Demant und Rubin nicht widerſtehen konnten.
Ihr iſt es gelungen das Gold in Dampfform zu verwandlen
und daſſelbe in Säuren von ungleich ſtärkerer Art als die
den Alten zu Gebote ſtehenden, aufzulöſen. Sie hat durch
ihre kunſtreichen elektriſchen und elektromagnetiſchen Werkzeu⸗
ge dem Blitze ſeine Macht abgeborgt und durch dieſe iſt es
ihr möglich geworden das fonft immer zu den einfachen Ele:
menten gezählte Waſſer, ſo wie die Kalkerde und andre Er⸗
125
den in mehrere Grundſtoffe zu zerlegen. Aber mit all diefen
hoch geſteigerten Mitteln hat man auf die lautere Einfalt
des Goldes keinen Verdacht bringen können; aus den meiſten
ſeiner künſtlich erzwungenen Vermiſchungen hat es ſich ſchon
in der Hitze des Feuers los gemacht, welche ihm Kraft giebt
das Fremdartige von ſich zu ſtoßen; es hat ſich als ein
Grundſtoff, als eine jener einfachſten Urformen der polariſchen
Entgegenſetzung bewährt, welche die Macht des Schöpfers
am Anfang in der irdiſchen Natur hervorrief.
Dergleichen Grundſtoffe ſind alle eigentlichen Metalle,
deren man, ohne die metalliſchen Grundlagen der Erden und
Alkalien ſchon 30 zählt. Freilich kommen manche von dieſen
in ganz außerordentlich geringer Menge, ſo wie Seltenheit
in der Natur und zum Theil ſogar nur als kleine Beimi—
ſchung in andren Metallen vor, faſt ſo wie die lebenden
Thiere, die in den Eingeweiden andrer lebenden Thiere ge—
funden werden, wie man dies von dem Rhodium und
Palla diummetall ſagen könnte, wenn fie ſich in überaus
kleiner Quantität dem Platinametall beigemengt finden.
Wenn es nur auf die große Seltenheit und nicht viel—
mehr auf andre empfehlende Eigenſchaften ankäme, dann müß—
ten gar viele Metalle einen höheren oder faſt eben ſo hohen
Geldwerth haben als das Gold, wie das letztere wirklich
eine Zeit lang bei der Platina der Fall war. Denn dieſes
Metall erwies ſich, abgeſehen von der Benutzung ſeiner Ver—
bindung mit Eiſen zur Fertigung von damaszirten Raſirmeſſern
oder zu ſtark glänzenden Metallſpiegeln u. ſ. w. durch feine außer:
ordentlich ſchwere Schmelzbarkeit, ſo wie durch ſeine Aus—
dauer ſelbſt in unſren ſtärkſten Säuren, fo brauchbar zur
Bereitung mancher chemiſcher Geräthſchaften, daß man daſſelbe
gern um jenen hohen Preis bezahlte. Noch jetzt wo man
auch am Uraliſchen Gebirge in Rußland Platina endeckt hat,
ſteht wegen dieſer Benutzbarkeit der Preis derſelben viermal
höher denn der des Silbers, denn man verarbeitet dieſes theure
Material ſelbſt zu Keſſeln, welche bei der Bereitung der
Schwefelſäure benutzt werden können. Nicht ſo bedeutend iſt
die Benutzbarkeit bei manchem andren eben ſo ſeltnen oder
noch ſeltenern Metall, wohin auch noch zwei andre in und
mit der Platina vorkommende: das Iridium und Os—
mium gerechnet werden können, deren Namen man, wenn
von einer Anwendung für den menſchlichen Haushalt die Rede
*
ar Fin
126
ift, eben fo wenig nennen hört, als die des Banadin, Ser
und Lanthanmetalles, ja ſelbſt die des Tantalums,
Titans und Tellurs, während allenfalls noch das Ka d—
mium, das man, obwohl in ſehr geringer Menge in einigen
Arten der Zinkerze endeckt hat, wegen ſeiner Benutzbarkeit
zur Bereitung einer goldgelben Farbe für Frescomalereien
der Erwähnung werth iſt. g
Nächſt dem Golde, deſſen Anerkennung uralt iſt und dem
erſt in neuerer Zeit bekannt gewordnen Platinametall, hat
der Menſch dem Silber im Handel und Wandel den höch—
ſten Geldwerth beigelegt. Sein ganz beſonders heller, ftar-
ker Glanz, ſeine weiße Farbe, ſeine Geſchmeidigkeit und,
wenn es nicht mit Kupfer verſetzt iſt, jene empfehlende Eigen⸗
ſchaft vermöge welcher es ſich rein vom Roſt erhält, haben
ihm auf die Beachtung im bürgerlichen Leben ein gewißes
Recht gegeben. Es kommt, wie ſchon erwähnt, in ungleich
größeren Maſſen auf der Erde vor als das Gold und man
hat berechnet daß allein jenes Silber das man ſeit dem Be—
ginne des dortigen Bergbaues im J. 1492 bis 1803 aus
Amerika gebracht hat, hinreichen würde um eine Schatzkam—
mer, welche 50 Fuß hoch, 50 breit und eben ſo viel tief wäre
von oben bis unten damit auzufüllen. Freilich überſteigt
auch die Maſſe des in Amerika aufgefundnen Silbers die in
Europa und im nördlichen Aſien in derſelben Zeit erbeutete
um ein Bedeutendes, und man darf wohl ſagen um mehr
als das Zehnfache, obgleich ſelbſt Deutſchland ſeine bergmän—
niſchen Glückszeiten gehabt hat, in denen es im Stande war,
nach einem freilich beſcheidneren Maßſtabe die Schatzkammern
ſeiner Fürſten zu füllen, und zu gleicher Zeit einen großen
Theil ſeiner Bürger zu bereichern. Von dem reinen Silber
ſteht die Mark (zu 16 Loth) in Werth von 24 Gulden. Da
jedoch ein Geldſtuck von Silber, das die gleiche Größe hat
mit einem Geldſtück von Gold, nicht viel mehr denn halb ſo
ſchwer iſt als das Goldſtück, ſo würde das letztere, wenn es
zum Beiſpiel die Größe eines Silberguldens hätte, gegen
27 Gulden werth ſeyn. Denn das Gold, in feinem 14
mal größrem Werth wiegt 19½, das Silber nur 10 %½ mal
ſchwerer denn das Waſſer. |
Bei den andren, für den menſchlichen Haushalt nützli—
chen Metallen, rechnet man, wenn man etwa von dem Werth
derſelben reden will, nicht mehr nach Mark und nach Pfun⸗
#
u
„
127
den, ſondern gleich nach Centnern. So ſchon bei dem viel-
fach benutzbaren Queckſilber, das zwiſchen dreißig und
vierzig mal, bei dem Kupfer, welches mehr denn 80 mal, bei
dem Eiſen, welches mehr denn tauſend Mal wohlfeiler zu
haben iſt als das Silber. Nächſt dem Eiſen und Kupfer
ſind wohl ſeit den älteſten Zeiten am meiſten das Zinn,
das Blei und das Zinkmetall für den Nutzen und Dienſt
des menſchlichen Haushaltes in Gebrauch genommen worden.
Denn die bedeutende Anwendung des Spiesglanzes na—
mentlich in der Arzneikunde gehört doch erſt dem Mittelalter
und der neueren Zeit an, welcher wir auch die Kenntniß der
Eigenſchaften, ſo wie der Anwendung der andren nutzbaren
Metalle verdanken: namentlich die des Chrommetalles
für Glas- und Porzellanmalereien, ſo wie des Mangans
ebenfalls zur Färbung des Glaſes, zugleich aber auch zur
leichten Gewinnung des Sauerſtoffgaſes, welches durch bloße
Erhitzung des gewöhnlichſten Manganerzes (des Graubraun—
ſteinerzes) erhalten wird. Denn dieſe Luft- oder Gasart
zerftort in der ſchmelzenden Glasmaſſe, welcher man eine
kleine Menge des gepulverten Manganerzes beigemiſcht hatte,
die Farbe der verunreinigenden Theile und wenn man den
Graubraunſtein vermiſcht mit gemeiner Salzſäure erhitzt, dann
bildet ſich aus dieſer Säure das Chlorgas, welches mit
Waſſer verbunden den Bleichern ein Mittel an die Hand
giebt, alle Gewebe, ſo wie andre Stoffe die mit Farben aus
dem Thier- oder Pflanzenreich gefärbt ſind, weiß zu bleichen,
indem es jene Farben zerſtort. Einer ſolchen Miſchung des
Chlorgaſes mit Waſſer kann ſelbſt das Gold nicht widerſtehen,
denn in ihr löst ſich daſſelbe auf. Die Verkalkungen oder
Oxyde (davon ſpäter) des ziemlich ſeltnen Kobaltmetalles
benutzt man zur Bereitung ſehr dauerhafter, blauer Farben,
davon die eine Art dem Ultramarinblau an Schönheit gleich
kommt; das noch ſeltnere Nickelmetall, welches ſelbſt in
den meiſten aus der Luft herabfallenden Meteorſteinen ge—
funden wird, hält ſich gegen Verroſtung ſo rein wie ein edles
Metall, giebt, mit andren Erzen verbunden, koſtbare Compo—
fitionen (wie das Argentan u. g.), iſt für Magnetismus
ſehr empfänglich und kann zur Bereitung namentlich einer
ſehr ſchönen, grünen Farbe benutzt werden. Das leicht
ſchmelzbare Wismuthmetall theilt einigen feiner Metall—
compoͤſitionen, wie dem Schnellloth der Klempner eine ſolche
“ 1 Yo 8 Bi‘ * *
128
Leichtflüßigkeit mit, daß dieſelben ſchon in der Siedhitze des
Waſſers zum ſchmelzen kommen. Deſto größre Hitze koſtet
es um das (ſehr ſeltne) Wolframmetall zum Fließen zu
bringen, das ſich durch mehrere merkwürdige Eigenſchaften
auszeichnet, namentlich durch ſeine außerordentliche Schwere,
welche der des Goldes nahe kommt und auch dadurch, daß
es beim Glühen, faſt wie Zunder verbrennt (ſich oxydirt). Auch
das Waſſerblei oder Molybdän iſt ſehr ſchwer ſchmelz⸗
bar und noch ſchwerer das Uran, deſſen gelbes und
lichtgrünes Oxyd man hin und wieder zu Porzellanfarben
benutzt. Indeß haben auch die eben genannten Erze für den
menſchlichen Haushalt eine ſo geringe Wichtigkeit, daß man
die kleine Quantität in der ſie gefunden werden, gern unge⸗
ſchmolzen an die Mineralienſammlungen abgiebt, wo ſie, ge⸗
rade in der urſprünglichen Form ihres Vorkommens den mei⸗
ſten Werth haben. ’
Wenn es der Mißbrauch, welchen der Menſch von irgend
einer Gabe der Natur macht, allein wäre, der uns eine ſol—
che verleiten müßte, dann möchte man auch von dem Arſe-
nik wünſchen, daß er eben ſo ſelten vorkommen und eben ſo
ſchwer aus ſeinen Vererzungen darzuſtellen wäre, als manche
der zuletzt erwähnten Metalle. Dennoch beſitzt der Arſenik
neben ſeiner höchſtgiftigen Wirkſamkeit auch mehrere ihn
empfehlende Eigenſchaften, namentlich die, daß er ſolche
ſchwer ſchmelzbare Metalle wie die Platina, leichter ſchmelz—
bar und dadurch zu Legirungen geſchickt macht, dann jene,
daß er in ſeiner Verbindung mit manchen andren Metallen,
wie mit Kupfer, augenfällig ſchöne Compoſitionen bildet und
daß ſeine Säure (die arſenige Säure) die Farbſtoffe zerſtört,
weshalb ſie in manchen Gewerben zum Entfärben der Zeuge
benutzt worden iſt. Die magnetifche Kraft des Anziehens
und Abſtoßens, welche in ganz beſondrem Maaße dem Eiſen
und dem Nickel, im geringeren auch dem Kobaltmetall und
der Platina zukommt, zeigt ſich auch darinnen der Lebens—
kraft verwandt, daß ihr durch einen geringen Zuſatz von
Arſenik an das magnetiſche Metall, eben ſo gut ein Ende
gemacht wird, als dem Leben eines Thieres, dem man Arſenik
beibringt. Selbſt der ſchöne Klang, den einige Metalle haben,
wird durch einen Beiſatz des Arſeniks zerſtört. Doch gerade die
giftige Eigenſchaft des Arſeniks hat ſich der Menſch als einer
ſtarken Waffe gegen die gefahrdrohende Thierwelt zu Nutze
i ge⸗
129
gemacht; Wölfe und Schlangen wie der zerſtörende Bohr⸗
wurm müſſen dieſer Waffe erliegen. :
Giebt es doch felbft unter den nutzbarſten Metallen,
welche zugleich, vermöge einer allbedenkenden Fürſorge des
Schöpfers, am allgemeinſten und leichteſten zu gewinnen ſind,
einige, welche neben ihren empfehlenden Eigenſchaſten zu⸗
gleich der Geſundheit des Menſchen ſchädlich, ja todgefährlich
werden können. So das Kupfer durch ſeinen leicht ent⸗
ſtehenden Grünſpan, und das Blei durch ſeine ebenfalls
leicht ſich erzeugenden Oxyde und Verbindungen mit der
Kohlenſäure. Wem ſollte aber deshalb das Kupfer, dieſer
bedeutendſte Schatz mancher Gebirgsreviere, minder ſchätzens—
werth erſcheinen: das Metall das ſich durch ſeine Geſchmei—
digkeit und Dehnbarkeit, ſo wie durch ſeine ſchönen Compoſi⸗
tionen mit Zinn zu Bronze, mit Zink zu Meſſing für den
Haushalt, überdieß als deckender Schutz für Gebäude und
Schiffe als ein Hauptmaterial, für Erzgießereien fo nutzbar er-
weiſt und das ſich ſelbſt dem Ohr durch den Klang der Saiten
und Glocken, in denen das Kupfer einen vorzüglichen Be—
ſtandtheil bildet, dem Auge durch feine ſchönen Farben, na⸗
mentlich für Glas und Frescomalereien empfiehlt.
Das Zinn hat fi) auch, ſeit den älteſten Zeiten, bei
dem Menſchen in ganz beſondre Gunſt geſetzt. Es findet ſich
freilich nicht ſo wie vor allem das Eiſen und nächſt ihm das
Blei und Kupfer faſt in allen Ländern der Erde maſſenweis
verbreitet, ſondern bildet vorzugsweiſe nur den Reichthum
einzelner Erdſtriche; wo es aber einmal vorkommt, da iſt es
in faſt unerſchöpflicher Menge zu finden. So gewinnt Eng—
land allein jährlich 60,000 Centner, obgleich ſeine Zinngru—
ben ſchon ſeit zwei Jahrtauſenden ausgebeutet werden; Oſtin⸗
dien, namentlich ſeine öſtliche Halb inſel, ſo wie die Inſeln
Banca und Lingin bei Sumatra ſind ſo unermeßlich reich
an Zinn, daß man ſeine Erze faſt ohne alle bergmänniſche
Mühe und Arbeit von der Erdoberfläche hinwegnimmt; in
Malaka erſtrecken ſich die reichen Zinnlagerſtätten über einen
Landſtrich von nahe 200 geographiſchen Meilen. Eben ſo
leicht, als wegen der Art ſeines maſſenhaften Vorkommens,
das Gewinnen dieſes Metalles iſt, wird auch, im Vergleich
mit Eiſen, ſein Ausſchmelzen, aus dem ſogenannten Zinn⸗
ſtein (Zinnoryd) gefunden, und ein bloßes ſtarkes Kohlen⸗
feuer im ummauerten Heerde war e den älteſten
130
Entdeckern jenes Erzes das ſchöne, in feinem reinen Zuſtand
ſilberweiße, glänzende Metall zu Geſicht zu bringen, und
hierdurch ſeine Verarbeitung zu veranlaſſen.
Bei dem Eiſen hielt dieſes freilich nicht ſo leicht, denn
um dieſes nützlichſte unter allen Metallen aus ſeinen Erzen
herauszuſchmelzen, bedarf es ſchon einer bedeutenderen, län⸗
ger fortwirkenden Hitze der Hochöfen. Dagegen kam auch
kein andres Metall dem Menſchen ſo oft und ſo häufig in
die Hände als dieſes. Denn nicht nur giebt es ganze Berge,
ja Bergzüge, welche faſt ganz von Eiſenerz durchdrungen, und
weite, große Ebenen, welche von Eiſenerzlagern bedeckt ſind,
ſondern der Eiſengehalt, der ſich in den über Hunderte von
Quadratmeilen ausgebreiteten Sandſteinen und Baſalten (wo⸗
von ſpäter) findet, hat ſich auch bald da bald dort in Maſ⸗
ſen von reicherem Eiſenerz ausgeſchieden. Jene höhere
Fürſorge, die ſich in der reichlichen Begabung aller, von
Menſchen bewohnbaren Länder der Erde mit dem Eiſen im
Allgemeinen kund gethan hat, wird auch im Beſonderen
darinnen ſichtbar, daß ſie gerade ſolchen Völkern, denen ſie
die meiſte Gewerbthätigkeit und Betriebſamkeit verlieh, auch
die meiſten Mittel zur Aeußerung dieſer Anlagen in die
Hand reichte. Ein Beiſpiel dieſer Art iſt uns an den ge-
werbthätigen Engländern gegeben, welche zunächſt an ſolchen
Metallen, die den Gewerben dienen, in bewundernswürdiger
Weiſe reich ſind. Denn England allein baut alljährlich
60,000 Zentner Zinn, mithin mehr denn 12 mal ſo viel als
alle Länder des übrigen Europa's zuſammengenommen, über⸗
dieß 250,000 Zentner Blei, was mehr als die Hälfte des
ganzen europäiſchen Bleiertrags iſt, an Kupfer 200,000 Zent⸗
ner, an Eiſen ein Drittel des ganzen europäiſchen Eiſenge⸗
winns, nämlich 5 Millionen Zentner, an Galmei (kohlen⸗
ſaurem Zinkoxyd) 50,000 Zentner.
Ein ſolcher Schatz an benutzbaren Material, das man
nicht ſo wie andre Naturgaben eines überreichen Erdbodens
gleich mit der Hand nehmen und in den Mund ſtecken kann,
ſondern erſt vielfach verarbeiten muß um die Arbeit in Geld,
das Geld aber in Brod umzuſetzen, mag freilich ſehr dazu
geeignet ſeyn, um die Kräfte und den Fleiß eines Volkes
zu wecken, indeß hängt dabei dennoch auch gar viel von
der Naturanlage und Verfaſſung des Volkes ab. Denn in
wie vielen Ländern, wo es Noth- und Hungerleidende genug
131
giebt, wie namentlich in dem türkiſchen Reiche, liegen die
herrlichſten, reichſten Schätze ſolcher Art unbenutzt in der
Erde. Die Engländer aber, denen bei ihrer Gewerbthätig⸗
keit auch noch die Menge der Steinkohlen gut zu ſtatten
kommt, die ſich in ihrem Lande findet (nach Cap. 21.) wiſ⸗
ſen von dem Eiſen das ihnen ihre Inſel darbietet und zum
Theil ſelbſt noch andre Länder zuführen, eine ſo vortheilhafte
Anwendung zu machen, daß ſich der Werth der Stahl- und
Eiſenarbeiten, welche ſie fertigen, jährlich auf 192 Millionen
Gulden anſchlagen läßet; ein Gewinn von welchem freilich
ein großer Theil den Capitaliſten, welche die Vorſchüße lei⸗
ſteten und Inhaber der Fabriken ſind, zufällt, an welchem
aber dennoch auch die 270,000 Arbeiter, die ſich mit Eiſen⸗
fabrication beſchäftigen, nach ihrem Maaße Theil nehmen.
In England, fo wie in einigen andren Ländern, wo der
Anbau und die Fabrication des Eiſens mit beſonderem Fleiß
und Glück betrieben wird, möchte es einem immer ſcheinen
als ob der Umgang mit dieſem Metall für die Betriebſam⸗
keit des Volkes etwas eigenthümlich Belebendes habe. Steht
doch, ſo könnte man ſagen, das Eiſen unter allen Metallen,
durch ſeine Eigenſchaften dem Leben am nächſten. Denn an
ihm zunächſt zeigt ſich eine Bewegung des Suchens und Flie⸗
hens, des Anziehens und Abſtoßens, welche den uranfängli⸗
chen Erſcheinungen des thieriſchen Lebens ähnlich und ver-
wandt ſind; das Eiſen, als Magnet, iſt einer Anregung
durch die Kraft eines allgemeinen Bewegens fähig, wie das
Thier, wenn es dem Walten des Inſtinctes dahin gegeben
iſt. Unſre Kunſt, auch wenn ſie die Grundſtoffe bald ſo
bald anders zuſammenfügt und in Wechſelwirkung bringt,
vermag auf keinerlei Weiſe aus dieſen Stoffen ſolche zuſam⸗
mengeſetzte Elemente zu erzeugen, die man organiſche nennt,
weil der Körper der organiſchen Weſen: der Pflanzen und
Thiere, vorherrſchend aus ihnen gebildet iſt, wir können
keine Gallert, keinen Eiweisſtoff, keine Butter und keinen
Käſe aus den uranfänglichen Grundſtoffen, in die wir die
Körperwelt zerlegen, hervorbringen. Das Eiſen macht jedoch
ſchon einen kleinen Eingriff in die ausſchließenderen Rechte
der Lebenskraft, denn der Bodenſatz den man aus einer Auf⸗
loͤſung des Kohle enthaltenden Gußeiſens in Salpeterſäure durch
Ammoniak erhält, giebt beim Auskochen im Waſſer eine mo⸗
derartige Subſtanz, ähnlich jener, welche zuletzt aus der
9
.
132 |
Verweſung abgeftorbener Pflanzen- und Thierkörper entſteht.
Allerdings alſo nur eine Annäherung an die organiſche Ele⸗
mentenbildung, von der unterſten, tiefſten Stufe her. Uebri⸗
gens zeigt das Eiſen auch noch auf andere Weiſe, daß es
in einer näheren Beziehung denn alle andren Metalle auf
die Vorgänge des Lebens ſtehe, indem es als ein weſentli⸗
cher, höchſt einflußreicher Beſtandtheil in das Blut des Men⸗
ſchen und der vollkommneren Thiere eingehet, dem es vor⸗
zugsweiſe ſeine rothe Farbe ertheilt. f
Alle die bisher betrachteten Grundſtoffe geben ſich leicht
als eigentliche Metalle zu erkennen und wurden zum
Theil auch ſchon von den Völkern des Alterthumes als Me⸗
talle erkannt. Denn viele von ihnen, namentlich Gold, Sil⸗
ber, Platina, Queckſilber, Kupfer und ſelbſt das Eiſen, we⸗
nigſtens in ſeinen hin und wieder nicht unbedeutenden, aus
der Luft gefallenen Maſſen, werden in ganz reinem (gediege⸗
nen) Zuſtand in der Natur gefunden, ebenſo auch Wismuth,
Arſenik, Spießglanz u. ſ. w. Und wenn auch die ebenge⸗
nannten, ſowie andre eigentliche Metalle nicht rein oder ge⸗
diegen, ſondern als Erze, verbunden mit Schwefel ſo wie
irgend einem andren Metall, oder als Oxyde, verbunden
mit dem Sauerſtoff der Luft vorkommen, laſſen fie ſich den⸗
noch meiſt ohne ſehr große Schwierigkeit nach den Geſetzen
der gewöhnlichen chemiſchen Verwandtſchaft in ihrer eigentlich
metalliſchen Form darſtellen. Ueberdieß zeichnen ſich alle Me⸗
talle im engeren Sinne durch eine Eigenſchwere aus, welche
die des Waſſers wenigſtens fünfmal übertrifft. Denn, ab⸗
geſehen vom Titan und Tantalmetall, deren Gewicht nicht
viel über 5 beträgt, haben unter den bekannteren Metallen nur
Arſenik und Chrom nicht ganz das ſechsfache, Tellur und
Spießglanz noch nicht das ſiebenfache, Zink, Zinn, Wis⸗
muth und Eiſen noch nicht das achtfache Gewicht des Waf-
ſers, während ſchon das Mangan mehr denn acht, das Kad⸗
mium, Molybdän, Kobalt mehr den 8 Nickel und Ku:
pfer faſt 9, das Uranmetall 9, das Silber 101%, Rhodium
und Palladium über 11, Queckſilber über 14, das Wolfram⸗
metall über 17, Gold 19 ½, Platina und Iridium 21 bis
23 mal ſchwerer ſind denn das Waſſer.
133
16. Der verſchwenderiſche Arme.
Bei der Erwähnung des Goldmachens im vorigen Cap.
iſt mir eine Geſchichte eingefallen von einem Manne, der
zwar das Gold nur vergeudet, nicht gemacht hat, aus deſſen
Verſchwendung aber dennoch die alten Goldmacher, ſobald
ihnen das Wie oder Wenn der Verſchwendung deutlich ge—
worden wäre, nicht bloß einen anſehnlichen Profit für ihren
Beutel, ſondern auch wichtige Aufſchlüſſe über ihre falſchbe-
rühmte Kunſt hätten entnehmen können.
An der C* * Gränze lebt ein Krämer von welchem man
mit Recht ſagen kann, daß er in ſeinem Leben mehr wegge—
ſchenkt hat als mancher reiche Graf, mehr als der gutthätige
Fürſtbiſchof von ** Und noch dazu machte der Mann feine
Geſchenke nicht in Kupfer oder Silber, denn dieſe beide gab
er nicht leicht umſonſt hinweg, ſondern in lauterem Golde.
Auch ſahe derſelbe bei ſeinen täglichen Verſchenkungen nicht
darauf, ob der, in deſſen Hand er, gleich einem großmüthi—
gen Wohlthäter, der nicht wiſſen laſſen will, was er thut,
die koſtbare Gabe hineingleiten ließ, ſein Freund oder ſein
Feind, Chriſt oder Jud, arm oder reich ſey, ſondern er übte
ſeine Freigebigkeit an Einheimiſchen wie an Fremden und
namentlich wurde Jeder der einen Kronenthaler bei ihm wechs—
len ließ mit einem Geſchenke an Gold von ihm bedacht.
Meine jungen Leſer werden dabei mit Recht fragen:
war denn der Mann ſo gar vermögend oder war er nur recht
unſinnig verſchwenderiſch? .
Ich kann darauf in Wahrheit verſichern, daß der Krä—
mer weder reich noch unſinnig war und daß Keiner von alle
Denen, die ihn kannten, ihn jemals für einen Verſchwender
gehalten hat. Im Gegentheil hielt man ihn in ſeinem Land⸗
ſtädtchen ſo wie in der ganzen Umgegend für einen Mann,
deſſen Sparſamkeit eher über das rechte Maaß hinausgieng
als unter demſelben blieb und der auch im Handel und Wan—
del, wo es ſeinen Vortheil galt, eher zu viel als zu wenig
der Klugheit ſich befleißigte. Der Mann war kein Spieler
und kein Trinker, in ſein Haus wie in ſeinen Mund kam
ſelten ein Glas von dem geringſten, wohlfeilſten Franken—
wein. Denn obgleich er ſelber einen kleinen Weinberg be—
ſaß, ſo fand er es, bei der Qualität ſeiner Trauben dennoch
rathſamer, dieſe an den Eſſigfabrikanten zu verkaufen, als
TER TRE N
für ſich und die Seinen ein Getränk daraus zu machen.
Und ſo ſparte der haushälteriſche Krämer auch in andren
Stücken ſo viel als nur möglich war, litt an ſich und den
Seinen weder Kleiderpracht noch Aufwand im Eſſen und
Trinken, denn, wie er das alte Sprüchwort oft im Munde
führte »Gutgeſchmäcke macht Bettelſäcke.s Auch war ihm
eine ſolche Sparſamkeit gar nicht zu verdenken, denn der
Mann hatte eine Frau und acht Kinder, dazu auch ſeine
alten Schwiegerältern zu ernähren, und von dem Ertrag
ſeines Krämergewerbes konnte er Nichts zurücklegen; wäre
in den Kiſten und Käſten des Mannes, welcher in ſeinem
Leben vielleicht Tauſende von Gulden in Gold weggeſchenkt hatte,
Nachſuchung gehalten worden, der Sparpfennig, den man
da gefunden hätte, würde ſich kaum auf etliche hundert Gul⸗
den belaufen haben.
Dies Alles klingt freilich höchſt ſonderbar und doch muß
ich noch Etwas hinzufügen, welches noch ſonderbarer lautet.
Es war als ob in der ſeltſamen Freigebigkeit jenes Krämers
etwas Anſteckendes auch für andre Menſchenſeelen läge, denn
alle die Leute, an welche er ſein Gold verſchenkte, gaben
daſſelbe wieder an andre Leute weg, ohne ſich ſelber Etwas
davon zu Nutze zu machen, bis zuletzt faſt alle dieſe Geſchenke
aus Hand in Hand zu einer königlichen Münzſtätte kamen,
welche das Gold nicht mehr ſo ohne Weitres an Jedermann
wegſchenkte, ſondern für ihren Landesherrn einen guten Ge⸗
winn daraus zog. Ich will nun auch ſagen, wie das Ganze
zugegangen iſt, was ohnehin ſchon oben S. 116 zum Theil
geſchehen iſt. i
In einem benachbarten Lande waren unter einer der vo⸗
rigen Regierungen kleine Silbermünzen: Sechskreuzer⸗- und
Dreikreuzerſtücke geprägt worden, die ſich, wenn ſie eine
Zeit lang in Curs geweſen waren, durch ein ganz beſondres
Colorit auszeichneten. Vielleicht war dem Landesherren, def-
ſen Gepräge ſie trugen, daran gelegen, daß auch das Bild—
niß auf ſeinen Münzen ein Zeugniß von ſeinem fortwähren⸗
den leiblichen Wohlbefinden geben ſollte, denn dieſes Bild—
niß, anſtatt mit dem Alter bleicher zu werden, bekam viel⸗
mehr ein fo rothbackiges Ausſehen wie die jungen Burſchen in
unſren Gebirgsgegenden haben; ſo blühend, wie man zu ſagen
pflegt, als eine bayeriſche Dampfnudel. Die Kunſt worauf
jene Verjüngung des Ausſehens beruhete, beſtund darin, daß
134
135
dem Silber jener kleinen Münzſtücke etwas mehr Kupfer bei⸗
gemiſcht war als gewöhnlich, und da die Welt, ſo wie ſie
nun einmal iſt, weniger Werth auf die Kunſt und auf das
Bildniß, als auf die Beſchaffenheit der rohen Maſſe legte,
aus der die Münzen geprägt waren, ſo wollte man dieſe
bald außer dem Lande und ſpäterhin ſelbſt im Lande nicht
mehr zu dem Werthe annehmen der auf dem Stempel aus⸗
gedrückt ſtund: der Werth der Sechskreuzerſtücke wurde all⸗
mälig auf vier, der der Dreikreuzerſtücke auf zwei Kreuzer
herabgeſetzt. Unſer Krämer war ſchon früher, weil er an
der Gränze wohnte, für ſeinen Rauch- und Schnupftabak,
ſo wie für Kaffee und Zucker faſt in lauter ſolchen Münz⸗
ſorten ausbezahlt worden und er ſelber kaufte, was er für
ſein Haus bedurfte, wieder um ſolches Geld ein. Als aber
die Zeit der Herabſetzung zuerſt in einem, dann in mehreren
andren Ländern herbei kam, da war hin und wieder mit
dem Einwechslen um den geringern und mit dem Auswechs⸗
len um den da und dort noch beſtehenden höheren Preis etwas
zu gewinnen, und der Krämer nahm an diefem Wech⸗
ſelgeſchäft mit vielen Andren welche es betrieben, einen thä⸗
tigen Antheil, indem er ſich dabei oft mit einem ſehr kleinen
Gewinn begnügte. Der gute Mann wußte nicht was für
ein Schatz dabei durch ſeine Hand gieng, und die Andren
ahneten das auch nicht, und wenn ſie es auch wirklich ges
wußt hätten, ſo wären ſie doch nicht im Stande geweſen
den verborgenen Schatz zu heben, wie dies die wohlunterrich—
teten Scheidekünſtler in der Münze thaten.
Die Sache verhielt ſich ſo: Jene rothwangigen, ſoge⸗
nannten Silbermünzen waren doch nicht fo ſehr zu verachten
als man gemeint hatte. Für den gewöhnlichen Gebrauch in
Handel und Gewerbe hatten ſie freilich nicht ihren angeblichen
Werth und es war nothwendig, daß man ſie außer Curs
ſetzte, aber das Silber das man zu ihrer Ausmünzung ge⸗
nommen hatte, enthielt, wie dies öfters beim Silber und
ſelbſt beim Kupfer der Fall iſt, etwas Gold, deſſen Quan⸗
tität, aus großen Maſſen, einen nicht unanſehnlichen Gewinn
brachte. Die Scheidekünſtler giengen nun ſo zu Werke: Sie
arfen die kleingemachte (granulirte) Maſſe jener Münzen
in kochende, ſtarke Schwefelſäure und alsbald löſte dieſe das
Silber und das Kupfer auf; dem Golde aber konnte ſie
nichts anhaben, dieſes fiel als ein freilich ſehr unanſehnli—
136
ches, Schwarzes Pulver zu Boden und konnte aus der Auflö⸗
ſung faſt ganz rein herausgewaſchen werden.
Wie aber, was wurde aus dem Silber? ſollte dieſes
verloren gehen? Keinesweges, auch kein Gran deſſelben gieng
verloren. Man brachte jetzt die Flüßigkeit in bleierne Tröge
und ſetzte ihr hier eine ſo große Portion altes Kupfer zu,
daß die Schwefelſäure nicht hinreichte um alles aufzulößen.
Augenblicklich verließ die Schwefelſäure, die ſich mit dem
Silber vereint hatte, dieſe Verbindung und warf ſich ganz
auf das Kupfer; das Silber, in ſchönem, reinen Zuſtand,
als ſogenanntes bergfeines Silber, wurde ausgeſchieden, die
Schwefelſäure aber bildete, ſo weit ihre angewendete Menge
dies zuließ, mit dem Kupfer den Kupfervitriol, der ein vor⸗
treffliches Farbematerial abgiebt, das bei unſren Gewerbs⸗
leuten in ziemlich hohem Werth und Preiſe ſteht.
Daraus iſt viel zu lernen, was ſich dem Verſtand in
ſehr einfachem Gleichniß verdeutlichen läſſet. Es ſteht Waſ⸗
fer auf unſern Feldern, wir machen eine Grube in den Bo:
den und das Waſſer, durch ſeine Schwere gezogen, fließt
ſogleich in die Grube ab. Wir machen neben der erſtern
eine noch tiefere Grube und das Waſſer verläßt jene und
fließt in dieſe hinein und ſo kann man zehen Gruben graben,
eine tiefer als die andre, das Waſſer wird ſich immer in die
tiefſte hineinſtürzen und umgekehrt erſt dann, wenn die tie—
ſieß ganz voll iſt, wird das Waſſer in die nächſt höhere ab—
ießen.
Ganz in ähnlicher Weiſe als der Zug der Schwere auf
das Waſſer und ſeine Bewegungen, wirkt auch der Antrieb
der chemiſchen e auf die verſchiedenen Grundftoffe,
Wenn man eine Miſchung von Eiſen und Blei mit Schwe—
fel in einem Tiegel zuſammenſchmilzt, dann tritt alsbald der
Schwefel an das Eiſen und verbindet ſich mit dieſem zu
Schwefeleiſen. So lange nun noch eine Spur von Eiſen in
dem Blei iſt, geht kein Theilchen des Schwefels an dieſes
über; erſt dann wenn alles Eiſen von dem Schwefel durch—
drungen und von demſelben aufgenommen iſt, verbindet ſich
der noch übrige Schwefel auch mit dem Blei zu Schwefelblei
Was in dieſem Falle der Schwefel that, das geſchahl
bei dem vorhin erwähnten Vorgang der Ausſcheidung des
Goldes und Silbers mit der Schwefelſäure. Wie ein Stück,
Holz, das in der Grube lag, zu welcher man dem Waſſer
137
den Zufluß eröffnet hat, durch dieſes von feiner Stelle ver:
drängt, und weil es in ihm nicht unterſinken kann, auf die
Oberfläche ausgeworfen wird, ſo drängt die Schwefelſäure,
indem fie ſich in die Verbindung mit dem Kupfer und Sil⸗
ber verſenkt, das Gold aus ſeiner Einmiſchung in dieſe Me—
talle heraus. Freilich ſtellt ſich hierbei unſerem Auge der
Vorgang der Ausſcheidung gerade umgekehrt ſo dar als bei
dem Holz und dem Waſſer, durch welches daſſelbe ſeiner
Ruheſtätte am Boden des Grabens enthoben und nach der
Oberfläche geworfen wurde; denn das Gold fällt als ſchwe—
res Pulver in der Flüſſigkeit zu Boden, ſtatt auf derſelben
zu ſchwimmen, wir haben es aber überhaupt in dem Gebiet
der ſogenannten chemiſchen Anziehungen mit einer Kraft zu
thun, welche zwar zuletzt nach demſelben allgemeinen Geſetz
wirkt als der mechaniſche Druck und Gegendruck der Schwere,
welche aber dennoch hierbei von ganz andrer, verſchiedenarti—
ger Natur und Abkunft iſt, ſo daß die Erſcheinungen, welche
ſie hervorruft, oftmals jene, welche die Verſchiedenheit der
eigenthümlichen ſo wie der allgemeinen Schwere bewirkt,
durchkreuzen und die ganz entgegengeſetzte Richtung nehmen.
Die bis zum Sieden erhitzte Schwefelſäure verbreitet
anfangs ihre Wirkung, ſo wie ſich ein austretendes Waſſer
über Felder und Wieſen ergießt, über beide noch übrige, für
ihren Einfluß zugängliche Metalle; ſie löſt das Kupfer wie
das Silber auf. Wenn man aber die Auflöſung in bleierne
Tröge bringt und hier der Säure das Kupfer in Ueberfülle
zu ihrer Sättigung darbietet, da thut man etwas Aehnliches
als der Landmann thut, wenn er einen tiefen Graben zum
Abfluß des Waſſers eröffnet, das ſein Grundſtück überſchwemmt
hat. Die Schwefelſäure ergießt ſich mit abwärts dringender
Kraft durch alle kleinſte Theilchen des Kupfers und wird
nur dann auch noch Silber in ſich aufgelöſt halten, wenn
nicht genug Kupfer ihr dargeboten iſt, um in der Verbin—
dung mit dieſem ganz aufzugehen.
Wir kehren noch einmal zur Beachtung des Goldes zu—
rück, das, bei der Abtrennung von den beiden andren Me—
tallen in der Auflöſung zu Boden fiel. So wie daſſelbe da,
nach dem Auswaſchen, als ein ſchwärzliches Pulver vor Au—
gen liegt, würde Niemand, dem Das was hier geſchahe un—
bekannt wäre, es für das halten was es iſt: für jenes edle
Metall, dem hier faſt keine ſeiner ſinnlich wahrnehmbaren
138
Eigenſchaften geblieben iſt als die Schwere. Doch eine leichte,
weitre Behandlung im Feuer giebt dem Metall ſeinen Glanz
und ſeine Farbe, ſo wie jenen Zuſammenhalt der Theile zu⸗
rück, der es (nach Cap. 15) zu ſo vielen Verarbeitungen ge⸗
ſchickt macht. |
In unſren Tagen weiß es jeder unterrichtete Goldſchmidt
daß auſſer dem Kupfer faſt in jedem Silber, welches unſre
Bergwerke liefern, etwas Gold enthalten ſey. Das Kupfer
bildet in dieſem Rohſilber drei Fünftheile, ja zuweilen die
Hälfte des Geſammtgewichtes, das Gold freilich meiſt nur
den tauſendſten, ja den zweitauſendſten Theil des Gewichtes
des Silbers. Dennoch iſt, bei dem hohen Werthe des Gol⸗
des, das Gewinnen auch dieſes kleinen Antheiles von Gold
ſo lohnend, daß die Scheidekünſtler ſich der Mühe uns das
Silber vollkommen vom Kupfer zu reinigen, umſonſt unter⸗
ziehen; wir erhalten von ihnen ſo viel Silber und Kupfer,
als in dem Geräthe oder Barren die wir ihnen zur Behand⸗
lung übergaben, enthalten waren, die kleine Quantität des
Goldes die bei der Auflöſung zu Boden fiel, dient ihnen als
Bezahlung für die Mühe.
Dieſes Alles iſt nun, wie ſchon geſagt, in unſren Ta⸗
gen eine bekannte Sache. Wenn aber, noch vor hundert
oder vor anderthalb hundert Jahren ein Scheidekünſtler, der,
wie faſt alle ſeine damaligen Kunſtgenoſſen voll von dem
Hirngeſpinnſt des Goldmachens geweſen wäre, aus dem Ku—
pfer oder Silber durch chemiſche Scheidung ſolch ein ſchwar—
zes Pulver gewonnen hätte, welches, bei weiterer Behand:
lung, unter der Hand zum lauteren Golde wird, der wäre
dadurch nicht wenig in ſeinem Wahn beſtärkt worden, daß
man ein Metall ins andre verwandlen, daß man namentlich
aus Kupfer, indem man ihm einen gewiſſen, giftähnlichen
Beſtandtheil nähme, Gold machen könne.
In Helmſtädt lebte noch zu Anfang dieſes Jahrhunderts
ein gar merkwürdiger Genoſſe der edlen Scheidekunſt, der Profef-
ſor Beireis; ein Mann welcher gerne von ſich ſelber ſprach
und Andre von ſich ſelber ſprechen machte, weil ſein Herz
von dem Wohlgefallen an ſeinem eignen Selbſt voll war.
Da er immer nur ſich und was ihn ſelber betraf ſahe, und
zum Beſchauen der Dinge, die auſſer ihm lagen nur das
Licht ſeines eignen, menſchlich armen Selbſt mitbrachte, be⸗
gegnete es ihm vielfältig, daß er jene Dinge nicht auf rechte,
139 *
wahre Weiſe ſahe und daß er dann auch auf unwahre Weiſe
über ſie urtheilte und ſprach. So zeigte er zuweilen auch
ſeinen Zuhörern Goldſtücke und ſagte das Gold dazu habe
er ſelber gemacht. Es mag ſich aber mit dieſer Ausſage
wohl ſo verhalten haben, wie mit ſeiner ruhmredigen Erzäh—
lung von dem großen Demant den er angeblich beſaß und
der ſo groß und koſtbar ſeyn ſollte, daß alle Kaiſer, Könige
und hohe Herrſchaften der Erde ihn nicht bezahlen könnten.
Gold konnte er allerdings aus Silber und auch aus japa⸗
neſiſchem ſo wie manchen ruſſiſchen Kopekenkupfer, auf dem
vorhin beſchriebenen Wege abgeſchieden oder auch durch die
Karminbereitung, darinnen er Meiſter war, gewonnen, nicht
aber gemacht haben. Der gute Mann kannte zwar die Be⸗
nutzung der Dämpfe zu allerhand künſtlichen Arbeiten und für
Dampfwägen noch nicht, aber in ſeinem Innern arbeitete er
immer mit Dampf und fuhr auf Dampf hoch daher.
17. Die Verwandlung des Niederen in ein
Höheres.
Ich will, obgleich ich ſo eben von der Unmöglichkeit
ſprach, durch unſre jetzige, menſchliche Kunſt ein Metall in
ein andres zu verwandeln, dennoch meinen jungen Leſern,
wenn ſie ihn noch nicht kennen, einen Fall erzählen, wo
ſtatt des Eiſens auf einmal Kupfer geworden iſt, und wenn
ſie an Ort und Stelle gehen wollen, können ſie noch jetzt
durch einen Wurf und den Zug eines Fiſchernetzes ſtatt eines
alten roſtigen eiſernen Hufeiſens ein ſchön glänzendes kupfer
nes gewinnen.
Ein Bergmann, ſo erzählt man, hatte einen eiſernen
Maßſtab, der in Nürnberg gefertigt und mit einer ſehr ge—
nauen Eintheilung in Zolle, in Linien und Zehntellinien ver—
ſehen war, beim Ausfahren aus der Grube, das heißt
beim Hinaufſteigen auf der Leiter (Fahrt) des Bergſchachtes,
verloren. Es war dem armen Manne viel an jenem freilich
ſchon ziemlich alten Meßſtab gelegen, aber bei aller ange—
wandten Mühe konnte er ihn nicht wieder finden; er war
allem Anſchein nach in das Grubenwaſſer gefallen Nach
einiger Zeit wurde der Sumpf (die Waſſeranſammlung in
der Tiefe) vielleicht durch Anlegung eines Stollens (Ablei—
tungskanals für das Waſſer) trocken gelegt und bei dieſer
140
Gelegenheit fand man den Meßſtab. Aber, wie merkwürdig,
dieſer war zu Kupfer geworden, und daſſelbe war auch an
einigen urſprünglich eiſernen Nägeln geſchehen, die man beim
Aufräumen am Boden des vormaligen Sumpfes fand. Es
gab noch Waſſer genug in jenem Grubengebäude, man wie⸗
derholte den Verſuch, legte alte eiſerne Hufeiſen, becherartige
Schalen und allerhand andre aus Eiſen gefertigte Dinge
hinein, und ſtatt des roſtigen eiſernen Hufeiſens zog man
nach einiger Zeit ein kupfernes hervor, aus der eiſernen
Schale war eine kupferne geworden. Wer hätte nicht jetzt
den Alchymiſten beiſtimmen und an eine Verwandlung des
einen Metalls in ein andres, des Eiſens in Kupfer glauben
mögen? *
Und doch verhielt es ſich damit ganz anders und ganz
einfach ſo wie in den Cap. 16 erwähnten Fällen. Derglei⸗
2
chen Waſſer, aus welchem man durch das Hineinlegen von
Eiſen das reine, ſogenannte Cämentkupfer gewinnt, finden
ſich an mehreren Orten, namentlich in Ungarn bei Neuſohl.
Insgemein ſind ſie da zu finden wo aus den Bergwerken das
Schwefelkupfer (der Kupferkies) in großer Menge gewonnen
wird. Denn wenn über das fein zertheilte Erz das Waſſer
hinfließt oder lange über ihm ſtehen bleibt, da verbinden ſich
der Schwefel und das Kupfer mit dem Sauerſtoffgas (davon
weiter nachher) und es entſteht ſchwefelſaures Kupfer (Vi⸗
triol), das ſich im Waſſer auflöſt, welches hierdurch einen
widerwärtig ſcharfen (grünſpanartigen) Geſchmack bekommt.
Wenn man nun Eiſen in ſolches Vitriolwaſſer legt, dann
äuſſert ſich alsbald in der Schwefelſäure der ſtärkere Zug,
das ſtärkere Fallen ſeines Stromes nach dem Eiſen. Dieſes
wird aufgelöſt in der Schwefelſäure und dem Waſſer, es
verſchwindet von ſeiner Stätte, an welche ſich jetzt in
vollkommen reinem, metalliſch glänzenden Zuſtand das Kupfer
anſetzet. Und weil an die Stelle jedes einzelnen, in der
Auflöſung aufgehenden Theilchens des Eiſens ein Theilchen
Kupfer tritt, ſo nimmt dieſes allerdings, dem Hauptumriſſe
nach, die Geſtalt an, welche das von ihm verdrängte Me⸗
tall beſaß, obwohl dabei ſeine Oberfläche oft ſehr uneben,
ſeine Maſſe nicht vollkommen dicht iſt. en
So müſſen wir auch hierinnen keine eigentliche Verwand⸗
lung des einen Grundſtoffes in einen andren, ſondern nur
eine Verdrängung des einen durch den andren anerkennen.
141
Ein im Werthe höher ſtehendes Metall hat ſich an diekStelle
des gemeineren, niedriger im Preiſe ſtehenden geſetzt, und die⸗
ſes Niedrigere iſt vergangen. Im Reiche des Geiſtigen ſind
ſolche Vorgänge der Veredlung, bei denen ſich das höhere,
beſſere Element der Strebungen und Geſinnungen an die
Stelle eines niedrerern, ſchlechteren Elementes ſetzt, nichts Un⸗
gewöhnliches noch ganz Seltenes. Aber in dieſem Reiche
giebt es auch Erſcheinungen die von einer wirklichen Vers
wandlung (Verklärung) des Niederen und Schlechteren in
ein Höheres und Beſſeres zeugen, denn es waltet da ein
Neues ſchaffender Geiſt, welcher wirket was und wo er will.
18. Die metalliſchen Grundſtoffe der Alkalien
und Erden.
Schon die Menge und die Allgemeinheit in welcher das
Eiſen auf unſerer Erde und noch mehr in den unzugängli—
chen Tiefen derſelben vorkommt, muß unſre hohe Beachtung
erregen. Aber es giebt noch andre metalliſche Körper, welche
wenigſtens auf der Oberfläche der Erde, in einer noch un—
verhältnißmäßig viel größeren Maſſe vorkommen, als alle
im vorhergehenden Capitel erwähnte, eigentliche Metalle zu—
ſammengenommen bilden würden.
Noch zu Anfang dieſes Jahrhunderts hätte kein Natur—
forſcher daran gedacht, die ſogenannten Erdarten, wie die
Kalk⸗, die Talk⸗, die Baryt- und die Thonerde für
etwas Andres zu halten als für einfache Elemente oder Grund—
ſtoffe. Daſſelbe galt von den ätzenden Laugenſalzen oder
Alkalien. Wenn unſre Scheidekünſtler den gewöhnlichen
edlen Granat in Thonerde, Kieſelerde und in die Oxyde des
Eiſens und Mangans zerlegt, wenn fie im böhmiſchen Gra-
naten auſſer den eben genannten Erden und Metallen auch
noch Kalk- und Talkerde fo wie Chrommetall aufgefunden
haben, dann glaubten ſie auf den letzten, tiefſten Grund der
chemiſchen Zuſammenſetzung jener Steine gekommen zu ſeyn;
an die Möglichkeit einer noch weitern Zerlegung dieſer Ele—
mente dachte Niemand. Zu den ſchon bekannten Erden hatte
man auch noch im Smaragd und Beryll die Beryll-, im
Hyazinth die Zirkonerde, im Strontian die Strontian—
erde, fo wie in einigen andren Steinarten die Ytter⸗ und
Thorerde entdeckt und auch noch ein neues Kali das Li—
142
thin unterfchieden und fie alle wurden eben fo wie die
Kalk- und Thonerde für einfache Elemente gehalten. Da
that ſich auf einmal im Jahr 1807 durch die Entdeckung
eines großen engliſchen Scheidekünſtlers, des Humphry
Da vy eine Pforte auf, durch welche man einen tiefen Blick
in das geheime Weſen der Grundſtoffe zu thun vermochte.
Dieſe ſcheinbaren oder wirklichen Grundſtoffe ſind ja überall
nichts Andres als Polariſationen der Materie, durch eine
Kraft der Natur, welche der des Lebens verwandt, ja Eins
mit ihr iſt. Wie das Leben ſelber, ſo iſt auch der Seele
des Menſchen in gewiſſem Maaße ein Gebrauch jener Natur⸗
kraft in ihre Gewalt gegeben, namentlich auf dem Wege der
elektromagnetiſchen Wechſelwirkungen, zu denen, wie wir
ſpäter ſehen werden, der Galvanismus gehört. Der eine
Pol einer Voltaiſchen Säule der deßhalb als Säure-Pol
bezeichnet werden kann, bringt überall den Grundſtoff aller
Grundſtoffe, das Sauerſtoffgas, aus ſeiner Verborgenheit her⸗
vor ans Licht, der andre Pol läßt den eigenthümlichen Ge⸗
genſatz (die Baſis) kund werden, welche gerade in dieſem
beſondren Körper jenem allgemeinen Centrum des irdiſchen
Weſens als äuſſerer Leib ſich zugeſellt hat. Wenn deshalb
die gewöhnlichen metalliſchen Oxyde dem Einfluß der beiden
Pole einer Voltaiſchen Säule ausgeſetzt werden, da tritt an
dem einen das Metall in ſeiner reinen ſogenannt elementa⸗
ren Form hervor. ;
Eine Verbindung des Kali mit Waſſer wurde in eben-
erwähnter Weiſe von Da vy der Einwirkung einer ſehr ſtar—
ken Voltaiſchen Säule ausgeſetzt und auf einmal zeigte ſich
der vermeintliche Grundſtoff polariſirt oder zerlegt; an dem
einen (negativen) Pole der Säure kam ein glänzendes Me⸗
tall zum Vorſchein: das Kaliummetall. Aus beiden ſo⸗
genannt feuerfeſten Alkalien: dem Pflanzen- wie dem Mine⸗
ralkali, eben fo wie aus der Kalk-, der Talk-, Baryt⸗,
Strontian- und Thonerde, mit einem Worte aus allen oben
genannten Erden und Alkalien gelang es auf gleichem Wege
eine metalliſche Grundlage darzuſtellen, ſo daß nun alle jene
vermeintlichen Elemente als Oxyde (Metallverbindungen mit
Sauerſtoff) erſcheinen, wie zwar der Zinnſtein, der Magnet⸗
eiſenſtein und der Rotheiſenſtein oder Blutſtein ihrer äußren
Beſchaffenheit nach dieſes auch ſind, nur darinnen aber von
dieſen verſchieden, daß bei ihnen das Sauerſtoffgas auf eine
143
Weiſe mit ſeiner metalliſchen Grundlage ſich verleiblicht hat,
wie dieſes bei keinem der im 15. Cap. beſchriebenen Metalle
geſchehen konnte. Denn darin iſt ſchon bei den eigentlichen
Metallen ein bedeutender Unterſchied zu finden, das einige
von ihnen, wie namentlich Platina, Gold, Silber, Queck—
ſilber, Iridium, Palladium, Rhodium, das Sauerſtoffgas,
durch deſſen Verbindung fie zu Oxyden werden können, nicht
bloß ſehr ſchwer aufnehmen, ſondern daß ſie dieſe durch
Menſchenkunſt erzwungne Verbindung auch wieder aufgeben
und das Sauerſtoffgas entlaſſen, wenn man ſie nur einer
ſtarken Erwärmung ausſetzt, welche bei den meiſten von ihnen
noch nicht einmal bis zum Glühen noch viel weniger aber
bis zum Schmelzen geſteigert zu werden braucht. Dagegen
muß man ſchon das Nickelmetall, wenn es zum Oxyd ge—
worden iſt, der Hitze des Porzellanofens ausſetzen, damit
ſein Sauerſtoffgas wieder frei werde und bei andren Metal⸗
len muß man dieſem geflügelten (luftartigen) Gaſte noch
eine andre Lockſpeiſe darreichen, wenn man ihn dazu bewe⸗
gen will, ſeine Verbindung mit dem Metall zu verlaſſen.
In vielen Fällen erweiſt ſich zu dieſem Zweck ſchon die Kohle
für ſich allein wirkſam, welche man mit dem glühenden Me—
talloryd in Berührung bringt, indem der Zug des Sauer-
ſtoffgaſes zu der brennbaren Kohle ein natürlich größerer iſt
als der zu dem bloß oxydirbaren Metalle. Schon bei den
Oxyden jedoch, namentlich des Tantalmetalles reicht das
Glühen derſelben im Schmelztiegel in Berührung mit der
gepulverten Kohle nicht mehr dazu hin, ſie in ihren metalli—
ſchen Zuſtand zurückzuführen; es gehört eine noch größere
Steigerung der chemiſchen Polariſation dazu, um den Zug
des Sauerſtoffgaſes zu dem Metall zu überwinden.
Gerade das Tantal ſo wie das Titanmetall nähern ſich
aber auch ſchon darinnen den metalliſchen Grundlagen der
Erden, daß fie viel leichter als die andren, eigentlichen Me-
talle ſind. Und in noch viel höherem Maaße iſt dies bei den
Metallen der Erden und der Alkalien der Fall. A
Wenn man noch vor wenig Jahrzehenden die Vermu—
thung hätte ausſprechen wollen, daß es mehrere Metalle
gebe, welche leichter wären als das Waſſer, ſo daß ſie auf
dieſem ſchwimmen könnten wie Holz, da würde man damit
verlacht worden ſeyn. Ein Metall und dabei ſo leicht zu
ſeyn, das ſtund mit dem früher feſtgeſtellten Begriff, den
144
man mit dieſer Art der Körper verband, in einem fo großen
und entſchiedenen Widerſpruch, daß man im Voraus lieber
würde geneigt geweſen ſeyn, den leichten Grundlagen der
Erden und Alkalien ihre metalliſche Natur abzuſprechen. Wer
könnte aber dieſes, wenn er nur einmal das aus der Kalk⸗
erde hergeſtellte Calcium, das aus dem Kali gewonnene
Kalium oder einen andren Körper dieſer Art geſehen hat.
Die ſilber- oder zinnweiße Farbe, welche einige von ihnen,
der ſtärkere oder ſchwächere metalliſche Glanz den alle zeigen,
die Eigenſchaft ſich mit dem Queckſilber oder mit einem Me⸗
tall von ihrer eignen Familie und ſelbſt mit Spießglanz,
Zinn, Wismuth, Blei zu verbinden, (zu amalgamiren) ihre
Schmelzbarkeit, ja bei einigen die Geſchmeidigkeit, ſprechen
zu deutlich für ihre metalliſche Natur. |
Man darf wohl fagen, daß kaum ein andres Gebiet der
Naturwiſſenſchaft dem Antrieb der zum Erkennen des Grun⸗
des der Dinge im Menſchengeiſte liegt, eine ſo mannichfache
Nahrung darbiete, als die Chemie oder Scheidekunſt. Eine
ſo jugendlich friſche Wißbegier, wie die des Duval war,
würde mit demſelben regen Intereſſe, mit welchem die alten
Alchymiſten die Wandlungen der in ihren gläſernen Retorten
vermiſchten, dem Feuer ausgeſetzten Stoffe, — ihr Farben⸗
ſpiel, ihre Bewegungen — beobachteten, bei jenen Erſchei—
nungen verweilen, die ſich uns in der unentdeckten Welt der
Erd > und Kalimetalle kund geben, und würde mit Luft den
Faden der Aehnlichkeiten folgen, der ſich aus dieſem Gebiet
der Natur durch die andren hindurchzieht. Wir legen eine
Kugel des ſilberweißen, glänzenden Kalimetalles auf die Ober—
fläche einer Queckſilbermaſſe, der wir vorher durch Anhau—
chen eine Befeuchtung mittheilten und alsbald ſetzt ſich die
Kugel in eine drehende (rotirende) Bewegung und beſchreibt
zugleich eine Bahn auf dem Queckſilber, deſſen Oberfläche
hierbei im erſten Augenblick von dem Beſchlag der Feuchtig⸗
keit rein geworden iſt, jetzt aber dagegen ſich von auſſen her
mit einem andren feinen Ueberzug bedeckt, der aus einer Ver⸗
bindung von Kali mit dem anfänglich von dem Queckſilber
dann aus der Luft angezogenen Waſſer beſteht. Die Kugel
des Kaliums, das bei der Bewegung deſſelben zum Oxyd
(zum Kali) und feiner wäſſrichen Verbindung (zum Hydrat)
geworden iſt, beſchreibt, ſo wie rings umher der Ueberzug
anwächſt, einen immer kleineren, engeren Kreis und in 85
U:
145
Augenblick, in welchem fie ganz verſchwindet, iſt das Queck—
ſilber ganz mit der dünnen Lage des Kalihydrats bedeckt.
Wenn man eine Metallkugel derſelben Art auf das Waſſer
legt, dann geräth dieſelbe alsbald in eine raſche Fortbe—
wegung, dabei entwickelt ſich große Wärme und eine röthli⸗
che Flamme, bei deren Verlöſchen eine kleine, perlenklare
Kugel zurückbleibt, die jedoch gleich nach ihrem Erſcheinen
mit einem knallenden Geräuſch ſich zerſetzt. Das Kalimetall
it hierbei durch fein Verbrennen mit dem Sauerſtoffgas des
Waſſers in Oxyd (in Kali) verwandelt worden und die Er—
hitzung hatte zugleich einen ſo hohen Grad erreicht, daß
ſelbſt das frei werdende Waſſerſtoffgas (wovon ſpäter) ſich
entflammte. Von ähnlichen Erſcheinungen iſt die Oxydation
mehrerer Kali- und Eiſenmetalle begleitet und wir begegnen
hier zum erſten Male der Wirkſamkeit jener Naturkräfte,
welche, wenn auch der Urſache nach verſchieden, dennoch nach
einem und demſelben Geſetz ſelbſt die Bewegungen der Welt—
körper um ihre Axe und in ihren Bahnen begründen.
Noch räthſelhafter als die Natur und die Eigenſchaften
der bisher erwähnten Kali- und Erdmetalle, erſcheint uns
ein andrer metalliſcher Körper: die Grundlage des flüchtigen
Laugenſalzes oder Ammoniaks, — deshalb Ammonium
genannt. Wir hielten, in Folge der bisherigen Erfahrun—
gen, den Grundſatz feſt, daß die Metalle einfache, nicht
weiter zerlegbare Grundſtoffe oder Elemente ſeyen. Hier,
am Ammonium, finden wir auf einmal ein Metall das
ſeinem Weſen nach einer Polariſation, einer Zerlegung in
zwei geſchlechtlich ſich entgegenſtehende Stoffe, den Stickſtoff
und Waſſerſtoff fähig iſt. Welche Erweiterungen, welche
Veränderungen mögen noch unſren Anſichten über die Ele—
mente und den eigentlichen Grund ihres Auftretens ſo wie
ihres feſten Beharrens in der Körperwelt bevorſtehen, davon
ir Wiſſenſchaft in ihrem jetzigen Zuſtand noch keine Ahnung
hat | |
Die metalliſchen Grundlagen der Alkalien und Erden
unterſcheiden ſich auch dadurch von den eigentlichen Metallen,
daß ſie in reinem Zuſtand oder ſelbſt in dem der Vermen—
gung des einen von ihnen mit dem andren ſich nirgends da
erhalten können, wo Waſſer oder Luft mit ihnen in Berüh—
rung kommen, ſondern ſie müſſen in dieſem Falle alsbald
mit dem Sauerſtoffgas ſich verbinden und oxydiren. Hierin
10
146
nen ſind ſie ſchon dem Waſſer, jenem bedeutungsvollen Ele⸗
ment, verwandt, das überall bei den Vorgängen des orga⸗
niſchen Lebens ſo wie den polariſchen Spannungen der unor⸗
ganiſchen Körperwelt als Vermittler und Theilnehmer ein⸗
tritt. Denn auch jener Grundſtoff des Waſſers, welcher dem
Metall der Oxyde entſpricht: das Waſſerſtoffgas, kann ſich
in reinem Zuſtand in der Außenwelt nicht Teicht erhalten,
fondern wird bald wieder in Verbindung mit dem Sauer⸗
ſtoffgas zu Waſſer. | 4
Waſſer auf der einen und die Erdveſte der Gebirge, an
die ſich das ganze bewohnbare Land anſchließt, auf der
andren Seite, bilden die Oberfläche unſerer Erde. Das
aber, was der Erdveſte ihren Hauptbeſtand, dem Meere ſeinen
eigenthümlichen Gehalt giebt, ſind die Oxyde der Erd- und
Kalimetalle, oder mit andren Worten die Erden und Alka⸗
lien ſelber. Die Thonerde iſt ein Hauptbeſtandtheil der Ur⸗
oder Hochrückengebirge, aus Kalkerde beſteht ein unermeßli⸗
cher Theil der Gebirgszüge, der Hügel, ſo wie des ebenen
Landes, das Mineralkali oder Natron erfüllt als Hauptbe⸗
ſtandtheil des Kochſalzes das ganze Weltmeer ſo wie die
Salzſeen und Salzlager einzelner Länder. Selbſt in dem
Reiche der organiſchen Natur: in den Pflanzen- wie in den
Thierkörpern werden die Kalkerde und die Alkalien gefunden,
jene, ſelbſt noch im menſchlichen Leibe zum Knochen geſtal⸗
tet, während von den Alkalien das Natron, in Form des
Kochſalzes den Säften beigemiſcht iſt; ſtatt des Natrons oder
Mineralkalis kommt in den meiſten Gewächſen das Pflan⸗
zenkali vor.
Eben ſo wie ſich an den Metallen dieſer Ordnung ein
auſſerordentlich ſtarker Zug zum Sauerſtoff kund giebt, wird
auch noch an ihren aus der Verbindung mit dem Sauerſtoff
entſtandenen Oxyden derſelbe Zug gefunden, Und zwar in
geſteigertem Grade, indem er nicht mehr an dem feineren,
luftartigen Sauerſtoffgas ſeine Befriedigung findet, ſondern
ſtatt ſeiner nach den ſchon gröber körperlichen Säuren gerich⸗
tet iſt. Das Oxyd des Kalkmetalles iſt der ätzende oder ſo⸗
genannt ungelöſchte Kalk, die Oxyde des Kaliums oder
Natriums ſind die ätzenden Kalien. Der gebrannte oder un⸗
gelöſchte Kalk zieht nicht nur das Waſſer mit einer ſolchen Heftig⸗
keit an, daß hierbei eine große Hitze ſich erzeugt, ſondern
auch die Kohlenſäure, oder, mit noch größerer Begierde die
147
Schwefel⸗, die Phosphor- und Flußſäure; ſehr häufig wird
er auch mit der Kieſelſäure (nach Cap. 21) vereint gefunden.
Das Oxyd des Natriums: das ätzende Mineralkali oder
Natron hat bei ſeinem polariſchen Hervortreten in der irdi⸗
ſchen Körperwelt Gelegenheit gefunden, ſich mit einem Stoffe
zu verbinden, von deſſen intereſſanten Eigenſchaften wir in
einem der nächſten Capitel ſprechen werden: mit dem Chlor
oder der früher ſogenannten Salzſäure. Ohne das Er⸗
zeugniß dieſer Verbindung: ohne Kochſalz würde es um
den Haushalt des einzelnen Menſchen, wie ganzer Staaten,
übel beſtellt ſeyn. f
Die Oxyde der Alkalien, fo wie der vier alkaliſchen Er⸗
den: des Kalkes, Barytes, Strontians und Talkes, haben
vor ihrer Verbindung mit dem Waſſer und den verſchiedenen
Säuren eine zerſtörende (ätzende) Wirkung auf die organi⸗
ſchen Körper, welche namentlich bei dem Oxyd des Baryt—
metalles ſo weit geht, daß man daſſelbe in Beziehung auf
den Menſchen und das Thierreich in die Reihe der lebens⸗
gefährlichen Gifte ſtellen kann. Die Oxyde der andren oben
genannten Erden erhalten ſich auch ohne eine weitere Ver⸗
bindung mit Säuren und Waſſer als ſelbſtſtändige Körper
und zeigen keine ätzend-zerſtörende Wirkſamkeit.
Selbſt noch in ihrem vielfach verhüllten und verkleideten
Zuſtand wirken die Metalle der Kalien und kaliſchen Erden
mächtig aufregend in die Naturverhältniſſe der Erde und ihrer
lebenden Weſen ein, noch viel gewaltiger mußte ihre Wirk⸗
ſamkeit ſeyn, wenn ſie einſt in reinem Zuſtand, in ihrer
entſchiedenen metalliſchen Polarität hervortraten. Welche
Gluth der Wärme mußte bei der Verbindung der unermeß-
lichen Mengen des Kalkmetalles mit dem Sauerſtoffgas ſich
erzeugen, welche Bewegungen mußten bei dieſem Vorgange
in den einzelnen Theilen ſo wie in der Geſammtmaſſe der
5 e edo erregt werden! Noch jetzt mag es in den
riefen der Erdveſte hin und wieder einzelne Maſſen der Erd—
metalle geben, welche, bei dem Feſtwerden ihrer Umgebung,
von dem Zutritt des Waſſers und der Luft abgeſchloſſen
wurden, und die nun, wenn ſich dem Waſſer auf irgend eine
Weiſe Zugang zu ihnen eröffnet, jene Erderſchütterungen, und,
wo die Möglichkeit dazu da iſt, manche jener feurigen Durchbrüche
durch die obere Rinde des Planeten bewirken, die wir an
den Vulkanen der Erde kennen lernen. 1
10
ey . Wr
148
19. Ein Capitel über die Reinlichkeit.⸗
Auf meiner Reiſe und während meines kurzen Aufent⸗
haltes in Aegypten habe ich öfters mit innigem Erbarmen
die kleinen Kinder der dortigen, in Noth und Elend ſchmach⸗
tenden Fellahs oder Bauern betrachtet. Dieſe armen Klei⸗ 4
nen ſaßen ganz nackt oder in einige Lumpen gehüllt vor den
lehmenen Hütten und waren im Geſicht wie am ganzen Kör⸗
per ſo von Schmutz bedeckt, daß man ihre eigentliche Haut⸗
farbe nicht erkennen konnte. Vor Allem hatte ſich an den
Augenliedern und Augenwinkeln der Staub und Schmutz ſo ange⸗
ſetzt, daß die Augen ſelber dadurch in große Gefahr kamen, denn
dieſe ſahen auch meiſt roth und entzündet aus und mochten ſo
ſchmerzhaft ſeyn, daß die bedauernswürdigen Kinder vor dem
größeren Schmerz den kleineren, den ihnen die vielen Flie-
gen machten, die ſich an ihre Augen ſetzten, gar nicht zu be⸗
merken ſchienen, denn ſie machten nur ſelten eine Bewegung
um dieſes Ungeziefer zu verfcheuchen; ihr halberblindetes Auge
ſchaute ſtarr und verlangend auf den Fremden hin, ob ihnen die⸗
ſer vielleicht einen Biſſen Brodes reichen möchte. Eine wohl—
thätige europäiſche Dame hat mehrere ſolche unglückliche Kin—
der in ihre Pflege genommen, hat ſie gewaſchen, gereinigt
und gekleidet, namentlich an die Reinigung der Augen große
Sorgfalt gewendet, und die Kinder, als ſie aus dem Elend
ihres Schmutzes heraus waren, wurden ſo hübſch, ſo fröhlich
und ſo munter, daß man ſie nach wenig Wochen gar nicht
wieder erkannte.
An Waſſer, zum Reinigen ihrer Kinder und der Lum—
pen welche dieſe bekleiden, fehlt es jenen ägyptiſchen Fellahs
in der That nicht. Sie haben meiſt den Nil und ſeine Ka—
näle, oder einen Theil des Jahres hindurch, die Waſſermaſſen
in ihrer Nähe, welche der austretende Strom in den Tiefen
des Landes zurückläßet. Aber der ſchwere Druck der auf ihnen
laſtet, der Frohndienſt, härter noch als jener, unter welchem
einſt hier die Israeliten ſeufzten, macht ſie für alle menſchliche
Gefühle auſſer für das der täglichen thieriſch leiblichen Be⸗
dürfniſſe, und der Müdigkeit unempfindlich, ſie denken nur
an die nothdürftige Sättigung, ſonſt aber an keine weitere
Pflege des Leibes.
Auch die Beduinen, welche uns durch die Wüſte nach
dem Sinai und dann weiter nach Akaba, ſo wie jene die uns
. 149
durch die Wüſte der Araba geleiteten, rieben ſich, während
der Reiſe, meiſt nur mit Sand ab, ſtatt ſich mit Waſſer
zu waſchen; aber ſie hatten dazu guten Grund, denn das
Waſſer in den Schläuchen die ihre Kamele trugen, war
ihnen kaum hinreichend zum Trinken zugemeſſen. Und wenn
dieſe Leute, auf denen kein ſo hartes Joch drückt als auf
den ägyptiſchen Fellahs, ſondern welche in ihrer Wüſte freier
aufathmen und freier ſich bewegen, eine Gelegenheit fanden
mit Waſſer ſich zu reinigen, da benutzten ſie dieſelbe gern;
man konnte es den einzelnen Leuten dieſer Art, denen man
begegnete, an ihrer Reinlichkeit anſehen, ob ſie zu einem
freieren, ſich wohler befindenden Stamme oder zu einem äuſ—
ſerlich minder glücklichen gehörten.
Ein mit Recht berühmter, einſichtsvoller Gelehrter, J.
Liebig in ſeinen chemiſchen Briefen (S. 100) ſpricht den
Satz aus: daß der gröſſere oder geringere Verbrauch der
Seife einen Maaßſtab für den Wohlſtand und die Cultur
der Staaten abgeben könne, denn der Verbrauch dieſes Rei—
nigungsmittels »hängt nicht von der Mode, nicht von dem
Kitzel des Gaumens ab, ſondern von dem Gefühl des Schö—
nen, des Wohlſeyns, der Behaglichkeit, welches aus der
Reinlichkeit entfpringt.» Ein Land, in welchem bei gleicher
Einwohnerzahl ungleich mehr Seife verbraucht wird als in
einem andren, berechtigt uns zu dem Schluſſe, daß der Zu—
ſtand ſeiner Bewohner ein äuſſerlich wohlhabenderer und ge—
bildeterer ſey als der Zuſtand der andren, die von Seife
weniger Gebrauch machen. Und nicht nur auf den Stand⸗
punkt der äuſſeren Cultur, auch auf die tiefere innerliche Bil-
dung des Geiſtes und Herzens, auf das wahre Wohlbefin⸗
den des inwendigen Menſchen, läßt uns die Reinlichkeit im
Aeuſſerlichen einen Schluß machen. Ein Gottesgelehrter des
vorigen Jahrhunderts ſprach einmal die Behauptung aus,
daß ein unreinlicher Menſch kein Chriſt ſeyn und daß ein guter
Chriſt auch an ſeinem auswendigen Menſchen keine Unſau⸗
berkeit dulden könne. Und in der That jene Wahrheit: daß
auch der Leib des Menſchen dazu beſtimmt ſey ein Tempel Gottes
zu werden und zu ſeyn, iſt unſrer Natur nicht von außen als ein
gegebenes Gebot aufgedrungen worden, ſondern ſie gehet aus
einem tiefen, lebendigen Bedürfniß unſres Weſens ſelber her—
vor. Es giebt Hütten der Armuth, in denen die größte
Reinlichkeit herrſcht, weil in den Herzen ihrer Bewohner
I n 7 N
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He“
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ein Geiſt der Zucht und der höheren Ordnung waltet und
es giebt wohlgebaute Häuſer, deren innerer Zuſtand von dem
Gegentheil zeuget. |
Zum Reinigen unfrer Wäſche, unfrer Zimmerdielen und
vor Allem unſres Leibes, gewährt die Seife eines der beſten,
wirkſamſten Mittel. Sie ſelber beſtehet zwar ſchon aus der
Verbindung eines ätzenden Laugenſalzes mit einem öligen
oder fettartigen Stoffe, aber die ätzende, auflöſende Eigen⸗
ſchaft wirkt aus ihr noch immer ſo kräftig hervor, daß ſie
eine Verunreinigung mit allerhand organiſchem Anflug und
Abſatz leicht hinwegzunehmen vermag. Nicht nur uns, ſon⸗
dern ſchon den Völkern des früheſten Alterthums iſt deshalb
der Gebrauch der Seife bekannt und ein weſentliches Bedürf-
niß geweſen. Wir finden eine Erwähnung dieſes Gebrau⸗
ches ſchon in den Schriften des alten Teſtamentes bei Je-
remias Cap. 2 V. 22 und Maleachi 3. Cap. V. 2. Zu
des römiſchen Naturforſchers Plinius Zeit nahm man an,
daß die alten Gallier unter allen Völkern des Abendlandes
zuerſt die Bereitung und Anwendung der Seife gekannt hät⸗
ten (Plin. H. n. XXVIII, 12, 2) und auch für unſer deut⸗
ſches Volk erſcheint es, nach dem vorhin Geſagten als kein
unbedeutender Ruhm, daß zu jener Zeit die Völker Italiens
ihre Seife aus Deutſchland bezogen. Sind es doch jetzt noch
die Nachkommen, oder wenigſtens in Beziehung auf die Wohn⸗
ſtätte die Nachfolger der beiden genannten Völker: die Fran⸗
zoſen und unter den deutſchen Stämmen die reinlichen Nie⸗
derländer und Bewohner der Nordſee-Küſtenländer, welche
im allgemeinen Verbrauch jenes Reinigungsmittels allen an⸗
dern Völkern von Europa vorangehen.
Nicht nur den höheren Ständen ſondern auch dem Volke
des Mittelſtandes hat ſich, bei allen gebildeten Völkern, der
Gebrauch der Seife unentbehrlich gemacht. Als deshalb einſt
durch die ſtarke Auflage, welche auf dem Gewerbe der Seifen⸗
ſieder und dem Verkauf ihrer Arbeit laſtete, der Ankauf der
gebräuchlichen Seife für das ärmere Volk ſehr erſchwert war,
da erfanden ſich die Landleute in England ein Erſatzmittel
aus der Aſche des Farrenkrautes, deren ausgelaugte Potaſche
5 a thieriſchem Fett zu einem guten Reinigungsmittel ver⸗
anden. 5
Eben ſo wie dieſe engliſchen Bauern benutzten ſonſt und
benutzen zum Theil noch jetzt unſre Seifenſieder das Pflan⸗
151
zenfali zur Bereitung der Seife. Man gewinnt dieſes da⸗
durch, daß man die Aſche verſchiedener Gewächſe auslaugt
und dann die Lauge abdampft bis zuletzt ein blaulich oder
graulich weißer Bodenſatz zurückbleibt, der unter dem Na⸗
mender Potaſche bekannt iſt. Aus ſehr vielerlei Arten von Ge⸗
wächſen, Bäumen, Geſträuchen und Stauden, aus der Aſche
unſres (vornämlich des harten) Brennholzes wie aus der
der Weinranken und des Strohes läßt ſich dieſe bereiten,
und in ſolchen Ländern in denen noch weit ausgedehnte Wal—
dungen den Boden bedecken, deren Holzüberfluß großentheils
unbenutzt verfaulen müßte, verbrennt man ganze Maſſen des bei
uns ſo koſtbaren Holzes nur um aus der Lauge der Aſche den
am leichteſten verſendbaren Gehalt der Potaſche herauszuzie⸗
hen. Auf ſolche Weiſe erzeugte man früher und zum Theil
noch jetzt in Nordamerika eine ungemeine Menge von Pota⸗
ſche, von welcher jährlich nur allein über Neuyork 20 bis
30,000 Fäſſer nach Europa ausgeführt wurden. Eben ſo
lieferten die Walddiſtricte des ruſſiſchen Reiches fo wie Nor:
wegens große Maſſen von Potaſche, und auch in Deutſchland
wie anderwärts bereitete man ſie aus der Aſche der Herd—
feuer und großen Heitzſtätten der Fabriken in nicht unbedeu⸗
tender Menge. Aber die Potaſche iſt kein reines Pflanzen⸗
kali, ſondern ſie enthält von dieſem aufs Höchſte nur 60 bis
63 Prozent, ja weniger als die Hälfte ihres Gewichtes, denn
auſſer dem Waſſer und der Kohlenſäure, welche in die Ver⸗
bindung eingiengen, enthält ſie erdige Theile, vornämlich
Kieſelerde und Schwefelſäure. Auch ſteht die Seife, die
man unmittelbar mit der Lauge der Holzaſche (dem Pflan⸗
zenkali) bereitet, an Feſtigkeit und Güte jener weit nach,
welche mittelſt des Mineralkalis gewonnen wird, weshalb
man auch der Miſchung der Held eng und des Fettes,
wenn man ſie zu Seife einſott, um ihr mehr Feſtigkeit zu
geben, Kochſalz zuſetzte, deſſen Mineralkali oder Natron ſich
zum Theil mit dem Fette verband, während ſeine Salzſäure
ſich mit dem Pflanzenkali der Lauge vereinte.
Man konnte ſich indeß dieſe Mühe erſparen und oben⸗
drein noch eine viel beſſere Seife ſich verſchaffen, wenn man gleich
von vorn herein eine Auflöſung des Natrons ſtatt der Holz⸗
aſchenlauge verwendete. Dieſes kräftig ätzende Laugenſalz
iſt, wie ſchon erwähnt, in unermeßlicher Menge auf der Erde
vorhanden, denn mit der Salzſäure verbunden bildet es das
152
Koch- und Seeſalz, durch welches das Gewäffer der Meere
zur ſalzigen Fluth wird. Aus jedem Pfund des Seewaſſers
läßt ſich, wo nicht große Flüſſe in der Nähe ihren Auslauf
nehmen, durch Abdampfen ein Loth und darüber an Koch⸗
ſalz gewinnen und wo das Klima dies erlaubt, bedarf man
zu dieſem Gewinnen des Salzes keines künſtlichen Feuers,
ſondern nur der Einwirkung der Sonnenwärme auf das in
ſeichten Buchten oder in künſtlich angelegten Gräben ſtehende
Seewaſſer. Und nicht nur das Meer, auch das Land, in
den Lagern ſeiner Gebirgsarten, enthält ungeheure Maſſen
von Kochſalz, welches theils durch Auswaſchen aus den mit
ihm verbundenen Thon und vormaligen Meeresſchlamm, ſo
wie in vollkommen reinem Zuſtand gewonnen wird.
Aber all dieſer Reichthum an Natron des Kochſalzes
wäre für ſich allein weder den Seifenſiedern noch den Glas-
fabricanten benutzbar, denn es iſt mit dem Chlor (der Salz⸗
ſäure) verbunden und muß erſt mit vieler Arbeit aus dieſer
Verbindung hervorgezogen werden. Darum erhielt man frü—
her die Soda oder das ungereinigte Mineralkali auf andren
leichter gebahnten Wegen. Daſſelbe wird in einigen Län⸗
dern, namentlich in Aegypten, an den dortigen Natronſeen,
ſo wie in Ungarn, im bihorer Comitat, zwiſchen Debrezin
und Großwardein und an andren Salzſeen, als kohlenſaures
Natron gefunden, welches ſich ziemlich leicht von dem ihm
beigemiſchten ſchwefelſauren Natron und Kochſalz reinigen
läſſet und von ſeiner Kohlenſäure eben ſo wie der kohlenſaure
Kalk und die Potaſche durch die Hitze befreit wird. Aber
auch ein Theil des Pflanzenreiches bietet in ſeiner Aſche dem
Menſchen das Mineralkali oder die Soda dar. Dieſes ſind
vor Allem einige Familien der am Meeresſtrand oder auch
auf ſalzreichem Boden mancher Binnenländer vorkommenden
Gewächſe, namentlich die Salſola- und Salicornienarten,
ſo wie manche Seegräſer oder Tangarten. Durch das Ver—
brennen dieſer Pflanzen und das Auslaugen ihrer Aſche er-
hält man in den ſpaniſchen Küſtengegenden eine ſolche Men-
ge Soda, daß davon jährlich viele Schiffsladungen (meift
nach Holland) ausgeführt werden. Eine nicht minder große
Ausbeute an Soda gewinnt man auf die gleiche Weiſe in
Sizilien und vornämlich auf der kleinen Inſel Uſtic a; bei
Aſtrachan ſo wie ſelbſt an der norwegiſchen Küſte, laugt
man die Aſche der Seetangarten aus.
153
Der menſchliche Verſtand und feine Erfindungsgabe follte
übrigens nicht auf halbem Wege ſtehen bleiben; was die
Katurfraft im lebenden Körper der Pflanze that, die Aus—
ſcheidung des Natrons im Seeſalz aus feiner Verbindung
mit dem Chlor, ſollte auch ſeiner Kunſt gelingen. Wie einſt
die Noth das Landvolk in England zum Auffinden eines
Stoffes in den Wurzeln der Farrenkräuter hintrieb, der bei
der Seifenbereitung dienen konnte, ſo leitete die Noth die
Gewerbsleute Frankreichs auf einen Weg zum Gewinnen des
reinen Natrons, welcher zwar nicht unbekannt, bis dahin
aber noch wenig betreten war. Frankreich, das Vaterland
der großartigſten Seifenfabrication hatte jährlich zunächſt aus
Spanien um 20 bis 30 Millionen Franken Soda bezogen,
obgleich der Preis für den Centner nicht über 24 bis 30 Fr.
betrug. Als aber während des Krieges, den Napoleon mit
England angefangen hatte, die Zufuhr dieſes Stoffes gro—
ßentheils abgeſchnitten war, da mußten viele Seifen- und
Glasfabriken ihre Arbeiten einſtellen und der Preis für Seife
wie für Glas ſtieg zu einer unverhältnißmäßigen Höhe. Aber
wenn auch nicht der freie Verkehr auf dem Meere, war doch
das Meer ſelber dem erfindungsreichen Volke geblieben. Man
wußte ſchon längſt, daß man aus dem Kochſalz dadurch das Na—
tron gewinnen könne, daß man die Salzſäure deſſelben durch
eine ſtärkere Säure austreibt. Wenn man 100 Pfund Koch—
ſalz mit ohngefähr 80 Pfund concentrirter Schwefelſäure ver—
miſcht, dann entweicht das Chlor in Dampfform, und es
bleibt ſchwefelſaures Natron oder Glauberſalz zurück. Auch
dieſe neue Verbindung des Natrons mit der Schwefelſäure
wird dadurch getrennt und aufgelöſt, daß man Potaſche,
noch beſſer Kreide, mit dem Glauberſalz vermiſcht und dieſe
Miſchung in einem Reverberirofen ſo lange der Erhitzung
ausſetzt, bis die Maſſe weich zu werden anfängt, wo ſie
dann auf eiſernen oder ſteinernen Platten herausgezogen und
zerſtückt wird. Statt der Kreide kann man auch dem Glau—
berſalz vier Fünftheile Kreide und zwei Fünftheile Kohle zu—
ſetzen. Die Kohlenſäure, welche in der Kreide mit Kalkerde
verbunden oder bei dem andren Verfahren durch den Sauer—
ſtoff, den ſie der Schwefelſäure entzog, gebildet war, vereint
ſich bei dieſem Verfahren mit dem Natron, während die
Kalkerde, der die Kohle ebenfalls ihren Sauerſtoff entriſſen
hat, und die hierdurch in metalliſchen Zuſtand zurückgekehrt
* * ae 1 1
154
iſt, zum Schwefel⸗Kalkmetall wird, welches ſchwerauflöslich
im Waſſer iſt. So war auf einmal eine Weiſe gefunden,
das Natron, ſtatt es von auswärts her zu beziehen, im
Lande ſelber zu gewinnen und ſtatt daß während der Han⸗
delsſperre der Preis für das Kilogram Soda auf 160 Fr.
geſtiegen war, ſank er jetzt ſogleich für das reine, kohlenſaure
Natron auf 80, ſpäter ſogar auf 20 Fr. herab.
Das, was man erſt in neueſter Zeit als einen ergiebi⸗
gen Nebengewinn bei jener Natronbereitung ſchätzen gelernt
hat, das Chlorgas, war für die Sodafabriken anfangs eine
höchſt läſtige Erſcheinung, und iſt ihnen dieſes zum Theil
noch. Da wo dieſes Gas den Oefen und Schornſteinen jener
Fabriken entweicht, verbreitet es allenthalben Tod und Ver⸗
derben in der Pflanzenwelt, macht jedes Blatt, jedes grüne
Gras welken und abſterben. Auch für Thiere und Menſchen
iſt die Wirkung jener Dämpfe ſchädlich und beläſtigend, doch
wiſſen die Letzteren dem verderblichen Einfluß auf ihren eige⸗
nen Leib eher zu begegnen als ihn von der Pflanzenwelt ab⸗
zuhalten. Man hat deshalb die Gebäude, welche zur So—
dabereitung aus Kochſalz und Schwefelſäure dienen, wo mög⸗
lich in unbewohnte und unangebaute Gegenden verwieſen und
im ſüdlichen Frankreich hat man ſie in die öden Gebirgs⸗
ſchluchten von Septieme verlegt, deren dürrem Boden ſchon
an ſich kein grüner Halm entfproßt. -
Schon lange vor der Handelsſperre, um 1791, hatte
derſelbe Chemiker, der einige Jahrzehende nachher den oben
erwähnten beſten, wohlfeilſten Weg zur Gewinnung des Na⸗
trons für Alle eröffnete, Leblanc zu St. Denis eine So⸗
dafabrik errichtet und war für dieſes nützliche Unternehmen
von dem Herzog von Orleans mit einer bedeutenden Sum⸗
me unterſtützt worden. Anjetzt haben auſſer Frankreich noch
manche andre Länder an dem nützlichen Unternehmen Theil
genommen, und, um hier nur die vaterländiſchen zu nennen,
ſo ſind die Sodafabriken zu Schönebeck bei Magdeburg und
ſelbſt die zu Wolfrathshauſen bei München in ihren Leiſtun?
gen, verhältnißmäßig hinter den franzöſiſchen nicht zurückge⸗
leben.
Bei der Seifebereitung durch das Zuſammenſieden eines
Fettes mit der Auflöſung des Laugenſalzes muß, unter Ein⸗
fluß der Hitze, das Fett erſt mit Sauerſtoffgas ſich verbin⸗
den und zur Fettſäure werden. Denn der polariſche Gegen⸗
155
fat des Laugenſalzes ift die Säure, jeder Stoff, mit dem
ein Kali oder eine kaliſche Erde ſich chemiſch vereinen ſoll,
muß zu ihr in das Verhältniß einer Säure treten. In jenen
Ländern, da der Oelbaum gedeiht und ſeine Früchte reift,
benutzt man ſchon feit alter Zeit das Oel ftatt des thieri—
ſchen Fettes zur Seifenbereitung. Vormals, ehe Rußland
feine Gränzen dem Zugang alles auswärtigen Verkehres ver-
ſchloſſen hatte, bezog England aus jenem Reiche hunderttau⸗
ſende von Centnern an Talg und Hanföl, anjetzt führen
ihm feine Schiffe hunderttauſende von Centnern an Palm—
butter und Cocusnußöl zu und hiermit ein eben ſo gutes,
dabei feineres Material zur Seifebereitung als der ruſſiſche
Talg war.
— Noch erwähnen wir, daß in einigen Pflanzen die Le—
benskraft einen Seifenſtoff hervorbringt, der in ſeiner Zu—
ſammenſetzung fo wie in feinen Eigenſchaften unſrer künſtli⸗
chen Seife ſehr ähnlich iſt. Namentlich findet ſich dieſer ſei—
ſenartige Stoff in den Säften der Wurzel ſo wie der andren
Theile des gemeinen Seifenkrautes (Saponaria officinalis)
fo wie einer Begonia welche unter dem Namen der ägyypti⸗
ſchen Seifenwurzel in den Handel gekommen iſt und deren
ſchleimig ſeifenartiger Aufguß zum Waſchen der Schafe, vor
der Schur, empfohlen wird.
20. Eine Augenfabrication im Großen.
Das Auge iſt des Leibes Licht, und wenn das Auge
unklar iſt und ſeinen Schein verliert, dann iſt der ganze
Leib dunkel. Ein wundervolles Glied iſt das Auge in ſeinem
ganzen Bau wie in all ſeinen Eigenſchaften und Kräften.
Durch die kleine runde Oeffnung (Pupille), welche der Augen—
ſtern (die Iris oder Regenbogenhaut) wie ein blaulicher oder
bräunlicher Strahlenkreis rings umher umſchließet, kann man
hineinblicken bis zum tiefeften Grund der innren, hinterſtend
Augenwand. Das was uns aus dieſer Tiefe faſt ſilberartig
weiß entgegenſchimmert und was im Auge der Katzen, ſo
wie mancher andren Thiere ſelbſt bei Nacht (im Dunklen)
einen ſchwachen Lichtſchein von ſich wirft, das iſt ein ſichtba—
res Hervortreten des ſonſt überall verborgnen Innerſten unſrer
leiblichen Natur: es iſt das Mark des Sehenerven, das dort
mit ſeinem zarten Röhrchen als Gewebe der Netzhaut ſich
156
ausbreitet. Nirgends anders als an dieſer Stelle des Leibes
liegt ein Nerv, ein unmittelbarer Ausfluß der Maſſe des
Gehirns und Rückenmarkes, erkennbar vor unſren Blicken
da; das Gehirn und Rückenmark ruhen tief verſchloſſen in
dem Gewölbe ihrer Knochen ſo wie unter der Decke des
Fleiſches und der Häute; auch in allen andren Gliedern ſind
die zarten Röhrenfädchen der Nerven verhüllt und verdeckt
von dem Fleiſch der Muskeln und dem mehrfachen Gewebe
der Häute. Hier iſt es wo das innere Licht des Leibes dem
äußren Licht der Welt entgegenkommt, wo das Aeußre dem
Innren und das Innre dem Aeußren bemerkbar und erfenn-
bar wird.
Wenn wir den Bau des Auges etwas genauer betrachten,
dann finden wir: daß der Lichtſchimmer, der von der Netz—
haut her, aus dem hinterſten, tiefeſten Grunde des Auges
uns bemerkbar wird, ſo wie der Lichtſtrahl, der von außen
hinein bis auf das Nervenmark der Netzhaut fällt und hier
das Sehen bewirkt, nicht nur ſo, wie im klaren Waſſer eines
Teiches, durch ein einiges durchſichtiges Mittelweſen (Me—
dium) hindurchgehen muß, ſondern, gleich wie in den nach—
her zu erwähnenden achromatiſchen Gläſern, durch mehrere.
Denn zuerſt nach vornen findet ſich die durchſichtige, waſſer—
helle Hornhaut, deren gewölbtes Fenſter in die undurchſich—
tige, weiße Harthaut des Auges kunſtreich eingefügt iſt,
hinter dieſer, zwiſchen ihr und dem in ſeiner Mitte offnen
Kreisgewölbe der Regenbogenhaut (Iris) ſteht eine wäßrige
Flüſſigkeit, welche ſich durch die geöffnete Mitte (Pupille)
der Iris hinein, auch hinter dieſer zwiſchen ihr und der
Kryſtalllinſe ausgießt, ſo daß die Regenbogenhaut, ausge—
breitet in dieſer zarten Flüſſigkeit, ungehemmt ihren Bewe—
gungen des Ausdehnens und Zuſammenziehens ihres Gefäß—
gewebes obliegen, und hierdurch, wenn ein hellerer Licht—
Pupille verengern und mehr verſchließen, wenn weniger
Licht da iſt, ſie erweitern und mehr eröffnen kann. Jenſeits
dieſer vorderſten Kammer des Auges und ihrer wäßrigen
Flüßigkeit, in welcher das Gewölbe der Regenbogenhaut
ſchwebt, folgt die feſtere Kryſtalllinſe; im Auge des Men
ſchen ſo wie der vollkommneren Thiere eine von vorn nach
hinten etwas platt gedrückte Kugel, im Auge der Fiſche, wo
ſie durchs Kochen weiß und hart wird, ein faſt vollkommen
ſtrahl eindringt, die Eingangspforte des Seheloches oder der
157
runder Körper. Auch dieſe ift im gefunden Auge durchſich—
tig, fo wie die halbflüſſige Maſſe, der ſogenannte Glaskör—
per, welche den ganzen hintren Grund des Augapfels aus—
füllt, und in welche die Kryſtalllinſe, wie der Kern einer
Nuß in dem Becher der halbgeöffneten Schale, eingebettet
liegt. Der Lichtſtrahl, wenn er von außen herein die für
ſeinen Einfluß empfängliche, ihn empfindende Netzhaut tref—
fen, und hier ein Sehen bewirken ſoll, muß, abgeſehen von
der feinen Haut, welche, gleich einer Kapſel, die Kryſtall—
linſe umſchließt und von der häutigen Umgränzung des Glas—
körpers vier durchſichtige Mittelweſen von verſchiedener Dich—
tigkeit: die Hornhaut, die wäßrige Flüſſigkeit, die Kryſtall—
linſe und den Glaskörper durchdringen.
Dies iſt die Art in welcher das Leben überall zu Werke
geht. Es iſt nur eine Seele da, welche dem Leibe inwol—
nend, dieſen bildet und bewegt, durch ihn die Außenwelt
erkennt und empfindet, aber dieſe eine Seele erzeugt und
bildet ſich in dem Stoffe ihrer Leiblichkeit eine große Man—
nichfaltigkeit von Gliedertheilen, davon jeder im Kleinen wie—
der das Verhältniß der Seele zu ihrem Leibe, des Schöpfers
zu ſeiner Schöpfung darſtellt, damit ſie, die Seele, in dem
Reiche der ihr gleichgeſtimmten Weſen überall der wirkſame
Grundton, Er aber der Schöpfer Alles in Allem ſey.
Was das Auge für den einzelnen Leib eines Thieres
oder Menſchen, das ſind die Luft und das Waſſer, in frei—
lich viel einfacherer Weiſe, für alle lebendigen Weſen der Erde.
Wenn die Luft unklar und trüb iſt, dann geht uns ſogleich
ein großer Theil des Lichtes der Sonne und der Geſtirne
ab; der Nebel der uns mitten am Tage oben auf den Fel—
ſenhöhen der Alpen oder auf den Feldern des beſtändigen
Winters, auf den Gletſchern überfällt, macht uns alsbald
das Weitergehen auf dem gefährlichen Pfad unmöglich, und
der Rauchdampf der zuweilen bei ſtarken Ausbrüchen den
isländiſchen Vulkanen entſteigt, wie ſelbſt der Kohlendampf
der Feuerherde der großen europäiſchen Hauptſtadt London,
macht es zuweilen unten im Thal und der Ebene, ſo wie in
den Gaſſen ſo dunkel, daß man ſelbſt am Mittag ein Licht
anzünden muß. Was würde aus uns, was würde aus den
meiſten Thieren und Pflanzen, wenn unſere Planeten nicht
dieſe durchſichtige Hülle des Luftkreiſes umgäbe, welche die
Strahlen des Lichtes wie der Wärme bis hinab zur tiefen
158
U
Ebene hindurchläſſet; was würde aus den lebenden Bewoh⸗
nern des Meeres, wenn nicht auch zu ihnen, durch die klare
Fluth des Gewäſſers, das Sonnenlicht hinabſchiene, oder
ſelbſt in große Tiefen wenigſtens hinabdämmerte.
Sonſt ſieht es freilich unten in den Tiefen ſehr dunkel
aus. Die Luft kann allerdings beim Verbrennen der Körper
(wovon weiter unten die Rede ſeyn wird) eine Sonne im
Kleinen, eine Quelle des Lichtes und der Wärme werden,
aber für gewöhnlich gleichen dennoch das Waſſer wie die
Luft nur einem Auge, das erſt durch ein äußres Licht zu
ſeinem Mitleuchten oder Sehen geweckt und geſtärkt werden
muß; unten in die Höhlen, wie dies Baker erfuhr als er
ſich mit ſeiner Familie in der großen Höhle bei Levington
verirrt hatte, dämmert kein Strahl des Sonnenlichts hinein,
obgleich der Strom der Luft, der ſie erfüllt, mit ſeinem einen
Ende von dem Tageslicht erhellt und erwärmt wird. Die
größere Maſſe der Geſteine aus denen der Umriß unſres Pla-
neten gebildet wird, wie der erdige Boden, der die Gebirgs—
arten bedeckt, iſt fuͤr das Licht, wenigſtens für das unſrem
Auge bemerkbare, undurchdringlich — vollkommen undurch⸗
ſichtig. Denn die wenigen durchſichtigen oder durchſcheinen⸗
den Steine und Salze, welche es darinnen giebt, liegen meiſt
ſo in der dunklen Maſſe verborgen, daß kein Tagesſtrahl ſie
treffen kann. Das große Auge der Erde, der Luftkreis ſammt
dem Gewäſſer, hat ſein Vermögen zur Aufnahme und Ver⸗
breitung des Sonnenlichtes zunächſt nur für die lebenden
Weſen der Erde empfangen, überall dahin wo ſolche ſind,
die des Lichtes bedürfen, reicht jenes Vermögen. |
Aber innerhalb der undurchſichtigen Mauern unfrer Häu⸗
ſer giebt es auch lebendige Weſen, die des Tageslichtes be—
dürfen und am Sonnenſchein ſich erfreuen: das ſind wir und
unſere Kinder. Wir haben uns die Häuſer erbaut, damit
ihr Dach und ihre Wände gegen die Sonnenhitze uns Schat⸗
ten, gegen Regen, Wind und Froſt uns Schutz gewähren
ſollen. Bringen wir, auſſer der Thüre, auch noch hin und
wieder an den Wänden große Oeffnungen für den Zutritt
des Tageslichtes an, dann dringen mit dem Licht zugleich
die Hitze oder der Wind, Regen und Froſt herein und wir
ſind wie der Hamſter und die Haſelmaus, wenn ſie ſich zur
Winterruhe anſchicken, genöthigt, alle dieſe Oeffnungen
zu verſchließen und im Dunklen zu bleiben. Wir müſſen
159
daran denken den dunklen Räumen unſrer Wohnſtätte ein
Auge zu geben, welches das Licht aufnimmt und nach innen
hinein verbreitet. Ein Körper welcher für das Licht durchs
wirkbar, für Luft und Näſſe aber undurchdringlich iſt und
der ſelbſt für äußre Wärme, wenn nicht zugleich mit ihr ein
Sonnenſtrahl hereinfällt ziemlich unzugänglich iſt, wird am
* ſeyn unſren Zimmern und Kammern die Stelle
er Augen zu vertreten.
Das thieriſche Horn, in dünne Blätter geſpalten, läßt
allerdings das Tageslicht durchſcheinen; aber dieſer Schein
gleicht nur einer ſchwachen Dämmerung und gar bald verän-
dert ſich durch den Einfluß des Lichtes und der Witterung
das Horn ſo ſehr, daß es ſeine Durchſichtigkeit einbüßt. Den⸗
noch hat es vor Alters hin und wieder an den Hüttenwoh—
nungen hornene Fenſterchen wie Laternen von Horn gegeben.
Leichter iſt es ſchon den Bewohnern von Sibirien gemacht,
wenn fie ihre Wohnungen mit Augen verſehen wollen. In
einigen Gebirgen jenes Erdſtriches giebt es große Maſſen
einer Steinart, Glimmer genannt, welche ſich leicht in Tafeln
und dünne Blätter ſpalten läſſet, und die, beſonders wenn
ſie eine hellere Färbung hat, in ziemlich hohem Grade durch—
ſichtig iſt. Aber ſo große Stücken des Glimmers, daß man
Tafeln, mehrere Zoll groß daraus ſchneiden könnte, giebt es,
außer Sibirien, doch nur an ſehr wenig Orten und wenn
man nur dieſen Stoff hätte um unſren Wohnſtätten Licht zu
jeben, dann müßten mehr den 99 Hunderttheile unfrer Häu—
fer ohne Augen bleiben. Dieſer Uebelſtand würde noch größer
werden wenn man etwa ſtatt des Glimmers und des Hornes
die ſchön durchſcheinenden Schaalen der Fenſterſcheibenmuſchel
(Placuna placenta) benutzen wollte, die ſich vorzugsweiſe in
dem chineſiſchen Meere findet, denn dann könnte, wegen der
Seltenheit des Materiales kaum der tauſendſte, ja der hun—⸗
derttauſendſte Theil der menſchlichen Wohnungen mit Augen
verſehen werden.
Den Phöniziern, ſo erzählt man, gelang es zuerſt,
eine Weiſe zu entdecken, auf welche dem überall fühlbaren,
dringenden Bedürfniß abgeholfen werden konnte. Die Er-
findung lag übrigens, namentlich den Aegyptern ſo nahe, daß
dieſe die Glasbereitung vielleicht noch vor den Phöniziern
mögen gekannt, und, wenn auch nur in einſeitiger Weiſe
geübt haben. Denn die Glasflüſſe, die man bei ihren vor
160
3 und vielleicht 4 Jahrtauſenden begrabenen Todten in den
Mumiengrüften findet, bezeugen es, daß die Aegypter uralte
Meiſter in jener Kunſt waren. Es brauchte nur der feine
Sand des Nilthales mit etwas Mineralkali oder Natron, das
fi an ihren Landſeen findet und das man an manchen Stel⸗
len der nordafrikaniſchen Küſtengegenden, wie bei Tripolis
(die Trona-Soda) von den Felſen abkratzen kann, der Gluth
eines ſtarken Hirtenfeuers ausgeſetzt zu werden, und es bildete
ſich eine Verbindung in welcher die Kieſelerde im Gegenſatz
zu dem Kali die Stelle der Säure (als Kieſelſäure) vertrat;
dieſe Verbindung war und iſt das Glas. Und nicht blos
Natron, auch das Pflanzenkali, als Potaſche, ja als gemei⸗
ne Holzaſche der Kieſelerde beigemiſcht, und mit ihr dem
Feuer der Verglaſung ausgeſetzt, giebt ein mehr oder minder
durchſcheinendes Glas. Denn zu der Maſſe, daraus man
hin und wieder unſre dunkelfarbigen Bouteillen fertigt, kommt
kein reines Kali, ſondern ſie beſtehet zunächſt (abgeſehen von
dem zuweilen nach Willkühr dem Fluſſe beigemiſchten Koch⸗
ſalz oder Kalk) aus 160 Theilen Holzaſche, 100 Theilen
Quarzſand und 50 Theilen Baſalt. Wenn bei dieſen Ver⸗
bindungen der Kieſelerde mit dem Kali das letztere vorherrſcht,
wenn dabei zum Beiſpiel vier Theile ätzendes Laugenſalz auf
nur einen Theil Kieſelerde kommen, dann entſtehet die Kie⸗
ſelfeuchtigkeit, welche im Waſſer leicht auflöslich iſt. Zur
Bereitung des eigentlichen Glaſes, wenn man dazu reines
Kali anwendet, gehören 6 Theile Kieſelerde und ein Theil
Kali; dem Fluſſe der das ſogenannte Spiegelglas geben ſoll,
wird meiſt noch Salpeter und ſo wie eine geringe Quantität des
Graubraunſteinerzes (nach S. 127) beigemiſcht und bei Ferti—
gung des Flintglaſes wird ſelbſt ein kleiner Beiſatz von weißem
Arſenik und ein größrer von rothem Bleioxyd zur Entfärbung
(zum Klarmachen) der Maſſe zuträglich gefunden.
Vor allen andren Stoffen iſt es, auſſer der allenthalben
in Menge verbreiteten Kieſelerde doch wieder das Laugenſalz
und vorzugsweiſe das Natron, welches der menſchlichen Kunſt
es möglich machet, Licht in das Dunkel der Wohnungen zu
bringen und zunächſt, fuͤr den überall ſühlbaren, täglichen
Hausbedarf Fenſterſcheiben zu bereiten. Dieſe Anwendung
der alten Erfindung kannten und übten ſchon die Römer,
wie dies die Entdeckung der einzelnen Fenſterſcheiben an
Häuſern der Stadt Pompeji bezeugt hat, welche im J. 10
. na
161
nach Chr. bei einem Ausbruch des Veſuv von einem Aſchen⸗
regen überfluthet und begraben ward. Das Glas, in Tafeln
geformt, läßet zwar, je heller es iſt deſto beſſer, das Licht
durch ſich hindurchwirken, kann aber gegen die Wärme, etwa
eines Ofens, in eben ſolcher Weiſe einen abhaltendern Schirm
bilden, als die undurchſichtigen, nicht metalliſchen Körper.
Deshalb find in demſelben alle jene günſtigen Eigenfchaften
vereint, welche, wie wir S. 158 ſehen, ein wohleingerichtetes,
zur Abwehr des Einflußes der Witterung eben ſo wie zur
Mittheilung des Lichtes geeignetes Medium haben ſoll.
Schon durch ihre Anwendung zum Verfertigen der Fen⸗
ſterſcheiben, wodurch der größeſte Theil der menſchlichen Wohn⸗
ſtätten erſt wahrhaft wohnlich und annehmlich wurde, hatte
die Erfindung des Glaſes den Völkern der Erde einen hohen
Vortheil gebracht. Jene Anwendung war in ihren Folgen
ungleich bedeutungsvoller als die andren Benutzungen der
Glasmacherkunſt, zur Bereitung bunter Glasflüße, welche
den Farbenreiz der Edelſteine nachzuahmen ſtrebten, oder
zum Hervorbringen von allerhand Geſchirren, die ſich ſchon
durch die Leichtigkeit womit man ſie rein zu halten vermag
wie durch ihre Durchſichtigkeit und Form dem menſchlichen
Haushalt empfahlen. Aber noch eine andre Anwendung der
Kunſt des Glasmachens war einem ſpäteren Zeitalter vorbe⸗
halten, welche nicht nur den Wohnhäuſern ihre Helle gab,
—— dem Menſchen ſelber ein neues höheres Augenlicht
rachte. |
Der erſte Schritt in dieſem neuen Gebiet der Erfindun⸗
gen war der, daß man dem alternden Auge des Menſchen,
auf künſtliche Weiſe die Kraft des jugendlichen Sehens zu⸗
rückzugeben lernte. | |
Man erzählt, daß ein armer Schiffsjunge, deſſen Vater
ein Brillenmacher war, einſtmals, als das Schiff, deſſen
Küche er bediente, zu einer Handelsreiſe, an die Weſtküſte
von Afrika ſich rüſtete, als Mitgabe von ſeinem Vater, eine
Parthie Brillen erhalten habe, mit der Weiſung dieſelben in
Liſſabon, wo dergleichen Waare in einigem Werth ſtund, zu
verkaufen. Das Schiff wurde durch Stürme verhindert,
zuerſt in den Hafen von Liſſabon, wie die Abſicht des Capi⸗
täns geweſen war, einzulaufen, es ſetzte ſeinen Lauf, ſpäter
von beßrem Wind begünſtigt, nach Süden fort, und landete
glücklich an der Goldküſte, welche das letzte Ziel der Reiſe
11
162
war. Der Tauſchhandel mit europäiſchen Waaren, gegen
Gold, Elfenbein und andre Koſtbarkeiten der heißen Zone,
nahm ſeinen Anfang und hatte ſich eines günſtigen Erfolges
zu erfreuen; nicht nur der Capitän und der Steuermann,
auch mehrere Matroſen kamen täglich mit reicher Beute nach
dem Schiffe zurück; fie hatten ihre europäiſchen Waaren gegen
Dinge von vielfach höherem Werthe umgeſetzt. Da fiel es
dem Schiffsjungen ein auch mit den Brillen, aus der Werk⸗
ſtätte ſeines Vaters einen Handelsverſuch zu machen; er ging
ans Land und hatte das Glück mit ſeiner neuen, von den
Negern noch niemals geſehenen Waare den Zutritt zu dem
König des Landes zu finden. Er verdankte dieſe Vergünſti⸗
gung einem alten Häuptling, der im täglichen Dienſte des
Königes war; jenem hatte er, um ihm den Nutzen ſeines
Handelsartikels begreiflich zu machen, eine Brille auf die
Naſe geſetzt und der Alte war dadurch auf einmal wieder
eines klaren Erkennens der nahen Gegenſtände, wie in ſei⸗
nen jüngeren Jahren fähig geworden. Aber auch der König
ſelber, ein hochbetagter Mann, und noch mancher ſeiner alten
Freunde, bedurfte einer ſolchen Verjüngung und Wiederbrin⸗
gung des erloſchenen Augenlichtes und war nicht wenig erfreut
als die Kunſt der Weißen ein Mittel dazu ihm darbot. Der
ſchwarze Herrſcher probirte alle Brillen auf ſeiner platten
Naſe; die Wahl fiel ihm ſchwer; er beſchloß dieſe jungen,
wunderbaren Augen alle für ſich und ſeine Freunde zu be⸗
halten. Durch ein Mißverſtändniß, das der Steuermann,
welcher den Dolmetſcher machte, entweder aus wohlwollender
Abſicht für den armen Schiffsjungen oder zufällig veranlaßt
hatte, war die Forderung welche der beſcheidne Eigenthümer
der Brillen für ſeine Waare machte, faſt hundertfach größer
zu den Ohren des Negerköniges gebracht worden. Dennoch
beſann ſich dieſer an Goldſtaub und Elfenbein überreiche
Mann keinen Augenblick, den Preis für die Brillen, den
man ihm angeſetzt hatte, zu bezahlen. Vielleicht weil er in
dem Wahne ſtund, daß durch die künſtliche Verjüngung der
Kraft des edelſten Gliedes auch dem ganzen übrigen Leibe
die Kraft der Jugend wiedergebracht werden könne. Der
Schiffsjunge hatte unter allen Gefährten und Theilnehmern
jener Reiſe den glücklichſten, einträglichſten Handel gemacht,
er kam als ein, nach ſeinem Stande reichbegüterter Mann
in das Haus ſeines Vaters, des alten Brillenſchleifers, zurück.
163
Begreiflicher noch als die Freude des alten Negerfürſten
über eine ſolche künſtliche Verjüngung ſeiner Augen, war das
Entzücken jenes alten Brahminen, als ihn die treffliche Brille,
welche ein Engländer ihm ſchenkte, auf einmal wieder in den
Stand ſetzte, die heiligen Bücher ſeines Geſetzes zu leſen,
was er ſeit vielen Jahren nicht mehr vermocht hatte. Denn
gerade bei ſolchem Geſchäft, wie das Bücherleſen iſt, bemerk⸗
ten die Alten, wenn ihnen auch für ferne Gegenſtände noch
immer ein weitreichender Blick blieb, die Abnahme der Seh⸗
kraft für nahe Gegenſtände am ſchmerzlichſten, und wenn
der Greis, der keine Schrift mehr mit bloßem Auge zu un⸗
terſcheiden vermag, ſeine Brille zu Hülfe nimmt, dann kann
er auf einmal leſen. Dennoch darf man in ſolcher Hinſicht
ſeine Anforderungen an die Kunſt der Brillenſchleifer nicht
ſo weit treiben, wie jener Bauer, der auf einen Jahrmarkt
gekommen war, um daſelbſt Allerhand für ſein Haus zu kau⸗
fen. Er ſtund an der Bude eines Brillenhändlers ſtill und
ſahe wie da mehrere Leute ihre Einkäufe machten. Ein Buch,
mit feiner Schrift, wurde ihnen hingegeben; ſie ſetzten eine
oder die andre Brille auf und blickten dann aufmerkſam in
das Buch hinein. » Können Sie durch dieſe gut leſen 2»
fragte der Brillenhändler und wenn der Andre die Frage
bejahte, war der Handel bald abgeſchloſſen. Da bekam der
Bauer Luſt ſich auch eine Brille zu kaufen. Er trat an den
Tiſch hin, nahm das Buch, ſetzte eine Brille nach der andren
auf und blickte damit in das Buch hinein, legte jedoch eine
nach der andren kopfſchüttelnd wieder aus der Hand. Der
Kaufmann wollte ihm bei der Wahl zu Hülfe kommen, er
bot ihm verſchiedne Brillen an, die er für die paſſendſten
hielt; die Ausſage des Bauern » ich kann dadurch nicht leſen
blieb jedoch immer dieſelbe. Endlich fragte ein Bürgers⸗
mann, der von ohngefähr zu dem Handel gekommen war:
» Freund! ſagt mir doch, könnt und verſteht ihr denn über:
haupt zu leſen? » »Ei, ſagte der Bauer, ihr Narr, wenn
ich leſen könnte, würde ich mir keine Brille kaufen.“
So alltäglich uns jetzt der Anblick und die Anwendung
der Brillen iſt, war dennoch die Erfindung derſelben auch
dann, als man das durchſichtige Glas ſchon in Händen hatte,
nicht ſogleich gemacht. Zwar machte ſchon ein Schriftſteller
des alten Roms, Seneca, auf die Thatſache aufmerkſam,
daß man durch eine mit Waſſer gefüllte Glaskugel die Buch⸗
11
164
ſtaben eines Buches vergrößert ſehe und ein arabiſcher Schrift:
ſteller aus dem 11ten Jahrhundert, Alhazen genannt, weiß
es, daß man ſich einer gläſernen Kugel dazu bedienen könne
um allerhand kleine Gegenſtände im größerem Maaßſtabe zu
ſehen. Indeß war doch von dieſer Wahrnehmung aus immer
noch ein weiter Schritt zu thun zur Darſtellung ſolcher flach⸗
kuglich (conver) geſchliffener Gläſer, welche auf viel beque⸗
mere und beſſere Weiſe dieſelben Dienſte leiſten. Die Be⸗
nutzung ſolcher an einer oder an beiden Seiten erhaben ge⸗
formten Gläſer zu Augengläſern oder Brillen, haben die
Italiener den neueren Völkern gelehrt. Als der erſte Erfin⸗
der der Brillen wird ein toscaniſcher Adlicher, Salvino
degli Armati, auf der Inſchrift genannt, die ſich auf ſei⸗
nem Grabſtein in der Kirche Maria Maggiore zu Florenz be⸗
findet. Er war im Jahr 1317 geſtorben. Nach andren Zeug⸗
niffen gebührt aber auch dem Dominicanermönch, Alexan⸗
der de Spina welcher 1313 ſtarb, ein Antheil an dem
Ruhm der Erfindung oder doch ihrer gemeinnützigeren Anwen⸗
dung. Denn als dieſer Spina bei einem Manne eine Brille
geſehen und bewundert, vergeblich aber nach der Weiſe ſie
zu verfertigen gefragt hatte, begab er ſich ſelber an die Arbeit
und kam ohne weitre Anleitung auf den Einfall in ſchüſſel⸗
artig vertieften (concaven) Schaalen, aus Stein oder Me⸗
tall, mittelſt eines feinen Pulvers von Tripel oder Schmir⸗
gel einer runden Glasſcheibe durch ein länger fortgeſetztes
Drehen (Abſchleifen) in der kleinen Schaale eine flachrund⸗
lich erhabene (converxe) Oberfläche zu geben. Zwei ſolche
Gläſer, mit einer Randeinfaſſung wurden anfangs, dem Ab⸗
ſtand der Augen von einander entſprechend, an eine Mütze
befeſtigt, die man über die Stirne und bis an die Augen
hereinzog, wenn man ſich der Brille bedienen wollte und nach
gemachtem Gebrauch wieder hinwegſchob, bald aber fügte man
die Gläſer den beiden Armen eines kleinen aus Horn gefer⸗
tigten Bogens an, deſſen Auswölbung gerade auf die Naſe
paßte und auf dieſe ſich ſtützte. Es ſcheint hier der Ort dazu zu
ſeyn, um Einiges über die Einrichtung und die Wirkung
der Vergrößerungsgläſer und über den Grund ihrer Wirkung
im Allgemeinen zu ſagen. 4 90
Auſſer der Eigenſchaft des Vergrößerns der Gegenſtände
kennt Jeder von uns an den linſenförmig geſtalteten Gläſern
noch eine andre Eigenſchaft, vermöge welcher man ſich ihrer
*
163
als Brenngläſer zum Anzünden von brennbaren Körpern be⸗
dienen kann: die Eigenſchaft alle Strahlen, welche von der
hellleuchtenden Sonnenſcheibe auf verſchiedene Punkte der
Glaslinſe auffallen, auf einen Punkt (den Brennpunkt) hin⸗
zuleiten. Je größer die Oberfläche eines Brennglaſes iſt,
je näher vermöge der converen Geſtaltung feiner Oberfläche
der Brennpunkt an daſſelbe herangerückt liegt, deſto ſtärker
iſt ſeine Wirkung. Noch jetzt kann man dieſes an den gro⸗
ßen Brenngläſern ſehen, welche Tſchirnhauſen, ein deut⸗
ſcher Edelmann aus der Oberlauſitz, mittelſt einer hierzu ein⸗
gerichteten Mühle ſchleifen ließ. Zwei dieſer rieſenhaften,
mehr als centnerſchweren, etwa im J. 1686 gefertigten Brenn⸗
gläſer befinden ſich noch jetzt in Paris, ihr Durchmeſſer be⸗
trägt 33 Zoll, die Brennweite des einen iſt 7, die des an⸗
dern 12 Fuß. Ganz naſſes Holz entzündet ſich, ja ſelbſt im
Waſſer liegendes Fichtenholz verkohlt angenblicklich, ein Me⸗
tall ſchmilzt, Waſſer ſiedet ſogleich, wenn man all dieſe Gegen⸗
ſtände in den Brennpunkt eines ſolchen Werkzeuges bringt.
Tſchirnhauſen hatte große Koſten auf die Fertigung dieſer
Brenngläſer verwendet, welche eigentlich doch keinen weſent⸗
lichen Nutzen für die Wiſſenſchaft brachten; er hätte dieſelben
Leiſtungen ungleich leichter und wohlfeiler durch ein Brenn⸗
glas von andrer Art bewerkſtelligen können. Wenn man
nämlich zwei flachrundlich hohle Gläſer (ähnlich etwa den
großen Uhrgläſern) mit ihren Rändern zuſammenfügt und
den hohlen Zwiſchenraum derſelben mit Terpentin aus füllt,
dann erhält man ein Werkzeug in deſſen Brennpunkt die
Wirkung der hier in eins geſammleten Sonnenſtrahlen
noch ungleich höher geſteigert iſt als bei einer Glaslinſe.
Zwei franzöſiſche Gelehrte, Briſſon und Lavoiſier haben
im Jahr 1774 ein ſolches mit Terpentinöl gefülltes Brenn⸗
glas gefertigt, welches vier Fuß im Durchmeſſer hält und in
feiner Mitte acht Zoll Dicke hat. In Verbindung mit noch
einer andren gewöhnlichen Glaslinſe, welche zwiſchen jenes
größere Werkzeug und ſeinen Brennpunkt geſtellt, die Strah⸗
lenmaſſe deſſelben auf einen näheren, engeren Brennpunkt
verſammlete, hatte das gefüllte Hohlglas eine ſolche unge⸗
meine Wirkſamkeit, daß man auch die ſchwerflüſſigſten Me⸗
kalle durch daſſelbe ſchmelzen konnte. Kupfermünzen, welche
ua des Tſchirnhauſiſchen Glaſes drei Minuten
zu ihrem Flüſſigwerden bedurften, ſchmolzen hier ſchon
*
1
166
in einer halben Minute, Eiſen auf eine Kohle gelegt faſt ag
blicklich. Kann doch im Kleinen ſchon eine rundliche Flaſche,
mit Waſſer gefüllt, wenn die Sonne hindurchſcheinet und
der Brennpunkt einen brennbaren Körper trifft, etwas Aehn⸗
liches leiſten und man weiß, daß auf dieſe Weiſe Feuers⸗
brünſte entſtanden ſind.
Die alten Griechen, welche die Eigenſchaft rundlicher
Kryſtallkugeln, dergleichen in manchen Flüſſen gefunden wer⸗
den (namentlich als ſogenannte Rheinkieſel im Rheine) leicht
entzündliche Stoffe in Brand zu ſetzen, gar wohl kannten,
bewunderten das Verhalten 5 Kryſtallkugel zu dem Feuer
das fie hervorruft. Sie ſelber bleibt kalt, während fie auf
fer ſich andre Körper zum Glühen bringt. Der Grund die⸗
ſes Verhaltens liegt übrigens ziemlich nahe und er wird uns
auch an der Betrachtung eines ſogenannten Brennſpiegels
deutlich. Wenn man nämlich einem Spiegel oder einem ſpie⸗
gelglänzenden Metallblech die Geſtalt eines flachen, weiten
Beckens giebt und daſſelbe mit ſeinem Mittelpunkt in gera⸗
der Linie nach der Sonne richtet, dann werden alle Strah⸗
len der flammenden Sonnenſcheibe, in umgekehrter Weiſe
wie das Waſſer das man in einen Trichter ſchüttet, nach
einen gemeinſamen Punkt hingeleitet, der in gerader Linie
mit der Mitte des Beckens liegt. Jeder einzelne Punkt des
Brennſpiegels wird hierbei von dem ihn treffenden Sonnen⸗
ſtrahle nicht ſtärker erwärmt, als irgend ein andres Stück N
Metall oder Spiegelglas, aber die Kraft des von ihnen allen,
nach einem gemeinſamen Punkte hin zurückgeſtrahlten Son⸗
nenlichtes iſt ſo groß, daß man im Brennpunkt eines großen
Brennſpiegels die ſchwerflüſſigſten Metalle . und den
Demant verflüchtigen (verglimmen laſſen) kann.
Bei dem durchſichtigen Glaſe jedoch, dem man die ein⸗
rs
fenform der Vergrößerungs⸗ und Brenngläfer gab, kommt
der menſchlichen Kunſt vor allem eine weſentliche allgemeine
Eigenſchaft der durchſichtigen 4 zu Hülfe, dies iſt die
lichtbrechende Kraft derſelben.
Jedes Kind mag die Bemerkung machen, daß eine Stan⸗
ge, welche man in ſchiefer Richtung in das klare Waſſer
eines Teiches oder Fluſſes hineinſtellt, wenn man ſie darin von
der Seite her betrachtet, oben bei der Oberfläche des Was
ſers wie gebrochen erſcheint, als ob ſie aus zwei Stangen⸗
mann beſtünde, davon das eine gerade bis an den W e
6
167
fpiegel reichte, das andre aber, etwas ſeitwärts von dem
Ende des andren, an demſelben Waſſerſpiegel begänne und
zwar in abweichender Richtung, nicht in gleicher Linie mit
dem andren ſtehend, nach unten hin ſich fortſetzte. Wenn
man auf den Boden eines Gefäßes irgend einen ſchweren,
glänzenden Körper legt, dann ſich ſo weit zurückſtellt, daß
man jenen Körper jenſeits des Randes der Gefäßmündung
nicht mehr ſehen kann und nun Waſſer in das Gefäß füllt,
da wird auf einmal der glänzende Körper dem Auge wieder
ſichtbar; es iſt als ſey er von dem Orte wo er lag weiter
hinüber, nach der unſrem Auge entgegengeſetzten Seite des
Gefäßes gerückt, und doch iſt dies nur ſcheinbar, er iſt un⸗
verrückt an ſeiner Stelle geblieben. Eine ähnliche Täuſchung
als in dieſem Fall unſer Auge erleidet, wiederfuhr dem hol—
ländiſchen Seefahrer Berenz und ſeinen Leidensgefähr⸗
ten als fie das furchtbare Ungemach einer langen Polar-
winternacht überſtanden und nun den wieder anbrechenden
Morgen erlebt hatten. Die Sonne erſchien neunzehn Tage frü⸗
her über dem Eis und den Schneefeldern des Horizontes, als
dieſes der genauen Berechnung nach erwartet werden konnte;
aber dieſes Sichtbarwerden ihrer leuchtenden Scheibe, welche
eigentlich noch unter dem Horizont ſtund, war nur durch die
Strahlenbrechung in den dichteren Schichten der Atmoſphäre
veranlaßt worden. N 147105 n
Wenn man, in oben erwähnter Weiſe, die Stange ge⸗
rade ſtehend in das Waſſer ſtellt und dann in gerader Linie
von ihrem oberen Ende nach dem untern hinabblickt, da bes
merkt man keine Brechung; die Stange ſetzt ſich für unſer
Auge unterhalb dem Waſſerſpiegel in derſelben Richtung fort,
die ſie oben in der Luft hatte. Jene gerade Linie die man
ſich in Gedanken durch zwei durchſichtige Körper von verſchie—
dener Art und Dichtigkeit kann von oben nach unten gezogen
denken, nennt man das Einfallsloth. Menn nun ein Licht⸗
ſtrahl der von einem leuchtenden oder beleuchteten Körper
ausgeht, in einer ſchiefen Richtung unter einem größeren oder
kleineren Winkel von dem einen jener durchſichtigen Me⸗
dien in das andre ſich fortſetzt, dann wird er für unſren
Augenſchein, wenn das zweite Medium dichter iſt als
das erſte, in einer Richtung gebrochen, welche näher her—
über nach der geraden Linie die von oben nach unten geht
(nach dem Einfallslothe hin) gelegen iſt, wie aus jenem Bei⸗
168
fpiel hervorgeht, deſſen wir vorhin erwähnten, wonach ein
glänzender Körper der an der einen Wand eines Gefäßes
lag, nachdem man Waſſer hineingeſchüttet, auf einmal nä⸗
her gegen die Mitte des Gefäßbodens hin geſehen wird. Das
Umgekehrte wird ſich aber zutragen, wenn wir durch ein Ge⸗
fäß blicken, deſſen obere Hälfte mit Waſſer, die untere aber
mittelſt einer durchſichtigen Scheidewand getrennt, von Luft
erfüllt iſt. Ein glänzender Körper, der auf dem Grunde
dieſes Gefäßes, unten in der luftigen Hälfte liegt, wird
uns, in einer angemeßnen Stellung unſres Auges von der
geraden Linie, die wir uns von oben nach unten durch die
Mitte des Gefäßes gezogen denken können, herüber nach dem
dieſſeitigen Rande gerückt, mithin von jener Linie weiter ent⸗
fernt erſcheinen.
Wenn der Lichtſtrahl eines von der Sonne beſchienenen
Körpers aus dem luftleeren Raum einer Luftpumpe in die
gewöhnliche Luft unſrer Zimmer fällt, dann erleidet er eine
Brechung der zuletzt erwähnten Art; umgekehrt, aus der Luft
oder aus dem Waſſer in einen feſten durchſichtigen Körper
übertretend, die entgegengeſetzte. Hierbei nun iſt es nicht
die Dichtigkeit der Körper allein, welche den höheren oder
niedrern Grad der Brechungskraft der Lichtſtrahlen begründet,
ſondern hierauf hat die Beſchaffenheit ihrer Grundſtoffe einen
weſentlichen Einfluß. Brennbare Körper, welche bei ihrem
Entzünden ein Quell des Lichtes werden können, üben auch
auf das Licht, das durch ſie hindurchwirkt, den kräftigſten
verändernden Einfluß aus: ſie brechen die Lichtſtrahlen am
ſtärkſten. Als der große Iſaak Newton aus der ſtarken
Brechung des Lichtes im durchſichtigen Demant den Schluß
zog, daß dieſer Stein der Steine, dieſer härteſte Körper der
Erde von brennbarer Natur, gleich dem Oel und Wachs
ſey und ſeine Vermuthung über die Verbrennbarkeit des
Diamantes in ſeiner Optik öffentlich ausſprach, wie mögen
ihn damals manche der gelehrten Zeitgenoſſen verlacht haben,
und dennoch bewährte ſich ſeine Anſicht bald hernach als
Kosmus III. zu Florenz im Jahr 1694 im Brennpunkt
eines großen Tſchirnhauſiſchen Brennſpiegels zum erſten
*
reg
einen Demant verbrannte. Wie der Demant, wie der Phos⸗
.169
unter den tropfbar flüffigen die leicht entzündbar ätheriſchen
Oele, ſo wie der Weingeiſt, unter den luftartigen Körpern
das Waſſerſtoffgas oder die brennbare Luft die ſtärkſte, ſtrah⸗
lenbrechende Kraft. 11
Daſſelbe, was nach dem Augenſchein der Stange wie⸗
derfährt, wenn wir ſie in ſchiefgeneigter Richtung ins Waſ⸗
ſer ſtellen, muß ſich für jeden Lichtſtrahl zutragen, der
aus der Luft in einen dichteren durchſichtigen Körper fällt,
deſſen Fläche nicht gerade, ſondern wie bei der Glaskugel
oder Glaslinſe bogig gekrümmt, flachrundlich erhaben tft.
Die Lichtſtrahlen fallen nach dem dünneren Randtheile einer
ſolchen Linſe hin immer ſchiefer auf die Oberfläche auf, und
werden nach dem Geſetz, das bei dem Uebergange des Lichtes
aus dem dünneren, durchſichtigen Medium in das dichtere
herrſcht, nach der Mitte hin (nach der Linie des Einfallslo⸗
thes, welche mitten durch die Glaslinſe geht) gebrochen oder
gebogen. Blicken wir durch eine ſolche Linſe hindurch, dann
kommen nicht bloß die unveränderten, geradlinigen Strahlen,
die ein beleuchteter Körper mitten durch die Linſe fallen läſſet,
ſondern auch jene zu unſrem Auge, welche auf die krummablau⸗
fenden Flächen deſſelben treffen, und der Körper ſcheint uns in
einem ausgedehnten Verhältniß vergrößert. j
In dieſer nur ohngefähr angedeuteten Weiſe wirken denn die
künſtlichen Augen, welche der Menſch ſeit der Anwendung des
Glaſes zur Fertigung der Brillen und Vergrößerungsgläſer
in ſeine Macht bekommen hat. Nur in wenig Zügen wollen
wir hier erwähnen, zu welchem Umfange ſich das Erkennen
der Sichtbarkeit für uns durch jene großen Erfindungen
erweitert hat. Ä
Die ſtrahlenſammlende, vergrößernde Kraft der convexen
Brenngläſer war längſt bekannt und für nähere Gegenſtände
benutzt worden. Ein vergrößerter Körper erſcheint unſrem
Auge zugleich näher gerückt; hatte man erſt das Mittel ge⸗
funden die vergrößernden Glaslinſen auch zur Betrachtung
weit entfernter Gegenſtände ſo anzuwenden, daß die in ſie
hin allenden und durch ſie gebrochenen Strahlen eines Bil—
18
E
5
jo
des ſich ungeſtört durch das ſtärkere, von nahen Gegenſtän⸗
den zurückſtrahlende Licht im Auge ſammlen konnten, dann
0 bar dem menſchlichen Blicke wie dem menſchlichen Geiſte die
Macht verliehen auch das räumlich Ferne wie das längſt Ver⸗
gangene in ein nahe Gegenwärtiges zu verwandeln. Der
170
Ruhm der eigentlichen Erfindung des Fernrohres zu Anfang
des 17ten Jahrhunderts mag wohl dem Hans Lippersheim,
einem Brillenmacher zu Middelburg, gebürtig aus Weſel,
nicht wie man früher annahm dem Zacharias Janſen ge⸗
bühren. Ein Spiel der Kinder des Erſteren, welche einige
von ihrem Vater gefertigte Brillengläſer in eine papierne
Röhre brachten und dadurch die Wetterfahne des Thurmes
ſehr vergrößert ſahen, ſoll, ſo erzählte man, zur Entdeckung
geführt haben. Da die entfernteren Gegenſtände ein ſchwäche⸗
res Licht zurückſtrahlen als die näheren, wird der Eindruck,
den ſie auf unſer Auge machen, durch das ſtärkere Licht
aus der Nähe eben ſo überglänzt als das Licht der Sterne
von der aufgehenden Sonne. Daher pflegen wir ferne Ge⸗
genſtände, wenn wir ſie deutlicher ſehen wollen, durch die
hohle Hand zu betrachten und ſchon die Alten beobachteten
die Sterne lange vor Erfindung der Kunſt des Glasſchlei⸗
fens durch große Rohre, damit beim Hindurchblicken durch eine
ſolche dunkle Höhlung das Licht welches von andren Seiten
herkommt, vom Auge abgehalten, und dieſes hierdurch zur unge⸗
ſtörten Aufnahme der Lichtſtrahlen irgend eines einzelnen
Gegenſtandes geſchickter werden möge. Kann man doch aus
einem tiefen Bergſchacht oder Brunnen mitten am Tage ein
Geſtirn ſehen, wenn ſo eben ein recht großer, heller Stern in
gerader Richtung über der dunklen Grube oben am heitren
Himmel ſteht, denn die Wände einer ſolchen tiefen Höhlung
halten die Strahlen der Sonne und der von ihr beleuchteten
Erdoberfläche ſo vollkommen von dem Auge ab, daß dieſem
EI
felbft das Licht eines Sternes mitten in der gewöhnlichen Helle,
welche der Luftkreis am Tage hat, ohngefähr eben ſo ſichtbar wird,
wie am Morgen in der Dämmerung, noch ehe die aufgehende
Sonne die Gipfel der höchſten Berge beleuchtet hat. Kam
jetzt in das Rohr das dabei zugleich die Befeſtigung des
Glaſes in der rechten Entfernung möglich machte, noch ein
ſtrahlenſammlendes convex geſchliffenes Glas, ja zu dieſem
noch ein zweites, in der ſogenannten Brennweite des erſteren
ſtehendes, welches das von jenem empfangene vergrößerte
Bild noch einmal vergrößert an das Auge weiter gab, dann
war das Mittel gegeben entfernte Gegenſtände eben ſo groß
das Bild der Gegenſtände in umgekehrter Richtung in da
1
zu ſehen als wären fie zwanzig ja dreißigmal näher an unſer
Auge gerückt worden. Da die convexe Linſe für ſich 11 £
8
.
**
2
171
Auge bringt, fügte man anfangs zu dem Objectivglas, das
am äußerſten Ende des Rohres die Lichtſtrahlen von außen
aufnimmt, ein concav geſchliffenes Ocularglas an jenem Ende
des Rohres hinzu, in welches das Auge aus unmittelbarer
Nähe hineinblickt. Dieſes Ocularglas hat die entgegenge—
ſetzte Wirkung der convexen Linſe beim Auffaßen und Dar⸗
ſtellen der Gegenſtände, es giebt deshalb dem Bilde, das
ihm aus dem Objectivglas in umgekehrter Lage zugeſtrahlt
wird wieder ſeine wahre, aufrechte Stellung zurück. Statt
®
a
. x
4
der Hohllinſe wendete man jedoch ſpäter in den Fernröhren
für irdiſche Gegenſtände mehrere, vielleicht 3 oder 4 Ocular⸗
gläſer an, durch deren Zuſammenwirken der Gegenſtand eben-
falls ſeine aufrechte Stellung für das Auge erhält. Zur
Betrachtung der Geſtirne gab man übrigens auch dem Aus
genglas die ſtark vergrößernde flachkugliche Form.
Die Anwendung der Vergrößerungsgläſer zur Betrach-
tung fernſtehender Gegenſtände lag der menſchlichen Erfin—
dungskraft fo nahe, daß jeder Sachverſtändige, der nur eins
mal ein Fernrohr geſehen oder von der Einrichtung deſſelben
eine deutliche Kunde bekommen hatte, ſich ſelber ein Fern⸗
rohr erfinden konnte. Mit Lippersheim faſt zugleich trat
daher auch ſein Mitbürger und Kunſtgenoſſe Janſen mit den
von ihm gefertigten Fernröhren auf und es war vergeblich,
daß, wie man ſagt Prinz Moriz von Naſſau, welcher die
Wichtigkeit der Erfindung für die Geſchäfte des Krieges
erkannte, die Entdeckung wollte geheim gehalten haben; ſchon
im Jahr 1608 ward ein in Holland gefertigtes Fernrohr zu
Frankfurt a. M. auf der Meſſe zum Verkauf um ungeheuren
Preis feilgeboten. Ein vornehmer Mann aus Ansbach, der
Geheimerath Fuchs von Bimbach hatte daſſelbe geſehen und
beſchrieb nach ſeiner Zurückkunft dem berühmten Sternkundi⸗
gen, Simon Marius (Maier) zu Ansbach die Einrichtung.
Gewöhnliche Brillengläſer waren zu conver, die Gläſer aber,
welche Marius von flachrundrer Form in Nürnberg nach feis
ner Angabe ſchleifen ließ, thaten nicht die gehörige Wirkung,
welche erſt durch Gläſer aus Venedig erreicht wurde, womit
Marius jenes Fernrohr zuſammenſetzte, das ihm ſchon im
November 1609 die vier Jupitermonde erkennen ließ. Aber
in demſelben Jahre ſetzte ſich auch der berühmte Galilei
e der Beſchreibung nach, die er in Venedig vernom⸗
men hatte, ein Fernrohr zuſammen und brachte es ſpäter
*.
„
172
ſo weit, daß einige der von ihm gefertigten Werkzeuge rail
Art eine mehr den 60 fache Vergrößerung gaben. Auch die
Engländer waren ſchon im J. 1610 1 0 ſolcher, wahr⸗
ſcheinlich ſelbſt gefertigter Fernröhre, daß ſie die Jupitermonde
dadurch erkennen konnten, wozu freilich keine ſehr ſtarkwir⸗
kenden Werkzeuge nöthig ſind. Ein Jahr darauf (1611) gab
der große deutſche Mathematiker und Aſtronom J. Keppler
in einem beſondren Werk über dieſen Gegenſtand die erſte
eines eigentlichen aſtronomiſchen Fernrohres.
genaue, ſtrengwiſſenſchaftliche Anleitung zur Zuſammenſetzung
Der Antrieb zum Wiſſen und zum Erforſchen der bis
dahin unbekannten Wunder der ſichtbaren Welt empfing ſeit
dieſer Zeit einen überaus mächtigen Aufſchwung. Was
mag das für den wackren Marius eine Freude geweſen ſeyn,
als er ſahe daß, wie die Erde einen Mond bei ſich hat,
Jupiter von vieren derſelben begleitet werde; mit welchem
Staunen und Entzücken mag Galilei erfüllt worden ſeyn,
als er durch ſein Fernrohr den Saturn betrachtete, und an
den Seiten ſeiner Scheibe zwei Körper erblickte, welche er
anfangs auch für zwei große, niemals von ihrer Stelle wei⸗
chende Monden hielt, in denen er aber ſpäter ein merkwür⸗
diges Ringgewölbe erkannte, welches einzig in ſeiner Art
dieſen Planeten umgiebt und in ſchneller Bewegung umkreist.
Zugleich erkannte dieſer berühmte Mann auch durch ſein
Fernrohr, daß die Planeten Mercur und Venus, weil ſie auf
einem Theil ihrer Bahn zwiſchen uns und der Sonne oder
ſeitwärts dieſer Linie ſtehen, zuweilen eben ſo wie der Mond
in Sichelgeſtalt oder halbvoll, in zunehmendem wie abnehmen⸗
den Lichte erſcheinen können, indem ſie uns dann, mit dem
von der Sonne beleuchteten Theil ihrer Kugel auch einen
von der Sonne abgekehrten, unbeleuchteten Theil, und wenn
ſie genau in einer Linie mit uns und der Sonne ſich befin⸗
den, einmal, wie der Neumond nur die unbeleuchtete, das
andre Mal, wie der Vollmond, nur die ganz beleuchtete
Seite zuwenden. Erhielt man doch jetzt ſelbſt über die
Erkenntniß der eigentlichen Naturbeſchaffenheit der Sonne
ganz neue, unerwartete Aufſchlüße, als in den Jahren 1610
und 1611 faſt zu gleicher Zeit Chriſtoph Scheiner in In⸗
golſtadt, Johann Fabricius in Oſtfriesland und Thomas
et
Harriot in England mitten in dem reinen Lichtquell der
planetariſchen Welt dunkle Flecken endeckten und beobachteten.
173
Diefe Flecken find, wie wir ſpäter ſehen werden, Erſcheinun⸗
gen welche ſich in der Dunſthülle des rieſenhaft großen Son⸗
nenkörpers erzeugen. Sie ſtehen nicht an einem Puncte der
Sonnenſcheibe ſtill, ſondern bewegen ſich über dieſelbe von
Weſt nach Oſt. Ein Sonnenflecken welcher heute am weſt⸗
lichen Rande der leuchtenden Scheibe zum Vorſchein kam,
hat ſich nach faſt 14 Tagen bis zum ganz entgegengeſetzten,
öſtlichen Rande fortbewegt, verſchwindet dann aus unſren
Augen und kommt uns nach abermals faſt 14 Tagen von
neuem am weſtlichen Rande zu Geſicht, woraus ſchon die
eben genannten, erſten Entdecker der Sonnenflecken den ganz
richtigen Schluß zogen, daß die Sonne ſich, eben ſo wie unſre
Erde, von Weſt nach Oſt um ihre Axe bewege; nicht aber
in Zeit von 24 Stunden, ſondern von faſt vier Wochen.
Mit welch ungleich edlerer, geiſtig höherer Theilnahme em⸗
pfteng damals das gebildete Europa die Kunde von den
Eroberungen, welche der Antrieb zum Wiſſen am Sternen⸗
himmel gemacht hatte, als in ſpäterer Zeit die Zeitungsnach⸗
richten von den Eroberungen, welche irgend ein kriegsluſtiger
König in den Ländern ſeiner Nachbarn erlangt hatte.
Und dennoch waren die herrlichen Entdeckungen jener
Zeit nur der erſte Anlauf zur Erweiterung des menſchlichen
Wiſſens über die Natur des Sternenhimmels. Mit welchem Ent:
zücken würde ein Duval den Bericht über das vernommen haben
was unſre jetzige Aſtronomie über die Sterne weiß; den
Bericht darüber, daß ſich dort in jenen oberen, ferneren Re⸗
gionen des Weltgebäudes Sonnen um Sonnen (wie unſer
Mond um feine Erde) bewegen; daß nicht nur das bleich⸗
ſchimmernde Licht unſrer Milchſtraße aus den Strahlen von
vielen Millionen weit entfernter Sterne beſtehe, ſondern daß
in unermeßbarer Ferne, jenſeits der Region unſrer Milch—
ſtraße noch andre millionenſtarke Heere von Sternen ſich fin⸗
ben „deren vereintes Licht, aus ſolchem Abſtande, nur noch
wie ein Lichtnebel in unſer Auge fällt. Denn die Abſtände
ſelbſt der nächſten Firfterne von uns find fo groß, daß der
Lichtſtrahl, deſſen Fortbewegung ſo ſchnell iſt, daß ſie in jeder
Seecunde gegen 41518 Meilen durchmiſſet, den Weg von
dieſen Sternen bis zu uns erſt in 3 in 9 und 12 Jahren
zurücklegen könnte; ja aus jenen fernſten Gebieten des Wel⸗
kenraumes, deren leuchtende Welten nur noch wie ein kaum
erkennbarer Schimmer in unſer Auge hereindämmern, würde
174
SH Lichtſtrahl erſt nach Jahrtauſenden bei uns angelangen
önnen. | | Maat af
Und einer nicht minderen Beachtung als dieſer Hinaus⸗
blick in die unmeßbaren Fernen des Sternenhimmels ſind
jene Wahrnehmungen durch das aſtronomiſche Fernrohr
werth, welche man an den nähern Weltkörpern gemacht hat.
Auf unſrem Nachbarplaneten Mars läßt uns der Hindurch⸗
blick durch gute Fernröhre die weißen Schneemaſſen erblicken,
womit ſich, wenn es dort Winter iſt, ſeine Polargegenden
bedecken. Wenn bei ihm die nördliche Halbkugel, auf dem
einem Theil der jährlichen Bahn, der Sonne ſich zuwendet,
und wenn es hierdurch Frühling und Sommer auf derſelben
wird, dann ſieht man den großen weißen Fleck auf ihr immer
kleiner werden, denn der Schnee thaut durch die Sonnen⸗
wärme hinweg. Aber zu gleicher Zeit tritt jetzt auf der ſüd⸗
lichen Halbkugel des Planeten der Winter ein und die weiße
Schneezone wird größer, breitet ſich immer weiter aus, und
ſo wieder umgekehrt wenn die ſüdliche Halbkugel ihren Som⸗
mer, die nördliche aber ihren Winter hat, ſo daß man es
von der Erde aus faſt bemerken kann, wenn der Nachbar
Mars einmal, etwa auf der nördlichen Halbkugel, wo bei uns
Europa, Aſien und ein Theil von Amerika liegen, einen recht
lang anhaltenden oder einen milden Winter hat. Aber außer
den Schneemaſſen bemerkt man durch gute Fernrohre auf
dem Planeten Mars auch die dunkelfarbigeren Gebiete der
Meere und die hellfarbigeren der Feſtländer, ja ſogar die
Wolken wollen einige Beobachter wahrgenommen haben, ſo
daß man annehmen kann, daß es auf dem Mars faſt eben
ſo zugeht und beſchaffen iſt wie bei uns auf Erden.
Auf Jupiter und Saturn hat man auch durch die Fern⸗
röhre ſeltſame Entdeckungen gemacht, die ſich freilich mit unfren
irdiſchen Naturverhältniſſen nicht ſo gut zuſammen reimen
laſſen, wie das was man auf dem Mars ſieht. Denn um
die Oberfläche dieſer großen Planeten ziehen ſich Gürtel von
Wolken herum, welche nicht wie unſre Wolken, heute kom⸗
men, morgen verſchwinden, fondern, wie dies freilich für uns
ein unheimlicher Gedanke iſt, länger als hundert Jahre,
mit weniger Veränderung über denſelben Gegenden der Pla⸗
netenfläche ſtehen bleiben, ſo daß, wenn dort Leute De il
von unſrer Art, mancher hochbetagte Greis, wenn er imme
in derſelben Gegend blieb, in ſeinem ganzen langen Leben '
*
ch
175
nur felten einmal die Sonne würde gefehen haben. Deſto
weniger mögen ſich die Bewohner der Venus und des Mer⸗
cur über vielen Regen zu beklagen haben, denn dort ſcheint
es faſt beſtändig heitren Himmel zu geben. ie
Cben fo, wie man feit der Anwendung der Fernröhre,
aus der Bewegung der Sonnenflecken über die Sonnenſcheibe
hin die Entdeckung gemacht hat, daß die ſchöne Königin des
Tages auch nicht unbeweglich feſt und ſtille ſtehe, ſondern
ſich in faſt 4 Wochen um ihre Axe bewege, ſo hat man, mit
Hülfe des Fernrohres, faſt an allen Weltkörpern unſres
Sonnenſyſtemes eine ähnliche Entdeckung gemacht. Mercur,
Venus und Mars bewegen ſich auch faſt in derſelben Zeit
einmal um ihre Axe als die Erde; von einem Mittag bis
zum andren, haben die Leute dort, wenn welche da wohnen,
auch nicht viel länger oder viel kürzer als 24 Stunden zu
warten. Dagegen dauert auf Jupiter die Zeit von einem
Mittag zum andren nur 9 Stunden 56 Minuten, auf Sa⸗
turn nur 10 Stunden 16 Minuten. Als ob dieſer ſchnelle
Wechſel der Tageszeiten ein Erſatz ſeyn ſollte für den lang⸗
ſamen Wechſel der Jahreszeiten; denn auf dem Jupiter dauert
die Zeit des Winters faſt 6 Erdenjahre, auf Saturn gar
faſt 15 Erdenjahre, während das luſtige Völklein auf dem
Mercur von Winters Anfang bis Frühlingsanfang nur 3
Wochen (22 Tage) zu warten hat, freilich aber auch eben
ſo geſchwind den Frühling in den Sommer, den Sommer
in den Herbſt muß hinüber gehen ſehen. |
Der allernächſte Nachbar an uns, der Mond, hat zwar
ein eben ſo langes Jahr als die Erde, denn mit dieſer zu⸗
gleich legt er den Weg um die Sonne zurück, dabei aber
einen 28 mal längeren Tag als wir, fo daß dort 14 Erden⸗
tage lang die Sonne immer am Himmel ſteht, dann aber
auch, eben ſo lang, auf ihm ein nächtliches Dunkel herrſcht.
Ueber die Naturbeſchaffenheit dieſer nächſten Nachbarwelt,
dahin ein guter Fußgänger, wenn es einen Weg zum Monde
gäbe und wenn er jeden Tag 10 Stunden weit gienge ſchon
nach 28 Jahren (zu der Sonne erſt nach 11000 Jahren)
ommen könnte, durfte man allerdings durch die Fernröhre
die meiſten Aufſchlüße erwarten. Doch muß man dieſe Erwar⸗
g auch nicht gar zu hoch ſpannen. Der Mond iſt 51800
Meilen weit von uns entfernt, wenn uns nun eines unſrer
beſten jetzigen Fernröhre eine 1000 fache Vergrößerung gewährt,
ee
* * R N
176
ſo wird dadurch nur ſo viel gewonnen, daß wir die Mond⸗
fläche gleich wie aus einer Entfernung von 50 Meilen über⸗
blicken. Von dort aus könnte freilich kein Luftſchiffer den
Bewohnern der Erdoberfläche in ihre Fenſter ſchauen, wohl
aber künnte man, bei vollkommen heitrer Luft, die Meere, die
Seen, und Gebirgszüge unterſcheiden. Und darum weiß man,
wie wir dies ſpäter beſprechen wollen, von dem Mond gar
viele merkwürdige Dinge. 73
Durch die neuen Augen, welche ſich der Menſch mit ſei⸗
ner großen Kunſt aus dem Zuſammenſchmelzen des Kalis
und der Kieſelerde geſchaffen, hat ſich, wie wir fo eben ſahen,
ſein Geſichtskreis nach der Ferne hin um das Tauſendfältige
erweitert und ganz in demſelben Maaße hat ſich ſeine Sehe⸗
kraft auch für das Nahe verſtärkt. Wie der Glasſchleifer
Brillen für ſolche Augen der alten Leute zu bereiten weiß,
welche in der Ferne noch gut, in der Nähe aber ſchlecht ſehen
und zugleich auch andre Brillen, welche für Augen gemacht
ſind, die in der Nähe gut und ſcharf, in der Ferne aber
ſchlecht ſehen, ſo hat ſeine Kunſt auch die Teleſcope oder
Fernrohre zu Mikroſcopen umgeſchaffen, welche für die unmit⸗
telbar nahe liegende Körperwelt eine ſolche eindringende
Schärfe haben, daß man Gegenſtände durch dieſelben dent:
tich erkennt, welche mehrere tauſend Male feiner als ein
. viele hundert Male kleiner als ein Sonnenſtäubchen
ind.
Wenn man an Menſchen, welche ſehr kurzſichtig ſind
den Bau und Umriß des Auges genau betrachtet und den⸗
ſelben mit dem Bau und Umriß weitſichtiger Menſchenaugen ver⸗
gleicht, dann wird man bald bemerken, daß die kurzſichtigen
Augen nach vorn mehr gewölbt, von mehr erhabener kugli⸗
ger Form, die fernſichtigen aber viel flachkuglicher gebildet
ſind. Wenn beiderlei Arten der Augen, die hoch und rund⸗
gewölbten wie die flachgewölbten übrigens von geſunder,
kräftiger Beſchaffenheit ſind, dann taugen die erſteren beſſer
zum ſcharfen Sehen in der Nähe, die letzteren aber mehr
zum ſcharfen Blick in die Ferne. Da das Menſchenauge bei
zunehmendem Alter, wo überall die anſchwellende Fülle der
Säfte ſich verringert, einen Theil ſeiner Wölbung einbüßt
(flacher wird) kommt es häufig vor, daß Leute, welche in
der Jugend ſehr kurzſichtig waren, bei zunehmendem Alter
fernſichtiger werden, ohne daß dabei ihr gutes Geſicht 10 |
nahe
r
177
nahe Gegenſtände allzuſehr leidet. Dagegen müſſen ſehr weit
ſichtige Augen im Alter ſich der Brillen bedienen, wenn ſie
einen nahen Gegenſtand genau betrachten wollen und zwar
einer ſolchen Brille deren Gläſer conver geſchliffen find, wäh⸗
rend die Brillengläſer, mit denen der Kurzſichtige die ent⸗
fernteren Dinge ſehen will, etwas concav müſſen geſchliffenſeyn.
„Die Erfinder der Fernröhre haben in der Geſtaltung
ihrer Gläſer die Form der weitſichtigen, die Erfinder der Mi⸗
kroſcope die Form der kurzſichtigen Menſchenaugen nachgeahmt.
Jene Mikroſcope, welche gleich nach dem Bekanntwerden des
Fernrohres von Zacharias Janſen und ſeinem Sohne ge⸗
fertigt wurden, leiſteten deshalb zur Vergrößerung ſehr klei—
ner, naher Gegenſtände bei weitem nicht ſo viel als die ſpä⸗
ter (etwa um 1660) von Hook zuſammengeſetzten, weil die⸗
ſer faſt kuglich gebildete Glaslinſen dazu anwendete, wäh⸗
rend man ſich früher nur der flachkuglichen Convexlinſen be-
dient hatte.
So hatte man nun auch künſtliche Augen, an denen die
Vorzüge, welche das geſunde kurzſichtige Auge durch ſeinen
Scharfblick für ganz nahe Gegenſtände hat, um das Tau⸗
ſendfältige geſteigert waren, ſo wie durch das Fernrohr der
Scharfblick des fernſichtigen Auges. Seitdem hat ſich dem
Antriebe zum Erkennen und Wiſſen eine Tiefe der Schöpfun⸗
gen Gottes nach dem vorhin unbekannten Kleinen und Klein⸗
ſten hin aufgethan, welche eben ſo unermeßbar und voller
Wunder iſt als die Welt der großen Dinge, deren Erkennt⸗
niß uns das Fernrohr aufſchließt. In jedem Waſſertropfen,
in jedem von Auflöſung ergriffenen Stoffe der thieriſchen oder
vegetabiliſchen Körper zeigt ſich uns durch das Mikroſcop
eine Thierwelt, die an Verſchiedenheit der Formen und Arten
wohl eben ſo mannichfaltig ſeyn mag als die Welt der gro⸗
ßen Land⸗ und Waſſerthiere, die wir mit bloßen Augen
ſehen. Allenthalben, wo nur eine nährende Flüſſigkeit da
iſt, regt ſich Wachsthum, bewegt ſich ein Leben, ſelbſt auf
dem Schnee wohnen hin und wieder Millionen der mikroſco⸗
piſchen Thiere; ein Raum, ſo groß als eine Quadratlinie
kann viele Tauſende derſelben umfaſſen; ein Abſtand, ſo groß
als die Breite eines Haares, iſt für manche dieſer Kleinſten
ſo viel als für uns der Weg einer Viertelſtunde; durch die
7 Her zarteften Gefäßchen unſres Leibes, welche für das
einſte Haar zu eng wären, könnten dieſe Thierlein eben fo
J ' 12
178
ohne Anſtoß hindurch gehen, als wir durch die Thore und
Straßen unſrer Städte
Aber nicht nur in den größern Räumen der Außenwelt, |
auch in der Innenwelt unſres eignen Leibes ſo wie der Lei⸗
ber der Thiere und Pflanzen hat man durch das Mikroſcop
Dinge entdeckt, von denen die Gelehrten der früheren Zeiten
keine Ahnung hatten. So die Geſtalt und Beſchaffenheit der
kleinen, linſenförmigen Körnchen des Blutes, die feinen
Röhrchen der Nerven, erfüllt von einer Flüſſigkeit, in wel⸗
cher die Kräfte des Lebens all ihre Wunder wirken. Man
erkennt durch das Mikroſcop die Bewegung der nährenden
Säfte im durchſichtigen Flügel einer Mücke, den Bau der
Eingeweide im Leibe einer Käſemilbe, den Verlauf der Ner⸗
venfäden und die Zuſammenfügung der „Muskeln im Fuße
einer Spinne, die allmälige Bildung des Jungen im Ei eines
Flohkrebſes.
