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SPIEGEL- FREUND-
SCHAFT ■ SPIELE
STUDIEN VON ALFRED
WALTER HEYMEL
INSEL-VERLAG • LEIPZIG ■ MCMVin
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SPIEGEL
Hugo von Hqfmannslhal
tugteigntt
),n 123.1 1* Google
),n i2 a .i bv Google
q - » - *t
DIE drei Freunde, Friedrich, Wal-
ter and Ernst, hatten einen an-
regenden und angenehmen Tag ver-
lebt und sich jeder nach seiner Art
geistig und körperlich ausgearbeitet.
Friedrich, ein junger Maler, hatte
in der Akademie gezeichnet und war
dann um die Mittagszeit mit Walter,
der eben aus der Universität kam,
unter den vom Schnee beschwerten
Bäumen des Parkes hindurch auf
die Felder geritten. Beide hatten
dort in der frischen Luft über die
weiße Ebene hin, auf der die Mittags-
sonne glitzerte und Roß und Reiter
<; die lustigsten Schatten werfen ließ,
ihre Pferde getummelt und nun
waren sie, für den ganzen Tag er-
frischt in die Stadt zurückgekehrt.
Bei ihrem Freunde Ernst, 'einem
jungen Schriftsteller, hatten sie das
Mittagsessen eingenommen, eine
),n 123.1 1* Google
Schlittenpartie auf das Land hinaus
gemacht, gelacht und gescherzt, die
Pferde bewundert, und sich an der
Größe der winterlichen Natur er-
freut und erhoben.
Nachmittags waren dann alle drei
in eine Ausstellung japanischer Holz-
schnitte gegangen und hatten ver-
sucht, sich in diese fremde, leichte,
gefällige Welt einzuleben und sich
die Gesetze und die Reize dieser für
sie neuen, seltsam anziehenden und
sicheren Kunst in Gesprächen klar
zu machen.
So war es Abend geworden, und
sie beschlossen, in ein Konzert zu
gehen, da sie in der Zeitung das
auserlesene und seltene Programm
lasen, das man diesen Abend spielen
würde. Es war lauter alte Musik,
der graziöse Rameau, der heitere
freie Mozart, der tiefe und ernste
),n 123.1 1* Google
Bach, und vor allem der erhabene
und majestätische Gluck. Kein
Wunder, daß die drei Freunde in
der gehobensten Stimmung den
Konzertsaal verließen.
Beim Eingang trafen sie auf ihren
gemeinsamen Freund Hermann, der
sie einlud, bei ihm zu Abend zu
essen. Die Eingeladenen gingen
gerne zu ihm. Das Abendbrot war
schnell verzehrt, und die drei Gäste
erzählten ihrem Freunde von den Er*
lebnissen und Eindrücken des Tages.
Als Hermann bedauerte, nicht an
der Schlittenfahrt teilgenommen zn
haben, fragten die andern ihn, wie
er denn den Tag verbracht habe,
und er antwortete ihnen in einem
Ton, der durch einen tiefen Ernst
den Zuhörern zu Herzen gehen
mußte: »Mit dem Andenken an eine
Verstorbene.«
),n 123.1 1* Google
Als man mit Obst und Dessert
fertig geworden war, begab man
sich an das Kaminfeuer einer ge-
räumigen Halle, die dadurch von
einer eigentümlichen geheimnis-
vollen Stimmung war, daß hohe,
etwas matte Spiegel, die nur an ein-
zelnen Stellen von dunkelbraunen
Nußbaumtäfelungen unterbrochen
wurden, ihre Wände bekleideten.
Da die Spiegel sich gegenüber stan-
den, erweiterten sie durch unend-
liche Widerbilder die Halle zu
einem gewaltigen gläsernen Palast
von Spiegelsälen und bildeten so
für die Phantasie einen seltsamen
und wundervollen Irrgarten, in dem
sie sich in abendlichen Träumereien
ergehen mochte.
Es standen in der Halle große,
steife, schwarze Ledersofas und
Ledersessel, von denen die Freunde
),n 123.1 1* Google
vier in die Nähe des Kamins ruck-
ten. Der Diener stellte auf einen
der kleinen runden Tische, die zahl-
reich zur Bequemlichkeit der Rau-
chenden und Lesenden umher-
standen, einen Punsch, schenkte ein
und wurde dann zu Bett geschickt.
Seit der kurzen Andeutung Her-
manns hatte sich die Unterhaltung
nur über gleichgültige Dinge hin-
bewegt, und erst, als das Licht aus-
gedreht war, und nur das offene
Feuer die Halle erleuchtete, fing das
Gespräch an, sich zu vertiefen. Der
Widerschein der Flammen überzog
die Möbel und Täfelungen, die
braungelben Türvorhänge, die dun-
keln Spiegelflächen, in denen sich
hoch oben als einzige breite Hellig-
keit die weiße Decke des Saales
abbildete, die Gesichter, Hände und
auch die weißen Hemdausschnitte
),n 123.1 1* Google
der Herren mit einem weichen gol-
denen Ton.
Ernst bemerkte: »Es ist etwas
Seltsames um einen Sterbenden. Ich
habe erst einmal einen Menschen
in seiner letzten Stunde gesehen,
und muß sagen, daß der Augenblick
seines Todes den Eindruck einer
großen, fast berückenden Harmonie
gab, und wenn es euch nicht lang-
weilt, so will ich die Begebenheit
erzählen.«
Man bat ihn darum und er be-
gann: »Mein Freund Christoph und
ich waren noch auf dem Gym-
nasium. Er war der Liebling seiner
Lehrer und Mitschüler, denn er
zahlte zu jenen Begabten, die, ohne
daß sie zu Hause viel arbeiten, die
Besten ihrer Klasse sind. Wir ge-
hörten damals beide einem Sport-
klub an, und nicht nur beim Fuß
.Google
ball war Christoph der vollendetste
Kapitän der Jugendabteilung, son-
dern auch bei den jährlich wieder-
kehrenden Wettkämpfen errang er
beim Schnell- und Hürdenlauf, beim
Ringen und Speerwerfen, beim Rad-
polo und Hockey immer die ersten
Preise. Am Abend solcher Festtage
sah mein Freund wie ein Premier-
minister in Gala aus; soviel Schleifen
und Medaillen zierten seine Brust.
Wie ihn alle kleinen Mädchen lieb-
ten, weil er gut tanzte, ihnen für
sein bescheidenes Taschengeld Blu-
men und Schokolade kaufte und
vor allem nie eine Gelegenheit ver-
säumte, sie beim Nachhausebringen
an winterlich dunkeln Nachmittagen
zu küssen, so verehrten ihn seine
Freunde und sahen wie zu einem
unerreichbaren Ideal zu ihm empor.
Ein leidenschaftlicher Reiter, machte
),n 123.1 1* Google
er nun eines Tages einen Ausritt
über Land. Durch einen gewal-
tigen Gewinerregen, der ihn bis
auf die Haut durchnäßt, zieht er
sich eine Lungenentzündung zu,
die mit so unheimlicher Vehemenz
auftritt, daß man ihn schon nach
drei Tagen aufgeben muß. Als
seinem besten Freunde wurde es
mir erlaubt, ihn noch einmal zu
sehen. Er lag in dem weißen Bett,
fiebernd, die goldigen Haare wirr in
der S tirne und seine Augen brannten
in einem Feuer, wie ich es sonst
an ihm nur bei einem Wettkampfe
gesehen habe. Da hob er sich aus
den Kissen empor und rief, ohne
auf mich zu achten: Der Gaul geht
durchl Und da er wohl fühlte, es
würde nun etwas passieren, das er
nicht mehr aufzuhalten vermöchte,
rief er sich fliegenden Atems zu:
),n 123.1 1* Google
Sitzen, sitzen, nnd dann im Moment
des höchsten Kampfes: Schenkel
ran! Sein Gesicht überflog plötz-
lich eine erschreckende Mattigkeit
nnd wurde schneeweiß. Er zuckte
wie verzichtend mit den Achseln,
sank in die Kissen zurück und sagte
leise: Nun liegt er unten. Dann
war alles vorbei. Wir haben noch
lange viel von ihm und seiner
Tüchtigkeit gesprochen, so daß er
schon jetzt, nach fünf Jahren, eine
Art mythische Figur für die Mit-
glieder des Vereins, die ihn nie ge-
sehen haben, geworden ist. Sein
Bild hängt in der Bretterbude, die
den Spielenden als Garderobe dient,
and wird jedem Neuaufgenommenen
mit der Mahnung gezeigt, dem Dar-
gestellten nachzueifern. Ist dies nicht
anch eine Art Unsterblichkeit?«
Der jüngste im Kreise, Walter,
^Google
ein frischer und natürlicher Mensch,
der oft ohne Überlegung sprach und
deshalb von den drei anderen, den
Weiseren und Nachdenklicheren ge-
neckt wurde, war ganz begeistert
von der Erzählung und rief, als sie
beendet war: »Welch ein herr-
licher Tod; wie beneidenswert,
in der Vorstellung oder gar in
der Ausübung seiner Lieblingsbe-
schäftigung zu sterben. Wie wun-
dervoll denke ich es mir, bei
einer Hetzjagd hinter lebendem
Wild sich zu Tode zu stürzen.
Das muß so schön sein, wie in den
Armen eines Mädchens sein Leben
auszuhauchen. <
Friedrieb, und Ernst lachten, und
Walter fühlte, daß er, wenn nicht
eine Dummheit, doch etwa Komi-
sches gesagt haben mußte, doch
stimmte er gutmütig mit ein und
16
),n 123.1 1* Google
sagte: »Lieblingsbeschäftigung ging
nur auf das Jagdreiten.«
Alle drei stimmten in das Ge-
lächter ein und schienen fast die
Todesschauer, die ihnen die Er-
zählung Emsts eingeflößt hatte, ver-
gessen zu haben.
Hennann jedoch verriet eine
plötzliche heftige Erregung. Er
fühlte sich augenscheinlich gedrängt,
den Freunden gegenüber von dem
zu sprechen, womit er sich den
ganzen Tag allein getragen hatte.
Wird es doch jungen Leuten
immer schwer, nicht von dem zu
reden, was sie gerade bedrängt
und bedrückt, was sie eben erlebt
haben oder bald zu tun gedenken;
und so durchbrach denn auch bei
Hermann eine Wortflm, genährt
von Erinnerung, Trauer, Dank-
barkeit und Andenken, die Schran-
17
I :: viyCoOylc
ken der Zurückhaltung und des
Schweigens.
Die anderen hatten, im Gefühl
einer zurückgehaltenen Neugierde,
längst auf diesen Ausbruch ge-
wartet, weil sie wußten, daß er doch
von selbst anfangen würde, sein
Herz auszuschütten und sich damit
tröstlich zu erleichtern.
Er erzählte mit halber Stimme
und beinahe andächtig: »Eine der
schönsten Erinnerungen meines Le-
bens ist die an ein Rosenfest, das
ich vor anderthalb Jahren feierte,
Ernst, du warst dabei und mußt
dir's nun gefallen lassen, daß ich den
anderen davon spreche. Ich hatte
Antonie eben kennen gelernt, und
war mit meinen zwanzig Jahren über
die Ohren verliebt, auch verstanden
wir uns gut, und so lief ich denn
Sturm mit Blumen und kleinen
18
),n 123.1 1* Google
Aufmerksamkeiten. Da sie mir ver-
sprochen hatte, mit zwei Freun-
dinnen bei mir zu Nacht zu essen,
gingen Ernst und ich daran, mein
kleines Speisezimmer, in dem da-
mals auch mein Flügel stand, recht
festlich herzurichten. Die Wachs-
kerzen in den Wand- und Tisch-
leochtern und in dem kristallenen
Luster erhellten alles mit ihrem
sanften, rußigen Licht und ver-
mischten ihren zarten Rauch mit
dem Duft ungezählter Rosen, der
sich uns weich um die Sinne legte.
Dicht unter der Decke lief eine
Girlande und der ganze Kron-
leuchter war mit purpurroten Rosen
geschmückt, wahrend auf dem
schwarzen Flügel und in den Ecken
des Zimmers in hohen Glasern lang-
gestielte La France, boskettartig ge-
häuft, standen. An den Tür- und
19
l.|.::l:,G()ÜyIc
Fenstervorhängen waren einzelne
Rosen, mit der Blüte nach unten,
festgesteckt, als ob sie wie im Regen
niederfielen. Auf der runden Tafel
lagen Marechal Niel und vereinig-
ten ihr sanftes Gelb und Grün mit
dem matten Weiß des Tischtuches
und dem Glänze des Silbers und
Kristalles. Wenn sich Antoniens
und meine Blicke begegneten, so
leuchteten sie auf. Auf dich, Ernst,
war ich damals allerdings fast eifer-
süchtig. Du spieltest prachtvoll
Klavier und wir glaubten alle an
dein Talent, während einige Berufs-
musiker behaupteten, du spieltest
weichlich und nachempfunden. Ich
sehe dich noch an jenem Abend
vor mir. Du warst beim Spiel zu-
sammengesunken und phantasier-
test mit traurigem Gesichte Über
liebliche alte Melodien. Antonie
p,n 123.1 1* Google
sagte zu mir: >Du, dein Freund
macht uns noch verliebter, als wir
schon sind;« und sie wollte mich
küssen. Ich fand das gar nicht,
wehrte ab und vermochte ihr den
Kuß nicht zurückzugeben. Es war
mir, als führte man sie mir fort, in
Säle, zu denen ich keine Schlüssel
hatte, auf Berge, die ich nicht er-
steigen konnte. Ich konnte meine
Geliebte nicht mehr küssen. Du
spieltest leise und die Töne schienen
unter deinen Fingern zu schreien,
du schlugst laut die Tasten und
ich glaubte nichts zu vernehmen.