Dieſes Alles iſt aus der Erfindung des Glaſes und ihrer
immer weitren Benutzung hervorgegangen, unſer Glas aber
könnten wir aus der Kieſelerde nicht darſtellen, hätten wir
nicht die Kalien; hätten wir nicht Potaſche und Soda, oder
das aus dieſer in gereinigtem Zuſtand hervorgehende Natron.
So hängt ſelbſt der Entwicklungsgang unſres Wiſſens und
Forſchens an Fäden, deren letztes Ende ſich an ein Ereigniß
knüpft, welches vielleicht bei einem Hirtenfeuer ſich zugetra⸗
gen hat, an deſſen Gluth ein Klumpen Natron aus einem
ägyptiſchen Natronſee, mit dem Sand der Wüſte zu einer
Mutchigen Maſſe zuſammenſchmolz.
21. Die Grundſtoffe der Säuren.
Zum Theil ſind die Elemente, welche wir hier betrach⸗
ten wollen, unter dem Namen der brennbaren Körper zu⸗
ſammengefaßt worden. Das Selen, welches man hieher
rechnet, hat noch mehrere Eigenſchaften mit den eigentlichen
Metallen gemein, namentlich den metalliſchen Glanz und die
Schwere, welche viermal die des Waſſers übertrifft. Durch
andre Eigenthümlichkeiten nähert ſich daſſelbe, mehr noch als
der Arſenik dem Schwefel. Als Stellvertreter von dieſem
findet ſich dasſelbe in den Tellurerzen mit dem Tellurmetall
und mit dem Eiſen in einigen Schwefelkieſen verbunden, ſo
wie auch hin und wieder in Geſellſchaft des vulkaniſchen
179
Schwefels. Wie alle Mittelweſen in der Natur, die weder
recht das Eine noch das Andre ſind, ſpielt das Selen in
unſrer irdiſchen Sichtbarkeit eine ſehr zweideutige Rolle; ſeine
Verbindung mit dem Waſſerſtoffgas ſcheint zu den ſtärkſten
Giften zu gehören und wir dürfen es keinesweges bedauern,
daß das Selen ſo ſelten in der Natur vorkommt. BEL
Ungleich entſchiedner als der eben erwähnte Grundſtoff
hat der Schwefel die Natur der brennbaren Körper an
ſich genommen, auch behauptet dieſer, ſchon durch die Menge
in welcher er vorkommt, einen ungleich höheren Rang unter
den bildenden und geſtaltenden Mächten der Erdveſte. Er
findet ſich in reinem Zuſtand und in ganzen Maſſen vor
allem in Italien und Sizilien, ſo wie in Spanien und Po⸗
len. Bei Scanſano in Toscana betrug die Maſſe des
ausgegrabenen Schwefels in 8 Monaten 4 Millionen Pfund;
Sizilien führte noch vor Kurzem alljährlich zwiſchen 20,000
und 30,000 Centner aus; an den Kratern der Vulkane, na⸗
mentlich in Südamerika und Java ſetzt er ſich in reinem Zu⸗
ſtand anz auch aus dem Schwefeleiſen (Schwefelkies) gewinnt
man ihn häufig. Der Schwefel vertritt bei ſeinen Verbin⸗
dungen mit den Metallen die Stelle des Sauerſtoffgaſes und
wo von dieſem irgend eine Gewichtsmenge hinreicht um das
Oxyd zu erzeugen, wird das doppelte Gewicht des Schwe⸗
fels erfordert um aus demſelben Metall das Schwefelerz
hervorzubringen. Bei der Verbindung des Schwefels mit den
Metallen wird in vielen Fällen eben ſo ein Aufflammen von
Licht wahrgenommen, wie bei dem Verbrennen der Körper
mit Sauerſtoffgas. |
Der Schwefel gehet aber auch ſeinerſeits ſehr leicht eine
Verbindung mit dem Sauerſtoffgas ein. Er entzündet ſich bei
der Berührung mit der Lichtflamme und wird nun zur ſchwef⸗
ligen Säure, deren erſtickend widriger Geruch uns Allen be⸗
kannt iſt. Wenn ſich das Sauerſtoffgas in noch größerer
Menge mit dem Schwefel verbindet, dann entſteht daraus
die Schwefelſäure des höheren Grades, welche in ihrem, von
Waſſer gereinigten Zuſtand Vitriolöl genannt wird. In
großer Menge hat ſich die Schwefelſäure bei der Geſtaltung
der Erdveſte gebildet und mit der Kalkerde ſich zu Gyps ver⸗
bunden; hin und wieder trifft man dieſelbe, aufgelöſt in
aſſer, in der Nähe der vulkaniſchen Krater an. Der Schwer
fel wird öfters unter den Beſtandtheilen der Gewächſe, ſehr
. 12
Bw
180
beſtändig ſelbſt in dem Körper der Menſchen gefunden, wo
er in den innerſten wie in den äuſſerſten Theilen — im Ge⸗
hirne wie ſelbſt in den Haaren — ſeine Beimiſchung ver⸗
räth. ie a 4 |
Weſentlicher jedoch als der Schwefel gehört der Phos⸗
phor unter die Grundſtoffe des Körpers der Menſchen, ſo wie
der vollkommneren Thiere; er iſt in der Maſſe des Gehirns
und der Nerven wie in der Form der Säure mit Kalkerde
verbunden, im Knochen vorhanden und kann ſelbſt noch aus
den flüſſigen Ausſcheidungen des Urins gewonnen werden.
Kunkel, ein Scheidekünſtler welcher der Kunſt des Gold⸗
machens nachgieng, hat jenen merkwürdigen, leicht entzünd⸗
lichen Körper entdeckt, welcher ſelbſt ohne wirklich aufzuflam⸗
men, den mit ihm beſtrichenen Körpern die Eigenſchaft im
Dunklen zu leuchten mittheilt. Der Menſch hatte ihn, ſo
lange ſein Geſchlecht beſtund in dem Innerſten ſeines Leibes
gehegt und mit ſich herumgetragen, von der Geburt an bis
zum Grabe, ohne ſich jemals dieſes Beſitzes bewußt zu wer⸗
den. So Vieles iſt in uns, geht mit uns, von dem wir
Nichts wiſſen; ſo wenig kennen wir uns ſelber! |
In der äuſſeren Natur wird der leicht entzündliche Phos⸗
phor nicht in reinem Zuſtand, ſondern nur in ſeiner Verbin⸗
dung mit dem Sauerſtoffgas — als Phosphorſäure, und
auch als ſolche nicht rein, ſondern mit Metallen, wie z. B
dem Blei, dem Eiſen, und mit der Kalkerde vereint gefun⸗
den. Obgleich er ſelbſt unter den Beſtandtheilen unfres Kör⸗
pers vorkommt, kann er dennoch auf dieſen als ſtarkes Gift
wirken. Eine ſehr kleine Quantität des reinen Phosphors in
den Magen gebracht, wirkt tödtlich.
Der Phosphorſäure in mancher ihrer Eigenſchaften ähn⸗
lich iſt die Flußſäure, die mit der Kalkerde vereint den
meiſt buntfarbigen Flußſpath, mit der Thonerde und Kie⸗
ſelerde den Topas bildet. Die Natur ihrer Grundlage iſt
noch wenig bekannt, eine ihrer augenfälligſten Eigenſchaften
iſt die, daß ſie die Kieſelerde ſehr ſtark angreift und auflöſt,
ſo daß man namentlich mit ihr in Glas ätzen kann. Auch auf
die meiſten Metalle wirkt die Flußſäure als Auflöſungsmittel,
ſo, daß man dieſelbe, um ſie rein zu erhalten, in Flaſchen
von Platina oder Gold aufbewahren muß. Flußſäure, von
einem höheren Grade der Reinheit und Stärke, gehört zu
jenen Körpern, welche denen die ſie entdecken und auffinden
181
große Schmerzen und Gefahren bringen können. Wenn man
nur die Spitze einer Nadel in ſie eintaucht und dann einen
Finger damit berührt, wird eine ſchlafloſe Nacht und ein
leichter Fieberanfall davon die Folge ſeyn. Wenn die Haut
15 Finger auch nur auf Augenblicke den Dämpfen der Fluß⸗
ſäure (Fluor⸗Waſſerſtoffſäure) ausgeſetzt war, bilden ſich,
nach heftigem Schmerz, eiternde Stellen und bösartige Schä⸗
den, welche nur ſchwer und langſam wieder heilen. Dabei
nehmen ſelbſt die umliegenden Theile der Hand die weiße
Farbe des Todes an. | | 92 ind
Der Scheidekünſtler wird bei dieſer, wie bei vielen and⸗
ren Gelegenheiten daran erinnert, daß er durch ſeine Kunſt
die verhüllende Decke hinweghebt, unter welcher die Endpunkte
des irdiſch körperlichen Entſtehens und Vergehens verborgen
liegen: die urkräſtigen Anfänge eines beſondren leiblichen
Werdens, das ſich nicht entfalten kann ohne das ſchon Ge⸗
wordene, welches in ſeine Nähe kommt, ſo weit ſeine Macht
an demſelben reicht, zu zerſtören. Findet ſich doch ſelbſt im
Waſſer (nach Cap. 23) ein Element, welches durch ſeinen
polariſchen Gegenſatz in fo wohlthätiger Gebundenheit gehal⸗
ten iſt, daß es in dieſem Verein zum Nahrungs- und La⸗
bemittel aller Lebendigen der Erde wird. Dieſes Element,
als Waſſerſtoffgas bekannt, giebt zum großen Theil den
Früchten die Lieblichkeit ihres Geſchmackes, dem Wein ſeine
erquickende Stärke; es iſt in den meiſten Speiſen, welche
wir genießen ein unentbehrlicher Beſtandtheil. Dennoch kann
das Waſſerſtoffgas, wenn es aus ſeinen Banden ent⸗
laſſen als reines Urelement hervortritt, zu einer furchtbaren
Macht werden, indem es, mit atmoſphäriſcher Luft vermiſcht,
an jedem Funken ſich entzündet und gleich dem entzündeten
Schießpulver Alles um ſich her in Flammen ſetzt und zer⸗
ſchmettert. Selbſt in ſeiner ungewöhnlicheren Verbindung mit
Kohle, Phosphor und Schwefel bildet es Luftarten, die
beim Einathmen ſchnell tödten können und auch in unver⸗
miſchtem Zuſtand, ſtatt der gewöhnlichen Luft eingeathmet,
nimmt es dem Leben die Macht ſeines Fortbeſtehens. Es
iſt eine höhere Ordnung des Seyns und Beſtehens, nach
welcher alle einzelnen Dinge der Sichtbarkeit zu dem heilfa-
1 Del der Erhaltung und beſtändigen Wiedererneuerung
des Ganzen vereint ſind. Der Menſch kann durch ſeine Kunſt
jene höhere Ordnung verändern und die Elemente von dem
182
Geſetz, dem fie unterworfen waren, entbinden, aber dieſe Frei⸗
ge find nicht mehr, wie bei ihrer Gebundenheit im
zienſte des Lebens, ſondern jener auflöſenden Gewalt, welche
öfters ihren anſteckenden Einfluß auch über die Elemente
eines lebenden Körpers verbreitet, der in ihren Bereich kommt,
indem ſie auch dieſe aus der Unterwerfung unter die Geſetze
des Lebens und ſeines Bildungstriebes losreist. |
Von der Entbindung des Chlors aus jenem Verein
mit dem Natronmetall, welcher als Kochſalz ein faſt unent⸗
behrlicher Beſtandtheil des menſchlichen Haushaltes iſt, ſpra⸗
chen wir im Allgemeinen ſchon oben (S. 153). Wenn man
in einer Retorte ein Gemiſch aus Kochſalz, Graubraunſtein⸗
erz und aus einer mit Waſſer verdünnten Schwefelſäure der
Erhitzung ausſetzt, dann wird das Natronmetall mit dem
Sauerſtoffgas des Manganerzes vereint zum Oxyd (zum
Mineralalkali), welches alsbald von der Schwefelſäure in
Beſitz genommen wird, während das Chlor, aus ſeinem bis⸗
herigen Beſitz des Metalles durch die ſtärkere Säure ver⸗
drängt, als ein dunkelgelber (faſt zeiſiggrüner) Dampf her⸗
vortritt. Obgleich ein brennendes Wachslicht das man in’
dieſe Dampf- oder Gasart bringt, nicht verlöſcht, ſondern
mit rauchender Flamme darinnen fortbrennt, wirkt dieſelbe
dennoch auf das Leben der Thiere und Menſchen, welche ſie
einathmen, vernichtend; dieſe ſterben augenblicklich davon und
ſelbſt dann wenn etwas Chlorgas unter die athembare, atmo⸗
ſphäriſche Luft gebracht wird, macht das Einathmen eines
ſolchen Gemiſches heftige Reizung der Luftröhre und drückende
Schmerzen in der Bruſt. Viele brennbare Körper, ſo⸗
gar die meiſten Metalle, entzünden ſich, wenn ſie in gepul⸗
vertem Zuſtand dem Chlorgas ausgeſetzt werden, von ſelbſt
in dieſem, und verbinden ſich während des Fortglühens mit
ihm zu ſalzartigen Chlormetallen. Während uns bereits
manche der eben erwähnten Eigenſchaften an jene des Sauer⸗
ſtoffgaſes erinnern, hat das Chlorgas auch darinnen Aehn⸗
lichkeit mit der Lebensluft, daß es mit Waſſerſtoffgas ge⸗
mengt eine Knallluft bildet, welche ſchon durch die Strahlen
der Sonne mit zerſchmetternder Gewalt ſich entzündet. Unter
Einwirkung einer ſchwächeren Tageshelle vereint es ſich allmälig
mit dem Waſſerſtoff zu dem farbloſen Chlorwaſſerſtoffgas, das
mit außerordentlicher Heftigkeit von dem gewöhnlichen Waſſer
eingeſogen wird und mit dieſem eine der ſtärkſten Säuren:
183
die Salzſäure bildet. Man gewinnt biefe auch mittelſt
der Zerſetzung des Kochſalzes durch Schwefelſäure unter aller⸗
hand dabei nöthigen Vorſichtigkeitsmaaßregeln. Unſer eigner,
lebender Körper bedarf ſolcher Vorrichtungen nicht; er ent⸗
bindet in ſeinem verborgnen Laboratorium das Chlor aus
dem Kochſalz und wendet daſſelbe als einen gewöhnlichen
Beſtandtheil des Magenſaftes, in einem freilich vielfach ge⸗
bundenen Zuſtand, zur Zerſetzung der genoßenen Speiſen an.
Von unvergleichbar viel geringerer Bedeutſamkeit in der
irdiſchen Natur als das Chlor ſind zwei andre nicht minder
zu den Grundſtoffen gezählte Körper, welche ebenfalls das
Meer zu ihrer vorzüglichen Wohnſtätte haben: das Brom
und das Jod. Das Brom findet ſich, obwohl immer nur
in ganz geringer Menge, mit dem Kochſalz verbunden im
Seswaſſer und wird wie das Jod auch aus der Aſche einiger
Seepflanzen gewonnen. Bei gewöhnlicher Temperatur der
Luft bildet daſſelbe eine Flüßigkeit, deren leicht ſich entwick⸗
lende, übelriechende Dämpfe eben ſo wie das Chlor zur Zer⸗
ſtörung thieriſcher Anſteckungsſtoffe und ſchädlicher Dünſte,
die in der Luft enthalten ſind, dienlich ſeyn ſollen. Das
Jod wird in verſchiedenen Seethieren und Seepflanzen, ſo
wie in einigen Mineralquellen gefunden, zeigt ſich beim Er⸗
hitzen als veilchenblauer Dampf, beim Erkalten in kleinen
ſtahlgrauen, metalliſch glänzenden Kryſtallen, welche beim
Anfeuchten verdunſten und dabei einen Geruch von ſich geben,
der jenem des Chlores ähnlich iſt. In großen Gaben wirkt
das Jod als Gift, während es in kleinen ohne allen Nach⸗
kheil als Arzneimittel, z. B. gegen Kröpfe angewendet wird.
Auch der brennbare Grundſtoff der Borarfäure, von den
Chemikern Bor genannt, hat in der irdiſchen Körperwelt
eine ſehr geringe Verbreitung und Wichtigkeit. Melt
Ein ganz andrer Fall iſt dieſes mit dem Grundſtoff jener
Erde, welche einen der Hauptbeſtandtheile unſrer Gebirge,
und zwar den vorherrſchendſten bildet: mit dem Grundſtoff
der Kieſelerde. Dieſer erſcheint als ein dunkelbraunes
Pulver, das ſich nicht ſchmelzen läßet, an der Luft aber leicht
entzündlich iſt und mit lebhafter Flamme verbrennt. Das
fo entſtandene Oxyd, obgleich es auf unſrer Zunge keinen
ſauren Geſchmack erregt, hat alle übrigen Eigenſchaften einer
Säure und würde deshalb richtiger Kieſelſäure als Kieſelerde
benannt werden. In ihrer polariſchen Stellung als Säure
= Re * aan
184
verbindet ſich die Kieſelerde mit den verſchiedenſten Erden
und Alkalien, und ein großer Theil der Steinarten unſrer
Erdrinde gehört zu dieſen Verbindungen. Der Menſch hat,
wie bereits erwähnt, ſeit alter Zeit dieſes Verhältniß der Kie⸗
ſelerde zu andren Stoffen für ſeinen Haushalt benutzt, indem
er aus der Zuſammenſchmelzung des Kieſels mit Alkalien
das Glas, aus der Vermengung deſſelben mit der Kalkerde
den Mörtel, aus der Verbindung kieslicher Theile mit thoni⸗
gen. und kalkigen allerhand feuerfeſte oder ſteinartig dichte
Geſchirre für Küche und Keller bereitet. Auch unter den Ele⸗
menten des Menſchenleibes kommt die Kieſelerde, wiewohl in
ſehr geringer Menge, namentlich im Haare vor, während ſie
ungleich allgemeiner und häufiger in verſchiedenen Pflanzenar⸗
ten gefunden wird. 10
Bei dieſer Gelegenheit wollen wir es nicht unterlaſſen
an gewiſſe Beobachtungen zu erinnern denen man freilich oft,
durch mancherlei Ausdeutungen ihren eigentlichen Werth zu
benehmen, oder welche man ganz hinwegzuläugnen verſucht
hat, die aber dennoch immer von neuem ſich in der Erfahrung
bewährt haben und allerdings in der Lehre von den Grund⸗
ſtoffen einer Erwähnung werth ſind. Hat doch ſelbſt ein ſo
roßer Chemiker wie Berzelius keinen Anſtand genommen
jene Thatſachen in einem eignen Kapitel ſeines Lehrbuches,
das zur Ueberſchrift die Frage hat: »ſind die Metalle ein⸗
fach? « zu beachten. |
Mehrere namhafte Naturforfcher, wie Schrader, Bra⸗
connet, Greif haben Samen, z. B. von Kreſſe in ver⸗
ſchiedenen Subſtanzen, deren Zuſammenſetzung wir als genau
bekannt zu betrachten pflegen, ausgeſäet, ſo namentlich in zer⸗
ſtoßenen Schwefelblumen oder Kieſel, in gepulvertem Bleioxyd,
Bleiſchrot u. ſ. w. Die keimenden Samen wurden mit deſtil⸗
lirtem Waſſer begoſſen; die Pflanzen wuchſen, man ſchnitt
ſie von Zeit zu Zeit ab, trocknete und verbrannte ſie. Die
Aſche, welche von dieſem Verbrennen zurückblieb, wog meh⸗
rere Drachmen, während das Gewicht des Samens, aus dem
man die Pflanzen gezogen hatte, nur eine Drachme betrug.
Bei der näheren chemiſchen Unterſuchung jener Aſche entdeckte
man in ihr die nämlichen alkaliſchen, erdigen und ſalzigen
Beſtandtheile, welche in der Aſche derſelben Pflanzenart ge⸗
funden wird, wenn dieſe auf freiem Felde erwachſen iſt, z.
B. (auch bei denen die in Schwefelblumen oder Blei erwach⸗
—
185
fen waren) Kieſelerde, Thonerde, phosphorſaure und kohlen⸗
ſaure Kalkerde, kohlenſaure Talkerde, ſchwefelſaures und koh⸗
lenſaures Kali, Eifenoryd. Dieſe Stoffe konnten weder aus
den Subſtanzen, die der Pflanze zum Boden dienten, noch
aus dem Waſſer gezogen werden, und die ohnehin gewagtere
Vermuthung, daß ſie in der Luft enthalten ſeyen, wurde in
neurer Zeit namentlich von Dr. Vogel dadurch großentheils
beſeitigt, daß er den zum Verſuch angewendeten Pflanzen den
Luftwechſel durch Glasglocken möglichſt verwehrte. Es ſchien uns
deshalb kaum eine andre Erklärungsweiſe für das Vorkom⸗
men jener Stoffe unter den Beſtandtheilen des Gewächſes
übrig zu bleiben als die, daß dieſelben durch den Vegetations-
prozeß ſelbſt aus den gegebenen, nach unſrem Begriff allerdings
ganz andersartigen Elementen, durch einen Vorgang der Um⸗
wandlung erzeugt ſeyen. Möchte es doch, eben ſo wie bei
ſolchen in Schwefelblumen oder Bleipulver aufkeimenden
Pflanzen das Vorkommen der Kieſel- und Thonerde, ſchwer
erklärlich ſeyn, woher dem Leibe eines Küchleins im Eie die
Kalkerde zur Bildung ſeiner Knochen gekommen ſey, die ſich
weder aus einem Verluſt der Eierſchaale, noch aus dem
Kalkgehalt der flüßigen Beſtandtheile des unbebrüteten Eies
in genügender Weiſe aufzeigen läßet. >
Doch ſolche Verwandlungen, welche die Lebenskraft be—
wirkt, werden uns in näher eingehender Weiſe bei der Be—
trachtung der Zuſammenſetzung organiſcher Körper beſchäfti⸗
gen, von deren Grundſtoffen wir in einem der nächſten Ca—
pitel handeln wollen, wenn wir vorher noch im Vorübergehen
we von der Anwendung der Säuren werden gefprochen
haben. 5
22. Die Schwefelſäure und die Salzſäure.
Natel /
In einer kleinen Bürgerſchule fragte der Schulinſpector
die Knaben wozu die Luft diene? welchen Nutzen dieſelbe in
der irdiſchen Natur habe. Der eine der gefragten Knaben
war am ſchnellſten mit der Antwort bei der Hand, er ſagte:
‚fie dient zum Abkühlen. Ein zweiter ſagte: zum Anblaſen
des Feuers und als dem fragenden Herren auch dieſe Ant—
wort noch nicht genügte, ſagte ein dritter, die Luft treibt die
Flügel der Windmühlen um, in denen das Korn gemahlen
wird zum Brodbacken; ein vierter holte ſeine Antwort aus
186
noch weitrer Ferne her, er ſprach: die Luft führt die Schiffe
über das Meer. An das was am nächſten lag und zugleich
das Bedeutendſte war, das man von dem Nutzen der Luft
ſagen konnte, dachte keiner der jungen Leute, daran nämlich
daß ohne die Luft die ganze Natur um uns her ſtumm,
kalt und todt ſeyn würde. Denn nur durch die Luft wird
dir der Ton der Glocke vernehmbar, oben in den höchſten
Höhen dahin der Menſch kam, wo die Luft ſchon ungemein
dünn iſt, hört man die Menſchenſtimme bereits in der Ent⸗
fernung von wenig Schritten nicht mehr; das Abfeuern eines
Piſtoles giebt nur einen ſchwachen Hall und in dem voll⸗
kommen luftleeren Raume kann ſich der Ton einer Schlaguhr⸗
glocke nicht mehr hörbar machen. Aber dieſe Entbehrung für
das Ohr, wann es keine Luft um die Erde her gäbe, wäre
noch immer das minder ſchwere Uebel. Das Auge hätte
dabei nicht minder, auf mehr denn eine Weiſe zu leiden.
Denn wäre kein Luftkreis um die Erde her, dann gäbe es
auch am Morgen wie am Abend keine Dämmerung, die uns
nur daher kommt, daß die von der Sonne beſtrahlte Luft
den Widerſchein des empfangenen Lichtes herab auf die Erde
fallen läſſet; am Morgen, beim Aufgang der Sonne, würde
die Tageshelle, ohne ſich vorher anzumelden, plötzlich in die
dunkle Nacht hereinbrechen und am Abend, wenn das letzte
Stückchen des Sonnenrandes unter den Horizont ſänke, würde
das Licht des Tages ohne Abſchied zu nehmen, ohne uns
noch einmal beim Scheiden aus den vergoldeten Wolken und
aus dem Abendroth einen freundlichen Blick zuzuwenden, in
einem Nu von uns ſcheiden und auch die Finſterniß der
Nacht träte ſo unangemeldet zu uns herein, daß der Wand⸗
rer auf gefährlichem Gebirgsweg, ohne den Fuß weiter zu
ſetzen, da Halt machen müßte, wo die Sonne ſeinem Auge
unterging. Und auch dieſes wäre noch immer nicht die ſchreck⸗
lichſte der Folgen, welche das Hinwegnehmen der Luft für
uns Erdenbewohner haben würde. Die Luft, und zwar vor
allen jener in ihr enthaltene Grundſtoff, den wir ſchon öfter
genannt haben und gleich nachher näher betrachten wollen:
das Sauerſtoffgas hat für Alles was da lebet und webet
auf Erden noch einen viel weſentlicheren Einfluß und Nutzen:
ohne die Luft könnte namentlich kein Feuer noch Lämpchen
brennen, kein Bier, noch Wein, noch Eſſig werden. Und
zwar nicht in dem Sinne, in welchem jener Junge es meinte,
187
als er ſagte: die Luft diene dazu das Feuer anzublaſen, ſon⸗
dern weil das Sauerſtoffgas der Luft zum Entſtehen der
leuchtenden und wärmenden Flamme eben ſo nothwendig iſt,
als das Aufgehen der Sonne, dazu, daß es auf Erden Tag
werde. Dränge keine Sonne mit ihrer ſtrahlenden Macht in
unſre irdiſche Welt herab, dann hätten wir keinen Tag;
dränge nicht das Sauerſtoffgas mit ſeiner anzündenden Kraft
in die Maſſe des brennbaren (entzündlichen) Körpers hinein
um mit dieſer ſich zu vereinen, dann gäbe es kein Licht in
unſrem Zimmer, kein Feuer auf unſren Herden; aus Hopfen
und Malz könnte kein Bier, aus dem Safte der Trauben
kein Wein, aus den Abgängen der mancherlei Naturerzeug⸗
niſſe kein Eſſig werden. Und auch hiermit wäre noch nicht
Alles geſagt, was ſich über den Nutzen der Luft für die irdi⸗
ſche Natur ſagen ließe. Nähme man uns die Luft, vor
Allem das Sauerſtoffgas, das in ihr iſt, von dem Munde
hinweg, ſo wäre es bei dir und mir in etlichen Minuten mit
dem Leben aus; kein Froſch und kein Fiſch, kein Dachs un⸗
ten in ſeiner Höhle und kein Vogel oben in den hohen Lüf⸗
ten kann leben ohne Luft zu ſchöpfen. Und nicht nur ohne den
Sauerſtoff, auch ohne den Stickſtoff der Atmosphäre, wenn er auf
einmal hinwegkäme, würden wir und andre lebendige We⸗
ſen nicht beſtehen können. Denn im Fleiſche der Thiere
das wir genießen, wie in dem Brode das uns nährt und
in der Milch die das Kind trinkt, in den meiſten Labeträn⸗
ken, damit wir Alle uns erquicken, iſt der Stickſtoff ein gar
weſentlich bildendes Element. |
So dient die Luft auſſer zur Abkühlung, auffer zum
Feueranblaſen, auſſer zum Bewegen der Windmühlen und
Forttreiben der Schiffe gar noch zu vielfach andrem Nutzen,
wie wir dies bald ausführlicher betrachten wollen. f
Aber nicht bloß dann, wenn man manche Leute nach
dem Nutzen der Luft fragte, würde man ſolche ungenügende
Antworten erhalten, ſondern noch mehr würde das geſchehen,
wenn man um den Nutzen gewiſſer andrer Grundſtoffe und
Körper ſich erkundigen wollte. Hätte man vor mehreren Men⸗
ſchenaltern auch einen gelehrten Mann, nicht bloß den Zög⸗
ling einer Bürgerſchule gefragt: welchen Nutzen mag wohl
die Soda (das Natron) in der irdiſchen Natur haben? —
er würde kaum einen andren bedeutenden haben angeben können
als jenen, den, wie wir oben ſahen, die Seifen- und Glas⸗
188
fabricanten daraus ziehen. Seitdem aber die Scheidekunſt es
nachgewieſen hatte, daß das Natron einer der Hauptbeſtand⸗
theile des Kochſalzes ſey, welches in der ganzen irdiſchen Na⸗
tur, nicht nur im Haushalt des Menſchen eines der bedeu⸗
tungsvolleſten Elemente iſt, konnte man freilich auf jene
Frage noch eine ganz andre, vielumfaſſendere Antwort geben.
Bei der Betrachtung der wichtigſten Eigenſchaften einiger
der im vorigen Capitel erwähnten Säuren wollen wir uns
an einen Mann erinnern, der von ſeinen ſeltnen Gaben eine
zum Theil ſeltſame und dennoch glückliche Anwendung ge⸗
macht hat. Dieſes war der deutſche Arzt, Johann Rudolph
Glauber, der im Jahr 1604 zu Karlſtatt geboren, gar
vieler Herren Brod gegeſſen hat, indem er zuerſt nach den
Niederlanden zog, dann aber ſeinen Pilgerſtab noch ſehr oft
weiter ſetzte, bald in Salzburg, bald in Frankfurt a. Main,
in Kitzingen und in Köln, ſo wie noch an manchem andren
Orte ſich aufhielt und zuletzt im Jahr 1668 die Ruheſtätte
für ſeine viel gewanderten Gebeine in Amſterdam fand. Glau⸗
ber hat bei ſeinen alchymiſtiſchen Verſuchen, welche auf nichts
Geringeres als auf die Entdeckung der Goldmacherkunſt und
eines Lebenselixires hinausgiengen, eine ſo vertraute Bekannt⸗
ſchaft mit mehreren der kräftigſten Säuren geſchloſſen, daß
er durch ihre Hülfe der Wiſſenſchaft mehr denn eine vorhin
verborgene Tiefe aufſchloß. Wir wollen es dem ſeltſamen
Manne gern zu gute halten, daß er ſich, wie viele andere
ſeiner Zeit- und Kunſtgenoſſen etwas hinreiſſen ließ von
der Lüſternheit nach den Früchten vom Baume des Lebens:
nach dem Univerſalmittel das gegen alle Krankheiten, ja wi⸗
der den Tod ſelber helfen ſollte; nach dem Steine der Wei⸗
ſen, »durch den ſich Gold aus andren Metallen und Grund⸗
ſtoffen ſchaffen läffet.» Denn obgleich der Baum des Lebens vor
ſeinen wie vor andrer Menſchen Händen wohl verwahrt blieb,
hatte er doch auf dem Irrweg, den er danach einſchlug, im
Schweiß ſeines Angeſichtes Manches Brauchbare gefunden.
Seine Verdienſte um die Scheidekunſt erſtrecken ſich bis her⸗
unter auf die Verbeſſerung der chemiſchen Oefen, ſein ge⸗
wandter Geiſt entdeckte mancherlei Mittel und Wege, durch
welche dem Scheidekünſtler ſeine Arbeiten erleichtert und aus⸗
träglicher gemacht werden konnten. Die concentrirte Schwe⸗
felſäure oder das Vitriolöbl war unter den Stoffen die der
Chemiker zu ſeinem Dienſte braucht, einer ſeiner vertrauteſten
189
Lieblinge, mit welchem er viel auszurichten pflegte. Unter
andrem ſchüttete er jene ſtarke Säure auf Kochſalz; da ent⸗
ſtund eine ſehr merkliche Erhitzung, die Vitriolſäure be⸗
mächtigte ſich des kaliſchen Grundſtoffes des Salzes, das
Chlor aber, mit Waſſerſtoffgas zur Salzſäure verbunden,
entwich in Dampfform. Nach dieſer Austreibung eines Star⸗
ken durch einen noch Stärkeren blieb dem fleißigen Manne
ein durch ſeine Kunſt erzeugtes Salz: das ſchwefelſaure Na⸗
tron übrig, das derſelbe gegen mancherlei Beſchwerden und
Leiden des menſchlichen Leibes mit ſo günſtigem Erfolge an⸗
wendete, daß er, ſo wie andre, dem Salze den Beinamen
eines » wunderbaren» gaben. Es iſt noch jetzt als Glau⸗
bers Wunderſalz „(Sal mirabile Glauberi) » in Ehren und
im Gebrauch und viele meiner jungen Leſer werden dieſes
zwar ſehr ſchlecht ſchmeckende, dabei aber gut wirkende Pur⸗
dieren aus eigener Erfahrung kennen.
Wir ſind bei dieſer Gelegenheit auf eine Benutzung des
Schwefels und ſeiner Säure zu ſprechen gekommen, von wel⸗
cher zwar ſchon oben (S. 153) beiläufig die Rede war, wel⸗
che ſich aber dennoch erſt hier in ihrem ganzen Umfange
überblicken läßet.
Bei einer Frage über den Nutzen des Schwefels wür⸗
den wir von vielen unſrer Landsleute, alten wie jungen,
eben ſo ungenügende Antworten erhalten, als bei dem oben
erwähnten Examen über den Nutzen der Luft ſich vernehmen
ließen. Es würde nicht an Solchen fehlen die keinen andren
Gebrauch des Schwefels für die menſchlichen Gewerbe anzuge-
ben wüßten als den: daß man Schwefelhölzchen damit bereite,
daß man die Fäßer, in welche der Wein, oder an manchen
Orten auch das Bier gefüllt werden ſollen, damit ausſchwefle
oder daß man den Schwefel zur Bereitung des Schieß⸗
pulvers gebrauche. Dieſen Angaben würden dann manche
beßer Unterrichtete noch hinzufügen, daß die Schwefelſäure
in der Färberei zum Auflöſen des Indigos, ſo wie zur Fer—
tigung des Alauns und des Kupfervitriols, von den Oelläu⸗
terern zum Entſchleimen des Oeles angewendet werde, auch
würden Etliche es wiſſen, daß man, wie wir dies oben aus—
einander ſetzten, mit der Schwefelſäure das Natron für die
Fabrication der Seife und des Glaſes gewinne.
Dennoch wäre mit dieſem Allen nur erſt ein ſehr kleiner
Theil jener Anwendungen genannt, welche die menſchliche
190
Kunſt von dem Schwefel und von der Schwefelſäure macht.
In dem Reiche der unterirdiſchen Natur, namentlich für die
Metalle, vertritt wie ſchon erwähnt der Schwefel die Stelle
des Oberherrſchers über die Grundſtoffe: des Sauerſtoffgaſes,
von welchem wir bald weiter ſprechen werden. Eben ſo wie
ein brennbarer Körper im Sauerſtoffgas, verbrennt auch ein
Silber oder Kupferblech fo wie ein Eiſendrath mit heller Flam⸗
me, wenn man dieſe Metalle dem Dampfe ausſetzt, der ſich
aus dem Schwefel in einem verſchloßenen Gefäße bei der
Hitze von 114 Gr. Reaumur bildet. Macht man dagegen
das Kupfer oder Eiſen glühend und bringt Schwefel darauf,
dann geräth das ſchwerflüßige Metall alsbald ins Schmel⸗
zen; es träufelt wie Wachs an der Lichtflamme hinab.
Aber obgleich der Schwefel unter den Metallen eben ſo
eine Rolle des Herrſchers ſpielt, als das Sauerſtoffgas im
geſammten Reiche der Grundſtoffe, unterwirft er ſich dennoch
ern und leicht dieſem noch gewaltigeren Herrſcher; er ſelber
tellt ſich zu dieſem in das Verhältniß eines brennbaren Kör⸗
pers, und beide, Schwefel und Sauerſtoff vereint bilden
dann eine Macht, welcher die Scheidekunſt ihre erfolgreich⸗
ſten Siege, ihre meiſten Herrſcherthaten in der Welt der
irdiſchen Grundſtoffe verdankt. Nicht nur die Salzſäure,
auch die meiſten andren Säuren, namentlich die Salpeter⸗
ſäure hätte der Menſch nicht, oder wenigſtens nicht ſo leicht
in ſeine Gewalt bekommen, ohne die Schwefelſäure zu Hülfe
zu nehmen, welche ihre ſchwächeren Schweſtern aus ihren
Verbindungen mit andren Stoffen hervorzieht. Die ſonder⸗
barſten Werke bringt die Kunſt mittelſt der Schwefelſäure
hervor, ſogar eine Verwandlung des Stärkmehles und man⸗
cher andren organiſchen Stoffe in Zucker (Süßes aus Sau⸗
rem zu bereiten) iſt ihr durch die Anwendung der Schwefel⸗
ſäure gelungen. Was wäre die Chemie, was wären die
meiſten Gewerbe, von denen des Seifenſieders und Stearin⸗
kerzenfabricanten an bis hinauf zu jenen Arbeiten in edlen
Metallen, welche das Gold ausſcheiden, ohne die Schwefel⸗
ſäure! Ä N b
In der Bereitung dieſes wichtigen Stoffes hat keine
andre Nation ſo Großes geleiſtet als die der Engländer.
Man hört zuweilen das Sprüchwort: Amſterdam iſt auf
Häringe gebaut, welches andeuten ſoll, daß Holland zum gro⸗
ßen Theil die erſte Begründung ſeines Wohlſtandes dem
€
191
115555 Negſerung bet 12 des en in er
lien, Pe Errichtung eines Monopoles für den Schwefel⸗
En zu erſchweren gedachte, da fehlte nicht viel, daß ein
ieg zwiſchen England und Neapel ausgebrochen wäre. Der
reine Schwefel, welchen, wie wir oben (S. 179) ſahen in
der größeſten Menge aus Sizilien gebracht wurde, gieng in
ganzen Schiffsladungen nach England und wurde hier mit
ſolchem Vortheil in den Bleikammern verbrannt, daß man
aus einem Centner Schwefel drei Centner ſtarke Schwefel⸗
ſäure gewann. Dieſe, ſchon allein durch die Ausſcheidung
des Natrons aus dem Kochſalz, (m. v. C. 19) gab den
Glas⸗ und Seifenfabriken einen ſolchen Aufſchwung, daß dieſel⸗
ben mit ihren verhältnißmäßig wohlfeileren Waaren Portugal
und Spanien, einen großen Theil von Amerika, Aegypten
füt das aſiatiſch-türkiſche Reich, Perſien und Indien er⸗
üllten.
Aber für die eben genannten Länder bereitet England
nicht bloß Seife und Glas, ſondern für ſie, wie noch für
manche andre Länder, ſpinnen ſeine rieſenhaften Spinnma⸗
ſchinen, weben, drucken und färben ſeine kunſtreichen Fabri⸗
ken eine ungeheure Menge von wollenen Zeugen. Nament⸗
lich iſt das Bleichen dieſer Stoffe ein ſehr weſentliches Stück
zu ihrer Vervollkommnung und Vollendung. Bei unſrer ge⸗
wöhnlichen Art zu bleichen, ſetzen wir das Garn oder die
gewebten Zeuge, welche aus Pflanzenfaſern gefertigt find,
auf Raſen gelegt dem Sonnenlichte und der Luft aus, indem
wir dieſelben durch Benetzen fortwährend feucht zu erhalten
ſuchen. Wenn wir genau wiſſen wollen, welche Wirkung
dieſe Behandlungsweiſe hat, dürfen wir nur irgend eines
unſrer künſtlichen Gewebe lang über die gewöhnliche Zeit
hinaus der Anfeuchtung, der Luft und dem Lichte ausſetzen.
Wir werden finden, daß das Zeug fortwährend an Gewicht
abnehme und zuletzt geht es in eine Auflöſung ſeiner Faſern
über wobei es einem lockren, zwiſchen den Fingern zerreibli⸗
piergewebe gleicht, bis am Ende auch dieſer Reſt
zerſtäu t und von Wind und Regen nach allen Richtungen
1 8
192
hin zerſtreut wird. Jeder weggeworfne Tuch- oder alte Lein⸗
wandlappen, wenn Luft und Feuchtigkeit auch nur bel ganz
mäßiger Wärme auf ihn einwirken, kann uns durch dieſe all⸗
mälige Zerſetzung bezeugen, daß die Faſer der Leinwand, des
Hanfes oder der Baumwolle ebenſo einer Verweſung unter⸗
liege wie das faulende Holz. Wir werden ſpäter weiter es
zu entwicklen ſuchen, daß der Kohlenſtoff, der ein Hauptbe⸗
ſtandtheil der Pflanzenfaſer iſt, wenn Feuchtigkeit und Luft
dies begünſtigen, ſich fortwährend mit dem Sauerſtoffgas
verbinde, und daß hierbei nicht minder als bei dem Verbren⸗
nen, obwohl ungleich langſamer, Kohlenſäure gebildet werde.
Bei dem gewöhnlichen Bleichen unſrer Zeuge nehmen wir
deshalb eine Kraft zur Hülfe, deren Wirkung zunächſt zwar
eine langſam zerſtörende, dennoch aber zu unſrem Zweck die⸗
nende iſt, weil vor Allem jene der Zerſetzung ſchon näher⸗
ſtehenden organiſchen Anhängſel und Einmengungen, welche
der Faſer eine beſchmutzende Färbung geben, angegriffen und
hinweggeführt werden, wobei freilich auch das Gewebe ſelber
einen Abgang und Verluſt erleidet, der ſich ſchon durch
die Gewichtsabnahme zu erkennen giebt. Damit jene auflö⸗
ſenden, reinigenden Einflüße ihre gehörige Wirkung thun
können, iſt ein wochen- ja monatelanges Bleichen, und je
nachdem die Zahl der Zeuge groß iſt, die Benutzung eines
verhältnißmäßigen Grundſtuͤckes zum Bleichplatz nöthig. Für
unſren Haushalt reichen die zu ſolchen Zweck uns dargebo—
tenen Mittel und Kräfte aus, wie ſollten aber die Fabriken
Englands damit auskommen, welche nicht für einzelne Haus⸗
haltungen oder für ein einzelnes Land ſondern für ganze
Völker und große Ländergebiete der Erde zu weben und zu
bleichen haben. Was würde in dem reichbevölkerten Eng—
land, wo jeder Fußbreit des Bodens angebaut und benutzt
iſt, ein Bleichplatz koſten, auf welchem zehntauſend Stücke
Baumwollenzeug mehrere Monate lang gebleicht werden ſoll⸗
ten; wie hoch würde ſich dabei das Tagelohn für die Arbei⸗
ter belaufen, welche die Zeuge benetzen müßten. Dieſelbe
Menge der Zeuge aber wird in einer Bleicherei bei Glasgow
(nach Liebigs chemiſchen Briefen S. 107) ſchon in weni⸗
ger denn 8 Tagen gebleicht und zwar auf einem 8 mal klei⸗
neren Raume; denn jene Fabrik bleichet täglich 1400 Stück
und kann dabei ihre Arbeit nicht nur im Sommer ſondern
auch im Winter fortſetzen, wenn unſre Raſenbleichereien gro⸗
ßentheils feiern müſſen. Fra⸗
—
193
Fragen wir was den engliſchen Bleichereien dieſen ganz
auſſerordentlichen Vortheil und Vorzug verſchafft habe? dann
erfahren wir, daß die Kunſt eines ſolchen ſchnellen und hier⸗
bei qugteich vollkommenen Bleichens nicht hätte erlangt wer⸗
den können ohne die Kunſt der Schwefelſäurebereitung. Wenn
nämlich bei der oben (S. 153) erwähnten Gewinnung des
Natrons aus dem Kochſalze vier Gewichtstheile der concen-
trirten Schwefelſäure mit fünf Gewichtstheilen Kochſalz in
chemiſchen Wechſelverkehr verſetzt werden, dann bildet ſich,
aus dem Vereine der Schwefelſäure mit dem Natron das
auf S. 189 erwähnte, nach Glauber benannte Salz. Aber
bei dieſem Hinabdringen der übermächtigen Schwefelſäure in
die Beſitznahme des zum Natron werdenden metalliſchen
Grundſtoffes (C. 18) wird das Chlor (S. 154) aus feinem
bisherigen Verband entlaſſen, das mit Waſſerſtoffgas vereint
die Salzſäure bildet. i
Das Chlorgas, von deſſen zerſtörenden Eigenſchaften
wir oben ſprachen, wurde früher, bei der Bereitung des
Natrons, öfters zum großen Nachtheil der benachbarten Pflan⸗
zenwelt aus den Schlöten der Fabriköfen entlaſſen. Bald
jedoch lernte der Menſch dieſe ihm vorhin feindliche Macht
in eine ihm freundliche umſchaffen, indem er ſie in ſein Bünd⸗
niß nahm, da wo es ihn um ſchnelle Zerſtörung andrer ihn
beläſtigender und feindſeliger Stoffe zu thun war. Jenes
für unſre Sinnen öfters gar nicht bemerkbare, furchtbare
Gift, das ſich als Anſteckungsſtoff (Miasma) in den Spi⸗
tälern erzeugt, wo viele an todgefährlichem Fieber Erkrankte
beiſammen liegen, das Miasma der Peſt, der Aushauch der
Verweſung welcher den Grüften entſteigt, in die man in Zei⸗
ten eines gewaltſamen Hinſterbens Haufen von Leichnamen
warf, alle dieſe Mächte der Zerſtörung, gegen welche die
menſchliche Kunſt früher Nichts vermochte, hat man durch
die Anwendung der Dämpfe des Chlors zu beſiegen gewußt.
Dieſe, in ihrer eignen gasartigen Form, gehen ſelbſt den
gasartigen, organiſchen Dämpfen in alle die Räume nach,
wo dergleichen ſich befinden und nimmt denſelben, durch Entzie⸗
hung des Waſſerſtoffgaſes, ihre große Macht.
Augenfälliger noch als auf ſolche luftartige Formen des
organiſchen Stoffes wirkt das Chlor auf jene gröberen, wel-
che als Schmutz, namentlich an den künſtlichen Geweben aus
Pflanzenfaſern an unſren linnenen, ö oder thie⸗
1 |
BR . Su nr —
194
riſch wollenen Zeugen haften. Ueberall wo jene Dämpfe ſol⸗
chen loſe, anklebenden Beimiſchungen begegnen, löſen ſie
dieſelben in auſſerordentlicher Schnelle auf, ſie betreiben, im
Grunde genommen, einen ähnlichen Vorgang der Verweſung
und Zerſetzung als der Einfluß des Lichtes, der Luft und
des Waſſers auf unſren Bleichplätzen, aber jener Vorgang
iſt mehr in der Hand des Menſchen, als der andre ſo ſehr
von der Witterung und dem langwährendem Befeuchten ab⸗
hängige. Man hat das Chlor in Verbindung mit Kalk: als
ſogenannten Chlorkalk zur leichteren Aufbewahrung und wei⸗
ten Verſendung geſchickt gemacht und ſeitdem iſt es, nament⸗
lich aus den Fabriken der Natronbereitung weit und breit
nach den Bleichereien ausgegangen, denen es alle die vor⸗
hin erwähnten Erleichterungen ihres Geſchäftes gewährt. In
wenig Stunden und mit überaus geringen Koſten befreit man
durch Anwendung des Chlorkalkes und ſeiner wäßrigen Auf⸗
löſung die Baumwollenzeuge von den ihnen anhaftenden, fär⸗
benden (ſchmutzenden) Stoffen und bei dieſer Art des Blei⸗
chens, wenn ſie mit Geſchick und Sachverſtand gehandhabt
wird, leiden die Zeuge weit weniger als durch die Raſen⸗
bleiche, fo daß hin und wieder ſelbſt die Landleute in unf
rem deutſchen Vaterlande ſich des Chlorkalks zum Bleichen
bedienen. g
Unter den vielen andren Anwendungen der Salzſäure
zum Nutzen und Dienſt des menſchlichen Haushaltes fuhrt
Liebig (chem. Briefe S. 108) noch eine namentlich auf, an
welche fruher, ehe die Salzſäure ſo leicht zu haben war,
wenigſtens im Großen nicht gedacht werden konnte. Die
thieriſchen Knochen beſtehen, den Gewichtstheilen nach aus
ohngefähr zwei Drittheilen phosphorſaurer Kalkerde und einem
Drittel thieriſcher Gallert oder Leim. Bringt man die Kno⸗
chen in eine mit Waſſer verdünnte Salzſäure, dann loſt
dieſe alsbald die Knochenerde auf und läßt den damit ver⸗
bundenen Leim, ganz in Form der Knochen, biegſam wie
Leder zurück, welcher, von der ihm etwa anklebenden Salz⸗
ſäure gereinigt, wie andrer Leim benutzt werden kann. So
iſt die Salzſäure den Arbeitern in allerhand Stoffen, von
den Metallen an bis zum hinweggeworfenen Knochen, von
auſſerordentlicher Nutzbarkeit. Daß ſie aber in dieſe allge⸗
meinere Anwendung kam, das hatte doch auch nur durch Hülfe
der Schwefelſäure erlangt werden können. aa
195
Dieſe, welche in vieler Hinſicht vor allen andren Säu⸗
ren auf den Rang einer Königin Anſpruch machen kann,
wurde zuerſt in Deutſchland, aus einem faſt in all unfren
Gebirgsarten vorkommenden Eiſenerze: aus dem ſpäter noch
zu erwähnenden Schwefelkieſe gewonnen, der aus einer Ver⸗
bindung von beiläufig fünf Theilen Eiſen mit ſechs Theilen
Schwefel beſtehet. Da, wo dieſes Schwefeleiſen häufig aus
den Bergwerken heraus gefördert wurde, wie bei Goßlar am
Harz und im böhmiſch⸗ſächſiſchen Erzgebirge legte man es
auf einen Roſt, unter welchem man Feuer anmachte. In
der lang fortwirkenden Gluth des Feuers verbrannte ein Theil
des Schwefels, ein Theil des Eiſens bildete mit dem Sauer-
ſtoffgas das rothe Eiſenoxyd. Das ſo geröſtete Erz wurde
dann auf einen feſten, etwas geneigten Boden zuſammenge—
häuft und mehrere Jahre der Luft, dem Regen und Schnee
ausgeſetzt. Allmälig bildet ſich hierbei der Eiſenvitriol, wel⸗
cher leicht aufloslich im Waſſer, von dem auffallenden Regen
durch die Rinnen zu den Behältniſſen hingeleitet wird, aus
denen man ihn öfters von neuem über die geröſteten Kieſe
ſchüttet, bis die Auflöſung eine gewiße Stärke erreicht hat, in
welcher man ſie im Keſſeln über dem Feuer abdampft und
erſt jetzt den grünen, ſehr herbe ſchmeckenden Eiſenvitriol ge—
winnt, der bei den Färbereien auf mancherlei Weiſe benutzt
wird. Aus dieſem Eiſenvitriol wird aber durch die Glühe—
hitze die Schwefelſäure gewonnen, die ſich durch fortgeſetzte
Abdampfung über Feuer mehr und mehr von dem noch mit
ihr verbundenen Waſſer befreien und hierdurch zu einem ho—
hen Grad der Stärke bringen läſſet. Aber die auf ſolchem
mühſamen und langwierigen Wege gewonnene Schwefelſäure
würde dem großen Bedürfniß der europäifchen, vor allem der.
engliſchen nicht genügen, obgleich nur allein das Vitriolwerk
zu Beierfeld im ſächſiſchen Erzgebirge jährlich gegen und über
1200 Centner concentrirte Schwefelſäure oder Vitriolbl berei—
tet. Um ſo weniger war die in verſchiedenen Ländern auf
die Weiſe der ſächſiſchen gewonnene Schwefelſäure für Eng—
lands Handel und Gewerbe ausreichend, da dieſes Land
auch andre Welttheile mit dieſem vielfach nützlichen Erzeug—
niß zu verſorgen hat. Daher muß man jenen erſten Verſuch,
welchen, wie man ſagt, ein nach England eingewanderter
Deutſcher Namens Möller dort machte, die Schwefelſäure
auf näherem Wege, aus dem Verbrennen, des reinen Schwe⸗
13
RN 7 * RER wi. * 3
196
fels zu erzeugen, als den Anfang eines ganz neuen Auf
ſchwunges der Gewerbthätigkeit betrachten. |
Bewunderung, mit einer Art von unheimlichem Grauen
vermiſcht, überfällt den Fremden der zum erſten Mal in eine
jener rieſenhaften Bleikammern hineinblickt und, ſo weit dies
geſchehen kann, die Weiſe ſich anſchaulich machet, in welcher
darinnen der erſtickende Schwefeldampf zur Säure verdichtet
wird. Der Menſch ſcheint ſich hier mit den Mächten der
vulkaniſchen Krater in einen Wettkampf begeben zu haben.
Räume, ſieht man welche 120 Fuß lang, 40 breit und 20 Fuß hoch,
ja zum Theil von jener noch größeren Weite ſind, daß man
ein zweiſtöckiges Haus von mittlerer Größe in ſie hineinſtel⸗
len könnte. Dieſe rieſenhaften Kammern ſind in ihrem Inn⸗
ren ganz mit bleiernen Platten, welche dicht mit Blei zuſam⸗
mengelöthet find, ausgekleidet, unten auf ihrem Boden ſtehet
einige Zoll hoch Waſſer. Der Schwefel wird auf einer Stein⸗
platte, in der Kammer ſelber oder in einem Ofen unter derſelben
verbrannt, deſſen Ausführungsrohr in die Kammer hinein⸗
geht. Aber das Verbrennen des Schwefels giebt nur fchwef-
lichte Säure, welcher man einen größern Antheil von Sauer⸗
ſtoffgas zuführen muß, wenn ſie zur eigentlichen Schwefel-
ſäure werden ſoll. Und dieſen größeren Antheil empfängt
ſie durch ein Recht des Stärkeren über den Schwächeren.
Wenn man nämlich mit der Maſſe des Schwefels etwa ein
Zehntel ihres Gewichtes ſalpeterſaures Kali (gemeinen Sal-
peter) oder ſalpeterſaures Natron vermiſcht, dann entreißt bei
ſeinem Verbrennen der Schwefel der Salpeterſäure einen
Theil ihres Sauerſtoffes, und, jetzt zur Schwefelſäure ge—
worden, vertreibt dieſer mächtige Stoff die Salpeterſäure
ganz aus ihrem Beſitz, bildet ſchwefelſaures Natron oder
Kali. Die verdrängte Säure iſt bei ihrem Hinaustritt aus
der bisherigen Wohnſtätte, durch den Raub des Sauerſtof—
fes, den der verbrennende Schwefel an ihr begieng, zu jenem
niedreren Range einer Halbſäure herabgeſunken, den auch der
Dampf der ſchweflichten Säure einnimmt, welcher die Kam⸗
mer erfüllt. Aber auch in dieſer Form (als Stickſtoffoxyd⸗
gas) bleibt die ſchon einmal Beraubte von der ſtärkeren
Schweſter nicht unangetaſtet; die ſchweflichte Säure, welcher
hierbei ihr Drang zur Verbindung mit dem Waſſer zu Hülfe
kommt, entreißt dem Stickſtoff, von deſſen Anweſenheit in
der Salpeterſäure wir ſpäter reden werden, auch noch jenen
8
197
Antheil des Sauerſtoffgaſes, durch den es als halbſaures
Gas beſtund, jene wird jetzt zur eigentlichen Schwefelſäure,
welche ſich begierig mit den Waſſerdämpfen vereint und von
der Decke wie von den Wänden tropfenweis in das Waſſer
hinabrinnt, das ſich am Boden der Kammer oder der Ne—
benkammer befindet. Jetzt jedoch bleibt der chemiſchen Kunſt
noch ein Hauptgeſchäft übrig: das Abdampfen des Waſſers
durch einen zuletzt überaus hoch geſteigerten Hitzegrad und
die endliche Darſtellung der Schwefelſäure in dem möglichſt
ſtarken, waſſerfreien Zuſtand. Hierbei kommt denn das Pla-
tinametall zu der Ehre und vorzugsweiſen Benutzung, die
es vor allen andren Materialien der Geräthſchaften verdient.
Dieſes Metall wird ſelbſt bei der Hitze, welche der Schwe—
felfäure das Waſſer entriß, das fie fo kräftig feſthielt, nicht
geſchmolzen, auch die ſtärkſte Schwefelſäure vermag daſſelbe
nicht aufzulöſen, darum nehmen die Beſitzer der Schwefel—
ſäurefabriken keinen Anſtand für einen einzigen Keſſel aus
jenem edlen Metall 10,000 ja 20,000 fl. aufzuwenden, denn
wenn einige dieſer Fabriken (nach Liebigs Angabe) im Ver⸗
lauf eines Jahres 60,000 Centner und ſelbſt die von mittle—
rem Belange 20,000 Centner Schwefelſäure darſtellen und
in den Verkehr der Gewerbe bringen, dann trägt jenes auf
die Anlage verwendete Capital ſeine reichlichen Zinſen.
Wir genießen in unſeren Tagen wohlfeilen Kaufes eine
Ueberfülle von Bequemlichkeiten, welche unſre Väter auch um
vieles Geld ſich nicht hätten verſchaffen können; zum großen
Theil verdanken wir dieſen Vorzug der Schwefelſäure und
ihrer Macht über die andren Grundſtoffe. Wie ſich die
Schnelligkeit, in welcher wir durch ein bloßes Reiben unſrer
Zündhölzchen, zu denen ebenfalls die Wirkſamkeit der Schwe⸗
felſäure uns den Stoff gab, ein Feuer entzünden zu der
früheren, langſameren Entzündungsweiſe durch Stahl, Stein
und Zunder verhält, fo die Erleichterung des jetzigen Betrie—
bes vieler der einflußreichſten Gewerbe zu der vormaligen
Weiſe des Betriebes. 5 i
23. Die chemiſche Polariſation.
So mächtig der Zug war, der die Schwefelſäure, wenn
man ſie mit Kochſalz vermiſchte, zur Verbindung mit dem
Natron bewegte, und ſo überwiegend ſich auch hierbei die
198
anziehende Kraft jener Säure über die Kraft der Salzſäure
zeigte, giebt es dennoch ein Mittel die ſiegreiche Macht aus
dem feſt ergriffenen Beſitzthum wieder heraus zu ziehen. Doch
iſt dies auf gewöhnlichem Wege nur dadurch möglich, daß
man der Schwefelſäure einen andren Grundſtoff darbietet,
zu deſſen Verbindung ſie noch einen ſtärkern Zug hat als zu
der Vereinigung mit Natron. Dieſes wird durch die Be⸗
handlung des Glauberſalzes oder ſchwefelſauren Natrons mit
Pflanzenkali oder Potaſche bewirkt. Eben ſo wie bei dem
oben (C. 16) erwähnten Raffiniren des Silbers die Schwe⸗
felſäure das Silber, mit dem ſie vereint war, fahren läſſet
und ſich in die Verbindung mit dem Kupfer verſenkt, ſo ent⸗
läßt auch die ſtarke Säure das Natron aus ihrem Beſitzſtande
um ſich das Pflanzenkali der Potaſche zuzueignen, deren
Kohlenſäure ſich jetzt dem Natron beigeſellt, aus deſſen Ver⸗
band ſie leicht, durch bloße Erhitzung, wieder ausgetrieben
werden kann. f
Bei dieſer Gelegenheit müſſen wir, nach Liebigs Vor⸗
gang, Einiges über einen Sprachgebrauch erwähnen, der
ſeit längerer Zeit in das Gebiet der Scheidekunſt eingeführt
worden iſt. 2
An zwei Magnetnadeln ſind ſich ohnläugbar jene Enden
ihren Weſen und Eigenſchaften nach verwandt, welche beide
die gleiche Richtung nach Norden oder nach Süden haben.
Dennoch ziehen ſich dieſe gleichartigen Enden nicht gegenſei⸗
tig an, ſondern ſie ſtoßen ſich ab und fliehen ſich, während
jene, deren Richtung die ganz entgegengeſetzte iſt, ſich leb—
haft anziehen und zu vereinigen ſuchen. Eben ſo bemerken
wir auch bei dem chemiſchen Verkehr der Stoffe, daß in
einer aus vielfachen Elementen zuſammengemengten Auflöſung
nicht eine Säure die andre, nicht ein Kali das andre an—
ziehe und mit ihm ſich verbinde, ſondern vielmehr jene Stoffe
ſich vereinen, die von ganz entgegengeſetzter Natur und Bez
ſchaffenheit ſind: die Säuren mit den Kalien oder alkaliſchen
Erden und umgekehrt. Selbſt von jenem wechſelſeitigen Ab⸗
ſtoßen und Abſcheiden der gleichartigen Stoffe, das ſich mit
dem Abſtoßen der gleichnamigen Pole zweier Magnete ver:
gleichen läſſet, geben uns die vorhin erwähnten Vorgänge
mehrere augenfällige Beiſpiele.
Aus dieſem Grunde muß freilich der gewöhnliche Aus⸗
druck, welcher das Zuſammenſtreben der polariſch entgegen⸗
199
geſetzten Stoffe, wie der Säuren und Alkalien, als chemi⸗
ſche Verwandtſchaft und die größere oder geringere Stärke,
in welcher ein Stoff nach der Verbindung mit dieſem oder
jenem verſchiedenen Stoffe ſtrebt, als nähere oder fernere
Grade der Verwandtſchaft bezeichnet, in einem andren Sinne
verſtanden werden als der iſt, den wir im gemeinen Leben
mit dem Worte Verwandtſchaft verbinden. Die Kinder eines
und deſſelben Elternpaares, die ſich in ihren äußren Zügen
ſo wie an Eigenſchaften ähnlich ſind, Brüder und Schwe—
ſtern ſind ſich verwandt, ſolche die aus ganz andren Fami—
lien und Völkerſchaften herſtammen, ſind dieſes nicht. Wollte
man denſelben Begriff des Wortes auf die Grundſtoffe und
ihre Verbindungen ausdehnen, dann müßte man die Säuren
unter einander als nahe Verwandte betrachten und eben ſo
auch wieder die Alkalien und alkaliſchen Erden. Was jedoch
dem Streben nach chemiſcher Vereinigung zu Grunde liegt
und dieſem ſeine eigenthümliche Stärke giebt, das iſt nicht
die gemeinſame Abſtammung und die nahe Uebereinſtimmung
der Eigenſchaften und Kräfte, ſondern gerade die Verſchie—⸗
denheit. Je weiter in dieſer Beziehung die Stoffe von ein-
ander entfernt ſtehen, deſto ſtärker iſt der Drang, der unter
günſtigen Umſtänden ihre Vereinigung herbeiführt und wie
dagegen der Fall eines Körpers aus geringerer Höhe von minderer
Kraft und Geſchwindigkeit iſt, ſo wird auch die gegenſeitige
Anziehung der Stoffe immer ſchwächer, je näher fich diefel-
ben ihrer eigenthümlichen Beſchaffenheit nach ſtehen.
Uebrigens findet auch hierbei noch Etwas ſtatt, was uns
an die unſrem eigenen Weſen näher ſtehenden Naturverhält—
niſſe erinnert. Der Zug der Freundſchaft des Menſchen zu
einem Thiere kann nie ſo groß ſeyn als der des Menſchen
zu andren Menſchen, oder der des Thieres zu Seinesgleichen.
So ſtehen zwar das Sauerſtoffgas und das Waſſerſtoffgas
ihren Eigenſchaften nach in weitem Abſtand von dem Gold und
Platinametall, es iſt aber in dieſen Gegenſätzen kein natür⸗
licher Zug zur Vereinigung, während dagegen das Gold mit
dem Queckſilber, das Sauerſtoffgas mit dem Kohlenſtoff, da
wo dieſer durch die Kräfte des organiſchen Lebens dem atmo—
ſphäriſchen Zuſtand näher getreten iſt, oder mit dem ſchnell
r Phosphor und Schwefel leicht Verbindungen
eingehen. At
Derſelbe Grundſtoff der ſich in Beziehung zu einem
La 1 IN AN. - u nd 1
200
andren als Säure verhalten kann, übernimmt öfters im Ver⸗
hältniß zu einem Dritten die entgegengeſetzte Rolle eines ka⸗
liſchen Grundſtoffes. So der Schwefel, wenn er jetzt mit
dem Waſſerſtoffgas, dann mit dem Sauerſtoffgas, einmal
als die Säure bildend, das andre Mal als dem Zuſtand
der Säuerung ſich ergebend ſich zur Waſſerſtoffſchwefelſäure
oder zur eigentlichen Schwefelſäure vereint.
1
Wir haben hier, nach einem ſehr erweiterten Maaßſtabe,
daſſelbe vor uns, was wir ſchon oben (Cap. I als Polari⸗
tät und polariſche Spannung am Magnet kennen lernten und
der Grund der polariſchen Entgegenſetzung ſo wie des Stre⸗
bens nach Vereinigung dieſer Gegenſätze iſt hier derſelbe,
welcher er dort war. Im Allgemeinen, ſo kann man ſagen,
wiederholt ſich durch alle Gebiete und Reihenfolgen der chemi⸗
ſchen Polariſation der Unterſchied und Gegenſatz den wir zwi⸗
ſchen Säuren und Alkalien, zuletzt aber jener den wir zwi⸗
ſchen der Atmoſphäre und dem Körper der Planeten bemer—
ken, den ſie umhüllt. Denn wie der herrſchende Beſtandtheil
der Atmoſphäre: das Sauerſtoffgas den allgemeinſten Ge⸗
genſatz zu allen andren Grundſtoffen der irdiſchen Sichtbar⸗
h bilde, das ſoll uns eine nähere Betrachtung deſſelben
ehren.
24. Die Grundſtoffe der organiſchen Körper.
Ein Häuflein Aſche, großentheils aus Kalkerde beſtehend,
iſt der einzige Reſt der nach dem Verweſen, ſelbſt des voll-
kommenſten unter allen organiſchen Körpern: des menſchli⸗
chen Leibes zurückbleibt. Die andren Elemente deſſelben ha⸗
ben auch aus dem ſcheinbar wohlverſchloſſenen, durchſichtigen
Sarge, in welchem man den Leichnam eines Alexander des
Großen verwahrt hatte, ihren Ausgang gefunden, denn ſie
waren von luftartiger Natur, oder leicht geneigt aus der
ſcheinbar feſten in die Luftform überzugehen. 5
Zwei Drittel der Beſtandtheile des Leibes der Menſchen
und der vollkommneren Thiere macht das Waſſer aus und
auch von dem übrigen Drittel gehört nur ein ſehr geringer
Theil jenen mehr zum feſten Zuſtand geneigten Stoffen an,
die wir in dem letztvorhergehenden Capitel betrachteten.
Der Grundſtoffe, die zunächſt den organiſchen Leib, im
Pflanzen- wie im Thierreiche bilden, find viere: Kohlen—
201
und Waſſerſtoff, Stickſtoff und Sauerſtoff. Wir
betrachten hier zunächſt nur die beiden erſteren, während den
beiden letzteren ein beſonderes Capitel angewieſen iſt.
Selten nur wird der Kohlenſtoff in unſrer irdiſchen
Körperwelt rein und unvermiſcht gefunden und die Eigen—
ſchaften, in denen dann dieſes reine Element auftritt, ſind
von ſo beſondrer Art, daß ſie ſchon ſeit älteſter Zeit die
Beachtung der Menſchen auf ſich gezogen haben. Die reinſte
Form in welcher ſich die Kohle in der irdiſchen Natur dar—
ſtellt, giebt als Demant den goldnen Kronen wie den Diaz
demen der Fürſten ihren höchſten Werth und Glanz. Daß
Kohle und Demant, beide ihrem Grundbeſtand nach ein und
daſſelbe ſeyen; welcher Weiſe des Alterthums hätte dieſen
ſcheinbaren Widerſpruch für Wahrheit halten mögen! Und
dennoch iſt es ſo: der Demant, dieſer härteſte und feſteſte
der Steine, mit deſſen ſcharfen Splittern man ſelbſt in den
Sapphir einſchneiden kann und deſſen glatte Flächen auch
von der härteſten engliſchen Feile nicht angegriffen werden,
kann der Hitze der zuſammengefaßten Sonnenſtrahlen im
Brennpunkt des Brennſpiegels nicht widerſtehen; er verbrennt
mit glimmendem Lichte und löſt ſich, durch ſeine Verbindung
mit dem Sauerſtoffgas, in Kohlenſäure auf.
Das was dem Kohlenſtoff im Demant ſeine regelmäßige
Geſtalt, ſeinen wundervollen Glanz, ſeine auſſerordentliche
Härte gab, das war die Kraft der Kryſtalliſation, welche
wir der Kohle unſrer Oefen, auch wenn wir aus ihr den
Kohlenſtoff in möglichſter Reinheit ausſchieden, eben fo we—
nig durch unſre Kunſt mittheilen können, als die Kraft
des Lebens jenen Elementen aus denen ein ſo eben noch le—
bender, jetzt aber durch unſre Hand zertheilter organiſcher
Leib beſtund.
Der Kohlenſtoff, ſo dürfen wir uns ausdrücken, nimmt
auſſerordentlich ſchwer, und nur unter Naturverhältniſſen die
uns unbekannt ſind, die Kryſtalliſationsgeſtalt an. Zur be—
ſondren Vergünſtigung gereicht dies dem organiſchen Leben;
denn wenn jener Grundſtoff eben ſo leicht zum Demant, als
das Chlornatrium zum Salzkryſtall, der kohlenſaure Kalk
zu kleinen Kryſtallen des Kalkſpathes, das Jod zu ſeinen
kryſtalliniſchen Geſtalten werden könnte, welche Kraft der
Verdauung und Zerlegung ſollte dann hinreichen um den
202
unentbehrlichen Nahrungsſtoff in den Kreis des Lebens und
Wachsthums hineinzuziehen! f
Eine der gewöhnlichſten und am häufigſten verbreiteten
Formen, in denen der Kohlenftoff ſchon als Beſtandtheil der
Erdveſte vorkommt, ſind die Steinkohlen. Wenn in eini⸗
gen Arten derſelben, zu denen die Glanzkohle (der Anthrazit)
gehört, der Kohlenſtoff in größerer Reinheit vorherrſcht, dann
zeigen ſich dieſelben ungleich ſchwerer verbrennbar als die
andren gewöhnlichen Arten der Schwarz- wie der Braun⸗
kohle, in denen jener Stoff mit dem an Waſſerſtoffgas und
Sauerſtoff reichen Bitumen, und zum Theil wie in der Holz⸗
kohle, mit den metalliſchen Stoffen den Alkalien und Erden
verbunden iſt. Lager von Stein- und Braunkohlen finden
ſich in allen Weltgegenden der Erde, im höchſten Norden
wo jetzt kaum noch ein Strauch gedeiht, wie in den reich
bewachſenſten Ländern der warmen Zonen. England allein
gewinnt alljährlich gegen 150 Millionen Centner an Stein⸗
kohlen, deren Werth auf 48 Millionen Gulden geſchätzt wird,
und deren Gewinnung wie Verſendung über 150,000 Men⸗
ſchen beſchäftigt. Allerdings iſt dieſer Verbrauch überaus be⸗
deutend und man hat berechnet, daß die Steinkohlenvorräthe
von England bei einem in gleichem Maaße fortgeſetzten Berg⸗
bau in 350 Jahren erſchöpft ſeyn könnten. Sollte jedoch
auch wirklich dieſes geſchehen, dann würden ſich dem Herr⸗
ſcher und Durchforſcher der Erde gar bald anderwärts die
noch verborgenen Schatzkammern ſolcher Art aufthun.
Auch in andren Formen als in jener der Steinkohle
wird der Kohlenſtoff unter den Beſtandtheilen der Erdveſte
gefunden, namentlich als Erdpech, Erdöl und feinere Erd-
naphtha. Es giebt Gegenden der Erde, in denen dieſe brenn—
baren, feſten oder flüſſigen Stoffe ſich von ſelber aus der
Tiefe hervordrängen, wie in den Quellen des Erdöles und
der Naphtha, die ſich an der Weſtſeite des kaspiſchen Mee⸗
res und namentlich im Reiche der Birmanen finden, deſſen Be⸗
wohner, ohne alle Mühe, jährlich gegen 400,000 Oxthoff (einen
zu 3 Eimern) Bergöl ſammlen. Auch auf der Oberfläche
des todten Meeres erſcheint nicht ſelten der Asphalt (das
Erdpech) in häufigen ſchwimmenden Maſſen und Bruchſtücken.
Zu jenen Foſſilien, welche reich an Kohlenſtoff find, gehört
auch 1 Bernſtein — ein Erzeugniß der vormaligen Pflan⸗
zenwelt.
203
In einer noch weiteren Ausdehnung und größeren Mäch⸗
tigkeit als in den eben genannten Formen der brennbaren
Foſſilien findet ſich der Kohlenſtoff, mit dem Sauerſtoffgas
vereint, als Kohlenſäure in der irdiſchen Natur. Der bei
weitem größeſte Theil unſrer Kalkgebirge beſtehet aus einer
Verbindung der Kohlenſäure mit der Kalkerde; das Waſſer
unſrer Quellen enthält in großer Allgemeinheit und zum Theil
in einer unſrem Geſchmack auffallenden Menge die Kohlen⸗
ſäure, welche auch hin und wieder in Luftform die Höhlun⸗
gen und tiefer gelegenen Stellen der Erdfläche erfüllt. Selbſt
in unſrem Luftkreiſe wird die Kohlenſäure als einer der bes
ſtändigeren Gemengtheile nachgewieſen, obgleich ſeine Menge,
im Vergleich zu den Hauptgasarten der Atmoſphäre nur ſehr
gering iſt. Vor dieſen andren zeichnet ſich die Kohlenſäure
namentlich durch ihr ungleich größeres, ſpezifiſches Gewicht aus,
vermöge welchem ſie ſich, wo ſie dies ungeſtört thun kann,
gern an tieferen Punkten anſammlet.
Dem athmenden Thiere iſt die luftförmige Kohlenſäure
tödtlich, dieſes erſtickt in derſelben nach wenigen Athemzügen
und die Flamme der brennenden Kerze verlöſcht in ihr.
Dagegen iſt dem Leben der Gewächſe die Kohlenſäure, da
wo dieſe mit Waſſer verbunden in ihren Bereich kommt, in
vorzuͤglichem Maaße zuträglich, indem die Pflanzen den Koh⸗
lenſtoff als Nahrung aufnehmen und den mit dieſem verbun⸗
denen Sauerſtoff, wenn die Sonne auf ihre grünen Blätter
ſcheint, aushauchen. Auch das Thier und namentlich der
Menſch nimmt keine Speiſe zu ſich, deren wahrhaft nährende
Kraft nicht vorzugsweiſe dem Kohlenſtoff zuzuſchreiben wäre,
den ſie, mit Stickſtoff und Waſſerſtoff vereint, in ſich enthält.
Es iſt kein Theil unſres Körpers, der ganz ohne Kohlenſtoff
wäre; jeder Athemzug, jede Welle des Blutes hat den Aus—
oder Eingang jenes Stoffes zum Antrieb des Bewegens, weil der—
ſelbe in dieſen höheren Kreiſen des geſchaffenen Weſens in
ähnlicher Weiſe zur Unterhaltung des Feuers auf dem Herd
des Lebens dient als die Kohle auf dem Herd der Hütten wie
der Palläſte. |
Das Waſſer, in feinem Geſchäft als allernährende, all-
verſorgende Amme und Hausmutter betrachteten wir bereits
oben (Cap. 3). Viele ſeiner Eigenſchaften waren ſchon in
älterer Zeit bekannt, auch hatte man es, wie eine Art von
Ahnung ausgeſprochen, daß das Waſſer aus Luft entſtehen
204
und wieder zu Luft werden könne. Es iſt aber ein großer
Unterſchied zwiſchen einer ſolchen Ahnung des Menſchengei⸗
ſtes und zwiſchen dem wirklichen, auf ſichre Erfahrungen
gegründetem Wiſſen. Wie ſchnell wird der Lichtblitz, der aus
einer in weiter Ferne abgefeuerten Kanone kommt, unſrem
Auge ſichtbar und wie viel länger dauert es, bis der don—
nernde Laut des Schuſſes zu unſrem Ohre gelangt; eben ſo
iſt der vorahnende Gedanke des Geiſtes, der Vorſatz zu
irgend einer That plötzlich in uns da, die Bewährung aber
durch wirkliches Erforſchen und Ausführen hat meiſt noch
einen langen Weg durch mancherlei Schwierigkeiten und Hem⸗
mungen bis zu ihrem Ziele zu machen.
Das Waſſer beſteht wirklich aus Luft, nicht aber aus
einer, ſondern wie dies ſeit dem Jahre 1781 durch die bez
rühmten Chemiker Cavendiſh und Lavoiſier dargethan
iſt, aus zwei Luftarten, in welche es ſich durch Kunſt des
Menſchen zerlegen, und aus denen es ſich von Neuem zu⸗
ſammenſetzen läſſet. Mit der Erfahrung, die jedes Kind
machen kann, nach welcher ſich das Waſſer als das am leich⸗
teſten zu habende, natürliche Gegenmittel gegen die Verhee⸗
rungen des Feuers kund giebt, konnte wohl kaum eine andre
Entdeckung in einem ſcheinbar größeren Widerſpruche ſtehen
als die, daß im Waſſer ſelber ein Grundſtoff enthalten ſey,
der ſich entzuͤnden und mit gewaltigem Aufflammen verbrennen
kann. Wenn man aber das Waſſer durch elektriſche Kraft
(davon ſpäter die Rede ſeyn wird) in feine beiden Gegen⸗
ſätze zerlegt (polariſirt), dann erhält man aus ihm die
brennbare Luft, von deren verheerender Macht wir ſchon
oben (C. 21) ſprachen. Die Bergleute, namentlich in den
Steinkohlengruben, kennen dieſelbe unter dem Namen der
ſchlagenden Wetter, und ſchon Mancher von ihnen iſt von
ihren Flammen verzehrt und durch die Schußgewalt, welche
ſie, gleich dem Schießpulver bei ihrer Entzündung ausübt,
zerſchmettert worden, und ähnliche Ereigniſſe haben ſich zuge
tragen, wenn ſich in Kellern oder andren verſchloſſenen Räu⸗
men, darinnen Gefäße voll Moſt oder voll andrer gährenden
Flüſſigkeiten aufbehalten wurden, durch den Vorgang der.
Gährung das brennbare Waſſerſtoffgas, verbunden mit
Kohle entwickelt hatte. Dem Weingeiſt wie dem Oel und
allen fett⸗ oder harzartigen Körpern giebt das Waſſerſtoffgas
im Verein mit dem Kohlenſtoff ihre Brennbarkeit; der Koh⸗
205
lenwaſſerſtoff liefert uns das Material zur Gasbeleuchtung
der Häuſer und Gaſſen. In noch größerem Maaßſtabe bildet
derſelbe das Brennmaterial jener natürlichen Herde eines be—
ſtändig flammenden Feuers, die ſich in der Nähe der Naph—
thaquellen und mancher Salzlager durch bloßes Hineinboh—
ren in die Erde und Anzünden der aufſteigenden Dämpfe
bilden laſſen. | |
Auſſer der Macht der Elektrizität, durch welche freilich
aus dem Waſſer das reinſte Waſſerſtoffgas dargeſtellt wird,
ſtehen uns auch noch verſchiedne andre Mittel zu Gebote, die
brennbare Luft leicht und in ziemlicher Menge zu gewinnen.
Das Element was dieſelbe in unſrer irdiſchen Sichtbarkeit
am öfterſten gebunden hält und fie. in der tropfbar flüſſigen
Form des Waſſers zu Boden zieht, iſt das Sauerſtoff—
gas oder die Lebensluft, dieſer oberſte Herrſcher unter
den uns bekannten Grundſtoffen, der bei allen chemiſchen
Verbindungen, bei allen leiblichen Geſtaltungen den Ton ans
giebt; nach deſſen Gemeinſchaft und Verein die meiſten and—
ren Grundſtoffe eine lebhafte Begierde zeigen. Denn wäh—
rend zum Beiſpiel das Gold wie ein Einſamer in der Welt
der oberirdiſchen Urelemente daſtehet und von ſelber weder
mit Waſſer noch mit Luft, ſondern nur mit feinen unterir—
diſchen Mitbürgern, wie etwa dem Queckſilber, Verbindun—
gen eingehen mag, ergreifen das leicht roſtende Eiſen, das
Kupfer und die meiſten andren Metalle jede Gelegenheit, bei
welcher ſie aus Waſſer oder Luft das Sauerſtoffgas an ſich
reißen und mit ihm zum Oxyd werden können. Wenn
man deshalb Eiſenfeilſpähne oder verkleinertes Zinkmetall mit
Waſſer überſchüttet und dem letztern etwa den fünften oder
ſechſten Theil ſeines Gewichtes an concentrirter Schwefelſäure
hinzufügt, dann bewirkt die Säure eine ähnliche Polariſa—
tion oder Zerſetzung des Waſſers als der elektriſche Funke,
der Zug des einen Poles zur Vereinigung mit dem Eiſen
wird ſo hoch geſteigert, daß er mit dieſem das Oxyd dar—
ſtellt und in demſelben Maaße ſteigert ſich auch die andre
polariſche Richtung, welche in der Natur des Waſſers liegt,
bis zur Geſtaltung des Waſſerſtoffgaſes, welches, in Ver—
bindung mit der Kohle, davon faſt jedes Eiſen einen kleinen
Antheil enthält, aus dem Waſſer emporſteigt.
Wenn man die beiden, durch die Polariſation des Waſ—
ſers entſtandenen Gasarten ihrem Gewichte nach vergleicht,
206
dann findet man, daß das Sauerſtoffgas achtmal mehr an
Gewicht betrage als das Waſſerſtoffgas. Genau genommen
it hierbei das Verhältniß zwiſchen beiden wie 8891 zu 1109,
Wenn man aber den Raum beachtet, den beide in ihrer
Luftform einnehmen, dann bemerkt man, daß das Waſſer⸗
ſtoffgas gerade auf einen doppelt ſo großen Raum ſich aus⸗
gedehnt habe, als der iſt, den das Sauerſtoffgas einnimmt,
ſo daß ein Cubikfuß von jenem gegen 16 mal leichter wiegt
als ein Cubikfuß von dieſem. Wenn man deshalb aus bei⸗
den das Waſſer wieder zuſammenſetzen will, ſo muß man
von dem erſtern einen Gewichtstheil auf acht Gewichtstheile
des letzteren, oder, der Ausdehnung im Raume nach, zwei
Maaßtheile auf einen nehmen. Werden in dieſem Verhält⸗
niß beide Gasarten zuſammen gemengt, und dem Gemenge
ein brennendes Licht genaht oder ein Funke in daſſelbe hin⸗
eingelaſſen, dann entzündet ſich daſſelbe mit einem heftigen
Knalle und wird durch die Hitze, die ſich beim Verbrennen
erzeugt, ſo plötzlich ausgedehnt, daß dabei das Gefäß, worin
die Verbindung geſchahe, wenn es von zerbrechlicher Natur
iſt, in unzählige Splitter zertrümmert wird.
Was ſchon die Kraft der Elektrizität, welche doch nur
ein ſchwaches Abbild der Lebenskraft iſt, die in dem beſeel—
ten Weſen waltet, an dem Waſſer vermag, das wird, in
noch viel allgemeinerer Weiſe, im Kreiſe des organiſchen Le—
bens bewirkt: Hier wird das Waſſer ohne Aufhören polari⸗
ſirt, und zwar ſo, daß jeder der beiden polariſchen Grund—
ſtoffe alsbald zur Bildung und Geſtaltung der flüſſigen
oder ſeſteren Theile benutzt wird. Namentlich iſt in jedem,
auch dem kleinſten Theile des menſchlichen Leibes, mit dem
ſchon erwähnten Kohlenſtoff zugleich auch Waſſerſtoffgas
enthalten. Aber zu dieſen beiden kommen noch zwei andre
Grundſtoffe, aus deren Gemenge zunächſt der Luftkreis zus
ſammengeſetzt iſt, welcher unſren Planeten von allen Seiten
umhüllt. Ein Uebergang aber zur näheren Betrachtung der
Gemengtheile der Atmoſphäre und der Eigenſchaften derſelben
ſoll uns eine kurze Erwähnung der Luftſchifffahrten gewäh⸗
ren, welche uns vorläufig Gelegenheit geben werden den
Luftkreis und einige der Bildungen, die in ihm vorgehen,
im Ganzen, wie der hindurch fliegende Vogel dies vermag,
ins Auge zu faſſen. U
207
25. Die Luftſchifferkunſt.
Ein eiſerner Anker, den wir ins Meer hinablaſſen, ſinkt,
durch ſeine eigne Laſt gezogen, ſogleich in den Fluthen unter
und reißt ſogar das Seil, an dem er befeſtigt iſt, mit ſich
hinab, bis dahin, wo er auf einen feſten Grund trifft, der
ihn nicht tiefer ſinken läſſet. Das Waſſer des todten Mee-
res iſt, vermöge der vielen ſalzigen Theile, die es aufgelöſt
enthält, ſo dicht und ſchwer, daß ein Menſch, der auch nie—
mals ſchwimmen gelernt hat, ohne alle Mühe ſich auf dem⸗
ſelben ſchwimmend erhalten kann, während ein Stück Kreide,
obgleich daſſelbe verhältnißmäßig viel weniger wiegt als ein
Kieſelſtein in demſelben zu Boden ſinkt. Aber ſelbſt ein
Stück Eiſen geht in dem flüſſigen Queckſilber nicht unter,
ſondern ſchwimmt darauf ſo leicht wie ein Stük Korkholz
auf dem Waſſer. Wie ein kleines längliches Stück Hollun⸗
dermark, deſſen eines Ende mit ein wenig Blei beſchwert iſt,
zur Beluſtigung unſerer Kinder ſich immer wieder mit dem
beſchwerten Ende nach unten, mit dem leichteren nach oben
aufſtellt, ſo ſteigt in jeder Flüſſigkeit der Körper, der leich—
ter iſt denn ſie, empor, der aber welcher ſchwerer iſt, ſinkt
unter in ihr.
Die Kunſt, auf dem Waſſer zu fahren, wurde ſchon in
früheſter Zeit von dem Menſchen erfunden und geübt, denn
ihre Erfindung war denſelben ſehr nahe gelegt. Die Mittel
zur Beſchiffung des Gewäſſers bot ihm die ganze Pflanzen⸗
welt, bot ihm faſt jeder Baum dar, denn nur wenig Arten
des Holzes ſind, wie das Buxbaum- und Mahagonyholz,
ſchwerer denn Waſſer, ſo daß ſie in dieſem unterſinken, die
meiſten andren ſchwimmen, weil die feſten Theile, aus denen
ſie zuſammengefügt ſind, nicht ſo dicht und feſt an einander
ſchließen, wie die Gemengtheile eines Steines. Schwimmt
doch ſelbſt ein Schiff, das aus dünn ausgetriebenem Eiſen
geformt iſt auf dem Waſſer, weil feine weite Höhlung zu—
nächſt nur atmoſphäriſche Luft enthält, welche 770 mal leich⸗
ter iſt als das Waſſer.
Der Wunſch, nicht nur auf dem Waſſer, ſondern in
und auf dem luftigen Meere der Atmoſphäre herumzufahren,
mußte ſich dem Menſchen öfters aufdrängen, wenn er die
Bewohner der Lüfte, die Vögel und geflügelten Inſecten, ſo
leicht in der Luft ſchweben und herumfliegen ſahe. Den Vö⸗
208
geln namentlich ift.idiefed dadurch möglich gemacht, daß ihr
Leib in ſeinem Innren wie nach außen eine Menge hohler
Behältniſſe hat, die mit Luft erfüllt find, denn die Spuhle
jeder Feder, ja ſelbſt die Röhren ihrer Knochen ſind ſolche
Behältniſſe und mitten im Innern ihres Leibes finden ſich ſack⸗
artige Weitungen, welche mit den Lungen in Verbindung
ſtehen und beim Athmen ſich mit Luft füllen. Hierzu kommt
die wunderbar weisliche Einrichtung ihrer Flügel und ihrer
Schwanzfedern, welche bei ihrer Ausbreitung nicht nur einen
natürlichen Fallſchirm bilden, ſondern deren rudernde Bewe⸗
gung durch ein Getriebe und durch Lebenskräfte der Mus⸗
keln bewirkt, ſo wie unterhalten wird, deren Vollkommenheit
die menſchliche Kunſt vergeblich zu erreichen ſtrebt. Was
jedoch der Geſchicklichkeit der Hände nicht gelingen wollte,
das gelang deſto leichter der Phantaſie und ihren mährchen⸗
haften Dichtungen; denn wie einſt Dädalus und Ikarus mit
wächſernen Flügeln ſich der Gefangenſchafſt des Minos ent⸗
zogen haben ſollten, ſo fabelte man auch von einem großen
Mathematiker des Alterthums: von Archytas, daß er das
Kunſtwerk einer hölzernen Taube zuwege gebracht habe, wel—
che, gleich einer natürlichen, in der Luft flog.
Dieſe und ähnliche, ſpäter erfundene Dichtungen fanden
dennoch hin und wieder Leute, die ſie für wahr hielten und
hierdurch zu Verſuchen ſich verführen ließen, welche Mehre—
ren von ihnen das Leben koſteten. Ob der Italiener Gio—
vanni Battiſta Dantes aus Perugia, zu Ende des löten
Jahrhunderts, mittelſt ſeiner Flugmaſchine wirklich mehrere
Male glücklich über den Thraſimener See gekommen ſey, ehe
er, bei einem ſpätern Verſuche der Art, wo er ſich von einer
Anhöhe über die unten liegende Ortſchaft hinwegſchwingen
wollte, herabſtürzte, laſſen wir dahin geſtellt ſeyn. Wenig⸗
ſtens kam der kühne Abentheurer mit dem Leben, bloß mit
einem zerbrochenen Bein davon, weil er zu ſeinem Glück auf
einen Thurm gefallen war, während ein ähnlicher Flugver⸗
ſuch den gelehrten Olivier de Malmesbury in England und
dem Backwelle in Padua den Tod brachte. „
Etwas ganz Andres iſt es für den Menſchen im Waſſer
zu ſchwimmen, als in der Luft. Denn ſein lebender Körper
iſt in der Regel nicht ſchwerer, ja ſogar noch ein wenig
leichter als das Waſſer, während das Eigengewicht des Men⸗
ſchenleibes zu jenem der leichten Luft in einem fait. 1 21
a
209
fach größerem Verhältniß ſtehet, als die Schwere des Eiſens
zu der des Waſſers. Durch Erwägung dieſer Schwierigkeit
ſprachen einige andre Gelehrte, namentlich Lana in Brescia
und Sturm zu Altdorf (bei Nürnberg) jener im J. 1670,
dieſer 1678 den Gedanken aus, daß die Erhebung eines fe—
ſten, vielleicht ſchiffartigen Körpers in die Luft nur dadurch
könne möglich gemacht werden, daß man denſelben mit Hohl-
kugeln in Verbindung ſetze, welche leichter wögen als die
Luft und deshalb von ſelbſt in dieſer emporſtiegen. Die Er⸗
findung der Luftpumpe, welche Otto von Guerike zwei
Jahrzehende vorher gemacht hatte, ſchien ein Mittel darzu-
bieten zur Ausführung jenes Gedankens. Denn eine luftleere
Hohlkugel, wenn die Maſſe aus welcher fie beſtünde, nicht
zu ſchwer wäre, müßte ſich, ſo ſchien es, in der Luft erheben
können. Allein woraus ſollte eine ſolche, inwendig luftleere
Hohlkugel gemacht werden, wenn man derſelben eine Feſtig—
keit geben wollte, hinreichend, um dem ungeheuren Druck zu
widerſtehen, den die Atmoſphäre auf jeden Punkt der Erd-
oberfläche ausübt (m. v. C. 27). Dieſer Druck beträgt auf
jeden Flächenraum von einem Quadratfuß 2216 Pfund;
ein dünnes Metallblech wird von ihm zuſammengepreßt; die
dichteſte Blaſe, über einen luftleeren Raum geſpannt, wird
zerſprengt. Daher war der Gedanke des Pater Galien zu
Avignon, den derſelbe im Jahr 1755 ausſprach, daß ſolche
Hohlkugeln nicht leer, ſondern nur mit einer ſpeziſiſch Leichte:
ren Luftart gefüllt ſeyn müßten, deren Dehnkraft dem Druck
von außen das Gleichgewicht halten könne, nicht ganz un—
richtig, ſo abentheuerlich auch der Vorſchlag zur Ausführung
erſcheint, daß man jene Luftart aus den oberen, luftdünne—
ren Räumen der Atmoſphäre herabholen ſolle. Man bedurfte
dieſes wunderlichen Mittels nicht um die Hohlkugeln oder
luftdichten Säcke nach Galiens Angabe mit einer Gasart zu -
füllen, an Dehnkraft der atmoſphäriſchen Luft gleich und
dabei um eben ſo viel leichter als das Waſſer, im Vergleich
zum Queckſilber. Der berühmte engliſche Chemiker Henry
Ca vendiſh (geb. zu Nizza im J. 1731, geſt. 1810 zu
London), dieſer an innren Gaben wie an äußren Glücksgü—
tern gleich reiche Mann, entdeckte im J. 1766 die große
Leichtigkeit des Waſſerſtoffgaſes und hiermit war für
die Geſchichte der Luftſchifferei eine neue Bahn gebrochen.
Seifenblaſen, mit brennbarer Luft gefüllt, ſahe ſchon Kratzen⸗
14
4 e 1
Ae
ſtein im J. 1776 auſſerordentlich ſchnell in der Luft empor⸗
fſteigen, Ca vallos Verſuche im J. 1782 mislangen jedoch,
weil das Seidenpapier die Luft durchließ, Rinderblaſen aber
Es war, verhältnißmäßig, nur noch eine kleine Schwie⸗
rigkeit zu überwinden, welche in der Zubereitung des luft⸗
dichten Materials lag, aus dem der Ballon gebildet werden
ſollte; dieſer letzte Schritt, der noch zu thun war, gelang bald
hernach zweien Männern, welche ſich dadurch, obgleich
keine Gelehrten von Profeſſion, einen bleibenden Namen in
der Geſchichte der Erfindungen erworben haben: den Brüdern
Stephan und Robert Mongolfier, Beſitzern einer Papier⸗
fabrik zu Annonay in Vivarais. Schon im Jahr 1782 war
es ihnen im Kleinen gelungen, bloß durch erhitzte Luft Bal⸗
lons zur Höhe der Zimmer, dann zur Höhe der Häuſer
emporſteigen zu laſſen, und ſchon dieſe Verſuche, welche an⸗
jetzt Jeder von uns als ſtümperhaft verlachen würde, fanden
in der Nähe wie in der Ferne eine große Theilnahme, die
ſich noch viel höher ſteigerte als den beiden Brüdern die Fer⸗
tigung eines ziemlich luftdichten Leinwandballons gelang, deſ⸗
ſen Innres mit Papier gefüttert war und deſſen Umfang
110 Fuß betrug. Dieſer Ballon hatte nach unten eine Oeff⸗
nung, in welche man die erhitzte Luft eines Feuers, das mit
Stroh und mit gekrempelter Wolle unterhalten wurde, hinein⸗
ſteigen ließ. Die verhältnißmäſſig größere Leichtigkeit der
durch die Wärme verdünnten Luft bewirkte nicht bloß, ſobald der
Ballon damit gefüllt war, daß dieſer ſelber, obgleich ſein
Gewicht 450 Pfund betrug, emporſtieg, ſondern daß er auch
noch eine Laſt von mehr denn 400 Pfund mit ſich emporhub,
und zwar ſo ſchnell, daß er in Zeit von 10 Minuten die
Höhe von 6000 Fuß erreichte, wobei er durch die Luftſtrö⸗
mung, welche an jenem Tage (es war der fünfte Juny)
nicht ſehr ſtark war, eine Strecke Weges von faſt drei vier⸗
tel Stunden hinweggeführt wurde, und dort zu Boden fiel,
»Die Zeitungen waren voll von den Berichten über dieſen
erſten gelungenen Sieg des Menſchen über ein Hinderniß ſei⸗
ner Natur, das dieſe unter die Natur des Vogels ſtellt, ſie
hatten aber wenig Monate nachher von viel wichtigeren Sie⸗
gen derſelben Art zu reden. Profeſſor Charles in Paris,
der zur Fertigung ſeines aus Taffet gebildeten und mit dem
Firniß des elaſtiſchen Harzes überzogenen ſcheinbar vollkom⸗
211
men geſchloßnen Ballons die Gebrüder Robert zu Hülfe
nahm, wendete zuerſt, ſtatt der durch Wärme verdünnten
Luft das leichte Waſſerſtoffgas zur Füllung anz ſein Ballon,
der nur 12 Fuß im Durchmeſſer betrug, ſtieg bei dem erſten
Verſuche, der am 27. Auguſt 1783 auf dem Marsfelde bei
Paris mit ihm gemacht wurde, in Zeit von 2 Minuten ge⸗
gen 3000 Fuß hoch empor, verlor ſich dann von den Wol⸗
ken verdeckt aus den Augen, nahm aber drei Viertelſtunden
nachher ſeine Richtung wieder hinabwärts nach dem mütter⸗
lichen Erdboden, auf welchem er, fünf Stunden Weges von
dem Ort ſeines Aufſteigens ſich niederließ.
Den Phyſikern ſo wie allen Freunden der neugebornen
Luftſchifferkunſt wäre es lieber geweſen, wenn der Ballon,
wie Noahs zuletzt aus der Arche entlaſſene Taube niemals
zum heimathlichen Boden zurückgekehrt wäre, ſondern ſeinen,
für Menſchenaugen unerforſchbaren Lauf, wer weiß wie lan⸗
ge? in den Höhen des Luftkreiſes fortgeſetzt hätte, denn die⸗
ſes wäre ein Zeichen geweſen, daß die Wände der taffeten
Hohlkugel dicht genug waren, um der emporhebenden, brenn⸗
baren Luft gar keinen Ausgang zu geſtatten, welcher jeder⸗
zeit das Niederſinken zur Folge haben muß. Um dieſe Un⸗
durchdringlichkeit der Wände zu bewirken, wendete H. Ro⸗
main zu Paris einen neu erfundenen Firniß an und ein
Ballon, den der Bierbrauer Kaps zu Danzig gefertigt hatte,
ſchien wirklich die Aehnlichkeit mit Noahs nicht zurückkehren⸗
der Taube erreicht zu haben, denn, nachdem er drei Monate
lang die brennbare Luft in ſeinem Innren, ohne Verminde⸗
rung erhalten hatte, entflog er, bei einem Verſuch im Freien,
den leichten Banden daran man ihn halten wollte, und man
weiß nicht, welchen Weg derſelbe ſeitdem über Meer und
Land genommen hat. 8 5
Noch war kein lebendiges Weſen mit den aeroftatifchen
Hohlkugeln in die Luft geſtiegen, und die erſten, denen man
dieſe Ehre vergönnte, konnten über die gemachten Erfahrun⸗
en bei ihrer Luftreiſe nichts ausſagen, obgleich man ihnen
ein Barometer mit in ihren Korb gegeben hatte, denn dieſe
erſten Luftſchiffer, welche der jüngre Montgolfier am 19. Sep⸗
tember zu Verſailles, in Gegenwart des Königes in die Höhe
ſteigen ließ, waren ein Hammel, ein Hahn und eine Ente.
Dieſen dreien gelang die erzwungene Luſtfahrt aufs Beſte,
ſie kamen eine Stunde weit von Paris unverſehrt zum Bo⸗
14
212
den nieder. Was dem Hammel, dem Hahn und der Ente
ſo wohl gelungen war, das durfte doch jetzt wohl auch der
Menſch wagen, doch wurde der erſte Verſuch der Art noch
mit großer Behutſamkeit gemacht, man hielt den Ballon, mit
welchem der Phyſiker Pilatre de Rozier, vier Wochen
ſpäter als der Hammel, der Hahn und die Ente emporſtieg,
an Stricken feſt, ſo daß er ſich nur zu 84 Fuß Höhe erhe⸗
ben konnte und ſchon nach 4 Minuten zog man ihn wieder
zum Boden. Noch eine etwas kühnere Luftfahrt, welche
derſelbe Gelehrte vier Tage nachher (am 19. Oct.) unter⸗
nahm, war gelungen, obgleich ſich der Ballon zuerſt mit.
ſeinen Stricken in Thurmeshöhe an Bäumen verfangen hatte
und ſchon hatte der Muth zu ſolchem Unternehmen ſich ſo
geſteigert, daß ſelbſt der Marquis von Arlandes ſich dem
jungen Phyſiker zum Geſellſchafter anbot für die erſte,
etwas größere Luftreiſe, die am 21. November vom Schloſſe
la Muette unternommen wurde, und welche die beiden Rei⸗
ſenden in Zeit von 25 Minuten zuerſt in bedeutende Höhe,
dann faſt 3 Stunden weit von la Muette hinwegführte. Sie
kamen wohlbehalten, und nicht wenig erfreut über das Ge—
lingen ihrer Fahrt, zum Boden. Ihr Beiſpiel reizte alsbald
auch Andre zur Nacheiferung auf. Namentlich wollte Char⸗
les, der unter den Begründern der Aeroſtatik einer der Er—
ſten geweſen war, bei der wichtigſten Anwendung dieſer
neuen Kunſt nicht dahinten bleiben, auch er trat jetzt, in
Geſellſchaft des einen der Gebrüder Robert, am 1. Dec. eine
Luftreiſe an, welche an prunkhafter und wohlgelungener Aus—
führung die Verſuche der Vorgänger weit hinter ſich ließ.
Der möglichſt vornehmſte Punct der Hauptſtadt, die Tuile⸗
rien, waren zur Stätte des Aufſteigens beſtimmt. Zwanzig
Minuten vor zwei Uhr des Nachmittags ſah man, vom Glanz
der Sonne beleuchtet, den ſchönen aus buntem Taffet gebil⸗
deten Ballon ſich erheben, welcher eine Art von Triumph⸗
wagen, an Seilen gehalten, mit ſich in die Lüfte trug, darin⸗
nen die beiden Beſtürmer der Wolkenregion ihren Sitz hat-
ten. Bald erhuben fie ſich zur 5 und 6 fachen Höhe der
Thürme der Hauptſtadt und in dieſer Höhe von nahe 1800
Fuß überließen ſie zwei Stunden lang ihren Ballon der mä⸗
ſigen Strömung des Windes, die ſie neun Stunden Weges
von Paris in die Gegend von Nesle führte. Herr Robert
hatte jetzt genug an dem Vergnügen der kühlen Fahrt, man
213
öffnete, um den Ballon zum Sinken zu bringen, einige Klap⸗
pen an demſelben, durch welche ein Theil der leichten, brenn⸗
baren Luft aus⸗, und eben ſo viel ſchwerere atmoſphöriſche
Luft einſtrömt; der Gefährte trat heraus auf den ſichren Bo⸗
den, H. Charles aber ſtieg mit dem von neuem geſchloſſenen
Ballon, der jetzt 130 Pfund weniger zu tragen hatte, noch
einmal bis zu einer Höhe von 9000 Fuß (gleich jener des
Aetnagipfels) empor. Die Beſchwerden der eiſigen Kälte
und der dünnen Luft, dort in der Region des beſtändigen
Froſtes wurden nicht allein durch den Genuß aufgewogen,
den die mächtig weite Ausſicht auf das von der Abendſonne
beleuchtete Land gewährte, ſondern faſt mehr noch durch den
Reiz des Gedankens, daß bisher noch keinem Erdenbürger
ein ſolcher kühner Aufſchwung in die Höhen gelungen ſey.
Die Gondel, darin der glückliche Sterbliche ſaß, hatte nicht
umſonſt die Geſtalt eines Triumphwagens; als dieſelbe nach
35 Minuten bei einem Gehölz unweit Tour du Lay ſich zur
Erde niederließ und Herr Charles wohlgemuth und unverſehrt
aus derſelben ausſtieg, da feierte die Kunſt des Menſchen
einen ihrer augenfälligſten Siege. N
Es trat aber jetzt ein andrer Mann, einer der glücklich—
ſten Abentheurer ſeiner Zeit, auf den Schauplatz, Franz
Blanchard, der die Leute der verſchiedenſten Länder mehr
von ſich zu reden machte als alle ſeine Vorgänger und Mit⸗
genoſſen auf jener neuen Bahn des Ruhmes. Blanchard,
geboren 1738 zu Andely im Departement der Eure, war
Mechaniker von Profeſſion und hatte ſich von Jugend an mit
allerhand Entwürfen und Verſuchen zur Erfindung einer Flug⸗
maſchine beſchäftigt. Ohne Aufhören, im Schlafen wie im
Wachen übte ſeine lebhafte Einbildungskraft die Kunſt des
Fliegens, endlich, nachdem er zwölf Jahre lang gearbeitet
hatte um ſein Traumbild zu verwirklichen, glaubte er am
Ziele zu ſeyn, er trat im Jahr 1782, einige Monate vorher,
als Montgolfier ſeinen Ballon durch Dämpfe zum Steigen
brachte, in Paris, zuerſt mit einer Anforderung ihn mit
Geld zur Fertigung ſeines Luftſchiffes zu unterſtützen, dann,
nach Erreichung ſeines Zweckes, mit einer pomphaften An-
kündigung ſeiner bevorſtehenden Luftreiſe auf, wobei er ver⸗
ſprach, ſich mittelſt der vier Flügel ſeines ſeltſamen Schiffes
bis in die höchſten Regionen der Lüfte zu erheben. Dort
angelangt wolle er einen unermeßlichen Weg in kurzer Zeit
214 |
zurücklegen, wolle ſich nach Belieben da oder dort niederlaf-
* 52 ſelbſt auf dem Waſſer, weil ſein Schiff auch zum Be⸗
fahren der Fluthen eingerichtet ſey. Schneller denn ein Rabe
wolle er die Luft durchſchneiden, ohne dabei auſſer Athem zu
kommen, denn eine Larve, von kunſtreicher Erfindung, vor
ſein Geſicht gebunden, werde dies hindern. Selbſt bei wid⸗
rigem Winde, nur nicht bei Stürmen, werde er, zwar lang⸗
ſamer als gewöhnlich, dennoch aber geſchwinder als das beſte
Segelſchiff bei gutem Winde, ſeinen Lauf verfolgen.
Dieſe prahleriſche Anzeige war in dem vielgelesnen Tag⸗
blatt von Paris erſchienen und hatte in tauſenden von un⸗
wiſſenſchaftlichen Köpfen die lebhafteſte Neugier und Theilnahme
erregt. Der Schwindel verbreitete ſich unter allen Ständen,
ſo daß der große Mathematiker und Aſtronom la Lande
es für ſeine Pflicht hielt, einen Brief an die Herausgeber
des Tagblattes zu veröffentlichen, worin er das Ungereimte
und Unausführbare des Blanchard'ſchen Planes: in die Luft,
durch mechaniſche Kräfte zu fliegen, ſattſam aufdeckte. Die
anſteckende Macht jedoch welche die Narrheit eines Menſchen,
wenn ſie mit ungewöhnlichem Selbſtvertrauen gepaart iſt,
auf andre Menſchen äuſſert, bewährte ſich auch bei dieſer
Gelegenheit. Viele zwar zweifelten, Andre ſpotteten, noch
Andre aber, unter denen ſelbſt der Ingenieur und königliche
Graveur Martinet war, vertheidigten die Möglichkeit und
dieſe Alle waren eben ſo wie der große, leichtgläubige Hau⸗
fen, begierig den Verſuch zu ſehen. Als der halb närriſche
Mechanikus einen Tag beſtimmte, an dem er ſein geflügeltes
Luftſchiff dem wißbegierigen Publicum zeigen wollte, war
die Nachfrage nach den Plätzen zum Zuſchauen ſo groß, daß
der Raum, der zu jener Schaubeluſtigung beſtimmt war,
nicht zureichte, und die Sache unterbleiben mußte. Die all⸗
gemeine Neugier wurde indeß auf einen andren Tag verwie⸗
ſen, am 26. Aug. (1782) ſollte, nach einer öffentlichen An⸗
kündigung der Ingenieur Martinet, wenn nicht bedeutende Hinder⸗
niffe dazwiſchen träten, Blanchard vor den Augen von ganz Pas
ris in die Luft fahren. Solche Hinderniſſe mochten ſich aber
wirklich eingeſtellt haben, Herr Blanchard, welcher, weil ihm
das Windmachen ſo wohl gelang, ſich zur Herrſchaft über
Luft und Winde befähigt hielt, ließ am feſtgeſetzten Tage
zwar viel von ſich hören, Nichts aber von ſich ſehen; das
ſchauluſtige Publicum mochte ſich für feine getäuſchte Erwar⸗
215 7
tung an dem Anblick der vier Kupfertafeln ſchadlos halten,
auf denen Herr Martinet das abentheuerliche Luftſchiff von
9 und von hinten, von auſſen und innen vorgeſtellt
Blanchard mit ſeinen Prahlereien trat jetzt in die
Vergeſſenheit zurück, aus welcher er ſchwerlich .
taucht ſeyn würde, wenn nicht ihm, dem wahrhaften Glück
kinde, die kurz nachher gemachten Entdeckungen der Gebrüder
Montgolfier und des Profeſſor Charles bei der Verwirklichung
ſeiner Träumereien zu ſtatten gekommen wären. Plötzlich,
nachdem durch Hülfe der Ballons ſchon manche Luftreiſe ge⸗
lungen war, trat der dem Winde befreundete Mann von
neuem öffentlich auf, mit einem von ihm erfundenen Luft⸗
ſchiff, an welchem zwar der Ballon die eigentliche Hauptſache
war, daran jedoch vor Allem die zu beiden Seiten ange-
brachten Paare von Flügeln, das Steuerruder, Ankerſeil
und nach unten ein mächtig großer Fallſchirm ins Auge fie⸗
len. Der Mann wollte alle ſeine Vorgänger in der Luftfahrt
darinnen weit übertreffen, daß er nicht nur in die Höhe
ſtiege, ſondern daſelbſt auch nach Belieben, wie ein Vogel,
da oder dorthin ſeinen Flug lenkte. 5
Vielleicht kam der Unfall, der das künſtliche Machwerk
bei dem erſten Verſuch zur Auffahrt, im Anfang des März
1784 traf, nicht ganz ungelegen. Ein Student, der ſich
dem Blanchard zum Reiſegefährten aufdringen wollte, zer⸗
brach in ſeinem ungeſtümen Eifer die Flügel und den Fall⸗
ſchirm des Luftſchiffes, und als Blanchard mit dem bloßen
Steuerruder und Ankerſeil verſehen, dennoch emporſtieg, durfte
man den verſprochenen Vogelflug nicht von ihm erwarten,
ſondern mußte ſich genügen laſſen an der Verſicherung des
ſelbſtzufriednen Luftſchiffers, daß er bei feiner Fahrt gerade
ſo hoch als Rozier, nämlich bis zu 9000 Fuß geſtiegen
ſey. Noch in demſelben Monat entzückte Blanchard die Be⸗
wohner von Rouen mit einer Luftfahrt, wobei abermals ein
Unfall eintrat, indem der Wind das Steuerruder zerbrach
und nur die Flügel unverſehrt ließ. Einmal noch in Rouen,
dann aber mehrmalen kurz hinter einander in England, be⸗
7
7
trieb er ſein einträgliches Gewerbe und jetzt war das Ver⸗
trauen auf fein Gluck ſo gewachſen, daß er ſich zu feiner
kühnſten That erhub: zur Ueberfahrt von England nach Frank⸗
reich über den Kanal. Ein Ballon, mit Waſſerſtoffgas ges
216
füllt, der bereits 5 Luftfahrten glücklich beſtanden hatte, trug
die Gondel, in welcher neben Blanchard der Amerikaner Dr.
Jeffor ins ſaß; aus einer unüberſehlichen Menge der Zu⸗
ſchauer erhuben ſich die beiden Lufthelden am 7. Januar 1785
bei Dover, und trieben, vom Winde geführt, mehrere Thür⸗
me hoch über das wogende Meer hin. Bald aber hätten ſie
Urſache gefunden ihre Kühnheit zu bereuen. Das Gas ent⸗
wich ſchnell aus dem Ballon, dieſer drohete ins Meer zu
ſinken; die Luftſchiffer warfen ihren 30 Pfund betragenden
Ballaſt, warfen dann alle ihre Geräthſchaften und ſelbſt einen
Theil ihrer Kleider in das, nahe unter ihnen brauſende
Meer. Dennoch wären ſie verloren geweſen, wenn der Wind
ſie nicht noch zur rechten Zeit hinübergebracht hätte zur fran⸗
zöſiſchen Küſte, in deren Nähe zu ihrer großen Freude der
Ballon ſich wieder hob und ſie unverſehrt bis in den Wald
von Guienne, eine Stunde Weges von Calais, brachte. Ein Denk⸗
mal, das man dort dem Blanchard zu Ehren errichtete, ſollte
das Andenken an ſeine That erhalten, deren glückliches Ge⸗
lingen ihm der König von Frankreich mit einem Geſchenk von
12000 Franken und durch die Zuſicherung eines Jahresgehal⸗
tes von 1200 Fr. belohnte.
Dem abentheuerlichen Manne, dem es an allen tiefen
gründlichen Kenntniſſen in der Naturlehre und ſelbſt in der
angewandten Mathematik fehlte, der ſich in ſeiner eitlen
Selbſterhebung bald hernach überall als den »Aeronauten
beider Hemiſphären, Bürger der vorzüglichſten Städte beider
Welten, Mitglied fremder Akademien? ankündigte, war ohne
viele Ueberlegung und angewendete Vorſicht das Unternehmen
gelungen, bei deſſen Verſuch bald nachher ein trefflicher,
gründlich unterrichteter Phyſiker, der erſt nach langer Ueber⸗
legung, mit allen Fördernißmitteln welche die Wiſſenſchaft
an die Hand gab, die Ueberfahrt wagte, ſeinen Tod fand.
Blanchards Geſchichte kann uns zeigen, wie aufblähend das
Glück wirkt, wenn es viel größer iſt als der Verſtand und
daß die laute Bewundrung der mitlebenden Menge, keinen
Maaßſtab des wirklichen Verdienſtes abgebe. Mit all ſeinen
glücklich gelungenen Luftfahrten, deren er bei ſeinem Tode,
im J. 1809, 66 zählte, hat er der Wiſſenſchaft ſo wie der
Nachwelt keinen eigentlichen Nutzen gebracht, obgleich Einige
die Erfindung des Fallſchirms, welche eigentlich dem Etien⸗
ne Montgolfier gebührt, ihm zuſchreiben wollten. Jenes
217
Fallſchirmes, mittelſt deſſen er ſich zur Beluſtigung der Zuſchauer,
in verſchiedenen Ländern von Europa und Amerika, mehr⸗
malen, aus bedeutender Höhe herabließ und deſſen Kenntniß
dennoch ſeiner Gemahlin, die nach ſeinem Tode das Gewerbe
der Luftſchifffahrten fortſetzte, Nichts nützte, als ſie im J.
1819 in Paris in die Luft ſtieg, um die Zuſchauer in der
ſchönen Sommernacht durch ein oben abgebranntes Feuerwerk
zu ergötzen, wobei der Ballon in Brand gerieth und die
bedauernswürdige Heldin ſich zu Tode fiel. N
Während Blanchards Name fo wie feine Thaten allent-
halben die lauteſte Bewundrung erregten, und alle ähnliche
Unternehmungen zu verdunkeln ſchienen, waren die wiſſenſchaft⸗
lich gebildeten Förderer und Begründer der Luftſchifffahrt,
ohne viel Lärmen damit zu machen, bemüht, ihrer Kunſt
eine größere Sicherheit und beſſere Vollendung zu geben.
Der Phyſiker Rozier war nach Lyon zum ältern Mongolfier
gegangen und hatte mit dieſem einen Ballon von mehr denn
12000 Fuß Flächeninhalt gefertigt. Es zeigte ſich indeß bei
der Auffahrt, bei der noch 7 andere Perſonen den Phyſiker
begleiteten, daß mit der Größe zugleich auch die Möglichkeit
einer Beſchädigung ſich ſteigere, denn der rieſenhafte Ballon
als er bis zur Hohe von 3000 Fuß ſich erhoben, bekam nach
15 Minuten einen Riß, ſank jedoch, zum Glück, nur lang⸗
ſam nieder. Alle Verſuche, ſelbſt die der Brüder Robert und
der Herren Alban und Vallet, dem Luftſchiff durch An⸗
wendung von Rudern eine beſtimmte Richtung feiner hori-
zontalen Fortbewegung zu geben, blieben zweifelhaft und ha—
ben ſich wenigſtens, bei ihrer Wiederholung durch Andere,
nicht bewährt. Dagegen gelang es dem Phyſiker Rozier und
nach ihm Mehreren, namentlich dem Grafen Zambeccari
durch ein ſehr einfaches Mittel eine größere Erhebung ſo wie
das Sinken der Montgolfiere in ihre Gewalt zu bringen.
Dieſes Mittel war durch die Anwendung einer Weingeiſtlam—
pe gegeben, an der ſich durch Oeffnen oder Schließen von
eben ſo viel Klappen eine gewiſſe Zahl von Flammen ent—
zünden und wieder verlöfchen ließ. Die Erhitzung und die
hiermit bewirkte Ausdehnung der Luft im Ballon konnte ſchon
durch eine geringe Vermehrung oder Verminderung der Wein—
geiſtflamme ſo merklich geſteigert oder herabgeſetzt werden,
daß der Ballon, je nachdem man wollte, binnen wenig Se—
cunden in größere Höhen getrieben oder binnen wenig Mi-
1
unten am Halſe der Montgolſiere, die möglichſte Vorſicht
218
unten zum Boden geſenkt wurde. Obgleich jedoch bei der
Stellung eines ſolchen, etwa ringförmigen e
eo⸗
bachtet wurde, war dieſes Mittel dennoch mit großer Gefahr
verbunden, da bei den öfteren, ſtarken Windſtößen, denen der
leichte Ballon oben in der Höhe ausgeſetzt iſt, der Weingeiſt
verſchüttet werden und hierbei ſich der Ballon entzünden
kann. Vielleicht durch einen ähnlichen Unfall wurde der un⸗
glückliche Ausgang des zweiten Verſuches herbeigeführt den
die franzöſiſchen Luftſchiffer zur Ueberfahrt über den Kanal
machten. Man hatte ſich für dieſen zweiten Verſuch in der
Luft über das Meer zu gehen, einen wenigſtens eben ſo gün⸗
ſtigen Ausgang verſprochen als bei dem erſten von Blanchard
gewagten, denn der diesmalige Unternehmer war ein gründ⸗
lich unterrichteter Phyſiker, die Jahreszeit war ſchein⸗
bar die günſtigſte, und alle Vorkehrungen zu der Fahrt wa⸗
ren, wie ſchon erwähnt, mit der ſorgfältigſten Ueberlegung
getroffen. Rozier hatte, um mittelſt ſeines Lampenapparates
das Emporſteigen und Sinken des Aeroſtaten mehr in die
Gewalt zu bekommen, unten an dem mit Waſſerſtoffgas ge⸗
fuͤllten Ballon noch eine Montgolfiere angebracht. So wie
Blanchard gethan hatte, nahm auch Rozier einen Gefähr⸗
ten und Zeugen mit ſich: den Parlamentsadvocaten Ro⸗
main aus Boulogne. Blanchard war von England aus
herüber nach Frankreich geflogen; der diesmalige Flug ſollte
umgekehrt von der franzöſiſchen Kuͤſte bei Calais, hinüber
nach der engliſchen, bei Dover gehen. Der 14. Juny war
zu der Auffahrt beſtimmt; des Morgens bald nach 7 Uhr
ſtieg der Ballon mit den beiden Gelehrten majeſtätiſch empor;
der Südoſtwind, in deſſen Strom fie in einiger Höhe gerie⸗
then, ſchien das Fahrzeug in gerader Richtung ſeinem Ziele
entgegen zu führen. Bald aber ſetzte ſich der Südoſt in ent⸗
ſchiedenen Oſtwind um und dieſer Veränderung folgte eine
noch viel ungünſtigere: eine Luftſtrömung aus Südweſt trieb
den Ballon von dem Meere her wieder zurück nach der fran⸗
zöſiſchen Küſte. Die beiden wackern Männer ſollten wenig⸗
ſtens ihr Grab nicht in den Fluthen, ſondern im vaterländi⸗
ſchen Boden finden. Die brennbare Luft des oberen Ballons
mochte in der gefährlichen Nachbarſchaft der Montgolfiere ent⸗
zündet worden ſeyn, die ganze Vorrichtung ſtürzte, aus gro⸗
ßer Höhe mit unbeſchreiblicher Heftigkeit und Schnelle nieder;
219
ihre Trümmer lagen anderthalb Stunden weit von Boulogne, nur
wenige hundert Schritte vom Meere entfernt, am Boden zer⸗
ſtreut; die Körper der beiden Luftſchiffer waren ſo zerſchmet⸗
tert, daß man kaum noch die menſchliche Geſtalt an ihnen
zu erkennen vermochte. Man begrub ihre Reſte zu Vimile.
So endigte der Mann, dem man ſo gerne ein beßres Glück
gewünſcht hätte, weil er unter Allen der Erſte geweſen war,
welcher ſeine eigne Perſon einem Luftſchiff anvertraut, ung
mit ihm ſich in das unſichre Element emporgehoben, und
weil er ſeitdem ſchon ſo Vieles zur Verbeſſerung jener Kunſt
gethan hatte, welche ihm jetzt das Leben koſtete.
Es war dies der erſte Fall, in welchem die neuerfuns
dene Kunſt der Aeronautik ein ſo abſchreckendes Unglück her⸗
beigeführt hatte. Denn, mit Ausnahme des franzöſiſchen
Malers Bouche, der ſich bei Aranjuez, als ſein Ballon in
Flammen gerieth, doch noch durch einen Sprung gerettet hatte,
waren damals (im J. 1785) ſchon 35 Luftfahrten, von 58
verſchiedenen Perſonen, ganz glücklich zurückgelegt worden. Unter
dieſen war Madame Thible zu Lyon, die erſte ihres Ge-
ſchlechts, die das Wagſtück am 4. Juny 1784 beſtund. Ueber⸗
haupt war der Reiz den das Erproben der herrlichen, neuer—
fundenen Kunſt auf die Menſchenſeelen ausübte, fo gewal⸗
tig, und wurde durch Blanchards fo wie ähnlicher Abentheu—
rer fortwährendes Glück fo genährt, daß Roziers und Ro-
mains Tod es nicht verhindern konnte, daß die Luftreiſen
immer häufiger und allgemeiner wurden. Zu den intereſſan⸗
teſten ihrer Art gehörte namentlich die von Crosbie, wel⸗
cher in Dublin emporſtieg, um über den Kanal zwiſchen Ir⸗
land und England zu fliegen. Seine Gondel war zum Fah—
ren in der Luft wie auf dem Waſſer gleich bequem gebaut,
und dieſer Einrichtung verdankte er die Rettung ſeines Le⸗
bens. Denn der anfangs günſtige Weſtwind, der ihn gera⸗
den Weges nach England zu führen verſprach, ſetzte ſich in
Nordoſtwind um; der kühne Mann fand ſich jetzt, 40 engli⸗
ſche Meilen von der irländiſchen Küſte, in einer Höhe, von
welcher ſich ihm zwar der Anblick von England wie von Irland zus
gleich darbot, wo aber der Genuß, welchen dieſe herrliche Ausſicht
unter andren Umſtänden hätte gewähren können, gar ſehr
durch den Einfluß geſchwächt wurde, den die umgebende Luft
auf ſeinen Körper hatte. Denn obgleich unten am Boden
die heiße Julyſonne mit voller Kraft ſchien, war es dennoch
u N s a. f a A
N \ + 3 ——
7
220
in der Höhe, in der ſich der Luftſchiffer befand, ſo kalt, daß
die Tinte des Schreibzeuges zu Eis wurde und das Queck⸗
ſilber im Thermometer bis in die Kugel herabſank. Dennoch
war dies noch bei weitem nicht die größeſte Beſchwerde jener
Luftfahrt. Crosbie hatte einen Theil des Gaſes aus dem
Ballon entlaſſen, um ſich in eine tiefere, mildere Region
herunter zu laſſen, da ergriff ihn ein Luftſtrom aus Norden,
führte ſein immer tiefer ſinkendes Fahrzeug durch eine Wolke,
darin ſich Blitze ſehen, Donnerſchläge vernehmen ließen und
trieb ihn dann herab auf das Meer, deſſen Wellen in die
Gondel ſchlugen, während der noch immer oben ſchwebende
Ballon vom Winde getrieben, das Fahrzeug mit ſich gegen
die engliſche Küſte hinüberriß, wo ein Schiff von Dunleary
dem Aeronauten hülfreich begegnete und ihn, ſammt ſeinen
Ballon mit ſich in den ſichren Hafen nahm. | |
Ein Luftſchiffer, deſſen kühne Fahrten und Abentheuer
in Luft und Waſſer zu ihrer Zeit in mehreren Ländern von
Europa große Theilnahme erregten, war der italieniſche Graf
Zambeccari. Schon im Jahr 1783 hatte er in London
einen Ballon von anſehnlicher Größe in die Luft ſteigen lafs
ſen und hatte ſeitdem Vieles zur Vervollkommnung der Luft⸗
ſchifferkunſt beigetragen. Als er ſpäter — im October 1803
— mit zwei Begleitern in Bologna in die Luft fuhr, gelangte
der Ballon zuerſt in eine ſolche Höhe, daß die Luftſchiffer
vor Kälte erſtarrten und der Graf jelber ſpäter, in Folge
dieſer Froſtbeſchädiguug, ſich 3 Finger mußte abnehmen laſ⸗
ſen. Aus dieſer Höhe wollte man den Ballon herablaſſen,
er ſank aber ins adriatiſche Meer, wo ein Schiffer die drei
Männer rettete, der Ballon aber, nachdem man die Seile
zerſchnitten, vom Winde bis zur türkiſchen Feſtung Vihacz
geführt wurde. Der daſige Commandant ließ die vermeint⸗
liche Gabe des Himmels in kleine Stücke zerſchneiden, welche
er unter ſeine Freunde vertheilte. Auch bei einer zweiten
Fahrt im Auguſt 1804 ſtieg Zambeccari zuerſt in die Region
des ſtärkſten Froſtes und ſank dann abermals gegen das
adriatiſche Meer herab. Dennoch konnte der Mann feinem
Eifer in immer neuen Verſuchen keinen Einhalt thun, bis er
ſich im J. 1812 zu Bologna bei einer ſolchen Luftfahrt zu
Tode fiel. "
Was im Allgemeinen die bisherigen Leiſtungen der Luft⸗
ſchifferkunſt, ſo wie die Erfahrungen betrifft, welche man bei
221
den Auffahrten in die Höhe gemacht hat, fo iſt man hierin:
nen in ſechszig Jahren noch nicht viel weiter vorgeſchritten,
als man in den erſten fünf Jahren nach der Entdeckung
Montgolfiers gekommen war. Man hat noch eben ſo wenig
als damals ein ſichres Mittel gefunden die Luftfahrzeuge ſo
nach Belieben zu lenken, wie die Fahrzeuge auf dem Waſſer,
nur eine Erhebung in größere Höhen und eine Senkung nach
der Tiefe kann man ihnen mitten in ihrem Fluge geben und.
hierdurch bewirken, daß das Fahrzeug aus einer feinem Laufe
ungünſtigen Luftſtrömung in eine vielleicht günſtigere komme.
Im Ganzen iſt der Luftſchiffer der Macht der Winde dahin—
gegeben, von deren Schnelligkeit und Richtung faſt ausſchlie⸗
ßend die Schnelligkeit ſeiner Fahrt abhängt. Die größeſte
horizontale Geſchwindigkeit die man an einem Luftfahrzeug
beobachtete, war die von 17 ½ deutſchen Meilen in einer
Stunde. Einen ſolchen Raum in der angegebenen Zeit hatte
das Luftſchiff zurückgelegt, in welchem Garnerin in Geſell—
ſchaft des Capitän Sowdon im J. 1802 von London nach
Colcheſter fuhr. Der große Ballon den man am 16. Dec.
1804 zu Paris aufſteigen ließ, fiel nach 22 Stunden am
darauffolgenden Tage unweit Rom nieder, die mittlere Geſchwin—
digkeit womit er den gegen 230 Meilen betragenden Weg zum
Theil über hohe Alpengebirge zurückgelegt hatte, betrug dem—
nach mehr denn 10 geogr. Meilen in einer Stunde. Die
faſt gleiche Geſchwindigkeit zeigte Robertſons Luftfahrzeug
bei Hamburg. Ein kleiner Ballon den man am 16. Juny
1804 in Gröningen aufſteigen ließ, fiel nach längſtens 12
Stunden bei Halle nieder, hatte mithin faſt 5 Meilen in
einer Stunde durchlaufen. 17 ½ Meilen in einer Stunde
giebt 110 Fuß 10 Meilen 64 Fuß in einer Secunde; der
Adler fliegt in jeder Sec. 95 F. weit. |
Die lothrechte Geſchwindigkeit mit welcher die gut gebau—
ten Ballons in die Höhe ſteigen, wurde in manchen Fällen
zu 30, in einem ſogar zu 50 Fuß in der Secunde berech—
net. Da das Auge hierbei in ſeiner Nähe keinen feſtſtehen—
den Gegenſtand hat, nach welchem es die Schnelligkeit des
Fortbewegens abmeſſen kann, ſondern da es dem Luftſchiffer
auch bei der raſcheſten Bewegung ſeines Fahrzeuges ſcheint,
als ob daſſelbe ſtill an einem Orte ſtände, fo kann die mitt-
lere Geſchwindigkeit nur nach der Zeit berechnet werden, in
welcher ein gewiſſer Endpunkt des Laufes erreicht wird, der
222
bei dem- Hinauffteigen in die Höhe nur aus der Beobachtung
des Barometers (davon fpäter) erkannt werden kann. Wenn
bei der Auffahrt der Weg mitten durch Wolken hindurch füh⸗
ret, ſtellen ſich dieſe dem Auge des Luſtſchiffers nicht wie
uns von der Tiefe aus, als feſt umgränzte Maſſen, ſondern etwa
als herabhängende, lappig zerriſſene Gewebe dar, die eben
ſo ſchnell als das Fahrzeug emporfährt, hinabzuſtürzen ſchei⸗
nen. Der höchſte, mit wiſſenſchaftlicher Genauigkeit, durch
den Stand des Barometers beſtimmte Punkt, bis zu welchem
ein Luftſchiffer ſich emporhub, iſt der, welchen der berühmte
franzöſiſche Naturkundige Gay Luſſac, bei ſeiner Auffahrt
am 16. Sept. 1804 erreichte. Derſelbe betrug faſt 22000
Fuß, übertraf mithin die Höhe des Chimboraſſogipfels um
2000 Fuß. Die Beobachtungen über die allmählige, einem
gewiſſen Geſetze unterworfene Abnahme der Dichtigkeit der
Luft und zugleich der Wärme, ſind im Ganzen dieſelben,
welche man auch beim Beſteigen ſehr hoher Gebirge gemacht
hat und wovon wir nachher mehr reden werden, hier wollen
wir nur einige minder allgemeine Erſcheinungen erwähnen,
welche manche Luftfahrer, wenn ſie in große Höhen kamen,
beobachteten.
Vögel, welche nur in den niedreren Regionen der Luft,
in der Nähe der Erdoberfläche zu leben gewohnt ſind, wie
etwa Tauben, zeigten ſich für den Einfluß der überaus dün⸗
nen, kalten Luft großer Höhen ſehr empfindlich. Wenn man
ſie in jene höchſten Regionen mit hinaufnahm und ihnen
dann ihre Freiheit gab, da benahmen ſie ſich ängſtlich, biel-
ten ſich entweder mit den Füſſen an den Seilen und Rand
der Gondel feſt, oder wenn man ſie über dieſe hinauswarf,
ließen ſie wie gelähmt, ſich hinabfallen, wahrſcheinlich
bis dahin, wo ſie in einer niedreren Region jenen Grad der
Dichtigkeit der Luft wiederfanden, in welchem ſie zu leben
und zu fliegen gewohnt waren. Die Verwandlung des Waſ⸗
ſers in Dämpfe oder das Sieden deſſelben hängt nicht allein
von dem Grade der Hitze ab, den man demſelben mittheilt,
ſondern auch von dem Druck der Luft. Je weiter nach der
Tiefe, deſto größer iſt dieſer Druck und deſto größere Erhitz⸗
ung muß man anwenden, um das Waſſer zum Sieden zu
bringen, je höher man ſich über den Spiegel des Meeres
und über die Erdebenen erhebt, deſto geringer wird der Druck
der aufliegenden Luftſäule und deſto weniger Wärme braucht
223
man dazu, um das Waſſer in Dampf zu verwandeln oder
ſiedend zu machen. Auf dem Gipfel des Dhavalagiri würde
das Waſſer ſieden und dabei doch nur eine verhältnißmäßig
ſo geringe Hitze haben, daß man kaum ein Ei darinnen hart
zu ſieden vermöchte. | |
Der Dampf, welcher vor Allem bei ftarfer Bewegung
aus der Oberfläche unſres Körpers, als Ausdünſtung ent⸗
weicht, und hier zum Theil als tropfbar flüſſiger Schweiß
erſcheint,en tſtehet durch die innre Wärme unſres Leibes, auf
eine verwandte Weiſe als die Dämpfe des Waſſers, wenn
dieſes zum Sieden gebracht wird. Obgleich unten in der
Nähe der Erdoberfläche das Gewicht der Luftſäule das auf
unſren Körper drückt, wie wir nachher ſehen wollen, ein viel
geringeres iſt als oben, in großen Höhen, gerathen wir den—
noch in der dünnen, kalten Luft der Hochgebirgsgipfel bei
jeder kleinen Bewegung in ſtarke Ausdünſtung und Schweiß,
ſelbſt dann, wenn hierbei die innre Wärme ſo wenig erhöht
wird, daß wir unten in der Ebene kaum eine Veränderung
des gewöhnlichen Zuſtandes unſrer Haut bemerken würden.
Die Luftſchiffer, wie Biot und Gay Luſſac empfanden
wenig von jener Beſchwerde, weil ſie, in ihrer Gondel ruhig
hingelehnt, keine Bewegung zu machen hatten, auſſer etwa
eine ganz geringe der Finger und Hände. Dennoch iſt ein
gewiſſes Gefühl von Beängſtigung, verbunden mit einem
ofter wiederholten Ein- und Ausathmen fo wie Beſchleuni⸗
gung des Pulſes eine nothwendige Folge des verdünnten
Zuſtandes der Luft, weil die Lunge beim Einathmen zwar
an Rauminhalt dieſelbe Quantität an Sauerſtoffgas oder Le⸗
bensluft aufnimmt, der Gehalt aber derſelben dem Gewicht
nach ein geringerer iſt, als zur Erhaltung des gefunden Ber:
laufes des Lebens hinreicht. Dabei wird auch, in dem gleis
chen Maaße, in welchem der Gegendruck von auſſen abnimmt,
die Ausdehnung der innren Flüſſigkeiten ſo geſteigert, daß
nach der Auſſenfläche des Leibes eine Anſchwellung und ein
ſtarker Zudrang des Blutes entſteht, das aus der feinen
Haut der Augenlieder, der Naſe und des Mundes tropfen⸗
weis ausſchwitzt. An Luftſchiffern, die ſich zu ſehr großen
Höhen erhoben hatten, fand man, bei ihrer Rückkehr zum
Boden, das Angeſicht aufgedunſen und misfarbig gebräunt.
Einige klagten über einen Zuſtand des Uebelſeyns und der
Betäubung, der ſie in der höheren Region befallen hatte;
224
über ein unangenehmes Gefühl im Trommelfell des Ohres,
als wollte dieſes, durch einen Drang von innen her, zerpla⸗
tzen, dabei wird der Laut auch einer ſtark ſprechenden Men⸗
ſchenſtimme oder der Knall eines abgefeuerten Piſtoles und
des zerquetſchten Knallſalzes in einer ſehr verdunnten Luft
ungleich ſchwächer vernommen, greift aber zugleich die Gehör⸗
nerven viel ſtärker an, als in der tieferen Region. Selbſt
die Eindrücke, welche das Auge des Luftſchiffers in ſehr be⸗
deutenden Höhen empfängt, ſind zum Theil von andrer Art,
als man vielleicht erwarten mochte. Zwar kann ſich derſelbe
beim Emporſteigen ſeines Ballons, wenn dieſer von hinrei⸗
chend guter Einrichtung iſt, meiſt leicht und ſchnell über die
Region der dichteren Wolken erheben, welche ſelten über
14000 Fuß hinanreicht (obgleich Gay Luſſac noch über der
1½ mal ſo großen Höhe Gewölke ſahe) und während die
Bewohner des Landes, das unter ihnen liegt, trüben Him⸗
mel oder Regen haben, kann er vielleicht ungehemmt das Licht der
Sonne oder der Geſtirne genießen, dennoch aber wird auch
in jenen großen Höhen dem Himmel nicht ſelten wie durch
einen feinen, ſtreifigen Nebel ſeine volle Klarheit benommen,
und wenn dies nicht iſt, da werden die leuchtenden Geſtirne
in einem dem Auge wehethuenden Glanze wie auf blaulich
ſchwarzem Grunde geſehen; die Ausſicht nach dem in ferner
Tiefe liegenden Lande, iſt ſelbſt bei heitrem Wetter bald
da, bald dorthin, wie durch einen Glasſchleier geſchwächt.
Die Luftreiſe welche bald nach Erfindung der Aeroſtatik
die Gebrüder Robert über eine Strecke von 50 Stunden
Weges, von Paris nach Beuvry, in Zeit von 2 Stunden
zurucklegten, ſo wie manche andre ſolcher Art, iſt in neuerer
Zeit durch die Fahrt des Luftſchiffers Green verdunkelt wor—
den, welcher in London aufſtieg, 48 Stunden lang in der
Luft blieb und hierbei über das Meer hinüber, dann über
ganz Holland und Belgien, bis in das Naſſauiſche flog, wo
er ſich herabließ. Ein Verſuch, die Aeronautik zum
Dienſt des öffentlichen Weſens anzuwenden, wurde während
der Kriege der franzöſiſchen Republik dadurch gemacht, daß
man Luftſchiffe, in denen ſachverſtändige Beobachter ſaßen,
in die Höhe ſteigen ließ, damit fie die Stellung des feindli⸗
chen Heeres in Augenſchein nehmen möchten. So ſtiegen
franzöſiſche Offiziere im J. 1795, am Tage der Schlacht von
Fleures, zu einer mäßigen Thurmeshöhe empor, em. das
| ager
295
Lager und die Stellung des öſterreichiſchen Heeres auszuſpä⸗
hen. Der Ballon deſſen ſie ſich bedienten, war derſelbe, mit
welchem ſpäter der Luftſchiffer Robertſon in Hamburg ſeine
Luftfahrt anſtellte, er hatte 57 Fuß im Umfang und war dabei
von elliptiſcher Geſtalt. Die Kraft, mit welcher der ſtarke,
winterliche Luftſtrom ihn aus ſeiner Stellung fortzureißen
ſtrebte, war ſo groß, daß man an ſeine zur Erde hinabhän⸗
genden Seile 30 bis 40 Pferde anſpannen mußte, um ihn
feſt zu halten. Die in der Luft ſchwebenden Kundſchafter
ſchrieben ihre Beobachtungen auf Zetteln, welche ſie, mit Blei
beſchwert, an einer Schnur hinabließen. Im Verlauf des
damaligen Krieges waren gegen 34 Luftballons für das Ge—
ſchäft der Kundſchafter beſtimmt, gegen einen derſelben war
am 13. Juny zu Maubege eine Batterie von 17 Kanonen
gerichtet, ohne ihn beſchädigen zu konnen. Dennoch wurde
ſpäter die Anwendung der Luftſchiffe zum Kriegsgebrauch
wieder aufgegeben, wahrſcheinlich ſchon deshalb, weil die
Füllung des Ballons mit brennbarer Luft zu lange Zeit erfor—
derte. Denn obgleich man es ſchon im erſten Jahrzehend
nach Erfindung der Luftſchifferkunſt ſo weit gebracht hatte,
daß man die hinlängliche Quantität des Gaſes, zur Anfül—
lung eines ziemlich großen Ballons, aus der Behandlung
von Eiſenfeilſpänen mit verdünnter Schwefelſäure, ſchon nach
wenigen Stunden erhalten konnte, ein Geſchäft das früher
ganze Tage in Anſpruch genommen hatte, ſo erſchien den—
noch, bei der eiligen Wendung des Ganges der Schlachten
Auge auch ſchon die Zeit von etlichen Stunden als eine zu
ange. ’
Die fo eben erwähnte Schwierigkeit lernte der oben ge—
nannte engliſche Luftfahrer Green dadurch beſeitigen, daß
er ſeinen Ballon mit jenem gekohlten Waſſerſtoffgas anfüllte,
welches durch Deſtillation der Steinkohlen leicht und in Men⸗
ge erhalten und zur Gasbeleuchtung (m. v. S. 224) angewen⸗
det wird. Das ſogenannte Steinkohlengas iſt zwar etwas Cfaft
im Verhältniß wie 1½ zu 1) ſchwerer als das mit Eifen-
feilſpänen erhaltene Waſſerſtoffgas, dabei aber gewährt es
den Vortheil, daß es ungleich ſchwerer aus den Wänden des
Ballons entweicht und ſehr viel wohlfeiler und ſchneller zu
haben iſt. In Englands Städten, wo man die Gasbeleuch⸗
tung im größeſten Maaßſtabe anwendet, giebt es beſtändig
15
226
anſehnliche Vorräthe jener Luftart, woraus fi) Green ohne
viele Umſtände ſein Füllungsmaterial verſchaffen konnte.
Auch zur Hebung eines andren, für die Ausübung der
Luftſchifferkunſt noch ungleich größeren Uebelſtandes, der in
der Wahl des Materials zur Bereitung des Ballons lag,
hat man in neueſter Zeit mehrere zweckmäßig erſcheinende
Vorſchläge gemacht. So gut als man Waſſerfahrzeuge aus
dünn getriebenem Metalle (z. B. Eiſen⸗) blech gefertigt hat,
ließen ſich auch, ſo hat man berechnet, Luftballons aus dün⸗
nem Kupferblech herſtellen, welche bei gehöriger Größe eine
ſolche Menge des brennbaren Gaſes in ſich faſſen könnten,
daß die verhältnißmäßig größere Leichtigkeit von dieſem hin⸗
reichen würde, um ſowohl das Gewicht des Ballons als die
Laſt der an ihm befeſtigten Gondel in der atmoſphäriſchen
Luft emporſteigen zu machen. Durch einen ſolchen Ballon
könnte das Gas nicht entweichen, dagegen bliebe es zweifel⸗
haft, ob die Maſſe des dünnen Bleches, eben ſo wie die
freilich ungleich nachgiebigere jenes Zeuges daraus man bisher
die Ballons fertigte, geeignet ſeyn würde, die Veränderungen
des Luftdruckes in den verſchiedenen Höhen der Atmoſphäre
auszuhalten, ohne aufs Vielfachſte verbogen oder vielleicht
gar durch Riſſe ſchadhaft zu werden. Indeß dürfen wir nicht
zweifeln, daß der menſchliche Scharfſinn noch Mittel finden
werde, um alle die Hemmungen und Beſchränkungen zu über⸗
winden, welche bis auf heutigen Tag der Vervollkommnung
und allgemeineren Benutzbarkeit der Luftſchiffe entgegenſtehen.
26. Die Lebensluft und das Stickgas.
Unter allen Grundſtoffen der irdiſchen Sichtbarkeit iſt
der einflußreichſte und darum wichtigſte der Sauerſtoff.
Für ſich allein, in ſeinem vollkommneren, reinen Zuſtand
erſcheint dieſer Stoff niemals anders als in Luftform und in
dieſer Geſtalt iſt er als Sauerſtoffgas oder Lebensluft
durch alle Regionen der Atmoſphäre verbreitet. Mit noch
viel größerem Rechte als dem Golde hätte der Lebensluft das
chemiſch⸗aſtrologiſche Zeichen der Sonne gebührt, denn was
die Sonne iſt unter allen Weltkörpern ihres Syſtemes, das
iſt das Sauerſtoffgas im Verhältniß zu allen Grundſtoffen
ſeiner planetariſchen Welt. Es iſt die anziehende Macht der
Sonne, welche den Lauf der Planeten und Cometen in ſei⸗
227
ner feft beſtimmten Bahn hält, welche über fie Alle Licht und
Wärme ausſtrahlet; fo iſt es auch das Sauerſtoffgas, wel-
ches der irdiſchen Körperwelt ihr innres Gleichgewicht und
ihre feſtſtehenden Umriſſe giebt, und das überall da, wo es
in kräftigen Wechſelverkehr mit ſeinem brennbaren Gegenſatz
— Ba einer irdiſchen Sonne Licht und Wärme aus⸗
trahlet. 5 | '
Der bewegende und zuſammenhaltende Einfluß fo wie
die leuchtende und wärmende Kraft der Sonne wirken aus
weiter Ferne her; das Sauerſtoffgas bedarf zu ſeiner Wirk⸗
ſamkeit der unmittelbaren Nähe ſo wie der wechſelſeitigen
Durchdringung mit den irdiſchen Grundſtoffen. Wie ſich der
Nervenäther, welcher zwar alle Bewegung und Empfindung
und ſelbſt die beſondre Geſtaltung des lebenden Leibes
vermittelt, dabei aber nicht zu einem Stoffe der Bildung
und Geſtaltung ſelber werden kann, zum Blute verhält, in
welchem ſich neben dem Antriebe zur Erhaltung des Lebens
auch die Stoffe zur Geſtaltung der Theile finden, ſo verhält
ſich der ſternweltliche (ſideriſche) Einfluß der Sonne auf unſre
irdiſche Natur zu jenem, welchen das Sauerſtoffgas in die⸗
ſer ausübt. e
Nach der Vereinigung mit dem Blute, nach der Auf⸗
nahme deſſelben in ihre Miſchung ſtreben alle Theile des
Leibes, und das was dieſem Zuge ſeine Macht und ſeine An⸗
dauer giebt iſt vor allem der Gehalt an Sauerſtoff, der ſich
im Blute der Pulsadern oder Arterien findet. Eben fo iſt
in den Elementen der irdiſchen Natur ein mehr oder minder
kräftiger Zug nach der Vereinigung mit dem Sauerſtoffgas,
das ihnen theils als ein Hauptbeſtandtheil des Waſſers, theils
als weſentlicher Gemengtheil der atmoſphäriſchen Luft entge⸗
gen tritt. | |
Am leichteſten und reinften wird das Sauerſtoffgas aus
jenen Körpern erhalten, welche aus der Verbindung deſſel⸗
ben mit einem Metall entſtanden ſind — aus Metallkalken
oder Oxyden. So namentlich nach S. 127 durch das Glü⸗
hen des Graubraunſteinerzes, das jene Luftart in einer ver⸗
hältnißmäßig viel größeren Menge als andre Metalloxyde
enthält. Auch aus dem rothen Queckſilberoxyd läßt ſich daſ⸗
ſelbe durch Glühen darſtellen und die friſchen Blätter der
Pflanzen hauchen, wenn das Sonnenlicht ſie beſtrahlt, Le⸗
bensluft aus. Aber, ſo nahe die Entdeckung zu liegen
15
* * *
228
ſchien, haben dennoch erſt im J. 1774 die beiden Chemiker
Scheele und Prieſtley, jener in Schweden, dieſer in
England, und zwar zu gleicher Zeit, das Sauerſtoffgas in
ſeiner Reinheit dargeſtellt und daſſelbe nach ſeiner eigenthüm⸗
lane Natur und Verſchiedenheit von andern Luftarten er⸗
annt. 751
Das reine Sauerſtoffgas iſt geruch- und geſchmacklos.
Während unter allen uns bekannten durchſichtigen Körpern
das Waſſerſtoffgas das hindurchſtrahlende Licht am ſtärkſten
bricht (die Strahlen von ihrer geraden Richtung ablenkt)
bricht das Sauerſtoffgas daſſelbe am ſchwächſten und wenig⸗
ſten. Von ſeiner Eigenſchwere ſprachen wir ſchon oben S.
205. Das Sauerſtoffgas ſtrahlt ſchon dann Licht aus, wenn
man es in einer Glasröhre, mittelſt eines gut ſchließenden
Stempels zuſammen preßt, eine Eigenſchaft welche weder an
dem reinen Stickgas noch am Waſſerſtoffgas, wohl aber an
der Kohlenſäure und am Waſſer bemerkt wird, welche beide
Sauerſtoffgas in ihrer Miſchung enthalten. Schon dieſe
Erſcheinung läßt uns zunächſt das Sauerſtoffgas als einen
Quell jenes Lichtes anerkennen, das bei ſeiner Verbindung mit
andren Körpern während des Verbrennens ſichtbar wird.
Am augenfälligſten, als Erzeuger und Geber der Flamme,
zeigt ſich das Sauerſtoffgas, wenn es in reinem Zuſtande
iſt und wenn man dann in ihm einen brennbaren Körper
anzündet. Der Phosphor verbrennt in reinem Sauerſtoffgas
mit einer Flamme, welche an Stärke und Helligkeit ihres
Lichtes dem Sonnenlichte nahe kommt; eine glimmende Kohle
ſo wie ein glimmender Feuerſchwamm gerathen darinnen in
helle Flammen, ja ſelbſt eine ſtählerne Uhrfeder oder eine
eiſerne Haarnadel fangen an hell zu brennen, wenn man an
ihrem Ende ein Stückchen glimmende Kohle oder glimmen-
den Feuerſchwamm beſeſtigt, und fie dann in reines Sauer:
ſtoffgas hineintaucht. Dabei ſchmilzt das von unten herauf
allmälig abbrennende Eiſen zu einer Kugel zuſammen, aus
welcher, mit lautem Ziſchen, in ſternförmiger Richtung helle
Funken hervorſprühen. Die Kugel des ſchmelzenden Eiſens
fallt, wenn ſie eine gewiſſe Schwere erreicht hat, ab und
hat eine ſo große Hitze, daß ſie im Waſſer noch lange Zeit
fortglühet und ſich in den Boden des gläſernen oder porzel-
lanenen Gefäßes tief hineinſchmelzen, ja den Boden deſſel⸗
ben, wenn dieſer nicht durch aufgeſtreuten Sand geſchützt iſt,
Re
. 229
durchlöchern kann. Das reine Sauerſtoffgas wird durch das Ver—
brennen einer verhältnißmäßigen Menge von Phosphor ganz
aufgezehrt, während dieſer brennbare Körper, wenn man ihn
in einem verſchloſſenen, mit atmoſphäriſcher Luft gefülltem
Gefäß entzündet, kaum den vierten Theil derſelben aufnimmt,
die übrigen drei Viertheile aber frei zurückläſſet, weil dieſe
kein Sauerſtoffgas, ſondern Stickluft ſind. dee
Wenn man auf ſolche Weiſe den Phosphor verbrennt,
dann entſteht eine Säure, welche im trocknen Zuſtand in
zarten weißen Flocken ſich anſetzt, das Waſſer aber begierig,
und mit ziſchendem Geräuſch an ſich zieht. Dieſe mit Waſ—
ſer vermiſchte Säure hat einen ſtarken, dabei nicht unange—
nehmen Geſchmack, ihr Gewicht beträgt gerade ſo viel, als
das des Phosphors zuſammen mit dem, beim Verbrennen
verzehrten Sauerſtoffgas ausmachte. Auf dieſelbe Weiſe ent:
ſteht auch beim Verbrennen des Schwefels die Schwefelſäure,
beim Verbrennen des Kohlenſtoffes die Kohlenſäure, welche,
wenn ſie in hinlänglicher Menge vorhanden iſt, vielen unſrer
Geſundbrunnen ihren angenehmen ſäuerlichen Geſchmack er—
theilt. Auch bei der Gährung vieler Pflanzenſäfte findet eine
Art von langſamem Verbrennen, eine Verbindung des Koh—
lenſtoffes mit dem Sauerſtoffgaſe ſtatt, wobei ein Theil des
Waſſerſtoffgaſes entweicht. Da hierbei der ſüße Geſchmack
des Traubenſaſtes in den ſäuerlichen des Weines, ja bei einer
noch höher geſteigerten Gährung in den ganz ſauren des
Eſſigs verwandelt wird, zeigt ſich abermals das Sauerſtoff—
gas, wie beim unmittelbaren Verbrennen der Kohle, als
eine veranlaſſende Urſache des ſauren Zuſtandes, und dies
war der Grund, aus welchem man jener wichtigen, merk—
würdigen Luftart den Namen des Sauerſtoffgaſes gab.
Aber auch unter dem Namen der Lebensluft machte ſich
dieſelbe, durch eine andre ihrer weſentlichen Eigenſchaften be—
kannt. Wenn man ein kleines warmblütiges Thier unter
eine Glasglocke einſperrt, welche mit gemeiner atmoſphäriſcher
Luft gefüllt iſt, dann muß daſſelbe nach einiger Zeit, wenn
es durch ſein Einathmen das darin enthaltene Sauerſtoffgas
fo weit als möglich verzehrt hat, erſticken. Wenn die näm⸗
liche Glasglocke, ſtatt mit atmoſphäriſcher Luft mit reinem
Sauerſtoffgas angefüllt war, dann wird ein Thier derſelben
Art gerade viermal ſo lange darin am Leben bleiben. Nur
ſo lange in ſeiner Umgebung noch chemiſch unvermiſchtes
230
Sauerſtoffgas vorhanden iſt, kann ein Licht fortbrennen, ein
Thier aber beim Athmen und mithin beim Leben erhalten
werden. Denn, wie wir dies ſpäter erwähnen werden, auch
das, was beim Athmen und durch alle Folgen deſſelben be:
wirkt wird, läßt ſich in ſeinem Kreiſe als ein Vorgang des
Verbrennens betrachten, von welchem die innre Wärme des
lebenden Leibes ausgehet und mit ihr, gleich dem Lichte, meh⸗
rere andre der Fortdauer und Wirkſamkeit des Lebens die-
nende Kräfte. 12111 |
So iſt es das Sauerſtoffgas, welches unter allen Ele⸗
menten der Erde am nothwendigſten erſcheint, zur Erhaltung
des äußren Haushaltes des Menſchen, wie des innren ſeiner
eignen leiblichen Natur. Ohne jenen König und Herrſcher
im Reiche der Grundſtoffe hätten wir kein Licht, unſre Nächte
oder das Dunkel der Tiefe zu erleuchten, kein Feuer um uns
gegen das Erſtarren im Winter oder auf den kalten Gebirgs⸗
höhen zu ſchützen, kein Mittel um die meiſten unſrer Speiſen
zu bereiten. Durch die Flamme, die dem Sauerſtoffgas ent⸗
quillt, wird dem Menſchen die Macht gegeben zum Aus⸗
ſchmelzen und Bearbeiten der Metalle, zur häuslichen Nie⸗
derlaſſung ſelbſt in der Nähe des beſtändigen Eiſes der Po⸗
*
larländer und der beſchneiten Alpengipfel; erſt durch das
Feuer, das die Lebensluft ihm gewährt, wird der Menſch
der ihn umgebenden Körperwelt mächtig; ohne ihren beſtän⸗
digen, hülfreichen Einfluß würde ſeine lebende Seele ſelber
nach wenig Augenblicken die Macht verlieren, den eigenen
Körper zu bewegen und als Eigenthum zu beſitzen.
Wie ſich durch den Wechſelverkehr des Sauerſtoffgaſes mit
den andren Elementen auch in dem Reiche der unbeſeelten
Körper jene Bewegungen und Regungen erzeugen, welche
den Regungen der Lebenskraft ähnlich und verwandt ſind,
und welche unter dem Namen der elektriſch-chemiſchen zuſam⸗
mengefaßt werden, davon wird noch ſpäter die Rede ſeyn.