Liebe, Rosenduft, Wein und auch
Eifersucht hatten mich wie wirr
gemacht. Da hörtest du auf, klapp-
test den schweren Flügeldeckel zu
und fordertest ein Glas Sekt. Ich
schenkte dir ein, küßte Antonie
und glaubte auch für einen Augen-
),n 123.1 1* Google
blick, daß du doch nicht gut
spieltest.«
Ernst lächelte ein wenig befremdet
über die genauen Einzelheiten, deren
Hermann sich noch erinnere und
deutete an, das seien unaussprech-
liche Gefühle und unbestimmte
Ahnungen, wie sie ganz plötzlich
zwischen nahestehenden Menschen
entstanden, und deren innere Ober-
windung als ein Prüfstein für wirk-
liche Freundschaft anzusehen wäre.
Er hätte damals nichts von der
leichten seelischen Verstimmung des
Freundes gemerkt und später immer
an das Rosenfest wie an einen ganz
harmonischen, durch nichts ge-
störten Abend gern zurückgedacht.
Hermann pflichtete ihm bei und
sagte: »So geht es auch mir, und
die kurze Trübung meines Unter-
gefühls hatte wohl weniger ihren
),n 123.1 1* Google
Grund in deinem Spiel, als in mei-
ner unglücklichen Veranlagung zur
l'amour triste, zur leidenden Eifer-
sucht und Kleinmütigkeit, woraus
bei mir häufig ein gewisser Mangel
an Selbstvertrauen entspringt, der
mich gerade in gesteigerten Glücks-
momenten befallt und mich arg-
wöhnisch und selbstquälerisch
macht. Doch das geht schnell vor-
über, denn ich versuche mich mög-
lichst wenig hierin gehen zu lassen.
Nie aber werde ich den rührenden
Eindruck vergessen, den ich hatte,
als ich am nächsten Morgen in das
Zimmer trat, denn der unbeschreib-
lich süße und wehmütige Geruch
verwelkender Rosen betäubte mich
fast, und als ich einige Marechal
Niel, die noch auf dem Tische
lagen, in die Hände nahm, ließen
sie die schweren Köpfe hängen, als
),n 123.1 1* Google
wären sie im Sterben. Wie die
Blumen mir dann langsam and
kühl entglitten and teilweise ent-
blättert am Boden lagen, da fühlte
ich, wie nahe uns der Tod ist.
Antonie ist nun auch gestorben.«
Das Feuer im Kamin war zu-
sammengesunken, als Hermann ge-
endet hatte. Nur noch die Reste
glühten wie edles Metall und
ließen, wenn dann und wann noch
eine kleine, kärgliche Flamme aus
dem sterbenden Feuer aufzuckte,
im Hintergrunde der Halle rätsel-
hafte Schatten entstehen und ver-
gehen.
Walter trat an den Kamin und
entfachte das Feuer, indem er neue
Holzscheite darauf legte.
Hermann schenkte, sobald er
geendet hatte, mit etwas hastigem
Eifer die Gläser von neuem voll.
.Google
Die Freunde sprachen mit vieler
Liebe und Verehrung von der Ver-
storbenen, die allen ein guter und
fröhlicher Kamerad und eine kluge
Freundin gewesen war, als sie
plötzlich bemerkten, daß Friedrich
eingeschlafen war und heftig, wie
unter Beklemmungen, atmete.
Da Hermann ihn zu wecken ver-
suchte, fuhr er aus seinen Träumen
empor und machte einen so ver-
störten Eindruck, daß Walter ihn
lachend neckte, indem er bemerkte :
»Mußt du denn immer schlafen,
in der Kirche, im Konzert, auf der
Akademie, im Theater, auf dem
Pferd, oder wo du dich sonst auch
befinden magst? Du schläfst noch
einmal ein, wachst aus Faulheit
nicht wieder auf, und wir müssen
die Begräbniskosten bezahlen; das
könnte dir so passen.«
2S
),n 123.1 1* Google
Friedrich sah ihn fest verweisend
an und erwiderte: »Ich habe nicht
geschlafen. <
Als er darauf prüfend gefragt
wurde, wovon man sich denn unter-
halten hätte, antwortete er: »Vom
Tode. < Einer der Freunde meinte :
»Das hat er so im Traume gehört«
Aber Friedrich sagte bestimmt: »Ich
habe nicht geträumt«, und dabei
schaute er sich so scheu um, daß
die Freunde heftig erschraken und
Hermann auf ihn zuging, ihn an-
faßte, sich dicht zu ihm setzte, um
den Grund seines eigentümlichen
Benehmens zu erfragen und ihn
zu beruhigen mit der Ermahnung,
er solle sich, wenn er einmal nervös
aufgeregt sei, nicht so sehr gehen
lassen.
Friedrich antwortete fast ängstlich
und mit unsicherer Stimme: »Ich
),n 123.1 1* Google
glaubte wahrhaftig eben, ich sei ge-
storben und bin beinahe verwun-
dert, daß ich noch unter euch bin,
da ich doch eben im Palaste des
Todes war.«
Darauf nahm er Hermann bei
der Hand und führte ihn vor einen
Spiegel und fuhr fort: »Denke dir
ein Labyrinth von noch viel mehr
Sälen und Verwirrungen, als du
hier siehst, durch die ich alle auf
einem Boden von Glas, auf dem
ich jeden Augenblick auszugleiten
befürchtete, schritt. Es trieb mich,
wenn schon mich eine unerklär-
liche Furcht befallen hatte, vor-
wärts, denn ich sah wundervolle
Dinge. In dem dritten Saal, den du
dort noch in der Spiegelung erblickst,
tanzten zwischen aufgestellten Schir-
men und mannshohen rotlackierten
Leuchtern, auf denen schlanke, lange
),n 123.1 1* Google
Kirchenlichter staken, zwei Mäd-
chen, gekleidet wie auf den japa-
nischen Holzschnitten. Sie drehten
und wiegten sich zu den zierlichen
Weisen des Rameau, und das Spiel
ihrer Hände und Hüften, das Fließen
und Fallen ihrer faltigen Gewänder
war so reizend, wie das Schwanken
schöner Blumen im Winde, wie
das Scherzen kleiner Wellen auf
einem See. Ihren Händen schienen
Blumen zu entfallen, und wo ihre
zarten Füße den Boden berührt
hatten, quollen Rosen hervor. Ich
konnte mich kaum von der süßen
Erscheinung losreißen. Ais ich meine
Wanderung weiter fortsetzte, hörte
ich immer Musik und sah in dem
Glase liebliche Landschaften. Bald
spiegelte sich ein Garten mit Obst-
bäumen in weißer und rosaroter
Blüte, bald erweckten fremdländisch
),n 123.1 1* Google
gekleidete Frauen, die an Spring-
brunnen saßen oder zwischen Tul-
pen-, Hyazinthen- und Lilienbeeten
spazieren gingen, während sie zur
Laute sangen, durch die Anmut
ihrer Erscheinung und den Wohl-
laut ihrer Stimmen mein Entzücken,
das noch durch den Anblick des
vornehmen Spieles zweier weißen
Pfauen gesteigert wurde, die den
Sängerinnen wie Verliebte folgten,
und immer von neuem zuckend
und ruckweise ihre bunten Schlep-
pen zu schimmernden Fächern ent-
falteten. Von stolzer Freude und
erregter Liebeswonne wurden die
beiden so krampfhaft durchschauert,
daß die langen Kiele ihrer vom
Rücken aus aufrechtstehenden Fe-
dern leise klirrend aneinander-
schlugen und das vibrierende Ge-
fieder ein schwirrendes Geräusch
29
),n 123.1 1* Google
hervorrief. Eine heftige innere Be-
wegung ließ die Tiere gar nicht
zur Ruhe kommen. Darauf durch-
schritt ich, wenn ich mich recht
erinnere, ein Frauengemach, dessen
Bewohnerinnen am Boden kauerten
und bunte Vögel und seltene Blumen
auf seidene Gewänder stickten. Ein
großer weißer Kakadu beugte sich
aus seinem goldenen Ring weit
vor, als wollte er mir zurufen:
■Köpfchen krauen. t Die gelbe Don-
Juan-Feder auf seinem Kopfe be-
wegte sich hin und her, und die
weißen Federchen an seinem Halse
spreizten sich auseinander, so daß
der gelbe Flaum, der unter ihnen
war, sichtbar wurde. Da ich mich
nicht mit ihm abgab, sah mir der
Vogel ebenso traurig nach wie seine
Herrinnen. Als ich sie verlassen
hatte, machte es mir viel Vergnügen,
30
.Google
zu sehen, wie hier ein fließendes
Wasser von einem Bogen, unter
dem der blutige Ball der scheidenden
Sonne langsam hintersank, kühn
überbrückt war, dort ein dünner,
silberner Wasserfall wie fallender
Tau über dunkle Felsen hinunter-
glitt Trotzdem verließ mich nicht
eine tiefe Sehnsucht, wie sie uns
auch hier auf Erden bisweilen be-
fällt, denn mir schien, alles das sei
noch nichts im Vergleich zu dem,
was mir sicher noch bevorstände.
Nur einer grotesken Szene in diesem
anmutigen Irrgarten kann ich mich
erinnern. In einem Bambushause
saß mit untergeschlagenen Beinen
ein Greis, der ein hell- und dunkel-
violett gestreiftes Gewand trug und
einen hohen birnenförmig gewölbten
Kahlkopf hatte. Sein glattes Ge-
sicht sah aus wie das eines Weisen
),n 123.1 1* Google
oder eines Schauspielers. Neben
ihm logen beschriebene Rollen und
ein dickbäuchiges Musikinstrument;
ein langer Rohrstab, den er in der
Hand hielt, bedrohte vier Reihen
Schüler, die, japanisch gekleidet,
vor ihm saßen und lächerlicherweise
meinen besten Bekannten, zum Teil
euch, ähnlich sahen. Während die
eifrig studierten, gestikulierte der
Alte heftig in der Luft herum und
schrie: Heute ist es zu heiß, viel
zu heiß! Ihr werdet nichts mehr
in eure rauchenden Köpfe hinein-
bringen. Ich will euch lieber etwas
erzählen, damit ihr gescheit werdet,
spitzt mir aber gut die Ohren, denn
ich bin ein Gelehrter und ein
Dichter; und nun fing er an, über
den Tod und die Liebe zu dozieren
und langweiliges Zeug zu schwatzen,
wovon mir zum Glück nur einige
32
),n 123.1 1* Google
Sätze in Erinnerung geblieben sind,
die ich euch spaßeshalber, und da-
mit ihr erkennt, wie wunderlich
und unklar sich alte Gelehrte bis-
weilen auszudrücken beheben, er-
zählen will. So lehrte er: Der
Tod ist die Vereinigung mit der
von Grund aus Geliebten, daher
wissen wir erst im Tode, in dem
letzten gesteigerten Augenblick, in
dem unser ganzes Leben mit allen
seinen Erinnerungen noch einmal
sich gedrängt und überdeutlich in
unserer Seele spiegelt, wen wir auf
Erden, auch wenn wir uns anderes
einbildeten, geliebt haben. Der Tod
ist die schönste Brautnacht, und die
wahre Liebe ist der Todl In der
An ging es eine Weile immer ver-
wirrter und verwirrender weiter,
so daß ich mich schleunigst durch
die Flucht rettete. Immer noch
33
),n 123.1 1* Google
suchte ich jemand, ohne ihn zu
kennen. Meine Sehnsucht führte
mich wieder an Flüsse« , Gebirgen,
an Theatervorstellungen und Gärten
vorbei. Von diesen öffnete sich
einer zu einem Ausblick auf das
ruhige Meer, das von zwei Seiten
durch sanfte Hügelketten eingerahmt
wurde und so eine Bucht bildete,
in der viele bunte Schiffe hin und
her zogen, mit armen Fischern be-
mannt oder gefüllt mit vornehmen
Männern und Frauen, die musizier-
ten und mit Papierschinnen sich
gegen die Sonne schützten. Ein
großer Schwann von müden Zug-
vögeln näherte sich langsam der
Terrasse des Gartens, mechanisch
rührten sie die Flügel und ihre
Hälse lagen sehnsüchtig vor, als
sie doch kurz vor dem Ziel die
Flugkraft verloren, in das Meer
34
),n 123.1 1* Google
sanken, und alsbald von den Leuten
in den Schiffen mit leichter Mühe
und lachend für ihre Küche ein-
gefangen wurden. Mich aber über-
kam ein tiefes Mitleid mit den
Tieren, Als ich dann durch wunder-
lich verschlungene Irrginge und
Glaskammem in einen ganz fernen
Spiegelsaal, den du dir nie in der
Phantasie eigentümlich und schön
genug vorstellen kannst, gelangte,
durchlief mich ein unbeschreibliches
Gefühl. Die kristallenen Wände er-
klangen wie Glocken, die der
Schwengel leise berührt, unter dem
durchsichtigen Boden sah ich zu
meinen Füßen nie gekannte Blumen,
wie ein Schlittschuhläufer auf einer
vereisten Wiese. Dort fand ich
eine schöne Frau und starb. *
Die drei Freunde wußten nicht,
was sie sagen sollten, sie schauten
35
),n 123.1 1* Google
sich an und als sie in die Spiegel
sahen, sahen sie wohl hundert
schwarze Gestalten, aber sie er-
kannten sich nicht mehr in ihnen,
Das Feuer war fast niederge-
brannt. Walter besann siA zuerst,
drehte das Licht an und sagte:
»Kinder, wir werden noch alle ver-
rückt. Dieser Raum macht einen
auf die Dauer blödsinnig. Laßt uns
Whisky trinken und noch etwas
Billard spielen.«
Er zog Ernst mit sich in das
Nebenzimmer.