Darüber, daß alle Gebirgsmaſſen, aus denen die Oberfläche
der Erde beſtehet, daß die meiſten Erze und beſondere Stein—
arten die in den Lagerſtätten jener Maſſen vorkommen, aus
einem meiſt metalliſchen Grundſtoffe beſtehen, welcher durch
ſeine Verbindung mit dem Sauerſtoffgas erſt ſein jetziges
dauerhaftes Beſtehen und ſeine beſtimmte Geſtaltung erhielt,
fprachen wir oben (im C. 19). |
Bis in die größeſten uns bekannten Tiefen, bis in die
251
höchſten Höhen unſrer planetariſchen Welt, erſtreckt ſich das
Reich und die Verbreitung des Sauerſtoffgaſes. Dort hat
es, als Beſtandtheil des Waſſers wie der feſten Körper, ſich
zur Ruhe, wie in einem bleibenderen Wohnſitz niederge—
laſſen, hier, in dem Luftkreis, beſtehet es noch in einem Zu⸗
ſtand der Freiheit und ungehemmten Beweglichkeit. Wenn
man auch annehmen wollte, daß all jenes Sauerſtoffgas,
welches durch die Menge der flammenden Vulkane, wie der
vom Menſchen entflammten Feuer, durch die unzählbaren
athmenden Lungen der lebenden Thiere und Menſchen ſo wie
durch alle Vorgänge der Gährung der Oxydation und jeder
andren langſamen Verbrennung täglich verzehrt wird, nie—
mals wieder in reinem Zuſtand ausgeſchieden und zur Atmo—
ſphäre zurückkehren könnte, läßt ſich dennoch der Luftkreis als
eine, nach unſrem Ermeſſen unerſchöpfliche Vorrathskammer
an Lebensluft betrachten. Selbſt nach einer Berechnung der
Phyſiker beträgt die Geſammtmenge des Sauerſtoffgaſes in
unfrer Atmoſphäre ſo viel, daß alle die oben erwähnten Vor⸗
gänge, wodurch ein Theil deſſelben verzehrt wird, im Zeit⸗
raume vieler Jahrtauſende keine ſehr bemerkbare Abnahme der—
ſelben herbeiführen würden. Denn obgleich ein geſunder,
erwachsner Menſch durch das Athmen täglich etwas über 26
Kubikfuß, im Verlauf eines Jahres 9505 Kubikfuß, mithin
luft hervorruft. | 7
Nächſt dem Kohlenſtoff bildet der Sauerſtoff ſeiner Ge—
wichtsmenge nach den wichtigſten und bedeutendſten Grund—
ſtoff der organiſchen Körper. Selbſt noch im menſchlichen
Leibe, wenn man dabei den Sauerſtoffgehalt des Waſſers, welches
drei Viertheile ſeines Geſammtgewichtes beträgt, unberückſich⸗
232
tigt läſſet, mag ſich die Gewichtsmenge des Sauerſtoffes in
den feſteren Theilen auf 7 Pfund belaufen, eine Summe
die nur von der Gewichtsmenge des Kohlenſtoffes (zu 10 Pfd.)
übertroffen wird.
Wir haben jetzt drei jener Grundſtoffe betrachtet, aus
denen das Material zu dem wunderherrlichen Bau des Lei⸗
bes der Pflanzen, der Thiere und ſelbſt des Menſchen berei⸗
tet iſt. Noch ein vierter bleibt uns zu betrachten übrig, der
ſich zwar ſeltener unter den Beſtandtheilen der Pflanzenkör⸗
per, deſto allgemeiner aber in denen des Thierleibes findet:
dies iſt der Stickſtoff, der für ſich allein, in reinem Zur
ſtand niemals anders denn in Luftform — als Stickſtoffgas 5
— vorkommt.
Wenn man unter einer oben mit atmoſphäriſcher Luft unten
mit Waſſer gefüllten Glasglocke Phosphor verbrennt und hierbei
nicht mehr und nicht weniger Phosphor als nöthig iſt (auf 12 bis
13 Cubikzoll Luft etwa 1 Gran) anwendet, dann wird das
Sauerſtoffgas, das in der Luft ſich befand, vollkommen auf⸗
gezehrt, die dabei entſtandene Phosphorſdure verbindet ſich £
mit dem Waſſer und das noch übrig gebliebene atmoſphäri⸗ |
ſche Gas iſt, wenn nicht etwa durch eine kleine Beimiſchung
von dampfförmigem Phosphor verunreinigt, nichts andres
als Stickgas. Auch eine angezündete Soirituslampe, die
man auf dem Waſſer im untern Raum der Glasglocke ſchwim⸗
men läſſet, verlöſcht erſt dann, wenn das Sauerſtoffgas der
Luft bis auf einen kaum merklichen Reſt ehrt iſt und
wenn man hierauf aus dem noch unverzehrt zu ückgeblie benen
Antheil der Luft das kohlenſaure Gas, welches beim Berbre: . i
nen des Weingeiſtes ſich bildete, dadurch hinweggeſchafft hat,
daß man ätzendes Ammoniak unter das Waſſer der Glas-
glocke miſchte, behält man nur das faſt ganz reine Stickgas
übrig.
Noch reiner als durch die Anwendung der beiden ſo eben
erwähnten Verbrennungsmittel ſcheidet man das Stickgas aus
der atmoſphariſchen Luft ab, wenn man eine flüffige Auflö⸗
ſung (ein Amalgam) von Blei im Queckſilber in einem wohl—
verſchloſſenen Gefäß, darin / des Metallgemenges mit %,
gemeiner Luft zuſammengeſperrt iſt, etliche Stunden lang
ſchuttelt. Das fein zertheilte Blei zieht dann das Sauer⸗
ſtoffgas an ſich, um ſich mit ihm zu n und was zus
rüdbleibt ift reines Stickgas.
f
r
5
233
Wenn das Waſſer, das in den beiden erſterwähnten
Verfahrungsarten den unteren Theil der Glasglocke anfüllte,
mit dem Waſſer einer Wanne in Verbindung ſtund, ſo daß
dem letzteren ein Zutritt unter die Glocke möglich war, dann
bemerkt man, daß während des Verbrennens des Phosphors
oder Alkohols das Waſſer höher in der Glocke oder im Glas—
cylinder hinaufſteigt, weil durch den Abgang des Sauerſtoff—
gaſes ein leerer Raum entſtanden iſt, welcher über ein Fünftel
des geſammten Rauminhaltes ausmacht. Denn das Stickgas
iſt faſt um ein Siebentel leichter als das Sauerſtoffgas, ſo
daß dem Rauminhalte nach, den jene Gasarten in der At-
moſphäre einnehmen, das Sauerſtoffgas nur 21, das Stick—
gas 79, dem Gewichtsverhältniſſe nach jenes 23, dieſes 77
Hunderttheile des Luftkreiſes bildet. Dieſes Verhältniß er—
weiſt ſich als ein durchaus beſtändiges. So weit bisher der
Menſch in die Höhen hinauf kam, oder in die Tiefe der
Gruben, zu denen die Luft Zutritt hat, hinabſtieg, haben
die chemiſchen Unterſuchungen es überall ergeben, daß, ab⸗
geſehen von jenen fremdartigen Gasarten, die ſich nebenbei
eindrängen, ja die eigentlichen atmoſphäriſchen Luftarten zum
Theil verdrängen können auf 21 Raum- oder 23 Gewichts-
teile des vorhandenen Sauerſtoffes 79 Raum- oder 77 Öe-
wichtstheile Stickgas kommen. Freilich kann dabei die Ver—
dünnung in ſehr großen Höhen und die Verdichtung in den
Tiefen ſo weit gehen, daß der Luftgehalt einer Glasglocke,
welcher unten in der Ebene hinreichend war um eine gewiſſe
Portion des Phosphors in ſich abbrennen zu laſſen und in
Phosphorſäure zu verwandeln, hierzu nicht mehr auslangt,
ſondern daß ein Theil des brennbaren Körpers unverbrannt
zurückbleibt, obgleich dabei der Sauerſtoffgehalt, der in der
Luftmaſſe war, vollkommen aufgezehrt wurde. Denn obgleich
in dem Luftgemenge das ſich in den höheren Regionen findet
die beiden atmoſphäriſchen Gasarten dem Gewichte wie dem
Volumen nach in demſelben Verhältniß vorhanden ſind, als
unten, in der Ebene, finden ſich dennoch beide auf einen viel
großeren Raum ausgedehnt, ſo daß in einem Gefäß welches
einen Cubikfuß Maaßweite hat, dem Gewicht nach nur zwei
Drittel, ja die Hälfte ſo viel Luft enthalten ſeyn kann als
unten, auf der Oberfläche des Meeres oder der Küſtenebenen
(nach Cap. 28).
Die beiden eben genannten Hauptgasarten der Atmo⸗
ſphäre find in dieſer nicht in der Weiſe einer chemiſchen Durch⸗
dringung, wie Sauerftoff und Kohle in dem kohlenſauren
Gas oder Waſſerſtoff und Sauerſtoff im Waſſer vereint.
Auch läßt ſich ihr Gemenge nicht als ein mechaniſches be⸗
trachten, weil ſonſt das Sauerſtoffgas, wegen ſeiner größeren
Eigenſchwere zur Tiefe ſinken und in vorherrſchender Menge
die niederen Regionen des Luftkreiſes erfüllen würde, wäh⸗
rend das Stickgas ſich mehr in die höheren Räume hinauf⸗
zöge. Beide müſſen deshalb durch eine polariſche Anziehung
von andrer Art, Theil für Theil vereint ſeyn, welche mehr
der magnetiſchen und elektriſchen, als der chemiſchen gleichet.
Auch jene Anziehung die das Gewäſſer der Erde, welches
bis zu ſeiner Tiefe hinab von Luft durchdrungen iſt, gegen
dieſe ausübt, muß von verwandter Art ſeyn, denn das Waſ⸗
ſer nimmt hierbei die Gasarten der Atmoſphäre nicht in dem
Verhältniß auf, in welchem fie feiner Oberfläche ſich darbie⸗
ten, ſondern mit einer Art von Auswahl, indem es ein Drit-
tel mehr an Sauerſtoff- als an Stickgas abſorbirt.
Das einhüllende Verhältniß, in welchem das an Menge
übermächtige Stickgas in unſrem Luftkreiſe zum Sauerſtoffe
ſtehet, erſcheint als ein überaus wohlthätiges und zur Er—
haltung des jetzigen Fortbeſtandes der irdiſchen Natur noth⸗
wendiges. Beſtünde die Atmoſphäre aus lauterem Sauer⸗
ſtoffgas, dann könnte jede Flamme, die der Menſch auf ſei⸗
nem Heerd entzündet, zum unauslöſchlichen Brande werden,
auch das Leben der organiſchen Weſen würde in einen ord-
nungswidrigen Verlauf gerathen. Thiere, welche man etwas
längere Zeit im Sauerſtoffgas athmen ließ, ſchienen anfangs
überaus wohl, dann aber ſich unbehaglich zu befinden, man 1
fand ihre Lungen in einer Art von entzündlichem Zuſtandz;
die geſammte Maſſe des Blutes war in ungewöhnlicher Weiſe
gerothet. Menſchen, welche an den Lungen leiden, fühlen
faſt augenblicklich den ſchmerzhaft nachtheiligen Einfluß, den
das Einathmen des reinen Sauerſtoffgaſes auf fie hat.
Wir betrachten jedoch hier vorerſt nur die Eigenſchaften
des Stickgaſes und einige ſeiner Verbindungen. Gegen das
Sauerſtoffgas verhält ſich daſſelbe wie ein brennbarer Kör⸗
per, welcher freilich zum Glücke nicht ſo leicht wie die meiſten
andren brennbaren Stoffe, die Verbinduug eingehet. Denn
während ſich bei dem Verbrennen des Waſſerſtoffgaſes mit
dem Sauerſtoffgas das wohlthätig nährende, milde Waſſer
234
235
bildet, entſtehen aus dem chemiſchen Vereine des Stickſtoffes
mit dem Sauerſtoff Verbindungen, welche den athmenden
Weſen für Erhaltung des Lebens nachtheilig und gefährlich
werden müßten. KB:
Eine unſrer ftärkften Säuren: die Salpeterſäure,
welche, ſo wie ſie etwas verdünnt in Handel und Gewerben
vorkommt, Scheidewaſſer beannnt wird, iſt nichts Andres als.
eine Verbindung des Stickſtoffes mit dem Sauerſtoffgas, wel—
che aus 1 Maßtheilen des erſteren und aus 3 des letzteren
beſtehet. Die zerſtörende, auflöſende Kraft, mit welcher dieſe
Säure auf die organiſchen Körper wirkt, iſt bekannt. Auch
der röthliche Dampf der ſich bei Bereitung der Salpeterſäure,
z. B. durch Deſtillation des Salpeters mit Schwefelſäure
erzeugt, iſt eine Säure von geringerem Sauerſtoffgehalt als
die Salpeterſäure, und darum minder ſtark als dieſe, den—
noch wirkt er auf die athmende Lunge der Thiere als ein
zerſtörendes Gift. Es gilt dieſes ſelbſt noch von dem Sal—
petergas oder nitröſen Gas, das aus zwei Maaßtheilen Sauer—
ſtoffgas und einem Maaßtheile Stickgas chemiſch zuſammen
geſetzt iſt, denn auch in dieſem verlöſchen die Lichter und ſter⸗
ben nach wenig Augenblicken die Thiere. Am unſchädlichſten
und ſogar durch einige feiner Eigenſchaften für den Menſchen
anlockend erſcheint unter allen Verbindungen der beiden atmo—
ſphäriſchen Gasarten das oxydirte Stickgas oder das Luſt—
gas, zu deſſen Bereitung nur ein Maßtheil Sauerſtoffgas
auf ein Maßtheil Stickſtoffgas verwendet werden. Dieſe
Luftart welche am reinſten aus ſalpeterſaurem Ammoniak, üb⸗
rigens auch ſchon durch Auflöſung von Eiſen oder Zink in
einer ſehr mit Waſſer verdünnten Salpeterſäure gewonnen
wird, erhöht die Flamme eines angezündeten, brennbaren
Körpers faſt in demſelben Maaße wie das reine Sauerſtoff—
gas. Selbſt Kohle und Eiſen verbrennen in dem oxpydirten
Stickgas mit heller Flamme, doch bedarf es zu ihrer Ent—
zündung eines höheren Grades der Hitze als in der reinen
Lebensluft. Kleine Thiere welche man in oxpydirtes Stickgas
einſperrt, verrathen eine Zeit lang einen hohen Grad von
Munterkeit; Menſchen welche dieſe Luftart in ihre, vorher
durch ſtarkes Ausathmen entleertere Lunge zogen, empfanden
dabei einen angenehm ſüßlichen Geſchmack und verfielen da—
durch in einen Zuſtand des behaglichen Rauſches, welcher
freilich, bei länger fortgeſetztem Einathmen des oxydirten
236
Stickgaſes bis zum Verluſt der Beſinnung anwachſen kann.
Indeß ſind dieſe Erſcheinungen bei Menſchen von keinen nach⸗
theiligen Folgen, während kleine Thiere, die man ohne ihnen
dazwiſchen wieder einmal reinere Luft zu geben, lange fortge—
ſetzt in dem oxydirten Stickgaſe athmen ließ, wie im Rauſche
dahin ſtarben.
Das Stickgas läßt ſich zwar durch den elektriſchen Fun⸗
ken mit dem Sauerſtoffgas verbinden und verbrennen, aber
nur mit ſehr großer Schwierigkeit und durch öfter wieder⸗
holte elektriſche Entladungen, weil ſich bei dem Vorgang je:
ner Vereinigung eine verhältnißmäßig überaus geringe Wärme
entwickelt. Wenn man atmoſphäriſche Luft mit viermal ſo
viel Maaßtheilen von feuchtem Sauerſtoffgas vermiſcht und
dann einen elektriſchen Funken hindurchſchlagen läſſet, dann
verbrennt nur jener kleine Theil des Stickſtoffes der unmit—
telbar von dem Funken getroffen wurde und es gehören meh—
rere hundert Entladungen einer gewöhnlichen Elektriſirma—
ſchine dazu, um nur ſo viel Salpeterſäure zu erzeugen, daß ihre
Anweſenheit durch Röthen der Lakmustinktur oder durch Ver⸗
bindung mit einer Auflöſung von ätzendem Kali zu Salpeter
(ſalpeterſaurem Kali) merklich wird. Dennoch mag ſich auf ſol—
che Weiſe auch in der Atmoſphäre durch bemerkbare, gewit—
terhafte oder unmerkliche elektriſche Entladungen etwas Sal—
peterſäure erzeugen, denn nicht ſelten findet ſich eine Spur
derſelben in verſchiedenen atmoſphäriſchen Niederſchlägen.
Nur in etwas andrer Weiſe als der Kohlenſtoff ſetzt
auch der Stickſtoff der menſchlichen Kunſt gewiſſe Gränzen
bei ſeiner Handhabung. Wir wiſſen es, daß der koſtbarſte
Edelſtein der Erde, der Demant, aus nichts andrem als aus
reinem Kohlenſtoff beſtehe und dennoch vermögen wir es nicht
aus Kohle Demant zu machen, weil wir wie bereits erwähnt
durch all unſre Kunſt eben fo wenig im Stande find, den Kohen—
ſtoff in kryſtalliniſchen Zuſtand zu verſetzen, als die Elemente,
aus denen der Leib eines Thieres beſteht, zum Leben zu erwecken.
Eben ſo ſehen wir durch die Kraft des Lebens, welche den Pflan—
zen und Thieren inwohnt, ohne Aufhören und mit Leichtig⸗
keit den Stickſtoff mit dem Sauerſtoff ſich vereinen, während
wir dieſen Vorgang nur äuſſerſt ſchwer durch unſre Wiſſen⸗
ſchaft und Kunſt nachahmen können. Wir machen uns des—
halb die Darſtellung der Verbindung der beiden atmoſphäri⸗
ſchen Luftarten zur Salpeterſäure und all ihren Abarten nur
237
dadurch im Großen möglich, daß wir dabei die Kraft des Lebens,
in der organiſchen Natur, uns vorarbeiten laſſen. Denn bei der
langſamen Zerſetzung der vegetabiliſchen ſo wie noch mehr der thie—
riſchen Körper erzeugt ſich ohne große Mühe das ſalpeterſaure
Kali oder der Salpeter, aus welchem, wie ſchon erwähnt,
die Salpeterſäure dadurch gewonnen wird, daß man ihr, mit-
telſt einer Behandlung durch Schwefelfäure, von dieſer ſtär—
teren Säure das Kali entreiſſen läſſet. In unſren Salpeter—
hütten wird der Salpeter ganz einfach ſo bereitet, daß
man unter ein Dach, welches den Regen abhalten ſoll, ein
Gemenge von lockrer Erde, von Aſche und Mergel mit aller⸗
hand thieriſchen und vegetabiliſchen Abgängen aufſchüttet, die—
ſes Gemenge öfters umſchaufelt, um alle feine Theile in Be-
rührung mit der Luft zu bringen und daſſelbe von Zeit zu
Zeit mit Urin begießt. Auf ſolche Weiſe wird im Verlauf
von 2 bis 3 Jahren der (organiſche) Stickſtoff in Salpeter
ſäure verwandelt, die ſich mit dem wenigſtens zum Theil in
den zerſetzten organiſchen Maſſen enthaltenen Laugenſalze zu
Salpeter verbindet. Aber auch ſchon ganz bereitet, ſo daß er
nur des Auslaugens bedarf, findet ſich der Salpeter in mans
chen Kalkfelſenhöhlen und Erdlagern der heißen, von üppi—
gem Pflanzenwuchs bedeckten und von einer zahlreichen Thier—
welt bewohnten Ländern. Einige Pflanzen, wie der Boretſch
(Borago officinalis) enthalten den Salpeter in merklicher
Menge in ihren Säften.
Bei der Verweſung und Zerſetzung organiſcher Körper
gehet der Stickſtoff auch eine Verbindung mit dem andren
Grundſtoff des Waſſers: mit dem Waſſerſtoffgas ein, indem
drei Maaßtheile von dieſem mit einem Maaßtheile Stickſtoff
das flüchtige Laugenſalz oder Ammoniak bilden, das ſich durch
ſeinen ſtechend ſcharfen Geruch überall da kund giebt, wo
thieriſche Abgänge von ſehr ſtickſtoffhaltiger Beſchaffenheit in
Zerſetzung übergehen. Bei dieſer Verbindung zeigt ſich am
Stickſtoff eine Eigenſchaft, welche wir ſonſt an keinem andren
brennbaren Körper bemerken. Während ſich nämlich z. B.
die Verbindungen des Phosphors und des Schwefels mit
dem Waſſerſtoffgas wie Säuren verhalten, ſtellt die Verbin—
dung des Stickſtoffes mit demſelben ein vollkommenes Lau—
genſalz dar, welches dadurch, daß man ihm mittelſt elektri—
ſcher Polariſation noch einen Maaßtheil des Waſſerſtoffgaſes
zuſetzt, zu einem metalliſchen mit Queckſilber ſich amalgami⸗
238
renden Körper, ähnlich den Grundlagen der andren Laugen;
ſalze wird (ſ. S. 145). Hierbei haben ſich alle die gewöhn⸗
lichen Verhältniſſe umgekehrt. Statt daß anderwärts die me⸗
talliſche Grundlage dadurch zum Vorſchein kommen könnte,
daß der Waſſerſtoff ihr den Sauerſtoff, womit ſie verbunden
(oxydirt) war, entriſſe, vereint ſich jener mit ihr und nun
erſt tritt die metalliſche Natur hervor. Uebrigens beſtehen
ſelbſt über die Grundlagenwürde des Stickſtoffes noch einige
Zweiſel und aus manchen Beobachtungen könnte es ſcheinen,
daß er ſelber ſchon aus der Verbindung einer noch wenig ge⸗
kannten Grundlage mit den Sauerſtoff beſtehe. In jeder Hin⸗
ſicht erſcheint dieſe merkwürdige atmoſphäriſche Luftart als ein
Wendepunkt, bei welchem die Herrſchaft andrer, höherer
Kräfte als die unſrer chemiſchen Werkſtätten ſind: der Kräfte
des Lebens ihren Anfang nimmt. Aus dem Reiche der Grund⸗
lagen, welche die unorganiſchen Körper bilden, iſt der Stick⸗
ſtoff wie ausgeſtoßen und ausgeſchloſſen, in dieſen regt ſich
faſt nirgends ein Zug nach der Vereinigung mit ihm, und
ſelbſt die Lebenskraft der Pflanzen zwingt jenen zur freien,
unvermählten Luftform geſchaffenen Stoff nur in ſehr gerin⸗
gem Maaße zur Entäufferung feiner Freiheit. Erſt die thie-
riſche Lebenskraft iſt ſtark genug ihn ganz in den Bereich der
Bildung ihrer Leiblichkeit hereinzuziehen, denn auſſer dem
Fette, das nur Kohlenſtoff, Sauerſtoff und Waſſerſtoff enthält,
haben alle feſte wie flüſſige, organiſche Beſtandtheile, aus denen
der thieriſche Körper zuſammengeſetzt iſt, den Stickſtoff unter
ihren Elementen. N |
So ift die organiſche Natur in einem faſt ungetheilten
Gebrauchsrecht des Stickſtoffes und ſie wendet dieſes Recht
in ſo ſparſamer Weiſe an, daß der Abgang, den etwa
die unermeßlichen Vorräthe, welche der Luftkreis enthält,
ſchon allein durch jenen Zugang an Stickſtoff erſetzt werden
könnte, den manche Quellen, wie z. B. die Warmbrunnen
von Mehadia, mit ſich aus der Tiefe heraufbringen und zu
Tage fördern. | |
27. Großer Erfolg aus kleiner Urſache.
Jener Brahmine, der nach dem Gebot das. feine Reli⸗
gion und ſein Stand ihm auferlegten, niemals das Fleiſch
eines Thieres genoſſen, ſondern mit Abſcheu von all ſolcher
239
Speiſe ſich hinweggewendet hatte, gerieth in keinen geringen
Schrecken als ein Engländer ihm durch ein Mikroſcop in
jedem Tropfen des Waſſers, davon der Brahmine ſo eben
trank, eine unzählbare Schaar der kleinen Thiere zeigte, wel—
che uns das künſtliche Auge der geſchliffenen Gläſer (nach
S. 177) ſichtbar machet. Es fehlte nicht viel, er wäre lieber
Durſtes geſtorben als noch einmal in Gefahr gerathen Tau⸗
ſenden jener Lebendigen bei jedem Trunke den Tod zu brin-
gen, wenn der Andre, der ihn ſo ſchreckte, nicht etwa den
Troſt hinzugefügt hätte, daß ſolche faſt unmeßbar kleine We⸗
ſen, wie ſie lebend mit jedem Tropfen den wir genießen, ja
mit jedem Lufthauch in uns eingehen, auch lebend und
unverletzt aus uns ausgehen könnten.
Die Thierwelt unſrer Mikroskope, welche anfangs nur
eine Beluſtigung der Augen war, iſt in neuerer Zeit nicht
nur ein Gegenſtand der aufmerkſamen Beachtung für den
Forſcher in der Geſchichte des Thierreiches, ſondern auch für
den Forſcher in der Geſchichte der Geſtaltung unfrer Erdober—
fläche und des Fortbeſtehens der Verhältniſſe zwiſchen dem
Luftkreis und der ganzen oberirdiſchen Natur geworden.
Ganze große Lager von kieſelerdigen Bergarten zeigen ſich
unter dem Vergrößerungsglas als ein feſt zuſammen gebacke—
nes Gehäufe aus unzählbaren Panzergehäuſen, womit einſt
jene faſt unmeßbar kleinen Weſen bekleidet waren, denn an die—
ſen ſtäubchenartigen Thierchen zeigt ſich eine Vollkommenheit
und Zierlichkeit des Baues, eine Stattlichkeit und verhältniß⸗
mäßige Stärke der äußren Bekleidung und Bewaffnung, welche
den beobachtenden Naturforſcher mit dem höchſten Erſtaunen
erfüllt. In der Zeit, als dieſe kieſelerdigen Lager ſich bilde—
ten, da muß in jedem Tropfen des flüſſigen Elementes die
Schöpfung der lebenden Geſtalten ſich geregt haben.
Die Aufmerkſamkeit der Naturforſcher iſt in neuerer Zeit
noch in andrer Weiſe auf dieſe kleinſten Thiere und auf ihre
Wichtigkeit für den Haushalt der irdiſchen Natur hingelenkt
worden. Wir ſprachen im vorhergehenden Capitel von dem
Verbrauche, welchen das Sauerſtoffgas der Atmoſphäre durch
Athmen der Thiere wie durch jede Flamme eines bren-
nenden Körpers, durch die vielfachen Vorgänge der Gährung
und Oxydirung erleidet. Zwar entwickelt ſich nach S. 231 aus der
lebenden Pflanzenwelt, durch Zerſetzung der Kohlenſäure, un—
ter dem Einfluß des Sonnenlichtes eine bedeutende Menge von
240
Sauerſtoffgas, aber ein andrer, vielleicht nicht minder ergie⸗
biger Quell der Wiedererſtattung der vom athmenden Thier⸗
reich aufgezehrten Lebensluft iſt im Thierreich ſelber, und
zwar in dem Gebiet der mikroſcopiſch kleinſten Weſen zu fin⸗
den. Wir wollen hiervon nur Einiges erwähnen. N
Schon vor mehreren Menſchenaltern bemerkte ein be⸗
rühmter Naturforſcher (der Graf Rumford), daß ſich aus
verſchiedenen organiſchen Körpern, wie Seide, Wolle und
dergleichen, wenn dieſelben in einem mit Waſſer erfüllten
Gefäße dem Sonnenlicht ausgeſetzt werden, eine Menge des
reinſten Sauerſtoffgaſes entwickle. Zugleich nimmt dabei das
Waſſer eine grünliche Farbe an, welche, wie die mikroſcopiſche
Unterſuchung zeigt, von einer zahlloſen Menge kleiner, rund:
licher Thiere herrührt. In den Soolkaſten einer Saline ſieht
man eine ſchleimige, durchſcheinende Maſſe ſich bilden, wel-
che den Boden einen oder zwei Zoll hoch bedeckt und an de⸗
ren Oberfläche überall mächtig große Luftblaſen ſich emporhe⸗
ben. Wenn man mit einem Stocke die ſchleimig häutige
Decke dieſer Luftblaſen durchſtößt, dann dringt aus ihnen
eine Luft herauf, die ſich nach allen mit ihr angeſtellten Ver⸗
ſuchen als vollkommen reines Sauerſtoffgas oder als Lebensluft
zu erkennen giebt. Wenn man aber noch weiter die dicke, zähe
Fluüſſigkeit, aus der die Luft heraufkam, unterſucht, dann
erkennt man unter dem Mikroſcop, daß ſie faſt ganz aus
einem Gewimmel von eben ſolchen lebenden Thierchen beſtehe
als die waren, aus deren Panzern der Kieſelguhr von Fran—
zensbad in Böhmen und andre ähnliche Lagen unſrer Berg-
arten zuſammengeſetzt ſind. Selbſt in der weißen Aſche, die
nach dem Glühen der dickflüſſigen Maſſe im Feuer zurück⸗
bleibt, erkennt man die Kieſelſkelete jener kleinen Thiere aus
denen ſie zum größeſten Theil zuſammengeſetzt iſt. Dieſe
zeigen fo deutlich die Form der Thierchen denen fie anz
gehörten, daß es dem Auge vorkommt, als hätte es noch
den friſchen, von ihnen erfüllten Schleim, nur in einem be
wegungslos ſtarrem Zuſtande vor ſich. Auch anderes Waſ—
fer, in welchem organiſche Stoffe enthalten find, belebt ſich
nach vielfach wiederholten neueren und neueſten Unterſuchun⸗
gen, namentlich unter Einwirkung des Sonnenlichtes mit
dichten Haufen von kleinen rothen und grünen, nur durch das
Mikroſcop wahrnehmbaren Thierchen und ſo wie dies geſchieht,
entwickelt ſich eine Luftart aus dem Waſſer, in der ſich, wenn
man
241
man in einem Glaſe fie aufſammlet, ein glimmender Spahn
eben ſo mit heller Flamme wieder entzündet als in reinem
Sauerſtoffgas und welche auch durch andre Kennzeichen als
gen oder faſt ganz reines Sauerſtoffgas ſich zu erkennen
giebt. N
ECrinnern wir uns bei dieſer Gelegenheit an die weitaus—
gebreiteten Lachen unſerer ſeichten Seeküſtengegenden, gefüllt
wie die vorhin erwähnte Flüſſigkeit auf dem Boden eines
Soolenkaſtens mit ſalzigen Theilen, untermiſcht von einer
Maſſe organiſcher Ueberreſte der im Meere lebenden Weſen;
erinnern wir uns weiter an die unzählig vielen Anſammlun—
gen von ſtillſtehendem Waſſer in unſren Sümpfen und Grä—
ben, denen nicht weniger organiſche Ueberreſte des Pflanzen—
und Thierreiches beigemengt ſind, dann wird es uns leicht ſeyn,
die ganz überaus wichtige Beſtimmung zu errathen, welche
jene Kleinſten unter allen Lebendigen für unſre irdiſche Na—
tur haben. Sie zehren ohne Aufhören die in Auflöſung be—
griffenen Stoffe auf, welche, wenn ſie in gewöhnlicher Art
verweſten, die Luft mit dem Aushauch ihrer Fäulniß verpe—
ſten würden. Und wenn ſie dieſem Uebelſtand in ſumpfigen
Gegenden auch nicht ganz abhelfen können, ſo iſt doch ſchon
das, was ſie zu der Abhülfe beitragen, ſehr wichtig. Aber
nicht allein dieſes Werk der Reinigung und des Aufräumens
iſt jenen kleinen belebten Stäubchen übertragen, ſondern da—
bei auch noch die ungleich wichtigere Aufgabe aus den orga—
niſchen Stoffen und aus dem Waſſer das darin enthaltene Sauer
ſtoffgas in vollkommner Reinheit auszuſcheiden und darzu—
ſtellen. Hier müſſen auch die ſchwächſten und geringſten
Weſen Das herbeiſchaffen, was den ſtärkſten und mächtigſten
das Hauptelement zur Erhaltung ihres Lebens, und zugleich das
Hauptvermögen ihrer Wirkſamkeit darreicht. Das was dem
gewöhnlichen Menſchenauge verächtlich dünkt und von nie—
drigſter Art erſcheint, das kommt durch ein tiefer eindringen-
des Forſchen zur höchſten Anerkennung und Ehre.
Wir werden ſpäter noch einmal, am Ende des Capitels
ier den Blitzableiter darauf zu ſprechen kommen, was das
leiblich Kleine und Kleinſte in der ſichtbaren Welt, dem
maſſenhaft Großen gegenüber zu bedeuten habe. Das Große
bleibt ſeinem Gewicht und herrſchaftlichen Einfluſſe nach
immer groß, was aber unſrem Auge daran gefällt und wich⸗
tig erſcheint, das wäre nicht da, gäbe es nicht daneben,
16
|
a
242
darüber und darunter eine andre Welt der Dinge, die unſer
Auge nicht ſieht.
28. Druck und Gegendruck. |
Wir haben jetzt im Allgemeinen die ſogenannten Grund⸗
ſtoffe oder bisher noch nicht künſtlich zerlegten Elemente be⸗
trachtet, aus denen die Körper unſrer irdiſchen Sichtbarkeit
zuſammengeſetzt ſind. In der unorganiſchen Natur finden ſich
dieſe Grundſtoffe zur Bildung der Steine, des Waſſers und
andrer Körper, denen keine eigne Seele innen wohnt, unmit⸗
telbar gleich roh behauenen Bauſteinen angewendet, dagegen
benutzt dieſelben die Lebenskraft der Thiere und Pflanzen
nur als einen Stoff, durch deſſen weitere Verarbeitung und
vielfache Zuſammenmiſchung ſie, wie der Architekt ſeinen Mörtel,
ſeine Ziegelſteine, ſeine Stuckatur und ſelbſt Porzellanmaſſe, das
vollkommene, organifche Material zu ihrem Bau gewinnt.
Wie der Anblick der noch unbenutzt am Boden liegen⸗
den Bauſteine oder der noch nicht in Backſtein gebrannten Erd⸗
und Sandhaufen nur wenig Intereſſe gewährt, wie dagegen
jeder Vorübergehende gern ſtehen bleibt und mit Theilnahme
zuſieht, wenn ganze Schaaren der Bauleute das todte Ma⸗
terial in Bewegung ſetzen und wenn unter ihren Händen alle
mälig der kunſtreich ſchöne Bau ſich erhebt, ſo ergeht es uns
auch, wenn wir von der minder anſprechenden Betrachtung
der Grundſtoffe zu der Erkenntniß jener Vorgänge übergehen,
durch welche das hehre Gebäu unſrer irdiſchen Sichtbarkeit
aus feinen Elementen zuſammengefügt und errichtet wird.
Die Bauleute, welche ſich hierbei geſchäftig zeigen, find theils
die Kräfte einer elektriſchen und chemiſchen Anziehung (nach
Cap. 23), theils die einer lebenden Seele; die Mittel welche
beide, wie die Maurer oder Zimmerer ihre Hebel und ihre
Handwerksgeräthe zu Hülfe nehmen, ſind theils von mecha⸗
niſcher Art, auf Druck und Gegendruck berechnet, theils von
eigenkräftigerer, auf Polariſation (nach Cap. 8) begründeter
Natur. Wir betrachten hier zuerſt die Mittel, welche mehr
zur Klaſſe der allgemeinen mechaniſchen zu gehören ſcheinen,
obgleich auch aus ihrer Wirkſamkeit allenthalben die ſelbſt⸗
thätige Theilnahme eigenthümlicher Kräfte hervorleuchtet.
Vor Allem tritt uns hier der Einfluß entgegen, den der
Druck der Atmoſphäre auf alle Vorgänge des Entſtehens und
Beſtehens der oberirdiſchen Körperwelt ausübet. win
243
Wenn man ein Kind fragt: was wiegt ſchwerer, ein
Pfund Luft oder ein Pfund Blei, dann werden wir
in den meiſten Fällen die Antwort hören: das Pfund
Blei wiegt ſchwerer. Das Kind bedenkt eben nicht,
daß ein Centner immer ein Centner, das Loth ein Loth in
der Wagſchale bleibt, es mag nun vom Gewicht des Waſſers
oder der Luft oder des Goldes die Rede ſeyn. Denn die
Pferde, welche vor einem Karren angeſpannt ſind auf dem ein Ei⸗
merfäßchen voll Ducaten liegt, haben daran ohngefähr eben ſo
ſchwer zu ziehen, als zwei andre deren Ladung ein großes
Märzenfaß iſt, in welchem 19 Eimer Waſſer enthalten ſind
(m. ſ. S. 132). Und dennoch hat das Kind, wenn es jene
Frage ſcheinbar ſo verkehrt beantwortet, auch nicht ganz un⸗
recht, es ſollte ſich nur anders ausdrücken und vielleicht ſa⸗
gen, ein Pfund Blei laſtet ſchwerer als ein Pfund Luft.
Dier Laſtträger, welcher 400 Pfund Blei auf feinem
Rücken davon trägt, muß ſchon ein ſehr ſtarker Mann ſeyn,
etwa ein ſolcher wie man einzelne unter den türkiſchen Laſt⸗
trägern in Konſtantinopel findet. Ein berühmter Starker in
alter Zeit, der ſich gar uhmredig Athamas der Unbezwing⸗
bare, nannte, hatte es noch weiter gebracht; er trug eine
Waffenrüſtung an ſich, welche tauſend Pfund wog, und be—
wegte ſich in und mit dieſer Laſt. Wir haben aber Beiſpiele
von noch viel mächtigeren Laſtträgern ganz in unſrer Nähe
und ich ſelber kenne vor Allen einen, welcher ein Gewicht,
das faſt dreißigmal ſchwerer iſt als das des Athamas, ſo
ganz ohne alle Beſchwerde trägt, daß er es nicht einmal bei
Nacht im Schlafe ablegt, und am Tage damit ganz leicht
über Berg und Thal wandelt. Ja dieſer Laſtträger iſt ſchon
als kleiner Knabe mit einem Gewicht, welches vielmal grö—
ßer war, denn jenes, das Athamas auf ſeinem Leibe trug,
umhergehüpft und geſprungen, iſt damit an Bäumen und an
Mauern emporgeklettert und im Waſſer geſchwommen, ohne
unterzuſinken. |
Der Mann, von welchem ich dieſes ohne alle Uebertrei⸗
ausſagen kann, bin nicht nur ich ſelber, ſondern iſt
r von uns. Jeder Menſch von vollkommenem Wuchſe
ind vollkräftigem Umfang der Glieder hat bei Tag wie bei
Racht einen allſeitig auf die Oberfläche ſeines Körpers ein⸗
wirkenden Druck der Luft zu ertragen, welcher auf jeden
Quadratzoll einem Gewicht von 12 55 Pfund, mithin auf
1 “ir
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rn
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*
244
jeden Quadratfuß von 1836 und im Ganzen wenn die ge⸗
ſammte Oberfläche des Körpers 15 bis 16 Quadratfuß miſ⸗
fet, einem Gewicht von 27540 bis 29376 Pfunden entſpricht.
Daß in einer Röhre, in welcher man einen gut an ihre
innren Wände anſchließenden Stempel emporzieht, das
Waſſer, in das der untere Theil der Röhre eingetaucht iſt,
aufwärts ſteige, das wußte ſeit uralten Zeiten jedes Kind, denn
das Spiel mit den ſogenannten Spritzbüchſen oder Spritz⸗
röhren iſt nicht erſt ſeit geſtern erfunden. Der Anblick jeder
Waſſerpumpe, welche im Großen auf dieſelbe Weiſe einge⸗
richtet iſt, wie das Spritzrohr im Kleinen, die Betrachtung
jedes Hebers in welchem die Flüſſigkeit, wenn man die in
ihm enthaltene Luft mit dem Munde herauszieht, alsbald
emporſteigt, lehrte ganz daſſelbe: daß nämlich das Waſſer,
wie jede andre Flüſſigkeit, wenn ſie Zugang dazu finden
kann, in einen Raum ſich hinaufdränge, den man von der
Luft entleert hat. Die Thatſache war demnach längſt und
wohl bekannt, nicht aber die Urſache auf der ſie beruhet. Ein
berühmter Philoſoph des Alterthumes, Ariſtoteles, hatte die
Meinung ausgeſprochen: daß in ge Welt der natürlichen
Dinge ein Abſcheu vor der Leere”fey, weshalb auch das
Waſſer, ſeiner Schwere entgegen, in luftleeren Röhren auf⸗
wärts ſteige und bei dieſer ſonderbaren Erklärung, weil ſie
von einem großen, berühmten Gelehrten kam, hatte man ſich
faſt zwei Jahrtauſende lang beruhigt, ohne der Sache weiter
nachzudenken. b 6
Da jedoch ein luftleerer Raum immer daſſelbe bleibt
und mithin auch daſſelbe wirken muß, er mag groß oder
klein ſeyn, da im Gegentheil der Abſcheu der Natur vor der
Leere nur deſto ſtärker ſich äuſſern ſollte, je größer die Leere
iſt, mußte es auffallen, daß das Waſſer in einer Saug⸗
pumpe, auch wenn dieſe noch ſo genau und vollkommen ein⸗
gerichtet iſt, niemals höher in den künſtlich erzeugten, luft⸗
leeren Raum hinanſteigt, als 32 Fuß. Ein Gärtner in Flo⸗
renz machte dieſe Erfahrung in recht auffallender Weiſe, als
er eine Waſſerpumpe ganz kunſtgerecht hatte fertigen laſſen,
welche über 40 Palmen hoch war. Das Waſſer folgte dem
ganz luftdicht anſchließenden Stempel bei ſeinem Heraufzie⸗
hen nach bis zur Höhe von 18 Ellen oder 32 pariſer Fuß,
bei dieſer Höhe aber blieb es ſtehen, ohne ſich weiter in dem
luftleeren Raume erheben zu laſſen. Der berühmte Galilei,
. ar
245
einer der tiefblickendſten Phyſiker der neueren Zeiten, hörte
von dieſer Beobachtung, aber obgleich ſein ſelbſtkräftiger Geiſt
in vieler Hinſicht von der Befangenheit unter den Ausſprü—
chen des Ariſtoteles ſich frei gemacht hatte, vermochte er doch
bei dieſer Gelegenheit nicht ganz davon los zu kommen, er
urtheilte, daß der Abſcheu vor der Leere, welcher das Waſ—
fer in den Saugpumpen ſteigen machet, feine gewiſſe Grän⸗
zen habe. Und dennoch konnte die richtige Anſicht von jener
Erſcheinung Keinem ſo nahe liegen als dem ſcharfſinnigen
und tiefforſchenden Galilei, welcher nicht nur die Schwere
der Luft kannte, die er, freilich noch immer zu hoch, 400
mal geringer ſchätzte, als die Eigenſchwere des Waſſers,
ſondern der bei andrer Gelegenheit auch an die Wirkun⸗
gen des Druckes der Luft auf die Oberfläche der Erde
gedacht zu haben ſcheint. Er ſah diesmal die Wahrheit wie aus
der weiten unſicheren Ferne, in die ſich ein Luftſchiffer er-
hebt; die deutliche Anſchauung aus einem näheren Stand⸗
punkt fehlte ihm noch, denn die Schwierigkeit bei der Her—
ſtellung eines vollkommen luftleeren Raumes in einer Röhre
von 32 Fuß Höhe, war zu groß. Seinem Schüler aber und
Nachfolger auf dem Lehrſtuhl der Phyſik zu Bologna, To-
ricelli, gelang es, den näheren Standpunkt zu finden, von
welchem aus die Erſcheinung des Luftdruckes ſich leicht und
bequem überblicken ließ, weil ſie mit ihren Wirkungen auf
einen kleinen Raum beſchränkt und mit nur geringer Mühe
hervorzurufen war. Wenn, ſo urtheilte Toricelli, der Luft⸗
druck es iſt, welcher auf den Waſſerſpiegel wirkend, in wel—
chen man das untre Ende der Saugpumpe verſenkt hat, die
Flüſſigkeit in den luftleeren Raum hinauftreibt: dann muß
dieſer Druck auf jeden Punkt der Erdoberfläche, er muß auf
Flüſſiges wie auf Feſtes in gleicher Kraft einwirken. Die
Höhe, bis zu welcher eine Flüſſigkeit vermittelſt des Luft—
druckes in dem luftleeren Raum emporſteigt, wird, fo ſchloß
er weiter, im Verhältniß mit ihrer Eigenſchwere ſtehen,
Weingeiſt oder Oel, weil fie leichter find als Waſſer, wer⸗
den böher ſteigen denn dieſes, Queckſilber, weil es viel ſchwe⸗
rer iſt als Waſſer, wird auch, in demſelben Verhältniß, viel
weniger hoch emporſteigen. Bei dieſem letzteren Glied der
Zuſammenſtellungen blieb Torricelli ſtehen. Er füllte eine
Glasröhre, welche an ihrem einen Ende zugeſchmolzen war,
mit Queckſilber an, ſchloß das andre offne Ende mit dem
246
Finger und brachte daſſelbe in ein über 2 Zoll tief mit Queck⸗
ſilber gefülltes Gefäß. Er hob jetzt das verſchloſſene Ende
empor, zog den Finger hinweg, und das Queckſilber blieb
27 ½ Zoll hoch in der Glasröhre ſtehen und ließ zugleich jenen
Raum in dem oberen, verſchloſſenen Ende leer, welcher über
dieſe Höhe hinanreichte. Aber die Höhe von 27% Zoll vers
hält ſich zur Höhe von 32 Fuß eben ſo wie ſich (umge⸗
kehrt) die Schwere des Waſſers zu der des Queckſilbers ver⸗
hält, nämlich faſt wie 1 zu 14. In der Glasrößhre mit
ihrem, durch das Umſtürzen entſtandenen, luftleeren Raume
des oberen Endes wiederholte ſich im Kleinen ganz daſſelbe
was dem Gärtner in Florenz an feiner über 40 Palmen ho⸗
hen Saugpumpe geſcheben war. In dieſer hatte es auch
noch einen verhältnißmäßig eben ſo großen leeren Raum ge⸗
geben und doch hatte ſich das Waſſer über eine beſtimmte
Höhe nicht erbeben mögen, eben fo blieb auch das Queckſil—
ber im luftleeren Raume der Torricelliſchen Röhre, oder wie
wir das Inſtrument jetzt nennen: des Barometers und Wet—
terglaſes, in einer gewiſſen, mittleren Höhe ſtehen. Dieſe
große, in all ihren Folgen ſo wichtige Entdeckung wurde im
Jahr 1643 gemacht. | |
Die offenkundige Wahrheit wurde auch diesmal, wie ihr
ſo oft geſchieht, von Vielen bezweifelt. Zwei der tiefſten
Denker jedoch, welche in jener Zeit lebten, Carteſius und
Pascal, hielten ſie der weiteren Prüfung werth. Iſt es
wirklich das Gewicht der aufliegenden Luftſäule, welches das
Waſſer wie das Queckſilber in einem luftleeren Raume empor⸗
hebt, dann muß ſich, je weiter man über die Oberfläche der
tiefen Ebenen oder des Meeresſpiegels hinanſteigt, deſto mehr
jener Druck vermindern: das Queckſilber in der Torricelli⸗
ſchen Leere wird auf dem Gipfel eines hohen Berges eine
niedrigere Stellung einnehmen, als in der Tiefe bei der Mee⸗
reskuſte. Pascal ſchloß fo und veranlaßte im J. 1648 feinen
Schwager Perrier, zu Clermont in der Auvergne, mit einem
Barometer den 4541 Fuß hohen Puy de Dome zu beſteigen,
um dort die Höhe des Queckſilberſtandes zu beobachten.
Perrier that es, und fand dieſen Stand auf dem Gipfel des
Berges um drei Zoll niedriger als unten, am Fuß deſſel⸗
ben. Ein Verſuch im Kleinen, welchen Pascal ſelber an⸗
ſtellte, beſtätigte Daſſelbe, denn ein Barometer, das er mit
ſich auf den Thurm der Kirche St. Jacques hinaufnahm,
247 -
zeigte dort einen um etliche Linien niedrigeren Stand, als
unten auf dem Boden der Straße. Abgeſehen demnach von
dieſen im Verlauf eines Jahres und Monates öfter wieder—
kehrenden, ja an jedem Tage im Kleinen merklichen Ver⸗
änderungen im Stand der Queckſilberſäule unſerer Barome⸗
ter, wovon wir nachher noch weiter reden werden, gieng es aus
dieſen Verſuchen ganz offenbar hervor, daß die Emporhebung
der Fluͤſſigkeiten in dem luftleeren Raume in einem feſt⸗
beſtimmten Verhältniß mit der Höhe, und darum auch mit
dem Gewicht des auf der Erdoberfläche aufruhenden Luft⸗
kreiſes ſtehe. |
Was der atmosphäriſche Druck und feine Wirkung fey,
das zeigte auf eine, der größeren Menge noch einleuchtendere
Weiſe Otto von Guerike, Churbrandenburgiſcher Bür—
germeiſter zu Magdeburg, als er im Jahre 1654 auf dem
Reichstage zu Regensburg vor den Augen Kaiſer Ferdi—
nands III., deſſen Sohnes, des römiſchen Königes FFerdi—
nands IV.) mehrerer hoher Reichsfürſten und einer großen
Zahl des anweſenden Adels fo wie der Schaaren des Bol
kes ſeine Verſuche, mit der von ihm erfundenen Luftpumpe
anſtellte. In ähnlicher Weiſe, wie man durch das Zurück⸗
ziehen eines dicht anſchlieſſenden Stempels das Waſſer aus—
pumpt, zog er die Luft aus einer hohlen metallenen Kugel
heraus, und indem die Einrichtung getroffen war, daß nach
jedem Zuge die Mündung der Saugröhre nach dem Innren
der Kugel geſchloſſen, die herausgezogene Luft aber durch
eine beſondere Oeffnung hinaus gelaſſen werden konnte, ge—
lang es ihm, einen faft vollkommen luftleeren Raum herzu⸗
ſtellen. Der Hauptkörper ſeiner Luftpumpe, deſſen Durch⸗
meſſer eine Magdeburgiſche Elle betrug, beſtund aus zwei
kupfernen Halbkugeln, welche genau in einander gefügt, und
da wo ſie zuſammentraten von einem mit Wachs und Ter⸗
ei
5
pentin getränkten ledernen Ring luftdicht umſchloſſen waren.
An den Halbkugeln waren außen metallene Ringe ange:
bracht, durch welche man Seile ziehen konnte um Pferde
daran anzuſpannen. So lange aus dieſen zuſammen geſetz⸗
ten Kugeln die Luft noch nicht herausgezogen war, konnte
Jeder ohne alle Anſtrengung die Halbkugeln von einander
trennen, wenn aber die inwendige Luft, fo weit als mög—
lich hinaus gepumpt war, dann drängte der äußere Luft⸗
druck die beiden Halbkugeln ſo feſt und kräftig an einander
248
daß mehrere ſtarke Männer zuſammen, ſie nicht mehr von
einander bringen konnten. Man ſpannte an jede Halbkugel
2 Pferde, dann 4 und 6 an, und reizte die Thiere zur
möglichſten Aeuſſerung ihrer Kraft; ſie vermochten es nicht
die beiden Halbkugeln von einander zu ziehen. Erſt als
man 8 und bei einem ſpätern Verſuch mit einer etwas grö—
ßern Kugel 12 Pferde an jede Halbkugel anlegte, da gelang
der 16 und 24 fachen Pferdekraft das was ohne den Luft⸗
druck für die Kraft eines Knaben ausführbar war. Auf
vielfache Weiſe wurden dann, bei den verſchiedenſten For⸗
men und äußeren Einrichtungen welche man der Luftpumpe
gab, die Verſuche wiederholt, die zum Beweis für die auſ⸗
ſerordentliche Kraft des Luftdruckes dienen konnten. Man
erkannte aus ihnen allen, daß jener Druck mit derſelben
Macht auf eine Fläche, etwa von einem Quadratfuß Raum⸗
inhalt einwirkte, als z. B. eine ſchwere metallene Maſſe von
gleichem Flächeninhalt, deren Gewicht über 18 Centner beträgt.
Der Erfinder der Luftpumpe war zu ſeiner Entdeckung
durch die Betrachtung der Torricelliſchen Leere in der Glas-
röhre des Barometers geführt worden. Es erleidet keinen
Zweifel, daß ſchon Torricelli die Veränderung beobachtet
habe, welcher der Stand des Queckſilbers im Barometer,
auch wenn dieſes unverändert an einem Orte ſtehen bleibt,
unterworfen iſt, auch hatte er daraus geſchloſſen, daß die
Schwere, mit welcher die Luft auf die Erdfläche drückt, ſel—
ber veränderlich ſey. Der erſte jedoch, welcher nicht nur den
Zuſammenhang jener Veränderungen mit einem wandelbaren
Zuſtand der Atmoſphäre, ſondern mit den Witterungsverän—
derungen erkannte und der das Barometer zu einem Wetter⸗
glaſe umſchuf, mag dennoch Otto von Guerike geweſen ſeyn,
der ſchon in einem Briefe von 1661 die ſpielende Einrichtung
ſeines Wetterglaſes beſchreibt, in welchem oben auf dem
Queckſilber ein hölzernes Männchen ſtund, das mit dem
Queckſilber ſtieg und wieder ſank und mit ſeinen Fingern
auf die neben angeſchriebenen vermuthlichen Witterungszu⸗
ſtände hindeutete. N i
So hat zwar das Barometer den Schiffern auf dem
Meere, welche es durch das Fallen ſeines Queckſilbers vor
dem nahen Einbruch der Stürme warnte, wie den Bewoh—
nern des Landes fortwährend als eine Art von Witterungs-
verkündiger gedient, faſt noch wichtiger iſt es jedoch durch
249
feine Anwendung zum Meſſen der Höhen geworden, weil hier
feine Angaben ſichrer find als die der bevorſtehenden Witte—
rungswechſel. Die Luft iſt 10467 mal dünner als das
Queckſilber. Wenn man deshalb zwei Barometer, eines un—
ten am Boden, das andre auf dem platten Dach eines Ge—
bäudes, das gegen 73 Fuß höher iſt als die Fläche des Bor
dens, aufſtellt, dann wird man finden, daß der Queckſilber⸗
ſtand in dem Barometer auf dem Dach um eine Linie niedri⸗
ger iſt als in dem andren. Denn 72 äñ Fuß find gleich
10467 Linien; um ſo viel muß die Luftſäule kürzer ſeyn,
wenn ihr Gewicht ſo weit abnehmen ſoll, daß es einer um
nur eine Linie verkürzten Queckſilberſäule gleichkommt. Wenn
nun dieſes Verhältniß in derſelben Art ſich fortſetzte, ſo daß
der Queckſilberſtand ſich bei je 73 Fuß Erhöhung um eine
Linie verkürzte, dann wäre die Berechnung der Bergeshöhen
und der Lage der Ortſchaften über dem Meeresſpiegel etwas
ſehr Einfaches und Leichtes. Aber es kommen dabei noch
andre Punkte in Betracht. Mit den Schichten der Luft, die
man ſich von der Erdoberfläche an bis zur oberſten Gränze
der Atmoſphäre auf einander gelagert denken könnte, verhält
es ſich nicht ſo wie mit den Lagen feſter Körper. Wenn man
z. B. eine gewiſſe Zahl von Steinplatten in der Dicke von
zwei Zollen, davon jede einen Centner wöge, in einer Fracht—
laſtenwage auf einander legte und hierauf eine oder mehrere
ſolcher Platten hinwegnähme, dann würde die auf einander
geſchichtete Maſſe bei dem Hinwegnehmen jeder einzelnen
Platte um einen Centner leichter und zugleich um 2 Zoll
niedriger werden. Aber die Schichten der Luft ſind keine ſol—
chen, in ihrer Größe unveränderlichen Maſſen wie die Stein—
platten, die ſich durch die auf ihnen liegende Laſt nicht zu⸗
ſammendrücken laſſen, ſondern ähnlich hierin den elaſtiſchen
Federn unſrer Ruhebetten oder Polſter läßt fie ſich durch
einen auf fie einwirkenden Druck in engeren Raum zuſam—
menpreſſen und dehnt ſich in demſelben Maaße, in welchem
der Druck nachläſſet, zu einem größeren Raume aus.
Die nämliche Maſſe Luft dem Gewicht nach, welche un—
ten an der Meeresebene, wo der mittlere Barometerſtand zu 28
Zoll 2% Linien (338,8 Linien) angenommen wird, zu einer
Schicht zuſammengedrückt iſt, deren Dicke ſich auf nahe 73
Fuß beläuft, wird ſich oben in einer Höhe, wo der Baro—
meterſtand nur 169,4 Linien (14 Zoll 1 L.) hoch ift, wo
250 |
mithin das Gewicht und der Druck der oberen Luftſäule um
die Hälfte geringer geworden iſt, zu einer Schicht von dop⸗
pelter Dimenſion ausgedehnt haben. Dort in jener Höhe,
welche der des Chimboraſſogipfels nahe gleich kommt, muß
man, um das Barometer wieder um eine Linie fallen zu ſehen,
2 mal 73 d. h. 146 F. hoch ſteigen und könnte man bis zu
einer Höhe hinankommen, wo der Druck der von oben herab⸗
wirkenden Luftſäule nur noch dem Gewicht einer Queckſilber⸗
ſäule von etwa 7 Zoll gleich käme, dann müßte man viermal
73 oder 292 Fuß höher ſteigen, um den Barometerſtand um
1 Linie vermindert zu ſehen. |
Auf dieſe Weiſe wird dann die Höhe irgend eines Punk⸗
tes der Erdoberfläche über dem Meeresſpiegel berechnet. An
dieſem beträgt, wie erwähnt, der Barometerſtand 338,8 oder
genau 338,826 Linien. In einer Höhe von 888 (genauer
886,1) Pariſer Fuß ſteht die Queckſilberſä ule um einen ganz
zen Zoll niedriger (auf 337,8 C.); in einer Höhe von 1807
Fuß um 2, bei 2762 Fuß um 3, bei 3756 Fuß um 4, bei
4790 Fuß um 5 Zoll. So wie ſich 338,8 zu 336,8 oder
335,8 zu 334,8 u. ſ. w. verhält, in demſelben Verhältniß hat
auch die Höhendimenſion der einzelnen Luftſchichten, deren
Gewicht jenem gleicht kommt das eine Schicht Queckſilber von
der Höhe eines Zolles hat, zugenommen: ſie iſt von 888 auf
919, 955, 994, 1035 gewachſen. Bei der Höhe von 21 Zoll
hat ſich der Druck der Luftſäule beiläufig um ein Viertel
ſeines Betrages an der Meeresfläche vermindert, dort miſſet
auch die Ausdehnung der Luftſäule welche dem Gewicht nach
der Queckſilberhöhe von einem Zoll entſpricht über 1100 Fuß.
Um nun einige Beiſpiele zu geben: ſo wird auf dem
Gipfel des Hekla in Island der Barometerſtand 278,8 Linien
(23 Zoll 2,8 L.) gefunden. Die Berechnung lehrt, daß die⸗
ſes dem Luftdruck einer Höhe von nahe 3790 Fuß entſpreche,
denn von Zoll zu Zoll des Queckſilberſtandes hat ſich die
Luftſäule von 888 auf 919, 955, 994, 1035 ausgedehnt und
dieſe Zahlen zuſammen ſummirt geben 3790. In dem Kloſter
auf dem St. Gotthard in der Schweiz iſt der Barometer⸗
ſtand etwas über 21 Zoll 9 Linien, daraus berechnet ſich die
Höhe über dem Meer zu 6400 Fuß; auf dem Gipfel der
Lomnitzerſpitze in den Karpathen iſt der Barometerſtand 20
5 2,8 Linien, daraus ergiebt ſich eine Höhe von 8180
uß.
251
Wegen der nach oben immer mehr zunehmenden Dünne
der Luft geſchieht es auch, daß ein kleiner Ballon aus luft—
dichtem Stoffe den man unten am Meeresniveau nur halb
mit Luft füllte, fo daß feine Wände ganz ſchlaff und zuſam⸗
mengefallen ausſahen, wenn man ihn mit ſich auf eine be—
deutende Höhe hinaufnimmt, auf einmal, durch die Feder—
kraft der in ihn eingeſchloßnen Luft ganz anſchwillt, und ſich
zu einer ſolchen Volle ausdehnt, daß er wie eine zugebundene
Blaſe, aus der man die Luft ſo gut als möglich mit den
Händen herausgedrückt hatte unter der Glocke der Luftpumpe,
zerplatzt. Ein Umſtand der die Luftſchiffer manchmal in Le⸗
bensgefahr gebracht hat. Denn welche ungemeine Stärke die
Federkraft der zuſammengedrückten Luft habe, das lehrt uns
die Wirkung unſerer Windbüchſen, bei denen es nur die
ſtark zuſammengepreßte, in der angeſchraubten Hohlkugel be-
findliche Luft iſt, welche, wenn man ihr plötzlich den Aus—
gang in den Flintenlauf verſtattet, die Kugel mit ſo großer
Macht und Schnelligkeit fortſchleudert. Ä
In einer Luft welche fo dicht iſt als die am todten
Meere, deſſen Spiegel um mehr als 1200 Fuß niedriger
liegt als der des Mittelmeeres, wo mithin der mittlere Ba—
rometerſtand nahe gegen 30 Zoll beträgt, fühlen wir kein
Unbehagen, ja wir befinden uns meiſt bei einem hohen Ba—
rometerſtand beſonders wohl. Selbſt in der künſtlich verdich—
teten Luft des Windgewölbes eines Hochofens, wo der Druck
vielleicht den Druck der Luftſäule am Meere um das Dop-
pelte und Dreifache übertraf, fühlten zwei Beobachter, welche
ſich eine Stunde lang darin einſchließen ließen, keine andre
Unbequemlichkeit als einen Druck von außen her auf das
Trommelfell des Ohres und dieſelbe Erfahrung machten Per—
ſonen die unter einer Taucherglocke in ſehr verdichteter Luft
ſich befanden. Der Schall iſt in einer ſolchen dichten Atmo—
ſphäre ganz überaus verſtärkt; die Ausdünſtung des Körpers
etwas zurückgehalten.
Ungleich größer ſind, abgeſehen von der mit der Höhe
zugleich zunehmenden Kälte der Luft, jene Unbequemlichkei⸗
ten welche wir bei einem längern Verweilen in der verdünn—
ten Luft der höheren Regionen empfinden. Den ungünſtigen
Einfluß ſolch dünner Luft beweiſt ſchon die kurze Lebensdauer,
das bleiche Ausſehen, die Kränklichkeit, das ſchwere Heilen
von Wunden bei den Bewohnern des Hospitiums auf dem
252
St. Bernhard, deſſen Höhe 8460 Fuß, der mittlere Baro⸗
meterſtand wenig über 20 Zoll beträgt. Jenſeits der Höhe
von 1½ bis 2 Meilen würde kaum noch ein Thier zu leben
und zu athmen vermögen, in einer Höhe von etwa 5 Meilen
über der Meeresebene hat die Verdünnung der Luft einen
Grad erreicht, den wir auch durch unſre beſten Luftpumpen
nicht herbeiführen können. ;
Was übrigens die Bewohnbarkeit der Höhenregionen der
atmoſphäriſchen Luft betrifft, ſo hat hierauf auch die Wärme
einen nicht unbedeutenden Einfluß. Da, wo (zwiſchen den
Wendekreiſen) das ganze Jahr hindurch eine höhere Wärme
herrſcht, muß durch die ausdehnende Kraft der Wärme (davon
ſpäter) die Luftſäule höher ſeyn als in einem kälteren Klima,
obgleich der Druck (die Geſammtſchwere) der Luft ſich gleich
bleibt. Deshalb ſpüren die Bewohner des hohen Thales
von Quito nichts von den Unbequemlichkeiten der Bewohner
des St. Bernhards-Hospitiums, obgleich ihr Aufenthaltsort
8900 Fuß über dem Meere gelegen, der Barometerſtand un⸗
ter 20 Zoll iſt. Denn Quito liegt faſt unter dem Aequator,
der St. Bernhard ſchon jenſeits des halben Weges vom
Aequator nach dem Nordpol, im 47. Grad der nördlichen
Breite. a
Man hat ſich bemüht die Frage zu beantworten: wie
hoch der Luftkreis und wo feine äuſſerſte Gränze fey? Wenn
man nach dem vorhin (S. 250) erwähnten von Mariotte auf⸗
geſtellten Geſetz die Höhe der einzelnen Luftſchichten von glei⸗
chem Gewicht berechnet, dann würde z. B. jene Schicht, in
welcher der Barometerftand nur noch 1 Zoll beträgt / d.
h. 28 mal dünner und zugleich ihre Höhe von jenem Gränz-
punkte an, wo der Stand des Queckſilbers noch 2 Zoll bes
trug, ſich auf 28 mal 888 d. h. auf 24864 Fuß belaufen,
während bei der nächſt vorhergehenden Schicht, in welcher
der Barometerſtand zwiſchen 2 — 3 Zoll war, dieſe Höhe
nur 14 mal 888 oder 12432 Fuß betrug. In demſelben Ver⸗
hältniß würde dann, ſo wie es ſich jetzt nicht mehr um Zoll
ſondern nur um Linien handelte, die Höhe der einzelnen
Luftſchichten ſich ſteigern. Denn ſo wie die unterſte Luftſchicht
am Spiegel des Meeres eine ſolche Dichtigkeit hat, daß man
nur 73 Fuß hoch ſteigen muß, um das Barometer um 1
Linie, von 338 auf 337 finfen zu ſehen, hat ſich dagegen
die Dichtigkeit der Luft, da wo der Barometerſtand nur noch
253
2 Linien miſſet, bis auf °°%, oder den 169. Theil vermin-
dert und zugleich die Höhe jener Schicht auf 169 mal 73,
d. h. 12337 geſteigert. Ja dieſe Höhe beträgt für jene näch⸗
ſte Schicht, an deren Gränze die Queckſilberſäule nur noch
1 Linie hoch ſtünde 338 mal 73 oder 24528 und ſo würde
ſich in ähnlicher Weiſe die Dichtigkeit der Luftſchichten vers
mindern, ihre Höhe ſich ſteigern, auch da wo das Gewicht
der noch übrigen Luftſäule nur auf Hunderttheile, ja auf
Zehntauſendtheile einer Linie des Queckſilberſtandes ſich be—
liefe. So wie wir es deshalb mit all unſrer Mühe kaum
dahin bringen werden, in dem Hohlgefäß unſrer Luftpumpen
einen vollkommen luftleeren Raum darzuſtellen, ſondern die-
ſer auch nach lang fortgeſetztem Auspumpen immer noch mit
einer ganz überaus verdünnten Luft gleichmäßig erfüllt bleibt,
fo können auch unſre Berechnungen über den Aufferft mögli-
chen Grad der Verdünnung und mithin über die oberſte
Gränze unſres Luftkreiſes nur ſehr ſchwer zu einem ſichren
Ende kommen. Doch iſt es wahrſcheinlich, daß jene Gränze
da ſey, wo die eigenthümliche Federkraft oder Elaſtizität der
Luft mit ihrer Schwere in ein vollkommenes Gleichgewicht
tritt, welches der Berechnung nach unter dem Aequator in
einer Höhe von 27½ in der Nähe der Pole von 27/0
Meile über der Erdoberfläche ſtatt finden ſoll. In jener
Höhe müßte jedoch die Luft ſo dünn ſeyn, daß ſie keiner für
unſer Auge merklichen Erleuchtung durch die Sonnenſtrahlen
fähig wäre, denn, wie wir dies aus den Berechnungen wiſ—
ſen, die uns die Morgen- und Abenddämmerung an die
and giebt, die Höhe, bis zu welcher die Luft jenen körper-
lichen Beſtand hat, bei welchem ſie noch ein ſchwaches
Sonnenlicht auf die nächtliche Erdfläche herunterſtrahlen kann,
gehet nicht ganz bis zu 10 geographiſchen Meilen hinan.
Schon dort käme die Dichtigkeit der Luft, wenn anders ihre
Abnahme überall dem oben erwähnten Mariotteſchen Geſetz
folget, kaum noch dem 5000ten Theil der Dichtigkeit der
untren Luftſchichten gleich. N
An jenem Drucke, den die geſammte Luftſäule am Ni⸗
veau des Meeres auf die Erdfläche ausübt und welcher dem
Gewicht einer Queckſilberſäule von 28 Zoll gleich kommt,
haben nicht nur die beiden Hauptgasarten der Atmoſphäre,
Stickſtoffgas und Sauerſtoffgas Theil, davon das erſtere einer
Queckſilberſäule von mehr denn 21%, das letztere von faft
——
254
6 ½ Zoll entſpricht, ſondern es kommen dabei noch zwei
andre luftartige Subſtanzen in Betracht, die ſich in großer
Allgemeinheit den beiden Hauptgasarten beigemengt finden.
Die eine davon iſt der Waſſerdampf, welcher im Mittel ge⸗
gen vierzehn Tauſendtheile, das andre die Kohlenſäure, wel⸗
che ein Tauſendtheil des atmoſphäriſchen Luftgemenges aus⸗
macht. Der Druck des erſteren kommt indeß kaum drei Sie⸗
bentheilen, denen der letzteren etwa dem vierzigſten Theil
eines Zolles der Barometerhöhe gleich. Doch ſtehen dieſe
Verhältniſſe nirgends ſo feſt, als das Verhältniß der Men⸗
gen des Sauerſtoffes und Stickſtoffes. Namentlich iſt das
kohlenſaure Gas wegen ſeiner großen Dichtigkeit und Eigen⸗
ſchwere keiner ſchnellen und gleichmäßigen Verbreitung fahig,
ſondern es häuft ſich leicht da, wo es durch Verbrennen und
die Gährung der Körper oder durch das Athmen der Thiere
entſtanden iſt, unverhältnißmäßig an, und auch in andren
Regionen der Atmoſphäre bemerkt man, daß im Allgemeinen
bei trocknem Wetter der Gehalt an jener Gasart zu-, bei feuchtem
abnimmt, daß er an windſtillen Tagen, ſo wie über dem Flach⸗
land und über dem Meere geringer iſt als bei windigem Wetter
ſo wie über bergigem Feſtlande. Noch größeren Abweichun⸗
gen iſt die Menge des Waſſerdunſtes unterworfen, der ſich
in der Atmoſphäre findet, denn dieſe hängt noch viel mehr
von der feuchten oder trocknen Beſchaffenheit des Wetters
oder der Lage eines Landſtriches ab. i
Mit dieſer Veränderlichkeit der Menge des atmoſphäri⸗
ſchen Waſſerdunſtes ſtehet denn auch ein Theil jener täglichen
und jährlichen Veränderungen in Zuſammenhang, welche am
Stand des Barometers beobachtet werden. In den wärmſten
Monaten des Jahres, im Juli und Auguſt, wird mehr Waſ—
ſerdunſt gebildet und in die Säule der beiden Hauptgasarten
eingemengt als im Winter, ſo daß hierdurch der Geſammt⸗
betrag des Luftdruckes im Sommer um 4 bis 6 Linien, im
Winter nur um I bis 2 Linien vermehrt wird. Aber nicht
nur in den verſchiedenen Zeiten des Jahres, ſondern in de—
nen jedes einzelnen Tages iſt der Betrag des Dunſtgehaltes
und ſeines Gewichtes einem Wechſel ausgeſetzt. Am Mor⸗
gen, bei Sonnenaufgang, wenn die Abkühlung der Luft
ihren höchſten Grad erreicht, iſt die Verdunſtung am gering⸗
ſten, ſie nimmt jedoch dann einige Stunden nach Sonnen⸗
aufgang bis gegen 8 oder 9 Uhr zu, nimmt noch vor Mittag
255
wie in den heißeſten Nachmittagsſtunden wieder ab, vermehrt
ſich jedoch von neuem am Abend, und wird gegen 10 Uhr
am bedeutendſten. Statt dieſes zweimaligen Steigens und
Fallens des Barometerſtandes durch den vermehrten oder ver
minderten Dunſtdruck, zeigt ſich in der kalten Jahreszeit nur
einmal täglich ein ſolches Fallen, früh zwiſchen 6 und 8,
und ein Steigen um 4 Uhr Nachmittags, wo die Dunftbils
dung am ſtärkſten iſt. Doch find dieſe täglichen Verände⸗
rungen des Barometerſtandes nur ſehr wenig bemerkbar, da
fie im Sommer nur ½ im Winter nur Y,, Linie austragen.
Ueberhaupt find dieſes zunächſt nicht jene Barometerän⸗
derungen, aus denen ſich die etwa bevorſtehenden Witterungs—
wechſel beſtimmen laſſen, ſondern dies gilt nur von ſolchen,
welche von einer Störung des Gleichgewichtes der Luftſäu—
ren, die über verſchiednen Punkten der Erdfläche ſtehen, ihren
Urſprung nehmen. Das Gleichgewicht wird vornämlich durch
die verſchiedenen Grade der Erwärmung geſtört. Die wär—
mere Luftſäule dehnt ſich zu einer größeren Hohe aus und da ihr
oberes Ende hierdurch ſeinen Stützpunkt in der nachbarlich
angränzenden Luftmaſſe verliert, ergießt es ſich über dieſe
niedreren kälteren Regionen, die Säule ſelber aber wird hier—
durch leichter, ihr Druck auf die Erdfläche vermindert. In
die dünner gewordne, wärmere Luftſchicht ſenken ſich dann,
nach dem Geſetz des Gleichgewichtes, die dichteren, kälteren
Luftmaſſen herein und ſo entſteht namentlich ein oberes Strö—
men der Luft der wärmeren Zone gegen die kältere und ein
unteres der Luft der kalten Zone zur warmen hin. Der letz⸗
tere kommt aus einer Gegend der Erde, wo die Axendrehung
derſelben (wovon ſpäter) nur wenig merklich iſt; je mehr er
deshalb den Gegenden der Wendekreiſe ſich nahet, wo die
Axendrehung den höchſten Einfluß hat, bleibt er gegen dieſe
von Weſt nach Dit gehende Bewegung zurück und wird zum
herrſchenden Oſtwind. Eben ſo wie es uns geſchieht, wenn
wir in einem vorher ruhenden oder langſam fahrenden Was
gen nach hinten, zur Lehne zurückſinken, ſobald das Fuhrwerk
plötzlich in ſchleunige Bewegung geſetzt wird.
Eine in lebhafter Fortbewegung begriffene Luft übt nach
unten einen geringeren Druck aus als vorher, im Zuſtand
der Ruhe, aus demſelben Grund nach welchem die durch eine
enge Röhre hindurchſtrömende ſtark zuſammen gepreßte Luft
ihre Spannkraft weniger auf die Wände der Röhre als nach
256
der Richtung hin wirken läſſet, welcher die Strömung folgt.
Darum ſinkt der Barometerſtand öfters bei und vor ſtarkem
Winde. Die wechslenden Luftſtrömungen, als eine Folge
des verſchiedenen Wärmegrades, der ihre Bewegung bewirkte,
geben dann auch zu den wäßrigen Niederſchlägen Veranlaſ⸗
ſung, die ſich in der Atmoſphäre bilden und aus ihr zum
Boden herabſenken. Der Waſſerdunſt erhält ſich in ſeiner
luftartigen Form nur durch jene Spannkraft, welche ihm die
Wärme mittheilt. Das gasartige Waſſer unfrer Atmoſphäre
verräth ſich an keinem unſrer Werkzeuge durch das wir die
Feuchtigkeit der Luft meſſen, es kann eine große Menge des
Waſſerdunſtes im Luftkreis vorhanden ſeyn und den Druck
feiner Säule, wie uns das Barometer lehrt, ſehr augenfäl-
lig vermehren und dabei kann dennoch zugleich die höchſte
Trockenheit herrſchen. Wenn aber eine warme Luftmaſſe,
deren Wärme hinreichend war um den Waſſerdampf mit wel⸗
chem ſie bis zur Sättigung erfüllt iſt, die zur Erhaltung
ſeiner Luftform nöthige Spannung zu geben, mit einem kal⸗
ten Luftſtrom vermiſcht und hierdurch abgekühlt wird, dann
verliert ein mehr oder minder großer Theil ihres Waſſerdun⸗
ſtes ſeine Federkraft, er geſtaltet ſich zu kleinen Tröpfchen,
welche entweder in der Luft ſchweben bleiben und nur eine
Trübung des Himmels verurſachen, oder, wenn ſie eine be—
deutendere Größe und Schwere erreicht haben, als Regen
zum Boden fallen. Uebrigens giebt ſich das Verſchwinden
der nöthigen Spannkraft des Waſſergaſes alsbald durch ein
Feuchtwerden der Luft zu erkennen, und im Ganzen erreicht
dieſer Zuſtand der Feuchtigkeit im Winter ſeinen höchſten
Grad, iſt im April am geringſten und nimmt von da wie⸗
der zu, ſo wie an jedem einzelnen Tage die Luft während
den kühlſten Morgenſtunden am feuchteſten iſt.
Wenn das Waſſer beim Sieden in die Gasform ſeines
Dampfes übergeht, dehnt es ſich auf den 1700 fachen Raum
aus, wird mithin um eben ſo viel leichter. Die atmosphä⸗
riſche Luft dehnt ſich bei der Siedehitze nur ſo weit aus, daß
ſie 1050 mal leichter wird als das Waſſer, deſſen Dampf
mithin noch immer um ein Merkliches leichter bleibt, indem er
nur %s des Gewichtes der umgebenden heißen Luft hat. Aber
der Waſſerdunſt bildet ſich nicht nur in der Siedehitze, ſon⸗
dern auch bei einer Kälte, welche weit unter dem Gefrier⸗
punkt iſt; als Eis und als Schnee iſt das Waſſer noch bs
er⸗
257
Verdampfung unterworfen. Der Waſſerdunſt, der fich uns
ter ſolchen niedrigen Temperaturen bildet, hat zwar nicht
jene Spannkraft, welche ihm die Siedehitze mittheilt; doch
bleibt das Verhältniß ſeiner Dichtigkeit zur Dichtigkeit oder
Eigenſchwere der eben ſo kalten Luft daſſelbe: er wird um drei
Achttheile leichter gefunden als dieſe.
Waſſerdunſt bildet ſich ſelbſt im luftleeren Raume der
Luftpumpe und wenn unſre Erde ihrer luftartigen Atmoſphäre
beraubt wäre, würde ſich aus dem Dampf ihrer Gewäſſer
eine Dunſthülle um dieſelbe erzeugen. Dennoch zeigt ſich das
Entſtehen der Waſſerdämpfe durch Erhitzen des Waſſers:
das Sieden, in einem Verhältniß der Abhängigkeit zu dem
Druck der Atmoſphäre. Während an der Meeresebene eine
Erhitzung bis zu 80 Grad Reaumur (davon weiter unten)
nöthig iſt, um das Waſſer kochend zu machen, reicht in der
>
bewegen, bei jeder Linie, um welche der Barometerſtand fich
verändert um nahe 100 Pfünd ſich vermehre oder vermindere.
In einer Höhe von 7000 Fuß, wo das Waſſer in den Pum-
pen, die man dort anlegt, ſtatt 32 Fuß nur 24 Fuß hoch
ſteigt, der mittlere Barometerſtand nur 21 Zoll beträgt, hat
ſich auch der Luftdruck auf die Außenfläche des Menſchenlei—
bes um ein Viertel ſeiner Stärke vermindert und da wo das
Waſſer in den Pumpen nur noch 16 Fuß emporſteigt, in
der Höhe von 17000 Fuß, hat der kühne Gebirgsbeſteiger,
17
258
der in dieſe Höhe vordrang, nur noch einen halb ſo großen
atmoſphäriſchen Druck auf ſich ruhen, als der Bewohner der
Meeresküſtenebene. 97 73 dn
Dennoch gewährt eine ſolche Verminderung des Luftdruckes
dem Leben ſelber, ſo wie all ſeinen Bewegungen keineswegs
eine Erleichterung, ſondern (nach S. 252) vielmehr eine Er⸗
ſchwerung. Unſre eigne leibliche Natur iſt von Luft durch⸗
drungen und ihren Beſtandtheilen nach ein Weſen der Luft,
darum wirkt ſie dem äußren Druck der Atmoſphäre mit einem
Gegendruck der eigenthümlichen Federkraft entgegen, wodurch
ſie ihm bis zu einer gewiſſen Gränze das Gleichgewicht hält.
Dieſe natürliche Gränze reichet bis dahin, wo die verdünnte
Luft noch jene Gewichtsmenge des Sauerſtoffgaſes enthält,
welche bei jedem Athemzug dem Blute zur Erhaltung ſeiner
Lebenskräftigkeit nöthig iſt (n. C. 26). Da wo das Ath⸗
men mit Beſchwerde vor ſich geht, if der zuſammenhaltende
Druck von außen zu einem Grad vermindert, bei welchem
das Gleichgewicht zwiſchen den luft- oder tropfbar flüſſigen
und feſten Theilen des organiſchen Leibes nicht mehr beſtehen
kann; die Federkraft der erſteren ſteigert ſich ungehemmt bis
zu einem ſolchen Uebermaaße, daß ſie die Hüllen, darein das
Flüſſige geſchloſſen iſt, allenthalben durchdringt und zuletzt
ihre Zerſtörung bewirkt. Der atmoſphäriſche Druck gehört
für alle organiſche, aus flüſſigen und feſten Theilen zuſam⸗
mengeſetzte Körper, zu dem ihnen angemeſſenen Loos des Le⸗
bens und des geſunden Fortbeſtehens. Ä
Geht es doch ſelbſt im Reiche des Geiſtigen auf ähnliche
Weiſe zu. Das Loos welches der Schöpfer jeder Menſchen⸗
ſeele auferlegte, iſt eine Schule, welche bald da, bald dort
von auſſen hemmend und beſchränkend wirkt, wie der atmo—
ſphäriſche Druck auf die Federkraft der leiblichen Dinge. Das
Gemüth bleibt bei all dieſem hemmenden Druck fröhlich und
geſund, ſo lange in ihm der freudig machende Geiſt deſſelben
Schöpfers der den äußren Druck gab, lebt und waltet, ja,
der innre Gegendruck des Geiſtes verſtärkt ſich in demſelben
Maaße, in welchem die Laſt von außen zunimmt. Würde
die Seele des Menſchen auf einmal all den Regungen und
Strebungen ihrer Natur allein überlaſſen, ohne jenen Ein⸗
fluß von oben, der ihre Wege ordnet und all ihre Regungen
zuſammenfaſſet, dann würde bald ihr ganzes Thun ein Mü⸗
hen um Nichts ſeyn, ihr ganzes Weſen der Nichtigkeit an⸗
259
heimfallen. Aber nicht nur ober und auſſer ihr, auch in ihr,
in der höheren Sphäre des Erkennens waltet, ſo lange die
Seele geſund iſt, gleich dem luftartig Flüſſigen, das in dem
Gewebe ihres Leibes enthalten iſt, jener Geiſt, der das Auf-
ſteigen des gröberen, thieriſchen Weſens in das ihm zugehb⸗
rige, höhere Herrſchergebiet verhindert. Wo dieſer innre
Herrſcher ſein Wirken aufgiebt, da geſchieht in dem Weſen
der Menſchenſeele etwas Aehnliches als in der Röhre, darin
durch den aufwärts gezogenen Stempel ein luftleerer Raum
erzeugt wurde, in welchen jetzt, von untenher, das Waſſer
aus dem Sumpf der Tiefe hinanſteiget: das thieriſch Sinn⸗
liche ſetzt ſich dann an die Stelle des geiſtig Menſchlichen.
29. Die Wärme.
Wir lernen hier einen andren Gehülfen des Lebens am
Bau der ſichtbaren Leiblichkeit kennen, ungleich wichtiger und
von allgemeinerem Einfluß als der zuſammenhaltende Druck
der Atmoſphäre, dennoch aber häufig mit dieſem Drucke, ſo
wie mit der Wirkſamkeit der Luftarten, welche ihn erzeugen,
Hand in Hand verbunden. Dieſer mächtige Gehülfe am
Bau der irdiſchen Sichtbarkeit und an ſeiner Erhaltung iſt
die Wärme. Was wäre die Welt der leiblichen Dinge,
wenn nicht das Licht, mit väterlicher Kraft, in ihr das Leben
weckte und die mütterliche Wärme dieſes Leben nährte und
hegte! Vor Allem zwar, kommen der Erde das Licht wie
die Wärme aus der allgewaltigen Mitte ihres Weltganzen,
aus der Sonne, dennoch enthält ſie auch in dem Innren
ihrer Gebirgsmaſſen, in den brennenden Vulkanen und Naph⸗
thaquellen, manchen natürlichen, niemals verlöſchenden Herd
des Feuers.
Bei Baku, am Caspiſchen Meere, wo das Erdöl an
verſchiedenen Stellen dem Boden entquillt, und wo in der
Nähe dieſer Quellen aus jedem Loche, das man in die Erde
gräbt, ein Dampf herausſteigt, der ſich (nach S. 205) an
der genäherten Flamme eines Lichtes entzündet und in unver⸗
löſchlicher Ausdauer fortbrennt, bis man ihm, etwa durch
Aufſchütten von Erde, den Zutritt des atmoſphäriſchen Sauer⸗
ſtoffgaſes abſchneidet, finden ſich noch einzelne, kleine Ges
meinſchaften der alten perſiſchen Feueranbeter. Dieſen er⸗
ſcheint das Feuer, mit ſeinem Licht und ſeiner Wärme, nach
17
260
einer Verirrung des fleiſchlichen Sinnes, nicht nur als ein
Sinnbild der allbelebenden und erhaltenden Kraft des Schö⸗
pfers, ſondern als das Weſen dieſes Schöpfers ſelber, vor
dem ſie ſich beugen. |
In der That es war ein wichtiger Zuwachs zu dem
Herrſchergebiet des Menſchen, über die ihn umgebende Natur,
als ihm die Macht in ſeine Hand gegeben wurde, das Feuer,
das ihm die Sonne während des Tages entgegenſtrahlt, auch
bei Nacht hervorzurufen, und daſſelbe, wo und wie er wollte,
in ſeine Dienſte zu nehmen. War die Flamme einmal ent⸗
zündet, dann ließ ſie ſich leicht durch das Hinzuthun eines
brennbaren Stoffes erhalten, am leichteſten und ohne alles
menſchliche Bemühen da, wo der brennbare Stoff, wie bei
den Quellen des Erdöles, oder wie über den Lagern des
Steinſalzes von ſelber aus der Tiefe hervordrang.
Wir wollen uns nicht fragen, wer der erſte Erfinder des
irdiſchen Feuers war. Noch jetzt und zu allen Zeiten ent⸗
zündet ſich ein Feuer am andren; fo könnte man wohl ſa⸗
gen: die Erfindung des Feuers gieng nothwendig und uran⸗
fänglich aus der Natur des menſchlichen, erkennenden Geiſtes
hervor, der ſelber vom Weſen des Lichtes iſt, oder, mit
andren Worten: der Gebrauch des Feuers im Haushalte des
Menſchen iſt ſo alt als dieſer Haushalt ſelber. Die erzählende
Geſchichte, welche nur die äuſſerlich ſichtbare That des Le—
bens, nicht den innren Anfang derſelben zu beſchreiben hat,
nennt uns Namen der erſten Erfinder oder Beherrſcher des
Feuers. Ein Blitz, fo berichten einige Schriftſteller des Al—
terthumes, habe einen Baum in Flammen geſetzt, oder ein
Sturmwind habe dürre Bäume eines Waldes ſo lange und
ſo ſtark gegen einander gerieben, daß ihr Holz erhitzt und in
Brand gerathen ſey, und die einmal entzündete Flamme ſey
dann, wie ein Heiligthum, durch unausgeſetzte Wachſamkeit
und Pflege erhalten worden. Selbſt ein durchſichtiger, auf
beiden Flächen halbrund erhabener Kryſtall, wie dergleichen
unter den abgerundeten Rollſteinen der Gebirgsſtröme hin
und wieder gefunden werden, könne, nach der Meinung
Andrer, als ein natürliches Brennglas benutzt worden ſeyn,
um dadurch, in den Strahlen der Sonne, das erſte Feuer
des menſchlichen Herdes zu entzünden.
Noch jetzt verſchaffen ſich einige Völker, denen die Kün⸗
ſte der Europäer unbekannt ſind, das Feuer für ihren Haus⸗
261
halt auf dieſelbe Weiſe, wie dies ein uralter Herrſcher von
China, der Sage nach, ſeinem Volke lehrte: durch Zuſam—
menreiben von dürren Hölzern, ſo etwa, daß das eine in
eine Vertiefung des andren hineingeſteckt und dann ſchnell
und kräftig darin herumgedreht wird. Jeder ſchnelle, ſtarke
Druck, jedes Aneinanderſchlagen feſter Körper, jede heftige
Bewegung, dies mußte ſchon den älteſten menſchlichen Be—
wohnern der Erde als Thatſache der Erfahrung in die Sin—
nen fallen, ruft ein Erſcheinen der Wärme und hiermit zus
gleich öfters auch des Lichtes hervor.
Die Entdeckung, welche, wie ſo eben erwähnt, ein Herr—
ſcher von China, der Sage nach, machte, daß ein Stück
Holz, in eine Höhlung geſteckt und in dieſer raſch umgedreht,
bis zur Entflammung ſich erhitzen könne, hat, zu ſeinem
Schrecken, bei uns ſchon mancher Fuhrmann gemacht, wenn
er feine Wagenaxen nicht hinlänglich geſchmiert hatte und
nun die Reibung ſo ſtark wurde, daß das erhitzte Holz—
werk der Räder in Flammen gerieth. Eben ſo können ſich
die Zapfen ſchnell und ſtark bewegter Maſchinenräder bis
zum Glühen erhitzen. Ein Radſchuh der beim Herabfahren
von einem hohen Berge dem Druck des Wagens und der
Reibung am Boden ausgeſetzt war, wird dabei, eben ſo wie
ein Bohrer oder eine Säge bei einem kräftigen, länger an—
haltenden Gebrauche, ſehr ſtark erhitzt. Die Wärme die beim
Reiben erzeugt wird, hängt nicht von der Beſchaffenheit der
Körper ab, welche dabei gewählt werden; Platten von Me—
tall, von Marmorſtein und von Holz werden bei gleich ſtarkem
Druck und bei gleich ſtarker Heftigkeit des Zuſammenbewegens in
faſt gleichem Maaße erhitzt. Auch nimmt die Wärme, welche zwei
aneinander geriebene Körper von ſich geben und rings um ſich her
verbreiten, nicht ab, man mag den Verſuch noch ſo oft und in der
kürzeſten Zeit nach einander wiederholen. Es ſind hierbei
offenbar nicht die Körper ſelber, welche, etwa ſo wie ein
naſſer Schwamm beim Zuſammendrücken das Waſſer ſich
auspreſſen läſſet, die Wärme aus ihrem Innren herauslaſſen,
ſondern es iſt die äuſſere Bewegung welche ſich den einzelnen
Theilen der Körper bis in ihr Innerſtes hinein mittheilt und
hier jene eigenthümliche Anregung und Umſtimmung der wech—
ſelſeitigen Anziehung der kleinſten Theile bewirkt, welche wir
Wärme nennen. g
Wenn man eine plattgedrückte Stange von reinem Zinn
Zu
262
mit den Fingern biegt, vernimmt man dabei einen eigen:
thümlichen Ton: das ſogenannte Schreien des Zinnes. Wenn
man das Hin- und Herbiegen der Stange länger fortſetzt,
dann wird dieſelbe warm und immer wärmer, ſo daß man
zuletzt ihre Hitze nicht mehr in der Hand vertragen kann.
Durch das Biegen wurde der Zuſammenhang der einzelnen
Theile geſtört und die veränderte Stimmung, im Verhältniß
jenes Zuſammenhanges, hat ſich von einem Punkt zum and⸗
ren der ganzen Maſſe der Metallſtange mitgetheilt.
Wenn man in der vorhin erwähnten Weiſe zwei Metall⸗
oder Stein- oder Holzplatten übereinanderlegt und dann die
eine auf der andren ſtark und ſchnell bewegt, mithin eine
Reibung erregt, dann könnte es ſcheinen, daß die Erzeugung
der Wärme ganz in ähnlicher Weiſe vor ſich gehe als bei
dem Hin⸗ und Herbiegen der Zinnſtange. In den beiden
auf einander gedrückten Körpern entſteht eine gegenſeitige
Anziehung der genäherten Flächen, ein Verhältniß des Zu⸗
ſammenhanges ihrer Theile, deſſen Spannung durch das
Reiben in Anregung und vibrirende Bewegung, gleich der
angeſpannten, tönenden Saite verſetzt wird. Selbſt der Um⸗
ſtand, daß unter zwei gegen einander geriebenen Platten
jene mehr erwärmt wird, deren Oberfläche geritzt, als die
andre, deren Oberfläche glatt iſt, ließe ſich vielleicht ſchon dar:
aus erklären, daß die erzeugte Wärme von den Unebenheiten
der erſteren Platte wie die Elektrizität von den Metallſpitzen
(davon ſpäter) leichter aufgenommen wird.
Jaenes vibrirende Bewegen, welches durch das Reiben
der Finger an den Glasglocken einer Harmonika hervorgeru—
fen wird und durch die Anregung der Luft zu gleicher Bes
wegung bis zu unſrem Ohre ſich fortpflanzt, wo wir daſſelbe
als Ton vernehmen, kann auch durch einen Stoß oder Schlag
an die Glas- ſo wie Metallglocke erzeugt werden. Denn der
Stoß wirkt in gleicher Art verändernd auf die Spannung
des Zuſammenhaltes der Körpertheile ein, als das Reiben.
Auf dieſelbe Weiſe wird auch die Wärme durch Stoß und
Schlag erzeugt. So kann man eine Eiſenſtange durch das
bloſe Hämmern auf einem Amboß bis zum Gluͤhen erhitzen.
Wenn man den harten Feuerſtein mit Stahl zuſammenſchlägt,
dann entſteht eine ſolche Hitze, daß die kleinen Theilchen des
Stahles, welche der Schlag von dieſem abriß, nicht nur glü⸗
hend werden, ſondern ſchmelzen, denn die dunklen Stäub⸗
263
chen, welche man dabei aufſammlen kann, erſcheinen unter
dem Vergrößerungsglas als geſchmolzne Stahlkügelchen. Beim
Aneinanderſchlagen von zwei Steinen ſind es abgeſprungene
Theilchen der Steine, welche glühend werden. Das Percuſ⸗
ſionspulver entzündet ſich durch einen einzigen, kräftigen
Schlag; die Knallſalze ſchon bei dem geringſten Stoße, eben
ſo wie die brennbare Maſſe an unſren Zündhölzchen, bei der
Reibung derſelben. 97770
In den meiſten jener Fälle, in denen die Wärme durch
einen Stoß oder Druck erzeugt wird, bemerkt man deutlich,
daß der Rauminhalt der geſchlagenen oder gedrückten Körper
ſich verringert habe. Eine Kupferplatte die zur Fertigung
von Geldſtücken benutzt wurde, zeigte nach dem erſten Druck
des Stempels am Münzprägeſtock eine Wärmeerhöhung von
faft 9%, nach dem zweiten von 14% Grad. Zugleich aber
hatte fie auch eine Verminderung des Rauminhaltes erfah-
ren, denn ihre Dichtigkeit ſo wie ihre Eigenſchwere war im
Vergleich mit der Eigenſchwere des Waſſers von 8,86 auf
8,91 geſtiegen. Eine Silberplatte, die man auf dieſelbe Weiſe
dem Münzprägeſtock ausſetzte, erhitzte ſich nur um 8 Grad,
ihre Verdichtung hatte aber auch nur von 10,467 auf 10,484
zugenommen. Das Gold verändert unter dem Drucke des
Prägſtockes ſeinen Rauminhalt noch weniger als das Silber,
wird aber dabei auch noch weniger erwärmt als dieſes. Da⸗
gegen wird bei dem raſchen Zuſammendrücken der Luft in der
Röhre eines ſogenannten Luftfeuerzeuges bis etwa zum fünf-
ten Theil der anfänglichen Ausdehnung eine ſolche Hitze er—
zeugt, daß ein darinnen liegender Feuerſchwamm ſich entzün⸗
det und auf ähnliche Weiſe kann man durch das Zuſammen⸗
drücken aller reinen Gasarten oder bloſen Gasgemenge einen
ſo hohen Wärmegrad hervorrufen, daß ſelbſt leicht flüſſige
Metallgemenge darin zum Schmelzen kommen.
Namentlich bei dieſen luftartigen Flüſſigkeiten ſtehet die
Erzeugung der Wärme, durch das Zuſammenpreſſen, in näch⸗
ſter Beziehung mit ihrer Federkraft. Das Waſſer hat eine
anz überaus geringe Federkraft; auch durch den ſtärkſten Druck
laßt ſich daſſelbe nur wenig verdichten; darum kann auch der
Druck auf das Waſſer und ähnliche tropfbare Flüſſigkeiten
keine merkliche Wärmeerzeugung begründen. Etwas andres
dagegen erfolgt in Beziehung auf die Steigerung der Wärme,
wenn das Waſſer aus ſeiner tropfbaren Form in die Form
264
des Dunſtes übergegangen iſt. Wenn dieſe Verwandlung
durch die Siedehitze von 80° Reaumur bewirkt wurde, dann
bemerkt man, daß der heiße Dampf, indem er ſich an der
kälteren Umgebung wieder fo weit abkühlt, daß er die Luft-
form verliert und von neuem zu Waſſer wird, an jene Um⸗
gebung im Ganzen eine Wärme mittheilt, welche 424% Grad
R. (531 der hunderttheiligen Scala) entſpricht. Hierauf grün⸗
det ſich das in neuerer Zeit ſo oft und vielfältig angewendete Ver⸗
fahren nicht nur die Treibhäuſer der Gärtner, ſondern auch
Zimmer und ganze Gebäude durch den Dampf des ſiedenden
Waſſers zu heitzen, den man durch Gußeiſenröhren in die
verſchiedenen Räume, unter den Dielen und in den Wänden
leitet, und das Waſſer, das bei ſeiner Zurückkehr aus der
Dampfform noch die Siedehitze hat, durch die nach der ent—
gegengeſetzten Richtung ſchief abwärts geneigten Röhren wie—
der ablaufen und in den Dampfkeſſel zurückfließen läſſet, wo
es noch ziemlich warm ankommt. Mit einem Pfund des
immer neu ſich bildenden Dampfes kann man im Winter die
Zimmer und Säle eines Gebäudes heitzen, welche zuſammen
einen Rauminhalt von 1000 bis 1200 Fuß umfaſſen.
Aber das Waſſer wird nicht nur durch die Siedehitze in
Dunſt verwandelt, ſondern, wie wir bereits erwähnten, auch
bei der niedren Temperatur unſrer Herbſt- und Wintertage
kann es in Luftform übergehen. Damit es aber dies vermöge,
muß es den Einfluß der Wärme eben ſo zu Hülfe nehmen
als beim Sieden und bei ſeinem Zurückſinken in die Form
des tropfbar flüſſigen Waſſers giebt es ebenfalls Wärme an
feine Umgebung ab. Wir erfahren dies ſelbſt mitten im Win;
ter, wenn auf einmal bei und vor dem Eintritt des Schnee—
geſtöbers die Kälte nachläßt, oder im Sommer, wenn wir
vor dem Ausbruch eines Gewitters und Regenguſſes eine
drückende Hitze in der Luft empfinden. Draußen in der freien
Natur ſind jedoch bei dem Entſtehen der Dämpfe ganz andre
Räume zu heitzen als in unſren Wohngebäuden; dort wird
die Wärme, die ſich bei der Umgeſtaltung von einem Pfund
Dampf zu einem Pfund Waſſer erzeugt, nicht nur an Hun⸗
derte, ſondern an Tauſende und Hunderttauſende von Cubik⸗
fußen vertheilt, und die Umgeſtaltung ſelber geſchieht ſo all⸗
mälig und in einer ſolchen Vertheilung dem Raume nach,
daß wir die bedeutende Wirkung ſolcher Vorgänge auf die
265
Veränderung der Luftwärme weniger durch unfre Sinnen als
durch unſre Berechnungen wahrnehmen.
Der umgekehrte Vorgang jedoch: der Verbrauch von
Wärme aus der umgebenden Körperwelt, bei der Verwand⸗
lung des tropfbar flüſſigen Waſſers in gasförmiges, fällt
ſchon ſtärker in den Bereich unfrer ſinnlichen Wahrnehmung.
Der Schiffer, wenn er erfahren will aus welcher Gegend der
ſonſt kaum merkliche Luftſtrom herkomme, befeuchtet den Fin-
ger im Munde und ſtreckt ihn in die Höhe. Das Gefühl
der ſtärkern Abkühlung an dieſer oder jener Stelle des Fin⸗
gers verräth es ihm, daß der Wind, der die Verdünſtung
der Feuchtigkeit bewirkt, von dorther wehe. So haben wir
bei jedem Verdunſten des Waſſers, das von außen her als
Regen und bei dem Waſchen, oder von innen her als Schweiß
auf unſre Haut kam, ein Gefühl von Abkühlung, ja von
Kälte und wir können auch auſſer unſrem Körper dadurch
eine niedrigere Temperatur hervorrufen, daß wir eine Ver—
wandlung des Waſſers in die Luftform herbeiführen. Denn
wie ſich nach jedem Regen durch das Verdunſten des nieder—
gefallenen Waſſers, wenn nicht etwa zu gleicher Zeit in der
Atmoſphäre noch mehrere Dunſtmaſſen in den tropfbar flüſſi—
gen Zuſtand übergehen, eine Abkühlung der Luft merklich
machet, ſo können wir auch im Kleinen, durch das Beſpren—
gen des Fußbodens unſrer Zimmer die eindringende Sonnen—
hitze mäßigen. Die Bewohner von Aegypten trinken auch in
der heißeſten Zeit des Jahres ein angenehm abgekühltes
Waſſer, welches ſie ſich dadurch verſchaffen, daß ſie das für
unſren Geſchmack lauwarme Waſſer ihres Nilſtromes durch
eine Art der irdenen Gefäße filtriren, welche dort ſeit uralten
Zeiten in Gebrauch iſt. Die Thonmaſſe, aus denen man
dieſe Kruggefäße formt und dann an der Sonnenwärme feſt
werden läſſet, iſt nicht wie unſre glaſirten Töpfe waſſerdicht, ſon—
dern läſſet die Feuchtigkeit überall aus ihrer Oberfläche durch
unzählige, dem Auge unbemerkbare, kleine Oeffnungen heraus—
ſickern. Die Oberfläche bleibt hierbei in einem beſtändigen
Zuſtand der Anfeuchtung, und indem ein Theil des Waſſers,
das dieſe Feuchtigkeit bildet, in Dunſtform übergehet, wird
dabei ſo viel Wärme aus der Umgebung verbraucht, und
eine ſolche Abkühlung des Gefäßes ſo wie ſeines Inhaltes
bewirkt, daß die Tropfen, welche ſich außen anſammlen und
in das untergeſtellte Glas hinabrinnen, einen ſo kühlen Trank
ae ij
1
266
liefern, als das Trinkwaſſer, in welches der Neapolitaner zu
ſeiner Erquickung ein Stück Eis hineingelegt hat. In Oſt⸗
indien weiß man ſich den Wein und andre Getränke dadurch
abzukühlen, daß man über die Flaſchen ein ihrer Form an⸗
gemeſſenes Gewebe von der Beſchaffenheit unſrer geſtrickten
Strümpfe hinwegzieht, und, indem man dieſen Flaſchen⸗
ſtrumpf immer wieder anfeuchtet, eine Verdunſtung des Waſ⸗
ſers unterhält, durch welche eine ſehr merkliche Abkühlung
herbeigeführt wird. Eben ſo verſchafft ſich der dort wohnende
ſinnreiche Europäer dadurch kühlere Zimmer, daß er bei Tage
vor die Oeffnung ſeiner Thüren wie ſeiner Fenſter Matten
hängt, die aus dem wohlriechenden Kuskus (einer Art von
Cyperngraſe) geflochten find und welche beſtändig durch auf⸗
gegoßnes oder angeſpritztes Waſſer feucht erhalten werden,
hiermit aber zugleich zur Waſſerdunſtbildung dienen. Ja,
durch eine andre Einrichtung, bei welcher auf fachweis über
einander angebrachten Stangen angefeuchtete Lagen von Reis⸗
ſtroh dem kühlen Nachtwind einen friſchen Durchzug geftat-
ten, hat man ſich in den heißeſten Gegenden von Oſtindien
ein Abkühlungsmittel zu verſchaffen gewußt, das von ähnli⸗
cher Wirkung iſt als der in unſren künſtlichen Eiskellern auf—
bewahrte Schnee, darin die vermöglichen Bewohner unſrer
Gegenden im heißen Sommer ſich ihre ſogenannt „gefrornen“
Erfriſchungen bereiten.
Es iſt demnach eine durch tägliche Erfahrung erwieſene
Thatſache, daß bei dem Uebergang eines Körpers aus einem
höheren Grad der Dichtigkeit in einen niedreren Abkühlung
herbeigeführt werde und daß umgekehrt, wenn ein Körper
aus einem ausgedehnten Umfang in einen beſchränkteren über⸗
geführt wird, ſich Wärme erzeuge. Die Luft, die wir in
unſrem Windbüchſenrohr oder im Luftfeuerzeug bis auf ein
Fünftel ihres vorherigen Rauminhaltes zuſammenpreſſen und
welche dabei eine ſolche Wärme von ſich giebt, daß ſich ein
brennbarer Körper in ihr entzündet, ſcheint uns lehren zu
wollen, daß die Wärme dennoch als ein Stoff, vergleichbar
dem Waſſer in einem Badeſchwamm, in den innren, für
unſer Auge unbemerkbaren Zwiſchenräumen zwiſchen den klein⸗
ſten Theilen (den Atomen) der Körper enthalten ſey, und
daß ſie durch mechaniſchen Einfluß aus dieſer Wohnſtätte
herausgepreßt und fühlbar werden könne. Ja ſie ſcheint uns
darauf hinzuweiſen, daß überhaupt durch den inwohnenden
267
Wärmeſtoff den körperlichen Dingen ihre natürliche Geſtalt
und Form gegeben und erhalten werde. Es iſt jedoch an
dieſer Vorſtellung, je nachdem wir ihr dieſen Ausdruck beile⸗
gen oder für ſie einen andren, paſſenderen wählen, eben ſo
viel Irriges als Wahres. Wir werden dieſes ſpäter deutli⸗
cher erkennen, wenn wir vorerſt noch andre Eigenſchaften und
Wirkungen der Wärme, ſo wie die allgemeinſten und zugleich
wirkſamſten Wege zur Erzeugung derſelben etwas näher ins
Auge gefaßt haben. HN
Wenn man ein Pfund Waſſer, welches 80 Grad Wärme
hatte mit einem andren Pfund Waſſer vermiſcht, das bis
zum 0 oder Eispunkt erkältet war, dann wird die Tempera⸗
tur, welche das Gemenge annimmt, die mittlere aus beiden,
40 Grad werden. Wenn man dagegen ein Pfund Eiſenfeil⸗
ſpäne, das man bis zu 80 Grad Wärme erhitzt hat, in ein
Pfund Waſſer ſchüttet, deſſen Wärme 0 war, dann empfängt
dieſes nur eine Wärme von 8 Grad, und das Eiſen muß
bis zu 861 Grad erhitzt ſeyn, wenn es die Temperatur einer
gleich großen Gewichtsmenge von Waſſer bis zum Siede—
punkt erhöhen ſoll. An einem Gemeng von erhitztem Queck—
ſilber und kaltem Waſſer wird dieſes Verhältniß noch viel auffal-
lender, denn wenn man ein Pfund Queckſilber, dem man eine
Erwärmung von 60 Grad mittheilte, mit einem Pfund Waſ—
ſer vermiſcht, deſſen Temperatur auf dem Nullpunkt ſtund,
dann wird dieſem, von dem heißen Metall nur eine Wärme
von 3 Grad mitgetheilt. Noch dürftiger als bei dem Queck—
ſilber fällt die Mittheilung der Wärme von dem erhitzten
Gold und der gewalzten Platina, oder ſelbſt vom Blei und
Wismuthmetall aus, denn während man durch ein Pfund
Waſſer welches eine Wärme von 60 Grad hat, ein Pfund
Eis zum Aufthauen bringen kann, bedarf man, um daſſelbe
zu bewirken 30 Pfund bis zu demſelben Grad erwärmtes
Queckſiilber, vom Gold, Platina, Blei und Wismuth aber
gegen 31 bis 33 Pfund. Dennoch iſt es hier nicht allein
die Dichtigkeit und die mit ihr im Zuſammenhang ſtehende
Eigenſchwere, welche das größere oder das geringere Maaß
der Wärme bedingt das die Körper von außen aufnehmen
und an ihre kältere Umgebung wieder ablaſſen können, denn
das Blei ſteht im Vermögen der Wärmeaufnahme oder Ca⸗
pazität dem Gold wie dem Platinametall nach, und das un⸗
gleich leichtere Wismuthmetall dem Golde wie dem Blei.
ä —
268
Eben ſo haben das Zinn und noch mehr das Spießglanzme⸗
tall eine geringere Wärmecapazität als das Silber, obgleich
beide (nach S. 132) um ein Merkliches leichter ſind denn dieſes.
Dagegen iſt es von dem Blei wie vom Zinn aus Erfahrung
bekannt, daß ſie beim Harthämmern keine Veränderung ihrer
Wärmecapazität erfahren, weil ſie dabei nicht, wie Kupfer,
wie Silber und ſelbſt Gold dichter, ſo wie ſpezifiſch ſchwerer
werden. Daß an einem und demſelben Grundſtoffe die Be-
fähigung zur Wärmeaufnahme ſehr von feinem Formzu—
ſtand abhängig ſey, lehrt uns namentlich die Betrachtung
der Kohle. Die Capazität des reinen kryſtalliniſchen Kohlen⸗
ſtoffes im Demant beträgt noch nicht einmal ½ der Capazi⸗
tät des Graphits, noch nicht / der Capazität der Holzkohle.
Doch findet zwiſchen Demant und gemeiner Kohle ein wirk—
licher, bis ins innerſte Weſen des Zuſammenhaltes gehender
Unterſchied ſtatt; daß aber nicht die bloſe Vermehrung oder
Verminderung der Dichtigkeit und räumlichen Ausdehnung
den Maaßſtab für die Wärmecapazität abgebe, ſondern daß
dabei noch andre Umſtände in Betracht kommen, wird am
deutlichſten an jenen Körpern erkannt, die unter allen des
höchſten Grades der Dichtigkeitsveränderung fähig ſind: an
den Luftarten. Wenn der Druck, der die Dichtigkeit der atmoſ—
phäriſchen Luft beſtimmt, um die Hälfte veringert, das Vo⸗
lumen derſelben um das Doppelte vermehrt wird, nimmt
dennoch die Wärmecapazität derſelben nur um ein Zehntheil
zu, erſt bei einer 18 fachen Verdünnung ſteigert fie ſich ums
Doppelte. |
Eine der bekannteſten, wahrhaften Formenänderungen der
Kbrper durch den Einfluß der Wärme, iſt das Schmelzen
derſelben. Wenn man, wie vorhin erwähnt, ein Pfund Eis
mit einem Pfund ſiedenden Waſſers vermiſcht, dann ſchmilzt
das Eis, und die Wärme des entſtandenen Waſſers ſteigt
auf 10 Grad. 60 Grade der Wärme des Waſſers ſind mit—
hin zum Schmelzen des Eiſes verwendet worden; eine ſolche
Menge der Wärme hat gerade hingereicht um der neuent—
ſtandnen Flüßigkeit die Temperatur des Nullpunktes zu geben,
die überſchüßigen 20 Grad der Wärme ſteigerten die Tem-
peratur der beiden Pfunde Waſſer, gleichmäßig ſich verthei⸗
lend auf 10 Grad. Ein Stück Eis behält, indem es in
unſrer warmen Hand ſchmilzt, immer dieſelbe Kälte bei, weil
alle die Wärme, welche es unſrer Haut entzieht, zur Aen⸗
269
derung feiner Form, aus den feften in den flüßigen Zu:
ftand verwendet wird. Aus dieſem Grunde kann man auch
eine bleierne Kugel, welche man dicht in ein Stück Papier
einwickelte über der Lichtflamme zum Schmelzen bringen ohne
daß dabei das Papier ſich entzündet; der Einfluß den die
geſteigerte Wärme auf einen ſchmelzbaren Körper ausübt,
wird bis zum Augenblick ſeiner Formänderung nur auf dieſe
verwendet.
Das Umgekehrte erfolgt bei der Formänderung eines
Körpers von dem flüßigen in den feſten Zuſtand. Wenn
man in ſiedendem Waſſer ſo viel Glauberſalz auflößt, als
jenes bei der Temperatur von 80 Grad aufzunehmen vermag,
dann dieſe geſättigte Auflöſung luftdicht verſchloſſen an einen
ruhigen Ort ſtellt, da bleibt dieſelbe flüßig bis man ſie
erſchüttert oder fie mit einem feſten Körper in Berührung
bringt. In dem Augenblick aber, wo dieſes geſchieht, geht
die Flüßigkeit in einen feſten Zuſtand über und hierbei
erzeugt ſich eine ſehr merkliche Wärme. Etwas Aehnliches
wird auch bei dem Uebergehen des ſalzſauern Kalkes aus
dem flüßigen in den feſten Zuſtand bemerkt. Bei dem lang-
ſamen Gefrieren des Waſſers nimmt zwar unſer Gefühl das
Steigen der Temperatur, welches bei einem ſchnelleren Vor—
gang der Formwandlung 60° betragen würde, nicht in Dies
ſem Maaße wahr, dennoch giebt ſich jenes Steigen dadurch
kund, daß die Wärme eines Waſſers, welches vor ſeinem
Starrwerden um 4° unter dem Eispunkt erkaltet war, im
Augenblick des Gefrierens um jene 4 Grad wieder zunimmt
und während des Vorganges der Formwandlung ſich bei die—
ſer Temperatur erhält.
Jene Wärme welche ein Körper zu ſeinem Flüſſigwerden
verwendet, bezeichnet man mit dem Namen einer gebundenen
Wärme, welche, beim Erſtarren deſſelben, aus ihrer Gebun—
*
denheit wieder frei wird.
30. Die Wärmeleitung.
Wenn man ein Stück Metall nach der einen Seite hin
einer bis zu ſeiner Schmelzhitze geſteigerten Wärme ausſetzt,
dann beginnt zwar an dieſem Punkte das Flüßigwerden
oder Schmelzen zuerſt, aber die Formänderung geht bald
auf ſeine ganze Maſſe über, während dagegen ein Stück
270
Zucker das man mit der einen Seite der Flamme nähert hier
zum Schmelzen kommt, ohne daß dabei die andre Seite nur
in ſehr merklicher Weiſe erhitzt wird. Ein Holzſpahn kann
an dem einen Ende brennen nnd glühen, während wir fein
andres Ende ohne Beſchwerde in unfrer Hand halten. Die eben
ſo lange Eiſenſtange dagegen, deren eines Ende im Feuer roth⸗
glühend gemacht wurde, erhält dabei auch an ihrem and⸗
ren Ende einen hohen Grad der Erhitzung und an einer
Stange von Gold iſt die Verbreitung der Wärme von dem
einen, im Feuer erhitzten Ende an das andre, noch viel merk⸗
licher. Umgekehrt aber nimmt auch eine Stange von Eiſen
oder noch mehr eine von Gold, wenn wir ſie mit dem einen Ende
in Schnee oder Eis hineinſtecken, an ihrem andren Ende
in Kurzem eine ſehr niedrige Temperatur an, während eine
Stange von Holz, an ihrem freien Theile nur langſam
und kaum merklich kälter wird. Dieſes verſchiedene Verhalten
der Körper gründet ſich auf das Vermögen derſelben die
Wärme, welche der eine Theil derſelben empfing, den
andren Theilen und ihrer ganzen Umgebung mitzutheilen:
auf ihre Fähigkeit die Wärme zu leiten. Ein Körper wel⸗
cher die Wärme (ſo wie die Kälte) die aus ſeiner Umgebung
auf ihn einwirkte, leicht und ſchnell durch alle ſeine Theile
ſo wie an andre, mit ihm in Berührung kommende Körper
fortpflanzt, heißt ein guter, ein andrer, der dies nur in ſehr
geringem Grade vermag, ein ſchlechter Wärmeleiter.
Trügen wir, ſtatt unſrer Kleidung aus Leinen oder Wolle
ein Gewand aus Metall, dann würde im Winter die Kälte
der Luft, im Sommer die Hitze der Sonnenſtrahlen uns
unerträglich fallen, denn eine ſolche Bedeckung würde die
Hautwärme unſres eignen Körpers ſchnell hindurch leiten
und in die umgebende Luft verſtreuen, der Hitze aber, wie
der Kälte von außen eben ſo ſchnell einen Zugang zu unſrem
Körper geſtatten. Wird doch dieſer Einfluß der beßren Wär⸗
meleiter ſchon in den oberſten Räumen jener Gebäude merk⸗
lich deren Dach mit Blei gedeckt iſt; die Gefangenen, wel—
chen man vormals in Venedig unter ſolchen Bleidächern ihre
Wohnung anwies, hatten eine Sommerhitze zu erleiden bei
der Manche von ihnen bis zur Raſerei erkrankten. Schon
ſolche Dächer welche ſtatt der Ziegel oder der Dachſchieferr⸗
platten mit hölzernen Schindeln oder mit Stroh gedeckt ſind,
* A
271
gewähren einen beßren Schutz gegen Froſt und Hitze denn
jene, weil ſie ſchlechtere Wärmeleiter ſind.
Jene natürliche Decke, welche eine allbedenkende Vorſehung
den Thieren in ihren Federn oder Haaren ertheilt hat, ſo
wie jene Stoffe aus denen ein natürlicher Antrieb den Men⸗
ſchen ſeine Kleider fertigen lehrte, ſind nach Verſchiedenheit
der Jahreszeiten und des Klima's der Wohnorte mehr oder
minder ſchlechte Wärmeleiter, wie ſelbſt der Schnee verhält:
nißmäßig ein ſocher iſt und hiedurch der Saat zur ſchirmenden
Decke gegen die heftige Winterkälte wird. Zum Schutz
unſrer Hände und Füße gegen das Gefühl des Froſtes ums
wickeln wir deshalb im Winter die Steigbügel mit Stroh,
bringen an metallenen Gefäßen hölzerne Handgriffe an und
belegen den Boden unſrer Zimmer mit bretternen Dielen
oder mit wollenen Decken; ſelbſt die werthvollen Bäume
ſchirmt der Gärtner durch Umwickeln mit Stroh vor der
Kälte. Und eben daſſelbe was die Kälte abhält, dient zur
Abwehr der äußren Hitze; in den brennend heißen Sandflä—
chen von Perſien ſchutzt ſich der Reuter durch einen leichten
Pelz, in welchen er ſich kleidet, vor der ausdörrenden Gluth
der Sommerhitze, wie der Bewohner von Sibirien gegen die
Kälte ſeines Winters.
Im Ganzen ſind die dichteſten Körper, wie die Metalle
die beſten Wärmeleiter, doch beſtehet auch bei ihnen hierin
eine große Verſchiedenheit, denn Gold leitet die Wärme 2
mal beſſer dem Eiſen, um faſt 6 mal beſſer denn Blei. Noch
ſtärker wird jedoch der Unterſchied, wenn wir die Leitungs-
fähigkeit der nichtmetalliſchen Körper mit der des Goldes ver—
gleichen, denn dann findet ſich, daß dieſelbe bei dem Marmor
42, beim Porzellan 80, beim Ziegelſtein gegen 90 mal gerin-
ger ſey als bei dem Golde. Die zumeiſt aus gasartigen Grund—
ſtoffen gebildeten organiſchen Körper ſind noch unvergleichbar
ſchlechtere Wärmeleiter als die Metalle und Steine, doch hat
man bemerkt, daß von den Hölzern die Wärme etwas beſſer
in der Richtung ihrer Längsfaſern als der Quere nach
fortgepflanzt werde, woher es kommt, daß die Gewächſe leich—
ter die Wärme des Bodens als die der äußren Umgebung
annehmen. | |
Bei den tropfbar fo wie luftartig flüßigen Körpern,
welche ſämmtlich zu den verhältnißmäßig ſchlechteren Wärme⸗
leitern gehören, kommt noch ein andrer Umſtand hinzu, wel⸗
272
cher an dem bisher betrachteten Vorgang der Temperatur:
mittheilung Einiges abändert. Vermöge der größeren Ver⸗
ſchiebbarkeit der Theile, worinnen der Hauptcharakter des
flüßigen Zuſtandes begründet iſt, erheben ſich hier die leich—
teren Theilchen in den ſchwereren, die minder dichten in den
dichteren (nach S. 209). Da nun, wie wir noch weiter
ſehen werden, die Wärme ausdehnend, vor Allem auf die
flüßigen Körper wirkt, mithin auch zugleich ſie leichter macht,
ſteigt nicht blos die erhitzte Luft, die wir in eine Montgol-
fiere hineinfüllten (nach S. 210) in der kälteren, und mithin
ſchwereren empor und reißet das Luftſchiff mit ſich hinauf
in die Höhe, ſondern wir können vor unſren Augen Hundert⸗
tauſende der kleinen Montgolfieren emporſteigen ſehen, wenn
wir eine durchſichtige Flüßigkeit mit einem gepulverten Kör⸗
per vermiſchen, deſſen Stäubchen ohngefähr von gleicher
Schwere mit der Flußigfeit find. Wenn dann dieſe von unten
her erwärmt wird, dann ſteigen die Stäubchen mit den leich⸗
ter gewordenen Theilen der Flüßigkeit in ganzen Reihen
empor, gleich wie die Luftbläschen, welche die 5
im ausgeſchütteten Selzerwaſſer oder im Champagnerwein bil⸗
det. Indem die vom Boden her erhitzte Flüßigkeit, welche
in einem über dem Feuer ſtehenden Keſſel enthalten iſt
von unten nach oben ſteigt, theilt ſie den dichteren, kälteren
Schichten, durch welche ſie hindurch zieht ihre Wärme mit,
bis dieſe zuletzt Alle die Wärme des Siedepunktes erreicht
haben und nun die Verwandlung der tropfbaren Flüßigkeit
in die Luftform erfolgt. Weil dieſes bei allen Fluͤßigkeiten
die leichteſte Weiſe der Wärmemittheilung, von der zunächſt
erhitzten Schicht an die andren iſt, läßt ſich das Waſſer, wie
jede andre Flüßigkeit ungleich ſchneller zum Sieden bringen,
wenn die Flamme oder die erhitzte Metallplatte, von welcher
das Erwärmen, wie auf unſren Sparherden ausgehet, von
unten her, auf den Boden des Gefäßes wirkt als in jenen
Fällen, in denen die Hitze nur von der Seite her, wie neben
einem auf der Herdfläche entzündeten Feuer an das Koch-
geſchirr anſchlägt. Am allerſchwierigſten aber wird immer
die Erwärmung einer Flüßigkeit von obenher ſein, weil dann
die zunächſt angewärmten Schichten, als die leichteren, oben
ſchweben bleiben und die geringe Befähigung der Flüßigkeiten,
zur Fortleitung der Wärme, die Mittheilung von dieſer, an
die untren Schichten nur ſehr langſam vor ſich gehen läßet.
Etwas
273
Etwas Aehnliches als im Waſſer, das von unten her
erwärmt wird, erfahren wir an jedem Wintertage, bei der
Heizung unſrer Zimmer. Die Luft, welche in der Nähe des
Ofens erwärmt und hierdurch verdünnt worden iſt, ſteigt
nach oben, nach der Decke zu und die kalte, zugleich auch
ſchwerere, ſenkt ſich herunter. Wenn dann auch dieſe zweite,
kältere Schicht den Wärmegrad der erſten erlangt hat, ſteigt auch
ſie empor und wir, wenn wir nicht ganz in dem Kreiſe der
merklich ausſtrahlenden Wärme des Ofens ſitzen, empfinden
noch immer wenig von der Anwärmung des Zimmers, bis
zuletzt alle Schichten einen gewiſſen Grad der Erwärmung
und Ausdehnung erreicht haben, bei welchem das immer
neue Herabſinken der kälteren, dichteren Schichten nach dem
Boden ſeinen beläſtigenden Einfluß auf unſer Gefühl verliert.
In einem, zu öffentlichen Verſammlungen beſtimmten Ger
bäude, dergleichen die Theater ſind, befinden ſich, wenn die
Heitzung durch gewöhnliche Oefen geſchieht, jene Zuſchauer,
welche in den oberen Räumen ſitzen, öfters in einer bis zum
Uebermaaß erwärmten Luft, während die Zuſchauer des Par-
terres durch das fortwährende Hereinſtrömen des kälteren,
ſchwereren Luftzuges von dem ganz entgegengeſetzten Gefühl
der Kälte ſich beſchwert fühlen. |
Die beſtändige Strömung der erwärmten Luft nach oben,
der kalten aber nach unten iſt in den eingeſchloßnen Räumen
unſrer Zimmer zu einer Art der Heizung benutzt worden,
welche unter dem Namen der Luftheizung bekannt und in
manchen Gebäuden in Anwendung gebracht iſt. In einem
beſonders hierzu beſtimmten Gemach (der Heizkammer) wird
die Luft durch einen Ofen zu einem hohen Grad der Erhiz—
zung gebracht und aus derſelben durch Röhren in jene Zim⸗
mer geführt, welche erwärmt werden ſollen. Die Oeffnung
dieſer Zuführungskanäle iſt in einer Höhe von 4 bis 5 Fuß
über dem Boden angebracht, unten aber am Boden finden
ſich die Mündungen andrer Röhren, welche die kältere, dich—
tere Luft wieder hinüberführen in die Heizkammer. Wenn
man durch einen gewöhnlichen Ofen eine Röhre oder einen
andren geſchloßnen Kanal hindurchleitet, deren beide Mün⸗
dungen, die untere wie die obere in das Zimmer führen, dann
wird ein ähnliches Hindurchſtrömen der kälteren Luft von un⸗
ten nach oben bewirkt, und die Erwärmung des Zimmers nicht
wenig erleichtert. 8
1
274
Wir ſind hier, bei der Erwähnung der Wärmeleitung
der Flüſſigkeiten zu dem Betrachten einer Eigenſchaft der
Wärme gekommen, welche für das Verſtändniß des Weſens
dieſer Naturerſcheinung, ſo wie durch ihre vielfältige Anwen⸗
dung für den menſchlichen Haushalt die höchſte Wichtigkeit
erlangt hat. Dieſe Eigenſchaft ift das Ausdehnen der Kör-
per, ſelbſt der feſten, im vorzüglichſten Maaße aber der flüf
b bei ihrer Erwärmung. Bei mehreren Körpern geſchieht
dieſe Ausdehnung bei allmälig ſich ſteigernder Wärme bis
5 Eintritt des Siedens oder des Gefrierens fo gleichmä⸗
ßig, daß man dieſelben ſeit langer Zeit zur Bildung von
Wärmemeſſern oder Thermometern benutzt hat. Die Anwen⸗
dung des eben erwähnten Werkzeuges hat für die Wiſſenſchaft
wie ſelbſt fur den menſchlichen Haushalt eine ſolche Wichtig⸗
keit gewonnen, daß wir der Betrachtung deſſelben ein be⸗
ſondres Capitel einräumen wollen.
31. Das Thermometer.
In Aegypten läßt man bekanntlich die jungen Hühner
nicht durch ihre Mütter, die Hennen, ausbrüten, ſondern
man legt die Eier in Oefen von ganz beſondrer Einrichtung,
in denen der Boden ſo wie die hindurchſtreichende Luft durch
ein ſchwaches, bald hier bald da angezündetes Feuer mäßig
erwärmt iſt. Käme bei dieſem Gewerbe den ägyptiſchen
Bauern nicht die kräftige Wärme der Sonne zu Hülfe, dann
würde wohl all ihre Mühe vergeblich ſeyn: ſie würden auf
die Vortheile ſo wie auf das Vergnügen Verzicht leiſten müſ⸗
fen, welche ihnen ihre Brutöfen gewähren, in denen öfters
mehrere taufend Eier auf einmal bebrütet werden. So aber.
werden das Dach und die Wände des aus Lehm erbauten
Ofens von außen durch die Strahlen der Sonne eben fo
ſtark erwärmt als das Innre deſſelben durch die Luft, die
über das Feuer hinzog, und es iſt dabei auf die gleichmä⸗
ßige, auch in die Stunden der Nacht hinein, lang nachhal⸗
tige Wärme der Sonne wenigſtens eben ſo viel gerechnet
als auf die Wärme, welche das Feuer giebt, weshalb auch
die Brutöfen nicht früher als gegen Ende März oder im
April in Gebrauch geſetzt werden, weil dann erſt die Tage
heiß genug für das Geſchäft ſind. Und wenn dann jeßt
aus der einen Abtheilung des Ofens, welche man zuerſt mit
275
Eiern belegte, dann aus einer zweiten, dritten u. ſ. f. öfters
Hunderte von Kuchelchen am 2iten Tage nach dem Anfang
der kunſtlichen Betrütung herausgenommen und nachdem man
ſie etwa noch einen Ta gin den unteren Räumen des Bruthauſes
innen behalten, hinausgelaſſen werden an die freie Luft,
dann muß auch dort die Sonne die Stelle des wärmenden,
mütterlichen Gefieders vertreten und fie thut dies in einem fo
überkräftigen Grade, daß die zarten Thierchen während der
heißeſten Stunden des Tages eben ſo begierig den Schatten
ſuchen, als bei uns, wenn ein rauhes Luftchen wehet, den
Schirm unter den Flügeln der Mutter.
Wenn man bei uns zu Lande die Hühnereier künſtlich in
der Wärme unſrer kleinen Brutöfen ausbrüten will, was
durch eine oder, wenn der Ofen größer iſt, durch mehrere
unten angebrachte Weingeiſtlampen ohne große Mühe bewerk—
ſtelligt wird, da muß man ſorgfältig darauf ſehen, daß die
Eier eine Wärme erhalten, die weder zu groß noch zu klein
iſt, und fortwährend unterhalten wird. Es iſt ohngefähr die
Wärme, welche das menſchliche Blut hat, weshalb auch
Menſchen, die etwa wegen eines Beinbruches oder bei einem
andren, gerade nicht lebensgefährlichen Unfall, lange zu Bett
liegen, oder in einer ruhigen Stellung bleiben mußten, ſich
zuweilen den Zeitvertreib gemacht haben, ein Hühnerei, etwa
unter ihren Achſelhöhlen, auszubrüten. Die Wärme, welche
der Körper einer brütenden Henne von ſich giebt, iſt übri⸗
gens noch etwas größer als die Lebenswärme des Menſchen,
daher es auch der Entwicklung der Küchelchen in den Eiern
unſrer kleinen, künſtlichen Brutöfen nicht ſchadet, wenn die
Temperatur, die wir ihnen zukommen laſſen, noch ein wenig
höher iſt als die menſchliche.
Aber gerade dieſe Wärme, womit wollen wir ſie beſtim—
men und meſſen? Etwa durch unſer Gefühl? Wie ver-
ſchieden fällt das Urtheil dieſes Gefühles bei verſchiedenen
Stimmungen unſrer Hautthätigkeit über einen und denſelben
Grad der Temperatur aus. Es dünkte uns an einem Wintertage
in unſrem Zimmer zum längeren Verweilen faſt zu kalt; wir
gingen hinaus ins Freie, machten uns da eine ſtarke Bewe—
gung, traten dann wieder ins Zimmer herein und jetzt kam
uns die Luft deſſelben angenehm warm, ja vielleicht zu warm
vor. Oder wir treten aus dem innerſten Gemach eines tür—
kiſchen Bades, in deſſen Waſſer und Re man und ges
1
276
bähet hat wieder heraus in das nächſt angränzende, und die
Luft in dieſem erſcheint uns angenehm kühl, obgleich ſie ſo
warm iſt, daß ſie uns bei andrer Stimmung der Haut uner⸗
träglich heiß erſcheinen würde. Jene Täuſchung, welcher hier
im Großen die geſammte Oberfläche unfred Körpers unter:
worfen iſt, wiederfährt im Kleinen der Haut unfrer Finger
und Hände, wenn wir uns derſelben zur Beſtimmung einer
äußren Wärme bedienen wollen, und wie oft müſſen dies
unſre kleinen, zarten Kinder, denen die Amme das Waſſer
zum Bade nur nach dem Ermeſſen des Gefühles ihrer Hände
bereitete, mit einem Schmerz erfahren, den ſie durch lautes
Weinen zu erkennen geben; wie ſollte es manchen Kranken,
denen das Verweilen in einer beſtändig ſich gleich bleibenden
Temperatur nöthig iſt, ergehen, wenn dieſe Temperatur bloß
nach dem Gefühl der Geſunden beſtimmt werden müßte; was
würde aus den Eiern in unſren Lampen-Brutöfen heraus⸗
kommen, wenn wir die Wärme nur nach jenem unſichren
Maaßſtabe abſchätzen wollten. In dieſen und tauſend andren
Fällen war es daher längſt als nothwendig erkannt, ein
Mittel zu erfinden und zu haben, bei welchem das Ermeſſen
755 e keinen ſolchen leicht möglichen Irrungen ausge⸗
etzt iſt. N
Ein Landmann aus Alkmaar im nördlichen Holland,
Cornelius Drebbel, der ſein großes Geſchick der Hände
und feine Erfindungsgabe auch ſchon auf andre Weiſe ber
währt hatte, ſcheint der Erſte geweſen zu ſeyn, der mit
einem von ihm erfundenen Wärmemeſſer im Jahr 1638
öffentlich auftrat. Sein Thermometer war einfach genug
und dazu mancherlei Mängeln unterworfen. Es beſtund oben
aus einer gläſernen Kugel, nach unten aus einer engen
Röhre die mit ihrer Oeffnung in ein Gefäß geſtellt wurde,
das mit Waſſer gefüllt war, welches man durch den Zuſatz
einer Auflöſung von Kupfer in Scheidewaſſer gefärbt hatte.
Die Flüſſigkeit ſtieg, bei gewöhnlicher, mittlerer Temperatur,
durch die Anziehung des Glaſes, bis zu einem gewiſſen Punkt
in der Röhre aufwärts, wenn aber die Luft in der Kugel
bei zunehmender Wärme ſich ausdehnte, wurde die Flüffig-
keit tiefer hinabgedrückt; wenn bei der Kälte die Luft ſich zu⸗
ſammenzog, ſtieg die Flüſſigkeit höher in der Röhre hinauf.
Aber abgeſehen davon, daß für die Beſtimmung der Grade
des Aufſteigens oder Niederſinkens ſehr unvollſtändig geſorgt
277
war, wirkte auch der Druck der Luft auf die Flüſſigkeit des
Gefäßes mit ein, und dieſer Druck iſt nach S. 255 großen
Veränderungen unterworfen.
Dieſen Schwierigkeiten half eine Verbeſſerung ab, wel—
che die Florentiner Akademie del Cimento einige Jahrzehende
hernach dem Thermometer gab, und die ſeit 1673 ziemlich
allgemein in Anwendung kam. Im Ganzen bildet die Ein—
richtung des Florentiner Thermometers noch jetzt die Grund—
form unſrer künſtlichen Wärmemeſſer, denn es beſtund aus
einer Glasröhre die an ihrem oberen Ende zugeſchmolzen
war, von unten aber in eine Kugel endigte. Statt des
Queckſilbers, das anjetzt meiſt zur Füllung unſrer Thermo—
meter angewendet wird, enthielt das Florentiner und enthält,
wo es im Gebrauch geblieben iſt, noch jetzt gefärbten Wein—
geiſt. Bei zunehmender Wärme dehnte dieſe Flüſſigkeit ſich
aus, in der Kälte zog ſie ſich zuſammen und deutete ſo beide
Temperaturveränderungen durch ihr Aufſteigen oder Nieder—
ſinken in der Röhre an. Zu dieſer Verbeſſerung fügte ein
Profeſſor in Padua, Renaldini, im Jahr 1694 noch eine
wichtigere hinzu, indem er auf den Gedanken kam, den Ge—
frier- wie den Siedpunkt des Waſſers als zwei Gränzpunkte
zu benutzen, zwiſchen denen das Steigen oder Sinken des
Weingeiſtes nach einer Art von Gradabtheilung abgemeſſen
war. Da man jedoch die Bemerkung gemacht haben wollte,
daß am Weingeiſt im Verlauf der Zeit die Fähigkeit durch
die Wärme ſich auszudehnen geringer werde, that ein andrer
berühmter Gelehrter: Halley den Vorſchlag zur Anwendung
des Queckſilbers, oder der in einer Kugel verſchloſſenen Luft,
welche auf das Queckſilber, das in einer langen, mit der
Kugel verbundenen Röhre enthalten iſt, bei ihrer Ausdeh—
nung einwirkt. i
Allen den Unbequemlichkeiten, welchen dieſe ſo wie andre da—
malige Thermometer ausgeſetzt waren, half Daniel Fahren⸗
heit ab, ein kunſtreicher Mechanikus, von Geburt ein Danziger,
ſpäter Bürger in Holland. Der nämliche ſtrenge Winter
von 1709, der in Duvals Lebensgeſchichte (nach Cap. 10)
von fo großer Wichtigkeit war, half jenem kunſtreichen Manz
ne zur Erfindung einer Thermometerſcala, deren ſich noch
jetzt die Engländer bedienen. Die Kälte, welche damals
lang fortwährend auch in den Gegenden herrſchte, wo der
Einfluß der Meeresnähe die Strenge des Winters um ein
RR
278
Bedeutendes mäßiget, hatte Fahrenheit künſtlich nachmachen
gelernt. Er hatte bemerkt, daß wenn man ſelbſt im war⸗
men Zimmer Salmiak und Schnee zu gleichen Theilen zu⸗
ſammenmiſche, der Weingeiſt in einer Florentiner Thermo—
meterröhre eben ſo tief herabſinke, als er dies im Winter 1709
in freier Luft that. So war ein feſtſtehender Anhaltspunkt
für ſeine Eintheilung der Thermometergrade gefunden, deſſen
Jeder mit leichter Mühe ſich verſichern konnte. Ein zweiter,
ſo ziemlich ſicherer Anhaltspunkt zur gradweiſen Eintheilung
des Steigens des Thermometers war noch leichter in der
Natur zu haben, weil dieſen jeder geſunde Menſch bei ſich
trägt und in ſich hegt. Dieſer zweite Anhaltspunkt iſt die
naturliche Wärme (die Blutwärme) unſeres Leibes, welche
dadurch am leichteſten gemeſſen wird, daß man die Kugel
eines Thermometers unter die Zunge legt und in dieſer Lage
ſie 10 bis 15 Minuten lang behält. Die Beobachtungen
welche man über dieſen Gegenſtand an den Bewohnern der
verſchiedenſten Länder und Himmelsſtriche machte, haben nur
einen ſehr geringen Unterſchied ergeben. Die Malayen auf
Ceylon und die Bewohner von Sibirien, die Hottentotten in
Südafrika und die Eskimos in Grönland, die wilden, nack—
ten Vaidas, welche die Wälder der indiſchen Halbinſel be—
wohnen und der wohlgekleidete Europäer der in Palläſten
lebt, ſie alle haben, mit nur wenigen Abweichungen, dieſelbe
übereinſtimmende Wärme des Blutes, von wenig unter bis
wenig über 29 Grade Réaumur, und wenn einige Gelehrte
der fortwährenden Einwirkung der Hitze eines Himmelsſtri—
ches die Macht zuſchreiben wollen, die Blutwärme um etwa
einen Thermometergrad zu erhöhen, giebt es dagegen andre,
welche behaupten, daß die Eskimos in Grönland eine faft
höhere Blutwärme zeigen, als die Neger an der Goldküſte;
eine Verſchiedenheit der Anſichten, über welche ſich nur das
durch entſcheiden ließe, daß man nicht die Wärme verbrei⸗
tende Nähe des Menſchenkörpers, ſondern die Temperatur
ſeines Junren in der Mundhöhle einer Unterſuchung unter⸗
zöge. Die Haut des Negers, bei einer für das Gefühl des
Europäers unerträglich erſcheinenden Hitze fühlt ſich dennoch
kühl an, weil die Kraft der innren Blutwärme durch die
geſteigerte Ausdünſtung der Außenfläche gemäßigt wird (n.
S. 265); die Haut des Eskimos, wie der Aushauch ſeines
Athems, verbreitet in dem eingeſchloſſenen Raum eines engen
279
Zimmers eine Erwärmung, welche, wenn mehrere ſolcher
Leute beiſammen find, die Heitzung durch einen Ofen ents
behrlich machet, die Blutwärme aber bei beiden iſt kaum
merklich verſchieden, und ſelbſt bei Kranken, im Zuſtand des
heftigſten Entzündungsfiebers, ſteigert ſich dieſelbe höchſtens
um 4 Grad unſres Réaumurſchen Thermometers. Dennoch
war dieſer zweite natürliche Wärmegrad des Fahrenheitſchen
Thermometers bei weitem kein ſo gewiſſer als der erſte, ſon⸗
dern nur, wie wir vorhin ſagten, ein ſo ziemlich ſichrer.
Denn kleine Abweichungen von dem gewöhnlichen Grad der
Blutwärme zeigen ſich ſelbſt bei einem und demſelben Men⸗
ſchen in unverkennbarer Weiſe; das Lebensalter, die innre
oder äußre Aufregung ſind dabei nicht ohne Einfluß, und
ſchon jenes Verfahren des Fahrenheit, wobei er den Abſtand
der Temperaturen zwiſchen der Kälte ſeiner Miſchung aus Sal⸗
miak und Schnee und der Blutwärme nur in 96 Grade (ſtatt in
98 und 99) theilte, beweiſt, daß er die Wärme des menſchlichen
Leibes zu niedrig angefchlagen habe, wahrſcheinlich deshalb, weil
er das Thermometer durch das er ſie meſſen wollte, zunächſt
nur an die Fläche der geſchloßnen Hände oder an andre Stel⸗
len der außren Haut anlegte. Drei andre Richtpunkte zur
Eintheilung der Thermometerſcala wurden deshalb auch von
ihm für allgemein anwendbar angeſehen: der Gefrierpunkt
des Waſſers, der Siedpunkt deſſelben und als äuſſerſter Grenz—
punkt die Hitze, bei welcher das Queckſilber ſiedet, oder in
Dämpfe ſich auflöſt. Von dem mittleren Kältegrade des
Winters von 1709 bis zu der Temperatur bei welcher das
Waſſer gefriert, zählte Fahrenheit 32 Grad ſeines Thermo⸗
meters, bis zur Siedhitze 212, bis zum Kochpünkt des Queck⸗
ſilbers 600. Bis zu dieſem höchſten durch Queckſilber-Ther⸗
mometer erkennbaren Grade der Hitze bedürfen wir nicht ſo
leicht der Zurechtweiſung eines ſolchen gebrechlichen Führers,
daher wurde auch bald für die Fahrenheit'ſchen Thermometer
beim gewöhnlichen Gebrauch eine kürzere Glasröhre, welche
die Steigerung der Wärme nur bis zum Siedepunkt des
Waſſers oder nicht viel höher hinan angab, den unbequem
längeren vorzogen, deren Eintheilung nach aufwärts bis 600°
ieng.
| s den großen Vorzug, welchen bei der Wahl der Flüſſig⸗
keiten zur Füllung der Thermometerröhren das Queckſilber
nächſt der Luft verdient, hatte ſchon Fahrenheit ganz richtig
280
anerkannt. Das Queckſilber, als ein vortrefflicher Wärme⸗
leiter, iſt für die Aenderungen der Temperatur ungleich em⸗
pfindlicher als andre tropfbare Flüſſigkeiten, es läßt ſich viel
leichter in vollkommen reinem Zuſtand darſtellen, als etwa
der Weingeiſt, welcher ſelbſt bei ſehr vorſichtiger Zubereitung
und Anwendung auſſer andren Verunreinigungen öfters Luft
in ſich enthält, bei einer ſtarken Kälte zuletzt dickflüſſig wird
und bei höheren Graden der Wärme ſich in ungleich geſtei—
gertem Maaße ausdehnt. Allerdings gefriert das Queckſilber
bei einer Kälte, welche 31) Grad unſres gewöhnlichen
Réaumurſchen Thermometers unter dem Gefrierpunkt des
Waſſers beträgt und iſt dann für die genauere Beſtimmung
einer noch ſtärkeren Kälte nicht mehr brauchbar, aber es dehnt
ſich bei ſeinem Starrwerden nicht ſo wie das Waſſer zu einem
größeren Rauminhalt aus, und auch in ſolchem Falle geht
die Zuverläſſigkeit der Kältemeſſungen durch Alkohol nicht
über einen gewiſſen Grad.
Bei all den eben erwähnten entſchiedenen Vorzügen, wel⸗
che die Luft und das Queckſilber in ihrer Verwendung zu
Wärmemeſſern vor dem Weingeiſt haben, fand dieſe Fül—
lungsflüſſigkeit der Thermometer dennoch einen neuen Ver—
theidiger an dem franzöſiſchen Phyſiker Réaumur. So wie
der Name des Americus Vespucius auf den Welttheil über—
gieng, für deſſen Entdeckung vielmehr dem Columbus der
Ruhm gebühret, fo wird jetzt noch Réaumurs Name bei unf-
ren Thermometern genannt, auch wenn ſie nach Fahrenheits
Verfahren gearbeitet und mit Queckſilber gefüllt ſind. Der
genau und gründlich prüfende Fahrenheit der nur der Erfah—
rung feine Belehrung verdankte, war kein eigentlicher Gelehr—
ter, ſondern nur mechaniſcher Künſtler, Réaumur dagegen
hatte den Ruf der Wiſſenſchaft für ſich. Auch ließ es der—
ſelbe bei der Beſtimmung der beiden natürlichen Grenzpunkte
ſeines Thermometers, welche zunächſt nur die Momente der
Formenwandlung des Waſſers, den Gefrier- und Siedepunkt
deſſelben ins Auge faßten, an eifrigem Bemühen nicht feh⸗
len. In eine 2 Fuß lange Glasröhre mit einer Kugel, de—
ren Durchmeſſer über 2 Zoll betrug, wurde von ihm ein Wein⸗
geiſt gefüllt, der ſeine große Stärke durch das Entzünden
des Schießpulvers erwieſen hatte und dann durch Zuſatz eines
ünftels 'von Waſſer verdünnt war. Dieſes Fundamental⸗
thermometer wurde in ein Gefäß mit Waſſer geſenkt, das mit
3
er
281
einem Gemiſch von Salz und Eis umgeben war. In dem
Augenblick, in welchem das Waſſer im Gefäß durch ſeine
Umgebung ſo weit erkältet war, daß es zu gefrieren anfieng,
wurde der Stand des Weingeiſtes in der Glasröhre genau
bemerkt. Daſſelbe geſchahe nach dem Einſenken des Thermo—
meters in ſiedendes Waſſer. Mit mühevoller Genauigkeit
war der Weingeiſt, der ſich in dem Werkzeug befand, durch
kleine Becherchen in jenem Zuſtand der Ausdehnung die er
beim Gefrierpunkte hat, abgemeſſen und hiernach in 1000
gleiche Maaßtheile getheilt worden. Damit derſelbe bei ſol—
cher niedriger Temperatur und geringer Ausdehnung die Glas—
röhre eben fo hoch anfüllen könnte als bei feiner ſtärkern
Ausdehnung in der Siedehitze, mußten 80 der kleinen Maaß—
theile oder Becherchen zugegoſſen, die Geſammtmaſſe von
1000 auf 1080 vermehrt werden. Dies gab die Grundlage
zur Eintheilung der Réaumurſchen Thermometerſcala in 80
gleiche Grade.
Es war im Jahr 1730 als der berühmte Reaumur das
von ihm benannte Thermometer in den vielgeleſenſten Zeit—
ſchriften von Frankreich beſchrieb und zugleich die Veranſtal—
tung traf, daß jetzt auch kleinere Thermometer für den allge—
meinen Gebrauch gefertigt würden, deren Scala für die Be—
ſtimmung der Luftwärme in verſchiedenen Gegenden und Jah—
reszeiten der Erde, ſo wie des Hitzegrades der Flüſſigkeiten
bis zur Dampfbildung des Waſſers hinreichte. Der natür—
liche Vorzug ſeiner Anhaltspunkte, welche ſich ohne alle künſt—
liche Bemühung von ſelber darbieten, dazu der große Ruf
des Mannes und feiner Nation verſchafften ihm einen leich-
ten, wenn auch nicht völlig allgemeinen Sieg über ſeinen
u * ar
Nebenbuhler Fahrenheit, gegen deſſen künſtlichen Nullpunkt
allerdings Manches einzuwenden tft. Auch ließen es Réau⸗
murs Landsleute, ihrer Nationalehre eingedenk, an allen je—
nen Bemühungen nicht fehlen, durch welche die großen Män—
gel, welche die Füllung des Thermometers mit Weingeiſt
ſtatt mit Queckſilber bei ſich führet, verdeckt und unmerklich
gemacht werden ſollten. Unter andrem ſuchte man die un—
gleichmäßigere Ausdehnung und Zuſammenziehung des Wein—
geiſtes im Vergleich mit dem Queckſilber dadurch zu verber—
gen, daß man an der 80 theiligen Scala der mit dem lebte:
n gefüllten Thermometer die Grade welche über 40 fo wie
er Null waren, nach einer nicht ſehr genauen Berechnung
282
kleiner machte. Die ehrliche Wahrheit machte ſich indeß den⸗
noch zuletzt wieder Bahn, man ſahe ſich genöthigt die Ther⸗
mometer nach Fahrenheits vielgeprüfter Weiſe zu geſtalten
und zu füllen, behielt jedoch die Réaumurſche Eintheilung
bei und für jene hohen Grade der Kälte, bei denen das
Queckſilber ſtarr wird, ſelbſt die Füllung durch Weingeiſt.
Die Grade welche Fahrenheit feſtſetzte und an ſeinen
mit bewundernswürdiger Genauigkeit gearbeiteten Thermome⸗
tern vollkommen gleichmäßig durchführte, ſind kleiner als die
der Réaumur'ſchen Scala, ſo daß neun Grad Fahrenheit nur 4
Grad Réaumur ausmachen, 2½ Grad der erſtern Scala
einen Grad der letzteren gleich ſind. Fahrenheits Nullpunkt
fällt auf einen Kältegrad der etwas mehr denn 14 Grad un⸗
ter dem Nullpunkt der so theiligen Scala liegt; dieſer letztere,
der Gefrierpunkt des Waſſers, entſpricht am Fahrenheit'ſchen
Thermometer ſchon einer Wärme von 32 Graden. Man muß
deshalb bei den Angaben der Wärme nach Fahrenheit, wenn
dieſe über 32 hinangehen, dieſe Zahl 32 von der Summe
abziehen und den Reſt mit 2 ¼ dividiren, wenn man den
Wärmegrad nach der Réaumurſchen Scala finden will. So
entſprechen dann z. B. 77 Grad F. 20 Gr. R., denn 32
von 77 abgezogen giebt 45°, dieſe durch 2 ½ getheilt find
20 Grad; 50° F. find 8 R.; 122 F. entſprechen 409 R.
Dagegen muß man bei den Temperaturangaben nach F.,
wenn fie unter Null find, 32° hinzufügen und dann die er⸗
haltene Summe durch 2 ½ theilen. So findet man daß —
130 F. gleich find 20° R., — 22° F. entſprechen 24° R.
Denn 13 zu 32 giebt 45, 22 zu 32 giebt 54 und durch
eine Theilung mit 2 ½ erhält man aus jener Zahl 20 aus
dieſer 24. a
Noch immer haben beide Arten die Grade der Wärme
oder der Kälte zu beſtimmen, ſich neben einander im Gebrauch
erhalten und ſich in die Herrſchaft des Reiches der Gewohn⸗
heiten bei verſchiedenen Nationen getheilt. Eine dritte Art
der Gradetheilung der Thermometerſcalen hat ſich indeß in
neueſter Zeit eine ſolche allgemeine Beachtung erworben, daß
ſie vielleicht bald zur Alleinherrſchaft gelangen und bei allen
europäiſchen Nationen in Anwendung kommen wird, dies iſt
die ſchon von dem ſchwediſchen Gelehrten Celſius vorge⸗
ſchlagene, welche den Zwiſchenraum zwiſchen dem Gefrier⸗
und Siedepunkt des Waſſers ſtatt in 80 in 100 Theile theilt,
*
285
fo daß 50 Grade der Wärme an dieſer Scala 40 Graden
der Reaumurſchen und 122 der Fahrenheit'ſchen entſprechen,
überhaupt aber 4 Grad R. gleich find 5° Celſius und 9°
Fahrenheit. | 4
Um eine größere Hitze zu meſſen als jene iſt, bei wel—
cher das Queckſilber ſich in Dampf verwandelt und hierdurch
zu weitren Wärmebeſtimmungen unfähig wird, was bei 350
Grad der hunderttheiligen Scala (280 Gr. R.) der Fall iſt,
hat man die Ausdehnung des Platinametalles durch die Wär—
me in Beachtung genommen, weil dieſes Metall (n. S. 125)
eines der ſchwerſt ſchmelzbaren iſt. Auch das Flüſſigwerden
der Metalle bei verſchiedenen Hitzegraden hat man (wie den
Thaupunkt des Waſſers bei der Einrichtung der Thermome—
ter) zu Anhaltspunkten gewählt, um danach die Stärke der
Feuergluth zu meſſen und auf dieſe Weiſe für die Pyrome-
trie oder Feuergluthmeſſung viele Anhaltspunkte ſtatt eines
einzigen gewonnen. Ein Stücklein Metall von der Größe
eines Stecknadelkopfes, welches nicht nur einmal, ſondern
bei ſchwerer oxydirbaren Metallen wie Silber, Gold, Platina,
zu jedem neuen Verſuch gebraucht werden kann, reicht zu
jenem Zwecke aus. Die Schmelzpunkte des Silbers und des
Goldes liegen um 10 Grade von einander ab, der erſte die—
fer Grade iſt der, wobei eine Miſchung von 9 Theilen Sil⸗
ber und ein Theil Gold, der zweite der, wobei eine Mi—
ſchung von S Theilen Silber mit 2 Theilen Gold zum Schmel—
zen kommt. Zwiſchen dem Hitzegrad, der das reine Gold
und jenem der das reine Platinametall zum Fließen bringt,
werden 100 Grade angenommen und dieſe eben ſo beſtimmt,
daß man 1, 2, 3, 4 u. ſ. w. Hunderttheile Platina mit 99,
98, 97, 96 Procent Gold miſcht. Auſſer dieſem hat man
noch tiefer herabgehende Scalen an den leichtflüſſigen Metal—
len. Das Silvanerz ſchmilzt ſchon bei 200 Grad Wärme
der hunderttheiligen Scala, Zinn braucht 227, Blei 312,
Gut 371, Kupfer 2596, Gold 2884, (Gußeiſen 11380)
rade. |
Wir haben uns lange bei der Betrachtung der künſtli—
chen Wärmemeſſer aufgehalten. Das Thermometer hat nicht
nur unter allen Erfindungen der Phyſik, nebſt dem Barome—
ter den allgemeinſten Eingang in alle einzelne Haushaltungen
des Menſchen gefunden, ſondern es iſt fur dieſen ein lehrrei—
cher Begleiter auf allen ſeinen Wegen durch die verſchiedenen
284
Länder und Regionen ſeiner Sichtbarkeit geworden. Seiner
Anwendung allein verdanken wir unſre gründlichere Kennt—
niß der Unterſchiede des Klimas der verſchiedenen Erdgegen-
den und Gebirgshöhen, die Kunde von dem Unterſchied des
mittleren Wärmegrades der einzelnen Zeiten des Jahres und
der Tage, und was wir noch weiterhin über die Wärme und
ihre Wirkungen werden ſagen können, das würde großentheils
ſeiner feſten, ſichren Beſtimmung entbehren, wenn uns kein
Mittel gegeben wäre die Kraft der Wärme ſicher zu ermeſſen.
32. Die Dampfbildung durch Wärme.
Es ſind erſt zwei Jahrhunderte vergangen, ſeitdem ſich
dem Menſchen durch die Erfindung des Barometers und des
Thermometers ein ganz neuer, vorhin noch ungebahnter Weg
des Erforſchens der Höhen und Tiefen ſo wie eines nähern
Erkennens jener Naturkraft aufgethan hat, die ſich als eine
Mutter und Pflegerin des leiblichen Lebens betrachten läſſet.
Wir find an den Gebrauch jener beiden phyſikaliſchen Geräth—
ſchaften ſo ſehr gewöhnt, daß Manche von uns es kaum be—
greifen können, wie es ſich in alter Zeit im Gebiet der Wiſ—
ſenſchaft ohne jene beiden Hülfsmittel habe haushalten und
gewerbtreiben laſſen. Und dennoch hat damals, als man
noch weder Barometer noch Thermometer kannte, die Luft—
ſäule durch ihren Druck ein eben ſo wohlthätiges Gegenge—
wicht gegen die ausdehnende Federkraft der lebenden Körper
gebildet, die Strahlen der Sonne haben mit derſelben Macht
das Grün der Wieſen hervorgerufen, die Saaten des Ge—
treides wie die Beeren des Weinſtockes gereift, als in unſren
Tagen. Jene Entdeckungen haben zunächſt nur auf die Be⸗
lebung und Erhöhung des geiſtigen Verkehres im Gebiet der
Wiſſenſchaften, nicht auf den leiblichen Verkehr der Menſchen
und Völker eingewirkt. Es giebt aber andre Erfindungen der
neueren und neueſten Zeit, welche in die Verhältniſſe des
täglichen Lebens ſo mächtig und umgeſtaltend eingegriffen ha—
ben, daß ein nachkommendes Geſchlecht der Menſchen es
kaum begreiflich finden wird, wie man früher ohne jene Hülfs⸗
mittel habe bequem und vergnügt auf Erden leben können.
Zu dieſen Erfindungen, welche aus dem Boden der Wiſſen⸗
ſchaft aufwuchſen, ihre Zweige aber über alle Geſchäfte und
Gewerbe des menſchlichen Haushaltes verbreitet haben, ge—
285
hört namentlich die der Dampfmaſchine, durch welche der
Menſch eine der ſtärkſten bewegenden Kräfte der Natur in
feine Gewalt bekommen hat. Fahrenheit, als er den künſt—⸗
lichen Nullpunkt ſeines Thermometers erfand, hatte dem ſtren—
gen Winter von 1709 ſeine Kunſt abgelernt, wodurch dieſer Land
und Gewäſſer mit den Schreckniſſen des Froſtes erfüllte; die
Erfinder der Dampfmaſchinen haben ſich die Kunſt der Vul⸗
kane zu eigen gemacht, durch welche die Geſteinmaſſen der
Tiefe bis zu einer Höhe von Tauſenden der Fuße emporge—
ſchleudert, Felſen zerſchmettert und mitten in der Ebene neue
Gebirge, bis hinan zur Gränze des nimmer ſchmelzenden
Schnees aufgethürmt werden.