Hermann und Friedrich drückten
sich die Hände, sahen sich an und
Hermann bemerkte: »Walter und
Ernst haben noch nie geliebt, möge
sie der Himmel noch lange davor
bewahren. Liebe ist unter allen Um-
ständen ein rechtes Unglück. Ja, ja.«
Darauf lächelte er über seine
),n 123.1 1* Google
eigene Banalität und Friedrich über-
trumpfte diese noch, indem er sagte:
»Oder das größte Glück.« Darauf
lachten alle beide und gingen in
das Billardzimmer, tranken Whisky
und stellten später beruhigter fest,
daß sich vorhin in dem Gehirne
des schlafenden Friedrich alle Ein-
drücke aus den letzten Erlebnissen,
Gesprächen und gesehenen Bildern
zu zusammenhängenden Vorstel-
lungen und zu einem schönen ver-
worrenen Traume verdichtet hätten,
dessen tiefer und unnahbarer Sinn
sich in mancherlei Weise ausdeuten
lasse.
Hennann wollte noch einmal das
Gespräch ins Bedeutsame hinüber
spielen und sagte ein wenig preziös :
»Ich glaube, wir haben mit unserer
Traumerklärung ganz recht. Jeder
von uns kann sich bei diesen Spiegel-
37
),n 123.1 1* Google
erlebnissen etwas Besonderes denken
und sein Persönliches sich spiegeln
lassen; was sie aber für Friedrich
sein werden, kann keiner von uns
herausbringen, denn keiner versteht
des anderen Gedanken, ja nicht ein-
mal seine Sprache. Das ist mir
niemals klarer gewesen, als letzten
Sommer auf dem Landgute bei
meiner Schwester. Sie ist vor nicht
langer Zeit aus Indien wieder zu
uns herüber gekommen. Ich habe
diese junge Frau immer vorzüglich
verehrt und geliebt, weil ich
weilen glaubte, sie verstände nicht
nur die Sprache meines Herzens,
sondern bediene sich ihrer, als wäre
es ihre eigene. Oft habe ich ihi
in Gedanken die Hände dafür ge-
küßt. Da wurde nun letzthin nach
dem Mittagessen ihr Baby von seinei
hindostanischen Kinderfrau herein-
J8
),n 123.1 bv Google
getragen, ich nahm es auf den
Schoß und ließ es reiten. Auf ein-
mal fiel mir das alte hindostanische
Wiegenlied ein, mit dem unsere
Mutter, die auch früher, Vaters Ge-
schäfte wegen, in Asien gewesen
ist, uns Kinder, wenn wir nicht
einschlafen wollten, in den Traum
zu singen pflegte. Die geheimnis-
vollen Worte sind mir mit ihrem
wunderlichen Klang und ihrer be-
ruhigenden, eintönigen Melodie un-
vergeßlich geblieben, da ich mir
als Kind bei ihnen etwas besonders
Begehrenswertes und liebes gedacht
und gewünscht habe, weil ich nie
recht begriff, was sie eigentlich be-
deuteten. Sie lauten:
Nim, baba nini,
Ruti, mackum, tsebini.
Nini baba, nini baba,
Nini baba nini.
uni^rit», Google
und heißen in der deutschen Über-
setzung freilich bloß:
Schlaf, Kindchen schlaf,
Brot, Butter, Zucker.
Schlaf, Kindchen, schlaf Kindchen,
Schlaf, Kindchen schlaf.
Das summte ich also in der Ur-
sprache vor mich hin, während
das kleine Kerlchen vergnügt auf
meinem Schöße zappelte und lachte.
Da hättet ihr die Fremde sehen
sollen, wie sie mich anstarrte, vor
mir nieder fiel, meine Hände küßte
und sich vor unsinniger Freude
wie närrisch gebärdete.
Glaubte sie doch, ich spräche ihre
Muttersprache, deren geliebten Klang
sie so lange im fremden Lande
hatte entbehren müssen. Wie soll
ich euch aber den enttäuschten
Schrecken und den Jammer be-
schreiben, der sich auf ihren braunen
40
),n 123.1 1* Google
Zügen and dunklen Augen malte,
als die Ärmste merkte, daß die
wenigen gesungenen Worte das
einzige waren, was ich auf ihr ge-
liebtes Hindostanisch wußte. Ich
schämte mich formlich, ihr, wenn
auch unabsichtlich, einen sehnsüch-
tigen Schmerz verursacht zu haben
und mißtraute auf einmal meiner
Schwester und meinen seelenver-
wandten Gefühlen gegen sie, als sie
über das seltsame Gebaren der
Kinderfrau zu lachen anfing. Ich
sah ihr mit Grauen in ein fremdes
Gesicht, denn das kleine, zufällige
Erlebnis wurde mir zum Gleichnis
für alle menschliche Einsamkeit.«
Hermann schwieg und hatte die'
Freunde glücklich wieder nach-
denklich gemacht
Das ärgerte Walter und ließ ihn
brüsk ausrufen: »Nun ist's aber
4i
),n 123.1 1* Google
genug mit der faden Stimmungs-
macherei. Daß Euch der und derl
Wir sind doch aus den Spiegeln
heraus und sitzen in einem Jagd-,
Trink- und Spielzimmer. Also auf 1
Ermannt Euch I Schenkt ein, nehmt
die Billardstäbe oder mischt die
Karten. Heißt das junges Herren-
leben, wenn jeder in seinen heim-
lichsten und verstaubtesten Seelen-
winkel leuchtet und den nächsten
mit seiner Gemütskrankheit an-
steckt? Jetzt wird getrunken, ge-
lacht, gespielt bis zum hellen Morgen
und dann früh wieder an die Ar-
beit, dann auf die Pferde und in
den Schlitten, hinaus ins Freie im
Galopp und Trabe. Das ist ein
Leben nach meiner Art, das euch
alten Nachteulen und Träumern
auch gut tun wird.«
Alle waren wie von einem Banne
),n 123.1 1* Google
befreit, sprangen auf und riefen
durcheinander: »Der Jüngste hat
wie immer recht 1«
Und sie folgten seinen Vor-
schlägen.
^Google
),n i2 a .i bv Google
FREUNDSCHAFT
Rudolf Alexander Schröder
zugeeignet
),n 123.1 1* Google
),n i2 a .i bv Google
BEI Walter, einem junges Schrift-
steller, war Gesellschaft zu Ehren
einer berühmten Tänzerin gewesen
und seine angebetete Clarissa hatte
wilder und feuriger denn je getanzt
und so die Gäste, einige Künstler
und Schriftsteller mit ihren Damen,
auf das Höchste entzückt.
Einige Freunde sind noch zu-
rückgeblieben und gehen in das
Rauchzimmer, um noch eine Stunde
zu trinken und zu plaudern. Jeder
räkelt sich in einem jener großen,
schwarzen, englischen Ledersessel,
deren kühle, weiche Bequemlich-
keit man nur ungern und schwer
wieder verläßt.
Walter fragt die Freunde, was
sie trinken wollen, etwa Portwein,
Flip oder einen Cocktail, und
bittet, nur keine Getränke zu ver-
langen, die schwer zu bereiten sind,
47
),n 123.1 1* Google
denn seine kleine Bar ist nur auf
wenig eingerichtet, und dann ist
es zu spät, und er zu faul, um sich
noch lange zu plagen.
Man äußert seine Wünsche, und
er mischt das Verlangte. Das nimmt
immerhin einige Zeit in Anspruch,
und läßt ihn der Unterhaltung der
anderen unbeteiligt zuhören.
Anfangs dreht sich das Gespräch
natürlich um die Tänzerin. Der
eine bewundert vor allem ihre un-
erreichte Lebendigkeit, der andere
die sichere Selbstverständlichkeit,
mit der sie die gewagtesten Stel-
lungen graziös erscheinen läßt und
unästhetische Bewegungen dadurch
zu schönen stempelt, daß sie alle
wie selbstverständlich ohne Mühe
lächelnd ausfuhrt. Der eine nennt
sie eine bedeutende Persönlichkeit.
Ein anderer bestreitet dies, denn
),n 123.1 1* Google
Bedeutung habe nur der, der von
Sehnsucht zu Sehnsucht getrie-
ben, immer Neues schaffe oder
anrege und so auf die Zukunft
wirke, während sie, die Tänzerin,
nur die Gegenwart verschönere, ja
selbst ein erfreuliches Stück Gegen-
wart sei, wie etwa ein schöner
Sonnenaufgang, ein blühender
Rosenstrauch oder ein Glas voll
altem Chäteau d'Yquem, einem
Weine, den er scherzhaft einen Be-
weis und einige Gewährleistung für
die ewige Seligkeit nennt.
AUe geben dann zu, Clarissa sei
die graziöseste Frau der Welt, eine
unschätzbare Künstlerin, tanze neue
Formen und gebe der Kunst ganz
neue Linien, der Poesie einen eige-
nen Rhythmus, und was derlei Ge-
schwätz mehr ist, das begeisterte
junge Leute bei solchen Gelegen-
49
),n 123.1 1* Google
heiten in vorgeschrittener Stunde
-wohl einmal von sich geben können.
Ein überschlanker junger Maler,
der die Bewegungen eines rassigen
Windhundes hat, erzählte dann
von einem Rennen. Der Graf
Wolkenbruch sei im Sattel gewesen
und habe sich gleich kurz nach dem
Starte den Fuß an einer Barriere ge-
brochen, trotzdem das Rennen zu
Ende geritten und wäre noch Zweiter
geworden. Er wäre sehr schwach
und einer Ohnmacht nahe gewesen,
als man ihm vom Pferde hob. Der
Schweiß hätte auf seiner gebleichten,
lederiarbenen Stirne gestanden. Er
habe sich verbinden lassen, sich
eine Zigarette angesteckt, seine Dis-
positionen wegen der Pferde ge-
troffen und sich dann unter der
Bewunderung der Umstehenden
nach Hause fahren lassen.
SO
),n 123.1 1* Google
Der Erzähler nannte dieses Be-
nehmen unvergleichlich und hero-
isch, So sehr den anderen die
Selbstbeherrschung des Grafen im-
ponierte, so konnten sie ihm doch
nicht das Lob des Heroismus zu-
gestehen, sondern bewunderten nur
die gesteigerte Fähigkeit des Soldaten
und Offiziers, sich in körperlicher
Hinsicht zusammen zu nehmen.
Es wurde nun viel über Herois-
mus hin und her geredet, Beispiele
dafür angeführt, und ein junger
Kaufmann, der einzige, der in die-
ser Gesellschaft einen Schnurrbart
trug, schrieb die meisten sogenann-
ten Heldentaten der Menschen einer
zufälligen Stimmung, der Eitelkeit
oder dem Wahnsinn, zu. Er tat
dies wohl mehr aus Widerspruch
als aus Oberzeugung.
Ein aus Tiflis im Kaukasus ge-
),n 123.1 1* Google
hurtiger Maler, der sehr schweig-
sam war und immer nur trank
and trank und in eine Kristall-
kugel starrte, die er von einem
indischen Fakir hatte, um seine
Gabe des zweiten Gesichts zu
üben, hob den für seine Jahre
viel zu alten und faltigen Kopf
und sagte ein wenig tonlos und
automatisch, in seiner knappen
Axt oft die Artikel weglassend und
die »R'sc angenehm rollend: »Die
Tataren und Slaven glauben nicht
an Heroismus bei Männern. Män-
ner sind brutal und selbstisch, in
Gefahr und Not werden sie zum
Vieh. Nor Frauen sind Heldinnen.
Hört, ich will Euch ein Gleich-
nis aus meiner Heimat erzählen,
wie unser Volk Ober männlichen
Anstand denkt. 'S ist die Ge-
schichte vom kühnen Jäger Nico,
5*
),n 123.1 1* Google
der eine schöne Schäferin Nina
zur Ehe wollte.
»Die schöne Schäferin Nina sollte
in wenigen Tagen den kühnen Jäger
Nico heiraten. Nina weiden: wie
gewöhnlich Schafe auf den Ab-
hängen des Berges Gudaur, hatte
dort gute, saftige Wiesen, denn der
Berggeist Gudaur liebte Nina und
ließ ihre Schafe fetter werden als
alle anderen. Auf der Weide traf
sie Nico, der beutebeiaden von der
Jagd kam. So standen sie neben-
einander, wie eine zarte Birke
neben einer starken Kiefer schauten
sich Freude und Liebe in die Au-
gen, und merkten nicht, wie sich
Gudaurs Haupt verfinsterte, wie
er seine Augenbrauen, schwarze
Wolken, zusammenzog und seine
Augen, graue Felsen, kalt steinern,
grausam niederbückten. Rache war
),n 123.1 1* Google
in dem Alten, Rache für verschmähte
und verlorene liebe. Mit einem
Schlage bedeckten sich die Weiden
mit seltsamen Blumen, eine immer
schöner als die andere. Gudanr
wußte, Nina liebte Blumen über
alles. Nina sagte zu Nico: »Siehe,
das ist unserer liebe Lied.« Hand
in Hand gingen sie, bewunderten,
pflückten nie gesehene Kelche und
je weiter sie gingen, desto herr-
lichere standen für sie da.«
Der Erzähler nahm einen langen
Schluck aus dem Glase, in dem er
viel Alkohol mit wenig Wasser ge-
mischt hatte, sah in seine Zauber-
kugel und fuhr fort:
>So zog Gudaur das Liebespaar
von Blume zu Blume, in den Be-
reich seiner Lawinen. Da blitzten
die Augen des Ewigen, Lawinen
stürzten und begruben Nico und
S4
),n 123.1 1* Google
Nina in ihrem Niederfalle. Gepreßt
an Felsen und verschüttet von
Schnee saßen sie Hand in Hand.