Einer der tiefſinnigſten, vielumfaßendſten Gelehrten uns
ſres deutſchen Vaterlandes: Leibnitz, vergnügte ſich in
ſeinen Mußeſtunden an den Entwürfen zu allerhand mecha—
niſchen Vorrichtungen, durch welche es möglich werden ſollte einen
Wagen ohne Pferdekraft, bloß durch die Wirkſamkeit einer
in ſeinem Innren angebrachten Maſchinerie in Bewegung
zu ſetzen. Seinem ſcharfſinnigen Geiſte gelang der große
Fund nicht, welchen in unſern Tagen die Bewohner jedes
kleinen amerikaniſchen Landſtädtchens ſich zu Nutze machen:
der Fund mit der Kraft des Waſſerdampfes, der jedem Koch—
topf, jedem Waſchkeſſel unbenutzt und unvermerkt entſteiget,
ein Bündniß einzugehen, durch das es Menſchenkunſt mög—
lich wird die Schnelligkeit des Roſſes zu übertreffen und den
Sturmwind in ſeinem Laufe einzuholen.
Im Mittelalter, wo die meiſten unſrer Flüße nur an
wenig Orten mit Brücken verſehen, die Berge und Hügel mit
Wald, die tiefen Thäler und Ebenen an vielen Stellen von
Flugſand und Moorgrund bedeckt waren, brauchten die Fuhr—
leute, welche über Böhmen her oder von Franken nach Goß—
lar fuhren, mehrere Wochen, ehe ſie mit vielfachen Umwegen
und tauſendfältigen Beſchwerden ihr Ziel erreichten. Selbſt
in ſpäterer Zeit, als zwar die Wege über Land und Ströme,
durch Wald und Gebirge gebahnt, dabei aber noch nicht in
die bequemere Geſtalt unſrer jetzigen Chauſſeen umgeſchaffen
waren, gehörte das weite Reiſen im Wagen mehr zu den
Beſchwerden als zu den Vergnügungen, während der Rei—
ſende der jetzigen Zeit im bequemen Sitze des Dampfwagens
im Fluge weniger Stunden über eine Strecke dahinfährt, wel—
che der Fußgänger erſt nach mehreren Tagen zurücklegt. Und
286
mehr noch als die Reifen zu Lande find die zu Waſſer durch
die Anwendung des Dampfes zur Fortbewegung der Schiffe
erleichtert worden. Der Erfolg der Seefahrten in fruherer
Zeit hing faſt ganz von Wind und Wetter ab, derfelie Weg
von Smyrna nach Alexandria wurde von einem guten Se—
gelſchiff zuweilen bei anhaltend günſtigem Wind in 4 bis 5,
andre Male bei Windſtille oder ungünſtigem Wind erſt in 30
Tagen zurückgelegt; der Seefahrer fand ſich im Angeſicht des
nahen Landes, glaubte in jedem Augenblick daſſelbe zu errei—
chen und konnte dennoch nicht in den Haſen einlaufen, weil:
der antreibende Lufthauch ihn verlaſſen hatte oder ein plötzlich
ſich erhebender Wind vom Lande her ihn wieder weit ins
Meer hinausführte. Anjetzt fährt der Menſch auf ſeinen
Schiffen, deren Bewegung nicht mehr von einem äußren,
ſondern nur von dem innren Antrieb des Dampfes abhängt,
gleich dem Seevogel dem Winde entgegen und ſieht ſich durch
keine Windſtille in ſeinem Laufe gehemmt; er kann mit eini⸗
ger Sicherheit die Zeit vorausbeſtimmen, in welcher er von
einem Hafen, ja von einem Welttheil zum andren ſeinen
Weg zurücklegen wird. f
Wo wir hinblicken, da iſt es in unſeren Tagen der
Dampf, welcher im Dienſte des Menſchen Arbeiten verrichtet,
zu denen ſonſt das Vermögen von vielen Armen, die Kraft
vieler Roſſe nicht hinreichte. Fragen wir wer für den Berg—
mann das Waſſer und die Bergarten aus der Tiefe herauf⸗
zieht oder wer die Räder der Spinner in Bewegung ſetze,
ſo erfahren wir: es iſt der Dampf; dieſer hilft dem Menſchen
bauen und zerſtören, heben und tragen, Dampf, auch in leib-
licher Form, iſt es, was unſre Buchdruckerpreſſen in Bewer
gung ſetzt. a
Wie ungeheuer groß die in den irdiſchen Köpern ruhen⸗
de Federkraft ſey, wenn ſie, den Banden des Gegendruckes,
der ſie im Zaum hält entlaſſen, auf einmal frei wird, wenn
ſie, bei dieſem Freiwerden irgend einem feſten oder tropfbar
flußigen Stoffe die Luftform wieder giebt, zu der feine Na⸗
tur ihn eignet, das hatte ſchon früher die Wirkung des
Schießpulvers gelehrt. Der Salpeter iſt, wie wir oben ſahen,
eine Verbindung des Pflanzenkalis mit Salpeterſäure, dieſe
aber ihrerſeits beſtehet aus einer Verbindung der beiden
Hauptluftarten der Atmoſphäre: des Stickſtoff- und Sauer⸗
ſtoffgaſes, welche durch gegenſeitigen Zuſammenhalt ihrer
287
urſprünglichen Luftform ſich entrückt und zum tropfbar flüßi⸗
gen Zuſtand ſich herabgeſenkt haben. Der Salpeter bildet,
dem Gewicht nach, den Hauptbeſtandtheil der Maſſe des
Schießpulvers, denn um eine Menge von 100 Pfund von
dieſem zu bereiten muß man 76 Pfund Salpeter mit 15 Pfund
Kohle und mit 9 Pfund Schwefel verbinden. Zieht man jedoch,
ſtatt des Gewichtes, jenen Raumumfang in Betracht, welz
chen die beiden atmoſphäriſchen Gasarten vor ihrer Verſen—
kung in der tropfbar flüßigen Form einnahmen, dann wird
man an das morgenländiſche Mährchen von jenem Rieſen
erinnert, der durch eine höhere Zaubermacht in ein kleines
Gefäß verſchloſſen war und den ein Fiſcher, welcher das Gefäß
aus der Tiefe zog, zu ſeiner eigenen, höchſten Gefahr aus
dem kleinen, engen Gefängniß in Freiheit ſetzte. Die Kunſt
des Menſchen hat es bei der Bereitung und Anwendung des
Schießpulvers mit einer ſolchen, in den kleinen Raum der
Pulverkörnchen gebundenen Rieſenkraft zu thun, welche nur
zu oft, da wo er es nicht erwartete, ihre Verderben bringende
Macht gegen ihn erhoben hat. Denn wenn das Schießpulver
etwa durch einen Funken entzündet wird, da verbinden ſich
die Kohle und der Schwefel nicht ſo, wie in der gewöhnli—
chen freien Luft mit dem Sauerſtoffgas der Atmoſphäre,
ſondern mit jenem, das in Verbindung mit dem Stickſtoff die
Salpeterſäure des Salpeters bildete, denn dieſer in feiner
gebundenen, gröberkörperlichen Form ſtehet der Form der Kohle
und des Schwefels ungleich näher als der luftformige Sauer—
ſtoff der Atmoſphäre, wird deshalb auch, wie aller in den Säu—
ren tropfbar flüßig gewordene Sauerſtoff mit ungleich ſtärkrer
Macht angezogen als dies beim Verbrennen in der Luft ge—
ſchieht. Das Entflammen des Pulvers tritt deshalb mit
augenblicklicher Schnelle ein; es bilden ſich Schwefelſäure und
Kohlenſäure, die erſte bleibt in Verbindung mit dem Kali
des Salpeters, ein Theil der Kohlenſäure aber nimmt mit
dem Stickſtoff zugleich die Luftform an und dieſe beiden
Gasarten, deren gewöhnlicher, mittlerer Rauminhalt durch
die Glühehitze des Verbrennens der Kohle und des Schwefels
noch vermehrt iſt, dehnen ſich jetzt, in einem Nu zu einem
Umfange aus, welcher viel tauſendfältig größer iſt als der,
welchen ſie in ihrer Gebundenheit zur feſten Form einnahmen.
Was den Antheil der einzelnen Gemengtheile des Schießpul—
vers an der gewaltigen Wirkſamkeit deſſelben betrifft, ſo dient
Dee u Lac x e ”
7
288
der Schwefel blos dazu die Maſſe leichter entzündlich zu
machen, während die Kohle, durch ihre theilweiſe Formwand⸗
lung in kohlenſaures Gas weſentlich zur Verſtärkung der
Exploſion beiträgt. Eine Miſchung die blos aus Kohle und
Salpeter beſtünde, würde ein Schießpulver von noch größrer
Wirkſamkeit geben, was aber dabei nicht ſo leicht und ſicher
zu entzünden wäre. So iſt es mithin zunächſt nur die Ver⸗
wandlung der feſten und tropfbar flüßigen Form einiger Ge⸗
mengtheile und ihre gewaltige Ausdehnung durch die Wärme,
was die Exploſion bewirkt. ut
Wie viel der Menſch dieſem durch feine Kunſt hervor⸗
gerufenen Bundesgenoſſen in Krieg und Frieden verdanke,
daran brauchen wir kaum zu erinnern. Die Furcht und der
Schrecken, welche ihn nach dem jetzigen Lauf der Natur zu
einem Herrſcher der Thierwelt machen, haben ſich, ſeit der
Einführung des Gebrauches der Schießgewehre in vielfachem
Maaße vermehrt, denn die Kugel einer Flinte durchmiſſet
in ihrer vollen Kraft den Raum zehnmal ſchneller als der
Flug des Adlers, dreiſigmal ſchneller als ein in der Renn⸗
bahn laufendes Pferd, ja die Schnelligkeit einer Kanonen—
kugel iſt in der erſten Secunde nach ihrem Abfeuern noch
mehr denn anderthalbmal größer als die der Kugel einer
guten Flinte oder Büchſe (jene beträgt nahe 2300 dieſe nahe
an 1400 Fuß). Und mit der Schnelligkeit, welche das Pul⸗
ver dem Wurfgeſchoß unſrer Flinten oder Kanonen giebt,
ſtehet die ungeheure Kraft in Verbindung, mit welcher der
abgeſchoſſene Stein oder die metallne Kugel auf die Körper
einwirken, die von ihnen getroffen werden. Wenn ſchon der
Bachkieſel, deſſen ruhende Laſt auf der Handfläche kaum ge—
fühlt wird, als jener Hirtenknabe ihn aus ſeiner Schleuder
warf, eine ſolche Macht hatte, daß er den Rieſen, deſſen Stirn
er getroffen, ſinnlos zu Boden ſtreckte, wie viel höher muß
dieſe Macht ſich ſteigern wenn das entzündete Pulver den
Stein in Bewegung ſetzt. Denn der Menſchenarm kann aller⸗
dings einem Stein, den er mit angeſtrengter Kraft aus der
Hand wirft, eine Geſchwindigkeit mittheilen, welche der des
Sturmwindes gleich kommt (50 Fuß in einer Secunde durch-
miſſet), und die Bewegung der Schleuder mag dieſe Geſchwin—
digkeit noch um das Doppelte vermehren; die Schnelligkeit
aber, mit der die Kugel aus der Flinte unſrer Krieger fährt
iſt zehn, ja vierzehnfach größer und ſie allein iſt es die ſelbſt
eine
289
einem Talglicht, das man in den Lauf einer Büchſe lud
und dann abſchoß die Kraft giebt ein ſtarkes Brett oder meh⸗
rere hinter einander geſtellte, aus Rinderhaut gefertigte Schil-
de zu durchbohren. Gerade fo wie in der Welt des Geifti-
gen der ſchnelle, kräftige Entſchluß und die Macht der Be⸗
geiſterung eines Einzelnen Ungewöhnliches und Auſſerordentli⸗
ches bewirkt, wenn ſie mit ihrer Gewalt die träge, ruhende
Menge des Volkes erfaßt und in Bewegung ſetzt.
Immerhin aber, obgleich der Feuerrieſe der im Pulver
ſchläft, wenn er durch die Wärme geweckt wird, gar Vieles
für den Menſchen durch Zerſprengen der Felſenmaſſen und
als kriegeriſche Macht arbeiten und wirken muß, bleibt uns
derſelbe ein gefährlicher Verbündeter. Kann uns doch das
eigne Gewehr ſchon dann in Lebensgefahr bringen, wenn wir
aus Unvorſichtigkeit beim Laden deſſelben zwiſchen dem Pul-
ver und Pfropf einen kleinen, leeren Raum ließen, weil dann
nicht nur alles Pulver mit ungemeiner Heftigkeit verbrennt,
ſondern auch die im leeren Raum enthaltene Luft durch die
Feuergluth eine ungeheure Ausdehnung gewinnt, ſo daß der
Lauf der Flinte zerſpringt und ſeine Stücken als Geſchoſſe
umher fliegen. Und welche Verheerungen hat oft ein einziger
Pulverwagen in der Mitte der Städte angerichtet, wenn
durch Reibung die Axe eines Wagenrades in Gluth gerathen
und das Schießpulver dadurch entflammt worden war; wie
oft hat die entzundete Pulverkammer eines Schiffes den Un⸗
tergang einer ganzen Flotte, oder, wie in Leiden, die Zer—
ſtörung eines ganzen Stadttheiles bewirkt!
Der Salpeter iſt, vornämlich in wärmern Ländern, in
ſo großer Menge verbreitet, ſein Gebrauch ſeit uralter Zeit
ſo vielfältig, die Gelegenheiten bei welchen er mit Kohle in
Berührung und Vermiſchung trat, konnten ſo oft ſich ergeben,
daß die Beobachtung ſeiner ſchleunigen Zerſetzung bei dem
Entzünden der mit ihm vermiſchten Kohle ſchon den älteren
Völkern ſehr nahe lag. Immerhin kann man es deshalb
den Forſchern der Geſchichte der aſiatiſchen Völker zugeben,
daß die Chineſen die Zuſammenſetzung und die Wirkung des
Schießpulvers lange vor den Europäern kannten und daß
dieſe Kenntniß von China aus auch an andre Völker des
Morgenlandes übergegangen ſey. Auch mag gar mancher
Scheidekünſtler und Feuerarbeiter des Mittelalters, in dem
und jenem Lande, wie der Grieche Marcus im 9ten Jahr⸗
19
290
hundert, der Engländer Roger Baco und der deutſche Albert
der Große, ſo wie ſein Landsmann, der vielgenannte Ber⸗
thold Schwarz im 13ten Jahrhundert auf die Entdeckung der
feuerfangenden Materie gerathen ſeyn, die mit der Gewalt
und dem lauten Krachen des Donners losbrennt, und nach
Roger Bacos Behauptung die Macht haben ſollte Städte zu
zertrümmern und Kriegsheere zu vertilgen. Die Bergleute
im Rammelsberge bei Goßlar bedienten ſich ſchon im 12ten
Jahrhundert des Schießpulvers zum Sprengen der Geſteine,
und durch ſolche ſachverſtändige Männer und zweckdienliche
Mittel fol Pfalzgraf Heinrich, der Sohn Heinrichs des W-
wen, im Jahr 1200 die Mauern eines feſten Schloſſes bei
Tyrus, im Kriege der Kreuzfahrer, geſprengt haben. Die
Völker hatten ſeit Jahrhunderten die plötzlich entbundene Fe⸗
derkraft, die im Pulvergemenge lag, zu ihrem Freund und zu
ihrem Feind gehabt, ohne dieſelbe ſo in ihre Gewalt zu be⸗
kommen, daß ſie dieſelbe zu einem ſtätig fortwirkenden Ge⸗
hülfen bei ihrem Tagsgeſchäft benutzen konnten. Dieſe frem⸗
de Macht glich einem Löwen, den man unter das Heer der
Feinde hineintreibt und der hier allerdings Schrecken verbrei⸗
ten kann, der aber bald nachher ſeine ungezähmte Wuth an
den eigenen Verbündeten ausläßt, während ein gezähmter
Hund, auf den Ruf ſeines Herrn merkend, jetzt zum Angriff
des Feindes oder des Wildprets ſich aufmacht, dann, wenn
der Herr ihn gebietet, wieder zur Ruhe ſich bequemt.
Ein andrer Körper, welcher nicht erſt durch die Kunſt
muß zuſammengeſetzt werden, ſondern welcher allenthalben in
größeſter Menge ohne Mühe und Arbeit zu haben iſt, zeigte
ſich ungleich mehr geeignet mit der Spannkraft ſeines Dam⸗
pfes in den Hausdienſt des Menſchen zu treten: dies iſt das
Waſſer. Wir haben ſchon viel von dieſem mütterlich näh⸗
renden Element, ſo wie von den Grundſtoffen geſprochen, in
welche es ſich zerlegen und aus denen es ſich zuſammenſetzen
läſſet, dennoch wird es gut ſeyn, wenn wir hier noch einige
merkwürdige Eigenſchaften deſſelben ins Auge faſſen, durch
welche dieſe Urflüſſigkeit von den meiſten andren Körpern der
Erde ſich unterſcheidet.
Wir kennen das Waſſer in drei verſchiedenen Formen:
in der feſten des Eiſes oder Schnees, in der gemeinen, tropf⸗
bar flüſſigen und in der des Dampfes oder Gaſes. Wenn
daſſelbe aus der gewöhnlichen, unſrem Auge ſichtbaren, unſ⸗
f *
291
rer Zunge ſchmeckbaren, unſren Händen ſo wie allen Theilen
des Körpers fühlbaren Form in die des gasartigen Dampfes
übergeht, dann entzieht es ſich, wie eine aus dem erſtorbe⸗
nen Leibe abgeſchiedene Seele der Wahrnehmung unſrer Sinne.
Das vollkommen gasartige Waſſer iſt unſrem Auge nicht
mehr ſichtbar, dem Gefühl unſrer Haut nicht mehr bemerk⸗
bar, fein Daſeyn wird ferner durch keinen unſrer Feuchtig⸗
keitsmeſſer angezeigt, es iſt wie aus dem Verkehr der grob⸗
ſinnlichen irdiſchen Körperwelt ausgetreten und kehrt erſt dann
zu dieſem Verkehr zurück, wenn es als feuchter Dunſt wie⸗
der der tropfbaren Geſtalt ſich nahet. |
Der flüffige Zuftand des Waſſers wird eben fo wie der
des Queckſilbers durch einen gewiſſen Grad der Wärme er-
halten, wenn dieſe fehlt gehen beide Flüſſigkeiten in feſten
Zuſtand über. Zum Schmelzen des Queckſilbers reicht ſchon
eine Wärme hin, die ſich unſrem Gefühle als faſt unerträg-
liche Kälte darſtellt und bei welcher Land und Gewäſſer von
Schnee und Eis ſtarren. Zum Schmelzen des feſten Wafs
ſers bedarf es ſchon einer Wärme, welche um 31 Grad höher
iſt als die Schmelzwärme des Queckſilbers, zum Schmelzen
des Schwefels muß dieſelbe auf das Vierfache zum Flüſ⸗
ſigwerden der meiſten Metalle auf das viel Hundert- ja Tau⸗
ſendfache geſteigert werden. Dieſe eben genannten Körper
nehmen, wenn ſie in den flüſſigen Zuſtand übergehen, in
großer Allgemeinheit einen größern Raum ein als im feſten,
ziehen ſich dagegen beim Erſtarren mehr oder minder merk—
lich zuſammen. Hierbei werden ſie zugleich dichter und mit-
hin ſchwerer: das feſte Metall ſinkt in dem geſchmolznen zu
Boden, weil dieſes leichter iſt denn jenes.
Ganz anders verhält ſich in dieſer Beziehung das Waſ—
ſer. Dieſes nimmt im ſtarren Zuſtand einen größeren Raum
ein als im flüſſigen; es kann beim Gefrieren durch ſeine
Ausdehnung, wie dies im Winter von 1709 geſchahe, Fel⸗
ſen zerſprengen und Bäume zerſpalten. Zugleich wird es
auch leichter; das Eis fällt nicht durch ſein größeres Gewicht
in dem flüſſig gebliebenen Waſſer zu Boden, ſondern bildet
ſich über ſeine Oberfläche hin als leichtere Decke, welche erſt durch
einen Zuwachs von unten her allmälig dicker wird. Seine
größte Dichtigkeit und Schwere hat das merkwürdige Element
wenn es bis zu 4 Grad unter dem Gefrierpunkt erkältet iſt;
ſo bald es feſt zu werden anfängt, entwickelt ſich fo viel Wär⸗
19
292
me aus demfelben, daß die Temperatur der Umgebung wie-
der auf den Nullpunkt hinanſteigt.
Sehr bedeutend ſind die Folgen dieſer Eigenſchaft, wel⸗
che eine ewige Weisheit in das Urelement des Waſſers ge⸗
legt hat. Würde dieſes beim Erſtarren ſo wie die meiſten
andren ſchmelzbaren Körper dichter und ſchwerer und das
Eis ſänke deshalb, ſo wie es auf dem Waſſer entſtünde, auf
den Grund unſrer Seen hinab, dann würden dieſe von unten
herauf ausgefrieren und ſelbſt in den milderen Ebenen unſres
Vaterlandes zu einer gletſcherartigen Eismaſſe anwachſen,
welche zuletzt das ganze Becken des Sees ausfüllte. Wenn
dann die wärmere Jahreszeit wiederkehrte, da würde die Eis⸗
maſſe bei ihrer ungemeinen Dicke nur von der Oberfläche
hinein, mehr oder minder tief, ſchwerlich aber bis an den
Grund hinab aufthauen, weil die wärmende Kraft der Son—
nenſtrahlen, hindurchgehend durch die hohe Säule des Waſ—
ſers je tiefer hinab, deſto mehr ſich ſchwächen müßte. Könnte
aber auch ein minder tiefer See durch die Sonnenwärme bis zu
ſeinem Boden hinab aufthauen, ſo würde er dennoch einen
großen Theil ſeiner Reize für uns verloren haben, denn bald
würde weder Fiſch noch Froſch in ihm zu ſehen ſeyn; ſie alle
hätte der Froſt beim Eingefrieren in das Eis getödtet. So
aber ſinket zuerſt die oberſte Schicht des Waſſers, wenn ſie
durch die Winterluft bis zu 4 Grad unter dem Eispunkt er⸗
kaltet iſt, als die ſchwerere, hinab zum Boden, ihr folgt eine
zweite und fo die andren bis ſich allen die ohngefähr gleiche
Kälte mitgetheilt hat und nun die Bildung der Eisdecke be
ginnen kann, welche gegen die kalte Luft einen wohlthätigen
Schutz von oben gewaͤhrt, während unten von der Tiefe her
die mittlere Temperatur des Bodens, welche unter unſrem
Himmelsſtrich gewöhnlich um 8 bis 12 Grad über dem Ges
frierpunkt iſt, dem Waſſer fortwährend jene Wärme mittheilt,
welche den thieriſchen Bewohnern des Gewäſſers zur Erhal—
tung ihres Lebens nothwendig iſt.
Dort im Weltmeere, wo die Tiefe des Gewäſſers eine
vielfach höhere iſt als in unſren Landſeen, kommt der Erhal⸗
tung und lebenskräftigen Bewegung jener thieriſchen Bewoh—
ner noch eine andre Eigenſchaft des Waſſers zu ſtatten, jene
nämlich, daß ſeine Federkraft während ſeines gewöhnlichen,
tropfbar flüſſigen Zuſtandes ganz überaus gering iſt. Die
Federkraft der atmoſphäriſchen Luft iſt die Urſache der ſehr
295
merklich zunehmenden Dichtigkeit der einzelnen Luftſchichten,
von oben nach unten. Könnten wir ein Schacht graben, wel—
ches 7 Meilen tief unter die Oberfläche der Erde hinabreichte, dann
würde die dort befindliche Luft durch den Druck der mächti—
gen auf ihr ruhenden Luftſäule ſchon eine Dichtigkeit haben,
welche der des Waſſers; in 11 Meilen Tiefe, ſo hat man
berechnet, eine ſolche die der Dichtigkeit der Platina gleich
käme. Hätte das Waſſer eine ſolche Federkraft wie die Luft,
dann würde in der mittleren Tiefe unfrer Meere feine Dich—
tigkeit ſo groß ſeyn, daß kaum noch ein Stein darinnen zu
Boden ſinken könnte, ſondern nur wie ein Hanfkorn im dünn⸗
flüſſigen Honig darin ſchweben bleiben würde; Fiſche, ſelbſt
die ſtärkſten, würden ſich ſchwieriger noch als eine Waſſerratte
durch zähen Schlamm und in gewiſſer Tiefe gar nicht mehr
durch die gleich Mauern ſtehende Fluth hindurcharbeiten kön—
nen; während dagegen das Waſſer, vermöge ſeiner geringen
Federkraft in der Tiefe faſt noch eben ſo leicht durchdringbar
iſt für die Kraſt der thieriſchen Bewegung als in der Nähe der
Oberfläche, zu gleicher Zeit aber allerdings auf todte Körper, in
denen die Kraft des Lebens dem mechaniſchen Gewicht keinen
Widerſtand entgegenſetzt, durch die Schwere ſeiner Säule
einen vielfachen Einfluß übt.
Die Eigenſchaften, die ſich am Waſſer in ſeiner dritten
Verwandlung zur gasartigen Form kund geben, wenn daſſelbe
gleich einer aus dem Leibe geſchiedenen Seele dem Verkehr
mit unſren Sinnen und mit der gröberen irdiſchen Körper—
welt enthoben wird, ſind für uns hier, bei der Betrachtung
der Kraft der Wärme, die wichtigſten. Wenn die Salpeter-
ſäure bei manchen ihrer chemiſchen Verbindungen eine lang⸗
ſame, allmälige Zerſetzung erleidet, wobei der Stickſtoff aus
ſeiner Gebundenheit frei wird, dann zeigt ſich keine Spur
einer ſolchen Exploſion, durch welche das Schießpulver ſeine
zerſchmetternde Gewalt empfängt. Auch der gasartige Dampf,
der beim Verdünſten des Waſſers allmälig ſich entbindet,
wirkt auf feine Umgebung kaum merklich verändernd ein. Wie
aber der Stein, der fo lange er ruhend auf unfrer Hand
lag, von dieſer kaum mehr gefühlt wurde, wenn man ihn
aus einem Geſchütz abfeuert eine Kraft empfängt, durch wel—
che er nicht nur die Hand, ſondern den ganzen Arm eines
Menſchen zerſchmettern und hinwegreißen kann, ſo wird dem
Waſſerdampf durch die Schnelligkeit ſeiner Entbindung in
294
der Hitze des Siedens eine Macht mitgetheilt, welche ähnlich
der Macht des entzündeten Schießpulvers, ſchwere Laſten
emporhebt und die Wände des Gefäßes, die ſeine Entwick⸗
lung hemmen wollen, zerſprengt. Aber die rieſenhafte Fe⸗
derkraft, die bei ſolcher Gelegenheit an dem ſchleunig ausbre⸗
chenden Waſſerdampf ſich kund giebt, läßt alsbald durch den
Willen des Menſchen ſich bändigen; eine verhältnißmäßig ge⸗
ringe, plötzliche Abkühlung bewirkt ein Zurückſinken des luft⸗
artigen Stoffes in die Form des tropfbar flüſſigen Waſſers.
Der aufſteigende Dampf eines Waſchkeſſels oder ſiedenden
Topfes wird vor unſren Augen, wenn er in die kalte Win⸗
terluft aufſteigt, wieder zum ſichtbaren, wäſſrigen Nebel oder
zu einem in Tropfen zuſammenrinnenden Waſſer. Wenn
deshalb in ein Gefäß, das von ſpannkräftigem Waſſerdampf
erfüllt war, nur eine kleine Menge kalten Waſſers hineinge⸗
ſpritzt wird, dann giebt der Dampf ſogleich ſeine Spannkraft
auf und ſchmiegt ſich nachgiebig wieder in die harmloſe Form
des Ruhezuſtandes, aus dem er hervorgieng. Schon durch
dieſes einfache Mittel kann der Menſch den Waſſerdampf,
bei einiger Vorſicht, gleich einem mächtig ſtarken, durch die
Kunſt gezähmten Elephanten lenken und leiten und zu ſei⸗
nem Dienſt benutzen. 1
Das Waſſer welches durch die Siedehitze in Dampf ver—
wandelt wird, dehnt ſich hierbei gegen den frühern Raumin—
halt ſeiner tropfbaren Form, bei mittlerer Temperatur, zu
einem gegen 1700 fachen Umfang aus und dieſe Ausdehnung,
mit der Spannkraft zugleich, wächſt in einem verſchloſſenen
Gefäß durch den Einfluß einer höher geſteigerten Wärme.
Die Spannkraft des Waſſers, wenn dieſes plötzlich durch die
Hitze zur Dampfform ſich erhebt, übertrifft ſelbſt die des ab—
brennenden Schießpulvers, denn durch den Dampf der aus
einem Pfund Waſſer erhalten wird, kann man ein Gewicht
von 550 Pfund, durch die Entzündung von einem Pfund
Pulver nur eine Laſt von kaum 229 Pfund Gewicht fortbe—
wegen. Wie der zahme Elephant in heftig gereiztem, zornz
müthigem Zuſtand des ohnmächtigen Widerſtandes der Men—
ſchen nicht achtet, ſondern ihre Hütten darniederreiſt, und
mit vernichtender Stärke in ihre Haufen hineinbricht, ſo hat
auch ſchon öfter der Waſſerdampf, wenn man ihn nicht in
wachſamer Obhut hielt, Gebäude und Schiffe der Menſchen
zertrümmert und ganze Geſellſchaften derſelben vernichtet.
295
Der Unterſchied der Bewegungen, welche durch eine ſelbſt⸗
ſtändig inwohnende Kraft des Lebens bewirkt werden, von
ſolchen die eine bloße mechaniſche Gewalt hervorruft, beruhet
vor Allem darauf, daß die letzteren alsbald nachlaſſen, wenn
die mechaniſche Urſache zu wirken aufhört durch die ſie erzeugt
wurden, während die erſteren ſich dadurch immer wieder er-
neuen, daß abwechſelnd mit dem Zuſtand der Fülle an dem
einen Punkte, der Zuſtand des Mangels an dem andren,
polariſch entgegengeſetzten, hervortritt und umgekehrt, mit der
Sättigung des letzteren das Bedürfniß des erſteren wieder
erwacht. Die beiden Eimer am Brunnen des Lebens, die
rechte und linke Herzkammer fo wie jede dieſer einzelnen Kam⸗
mern und ihre Vorkammern ſtehen in einem ſolchen regelmä⸗
ßig abwechslenden Verhältniß ihrer Bewegungen, daß, wenn
die Kammer durch Zuſammenziehung ihrer Wände ſich ent—
leert, die Vorkammer ſich aufthut und wenn die linke Kam—
mer das Blut das ſie durch ihre Vorkammer aus den Lun⸗
gen empfieng, hinaustreibt, durch die Pulsadern, in alle
Theile des Leibes, da thut zu gleicher Zeit die rechte Kam-
mer ſich auf für den Empfang des Blutes das ihr durch
ihre Vorkammer aus den Blutadern zuſtrömt. Während die
eine dieſer Höhlungen ſich von der Fülle ihres flüſſigen In⸗
haltes entleert, nimmt die andre fie auf; abwechslend verz
wandelt ſich jetzt hier, dann dort die Anziehung in ein Abe
ſtoßen und umgekehrt. | |
Dieſer von felber fich erneuernde Wechſel zwiſchen Ans
ziehen und Abſtoßen, Aufnehmen und Ausgeben fällt uns,
im Vergleich mit den unbeſeelten, unorganiſchen Körpern an
den beſeelten Weſen alsbald ins Auge. Das Thier athmet
nicht nur ein, ſondern es athmet auch aus; die Kohle, ſo
kann man ſagen, athmet auch, indem ſie verbrennt, das
Sauerſtoffgas ein und wird zur Kohlenſäure, aber ſie kann
das aufgenommene Gas nicht durch eigne Kraft wieder aus-
ſtoßen, kann, wenn fie etwa vor ihrem Verbrennen ein Des
mant war, nicht wieder zum Demant ſich geſtalten und ſo
abwechslend bald einmal Kohlenſäure, dann wieder Demant
werden. Wenn die ätzende, aus dem Kalkmetall (nach S.
146) entſtandene Kalkerde ſich mit der Kohlenſäure geſättigt
hat und nun zum feſten Kalkſtein oder Marmor geworden
iſt, dann kann ſie dieſe aufgenommene Nahrung nicht wieder
aus eigener Kraft ausſondern, fonft würde es um das Felt:
296
ſtehen unſerer Gebirge und das beſtändige Verbleiben ihrer
Geſtalten und Umriſſe ſehr zweifelhaft und bedenklich ausſe⸗
hen, ſondern nur eine äuſſere Macht, wie das Hinzutreten
einer ſtärkeren Säure, oder ein hoher Grad von Hitze, wel-
cher die Expanſivkraft der Kohlenſäure ſo hoch ſteigert, daß
dieſelbe die Luftform anzunehmen vermag, kann die feſte Ver⸗
bindung aufheben und die Kalkerde ihres, vielleicht ſchon vor
ee Jahrtauſenden aufgenommenen Sättigungsmittels be⸗
rauben. N
Bleiben wir bei dem zuletzt erwähnten Verfahren ſtehen
das ſeit uralter Zeit beim Brennen des Kalkes zur Bereitung
des Mörtels angewendet wird. Das Uebergewicht, welches
die ausdehnende Federkraft in der Kohlenſäure über den Zug
des Zuſammenhaltes mit dem erdartigen Stoffe gewinnt, iſt
der Grund ihres Austretens, die Urſache jenes Wechſels,
durch welchen auf einmal die Anziehung in Abſtoßung über⸗
gehet. Faſſen wir die Vorgänge der Lebensthätigkeit im Inn⸗
ren eines beſeelten, lebenden Körpers etwas näher ins Auge,
dann wird es uns klar, daß die Aufeinanderfolge dieſer Vor⸗
gänge blos auf einer jetzt zunehmenden, dann wieder abneh—
menden Steigerung der Spannkraft der organiſchen Gebilde
beruhe, auf einem Wechſel des Freiwerdens und der Gebun—
denheit der eigenthümlichen Wirkſamkeit, auf dem Wechſel
eines gleichſam Druckes von außen und eines Gegendruckes
von innen. Die auf der Oberfläche unſres Leibes ruhende
Atmoſphäre iſt für unſren Geſammtleib ein Aeußeres und
der Ausgangspunkt eines auf dieſen wirkenden, ſeine Form
begränzenden Druckes. Für die Nerven ſind alle andren
Theile des Leibes ein Aeußeres, für die Seele iſt ſelbſt das
Gehirn und das Syſtem der Nerven ein ſolch Aeußeres.
Während bei dem Vorgang der Verdauung, der Blutberei—
tung, der Bildung der Theile die Lebenskraft der Vereinis
gung mit einer ihr gegenüberſtehenden, äußeren Leiblichkeit
hingegeben iſt, erſcheint ſie gebunden und von dem Gegenge—
wicht des äußren Stoffes beherrſcht, wenn ihr dagegen ſtatt
der Sättigung das Bedürfniß, ſtatt der Ruhe das Streben
wiederkehrt, wenn ſie von dem ſchon gewordenen Alten zu
einem Werden des Neuen ſich hinwendet, dann iſt ſie wieder
ur freien Wirkſamkeit erwacht. Der Kohlenſäure im Kalk⸗
ein geben wir durch die Wärme unſrer Kalköfen die Spann⸗
*
1
Pr
5
297
kraft wieder; was hier die Wärme thut, das wirkt im leben⸗
den Leibe die Seele.
Die Einrichtung und Wirkung unſrer Dampfmaſchinen
ahmt in abbildlicher Weiſe die Vorgänge des Lebens, den
fortwährenden Wechſel zwiſchen Druck und Gegendruck, zwi—
ſchen einem freien Aufſtreben und Gebundenwerden der Spann⸗
kraft nach. Bei einer Dampfmaſchine von jener Einrichtung,
welche früher in ausſchließendem Gebrauch war, tritt der
Waſſerdampf, der ſich aus dem ſiedenden Waſſer des Keſſels
entwickelt, in einen metallenen Cylinder hinein, hebt dort
durch die Gewalt ſeiner Ausdehnung den gleich einem wohl—
ſchließenden Stöpſel eingefügten Kolben empor, bis dieſer an
einem gewiſſen Punkt ſeines Emporſteigens eine künſtliche
Vorrichtung in Bewegung ſetzt, durch welche die Mündung
jener Röhre, aus welcher der Dampf eindrang, verſchloſſen
und zugleich der verſchloßne Hahn einer Röhre geöffnet wird,
durch die ſich ein Strahl kalten Waſſers in den Cylinder er-
gießt. Mit der Abkühlung zugleich kehrt der Dampf in die
tropfbar flüſſige Form des Waſſers zurück und es entſtehet ein
leerer Raum, in welchen der Druck der Atmoſphäre den Kol—
ben alsbald wieder hinabſtößt, bis dieſer bei ſeinem Hinab—
ſinken abermals dem zudringenden Dampf den Eingang in
den Cylinder eröffnet und von neuem durch die Gewalt der
Spannkraft emporgehoben wird. So wirken abwechslend der
Druck der Atmoſphäre und der Gegendruck des Dampfes, und
bei dem Auf- und Niederſteigen des Kolbens wird durch die
Stange, die in dieſem befeſtigt iſt, jenes mannigfache Ge—
triebe in Bewegung geſetzt und darin erhalten, welches dazu
dient, die gewaltigſten Laſten emporzuheben oder die Schau—
felräder der Dampfſchiffe und die Räder der Dampfwägen
in einen fortwährenden Gang zu bringen.
Eine ſpätere, mit vieler Umſicht getroffene, ſehr nutzbare
Einrichtung der Dampfmaſchinen läßt den Druck der Atmo—
ſphäre ganz auſſer Spiel, indem ſie das Aufſteigen wie das
Niederſinken des Kolben, in dem nach oben geſchloſſnen Cy—
linder, blos durch die Spannkraft der Waſſerdämpfe bewirkt,
denen ſie abwechslend den Zutritt bald in den oberen, bald
in den unteren Theil des Cylinders eröffnet und zugleich den
Dampf aus jener Abtheilung des Cylinders, worinnen jetzt
ſeine Spannkraft ihre Dienſte gethan hat, hinausläſſet in
einen weiten Kanal (den ſogenannten Condenſator), der von
298
kaltem Waſſer umgeben ift, deſſen niedere Temperatur dem
Dampf alsdald ſeine Luftgeſtalt nimmt und ihn wieder zum
Waſſer werden läſſet. Bei dieſem Entlaſſen des Dampfes
in den kühlen Raum wird dem Cylinder jetzt hier, dann dort
jener leere Raum wieder gegeben, ohne deſſen Vorhandenſeyn
das Auf- und Niederbewegen des Kolbens nicht möglich ſeyn
würde. Bei dieſer Einrichtung, nach welcher der Druck wie
der Gegendruck beide nur ein Werk des Dampfes ſind, kann,
zur Bewegung der Maſchinen bald eine Spannkraft der Däm⸗
pfe, welche geringer iſt als die Macht des atmoſphäriſchen
Druckes, bald eine ſolche angewendet werden, welche durch
den höheren Grad der Hitze geſteigert, den äußren Luftdruck
vielfach überſteiget. Dieſe erhöhte Spannkraft (der Hoch⸗
en wird namentlich zum Fortbewegen der Dampfwägen
enutzt.
In unſren Tagen und in unſren Länderſtrichen, darinnen
kaum eine Gegend gefunden wird, in welcher nicht in der
Entfernung weniger Stunden eine Dampfmaſchine zum Ge⸗
brauch der verſchiedenen Gewerbe oder an den Locomotiven
der Dampfwägen, theils feſt an einem Ort verbleibend, theils
als ein von Zeit zu Zeit ankommender und wieder abgehen⸗
der Gaſt geſehen werden kann, wäre es wohl ein eben ſo
überflüſſiges Bemühen den ganzen Bau einer Dampfmaſchine
und die Zuſammenwirkung ihrer einzelnen Theile zu beſchrei⸗
ben, als den Bau und die Einrichtung einer Waſſermühle.
Jeder von uns weiß es aus eigner Anſchauung, wie das
Waſſer, das im Dampfkeſſel iſt, nicht zunächſt durch die an
den Boden deſſelben anſchlagende Gluth der Kohlen, ſondern
durch die metallenen Röhren, im Innren des Keſſels erhitzt
werde, durch welche die glühend heiße Luft des Herdes hin—
durchſtreicht, und wobei dem Waſſer eine viel größere Ausdeh⸗
nung der Hitzflächen dargeboten wird. Jeder von uns hat das
ſchnaubende Aus- und Einathmen der Luft und des Kohlen⸗
dampfes vernommen und geſehen, das die vorüber eilende
Locomotive eines Dampfwagens oder die Dampfſchiffe in den
Augen ungebildeter Völker oder der Kinder gleich einem ath⸗
menden Weſen, gleich einem wilden, lebenden Thiere erſchei⸗
nen ließ und die Viehherden, in deren Nähe der Zug vor⸗
übergieng, ehe ſie daran gewohnt waren, zu eiliger Flucht
bewegte. |
Um die Erfindung und Vervollkommnung der Dampf
2
299
mafchinen fo wie um die Anleitung zu ihrer mannichfachen
Benutzung haben ſich vor allen Andren die Meiſter in den
mechaniſchen Erfindungen und Künſten, die Engländer, ver-
dient gemacht. Hin und wieder mochte bei Betrachtung jener
metallenen, mit Waſſerdampf gefüllten Kugel, welche Hero
von Alexandrien (um 120 J. v. Chr.) beſchreibt; wenn
man dieſelbe durch die Rückwirkung des aus einer engen
Röhre herausſtrömenden Dampfes um ihre eigene Are ſich
bewegen ſahe, der Gedanke an eine Anwendung des Waſſer⸗
dampfes zu verſchiedenen Kraftäuſſerungen erwacht ſeyn; die
erfte, ſichre Spur jedoch von einer Anwendung der Dämpfe
zur Hebung eines 40 Fuß hohen Waſſerſtrahles, finden wir
vom Jahr 1655 in dem Werk eines Engländers, des Mar—
quis von Worceſter. Ein andrer Engländer, Sir Samuel
Moreland war es, welcher im Jahre 1683 dem franzöſi⸗
ſchen Könige Ludwig XIV. einen ſehr wohldurchdachten, rich—
tigen Plan zur Anfertigung einer Vorrichtung gab, durch
welche das Waſſer mittelſt der Dämpfe aus der Tiefe empor⸗
gehoben werden könnte. Fünfzehn Jahre nachher (1698) löſte
ſich der engliſche Capitän Sa very ein Patent für feine Er-
findung einer Dampfmaſchine zum Auspumpen des Waſſers.
Die ganze Einrichtung derſelben beſtund darin, daß man
in eine Röhre (den Pumpenſtiefel) Dämpfe hineinleitete, dann
durch Abkühlung der Röhre und wäſſrigen Niederſchlag des
Dampfes eine Leere erzeugte, in die das Waſſer von unten
hinanſtieg. Ein engliſcher Handwerksmann, der Schmidt
Newcomen lehrte 1705 die Weiſe das Niederſchlagen des
Dampfes in kurzer Zeit durch eingeſpritztes Waſſer und das
Niedergehen des Kolbens durch den atmoſphäriſchen Druck
zu bewirken; unſer um die Mechanik ſehr verdienter Lands⸗
mann Leupold machte (1720) feine Angaben zur kräftigern
Anwendung des Dampfes (im Hochdruck nach S. 298) be-
kannt, in denen die Mechaniker der ſpäteren Zeit Vieles für
ſie Benutzbare gefunden haben. Noch immer war jedoch die An—
wendung der Dampfmaſchinen eine ſehr beſchränkte; auſſer
den Dienſten, welche ſie hin und wieder in den Bergſchachten
um Heraufziehen des Grubenwaſſers aus der Tiefe leiſteten,
ſahe man ſie faſt nur zu den Waſſerkünſten benutzt, an denen
die höheren Stände und reichen Privatleute ſich ergötzten.
Den Weg zur allgemeinen, leichteren Benutzbarkeit der
einflußreichen Erfindung bahnte erſt der Engländer James
300
Watt. Aus feiner in Gemeinſchaft mit dem Maſchinenbau⸗
meiſter Matthew Boulton im J. 1769 begründeten Fabrik
ſind Dampfmaſchinen von der zweckmäßigſten Einrichtung her⸗
vorgegangen, mit denen alle Gegenden von Europa verſorgt
wurden. Er war es, der das unmittelbare Einſpritzen des
kalten Waſſers in den Cylinder dadurch vermeiden lehrte,
daß er den Dampf in den oben (S. 297) beſchriebenen Con⸗
denſator ableitete. Während man vorher durch die Spann⸗
kraft des Dampfes nur ein einfaches Auf- und Niederſteigen
des Kolbens und mithin das Arbeiten des Zuges der Mar
ſchine nur nach einer Richtung zu bewirken wußte, machte
Watt durch ſeine vorhin (S. 298) erwähnte Erfindung der
doppelt wirkenden Maſchinen erſt das Hervorbringen ſolcher
Bewegungen möglich, die zu ihrer Unterhaltung einer unun⸗
terbrochen fortwirkenden Kraft bedürfen.
Es war jetzt nur noch ein Schritt zur Erfindung der
Dampfſchiffe und dann ein andrer zur Erfindung der Dampf—
wägen zu thun. Den erſteren that Robert Fulton, von
Geburt ein Penſylvanier, der ſich zuerſt als Goldſchmids⸗
Lehrling in Philadelphia den Ruhm eines guten Zeichners
erworben und hierauf zu viel vertrauend, nach London bege—
ben hatte, um ſich hier in der Schule des berühmten Weſt
zum großen Maler zu bilden. Aber der vortreffliche ameri⸗
caniſche Zeichner war nicht dazu befähigt in England als
Maler zu glänzen; er fühlte dieß ſelber und ergab ſich der
Mechanik und in Gemeinſchaft mit Ramſey, einem Genof-
ſen dieſes Gewerbes, der Fertigung von Dampfmaſchinen,
die für Virginien beſiimmt waren. Bei dieſen Arbeiten kam
ihm der Gedanke zur Benützung der Dampfmaſchinen für die
Fortbewegung von Fahrzeugen auf dem Waſſer. Mit zu
wenig äußeren Mitteln wagte er ſich an die Ausführung fei-
nes Planes, doch wurden ſeine wenig augenfälligen Verſuche
in Frankreich wie in England keiner beſondern Theilnahme
gewürdigt. Zwölf Jahre lang hatte der innre Antrieb des
thatfräftigen Mannes mit den äußren Hemmungen gekämpft,
welche vor Allem der Mangel an Geldmitteln der Ausfüh-
rung ſeines ſinnreichen, wohlüberlegten Planes in den
Weg legte, da hatte er es endlich im J. 1807 ſo weit ge⸗
bracht, daß zu Newyork ein nach ſeiner Angabe erbautes
Dampfſchiff von 160 Tonnen, bewegt mit einer Kraft die
jener von 20 Pferden gleich kam, auslaufen konnte, das den
301
Weg von 120 Seemeilen von Newyork bis Albany ſtrom⸗
aufwärts in 32 Stunden zurücklegte. Durch dieſes glückliche
Gelingen des Unternehmens war das Mißtrauen feiner Lands—
leute beſeitigt worden, welches vornämlich durch den verun—
glückten Verſuch erregt war, welchen ſchon im J. 1788 der
Uhrmacher Fitch in Philadelphia, dem gleich bei der erſten
kleinen Fahrt der Keſſel zerſprang, gemacht hatte. Aber auch
Fulton, der Begründer eines ganz neuen, gewaltigen Auf—
ſchwunges der Schifffahrtskunde, hatte von ſeiner folgenreichen
Erfindung keinen äußren Gewinn. Er hatte zwar von den
vereinigten Staaten die Patente für den Betrieb der Dampf—
ſchifffahrt auf allen größeren Flüſſen des Landes erhalten,
mußte jedoch dieſe aus Noth großentheils verkaufen und da⸗
bei noch die Kränkung erfahren, daß ein Advocat, in liſti—
gen Kunſtgriffen gewandt, ihm den Ruhm und Vortheil der
erſten Erfindung ſtreitig zu machen ſuchte. Er war erſt 48
Jahre alt, als er, ohne die Vollendung einer großen, nach
ſeinem Plane erbauten Dampffregatte zu erleben, im J. 1815
ſtarb. Viele Andre ſind, als man jetzt in allen Ländern von
Europa anfieng Dampfſchiffe nach Fultons Angabe zu bauen
und zur Waſſerfahrt zu benutzen, durch ſeine Erfindung reich
geworden; ihm ſelber hatte ſie nicht ſo viel eingetragen, daß
er ſich und die Seinigen aus der Laſt der Schulden, die er
für die großen, zu ſeinem Unternehmen nöthigen Auslagen
hatte machen müſſen, herauszuarbeiten vermochte.
Welche Dienſte die Dampfſchifffahrt dem Verkehr der
Völker zu leiſten vermöge, das liegt ſchon jetzt vor Augen.
Vasco de Gama's welthiſtoriſches, ruhmgekröntes Unter—
nehmen, von Europa nach Oſtindien zu ſegeln, hatte zwar,
ſeit er ihnen kühn vorangegangen, Tauſende von Nachahmern
gefunden, dennoch gehörten die Fahrten nach Oſtindien, ab—
geſehen von allen möglichen Gefahren, bis in die neueſte Zeit
zu den langwierigſten und ſchwierigeren. Anjetzt legen die Dampf—
bote von England den Weg bis an die ägyptiſche Küſte, dann
en das rothe und indische Meer bis nach den Küſten von
Sftindien, dahin vormals unſre Segelſchiffe kaum nach 6
bis 8 Monaten gelangten, ſchon in 5 bis 6 Wochen zurück.
Durch ihre Dampfſchiffe ſind die Europäer in noch ungleich
höherem Maaße als vorher Beherrſcher der Meere und Be—
ſchützer der Küſtenbewohner gegen den Raubmord der See—
räuber geworden. Wie ſchwer war es oft vormals die ſchnell
302
rudernden malayiſchen und chinefifchen Seeräuber in ihren
Jonken einzuholen, wenn ſie vor den Augen der Europäer
Städte und Dörfer an den Küſten der Philippinen entzündet
und die harmloſen Bewohner derſelben ermordet, oder wenn
ihre Schaaren ein europäiſches Handelsſchiff überfallen, ſeine
Mannſchaft umgebracht, ſeine Ladung geraubt hatten. Anjetzt
fürchtet dieſes mordluſtige Geſindel die Dampfſchiffe der Eu⸗
ropäer wie der ſchnellläufige Haſe den noch ungleich ſchneller
fliegenden Adler und bald werden alle die Meere, dahin die
Dampfſchifffahrt der Europäer reicht, von Seeräubern geſäu⸗
bert, ihre Küſtenbewohner gegen ſolche Ueberfälle geſichert
e
n.
Einen ähnlichen umgeſtaltenden, Neues ſchaffenden Ein⸗
fluß auf den Verkehr der Städte und Völker als die Erfin-
dung der Dampfſchiffe, hat ſchon jetzt die Erfindung der
Dampfwägen. Ihre Vervollkommnung und zweckmäßige Be⸗
nützung fällt in eine etwas ſpätere Zeit als die der Dampf—
ſchiffe, denn obgleich der Engländer Robinſon ſchon im J.
1759 dem vorhin erwähnten Meiſter im Dampfmaſchinenbau,
dem James Watt einen Plan zur Errichtung von Dampf⸗
wägen mittheilte, fand er dennoch hiermit wenig Theilnahme,
und die Verſuche zur Ausführung, welche ſpäter von ihm und
Andren gemacht wurden, mislangen entweder ganz oder hat—
ten doch nicht den erwarteten Erfolg. Ueberhaupt mußte die
Erfindung der Dampfwägen, wenn ſie ihren Zweck vollkom—
men erreichen ſollte, eine andre ungleich ältere Erfindung:
die der Eiſenbahnen zu Hülfe nehmen, denn für Landſtraßen
von gewöhnlicher Einrichtung paßte ſie nicht. Hierzu bot
abermals England die günſtigſte Gelegenheit dar. Denn ob—
gleich der Gebrauch der vollkommen ebenen Holzbahnen mit ſicherem
Geleiſe zum Fortziehen großer Laſten urſprünglich durch deutſche
Bergleute, welche die Königin Eliſabeth ins Land berief, nach Eng⸗
land verpflanzt worden und zunächſt nur in den Bergwerken ein⸗
geführt war, hatte man dennoch zuerſt in England den Grund
zu den jetzigen Eiſenbahnen gelegt, als Curr im Jahr 1776
über der Unterlage des Holzes eiſerne Schienen anbrachte
und Barns ſeit 1797 ſtatt des in vielen Gegenden ſchwer
und theuer zu habenden Holzes den Schienen eine ſteinerne
Grundlage gab. Seit 1825 ſahe man nach dieſer Einrich⸗
tung zuerſt in England, dann in Frankreich, Oeſterreich und
Amerika Eiſenbahnen von größrer Ausdehnung zur Erleichte⸗
303
rung des Verkehres einzelner bedeutender Handelsplätze ent⸗
ſtehen und auf einer ſolchen Eiſenbahn gewann der erſte, in
vollkommner Weiſe ausgeführte Dampfwagen, jener des
Stephenſon im Jahr 1829 den Preis von 6000 Gulden,
der für dieſe neue Art des Transportes ausgeſetzt war. Sein
Locomotio bewegte eine Laſt von 250 Centnern mit einer
Schnelligkeit, welche für jede Stunde auf 11 engliſche Mei⸗
len berechnet war; eine Leiſtung, welche von jener unſrer
jetzigen, noch ungleich mehr vervollkommneten Dampfwägen
weit übertroffen wird, bei denen ſich die Schnelligkeit auf
das Doppelte, ja auf das mehr denn Dreifache geſteigert hat.
Die Dampfbereitung zur Fortbewegung der Locomotiven
geſchieht, um die Gefahr des Zerſpringens der Keſſel zu ver—
meiden, in Röhren aus Kupfer oder Eiſenblech, welchen das
nöthige Waſſer durch einen, von der Maſchine ſelber in fort—
währender Thätigkeit erhaltenen Nachfüller zugeführt und
erſetzt wird. Der Dampf der ſich in den zahlreichen, der
Feuergluth ausgeſetzten Röhren bildet, ſammlet ſich in den
Dampfkaſten und ſetzt von hier aus die Kolbenſtangen zweier
Cylinder in jene fortwährende Bewegung, die ſich den um—
laufenden Rädern mittheilt. Bei den Dampfwägen mußte
auf Erſparung des Raumes wie der Laſten eine vorzügliche
Rückſicht genommen werden. Schon aus dieſem Grunde hat
man ſich genöthigt geſehen zu ihrer Bewegung den Hochdruck
(S. 298), der in kleinem Raume viel zu leiſten vermag, an—
zuwenden, den gebrauchten Dampf jedoch, ſtatt in den ſchwer—
fälligen Condenſator und ſein abkühlendes Waſſerbehältniß,
in die Luft entweichen zu laſſen.
Die Ausdehnung der Dampfwagenfahrten auf den Eifen-
bahnen geht ſchon jetzt ins Ungeheure. In England ſind ſie
nach allen Richtungen hin über Strecken verbreitet, welche
zuſammen gegen 550 geographiſche Meilen betragen und in
den vereinigten Staaten von Amerika hat die geſammte Aus-
en aller dortigen Eiſenbahnen faſt das Doppelte erreicht.
| en ſahe man die erſte Dampfeiſenbahn im Jahr
1835 entſtehen; es war die kleine, welche von dem gewerb—
thätigen Nürnberg nach Fürth angelegt wurde. Jetzt theilen
E80 h faſt alle deutſchen Provinzen in die Vortheile der großen
ung.
Nur im Vorübergehen erwähnen wir hier auch der ſoge⸗
nannten atmoſphäriſchen Eiſenbahnen, auf denen das Loco⸗
304
motiv nicht durch Dämpfe, fondern durch den atmoſphäriſchen
Druck bewegt wird. Schon Otto von Guerike (n. S. 247)
der Erfinder der Luftpumpe ſetzte ſeine Zuſchauer auf dem
Reichstage zu Regensburg durch jenen Verſuch in Erſtaunen,
bei welchem ein gutſchließender Kolben durch den Luftdruck
in einer Röhre, aus welcher er die Luft herauspumpte, mit
ſolcher Gewalt emporgeführt wurde, daß viele ſtarke Männer
ſich vergeblich bemühten, ſein Aufſteigen durch Herabziehen
zu hindern. Da die Kraft des Luftdruckes in der Ebene auf
jeden Quadratfuß Fläche nahe gegen 2000 Pfund beträgt, muß
ein Kolben von etwa 1½ Fuß Fläche mit ſolcher Gewalt in
eine durch Auspumpen luſtleer gemachte Röhre hineingeſto—
ßen werden, daß er dadurch fähig wird, eine Laſt von 3000
Pfund mit ſich fortzuziehen. In Irland zwiſchen Dalkey und
Kingstown haben Clegg und die Gebrüder Samuda auf
einer Strecke von 1½¼ Stunde Weges das erſte bis jetzt ge⸗
lungene Unternehmen gewagt, das auf jene Wirkung des
Luftdruckes gegründet iſt. In der Mitte der Schienen ihrer
Eiſenbahn liegt ein 9200 Fuß langer, gußeiſerner Cylinder,
an beiden Enden durch Ventile geſchloſſen, verbunden durch
ein Saugrohr, mit einer über 5 Fuß im Durchmeſſer hal—
tenden Luftpumpe, welche zum Betrieb des Auspumpens der
Luft aus dem Cylinder durch eine Dampfmaſchine in Bewe—
gung geſetzt wird, deren Zugkraft jener von 100 Pferden
gleich kommt. In 6 bis 8 Minuten iſt die Luftentleerung
des Eylinders, deſſen innrer Durchmeſſer 15 Zoll beträgt,
ſo weit gediehen, daß derſelbe, wenn nun hinter feinen luft
dicht ſchließenden Kolben atmoſphäriſche Luft hereingelaſſen
wird, mit einer Gewalt in den Cylinder hineingetrieben wird,
welche ihn fähig macht, mittelſt einer an ihn befeſtigten
Stange eine Laſt, welche über 2000 Pfund beträgt, mit einer pfeil⸗
ſchnellen Geſchwindigkeit von mehr denn einer Stunde Weges
in einer Minute fortzubewegen. Die plattenartige Stange
des Kolbens muß dabei freilich durch eine Spalte laufen,
von welcher der obere Theil des Cylinders ſeiner ane
Länge nach durchſchnitten iſt, aber dieſe ſchmale Spalte, wel⸗
che mit einer aus Leder und Eiſenblech gebildeten Klappe
bedeckt iſt, wird durch eine am Kolben angebrachte Vorrich⸗
tung geöffnet und wieder geſchloſſen. Obgleich die eben ge⸗
nannte, kleine atmoſphäriſche Eiſenbahn an ihrem Orte,
zum Herbeiſchaffen von Steinen zu einem en Ae
ienſte
RUN |
305
Dienſte leiſtet, ſtehen dennoch einer Nachahmung derſelben
im Großen ſolche Schwierigkeiten entgegen, daß man bis jetzt
daran nicht denken konnte.
Es bleibt demnach bis jetzt nur die Wärme, als Bild—
nerin des Dampfes, in der Alleinherrſchaft unfrer Dampf⸗
eiſenbahnen, und ſie iſt es ja auch, welche ſelbſt auf den
atmoſphäriſchen Eiſenbahnen die Entleerung des Treibcylin—
ders von atmoſphäriſcher Luft allein möglich macht. Was
war ſelbſt jene unſichre Beſchleunigung des Fortbewegens, die
man nach S. 221 an Luftſchiffen im günſtigſten Falle bemerkt
hat, gegen die Geſchwindigkeit unfrer Dampfwägen, welche
bereits an mehreren Orten eine Stunde Weges in 4 Minus
ten, 15 Wegſtunden in einer Stunde durchmiſſet. Könnten
wir mit ſolcher ununterbrochenen Schnelle forteilen, dann
würden wir eine Strecke, welche dem Umfang der Erde gleich
käme, in 30 Tagen zurücklegen; Reiſen von mehreren Ta⸗
gen, die man ſonſt in England, um von London nach mans
chen andren Orten zu gelangen, machen mußte, find jetzt zu
einer Spazierfahrt von wenig Stunden geworden, ein Freund
lädt den andern 18 Stunden von ihm entfernt wohnenden
zum Mittagseſſen ein, und dieſer beſorgt zu Hauſe noch ſein
Tagesgeſchäft, trifft zur rechten Zeit bei der Mahlzeit ein
und ſchläft bei Nacht wieder unter ſeinem Dache. Die Zahl
der Reiſenden allein, die Waaren und Laſten welche zugleich
mit fortgeſchafft werden, nicht gerechnet, beträgt auf den Ei—
ſenbahnen Englands alljährlich gegen 20 Millionen; ganze
vorhin ruhende Maſſen der Völker und Güter der Erde ſind
durch den Waſſerdampf in lebhafte, ſich immer erneuernde
Bewegung gerathen und hiermit zu und durch einander ge—
führt worden; Greiſe, welche gebunden an die Geſchäfte ihres
Berufes wegen der weiten Entfernung ihrer Wohnorte auf
immer von ihren Freunden und Jugendgenoſſen Abſchied ges
nommen hatten, ſind ſeitdem nicht nur einmal, ſondern öfters
wieder h dieſen gekommen; die Entfernung macht keine Tren⸗
nung mehr.
ER wir alles Das zuſammen was über die Leiſtun⸗
gen des Waſſerdampfes, ſeit dieſer durch Erfindung der
Dampfmaſchinen in die Gewalt des Menſchen kam, geſagt
werden kann, dann muß uns beſonders die Erſparung 117
tig ſeyn, welche dadurch an den Kräften lebendiger Weſen
gewonnen worden iſt. In der Regel berechnet man die Kraft
5 20
|
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einer Dampfmaschine nach dem Gewicht einer Laſt Waſſers,
welche ſie, wenn ſie etwa zum Heraufziehen deſſelben ange⸗
wendet würde, in einer gewiſſen Zeit zu erheben vermöchte.
Hebt ſie eine Laſt dieſer Art welche gegen 4 Centner be⸗
trägt in Zeit einer Sekunde 1 Fuß hoch, dann leiſtet ſie ſo
viel als ein Pferd; vermag ſie die doppelte, die drei-, die
vierfache Laſt in derſelben Zeit eben ſo hoch zu heben, dann
arbeitet ſie für 2, für 3, für 4 Pferde und das Nämliche
gilt beiläufig von ihr, wenn fie 440 Centner in //, ½, Ya
Secunde einen Fuß hoch hebt. Mit der Kraft des Menſchen
verglichen kann man im Durchſchnitt annehmen, daß etwa
fünf Männer daſſelbe vermögen, was ein einziges Pferd lei⸗
ſtet. Hiernach hat man berechnet, daß die Dampfmaſchinen
welche im Jahre 1833 in England thätig waren, fo viel ber
wirkten, als man nur durch die Kraftanſtrengung von nahe
2 ½ Millionen Pferden oder 12 ¼ Millionen Menſchen hätte
ausrichten können; in Frankreich arbeiteten damals die ſämmt⸗
lichen Dampfmaſchinen für 1,785500 Pferde, mithin für
mehr denn 8 Millionen Menſchen, in Preußen für 915,000
Pferde oder für mehr denn 4% Mill. Menſchen.
Aus einigen unſichren Andeutungen in den Schriften der
Alten hat man die Vermuthung geſchöpft, daß ſchon die
Aegypter die bewegende Kraft der Waſſerdämpfe nicht nur
gekannt, fondern auch zu verſchiedenen Zwecken angewendet
jätten. Wäre dieſes bei ihnen in demſelben Maaße wie bei
uns ſeit der Einführung der Dampfmaſchinen der Fall gewe⸗
ſen, dann hätten ſie nicht nöthig gehabt zum Bau ihrer grö⸗
ßeſten Pyramide unweit Ghizeh 100,000 Menſchen 20 Jahre
lang zu bemühen, denn man hat berechnet, daß ſich die
Steinlaſten dieſes Rieſenbauwerkes, deren Geſammtgewicht
man zu 186 Mill. Centner anſchlägt, mittelſt der Dampfma⸗
ſchine unter der Leitung von 36,000 Menſchen in Zeit von
18 Stunden hätten von ihrem Orte fortbewegen, emporheben
und auf einander legen laſſen. Doch in unſren Tagen wen:
det man dieſe durch die Kunſt gewonnenen Kräfte nicht wie
die Knoblauch, Zwiebeln und Linſen⸗ effenden Aegypter zum
Bau von Pyramiden, ſondern mehr zum Gewinnen und Be⸗
reiten der Erwerbsmittel für Thee, Kaffee und Zucker an.
Die Vollkommenheit der Einrichtung einer Dampfma⸗
ſchine wird nicht bloß nach den Kraftäuſſerungen derſelben,
ſondern auch nach dem mäßigeren oder größeren Aufwand
|
307
der Mittel beurtheilt, deren man zur Unterhaltung ihrer Bes
wegungen bedarf. Für die Dampfbereitung einer Dampfe
maſchine nach Watts Einrichtung, deren man ſich im J. 1811
in Amerika bediente, brauchte man, um ihr die Kraſt zur
Hebung von 15 Mill. Pfund Waſſer zu geben, in jeder Mi⸗
nute 1 Scheffel Kohlen; durch manche an ihr angebrachte
Verbeſſerungen war im J. 1815 der Verbrauch der Kohlen
auf nicht viel über / des Betrags herab..efebt worden, ja
eine nach Woolfs Angaben gebaute Hochdruckmaſchine lei—
ſtete mit denſelben Mitteln das Dreifache. Eben ſo bedarf
man auch in England ſeit den neueren Vervollkommnungen
der Dampfmaſchinen nur , ja nur halb fo viel Feuerungs⸗
material als man vor 30 Jahren bei den Leften Werken die⸗
fer Art nͤthig hatte. So hoch aber auch ein ſolcher Aufs
wand ſammt den Zinſen des Auslage-Capitals ſich belaufen
mag, ſo hoch man auch die Summe anſchlagen muß, welche
der Bau der Ciſenbahnen (im günſtigſten Falle die deutſche Meile
240,000, im minder günſtigen aker mehrere Millionen Tha—
ler) koſtet, immerhin bleibt noch der Gewinn den die Dampfs
maſchinen ihren Eigenthümern und dem Aufſchwung der Ger
werbthatigkeit der Lander bringen, ein überaus hoher.
So haben wir hier eine für unſre Zeit im vorzüglichſten
Maaße nutzbar gewordene Wirkung der Wärme beiramtet;
wir kehren jedoch von der Wirkung zu der Urſache ſelber zu⸗
ruck, ja, noch einige Schritte weiter gehend, faſſen wir eini⸗
ge der gewöhnlichiten Mittel ins Auge, durch welche die
Wärme in der irdiſchen Körperwelt, theils Par theils ohne
unſer Zuthun erzeugt wird.
Das Entſtehen der Wärme beim Verbrennen
der Korper.
Zum Entflammen eines irdiſchen Feuers ſind zwei ver⸗
ſchiedene körperliche Gegenſätze nöthig, davon man den einen
den Zündſtoff, den andren den Brennſtoff genannt hat. Bei
nfren Kohlen- und Herdfeuern bildet der Kohlenſtoff und
der meiſt mit dieſem verbundene Waſſerſtoff den brennbaren,
das hinzutretende Sauerſtoffgas der Atmoſphäre aber den
12 aden Gegenſatz. In einigen Fällen kann ein und ders
elbe Körper einmal als Vrennſtoff, dann als Zundſtoff
auftreten. So bildet der Schwefel, wenn man in ſeinen
20 *
308
Dämpfen das glühende Kupfer verbrennt, den Zündſtoff, das
Kupfer den Brennſtoff, und bei ſolchen Verbindungen des
Schwefels mit den Metallen zeigen ſich dieſelben Erſcheinun⸗
gen des Feuers wie beim Entflammen eines gewöhnlichen
brennbaren Körpers in der atmoſphäriſchen Luft. Aber der⸗
ſelbe Schwefel, wenn er auf gewöhnliche Weiſe verbrennt
und hierbei mit dem Sauerſtoffgas ſich verbindet, ſtellt ſich
zu dieſem als Brennſtoff dar und überläſſet dem Gas die
Rolle des Zündſtoffes.
Bei der Betrachtung der Waſſerdämpfe ſahen wir, daß
zwiſchen der Wirkung eines langſam und allmälig ſich bilden⸗
den oder wieder verdichtenden Dampfes und zwiſchen der eines
ſolchen, welcher ſchneller durch die Hitze gebildet wird, ein
großer Unterſchied ſey; die Anwendung des Hochdruckes lehrt
uns, daß die Federkraft deſſelben Waſſerdampfes durch ei⸗
nen vermehrten Grad der zur Dampfbereitung benutzten Hitze
vielfach höher geſteigert werden könne. Es iſt nicht die Be
wegung allein, ſondern die Schnelligkeit derſelben, welche
das Maaß ihrer Wirkung beſtimmt (nach S. 289). |
Daſſelbe was wir hier von der Wirkſamkeit der auf vers |
ſchiedene Weiſe erzeugten Waſſerdämpfe ausſagten und was
jeder Sturmwind uns lehrt, wenn dieſelbe Maſſe der Luft,
deren Druck ſo lange ſie ruhend über und um uns ſtund, wir
kaum bemerkten, durch ihr ſchnelles Bewegen Bäume ent⸗
wurzelt und Häuſer umſtürzt, gilt auch von dem Vorgang
des Verbrennens oder von der Verbindung eines brennbaren
Körpers mit dem Sauerſtoffgas. Fein zerſtücktes, trockenes
Holz wird ſich an einer genäherten Lichtflamme alsbald ent⸗
zünden und dabei werden die Erſcheinungen des vollkomme⸗
nen Verbrennens: Licht und Wärme, hervortreten. Der Koh-
lenſtoff der im Holz war, hat ſich bei der Verbindung mit
dem atmoſphäriſchen Sauerſtoffgas in Kohlenſäure, das Waſ⸗
ſerſtoffgas in dampfförmiges Waſſer verwandelt, das beim
Abkühlen allmälig zum tropfbar flüſſigen Zuſtand zurückkehrt.
Wenn das Verbrennen der dürren Holzſtückchen in einem
verſchloßnen Gefäße ſtatt fand und wenn dabei das Sauer⸗
ſtoffgas ganz oder großentheils in der Bildung der Kohlen—
ſäure aufgegangen iſt, dann verlöſcht ein brennender Holz—
ſpan, den wir in das Gefäß hineinhalten, denn das kohlen⸗
ſaure Gas kann weder das Verbrennen, noch das thieriſche
Athmen unterhalten. Aber ganz daſſelbe geſchieht auch, wenn
309
wir einen ſolchen brennenden Holzſpan in die Luft eines ver-
ſchloßnen Gefäßes hineintauchen darin ſich angefeuchtete Holz⸗
ſtückchen oder naſſe Sägeſpäne befinden. Schon nach wenig
Stunden iſt das atmoſphäriſche Sauerſtoffgas das im Gefäß
enthalten war eben ſo, als wenn wir das Holz in getrockne—
tem Zuſtand darin verbrannt hätten, in eine Verbindung mit
der Kohle zur Kohlenſäure eingegangen; der brennende Span
verlöſcht darin ſo ſchnell als ob wir ihn in Waſſer getaucht hätten.
Das Sonnenlicht hat allerdings einen ſtörenden Einfluß auf
den Vorgang dieſes langſamen Verbrennens oder Verweſens,
wie ſich dies ſchon bei dem Bleichen der Leinwand zeigt, bei
welchem auch eine Verbindung des Sauerſtoffgaſes, vor allem
mit den leichter zerſetzlichen Theilen des Pflanzengewebes,
oder mit jenen andren Subſtanzen von organiſcher Natur vor
ſich gehet, welche durch ihren freier hervortretenden Kohlen—
ſtoff die dunkle und ſchmutzende Färbung bewirken. Dennoch
kommt jener Einfluß des Sonnenlichtes, wenn er beim Blei—
chen und bei andren ähnlichen Vorgängen eben fo das lang⸗
ſame Verbrennen oder Verweſen befördert, als die Gluth
einer genäherten Lichtflamme das ſchnelle Verbrennen, nicht
der trocknen, ſondern der angefeuchteten Leinwand zu ſtatten.
Daß jene allmälige Verbindung des Brennſtoffes mit
dem Zündſtoffe, die namentlich bei der Verweſung organi—
ſcher Körper ſtatt findet, kein eigentliches Verbrennen genannt
werden könne, iſt jedem Kinde verſtändlich. Das Beginnen
und die Fortdauer des Verbrennens hängt, wie wir auf
unſren Herden ſehen, von einem Grad der Erhitzung ab,
welcher durch aufgeſchüttetes Waſſer oder durch die Feuchtig⸗
keit des brennenden Holzes ſchon dadurch von feiner Höhe
herabgeſtimmt wird, daß die Verdünſtung des Waſſers auf
Koften der Wärme geſchieht (nach S. 265). Wir haben es bes
reits (Cap. 31) als die nächſte und vorzüglichſte Wirkung der
Wärme erkannt, daß fie den Zuſammenhalt der kleinſten Theile
a 25 Körper aufhebe. Die beginnende Auflöſung jenes Zuſammen—
haltes giebt ſich in der vermehrten Ausdehnung, ihr weitrer
Fortgang im Flüßigwerden (Schmelzen) oder im Verdam—
pfen der Körper kund. |
Die Naturforſcher haben an ſolchen feſten Körpern, welche
durch mechaniſche Gewalt in die möglichſt kleinſten Theilchen
zerlegt, aufs Feinſte zerſtäubt wurden, eine merkwürdige
Beobachtung gemacht. Dieſe, dem bloßen Auge nicht mehr
1
310
wahrnehmbaren Stäubchen, zeigen, wenn man ſie auf einem
Tropfen Oel oder Waſſer ſchwimmend, unter das Mikroſcop
bringt, eine Bewegung gegen und von ſo wie durch einander,
welche nicht aus dem Einfluß der Verdünſtung der Flüſſig⸗
keit erklärt werden kann. Denn jene Bewegung gründet ſich
auf ein polariſches Anziehen und Abſtoßen, auf ein Suchen
und Fliehen, auf ein wechſelſeitiges ſich Umkreiſen, wodurch
daffelıe ganz den Bewegungen kleiner mikroſcopiſcher Thiere
(S. 177) gleich wird. Mit der Auflöſung des Zuſammen—
haltes der Körper, ſelbſt durch mechaniſche Gewalt, werden
die kleinen Theile derſelben einer gegenſeitigen Bewegung
fähig, die ſich auf die allgemeine Urſache alles Bewegens
— auf polariſche Entgegenſetzung gründet.
Das Verbrennen der Körper ſelber beftehet in einer lebbaf—
ten Gegeneinanderbewegung der kleinſten Theile des Brenn-
ſtoffes und des Zundſtoffes, in einem Bewegen das ſich unſfren
Sinnen als Licht und als Wärme mittheilt und in dieſer
Form auf die umgebende Körperwelt einwirkt. Wenn man
Platinametall aus einer Flüßigkeit ausſcheidet in welcher daſ—
felte chemiſch aufgelöst war, dann erſcheinen feine fein zertheilten
Stäubchen nicht mehr metallglänzend, ſondern ſie ſtellen ſich als
ein ſchwarzes Pulver dar. Wenn man daſſelbe in dieſem Zu—
ftand trocknet und der Luft ausſetzt, dann zieht es das Sauer⸗
ſtoffgas mit ſolcher Kraft an, daß es nach Maaßtheilen 800
mal mehr von demſelben aufnimmt als der Rauminhalt ſei-
ner geſammten Stäubchen beträgt. Es hat ſich hiebei der
Zug des Metalliſchen zu ſeinem allgemeinen Gegenſatz, zum
Sauerſtoff geregt, ohne daß daraus ein wirkliches Verbren⸗
nen hervorgieng. Sobald man aber Waſſerſtoffgas über ein
ſolches, von 800 fach verdichtetem Sauerſtoffgas erfülltes Plas
tinapulver hinſtreichen läßet, dann fängt das Metall an zu
glüben, denn nun iſt ein Verbrennen des Waſſerſtoffgaſes ent-
ſtanden, das ſeine Gluth durch die ganze, fein zertheilte
Maſſe verbreitet; es bildet ſich Waſſer. Man kann dieſen
Vorgang des Glühens ſo oft hervorrufen als man will,
denn wenn wir dem Zuſtrömen der brennbaren Luft und
hierdurch dem Verbrennen Einhalt thun, dann füllt ſich das
Platinapulver augenblicklich wieder mit Sauerſtoffgas an,
das ein neu hinzuſtrömendes Waſſerſtoffgas entzünden kann.
Dieſelbe Eigenſchaft wie an dem erwähnten metalliſchen Pul⸗
ver, bemerken wir auch an dem ſogenannten Platinaſchwamm,
311
welcher durch Glühen aus Platinſalmiak erhalten wird, und
im Grunde genommen lehrt uns ſchon die leichte Entzünd⸗
lichkeit eines kunſtgerecht bereiteten Pulvers, welches För⸗
derungsmittel für das Verbrennen in der feinen Zertheilung
der Körper, in der Aufhebung des gegenſeitigen Zuſammen⸗
haltes ihres Stoffes liege. |
Auf ähnliche Weiſe wie das eigentliche, ſchnelle Verbren⸗
nen mit Flamme, kann auch das langſame Verbrennen: die
Verbindung der gegorenen Flüßigkeiten mit dem Sauerſtoff⸗
gas der Luft und ihre Verwandlung hierdurch in Eſſig, durch
mechaniſche Mittel befördet werden, wobei man die gährende Flü⸗
ßigkeit fo weit als möglich vertheilt und dem Raume nach ausdehnt.
Wenn man früher aus den Neigen des Bieres, aus ſchlechtem
Wein, Brandwein oder andren ähnlichen Flüßigkeiten Eſſig
bereiten wollte, indem man ſie in Fäßern dem unvollkommne⸗
ren Zutritt der Luft ausſetzte, da dauerte es Wochen ja Mo⸗
nate lang bis die Säuerung zum Eſſig vollendet war; anjetzt
kann man den Brandwein im Verlauf eines einzigen Tages
zu Eſſig machen, wenn man ihn, mit Waſſer verdünnt lang⸗
ſam durch Fäßer fließen läßet, die mit Hobelſpänen angefüllt
ſind, durch deren lockere Lagen die Luft von außen ſanft hin⸗
durchſtrömen kann. Die Oberfläche der gährenden Flüßigkeit
iſt bei dieſem Verfahren um das mehr Tauſendfältige ver⸗
größert, ihre vorher genäherten Theile ſind weit von einander
entfernt, der Zuſammenhang derſelben iſt zwar nur auf me⸗
chaniſche Weiſe aufgelöst, was indeß dennoch etwas Aehnli⸗
ches bewirkt, als die Auflöfung des Zuſammenhanges der
Theile eines brennbaren Körpers durch die Wärme.
Selbſt bei jenen feuergebenden Miſchungen, die ſich von
ſelbſt entzünden, ſobald man ſie der Luft oder dem Sauer⸗
ſtoffgas ausſetzt, dergleichen jene iſt, welche durch das Unter⸗
einanderreiben von 8 Gewichtstheilen überſauren Bleikalk
(Bleiſuperoxyd) und 2½ Theilen waſſerfreier Weinſteinſäure
bereitet wird, mag die feine Zertheilung der ſtaubartig zer⸗
kleinerten Maſſe die Entzündlichkeit befördern, und im Grun⸗
de genommen bedienen wir uns bei der Bereitung des Schieß⸗
pulvers der mechaniſchen Zerkleinerung mit gleichem Erfolge.
Auch jene Fälle, in denen ſich zuweilen mit verheerenden Fol—
en für einzelne Häuſer oder ganze Städte kleingepulverte
zohle oder fein zertheilte verkohlte Pflanzenſtoffe, dergleichen
die ſogenannten Kaffeeſurrogate ſind, auch ohne daß ein
312
ſtarker mechaniſcher Druck (nach S. 263) hinzukam, von fel-
ber entzündet hat, gehöhren hieher. ö |
Wie das Schießpulver ein einzelner Funke entzündet, fo
theilt ſich überhaupt die Entflammung von einem brennenden
Körper dem andren mit, indem jeder entflammte Theil jene
Wärme ausſtrahlt, welche den an ihn gränzenden Theilen
zur Auflöſung des Zuſammenhanges ihrer Theile und mithin
zur nothwendigen Vorbereitung auf den Zuſtand des Ver⸗
brennens dienen kann. un,
Obgleich, wie wir ſchon erwähnten, die Gährung der
Stoffe, wobei dieſelben ungleich langſamer als beim Ver⸗
brennen das Sauerſtoffgas an ſich ziehen, nur im uneigent⸗
lichen Sinne ein Verbrennen genannt werden kann, iſt es
doch von Intereſſe auch hierin auf eine Uebereinſtimmung
auſmerkſam zu machen, die ſich zwiſchen beiden Vorgängen
zeigt. Ebenſo wie ſich beim Brennen die Flamme mit ihrer
Glühehitze von einem Punkte der entzündlichen Maſſe über
die andren verbreitet, ſo geſchieht dies auch bei der Gährung
und Verweſung der zu ſolcher Art der Zerſetzung fähigen
organiſchen Stoffe. In den meiſten von dieſen regt ſich als—
bald ein ftarfer Zug nach der Verbindung mit dem Sauer—
ſtoffgas, auch bei ganz gewöhnlicher Temperatur, ſobald ſie
mit einer gährenden oder verweſenden Subſtanz in Berüh⸗
rung kommen. Um das Waſſerſtoffgas zu entzünden, um
ſeine Verbindung mit dem Sauerſtoffgas zu Waſſer unter
Erſcheinung von Licht und Wärme zu bewirken, bedarf es
eines Hitzegrades von 2409 Réaumur (3009 Celſius).
Wenn man bei gewöhnlicher Temperatur der Luft eine Mi—
ſchung von Sauerſtoffgas und Waſſerſtoffgas in einer las
ſche oder einem andren wohlverſchloßenen Gefäß aufbewahrt,
dann verharren beide in ihrem abgeſonderten Zuſtand bis
etwa die Gluthhitze einer Flamme, mit der ſie in Berührung
kommen oder der Strahl des elektriſchen Funkens ihre Vereinigung
(Entzündung) bewirkt. Wenn man dagegen in eine mit
atmoſphäriſcher Luft und einer Beimiſchung von Waſſerſtoff—
gas gefüllte Flaſche einen Leinwandbeutel aufhängt in wel⸗
chem ſich angefeuchtete Sägeſpäne, Rinde, Modererde oder
andre einer gährungsartigen Auflöſung fähige Stoffe finden,
dann ſetzt ſich in dieſen die Verweſung eben ſo, wie in freier
Luft, fort; ſie verwandeln das Sauerſtoffgas, das in der ſie
umgebenden Luft enthalten war, zum Theil in Kohlenſäure,
313
zugleich aber nimmt auch das Waſſerſtoffgas an den Bewegungen
des Vorganges der Verweſung Antheil, es verbindet ſich
eben ſo wie beim Verbrennen mit dem Sauerſtoffgas zu
Waſſer. Ganz in derſelben Weiſe und aus demſelben Grunde
gehet auch der Dampf von Weingeiſt in einem Raume, darin
faulendes Holz oder andre verweſende Stoffe enthalten ſind,
die Vereinigung mit dem Sauerſtoffgas ein, deren letztes
Erzeugniß die Eſſigſäure iſt. N
Obgleich bei der Gährung wie bei der Verweſung der
Körper, welche hierzu geneigt ſind, beſonders dann, wenn
dieſelben in größrer Maſſe beiſammen liegen, eine Wärme⸗
zunahme bemerkt wird, iſt dennoch dieſe auf unſer Gefühl
wie auf unſre Thermometer einwirkende Wärme keinesweges
Das, was bei der Uebertragung der Gährung oder Verwe—
ſung von einem hiervon ergriffenen Körper an einen gleichartigen
anderen den Haupteinfluß ausübt. Auch bei der kühlen Witterung
unſrer feuchten Herbſttage theilt ein faulender Apfel dem andren,
noch friſchen, mit welchem er in Berührung ſtehet, ſeine Fäulniß
mit und je mehr ihrer zuſammengehäuft find, je mehrere auf ein⸗
mal von der Anſteckung ergriffen werden, deſto ſtärker wird die
Gewalt von dieſer. Auch unten in den Grüften gehet die
Verweſung mitten in der kühlen Temperatur der Tiefe ihren
Gang. Dennoch wirkt auch auf dieſe Vorgänge einer allmä—
ligen Verbindung der entzündbaren Stoffe die äußre Wärme
beſchleunigend, zugleich aber, wie wir ſpäter ſehen werden,
verändernd ein.
Selbſt mit den Erſcheinungsformen des eigentlichen Ver—
brennens ſtehet der Hitzgrad, der dabei ſtatt findet, in naher
Beziehung, denn das langſamere Verglimmen eines brennba—
ren Körpers gehet bei bloßer Rothglühehitze vor ſich, das
vollkommene Verbrennen mit heller Flamme iſt mit Weiß—
glühehitze verbunden. Wenn man deshalb über dem Dochte
eines Alkohollämpchens einen ſpiralförmig gewundenen Pla—
tinadraht oder eine mit Platina überzogene Glaskugel befe—
ſtigt und das Lämpchen ſo lange brennen läſſet, bis das
Platinametall rothglühend geworden iſt, hierauf aber auslö—
ſchet und dauert das langſame Verbrennen des Weingeiſtes
noch in der Weiſe fort, daß man zwar keine helle Flamme,
wohl aber im Dunklen das Glühen des Platinadrahtes oder
Ueberzuges ſieht, bis aller Weingeiſt verzehrt iſt.
Ohngefähr in demſelben Verhältniß, in welchem die
314
brennbaren Körper zu ihrer Entzündung einer größeren oder
geringeren Hitze bedürfen, iſt auch ihr Verbrennen unter den⸗
ſelben äußren Umſtänden mehr oder minder andauernd.
Wenn man in einem verſchloßnen, mit atmoſphäriſcher Luft
erfülltem Gefäß zu gleicher Zeit eine Wachskerze, einen Strom
von Waſſerſtoffgas, ein Stück Schwefel und ein Stück Phos⸗
phor anzündet, dann verlöſcht, bei der allmäligen Abnahme
des Sauerſtoffgaſes die Wachskerze zuerſt, hierauf das Waſ⸗
ſerſtoffgas, dann der Schwefel, ganz zuletzt der Phosphor.
Aber zum Entzünden des Phosphors bedarf es auch nur einer
Wärme von 45, zu der des Schwefels 235, zu jener des
Waſſerſtoffgaſes von 240 Gr. R. Ein bloßer Ueberzug von
Lampenrus kann das Entzünden des Phosphors ſelbſt in
gewöhnlicher Luftwärme bewirken, und das Leuchten deſſel⸗
ben im Dunklen iſt, wie bei dem vorhin erwähnten Glühe⸗
lämpchen, ein langſames Verglimmen. a
Auf die Stärke und Heftigkeit der Anziehung zwiſchen
dem brennbaren Körper und dem Sauerſtoffgas hat der Maſ—
ſenzuſtand der beiden ſich anziehenden Gegenſätze einen ent⸗
ſchiedenen Einfluß. In derſelben Ordnung, in welcher, wie
wir vorhin erwähnten, dieHitzgrade ſich folgen, bei denen die
brennbaren Körper ſich entflammen, bedürfen dieſelben auch
zur Erhaltung ihres Brennens eines maſſenhaften Andranges
des Sauerſtoffgaſes. Brennende Kerzen die man dem hellen
Sonnenlicht ausſetzt, brennen nicht bloß ſcheinbar, ſondern
wirklich ſchwächer, weil der Einfluß des Sonnenlichtes die
umgebende Luft ausdehnt und verdünnt. Schon im Schat⸗
ten gehet der brennbare Stoff der Kerze eine reichlichere Ver⸗
bindung mit dem Sauerſtoffgas ein und die Flamme wird
lebhafter, am meiſten jedoch iſt dies der Fall an einem ganz
dunklen Orte, wo in gleicher Zeit am meiſten Zünd- wie
Brennſtoff verzehrt wird. Das ſonſt zur Waſſerbildung voll⸗
kommen geeignete Gemenge aus zwei Maaßtheilen Waſſer⸗
ſtoffgas und einem Maaßtheile Sauerſtoffgas läßt ſich, wenn
man es durch Auspumpen um das Achtzehnfache verdünnt
hat, ſelbſt durch den elektriſchen Funken nicht mehr entzün⸗
den und für die gewöhnliche Art des Entflammens wird daſ—
ſelbe ſchon bei der achtfachen Verdünnung der Luft unem⸗
pfänglich. Dagegen entzündet ſich der Phosphor, wenn man
ihn mit Baumwolle umwickelt oder mit dem Pulver von
Schwefel, von Kohle, von Salpeter und mancher Metalle
315
beſtreut, ſogar leichter in der verdünnten Luft als in der
dichteren; er brennt auch bei einer 63 maligen Verdünnung
in der Luft fort, und während ein Gemenge von Wafferftoff-
gas und atmoſphäriſcher Luft durch den gewöhnlichen Luftdruck
bei mittlerer Temperatur vor der Selbſtentzündung bewahrt
wird, entflammt ſich dagegen daſſelbe, wenn es bei vermin-
dertem Druck in verdünnter Luft ſich ſtärker ausdehnen kann.
Der Wärmegrad, deſſen die ſchwerer entzündbaren
Körper zur Erhaltung ihres Ber'vennend bedürfen, wird
alsbald herabgeſetzt, wenn das Sauerſtoffgas nicht in hin—
länglicher Menge und mit einer gewiſſen auf der Geſchwin—
digkeit des Bewegens beruhenden Wirkſamkeit ſeiner Maſſe
zuſtrömen kann. Um Steinkohlen und Coaks beim Brennen
zu erbalten, muß man ſie auf Roſte legen und (durch die
Einrichtung des Ofens) einen ſtarken Luftzug nach ihnen fo
wie unter ihnen hin bewirken, während das leichter ent—
zündliche Holz ſchon auf dem freien Boden verbrennt, weil
zur Erhaltung feines Flammens ſchon jener ſchwächere Luft:
ſtrom hinreicht, der durch das Emporſteigen der leichteren,
heißen Luft und das Eindringen der kälteren in die entleerte
Stelle bewirkt wird. Und nicht allein dann, wenn die Maſſe
des Sauerſtoffaaſes durch die Geſchwindigkeit ihres Stromes
eine größre Wirkſamkeit hat, ſondern auch dann, wenn dieſe
Wirkſamkeit durch ihre Gewichtsmenge geſteigert wird, beför—
dert fie das Verbrennen. In einer atmoſphäriſchen Luft,
welche um das Fünffache verdichtet wurde, brennt ein glü—
hender Eiſendraht oder eine Stahlfeder eben ſo lebhaft als
nach S. 228 in reinem Sauerſtoffgas, denn da die atmoſphä—
riſche Luft aus einem Gemenge von 4 Gewichtstheilen Stick—
gas und einem Gewichtstheil Sauerſtoffgas beſtehet, hat der
verbrennende Körper in einer fünffach verdichteten Luft eben
ſo viel Sauerſtoffgasmaſſe um ſich, als wenn er bei gewöhn—
lichem Luftdruck in ein Behältniß gebracht wird, welches ganz
von dieſer Gasart erfüllt iſt.
Das mehr oder minder plötzliche Verlöſchen der Flamme
iſt eine nothwendige Folge aller der äußren Einflüſſe, durch
welche der Zutritt des Sauerſtoffgaſes zum Brennſtoff ver—
hindert, oder durch plötzliche Abkühlung und einen Vorgang
der Verdampfung der Hitzegrad zu tief herabgeſetzt wird.
Aber eben ſo wie das aufgegoßne Waſſer, aufgeſchüttete Erde
u. a. das Weiterbrennen hindern, können fie auch dazu Die:
316
nen einen brennbaren Körper felbft bei Berührung der
Flamme vor der Entzündung zu bewahren. Schon das ge⸗
meine Feuerſicherungskleid aus Schaafwolle, von Salzſoole
durchdrungen, über welches noch ein Panzer aus einem ſehr
kleinmaſchigen Drahtnetz gezogen wird, vermag einem menſch⸗
lichen Körper, der ſich auf einige Augenblicke in die Flam—
men wagt, einen gewiſſen Schutz dagegen zu gewähren.
Ueberhaupt zeigt ein feinmaſchiges Drahtnetz die beachtens—
werthe Eigenſchaft, daß es die Mittheilung der Flamme von
einem brennbaren Körper an einen andren verhindert. Eine
Laterne, welche mit Drahtgeflechte umgeben iſt, kann man
mit brennender Kerze in Heu und Stroh ſtellen, ohne dabei
Gefahr zu laufen; mit der von Da vy erfundenen Sicher⸗
heitslampe — einer kleinen Laterne aus dünnem Drathge—
flechte, in dem ſich wie in einem feinen Siebe nur ganz klei⸗
ne Löcher finden, kann man ſelbſt in ſolche Kohlenbergwerke
oder Keller voll gährender Flüſſigkeiten hineingehen, darin
ſich Knallluft gebildet hat, ohne fürchten zu dürfen, daß
dieſes leicht entzündliche Gemenge aus Waſſerſtoff und Sauer:
ſtoffgas ſich an dem Kerzenlicht im Innren der Laterne entflamme.
Beim Verbrennen der aus mehreren entzündbaren Stof—
fen zuſammengeſetzten Körper verbindet ſich zuerſt jenes Ele—
ment mit dem Sauerſtoffgas, welches die ſtärkſte Neigung
zu dieſer Vereinigung hat, und aus demſelben Grunde wie
bei einigen früher (S. 136) erwähnten Vorgängen, kommt
die Reihe des Verbrennens erſt dann an den ſchwerer brenn⸗
baren Stoff, wenn der leichter entzündliche ſich mit dem
Sauerſtoffgas geſättigt hat. Wenn deshalb Kohlenwaſſer—
ſtoffgas verbrannt wird, reißt zuerſt der Waſſerſtoff aus der
luftartigen Umgebung ſo viel Sauerſtoffgas an ſich als zu
ſeiner Mitgeſtaltung zum Waſſer nöthig iſt, und nur dann,
wenn noch Sauerſtoffgas genug übrig blieb, verbindet ſich auch
der Kohlenſtoff mit ihm zum kohlenſauren Gas, iſt aber je—
ner nicht in hinlänglicher Menge vorhanden, dann ſcheidet
ſich die Kohle in unvermiſchtem Zuſtand ab. Auch dann,
wo bei dem Verbrennen eines Körpers, welcher Kohlenſtoff
und Waſſerſtoff in ſeiner Miſchung enthält, der Grad der
Hitze nicht hoch genug iſt, wird die Kohle unverbrannt ab⸗
geſchieden; ſie ſteigt dann von einem ſolchen nicht durch und
durch entflammten Körper als Rauch, mit Waſſerdampf ver⸗
bunden, empor.
317
Die fühlbare Wärmeverbreitung beim Verbrennen der
Körper hängt nicht allein von der Beſchaffenheit ihres Brenn—
ſtoffes und der größeren Menge des aufgenommenen Sauer—
ſtoffgaſes, ſondern auch von der Schnelligkeit ab, in welcher
das Brennen vor ſich geht. Unter den unverkohlten Brenn⸗
materialien unſrer Herde giebt die Holzrinde, in kleine
Stücken zerbrochen, die meiſte Wärme, nächſt dieſem Eichen-,
Eſchen⸗ und Buchenholz. Im Durchſchnitt erhält man beim
Verbrennen von einem Pfund Holzkohlen eine dreimal grö—
ßere Wärme als beim Verbrennen von einem Pfund trocknen
Brennholz. Eine noch ſtärkere Wärmeverbreitung als mit—
telſt der Holzkohlen, wird durch das Entflammen von wei—
ßem Wachs ſo wie von ätheriſchen und fetten Oelen erhal—
ten, während der verbrennende Weingeiſt an wärmegebender
Kraft den Holzkohlen nicht ganz gleich kommt. Das Licht,
welches bei einem flammenden Körper die Wärme begleitet,
iſt im Durchſchnitt ſtärker beim Verbrennen von dichten, fe—
ſten und tropfbaren als beim Verbrennen von gasförmigen
Körpern. Das ſchwache Licht, das eine Waſſerſtoffgasflam—
me von ſich giebt, wird ſogleich vermehrt, wenn man das
Gas vor feiner Entzündung durch Terpentinöl leitet und
hierdurch mit den Dämpfen von dieſem vermiſcht; die Flam—
me unſrer Weingeiſtlampen leuchtet ungleich ſtärker als ge—
wöhnlich, wenn man den baumwollenen Docht derſelben mit
kohlen- oder ſchwefelſauren Natron getränkt, oder dem Wein—
geiſt ein wenig Terpentinöl beigeſetzt hat. Wenn der Brenn—
ſtoff eines durch die Gluth entzündeten Körpers, ſo wie dies
bei gut ausgebrannten Holzkohlen und Coaks der Fall iſt,
eine geringe Neigung zur Verflüchtigung und Dampfbildung
hat, dann glüht er ohne Flamme; das Holz entwickelt in
der Hitze flüchtige Theile, darum flammt und glüht es zu—
gleich. Wenn der Platinadraht durch die Einwirkung einer
Lichtflamme weiß glühend wird, dann vermehrt er durch ſein
ausſtrahlendes Licht die Helligkeit aller flammenden Körper.
Was uns alle die hier erwähnten Erſcheinungen der
Wärme und des Lichtes, welche das Verbrennen der Körper
begleiten, über das eigentliche Weſen dieſer beiden Mächte
der Sichtbarkeit lehren konnen, ob fie beide Körper, nur einer
höheren Ordnung ſind, welche mit den Körpern der niedren
Ordnung, die dem Zuge der Schwere nach unſrer Planeten—
maſſe unterliegen, Verbindungen eingehen, aus deren Feſſeln
318
jene unter gewiſſen Umſtänden frei werden, oder ob fie ſel⸗
ber nur ein Bewegen der Leiblichkeit ſind, das von einem
leiblich gewordenen Weſen dem andren ſich mittheilt, das
wollen wir hier noch nicht zu entſcheiden ſuchen. Die Beant⸗
wortung der Frage ſcheint von tiefen Folgen über das Ver⸗
ſtandniß ſelbſt jenes Verhältniſſes zu ſeyn, das ſich zwiſchen
Seele und Leib findet. Die Seele zwar iſt kein Kör⸗
per in dem Sinne, in welchem das Fleiſch, das Blut und
die Knochen dieſes ſind, aber ihr Seyn und Wirken gehet
auch nicht blos aus einem Gegeneinanderbewegen des Flei⸗
ſches und Blutes, der Häute und Knochen hervor, ſondern
ſie iſt ein ſelbſtſtändiges Weſen wie nach ſeinem Maaße der
Leib dieſes iſt. Die Betrachtung der Warme und des Lichtes
giebt unſrem nachſinnenden Geiſte ein Räthſel auf, grußer
an Umfang und tiefer an Inhalt als jemals das Ratbſel
einer Sphinx war. Wir muſſen, ehe wir nur aus der Fer⸗
ne zu dem Verſuch einer Löſung deſſelben auffordern konnen,
den großen Gegenftand auch von andren Seiten her ins
Auge faſſen; vorher aber im Vorübergehen noch von etwas
ſcheinbar Unbedeutendem reden, das uns hier am Wege liegtz
von einer Form des (gleichſam) Verbrennens, welches nicht
in unſeren Küchen und Oefen, ſondern in den Kellern vor
ſich gehet.
34. Die Bereitung der gegohrnen Getränke.
Es iſt wohl der Beachtung werth, daß der Menſch vor
allen Lebendigen der Sichtbarkeit das Bedürfniß fühlt zur
Bereitung ſeiner Nahrungsmittel das Feuer zu Hulfe zu
nehmen. Erſt durch das Kochen und Braten oder Röſten
werden manche Stoffe für uns zu einer gedeihlichen Speiſe,
die in ihrem rohen Zuſtand ungenießbar oder ſeloſt ſchadlich
ſeyn würden, ſo namentlich die Kartoffel, wie die Wurzel
einiger Aronarten und das Manihot. Aber es ſind nicht
allein die Speiſen, welchen wir durch Anwendung des Feuers
die rechte Annehmlichkeit für unfren Magen und unfren Gaus
men geben, ſondern auch die Getränke, an denen die Be⸗
wohner der verſchiedenſten Länder ſich laben, bekommen gro-
ßentheils erſt mit Hülfe des Feuers ihre rechte Kraft und
Wirkſamkeit. Das Feuer, wenn man es überall ſo nennen
will, wird aber zur Bereitung jener Getränke auf zweifache
319,
Weiſe angewendet, einmal im gewöhnlichen Verbrennungs⸗
prozeß unſrer Herde und Kochöfen, dann aber auch im Vor⸗
gang der Gährung, welche, wie wir vorhin ſahen, ja auch
nichts Andres iſt als ein gleichſam langſames Verbrennen. Selbſt
die Speiſen werden von einigen Volkern einer Gährung oder
angehenden Verweſung unterworfen und dieſer für uns eckel⸗
hafte Appetit findet ſich namentlich bei den Negerſtämmen
ſüdwärts vom Senegal und bei den aſiatiſchen Völkerſtäm⸗
men in Pegu, Arrakan, Siam, die ſich aus faulen Fiſchen
den ihnen ſehr beliebigen Balachian-Brei bereiten, welchen
ſie, reichlicher denn wir den Senf als Zuſatz zu andren Spei⸗
ſen nehmen.
Unter den Getränken ſind freilich die naturgemäßeſten
das reine Waſſer, ſo wie die Milch der reinen Thiere unſrer
Herden, und in heißen Ländern kann man öfters die Bewoh—
ner im Schatten der Felſen an einer Quelle eben ſo fröhliche
Gelage halten ſehen, als unſre Landsleute bei den Krügen
voll Bier oder Wein. Aber an jenen natürlichen Getränken
läßt ſich der Menſch nicht immer genügen: er fühlt in ſeinem
Innerſten das Sehnen nach einem Zuſtand der freudigen
Erhebung und geiſtigen Bekräftigung (Begeiſterung), für wel—
chen ſein Weſen beſtimmt und geſchaffen iſt, und nur in dies
ſem Zuſtand hält er ſich, ſeinem Gefühle nach, für recht
wohlauf und beglückt, denn jene Bekräftigung theilt ſich der
Seele wie dem Leibe mit. Aber der rechte, wahre Weg,
der zu der freudigen Stimmung und Erhebung des Gemu—
thes führt, und auf welchem dieſe zu etwas Bleibendem, mits
ten unter allem Wechſel des äußren Lebens werden kann,
nimmt im Geiſte ſelber ſeinen Anfang, und von dieſem aus
feinen Verlauf durch unſre leibliche Natur. Die rechte, höch⸗
ſte Freudigkeit iſt doch die, welche aus dem Genuß eines
unvergänglichen, geiſtigen Gutes, nicht aus dem eines ſchnell—
vergänglichen, körperlichen hervorgeht. Bei dem innigen Zu—
ſammenhang und dem Verhältniß des wechſelſeitigen Durch—
drungenſeyns des einen von dem andren, in welchem Geiſt
und Leib während des irdiſchen Lebens mit einander ſtehen,
kann jedoch auch zuerſt in der leiblichen Natur eine höhere
Bekräftigung und Anregung hervorgerufen werden, an wel—
cher der Geiſt ſeinerſeits Antheil zu nehmen vermag. Und
ſo lange er dieſes auf rechte Weiſe und in rechtem Maaße
thut, bringt ihm dieſer umgekehrte Weg der innren Selbſter—
320
hebung keinen Nachtheil und Schaden; die fröhliche Stim⸗
mung des Herzens, welche der mäßige Genuß des Weines
bewirkt, kann einem wohlgeordneten Gemüth je zuweilen
ſeine geſunde Wirkſamkeit und den Kampf mit den Hemmun⸗
gen und trübenden Einflüſſen die aus der Leiblichkeit kom⸗
men, erleichtern. Nur muß daſſelbe ſich vor dem Irrthum
hüten, in welchen nach S. 76 unſer Duval verfiel, als er
die ſchnell vorübergehende Begeiſterung der leiblichen Art mit
einer bleibenden, höheren der Seele verwechslete.
Unter den Getränken, welche der Menſch ſich erfunden
hat, um ſeiner zum Aufſchwung trägen, geiſtigen Natur
durch leibliche Anregung zu Hülfe zu kommen, ſtehen an
Wirkſamkeit die gegohrnen, ſo wie Kaffee und Thee, oben
an. Der Vorgang des Athmens, durch welchen (n. S. 229)
das Feuer auf dem Herd des leiblichen Lebens, das Gefühl
der Leichtigkeit und des körperlichen Wohlbefindens erhalten
wird, empfängt in jenen Getränken einen Stoff, der ihm
zur kräftigen Unterſtützung und Förderung dient, indem er
mit dem Sauerſtoffgas das durchs Athmen in den Körper
kommt, leichte Verbindungen eingeht. Jener Stoff iſt ſei—
nem chemiſchen Beſtand nach ein zuſammengeſetzter, vor
Allem aus dem Kohlen- und Waſſerſtoff, welche in beftimm-
tem Verhältniß mit Sauerſtoffgas oder mit den Grundlagen
beider herrſchenden Luftarten der Atmoſphäre verbunden ſind.
Der Vorgang der Gährung ſtehet in ſo genauem Zu—
ſammenhang mit dem Einfluß der Wärme, daß wir denſel—
ben in dieſer Beziehung hier noch etwas näher, als im vor—
ſtehenden Capitel geſchahe, ins Auge faſſen müſſen.
Die einer Gährung fähigen Elemente der organiſchen
Körper können nur dann in dieſen Zuſtand gelangen, wenn
ſie mit Sauerſtoff- und Waſſerſtoffgas unter Einwirkung
eines gewiſſen Grades der Wärme in Berührung kommen.
Der Moſt kann ſich, wenn man ihn vollkommen vor dem
Zutritt der Luft ſchützt, Jahre lang unverändert erhalten und
ſo kann man auch Milch, Fleiſchſuppen, gekochte Gemüſe
wie Fleiſchſpeiſen, in vorher möglichſt luftleer gemachten und
vollkommen luftdicht verſchloſſenen blechernen Büchſen weit
über Land und Meer ſenden und Jahre lang friſch und un—⸗
verdorben erhalten. In England kocht man für Tauſende
von Reiſenden und fernwohnenden Europäern die Mahlzeit,
welche dieſe auf dem Meere oder in der heißen Wüſte -
en,
321
ßen, wo keine frifchen Lebensmittel zu haben find; die Wär⸗
me, ſelbſt die des afrikaniſchen und oſtindiſchen Klimas für
ſich allein, kann keine Gährung und Zerſetzung bewirken, es
muß hierzu nothwendig die Luft mitwirken. .
Sobald aber dieſe den Zutritt, etwa zum Moſte ge⸗
winnt, dann tritt alsbald eine Bewegung in den flüſſigen
Theilen und eine lebhafte Gasentwicklung ein, der Zucker
verſchwindet, denn dieſer iſt in Weingeiſt und in Kohlenſäure
verwandelt worden, welche in Luftform entwichen iſt; der
Saft wird allmälig klar und hell, indem er die gelbliche Hefe
zu Boden fallen läſſet. Wenn man hierauf die klare Flüſ—
ſigkeit abfließen läſſet, fo daß die Hefe abgeſondert zurück⸗
bleibt, dann zeigt ſich dieſe fähig in friſchem Zuckerwaſſer,
unter das man fie miſcht, eine gleiche Gahrung wie die im
Moſte war, zu begründen; der Zucker wird dabei in Wein-
geiſt und Kohlenſäure zerſetzt und auch die Hefe nimmt zu⸗
letzt, wiewohl langſamer, an dieſer Zerſetzung Theil: ſie
verſchwindet ganz. Wenn der Moſt, wie dies in den
ſüdlichen Weinen der Fall iſt, den Zucker in ſehr reicher
Menge in ſich enthält, dann wird die Hefe bei der Gährung
theils zerſetzt, theils als unauflöslich ausgeſchieden und es
bleibt noch ein großer Ueberſchuß an Zucker zurück, während
dagegen der zuckerarme Traubenſaft der nördlicheren, für den
Weinbau benutzten Länder nach der Gährung noch immer
jenes hefenartige Element in ſich führt, das die Weingäh—
rung unter Zutritt der Luft zur Eſſiggährung überführt.
Die Hefe wird dadurch zur Anregung jener Bewegung
fähig, in welcher das Weſen der gährenden Zerſetzung beſte—
het, daß ſie ſelber vermöge ihrer Zuſammenſetzung leichter
als andre Stoffe einer Zerſetzung unterliegt, indem ſie auſſer
den drei Beſtandtheilen des Zuckers, auſſer dem Kohlen-,
Waſſer⸗ und Sauerſtoff, auch noch Stickſtoff und nicht ſelten
etwas Schwefel enthält. Die Bewegung des Gährens pflanzt
ſich unter den Theilen des gährenden oder faulenden Körpers
wie durch eine Art von Anſteckung fort, ſo daß dieſelbe, wenn
fie einmal begonnen hat, auch nach Entfernung des Luſtzu—
trittes, der zu ihrem Beginnen nothwendig war, noch fort⸗
dauert. Eben in dieſer Weiſe der Mittheilung des Bewe-
gens, von einem Theile der Flüſſigkeit an den andren, liegt
auch der Grund, daß die Gährung nicht plötzlich und auf
einmal vor ſich gehen kann, ſondern Do fie einem allmäli⸗
| 1
322
gen Verlauf unterworfen ift. Und diefer allmälige Verlauf
der Gährung iſt zur beſſeren Erreichung des Zweckes, den
wir durch ihre Anregung gewinnen wollen, ein durchaus we⸗
ſentliches Erforderniß; die Temperatur des Raumes, darin⸗
nen die Flüſſigkeit gährt, muß ſo ſehr als möglich ſich gleich
bleiben, ſie darf durch ihren höheren Wärmegrad den Vor⸗
gang der Umbildung und Zerſetzung nicht allzuſehr beſchleu⸗
nigen. Bil;
Denn welchen verändernden Einfluß ein höherer Grad
der Wärme auf die Erzeugniſſe der Gährung ausübe, das wird
in ſehr vielen Fällen erkannt. So erhält man aus dem zuk⸗
kerreichen Safte mancher Wurzeln, wie der Runkelrüben und
Mohrrüben, wenn man ihn in gewöhnlicher Temperatur eines
Kellers gähren läſſet, auf ähnliche Weiſe als aus dem Saft
der Birnen oder der Trauben eine weingeiſtige Flüſſigkeit, bei
deren Bildung gleichzeitig die Kohlenſäure entwickelt wird
und eine ſtickſtoffreiche Hefe ſich abſetzt. Wenn dagegen die
Gährung jenes Saftes in einer Wärme von 32 bis 36 Gr.
Réaumur vor ſich geht, dann entſteht kein Weingeiſt, es.
wird nur wenig Kohlenſäure entwickelt, der Zucker hat
ſich in Milchſäure und in Gummi zerlegt, dabei iſt eine
kryſtalliniſche Maſſe entſtanden, welche mit dem ſüßen Be⸗
ſtandtheil der Manna die größeſte Aehnlichkeit hat. Dagegen
entſteht bei der Gährung der Milch in gewöhnlicher Tempe⸗
ratur aus dem Zucker derſelben die Milchſäure, in höherer
Temperatur eine weingeiſtige Flüſſigkeit, aus welcher durch
Deſtillation ein ſtarker Branntwein gewonnen werden kann.
Dieſe leicht anwendbare Behandlung der Milch bloß
durch den Einfluß eines noch nicht ſehr großen Hitzegrades
hat den Bewohnern einiger mittelaſiatiſchen Steppenländer
ein Mittel an die Hand gegeben, ſich ein berauſchendes gei⸗
ſtiges Getränke ſtatt aus dem Saft der Rebe aus Pferde⸗
milch zu bereiten. |
Die am häufigſten bei den verſchiedenſten Völkern und
ſeit den älteſten Zeiten der hiſtoriſchen Kunde in Gebrauch
gewesnen gegohrnen Getränke ſind der Wein, aus dem Saft
der Trauben oder einiger andren, dieſem verwandten zuder
reichen Pflanzenſäften, und das Bier, zuſammengeſetzt aus einer
zuckerhaltigen Flüſſigkeit von vegetabiliſcher Natur und einem bit⸗
teren Stoffe. Jenes weinartige Getränke das aus dem Safte
verſchiedener Palmenarten gewonnen wird, bedarf der kürzeſten
323
Zeit zur Reife feiner Gährung, es wird zum Theil ſchon
nach wenig Stunden genießbar und empfängt hierbei mit den
anregenden, zugleich auch lieblich kühlende Kräfte. Mehrere bee⸗
renartige Früchte (wie Johannis- und Stachelbeeren) ſo wie
der ſüße Saft unſres Kernobſtes, wenn dieſes bei ſeiner
Ueberreife ſchon in ſeiner eignen Subſtanz den erſten Grad
der Gährung (durch das Taigwerden) erlitten hat, ſind zur
Bereitung von weinartigen Getränken brauchbar, doch erſchei⸗
nen dieſe alle in ihrem Geſchmack wie andren Eigenſchaften
nur als mehr oder minder unvollkommene Nachgebilde ihres
Urbildes, das aus der Traube kommt. Jene Nachgebilde
enthalten in ungleich größerer Menge als die vollkommen ge⸗
reifte Traube ſolche fremdartige Stoffe, welche bei dem Zu⸗
tritte der Luft die Eſſigſäurung herbeiführen und durch ihren
Geſchmack der Zunge, durch ihre in der Wärme des Ma-
gens noch weiter gehende Zerſetzung dem Gefühl der Einge⸗
weidehöhle ihre unedlere Abkunft verrathen. In dem Safte
der vollkommen gereiften, zuckerreichen Traube der wärmeren
Zonen iſt es großentheils nur der Farbeſtoff der rothen Wei⸗
ne, welcher bei dem Zutritt der Luft Veränderungen erleidet,
deren Einfluß, gleich jenem der Hefe, eine Säuerung bewir⸗
ken kann, während die weißen ſüdlichen Weine einer ſolchen
Veränderung den kräftigſten Widerſtand leiſten.
In unſren vakerländiſchen Weinen, welche demohngeach—
tet ſeit länger als 16 Jahrhunderten (denn ſchon im J. 231
n. Chr. gab es dieſſeits des Rheines in Deutſchland einen
Weinbau) auf mehrfache Weiſe das Herz der Menſchen er⸗
freut und geſtärkt haben, bleibt nach der Gährung noch ein
Theil jener ſtickſtoffhaltigen Elemente zurück, welche, als
Hefe, den Vorgang der Gährung anregten. Wenn jetzt der
ganze Vorrath des Zuckers zerſetzt iſt, dann wendet ſich die
Wirkſamkeit jener Elemente auf den Alkohol oder Weingeiſt,
deſſen fortgehende Säuerung ſie begünſtiget. Könnte man
dieſe zur ſauren Gährung anregenden Stoffe ganz entfernen,
dann würde niemals ein Wein zum Eſſig werden; ihre Ver⸗
wandtſchaft aber zum Sauerſtoffgas der Atmoſphäre iſt fo
groß, daß ſchon bei dem Hinüberfüllen des Weines aus
einem Faß in das andre eine Säuerung deſſelben eintritt,
welche nun auch in der Abgeſchloſſenheit durch die Wände
des hölzernen Gefäßes ſeinen weitren Fortgang nehmen wür⸗
de, wenn man nicht auf künſtliche eiſe ihm Einhalt zu
21
324
thun vermochte. Dieſes ift durch das Ausſchwefeln der Fäſ⸗
ſer möglich geworden, denn die ſchweflige Säure, die ſich
beim Verbrennen des Schwefelſpans erzeugt, wird von den
feuchten Wänden des Faſſes, in welchem das Verbrennen
geſchahe, eingeſogen, und da dieſelbe eine größere Verwandt⸗
ſchaft zum Sauerſtoffgas hat als die noch im Wein enthal-
tenen die Gährung fördernden Beſtandtheile, ſo entzieht
ſie, indem ſie allmälig in der Maſſe der Flüſſigkeit ſich ver⸗
theilt, dieſer das Sauerſtoffgas, das ſie bei dem Abfüllen
von einem Faß ins andre, aus der Luft aufgenommen hatte.
Die ſchweflige Säure ſteigert ſich übrigens hierbei zur Schwer
felſäure, deren kleiner Antheil mit dem Weine gemiſcht bleibt.
Uebrigens findet durch die Holzwände der Fäſſer fortwährend
der Zutritt einer kleinen Quantität von Luft ſtatt, der in
dieſer enthaltene Sauerſtoff verbindet ſich aber zunächſt
nur mit den gährungfördernden Beſtandtheilen, zu denen er
einen ſtärkeren Zug der Verwandtſchaft hat als zu dem Al⸗
kohol; jene ſetzen ſich nach und nach als Unterhefe zu Boden,
der Weingeiſtgehalt hat von dem Einfluß einer in ſo gerin⸗
ger Menge zutretenden Luft bei einem gehaltreichen Weine
nicht zu leiden, dieſer wird, bis zu einer gewiſſen Gränze,
durch das lange Lagern, bei ſonſt zweckmäßiger Behandlung,
nur beſſer.
Auch hierauf hat übrigens die Temperatur, in der ſich
das gegohrne, noch mehr aber das in der Gährung begriffene
Getränke befindet, einen ſehr bedeutenden, veredlenden oder
verſchlechternden Einfluß. Die Säuerung des Alkohols (der
Uebergang des Weingeiſtes in Eſſigſäure) wenn derſelbe in
Berührung mit einem hefenartigen Stoffe iſt, geht am ra⸗
ſcheſten in einer Wärme vor ſich, welche von 28 bis 20
Grad Réaumur beträgt, minder raſch, in immer abnehmen—
dem Verhältniß bei einer Wärme von 20 bis 10 Grad, und
wenn die Abkühlung noch weiter, bis zu 8 und 7 Grad herun⸗
tergeht, dann findet ferner gar keine Verbindung des Alko—
hols mit dem Sauerſtoffgas ſtatt, während die Verbindung
der ſtickſtoffhaltigen Beſtandtheile mit demſelben und die Bil-
dung der Hefe dabei ungeſtört ihren Gang fortgehet. Mit
Recht hat deshalb einer der einſichtsvollſten Chemiker unſerer
Zeit: J. Liebig, auf die Vortheile aufmerkſam gemacht,
welche zur Veredlung des Weines ein Verfahren haben müßte,
bei welchem man den Traubenmoſt (auch Obſtmoſt) nicht wie
325
bisher in faft freien, über der Erde gelegenen, dem Wär:
mewechſel ausgeſetzten Räumen, fondern in einem Keller, bei
einer gleichmäßigen Temperatur von wo möglich nur 8 Grad
oder nicht viel darüber, in offenen weiten Gefäßen der Gäh⸗
rung überließe. Der die Gährung erregende und bei großer
Wärme die Eſſigſäurung herbeifuͤhrende, ſtickſtoffhaltige Be—
ſtandtheil verbindet ſich dabei mit dem Sauerſtoffgas und
ſcheidet ſich als Hefenſchaum ab, der Wein wird klar und hat
bei dieſer Behandlung in der kürzeſten Zeit die nämliche Ver⸗
vollkommnung und Güte erlangt, die man ihm ſonſt nur
durch jahrelanges Lagern giebt. |
' Ganz nach denſelben Grundſätzen als bei der Bereitung
des Weines aus zuckerhaltigen Pflanzenſäften wird bei der
des Bieres verfahren; dieſes in ſeiner beſſeren Form ge—
ſunden, kräftigen Getränkes, welches ſchon ſeit alter Zeit bei
den verſchiedenſten Völkern der Erde in Gebrauch waͤr und
noch fortwährend es iſt. Die Bewohner des alten Peluſiums
in Aegypten ſchrieben ſeine Erfindung dem Oſiris ſelber zu
und auch bei den Griechen knüpfte ſich eine hochehrende Sage
an die älteſte Geſchichte dieſes auch unter ihnen beliebten Ge—
tränkes. In Italien wie in Frankreich und in den Urwäl⸗
dern des deutſchen Vaterlandes fo wie in dem fkandinavi⸗
ſchen Norden trank man ſchon in der älteſten, geſchichtlich
bekannten Zeit ein bierartiges Getränk, welchem die alten
Gallier eine ſolche Vollkommenheit zu geben wußten, daß
ſich daſſelbe mehrere Jahre lang aufbewahren ließ. Bei den
Bewohnern von Peru wie der nördlicheren Landſtriche von
Amerika, in Kamtſchatka wie in Arabien, in Japan, China,
Nubien und Abyffinien fand und findet ſich derſelbe Gebrauch,
und ſelbſt die Bewohner des von der Natur ſo reich begab—
ten Caplandes, denen der beſte auf Erden bekannte Wein
gedeiht, erquicken ſich an einem ſchnellbereiteten, dem Biere
ahnlichen Getränke.
In all unſren Getreidarten finden ſich die Elemente des
Zuckers, zum Theil ſchon zu wirklichem Zucker gebildet, in
bedeutender Menge. Durch das Keimen und Dörren (Mal⸗
zen) zum Beiſpiel der Gerſte, werden die zuckerartigen, mit
Stickſtoff verbundenen Beſtandtheile im Waſſer aufloslich,
was ſie vor dem Keimen nicht waren, ſie ſind hierdurch in
jenen der Gährung dienlichen Zuſtand verſetzt worden, in
welchem ſich die ſtickſtoffhaltigen Beſtandtheile des Trauben⸗
326
faftes von Anfang her befinden. In dem concentrirten Auf⸗
guß des Malzes oder in der Bierwürze ſind bereits alle jene
Elemente enthalten, welche dem Entſtehen des Alkohols bei
gleichzeitiger Entwicklung der Kohlenſäure und Ausſcheidung
der Hefe dienen und hierdurch die Gährung fördern können, deren
Beginnen durch einen Zuſatz von ſchon gebildeter Hefe beſchleu⸗
500 wird. Vor allem ſoll dieſer Vorgang als Form einer Art
des Verbrennens, nach den ſtickſtoffhaltigen Beſtandtheilen
ſeine vorherrſchende Richtung nehmen, dieſe, nicht der Alko⸗
hol, ſollen mit dem Sauerſtoffgas ſich verbinden und zur
ausſcheidenden Hefe werden. Hierbei kommt nun die vorhin
erwähnte Erfahrung über die am beſten geeignete, niedere
Temperatur, der Bierbereitung zu Hülfe. Sie iſt jener ver⸗
wandt, die man (nach S. 315) bei dem eigentlichen Ver⸗
brennen der entzündbaren Körper gemacht hat. Der Phos⸗
phor verbrennt ſchon bei einer Wärme, welche nur 48 Gr.
R. beträgt; damit der Schwefel ohne unmittelbare Berüh⸗
rung einer Lichtflamme ſich entzünden könne, muß die Hitze
zu einem faſt 5 mal höheren Grade verſtärkt werden. Ein
ähnliches Verhältniß findet auch zwiſchen dem Gährungsſtoffe
und dem Alkohol der gährenden Bierwürze ſtatt. Der erſtere
verbindet ſich mit dem Sauerſtoffgas ſchon bei einer Wärme,
welche nur wenig Grade über dem Gefrierpunkt ſtehet; die
Säuerung des Weingeiſtes (zu Eſſig) fordert zu ihrem Fort⸗
gang eine verhältnißmäßig viel höhere Wärme. Das Sauer⸗
ſtoffgas, welches zur Bildung der ſauerſtoffreichen Hefe, die
zugleich wegen ihrer ſchwerern Löslichkeit im Waſſer aus der
Flüſſigkeit ausſcheidet, nöthig iſt, kommt theils durch Zerſez⸗
zung des Waſſers oder einer kleinen Menge Zucker aus der
zährenden Flüſſigkeit ſelber, theils aus der atmoſphäriſchen
Luft, deren freiem Zutritt ihre Oberfläche bis zur vollende⸗
ten Abklärung ausgeſetzt wird. Der Zuſatz einer Abkochung
des Hopfens oder eines ähnlichen bittren Stoffes, dient auſ—
ſer ſeiner wohlthätigen Wirkung auf den Magen auch noch
dazu, daß dem Alkohol die Neigung benommen werde zu jener
nachtheiligen Formwandlung, die namentlich auch dem ſoge⸗
nannten Fuſelöl der Branntweine zu Grunde liegt. Denn
auch beim Branntweinbereiten wird das Entſtehen dieſes
ſchädlichen und widerwärtigen Productes durch Zuſatz eines
bittren Stoffes zur Maiſche vermieden.
Man hat nicht ſelten aus Gegenden, in denen ein we⸗
gen feiner. Güte beſonders berühmtes Bier bereitet wird,
Brauer nach andren Gegenden berufen, in denen die Bier⸗
bereitung nicht ſo wohl gelingen wollte. Man gab ihnen.
dieſelbe Menge der beſten Gerſte, des beſten Hopfens, wel⸗
che im Vaterlande des guten Bieres zur Fertigung dieſes
Getränkes genommen werden, und doch blieb ihr Machwerk
unvergleichbar weit hinter dem Muſter zurück, das man zu
erreichen ſtrebte. Nicht die Verſchiedenheit des Waſſers, ſon—
dern zunächſt nur der Mangel an einem Raum, in welchem
bei einer gleichmäßigen, niedrigen Temperatur die Gährung
ihren allmäligen Verlauf nehmen konnte, war der Grund
des Mislingens ſolcher Verſuche. Tiefe Felſenkeller, deren
mittlere Jahrestemperatur nicht über 8 Grad iſt, oder denen
man durch das in einem Theil ihrer Räume angebrachte Eis
dieſe Tempeatur auch bei friſchem Luftzutritt zu erhalten weiß, ſo
wie anderwärts wo die Felſen ſammt ihren Kellern mangeln,
ein mitten in der Ebene dick aufgemauerter, mit Schutt uͤber⸗
deckter, bald mit Raſen und Bäumen ſich überkleidender,
künſtlicher Berg, ſind bei der Bereitung eines guten Bieres
eben ſo weſentlich nothwendig, als die gehörige Menge und
Güte des Materials, aus dem man die Bierwürze, die in
jenem kühlen Raume gähren ſoll, bereitet. Ein Meiſterwerk
dieſer Art iſt der rieſenhafte, künſtliche Berg mit ſeinen wei⸗
ten, zweckmäßig abgekühlten innren Räumen, welchen der zu
ſeiner Zeit weitberühmte, ehrenhafte Bürger und Bierbrauer
Joſeph Pſchorr der Aeltere zu München aufgeführt hat.
Alle Arten des Getreides, doch vor allem Gerſte, ſind
zur Biergewinnung günſtig. In Südafrika nehmen die hol⸗
ländiſchen Koloniſten Honig in Waſſer gelöſt, ſtatt der ge⸗
wöhnlichen Bierwürze und bereiten daraus mit Zuſetzung des
. einer bittren Wurzel eine ſehr geſunde Art des
ieres.
Wir ſind ſcheinbar auf einen weiten Um- und Abweg
gerathen, der uns aus dem weiteren, bedeutungsvolleren
Kreiſe des Allgemeinen, von einem Standpunkt der uns eine
vielumfaſſende Ausſicht über die Geſchichte unſrer irdiſchen
Sichtbarkeit darbot, auf den engen Raum eines Gewerbes
für unſren Haushalt geführt hat. Und dennoch iſt der Ge—
genſtand nicht nur für Einzelne, er iſt für Jeden von uns,
auch für den Waſſertrinker, von Bedeutung und Wichtigkeit,
denn er gehet zum Theil das Wohl ganzer Völker und Län⸗
328
der an. Wie beklagenswürdig anders wirket der Genuß des Brannt⸗
weins auf die leibliche wie geiſtige Geſundheit des Menſchen
ein, als der Genuß eines gut und gedeihlich bereiteten Bie⸗
res oder Weines. Und wenn auch nicht der Wein, ſo würde
dennoch für jedes Land der gemäßigten wie kalten Zone das
Getränk, deſſen Stoff auf ſchlanken Halmen wächſt: das
Bier zu haben ſeyn. h
35. Die eigenthümliche Wärme der lebenden
organiſchen Körper. |
Von der Wärme des lebenden, menſchlichen Leibes ſpra⸗
chen wir ſchon oben (S. 278). Nicht aber nur durch die
Vorgänge der Geſtaltung und Bewegungen in unſrem eige⸗
nen Körper wird fortwährend Erwärmung und Wärmever⸗
breitung an die umgebende Körperwelt hervorgerufen, ſon—
dern überall wo eine Seele den leiblichen Stoff zu dem Zweck
ihres Wirkens bildet und belebt, regt ſich, mit der Bewe—
gung zugleich, in einem gewiſſen Maaße auch die Wärme.
Manche Pflanzen, wie die Brunnenkreſſe, erhalten ſich
nicht nur unter dem Schnee ungefroren, ſondern ſie bilden
rings um ſich her in dieſem ein Gewölbe; ſie erhalten jenen
Theil eines Waſſers, welches durch den Froſt erſtarrt,
der ſie zunächſt umgiebt, flüſſig. Gerade dann, wenn die
Temperatur der äußren Luft den niedrigſten Grad erreicht
hat, am Morgen, gegen Sonnenaufgang herrſcht im Innren
der Bäume, wie dies die hineingebrachten Thermometer er—
kennen laſſen, eine höhere Wärme, als ſelbſt die mittlere
der Frühlingsmonate iſt, während ſich in den Mittagsſtun—
den, wo die Verdünſtung ſtärker wird, die Wärme bis unter
den mittlern Stand des Monates vermindert. Während der Vor—
gänge des Blühens und der erſten Entwicklung der Fruchtkeime
hat man in mehreren Gewächſen eine Erwärmung beobachtet.
Der Quell der Lebenswärme bei den Thieren iſt in noch
unverkennbar deutlicherer Weiſe als bei den Pflanzen, ein
ähnlicher, als der, welcher im Verbrennen, in dem Bor:
gang einer mehr oder minder ſchnellen und lebhaften Verbin⸗
dung der brennbaren Elemente mit dem Sauerſtoffgas liegt.
Das Thier bedarf zur Erhaltung ſeines Lebens nicht nur des
Zuganges der Nahrungsmittel, ſondern vor Allem (nach C.
26) des Einathmens der Luft, und zwar, je vollkommner es
329
iſt, deſto mehr der Aufnahme des Sauerſtoffgaſes oder der
Lebensluft der Atmoſphäre. |
Wie warm es, ſelbſt im Winter oder an kalten Herbſt⸗
und Frühlingstagen in einem gut bevölkerten Bienenkor⸗
be ſey, dies weiß jeder Pfleger und Beſitzer von Bienen.
Wenn auſſen in der freien Luft das Thermometer nur ei—
nen Grad über den Gefrierpunkt hat, dann herrſcht darin—
nen eine Wärme von 18 Grad Réaumur; im Frühling, wenn
der Thermometerſtand an freier Luft noch nicht 10 Grad er⸗
reicht, überſteigt die Wärme im Innren des Bienenſtockes
22 Grad.
Allerdings hat auf die Steigerung dieſer Wärme, wie
überall im Thierreich, auch die Bewegung Einfluß. Wenn
im Mai oder Juni zur Zeit des Schwärmens eine faſt allge—
meine Aufregung die Bevölkerung des Stockes ergreift, ſo
daß ganze Schaaren der Unterthanen einer zum Auszug be
reiten Königin in unruhiger Haft ſich neben und unter einans
der bewegen, dann erreicht zuweilen die Wärme in einem
Bienenkorb einen ſo hohen Grad, daß die Zellen des Wach—
ſes anfangen zu ſchmelzen. Unmittelbarer jedoch als der
Einfluß der Bewegung fällt jener Einfluß in die Augen, den
die Nahrung auf die Wärmeentwicklung des lebenden Inſec—
tenleibes hat. Die Temperatur eines Bienenkorbes ſinkt als—
bald herab, es tritt eine merkliche Abkühlung ein, wenn die
darin wohnenden Thiere an Futter Mangel leiden, dagegen
ſteigt die Wärme von neuem, wenn man den hungernden
Bienen, die im Freien für ſich und ihre Brut noch nicht die
hinlängliche Speiſe finden, eine kräftige Nahrung reichet.
Die gleiche Bemerkung, welche man an allen in freier Luft les
benden Inſecten gemacht hat, daß ihr Körper eine eigenthüm—
liche Wärme habe und daß dieſe Wärme zu- oder abnehme
mit der Zu⸗ oder Abnahme der Nahrung, führt uns zu
einem weitren Schluß auf die Urſache des Entſtehens dieſer
Wärme. Das Futter, das die Inſecten zu ſich nehmen, be—
ſtehet, wie alle organiſche Körper überhaupt, zunächſt aus
brennbaren Grundſtoffen, vor allem aus Kohlenſtoff und
Waſſerſtoffgas, welche nebſt dem mit ihnen verbundenen Stick—
ſtoff und Sauerſtoff in die Säfte und feſteren Gebilde des
lebenden Körpers eingehen. Der Verbrauch an atmoſphäri—
ſchem Sauerſtoffgas durch das Einathmen der Inſecten iſt
ein ſehr bedeutender, und das Bedürfniß darnach ein fo drin-
330
gendes, daß eine Biene, wenn man alle an der Seite ihres
Körpers liegenden Oeffnungen der Luftkanäle durch Firniß
oder eine ähnliche Subſtanz verſchließt, eben ſo wie ein
warmblütiges Thier, dem man das Athmen gewaltſam ver⸗
wehrt, erſticken muß. Das Product das aus der Verbindun
des eingeathmeten Sauerſtoffgaſes mit dem Kohlenſtoff und
Waſſerſtoffgas der leiblichen Beſtandtheile des Thieres ent⸗
ſteht, iſt, wie die Unterſuchung der ausgeathmeten Luft dies
lehrt, eben ſo wie beim Verbrennen kohlenſaures Gas und
Waſſer. Der Vorgang des Athmens läßt ſich demnach un⸗
gleich mehr denn jener der Gährung, als ein Verbrennen
von eigenthümlicher Art betrachten, deſſen unſichtbare Flamme
zwar zunächſt zur Lebensbewegung wird, dennoch aber bei
Thieren deren Luftathmen ein ſehr vollkommenes iſt, auch
eine Quelle der äußerlich fühlbaren Wärme wird.
Wenn nach unſrer alltäglichen Erfahrung ein naſſes
Holz ungleich ſchlechter brennt, und zugleich bei gleicher
Maſſe viel weniger Wärme ausgiebt als ein trockenes, dann
läßt ſich der Grund davon leicht darin erkennen, daß bei der
Verwandlung des Waſſers in Dampf (nach S. 265) viel
Wärme verbraucht und hierdurch eine große Herabſtimmung
des Hitzegrades herbeigeführt wurde. Denn ein friſch ges
fälltes Holz enthält 42, das an der Luft getrocknete nur 25
Prozent Waſſer in ſeinem Faſergewebe. Ein großer Theil
der im Waſſer lebenden und nicht durch Lungen, ſondern
durch Kiemen athmenden Thiere, zeigt aus einem ähnlichen
Grunde auch dann, wenn es ihnen weder an Nahrung noch
an der vom Waſſer eingeſogenen Luft fehlt, nur eine ſehr
geringe, eigenthümliche Wärme des Leibes. Die Luft, wel—
che die auſſer dem Waſſer lebenden Thiere unmittelbar aus
der Atmoſphäre einathmen, iſt zwar niemals von Waſſer⸗
dämpfen frei, ſie verhält ſich aber zu jener, die der Fiſch
mit dem umgebenden Waſſer in ſeine Kiemen zieht und hier
in das Gewebe der blutführenden Gefäße aufnimmt wie beim
Verbrennen ein naſſes Holz zu einem gut getrockneten. Und
nicht allein dieſe Beigeſellung des Waſſers zur eingeathme⸗
ten Luft, ſondern ſchon der langſamere, unvollkommnere Ver⸗
lauf, den das Athmen bei den Fiſchen und Amphibien nimmt,
macht uns die geringere Leibeswärme derſelben begreiflich.
Junge Kaimans (americaniſche Krokodile) können ohne Nach⸗
theil für ihr Wohlbefinden, ziemlich lange in Stickſtoff aus⸗
331
dauern und auch von andren Amphibien weiß man, daß ſie
in einer Luft leben können, welche ſehr arm an Sauerſtoff⸗
gas, zur Erhaltung eines vollkommenen Thierlebens nicht
ausreichend ſeyn würde. In demſelben Maaße iſt denn auch
bei ſolchen Thieren die Bildung der Kohlenſäure, im Ver⸗
gleich mit Säugethieren, Vögeln und ſelbſt Inſecten ſehr viel
geringer. Dennoch hat man auch an Fiſchen ein gewiſſes,
wenn auch nur ſchwaches Maaß von Eigenwärme bemerkt,
welches im Bauch einer Forelle, die man aus dem winterlich
kalten Waſſer des Sklavenſees gezogen hatte, zwei, bei einem
Weißfiſch 4 Grad höher war als die Wärme der äußren Um⸗
gebung, ja bei Thunfiſchen bis auf 8 Grad über die äußre
Temperatur ſich ſteigern ſoll. Auch im Körper mancher dick—
ſchuppigen Schlangen bemerkte man eine Wärme, welche die
äußre Luftwärme um einen oder etliche Grade übertraf, wäh—
rend dagegen bei den nackthäutigen Amphibien, wie bei Frö⸗
ſchen durch die ſtarke Verdunſtung der Feuchtigkeit, die
ohne Aufhören an ihrer Haut ſtatt findet, eine merkliche Ab⸗
kühlung bewirkt und hierdurch die Eigenwärme ihres Leibes
öfters unter den Betrag der Außenwärme herabgeſetzt wird.
Etwas Aehnliches findet auch an Schnecken ſtatt.
Bei den Thieren welche durch Lungen athmen iſt es un—
verkennbar, daß die Wärme des Leibes mit der Menge ſo
wie mit jener Schnelligkeit in Beziehung ſtehe, in welcher
ſich bei ihnen, während des Athmens der Kohlen- und Waſ—
ſerſtoff ihrer Säftemaſſe mit dem Sauerſtoffgas zur Kohlen⸗
ſäure und zu Waſſer verbindet. Je mehr von dieſen beiden
beim Athmen erzeugt wird, deſto höher ſteigert ſich auch der
Grad der Eigenwärme, welche deshalb bei Vögeln ein oder
etliche Grade mehr beträgt als bei Säugethieren. Dieſe letz⸗
teren, deren innrer Bau jenem des Menſchen am nächſten
ſteht, zeigen auch eine Blutwärme, die der menſchlichen ſehr
nahe kommt, indem ſie im Durchſchnitt gegen 29 bis faſt 32
Grade beträgt. Denn bei jenem Schuppenthiere, in deſſen
Leibe man eine Wärme von nur 24 Grad R. beobachtete,
hatte wohl der kranke Zuſtand, in welchem es ſich befand,
einen bedeutenden Einfluß auf die Abweichung von der Re⸗
gel gehabt. Daß die Temperatur des Menſchenleibes, im
Vergleich mit der der Säugethiere eher etwas niedriger als
höher erſcheint, mag wohl auch in der Beſchaffenheit ſeiner
Haut und in der Dunſtbildung durch dieſelbe ſeinen Grund
332
haben. Daß aber auch noch an den höchſten Gipfelpunkt der
irdiſch leiblichen Geſtaltung — am Menſchenleibe — die eigen⸗
thümliche, innre Wärme ihren Urſprung aus dem Vorgang
des Athmens nehme, dies zeigen uns ſchon einzelne Beobach⸗
tungen am Krankenbette. Wenn während lang anhaltender
Ohnmachten und im Zuſtand der Starrſucht das Athmen ge⸗
hemmt und kaum noch vorauszuſetzen iſt, dann bemächtigt
ſich der Glieder eine Todtenkälte. Es geſchieht dabei faſt
etwas Aehnliches als bei manchen warmblütigen Thieren ſich
zuträgt, wenn fie in den Zuſtand des Winterſchlafes verfal-
len, in welchem das Athmen nur ſehr langſam vor ſich geht
oder für einige Zeit ganz aufgehört hat. Die Wärme eines
ſolchen Thierleibes ſinkt dann faſt ganz bis auf die winter⸗
liche Temperatur der nächſten Umgebung herab und wenn in
ſeinem Innren vielleicht ein oder anderthalb Grad Wärme
mehr beobachtet werden, dann bleibt es ungewiß, ob dieſe
Wärme aus dem mit der Lebenskraft zugleich noch fortdauernden
Vorgang der Bildung und Zerſetzung hergeleitet werden müſſe,
oder ob ſein Grund in der Zuſammenhaltung der innren
Wärme durch die Maſſe des Thierkörpers ſelber geſucht wer⸗
den muß.
Jener eben erwähnte Vorgang einer fortwährenden Bil-
dung und Zerſetzung, welcher, ſo lange das Leben dauert in
allen Theilen des Leibes ſtatt findet, iſt im Grunde genom-
men auch nichts andres als ein Athmen, denn er beruhet
durchaus nur auf einem beſtändigen Austauſch und Berbin-
den zunächſt des Kohlenſtoffes oder Waſſerſtoffes gegen und
mit dem Sanerſtoffgas. Der zuletzt genannte Grundſtoff
und nächſt ihm die beiden andren ſind zwar für dieſen innren
Verkehr der Lebenskräfte die wichtigſten Elemente, aber ſo
wie draußen in der Geſammtheit der irdiſchen Natur vertritt
auch zuweilen das Chlor (nach S. 182) die Stelle des Sauer⸗
ſtoffgaſes oder dieſes letztere geht mit dem Phosphor eine
Verbindung zur Phosphorſäure ein, um die alkaliniſche Natur
der Kalkerde zum Bau des Knochens zu gewinnen.
Die genauere Erwägung der thieriſchen Wärme, das Beach⸗
ten ihrer Entſtehung fo wie ihrer Vermehrung und Vermin⸗
derung, hat die frühere Vermuthung zu einer Gewißheit erho⸗
ben, daß auch das Feuer, welches nicht als ſichtbare Flam—
me, ſondern als bewegende Kraft auf dem Herd des Lebens
waltet, nach demſelben Geſetz erzeugt und erhalten werde,
333
als jenes Feuer in der Nachbarſchaft der Naphthaquellen (n.
S. 205) in welchem der Parſe am kaspiſchen Meere ein Sinn-
bild der göttlichen Schöpferkraft verehrt. Je mehr ein ath⸗
mendes Thier Sauerſtoffgas aufnimmt und für die innren
Bildungen und Zerlegungen ſeiner Leiblichkeit verwendet,
deſto höher ſtehet feine Eigenwärme. Dieſe aber, die Wär—
me auch unſres Körpers, wird nicht allein bei dem Einath—
men der Luft in den Lungen erzeugt, ſondern in allen Theis
len und Räumen des Leibes, wohin das in den Lungen von
Sauerſtoff durchdrungene, dann in der linken Herzkammer
geſammlete, und von da mittelſt der Pulsader nach allen
Richtungen hinausſtrömende Blut hindringen kann. Es iſt
keine Faſer, kein Häutchen des lebenden Korpers, dahin nicht
unmittelbar oder mittelbar der belebende Strom des Sauer—
ſtoffgaſes ſich verbreitete und wie die bei dem Verbrennen
eines dichten, feſten Körpers zur leichten Luftform übergegan—
gene Kohle (als kohlenſaures Gas) vom Herd emporſteigt,
ſo erhebt ſich das Blut, wenn es an den Endpunkten der Puls—
adern die Vereinigung des Sauerſtoffgaſes mit den brennba—
ren Grundſtoffen vermittelt hat, in den Blutadern oder Ve—
nen von den Füßen, von Unterleib und Händen wieder hin—
auf nach dem Herzen, in deſſen rechte Kammer es zugleich
mit den Nahrungsſtoffen, die aus Magen und Eingeweiden,
ſo wie aus allen einſaugenden Häuten kamen und mit den
Nebenflüſſen, deren Quellen oben in der Region des Haup-
tes ſind, hineinſtrömt.
Aber das Holz wie alles Andre was auf Erden brenn—
bar iſt, war vorhanden und die Atmoſphäre mit ihrem Sauer—
ſtoffgas wehete darüber hin und an ihm vorbei, ohne daß
daraus ein Feuer entſtund, ohne daß ein Menſch am Baum⸗
ſtamm und ſeinen Aeſten, ſo wie an dem Sturmwind, der
die Aeſte bewegte, ſich wärmen und das Dunkel ſeiner Hütte
damit erleuchten konnte, bis, nach einer alten Sage, Pro—
metheus den anzündenden Funken vom Himmel brachte. Je—
ner arme Muſikus, deſſen Freunde, die ihn beſucht hatten, in
ſeinem ungeheitzten Zimmer froren, der aber keine Mittel be⸗
ſaß, um ſeinen Ofen in gewöhnlicher Weiſe zu heitzen, ſuchte
ſeinen Gäſten dadurch guten Muth zu machen, daß er ihnen
ſagte, er habe für mehrere Thaler Holz in den Ofen gelegt
und auch an einer anzündenden Flamme es nicht fehlen laſ—
ſen. Als aber einer der Gäſte, nach Beendigung des kurzen
334
Beſuches, in den Ofen hineinſchaute, ſahe er darin auf der
einen Seite eine Violine liegen, auf der andren Seite aber,
Hehe von dem theuren Holze entfernt, eine brennende Lampe
ſtehen. |
So würden auch die brennbaren Grundſtoffe, die fich
im Körper der Thiere finden, eben ſo wenig eine Macht ha⸗
ben, ſich durch einen Vorgang des Athmens mit dem Sauer⸗
ſtoffgas zu vereinen und hierdurch ein Quell der thieriſchen
Wärme zu werden, als die Bäume des Waldes für ſich fel-
ber vermögend ſind ſich zu entflammen und rings um ſich her
Wärme wie Licht zu verbreiten. Ein Prometheus höherer
Art, die Lebenskraft ſelber, muß den zündenden Funken von
oben, aus einem Reiche des geiſtigen Bewegens, herab in
die Tiefe der irdiſchen Leiblichkeit bringen und dieſes Ver⸗
hältniß der anzündenden Urſache zur wärmenden Flamme fel-
ber ſoll uns vorerſt noch durch ein andres Bild im großen
Spiegel der äußerlich ſichtbaren Natur etwas begreiflicher ge⸗
macht werden.
36. Die Erzeugung der Wärme durch Elektri⸗
zität. }
Zuvörderſt müſſen wir hier einige Worte über das Ent-
ſtehen und über das Weſen der Elektrizität ſelber ſagen.
Der ſchöne, glänzende, öfters durchſichtige, meiſt gelb—
farbige, wohlriechende Körper, von der Natur eines brenn—
baren Harzes, Bernſtein genannt, welcher vorzugsweiſe
aus den Küſtengegenden der Oſtſee zu uns gebracht wird,
iſt wohl jedem meiner jungen Leſer bekannt. Man verarbei⸗
tet ihn in verſchiedene Formen, vornämlich als Kugeln, in
Schnüre vereint, zu einem Schmuck für Damen, als Mund⸗
ſtück zu einer Zierde der Tabakspfeifen und noch ſonſt auf
mannichfaltige Weiſe; benutzt ihn, indem man ihn auf ein
Kohlenfeuer freut, zum Räucherungsmittel oder aufgelöft in
Weingeiſt ſowie in verſchiedenen Oelen zur Bereitung eines
guten Firniſſes. | |
Die Völker der früheren Jahrtauſende haben eben ſo wie
wir ein Wohlgefallen an dem Bernſtein gehabt, und denſel⸗
ben, obgleich er weder die Härte noch das Gewicht der eigent⸗
lichen Edelſteine hat, an Werth dieſen gleichgeſchätzt. Man
hält dafür, daß ſchon die alten Hebräer den Bernſtein ge⸗
335
kannt haben und daß er es vielleicht ſey, der bei Jeſajas 54
V. 12 als Ekdach (der ſich Entzündende) genannt iſt. Ein
Weiſer des Alterthumes, der Grieche Thales, welcher
600 Jahre vor Chriſti Geburt lebte, dachte ſchon viel über
die Eigenſchaft nach, welche bei uns jedes Kind an dem
Bernſtein ſo wie an den Siegellackſtangen, an Glasröhren
und einigen andren Körpern, wenn es dieſelben reibt, beo-
bachten kann, über die Eigenſchaft nämlich: leichte Körperchen,
wie Papierſtückchen, Spreu, Aſche u. ſ. w. anzuziehen. Aber
nicht nur die Kraft leichte Körper anzuziehen, empfängt eine
Kugel von Bernſtein oder Schwefel durch das leiſe Reiben,
ſondern auch das Vermögen dieſelben abzuſtoßen, wie man
dies ſehen kann, wenn man zarte Flaumfedern zu dem Ver⸗
ſuch anwendet oder leichte Kügelchen aus Hollundermark, die
frei an feinen Fädchen hängen, dazu benutzt. Obgleich nun
gar vielerlei Körper, namentlich auch die Pechkohle oder der
Gagat, die Edelſteine, ja ſelbſt das Fell der Katzen bei dem
Reiben ähnliche Erſcheinungen zeigen als der Bernſtein, hat
man dabei dennoch dieſem ſeinen alten Vorrang gelaſſen, weil
er der erſte Körper war, an dem man ſolche Beobachtungen
machte; man hat nach dem Bernſtein oder Elektrum die vor⸗
hin erwähnten Aeuſſerungen einer anziehenden und abſtoßen⸗
den Kraft der geriebenen Körper Elektrizität genannt.
Mit Recht ſann ſchon der große Thales dem Räthſel
nach, welches uns die Erſcheinungen der Elektrizität aufge⸗
ben. Eine verborgene Kraft wirkt aus dem Steine hervor
und ſetzt aus der Ferne her andre Körper in Bewegung;
jener ſcheint ſich, im Verhältniß zu dieſen andren Körpern
zu dem Range eines beſeelten Weſens erhoben zu haben, in
welchem und aus welchem hervor ein bewegender Wille wal—
tet, der die umgebenden Stoffe zu einem gewiſſen Zwecke
verbindet und wieder trennt. Thales ſprach bei der Betrach—
tung der Elektrizität den Gedanken an eine Weltſeele aus,
welche alle Weſen der Sichtbarkeit durchdringt, deren Kräfte
in allen ſchlummern und die bei gewiſſen, äußren Veranlaſ—
ſungen erwachen können.
Vor Allem mußte die Uebereinſtimmung der Elektrizität
mit dem Magnetismus (m. v. S. 38) ins Auge fallen. Auch
das magnetiſche Eiſen zieht andres Eiſen an. Es wird aber
hierbei an den beiden Enden einer Magnetnadel ein entge-
gengeſetztes Verhalten bemerkt: das eine Ende der Nadel,
336
wenn dieſe frei ſchwebt, kehrt ſich nach Norden, das andre
nach Süden hin, wenn zwei Magnetnadeln einander genä⸗
hert werden, ſtoßen jene Enden derſelben, die nach gleicher
Richtung hinſtreben, ſich ab, während das Nordende des
einen die Vereinigung mit dem Südende des andren ſucht,
das Südende aber lebhaft nach dem Nordende des andren
ſich hinbewegt. Es ſind mithin hier die beiden nach verſchie⸗
denen Richtungen hinſtrebenden Gegenſätze oder Pole an ein
und demſelben Eiſenſtäbchen vereint; an den elektriſchen Kör⸗
erſcheint dieſes anders. Wenn man nämlich ein Hollunder-
markkügelchen, das an einem feinen Seidenfädchen hängt, in
die Nähe einer geriebenen Siegellackſtange oder Bernſteinku⸗
gel bringt, dann wird daſſelbe von dieſen Körpern, während
ihrer elektriſchen Aufregung, angezogen, bleibt jedoch nicht
wie die angezogenen Eiſenfeilſpäne an einem Magnet, fo an
dem Siegellack oder Bernſtein hängen, ſondern wird nach
einiger Zeit abgeſtoßen. Es hat mithin die gleichnamige
Elektrizität dieſer geriebenen Körper angenommen; wie der
Südpol des einen Magnetes vom Südpol des andren,
ſcheidet es ſich von ihnen ab. Bringt man jetzt in die Nähe
des Kügelchens, während dieſes vermoge der wechſelſeitigen
Abſtoßung in einiger Ferne von dem gleichnamigen elektriſchen
Körper ſchwebt, eine andre durch Reiben elektriſch gewordne
Stange von Pech, Schwefel oder Bernſtein, dann wird daſ—
ſelbe auch von dieſen Körpern abgeſtoßen, nicht aber von
einer geriebenen Glasſtange, nach welcher es ſich alsbald mit
Lebhaftigkeit hinbewegt und ſo lange an ihr hängen bleibt,
bis es auch von dieſer die gleichartig polariſche Spannung
angenommen hat, wo es dann vom Glaſe ſcheidet und mit
lebhafter Bewegung zu der geriebenen Siegellackſtange hin—
fliegt, bis das Wechſelſpiel der Abſtoßung und Anziehung
von Siegellack zum Glaſe, von dieſem zu jenem von neuem
ſich wiederholt. Man kann den Verſuch unmittelbar mit
Glas- und Siegellackſtangen anſtellen, welche man frei ſchwe⸗
bend aufhängt. Sobald ſie durch Reiben elektriſch geworden
ſind, ſtößt eine Siegellackſtange oder Bernſteinkugel die andre
ab, bewegt ſich aber kräftig nach der Glasſtange hin, welche
ganz auf dieſelbe Weiſe von andren elektriſchen Glasſtangen
ſich hinweg, nach der Siegellackſtange aber hinbewegt. In
dieſem Falle find demnach die beiden polariſchen Gegenſätze
nicht an einem und demſelben Körper, wie am Magnet, der
b ern
337
dern an zwei Körpern von ganz verſchiedener Art hervorge⸗
treten. Es iſt indeß weder die Zuſammenſetzung der gerie⸗
benen Körper noch der Grad ihrer Feſtigkeit, nicht, bei dem
Harz die brennbare, beim Edelſtein die unverbrennliche Na⸗
tur, was die Art der polariſchen Spannung begründet, ſo
daß man der einen dieſer polariſchen Spannungen den Na⸗
men der Harz⸗, der andren den der Glaselektrizität geben
könnte, ſondern das Entſtehen der beiden verſchiedenen Rich⸗
tungen hängt von andren Umſtänden ab. Reibt man näm⸗
lich Glas mit Wollenzeug, Seide oder an einem Lederkiſſen
das mit einer Verbindung (einem Amalgam) von Queckſilber,
Zinn und Zink überzogen iſt, dann tritt allerdings an der
Glastafel in ſehr auffallendem Maaße jene elektriſche Span⸗
nung hervor, welche der einer geriebenen Siegellackſtange
vollkommen entgegengeſetzt iſt; reibt man dagegen das Glas mit
einem Katzenfelle, dann nimmt das letztere die Glaselektrizi—
tät, das Glas aber die Harzelektrizität an ſich. Eben ſo
zeigt ſich zwar an dem Siegellack, das man mit Wollenzeug
reibt, die Harzelektrizität, hat man aber zum Reiben deſſel⸗
ben den Schwefel angewendet, dann erhält der letztere die
Harz — das erſtere, gegen feine ſonſtige Natur die Glaselek—
trizität. Eine Umkehrung, welche ſelbſt dem Bernſtein wider-
fährt, wenn man ihn mit Schwefel reibt. Die Richtung der
elektriſchen Spannung hängt mithin nicht von der Beſchaffen—
heit des Körpers, an welchem ſie erregt wird allein, ſondern
auch von der Natur des Einfluſſes ab, welcher ſie erregt hat,
zwei Körper welche durch ihr Gegeneinanderbewegen in einen
Wechſelverkehr treten, bilden einen polariſchen Gegenſatz ge—
gen einander, gleich jenem des Sauerſtoffgaſes zum Brenn⸗
ſtoff; einen Gegenſatz dabei der eine von beiden (n. C. 8)
als das Bewegende, der andre als das Bewegte, jener als
gebend, dieſer als nehmend betrachtet werden kann, oder nach
dem wiſſenſchaftlichen Ausdruck jener als poſitiv, dieſer als
negativ ſich verhält.
Was die Erregung ſo wie die Mittheilung der Elektri⸗
zität betrifft, ſo findet hierin bei verſchiedenen Körpern ein
ſehr augenfälliger Unterſchied ſtatt. Die bereits namentlich
angeführten Körper werden durch Reiben elektriſch, immer
jedoch zunächſt an ſolchen Stellen ihrer Oberfläche, welche dem
anregenden Einfluß ausgeſetzt waren, Metalle dagegen wer⸗
den durch Reiben gar nicht merklich oder nur unter gewiſſen
22
338
Umſtänden elektriſch, ſind jedoch in hohem Grade für eine
Mittheilung der Elektrizität empfänglich, deren Spannung
dabei nicht nur auf den Theil ihrer Oberfläche übergetragen
wird, welcher mit dem elektriſchen Körper in Berührung oder
Annäherung kam, ſondern über ihren ganzen Umfang ſich
ausbreitet. c
Dieſes verſchiedene Verhalten der Körper gegen die An⸗
regung und Mittheilung der Elektrizität erinnert ſehr an das,
was wir oben (S. 270) über die Befähigung derſelben ſag⸗
ten, die Wärme zu leiten oder dieſe Fortleitung zu erſchwe⸗
ren. Gerade ſolche Körper, welche die meiſte Anlage dazu
haben durch Verbrennen mit dem atmoſphäriſchen Sauerſtoff⸗
gas aus ſich ſelber Wärme zu entwickeln, ſind die ſchlechte⸗
ſten Leiter der Wärme, während die unverbrennlichen oder
ſchwer entzündbaren Steine und Metalle die beſten Wärme⸗
leiter ſind. In derſelben Weiſe ſind denn auch die Metalle
für die Mittheilung und Verbreitung der Elektrizität höchſt
empfänglich, während jene vorhin genannten Korper, die
ſich durch Reiben ſelber leicht elektriſch machen laſſen, wie
Glas, Bernſtein, Pech, Seide ſich einer ſolchen Verbreitung
ſo wenig fähig zeigen, daß man dieſelben gleich Dämmen
zum Abhalten der elektriſchen Kraft oder zum Anſammlen
derſelben an einem gewiſſen Punkte benutzen kann. Vermöge
dieſer Iſolatoren oder Abſcheidungsmittel der Elektrizität iſt
es erſt möglich geworden, dieſe merkwürdige Naturerſcheinung
in ihrer ganzen Kraft und Wirkſamkeit zur Anſchauung zu
bringen. Wenn man nämlich ein Metall oder einen andren
Körper der die Elektrizität gut leitet, wohin auch die Kohle,
feuchte Erde, die meiſten Salze, lebende Pflanzen und Thie-
re, das Waſſer und viele andre Flüſſigkeiten gehören auf
Pech, auf Glas oder Seide ſtellt, mithin auf ſolche Dinge,
welche der ſchnellen Vertheilung der empfangenen Elektrizität
an die umgebende Körperwelt eine Hemmung entgegenſetzen,
dann kann man durch Mittheilung die elektriſche Spannung
ihrer Oberfläche bis zu einem ſehr hohen Grad verſtärken.
Denn die Körper der andren Ordnung, wie Glas oder har—
zige Stoffe, welche durch Reiben oder andre Einflüſſe leicht
elektriſch werden, tragen dieſe Anregung auf das Metall oder
einen andren gut leitenden Körper über, auf deſſen ganzer
Oberfläche jene alsbald ſich ausbreitet, während ſie bei dem
ſelbſtelektriſchen Stoffe entweder nur an einer Stelle der Ober⸗
339
fläche haftete oder aus einer einzelnen Stelle ſich hinüber⸗
zog an den aufnehmenden Körper. Das was hierbei ge:
ſchieht iſt dem ähnlich, was wir zwiſchen einem brennen⸗
den Stück Holz und einem Metalldrahte bemerken. Das
Holz theilt von jenem Ende aus, an welchem es brennt,
dem Metalldraht ſeine Glühehitze mit und dieſer wird, wenn
er nicht zu lang iſt, ſo daß ſich verhältnißmäßig zu viel von
ſeiner empfangenen Wärme an die umgebende Luft zerſtreuen
muß, in feiner ganzen Ausdehnung glühend heiß, während
wir das Holzſcheit oder den Span an dem andren nicht
brennenden Ende mit der Hand anfaſſen können, ohne von
ſeiner Hitze zu leiden. Denn das Holz iſt ein ſchlechter Lei⸗
ter für die Wärme, wie das Glas oder Pech für die Elef-
trizität; nur der in Entzündung verſetzte Theil von jenem
glühet und verbreitet feine Hitze an die ihm genahten Kör⸗
per. Oder, um zur Verdeutlichung noch einen andren, etwas ro—
heren Vergleich zu brauchen: ein Tropfen Tinte, der auf ein
ſtark lakirtes Holz oder geglättetes Papier fiel, bleibt auf
ſeiner Stelle ſtehen, bis er allmählich verdünſtet, bringt man
aber ein Stück Fließpapier mit ihm in Berührung, dann
ſaugt dieſes alsbald den Tropfen an ſich, der ſich weit ums»
her in ſeiner Maſſe ausbreitet. Ein gutes Löſchpapier, ſo
wie ein Docht oder ein Schwamm füllt ſich, wenn auch nur
die eine Seite derſelben in eine hinreichende Menge von Flüf-
ſigkeit eingetaucht wird, bald ganz mit dieſer an und kann
auf dieſe Weiſe zu einem Behältniß derſelben werden, aus
dem ein Druck ſie wieder hervortreibt. Wenn man den glü⸗
hend gemachten Metalldraht auch nur mit einem Ende in
kaltes Waſſer ſtellt, dann theilt er in wenig Augenblicken
feine ganze Wärme an dieſes mit und kühlt ſich in feiner gan⸗
zen Maſſe ab, während der Holzſpan mit einem Ende zwi—
ſchen Eistafeln ſtecken, an dem andren brennen kann.
Auch die iſolirte Metallkugel, auf welche man die elek⸗—
triſche Spannung, die etwa durch Reiben in einer Glas—
ſcheibe erregt wurde, übergetragen hat, giebt, wenn ſie von
einem gut leitenden Körper berührt wird, nicht nur von
der zunächſt berührten Stelle, ſondern von ihrer ganzen Ober—
fläche die empfangene Anregung ab, während die elektriſch
gewordene Glasſcheibe dem Finger der ſie berührte nur jenen
Theil ihrer Elektrizität mittheilt, der an dem berührten Punkte
haftete. Hierdurch wird es moglich mit einem Male und in
22
340
einem Augenblick ſehr ſtarke elektriſche Wirkungen hervorzu⸗
rufen und dieſen Zweck hat man ganz beſonders bei der Ein⸗
richtung der ſogenannten Elektriſirmaſchinen und der mit ihnen
verbundenen Elektrizitätsaufnehmer vor Augen gehabt. Hier⸗
bei kommt noch ein andrer Unterſchied der gutleitenden von
den ſchlechtleitenden Körpern in Betracht. Bei den erſteren,
wie namentlich den Metallen, theilt ſich die empfangene Elek⸗
trizität nur über die Oberfläche aus, während ſie bei den
letzteren, wie bei Glas eine Anregung hervorbringt, wel⸗
che bis zu einem gewiſſen Grade auch auf die Maſſe nach
innen hinein einwirkt. Wenn deshalb an einer Glasſcheibe
beide Flächen mit Metall oder mit Zinnfolie bis nahe an ihren
Rand belegt, die Ränder aber mit Firniß oder Siegellack über⸗
zogen werden, ſo daß die Metallbelegungen vollkommen von
einander iſolirt ſind, dann entſteht durch die Mittheilung der
Elektrizität an die eine Fläche in der andren gegenüber lie⸗
genden Fläche die polariſch entgegengeſetzte elektriſche Span⸗
nung, ſo daß dieſe als negativ (nach S. 337) ſich erweiſt,
wenn jene poſitiv war und umgekehrt. Dieſelbe Erſcheinung
zeigt ſich an gläſernen Flaſchen, die man an der äuſſeren
wie an der inneren Fläche mit Zinnfolie, oben aber am
äuſſren und innren Rande mit einer harzigen Auflöſung über:
zogen hat. Setzt man die innre Metallbelegung einer ſolchen
Flaſche durch einen metallenen Leiter in Verbindung mit
einem durch Reibung elektriſirten Cylinder- oder Scheiben⸗
glas, dann nimmt dieſer die poſitive Elektrizität des Glaſes
an, während die äuſſere Belegung in dem gleichen Grad der
Stärke die negative erhält. Daß beide Spannungen einan⸗
der gegenüber ſich bilden konnten, wird der Fähigkeit des
Glaſes zugeſchrieben an zwei ſeiner entgegen geſetzten Stellen
eine elektriſche Polarität anzunehmen, daß aber beide Span⸗
nungen ſo nahe bei einander beſtehen, ohne ſich gegenſeitig
durch ihr Zuſammenwirken aufzuheben, dies wird abermals
nur durch das Glas und den oben am Rande angebrachten
Ueberzug möglich, weil dieſe das Ineinanderfließen und
Ausgleichen der beiden Elektrizitäten hindern. Während die
äuſſere Belegung im Gegenſatz zu der innren negativ wurde,
ruft ſie zugleich wie der Nordpol eines Magnetes an dem
ihm genäherten Eiſendraht einen Südpol, ſo an den nicht elektri⸗
ſchen Körpern die in ihre Nähe kommen, die poſitive Span⸗
nung hervor und in dem Maaße, in welchem ſie dieſes thut,
341
wächſt die Stärke ihrer eigenen Elektrizität. Durch dieſes
entgegengeſetzte elektriſche Verhalten der beiden Seiten einer
belegten Glasſcheibe oder Flaſche dient die eine Spannung,
je kräftiger ſie iſt, deſto mehr zur Verſtärkung der andren;
beide ſteigern ſich gegenſeitig bis zu einem Grade, daß zu—
weilen die zwiſchen beiden gelegene Glasmaſſe nicht mehr fä—
hig iſt dem wechſelſeitigen Zuge der Polaritäten zur Verei—
nigung und Ausgleichung zu widerſtehen: der Funke von der
einen ſchlägt durch die iſolirende Zwiſchenwand hindurch und
durchbohrt oder zertrümmert das Glas. Wenn aber die po—
lariſche Spannung nicht bis zu dieſem Uebermaaß geſteigert
und wenn zugleich mehrere Flaſchen ſolcher Art fo vereint
werden, daß die innren Flächen der einen durch leitende Me—
talldrähte mit den innren Flächen der andren verbunden und
daß zugleich auch die äußren Flchen unter ſich in Vereini—
gung geſetzt ſind, dann entſtehen die ſogenannten elektriſchen
Batterien, durch deren ungemeine Wirkſamkeit die menſchliche
Kunſt den Blitz der Gewitter nachgeahmt hat. Wir wollen
hier nur im Allgemeinen der Erſcheinungen erwähnen, welche
man an einer ſo hoch geſteigerten, künſtlichen Elektrizität
beobachtet hat. f
Wenn man das kugelförmige Ende eines Metalldrahtes,
der mit den äuſſeren Belegungen einer elektriſchen Batterie
in Verbindung ſtehet dem kugelförmigen Ende nähert, deſſen
Draht ſich durch die inneren Belegungen der Flaſchen hin—
durchziehet, dann entſtehet nach kleinerem Maaßſtabe ein
Blitz und Donner wie der Gewitterwolken, denn ein Licht—
ſtrahl von bedeutender Helligkeit bricht aus den beiden ge⸗
näherten Enden der Verbindungsdrähte hervor und zugleich
vernimmt man einen Knall, deſſen Stärke mit der Stärke
der Ladung im Verhältniß ſteht. Wenn bei einer ſehr kräftig wir⸗
kenden Batterie ein Thier der Entladung der beiden Drähte
ausgeſetzt wird, ſo daß man es zwiſchen dieſe Enden hinein⸗
ſtellt und den Schlag durch daſſelbe hindurch gehen läſſet,
dann wird es davon eben ſo plötzlich getödtet wie von dem
Blitz einer Gewitterwolke. Wenn man bei minder ſtarken,
gefahrloſen Vorrichtungen dieſer Art mit der einen Hand
die äuſſere Belegung einer geladenen Flaſche, mit der and—
ren das Drahtende der inneren berührt, dann fühlt man
eine eigenthümliche Erſchütterung in den Knochengelenken
der Arme und dieſe Erſchütterung theilt ſich einer ganzen
342
Reihe von Perſonen mit, die ſich wechſelſeitig die Hand
geben und davon die an dem einen Ende ſtehende mit der
äußren Belegung, die am andren Ende mit der innren ſich
in Berührung ſetzt. Der elektriſche Funke, auch wenn er
ſchwächer iſt, entzündet das oben erwähnte Gemenge von
Sauerſtoffgas und Waſſerſtoffgas und verbindet hiemit dieſe
beiden polariſch entgegengeſetzten Gasarten zu Waſſer, ſo wie
er umgekehrt, bei höherer Steigerung ſeiner Wirkſamkeit das
Waſſer, durch welches ſein Schlag gehet, in ſeine gasartigen
Grundſtoffe zerſetzt, welche bei dieſer plötzlichen Formwand—
lung ſelbſt ſtarkere gläſerne Gefäße zerſprengen. Papier wird
ſchon von einem ſchwachen elektriſchen Funken, welcher durch
daſſelbe hindurch fährt durchbohrt, durch einen ſtärkeren auch
Holzplatten und Glas; leicht entzündliche Körper werden
dadurch entzündet, Metalldrähte werden glühend und zer⸗
ſtäuben in Funken. |
Und hier zuerft begegnen wir jener Eigenſchaft der
Elektrizität durch welche ſich dieſelbe, gleich dem Feuer des
verbrennenden Körpers als ein Quell der Wärme kund
giebt, wie denn ſchon das Alterthum eine Verwandtſchaft
der Wärme und der Elektrizität darinnen erkannte, daß
die elektriſchen Körper, wie der Bernſtein, leichter durch
Reiben elektriſch werden, wenn ſie erwärmt ſind.
Wie die Wärme das Wachsthum und Gedeihen der
Pflanzen und Thiere fördert, ſo thut dies auch die Elek—
trizität. Man hat deshalb Pflanzenſaamen die man einer
ſanften elektriſchen Strömung ausſetzte leichter und früher
zum Aufkeimen und Ausſchlagen gebracht und ſelbſt bei
Menſchen, die man auf ein Geſtell ſetzte, das durch Glas
oder Pech iſolirt war, und dann mit einer fortwährenden
elektriſchen Strömung in Verbindung brachte, wollte man
in verſchiedenen krankhaften Zuſtänden einen heilſamen Ein⸗
fluß der Elektrizität bemerkt haben.
Auch eine eigenthümlich bildende Kraft giebt ſich an
den elektriſchen Strömungen kund, wenn dieſelben durch
Kolophoniumſtaub geleitet werden, der ſich unter ihrer Ein—
wirkung zu Figuren ordnet, welche namentlich im poſitiven
Strome von regelmäßig ſtrahlenförmigem Umriſſe ſind.
Die Geſchwindigkeit in der ſich ein elektriſcher Schlag
durch einen Metalldraht von einem Ort zu dem andern fort⸗
pflanzt iſt ſo groß, daß ſie ſelbſt die des Lichtes noch über⸗
343
trifft. Denn der Lichtſtrahl durchdringt in jeder Sekunde
einen Raum von nahe 41000 Meilen, der elektriſche Schlag
aber in derſelben Zeit einen räumlichen Abſtand von mehr
denn 70000 Meilen. Obgleich die Räume, an denen man
dieſes meſſen konnte, nicht wie bei dem Licht, — mittelſt der
Beobachtung der Jupitermonden Verfinſterungen — Erdbahn⸗
durchmeſſer von vielen Millionen Meilen, fondern nur Ab—
ſtände der Orte eines einzelnen Landſtriches der Erde waren,
fo erſetzte dennoch bei dieſen Beobachtungen die auſſeror—
dentliche Vollkommenheit der Zeit und Raum meſſenden
* das was ihnen am Umfang der äußren Baſis
abging.
5 Wir haben hier zuvörderſt nur jene Beziehung zur
Wärme berückſichtigt, welche in den polariſirenden Eigen—
ſchaften der ſogenannt gemeinen, durch Reibung erzeugten
Elektrizität begründet iſt, ehe wir jedoch auf dem Wege dieſer
Betrachtung weiter fortſchreiten, müſſen wir zuerſt, im Vor⸗
übergehen einer großartigen Naturerſcheinung gedenken, welche
ihrer Entſtehung ſowie ihrer Wirkſamkeit nach, gleichen Ger
ſchlechtes mit der Elektrizität iſt.
37. Die Gewitter.
Jenes künſtliche Gewitter, mit Blitz und Donner, wel⸗
ches ein gewiſſer Anthemius, ein geſchickter Mechaniker
und Baukünſtler der in den Zeiten des Kaiſer Juſtinian im
6ten Jahrh. nach Chriſto lebte, zum Staunen der Zuſchauer
hervorbringen konnte, mag etwa jenen künſtlichen Gewittern
ähnlich geweſen ſein, die man auf unſren Theatern durch
eine beſondere Maſchinerie und durch plötzliches Entzünden
fein zertheilter brennbarer Stoffe zuwege bringt. Dieſe Art
der Nachbildungen hat mit dem Urbild das ſie vorſtellen
ſoll, ihrem Weſen nach eben fo wenig innere Uebereinſtim—
mung, als das Wachsbild mit dem lebenden Menſchen nach
deſſen Figur es geformt iſt. Etwas andres iſt es dagegen
mit jenen gewitterähnlichen Erſcheinungen welche man aus
jedem elektriſchen Apparat hervorrufen kann. Wenn da im
zwergartig kleinem Maaßſtabe das Modell eines Hauſes
aus Papier und Holzſtäbchen oder aus einem andren brenn—
baren Stoffe gebildet, von dem hindurchſchlagenden elektri-
ſchen Funken entzündet wird; wenn man an einem andren
344
Modell dieſer Art einen Gewitterableiter im Kleinen, mit
einer metallenen Spitze und einem leitenden Metalldrahte
anbringt, deſſen untres Ende mit der Belegung der andren
Seite einer geladenen Flaſche in Verbindung ſteht und wenn dann
der elektriſche Schlag ohne das leicht entzündliche Modell zu
treffen, durch die Spitze und den Draht des kleinen Wetter⸗
ableiters hinabfährt, da hat man es, obwohl in ſehr ver—
jüngtem Maaßſtabe, mit der Naturkraft ſelber zu thun, die
in den oberen Regionen der Atmoſphäre den Blitz und den
Donner erzeugt. |
Dieſelbe elektriſche Spannung welche wir durch Reiben,
oder, wie wir nachher ſehen werden, bei den Metallen durch
das bloſe Aneinanderlegen und wieder Trennen ihrer Flä⸗
chen hervorbringen, findet ohne Aufhören zwiſchen dem Luft⸗
kreis und der Erdoberfläche ſtatt. Sie nimmt bis zu einer
gewiſſen Höhe hinan zu, ſo daß die Elektrizität der oberen
Luftſchichten meiſt in einem ſtärkeren Gegenſatz zur Elektrizität der
Erdfläche ftebet als die der ' unteren Schichten. Bei heitrem
Himmel zeigt in der Regel die Atmoſphäre poſitive, die
Erde negative Elektrizität; bei umwölktem Himmel wird, we⸗
nigſtens an den unterſten Regionen, das umgekehrte Verhält—
niß wahrgenommen. Denn nicht nur die Luft im Ganzen
bildet zur Erde einen elektriſchen Gegenſatz, ſondern auch
einzelne Schichten und Dunſtmaſſen der Atmoſphäre können
eine mehr oder minder ſtarke Spannung zu einander annehmen,
da der Grund des Entſtehens dieſer Spannunavorzugsweiſe in
der Bildung der Waſſerdämpfe und der Zurückkehr derſelben in
die tropfbar flüſſige Form zu ſuchen iſt. Denn jeder Verſuch
im Kleinen lehrt uns, daß wenn Waſſer durch die Wärme
verdampft, der entſtebende Dampf eine merklich poſitive, das
Gefäß negative Elektrizität annehme, da aber, wo ſich in
den oberen Regionen der Luft der Dampf wieder zu Waſſer
verdichtet, tritt er zu der Atmoſphäre, dieſem Gefäß von
rieſenhafterer Art, in den umgekehrten Gegenſatz, indem er
ſelber negativ elektriſch wird.
Alle dieſe Verhältniſſe der gegenſeitigen Spannung zwi⸗
ſchen Erde und Luft, wie zwiſchen den einzelnen Dunft-
und Luftmaſſen der oberen Regionen ſelber löſen ſich in der
Regel durch eine kaum merkliche Ausgleichung und Entladung
auf; die emporſteigenden Dünſte, das niederfallende atmos⸗
phäriſche Waſſer, die tief am Boden ſchwebenden Nebel
345
und Wolken ſtrömen die an ihnen haftende Elektrizität an
die Körpermaſſen von entgegengeſetzter Spannung aus, und
gleichwie das Aufflammen des Schießpulvers endet, ſo bald
die brennbaren Stoffe mit dem Sauerſtoffgas ſich vereint
haben, fo verſchwindet auch jede Spur der electrifchen
Spannung, wenn die eine der beiden entgegengeſetzten Be—
wegungen und Richtungen an der andren, wie der nieder—
fallende Ball an der ihm entgegenkommenden Menſchenhand zum
Stillſtand gelangt iſt. Doch wird auch dieſes ſanfte Aus—
ſtrömen der Elektrizität von oben nach unten, ſo wie von
der Erdoberfläche nach der Luft dem Auge in jenen Licht—
erſcheinungen ſichtbar, die man zuweilen bei Nacht an den
Spitzen der Thürme, der Maſtbäume und andern empor—
gerichtet ſtehenden Körper, ja ſelbſt, unter gewiſſen Umſtän⸗
den, an den emporgeſtreckten Fingern der Hand wahrnehmen
kann. Eine Erſcheinung welche die Völker der alten Welt der
hülfreichen Nähe der Dioskuren: des Kaſtor und Pollux zuſchrie—
ben, unſere Vorfahren aber als St. Elmusfeuer benannten.
Auf die Entwicklung der elektriſchen Spannung hat
auch die Vegetation einen ſehr bedeutenden Einfluß, und
man bat berechnet daß die Elektrizität welche durch eine
Flur von 25 Quadrat⸗-Klaftern bervorgerufen wird, ſchon
hinreichen könnte um damit die ſtärkſte Batterie zu laden,
deren Schläge Stiere wie Roſſe tödten würden. Auch das
Verdünſten des Seewaſſers hat einen ſehr bedeutenden Ein—
fluß auf die Verſtärkung der Luftelektrizität, denn nicht das
reine, deſtillirte Waſſer ſondern das mit fremdartigen, vor
Allem mit ſalzigen Theilen vermiſchte, iſt beiſſeinem Verdam—
pfen der elektriſchen Spannung ſehr günſtig. Dieſe jedoch, wie
ſchon erwähnt, wird durch jeden wäſſrigen Niederſchlag,
durch jeden Lufthauch, durch den Schatten einer vorüber—
ziehenden Wolke, der an den Stellen die er trifft eine Ab—
kühlung hervorruft, ausgeglichen; mehr denn zwanzigmal
im Verlauf eines Tages kann in unſrer Umgebung die
elektriſche Stimmung wechſeln, jetzt als ein poſitiver dann
als ein negativer Ueberſchuß ſich an unſren Inſtrumenten kund
geben, ohne daß unſer ſinnliches Gefühl dieſes wahrnimmt.
Im Ganzen bemerkt man, daß bei herrſchenden Nord—
und Oſtwinden die elektriſche Stimmung der Luft mehr po—
ſitiv, bei Süd⸗ und Weſtwinden mehr negativ ſey, doch
wird ſie dem Grade nach bei windſtillem Wetter immer viel
346
ſtärker gefunden, als bei windigem, bei Tage ſtärker als bei
Nacht, wo der Niederſchlag der wäſſrigen Dünſte die Aus⸗
gleichung der entgegengeſetzten Spannungen vermittelt. So
mannichfaltig aber auch die Wege zu einer ſolchen fortwäh⸗
renden Ausgleichung ſind, reichen ſie dennoch nicht immer
aus zur Verhütung jener Anſammlung und Steigerung der
Elektrizität in den Wolken, daraus die Erſcheinungen des Ge⸗
witters hervorgehen.
Wenn in den warmen Tagen des Sommers, wo das
Gewächsreich in ſeinem vollen Grün ſteht, die emporſteigen⸗
den Dämpfe häufiger werden und mit ihrer poſitiv elektriſchen
Spannung die oberen Regionen der Luft erfüllen, wenn dann
zu gleicher Zeit die Wolken in ſolcher Höhe ſchweben, daß
die Ausgleichung zwiſchen ihnen und der Erdoberfläche mehr
erſchwert iſt, dann treten allmälig jene Bedingungen ein,
unter denen die Gewitter am leichteſten ſich erzeugen. Die
trocknen Luftſchichten zwiſchen den Wolken und der Erde mö—
gen hierbei auch noch iſolirend, wie die Glaswand zwiſchen
den beiden Belegungen einer Leidner Flaſche wirken und
dadurch die elektriſche Ladung verſtärken; die Sonnen⸗
ſtrahlen, welche von oben auf die Wolken fallen, bewirken
zu gleicher Zeit in dieſen eine fortwährende Verwandlung der
ſchon gebildeten wäſſrigen Niederſchläge in Dämpfe und rufen
hierdurch in den Wolkenmaſſen ſelber elektriſche Spannun-
gen hervor.
In den eigentlichen Wintermonaten, vom November bis
zum Februar gehören die Gewitter zu den ſehr ſeltenen Er⸗
fieinungen. Die niedriger ſtehenden Wolken, die feuchte
Luft, die geringe Wärme des Bodens, die ſehr verminderte
Verdampfung des Waſſers läßt dann keinen bedeutenden
Grad der Spannung aufkommen. Auch im Oktober und
im Marz ereignen ſich nur wenig Gewitter. Im April ſind ſie
ſchon, ein Jahr ins andre gerechnet, fünfmal häufiger als im
März, im Mai iſt ihr Vorkommen im Durchſchnitt mehr
denn doppelt, im Juni mehr denn drei, im Juli faſt vier⸗
mal, im Auguſt mehr denn dreimal häufiger als im April,
dagegen ſinkt ihre Zahl im September faſt wieder zu der im
April herunter. In kälteren Ländern find zwar, aus denſel⸗
ben Gründen, die Gewitter ſeltner als in den wärmeren,
doch hat man ſelbſt noch unter dem Töten Grad der nördli⸗
347
chen Breite, in dem Klima von Neu: Sibirien und Spitzber⸗
gen heftige Gewitter beobachtet. f
Die eigentlichen Wetterwolken unterſcheiden ſich meiſt
durch ihre dunklere Färbung, rundlichen Umriſſe und ſchär⸗
fere Begränzung; lauter Züge, welche nebſt der ftarfen Ab»
ſtufung ihrer Beleuchtung auf den höheren Grad ihrer Ver—
dichtung ſchließen laſſen. Die Höhe in der ſie über der Erd—
oberfläche ſtehen, erreicht in wärmeren Gegenden und in der
Nähe der Gebirge zuweilen 9000, in den Ebenen des mittlern
Europas zwiſchen 3000 bis 7000 Fuß; in dem kalten Kli⸗
ma von Tobolsk ſinkt dieſe Höhe öfters bis auf 600 oder
700 Fuß herab. Vor dem Ausbruch des Gewitters iſt die
Luft meiſt ſehr ſchwül; ihre elektriſche Spannung erleidet
große und plötzliche Wechſel. Die Entladung beginnt, ſo—
bald durch die Feuchtigkeit der Luft eine Leitung von einer
dieſer großartigen Batterien zur andren hergeſtellt iſt; der
elektriſche Schlag, deſſen Funke hier die rieſenhafte Form des
Blitzes angenommen, deſſen Knall zum Donner geworden iſt,
gehet dabei öfters nur von einer Wolke, von einer mit Düns
ſten erfüllten Luftſchicht zur andren. Da jedoch die elektriſche
Spannung der höheren Luftregion zugleich in der niedreren und
an der Körperwelt der Erdoberfläche die ihr entgegengeſetzte, in
derſelben Stärke hervorgerufen hat, nimmt die Entladung
öfters auch dahin ihre Richtung: der Blitz ſchlägt unten auf
der Erde ein; er entlädt ſich dabei vorzugsweiſe an ſolchen
Körpern, welche gute Leiter der Elektrizität ſind, wozu na—
mentlich die Metalle, nächſt ihnen jedoch auch lebende orga—
niſche Körper, Pflanzen und Thiere gehören. Aus dieſem
Grunde iſt es gefährlich unter hohen Bäumen Schutz gegen
Gewitterregen zu ſuchen und da auch der thieriſche wie der
menſchliche Kürper durch ſtarke Bewegung in eine Stimmung
geräth, worin er die Elektrizität beſſer leitet denn gewöhn⸗
lich, iſt dem Wandrer bei ſtarken Gewittern ein ruhiges Ver—
halten zu empfehlen. Was übrigens das Verhalten der Ve—
getation bei Gewittern betrifft, ſo ſagt man, daß der Blitz
niemals in Birkenbäume einſchlage uud von dem Lorbeerbaum
behaupteten die Alten das Gleiche, daher man bei ſtarken
Gewittern Lorbeerkränze als Schutzmittel auf das Haupt
ſetzte. Auch das Hauslaub (Sempervivum tectorum) das
man auf die Dächer pflanzt, hält unſer Landvolk für ein
blitzabwehrendes Mittel.
348
Von der Stärke der elektriſchen Spannung des Bodens
hängt es zunächſt ab, ob und in welcher Heftigkeit die Ent⸗
ladung der Gewitter dahin ihre Richtung nehmen, ob der
Blitz einſchlagen werde. Die Erwärmung der Erdoberfläche,
ſo wie die Fähigkeit der zwiſchenliegenden Luftſchichten, ihn
herabzuleiten, iſt dabei von großem Einfluß. Darum ſind
in einigen Gegenden der heißen Erdſtriche die Gewitter ſo
gefährlich, wie nach Azaras Bericht in der Stadt Buenos
Ayres im ſüdlichen Amerika (Republik Bolivia) ein einziges
Gewitter im Jahr 1793 in Zeit von kaum einer Stunde 37
Mal einſchlug und 19 Menſchen tödtete.
Bei dem Einſchlagen der Blitze in dem Boden wird
nicht nur während großer vulkaniſcher Eruptionen, ſondern
auch auſſer dieſen nicht ſelten, eben ſo wie im Kleinen an
unſren elektriſchen Apparaten ein Gegenſchlag wahrgenommen,
der aus der Erde hinauf nach der Luft geht, oder von einem
Punkte des Bodens ſich weithin verbreitet. Solche aus der
Erde hervorbrechende Blitze ſchleudern zuweilen die Steine
undErdlagen empor und haben in einzelnen Fällen nicht min⸗
der zerſtörend und tödtend gewirkt als die von oben fommen-
den. Die letzteren aber, wenn fie in ſandigen Boden ein-
ſchlagen, bringen hin und wieder eine Schmelzung des Quarz—
ſandes zu wege, aus welcher die ſogenannten Blitzröhren
entſtehen.
Nicht immer zündet der Blitz die brennbaren Stoffe an,
durch welche er hindurch ſchlägt. Er ſcheint ſich in ſolchen
Fällen auf ähnliche Weiſe zu verhalten wie der elektriſche
Funke ſtarker künſtlicher Batterien, welcher manche Metall⸗
drähte zum Glühen und Schmelzen bringt, durch Schießpul⸗
ver aber hindurchfährt ohne daſſelbe zu entzünden, „vielleicht
weil die Leitungsfähigkeit der Kohle ihn hiezu nicht Zeit läßt)
bis man ihn durch eine weniger gut leitende, naſſe Schnur
nach dem Pulver hinabfahren läſſet, das dann alsbald in
Brand geräth. Auf einem Schiffe, Newyork genannt, ſchlug
einſt der Blitz bei einem Gewitter zweimal ein, er verbreitete
ſich über das ganze Schiff ohne zu zünden und ohne einen
Menſchen zu tödten, ja es ereignete ſich hiebei, daß ein Paf-
ſagier, der ſeit längerer Zeit an Lähmung litt, ſey es nun
in Folge des Schreckens oder des elektriſchen Einfluſſes, auf
einmal des Gebrauches ſeiner Glieder wieder mächtig wurde.
Uebrigens waren alle Meſſer und Gabeln im Schiffe durch
349
die Wirkung des Blitzes magnetiſch geworden; an den Mag:
netnadeln, die ſämmtlich in einem Zimmer beiſammen ſtun—
den, bemerkte man, daß bei einigen die magnetiſche Wirk⸗
ſamkeit verſtärkt, bei andren geſchwächt worden war. Auch
bei andren Gelegenheiten ſahe man den elektriſchen Einfluß
blos auf die Metalle ſich beſchränken, welche ſich in der Nähe
der Stelle fanden die vom Blitz getroffen war. So in einem Hauſe
darin es eingeſchlagen hatte ohne zu zünden und ohne einen
der Bewohner zu verletzen, obgleich man die metallenen Glof-
kenzuge und ſelbſt die Drähte in den verrohrten Decken ge⸗
ſchmolzen fand. Ein andres Mal hatte der Blitz das Gold
an einem vergoldeten Urzeiger geſchmolzen und daſſelbe auf
das Blei des darunter gelegenen Daches geführt, welches
dadurch vergoldet worden war.
Zwar iſt es die leitende Fähigkeit der feuchten Luft,
welche das Einſchlagen des Blitzes in den Boden vermitteln
muß, denn ſchon durch eine trockne Luftſchicht von einer oder
etlichen Klafterndicke würde er ſchwerlich hindurch brechen
können, doch trägt auch zugleich der Regen zur allgemeinen,
viel ausgedehnten und dadurch minder gewaltſamen Ent—
ladung der elektriſchen Wetterwolken das Seinige bei, denn
jeder Tropfen des ſtarken Platzregens bringt einen ver—
hältnißmäſſig anſehnlichen Theil der Luftelektrizität mit ſich
herab zum Boden, an deſſen polariſch entgegengeſetzter
Spannung ſich dieſelbe ausgleicht. Daher loöſt ſich die Hefe
tigkeit der Gewitter, wenn der Regen der dieſelben begleitet
hat, eine Zeit lang angehalten, allmälig auf.
Namentlich in unſren mittleren Graden der Breite ge—
ſchieht es nicht ſelten, daß die Wetterwolken unterhalb der
Gipfel der Berge ſich bilden. Oben iſt heiterer Himmel,
unter ſich hört man den Donner, ſieht man das Blitzen
der Wolken. Nicht immer jedoch iſt der Beobachter, der von
der Höhe herab die gewaltige Naturerſcheinung beobachtet,
gegen ihre Wirkung geſchützt; denn der Blitz ſchlägt durch
den aufſteigenden Nebeldunſt aus den Wolken zuweilen auch
heraufwärts nach den höheren Stellen des Berges, wie denn
auf dieſe Weiſe vor mehreren Jahren ein Engländer getödtet
wurde, der am Felſenabhang des Rigikulms ſitzend, der
Entladung eines Gewitters über dem Zugerſee zuſah.
Am niedrigſten unter den Wetterwolken ſtehen in der
Regel jene, aus denen der Hagel kommt, der nicht ſelten
350
ein Begleiter heftiger Gewitter iſt. Die Hagelwolken, die
ſich durch das unregelmäßig zackige, wie zerriſſene Aus⸗
ſehen ihrer Ränder und weißlichere Färbung unterſcheiden,
ſcheinen, wenn ſie ſo niedrig ſtehen (denn es giebt auch
ſehr hoch ſchwebende Hagelwolken) die untre Schicht oder
Lage einer Maſſe von Wetterwolken zu bilden, an denen
ſich nach rieſenhaftem Maßſtabe eine Reihe ſolcher polariſch
gegeneinander geſpannten Eleftrizitätträger erzeugt hat, der⸗
gleichen, wie wir ſpäter ſehen werden, die Plattenpaare
einer Voltaiſchen Säule vorſtellen. Es iſt ſchon öfters vor⸗
gekommen, daß Wandrer in Gebirgsgegenden in die Mitte
einer Hagelwolke geriethen, deren Eisforner, in ihrer Bil-
dung begriffen, noch in der Luft ſchwebten. Ein aufmerk⸗
ſamer Beobachter (Lecoc) bemerkte bei einer ſolchen Gelegen⸗
heit, daß die Hagelforner in einer rotirenden (um ſich ſelber
drehenden) Bewegung begriffen waren. Die Kälte, welche
dergleichen Eismaſſen in einer ziemlich hohen Temperatur
der umgebenden Luft entſtehen läſſet, ſoll nach der Anſicht
einiger Naturforſcher aus der Verdünſtung des Waſſers
allein ſich kaum herleiten laſſen, ſo daß man die Mitwirkung
noch andrer Kräfte der polariſchen Spannung dabei voraus-
ſetzen muß. Die Hagelkörner erſcheinen meiſt wie aus ſchaa—
lenartigen Lagen, eine über der andren zuſammengeſetzt;
in ihrer Mitte iſt ein ſchneeähnlicher Kern oder auch wohl
ein fremdartiger, feſter Körper eingeſchloſſen, den der Wind
von den Abhängen der Gebirge oder vom Boden herzu
führte. Ihre Größe ſteigt von mehreren Linien bis zu mehreren
Zollen, denn bei dem Hagelwetter das 1827 die Umgegend
von Maſtricht traf, hob man Stücke von 6 Zoll Durchmeſ—
ſer auf; bei Clermont 1835 ellipſoidiſche Körner von der
Größe eines Hühnereies, und wenn eine große Menge dieſer
Körner beim Herabfallen ſich vereinen dann bilden dieſelben
zuweilen eine gewaltige Eismaſſe. Gleichwie die graulich
weißen Hagelwolken unter und zwiſchen den ſchwärzlich
dunklen Gewitterwolken nur dünne Schichten und Streifen
bilden, ſo trifft auch ihr verheerender Schlag unten am
Boden öfters nur einen Strich Landes, der nicht über tauſend
ja nur einige hundert Fuß Breite, dabei aber eine Länge
von einer oder etlichen Meilen hat. Indeß gibt es Schloſſen⸗
wetter welche dieſe Gränze der Ausdehnung um ein ſehr
Bedeutendes überſchreiten. So bildete jene furchtbare Ha⸗
351
gelſchauer, der im Jahre 1788 über Frankreich ausbrach
zwei von einander getrennte Streifen, deren Länge über
hundert Meilen, die Breite des einen gegen 2 bis 3, die
des andren über eine Meile betrug. Das Land das ſich
zwiſchen und jenſeits der Gränzen dieſer beiden Streifen
befand, war verſchont geblieben. Nur ſelten fällt Hagel bei
Nacht, noch ſeltner im Winter. Auch die Länder zwiſchen
den Wendekreiſen haben in den heißen niedrigen Ebenen faſt
niemals, die kalten, in der Nähe der Pole gelegenen nur
ſehr wenig vom Hagel zu leiden.
So wie der Regen bringt auch der Hagel die elektriſche
Spannung der Wolken mit ſich nach dem Boden herab und
dient hiedurch zur allmäligen Ausgleichung derſelben. Jene
Spannung löft ſich jedoch auch nicht ſelten auf eine für uns
noch weniger bemerkbare Weiſe durch ein ſanftes Ueberſtrö—
men der entgegengeſetzten Spannungen aus der einen Wolke
in die andre oder aus der Luft in einzelne hervorragende,
einer Leitung fähige Punkte der Erdoberfläche auf. Aus
einem ſolchen ruhigeren, minder gewaltſamen Ueberſtrömen
der Elektrizität von einer Schicht der Wolken oder atmoſphä—
riſchen Dünſte in die andre mag zuweilen das ſogenannte
Wetterleuchten entſpringen, wiewohl dieſes in den meiſten
Fällen nichts anders iſt als der Wiederſchein der Blitze eines
fernen, unter unſerm Horizont ſtehenden Gewitters in den un—
teren dichteren Lagen der Atmoſphäre. Die Möglichkeit jedoch
eine allmälige, oder, ſelbſt beim Einſchlagen des Blitzes ge—
fahrloſe, Entladung der Luftelektrizität zu bewirken, war der
menſchlichen Kunſt, ſeit ihrer näheren Bekanntſchaft mit den
elektriſchen Erſcheinungen auf eine ſehr wirkſame Weiſe
dargeboten.
38. Die Blitzableiter.
Wenn man bei unſren elektriſchen Vorrichtungen an
einer ſtark geladnen Leidner Flaſche oder Batterie die Be—
legungen der beiden Seiten mit gläſernen Stangen berührt,
dann hat man von keiner Entladung zu leiden; man kann
den geladenen Conductor einer Elektriſirmaſchine, wenn man
die Hand mit dichten, ſeidnen Handſchuhen bekleidet, ans
rühren, ohne daß ein Funke entſteht oder eine Erſchütterung
im Arme empfunden wird, während beides in ziemlicher
352
Stärke ſich zeigt, wenn man den Conductor mit einem Me⸗
talldraht berührt, der etwa in einen metallenen Knopf ſich
endigt. Seitdem dieſe Eigenſchaft mehrerer Körper den Ein⸗
fluß der Elektrizität abzuwehren und zu hemmen bekannt war,
fehlte es nicht an Solchen, die ſich der iſolirenden Stoffe
als eines Schutzmittels gegen den Wetterſtrahl bedienen
wollten. Ein reicher Adeliger im vorigen Jahrhundert der
ſich ganz außerordentlich vor Gewittern fürchtete, ließ alle
Zimmer ſeines Sommerhauſes an den Wänden, an der
Decke und am Boden dicht mit ſeidenen Stoffen belegen,
alles ſilberne und metalliſche Geräthe hatte er aus dieſem
Gebäude entfernen laſſen, er ſpeiſte aus gläſernen Schüſſeln
und Tellern; Meſſer, Gabeln und Löffel waren aus Elfen⸗
bein bereitet, das wenigſtens nicht zu den vorzüglicheren
Elektrizitätsleitern gerechnet wurde, er ſelber, ganz in Seide
gekleidet, ſaß auf möglichſt vollkommen iſolirten Stühlen,
ſchlief zwiſchen ſeidenen Decken und Polſtern in einer aus
dem gleichen Stoff gewebten Hängematte, die durch ſtarke
ſeidene Schnüre an dem Gebälke der Decke befeſtigt war.
Dennoch, ſo erzählt man, nahm der furchtſame Mann zwar
nicht durch den gewöhnlichen Blitz, wohl aber durch ein dem
Blitze ähnliches Ereigniß ein gewaltſames Ende, indem er
einmal im Spätherbſt, wo er kein Gewitter zu fürchten
hatte, auf einer Jagdparthie durch ſein eignes Schießgewehr,
das er aus dem Geſträuch darein es von ihm geſtellt war,
Siem all Ende des Laufes herauszog, tödtlich verletzt
wurde.
Allerdings iſt jede Vorſichtsmaaßregel, die man für ſich
und ſein Haus gegen den Wetterſchlag treffen kann zu billi⸗
gen, ſobald ſie nur mit Maaß und Verſtand angewendet wird.
Es bedarf dabei weder der Seide noch des Peches oder Gla⸗
ſes, welche doch nur in einem ſehr eng beſchränkten Kreiſe
einigen Schutz gewähren könnten, ſondern einer kühnen
Handhabung der furchtbaren Naturgewalt ſelber, durch Mit⸗
tel welche dieſer einen großen Theil ihrer Kraft benehmen und
ihrer Strömung einen Weg anweiſen, auf welchem ſie ohne
dem Leben, dem Hab und Gut der Menſchen Gefahr zu brin⸗
gen, ihren Lauf aus der Luft nach der Erde oder dem Ge-
wäſſer verfolgen kann.
Ein franzöſiſcher Gelehrter, der Abt Nollet hatte
ſchon vor der Mitte des vorigen Jahrhunderts i
117
353
aufmerkſam gemacht, daß eine ſtark geladne Leidner Flaſche
oder elektriſche Batterie ihre Ladung ganz allmälig und un⸗
bemerkbar ausſtröme, wenn man nahe an dem haken⸗ oder
knopfförmigen Drahtende ihrer innren Belegung eine eiferne
Spitze anbrächte, die das Verbreiten der Elektrizität in der
Umgebung vermittelte. Eine 18 Fuß lange blecherne Röhre,
die in horizontaler Stellung in ſeidnen Schnüren ſo aufge⸗
hängt war, daß die eine Hälfte derſelben über das Fenſter
hinaus ins Freie ragte, die andre ins Zimmer hineinging,
wurde, wenn Gewitter am Himmel waren, ſtark elektriſch.
An einigen eiſernen Kreutzen und metallenen Knöpfen der
Thurmſpitzen wollte man bemerkt haben, daß die feurigen
Strahlen, die ſich vor und während Gewittern an ihnen
zeigten, übereinſtimmend mit dem, was ſchon die Völker des
Alterthumes hierüber gelehrt hatten, ein günſtiges Zeichen
für die Bewohner der Nachbarſchaft wären, denn wo und
wenn dieſe Erſcheinung ſich zeige, da ſei keine Gefahr vom
Blitz zu befürchten. Dieſe Elemente der Erkenntniß waren
vorhanden und es bedurfte nur ihrer Anwendung zum Dienſt
und Nutzen des menſchlichen Haushaltes.
In Amerika lebte damals, als Nollet in Frankreich ſeine
Beobachtungen über die Elektrizität machte ein Mann, deſſen
Andenken nicht nur bei unſren Zeitgenoſſen noch in hoher
Achtung ſteht, ſondern auch in fernkünftigen Zeiten eine
ehrende Anerkennung finden wird: Benjamin Franklin.
Der große Lauf des Lebens dieſes trefflichen Mannes hat im
Jahre 1706 einen gar kleinen Anfang genommen, auf einer
Inſelvorſtadt der amerikaniſchen Stadt Boſton, wo ſein Va—
ter ein armer Seifenſieder war. Bis in ſein zwölftes Jahr
mußte Benjamin ſeinem Vater bei der Profeſſion helfen, dann
zog ihn der kräftige, innre Antrieb zum Erkennen und Wif-
ſen vom Talg und von den Laugenfäßern hinweg, in einen
Beruf, der ſeinen innerſten Neigungen beſſer entſprach. Sein
älterer Bruder, ein Buchdrucker, war ſo eben aus England
zurückgekehrt, bei dieſem trat er als Lehrling und Gehülfe
in das Geſchäft ein. Aber das Bücherleſen zog ihn noch
mehr an als das Bücherdrucken; jede freie Stunde des Ta⸗
ges und öfters auch einen Theil der Nacht benützte er mit
einem Eifer der dem des Duval gleichkam, zum Leſen nütz⸗
licher gut geſchriebener Bücher. Benjamin war erſt 14 Jahre
alt, da ſei Bruder, der Buchdrucker, er den Einfall kam,
2 a
334
eine Art von Zeitung oder Unterhaltungsblatt heraus zu
geben. Aber gerade an der Hauptſache, an ſolchen Aufſäßzen
die ſich recht zur Unterhaltung eigneten und dabei zugleich
belehrend waren, fehlte es im Anfang ganz. Da entſchloß
ſich Bejamin dem Mangel abzuhelfen und ſeine jugendlichen
Arbeiten fanden ſo allgemeinen Beifall, daß der Gouverneur
der Provinz, Val. Keith, ihn aufforderte ein ſelbſtſtändiges
Buchdruckergeſchäft zu begründen und ihm eine Summe gab,
mit welcher er nach England reiſen und dort alles Das ein⸗
kaufen konnte, was zu einer Buchdruckerwerkſtatt gehört.
Dieſes geſchahe im J. 1724, aber erſt 1726 gelangte Franklin,
damals 20 Jahre alt, dazu, den Plan auszuführen. Der
geiſtig reich begabte junge Mann begnügte ſich jedoch nicht
damit fremde Bücher zu drucken, ſondern er ſelber ſchrieb
für ſeine Druckerei Werke, wie damals noch keine aus Ame⸗
rika hervorgegangen waren. In dieſen Schriften, ſo wie in
ſeiner pennſylvaniſchen Zeitung und in dem Almanach, den er
jährlich herausgab, lebte und webte ein Geiſt der Einſicht
und der Liebe zum Vaterland wie zu ſeinem Volke, der
überall Eingang zu dem Verſtand und zu dem Herzen der
Menſchen fand. In ſolchen Büchern wie ſeine »Sprüch⸗
wörter des guten Heinrich» iſt ein Ton getroffen, welcher
Allen, den Vornehmen wie den Geringen, den Bürgern wie den
Bauern wohl that; allenthalben wußte er den Antrieb zum
geiſtigen Erkennen und zur Veredlung des Herzens zu wecken
und Mittel zu erfinden oder nachzuweiſen, welche den Män⸗
geln und Beſchwerden des menſchlichen Lebens abhelfen, und
das äußre wie innre Wohlbefinden des Volkes fördern
konnten; ſelbſt die Einrichtung der Sparöfen beſchäftigte ihn.
Eine ganz beſondre Freude gewährte ihm das Forſchen in
den Tiefen der Naturwiſſenſchaft. Zum Verſtändniß vieler
bis dahin räthſelhaft gebliebener Naturerſcheinungen ſchien ihm
die gründlichere Erkenntniß der Elektrizität den Schlüſſel zu
enthalten. Seine Forſchungen verbreiteten über das Weſen
und die Wirkungen dieſer Naturkraft ein neues Licht; na⸗
mentlich hatte er zuerſt über den Grund der elektriſchen Pola⸗
ritäten eine klare Anſicht aufgeſtellt; denn von ihm ſchreibt
ſich die Anerkennung eines poſitiven und eines negativen
Verhältnißes der elektriſchen Spannung her. Er auch, der
ſeltne Mann, welcher von der Vorſehung dazu beſtimmt war,
feinem, Baterland und deſſen Bewohnern in der Zeit großer
355
Ungewitter, welche über die damals noch engliſchen Colonieen
der jetzigen amerikaniſchen Freiſtaaten kam, ein vermittlen⸗
der Ableiter zu werden, der durch ſeine Weisheit und Milde
die drohenden Gefahren hinweglenkte und verminderte, iſt der
wahre Erfinder jener Blitzableiter geworden, die man jetzt
über den Häuſern und an den Thürmen faſt aller Städte,
ſo wie vieler Dörfer unſres Vaterlandes ſiehet. Schon im
Jahr 1751 theilte er feine Vorſchläge zur zweckmäßigſten
Einrichtung dieſer menſchlichen Schutz- und Trutzmittel gegen
die verheerende Macht des Blitzes in einem Briefe mit, der
nebſt andren Briefen ähnlichen Inhaltes an den Engländer
Colliſon gerichtet iſt. Die erſten Verſuche, durch welche
die Kraft des Gewitterblitzes aus den Wolken herabgezogen
wurde in die Gewalt des Menſchen, wobei ſich dann deut—
lich ergab, daß ſie eines Weſens ſei mit der Elektrizität die
man dem Glas oder Pech durch Reiben entlockt, wurden
theils mit aufrecht ſtehenden, oben in eine Spitze auslaufen⸗
den, nach unten iſolirten eiſernen Stangen, theils mit Pa⸗
pierdrachen, dieſem Spielzeug unſrer Kinder gemacht, die
nach vorn in einer Metallſpitze endigten und mit einer, die
Elektrizität leitenden, großentheils hänfenen Schnur in Ber:
bindung ſtunden, an deren unterem Ende ein Schlüſſel oder
ähnliches Metallſtück hieng. Dieſes untre Ende wurde, um
jede Gefahr zu vermeiden, an einem ſeidenen Seil gehalten
und zu dem Beobachter hingezogen. Wenn der Papierdrache
bei gewitterhafter Stimmung der Atmoſphäre emporgeſtiegen
war, dann zeigte das Metall, am untren Ende der Schnur,
eine öfters ſehr auffallend ſtarke elektriſche Ladung. Eine
Stange oben mit einer Spitze, zeigte dieſelbe Fähigkeit zum
Herableiten der Luftelektrizität, und bei ſolcher Gelegenheit
beobachtete Franklin, daß dieſe nicht immer von gleicher po:
lariſcher Art, ſondern zuweilen poſitiv (wie in der Regel die
des Glaſes) andre Male negativ (wie die des Peches oder
Bernſteines) ſei. Beim Ausbruch der Gewitter bemerkte man,
daß, ſo oft die atmoſphäriſche Spannung unter Blitz und
Donner (mithin in gewißer Nähe) ſich entladen hatte, die
elektriſche Spannung an der Stange ſich verminderte oder
verlor, bald nachher aber wieder ſich einfand und ſteigerte.
Dieſe erſten Verſuche mit der Luftelektrizität bei Gewit⸗
tern ſind nicht immer ohne Gefahr und Schaden der Beob—
achter abgelaufen. Profeſſor Richmann in Petersburg
23
356
wollte am sten Auguſt 1753 ebenfalls die Stärke der Elek
trizitätsleitung einer eiſernen Stange prüfen und ward dabei
durch den Schlag, der ſtarken elektriſchen Spannung, die
ſich der Stange aus der Gewitterluft mitgetheilt hatte, wie
vom Blitz getödtet. Auch Andre bemerkten, daß ſolche iſolirte
Stangen bei gewißen Stimmungen der Atmoſphäre eine
elektriſche Ladung annehmen, welche jene unſrer kräftigſten
elektriſchen Apparate überſteigt. 5
Franklin, in ſeinem großen, viel umfaßenden Berufe,
als Pfleger und Schützer der Unabhängigkeit und Selbſt⸗
ſtändigkeit der amerikaniſchen Freiſtaaten, deren Bewohnern
er ſchon durch feine Schriften den rechten und würdigen Ge—
brauch der Freiheit gelehrt hatte, verſäumte es nicht, ſeiner
Erfindung der Blitzabeiter die möglichſt beſte Vollendung und
Anwendbarkeit zu geben. Als er im Jahr 1790 ſtarb, da
hatte man ſich nicht nur in allen Städten des nördlichen
Amerikas, ſondern auch auf Schiffen im Meere und in Eu⸗
ropas Feſtland davon überzeugt, daß dieſer große Amerikaner
nicht fruchtlos und vergebens ſich bemüht habe, die Span—
nung, welche während der Gewitter zwiſchen der Erde und
ihrem leiblichen Himmel beſteht, friedlich auszugleichen und
beizulegen, eben ſo wie er als Staatsmann die gefahrdro—
hende Spannung zwiſchen den jugendlich aufkeimenden Frei-
ftaaten und dem mächtigen Mutterſtaat England mit glück-
lichem Erfolge beigelegt hatte.
Die Einrichtung unſrer Blitzableiter iſt kürzlich folgende:
Eine eiſerne Stange, deren Stärke etwa ein und ein Viertel
Zoll beträgt und deren ſpitziges Ende, um ſein Roſten zu
verhüten, vergoldet, oder aus Platina gebildet iſt, wird bis
zu einer Höhe von 3 bis 4 Fuß über dem Dach des Gebäus
des, das man dadurch vor Gewitterſchaden ſchützen will, er—
richtet, und mit einer andren Stange von Metall, oder mit
ſtarken Drähten verbunden, welche zuerſt horizontal über den
Giebel des Daches, dann von dieſem nach der feuchten Erde
oder in das Waſſer herablaufen. Wenn die Stange vier
Fuß hoch iſt, erſtreckt ſich der Kreis ihrer Wirkſamkeit rings
umher auf eine Weite von 8 Fuß, deßhalb müßen die
Dächer großer Gebäude, über deren Schützung etwa mit be⸗
ſondrer Aengſtlichkeit gewacht wird, in verhältnißmäßigen
Abſtänden mit mehreren ſolchen Stangen verſehen ſeyn, wel⸗
che unter ſich in gut leitender Verbindung ſtehen, und in
*
ni m A 8 4
357
dieſe Leitung müßen auch, durch Nebendrähte oder Stangen,
alle etwa in dem Gebäude enthaltnen größren Metallmaſſen
aufgenommen ſeyn. In den meiſten Fällen werden die Ge—
witterableiter von ſolcher Einrichtung das Einſchlagen des
Blitzes verhüten, und ſelbſt da wo ihrer viele in einem nicht
ſehr großen Raume vereint ſtehen, die Heftigkeit der Gewit—
ter mindern. In Beziehung hierauf will man bemerkt haben,
daß, ſeit der Errichtung der Blitzableiter der Ausbruch hefti—
ger Gewitter über manchen Städten ſeltner geworden ſey
als er dies in früheren Zeiten war. Indeß kann es doch auch
einzelne Fälle geben, in denen all unſre menſchliche Kunſt
und Vorſicht zur Abwehr des Blitzes nicht ausreichend
befunden wird. Der Blitz kann ſo ſtark ſeyn, daß der Draht
oder die Stange ihn nicht ganz zu erfaßen und zu leiten
vermag; er kann dann nach einen andren in der Nähe des
Leitungsapparates befindlichen metalliſchen oder organiſchen
Kbrper abſpringen und, wie dies die Erfahrung gelehrt hat,
einen Menſchen der während eines Gewitters, mit einem
metallenen Geräth beſchäftigt am Fenſter eines Zimmers, in
der Nähe des ableitenden Drahtes ſtund, auf einige Zeit
lähmen. Auch das Schmelzen des Drahtes kann die Ablei—
tung unterbrechen und Gefahr bringen, ſo wie zuweilen ein
heftiger Regenguß mit ſeinen Strömen den Schlag des Wet—
ters unmittelbar auf die Gebäude, nicht auf die Blitzableiter
ziehen kann, wobei freilich die Gefahr des Zündens ſehr ge—
ring iſt, weil die Näſſe des Daches durch weite Verbreitung
ſeiner Spannung die Heftigkeit des Blitzes mindert und mit
dem hinabrinnenden Waſſer ihn zum Boden hinableitet.
An der Geſtalt und Wirkſamkeit der elektriſchen Spitzen
wie der Blitzableiter können wir abermals bemerken, welche
natürliche Macht, der Maſſe des Großen gegenüber, in dem
Kleinen liege. Die feinzertheilte Metallmaſſe im Platina-
ſchwamm, übt, nach S. 310, gegen die Federkraft der Luft
eine Gewalt aus, die den ſonſt ſo unumſchränkt herrſchenden
Einfluß des Luftdruckes vielfach, überlegen iſt, indem fie dem
Gas, das ſie in ihre Zwiſchenräume einſaugt, eine Verdichtung
mittheilt, welche kaum der Druck von mehreren hundert At—
moſphären bewirken könnte. In ähnlicher Weiſe ziehen die
fein und klein zerſtäubten Theile der oberſten Erdlagen unſrer
Aecker und Garten die Feuchtigkeit und vor andren atmo⸗
ſphäriſchen Gasarten die Kohlenſäure und das Sauerſtoffgas
358
in ihre Zwiſchenräume ein und bringen hierdurch den Pflan⸗
zenkeimen, die in ihnen liegen, die Elemente der Belebung und
Ernährung.
Ein auffallendes Beiſpiel kann uns hierbei lehren, wie
ſo viel anders die anziehende, im Verborgnen ſich äußernde
Kraft der kleinſten Theile im Vergleich mit der Kraft der
großen Maſſen oder des mechaniſchen Druckes wirke. Die
menſchliche Kunſt, mit den Werkzeugen zum Hervorbringen
einer räumlichen Zuſammenpreſſung, hatte es verſucht, auf
mehrere gasförmige Körper einen Druck anzuwenden, welcher
den Druck der atmoſphäriſchen Luftſäule auf die Oberfläche
der Erdebenen und des Meeres um viele Male übertraf.
Schon bei einer ſechs mal größeren Verdichtung als die iſt,
welche es in der atmoſphäriſchen Luft empfängt, wird das
Ammoniakgas faſt ganz zu einem tropfbar flüßigen Körper,
der ſich jedoch, ſobald der Druck nachläßt, alsbald wieder
zur Luftform ausdehnt. Am leichteſten wird eine ſolche über⸗
gewöhnliche Verdichtung erhalten, wenn man eine mit metal⸗
liſchen oder erdigen Grundſtoffen zum feſten Körper verbun⸗
dene, luftförmige Säure durch eine ſtärkere Säure in einem
luftdicht verſchloßenen Gefäß austreibt und hierbei dem Inn—
ren des Gefäßes einen ſo engen Raum giebt, daß die ent⸗
bundene Säure nur einen kleinen Theil ihres gewöhnlichen
Umfanges einnehmen kann. Man miſcht in einem gut ver⸗
ſchloßnen eiſernen Gefäß Schwefelſäure und gemeinen, koh—
lenſauren Kalkſtein zuſammen; die Schwefelſäure vereint ſich,
eben ſo wie ſie an freier Luft thun würde, mit der Kalkerde,
die Kohlenſäure entweicht, unter heftigem Aufbrauſen, als
Gas. Wenn die zuſammengemiſchte Maſſe groß genug war,
kann man auf dieſem Wege mehrere Pfunde der Kohlenſäure
entbinden, in einem Raume, welchen unter dem gewöhnlichen
Luftdruck ſchon einige Loth jenes ſauren Gaſes vollkommen
ausfüllen würden. Wenn dann eine Parthie der entſtehen⸗
den Kohlenſäure nach der andren in den engen Raum ein⸗
dringt und die Maſſen derſelben ſich ſo zuſammendrängen,
daß ihre Geſammtausdehnung nur etwa noch den 36ten Theil
des natürlichen Umfanges einnehmen kann, dann gehet mit
dem kohlenſauren Gas eine merkwürdige Veränderung vor.
Daſſelbe nimmt jetzt die Form einer tropfbaren Flüßigkeit an,
dehnt ſich jedoch, ſobald ihm hierzu der nöthige Raum gege⸗
ben wird, mit ſo ungeheurer Kraft und Schnelligkeit wieder
359
zu ſeinem natürlichen Umfang aus, daß wir nur wenige Beifpiele
von ſolcher gewaltthätigen Entbindung eines Stoffes aus den
Banden kennen, in welche die menſchliche Kunſt ihn geſchlo—
ßen hielt. Fürs Erſte wird bei dem außerordentlich ſchnellen
Uebergang der flüßigen in die Luftform der Umgebung Wär⸗
me entzogen; es entſtehet eine ſo große Kälte, daß ein Theil
der künſtlichen Flüßigkeit zu einer weißen, fehneeättigen
Maſſe erſtarrt. Der Grad dieſer Kälte, wenn man mit
ſolch feſter Kohlenſäure Aether zuſammenmiſcht, iſt für unſre
thermometriſchen Werkzeuge unmeßbar groß, denn in Be
rührung mit dieſem Aethergemenge kann man eine Queckſil⸗
bermaſſe von vielen Pfund Gewicht in wenig Augenblicken
ſo feſt gefrieren machen, daß ſich dieſelbe hämmern läßet.
Dagegen nimmt die einmal feſt gewordne Kohlenſäure unter
andren Umſtänden die Gasform nur allmälig an, man kann
fie in die Hand nehmen, ohne eine andre Unbequemlichkeit
davon zu ſpüren als das Gefühl einer außerordentlich ſtar⸗
ken Kälte. Nur die tropfbar flüßige, der Gasform noch
näher ſtehende, verdichtete Kohlenſäure iſt es, welche bei
ihrem plötzlichen Herausſtrömen aus einer Glasröhre, dieſe
in zahlloſe Splitter zerſchlägt und welche vor einiger Zeit
im Laboratorium der politechniſchen Schule zu Paris einen
Unglücksfall erzeugte, welcher vielfach in öffentlichen Blättern
beſprochen worden iſt. Ein Gehülfe des Lehrers der Chemie
hatte auf die oben erwähnte Weiſe in einem gußeiernen
Cylinder von 2½ Fuß Länge und 1 Fuß Durchmeſſer, der
ſchon oft zu dieſen Verſuchen benutzt worden war die flüßige
Kohlenſäure bereitet, da zerſprengte die gewaltſam verdichtete
Gasart den Cylinder und ſchleuderte die Bruchſtücke mit ſo
furchtbarer Gewalt umher, daß ſie dem Gehülfen beide Beine
abſchlugen und fo ihn plotzlich tödteten. Wäre die Erplofion
eine Viertelſtunde ſpäter in dem von Zuhörern erfüllten Lehr⸗
ſaale erfolgt, dann würde dieſelbe vielen Menſchenleben ein
gewaltſames Ende geſetzt haben.
Jene kleinen, zarten Härchen und Borſten, welche die
Oberfläche mancher, namentlich in Gebirgsgegenden wachſen⸗
den Pflanzen bedecken, ziehen, eben ſo wie die aufgelockerte,
fein zertheilte Ackererde die atmoſphäriſchen Luftarten und
Dämpfe an und führen dieſelben, im Innren der Zwiſchen—
räume des Pflanzenkörpers wie der Erdſtäubchen einer Ver⸗
dichtung entgegen, deren Grad unſre Kunſt kaum zu erreichen
360
vermag. Hierbei zeigt fich jedoch keine Spur eines gewalt⸗
thätigen, zerſtörend wirkenden Anſtrebens der mächtig ver⸗
dichteten Stoffe nach der Zurückkehr in ihren urſprünglichen
Zuſtand, ſondern wo eine ſolche Umwandlung geſchiehet, da
geht ſie eben ſo unbemerkbar ſtill und ſanft von ſtatten, als
die Verdichtung dieſes that. f
Auch die metallenen Spitzen benehmen ihrer atmoſphä—
riſchen Umgebung wie jedem mit Elektrizität geladenen Kör⸗
per in deſſen Nähe ſie kommen, in einer oft kaum merklichen
oder doch gefahrloſen Weiſe die gegenſeitige Spannung; ſie
heben hierdurch den gewaltſamen Charakter der Entladung
auf und theilen dem Boden in größeſter Fülle den elektriſchen
Einfluß mit. Der ſtillere, verborgnere Gang der Wirkſam—
keit, welcher die anſcheinend kleinſten Mittel in Bewegung
ſetzt, zeigt ſich auch hier als der erfolgreichſte, durch welchen
das Meiſte erlangt wird und der am Sicherſten und Leich—
teſten zum Ziele führt.
39. Eine Art von Blitzableiter benutzt zur Be⸗
fruchtung der Felder. a
Die Naturkunde unfrer Tage hat durch ihre Erfindun⸗
gen Dinge möglich gemacht, deren Erreichbarkeit und Aus—
führbarkeit auch den einſichtsvolleſten Männern der älteren
Zeiten nicht im Traume eingefallen wäre. Wir haben in
den vorhergehenden Capiteln dieſes Büchleins ſchon viele
Beiſpiele dieſer Art angeführt, hier aber geben wir ein neues,
das manchem Landwirth, wenn es ſich in ſeiner Wirkſamkeit
bewähren ſollte, zum großen Vergnügen und Nutzen, der
Naturkunde aber zur Ehre gereichen könnte.
Der Blitz, wenn er in ſeiner Majeſtät und Gewalt aus
ſeinen Höhen herabfährt nach unſren Tiefen, hat etwas Er—
ſchütterndes und Zerſtörendes, das kein lebendes Weſen zu
ertragen vermag; wenn er dagegen, wie im ſanften, ſtillen
Säuſeln, als ein fortwährendes, ruhiges Ueberſtrömen der
Elektrizität zur irdiſchen Körperwelt ſich naht, dann iſt er
aus einem Zerſtörer zu einem väterlichen Ernährer und Er⸗
halter des Lebens geworden. Das elektriſche Gewitter mit
den Schreckniſſen ſeiner Blitze und ſeines Donners, ſtellt
uns einen Zuſtand der Natur vor Augen, bei welchem das
Untere, der Boden, dem Höheren oder dem Lufthimmel
361
fremdartig geworden mit ihm in jene ſtärkere elektriſche
Spannung getreten iſt, die ſich nur durch den gewaltſamen
Vorgang der Entladung wieder ausgleichen kann. Dagegen
ſtehen dieſe beiden Gegenſätze, Erde und Luft, Unteres und
Oberes bei dem Vorgang der ſtillen Ueberſtrömung, des
gegenſeitigen Gebens und Nehmens in einem fortwährenden,
friedlichen Verein und Verkehr; es kommt dabei zu keiner
ſtärkeren Spannung, zu keiner gewaltſamen Entladung.
Ein ſolcher ſtiller, friedlicher Wechſelverkehr findet im
Grunde genommen beſtändig zwiſchen der grünenden, leben⸗
dig friſchen Pflanzenwelt und der von elektriſchen Kräften
durchwirkten Atmoſphäre ſtatt; jeder Baum, jedes Kraut iſt
nach ſeinem Maaße durch alle ſeine Blätter und andre
Theile ein Leiter der Elektrizität. Daß dieſe Naturkraft
fördernden Einfluß auf das Wachsthum der Pflanzen, auf
das ſchnellere und kräftigere Keimen ihrer Samen habe, das
weiß man ſchon ſeit hundert Jahren: die beiden Myrten—
bäume, welche Maimbrai zu Edimburg im October des
Jahres 1745 mehrere Wochen lang elektriſirte, trieben Knos—
pen und friſche Aeſte, während ſich andre Bäume ihrer Art
in derſelben Zeit ſchon der Ruhe und Abſpannung des her—
annahenden Winters hingaben und der gelehrte Abt Bar
tholon ſprach es mit großer Beſtimmtheit aus, daß die
Elektrizität auf die Ernährung und das Wachsthum der
Pflanzen den bekräftigendſten Einfluß habe. Ohnehin, dies
ſahen wir ſchon oben, im 5. Cap. nimmt der wundervolle
Organismus eines großen Theiles der Gewächſe ſeine Nah—
rung in einer uns unſichtbaren Weiſe aus der Atmoſphäre.
Deshalb lag der Einfall nahe, den abermals ein wackrer
Schottländer, hundert Jahre nach dem Vorgang ſeines
Landsmannes Maimbrai, Herr Forſter zu Findraſſie gehabt
und ausgeführt hat: die Elektrizität auch einmal im Großen
zur Förderung des Wachsthums und Früchtetragens unſrer
nutzbaren Gewächſe anzuwenden. Und zwar nicht jene ftüd-
und ruckweiſe kleinliche, welche wir künſtlich durch unſre Rei⸗
bungsmaſchinen, immerhin als einen gewaltthätigen Blitz im
Kleinen erzeugen, auch nicht die Strömungen einer galvani—
ſchen oder elektromagnetiſchen Vorrichtung, ſondern den Strom
der aus jenem unverfiegbaren, unerſchöpflichen Quell hervor—
dringt, welcher in dem Wechſelverhältniß der Luft und der
Oberfläche unſres Planeten liegt. Der Verſuch den man
362
mit dem Strome der Luftelektrizität zu ſolchem Zwecke an⸗
ſtellte, war folgender:
Von einem Gerſtenfeld, das in einer der nördlicheren Ge⸗
genden von Schottland ſeine Lage hat, und das in allen ſei⸗
nen Theilen auf gleiche Weiſe gepflügt, beſäet und gedüngt
war, wurde ein Stück das 80 Ellen lang, 55 Ellen breit
war dem fortwährenden Einfluß und Strömungen der Luft⸗
eleftrizität dadurch zugänglich gemacht, daß man an den
vier Ecken des länglichen, genau von Nord nach Süden ge⸗
richteten Viereckes Pflöcke einſchlug, an denen, von einem
zum andern gebend, ein ſtarker Eiſendraht befeſtigt war,
welcher drei Zoll tief unter der Oberfläche des Bodens ſeinen
Verlauf nahm. In der Mitte der kürzeren Seiten des Vier⸗
eckes (kin Nord und Süden) wurden 15 Fuß hohe Stangen
aufgerichtet, von deren Spitzen oben in der Höhe ein Ber:
bindungsdraht über das abgegränzte Stück des Feldes der
größeren Länge deſſelben nach hinlief und zugleich an ſeinen
Enden die ſich zum Fuße der beiden Stangen hinabſenkten
mit den vorhin erwähnten, das Feldſtück umſpannenden
Drähten in Verbindung geſetzt war. Der Einfluß der Luft⸗
eleftrität kann bei einer ſolchen Einrichtung noch durch einen
Vorgang der galvaniſch elektriſchen Strömung nach Willkühr
verſtärkt werden, indem man außen am Rande der beiden
längeren Seiten (in Oſt und Weſt), an der einen Seite
einen Sack mit Holzkohlen, an der andren mit Zinkplatten
in die Erde gräbt und dieſe beiden zur ſtarken polariſchen
Spannung geeigneten Subſtanzen durch einen Metalldraht
in Verbindung ſetzt. Auch dieſer dritte Draht wird in der⸗
ſelben Höhe, in welcher der zweite von den Luftelektrizität⸗
leitenden Stangen verläuft, oben durch die Luft gezogen,
indem man an jeder der beiden Seiten, da wo der eine und
der andre Sack vergraben iſt, eine Stange errichtet, an wel⸗
cher der Draht bis zu ihrem Ende hinaufgezogen wird.
Gerade in der Mitte über dem Feldſtück durchkreutzen ſich
der von Nord nach Süd verlaufende, zur Leitung der Luft⸗
elektrizität und der von Oſt nach Weſt gehende zur Leitung
der galvaniſchen Strömung beſtimmte Draht. So wird
durch den Draht, welcher unter dem Boden hin von einem
der vier Eckpfähle zum andren und ſo um das ganze Feld⸗
ſtück an allen vier Seiten herumläuft, eine beſtändige elek⸗
triſche Strömung in der Tiefe fortgeleitet, welche aus einer
363
andren, oben in der Höhe ftatt findenden aus dem Wechfel-
verkehr der Luft und des Bodens, ſo wie aus der Spannung
zweier polariſch entgegengeſetzten galvaniſchen Elemente ihren
Urſprung nimmt, ſo daß auf dieſe Weiſe das Feldſtück von
oben und von unten wie von einem Fadengewebe der elektri—
ſchen Einflüße umſponnen und durchwirkt iſt.
Der Einfluß dieſer Vorrichtung auf das Gedeihen der
Saat war ein überaus augenfälliger. Der Morgen Feldes,
den man zum Verſuch benutzt und in welchem man die
Pflöcke mit ihren unterirdiſchen Verbindungsdrähten ſo wie
mit ihren oberen Stangendrähten angebracht hatte, trug
13 ½ Viertel Gerſte, während der Ertrag der angränzenden,
ganz auf gleiche Weiſe behandelten Feldſtücken nur der ge—
wöhnliche von 5 bis 6 Viertel auf den Morgen war. Ueber⸗
dieß waren auch die auf dem elektriſirten Feldſtück gewonne—
ner Körner fo ſubſtanzibs, daß der Scheffel derſelben 2 Pfund
mehr wog als der Scheffel der andren, in gewöhnlicher
Weiſe gezogenen Gerſte. N
Auch im Kleinen wurde ein ähnlicher Verſuch mit gleich
günſtigem Erfolge angeſtellt. Zwei Gartenbeete wurden mit
Senfſaamen beſäet, für das eine derſelben der Einfluß der
Elektrizität angewendet, das andre ſich ſelber überlaſſen. Im
erſteren erreichten die Pflanzen in derſelben Zeit eine Höhe
von 3 ½ Zoll, in welcher fie im andren bis zu einem Zoll
emporwuchſen. Wenn demnach der Einfluß der oben beſchriebenen
Zuleitung der Luftelektrizität auf das Pflanzenwachsthum auch
kein ſolcher übermäßig beſchleunigender iſt, wie der eines
ſtarken, künſtlich erregten elektriſchen Stromes, mittelſt deſſen
ein franzöſiſcher Phyſiker und Freund der Gärtnerei die
Wette gewann, daß er den Saamen von Kreſſe in derſelben
Zeit zur Benutzung für die Tafel wollte hervorſproſſen und
aufwachſen laſſen als ein Andrer nöthig hatte, um eine
Kalbskeule gar zu braten, ſo könnte dafür jener Einfluß deſto
naturkräftiger und nachhaltiger ſeyn.
Die Koſten zur Anlegung des elektriſchen Leitungsappa—
rates wurden von dem Erfinder deſſelben für den Acker Lan—
des zu 12 fl. berechnet. Doch verringert ſich dieſe Auslage
verhältnißmäßig deſto mehr, je größer die Ausdehnung des
von Drähten umſponnenen Raumes iſt, und ohnfehlbar wird
eine ſolche Vorrichtung ſür 10 bis 15 Jahre brauchbar ſeyn,
wenn man die Drähte jedes Jahr, wenn ſie ihre Dienſte
364
geleiſtet haben aus dem Boden heraus und von den Stan
gen hinwegnimmt, und dann zur Saatzeit wieder einſetzt.
Dieſe ſonderbaren Verſuche mit einer Befruchtungsweiſe
der Felder, welche die Kunſt des Menſchen aus der Luft
herabzieht, wären allerdings der Wiederholung werth und
es läßt ſich Vieles und Bedeutendes für die Möglichkeit, ja
ſelbſt für die Wahrſcheinlichkeit ihres Gelingens anführen,
obgleich auch auf der andren Seite manches Bedenken dage⸗
gen erhoben werden könnte. Um beides beſſer würdigen zu
können wollen wir hier eine kleine Abſchweifung machen, in⸗
dem wir die Ernährung und Bildung des Pflanzenleibes
etwas genauer betrachten. |
40. Das Pflanzenleben und der Feldbau.
Wenn das Menſchenauge mit Luſt und Bewundrung
die Herrlichkeiten betrachtet hat, die ein blühender Roſen—
ſtrauch oder ein Apfelbaum im Frühling ſo wie zur Zeit des
Früchtereifens zur Schau trägt, wenn es an der hohen Lilie
oder an der prangenden Tulpe ſich kaum ſatt ſehen konnte,
dann bleibt ihm noch immer ein großer Theil der täglich ſich
erneuernden Wunder des Pflanzenkörpers unbekannt, bis ihm
der Blick durch die Vergrößrungsgläſer die Pforten zu der
Schatzkammer dieſer verborgnen Wunder aufthut. Ein klei—
ner Streifen, den wir etwa aus einem Blatt- oder Blüthen—
ſtengel herausſchnitten und von welchem wir ein abgerißnes
Stückchen in das Geſichtsfeld eines Mikroscops legen, ſtellt
uns in ſeinem innren Bau ein Kunſtwerk der höheren Ord—
nung dar, bei deſſen Betrachtung wir nicht minder gerne
verweilen als bei jener der zierlich gebildeten Blätter und
buntfarbigen Blüthen. Da ſteht man recht, wie ſich die
Kräfte des Lebens vorzugsweiſe zu dem Kleinen und Zarten
geſellen, wie ſie ihr Spiel in einer zahlloſen Vielheit von
Gliedertheilen haben, welche alleſammt zu einem organiſchen
Ganzen verbunden ſind, welches dem Wirken einer gemeinſamen
Seele dient. Denn an einem ſolchen Pflanzentheilchen erkennt
man eine Zuſammenhäufung von Zellen, von röhrenartigen
Saftbehältniſſen und ſchraubenförmig gewundnen Gefäßen,
von deren kunſtreicher Anordnung und Zuſammenfügung das
unbewaffnete Auge Nichts erfährt. . |
In dem innren Gewebe der unvollkommneren Pflanzen:
>
365
arten, wie der Mooſe und der Schwämme, fieht man
nur ſolche Saftbehältniſſe, welche kleinen Zellen — wie Bie⸗
nenzellen — gleichen und welche da neben und übereinander
gereiht den Körper der Pflanze zuſammenſetzen. Auch in
der Oberhaut der vollkommneren Gewächſe ſo wie in den
Blättern und Stämmen derſelben bemerkt man unzählige
dergleichen Zellen, welche aber häufig zur Röhrenform, zu
ſchlauchartigen Saftbehältniſſen ausgedehnt ſind, deren, für
ein bloßes Auge kaum unterſcheidbaren Wände, zuſammen⸗
genommen eine ſolche Feſtigkeit haben, daß man ſie aus der
Unterlage der Rinde mancher Bäume zu Baſt benutzt oder
aus dem Stengel des Flachſes, des Hanfes, der Neſſeln
und des Papiermaulbeerbaumes zu Fäden ſpinnt und zu
allerhand Webereien benutzt. Mitten unter all dieſen zel⸗
lenförmigen und cylindriſchen Behältniſſen erſcheinen aber, im
Innren der vollkommneren Gewächſe die ſchon oben erwähn⸗
ten ſchraubenartig, wie eine auseinander gezogene Uhrfeder
gebildeten (Spiral⸗) Gefäße, welche mehr fur den Verkehr
mit den luftförmigen Stoffen beſtimmt ſcheinen, deren die
Pflanze zu ihrem Wachsthum und ihrer Ernährung bedarf,
als für die Weiterführung der tropfbar flüſſigen und im
Waſſer aufgelöften erdigen wie ſalzigen Beſtandtheile.
Vornämlich durch die zellenförmigen und länglichen Saft—
behältniſſe wird man an eine Art von Polariſation dieſer
zarten Körpertheile erinnert, auf die ſich ja zuletzt in der
ganzen irdiſchen Sichtbarkeit alle Wechſelwirkung und Lebens⸗
thätigkeit der Dinge gründet. Die einzelnen Schläuche oder
Röhrchen münden eigentlich nicht das eine in das andre, bilden
nicht, wie die Adern eines thieriſchen Körpers einen fort—
laufenden Kanal, ſondern ſie ſind an ihren Enden durch ein
feines Hautgewebe geſchloſſen, durch welches der Saft aus
einem der kleinen Schläuche in den andren 9 leichſam hindurch
ſchwitzen muß.
Bis ins Kleinſte hinein, wie im Großen beruhet die
innre Lebensthätigkeit des Gewächſes, feine Ernährung und
8 usbildung, auf dem polarifchen Gegenſatz eines Oberen
und eines Untren, wodurch ein beſtändiges Hinauf- und
Hhabſteigen der Säfte, eine Art von Kreislauf derſelben
bewirkt wird. Der Baum empfängt ſeine Nahrung, empfängt
namentlich das Waſſer, die Kohlenſäure und den Stickſtoff
nicht aus dem Boden allein, ſondern auch aus der Luft;
*
die dem Boden entnommenen emporſteigenden Säfte, bedür⸗
fen, wenn ſie die eigenthümlichen Kräfte empfangen ſollen,
durch welche die verſchiednen Arten der Gewächſe ſich aus⸗
zeichnen, der von oben ihnen entgegen kommenden polariſchen
Strömung, welche durch den Einfluß des Sonnenlichtes, durch
den Zudrang der aus der Luft aufgenommenen Stoffe, an⸗
geregt ſo wie unterhalten wird. Wenn durch einen ringför⸗
mig herumgehenden Ausſchnitt ein Baumſtamm eines Thei⸗
les ſeiner Rinde beraubt wird, dann ſieht man zwar durch
die Strömung der Säfte welche von oben her ſo wie durch
jene welche von unten her kommt einen Anſatz der neuen
Rinde ſich bilden, welcher über die beiden Ränder der Ver⸗
wundung ſich ein wenig hinaus erſtreckt, dennoch ſtirbt, wenn
die Beſchädiz ung hinreichend eingreifend und ausgedehnt war,
der Baum ab, denn die polariſche Wechſelwirkung zwiſchen
oben und unten iſt gehemmt, der Kreislauf der beiden
Strömungen iſt aufgehoben worden.
Daß die grünen Blätter und Stengel der Pflanzen den
Hauptnahrungsſtoff des Gewächsreiches: den Kohlenſtoff in
reichlicher Menge nebſt dem Waſſer aus der Atmosphäre an
ſic ziehen, das iſt durch vielfältige Beobachtungen erwieſen.
Im Kleinen kann man es ſchon wahrnehmen wie Weinblätter,
die man in einem Glasballon einſchließt, der hindurch ge—
leiteten Luft ihren ganzen Gehalt an Kohlenſaure entziehen,
auch dann wenn man die Luft mit der größeſten Schnelligkeit
hindurch ſtrömen läſſet. Und nicht allein den Kohlenſtoff,
ſondern auch den Stickſtoff, in fo weit derſelbe als Beſtand⸗
theil ihrer Säfte, ihrer Früchte oder Rinden in ihnen vor⸗
kommt, können die Gewächſe unmittelbar aus der Luft auf⸗
nehmen und in die Subſtanz ihres Körpers umbilden. 4
J. Liebig in ſeinen chemiſchen Briefen weist uns im
Großen auf jene Thatſachen hin, aus denen dieſe Luftauf⸗ 1
nahme der Vegetabilien erkannt wird. Unſre befferen Wieſen
geben, ohne Zufuhr von kohlenſtoff- oder ſtickſtoffhaltigem
Dünger alljährlich einen reichlichen Ertrag an Heu, unter deſſen 4
Beſtandtheilen die Scheidekunſt gegen 46 Prozent Kohlenſtoff
ſo wie 1½ Prozent Stickſtoff nachgewieſen hat. Namentlich
iſt der Ertrag an Stickſtoff auf einer ſolchen Wieſe, welche
keinen ſtickſtoffhaltigen Dünger empfieng, weit größer als der
eines Weizenfeldes, das in gewöhnlicher Weiſe gedüngt wor⸗
den war. Seit Jahrhunderten erntet man in Ungarn von
366
367
einem und demfelben Feld Tabak und Weizen, ohne alle Zus
fuhr von ſtickſtoffhaltigem Dünger; jener Beſtandtheil konnte
demnach den Gewächſen nicht aus dem Boden, ſondern nur
aus der Luft kommen. Jedes Jahr belauben ſich unſre
Buchen⸗, Kaſtanien- und Eichenwälder; die Blätter, der
Saft, die Eicheln, die Kaſtanien, die Bucheckern, wie die
Kokosnuß und die Frucht des Brodbaumes ſind reich an
Stickſtoff, der dem Boden nicht zugeführt wurde. Von einem
Morgen Landes, den wir mit Maulbeerbäumen bepflanzen,
beziehen wir in der Form der Seidenwürmer und ihres Ge⸗
ſpinnſtes den Stickſtoff der Blätter, von welchem fie ſich er—
nährten; die Seide allein enthält in ihren Beſtandtheilen
über 17 Prozent Stickſtoff und dieſe Ernte erneuert ſich jedes
Jahr, ohne daß wir nöthig hätten dem Boden Stickſtoff
durch Dünger aus der organiſchen Körperwelt zuzuführen.
In Virginien erntete man auf einem und demſelben Felde
ſo viel Weizen, daß man den Stickſtoffgehalt deſſelben auf
jeden Morgen mindeſtens zu 22 Pfund anſchlagen konnte.
Sollte dieſer Stoff aus dem Felde gekommen ſeyn, dann
würden zur Ausſcheidung dieſer 22 Pfund viele Tauſende
von Pfunden thieriſcher Excremente kaum hingereicht haben.
Mit der Stickſtoffaufnahme durch die Blätter gehet die Auf—
nahme des Kohlenſtoffs fortwährend ihren beſtimmten Gang,
der letztere, deſſen Menge in den Gewächſen unſrer Wieſen ſo
wie in den gewöhnlichen Culturpflanzen unſrer Felder um
mehr denn dreißig ja faſt vierzig Male den Stickſtoffgehalt
überſteigt, kann augenſcheinlich eben ſo wenig blos aus dem
Boden herkommen als der letztere. Wenn wir deshalb na—
mentlich bei den Runkelrüben und Kartoffeln den Kohlenſtoff
und Stickſtoff nicht bloß der Knollen und der Ruben, ſon—
1 dern auch der Blätter und Stengel in Anſchlag bringen,
dann ergiebt es ſich, daß in dieſen Gewächſen bei all der
Zufuhr des Kohlenſtoffes und Stickſtoffes der im Dünger
enthalten war auch kein größerer Gehalt an dieſen beiden
Stoffen hervorgerufen worden ſey, als in den Gräſern und
intern, welche auf dem an Rauminhalt eben fo großen
Grundſtück einer Wieſe erwuchſen und welche zu ihrer Nah-
rung gar keinen gewöhnlichen Dünger, ſondern nur Boden⸗
beſtandtheile von mineraliſcher Art und atmoſphäriſche Stoffe
erhielten. ö
Wenn indeß aus den eben angeführten Thatſachen her-
*
%
368
vorgeht, daß die Gewächſe den Vorrath der Nahrungsmittel
deſſen ſie zu ihrem Gedeihen bedürfen, zum Theil wenigſtens
auch aus der umgebenden Atmoſphäre aufnehmen und an
ſich ſaugen können, was allerdings durch die elektriſchen
Strömungen aus der Atmoſphäre (nach C. 39) befördert und
beſchleunigt werden könnte, ſo darf dabei dennoch auch der
unverkennbar günſtige Einfluß nicht überſehen werden, den
die Zufuhr des Nahrungsſtoffes durch die Wurzeln auf das
Pflanzenwachsthum hat. Die Aufnahme des Kohlenſtoffes
aus der Atmoſphäre hängt ganz von der Größe der Blatt⸗
oberflächen ab; eine Pflanze derſelben Art, deren Blätter⸗
oberflächen nur halb ſo viel betragen als die einer andren,
reicher und größer-blättrigen, kann der Wahrſcheinlichkeit
nach auch nur halb ſo viel atmoſphäriſche Kohlenſäure aus
der Luft einſaugen als die letztere. Die junge Pflanze unſ—
rer Felder könnte, wenn fie bloß aus der Atmoſphäre ihren
Lebensunterhalt empfangen müßte, im Verhältniß ihrer noch
kleinen grünenden (blattartigen) Oberflache nur wenig Koh-
lenſtoff zu ſich nehmen und ihre Entwicklung würde einen
langſamen Verlauf haben, wenn ſie nicht zu gleicher Zeit
aus dem mehr oder minder reichlich gedüngtem Boden Koh⸗
lenſäure empfienge. So wie ſich aber mit Hülfe dieſer
reicheren Nahrungsquelle ihre Oberflache vergrößert, ſteigert
ſich auch ihr Vermögen jenen Nahrungsſtoff aus der Luft
aufzunehmen und dieſes Vermögen bleibt ihr dann ſelbſt
noch über jene Zeit hinaus, in welcher die Zuführung des
Kohlenſtoffes durch die Wurzeln abnimmt oder endigt.
Ueberhaupt darf neben der aufſaugenden Thätigkeit der
Blätter auch die ſchon früher erwähnte des Bodens ſelber
nicht überſehen werden. Die durch den Pflug und andre
Werkzeuge von ähnlicher Wirkung zerriſſene und verkleinerte
Erdſcholle zieht (nach S. 310) die Gasarten der Atmoſphäre,
namentlich die ſpezifiſch ſchwerſte von allen; die Kohlenſäure
mit bedeutender Stärke an ſich und verdichtet dieſelbe; das
Stickſtoffgas geht nicht bloß in der Atmoſphäre, ſondern
auch in den kleinen Zwiſchenräumen der Erdenſtäubchen eine %
Verbindung mit dem Waſſerſtoffgas ein, in welcher es, als
Ammoniak, der unmittelbaren Aufnahme in den Körper
der Pflanze und den Kreislauf ihrer Säfte in vorzuüglichem
Maaße fähig wird. . ar
Aber der Kohlenſtoff, obgleich er der 3
na
* =
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nach als ein Hauptbeſtandtheil des Pflanzenkörpers, ungleich
mehr als der viel ſeltner darin vorkommende Stickſtoff er:
ſcheint, empfängt ſeine Bedeutung für die Ernährung und
Entwicklung des Gewächsreiches dennoch nur in der polari⸗
ſchen Wechſelwirkung mit andren Stoffen, welche zunächſt
nicht aus der Luft, ſondern aus dem Boden kommen.
Der Ertrag unſrer Wieſen kann durch Beſtreuung derſelben
mit Aſche und Gyps, bei gleichzeitig hinzukommender, hin—
länglicher Bewäſſerung auf das Doppelte geſteigert werden.
In ähnlicher Weiſe wendet man ſchon ſeit einem Jahrhun⸗
dert in England den gebrannten Kalk als Düngungsmittel
an. Vom October an ſieht man dort in manchen Gegenden
des Landes die Felder weiß, wie von friſch gefallenem Schnee,
mit gelöſchtem oder an der Luſt zerfallenem Kalk bedeckt, der
während der feuchten Wintermonate ſich zerſetzt und mit dem
Ackerboden ſich vermiſcht. Wer mit den weitren Folgen die—
ſer Beimiſchung unbekannt iſt, dem kann es kaum anders
vorkommen, als müſſe der ätzende Kalk nur nachtheilig auf
den Ackerboden einwirken, weil er gerade das in ihm zer⸗
ſtört, was man bisher als das alleinige Mittel zur Frucht—
barmachung deſſelben betrachtete: die kohlenſtoff- und ſtickſtoff⸗
haltige, aus organiſchen Elementen gebildete Modererde.
Ganz im Gegenſatz zu dieſer vorgefaßten Meinung zeigt ſich
aber die Fruchtbarkeit der Aecker durch das Aufſtreuen des
ätzenden Kalkes überaus vermehrt. Wie dies zu erklären
ſey, das hat J. Liebig in feinen chemiſchen Briefen in ein-
fach klarer Weiſe auseinander geſetzt. Alle unſre Feldge—
wächſe: die Getreidearten, Rüben, Erbſen und Klee bedurs
fen zu ihrem Wachsthum, wie bereits erwähnt, auſſer dem
Waſſer und den atmoſphäriſchen Elementen gewiſſer, eigen—
thümlicher feſter Stoffe aus dem Boden. Das eine Feld
giebt einen reichlichen Ertrag an Weizen, dagegen bei glei—
cher Düngung nur einen ſehr ſpärlichen an Erbſen, es zeigt
ſich für den Bau der Rüben vortrefflich geeignet, nicht aber
für den des Klees oder des Tabaks. Daſſelbe Feld, das
mehrere Jahre hindurch eine ſehr gute Ernte an Weizen oder
"irgend einer andren Feldfrucht trug, wird allmälig für dies
ſelbe Gewächsart immer unergiebiger, obgleich man ihm die
gleiche Menge, ja ſelbſt eine größere des beſten Düngers zu—
führt. Der Grund hiervon liegt darinnen, daß der Vorrath
der mineraliſchen Stoffe des Bodens, in ſo weit derſelbe
24
370
ſchon in einem Zuſtand der Auflöslichkeit und Zerſetzung ſich
befand, erſchöpft iſt. Was dies für mineraliſche Beſtand⸗
theile ſind, die einen ſo weſentlichen Antheil an den Mi⸗
ſchungsverhältniſſen jeder beſondren Pflanzenart nehmen, das
erfährt man bei dem Verbrennen derſelben aus der chemi⸗
ſchen Unterſuchung ihrer Aſche. Hieraus weiß man, daß
namentlich die Getreidearten eine nicht unbedeutende Menge
von Kieſelſäure (Kieſelerde) in ihrer Miſchung tragen, daß
überhaupt die Kieſelſäure, in ihrer leichter auflöslichen Ver⸗
bindung mit Kalien oder alkaliſchen Erden (z. B. Kalk),
daß nebſt dieſer verſchiedene Salze weſentliche Elemente der
Geſtaltung vieler unfrer Feldfrüchte ſind. Einige Arten des
kieſelhaltigen Bodens find ſchneller und leichter zur Verwitts
rung und Zerſetzung durch den Einfluß der Atmoſphäre, des
Regens und der in ihrer Nachbarſchaft befindlichen minerali⸗
ſchen Beſtandtheile geneigt, als andre: in manchen Gegen⸗
den von Ungarn baut man ſeit Menſchengedenken fortwäh⸗
rend auf einem und demſelben Felde das eine Jahr Weizen,
das andre Jahr Tabak, ohne daß dabei der Ertrag ſich ver—
ringert; der Granit von Korſika verwittert zu Pulver, man⸗
che Sandſteine löſen ſich auf, während andre Geſteine der⸗
ſelben Art, die neben ihnen zu Bau- und Kunſtwerken ber
nutzt, denſelben Einflüſſen der Witterung ausgeſetzt waren,
noch ganz feſt und wohlerhalten daſtehen. Da wo die Zer⸗
ſetzung der kieslichen Bodentheile und ihre Verbindung mit
Alkalien zu einem leicht annehmbaren Nahrungsſtoff für die
Pflanze einen zwar fortwährenden, dabei aber langſamen
Verlauf nehmen, ſieht man ſich genöthigt die Felder, welche
dem Getreidebau beſtimmt ſind, von Zeit zu Zeit entweder
brach liegen zu laſſen, oder ſie abwechslend zum Bau der
Kartoffeln und Rüben zu beſtimmen, welche dem Boden gar
kein Theilchen der aufgelöften Kieſelerde entführen, ſondern
eine neue Anſammlung des Vorrathes derſelben für ein näch—
ſtes Jahr möglich machen. Aber die Erzeugung eines ſolchen
Vorrathes kann auch ohne dieſe Mittel bewirkt und ſehr ver⸗
mehrt werden, wenn der Menſch mit ſeiner Kunſt der fort⸗
währenden Auflöſung zu Hülfe kommt. So enthält nament⸗
lich der ſchwere, thonerdige Boden eine Fülle von kieslichen
und alkaliſchen Beſtandtheilen, und dennoch ſind die Lagen
von Töpferthon für den Wuchs der meiſten Pflanzen und
für den Ackerbau höchſt ungünſtig, weil ſich jene mineraliſche
371
Stoffe in einem für die Gewächſe nicht aneigenbaren, gebund⸗
nen Zuſtand finden. Schon das Brennen des Lettens zu
Ziegelſteinen löſt dieſe Gebundenheit und Geſchloſſenheit auf;
der gebrannte Thon iſt in Berührung mit der Luft einer
fortwährenden Verwitterung ausgeſetzt, bei welcher Salze,
aus Kalien und Kohlen- oder Schwefelſäure gebildet, an
die Oberfläche des Steines hervortreten, die dem Pflanzen—
wuchs höchſt förderlich ſind. Am meiſten zeigt ſich eine ſolche
Auswitterung an jenen Stellen der Mauern wo der Kalk
als Mörtel mit den Ziegelſteinen in Berührung kommt und
ſchon dieſes deutet auf den vortheilhaften Einfluß hin, den
die Vermiſchung der Kalkerde mit thonigem Boden, auf die
Zerſetzung von dieſem hat. Ein Mann, der ſich um ſeine
Wiſſenſchaft wie um das bürgerliche Leben gleich große Ver:
dienſte erworben hat, weil er bei all feinen tiefgehenden wif-
ſenſchaftlichen Forſchungen zunächſt immer das Wohl und
den Nutzen des Gemeinweſens vor Augen hatte, der berühmte
Chemiker Fuchs in München machte die Entdeckung, daß
eine Auflöfung von fettem Thone (Pfeifenthon), wenn fie
mit einer dünnen Auflofung von ätzendem Kalk (Kalkmilch)
vermiſcht wird, alsbald in einen dickflüſſigen Zuſtand über-
gehe; daß nach einiger Zeit die mit der Thonerde vermiſch—
ten Alkalien frei werden, der Thon ſelber aber die Fähigkeit
erhalte, mit Säuren eine gallertartige Subſtanz zu bilden.
Daſſelbe was hier die in dem Thon häufig vorhandenen kies—
lichen Beſtandtheile erfuhren, wiederfährt denſelben, wenn
bei der oben erwähnten, in England gebräuchlichen Dün—
gungsweiſe der gelöſchte Kalk längere Zeit mit dem thonig—
kieslichen Ackerboden in Berührung bleibt. Es geht dabei
eine Zerſetzung vor ſich, welcher das feine, mechaniſche Zer—
theilen durch Pflügen und dergl. noch mehr zu Hülfe kommt;
die Verwitterung der Kieſel- und Kali-haltigen Steinarten wird
beſchleunigt und hiermit eben ſo, wie bei dem Aufſtreuen
von Aſche auf die Wieſen, dem Boden der zum Pflanzen—
wuchs nöthige Vorrath der mineraliſchen Stoffe gegeben.
Das Uebergehen dieſer Stoffe in den Pflanzenkörper kann
aber nur durch das Waſſer, das im feuchten Boden enthal—
ten iſt, möglich gemacht werden. Aus der Oberfläche der
Blätter verdunſtet ohne Aufhören Waſſer, je größer die
Wärme der Umgebung iſt, deſto ſtärker und raſcher iſt das
Verdampfen, während zu gleicher Zeit die Wurzelzaſern wie
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372
Saugpumpen wirken, in denen aus dem feuchten Boden eben
ſo viel Waſſer eindringt und in den Gefäßen aufwärts ſteigt,
als zum Erſatz, zur Ausfüllung der beim Verdunſten ent⸗
ſtandenen Leere hinreicht. In dem aufſteigenden Waſſer fin⸗
den ſich aber die mineraliſchen Bodenbeſtandtheile aufgelbſt
und dieſe nehmen an der Verdampfung keinen Antheil, fon-
dern bleiben als weſentliche Elemente der Pflanzengeſtaltung
zurück. Wenn mit den mineraliſchen Stoffen zugleich auch
die Stoffe des organiſchen Düngers im aufgelöften Zuſtand
aufgeſogen und der Pflanze zugeführt werden, dann nimmt
allerdings die Entwicklung derſelben einen noch raſcheren
Verlauf.
Aus den hier gegebenen Zügen einer Darſtellung des
Vorganges des Pflanzenwachsthumes läßt ſich die Wahr⸗
ſcheinlichkeit entnehmen, daß die elektriſche Strömung auf
das Wachsthum und Gedeihen der Pflanzen wohlthätig
wirken müſſe. Schon die Verſchiedenheit der Nahrungsſtoffe
wie ihres Herkommens aus dem Boden und der Luft muß
eine der Lebensthätigkeit nothwendige polariſche Entgegenſez⸗
zung und Spannung begründen, auf deren Steigerung die
Elektrizität nicht ohne Einfluß bleiben kann.
41. Der Galvanis mus.
Unter allen Körpern der Erde ſind im Allgemeinen die
Metalle für die Mittheilung und Leitung der Elektrizität, der
Wärme und des Magnetismus am empfänglichſten. Sie
find in ihrem reinen Zuſtand für die Lichtſtrahlen undurch⸗
dringbar, und wenn ſie nicht, wie zuweilen das Gold, in
auſſerordentlich dünne Blättchen geſchlagen werden, vollkom⸗
men undurchſichtig, zugleich aber ſind ſie die erleuchtbarſten
von allen Körpern, denn die ſpiegelnd glatte Fläche der po⸗
lirten Metalle ſtrahlt das Licht der Sonne in ſeiner volleſten
Stärke zurück; der metallene Brennſpiegel giebt das Licht
eines einzigen Lämpchens in einem bis zum Sonnenlicht ver—
ſtärkten Maaße wieder. Wie in dieſem Verhalten gegen das
Licht glaubte man auch in dem gegen die Elektrizitat eine
Berechtigung zu finden die Metalle als bloße Empfänger,
nicht als Selbſterzeuger und Geber der elektriſchen Span⸗
nung zu betrachten und hierauf gründete ſich die Eintheilung
der Korper in ſelbſtelektriſche und in leite Die Entdek⸗
373
kungen im Gebiet des Galvanismus haben in dieſer Bezie-
hung eine andre Anſicht begründet und zu großen Aufſchlüſ—
ſen geführt über die Bedeutung und Wirkſamkeit der Metalle
in der irdiſchen Natur. * uf
Wenn man zwei polirte Metallplatten, eine etwa von
Zink, die andre von Kupfer, jede an eine beſondre Siegel—
lackſtange oder an einen andren iſolirenden Handgriff befe—
ſtigt, und hierauf beide mit einander in Berührung bringt,
dann zeigt ſich bei der Trennung die eine (die Zink-) Platte
poſitiv, die andre (die Kupfer-) Platte negativ elektriſch.
Die in ſolcher Weiſe durch bloße Berührung erzeugte Elek—
trizität läßt ſich, eben ſo wie die durch Reiben am Glas
oder Pech erregte an einen Condenſator — eine iſolirt ſte—
hende Metallplatte — übertragen und hier zu einer ſehr au⸗
genfälligen Verſtärkung bringen. Zwei Platten von gleichem
Metall gerathen, wenn man ſie mit einander in Berührung
bringt, in keine elektriſche Spannung, wenn man aber von
zwei einander vollkommen gleichen Zinkplatten die eine mit
einer Silberplatte reibt oder fie mit dieſer einige Zeit in Be—
rührung läßt, dann wird ſie einer elektriſchen Spannung ge—
gen die andre Zinkplatte fähig, zu der ſie durch die wechſel—
ſeitige Berührung in ein negatives Verhältniß tritt.
+ Man kennt bisher noch keinen Korper, der mit folcher
Beharrlichkeit bei der Berührung mit allen andren einer glei—
chen Anregung fähigen Körpern die poſitive elektriſche Span—
nung annähme als der Zink, nächſt ihm folgen das metalli—
ſche Blei, Zinn, Eiſen, Wismuth, Kobalt, Kupfer u. ſ. w.
Während aber das Blei zu allen den Metallen, welche in
der eben genannten Reihe nach ihm genannt ſind, ſich poſi—
tiv verhält, zeigt es ſich negativ gegen den Zink; Eiſen nes
gativ gegen Zinn, Blei und vor allem gegen Zink, poſitiv
aber gegen Wismuth, Kobalt, Kupfer. Und auch das Ku⸗
pfer, negativ gegen alle in der Reihe voranftehende, nimmt
in Berührung mit Spießglanz, Platin, Gold, Queckſilber,
Silber, Kohle, Graphit oder Reisblei und kryſtalliſirtem
Graubraunſteinerz eine poſitive Spannung an, welche um ſo
ſtärker ift, je weiter in der eben angeführten Reihe der Kör—
per von ihm abliegt. Wenn man deshalb Zink mit kryſtal—
liſirtem Graubraunſteinerz in Wechſelverkehr ſetzt, dann wird
der elektriſche Gegenſatz am ſtärkſten hervortreten, weil dieſe
beiden Körper auf der Stufenleiter am weiteſten auseinander
374
liegen; auch bei der wechſelſeitigen Berührung einer Zink⸗
und einer Silberplatte wird der Zink eine ſtärkere poſitive,
das Silber eine ſtärkere negative Spannung annehmen, als
die iſt, welche durch Zink und Kupfer bewirkt wird.
Der polariſche Gegenſatz den wir hierbei erwachen ſehen,
ſcheint in gewiſſem Maaße jenem ähnlich, der zwiſchen dem
Sauerſtoffgas und allen brennbaren oder orydirbaren Kör⸗
pern beſtehet und zwar vertritt in der aufgeführten Reihe
der Körper von poſitiv elektriſcher Spannung die Stelle des
brennbaren Stoffes, der negative die des Sauerſtoffes. Selbſt
in der chemiſchen Zuſammenſetzung ſcheint dieſes angedeutet,
denn das Graubraunſteinerz, der beharrlichſt negative Kör⸗
per, enthält in ſeiner Miſchung eine bedeutende Menge von
Sauerſtoffgas und während das Zinn, in feinem reinen,
metalliſchen Zuſtand zu allen andren Körpern der Stufenlei⸗
ter, mit Ausnahme des Bleis und des Zinks, als poſitiv
daſtehet, benimmt es ſich dagegen in ſeiner Verbindung mit
dem Sauerſtoffgas (als ſogenannte Zinngraupe oder Zinn⸗
ſtein) ſelbſt gegen Kohle, Silber, Gold und Platina, noch
mehr aber gegen eine Platte von ſeinem eignen, reinen Me⸗
tall augenfällig negativ. In faſt gleichem Maaße als das
Sauerſtoffgas ſcheint auch der Schweſel durch ſeine Verbin⸗
dung mit den Metallen den vorhin poſitiven Character der⸗
ſelben in den negativen umzuwandeln, denn das Blei ſo
wie das Eiſen in ihrem Verein mit Schwefel (als Bleiglanz
und Schwefelkies) treten im Grad ihres negativen Verhal⸗
tens nach unter Silber und Kohle zurück und nur um eine
Stufe über den Zinnſtein hinauf. f
Die elektriſche Spannung welche in zwei Metallen oder
andren Körpern der oft erwähnten Reihe durch die bloße,
gegenſeitige Berührung hervorgerufen wird, zeigt aber als⸗
bald noch einen andren Charakter, wodurch ſie ſich weſentlich
von der früher betrachteten gemeinen, durch Reiben erzeug⸗
ten Elektrizität unterſcheidet. Wenn man eine Zinkplatte für
ſich allein in verdünnte Schwefelſäure hineinlegt, da beginnt
alsbald der früher erwähnte Vorgang der Zerſetzung des
Waſſers. Denn das Metall in ſeiner chemiſchen Spannung
mit der Säure zieht das Sauerſtoffgas des Waſſers an, um
in der hieraus entſtandenen Form des Oxydes fi ſich mit der
Schwefelſäure verbinden zu können. Hierbei wird dann das
Waſſerſtoffgas frei, das in zahlloſen Bläschen in der Flüſ⸗
375
figfeit emporſteigt und die Platte wird in demſelben Maaße
an ihrer Oberfläche aufgelöſt. In ganz andrer Weife geftal-
tet ſich aber dieſer gewöhnliche Vorgang, wenn mit der Zink—
platte zugleich auch eine Kupferplatte in die Säure gebracht
und dann beide Metalle unmittelbar oder durch einen leiten:
den Draht in Berührung geſetzt werden. Denn auch jetzt
löſt ſich zwar der Zink in der Säure auf, das Waſſer wird
zerſetzt, aber die Luftblaſen des Waſſerſtoffgaſes zeigen ſich
nicht mehr wie vorher an ihm, ſondern an der Oberfläche
der Kupferplatte, von welcher ſie wie ſonſt gewöhnlich von
dem Zink ſich entbinden und emporſteigen. Die polariſche
Spannung und Wirkſamkeit der beiden Metalle läßt fi) das
durch bedeutend erhöhen, daß man, wie dies in der von
Volta erfundenen und nach ihm benannten Säule geſchieht,
rundliche oder viereckige Platten in größrer Zahl mit Lappen,
welche mit Salzwaſſer oder mit einer Salmiakauflöſung be—
feuchtet find, zwiſchen Glas oder Holzſtangen fo über einanz.
der aufſchichtet, daß man etwa zu unterſt eine Kupfer-
dann eine Zinkplatte, dann einen feuchten Tuchlappen und
ſo immerfort eine ſolche dreigliedrige Ordnung von Kupfer,
Zink, feuchtem Stoff über die andre legt. An die oberſte
Zink⸗ und eben ſo auch an die unterſte Kupferplatte wird
ein Draht angebracht. Das oberſte Zinkende zeigt jetzt in
einer Stärke, deren Grad mit der Größe und mit der Zahl
der angewendeten Plattenpaare in geradem Verhältniß ſteht,
poſitive, das unter Kupferende negative Elektrizität, über:
haupt jede mehr nach unten liegende Platte im Verhältniß
zu den mehr nach oben geſtellten negative, dieſe zu jener por
ſitive Spannung. Wenn man den Polardraht des einen
Endes der Säule mit der äußeren, den des andren Endes
mit der innren Belegung einer früher erwähnten Leidner
Flaſche in Berührung bringt, dann wird hierdurch auch einer
ſehr anſehnlichen Batterie augenblicklich eine ſehr ſtarke, elek—
triſche Ladung mitgetheilt, wie ſie etwa durch eine gewiſſe
Zahl von Umdrehungen der größeſten Glasſcheiben unſrer
Elektriſirmaſchinen erzeugt werden könnte. Hierdurch zeigt
es ſich, daß die Elektrizität, welche die Berührung der po—
lariſch entgegengeſetzten Metalle hervorbrachte, mit der durch
Reibung entſtandenen weſentlich übereinſtimme.
Eine bequemere und hierbei kräftiger wirkende Einrich—
tung iſt die des ſogenannten Trogapparates, bei welchem in
376
ein kleines, aus Kupferblech gebildetes Behältniß die Säure
geſchüttet, und in dieſe die Zinkplatte ſo hineingeſtellt wird,
daß ſie (etwa durch Glas) von dem Boden und Wänden *
des kleinen Gefäßes abgeſondert, das Kupfer nirgends ber
ee kann. Von dem Kupfer wie von dem Zink gehen
Drähte aus, an denen ſich die polariſchen Erſcheinungen
eben ſo zeigen laſſen, als an den Enden einer, auf die vor⸗
hin erwähnte Weiſe zuſammengeſetzten Voltaiſchen Säule
und mehrere ſolcher Troge in einer Weiſe mit einander ver⸗
bunden, daß der Draht von der Zinkplatte des einen immer
mit dem Kupfer des andren in Berührung ſteht, bringen
eine ſehr hoch een Spannung hervor. f
Jene Erſcheinung, deren wir vorhin bei Beſchreibung
des einfachen Verſuches erwähnten, welchen man durch Ein⸗
tauchen einer Zink- und einer Kupferplatte in verdünnte
Schwefelſäure anſtellen kann, läßt ſich nun an der Voltaiſchen
Säule oder an irgend einer andern Vorrichtung von gleicher
Wirkſamkeit in ungleich größerem, augenfälligerem Umfange
darſtellen. Der Zink löst ſich in in der Flüßigkeit auf und
hierbei wird das Waſſer in feine beiden Grundſtoffe zerſetzt,
ſo aber, daß das Sauerſtoffgas von dem poſitiven Pole: dem
Zink, das Waſſerſtoffgas von dem negativen Kupferpole an⸗
gezogen wird. Oder anders ausgedrückt, der negative Pol,
der bei der Wirkſamkeit der Säule im Verhältniß zu dem
poſitiven Pole das Sauerſtoffgas darſtellte, ruft im Waſſer
ſeinen natürlichen Gegenſatz: das Waſſerſtoffgas hervor, der
andre Pol aber, welcher die Stelle des Waſſerſtoffgaſes ver⸗
trat, bewirkt durch ſeine polariſche Spannung ein Hervortre⸗
ten des Sauerſtoffgaſes aus dem Waſſer in deſſen Verbin⸗
dung jene Spannung ſich aufzulöſen und auszugleichen ver⸗
mag. Die Menge des an dem einen Pole hervorgerufenen
Sauerſtoffgaſes beträgt genau ſo viel als jene, des am an⸗
dren Pole in Gasform aufſteigenden Waſſerſtoffgaſes bedür⸗
fen würde, um, damit vereint, wieder in der gewößnlichen
Geſtalt des Waſſers aufzutreten.
Daß dieſes ſo ſey erfährt man am leichteſten, wenn man
die Pole einer vorhin beſchriebenen Säule in Platinadrähte
ausgehen läßet, weil dieſes Metall mit dem hervortretenden
Sauerſtoffgas feine Verbindung eingehet. Von dem einen
Platinadraht, der mit dem negativen (Kupfer-) Ende der Säule
verbunden iſt, ſteigen dann in einem mit Waſſer gefüllten
7
377
Behältniß eben ſo wohl Luftblaſen auf, als von dem andren,
der vom poſitiven (Zink) Ende ausgeht; die Luftblaſen an
dem letzteren betragen, wenn man fie aufſammlet, ein Maaß⸗
theil reines Sauerſtoffgas, die am negativen Gupfer⸗) Pole
zwei Maaßtheile reines Waſſerſtoffgas, oder dem Gewicht
nach jene 88,94 dieſe 11,06 Prozent, mithin gerade ſo viel
als von beiden dazu nöthig ſind, um bei der Wiedervereini—
gung durch den elektriſchen Funken Waſſer zu geben.
*
Dieſe Kraft der Voltaiſchen Säule, nicht nur das Waſ⸗
ſer, ſondern alle Körper die aus mehreren Grundſtoffen zu—
ſammengeſetzt ſind, davon der eine Sauerſtoffgas iſt, oder in
Beziehung auf einen andren dem Sauerſtoffgas entſpricht,
der andre aber als Waſſerſtoffgas oder als Grundſtoff von
andrer Art den brennbaren Gegenſatz darſtellt, wenn ſolche
Körper nur in den flüßigen Zuſtand einer Auflöſung verſetzt
werden, ſo zu zerlegen, daß an dem poſitiven Pole das ſauer—
ſtoffige am andren das ihm polariſch entgegengeſetzte Element
hervortritt, hat dann eben zu jenen großen Entdeckungen ge—
führt, deren wir oben im Cap. 18 gedachten. Die Salzſäure
wird in Chlor und in Waſſerſtoffgas, die Kalien oder die
kaliſchen Erden in Sauerſtoffgas und in ihre, dem früheren
Zeitalter unbekante, metalliſche Grundlage geſchieden. In
andrer Form nur zeigt ſich die polariſirende Eigenſchaft der
Voltaiſchen Säule ſelbſt an einem Silberdraht, den man ekwa
eine Stunde lang abwechslend an einem Ende mit dem po—
ſitiven am andren mit dem negativen Pole in Verbindung
ſetzt. Hierdurch empfängt das eine Ende des Drahtes nega—
tive, das andre poſitive Elektrizität und dieſe polariſche Span⸗
nung verliert ſich erſt allmälig. |
Eine Erſcheinung, welche die Aufmerkſamkeit der Natur:
forſcher auf die bisher betrachtete Form der Elektrizität zuerſt
hinzog, iſt der Einfluß, welchen die Berührung zweier pola—
riſch verſchiednen Metalle auf die Nerven eines in ihre Nähe
gebrachten thieriſchen Körpers hat. Dieſe Eigenſchaft wurde
im Jahr 1790 von Galvani, dem Profeſſor der Anatomie
in Padua, entdeckt und deßhalb erhielt die Elektrizität der Me-
tallberührung von ihm den Namen des Galvanis mus.
Als ein kupferner Hacken, welcher durch den zerſchnittenen
Körper eines ſoeben getödteten Froſches geſtochen war, mit
dem eiſernen Nagel an welchen er aufgehangen werden ſollte
in Berühruug kam, trat alsbald ein Zuſammenziehen der
RE
378
Muskeln, ein ſtarkes Zucken des thieriſchen Gliedes ein und
dieſe Zuckungen wiederholten ſich ſo oft die Metalle von neuem
mit einander in Berührung kamen, bis mit dem gänzlichen
Abſterben des Gliedes ſeine Erregbarkeit verſchwand. Am
ſtärkſten wurden die thieriſchen Bewegungen, wenn man das
eine der polariſch verſchiedenen Metalle an den Nerven, das
andre an den Muskel oder an das den Nerven entgegenge⸗
ſetzte Ende des Gliedes brachte und dann beide Metalle durch
„
einen guten Leiter der Elektizität — etwa durch einen Me
talldraͤht in Verbindung ſetzte. Die Wirkung blieb auch
dann nicht aus, wenn der anregende Einfluß der Metallbe⸗
rührung in einiger Entfernung von dem Nerven gehalten
wurde, und die Voltaiſche Säule ſo wie ſelbſt ſchon einzelne
Metallplatten brachte die Erſcheinung auch an ſolchen Glie⸗
dern und ganzen thieriſchen Körpern hervor, deren Nerven
nicht gewaltſam blos gelegt waren ſondern tief unter der Hülle
des Fleiſches und der häutigen Decken lagen, am meiſten dann
wenn die Außenfläche des zum Verſuch gewählten Theiles
befeuchtet war. Durch jenen ſogenannt Galvaniſchen Ein⸗
fluß der Metallpolarität wird jeder Nerv zu der beſondren
Wirkſamkeit aufgeregt, für welche er im lebenden Körper be—
ſtimmt iſt: der Sinnesnerv zu Empfindungen die feiner ge—
wöhnlichen Verrichtung entſprechen, der Bewegungsnerv zum
Hervorrufen der Thätigkeit der Muskeln. Bringt man den
einen Pol der Säule in Berührung mit der Stirne, den
andren mit der Hand, dann bemerkt man vor den Augen
einen Lichtſchein, während die Finger in zuckende Bewegung
gerathen; an der Zunge erzeugt der poſitive Pol einen ſau—
ren, der negative einen alkaliniſchen Geſchmack; auch im Ohre
wird durch den galvaniſchen Einfluß ein Tönen bemerkt, das
nach Verſchiedenheit der beiden Pole höher oder tiefer iſt.
Der Körper geſchlachteter Thiere geräth durch jene Einwir-
kung in Zuckungen, welche denen gleichkommen, die man bei
heftigen Anfällen der Epilepſie beobachtet, und auch an dem
Körper hingerichteter Verbrecher hat man bemerkt, daß alle
Nerven, ſelbſt die, welche das Athmen bewirken, durch die
elektriſche Strömung einer Voltaiſchen Batterie noch einige
Zeit nach dem Tode in ihre Lebensthätigkeit zurükgerufen
werden können, denn ein Leichnam, an welchem man dieſe
Verſuche machte, fing ſelbſt von neuem an zu athmen. Doch
verſchwindet dieſer Anſchein eines wiedergekehrten Lebens mit
379
dem Abfterben des Nerven bei dem Menſchen fo wie bei an⸗
dren warmblütigen Thieren ſchon in einer oder etlichen Stun⸗
den nach dem Tode, während er bei Thieren von kaltem Blute
länger andauert. Auch dann, wenn die Erregbarkeit ſchon
ganz erloſchen ſcheint, läßt ſie ſich durch Anwendung von
Säuren oder Alkalien wieder auf einige Zeit anfachen.
Ce'ben in jener Weiſe, in welcher die Elektrizität der Vol⸗
taiſchen Säule auf die Kräfte des thieriſchen Lebens einwirkt,
glaubte man anfangs eine Berechtigung zu finden den Gal—
vanismus als weſentlich verſchieden von der Reibungselektri⸗
zität zu betrachten. Der Unterſchied beider Formen jedoch
beruhet nur darauf, daß in dem innren Kreiſe der Voltaiſchen
Säule die wechſelſeitige Spannung der Gegenſätze, wie im
Verlauf eines ruhiger dahin fließenden Sromes ohne Auf⸗
hören ausgeglichen und wiedererneuet wird; in einem beſtän—
digen Wechſel des Vergehens und neuen Entſtehens begriffen
iſt, während jene elektriſche Spannung, welche durch Reiben
hervorgerufen wird, einſeitig in dem einem Körper bis zu einer
gewiſſen Stärke ſich ſteigert und dann plötzlich an einem
Körper von verhältnißmäßig entgegengeſetzter Spannung ſich
entlädt. Die erſtere Form gleichet deshalb mehr der ruhigen
Flamme eines brennenden Lichtes, dieſe der Entzündung eines
Körpers, der bei ſeinem Aufflammen plötzlich ſich zerſetzte.
Daß indeß jener ruhigere Brand in ſeiner weſentlichen
Wirkſamkeit von nicht minderkräftiger Natur ſey als die ſchnell
hervorbrechende Flamme des Blitzes, das wird namentlich an
der Eigenſchaft der Licht- und Wärmeerzeugung erkannt,
durch welche der galvaniſch-elektriſche Strom ſich auszeichnet.
Schon durch den einfachen, vorhin beſchriebenen Trogappa⸗
rat, bei welchem nur eine Zinkplatte und nur ein mit Säure
gefülltes kupfernes Behältniß zum Verſuch angewendet wer—
den, kann man einen dünnen Platinadraht, durch welchen
die elektriſche Srömung gehet, zum hellen Glühen, ja zum
Schmelzen bringen; durch eine Säure die aus 20 Doppel-
platten von 6 Fuß Länge und 2%, Fuß Breite erbaut war,
wurde ein Draht, der aus dem im gewöhnlichen Feuer ſo
außerordentlich ſchwer ſchmelzbaren Platinametall beſtund und
der bei einer Dicke von / Zoll 18 Zoll lang war, fo hellglühend,
daß das Auge ſeinen Glanz kaum zu ertragen vermochte, und
kam zuletzt ganz zum Schmelzen. In der Glühehitze eines
ſolchen elektriſchen Stromes ſchmolz ſelbſt das Iridium.
380
Uebrigens hängt das Heiß- und Glühendwerden nicht allein
von der Stärke der Säule ſondern eben ſo ſehr von der
Beſchaffenbeit des Verbindungsdrahtes der Polarenden ab:
Ein Silberdraht kann die Strömung hindurch laſſen ohne
ſich zu erhitzen, wird aber alsbald glühend, wenn er nicht
ganz aus Silber beſteht, ſondern abwechslend aus Stücken von
Platina und Silber zuſammengeſetzt iſt. Auch Kohlen ge-
rathen zwiſchen den Strömen einer ſtarken Voltaiſchen Bat⸗
terie (in England hat man eine ſolche die aus 2000 Doppel⸗
platten von 32 Quadratzoll Oberfläche beſteht) in ein fo helles
Glühen, daß ihr Licht, faſt gleich dem der Sonne, das Auge
blendet und wenn die ruhige Entladung durch zwei, etliche
Zoll voneinander abſtehende Kohlen geleitet wird, dann kom—
men beide zum Glühen und es bildet ſich zwiſchen ihnen ein
nach oben gekrümmter heller Lichtbogen in welchem eine fol-
che Gluthhitze herrſcht, daß alle ſchmelzbare Körper in ihr ges
ſchmolzen werden, andre, wie Quarz, Kalk, ja ſelbſt Sap—
phir ſich verflüchtigen. Mer ü
Die Licht und Wärmeerſcheinungen im Strom der Vol—
taiſchen Säule zeigen ſich übrigens von denen, die bei der
Entladung einer ftarfen, durch Reibung erzeugten Elektrizität
beobachtet werden, dadurch verſchieden, daß bei jenen die
Funken ungleich kürzer, von ungleich geringerer Schlagweite
find. Die Funken, welche aus den Polardrähten der vorhin
erwähnten rieſenhaft großen Säule in England hervorbra—
chen, hatten nur eine Länge von / Zoll, welche von der Länge
der Funken der großen van Marumſchen Scheiben-Elektriſir⸗
maſchine faſt um das Hundertfache übertroffen wird, wobei
auch noch die mechaniſche Gewalt, mit welcher dieſe letztere
unter gewiſſen Umſtänden Gefäße und andre Körper plötzlich
zerſchmettert, einer Kraft von 9840 Pf. gleich zu ſchötzen iſt.
42. Ein Wettkampf der Naturkunde mit der
Kunſt: die Galvanoplaſtik.
Wem unter uns ſollte nicht manchmal, wenn er die Arbei⸗
ter unſrer großen, berühmten Meiſter in der Kunſt des Ku⸗
pferſtechens, des Steinzeichnens, oder des Schneidens in
Steine ſo wie in Münzſtempel geſehen und bewundert hat, der
Wunſch eingekommen ſeyn, daß er doch auch etwas der Art
möchte leiſten können. Mancher von uns, der ſich mit der
N
381
Beſchreibung und Betrachtung der Naturkörper beſchäftigt
hat und dabei ſich aufs Zeichnen verſtund, mag es auch ver—
ſucht haben, den Gegenſtand ſeiner Forſchung nicht blos ge—
nau auf dem Papier nachzubilden, ſondern eine ſolche Zeich—
nung nach der Natur mit eigner Hand in Kupfer oder Stahl
zu ſtechen, weil eine ſolche Arbeit doch kaum von einem
Andren, der nicht ſelber den Gegenſtand mit höchſtem In—
tereſſe betrachtet und erfaßt hat, mit ſolcher Genauigkeit und
in ſo lehrreicher, gerade das Weſentlichſte beachtenden Weiſe
gefertigt werden kann, als von ihm ſelber. Aber freilich iſt
dieſes Bemühen nur wenigen Naturforſchern, die zugleich
Künſtler waren, in ſolchem Maaße gelungen, wie im vori—
gen Jahrhundert dem bewundernswerthen Röſel von Ro—
ſenhoff in Nürnberg, ſo wie ſeinem kunſtreichen Nachfolger
in unſrer Zeit, dem Jac. Sturm, oder dem jugendlichen
Talent und Fleiß des trefflichen Beobachters und Zergliede—
rers der Thierwelt: Profeſſor Michael Erdl in München.
Denn die Arbeiten des Stechens der Kupfer- und Stahl⸗
platten, des Schneidens der Steine und der metallenen Prä—
geſtöcke für Münzen und Medaillen, gehören zu den mühſam—
ſten Leiſtungen der Kunſt und der Grabſtichel oder der De—
mantſplitter muß viele Hunderttauſende von Strichen, Sti—
chen und kleinen Sprengarbeiten verrichten, ehe nur ein ein—
ziges ſeiner Kunſtwerke zur Vollendung kommt.
In unſren Tagen wo man von allen Seiten nur darauf
ſinnt, recht große, augenfällige Sachen in der möglichſt kür—
zeſten Zeit und mit den geringſten, wohlfeilſten Mitteln ins
Werk zu ſetzen, iſt man auch auf mancherlei Wege gekom⸗
men, durch welche ſich der Kunſt wenigſtens ein großer
Theil ihrer vormaligen Mühe abnehmen läſſet. Dahin ge—
hört unter andrem die ſpäter zu erwahnende Erfindung des
Daguerrotyps, vermöge welcher man, ohne eine Hand an
den Bleiſtift oder die Zeichenfeder anzulegen, bloß das Licht
für ſich zeichnen laſſen kann, welches dieſe Arbeit, wenn der
abzubildende Gegenſtand in die rechte Stellung und in das
rechte Licht geſtellt worden iſt, mit großer Genauigkeit und
in auſſerordentlicher Schnelligkeit vollbringt.
Wenn man die Beduinen, in deren Geſellſchaft man
etwa durch Arabien oder manche andre Gegenden des Mor—
genlandes reiſt, beim Anblick alter Gemäuer von vormaligen
kunſtreichen Bauwerken fragt, von wem dieſe Kunſtwerke
382
herrühren, dann antworten ſie, wenn ſie nicht etwa vor dem
aufgeklärten Europäer ſich ſcheuen: „das haben die Dfchen-
nin (Genien) in alter Zeit gebaut.“ Der Morgenländer
hält nämlich häufig an der Meinung feſt, daß es eine Gei-
ſterwelt um den Menſchen gebe, mit welcher dieſer, wenn er
die Zauberkunſt verſteht, in ein Bündniß treten und durch
deren mitwirkende Kraft er dann Ungeheures und Ueber⸗
menſchliches leiſten könne. Die Naturkunde unſrer Tage hat
auf natürlichem Wege einen ſolchen Zauber geübt, ſie hat
Kräfte und Gewalten der Sichtbarkeit in ihren Bund gezo—
gen, durch deren Hülfe ſie auch Uebergewöhnliches geleiſtet
hat. Dahin gehört ſchon, wie wir im 32. Cap. ſahen, der
Waſſerdampf, der für Hunderttauſende von Menſchenhänden
und für viele Tauſende von Pferden Laſten hebt und fortbe-
wegt, Eiſen hämmert, Bücher druckt, Garn ſpinnt und hundert⸗
terlei andre Arbeiten verrichtet. Die Elektrizität und der
Elektromagnetismus leiſten dem Menſchen, der ſich ihrer Kräf—
te zu bedienen weiß, nicht minder bewundernswerthe Dienſte.
Namentlich iſt auch das ein ſehr bedeutender, daß man durch
eine bloße galvaniſche Strömung, ohne ſelber etwas Andres
dabei zu thun, als etwa ein und das andre Mal Säure
zuzuſchutten, Platten für Kupferſtiche, Münzſtempel, Me⸗
daillen und andre Bildwerke fertigen oder das Geſchäft des
Vergoldens aufs Trefflichſte nachahmen kann. Von dieſer
ſeltſamen Kunſt, welche durch Jacobi und noch mehr durch
F. v. Kobel zu einer hohen Vollendung gebracht worden
iſt, wollen wir hier nur Einiges erwähnen.
Wir ſprachen oben, im 17. Cap. von einer ſcheinbaren
Verwandlung des einen Metalles ins andre: des Eiſens in
Kupfer. Was wir hier betrachten wollen, das ſteht jenem
Vorgange ſeinem innren Grunde und ſelbſt dem äußren An⸗
ſcheine nach nicht ferne.
Wenn man zur Füllung eines in der vorhin erwähnten
Weiſe eingerichteten Trogapparates ſtatt der verdünnten Schwe—
felſäure eine Auflöſung von Kupfervitriol anwendet, dann
wird, während der elektriſch chemiſchen Wechſelwirkung des
Zinks und des Kupfers das Waſſer zwar zerſetzt und ſein
Sauerſtoffgas zur Oxydation des Zinkes verwendet, aber
der hierbei frei werdende Waſſerſtoff ſteigt nicht als Gas in
Bläschenform auf, ſondern geht ſogleich mit dem Sauerſtoff⸗
gas des Kupferoxydes, das in der Vitriolauflöſung enthalten
5
0
1
383
iſt, eine Verbindung zu Waſſer ein und das zum reinen,
metalliſchen Zuſtand zurückgekehrte Kupfer legt ſich an die
Kupferplatte an, was dadurch noch befördert wird, daß man
durch eine porbſe Scheidewand, z. B. von Leinwand, das
gleichzeitige Hinübertreten des Zinkes hindert. Wenn ſich der
Ueberzug aus dem zum metalliſchen Zuſtand zurückkehrenden
Kupfer nicht zu raſch, ſondern unter dem Einfluß eines ge—
mäßigten elektriſchen Stromes allmälig bildet, dann fügen
ſich die aus ihrer Auflöſung hervortretenden Kupfertheilchen
zu einer dichten Maſſe von gleichförmiger Stärke übereinan⸗
der und ſchmiegen ſich dabei fo innig feſt an alle Erhöhun—⸗
en und Vertiefungen der Platte an, daß, wenn man ſie von
ihrer Unterlage hinwegnimmt, auch die feinſten Züge derſel⸗
ben an der innren Fläche des Ueberzuges ſich abgedrückt und
abgeformt zeigen. Es braucht übrigens keine Kupſerplatte
zu dieſem Verſuch angewendet zu werden, ſondern jeder an—
dre Körper, in ſo fern er nur zu dem Zink in polariſchen
Gegenſatz ſich ſtellt, leiſtet hierbei daſſelbe. Daher kann man
Münzen oder Medaillen von Gold, von Silber eben ſo wie
von dem Kupferſtecher bearbeitete Kupfer- oder Stahlplatten
zu gleichem Zwecke benutzen und man erhält dann von dieſen
vollkommen treue, bis ins Kleinſte genaue Abdrücke. Auch
iſt es nicht einmal nöthig, daß man die Münzen, Medaillen
oder andre Kunſtwerke dieſer Art ſelber, im Original, der
galvaniſchen Strömung ausſetze, ſondern ein Abdruck derſel—
ben in einem leichtflüßigen Metallgemiſch, zu welchem man
8 Theile Wismuth, s Theile Blei und 3 Theile Zinn in
Vorſchlag gebracht hat, ja ſogar ein Abdruck in Gyps, in
Wachs und andren nicht metalliſchen Körpern, deren Ober—
fläche man da, wo der Niederſchlag des Kupfers hingeleitet
werden ſoll, etwa mit Graphit fein überzogen hat, leiſtet
dieſelben Dienſte. Uebrigens empfiehlt ſich zu dieſer Art
von galvaniſchen Kunſtgebilden die Kupferauflöſung am mei—
ſten, weil ſich der Ueberzug des metalliſchen Kupfers mit
Leichtigkeit von feiner Unterlage ablöſen läſſet.
In der gleichen Weiſe, wie man durch die elektriſchen
Strömungen über irgend einen beliebigen Körper den Ue—
berzug von Kupfer, mit vollkommen glatter Auſſenfläche
darſtellen kann, läßt ſich auch Silber, Meſſing, Stahl mit
Gold oder mit Platina überziehen, wenn man eine verhält⸗
nißmäßig ſehr geringe Quantität der Verbindung dieſer bei—
384
den Metalle mit Chlor (Chlorgold oder Chlorplatina) in
Waſſer, worin Kochſalz aufgeloft iſt, oder in eine Löſung
von Cyaniſenkalk bringt. Der Körper, welcher vergoldet oder
mit Platina überzogen werden ſoll, wird einige Male in die
Flüſſigkeit eingetaucht und dabei mit dem Kupferpol der gal⸗
vaniſchen Vorrichtung in Verbindung geſetzt; nach einem je⸗
desmaligen kurzen Verweilen in dieſem Bade zieht man ihn
heraus, trocknet dann zuletzt ihn ab und die Silberdoſe, die
man etwa zum Verſuch anwendete, hat jetzt durch die neue,
fremde Ueberkleidung ganz den Anſchein des Goldes bekom—
men; die ſtählerne Doſe wird Jeder, der ihr Gewicht nicht
ſorgfältig in der Hand prüft, für Platina halten. So kann
man denn auch mit leichter Mühe auf dem Wege der Gal-
vanoplaſtik kupferne oder eiſerne Geſchirre verzinnen oder ſie
mit Zink überziehen. Wenn man die große Mühe und den
nachtheiligen Einfluß auf die Geſundheit erwägt, denen ſich
bisher die Vergolder unterziehen mußten, wenn fie eine Ver—
bindung des Goldes mit Queckſilber (Goldamalgam) über
den zu vergoldenden Körper herſtrichen und dann das Queck—
ſilber durch die Hitze abdampften, ſo daß das Gold allein
in vollkommener Reinheit zurückblieb, dann muß man wün—
ſchen, daß dieſe Leiſtung der Galvanoplaſtik noch einer viel
weiteren Anwendung gewürdigt werden moͤge als bisher.
Auch andre augenfällige Bildungen hat man in Abnli-
cher Weiſe durch den elektriſchen Strom hervorgebracht. So
namentlich wenn man den Zinkpol in eine Spitze ausgehen
läſſet, an den Kupferpol aber eine metallene Scheibe, z. B.
von Silberblech befeſtigt, und dann beide Polarenden in eine
flüſſige Miſchung von eſſigſaurem Kupfer und Salpeter bringt.
Das aus der Miſchung hervortretende Metall legt ſich dann
ſehr bald, auch bei einer ſchwachen elektriſchen Strömung,
in regelmäßig ſchönen concentriſchen Ringen auf der Metall-
platte an. N a
Läßt man einen ſehr ſchwachen elektriſchen Strom durch
dünne Drähte in eine Aufloſung gehen, deren Zerſetzung
man bewirken will, dann gefchieht, es in manchen Fällen,
daß der ausſcheidende Körper eine vollkommen regelmäßige
ckryſtalliniſche) Geſtaltung annimmt, fo daß man auf dieſe
Weiſe ſchon manche Stoffe zum Kryſtalliſiren gebracht hat,
die man unter keinen andren Verhältniſſen in dieſer Geſtal⸗
tung darſtellen konnte. |
Doch
385
Doch wir kommen noch einmal auf die zuerft erwähnte
Anwendung der Galvanoplaſtik zur Vervielfältigung von
Kupferſtichplatten, Steinzeichnungen, eingeſchnittenen Geprä⸗
gen, Reliefgebilden u. ſ. w. zurück, wobei man das, was
auf dem Original vertieft war, zunächſt in erhabener Form
erhält, von der ſich in eben ſo leichter Weiſe wieder die ver⸗
tiefte gewinnen läſſet. Selbſt Handſchriften laſſen ſich in
gleicher Weiſe mit großer Genauigkeit auf eine Kupferplatte
abformen und von dieſer in einer Menge von Abdrücken ver—
vielfältigen, wenn man die Buchſtaben mit einem Stoffe übers
zieht, den die ſchwache Säure der Fluſſigkeit nicht angreift
und durch eine Preſſe die Schriftzüge auf eine Kupferplatte ab—
drückt, die man dann mit dem poſitiven Pol der Strömung
in Verbindung ſetzt, wobei das Kupfer rings um die Schrift
aufgeloft wird, dieſe ſelber aber erhaben ſtehen bleibt. Bei ge—
druckten Büchern gelingt ein ſolches Verfahren leichter, weil
ſich von dieſen die Schwärze der Schrift mittelſt der Preſſe
meiſt unmittelbar an die Kupferplatte übertragen läſſet.
Aus dem bisher Gefagten erkennt man, was die Gal—
vanoplaſtik zu leiſten und was fie nicht zu leiſten vermöge.
Die eigentliche, wahre Kunſt, dieſe ſchöpferiſche Macht des
Menſchengeiſtes, muß dennoch zuerſt das Bette dazu gras
ben, in welches der elektriſche Strom ſich ergießen ſoll, da—
mit er ſo, nach dem Willen des Menſchen, der eine zwar
wundervoll leibliche, dennoch aber nicht geiſtige Macht in
ſein Bündniß gezogen hat, ſeine feſt beſtimmte Bahn be⸗
ſchreiben könne. Ein Wettkampf der in unſren Dienſt ge—
nommenen Naturkräfte, mit ſolchen Werken der Menſchen⸗
hand, welche mehr nur von mechaniſcher Art, wie Spinnen
und Weben, wie das Aufeinanderfügen von Steinmaſſen iſt,
wird ſich leichter beſtehen laſſen, wo aber die leibliche Natur
mit dem Geiſt des Menſchen in die Schranken treten will,
da kommt es bald an den Tag, welches von Beiden der
Meiſter und Herrſcher und welches bloß der, wenn auch noch
ſo tüchtige und treuergebene Diener ſey.
43. Die Nerven des thieriſchen Körpers.
Wir haben im Verlauf unſrer diesmaligen Unterhaltun⸗
gen über die Welt der ſichtbaren Dinge ſchon mehrmalen der
Nerven des thieriſchen und menſchlichen Körpers Erwähnung
25
Be. Fun. ä 1
m
386
gethan und werden dies in dem zunächſt folgenden Capitel
noch mehr thun müſſen. Es ſcheint deshalb nöthig ſo wie
vorhin über den Bau und die Wirkſamkeit unſrer elektriſchen
und magnetiſchen Werkzeuge, auch über die äußre Beſchaffen⸗
heit und die Eigenſchaften der Nerven Einiges zu ſagen.
Es hat lange gedauert bis dahin wo die Forſcher der
Natur und vor allen Andern die Aerzte, die ſich mit der
Betrachtung des innren Baues des Menſchenleibes beſchäfti⸗
gen, zu der Erkenntniß gelangten, daß nicht das Fleiſch oder
irgend ein andrer Theil des Leibes das Gefühl ſo wie die
Kraft zum willkürlichen Bewegen in ſich ſelber habe, ſondern
daß ihnen beides durch die kleinen weißlichen Fädchen, (Ner⸗
ven genannt) komme, die ſich wegen ihrer Zartheit und Fein⸗
heit unter der Maſſe des Fleiſches, der Häute, der Gefäße
und Eingeweide ſo unſcheinbar ausnehmen, das man ſie öf—
ters ganz überſieht. Der Anſchein war dafür, daß zunächſt
der Muskel (das Fleiſch) die Wunden oder die Stöße fühle,
die eine äußre Gewalt ihm zufüget und ſo lag die Meinung
ganz nahe, daß unſer leibliches Fühlen im Fleiſch ſeinen
Sitz habe, während das Haar, die Nägel, die Oberhaut
welche den Körper umkleidet, kein Gefühl hat.
Aber eine weiter fortgehende Unterſuchung hat gelehrt,
daß, wenn man an einem noch lebenden Gliede die weichen,
zarten Stämme oder Zweige der Nerven welche in demſelben
ihren Verlauf nehmen, durchſchneidet oder unterbindet, der
Muskel ebenſo gefühlos werde, als dies für gewöhnlich die
Nägel oder die Oberhaut ſind. In ein Glied deſſen Nerven
gelähmt oder durch gewaltſame Mittel unwirkſam gemacht
ſind, kann man ſchneiden und ſtechen, man kann daſſelbe
brennen und quetſchen, es empfindet von dieſen Allem nichts
mehr und zugleich iſt es auch außer Stande irgend eine Bes
wegung, welche der Wille anregen möchte, zu vollbringen.
Ein gelähmter Menſch kann ſeine Füße, ſeine Hände nicht
mehr zu ihren gewöhnlichen Verrichtungen gebrauchen, kann
weder gehen noch zugreifen, ſo gern er auch möchte. Hat
die Lähmung den Sehenerven getroffen, der ins Innre des
Auges geht, dann kann dies nicht mehr ſehen, es befindet
ſich, ſelbſt am hellen Mittag, im tiefſten nächtlichen Dunkel.
Und doch hat ein ſolches gelähmtes Glied großentheils
noch ſeine gewöhnliche, geſunde Geſtalt; dem Auge, das am
ſchwarzen Staar,“ an der Lähmung des Sehenerven erblin⸗
387
det ift, merkt man kaum Etwas von feinem großen Mangel
an, in dem gelähmten Arme bewegt ſich noch fortwährend
in den meiſten Fällen das Blut und fließt aus der gemachten
Wunde, von welcher das Glied keinen Schmerz empfand, her—
vor; nicht ſeine größere Maſſe, ſondern nur ein ganz kleines
Theilchen derſelben: den Nervenfaden hat das Uebel betroffen
und doch gieng dadurch dem ganzen Gliede der eigentlichite,
höchſte Vorzug ſeines Lebens verloren. 5
Es erinnert uns dies abermals an die hohe Macht und
Bedeutung, welche, wie wir dies öfters erwähnten, in dem
leiblich Kleinen und Kleinſten liegt. Und nicht nur der
Nerv, ſondern der geſammte Leib eines Thieres oder Mens
ſchen, in der innerſten Zuſammenfügung ſeiner Theile zeigt
uns das große Vermögen vieler Kleinen, welche zu einem
gemeinſamen Wirken verbunden ſind. Wenn wir einen
Blutstropfen dünn ausſtreichen und ihn fo durch das Mikro-
ſkop betrachten, dann erkennen wir alsbald in ihm eine zahl⸗
loſe Menge kleiner, linſenförmiger Körperchen, welche in
dem Blutwaſſer ſchwimmen. Sie ſind ſo klein, daß ihrer 5
bis 6, wenn man ſie ihrer Länge nach an einander reihete,
zwiſchen 20 und 30 aber, wenn man ſie ihrer Dicke nach
über einander legte erſt ſo viel meſſen würden als die Dicke
eines Menſchenhaares ausmacht. Denn der Durchmeſſer ih—
rer zarten Scheiben beträgt nur den 250ten oder 300ten, die
Dicke derſelben nur etwa den 1100ten bis 1350ten Theil einer
Linie, während die Dicke des Menſchenhaares dem 50ten Theil
einer Linie gleichkommt. Jedes dieſer Blutkörnchen beſteht aber
wieder aus einem faſt kryſtallhellen Körper, der von einem roth
färbenden Stoffe, gleich wie von einer Atmoſphäre umgeben iſt
und welcher etwas Eiſen, mit einem brennbaren Element vereint,
zu feinen Beſtandtheilen hat. Die rothe Hülle der unzähl⸗
baren Blutkörnchen iſt es auch allein, welche dem ganzen
Blut ſeine rothe Farbe giebt, denn in der Flüſſigkeit darin⸗
nen jene Linſenkörperchen ſchwimmen, zeigen ſich zwar auch
ähnliche Körnchen, doch mangelt dieſen die rothfarbige und
rothfärbende Atmoſphäre. So erkennen wir ſchon im Blute
des lebenden Thieres eine Geſammtheit von überaus kleinen
Einzelweſen, deren Millionen in ihrer beſtändigen lebendigen
Bewegung dem Werke der Bildung, der Ernährung und Er—
haltung des Leibes dienen. a
Die Muskeln oder das thieriſche Fleiſch ſind von einer
25
388
Art der Zuſammenſetzung, deren Beſchaffenheit leichter ins
Auge zu fallen ſcheint als die des Blutes. Schon durch ein
gemeines Tafelmeſſer können wir das Fleiſch in Faſern zer⸗
legen, welche durch ein zartes, häutiges Gewebe unter ein—
ander verbunden ſind. Aber mit dieſer groben Zerlegung ſind
wir noch keinesweges bis zum Ziel oder Ende der Zertheil—
barkeit der Muskeln gekommen, dieſes wird abermals nur
unter dem Mikroſkop möglich, durch welches wir zuletzt die
urſprünglichen, äuſſerſten Anfänge der Zuſammenſetzung des
Fleiſches erkennen: Faſern, deren Dicke kaum den 40ten Theil
der Dicke eines Menſchenhaares beträgt. Und dieſe zarten,
feinen Körperchen, von denen viele Millionen zuſammenwir⸗
ken müſſen, damit nur einer unſrer Finger ſich beugen und
ausſtrecken könne, ſind es, durch welche das Thier wie der
Menſch alle die wundervollen, kräftigen Bewegungen verrich—
ten, in denen die waltende Seele deſſelben ſich kund giebt.
Wie der erregende Schlag einer elektriſchen Spannung, wirkt
der Einfluß des Nerven in das Muskelfleiſch hinein und jene
dem bloßen Auge unſichtbaren Kleinen, ziehen in der Zick—
zackform oder in dem geſchlängelten Umriß eines Blitzes ſich
zuſammen und wirken in einer Kraft, welche die mechaniſche
Gewalt der großen Körpermaſſen unvergleichbar viel über⸗
trifft. Wie klein ſind, im Vergleich mit der Größe und dem
Umfang des ganzen Körpers die Muskeln des Gebiſſes am
Mund des Menſchen und dennoch wirken dieſelben, wenn
wir damit manche Kerne des Steinobſtes aufbeißen, mit
einer Kraft, welche die Laſt unſres ganzen Körpers,
wenn dieſe bloß durch den Druck ihres Gewichtes ſich äuſ—
ſerte, bei weitem überwiegt. Denn zum Zerdrücken eines
Morellen- oder eines Pfirſichkernes wäre die aufgelegte Laſt
einer Steinmaſſe von mehreren Centnern nöthig, während
ein kräftiger junger Mann dieſelbe Wirkung durch fein Ger
biß hervorbringt.
Wieder eine andre bewundernswerthe Weiſe der Zus
ſammenfügung aus überaus kleinen Theilchen wird an den
Nerven bemerkt. Dieſe find nicht, wie der Muskel, aus klei—
nen Faſern, ſondern aus überaus feinen, mit einem wie
ölartigen, flüſſigen Weſen erfullten Röhrchen zuſammenge—
ſetzt, die vom Gehirn oder Rückenmark aus bis zu dem Theil
des Leibes, zu deſſen Dienſt ſie beſtimmt ſind, fortlaufen.
Sechs ſolcher Röhrchen, der Reihe nach an einander gelegt,
*
389
würden erſt die Dicke eines feinen Menſchenhaares ausmas
chen, denn ihr Durchmeſſer beträgt nur den 300ten Theil
einer Linie. Bei der Theilung eines Nervenſtammes in ſei—
ne Aeſte, Zweige und Zweiglein findet nicht jene Anord—
nung ſtatt, wie bei der Vertheilung der Blutgefäße in ihre
Aeſte und Zweige, ſo daß aus dem Stamm oder Aſt von
größrem innrem Durchmeſſer ein Zweig von kleinerem Durchs
meſſer hervorbricht, ſondern dieſelben Röhrchen, welche den
ganzen Stamm bildeten, löſen ſich am Punkt der Bertheis
lung von einander ab und eine gewiſſe größere oder gerin—
gere Zahl von ihnen geſellt ſich zur Geftaltung des Zweiges
zuſammen, bis zuletzt bei der endlichen ſeinſten Zertheilung
nur noch wenige dieſer Röhrchen bei einander bleiben, von
denen jedes einzelne an einem beſtimmten Punkt das Ziel
ſeines Laufes findet, wenn anders jene Vermuthung ſich nicht
beſtätigen ließe, daß die meiſten Röhrenfädchen der vollkom—
menen Nerven ſich von dem Ort ihrer Endung wieder herum
nach ihrem Ausgangspunkte beugen ſollten, ſo daß ſchon
in dieſem Bau die doppelte Verrichtung der Nerven, zum
Bewirken der Muskelbewegung, wie der Empfindung ange—
deutet wäre. In dem eben beſchriebenen Verlauf durch die
Theile des Leibes erleiden die einzelnen Nervenröhrchen keine
augenfällige Veranderung, jedes derſelben iſt in den Zwei—
en an Geſtalt daſſelbe geblieben, das es im Stamme war;
1 * hat man in der Maſſe des Gehirns und Rückenmar⸗
kes, darin alle Nerven unmittelbar (12 Paare im Gehirn, 30
im Rückenmark) oder mittelbar ihren Urſprung und ihr Ende
nehmen, hin und wieder blaſenartige Erweiterungen und
andre Formen kleiner Behaltniffe entdeckt, deren Innres
zum Theil mit kugelförmigen, halbflüſſigen Körperchen (den
ſogenannten Markkügelchen) erfüllt iſt. Wir erwähnten ſchon
früher (im 21. und 24. Cap.) der Elemente, aus denen das
Gehirn zuſammengeſetzt iſt. Der Phosphor und der Schwe—
fel in ihrer Verbindung mit der Hauptmaſſe des halbgeron—
nenen Eiweißſtoffes, mögen unter dieſen Beſtandtheilen von
weſentlicher Bedeutung ſeyn, was aber dieſem von Millio—
nen der Röhrchen zuſammengefügten Gewebe, daraus das
Hirn gebildet iſt, was dieſen blafenformig zarten Behältniſ—
ſen, die unter dem Gewebe zerſtreut ſind und in welche ein
Theil der Röhrchen ſich erweitert das Vermögen ertheilt, die
Eindrücke der Auſſenwelt, die auf die Sinnen wie auf andre
390
Theile des Leibes einwirken, als Empfindung und Wahr⸗
nehmung der Seele zuzuführen und die Anregungen des Wil⸗
lens nach allen Gliedern hinzutragen, das wird weder aus
dem kunſtreichen Bau der Nerven und Muskeln erkannt, noch
aus der chemiſchen Zuſammenſetzung errathen. Alles, was
wir bei dieſer Gelegenheit bemerken können, gehet darauf
hinaus, daß auch dieſen Aeuſſerungen des Lebens ein pola-
riſcher Gegenſatz und die beſtändige Wechſelwirkung eines ſol—
chen zu Grunde liege (nach Cap. 83. Der unbewegte Nerv
und der bewegte Muskel bilden einen Gegenſatz dieſer Art,
bei welchem der Nerv die Stelle des Höheren (eines Schaf—
fenden und Bewegenden) darſtellt. Schon an ſichtbarem
Umfang übertrifft der Muskel den Nervenfaden, der ihm Be⸗
wegung verleiht, ſehr augenfällig, ja in vielen Fällen ent—
zieht ſich die Weiſe des leiblichen Zuſammentretens des Ner⸗
venendes und des Muskelfleiſches unſrer ſinnlichen Wahr—
nehmung gänzlich. Noch mehr wird das Bewegen des Mus—
kels, das doch vom Nerven ausgeht, in dieſem ſelber zu
einem unſichtbaren Vorgang, eben ſo wie ſich die Anregung
um Wahrnehmen und Empfinden die dem Leibe durch einen
ſnnlich erfaßbaren Gegenſtand kommt, nach innen hinein,
im Nerven, jeder weitren Erkennbarkeit entzieht. Zuletzt hat
alles ſichtbare und ſinnlich wahrnehmbare Bewegen und Ge—
ſtalten, aller Wechſelverkehr unſres Leibes mit der äußren
Körperwelt ſeinen Anfang und ſein Ende in einem Etwas,
deſſen Bewegen, wie das welches im Nerven vorgeht, nicht
nur, ſondern deſſen weſentliches Seyn für unſer ſinnliches
Erkennen nicht mehr erfaßbar iſt: in die Seele, welche vor
dem ſichtbaren Entſtehen des Leibes war und nach der Auf—
löſung des Leibes noch beſtehen wird, weil ihrem Weſen ein
wahrhaftes, nothwendiges Seyn zukömmt, gegen welches
das Seyn des Körpers, ohne den waltenden und beftimmenz
den Einfluß der Seele mehr nur einem Scheine zu vergleichen iſt.
44. Elektriſche Erſcheinungen an lebenden
Thieren.
Nicht allein die Metalle und andre feſte Körper, ſondern
auch ſehr viele tropfbare Flüſſigkeiten zeigen, wenn fie unter
einander oder mit feſten Körpern in Berührung kommen,
eine elektriſche Spannung. Daß ſelbſt die Wirkſamkeit des
E
=:
lebenden Nerven mit der un einer elektriſchen Pola⸗
riſation ſehr nahe verwandt ſey, geht ſchon aus den vorhin
erwähnten Erſcheinungen hervor, in denen die galvaniſche
Strömung gleich dem lebendigen Einfluß des Nerven in den
verſchiedenen Theilen des Leibes theils cee e der
Sinnen, theils Bewegung hervorbringt. Ungleich deutlicher
jedoch wird dieſes namentlich an einigen Arten der Fiſche
erkannt, welche nach Willkühr mehr oder minder ſtarke elek—
triſche Schläge an Menſchen und Thiere, ſo wie an andre
Körper mittheilen können. Dieſe aus einem lebenden thieri—
ſchen Körper hervorgehende, Elektrizität kann eben ſo wie die
gewöhnliche, zur Ladung einer Leidner Flaſche, zum Hervor⸗
bringen von Funken und andrer ſolcher Erſcheinungen benutzt
werden, die an unſren künſtlichen elektriſchen Apparaten von
bedeutender Stärke vorkommen.
Einer der weitverbreitetſten elektriſchen Fiſche iſt der
Narke oder Zitterrochen der in verſchiedenen Arten ſchon
in unſren nachbarlichen Meeren, im Mittelmeer, in der
Nordſee, im Kanal, im atlantiſchen ſo wie im indiſchen
Meere gefunden wird. Ein ſeltſames Thier, deſſen Körper
faſt den Umriß einer Geige hat und deſſen weichliches Fleiſch
keine ſehr beliebte Koſt iſt. Schon die Völker des Alter—
thums kannten die Eigenſchaft des Zitterrochens, nicht nur Kir
ſche und andre Seethiere, theils zu ſeiner Vertheidigung,
theils auch um ihrer als einer Beute habhaft zu werden, ſo
zu betäuben, daß fie wenigſtens für einige Zeit bewegungs⸗
los werden. Wenn man ihn mit der Hand berührt, fühlt
man durch den ganzen Arm eine elektriſche Entladung „ wel⸗
che ein Zittern und bebendes Zucken, zuweilen aber auch,
wie eine Leidner Flaſche, eine plötzliche Erſchütterung be
wirkt. Doch iſt dieſe Wirkung nicht bei jeder Berührung
bemerkbar; es hängt offenbar von der Willkühr des Thieres
ab, ob es ſich dieſer Nothwehr bedienen will oder nicht und
erſt dann, wenn es gereizt wird, läßt es jene in ihm
ſchlummernde Kraft kund werden. Allerdings kann die
elektriſche Spannung, deren dieſer Fiſch fähig iſt, ihm ein
Erſatz für einen Mangel werden, an welchem ſein Körper
im Vergleich mit dem von andren Rochenarten leidet. Sein
weicher Leib iſt nicht durch jene feſten Hautdecken, nicht durch
jene harten Vorſprünge und Stacheln geſchützt, womit die
Oberfläche der meiſten Rochenarten bedeckt iſt, auch iſt ihm
IN VPE IE ee 5 Bi
RR. 1
a 392
ſein Fortkommen und Bewegen im Element das er bewohnt
dadurch etwas erſchwert, daß bei ihm die Bruſtfloſſen ſich
nicht bis an die Seiten des Kopfes verlängern und übers
haupt von ſchwächerem Baue ſind. Der Zitterroche iſt des⸗
balb kein ſehr behender Schwimmer, ſondern liegt gewöhn⸗
lich am Boden des Gewäſſers, im Sand oder Schlamm.