Hört! Warme Liebe entströmte dem
Herzen, schmolz den Schnee und
machte eine Höhle. Schweigend
saßen sie nebeneinander und fürch-
teten sich. Hunger wurde Herr Ober
Nico, traurig Nina. Ihre Liebe zu
Nico wuchs mit jedem Herzens-
schlage. Da erwürgte Nico, vor
Hunger wahnsinnig geworden, seine
Nina und schlug sein Gebiß in ihr
Fleisch. Laut lachte Gudaur, als er
den entsetzlichen Schrei vernahm,
schüttelte sich vor Lachen und von
seinen Schultern fielen ihm Felsen
und vernichteten im Niedersturze
alles bis weit ins Aragmatal. Heute
noch decken Steinblöcke, lange
schwarze Streifen, GudaursAbhänge.
Gudaur hatte gelacht.«
55
),n 123.1 1* Google
Die etwas barbarische Geschichte
war zu Ende und der Russe saß wie-
der mit der eleganten Teilnahms-
losigkeit da, deren Unnachahmlich-
keit die Verzweiflung jedes jüngeren
Semesters bildete.
Ein anderer junger Herr, ein an-
gehender Dichter, der erst vor kurzem
das Gymnasium verlassen hatte und
noch voll von historischen Bildern,
frischen Sctmlkenntnissen , Idealen
und anderer Meinung war, meinte:
> Seht doch auf die Geschichte großer
Männer der Vergangenheit, die durch
ihren Heroismus berühmt geworden
sind. Zum Beispiel bewundere ich
vor allem den Themistokles. Denn
als er vom Großkönig zum Ober-
befehlshaber seiner Armee ernannt,
mit Macht und Vollmacht ausge-
stattet, das Mittel in der Hand hatte,
sich an einem Lande zu rächen, das,
s«
),n i2 a .i bv Google
eine echte Republik, ihn, den einsti-
gen Führer und Retter des Volkes,
wie eine abgenutzte Galeere hatte
verkommen lassen wollen, beschloß
er, Hand an sich zu legen, um nicht
gegen sein Vaterland zu Felde ziehen
zu müssen und starb so, fünfund-
sechzig Jahre alt. Als der Groß-
könig dieses vernahm, stieg seine
Verehrung für Themistokles fast
noch höher als zuvor. In Magnesia
errichtete man ihm ein prächtiges
Grabdenkmal. Die Athener suchten,
wie so oft zu spat, das wieder gut
zu machen, was sie an einem ihrer
größten Männer verschuldet hatten.
Beim Plräus, in der Nähe des alten
Aikimostempels, an einer ruhigen
Stelle, errichteten sie ihm ein Keno-
tapbion, welches ein späterer Dichter
mit den Versen besingt:
),n 123.1 1* Google
Hoch ragt der Hagel seines Grabes auf
an schönem Ort
Und grüßt nach allen Seiten hold das
Schiffervolk.
Auch wurden die Nachkommen des
Themistokles in Magnesia wie in
Athen hoch geehrt.« Der Erzähler
schloß mit den Worten: »Wer so zu
handeln vermag, beim Herkules, den
nenne ich einen Heroen.«
Man lachte über seinen Eifer und
Walter konnte nicht umhin, zu be-
merken: > Donnerwetter I Hast du
noch viel aus der Geschichtsstunde
behalten.«
DerGeneckte antwortete errötend:
»Ganz abgesehen davon, daß ich
erst kürzlich wieder in meinem Lieb-
lingsschriftsteller Plutarch gelesen
habe, wollte ich auch ganz früher
einmal eine Themistokles -Tragödie
schreiben: Drei Akte waren in der
),n 123.1 bv Google
Sekunda schon fertig. Jetzt weiß
ich nur noch einen Vers daraus,
den ich Euch spaßeshalber mitteilen
will. Ich ließ nämlich den Themi-
stokles, als er von einem Priester
verraten wird, ausrufen: »Du Hund,
du Lump, verfluchter Schweine-
priester.« Dann hieß es weiter in
den szenischen Anmerkungen: —
»blaugewürgt, klatschte der fette
Priester auf die Fliesen des Tempels.«
Die Gesellschaft lachte unbändig
über die Derbheit dieses Jugend-
werkes.
Der Poet stimmte in das Gelächter
ein und Walter nahm wieder das
Wort: »An den Edelmut des The-
mistokles kann ich nun einmal nicht
recht glauben. Schon im Altertum
waren die Ursachen des Todes des
Themistokles so gut wie unbekannt.
Mir will die Erzählung seines letzten
59
),n 123.1 1* Google
edelsten Entschlusses nicht recht zu
dem ehrgeizigen und leidenschaft-
lichen Charakter dieses Halbatheners
passen. Ich glaube vielmehr, daß er
von einem Sklaven, der ihn haßte,
oder einem vaterlandsliebenden
Athener ermordet worden oder
eines plötzlichen natürlichen Todes
gestorben ist.«
Wilhelm, der beste Freund Wal-
ters, sagte, indem er sich nach der
Bar hinwandte, an der dieser immer
noch geschäftig einschenkte, Eier
öffnete, mischte, klapperte und
rührte, halb scherzend, halb spottend :
»Du phantasierst dir ja wieder was
Schönes zusammen, Ideen und
Schlüsse ohne inneren logischen
Zusammenhang. «
Walter war sichtlich etwas ver-
letzt, besonders, weil seit einiger
Zeit bei den beiden Freunden eine
60
),n 123.1 1* Google
gewisse Entfremdung eingetreten
war, die im folgenden ihren Grand
hatte: Wilhelm, der Altere, Ver-
ständige, Ruhige und Besonnene,
hatte sich in den Kopf gesetzt, den
unruhigen, sehr jugendlichen und
hitzigen Walter nicht nur durch
malmende Reden zu mildern, son-
dern hatte häufig in die Reden und
Taten des jüngeren Freundes in
der guten Absicht, eine Dummheit,
ein unüberlegtes oder taktloses Wort
zu verhindern, eingegriffen, und so
hatte er Walter, der sich seines
Fehls ganz gut bewußt war, durch
zur Schau getragene Schärfe mehr
erzürnt als genützt. Er blieb je-
doch in der festen Überzeugung, wo
er Schmerzen verursachen mußte,
wie ein guter Arzt auch da Segen
zu stiften, bei dieser An, Walter
zu behandeln und war sein ewiger
:: viyCoOylc
Mentor oder Präzeptor. Der andere
aber wollte sich das durchaus nicht
sehr gefallen lassen und lieber selbst
trübe und heitere Erfahrungen
machen, und so sah Wilhelm sich
in der betrüblichen Lage, mehr und
mehr einen Freund, den er wie
sich selbst liebte, zu verlieren. Er
trug dieses Geschick mit wahrhaftem
Heroismus und ging auf dem für
den Freund nützlich erkannten Wege
weiter, allerdings oft weiter, als es
nötig war.
Walter war also wieder einmal ver-
stimmt, Wilhelm aber schien dies
nicht zu beachten, selbst als der
unfreundliche Wirt den eben fertig
gewordenen Sherry Brandy, Flip
mit einer fast ungezogenen Bewe-
gung vor ihn niederstellte und da-
bei sagte: »Ich hoffe, es ist nicht
zuviel Zucker drin. Du verwöhnst
62
),n 123.1 1* Google
einen auch nicht grade mit Süßig-
keit.»
Wilhelm erwiderte nichts darauf,
sondern wendete sich an die kleine
Gesellschaft: »Wenn Ihr genau
wissen wollt, wieThemistokles ums
Leben gekommen ist, so will ich
es Euch wahrheitsgetreu erzählen.«
Sofort fiel ihm Walter naseweis
ins Wort: »Bist du vielleicht da-
bei gewesen? Was wir nicht wissen
und niemand weiß, weißt du auch
nicht.«
Der also Angegriffene sagte dar-
auf ruhig: »Das würde ich nicht
so schroff hinstellen. Einige Leute
wissen eben, wie es in der Welt
zugeht und wie es in der Welt zu-
gegangen ist; aber, wenn ich er-
zählen soll, so bitte ich um fünf
Minuten Ruhe, und ob Ihr meinen
Worten glaubt oder nicht, ist mir
63
),n 123.1 1* Google
ig. Walter, selbst du in
deiner Würde als Wirt, darfst den
Mund halten.
Der Gemaßregelte war unzufrie-
den und gekränkt und warf sich
der Länge auf ein Ledersofa, das
in der Ecke stand und reckte sich
ostentativ gelangweilt.
Wilhelm begann: «Tödlich belei-
digt, schmachvoll verurteilt, halb zu
Tode gehetzt, findet Themistokles
am persischen Hofe nicht nur Unter-
kommen, sondern wird auf das
höchste geehrt, wie ein Priester be-
handelt und erster Ratgeber des
mächtigen Perserfürsten, dem er
Hilfe gegen die doppelten Todfeinde,
die Athener, versprechen muß. Der
König gibt ihm fünf Städte für
Brot, Wein, Zugemüse, Bett und
Kleidung. Er wird ganz zum Asia-
ten und vertauscht das einfache, edle
),n 123.1 1* Google
Pepton mit orientalischen Pracht-
gewändern. Nach einigen Jahren
fällt Ägypten unter Beihilfe der
Athener ab, und zu Themistokles
kommt ein Bote, bringt einen Brief
von Xerxes mit der Mahnung: »Jetzt
sind die griechischen Angelegen-
heiten in Angriff zu nehmen und
deine Versprechungen zu erfüllen, c
Der junge Dichter bemerkte hier
leise: »So steht es ungefähr im
Plutarch.«
Wilhelm fuhr fort: »Da ging es
an ein starkes Rüsten. Neue Schiffe
wurden gebaut, alte wieder ausge-
bessert. Tausend und abertausend
Bogenschützen und ein ganzer Hcu-
schreckenschwarm leichter Reiterei,
lange Züge von schwerbewaffneten
Fußsoldaten waren im Innern aus-
gehoben worden und walzten sich
nach der Küste, um ihren Ober-
),n 123.1 1* Google
befehlshaber Themistokles, von dem
nun die endliche Unterwerfung des
kleinen Griechenvolkes erhoffte,
jubelnd zu begrüßen. Und der war
nur zu sehr gewillt, seinen erbitter-
ten Haß an seinen Mitbürgern und
seiner Vaterstadt zu kühlen.«
Walter unterbrach ihn mit dem
Ausruf: »Seht Ihr wohl? Was habe
ich gesagt? Themistokles hat nie
im Leben sich selbst getötet.«
Wilhelm tat nichts dergleichen
und liefi sich nicht stören : »In
einigen Tagen sollte die Flotte in
See stechen, und Themistokles war
noch geschäftiger als einst vor der
Schlacht bei Salamis, zu ordnen,
zu ermahnen, anzufeuern, Lob den
Fleißigen und Tadel den Säumigen,
Strafe denen, die sich widersetzten,
zu spenden. Seit einigen Jahren
war er ständig begleitet von einem
66
),n 123.1 1* Google
jungen Athener, Agathon mit Namen,
der aus jugendlicher Schwärmerei
Haus und Heimat verlassen hatte,
um sich dem berühmten Manne,
dessen trauriges, durch den Undank
der Vaterstadt veranlaßtes Mißge-
schick ihm zu Herzen gegangen war,
anzuschließen. Er erhoffte von ihm
gute Lehren, Förderung in den
Staatswissenschaften und eine kräf-
tige Stärkung in allen bürgerlichen
Tugenden. Als er nun sah, daß
Themistokles fest entschlossen war,
gegen sein Vaterland zu Felde zu
ziehen und somit seinen erworbenen
Ruhm im letzten Augenblicke zu
nichte zu machen, beschwor er den
Freund zu verschiedenen Malen,
von seinem den Göttern Und Men-
schen verhaßten Plane abzustehen
und suchte seinen Bürgersinn durch
Erinnerung an seine einstigen glor-
«7
),n 123.1 ^Google
reichen Taten und früheren Tro-
phäen neu zu beleben. Doch ver-
gebens. Da reifte denn in Agathon ein
ebenso furchtbarer wie heroischer
Entschluß. Der Name seines Ab-
gottes, sein ungeheurer Ruhm mußte
rein und womöglich noch gesteigen
auf die Nachwelt kommen. Kurz vor
dem Abmärsche begleitete er den
Themistokles, der ausging, Truppen
zu besichtigen. Sie waren den gan-
zen Tag bei der glühendsten Sonne
unterwegs und der Feldherr, der
durstig geworden war, trank aus der
Flasche, die der Schwertträger ihm
reichte. Bald von einem plötzlichen
Unwohlsein ergriffen, mußte er nach
Hause zurückkehren, wo er nach
wenigen Stunden in den Armen
seines mörderischen Freundes ver-
schied. In dem Wein war ein
schnell wirkendes Gift gewesen. Aga-
68
),n 123.1 1* Google
thon fuhr noch in derselben Nacht
mit einer schnellen Galeere nach
Athen und verbreitete dort, Themi-
stokles habe sich selbst das Leben
genommen, um nicht gegen seine
Vaterstadtzu Felde ziehen zumüssen.
Die Athener feierten ihn nach seinem
Tode wie einen Halbgott. Der junge
Athener, der den wundervollsten
und heroischsten Beweis einer
musterhaften und echten Freund-
schaft geliefert hatte, indem er, um
dem Freunde zu nützen, ihn um-
brachte, verschwand spurlos und hat
sich wahrscheinlich das Leben ge-
nommen.« Wilhelm schwieg.
Der Maler, der sich während der
Erzählung einen Kognak nach dem
anderen eingeschenkt hatte, sagte:
»Das ist gar nichts im Vergleiche
zu Graf W-w-w-wolkenbruchs ab-
gebrochenem Fuß.«
69
),n 123.1 1* Google
Der Russe nahm keinen Anteil
und trank weiter. Der Dichterstarrte
Wilhelm ganz verzückt an und
meinte: »Wenn ich das in Sekunda
gehört hätte, so wäre mein Themi-
stokles mit dem guten Schlußge-
danken sicher fertig geworden und
aufgeführt. Ach, in Sekunda schon
aufgeführt. «
Der Kaufmann, der sich noch
einen Lehnsessel zur Bequemlich-
keit seiner Füße herangezogen hatte,
lachte leise vor sich hin und wie-
derholte: »Du Hund, du Lump,
verfluchter Schweinepriester «, and
blies mit der Zigarette Ringe in die
Luft.
Walter lag noch immer faul auf
dem Sota und sagte gar nichts und
dachte bloß: das ging ^wieder mal
auf mich; gut, daß die eigentlichen
Pointen in den benebelten Köpfen
70
),n 123.1 1* Google
der anderes sich auflösten, wie ein
Ring aus Zigarettenrauch in dem
Tabakdunste dieses Zimmers. Wil-
helm ist doch ein langweiliger do-
zierender Querkopf. Dann sprang
er auf und rief: »Es ist zu viel
Rauch in der Stube, wir müssen die
Fenster öffnen.«
Wilhelm schützte Müdigkeit vor,
verabschiedete sich und fragte Walter,
der ihn höflichkeitshalber bis zur
Türe geleitete: »Wo und wann ißt
du morgen? Wir wollen zusammen
speisen.«
Walter gab mürrisch Zeit und
Restaurant an und setzte bitter scher-
zend hinzu: »Aber bitte, halte mir
keine Reden und gib mir keinen
giftigen Wein zu trinken, an mir
ist ja doch nichts zu retten.«
Wilhelm sah ihn hilflos lächelnd
an und wünschte Gute Nacht.
7i
),n 123.1 1* Google
Ein ausdrucksloses Gute Nacht
entgegenbrummend ging Walter ins
Rauchzimmer zurück. Dort gebär-
dete er sich plötzlich munter und
ausgelassen, als wäre er von einem
schweren Drucke befreit.
Es wurde noch tüchtig getrunken,
und die zurückgebliebenen vier
Freunde schwatzten rechtschaffenen
Unsinn über Tänzerinnen, Rennen,
Liebesabenteuer. Bei Leibe nicht
Heroismus, der danach angetan war,
ihnen die bequemsten großen eng-
lischen Ledersessel ungemütlich zu
machen.
Der befreite Wirt führte das
große Wort. Spät trennte man sich,
und der Kaufmann drückte jedem
mit den Worten die Hand: »Schlaf
gut, du Hund, du Lump, verfluch-
ter Schweinepriester.« Der junge
Dichter freute sich über seine Po
72
),n 123.1 1* Google
Polarität and daß seine Verse im
Munde der Leute waren.
Zwischen Walter und Wilhelm
aber steigerte sich für viele Jahre,
durch dieses harmlose Gespräch über
Themistokles die bereits bestehende
Entfremdung zu völligem Mangel
an Vertrauen und Intimität. Und
erst nach langer Zeit, als das Leben
die Freunde verschiedene Wege ge-
führt hatte, wich der Bann und ein
viel festeres Band innersten Ver-
ständnisses und gegenseitiger Billi-
gung verknüpfte nun die gegen
sätzlichen Naturen bis an ihren
Lebensabend.
),n 123.1 1* Google
),n i2 a .i bv Google
SPIELE
Max Gräfe» Betkusy-Huc
zugeeignet
),n 123.1 1* Google
),n i2 a .i bv Google
TTTALTER bestellte beim Diener
V V noch eine Orangeade und
zündete sich die letzte Zigarette an.
In dem kleinen, vornehmen Klub-
zimmer mit den schweren, laut-
losen Teppichen wurde nur noch
an einem grünen Bakkarattisch ge-
spielt, den eine messingene Hänge-
lampe scharf aus der dämmernden
Umgebung des schon verdunkelten
Saales heraushob.
Walter gab rechts und links die
Karten. Ihm gegenüber strich der
Croupier immer von neuem die
gesetzten Münzen und Noten mit
einem langen, schwertfischartigen,
dünnen Holzmesser für ihn ein
und ordnete sie zu Haufen.
Die Spieler und Spielerinnen
waren eigentlich alle müde und be-
neideten im stillen die anderen, die,
gewinstreich oder nicht, schon den
77
uni^rit», Google
guten Einfall und die Entschluß-
fähigkeit gehabt hatten, nach Hanse
zu gehen. Übrig geblieben waren
fast nur noch Spieler geringeren
Grades. Das Bewußtsein ihrer Ver-
luste hielt sie wie mit einem Bann
an den Tisch gefesselt und sie setzten
mechanisch ihr Geld, um immer
noch einmal ihr Glück zu ver-
suchen, obgleich im stillen auch sie
überzeugt sein mochten, daß es ver-
geblich sei. Max, der viel gewonnen
und längst die Karten niedergelegt
hatte, trat an Walter heran und
fragte ihn leise, wann er endlich
aufstünde, es sei fünf Uhr Morgens,
die Sonne strahle am Himmel, es
sei Zeit, nach Hause zu fahren.
Walter antwortete, nach dem er-
sten Verlust werde er aufhören. Es
dauerte nicht lange, so schlug das
Glück um und wandte sich gegen
78
),n 123.1 1* Google
ihn. Er erhob sich unter dem
Murren der Gegner, die jetzt ge-
rade gern weitergespieit und von
ihm die verlorene Habe zurückge-
wonnen hätten ; er aber zeigte sich
unerbittlich, wechselte das viele Gold
in Banknoten um, gab rechts und
links Trinkgelder an die Angestellten
und Kniehosenträger in reich be-
treßter Livree und verließ mit seinem
Freunde Arm in Arm den Klub.
Im offenen Wagen mußten sie
sich gegen die Morgenfrische
schützen und schlössen mit hoch-
gezogenen Mantelkragen für einen
Augenblick die Augen, denn der
Übergang vom Halblicht des Spiel-
zimmers zur Helligkeit des er-
wachenden Tages war schmerzhaft.
Die Sonne, noch nicht sehr weit
aus dem Meer heraus, versilberte
mit ihren kalten, schrägen Strahlen
79
),n 123.1 1* Google
die graue Fläche und ließ die rosa,
blauen und gelben Fronten der
südlichen Häuser grell und deut-
lich hervortreten, während ein dunk-
les Violen als Schatten auf den noch
nicht angeschienenen Bergen im
Hintergrunde lagerte.
Ober dem nahen Vulkan stieg
eine nach oben verbreiterte Rauch-
wolke empor und Max bemerkte,
daß diese Nacht die glühenden Lava-
massen weiter als gestern den Berg
hinabgedrungen seien.
»Hast du alte, unverbesserliche
Spielratze wenigstens gewonnen?«
fragte er den Freund, worauf dieser
erwiderte: »Selber eine! Ich gebe
gewiß zu, daß ich gern spiele, und
zwar in jedem Sinne, denn es macht
mir fast ebensoviel Freude zu ge-
winnen, mich von den Glückswellen
heben und tragen zu lassen, mich
80
),n 123.1 1* Google
ab Glückskind zu fühlen, als es
mich innerlich stählt, im Unglück
auszuharren, ganz dumpf und bei-
nahe teilnahmlos zu werden und
nur aufzupassen, wann der un-
günstige Wind umschlagen wird,
um wieder einmal in mein Segel zu
blasen. Du kennst ja mein System,
vielleicht das einzig richtige, das,
wenn es anch nicht den Gewinn
sichern kann, fest immer größere
Einbußen verhindert. Spiele ich
doch im Glück rücksichtslos und
hoch, im Verlust ängstlich und mit
geringen Einsätzen, falls ich nicht,
wenn es ganz schlimm kommt, für
diesen Tag überhaupt meinen Hut
nehme und gehe. Heute nach-
mittag war ich im Verlust. Der
Doktor Kruterius hielt die Bank und
gewann. Dann löste ich ihn als
Bankhalter ab, er setzte gegen mich
81
),n 123.1 1* Google
und gewann wieder. Ich spiele
überhaupt ungern gegen diesen
Menschen, denn er scheint mir
dieses Jahr im Glück zu sein. Weißt
du etwas von seinem früheren
Leben? Er hat wohl allerhand
durchgemacht. Sein glattrasiertes,
verwittertes Gesicht verheimlicht
zwar sein Alter, doch gleicht es
dem Inhaltsverzeichnis einer recht
spannenden Räubergeschichte. Ka-
pitel eins: Blatterspuren, Kapitel
zwei: die rote Narbe am Hak und
so fort Außerdem sehen seine
Lippen aus, als wenn sie durch eine
etwas verkniffene Schweigsamkeit
die verräterische Geschwätzigkeit
zweier feuriger Augen wieder gut
machen wollten.«
»Du hast recht«, fiel Max ein,
■mich zieht dieser Mensch auch
wider Willen an. Er spricht viele
.Google
Sprachen und sah aller Herren
Länder. Ich weiß nur von ihm,
daß er bei einer Scniffahrtsgesell-
schaft hier im Hafen vor vielen
Jahren angestellt war, später aus
unaufgeklärten Gründen seine Stel-
lung aufgab und in Madagaskar und
Kalifornien als Minen-Ingenieur mit
großem Erfolge nach Gold grub.
Wie ein verborgenes Wasser auf
Wünschelruten, so wirkten Gold-
adern und Goldnester auf seine
Spürkraft und er nahm mit seinen
Leuten fast immer die Arbeit an
schatzreichen Stellen auf.«
■Und seine Narbe?« warf Walter
ein.
»Die soll er schon vor dieser
Zeit gehabt haben, woher weiß ich
nicht, aber es muß ein ordentlicher
Schnitt gewesen sein, denn heute
noch könnte man, wenn man ihn
8j
),n 123.1 bv Google
tod der Seite ansieht, sich einbil-
den, sein Kopf wäre zum Abneh-
men. Lustig ist es mir immer, die
erschreckten Gesichter von Fremden
zu beobachten, wenn ihren Augen
zum erstenmal dieser infame rote
Strich bei einer der brüsken Kopf-
wendungen des Doktors unter dem
bergenden Wall seines Halskragens
sichtbar wird. In Australien ist es
ihm einmal schlecht ergangen. Er
hatte eine große Gesellschaft ge-
gründet, um Minen unter einem
Flußbette anzulegen. Man wurde
fündig und schaffte große Massen
reiner Körner zutage, als der Fluß
mit einem Male von oben herein
brach und steh auch dort als Be-
sitzer ankündigte, wo man gedacht
hatte, ihm seine Schätze unter der
Hand entwinden zu können. Ober
den Verlust von Menschenleben
8 4
^Google
hätte man sich da draußen wohl
getröstet, aber die elementare Zer-
störung war so groß, daß nicht
einmal an eine Bergung der Arbeits-
materialien, geschweige denn an
eine Wiederaufnahme der Gold-
wasche gedacht werden konnte. Die
Kurse der Gesellschaft stürzten auf
Null. Doktor Kraterius soll unter
den merkwürdigsten Begleiterschei-
nungen für Monate seinen Verstand
verloren haben. Er hielt sich für
Jesus Christus, rannte wie ein Amok-
läufer nächtlicherweile, wenige Tage
nach dem Unglücke, in der rechten
Hand ein Küchenmesser, durch die
Straßen der Minenstadt und suchte
unter unsinnigem Gebrüll den Erz-
engel Gabriel, der seine Frau — die
der Doktor, Notabene, nie besessen,
zum mindesten nicht legitim — ver-
führt und zu einem Mordversuch
8S
),n 123.1 bv Google
gegen ihn angestiftet hätte. Man
legte den Tobsüchtigen in Ketten
und brachte ihn in eine Anstalt.
Unverwüstliche Lebenskräfte taten
dann das ihre, stellten ihn her und
verwandelten unseren aufgeregten
Jesus Christus wieder in einen ge-
wöhnlichen Doktor Kruterius. Dar-
auf ging er nach Amerika zurück,
machte sich aufs neue ein großes
Vermögen und lebt nun als Samm-
ler von Kunstwerken und Spieler
größten Stiles. Er wandert Jahr
für Jahr nach denjenigen Städten
und Badeplätzen Europas, wo seiner
Leidenschaft gehuldigt wird. Er
spielt wie eine Uhr nach der Zeit,
nachmittags von fünf bis acht und
nachts von zwölf bis drei, und ist
von der Höhe seiner Gewinste
und Verluste, die ihn bei seinen
Mitteln gleichgültig lassen können,
86
m 123.1 1* Google
scheinbar unberührt. Sonst weiß
ich nichts von ihm, als daß er un-
verheiratet ist, nie mit Frauen ver-
kehrt und außerdem das bewußte
Medaillon mit einem weiblichen
Bildnisse auf dem Busen tragen
soll, das bei einer so romantischen
Persönlichkeit, wie Doktor Krute-
rius, eigentlich so selbstverständlich
ist, daß man es nicht besonders zu
erwähnen braucht Solltest du we-
gen dieses Umstandes noch Zweifel
hegen, so habe ich dafür die Autori-
tät meines Kammerdieners. Woher
dieser es hat, wissen die Götter.»