Was ihm aber auf dieſe Weiſe in ſeinem Körperbau man⸗
gelt, das erſetzt er durch feine phyſikaliſchen Kunſtſtücke, mit-
telſt welcher er auch die ſchnellſten Mitbewohner feines Ele
mentes, wenn ſie an Größe ihm nicht gar zu ſehr überlegen
find, mitten in ihrem raſchen Laufe zu lähmen vermag. Dieſe
Wirkſamkeit beruhet auf dem Daſeyn einer ganz eigenthüm⸗
lichen Vorrichtung im Innren des Leibes. Gerade in der
Gegend des zugerundeten Vordertheiles, wo die Fortſetzung
der Bruſtfloſſen mangelt, entſprechend der Gegend des Nackens,
liegt unter den häutigen Decken zu beiden Seiten des Kör—
pers eine bedeutende, bis an 1200 ſich belaufende Menge
von 4 bis 6 eckigen Zellen von ſennigem Bau, welche mit
einer aus Gallert und Eiweißſtoff gemiſchten Flüſſigkeit er-
füllt ſind. Starke Nervenäſte verbreiten ſich in dieſen gleich
den Wachswaben der Bienen zuſammengeordneten Zellen,
und jene Nerven find es, vermöge welchen die Seele des Thie⸗
res, vom Gehirn aus, eine elektriſche Spannung in dem
feſten und flüſſigen Gebilde der Zellen hervorruft, durch die
es die Kräfte eines in die Ferne wirkenden Blitzes em—
pfängt.
Der kräftigſte unter allen bisher bekannten elektriſchen
Fiſchen iſt der Zitteraal, welcher zwar nicht in unſren
nachbarlichen Meeren, deſto häufiger aber in den Bächen
und ſtehenden Gewäſſern des ſüdlichen Americas gefunden
wird. Das mächtige Thier erreicht zuweilen die Länge eines
Menſchen und dabei die Dicke eines ſtarken Mannsarmes.
So ſehr es auch in andrer Hinſicht unſren Aalen ähnlich
iſt, unterſcheidet es ſich dennoch, ſcheinbar zu ſeinem großen
Nachtheil, durch einen Mangel, der gleich auf den erſten
Blick ins Auge fällt; ihm fehlt die lange Rückenfloße, die
über den Oberkörper unſrer Aale ſich hinzieht und mit die⸗
ſer Floße zugleich auch großentheils die Schaar kleiner
Muskeln, welche den Bewegungen derſelben dienen. Ueber⸗
dieß fehlt dem merkwürdigen Thiere die Ausbildung des Vor⸗
derleibes, die unſer Aal hat; der größte Theil feiner Körper⸗
a
393
länge gehört dem Schwanze an. Doch dieſer Mangel nach
außen iſt durch eine Gabe im Innren des Körpers erſetzt,
welche von mächtigerer Wirkſamkeit iſt als alle Floßen und
Muskeln. Am Rücken hinab, und an beiden Seiten findet ſich
eine unzählige Menge kleiner, unregelmäßiger Zellen, welche
durch horizontal laufende und ſenkrecht dieſe durchſchneidende
ſennige Häute gebildet werden und von einer dickflüſſigen,
gallertartigen Maſſe erfüllt ſind. In ihnen verbreiten ſich
bedeutende Nervenäſte. Dieſe innre Einrichtung des Baues,
mit welcher die großen Schwimmblaſen in hülfereicher Be—
ziehung ſtehen, giebt dem Thiere jene ftarfe elektriſche Span⸗
nung in feine Gewalt, durch welche daſſelbe zu einem Schrecken
der Menſchen wie der andren Thiere wird. Denn die Bewohner
jener Gegenden in denen die Schaaren des Zitteraales alle
Sümpfe und kleinen Gewäſſer erfüllen, fürchten die geheim⸗
nißvolle Kraft dieſes Fiſches fo ſehr, daß fie ſelbſt um gro—
ßen Lohn den Fang deſſelben kaum wagen mögen, und wenn
fie endlich ſich dazu entſchließen, mit der höchſten Vorſicht
dabei zu Werke gehen. Und ihre Furcht iſt nicht ungegrün⸗
bet. Stürzen doch ſelbſt ſtarke Pferde gelähmt zuſammen,
wenn ſie durch ein Waſſer gehen darin Zitteraale ſind, denn
der furchtbare Fiſch legt ſich mit ſeinem Rücken unter den
Bauch des ſchwimmenden oder hindurch watenden Laſtthieres
und verſetzt demſelben einen ſo gewaltigen elektriſchen Schlag,
daß es entweder regungslos im Waſſer unterſinkt und darin
erſäuft, oder, wenn es noch das Land erreicht, ſich da—
ſelbſt betäubt auf den Boden hinſtreckt und erſt langſam
ſich wieder erholt. Auch ſchwimmende Menſchen ſind auf
dieſe Weiſe umgekommen. Deshalb iſt es öfters geſchehen,
daß man in ſolchen Gegenden, wo es noch keine eigentlichen
Kunſtſtraßen und nur ſelten über die Lachen und kleinen
Flüße eine Brücke giebt, die frühere Richtung der Wege
verlaſſen mußte, wenn man dabei hin und wieder auf Maul—
tbieren und Pferden durch Waſſer zu paſſiren genöthigt war.
Denn bei dieſer Gelegenheit gingen viele Laſtthiere mit ihrer
Bürde, öfters auch mit ihren Reutern zu Grunde, weil der
Zitteraal auch ungereizt, mit der Tücke einer zornwüthigen
Schlange, ſeine Angriffe auf alle in ſeine Gewäſſer kommen—
de Thiere richtet. Eben ſo wie eine giftige Schlange durch
öfteres Beiſſen ihren Giftvorrath fo erſchöpft, daß fie für
einige Zeit faſt gefahrlos wird, kann auch der Zitteraal, durch
*
394
mehrmaliges Entladen ſeiner elektriſchen Batterie ſo ohnmäch⸗
tig werden, daß man faſt ohne alle Furcht vor feinen Schlä>
gen ihn zu fangen vermag. Wenn deshalb vornehme Euro—
päer an ſolchem Fange ſich beluſtigen wollen, dann laſſen ſie
eine Schaar der verwilderten, ſüdamerikaniſchen Pferde, wel⸗
che um ſehr wohlfeilen Preis zu haben ſind, in das Waſſer
hineintreiben und zuerſt an dieſen die Zitteraale ihre Kraft
erſchöpfen. Aber auch dann, wenn der Fiſch fo kraftlos ges
worden iſt, daß er wie ohnmächtig, mit halbem Leibe her⸗
vorragend auf dem Waſſer ſchwimmt, die Berührung der
Pferde ängſtlich meidet und die Nähe des Ufers ſucht, iſt er
feiner elektriſchen Spannung noch nicht ganz beraubt. Um
terrichtete Europäer, welche die kleinen Harpunen, die man
gegen den Fiſch ſchleudert, aus ſeinem Fleiſche herauszogen,
empfanden hierbei eine elektriſche Erſchütterung, welche die
Wirkung der ſtärkſten Leidner Flaſche übertraf.
Die Wirkung des Schlages der Zitteraale auf die Em—
pfindung iſt übrigens, nach der Ausſage der Beobachter ver—
ſchieden und ſie hängt ſehr von der Größe und dem Wohl—
befinden des Fiſches ab. Wenn dieſer im hohen Grade ge—
ſchwächt iſt, dann erregt ſeine Berührung nur ein Zittern
in den Sennen des Armes bis zum Ellenbogen und eine
ſolche wellenförmig anregende Ausſtrömung hat man auch
häufig bei Verſuchen mit dem Zitterrochen bemerkt. Wenn
dagegen das Thier groß und noch unentkräftet iſt, dann
wirkt der Schlag, den daſſelbe den Füßen oder Händen mit
denen man es berührt, mittheilt ſo furchtbar, durch alle Ge—
lenke und Theile des Körpers, daß der Menſch kaum ſich auf—
recht erhalten kann und Tage lang nachher noch an Schwäche
und Schmerz in den Gliedern, Betäubung des Kopfes und
dem Gefühl eines allgemeinen Unwohlſeins zu leiden hat.
Wenn man ſich zum Fang der Zitteraale ider Netze bedient
und nur eines dieſer Thiere, von ſchon reiferem Alter, zu—
gleich mit jungen Krokodilen ſelbſt von der halben Länge
eines Menſchenkörpers in das Garn geräth und mit heraus—
gezogen wird, dann findet man dieſe ſo wie alle etwa in
dieſelbe Geſellſchaft gekommene Fiſche, beim Ausſchütten des
Netzes todt und nur der Aal, der Mörder derſelben iſt, frei—
lich mit etwas geſchwächter Kraft, am Leben geblieben.
An dieſen Fiſchen iſt es auch möglich geweſen alle jene
Verſuche anzuſtellen, durch welche die weſentliche Uebereinſtin⸗
*
395
mung ihrer polariſchen Spannung mit der Elektrizität erwie⸗
ſen wurde. Man hat Funken bei ihrer Entladung geſehen,
welche freilich an Größe und Helligkeit mit der Stärke der
Erſchütterung die der lebende Körper bei der Berührung em—
pfindet, noch weniger in Verhältniß ſtunden als die Funken
einer großen Voltaiſchen Säule nach S. 380). Wenn man
den Fiſch mit einer Stange von Glas oder Pech berührt,
oder die Hand mit ſtarkem Seidenzeug umgiebt, iſt man eben
fo gegen feine Schläge geſchützt, als wenn man unter ähn—
lichen iſolirenden Vorkehrungen eine ſtark geladne Leidner
Flaſche oder den Conductor einer Elektriſirmaſchine berührt;
dagegen entlädt ſich die Spannung durch Metalle in ibrer
ganzen Stärke. Der Zitteraal kann aus allen Gegenden
ſeiner ſchleimigen Oberfläche Schläge ertheilen, nicht aber
wenn man das Innre ſeines Mundes berührt. Wenn übri—
gens ſchon beim Galvanismus die elektriſche Ausgleichung
dadurch, daß ſie (nach S. 379) mehr einer andauernden
Strömung als einer plötzlichen Ausſchüttung gleicht, in einer
Weiſe wirkt, welche der Lebensthätigkeit der thieriſchen Ner—
ven näher verwandt iſt als die Wirkung der gemeinen, durch
Reiben erzeugten Elektrizität, ſo gilt dies noch viel mehr
von den elektriſchen Strömungsſchlägen der beiden bereits er—
wähnten Fiſcharten, ſo wie des mit gleicher Eigenſchaft be—
gabten elektriſchen Stachelbauchfiſches im indiſchen Ocean und
des Zitteraals, der den Nil fo wie einige Ströme des mitt—
leren Afrikas bewohnt. Die Erregung ſo wie die Aeuſſerung
der elektriſchen Spannung dieſer Thiere gehet von ihrem Ge—
hirn zum Nerven aus und hängt ganz von ihrer Willkühr
ab, fo daß der Zitteraal, der ſtärkſte unter allen, feinen
Schlägen, die ſich in ziemliche Weite durch das Waſſer fort—
pflanzen, eine beſtimmte Richtung, nach einem gewiſſen Ge—
genſtand hin ertheilen, und, wenn er in Waſſerbehältern
aufbewahrt, an die Nähe des Menſchen gewöhnt iſt, ſie auch
ſo zurückhalten kann, daß er nur dann, wenn er gereizt wird,
nicht bei jeder Berührung von ſeiner Kraft Gebrauch machet.
Auch ſcheint es öfters, als wenn die elektriſchen Fiſche vor
der Entladung zuerſt durch ihr Gefühl es prüften, ob der
Kreis, durch den ſie den Schlag wollen gehen laſſen, ge—
ſchloſſen ſey; der Zitteral ſetzt ſich zuweilen ſchon mehrere
Augenblicke vorher mit dem fremden thieriſchen Körper in
Berührung, bis er plötzlich und auf einmal demſelben ſeine
396
lähmende Macht fühlen läſſet, und mit noch mehr Zurückhal⸗
tung und Vorſicht benimmt ſich dabei der ſchwächere Zitter-
roche. Es iſt der natürliche Trieb der Selbſterhaltung, wel—
cher dieſe Thiere dazu bewegt, daß ſie bei der Erregung ihrer
elektriſchen Spannung mit einer gewiſſen Sparſamkeit zu
Werke gehen. Wenn man ſie zu einer öfteren Wiederholung
ihrer Schläge in kurzen Zwiſchenzeiten nach einander an⸗
treibt, dann wird nicht bloß ihre elektriſche, ſondern mit dies
ſer zugleich ihre Lebenskraft erſchöpft, ſo daß ſie bald darauf
abſterben. An zwei Fiſchen der Art bemerkte man, daß der
eine, an welchem man den Nerven des elektriſchen Organs
durchſchnitten und hierdurch die Verbindung deſſelben mit dem
Gehirn, den anregenden Einfluß des letzteren, aufgehoben
hatte, von nun an zwar keine Schläge mehr ertheilen konn—
te, dabei aber länger am Leben erhalten wurde, als der
andre, der mit jener Verwundung verſchont geblieben, dafür
aber öfter zu ſeinen Entladungen gereizt worden war.
Von ganz andrer, vielleicht mit der durch Reibung er—
zeugten näher verwandt, iſt jene Elektrizität, die man zu—
weilen in ſehr augenfälliger Weiſe an lebenden menſchlichen
Körpern beobachtet hat. Bei manchen Perſonen geben die
Haare beim Auskämmen oder beim Reiben elektriſche Fun⸗
ken, eben fo wie das Haar des Löwen, des Luchſes und
andrer Thiere vom Katzengeſchlecht. An andren bemerkt man
Funken, wenn ihre Haut gerieben wird oder beim Ausziehen
des Gewandes, und als ſolche Funken gebende Männer wer—
den namentlich Theodorich der Große, ſo wie Carl Gon—
zaga, der Herzog von Mantua, genannt. Vielleicht ſchlie—
ßen ſich hieran ſelbſt ſolche Falle, wie die allerdings Aufferft
ſeltnen einer plötzlichen Selbſtentzündung menſchlicher Körper.
Wenn wir, bei einer der bedauernswürdigſten, zum
Glück nicht immer unheilbaren Krankheiten, welche unſer
Geſchlecht betreffen können, bei der fallenden Sucht, Erſchüt⸗
terungen und Zuckungen der Glieder entſtehen ſehen, welche
ganz jenen gleichen, die der Einfluß der Voltaiſchen Säule
oder die Entladung einer gewöhnlichen elektriſchen Spannung
hervorruft, dann werden wir zu der Vermuthung geführt,
daß hierbei der ſonſt unmerkliche, ſich immer erhebende
und ausgleichend ſich wieder ſenkende Strom der elektriſchen
Anregung, die mit der Wirkſamkeit der Nerven verbunden
iſt, in ſeinem geſunden Verlauf gehemmt und gleich wie an⸗
397
gedämmt ſey, bis er, den Damm durchbrechend, in feiner
ganzen Schrecken erregenden Macht über alle Bewegungsner⸗
ven des Körpers ſich ergießt. Nicht immer leider wird die
unmerkliche und geſunde Ableitung der polariſchen Spannung,
in den verſchiedenen Gebieten des Nervenſyſtems in ſolcher
leichten und lieblichen Weiſe wieder hergeſtellt, als bei dem
berühmten neapolitaniſchen Gelehrten Fabius Columna.
Diefer litt in feiner Jugend an heftigen epileptiſchen Anfal⸗
len, welche der Kunſt der damals berühmteſten Aerzte ſeines
Vaterlandes nicht weichen wollten. Da beſchloß er, der mit
den Schriften der alten Griechen und Römer ſehr vertraut
war, zu der Weisheit dieſer Alten ſeine Zuflucht zu nehmen;
er forſchte in den Werkern ihrer Aerzte und Naturforſcher
nach der Angabe eines Heilmittels gegen ſein beunruhi—
gendes Leiden. Einige Gebirgskräuter waren darin als hülf—
reich empfohlen, ſie waren genannt und beſchrieben, aber kei—
ner der damals in Italien lebenden Aerzte konnte eine ſichre
Auskunft über ſie geben. Da machte er ſich ſelber auf in
die Gebirgsgegenden ſeines Vaterlandes, er ſuchte und forſchte
und fand die Pflanzen auf, deren Geſtalt und Eigenſchaften
der Beſchreibung in den Schriften der Alten entſprachen.
Mehr noch als der Gebrauch derſelben mochte jedoch zu der Heiz
lung von ſeiner Krankheit die anhaltende äußere Bewegung
in der freien Luft und die innre, freudige Aufregung beige—
tragen haben, weiche ihm aus der Erkenntniß und Betrach—
tung der ſchönen Pflanzenwelt kam. Denn er verwendete
jetzt alle die Zeit, welche ihm von feinen Studien der Rechts⸗
gelehrſamkeit und von der ehrenvollen Ausübung dieſes Be—
rufes übrig blieb, auf den Umgang mit der Natur und vor al⸗
lem mit dem Pflanzenreich und dieſer Umgang wurde für ihn
eine unverſiegbare Quelle von Erquickung und Vergnügen,
ein Mittel ſelbſt der Lebensverlängerung. Denn als er im
J. 1640 ſtarb, da hatte er bei einer faſt bis zum Ende ſich
gleichbleibenden Munterkeit des Geiſtes, ein Alter von 73
Jahren erreicht, er, der ſchon als 18 jähriger Jüngling, am
Rande des Grabes zu ſchweben ſchien.
45. Magnetismus und Elektrizität als Formen
der weſentlich einen polariſchen Spannung.
Man hat die Erſcheinungen, von denen wir hier zu re—
398
den gedenken, unter dem Namen des Elektromagnetis⸗
mus zuſammengefaßt, womit man jene Einigung der elektri⸗
ſchen mit der magnetiſchen Naturkraft andeuten wollte, die ſich
darin unmittelbar durch Beachtung nachweiſen läſſet.
Schon bei einer andren Gelegenheit, als wir von den
mächtigen Wirkungen des Blitzes fprachen, erwähnten wir fol
cher Fälle, aus denen es deutlich wird, daß die Elektrizität
in dem Eiſen, dem ſie ſich mittheilt, zur magnetiſchen Kraft
werden könne. Auf jenem Schiffe, in welches wegen der
unvollkommenen Einrichtung des Wetterableiters der Blitz
einſchlug, wurden alle eiſernen Meſſer und Gabeln magne—
tiſch; von den Magnetnadeln die ſich darauf fanden, hatten
einige eine verſtärkte magnetiſche Kraft erhalten, bei andren
war dagegen dieſe Kraft geſchwächt, ja bei etlichen ganz ver—
nichtet worden. Das, was hierbei die hochgeſteigerte atmo—
ſphäriſche Elektrizität that, das leiſtet unter andren Umſtan—
den auch die Elektrizität der geriebenen Körper, ſo wie die
der Voltaiſchen Säule. Ein kleiner Stab von Eiſen oder
Stahl wird alsbald magnetiſch, wenn man einen elektriſchen
Strom ſchief, noch mehr wenn man denſelben rechtwinklich über
den Eiſenſtab hinleitet. Während man jedoch die magneti—
ſche Polariſation dadurch Funftlich hervorruft, daß man mit
einem kräftigen Magnet der Länge nach und immer in der—
ſelben Richtung über einen Stab von Eiſen oder Stahl hin—
ſtreicht, kann man auch einer Magnetnadel dadurch ihre Kraft
benehmen, daß man die Entladung einer ſtarken elektriſchen
Batterie durch ſie hindurchſchlagen läſſet, wobei allem An—
ſcheine nach die Richtung, welche der elektriſche Schlag durch
die Nadel nimmt, von weſentlichem Einfluß iſt. Das Eine
ſeyn des Weſens der Polarifation in ihrer magnetifchen wie
elektriſchen Form wird übrigens auch darinnen erkannt, daß
die Polardrähte einer Voltaiſchen Säule, ſelbſt dann, wenn ſie aus
einem Stoffe beſtehen, welcher für die Mittheilung des Mag⸗
netismus unter andern Umſtänden ganz unempfanglich erſcheint,
ohne Unterſchied, gleich einem Magnet, Eifen anziehen, und
mit dem Staube der Eiſenfeilſpähne, hierin etwas verſchieden
von der Wirkſamkeit der eigentlichen Magnete, ihrer ganzen
Länge nach ſich überziehen. Uebrigens dauert dieſe magne—
tiſche Eigenſchaft nur fo lange als der elektriſche Strom wäh-
ret und nimmt mit dieſem zugleich ihr Ende.
Die vorhin erwähnte Erfahrung, nach welcher ein klei⸗
399
ner Stab von Eiſen oder Stahl magnetiſch wird, wenn man einen
elektriſchen Strom der Queere nach uber ihn hinleitet, und zugleich
jene daß die magnetiſche Kraft immer höher geſteigert werde,
je mehr ſolche Ströme zugleich über den Eiſenſtab hinſtrei—
chen, hat zu einem andren ſehr erfolgreichen Verſuche Veran—
laſſung gegeben. Man hat ein noch unmagnetiſches Eiſen,
dem man Stab⸗ oder Hufeiſenform gab, mit einem Draht,
etwa von Kupfer, ſo umwickelt, daß die elektriſchen Strömungen,
welche man von den Polarenden einer Voltaiſchen Säule
aus durch den Draht leitete, ſämmtlich ihre Richtung queer
über das Eiſen nahmen. Damit ſich aber die elektriſche
Spannung als ſolche vom Drahte aus dem Eiſen, als einem
gleich guten Leiter nicht mittheilen könnte, wurde entweder das
Eiſen oder der Draht überfirnißt oder mit Seide, mit Woll—
band und andren iſolirenden Subſtanzen überzogen, ja ſelbſt
der Draht in feinen ſchraubenformigen Windungen um eine
Glasröhre herumgeführt, in deſſen Innrem das zu magneti—
ſirende Eiſen enthalten war. Denn die Wirkſamkeit der mag—
netiſchen Polarität unterſcheidet ſich darin augenfällig von
der elektriſchen, daß ſie durch alle jene Körper, welche ſich
gegen die elektriſche Kraft iſolirend und hemmend verhalten,
faſt ſo ungehindert hindurch wirkt, als wären dieſelben nicht
vorhanden und nur bei dem Hindurchgehen durch Eiſenplat—
ten eine bemerkbare Schwächung erleidet. Während deshalb
die iſolirende Vorrichtung den Einfluß der Strömung in fei-
ner elektriſchen Form von dem Eiſen abhält, verſtattet ſie
demſelben in ſeiner magnetiſchen Form einen ungehemmten
Zutritt und giebt hierdurch ein Mittel an die Hand, die
magnetiſche Wirkſamkeit des Eiſens zu einer Höhe zu ſtei—
gern, welche die Kraft der natürlichen oder der in gewöhnli—
cher Weiſe künſtlich bereiteten Magnete niemals erreicht hat.
Denn obgleich auch im Gebiete des Magnetismus die verhält—
nißmäßig bedeutendere Macht des Kleinen darinnen erkannt
wird, daß Magnete von nur etlichen Gran Gewicht ein
vierzigmal größres Gewicht (einer von 7 Gran 1 ½ Loth)
tragen und daß dieſe Kraft durch Armirung ihrer Pole mit
flachen, in dicke Enden auslaufenden Stücken Eiſen noch viel—
fach vermehrt werden kann, fo hat man doch bei größeren
Magneten, deren Gewicht ein Pfund und darüber beträgt,
die Wirkſamkeit nur ſelten höher, als zum Tragen eines
zehnfachen Gewichtes zu ſteigern vermocht. Ja die Trag⸗
400
kraft des größeſten bekannten Magnetes, der fich im Tey⸗
ler'ſchen Muſeum befindet, kommt nicht einmal dem eigenen
Gewicht deſſelben gleich, denn dieſes beträgt mit der Arma⸗
tur 307 Pfund und das Gewicht, das man an den Haken
ſeines Ankers hängt, darf 230 Pfund nicht überſteigen. Da⸗
gegen hat man einem hufförmig gebogenen Eiſenſtabe, wel—
(her 59½ Pfund wog, durch die elektriſche Strömung mit⸗
telſt eines ſchraubenformig um ihn herumlaufenden Metall⸗
drahtes eine Tragkraft von 2963 Pfund mitgetheilt, ein
andres, zu gleichem Verſuch angewendetes, plattenförmiges
Stück Eiſen, welches 16 Pfund wog, trug 2500 Pfund,
ein Hohlcylinder von Eiſen, 8 Zoll lang, von mehreren iſo—
lirten Drähten umwickelt, welche ihre Strömungen leiteten,
hielt 2775 Pfund. Die Stärke der magnetiſchen Wirkſam⸗
keit, die in ſolcher Weiſe dem Eiſen mitgetheilt wird, hängt
ganz von der Stärke der elektriſchen Strömungen ab und
von der Menge dieſer Strömungen (Drahtwindungen), welche
queer über das Metall oder über die Glasröhre hingehen, in
welcher die Magnetnadel enthalten iſt. Die Polariſation des
Eiſens zeigt ſich erſt in ihrer ganzen Stärke, wenn die elek⸗
triſche Strömung einige Zeit gedauert hat, ſie nimmt aber
ſogleich wieder ab, wenn jener Einfluß aufhört und verliert
ſich in den meiſten Fällen nach einiger Zeit gänzlich. Ohne⸗
hin iſt nicht das geſtahlte Eiſen, das den Magnetismus am
längſten feſthält, ſondern das weiche Eiſen, das Gußeiſen,
für die Mittheilung und möglichſt hohe Steigerung der elek—
tromagnetiſchen Kraft am empfänglichſten. Doch läßt ſich
die Kraft des elektromagnetiſchen Eiſens, während der Anz
dauer ſeiner Polariſation, zum Magnetiſiren von Stahl durch
Streichen anwenden und namentlich empfängt ein Stahlſtab,
wenn man ihn in glühendem Zuſtand mit jedem Ende an
den Pol eines ftarfen Elektromagnetes anlegt und in dieſer
Lage ihn ablöſcht, eine ſehr bedeutende magnetiſche Kraft.
Eine weitere Betrachtung des Einfluſſes jener Drehun⸗
gen, welche der gewundene Draht um den Eiſenſtab oder
die Nadel macht, hat indeß noch zu weitren Aufſchlüſſen
über das Zuſammenwirken der Elektrizität und des Magne⸗
tismus geführt. Die Lage der magnetiſchen Pole bleibt bei
einer Verſchiedenheit der Richtung, welche die Windungen
des Strömungsdrahtes nehmen, nicht dieſelbe; bei einer von
Rechts zu Links verlaufenden Nichtung der een
jenes
401
jenes Ende des Eiſenſtabes die ſüdpolariſche Spannung, das
bei der von Links zu Rechts gehenden Windung des Drah—
tes nordpolariſch wird. Ein geiſtvoller Naturforſcher unſrer
Zeit, Schweigger, hat aber, noch einen Schritt weiter
gehend, die Drehungen der elektriſchen Ströme um den Mag—
net auch in einer tieferen Beziehung erfaßt. Er hat durch
eine ſinnreich erfundene Vorrichtung es vor Augen gelegt,
daß eine frei ſchwebende Magnetnadel, durch welche eine elek—
triſche Strömung geleitet wird, um den Pol eines in ihre
Nähe gebrachten Magnetes eine wirklich kreisförmige Bewe—
gung mache. Auf einem andren Wege der Verſuche iſt es gelungen
auch eine kreisförmige Bewegung des Magnetes um einen in
der Mitte des Kreiſes liegenden Leitungsdraht der elektriſchen
Strömung zur Anſchauung zu bringen. Zu dieſem Verſuch
hat man kleine, dabei aber kräftig wirkſame Magnetſtabe
angewendet, welche man in ein mit Queckſilber gefülltes Ger
fäß brachte, in deſſen Mitte die beiden Enden der Polar—
drähte eines elektriſchen Apparates ihre Strömungen verein—
ten. Die ſtählernen Magnetſtäbe würden für ſich allein auf
dem doppelt ſo ſchweren Queckſilber ſchwimmen, wie Holz
auf Waſſer, man hängt deshalb an eines ihrer Enden ein
Stückchen Platinametall, welche 1½ mal ſo ſchwer iſt als
Queckſilber und bewirkt auf dieſe Weiſe was man bewirken
wollte: die Metallſtäbchen ſchwimmen, wie ein an dem einen
Ende mit Blei beſchwertes Stück Holz im Waſſer, ſenkrecht
ſtehend im Queckſilber. Und in dieſer Stellung, das Feſte
im leicht trennbaren Flüſſigen ſchwebend, ſieht man die Mag⸗
nete alsbald eine kreisformige Bahn um den Punkt beſchrei⸗
ben, an welchem die Ströme der elektriſchen Wirkſamkeit ſich
concentriren. Und nicht nur die Magnetſtäbe um den Mit⸗—
telpunkt einer kräftigen elektriſchen Entladung, ſelbſt das
ſchwere Queckſilber wird in eine kreisförmig bahnende, wel—
lenartige Bewegung geſetzt, wenn man in ein Gefäß, das
mit dieſem flüſſigen Metall gefüllt iſt, die Polarenden einer
kräftig wirkenden Voltaiſchen Säule in einiger Entfernung
von einander einſenkt und dann einen ſtarken Magnet in der
Mitte zwiſchen den Entladungspunkten der Polardrähte oder
in der Nähe des einen dieſer Punkte über das Queckſilber
hinhält. Alsbald entſtehen im Queckſilber oder in augen-
fälligerer Weiſe in dem mit ein wenig Säure vermiſchten
Waſſer, das man auf ſeine Oberfläche A hat, um
2
402
die beiden Enden der elektriſchen Polardrähte herum, Bewe⸗
gungen nach entgegengeſetzter Richtung, die eine von der
Linken zur Rechten, die andre umgekehrt, von der Rechten
zur Linken. Hatte man zuerſt den Nordpol eines ſtarken
Magnetes an die Oberfläche des Queckſilbers gebracht und
man wendet nun zu demſelben Zwecke den Südpol an, dann
tritt auf einmal die entgegengeſetzte Richtung der Strömun⸗
gen ein: der welcher vorhin von der Rechten zur Linken
gieng, nimmt jetzt ſeinen Lauf von der Linken zur Rechten,
und umgekehrt. Dieſelbe Veränderung des Bewegens tritt
ein, wenn man den Magnet, ſtatt wie vorhin von oben, ſo
jetzt von unten dem Gefäß mit Queckſilber und den beiden
Ausgängen der elektriſchen Entladung nahet.
Dieſe Erſcheinungen laſſen uns im Kleinen und gleich
wie in einem Spiegel das Abbild eines Werkes, einer That
des Schöpfers ſehen, deren offenkundiges Geheimniß in
Schriftzügen, die aus leuchtenden Sternen gebildet ſind, am
Himmel ſtehet. Da droben unter dieſen leuchtenden Welten
iſt nirgends ein Stillſtand, alle, wie der Gang eines leben⸗
den Menſchen, nach ſeinem Ziele, ſind ſie in Bewegung. Und
es iſt freilich nur ein und dieſelbe Kraft des Lebens, die
den Schritt eines gehenden Menſchen beflügelt; aber dieſe
Kraft tritt dabei in zwei Momenten oder Formen auf: der
fortſchreitende Fuß wird jetzt durch die Anregung des Lebens
emporgehoben und ſinkt dann, dem Geſetz der Hinneigung
nach dem Alles tragenden Mittelpunkt folgend, wieder nie⸗
der. So wirkt auch, wie wir ſpäter noch weiter erwägen
wollen, bei den Bewegungen des Mondes um ſeine Erde,
der Planeten um ihre Sonne, ja aller Sonnen, wir wiſſen
nicht, um welchen geheimnißvollen Ziel und Mittelpunkt ein
und dieſelbe Kraft in einer zweifachen Form und Richtung,
davon die eine nach der Gemeinſchaft mit dem leiblich tra⸗
genden Mittelpunkt, die andre aber nach dem eigenthümlichen
Verkehr, der nach ſeinem Maaße jedem Dinge verliehen iſt,
mit dem die Mitte wie ſeine Enden umfaſſenden Urſprung
alles Seyns und Bewegens hingewendet iſt.
46. Der elektriſche Telegraph.
Es iſt freilich eine anſcheinend ſeltſame Anordnung, nach
welcher wir hier, etwa an die Beſchreibung der Elektrizität der
3
*
403
Fiſche die Erwähnung eines Mittels anreihen, das in unſren
Tagen die Phyſik erfunden hat, um die Gedanken einer
Menſchenſeele einer andren in weiter Ferne wohnenden Men⸗
ſchenſeele in einer Schnelligkeit mitzutheilen, welche man faſt
mit der Schnelligkeit der Gedanken vergleichen kann. Eini⸗
15 läßt ſich indeß dennoch zu Gunſten jener Anordnung an⸗
führen.
Wenn der elektriſche Fiſch, wie etwa der Zitteraal, ein
andres Thier, das in ſeinem Gewäſſer lebt oder in daſſelbe
hineinkommt, tödten oder betäuben will, dann hat er nicht
nöthig, daſſelbe mit den gewöhnlichen Waffen andrer Fiſche,
mit dem Gebiß zu packen, ja er braucht daſſelbe weder zu
berühren, noch auch nur in großer Nähe zu haben, ſondern
dabei nur der unſichtbaren, gleich wie zauberhaften Kraft ſei⸗
ner elektriſchen Spannung ſich zu bedienen, um mit der
1 des Blitzes ſeinen thieriſchen Willen in That zu
etzen. 5
Was dem Thiere durch eine beſondre Zuſammenſtellung
feiner Nerven mit den häutig⸗-ſennigen Behältniſſen verlie⸗
hen iſt, in denen eine leicht zerſetzbare Flüſſigkeit ſich befin⸗
det, das hat der Menſch in einer ungleich höheren, vielſei⸗
tigeren Weiſe durch den denkenden Geiſt empfangen, in def
ſen Kraft er ein Herrſcher über ſich ſelber und über die ganze
ihn umgebende Sichtbarkeit geworden iſt. Nicht nur durch
das hörbare Wort, ſondern auch durch das ſichtbar gemachte
Zeichen dieſes Wortes vermag der Menſch die Regungen ſei⸗
nes Willens, feiner Gefühle, wie das Licht ſeines Erfen-
nens auf andre lebende und verſtehende Weſen überzutra⸗
gen: Er bewegt und lenkt durch ſein Wort den abgerichte⸗
ten Hund wie das ſchnelle Roß und den mächtigen Elephan⸗
ten; ſeine Rede, in der Form der Buchſtaben, ſpricht, als
ob er gegenwärtig bei dieſem ſtünde, zu einem in fernem
Welttheil wohnenden Menſchen, ſpricht noch dann, wenn
ſein Leib ſchon ſeit Jahrhunderten zur Aſche geworden iſt,
zu einem noch lebenden Geſchlecht der Menſchen.
Den entfernt Wohnenden ſich ſchnell, beſonders in Zei⸗
ten der Noth mitzutheilen, das hat man ſchon in älterer
Zeit durch die Feuerſignale verſtanden. Wenn indeß von
einem Hügel zum andren, über einen ganzen Landſtrich hin⸗
über, die Flammen der Nothfeuer ſich erhuben, da konnten
dieſe, denen die ſie ſahen, nichts Wee verkünden über
2
404
den Grund, aus dem man ſie angefacht hatte; man erfuhr
durch ſie nur im Allgemeinen, daß etwa dem Land und ſei⸗
nem Volke oder auch nur den Bewohnern einer einzelnen
Gegend eine große Noth zugeſtoßen ſey. Deßhalb leiſteten
die Telegraphen, davon wohl die Meiſten von uns einen in
Natur oder in Abbildungen geſehen haben, ſchon ungleich
mehr, indem fie durch die verſchiedenen Stellungen der Glie⸗
derſtücke und Klappen ihrer Maſchinerie verſchiedene Buch⸗
ſtaben, Silben und ganze Worte ausdrückten und ſo eine
förmliche Unterredung zwiſchen Menſchen möglich machten,
welche durch ein Heer der Feinde oder andre unüberwindliche
Hinderniſſe von einander getrennt waren. Noch dazu beruhte
die Sprache, welche die Telegraphen vor den Augen der
Feinde oder vor Tauſenden der Neugierigen von einem
Thurme zum andren mit einander redeten, auf einer Ueber⸗
einkunft derer, welche ſich Mittheilungen durch dieſelbe zu
machen hatten; nur ihnen war ſie verſtändlich; Andre, denen
der Schlüſſel zu ihrer Deutung fehlte, erriethen ſchwerlich
den Sinn der ſchnell wechslenden Stellungen der Maſchine.
Dieſe gewöhnlichen Telegraphen kamen zuerſt in Spa⸗
nien und Frankreich in einen allgemeinen Gebrauch; die erſte
eigentliche Telegraphenpoſt wurde (durch Herrn Chappe) von
Paris nach Lille, auf eine Entfernung von 30 Meilen an⸗
gelegt und beſtund aus 12 Telegraphen. Der Einrichtung
dieſer Telegraphenlinie folgte bald die vieler andrer in und
auſſer Frankreich. Der Vortheil, den dieſelben zur ſchnellen
Weiterbeförderung von Nachrichten darboten, war unver—
kennbar: die Eroberung von Quesnay wurde mittelſt der
Telegraphenpoſt ſchon in einer Stunde in Paris bekannt und
bei der jetzigen noch ungleich beſſeren Einrichtung der Tele—
graphen würde vielleicht nur die halbe Zeit dazu nöthig ſeyn,
um aus gleicher Entfernung eine ſolche Kunde zu empfan-
gen. Auch bei Nacht war in möglichſter Weiſe durch Be—
leuchtung des Telegraphen, oder dadurch für die fortwahren-
de Wirkſamkeit deſſelben geſorgt, daß man Laternen in ge⸗
wiſſer Zahl und Stellung, ſo wie in abwechslender Dämpfung
oder Steigerung ihres Lichtes für die Zeichenſprache benützte.
Es leuchtet übrigens von ſelber ein, wie oft das Eintreten
von dichtem Nebel, heftigem Gußregen und Stürmen den
Gang der Telegraphenpoſten unterbrechen mußte und wie
leicht auf einer der vielen Zwiſchenſtationen ſich ein Verſe⸗
405
hen einſchleichen konnte, deſſen Folgen ſich durch alle Glieder
bis zum Ziele hin fortſetzten.
Wie ganz anders iſt dagegen die Wirkſamkeit jener Te⸗
legraphen, welche wir hier betrachten wollen. Durch ihre
Anwendung iſt das als unmöglichſt Erſcheinende möglich ge—
worden; zwei Menſchen, welche fünfzig ja mehrere Hunderte
von Meilen von einander entfernt wohnen, können ſich irgend
eine Nachricht, einen Gedanken, nicht, wie auf dem Wege
der gewöhnlichen Telegraphenpoſten in Zeit von einer Stun—
de oder halben Stunde, ſondern augenblicklich, als wenn ſie
an einem Tiſche beiſammen ſäßen in der Wortſprache mit-
theilen, ja, wenn eine Verbindung durch Kupſerdrähte zwi:
ſchen St. Petersburg und Peking hergeſtellt und der Kraft—
verluſt der dem elektriſchen Strome auf ſolchen Weg zuſtie—
ße, vollkommen vermieden werden könnte, dann wuͤrde der
Sprechende in Chinas Hauptſtadt nach etwa anderthalb Ter—
tien ſchon und ſelbſt ein Bewohner des Mondes, wenn unſre
elektromagnetiſche Strömung bis dorthin geleitet werden könn⸗
te, würde noch vor Ablauf einer Secunde von der Erde aus
Kunde empfangen, denn die Mittheilung der Gedanken auf
dem Wege der elektriſchen Leitung iſt ſchneller als das Licht;
die elektriſche Strömung durch einen Kupferdraht durchläuft
in einer Secunde gegen 72,000, der Lichtſtrahl nur 41,518
Meilen. Aber auſſer der Alles überflügelnden Schnelligkeit,
hat eine ſolche Mittheilung der Gedanken durch elektriſche
Strömung noch ganz andre Vorzüge vor der Mittheilung
durch telegraphiſche Poſten. Das, was der Sprecher dem
weit entfernt wohnenden Hörer ſagen will, wird nicht durch
Tauſende von Augen geſehen, ſondern erſt an dem Orte,
für den die Rede beſtimmt war, giebt es ſich dem Andren
kund; der Lauf den das Menſchenwort in der unſichtbaren
Form einer elektriſchen Entladung nimmt, gehet tief unter
der Erde verborgen, oder in der Metallmaſſe des Kupfer—
drahtes hoch über die Dächer hin. Dort aber, wo es bei
ſeinem Ziele ankommt, macht es ſich nicht nur wie das ge—
wöhnliche telegraphiſche Zeichen dem Auge, ſondern auch dem
Ohre vernehmlich. Der Freund, mit welchem ein Andrer,
in ſtiller, nächtlicher Stunde zu reden hat, ſitzt vielleicht in
Gedanken vertieft an ſeinem Schreibtiſche, oder er hat ſich
ſchon dem Schlummer hingegeben, da weckt ihn der Ton
eines Glöckchens; er horcht auf, die Töne, jetzt des tiefer,
406
dann des höher geſtimmten Glöckchens wiederholen ſich, die
Zahl der Glockenſchläge und die Verſchiedenheit ihrer Töne
hat Etwas zu bedeuten; erſt ein tiefer, dann ſchnell darauf
ein hoher, dann wieder ein tiefer Ton bedeutet ein A, ein
tiefer, dann gleich darauf 2 hohe und wieder ein tiefer das
B, ein tiefer, dann in gleichem Moment kein hoher, oder ein
hoher, dem kein tiefer folgt, bedeuten, jener das E, dieſer
das J; drei tiefe, gleich hinter einander das O. Und ſo iſt
jeder Buchſtabe durch eine gewiſſe Aahl und durch die ſchnelle
Aufeinanderfolge der höheren und tieferen Töne vollkommen
genau bezeichnet. Zwiſchen jedem Buchſtaben tritt eine klei⸗
ne, zwiſchen den Worten eine größere Pauſe ein. So
ſchnell als ein fähiges Kind die Worte durch Buchſtabieren
auffinden kann, wird es, durch Uebung möglich die Wort⸗
ſprache der Glöckchen zu verſtehen.
Aber, wir nehmen an, der Freund an den die Rede des
entfernt wohnenden Freundes gerichtet war, ſey bei dem er⸗
ſten Anſchlag des Glöckchens nicht erwacht, er habe einen
Theil deſſen das dieſer zu ihm ſprach, oder das Ganze über⸗
hört? Auch dann iſt nichts Weſentliches für ihn verſäumt;
er findet, wenn er mit dem Licht nach dem Tiſche hintritt,
auf welchem ſein elektriſcher Telegraph ſeine Zauberkünſte
verrichtet, oder auch dann, wenn er erſt am lichten Morgen
dahin kommt, Alles das, war er überhört hatte, in ſichtba⸗
rer Weiſe verzeichnet; er findet einen Brief der zwar nicht
in eigentlichen Buchſtaben, wohl aber in Punkten geſchrieben
iſt, deren höhere oder tiefere Stellung (entſprechend den vers
ſchiedenen Tönen der Glöckchen) und Zuſammenordnung die
einzelnen Buchſtaben alsbald erkennen, und durch die gleich
den Tonpauſen zwiſchen fie tretenden Intervallen, von eins
ander unterſcheiden läſſet. |
Es bedarf nicht der Erinnerung, daß weder Sturm
noch Regen, weder Nebel noch lichter Sonnenſchein einen
bedeutenden Unterſchied in der Leichtigkeit der Mittheilung
bewirke. Ja, noch etwas Andres ſteht in der Macht der
Sprecher, welche durch elektriſche Strömung ihre Gedanken
ſich mittheilen wollen. Es kann von dem einen Orte aus
durch verſchiedene Drähte eine Leitung und Verbindung mög⸗
lich gemacht ſeyn, nach ſehr verſchiedenen Punkten hin, da⸗
von der eine nur 2 Meilen, der andre 5, ein dritter 8 Mei⸗
len weit gegen Oſt, noch andre vielleicht in Süd oder in
Weſt gelegen find. Der Sprecher will jetzt Dem der 5 Mei⸗
len weit in Oſten wohnt eine Mittheilung machen, welche
den 2 ſo wie den 8 Meilen Entfernten, welche die in Süd
und Weſt verweilenden telegraphiſchen Correſpondenten Nichts
angeht, und er darf nur die Leitung nach dem hiezu be⸗
ſtimmten Drahte hingehen laſſen, während er die nach den
andren abſperrt, dann hat er ſeinen Zweck erreicht; eben ſo
wie ein Freund in leiblicher Gegenwart einen andren Freund
auf ſeinem Zimmer beſuchen, und mit dieſem ein vertrautes
Geſpräch halten kann, von welchem die andren, nahen oder
fernen Bewohner der Stadt Nichts hören, ſo vermag der
Redner durch den elektriſchen Strom nach dem 5 Meilen
weit entlegenen Wohnort eines telegraphiſchen Zuhörers ſeine
Anrede hinzurichten, ohne daß auf all den andren mit
ihm verbundenen Stationen ein Glöckchen ertönt oder ein
ſichtbarer Punkt auf das Papier ſich zeichnet. |
Man wird fragen, ob und wie eine ſolche vielſeitige
Aufgabe gelöſt worden ſey? Sie iſt vollſtändig gelöſt wor⸗
den durch C. A. v. Steinheil in München, deſſen ſinnreiche
telegraphiſche Vorrichtung die Bewunderung der Einheimi⸗
ſchen ſo wie vieler durchreiſenden Fremden erregt hat. Das
Mittel wodurch die ganze vielſeitige Thätigkeit des Telegra⸗
phen hervorgerufen und im Gang erhalten wird, iſt ein
höchſt einfaches, zugleich aber auch auſſerordentlich mächtiges.
Es gründet ſich ganz auf die vorhin erwähnte Ablenkung einer
Magnetnadel oder eines Magnetſtabes von ihrer, dem Zuge
des Erdmagnetismus folgenden Richtung, wenn die elektro⸗
magnetiſche Strömung eines ſchraubenförmig mit Kupferdraht
umwundenen (hufeiſenförmigen) Magnetes darauf einwirkt.
Die Bewegung iſt verſchieden, je nachdem die Strömung
des einen oder des andren Poles nach den Magnetſtäben
hingeleitet wird; ſie geſchieht in dem einen Falle von der
Linken zur Rechten, im andren von der Rechten zur Linken,
und dieſes Bewegen iſt um ſo raſcher und kräftiger, je ſtär⸗
ker die Wirkſamkeit des elektromagnetiſchen Apparates ſich
erweiſt und je ſchneller und plötzlicher man durch die Dre—
hungen der Maſchine die Entladungen entſtehen und abbre⸗
chen ſo wie wechslen läſſet. Wenn die Strömung von dem
Punkte an, wo ſich ihre Entladung endet, den längeren
oder kürzeren Raum durchlaufen hat, dann ſetzt ſie die En⸗
den der Magnetſtäbchen in eine raſche und kräftige, nach
408
der einen oder andren Richtung gehende Schwingung; bei
ſolcher Gelegenheit ſchlagen die Magnetſtäbe an kleine Glas-
oder Metalldrahtglocken und bewirken hierdurch den hörbaren
Ton, fo wie das Bewegen eines kleinen Gefäßchens, das mit dunk⸗
ler Oelfarbe gefüllt iſt und in ein röhrenförmiges Schnäbelchen
endigt. Vermöge der Anziehung der Wände dieſes Röhrchens
dringt ohne Aufhören ein Tröpflein der Farbe bis zu ſeiner
Mündung vor. Ein Streifen Papier, mit Linien, zur Un⸗
terſcheidung der höheren und tieferen Töne verſehen, wird
außen, am Rande der Vorrichtung, vermittelſt eines Uhr—
werkes in einer beſtändigen, von einem Cylinder auf den
andren ſich auf und abwickelnden Bewegung erhalten, welche
dem Bewegen des kleinen Schreibezeuges, das am Ende der
Magnetſtäbe befeſtigt ift, fo entgegen kommt, daß jedesmal
der Stab, deſſen bewegtes Ende uber den Saum der Vor—
richtung heraustritt, mit ſeinem färbenden Röhrchen einen
ſchwarzen Punkt auf das Papier, je nach der Richtung der
Bewegung und der Stelle der Hinabneigung jetzt höher dann
tiefer aufträgt.
Im Ganzen nach denſelben Grundſätzen errichtet, ſind
jene elektriſchen Telegraphen, welche London mit Windſor
und Southampton verbinden und eine augenblickliche Mit—
theilung von dem einen dieſer Orte nach dem andren hin
möglich machen. Nicht bloß Drähte, zu deren Zweck der
Leitung Kupfer ſich am meiſten eignet, ſondern auch die
Schienen der Eiſenbahnen, welche ſchon jetzt einen Theil der
Länder nach weiter Ferne hin durchziehen, ja ſelbſt hin und
wieder, mittelſt großer, an den abbrechenden Enden der me—
tallenen Leiter angebrachten Metallflächen, das Erdreich oder
das Waſſer, können vielleicht für den Verkehr der elektriſchen
Telegraphen benutzt werden, ſo daß der Weg dieſer Mit—
theilung nach allen Richtungen hin ſich einſchlagen ließe.
In ſolchen Erſcheinungen, wie das Bewegen der elektri—
ſchen Ströme und des Lichtes, welche der Geiſt des Men—
ſchen in ſeinen Dienſt zu nehmen und nach Willkühr zu lei—
ten vermag, wird uns, wenn auch nur in vorbildlicher Weiſe
jener Unterſchied anſchaulich, der ſich zwiſchen der Macht
und Wirkſamkeit des Geiſtes und jener des Leibes findet.
Die Elektrizität wie das Licht, ſo faſt unermeßlich auch ihre
den Raum durchdringende Kraft iſt, gehören zwar beide
noch immerhin der Leiblichkeit an und dennoch iſt die Ent⸗
409
fernung für fie faft gar nicht mehr vorhanden, die Beſchrän—
kung durch Zeitverluſt iſt faſt ganz aufgehoben; der Rap—
port, wenn auch nur durch die leibliche Vermittlung des
metallenen Leiters hergeſtellt, iſt ein wahrhaft wundervoll na—
her und inniger. Was mag erſt jener verbindende Zug der
Seelen ſeyn, welcher keine Vermittlung mehr durch das Kör—
perliche bedarf, ſondern unmittelbar durch ein allvereinendes
geiſtiges Element von einer der Körperlichkeit entbundenen
Seele zur andren geht! Kann ſchon der Lenker und Meiſter
eines elektriſchen Telegraphen nach Willkühr feine Zuſprache
jetzt nach dieſem, dann nach einem andren Freunde hinrich⸗
ten, mit ſeinem Denken und Wollen bei dieſem gegenwärtig
ſeyn, obgleich er durch die Laſt ſeines Leibes an einen and—
ren, räumlich fernen Ort gebunden iſt, was wird erſt dann.
möglich ſeyn, wenn dieſe Feſtgebundenheit an die Gränzen
des planetariſchen Raumes mit dem Leibe aus Erde zugleich
hinwegfällt. |
47. Die Bedeutung der Wärme für Magnetis—
mus und für Elektrizität. |
Auf dem bisherigen Wege unſrer Betrachtungen über
das Weſen und die Eigenſchaften der Wärme ergieng es
uns wie Reiſenden, die in der geraden Richtung nach einem
beſtimmten Ziele jetzt durch dieſe Landſchaft oder Stadt, dann
durch eine andre kommen und die an manchen dieſer Punkte
verweilend der Betrachtung der Merkwürdigkeiten zur Rech—
ten und zur Linken ſich hingeben. Auf diefe Weiſe haben
wir uns, obgleich nur als Vorübergehende mit dem Gebiet
der elektriſchen, wie der elektromagnetiſchen Erſcheinungen
beſchäftiget und auch hier verweilen wir wieder auf einige
Augenblicke bei den undeutlichen Inſchriften einer Stunden—
ſäule, die uns zwar über die Entfernung, die wir noch zu
unſrem Ziele zu durchlaufen haben, nicht aber darüber in
Ungewißheit laſſen, daß wir noch immer auf dem rechten,
geraden Wege ſind.
Für die Wirkſamkeit der magnetiſchen Polarität zeigt
ſich die Wärme zunächſt nicht begünſtigend. Die Beobach—
tung zeigt es, daß die Tragkraft und mithin die Stärke der
Polariſation unſrer gewöhnlichen Magnete, ſchon bei einer
Temperatur der heißen Sommertage, wenn dieſelbe etwa in
410
unſren nach Weſt oder Südweſt gelegenen Dachkammern bis
auf 32 Grad Réaumur und darüber ſich ſteigert, augenfäl⸗
lig vermindert werde, noch mehr da, wo ſie, wie in den
Trockenſtuben 40 Grad erreicht. Das Gewicht das man an
den Anker eines künſtlichen Magneten gehangen hatte und
welches derſelbe bei gewöhnlicher Temperatur ganz gut zu
tragen vermochte, fällt dann plötzlich herab. So weiß man
auch, daß ſelbſt der kräftigſte Magnetſtab durch abwechslen⸗
des Eintauchen in ſiedendes Waſſer und darauf ſolgendes
Abkühlen allmählich, durch ein Erhitzen aber bis zum Glü⸗
hen plötzlich ſeine ganze anziehende und abſtoßende Kraft
verliere und zugleich mit dieſer ſeine nach den Erdpolen ſich
hinlenkende und von ihnen unter einem feſtſtehenden Verlauf
der Zeiten ſich entfernende, fo wie wieder nähernde Bewe⸗
gung. Zwar auch ein ſehr hoher Grad der Kälte ſoll den
Magnetismus ſchwächen, doch hält dieſe Schwächung keines⸗
weges der durch die Hitze das Gleichgewicht. Das Licht da—
gegen ſcheint nach mehreren Beobachtungen die magnetiſche
Polariſation zu verſtärken und vor Allem wird dieſer begün—
ſtigende Einfluß dem violetten Strahle des Prismas zuge—
ſchrieben. Ä
Daß die elektriſche Spannung in den hierzu befähigten
Körpern durch die Wärme angeregt und verſtärkt werde, da
von war ſchon früher im Allgemeinen die Rede, ſo daß wir
hier die Thatſache nur noch durch einige beſondre Beiſpiele
erläutern wollen, welche uns die elektriſch magnetiſche Wirk⸗
ſamkeit mancher kryſtalliſirten Steine und vor Allem der Me—
talle an die Hand giebt.
Vom Turmalin wußten es die Beobachter der Natur
ſchon in alter Zeit, daß er, wenn man ihn erwärmt, leichte
Körper anziehe, denn das Foſſil, welchen ein alter römiſcher
Schriftſteller (Plinius) unter dem Namen Jonia beſchreibt,
ſcheint nichts Andres geweſen zu ſeyn, als ein ſolcher, durch
feine verſchiedene Färbung und feine ſchönen, dreiſeitig-ſäu⸗
lenförmigen Geſtalten ausgezeichneter Stein. Wenn man
einen Turmalinkryſtall, vor Allen einen ſolchen der von hel-
ler Farbe, in ſeinem Innren ohne Riſſe und Sprünge und
dabei etwas durchſichtig iſt, auch nur einer gleichmäßigen
Erwärmung von 24 Grad Réaumur ausſetzt, dann iſt er
wie ein kleiner Magnet polariſch geworden, nur mit dem
Unterſchied, daß ſeine Polarität in elektriſcher Form auftritt.
411
Denn an der einen Hälfte, feiner Länge nach, zeigt er ſich
entſchieden poſitiv, an der andren negativ elektriſch, und dieſe
polariſche Spannung wird immer ſtärker, je höher der Grad
ſeiner Erwärmung ſteigt, verſchwindet aber allmälig, wenn
die Erhitzung nicht mehr zunimmt, ſondern auf demſelben
Grade ſtehen bleibt. Und nicht nur das Erwärmen, auch
das Abkühlen eines erwärmten Turmalinkryſtalles macht die⸗
ſen elektriſch; denn wenn ein ſolcher eben ſo gleichmäßig als
er vorhin erhitzt war, wieder erkaltet, dann kommt auf eine
mal die polariſche Spannung, auch wenn fie bei der auf
gleichem Grade ſtehen gebliebenen Wärme ſich verloren hatte,
wieder zum Vorſchein, jedoch in verſchiedner Richtung, denn
das Ende, das vorher poſitiv elektriſch war, verhält ſich
jetzt negativ und umgekehrt. Wenn man einen Turmalin⸗
kryſtall während ſeiner elektriſchen Spannung in mehrere
Stücke theilt, dann zeigt jedes derſelben die zweifache Elef-
trizität, ja die kleinſten Splitter, in welche man ihn zerſtößt,
ſind noch einer elektriſchen Polariſirung durch Erwärmung
und Abkühlung fähig. Doch hat auf dieſe Eigenſchaft offen
bar die Art der regelmäßigen Geſtaltung des merkwürdigen
Steines einen beſondren Einfluß, denn nur wenn ſeine klei—
nen, oftmals faſt nadelförmig dünnen Säulen die dreiſeitige
Form haben, werden ſie polariſch, mit ſolchen Kryſtallen,
welche die Form einer ſechsſeitigen Säule haben, gelingt der
Verſuch nicht.
Turmaline von den erwähnten Eigenſchaften kommen
meift nur aus fernen Ländern wie Braſilien, Sibirien u. f.
zu uns, dagegen giebt es in Deutſchland, im Lüneburgi—
ſchen einen andren Stein, Borazit genannt, welcher in
jener Hinſicht noch viel merkwürdiger iſt, als der Turmalin.
Der Borazit, meiſt von graulich- oder gelblichweißer Farbe
und einem freilich nicht ſehr ſtarken, demantartigen Glanze,
findet ſich in der Form kleiner Würfel, deren Ecken öfters alle
oder doch zum Theil wie abgeſchnitten (abgeſtumpft), die Kanten
mit zwei Flächen zugeſchärft ſind, in Gyps eingewachſen. Wenn
man einen ſolchen kleinen Würfel erwärmt, dann findet man,
daß ſich an ihm nicht nur wie am Turmalin ein Paar, ſondern
vier Paare der elektriſchen Polaritäten eingeſtellt haben, denn
je zwei, an der oberen und unteren vordren und hintren
Seite des Würfels ſchief ſich gegenüberſtehende Ecken bil-
den ein ſolches Paar, indem die eine poſitive, die andre
412
negative Elektrizität zeigt, und um die obere wie um die
untere Seite herum, immer eine Ecke von poſitiver Span⸗
nung mit einer von negativer abwechslet. Auch der Galmei
(das kohlenſaure Zinkoxyd) der in manchen unſrer Gebirge
gegraben wird, zeigt, wenn er kryſtalliniſch iſt, eine elektri—
ſche Polarität und dieſes ſchon bei der gewöhnlichen, mitt—
leren Temperatur der Atmoſphäre. Selbſt an den Kryſtal⸗
len des Bitterſalzes wie am kryſtalliniſchen Zucker kann man
urch Erwärmen eine (ſchwache) elektriſche Polarität hervor⸗
ch mehr im Großen als in den eben erwähnten Fäl-
man den Einfluß der Wärme auf die Erzeugung der
y elektriſchen Spannung an den Metallen beobachtet.
Wenn man von zwei Metallftüden derſelben Art, mithin
von zwei Stücken Kupfer oder Silber das eine erwärmt und
hierauf mit dieſem das andre nicht erwärmte berührt, dann
entſteht alsbald zwiſchen beiden eine elektriſche Spannung.
In einem Kupferdraht, den man zu einem Viereck zuſam—
menbiegt, aus welchem das eine Endſtück frei hervorragt,
entſteht bei der Erhitzung dieſes vorſtehenden Endes ein
merklicher elektriſcher Strom, der von dem Punkt der Er—
wärmung aus nach dem andren eingebogenen Ende hin ſeine
Richtung nimmt. Wenn man zwei Stäbe den einen von
Wismuth, den andren von Spiesglanz zu einem größern
Stabe zufammenlöthet, und den Punkt der Zuſammenlöthung
erwärmt, dann entſteht eine Strömung die vom Wismuth -
zum Spießglanz, beim Erkalten eine ſolche, die umgekehrt
vom Spießglanz zum Wismuth ihre Richtung nimmt. Auf
ſolche Weiſe kann man eine große Zahl von Wismuth und
Spießglanzſtäbchen, indem man immer das eine dieſer Me—
talle mit dem andren abwechslen läſſet, zu einer Geſammt—
ſäule zuſammenlöthen, deren elektriſche Wirkſamkeit durch
bloße Erwärmung ſo hoch geſteigert wird, daß man mittelſt
ihrer Strömungen präparirte Froſchſchenkel zum Zucken bringt,
Waſſer und Salze zerlegt, Funken und ſelbſt eine Erhitzung
der Verbindungsdrähte hervorruft. Während zur Begrün—
dung der freilich ungleich ſtärkeren galvanifhen Spannungs⸗
thätigkeit das Zuſammenwirken des Zinkes, des Zinnes oder
des Eiſens mit Kupfer, Silber u. f. ſich am förderlichſten
erweiſt, werden die elektriſchen Wärmeſäulen am vortheilhaf⸗
teſten aus Wismuth und Spießglanz gebildet, denn in der
4
413
Reihe der polarifchen Entgegenſetzungen, welche durch bloße
Temperaturveränderung in verſch iedenen Metallen erweckt wird,
bilden die beiden eben genannten die äuſſerſten Enden und
nur das Tellur ſcheint das Spießglanzmetall im Gegenſatz
zum Wismuth oder Nickel, noch an Spannungsfähigkeit zu
übertreffen. Zarte, dünne, aus vielen abwechslenden Stück—
chen von Wismuth und Spießglanz zuſammengeſetzte Stäns
elchen von 1 bis 2 Zoll Länge, davon mehrere in einer
ternförmig aus einander ſtrahlenden Richtung zuſammen—
geordnet werden, zeigen ſich für den Einfluß auch einer ger
ringen Veränderung der Temperatur ſo empfindlich, daß ſie
ſchon durch eine Erwärmung oder Abkühlung in elektriſche
Spannung gerathen, deren Betrag man dem 6000ten Theile
eines Grades der Réaumurſchen Wärmeſcala gleich geſchätzt
hat. Freilich wird eine ſolche leiſe elektriſche Anregung nur
durch dergleichen künſtlich bereitete, elektriſch magnetiſche
Werkzeuge bemerkbar, welche aus einer von iſolirtem Metall—
draht, in der früher erwähnten Weiſe umwundenen Magnet-
nadel gebildet find. Wenn auch die ſchwächſte elektriſche
Strömung durch die vielen Windungen des Drahtes auf die
magnetiſche Wirkſamkeit der Nadel einen ſo verſtärkten Ein—
fluß gewinnt, daß ſie eine Abweichung derſelben aus ihrer
Stellung bewirkt, hat man dergleichen Werkzeuge Elektrizi—
täts⸗-Vermehrer (Multiplicatoren) genannt. Bi 5
Die Erkenntniß und nähere Beachtung des Einfluſſes
der Wärme auf elektriſche Polariſation und Wechſelwirkung
der Körper, iſt wegen der Folgerungen, zu denen ſie führen
kann, von großer Wichtigkeit. Die Verſchiedenheit des Gra—
des der Erwärmung an den Theilen der Erdoberfläche durch
die Sonne, und in der Tiefe durch die Wärme des Erdinn—
ren begründet ohne Aufhören eleftrifch = magnetifihe Strö—
mungen, welche gleich der Regung eines gemeinſamen Le—
bensantriebes durch die Geſammtheit der irdiſchen Naturrei—
che hindurch gehen. Und ſelbſt in den lebenden, aus flüſſi—
gen und feſten Theilen, aus Gefäßen, Nerven und Mus—
keln, Häuten und Organen der Verdauung wie Abſonderung
zuſammengefügten Korpern der Thiere wie der Menſchen,
mag die Veränderung und der unaufhörliche Wechſel der
äußeren wie inneren Temperaturen eine beſtändige Anregung
und Verminderung der polariſchen Wechſelwirkung begrün—
den, wobei nicht ſelten, wie am erkaltenden Turmalin, die
414
verſchiedenen Pole ihre gegenfeitige Lage und Stellung, fo
wie die Richtung ihrer Thätigkeit verändern, ſo daß hierbei
Das was vorhin poſitiv war, zu einem Andren in negatives
Verhältniß tritt und umgekehrt. a
48. Das Nordlicht.
Mit demſelben Rechte, mit welchem wir weiter oben die
Betrachtung des Blitzes und der gewöhnlich ihn begleitenden
Erſcheinungen des Gewitters an die Erwähnung der Licht⸗
und Schläge gebenden Wirkſamkeit der elektriſchen Entla⸗
dungen anreihten, dürfen wir hier, wo ſo eben von dem
Einfluß der Temperaturveränderungen auf den Elektromag⸗
netismus die Rede war, die Beſchreibung des Nordlichtes,
oder vielmehr des Polarlichtes folgen laſſen. Ohnehin ſchei⸗
nen beide Erſcheinungen, jene unſrer gewöhnlichen, von Blitz
und Donner begleiteten Gewitter und die der Polarlichter
in einem ähnlichen Verhältniß unter einander zu ſtehen als
die Wirkſamkeit der Elektrizität und des Magnetismus über⸗
haupt, ſo daß ein berühmter Forſcher der Natur: A. v.
Humboldt die Nordlichter » magnetifche Ungewitter, » im
Gegenſatz zu den elektriſchen (unſren gemeinen Gewittern) be-
nannt hat.
Beide, die Gewitter und das Polarlicht, ſtehen in viel⸗
facher Hinſicht mit einander im Gegenſatz. Die Polarlichter
kommen in Gegenden vor, in denen die Erſcheinung eines
elektriſchen Gewitters zu den großen Seltenheiten gehören;
die Punkte des gewöhnlichſten Erſcheinens der erſteren fallen
zwar nicht, wie man früher erwähnte, an die beiden Erd-
pole ſelber, wohl aber nicht fern von den Polarkreiſen, na⸗
mentlich auf der nördlichen Halbkugel zwiſchen den 60ten bis
66ten Grad der Breite. Obgleich es wahrſcheinlich iſt, daß
nach Cap. Franklins Anſicht auch im Sommer Nord-
lichter vorhanden, nur aber wegen der Länge des Tages und
ſeiner hellen Dämmerung für das Auge nicht ſichtbar ſind,
kann man doch nicht umhin ſelbſt darin einen Gegenſatz zwi⸗
ſchen dem Nordlicht und dem Gewitter anzuerkennen, daß
jenes vorherrſchender den kälteſten Monaten des Winters,
wie dieſes den heißeſten Monaten des Sommers angehöre.
Denn obgleich Cap. Roß unter 66° 30“ N. Br. ſchon im
September und October Nordlichter beobachtete, werden dieſe
415
dennoch erſt in der Mitte des Winters fo überaus häufig, daß
Henderſon auf Island in jeder hellen Nacht den Himmel
von Nordſchein erleuchtet ſahe, und ihr Aufflammen iſt dann
von folder Stärke, daß Löbwenörn am 29ten Januar bei
hellem Sonnenſchein die Strahlenſchwingung eines Nordlich—
tes erkannte. Unſre elektriſchen Gewitter ſind in der Regel
von einer großen Schwüle der Luft begleitet, das magneti-
ſche Ungewitter des Polarlichtes dagegen tritt, wenigſtens dann
wenn es ſeine glänzendſten Erſcheinungen bildet, meiſt in Geſell⸗
ſchaft jener furchtbaren, in ſeiner Nachbarſchaft einheimiſchen
Winterkälte auf, welche ſelbſt das Eis zerberſten machet.
Denn von dieſer zuſammenziehenden Wirkung der Kälte lei—
ten die meiſten neueren Beobachter jenes ziſchende und kra—
chende Geräuſch her, welches einige frühere Beſchreiber des
Nordſcheines dieſem magnetiſchen Ungewitter ſelber, — gleich
wie dem Erſcheinen des Blitzes das Getöſe des Donners —
beigelegt hatten.
Nicht nur in der Nachbarſchaft des Nordpoles, auch
dieſſeit der Polargegend der ſüdlichen Erdhälfte kommen die
magnetiſchen Ungewitter, oder die Polarlichter in einem be—
deutenden Glanze vor und zum Theil mag wohl der Grund,
weshalb Sübdlichter viel weniger oft als Nordlichter beobach—
tet worden ſind, nicht bloß in der größren Seltenheit ihres
Vorkommens, ſondern in dem Mangel der Gelegenheit und der
günſtigen, von aufmerkſamen Beobachtern bewohnten Standorte
gelegen ſeyn. Denn der geübte Forſcherblick eines Dalton hat oft
ſelbſt in England den fernen, abgeſpiegelten Schimmer eines
Südlichtes bemerkt, ſo wie Andre (am 14. Jan. 1831) das
Aufflammen eines Nordſcheins noch unter dem 45ten Breite-
grad der ſüdlichen Halbkugel wahrgenommen haben. Das
Sichtbarwerden der Polarlichter in ſo ungeheuren Fernen iſt
übrigens nicht daraus erklärbar, daß dieſes Meteor bis zu
einer Höhe ſich ausdehne, welche mehrere Hunderte von Mei—
len erreicht; vielmehr weiß man, daß dieſe Höhe die dreifa—
che unſrer höchſten Gebirge kaum jemals überſteigt und gro—
ßentheils nur auf einige tauſend Fuß geſchätzt werden kann.
Eben ſo wie ſtarke elektriſche Gewitter zu gleicher Zeit, wenn
auch in einem immer abnehmenden Grade der Stärke, über
große Landſtriche hinüber ausbrechen, ſo zwar, daß der
Beobachter in Preßburg in derſelben Stunde ſeine eignen
donnernden und blitzenden Gewitterwolken über dem Haupte
416
hat, in welcher andre Wolken, von derſelben, weithin ver⸗
breiteten elektriſchen Anregung ergriffen über Wien und Linz
ſich entladen, ſo mag auch, nach A. v. Humboldt's Anſicht
die ſtärkere und ſchwächere Erſcheinung des Nordlichtes zu
gleicher Zeit in der Nähe der Polarzone in ihrer höchſten
Glanzform, weiter davon entfernt als eine minder augenfal—
ligere Strahlung, aus den höheren Regionen der Atmoſphäre
ſich kund geben. Ja ſelbſt in der Weiſe der unter andren
Verhältniſſen wahrgenommenen Luftſpiegelung, kann eine
weite Verbreitung eines ſolchen Meteores möglich werden.
Was wir von dem Polarlicht Genaueres wiſſen, das
verdanken wir zunächſt der näher liegenden Beobachtung der
einen ſeiner Erſcheinungsformen: des Nordſcheines, daher auch
unſre diesmalige Beſchreibung vorzugsweiſe nur dieſem gilt.
Darinnen werden beide, das elektriſche wie das magne—
tiſche Ungewitter als innerlich übereinſtimmend betrachtet, daß
beide auf einer Störung des Gleichgewichtes, jenes in der
Vertheilung der planetariſch atmoſphariſchen Elektrizität, Diez
ſes des Magnetismus der Erde beruhen. Das Gleichgewicht
dieſer Vertheilung, die Ausgleichung des Ueberfluſſes mit
dem Mangel wird in beiden Fällen durch eine Entladung
hergeſtellt, die mit einer Lichterſcheinung, dort des Blitzes,
hier des Polarſcheines verbunden iſt. Freilich zeigt ſich in
der Stärke, wie in der Richtung, welche dieſe Entladungen
annehmen, ein ſehr auffallender Unterſchied. Das gewöhn—
liche (elektriſche) Gewitter wirkt bei ſeinen Entladungen auf
all unſre Sinnen; wir fühlen, ſehen, hören die Kräfte ſei—
ner Erſchütterungen, ſelbſt unſer Geruchsſinn wird durch den
einſchlagenden Blitz angeregt, welcher Häuſer entzündet,
Mauern und Bäume zerſchmettert, den Hirten wie die Thie—
re ſeiner Heerde tödtet, den Löwen der afrikaniſchen Wüſte
wie die flüchtige Gazelle mit ſeinem Geſchoß erlegt. Die
elektriſchen Ungewitter bleiben deshalb immer für die beleb—
ten Weſen der Erdoberfläche eine furchtbare und ſelbſt für
e e der todten Maſſen eine zerſtörende Naturge⸗
ee |
Ganz anders verhält fich dies bei den magnetiſchen Un⸗
gewittern, bei den Nordlichtern. Dieſe wirken nur auf einen
Sinn: auf den des Geſichtes, denn die früheren Berichte
von einem Ziſchen und Brauſen, das von dem Nordſchein
ſelber ausgehen ſollte, find, aufs Wenigſte geſagt, höchſt
zwei
417
zweifelhaft. Kap. Franklin der, nebft feinen Begleitern
mehr denn 200 Nordlichter in der eigentlichen Heimath ders
ſelben beobachtete, hat ſich ſehr oft mitten in einem ſolchen
Nordſcheine befunden, und weder er noch Andere fühlten die
leiſeſte Erſchütterung, hörten Etwas oder rochen, wie in der
Nähe einer elektriſchen Entladung, einen ſchweflichen Aus⸗
hauch; das Auge allein, von jeder andren Sinnesempfindung
ungeſtört, konnte ſich dem Genuſſe der unvergleichbaren
Schönheit der herrlichen Naturerſcheinung hingeben. Nicht
einmal ein Einfluß der Nordlichter auf die Witterung läßt
ſich als etwas Entſchiedenes betrachten, obwohl die elektriſche
Stimmung der Atmoſphäre aus welcher die Anregung zu
Stürmen und Regen oder Schnee hervorgeht, nicht ohne
Einwirkung auf das höhere oder niedrere Anſteigen und über—
haupt auf den Grad des Sichtbarwerdens der Nordlichter
zu ſeyn ſcheint. 8
Und dennoch, ſo darf man ſagen, iſt die Wirkſamkeit
der magnetiſchen Ungewitter eine unvergleichbar viel weiter
gehende als die der elektriſchen Gewitter. In der Regel ver⸗
breitet ſich der Entladungskreis der letzteren nur über einen
kleinen Raum der Erdoberfläche; über irgend eine Stadt
und ihre Nachbarſchaft, oder in einem waldigen Gebirgs—
thal zünden und zerſchmettern die Blitze, kracht der Donner,
ſtürzt der Regen wie eine Fluth herab, während wenige
Meilen davon der Himmel heiter, das Gleichgewicht der Elek—
trizität ungeſtört blieb, und nur ſelten zieht eine große elek⸗
triſche Entladung, als eine fortlaufende Reihe von Gewit⸗
tern über Strecken von mehreren Breitengraden, zu gleicher
Zeit fort. Dagegen breitet ſich die Wirkung der magneti—
ſchen Uugewitter über Hunderte, ja über Tauſende von
Meilen, über ganze Welttheile und Erdhälften aus. Denn
nicht ſelten iſt es geſchehen, daß man zu gleicher Zeit in
den Nacht⸗ oder Dämmerungsſtunden eines und deſſelben Ta⸗
ges das Nordlicht in England und in Pennſylvanien, in
Rom und in Pecking beobachtet hat. Und wenn auch das
Menſchenauge nichts von den Lichterſcheinungen des Nord—
lichtes gewahr wird, ſo kann es doch die weit hingehende
Wirkſamkeit deſſelben auf andere Weiſe: an den Bewegun—
gen der Magnetnadeln, bemerken. Denn an dieſen werden,
in den verſchiedenſten Gegenden zu gleicher Zeit, Abweichuns
gen ſichtbar; ein Sturmwind der magnetiſchen Anregung der
27
418
unſrer leiblichen Empfindung in keiner andren Weiſe merk.
lich iſt, gehet durch alle polariſirte Stahlnadeln von Island
und dem nördlichen Schweden bis hinab nach den magneti⸗
ſchen Warten der ſüdlichſten Länder des gebildeten Europas,
giebt ſich in Oſten wie in Weſten kund und theilt ſich, wahr⸗
ſcheinlich an ihnen ſich erſchöpfend, auch andren Eiſenmaſſen
der Erdfläche in ſeinem ſtillen Gange mit.
Die Betrachtung dieſes auffallenden Unterſchiedes der Wirk⸗
ſamkeit der elektriſchen und der magnetiſchen Ungewitter führt uns
ſchon hier auf einen Vergleich zwiſchen dem Licht und dem Mag⸗
netismus, ſo wie zwiſchen der Elektrizität und der Wärme.
Das Licht aus der Flamme eines Feuers iſt in weiter Ferne
fihtbar, die Wärme wird in der Nähe fühlbar; das Licht
nimmt ſeinen ſtillen Gang durch die Glastafel und alle durch⸗
ſichtige Körper, ohne dieſe, auch wenn es ſich bis zum höch⸗
ſten Grad der Helligkeit geſteigert hat, aufzulöſen oder ſonſt
gewaltthätig auf ſie zu wirken, die Wärme aber, zur Schmelz⸗
hitze geſteigert, löſt den Zuſammenhang der Theile der Me⸗
talle ſo wie mancher andrer feſten Körper auf, verwandelt ſie
in Dämpfe, zerſtört ſie gewaltſam. Das Licht in ſeiner
allerfreuenden, belebenden, bildenden Wirkſamkeit würde
dennoch zur Erhaltung der lebenden Weſen der Erde nicht
hinreichend ſeyn, wenn nicht die, bis ins Innerſte derſelben
dringende Wirkſamkeit der Wärme, daſſelbe begleitete; ſo ſtehet
auch der Einfluß der Elektrizität der Lebenskraft, ſelbſt jener
der vollkommenſten organiſchen Weſen ungleich näher, iſt die—
ſer viel mehr verwandt als der Einfluß des Magnetismus.
Eine zwar nur beiläufige und nicht ſehr tief gehende Ueber⸗
einſtimmung zwiſchen dem Magnetismus nnd dem Lichte könnte
allerdings darin geſucht werden, daß der Magnetismus
wie das Licht, ohne eine bedeutende Hemmung und Schwä⸗
chung zu erleiden das durchſichtige Glas wie den durchſichti⸗
gen Bernſtein und die trockne Luft durchwirken, während
dieſe Körper in Beziehung auf den elektriſchen Einfluß ab⸗
wehrend (iſolirend) wirken und ſelbſt der Fortpflanzung der
gewöhnlichen Wärme Abbruch thun. Eine eiſerne Tafel da⸗
gegen leitet die Wärme wie die Elektrizität, ſchwächt jedoch
den hindurchwirkenden Zug des Magnetes auf andre Mag⸗
nete. Von Magnet aber zu Magnet, durch die polariſchen
Stahlnadeln eines ganzen Welttheiles hindurch, wirkt die An⸗
regung eines magnetiſchen Ungewitters, ebenſo wie der Strahls
|
419
aufgehenden Sonne durch die weiten Räume des Luftkreiſes,
des Gewäſſers und durch alle durchſichtigen Körper.
Darinnen gleichet ſich der Verlauf beider Meteore, des
elektriſchen wie des magnetiſchen, daß ſich ihre Spannung
zuletzt in einer Lichterſcheinung auflöſet. Mit und durch den
Blitz ſtellt ſich das geftörte Gleichgewicht in der Vertheilung
der Elektrizität, mit und bei dem Nordlicht das Gleichgewicht
des Erdmagnetismus wieder her. Die Form der Lichterſchei⸗
nungen iſt freilich ſehr abweichend. Nicht dann, wenn, wie bei
dem Gewitter dunkle, ſchwere Maſſenwolken tief am Himmel
ſchweben, ſondern wenn in den höheren Regionen ſich jene
zarten Federwölkchen (Schäfchen) zeigen, die ſo durchſichtig
dünn ſind, daß ſie nur etwa durch die Bildung eines Hofes
um den Mond ſich verrathen, darf das Erſcheinen eines hö—
her anſteigenden, bis zum ſtärkſten Glanz ſich entwicklenden
Nordlichtes vermuthet werden. Ein Vorzeichen des Meteors
wird, gewöhnlich ſchon am Morgen vor ſeinem nächtlichen
Ausbruch in den Unregelmäßigkeiten gefunden, die am ſtund⸗
lichen Gange der Magnetnadel ſich einſtellen. Statt der
Wetterwolken, aus denen der Blitz kommt, ſteigt zuerſt ein
bräunliches oder violettes Nebelgebilde, durch welches die
Sterne, wie durch einen Höherauch hindurchglänzen am nörd—
lichen Horizont, bis zu einer Höhe von 16 bis 20 Durch⸗
meſſern einer Mondſcheibe herauf. Bald rundet ſich der Ne⸗
bel, der in den Gegenden des höchſten Nordens von heller,
weißlicher Färbung erſcheint; ein breiter, hellleuchtender Licht⸗
bogen, erſt weiß, dann gelb, wölbt ſich über das Dunkel her,
und der Geſammtumriß der Erſcheinung gleichet jetzt dem
Abſchnitt einer Kugel, von welcher nur ein Theil ſich über
den Horizont hervorhebt, ähnlich einer im Aufgehen begriffnen,
mächtig großen, an ihrem Rande prächtig glänzenden, in der
Mitte dunklen Sonnenſcheibe. Das Lichtgewölbe ſelber bleibt
faſt keinen Augenblick in gleicher Geſtalt und Farbe ſtehen,
ſondern es iſt in einem beſtändigen Aufwallen und ſchwingen⸗
dem Bewegen begriffen; ſeine Farbe, bald hier bald dort
lebhafter ſich entflammend, erhöht ſich von dem Violetten
und Blaulichweißen zum Gelben und Sapphirblauen, zum
Roth des Purpurs und zum Grün des Smaragds, und alle
dieſe Farben wechslen und ſpielen ohne Aufhören eine in die
andre hinüber. So ſteht der Lichtbogen zuweilen Stunden
lang da, ehe das herrliche Meteor l, hochſte Vollendung
420
feiner Form erreicht, zu welcher es ſich nur bei ſehr ſtarken
magnetiſchen Entladungen erhebt. Es brechen jetzt Strahlen
oder Feuerſäulen aus dem Umfang des Lichtgewölbes hervor,
welche von ungleicher Länge, meiſt in gerader, zuweilen auch
in geſchlängelter Richtung, zum Theil bis hinan zum Schei-
telpunkt, bis zur Mitte des Himmels ſteigen. Zuweilen wechs⸗
len die Feuerſtrahlen mit ſchwärzlichen, einem dunklen Rauche
gleichenden Strahlen ab, andre Male fehlen dieſe Begleiter.
Bei ſehr ſtarken Nordlichtern brechen jene Feuerſäulen nicht
nur aus dem Umfange des breiten Lichtbogens hervor, ſon—
dern ſie ſteigen an vielen Punkten des Horizontes wie aus
dem Boden auf und bilden, mit ihren wogenden Rändern
zuſammenſchlagend ein Flammenmeer das in jedem Augen-
blick den Geſichtsſinn des Beobachters durch andre Farben,
andre Geſtalten und andere Grade des Glanzes entzückt.
Die Helle ſo wie die Farbenpracht des majeſtätiſchen Licht—
gebildes ſtehen in genauem Verhältniß mit den Bewegungen
deſſelben; je ſchneller und kräftiger dieſe ſind deſto ſtärker
wird der Glanz, deſto ſchöner das Farbenſpiel. Zuletzt,
wenn auch dieſe Erſcheinung der zerſtreut, von verſchiednen
Punkten aufſteigenden Gluthſäulen eine längere oder kürzere
Zeit gedauert hat, rücken dieſelben mit ihren unteren Enden
an einem gemeinſamen Punkte des Horizontes der gegen den.
magnetiſchen Erdpol feine Lage hat, nach der Höhe des Licht
bogens hin zuſammen, während die oberen Enden, von einander
abweichend, eine ſternförmig aus einander ſtrahlende Ge—
ſtalt bilden. Dieſes iſt die eigentliche, ſogenannte Krone
des Nordlichtes, welche nur ſelten in jener Vollſtändigkeit
auftritt, in der wir zuweilen in phyſikaliſchen Werken fie abs
gebildet ſehen. Mit der Vollendung dieſer Gipfelform des
majeſtätiſchen Meteores gewinnt die ganze Erſcheinung einen
Anſchein von Ruhe und Stetigkeit, welcher vorhin ihr ab—
ging. Das Licht der Krone, die wie ein aus goldenen,
an ihrem Fuß zuſammenſtrebenden Säulen gebildeter Giebel
das Glanzgezelt nach oben überwölbt, iſt ein ruhig ausſtrah—
lendes, an welchem kein Wogen und Wallen, wohl aber zu⸗
weilen ein Zerlegen des Lichtes in ſeine prismatiſchen Farben
bemerkt wird; auch das Wogen und Wallen im Lichtbogen
legt ſich jetzt; denn mit dem Entſtehen der Krone iſt ein
Weg der Entladung gefunden in welcher die magnetifche
Spannung ſich auflöst. Bald wird eine Lichtſäule nach der
1
9
7
5
421
andren, wie von unſichtbaren Händen abgebrochen und ver:
ſchwindet, der Lichtbogen verbleicht und iſt dahin, am Him—
melsgewölbe ſieht man, da wo noch ſo eben der unbeſchreib—
lich ſchöne Pallaſt der Feuerſtrahlen ſtund, nur graulichbleiche,
da und dort vereinzelte Flecken, gleich jenen zu Aſche ge—
wordenen Stücken, die wenn man ein Papier verbrannt hat,
in der leichten, warmen Luft emporgeſtiegen ſind, und auch
dann, wenn dieſe aſchgrauen Flecken vergangen ſind, zeigt
ſich noch, wie das ſtehen gebliebene geſchwärzte Gemäuer eines
niedergebrannten Hauſes, auf kurze Zeit das trübe, ſchein—
bare Nebelgebilde, über welches vorher der unvergleichbar
ſchöne Lichtbogen hingewölbt war. Wenn dann endlich Alles,
was zum Gebilde des Nordlichtes gehörte vergangen iſt, dann
ſieht man noch am Himmel das zarte, weiße an feinen Rän⸗
dern gefiederte, oder in rundliche Häufchen (Schäfchen) zer—
theilte Gewölk ſtehen, welches für das magnetiſche Polar—
licht, ſo wie die ſchweren, dunklen Wetterwolken für das ges
wöhnliche, elektriſche Gewitter, die Grundlage und die Rich—
tung der Entladung begründen. Denn dieſe Wölkchen zei⸗
gen ſich zuweilen am Tage, vor dem darauf folgenden nächt—
lichen Auflammen des Nordlichtes in einer ähnlichen, ſtrah—
lenartigen Anordnung als dieſes, und wirken auch dann
bereits in beunruhigender Weiſe auf die Stellung der Mag—
netnadel; auch erkannte man, nach großen, während der
Nacht vorübergegangenen Nordlichtern am darauf folgenden
Tage, in der ſtrahlenförmig auseinanderlaufenden Form
des leichten Gewölkes noch die ganze Geſtalt des verſchwun—
denen Nordlichtes wieder; da wo in der Nacht eine Feuer:
ſäule ſtund, zeigte ſich jetzt ein weißlicher Wolkenſtreif. Des—
halb erſcheint die Anſicht des Erdbeſchauers nach großem
Maaßſtabe: Al. v. Humboldts, daß die ſtrahlenartigen
Gebilde des leichten Gewölkes, die man da und dort in Ge—
genden beobachtet, welche weit von den Gränzen der eigent⸗
lichen Geburtsſtätte der Nordlicher, gegen den Aequator hin
liegen, von ähnlicher magnetiſcher Wirkſamkeit ſind, als die
augenfälliger glänzende Erſcheinung des Polarlichtes, als eine
höchſt beachtenswerthe und wahrſcheinliche.
49. Das Erdenlicht.
Abgeſehen von jener großartigen, weitgehenden Wirk
422
ſamkeit, welche das Nordlicht in Beziehung auf die magne⸗
tiſche Polarität des Eiſens über ganze Welttheile, ja über
die ganze Erde hin entfaltet, ſteht dieſes Naturereigniß nur
als eine Erſcheinung für das Auge, nur als Lichtphänomen
da, womit weder eine Entwicklung der Wärme, noch ir⸗
gend ein andrer, tiefer in die Geſchichte der lebenden, irdi⸗
ſchen Natur eingreifender Einfluß verbunden iſt. Das Licht
der Sonne, deſſen genauere Betrachtung uns in dem nächſt⸗
folgenden Capitel beſchäftigen ſoll, iſt freilich an Kraft und
Wirkſamkeit ein ganz andres; es tritt nicht vereinzelt und
getrennt in das Gebiet der irdiſchen Körperwelt ein, ſondern
wie einem Herrſcher, von feinen dienenden Schaaren beglei-
tet, folgen ibm, auf allen feinen Schritten die Kraft der
Wärme, der Elektrizität und die Anregungen des Lebens. Im
Vergleich mit ihm erſcheint das eigenthümlichedeuchten unfrer Pla⸗
neten, davon wir hier einige Worte ſagen wollen, nur wie
ein Gebilde der nächtlichen Träume, gegen die Welt der
wirklichen, weſentlichen Anſchauungen des Wachens.
Die Erde, wie alle andre Planeten und Monde unſres
Weltgebäudes empfängt, wie uns dies jede einbrechende und
jede zu Ende gehende Nacht lehrt, ihr Tageslicht von der
Sonne. Dennoch ſieht man zuweilen unſren Nachbarplaneten
Venus auf ſeiner von der Sonne abgekehrten, nächtlichen
Seite von einem allerdings ſchwachem Lichte erhellt, welches
nur von ſeiner eigenen Oberfläche ausgehen kann. Die weiter
von der Sonne abſtehenden Planeten: Jupiter, Saturn und
Uranus könnten, dies hat man berechnet, unſrem Auge nicht
in fo hellem Glanz erfcheinen, wenn ihr Licht ein bloß von
der Sonne empfangenes, nicht auch zugleich ein eignes wäre.
Selbſt von der Oberfläche und aus der Atmoſphäre unſ—
res Planeten gehet zuweilen ein Licht aus, das nicht aus
der Sonne ſeinen Urſprung hat, wie dies die Beobachtung
des trocknen, ſelbſt bei Nacht leuchtenden Nebels, in den
Jahren 1783 und 1831, und jene dämmernden Licht⸗
ſchimmer bezeugen, die nicht ſelten in ſolchen dichtbewölkten
Herbſt⸗ und Winternächten am Boden bemerkt werden, wo
auf dieſem weder die weiße Decke des Schnees liegt, noch
etwa, unter dem Gewölk verhüllt der Mond oder irgend ein a
hellleuchtender Planet am Himmel ſteht. Zuweilen fällt dies
ſes eigenthümliche Licht gleich wie aus den höheren Regionen
des Luftkreiſes auf die obere Seite der Wolken herab, andre
423
Male kommt es allem Anſchein nach von der Oberfläche der
Erde, und allerdings kann alsdann daſſelbe in den Vorgän⸗
gen der Verweſung und Gährung der im Herbſte abge—
ſtorbenen organiſchen Stoffe, zum Theil wenigſtens, ſeinen
Urſprung haben.
Auch das bewegte Gewäſſer des Meeres ſtrahlt ein Licht
von ſich, das im Dunkel der Nächte öfters ſehr deutlich ins
Auge fällt, und welches nicht allein den kleinen, die Wogen
bevölkernden Thieren oder ihren aufgelöſten Elementen, ſon⸗
dern dem Seewaſſer und vielleicht feiner elektriſchen Span⸗
nung ſelber zugeſchrieben werden muß.
Wir ſind hier noch nicht auf dem Wege unſrer Betrach—
tungen der Naturereigniſſe bis zu dem Aufzählen der Er—
fahrungen über die Wirkſamkeit und das Weſen des Lichtes ges
langt, vorläufig nur, und im Vorübergehen, erinnern wir
an den Bericht jenes Bergmannes, dem, durch das Einſtürzen
eines Theiles ſeines Grubengebäudes, einige Tage lang der
Ausweg zum Tageslicht verſperrt war, und der zuletzt, in
dem langwährenden nächtlichen Dunkel, wenn er ſeine eigne
Hand in die Richtung vor das Auge ſtellte, von dieſer aus⸗
gehend einen ſchwachen Lichtſchein bemerkte. In allen leiblich
gewordnen Dingen, ſelbſt in jedem Steine, noch mehr in der
Geſammtmaſſe eines Planeten, liegt, wenn auch unſrem Auge
unmerklich, eine Kraft des Selberleuchtens. Jene Tempera—
tur der kälteſten Wintertage eines nordiſchen Klimas, welche
unſrem Gefühl als eine faft unerträgliche Kälte erſcheint, iſt
für das Queckſilber noch immer eine ſo hohe, daß es dabei
zum Schmelzen kommt; die herbſtlich trübe Nacht in einem
Felſenthal erſcheint unſrem Geſichtsſinn im tiefſten Dunkel,
während das Geflügel der Nächte dort noch ein Licht findet,
das zur Beleuchtung ſeines Weges und des Zieles, nach
welchem die Richtung jenes Weges geht, vollkommen aus⸗
reichend iſt. |
50, Erzeugung der Ma durch das Sonnen⸗
| icht.
Was ver möchte der Einfluß all der andren, bisher be⸗
trachteten Quellen der Wärme auch nur zur Erhaltung der
Bäume und Saaten die in einem unſrer Länder wachſen,
wenn nicht die hehre Zeugin der Majeſtät und Herrlichkeit
424
unſres Gottes: die Sonne, da wäre, die mit ihrem Glanze
zugleich die belebende Wärme ausgießt über alle Gewächſe
und Thiere der Erde. Seefahrer, welche den Winter zu⸗
brachten an den öden Küſten eines Eilandes das mitten in
dem Eis der nördlichen Polarzone liegt, konnten an dem
mächtig auflodernden Feuer, das ſie in ihrer Hütte angezün⸗
det hatten, ſich kaum vor dem Erſtarren ſchützen; die glü⸗
henden Kanonenkugeln ſprüheten vergeblich ihre Gluth in
die eiſigkalte Luft des Zimmers aus, ſie konnten in dieſem
keine behagliche Wärme bewirken. Nowaja Semlja ſo wie
einige andre ihm hierin ähnliche Punkte der Erdoberfläche
find nicht nur durch die furchtbare Kälte ihrer Winter fon-
dern auch durch die Wärmearmuth ihrer Sommer ſo un:
wirthbar für Menſchen, ſo ungünſtig für das Gedeihen der
Gewächſe. Denn während in manchen andren Küſtengegen⸗
den und Inſeln der Polarzone die kurz andauernde, dabei
aber ſtarke Sommerwärme dem Boden wie der auf ihm woh—
nenden Pflanzen- und Thierwelt eine Bekräftigung verleihet,
welche dieſelbe auch in die Zeit des Winters hinein begleitet, 1
laſtet auf Nowaja Semlja fo wie auf Spistergen ſelbſt im
Sommer ein faſt niemals vergehender Nebel, der ſich aus
den aufthauenden Eismaſſen des Polarmeeres und des Schnees
der Anhöhen über jene Inſeln verbreitet. Ein Land, wel⸗
ches im Verlauf eines ganzen Jahres nur für wenige Tage
oder Stunden den Einfluß des Sonnenlichtes vollkommen
rein und ungetrübt von den ſchweren Dünſten der Luft
empfängt, kann dem leiblichen Menſchen niemals das freu⸗
dige Gefühl von Wohlbefinden gewähren oder erhalten.
Was auf unſre leibliche Stimmung ein Monate lang verhüll⸗
ter, neblichter Himmel, oder die Wochen lange Andauer
kalter Regengüſſe wirkt, das thut dort, in noch unberechen⸗ h
bar viel größerem Maaße die faſt beſtändige bb eines ®
heitren, vom Sonnenlicht durchwirkten Himmels. i
Der Bewohner von Arabien, in der Naturfülle W ũ7ũ2e:/
einige Gegenden ſeines Landes begabt ſind, kann es kaum
glauben, daß in unſren Ländern ſchöne, kräftige, fröhliche
Menſchen leben. Und doch wiſſen wir alle, daß dies ſo iſt
und danken Gott für unſren reichbegabten Wohnſitz, dem das
Licht der Sonne in ſeiner lebenweckenden und wärmenden Kraft in
ſo genügendem Maaße zugetheilt iſt, daß alle für des Leibes
Nahrung und Nothdurft unentbehrliche Pflanzen wie Thiere da
ö
425
gedeihen können. Aber bei all dieſer Genügſamkeit und Fröh⸗
lichkeit des Herzens erfahren wir dennoch erſt dann, wenn
wir einmal in ein Land kommen, auf welches die Sonne in
ihrer ſtärkeren Kraft und Lieblichkeit herunterblickt, was die
volle Herrlichkeit und Schönheit der irdiſchen Natur ſey. Da,
wo das reine Blau des . den größeſten Theil des
Jahres durch kein Gewölk „durch keinen Nebel getrübt wird,
wo ſelbſt der Mond ſein bleiches Licht in ſolcher Helle aus⸗
ſtrahlt, daß man vom Kameel herab am Boden jedes kleine,
blühende Gewächs erkennt; wo neben den duftenden Wäl⸗
dern der Orangen die majeſtätiſch ſchöne Palme ihre Früchte
reift, in den Wipfeln der Bäume ein Heer der prachtvoll
buntfarbigen Vögel ſich regt und munter bewegt, da könnte
man wohl, wenn der Reiz des Vaterlandes in nichts And—
| rem läge als in dem finnli Schönen, der lieben, deutſchen
Heimath auf einige Zeit vergeſſen. Wenn man dort viel⸗
leicht zum erſten Male im Leben den Blüthenſchaft des Pi—
ſangs zur vollen Pracht entfaltet, wenn man hundert andre
Arten, der een Gewächſe der Erde, von denen man
nur einzelne krüppelhafte Formen in unſren Treibhäuſern
oder gemalte Abbildungen geſehen hat, angethan mit dem
Feierkleid ihrer wunderſchönen „ duftenden Blüthen ſieht,
wenn uns eine große Zahl von Arten der Früchte zum Ge⸗
nuß dargeboten werden, die an gewürzhaft ſüßem Wohlge—
ſchmack oder lieblich kühlender Kraft alle Früchte unſres Va⸗
terlandes übertreffen und die wir vorher kaum dem Namen
nach kannten, wenn dabei vom Gipfel der Palme oder des
Tamarindenbaumes die orientaliſche Nachtigall (der Bulbul)
eeinen volltönigen Gelen vernehmen läßet, ein Heer der
muntren, ſchöngeſtalteten Thiere ſich rings um uns her erz
- gößt, dann gerathen all unſre Sinnen in eine Aufregung der
5 Freude die wir, in dieſer eigenthümlichen Art, kaum ſonſt
jemals empfunden haben. Der Geiſt in uns fühlt ſich von
dem Anblick und dem Genuß der Werke zu dem Gedanken
aan den Schöpfer und zu der Luſt erhoben, welche in dieſem
Gedanken liegt.
. Fuhlt ſich doch der Bewohner von Deutſchland ſchon
dann in ganz eigenthüml icher Weiſe ergriffen von der Schön-
heit der Natur, wenn er zum erſten Mal über ſeine nach—
barlichen Alpen hinüber in ein Land kommt, da der Oel—
baum ſeine Früchte reift, die Waldungen der Citronen und
426
Orangen im Freien gedeihen, die blühende Myrte den Ab⸗
hang der Hügel, der Kappernſtrauch mit ſeinen großen Blu⸗
men die Mauern und Felſenwände bekleidet, der Weinſtock,
kaum der pflegenden Menſchenhand bedürftig von den Stäm⸗
men und Zweigen des einen Baumes zu denen des andren
ſich hinüberſchlinget. Und all dieſe Fülle der Lebenskräfte,
die lockenden Früchte, wie das Gedeihen des Thierreiches
wird der irdiſchen Natur zunächſt durch den Einfluß der
Sonne vermittelt. Es will ſich deshalb geziemen, daß wir,
ehe wir dieſen Einfluß auf uns und unſren planetariſchen
Wohnſitz weiter erwägen, zuerſt von dem mächtigen Quell
des Lichtes unſrer Tage: von der Sonne, einige Worte
ſagen.
51. Die Sonne.
Was iſt (nach Cap. 49) das arme, bleiche Erdenlicht
unſrer Nächte, welches keine Spur der fühlbaren Wärme in
ſich trägt, gegen das Licht der Sonne; was iſt unſer Planet gegen
deſſen ungeheure Maſſen des Landes und der Gewäſſer der Menſch
ſo klein da ſtehet, was iſt überhaupt alle uns näher bekannte leib⸗
liche Größe und Herrlichkeit gegen die Größe und Herrlichkeit
der Sonne! Dieſe iſt mehr denn alle Körper der uns
verwandten Sichtbarkeit nach ihrem Maaße ein Abbild und
Träger der Majeſtät und alldurchwirkenden Kraft des Schöp—
fers. Wenn für den Flug eines Adlers durch die Räume
des Weltgebäudes eine Bahn wäre, dann würde die ſchnellſte
Eile eines ſolchen Fluges, auch wenn ſie in jeder Sekunde
nahe an hundert Fuß weiter durchmäße, dennoch kaum nach
anderthalb Jahrhunderten von der Erde hinweg bis zur
Sonne führen, denn der Raum der unſren Planeten von
dieſem herrſchenden Mittelpunkt ſeiner Bahn trennt, dehnt
ſich nahe über 21 Millionen Meilen aus, die Bahnen der
drei äußerſten Planeten unſres Syſtemes: des Jupiter, Sa—
turn und Uranus, umkreiſen die Sonne in Abſtänden von
107, 197 und 396 Millionen Meilen, und dennoch dringet die
alldurchwirkende Macht des Sonnenlichtes bis in alle dieſe
Räume, ja zuletzt als Sternenlicht in noch tauſendfältig
größere Weiten hinaus. |
Aber dieſer Macht entfpricht ſchon die Größe der Herr⸗
ſcherin, in der Mitte ihrer Welten. Der Ziegelſtein, wel⸗
chen dort, beim Bau eines Hauſes ein Handlanger dem and—
*
427 :
ren darreicht, ſteht in demſelben Verhältniß zu der Größe
des ganzen Gebäudes, deſſen Theil er werden ſoll, als unſre
Erdkugel zu dem rieſenhaften Ball der Sonne, denn faſt
anderthalb Millionen (1,415,225) Erdkugeln müßten zuſam⸗
mengethürmt werden, wenn daraus ein Weltkörper entſtehen
ſollte, der an Größe der Sonne gleich käme, deren Ober—
flächeninhalt jenen unſrer Erde mit ihren 5 Welttheilen und
all ihren Meeren 12598 mal, den Erddurchmeſſer 112 ¼½ mal
übertrifft. Unſer kleiner Begleiter auf dem Weg der Jahres—
bahn der Erde um die Sonne: der Mond ſteht in einer Ent—
fernung von faſt 52000 Meilen von uns. Gliche die Sonne
einer hohlen Kugel, in deren Mitte die Erde ihre Stellung
hätte, dann wäre in der mächtigen Weite auch noch für die
Mondbahn überflüßiger Raum vorhanden, denn von der
Mitte der Sonne bis zu ihrer Oberfläche beträgt der Ab—
ſtand 96468 Meilen. Ja wenn alle Planeten unſres Syſte—
mes, nicht nur unſre Erde, die gegen die Sonne daſtehet
wie eine Zuckererbſe zu einem mäßig großen Thurmknopf,
ſondern alle 11, wie ſie der Reihe nach von der Sonne aus
ſich folgen: Mercur, Venus, Erde, Mars, die 4 Aſteroiden
(Veſta, Juno, Ceres, Pallas) dann die im Vergleich mit
der Erde rieſengroßen Planeten Jupiter und Saturn, zuletzt
Uranus, dazu auch noch alle die Monde die um unſre Erde
ſo wie um die 3 letzten Planeten umlaufen, und das Ring—
gewölbe des Saturn in eine Geſammtmaſſe vereint wären,
würde ſich dieſe dennoch zur Maſſe des Sonnenkorpers nur
verhalten, wie eine Kugel von 4 Loth an Gewicht zu einer
Kugel von Centnerlaſt, das heißt wie 1 zu 775.
Wenn man ein Kind oder jeden Menſchen der hierbei
nur dem alltäglichen Augenſchein folgt fragen wollte, was
iſt oben und was iſt unten, die Sonne oder die Erde, dann
würde die Antwort ſeyn: die Sonne iſt oben denn ſie nimmt
den Lauf ihrer Tage und Jahre hoch über unſrem Haupte
am Himmel hin, die Erde aber iſt unten. Und dennoch ver—
hält es ſich damit umgekehrt. Eben ſo wie nicht die Sonne
Nees iſt, welche täglich und jährlich ihren Lauf um die Erde
macht, ſondern es iſt die Bewegung der Erde um ihre eigne
Are welche das tägliche Auf- und Niedergehen, die Bewe—
gung der Erde in ihrer Bahn, welche das jährliche, ſchein—
bare Fortſchreiten der Sonne durch die Zeichen des Thier—
kreiſes am Himmel begründet; ſo iſt auch jener Augenſchein,
428
der die Erde zu einem Unten oder zur Mitte, die Sonne zu
einem Oben, ihre Stellung zu uns zur Außenfläche machet,
eine Selbſttäuſchung. Eben ſo wie der gehende Menſch, der
an der Oberfläche der Erde hinſchreitet oder das Schiff, wel—
ches über das Meer fähret in Beziehung auf den Planeten
der beide trägt ein Oberes und Aeußeres ſind, ſo iſt unſre
Erde und fo find alle Weltkörper unſres Syſtems in Bezie-
hung auf die Sonne um welche ſie den Lauf ihrer Bahn
führen ein Oberes und Aeußeres. Die Erdmitte, das Innre
unſrer Erde iſt es, nach welcher der Zug der Schwere in
der ganzen irdiſchen Körperwelt hingehet; was die Erdmitte
als ein tiefes Unteres zu den Dingen der Planetenoberfläche
oder der Körpermaſſen iſt, welche zwiſchen ihr und der Ober—
fläche liegen, das ſtellt die Sonne zu den Bahnen der Pla-
neten und zu dieſen ſelber dar. Ja es liegt darin ein hoher
Vorzug der Herrſcherin der Welten über das ihr untergeord—
nete Heer von dieſen, daß ſie es iſt welche trägt, nicht
welche getragen wird, daß ſie es iſt welche den Grund bil—
det, nicht aber auf den Stäubchen, die um ſie her fliegen,
aufruhet und gegründet iſt. Laſſen wir es deshalb ſo gelten
daß jene Welt, die ihren Kräften und Vorzügen nach hoch
über alle andren erhaben iſt, der Stellung ihrer Maſſe nach
in der Tiefe aller andren ſtehet.
Wiſſen wir doch auch von der eigentlichen Naturbeſchaf—
fenheit, von der bewirkenden Urſache ihres Leuchtens wie
ihrer wärmenden Eigenſchaft faſt eben ſo wenig als wir von
der leiblichen Geſtaltung und Natur unſres Erdinnren wiſſen,
deſſen Mitte wir uns durch all unſre bergmänniſchen For-
ſchungen, ſo wie durch jene Berechnungen mit denen wir
etwa den keſſelförmig in große Tiefen ſich hinabbeugenden
dann wieder herauflenkenden Steinkohlenlagern nachgehen nur
in ſehr unbedeutendem Maaße genaht haben. Wenn wir
den hohen Wärmegrad, den das aus der Tiefe quellende Waſ—
ſer der Arteſiſchen Brunnen, ſo wie die, der Berechnung
nach mit jeder weiteren Tiefe zunehmende Wärme der Berg—
ſchächte, als einen Beweiß annehmen für eine fortwäh—
rende Wärmerzeugung im tiefen Innren der Erde, dann tritt
uns auch hier eine Aehnlichkeit entgegen in den Eigenſchaften
der tiefen Mitte eines einzelnen Planeten und der herrſchen⸗
den Mitte des geſammten Planetenſyſtemes: der Sonne. Eine
Aehnlichkeit, welche freilich wohl nicht viel weiter gehen mag,
429
nz zwiſchen dem Erdenlicht (nach C. 49) und dem Son-
nenlicht. |
Die einzige Erſcheinung, welche uns eine Art von Eins
blick in das Weſen und in die Naturbeſchaffenheit des Son—
nenkörpers gewähren könnte, ſind die dunklen Flecken die
ſich bald in größrer bald in geringrer Ausdehnung, bald auf
längere, bald auf kürzere Zeit an ihrer Oberfläche zeigen,
und zwar nicht ſtillſtehend an einem Punkte, ſondern in einer
beſtändigen fortrückenden Bewegung von Weſt nach Oſt be—
griffen, vermöge welcher fie ihren Lauf von einem Rande
der Sonnenſcheibe zum andren in nahe 14, den ganzen Um⸗
lauf, von der Erde aus geſehen in 27½ Tag zurücklegen.
Wir haben hierdurch fürs Erſte ſchon die Gewißheit empfan—
gen, daß der ungeheure Sonnenkörper nicht unbeweglich ſtill
ſtehe, ſondern eben ſo um ſeine Axe, von Weſt nach Oſt
ſich bewege, als unſre Erde und alle in dieſer Beziehung ge—
nauer bekannte Planeten. Und obgleich die Sonne zu einer
ſolchen Umdrehung auch wenn wir jene ſcheinbare Verlän—
gerung abziehen, welche dieſelbe, weil unſer Planet indeß
auch in ſeiner Bahn von Weſt nach Oſt fortgerückt iſt, von
der Erde aus geſehen erleidet, 25 ½ mal mehr Zeit gebraucht
als unſre Erde zu ihrer nur 24 ſtündigen, iſt ſie dennoch,
wenn wir das Verhältniß der fortrückenden Bewegung der
Oberflächen berückſichtigen, keineswegs eine ſehr langſame zu
nennen, denn jeder Punkt des Aequators unſrer Erde durch—
läuft zwar bei der täglichen Umdrehung in einer Stunde
225 ½, die Punkte des Sonnenäquators in derſelben Zeit
aber 992 Meilen.
Die Sonnenflecken, welche man früher als Schlackenaus—
würfe hetrachtete, die auf der Oberfläche des beſtändig feuer—
flüßigen Sonnenkörpers ſchwimmen ſollten, oder als Rauch
und Dampfmaſſen, welche dieſem Feuermeer entſtiegen, ſind,
wie die genaure Betrachtung der neuern Zeit gelehrt hat,
Oeffnungen oder örtliche Zertrennungen einer leuchtenden
Dunſthülle, welche den eigentlichen Sonnenkörper nach allen
Seiten hin umgiebt. Wie ganz anders erſcheint hierbei das
Verhältniß der Sonne zu ihrer Atmoſphäre als das der Erde.
Wenn bei uns der höhere Luftkreis durch die meteoriſchen
Maſſen der Bewölkung getruͤbt iſt, und es entſteht in dieſer
verhüllenden Decke da oder dort eine Zerreißung, dann er—
blicken wir durch die Oeffnung den klaren blauen Himmel
430
und das Licht der Sonne bricht in den verdunkelten Raum
herein; wenn ſich aber die leuchtende Wolkenhülle der Sonne
zerreißt und aufthut, da öffnet ſich zwar auch ein Zugang
der Strahlen der nächtlichen Geſtirne, hinab zur Oberfläche
des rieſenhaften Weltkörpers, aber der Punkt, der gerade
unterhalb der Oeffnung liegt, erleidet eine Schwächung
der gewöhnlichen Tageshelle; ihm wird in gewißem Maaße
das Licht entzogen, das ihm nicht, wie den Planeten, aus
einem mächtigen leuchtenden Centralkörper, ſondern aus ei⸗
nem Theil ſeines eignen leiblichen Weſens kommt. Denn
die lichtflammende Dunſthülle der Sonne ſcheint der eigent⸗
liche Quell des Lichtes und der belebenden Wärme, nicht
nur für alle Weltkörper zu ſeyn, welche ihre Bahn um dieſe
Weltkörper beſchreiben, ſondern auch fie ſelber, die Herr—
ſcherin, wäre, entkleidet von ihrer Lichtſphäre, ein dunkler
Körper. Wenn ſich zuweilen bei ſehr großen Sonnenflecken
in dieſer Lichtſphäre Oeffnungen gebildet hatten, welche über
eine Strecke von 6 ja von 10000 Meilen ſich ausdehnten,
dann glaubte man die eigentliche an ſich dunkle Oberfläche
der Sonne durch gute Fernröhe wahrgenommen zu haben.
Berge, von einer Höhe, welche im Verhältniß zur Größe
des Weltkörpers ſtünde (von 100 Meilen) ja zwiſchen der
feſten Oberfläche und der höheren, leuchtenden Atmoſphäre
wolkenartige, dunkle Meteore, gleich jenen unſres Luftkreiſes,
ſollen ſich dann gezeigt haben. Die Höhe bis zu welcher ſich
die Luftſphäre über der Sonnenoberfläche erſtreckt, wurde bei
ſolcher Gelegenheit auf 500 Meilen geſchätzt.
Wenig und unſicher genug iſt das, was uns die Betrachtung
der Sonnenflecken lehrt; andre Aufſchlüße über das Wirken
und Bewegen unſres Centralkorpers find nicht durch die Beob—
achtungen gefunden worden die man unmittelbar an der
Sonne ſelber, ſondern die man an andren Körpern der Ster⸗
nenwelt gemacht hat. Wie man nämlich die ſchnellere oder
langſamere Bewegung eines Fuhrwerkes oder eines Dampf—
ſchiffes, auf dem man ſich befindet, am leichteſten an der
ſcheinbaren, in entgegengeſetzter Richtung verlaufenden Be—
wegung der Bäume, Häuſer, Berge an denen die Fahrt
vorbeigeht erkennen und ermeſſen kann, ſo iſt es auch in
Beziehung auf die Sonne geſchehen, daß man die eigne,
fortrückende Bewegung, welche derſelben im unmeßbar großen
Weltenraume zukommt, an der ſcheinbaren Bewegung er⸗
431
kannt hat, welche an den ſogenannten Firfternen oder Ber
ſtenſternen des Himmels beobachtet worden iſt. Denn auch
dieſe, welche das Alterthum für unbeweglich an ihrem Ort
verbleibende Lichter des Himmels hielt, haben keine Ruhe
noch Raſt, ſondern beſchreiben einen Lauf der Bahnen oder
Bogenlinien, wir wiſſen nicht um welche unſichtbare Mitte.
Freilich erſcheint von der Erde aus geſehen das Fortrücken
jener ſonnenartig leuchtenden Weltkörper wegen des ungeheu—
ren Abſtandes von uns ſo gering, daß es in 100 Jahren
noch kaum bemerkbar iſt, dennoch ſummirt es ſich im Ver—
lauf der Zeit bei einigen der ſchneller beweglichen Fixſterne
ſo bedeutend, daß die berühmten Sternkundigen Aegyptens,
welche vor 1700 und 2000 Jahren lebten, wenn ſie jetzt
wieder einmal durch Menſchenaugen von der Sternwarte in
Alexandrien den nächtlichen Himmel betrachten könnten, den
Ort, zum Beiſpiel des großen Sternes im Bärenhüter Ark
tur) ganz auffallend verändert finden würden.
Wenn dort, in jenen Fernen, da die Firfterne find, ein
Menſchenauge unſre ſchöne Sonne als einen Stern unter
andren Sternen glänzen ſähe, würde ihm dieſelbe auch als
ein unveränderlich feſtſtehender Glanzpunkt des Himmelsge—
wölbes erſcheinen; denn was iſt der kleine Betrag des Fort—
rückens der meiſten Firfterne, ſelbſt von einem nachbarlichen
Weltgebiet aus geſehen, nach dem Raum- und Zeitmaaß der
menſchlichen Leiblichkeit; wie machen doch dort 70 und 80
Jahre einen ſo geringen Unterſchied! Dennoch iſt der Schritt,
den unſre Sonne auf ihrem Weg durch den Weltraum inne
hält kein ganz langſamer, denn er beträgt in jeder Stunde
34750 Meilen. Allerdings mag der Weg, den ſie in dem uns
unbekannten Lauf eines ihrer großen Jahre zu durchmeſſen
hat, ein unvergleichbar viel weitrer ſeyn, als der Weg, den
unſre Erde, in ihrer Bahn um die Sonne zu durchwandern
hat, denn unſer Planet, obgleich einer der ſchnellſten unter
allen ihm verwandten Weltkörpern des Sonnenſyſtems, legt
in jeder Stunde nur 14937 Meilen zurück, wenn man je
doch die kleine Spanne des Raumes von 21 Mill. Meilen,
welche zwiſchen Erde und Sonne liegt, mit jenem vermuth—
lichen Abſtand vergleicht, in welchem ſich der unbekannte
Mittelpunkt oder Centralkörper befinden könnte, deſſen Ein—
wirkung die Sonne in Bewegung ſetzt, dann hat man Ur—
ſache genug das Vorhandenſeyn einer anziehenden Kraft vor-
432
auszuſetzen, welche alles ihr Aehnliche, das in der und na
her liegenden Sichtbarkeit des Weltgebietes gefunden wird,
unermeßbar weit überſteigt. Die Bewegung unfrer Sonne
geht nach dem Sternbild des Herkules, einem nur wenig
in die Augen fallenden hin. Was die Mitte der ungeheuren
Bahn ſey wiſſen wir nicht; unſer Planet, und wir auf ihm,
gehen mit, öhne den Fortſchwung des täglichen Bewegens
unſres Weltſyſtemes zu bemerken; wir gehen auch hier, wie
im ganzen Verlauf unſres leiblichen Seyns ohne zu ſehen
woher? und wohin? den ſicherſten Weg den ein Kind ma
chet, wenn es nicht von den eignen Füßen, ſondern von den
Armen einer liebenden Mutter getragen wird.
Die Macht welche die Sonne an unſrer Erde, ſo wie
an allen Weltkörpern ihres Syſtemes übt, läßt uns, nach
rieſenhaft großem Maaßſtabe alle jene Formen wieder erken—
nen, in denen ſich in unſrer irdiſchen Sichtbarkeit der pola⸗
riſche Gegenſatz zwiſchen einem ſelbſtkräftig wirkenden und
einem leiblich Bewirkbaren äußert. Wie der Blitz der aus
den Wolken hervorbricht und an der metallenen Spitze ſich
entlädt, ſo brechen überall aus einer oberen, allumfaſſenden
Welt des Lebens Kräfte der Belebung und des Bewegens her—
vor, wenn ſich ein leibliches Element aus der Gebundenheit
und todten Ruhe des maſſenhaften Zuſammenhaltes, zu ei—
ner Stellung erhebt, in welcher es ein Innres zu einem
Aeußren, ein Bilden des für ein Bildungsfähiges wird. Ein
ſolches Hereindringen der Kräfte eines oberen, überleiblichen
Seyns und Lebens erkannten die Weiſen des Alterthumes ſeit
Thales dem Mileſier, in der Wirkſamkeit des Magnetes
an, obgleich ſich uns in dieſer noch nichts Andres kund giebt
als ein Bewegen und Bewegtwerden, das ſeinen Anfang
nimmt in dem polariſchen Gegenſatz der ohne Aufhören um
die eigne Achſe und um die Sonne bewegten Erde, zu dem
Eiſen, in welchem unter günſtigen Umſtänden alsbald der
gleiche polariſche Gegenſatz erwacht. Als die Naturkunde der
neueren Zeit das Mittel erfand, durch ſchraubenförmiges
Umwinden eines Magnetes die Strömung der elektri—
ſchen Naturkräfte mit jener der magnetiſchen zu vereinen;
als man den elektromagnetiſchen Einfluß auf den magne⸗
tiſchen Eiſenſtab einwirken ließ, da zeigte ſich alsbald an
dieſem das Bewegen einer zweiten, höheren Ordnung:
ein kreiſender (rotirender) Umlauf um einen bewegenden gi;
el⸗
433
telpunkt, ein Auf⸗ und Niederwogen ſelbſt des flüſſigen Dued-
ſilbers, das bis zu den Anfängen einer Achſendrehung ſich
erhebt. Die ältere Zeit kannte das Feuer des Blitzes, das mit au-
genblicklicher Schnelle herab oder herauffährt, und, wenn es
den Baum oder andre entzündbare Körper trifft, dieſe in
Flammen ſetzt, während es ſelber eben ſo ſchnell wieder da—
hinſchwindet und verliſcht als es aus dem Dunkel der Ges
witternacht hervorgetreten war. Die neuere Zeit, als ſie
ſeit Erfindung der Elektrizität erregenden fo wie der galva—
niſchen und elektromagnetiſchen Werkzeuge die Kräfte des
Blitzes in ihre Hand bekam, hat durch Anwendung dieſer
Kräfte Etwas geleiſtet, das kein Naturforſcher der früheren
Jahrhunderte für möglich gehalten hätte, ihr iſt es gelun—
gen den Blitz mitten in ſeiner unermeßbar ſchnellen Eile
feſtzuhalten, ſie hat ihn in ein ſtätig fortglühendes Feuer
verwandelt. Der Gluthſtrom, der ſich aus den Enden der
Polardrähte einer ſtarken Voltaiſchen Säule oder eines kräf—
tigen elektromagnetiſchen Apparates in gleichmäßiger Fort—
wirkung ergießt, gleicht einem Fluße deſſen Lauf niemals
abbricht, während die blitzähnliche, elektriſche Entladung
kaum einem plötzlich herabſtürzenden, plötzlich wieder nach—
laßenden Regenguß ähnlich war. Während die Völker der
alteften Zeit das Feuer ihrer Herde nur unmittelbar am
Strahle des Blitzes entzündet hatten und dieſe Gabe des
Himmels mit ängſtlicher Sorgfalt ſich zu erhalten und zu
ernähren ſuchten, iſt anjetzt (kin dem Voltaiſchen Apparat)
der Gluthſtrom des Blitzes ſelber zu einer Art von Herd—
feuer geworden, das zu ſeinem Unterhalt weder des Holzes
noch des Oeles, zu ſeiner Pflege keiner bei Nacht wie bei
Tage fortwährenden Obhut der Prieſter bedarf. |
Und wie ganz anders wirft dieſes, wenn auch vor der
Hand nur noch in unvollkommenem Maaße gewonnene Herd—
feuer der höheren Ordnung, im Vergleich mit dem Feuer
unſrer brennenden Kohlen oder des Holzes! Metalle, welche
durch die Macht des gemeinen Feuers kaum zum Erweichen
kommen, ſchmelzen an dem Entladungsſtrom unſrer elektromagne—
tiſchen Apparate in wenig Augenblicken; andre Stoffe, die
wir im gewöhnlichen Lauf der Dinge als feuerbeſtändig zu
betrachten pflegen, verglaſen ſich oder zerſetzen ſich in Dämpfez
während wir in der Hitze unſrer Schmelzöfen nur den Oxy⸗
den der eigentlichen Metalle ihr Sauerſtoffgas entführen kön⸗
28
434
nen, indem wir diefem feine reine Luftform, oder in Ber
bindung mit Kohle, die Form der Kohlenſäure ertheilen, hat
man durch die Macht des galvaniſchen Feuers das Sauer:
ſtoffgas ſelbſt aus dem unvergleichbar viel feſteren Verband
mit den metallähnlichen Grundlagen der Alkalien und Er⸗
den losgemacht. Was iſt der Glanz aller Fackeln und Herd⸗
feuer gegen die blendende, dem Sonnenlicht gleichende Helle
eines Metalldrahtes, durch welchen der Gluthſtrom einer gal—
vaniſchen oder elektromagnetiſchen Batterie ſeinen Lauf nimmt;
wo könnte zunächſt nur die zerſtörende Flamme, die beim
Verbrennen der Körper entſteht, mit der bildenden Kunſt
auf ſolche Weiſe in ein Verhältniß der Nacheiferung treten
wie die galvaniſche oder elektromagnetiſche Strömung, in
Won e (Cap. 42) erwähnten Anwendung zur Galvano⸗
plaſtik. |
Die Wiſſenſchaft hat fich für die verſchiedenen Formen
in denen das Feuer eines allgemeinen Lebens und Bewegens
die Elemente unſrer Körperwelt durchdringt, verſchiedene Na⸗
men erfunden: Magnetismus, Elektrizität, Galvanismus
und Elektromagnetismus; für jenen fortwährenden Wechſel⸗
verkehr der Sonne mit den planetarifchen Welten, aus wel-
chem Licht und Wärme, der Antrieb zum Bewegen um die
eigne Achſe und in der Bahn der Jahre hervorgeht, iſt noch
kein paffender Name, eben fo wenig als ein Schlüſſel zum
tiefer eindringenden Verſtändniß in das eigentliche Weſen dieſes
Weſelverkehres gefunden worden. Das aber wiſſen wir, daß
die bewegende Kraft, welche als allgemeine Schwere, von der
Sonne aus wirkend, die Planeten ſo wie von dieſen aus die
Monde in ihren Bahnen erhält, und ihnen allen, in quadra-
tiſchem Verhältniß mit den Abſtänden, das verſchiedne Maaß
der Geſchwindigkeiten verleihet, durch mehrere ihrer Eigen—
ſchaften ſich als eine polariſche Wirkſamkeit von noch höherer
Ordnung erweiſet als die iſt, welche wir an den elektriſchen und
magnetiſchen Erſcheinungen kennen lernen. Obgleich die
Schnelligkeit des Lichtſtrahles und noch mehr die der elektri⸗
ſchen Strömung nach dem Maaßſtabe des irdiſch körperlichen
Bewegens als ungeheuer groß erſcheint, iſt ſie doch noch eine
meßbare, denn man hat den Weg, den das Licht in einer
Stunde durch den Aether des Weltraumes zurücklegt aus dem
früheren oder ſpäteren Bemerkbarwerden der Jupitermonden⸗
Verfinſterungen in näheren oder ferneren Abſtänden der Er⸗
435
de vom Jupiter auf 140, den Stundenweg der elektriſchen
Strömung zu 259 Millionen Meilen berechnet. Dagegen iſt
die Wirkſamkeit der anziehenden Kraft der Sonne gar keiner
meßbaren Zeitdauer unterworfen. Die Geſchwindigkeit des
raumdurchdringenden Einflußes der allgemeinen Schwere wür—
de fuͤr uns noch meßbar ſeyn, an der allmaligen Beſchleuni—
rung (dem Kürzerwerden) des Jahresumlaufes der Planeten,
ua
auch wenn fie zehn Millionen mal größer wäre als die Schnel—
ligkeit des Lichtes; aber mit all dieſer millionenfachen Stei—
gerung der Zahlen erreichen wir das Ziel nicht, weil es außer
den Gränzen einer menſchlichen Berechnung liegt. Wie der
Gedanke, in demſelben Augenblick da er gedacht wird bei ſei⸗
nem Gegenſtand iſt und dieſen erfaßt, wie der lebende Arm in
jedem Augenblick zu einem Glied ſeines Leibes wird, weil er
niemals aufgehört hat, noch jemals während des Lebens auf⸗
hören wird und kann, dieſes zu ſeyn, ſo iſt die bewegende
Kraft der Sonne gleichzeitig in dieſer wie bei dem Planeten;
für dieſe Macht find die Schranken der Zeit und des Rau⸗
mes nicht mehr vorhanden, ſie iſt allzeitlich und allgegenwär⸗
tig, wie ein allumfaßendes, alldurchdringendes Walten des
Schöpfers ſelber.
Dennoch muß die hehre Sonne, dieſer ſichtbare Abglanz
einer Majeſtät des Schöpfers es ſich gefallen laſſen, wenn
wir nach unſrem Menſchenwitz die rotirenden ſo wie umkrei—
ſenden Bewegungen der Welten, an denen ſie ihre Macht
übt, mit jenen vergleichen, welche die elektromagnetiſche Strö⸗
mung an unſren Magnetnadeln und Mangnetſtäben hervor⸗
ruft. Indem wir einen magnetiſchen Eiſenſtab, deſſen po—
lariſche Strömungen der Richtung der Länge des Stabes fol⸗
gen, mit einem iſolirten Kupferdraht von der Richtung der
beiden Seiten her, faſt unter einem rechten Winkel mit der
Längenausdehnung umwinden, thun wir im Kleinen Daſſelbe,
was die Schöpferkraft gethan als ſie jene Gebirgsmaſſen
und planetariſchen Stoffe ſo um die Achſenlinie, welche durch
beide Pole gehet, ringformig herumlegte, daß daraus die ku—
gelahnliche Geſtalt der Weltkorper entſtund. Dieſe Kugel:
form läßt ſich eben ſo wohl als eine Urſache, denn als eine
Folge der rotirenden Bewegung betrachten. Der elektriſch—
polariſche Gegenſatz zwiſchen den Theilen und Punkten der
Erdoberfläche, welcher da ſeine höchſte Wirkſamkeit erreicht
wo der Durchſchnitt, welcher der Queere nach (unter einem
28
436
rechten Winkel) von dem Kugelumfang nach der Achſenlinie
der Pole gehet am größeſten iſt, ſcheint den täglichen Um⸗
ſchwung der Welten, von Weſt nach Oſt zu begründen, wäh⸗
rend von dem magnetiſchen, im Allgemeinen an die Richtung
der Pole gebundenen Gegenſatz die feſte Stellung in dem
beſtimmten Abſtand der Bahnen, die Neigung der Axe und
der jährliche Umlauf um den Centralkörper abhängen mag.
Die Sonne ſelber nimmt an dieſer Geſtaltung ſo wie an
den Bewegungen Theil, von denen uns unſre elektromagnetiſchen
Apparate durch ihre Zuſammenfügung wie durch ihre Wirkſam⸗
keit ein kleines ſchwaches Abbild geben; die rotirende Be—
wegung ihres feſten Körpers, im Zuſammenhang mit der Beſchaf—
fenheit der Dunſthülle, mag auf die Erzeugung des Lichtes
und der Wärme nicht von unbedeutendem Einfluß ſeyn; aus
welchem Quell aber zuletzt der Strom der Bekräftigungen
komme, welcher das große Werk des Weltgebäudes mit all
ſeinen einzelnen Theilen und Triebrädern in Bewegung ſetzt,
und in ſeinem ſich immer in unverrückbarer Genauigkeit gleich⸗
bleibenden Fortgange erhält, das erforſchen die ſterblichen,
aus Erdenſtaub gebildeten Sinnen nicht.
Es liegen jedoch andre Eigenſchaften der Sonne der täg—
lich wiederkehrenden Beobachtung unſrer Sinnen näher, als
die Macht des Bewegens, welche ohnabläßig aus ihr hervor—
wirkt; wir wollen deshalb vor allem dieſe Eigenſchaft in
nähere Betrachtung ziehen, welche ſelbſt dem Kinde ſo wie
allen auf der Stufe der Kindheit ſtehenden Völkern ſich be—
merkbar machen.
52. Der Einfluß der Sonne auf die Temperatur
der Erdoberfläche. ö
Daß in jener Zeit des Jahres, in welcher die Tage wie⸗
der um ein Bedeutendes länger werden mit der ſtärkeren und
andauernderen Beleuchtung durch die Sonne auch die Wär⸗
me zunehme, weiß und erfährt in jedem Frühlinge ſelbſt der
roheſte Indianer, der die ſumpfigen Waldgegenden des nörd—
lichſten Amerikas bewohnt. Daß indeß die Wärme eines
Landes nicht allein von der längeren oder kürzeren Beleuch⸗
tung ſodern auch von dem höheren oder niedreren Stand der
Sonne und in gewiſſem Maaße vielleicht ſelbſt von der ro⸗
tirenden Bewegung, die unter dem Aequator am ſtärkſten iſt
457
abhänge, das lehrt eine genauere Beobachtung. Wenn nur
im Allgemeinen von dem Unterſchied zwiſchen Tag und Nacht,
von Tageshelle und nächtlichem Dunkel die Rede ſeyn dürfte,
dann könnte man ſagen, daß die Bewohner der eiſigkalten
Polarländer hierin mit den Bewohnern der heißen Zone, wo
die Vanille wachſt und Palmenwälder gedeihen, ganz in glei—
chem Vortheil ſtünden, ja ſogar noch etwas beſſer daran wä—
ren als dieſe; denn ſelbſt unmittelbar unter dem Pole dauert
die Tageshelle im Verlauf eines ganzen Jahres nicht nur
eben ſo lang wie in den heißen Ländern, welche unter der
Aequinoctiallinie oder dem Aequator liegen, ſondern wegen
der vor dem Wiederaufgehen und nach dem Untergehen der
Sonne eintretenden Dämmerung ſogar noch länger. Nur
mit dem Unterſchiede, daß unter dem Aequator jeder einzelne
Tag des Jahres, an den Polen aber das ganze Jahr, in zwei
gleiche Hälften getheilt iſt, davon die eine die Beleuchtung
der Sonne genießt die andre dem Dunkel der Nacht an—
heimfällt; denn unter dem Aequater ſteht die Sonne täglich
12 Stunden, an den Polen jährlich 6 Monate am Himmel;
hier hat man vor der Frühlings- und nach der Herbſtnacht—
gleiche eine viele Wochen lang anhaltende Dämmerung, dort
aber an jedem Morgen und Abend nur eine ſehr kurze.
Dagegen fallen die Strahlen der Sonne, wenn ſie über
den Himmel des heißen Erdgürtels ihren Tageslauf machet,
nicht flach und ſchief, geſchwächt durch die unteren, dichteren
Luftſchichten der Atmoſphäre und in dieſen großentheils ſich
verlaufend, auf den Boden, ſondern ſie treffen dieſen während
der Mittagsſtunden in meiſt ſenkrechter Richtung und in ih⸗
rer vollen Gewalt. Und hierauf kommt für die Wärmeer—
zeugung durch das ſtrahlende Licht der Sonne Vieles, ja
das Meiſte an, wie dies ſchon durch die zweifache Bedeu—
tung des Wortes Klima angedeutet iſt. Denn urſprüng⸗
lich nannte man fo jene Kreiſe die man ſich in Norden und
Süden in gleicher Breite um den Aequator gezogen dachte
und deren Gränze durch die Verſchiedenheit der Dauer des
längſten Tages, ſo wie der längſten Nacht beſtimmt war.
Da wo die Dauer des längſten Tages nicht mehr wie unter
dem Aequator gerade 12 ſondern 12 ½ Stunden iſt, war die
Gränze des erſten, bei 13 ſtündiger Dauer des Mittſommer⸗
tages die Gränze des zweiten Klimas. Und ſo ergab ſich
bei jedem Zuwachs der Dauer des längſten Tages um eine
438
halbe Stunde die Gränze eines neuen Klimas, deren Zahl
mithin vom Aequator bis zu den Polen wo die Länge des
Mittſommertags 24 Stunden beträgt, das heißt wo dann die
Sonne gar nicht untergeht, auf 24 geſetzt war, ſo daß zum
Beiſpiel jene Gegenden wo der längſte Tag zwiſchen 16 bis
16 %, die kürzeſte Nacht zwiſchen 8 bis 7½ Stunden wäh-
ret, in das neunte Klima fallen. Die Andauer jenes lan—
gen fortwährenden Polartages, an welchem die Sonne gar
nicht untergeht, iſt von der Grenze des Polarkreiſes unter
66 Grad 32 Min. bis zum Pole (unter 909) ſelber, mithin
durch das ganze 24te Klima ſehr verſchieden. Denn in Lapp⸗
land, unter dem 66 ½ten Grade der Breite giebt es nur
einen einzigen Tag im Jahre an welchem die Sonne gar
nicht untergeht, dies ift der Mittſommertag (2ite Juny).
Schon einige Tagreiſen weiter nach Norden unter der Breite
von 67° 18“ kommt man in eine Gegend, wo die Sonne
einen ganzen Monat lang im Sommer über, im Winter un-
ter dem Horizont bleibt; in Wadſoés (76 / Grad Breite)
dehnt ſich die Zeit in welcher die Sonne ſtets am Himmel
ftebt über 2 Monate und ebenſo lang jene aus, in der fie
gar nicht aufgeht; in Melvilles Eiland (unter 75 Gr.) auf
3 Monate 12 Tage, unter dem 80 Gr. auf mehr denn 4,
unter 839 auf 5, unter 90° auf 6 Monate. Obgleich jedoch
der Zeitpunkt an welchem die Sonne, am Ende des langen
Sonnentages für die Gegend am Pole unter den Horizont
ſinken ſollte, auf den Tag des Herbſtacquinoctiums, für
Nowaja Semlja unter 76 Gr. d. Br. der Anfang der drei—
monatlichen Nacht auf den letzten Oktober, das Ende der
Winterpolarnacht und der Wiederaufgang der Sonne für
die erſtere Gegend auf den 21. März für den andren Ort
auf den 11. Februar treffen müßte, bleibt dennoch vermöge
der Strahlenkrechung der Atmoſphäre (nach S. 167) das
Bild der Sonnenſcheibe mehrere Wochen länger über dem
Horizont und wird um mehrere Wochen früher ſichtbar, und
auch nach, ſo wie vor ſeinem Hinab- oder Herauftreten, giebt
es eine ſo lange Dämmrung, daß ſelbſt an den Polen das
eigentliche nächtliche Dunkel, das durch den Schein der lan⸗
gen Mondnächte ſehr gemildert wird, nur 13% Wochen an⸗
hält. Im Grunde genommen kann man deshalb, wie ſchon
oben erwähnt, ſagen, daß die Vertheilung der Tageshelle
und der Andauer des nächtlichen Dunkels eher zum Vortheil
439
als zum Nachtheil der beiden Polargegenden, im Vergleich mit
den Aequatorealgegenden ausfällt. Dennoch knüpfen wir mit
Recht an das Wort Klima auch den Begriff der herrſchenden
Wärme der Länderſtriche an und halten uns im Voraus davon
überzeugt, daß die Gegenden, welche unter den erſten Klimaten
(Ibis 3) liegen die wärmſten, jene welche unter den letzten, dem
22ten bis 24ten Klima ſtehen die kälteſten ſeyn müßen.
Hiebei wird die mittlere Temperatur des ganzen Jahres
in Betracht gezogen, welche nicht das Mittel zwiſchen der
höchſten Sonnenwärme und der ſtärkſten Winterkälte, ſon—
dern aus den Summen der Wärmegrade iſt, welche an je—
dem einzelnen Tage des Jahres aus dreimaliger Beobach—
tung gefunden wurden. Obgleich dieſe mittlere Temperatur
des ganzen Jahres außen an der Erdoberfläche zu verſchiednen
Zeiten des Jahres, wie ſogar jedes einzelnen Tages großen
Abänderungen unterworfen iſt, verhält ſie ſich dennoch in
einer gewißen Tiefe der Keller und Höhlen ſo wie in den
meiſten Quellen im Sommer wie im Winter auf dem glei—
chen Grade, ſo daß man aus der Temperatur der Felſen—
quellen einer Gegend mit einer gewißen Sicherheit auf ihre
mittlere Jahreswärme ſchließen kann.
Im Allgemeinen findet man, daß die mittlere Jahres—
wärme der 3 erſten Klimaten, von dem Aequator bis gegen
und etwas über die Wendekreiſe 20% bis 22½ Grad der
Réaumur'ſchen (25% bis 26/80 Gr. der hunderttheiligen)
Scala betrage. Schon in Kairo, deſſen Lage 30 Gr. 2
M. N. Br. iſt, erreicht die mittlere Temperatur nur 17/0
Gr. R., in Neapel, unter dem Alten Breitengrad 14 ½, in
Paris, bei 48° 50“ Breite etwas über 9½ Gr. R., in Lon⸗
don unter 51½ Gr. N. Br. 8 Gr. R., in Copenhagen 55
Gr. 41 M. N. Br. nur wenig über 6, in Moskau unter
55% Gr. N. Br. nur noch 3%, Gr. R., in Wadſoé unter
70% Gr. N. Br. 1% Gr. Neaumur, Am Nordcap, obs
gleich deſſen Lage noch um keinen ganzen Grad nördlicher
iſt als die von Wadſoé, thaut das Erdreich in einer Tiefe
von wenig Fußen auch im Sommer nicht auf, die mittlere
Temperatur des Jahres kommt dort dem Eispunkte gleich,
während ſie auf Melvilles Eiland noch beinahe um 15 Grad
unter den Eispunkt herunterſinkt.
Selbſt auf den Eis⸗ und Schneefeldern der Polargegen—
den, unter den achtziger Graden der Breite, bemerkt man, in
Ne
140
jener Jahreszeit, wo die Sonne ſchon lange nicht mehr un⸗
tergeht noch einen bedeutenden Einfluß ihres täglichen höhe⸗
ren und niedreren Standes. Obgleich dieſelbe dort auch um
Mitternacht am Himmel bleibt, iſt dann ihr Licht nicht nur
auffallend viel bleicher als 12 Stunden vorher, wo es Mittag
war, ſondern auch die wärmende Kraft ihrer Strahlen iſt
ſo viel ſchwächer, daß wenn die Sonne immer tiefer nach
dem mitternächtlichen Horizont herunterſinkt, der in den Stun⸗
den ihres höheren Standes gethaute Schnee wieder feſt wird.
Deshalb benützten die kühnen Unternehmer eine Reiſe nach
dem Nordpol zum mühſamen Fortziehen ihrer Schlittenboote über
die Treibeismaſſen jederzeit die Stunden in denen es bei
uns auch im Sommer Nacht iſt, und machten längſtens dann,
wenn es an ihren Uhren etwa 7 oder 8 Uhr Morgens war,
Halt, weil um dieſe Zeit das höher emporſteigende Geſtirn
des Tages ſchon wieder kräftiger zum Aufthauen des Schnees
wirkte. Noch ungleich merklicher wird uns der Einfluß eines
höheren Standes der Sonne bei der Betrachtung des vorhin
erwähnten Verhältniſſes der Lage der Erdſtriche zu ihrer mitt—
leren Jahreswärme, von dem Aequator an, wo die Sonne
jeden Mittag ſenkrecht oder faſt ſenkrecht über dem Scheitelpunkt
des Himmels dahingehet, bis zu den Ländern der kalten Zone, indes
nen ſie auch in den Sommermittagen tief unter dem Scheitelpunkt
zurückbleibt. Dennoch kommt jenem Verhältniß nur eine all⸗
gemeine Gültigkeit zu, und daſſelbe ift den vielfältigſten Aus⸗
nahmen und Abweichungen unterworfen. Nur einige von
dieſen, nebſt den Urſachen durch die ſie veranlaßt werden,
wollen wir hier etwas genauer betrachten.
Selbſt die künſtliche Wärme unſrer geheizten Zimmer ſtei—
gert ſich erſt dann in allen Räumen des Gemaches zu einer gewiſ—
ſen Höhe, wenn auch die Wände, die Decke, ſo wie alle in—
nerhalb und unter dieſen befindlichen Gegenſtände einen ge-
wiſſen Grad der Wärme angenommen haben, und die unſ—
rem Gefühle zuſprechende Temperatur der geheizten Räume er⸗
hält ſich noch einige Zeit nachher, wenn die anfangs ſtärkere
Flamme des Feuers allmälig vermindert wird, oder ganz
ausgeht. Ein Ofen, welcher nach der in Rußland gebräuch⸗
lichen Weiſe gebaut iſt, theilt, wenn ſeine dichten Geſtein⸗
maſſen recht durchheizt ſind, die empfangne Wärme noch
viele Stunden lang ſeiner Umgebung mit, obgleich das
Feuer in feinem Innren ſchon längſt verloſchen iſt. In ähn⸗
441
licher Weiſe, als ein Sammler und Verbreiter der Wärme
an ſeine Umgebung, verhält ſich auch die Erdoberfläche, vor
Allem die feſte. Je mehr der Boden von dem Einfluß der
Sonnenſtrahlen ſchon durchwärmt iſt, deſto kräftiger vermag,
ſo lange er ſich noch auf einer gewißen Stufe erhält, dieſer
Einfluß ſich zu äußern. Darum fällt in der Regel die höch—
ſte Temperatur des einzelnen Tages nicht unmittelbar in die
Zeit des Mittages, die größeſte Wärme des Jahres nicht in
die Zeit des längſten Tages und des höchſten Standes der
Sonne, ſondern in die erſte und zweite Nachmittagsſtunde
ſo wie in den Julymonat. Eben ſo trifft auch die niedrigſte
Temperatur des Winters, die ſtärkſte Kälte in der Regel
erſt auf die ſchon wieder zunehmenden Tage des Januars;
die größeſte Kühle der einzelnen Tage in die Stunden vor
Sonnenaufgang. Uebrigens iſt die Zeit, in welcher im Mit—
tel die größeſte Kälte ſo wie die größte Wärme eintritt ſelbſt
in Gegenden deſſelben Erdtheiles, deren Mittagskreiſe nicht
weit von einander abliegen ſehr verſchieden. In Paris fällt
die größeſte Kälte im Mittel auf den 14ten in Padua auf
den 15ten, in Rom auf den 17ten, in Turin dagegen ſchon
auf den 3ten Januar; die ſtärkſte Wärme tritt im Mittel in
Paris am löten, in Padua am 26ten, in Turin am 27ten
July, in Rom aber erſt am iten Auguſt ein. Selbſt zwi-
ſchen den Wendekreiſen fällt der zweimalige höchſte Stand
des Thermometers nicht mit dem höſten Stand der Sonne
in den Tag- und Nachtgleichen zuſammen, ſondern auf den
19ten oder 20ten April und auf den 22ten oder 23ten Oc⸗
tober; die Zeit der um wenige Grade kühleren Tage auf den
19ten bis 20ten Januar fo wie auf den 22ten bis 23ten
July. Auch auf der ſüdlichen Halbkugel tritt die höchſte
Wärme ihrer Sommer ſpäter als der höchſte Sonnenſtand
ein, ſo zu Capſtadt am 2ten Februar, die niedrigſte Tempe—
ratur des Jahres am 6ten July.
Nicht nur der feſte Boden, ſelbſt das Gewäſſer das den
größeſten Theil deſſelben bedeckt, und die Luft, die über ihm
ſteht, werden durch den Einfluß der Sonnenſtrahlen erwärmt,
obwohl die Erhöhung ihrer Temperatur durch die oben, S. 255
beſchriebene Bewegung fortwährend wieder ausgeglichen wird.
Namentlich die Atmosphäre ſtellt ſich hierbei in ein zweiſei—
tiges Verhältniß zur Erdoberfläche. Während ſie die Kraft
der Sonnenſtrahlen, welche durch ſie hindurch gehen müſſen,
442
ſchwächt, wirkt ſie dennoch zugleich auch günftig auf die Stei⸗
gerung der Erdflächenwärme, denn, gleich einem Gewand
oder einer Decke, womit wir uns gegen die Erkältung ſchützen,
thut ſie wohlthätig der Ausſtrahlung und Zerſtreuung jener
Wärme in den umgebenden Weltenraum einigen Einhalt, und
nimmt ſelber Antheil an der Erwärmung, welche von unten,
aus der Erdoberfläche, und von oben durch den Einfluß der
Sonne (weniger jedoch durch dieſen als durch die Mittheilung
aus jener) ihr zukommt. Indem aber die Luft in der Nähe
der Erdoberfläche, ſich erwärmt, wird ſie auch ausgedehnt
und hierdurch leichter; ſie ſteigt in die Höhe. Bei dieſem
Emporſteigen in Regionen, wo der Luftdruck, je höher je
mehr ſich verringert, nimmt der von unten kommende Strom
eine immer dünnere Beſchaffenheit, einen immer größeren
Raumumfang ein und durch dieſe Verdünnung wird, eben
ſo wie durch die Bildung des Dampfes nach S. 265 eine
Temperaturerniedrigung herbeigeführt, die ſich in abkühlender
Weiſe auf die Umgebung äußert. Umgekehrt aber, wenn an
die Stelle der emporgeſtiegenen erwärmten Luftſchichten die
kälteren aus den oberen Regionen ſich herabſenken, dann er—
leiden dieſe durch den auf ſie wirkenden Druck der höheren
Luftſäule eine Verdichtung, bei welcher ſich, ſo wie nach
S. 264 überall da, wo ein elaſtiſch flüßiger Körper in einen
engeren Raum zuſammengepreßt wird, Wärme erzeugt und
an die umgebende Körperwelt mittheilt. |
Hierinnen wird, wenigſtens zum Theil, der Grund gefun—
den von der Abnahme der Wärme in größeren Höhen über
der Meeresfläche, von welcher wir bereits bei andrer Gele—
genheit ſprachen. Wenn wir mit Schmidt annehmen, daß
ſchon in einer Höhe von 726 / Fuß über der Meereskuüſten⸗
ebene die mittlere Jahreswärme eines Ortes um 1 Grad
R. niedriger ſey, dann würde in der Gegend von Kairo, deſ—
ſen mittlere Jahreswärme über 17 Gr. R. iſt ein Berg,
welcher die Höhe des Finſteraarhornes in der Schweiz
(13205 F.) erreichte auf feinem Gipfel eine herrſchende Tem⸗
peratur haben, welche noch etwas unter jener des Nordcaps,
noch unter dem Eispunkt ſtünde. Doch wird die Warme:
abnahme bei dem Hinaufſteigen in größere Höhen ſehr ver⸗
ſchieden gefunden, je nachdem dieſe Höhen einem vereinzelt
oder abgeſondert daſtehenden Berge oder einem maſſigen zu—
ſammenhängenden Gebirgsrücken oder endlich gar einem
443
weit ausgebreiteten Hochlande angehören. Auf einem abge:
ſondert ſtehenden Berge iſt bei gleicher Erhebung über die
Meeresebnen eine ſtärkere Abnahme der Temperatur bemerk—
bar als in ſolchen Gegenden, wo das Land eine größere, weis
ter ausgedehnte Maſſe bildet. Schon deßhalb, ſo wie noch
aus andren, gleich weiter zu erörternden Gründen iſt auch
jene frühere Annahme eine unſichere, nach welcher ein Unter—
ſchied zwiſchen der Lage verſchiedner Orte über dem Meeres—
ſpiegel welcher gegen 240 bis 260 Fuß betrüge einen gleichen
Einfluß auf die mittlere Temperatur des Jahres haben ſoll—
te als eine weitre Entfernung vom Aequator von einem Gra—
de, ſo daß die Jahreswärme eines in der Meeresebene geleg—
nen Ortes unter dem 50. Gr. der Breite jener gleichen würde,
welche unter dem 40. Gr. der Breite auf einer Höhe von
etwa 2500 Fuß gefunden wird. Jene Annahme ging von
der Vorausſetzung aus, daß die Abnahme der Jahreswärme
überall von einem Grad der Breite zum andren in einem
gleichen regelmäßigen Verhältniß ftatt finde. Dies iſt aber
keinesweges der Fall, denn die mittlere Temperatur vom
Aequator bis zum 10. Grad der Breite bleibt ſich faſt ganz
gleich, vom 10. Grade bis zum nördlichen Wendekreis be—
trägt ſie an der Oſtküſte von Amerika ohne Abnahme für jeden
Breite-Grad im Mittel nur gegen / „F vom Wendekreis bis
zum 33. Grade etwas mehr als / Grad R., von da bis
zum 43 Breitengrad ſchon nahe / Grad des Réaumur'ſchen
Thermometers, während ſie näher gegen den Pol hin wieder
langſamer anwächſt, bis zuletzt jenſeits des 79 bis 80. Brei—
tengrades die Qberfläche des Meeres oder des feſten Bodens
in gleichmäßiger Weiſe von beſtändig bleibendem Eis oder
Schnee überzogen iſt, ſo daß dort ein Grad der Breite
näher nach dem Pole hin oder ferner von dieſem ſchwerlich
noch einen merklichen Temperaturunterſchied begründen kann.
Nur das mittlere Europa zeigt rückſichtlich der Abnahme der
mittleren Temperatur ein beſtändiger bleibendes Verhältniß
zur geographiſchen Lage, denn hier kann man nach A. v.
Humboldt annehmen, daß vom 38. bis 71. Grad der Breite
die Jahreswärme auf jeden Breitengrad um %, Grad des
Réaumur'ſchen Thermometers herabſinke. Die mittlere Tem:
peratur des 8460 F. hohen St. Bernhardtkloſters würde ſich
demnach in der Ebene unter dem 77. Grad der Breite an—
treffen laſſen.
444
Von der Abnahme der Wärme bei der allmähligen Er⸗
hebung über das Meeresniveau hängt vor Allem auch die
Höhe der Grenze des ſogenannten ewigen Schnees ab. Im
Ganzen kann man annehmen daß man unter dem Aequator,
nachdem man beim Hinaufſteigen auf ein dort gelegenes Hoch⸗
gebirge durch Regionen gekommen iſt, deren mittlere Wär—
me ſo wie die herrſchende Form der Pflanzen zuerſt denen
der gemäßigten, dann der kalten, für Menſchen noch bewohn—
baren Zone entſpricht, in einer Höhe von etwa 15000 bis
17000 Fuß (in den Cordilleren von Quito von faſt 14800,
in denen von Chili von 17260 F.) jene Temperaturgränze errei⸗
chen werde, jenſeits welcher der Alpenſchnee das ganze Jahr
hindurch, ohne hinwegzuthauen, liegen bleibt; zwiſchen dem
42. und 43. Grade der Breite, in den Pyrenäen wie am
Kaukaſus haben ſchon jene Gebirsgipfel einen bleibenden
Schnee, welche nur gegen 8400 Fuß hoch ſind; in unſren
Schweitzeralpen, unter dem 46. Grade der Breite, geht der
bleibende Alpenſchnee bis etwas unter 8200 F. herunter;
in den Karpathen unter dem 50. Breitengrade findet man
bereits in einer Höhe von 7000 F. den ganzen Sommer hin⸗
durch Schnee. Die Bewohner von Norwegen unter dem 62.
Grade der Breite können ſich mitten im heißen Sommer ſchon
aus einer Höhe von 5000 Fuß den Schnee und das Glet—
ſchereis zum Abkühlen ihrer Getränke holen; die Bewohner
des 72. Breitegrades ſehen, ſelbſt an der milder gelegenen
Küſte, auch ſolche Berge das ganze Jahr hindurch mit Schnee
bedeckt, welche nur 2200 Fuß hoch ſind, und noch weiter nach
dem Nordpol hin kann der langanhaltende Einfluß der flach
auffallenden Sommer-Sonnenſtrahlen den Schnee ſelbſt nicht
mehr von den niedren Hügeln, ja, wenn es dergleichen dort
gäbe, nicht einmal von den hohen Dächern der Thürme
und Häuſer hinwegthauen; zuletzt liegt die Gränze des blei⸗
benden Froſtes auf dem Boden der tiefen Ebenen auf und
die Eismaſſen des Meeres thauen nie mehr ganz hinweg.
Das weitere Herabrücken des fortwährenden Winters
von den Gebirgshöhen nach den Ebenen ſteht übrigens kei—
nesweges in einem feſt abgewogenen ſichren Verhältniß mit
der Entfernung von dem Aequator, ſondern hängt, wie die
mittlere Temperatur der Gegenden überhaupt, noch von ganz
andren Einflüßen ab. Allerdings ſenkt ſich die Schneelinie
nach den Beobachtungen die man in Amerika darüber ange—
N
445
ſtellt hat, nordwärts von dem Aequator, mit der Entfernung
von dieſem fo bedeutend, daß man ſchon unter dem 19. Gr.
der Breite im Hochlande von Mexico ſie um 960 Fuß nie—
driger findet als in den Cordilleren von Quito, dagegen ſteht
ſie, wie bereits erwähnt, in Chili, da wo die Hochgebirge in
Weſten dem Meere ſich nahen, um mehr denn 2000 F. höher
als unter dem Aequator, obgleich dieſe Gebirge im 16. bis
18. Grade der ſüdlichen Breite liegen. Die bedeutendſte Aus—
nahme von der ſcheinbaren Regel macht jedoch die Stellung
der Schneelinie in den Hochgebirgen des Himalaya, unter
dem 31. Grade der Breite. Am ſüdlichen Abhang, gegen
Indien, erreicht dieſelbe nur die Höhe von etwa 12180 Fuß,
was nur wenig über das Maaß des Oertlesgipfels in Ty—
rol hinaufgeht, dagegen zieht ſich dieſelbe an den faſt unter
gleicher Breite gelegenen Gebirgshöhen, welche den nördlichen
Abhang gegen Tübet hin bilden, bis auf eine Höhe von 15600 F.
zurück, ſo daß an dieſer nördlichen Seite noch Cultur- und
Weideland auf einer Erhebung gefunden wird, die am indi—
ſchen Abhange ſchon unter der Decke des beſtändigen Schnees
liegt. Dieſe Thatſache, auf welche zuerſt Al. v. Humboldt
die allgemeine Aufmerkſamkeit hinlenkte, und die zwar von
Hutton beſtritten war, von Batten aber neuerdings wie—
der außer Zweifel geſetzt iſt, bezeugt in vorzüglichem Maa—
ße den wärmeverbreitenden Einfluß der feſten Erdoberfläche;
denn das Hochland von Tübet, im Norden des Himalaya,
hebt ſich bis 10800 Fuß herauf, ſo daß ſeine von der Son—
ne empfangene, ausſtrahlende Wärme auf das Zurückweichen
der Schneelinie in den nachbarlich angrenzenden Gebirgen
ohnfehlbar von bedeutender Wirkung ſeyn muß. Eben aud
vermöge dieſer maſſigen Zuſammenfuͤgung genießt das Hoch—
land von Tübet ſelber einer ſo milden Temperatur, daß um
H'Laſſa (Vuleſung) deſſen Höhe über dem Meere nahe ges
gen 9000 Fuß betragen mag, noch Weinbau, begünſtigt viel—
leicht durch die Stellung der tief eingeſchnittenen Thäler, be—
trieben wird.
| Auch wenn wir bei dem Vergleich der mittleren Jahres—
wärmen verſchiedener Orte und Gegenden der Erdoberfläche
uns nur an die Ebenen oder geringeren Erhebungen über die
Meeresfläche halten, begegnen wir ganz auffallenden Aus⸗
nahmen von der Regel: daß die Wärme in gleichem Schritt
mit der Entfernung vom Aequator abnehme. Bereits die
446
erften europäiſchen Anſiedler im nördlichen Amerika, in den
Gebieten der jetzigen Freiſtaaten, ſo wie die Reiſenden an
den Küftengegenden des öſtlichen Aſiens fanden es auffallend,
daß in dieſen beiden Erdgegenden die Winterkälte ſo viel
ſtrenger, und ſelbſt die Sommermonate im Ganzen ſo viel
kühler ſeyen als in ſolcken Gegenden von Europa wel—
che unter den gleichen Graden der Breite und ſelbſt noch
etwas nördlicher gelegen find. Wenn man nach Al. v. Hum⸗
boldts lehrreicher Zuſammenſtellung die mittlere Jahreswär⸗
me der an der Oſtküſte von Amerika gelegnen Orte mit jener
vergleicht welche unter ähnlichen Graden der Breite in Eu⸗
ropa und im nördlichen Afrika beobachtet wird, dann erkennt
man, daß jemehr die Entfernung vom Aequator zunimmt, deſto
augenfälliger der Vorzug werde, den unſer Welttheil in Be—
ae auf die Milde feines Klimas vor der gegenüber ge-
egnen Seite von Amerika genießt. Nain, an der Küſte von
Labrador, liegt nur unter 57 Grad 8 Min. N. B. während
Chriſtianig in Norwegen faſt 60 Grade (59° 55) von dem
Aequator entfernt iſt und dennoch ſteht dort die mittlere Tem—
peratur des Jahres 2½ Gr. R. unter dem Gefrierpunkt
während fie in Chriſtiania nahe 4% Grad über dem Eis—
punkte iſt. Quebecks mittlere Jahreswärme beträgt nur 4%,
Gr. R. obgleich es um volle 5½ Grad ſüdlicher liegt als
Amſterdam, deſſen mittlere Temperatur nahe 9 Gr. R. iſt.