Auf die Bitte, er möge doch end-
lich sagen, ob er im ganzen ge-
wonnen habe, antwortete Walter:
»Gewiß, mein Freund. Nach Dok-
tor Kruterius' Fortgehen machte
ich Schlag auf Schlag erst im klei-
nen, dann im großen meine Ver-
87
),n 123.1 1* Google
luste gut und kann jetzt Gott sei
Dank mit einem hübschen Gewinste
vor meine Frau treten; and das ist
gut, denn für uns verantwortungs-
reiche Ehemanner gilt noch heute
die Weisheit des guten, alten, wun-
derlichen Simplizissimi:
Eichel, Schellen, Grün und Herz
Bringen dir bald Freud, bald Schmerz I
Bald geht's -. Jetzt habe ich gewonnen 1
Bald heißt's; Mein Geld ist zerronnen 1
Sag's nur meiner Frauen nicht,
Was hier bei dem Spiel geschieht
Sie möcht' treten sonst ins Mitral
Und mir lesen ein Kapitel. *
Max lachte über das glücklich an-
gebrachte Zitat und dann dämmerten
die Freunde so vor sich hin.
Der Wagen fuhr auf der breiten,
weißen Straße, die gegen das Meer
durch große steinerne Mauern ge-
sichert war, im schnellen Trabe
und brachte seine Insassen von
),n 123.1 1* Google
Straßenbiegung zu Straßenbiegung
um viele Felsen herum, bog dann
links vom Meere ab, durchquerte
einen staubigen graugrünen Oliven-
hain und passierte kleine Dörfer
mit ungezählten bunten Blumen-
beeten, wo schon in dieser Morgen-
frühe blinde und zwergenhafte Bett-
ler auf das Pferdegetrappel horchten
und erwartungsvoll ihre mageren
Hände den Schlafenden entgegen-
streckten, enttäuschter Hoffnung
aber Verwünschungsgebärden hinter
den scheinbar Geizigen und Gefühl-
losen hermachten.
Man fuhr in eine große Hafen-
stadt, deren Straßen schon erwacht
und belebt waren. Handkarren mit
vorgespannten Hunden und brau-
nen, halbnackten, muskulösen Män-
nern, Ponywagen and Maultierge-
spanne rollten hin und her und
),n 123.1 1* Google
brachten Eßwaren von Haus zu
Haus.
Unsere Freunde fuhren in das
vornehme Viertel, wo in einem
Palmenhaine, auf halber Höhe über
der Stadt, ihr Gasthof mit grenzen-
losem Blick aufs Meer lag.
Drei Stunden Schlaf, das Früh-
bad und der Morgenkaffee hatten
ihre Nerven erfrischt, als sie ihre
Gattinnen um zehn Uhr in der
Hotelhalle harmlos, doch mit halb
schlechtem Gewissen, begrüßten.
Die Frauen sahen übernächtiger
und müder als ihre Ehemänner aus.
Unvermittelte Windstöße und Er-
schütterungen hatten nächtlicher-
weile die Türen und Fenster des
Gasthofs erklirren und aufspringen
lassen und ihre Ängstlichkeit er-
schreckt; dazu war das ungemüt-
liche Gefühl gekommen, von den
90
),n 123.1 1* Google
Männern im Hotel allein gelassen
zu sein. Sie hatten sich gefürchtet
vor Dieben, vor dem tückischen
Nachbar, dem feuerspeienden Berge,
dessen Einfluß auf die Witterung
man die nächtlichen Sturmeszeichen
zuschrieb, und hatten für die Un-
vernunft und den Leichtsinn ihrer
spielenden Männer gebangt. Sie fühl-
ten sich vernachlässigt, brutalisiert
und ungeliebt. Eine steigerte die an-
dere in ihr eingebildetes Leid hinein.
Da standen nun die Sünder, die
durch Schmollen und Gleichgültig-
keit gestraft werden sollten. Beides
aber löste sich bald in Wohlgefallen
auf, als die schlauen Missetäter die
Höhe ihrer Gewinste nannten.
Man neckte sich gegenseitig und
die Herren behaupteten, die Damen
seien ungerecht gegen sie, wie
Fürsten gegen ihre Minister bei
9i
),n 123.1 1* Google
Staatsaktionen mit zweifelhaftem
Ausgange; nur den Erfolg ließen
sie gelten, während sie bei einem
möglichen Verluste immer vom
Spiel abgeraten haben wollten.
Dann konnte man sich nicht
einigen, was mit dem heutigen Tage,
dessen aufgehender Sonne man
nicht recht trauen durfte, geschehen
solle, denn das Wetterglas war ge-
fallen und an der schwarzen Tafel
im Portal stand zu lesen, daß die
Wetterwarte starke Reizbarkeit des
Erdbebenmessers anzeige.
Eine geplante Landpartie unter-
blieb dieser unbehaglichen Anzei-
chen wegen und man streifte in der
Stadt umher, besuchte die über-
füllten Kirchen, in denen die Jung-
frau Maria und die guten Heiligen
bestürmt wurden, einen Ausbruch
des Vulkans zu verhindern.
92
),n 123.1 1* Google
Man kaufte ein, Heß an Bekannte
and Freunde zu Hause Obst, Blumen
und junge Kartoffeln senden, besah
das Aquarium mit seinen Tiefsee-
wundern: die bei jedem Atemzuge
elektrisch aufleuchtenden Quallen,
die dicken Panzer- und Plattfische,
die wütend wie zornige Oberlehrer
aussahen, ekelhafte unheimliche
Pulpen und prachtvolle Pfauen-
augenfische, an denen man die
haushälterische Sparsamkeit der Na-
tur bewunderte und lobte, die ihre
besten dekorativen Einfalle gleicher-
weise bei den Federn der Vögel,
Flügeln der Schmetterlinge und
Rückenflossen der Fische benutzt.
Die Damen wollten plötzlich von
einem Biegenden Händler lächer-
liche Affen kaufen. Die Gatten
protestierten, schon aus Mitleid mit
den Tierchen, denen man im gegen
93
),n 123.1 1* Google
wattigen Reisezustand doch keine
ernsthafte Pflege angedeihen lassen
konnte, wurden aber durch den
Einwurf mundtot gemacht: »Wenn
ihr die ganze Nacht spielt, wollen .
wir wenigstens von dem gewon-
nenen Gelde etwas abbekommen
und wir möchten gerade diese Affen
kaufen, um wenigstens jemanden
bei uns zu haben, wenn ihr euch
wieder nachts herumtreibt.«
Also wurden die Affen gekauft.
Ein kreuzfideler, behender, gleich
zutraulicher Uistiti und ein gold-
gelbes Löwenäffchen, das sich furcht-
sam bei jedem Annäherungsver-
suche in die Ecke seines Holzkäfigs
flüchtete, vor Angst und Zorn vogel-
ähnliche Singtöne ausstieß und alle
Viere abwehrend und steif von sich
streckte.
Schließlich wanderte man noch
94
),n 123.1 1* Google
einmal durch ein Ausgrabungs-
museum, stand staunend vor den
ganz einfachen, zweckmäßigen,
edlen antiken Geräten und Gefäßen,
um sich klar zu werden, wie weit
unsere Zeit von der Reinheit und
Schönheit dieser Dinge entfernt ist.
Vor den alten Wandgemälden
und Mosaiken traf man dann den
Doktor Kruterius, der unseren
Freunden die Zusammenhänge der
zweitausendjä hrigen alten Malereien
mit den Geheimnissen der neuesten,
impressionistischen Malweise er-
klären wollte, ohne auf sonderliches
Interesse zu stoßen, denn die Damen
waren vom vielen Herumwandeln,
Sehen und Bereden gleich wieder
müde geworden, den Männern
steckte die schlaflose Nacht in
den Knochen, und ein der Landes-
sitte entsprechendes Frühstück, das
95
),n 123.1 ^Google
aus vielerlei Fischen, Gemüsen und
Früchten bestand, mußte die Ge-
sellschaft «frischen.
Doktor Kruterius saß am Neben-
tisch, setzte sich beim Kaffee zu
unserer Gesellschaft und lud sie
zum Motorbootrennen ein, wies
aber gleich darauf hin, daß die Be-
setzung nicht stark sein werde, da
manche Boote, die in den letzten
Tagen konkurriert hätten, bereits
wegen des wahrscheinlich aus vul-
kanischer Ursache unberechenbar
erregten Meeres nach Hause gesandt
seien.
Man ging zusammen am Quai
entlang und erstieg eine kleine, von
allerhand blühenden und duftenden
Bäumen umschattete, angenehme
Anhöhe, auf der ein Vergnügungs-
kasino mit vieler Geschmacklosig-
keit und großem Pompe erbaut
9«
),n 123.1 bv Google
war. Ein Fahrstuhl führte auf eine
kleine Landzunge herunter, die
sonst zum Taubenschießen diente,
heute aber als Zuschauerplatz be-
nutzt wurde.
Das Rennen sollte trotz der ge-
ringen Beteiligung unter recht gün-
stigen Bedingungen vor sich gehen,
da die See sich für Stunden be-
ruhigt hatte.
Die Wasserrennbahn war mit
Flaggen, wie man sie auf dem grü-
nen Rasen der Rennplätze benutzt,
abgesteckt. Sie waren auf veranker-
ten Tonnen befestigt und schwank-
ten im leichten Winde. In weni-
gen Minuten sollte ein Böllerschuß
das Zeichen zum Anfang geben.
Schon knatterten und pafften die
von Menschen erfundenen Meer-
ungetüme hin und her und machten
einen wahren Höllenlärm.
97
),n 123.1 ^Google
Am meisten gewettet wurde auf
des Sieger vom Tage vorher, ein
gelbes französisches Boot, das durch
drei Motore vorwärts getrieben
wurde, während sein gefährlichster
Gegner, ein grauschwarzes engli-
sches Fahrzeug, schlank und schmal,
aus dem Hafen fuhr.
Unaufhörlich rasten und fauchten
die beiden Boote um die Start
flaggen herum, sowie auch viele
andere kleinere, die, je nach ihrer
Größe und Bauart, wie Frösche,
Schildkröten oder Pantoffeln aus-
sahen, und die bei diesem Rennen
Statistenrollen zu spielen hatten.
Man mußte nämlich, um einen
guten Start zu erwischen, die Boote
vorher schon in Gang bringen, da
das Anstellen der Motore zuviel
Zeit in Anspruch genommen hätte.
Das Meer wurde unter ihnen auf*
),n 123.1 1* Google
gewühlt wie der Sand der antiken
Arena von den Viergespannen.
Da erdröhnte der Schuß. Der
Franzose war gerade hinter den
Flaggen und sauste mit voller Kraft
zwischen ihnen dahin. Der Eng-
länder aber, geführt von einem
langen, dürren, blonden Steuermann
in schwarzem Gummimantel und
gleichem Lotsenhute, mußte noch
wenden und verlor eine Viertel-
minute, sprang dann aber wie ein
Vollblüter mit großen Sätzen ab
und machte sich auf die Verfol-
gung. Niemand achtete auf die
anderen.
Die wildgewordenen Ungeheuer
stürzten unaufhaltsam vorwärts,
pflügten die Fluten des Meeres und
bestickten sein blaues Gewand wie
mit Spitzen, indem sie ungeheure
Sturzseen aufwarfen, die immer
99
),n 123.1 1* Google
von neuem Aber den hochaufge-
richteten Steuerleuten zusammen-
schlugen.
Der Engländer machte Boden
gut, wie es beim Pferderennen heißt,
und schon bei der dritten Runde
□ahm er geschickt die Innenseite,
Bei dieser Wendung lag er so schief,
daß man sein Umschlagen befürch-
ten mußte. Hinter ihm entstand ein
tiefes Wellental und zeigte noch
lange den zurückgelegten Weg. So
kam er viel besser um die Wende-
flagge als der Franzose, gewann
einen großen Vorsprung und sicherte
sich den Sieg.
Die Zuschauer, die bezahlt hatten,
und die Zaungäste, die überall auf
den Dächern der Häuser, auf den
zu halber Höhe belegenen Straßen,
ja wie in einem kolossalen Theater
die Hügel hinan saßen, schrieen
),n 123.1 1* Google
vor Erregung auf und brüllten tau-
sendstimmig Beifall.
Kurze Zeit schien man über dem
nahen entfesselten Wasserkampfe zu
vergessen, was ein anderes Element
im Hintergrunde bedrohlich vor-
bereiten mochte. Vielen rollten
Tränen der Erregung über die
Wangen, einige, die in der Span-
nung des entscheidenden Momentes
aufgesprungen waren und das Eisen-
gitter umklammert hatten, ließen
es los und setzten sich. Nur Dok-
tor Kruterius, der den Engländer
unsinnig hoch gewettet hatte, blieb
unbeweglich und strich sich einmal
leicht mit der flachen Hand über
die Halsnarbe, eine nervöse Ge-
pflogenheit, der er bei Aufregungen
nicht entging.
Unsere Freunde verabschiedeten
sich von ihm und nahmen einen
),n 123.1 1* Google
Wagen. Die Damen setzten ihren
Männern mit übertriebenen Vor-
würfen hart zu, als ob sie von ihnen
brotlos gemacht würden, da beide
auf das besiegte Boot kleinere Sum-
men verloren hatten.
Diese Anstellereien waren ärger-
lich und das allgemeine Mißbehagen
steigerte sich, als der Wagen plötz-
lich auf öffentlichem Platze inmitten
eines Volksgedränges zum Still-
stehen gezwungen wurde.
Vor einem Kirchenportal stand
auf erhöhten Stufen ein Priester.
Er predigte laut und eindringlich
mit dröhnender, auf die Nerven
fallender Stimme, wie wir sie uns
den alten Propheten eigentümlich
denken. Während seiner Aufforde-
rung zur Buße erschauerten die
Hörer im Bewußtsein ihrer Sünden.
Seine Gesten waren bedeutend wie
),n 123.1 1* Google
die eines großen Mimen. Er wies
mit hagerer Hand auf den feuer-
speienden Berg und nannte ihn den
Rächer Gottes. Er verfluchte alle
Welt- und Sinnenlust, die überall
in dieser verlotterten Stadt offene
Herberge fände. Er. drohte mit
den Fäusten gegen das Theater,
schmähte den Tanz, die Schauspiel-
kunst, den Gesang und schrieb der
Bühne die Hauptschuld an dem
gänzlichen Verfall der Sitten zu.
Das sinnliche Treiben der modischen
Vergnügungslokale schilderte er in
glühenden Bildern und malte einem
kindlichen Volke mit wahrer Wol-
lust und Seelengrausamkeit die
Strafen der Hölle und die Foltern
Satans aus, die den Sünder erwarten.
Immer ekstatischer wurde sein
Gebaren und es erreichte den
Höhepunkt der Überspanntheit, als
ioj
),n 123.1 1* Google
er delirantisch schrie: »Wohl war
auch ich ein Diener des Fleisches,
aber Gott rührte an mein Herz und
hieß mich reden zu euch, und euch
verwarnen, daß die Erde sich nicht
auftue, euch zu verschlingen, daß
der Berg dort drüben, der feurige
Rachen der Hölle, nicht eure Häuser
über euch fallen lasse, denn eure
Greuel stinken gen Himmel und
der Kerker spie seine Verdammten
aus und läßt sie unter euch wandeln.
Wehe über die Schauspielerinnen
und Tänzerinnen der Lust. Von
ihnen kommt alles Unheil und sie
fordern noch heute, wie einst Sa-
lome, die Häupter der Heiligen.*
Es schien, als ob er mit den
letzten Worten auf eine bestimmte
Persönlichkeit ziele, denn unter der
Menge erhob sich ein Gemurmel,
das scheinbar einen bestimmten
104
),n 123.1 1* Google
Namen beständig wiederholte. Von
den Lippen der Nachstehenden
meinten unsere Reisenden die Worte
»Filomela«, »er meint die Filo-
mela« zu vernehmen.
Der Priester oben vor der Käthe-
drale stand einen Augenblick still
und schien von seinem Erfolge be-
friedigt. Dann warf er die Arme
plötzlich in die Luft, seine Augen
traten aus den Höhlen, Schaum
stand vor seinem Munde. Er stürzte
zu Boden und schlug in epilepti-
schen Krämpfen um sich.
Das Volk war bestürzt und lief
auseinander. Ein altes, buckliges
Weib nickte dem Kutscher auf dem
Bocke freundlich zu und sagte: »Ja,
ja, es ist schon so, wie sie sagen,
er meint die Filomela, Sie ist wieder
frei und wird uns alle verderben.«
Die beiden Ehepaare hatten mit
ios
),n 123.1 1* Google
wichsendem Interesse diesem Öffent-
lichen Schauspiele zugesehen und
waren in ihrer nordischen Art bei-
nahe ergriffen, denn das leiden-
schaftliche Pathos und die südlich«
Beredsamkeit des abgehärmten Ant-
litzes verfehlte vielleicht um so
weniger ihre Wirkung auf sie, als
der Vulkan jetzt wirklich wie eine
Drohung des Himmels erschien;
denn trotz des hellen Tagesglanzes
sah man Flammen vermischt mit
Rauch aus dem Berge schlagen.
Der Kutscher, der sich den Frem-
den gegenüber als Freigeist auf-
spielen wollte, drehte sich heftig ge-
stikulierend um und schalt den
Bußprediger einen Volksbetrüger
und Schwätzer, meinte, er solle sich
nur selbst beim Obre nehmen, denn
in seiner Jugend sei er »dieser Filo-
raela« weidlich nachgestiegen, wie
106
^Google
jedermann wisse. Freilich, wenn
die jetzt frei herumliefe, könne
man sich noch auf allerhand ge-
faßt machen, fügte er noch bedenk-
lich hinzu. Mehr war nicht aus
ihm herauszubringen, auch sprang
er vom Wagen, um seinem kleinen
Pferde das Berganziehen zu er-
leichtern.
Beim Abendessen drehte sich das
Gespräch wieder um das Spiel und
Walter, der gern alle Beschäftigun-
gen und Taten der Menschen ver-
innerlichte und in sie etwas hinein-
zugeheimnissen suchte, behaup-
tete, er spiele darum so gern, weil
er im Glücksspiele, trotzdem es
zweifellos eine Torheit, ja ein Laster
zu nennen sei, dennoch für gewisse
Charaktere einen erziehlichen Wen
sehe. Es unterweise die Menschen,
den Schicksalsschlägen des Lebens
107
.|.:l:,G()ÜyIc
ruhig und kalt gegenüber zu treten
und lehre sie im kleinen, als Bild
des ganzen Lebens, das Glück mann-
haft auszunutzen, im Unglück aber
sich zu ducken, klein zu werden,
zu warten. Auch zeige es deut-
lich, wie man, solange man noch
lebe und über irgendwelche Kräfte
verfuge, niemals verzweifeln dürfe,
denn oft gewänne man mit dem
letzten Goldstück nicht nur den
ganzen Verlust von Tausenden zu-
rück, sondern ginge bereichert nach
Hause. So entzücke ihn beim Spiel
vor allem ein gesteigertes Gefühl
der unmittelbaren Nähe des Schick-
sals, und das um so mehr in fried-
lichen Zeiten, wo niemand das
Kriegsglück mit seinen wechselnden
Launen kennen lernen dürfe.
Diesen abenteuerlichen Ansichten
wurde von den Damen lebhaft wider-
108
),n 123.1 1* Google
sprachen und haushälterische und
moralische Einwürfe gemacht.
Max hielt natürlich zu dem an-
deren Manne und behauptete, die
Liebe zum Spiele sei ein allen
Menschen eingeborener Naturtrieb.
Er erinnerte an die alten Germanen,
die Haus und Hof und schließlich
sich und ihre Weiber in die Leib-
eigenschaft verspielt hätten. Die
ostasiatischen Völker hätten eine
große Menge von verschiedenen
Glücksspielen, ja sogar die rück-
ständigsten Negerstamme spielten
mit Steinen, die sie nach ganz be-
stimmten Gesetzen hin und her
schoben und in kleine Erdlöcher
legten, ohne daß je ein Europäer da-
hinter gekommen wäre, wie eigent-
lich die Regeln dieses Spieles seien.
Dann fuhr er fort: »Ich hasse den
Spielsaal mit seinen unerschütter-
109
),n 123.1 1* Google
liehen Roulettemaschinen, die keine
Nerven haben, wohl aber mich regel-
mäßig durch das Klappern der rol-
lenden Kugeln und die langen Aus-
zahlungspausen entnerven. Ich lasse
mich gehen und gebe Zeichen der
Freude über einen Gewinst und
des Ärgers über einen Verlust von
mir, weil ich mich unter zweifel-
hafter Gesellschaft unbeobachtet
fühle. Im Klub, beim Bakkarat, ist
das alles anders. Ich spiele mit
Menschen, die auf gleicher Gesell-
schaftsstufe mit mir stehen, die ich
kenne und denen gegenüber ich
mich beherrsche, ich bekomme
selber die Karten in die Hand, und
der große Unsinn hat etwas Per-
sönliches und wächst sich nicht
selten zum Zweikampfe, zur Kraft-
probe aus. Nur unter dem Gesichts-
punkte eines Trainings zur äußeren
),n 123.1 1* Google
Selbstbeherrschung kann ich das
Glücksspiel billigen und lieben. Die
Hauptsache aber ist und bleibt:
Gewinnen. Das interessiert mich
hier entschieden mehr als deine
seelischen und schöngeistigen Er-
»Daß ihr auch immer geistvolle
Entschuldigungen für eure Lastet
und Fehler bereit habt und mit
Nachdruck vortragen könnt«, murr-
ten die Gattinnen.
Ein sich entspinnender Zwist
wurde noch glücklich verhindert,
da man mit einem Male auf der
Straße Harfengeklimper hörte.
Die Herren, die in Ruhe ihren
Kaffee nehmen wollten, schalten
auf die in diesem Lande unver-
meidliche lärmende, jede Ruhe
störende Straßenmusik und fanden
es unerklärlich, wie sie sich nur zu
in
),n 123.1 ^Google
Hause im kalten Norden oft mit
romantischer Sehnsucht an die bun-
ten und fröhlichen Straßensänger
hätten erinnern können.
Die Harfe wurde bald von einer
weiblichen Stimme übertönt, die
durch gehaltenen Vortrag und die
zaghafte Reinheit ihrer Töne auf-
fiel.
Die Damen gingen auf den Bal-
kon und riefen nach kurzer Zeit
die Herren zu sich.
Mürrisch gesellten sich Walter
und Max zu ihnen und warfen einen
Blick auf die Straße. Einer sagte
verächtlich: »Die Person ist ja ganz
alt«, worauf man ihm entrüstet
Stillschweigen gebot, was nicht
mehr nötig gewesen wäre, denn
schon wurde ihre Aufmerksamkeit
gefesselt und sie auf das tiefste und
seltsamste berührt.
112
),n 123.1 1* Google
Die Straßensängerin war in Lum-
pen gekleidet. Weiße Haare hingen
ihr wirr in die Stirn. Ihr Gesicht
verriet eine ehemalige große Schön-
heit. Die gazellenfarbenen Augen-
sterne sahen immer noch kindlich
erstaunt aus einem früh verwelkten
Antlitze. Ihre Hände waren zart
und ausdrucksvoll, wie die eines
jungen Mädchens aus gutem Hause.
Als Begleiter bockte ein gleich-
falls zerlumpter alter Harfenschläger
neben ihr am Boden, der nur dann
den Blick von ihr wandte, wenn
eine schwierige Passage seine Acht-
samkeit auf das Instrument lenkte.
So stand dieses phantastische
Paar gegen das Meer wie eine Sil-
houette, zur Seite der Vulkan, der
immer heftiger Rauch und Staub-
massen in die Luft warf, so daß der
Glanz der untergehenden Sonne
"3
),n 123.1 1* Google
durch einen gelblichgrauca Schleier
gebrochen schien.
Was auffallen mußte, war der
Umstand, daß die beiden nicht von
Straßenjungen und herumlaufen dem
Volke wie gewöhnlich umringt und
begafft wurden. Hatte eine Weibs-
oder Mannsperson in der Nähe des
Hotels zu tun, so huschte sie so
schnell wie möglich an der Sängerin
vorbei, schlug das Kreuz oder
streckte in abergläubischer Furcht
den kleinen und den Zeigefinger
der rechten Hand gegen sie aas,
ein Verfahren, das gegen den bösen
Blick schützen sollte und unseren
Freunden von ihren südlichen Auf-
enthalten her bekannt, aber noch
nie in so ungescheut beleidigender
Form vor Augen gekommen war.
Ein Hotelbeamter, den sie be-
fragten, was es damit für eine Be-
114
),n 123.1 1* Google
wandtnis habe, bestätigte ihnen, die
Alte sei eine Jettatrice, d. b. sie habe
den bösen Bück.
Er wollte noch mehr erzählen,
aber unsere protestantischen Nord-
länder hatten von dem Pröbchen
südlichen Aberglaubens genug und
wandten sich wieder der Alten zu,
die unglaublich schön zu singen
fortfuhr.
Sie selber schenkte ihren Lands-
leuten keinerlei Beachtung und sah
nur auf die vielen wohlgekleideten
Hotelgäste auf den Baikonen und
der Terrasse, die alle entzückt dem
sich immer steigernden und auf-
schwellenden Gesänge zuhörten.
Sie sang Gounods Schmuckarie,
und das aufmerksam lauschende
Publikum ließ ihre Bewegungen
freier, ihre Gesten größer werden;
sie warf den Kopf wie auf der
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Bühne zurück und tragierte zum
Schluß, aller ihrer Mittel teilhaftig,
gemessen und andeutend wie auf
einem großen Theater.
Es läßt sich nicht genau sagen,
wodurch der ungeheure Eindruck
verursacht wurde, den sie hervor-
rief.
Vielleicht lag es darin, daß man,
ohne zu wissen warum, das Schau-
spiel des Hervorbrechens oder neuen
Erwachens einer großen künstleri-
schen Persönlichkeit erlebte; den
Adelungsvorgang einer Bänkel-
sängerin zur Primadonna, eines
armen, zerlumpten Weibes zur
großen Dame.
Der Beifall wollte nicht enden.
Man warf in den Hut des Alten
soviel Geld, als man in den Taschen
fand, ja einige Damen schenkten
der Sängerin kleine Schmuckstücke,
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die sie gerade trugen, und alle diese
Geschenie nahm die Alte erfreut
und königlich dankend an, als wäre
sie von alters her solche Ovationen
gewöhnt.
Der Doktor Kruterius stand bei-
seite und starrte auf die Sängerin
wie auf eine Erscheinung. Sie sah
ihn einen Augenblick an, doch
schien sie mit keiner Miene ein
Einverständnis zu verraten.