Halifax liegt mit Bordeaux, New Pork mit Neapel unter
gleicher Breite, und dennoch ſteht die mittlere Temperatur
der beiden genannten amerikaniſchen Städte merklich niedri—
ger als die der beiden europäiſchen, bei Halifax um mehr
denn 6, bei dem ſuͤdlicher gelegnen New York um 3 Grade.
Weiter hin, gegen den Aequator hebt der Unterſchied allmä—
lig ſich auf und ſchon bei 30° N. Br. genießen St. Augu⸗
ſtin und Kairo mit der gleichen geographiſchen Lage auch faſt
denſelben Grad der mittleren Wärme.
Und nicht nur gegen die Weſtküſte von Europa ſondern
auch gegen die Weſtküſte ſeines eigenen Welttheiles ſtehet
das öſtliche Küftenland von Amerika rückſichtlich der Milde
des Klimas in großem Nachtheil. Neu⸗Archangelsk, an der
Weſtküſte von Nordamerika liegt faſt in gleicher Breite mit
Nain in Labrador und dennoch übertrifft die Jahreswärme
des erſteren Ortes, die des letzteren um 8½ Gr. R, denn
nicht nur die mittlere Sommerwärme ſteigt in Neu⸗Archan⸗
ee
447
gelsk um 6 Grad höher, ſondern auch die Winter find daſelbſt
milder. Daſſelbe Verhältniß wiederholt ſich dann auch ver—
gleichungsweiſe zwiſchen der Weſtküſte von Europa und
der Oſtkuſte von Aſien. An der letzteren hat Peking eine
Lage welche noch etwas ſüdlicher iſt als die von Neapel,
und dennoch ſteht ſeine mittlere Temperatur um mehr
denn 4 Grad niedriger als die von Neapel. Namentlich iſt
der Winter in Peking, ſehr ſtreng, denn die mittlere Tem—
peratur deſſelben kommt nahe an 2½ Grad R. unter dem Ge⸗
frierpunkt, die Winterkälte iſt mithin dort noch um etliche
Grad ftärfer als in Kopenhagen, welches doch um 17 Grad
nördlicher gelegen iſt.
Das Angrenzen eines Meeres von Weſten her, dieß
iſt offenbar, hat auf das Klima der Länder einen mildernden,
begünſtigenden Einfluß, überhaupt aber wirkt die Nähe des
Meeres ſehr bedeutend auf den Zuſtand der Temperatur
der Erdoberfläche ein. Das Waſſer, als ein minder em—
pfindlicher Wärmeleiter nimmt weder die Wärme des Sommers
noch die Kälte des Winters in dem Grade an ſich als der
feſte Boden. Die Wärme, ſelbſt jene welche die ſenkrecht
auffallenden Sonnenſtrahlen im Gewäſſer erzeugen, wird
überdieß durch die fortwährende Verdünſtung gemindert,
der Einfluß der kalten Winterluft dadurch gemäßigt, daß
ſich die Erkältung des Waſſers feiner ganzen Maſſe, bis in
die Tiefe hinab mittheilt und hierdurch nur allmälig einen
feſtſtehenden tieferen Grad erreicht, während zugleich das
Waſſer nur wenig Wärme durch Ausſtrahlung an die kalte
Luft abgiebt. Uebrigens iſt der Einfluß der Verdünſtung
des Meeres mehr noch an der Abkühlung der auf ſeinem
Spiegel aufliegenden Luft als an der Temperatur ſeiner
Oberfläche ſelber zu bemerken; denn dieſe wird vom Aequas
tor an bis zum 48° nördlicher wie fudlicher Breite immer
um etwas hoher gefunden als die der zunächſt angrenzenden
Luftſchichten. Durch all dieſe Beziehungen bewirkt das Meer
eine Ausgleichung der Temperaturen, eine Mäßigung ſowohl
der höheren Grade der Hitze als der Kälte des angränzenden
Erdbodens, ſo daß die Küſtenländer und Inſeln keine ſolche auf—
fallenden Temperaturunterſchiede zu erleiden haben als die weit
vom Meere ab im Innern großer Feſtländer gelegenen Ge—
genden. So haben nach v. Humboldts Bemerkung einige
Städte im tiefen Innren des nördlichen Aſiens, wie Tobolsk,
448
(58° 12° N. Br.) Barnaul am Obi 53° 19 N. Br.) und
Irkurtsk (52° 17) rückſichtlich der Temperatur eben ſolche
Sommer wie Berlin 52° 31“) wie Münſter 51° 57) und
wie Cherbourg in der Normandie (49° 389) ja das Ther⸗
mometer behält an jenen Orten zuweilen wochenlang ſeinen
Stand auf 24 und faſt 25 Gr. R., aber auf dieſe Sommer
folgen Winter in denen man einen Monat lang anhaltend
eine mittlere Temperatur von 15 bis 16 Grad unter dem
Eispunkt zu dulden hat.
Vornämlich iſt es die Milde des Winters durch welche
die mittlere Temperatur mancher Orte eine höhere Steigerung
empfangen kann, ohne daß deshalb die Lage, für gewiſſe
Erzeugniſſe der Pflanzenwelt eine günſtigere wird. Im Nord-
oſten von Irland unter 54 Gr. 56 Min., mithin unter
gleicher Breite mit Königsberg in Preußen, erhält ſich die mittlere
Temperatur des Winters auf faſt 3½ Grad über dem Ge—
frierpunkt, mithin höher als in Mailand, als in Padua und
der ganzen Lombardei, wo der mittlere Thermometerſtand
der Wintermonate nur etwa 2 Grad über dem Gefrierpunkt
erreicht. Obgleich aber nun, wenn dieſe Milde des Winter—
halbjahres allein den Ausſchlag gäbe, Dublin in Irland ein
noch milderes Klima haben muͤßte als Mailand, wird den—
noch jener ſcheinbare Vorzug ganz wieder durch den nach—
theiligen Einfluß aufgehoben, den die geringe Wärme des
Sommers von nur 12 G. R. im Mittel auf einen ſolchen
faſt immer „nebelverſchleierten!“ Himmelsſtrich hat. Die
mittlere Jahreswärme von Mailand iſt 10%, die von Dub—
lin nicht viel über 8 Gr. R. Ofen in Ungarn giebt ein
Beiſpiel vom Gegentheil. Dort iſt der Winter im Durchſchnitt
ſo kalt, daß ſeine mittlere Temperatur faſt bis auf 2 Grad
R. unter den Eispunkt herabſinkt, mithin über 5 Grad tiefer
als in den erwähnten Gegenden von Irland; dagegen ſteigt
die mittlere Wärme des Sommers in Ungarn bis über 16 ja
bis gegen 17 Gr. R. Noch auffallender iſt der Contraſt
zwiſchen den mittleren Temperaturen der Winter und der
Sommer an einigen andren Küſtenpunkten und Inſeln des
nordweſtlichen Europas. Auf den Orkneys Inſeln (3. B. Strom:
neß) keinen halben Grad ſüdlicher als Stockholm, iſt (nach
ml. v. Humpoldt) der Winter milder als in Paris, faſt ſo
mild als in London. Selbſt auf den Farber Inſeln, in
620 N. Br. gefrieren die Binnenwaſſer niemals. e
ieb⸗
449
lieblichen Küſte von Devonſhire, wo der Hafen Salcombe
wegen ſeines milden Klimas das Montpellier des Nordens
genannt worden iſt, hat man die ſogenannte amerikaniſche
Alve (Agave americana) eben fo wie in Südfrankreich und
Italien im Freien blühen ſehen. Dort, wie zu Pozana und
Gosport und an den Küſten der Normandie zu Cherbourg
ſteigt die mittlere Wintertemperatur über 4¼0 R. d. i. kaum
1 Gr. R. weniger hoch als in Montpellier und Florenz. —
Und dennoch würden wir weit irre gehen, wenn wir von der
Kraft des Klimas jener weſtlichen Küſtengegenden im Allge—
meinen daſſelbe erwarten wollten, was das Klima von Mont⸗
pellier, von Florenz und einigen andren, ähnlich gelegenen
Gegenden zu wirken vermag. Während in der Umgegend von
London der Erdbeerbaum und die Myrte eben ſo den Win—
ter im Freien ausdauern, eben ſo im Freien ihre Blüthen
tragen wie im botaniſchen Garten zu Montpellier, während
auch in Irland der neuſeeländiſche Flachs im Freien gezogen
werden kann, bringt daſelbſt der Weinſtock ſeine Trauben
niemals zur vollkommnen Reife, und das gleiche widerfährt
allen den andren Gewächſen, welche zur Reifung ihrer Früch—
te und zu ihrer vollkommenſten Entwicklung einer hohen, an—
haltenden Sommerwärme bedürfen, welche allerdings, damit
die Pflanzen vom Froſt nicht verdorben werden, auch von
einer gewiſſen Milde des Winters unterſtützt werden muß.
Auf beides zuſammen wirkt nicht bloß der im Allgemeinen hö—
here Stand der Sonne, ſondern mit ihm zugleich die Lage eines
Erdſtriches gegen die angränzenden Meere und Länder ein.
Der Einfluß der höhern, der zuletzt ſenkrecht ſtehenden Son—
ne unter dem Aequator und zwiſchen den Wendekreiſen äußert
ſich wie wir vorhin ſahen in viel ſtärkerem Maaße auf den
feſten Boden als auf das Meer. Von dem feſten Boden,
vor allen wenn dieſer trocken, ſteinig und ſchattenlos iſt, wie
der Boden der afrikaniſchen und aſiatiſchen Sandwüſten,
erheben ſich, wenn die hochſtehende Sonne ſie beſtrahlt,
am Tage die heißen Luftſtrömungen, die ſich in die kälteren
Gegenden der weiter nach den Polen hin gelegenen Erdſtriche
ergießen, während aus dieſen ſo wie von oben die ſchwerere,
kältere Luft ſich hinzudrängt. Der Boden der ſteinigen und
ſandigen, zwiſchen den Wendekreiſen gelegenen Wüſten wird
während des Tages nicht ſelten bis zu 42 ja zu mehr als
48 Gr. R. erhitzt. Den zuletzt erwähnten Grad der Erhiz—
80
450
zung beobachtete Al. v. Humboldt in dem weißen Granit⸗
ſand an den Waſſerfällen des Orinoco, während die Wärme
der Luft doch kaum 24 Gr. R. betrug; dagegen ſahe J. v.
Roth, der Begleiter des Capitän Harris auf der engliſchen
Expedition nach Schoa, das Thermometer über der ſteinigen
Wüſte unter dem 9. Grade der Breite im Schatten auf nahe 41
Grade R. ſteigen. Ein ſolches Uebermaaß der Tageswärme
kann ſich jedoch im Verhältniß zu den kälteren Luftſchichten
der oberen ſo wie der polariſchen Regionen nicht lange hal⸗
ten, gewöhnlich zeichnen ſich die Nächte der tagheißen Wü⸗
ſten durch eine empfindliche Abkühlung ihrer Nächte aus.
Die Linie des höchſten Standes der Sonne trifft nur
mit dem ſechſten Theil ihres Verlaufes auf feſtes Land, mit
den übrigen fünf Sechstheilen auf das Gewäſſer auf. Je⸗
nes vorzugsweiſe begünſtigte Sechstheil gehört faſt zur Hälfte
dem Erdtheil von Afrika an, über deſſen Ländermaſſen der
Aequator ſich hinzieht; auch über einigen Gegenden des Feſt⸗
landes und der größeren Inſeln von Aſien ſo wie von Auſtra⸗
lien ſtehet die Sonne zweimal im Jahre ſenkrecht, während
nur / des unter dem Aequator gelegenen Landes zu Ameri⸗
ka gehören. Schon hierin liegt eine Urſache jener höheren
Jahreswärme, durch welche ſich namentlich Europa vor dem
größten Theil der andren Feſtländer auszeichnet. Die war—
men Luftſtrömungen, die ſich durch den Einfluß der Sonne
auf dem zwiſchen den Wendekreiſen gelegenen Boden von
Afrika erzeugen, nehmen an einigen Punkten nur einen ganz
kurzen Verlauf über das Mittelmeer, und ſelbſt da wo die⸗
ſes eine größre Breite zwiſchen beiden Welttheilen einnimmt,
vermag es die wärmende Kraft der aus Süden kommenden
Winde ſo wenig zu ſchwächen, daß dieſelben als heißer Siroc⸗
co durch ganz Italien und bis herauf an die Tiroler
Alpen fühlbar ſind. Faſt dieſelben Vortheile der Erwärmung
genießen die weſtlichen Länder von Aſien bis an die mittleren
Grade der Breite und namentlich die oſtindiſchen Halbinſeln
mit der Nachbarſchaft ihrer großen Inſeln. f
Den ganz entgegengeſetzten erkältenden Einfluß haben
die Luftſtrömungen welche aus den Polargegenden kommen,
auf ein Feſtland, das ſich in ununterbrochenem Verlaufe bis
weit hin gegen den Pol erſtreckt. Europa gränzet mit ſeinen
nördlichſten Küſten an ein Meer an, welches ſich bis über
den Polarkreis hinaus, großentheils frei von Eiſe hält, wäh⸗
451
rend das nördlichſte Feſtland von Aſien zum Theil über den
Polarkreis ſich ausbreitet und eben fo wie der nöͤrdlichſte Kü⸗
ſtenſaum von Amerika von einem Meer umgürtet iſt, welches
nur ſtellenweis vom Eiſe frei wird. Von daher kommen jene
rauhen Luftſtrömungen, welche den Wintern ſelbſt in den
ſüdlicheren Gegenden von Sibirien einen ſo hohen Grad von
Kälte bringen.
| Das Zurückbleiben der atmosphäriſchen Luftmaſſen gegen
die rotirende Bewegung des Erdaequators von Weſt nach
Oſt erzeuget zwiſchen den Wendekreiſen den beſtändigen Strom
der Oſtwinde (Paſſatwinde). Das hierdurch geſtörte Gleich-
gewicht der Luftſäulen ſtellt ſich durch die Weſt- und Süd⸗
weſtwinde wieder her, welche in den angränzenden gemäßig⸗
ten Zonen den größeſten Theil des Jahres hindurch vorherr—
ſchen. Wo dieſe vorwaltende Luftſtrömung über ein weit-
ausgedehntes Meer dahinſtreicht, ehe ſie das Land erreicht,
da nimmt ſie die auch im Winter mildere Temperatur des
Meeres an und theilt dieſelbe den Küſtengegenden mit; wenn
ſie dagegen einen weiten Lauf über Feſtländer nimmt, dann
wird ſie durch die winterliche Kälte derſelben ſo abgekühlt,
daß fie die Jahreswärme der Landſtriche, über welche ſie ſich
ergießt, um ein Bedeutendes herabſtimmt. Hierin liegt der
Hauptgrund der milderen Winter der an der Weſtküſte, der
härteren Winter der an der Oſtküſte gelegnen Gegenden
unſrer Feſtländer.
Ueberhaupt bewirkt aber, wie ſchon oben erwähnt, das
Meer eine Ausgleichung der Temperaturen des Sommers
und des Winters, daher die Bildung des Landes zu Halbin—
ſeln, das tiefe Hineintreten von Meeresbuchten, das Bor:
kommen von anſehnlichen Binnenmeeren, überall zur Milde⸗
rung des Klimas beiträgt. Vor Allem bringen die Strö—
mungen des Meeres, wenn ſie eine erhöhte Temperatur be—
ſitzen, den Ländern, deren Ufer ſie beſpülen, den Vortheil
einer Wärmeerhöhung, wie dies Sabine an dem Golfſtro—
me nachgewieſen hat, der von den Küſten von Mexico her—
über feinen Lauf gegen die Weſtküſten von Afrika und Euro-
pa nimmt. In all dieſen Beziehungen erſcheinen deshalb
Europa und das weſtliche an das Mittelmeer wie an das
ſchwarze und caspiſche Meer gränzende Aſien für das Ge—
deihen und Wohlbefinden ihrer Bewohner eben ſo vorzugs⸗
weiſe geeignet als für den Verkehr der Völker, und faſt die⸗
29
452
felben Vorzüge genießen die zu Halbinſeln ausgedehnten, von
tief hereintretenden Meeresarmen durchſchnittenen Länder des
ſüdlichen Aſiens ſo wie mehrere Erdſtriche des mittleren
Amerikas.
Einem örtlichen Einfluß von entgegengeſetzter Art, zur
Herabſtimmung der Jahreswärme, üben in der gemäßigten
und kälteren Zone das Vorkommen von Sümpfen und ſeich⸗
ten Waſſern, die ſich im Winter mit Eis bedecken und im
Frühling ſpät aufthauen, ſo wie die Nachbarſchaft von iſolirt da—
ſtehenden hohen Bergen, von deren beſchneiten Gipfeln kalte
Luftſtröme ſich nach der Tiefe herabſenken, weit ausgedehnte
Waldungen, welche durch die Verdünſtung der angeſogenen
Feuchtigkeiten und durch Beſchattung des Bodens dieſen ab—
kühlen, endlich auch die Richtung von lang fortlaufenden Ge-
birgszügen, welche den Zutritt der warmen Luftſtrömungen
aufhalten.
Da, wo der Himmel im Sommer von beſtändigem Ne—
bel und atmosphäriſchen Niederſchlägen getrübt, der Winter
dagegen heiter iſt, ſo daß die Wärme des Bodens ungehemmt
durch Ausſtrahlung ſich zerſtreuen kann, kann die Erde kein
anmuthiger Wohnſitz für den Menſchen ſeynz deſto höher aber
ſteigen die Reize der Natur in Gegenden, wo der Himmel
faſt beſtändig heiter und zugleich dennoch zu gewiſſen Jah—
reszeiten nicht ganz arm an Ergüſſen des Regens iſt.
Wenn wir die Ausdehnung der verſchiedenen, nach dem
Stand der Sonne und der herrſchenden Jahreswärme abge—
gränzten Zonen betrachten, dann ſtellt ſich im Ganzen fur
die geſammte Erdoberfläche ein ſehr günſtiges Verhältniß
heraus. Die heiße Zone, welche ſich vom Aequator nach bei—
den Seiten bis zu den Wendekkeiſen erſtreckt, umfaßet einen
Flächenraum von 3,700,000 Quadratmeilen, jede der beiden
gemäßigten Zonen von den Wendekreiſen bis zu den Polar⸗
kreiſen 2¼ Millionen, beide zuſammen 4% Millionen Mei⸗
len, jede der kalten, für den Menſchen faſt durchaus unwirth⸗
baren Polarzonen nur 384,000 Quadratmeilen. Bloß für den
eilften Theil der Erdoberfläche iſt deshalb die Einwirkung
der Sonnenſtrahlen ſo unkräftig, daß ſie zum Theil ſelbſt
im Sommer das Eis und den Schnee nicht mehr hinwegzu—
thauen vermag.
An den beiden Extremen, in der heißen wie in der Po—
larzone wird im Ganzen, wie bereits erwähnt, unter gleichen
453
Breiten die größeſte Uebereinſtimmung der mittleren Tempe—
ratur gefunden; wenn wir dagegen unter gleicher Parallele
von den Küſten des atlantiſchen Meeres, von Frankreich
aus durch Deutſchland, Polen und Rußland immer oſtwärts
zur Uralkette die Jahreswärme der Gegenden vergleichen,
dann ſehen wir dieſe immer tiefer herabſinken. Jenſeits des
Urals werden die milden Weſtwinde ſchon zu erkältenden
Landwinden; das Klima des weſtlichen Sibiriens unterliegt
all den nachtheiligen Einflüßen, denen ein lang fortlaufendes,
von einförmigen Steppen, ſalzigen Lachen und Sümpfen
bedecktes Feſtland ausgeſetzt iſt. Umgekehrt, wenn wir uns
über die Oberfläche der Erdkugel, neben und zwiſchen jenen
Linien, welche die Breitegrade andeuten, andre Linien ge—
zogen denken, welche die gleichen Grade der Jahreswärme
bezeichnen (die Iſothermlinien), dann finden wir daß eine
ſolche Linie von der Oſtküſte von Amerika herüber nach der
Weſtküſte von Europa ſich bedeutend aufwärts krümme, in—
dem hier nahe am 70. Grade der Breite noch dieſelbe mitt—
lere Temperatur herrſcht, wie dort kaum unter dem 57. und
60. Folgen wir aber derſelben Linie von der Küſte von
Lappland weiter oſtwärts nach Aſien hinüber, ſo ſehen wir
ſie abermals ſich bedeutend abwärts krümmen, ſo daß im
öſtlichſten Aſien unter dem 57. bis 60. Grad der Breite die
mittlere Temperatur auch nicht höher ſteht als im nördlich—
ſten Lappland. Von neuem ſteigt jedoch dieſe Iſothermlinie,
wenn wir ihr über das Gebiet des ſtillen Meeres hinüber—
folgen, nach der Weſtküſte von Nordamerika, wieder aufwärts;
die mittlere Jahreswärme kommt hier jener nahe, welche
die unter gleichen Breiten gelegenen Punkte der euro—
päiſchen Weſtküſte auszeichnet. Auf dieſe Krümmungen der
iſothermen Linien, auf ihr Hinabſinken unter, ſo wie ihr Hin—
anſteigen über die Linien der geographiſchen Breiten denen
ihre Richtung im Ganzen am nächſten kommt, hat an vielen
Punkten, wo dieſelben über Meer und Inſeln oder einzelne
Theile des Feſtlandes ſich hinziehen, dieſe Verſchiedenheit der
Geſtaltung der Erdfläche einen augenfälligen Einfluß, ſo daß
auf einmal da, wo die iſothermen Linien vom Meere oder von
kleineren Inſeln aus eine langgedehnte Landzunge oder eine
größere Inſel durchſchneiden, unter den oben erwähnten be—
günſtigenden Umſtänden eine Erhöhung, unter den entgegen—
geſetzten eine Erniedrigung des Temperaturgrades eintritt.
454
In einigen nachbarlichen Gegenden ſelbſt eines und deſſelben
Feſtlandes bewirkt bei Orten, welche ganz in derſelben geo⸗
graphiſchen Breite und in gleicher Höhe über dem Meere lie⸗
gen, ſchon das eine bedeutende Verſchiedenheit in der mittle⸗
ren Temperatur, wenn der eine davon am Abhange eines
Gebirges, der andre auf einer weit ausgedehnten Hochebene
deſſelben ſich befindet. Die letztere Lage gewährt in den Cor⸗
dilleren eine Erhöhung der Jahreswärme von 1 bis nahe
an 1½ Gr. R.
Daß ſeit Jahrtauſenden die allgemeine, mittlere Wär⸗
me unſres Planeten keine bemerkbare Veränderung erlitten
habe beweist nicht allein die hiſtoriſche Kunde, ſondern ſelbſt
die mit der größten Schärfe geführte Rechnung der Aſtrono⸗
men. Mit der abnehmenden Wärme würden ſich zugleich
andre, ſehr tief eingreifende Naturverhältniße geändert haben,
mit welchen die Dauer der Bewegung um die Achſe, die Län—
ge des Tages im Zuſammenhang ſtehet, von der ſich erwei—
ſen läſſet, daß ſie ſeit Jahrtauſenden dieſelbe geblieben ſey.
Die Abweichungen der Temperatur einzelner Jahre, ja ſelbſt
mehrerer Jahrgänge ſind eben ſo örtlich als vorübergehend,
und während der eine Länderſtrich einen ungewöhnlich har—
ten Winter hat, oder an einer lang dauernden Hitze und Dürre
leidet, herrſcht in einem andren Länderſtrich zur gleichen Zeit
ein feuchtwarmer Winter, oder ſein Boden wird bis zum
Uebermaaß vom Regen überfluthet. In der jetzigen Welt—
zeit hat die nördliche Halbkugel unſres Planeten auch darin
einen Vorzug vor der ſüdlichen, daß die Mitte ihrer Som—
mer nahe mit jener Zeit ihres Jahreslaufes zuſammenfällt,
während welcher ſich die Erde in ihrer Sonnenferne befindet,
die Mitte des Winterhalbjahres mithin mit der Zeit der
Sonnennähe. Da ſich, nach dem Geſetz der allgemeinen
Schwere, oder der polariſchen Wechſelwirkung zwiſchen dem
Centralkörper und den ihm zugeordneten Körpern, die Ger
ſchwindigkeit der Bahnbewegung in einem quadratiſchen Ver⸗
hältniß mit der größeren Annäherung an den Centralkörper
ſteigert, ſo iſt die Folge jenes Zuſammentreffens der beiden
Hauptjahreszeiten mit den verſchiedenen Abſtänden von der
Sonne die, daß das Winterhalbjahr auf der nördlichen Halb—
kugel um faſt 8 Tage (7 Tage 18 Stunden) kürzer dauert
als das Sommerhalbjahr, dieſes mithin um eben ſo viel
länger. Da jedoch dieſes Verhältniß veränderlich iſt, indem
455
auch die Punkte der Erdbahn, dahin die Sonnennähe und
die Sonnenferne fallen, nicht immer in derſelben Stellung
bleiben, ſondern jährlich um 61¼ Secunden (faſt um den 29.
Theil des Durchmeſſers einer Mondenſcheibe) vorrücken, ſo
folgt hieraus: daß der Unterſchied zwiſchen der Länge des
Sommers und des Winters, auf beiden Halbkugeln, nicht im⸗
mer derſelbe war, noch derſelbe bleiben könne. Schon jetzt
fällt die Zeit der Sonnennähe nicht mehr genau mit Win⸗
‚terdanfang zuſammen, ſondern am 1 Januar, auch die Son⸗
nenferne tritt nach der eigentlichen Mitte des Sommerhalb—
jahres (nach dem Sommerſonnenſtillſtand), erſt am 3. Juli
ein und jedesmal nach etwa 58 Jahren rücken dieſe Zeit—
punkte um einen Kalendertag weiter vorwärts. Wenn man
deshalb zurückrechnet, dann findet man daß vor faſt 6000
Jahren die Sonnennähe mit dem Anfang des Herbſtes, die
Sonnenferne mit der des Frühlinges zuſammentrafen und
daß damals die beiden Hauptjahreszeiten für beide Halbku—
geln die vollkommen gleiche Dauer hatten. Deshalb war
aber, zu jener Zeit, die nördliche Halbkugel weder wärmer
noch kälter, als ſie jetzt iſt. Denn außerdem daß, wie ſchon
erwähnt, die berechnende Aſtronomie aus der ſich gleichblei—
benden Dauer der täglichen Umdrehung der Erde um ihre
Achſe es erwieſen hat, daß die mittlere Erdwärme ſeit Jahr—
tauſenden dieſelbe geblieben ſei, hat ohnehin auch die Um⸗
laufszeit der Erde um die Sonne, oder das Jahr, die voll⸗
kommen gleiche Länge behalten, der mittlere Abſtand der Erde
von ihrem Centralkörper iſt noch genau derſelbe wie vormals.
Die Beleuchtung und Erwärmung des Feſtlandes zwiſchen
den Wendekreiſen, durch die ſenkrecht oder faſt ſenkrecht ſtehen⸗
de Sonne, hat ſich mithin im Ganzen an Dauer wie an
Kraft unverändert erhalten; die warmen Luftſtrömungen, wel⸗
che von dem beſtrahlten Feſtboden auffteigen, die Meeresſtrö⸗
mungen welche aus der heißen Zone dieſſeits wie jenſeits
dem Aequator und von der Oſtküſte des weſtlichen Feſtlan⸗
des kommend hinan gegen die Weſt- und Nordküſte des Feſt⸗
landes der öſtlichen Halbkugel ſich ergießen, ſind die nämlichen
geblieben; das Verhältniß der periodiſchen Ausgleichungen
der Wärme der einen mit der Kälte der andren Gegend be—
ſtund vor Jahrtauſenden in derſelben Weiſe und wird nach
Jahrtauſenden noch eben ſo beſtehen als es jetzt vorhanden
iſt. Selbſt die Zu- wie die Abnahme des Eiſes der Polar⸗
456
meere wie der Hochgebirgsgipfel ftehet innerhalb gewiſſer
Grenzen der wechſelſeitigen, periodiſchen Ausgleichung. Der
Vorzug, welchen die nördliche Halbkugel vor allem rückſicht⸗
lich ihrer wärmeren Sommer vor der ſüdlichen hat, gründet
ſich vorzugsweiſe auf die größere Maſſe der Feſtländer, die
ſich auf ihr zuſammengedrängt findet. Die vorherrſchende
Menge des Gewäſſers auf der ſüdlichen Halbkugel gewährt
dieſer zwar eine gewiſſe Milderung der Winterkälte, giebt
aber auch zugleich Veranlaßung zur Ueberfüllung der Atmos⸗
phäre mit wäßrigen Dünſten und Niederſchlägen, welche
die Wärme des Sommers niemals recht aufkommen, die
ſtrahlende Kraft der Sonne niemals durch ihre nebliche Hülle
in ihrem vollem Maaße hindurchbrechen laſſen. Furchtbar
muß deshalb, im Vergleich ſelbſt mit den Polarländern
der nördlichen Halbkugel der Zuſtand des neuentdeckten, ſüd—
lichen Polarlandes ſeyn. Das erſtere hängt doch zum Theil
mit Feſtlandmaſſen zuſammen, aus denen vom ſonnenbeſtrahl—
ten Boden noch warme Luftſtrömungen ausgehen können,
ohne über dem Meer ihre höhere Temperatur zu verlieren;
das ſüdliche Polarland aber iſt durch ein weites Meer und
zuletzt durch die Eismaſſen welche dieſes erfüllen, von ſolchen
Zuflüßen der Luftwärme abgeſchnitten.
Dennoch regt ſich auch noch in der Nähe dieſer umnebel—
ten, niemals thauenden Eismaſſen eine Welt der kleinſten
mikroſcopiſchen Thiere, in ſolcher Verſchiedenheit der Arten
und in ſolcher unermeßbaren Menge der Einzelweſen, daß
allein Capitän Roß von ſeiner Reiſe nach dem Südpol
unter 78 Gr. 10 Min. ſüdlicher Breite, aus den Stücken
des herumſchwimmenden Eiſes über 15 Arten ſolcher Klei⸗
nen mit ihren kieſelhaltigen Schaalen mitgebracht hat.
In einigen derſelben ließen die grünlichen Eierſtöcke keinen
Zweifel darüber, daß die Thiere nicht etwa zu längſt geitor-
benen ſondern zu den noch lebenden Weſen, zu den fortwäh⸗
renden Bewohnern der kälteſten Zone der Erde gehörten.“
Wenn aber auch dieſes kleine Gewimmel des Thierrei-
ches durch die zahlloſe Menge, in der es ſowohl die ſüͤdliche
als die nördliche Polarzone bewohnt, einen Beweis giebt,
daß ſelbſt noch in dem winterlichen Halbdunkel jener Gegen⸗
den, wie in der Tiefe der Schächte ein Leben möglich fey,
ſo gilt dieſes doch nur zunächſt von dieſen unvollkommnen
Formen unter den Lebendigen. Die andren, höher ſtehenden,
*
e
E
457
bedürfen, wie dies Al. v. Humboldt dargethan hat, nicht
nur des Einflußes einer höheren, mittleren Jahreswärme,
ſondern auch des klar, durch unumwölkten Himmel und aus
einem gewißen höheren Stande herabſtrahlenden Lichtes der
Sonne. Ein Gemiſch von Chlor und Waſſerſtoffgas ent—
zündet ſich bei derſelben Höhe der Lufttemperatur nicht, wenn
der Himmel getrübt und hierdurch der Strahl auch der hoch—
ſtehenden Sonne etwas geſchwächt iſt; ſein Entflammen mit
heftiger Exploſion tritt aber alsbald ein, wenn das Licht in
voller Klarheit aus dem atmosphäriſchen Höhendunſt hervor—
bricht. So finden wir auch daß in manchen weſtlichen Kü—
ſtengegenden unſres Welttheiles zwar bei der hohen mittleren
Jahreswärme die Myrte wie der Lorbeerbaum im Freien
grünen, und dennoch kommen dort manche Arten der Früchte
nicht zur Reife, weil der meiſt von wäßrigen Dünſten ver—
ſchleierte Himmel das Sonnenlicht nur ſelten in voller Klar—
heit hindurchbrechen läßet, und die geographiſche Stellung
der Gegenden eine zuweit gehende Abweichung der Strahlen
von der geradlinigen Richtung mit ſich bringt. Es führt
uns dieſes von der Betrachtung der Sonnenwärme und ihres
Einfluſſes auf die Erdoberfläche zur Betrachtung des Lichtes
der Sonne und ſeiner Eigenſchaften.
53. Das Daguerrotyp und die Photographie
i oder Lichtzeichnung.
Wir verweilen hier zuerſt auf einige Augenblicke bei
einer der merkwürdigſten Entdeckungen der neueſten Zeit, weil
uns dieſelbe in anſchaulichſter Weiſe mit einer Eigenſchaft
des Lichtes bekannt macht, durch welche dieſes die innre Ver—
wandtſchaft ſeines Weſens mit jenem der früher betrachteten
elektromagnetiſchen Naturkräfte kund giebt.
Man wußte es längſt, daß die ſchwingende Bewegung
der tönenden Körper, die ſich als hörbaren Ton der Luft
und hierdurch unſrem Ohre mittheilt, eine gewiſſe, Geſtalten
bildende Kraft habe. Wenn man auf Glastafeln, die beim
Streichen ihres Randes durch den Violinbogen verſchiedene
Töne von ſich geben, den zarten Staub eines fein gepulver—
ten Körpers, wie den von Kolophonium aufſtreut, dann be—
merkt man daß ſich beim Tönen der Glastafeln oder der and—
ren in hörbare Schwingung geſetzten Körper aus der verſchie—
458
denartigen Aneinanderfügung des Staubes eben ſo verſchied⸗
ne Figuren bilden als Töne waren. Auch die Schwingung
in welche der elektriſche und elektromagnetiſche Strom die
Körper verſetzt, bringen in ähnlicher Weiſe Geſtaltungen her⸗
vor, und ſchon frühe erkannte man die Verſchiedenheit in
der ſich hierbei die poſitive wie die negative Elektrizität
äußern. Im Lichte, und zwar vor Allem in dem der
Sonne, mußte ſchon die Beobachtung der früheſten Men⸗
ſchenalter die Farben gebende wie die geſtaltende Wirkſamkeit
anerkennen. Jene verkrüppelten misfarbigen Anomien, (ein
Geſchlecht der zweiſchaaligen Muſcheln) welche durch die An⸗
ker und andre in das Meer geſenkte Werkzeuge aus einer
Tiefe des Gewäſſers heraufgezogen werden, in welcher nur
noch ein ſchwachdämmernder Lichtſchein von oben hinabfällt,
laſſen uns, eben ſo wie die in dunklen Gruben oder Kellern
hervorbrechenden bleichfarbigen, unvollkommen ausgebildeten
Sproſſen der Kartoffelknollen oder andrer Gewächſe die Ab—
hängigkeit erkennen, in welcher die Bildung der belebten Kör—
per von dem Einfluß des Tageslichtes ſtehet. Die kryſtal—
liniſche Geſtaltung der unorganiſchen Stoffe ſcheint allerdings
jenes unmittelbaren Einflußes nicht zu bedürfen; deſto wich⸗
tiger iſt jedoch derſelbe für viele chemiſche Bildungen, Zer—
ſetzungen und Umgeſtaltungen der Elemente.
Namentlich wirkt das Sonnenlicht in zerſetzender Eigen⸗
ſchaft auf die Verbindungen, des Goldes und Silbers, mit
verſchiedenen Grundſtoffen; beide Metalle empfangen hiebei
das Vermögen ſich in einer metalliſchen Form oder im Zu—
ſtand einer niedren unvollkommenen Oxydation auszuſcheiden.
Wir ſprachen oben S. 183 von dem Jod, das durch Aus—
laugung der Aſche mehrerer Seegewächſe gewonnen, übers
dieß auch dem Waſſer mancher Quellen in geringer Menge
beigemiſcht iſt. Dieſer im Waſſer ſchwer, im Weingeiſt leicht
auflösliche, faſt metalliſch glänzende Grundſtoff, der ſich
durch die Wärme in ein Gas von veilchenblauer Farbe ver-
wandelt, geht eben fo wie das Chlor und das Brom (feine
beiden Mitbewohner des Meeres und der Seegewächſe) mit
dem Silber Verbindungen ein, aus denen dieſes Metall
durch Einwirkung des Lichtes alsbald ausgeſchieden wird.
Auf die leichte Zerſetzbarkeit des Jodſilbers gründet ſich
denn die jetzt näher zu beſchreibende, im Jahr 1839 von
Niepce und Daguerre gemachte Erfindung.
N
459
Eine Kupferplatte wird mit Silber überzogen (plattird)
und dann ſorgfältig polirt um ihr eine möglichſt glatte, reine
Fläche zu gebenz ſie wird hierauf an einem dunklen Orte in
ein Behältniß geſtellt, auf deſſen Boden Jod ſich befindet,
das durch die von unten herauf wirkende Erhitzung ſich in
Dampf verwandelt und als ſolcher mit dem Silber an ſeiner
Oberfläche ſich verbindet, welches dadurch eine dunkle faſt
goldgelbe Färbung erhält. Sobald dieſe Verbindung vollen—
det iſt, wird die Metallplatte mit ihrem feinen Jodſilber—
überzug unmittelbar aus dem dunklen Behältniß heraus in
eine Camera obſcura gebracht, in welcher das Bild des von
der Sonne beleuchteten Gegenſtandes in einem Spiegel auf—
gefangen, und von dieſem in eine Sammellinſe hineingeſtrahlt
wird, welche das empfangene Bild, nach verkleinertem Maaß—
ſtab auf die in ihrer Brennweite ſtehende Metallfläche eben ſo wie
auf jede andre Fläche auffallen läßet. Nach wenig Augenblicken
hat das Licht, das von dem beleuchteten Körper hinein in
die Camera obſcura und aus dieſer auf dem Jodſilberüber—
zug abgeſtrahlt wird, an dieſem ſchon ſeine zerſetzende Wir—
kung geäußert: das Silber iſt in einen Zuſtand der Ausſchei—
dung von dem Jod übergegangen. Noch aber wird, wenn
man die Platte ſchnell genug heraus zieht, (bevor auch das
ſchwächere Licht der umgebenden Luft ſeinen zerſetzenden Ein—
fluß äußern konnte) keine Spur von einem Bild auf ihrer
Oberfläche bemerkt, wohl aber wird daſſelbe ſichtbar, wenn
man die Platte aus der Camera obſcura heraus abermals
auf einige Minuten in einen dunklen Kaſten bringt, auf deſ—
fen bis zu 52 oder 56 Grad Réaumur erwärmten Boden
Queckſilber ſich befindet, welches bei dieſer erhöhten Tempera—
tur die Form des Dampfes annimmt und in dieſer Form
mit dem Silber, ſo weit dieſes durch die Einwirkung des
Lichtes aus ſeiner Gebundenheit mit dem Jod frei herausge—
treten iſt, ſich vereint. Es bleibt nun nichts mehr zu thun
übrig als den zarten Ueberzug der Silberbelegung, der aus
Jodſilber beſteht, ſo weit er noch in ſeiner anfänglichen
Form vorhanden iſt, hinwegzuſchaffen, damit die Zerſetzung
und Farbenveränderung deſſelben durch das Licht nicht über
jene Gränzen gehen möge, die ihm die Kunſt des Menſchen
zur Erzeugung des Bildes in der Camera obſcura vorgezeich—
net hatte. Dieſes geſchieht, indem man die Platte in eine
Löſung von unterſchweflichſaurem Natron in Waſſer oder
460
auch in eine ſiedendheiße Kochſalzauflöſung eintaucht, indem hier
das Jod ſeine Verbindung mit dem Silber verläßt und mit
dem Natron ſich vereint. Die Platte wird hierauf in voll
kommen reinem (deſtillirtem), kochenden Waſſer abgeſpült. Dem
Queckſilberamalgam, das ſich an den Stellen gebildet hat
wo das Silber aus dem Jod hervorgetreten war, konnte die
ſchwache ſchwefelſaure Natronauflöſung oder das ſiedende
Salzwaſſer nichts anhaben, dieſes ſteht jetzt, freie Erhaben⸗
heiten bildend, auf der wieder ganz von ihrem Jodanflug
gereinigten, hellglänzenden Silberbelegung der Platte da, und
das Bild iſt fertig.
Das ſo eben beſchriebene, von dem Erfinder der Photo⸗
graphie zuerſt angewendete, Verfahren kann auf verſchiedene
Weiſen abgeändert werden, indem man ſtatt des Jods in
feſter Form eine mit Waſſer verdünnte Auflöſung deſſelben
in Weingeiſt anwendet; zum Hinwegſchaffen des Jodſilber—
überzuges reicht auch eine kalte Kochſalzauflöſung hin, wenn
man die Platte, die in die Auflöſung eingetaucht iſt, mit
einem Zinkſtäbchen berührt und ſo durch galvaniſchen Einfluß
die chemiſche Anziehung verſtärkt. Auch hat man die Em—
pfindlichkeit des Silberauflöſungs-Anfluges auf der Platte,
gegen die Einwirkung des Lichtes, dadurch auf einen noch
höheren Grad geſteigert, daß man ftatt des reinen Jods eine
Verbindung deſſelben mit Chlor anwendete, oder daß man ſei—
ner flüßigen Auflöſung etwas Brom zuſetzte, ja ſchon dadurch,
daß man die Platte, wenn die Bildung des Jodſilberanflu⸗
ges vollendet war, einige Augenblicke über ſchwaches Chlor⸗
waſſer hielt, wobei ihre gelbliche in eine röthliche Färbung
übergeht. Dazu ſind noch jene zweckmäßigen Abänderungen
an der Camera obſcura durch zuſammengeſetzte Objectivgläſer
gekommen, mittelſt deren eine größer Oeffnung für das ein⸗
fallende Licht und ſomit eine Verſtärkung ſeines Einflußes
gewonnen wurde. Erſt durch dieſe Verbeſſerungen iſt es eigent⸗
lich möglich geworden, die vom Lichte ſichtbar gemachte Welt
der Erſcheinungen in ihrem eiligſten Vorüberfluge zu ergrei—
fen und als Bild feſtzuhalten.
Statt der mit Silber überzogenen Platten hat man auch
Papier angewendet, das mit einer ſchwachen Löſung von fal-
peterſaurem Silber (17, Quentchen in 12 Loth Waſſer) be⸗
ſtrichen, hierauf getrocknet, dann in eine wäßrige Auflöſung
von Jodkalium getaucht, hierauf durch gewöhnliches Waſſer
461
gezogen und wieder getrocknet wird. Man ſchützt das Pas
pier vor dem Zutritt des Lichtes; unmittelbar vor dem Ge⸗
brauch beftreicht man es mit einer Miſchung der ſalpeterſau—
ren Silberauflöſung mit / Eſſigſäure und mit einer geſät—
tigten Auflößung von Gallusſäure. Nachdem das ſo behan⸗
delte Papier in der Camera obſcura kurze Zeit der Einwir—
kung des Lichtes ausgeſetzt worden, beſtreicht man es aber⸗
mals mit der eben erwähnten Miſchung, erwärmt es gelind,
N
BER
und wendet zuletzt eine Auflöfung von Bromkalium zum Feſt⸗
ſtellen der Umgränzung des Bildes an. Freilich erſcheint
an der Lichtzeichnung, ſo wie man ſie da erhält, Das dunkel,
was an dem dargeſtellten Gegenſtand hell, Das hell was an
ihm dunkel war; dieſer Uebelſtand läßt ſich aber dadurch be-
ben, daß man die Lichtzeichnung zwiſchen zwei Glasplatten
auf ein andres in gleicher Art vorbereitetes, noch unbenutztes
Papier legt und beide hierauf der Einwirkung des Sonnenlich—
tes ausſetzt. Denn dann bringt das Licht, durch die hellen
Stellen der Lichtzeichnung hindurchſcheinend, im darunter
liegenden Papier jene Zerſetzung hervor, wodurch das dun—
kelfarbige Silberoxyd heraustritt, und da wo die dunkleren
Stellen der Lichtzeichnung aufliegen, entſtehen nach dem Maa⸗
ße der größeren oder geringeren Undurchſichtigkeit, hellere
Parthieen. In ſolcher Art kann man auch durch zweimalige
Uebertragung Copien von Handzeichnungen und Kupferſti⸗
chen möglich machen. Die Bereitung jedoch eben ſowohl
als die Anwendung der von ihrem Erfinder Talbot ſoge⸗
nannten kalotypen Papiere hat viel größere Schwierigkeiten
und gewährt keine ſolche genaue Ausführung der Lichtzeichnun⸗
gen, als die Anwendung der mit Silber belegten Metallplat—
ten nach Daguerres Methode.
Es iſt in der That bewundernswürdig was durch die
Erfindung des Daguerrotypes, dieſer einfachen Zuſammenfü⸗
gung einer Camera obſcura mit einer von Jodſilberanflug
überkleideten Metallplatte, geleiſtet werden kann. Der Rei⸗
ſende, den ſein Weg durch eine Gegend führt welche noch nie—
mals durch eine Menſchenhand abgebildet war, darf nur, wäh—
rend er ſelber im Schatten eines Felſen oder eines Baumes
ruhet, in ſein Daguerrotyp einige Secunden lang das Bild
der von der Sonne beſtrahlten Landſchaft fallen laſſen, oder
er darf die Lichtöffnung deſſelben nach einem Meiſterwerk der
Baukunſt längſt vergangener Zeiten hin richten und er hat
462
eine Abzeichnung der Landſchaft ſo wie des Gebäudes erhal⸗
ten, mit deren Treue, bis ins Kleinſte hinein, die Kunſt der
zeichnenden Menſchenhand kaum den Wettkampf beſtehen kann.
Zum Abzeichnen von mühſam leſerlichen, noch unenträthſelten
Inſchriften, dergleichen man hin und wieder in der Wüſte
an Felſen oder an Gebäuden der Vorzeit findet, bedurften
früher ſelbſt die gelehrten Reiſenden viele Stunden, ja meh-
rere Tage; ſie können jetzt auf dem Grund der Metallplatte
ihres Daguerrotyps durch das Licht die Abzeichnung fertigen
laſſen; die Hieroglyphen des Obelisken oder der ſteinernen
Säule, die Grabſchrift auf der Marmortafel, an der ſie nur
ſchnell vorübereilen konnten, find mit einer Genauigkeit, wel⸗
che nichts zu wünſchen übrig läßet, auf den Silbergrund über⸗
getragen und können ſpäter in der Heimath eine Grundlage
der tiefer eingehenden Forſchung werden. Der Naturforſcher,
den ſein Weg an einer reichen Meeresküſte der heißen Zone
hinführt, wo ſich ihm eine Menge der noch niemals von ihm
in friſchem Zuſtand geſehenen Thiere darbietet, kann in Zeit
von einer Stunde eine große Zahl derſelben, dem Umriß der
äußren Geſtalt wie den Zügen des innren Baues nach, zu
welchem ſein Meſſer den Einblick eröffnete, getreulich abgebil—
det erhalten, ſo daß er ſpäter einen ſichren Anhalt für ſeine
Beſchreibung des Geſehenen hat.
Allerdings iſt es, damit die Lichtzeichnung einen feſt—
ſtehenden Umriß empfangen könne, nöthig, daß der Gegen—
ſtand, welchen ſie darſtellen ſoll, ſeine Stellung, wenigſtens
etliche Secunden lang nicht verändere; die ſchwingende Be—
wegung in welche ein leiſer Wind eine im Freien ſchwebende
Fahne verſetzt, macht es unmöglich einen ſolchen Gegenſtand
im ſcharfen Umriß ſeiner Ränder darzuſtellen, weil ſich
derſelbe Punkt des Randes, in den wenig Augenblicken in
denen die Lichtzeichnung entſtehet, jetzt hier dann da abbildet
und ſo der eine Zug den andern durchkreuzt. Dennoch iſt
auch ſelbſt in dieſer Beziehung, ſeitdem man dem Anflug
der zerſetzbaren Metallverbindung nach S. 460 eine höhere Em⸗
pfindlichkeit gegeben, das vorhin unmöglich Erfcheinende aus-
führbar geworden. Der Verfaſſer dieſer kleinen Schrift hat
eine Metallplatte mit einer Lichtzeichnung geſehen, welche
von einem Photographen aus Wien in dem Augenblick auf;
genommen worden war, als Sr. Majeſtät der jetzt regie⸗
rende Kaiſer Ferdinand einen feſtlichen Einzug in Linz
463
hielt. Nicht nur die Gebäude und alle andre feſtſtehende
Gegenſtände, ſondern die aus den Fenſtern ſchauenden
Menſchen, der große, eng zuſammengedrängte Volkshau—
fen auf der Straße, war darauf mit der größeſten Schärfe
aller einzelnen Umriſſe, dargeſtellt; wäre unter der gewal—
tigen Maſſe der Zuſchauer, welche in dem Augenblick wo
die Sonne die ganze Scene beleuchtete und ihr Wiederſchein
in das Daguerrotyp fiel, nach dem Kaiſer hinblickten, ein naher
Bekannter geweſen, dann würde der Beſchauer des Bildes
ihn alsbald, wenigſtens unter den Näherſtehenden aufgefun—
den haben.
Ein Reiz allerdings gehet den Lichtzeichnungen des Da—
guerrotypes ab, das iſt der der Farben. Ihre Bilder ſind
nur Schattenumriſſe, durch den Wechſel des Dunklen und
Hellen, in all ſeinen, auch feinſten Abſtufungen dargeſtellt
und gebildet. Herrlich genug und des weitern Nachdenkens
werth bleibt jedoch, ſelbſt bei dieſem Mangel, die bildende
— durch Zerſetzung bildende — Macht des Lichtes, die uns
das Daguerrotyp kennen lehrte. Nach ihrem Maaße iſt dieſe
Wirkſamkeit des Lichtes mit dem Weſen der Einbildung und
der Erinnerung der lebenden Seele zu vergleichen. Ein Licht—
ſtrahl des allgemeinen, durch That und Werke offenbarten
göttlichen Erkennens fällt in das Dunkel unſres Verſtändniſſes
hinein, wird (wie das Silber vom Merkur) von dieſem er—
faßt, mit ihm vereint, und hierdurch zu einem bleibenden
Eigenthum unſres Weſens (nach Cap. 65).
54. Das Prisma.
Ehe wir weiter von den Eigenſchaften des Lichtes reden,
wollen wir zuerſt eine allgemein bekannte Sache: die Zer⸗
legung des Sonnenſtrahles in mehrere bunte Farben betrach—
ten, welche alsbald eintritt, wenn wir unter den erforderlichen
Nebenumſtänden den Strahl durch ein durchſichtiges, in gleich—
mäßig dreiſeitige Säulenform geſchliffenes Glas (Prisma)
gehen, und auf eine Wand oder auf einen andren, das Licht
zurückſtrahlenden Gegenſtand fallen laſſen. Das Farbenbild
oder Spectrum, das ſich uns bei dieſer Gelegenheit vor Au—
gen ſtellt, iſt im Grunde, nur nach kleinerem Maaßſtabe,
eine Wiederholung des prachtvollen Schauſpieles, das uns
jeder Regenbogen gewährt. Beide Erſcheinungen haben ihren
464
Urſprung in einer Auseinanderlegung des Sonnenlichtes, in
Folge der Brechung, welche daſſelbe beim Hindurchwirken
durch einen Körper erleidet, der ein vollkommner Leiter des
Lichtes — durchſichtig iſt. |
Die Brechung welche hierbei dem ſtrahlenden Lichte wir
derfährt iſt eine andre als die gewöhnliche. Würde ein voll—
kommen ebenes, tafelartiges Stück Glas, von der gleichen
Dicke als die des Prismas iſt an eine kleine, fenſterartige
Oeffnung hingeſtellt, die aus einem übrigens verdunkelten Zim⸗
mer hinausfuhrt ans Tageslicht, (ins Freie), dann würde
dieſelbe im Ganzen (nach Verhältniß ihrer Größe und Dicke)
dieſelben Dienſte thun wie jedes gewöhnliche Fenſter; beim
Hinausblicken nach der Sonne würden wir (abgeſehen von
der ſcheinbar veränderten Stellung mittelſt der gewöhnlichen
Strahlenbrechung nach Cap. 20) ihre Scheibe in der natür⸗
lichen, runden Form erblicken, durch die kleine Fenſteröffnung
würde ſich das hereinſtrahlende Sonnenlicht auf der gegen⸗
über gelegnen Wand in l welche die Lichtöffnung
hat, darſtellen. Wir halten aber jetzt, ſtatt der Glastafel
das dreieckige Prisma vor die Oeffnung durch welche die
Sonne hereinſtrahlet, in horizontaler Stellung, ſo daß die
eine Kante dieſer dreieckigen Glasſäule nach unten, nach dem
Boden gekehrt iſt. Das Sonnenlicht fällt auf eine der Flä⸗
chen der Säule und nimmt fe inen Weg durch das durchſich—
tige Glas hinüber nach der andren, gegenübergelegnen
Fläche. Da aber in dieſer Richtung das Prisma nicht die
gleiche Dicke hat, ſondern nach unten, wo beide Flächen in
die ſcharfe Kante auslaufen, viel dünner iſt als noch oben, wo
es nach der eben liegenden, dritten Fläche ſich ausbreitet, haben
die Strahlen der Sonnenſcheibe durch die verſchiedenen Durch⸗
meſſer der dreiſeitigen Glasſäule einen ſehr verſchiedenen,
nach unten einen e nach oben einen längeren Weg
zu machen. In dem nämlichen Grade erleiden dieſelben auch
eine ſehr verſchiedene, der untere Strahl deſſen Weg der
kürzere iſt eine ſchwächere, der obere eine ſtärkere Brechung.
Von dieſer ſtärkeren oder ſchwächeren Brechung hängt nicht
allein (nach Cap. 20) die Richtung ab in welcher der ein
fallende Strahl an der andren Seite des durchſichtigen Kör⸗
pers heraustritt, ſondern auch das Maaß der erhellenden
Kraft, welche das Licht nach ſeinem Hindurchgehen durch das
Glas noch übrig behält. Denn auch der durchſichtigſte Kör⸗
per
Br
an. 4
465
per nimmt dem Lichte das ihn durchſtrahlt einen Theil feiner
erhellenden Kraft, je dichter derſelbe iſt, deſto mehr, Waſſer
mithin mehr als Luft, Glas noch mehr denn Waſſer. Wir
werden deshalb, wenn wir das Prisma in der erwähnten
Richtung vor die kleine Fenſteröffnung bringen das Lichtbild
an der gegenüberſtehenden Wand nicht nur vermöge der ver⸗
ſchiedenen Grade der Brechung und Stellungs veränderung
in einer ſtark von oben nach unten verlängerten Geſtalt er⸗
blicken, ſondern zugleich auch Strahlentheile von verſchiedner
Lichtſtärke, welche bei den nach oben, ſtärker gebrochnen am
meiſten, bei den untren am wenigſten vermindert iſt. Hier⸗
bei iſt mit dem Erſcheinen des Lichtes für unfre Augen eine
auffallende Veränderung vorgegangen. Es iſt nicht mehr in
derfelben Form der gewöhnlichen, farbloſen Tageshelle ge—
blieben, in der es ſich uns in der Luft oder durch eine Glas—
tafel kund giebt, ſondern es hat ſich in Streifen von ver-
ſchiedner Färbung auseinander gelegt, welche freilich nicht
deutlich von einander abgegrenzt find, ſondern durch allmäli⸗
ges Uebergehen der einen Farbe in die andre an ihrer Gren⸗
ze ſich verſchmelzen. Die Farben, von unten nach oben (oder
im Regenbogen umgekehrt von oben nach unten) folgen ſich
ſo, daß zuerſt roth, über dieſem Orange, dann gelb, grün,
blau und zuletzt, ganz nach oben, violett hervortritt, oder, wenn
man mit dem berühmten Newton ſieben Farbenſtufen unter⸗
ſcheiden will, auf das Blau zuerſt das Indigoblaue dann
das Violette folgt. Der violette Lichtſtreifen giebt unter allen
die geringſte Helle, nächſt ihm hat das ſchwächſte Licht der
blaue; die Helligkeit wird am größeſten nach dem gelben
Streifen hin, und auch im orangefarbenen übertrifft ſie die
Stärke des grünen wie nach unten des rothen Strahles.
Aber die Wirkſamkeit der Lichtſtrahlen, die ſich uns hier
in mehrern Farben auseinandergelegt haben, iſt nicht allein
auf die Grenzen des ſichtbaren Farbenbildes beſchränkt; ſie
erſtreckt ſich über dieſe Grenzen hinaus, auch in die für un⸗
ſer Auge licht und farbloſe Nachbarſchaft des Bildes. Wenn
man die nach Cap. 53 zubereitete Metallplatte mit ihrem für
den zerſetzenden Einfluß der Lichtſtrahlen höchſt empfindlichen
Jodſilberanlauf, oder wenn man, ſelbſt das ſorgfältigſt be—
reitete photographiſche Papier den Strahlen eines Prismas
ausſetzt, dann bemerkt man daß der rothe Strahl gar keine
Wirkſamkeit darauf habe: das Papier SM die Platte blei⸗
0
466
ben eben fo unverändert als ob fie in einem dunklen Kaſten
lägen. Auch der gelbe Strahl äußert kaum eine Spur des
chemiſchen, zerſetzenden Einflußes, erſt gegen den blauen Strei⸗
fen hin fängt dieſer Einfluß an merklich zu werden und er
wird am ſtärkſten im blauen ſelber, noch mehr im violetten
ja noch über die Grenze von dieſem hinaus, an einer Stelle,
wo unſer Auge kein Licht und keine Farbe mehr bemerkt.
Wir ſchrieben die Zerſetzung, welche die Verbindungen des
Silbers in unſrem Daguerrotyp erleidet, dem Licht und der
Tageshelle im Allgemeinen zu und konnten nicht anders als
annehmen, daß da, wo das Licht am hellſten, von den im
Sonnenglanz ſtehenden Körpern, in unſre Camera obſcura
hereinfällt auch ſeine chemiſche Wirkſamkeit am ſtärkſten ſey;
hier werden wir vom Gegentheil belehrt, denn nicht nur der
violette Strahl, der unter allen die am wenigſten erhellende
Kraft hat, ſondern ſelbſt noch eine andre, unſichtbare Aus⸗
ſtrömung des Lichtes, welche über den ſchwächeſt leuchtenden
Strahl hinaus, in den völlig unbeleuchteten Raum fällt, zeigt
ſich zum Hervorbringen des chemiſchen Effectes am wirkſam⸗
ſten. Auch an dem Einfluß der prismatiſchen Farben auf
andre chemiſche Vorgänge wird dieſes erkannt. Eine Miſchung
von trocknem Chlorgas und Waſſerſtoffgas, die ſich an einem
dunklen Ort unverändert erhält, bleibt dieſes auch wenn wir
fie dem rothen und gelben Farbenſtrahl ausſetzen, ihre all-
mälige Verbindung zur Salzſäure, tritt eben fo wie am ge⸗
wöhnlichen Tageslichte allmälig ein, wenn wir den blaulich
grünen, ſie geht raſch und plötzlich von ſtatten, wenn wir
den violetten Strahl in ſie hineinfallen laſſen.
Mit dem eben erwähnten Einfluß der verſchiednen Farben
des Prismas, wird auch in Beziehung gebracht die hier nur bei-
läufig zu erwähnende Unempfindlichkeit der daguerrotypſchen
Platten, oder der photographiſchen Papiere, gegen die grüne
Farbe der Blätter, die ſich deshalb, auch wenn ſie unbewegt
55 in der Lichtzeichnung nicht, oder nur unvollkommen dar⸗
tellen.
ö Nicht allein die chemiſch wirkende, auch die wärmende
Eigenſchaft des Lichtes, fällt bei der prismatiſchen Auseinan⸗
legung deſſelben an die eine Seite des Farbenbildes hin, und
ſelbſt noch über die Grenze von dieſem hinaus, in den unbe⸗
leuchteten Raum. Hierbei iſt es aber nicht der violette, ſon⸗
dern der entgegengeſetzte rothe Strahl, welcher die ſtärkſte
467
Wirſamkeit zeigt. Wenn man ein Blatt dünnes Papier auf
der einen Seite durch eine ſchwache, rußende Flamme ſchwärzt,
mit dieſer geſchwärzten Seite es auf ein Brett aufzieht, dann
die weiße Seite mit ſtarkem Weingeſt benetzt und nun das
Farbenbild eines Prismas darauf fallen läßet, bemerkt man
deutlich, daß das Papier am ſchnellſten bei dem rothen Strei⸗
fen, am langſamſten unter dem violetten trocken wird, daß mithin
die Wärme, welche das Verdunſten und Abtrocknen bewirkt,
im rothen Strahle am kräftigſten ſeyn müße. Unter allen
durchſichtigen Körpern läßt das kryſtalliniſche, waſſerhelle
Steinſalz die Wärme am ungeſchwächteſten hindurch, ohne
ſie merklich zurückzuſtrahlen oder einen wahrnehmbaren Theil
derſelben zur Erhöhung der Temperatur ſeiner eignen Maſſe
zurückzuhalten. Wenn man deshalb einem Stück ſolchen
durchſichtigen Steinſalzes, durch Zuſchleifen, die Form eines
dreiſeitigen Prismas giebt, dann erhält man nicht blos ein
vollkommnes Farbenſpectrum, ſondern auch eine Zerlegung
des Sonnenſtrahles in einen merklich wärmenden und in einen
nicht wärmenden Theil. Durch einen empfindlichen Wärme⸗
meſſer kann man ſich überzeugen, daß die Temperatur unter
dem violetten Strahle dieſelbe ſey wie in der ganz uner⸗
leuchteten Umgebung, daß ſie aber fortwährend ſteige, je mehr
man den Wärmemeſſer dem rothen Strahle nähert. Und
ſelbſt unter dem rothen Strahle erreicht ſie noch nicht ihren
höchſten Stand, ſondern meiſt erſt außerhalb demſelben, im
dunklen Raume, in einer Entfernung von der äußerſten Gren⸗
ze des Roth, welche dem dritten Theile der ganzen Ausbrei—
tung des Spectrums gleich kommt. Nach beiden Seiten hin
äußert mithin das Licht noch ſeine Wirkſamkeit, und zwar
ſtärker, da wo es für unſer Auge nicht mehr als Licht wahr⸗
nehmbar iſt.
55. Der Mond und ſein Licht.
Die Betrachtung der wärmenden Eigenſchaft des Son—
nenlichtes führt uns zu jener der nichtwärmenden Eigenſchaft
eines Lichtes der Sternenwelt, welches nächſt dem der Sonne,
für unſren Planeten das bedeutungsvolleſte iſt. Mit der
ſcheinbaren Laufe der Sonne zugleich geben der Laufe
die Stellung des Mondes den Bewohnern der Erde di "IN?
tel an die Hand, zur Beſtimmung und Anordnung ber Zei⸗
30
4
.
468
ten. Das langwährende Dunkel der Polarzonen im Winter,
wird von dem anhaltenden Schein des Mondes in tröſtlicher
Weiſe gemildert und auch bei uns, ja ſelbſt in dem hochbe⸗
günſtigten Klima der wärmeren Zonen verleihet das milde
Licht des Mondes der Nacht ihren vorzüglichſten Reiz. In
dieſen Ländern, deren faſt immer klares Himmelsblau von
bedeutenderer Durchſichtigkeit iſt als das unſrige, hat das Mon⸗
denlicht einen ſolchen Grad der Helligkeit, daß man dabei,
ohne Beſchwerung der Augen, zu leſen vermag. Dennoch hat
man berechnet und aus unmittelbarer Abſchätzung der Grade
der Lichtſtärke gefunden, daß das Mondlicht 800,000 mal
ſchwächer ſey als das Sonnenlicht. Es iſt ja auch nur ein
Widerſchein des Sonnenlichtes, das allerdings an der Mond-
fläche einen körperlichen Stoff finden muß, welcher der Zu⸗
rückſtrahlung in vorzüglichem Maaße günſtig iſt, denn der
Glanz des Mondes gleichet dem blendenden Scheine, den,
aus der Ferne geſehen, ein Hochgebirgsfeld des Schnees und
der Gleſcher hat.
Wenn unſrer Wohnung gegenüber, ſelbſt in nicht un⸗
mittelbare Nähe, ein Haus ſtehet, welches der unbeſcheidne Nach⸗
bar an ſeiner Auſſenwand weiß hat betünchen laßen, dann
wird im Sommer nicht nur unſer Auge von dem blendenden
Widerſchein beläſtigt, ſondern es ſtrahlt auch von jener wei-
ßen Mauern eine Hitze zurück, welche während der heißen
Stunden des Tages und ſelbſt ſchon in den Morgenſtunden
öfters bis zu einer unerträglichen Höhe ſich ſteigert. Wäre
die Hauptmaſſe der Mondfläche ein weißliches, etwa unſrem
Kalkgebirge ähnliches, feſtes Geſtein, dann, ſo ſollte man
meinen, müßte uns ſelbſt hier auf Erden Etwas von der
Wärme bemerkbar werden, welche mit dem Sonnenlichte zu⸗
gleich auf das weißliche Geſteinfeld herab und von dieſem
wieder zu uns herüber geſtrahlt würde. Aber das Mondlicht
theilt der Erde keine bemerkbare Wärme mit, und ſelbſt im
Sammelpunkt feiner Strahlen durch das rieſenhafteſte Brenn
glas oder den wirkſamſten Brennſpiegel wird mit der Verſtär⸗
kung des Lichtes zugleich keine durch das gewöhnliche Thermome⸗
ter meßbare Verſtärkung der Wärme empfunden. Ja faſt 1
möchte man auf einige, freilich nur noch vereinzelt daſtehen⸗
lee Beobachtungen von Lichtenberg ein beſondres Gewicht
der nach welchen der Mond als ein nur Kälte verbreiten⸗
er Aber erſcheinen müßte. Denn als dieſer berühmte Phy⸗
469
ſiker mit beſondrer Aufmerkſamkeit die mittlere Temperatur
ſolcher Tage beachtete, an denen unſre Erde auf dem Wege
ihrer Bahn genau an die Stelle trat, an der ſich wenige
Stunden vorher der Mond befunden hatte, fand er das eine
Mal (im Juny) eine für dieſe Jahreszeit ungewöhnliche Käl-
te, ein anders Mal, im Herbſt, eine überaus heftige, ſtürmi⸗
ſche Witterung. Dennoch hat man in neueſter Zeit, ſeit der
Anwendung ähnlicher Wärmemeſſer als die S. 413 beſchrie⸗
benen find ſich überzeugt, daß auch das vom Mond zurückge-
ſtrahlte Sonnenlicht nicht ganz ohne wärmeerregende Kraft
e
y.
N Zur prismatiſchen Zerlegung, in die Farben des Regen—
bogens, eignet ſich das Mondlicht, wiewohl in einem überaus
viel ſchwächeren Maaße, auf eine ähnliche Weiſe als das
Sonnenlicht; das fahle, kaum für unſer Auge erkennbare Roth,
ſo wie das Violett des Mondregenbogens und ſeines durch
das Pisma erzeugten Spectrums ſind übrigens eben ſo we—
nig einer merklich chemiſchen als wärmeerregenden Wirkſam—
keit fähig.
Allerdings läßt uns auch die ganze Naturbeſchaffenheit
des Mondes, ſo weit wir dieſelbe ſeit dem Gebrauch der
Fernröhre kennen gelernt haben, keine große Erwartung von
ſeiner eignen Wärme und darum auch Wärme mittheilender
Einwirkung hegen. Das Gewäſſer hat bei uns auf der Erde,
nach Cap. 52 die wohlthätige Beſtimmung, die Extreme des
Temperaturwechſels auszugleichen, die Srömungen der wär⸗
meren Luft, welche in unſrem Erdtheil aus Süd und Süd⸗
weſt, auf der ſüdlichen Halbkugel aus Nord und Nordweſt
kommen, führen auch den weiter vom Aequator abgelegnen
Länderſtrichen einen Theil der Wärme zu, an welcher die
heiße Zone überreich iſt, und zugleich wird die Hitze der Tro-
penländer durch den kühlen Luftſtrom, der aus den kälteren
Zonen kommt, gemäßigt. Welche wohlthätige Decke unſer
Luftkreis für die Oberfläche des Planeten bilde, damit dieſe
nicht alsbald die von der Sonne empfangene Wärme durch
Ausſtrahlung wieder verliere, dies lehrt uns die Kälte, wel⸗
che in der Region der dünneren Luft, auf dem Gipfel der
Hochgebirge herrſcht, ſo wie die Kälte jener Nächte des Win⸗
ters und Vorfrühlinges, in denen der Himmel wolkenlos
und heiter iſt, und wo keine warme Luftſtrömung von Süden
her das Sinken der Temperatur verhindert. Wenn wir in der
* 0
Mi er
3 2
<
470
Aufzählung der Vorzüge, deren unſre ſchöne Erde vor dem
Monde ſo viele hat, noch weiter fortfahren wollen, ſo iſt
das kein unbedeutender, daß, mit Ausnahme der beiden Po⸗
larzonen, in allen Klimaten, in dem kurzen 24 ſtündigen Ver⸗
lauf eines Tages einmal die Sonne auf und unter gehet,
einmal das Dunckel der Mitternacht mit der Helle des Mit-
tages wechslet, und die Bewohner der gemäßigten Zonen,
deren Zahl unter den Erdenbürgern die größeſte, deren leib—
liche wie geiſtige Kraft und Wirkſamkeit die ſtärkſte iſt, er⸗
fahren es in jedem Jahre, daß auch der Wechſel des Herb—
ſtes, und ſelbſt des ruhebringenden Winters mit dem Früh—
ling und Sommer, zur Erquickung und Bekräftigung der le—
benden Natur heilſam und förderlich ſey. |
Welch' ein ganz andres Loos ift, nach all dieſen Be-
ziehungen hin, dem Gefährten unſres Planeten auf der Bahn
ſeiner Jahre: dem Monde beſchieden! Auf dieſem giebt es
weder Meer noch Wind, kein Morgen- noch Abendroth, keine
Frühlings⸗ noch Sommertage, ſondern jeder Monat hat einen
(nach unſrem Zeitmaaß gerechnet) vierzehntägigen Sommer,
denen die zur ſenkrechten Höhe des Aequators oder zum nie—
dren Stande der polarnahen Gegenden emporſteigende Son⸗
ne in dieſer Zeit nur einmal auf und unter geht, dann eine
eben ſo lang dauernde Winternacht. Gäbe es auf dem Monde
ein Meer, gäbe es dort einen See, von dem Umfang unſrer
größren Landſeen, dann hätte mann ſie durchs Fernrohr längſt
an der Glätte ihres Spiegels erkannt, ſo aber begegnet daſelbſt
überall, wohin wir das tauſendfältig durch die Kunſt geſchärfte
Auge richten, unſrem Blicke ein Zuſammengehäufe von Höhen
und Tiefen, von Gebirgen, die noch über das Maaß unſrer
Alpen und Cordilleren emporragen und von keſſelartigen
Abgründen, zum Theil ſo weit und ſo tief, daß kaum die ge⸗
ſammte Maſſe eines Montblanc, ja eines Chimboraſſo fie aus⸗
zufüllen vermöchte. Ja nicht bloß kein Meer und kein See,
ſondern überhaupt kein tropfbar flüßiges Waſſer kann auf
dem Monde ſeyn Ränne dort ein einziger Fluß, drängen
aus den Abhängen und am Fuß der Berge Quellen, ſo wie
bei uns hervor, dann würde da oder dort eine der grauen⸗
vollen keſſelartigen Tiefen ſich ausgefüllt haben oder noch aus⸗
füllen; das Waſſer, ja ſelbſt der Schnee, würden unter dem
Einfluß der ſtrahlenden Sonne ſich in Dunſtform erheben,
und um den Mond her einen Dunſtkreis bilden, der ſich, auch
REN 2 2
1 A 5 1
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8 0
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wenn die Gegend feines Entſtehens auf der andren, von uns
abgekehrten Hälfte des Mondes läge, nach dem Geſetz der
Schwere alsbald um alle Gegenden der Oberfläche her ergie—
ßen und ausbreiten würde. Unſrem durchs Fernrohr blicken—
den Auge würde ein ſolcher Dunſtkreis nicht bloß durch ſeine,
vom Wechſel der Temperatur abhängigen Veränderungen:
Verdichtungen und Verdünnungen, ſondern durch alle andre
Folgen der Strahlenbrechung ſich verrathen; gäbe es irgend
eine Art von Luftkreis, verwandt dem unfrigen, hoch um das
Rund der Mondkugel her, dann müßte ſich dort an den Gren—
zen zwiſchen Tag und Nacht eine, wenn auch noch ſo kurze
Dämmerung zeigen, die genaueſten Forſchungen der neueſten
Zeit haben jedoch Nichts dieſer Art mit Sicherheit entdecken
können; die frühere Annahme welche für das Daſeyn einer,
obwohl im Vergleich mit der unſrigen ſehr dünnen, unvoll-
kommnen Atmoſphäre auf dem Monde ſprechen ſollte, ſcheint
ſich nicht mehr beſtätigen zu wollen. Der arme Mond, er
iſt in faſt noch höherem Grade als dies bei uns ein Gebirgs—
gipfel in einer Höhe von acht bis neun Meilen ſeyn würde, ohne
ſchirmende Decke den Einſtrahlungen der Sonne, während
der Dauer ſeines langen Tages, und den Ausſtrahlungen der
Wärme, während der eben ſo langen Nacht ausgeſetzt.
Allerdings klar genug, und niemals durch Gewölk noch
Nebel getrübt, müßte von dort aus der Himmel erſcheinen;
niemals ein Sturm, niemals ein Gewitter, das Wetter einen
Tag wie den andren, volle Gelegenheit um trocknen Fußes
überall hin zu wandeln wohin man möchte — — und welche
tiefe Stille auf jener kleinen Nachbarwelt!
Ja wohl, eine Stille wie die des Grabes, ein beſtän—
diges tiefes Schweigen der Natur. Dort auf dem Monde
kann kein Vogel ſingen, keine Flöte noch Orgel noch Aeols—
harfe ertönen, denn es fehlt zum Athmen wie zur Fortpflan⸗
zung des Tones die Luft! Wenn wir hier auf Erden, beim
Erſteigen ſehr hoher Gebirge, oder beim Emporfluge in einem
Luftſchiffe eine Region der Höhen erreichen, in welcher zwar
noch immer Luft, nur aber eine ſehr verdünnte ſich findet,
dann erſcheint uns auch der ſtärkſte Ton der Menſchenſtimme
nur wie ein dumpfer, ſchwacher Laut, ſelbſt der Knall eines
abgefeuerten Gewehres iſt dem Ohr in der Entfernung von
wenigen hundert Fuß unvernehmbar. Da aber, wo gar kein
Luftkreis ſich findet, könnte der Schall, etwa beim Zufam-
a
. $
menſtürzen eines Gebirges, nur als Erſchütterung des feſten
Bodens ſich fortpflanzen; der Leib der tief im Grabe Liegen⸗
den würde mehr davon erfahren, als das Ohr eines noch aufrecht
über dem Boden Stehenden. Und mit dem Ohre zugleich
würde das Auge, würden alle Sinnen wären fie von der Na⸗
turbeſchaffenheit der unſrigen, die Folgen des Mangels eines
Luftkreiſes empfinden, denn ohne Luft gäbe es hier bei uns
auf Erden keine Flamme des Lichtes oder des Herdes, ohne
ein Sauerſtoffgas und ſeinen Zutritt, zum oxydirbaren Metall,
oder zu einem andren brennbaren Element, würde kein Grün
der Pflanze noch des Smaragds, kein Roth der Wangen
noch des Rubins, kein Farbenſchmuck der Blüthen und der
Thierwelt, ja, mit wenigen Ausnahmen, ſelbſt kein buntes
Geſtein vorhanden ſeyn. Unſre Erde würde, wenn das
Waſſer und die Luft ſie verlaſſen könnten, weder Thiere noch
Gewächſe noch auch einen Anflug von Feldboden (Dammerde)
haben, in welchem ein Pflanzenſaame keimen und ſich ent-
falten könnte; die Gebirge würden zwar weder durch Luft
noch durch Waſſer zertrümmert werden, oder verwittern,
aber fie würden nackt und dürr, zuletzt wie ein weißgebleich-
tes Gebein, den Glanz des Sonnenlichtes zurückſtrahlen.
Wir wollen uns die vergebliche Mühe erfparen das Ge—
mälde der Naturbeſchaffenheit des Mondkörpers, mit den Far⸗
ben die unſer menſchliches Verſtehen und Erkennen uns dar-
reicht, weiter aus zumahlen. Dieſe Farben ſind denen gleich,
welche wir durch künſtliche Zerlegung des Lichtſtrahles mit
dem Prisma auf das Waizenmehl eines Bäckers hinfallen
laßen. In dem Lichte dieſer Farben könnte uns das genieß⸗
bare Mehl als ein niegeſehenes Gehäufe von rothem, gel⸗
bem, grünem, blauem und violettem Staub erſcheinen, deſſen
Verwandlung in Brod oder Kuchen außer dem Spielraum
unſrer Phantaſie läge. Wir legen das Prisma aus der
Hand, und ſiehe der rothe wie der grüne und blaue Staub
find nichts Andres als das eine längſt bekannte, überall ge⸗
bräuchliche, nutzbare Mehl. Unſer menſchliches Urtheil zer⸗
leget auch das Licht des Erkennens, das in den Kreis ſeiner
Auffaßung fällt, in die Farbenſtrahlen ſeines auf ſinnliche
Erfahrung gegründeten Wiſſens und dieſe Farben mögen
öfters eben fo wenig dem wahren Weſen der Gegenſtände
anpaſſend und zugehörig ſeyn, als die ſtreifig bunte Färbung
durch das Prisma dem Waizenmehl. Wer konnte im Voraus,
si
472
Sp:
5
473
ehe die Forſchung der Reiſenden dies ermittelte, das Daſeyn
jener unermeßlichen Fülle von kleinen, mikroſcopiſchen Thieren
errathen, die ſich unter den eiſigen Maſſen, ja auf dem nie—
mals hinwegthauenden Schnee der Polarzone finden, und
dort ihres Lebens ſich freuen? Wenn wir auch von der
eigentlichen Naturbeſchaffenheit des Mondes nur wenig errathen,
und noch Wenigeres mit Sicherheit wiſſen können, wiſſen wir
doch das Eine, daß auch dieſer Weltkörper, mit Allem das
auf und in ihm iſt, unter dem Walten derſelben Schöpfer—
kraft entſtanden ſey und beſtehe, welche überall Bewegung
wecket und lebenskräftiges Wirken, weil ſie ſelber das Leben
iſt. Daß auch dort auf dem weißen, ſcheinbarem Todtenfelde
der Mondoberfläche Formwandlungen, und ein Wechſel des
Vergehens und Entſtehens ſtatt finde, ſcheint ſelbſt aus eini—
gen Beobachtungen der Naturforſcher hervorzugehen. Zu
Was aber und für Wen, jene unſrem Menſchenauge ſo un—
heimlich erſcheinenden, rundlichen Löcher und keſſelartigen Tie—
fen da ſind, welche, eine faſt an der andren, den geradlinigen
Verlauf der Mondfläche unterbrechen; auf welche Weſen dort
der blendend helle Schein der Sonne und das aſchgrau fahle
Licht, der für die dieſſeitige Mondhälfte faſt unbeweglich in
einer Stelle ſtehenden großen Erdenſcheibe fallen, das werden
wir, ſo lange wir Mitgenoſſen der irdiſchen Leiblichkeit ſind,
niemals erforſchen und erfahren.
56. Das Verhältniß des Lichtes zu den Farben.
Das Sonnenlicht, ſo nimmt man gewöhnlich an, läßt
ſich durch das Prisma in die Strahlen der bunten Farben
ertheilen, weil es ſelber aus dieſen Farben zuſammengeſetzt
iſt, denn die Farben des Prismas, ſo ſcheinen dies die oft
wiederholten Verſuche des großen Newton zu lehren, machen,
in ihrer unſcheidbaren Geſammtheit, auf das Auge den Eins
druck des weißen Lichtes. Man pflegt ſich hiervon dadurch
zu überzeugen, daß man das Prismaqin eine ſchnelle ſchwin⸗
gende Bewegung verſetzt, welche ſich dann dem Farbenbild
mittheilt und die einzelnen Strahlen deſſelben in ſo unkenntlicher
Weiſe in einander fließen machet, daß ſie zuſammen nur noch
als ein weißlich heller Streifen erſcheinen. Auch in einem
Sammelglas vereinigen ſich die einzelnen Farbenſtreif
ar
474
prismatiſchen Bildes fo untrennbar, daß man nur noch eine
Tageshelle des Sonnenſcheines, nicht mehr Farben bemerkt.
Das zurückgeſtrahlte Sonnenlicht, welches von der Schei—
be der in Tageshelle leuchtenden Planeten, vor allen der Ve⸗
nus und des Mars, in ein Prisma fällt, erzeugt ein ähnli⸗
ches Farbenbild als die Strahlen der Sonne. Im prisma⸗
tiſchen Farbenbild, welches die Flamme der brennenden Kör⸗
per gibt, zeigen ſich zwar großentheils mehrere Farben, zuweilen
aber herrſcht nur eine derſelben auf Koſten der andren vor,
ſo daß dieſe andren kaum noch unterſcheidbar ſind. Wenn
der Weingeiſt ſehr ſtark verdünnt iſt, dann hat feine Flam⸗
me ein gleichmäßig gelbes Licht, deſſen Farbe auch in den
Strahlen des Spectrums vorherrſcht, und dieſelbe Erſcheinung
zeigt ſich bei allen mit Schwierigkeit, unvollkommen verbrens
nenden Körpern. Selbſt im Farbenbilde eines gewöhnlichen
hellen Kerzen- oder Flammenlichtes, wenn man daſſelbe durch
eine enge Spalte ins Prisma gelangen läßet, erſcheint zwi⸗
ſchen Roth und Gelb ein lichter Streifen, welcher das
Ueberwiegen des Gelb in der Flamme andeutet. Dagegen
erzeugt die Flamme des Phosphors, wenn dieſer mit Sal—
peter verbrannt wird, ein Farbenbild in welchem keine der
einzelnen Farben vorwaltet, und daſſelbe gilt von dem Licht
das die weißglühende Platina und einige andre glühende
Körper ausſtrahlen.
Eine auffallende Erſcheinung, mitten im Lichte des Far—
benbildes, in welches durch die Vermittlung des Prismas das
Sonnenlicht zerlegt wird, ſind jene dunklen, zum Theil ganz
ſchwarzen Linien, die man öfters ſchon mit bloßen Augen
entdeckt, wenn man mit dieſen das Farbenbild (ſtatt es an
die Wand fallen zu laſſen) in gehöriger Sehweite auffängt,
noch beſſer aber, wenn man daſſelbe durch ein Fernrohr be-
trachtet. Man ſieht dieſe Linien immer in verhältnißmäßig
gleicher Stärke und gleicher Ordnung erſcheinen, das Pris⸗
ma mag aus dieſem oder aus einem andren durchſichtigen
Körper gebildet ſeyn, nur iſt vor Allem die vergrößernde
Kraft des Fernrohres auf die Deutlichkeit ihres Erſcheinens
von bedeutendem Einfluß. Im rothen Strahle zeigen ſich ver-
hältnißmäßig die wenigſten, obgleich ziemlich augenfällige
Streifen, im Grün der ſchwärzeſte von allen, im Blau meh—
rere, unter andren ein aus vielen feinen Linien zuſammen⸗
geſetzter breiter Streifen. Die Zahl der feinen Linien, da⸗
475
runter auch ein aus vielen enggedrängten zuſammengeſetzter
breiter Doppelſtreifen, nimmt hierauf noch mehr gegen das
Indigoblau, und in demſelben zu, im Violetten folgen abers
mals, nach längerer Unterbrechung zwei ſehr augenfällige, in
geringer Entfernung von einander ſtehende, breite Streifen,
dann noch vier Gruppen von Linien an denen man bei der
erſten eben fo wie bei der zweiten erſt drei dann fünf deut—
lich unterſcheiden kann. Viele der Linien welche durch ſchwä—
chere Fernröhre geſehen einfach erſcheinen, zeigen ſich durch
ſtärkere aus mehreren Linien zuſammengeſetzt, fo daß ſchon
Fraunhofer nahe an 600 derſelben zählte.
Obgleich dieſe Erſcheinung, auf welche Fraunhofer
in München zuerſt aufmerkſam gemacht hat, nur wenig be—
deutend, und auch die Weiſe, in der man ſie bisher zu er—
klären ſuchte, nicht ſehr ausreichend erſcheinen mag, iſt ſie
dennoch ſchon jetzt der aufmerkſamſten Beachtung werth, da
ſie uns Aufſchlüſſe, über manche Verſchiedenheit der ſonnenar—
tig leuchtenden Fixſterne zu geben verſpricht. Im Lichte des
Sirius namentlich, zeigen ſich drei breite Streifen, davon
der eine im Blau, zwei im Grün ſich befinden, und ganz
daſſelbe findet am Farbenbild des Caſtor ſtatt. Dagegen ent—
deckt man im Farbenbilde des Pollux und noch mehr des Bete—
geuze, wie in dem der Sonne, eine große Menge ſehr feiner,
zarter Linien, davon ſich im Procyon nur eine kleine Zahl
findet. Statt dieſer dunklen Linien, im Farbenbild der Son—
ne und mehrerer Firiterne, zeigen ſich viele helle Linien im
Farbenbild des elektriſchen Funkens, deren Zahl und Anord—
nung nach Verſchiedenheit des Metalles, aus welchem der
Funke gezogen wurde, verſchieden iſt.
In jeder Hinſicht erſcheint es der Beachtung werth, daß
ſelbſt mitten im Glanze des Lichtes, ſogar in dem vollkom—
menſten das wir kennen: im Sonnenlichte, noch ein Wechſel
von Licht und Dunkel, von höherer Steigerung und Abnahme
gefunden wird. Es iſt übrigens dieſes Nebeneinanderſeyn,
dieſe Aufeinanderfolge von Steigen und Sinken, Anſpan—
nung und Abſpannung ein gemeinſames Loos der ganzen
geſchaffenen Natur und ihrer Kräfte.
Die Farben, die ſich im Sonnenlichte finden, ſind in
den mannichfaltigſten Abſtufungen und Miſchungen, der einen
mit der andren, an die Körper der irdiſchen Natur vertheilt.
Da, wo dieſelben mit Durchſichtigkeit gepaart ſind, zeigt das
476
hindurchfallende Tageslicht dieſelbe Wirkung, welche an dem
gleichfarbigen Strahl des prismatiſchen Farbenbildes wahrge-
nommen wird. So wird das Chlorſilber ſchnell geſchwärzt,
wenn man das Licht durch ein violettes Glas darauf fallen
läßet, während daſſelbe unter einem rothfarbigen Lichte un⸗
verändert bleibt, oder nur eine bloß roſenrothe Farbe (wie
beim Erhitzen) annimmt.
An den Farben, welche in der irdiſchen Körperwelt vor—
kommen, bemerken wir ein ſehr verſchiednes Verhältniß in
Beziehung auf das Zurückſtrahlen des Lichtes und der Wär⸗
me, welche fie von der Sonne und andren leuchtenden Kür:
pern empfangen. Das Schwarz bildet den vollkommenſten
Gegenſatz zum Licht überhaupt wie zu all ſeinen Farben; es
deutet einen gänzlichen Mangel an beiden an. Deſto kräfti⸗
ger findet auch hier die ausgleichende Anziehung des Gegen⸗
ſatzes ſtatt; es nimmt alles ihm zufallende Licht auf, ohne
daſſelbe zurückzuſtrahlen, es wird dabei ſtärker als alle andre
Farben von der wärmenden Kraft der Sonnenſtrahlen ange-
regt. Wenn man mehrere Tuchſtücken von gleichem Gewebe und
gleicher Größe dabei aber von verſchiedner Färbung auf eine
Schneefläche legt wo ſie dem Sonnenlicht ausgeſetzt ſind,
dann bemerkt man, daß der Schnee unter dem ſchwarzen Tuch⸗
lappen am früheſten und tiefeſten, unter dem weißen am we⸗
nigſten und kaum bemerkbar hinwegthaue. Nach dem ſchwar⸗
zen Tuchflecken zeichnen ſich durch ihre die Wärme aufneh⸗
mende und mittheilende Kraft am meiſten der dunkelbraune
dann der blutrothe (ſchwärzlichrothe) aus.
Die erwähnte Eigenſchaft der ſchwarzen Farbe, eine Er—
wärmung durch das Licht zu begünſtigen, hat zur Erfindung
eines Lichtmeſſers Veranlaſſung gegeben, deſſen Anwendung
freilich in neuerer Zeit durch andre Werkzeuge verdrängt iſt,
welche ihren Hauptzweck beſſer erfüllen, welcher, aber zur Ver⸗
ſinnlichung der Wärme gebenden Kraft des Lichtes noch im—
mer feinen Werth behält. Wenn man nämlich zwei Ther-
mometer zu dem Verſuche wählt, welche bei ihrem Steigen
und Sinken die möglichſt vollkommene Gleichmäßtgkeit bewei⸗
ſen, und dann die Kugel des einen ſchwärzt, zeigen zwar bei⸗
de, ſo lange ſie im Dunklen ſtehen, die äußre Temperatur
auf gleiche Weiſe an, ſobald aber das Tageslicht darauf fällt,
dann ſteigt alsbald, das Queckſilber oder der Weingeiſt, in
dem Thermometer mit geſchwärzter Kugel höher als im andren.
477
Dieſer Unterſchied wird um ſo größer und bedeutender, je
ſtärker der Grad der Helligkeit des Lichtes iſt. Leslie be-
nutzte dieſen Verſuch, den Pictet zuerſt in der gleichen Abs
ſicht angeſtellt hatte, um die Stärke des Sonnenlichtes im
Vergleich mit dem Licht einer gewöhnlichen Flamme zu meſ—
ſen. Er fand, daß der Einfluß des Sonnenlichtes, zur Stei—
gerung des Queckſilberſtandes im geſchwärzten Thermometer ver-
hältnißmäßig 12000 Mal wirkſamer ſey, als der des Kerzen—
lichtes, ſo daß ein Theilchen der Sonnenſcheibe, das die Grö—
ße einer Kerzenflamme hat, ein Wärme erregendes Licht aus—
ſtrahlt, welches dem von 12000 Wachskerzen gleich kommt.
Andre Beobachtungen haben jedoch gelehrt, daß die Strahlen
des Feuerlichtes, im Verhältniß zu ihrer erhellenden Kraft,
viel weniger Wärme erregen, als die des Sonnenlichtes, daß
aber zugleich die Wärme des Feuerlichtes ſchneller zur Tem—
peraturerhöhung durchſichtiger Körper, durch welche ſein Strahl
fällt, verwendet werde als die Wärme des Sonnenlichtes.
Wenn man deshalb die Strahlen des Flammenlichtes in
einem Brennglas ſammlet, dann wird dieſes erwärmt; wäh—
rend aber das Licht in ſeinem Brennpunkt eine ſehr verſtärkte
Helligkeit hat, bringt daſſelbe nur eine ſehr geringe Erwärmung
hervor. Wenn man dagegen zu dem nämlichen Verſuch ein Brenn⸗
glas anwendet, von ſo dunkler Färbung, daß es gar keine
Lichtſtrahlen durchläßt (undurchſichtig iſt), dann ſteigt die Er⸗
wärmung in ſeinem Brennpunkte ungleich höher, ſo daß es
ſcheinen könnte, daß im erſteren c er die erwärmende Kraft
des Flammenlichtes im Glaſe ſich erſchöpft und zurückbleibt,
während ſeine erhellende Kraft ohne auffallende Hemmung
durch daſſelbe hindurchwirkt, im andren Falle aber das Um—
gekehrte ſtatt finde.
Nur im Vorübergehen erwähnen wir bei dieſer Gelegen—
heit jener andren, neuerdings in allgemeineren Gebrauch gekom⸗
menen Weiſe die Helligkeit zu meſſen, die ein leuchtender Kör⸗
per von ſich giebt, welche ſich ſehr einfach auf die Stärke
des Schattens gruͤndet, die etwa ein Metallſtab auf eine
weiße Fläche wirft. Will man das Licht zwei ſolcher Kör—
per vergleichen, dann läßt man von beiden den Schatten des
Stabes auf das Weiß fallen, und wenn z. B. der eine Schat⸗
ten von dem Lichte eines weißglühenden Platinableches, der
andre von dem Licht einer Wachskerze herkam, dann entfernt
man den einen heller leuchtenden Korper oder nähert den an—
478
dren ſchwächer leuchtenden fo weit, bis beide Schatten die
gleiche Dunkelheit haben. Beim Vergleich der Sonnenſtrah—⸗
len mit andrem Lichte wendet man auch eine kleine, mit
Queckſilber gefüllte Glaskugel an, läßt auf dieſe einen Strahl
des Sonnenlichtes fallen und vergleicht alsdann die Stärke
des zurückſtrahlenden Sonnenlichtes mit der einer Kerzen-
flamme, indem man jenes mit dem einen Auge durch ein
Fernrohr, dieſes mit dem andren durch eine Convexlinſe be⸗
trachtet, und dann die Entfernungen ſo weit abändert, bis
beide in gleicher Helle erſcheinen. Auf dieſen, ſo wie auf
verſchiednen andren Wegen iſt es gelungen, das Verhältniß
der Lichtſtärke bei leuchtenden Körpern genau zu beſtimmen,
und man hat gefunden, daß 5563 Kerzenflammen in einer
Entfernung von 1 Fuß eine Helligkeit geben würden, welche
der des Sonnenlichtes gleich käme. Das Licht des Sirius
iſt 20,000 Millionenmal ſchwächer als das Sonnenlicht und
neunmal ſtärker als das der Wega in der Leier. Das Mond-
licht wurde auch in dieſen Vergleich gezogen und berechnet,
daß ſeine erleuchtende, helle machende Kraft um nahe 25000
mal (24966) größer ſey als die des Sirius, obgleich, wie
ſchon erwähnt, erſt 800,000 Mondſcheiben, am heitren Him⸗
mel leuchtend, eine eben ſolche ſtarke Tageshelle über die
Oberfläche der Erde verbreiten würden, als die hoch am Him—
mel ſtrahlende Mittagſonne. Da die Erde in gleicher Ent—
fernung von der Sonne ſtehet als der Mond, kann man das
Licht, das ſie als Stern unter den Sternen ausſtrahlet, ſo—
wohl an jenen Stellen der Oberfläche, welche der Zurückſtrah—
lung am günſtigſten ſind, als auch für die Meere, nach Ab—
zug deſſen was die Dichtigkeit der Atmoſphäre an dieſer Zu—
rückſtrahlung ändert, berechnen. Man findet dann, daß, nach
Verhältniß ihrer Größen, Merkur ein 6%, Venus ein 2 mal
helleres Licht zurückſtrahlen als die Erde; während das plane⸗
tariſche Licht des Mars nur ohngefähr / mal fo heil iſt als
das unſrer Erde. Wenn man übrigens bei den am weiteſten
von der Sonne entfernten Planeten das Licht das fie aus—
ſtrahlen mit dem vergleicht, das ſie, der Berechnung nach,
bei ihrem Abſtand von der Sonne zurückwerfen würden, wenn
bei ihnen die Naturverhältniße dieſelben wären wie bei unſrem
Planeten, dann findet man, daß ihr Licht, und zwar bei den
am allerfernſten ſtehenden am meiſten, ſtärker ſey, als die
Berechnung es ergab. Dieſe Weltkörper müſſen deßhalb, außer
479
dem Lichte das fie von der Sonne empfangen, noch eine Zus
gabe von eigenthümlicher Kraft der Licherregung haben. Ohne
dieſe Zugabe, die wahrſcheinlich zugleich mit einer kräftigen,
eigenen Wärmeerzeugung verbunden iſt, möchte ſichs auch in
der fernſtehenden Vorſtadt des Sonnenſyſtemes gar unbehäg—
lich, für alle lebendige Weſen, wohnen laſſen. So aber wird
man dort, auch an trüben Tagen, keiner künſtlichen Gasbe—
leuchtungen bedürfen, weil durch die Beſchaffenheit der At—
moſphären für eine fortwährende, natürliche geſorgt iſt.
Doch wir gehen von der Betrachtung der hell machen—
den Kraft des Lichtes der Sonne, der Planeten und der
Feuerflammen, wieder auf die der Farben gebenden über.
Nicht nur die Farben des Prismas, ſondern auch jene
Farben, welche wir im gewöhnlichen Leben ſo nennen: die
Farbſtoffe damit wir unſren Kleidern, unſren Gemälden,
Glasflüſſen und andren Kunſterzeugniſſen ihren Reiz für das
Auge geben, ſind Kinder des Lichtes, und zeigen bei ihrem
Entſtehen, bei ihren Verwandlungen, wie bei ihrem Vergehen
eine durchgängige Abhängigkeit von dem Lichte.
Wenn jene beiden brennbaren Körper, welche in der irdi—
ſchen Natur die gemeinſten und gewöhnlichſten ſind: Koh—
lenſtoff und Waſſerſtoffgas in reinem Zuſtand mit dem Sauer—
ſtoffgas verbrennen, dann iſt nicht nur das Licht der Flamme
ein vorzüglich helles, ſondern die neu entſtandenen Verbin—
dungen (Kohlenſäure und Waſſer) ſind auch durchſichtig und
klar, ohne eine vorherrſchende Farbe. Wenn wir dagegen
unter dieſe vollkommneren Brennſtoffe andre Stoffe von me—
talliſcher oder erdiger Natur miſchen, welche das Verbrennen
hemmen und unvollkommner machen, dann erhält ſchon die
Flamme jene bunte Farben, die wir namentlich unſren
Luſtfeuern zu ertheilen wiſſen. Ein kleiner Beiſatz von
Strontianpulver, zum Weingeiſt, giebt der Flamme deſſelben
einen ausgezeichnet purpurrothen Schein. Der Beiſatz eines
ſolchen Stoffes, welcher hemmend dem Vorgang des hellen
Flammens entgegentritt, wirkt hier in derſelben Weiſe wie
das Prisma, wenn dieſes mit ſeinem ſchwächenden und
ablenkenden Einfluß, zwiſchen die ausſtrahlende Helle des
Sonnenlichtes, und den beleuchtbaren Körper tritt.
Jene Farbe, die wir in der eben erwähnten Weiſe der
Flamme geben, iſt eine vorübergehende Erſcheinung; ſie kann
jedoch, je nach der Natur der Stoffe welche mit dem Sauer-
PR MER, Fir 9 En
480
ſtoffgas ſich vereinten, oder eine Art von Verbrennung
erlitten, zu einer mehr oder minder feſtſtehenden werden.
Das Entſtehen der metalliſchen Oxyde gleicht ſeinem Weſen
nach einem Verbrennen, es verhält ſich aber zu dem Ver⸗
brennen mit heller Flamme und mit Feuergluth, wie ſich das
unſrem Sinne unmerkliche, ſanfte Ueberſtrömen, wodurch
die elektriſchen Spannungen, namentlich zwiſchen der At⸗
moſphäre und der Erdoberfläche ſich ausgleichen (nach C. 37)
zu dem Blitz der Wetterwolken. Jene innre, ſchwingende Be⸗
wegung, die in unſrem Auge den Eindruck des Lichtes und
der Farben hervorruft (nach C. 58) wird bei der unvoll⸗
kommnen Verbrennung oder Oxydation, namentlich der Mer
talle, zu einer fortwirkenden, bleibenden, und theilt ſich in
ſeiner ſtättigen Fortwirkung den durchſichtigen, feſten Körpern
mit. Darum leuchtet das herrliche Grün des Chrom-Oxyds,
mit unveränderlicher Kraft, ſeit den Jahrtauſenden die an
der Erdveſte vorübergingen, aus dem Smaragd, ſein Roth
aus dem Spinel, wie das Grün des Nickeloxydes aus dem
Chryſopras. Am häufigſten find es die Oxyde des Eiſens,
welche den Körpern des Steinreiches, und zum Theil ſelbſt
der organiſchen Natur, eine große Mannichfaltigkeit der bun⸗
ten Farben: die rothe, in ihren verſchiedenen Abſtufungen,
wie die gelbe, grüne, blaue und violette geben. Dabei iſt
zu bemerken, daß öfters die bunten Farben, welche ein me—
talliſches Element auf den Stufen ſeiner unvollkommneren
Sättigung mit dem Sauerſtoffgas den durchſichtigen Körpern,
namentlich unſren Glasflüßen mittheilt, wieder verſchwinden
und in die waſſerhelle (weiße) Färbung übergehen, wenn
die Sättigung (gleichſam Verbren nung) eine vollkommnere
wird. Daſſelbe geſchieht auch dem Kohlenſtoff, wenn dieſer
bei un vollkommener Verbrennung, in jener dunklen Fär⸗
bung auftritt, in welcher er uns öfters, auch in ſeiner Bei⸗
miſchung unter andre Körper, vor Augen kommt, denn er
nimmt beim vollkommnen Verbrennen zur Kohlenſäure, die
waſſerhelle Klarheit der Gasarten an. Hierauf gründet ſich
die entfärbende Wirkung, welche, wie wir oben S. 127
ſahen, die Beimiſchung des Graubraunſteinerzes auf unſre 1
Glasflüße hat; das Sauerſtoffgas, welches jenes Erz in
Ueberfülle in ſich führt, wird bei dieſem Verfahren zur volle
kommnen Sättigung und Verbrennung der unvollkommen
oxy⸗
481
oxydirten, farbigen Soffe verwendet; fie werden klar und waſ⸗
ſerhell, wie die reine geſchmolzene Kieſelerde des Glaſes und
der Bergkryſtalle ſelber dieſes ſind.
In der organiſchen Natur ſehen wir öfters den ganz
entgegengeſetzten Vorgang eintreten. Die Blätter einer Pflan⸗
ze, welche in einem warmen, dunklen Keller hervorſproßen,
haben nicht die natürliche, grüne Farbe, ſondern ſind weiß—
lich bleich, wenn wir ſie aber dem Sonnenlicht ausſetzen, dann
nehmen ſie bald ihr friſches Grün an. Wie wir früher er⸗
wähnten, hat das Sonnenlicht auf das lebende Pflanzenblatt
die Wirkung, daß es das Sauerſtoffgas daraus entbindet.
Der Kohlenſtoff der Kohlenſäure wird hierdurch in einen un⸗
vollkommnen Zuſtand der Oxpdation verſetzt und zugleich
farbig. Je kräftiger die Entwicklung und die innre Lebens-
thätigkeit des Pflanzenblattes iſt, deſto mehr ift das Sauer-
ſtoffgas in einem Zuſtand der beſtändigen Löſung und des
Freiwerdens begriffen, worinnen der Grund liegen mag, aus
welchem junge Pflanzenblätter das Lakmuspapier gleich einer
ſchwachen Säure röthlich färben.
Der eigentliche, grünfärbende Stoff der Pflanzen (das
Blattgrün) gleicht in vielen ſeiner Eigenſchaften den Harzar⸗
ten; an ſeiner chemiſchen Zuſammenſetzung nimmt der Koh⸗
lenſtoff und mit ihm das Waſſerſtoffgas einen überwiegend
vorwaltenden Antheil. Das Blattgrün löst ſich, eben ſo wie
die Harze, nicht im Waſſer, wohl aber in Weingeiſt und
noch leichter in Oelen auf, behält aber ſeine grüne Farbe
in dieſen Auflöſungen nur dann eine Zeit lang, wenn man
den Einfluß des Tageslichtes davon abhält; ſobald die Sons
ne darauf ſcheint wird es zuerſt braun, dann weiß. Dieſer
entfärbende Einfluß des Sonnenlichtes zeigt ſich an der grü—
nen Tinktur, die man aus Kirſch- und Fliederblättern durch
Weingeiſt auszieht, ſchon nach 20 Minuten. Umgekehrt iſt
der Indigſtoff, welcher namentlich aus den Wurzeln der In⸗
digopflanze gewonnen wird, ſo lange das Sauerſtoffgas noch
keinen Zutritt zu ihm hatte, weiß, wenn er aber der Luft aus⸗
geſetzt wird, zieht er mit Begierde das Sauerſtoffgas an ſich und
erhält nun die blaue Färbung. Auf die Farbeſtoffe, welche aus
dem Pflanzenreich gewonnen werden, hat das Licht, vor al—
lem jenes der unmittelbar auffallenden Sonnenſtrahlen einen
ſehr bedeutenden, verändernden und zuletzt zerſtörenden Ein⸗
fluß. Selbſt ein hoher Grad der e ſolche Verän⸗
1
482
drungen bewirken; manche Pflanzenfarben, die ſich an der Son:
ne nur langſam entfärben, werden, wenn man ſie einem Luft⸗
ſtrome ausſetzt, deſſen Hitze die des kochenden Waſſers über⸗
ſteigt, ohne jedoch ein wirkliches Verbrennen zu bewirken, in
wenig Minuten gebleicht. Die gelbe Farbe, die man dem
Papier durch Quajactinktur mittheilte, wird, wenn man das⸗
ſelbe unter den violetten Lichtſtrahl des Prismas bringt,
durch Aufnahme von Sauerſtoffgas in Grün verwandelt,
kehrt aber wieder zurück, wenn man Wärme, auch in kei⸗
nem hohen Grade, darauf einwirken läßet.
Wie die Farben ſchon auf das Reich der kodten Elemen⸗
te einen ſehr augenfälligen, bewegenden Einfluß haben, ſo
kommt ihnen auch ein ſolcher, und zwar in noch viel höherem
Maaße auf die beſeelten Weſen zu. Abgeſehen von der cher
miſchen Wirkung des violetten Strahles, auch auf die Le⸗
bensthätigkeit des Pflanzenblattes, zeigt ſich bei manchen
Thieren eine Vorliebe oder auch ein Abſcheu vor gewiſſen
Farben. Ein gezähmter Kranich, welchen H. v. Schauroth
längere Zeit beobachtete, zeigte die entſchiedenſte Abneigung
gegen einige mit ihm auf demſelben Landgut zufammenleben-
den Hausthiere, offenbar weil dieſelben von ſchwarzer Farbe
waren, denn gegen Thiere der gleichen Art, die von andrer
Farbe waren, bewies er ſich ſehr verträglich. Namentlich
auch von der rothen Farbe weiß man, daß ſie für ſehr viele
Thiere etwas Aufregendes hat, das zum heftigen Widerſtre—
ben und zu Aeußerungen einer blinden thieriſchen Wuth
führen kann. Kühe von rother Farbe find in unfren Alpen-
herden häufig den Verfolgungen ihrer Genoſſinnen ausgeſetzt;
ſie ſind ein Gegenſtand des Haſſes für die andren Kühe, ſo
daß man bei manchen Herden genbthigt iſt ſolche Thiere zu
entfernen. Es iſt gefährlich mit einem Kleidungsſtück von
rother Farbe einer Hornviehherde in den Alpen ſich zu nahen,
ſelbſt ein rothes Tuch reizt dieſelbe zu wüthenden Angriffen
auf den unvorſichtigen Fremden. Unſren, eigentlich aus
Amerika ſtammenden Welſchhünern iſt die rothe Farbe zu⸗
nächſt ein Gegenſtand von Furcht erregender Art, der aber
das Thier, wenn es ſich kräftig genug fühlt, zum Gegen⸗
kampf antreibt. Wir laſen oben in der Geſchichte des Ja-
meray Duval, welche Wirkung ein rother Tuchlappen, an
den Hals eines jungen Welſchhuhns gehangen, auf das ar⸗
me, geängſtete Thier hatte: eine Wirkung die für den Hir⸗
7
15
4
483
tenknaben felber, ohne Gottes beſondre Fürſorge, eben fo
traurige Folgen hätte haben können, als für ſeinen gefieder⸗
ten Pflegling. In Südfrankreich ſieht man öfters, daß ganze
Herden von Welſchhühnern ſtatt der Peitſche oder dem Hir⸗
tenſtab nur durch einen Stecken in Ordnung gehalten werden,
an welchem oben ein ſcharlachrother Tuchſtreifen befeſtigt
iſt; dieſen bewegt man, indem man eine ganze Schaar ſol⸗
chen Geflügels vom Lande herein zu Markte treibt, über die
zur Seite ausſchweifenden oder zurückbleibenden hin und er⸗
zwingt ſich dadurch, wie bei andren Herdenthieren durch Ruthe
und Stecken, unbedingten Gehorſam.
Selbſt auf die Gemüthsſtimmung des Menſchen äußern
die herrſchenden Farben der ihn umgebenden Sichtbarkeit viel⸗
leicht einen größeren Einfluß, als er in der Zerſtreutheit des
alltäglichen Lebens ſich deſſen bewußt wird. Die Völker des
Alterthumes haben dieſen Gegenſtand einer beſondren Beach⸗
tung unterworfen, haben von dem Einfluß der Farben, wie
des Glanzes der Edelſteine, viel geredet und auch gefabelt.
Wir brauchen es ihnen allerdings nicht nachzuſprechen und
noch weniger zu glauben, daß der Anblick des ſchön violett—
farbigen Amethyſtes tieffinnige Träumereien aufrege, das
Hineinblicken in den Strahlenglanz eines Demantes oder Ru⸗
bins dem Krieger in der Schlacht Muth und Feſtigkeit ver⸗
leihen ſollte, etwa ſo wie man dem grünen Farbenſchein des
Smaragdes Stillung heftiger Leidenſchaft zuſchrieb. Der
Anblick grünender Auen wird für die Stimmung eines reiz⸗
baren, menſchlichen Gemüthes immer etwas lieblich Beſänfti—
gendes haben, der lange Anblick eines vorherrſchenden Gelb
zum Ueberreiz und Ekel führen, das Roth, je nach dem Grad
ſeiner Miſchung mit Gelb oder Blau, oder ſeiner vollkomm⸗
nen Reinheit im Carmin, eine ſanftere oder heftigere Aufre⸗
gung der Region der Affecten hervorrufen. Es liegt in dem
reinen Weiß der Lilie ein Etwas, das der Werkthätigkeit
des ſtillen, geiſtigen Erkenntnißvermögens förderlich erſcheint
und verwandt.
57. Der Nachtſchimmer oder die Phosphorescenz
der Körper.
Wir möchten vor Allem dem hehren Lichte, ſo wie ſpä—
terhin * noch der Wärme, gern den ihnen wohlgebühren⸗
31
484
den Ruhm bewahren, daß ihre tiefeingreifende, alldurchdrin⸗
gende Wirkung auf die Körper, welche die rechte Empfänglich⸗
keit dafür beſitzen, keine vorübergehende, ſondern eine lang,
ja zum Theil mit der ganzen Dauer ſolcher Körper fortbe—
ſtehende ſey. Die Glocke, an welche der Stundenhammer
ſchlug, tönte noch einige Zeit hindurch unſerem Ohre vernehm⸗
bar fort und lange nachher, wenn wir nichts mehr davon
hören, mögen die Schwingungen des Metalles, welche der
Hammer oder Klöppel erregten, noch fortdauern. So wirft
auch der Einfluß des Lichtes in ſeiner Farben- und Erleuch⸗
tung gebenden Eigenſchaft noch fort, wenn die Sonne,
die daſſelbe ausſtrahlte, längſt untergegangen, die Flamme,
die es erzeugte, längſt verloſchen iſt.
Wie mochte jener Schuhmacher in Bologna, der Vin⸗
cens Cascariolo in Erſtaunen gerathen, als er die Steine,
die er mehrere Stunden vorher im Feuer ſeines Kochöfchens
zum Glühen gebracht hatte, im Dunkel der Nacht noch fort⸗
glühen ſahe, obgleich das Kohlenfeuer längſt erloſchen war
und der Ofen, wie die leuchtenden Steine ſich ganz kalt an⸗
fühlten. Freilich hätte ihm nicht jede Art von Steinen dieſe
merkwürdige Erſcheinung gewährt, ſondern es war eben ein
beſonders glücklicher Zufall, der ihm gerade auf dem Paterno⸗
berge bei Bologna dieſen aſchgrau ausſehenden, ſchwefelſauren
Schwerſpath in die Hand führte. Auch wäre nicht jeder an—
dre Schuhmacher, und ſo leicht auch kein Gelehrter der dama—
ligen Zeit auf die merkwürdige Entdeckung gekommen, welche
der Vincens an dem ſogenannten Bononiſchen Leuchtſtein
machte; und wäre irgend ein berühmter Mann durch die glei—
che Veranlaſſung darauf geführt worden als unſer bologneſer
Schuhmacher, ſo hätte er ſich vielleicht geſchämt den wahren
Hergang zu erzählen. Das war aber bei dem Vincens Cas⸗
cariolo keinesweges der Fall, er geſtund es und alle ſeine
Nachbarn und Bekannten wußten es von ihm, daß ihn ſein
Verlangen »Gold zu machen« zu dem erſten Verſuch mit
jenem Stein gefüht habe. Es war nur zu bekannt, daß der
Mann ſtatt fleißig und ordentlich durch ſein Handwerk ſich
zu nähren; bei Tag wie bei Nacht ſich dem Hange hingab den
»Grundſtoff aller Grundſtoffe, « die »prima Materia « zu
finden »aus welcher der Schöpfer alle Dinge, namentlich
auch das Gold gemacht habe, was der Menſch allerdings,
wenn er nur erſt im DBefiß jenes Urſtoffes ſey, dem lieben
485
Gott nachmachen könne.« Der Verdienſt, ſo Kreuzer bei
Kreuzer, mochte ihm gar zu kleinlich vorkommen, — »tau—
ſend Goldgülden bei tauſend Goldgülden und morgen wieder
tauſend, dann fünf Tage in jeder Woche Feiertage mit
Schmauß und Luſtbarkeiten, das klingt ſchon beßer.« Aber
dieſer gute Klang der ihm in ſeinen Träumereien beſtändig
vor den Ohren tönte, hatte den Vincens gar lange Zeit ge—
täuſcht und ihn nur in Noth und Sorgen gebracht, als er
eines Tages (im Jahre 1630) am Monte Paterno den grauen,
in platten Kugeln geformten, an ſeiner körnigrauhen Außen—
fläche hin und wieder glänzenden Stein in ſeine Hand nahm,
und daran eine Schwere bemerkte, welche andre, gewöhnliche
Steine niemals haben. Gleich fiel ihm dabei ſein beliebter
Grundſtoff der Grundſtoffe ein, ſollte dieſer, ſo dachte er,
nicht hier in meinem Steine zu finden ſeyn? Er füllt ſich
damit feine Taſchen, zündet zu Haufe in feinem kleinen, al—
chymiſtiſchen Ofen ein tüchtiges Kohlenfeuer an, glühet und
röſtet den Stein, der dadurch freilich zu keiner prima mate-
ria, wohl aber zu einem Gegenſtand wird an welchem die
Naturforſcher bis auf unſre Zeit noch immer eine Luſt und
Ergötzung der Augen finden. Denn nicht nur jederzeit, wenn
man den bononiſchen oder bologneſer Leuchtſtein (ſo heißt er
nach ſeinem erſten Fundort noch immer) der gewöhnlichen
Feuergluth, ſondern wenn man ihn auch nur dem hellſtrah—
lenden Sonnenlicht auf einige Augenblicke ausſetzt, dann
leuchten ſeine Trümmerſtücke eine Zeit lang mit farbigem
Lichte im Dunklen, gleich den Glühwürmchen oder Johannis-
käferchen.
Dem Vincens Cascariolo mag ſeine Entdeckung man—
chen Gewinn, auch an Geld gebracht haben, als er dieſelbe
nicht bloß den damaligen beruͤhmteſten Phyſikern ſeiner Va—
terſtadt mittheilte, ſondern als die Naturfreunde in ganz
Italien und in manchen andren europäiſchen Ländern ſich
keine Koſten reuen ließen, um ein und das andre Stück des
merkwürdigen Steines in ihren Beſitz zu bekommen. Der
Gewinn aber war noch viel größer, den die Naturkunde ſel—
ber aus der Erkenntniß eines ſolchen Vorganges zog, bei
welchem ſich, ohne daß dabei irgend eine Art von Verbren—
nen ſtatt findet, die Bewegung, welche im Licht iſt, einem
feſten Körper mittheilt, und in dieſem noch eine Zeit lang
ſeine Schwingungen fortſetzt, die uns als ein Leuchten erſcheinen.
486
Der Demant, weil er, wie bereits erwähnt, aus reinem
Kohlenſtoff beſteht, iſt freilich, fo unverwüſtlich feſt er ſich
anſtellt, ein brennbarer Körper, zugleich aber weiß auch
jedermann welche außerordentliche Erhitzung, etwa im Focus
des Brennſpiegels, oder in der höchſten Gluth der Schmelzöfen
dazu nöthig ſey, um dieſes koſtbare Feuerungsmaterial zu
entzünden, welches dabei dennoch keine helle Flamme giebt,
ſondern nur mit einem funkenſprühendem Scheine ſich zerſetzt.
Wenn mann aber manche Demante (denn nicht an allen ge⸗
lingt es in ſehr augenfälliger Weiſe) eine Zeit lang dem
Sonnenlichte ausſetzt und ſie hierauf in einen dunklen Raum
bringt, dann leuchten ſie, als ob ſie glüheten. Bei Nert—
ſchinsk in Sibirien findet ſich eine Abänderung des Flußſpathes,
(Chlorophan genannt), welche die Eigenſchaft im Dunklen
fort zu leuchten, wenn man ſie vorher dem Lichte ausſetzte,
in ganz beſonders hohem Grade an ſich hat, und auch unſer
vaterländiſcher Flußſpath zeigt, mehr oder minder deutlich,
dieſelbe Erſcheinung. Der bologneſer Leuchtſtein beſtehet, wie
wir oben ſagten, aus einer Verbindung der Schwererde (Bas
ryterde) mit Schwefelſäure und auf dieſer feiner Zuſammen—
ſetzung beruhet hauptſächlich ſein Vermögen der beharrlichen
Lichtſtrahlung. Deshalb thut unſer gemeiner Schwerſpath
(ſchwefelſaurer Baryt) der in gar vielen Gegenden, auch von
Deutſchland gefunden wird, dieſelben Dienſte als der kuglich
geformte bononiſche, den man übrigens außer bei Bologna
auch bei Amberg in Bayern u. a. entdeckt hat. Und nicht nur
der Schwerſpath, ſondern auch der ſchwefelſaure Strontian und
eine Menge andrer einfacher wie zuſammengeſetzter Körper
behalten die Fähigkeit noch fortzuleuchten, wenn man ſie aus
dem Licht ins Dunkle bringt. Vor den meiſten andren am
leichteſten zu bereiten iſt der ſogenannte Cantonſche Phosphor
(nach ſeinem Erfinder, dem Engländer John Canton ſo
genannt) den man dadurch bereitet, daß man Auſterſchaalen,
die man ſchon vorher für fich allein geglüht und dann g
pulvert hatte, noch einmal, mit einem Viertheil ihres Ge—
wichtes Schwefelblumen vermiſcht, eine Stunde lang in einem
Tiegel einer ſtarken Glühehitze ausſetzt. Eine noch beßer für
den Verſuch brauchbare, gegen die Einwirkung des Lichtes
empfindlichere Miſchung iſt die der gebrannten Auſterſchaalen
mit Schwefelſpiesglanz. Und ſo giebt es noch eine Menge
andrer künſtlich bereiteter und natürlicher Subſtanzen, welche
H
1
|
487
die Eigenſchaft des bononiſchen Leuchtſteines zeigen, den man
ſelber auch noch dadurch zu dem Verſuch geſchickter machen
kann, daß man ſein Pulver mit Traganthſchleim zu kleinen
platten Kuchen bildet, die man eine Stunde lang glühet.
Wäre unſer Geſichtsſinn für ſchwächere Grade des
Lichtes ſo empfindlich, wie der mancher Thiere, dann würden
wir an den meiſten Felsarten und Steinen, die am Tage von
der Sonne beſtrahlt waren, im Dunklen noch ein Fortleuch—
ten bemerken, wie dies v. Char pentier an mehreren Gra⸗
nit⸗ und Gneißfelſen beobachtet hat. Und nicht nur die feſten
Körper, auch das flüſſige Element des Meeres giebt, wenn
am Tage die Sonne der Wendekreiſe es beſtrahlte, während
der Nacht ein Licht von ſich, das nicht allein von der nach—
her zu erwähnenden thieriſchen Abkunft iſt. Selbſt in unſren
Meeren hat man eine, wenn auch ſchwächere Phosphorescenz
des Seewaſſers bemerkt.
In älterer Zeit ſind gar vielerlei mährchenhafte Berich—
te im Umlauf geweſen, welche meiſt aus dem Orient, aus
dem Lande da die Sonne heller ſtrahlt als bei uns, ihren
Urſprung genommen hatten: von einem wunderbaren Steine,
dem Karfunkel, der aus eigner, ſelberleuchtender Kraft, mitten
in dem Dunkel der Grüfte ſo wie der unterirdiſchen Schatz—
kammern, eine Helle um ſich her verbreiten ſollte, die dem
Licht einer Kerze gleich käme. Mährchen waren dies, ſo wie
ſie da erzählt wurden, allerdings, aber der Dichtung lag doch
etwas Wahres, eine Beobachtung zu Grunde, die man nicht
nur am Demant, ſondern an manchem Edelſtein gemacht
haben konnte.
Bei allen den Körpern, welche ſich durch die erwähnte Ei—
genſchaft eines Fortwirkens der empfangenen Beleuchtung,
auch im Dunklen auszeichnen, iſt zu bemerken, daß ſowohl das
Sonnenlicht als auch das Licht der verbrennenden Körper
(das Flammenlicht) nicht aber das ſchwache Mondlicht ſie in
den Zuſtand des Fortleuchtens verſetzen könne. Bemerkens—
werth iſt auch der Umſtand, daß unter den prismatiſchen Far—
benſtrahlen zunächſt und vorzugsweiſe der violette das Fort—
leuchten begünſtige, während daſſelbe augenblicklich endet,
Dale mat jene Körper dem rothen Strahle des Farbenbildes
ausſetzt.
Mit den eben erwähnten Arten der Lichtſtrahlung im
Dunkeln, welche ſich auf eine Fortdauer der Bewegung grün—
488
den, die das Licht an der Oberfläche eines Körpers hervor⸗
gerufen hat, dürfen nicht jene verwechslet werden, welche die
Folge einer langſam fortſchreitenden Verbindung mit dem
Sauerſtoffgas ſind, oder welche in ihrem Kreiſe, ſo wie der
elektriſche Funke, das Anzeichen einer Ausgleichung (Entla⸗
dung) der polariſchen Spannung zwiſchen der Atmosphäre und
der Erdoberfläche ſind. Zu den Erſcheinungen der letzteren Art
gehörten jene Feuerregen, deren ſcheinbare Schreckniſſe, außer
dem Auge, keinen andren Sinn berührten. Ein berühmter
und durchaus glaubwürdiger Naturforſcher, T. Bergmann
hat im September des Jahres 1759 zwei ſolche Feuerregen
beobachtet, bei denen jeder ſchwere Tropfen, wenn er auf das
Felſengeſtein oder auf den Boden des Feldes traf, einen ſtar⸗
ken Funken gab, ſo daß in jenen zweien, übrigens ganz
dunklen Nächten die Fluren ein Ausſehen hatten, als würden
ſie mit einem ſchwachleuchtenden, flüchtigen Feuer übergoſſen.
Es wird übrigens nicht nöthig ſeyn daran zu erinnern, daß
ein ſolches Feuer weder Erhitzung verbreite noch verzehrende
Kräfte habe.
Das faule Holz, faules Fleiſch, faule Fiſche geben auch
im Dunklen einen Lichtſchein von ſich, der keine Erwärmung
mit ſich führt, dieſer Lichtſchein ſteht aber in Zuſammenhang
mit einer Art jenes langſamen Verbrennens, davon wir oben
im C. 34 ſprachen. Wenn man deshalb dergleichen phos—
phoreszirende Körper in ſolche Luftarten bringt, darinnen
das Licht der Kerzen verlöſcht, dann nimmt auch ihr Leuchten
ein Ende. Selbſt manche lebende Thiere, namentlich die vom
Geſchlecht der kleinen, ſchleimigen Quallen im Meere ſtrahlen
bei Nacht ein Licht aus, und bei unſren Johanniswürmchen
ſteht dieſes Licht ebenfo im Zuſammenhang mit der innren
Aufregung der thieriſchen Lebenskraft und des thieriſchen
Willens als die Entladung des elektriſchen Schlages bei den
C. 44 erwähnten Zitterfiſchen. Einen ähnlichen Zuſammen⸗
hang des nächtlichen phosphoreszirenden Leuchtens mit den
Willensregungen des Thieres, hat man auch an den Augen
der Katzen wahrgenommen. 0 |
58. Vermuthungen über die leibliche Natur
des Lichtes.
Seit älteſter Zeit hat wohl kaum ein andrer Gegenſtand
489
der Sichtbarkeit das Nachdenken des menſchlichen Geiſtes fo
ſehr angeregt als das Licht. Man hat die Frage über das
Weſen des Lichtes vom Standpunkt der Naturwiſſenſchaft
aus in zweifacher Weiſe zu löſen geſucht, entweder, ſo nahm
man an, iſt das Licht ein feines körperliches Weſen, das aus
der Sonne beſtändig ausfließt und ſich durch den Weltraum
verbreitet, da aber, wo es einen mehr oder minder undurch—
ſichtigen Körper trifft, von dieſem zurückgeſtoßen (zurückge—
ſtrahlt) wird, oder ſein Weſen beſtehet in einer ſchwingenden
Bewegung, welche von der Sonne ſo wie von jedem andren
leuchtenden Körper angeregt, ſich dem Aether mittheilt, und
bis zu unſerem Sehnerven, ſo wie bis zu jedem andren er—
leuchtbaren Körper fortpflanzt. Die erſtere Anſicht wurde als
die des Ausfließens (Emanation), die andre als die des wo—
genden Bewegens (der Undulation) bezeichnet. Ä
Der erſte befannnte Raturkundige welcher die Anficht
von einem Ausfluß des Lichtes, gleich dem eines leiblichen
Stoffes zu einer wiſſenſchaftlichen Lehre ausbildete, iſt, ſo
viel man weiß, Empedokles geweſen, welcher in der
Mitte des fünften Jahrhunderts vor Chriſti Geburt zu Agri—
gent, einer Stadt in Sizilien lebte, in und bei welcher ſich,
damals beſonders, der Menſch des Lichtes freuen und an
ſeinem Alles erhellenden Glanz ergötzen konnte, wie an we—
nig andren Orten der Erde. Denn dieſes Agrigent, welches
in feiner blühendſten Zeit von 800000 Menſchen bewohnt war,
bot Alles dar, was zur Luſt der Augen gehört, und noch jetzt
möchte ſich der Reiſende zur Betrachtung der wunderherrlichen
Ruinen der alten Stadt, welche wie Edelſteine in Gold ge—
faßt, in einer ungemein ſchönen Gegend liegen, einen beſtän—
digen Tag, gar keine Unterbrechung durch die Nacht wün—
ſchen, weil man kaum anderswo ſo ſehr an den Spruch:
»das Auge ſieht ſich nimmer ſatt,« erinnert wird. Es darf
uns deshalb nicht befremden, daß der tiefſinnige Empedok—
les ſich ſolche Mühe gab das flüchtig vorübereilende Weſen
des Lichtſtrahles für ſeine Betrachtung feſtzuhalten, in einem
Lande da das Licht mit Luſt verweilte und wo ſein Erſcheinen in
jeder gefunden Menſchenbruſt nur Luft und Freude wecken konnte.
Ein und zwanzig Jahrhunderte hernach hat ein eben ſo
großer Naturkundiger als Empedokles war, der berühmte
Engländer Iſaak Newton die Lehre: daß das Licht ein
leiblicher Ausfluß ſey, mit großem Scharfſinn bearbeitet und
— —
490
ausgeführt. »Obgleich dieſer überaus feine, ausfließende Stoff
ungehemmt die durchſichtigen Körper durchdringe, erleide er den⸗
noch von ihnen eine Anziehung nach der Geſammtheit ihrer
Theile (ihrer Maſſe) hin, wodurch der Lichtſtrahl von ſeiner
geradlinigen Richtung abgelenkt (gebrochen) werde, von un⸗
durchſichtigen Körpern dagegen werde der Lichtſtoff, je glätter
und ſpiegelnder ihre Flächen find, deſto vollkommner abgefto-
)
1
\
ßen und zurückgeworfen, während die farbigen Körper nur
einen Theil der Strahlen des auf ſie fallenden weißen Lich⸗
tes wieder von ſich geben ſollten.«
Der Lehre welche das Licht als ein leibliches Ausfließen
darſtellte, widerſprach ſchon einer der ſcharfſinnigſten Denker
aller Zeiten, Ariſtoteles (im 4ten Jahrhundert vor Chr.
Geb.). Dieſer ſprach eine Anſicht aus, welche ebenfalls zwei
Jahrtauſende ſpäter von einem ihm verwandten Geiſte, von
dem Holländer Huyghens, Fann von dem deutſchen Mas
thematiker Euler mit großer Klarheit durchgeführt worden
iſt, die Lehre: daß das Licht ein alldurchdringendes Bewegen,
daß es nicht ſowohl ein Körper ſelber, als eine Kraft der
Körperwelt (Undulation) ſey. Dieſe Anſicht hat ſich durch
die immer weiter gehenden und tiefer eindringenden For—
ſchungen der neueren Zeit ſo beſtättigt, daß ſie jetzt als die
herrſchende im Gebiet der Phyſik betrachtet werden darf.
Der Schall wird von einem tönenden Körper dadurch
zu unſrem Ohre fortgepflanzt, daß die Luft an der Schwin⸗
gung, in die jener Körper verſetzt iſt Theil nimmt. Obgleich
kein andrer irdiſcher Körper von dem Licht ſo leicht durch—
dringbar, ſo durchſichtig iſt als die Luft, kann dennoch nicht ſie
es ſeyn welche die Schwingungen des leuchtenden Körpers
der beleuchtenden Umgebung, oder unſrem Auge mittheilt,
denn eben ſo wie ein ſogenannt luftleerer Raum, in welchem
jeder Ton verſtummt, ein Demant oder ein ſpiegelnder Kör—
per, wenn der Sonnenſtrahl auf ihn hineinfällt, wenigſtens
eben ſo hell glänzt und leuchtet als außen in der freien Luft,
kommt uns ja auch das Sonnenlicht wie das Licht der Fir-
ſterne durch Weltenräume zu, in denen kein unſrer Luft glei=
chender Körper zu finden iſt. Will man nun ein für allemal
an der Meinung feſthalten, daß der Antrieb zu einem leib-
lichen Bewegen, auf ein durch weite Entfernung getrenntes
Leibliches nicht anders einwirken könne als dadurch, daß ein
leibliches Mittel da iſt, deſſen Bewegung von einem Ende
491
eine gleichartige Bewegung am andren Ende begründet, (et
wa fo wie bei einer Reihe von Billardkugeln, an deren eine
äußerſte man eine andre Kugel anſtoßen läßt, worauf die
andre äußerſte, als hätte der Stoß ſie getroffen, in fortrol—
lende Bewegung geſetzt wird), dann muß man das Daſeyn
eines allenthalben in der Leiblichkeit verbreiteten, dieſe ums
fangenden und durchdringenden Weſens annehmen, welches
mit einem ſchon bei dem Alterthume vielbedeutenden Namen:
Aether genannt wird. Ueberall gegenwärtig wie die allge-
meine Schwere, welche freilich kein Körper, ſondern auch
nur eine die Körperlichkeit durchwirkende Kraft iſt, ſoll der
Aether im Weltenraume, fo wie im durchſichtigen Bergkryſtall
oder im feſten Demant, in unſrem Auge und Sehenerven
ſo wie in den miteinander verbrennenden gasartigen Grund—
ſtoffen des Waſſers und in jeder Flamme ohne Aufhören
zu einer ſchwingenden Bewegung fähig ſeyn, die ſich anſchei—
nend in geradliniger Richtung von einem ſeiner Theile auf
den andren überträgt. In dem leuchtenden Sonnenkörper, ſo
wie an den ſonnenartig leuchtenden Fixſternen fände ein un—
aufhörliches Anregen des Athers zu ſeinen Schwingungen
ſtatt; ein Anregen welches noch aus unermeßbaren Fernen
als Licht empfunden wird. 5
Wir nannten ſoeben die Fortpflanzung der wellenför—
migen Bewegung des Lichtes eine anſcheinend geradlinige,
denn als eine ſolche, und nur als eine ſolche iſt ſie auch
durch die feineren Beobachtungen der neueſten Zeit erkannt
worden. Den meiſten Aufſchluß über dieſen Gegenſtand hat
die beßere, deutlichere Erkenntniß einer Erſcheinung gegeben,
welche man früher unter den Namen der Beugnng des Lich—
tes anerkannte. Wenn man nämlich in ein verdunkeltes
Zimmer durch eine kleine Oeffnung oder Spalte des Ladens
Sonnenlicht auf einen geradſtehenden Draht hereinfallen lä—
ßet, (jede Stricknadel iſt zu dem Verſuche anwendbar), dann
wirft dieſer feine, undurchſichtige Körper nicht, wie man es
bei Annahme der ausſchließend nur geradlinigen Fortpflan—
zungl des Lichtes erwarten müßte, einen einförmigen dunklen
Schatten auf den hinter ihm ſtehenden Schirm; einen Schat—
ten deſſen Breite mit der Entfernung des Schirmes ſo wie
der Lichtöffnung genau im Verhältniß ſtehet, ſondern ſein
Schatten iſt viel breiter, als er der Berechnung nach ſeyn
ſollte, und gerade in der Mitte, wo ſich nach der Lehre von
492
der geradlinigen Strahlung die größeſte Dunkelheit zeigen
müßte, erſcheint ein heller Streifen, der zu beiden Seiten von
dunklen Linien begrenzt iſt, deren man, wenn der Schirm
näher an dem Drahte ſteht, mehrere, wenn man ihn weiter
davon hinwegrückt nur zwei, außer ihnen aber noch einige
farbige Ränder wahrnimmt. Dieſe letzteren macht freilich
erſt das Vergrößerungsglas recht ſichtbar, und mittelſt deſſel—
ben kann man die ganze Erſcheinung, wenn man damit ges
gen den Draht hinblickt, auch ohne Schirm, in der bloßen
Luft zu ſehen bekommen; das Schattenbild ſtellt ſich dann“
als eine Anzahl von gleich weit von einander abſtehenden
dunklen Linien dar, welche durch feine helle Streifen getrennt
ſind. Auch am Umfang des Schattens breiterer Körper, z.
B. kleiner Scheibchen bemerkt man, wenn man das Licht in
ähnlicher Weiſe auf ſie fallen läßet, farbige Ränder, wie ſie
in einem vergrößerten Maaßſtabe um den Mondſchatten, bei
totalen Finſternißen ſich zeigen.
Man hat nun den Verſuch auch auf andre, zuerſt von
Fraunhofer angegebene Weiſen gemacht. Das Licht
das durch die eine enge Spalte, ins dunkle Zimmer herein—
fällt, wird durch eine zweite enge Spalte, welche in gerader
Linie mit der erſten und in einiger Entfernung von dieſer,
etwa in einem Schirme angebracht iſt, mittelſt eines Fern—
rohres betrachtet und man ſieht jetzt eine Lichterſcheinung
in der Mitte von einem hellweißen Streifen durchzogen,
deſſen Höhe jener der Lichtöffnung gleich, deſſen Breite aber
um ſo größer erſcheint, je ſchmäler die Spalte iſt, durch
welche das bewaffnete Auge hindurchſchaut. An jeder Seite
dieſes hellen Mittelſtreifens zeigen ſich drei prismatiſche
Farbenbilder, bei zweien von dieſen, welche rechts und links
zunächſt an das Helle grenzen, find alle Farben des Pris⸗
mas (zu innerſt das Violett) ſichtbar, während an den beiden
folgenden das Violett fehlt, fo daß ſich gleich das Indigo⸗
blau an der rothen Seite des vorhergehenden einſtellt; an
den beiden äußerſten fehlen mit den violetten Strahlen zu⸗
gleich auch die blauen, ſo daß hier der grüne Strahl den
Anfang macht. Das innerſte Farbenbild iſt überhaupt das
deutlichſte, das äußerſte das undeutlichſte, und der ganze,
innen einfach weißlich helle, nach den Seiten dreifach viel⸗
farbige Lichtgürtel wird um deſto breiter, je ſchmäler und
0
1
4
*
493
feiner die Spalte im Schirme iſt, durch die man den ein—
fallenden Lichtſtreifen beobachtet.
Die Erklärung der eben angeführten Erſcheinungen möchte
in bloßen Worten, ohne die mathematiſche Zeichen- und
Figurenſprache ſchwerlich in einer vollkommenen Weiſe zu
geben ſeyn. Wir begnügen uns nur damit, zu ſagen, daß
durch die enge, ſpaltenartige Oeffnung nicht nur in gerader,
ihrer Mitte gleichlaufenden Linie, ſondern auch in andren
Linien Lichtwellen hereindringen, von denen die, welche die
gleichlangen, in der Mitte zuſammentreffenden Wege zu
durchlaufen haben, ſich in ihrer erhellenden Kunſt verſtär—
ken, während die andren, zu beiden Seiten von der Mitte bins
ausfallenden Strahlen, bis zu dem Punkte ihres Auftreffens
Wege zurücklegen müßen, welche ſich an Länge immer un⸗
gleicher werden. Hier aber geſchiehet nun Etwas, das wir
auch an tönenden Saiten, ja, im Grunde genommen, an
jeder Flüßigkeit bemerken konnen von welcher irgend ein
Theil zu gleicher Zeit in ungleiche Schwingungen geſetzt wird.
Wenn man an einem gewißen, durch ſchnelle Drehung laut—
bar werdenden Inſtrument, das in der Phyſik den Namen der
Sirene führt, in die flötenartig tönenden Oeffnungen nur
einen Luftſtrom von gleicher Richtung und gleicher Stärke
der Bewegung hereindringen läßt, dann hört man einen Ton
klar unterſcheidbar und hell, läßt man aber die Anregung von
zwei Luftſtrömen von verſchiedner Richtung und bewegender
Kraft kommen, dann hebt die Wirkung beider wegen der Ver—
ſchiedenheit der Schnelle der Schwingungen, die ſie in glei—
cher Zeit hervorrufen, ſich auf: man hört gar keinen Ton.
Und ſo kann man in mannichfacher Weiſe den Verſuch ſo ab—
ändern, daß man in einem Falle zwei Töne, z. B. Octaven,
im andren nur einen vernimmt, während der andre unhörbar
wird. Dieſelbe Erfahrung läßt ſich auf ſehr verſchiedne Weiſe
an Röhren wiederholen, welche durch eine in Schwingung
geſetzte Platte zum Tönen gebracht werden, je nachdem man
die Mündung der Röhre an den einen oder den andren,
auf oder nieder, mehr oder minder ſchwingenden Punkt der
Platte aufſetzt.
Hat man doch auf ähnliche Weiſe eine Thatſache zu
erklären geſucht, welche den Schiffern auf dem Meere aus
Erfahrung bekannt ſeyn ſoll, jene nämlich daß die Meeres—
wellen, wenn ſie bei heftigem Sturme und Brandung in der
D a 33°. ha
ar )
494
furchtbarſten Bewegung find, durch Oel, das man aus den
geöffneten Fäſſern auf ſie ſchüttete, beruhigter und niedriger
wurden. Der gleiche Anſtoß bringt dann in den beiden Fluſ—
ſigkeiten von ungleichem Gewicht und Zuſammenhalt der
Theile, ungleiche Schwingungen hervor, davon die eine der
andren, hemmend und mäßigend entgegenwirkt.
So hat man aus der Deutung, die man in neuerer
Zeit für die ſchon vor zwei Jahrhunderten durch Grimaldi
beobachteten Erſcheinungen der ſogenannten Beugung der Licht⸗
ſtrahlen auffand, den Schluß gezogen, daß die von zwei un⸗
gleichen Wegen zuſammentreffenden Lichtſtrahlen ſich, wie
ungleiche, den Ton anregende Schwingungen gegenſeitig
aufheben und unſichtbar machen, die auf gleichmäßigem Wege
kommenden aber ſich verſtärken. Wir ſehen deshalb nur die
letzteren, zunächſt gradlinigen; von den andern und der all
mäligen Aufhebung der einen durch die andre, erhalten wir
nur durch Anwendung ſolcher künſtlichen Vorrichtungen einige
Kunde, dergleichen die vorhin erwähnten ſind.
Die Naturkunde faßet dieſes ganze Gebiet der Erſchei—
nungen, aus deſſen Beachtung die Lehre: daß das Licht nicht
ein körperlicher Stoff ſondern ein ſchwingendes Bewegen der
Körperlichkeit ſey, eine vorzügliche Beſtättigung empfängt, unter
dem Namen der Interferenz der Lichtſtrahlen zuſam⸗
men, und, wie ſchon erwähnt, man kann nicht nur von einer
Interforenz des Lichtes und des Schalles, fondern aller
ſchwingungsartigen Bewegungen der Körperwelt reden.
Selbſt in der Welt des Geiſtigen kann eine anregende Be—
wegung die andre, von andrer Seite herkommende ſtören
und hemmen, während zwei nach gleicher Richtung ſtrebende
ſich verſtärken.
Die Erſcheinungen der Interforenz der Lichtſtrahlen hat
die Naturkundigen unſrer Zeit noch um einen kühnen Schritt
weiter geführt, als zur bloßen Erläutrung und Veſtatzung
der Lichtſchwingungs-(Undulations-) Lehre nöthig war. Sie
haben es gewagt die Zahl der Schwingungen der Lich
len, in einer gewiſſen Zeit abzuſchätzen. Wäre dies eben
ſo leicht wie bei den Schwingungen einer tönenden Saite
oder eines andren tönenden Körpers, dann würde die Kühn⸗
heit nicht ſonderlich groß erſcheinen. Denn um die Schall?
ſchwingungen deutlich abzuſchätzen darf man nur in Chladnis
Weiſe recht elaſtiſche, ſtahlerne Stäbe mit dem einem Ende
en
495
feft in einen Schraubſtock ſpannen, und fie dann am andren
Ende, dadurch daß man ſie ſeitwärts biegt und ſchnell wieder
fahren läßet, in pendelardige Schwingungen verſetzen. Wenn
man hierbei die Schwingungen, ſo weit ſie bei den längeren
Stäben noch unterſcheidbar ſind, zählt, ſo überzeugt man ſich
daß ein zweimal kürzerer Stab von übrigens gleicher Be—
ſchaffenheit in derſelben Zeit 4, ein dreimal kürzerer 9 mal
ſo viele Schwingungen mache als der längere. Die Schnellig—
keit der Aufeinanderfolge des Bewegens nimmt alſo in quaz
dratiſchem Verhältniß mit der Verkürzung zu. In gleicher
Art rückwärts gehend kann man dann, durch genaue Beach—
tung der Länge eines Stahlſtabes, deſſen Schwingungen
zwar einen hörbaren Ton geben, dabei aber nicht mehr für
das Auge erkennbar ſind, die Zahl der Schwingungen in
Zeit einer Secunde auffinden, indem man Stäbe von immer
größerer Länge zu dem Verſuche anwendet, bis zuletzt die
Schwingungen ſichtbar und zählbar werden. Auch an ge—
ſpannten Saiten läßt ſich die Zahl der Schwingungen ermit—
teln. Bei dieſen weiß man daß, wenn die Spannung die—
ſelbe bleibt, die Länge der Saiten aber um die Hälfte ver—
kuͤrzt wird, die Zahl der Schwingungen in gleicher Zeit auf
das Doppelte wächſt, und daſſelbe findet an Orgelpfeifen
ſtatt. Auf dieſe Erfahrung geſtützt hat man berechnet, daß
auf den tiefſten für ein menſchliches Ohr noch hörbaren Ton
16 Schwingungen in einer Secunde kommen. CChladni
hatte gerade die doppelte Zahl dafür angenommen). Dieſer
tiefe hörbare Ton ſoll jenem entſprechen den eine 32 füßige
an beiden Seiten offne Orgelpfeife bei dem Hindurchſtrömen
der Luft vernehmen läßet. Mit jeder höheren Octave wächſt
die Zahl der Schwingungen auf das Doppelte, ſie beträgt
deshalb bei dem Contra C das eine 16 füßige Orgelpfeife
angiebt, und welches zugleich das tiefſte C unſrer Klaviere
iſt 32, bei der höheren Octave von dieſem, dem ſogenannten
großen C, das dem Ton einer 8 füßigen Orgelpfeife ent—
ſpricht, und zugleich der tiefſte Ton des Violoncells iſt 64,
bei der nächſten Octave (dem kleinen C) 128 und ſo weiter
bei dem ein, zwei, drei, viermal geſtrichenen C 256, 512,
1024, 2048 Schwingungen. Der Ton der höchſten Saite
unſrer neueren Klaviere, das viermal geſtrichne 6 hat 3072
Vibrationen; auf den tiefſten Ton den eine männliche Baß—
ſtimme hervorbringen kann, (das große F) kommen 86, auf
496
den höchſten, den fogenannten Bruſtton des einmal geftrich-
nen A 427 Schwingungen, der tiefſte Ton einer weiblichen
Singſtimme (das kleine 6) zählt 192, der höchſte, das drei⸗
geſtrichne e 1280 Schwingungen in einer Secunde. Uebri⸗
gens geht die Grenze der hörbaren Töne nach der Höhe
hinauf viel weiter als die Tonleiter unſrer muſikaliſchen In⸗
ſtrumente, und man meint, daß unſer Ohr einen Umfang von
wenigſtens 9, ja 10 hörbaren Octaven umfaßen könne, wie⸗
wohl eine Zahl der Schwingungen welche über 16000 in
einer Secunde ſteigt, gewiß nicht mehr als Ton ſondern nur
wie ein Ziſchen vernommen wird. i
Wir kommen nun unſrem Gegenſtande, in den Berechnungen
der Schwingungen, welche der Lichtſtrahl in einer Secunde
macht aus der Analogie der Berechnung der Schallſchwin—
gungen, wieder näher. Man muß ſich die Weiſe in der ſich
der Schall oder Ton durch die Luft, bis zu unſrem Ohre
fortſetzt, wie eine Aufeinanderfolge von Wellen (größeren und zu—
gleich längeren, kleineren und zugleich kürzeren)denken. Der Schall
durchläuft in einer Secunde 1024 Pariſer Fuß. Wenn wir
in dieſem Abſtand den tiefſten Ton einer 32füßigen Orgel—
pfeife vernehmen, der 16 Schwingungen in einer Secunde
macht, dann muß jede Schallwelle, die von dieſem Tone
erregt wird an Länge den 16ten Theil von 1024 d. h. 64 Fuß
gleich ſeyn, während die Schallwelle der höchſten, wohl unter—
ſcheidbaren Töne nur wenige, ja kaum eine Linie lang iſt.
Rieſenhaft groß nun, wie die Verſchiedenheit der Ge—
ſchwindigkeiten des Schalls und des Lichtes, muß auch die
Verſchiedenheit der Zahl der Schwingungen ſeyn, welche die
Bewegung des einen und des andern in einer Secunde
macht. An den Erſcheinungen der Beugung oder vielmehr
der Interforenz der Lichtſtrahlen, welche nach einem Ver—
fahren, das mit dem oben (S. 492) beſchriebenen den glei⸗
chen Zweck hatte, und bei welchem das Licht aus einer kleinen
Oeffnung durch ein feines Drahtgitter in den verdunkelten
Raum fiel, maß Fraunhofer die Wellenlänge der ver⸗
ſchiedenfarbigen prismatiſchen Lichtſtrahlen nach Hunderttau⸗
ſenden eines Pariſer Zolles. Solche überaus feine Maß⸗ 1
theile ſind es, nach denen die Phyſik bei dieſer Gelegenheit
ihre Angaben gemacht hat und gefunden zu haben glaubt,
daß die Zahl der Schwingungen des von der Sonne zur
Erde gehenden Lichtes nicht weniger als 576 Billionen in
einer
497
einer Secunde betrage. Für den rothen Lichtſtrahl des pris⸗
matiſchen Farbenbildes iſt die Zahl dieſer Schwingungen,
nach Herſchels Berechnung eine geringere, für den violetten
eine größere, ſo daß der rothe Strahl dem tiefſten, der
. a höchſten Ton einer Octave entſprechend gefun—
en wird.
So hat der denkende Geiſt des Menſchen, gleich wie
überall, ſo auch hier, über die Grenzen des noch ſinnlich
Erkennbaren hinaus ſich eine Bahn gebrochen, in eine Welt
der Anſchauungen, nicht mehr des leiblich Erſcheinenden,
ſondern deſſen das geiſtig iſt und beſtehet. Wenn auch das
Ende des Weges nicht allenthalben in den Kreis eines ſich—
ren und klaren Erkennens fällt, wenn wir oft in Ungewißheit
bleiben, ob überhaupt ein ſolches Ende erreicht worden ſey,
ſind wir doch darüber verſichert, daß der Antrieb, welcher
unſren Geiſt auf dieſen Weg führte, ein unſrer Natur in
unabweisbarer Art eingepflanzter ſey.
59. Das Verhältniß des Lichtes zu andren bewe—
genden Naturkräften.
Unter allen Kräften der Sichtbarkeit giebt ſich zuerſt
und zunächſt die Schwere als eine Urſache der Bewegungen
kund. Ihre Gewalt iſt es, welche die Monde um ihre Pla-
neten, beide, um die mächtige Sonne und auch dieſe Herr—
ſcherin ſelber durch den Weltraum ſicher in abgemeſſenen
Bahnen bewegt. Die Schwere iſt es, welche die zerklüftete
Felſenwand von der Höhe eines Berges ablöſt und ihr Herab—
ſtürzen in die Tiefe bewirkt, welche die Lawine herunter zieht
ins Thal, den Fall eines Stromes aus der Höhe und ſein
allmäliges Abfließen nach dem Meere verurſachet. Da, wo
der Menſch die ſtarke Naturkraft der Schwere in ſeinen Dienſt
nimmt, indem er die Schwere der Luftſäule, oder des Waſ—
ſers oder irgend einer körperlichen Maſſe zum Gegengewicht
benutzt, vermag auch er Bewegungen zu begründen, zu wel⸗
chen die Kräfte ſeines Armes niemals hinreichend wären;
er läßt durch den Druck der Luft das Waſſer in ſeinen Pum⸗
penröhren emporſteigen, oder durch den Druck einer höher
ſtehenden Waſſerſäule die Springbrunnen entſtehen, Räder
umtreiben und große, ſchwerfällige Maſchinen bewegen; der
Hammer in ſeiner Hand, das Gewicht er feiner Uhr verrich⸗
2
498
ten alle die Künſte, zu denen die Erfindungskraft der Men⸗
ſchen ſie benutzte nur mittelſt der Schwere.
Der Magnetismus wie die Elektrizität zeigen ſich als bewe⸗
gende Kräfte, ſchon durch die Anziehung und Abſtoßung wel⸗
che ſie begründen; die Anregungen von magnetiſcher Art ge⸗
ben ſich zu gleicher Zeit über ganze Erdtheile hin an den
Bewegungen der Magnetnadeln (nach C. 48) kund, die elek⸗
triſche Strömung durchläuft mit einer Schnelle, welche die
des Lichtes noch zu übertreffen ſcheint, jene Räume, durch
welche wir ihr, etwa mittelſt eines leitenden Metalldrahtes den
Weg bezeichnen (C. 46). Wir bringen ein Stück verroſtetes
Eiſen in eine ſchwache Auflößung des ſchwefelſauren Kup⸗
ferorydes und alsbald beginnt da ein Bewegen von allen
Seiten her wie in einem geſchäftigen Ameiſenhaufen. Die
Theilchen des Kupfervitriols treten ſchaarenweis ihren Zug
nach dem Eiſenſtück an, das im Sumpf des vitriolhaltigen
Quelles liegt; hier beginnen ſie im Verkehr mit den Theilchen
des Eiſens ein Werk des Zerſtörens und des Geſtaltens, des
Niederreißens und des neuen Aufbaues, aus welchem die
oben (C. 17) erwähnte, ſcheinbare Verwandlung des eiſernen
Stabes in einen kupfernen hervorgeht. Ein Körnlein Zink⸗
metall geräth in das Waſſer, darin der geringe Beiſatz einer
ſchwachen Säure vertheilt iſt, und alsbald fallen die weit⸗
zerftreuten Theilchen der Säure, in Geſellſchaft des Sauer⸗
ſtoffgaſes des Waſſers, gleich hungernden Thieren über das
Metall her, ſie zertheilen und verzehren die Beute, während
in unzählichen Bläschen das Waſſerſtoffgas emporſteigt.
Zu den mächtigſten bewegenden Kräften in den Reichen
unſrer irdiſchen Natur gehört die Wärme. Selbſt aus dem
Kampfe mit der allbeherrſchenden Schwere gehet jene ſtarke
Naturkraft, wenn beide im kleineren Kreiſe ſich begegnen, als
Siegerin hervor; das Waſſer, das durch die Macht der
Schwere aus den Wolken oder aus der Bergquelle herab,
bis zu unſren gemauerten Brunnen geführt war, und welches
hier, in dem künſtlichen Behältniß, durch den Zug der Schwere
feſtgehalten wird, reißt ſich alsbald wenn es durch die Hitze
zum Dampf wird, mit einer ſolchen Uebergewalt aus jenen
Banden los, daß es, im Dienſte unſrer Dampfmaſchinen
die Laſt vieler Centner mit ſich fortbewegt (nach Cap. 325.
Wenn ſich am Morgen vor Sonnenaufgang, die abgekühlte
Luft, ruhend, mit dem Zug ihrer Schwere auf unſre Ebenen
N
4
A
Al
1
4
1
4
499
hingelagert hat, und nun auf einmal die Strahlen der auf⸗
gehenden Sonne ſie erwärmen, da beginnt alsbald das Be⸗
wegen der aufwärts ſteigenden, durch die Wärme verdünnten
Luftſchichten, das Auf- und Niederwogen der Luftſtröme; und
die Wärme, durch das verſchiedne Maaß ihrer Austheilung
an die eine oder die andre Gegend der Erdfläche, an dieſe
oder jene Region der Höhen, iſt auch ein Hauptgrund der
Bewegungen der Luft, die ſich vom erfriſchenden Windhauch
bis zum Sturme ſteigern können. Das was ein Gewicht von
vielen Centnern nicht vermochte, das bewirkt ein Strahl der
von einem glühend heißen Körper ausgehenden und im Fo⸗
cus eines Brennſpiegels geſammleten Wärme, wenn ſie eine
Stange von Metall, welche ſehr bedeutende Laſten nicht zu
zerreiſſen vermochten, weich wie Wachs, und tropfbar fließend
macht
Mitten unter dieſen andren Naturkräften deren bewegen⸗
des Walten ſo deutlich in unſre Augen fällt, ſtehet das Licht
in einem Verhältniß da, welches uns an das Verhältniß des
Nerven zu den Gliedern des lebenden Leibes erinnert. Wäh⸗
rend die Muskeln unſrer Arme, unſrer Hände in der kräftig⸗
ſten, lebhafteſten Bewegung ſind, fällt uns an den zarten
Fäden und Röhrchen der Nerven äußerlich gar kein deutliches
Bewegen in die Sinnen; und dennoch, das wiſſen wir, geht
eigentlich all der Antrieb zum Bewegen, durch den Willen
der Seele von dem Nerven aus; ohne den Nerven wäre der
Muskel, wären alle Glieder, eine lahme, todte Maſſe. (Cap.