Die Sonne war untergegangen und
die Alte machte sich mit ihrem Harfe-
nisten davon, nachdem man sie auf
das Dringendste aufgefordert hatte,
den nächsten Abend wieder vor dem
Hotel zu singen. Lange noch sah man
den beiden, die dicht aneinander ge-
drängt den Berg langsam hinunter
schritten, nach und zerstreute sich
dann, um dem Spiel zu fröhnen
oder in ein Theater zu fähren.
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Die nächsten Abende verstrichen,
zum Leidwesen der Fremden, ohne
die gewünschte Wiederkehr des
musikalischen Genusses.
Doktor Kruterius schien am
meisten unter dieser Enttäuschung
zu leiden, zeigte sich nervös, wort-
karg und von einer geradezu un-
heimlichen Zerstreutheit, gesellte
sich zu niemandem und spielte im
Klub noch steinerner und sinnloser
als vorher, sah sich aber bald immer
Wenigeren gegenüber, bis auch die
letzten Um im Stiche ließen, ab-
reisten und ihn so zwangen, für
sich allein schwierige Patiencen zu
legen.
Denn viel unheimlicher als dieser
Doktor wurde von Tag zu Tag der
feuerspeiende Berg. Immer dunkler
und höher warf er seinen Aschen-
regen. Er erregte die Lüfte und er-
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schotterte die Erde und den Meeres-
boden. Der glühende Schlamm
seiner Lava kroch und wälzte sich
unaufhaltsam todbringend zu Tale.
Schon drang die Schreckenskunde
in die Stadt, daß einzelne Gehöfte,
Weingüter und ölberge von dem
feurigen Strom erreicht und auf-
gefressen seien.
Die Regierung tat alles, um die
gefährdeten Dörfer zu leeren. Die
Einwohner aber leisteten Wider-
stand und wollten sich nicht von
der geliebten Heimat trennen. Die
Kirchen waren Tag und Nacht laut
vom Beten und Singen. Unauf-
hörlich hüllten Weihrauchwolken
die Knieenden ein. Das Brausen
der Orgel benebelte ihre Sinne und
die Priester füllten ihre Kirchen-
kassen mit Almosen und Ablässen,
die das geängstigte Volk willig
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opferte. Lange Prozessionen durch-
zogen Stadt und Land gegen den
Vulkan hin, um dessen finstere
Mächte zu beschwören.
Die Eisenbahnzüge waren von Ab-
reisenden überfüllt, teils aus diesem
Grunde, teils aus Neugierde und Sen-
sationslust blieben unsere Bekann-
ten in dem unheilbedrohten Ort.
Eines Tages versuchte man, so-
weit es nicht lebensgefährlich war,
sich dem Flammenberge zu nähern;
als er aber Steine aus sich heraus
beinahe in den Wagen schleuderte,
mußte diese Forschungsreise der
erschreckten Frauen wegen aufge-
geben werden.
Nachts durchstreiften Walter und
Max die ausgestorbene Vergnügungs-
stadt und besuchten die Lokale und
Wirtschaften, wo sonst die Halb-
welt Europas mit wilden Zigeune-
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rinnen und wüsten Negerweibern
lüstern und verschmitzt aufreizende
exotische Tänze um die Wette zur
Schau gebracht hatte. Sie fänden
alles verlassen, denn die internatio-
nalen Stars waren längst mit sämt-
lichen verfügbaren Blitzzügen aus
der allzu brenzUchen Schwefelluft
in gesegnetere Gefilde abgedampft.
Auch die Einheimischen hielten
sich zu Hause oder krochen in den
Kirchen zu Kreuze, da die Predi-
ger immer und immer wieder das
Schicksal Sodoms und Gomorrhas,
zum Vergleiche mit dieser Stadt,
herangezogen.
Daß unser Pater Angelico einer
der Rüstigsten hierbei war, versteht
sich von selbst. Jeden Tag be-
schwor er an einer anderen Stelle
der Stadt mit geblähten Nasen-
flügeln das Gericht Gottes.
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Nun kamen verhältnismäßig ruhi-
gere Tage und die Gefahr schien
minder bedrohlich, obgleich der
Vulkan immer noch, wenn auch
mit geringerer Heftigkeit, seinen
tödlichen Unrat in die Lüfte spie.
Während eben dieser Tage fuhren
Walter und Max mit einem Segel-
boot aufs Meer hinaus, um vom
Wasser aus das elementare Feuer-
werk beobachten zu können.
Sie passierten eine kleine Felsen-
insel, auf der ein großes steinernes
Haus kahl und finster stand. Schril-
les, eintöniges Geschrei, wie von
großen Raubvögeln, tönte über das
Wasser zu ihnen herüber und ent-
setzte sie, Aus den Gitterfenstern
dieses Irrenhauses starrten verzerrte
und furchtsame Gesichter, die mit
verstelltem Munde unsinnige Ton-
folgen ausstießen. In verschiedenen
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Stimmlagen und mit regelmäßigen
Zwischenräumen wiederholten sie
sich and gaben ein höllisches, fürch-
terliches Konzert. Die Elektrizität
in der Luft, die Erschütterung der
Erde und der nächtliche Feuerglanz
vom Berge her erregte und äng-
stigte die unstäten Geister derart,
daß sie Tag und Nacht in ihrer
Seelennot nicht Ruhe gaben und sich
ihre Herzenswirrnis nur durch den
abscheulichen Lärm von der leise
betenden Verzweiflung des auch
schon halb närrischen Volkes in
der Stadt unterschied.
Unsere etwas leichtsinnigen
Freunde drehten um und beschlos-
sen endlich, ernstlich beunruhigt,
mit ihren Frauen so bald wie mög-
lich aus diesem Hexenkessel abzu-
reisen, denn die animalisch instink-
tive Angst der ahnungsvollen Halb-
123
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tiere machte ihnen mehr Eindruck
und ließ sie eher an ein wirkliches
Unheil glauben, als das Gerede der
profitlichen Pfiffen und das papa-
geienhafte Nachplappern der von
ihnen Beeinflußten. Im Hotel wurde
schleunigst gepackt und die Abreise
beraten.
Trotz der vielen Aufregungen
hatte man die Alte mit ihrem Ge-
sänge noch nicht vergessen, sprach
vielerlei Vermutungen über sie aus
und reimte sich Halbgehörtes und
Halbverstandenes zu einer bewegten
Novelle zusammen, der das Leben
nur zu bald einen fürchterlichen
Abschluß geben sollte. Hörte man
doch eines Abends, daß eine durch
Furcht und Aberglauben fanatisierte
Bittprozession die Sängerin in der
Nähe der trag bergab fließenden
Lava gefunden und mit Knütteln
124
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und Steinen erschlagen habe, nach-
dem ihr alter Harfenspieler, der
sich zwischen die Wahnwitzigen
und die Bedrohte warf, halbtot fort-
gezerrt war.
Zugleich klärte sich auch das
letzte Geheimnis, das um ihren er-
grauten Kopf schwebte, auf und
man erkannte in ihr die Trägerin
eines großen, seltsamen Schicksals.
In ihrer Jugend war Filomela
die erste Sängerin und Schönheit
der Großen Oper in dieser nun
vom Zorn des Himmels heimge-
suchten Stadt.
Die vornehmen und schönen,
die geistvollen und reichen Jüng-
linge und Männer bemühten sich
dermalen um ihre Gunst, sie aber
lebte, wie ihre großen Beruisge-
nossinnen aus der Zeit des bei
Carito, nur ihrer Kunst und wider-
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stand, von ihrer Mutter behütet,
allen Verlockungen der Männer.
Zu ihren glühendsten Verehrern
zählte damals ein böses Stadtge-
schrei einen jungen Priester mit
Kamen Angelico, der dann auch,
soweit es Amt und Stand erlaubten,
jeglichen Abend im Theater saß
und sie anstarrte.
Ihr Ruhm und ihre Gagen
wuchsen von Monat zu Monat, und
der Liebreiz ihrer Erscheinung war
gleich der Gewalt und Schule ihrer
Stimme. Die vielen abgewiesenen
Liebhaber aber sprachen erklärlicher-
weise, wo sie konnten, nur Schlech-
tes von ihr und ihrer Kunst, die
allerdings bei der großen Masse
der Bevölkerung nicht ganz so be-
hebt war, wie man hätte annehmen
sollen.
Die Galerie befriedigte ihr Spiel
126
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und Vortrag nicht. Filoiuelens ganze
Art hatte etwas Vornehmes, ein
wenig Kaltes, etwas rein Künst-
lerisches. Sie machte wenige Be-
wegungen und verharrte oft längere
Zeit in ein und derselben statuari-
schen Pose zum Entzücken der
Gebildeten, zum Ärger der großen
Zahl, die ja immer gewohnt ist,
Unruhe und Kulissenreißerei für
Leidenschaft und Feuer zu nehmen.
Sang sie eine Arie, so losten sich
die ersten ganz reinen Töne lang-
sam wie zum Versuche und reihten
sich erst allmählich fehlerfrei und
rund wie Perlen zu einer wunder-
vollen Kette. Nach und nach, als
wäre die Sängerin erst jetzt ihres
Könnens ganz sicher, kam mehr
Gang und Drängen in ihren Vor-
trag, bis sie sich und das Publikum
vergessen hatte und die gereihten
127
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Töne, die immer voller ihrem
Munde entströmten, vor Schmerz
zitterten, vor Liebe taubenhaft gurr-
ten, vor Freude schluchzten und
trillerten. Schloß einer die Augen
und hörte nur auf die Stimme,
so war es ihm unbegreiflich, daß
diese schwingenden, kristallklaren
Laute einer Kehle von Fleisch und
Blut entquellen sollten; vielmehr
glaubte er, reinste Flöten und seelen-
volle Violinen erklangen zum Lobe
aller unsterblichen Kunst. So war
für den Verständigen, dem beim Zu-
hören wohl ein leises, beglücktes
Weinen ankommen mochte, die
geklärte Leidenschaftlichkeit ihres
Gesanges, die sich bis zum Schluß
eines Liedes in unerklärlicher Weise
steigerte, sich vom Persönlichen,
Menschlichen frei machte und wie
aus einer geistigen Welt zu kommen
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schien, die Quelle unauslöschlichen
Genusses.
Für gewöhnlich haue sie etwas
Scheues, vielleicht auch Hochfahren-
des. Sie sah mit fremden Augen
nicht immer freundlich in die Welt.
Manchmal schien sie sich zu fürch-
ten oder mehr zu sehen als die, die
um sie waren; und dieses Wesen,
verbunden mit herrischem, hoch-
fahrendem Temperament, mochte
ihr das Ansehen einer Kassandra,
die Fürchterliches vorher weiß, ver-
leihen und ihr beim Volke den üblen
Ruf der Jettatrice eintragen.
Einige Unglücksfälle, die sich an
ihre Person zu ketten schienen,
bestätigten dieses Vorurteil in leicht-
gläubigen Herzen. Ein feister Schau-
spieler, der in einer Oper ihr Part-
ner war, wird beim Absingen eines
Duetts mit ihr vom Schlage ge-
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troffen. Ein andermal brennt ein
Theater, in dem sie spielt, ab. Ein
Kind wird auf der abschüssigen
Straße ihrer Vaterstadt von ihrem
zum Theater eilenden Wagen beim
Spielen überfahren.
Am höchsten aber stieg die Er-
bitterung gegen ihre Person, als
sich folgendes ereignete:
filomela hatte sich endlich ein-
mal verliebt und sich einem schwär-
merischen Ingenieur, einem Aus-
länder, zum nicht geringen Neide
der einheimischen Verehrer, er-
geben.
Dann kam das Rätselhafte. In
einem Anfall von Eifersucht, die,
wie sich später bei der Verhandlung
herausstellte, ganz grundlos gewesen
war, öffnete sie dem Schlafenden
mit einem gräßlichen Schnitt die
Schlagader am Halse. Als das ge-
130
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lieble Blut ihr entgegensprang, holte
sie selber den Arzt und ihr Geliebter
blieb durch wochenlange Pflege am
Leben erhalten.
Vor Gericht gestellt, wurde sie,
trotzdem sie alles mit einfachen,
klaren Worten zugab, mit der
ganzen Schärfe des Gesetzes ver-
urteilt. Niemand nahm ihre Partei
und sagte freundlich für sie aus.
Die Richter und Schöffen waren
voreingenommen, und das tobende
Volk forderte vor den Türen des
Justizpalastes sogar ihren Kopf.
Wenige Tage vor Ausbruch des
Vulkans hatte sie ihre Haft abge-
büßt und versuchte, begleitet von
ihrem früheren, inzwischen selbst
verarmten Kapellmeister, durch
Straßengesang ihren Unterhalt zu
verdienen. Jedoch abergläubische
Bevölkerung, vielleicht auch alter
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persönlicher Haß duldete sie nicht
in der Stadt ihres Leidens und ihrer
Triumphe, und trieb sie nach dem
letzten Erfolge ihrer neu erwachten
Kunst mit Drohungen und Stein-
würfen vor die Tore.
Die Kunde ihres Schicksals lief
immer vor ihr her und machte sie
überall heimatlos. Als die in ihrer
Todesangst tierisch gewordene
Menge wahrend einer Prozession,
die Pater Angelico führte, Filo-
melens in der Nähe des unholden
Berges ansichtig wurde, genügte
es, daß einer unter ihnen den Ver-
dacht aussprach: die Jettatrice habe
die Eingeweide des Berges durch
Zaubersprüche aufgerührt. Flüche
wurden laut und viehisch vollzog
man an ihr ein eingebildetes Straf-
gericht. Zerfleischt und unkennt-
lich ließ man sie. liegen, bis der
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