43) Wie könnte aber der Nerv Bewegung wirken, wenn nicht
in ſeinem Weſen ſelber ein Bewegen, und zwar ein ſehr viel⸗
ſeitiges, mächtiges wäre, welches die verdauenden Eingeweide
wie das raſtloſe Herz, die redende Zunge wie den gehenden
Fuß zu ihrer Wirkſamkeit anregt. Denn nur die Kraft, wel⸗
che ſelber zu einem leiblichen Bewegen wird, kann andren
leiblichen Dingen ein Bewegen mittheilen.
Wie das geheimnißvolle Wirken des Nerven, ſo ſagten
wir, durchdringt der Einfluß des Lichtes die Geſammtheit
der leiblichen Dinge. Der Antrieb, der vom Nerven aus⸗
geht, bewirkt die Zerſetzung und Umbildung der Stoffe, die
Oxydation des Blutes in den Lungen; das Licht begründet
nicht minder chemiſche Zerſetzungen und Umbildungen, ein Aufneh⸗
men und Ausſcheiden des Sauerſtoffgaſes. Der Nerv reget
die Muskelfaſern zur kräftigen Zusammenziehung an und er⸗
32
500
zeugt hierdurch die Bewegung der Glieder, einen Vorgang
der ſich auf die Erregung einer ähnlichen polariſchen Span⸗
nung zu gründen ſcheint, als jene iſt, welche in unſren elek—
tromagnetiſchen Apparaten ſo leicht hervorgerufen und zur
Kraftäußerung geſteigert wird. Vor Allem iſt es das Herz,
welches mit der erſten Lebensregung, die in der Mitte des
Nervenſyſtemes erwacht, ſein lebendiges Bewegen beginnt,
und deſſen Wirkſamkeit mit jener, die aus dem Gehirn ihren
Ausgang nimmt, in fortwährendem, unzertrennlichem Verein
fortbeſtehet, bis zum Ende des Lebens. In derſelben Weiſe ge⸗
ſellt ſich alsbald zum Hereinſtrahlen des Lichtes die Wärme;
dieſe wird durch das Licht geweckt und erhalten, eben ſo wie
das Schlagen des Herzens und der Pulsadern durch das
lebende Weſen des Nerven. Beide Wirkſamkeiten ſind zwar
im Farbenbild des Prismas wie im Leibe der Thiere und
des Menſchen polariſch auseinander gelegt, ſo daß am Her⸗
zen nur der Muskel, ohne einen eigentlich bewegenden Ner⸗
ven, im Gehirn nur der Nerv, ohne Muskelfieber hervortritt;
dennoch aber ſind auch zugleich beide im gemeinſamen Strahl
des erhellenden wie des belebenden Einflußes vereint. Das
Licht, in ſeinem Bund mit der Wärme, weckt dann weiter
überall in der Natur die elektromagnetiſchen Gegenſätze und
ihr gegenſeitiges Bewegen auf.
Von dem Lichte wiſſen wir, daß es ſeinem Weſen nach
ein Bewegen ſey und der Berechnung iſt es, nach S. 496
gelungen, ſelbſt die ungeheure Schnelligkeit ſeiner Schwin⸗
gungen aufs Ohngefähre hin zu ſchätzen; von dem Weſen,
das im Nerven ein Träger der Lebenskraft iſt, dürfen wir
mit Sicherheit Daſſelbe vermuthen, obgleich dieſes weder
durch Beobachtung noch durch Berechnung deutlich ermittelt
iſt. Wie es aber geſchehe, daß die Bewegung, die im Lichte
wie im Nerven iſt, in ſo vielfachen Formen hier dieſes, dort
ein andres Bewegen hervorrufen; daß ſie Wärme wie chemi⸗
ſche Thätigkeit, magnetiſche wie elektriſche Spannung unmit⸗
telbar wie mittelbar begründen könne, das liegt außer dem
Bereich der ſinnlichen Auffaſſung und Betrachtung. Dennoch
iſt es dieſe allein, die uns, wenn auch nur zu einem von
weiten annähernden Verſtändniß, den leitenden Faden in die
Hand geben kann. A
Wir erwägen hier zuerſt in welchen Zügen der Geſchichte
ihres Entſtehens, ſo wie ihrer eigenthümlichen Wirkſamkeit,
501
die bewegenden Naturkräfte einander ähnlich find, und in wels
chen andren eine Verſchiedenartigkeit ihrer äußren Richtung
und Beziehung auf die Natur der Körperwelt ſich kund giebt.
Daß die Bewegung der einen, ſcheinbar niedreren Art,
Bewegung auch von ganz andrer Art, daß eine mechaniſche
Anregung zum Beiſpiel das Gegeneinanderbewegen wecken
könne, welches die kleinſten Theile der Körper zum kryſtalli⸗
niſchen Gefüge vereint, dies bezeugen jene zum Theil allge—
meiner bekannten Thatſachen welche Ju ſtus Liebig in
ſeinen chemiſchen Briefen S. 137 anführt. Man kann Waſ⸗
fer, wenn dieſes ganz ruhig ſteht, bis tief unter den Ge-
frierpunkt erkälten, ohne daß es gefriert, das heißt: aus
feinem geſtaltlos flüßigen, in den kryſtalliniſchen Zuſtand des
Eiſes übergeht. Die leiſeſte Erſchüttrung aber, das Anrüh—
ren der Waſſerfläche durch eine Nadelſpitze, reicht hin, um
auf einmal jenes Bewegen im Waſſer zu wecken, wodurch
daſſelbe zu Eis erſtarrt. Eben fo bemerkt man an vielen Auf—
löſungen der Salze in ſiedend heißem Waſſer, daß ſich, wenn
man ſie ganz ruhig ſtehend erkalten läßt, keine Kryſtalle aus
ihnen abſetzen, bis durch irgend eine Bewegung von außen
die zum Kryſtalliſiren nöthige, polariſche Spannung und
Zuſammenbewegung der kleinſten Theile des Salzes geweckt,
und angeregt wird. Das Hineinfallen eines Sandkornes
oder eines andren Stäubchens in die Flüßigkeit, reicht hin,
um die Bewegung des Kryſtalliſirens einzuleiten und wenn
dieſe nur erſt an einem Punkte begonnen hat, dann theilt
fie ſich von dieſem aus allen andren mit, in einem fo zu⸗
nehmend ſich beſchleunigendem Fortgange, wie eine Lawine,
die mit jedem Moment ihres Fortrollens ſtärker anwächſt.
Jener unanſehnliche ſchwarze Ueberzug, der ſich über dem
Queckſilber bildet, wenn wir eine Auflöſung von Schwefelkali
(Schwefelleber) darüber ſchütten, ſtehet zu dem ſchönfarbigen
feinkörnigen Zinnober ganz in demſelben Verhältniß, wie das
im Waſſer noch geſtaltlos aufgelöfte, zum kryſtalliniſchen Salze,
oder das noch tropfbar flüßige Waſſer zum Eis. So oft
wir den ſchwärzlichen Ueberzug, der aus einer geſtaltloſen
(amorphen) Verbindung der Schwefels mit dem Queckſilber
beſtehet, von dem Metall hinwegnehmen, bildet ſich ein neuer,
denn der Zug zur Vereinigung mit dem Queckſilber iſt im
Schwefel viel ſtärker als jener Zug, welcher ſeine Verbin⸗
dung mit dem Kali bewirkte. Wenn wir auf ſolche Weiſe
502
Schwefelqueckſilber in Menge gewinnen, dann haben wir im
Grunde nur etwas Aehnliches erlangt, als wenn wir die Grund⸗
ſtoffe, aus denen der Demant und der Rubin beſtehen: den
reinen Kohlenſtoff des Graphits und die vollkommen reine,
aus dem Alaun gewonnene Thonerde in unſrer Hand hiel⸗
ten, nicht aber die herrlich glänzenden, feſten Edelſteine ſelber,
welche die Natur daraus bildet. Unſer Schwefelmerkur iſt
noch ein misfarbig ſchwärzliches Pulver, welchem kein Färber
die künftige Brauchbarkeit zu einem der ſchönſten, prunkend⸗
ſten Farbenmaterialien anſieht. Wenn wir aber daſſelbe in
eine wohlverſchloſſene Glasflaſche bringen und dieſe an den
Rahmen der Säge einer Sägemühle befeſtigen, welche meh⸗
rere tauſendmal während einer Stunde ſich auf und abbewegt
dann wird das geſtalt- wie farbloſe Pulver in den ſchönſten,
rothen Zinnober verwandelt, deſſen vollkommen kryſtalliniſches
Gefüge ſchon das bloße Auge, noch mehr aber das durch Ver⸗
größerungsgläſer blickende, erkennet. 8
Das reine Schmideeiſen iſt durch künſtliche Behandlung
im Feuer ſeines anfänglichen Kohlengehaltes, zugleich aber
auch jenes kryſtalliniſchen Gefüges beraubt worden, durch
welches das kohlenſtoffhaltige Roh- oder Gußeiſen ſich aus⸗
zeichnet: es iſt in geſtaltloſen (amorphen) Zuſtand verſetzt
worden. Dieſer künſtlich herbeigeführte Mangel wird in den
Augen des Menſchen, und in der Anwendung die er von dem
Schmideeiſen macht, zu einem Vorzug, denn dieſes iſt zähe,
zerbricht und zerſpringt nicht ſo leicht wie das kryſtalliniſche Eiſen
ſeinem Gefüge gemäß dieſes thut; die Bruchflächen des letzteren
zeigen überall glatte und glänzende Stellen, der Bruch des
Schmideeiſens hat Aehnlichkeit mit den auseinandergerißnen
Stücken eines dehnbaren Körpers, iſt hakig und gleich wie
fädig. Wenn man aber eine Stange Gußeiſen den lang und
oft wiederholten, dabei nicht ſehr ſtarken Schlägen eines Ham⸗
mers ausſetzt, dann geht in ſeinem Innren eine ähnliche
Verändrung in dem Gefüge der kleinſten Theile vor ſich, wie
im geſtaltloſen Schwefelqueckſilber, durch die rüttelnde Bewe⸗
gung am Rahmen der Sägemühle: es wird auf einmal zum
kryſtalliniſchen Eiſen. Eine Vervollkommnung des innren
Weſens dieſes nützlichen Metalles, welche der Menſch, wegen
ihrer Folgen, nur zu beklagen hat. Denn Daſſelbe, was die
lang anhaltenden, oft wiederholten ſchwachen Hammerſchläge
thun, das bewirkt auch die lang anhaltende Erſchütterung,
17
u
r
2
503
welche die eiſernen Axen unſrer Reiſewägen und der Loco—
motiven der Dampfwägen erleiden. Auch durch dieſe Er—
ſchütterungen geht in kürzerer oder längerer Zeit das Eiſen aus
dem geſtaltloſen Zuſtand, darin es viel zäher und ſchwerer
zerſpringbar war, in den kryſtalliniſchen, leichter zerbrechlichen
uber und giebt dadurch nicht ſelten Veranlaſſung zu mans
nigfachen Unfällen. *
„Auch hierbei begegnen wir übrigens öfters ſolchen Er⸗
ſcheinungen, welche darauf hindeuten, daß die; Wirkſamkeit der
einen Bewegung durch die einer andren, wenn ſie auch von
gleicher Art iſt, aufgehoben oder gehemmt werden könne,
wenn beide in ihrer Richtung und in dem Grad ihrer Stärke
ſehr verſchieden ſind. Was die ſchwächere, lang anhaltende
mechaniſche Erſchütterung herbeiführt, das wird durch die
heftige, plötzlich eintretende und wieder abbrechende mechani—
ſche Anregung geſtört oder vernichtet. N
Bewegung erzeugt nach allen Richtungen hin ihres Glei—
chen, erzeugt wieder Bewegung; die des ſcheinbar oder wirk—
lich niedreren Kreiſes, wenn ſie in den höheren hineintritt,
weckt da jene Bewegung auf, welche dieſem Kreiſe eigenthüm⸗
lich iſt, und umgekehrt, in noch viel allgemeinerem, höherem
Maaße ruft die Bewegung, die aus dem höheren Kreiſe
kommt, ein augenfälliges, kräftiges Bewegen in den körper⸗
lichen Stoffen einer niedreren Region hervor. Das Reiben,
das Hämmern, nammentlich wenn es an einem Eiſenſtabe
immer in derſelben Richtung geſchieht, der Stoß, der Druck
erzeugen, je nach dem Verhältniß der Körper welche ſie treffen,
die magnetiſche Polariſation, die Bewegung des Kryſtalliſi—
rens und die elektriſche Spannung, eben ſo, wie wir dies
Alles bereits früher erwähnten, die Wärme, und wie ſchon
bei dem Zuſammenſchlagen des einen Kieſelſteines mit dem
andren, die Erſcheinung des Lichtes. Umgekehrt aber auch
ziehet mit dem Strahl der Sonne das ganze Heer der bewe—
genden Naturkräfte in das Reich der irdiſchen Sichtbarkeit
ein: mit der Wärme zugleich der geſammte elektromagnetiſche
Wechſelverkehr; und daſſelbe gilt von der Lebenskraft der Seele,
wenn ſie in den Kreis ihrer Leiblichkeit eintritt und hier
nach allen Richtungen hin, ſo wie in den verſchiedenſten For—
men, eine lebendige Anregung weckt. Dem Weſen all dieſer
Naturkräfte liegt allerdings etwas Gemeinſames: das Bewe⸗
gen zu Grunde, dieſes aber, nach der Verſchiedenheit ſeiner
504
Richtung giebt zugleich jeder von ihnen einen beſondren, feſt
beſtimmten Charakter, eine Verſchiedenheit der Natur, wodurch
die eine von der andren aufs Beſtimmteſte ſich abgrenzt. Wir
wollen dieſes zuerſt durch einen Vergleich des Lichtes und
der Wärme deutlich zu machen ſuchen.
In dem Lichte, ſo ſahen wir, iſt eine Dreiheit von Ver⸗
mögen vereint: das Vermögen der Erhellung oder Erleuch⸗
tung, das Vermögen die Wärme zu erzeugen und endlich
das, die chemiſche Wechſelwirkung zu erregen. Bei der Zer⸗
legung durch das Prisma ſind dieſe drei Richtungen der we⸗
ſentlich einen Kraft an drei verſchiedne Stellen des Farben⸗
bildes vertheilt: die lichtgebende an den gelben und nächſt
dieſem an den grünen Strahl, die warmmachende an den
rothen, die chemiſch wirkende an den violetten. Hieraus hat
ſich öfters die Frage entſponnen ob die Wärme ſchon als
Wärme mit dem Lichte geſellſchaftlich verbunden von der Son⸗
ne zur Erde komme, oder ob ſie erſt von dem Licht erzeugt
werde wenn dieſes mit der planetariſchen Körperwelt in Be—
rührung kommt.
Von der chemiſchen Wirkſamkeit leuchtet es von ſelber
ein, daß ſie nur da ſich äußern könne wo chemiſche Polari⸗
täten zur wechſelſeitigen Verbindung oder Abſcheidung ges
neigt ſich vorfinden; gegen die Meinung daß es in und bei
dem Lichte eigne Wärmeſtrahlen gäbe, welche nur etwa wie
der elektriſche Funke durch den Kurpferdraht mit dem Son⸗
nenlicht zugleich zur Erde geleitet würden, zuletzt aber eben
fo trenn- und ſcheidbar von dem Licht ſelber wären wie die
Kohlenſäure von der Kalkerde, mit welcher ſie verbunden iſt,
ſpricht vieles.
Die Wärme vermag ſich ſchon durch einen Raum, in
welchem die Luft (nach C. 28) noch nicht bis zu dem höchſt⸗
möglichen Grade verdünnt iſt, nur mit großer Schwierigkeit
und langſam zu verbreiten; der vollkommen leere Raum ver⸗
mag ſie nur dann fortzupflanzen, wenn ſie ſtrahlend (schon
mehr oder minder deutlich leuchtend) iſt. Auch eine dünne
Glastafel läßt die dunkle Wärme nicht hindurch, ſo lange
dieſe die Siedhitze nicht überſteigt, während ſelbſt das ſchwäch⸗
ſte Licht durch das Glas hindurch ſtrahlt. Umgekehrt läßt
eine undurchsichtige Metallplatte die Wärme ſehr leicht, das
Licht nicht hindurch brechen. Die warmmachende Kraft des
Lichtes hängt durchaus nur von dem Grad der Helligkeit,
„ N
505
nicht von der Temperatur des Mittels ab, durch welches
ſeine Strahlen dringen; ob man daſſelbe durch eine heiße
oder durch eine kalte, durchſichtige Flüßigkeit, durch warmes
oder kaltes Glas fallen läßet, dies vermehrt weder noch ver⸗
mindert es die erwärmende Kraft des auf einen gegenüber—
ſtehenden Gegenſtand treffenden Strahles. Muncke machte
einſt bei einem ſtarken Feuer die Erfahrung, daß die ſtrahlen—
de Helle deſſelben in einer Entfernung von 130 Fuß inner⸗
halb eines Zimmers eine wahrnehmbare Erwärmung hervor—
brachte, obgleich das Eis an den Fenſterſcheiben, durch wel—
che das Flammenlicht in das Zimmer hereinſtrahlte, bei einer
Kälte von — 5 Grad nicht thaute. Wenn das Licht aus
eigenthümlichen leuchtenden und wärmenden Strahlen zuſam—
mengeſetzt wäre, welche nur ein Band der gegenſeitigen Anz
ziehung mit einander vereinte, dann würde der Lichtſtrahl,
während er ein ſtark erwärmtes durchſichtiges Mittel durch—
dränge, ohne Zweifel mit den darin enthaltenen Wärmeſtrah—
len ſich vereinen, und dieſe mit ſich nehmen auf ſeinem wei—
tren Wege, oder, wenn ihn ſein Lanf durch ein ſehr kaltes
Medium führte, würde ihn ſeine Begleiterin, die Wärme
verlaſſen, und in dem oben erwähnten Falle würde dadurch
das Eis der Fenſtertafeln aufgethaut worden ſeyn.
Wie das Licht, je heller es ſtrahlt deſto mehr die Wär—
me erzeugt, ſo kann man auch auf der andren Seite von
der Wärme ſagen, daß ſich aus ihr, bei einem gewißen Grad
ihrer Steigerung, das Licht erzeuge. Das Metall wie der
Stein werden in der Gluthhitze leuchtend; der im Strom
einer ſtarken elektromagnetiſchen Entladung glühende Plati—
nadraht leuchtet in einem das Auge blendenden, ſonnenhellem
Lichte. Die verſchiedenen brennbaren Körper erfordern, wie
wir früher ſahen, wenn ſie bei ihrer Verbindung mit dem
Sauerſtoffgas ſich wirklich entzünden und entflammen ſollen,
einen gewiſſen Grad der Erhitzung, und erſt dann wenn aus
dem Dampf oder Rauch die helle Flamme hervorbricht, giebt
ſich die wärmende Kraft des Feuers in ihrer ganzen Stärke
kund. Es liegt nicht an der Geſchwindigkeit des Bewegens,
daß die Wärme in dieſen Fällen auf einmal zum hellen Lichte wird,
denn der langſame Gang, den die Mittheilung der Wärme
von einem Körper an den andren nimmt, hängt allein von
der beſſer oder ſchlechter leitenden Beſchaffenheit der Körper
ab, und wenn man die ausſtrahlende dunkle Wärme eines
506
erhitzten Körpers in einem Hohlſpiegel ſammlet und aus die⸗
ſem herausſtrahlen läßet, dann erkennt man nach Biots
und Pictets Beobachtung an der Wärme eine eben ſo un⸗
meßbar ſchnelle Fortbewegung durch den Raum, wie an dem
Licht und an der Elektrizität, ohne daß ſie hierbei ihre Dunkel⸗
heit ablegt und leuchtend wird.
In manchen Fällen kann auch bei dem chemiſchen Vor⸗
gang des Verbrennens ein ganz außerordentlich hoher Grad
von Erhitzung eintreten, ohne eine, dieſem Hitzgrade entſpre⸗
chende Erhellung. So bedient man ſich, um eine Hitze her⸗
vorzubringen, bei welcher die Metalle ganz beſonders leicht
und ſchnell zum Schmelzen kommen können einer Vorrichtung,
vermöge welcher ein gasartiger Brennſtoff mit dem Sauer:
ſtoffgas, aus einem engen Röhrchen hervorſtrömend den Stoff
zur langfortwährenden Flamme darbietet: des ſogenannten
Knallgebläſes. Obgleich dieſe Flamme eine außerordentlich
heftige Gluthhitze erzeugt, iſt das Licht das ſie ausſtrahlt
dennoch nur ein ſehr ſchwaches, und zeigt ſich überdies nicht
von der Farbe des röthlichen, wärmegebenden, ſondern des
blaulichen prismatiſchen Strahles.
Nicht von unbedeutendem Einfluß iſt an den bewegenden
Naturkräften etwas ſcheinbar nur wenig Weſentliches: die
Richtung welche ihr Bewegen nimmt. Selbſt die mechaniſche
Erſchütterung, durch den Schlag des Hammers auf eine Ei⸗
ſenſtange, ruft in dieſer bloß dann eine magnetiſche Polariſa⸗
tion hervor, wenn die Schläge immer nur von dem einen
Ende nach dem andren, nicht etwa abwechslend von dieſem
andren Ende aus nach jenem hin geführt werden. Auch da⸗
durch wird ein Eiſenſtab magnetiſch, daß man ihn eine län⸗
gere Zeit hindurch in der Richtung von Nord nach Süd,
oder mit dem einen Ende in dem Boden feſt ſtellt, denn auch
auf die letztere Weiſe wird der untere Theil deſſelben zu einem
nach Norden ſich hinkehrenden (ſogenannten) Nordpol. In die⸗
ſem Falle ſcheint es die natürliche magnetiſche Strömung zu
ſeyn, welche, von der Erde ausgehend, ihr eigenthümliches
Bewegen dem Eiſen mitgetheilt hat. Wir können aber in
einem noch viel höher geſteigerten Maaße den Eiſenſtab mag⸗
netiſch machen, wenn wir elektriſche Strömungen, nicht ſeiner
Länge, ſondern der Queere nach, von einer Seite des Stabes
zur andren, über ihn hinſtreichen laſſen. Hierauf gründet
507
ſich, wie wir oben im 45ten Cap. ſahen, die Einrichtung, fo
wie die außerordentliche Wirkſamkeit der elektromagnetiſchen
Vorrichtungen. Wie ſich am Holz, wenn es zuerſt auf der hei—
ßen Platte immer mehr und ſtärker erhitzt wird und wenn
nun bei dem hochgeſteigerten Hitzgrad auf einmal die helle
Flamme aus ihm hervorbricht, durch das Zuſammenwirken der
Wärme und des Lichtes die heftigſte Flammengluth entwickelt,
ſo geſchieht es auch in den Vorgängen des Elektromagnetis⸗
mus, daß beide bewegende Naturkräfte, die der Elektrizität
und jene des Magnetismus, welche dem Weſen nach Eines,
der urſprünglichen, inwohnenden Richtung nach zwei ſind, in
ihrer Verſchmelzung zu einem weder ausſchließend von Nord
nach Süd, noch von Oſt nach Weſt gehenden, ſondern zwiſchen
beiden rotirendem Bewegen, eine ganz überaus geſteigerte
Wirkſamkeit erlangen.
Wir erwähnen hier im Vorbeigehen eines Beiſpieles
aus einem ganz andren Reiche der irdiſchen Sichtbarkeit, an
welchem ſich die hohe Bedeutſamkeit der bloßen, räumlichen
Richtung nachweiſen läßt. Das vierfüßige Thier ſteht ſo
auf dem Boden und geht ſo auf dieſem einher, daß die
Rückenwirbelſäule mit dem Schädel und mit dem ganzen
Kopf in horizontale Richtung, in gleiche Linie mit dem
Boden tritt; der Menſch allein ſtehet aufrecht, ſo daß die
Rückenwirbelſäule die Richtung von oben nach unten, nur
das Haupt die horizontale Stellung hat. Wir wißen aber
welche vielſeitige Vorzüge unfrer Natur an dieſe aufrechte
Stellung geknüpft ſind. Scheint es doch ſelbſt auf andren
viel niedrigeren Stufen der thieriſchen Geſtaltung ſo, als ob
mit der vorherrſchenden Richtung zugleich, die der Körper
annimmt, die ganze weſentliche Beſchaffenheit eines Thieres
eine Aenderung erleiden könne. So lang die Larve der
Singmücke, die im Waſſer lebt, noch auf der erſten Stufe
ihrer Entwicklung als Larve ſteht, iſt ihr Kopf und der
ganze Vordertheil des Körpers nach unten, nach dem Boden,
der Hintertheil, an welchem die Athmungsorgane ihren Aus-
gang nehmen, nach oben gekehrt. Die Larvenhaut wird abge—
ſtreift, die Stellung des Leibes wird auf einmal eine ganz
andre, entgegengeſetzte, denn Kopf und Bruſt richten ſich
nach oben, das ſchwanzähnliche Ende kehrt ſich dem Boden
zu. Mit dieſer veränderten Richtung iſt zugleich das Thier
ein ganz Andres geworden, ſeine Athmungsorgane haben jetzt
508 ö
ihre Stellung an der Region der Bruſt erhalten, die Art
ſeiner Bewegungen, ſeiner geſammten Lebensäußerungen iſt
verändert: es iſt aus dem Zuſtand der Larve in den der
Puppe übergegangen an welcher die höheren Sinnorgane,
ſo wie alle dem nahe künftigen geflügelten Zuſtand dienenden
Glieder in einer ungleich vollkommneren Form als bei der
Larve hervortreten. Ein Beiſpiel von ähnlicher Bedeutung
giebt uns die Stellung der Brutzellen im Bienenſtock. Alle
die, in welchen ſich die Larven der künftigen Arbeiterinnen
ſo wie der Drohnen entwicklen, ſtehen in der vorherrſchend
horizontalen Richtung; in der nämlichen welche die mit Ho⸗
nig gefüllten Zellen haben. Hin und wieder jedoch ſieht
man im Innren des kunſtreichen Baues Zellen von ganz ans
drer Form, in einer vorherrſchend ſenkrechten Stellung: es
ſind die Zellen in denen ſich die Larven der künftigen Weiſel
oder Bienenköniginnen entwicklen; die Larven der vollkomm⸗
nen, fruchtbaren Mütter des ganzen Schwarmes. Auch die
gemeinen Arbeitsbienen ſind eigentlich von dem Geſchlecht
dieſer Mütter: es find unvollkommen geſtaltete, meiſt un-
fruchtbare Weibchen, und als ſolche gehen ſie, wenn die Zeit
ihrer Verpflegung zu Ende iſt, und ſie nun auch den Schlaf
des Puppenzuſtandes genoſſen haben, als geflügeltes Inſect
aus der Wiege ihrer Kindheit hervor. Wenn man aber
einem muntren Bienenſchwarm mitten in der Zeit des Früh
linges, wo alle die horizontal ſtehenden Brutzellen voller Eier
oder ganz kleiner, junger Lärvchen ſind, aus denen nach dem
gewöhnlichen Verlauf der Entwicklung gemeine Arbeitsbienen
kommen würden, ſeine Königin, und zugleich mit dieſer noch
alle die ſenkrecht ſtehenden, flaſchenförmig geſtalteten Zellen
hinweg nimmt, welche die Larven oder Puppen von künftigen
Königinnen enthalten, dann begeben ſich die verwaiſten und
beraubten Bienen an ein Geſchäft der Verwandlung, deſſen
Wirkſamkeit eine höchſt bedeutungsvolle für den ganzen klei⸗
nen Saat dieſer geſellig lebenden Thiere iſt. Eine Anzahl
von Zellen, darinnen das junge Volk der Arbeiterinnen ſeine
Wiege hat, wird hinweggeriſſen, und hierdurch der Raum
zur Anlage einer ſenkrecht ſtehenden größeren Zelle gewonnen,
welcher die kunſtſinnigen Baumeiſter die Geſtalt einer könig⸗
lichen Brutzelle geben. Da hinein bringen ſie jetzt eine erſt
ſeit wenig Stunden oder Tagen aus dem Ei hervorgegangene
Arbeiterinnenlarve, verſorgen dieſelbe mit jenem kräftigeren,
40
9
N
DR
N.
4
1
509
auserleſenerem Futter, womit die jungen Königinnen groß gezo—⸗
gen werden und das kleine Thier, das durch ſeine Geburt zu
dem niedrigen Stand der gewöhnlichen Unterthanen beſtimmt
war, empfängt mit der vollkommneren leiblichen Geſtalt und
Bekräftigung zugleich den Rang einer Herrſcherin; es wird
zu einer fruchtbaren Mutter und Königin. Wenn hierzu die
veränderte Stellung der Brutzelle auch nicht Alles beitrug,
ſo erſcheint ſie dennoch ein nicht minder weſentliches Element
zur eigenthümlichen, kräftigen Anregung des noch unentwickel-
ten Lebenskeimes der Larve geweſen zu ſeyn, als die ſtärker
reizende Koſt. Dem innren Weſen nach bleibt die Larve der
Biene wie der Mücke dieſelbe, die ſie vor der Verändrung
der vorherrſchenden Stellung war, in Beziehung aber auf
ihre Wirkſamkeit, auf das Verhältniß zu ihrer Außren Um-
gebung iſt zugleich mit jener andren ebenfalls eine Verän⸗
drung vorgegangen. Auch die Wärme und das Licht ſind
ihrem Weſen nach Eines, durch die Richtung aber welche ſie
nach den verſchiednen Kreiſen der irdiſchen Leiblichkeit nehmen,
und durch die Art ihrer Wirkſamkeit auf dieſe, find fie un⸗
terſchieden. ö |
Eine ungleich allgemeinere und bedeutungsvollere Er:
ſcheinung als die ebenerwähnten ſind, liegt uns hier nahe,
die uns beſſer denn alle Andren das Einsſeyn der Wärme
und des Lichtes nach innen, ſo wie ihre Verſchiedenheit in
der Wirkſamkeit und Richtung nach außen zeigen kann:
dies iſt der Lauf der Planeten oder Monden um ihren Cen-
tralkörper. |
Die jährliche Bewegung der Erde in ihrer Bahn um
die Sonne iſt im Ganzen nur eine, fie iſt in jedem Augen⸗
blick, ſie war und bleibt zu allen Zeiten nur die eine, welche
den Planeten ſeinen faſt kreisförmigen Weg um die Sonne
führt. Wenn wir aber genauer auf die Weiſe dieſer Bewe—
gung achten dann finden wir daß eigentlich zwei verſchiedne
Richtungen ihr zu Grunde liegen, die eine nach dem Cen—
tralkörper, nach dem Mittelpunkt der Bahn hinabwaäͤrts, die
andre nur in gerader Linie vorwärts und nach auſſen gehend
auf dieſer. Der Zug der allgemeinen Schwere hält den
Mond an ſeiner Erde, hält die Planeten an ihrer Sonne
feſt; wenn dieſer nach dem Mittelpunkt der Kräfte hinge—
hende Antrieb (die Centripetalkraft) allein, ohne den and—
ren nach auſſen hinführenden Antrieb wirkte, dann würde
510
der Mond an die Erde, die Planeten würden an die Sonne
herangezogen werden, es würde der eine kleinere Welt⸗
körper an den andren größren, von mächtigerer Maſſe ſich
anfügen und mit dieſem nur eine und dieſelbe gemeinſame
Maſſe bilden. Könnte dagegen der andere, centrifugale Antrieb
allein wirken, dann würden alle dieſe Lichtfunken des Ster⸗
nenhimmels, alle dieſe Staubkörner oder Atome der Schöp⸗
fung, deren jedes nach unſrem menſchlichen Maaßſtab eine
große, herrliche Welt iſt, ſich im unermeßbaren Weltraume
zerſtreuen, ohne Ordnung und Zuſammenhalt. Die ab⸗
ſtoßende Bewegung für ſich allein würde die Atome von
einander reißen und zerſtäuben, die anziehende würde dieſel⸗
ben zur ſtarren bewegungsloſen Maſſe machen. So aber
durchdringen ſich beide Richtungen des Bewegens ohne
Aufhören, eine wirkt nur mit der andren vereint und ge⸗
meinſam.
Was den Punkt des Ausgehens ſowohl des einen als
des andren Zuges der Bewegung betrifft, ſo fällt es leicht
in die Augen, daß der Zug nach dem Mittelpunkt der Bahn,
nach der Sonne hin, aus dieſer ſelber eben ſowohl ſeinen
Anfang, als in ihr ſein Ziel und ſein Ende habe, und eben
ſo allgemein anerkannt iſt es, daß der centrifugale, zunächſt
geradlinig auf der Bahn vorwärts ſtrebende Antrieb, der
Maſſe des Planeten oder des Mondes ſelber eingepflanzt,
dieſem ſelbſtſtändig einwohnend ſey. Der erſtere Antrieb,
der nach der Sonne oder überhaupt nach dem Mittelpunkt
der Anziehung hinführt, bezeugt ſich aber dennoch, ungeachtet
der ſcheinbaren Beſonderheit von dem andren, als der Ur⸗
grund beider, denn je näher ein Planet an der Sonne ſte⸗
het, je kräftiger der Zug nach dieſer Mitte iſt, deſto ge⸗
waltiger und kräftiger äußert ſich auch der andre, in der
Eigenheit des Planeten liegende, centrifugale Antrieb der
Bahnbewegung. Jupiter, Saturn und Uranus, die drei
äußerſten, von dem anziehenden Mittelpunkt entfernteſten
Planeten, ſind einem, nach dem (quadratiſchen) Verhältniß
ihrer zunehmenden Abſtände immer ſchwächer werdenden
Zuge der allgemeinen Schwere, nach der Sonne hin unter⸗
worfen, der ihrer planetariſchen Maſſe eigenthümlich einge⸗
pflanzte, fortbewegende Antrieb ſollte demnach, ſo könnte
man meinen, immer ungehemmter und hierdurch kräftiger
511
werden, etwa fo wie die Luft, je höher die Region ift, in
die ſie hinaufſteigt und je mehr ſie von dem Druck der oberen,
auf ihr ruhenden Luftſäule entlaftet wird, deſto raſcher und
ungehemmter ſich ausdehnt. Aber gerade das Gegentheil
erfolgt; die fortſchreitende, centrifugale Bewegung nimmt
mit dem Zuge der allgemeinen Schwere, der ſie nach der
Sonne hinfuͤhrt zugleich ab. Während unſre Erde in jeder
Stunde Zeit eine Strecke von faſt 15000 Meilen zurücklegt
macht der mächtige Jupiter, deſſen Maſſe dreimal ſo groß
iſt als die Maſſe aller übrigen Planeten zuſammengenommen,
der aber zugleich etwas mehr denn fünfmal ſo weit von der
Sonne abſteht als unſre Erde, in derſelben Zeit nur einen
Weg von 6500 Meilen; Saturn bringt es noch nicht einmal
auf 5000 Meilen (geht in einer Stunde nur 4836 M. weit)
Uranus legt nur 3400 Meilen zurück und wenn es möglich
wäre manche unſrer weiteſt abgelegenen bekannteren Gome-
ten auf der Strecke ihrer Bahn durch die Sonneferne zu
begleiten, dann könnte ein Reiter zu Pferd oder wenigſtens
ein Dampfwagen, ganz bequem mit ihnen gleichen Fort-
gang halten. |
Abgeſehen von dem Einfluße, den die Interferenz der
Lichtſtrahlen hierbei, wie wir im 58. Cap. ſahen, hat, äußert
ſich dennoch die Wirkſamkeit des Lichtes welche zunächſt und
vor Allem eine erleuchtende, hellmachende iſt, als eine vor—
herrſchend in gerader Linie und Richtung gehende. Das
Licht iſt ein Herrſcher, deſſen übermächtiger Einfluß weder
Einſpruch noch Abänderung erleidet. Eben ſo hält auch
die Zunahme oder Abnahme des Zuges der Schwere mit
der Zunahme oder Abnahme der Annäherung an die Sonne,
gleichen Schritt. Ein dunkler Körper welcher zwei oder
dreimal weiter von einem Lichte abſteht als ein andrer, wird
(nach quadratiſchem Verhältniß) von den Strahlen deſſelben
vier= oder neunmal ſchwächer erleuchtet, gerade fo wie auch
ein Weltkörper, welcher zwei oder dreimal weiter von ſeinem
anziehenden Mittelpunkt abſtehet als ein andrer, einem vier
oder neunmal ſchwächeren Zuge der allgemeinen Schwere,
nach dieſem Mittelpunkte hin unterliegt. Mit der erhellenden,
eigentlich leuchtenden Kraft des Lichtes nimmt aber auch,
wie wir früher ſahen, ſein wärmeerzeugendes Vermögen zu
oder ab. Und was iſt die Wärme? Iſt ſie nicht in unſrer
irdiſchen Sichtbarkeit ganz daſſelbe, was die centrifugale
512
Richtung in der Bahnbewegung des Planeten iſt? Dürfen
wir nicht in ihrer Wirkſamkeit, wenn ſie das kryſtalliniſche
Eis, oder als Schmelzhitze das feſteſte Metall in flüßigen
Zuſtand verſetzt, die einzelnen Theilchen (Atome) dieſer Kor⸗
per von einander, als Macht der Abſtoßung entfernt, etwas
Aehnliches anerkennen, als in jenem Antriebe des planetari⸗
ſchen Bewegens, der jedes dieſer herrlichen, majeſtätiſchen
Weltenſtäublein eines von dem andren, ſie alle aber von der
feſtbannenden Mitte hinwegführt?
Das Sonnenlicht iſt die mächtigſte, zugleich die einfach
ſte, die reinſte unter allen Arten des uns bekannten Lichtes.
Sein Strahl trifft nirgends hin, ohne, nach dem Maaße ſei⸗
nes geradlinigeren und kräftigeren Auftreffens und der Capa⸗
zität der beleuchteten Körper zugleich Wärme zu wecken.
Das Licht gleicht jenem Zuge, der für ſich allein die pola-
riſch geſchiedenen Maſſen der Sonne und der Planeten zu⸗
ſammenführen und verbinden würde. In unſrer irdiſchen
Natur hat dieſer Zug öfters einen ganz ungehemmten, freien
Lauf, wenn er den brennbaren Körper mit dem Sauerſtoff⸗
gas der Atmoſphäre zuſammenführt und beide, eins mit dem
andren, zu einem neuen Element der Körperlichkeit geſtaltet.
Je mächtiger aber hierbei dieſer centripetale, die Vereinigung
bewirkende Antrieb wirkt, deſto kräftiger tritt auch, zu glei⸗
cher Zeit der centrifugale, von der feſten Zufammenfügung
hinwegführende Antrieb, als Wärme, als Flammenhitze her⸗
vor, welche jedoch bei dieſer Verſenkung in den irdiſchen Stoff,
wie im Farbenbild des Prismas, als ein beſondrer Strahl
der Wirkſamkeit, außer dem Mittelpunkt, in welchem die
Vereinigung ſtatt findet, in die umgebende Körperwelt fällt.
Je gewaltiger der Zug iſt, der den Brennſtoff zur Verbindung
mit dem Zündſtoff hinreißt, deſto ſtärker werden auch die
Theile der benachbarten Körper von dem Streben ergriffen
ſich gegenſeitig von einander abzuſtoßen — zu ſchmelzen oder
ſich zu verflüchtigen; je langſamer und träger dagegen der
centripetale Zug bei der Vereinigung jener beiden chemiſck
Gegenſätze wirkt, deſto ſchwächer kann ſich der ihn begleite
f 1 1 „
de, centrifugale Zug, als Erwärmung äußern. Darum erſcheint
E
faules Holz, obgleich es im Dunklen leuchtet, unſrem Gefühl
als kalt, und daſſelbe gilt von allen im Zuſtand der Gährung
FR Verweſung langſam verbrennenden organiſchen Sub⸗
tanzen. RI, 1
Es
513
Es iſt ein Geſetz der gegenſeitigen Ausgleichung der
verſchiedenartigen Bewegungen, welches in allen Reichen der
Sichtbarkeit ſeine feſte Geltung hat, daß, wenn auf der einen
Seite ein Vorgang der Zerſetzung und des Abſtoßens ſtatt
findet, in einer nachbarlichen Region zugleich der Drang zur
neuen Geſtaltung, zur Erſetzung des entſtandnen Mangels
rege wird. Wie das Waſſer in den luftdünnen Raum hinauf⸗
ſteigt, und die Luft mit Gewalt ſich einen Weg in die ent⸗
ſtandene Leere zu bahnen ſucht, ſo ſchließt ſich der Zug zur
gegenſeitigen Anziehung und neuen Vereinigung der Elemente
unmittelbar an den der Auflöſung an. Umgekehrt aber auch
eben ſo nothwendig an den centripetalen Antrieb, welcher der
allgemeinen Schwere und der Anziehung der einzelnen Kör⸗
pertheile entſpricht, der centrifugale. Wir preſſen im Münz⸗
prägſtock (nach S. 263) ein Stück Metall auf einen engeren
Umfang zuſammen; ſeine kleinſten Theile rücken näher an⸗
einander, ziehen ſich ſtärker an, zugleich aber regt ſich jenes
entgegengeſetzte Bewegen, das in der nachbarlichen Körper:
welt ein Trennen und Abſtoßen der einzelnen Theile bewirkt;
es wird eine Wärme erzeugt, durch welche leicht ſchmelzbare
Körper zum Fließen kommen, manche flüßige in Dampf ver⸗
wandelt werden. Selbſt bei dem feſten, kryſtalliniſchen Ge⸗
ſtalten (beim Gefrieren) des Waſſers iſt dieſe Wärmeent⸗
wicklung bemerkbar. Aber die Gliederung, das Aneinander-
ſchließen der einen Bewegung an die andre, polariſch entge-
gengeſetzte, erſtreckt ſich weiter, denn in demſelben Maaße, in
welchem das Prinzip der Abſtoßung der einzelnen Theile,
des Ueberganges in den formloſen Zuſtand mächtig wird,
erhält auch der Zug zur Wiedervereinigung, zur wechſelſeitigen
Anziehung neue Kraft. Das Waſſer wird durch die Wärme
zum Verdunſten gebracht, zugleich aber wird in einer nach⸗
barlichen Region des Flüßigen die Wirkſamkeit jenes Antrie⸗
bes erleichtert und gefördert, welcher, der Schwere verwandt,
die Zuſammenziehung in engeren Raum, ja die feſte Geſtal⸗
15 zur Folge hat; die Verdampfung auf der einen Seite
8
ann eine Reif⸗ oder Eisbildung auf der andren nach ſich
ziehen: eine Erſcheinung, die ſich unſrem Gefühl als Kälte
zu erkennen giebt.
Der Druck, das Reiben und der Stoß rufen gleichzeitig
beide Richtungen des Bewegens: Licht und Wärme hervor;
da wo ſtatt der Wärme eine mechaniſche ran den engeren
514
Zuſammenhalt der Theile auflöft, fie von einanderreißt: beim
Zerbrechen und Zerſtoßen mancher Körper, wird nach demſel⸗
ben Geſetz nach welchem ein Metalldraht durch die Hitze
glühend und hellleuchtend wird, eine ſchnell vorübergehende
Lichterſcheinung bemerkt. Dieſe zeigt ſich ſelbſt da, wo ſich
Luftarten plötzlich aus einem engeren in weiteren Raum aus⸗
dehnen, ſo namentlich wenn man Glaskugeln mit Sauerſtoff⸗
gas gefüllt, im luftleeren Raume zerbricht, oder wenn ſich die
äußre Luft nach dem Zerſprengen einer Blaſe, welche über
das künſtlich luftleer gemachte Behältniß einer Luftpumpe ge⸗
ſpannt war, augenblicklich ausbreitet. Die ſogenannten Knall⸗
bomben aus Glas zeigen dieſelbe Erſcheinung, wenn ſie an
einem dunklen Ort auf den feſten Boden hingeworfen wer⸗
den und zerplatzen, auch beim Abfeuern der Windbüchſen,
wobei die vorher in engem Raume ſtark zuſammen gepreßte
Luft ſich plötzlich ausdehnt, hat man öfters ein Leuchten
wahrgenommen.
Zunächſt ſtimmt in ſeinem ganzen Weſen und Wirken
das Licht mit jenem centripetalen Zuge überein, durch wel⸗
chen die vereinzelten Elemente der Körperwelt zuſammenge⸗
führt und zuſammengehalten werden; mit dem Zuge welcher
in der unorganiſchen Körperwelt die Kryſtalliſation, in der
organiſchen das Wachsthum und die Entwicklung der Formen
bewirkt. Der Kampfer und der Salpeter (in der Salpeter⸗
lauge) ſo wie verſchiedne andre Subſtanzen werden durch
das Einfallen des Lichtſtrahles zum Kryſtalliſiren gebracht,
ſo daß die entſtehenden Kryſtalle in Gläſern, welche äußer—
lich zum Theil mit Papier überzogen ſind, ſich vorzugsweiſe
an die freien, dem Lichtſtrahle zugänglichen Stellen anlegen.
Der Antheil, welcher dem Licht an dem Entſtehen der Kry⸗
ſtalle gebührt, macht ſich auch auf andre Weiſe erkennbar.
Bei dem Anſchießen der Kryſtalle der Benzoéſäure durch De⸗
ſtillation, zeigten ſich (nach Buchner) ſprühende Lichtfun⸗
ken, das phosphorſaure Blei leuchtete bei ſeinem Uebergehen
in die ſtarre, kryſtalliniſche Form, nach einer Beobachtung
von Fuchs ſo hell als ob es weißglühend ſey; has e
worin eine ſchwefelſaure Kobaltauflöſung, mit Kali vermiſcht,
bei 12 Grad unter dem Eispunkt durch Hermann zum Kry⸗
ſtalliſiren gebracht war, warf einen hellen funkelnden Licht⸗
ſchein von ſich, als die Lauge davon abgegoſſen wurde, und
etwas Aehnliches beobachtete man beim Kryftallifiven des
515
Glauberſalzes, ſo wie verſchiedner andrer ſalziger Körper.
Und wie beim Entſtehen der Kryſtalle, ſo zeigt ſich auch eine
Lichterſcheinung, bei dem Zerſtören derſelben, durch eine ſtär⸗
kere mechaniſche Gewalt. Denn vorzugsweiſe und faſt aus—
ſchließlich ſind es nur kryſtalliniſche feſte Körper, an denen,
wenn man fie zerbricht, zerſtößt, oder heftig reibt, ein Leuch⸗
ten beobachtet wird.
Der centripetale Zug, welcher die Aneinanderfügung,
die feſte Vereinigung der leiblichen Elemente herbeiführt,
theilt die polariſche Spannung, welche der Aneinanderfügung
derſelben zur regelmäßigen Form vorausgehen muß, zunächſt
jenen Theilen einer körperlichen Maſſe mit, die für eine fol-
che Polariſation am leichteſten empfänglich ſind. Andre, etwa
gleichzeitig in einer Auflöſung enthaltenen Theile nehmen an
jenem Zuge keinen Antheil, fie werden von der Bewegung
des kryſtalliniſchen Bildens ausgeſchloſſen. Wenn deshalb
das Seewaſſer bei einem hinreichenden Kältegrade zum Kry—
ſtalliſiren (zum Gefrieren) kommt, dann werden alsbald die
Salze, mit denen es vorher vermiſcht war, ausgeſtoßen; das
Eis des Meerwaſſers beſteht zunächſt nur aus ſüßem, ſalz—
loſem Waſſer. Umgekehrt werden manche metalliſche Oxy-
de, obgleich ſie ſchon für ſich allein einer kryſtalliniſchen
Geſtaltung fähig ſind, noch ungleich empfänglicher für den
polarifirenden Einfluß, der das Entſtehen der regelmäßigen
Form begründet, wenn ſie noch mit einer Säure, zum Salz
(Vitriol) ſich verbinden; dieſer fremdartige, in der Auflö⸗
fung enthaltne Stoff wird dann in die Bewegung des Kry-
1 aufgenommen, er wirkt zur Verſtärkung des⸗
ſelben. |
Wenn der bildende und geſtaltende Einfluß des Lichtes
nach C. 53 ein Ausſcheiden des Sauerſtoffgaſes aus dem
ſalpeterſauren Silber bewirkt, ſo thut er dieſes in derſelben
Weiſe als die iſt, in welcher er bei dem gefrierenden See—
waſſer das Salz aus ſeiner Vermiſchung mit dem Waſſer
hinwegführt; die Theile des ſchwer oxydirbaren Silbers wie
Goldes find vielmehr für ſich allein zu einer polariſchen Ent-
gegenſetzung und Zuſammenfügung geneigt, als in ihrer nur
unter gewiſſen Umſtänden erreichbaren Verbindung mit dem
Sauerſtoffgas. Wenn dagegen das Licht beim Bleichen der
organiſchen Stoffe (nach C. 22) eine Verbindung mit dem
Sauerſtoffgas herbeiführt, dann gefibieht dieß aus demſelben
3
516
chemiſchen Beweggrund, aus welchem das Streben zur regel⸗
mäßigen Geſtaltung das ſchwer kryſtalliſirende Kupferoryd
(in ſeiner vollkommenſten Form als Rothkupfererz bekannt) in
Verbindung mit der Schwefelſäure zum leichter kryſtalliſirenden
Kupfervitriol umſchaffet. Der Erſcheinung nach ſind dieſe
beiden Vorgänge der Ausſcheidung und der Anziehung des
Sauerſtoffgaſes ſehr verſchieden und ſich entgegengeſetzt, und
dennoch ſind beide ihrem Weſen nach daſſelbe. |
Wir verglichen weiter oben das Verhältniß, in welchem
das Licht zur Wärme ſteht, mit jenem, das ſich zwiſchen den
beiden Richtungen der bewegenden Kraft findet, vermöge de—
ren die Planeten ihren Lauf um die Sonne vollführen. Der
allgemeinen allumfaſſenden Schwere, welche für unſer Planeten⸗
ſyſtem ihren Ausgangspunkt des Wirkens vorwaltend in der
Sonne hat, entſpricht, bei all ſeiner Verſchiedenheit von der
Schwere, das Licht; mit jener Wurfkraft, die dem Plane—
ten, als einem für ſich beſtehenden Weltenſtäublein, abge—
ſondert und entfernt von der Sonne zum Inhaber und Herrs
ſcher ſeiner Bahn macht, iſt die Wärme vergleichbar. Sie
iſt ein Bewegen welches durch alle einzelnen Theile der Kör—
per, bis in das Innerſte derſelben hinein feine Macht aus:
bet; die Wirkſamkeit des Lichtes, wie die der allgemeinen
Schwere beziehet ſich auf das Verbundenſeyn und Einsſeyn
aller einzelnen Elemente des Körpers zu einer Geſammtheit.
In dieſer ihrer Beziehung erſcheint die Wärme als eine
Kraft, welche die Leiblichkeit auch in ihrer Tiefe durchdringt,
das Licht als eine ſolche, welche zunächſt nur auf den äuß⸗
ren Umfang der Körper gerichtet iſt. Wie aber der Zug der
Schwere mit und in der Geſammtmaſſe des Planeten zu⸗
gleich auch alle einzelnen Theile, jeden Stein und jeden
Baum deſſelben mit dem Centralkörper — mit der Sonne —
verbindet, und hierbei gleichzeitig in allen dieſen einzelnen
Theilen die Kraft ſich regt, die den ganzen Weltkörper, zu
welchem ſie Alle gehören auf der Bahnlinie fortbewegt, ſo
kommt auch aus jedem Stein, aus jedem Baum, den der
Strahl der Sonne trifft, dem Lichte die Regung und Bewe⸗
gung der Wärme entgegen. 6 n 1
Das weſentliche Einsſeyn der Elektrizität und des Mag⸗
netismus iſt durch die Erſcheinungen des oben erwähnten Elek⸗
tromagnetismus (Cap. 45) erwieſen worden. In vielen ſei⸗
ner Eigenſchaften zeigt ſich das Weſen des Magnetismus
>17
nahe verwandt und übereinſtimmend mit dem Weſen des
Lichtes, das der Elektrizität mit dem der Wärme. Auch
dieſe beiden Bewegungen der Naturkräfte rufen ſich überall
gegenſeitig hervor, obgleich ihr weſentliches Beiſammenſeyn
und Einsſeyn erſt dann deutlich in die Sinnen fällt, wenn
die eine von beiden einen hohen Grad der Wirkſamkeit er—
reicht hat, wie uns auch das Licht des Mondes, in ſeiner
verhältnißmäßig großen Schwäche, ohne Vermögen der Wär⸗
meerzeugung erſcheint und dennoch wohl nicht ganz ohne wärmen—
de Kraft iſt. Das magnetiſche Eiſen behält Jahrhunderte
lang die Macht andres Eiſen anzuziehen und ihm ſeine po—
lariſche Eigenſchaft mitzutheilen; ein Magnet kann Tauſende
von Stahlſtäben durch Beſtreichen magnetiſch machen, ohne
dabei an ſeiner Kraft Etwas zu verlieren, eben ſo wie ſich
an der Flamme einer Fackel tauſend andre Fackeln entzün⸗
den können, ohne daß die Flamme der erſten durch dieſe
Mittheilung ſchwächer wird. So kann auch die Scheibe einer
Elektriſirmaſchine, abgeſehen von dem was die mechaniſche
Einwirkung hierbei verändert, Tauſende von Malen zum
Hervorrufen gewaltiger elektriſcher Effecte, durch Reibung,
benutzt werden, ohne an dieſer Kraft Etwas einzubüßen.
Es ſind dies nur kleinliche Abbilder von dem Weſen und
Wirken der Sonne, deren Licht und Wärmequell niemals
verſiegt, ſondern in einer ſich immer erneuernden Kraft das
Weltgebäude durchſtrömt. Dem Magnet kommt die erſte
Anregung zu ſeinem innren, anziehenden und abſtoßenden
Bewegen aus einem allgemeineren magnetiſchen Bewegen,
das die ganze Körperwelt des Planeten durchdringt, ohne
ſelbſt ein Körper zu ſeyn; den Gliedern des lebenden Leibes
wird die Kraft ihres Geſtaltens und Wirkens ohne Aufhö—
ren durch ein innwohnendes Etwas gegeben, welches nicht
von der Natur des Leibes iſt: durch die Seele. So dürfen
wir auch bei der Betrachtung der herrlich ſtrahlenden und
wärmeweckenden Sonne nicht vergeſſen, daß die Regungen
ihres Leuchtens, ihres Erwärmens und ihres chemiſchen Ein—
flußes auch noch einen andren Urgrund haben können als das
Vorhandenſeyn eines Stoffes, welcher (wie man ſelbſt von
dem ſogenannten Wärmeſtoff annahm) heraufſtrömen ſollte
aus dem mächtigen Centralkörper, nach den ihn umkreiſenden
Planeten, und aus dieſen wieder hinab zur Alles tragenden,
haltenden Mitte. |
518 “
60, Bewegung bei ſcheinbarer Ruhe.
So lange wir die Saite eines muſikaliſchen Inſtrumen⸗
tes, oder den dünnen, elaſtiſchen Metallſtab den wir ſtark zu
uns herüberbogen und dann in ſeine vorige Lage zurückſchnel⸗
len ließen, noch ſchwingen ſehen und ſogar ſeine einzelnen
Schwingungen noch zu zählen vermögen, hört unſer Ohr
keinen eigentlichen Ton bei ſeinem Bewegen. Die Luft
wird durch einen Fächel oder durch ein ſchwingendes Rad
mit einer Schnelligkeit fortgeſtoßen, welche mehrere Fuß
in einer Secunde beträgt; wir fühlen ihre Wellen an
unſrem Körper, ſehen den Staub ſich bewegen, vernehmen
vielleicht ein undeutliches Sauſen, einen eigentlichen Ton
aber hören wir nicht. Wenn dagegen eine Nachtigall neben
uns im Gebüſche ſingt, oder ein kunſtreicher Finger die Sai⸗
ten einer Harfe rührt, dann hören wir die mannichfaltigen
Töne und wir wiſſen, daß uns dieſes Hören nur durch ein
Bewegen der Luft möglich wird, welches viel tauſendmal
ſchneller und weiter reichend iſt als das Bewegen der Luft
durch den Fächel, das nur über einen Raum von wenig
Schritten ſich verbreitet. Dennoch fühlt unſer übriger Kör⸗
per nichts von dem Zittern der Luftwellen, kein Staub wird
davon aufgeregt, nur das Ohr, zur Empfänglichkeit für den
Laut geſchaffen, unterſcheidet und bemerkt dieſe flüchtigen
Wellen, welche, die eine zehn, die andre viel hundertfach
ſchneller denn die andren neben einander her wogen, ohne
ſich gegenſeitig in ihrem Laufe zu ſtören.
Ein Bewegen iſt ohne Aufhören in der Luft vorhanden;
ſelbſt dann, wenn das Schiff wochenlang von der ſcheinbar
gänzlichen Windſtille unter dem glühenden Strahle der Son⸗
ne an einer Stelle feſtgehalten wird, ſteigt neben und über
ihm der warme Luftſtrom in die Höhe und der kältere ſenkt
ſich nach der Tiefe herab, wenn auch von dieſer ſchwachen
Regung weder das Segel angeſchwellt, noch irgend eine Em-
pfindung der Sinnen hervorgerufen wird. Was von dieſem
beſtändigen Bewegen in der Luft und von dem Hörbar⸗
werden ſo wie von dem Unhörbarſein deſſelben gilt, das läßt
ſich von all jenen Bewegungen der Sichtbarkeit ſagen, welche
ſich unter gewiſſen Umſtänden unſerm Wahrnehmungsvermöb⸗
gen als Magnetismus, als Elektrizität, als Licht und als
Wärme kund geben. Sie wirken immerwährend fort; der
519
Strom der magnetifchen Anregung ergehet ſich ohne Aufhö—
ren durch die ganze irdiſche Natur, ohne daß wir etwas von
ihm fühlen oder hören, erſt dann wenn er ſich des Eiſens
bemächtigt und dieſes magnetiſch macht, werden auch wir et—
was von ihm gewahr; erſt dann wenn ein verhältnißmäßig
feſt in ſeinen Theilen zuſammenhaltender, elaſtiſcher Körper
in kräftige Schwingungen geſetzt wird, nimmt auch die ela⸗
ſtiſche Luft ſolche Schwingungen an, welche ſich zur deutlich
unterſcheidbaren Form der Töne erheben, ſo wie der Licht—
ſtrahl am planetariſch dichten Körper zur Form der Wärme.
Seitdem man ſich in der Lehre von dem Lichte genöthigt
geſehen hat, die frühere Meinung aufzugeben, daß daſſelbe
ein feiner, flüſſiger Stoff ſey, und die wahre Anſicht, nach
welcher das Leuchten ein faſt unmeßbar ſchnelles Bewegen
iſt, allgemeineren Eingang fand, hat man einen Schlüſſel ge—
funden, der nach vielen Seiten hin das beßre, tiefere Ver—
ſtändniß der ſichtbaren Natur zu eröffnen vermochte. Gründ⸗
lich forſchende Männer, wie Muncke (in ſeinem Handbuch
der Naturlehre §. 86 und §. 149) haben auch die eigenthüm⸗
liche Wirkſamkeit der Wärme aus einem ſchwingenden Be—
wegen hergeleitet; daß der Ton ein ſolches ſey, wußte man
längſt, und jene elektriſche Anregung, jene Verbindungen und
Zerſetzungen in den dampf- und luftartigen Stoffen, welche
den Eindruck eines Riechbaren auf unſren Geruchsſinn ma—
chen, ſo wie die Einwirkung der chemiſchen Gegenſätze auf
unſre Zunge laſſen ſich nicht leicht als etwas Andres be—
trachten, denn als Bewegungen, die in ihrem Kreiſe nach
demſelben Geſetz erzeugt werden, als die Schwingungen der
Licht- und Wärmeſtrahlen. Die Lebensthätigkeit unſres eig—
nen Leibes beſtehet nur in einem vielſeitigen und vielartigem
Bewegen; die Kraftäußerung des Muskels beruhet auf zit—
ternden Schwingungen ſeiner zarten Faſern; jeder Eindruck
auf die Nerven, welcher ein Wahrnehmen und Empfinden
erregt, muß eben ſo eine Undulation des ätheriſch Flüſſigen,
das in den Nervenröhrchen woget, hervorrufen, als nach der
andern Seite hin von einer ſolchen Undulation im Nerven
die een der Muskelfibern durch den Willen bewirkt
wird.
Nur Bewegung kann auch wieder Bewegung wecken;
die Schwingungen des Lichtäthers wie der Tonwellen regen die
gleichen Schwingungen in dem gerade für ſie geſtimmten Sinnes—
520
nerven an, ſollte nur die Wirkſamkeit des Gefühles hierin eine
Ausnahme machen? Ein geiſtreicher Phyſiker, G. Fr. Pohl
in ſeiner Gedächtnißſchrift auf Copernicus „über das Le⸗
ben der unorganiſchen Natur,“ hat den Zweifel hieran be⸗
ſeitigt, er hat in einleuchtender Weiſe es dargethan, daß auch
in dem ſcheinbar todtenſtarren Steine, den wir in der Hand
halten, ein für die andren Sinne unermeßbares, nur auf
unſer Gefühle wirkendes, ſchwingends . ſey.
Wir kommen hierbei noch einmal zurück auf das Ver⸗
hältniß der Schwere, dieſer alldurchdringenden, allvereinen⸗
den Naturkraft zu dem Lichte. Man hat die Schnelligkeit,
mit welcher ſich die Wellenſchwingungen irgend eines Tones
durch die Luft bewegen nach S. 495 an der genau berechen⸗
baren, allgemeinen Geſchwindigkeit des Schalles gemeſſen;
die Schnelligkeit der Schwingungen welche die Lichtſtrahlen
beim Hindurchgehen durch ein Prisma in den verſchiedenen
Theilen des Farbenbildes haben, nach der bekannten allge—
meinen Geſchwindigkeit des Lichtes. So mächtig groß aber
auch dieſe letztere Geſchwindigkeit im Vergleich mit der des
Schalles iſt, ſo unermeßbar weit ſteht ſie jener, über all
unſer Zeitmaaß erhabenen nach, mit welcher die allgemeine
Schwere die Räume der Sichtbarkeit durchdringt. Dieſes
gemeinſame Band der Anziehung das alle Stäublein, alle
Elemente der Körperlichkeit zuſammenführt und vereint, das
dem Körper des Planeten wie jedem Stein und jedem Tro⸗
pfen Waſſers auf ihm ihren Zuſammenhalt giebt, wirkt ohne
Aufhören fort; könnte ſein Zug auch nur auf einen einzigen
Augenblick nachlaſſen, dann würde alsbald alles Leibliche
aus einander ſtäuben; ſein Weben und Walten fühlen wir
wenn wir irgend einen durch die anziehende Kraft der ein⸗
zelnen Theile entſtandenen und durch dieſe Kraft beſtehenden
Körper anrühren. Das Stilleſtehen der Starrheit iſt nur
ein Schein; eben ſo wie bei dem Kreislauf der Weltkörper
die anziehende Macht des Centralkörpers ohne Aufhören, in
Verbindung mit der centrifugalen Richtung, Bewegung wirkt,
weil ſie ſelber ein Bewegen iſt, ſind auch dieſe beiden Re⸗
gungen, davon die eine (als Expanſion) dem einzelnen Kör⸗
per ſeine Ausdehnung, die andre (als Contraktion) ſeine
feſte Begränzung giebt, ohne Unterlaß in Wirkſamkeit und
gegenſeitiger Bewegung.
Es iſt dieſelbe Macht unſres Gottes, die ſich in dem
7
321
Werk der Erſchaffung und welche in dem Werk der Erhal—
tung der ſichtbaren Dinge ſich kund giebt. Denn die Erhal⸗
tung ſelber iſt nichts andres als eine fortwährende Schöpfung,
ein beſtändiges Hervorgehen aus dem Nichtſeyn zu dem Seyn.
Das Wirken jener Schöpfermacht, welches den Dingen ihren
Leib gab, und den Staub dieſes Leibes zuſammenhält,
nimmt unſer Gefühl bei dem Anrühren jedes Steines wahr;
ein Abbild der Kraft, die jenen Staub bewegt und belebt,
erſcheint unſfrem Auge im Lichte. Noch ein andres Wirken
jedoch der Schöpfermacht als jenes das in die äußren Sinnen
fällt, giebt ſich dem innren Sinne des Menſchen kund: es iſt
das Weben und Walten des Geiſtes in und an feinem Gott—
erkennendem Geiſte.
61. Einwirkung und Nachwirkung.
Eine große Glocke, an welche der Stundenhammer ſchlägt,
tönet, unmittelbar nach dem empfangenen Schlage ſo laut,
daß man ihren Ton in einem weiten Umkreiſe vernimmt.
Aber auch dann, wenn man in einem Abſtand von wenig
hundert Schritten ſchon längſt nichts mehr von dem Glocken—
ſchlage hört, bemerkt ein unmittelbar am Thurme Stehender
noch ein Forttönen der Glocke, und wenn ſelbſt für dieſen das
Tönen nicht mehr hörbar iſt, vernimmt daſſelbe noch immer
ein dritter Zuhörer, welcher auf dem Thurme ſelber, in
unmittelbarer Nähe der Glocke ſich befindet. Die Schwin—
gungen, durch den Anſtoß von außen erregt, mögen aber
ſelbſt dann noch fortdauern, wenn unſer ſinnliches Wahr:
nehmen ſchon längſt ihre letzte Spur verloren hat; für Werk—
zeuge von leichterer Erregbarkeit wären ſie vielleicht noch
immer bemerkbar, wie für das Geruchsorgan des Jagdhun—
des die nachgelaßnen Spuren des Wildprets das ſchon längſt
aus unſren Blicken und aus dem Kreis unſrer ſinnlichen
Wahrnehmung entſchwunden iſt.
Wenn zwei Stimmen ein Lied mit einander ſingen,
dann wird dieß lauter ertönen als nur mit einer, von zehn
Stimmen noch lauter als von zweien; wenn in einem Zim—
mer von der vorhergegangenen Heizung noch Wärme zurück—
geblieben iſt, dann wird ein neu hinzukommendes Anſchü—
ren des Feuers viel ſchneller und kräftiger Erwärmung ver—
breiten als die erſtmalige Heizung eines Raumes, der noch
12
322
niemals durchwärmt war. So ſcheint ſich auch die ſchnellere
und ſtärkre Erregbarkeit eines Körpers für irgend eine Be—
wegung, zu welcher ihn der Anſtoß von außen kam, öfters
darauf zu gründen, daß die Bewegung die der vorhergehende
Anſtoß gab, noch nicht ganz aufgehört hat, ſondern als
Nachhall noch fortdauert, und hierdurch zur Verſtärkung des
neuen Bewegens, ein Weſentliches beiträgt.
Zuvörderſt lehren uns dieſes ſolche Erſcheinungen, welche
in den ſchärfeſt unterſcheidenden der Sinne, in den des Ge:
ſichtes fallen. Wir erwähnten früher, daß der Diamant
nicht nur beim Reiben ein mehr oder minder deutliches elek—
triſches Leuchten zeige, ſondern daß derſelbe auch durch Be—
ſtrahlung von der Sonne oder von hellem Kerzenlichte die
Eigenſchaft empfange einige Zeit nachher im Dunklen ſelbſt—
ſtändig fort zu leuchten. Nicht alle Diamanten find dieſes Sel—
berleuchtens fähig, und man hat bemerkt, daß ſolche, die.
beim Reiben kein Licht von ſich geben, auch nach der Beſtrah—
lung von der Sonne, im Dunklen nicht phosphoresciren.
Als man jedoch zwei ſolche der Phosphorescenz unfähige
Diamanten ſtark gegeneinander ſtieß, gaben nicht nur beide
einen Lichtſchein von ſich, ſondern ſie erhielten von nun an
die Fähigkeit, ſowohl durch das Reiben als auch durch das
Sonnenlicht im Dunklen leuchtend zu werden. Mit einem
andren ſchön polirten Diamant wurde der Verſuch gemacht
ihn durch das öftre Anſchlagen mit einer Feile, zum Selber—
leuchten zu bringen. Zwei Tage lang blieb dieſes Bemühen
vergeblich; erſt am dritten Tage zeigten ſich die erſten Spu—
ren einer Phosphorescenz, welche aber von nun an immer
augenfälliger wurde, immer leichter ſich erregen ließ, ſo daß
nicht nur das Anſtoßen eines hölzernen Körpers die Licht—
erſcheinung hervorrief, ſondern auch die Beſtrahlung von
der Sonne ein Leuchten im Dunklen zur Folge hatte, wozu
früher der Diamant ganz unfähig geſchienen hatte.
Das im Innren eines körperlichen Weſens noch immer
fortwährende, wenn auch unſrem Sinne nicht mehr bemerk—
bare Bewegen wird zuweilen, nach dem gewöhnlichen Sprach—
gebrauch als „Stimmung“ bezeichnet. Im Grunde genom⸗
men iſt die magnetiſche Kraft, welche wir nach Seite 399
in dem Stahlſtabe durch ein, beſtändig in derſelben' Rich⸗
tung beharrendes Schlagen mit dem Hammer hervorgerufen
haben, ſo wie die auf gleichem Wege des mechaniſchen An⸗
#4
523 |
ſtoßes erlangte kryſtalliniſche Zuſammenfügung der Theile
eine ſolche Stimmung zu nennen. Die Freunde und Mei⸗
ſter des Saitenſpieles, vor Allen des Violinſpieles wiſſen
es aber, daß nicht nur das wiederholte Anregen eines
\
Stahlſtabes durch den Hammer in gewißer harmoniſch folge:
rechter Weiſe eine magnetifche Stimmung desſelben erzeuge,
ſondern daß auch in einer Violine, deren mittönendes, höl⸗
zernes Gefüge öfters durch den Klang der Saiten in har⸗
moniſche Schwingungen verſetzt wurde, ja daß in jeder Saite
in jeder Glocke einer Harmonika eine muſikaliſche Stimmung
erzeugt werden könne, welche in einem Fortwirken jenes
ſchwingenden Bewegens feinen Grund hat, das der Ton—
künſtler zu oft wiederholten Malen in den Saiten oder in der
Glasglocke hervorrief. |
Wenn ſich ein Kryſtall aus der tropfbar- oder dampf⸗
förmig ⸗flüßigen Auflöſung gebildet hat, dann ſcheint er für
immer fertig; das Gegeneinanderbewegen der einzelnen Theile
dieſer kleinen Magnete mit ihren anziehenden und abftoßen-
den Enden ſcheint abgethan und beendigt zu ſeyn. Dies iſt
aber keineswegs der Fall. Wir können durch unſre Kunſt,
wie durch ein Hörrohr, das der Schwerhörige vor ſein Ohr
hält, die Schwingungen des Bewegens, die bei der Bil—
dung des Kryſtalles wirkſam waren, und welche, ſo lange
er in dieſer Form beſteht, fortdauern, von neuem zur Kunde
unſrer ſinnlichen Anſchauung bringen, wenn wir den ſchon
längſt fertigen Kryſtall in eine Auflöſung von Stoffen legen,
die für die Mittheilung jenes Bewegens empfänglich ſind.
Das Chromoryd, in einem beſtimmten Verhältniß mit Schwe⸗
felſäure ſo wie mit Kali, und mit Theilen des Waſſers vermiſcht,
in welchem, ſammt ihm, dieſe Stoffe aufgelöst waren, bildet,
beim Verdampfen des auflöſenden Waſſers, dunkelgrüne, acht—
flächige Kryſtalle. Wenn dieſe Kryſtalle, nachdem ſie ſchon
ſeit Jahren gebildet und frei im Trocknen geſtanden waren,
von neuem in eine wäffrige Auflöſung des gemeinen Alauns
gebracht werden, dann ſetzt ſich das Bewegen der kryſtallini—
ſchen Geſtaltung gerade da weiter fort, wo es vorher durch
Mangel an Stoff zum Abbrechen und Stillehalten genöthigt
worden war; die regelmäßig anſchießenden Theilchen des Alauns
legen ſich eins am andren, und über dem andren, an die
fon gebildeten Flächen des Octaeders an; dieſes ſetzt fein
vormals unterbrochenes Wachsthum von neuem fort, gleich
524
%
einem noch lebenden Gewächs, dem man nach langem Schmach⸗
ten wieder Waſſer zu ſeiner Nahrung giebt; es entſtehen
achtflachige Kryſtalle, die in ihrem Innerſten einen dun⸗
kelgrünen Kern von derſelben Geſtalt zeigen, um welchen
her, wie eine Kapſel, ſich der Anſatz des gemeinen, durch—
ſichtigen Alaunſalzes gelagert hat. Jahrhunderte, ja die
Zeiträume von Jahrtauſenden ſchwächen nicht dieſes Vermögen
eines Fortwirkens der anfänglich, beim Entſtehen des Kry⸗
ſtalles wirkſamen Bewegung der Theile. Die Ausfüllungs⸗
maſſe der Gangſpalten der Gebirge mag ſich in ſehr weit
von einander geſchiedenen Zeiträumen gebildet haben; Kry—
ſtalle, aus den Auflöſungen einer ſpäteren Periode, haben
ſich jedoch auf die Flächen oder Kanten von andren ſchon
längſt gebildeten Kryſtallen in einer Ordnung und Weiſe an:
gelegt, aus der man deutlich merken kann, daß die Bewe-
gung, die bei dem Entſtehen des Kryſtalles, auf dem die
Ablagerung geſchahe, thätig war, noch in ihm fortwirkte.
Wir wiſſen nicht vor wie vielen Jahrtauſenden ſich der ſchöne
grüne oder gelbe, in Würfeln oder Achtflächen kryſtalliſirte
Flußſpath, in den Erzklüften unſrer Urgebirge gebildet hat.
Er war vielleicht ſchon ſeit länger als einem Jahrhundert
aus der Tiefe heraufgebracht worden, und lag ſeitdem in
einer mineralogiſchen Sammlung unter Glas und Schrank.
Seine Kraft zum Wachſen und Geſtalten hat ihn aber noch
keinesweges verlaßen, wie ſich dies bald verräth, wenn wir
ihn in eine Auflöſung von ſalzſaurem Kalk, etwa erſt heute
entnommen aus dem Waſſer des todten Meeres, hineinſtellen,
denn alsbald fangen, fo wie das überflüßige Waſſer ver—
dünſtet, feine Flächen an, in gehöriger Weiſe zu wachfen;
nicht zwar in derſelben Farbe, in derſelben Härte und mit
demſelben Glanze, wohl aber in derſelben Form nimmt der
Kryſtall an Umfang zu. In derſelben Weiſe ſetzt ein freilich
ganz anders als der Flußſpath geformter Kryſtall des ſchwe⸗
felſauren: Kalkes (Fraueneiſes) fein Wachsthum fort, wenn
wir ihn in Berührung mit der kryſtalliniſch ſich geſtaltenden
ſchwefelſauren Talkerde (mit dem Bitterſalz) bringen.
Man hat in den Särgen der ägyptiſchen Mumien und
zum Theil in den verdorrten Händen derſelben, zuſammenge⸗
ſchrumpfte, dürre Zwiebeln von Knoblauch oder ähnlichen
Gewächſen, ſo wie die reifen Körner und Aehren von
Waizen gefunden. Vor mehreren Jahrtauſenden waren dieſe
525
Zwiebeln oder Körner, mit den einbalſamirten Leichnamen
zugleich in den Gruftgewölben beigeſetzt worden, und in dieſer
langen Zeit war ihr Vermögen zum Keimen und Wachſen nicht
erloſchen; man hat ſie in eine feuchte gute Erde gebracht
und die Zwiebeln ſchlugen aus, die Waizenkörner keimten
zu Halmen auf und trugen reichliche Saamen. Ganz das—
ſelbe hat man an jenen Saamenkörnern und Wurzelkeimen
beobachtet, welche ſeit Jahrhunderten unter dem Grundge—
mäuer uralter Gebäude verborgen gelegen waren, wenn jetzt
auf einmal der wärmende und belebende Strahl der Sonne,
jo wie der Thau und Regen des Himmels auf fie her—
a
el. |
Selbſt im Großen, an ganzen Maſſen der Gebirgsge—
ſteine läßt ſich ein ſolches Fortwirken des innern Bewegens
erkennen, das ihre anfängliche Geſtaltung bewirkte. Ein
berühmter Reiſender und trefflicher Bergmann, Rußegger
hat über dieſen Gegenſtand ſehr werthvolle Beobachtungen
bekannt gemacht, zu welchen ihm ſein Aufenthalt und ſeine
bergmänniſchen Forſchungen, namentlich am Taurusgebirge
Veranlaſſung gaben. Die Beſchaffenheit und Geſtaltung einiger
Gebirgslagerungen jener Gegenden, ſammt der Form und
Stellung, in welcher ſich die im dortigen Kalkſtein enthaltenen
Erzmaſſen zuſammengehäuft finden, läßt es deutlich erkennen
daß hier noch lange nachher in dieſen Maſſen Kräfte der
Anziehung gewirkt und kugliche Bildungen hervorgerufen
haben. An der Bewegung eines ſolchen fortgehenden Ge—
ſtaltens nahmen zunächſt nur die einen, nicht alle Geſteinarten
des Gebirges einen Antheil, ſo daß die Lagerung der Ge—
ſteinmaſſen in deren Mitte die fremdartigen Beſtandtheile das
Werk ihrer wechſelſeitigen Aneinanderfügung fortſetzten, da—
durch in einen Zuſtand der Zerrüttung geriethen, welcher
deutlich beweißt, daß der Vorgang der Fortbildung der Erz—
niederlagen in ihrem Innren zu einer Zeit ſtatt fand, in
welcher fie ſchon längſt ihre vollkommne, feſte Geſtaltung
gewonnen hatten. Auch manche andre, ſteinbildende Stoffe,
wie namentlich die Kieſelerde, ſetzen in einem ſchon gebilde—
ten Kalkgebirge das Geſchäft der wechſelſeitigen Anziehung und
Zuſammenfügung ihrer Theile fort; da beſonders, wo irgend
eine Kluft oder ein andrer leerer Raum im Innren der
Gebirge ſich findet, verſammlen ſich die Fremdlinge welche
darin zerſtreut wohnen, eine Landsmannſchaft zur andren,
526
der Baryt zu andrem Baryt, das ſchwefelſaure Blei zu
andrem Blei feiner Art, Eiſenoxyd oder Schwefeleiſen zu
ſeines Gleichen. Es ſind Bande, ähnlich jenen der Blutsver⸗
wandtſchaft oder der Freundſchaft unter uns Menſchen, die,
in ihrer beſondren Weiſe ſelbſt in dem Reiche der todten
Stoffe walten, damit die verſtreut wirkenden Kräfte vieler
Einzelnen zu einer gemeinſamen Kraftäußerung vereint, den
Alles bildenden, Alles tragenden Einfluß des allgemeinen
Seyns und Lebens empfangen möchten.
62. Väterlicher und mütterlicher Einfluß auf
Geſtaltung und Wirkſamkeit der neu ent⸗
ſtehenden Körper.
Als von mütterlich bildender Art kann jener Einfluß
betrachtet werden den die Beſchaffenheit der Elemente auf
die Geſtalt eines werdenden Kryſtalles hat. Daß dieſer Ein—
fluß ein ſehr bedeutender und entſcheidender ſey, das fällt
bald in die Augen; denn wo nur die Kieſelerde zur kryſtallini⸗
ſchen Geſtaltung kommen kann, es ſey in den Tiefen der
Schächte oder auf den Höhen der Gebirge, in der Nähe der
Pole oder zwiſchen den Wendekreiſen, überall nimmt ſie eine
Form an, welche aus jener Urform ſich herleiten läßet, die
ihrer doppelt ſechsſeitigen Pyramide ſamt der an ihren Ber:
ei | hervortretenden ſechsſeitigen Säule zu Grunde
iegt.
Bei ſolchen Kryſtallen, welche aus einer größren Zahl
von Stoffen zuſammengeſetzt find, bleibt die Geſtaltung die—
ſelbe, auch dann wenn ſtatt des einen dieſer Stoffe ein
andrer eingetreten iſt, deſſen kleinſte Theile die Fähigkeit be⸗
ſitzen mit den übrigen ganz in dasſelbe Verhältniß des pola⸗
riſchen Gegenſatzes und der Anziehung ihrer Pole zu treten,
welches der regelmäßigen Aneinanderfügung zu Grunde liegt.
Ohngefähr ein ähnliches Verhältniß als das iſt, welches ſich
an einer aus kleinen, magnetiſchen Eiſenſtäbchen geſchloßenen
Kette zeigen könnte, wenn man einzelne dieſer Stäbchen heraus
nähme und an ihre Stelle gleichgeſtaltete magnetiſche Stäbchen
aus Nickelmetall hineinſtellte, deren Nordpol ſich eben ſo
durch polariſche Anziehung an den Südpol eines nachbarlich
angränzenden Eiſenmagnets anfügen würde, als dies das
herausgenommene Stäbchen that. Aus demſelben Grunde
527
bleibt auch die Geſtalt des insgemein aus Kieſelerde, Thon:
erde und Eiſenoxyd zuſammengeſetzten Granates dieſelbe,
wenn ſtatt der Thonerde die Kalkerde, ſtatt dieſer die Talk—
erde, ſtatt des Eiſenoxyds das Manganoxyd an der Ver—
bindung Theil genommen haben. Solche Stoffe, davon
der eine die Stelle des andren einnehmen kann, ohne daß
die Aeußerung des mütterlich bildenden Einflußes eine Abän-
derung erleidet, nennt man gleichgeſtaltige (iſomorphe) und
mit ganz beſondrer Klarheit hat dieſen ganzen Vorgang
Juſtus Liebig in ſeinen chemiſchen Briefen (im ſechsten
derſelben) entwickelt.
Der nämliche, um ſeine Wiſſenſchaft hoch verdiente
Schriftſteller macht aber auch zugleich auf einen andren, für
die Geſtaltung der Kryſtalle ſehr bedeutenden Einfluß auf—
merkſam, deſſen eigenthümliches Wirken nicht durch die Be—
ſchaffenheit der Beſtandtheile beſtimmt wird, und welchen
man, gegenüber dem elementaren oder mütterlichen Einfluß
als einen väterlichen bezeichnen könnte. In dieſer, von dem
chemiſchen Beſtand unabhängigen Weiſe wirken die Wärme,
das Licht, die Elektrizität, ſo wie andre dieſen verwandte
Bewegungen der äußeren Leiblichkeit auf die beſondre Rich—
tung des Geſtaltens ein.
Eines der bekannteſten Beiſpiele unter allen denen welche
hieher gehören, iſt uns in zwei Steinarten des kohlenſauren
Kalkgeſchlechtes: im Arragonit und im gemeinen Kalkſpath
gegeben. Die erſtere Steinart, die ſich namentlich auch in
Arragonien geſtaltet, zu anſehnlichen ſechsſeitigen, meiſt
ſchmutzig amethyſtfarbenen Säulen, in Gyps eingewachſen
findet, unterſcheidet ſich weſentlich von dem gemeinen Kalk—
ſpath durch einen höheren Grad der Härte, und durch ein
größeres ſpecifiſches Gewicht. Wenn der gemeine, kry—
ſtalliniſche Kalk, z. B. als isländiſcher Doppelſpath, vollkom—
men durchſichtig iſt, dann hat er eine ausgezeichnete doppelte
Strahlenbrechung, das heißt man ſieht Buchſtaben, Linien
und andre Gegenſtände, die man durch ihn betrachtet, nicht
einfach ſondern doppelt; dem durchſichtigen Arragonit (aus
Böhmen u. ſ. w.) mangelt dieſe Art der Strahlenbrechung;
die Grundform von der ſeine Kryſtallgeſtalten ausgehen iſt
eine ganz andre als die, auf welche ſich die mannichfaltigen
Formen des Kalkſpathes zurückführen laſſen, der ſchon beim
Zerſchlagen in lauter rautenflächige Bruchſtücke zertheilbar iſt.
528
An dieſer großen und durchgehenden Verſchiedenheit der bei⸗
den Steinarten hat die Beſchaffenheit der chemifchen Beſtand⸗
theile durchaus keinen Antheil; denn bei der ſorgfältigſten
Zerlegung findet man in einer wie in der andren die Kalk⸗
erde ganz in demſelben Verhältniß mit der Kohlenſäure ver⸗
eint. Was aber die Beſtandtheile nicht thaten, das hat bei
der verſchiedenartigen Geſtaltung der Einfluß der Wärme be⸗
wirkt, der von außen kam. Denn wenn man kohlenſauren
Kalk aus einer Auflöſung in kaltem Waſſer zu Kryſtallen
anſchießen läßt, dann zeigen dieſe die Geſtalt ſo wie alle
Eigenſchaften des gemeinen Kalkſpathes, läßt man ihn da⸗
gegen aus warmem Waſſer ſich kryſtalliſiren „dann wird er
zum Arragonit. Aber noch einmal, und zwar in ganz ent⸗
gegengeſetzter Weiſe äußert die Erhöhung der Temperatur
auf dieſen merkwürdigen Stein ihren umgeſtaltenden Einfluß.
Wenn man nämlich einen Arragonitkryſtall einer ſchwachen
Glühehitze ausſetzt, dann gerathen alle Theile ſeiner Maſſe
in lebhafte Bewegung; er bläht ſich zu einer ſchaumartig⸗
blaſigen Form auf, und verwandelt ſich in ein Gehäufe von
kleinen Kryſtallen die nichts Andres ſind denn gemeiner
Kalkſpath.
Etwas ganz Aehnliches zeigt ſich am Schwefel, der
bei niedrer Tempratur als Rhomben Achtflach kryſtalliſirt, beim
Anſchießen aber aus geſchmolzenem Zuſtand eine ganz andre
Grundform annimmt. Ebenſo nimmt das aus der Schmelz⸗
hitze kryſtalliſirende Kupfer, ſo wie der bei höherer Tempe⸗
ratur anſchießende Zinkvitriol eine ganz andre Form als die
gewöhnliche an, und daſſelbe gilt vom Bitterſalz, und der
arfenigen Säure; ja das ſchwefelſaure Nickeloxyd erſcheint ſo⸗
gar bei 3 verſchiedenen Steigerungsgraden der Temperatur
in dreimaliger Verſchiedenheit der Formen.
Wenn, um noch ein näher liegendes Beiſpiel zu erwäh⸗
nen, das Kochſalz aus ſeiner Auflöſung im Waſſer durch
Verdampfung oder Abkühlung der auflöſenden . zum
re gebracht wird, dann nimmt es die Ge
Würfels oder des mit ihm verwandten Achtfla
wohl des Raudenzwölfflaches an, denen in beiden der Wür⸗
fel als Stammform zu Grunde liegt. Doch nur dann tritt :
dieſes ein, wenn die Abkühlung der Flüßigkeit nicht bis un⸗
ter den Gefrierpunkt gieng. Wenn man dagegen eine ge⸗
ſättigte Kochſalzauflöſung dem Winterfroſt oder einer lichen
—
529
lichen Erkältung ſelbſt nur von 109% unter dem Gefrierpunkt
ausſetzt dann entſtehen, ſtatt der Kryſtalle von der Ver⸗
wandtſchaft des Würfels, große, ſchöne Säulen, ſo klar
und durchſichtig als Waſſer, die zu einer ganz andren Sipp⸗
ſchaft der Kryſtallformen gehören als der Würfel. Bei der
leiſeſten Berührung mit den Fingern werden dieſe hellen
Klryſtalle milchweiß und undurchſichtig, und wenn man fie
auf die Fläche der warmen Hand legt, dann zerfließen ſie
zu einem Brei, in welchem ſich alsbald kleine Kochſalzkry⸗
ſtalle von der gewöhnlichen Würfelform erzeugen. Zu die⸗
ſer auffallenden Veränderung der Form, deſſelben, aus
Chlor und Natron beſtehenden Salzes, hat offenbar der ver⸗
ſchiedne Grad der Temperatur, bei welchem das Kryſtalliſi⸗
ren erfolgte, das Meiſte und Weſentlichſte beigetragen, ob⸗
gleich dieſer Einfluß auch noch die Wirkung hatte, daß mit
dem bei ſtarker Kälte anſchießenden Chlornatron ſich eine be—
deutende Quantität von Waſſer (gegen 30 Prozent) verband,
welches in der Miſchung des gemeinen, würfelartig kryſtalli⸗
niſchen , gänzlich fehlt.
Deergleichen Fälle, in denen ein und derſelbe Stoff „eine
und dieſelbe Miſchung der Elemente in ganz verſchiedner Ge⸗
ſtaltung fo wie Eigenſchaft auftritt, und hierdurch eine Ver⸗
ſchiedenheit des anregenden väterlichen Einfluſſes andeutet,
der bei der Bildung des Körpers wirkſam war, giebt es
noch mehrere, denn es gehören hieher namentlich jene Stein⸗
arten oder metalliſchen Foſſilien, die man als zweigeſtaltig
e aufgeführt hat.
Aber nicht allein an den unorganiſchen Verbindungen
der Grundſtoffe, ſondern auch an ſolchen, welche durch die
Kraft des organiſchen Lebens entſtanden ſind, giebt ſich der
umgeſtaltende Einfluß der Wärme wie des Lichtes kund.
Das Eiweiß eines Hühnereies iſt in ſeinem gewöhnlichen,
friſchen Zuſtand flüſſig, im Waſſer auflöslich und in ziem⸗
lich hohem Grade durchſichtig; wenn wir es aber einer
Wärme von 60° R. und darüber ausſetzen, dann wird es
porzellanartig weiß, es verliert feinen flüffigen Zuſtand und
ſeine Durchſichtigkeit, zugleich mit ſeiner Auflöslichkeit im
Waſſer. Die Wurzeln der in heißen Ländern wachſenden
Manihokpflanzen ſind in ihrem rohen Zuſtand für den Men⸗
ſchen nicht bloß ungenießbar, ſondern ſogar giftig; wenn ſie
aber einer künſtlichen Erhitzung N wenn fie in der
330
heißen Aſche geröſtet oder gebraten werden, dann geben ſie
ein nicht nur wohlſchmeckendes, ſondern durchaus geſundes
und gedeihliches Nahrungsmittel. Welche vortheilhafte Ver⸗
änderung mit den Knollen des Kartoffels vorgehen, wenn dieſe
in der heißen Aſche geröſtet, oder im Waſſer weich geſotten
werden, das wiſſen wir Alle; es iſt jene Verwandlung in
einem für unſern Gaumen wohlſchmeckenden, für die Säfte
unſres Magens auflöslichen und darum leicht verdaulichen
Zuftand, welchen wir den meiften Gemüſen durch die Zube—
reitung in unſren Küchen mittheilen. Wenn einige Bolfer-
ſchaften des Hochlandes von Perſien das Mehl der eßbaren
Eicheln, das ſie durch Zerreiben der trockenen Frucht zwiſchen
zwei Steinen gewonnen haben, mit Waſſer zu einem Teig
oder Brei machen, dann können fie dieſes für fie ſehr an-
nehmliche, nahrhafte Gericht auf mehrere Tage aufbehalten,
ohne daß es eine Gährung oder andre nachtheilige Verände⸗
rung erleidet. Der ganze Mundvorrath den ein wandernder
Backhemi für eine zuweilen wochenlange Fußreiſe mit ſich
nimmt, beſtehet in einem ſolchen Teig von Eichelmehl, den
er in einem ledernen Beutel trägt. Wollten wir einen Teig
unſeres Getreidemehles in eben ſo warmer Luft, wie die des
mittleren Perſiens iſt, Tage lang aufbehalten oder mit uns
nehmen, da würde auch ohne Zuſatz von Hefe oder Sauer⸗
teig gar bald eine Gährung beginnen, die beim Eichelmehl
durch den in ihm enthaltenen, adſtringirenden Stoff verzo-
gert wird. Aber ſelbſt dem in Gährung gerathenen oder
durch unſre künſtlichen Zuthaten in Gährung verſetzten, und
hierdurch widerwärtig ungenießbar gewordenen Mehlteige,
geben wir durch die Hitze des Backens jene Eigenſchaft, wo⸗
durch derſelbe zu einem für unſren Körper zuträglichen, wohl⸗
ſchmeckenden Nahrungsmittel wird, das ſich als Schiffszwie⸗
back lange aufbehalten läſſet. ’ EHE
Die Gährung des Traubenſaftes fo wie das Sauer⸗
werden der Milch können wir ebenfalls durch die Siedehitze
verhindern, und beide laſſen ſich durch ein öfter wiederholtes Ab⸗
ſieden auf einige Zeit in ungegohrnem Zuſtand erhalten. Zu⸗
nächſt wird jedoch, durch die höher geſteigerte Temperatur
bei dieſen Flüſſigkeiten nur eine Unterbrechung, ein Aufſchub
der Gährung bewirkt, welche bei fortwährendem Zutritt der
atmoſphäriſchen Luft, in der mittleren Temperatur unſrer
Himmelsgegend, dennoch in Kurzem wieder eintritt. Auch
531
das thieriſche Fleiſch, deſſen ſchnelles Faulwerden durch Braten
oder Abkochen verhindert wurde, geht durch die gleichen Urs
ſachen ſpäterhin wieder in Verderbniß über. Daher iſt die
Anwendung der Siedehitze erſt dadurch zu einem recht brauch—
baren Erhaltungsmittel der Speiſen, für lange Zeiten, gewor⸗
den, daß Gay Luſſac in überaus einfacher Weiſe den
europäiſchen Köchen es lehrte, wie man heute in Frankreich
eine Fleiſchſpeiſe mit feinem Gemüſe oder allerhand ſüße
Früchte kochen und zubereiten könne, welche, nach länger als
Jahresfriſt, noch eben fo friſch als wären fie vor wenig Stun—
den erſt gar geworden, mitten in den afrikaniſchen Wüſten,
oder auf fernen Meeren ſich zur Tafel bringen ließen (m. v.
oben S. 320 u. 321). Es war dies eine Erfindung, die,
wegen ihrer außerordentlichen Nützlichkeit, und hierbei dennoch
leichten Anwendbarkeit, eines ſolchen großen Naturforſchers
vollkommen würdig erſcheint. In jedem einzelnen Haushalt
iſt es jezt möglich geworden die feineren Gemuͤſe des Gartens,
ſo wie das Fleiſch des jungen Geflügels, oder andre, leicht
verderbende Speiſen dieſer Art, gerade dann wenn ſie am
beſten zu haben ſind, zum Genuß für den künftigen Winter
oder für ein nächſtes Jahr friſch zu erhalten; ja es würde
durch Gay Luſſac's Aufbewahrungsweiſe möglich ſeyn, die
Gäſte, bei der Hochzeit eines Enkels, mit einem Gerichte zu
bewirthen, davon auch die Gäſte an der Hochzeitstafel der
Großmutter ihren Theil genoſſen hatten. Abgeſehen jedoch
von dieſer Anwendung im Kleinen, wodurch die Alten wie
die kränklich Schwachen zu jeder Zeit des Jahres mit jungen
friſchen Erbſen und Bohnen, nicht aus den Treibhäuſern
der Fürſten, ſondern aus ihrem eigenen kleinen Garten ver—
ſorgt werden könnten, iſt vorzüglich die Benutzbarkeit der
Erfindung im Großen einer Beachtung werth. Jene groß⸗
artigen Kochanſtalten, namentlich in Schottland und in
Frankreich, welche täglich ganze Maſſen der kräftigſten Sup—
pen, der Gemüſe, des gebratenen und geſottenen Fleiſches
wie der ſüßen Speiſen für Hunderte, nicht der einheimiſchen,
ſondern der in weiter Ferne weilenden Gäſte, nicht für einen
nahe gegenwärtigen, ſondern für einen auf künftige Zeiten
aufgeſparten Genuß bereiten, könnten eben ſo wie ſie ein⸗
zelne Schiffe, ja ganze Flotten derſelben, und wie ſie Karawanen,
die durch weit ausgedehnte Wüſten reiſen, mit ausreichendem
Vorrath friſcher Speiſen verſehen, . auf Jahre
1
532
lang mit geſunden Nahrungsmitteln verſorgen; Hungersnoth
und Gefahr des Erkrankens wird in allen 1 Fällen, zu
Land wie zu Waſſer, abgewendet.
Wir haben in dieſem Buche ſo manche, für das Leben
und den Verkehr der Völker nützliche Erfindung ausführlicher
betrachtet: darum ſoll auch die eben erwähnte des Gay Luſ⸗
ſac hier noch eine kurze Beſchreibung finden. Die Fleiſch⸗
oder Pflanzenſpeiſen werden zuerſt fo, wie man fie für unſ⸗
ren Tiſch zurichtet, gar gekocht oder gebraten, dann ſogleich
heiß, wie ſie vom Herd oder aus der Bratröhre kommen, in
Büchſen, aus verzinntem Eiſenblech vertheilt, die man damit
bis oben anfüllt. Wenn 1 geſchehen iſt, dann wird der
wohlanpaſſende Deckel aus gleicher Blechmaſſe beſtehend, auf
die Büchſe geſetzt, und an dieſe luftdicht angelöthet. Aber
auch jetzt ſind die Speiſen noch nicht zur Verſendung
über Meer und Land, wie zur Jahre langen Aufbewahrung
geeignet; die feſt verſchloßnen Büchſen werden noch einmal
in ein größeres, keſſelartiges Behältniß mit ſiedendem Waſſer
geſtellt und hier, nach Verhältniß ihrer Größe, ſtundenlang
der Siedehitze ausgeſetzt, ſo daß dieſe von neuem die ganze
Maſſe bis in ihre Mitte durchdringen kann. Die ſchon ge⸗
brauchten blechernen Büchſen laſſen ſich, nach ſorgfältiger
Reinigung, wieder zu gleichem Zweck benützen.
Bei dem kohlenſauren Kalk wie beim Chlornatrium oder
Kochſalz, fo wie bei vielen andren unorganiſchen, kryſtalli⸗
ſirbaren Subſtanzen, wirkt, dies lehrten uns die erſten in
dieſem Capitel erwähnten Fälle, der väterlich anregende Ein⸗
fluß der Wärme verändernd auf die Geſtaltung ein. Das,
was in den zuletzt erwähnten Fällen durch jenen Einfluß um⸗
geändert wird, läßt ſich, ſeiner äußren Erſcheinung nach we⸗
niger als Geſlaltung, denn als Stimmung Pageihurn. Wie
ſtaltung und Stimmung in der Körperwelt ſich derben
ſind, das lehrte uns der Inhalt des 61. Capitels. Den
fortwährende Einwirkung eines ſchon gebildeten Kryſt
auf andre zur kryſtalliniſchen Geſtaltung geneigte Stoffe
(nach Cap. 61) hat ihren Grund in einer Stimmung, ähn⸗
lich jener, welche in dem Nachtönen einer angeſchlagenen
Glocke und in der leichteren Befähigung zum wohllautenden
Tönen an einem muſikaliſchen Inſtrumente ſich kund giebt,
533
deſſen künſtlicher Bau öfters durch eine Meiſterhand in har⸗
moniſche Schwingungen verſetzt wurde.
Wie die Wärme, ſo wirken auch die andren, aus dem
allgemeineren Wechſelverkehr der polariſchen Gegenſätze her⸗
vorgehenden Bewegungen der Außenwelt, verändernd auf die
Stimmung der einzelnen Körper ein. Was hierbei ſchon die
mechaniſche Bewegung, und noch mehr was Elektrizität und
Magnetismus bewirken können, das erwähnten wir ſchon bei
andrer Gelegenheit. Namentlich gab Becquerel dem kry⸗
ſtalliniſch anſchießenden, kohlenſauren Kalk durch die elektriſche
Strömung gerade ſo die Arragonitgeſtalt, als dies, wie wir
vorhin ſahen, die Wärme thut. Auch von dem Einfluß, wel⸗
chen das Licht auf die Stimmung der leiblichen Stoffe hat,
wollen wir, zu den vielen bereits angeführten hier nachträg⸗
lich noch ein Beiſpiel anführen. Der Phosphor, der in ſei—
nem gewöhnlichen Zuſtand durchſcheinend hellgelb, und ſchon
bei 25° Réaumur ſchmelzbar iſt, verwandelt ſich, wenn man
ihn im luftleeren Raume auf längere Zeit der Wirkung des
Lichtes ausſetzt, in einen rothen, undurchſichtigen, ſchwerer
ſchmelzbaren Körper, welcher nicht mehr ſo leicht zu entzün⸗
den iſt, als er dies vorher war. Der violette Strahl des
Farbenbildes bewirkt dieſe Veränderung eben ſo kräftig als
das ungetheilte Sonnenlicht; der rothe Strahl zeigt ſich da⸗
zu am unvermbgendſten. | a MU
Es lägen uns jedoch auch noch andre, zur Entwicklungs⸗
geſchichte der organiſchen Weſen gehörige Beiſpiele nahe, aus
denen hervorgehet, in welchem Maaße das allgemeine Bewe—
gen der äußren Sichtbarkeit, namentlich als Wärme und
Licht, auf Stimmung und Geſtaltung einwirke. Denn ob—
gleich der Charakter der Arten bei Thieren wie bei Pflanzen
in gewiſſe, feſtſtehende Gränzen eingeſchloſſen iſt, wird den—
noch durch den Einfluß des Klimas an dieſem Grundriß ſo
Vieles verändert, daß wir ihn öfters nur mit Mühe wieder
erkennen. Selbſt der Menſch erleidet bei ſeinem längern
Verweilen, hier in der temperirten oder kalten, dort in der
heißen Zone, ſo viele von der Beſchaffenheit des Klimas
ausgehende Veränderungen der äußren Geſtalt und leiblichen
Stimmung (des Temperamentes), daß hierdurch nicht ſelten
der ungegründete Zweifel erregt worden iſt, an der gemein⸗
ſamen Abkunft des Negers, des Mongolen und des Euro—
päers aus einem und demſelben elterlichen Urſtamme. In
*
*
534
dem jetzigen Zuſtand der Dinge hat ſich die Kraft des Ein⸗
fluſſes, den die ſchon beſtehende Form einer Pflanze auf die
Geſtaltung der neuen Pflanze ausübt, die ſich aus ihrem
Saamenkorn entwickelt, mit der Kraft des allgemeineren,
klimatiſchen Einfluſſes ſo ins Gleichgewicht geſetzt, daß, wie
bereits erwähnt, das Klima an dem Hauptcharakter der Ar⸗
ten nichts zu ändern vermag; die Betrachtung jedoch der
mannichfaltigen Ueberreſte einer vormaligen Thier⸗ und Pflan⸗
zenwelt lehrt uns, daß es eine Zeit gab, wo dieſes Verhält⸗
niß ein andres war; eine Zeit, in welcher die Macht jenes
allgemeinen Bewegens, deſſen abgeleitete Form das Licht und
die Wärme ſind, ſo übermächtig vorwaltend auf die erſchaf⸗
fenen Keime der Einzelweſen einwirkte, daß hierdurch ſelbſt
jene weſentlichen Züge der Geſtaltung und Stimmung verän⸗
han 1 von denen die Verſchiedenheit der Arten ab⸗
ang
63. Die beſtimmten Proportionen, in welchen
die Grundſtoffe ſich verbinden. (Stöchiometrie.)
Ein Tintentropfen, den wir in ein Weinglas voll reinen
Waſſers fallen laſſen, vertheilt ſich allmälig in dieſem, und
daſſelbe thut ein zweiter „ ein dritter Tropfen; das Waſſer
nimmt ſo viel von dem färbenden Stoffe auf, als wir ihm
geben wollen, und wenn wir der Vertheilung deſſelben durch
ein mechaniſches Mittel, wie durch Umrühren zu Hülfe kom⸗
men, dann geſchieht dieſe ſo gleichförmig, daß jeder einzelne
Tropfen des Waſſers ſo viel Tinte an ſich zieht als der
andre. Daſſelbe geſchieht, wenn wir ein Salzkorn nach dem
andern in das Glas voll Waſſer werfen; die Flüſſigkeit
nimmt, je mehr wir ihr davon zuſetzen, deſto ſtärker, in all
ihren Theilen, den Geſchmack des Salzes an; denn dieſes hat
ſich gleichmäßig in ihrer ganzen Maſſe verbreitet. In den
beiden oben erwähnten Fällen hat ſich keine eee che⸗
miſche Verbindung, ſondern ein, mechaniſches Gemei
zeugt, bei welchem das Salz wie das Waſſer in ihren Ei⸗
genſchaften unverändert, das erſtere Salz, das andre Waſ⸗
ſer geblieben ſind. h
Etwas ganz Andres gefchieht da, wo die Grundſtoffe 4
eine eigentliche chemiſche Verbindung mit einander eingehen.
Wenn man in ſolches Waſſer, darinnen Kalkerde mechaniſch
535
aufgelöſt iſt, einen Tropfen Vitriolſäure ſchüttet, dann ver—
theilt ſich dieſer nicht gleichmäßig in der Flüſſigkeit, ſondern
die Schwefelſäure verbindet ſich mit einem gewiſſen Theile der
Kalkerde und bildet mit dieſem ſchwefelſauren Kalk oder
Gyps, der ſich als Pulver zu Boden ſenkt, während die
ganze übrige Flüſſigkeit, ohne nur noch eine Spur von
Schwefelſäure in ſich zu führen, das bleibt was ſie vorher
war: ätzendes Kalkwaſſer. Bei dem Hinzuſchütten jedes
neuen Tropfens von Vitriolſäure wiederholt ſich das Nämli—
che, bis zuletzt aller in dem Waſſer enthaltene Kalk mit der
Säure geſättigt, und zu Gyps geworden iſt. Wenn man
aber jetzt, nachdem jedes Theilchen der Kalkerde fein beſtimm—
tes Theilchen der Säure dahin genommen, noch etwas mehr
von der letzteren hinzuſetzt, dann wird dieſe nicht mehr, wie
die Tinte vom Waſſer, ſo von dem pulverartigen Niederſchlage
aufgenommen, ſondern ſie bleibt dem Waſſer, darin der
Kalk aufgelöſt war, beigemengt, ohne daß von nun an ein
Zug der Säure zur Erde oder dieſer zu jener ſich kund giebt.
In dem eben erwähnten Falle ſind aber auch zugleich die
beiden Elemente, die ſich zum Gyps vereinten, ihren Eigen—
ſchaften nach ganz andre geworden; an der Verbindung bei—
der, am Gyps, iſt ferner weder die Natur der Säure noch
des ätzenden Kalkes zu erkennen; die Wirkung auf den Ges
ſchmacksſinn, welche beide in ganz verſchiedner Art hatten,
ſo wie die auf das Lackmuspapier und andre durch Säuren
und Alkalien leicht veränderliche Stoffe, hat ſich ganz verlo—
ren, es hat ſich ein Körper gebildet, der weder Aetzkalk noch
Säure, ſondern ein ganz Neues, ein Drittes iſt. Der
Gyps, den wir auf dieſe Weiſe künſtlich erzeugten, wird als
eine der gemeineren Gebirgsarten der feſten Erdrinde in den
verſchiedenſten Ländern und Welttheilen gefunden; wenn wir
aber den Gyps aus Perſien oder Aegypten, wenn wir den
aus Frankreich und Deutſchland, aus Amerika und Neuhol⸗
land genauer unterſuchen und chemiſch zerlegen, dann wer—
den wir finden, daß in demſelben, woher er auch ſey, dem
Gewicht nach immer die Kalkerde mit der Schwefelſäure, nach
runder Summe ausgedrückt, in dem Verhältniß von 13 zu
18 vereint ſey, während in allen Mineralarten, in allen
Abänderungen des kohlenſauren Kalkes, aus welcher Gegend
er auch kommen, von welcher Geſtalt er auch ſeyn möge,
das Verhältniß der Erde zur Säure, in runder Summe
336
ausgedrückt wie 13 zu 10 iſt. Die Gewichtsmenge der Koh⸗
lenſäure, welche die Kalkerde zu ihrer Sättigung bedarf, ver⸗
hält ſich mithin zur Gewichtsmenge der hiezu nülhigen Schwe⸗
felſäure wie 5 zu 9. Die Baryterde bedarf freilich eine ge⸗
ringere Quantitat der Säuren zu ihrer Sättigung als die
Kalkerde; das Verhältniß aber von jener bleibt daſſelbe, denn
etwas mehr denn 17 Theile Schwerſpatherde nehmen 5 Theile
Kohlenſäure oder 9 Theile Schwefelſäure auf. Aber die
eben genannten Säuren ſind keine einfachen Grundſtoffe, ſon⸗
dern ſelber ſchon aus Kohle oder Schwefel und aus Sauer⸗
ſtoff zuſammengeſetzt. Und auch hierin zeigt ſich ein feſtſte⸗
hendes Verhältniß der Gewichtsmengen, denn 3 Theile .
le bilden mit 4 Theilen Sauerſtoffgas die Kohlenſäure; 8
Theile Schwefel wit 4 Theilen Sauerſtoff die Schwefelſäure
oder mit eben ſo viel Theilen von Phosphor die Phosphor⸗
ſäure. Auch das Waſſerſtoffgas verbindet ſich mit dieſen 3
Grundſtoffen, und zwar mit der Kohle im Verhältniß wie 1
zu 6, mit dem Sauerſtoff 1 zu 8, mit Schwefel oder Phos⸗
phor 1 zu 46. Hier wie dort tritt zwiſchen den Gewichts⸗
mengen der Kohle, des Sauerſtoffes und des Schwefels das
gleiche Verhältniß in den Zahlen 3, 4, 8 hervor. Das Kupfer
und das Zink gehen freilich nur mit viel geringeren Mengen
des Sauerſtoffs und des Schwefels Verbindungen ein, aber
die Gewichte der beiden letzteren Stoffe, die zu ihrer Sät⸗
tigung nöthig find, behalten genau denſelben Abſtand, denn
4 Theile Kupfer oder Zink nehmen 1 Theil Sauerſtoff oder
2 Theile Schwefel auf. In ähnlicher Weiſe beſtehet das
Drid des Molybdäns aus 6 Theilen Metall und einem
Theile Sauerſtoff, an Schwefel nimmt daſſelbe gerade das
Doppelte, nämlich ein Drittheil auf; bei dem Wolfframme⸗
tall ſind die Verhältniſſe zu jenen beiden Stoffen wie 12
und wie 6 zu 1. Und fo kann man, wenn man die Ge
wichtsmenge kennt, in welcher irgend einer der oben im Cap.
14 genannten Grundſtoffe mit einem andren die 1 1 7
Verbindung eingeht, es genau berechnen, welche Quantitä
von einem der andren Stoffe er zu ſeiner Sättigung edi
fen werde. Wenn man z. B. auch nur aus der Zerlegt
des Silberhornerzes es wüßte, daß in ihm das Silber im
Verhältniß wie 3 zu 1 mit dem Chlor verbunden ſey, ſo
könnte man daraus berechnen, daß dieſer Stoff mit dem
Blei in faſt gleichem Verhältniß, mit dem Kupfer aber wie
537
177 zu 160, mit dem e m Kochſalz faſt wie 3 zu
2, mit dem Schwefel nahe wie 22, mit dem Sauerſtoff wie
44 zu 10, endlich mit dem Waſſerſtoffgas wie 354 zu 10
ſich vereinen müſſe. Dieſes Alles gienge, nach einer andren
Seite hin, daraus hervor, daß man erkannt hätte, daß im
Silberoryd 13% Theile des Metalles mit 1 Theil Sauer:
ſtoff, im Schwefelſilber 6 Theile des Metalles mit A Theil
Schwefel verbunden ſind.
Aber die Grundſtoffe finden, ſich nicht immer nach dem
einfachen Maaß der im Allgemeinen feſtſtehenden chemiſchen
Proportionen vereint, ſondern nicht ſelten nach dem doppelten,
dem drei⸗, dem vier⸗ und noch mehrfachen. So iſt aller⸗
dings das gewöhnliche ſtöchiometriſche Verhältniß des Me⸗
talles zum Schwefel und Sauerſtoffgas beim Eiſen nahe wie
17½ und wie 35 zu 10; mit beiden Stoffen kann aber auch
jenes Metall Verbindungen eingehen, in denen dasſelbe einen
größeren oder einen geringeren Antheil ausmacht als den
gewöhnlichen, ſo daß die Steigerung des Miſchungsverhält—
nißes, von den niederen zu den höheren Stufen gerechnet;
von 4 zu 6 oder 8, zu 12 und 16 gehet.
Die erſte Entdeckung und wiſſenſchaftliche Begründung
der Lehre von den ſtöchiometriſchen Miſchungsverhältnißen der
Elemente dankt die Wiſſenſchaft zwei deutſchen Chemikern
des vorigen Jahrhunderts: Wenzel und Richter. Nicht
minder folgenreich erſcheint jedoch eine andre Entdeckung
von der wir jetzt reden wollen, deren Verdienſt dem ſchon
bh franzöſiſchen Naturforſcher G ay Luſſac ge
ührt
Durch die Zerlegung des Waſſers (nach S. 206 und
342) kennt man das Verhältniß, in we lchem ſeine beiden
Grundſtoffe mit einander verbunden ſind mit großer Genauig⸗
keit; man weiß daß 11,09 Gran Waſſerſtoffgas bei ihrem
Verbrennen mit 88,91 Sauerſtoffgas 100 Gran Waſſer
geben; ein Gewichtstheil des erſteren Gaſes reicht demnach
hin um 8 Theilen des letzteren die nöthige Grundlage darzu—
reichen, zur Bildung einer neuen tropfbar flüßigen Körperform.
Vergleicht man jedoch die beiden Luftarten aus denen unter
unſren Augen das Waſſer entſtehet, ihrer Ausdehnung nach,
dann erkennt man daß der Raum, den das Waſſerſtoffgas
vor der Verbindung mit dem Sauerſtoffgas einnahm, genau
doppelt ſo viel betrug, als der Raumumfang des Letzteren;
538
will man einem Cubikzoll Sauerſtoffgas gerade ſo viel Waſ—
ſerſtoffgas geben, als es bedarf um beim Verbrennen ganz
in der Waſſerbildung aufzugehen, dann ſind zwei Cubikzoll
des letztren dazu erforderlich. Nicht nur an den luftartigen
Grundſtoffen des Waſſers, ſondern an allen Stoffen welche
vor ihrer chemiſchen Verbindung mit einander gasartig ſind,
hat man die Bemerkung gemacht daß die räumliche Aus⸗
dehnung, die ſie vor ihrer Vereinigung einnehmen, von
ſolchem Betrag iſt, daß ſie bei beiden ſich auf eine gemein⸗
ſame Einheit zurückführen läßet. Nennen wir dieſe Einheit
einen Cubikzoll, dann finden wir daß bei manchen chemiſchen
Verbindungen der Gasarten ein Cubikzoll der einen Art
mit einem Cubikzoll oder auch mit zwei mit vier Cubikzollen
der andren, die neue Erſcheinungsform bilde, darinnen die
Eigenthümlichkeiten beider ſich aufgelöst und verloren haben.
Wenn in dem gewöhnlichen Feuerungsmaterial unfrer Herde
die Kohle verbrennen, mit dem Sauerſtoffgas chemiſch ſich
verbinden ſoll, dann muß ſie erſt durch die Hitze in luft⸗
förmigen Zuſtand verſetzt werden. Ein Cubikzoll ſolcher gas⸗
artigen Kohle bildet mit einem Cubikzoll Sauerſtoffgas das
ſogenannte Kohlenoxydgas; damit aber die eigentliche Koh—
lenſäure entſtehen könne muß noch ein zweiter Cubikzoll der
Lebensluft hinzukommen. Zur chemiſchen Durchdringung die
ſer beiden Maaßtheile reicht ein Maaßtheil der in der Glüh—
hitze verflüchtigten Kohle hin, all die andre Menge des in
die Nähe des brennenden Körpers kommenden Sauerſtoff—
gaſes bleibt unverändert, ohne an der Verbindung Theil zu
nehmen, das was es vorher war. Wie das Sauerſtoffgas,
ſo geht auch das Kohlengas mit dem Waſſerſtoffgas eine
chemiſche Verbindung ein, welche unter dem Namen des Koh⸗
lenwaſſerſtoffgaſes bekannt iſt. Während aber zur Sättigung
von einem Cubikzoll Sauerſtoffgas ſchon zwei Cubikzolle
Waſſerſtoffgas hinreichen, ſind zur Sättigung von einem
Maaßtheil gasförmiger Kohle vier Maaßtheile desſelben
erforderlich. et
Der Rauminhalt, welchen in all diefen Fällen die neu
entſtandene chemiſche Verbindung einnimmt, läßt zuweilen
noch ganz deutlich die Ausdehnung erkennen, welche die
beiden Gasarten vorher beſaßen. Wenn nur ein Cubikzoll
Lebensluft zur Verbindung mit einem Cubikzoll gasförmiger
Kohle vorhanden iſt, dann nimmt das neuentſtandene Koh⸗
d
539
lenoxydgas, ohne eine Zuſammenziehung zu erleiden, den
vollen Raum von zwei Cubikzollen ein, wenn aber der Flamme
die zur Bildung der eigentlichen Kohlenſäure nöthige Menge
der Lebensluft, zwei Cubikzolle ſtatt einem zugeführt werden,
dann findet eine Verdichtung ſtatt; die gasartige Flüßigkeit
hat nur den Umfang von zwei Cubikzollen ſtatt von dreien.
Aus der Verbindung von zwei Maaßtheilen Waſſerſtoff- und
einem Maaßtheil Sauerſtoffgas kann nicht nur das eigentliche,
tropfbar flüßige Waſſer ſondern auch ein luftförmiger Körper
entſtehen, deſſen wir namentlich auf S. 254 unter dem
Namen des Waſſerdunſtes (richtiger Waſſergas) erwähnten.
Auch bei dem Entſtehen dieſes Waſſergaſes ziehen ſich die
drei Maaßtheile der beiden Luftarten, die zu ſeiner Bildung
verwendet wurden, zu dem Umfang von zwei Maaßtheilen
zuſammen, ſo wie die vier Cubikzolle Waſſerſtoffgas, die ſich
mit einem Cubikzoll gasförmiger Kohle zum Kohlenwaſſer⸗
ſtoffgas verbinden nach der geſchehenen Vereinigung nur den
Raum von 3 Kubikzollen einnehmen, weil ſich das Waſſer—
ſtoffgas dabei zur Hälfte feiner anfänglichen Größe zuſam—
mengezogen hat. Vermöge einer ähnlichen Verdichtung des—
ſelben zu ½ der gewöhnlichen Ausdehnung, oder beider
Grundſtoffe zu / geben 3 Maaßtheile Waſſerſtoff- und
1 Maaßtheil Stickſtoff, bei ihrer Verbindung zu Ammoniak-
gas nur 2 Maaßtheile ſtatt vier. Mit der Zuſammenziehung
in engeren Raum nimmt auch zugleich die Eigenſchwere der
neuentſtehenden Verbindungen zu, und wenn man nament—
lich das ſpezifiſche Gewicht des Waſſers mit jenem vergleicht
welches die beiden Maaßtheile des Waſſerſtoffgaſes ſammt dem
Maaßtheile des Sauerſtoffgaſes vor ihrer chemiſchen Ver—
einigung hatten, dann findet man zwiſchen dem mittleren
Geſammtgewicht der beiden Gasarten und dem ihres tropf—
bar flüßigen Zuſtandes ein Verhältniß von I zu faft 13000.
Uebrigens zeigt ſich bei jeder Gelegenheit die Schwere der
Stoffe als ein unveränderlicher, unvertilgbarer Zug ihres We—
ſens, denn die neu entſtehenden Verbindungen haben aufs
Genaueſte die Summe des Gewichtes, das den einzelnen
Grundſtoffen, aus welchen fie ſich bildeten, zuſammengenom—
men zukam; das Waſſer das aus 11 Lth. Waſſerſtoff- und
88,9 Lth. Sauerſtoffgas entſtund wiegt genau 3 Pf. 4 Lth. oder
100 Lth. Wenn das Chlor in Verbindung mit dem Natrium
ſeine flüchtige Natur, ſeine ganze zerſtörende Kraft, wenn
540
das Natrium ſeine leichte Entzündbarkeit und Metallähnlich⸗
keit verloren hat, und beide zu dem für Menſchen wie für
Thiere wohlthätigem Kochſalz geworden ſind, dann iſt zwar
an dieſem neu entſtandenen Körper keine Spur mehr der
andren Eigenſchaſten ſeiner beiden Grundſtoffe, wohl aber
noch genau daſſelbe Gewicht zu finden das ſie vor der Ver⸗
bindung hatten. Denn das Chlor wog 60½ das Natrium
39% Prozent und das Gewicht des entſtandenen Salzes iſt
genau die Summe von beiden. So bleibt, bei allem äußern
Wechſel der die Erſcheinungsform der körperlichen Dinge
trifft, jenes Band (der Schwere) welches die Einzelnen
an ein höheres Ganze knüpfet, als ein Zug der all erhal⸗
ae und zuſammenfaßenden Schöpfermacht ſich felber
5 Selbſt auf die wechſelſeitige chemiſche Anziehung der
Grundſtoffe, ſcheint, auf den erſten Blick, die Schwere ſchon
für ſich allein einen gewißen Einfluß zu haben. Wenn ſich,
ſtatt der viel kleineren Maſſe des Mondes in demſelben Ab-
ſtand von der Erde ein Weltkörper wie Venns, der an Maſſe
der Erde gleich käme, befände, dann würden beide ſich un—
gleich ſtärker anziehen als unſer Planet und ſein jetziger Be⸗
gleiter; die Bewegung eines ſolchen großen Mondes würde
viel ſchneller, ſein Umlauf viel kürzer ſeyn als der des jetzi—
gen. Zwei polirte Metallplatten hängen, wenn man ſie auf
einander legt, durch wechſelſeitige Anziehung ungleich kräfti—
ger zuſammen als 2 polirte Holztafeln; ein Felſenberg von
Eiſen würde das ſchwebende Bleiloth viel ſtärker gegen ſich
hinziehen als ein eben ſo großer Fels aus Granit oder aus
Kalkſtein. In derſelben Weiſe könnte man es vielleicht er⸗
klärlich finden wollen daß die ſchweren Metalle, wie Queck⸗
ſilber und Gold, oder Queckſilber und Silber viel ſtärker,
und mithin in größeren Maſſen, (faſt wie 1 zu 1) ſich an⸗
ziehen und chemiſch vereinen als ein ſchwerer Grundſtoff
und ein leichter (Silber und Sauerſtoffgas) dies thun. Bei
genauerer Betrachtung finden wir jedoch bald daß nicht
Eigengewicht allein es ſeyn könne, welches der chemiſchen 2
ziehung ihr Maaß beſtimmt, denn eine Regel, die man etwa
auf dieſe Annahme gründen wollte, würde bei jedem Schritte
auf Ausnahmen ſtoßen. Deßhalb ſcheint uns Gay Luſſacs
vorhin erwähnte Entdeckung nach der ſich einige Grundſtoffe,
deren Gasform dieſes zu meſſen erlaubt, in Verhältnißen
*
541
verbinden, bei denen die räumlichen Größen, die Ausdehnung
und der Umfang von vorzüglicher Bedeutung find, einen and⸗
ven, näher zum Ziele führenden Fingerzeig zu geben. Es
iſt eine gewiße Proportion der Formen und Größen, wor:
auf zuletzt das Maaß der chemiſchen Anziehung ſich gründen
mag; eine Proportion, welche bis auf die unermeßbar klein—
ſten Theile (die 3 Atome) der Stoffe ſich erſtreckt
und mit der Empfänglichkeit für eine polariſche Spannung
verbunden iſt. Wenn, nach der am leichteſt faßlichen Annahme
die Atome von verſchiedenen Größen, und mithin auch von
verſchiedenem Gewicht angenommen; werden, dann iſt ihre che—
miſche Anziehung den © etzen der allgemeinen Anziehung
und Schwere analog. ie unorganiſche Körperwelt iſt
zugleich das Reich der regelmäßigen feſtbeſtimmten Geſtalten,
der vorherrſchenden Macht der Schwere, und der elektromag⸗
netiſchen Polaritäten. Viele Arten der Kryſtalle laſſen
beim ee und mechaniſchen Zertheilen eine Grund»
form ihrer Geſtaltung erkennen, wie der Bleiglanz den Wür⸗
fel, der Kalkſpath den Rhombus; die elektriſche Polariſation
bedarf öfters nur einer leiſen Anregung von außen, um zu er⸗
wachen. Wenn wir in dieſem Gebiet nach allen Seiten hin
der Geſtalt und Größe, ſelbſt der Elementartheile einen vorzüg—
lich hohen Werth beilegen, dann darf dies . auf
Wahrſcheinlichkeit Anſpruch machen.
64. 5 Vermögen der n ft, zu ſchaffen
und zu erhalten.
Wir dürfen uns bei dieſem Abſchnitte kurz faffen, denn
das Meifte was in feinen Kreis gezogen werden könnte
Bene bereits in einigen der ſrüheren Kapitel genau er⸗
brtert. —
Wenn die mütterliche Wärme einer brütenden Henne
die Eier, die man ihr untergelegt, kräftig durchwirkt, dann
regt ſich in jenen, welche den Keim eines noch künftigen
Lebens enthalten, alsbald die Kraft dieſes Lebens, es öffnen
ſich mitten in dem gelblichweißen, durchſichtigen Eiweiß, an
verſchiedenen Punkten Quellen des rothfarbigen Blutes,
deren kleinere Strömungen ſich vereinen und den kreisförmi⸗
gen Lauf um einen noch kaum erkennbaren Mittelpunkt be⸗
ginnen; unter dem Walten des Lebens, das ein Wirken
542
zum feſtbeſtimmten Zwecke ift, geftaltet fich, dem Zwecke des
Lebens entſprechend, der Leib, mit all ſeinen Gliedern.
Wenn dagegen kein ſolcher, der Entwicklung fähiger Keim
im Ei war, dann bewirkt dieſelbe mütterliche Wärme etwas
ganz Andres; es entſteht in den Flüßigkeiten des Eies eine
Auflöſung und Fäulniß, bei welcher alle die Grundſtoffe,
die in ihm enthalten ſind, aus dem bisherigen Verband, in
welchem fie während des friſchen Zuſtandes ſtunden, ſich los-
ſagen, und jenem Zuge zur Vereinigung folgen, der über
die Elemente im Reiche der unorganiſchen Natur herrſchet.
Der Schwefel wie der Phosphor, anſtatt in das Gebilde
einer lebenden 1 einzugehen, vereinen ſich mit
dem Waſſerſtoffgas und bilden jenen gasartigen Stoff, der
dem faulenden Ei ſeinen eigenthümlichen, widerlichen Geruch
giebt; der Stickſtoff, ſtatt in organiſcher Weiſe mit den drei
andren gasartigen Elementen verbunden (nach K. 24 und 26)
den Faſerſtoff des Fleiſches zu bilden, entweicht mit dem
Waſſerſtoffgas vereint, als flüchtiges Laugenſalz (Ammoniak),
welches ſich durch ſeinen ſtechend ſcharfen Geruch verräth, und
ſo löst Alles in Verweſung ſich auf.
Dasſelbe Loos der mehr oder minder ſchleunigen Zer—
ſetzung trifft jeden organiſchen, durch die Kraft des Lebens
gebildeten Körper, wenn der waltende Einfluß der Seele zu
wirken aufhört; die äußre Wärme und Feuchtigkeit, welche
im Dienſte des Lebens ſtehend, ſeinen Entwicklungsgang
befördern, zeigen ſich jetzt der Zerſtörung günſtig. Wie am
Traubenſaft kuͤnſtlich, durch die Anwendung der Siedehitze
die Gährung verhindert oder gehemmt, wie die Milch durch
das Abſieden vor den Säuren geſchützt wird, ſo bewirkt,
in jedem Augenblick, der unausgeſetzte Einfluß der Lebens⸗
kraft ein Fortbeſtehen des organiſchen Vereines der Grund⸗
ſtoffe, der ſeinem ganzen Weſen nach ein andrer iſt als der
mechaniſche, und ſelbſt als der chemiſche. h d
Um hier nur eines Beiſpieles zu erwähnen, ſo ſind im
Waſſer zwei Atome oder Maaßtheile des Waſſerſtoffes mit
einem Atom des Sauerſtoffes durch chemiſche Kraft ver
eint.
Dieſe chemiſche, im Reiche des Unorganiſchen wirkende Kraft
vermag für ſich allein nicht jenes Verhältniß zu ändern;
der menſchlichen Kunſt nur iſt es gelungen, zuweilen, auf
einige Momente, die beiden Grundſtoffe ſo aneinander zu
ketten daß ſie in gleichen Maaßtheilen, ein Atom Sauerſtoff
3
543
mit einem Atom Waſſerſtoff eine Flüßigkeit bildeten, der
man, da ſie verhältnißmäßig reicher an Lebensluft iſt,
vielleicht noch einen wohlthätig bekräftigerenden Einfluß auf
das organiſche Leben zutrauen möchte, als dem gemeinen
Waſſer. Aber dieſes künſtlich erzeugte, an Lebensluft über—
reich gewordne Waſſer iſt ein Gift, welches auf unſre Haut
wie auf die grünen Blätter der Pflanzen entfärbend, ſo wie
zerſtörend einwirkt, und welches bei der leiſeſten Berührung
den gewaltſam, gegen das Geſetz der Natur erzwungenen
Verein verläßt und ſich zerſetzt. |
Die Lebenskraft, welche von der thieriſchen wie von der
N flanzen- Seele ausſtrahlet, kann noch ganz andre, gewal—
tigere Werke vollbringen als die Kunſt unſrer chemiſchen
Werkſtätten, im Bunde mit der Wärme und dem Lichte
ſo wie mit allen elektromagnetiſchen, ihr dienſtbar gewordnen
Kräften. In einer Menge von organiſch zuſammengeſetzten
Stoffen iſt das Sauerſtoffgas nicht nur in gleichem Verhält—
niß der Atome, ſondern in einem überwiegenden oder auch
in einem weit unter der Regel ſtehendem Maaße mit dem
Waſſerſtoffgas vereint, und dieſelben Abweichungen von dem
im Reiche der chemiſchen Anziehungen herrſchenden Geſetz
finden auch in den organiſchen Verbindungen des Kohlenſtof—
fes, mit der Lebensluft oder dem Waſſerſtoffe, ſtatt. Ja ſelbſt
der Stickſtoff, dieſer Republikaner unter den Grundſtoffen,
der ſich die Freiheit feiner Gasform am längſten und hart—
näckigſten zu bewahren weiß, indem er nur in äußerſt we—
nig Fällen eine unorganiſch chemiſche Verbindung mit andren
Grundſtoffen eingehet, muß der Herrſchermacht des organi—
ſchen Lebens nachgehen, und ſich ſummariſche Anreihungen ſei—
ner Atome an die der andren drei Gasarten gefallen laſſen,
welche außer den Gränzen des Reiches der Lebenskraft nie—
mals auftreten könnten. Aber alle dieſe durch die Macht
der bildenden und belebenden Seele bewirkten Verbindungen
ſind nur vorübergehende, nicht wie das Waſſer, oder wie
die Kohlenſäure und Salpeterſäure, in ihren chemiſchen Ver—
bindungen mit den Erden und Alkalien, länger ausdauernde
oder beſtändig bleibende Erſcheinungen; das Leben ſchwindet,
und alsbald kehren die Grundſtoffe wieder in ihre frühere
Form, zu ihren alten Verbindungen zurück.
Wir erinnern hierbei an einige allbekannte Erſcheinun—
gen, deren wir im Vorhergehenden bei mehreren Gelegen—
7
544
heiten gedacht haben. Die Stoffe aus denen der Turmalin
beſtehet haben an ſich ſelber keinen Zug der chemiſchen Ver⸗
wandtſchaft zu der Holzaſche oder zu kleinen Stücklein
Spreu und Papier, ſobald aber jener merkwürdige Stein
durch Erwärmen elektriſch wird dann zieht er alle leichte
Körper ſolcher Art an ſich und läßt ſie, wenn ſeine elek⸗
triſche Kraft ihm entſchwindet wieder fallen. Die Spreu
wie die Aſche ſind durch jenen vorübergehenden Verein nicht
verändert worden, ſie kehren, ihrem vorherigen Zug der
Schwere folgend, wieder zu dem Boden zurück, auf dem ſie
lagen. Die Kraft des Zuſammenhaltes (der Cohäſion und
Adhäſion) bei zwei Eiſenplatten, die man aneinanderlegt,
zeigt ſich von ihrer Form und Größe abhängig. Nicht ſo
jene anziehende Kraft, welche das Eiſen, wenn es zum
Magnet geworden is auf andres Eifen ausübt. Denn,
wie wir oben S. 400 ſahen, ein durch die elektromagnetiſche
Strömung magnetiſch gewordnes, gleichſam beſeeltes Eiſen,
vermag ein Uebergewicht von andrem Eiſen an ſich zu ziehen
und feſt zu halten, welches mit dem Gewicht ſeiner eigenen
Maſſe in gar keinem Verhältniß ſtehet. Sobald aber, bei
dem Aufhören der Strömung, dem Eiſen ſeine dem Leben
ähnliche Kraft entzogen wird, dann läßt es den Stoff, den
es in den Kreis ſeiner Wirkſamkeit hineingenommen, fahren,
dieſer folgt wieder dem alten, inwohnenden Zug der Schwere;
er fällt zum Boden.
In derſelben Weiſe iſt es bei den organiſchen Weſen
die in ihnen wohnende Lebenskraft, welche die Elemente nicht
nach den gewöhnlichen Verhältniſſen ihrer Formen und Ge⸗
—
wichtsmengen vereint, ſondern nach einem neuen, eigenthüm⸗
lichen Geſetz, das nur ſo lange ſeine Gültigkeit hat als das
Leben dauert. Wie ſich in dem Weltengebiet der Firfterne,
bei den Doppelſternen, eine leuchtende Sonne zur andren
geſellt und um ſie ſich bewegt, ſo ſind ſchon, was die vor⸗
Verrſchenden. Beſtandtheile betrifft, in den organif
pern nicht Metalle zum Schwefel oder Sauerſtoff,
Erden geſellt ſondern Luftarten mit Luftarten verbunden;
ſchon die magnetiſche und elektriſche Anziehung der Körper
etwas ganz Andres iſt als die mechaniſche oder ene
8 vielmehr die anziehende und abſtoßende Kraft des
ebens
Wenn man die Formen der marganiſhen Körper
mit
4
545
mit denen der organiſchen vergleicht, dann findet man bei
jenen ohngefähr nur eine ähnliche Zahl und Mannichfaltig⸗
keit der Arten, als Combinationen der Grundſtoffe, daraus
ſie beſtehen, möglich ſind. Hier waltet nach C. 62 der müt⸗
terlich geſtaltende Einfluß vor, denn jede eigentliche, durch
beſondre Form unterſcheidbare Art der Steine hat ihre eigen—
thümliche Zuſammenmiſchung der Grundſtoffe und nur ſelten
bringt ein gleichſam väterlich geſtaltender Einfluß von außen,
bei gleichbleibendem chemiſchen Beſtand, eine Formverwand—
lung hervor. Bei dieſer Verſchiedenheit der Zuſammenſetzung
iſt die Zahl der Familien und Arten in der unorganiſchen
Körperwelt ſehr gering und beläuft ſich nur etwa auf ein
halbes Tauſend. Dagegen iſt die Verſchiedenheit der For—
men, die Zahl der Arten bei den Pflanzen und Thieren ſo
groß, daß man beide zuſammen auf Hunderte von Tauſenden
ſchätzen kann und dabei ſind dieſe mannichfaltigen Formen
alle, in großer Einförmigkeit, vorzugsweiſe nur aus den
vier luftartigen Grundſtoffen auferbaut, zu denen die Bau⸗
meifterin Seele noch etliche wenige andre Grundſtoffe hin-
zunimmt und dann das ganze einfache Material den Zwecken
ihres Lebens entſprechend zuſammenfügt.
Das magnetiſche Eiſen ſcheint ſeine Kraft des Bewegens
aus einer magnetiſchen Strömung zu empfangen, welche
von dem Erdkörper ausgehet; die Seele der organiſchen We⸗
ſen entnimmt die Macht zu den wundervollen Zuſammen⸗
ſetzungen und Geſtaltungen des äußern Stoffes, zum An⸗
ziehen und Abſtoßen deſſelben aus einem allgemeinen Quell
der allerhaltenden Schöpferkraft. Ihrem mütterlichen Walten
iſt am meiſten das unmündige der eigenen, freien Bewegung
noch unfähige Geſchlecht der Säuglinge der irdiſchen Sicht—
barkeit: die Pflanzenwelt hingegeben. Darum liegt vorzugs⸗
weiſe der Natur der Pflanzen ſo wie jenen Theilen des thie⸗
riſchen Körpers, welche, wie die verdauenden Eingeweide
jener Natur verwandt ſind, das Geſchäft der organiſchen
Verbindung und Umbildung der Grundſtoffe ob.
Der Fortbeſtand des Lebens, ſo ſahen wir ſchon im
m? C., gründet ſich auf einen Antrieb, der den Mangel des
Einzelweſens zu der Fülle hinführt, welche ihn zu ergänzen
vermag. Endlos und unermeßbar, wie der Reichthum der
Schöpferkraft, der allen Mangel ausfüllt, alles Verlangen
ſtillt, iſt die Vielheit der Creaturen weng dieſer Sättigung
u:
546 ch
genießt und ihrer fich erfreut. Die Schöpfung ſelber, in der
Mannichfaltigkeit ihrer lebenden Weſen, iſt ein Zeugniß jener
Luſt, welche der Schöpfer an dem Leben und an der Freude
ſeiner Geſchaffenen hat.
65. Die Entwicklungsſtufen des Lebens.
Schon dadurch empfängt die organiſche Leiblichkeit etwas
Bedeutendes vor der unorganiſchen Körperwelt voraus, daß
ſie ihrer chemiſchen Zuſammenſetzung nach vorherrſchend aus
jenen Grundſtoffen erbaut iſt, welche das Reich des Flüßi⸗
gen und Beweglichen: das Gewäſſer und den Luftkreis bil⸗
den. Die Luft wie das Waſſer werden ohne Aufhören von
den leuchtenden und wärmenden Strahlen der Sonne, wie
von den elektriſchen Naturkräften durchwirkt; der Organis⸗
mus, aus der Luft geboren, nimmt ſchon vermöge dieſer
Abſtammung und Gleichartigkeit an den Bewegungen Theil,
die vor Allem der Einfluß des Sonnenlichtes der Atmoſphäre
mittheilt; mit jedem Athemzug, mit jedem Einhauch des
Pflanzenblattes aus der Luft, dringt die äußere Anregung
hinein in das Innre des lebenden Leibes.
Die Kraft durch welche dieſer lebt und ſich entwickelt,
hat in der Richtung ihrer Wirkſamkeit allerdings viel Ver⸗
wandtes mit dem Lichte, aber ſie ſtehet dennoch ungleich
höher als dieſes, denn kein Sonnenftrahl vermag aus Waf-
ſer, Luft und Erde die organiſchen Elemente des Brodes
und des Weines, des Blutes, des Fleiſches und der Nerven
zu bilden und noch weniger vermag derſelbe ein ſich ſelber
bewegendes Weſen hervorzubringen, oder eine Pflanze, wel—
cher die Schöpferkraft beiwohnt: fruchtbaren Saamen, Kei⸗
me von Weſen ihrer Art in ſich zu tragen und aus ſich zu
gebären. Mit dem Eintritt der Seele in das Weſen der
Sichtbarkeit beginnt eine neue Schöpfung, deren Urſprung
nicht, wie bei dem Lichte das aus der Sonne kommt, ein
ſinnlich wahrnehmbarer, ſondern ein unſichtbarer, überſinnli⸗
cher iſt. Unſre Kunſt hat der Lebenskraft ſelbſt ihr al täg⸗
lichſtes, offenkundigſtes Geheimniß, das Hervorbringen der
organiſchen Elemente aus unorganiſchen Grundſtoffen noch
nicht abgelernt; unſer Verſtand ſpüret vergeblich dem W
der Meiſterin ſelber, die das Alles thut, der Seele
wir können dieſem Weſen das Inſtrument nehmen, auf
—
gr 347
es ſich vernehmen läßet, können feinen ſichtbaren Leib durch leibli—
che Kraft vernichten, an ihm ſelber jedoch vermögen wir Nichts
zu ſchaffen noch zu ändern. Wie ein Kind, das den Wiederz
ſchein des Lichtſtrahles mit der Hand zu haſchen ſucht,
der aus einem hin und her bewegten Spiegel an die Wand
fällt, hat ſich die Naturweisheit aller Zeiten umſonſt bemüht,
die Seele in ihrem flüchtigen Laufe feſt zu halten und zur
unmittelbaren Anſchauung zu bringen.
Wenn wir auf dem Wege unſrer Betrachtung das Leben
von den niederen Stufen ſeiner Entwicklung aufwärts zu
den höheren und zuletzt zu den höchſten in der Natur des
Menſchen begleiten, dann erſcheint uns die Seele, je weiter
hinan, deſto weniger im Hauſe der irdiſchen Körperlichkeit
einheimiſch und feſtſtehend; ſie verhält ſich zu dieſem immer mehr
nur wie ein vorübergehender Gaſt und Fremdling, der ſeine
eigentliche Heimath in einem höheren Reiche des Seyns wie
des Bewegens hat. Namentlich wird die Dauer des Lebens
und der Widerſtand, den die Lebenskraft ihrer Trennung von
dem Leibe entgegen ſetzt, von Stufe zu Stufe geringer.
Jener mächtig große indiſche Feigenbaum (Banianenbaum)
an den Ufern der Nerbudda in Indien, deſſen rieſenhaft
weit ausgebreiteten, immer wieder zum Boden herabgeneigten
und in dieſem Wurzeln ſchlagenden Zweige, wie man ſagt,
einer Verſammlung von 7000 Pilgrimen Schatten zu geben
vermöchten, kann allerdings, nach der Behauptung eines
neueren, engliſchen Reiſenden, derſelbe ſeyn, der nach des
Griechen Nearchus Bericht, hier an der nemlichen Stelle
ſchon zu Alexanders des Macedoniers Zeiten ein Gegenſtand
der Bewunderung war. Und über jenes mehr denn zweitau—
ſend jährige Lebensalter eines Baumes ſcheint das noch
hinauszureichen, welches man, ihrem überaus langſamen
Wachsthume nach, den rieſenhaft dicken Stämmen der alten
Adanſonien oder Affenbrodbäume in Afrika zuſchreiben muß.
Noch immer bringt die große Platane auf Cos (Stanchio)
in jedem Jahr ihre Blätter, reift ihre Saamen, eben ſo
friſch als ſie dies, einer nicht ganz unwahrſcheinlichen Sage
nach, ſchon zu Hippokrates Zeiten gethan hat; in der
Nachbarſchaft mancher unſrer älteſten, dickſtämmigen Linden
hat ſich das Geſchlecht der umwohnenden Menſchen vielleicht
mehr denn dreißigmal verjüngt, Tauſende ſind geboren wor—
den und haben den Lauf des Lebens bis zum Grabe in Leid
35
*
*
548
und Freud zurückgelegt, der Baum aber, den die längſt ver⸗
geßenen Urväter pflanzten, behauptet noch immer, in friſcher
x
Kraft feine Stelle. So innig hat ſich die Seele, welche auf dieſen
ſcheinbar niedren Stufen der organiſchen Entwicklung waltet
mit der bewegungsloſen Maſſe der planetariſchen Köoͤrperlich⸗
keit verwebt, daß ſie an dieſem Wohnhaus feſthält, faft
wie die kryſtalliniſche Kraft, die den Stein geſtaltet hat, an
den Grundſtoffen des Steines; der Baum wetteifert zum
Theil an Ausdauer mit dem Sandſteinfelſen, in dem er ſeine
Wurzeln ſchlug und ſetzt hierbei, aus eigener ihm inwohnend
verliehener Kraft, in augenfälliger Weiſe das Werk der
Schöpfung fort, als deſſen ſtarrer Zeuge der Sandſteinfelſen
daſtehet. Auch bei den niederſten Formen des Thierreiches
iſt die Ausdauer der Lebenskraft faſt unbeſiegbar.
Von ganz andrer Art iſt das Verhältniß auf den höhe⸗
ren Entwicklungsſtufen des Thierreiches. Dieſes wurzelt
nicht wie das Pflanzenreich unmittelbar in den Elementen
der planetariſchen Maſſe, ſondern es nimmt zunächſt ſeinen
äußren Fortbeſtand aus der unter ihm ſtehenden Stufe des
organiſchen Daſeyns: aus dem Pflanzenreich und ſelbſt aus
der ihm näher verwandten thieriſchen Leiblichkeit. Es bedarf
zu ſeiner Ernährung der ſchon organiſch gebildeten Elemente,
und mit dieſem Boden, der in ſich ſelber einer beſtändigen
Umwandlung und Zerſetzung unterworfen iſt, theilt es das
Loos der Wandelbarkeit; es iſt, ſeiner Lebenskraft nach von
ungleich mindrer Ausdauer und Unzerſtörbarkeit als der in⸗
diſche Feigenbaum oder ſelbſt die weichholzige Linde. Aber
ein Neues bereitet hiermit zugleich ſich vor; der Natur des
vollkommenen Thieres ſind andre Wurzeln verliehen als der
Pflanze; Wurzeln, welche nicht wie bei dem Baume nach
unten hin ſich ausſtrecken und im Boden der planetariſchen
Leiblichkeit ſich befeſtigen, ſondern die nach oben, in ein
Reich der höheren Naturkräfte ſich ausbreiten und in dieſem
ihren Anhalt finden. Dieſes ſind die Sinnorgane, welche
die Eindrücke des Lichtes und der Beleuchtung, der Schwin⸗
gungen der mechaniſch ſo wie der elektromagnetiſch 9
miſch bewegten Körper vernehmen. 1
Von hier an zeigt ſich uns die Schöpferkraft der Seele 79
noch in einem ganz andren, höheren Sinne als in dem Kreiſe
des Pflanzenlebens und in dem Werke der bloß leibliche
Geſtaltungen. Ein Wunder das unſre Kunſt nicht nachahmen, 4
K
549
unſer Menſchenwitz nicht ergründen kann, ſind allerdings
ſchon jene Verwandlungen der planetariſchen Elemente in
den Saft der Traube, in das Oel des Oelbaums oder in
das Mehl des Getraidekornes, von denen wir öfter ſprachen.
Ein Wunder iſt das zum gemeinſamen Zweck des Lebens,
Er harmoniſch ſchön vereinte Gewebe der Gefäße, der Faſern,
5 08
8
der athmenden Blätter oder Lungen ſo wie das Hervorbringen
der Lebenskeime: der fruchtbaren Saamen eines künftigen
Geſchlechtes. Aber bei all dieſen Werken der Geſtaltung
errſcheint dennoch die Seele nur auf den kleinen Kreis ihrer
eignen Verleiblichung beſchränkt; der Stoff den fie von außen
bherbeiführt und zu ihren Schöpfungen verwendet dienet
nur dazu um den Bau einer gewiſſen Form zu vollführen;
4 g
dieſe ganze Lebensthätigkeit bleibt in der Richtung ſo wie in
dem Maaß jener Bewegung befangen, welche ihr bei der
Erzeugung mitgetheilt war; es iſt der Antrieb den der
Urkeim dieſer Art des lebendigen Weſens bei ſeinem an—
fänglichen Entſtehen von dem Schöpfer empfieng, welcher
nun als ſelbſtſtändige Schöpferkraft von Zeugung zu Zeugung ſich
fortpflanzt. Einen Anlauf zu neuen Wundern der inwoh—
nenden Schöpferkraft nimmt jedoch die Seele in dem mit
vollkommneren Sinnorganen begabten Thier, und vor Allem in
der Natur des Menſchen. Sie empfängt hier das Vermögen
auch an andren Thaten des Schöpfers als an jener welche
ihr ſelber den Leib und das Leben gab, einen ſelbſtkräftigen
Antheil zu nehmen. Wenn ich mich mitten im Dunkel der
Nacht an den Eindruck erinnre, den eine von der Sonne
hellbeleuchtete Landſchaft oder ein ſichtbarer Gegenſtand, der
meine ganze Theilnahme erregte, auf meine Augen machte,
wie wäre mir das anders möglich als dadurch, daß meine
eigne Seele die Welt der Dinge deren ſie gedenkt, ſich nach—
erſchaffet und ein Licht dazu, das, gleich jenem der Sonne,
dieſe Welt erleuchtet.
Mit dem Vermögen des Wahrnehmens und des Erken—
nens der Werke und Thaten des Schöpfers iſt der Menſchen—
ſeele zugleich die Macht verliehen dieſe Werke in dem Kreiſe
1 2 inneren Wirkſamkeit nachzuſchaffen, jene Thaten nach
ihrem Maaße nachzuthun. Die Welt unſrer Erinnerungen
1
und Erkenntniſſe erſcheint freilich gegen die Außenwelt, deren
Formen und Bewegungen ſie umfaßet, nur wie ein Abglanz
im Spiegel, gegen die wirkliche Geſtalt, die vor dem Spie—
550
gel ſtehet; aber ſie iſt dennoch eine ſelbſtſtändig bleibende
Welt, von ungleich längerer und feſterer Lebensdauer als der
indiſche Feigenbaum an dem Ufer der Nerbudda oder die
Zwiebel die man ganz vertrocknet aus der Hand einer ägyp⸗
tiſchen Mumie nahm, und die im befeuchteten Boden nach
mehreren Jahrtauſenden noch Wurzeln, Blätter und Blüthen
trieb. Von all den Elementen, aus denen ſich unſre Seele
ihren Leib erſchaffet, bleibt auch nicht eines im Verlauf der
Tage oder der Jahre unſres Lebens unverändert; es kommt
neuer Nahrungsſtoff in den Leib herein, wird unter dem Ein⸗
fluß der Lebenskraft zu neuem Blut, zu neuem Fleiſch, das
alte wird aufgelöst und aus dem Leibe entfernt; ſelbſt der
feſte Knochen iſt von dieſer raſtlos fortgehenden Verwand⸗
lung und Erneuerung nicht ausgeſchloſſen: es find und blei⸗
ben zwar dieſelben Augen durch die wir früher ſahen, dieſelben
Hände, durch die wir früher wirkten, der Stoff aber aus
dem ſie leiblich gebildet ſind, iſt nach kurzer Zeit von dem
neuen Stoff verdrängt worden. Dagegen iſt der Stoff unſrer
Erinnerungen derſelbe geblieben; dieſe altern und welken
nicht mit den Gliedern zugleich dahin, ſondern in einer ſehr
beachtenswerthen Weiſe find die Erinnerungen aus der Kind-
heit und friſchen Jugendzeit in der Seele des Greiſes gerade
die lebendigſten und kräftigſten. Und das Wunder dieſer
innren Schöpfung geht noch viel weiter; in der Welt unſrer
Erinnerungen und Gedanken ſtehen Geſchöpfe und Weſen
da, welche älter ſind, als die hohen ägyptiſchen Pyramiden,
älter denn die dickſtämmigen Adanſonien am Senegal, und
welche unverändert als dieſelben werden ſtehen bleiben, wenn
jene Pyramiden und Bäume nicht mehr ſind. Das Wirken
ſolcher Wunderwerke wird unſrem Geiſte durch die ke
möglich. In Schrift und Wort vernehmen wir die Kunde
von dem Leben und Thaten der älteſten Väter unſres Ge⸗
ſchlechts, von dem Thun und den Schickſalen der Könige,
welche die Pyramiden bauten; was wir von den Thaten
eines Alexander des Macedoniers, eines Kaiſer Augu
leſen und hören, das nimmt in unſrer Seele die feſte C
ſtalt der Vorſtellungen und Erinnerungen an, es wird ur
bleibt da fo friſch als ſey es erſt heute oder g vor
ren Augen geſchehen; das Alter der Jahrtauſer
Nichts anhaben; Achill iſt da ein heldenkräf
Aſtyanax ein blühender Knabe geblieben, wi
40
4
.
551
zu den Zeiten der Kämpfe vor Trojas Mauern waren. Und
nicht nur das menſchlich Irdiſche, nicht nur das in ſeiner
Leiblichkeit Vergängliche bildet den Beſtand der innren, gei—
fſtigen Schöpfung unſrer Vorſtellungen und Gedanken, dieſe
Schöpfung umfaſſet noch ein ganz andres, unendlich höheres
Reich des Seyns und Weſens: es umfaſſet die Erkenntniß
des Schöpfers und ſeiner Thaten der Ewigkeit ſelber. In
dem Vermögen unſres Geiſtes, dieſe Gedanken der Ewigkeit
i denken, Gott nach dem Maaße unſres kreatürlichen Ver⸗
tändniſſes zu erkennen, liegt die ſicherſte, gewiſſeſte Bürg⸗
ſchaft für eine Fortdauer unſres Weſens auch nach dem To⸗
de des Leibes; für ein ewiges Fortleben des Geiſtes. Denn
nur das nach ſeinem Maaße Gleichartige vermag das Gleich—
artige zu erkennen; wäre in unſren Sehnerven nicht ſelbſt
eine Art von Quell des Lichtes, dann könnten wir kein Licht
ſehen; wäre unſer denkender Geiſt nicht ſelbſt von ewiger,
göttlicher Natur, dann würde er Nichts von Gott und Ewig—
keit wiſſen und erfaſſen. So finden wir, daß zwar die
Seele, auf den höheren Entwicklungsſtufen ihrer Verleibli—
chung, von der Pflanze und dem niedern Thiere an bis zur
Form des Menſchen, innerhalb der Welt der planetariſchen
Körperwelt immer mehr nur als ein ſchnell vorübereilender
Fremdling und Gaſt erſcheine; daß die Banden, durch welche
ſie mit ihrem Leibe vereint iſt, lockerer, das Leben in der
Zeit wandelbarer und vergänglicher werde, daß ſie aber zu—
gleich mit dem vergänglichen Leib aus Staub noch einen
andren Leib: das Reich ihrer Erkenntniſſe empfangen habe,
welcher nicht aus irdiſch vergänglichem, ſondern aus unver—
gänglichem Stoffe gebildet iſt. Der ſinnlich wahrnehmbare
Leib mag dann immer nach kurzer Lebenszeit verweſen, bleibt
uns doch ein dem jetzigen Auge unſichtbarer Leib der Ewigkeit.
Das Verhältniß der Seele! zu dieſem höheren Leib ihrer
Erkenntniſſe, ihrer Beſtrebungen, ihrer Neigungen und Hoff—
nungen iſt ein treues Abbild des Verhältniſſes in welchem
der Schöpfer ſelber zu den Werken und Thaten ſeiner ge—
ſchaffenen Welt und ihrem Weſen ſtehet. Die Vorſtellungen
und Erinnerungen, die Gedanken und Erkenntniſſe, welche
die innre Welt unſres Geiſtes bilden, ſind nicht der Geiſt
ſelber: ſie ſind das Werk einer Schöpfung, zu welchem er
zwar die Anregung und den Stoff von außen entnahm, die
aber dennoch durch ſeine Kraft ihre Geſtaltung und innre
552 *
Anordnung empfieng. Derſelbe erkennende Geiſt der dieſe
ihm eigenthümliche Schöpfung hervorruft, wann und wie er
will: jetzt die Erinnrung an dieſes, dann an jenes vormals
Empfundene oder Erlebte, hält fie auch zuſammen; er legt
in jeden Gedanken, in jedes Wort die Kraft Ruch e
Samen bei ſich zu tragen, Seinesgleichenzu erzeugen.
Ueber der Welt des Geiſtigen wie des Leiblichen waltet
und herrſchet ein Gott und Schöpfer aller Dinge. Er, der
ewige Anfang alles Seyns bedurfte und bedarf keiner Anre-
gung von außen, keines Stoffes zu den Werken und Tha⸗
ten ſeiner Schöpfung; ſeine Gedanten waren und ſind Wirk⸗
lichkeiten, jeder Gedanke ward zu einem Weſen und Geſchöpf.
Aber dieſe herrliche Schöpfung der Sichtbarkeit iſt nicht, wie
das Heidenthum in ſeiner Erblindung es lehrte, der Schö⸗
pfer ſelber, ſondern alle die Heere des Himmels, alle die
ſonnenartig leuchtenden Sterne welche mein Auge ſieht, ver⸗
halten ſich zu Ihm, unſrem Gott und Herrn, nur ſo, wie
ſich die Vorſtellung von einer in hundertfältigem Schmuck
der Blumen prangenden Alpenwieſe, die unſer Auge ſahe,
und welche ſeitdem, durch die Erinnerung, zu einem Theil
der innren Schöpfung unſrer Seele geworden iſt, zu dieſer
ſelber, zu der Seele verhält. Nicht aber dieſe unzählbaren
Sternenheere ſind die erhabenſten zur Wirklichkeit und zur
That gewordenen Gedanken und Willensäuſſerungen unſres
Gottes, ſondern höher noch ſind jene Thaten des Erbarmens
und der Liebe, in denen der Schöpfer zu dem kleinen Ge—
ſchöpf ſeiner Hand, zu dem Menſchen, ſich herabläßt, ihm,
wie ein Freund dem Freunde, ſich ſelber zu erkennen giebt,
und wie ein Liebender des Geliebten, ja wie eine Mutter
ihres Säuglinges und mehr noch, des armen wee
ſich annimmt.
Der Antrieb zum Erkennen liegt darum ſo tief gewur⸗
zelt, und iſt ſo mächtig ſtark in unſrem Geiſte, weil er uns
zuletzt, wenn er nur vorwärts ſeines Weges geht, ſelbſt
nach manchen Abirrungen, zu Dem hinführet, Deffen Grfen-
nen, auch mit dem ſchwächſten feiner Strahlen, wie das
Sonnenlicht die Wärme, die Liebe zu Ihm, dem Erkannten,
wecket. Und nur in dieſer Liebe iſt das rechte Leben 1 “4
ligkeit und . EN
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